Sie sind auf Seite 1von 1370

Buddhismus tibetischer Prägung gilt im Westen als ein Hort

unverfälschter Religiosität und der »Gottkönig«, der XIV


Dalai Lama, als ein lebendes Symbol des Guten schlechthin,
als überkultureller »Friedensfürst«. Zahlreiche Prominente,
Sympathisanten und Anhänger engagieren sich in Europa
und Amerika gutgläubig für das Land vom Dach der Welt
und dessen spirituelles Staatsoberhaupt, ohne über die Ge-
schichte des Lamaismus und die religiösen Praktiken des
tibetischen Buddhismus informiert zu sein. Genau mit die-
ser Uninformiertheit macht das Buch Der Schatten des Da-
lai Lama ein Ende. Die Autoren setzen sich ausführlich mit
dem tibetischen Oberhaupt und seinen Vorgängern, den
kultischen Hintergründen, den rituellen Praktiken, den
sexuellen und kriegerischen Obsessionen seiner östlichen
Religion und der Geschichte Tibets auseinander. In ihrer
scharfen Analyse, originellen Interpretation und kompro-
mißlosen Kritik warten sie nicht nur mit überraschendem,
bisher ignoriertem Faktenmaterial auf, sondern liefern
ebenso eine philosophische Deutung des Lamaismus und
machen das tibetisch-buddhistische Weltbild durch einen
Kulturvergleich mit europäischen Religionsströmungen für
westliche Leser und Leserinnen verständlich. Sie weisen fer-
ner nach, daß die Friedfertigkeit des XIV Gottkönigs eine
Maske ist, hinter der sich die machtpolitischen Ambitionen
einer fundamentalistischen Vision verbergen.
Victor und Victoria Trimondi

Der Schatten des Dalai Lama


Sexualität, Magie und Politik
im tibetischen Buddhismus

Patmos Verlag Düsseldorf


Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Trimondi, Victor: Der Schatten des Dalai Lama : Sexua-


lität, Magie und Politik im tibetischen Buddhismus /

Düsseldorf: Patmos-Verl. , 1999


ISBN 3–491–72407–4

© 1999 Patmos Verlag Düsseldorf


Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen
Abdrucks sowie fotomechanischen und elektronischen
Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlagbild: © Henri Bancaud


Satz: Fotosatz Moers, Mönchengladbach
Druck und Bindung : Wiener Verlag, Himberg bei Wien
ISBN 3–491–72407–4
Inhalt

VORBEMERKUNG : LICHT UND SCHATTEN . . 11

Teil 1 – RITUAL ALS POLITIK . . . . . . . . . . . 27

1. Buddhismus und Misogynie.


Ein historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . 43
Die »Opferung« der Maya : Die Buddhalegenden . 48
Die meditative Zerstückelung der Frau :
  Der Hinayana-Buddhismus . . . . . . . . . . . . 56
Die Verwandlung der Frauen in Männer :
  Der Mahayana-Buddhismus . . . . . . . . . . . 61

2. Buddhistischer Tantrismus :
Das ritualisierte »Frauenopfer« . . . . . . . . . . 68
Die Explosion des Sexus :
  Der Vajrayana-Buddhismus . . . . . . . . . . . . 69
Mystische Geschlechterliebe
  und kosmogonischer Eros . . . . . . . . . . . . . 77
Der Guru als Manipulator des Göttlichen . . . . 100
Die Aneignung der Gynergie
  und androzentrische Machtstrategien . . . . . 107
Die absolute Macht des »Großmagiers«
  (Maha Siddha) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Die drei Rollen der Sexualpartnerin
  im buddhistischen Tantrismus . . . . . . . . . 125
Das »Tantrische Frauenopfer« . . . . . . . . . . . 153
Das »Gesetz der Umkehrung« . . . . . . . . . . . 182
Die Übereinstimmung
  mit dem Dämonischen . . . . . . . . . . . . . . 211
Reiner Shaktismus
  und tantrischer Feminismus . . . . . . . . . . 227
Das »alchemistische Frauenopfer« . . . . . . . . . 246

3. Das Kalachakra-Tantra :
Die mikrokosmische Konstruktion
eines Weltenherrschers . . . . . . . . . . . . . . . 261
Die sieben unteren Einweihungen
  und ihre Symboldeutung . . . . . . . . . . . . 266
Die vier höheren »geheimen« Einweihungen . . . 283
Sperma und Menstruationsblut
  als magische Substanzen . . . . . . . . . . . . . 289
Das »Ganachakra« und die vier
  »höchsten« Einweihungen . . . . . . . . . . . . 304
Die inneren Vorgänge im
  mystischen Körper des Yogi . . . . . . . . . . . 316

Die »Tropfentheorie« als Ausdruck
  der Androgynität . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
Exkurs : Der mystische Körper der Frau . . . . . 339
Die Methode oder
  Die Manipulation des Göttlichen . . . . . . . 342

4. Der ADI BUDDHA : Herr der Geschichte . . . 350


Die »zehn Mächtigen« :
  Der mystische Leib des ADI BUDDHA . . . . 359
»Krieg der Sterne« : Der astral-zeitliche
  Aspekt des ADI BUDDHA . . . . . . . . . . . 370
Das »Mandala-Prinzip« : Der räumlich-kosmische
  Machtbereich des ADI BUDDHA . . . . . . . 394
Der Weltenherrscher : Die politisch-soziale
  Machtausübung des ADI BUDDHA . . . . . . 430

5. Der aggressive Mythos von Shambhala :


Krieg zwischen Buddha und Allah . . . . . . . . 442
Die Könige und die Verwaltung
  von Shambhala . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
Der »Rasende Raddreher« :
  Die Kriegsideologie von Shambhala . . . . . . 456
Tödliche Kriegsmaschinen . . . . . . . . . . . . . 458
Die »Letzte Schlacht« . . . . . . . . . . . . . . . . 461
Buddha gegen Allah . . . . . . . . . . . . . . . . . 464
Die nicht-buddhistischen Ursprünge
  des Shambhala-Mythos . . . . . . . . . . . . . 468
Shambhala »Innen« und
  Shambhala »Außen« . . . . . . . . . . . . . . . 476

6. Zwei westliche Zugänge zu den Ideen


des Kalachakra-Tantra . . . . . . . . . . . . . . 479
Das »tiefverruchte Buch« : Albert Grünwedel
  (Deutscher Orientalist und Übersetzer
  des Kalachakra-Tantras) . . . . . . . . . . . . . 479
Der Manipulator des Eros :
  Giordano Bruno (Renaissancephilosoph) . . . . 515

7. Epilog zum ersten Teil . . . . . . . . . . . . . 526

TEIL 2 – POLITIK ALS RITUAL . . . . . . . . . . . 557

1. Der Dalai Lama :


Inkarnation der tibetischen Götter . . . . . . . 559
Buddha Amithaba :
  Die Sonnen- und Lichtgottheit . . . . . . . . . 559
Die verschiedenen Masken des Avalokiteshvara 566
Der XIV Dalai Lama als der
Höchste Kalachakra-Meister . . . . . . . . . . . . 572
Äußerungen des XIV Dalai Lama
  zur Sexualität und Sexualmagie . . . . . . . . . 580
2. Der Dalai Lama (Avalokiteshvara)
und die Dämonin (Srinmo) . . . . . . . . . . . . . 586
Die Fesselung der Erdgöttin Srinmo
  und die Ursprungsgeschichte Tibets . . . . . . 587
Die alchemistische Aufspaltung des Weiblichen 
  Die tibetischen Göttinnen Palden Lhamo
  und Tara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609
Die mythologischen Hintergründe des
  tibetisch-chinesischen Konflikts :
  Avalokiteshvara und Kuan Yin . . . . . . . . . 638
Feminismus und tantrischer Buddhismus . . . . 670
Der XIV Dalai Lama und die Frauenfrage . . . . 692

3. Die Grundlagen der


tibetischen Buddhokratie . . . . . . . . . . . . . 709
Die Geschichte des buddhistischen
  Staatsgedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710
Der Dalai Lama und der
  buddhistische Staat sind eins . . . . . . . . . . 713
Scheinbekenntnisse des XIV Dalai Lama
  zur westlichen Demokratie . . . . . . . . . . . 724
Der »Große Fünfte« –
  Absoluter Sonnenkönig über Tibet . . . . . . . 734
Die Vorgänger des V Dalai Lama . . . . . . . . . 738
Die Nachfolger des »Großen Fünften« :
  Der XIII und der XIV Dalai Lama . . . . . . . 746
Inkarnation und Macht . . . . . . . . . . . . . . . 749

Der »Große Fünfte« und das
  Inkarnationssystem . . . . . . . . . . . . . . . 753
Die sakrale Macht der tibetischen Könige und
  deren Übertragung auf die Dalai Lamas . . . 758
Der XIV Dalai Lama und die
  Inkarnationsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . 760
Die Einführung der Inkarnationslehre
  in den Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765
Die verschiedenen Orden des
  tibetischen Buddhismus . . . . . . . . . . . . . 769
Die Vereinigung der tibetisch-buddhistischen
  Orden unter die absolute Vorherrschaft
  des XIV Dalai Lama . . . . . . . . . . . . . . . 785
Die »Karmapa-Affäre« . . . . . . . . . . . . . . . 790

4. Die soziale Wirklichkeit im Alten Tibet . . . . 797


Das westliche Tibetbild . . . . . . . . . . . . . . . 799
Die Struktur der alttibetischen Gesellschaft . . . 802
Das tibetische Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . 805
Kommerz des Klerus . . . . . . . . . . . . . . . . 808
Die politische Intrige . . . . . . . . . . . . . . . . 809
Die neueren Entwicklungen im Geschichtsbild . 810

5. Buddhokratie und Anarchie –  


ein Widerspruch oder eine Ergänzung ? . . . . 814
Die Großzauberer (Maha Siddhas) . . . . . . . . . 817

Der anarchistische Gründervater des
  tibetischen Buddhismus : Padmasambhava . . 823
Von der Anarchie zur Ordensdisziplin :
  Die Tilopa-Linie . . . . . . . . . . . . . . . . . 837
Die eingeplante Gegenwelt
  zur Bürokratie des Klerus : Heilige Narren . . . 848
Anarchistischer Erotiker : Der VI Dalai Lama . . 850
Eine tantrische Geschichte Tibets . . . . . . . . . 857
»Crazy Wisdom« und der Westen . . . . . . . . . 863

6. Der Königsmord als Ursprungsmythos  


des Lamaismus und die rituelle  
Aufopferung Tibets . . . . . . . . . . . . . . . . . 869
Das rituelle Königsopfer in der Geschichte Tibets
  und der tibetische »Sündenbock« . . . . . . . . 870
Die Aktualität des Ritualmordes
  bei den Exiltibetern . . . . . . . . . . . . . . . . 891
Die rituelle Aufopferung Tibets . . . . . . . . . . 893

7. Krieg der Orakelgötter und


die Shugden-Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . . 903
Das tibetische Staatsorakel . . . . . . . . . . . . . 904
Dorje Shugden – eine Lebensbedrohung
  für den XIV Dalai Lama ? . . . . . . . . . . . . 913
8. Magie als ein Mittel der Politik . . . . . . . . . . 931
Dämonenbeschwörung . . . . . . . . . . . . . . . 931
»Voudouzauber« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935
Das La (bla) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939
Magische Superwaffen . . . . . . . . . . . . . . . 941
Mandalapolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 946

9. Die Kriegsgötter hinter der Friedensmaske . . . 953


Die Aggressivität der tibetischen
  Schutzgötter (Dharmapalas) . . . . . . . . . . 955
Gesar von Ling – der tibetische »Siegfried« . . . 960
Die tibetischen Kriegerkönige und ihre
  klerikalen Nachfolger . . . . . . . . . . . . . . 967
Die Dalai Lamas als höchste Kriegsherren . . . . 970
Die Geschichtsklitterung vom
  »friedlichen« Tibeter . . . . . . . . . . . . . . 975
Ist der XIV Dalai Lama der »größte
  lebende Friedensfürst« ? . . . . . . . . . . . . . 977
Die tibetische Guerilla und der CIA . . . . . . . . 983
Marschmusik und Terror . . . . . . . . . . . . . 990
Politisches Kalkül und
  buddhistische Friedensbotschaft . . . . . . . . 994
»Buddha hat gelächelt« : Der XIV Dalai Lama
  und die indischen Atomversuche von 1998 . . 997
10. Vorreiter des Shambhala-Krieges :
Die Mongolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1000
Dschinghis Khan als Bodhisattva . . . . . . . . . 1000
Der mongolische Shambhala-Mythos . . . . . . 1009
Der blutige Rächerlama Dambijantsan . . . . . . 1012
Ungern von Sternberg . . . . . . . . . . . . . . 1015
Der XIV Dalai Lama und die Mongolei . . . . . 1019

11. Der Shambhala-Mythos und die


buddhokratische Eroberung des Westens . . . 1022
Der Shambhala-Missionar Agvan Dorzhiev . . . 1022
Madame Blavatsky und der
  Shambhala-Mythos . . . . . . . . . . . . . . 1033
Nicholas Roerich und das Kalachakra-Tantra . 1039
Der »Shambhala-Krieger«
  Chögyum Trungpa . . . . . . . . . . . . . . . 1053
Andere westliche Shambhala-Visionen . . . . . . 1066
Der XIV Dalai Lama und
  der Shambhala-Mythos . . . . . . . . . . . . . 1068
Negative Shambhala-Visionen
  aus dem Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1071

12. Der Faschismus und seine enge Beziehung zum


buddhistischen Tantrismus . . . . . . . . . . . 1075
Der ehemalige SS’ler Heinrich Harrer :
  Lehrer des XIV Dalai Lama . . . . . . . . . . . 1076
Julius Evola : Der »tantrische« Berater
  Benito Mussolinis . . . . . . . . . . . . . . . . 1082
Miguel Serrano : »Freund« des XIV Dalai Lama
  und Chefideologe des »esoterischen
  Hitlerismus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1083
Ole Nydahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1114

13. Der Weltuntergangsguru Shoko Asahara


und der XIV Dalai Lama . . . . . . . . . . . . . 1117
Die Beziehungen Shoko Asaharas
  zum XIV Dalai Lama . . . . . . . . . . . . . . 1117
Der inszenierte Shambhala-Krieg . . . . . . . . . 1124
Das Ritualwesen der Sekte ist
  tantrisch-buddhistisch . . . . . . . . . . . . . 1125
Mord, Gewalt und Religion . . . . . . . . . . . . 1135
Das japanische Armageddon . . . . . . . . . . . 1137
Religion und chemische Labors . . . . . . . . . 1139
Das Lied vom Sarin . . . . . . . . . . . . . . . 1144

14. Chinas traditioneller Anspruch auf den


Weltenthron und seine metaphysische
Konkurrenz mit Tibet . . . . . . . . . . . . . . . 1154
Mao Zedong : Die Rote Sonne . . . . . . . . . . 1160
Mao Zedongs »Tantrismus« . . . . . . . . . . . . 1167
Eine spirituelle Konkurrenz zwischen
  dem XIV Dalai Lama und Mao Zedong ? . . . 1172
Die nachmaoistische Ära in Tibet . . . . . . . . . 1174
Eine panasiatische Vision
  des Kalachakra-Tantras ? . . . . . . . . . . . . 1180
Taiwan – ein Sprungbrett für den tibetischen
  Buddhismus und den XIV Dalai Lama ? . . . . 1182
Gibt es ein Interesse Chinas
  am Shambhala-Mythos ? . . . . . . . . . . . . 1192

15. Die buddhokratische Eroberung des Westens


(Taktiken, Strategien, Ziele) . . . . . . . . . . . 1207
Die »Tibetlobby« . . . . . . . . . . . . . . . . . 1218
Die Manipulation der »Grünen« . . . . . . . . . 1224
Die Scheinwelt des interreligiösen Dialogs
  und der Ökumene . . . . . . . . . . . . . . . . 1237
Moderne Wissenschaft und
  tantrischer Buddhismus . . . . . . . . . . . . 1260
Hollywood und tantrischer Buddhismus . . . . 1286

16. Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1298


Das atavistische Muster des
  tibetischen Buddhismus . . . . . . . . . . . . . 1305
»Kampf der Kulturen« : Der fundamentalistische
  Beitrag des Lamaismus . . . . . . . . . . . . . 1313


Postskriptum : Schöpferische Polarität
jenseits des Tantrismus . . . . . . . . . . . . . . 1327

Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1343

Literaturnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . 1347
Vorbemerkung :
Licht und Schatten

Nachdem Buddha tot war, zeigte man noch


Jahrhunderte seinen Schatten in einer Höh-
le – einen ungeheuren schauerlichen Schat-
ten. Gott ist tot : aber so wie die Art der Men-
schen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausen-
de lang Höhlen geben, in denen man seinen
Schatten zeigt – und wir – wir müssen auch
noch seinen Schatten besiegen.
(Friedrich Nietzsche, Philosoph)

Der Mythos des Dalai Lama ist stärker als


die Wahrheit – er legt einen Schatten über
die Wahrheit.
(Ursula Bernis, Schriftstellerin)
Der Buddhismus als Praxis und Philosophie hat sich in
den letzten 30 Jahren so schnell über die westliche Welt
verbreitet und ist schon so häufig zu einem Medienereig-
nis geworden, daß sich mittlerweile jeder an kulturellen
Fragen Interessierte irgendwelche wie auch immer ge-
artete Vorstellungen davon macht. Bei der »abendlän-
dischen« Konstruktion des Buddhismusbildes ist es all-
gemein üblich, die Lehre des Gautama Buddha als ein
positives östliches Gegenmodell zur dekadenten Kul-
tur und Zivilisation des Westens herauszustellen : Das
Abendland brachte Krieg und Ausbeutung in die Welt-
geschichte – der Buddhismus dagegen steht für Friede
und Freiheit ; der westliche Rationalismus zerstörte Um-
welt und Leben – die östlichen Weisheitslehren dagegen
bewahren und sichern das Leben und die Umwelt. Me-
ditation, Mitgefühl, Gelassenheit, Einsicht, Gewaltlosig-
keit, Bescheidenheit und Vergeistigung Asiens stehen ge-
gen Aktionismus, Egomanie, Unruhe, Indoktrinierung,
Gewalt, Arroganz und Materialismus Europas und Nor-
damerikas. Ex oriente lux – »aus dem Osten kommt das
Licht« – in occidente nox – »im Westen herrscht finste-
re Nacht«.
Dieses Ausspielen der östlichen Hemisphäre gegen die
westliche finden wir nicht nur als das »Geschäft« naiver
Gläubiger und eifriger tibetischer Lamas. Im Gegenteil,
der Wertevergleich hat sich als eine beliebte philosophi-
sche Spekulation in der okzidentalen Intelligenzia ver-

19
breitet, die hierbei mit ihrem eigenen Untergang koket-
tiert.
Aber auch die Creme von Hollywoods Filmwelt be-
kennt sich heute gerne und offen zur buddhistischen Leh-
re (oder was sie darunter versteht), insbesondere wenn sie
aus dem Munde tibetischer Lamas stammt. »Tibet leuch-
tet heller als jemals auf der Showbusineß-Landkarte«, le-
sen wir 1997 im Herald Tribune. »Tibet ist dabei, in die
Volkskultur des Westens einzudringen, wie es nur einer
kann, wenn Hollywood die Unterhaltungsspritze in das
Weltsystem tätigt. Erinnern wir uns daran, daß Holly-
wood neben dem U. S. Militär die mächtigste Kraft auf
der Welt darstellt.« (* Herald Tribune, 20. März, 1997, 1,
6) Orville Shell, der an einem Buch über Tibet und der
Westen arbeitet, sieht die »Hollywood Connection« des
Dalai Lama als einen Ersatz für das fehlende Diplomati-
sche Corps, das die Interessen des exiltibetischen Hier-
archen international vertreten könnte : »Da er (der Dalai
Lama) keine Botschaften hat, und da er keine politische
Macht hat, muß er etwas anderes suchen. Hollywood ist
eine Art eigenständiges Land, und er hat hier eine Art von
Botschaft etabliert.« (* Newsweek, Mai 19, 1997, 24)
Immer mehr Prominente insbesondere aus dem Show-
busineß glauben, im tibetischen Buddhismus jene Heils-
botschaft gefunden zu haben, die endlich Frieden und
Ruhe in der Welt schaffen kann. Der für seine gewalttäti-
gen Filmsujets berühmte Regisseur Martin Scorsese ruft
angesichts seines jüngsten Films (Kundun, 1998), den er
über den jungen Dalai Lama gedreht hat, pathetisch aus :
»Gewalt ist keine Lösung, funktioniert nicht mehr. Wir

20
sind am Ende des schlimmsten Jahrhunderts, in dem die
größten Grausamkeiten der Geschichte passiert sind …
Die Natur des Menschen muß sich ändern. Was gepflegt
werden muß, ist Liebe und Mitgefühl.« (* Focus, 46/1997,
168) Von dem Karatefilmhelden Steven Seagal, der sich
selbst als die Inkarnation eines tibetischen Lamas sieht,
erfahren wir : »Ich bin seit 20 Jahren Buddhist, lebe seit-
dem in Harmonie mit mir und der Welt«. (* Bunte, 6. 11.
1997, 24) Für den Schauspieler Richard Gere, einer der
engsten westlichen Vertrauten des XIV Dalai Lama, be-
steht »die feine Ironie des Buddhismus (darin), daß der
einzige Weg zu wirklichem Glück bedeutet, unser eigenes
Glück jedem und allen anzubieten.« (* Bunte, 6. 11. 1997,
25) Helmut Thoma, ehemaliger Chef des deutschen Fern-
sehsenders RTL, sieht die Religion aus dem Osten nicht
weniger positiv : »Buddhisten gehen freundlich wohlwol-
lend und mitfühlend gütig miteinander um. Sie sehen kei-
nen Unterschied zwischen eigenem und fremdem Leid.
Ich bewundere das.« (* Bunte, 6. 11. 1997, 24) Auch die
Filmschauspielerin Christine Kaufmann schwärmt : »Im
Buddhismus heißt es : Genieße Phasen des Glücks, denn
diese sind vergänglich.« (* Bunte, 6. 11. 1997, 21) Sharon
Stone, Urna Thurman, Tina Turner, Patty Smith, Meg
Ryan, Doris Dörrie, Shirley MacLaine sind nur einige der
weiblichen Filmgrößen und Sängerinnen, die der Lehre
des Gautama Buddha folgen.
Die westlichen Medien sind nicht weniger euphorisch.
Unzählige Berichte in allen europäischen Sprachen, ob in
»seriösen« Blättern oder in der Regenbogenpresse, preisen
die Lehre aus dem Osten als die »ideale Religion unse-

21
rer Zeit«. Zum Beispiel die auflagenstarke deutsche Illu-
strierte Bunte. Dort war 1997 zu lesen : Der Buddhismus
predige keine Moral, fordere zum Spaß auf, unterstütze
Winner, habe im Gegensatz zu anderen Glaubensbekennt-
nissen eine saubere Vergangenheit (»keine Leichen im
Keller«), verehre die Natur als Kathedrale, mache Frau-
en schön, fördere die Sinnlichkeit, verspreche ewige Ju-
gend, schaffe ein Paradies auf Erden, reduziere Streß und
Körpergewicht. (* Bunte, 6. 11. 1997, 20 ff.)
Die bereits jetzt zum Mythos gewordene »Buddhisie-
rung des Westens« ist das Werk vieler. Mönche, Gelehrte,
begeisterte Schüler, großzügige Sponsoren, Okkultisten,
Hippies und alle Arten von »Orientfahrern« haben dar-
an gearbeitet. Aber unter ihnen allen ragt Seine Heilig-
keit Tenzin Gyatso der XIV Dalai Lama hervor, wie der
Himalaya über allen anderen Gipfeln unseres Planeten.
Zeitlos, gigantisch, respektvoll, tolerant, geduldig, be-
scheiden, schlicht, humorvoll, herzlich, sanft, gütig, ge-
schmeidig, erdhaft, harmonisch, transparent, rein und
immer wieder lachend und lächelnd – so kennt mittler-
weile jeder den Kundun (tibetisch : »Präsenz« oder auch
»lebender Buddha«). Es gibt keine positive menschliche
Eigenschaft, die nicht irgendwo einmal vom Dalai Lama
behauptet worden wäre. Für zahlreiche Bewohner unse-
res Planeten, auch wenn diese keine Buddhisten sind, re-
präsentiert er die respektabelste lebende Persönlichkeit
unserer Epoche.
All die kostbaren Qualifikationen eines gütigen und
vertrauenswürdigen Charakters, die wir bei unseren
westlichen Politikern und abendländischen Kirchenfür-

22
sten umsonst suchen, glauben viele in der schlichten Per-
son dieses buddhistischen Mönchs entdeckt zu haben. In
einer Welt der Böswilligkeit, des Materialismus und der
Korruption repräsentiert er den guten Willen, die Sphäre
des Geistes und die Lotosblume der Reinheit ; im Wirbel
der Nichtigkeiten und der Hektik steht er für Sinn, Ruhe
und Festigkeit ; im Konkurrenzkampf des modernen Ka-
pitalismus und im Zeitalter der Katastrophenmeldungen
ist er ein Garant der Gerechtigkeit und des klaren und
unerschütterlichen Willens ; im Kampf der Kulturen und
der Völker erscheint er als der Friedensapostel ; im welt-
weit aufbrechenden religiösen Fanatismus predigt er To-
leranz und Gewaltlosigkeit.
Seine Anhänger verehren ihn als eine Gottheit, als
einen »Lebenden Buddha« (Kundun), und bezeichnen
ihn als ihren »Gottkönig«. Nicht einmal die katholischen
Päpste und die mittelalterlichen Kaiser beanspruchten
eine so hohe spirituelle Position, denn sie verbeugten
sich noch vor ihrem »Höchsten Herrn« (Gott) als des-
sen oberste Diener. Der Dalai Lama dagegen wirkt und
handelt – jedenfalls der tibetischen Doktrin nach – als
dieses »Höchste« selbst. In ihm offenbart sich die mysti-
sche Gestalt des ADI BUDDHA (des Höchsten Buddha),
er ist ein religiöses Ideal in Fleisch und Blut. Gewaltige
Hoffnungen zieht der Kundun in bestimmten Kreisen
als der neue Heilsbringer auf sich. Nicht nur Tibeter und
Mongolen, sondern auch viele Chinesen und Westler se-
hen in ihm einen modernen Messias. 1

1 Nach der Meinung des Tibetforschers Peter Bishop befriedigt →

23
So menschlich sich der Mönch aus Dharamsala (Indi-
en) auch gibt, so umwittern seine Person doch die ok-
kultesten Spekulationen. Viele, die ihm begegnet sind,
glaubten, dem Übernatürlichen gegenüber gestanden zu
haben. Was Moses verwehrt war, nämlich in das Antlitz
seines Gottes (Yahwe) zu blicken, das ist gläubigen Bud-
dhisten im Falle des »Gottkönigs«, der zu den Menschen
vom Dach der Welt hinabgestiegen ist, möglich gewor-
den – und dieses Antlitz zeigt keinen Zorn wie Jahwe,
sondern lächelt mild, gütig und herzlich.
Das esoterische Pathos in der Charakterisierung des
Dalai Lamas hat schon längst die Grenzen buddhistischer
Insidergruppen überschritten. Es sind Berühmtheiten aus
dem großen Showbusineß, und selbst Artikel aus der »se-
riösen« westlichen Presse, die mit gewichtigen Worten
den mystischen Flair des Kunduns einfangen : »Die Fas-
zination ist die Suche nach dem Dritten Auge«, schreibt
Melissa Mathison, die Drehbuchautorin von Martin Scor-
seses Film Kundun im Herald Tribune. »Die Amerikaner
erhoffen eine Art magische Tür in eine mystische Sphä-
re und glauben, es gibt einen mysteriösen Grund hinter
den Dingen, eine kosmische Erklärung. Tibet bietet den
extravagantesten Ausdruck des Mystischen, und wenn

← das Oberhaupt der lamaistischen »Kirche« für viele Menschen


aus dem Westen eine »neuentstandene Wertschätzung für den
Göttlichen Vater«. (* Bishop, 1993, 130) Aus den von der moder-
nen Gesellschaft produzierten Unsicherheiten und Ängsten, aus
der Kritik an den monotheistischen Religionen, aus den Trüm-
mern des europäischen Wertezerfalls – so Bishop –, erhebe sich
Seine Heiligkeit als väterliche Retterfigur.

24
Menschen Seiner Heiligkeit (dem Dalai Lama) begeg-
nen, kannst du auf ihren Gesichtern erkennen, daß sie
hoffen, auf das gestoßen zu werden, was ihr Leben über-
steigt und sie woandershin mitnimmt.« (* Herald Tribu-
ne, 20. März, 1997, 6)
Dennoch – und das ist ein weiteres Wundermärchen
– verträgt sich die omnipotente Rolle des Gottkönigs mit
der mönchischen Bescheidenheit und Schlichtheit, die
er zur Schau trägt, ausgezeichnet. Ja, gerade diese schil-
lernde Kombination des Höchsten (»Gottkönig«) und
Mächtigsten mit dem Niedrigsten (»Bettelmönch«) und
Schwächsten macht den Dalai Lama für viele so faszinie-
rend – verständliche Worte, ein gütiges Lächeln, eine bil-
lige Robe, schlichte Sandalen und dahinter die Allgewalt
des Göttlichen. Mit seinem ständig wiederholten Satz –
»Ich … sehe mich in erster Linie als einen Menschen und
als einen Tibeter, der es sich ausgesucht hat, ein buddhi-
stischer Mönch zu sein« – hat Seine Heiligkeit die Herzen
des Westens erobert. (* Dalai Lama XIV, 1993 I, 7) Einer
solchen Person können wir Glauben schenken, bei ihm
können wir Zuflucht suchen, bei ihm erfahren wir etwas
über die Weisheiten des Lebens und des Todes. 2

2 Aufgrund der kontradiktorischen Wirkung kann der Dalai


Lama mit den banalsten Worten und Handlungen seine über-
menschliche Größe bereichern und seine göttliche Würde ver-
stärken. Viele westliche Besucher Seiner Heiligkeit sind zum Bei-
spiel nach einer Audienz darüber erstaunt, daß sich ein »Gott-
könig« ständig die Nase reibt und sich »wie ein Affe« den Kopf
kratzt. Doch »solche Äußerungen des natürlichen Körpers«,
schreibt der Tibetforscher Christiaan Klieger, »tun dem Status des
Dalai Lama keinen Abbruch, ganz im Gegenteil, sie erhöhen →

25
Einen ähnlichen Umkehreffekt hat auch ein anderer
Lieblingssatz des Kunduns, der besagt, daß die Institu-
tion des Dalai Lama in Zukunft überflüssig sein kön-
ne. »Vielleicht wäre es wirklich gut, wenn ich der letz-
te wäre !« (* Levenson, 366) Solche Bekenntnisse zur ei-
genen Überflüssigkeit treiben den Menschen Tränen in
die Augen und werden nur noch durch die Prognose des
»Gottkönigs« übertroffen, daß er womöglich in seinem
nächsten Leben als Insekt inkarniere, um diesen niede-
ren Lebewesen nun als ein »Insektenmessias« zu helfen.
Jeder wünscht sich nach solchen herzergreifenden Pro-
phezeiungen nichts mehr, als daß die Institution des Da-
lai Lama auf Ewigkeit Bestand haben möge.
Ebenso beeindruckend und erschütternd wirkt die po-
litische Ohnmacht des Landes, aus dem der Hierarch flie-
hen mußte. Das Bild vom unschuldigen, friedlichen, spi-
rituellen, schutzlosen und kleinen Tibet, das durch den
gnadenlosen, menschenverachtenden und materialisti-
schen chinesischen Giganten zu Boden gedrückt und ge-
peinigt wird, hat das »Schneeland« und seinen Mönchs-
könig zu einem weltweiten Symbol für eine »pazifistische
Resistance« gemacht. Je mehr Tibet und sein »sakraler
König« bedroht sind, desto höher steigt deren spirituelle
Autorität, desto mehr wird der Kundun zu einer mora-
lischen Weltinstanz. Ihm ist das Unmögliche gelungen,
aus seiner Schwäche seine Stärke zu ziehen.

← sein persönliches Charisma. Sie stabilisieren das unvereinba-


re Bild einer göttlichen Form in einem menschlichen Körper.«
(* Klieger, 79)

26
Die zahlreichen Reden des XIV Dalai Lamas, seine
Interviews, Statements, Schriften, Biographien, Bücher
und seine zahllosen Einleitungen und Vorworte zu Tex-
ten, die nicht aus seiner Feder stammen, behandeln fast
ausschließlich solche Themen wie Mitgefühl, Güte, Herz-
lichkeit, Liebe, Gewaltlosigkeit, Menschenrechte, ökolo-
gische Visionen, demokratische Bekenntnisse, religiöse
Toleranz, innere und äußere Spiritualität, Segen der Wis-
senschaft, Weltfrieden und so weiter. Man wäre ein Böse-
wicht, würde man dem, was dort geschrieben und gesagt
wird, nicht voll zustimmen. Das Bewußtsein zu schulen,
geistige Ruhe herzustellen, innere Genügsamkeit zu kul-
tivieren, Zufriedenheit zu pflegen, Achtsamkeit zu üben,
die Selbstsucht aufzuheben, anderen zu helfen – welch ein
verantwortungsvoller Mensch könnte sich damit nicht
identifizieren ? Wer sehnt sich nicht nach makelloser Lie-
be, klarer Geisteshaltung, Großmut und Erleuchtung ?
Der Dalai Lama erscheint in der westlichen Zivilisati-
on als das reinste Licht. Er repräsentiert – nach Aussage
des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Jimmy Car-
ter – einen neuen Typus von World Leader, der die Prin-
zipien des Friedens und des Mitgefühls in das Zentrum
seiner Politik stellt, der durch seine freundliche und ge-
winnende Art allen Menschen zeigt, wie mit Ausdauer
und Geduld die schwersten Schicksale zu ertragen sind.
Für mittlerweile Millionen symbolisiert er humane Wür-
de und globale Verantwortung. Kaum einer hat es denn
auch bis hinein in die jüngste Zeit gewagt, an dieser ohn-
und übermächtigen Lichtgestalt Kritik zu üben, mit Aus-
nahme seiner Erzfeinde, die chinesischen Kommunisten.

27
Aber wie aus heiterem Himmel schob sich im Jahre 1996
eine düstere Wolke vor den Lichterkranz, der von dem
»lebenden Buddha« ausstrahlte.
Anschuldigungen, Vorwürfe, Verdächtigungen und Be-
lastungen tauchten in den Medien auf. Zuerst im Inter-
net, dann in einzelnen Presseberichten und schließlich
in Fernsehsendungen (siehe Deutsches Fernsehen, ARD,
Panorama vom 20. 11. 97 und Schweizer Fernsehen, SF1,
»10 vor 10«, 5. , 6. , 7. , 8. , Jan. 1998). In der gleichen Zeit,
wo die großen Stars in Hollywood für ihren tibetischen
Gott einen Medienaltar errichteten, mehrten sich die öf-
fentlichen Angriffe auf den Dalai Lama. Der unerwarte-
te Katalog der Anklagepunkte wäre selbst für einen pro-
fanen Politiker peinlich, für einen Gottkönig aber ist er
horrend. Und die Angreifer stammen diesmal nicht aus
dem chinesischen Lager, sondern die Attacken werden
aus den eigenen Reihen geritten.
In einem offenen Brief an den Kundun, der von Exil­
tibetern verfaßt worden sein soll und der sich mit dem
»Despotismus« des Hierarchen auseinandersetzt, kön-
nen wir folgende heftige Sätze lesen : »Der Grund (für
die Despotie) ist eine unsichtbare Krankheit, die im-
mer noch da ist und die unmittelbar ausbricht, wenn
verschiedene Bedingungen gegeben sind. Und worin
besteht diese Krankheit ? Es ist das Festhalten an Ih-
rer eigenen Macht … Seine Heiligkeit will ein großer
Führer sein, aber Sie wissen nicht, daß es zur Erfüllung
dieses Wunsches notwendig ist, ein ›politisches Bodhi-
sattva-Gelübde‹ abzulegen. Statt dessen haben Sie den
falschen politischen Pfad der Machtanhäufung‹ einge-

28
schlagen, der dann zu einem ständig falschen Weg ge-
führt hat. Sie sind der Meinung gewesen, daß Sie, um
ein großer Führer zu sein, zu allererst und vor allem an-
deren Ihre eigene Position sichern müssen, so daß Sie,
wo auch immer irgendeine Opposition gegen Sie auf-
brach, sich verteidigen mußten, und das ist ansteckend
geworden … Mehr noch, um (andere) Lamas heraus-
zufordern, haben Sie die Religion für Ihre Ziele benutzt.
Zu diesem Zweck haben Sie einen blinden Glauben in-
nerhalb des tibetischen Volkes entwickelt … Zum Bei-
spiel haben Sie damit begonnen, die Kalachakra-Initia-
tionen3 öffentlich zu geben. Dann haben Sie angefangen,
sie kontinuierlich als eine große Sache für Ihre politi-
schen Ambitionen zu benutzen. Das Resultat war, daß
jetzt das tibetische Volk genau in die gleiche schmudde-
lige und schmutzige Vermischung von Religion und Po-
litik der Lamas zurückgefallen ist, die Sie so treffend in
früheren Zeiten kritisiert haben … Sie haben die Tibe-
ter zu Eseln gemacht. Sie können sie zwingen, hier- und
dorthin zu gehen, wie es Ihnen gerade gefällt. In Ihren
Worten sagen Sie immer, daß Sie wie Gandhi sein wollen,
in Ihren Handlungen aber sind Sie ein religiöser Fun-
damentalist, der den religiösen Glauben dazu benutzt,
um politische Ziele zu verfolgen. Ihr Bild ist der Dalai
Lama, Ihr Mund ist Mahatma Gandhi und Ihr Herz ist

3 Die Kalachakra-Initiationen sind die bedeutendsten Rituale,


die der Dalai Lama zum Teil publik, zum Teil geheim durchführt.
Die öffentlichen Veranstaltungen finden mittlerweile vor Hun-
derttausenden statt. Analyse und Interpretation der Kalachakra-
Einweihungen stehen im Zentrum der vorliegenden Studie.

29
das eines religiösen Diktators. Ihr seid ein Betrüger und
es ist sehr traurig, daß an der Spitze all des Leidens, das
es noch erdulden muß, das tibetische Volk einen Führer
wie Sie ertragen muß. Die Tibeter sind fanatisch gewor-
den. Sie sagen, daß der Name des Dalai Lama wichtiger
sei als das Prinzip Tibet. Sie haben Ihr Ziel erreicht …
Bitte, wenn Sie glauben, ein Wesen wie Gandhi zu sein,
bringen Sie Tibet nicht in eine Lage, die dem Stil eines
Kirchenstaates aus dem 17. Jahrhundert in Europa ver-
gleichbar ist.« (* Sam, 27. 05. 1996 – ›infor@infor. de-
mon. co. uk‹) Die Liste der Beschuldigungen bricht nicht
mehr ab. Hier einige der Punkte, welche man dem Kun-
dun seit gut einem Jahr (seit 1997) vorwirft, und auf die
wir im Verlaufe unserer Studie ausführlich zu sprechen
kommen : Verbindung mit dem japanischen »Giftgas-
guru« Shoko Asahara (»Asahara-Affäre«) ; Gewaltsame
Unterdrückung der freien Religionsausübung in den ei-
genen Reihen (»Shugden-Affäre«) ; Spaltung der anderen
buddhistischen Sekten (»Karmapa-Affäre«) ; häufiger se-
xueller Mißbrauch von Frauen durch tibetische Lamas
(»Sog­yal Rinpoche- und June Campbell-Affäre«) ; Into-
leranz gegenüber Homosexuellen ; Verwicklung in einen
Ritualmord (Ereignisse vom 4. Februar 1997) ; Bezie-
hung zum Nationalsozialismus (»Heinrich-Harrer-Af-
färe«) ; Nepotismus (»Yabshi-Affäre«) ; Ausverkauf des
eigenen Landes an die Chinesen (Verzicht auf die Sou-
veränität Tibets) ; politische Lüge ; Geschichtsklitterung

4 Bis 1996 mußte man den Westen in zwei Fraktionen teilen, auf
der einen Seite die eloquenten Befürworter des tibetischen →

30
und vieles andere mehr. Aus dem Gott ist über Nacht
ein Dämon geworden. 4
Und auf einmal beginnt man sich auch im Westen,
wenn auch noch sehr zaghaft, zu fragen, ob der Lichtkö-
nig aus dem Himalaya nicht einen monströsen Schatten
hat. Wenn wir vom »Schatten« des Dalai Lama sprechen,
dann meinen wir damit eine mögliche dunkle, düste-
re und »schmutzige« Seite in seiner Person und in sei-
nem politisch-religiösen Amt im Gegensatz zu der reinen
und glänzenden Gestalt, in der er als der »größte leben-
de Friedensheld unseres Jahrhunderts« das Bewußtsein
von Millionen verzaubert.
Den meisten Menschen, die ihn persönlich oder durch
die Medien kennen gelernt haben, ist ein solcher Nacht­
aspekt Seiner Heiligkeit überhaupt kein Begriff. Sie kä-

← Buddhismus, auf der anderen diejenigen, welche überhaupt


keine Ahnung hatten und Schweigen bewahrten. Dagegen wa-
ren moderne oder »postmoderne« Kulturkritiken der buddhi-
stischen Lehre und kritische Auseinandersetzungen mit dem ti-
betischen Klerus und der buddhokratischen Staatsform äußerst
selten – (ganz im Gegensatz zu einer entsprechenden Literatur,
die den Papst und die katholische Kirche zum Inhalt hat). »Nicht-
verhaftete« und unverfälschte Analysen und Interpretationen der
buddhistischen, beziehungsweise der tibetischen Geschichte, kurz
eine offene und um Wahrheit bemühte Konfrontation mit den
Schattenseiten der »Wahren Lehre« und ihrer Historie mußten
wie Stecknadeln in einem Heuhaufen ideologischer Glorifizierun-
gen und bewußt konstruierter Geschichtsmythen gesucht werden.
Deswegen hatten diejenigen, die sich bemühten, die verdeckten
Hintergründe ausfindig zu machen und ans Tageslicht zu fördern,
gegen einen gewaltigen Strom von Widerständen aus vorgepräg-
ten Meinungen und bewußten Manipulationen anzuschwimmen.
Das hat sich seit dem Jahre 1996 geändert.

31
men gar nicht auf die Idee, daß es so etwas geben könn-
te, denn der Kundun hat es verstanden, alles Bedrohli-
che und Dämonische im tibetischen Buddhismus und
die vielen finsteren Kapitel in der Geschichte Tibets zu
verschleiern. Es ist ihm bis 1996 gelungen – sieht man
von den nicht sehr fundierten chinesischen Kritiken ab
–, den Sonnenhelden auf der Weltenbühne zu spielen.

PL ATON S HÖHLE

Der Schatten – das ist die »andere Seite« einer Person,


ihr »verstecktes Gesicht«, der Schatten – das sind ihre
»okkulten Tiefen«. Mit unserem Schatten – so lehrt uns
die Tiefenpsychologie – können wir auf vierfache Weise
umgehen : Wir können ihn verleugnen, verdrängen, auf
andere Personen projizieren oder integrieren.
Aber die Schattenthematik hat nicht nur ihre psycho-
logische Seite, sie ist seit Platons berühmtem Höhlen-
gleichnis zu einem beliebten Motiv der abendländischen
Philosophie geworden. Plato erzählt in der Politeia (Der
Staat), der »unerleuchtete« Mensch lebe in einer Höhle
mit dem Rücken zum Eingang. Draußen leuchte das Licht
der ewigen und wahrhaftigen Wirklichkeit – doch da die
Menschen dieser den Rücken kehren, sehen sie nur die
Schatten der Realität, die schemenhaft über die vor ihren
Augen liegende Höhlenwand huschen. Die menschliche
Aufmerksamkeit ist magisch gefesselt von dieser Schat-
tenwelt, deswegen nimmt sie nur Träume und Illusionen
wahr, niemals aber die höhere Wirklichkeit selbst. Wenn

32
ein Höhlenbewohner eines Tages aus seiner düsteren Be-
hausung entkommen kann, erkennt er, daß er in einer
Scheinwelt gelebt hat.
Dieses Gleichnis hat Friedrich Nietzsche im Aphoris-
mus 108 der Fröhlichen Wissenschaft kolportiert und –
das macht seine Worte für uns so interessant – auf die
Gestalt des Buddha angewandt : »Nachdem Buddha tot
war,« – schreibt Nietzsche – »zeigte man noch Jahrhun-
derte seinen Schatten in einer Höhle – einen ungeheu-
ren schauerlichen Schatten. Gott ist tot : aber so wie die
Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtau-
sende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten
zeigt – und wir – wir müssen auch noch seinen Schat-
ten besiegen.«5
Es ist nicht ohne Reiz, ausgehend von diesem Apho-
rismus, Spekulationen über den Dalai Lama anzustel-
len. Immerhin wird er als »Gott« beziehungsweise als ein
»lebender Buddha« (Kundun) verehrt, als ein Höchstes
Erleuchtungswesen. Aber – so könnten wir mit Nietz-
sche argumentieren – der wirkliche Buddha (»Gott«)
ist tot. Haben wir es deswegen in der Gestalt des Dalai
Lama nur noch mit seinem Schattenbild zu tun ? Sind
vom ursprünglichen Buddhismus nur noch Pseudo-Dog-
men, Pseudo-Rituale oder Pseudo-Mysterien übriggeblie-

5 Für Numerologen mag die Tatsache, daß Nietzsches Schatten-


aphorismus die Zahl 108 trägt, einen Anlaß für allerlei okkul-
te Überlegungen geben, denn die 108 ist eine der bedeutendsten
Heiligen Zahlen des tibetischen Buddhismus. Es ist beim damali-
gen Stand der Tibetforschung kaum anzunehmen, daß Nietzsche
diese Zahl bewußt gewählt hat.

33
ben ? Hat uns der historische Buddha Shakyamuni seinen
»schauerlichen Schatten« (den Dalai Lama) hinterlassen,
und sind wir dazu aufgefordert, uns davon zu befrei-
en ? Man könnte jedoch auch darüber spekulieren, ob
die Menschen vom Dalai Lama selber nur die Schatten-
umrisse wahrnehmen, weil sie in der Höhle eines uner-
leuchteten Bewußtseins leben. Würden sie dagegen die-
se Scheinwelt verlassen, dann trete ihnen der Kundun
als die Höchste Lichtgestalt und als der Höchste Bud-
dha (ADI BUDDHA) entgegen.
Auf solche und ähnliche metaphysischen Fragen wol-
len wir im Verlauf unserer Studie über den Dalai Lama
und den tibetischen Buddhismus eine konkrete Antwort
geben. Wir müssen aber zu diesem Zweck unsere Leser
und Leserinnen in die Höhle (Nietzsches) führen, in der
dieser »schauerliche Schatten« des Kunduns (eines »leben-
den Buddhas«) an der Wand erscheint. Diese Höhle blieb
bisher für ein öffentliches Publikum verschlossen und
durfte von Uneingeweihten niemals betreten werden.
Jeder tibetische Tempel weist im übrigen einen solchen
unheimlichen Schattenraum auf. Neben den verschiede-
nen sakralen Anlagen, in denen lächelnde Buddhastatuen
Frieden und Gelassenheit ausstrahlen, gibt es dort eine
geheime Kammer, Gokhang mit Namen, die nur von be-
stimmten Auserwählten besucht werden darf. Im Flac-
kern halberstickter Butterlampen, von rostigen Waffen,
ausgestopften Tieren und getrockneten Leichenteilen um-
geben, hausen im Gokhang die tibetischen Schreckensgöt-
ter. Hier versammeln sich die Einwohner eines gewalttä-
tigen und monströsen Schattenreiches. Im übertragenen

34
Sinne symbolisiert der Gokhang das düstere Ritualwesen
des Lamaismus und die verborgene Gewaltgeschichte Ti-
bets. Wir müssen also, um den Dalai Lama (den »leben-
den Buddha«) wirklich kennen zu lernen, erst einmal in
die »Höhle« (den Gokhang) hinabsteigen und dort eine
Speläologie seiner Religion durchführen.

»REALPOLITIK« UND
»POLITIK DER SYMBOLE«

Unsere Studie ist in zwei große Kapitel aufgeteilt. Das


erste beinhaltet eine Darstellung und Kritik der religi-
ösen Grundlagen und Mysterien des tibetischen (»tan-
trischen«) Buddhismus und trägt den Titel Ritual als Po-
litik. Das zweite Kapitel (Politik als Ritual) untersucht
die Machtpolitik des Kunduns (Dalai Lama) und deren
historische Voraussetzungen. Die Beziehungen von po-
litischer Macht und Religion stehen also im Zentrum
unseres Buches.
Alles, was in der profanen Welt geschieht – angefan-
gen von den Naturereignissen über die große Politik bis
hin zum Alltag –, ist in archaischen Gesellschaften (wie
der tibetischen) der Ausdruck dahinter wirkender tran-
szendenter Mächte und Kräfte. Nicht die Menschen be-
stimmen ihr Schicksal, sondern sie liegen als Instrumen-
te in den Händen von »Göttern« und »Dämonen«. Aus
dieser atavistischen Sichtweise, die das traditionelle Kul-
turerbe des tibetischen Buddhismus bestimmt, muß auch
die »weltliche« Politik des Dalai Lama abgeleitet werden,

35
wenn wir sie überhaupt verstehen wollen. Denn die von
ihm verwalteten Mysterien (in denen die »Götter« ihren
Auftritt haben) bilden die Grundlage für seine politischen
Visionen und Entscheidungen. Staat und Religion, Ritu-
al und Politik sind für ihn nicht getrennt.
Was aber unterscheidet eine »Politik der Symbole« von
der »Realpolitik« ? In beiden Fällen geht es um Macht !
Die Methoden, um Macht zu erobern und zu festigen,
sind jedoch unterschiedlich. Im realpolitischen Gesche-
hen haben wir es mit Tatsachen zu tun, die von »Men-
schen« verursacht und gesteuert werden. Die Protagoni-
sten sind hier Politiker, Militärs, Wirtschaftsbosse, Mei-
nungsmacher, Kulturträger und so weiter.
Die Methoden der Machtausübung sind Gewalt, Krie-
ge, Revolutionen, Gesetze, Geld, Rhetorik, Propaganda,
öffentliche Diskussionen, Bestechungen.
In der symbolisch-politischen Welt begegnen wir hin-
gegen »übernatürlichen« Energiefeldern, das heißt »Göt-
tern« und »Dämonen«. Die irdischen Protagonisten des
Geschehens sind zwar noch immer Menschen wie Kir-
chenfürsten, Priester, Magier, Gurus, Yogis und Scha-
manen – sie alle sehen sich jedoch als die Diener eines
irgendwie gearteten übergeordneten göttlichen Willens,
oder sie übersteigen ihr Menschsein sogar und werden,
wie im Falle des Dalai Lama, selbst zum »Gott«. Seine
Machtausübung besteht deswegen nicht nur in weltli-
chen Techniken, sondern ebenso in der Manipulation
von Symbolen, im Ritus und in der Magie. Symbolbil-
der und rituelle Handlungen sind für ihn keine reinen
Zeichen oder ästhetische Aufführungen, sondern Instru-

36
mente, um die Götter zu aktivieren und um das Bewußt-
sein von Menschen zu beeinflussen. Seine politische Rea-
lität wird durch einen »metaphysischen Umweg« über die
Mysterien gesteuert. 6
Diese Verflechtung von historischen und symbolischen
Ereignissen führt zu der phantastisch anmutenden Me-
tapolitik der Tibeter : Durch Ritualistik und Beschwö-
rungen, durch magische Praktiken und Konzentrations-
übungen glaubt der Lamaismus nicht nur auf den Ge-
schichtsverlauf Tibets, sondern auf den unseres gesamten
Planeten Einfluß zu gewinnen. Die Folge davon ist eine
atavistische Kombination von Magie und Politik. Politi-
sche Entscheidungen werden anstatt vom Parlament und
von der tibetischen Exilregierung von Orakeln und den
hinter ihnen wirkenden übermenschlichen Wesen gefällt.
Nicht mehr Parteien mit unterschiedlichen Programmen
und Führern stehen sich in der politischen Arena als Geg-
ner gegenüber, sondern verschiedene miteinander befein-
dete Orakelgötter.
Es ist vor allem die Person des Dalai Lama, in der sich
das gesamte weltliche und spirituell-magische Potential

6 Zwischen »Symbol- und Ritualpolitik« und dem realen politi-


schen Geschehen gibt es demnach eine okkulte Korrespondenz.
Die tibetischen Lamas glauben sich deswegen berechtigt, die vor-
gefundene gesellschaftliche Realität (auch die des Westens) ih-
rem magischen Weltbild und ihren »irrationalen« Methoden zu
unterwerfen. Mit einer für ein modernes Bewußtsein kühn an-
mutenden gedanklichen Konstruktion sehen sie in der Weltge-
schichte nicht nur Politiker, Militärs und Wirtschaftsbosse am
Werke, sondern erklären diese zu Handlangern göttlicher oder
dämonischer Mächte.

37
der tibetischen Weltanschauung verdichtet. Er gilt der
Tradition nach als ein sakraler König. All seine Handlun-
gen, wie realpolitisch sie auch von seiner Umwelt wahrge-
nommen werden, stehen deswegen in einem tiefen Sym-
bolzusammenhang mit den tibetischen Mysterien.
Diese sind seit jeher von Geheimnissen umwittert. Un-
eingeweihte haben nicht das Recht, sie zu betreten oder
etwas darüber zu erfahren. Dennoch wurden in den letz-
ten Jahren viele Informationen über das Kultwissen Ti-
bets (niedergeschrieben in den sogenannten Tantratex-
ten und ihren Kommentaren) veröffentlicht und in eu-
ropäische Sprachen übersetzt. Die Welt, die sich hier für
ein modernes westliches Bewußtsein auftut, mag eben-
so phantastisch wie faszinierend sein. In ihr verbinden
sich theatralische Prachtentfaltung, mittelalterliche Ma-
gie, sakrale Sexualität, unerbittliches Asketentum, höch-
ste Vergöttlichung und niedrigster Mißbrauch der Frau,
mörderisches Verbrechen, ethische Maximalforderungen,
der Auftritt von Göttern und Widergöttern, mystische
Ekstase und eiskalte Logik zu einer machtvollen, para-
doxen Performance.

Notiz zur verwendeten Literatur

Die von uns zitierte Originalliteratur besteht ausschließ-


lich aus Übersetzungen aus dem Sanskrit, Tibetischen
oder Chinesischen in eine europäische Sprache sowie
aus westlichen Werken. Mittlerweile sind so viele ein-
schlägige Schriften übertragen, daß sie hinreichen, um

38
eine kulturkritische Auseinandersetzung mit dem tibe-
tischen Buddhismus auf ein wissenschaftliches Funda-
ment zu stellen, ohne daß man auf Dokumente in der
Ursprungssprache zurückgreifen müßte. Zentral für
unsere Studie ist das Kalachakra-Tantra (»Zeittantra«).
Dieses liegt noch nicht in seiner Vollständigkeit über-
setzt vor, sieht man von einem äußerst problematischen
Manuskript des deutschen Tibetologen Albert Grün-
wedel in der Handschriftenabteilung der Bayerischen
Staatsbibliothek in München ab. Ins Englische übertra-
gen wurden wichtige Teile des Sri Kalachakra (I. 1–27,
128–170) von John Ronald Newman, ebenso wie die be-
rühmte Kommentierung dieser Teile von Pundarika mit
dem Namen Vimalaphraba.
Das Sri Kalachakra (Laghukalackratantra) soll die
Kurzfassung eines weit umfangreicheren Urtextes mit
dem Namen Sekoddesha sein. Dieser ging insgesamt ver-
loren – einige wichtige Passagen daraus sind erhalten
geblieben und wurden von dem berühmten Gelehrten
Naropa (10. Jahrhundert) kommentiert. Die Kommen-
tierung liegt in einer italienischen Übersetzung von Ra-
nieri Gnoli und Giacomella Orofino vor. Weiterhin sind
alle sonstigen Arbeiten zum Kalachakra-Tantra, die wir
in einer westlichen Sprache finden konnten, von uns ver-
arbeitet worden. Somit waren wir in der Lage, die Inhalte
des »Zeittantras« aus den zahlreichen übersetzten Kom-
mentaren und Bezugsquellen insoweit zu rekonstruieren,
wie es für eine kulturgeschichtliche (nicht eine philolo-
gische) Beurteilung des Tantras notwendig ist. Der Leser
findet die umfangreiche Literatur am Ende des Buches.

39
Um die Absichten und Methoden dieses religiösen Sy-
stems für ein westliches Publikum verständlich zu ma-
chen, ist ein Vergleich mit anderen Tantras und mit Par-
allelen in der europäischen Kultur wichtiger als die akri-
bische sprachliche Kenntnis jeder Zeile aus dem Sanskrit
oder dem Tibetischen.
Im Interesse einer lesbaren Form haben wir die Um-
schreibung der tibetischen und Sanskrit-Namen und Be-
griffe ohne diakritische Zeichen wiedergegeben und uns
dabei vor allem an der angelsächsischen Literatur ori-
entiert.
TEIL 1
RITUAL ALS POLITIK

Playboy :
Beschäftigen Sie sich eigentlich
mit dem Thema Sex ?

Dalai Lama (XIV) : Du meine Güte. So et-


was fragen Sie einen 62jährigen Mönch, der
sein ganzes Leben lang im Zölibat gelebt hat.
Zum Sex habe ich nicht viel zu sagen – außer,
daß es völlig in Ordnung ist, wenn zwei Men-
schen sich lieben.
Der XIV Dalai Lama in einem Playboy-In-
terview (deutsche Edition), März 1998
1. BUDDHISMUS UND MISOGYNIE
EIN HISTORISCHER ÜBERBLICK

Eine fundierte Kritik und – wenn sie beabsichtigt ist  –


eine Dekonstruktion des sich etablierenden westlichen
Buddhismusbildes sollte aus zwei Gründen ihre gan-
ze Konzentration auf diejenige buddhistische Schule
richten, die unter dem Namen »Tantrismus« (Tantraya-
na oder Vajrayana) bekannt ist. 7 Der erste Grund er-
gibt sich daraus, daß der »tantrische Weg« die historisch
jüngste Phase in der Geschichte des Buddhismus dar-
stellt und mit einigem Recht als die höchste und deswe-
gen umfassendste Lehre des ganzen Systems angesehen
wird. Der Tantrismus hat sozusagen alle vorangegange-
nen buddhistischen Schulrichtungen in sich integriert
und wurde darüber hinaus zu einem Auffangbecken für
hinduistische, iranische, innerasiatische, ja selbst isla-
mische Kultureinflüsse. Wer also den »tantrischen Weg«
verstanden hat – so lautet ein in den Schriften des Tan-

7 Das Sanskritwort »Tantra« ebenso wie seine tibetische Entspre-


chung »rguyd« hat vielerlei Bedeutungen, die sich ursprünglich
jedoch alle um Begriffe wie »Faden«, »Weben«, »Gewebe« und
»Netzwerk« gruppieren. Daraus entstand schließlich »System«
und »Lehrbuch«. Die Personen, die dem Weg des Tantra (Tantra-
yana) folgen, werden Tantrika oder Siddha genannt. Man unter-
scheidet hinduistische und buddhistische Lehrsysteme. Bei den
letzteren handelt es sich im engeren Sinne um eine bestimmte
Anzahl kodifizierter Texte mit ihren Kommentaren.

43
trayana oft wiederholter Satz –, der hat auch alle ande-
ren Erleuchtungspfade verstanden.
Der zweite Grund für eine Konzentration auf den Tan-
trismus folgt daraus, daß er die im Westen am weitesten
verbreitete Form des Buddhismus darstellt. Er übt eine
geradezu magische Anziehungskraft auf viele Menschen
in Amerika und Europa aus. Mit dem Dalai Lama an der
Spitze und mit dem Klerus der Exiltibeter verfügt er über
ein kraftvolles und flexibles Missionsheer, das die Bud-
dhisierung des Westens mit psychologischem und diplo-
matischem Geschick vorwärtstreibt.
Ziel der vorliegenden Studie ist es, die Motive, Prakti-
ken und Visionen des tantrischen Buddhismus und sei-
ner Geschichte herauszuarbeiten, zu interpretieren und
zu bewerten. Wir haben uns vorgenommen, die arche-
typischen Felder und die »okkulten« Mächte sichtbar zu
machen, welche die Weltpolitik des Dalai Lama als des
höchsten Vertreters des Tantrayana bestimmen oder zu-
mindest beeinflussen. Aus diesem Grunde müssen wir un-
sere Leser und Leserinnen mit den Göttern und Dämo-
nen bekannt machen, die – nicht nach unserer, sondern
nach tantrischer Sicht – Tibets Geschichte geformt haben
und immer noch formen. Wir werden deswegen zu zei-
gen haben, daß die Tibeter ihre Historie und Gegenwarts-
politik als den weltlichen Ausdruck einer transzendenten
Wirklichkeit erfahren und sich nach Gesetzen richten, die
nicht von dieser Welt sind. Kurz – wir wollen bis in das
Zentrum der tantrischen Mysterien vorstoßen.
Angesichts der Komplexität des Themas haben wir uns
entschlossen, deduktiv vorzugehen und den Kernsatz un-

44
serer Recherchen als Hypothese dem ganzen Buch vor-
anzustellen. So werden unsere Leser und die Leserinnen
mit einer Aussage auf ihren Weg geschickt, deren Wahr-
heit oder Falschheit sich erst aus den folgenden Untersu-
chungen ergibt. Die Formulierung dieser Hypothese muß
zu Beginn noch sehr abstrakt ausfallen. Erst im Verlaufe
unserer Studie füllt sie sich mit Blut und Leben und leider
auch mit Gewalt und Tod. Unser Kernsatz lautet :

Das Mysterium des tantrischen Buddhismus


besteht in der Aufopferung des weiblichen Prinzips
und in der Manipulation des Eros zur Erlangung
universeller androzentrischer Macht.

Aus diesem zentralen Opfergeschehen und den entspre-


chenden Machttechniken entwickelt sich eine unendli-
che Kette abgeleiteter Opferarten : die Aufopferung des
Lebens, des Körpers und der Seele zugunsten des Gei-
stes ; des Individuums zugunsten eines Übergottes oder
eines Höheren Selbst ; der Gefühle zugunsten des Ver-
standes ; der Liebe zugunsten der Omnipotenz ; der Erde
zugunsten des Himmels und so weiter. Diese durchgän-
gige Opfergnosis, die – wie wir sehen werden – am Ende
das gesamte Universum in einem Flammenmeer unter-
gehen läßt und die in der Doktrin des Tantrismus ihre
volle Reife erlangt hat, ist in den vorangegangenen Pha-
sen des Buddhismus, einschließlich der Buddhalegen-
den, schon in nuce angelegt. Um das zu zeigen, scheint
es uns sinnvoll, auch die drei buddhistischen Etappen,
die dem Tantrayana vorausgehen, nach dem »Frauenop-

45
fer«, der »Manipulation des Eros« und der »androzentri-
schen Machtentfaltung« zu hinterfragen.
Üblicherweise wird die Geschichte des Buddhismus
in vier Phasen, die alle ihre volle Ausprägung in Indien
gefunden haben, unterteilt. Die erste erzählt das legen-
däre Leben und die Predigten des historischen Buddha
Shakyamuni mit dem persönlichen Namen Siddharta
Gautama (ca. 560 v. Chr. – 480 v. Chr.). Die zweite Pha-
se, die sofort nach seinem Tode eintritt, ist als Therava-
da-Buddhismus bekannt. Sie wird von später entstan-
denen buddhistischen Schulen etwas verächtlich als Hi-
nayana oder »Kleines Fahrzeug« bezeichnet. Seit dem 2.
Jh. v. Chr. entwickelt sich die dritte Phase, der Mahaya-
na-Buddhismus oder das »Große Fahrzeug«. Frühestens
im 4. Jh. n. Chr. entsteht der Tantrismus oder der Tan-
trayana. Er ist auch als Vajrayana oder als das »diaman-
tene Fahrzeug« bekannt.
Wie wir unseren gesamten Text durch einen hypothe-
tischen Kernsatz eingeleitet haben, so möchten wir den
vier Etappen des historischen Buddhismus – die wir auf
den folgenden Seiten beschreiben – vier entsprechende
Variationen unserer Grundaussage über das »Frauenop-
fer«, den »manipulierten Eros« und den »androzentri-
schen Machtentwurf »vorausschicken :
1. Die »Aufopferung des weiblichen Prinzips« ist schon
von Beginn an ein fundamentales Ereignis in der Leh-
re des Buddha. Sie entspricht der buddhistischen Absa-
ge an das Leben, die Natur und die Seele. Der androzen-
trische Machtträger in dieser Anfangszeit ist der histo-
rische Buddha selbst.

46
2. Im Hinayana-Buddhismus, dem »Kleinen Fahrzeug«,
wird das »Opfer des Weiblichen« mit Hilfe der Medita-
tion durchgeführt. Der Hinayana-Mönch hat Angst und
Furcht vor der Frau und versucht ihr zu entfliehen. Eben-
falls durch meditative Übungen vernichtet und transzen-
diert er das Leben, die Natur und die Seele. Der andro-
zentrische Machtträger dieser Phase ist der »asketische
Heilige« oder Arhat.
3. Im Mahayana, dem »Großen Fahrzeug«, tritt an die
Stelle der Flucht vor der Frau das Mitgefühl mit der Frau.
Das Weib soll von ihrem leiblichen Körper erlöst werden,
und der Mahayana-Mönch hilft ihr selbstlos dabei, die
notwendige Transformation ihrer weiblichen Physis vor-
zubereiten, damit sie bei ihrer nächsten Wiedergeburt als
Mann inkarnieren kann. Das Weibliche gilt also weiter-
hin als das Niedrige und Verachtenswerte, das geopfert
werden muß, um es in etwas rein Männliches zu verwan-
deln. In den beiden philosophischen Grundschulen des
Mahayana-Buddhismus (Madhyamika und Yogachara)
werden entsprechend das Leben, die Natur, der Körper
und die Seele der »Leere« (Shunyata) oder dem absoluten
Geist (Citta) aufgeopfert. Der androzentrische Machtträ-
ger dieser Phase ist der »Erlöser« oder Bodhisattva.
4. Im Tantrismus oder Vajrayana ersetzt der Tantra-
Meister (Yogi) das Mitgefühl mit der Frau durch die ab-
solute Beherrschung des Weiblichen. Er erhöht die Frau
mittels sexualmagischer Riten zu einer Göttin, um sie an-
schließend als ein reales oder symbolisches Opfer darzu-
bringen. Der Nutznießer dieses Sakrifiziums ist nicht ir-
gendein Gott, sondern der Yogi selbst, da er die gesamte

47
Lebensenergie des Opfers in sich absorbiert. Diese radi-
kale Methode des Vajrayana endet in einem apokalypti-
schen Feuerwerk, welches das gesamte Universum in sei-
nen Flammen verschlingt. Der androzentrische Macht-
träger dieser Phase ist der »Großzauberer« oder Maha
Siddha.
Wenn zwischen den verschiedenen Etappen des Bud-
dhismus eine Entwicklungslogik besteht, wie es die An-
hänger des buddhistischen Tantrismus behaupten, dann
beginnt diese mit einem passiven Anfang (Hinayana),
wechselt über zu einem aktiv-ethischen Zwischenstadium
(Mahayana) und endet in einer aggressiv-zerstörerischen
Endphase (Tantrayana). Entsprechend muß das Verhält-
nis der drei Schulen zum weiblichen Geschlecht als flüch-
tig, helfend und vernichtend charakterisiert werden.
Sollte sich unsere Hypothese durch ein überzeugendes
Indizienmaterial und eine schlüssige Argumentation als
Wahrheit erweisen, dann ergäbe sich daraus der Urteils-
spruch, daß es sich im Falle des tantrischen Buddhis-
mus um eine lebensfeindliche, frauenverachtende und
destruktive männliche Philosophie und Religion handelt
– also genau um das Gegenbild von dem, weswegen ihn
der Westen zur Zeit gutgläubig und großherzig vor allem
in der Gestalt des Dalai Lama willkommen heißt.

Die »Opferung« der Maya : Die Buddhalegenden

Schon die Geburtsgeschichte des historischen Buddha


Shakyamuni zeigt die grundsätzlich negative Einstel-

48
lung des frühen Buddhismus zur Sexualsphäre und zur
Frau. Maya, die Mutter des Erhabenen, hatte ihn nicht,
wie nach indischer Vorstellung üblich, durch die Ver-
mischung des männlichen mit dem weiblichen Samen
empfangen, noch betrat er das Licht der Welt durch den
natürlichen Geburtskanal. Es war ein weißer Elefant, der
in einem Traum Mayas die Empfängnis auslöste. Auch
verließ der Buddha den Leib seiner Mutter auf wunder-
bare Weise durch die Hüftseite, so daß der Gebärakt mit
keinerlei Schmerz verbunden war.
Weshalb diese Geburtsereignisse contra naturam ?
– weil alle Qualitäten des Weiblichen, das Menstruati-
onsblut, die feminine Sexualität, die Empfängnis, die
Schwangerschaft, der Gebärakt, ja selbst der Blick und
das Lächeln einer Frau, von Anfang an für den Buddhis-
mus nicht als eine Signatur der Lebensfreude gelten, son-
dern im Gegenteil, das menschliche Leben erschöpft sich
– nach den Worten Buddhas – letztendlich in Krankheit,
Alter und Sterben. Es erweist sich als ein Sein ohne Be-
ständigkeit, als ein Moment ohne Dauer. Das Leben als
solches steht mit seinem ständigen Wechsel und seiner
Vielfalt der Ewigkeit und der Einheit des Geistes als ein
unerträglicher Kontrast gegenüber. Mit der Fülle des Da-
seins versucht es die »reine Leere« des Bewußtseins zu
verunreinigen, mit seiner Vielfalt die Einheit des Gei-
stes zu zerstreuen, oder – nach den Worten des zur Zeit
bekanntesten buddhistischen Kulturtheoretikers, des
Amerikaners Ken Wilber – die »Biosphäre« (die Sphäre
des Lebens) zieht die »Noosphäre« (die Sphäre des Gei-
stes) nach unten auf eine niedere Evolutionsstufe. Das

49
menschliche Leben in seiner Schwäche ist deswegen eine
zu durchlaufende Durststrecke auf dem Weg ins Unend-
liche (»Es wäre besser, ich wäre nie geboren«), und die
Frau, die diese elendige Existenz hervorbringt, wirkt als
die Ursache von Leid und Tod.
Maya stirbt kurz nach der Geburt des Erhabenen. Sie
stand – so läßt sich dieser Tod symbolisch deuten – als
das Prinzip des natürlichen Lebens dem übernatürlichen
Erleuchtungsweg ihres Sohnes, der sich und die Mensch-
heit von der unendlichen Kette der Wiedergeburten be-
freien wollte, im Wege. Ist sie die archaische Urmutter, die
stirbt, damit der Platz frei wird für einen Siegeszug ihres
Sonnensohnes ? In der Evolutionslehre Ken Wilbers gilt
die »Tötung der Großen Mutter« als das symbolische Er-
eignis, das sowohl in der Entwicklungsgeschichte eines In-
dividuums (Ontogenese) als auch in der Kulturgeschich-
te der Menschheit (Phylogenese) einer »Emanzipation des
Bewußtseins« vorauszugehen hat. Bei einem Kind kann
sich erst nach dem »maternalen Mord« die Ich-Struktur
herausbilden, denn der Säugling ist noch eine undifferen-
zierte Einheit mit dem »mütterlichen Urgrund«. Einen ent-
sprechenden Vorgang beobachten wir – nach Wilber – in
der Menschheitsgeschichte. Dort haben sich nach der Ver-
nichtung der matriarchalen, »typhonischen« Mutterkulte
Kulturmodelle »patriarchaler Transzendenz« und Struk-
turen eines männlichen Egos bilden können.
Von dieser psychoanalytisch gefärbten These ausge-
hend, könnte man Mayas frühen Tod als den »materna-
len Mord« deuten, der einer Evolution des männlichen
Buddhageistes vorauszugehen hat. Diese Deutung erhält

50
eine gewisse Brisanz, wenn wir wissen, daß der Name
Maya aus dem Sanskrit übersetzt »Illusion« heißt. Für ei-
nen im westlichen Rationalismus erzogenen Zeitgenos-
sen mag solch eine Namensgebung der reine Zufall sein,
im symbolisch-magischen Weltbild des Buddhismus, vor
allem aber des Tantrismus, hat sie jedoch eine tiefgreifen-
de Sinnhaftigkeit. Hier wie in allen archaischen Kulturen
verweist der Name nicht nur auf eine Person, sondern
auch auf die durch ihn evozierten Kräfte und Götter.
Maya – der Name von Buddhas Mutter – ist auch der
Name der machtvollsten indischen Göttin Maya. In
Maya verdichtet sich das gesamte materielle Universum,
sie ist die Weltenfrau. Sie bringt alle Erscheinungen her-
vor und verschlingt sie wieder in rastloser Bewegung. Ihr
entspricht in der europäischen Alchemie die prima ma-
teria, die Ursubstanz, in der die Keime aller Phänomene
verborgen sind. Das Wort Maya leitet sich von der Sans-
krit-Wurzel ma ab, der wir unsere Begriffe Mutter, Ma-
terie und Maß verdanken. Die Göttin repräsentiert al-
les Quantitative, alles Materielle. Man verehrt sie als die
»Große Mutter«, die die Schicksalsfäden der Welt spinnt.
Das Gewebe, das daraus geknüpft wird, sind das Leben
und die Natur. Es besteht aus den Instinkten und den
Gefühlen, aus der Physis und aus der Psyche – nicht aber
aus dem Geist.
Einen Schleier hat Maya aus ihren Fäden geknüpft und
diesen über die transzendente Wirklichkeit hinter allem
Seienden gelegt, einer Wirklichkeit, die für die Buddhi-
sten als das Geistprinzip der Scheinwelt entgegensteht.
Maya ist das weibliche Bewegte, das den meditativen Still-

51
stand des Mannes stört, sie ist der Wechsel, der seine
Ewigkeit vernichtet. Maya wirft ihre Netze der »Illusi-
on« aus, um das autonome Ich an sich zu fesseln, so wie
eine natürliche Mutter ihr Kind an sich bindet und es
nicht loslassen will, damit es eine eigene Persönlichkeit
entwickelt. In ihrem Gespinst verdunkelt und erstickt
sie das nach Befreiung und Licht strebende männliche
Ego. Maya schließt den Geist, ihren großen Feind, in ei-
nen Kokon ein. Sie ist das Prinzip von Geburt und Wie-
dergeburt, welches zu überwinden das höchste Ziel ei-
nes Buddhisten darstellt. Wer ihre Täuschungen durch-
schaut hat, dem winkt das ewige Sein, wer ihr verfällt,
der wird, wie alles Lebendige, in unaufhörlichem Wan-
del vernichtet und wiedergeboren.
Der Tod der großen Zauberin Maya, die die Welt der
Illusionen hervorbringt, ist die conditio sine qua non für
das Erscheinen des »Wahren Geistes«. Deswegen stirbt
mit dem Tode von Shakyamunis Mutter keine gewöhnli-
che Frau. Ihr Sohn war auf die Erde herabgestiegen, weil
er den Schleier der Illusionen zerreißen und die wahre
Wirklichkeit hinter dem Netzwerk der Phänomene lehren
wollte, weil er das Leben und den Geist als einen unver-
einbaren Dualismus erfahren hat und davon überzeugt
war, daß dieser Widerspruch nur durch die Allmacht des
Geistes und die Vernichtung des Lebens geheilt werden
kann. Völlig verhaftet den mythischen und philosophi-
schen Traditionen seiner Zeit, sieht er das täuschende
und üppige Leben, hinter dem grinsend der Tod lauert,
als ein Weib. Auch für ihn – wie die ihn umgebenden
androzentrischen Religionssysteme – ist die Frau das dü-

52
stere Sinnbild der Vergänglichkeit, und daraus folgt : Wer
die Ewigkeit anstrebt, muß das Weltenweib zumindest
symbolisch »vernichten«. Daß dem historischen Buddha
durch den »natürlichen« Tod seiner Mutter die bewuß-
te Durchführung dieses »Vernichtungswerkes« erspart
blieb, ändert nichts an der grundsätzlichen Aussage : Erst
durch die Zerstörung der Maya (der Illusion) kann Er-
leuchtung erlangt werden !
Diese mit dem frühen Ableben seiner Mutter ausgelö-
ste Transzendierung des Weiblichen als Prinzip wird den
Heilsweg des historischen Buddha immer wieder beglei-
ten. Sowohl die Ehe als auch deren Gegenpol, die sexuelle
Ausschweifung, erfährt er als zwei bedeutende Hinder-
nisse, die seine spirituelle Entwicklung blockieren und
die er überwinden muß. Shakyamuni verläßt deshalb
ohne jeden Skrupel seine Familie, seine Frau Yasodhara
und seinen Sohn Rahula, und geht mit 29 Jahren in die
»Hauslosigkeit«. Der letzte Auslöser für diese radikale
Entscheidung, sein königliches Leben aufzugeben, war
eine orgiastische Nacht in den Armen seiner zahlreichen
Konkubinen. Als er am nächsten Morgen die »verfalle-
nen und ekelerregenden« Gesichter der noch schlafen-
den Frauen erblickte, kehrte er für immer seinem Palast
den Rücken. Aber auch nachdem er Erleuchtung erfah-
ren hatte, wird er nicht mehr zu den Seinen und in den
pulsierenden Strom des Lebens zurückkehren. Im Ge-
genteil – ihm gelingt es, Yasodhara und Rahula von der
Richtigkeit seiner asketischen Lehre, die er selber als ei-
nen Mittelweg zwischen Enthaltsamkeit und Sinnenfreu-
de bezeichnet, zu überzeugen. Gattin und Sohn folgen

53
seinem Beispiel, verlassen Heim und Hof und schließen
sich der Sangha, der buddhistischen Gemeinschaft der
Bettelmönche, an.
Auch die aus allen patriarchalen Kulturen bekannte
Gleichstellung des Weiblichen mit dem Bösen war für
den historischen Buddha eine unumstößliche Tatsache.
In einer berühmten dramatischen Schlüsselszene versu-
chen ihn die »Töchter Maras« mit allen raffinierten kör-
perlichen Reizen zu verführen. Die Frau und ihr Eros
– das soll uns diese Anekdote lehren – verhindern die
spirituelle Erfüllung. Mara entspricht archetypisch dem
leibhaftigen Teufel der eurochristlichen Mythologie, und
sein weiblicher Nachwuchs sind lüsterne Hexen. Aber
Shakyamuni blieb für ihre obszönen Reden taub und
ließ sich von ihren lasziven Gesten nicht beeindrucken.
Er gab vor, die Schönheit der Teufelstöchter als faden
Schein zu durchschauen, indem er ihnen mit Löwen-
stimme zurief : »Dieser (euer) Körper ist ein Sumpf aus
Abfällen, ein infektiöser Haufen von Unreinheiten. Wie
kann man sich an solch umherwandernden Latrinen er-
freuen ?« (* Faure, 29)
Zeit seines Lebens war der historische Buddha von ei-
ner chronischen Misogynie geplagt, daran kann ange-
sichts der zahlreichen Dokumente nicht der geringste
Zweifel bestehen. Seine frauenverachtenden Sprüche sind
respektlos, bissig und verletzend. »Man plaudere eher mit
Dämonen und Mördern mit gezücktem Schwert, berühre
eher giftige Schlangen, selbst wenn ihr Biß den Tod be-
wirkt, als daß man plaudere mit einem Weibe ganz al-
lein.« (* zit. b. Bellinger, 246) – predigte er seinen Schü-

54
lern, oder noch aggressiver : »Besser wäre es, Einfältiger,
wenn Dein Geschlecht in den Mund einer giftigen und
schrecklichen Schlange eindränge, als daß es in eine Frau
eindringt. Besser wäre es, Einfältiger, wenn Dein Ge-
schlecht in einen Backofen eindränge, als daß es in eine
Frau eindringt.« (* zit. b. Faure, 72) Erleuchtung und die
intime Begegnung mit einer Frau waren für den Buddha
nicht kompatibel. »Die Gefahr des Haies aber, ihr Mön-
che, ist eine Bezeichnung des Weibes.« – warnte er seine
Anhänger. (* zit. b. Herrmann-Pfand, 51) An einer ande-
ren Stelle dichtete er mit Abscheu :

Wie Tiere handeln jene,


die nicht einsichtig sind.
Wie Schweine dem Schlamm
jagen sie weiblichen Formen hinterher.
In ihrer Dummheit lassen sie sich
von den Frauen täuschen, die
wie die Wucherer auf dem Marktplatz
alle in ihrer Nähe arglistig betrügen.
(* zit. b. D. Paul, 28)

Mehrmals versuchte Buddhas Lieblingsschüler Ananda,


sich bei seinem Lehrer für den ausgesprochenen Wunsch
der Frauen nach eigener spiritueller Erfahrung einzu-
setzen, aber meistens waren die Antworten des Meisters
negativ. Ananda war ob dieser Renitenz sehr verwirrt,
widersprach sie doch der Aussage seines Meisters, daß
alle Lebewesen, selbst die Insekten, Buddhaschaft erlan-
gen könnten : »Herr, wie sollen wir uns gegenüber Frau-

55
en verhalten ?« – fragte er den Erhabenen – »Schaut sie
nicht an !« – »Doch wenn wir sie anschauen müssen ?« –
»Sprecht nicht mit ihnen !« – »Doch wenn wir mit ihnen
sprechen müssen ?« – »Bleibt hellwach !« (* Stevens, 65)
Diese abschätzige Haltung gegenüber allem Weiblichen
ist auch deswegen erstaunlich, weil dem historischen Bud-
dha auf seinem spirituellen Weg in entscheidenden Augen-
blicken von Frauen geholfen wurde : Nach einer fast tödli-
chen Asketenübung rettete ihm ein Mädchen durch eine
Schale Milch das Leben und lehrte ihn durch diese Geste,
daß der Mittlere Pfad zwischen Enthaltsamkeit und Sinn-
lichkeit der richtige Weg ist, um Erleuchtung zu erlangen,
und nicht die von den indischen Yogis propagierte Sack-
gasse der Askese. Und wieder sind es Frauen, reiche Lai-
enfrauen, die mit großzügigen Spenden seine Ordensge-
meinschaft (Sangha) unterstützen und dadurch die schnel-
le Verbreitung seiner Lehre ermöglichen.

Die meditative Zerstückelung der Frau :


Der Hinayana-Buddhismus

Im Mittelpunkt des Theravada-Buddhismus beziehungs-


weise des Hinayana, in denen nach dem Tode Shakya-
munis seine Doktrin aufbewahrt und nur unwesentlich
weiterentwickelt wird, steht die Erleuchtung des Einzel-
nen und damit verbunden sein bewußter Rückzug aus
der realen Welt. Der religiöse Held des Hinayana ist der
»Heilige« oder Arhat. Nur der darf sich als ein Arhat be-
zeichnen, der sein individuelles und deswegen niederes

56
Ego überwunden hat und nach erfolgreicher Durchwan-
derung eines übungsreichen Initiationsweges Buddha-
schaft, das heißt Befreiung von aller Illusion, erlangt hat.
Er tritt dann in einen höheren Bewußtseinszustand ein,
den die Buddhisten Nirvana (Nicht-Sein) nennen. Um
diese letzte Stufe zu erreichen, beschäftigt sich ein Hi-
nayana-Mönch. ausschließlich mit seiner inneren spiri-
tuellen Vervollkommnung und sucht keinen Kontakt zu
einem wie auch immer gearteten Publikum.
Die allgemeine Berührungsangst der Hinayana-An-
hänger wurde ergänzt und bestätigt durch die Furcht
und die Flucht vor dem Weiblichen. Ganz im Sinne ihres
Meisters war die profane und illusionäre Welt (Samsara)
auch für die Anhänger des Hinayana identisch mit dem
Universum der Frau und dem Netzwerk der Maya. In
all ihren Erscheinungsformen – von der Jungfrau über
die Mutter bis hin zur Prostituierten und häßlichen Al-
ten – stellte sich das Weib der spirituellen Entwicklung
der Mönche in den Weg. Ein Novize mußte bei dem Ein-
tritt in die Sangha (buddhistische Gemeinschaft) seine
Ehepartnerin und seine Kinder verlassen, wie es einst
der Gründer des Ordens persönlich vorgelebt hatte. Die
Ehe galt als ständige Bedrohung des zwingenden Zöli-
bats. Man fürchtete sie als eine mächtige Konkurrenz,
die dem Orden die Männer vorenthielt und die ihn als
Ganzes schwächte.
Ausgehend von Buddhas Mara-Erlebnis wurden auch
seine Nachfolger von der dunklen Macht und der Anzie-
hungskraft des Weibes ständig herausgefordert. Eine Un-
zahl von Verführungsanekdoten, in denen Mönche tap-

57
fer sexuellen Versuchungen widerstanden oder bei einem
Fehlverhalten höllische Qualen erlitten, füllt die Literatur
dieser Zeit, und der Triumph der Keuschheit über die Se-
xualität wurde zu einem religiösen Dauerthema. »Heilige
Formeln gegen lüsterne Gedanken«, schreibt die ameri-
kanische Religionswissenschaftlerin Diana Paul, »waren
weit verbreitet. Die Katharsis meditativer Ekstase sollte
der natürlichen Lösung im Orgasmus den Rang ablau-
fen … Die Frau war schließlich zu einer Antithese von
Religion und Moral geworden.« (* D. Paul, 27) Vom »ar-
chetypischen« Heiligen dieser Periode, dem asketischen
Arhat, hatte schon der Buddha gesagt : »Sexuelle Begier-
de rinnt an (ihm) herab wie Wasser an einer Lotosblü-
te.« (* Stevens, 64)
Der menschliche Körper als solcher, aber der Frauen-
körper ganz besonders, wurde im frühen Buddhismus
– ähnlich wie in der Kultur des mittelalterlichen Chri-
stentums – als eine schmutzige und niedere Sache, als
etwas höchst Unvollkommenes verachtet, das nur dem
Schein nach schön und reizvoll ist. Um über die Vergäng-
lichkeit alles Seienden nachzusinnen, stellten sich des-
wegen die Mönche in einer weitverbreiteten Übung die
nackte Gestalt einer Frau vor. Man begann in der soge-
nannten »analytischen Meditation« mit einem »perfek-
ten« und wunderschönen Körper, transformierte diesen
Schritt um Schritt in einen alten, kranken und sterben-
den Leib, um am Ende einen verfaulenden und stinken-
den Leichnam zu imaginieren. Der weibliche Körper, als
das absolut ANDERE, wurde also als ein Symbol der ver-
achteten Sinnenwelt meditativ zerstückelt und ermordet.

58
Sexuelle Faszination und die Irritationen mörderischer
Gewalt gehen von solchen mönchischen Praktiken aus.
Wir kommen später auf historische Beispiele zurück, wo
das Zerschneiden von Frauenleichen real von Mönchen
durchgeführt wurde. Mit Recht charakterisiert deswe-
gen der buddhistische Theoretiker Ken Wilber den Hi-
nayana-Buddhismus als eine »Frauenhölle« : »Ein (spiri-
tueller) Pfad, der grundsätzlich die Göttin, den Abstieg
(in die Natur), das Gute und die Fülle verneint ; ein Pfad,
der historisch den Leib und die Erde (Samsara), das Ge-
schlecht und die größte Sündenverlockung, die Frau, ver-
leugnet hat.« (* Wilber, 1996, 799)
Es gibt aber erschreckende Literaturstellen, die zeigen,
wie auch Frauen diese Verteufelungen ihres Leibes selbst-
zerstörerisch verinnerlichten : »Die Novizin möge ihren
unreinen Körper hassen wie ein Gefängnis, in das man
eingeschlossen ist, wie eine Kloake, in die man hineinge-
fallen ist«, lautet die Aufforderung einer Äbtissin an jun-
ge Nonnen. (* Faure, 29) Nur indem sie ihren Leib und
ihre Sexualität verächtlich machten und indem sie sich
zu ihrer Inferiorität offen bekannten, konnten Frauen in-
nerhalb der frühbuddhistischen Gemeinschaft überhaupt
eine Position gewinnen. Im Vinaya Pitaka, dem großen
Buch der Ordensregeln, das für alle Phasen des Buddhis-
mus gültig ist, finden wir acht spezielle Vorschriften für
Nonnen. Eine davon lautet, daß sie sich noch vor dem
geringsten und jüngsten aller Mönche zu verbeugen ha-
ben. Dies gilt selbst für die ehrenwerte und bejahrte Vor-
steherin eines angesehenen Klosters.
Nur unter größten Schwierigkeiten konnte der histori-

59
sche Buddha dazu bewogen werden, Frauen zu ordinie-
ren. Er war davon überzeugt, daß seiner Lehre hierdurch
ein nicht mehr gutzumachender Schaden zugefügt wer-
de und daß sie 500 Jahre früher als vorgesehen aus Indi-
en verschwinden werde. Erst nach inständigsten Bitten
von allen Seiten, vor allem aber aufgrund der schmei-
chelnden Worte seines Lieblingsschülers Ananda, gab
er schließlich nach.
Doch blieb der Buddha auch nach seiner Zustimmung
weiterhin skeptisch : »Ich habe gesagt, es ist nicht wün-
schenswert, daß eine Frau um des Dharma (der Leh-
re) willen in die Hauslosigkeit zieht. Es sollte also keine
Ordination für Nonnen erteilt werden. Warum nicht ?
Wenn die Frauen beginnen, ihren Haushalt zu verlas-
sen, wird das Dharma nicht lange erhalten bleiben.« (* D.
Paul, 91) Dieser Vorwurf, daß eine Nonne ihr Familien-
leben vernachlässige, erscheint innerhalb der buddhisti-
schen Wertvorstellungen geradezu absurd, denn für einen
Mann war es gerade die höchste Pflicht, aus religiösen
Gründen seine Familie, Haus und Hof zu verlassen.
Aufgrund der zahllosen religiösen und sozialen Vor-
urteile konnten sich die Nonnenorden in der buddhisti-
schen Kultur nie voll entfalten, blieben zahlenmäßig ge-
ring und spielen bis heute und in allen Schulrichtungen
im Machtgefüge der androzentrischen Mönchsgemein-
schaften (Sangha) eine völlig untergeordnete Rolle.

60
Die Verwandlung der Frauen in Männer :
Der Mahayana-Buddhismus

In der sich anschließenden Phase des Mahayana-Bud-


dhismus (ab 200 v. Chr.), dem »Großen Fahrzeug«, än-
dert sich das buddhistische Verhältnis zur Umwelt radi-
kal. An die Stelle der passiven, asozialen und selbstbe-
zogenen Übungen des Arhats tritt jetzt die mitfühlende
Aktivität des Bodhisattvas. Wir haben hier einen über-
menschlichen Heilsbringer vor uns, der auf die höch-
sten Früchte der endgültigen Erleuchtung, also auf den
Eintritt ins Nirvana (Nicht-Sein), verzichtet hat, um an-
deren Lebewesen dabei zu helfen, ebenfalls den spiritu-
ellen Pfad zu betreten und sich selber zu befreien. Die
Weltentsagung des Hinayana wird durch das Mitgefühl
(Karuna) mit der Welt und ihren Bewohnern ersetzt.
Im Gegensatz zum Arhat, der sich selbst genügt, zieht
im Idealfall der Bodhisattva von »selbstloser Liebe« ge-
trieben durchs Land, lehrt die Menschen die buddhisti-
schen Wahrheiten und wird von ihnen wegen seiner auf-
opfernden und »unendlich gütigen« Handlungen hoch
verehrt. Alle Bodhisattvas haben ein offenes Herz. Sie
nehmen wie Jesus Christus das Leid anderer freiwillig
auf sich, um sie aus ihren Nöten zu befreien, und moti-
vieren ihre Gläubigen durch exemplarische gute Taten.
Das »Große Fahrzeug« integrierte auch eine unüber-
sichtliche Anzahl von Gottheiten aus anderen Religio-
nen in sein System und baute deswegen ein beeindruc-
kendes buddhistisches Pantheon auf. Darunter befinden
sich zahlreiche Göttinnen, was sicherlich von den frauen-

61
feindlichen Mönchen des Frühbuddhismus als eine Re-
volution erlebt wurde. Gleichzeitig aber stellte der Ma-
hayana durch mehrere philosophische Schulen, die alle
– wenn auch mit unterschiedlichen Argumenten – die Il-
lusion der Erscheinungswelt (Samsara) lehren, dieses Göt-
terreich wieder in Frage. Selbst die Himmlischen verfal-
len in letzter Instanz der Nichtigkeit alles Seienden oder
sind reine Imaginationen. »Alles ist leer« (Madhyamika-
Schule) oder »alles ist Bewußtsein« (Yogachara-Schule)
sind die beiden Grundmaximen, die als Erkenntnistheo-
rie im Mahayana gelehrt werden.
Die Mahayana-Phase des Buddhismus übernahm den
Vinaya Pitaka (die Ordensregeln) aus dem Hinayana, und
so änderte sich für die buddhistischen Nonnen nicht viel.
Dennoch trat insgesamt ein »frauenfreundlicheres« Er-
lösungsmotiv an die Stelle der offenen Misogynie. Zwar
überwand man dadurch nicht die grundsätzlich nega-
tive Einschätzung gegenüber dem Weiblichen, aber der
Bodhisattva, dessen höchste Aufgabe es ist, allen leiden-
den Wesen zu helfen, unterstützte jetzt die Frau freige-
big und selbstlos dabei, sich von der drückenden Last ih-
res Geschlechts zu befreien. Wenn in einem weiblichen
Wesen der Erleuchtungsgedanke erwacht und sie dem
Dharma (der buddhistischen Lehre) folgt, kann sie so
große Verdienste ansammeln, daß es ihr erlaubt ist, in
ihrem nächsten Leben als Mann zu inkarnieren. Führt
sie dann in männlicher Gestalt weiterhin eine makello-
se Existenz im Dienste der »Lehre«, dann erfährt sie das
Glück, nach »ihrem« zweiten Tode im Paradies des Bud-
dha Amithaba zu erwachen, das ausschließlich von Män-

62
nern bevölkert ist. So ist, wenn auch in einer sublimen
und »humaneren« Form, auch im Mahayana-Buddhis-
mus die »Vernichtung des Weiblichen« eine Vorausset-
zung für die Erleuchtung. Die fortgeschrittenen Stufen
in der spirituellen Entwicklung und eine weibliche Ge-
burt schließen einander aus.
Nur für die niederen der insgesamt zehn Erleuchtungs-
grade war es im »Großen Fahrzeug« möglich, daß eine
Frau als Bodhisattva tätig wurde. Selbst die berühm-
te Verfasserin des wohl populärsten Mahayana-Textes
Das Löwengebrüll der Königin Sri Mala (4. Jahrhundert
n. Chr.) durfte nicht alle Bodhisattvastufen für sich in
Anspruch nehmen und hat deswegen keine vollständige
Buddhaschaft erreicht. Die Rolle eines »vollendeten« Bud-
dhas sprach man also der Frau grundsätzlich und kate-
gorisch ab. Für sie waren die »fünf kosmischen Positio-
nen« eines Brahma (Weltenschöpfer), eines Indra (Göt-
terkönig), eines Großen Königs, eines Weltenherrschers
(Chakravartin) und eines Bodhisattvas der zwei höch-
sten Stufen tabu.
Doch selbst die unteren Bodhisattvagrade wurden nur
von wenigen Texten, wie zum Beispiel dem Lotus-Su-
tra (ca. 100 n. Chr.), für Frauen geöffnet. Dadurch stellte
sich dieser Lehrtext in einen krassen Gegensatz zu den
traditionell androzentrischen Ansichten, die weit mehr
verbreitet waren und die der große Gelehrte Asangha
(4. Jh. n. Chr.) in einem unmißverständlichen und knap-
pen Statement zusammengefaßt hat : »Völlig vollendete
Buddhas sind keine Frauen. Und warum ? Genau, weil
ein Bodhisattva … ganz und gar das Stadium der Weib-

63
lichkeit verlassen hat. Indem er zum höchsten Thron der
Erleuchtung emporsteigt, wird er niemals als Frau wie-
dergeboren. Alle Frauen sind von Natur aus voller Feh-
ler und von schwacher Intelligenz. Und von einer Person,
die von Natur aus voller Fehler und schwach an Intel-
ligenz ist, kann keine endgültige perfekte Buddhaschaft
erreicht werden.« (* Shaw, 27)
Das Geschlecht war im Mahayana-Buddhismus zu ei-
ner karmischen Kategorie geworden, wobei man die Ver-
körperung als Frau mit niedrigem Karma gleichsetzte.
Die Wiedergeburt einer Frau als Mann besagte, daß sie
erfolgreich ihr schlechtes Karma abgearbeitet hatte. Ent-
sprechend inkarnierten Männer, die einen sündhaften
Lebenswandel geführt hatten, als »Weiber«.
Da dennoch sehr viele Frauen den Weg des Buddhas
betreten wollten, wurde in einigen Texten eine mögliche
Beschleunigung der Geschlechtsumwandlung in Betracht
gezogen. Im Sutra vom Reinen Land müssen Buddhistin-
nen noch auf ihre Wiedergeburt als Mann warten, bis sie
erleuchtet werden ; in anderen Sutren brauchen sie »nur«
im jetzigen Leben ihr Geschlecht zu wechseln und erlan-
gen dadurch Befreiung. Solche geschlechtlichen Trans-
mutationen sind selbstverständlich ein Wunder, aber ein
weibliches Wesen, das nach den Früchten der höchsten
Buddhaschaft greift, muß fähig sein, übernatürliche Taten
zu vollbringen. »Erwacht eine Frau zum Gedanken der
Höchsten Vollkommenen Erleuchtung«, heißt es im Sutra
von der Verwandlung des weiblichen Geschlechts, »dann
ist sie nicht mehr durch die Begrenztheit des weiblichen
Geistes gebunden. Da ihr Geist nicht mehr begrenzt ist,

64
ist sie nicht mehr an die Begrenztheit ihres Geschlechts
gebunden und wird damit zu einem (guten) Sohn« – das
heißt zu einem männlichen Gefolgsmann des Buddha.
(* zit. b. D. Paul, 183)
Viele radikale Thesen des Mahayana-Buddhismus
(zum Beispiel das Dogma von der »Leere alles Seien-
den«) führen in der Geschlechterfrage zu unlösbaren Wi-
dersprüchen. Grundsätzlich sagt das Dharma (die Leh-
re), daß ein vollkommenes Wesen frei ist von jeglicher
Begierde und deswegen asexuell zu sein hat. Diese For-
derung, mit der man die Bedeutungslosigkeit des Ge-
schlechts auf den höheren spirituellen Ebenen betonen
will, widerspricht jedoch der anderen orthodoxen Regel,
nur Männer verdienten die Erleuchtung. Solche Disso-
nanzen wurden denn auch von Frauen wahrgenommen.
Es gibt einige sehr geistreiche Dialoge, in denen Buddhi-
stinnen ihre weibliche Minderwertigkeit schlüssig durch
Argumente aufheben, die in der buddhistischen Doktrin
selber angelegt sind. Zum Beispiel erklärt das Mädchen
Candrottara in Gegenwart des Buddha Shakyamuni, daß
eine Geschlechtsumwandlung von weiblich in männlich
vom Standpunkt der im Mahayana gelehrten »Leerheit
aller Erscheinungen« ohne Sinn und deswegen überflüs-
sig sei. Ob Mann oder Frau – das ist auch für den Er-
leuchtungspfad, wie er im Diamant-Sutra beschrieben
ist, gleichgültig.
Die Asexualität des Mahayana-Buddhismus hat wei-
terhin zu einer religiösen Verherrlichung des Mutter-
bildes geführt. Das ist in der Tat eine sehr erstaunliche
Entwicklung und mit früheren Grundsätzen der Dok-

65
trin nicht vereinbar, denn die Mutter als Ursache für die
Wiedergeburt wurde ja ebenso verachtet wie die junge
Frau als die Ursache für die sexuelle Verführung. Eine
Apotheose des Mütterlichen war deswegen nur möglich,
nachdem die Mönche den Mutterarchetyp von seinen
»natürlichen« Attributen wie Empfängnis und Geburt
»befreit« hatten. Die »Großen Mütter« des Mahayana-
Buddhismus, zum Beispiel Prajnaparamita, sind tran-
szendente Wesenheiten, die sich niemals durch die Be-
rührung mit der niederen Natur (der Sexualität und des
Gebärens) beschmutzt haben.
Mit den irdischen Müttern verbindet sie nur ihre Wär-
me, ihre Beschützerrolle, ihre unbedingte Hilfsbereit-
schaft und ihre grenzenlose Liebe. Diese transzenden-
ten Mütter des Mahayana sind zwar mächtige himm-
lische Matronen, aber je machtvoller sie erlebt werden,
um so mehr lösen sie sich in bloße Allegorien auf. Sie
repräsentieren die »Vollkommene Weisheit«, die »Mut-
ter der Leere«, die »Transzendente Liebe«. Wenn man je-
doch die Genesis dieser weiblichen Symbolfiguren hin-
terfragt (wir werden das ausführlich in unserer Analy-
se des Vajrayana-Buddhismus tun), dann erweisen sie
sich alle als das imaginäre Produkt eines übergeordne-
ten männlichen Buddhawesens.
Zum Schluß dieses Kapitels wollen wir noch ein Phä-
nomen erwähnen, das im Mahayana weit häufiger vor-
kam, als man eigentlich annehmen möchte : der »Bei-
schlaf aus Mitgefühl«. Sexualverkehr zwischen den zö-
libatären Mönchen und weiblichen Wesen war nämlich
in Ausnahmefällen erlaubt, wenn er aus Mitgefühl mit

66
den zu begattenden Frauen vollzogen wurde. Es konn-
te sich sogar ein moralisches Gebot zum Beischlaf erge-
ben : »Wenn eine Frau sich heftig in einen Bodhisattva
verliebt und bereit ist, ihr Leben für ihn zu opfern, hat er
die Pflicht, sie zu retten, indem er alle ihre Begierden be-
friedigt.« (* Stevens, 79) Wahrscheinlich haben zumindest
einige Mönche dieses Gebot mit viel Freude erfüllt.
Auch in westlichen Zentren des modernen Buddhis-
mus, ob dort Zen oder lamaistische Übungen praktiziert
werden, ist es nicht unüblich, daß die Meister mit ihren
Schülerinnen schlafen, um ihnen »spirituell« zu helfen.
(* Boucher, 239) Doch geht es dabei in der Regel etwas
intimer zu als im Falle eines zeitgenössischen asiatischen
Gurus, der gegenüber einem amerikanischen Interviewer
prahlte : »Ich habe mit tausend Frauen geschlafen. Eine
unter ihnen trug einen Buckel. Ich habe ihr meine Liebe
gegeben, und sie ist eine glückliche Person geworden …
Ich bin ein buddhistischer Scheuerlappen‹. Ein Scheuer-
lappen ist etwas, was sich beschmutzt, aber gleichzeitig
alles sauber macht, was er berührt.« (* Faure, 92)
2. BUDDHISTISCHER TANTRISMUS :
DAS RITUALISIERTE »FRAUENOPFER«

Die vierte und letzte Phase des Buddhismus tritt frühe-


stens im dritten Jh. n. Chr. auf die Geschichtsbühne. Sie
wird Tantrayana, Vajrayana oder Mantrayana, das »Tan-
tra-Fahrzeug«, der »Diamantenpfad« oder der »Weg der
Zauberformeln« genannt. Die Lehre des Vajrayana ist in
Heiligen Schriften, den sogenannten Tantras, festgehal-
ten. Dabei handelt es sich um okkulte Geheimlehren, die
– der Legende nach – schon von Buddha Shakyamuni
verfaßt worden seien. Aber erst tausend Jahre nach sei-
nem Ableben war die Zeit reif, sie den Gläubigen zu of-
fenbaren.
Zwar hält man im Vajrayana grundsätzlich an den
Ideen des Mahayana-Buddhismus, insbesondere an der
Doktrin von der Leerheit aller Erscheinungen und dem
Gebot des Mitgefühls mit allen leidenden Wesen, fest,
aber der Tantriker setzt die hohen moralischen Anfor-
derungen des »Großen Fahrzeuges« zeitweise durch ein
radikales »amoralisches« Umkehrverhalten außer Kraft.
Um noch in diesem Leben Erleuchtung zu erlangen, greift
er zu Methoden, welche die klassischen buddhistischen
Werte in ihr pures Gegenteil verkehren.
Sich selbst bezeichnet der Tantrismus als die höchste
Stufe des gesamten buddhistischen Lehrgebäudes und
baut zu den beiden vorangegangenen Phasen des Bud-
dhismus eine hierarchische Beziehung auf, wobei die
niedrigste Stufe vom Hinayana, die mittlere von Mahaya-

68
na eingenommen wird. Entsprechend stehen die Heiligen
der verschiedenen Schulen in einem Über- und Unterord-
nungsverhältnis. Unten regiert der Arhat, dann kommt
der Bodhisattva, und alle werden vom Maha Siddha, dem
tantrischen Großmeister, überthront. Alle drei Stadien
des Buddhismus existieren heute als autonome Religi-
onssysteme nebeneinander.
Im achten Jh. n. Chr. führten indische Mönche mit Un-
terstützung der damaligen tibetischen Dynastie den Vaj­
rayana in Tibet ein, der seit dieser Zeit die Religion des
»Schneelandes« bestimmt. Obgleich viele Elemente der
einheimischen Kultur in das religiöse Umfeld des tan-
trischen Buddhismus integriert wurden, gilt dies nicht
für die Grundlagentexte. Diese stammen allesamt aus
Indien. Man findet sie mit ihren Kommentaren in zwei
kanonischen Sammlungen, dem Kanjur (Übersetzung
der Worte Buddhas, 13. Jh.) und Tanjur (Übersetzung
der Lehrbücher, 14. Jh.). Ritualschriften, welche erst in
Tibet verfaßt wurden, zählen nicht zum offiziellen Lehr-
gebäude. (Was jedoch nicht heißt, daß sie keine prakti-
sche Anwendung fanden.)

Die Explosion des Sexus :


Der Vajrayana-Buddhismus

Alle Tantras sind von der Struktur her ähnlich, sie alle
haben die Umwandlung von Eros in spirituelle und welt-
liche Macht zum Inhalt. 8 Die Essenz der ganzen Lehre
verdichtet sich jedoch im sogenannten Kalachakra-Tan-

69
tra oder »Zeittantra«, dessen Analyse im Zentrum un-
serer Arbeit steht. Von den übrigen Tantralehren unter-
scheidet es sich sowohl in seinen machtpolitischen Ab-
sichten wie in seinen eschatologischen Visionen. Es ist
– so möchten wir hypothetisch vorausschicken – das In-
strument einer komplizierten Metapolitik, die anstatt
durch realpolitische Mittel durch Symbole und Riten
versucht, auf das Weltgeschehen Einfluß zu gewinnen.
Das »Zeittantra« ist diejenige Geheimlehre, die an erster
Stelle das Ritualwesen des lebenden XIV Dalai Lama
bestimmt und aus deren Kenntnis allein die spirituelle
Weltpolitik des »Gottkönigs« verstanden werden kann.
Mit dem Kalachakra-Tantra schließt die kreative Ge-
schichte des Vajrayana im 10. Jh. ab. Keine grundsätzli-
chen Tantratexte werden danach noch konzipiert, wäh-
rend die bis heute verfaßten Kommentare zu den vorlie-
genden Originalen unzählbar sind. Wir müssen also das
»Zeittantra« als das Finale und als den Höhepunkt des
buddhistischen Tantrismus ansehen. Die anderen tantri-
schen Texte, die wir in unserer Studie zitieren (insbeson-
dere das Guhyasamaya-Tantra, das Hevajra-Tantra und
das Candamaharosana-Tantra), werden von uns vor al-
lem deswegen herangezogen, um das Kalachakra-Tan-
tra zu entschlüsseln.

← 8 Das erste bekannte Schriftstück des tantrischen Buddhismus,


das Guhyasamaja-Tantra, stammt frühestens aus dem 4. Jahr-
hundert. Dann folgen zahlreiche andere Werke, die aber alle das-
selbe Grundmuster aufweisen. Spätestens im 11. Jahrhundert en-
det der konzeptionelle Prozeß mit dem Kalachakra-Tantra.

70
Die Allgegenwart des Eros

Auf den ersten Blick haben sich die Geschlechterrollen


im tantrischen Buddhismus (Vajrayana) völlig verän-
dert. Die Geringschätzung der Sinnenwelt und die Ent-
würdigung der Frau im Hinayana, die Asexualität und
Bemitleidung der Frau im Mahayana scheinen sich hier
in ihr Gegenteil zu verkehren. Es kommt geradezu zu ei-
ner Explosion der Sexualität, und die Vorstellung, daß
die Geschlechterliebe das Geheimnis des Universums
in sich birgt, wird zu einem spektakulären Dogma. Die
erotische Begegnung von Mann und Frau erhält eine
mystische Aura, eine Autorität und eine Macht, die ihr
in den vorausgegangenen Epochen des Buddhismus völ-
lig abgesprochen wurden.
Ohne Scheu und Furcht sprechen jetzt buddhistische
Mönche von der »Verehrung der Frauen«, vom »Lobprei-
sen der Frauen«, vom »Dienst an der weiblichen Part-
nerin«. Anstatt Erniedrigung erfährt im Vajrayana je-
des weibliche Wesen eine Erhöhung, statt Verachtung
genießt es auf den ersten Blick Respekt und Hochschät-
zung. Im Candamaharosana-Tantra kennt die Glorifi-
zierung des femininen Geschlechts keine Grenzen mehr :
»Frauen sind der Himmel, Frauen sind das kosmische Ge-
setz (dharma), … Frauen sind das Erleuchtungsbewußt-
sein (buddha), Frauen sind die Gemeinschaft der Heili-
gen (sangha) ; und Frauen sind die vollkommene Weis-
heit«, können wir dort erfahren. (* George, 82)
Die Skala der erotischen Beziehungen zwischen Ge-
schlechtern reicht hinauf bis zur sublimsten Frauenmin-

71
ne und hinab bis zur gröbsten Pornographie. Ausgehend
von der obersten Sprosse der Leiter beten die Mönche
das Weibliche als »Vollendete Weisheit« (Prajnaparamita),
als »Weisheitsgefährtin« (Prajna) oder als »Wissensfrau«
(Vidya) an. Diese Vergeistigung der Frau entspricht con
variatione dem christlichen Sophien- und Marienkult.
Ebenso wie der Christ die »Gottesmutter« verehrt, so
neigt sich der tantrische Buddhist vor dem Weib als der
»Mutter aller Buddhas«, als der »Mutter des Universums«,
als der »Genetrix«, als der »Schwester« und als der »Leh-
rerin«. (* Herrmann-Pfand, 62, 60, 76)
Was die sinnlichen Beziehungen zu Frauen anbelangt,
so werden sie in vier Kategorien eingeteilt : »Lachen, An-
schauen, Umarmen und Vereinigung«. Diese vier ero-
tischen Kommunikationsformen bilden das Muster zu
einer entsprechenden Klassifizierung von tantrischen
Übungen. Die Texte des Kriya-Tantra befassen sich mit
dem Lachen, die des Carya-Tantra mit dem Anschau-
en, die des Yoga-Tantra mit der Umarmung und die des
Anuttara-Tantra (des Höchsten Tantra) mit der sexuellen
Vereinigung. Untereinander stehen die genannten Prak-
tiken in einem hierarchischen Verhältnis, auf der unter-
sten Stufe das Lachen und auf der höchsten der tantri-
sche Liebesakt.
Dieser wird im Vajrayana zu einer religiösen Angele-
genheit ersten Ranges, zur conditio sine qua non des Er-
leuchtungsereignisses. Obgleich in buddhistischen Klö-
stern die Homosexualität keine Seltenheit war und sie
manchmal sogar zu einer Tugend erhoben wurde, hat
man die »Große Glückseligkeit der Befreiung« grund-

72
sätzlich als Vereinigung von Mann und Frau imaginiert
und in entsprechenden Kultbildern dargestellt.
Beide tantrischen Partner begegnen sich jedoch nicht
als zwei natürliche Menschen, sondern als zwei Gotthei-
ten : »Der Mann sieht die Frau als eine Göttin, die Frau
sieht den Mann als einen Gott. Wenn sie das Diaman-
tenszepter (Phallus) und den Lotus (Vagina) miteinander
vereinigen, sollten sie sich gegenseitig Opfergaben dar-
bringen«, lesen wir in einem Tantratext. (* Shaw, 1994,
153) Die Geschlechterbeziehung ist grundsätzlich rituali-
siert : Jeder Blick, jedes Streicheln, jede Form der Berüh-
rung erhält einen symbolischen Stellenwert. Aber auch
das Alter der Frauen, ihr Aussehen, die Form ihrer Ge-
schlechtsteile spielen während der sexuellen Zeremonie
eine signifikante Rolle.
Ohne die geringste Scheu und Scham beschreiben die
Tantras die erotischen Aufführungen. Wir finden dort
technische Handlungsanweisungen im Stil trockener Lie-
besbücher, aber auch ekstatische Gebete und Gedichte,
mit denen der Tantra-Meister den Eros von Mann und
Frau besingt. Manchmal ist diese Literatur von einer un-
schuldigen Sinnenfreude, zum Beispiel wenn es im Vaj­
rasekhara-Tantra heißt :

Seine Seite umfassend gurrt


die Vajra-Göttin. Zu ihm hin wendet
seine Göttin ihren Kopf.
Sie lächelt und schaut ihn aufmerksam an
und hält die Hand des Gesegneten.
(* Wayman, 1983, 110)

73
Direkter, wenn auch nicht weniger poetisch, sind die An-
weisungen, die der Tantriker Anangavajra zur Durch-
führung sakraler Liebespraktiken gibt : »Bald nachdem
er seine Partnerin umarmt und sein Glied in ihre Vul-
va eingeführt hat, trinkt er von ihren Lippen, die von
Milch tröpfeln, bringt sie zum zärtlichen Gurren, ge-
nießt reiche Freuden und läßt ihre Schenkel zittern.«
(* Bharati, 172)
Im Vajrayana ist die direkte Sexualität das Ereignis,
von dem alles ausgeht. Die Begegnung der beiden Ge-
schlechter steigert sich hier zu einer wahren Obsession,
aber nicht – wie wir noch sehen werden – um ihrer selbst
willen, sondern um etwas anderes, in der Vorstellung des
Tantrikers etwas Höheres, zu erlangen. Sex gilt sozusa-
gen als die prima materia, als der grobe Urstoff, mit dem
die Liebespartner experimentieren, um daraus »reinen
Geist« zu destillieren, so wie man aus gärendem Trester
hochwertigen Alkohol gewinnt. Deswegen ist der Tan-
tra-Meister davon überzeugt, daß die Sexualität nicht
nur das Geheimnis des Menschen birgt, sondern auch
den Nährboden bildet, auf dem Götter wachsen können.
Hier findet er die große Lebenskraft, wenn auch in un-
gebändigter und zügelloser Gestalt.
Man kann sich deswegen nicht des Eindrucks erwehren,
daß das tantrische Ritual seine Wirkung um so mehr ent-
faltet, je »heißer« der Sex betrieben wird. Selbst an den pi-
kantesten Obszönitäten fehlt es bei diesen sakralen Hand-
lungen nicht. Im Candamaharosana Tantra schluckt zum
Beispiel der Liebhaber mit freudevoller Lust das herab-
tropfende Waschwasser aus der Vagina und dem Anus

74
der Geliebten und genießt ohne Ekel ihren Kot, den Na-
senschleim und die Speisereste, welche sie auf den Boden
erbrochen hat. Das gesamte Spektrum sexueller Abwei-
chungen ist, wenn auch in der Form des Ritus, vertreten.
Masochistisch ruft der Initiant in einem Text aus : »In al-
len Gestalten bin ich Dein Sklave, eifrig, um Dir zu die-
nen, o Mutter !«, und die »Göttin« – oft von einer Pro-
stituierten simuliert – antwortet ihm : »Ich werde Deine
Domina genannt !« (* George, 67, 68)
Auch die erotische Burleske und der sexuelle Witz wa-
ren seit jeher ein beliebtes Thema unter den Mönchen des
Vajrayana und haben bis hinein in unser Jahrhundert
eine freche und anstößige Schelmenliteratur hervorge-
bracht. Man lacht in den tibetischen Lamaserien immer
noch schallend über die groben Spaße von Onkel Dön-
ba, der sich (im 18. Jh.) als Nonne verkleidete und dann
mehrere Monate als »heißer« Galan in einem weiblichen
Kloster verbrachte. (* Chöpel, 43)
Neben solchen »Grobheiten« kennen wir auch ein kul-
tiviertes sinnliches Raffinement. Als Beispiel hierfür liegt
ein erstaunlich aktuelles Handbuch für erotische Prakti-
ken, die Abhandlung über die Leidenschaft, aus der Feder
des tibetischen Lamas Gedün Chöpel (1895–1951) vor, in
dem der »moderne« Tantriker die »64 Künste der Liebe«
erörtert. Diese östliche Ars Erotica stammt aus den 30er
Jahren unseres Jahrhunderts. Der Leser erfährt viel Wis-
senswertes über verschiedene, teilweise phantastische se-
xuelle Stellungen, und wird darin unterrichtet, wie man
vor und während des Sexualaktes anregende erotische
Geräusche hervorbringt. Weiterhin weist einen der Au-

75
tor in die verschiedenen Rhythmen des Koitus ein, in
spezielle Masturbationstechniken für die Reizung des
Phallus wie der Klitoris, selbst die Anwendung von Dil-
dos findet ihre Erörterung. Der Tibeter Chöpel will kei-
neswegs originell sein, er nimmt explizit Bezug auf die
berühmteste Liebesanleitung der Welt, das Kama Sutra,
aus dem er die meisten seiner Ideen geschöpft hat.
Solche freizügigen »Liebesbücher« im Umfeld des Tan-
trismus sind in unserer aufgeklärten Zeit, die zumindest
im Westen jede Prüderie überwunden hat, kein spektaku-
läres Ereignis mehr, das großes Erstaunen oder gar Pro-
teste auslösen könnte. Dennoch haben diese Texte einen
höheren Reizwert als entsprechende »profane« Schriften,
in denen ansonsten dieselben Liebestechniken aufgeführt
sind. Denn sie wurden von Mönchen verfaßt, für Mön-
che geschrieben, von Mönchen gelesen und von Mön-
chen praktiziert, die in den meisten Fällen ein strenges
Zölibatsgelübde abzulegen hatten.
Aus diesen Gründen erweckt die tantrische Ars Eroti-
ca auch heute noch eine große Neugier und wirft zahl-
reiche Fragen auf. Sind im Vajrayana wirklich die asketi-
schen Grundregeln des Buddhismus außer Kraft gesetzt ?
Ist dank solcher Texte die traditionelle Frauenverachtung
endgültig überwunden ? Treten an die Stelle der »ewi-
gen« Misogynie und der Weltverneinung eine epikure-
ische Hochschätzung der Sinnlichkeit und eine Weltbe-
jahung ? Geht es den Anhängern des »Diamantenpfades«
in der Tat um sinnliche Liebe und mystische Partner-
schaft, oder dient hier der zweigeschlechtliche Eros zur
Verfolgung eines Ziels, das außerhalb seiner selbst liegt ?

76
Und wie heißt dieses Ziel ? Was geschieht mit den Frau-
en nach dem rituellen Sexualakt ?
Alle diese Fragen werden wir auf den folgenden Sei-
ten versuchen zu beantworten. Wie diese Antworten
auch immer lauten werden, wir müssen in jedem Fall
davon ausgehen, daß im tantrischen Buddhismus die Ge-
schlechterbegegnung zwischen Mann und Frau ein sa-
krales Ereignis symbolisiert, bei dem sich die beiden Ur-
kräfte des Universums vereinigen.

Mystische Geschlechterliebe
und kosmogonischer Eros

In der Vorstellung des Vajrayana sind alle Erscheinun-


gen des Universums durch die Fäden des Eros miteinan-
der vernetzt. Der Eros ist die große Lebenskraft, das den
Kosmos durchflutende Prana, die kosmische Libido. Un-
ter Erotik verstehen wir hier die doppelgeschlechtliche
Liebe als ein vom natürlichen Zweck der Fortpflanzung
und der Versorgung der Kinder unabhängiges Bestre-
ben. Mit dieser Einschränkung will der tantrische Bud-
dhismus nicht zum Ausdruck bringen, erotische Verbin-
dungen könnten sich nur zwischen Männern und Frau-
en, beziehungsweise Göttern und Göttinnen entwickeln.
Der Eros ist auch für einen Tantriker allumfassend. Aber
jeder Praktikant des Vajrayana ist davon überzeugt, daß
die Liebesbeziehung zwischen einem weiblichen und ei-
nem männlichen Prinzip (yin – yang) am Ursprung al-
ler anderen erotischen Ausdrucksformen steht und daß

77
sich dieser Ursprung mikrokosmisch in der Vereini-
gung eines Liebespaares neu erleben und dadurch wie-
derholen läßt. Ein erotisches Ereignis zwischen Mann
und Frau, bei dem beide sich als den Kern alles Seienden
erfahren, bezeichnen wir als »mystische Geschlechter-
liebe«. Sie wirkt im Tantrismus als die prima causa des
kosmogonischen Eros und nicht umgekehrt, der kosmi-
sche Eros ist nicht die Ursache für eine mystische Kom-
munion der Geschlechter. Dennoch kommt es ganz am
Schluß der Vajrayana-Praktiken – wie wir sehen wer-
den – zu einer spektakulären Vernichtung der gesamten
männlich-weiblichen Kosmologie.

Aufhebung der Gegensätze

Aber kehren wir vorerst auf den augenscheinlich heilen


Kontinent der tantrischen Erotik zurück. »Es ist durch
die Liebe und angesichts der Liebe, daß sich die Welt
entfaltet, durch die Liebe findet sie ihre ursprüngliche
Einheit und ihre ewige Nicht-Trennung zurück«, belehrt
uns ein Text des Tantrismus. (* Faure, 56) Die Vereini-
gung des männlichen mit dem weiblichen Prinzip ist
auch hier ein ewiges Thema. Unsere Erscheinungswelt
gilt als das Wirkfeld dieser beiden Grundkräfte. Sie ma-
nifestieren sich als Polarität in der Natur ebenso wie in
den Sphären des Geistes. Jede für sich allein erscheint
nur als die eine Hälfte der Wahrheit. Ausschließlich in
ihrer Verschmelzung schaffen sie die Verwandlung aller
Widersprüche in Harmonie. Wenn sich ein Menschen-

78
paar an seine metaphysische Einheit erinnert, kann es
ein Geist und ein Fleisch werden. Nur durch einen Lie-
besakt können Mann und Frau in ihren göttlichen Ur-
sprung, in die Kontinuität des Seins heimkehren. Dieses
mystische Ereignis bezeichnen die Tantriker als Yuga-
naddha, das heißt wörtlich »zum Paar vereint«.
Vereint werden sowohl die Körper der Liebenden als
auch die gegensätzlichen metaphysischen Prinzipien. Des-
wegen widersprechen im Tantrismus erotische und reli-
giöse Liebe, Sexualität und Mystik einander nicht. Weil
es das Liebesspiel zwischen einem männlichen und ei-
nem weiblichen Pol wiederholt, tanzt das ganze Univer-
sum. Yin und Yang, im Tibetischen Yab und Yum, ste-
hen am Anfang einer unendlichen Polaritätskette, wel-
che sich als ebenso bunt und vielschichtig erweist wie
das Leben selbst.
Das Geschlechtliche beschränkt sich also keineswegs
auf den Sexualakt, sondern umfaßt alle Formen der Lie-
be bis hin zur Agape. Es gibt im Tantrismus eine pola-
re Erotik der Körper, eine polare Erotik der Herzen und
manchmal – wenn auch nicht immer – eine polare Ero-
tik des Geistes. Eine solche Omnipräsenz der Geschlech-
ter ist etwas sehr Spezifisches, denn in anderen Kultu-
ren wird beispielsweise die »spirituelle Liebe« (Agape) als
ein Ereignis beschrieben, das sich jenseits von Yin und
Yang realisiert. Der Vajrayana aber zeigt uns, wie sich
der zweigeschlechtliche Eros bis hinein in die sublim-
sten Sphären der Mystik verfeinern kann, ohne daß das
Prinzip der Polarität aufgegeben werden muß. Daß er es
am Ende doch aufkündigt, ist eine andere Sache.

79
Die »Heilige Hochzeit« hebt die Dualität der Welt auf
und verwandelt sie in ein »Kunstwerk« der schöpferischen
Polarität. Um die mystische Verschmelzung der beiden
Geschlechter in Worten auszudrücken, reichen die Be-
griffe unserer diskursiven Sprache nicht aus. Deswegen
kann das »namenlose« Entzücken nur mit Worten be-
schrieben werden, die besagen, was es nicht ist : Im Yuga-
naddha gibt es »weder Zustimmung noch Ablehnung,
weder Sein noch Nicht-Sein, weder Vergessen noch Erin-
nern, weder Verhaftung noch Nicht-Haftung, weder Ur-
sache noch Wirkung, weder Hervorbringen noch Hervor-
gebrachtes, weder Reinheit noch Unreinheit, weder Form
noch Formlosigkeit ; es besteht allein in der Synthesis all
dieser Dualitäten«. (* Dasgupta, 1974, 114)
Nach der Überwindung des Dualismus hat der Unter-
schied zwischen dem Selbst und dem Anderen keine Be-
deutung mehr. So wird, wenn sich Mann und Frau als
Urkräfte begegnen, »das Ego abgeschafft, und die bei-
den polaren Gegensätze vereinen sich in einem Zustand
von warmer und vertrauter Verzückung.« (* Walker, 85)
Der Tantriker Adyayavajra beschreibt diesen Vorgang
der Ichüberwindung als »höchste spontane Gemeinsam-
keit« (* Gang, 85).
An die Stelle des Kampfes der Gegensätze (oder Ge-
schlechter) ist jetzt die Kooperation der Pole getreten.
Körper und Geist, Eros und Transzendenz, Gefühl und
Verstand, Sein (Samsara) und Nicht-Sein (Nirvana) feiern
Hochzeit. Alle Kriege und Kontroversen zwischen Gut
und Böse, Himmel und Hölle, Tag und Nacht, Traum
und Wahrnehmung, Freude und Leid, Lob und Verach-

80
tung werden im Yuganaddha pazifiziert und aufgeho-
ben. Miranda Shaw, eine Religionsforscherin der jünge-
ren Generation, beschreibt das »Buddha-Paar oder den
männlichen und weiblichen Buddha in ihrer Liebe« als
»ein Bildnis der Einheit und der glückseligen Überein-
stimmung zwischen den Geschlechtern im Zustand des
Gleichgewichts und der gegenseitigen Vereinigung. Die-
ses Symbol bringt machtvoll die Ordnung ursprüngli-
cher Ganzheit und Vollendung zum Vorschein.« (* Shaw,
1994, 200)
Ist dieser Zustand nun mit einer bewußtlosen Ekstase,
wie wir ihn vom Orgasmus kennen, identisch ? Kommt es
zur Aufhebung der Gegensätze in einem Trancezustand
der beiden Partner ? Nein – Gott und Göttin lösen sich im
Tantrismus keineswegs in einem Ozean des Unbewuß-
ten auf. Im Gegenteil, sie verfügen über das nicht-duale
Wissen und erkennen deswegen die ewige Wahrheit hin-
ter dem Schleier der Illusionen. Ihre tiefe Kenntnis über
die Polarität allen Seins gibt ihnen die Kraft, das »Meer
aus Geburt und Tod« hinter sich zu lassen.
Der göttliche Eros führt deswegen zur Erleuchtung
und Befreiung. Aber nicht nur die beiden Partner er-
fahren Erlösung, sondern die gesamte Menschheit wird
– so lesen wir in den Tantras – durch die mystische Ge-
schlechterliebe befreit. Als im Hevajra-Tantra die Göttin
Nairatmya, tief erschüttert vom Elend aller Lebewesen,
ihren göttlichen Gemahl darum bittet, ihr das Geheim-
nis zu verraten, wie das Leiden der Menschen zu been-
den sei, ist dieser durch ihre Bitte sehr gerührt. Er küßt
sie, streichelt sie und, während er sich mit ihr vereinigt,

81
klärt er sie über die sexualmagischen Yogapraktiken auf,
durch die alle leidenden Wesen befreit werden können.
(* Dasgupta, 1974, 118) Diese »Erlösung durch den Eros«
ist ein unverkennbarer Zug des Tantrismus und nur sehr
selten in anderen Religionen anzutreffen.

Die kultische Verehrung der Geschlechtsorgane

Durch welche Symbole wird nun die schöpferische Po-


larität im Vajrayana zum Ausdruck gebracht ? Wie vie-
le Kulturen kennt auch der tantrische Buddhismus das
Hexagramm, in dem sich zwei Dreiecke ineinander ver-
flechten. Das nach oben weisende, männliche Dreieck
repräsentiert den Phallus, das nach unten gerichtete,
weibliche Dreieck die Vagina. Beide Geschlechtsorgane
finden im Ritual und in der Meditation des Tantrismus
die höchste Verehrung.
Ein weiteres bedeutsames Symbol für die männliche
Kraft und für den Phallus ist ein symmetrischer Ritualge-
genstand mit dem Namen Vajra. Da die göttliche Virilität
rein und unerschütterlich ist, bezeichnet man den Vajra
als »Diamant« oder »Edelstein«. Als »Donnerkeil« zählt er
zu den Blitzsymbolen. Alles Männliche heißt Vajra. Des-
wegen wundert es einen nicht, daß auch der männliche
Samen Vajra genannt wird. Die tibetische Übersetzung
des Sanskritwortes lautet Dorje und fügt dem Begriff
noch weitere Bedeutungen hinzu, die selbstverständlich
alle mit der männlichen Hälfte des Universums im Zu-
sammenhang stehen. Dorje nennen die Tibeter die glas-

82
Vajra und Gantha (Glocke)

klare Farbe des Himmels und des Firmaments. Schon in


vorbuddhistischen Zeiten verehrten die Himalayavölker
das Himmelsgewölbe als ihren göttlichen Vater.
Das weibliche Pendant zum Vajra finden wir in der
Lotosblüte (Padma) oder der Glocke (Gantha). Entspre-
chend repräsentieren beide, Padma und Gantha, die Va-
gina (Yoni). Für einen Europäer mag es befremdend wir-
ken, welch hohe religiöse Verehrung die Yoni im Tantris-

83
mus genießt. Man verherrlicht sie als den »Platz großer
Freuden«. (* Bhattacharyya, 228) Im »Schoß der Diaman-
tenfrau« erlebt der Yogi einen »Ort der Geborgenheit,
des Friedens und der Stille und gleichzeitig des höchsten
Glücks«. (* Gäng, 89) »Die Buddhaschaft wohnt in den
weiblichen Geschlechtsorganen«, lehrt uns ein anderer
Text. (* Stevens, 89) Von Gedün Chöpel kennen wir ei-
nen begeisterten Hymnus an das weibliche Geschlechts-
organ: »Sie erhebt sich wie der Rücken einer Schildkröte
und hat eine Mundöffnung, die durch Fleisch geschlossen
wird … Sieh nur das lächelnde Ding mit dem Leuchten
der Fluide, welche aus der Leidenschaft entstehen. Es ist
keine Blume mit tausend Blütenblättern oder hundert;
es ist ein Hügel, ausgestattet mit der Süße der Passions-
flüssigkeiten. Die geläuterte Essenz der Säfte, die an dem
Ort entstehen, wo das Weiße und das Rote spielen (die
männlichen und weiblichen Sexualflüssigkeiten), der Ge-
schmack aus sich selbst entstandenem Honig ist darin.«
(* Chöpel, 62) Kein Wunder, daß bei solchen Lobeshym-
nen ein regelrecht sakraler Dienst an der Vagina entstan-
den ist. Die Göttin honorierte diesen mit großen ma-
teriellen und geistigen Vorteilen. »Aho !«, hören wir sie
im Cakrasamvara-Tantra ausrufen. »Ich will denjenigen
mit höchstem Erfolg ausstatten, der meinen Lotus (Va-
gina), den Träger der Glückseligkeit, mit Ritualen ver-
ehrt«. (* Shaw, 1994, 155)
Diese Hochachtung für das weibliche Sexualorgan ist
für den Buddhismus besonders erstaunlich, denn schließ-
lich ist die Vagina das Tor zur Wiedergeburt, das der Tan-
triker mit allen Mitteln zu verschließen sucht. Aus die-

84
sem Grunde zählte der menschliche Geburtskanal für
jeden frühen Buddhisten, gleich welcher Schule er ange-
hörte, zu den unheilvollsten Requisiten unserer Schein-
welt. Aber gerade weil die Yoni den gewöhnlichen Men-
schen in ein Reich des Elends und der Illusion stößt, ist
sie für den Tantriker – wie wir noch sehen werden – zur
»Schwelle der Erleuchtung« geworden. (* Shaw, 1994, 59)
Durch den mystischen Geschlechtsakt geheiligt, erhält sie
zudem eine höhere transzendente Gebärfunktion. Aus
ihr tritt das machtvolle Heer der Buddhas und Bodhi-
sattvas hervor. In einschlägigen Texten können wir lesen,
»daß der Buddha in der Gebärmutter der Göttin residiert
und der Erleuchtungsweg als eine Schwangerschaft« er-
fahren wird. (* Faure, 189)
Die zentrale Verehrung der Yoni hat dazu geführt, daß
fast alle Tantratexte mit dem fundamentalen Satz be-
ginnen : »So habe ich es gehört : Zu einer Zeit weilte der
Höchste Herr in den Vaginas der Diamantenfrauen, die
den Körper, die Sprache und das Bewußtsein aller Bud-
dhas darstellen.« Ebenso, wie nach einer Vorstellung der
hebräischen Kabbala die Anfangsbuchstaben der Bibel
gleichsam die Essenz des gesamten Heiligen Buches in
sich konzentrieren, so sollen die ersten vier Lettern die-
ses tantrischen Einleitungssatzes – Evam (»So habe ich
es gehört«), das ganze Geheimnis des Diamantenweges
in sich verdichten. »Es ist oft gesagt worden, daß, wer
Evam verstanden hat, alles verstanden hat.« (* Banerjee,
1959, 7)
Das Wort (Evam) taucht schon in der frühen Gupta-
schrift (ca. 300 v. Chr.) auf und wird dort in der Form ei-

85
nes Hexagramms dargestellt, also dem Symbol der my-
stischen Geschlechterliebe. Die Silbe E steht für das mit
der Spitze nach unten weisende Dreieck, die Silbe Vam
wurde durch ein aufrechtes Dreieck abgebildet. So re-
präsentieren E die Yoni (Vagina) und Vam den Lingam
(Phallus). E ist der Lotus, die Quelle, der Ort aller Ge-
heimnisse, an dem die Heilige Doktrin der Tantras ge-
lehrt wird ; die Zitadelle des Glücks, der Thron, die Mutter.
E steht weiterhin für »Leere und Weisheit«. Das männ-
liche Vam auf der anderen Seite beansprucht seine Ver-
ehrung als »Vajra, Diamant, Meister der Freuden, Me-
thode, großes Mitgefühl, als der Vater«. E und Vam zu-
sammen bilden »das Siegel der Lehre, die Frucht, die
Erscheinungswelt, den Vollendungsweg, Vater (yah) und
Mutter (yum)«. (* siehe u. a. Farrow, XII ff.) Die Silbe E-
Vam gilt als so machtvoll, daß das göttliche Paar mit ih-
nen die Versammlung aller männlichen und weiblichen
Buddhas herbeizitieren kann.

Der Ursprung der Götter und Göttinnen

Aus dem tantrischen Urpaar emanieren paarweise Bud-


dhas und Bodhisattvas, Götter und Dämonen. Allen
voran stehen die fünf männlichen und weiblichen Ta-
thagatas (Meditationsbuddhas), die fünf Herukas (zorn-
vollen Buddhas) in Vereinigung mit ihren Partnerin-
nen, die acht Bodhisattvas mit ihren Gefährtinnen. Wir
treffen auf Zeitgottheiten, welche die Jahre, Monate und
Tage symbolisieren, ebenso wie auf die »sieben strah-

86
lenden Planetenpaare«. Die fünf Elemente (Raum, Luft,
Feuer, Wasser und Erde) werden paarweise in göttlicher
Gestalt dargestellt – auch sie haben ihren Ursprung in
der mystischen Geschlechterliebe. So heißt es im Hevaj­
ra-Tantra : »Durch die Vereinigung des männlichen mit
dem weiblichen Sexualorgan (wird) … die Einheit im
Eros (hergestellt). Aus dem Kontakt in dieser erotischen
Vereinigung, als der Qualität der Härte, entsteht das Ele-
ment Erde ; Wasser kommt aus den Flüssigkeiten des Sa-
mens ; Feuer aus der Reibung beim Geschlechtsakt ; Luft
bildet sich aus der Bewegung und das Raumelement aus
der erotischen Freude.« (* Farrow, 134)
Aber nicht nur die »reinen« Elemente stammen aus der
erotischen Kommunion, sondern auch deren Mischung.
Durch die ununterbrochene Vereinigung des Männlichen
mit dem Weiblichen strömen aus all ihren Körperteilen
die zeugenden Gewalten in die Welt. In einem Kommen-
tar des berühmten tibetischen Gelehrten Tsongkapa lesen
wir, wie aus der Essenz der Kopfhaare, der Knochen, der
Galle, der Leber, der Körperhaare, der Nägel, der Zähne,
der Haut, des Fleisches, der Sehnen, der Rippen, der Ex-
kremente, des Schmutzes ( !) und des Eiters ( !) der Wel-
tenberg Meru, die Kontinente, die Gebirge und alle Erd-
landschaften hervorgehen. Die Quellen, Wasserfälle, Tei-
che, Flüsse und Ozeane formen sich aus den Tränen, dem
Blut, der Menses, dem Samen, der Lymphe und dem Urin.
Die innerlichen Feuerzentren von Kopf, Herz, Nabel, Un-
terleib und Gliedern entsprechen in der äußerlichen Welt
dem Feuer, das aus Steinen geschlagen oder mit einem
Brennglas hervorgerufen wird, einem Holzfeuer oder ei-

87
nem Waldbrand. Desgleichen wiederholen alle externen
Lufterscheinungen die Atemwinde, die durch die Körper
des Urpaares wehen. (* Wayman, 1977, 234, 236)
In gleicher Weise entstehen die fünf »Aggregatzu-
stände« (Bewußtsein, Geistesregungen, Gefühle, Wahr-
nehmungen, Körperlichkeit) aus dem Urpaar. Auch die
»zwölf Sinne« (Gehörsinn, andere Phänomene, Geruch-
sinn, fühlbare Dinge, Gesichtssinn, Geschmack, Ge-
schmacksinn, Formensinn, Tastsinn, Gerüche, Geistsinn,
Töne) sind Emanationen der mystischen Geschlechter-
liebe. Weiterhin wird jede der »zwölf Handlungsfähig-
keiten« einer Göttin oder einem Gott zugeordnet (Uri-
nierfähigkeit, Ejakulation, Mundfähigkeit, Defäkieren,
Armfähigkeit, Gehen, Beinfähigkeit, Nehmen, Defäkier-
fähigkeit, Sprechen, Höchste Fähigkeit ( ?), Urinieren).
Neben den Göttern des »Körperbereichs« finden wir
diejenigen des »Sprachbereichs«. Das Göttliche Paar gilt
als die Urquelle der Sprache. Der Göttin werden alle Vo-
kale (Ali) zugeordnet ; der Gott ist der Vater aller Konso-
nanten (Kali). Wenn sich Ali und Kali (die auch als perso-
nifizierte Gottheiten erscheinen können) vereinen, bilden
sie die Silben. Darin verbergen sich wie in einem Zau-
berei die verbalen Samen (Bija), aus denen das sprachli-
che Universum hervorwächst. Die Silben verbinden sich
miteinander zu Lauteinheiten (Mantra). Oft haben bei-
de keine begriffliche Bedeutung, sind aber sehr reich an
emotionalen, erotischen, magischen und mystischen In-
tentionen. Wenn auch zwischen ihnen viele Ähnlichkei-
ten bestehen, so soll die göttliche Sprache der Tantras
machtvoller sein als unsere westliche Poesie, denn durch

88
Kalachakra und Vishvamata

das rituelle Singen der Keimsilben, kann Göttern befoh-


len werden. Jede Gottheit und jedes göttliche Ereignis ge-
horcht im Vajrayana einem spezifischen Mantra.
Da der Eros nichts ausläßt, ist die gesamte Gefühlspa-
lette der Götter (soweit diese noch dem Begierdereich an-
gehören) ursprünglich in der mystischen Beziehung der
Geschlechter aufzufinden. Keine Emotion, keine Stim-
mung, welche nicht dort ihren Ursprung hätte. Die Texte
sprechen von »erotischen, märchenhaften, humorvollen,
mitfühlenden, friedvollen, gleichmütigen, heroischen, ab-
weisenden und zornvollen« Empfindungen. (* Wayman,
1977, 328)

89
Der Ursprung von Zeit und Leere

Im Kalachakra-Tantra (»Zeittantra«) ist der männliche


Pol der Zeitgott Kalachakra, der weibliche die Zeitgöt-
tin Vishvamata. Hauptsymbole der männlichen Gott-
heit sind das Diamantenzepter (Vajra) und der Lingam
(Phallus). Die Göttin trägt die Lotosblüte oder eine Gloc-
ke, beides Signaturen der Yoni (Vagina). Er regiert als der
»Herrscher des Tages«, sie als die »Königin der Nacht«.
Das Mysterium der Zeit offenbart sich durch die Liebe
dieses Götterpaares. Im »Rad der Zeit« (Kala heißt »Zeit«
und Chakra »Rad«) sind alle temporalen Ausdrucksfor-
men des Universums angelegt. Wenn sich die Zeitgöttin
Vishvamata und der Zeitgott Kalachakra vereinen, erle-
ben sie ihre Kommunion als »Hohe Zeit«, als »mystische
Hochzeit«, als Hieros Gamos. Auf die »zyklische Zeit«
und das Gesetz der »Ewigen Wiederkehr« verweisen der
Kreis oder das Rad (Chakra). Die vier großen Weltperi-
oden (Mahakalpa) sind im Mysterium des tantrischen
Urpaares ebenso verborgen wie die zahlreichen Modali-
täten chronologischer Abläufe. Als die kleinste tempora-
le Einheit bezeichnen die Texte den 64. Teil eines Finger-
schnappens. Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen,
Monate und Jahre, ja die gesamte komplexe tantrische
Kalenderrechnung – alle gehen aus der mystischen Ge-
schlechterliebe von Kalachakra und Vishvamata hervor.
Die vier Köpfe des Zeitgottes entsprechen den vier Jah-
reszeiten. Wenn man das »dritte Auge« mitrechnet, läßt
sich die Summe von 12 Augen auf die 12 Monate auf-
teilen. Zählt man pro Finger 3 Gelenke, so kommt man

90
bei den 24 Armen Kalachakras auf 360 Knochen, ent-
sprechend – nach tibetischer Rechnung – den 360 Ta-
gen des Jahres.
Zeit äußert sich als Bewegung, Ewigkeit als Stillstand.
Auch diese beiden Momente werden im Kalachakra-Tan-
tra angesprochen. Auf den Zustand der Bewegungslosig-
keit während des Hieros Gamos hat die zyklische wie die
chronologische Zeit keinen Einfluß mehr. Der Zeitfluß
kommt jetzt zum Versiegen, und die Frucht der Ewig-
keit kann genossen werden. Ein solches Erlebnis erlöst
das Göttliche Paar von Vergangenheit und Zukunft, die
sich als Illusion erweisen, und schenkt ihnen zeitlose
Gegenwart.
Wie steht es nun mit dem Gegensatzpaar Raum und
Zeit ? In der europäischen Philosophie und der theore-
tischen Physik hat ihre Beziehung zahllose Diskussio-
nen ausgelöst. Spekulationen über das Raum-Zeit-Phä-
nomen sind jedoch im Tantrismus weit weniger beliebt.
Die Texte ziehen den Begriff Shunyata (Leere) vor, wenn
sie vom »Raum« sprechen, und weisen auf die geheim-
nisvollen Eigenschaften der »Leere« hin, insbesondere
auf ihre paradoxale Kraft, alle Dinge zu gebären : Raum
ist Leere, »aber Raum, wie er in der buddhistischen Me-
ditation verstanden wird, ist nicht passiv (im westlichen
Sinne), Raum ist die notwendige, pulsierende Matrix für
alles, was existiert.« (* Gross, 1993, 203)
Shunyata (Leerheit) können wir als den zentralen Be-
griff der gesamten buddhistischen Philosophie ansehen.
Sie ist die zweite Herzkammer des Mahayana-Buddìs-
mus. (Die erste ist Karuna, das Mitgefühl mit allen le-

91
benden Wesen.) Die »absolute Leere« löst alle Phänomene
des Seins bis hinauf in die Sphäre des Höchsten Selbst in
Nichts auf. Man darf über die Leere keine Aussage ma-
chen, denn die Wirklichkeit von Shunyata ist unabhän-
gig von jeder begrifflichen Konstruktion. Sie transzen-
diert das Denken, und wir können nicht einmal behaup-
ten, daß die phänomenale Welt nicht existiert. Man hat
diesen radikalen Negativismus mit Recht als die »Lehre
von der Leere der Leere« bezeichnet.
Angesichts dieser fundamentalen Unaussprechlichkeit
und Eigenschaftslosigkeit von Shunyata wundert es ei-
nen, weshalb sie im Vajrayana-Buddhismus grundsätz-
lich als ein »weibliches« Prinzip vorgestellt wird. Aber
das ist so ! Als ihre männlichen polaren Entsprechungen
nennen die Tantras Bewußtsein (Citta) oder Mitgefühl
(Karuna). »Das Bewußtsein ist der Lord, und die Lee-
re ist die Lady ; sie sollten immer im Sahaja (höchsten
Erleuchtungszustand) vereinigt sein«, heißt es in einem
Text. (* Dasgupta, 1974, 101) Auch Zeit und Leere ergän-
zen einander polar.
So ruft die Kalachakra-Gottheit (der Zeitgott) mit Em-
phase aus : »Durch die Macht der Zeit sind in der Leer-
heit geschaffen worden Luft, Feuer, Wasser, Erde, Eilande,
Hügel, Ozeane, Sternbilder, Mond, Sonne, Sterne, Plane-
ten, Weise, Götter, Geister, nagas (Schlangendämonen),
der vierfache tierische Ursprung, Menschen und hölli-
sche Wesen.« (* Banerjee, 1959, 16) Nachdem sie von der
»männlichen« Zeit befruchtet wurde, gebiert die »weib-
liche« Leere alle Dinge. Bei dieser Vorstellung wird wohl
die Beobachtung hineingespielt haben, daß die Vagina

92
leer ist, bevor sie Leben hervorbringt. Shunyata darf des-
wegen im Tantrismus nie als reine Negativität verstan-
den werden, sondern gilt als der »formlose« Ursprung
allen Seins.

Das klare Licht

Letztes Ziel aller mystischen Lehren in den unterschied-


lichsten Kulturen ist die Erfahrbarkeit des Höchsten
Klaren Lichts. Lichterscheinungen spielen im tantri-
schen Buddhismus eine so bedeutende Rolle, daß der
italienische Tibetologe Giuseppe Tucci von einem regel-
rechten »Photismus« (Lichtlehre) spricht. Das Licht, von
dem alles herrührt, gilt als das »Symbol der höchsten
Wesenhaftigkeit«. (* Brauen, 65)
Die tantrischen Texte begnügen sich jedoch bei der
Beschreibung übernatürlicher Lichtphänomene keines-
wegs damit, sie nur auf ein mystisches Urlicht zurück-
zuführen, sondern haben einen ganzen Katalog von er-
fahrbaren »Photismen« zusammengestellt. Dazu zählen
in der Meditation aufleuchtende Funken, Lampen, Ker-
zen, Leuchtkugeln, Regenbögen, Feuersäulen, Himmels-
lichter und so weiter. Jede dieser Erscheinungen annon-
ciert eine bestimmte Bewußtseinsstufe, die untereinan-
der in einer hierarchischen Ordnung stehen. Man muß
also verschiedene Lichtstadien durchlaufen, um am Ende
im »Höchsten Klaren Licht« zu baden.
Das wirklich Einzigartige am Tantrismus ist, daß er
dieses »Höchste Klare Licht« aus dem Yuganaddha, dem

93
Hieros Gamos, hervorströmen läßt. In diesem Sinne müs-
sen wir den folgenden poetischen Satz aus dem Kalacha-
kra-Tantra verstehen : »In der von Finsternis gereinigten
Welt steht ein Paar am Ende der Finsternis.« (* Baner-
jee, 1959, 24)

Zusammenfassend können wir sagen, daß der Tantris-


mus den Eros zwischen den Geschlechtern zu seinem
zentralen religiösen Thema gemacht hat. Wenn sich das
göttliche Paar in Glückseligkeit vereint, dann »vereinen
sich durch die Kraft ihrer Freude auch die Mitglieder ih-
res Gefolges«, das heißt die anderen Götter und Göttin-
nen, die Buddhas und Bodhisattvas mit ihren Weisheits-
gefährtinnen. (* Wayman, 1968, 291) Das göttliche Paar
ist allwissend, da es die Keimsilben, aus denen der Kos-
mos hervorgeht, kennt und selber darstellt. Mit ihrem
Atem regieren der Zeitgott (Kalachakra) und die Zeit-
göttin (Vishvamata) die Bewegungen der Gestirne. Die
Astronomie und alle anderen Wissenschaften haben in
ihnen ihren Ursprung. Sie sind eingeweiht in jede Stufe
der Meditation, beherrschen die Geheimlehren und jeg-
liche Form des subtilen Yoga. Aus ihnen strahlt das Kla-
re Licht. Sie wissen um die Gesetze des Karma und ihrer
Aufhebung. Mitfühlend umsorgen Gott und Göttin die
Menschen wie ihre Kinder und kümmern sich um die
Belange der Welt. Als Meisterin und Meister aller Zeit-
formen bestimmen sie den Rhythmus der Geschichte. In
ihnen verschmelzen Sein und Nicht-Sein die schöpferi-
sche Polarität des göttlichen Paares bringt das Univer-
sum hervor.

94
Dieses Bild von einer umfassenden Schönheit zwischen
den Geschlechtern steht dennoch nicht auf dem Hauptal-
tar des tantrischen Buddhismus. Was kann es aber noch
Höheres geben als das polare Prinzip des Universums
und der Unendlichkeit ?

Weisheit (Prajna) und Methode (Upaya)

Bevor wir darauf antworten, wollen wir noch auf ein


weiteres Gegensatzpaar, das im Yuganaddha Hochzeit
feiert, einen Blick werfen. Wir sind bisher auf die in den
Tantras am meisten zitierte Polarität »Weisheit« (Praj-
na) und »Methode« (Upaya) noch nicht eingegangen.
Kein tantrischer Urtext, kein indischer oder tibetischer
Kommentar und kein westlicher Interpret des Tantris-
mus, der nicht ausführlich die Vereinigung von Upaya
und Prajna behandeln würde.
»Weisheit« und »Methode« gelten geradezu als die Ur-
mutter und der Urvater aller anderen tantrischen Ge-
gensätze. Jede polare Konstellation wird aus diesen bei-
den Begriffen abgeleitet. Um es kurz zusammenzufassen :
Upaya steht für das männliche Prinzip, den Phallus, die
Bewegung, die Aktivität, den Gott, die Erleuchtung und
so weiter ; Prajna repräsentiert das weibliche Prinzip, die
Vagina, die Ruhe, die Passivität, die Göttin, das kosmi-
sche Gesetz. Alle Frauen gelten als Prajna, alle Männer
als Upaya. »Die Vereinigung von Prajna und Upaya ist
wie die Mischung von Wasser und Milch und führt zu
einem Zustand der Nicht-Dualität.« (* Dasgupta, 1974,

95
93) Es gibt auch die Aussage, daß Upaya zu einer Fessel
wird, wenn sie nicht mit Prajna verbunden ist, nur beide
zusammen geben Befreiung und Buddhaschaft. (* Bha-
rati, 1977, 171)
Diese nahezu unbegrenzte Ausdehnung der zwei Prin-
zipien hat dazu geführt, daß sie selten kritisch untersucht
wurden. Stehen beide in einer wirklich polaren Beziehung
zueinander ? Wieso – so fragen wir – bedarf die »Weis-
heit« der »Methode« ? – Diese Kontrapunktik paßt irgend-
wie nicht zusammen, denn kann es überhaupt eine un-
methodische, chaotische »Weisheit« geben ? Genügt sich
Prajna (die Weisheit) nicht selbst, und umschließt sie
nicht die »Methode« als einen Teilaspekt ihrer selbst ? Was
ist eine »unmethodische« Weisheit ? Auch wenn wir Upa-
ya – wie das häufig geschieht – mit »Technik« übersetzen,
haben wir keine überzeugende polare Entsprechung zu
Prajna. Diese Kombination erscheint an den Haaren her-
beigezogen, denn weshalb begegnen sich »Technik« und
»Weisheit« in einer mystischen Hochzeit ? Noch absur-
der und profaner wird die Gegenüberstellung, wenn wir
Upaya (wie das durchaus gemeint ist) mit »geschicktes
Mittel« oder sogar »Trick« und »List« übersetzen. 9 (* Wil-
ber, 1987, 310) Unter »Weisheit« mag man sich noch eini-
ges vorstellen können, aber der technoide Begriff Upaya
stößt auf große Verständnisschwierigkeiten. Wir müssen
ihn also genauer unter die Lupe nehmen.

9 1987 fand in Berkeley (U. S. A.) eine Konferenz statt, auf der
sich die Diskussionen vor allem um den Begriff Upaya drehten.

96
»In allen Fällen«, schreibt David Snellgrove, ein her-
vorragender Kenner des Tantrismus, »muß betont wer-
den, daß die Methode … als Mittel zu einem Zweck dient.
Keineswegs trägt sie diesen Zweck in sich selbst, wie das
sicher für die Vollendete Weisheit (Prajna) gesagt wer-
den kann.« (* Snellgrove, 1987, Bd. 1, 283)
Die »Methode« ist also ein Instrument, das mit einem
Inhalt, der »Weisheit«, in Kombination gebracht werden
soll. Die »Weisheit« – führt Snellgrove fort – »kann als das
sich entfaltende Universum angesehen werden.« (* Snell-
grove, 1987, Bd. 1, 244) Dieses hat aufgrund der Vertei-
lung beider Prinzipien auf die Geschlechterrollen eine
weibliche Qualität.
Die instrumentale »Methode«, die der männlichen
Sphäre zugeordnet ist, erweist sich somit – das werden
wir noch ausführlich zu erörtern haben – als eine sakra-
le Technik, um die weibliche »Weisheit« beherrschen zu
können. »Upaya« ist nichts anderes als ein Manipula-
tionsinstrument, ohne einen eigenen originellen Inhalt
und ohne eigene Substanz, sie ist allenfalls das Mittel
zum Zweck (die Weisheit). Analytische Kälte und tech-
nische Präzision sind zwei ihrer Grundeigenschaften. Da
die Weisheit – wie wir aus Snellgroves Zitat entnehmen
können – das ganze Universum repräsentiert, ist Upaya
die Methode, mit der das All manipuliert wird ; und da
Prajna das weibliche Prinzip und Upaya das männliche
Prinzip darstellen, beinhaltet ihre Kombinierung eine Ma-
nipulation des Weiblichen durch das Männliche.
Um diesen Vorgang zu veranschaulichen, sollten wir
einen kurzen Blick auf einen griechischen Mythos wer-

97
fen, in dem erzählt wird, wie sich Zeus die Göttin der
Weisheit (Metis) angeeignet hat. Eines Tages verschlang
er aus Konkurrenzgründen die Metis. (Metis bedeutet
übersetzt »Weisheit«.) Diese überlebte in seinem Bauch
und wurde gezwungen, ihn fürderhin zu beraten. Dem-
nach war der einzige Beitrag, den Zeus zur Entwicklung
»seiner« Weisheit leistete, ein Verschlingungsakt. Aber
mit dieser groben, nichtsdestotrotz sehr effektiven Me-
thode (Upaya) konnte er sich anschließend ohne viel An-
strengung als größter »Weisheitslehrer« der Götter und
Menschen ausgeben.
Durch die Geburt seiner Tochter Athene wurde er so-
gar zum männlichen Gebärer der weiblichen »Weisheit«,
denn Athene gilt ebenfalls wie ihre Mutter Metis als Weis-
heitsgöttin. Zwar ist es Metis, die ihre Tochter (Athene)
im Bauch des Göttervaters hervorbringt, aber er beför-
dert sie nolens volens ans Tageslicht : Athene durchbricht
mit voller Rüstung seine Schädeldecke. Sie ist die Kopfge-
burt ihres Vaters, symbolisch gesehen, das Produkt sei-
ner Vorstellungskraft.
Die Verschlingung des Weiblichen und seine imagi-
native Hervorbringung (Kopfgeburt) sind demnach die
beiden Techniken (Upaya), mit denen Zeus die Weisheit
(Prajna, Metis, Athene) zu seinen Machtzwecken manipu-
liert. Wir werden noch sehen, wie plastisch dieser grie-
chische Mythos die Prozesse des tantrischen Mysteri-
ums bebildert.
Jedenfalls besteht zwischen den beiden tantrischen
Prinzipien »Weisheit« und »Methode« – so möchten wir
hier noch hypothetisch behaupten – weder eine Ergän-

98
zung noch eine Polarität, nicht einmal eine Antinomie,
sondern ein androzentrisches Herrschaftsverhältnis. Die
Übersetzung von Upaya als »Trick« hat durchaus ihre
Berechtigung. So kann von einer »mystischen Hochzeit«
zwischen Prajna und Upaya überhaupt keine Rede sein,
und leider werden wir schon sehr bald zeigen müssen,
daß von der im Westen weit verbreiteten Vorstellung,
der Tantrismus sei eine sublime Liebeskunst und eine
spirituelle Verfeinerung der Partnerschaft, nicht viel üb-
rig bleibt.
Die Verehrung der »Weisheit« (Prajna) als eine umfas-
sende kosmische Energie hatte schon im Mahayana-Bud-
dhismus eine eminente Bedeutung. Sie ist dort das Thema
einer umfangreichen Literatur, der Prajnaparamita-Tex-
te, und wird heute in ganz Asien kultiviert. Im berühm-
ten Sutra der Vollendeten Weisheit in Achttausend Versen
(ca. 100 v. Chr.) zum Beispiel stehen die Verherrlichung
der Prajnaparamita (»Höchste Transzendente Weisheit«)
und die Beschreibung des Bodhisattva-Weges im Zen-
trum. »Wenn ein Bodhisattva Buddhaschaft erlangen will,
muß er immer bemüht sein und ohne nachzulassen die
Prajnaparamita verehren«, heißt es dort. (* D. Paul, 143)
Es kommt auch in der Ikonographie des Mahayana schon
vor, daß die »Höchste Weisheit« in der Gestalt eines weib-
lichen Wesens dargestellt wird, nie aber ist hier von ei-
ner Manipulation oder einer Kontrolle der »Göttin« die
Rede. Hingabe, inbrünstige Gebete, Hymnen, liturgische
Gesänge, ekstatische Erregung, überschäumende Gefüh-
le und Freude sind die Ausdrucksformen, mit denen der
Gläubige die Prajnaparamita verehrt.

99
Der Guru als Manipulator des Göttlichen

Angesichts der vorher angeklungenen Dissonanzen zwi-


schen Prajna und Upaya müssen wir uns fragen, wer
denn die Instanz ist, die mit »Methode« die weibliche
Weisheitsenergie für eigene Zwecke benutzt. Diese Fra-
ge ist um so naheliegender, weil in der sichtbaren Wirk-
lichkeit der tantrischen Religionen – zum Beispiel in der
Kultur des tibetischen Lamaismus – nie gleichwertige
Paare, sondern fast nur Männer alleine, in ganz seltenen
Fällen nur Frauen alleine den Vajrayana repräsentieren.
Die beiden Partner treffen sich nur zum rituellen Voll-
zug des Liebesaktes und gehen dann auseinander.
Schon aus dem bisher Gesagten ergibt sich schlüs-
sig, daß es das männliche Prinzip sein muß, welches
die Manipulation der weiblichen Weisheit vornimmt.
Es erscheint in der Gestalt des »Tantra-Meisters«. Sei-
ne Kenntnis der sakralen Techniken macht ihn zu ei-
nem »Yogi«. Soweit er als Lehrer auftritt, wird er Guru
(sanskr.) oder Lama (tibet.) genannt.
Wie kommt es nun zur außergewöhnlichen Machtstel-
lung des Tantra-Meisters ? Jeder Anhänger des Vajrayana
praktiziert den sogenannten »Gottheitsyoga«, das bedeutet
die Selbstimagination als eine Gottheit. Dabei unterschei-
det er zwei Stufen : Zuerst meditiert er über die »Leerheit«
alles Seienden, um seine körperlichen, seelischen und gei-
stigen Verunreinigungen und »Blockaden« zu beseitigen
und um einen leeren Raum zu schaffen. Das Herzstück in
diesem meditativen Auflösungsprozeß ist die Aufgabe des
individuellen Ichs. Anschließend formt das imaginative

100
Bewußtsein des Yogis das lebhafte Bild (Yiddam) desjeni-
gen göttlichen Wesens, das im jeweiligen Ritual auftreten
soll. Dessen Körper, Farbe, Stellung, Kleider, Gesichtsaus-
druck und Stimmungen sind in den Heiligen Texten genau
beschrieben und müssen präzise im Geiste nachgezeich-
net werden. Es handelt sich also nicht um eine spontane,
künstlerisch freie Vorstellungsarbeit, sondern um die ge-
treue Kopie eines kodifizierten Archetyps.
Der Praktikant kann den Yiddam außerhalb von sich
projizieren, so daß er vor ihm erscheint. Darin aber be-
steht nur der erste Schritt, im folgenden wird er sich selbst
als die Gottheit imaginieren. So tauscht er sein persön-
liches Ego gegen das Ego eines übermenschlichen We-
sens aus. Der Yogi hat seine menschliche Existenz über-
wunden und bildet nun »bis hinein ins letzte Atom« eine
Einheit mit dem Gott. (* Glasenapp, 101)
Er darf jedoch nie aus seinem Bewußtsein verlieren,
daß die von ihm imaginierte Gottheit keine autonome
Existenz besitzt. Sie lebt allein und ausschließlich als
die Emanation seiner Vorstellungskraft und kann des-
wegen je nach Belieben geschaffen, bewahrt und zer-
stört werden.
Wer ist nun dieser Tantra-Meister, dieser Manipulator
des Göttlichen ? Sein Bewußtsein hat mit dem eines ge-
wöhnlichen Menschen nichts mehr zu schaffen, es muß
einer Sphäre angehören, die noch über den Göttern steht.
Die Texte und Kommentare beschreiben diese »höchste
Instanz« als das »Höhere Selbst« oder als den Ur-Bud-
dha (ADI BUDDHA), als das Ureine, den Ursprung al-
len Seins, mit dem sich der Yogi identifiziert.

101
Wenn also im Vajrayana von einem »Guru« die Rede
ist, dann haben wir der Doktrin nach kein Individuum
mehr vor uns, sondern ein archetypisches und transzen-
dentes Wesen, das sich sozusagen einen menschlichen
Körper ausgeliehen hat, um mit diesem in der Welt zu
erscheinen. Nicht die Person (vom lateinischen persona
= Maske), sondern die hinter ihr wirksame Gottheit be-
stimmt das Geschehen. Diese wiederum ist die Emana-
tion eines Übergottes, eine Epiphanie des höchsten ADI
BUDDHA. Konsequent durchdacht bedeutet das, daß
der XIV Dalai Lama (der oberste Tantra-Meister des ti-
betischen Buddhismus) nicht als Mensch, sondern als
der Bodhisattva Avalokiteshvara, dessen Ausstrahlung
er ist, die Politik der Exiltibeter bestimmt. Wollen wir
also diese Politik beurteilen, dann haben wir uns mit
den Motiven und Visionen des Avalokiteshvara ausein-
anderzusetzen.
Die ungeheuerliche Macht des Tantra-Meisters hat
nicht in einer Doktrin des Vajrayana ihre Ursache, son-
dern in den beiden philosophischen Hauptrichtungen des
Mahayana-Buddhismus (Madhyamika und Yogachara).
Die Madhyamika-Schule des Nagarjuna (5. Jh. n. Chr.)
spricht vom Prinzip der Leerheit (Shunyatd), das allem
Sein zugrunde liegt. Dies gilt in seiner Radikalität auch
für die Götter. Sie sind reine Illusion und für einen Yogi
nicht weniger und nicht mehr wert wie ein Werkzeug,
das er für seine Zielsetzungen benutzt und dann wie-
der weglegt.
Paradoxerweise hat diese radikale buddhistische Er-
kenntnistheorie dazu geführt, daß jetzt die Türen für eine

102
nicht mehr übersehbare Götterschar, von denen die mei-
sten aus dem hinduistischen Kulturraum stammen, auf-
gestoßen wurden. Diese durften von nun an, was früher
im Hinayana verpönt war, den buddhistischen Himmel
bevölkern. Da sie in letzter Instanz eine Illusion waren,
brauchte man sie nicht mehr zu fürchten oder als Kon-
kurrenz anzusehen ; da man sie »negieren« konnte, durf-
te man sie »integrieren«.
Für die Yogachara-Schule (4. Jh. n. Chr.) besteht alles
– das Selbst, die Welt und die Götter – aus »Bewußtsein«
oder »Reinem Geist«. Auch dieser extreme Idealismus
macht es möglich, daß der Yogi das Universum nach
seinem Willen und seiner Vorstellung manipuliert. Weil
der Himmel und seine Bewohner nichts anderes sind als
Spielformen seines Geistes, können sie je nach Gusto her-
vorgebracht, vernichtet und ausgetauscht werden.
Was aber bei einer Beurteilung des Vajrayana-Systems
zu denken geben sollte, ist die oben schon erwähnte Tat-
sache, daß die auf der tantrischen Bühne präsentierte
buddhistische Götterschar bis ins Detail hinein kodifi-
ziert ist. Weder an der Choreographie noch an den Ko-
stümen hat sich seit dem 12. Jahrhundert n. Chr. etwas
Wesentliches geändert, wenn man von der Aufnahme
einiger niedriger Schutzgeister absieht, wovon die jüng-
sten (zum Beispiel Dorje Shugden) aus dem 17. Jahrhun-
dert stammen. Im aktuellen »Gottheitsyoga«, das heute
von einem Adepten (auch wenn dieser aus dem Westen
stammt) praktiziert wird, beschwört dieser einen schon
fixierten Himmel und mit ihm die alten Götter. Er ruft
Urbilder an, die im indisch-tibetischen, allenfalls noch

103
mongolischen Kulturkreis gewachsen sind und die selbst-
verständlich – das werden wir sehr genau im zweiten Teil
unserer Studie nachweisen – die Interessen und politi-
schen Sehnsüchte dieser Kulturen vertreten. 10
Da der Guru noch eine Stufe oberhalb einer Gottheit
residiert und in letzter Instanz der ADI BUDDHA ist,
sind seine Schüler verpflichtet, ihn als ein omnipotentes
Überwesen anzubeten, das Göttern und Göttinnen, Bud-
dhas und Bodhisattvas befiehlt. Die folgende Apotheose
eines tantrischen Lehrers, die der halbmythische Gründer
des Buddhismus in Tibet, Padmasambhava, einer Initi-
antin vorschrieb, ist symptomatisch für unzählbare ähn-
liche Gebete in der Liturgie des Tantrismus : »Du sollst
wissen, daß dein Guru wichtiger ist als selbst tausend
Buddhas aus diesem Äon. Weshalb ? Deswegen, weil alle
Buddhas dieses Äons erst in Erscheinung traten, nachdem
sie einem Guru gefolgt sind … Der Meister ist der Bud-
dha (die Erleuchtung), der Meister ist das Dharma (das
kosmische Gesetz), der Meister ist die Sangha (die Ge-

10 Diese kulturelle Einbindung der tantrischen Gottheiten wird


im allgemeinen von den Lamas geleugnet. Bis zur Ermüdung ver-
sichern sie ihren Zuhörern, es handle sich dabei um allgemein
gültige Archetypen, zu denen jeder, gleich welcher Religion er
angehöre, aufblicken könne. Die Shunyata-Doktrin, die »Lehre
von der Leerheit«, macht es zwar theoretisch möglich, auch die
Gottheiten anderer Kulturen erscheinen zu lassen und diese wie-
der aufzulösen. »Moderne« Gurus wie der 1989 verstorbene Chö-
gyum Trungpa verweisen denn auch bei ihren Belehrungen auf
das gesamte archetypische Reservoir der Menschheit. Aber in
ihrer spirituellen Praxis greifen sie ausschließlich auf tantrische
und tibetische Symbole, Yiddams und Riten zurück.

104
meinschaft der Mönche).« (* Binder-Schmidt, 35) Im Guh-
yasamaja-Tantra lesen wir, wie sich alle Erleuchtungswe-
sen vor dem Lehrer verbeugen müssen : »Alle Buddhas
und Bodhisattvas aus der Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft … verehren den Lehrer … (und) sprechen fei-
erlich folgende Vajra-Worte : ›Er ist der Vater von allen
Buddhas, er ist die Mutter von allen Buddhas, und des-
wegen ist er der Lehrer von allen Buddhas‹.« (* Snellgro-
ve, 1987, Bd. 1, 177)
Eine bizarre Anekdote aus der Frühphase des Tantris-
mus macht die Deifizierung des Gurus noch deutlicher.
Als der berühmte Vajra-Meister Naropa eines Tages sei-
nen Schüler Marpa fragte : »Wenn ich und die Gottheit
Hevajra gleichzeitig vor dir erscheinen, vor wem wirst du
zuerst niederknien ?« Da dachte Marpa : »Meinen Guru
sehe ich jeden Tag, offenbart sich mir jedoch Hevajra, so
ist das wohl ein ganz außergewöhnliches Ereignis, und
es wird wohl besser sein, ihm zuerst die Referenz zu er-
weisen !« Nachdem er dies seinem Meister mitgeteilt hat-
te, schnappte Naropa mit zwei Fingern, und im gleichen
Augenblick erschien Hevajra mit seinem ganzen Gefol-
ge. Doch noch bevor sich Marpa vor der Erscheinung in
den Staub werfen konnte, wurde diese durch ein zweites
Fingerschnappen in Naropas Herz aufgelöst. »Du hast ei-
nen wesentlichen Fehler gemacht !« rief der Meister aus.
(* Dhargyey, 1985, 123)
In einer anderen Geschichte sind der oben erwähnte
Naropa und dessen Lehrer, der Kalachakra-Meister Til-
opa, die Protagonisten. Tilopa sprach zu seinem Schüler
Naropa : »Wenn Du Belehrung haben willst, dann verfer-

105
tige ein Mandala !« Naropa konnte keinen Samen finden,
so machte er das Mandala aus Sand. Aber er suchte ver-
gebens nach Wasser, um den Sand zu festigen. Da fragte
ihn Tilopa : »Hast Du Blut ?« Naropa öffnete seine Adern,
und das Blut floß heraus. Doch jetzt fehlten ihm die Blu-
men, obwohl er überall danach Ausschau hielt. »Hast Du
keine Glieder ?« fragte ihn Tilopa, »schlag Dir den Kopf
ab und stell ihn in die Mitte des Mandalas. Nimm Deine
Arme und Beine und arrangiere sie darum !« Naropa tat
so und opferte das Mandala seinem Guru, dann brach er
durch den Blutverlust zusammen. Als er wieder zu Be-
wußtsein kam sprach ihn Tilopa mit der Frage an : »Bist
Du glücklich ?«, und Naropa antwortete : »Das höchste
Glück besteht darin, meinem Guru dieses Mandala, her-
gestellt aus meinem Fleisch und Blut, zu opfern.«
Die Macht des Gurus – das wollen uns diese Geschich-
ten lehren – hat keine Grenzen, während die Gottheit in
letzter Instanz eine Illusion darstellt, die je nach Belie-
ben von ihm aufgelöst und hervorgebracht werden kann.
Er ist der Überlord, Herrscher über Leben und Tod, über
Himmel und Hölle. Durch ihn spricht der ABSOLUTE
GEIST, der nichts mehr außerhalb seiner selbst duldet.
Der Schüler selber muß sein individuelles Ich völlig
aufgeben und es in das Subjekt des GEISTES, das in sei-
nem Lehrer wohnt, transformieren. »Ich und mein Lehrer
sind Eins« bedeutet : in beiden lebt der selbe GEIST.

106
Die Aneignung der Gynergie
und androzentrische Machtstrategien

Die Omnipotenz und Göttlichkeit des Yogis ist aber nur


in ganz seltenen Fällen eine natürliche Ausstattung, mit
der er geboren wird. Meistens handelt es sich um das Er-
gebnis eines komplizierten spirituellen Stufenweges. Of-
fensichtlich benötigt der männliche Tantra-Meister zur
Entfaltung seiner Allmacht, die selbst die Geschlechter-
polarität allen Seins transzendieren soll, einen Stoff, den
wir als »Gynergie« (weibliche Energie) bezeichnen und
den wir uns näher ansehen wollen. Da er dieses »Elixier«
zu Beginn seines Machtpfades nicht in sich selber vorfin-
det, muß er es dort suchen, wo es entsprechend den Ge-
setzen der Natur in Fülle vorhanden ist – bei den Frauen.
Der Vajrayana sei deswegen – so lesen wir in den Be-
urteilungen einer nicht geringen Anzahl westlicher For-
scher und Forscherinnen – eine sexualmagische Technik
von Männern, um den Frauen ihre spezifische weibliche
Energieform zu »rauben« und um sie sich dienstbar zu
machen. Diese strömt nach dem »Raub« für den tantri-
schen Adepten als die Kraftquelle seiner spirituellen Er-
leuchtungserlebnisse. Es ist in der Tat erstaunlich, welche
Potenzen (nach tibetischer Sicht) alle in der femininen
Sphäre gesucht und gefunden werden : Wissen, Materie,
Sinnlichkeit, Sprache, Licht – ja das gesamte Universum
erfährt der Yogi, den tantrischen Texten nach, als weib-
lich. Die weibliche Kraft (Shakti) und die weibliche Weis-
heit (Prajna) gebären für ihn ununterbrochen die Reali-
tät, ja selbst transzendente Wirklichkeiten wie die »Lee-

107
re« (Shunyata) sind weiblichen Geschlechts. Keine höhere
Stufe auf dem Erleuchtungsweg und schon gar nicht der
Vollendungszustand kann nach der Sicht des Tantrismus
ohne »Gynergie« erreicht werden.
Um sich die feminine Urmacht des Alls anzueignen,
muß der Yogi die entsprechenden spirituellen Methoden
(Upaya) beherrschen, die wir noch ausführlich in unse-
rer Studie untersuchen werden. Der geschätzte Erforscher
der tibetischen Kultur, David Snellgrove, beschreibt de-
ren Hauptfunktion als die »Transmutation der weiblichen
Form in die männliche« in der Absicht, Macht zu akku-
mulieren. Aus diesem und keinem anderen Grunde su-
che der Tantriker den Kontakt mit einem weiblichen We-
sen. Meistens »fließt die Macht von der Frau zum Man-
ne, vor allem wenn sie machtvoller ist als er«, erfahren
wir von der Indologin Doniger O’Flaherty. (* O’Flaherty,
1982, 263) Denn da das mächtige Weibliche die Welt kre-
iert, kann der männliche »unkreative« Yogi nur dann
zum Kreator werden, wenn er sich die Schöpferkraft der
Göttin aneignet. »Möge ich von Geburt zu Geburt wie-
dergeboren werden«, ruft er deswegen im Hevajra-Tan-
tra aus, »in mir selbst die Essenz der Frau konzentrie-
ren.« (* Snellgrove, 1959, 116) Er ist der Hexenmeister, der
glaubt, daß alle Macht weiblich sei, und der das Geheim-
nis kennt, sie zu manipulieren. Das Secretum seiner Om-
nipotenzträume besteht darin, wie er sich in ein »überna-
türliches« Wesen, in einen Androgyn, verwandeln kann,
der über das Potential beider Geschlechter verfügt. Die
zwei Geschlechterenergien verlieren jetzt ihre Gleichbe-
rechtigung und werden in eine hierarchische Beziehung

108
gebracht, in der der männliche Teil die absolute Herr-
schaft über den weiblichen ausübt.
Wenn sich im umgekehrten Fall das weibliche Prin-
zip das männliche aneignet und es zu dominieren sucht,
sprechen wir präziser von Gynandrie. Gynandrische Ri-
ten sind aus den hinduistischen Tantras bekannt. Im an-
drozentrischen Buddhismus dagegen geht es ausschließ-
lich um die Herstellung eines »vollkommenen« andro-
gynen Zustandes, das heißt sozial : um die Macht des
Mannes über die Frau oder kurz um die Errichtung ei-
nes patriarchalen Mönchsregimes.
Da die »Zweigeschlechtlichkeit« des Yogi die Voraus-
setzung für seine Machtentfaltung darstellt, bildet sie in
jedem Höchsten Tantra einen zentralen Stoff für Diskus-
sionen. Sie wird schlicht als das »Zwei-in-Einem«-Prin-
zip bezeichnet, das alle Gegensätze wie Weisheit und Me-
thode, Subjekt und Objekt, Leere und Mitgefühl, aber
vor allem Männlich und Weiblich aufhebt. (* Snellgro-
ve, 1987, Bd. 1, 285) Man spricht auch von »Bipolarität«
oder der Realisierung »einer bisexuellen Gottheit im ei-
genen Körper«. (* Herrmann-Pfand, 314)
Das »Zwei-in-Einem«-Prinzip zielt jedoch nicht – wie
oft von modernen Interpreten mißverstanden – auf ei-
nen Zustand jenseits der Sexualität und des Eros hin.
Denn der Tantra-Meister macht sich bewußt die männ-
lich-weiblichen Sexualenergien zu Machtzwecken nutz-
bar und vernichtet sie nicht, selbst wenn sie nach der Ini­
tiation nur innerhalb seiner eigenen Person präsent sind.
Sie wirken dort weiterhin als die beiden polaren Urkräf-
te, nur jetzt innerhalb des androgynen Yogi.

109
Deswegen handelt es sich beim Tantrismus auf jeden
Fall um einen erotischen Kult, der den kosmischen Eros
als die prägende Kraft des Universums anerkennt, auch
wenn dieser zu Machtzwecken manipuliert wird. Das
steht im krassen Gegensatz zu den asexuellen Vorstellun-
gen des Mahayana-Buddhismus. »Bisexualität, das heißt
der Besitz sowohl männlicher als weiblicher Sexualität,
wurde als besonders unglückliches Schicksal angesehen,
da das bisexuelle Individuum durch die Potenzierung der
beiden Sexualkräfte notwendigerweise willensschwach
und moralisch anfällig sein muß – und folglich nicht gei-
stig und spirituell wachsen kann«, lesen wir bei Diana
Paul unter Bezug auf das »Große Fahrzeug«. (* D. Paul,
179, 180)
Aber der Vajrayana läßt sich von solchen Proklama-
tionen nicht einschüchtern, sondern verehrt den Andro-
gyn als ein strahlendes Diamantenwesen, das in seinem
Herzen »den glückseligen Kuß der inneren männlichen
und weiblichen Kräfte« verspürt. (* Mullin, 1991, 243)
Der tantrische Androgyn soll tatsächlich an der Lust und
Freude beider Geschlechter teilhaben, aber ebenso an ih-
rer konzentrierten Macht. Wenn er auch in seiner irdi-
schen Gestalt als ein Mann vor uns steht, so herrscht der
Yogi doch als Mann und als Frau, als Gott und als Göt-
tin, als Vater und als Mutter zugleich. »Visualisiere den
Lama als Kalachakra (den Zeitgott) in seinem Vater- und
Mutter­aspekt, das heißt in der Vereinigung mit seiner
Gefährtin« (* Dalai Lama XIV, 1985, 174) – wird der In-
itiant aufgefordert und muß dann angesichts seines Gu-
rus aussprechen – »Du bist die Mutter, du bist der Vater,

110
Du bist der Lehrer der Welt !« (* Grünwedel, Kalachakra,
II, 180) »Er selbst ist die Göttin, er selbst ist der Gott«,
ruft ein anderer Schüler angesichts seines Meisters ek-
statisch aus. (* Dasgupta, 1974, 225)

Der vaginale Buddha

Ziel der Androgynität ist die Aneignung absoluter Macht,


da – nach tantrischer Doktrin – der gesamte Kosmos
als das Produkt und als das Spiel der beiden Geschlech-
ter anzusehen ist. Jetzt im mystischen Körper des Yogis
vereint, glaubt dieser auch über die geheimnisvolle Ge-
burtskraft zu verfügen – jene natürliche Fähigkeit der
Frau, die ihm als Mann primär abgeht und die er des-
wegen so heiß begehrt.
Solches Begehren drückt sich unter anderem in dem
Herrschaftstitel Bhagavan (Herrscher oder Regent) aus,
den er nach der tantrischen Initiation annimmt. Das Sans-
kritwort bhaga bedeutet ursprünglich das weibliche Ge-
schlechtsteil, Schoß, Vagina oder Vulva. Dann heißt bha-
ga aber auch Glück, Glückseligkeit, Reichtum, manch-
mal Leere. Aus dem Schoß der Frau entsteht die Vielfalt
der Welt – darauf verweist diese Metapher. Der Yogi läßt
sich deswegen im Kalachakra-Tantra als Bhagavat oder
Bhagavan, als ein Träger weiblicher Geburtskraft bezie-
hungsweise als »Glücksträger« verehren. »Der Buddha
heißt Bhagavat, weil er die Bhaga besitzt, diese charak-
terisiert seine Herrschaftsqualität.« (* Naropa, 136), lesen
wir in Naropas Kommentar aus dem 11. Jahrhundert, und

111
der berühmte Tantriker fährt fort : »Die Bhaga ist nach
der Tradition das Füllhorn im Besitz der sechs Wohltaten
in ihrer vollendeten Form : der Souveränität, der Schön-
heit, des guten Rufs, des Überflusses, der Erkenntnis und
der richtigen Kraft, um die gesetzten Ziele zu erreichen.«
(* Naropa, 136) In ihrer Einleitung zum Hevajra-Tantra
schreiben die modernen Autoren G. W Farrow und I. Me-
non : »Nach tantrischer Sicht ist der Bhagavan als eine Per-
son definiert, die eine Bhaga besitzt, eine Vagina, welche
die Quelle darstellt.« (* Farrow, XXIII)
Obgleich diese männliche Usurpation der Bhaga erst
im Tantrismus ihre volle Ausprägung und tiefere Sym-
bolik erhält, ist sie durch eine eigenartige körperliche
Signatur vorgezeichnet, die aus der Frühphase des Bud-
dhismus stammt. Gemäß einem allgemein anerkannten
Kanon muß sich ein historischer Buddha durch 32 Merk-
male ausweisen. Es handelt sich dabei um ungewöhnli-
che, in seinen physischen Körper eingeschriebene Zeich-
nungen wie zum Beispiel das Abbild von Sonnenrädern
auf seinen Fußsohlen. Das zehnte Zeichen, in der westli-
chen Medizin Cryptorchidie genannt, besteht im Verdec-
ken des Penis durch eine große Hautfalte, »im Verbergen
der unteren Organe in einer Scheide« (* Gross, 1993, 62),
und der Text fügt noch hinzu : »Buddhas private Organe
sind verborgen, wie diejenigen eines (männlichen) Pfer-
des.« (* Gross, 1993, 62)
Auch wenn die Cryptorchidie als Merkmal des Er-
leuchteten im Mahayana-Buddhismus seine »Asexuali-
tät« anzeigen soll, so kann sie unserer Ansicht nach im
Vajrayana nur die Aneignung der weiblichen Geschlechts­

112
energien signalisieren, ohne daß der Buddha deswegen
auf seine männliche Potenz zu verzichten braucht. Im
Gegenteil, da der Vergleich mit einem Hengst angestellt
wird, dessen Penis naturgemäß in einer »Scheide« liegt,
hat man auf eine der machtvollsten mythischen Sexual-
metaphern des indischen Kulturkreises Bezug genom-
men. Seit den Veden wird der Hengst als das höchste
Tiersymbol für die männliche Potenz angesehen. Nach
tibetischem Volksglauben sollen auch die Dalai Lamas
über die Fähigkeit verfügen, die Geschlechtsteile »zurück-
zuziehen«. (* Stevens, 180)

Der Buddha als Mutter und der Yogi als Göttin

Die durch den »Raub« der Gynergie angeeignete »Ge-


bärfähigkeit« verwandelt den Guru in eine »Mutter«,
eine Übermutter, die selbst Götter hervorbringen kann.
Jeder tibetische Lama legt deswegen großen Wert dar-
auf, daß für ihn die mächtigen Muttersymbole gelten,
und ein beliebter Beiname der tantrischen Yogis lautet
»Mutter aller Buddhas«. (* Gross, 1993, 232) Selbst der
tibetische Name »Lama« hat etymologisch eine weibli-
che Bedeutung. Er muß mit »Mutter der Lebenskraft«
oder »Mutter der Seele« übersetzt werden. (* Lopez, 18,
19) Die maternale Rolle setzt logischerweise eine sym-
bolische Schwangerschaft voraus. Entsprechend ist
»schwanger sein« eine häufige Metapher, um die Her-
vorbringungskraft eines Tantra-Meisters zu beschrei-
ben. (* Wayman, 1977, 57)

113
Aber trotz all seiner mütterlichen Qualitäten repräsen-
tiert der Yogi in letzter Instanz den männlichen Über-
gott, den ADI BUDDHA, der die Muttergöttin als Ar-
chetyp aus sich hervorgebracht hat : »Es muß vermerkt
werden, daß die erste Göttin aus dem Herrn emaniert
ist«, lesen wir bei einem bedeutenden Tantra-Interpre-
ten. »Der Herr ist das anfangslose ewige Eine ; während
die Göttin, aus dem Körper des Herrn emanierend, das
Produkt darstellt.« (* Dasgupta, 1946, 384) Eva entstand
aus der Rippe Adams – erfahren wir schon aus der Ge-
nesis. Da nach der tantrischen Initiation das Weibliche
nur als ein manipulierbarer Bestandteil des Männlichen
existieren soll, spricht man in den Tantras vom »mitge-
borenen Weiblichen«. (* Wayman, 1977, 291)
Hat man die Emanation der Muttergöttin aus dem
männlichen Gott kanonisch festgelegt, steht einer Selbst-
Imagination und Selbst-Hervorbringung des Lamas als
Göttin nichts mehr im Wege. »Dann schaue dich als gött-
liche Frau in leerer Gestalt« (* Evans-Wentz, 1937, 177),
fordert eine Meditationsanleitung, die sich an einen Schü-
ler richtet. In einer anderen erklärt dieser : »Ich selbst wer-
de augenblicklich die Heilige Frau.« (* Beyer, 378)
Einmal mit der Kraft des Weiblichen ausgestattet, hat
der Tantra-Meister sogar die Fähigkeit, ganze Scharen
von Frauengestalten aus sich entstehen zu lassen. Er kann
mit einer einzigen Frauengestalt das ganze Universum
ausfüllen : »Zunächst stelle dir das Bild (der Göttin Vaj­
rayogini) etwa in der Größe des eigenen Körpers vor, dann
in der eines Hauses, dann eines Hügels und schließlich
in der Ausdehnung des Weltalls.« (* Evans-Wentz, 1937,

114
136) Oder er imaginiert den Kosmos als einen unend-
lich großen Palast überirdischer Paarwesen : »Alle männ-
lichen Gottheiten tanzen in mir. Alle weiblichen Gott-
heiten lassen ihre heiligen … Gesänge durch mich er-
tönen«, dichtete der II Dalai Lama in einem tantrischen
Gesang. (* Mullin, 1991, 67) Aber der Yogi kann »diese
Paare (auch) in seiner Meditation auflösen. Nach und
nach realisiert er, daß ihre objektive Existenz illusorisch
ist und daß sie nur eine funktionelle Bedeutung haben …
Er transzendiert sie und kommt dazu, sie als bloße Bil-
der anzusehen, welche in einem Spiegel reflektiert wer-
den.« (* Carelli, 18)
Außerhalb der Riten und Meditationssitzungen, das
heißt innerhalb der realen Welt, erscheint der doppelge-
schlechtliche Übermensch jedoch fast ausschließlich im
Körper eines Mannes und nur äußerst selten als eine Frau,
auch wenn er im Guhyasamaja-Tantra ausruft : »Ich bin
ohne Zweifel jede Gestalt. Ich bin Frau und ich bin Mann,
ich bin die Gestalt des Androgyn.« (* Gang, 66)

Was geschieht mit der Frau ?

Die Frau verschwindet aus dem tantrischen Szenario,


nachdem ihr der Yogi die Gynergie durch sexualmagi-
sche Techniken »geraubt« hat. »Die weibliche Partnerin«,
schreibt David Snellgrove, »bekannt als das Weisheits-
mädchen (Prajna), das unterstelltermaßen die große
Voll­endung der Weisheit verkörpert, wird letztendlich
als Mittel zu einem Zweck benutzt, den der Yogi in sich

115
selbst erfährt. Nachdem er einmal die erforderlichen Yo-
gatechniken gemeistert hat, braucht er keinerlei weibli-
che Partnerin mehr, denn der ganze Prozeß wird jetzt in
seinem eigenen Körper aufgeführt … Deswegen sind in
diesen Tantras trotz der Hochpreisung der Frauen und
trotz ihres hohen Symbolwertes die ganze Theorie und
Praxis zum Vorteil von Männern formuliert.« (* Snell-
grove, 1987, Bd. 1, 287)
Entsprechende Zitate lassen sich bei vielen anderen
westlichen Interpreten desTantrismus finden : »Im … Tan-
trismus… ist die Frau das Mittel, ein Fremdkörper, ohne
die Möglichkeit eines Austausches oder einer wirklichen
Kommunikation.« (* zit. b. Shaw, 1994, 7) Die Frau werde
»als ein Ritualobjekt benutzt und dann zur Seite gescho-
ben«. (* zit. b. Shaw, 1994, 7) Oder – die Yogis hätten »Sex
ohne Sensibilität … Es gibt keine Intimbeziehung mit ei-
nem Individuum – die beteiligte Frau … ist ein Objekt,
ein Symbol für reine Macht… nichts als eine spirituelle
Batterie.« (* zit. b. Shaw, 1994, 255) Die Frau fungiere als
ein »Werkzeug der Erlösung«, als »Hilfsmittel auf dem
Erleuchtungsweg«. Das Ziel des Vajrayana sei es gar, »das
Weibliche zu zerstören.« (* zit. b. Shaw, 1994, 7)
Diese Funktionalisierung der Sexualpartnerin wird üb-
rigens – wie wir noch zu zeigen haben – in den originären
Texten des Vajrayana ohne Bedenken und ohne Scham
angesprochen. Dagegen neigen moderne westliche Au-
toren, die dem Buddhismus weltanschaulich nahestehen,
zu der Meinung, der tantrische Androgyn habe gleich-
wertig beide Geschlechterrollen in sich harmonisiert, so
daß das androgyne Muster sowohl für Männer als auch

116
für Frauen gelte. Das ist aber nicht der Fall. Schon ethy-
mologisch läßt sich die Androgynität (aus dem Altgrie-
chischen anér = Mann und gyné = Frau) keineswegs auf
beide Geschlechter übertragen. Der Begriff bezeichnet –
wenn wir ihn wörtlich nehmen – die im Mann enthalte-
nen mann-weiblichen Kräfte, während das gleiche Phä-
nomen bei der Frau »Gynandrie« (die in ihr enthaltenen
weiblich-männlichen Kräfte) genannt werden müßte.

Androgynität versus Gynandrie

Da es sich im Falle der Androgynität und Gynandrie


um die Organisation von geschlechtsspezifischen Ener-
gien und nicht um eine Beschreibung körperlicher Ge-
schlechtsmerkmale handelt, könnte man meinen, wir
betrieben hier eine Begriffsspalterei. Das wäre auch der
Fall, würde nicht im Tantrismus ein extremer Kult der
männlichen Physis, der männlichen Psyche und des
männlichen Geistes betrieben. Mit ganz wenigen Aus-
nahmen sind alle Gurus des Vajrayana Männer. Was in
der Erscheinungswelt gilt, das gilt auch für die höchste
transzendente Ebene. Der ADI BUDDHA wird grund-
sätzlich in der Gestalt eines Mannes dargestellt.
Nachdem wir uns mit der »mystischen« Physiologie des
Yogis auseinandergesetzt haben, werden wir weiterhin se-
hen, daß diese den Aufbau eines männlichen Energiekör-
pers beschreibt. Jeder Zweifel daran, ob die Androgyni-
tät eine virile Usurpation weiblicher Ener­gien darstellt,
dürfte aber schwinden, sobald wir die Geheimnisse der

117
tantrischen Samengnosis gelüftet haben. Hierbei benutzt
der männliche Yogi das Menstruationsblut einer Frau,
um seinen doppelgeschlechtlichen Körper aufzubauen.
Folglich bedeutet der Versuch, aus einer Frau ein an-
drogynes Wesen zu machen, daß ihre eigene weibliche Es-
senz einem männlichen Prinzip (dem Prinzip des anér)
untergeordnet wird. Sogar wenn sie äußerlich noch die
Geschlechtsmerkmale einer Frau (Brüste und Vagina)
aufweist, mutiert sie, wie wir das schon aus dem Maha-
yana-Buddhismus kennen, energetisch in einen Mann.
Ein wirklich weiblicher Gegenpol zu einem androgynen
Guru wäre dagegen eine gynandrische Meisterin. Die
Frage ist jedoch, ob die in den buddhistischen Tantras
gelehrten Techniken überhaupt dazu geeignet sind, ei-
nen Transformationsprozeß der Frau in Richtung Gyn-
andrie einzuleiten, oder ob sie ausschließlich von Män-
nern für Männer verfaßt wurden. Erst nach einer detail-
lierten Beschreibung der tantrischen Rituale werden wir
diese Frage klar beantworten können.

Die absolute Macht des »Großmagiers«


(Maha Siddha)

Ziel der tantrischen Androgynität ist die Konzentrati-


on absoluter Macht im Tantra-Meister, welche nach sei-
ner Sicht in der unbeschränkten Kontrolle über die bei-
den kosmischen Urkäfte, den Gott und die Göttin, be-
steht. Wenn man unterstellt, daß er sein individuelles
Ich durch ständige Meditationsarbeit vernichtet hat, ist

118
es nicht mehr ein Mensch, der diese Macht in sich ver-
dichtet. An die Stelle des menschlichen Egos ist das Su-
perego eines Gottes mit weit potenzierteren Fähigkeiten
getreten. Dieses übermenschliche Subjekt kennt keine
Grenzen mehr, wenn es im Hevajra-Tantra verkündet :
»Ich bin der Offenbarer – Ich bin die offenbarte Doktrin
– Ich bin das Ziel – Ich bin der Herr der Welt – Ich bin die
Welt, so wie alle weltlichen Dinge.« (* Farrow, 167)
Man unterscheidet in den Tantras zwei Arten von
Macht :
1. »Überweltliche Macht«, das heißt letztendlich Er-
leuchtungsbewußtsein und Buddhaschaft.
2. »Weltliche Macht« wie Reichtum, Gesundheit, Re-
gentschaft, Sieg über den Feind und ähnliches.
Eine Klassifizierung der Tantras in niedrige Katego-
rien, die sich nur mit weltlichen Dingen abgeben, und
höhere, durch welche die wahrhaft religiösen Ziele ge-
lehrt würden, ist jedoch nicht möglich. Alle Schriften
sind sowohl an »sakralen« wie an »profanen« Angele-
genheiten interessiert.
Überweltliche Macht verleiht dem Tantra-Meister die
Herrschaft über das gesamte Universum. Er kann es auf-
lösen und wieder entstehen lassen. Sie gibt ihm die Herr-
schaft über Raum und Zeit in allen ihren Ausdrucksfor-
men. Als »Zeitgott« (Kalachakra) wird er zum »Herrn der
Geschichte«. Als ADI BUDDHA bestimmt er die Richt-
linien der Evolution.
Weltliche Macht bedeutet vor allem, anderen mit Erfolg
befehlen zu können. Im Universalismus des Vajrayana
sind die Befehlsempfänger nicht nur Menschen, sondern

119
auch Wesenheiten aus anderen transhumanen Sphären –
Geister, Götter und Dämonen. Diese können nicht allein
mit den Mitteln dieser Welt beherrscht werden, sondern
nur durch die Kunst übernatürlicher Magie. Grundsätz-
lich steigt deswegen die Macht eines Gurus proportional
mit der Anzahl und der Wirksamkeit seiner »Zauber-
kräfte« (Siddhis). Macht und die Kenntnis der magischen
Künste sind für einen Tantra-Meister synonym.
Eine solche Allgegenwart des Magischen hat für unser
westliches Bewußtsein etwas Phantastisches. Wir müs-
sen uns deswegen in das alte Indien, dieses Märchenland
voller Wunder und Geheimnisse, hineinversetzen und
uns das okkulte Ambiente vergegenwärtigen, aus dem
der tantrische Buddhismus entstanden ist. Der Indolo-
ge Heinrich Zimmer hat die Atmosphäre dieser Zeit mit
den folgenden Sätzen skizziert : »Hier ist Magie etwas sehr
Reales. Das richtig gesprochene Zauberwort durchdringt
die Person des anderen widerstandslos, verwandelt, ver-
hext sie. Denn im Banne unfreiwilligen Teilhabens ist der
andere durchlässig für das Fluidum des zaubernden Wil-
lens, er leitet elektrisch den Strom, der ihn trifft.« (* Zim-
mer, 79) Im alten Tibet war das nicht anders bis hinein in
unser Jahrhundert. Alle Erscheinungen der Welt stehen
in einem magischen Zusammenhang, und »geheimnis-
volle Fäden (verknüpfen) jedes Wort, jede Handlung, ja
jeden Gedanken mit dem ewigen Weltgrunde.« (* Zim-
mer, 18) Die tantrischen Yogis werfen als die »Träger ma-
gischer Macht« oder als »Magierkönige« die aus solchen
Fäden gewebten Netze aus. Sie werden aus diesem Grun-
de Maha Siddhas, »Große Zauberer«, genannt.

120
Wenn wir einen Blick auf die in den Tantras genannten
Zaubergegenstände werfen, mit denen ein Maha Siddha
ausgerüstet ist, so erinnern uns auch diese an die wun-
derträchtigen Objets, mit denen nur Märchenhelden aus-
gestattet sind : Ein magisches Schwert verleiht Sieg und
Macht über alle nur denkbaren Feinde ; eine Augensalbe
läßt verborgene Schätze entdecken ; eine Art Siebenmei-
lenstiefel befähigt den Adepten, auf der Erde und durch
die Luft jeden Ort der Welt in kürzester Zeit zu erreichen ;
es gibt ein Elixier, das nach alchemistischer Manier un-
edle Metalle in pures Gold verwandelt ; ein Wundertrank
schenkt ewige Jugend, und ein Allheilmittel schützt vor
Krankheit und Tod ; Pillen verleihen die Fähigkeit, jede
Gestalt anzunehmen ; eine Tarnkappe macht den Zau-
berer unsichtbar. Er hat die Möglichkeit, in verschiede-
nen Personen gleichzeitig zu erscheinen, die Schwerkraft
aufzuheben und die Gedanken der Menschen zu lesen.
Er kennt seine früheren Inkarnationen, beherrscht alle
Formen der Meditation ; er kann zu einem Atom zusam-
menschrumpfen und seinen Körper bis zu den Sternen
hin ausdehnen.
Er ist mit dem »göttlichen Auge« und »göttlichen Ohr«
ausgestattet. Kurz, er hat die Macht, alles nach seinen
Vorstellungen zu bestimmen.
Das Universum beherrschen die Maha Siddhas durch
ihre Zaubersprüche (spells), Bannformeln oder Mantren.
»Ich bin mir bewußt«, kommentiert David Snellgrove,
»daß moderne westliche Buddhisten, vor allem diejeni-
gen, die der tibetischen Tradition folgen, den Gebrauch
dieses englischen Wortes (spell) für Mantra … wegen

121
seiner Assoziation mit vulgärer Magie nicht schätzen.
Man muß leider antworten, ob man es mag oder nicht,
daß sich der größte Teil der Tantras genau mit vulgärer
Magie beschäftigt, denn daran waren die meisten Leute
interessiert.« (* Snellgrove, 1987, Bd. 1, 143)
Eine auffallend häufige Erwähnung in den tantrischen
Texten finden die »erotischen« Bannsprüche, die den Yogi
befähigen, sich Frauen für seine sexualmagischen Rituale
zu beschaffen. Den rituellen Sexualakt praktiziert er auch
nach der Erleuchtung, denn da im Weibe der Schlüssel
zur Macht liegt, festigt jeder liturgische Beischlaf seine
Omnipotenz. Nicht nur irdische Wesen haben sich sol-
chen Mantren zu fügen, sondern ebenso weibliche Engel
und grauenhafte Bewohnerinnen der Unterwelt.
Auch gegen ihren Willen kann sich der allmächtige Zau-
berer eine Frau hörig machen. Er braucht sich nur ein
Bild von der begehrten realen Person vorzustellen. Dieses
stößt er in der Meditation mit einem Blumenpfeil mitten
durchs Herz und imaginiert, wie das durchbohrte Liebes-
opfer ohnmächtig zu Boden fällt. Kaum schlägt es die Au-
gen auf, zwingt ihm der Eroberer mit gezücktem Schwert
und vorgehaltenem Spiegel seine Wünsche auf. Dieses in
der Imagination aufgeführte Szenario wird jede reale Frau
ohne Widerstände in die Arme des Yogi treiben. (* Gla-
senapp, 144) Eine andere Zauberkraft ermöglicht es ihm,
in den Körper eines ahnungslosen Ehemannes zu schlüp-
fen, um inkognito mit dessen Frau die Nacht zu verbrin-
gen, oder er kann nach dem Vorbilde des indischen Gottes
Krishna seine Gestalt vervielfältigen und mit Hunderten
von Jungfrauen gleichzeitig verkehren. (* Walker, 60)

122
Zum Schluß sei noch auf einige destruktive Siddhis
(Zauberkräfte) hingewiesen : Um einen Menschen zu ver-
steinern, empfiehlt das Hevajra-Tantra die Verwendung
von Kristallperlen und den Genuß von Milch ; um ei-
nen zu unterwerfen, verwendet man Sandelholz ; um zu
verhexen, wird Urin benötigt ; um Haß zwischen Wesen
aus den sechs Welten zu erzeugen, arbeitet der Adept
mit menschlichen Knochen und praktiziert mit Men-
schenfleisch ; um etwas zu beschwören, schwingt man
den Knochen eines gestorbenen Brahmanen und genießt
Tierdung. Mit Büffelknochen metzelt der Erleuchtete sei-
ne Feinde nieder. (* Snellgrove, 1959, 118) Es gibt Zau-
bersprüche, die einen Menschen augenblicklich in zwei
Hälften spalten. Dieses Kunststück soll jedoch nur an ei-
ner Person ausgeführt werden, die gegen die buddhisti-
sche Doktrin verstoßen oder einen Guru beleidigt hat.
Man kann sich den Missetäter auch vorstellen, wie er
Blut erbricht oder wie eine feurige Nadel in seinen Rüc-
ken dringt oder wie ein flammender Buchstabe ihm das
Herz verkohlt – im selben Augenblick wird er tot umfal-
len. (* Snellgrove, 1959, 116, 117) Durch das »Kreide Ri-
tual« vernichtet der Yogi in Sekundenschnelle eine gan-
ze feindliche Armee, indem alle Soldaten auf einmal ih-
ren Kopf verlieren. (* Snellgrove, 1959, 52) Wir werden
im zweiten Teil unserer Analyse ausführlich darauf zu
sprechen kommen, wie solche magischen Tötungsprak-
tiken ein Ressort der tibetisch-lamaistischen Staatspoli-
tik waren und immer noch sind.
Man muß jedoch gerechterweise erwähnen, daß in den
Originaltexten der Tantras weniger, in ihren Kommenta-

123
ren aber um so häufiger, jeder willkürliche Macht- und
Gewaltanspruch durch das Bodhisattvagelübde (nur zum
Wohle der leidenden Wesen zu handeln) ausgeschlossen
werden soll. Kein Tantra, keine Zeremonie und kein Ge-
bet, in denen man nicht die mehrmalige Versicherung fin-
det, alle Magie dürfe nur aus Mitgefühl (Karuna) durch-
geführt werden. Diese ständige, in ihrer Häufigkeit beina-
he verdächtig erscheinende Forderung erweist sich jedoch
nach näherer Hinsicht als eine Verschleierung, denn Ge-
walt und Macht sind im Tantrismus von struktureller
und nicht alleine von moralischer Natur.
Angesichts der Machtstrukturen des modernen Staates,
der Weltwirtschaft, des Militärs und der neuzeitlichen
Medien hören sich die Imaginationen der Maha Siddhas
dennoch naiv an. Ihre Ambitionen haben etwas Privati-
stisches und Phantastisches an sich. Aber der Schein trügt.
Schon im alten Tibet wurde der Einsatz von Zauberkräf-
ten (Siddhis) als ein bedeutendes Ressort der buddhokra-
tischen Staatspolitik angesehen. Die Ritualmagie war in
der Geschichte des offiziellen Lamaismus weit wichtiger
als Kriege oder diplomatische Aktivitäten und ist es, wie
wir zeigen werden, immer noch.
Die tantrische Vorstellung, daß Macht transformierter
Eros sei, kennen wir auch aus der modernen Psychoana-
lyse. Nur soll sich diese Verwandlung in der westlichen
Psyche meist, wenn auch nicht immer, unbewußt voll-
ziehen. Es sind der unterdrückte und verdrängte Eros,
der sich nach Sigmund Freud in Machtvisionen verkeh-
ren kann. Im Tantrismus dagegen wird dieser unbewuß-
te Vorgang bewußt manipuliert. Er kann – wie im Falle

124
des Lamaismus – eine ganze Kultur bestimmen. Der nie-
derländische Psychologe Fokke Sierksma geht deswegen
davon aus, daß sich die »Lust auf Macht« als wesentliche
Triebkraft hinter dem tibetischen Mönchswesen verbirgt.
Man gebe vor – so der Autor –, darüber zu meditieren,
wie ein Zustand der Leere zu verwirklichen sei, aber »in
der Praxis war das Ergebnis nicht die Leere, sondern eine
Inflation des Ego«. Diesem gehe es um »Macht und nicht
um mystischen Frieden«. (* Sierksma, 125, 186)
Noch erstaunlicher aber als die magisch-tantrische
Welt des alten Tibet ist die Tatsache, daß es den Phan-
tasmagorien des Tantrismus in unserer Gegenwart ge-
lingt, in das kulturelle Bewußtsein der westlichen, hoch-
industrialisierten Zivilisation einzudringen, und daß es
die Kraft hat, sich dort mit all seinen Atavismen erfolg-
reich zu verankern. Dieser Versuch des Vajrayana, den
Westen durch seine magischen Praktiken zu erobern, ist
das zentrale Sujet unserer Untersuchung.

Die drei Rollen der Sexualpartnerin


im buddhistischen Tantrismus

Bisher haben wir den tantrischen Entwurf nur sehr allge-


mein betrachtet und abstrakt dargestellt. Nun möchten
wir konkret zeigen, wie die »Transformation von Eros in
Macht« durchgeführt wird. Wir kehren also an den Aus-
gangspunkt, zum Liebesspiel zwischen Yogi und Yogini,
Gott und Göttin, zurück und sehen uns zuerst die ver-
schiedenen weiblichen Typologien an, die vom Tantra-

125
Meister bei seinen Ritualen benutzt werden. Insgesamt
unterscheidet der Vajrayana drei Arten von Frauen :
Erstens die »wirkliche Frau« (Karma Mudra). Sie ist
eine reale menschliche Partnerin. Nach tantrischer Dok-
trin gehört sie dem »Reich der Begierde« an.
Zweitens die »imaginäre Frau« oder »Geistfrau« (Inana
Mudra). Sie wird durch die meditative Vorstellungskraft
des Yogi hervorgerufen und lebt nur in seiner Imagina-
tion oder Phantasie. Man ordnet die Inana Mudra dem
»Reich der Formen« zu.
Drittens die »innere Frau« (Maha Mudra). Sie ist das
durch die tantrische Praxis verinnerlichte Weib, ohne
irgendeine Existenz außerhalb des Yogis. Nicht einmal
die Realität einer imaginierten Form wird ihr zugestan-
den, deswegen gilt sie als eine Erscheinung des »form-
losen Reiches«.
Alle drei Frauentypen werden Mudra genannt. Dieser
Begriff bedeutet ursprünglich »Siegel«, »Stempel« oder
»Schriftzeichen«. Weiterhin verweist er auf bestimmte
magische Handgesten und Körperhaltungen, mit denen
der Yogi die göttlichen Energien leitet, kontrolliert und
»versiegelt«. Diese Mehrfachbedeutung des Wortes hat
zu allerlei Spekulationen geführt. Zum Beispiel lesen wir,
daß der Tantra-Meister die Erscheinungen der Welt mit
Glückseligkeit »bestempelt«, und da ihm seine Gefährtin
dabei hilft, werde sie Mudra (Stempel) genannt. Konkre-
ter verweist der Maha Siddha Naropa darauf, daß eine
tantrische Partnerin im Gegensatz zu einer gewöhnlichen
Frau den Guru dabei unterstützt, seinen Samenfluß wäh-
rend des Sexualaktes zu blockieren, und diesen gleich-

126
sam »versiegelt«, was für die Durchführung des Rituals
von eminenter Bedeutung ist. Deswegen werde sie Mu-
dra, »Siegel« genannt. (* Naropa, 81) Der eigentliche Sinn
aber dürfte im Folgenden liegen : Im Vajrayana wird das
Weibliche selbst »versiegelt«, das heißt durch einen magi-
schen Akt gebannt, damit es in seiner ganzen Fülle dem
Tantra-Meister zur Verfügung steht.

Die Karma Mudra

Was sind nun die äußerlichen Kriterien, welche eine


Karma Mudra, eine wirkliche Frau, zu erfüllen hat, um
dem Guru als Weisheitsgefährtin zu dienen ? Das He-
vajra-Tantra zum Beispiel beschreibt sie mit folgenden
Worten : »Sie ist weder zu groß noch zu klein, noch all-
zu schwarz oder allzu weiß, sondern dunkel wie ein Lo-
tusblatt. Ihr Atem ist süß und ihr Schweiß hat einen an-
genehmen Geruch wie von Moschus. Ihre Vagina ent-
läßt ununterbrochen einen Duft wie von verschiedenen
Lotusarten oder süßem Aloeholz. Sie ist ruhig und be-
stimmt, angenehm im Sprechen und immer fröhlich…«
(* Snellgrove, 1959, 116) An einer anderen Stelle emp-
fiehlt dasselbe Tantra : »Nimm eine Partnerin, die ein
schönes Gesicht hat, mit großen Augen, die mit Gra-
zie und Jugend ausgestattet ist, von dunkler Hautfarbe,
mutig, aus guter Familie.« (* Farrow, 217) Gedün Chö-
pel, ein berühmter Tantriker aus dem 20. Jahrhundert,
macht einen Unterschied zwischen den Regionen, aus
denen die Frauen stammen. Die Mädchen aus der Pro-

127
vinz Kham haben zum Beispiel weiches Fleisch, die Ge-
spielinnen aus Dzang kennen sich gut in den erotischen
Techniken aus, Kashmiri Girls sind wegen ihres Lachens
zu schätzen und so weiter. (* Chöpel, 45)
Manchmal wird verlangt, daß die Karma Mudra neben
ihrem schönen Anblick auch über erotische Fachkennt-
nisse verfügt. Das Kalachakra-Tantra empfiehlt zum Bei-
spiel eine Ausbildung in den raffinierten indischen Lie-
bestechniken des Kama Sutra. In diesem berühmten
Handbuch zur Steigerung der sexuellen Lust kann sich
der Leser über die gewagtesten Stellungen informieren,
über den Gebrauch von Aphrodisiaka, über die anato-
mischen Vorzüge verschiedener Frauen, die Verführung
von jungen Mädchen, den Umgang mit Kurtisanen und
vieles andere mehr. Die Absicht des Kama Sutra besteht
ausschließlich darin, das Leben als Ganzes zu sexuali-
sieren. Im Gegensatz zu den Tantras verbergen sich hin-
ter diesem Text keine religiösen und machtpolitischen
Absichten. Somit hat er für den tantrischen Yogi keinen
Eigenwert. Dieser läßt sich dadurch nur inspirieren, um
seine Begierde zu stimulieren, die er anschließend unter
bewußte Kontrolle bringt.
Jugend ist ein weiteres Erfordernis, das die Mudra zu
erfüllen hat. Der Maha Siddha Saraha unterscheidet fünf
verschiedene Weisheitsgefährtinnen je nach dem Alter :
Die achtjährige Jungfrau (Kumari) ; die zwölfjährige Sa-
lika ; die sechzehnjährige Siddha, die schon die monat-
lichen Blutungen aufweist ; die zwanzigjährige Balika
und die fünfundzwanzigjährige Bhadrakapalini, die er
als »das gebrannte Fett der Weisheit« bezeichnet. (* Way-

128
man, 1973, 196) Der oben schon erwähnte »moderne«
Tantriker Lama Gedün Chöpel warnt ausdrücklich da-
vor, daß bei den Kindern während des Sexualaktes Ver-
letzungen auftreten könnten : »Mit Gewalt in ein junges
Mädchen einzudringen kann ernste Schmerzen hervor-
rufen und ihre Genitalien verwunden … Wenn es nicht
die Zeit ist und wenn der Geschlechtsverkehr für sie ge-
fährlich ist, reibe dich zwischen ihren Schenkeln und
es (der weibliche Samen) wird herausfließen.« (* Chöpel,
135) Außerdem empfiehlt er, eine Zwölfjährige vor dem
rituellen Geschlechtsverkehr mit Honig und Bonbons zu
füttern. (* Chöpel, 177)
Als der König und spätere Maha Siddha Dombipa eines
Tages vor seinem Palast die schöne Tochter eines fahren-
den Sängers bemerkte, wählte er sie zu seiner Weisheits-
gefährtin und kaufte sie ihrem Vater gegen eine enorme
Summe von Goldstücken ab. Sie war »eine unschuldi-
ge Jungfrau, unbefleckt vom Schmutz der Welt. Sie war
bezaubernd, war von lieblicher Erscheinung und hatte
klassische Züge. Sie hatte alle Eigenschaften einer pad-
mini, eines Lotuskindes, des rarsten und begehrenswer-
testen von allen Mädchen.« (* Dowman, 1991, 78) Was
nach dem Ritual mit dem »Lotuskind« geschah, wird
nicht berichtet.
»Beim Ritus der Jungfrau-Verehrung (Kumaripuja)«,
lesen wir bei Benjamin Walker, »wird ein Mädchen aus-
gesucht und auf die Initiation vorbereitet, ohne zu wissen,
welches Schicksal sie erwartet. Man bringt sie zum Altar
und verehrt sie nackt, bis schließlich ein Guru oder ein
Schüler sie entjungfert.« (* Walker, 91) Mit einer Kumari

129
haben nicht nur die hinduistischen Tantriker praktiziert,
sondern ebenso die Tibeter und auf jeden Fall die Groß-
äbte der Sakyapa Sekte, obgleich diese verheiratet waren.
In Südostasien gab es tantrisch-buddhistische Orden, de-
ren Mönche das ius primae noctis für sich beanspruch-
ten und als eine fromme Handlung ansahen.
Zu bevorzugen sind aus Gründen der Zahlenmystik
zwölf- oder sechzehnjährige Mädchen. Nur dann, wenn
solche nicht gefunden werden können, empfiehlt der
Gründer der Gelbmützensekte, Tsongkapa, den Gebrauch
einer 20jährigen. Es gibt auch eine Zuordnungsskala der
verschiedenen Jahrgänge zu den Elementen und Sinnen :
Eine 11jährige repräsentiert die Luft, eine 12jährige das
Feuer, eine 13jährige das Wasser, die 14jährige die Erde,
die 15jährige den Ton, eine 16jährige den Tastsinn, eine
17jährige den Geschmack, die 18jährige die Form, die
20jährige den Geruch. (* Naropa, 189)
Mit Frauen über dieses Alter hinaus soll nicht prakti-
ziert werden, denn sie absorbieren die »okkulten Kräfte«
des Gurus. Die Gefahren, die von älteren Mudras aus-
gehen, sind denn auch ein Thema ausschweifender Er-
örterungen. Die 21–30jährigen bezeichnet ein berühm-
ter tantrischer Kommentator als »Göttinnen des Zorns«
und gibt ihnen folgende Namen : Die Schwärzeste, die
Fetteste, die Gierige, die Arroganteste, die Strenge, die
Blitzende, die Grollende, die Eisenkette und das Schrec-
kensauge. Die 31–38jährigen gelten als die Manifestatio-
nen bösartiger Geister und die 39–46jährigen als »un-
begrenzte Manifestationen der Dämonen«. Sie heißen :
Hundeschnauze, Saugfresse, Schakalfratze, Tigerrachen,

130
Garudaantlitz, Eulengesicht, Geierschnabel, Krähenhac-
ker. (* Naropa, 189) Diese Frauen – so der Text – keifen
und kreischen, drohen und fluchen. Um den Yogi voll-
ends aus dem Gleichgewicht zu bringen, ruft ihm im Ka-
lachakra-Tantra eine der Schrecklichen zu : »Menschen-
vieh, du bist heute niederzuwerfen«. Dann knirscht sie
mit den Zähnen und zischt : »Dein Fleisch muß heute von
mir gefressen werden«, und mit bebender Zunge fährt sie
fort : »An deinem Leibe mach ich den Bluttrunk.« (* Grün-
wedel, Kalacakra, III, 191) Daß es in einigen radikalen
Tantras als besonders fruchtbringend angesehen wird,
mit solchen weiblichen »Bestien« zu kopulieren, darauf
kommen wir noch zu sprechen.
Wie verschafft sich nun der Yogi eine menschliche
Mudra ? Im Normalfall wird sie ihm von seinem Schü-
ler übergeben. Das gilt auch für das Kalachakra-Tantra.
»Wenn man dem aufgeklärten Lehrer ohne Skrupel die
Prajna (Mudra) als Geschenk gibt,« ruft Naropa aus, »ist
der Yoga Seligkeit.« (* Grünwedel, 1933, 117) Kann man
kein 12- oder 16jähriges Mädchen auffinden, so tut es
auch eine 20jährige, rät ein anderer Text und fährt fort :
»Man sollte seine Schwester, Tochter oder Ehegattin dem
Guru geben«, denn je kostbarer die Mudra für den Schü-
ler ist, um so mehr dient sie als Geschenk für seinen Mei-
ster. (* Wayman, 1977, 320)
Weiterhin werden Zaubersprüche zum Herbeizitieren
der Partnerin gelehrt. Das Hevajra-Tantra empfiehlt fol-
gendes Mantra : »Om Hri – sie soll in meinen Machtbe-
reich kommen – savaha !« (* Snellgrove, 1959, 54) Nach-
dem dieser Spruch vom Yogi zehntausendmal wiederholt

131
worden ist, erscheint die Mudra in Fleisch und Blut vor
ihm und gehorcht seinen Wünschen.
Das Kalachakra-Tantra fordert den Yogi auf, die Mudra
durch Rauschtränke gefügig zu machen : »Wein ist das
Wesentliche für die Weisheitsgefährtin (Prajnd) … Jede
beliebige Mudra, selbst solche, die noch ohne Einwilli-
gung sind, verschaffe man sich zum Trunke.« (* Grün-
wedel, Kalacakra, III, 147) Von da aus bis zur direkten
Gewaltanwendung führt nur ein kleiner Schritt. Es gibt
denn auch Texte, die fordern, »daß eine Frau, die die se-
xuelle Vereinigung verweigert, dazu gezwungen werden
muß.« (* Bhattacharyya, 125)
Ob die Karma Mudra vor dem Ritual einer besonderen
Instruktion bedarf, wird in den Texten und Kommenta-
ren unterschiedlich beantwortet. Grundsätzlich soll sie
mit der tantrischen Doktrin vertraut sein. Tsongkapa
fordert, daß sie ein Schweigegelübde ablegt und einhält.
Er warnt ausdrücklich vor dem Verkehr mit unwürdi-
gen Partnerinnen : »Wenn eine Frau nicht … die höch-
sten Qualitäten aufweist, handelt es sich dabei um einen
niedrigen Lotus. Bleibe nicht mit dieser zusammen, denn
sie ist voll von negativen Qualitäten. Mach eine Opferga-
be und erweise etwas Respekt, aber praktiziere nicht mit
ihr.« (* Shaw, 1994, 169) Im Hevajra-Tantra wird eine ein-
monatige Vorbereitungszeit verlangt : »Dann haben wir
ein Mädchen, frei von allen falschen Ideen, und wir kön-
nen sie empfangen, als ob sie ein guter Kamerad wäre.«
(* Snellgrove, 1987, Bd. 1, 261)
Aber was geschieht nun mit dem »guten Kameraden«
nach der Beendigung des Rituals ? »Die Karma Mudra

132
… hat eine rein pragmatische und instrumentale Bedeu-
tung und ist am Ende überflüssig«, schreibt der italieni-
sche Tibetologe Raniero Gnoli in der Einleitung zu ei-
nem Kalachakra-Kommentar. (* Naropa, 82) Nach dem
Sexualakt ist sie »für den Tantriker nicht mehr wert als
die Schalen einer Erdnuß«, lesen wir bei Benjamin Wal-
ker. (* Walker, 91) Sie hat ihre Schuldigkeit getan, dem
Yogi ihre weibliche Energie übertragen und verfällt nun
der Geringschätzung, die der Buddhismus allen »nor-
malen« Frauen als dem Symbol der »höchsten Illusion«
(Maha Maya) entgegenbringt. Von einer Initiation der
weiblichen Partnerin ist in den kodifizierten buddhisti-
schen Tantratexten nie die Rede.

Die Karma Mudra und der Westen

Da die allgemeine Öffentlichkeit verlangt, daß ein tibe-


tischer Lama als zölibatärer Mönch lebt, muß er seine
sexuellen Praktiken geheim halten. Aus diesem Grun-
de sind Dokumente und mündliche Zeugenberichte
über den klerikalen Eros äußerst selten. Zwar wird in
den Tantratexten offen und frei über die sexualmagi-
schen Riten gesprochen, aber wer, was, wo und mit wem
»treibt« – gilt als top secret. Darüber seien nur die direk-
ten Gefolgsleute informiert, schreibt die englische Auto-
rin June Campbell.
Und sie hat die Legitimation, eine solche Behauptung
aufzustellen. Jahrelang arbeitete Campbell schon als
Übersetzerin und persönliche Betreuerin eines der rang-

133
höchsten Kagyüpa Gurus, Seiner Heiligkeit Kalu Rin-
poche (1905–1989), als der Greis (er ging damals auf die
80er zu) sie eines Tages aufforderte, seine Mudra zu wer-
den. Sie war von diesem Anliegen völlig überrascht und
konnte sich so etwas gar nicht vorstellen, fügte sich je-
doch dann mit Widerwillen dem Wunsch ihres Meisters.
Da es ihr schließlich doch noch gelang, dem tantrischen
Zauberkreis zu entrinnen, verdankt ihr die bisher unin-
formierte Öffentlichkeit einige kompetente Kommenta-
re zur sexuellen Kabinettspolitik des modernen Lamais-
mus und zur Psychologie der Karma Mudras.
Was sind nun nach Campbell die Gründe, welche west-
liche Frauen veranlassen, eine tantrische Beziehung ein-
zugehen und anschließend ihre Erlebnisse mit den Mei-
stern für sich zu behalten ? Einmal die hohe Achtung und
tiefe Verehrung gegenüber dem Lama, der ja als »leben-
der Buddha« die Liaison einleitet und rituell durchführt.
Dann genießt die Karma Mudra, auch wenn sie öffentlich
nicht anerkannt wird, im kleinen Kreis der Informierten
ein hohes Prestige und zeitweise den Rang einer »Daki-
ni« – das heißt einer tantrischen Göttin. Ihre Intimbe-
ziehung zu einem »Heiligen Mann« gibt ihr zudem das
Gefühl, selbst heilig zu sein, oder zumindest die Gele-
genheit, gutes Karma für sich anzusammeln.
Selbstverständlich ist die Mudra, was die Relation zum
Tantra-Meister anbelangt, durch strikte Eide an ein abso-
lutes Schweigegebot gebunden. Durchbricht sie es, dann
drohen ihr laut tantrischem Strafregister Schwierigkeiten,
Wahnsinn, Tod und darüber hinaus jahrtausendelange
Höllenstrafen. Kalu Rinpoche soll, um sie einzuschüch-

134
tern, seiner Mudra June Campbell erzählt haben, daß er
in einem früheren Leben eine Frau durch ein Mantra
tötete, da sich diese nicht an seine Anweisungen gehal-
ten und Intimitäten ausgeplaudert habe. »Die Auferle-
gung der Geheimnispflicht«, schreibt Campbell, »durch
Drohungen abgesichert, war im tibetischen System eine
machtvolle Waffe, um Frauen davon abzuhalten, selbst
jegliche Art von Eigenbewußtsein zu entwickeln … Wäh-
rend das Liniensystem (die Initiationskette der Gurus)
diese (sexuellen) Aktivitäten dahin interpretierte, daß
sie den Erleuchtungszustand des Linienhalters hervor-
brächten, blieb das Schicksal einer der beiden Protagoni-
sten, der weiblichen Gefährtin, ohne Anerkennung, ohne
Benennung, ohne Namen.« (* June Campbell, 103) Auch
June Campbell wagte erst, nach dem Tode Kalu Rinpo-
ches über ihre Erlebnisse mit ihm, welche sie repressiv
und entmündigend empfand, offen zu sprechen.
Die Autorin beklagt in ihrem Buch nicht nur die spä-
tere Namenlosigkeit und Mißachtung der Karma Mu-
dra, obwohl der Guru diese, solange das Ritual andauert,
als »Göttin« erhöht und anbetet, sondern erwähnt auch
die traumatischen Zustände von »verbrauchten« Frauen,
die, nachdem der Meister ihre Gynergie »getrunken« hat,
gegen eine »frische« Mudra ausgewechselt wurden. Sie
verweist weiterhin auf die Naivität westlicher Ehemän-
ner, die ihre Lebensgefährtinnen gutgläubig zu einem
Guru schicken, damit diese ihre spirituelle Entwicklung
vervollkommnen. (* June Campbell, 107) Während ihrer
Beziehung mit Kalu Rinpoche praktizierte dieser auch
mit einer anderen Frau, die noch keine zwanzig Jahre

135
alt war. Plötzlich starb das Mädchen – wie es hieß – an
einer Herzattacke. Wir werden auf diesen Tod, der sich
logisch in das tantrische Muster einfügt, noch zu spre-
chen kommen. Die Ängste – so Campbell –, die in ihr
durch solche Ereignisse hervorgerufen wurden, hätten
sie persönlich völlig von der Außenwelt abgeschnitten
und sie ganz und gar dem Herrschaftsbereich ihres Gu-
rus ausgeliefert.
Die männliche Überheblichkeit wird besonders deut-
lich an einem Statement des jungen Lamas Dzongsar
Khyentse Rinpoche, das dieser als Antwort auf Camp-
bells Unruhe stiftendes Buch verlauten ließ : »Nehmen
westliche Frauen sexuelle Beziehungen zu tibetischen La-
mas auf«, schreibt der Tibeter, »dann ist bei einigen von
ihnen Frustration die Folge, da ihre kulturell konditio-
nierten Erwartungen nicht erfüllt werden. Wenn sie mei-
nen, in einem Rinpoche einen angenehmen und gleichbe-
rechtigten Liebhaber zu finden, könnten sie keinen größe-
ren Fehler machen. Bestimmte Rinpoches, die als große
Lehrer verehrt werden, wären buchstäblich die schlech-
testen aller Partner – vom Standpunkt des Ego aus ge-
sehen. Wenn man sich solchen großen Meistern mit der
Vorstellung nähert, bestätigt zu werden, und eine Bezie-
hung wünscht, in der man teilt ( !), sich miteinander ver-
gnügt etc. , dann trifft man eine schlechte Wahl – nicht
nur vom Standpunkt des Ego, sondern auch in ganz nor-
maler weltlicher Hinsicht. Sie werden wahrscheinlich kei-
ne Blumen bringen und Sie nicht zum Dinner bei Ker-
zenlicht einladen.« (* Esotera, 12/97, 45) Für ein solches
Zitat spricht, daß es ehrlich ist, denn es benennt klipp

136
und klar die spirituelle Inferiorität der Frau (die das Ego,
die Begierde und die Banalität repräsentiert) gegenüber
der übermenschlichen geistigen Autorität des männli-
chen Gurus. Der Tantra-Meister Khyentse Rinpoche weiß
sehr genau, wovon er spricht, wenn er mit dem Satz fort-
fährt : »Während man im Westen Gleichheit derart ver-
steht, daß zwei Aspekte einen gemeinsamen Nenner fin-
den, liegt im Vajrayana Buddhismus die Gleichheit ganz
und gar jenseits der Zweiheit oder Dualität. Wo Dualität
erhalten bleibt, kann es keine Gleichheit geben.« (* Eso-
tera, 12/97, 46) Das heißt mit anderen Worten : Die Frau
muß als gleichberechtigte und autonome Partnerin ausge-
schaltet werden und hat zur Ganzwerdung des Meisters
(jenseits der Dualität) ihre Energien abzuliefern.
»Sexueller Mißbrauch« westlicher Frauen durch tibeti-
sche Lamas ist mittlerweile zu einem Dauerthema in der
buddhistischen Szene geworden und hat auch im Inter-
net heftige Diskussionen ausgelöst. Wir lesen dort von
einer Autorin mit dem Namen Mary Finnigan folgende
Sätze : »In einigen Beispielen hatte ein männlicher Leh-
rer Sex mit mehreren seiner Studentinnen zur gleichen
Zeit. Jede von ihnen mußte schwören, die Beziehung ge-
heim zu halten, und jede wurde in dem Glauben gelas-
sen, sie wäre die einzige Partnerin. Es war jedoch un-
vermeidlich, daß das Geheimnis bekannt wurde, und
die Auswirkungen davon auf die Dharma Gruppe wa-
ren verheerend.« (* Finnigan, 18. 02. 1997 – ‹mary@pema.
demon. co. uk›) Auf die Frage, wie sich denn die Tibete-
rinnen in solchen Fällen verhielten, antwortet Finnigan :
»Nach meiner Kenntnis betrachten es tibetische Frauen

137
als eine Ehre und eine Pflicht, mit einem Lama zu schla-
fen, wenn das von ihnen gefordert wird. Ich glaube nicht,
daß das Konzept des sexuellen Mißbrauchs‹ bei ihnen
bekannt war, bevor sie zu Flüchtlingen wurden.« (* Fin-
nigan, 18. 02. 1997 – ‹mary@pema.demon.co.uk›)
Selbst das offizielle Büro des XIV Dalai Lama muß sich
mit den immer häufiger auftretenden Anschuldigungen
auseinandersetzen : »Was einige dieser Schülerinnen er-
fahren haben, ist schrecklich und höchst unglücklich !«
ließ Tenzin Tethon, ein Sekretär Seiner Heiligkeit, verlau-
ten, und er bekannte, daß man schon seit mehreren Jah-
ren über solche Vorkommnisse unterrichtet sei. (* Lattin,
18. 06. 1997 _ ‹vmce@ix.netcom.com›) Selbstverständlich
wird von Tenzin Tethon nicht erwähnt, daß die sexuel-
le Benutzung von Frauen für spirituelle Ziele das Kern-
stück des tantrischen Mysteriums ausmacht.
Aber es gibt zunehmend Beispiele, wo Frauen damit be-
ginnen, sich zu wehren. So wurde der bekannte Bestsel-
lerautor und Kommentator des Tibetischen Totenbuches
Sogyal Rinpoche 1992 beim Obersten Gerichtshof von
Santa Cruz angeklagt, weil er »seine Position als Inter-
pret des tibetischen Buddhismus dazu benutzt habe, um
sich sexuelle und andere Vorteile von Studentinnen über
eine Anzahl von Jahren anzueignen.« (* Tricycle, Volu-
me V, No. 4, 1996, 87) Die Klägerin verlangte 10 Millio-
nen Dollar. Sogyal Rinpoche soll seinen zahlreichen Part-
nerinnen versichert haben, es wäre höchst heilsam und
spirituell verdienstvoll, mit ihm zu schlafen. Eine andere
Mudra, Victoria Barlow aus New York City, bekannte in
einem Interview mit Free Press, wie sie in ihrem 21. Le-

138
bensjahr von dem Guru während eines Meditationsre-
treats in sein Zimmer gerufen wurde : »Ich ging in das
Apartment, um einen hochgeschätzten Lehrer zu sehen
und mit ihm über Religion zu diskutieren. Er öffnete die
Tür ohne Hemd und mit einem Bier in der Hand.« Als
sie dann auf dem Sofa saßen, stürzte sich der Tibeter »mit
feuchten Küssen auf mich und begann mich zu betasten.
Ich sah das (damals) als ein großes Kompliment an, weil
er an mir interessiert wäre, und gab mich ihm schließlich
hin.« Barlow sagt heute, daß sie »angeekelt (sei) durch die
Art und Weise, wie die Tibeter die Achtung, die Westler
dem buddhistischen Pfad entgegenbringen, manipuliert
haben.« (* Lattin, 18. 06. 1997 – ‹vmce@ix.netcom.com›)
Im obigen Prozeß kam es jedoch zu einem außergericht-
lichen Vergleich, der nach Sogyals Anhängern das Resul-
tat einer Tiefenmeditation ihres Meisters war.
Normalerweise wäre es wohl richtig, solche »Sexge-
schichten« als überflüssigen Klatsch abzutun und zu über-
sehen. Nach der okkulten Logik des Vajrayana sind sie
jedoch als gezielt eingesetzte Ritualpraktiken zu betrach-
ten, die dem Guru Macht und Einfluß verschaffen sol-
len. Vielleicht haben sie darüber hinaus auch etwas mit
der buddhistischen Eroberung des Westens zu tun, der
symbolisch durch verschiedene Mudras dargestellt wird.
Solche Vermutungen mögen ziemlich bizarr klingen, aber
wir sind beim Tantrismus mit einer anderen als der uns
geläufigen Logik konfrontiert. Sexuelle Ereignisse gewin-
nen hier nicht selten eine Globalisierung, die die ganze
Menschheit beeinflussen können. Wir werden darauf zu-
rückkommen.

139
Zumindest aber zeigen solche Beispiele, daß Tibets »zö-
libatäre« Mönche mit realen Frauen »praktizieren« – eine
Tatsache, über die der tibetische Klerus einschließlich des
XIV Dalai Lama den Westen bisher getäuscht hat. Weil
immer mehr »Weisheitsgefährtinnen« ihr Geheimnisge-
lübde brechen, sind erst jetzt die Voraussetzungen dafür
geschaffen, die tantrischen Rituale als solche in publico
zu diskutieren. Die bisherige Kritik übersteigt nicht den
moralisch-feministischen Diskurs und stößt in keinem
uns bekannten Fall bis in den okkulten Ausbeutungsme-
chanismus des Vajrayana vor.
Auf der anderen Seite hat die Tatsache, daß sich der se-
xuelle Bedarf der Lamas nicht mehr vertuschen läßt, in
einer Art Vorwärtsstrategie dazu geführt, daß man ihre
»spirituelle« Arbeit mit Karma Mudras als eine Selbstver-
ständlichkeit hinstellt, an der doch nichts Anstößiges sei.
»Viele Lehrer«, so schreibt Christopher Fynn im Inter-
net, »einschließlich Jattral Rinpoche, Dzongsar Khyentse,
Dilgo Khyentse und Ongen Tulku haben Geliebte, und
jedermann weiß darüber.« (* Fynn, 23. 12. 1995 ‹cfynn@
sahaja.demon.co.uk›)
Und der Dalai Lama, selbst der Höchste Meister der se-
xualmagischen Riten, erhebt den moralischen Zeigefinger :
»In den letzten Jahren waren Lehrer aus Asien und dem
Westen in Skandale verwickelt, die sexuelles Fehlverhal-
ten gegenüber Schülern und Schülerinnen, Mißbrauch
von Alkohol und Drogen, Mißbrauch von Geldern und
Macht betrafen. Dieses Verhalten hat der buddhistischen
Gemeinschaft und einzelnen Menschen großen Schaden
zugefügt. Schüler und Schülerinnen sollten dazu ermutigt

140
werden, Lehrer in angemessener Weise mit unethischen
Aspekten ihres Verhaltens zu konfrontieren.« (* Esotera,
12/97, 45) Was von solchen Aufforderungen Seiner Heilig-
keit, die ebenfalls die sexistischen Mechanismen des Tan-
trismus verschweigen, zu halten ist, darauf werden wir im
zweiten Teil unserer Studie ausführlich eingehen.
Kehren wir nach diesen aktuellen »Enthüllungen« über
die westliche Karma Mudra zurück zur Darstellung der
tantrischen Szenarios, wie es in den traditionellen Tex-
ten beschrieben wird.

Die Inana Mudra

Im Gegensatz zur realen Karma Mudra ist die Inana


Mudra eine rein geistige Gestalt, die als Göttin oder als
Weisheitsgefährtin der verschiedenen Buddhas oder als
»Dakini« erscheint. Sie ist das Werk der Imagination.
Dabei müssen wir jedoch beachten, daß die Inana Mu-
dra niemals ein willkürliches Phantasieprodukt des Gu-
rus sein darf, sondern daß ihr Äußeres, ihre Hautfarbe,
ihre Kleider, ihr Schmuck und die Symbole, welche sie
umgeben, alle kodifiziert sind. Der Tantriker zeichnet
also in seiner Vorstellung ein Bild nach, das schon im
Pantheon des Buddhismus vorgeprägt wurde. Insofern
hat die Kultverehrung der Inana Mudra viel Ähnlichkeit
mit der christlichen Sophien- und Marienmystik und ist
damit auch öfters verglichen worden, zum Beispiel mit
der mater gloriosa am Ende von Goethes Faust, als der
geläuterte Alchemist entzückt ausruft :

141
Höchste Herrscherin der Welt !
Lasse mich im blauen
Ausgespannten Himmelszelt
Dein Geheimnis schauen.
Billige, was des Mannes Brust
Ernst und zart bewegt
Und mit Heiliger Liebeslust
Dir entgegenträgt.
(Faust II, 11997–12004)

»Dieses Gedicht von Goethe bringt das Bewußtsein des


Buddhisten von Inana Mudra nichtsahnend zum Aus-
druck«, vermerkt Herbert Guenther, der in mehreren
Texten versucht hat, die Tantras aus dem Blickwinkel ei-
nes europäischen Philosophen zu interpretieren. (* Guen­
ther, 1974, 116) Ein anderer westlicher Tantra-Interpret,
John Blofeld, beschreibt die geistige Partnerin des Yo-
gis als eine liebliche, anbetungswürdige Jungfrau : »Ihre
weißen Obergewänder sind aus himmlischer Seide, mit
kühnen Goldzeichen geschmückt… Sanft sind ihre
Hände, jugendlich strahlend und rein von Gestalt…«
(* Blofeld, 1970, 218)
Es sei jedoch vermerkt, daß sich solche westlichen Sub-
limierungen des Weiblichen nur begrenzt mit den Imagi-
nationen der indischen und tibetischen Tantriker decken.
Nicht nur edle und ätherische Jungfrauen werden dort
durch die Einbildungskraft des Yogis hervorgerufen, son-
dern ebenso sinnenfrohe, vor Lust vibrierende »Dakinis«,
die nicht selten als Schreckensgöttinnen mit Schädelscha-
len und Hackmessern in den Händen erscheinen.

142
Doch gleichgültig welche Art von Weib sich der Adept
auch immer vorstellt, in allen Fällen wird er sich wäh-
rend des Rituals mit diesem Geistwesen sexuell verbin-
den. Auch die weißen und feinstofflichen »Sophien« aus
dem Reich der Imagination sind nicht vom rituellen Ge-
schlechtsakt ausgeschlossen. »In den letzten Phasen der
tantrischen Weiterentwicklung«, lesen wir bei Benjamin
Walker, »vollzieht der Schüler eine sexuelle Vereinigung
auf der Astralebene, wo er Elementargeister, Furien und
die Geister der Toten beschwört und mit ihnen verkehrt.«
(* Walker, 93)
Da der Yogi seine Weisheitsgefährtin durch die Vor-
stellungskraft seines Geistes hervorbringt, darf er sich
mit Recht als ihr geistiger Vater bezeichnen. Die Inana
Mudra ist aus seinem eigenen Denkstoff gebildet. Sie be-
steht deswegen nicht aus Materie, aber – und das ist sehr
wichtig – sie erscheint dennoch außerhalb ihres Imagina-
tionsvaters und tritt ihm zuerst als eine autonome Sub-
jektivität gegenüber. Er erlebt sie also als eine Wesen-
heit, die zwar ausschließlich ihm ihr Dasein verdankt,
die aber dennoch eine Existenz außerhalb von ihm hat,
wie ein Kind, das nach der Geburt von seiner Mutter ge-
trennt wird.
Insgesamt unterscheiden die Tantras zwei »Geburts-
arten« imaginierter Partnerinnen : Erstens die »durch
Zaubersprüche hervorgebrachten Frauen« ; zweitens die
»feldgeborenen Yoginis«. In beiden Fällen handelt es sich
um sogenannte »weibliche Energiefelder« oder weibliche
Archetypen, die der Tantra-Meister dank seiner Einbil-
dungskraft als »Illusionskörper« für sich sichtbar machen

143
kann. Dies geschieht meist durch eine Tiefenmeditation,
in der sich der Yogi die Inana Mudra mit seinem »geisti-
gen Auge« ausmalt. (* Wayman, 1973, 193–195)
Als ein Meister unbeschränkter Vorstellungen gibt sich
der Yogi selten mit einer einzigen Inana Mudra zufrie-
den, sondern schafft aus seinem Geiste mehrere weibli-
che Wesen hintereinander oder gleichzeitig. Das Kalacha-
kra-Tantra beschreibt, wie die imaginierten »Göttinnen«
aus seinen verschiedenen Körperteilen entspringen : Aus
dem Kopf, der Stirn, dem Hals, dem Herzen und dem
Nabel. Er kann die unterschiedlichsten Entitäten wie Ele-
mente, Planeten, Energien, Kräfte und Emotionen in der
Gestalt von Frauen hervorzaubern, zum Beispiel auch
das Mitgefühl : »Als dessen Verkörperung entsteht in sei-
nem Herzen eine goldleuchtende Frau, die ein weißes
Gewand trägt… Dann tritt diese Frau … aus seinem
Herzen, breitet sich bis zum Götterhimmel im ganzen
Himmelsraum wolkengleich aus und entläßt einen Re-
gen von Nahrung als Gegenmittel für alle körperlichen
Leiden.« (* Gang, 44)

Karma Mudra versus Inana Mudra

In der tantrischen Literatur finden wir einen endlosen


Diskurs darüber, ob der magische Sexualakt mit einer
Karma Mudra aus Fleisch und Blut höher bewertet wer-
den muß als derjenige mit einer imaginierten Inana
Mudra. Zum Beispiel hat Herbert Guenther dieser Dis-
kussion in seiner existentialistischen Studie über den

144
Vaj­rayana mehrere Seiten gewidmet. Obgleich er dort
ausführlich über die »frauenfreundlichen« Absichten
der Tantras referiert, kommt er zu dem überraschenden
Schluß, daß es sich bei der Karma Mudra um eine Frau
handle, »die Freude bringt, in der der Samen der Fru-
stration liegt«, bei der Inana Mudra dagegen »um eine
Frau, die eine reine, wenn auch unbeständige Freude
bringt«. (* Guenther, 1974, 91)
Als ein Produkt des REINEN GEISTES wird die Ina­
na Mudra von ihm höher eingestuft wie eine lebende
Frau. »Sie ist Schöpfung des eigenen Geistes. Sie ist von
der Natur der großen Mutter oder anderer Göttinnen
und umschließt alles zuvor Erfahrene.« (* Guenther, 1974,
113) Aber auch sie geht am Ende den Weg alles Vergäng-
lichen, und »deshalb gibt uns die Liebe (zur Inana Mu-
dra) selbst nur ein flüchtiges Gefühl der Glückseligkeit,
wenn auch dieses von höherem Rang und deshalb po-
sitiver ist als Karma Mudra, die uns ›traurig‹ stimmt.«
(* Guenther, 1974, 117)
Es gibt auf der anderen Seite sehr gewichtige Argu-
mente für die größere Bedeutung einer wirklichen Frau
(Karma Mudra) im tantrischen Initiationsritus. Denn der
Zweck des Rituals mit ihr ist die endgültige Überwindung
der realen Außenwelt als Schein (Maya) und die Schaf-
fung eines Universums, das allein nach dem Willen und
der Vorstellung des Tantra-Meisters funktioniert. Seine
erste Aufgabe besteht deswegen darin, den illusionären
Charakter der Realität als Ganzes zu erkennen. Diese
wird selbstverständlich durch ein Weib aus Fleisch und
Blut plastischer, greifbarer und tatsächlicher repräsen-

145
tiert als durch ein fiktives Gebilde des eigenen Geistes,
wie es die Inana Mudra ist. Sie erscheint schon von An-
fang an als das Produkt einer Illusion.
Eine Karma Mudra stellt somit eine außerordentlich
hohe Herausforderung an die spirituellen Fähigkeiten
des Adepten, denn auch die reale Menschenfrau muß als
eine Illusion (Maya) erkannt werden ! Das bedeutet letzt-
endlich nichts geringeres, als daß der Yogi der gesamten
physischen Welt, die sich nach indischer Tradition in der
Gestalt eines Weibes verdichtet, keine eigene Existenz
mehr zugesteht und daß er folglich auch die Materie als
die Einbildung des eigenen Bewußtseins erkennt. Damit
macht er sich von allen Schranken der Naturgesetze frei.
Eine solch radikale Auflösung der Wirklichkeit soll den
ansonsten mehrere Inkarnationen andauernden Initia-
tionsprozeß um ein Vielfaches beschleunigen.
Insbesondere, wenn die »Erleuchtung« und die Befrei-
ung aus den Zwängen der Realität noch in einem einzigen
Leben erreicht werden soll, ist es nach der Ansicht vieler
Tantra-Kommentatoren notwendig, mit einer menschli-
chen Mudra zu praktizieren. Im Cakrasamvara-Tantra
lesen wir zum Beispiel : »Der geheime Pfad ohne eine
Partnerin wird den Wesen keine Vollendung bringen.«
(* Shaw, 1994, 142) Auch Tsongkapa, der Gründer der ti-
betischen Gelugpa-Sekte, ist der gleichen Meinung : »Eine
weibliche Partnerin gilt als die Basis für die Vollendung
der Befreiung.« (* Shaw, 1994, 146) Imaginierte Frau-
en seien nur für Personen niedriger Qualifikation emp-
fehlenswert oder dienten zu Beginn des Ritualweges als
Vorübung, lesen wir bei der Autorin Miranda Shaw, die

146
sich auf moderne Gelugpa-Meister wie Lama Yeshe, Ge-
she Kelsang Gyatso und Geshe Dhargyey beruft. (* Shaw,
1994, 146, 244, Anm. 29, 26, 27)
Ein weiterer Grund für die Benutzung einer Karma
Mudra ist noch darin zu sehen, daß der Yogi für seine
magischen Transformationen ein Sekret benötigt, daß
die Frau während des Sexualaktes ausscheidet und das
in den Texten als »weiblicher Samen« ausgewiesen ist. Es
handelt sich dabei um ein körperliches Konzentrat der
Gynergie. Diese begehrte vaginale Flüssigkeit wird uns
noch ausführlich beschäftigen.

Die Maha Mudra

Während des tantrischen Rituals muß also die Karma


Mudra vom Yogi als Illusion erkannt werden. Das gilt
selbstverständlich auch von der Inana Mudra, denn bei-
de Formen des Weiblichen, die reale wie die imaginier-
te, hat der Tantra-Meister als autonome Wesenheiten zu
transzendieren. Von Herbert Guenther haben wir schon
erfahren, daß auch die »Geistfrauen« einen flüchtigen
Charakter tragen und der Vergänglichkeit anheimfallen.
Der Yogi darf auch ihnen keine »inhärente Existenz«
zugestehen. Beide Mudras erscheinen am Beginn jedes
tantrischen Rituals noch außerhalb von ihm. Die Kar-
ma Mudra vor seinen »realen« Augen, die Inana Mudra
vor seinen »geistigen« Augen.
Aber bedeutet dieser illusionäre Charakter der beiden
Frauentypen, daß sie vom Tantra-Meister in ein Nichts

147
aufgelöst werden ? Was ihre äußere und autonome Exi-
stenz anbelangt, so ist das in der Tat die Vorstellung des
Yogis. Selbst der realen Frau gesteht er keine inhärente
Wirklichkeit mehr zu. Wenn sie nach dem tantrischen
Ritual, in dem sie zu einer Göttin erhöht wurde, für alle
Augen sichtbar in leiblicher Gestalt nach Hause geht, gilt
sie in den Augen des Gurus nicht mehr als ein eigen-
ständiges Wesen, sondern als das alleinige Produkt sei-
ner Imagination, als ein Bild seiner Vorstellung – auch
wenn ein normaler Mensch das Mädchen als ein Wesen
aus Blut und Fleisch wahrnimmt.
Aber obgleich ihre autonome weibliche Existenz auf-
gelöst wurde, ist ihre weibliche Essenz (die Gynergie)
nicht verloren gegangen. Der Yogi hat sich diese durch
einen sexualmagischen Akt angeeignet und dadurch die
Macht eines Androgynen gewonnen. Er vernichtet so-
zusagen das äußere Weibliche, um es zu verinnerlichen,
um eine »innere Frau« als einen Teil seiner selbst her-
zustellen. »Er nimmt die Allmutter in sich auf«, heißt es
im Kalachakra-Tantra. (* Grünwedel, Kalacakra, IV, 32)
Mit welchen raffinierten Techniken er diesen Absorpti-
onsvorgang durchführt, das werden wir später noch aus-
führlich beschreiben. Hier begnügen wir uns damit, ei-
nige Eigenschaften der »inneren Frau«, der sogenannten
Maha Mudra (»Großen« Mudra), zu benennen.
Die Grenzen zur Inana Mudra sind fließend, schließ-
lich ist die Maha Mudra ebenfalls ein Produkt der Ima-
gination. Beide Frauentypologien haben deswegen auch
keinen physischen Körper, sondern transzendieren »die
atomare Struktur und bestehen aus einer rein spirituel-

148
len Substanz«. (* Naropa, 82) Aber die Inana Mudra exi-
stiert noch außerhalb des Tantra-Meisters, die »innere
Frau« kann dagegen, wie ihr Name sagt, nicht mehr von
ihm unterschieden werden und ist zu einem Teil seines
Selbst geworden. Allgemein wird die Nabelgegend als
der Wohnort der Maha Mudra angegeben. Dort tanzt
und orakelt sie wie einst die griechische Göttin Metis
im Bauch des Zeus. Sie ist die »Eingeborene« und pro-
duziert die »eingeborene Freude des Körpers, die einge-
borene Freude der Sprache, die eingeborene Freude des
Geistes und die eingeborene Freude des Bewußtseins«.
(* Naropa, 204)
Der männliche Tantra-Meister hat jetzt die Macht,
selbst die weibliche Form der Göttin, die ja ein Aspekt
seines eigenen mystischen Körpers ist, anzunehmen, das
heißt, er kann in. der Gestalt einer Frau erscheinen. Ja,
er hat sogar die Zauberkraft, sich in zwei geschlechtli-
che Wesen, eine weibliche und eine männliche Gottheit,
aufzuspalten. Ihm ist es weiterhin möglich, sich in meh-
rere Maha Mudras zu vervielfältigen. Im Guhyasamaja-
Tantra füllt er mit Hilfe magischer Beschwörungen ei-
nen ganzen Palast mit Frauengestalten, die alle Partikel
seines feinstofflichen Leibes sind.
Man könnte nun meinen, daß sich der erleuchtete Yogi,
da es für ihn keine äußeren Frauen mehr gibt, aller sinn-
lichen Genüsse entledigt hat. Das Gegenteil ist jedoch der
Fall. Seine Lust wurde nicht transformiert, sondern ver-
ewigt. So bleibt er in seiner Imagination mit der Maha
Mudra »Tag und Nacht vereint. (Er) sagt, daß er ohne
ihre Küsse und Umarmungen nicht leben kann.« (* Das-

149
gupta, 1974, 102) Er ist sogar fähig, das Geschlechtsor-
gan der inneren Frau imaginativ zu reizen, um dadurch
seinen Eros mit dem ihrigen, den er ja synchron genießt,
zu kombinieren und ins Unermeßliche zu steigern. (* Far-
row, 271, 272, 291)
Trotz dieses Geschlechtertohuwabohus hält er einen
strikten Sinn für die Polarität der kosmischen Urkäfte
aufrecht, nur realisieren sich diese jetzt in ihm selbst. Er
ist maskulin und feminin zugleich, und beide Geschlech-
terenergien stehen unter seiner absoluten Willenskontrol-
le. In ihm inkarniert sich das ganze tantrische Theater.
Er ist Regisseur, Schauspieler, Publikum, Handlungsab-
lauf und Bühne in einer Person.
Solch bewegte Spiele sind jedoch nur die eine Seite der
tantrischen Philosophie, auf der anderen Seite verbindet
sich mit dem Bild der Maha Mudra eine Vorstellung vom
ewigen Stillstand des Seins. Sie erscheint als das »Höch-
ste Unbewegliche«, das wie ein klarer, magischer Spiegel
die zu Kristall erstarrte Weiblichkeit repräsentiert. Eine
Weiblichkeit, die willenlos und gefügig dem Blick, den
Befehlen, Begierden und Phantasien ihres Meisters ge-
horcht. Ein weiblicher Automat, der ohne eigene Wün-
sche den Yogi mit ihrem göttlichen Wissen und ihrer se-
ligen Weisheit beglückt.
Ob bewegt oder unbewegt, ob erotisch oder vergeistigt
– die Maha Mudra ist universal. In ihr inkarniert sich
nach tantrischer Sicht das gesamte Universum. Folglich
wird derjenige, der seine »innere Frau« beherrscht, zum
Universalherrscher, zum Pantokrator. Sie ist ein Parado-
xon, ewig und unzerstörbar, dennoch wie der gesamte

150
Kosmos ohne Existenz aus sich selbst. Deswegen wird sie
als ein »magischer Spiegel« bezeichnet. (* Naropa, 81) In
letzter Instanz repräsentiert sie die »Leere«.
Im westlichen Diskurs über die Maha Mudra wird
sie von Lama Govinda (Ernst Lothar Hoffmann) als das
»Ewig Weibliche« glorifiziert, das nun zum Wesenskern
des Yogis zählt. (* Govinda, 1991, 111) Sie spielt nach Go-
vinda eine vergleichbare Rolle wie die Musen, die den
europäischen Künstlern bis ins 19. Jahrhundert hinein
ihre Werke ins Ohr flüsterten. Musen konnten sich zwar
auch in wirklichen Frauen inkarnieren, existierten aber
ebenso als »innere Göttinnen« und wurden dann »In-
spiration« genannt.
Man hat die buddhistische Doktrin von der Maha Mu-
dra auch mit Carl Gustav Jungs Anima-Lehre verglichen.
(* Katz) Jung stellte die These auf, die menschliche Seele
eines Mannes sei doppelgeschlechtlich, sie weise einen
männlichen und einen weiblichen Teil auf, den animus
und die anima. Bei der Frau verhält es sich umgekehrt.
Ihrer weiblichen anima entspricht ein männlicher animus.
Mit Einschränkungen war der Tiefenpsychologe davon
überzeugt, daß sich der andersgeschlechtliche Seelenteil
originär in der Psyche eines jeden Menschen befindet. So
geht Jung von einer primären Androgynität beziehungs-
weise Gynandrie der menschlichen Seele aus. Ziel einer
ganzheitlichen Psychologie ist es, daß der Mensch seine
andersgeschlechtliche Hälfte anerkennt und beide See-
lenteile miteinander in Harmonie bringt.
Auch wenn wir dem Tantrismus die gleiche Absicht
unterstellen, so gibt es doch einen wesentlichen Unter-

151
schied. Alle einschlägigen Texte behaupten nämlich,
daß die weibliche Seite des Yogis zuerst außerhalb sei-
ner Selbst – sei es in der Gestalt einer wirklichen oder in
der Form einer imaginierten Frau – gelagert ist und erst
durch sakrale Sexualpraktiken integriert werden muß.
Würde sich – wie bei Jung – die anima schon zu Beginn
im »mystischen Körper« des Tantra-Meisters befinden,
dann müßte er auch über die Kunst verfügen, ohne die
Verwendung einer externen Mudra seine weibliche Sei-
te zu aktivieren. Könnte er das, dann wären alle höhe-
ren und höchsten Einweihungen des Vajrayana über-
flüssig, da sie immer die »innere Frau« als das Resul-
tat eines Prozesses beschreiben, der mit einer »äußeren
Frau« beginnt.
Es liegt deswegen die Vermutung nahe, daß zwischen
beiden tantrischen »Partnerinnen«, der internen wie der
externen, eine kausale Beziehung besteht. Um seinen an-
drogynen Körper herzustellen, benutzt der Tantra-Mei-
ster eine Menschenfrau oder zumindest eine Inana Mu-
dra. Er vernichtet ihre autonome Existenz, raubt ihre
Gynergie, integriert diese in der Gestalt einer »inneren
Frau« und wird dadurch zu einem machtvollen doppel-
geschlechtlichen Überwesen. Wir können den Vorgang
hypothetisch mit dem folgenden Satz beschreiben : Die
Aufopferung der äußeren Frau ist die Voraussetzung für
die Entstehung der inneren Maha Mudra.

152
Das »Tantrische Frauenopfer«

Aber sind wir wirklich berechtigt, von einem »tantri-


schen Frauenopfer« zu sprechen ? Wir werden versuchen,
auf diese diffizile Frage eine Anwort zu finden.
Grundsätzlich unterscheidet der buddhistische Tan-
triker drei Opferarten : die äußere, die innere und die
geheime. Das »äußere Opfer« besteht aus der Hingabe
von Speisen, Weihrauch, Butterlampen, Parfüm und so
weiter an eine Gottheit, die Buddhas, beziehungsweise
an den Guru. Alle Gaben haben eine spezifische Symbol­
bedeutung. Zum Beispiel kann im sogenannten »Manda-
laopfer« das gesamte Universum in der Form eines Mi-
niaturmodells dem Lehrer dargebracht werden, während
der Schüler folgenden Satz spricht : »Ich opfere Euch in
ihrer Gänze alle Bestandteile des Alls, o edler, gütiger
und heiliger Lama !« (* Bleichsteiner, 192)
Mit dem »inneren Opfer« schenkt der Schüler (Sadha-
ka) seinem Guru, meist durch einen symbolischen Akt,
seine fünf Sinne (Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack
und Tastsinn), seine Bewußtseinsformen und seine Ge-
fühle, oder er bietet sich selbst als Person zum Opfer an.
Was immer der Meister von ihm verlangt, soll geschehen
– selbst wenn sich der Sadhaka, wie der tantrische Adept
Naropa, das eigene Fleisch vom Leibe schneiden muß.
Hinter dem »geheimen Opfer« schließlich verbirgt sich
jene rituelle Handlung, die unser besonderes Interesse
weckt, da hier der Ort des »tantrischen Frauenopfers«
zu vermuten ist. Es handle sich dabei – so liest man in
einem modernen Kommentar zum Kalachakra-Tantra

153
– um »das geistige Opfer einer Dakini an den Lama«.
(* Henss, 56) Solche symbolischen Opferungen von Göt-
tinnen zählen geradezu zu den Stereotypen jeder tantri-
schen Zeremonie. »Die vorzügliche juwelentragende Frau
… bringt man den Buddhas dar« (* Gang, 151) – heißt es
im Guhyasamaja-Tantra. Oft werden acht, manchmal 16
»Weisheitsmädchen«, manchmal »unzählige« während
des »heiligen und geheimsten Opfers« übergeben. (* Bey-
er, 162)

Die Opferung des Samsara

Eine Aufopferung des Weiblichen muß jedoch nicht erst


im Tantrismus gesucht werden, sondern liegt in der Lo-
gik der gesamten buddhistischen Doktrin. Die Frau per
se wirkt – wie es Buddha Shakyamuni immer wieder mit
Nachdruck und in vielen seiner Äußerungen betont hat
– als die höchste und erste Ursache der Illusion (Maya),
aber ebenso als die Kraft, welche die Welt der Erschei-
nungen (Samsara) hervorbringt. Es ist das Grundan-
liegen jedes Buddhisten, dieses täuschende Samsara zu
überwinden. In der als weiblich erlebten Scheinwelt wi-
derfährt ihm seine größte Herausforderung. »Eine Frau
war das wahre Bild«, schreibt Nancy Auer Falk, »für all
die Kräfte blinden Wachstums und Hervorbringens, die
der Buddhismus als Samsara kennt. Als solches war sie
der Feind, nicht nur auf einer persönlichen Ebene als
eine individuelle Quelle für Versuchungen, sondern
ebenso auf einer kosmischen Ebene.« (* Gross, 1993,

154
48) Erst mit der rituellen Vernichtung des Weiblichen
kann nach dieser misogynen Logik die illusionäre Welt
(Maya) überwunden und transzendiert werden.
Mußte deswegen Maya (Illusion), die Mutter des hi-
storischen Buddha, direkt nach dem Gebärakt sterben ?
In ihrem frühen Tod können wir das Ursprungsereignis
erkennen, das am Beginn der frauenfeindlichen Grund-
haltung aller buddhistischen Schulen steht. Maya hatte
den Erhabenen auf übernatürliche Weise empfangen und
geboren. Es war kein Geschlechtsakt, sondern ein Ele-
fant, der im Traum die Empfängnis auslöste, und Bud-
dha Shakyamuni verließ den Leib seiner Mutter nicht
durch die Vagina, sondern durch die Hüftseite. Aber die-
se transfemininen Geburtsmythen genügten den Legen-
denerzählern nicht. Maya als irdische Mutter mußte auf
dem Erleuchtungsweg einer Religion, die den Menschen
von der unendlichen Kette der Wiedergeburten befreien
wollte, als die Göttin Maya zu einer »Illusion« (Maya) er-
klärt und vernichtet werden. Ihr kommt im Lehrgebäu-
de des Buddha keine höhere Seinsqualität zu, denn das
Weib – als Mutter und als Geliebte – ist der Fluch, der
uns an unser illusionäres Dasein fesselt.
Schon im Hinayana-Buddhismus galt die nackte Lei-
che einer Frau als das provokanteste und wirksamste
Meditationsobjekt für einen Initianten, um sich aus dem
Netz des Samsara zu befreien. In der Ikonographie ihres
Leibes waren alle Nichtigkeiten dieser Welt eingeschrie-
ben. Deswegen konnte derjenige, der sich in Versenkung
über einen verwesenden weiblichen Körper beugte, noch
in diesem Leben Erleuchtung erlangen. Um die Intensi-

155
tät der makabren Betrachtung zu steigern, war es in ei-
nigen indischen Mönchsorden üblich, die Leiche zu zer-
stückeln. Ohren, Nase, Hände, Füße und Brüste wurden
abgetrennt und der verunstaltete Rumpf zum Objekt der
Betrachtung gemacht. »Dadurch daß die sexuellen Bot-
schaften«, schreibt Elizabeth Wilson in Bezug auf die ge-
nannten Praktiken, »die in den Körpern attraktiver Frau-
en verschlüsselt sind, durch das grauenhafte Schauspiel
der Zerstückelung ausradiert werden, manifestiert sich
die größere Macht des (Buddhas als) Gesetzeskönig ge-
genüber den ›Bewohnern‹ des Sinnenreiches«, das heißt
gegenüber dem Normalmenschen. (* Wilson, 80)
Im Vajrayana wird unter anderem die Shunyata-Leh-
re, die Doktrin von der Nichtexistenz alles Seienden,
dazu benutzt, um eine symbolische Opferung des weib-
lichen Prinzips durchzuführen. Erst wenn sich dieses in
ein »Nichts« verflüchtigt hat, können die Welt und wir
Menschen vom Fluch der Maya (Illusion) erlöst werden.
Das mag auch ein Grund dafür sein, weshalb man die
»Leerheit« (Shunyatd), die ja per definitionem gar kei-
ne Eigenschaften haben dürfte, in den Tantras als weib-
lich hypostasiert. Im Hevajra-Tantra wird das besonders
deutlich. Am Anfang der Inszenierung treffen wir hier
auf eine reale Yogini (Karma Mudra) oder zumindest
auf eine imaginierte Göttin (Inana Mudra), die der Yogi
im Verlauf des Rituals durch magische Techniken in ein
»Nichts« verwandelt. Am Ende hat sie der Tantra-Meister
ihrer Eigenständigkeit ganz und gar beraubt, das heißt
mit klaren Worten, sie existiert nicht mehr. »Sie ist die
Yogini ohne ein Selbst.« (* Farrow, 218, 219) Ihr Name

156
Nairatmya bedeutet deswegen wörtlich übersetzt »eine,
die kein Selbst hat, das heißt, keine Substanz.« (* Far-
row, 219) Der gleiche Gedanke liegt zugrunde, wenn in
einem anderen Tantra die »ultime Dakini« als »Null-
punkt« visualisiert und als die »Vereinigung reiner Lust
mit Leerheit« erlebt wird. (* Dowman, 1991, 103). Chö-
gyam Trungpa besingt die Höchste »Lady ohne Sein«
mit der folgenden Strophe :

Immer anwesend, existierst Du nicht …


Ohne Leib, formlos, Gottheit des Wahren.
(* Trungpa, 1990, 40)

Erst ihre Körperlosigkeit, ihre existenzielle Aufopferung


und ihre Auflösung in Nichts, lassen es zu, die Karma
Mudra in die Maha Mudra zu transmutieren und aus der
Yogini die Gynergie herauszudestillieren, um mit diesem
»Stoff« das weibliche Ego des Adepten zu konstruieren.
»Indem sie ihre Form als Frau aufgibt, nimmt sie dieje-
nige ihres Herrn an«, konstatiert das Hevajra-Tantra an
anderer Stelle. (* Snellgrove, 1959, 91)
Die Maha Mudra hat, wie es heißt, einen »leeren Form-
körper«. (* Dalai Lama I, 170) Was versteht man nun un-
ter dieser in sich widersprüchlichen Metapher ? Ngawang
Dhargyey beschreibt in seinem Kalachakra-Kommentar,
wie der »leere Formkörper« nur durch die Vernichtung
aller »materiellen« Elemente eines sinnlich-natürlichen
»Erscheinungskörpers« hervorgebracht werden kann. Im
Gegensatz zu diesem bestehe jener nur aus reiner Energie
und reinem Bewußtsein. (* Dargyey, 1985, 131) Die Phy-

157
sis, die Sinnlichkeit, die Materie und die Natur – nicht
nur im Buddhismus als weiblich aufgefaßt – geraten so-
mit zum reinen Geist in einen unversöhnlichen Gegen-
satz. Aber sie werden im Prozeß ihrer gewalttätigen Ver-
geistigung nicht völlig vernichtet, sondern im Sinne von
G. F. W. Hegel »aufgehoben«, nämlich zugleich »negiert«
wie »konserviert« ; sie werden – um ein Lieblingswort des
buddhistischen Evolutionstheoretikers Ken Wilber zu ge-
brauchen – »integriert«. Damit ist gewährleistet, daß die
kreativen weiblichen Energien nach der materiellen »Auf-
lösung« ihrer Trägerinnen nicht verloren gehen, sondern
dem Yogi jetzt alleine als ein kostbares Elixier zur Ver-
fügung stehen. Eine Aufopferung des Weiblichen als au-
tonomes Prinzip muß deswegen als die conditio sine qua
non für die Allmacht des Tantra-Meisters angesehen wer-
den. Heutzutage dürfte dieses weibliche Sakrifizium aus-
schließlich in der Imagination vollzogen werden. Aber
das muß nicht immer so gewesen sein.

Das Essen der Gynergie

Im Vajrayana aber geht es um mehr als um die Auffüh-


rung eines kosmischen Dramas, in dem das Weibliche
und seine Qualitäten aus metaphysischen Gründen zer-
stört werden. Der Tantriker anerkennt einen Großteil
der weiblichen Eigenschaften als äußerst machtvoll. Er
denkt deswegen gar nicht daran, sie als solche zu ver-
nichten. Im Gegenteil, er möchte sich die Kräfte des
Weiblichen aneignen. Das, was er zerstören will, ist al-

158
lein die physische und psychische Trägerin der Gynergie
– die reale Frau. Aus diesem Grunde hat das »tantrische
Frauenopfer« einen anderen Charakter als die kosmogo-
nische Aufopferung des Weiblichen im frühen Buddhis-
mus. Es beruht auf dem archaischen Paradigma, daß die
Energien eines Lebewesens auf den übergehen, der es ge-
tötet hat. Der Opferer will die vitale Substanz des Opfers
absorbieren, oft dadurch, daß er es nach der Tötung ver-
speist. Man »integrierte« damit nicht nur die Qualitäten
des Getöteten, sondern glaubte auch, den Tod zu über-
listen, indem man sich aus der Seele und dem Leib der
Opfer ernährte.
In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung, daß
das sakrale Opfer weltweit mit dem Essen in Kontext ge-
bracht wurde, von einigem Interesse. Wollte man sich er-
nähren, mußte man Pflanzen und Tiere töten. Das Getö-
tete wurde anschließend verspeist und erschien deswegen
als eine Bedingung, um das Leben aufrechtzuerhalten
und zu vervielfältigen. Essen vermehrte die Kräfte, des-
wegen war es wichtig, daß auch der Feind einverleibt
wurde. Im kannibalistischen Akt integrierte der Essen-
de die Energien des von ihm Geschlachteten. Da der ar-
chaische Mensch keinen prinzipiellen Unterschied zwi-
schen physischen, psychischen und geistigen Prozessen
machte, galt dieselbe Logik für das »Essen« von nicht-
körperlichen Kräften. Man verspeiste auch Seelen, oder
das Prana oder den Elan Vital.
In den Veden hat diese allgemeine »Fresslogik« zu der
Vorstellung geführt, daß sich die Götter aus den Lebens-
säften rituell geschlachteter Menschen ernähren, eben-

159
so wie sich die Menschen die Körper der Tiere als Nah-
rung und Energie einverleiben. Deswegen rät eine kri-
tisch-rationale Stelle aus den Upanishaden von solchen
Menschenopfern ab, da sie nicht der eigenen Erleuch-
tung, sondern nur den nach Blut hungrigen Überirdi-
schen zugute kämen.
Leben und Tod bedingen sich also nach dieser Logik
gegenseitig. Das eine galt als die Voraussetzung für das
andere. Der gesamte Lebenskreislauf war folglich ein
großes Opferfest, das im gegenseitigen Raub und Ab-
sorbieren von Energien bestand, ein großes kosmisches
Fressen und Gefressenwerden. Obgleich der frühe Bud-
dhismus mit einer scharfen Kritik der vedischen Riten,
insbesondere der Schlachtung von Menschen und Tie-
ren aufgetreten ist, bricht die archaische Opfermentali-
tät im tantrischen Ritualwesen wieder voll durch. Die
»Fresslogik« der Veden beherrscht auch den Tantrayana.
Das Wort »Tantra« taucht – nebenbei vermerkt – zuerst
im Umfeld der vedischen Opfergnosis auf und bedeutet
dort das »System des Opferritus« (sacrificial framework).
(* Smith, 128)
Sakraler Kannibalismus war immer Kommunion, hei-
lige Vereinigung mit dem Geist und der Seele des Getö-
teten. Er wird zur eucharistischen Kommunion, wenn
das Opfer ein geschlachteter Gott ist, den seine Gläubi-
gen bei einem Abendmahl verspeisen. Gott und Mensch
sind erst eins, nachdem der Mensch das heilige Fleisch
seines Gottes gegessen und sein heiliges Blut getrunken
hat. Das gleiche gilt im Verhältnis zur Göttin. Der tan-
trische Yogi vereinigt sich mit ihr nicht nur im sexuellen

160
Akt, sondern vor allem dadurch, daß er ihre heilige Gyn-
ergie, die magische Kraft der Maya, verspeist. Manchmal
– so werden wir noch sehen – trinkt er deswegen das Men-
struationsblut seiner Partnerin. Erst wenn das weibliche
Blut auch durch seine Adern pulsiert, wird er ganz, ein
Adrogyn, ein Herrscher über beide Geschlechter.
Um für sich die »Gynergie« zu gewinnen, muß der Yogi
die Besitzerin der vitalen femininen Substanzen »töten«
und sich diese dann »einverleiben«. Ein solcher Gewalt-
akt setzt nicht unbedingt die wirkliche Ermordung sei-
ner Mudra voraus, sondern kann auch symbolisch zur
Ausführung kommen. Ein realer ritueller Frauenmord
ist aber ebensowenig ausgeschlossen, und es erstaunt ei-
nen nicht, wenn zuweilen in den Texten des Vajraya-
na Hinweise auftauchen, die ohne Verschleierung und
ohne Skrupel die tatsächliche Tötung einer Frau fordern.
In einem Kommentar zum Hevajra-Tantra heißt es an
der Stelle, wo eine Weisheitsgefährtin aus niederer Ka-
ste (Dombi) angesprochen wird, unmißverständlich : »Ich
töte dich, o Dombi, ich nehme dein Leben.« (* Snellgro-
ve, 1987, Bd. 1, 159)

Sati oder das sakrale Ursprungsopfer

In jedem Fall wird in allen Ritualen der Höchsten Tantra-


Einweihungen ein symbolisches Frauenopfer inszeniert.
Aus zahlreichen Fallstudien der Kultur- und Religions-
geschichte wissen wir, daß sich hinter solchen Symbolin-
szenierungen ein »archaisches Primärereignis«, ein »sa-

161
kraler Ursprungsmord« verbergen kann. Dieses »erste
Geschehen«, bei dem eine wirkliche Weisheitsgefährtin
rituell getötet wurde, muß den folgenden Generationen
und Kultteilnehmern, die das Opfer nur noch imagina-
tiv oder als heiliges Theater nachvollziehen, keineswegs
voll bewußt sein. Wie der französische Anthropologe
René Girard in seinem Essay über Das Heilige und die
Gewalt mit überzeugenden Argumenten ausführt, tritt
im Normalfall die mörderische Ersttat bei ihren späte-
ren symbolischen Aufführungen nicht mehr in die vol-
le Erinnerung. Aber sie darf auch nicht ganz in Verges-
senheit geraten. Es ist wichtig, daß für die Kultteilneh-
mer der gewalttätige Ursprung ihrer Opferhandlung
von Geheimnissen umwittert ist. »Um ihre strukturie-
rende Kraft aufrechtzuerhalten, darf die Gründungsge-
walt gerade nicht in Erscheinung treten«, meint Girard.
(* Girard, 458) So erst entstehe bei den Beteiligten jene
gefühlsträchtige und ambivalente Mischung aus Verbre-
chen und Gnade, Schuld und Sühne, Gewalt und Befrie-
digung, Schauer und Verdrängung, die dem Kultgesche-
hen erst die numinose Aura der Heiligkeit verleihe.
Es bietet sich also an, den tantrischen Buddhismus
nach einem solchen »Gründungsopfer« zu hinterfragen.
Wir wollen in diesem Zusammenhang auf einen shivai-
tischen Mythos zurückgreifen, der jedoch die Geschichte
der buddhistischen Tantras mitbeeinflußt hat.
In mythischer Vorzeit war Sati die Gemahlin des Got-
tes Shiva. Als ihr Vater Daksa ein großes Opferfest plante,
lud er weder seine Tochter noch seinen Schwiegersohn
dazu ein. Ungebeten erschien Sati dennoch auf dem Fest

162
und wurde von Daksa tief beleidigt. Voller Scham und
Wut warf sie sich auf den brennenden Feueraltar und
starb. (Nach einer anderen Version der Geschichte wur-
de nur sie selber eingeladen und verbrannte sich, nach-
dem sie gehört hatte, daß ihr Gatte von dem Fest ausge-
schlossen worden war.) Shiva, vom Tode seiner Gattin
unterrichtet, eilte sofort zu dem Schauplatz der Tragödie
und enthauptete Daksa. Dann nahm er die Leiche sei-
ner geliebten Sati, legte sie über seine Schultern und be-
gann einen Trauerzug durch ganz Indien. Die anderen
Götter wollten ihn von der Toten befreien und machten
sich daran, diese Stück um Stück, ohne daß ihre Tat von
Shiva bemerkt wurde, zu zerschneiden.
Die Orte, auf welche die Teile fielen, sollen zu heiligen
Plätzen, den sogenannten Shakta Pithas, geworden sein.
Dort, wo die Vagina Satis zu liegen kam, entstand die
sakralste Stelle. In einigen Texten ist von 24, in anderen
von 108 Pithas, der heiligen Zahl des Buddhismus, die
Rede. Auf Satis zahlreichen Grabstätten errichtete man
alsbald Friedhöfe, wo die Menschen ihre Toten verbrann-
ten. Es entwickelte sich an den Plätzen eine vielseitige
– wie wir sehen werden – höchst makabre Totenkultur,
die von den Tantrikern aller Schulrichtungen (auch der
buddhistischen) gepflegt wurde.
Nach einer weiteren Version der Sati-Legende befand
sich im Leichnam von Shivas Gattin ein »kleines Zahn-
rad – Symbol der manifesten Zeit –, (das) von innen her-
aus den Körper der Göttin zerstört … (Dieser) wird nun
in 84 Fragmente zerstückelt, die auf die verschiedenen
Heiligen Orte Indiens niederfallen.« (* Hutin, 67) Das ist

163
in der Tat eine bemerkenswerte Variante der Geschichte,
weil 84 die Anzahl der berühmten Maha Siddhas (Groß-
zauberer) ausmacht, die sowohl nach buddhistischer als
auch hinduistischer Vorstellung den Tantrismus als eine
neue religiöse Praxis in Indien eingeführt haben. Diese
ersten Tantriker wählten die Shakta Pithas als die zen-
tralen Plätze für ihre Rituale. Einige von ihnen, die Nath
Siddhas, behaupteten, Sati habe sich für sie aufgeopfert
und ihnen ihr Blut geschenkt. Aus diesem Grunde klei-
deten sie sich in rote Gewänder. (* White, 195) Ebenfalls
erzählt eine der vielen indischen Friedhofslegenden, daß
fünf der Maha Siddhas aus dem verbrannten Leichnam
einer Göttin namens Adinatha entstanden seien. (* White,
296) Es ist anzunehmen, daß es sich auch hierbei um eine
weitere Variante der Sati-Legende handelt.
Ob sich nun die Göttin selbst geopfert hat oder durch ei-
nen grausamen Mord getötet wurde, ist aus der Geschich-
te nicht klar zu entnehmen. Satis freiwilliger Sprung ins
Feuer deutet auf die erste, ihre systematische Zerstücke-
lung auf die zweite Annahme. Eine »kriminologische«
Aufklärung des Falles kann es allein aufgrund der Ge-
schichte ohne das Hinzuziehen anderer Überlegungen
nicht geben, denn die Sati-Legende muß selbst als Aus-
druck einer mystifizierenden Ambivalenz angesehen wer-
den, welche nach René Girard jedes Gründungsopfer ver-
schleiert. Fest steht nur, daß alle bedeutenden Kultorte
des ursprünglichen buddhistischen ( !) Vajrayana der zer-
stückelten hinduistischen Göttin Sati geweiht waren.
Früher, so behauptet der Indologe D. C. Sircar, sollen
sich dagegen an den Shakta Pithas berühmte Heiligtü-

164
mer der »Großen Göttin« befunden haben. Im Zentrum
ihres Kultes sei die Anbetung ihrer Yoni (Vagina) gestan-
den. (* Sircar, 8) Wir können uns dieser Meinung nur an-
schließen, müssen jedoch darauf hinweisen, daß die mei-
sten matriarchalen Kulte, über die wir informiert sind,
auch phallisch orientiert waren. Der Phallus signalisier-
te hier nicht ein männliches Herrschaftssymbol, sondern
war im Gegenteil ein Spielzeug der »Großen Göttin«, mit
dem sie den Mann sexualmagisch manipulieren und sich
selber Lust verschaffen konnte.
Es ist uns weiterhin wichtig, darauf hinzuweisen, daß
die gynozentrischen Kultpraktiken Indiens keineswegs
frei von Opferwahn waren. Im Gegenteil – eine umfang-
reiche Literatur berichtet von den grauenvollen Riten, die
zu Ehren der Göttin Kali an den Shakta Pithas durch-
geführt wurden. Ihre Anhänger verneigten sich vor ihr
als der »Esserin von rohem Fleisch«, die ständig nach
Menschenopfern gierte. Die ihr geweihten Personen hat-
te man vorher großzügig gefüttert, bis sie genügend fett
waren, um dem Geschmack der Göttin zu genügen. An
bestimmten Festtagen wurden die Opfer in ihrem Kup-
fertempel enthauptet. (* Sircar, 16)
Natürlich können wir nur vermuten, daß die »Zerstüc-
kelung der Göttin« im Sati-Mythos eine männliche Ge-
genreaktion auf die ursprüngliche Fragmentierung des
maskulinen Gottes durch die gynozentrische Kali war.
Aber man darf in diesem mörderischen Wechselspiel kei-
nen reinen Racheakt sehen. Es geht in beiden Fällen um
den Zuwachs an Lebensenergie, welche durch das Op-
fer des jeweils anderen Geschlechts erreicht werden soll.

165
Dabei bedienten sich die »revolutionären« androzentri-
schen Yogis einer ähnlichen Ritualpraxis und Symbolik
wie vorher die aggressiven Anhängerinnen des Matriar-
chats, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Zum Beispiel ist
die für den Buddhismus so zentrale Zahl 108 eine Erin-
nerung an die 108 Namen, unter denen die Große Göt-
tin in Indien angebetet wurde. (* Sircar, 25)

Das Feueropfer der Dakinis

Die Besonderheit griechischer Opferriten bestand in der


Verbindung von Verbrennen und Essen, von Blutritus
und Feueraltar. Auch im vorbuddhistischen, vedischen
Indien galt ein Feuerritual als die häufigste Opferart.
Dargebracht an die Götter wurden auf einem Flammen-
altar Menschen, Tiere und Pflanzen. Da jedes Opfer un-
ter anderem die Zerstückelung des Urmenschen Praja-
pati simulieren sollte, handelte es sich dabei immer um
ein »symbolisches Menschenopfer«, selbst wenn man
dafür tierische oder pflanzliche Substitute benutzte.
Mit solchen vedischen Praktiken setzten sich die frü-
hen Buddhisten zunächst sehr kritisch auseinander und
lehnten sie strikt ab, ganz im Gegensatz zum späteren
Vajrayana, für den sie erneut zentrale Bedeutung gewin-
nen sollten. Noch heute zählen Feuerpujas zu den häu-
figsten Ritualen des tantrischen Buddhismus. Der Ur-
sprung dieser buddhistischen »Flammen-Messen« aus
den Veden wird schon dadurch offenkundig, daß der ve-
dische Feuergott Agni auch in den buddhistischen Tan-

166
tras als der »Verzehrer der Opfergaben« auftritt. Das gilt
selbst noch bei den Tibetern. Helmut von Glasenapp be-
schreibt in diesem Zusammenhang eine der Endszenen
des großangelegten Kalachakra-Rituals, das der Panchen
Lama 1932 in Beijing durchführte : Ein »Holzstoß wurde
entzündet und der Feuergott aufgefordert, in dem mit-
ten auf dem Herde stehenden achtblättrigen Lotus Platz
zu nehmen. Nachdem ihm ausführlich geopfert worden
war, lud man Kalachakra ein, von seinem Mandala sich
hierher zu begeben und mit dem Feuergott eins zu wer-
den.« (* Glasenapp, 142) Der Zeitgott und das Feuer bil-
den also eine Einheit.
Fast jedes buddhistische Tantra kennt die symbolische
Verbrennung von »Opfergöttinnen«. Diese repräsentieren
alle nur denkbaren Eigenschaften, angefangen von den
menschlichen Sinnen bis hin zu verschiedenen Bewußt-
seinsformen. Auch die Elemente (Feuer, Wasser u. s. w.)
und einzelne Körperaggregate werden in der Form von
»Opfergöttinnen« imaginiert. Durch das Aussprechen ei-
ner machtvollen Zauberformel finden sie alle den Feuer-
tod. Im sogenannten Vajrayogini-Ritual opfert der Schü-
ler mehrere Inana Mudras einem roten Feuergott, der
auf einer Ziege reitet. Die Hauptgöttin (Vajrayogini) er-
scheint dort mit »einem rotfarbenen Körper, der mit der
Leuchtkraft des ›Weltuntergangsfeuers‹ brennt.« (Gyatso,
443) Im Guhyasamaya-Tantra schmelzen die Göttinnen
sogar in einem feurigen Lichtball zusammen, um an-
schließend als Opfer an den Höchsten Buddha zu die-
nen. Dort macht der Adept auch bösartige Weiber durch
ein Feuer unschädlich : »Innerhalb eines Dreiecks führt

167
man das Brandopfer durch … Hat man dies drei Tage
lang vollbracht, auf die Frauen als Ziel gerichtet, dann
kann man sie damit bannen, selbst bis in die Unendlich-
keit dreier Äonen.« (* Gang, 225) Eine »brennende Frau«
mit dem Namen Candali spielt bei den Kalachakra-ln-
itiationen eine so bedeutsame Rolle, daß wir ihr noch
ein ganzes Kapitel widmen werden. In diesem Kontext
gehen wir auch auf die »Entzündung der weiblichen En-
ergie« ein, ein Zentralereignis auf dem sexualmagischen
Einweihungsweg.
In einem brennenden Lichterkranz tanzend werden in
der buddhistischen Ikonographie die tantrischen Initia-
tionsgöttinnen, die Dakinis, dargestellt. Dabei handelt es
sich um überirdische weibliche Wesen, denen der Yogi
auf seinem Einweihungsweg begegnet, die ihm bei sei-
ner spirituellen Entwicklung behilflich sind, mit denen er
aber auch in arge Konflikte geraten kann. Übersetzt be-
deutet Dakini »Himmelsgeherin« oder »Frau, die fliegt«
oder »Himmelstänzerin«. (* Herrmann-Pfand, 68, 38)
Der Name taucht im Buddhismus um 400 n. Chr. auf.
Zeitlebens war der deutsche Tibetologe Albert Grün-
wedel von der Vorstellung besessen, daß es sich bei den
»Himmelswandlerinnen« um ehemals menschliche
»Weisheitsgefährtinnen« handelt, die, nachdem sie in ei-
nem Feuerritual getötet wurden, als weibliche Geistwesen
(Genien) im Dienst der tantrischen Lehre weiter wirkten.
In den Dakinis erkannte er durch Magie gebannte »See-
len ermordeter Mudras« und glaubte, daß sie nach ihrem
Opfertod als Gespenster des Buddhismus herumspukten.
(* Grünwedel, 1933, 5) Weshalb, fragt er, halten die Da-

168
kinis auf bildlichen Darstellungen immer Schädelschale
und Hackmesser in ihren Händen ? Selbstverständlich –
so können wir überall lesen – um den Initianten vor der
vergänglichen und trügerischen Welt des Samsaras zu
warnen und ihn davon abzuschneiden. Aber das sieht
Grünwedel ganz anders : Wie in der christlichen Ikono-
graphie die Heiligen ihre Marterinstrumente zur Schau
stellen, so demonstrieren für ihn die tantrischen Göttin-
nen durch Messer und Totenkopf ihr irdisches Ableben ;
wie ihre europäischen Schwestern, die Hexen, mit denen
sie auch ansonsten vieles gemeinsam hätten, sollen sie
auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden sein. (* Grün-
wedel, Kalacakra III, 41) Grünwedel führt den Ursprung
für diese Frauenopfer auf den schon in der Frühphase des
Buddhismus ausgeprägten »Weiberhass« zurück : »Furcht-
bar klingen die Beschimpfungen der Frau … Der Leib
der Frau ist geradezu ein Höllenkessel, die Frau eine ma-
gische Gestalt der Dämonen der Vernichtung.« (* Grün-
wedel, 1924, II, 29) Haben die abenteuerlichen Vermu-
tungen des Autors irgendeine Berechtigung ? Wir werden
diese Frage in einem gesonderten Kapitel über Grünwe-
del zu beantworten versuchen.
Man mag über die Spekulationen des deutschen Ti-
betologen und Asienforschers mit den Achseln zucken.
Soweit sie symbolisch gemeint sind, widersprechen sie
keineswegs der tantrischen Orthodoxie, die ja die Ver-
nichtung des »äußeren« Weiblichen geradezu als Dok-
trin lehrt. Symbolisch – so haben wir erfahren – werden
auch die Opfergöttinnen verbrannt. Selbst einige Tantras
bestätigen explizit Grünwedels These, daß die Dakinis

169
ehemalige »Frauen aus Fleisch und Blut waren«, die spä-
ter in »Geistwesen« verwandelt wurden. (* Bhattacharyya,
121) Man hat sie also als Karma Mudra, als Menschen-
frau, geopfert, um sie anschließend in eine Inana Mudra,
eine »Imago-Frau«, zu transformieren. Aber damit war
der Prozeß noch nicht zu Ende, denn die Inana Mudra
existiert immer noch außerhalb des Adepten. Auch sie
muß »geopfert« werden, um die »innere Frau«, die Maha
Mudra, herzustellen. Ein Passus des Candamabarosana-
Tantras fordert deswegen den Adepten unmißverständ-
lich auf : »Bedrohe, bedrohe, töte, töte, schlachte, schlach-
te alle Dakinis !« (* George, 64)
Welche Absicht verbirgt sich nun hinter einem feuri-
gen Dakini-Opfer ? Die gleiche wie hinter allen anderen
tantrischen Ritualen auch, nämlich die Absorption der
Gynergie, um die Allmacht des Yogis zu begründen. Das
begehrte weibliche Elixier trägt hier seinen spezifischen
Namen. Der Adept nennt es das »Herzblut der Dakini«,
die »Herzessenz der Dakinis«, das »Lebensherz der Da-
kinis«. (* Herrmann-Pfand, 342) »Die Dakinis werden
durch die ›Bekehrung‹ zu Religionsschützerinnen, nach-
dem sie ihrem Besieger ihr ›Lebensherz‹ übergeben«, heißt
es in einem Tantratext. (* Herrmann-Pfand, 204)
Bei der »Übergabe des Herzens« geht es nicht selten
brutal zu. Eine tibetische Geschichte erzählt zum Beispiel,
wie sich die Yogini Magcig bereit erklärte, daß ihre Brust
– ob in der Imagination oder in Realität, bleibt unklar –
mit einem Messer aufgeschlitzt wurde. Dann nahm man
ihr das Herz heraus, »und während das rote Blut – tropf,
tropf – herabfloß«, legte man es in eine Schädelschale.

170
Dakini im Flammenkranz

Anschließend wurde das Organ von fünf anwesenden


Dakinis verzehrt. Nach dieser grauenvollen Herzoperati-
on hatte sich Magcig selber in eine Dakini transformiert.
(* Herrmann-Pfand, 164) So makaber die Geschichte ist,
so zeigt sie andererseits, daß sich das tantrische Frauen-
opfer keineswegs gegen den Willen der geopferten Frau

171
richten muß. Im Gegenteil – die Yogini gibt ihr Herz-
blut oft freiwillig, weil sie ihren Meister liebt. Sie läßt sich
wie Christus aus Liebe ans Kreuz schlagen. Ihr Guru aber
darf dieser Liebe niemals freien Lauf lassen. Er hat die
heilige Pflicht, die Gefühle des Herzens zu kontrollieren,
und die Macht, sie zu manipulieren.
Im Herzen der Dakini liegt das Geheimnis der Erleuch-
tung und damit der universellen Macht. Sie ist die »Köni-
gin der Herzen«, die – wie Diana, Prinzessin von Wales
– einen gewaltsamen »Opfertod« erfahren muß, um da-
nach als das reine Ideal der Monarchie (der »Alleinherr-
schaft« des Yogis) zu leuchten. Auf eine feurige Opfera-
potheose der Dakini verweist auch Lama Govinda, wenn
er in einer Vision verkündet, daß sich in den Himmels-
wandlerinnen alle weiblichen Kräfte verdichten, »bis sie
wie durch ein Brennglas in einem Punkt konzentriert,
zu höchster Glut entfacht und zur heiligen Flamme der
Inspiration werden, die zur vollkommenen Erleuchtung
führt«. (* Govinda, 1991, 231) Es versteht sich von selbst,
daß hier allein die Inspiration und die Erleuchtung des
männlichen Tantra-Meisters und nicht die seines weib-
lichen Opfers gemeint ist.

Vajrayogini

Einen sublimen und vielschichtigen Ausdruck hat das


»tantrische Frauenopfer« im sogenannten »Vajrayogini-
Ritus« gefunden, den wir aufgrund seiner weiten Ver-
breitung unter den tibetischen Lamas kurz darstellen

172
wollen. Vajrayogini ist das bedeutendste weibliche Göt-
terbildnis in den höchsten Yogapraktiken des tibeti-
schen Buddhismus. Die Göttin wird unter anderem als
»Weltenherrscherin«, als die »Mutter aller Buddhas«, als
»Königin der Dakinis«, als »machtvolle Wissenshalte-
rin« angebetet. Ihre Kultverehrung ist so einmalig in-
nerhalb des androzentrischen Lamaismus, daß es sich
anbietet, sie genauer unter die Lupe zu nehmen. Wir fol-
gen dabei einer Schrift des tibetischen Lamas Kelsang
Gyatso zur Vajrayogini-Praxis.
Dieses tantrische Ritual, das sich um eine weibliche
Hauptfigur zentriert, beginnt wie alle anderen mit der
Anbetung des Gurus durch den Schüler. Auf zwei Kis-
sen sitzend, die Sonne und Mond repräsentieren, hält
der Meister Vajra und Glocke in den Händen und be-
tont damit seine Androgynität und übergeschlechtliche
Macht.
Ihm und seiner Linie werden äußere, innere und ge-
heime Opfer dargebracht. Dabei handelt es sich vor al-
lem um zahlreiche imaginierte »Opfergöttinnen«, welche
aus der Brust des Schülers emanieren und von dort aus
in das Herz des Lehrers eingehen. Dazu zählen die Göt-
tinnen der Schönheit, der Musik, der Blumen und des
Lichtes. Beim »geheimen Opfer« spricht der Sadhaka fol-
gende Worte : »Ich opfere die attraktivsten illusorischen
Mudras (Mädchen), ein Gefolge von Botschafterinnen,
welche aus realen Orten, aus Zauberformeln und spon-
tan entstanden sind, mit schlanken Körpern, erfahren
in den 64 Künsten der Liebe und ausgestattet mit dem
Glanz jugendlicher Schönheit.« (* Gyatso, 250)

173
Insgesamt werden in der Vajrayogini-Praxis drei Ar-
ten von symbolischen Frauenopfern unterschieden. Zwei
davon bestehen aus der Darbringung von Inana Mudras,
also von »Geistfrauen«, die aus der Imagination des Schü-
lers stammen. Als dritte Opfergabe übergibt der Schüler
seinem Lehrer eine reale Sexualpartnerin (Karma Mu-
dra). (* Gyatso, 88)
Nachdem alle Frauen dem Guru dargebracht wurden
und er deren Energien in sich absorbiert hat, entsteht
in seinem Herzen das Bild der Vajrayogini. Ihr Leib er-
scheint in roter Farbe und leuchtet wie das »Endzeitfeu-
er«. In der Rechten hält sie ein Messer mit einem Vajra-
griff, in der Linken eine Schädelschale angefüllt mit Blut.
Über die Schulter hat sie einen Zauberstab gelegt, dessen
Spitze drei kleine Menschenköpfe zieren. Als Krone trägt
sie einen Kranz aus fünf Totenschädeln. Fünfzig weitere
abgeschlagene Köpfe, aneinandergereiht zu einer Kette,
baumeln um ihren Hals. Unter ihren Füßen krümmen
sich die hinduistischen Gottheiten Shiva und die rote
Kalarati im Schmerz.
Ihr Bildnis dringt daraufhin in den Schüler ein, nimmt
von diesem Besitz und verwandelt ihn durch eine ver-
innerlichte ikonographische Dramaturgie in sich selbst.
Daß der Sadhaka nun die weibliche Gottheit darstellt,
gilt als ein großes Mysterium. Deswegen flüstert ihm
jetzt der Meister ins Ohr : »Du gliederst dich jetzt in die
Linie aller Yoginis ein. Du sollst diese heiligen Geheim-
nisse aller Yoginis nicht erwähnen gegenüber solchen
Personen, die nicht das Mandala aller Yoginis betreten
haben, und solchen, die keinen Glauben haben.« (* Gya-

174
tso, 355) Mit göttlichem Stolz antwortet ihm daraufhin
der Schüler : »Ich bin der Lustkörper der Vajrayoginil«
(* Gyatso, 57), oder sagt ganz schlicht : »Ich bin Vajrayo-
gini !« (* Gyatso, 57) Als neuentstandene Göttin kommt
er dann von Antlitz zu Antlitz vor seinem Guru zu sit-
zen. Ob sich dieser jetzt mit dem Sadhaka als Vajrayo-
gini sexuell vereinigt, ist aus den vorliegenden Texten
nicht zu entnehmen.
Jedenfalls müssen wir diese künstliche Göttin als eine
weibliche Maske ansehen, hinter der sich der männliche
Sadhaka, der ihre Gestalt angenommen hat, verbirgt. Er
kann selbstverständlich diese Maskerade wieder ablegen.
Beeindruckend ist, wie ungeschminkt und plastisch die
Rückverzauberung des »Vajrayogini-Schülers« in seine
ursprüngliche Gestalt geschildert wird : »Mit der Klar-
heit von Vajrayogini«, sagt er in einem Ritualtext, »gebe
ich meine Brüste auf und entwickele einen Penis. In dem
vollendeten Platz, dem Zentrum meiner Vagina, trans-
formieren sich die beiden Scheidenhäute in zwei glocken-
gleiche Hoden und die Klitoris in den Phallus.« (* Gya-
tso, 293)
Auch andere Transfigurationen des Geschlechtertau-
sches sind aus der Vajrayogini-Praxis bekannt. So kann
zum Beispiel der Lehrer die Rolle der Göttin spielen und
dem Schüler den männlichen Part überlassen. Er kann
sich auch in ein ganzes Dutzend Göttinnen aufspalten
– aber immer sind es Männer, der Guru oder sein Schü-
ler, die die Frauenrollen aufführen.

175
Chinnamunda

Auf ein »tantrisches Frauenopfer« verweist weiterhin


das grauenhafte Chinnamunda-Ritual. Im Zentrum
dieses rituellen Dramas finden wir eine Göttin (Chinna-
munda), welche sich selber enthauptet. Ikonographisch
wird sie folgendermaßen abgebildet : Aufrecht umklam-
mert Chinnamunda mit der Rechten das Hackmesser,
mit dem sie sich gerade enthauptet hat. In der nach oben
gestreckten Linken hält sie ihr Haupt. Drei Blutströme
schießen aus der Halswunde empor. Der mittlere fließt
in einem Bogen in den Mund des abgeschlagenen Kop-
fes, die beiden anderen in die Münder von zwei weiteren
kleineren Göttinnen, welche Chinnamunda flankieren.
Meist trampelt sie auf einem oder mehreren Liebespaa-
ren herum. Dieser blutige Kult ist sowohl im tantrischen
Buddhismus als auch im Hinduismus verbreitet.
Nach einer frommen Ursprungsgeschichte trennte sich
Chinnamunda deswegen von ihrem Kopf, weil ihre beiden
Dienerinnen über großen Hunger klagten, den sie nicht
befriedigen konnten. Die Enthauptung geschah also aus
Mitgefühl mit zwei leidenden Wesen. Es erscheint jedoch
grotesk, daß eine Person, die über so außergewöhnliche
Zauberkräfte verfügt wie Chinnamunda, ihre Gefährtin-
nen mit dem eigenen Blut speisen mußte, anstatt ihnen
durch einen magischen Spruch eine üppige Mahlzeit zu
verschaffen. Nach einer anderen, einer metaphysischen
Deutung wollte die Göttin mit ihrem Selbstzerstörungs-
akt auf die Unwirklichkeit allen Seins aufmerksam ma-
chen. Auch dieser philosophische Gemeinplatz kann

176
Chinnamunda und ihre beiden Gefährtinnen

kaum das grauenhafte Szenario erklären, obgleich man


aus den Tantras einiges gewohnt ist. Liegt es deswegen
nicht nahe, im Chinnamunda-Mythos die schonungslo-
se Darstellung eines »tantrischen Frauenopfers« zu se-
hen ? Oder haben wir hier einen uralten matriarchalen
Kult vor uns, bei dem die Göttin eine Demonstration ih-
rer Dreieinigkeit und ihrer Unzerstörbarkeit durch eine
letztendlich »unwirksame« Selbstvernichtung gibt ?
Diese gynozentrische These klingt bei Elisabeth Anne
Benard in ihrer Analyse des Rituals an, in der sie Chin-
namunda mit ihren beiden Gefährtinnen zu einer Ema-
nation der Dreifaltigen Göttin erklärt. 11 (* Benard, 75)

177
Chinnamunda ist keineswegs das einzige Opfer in die-
sem makabren Schauerstück, sondern ebenso wie ein
buddhistischer Tantra-Meister zieht auch sie ihre Le-
bensenergien aus dem Eros der beiden Geschlechter. In
ihrer kanonisierten Ikonographie tanzt sie nämlich auf
einem oder zwei Liebespaaren herum, die sich auf eini-
gen der Bilddarstellungen sexuell vereinigen. Der Indo-
loge David Kinsley bringt deswegen das Geschehen auf
die knappe und einleuchtende Formel : »Chinnamunda
nimmt das Leben und die Kraft des kopulierenden Paa-
res, dann gibt sie diese verschwenderisch weiter, indem
sie sich den Kopf abschneidet, um ihre Anhänger zu er-
nähren.« (* Kinsley, 175) Am Anfang dieses schwer zu
deutenden Blutritus stehen also ein »geopfertes Paar« und
der Raub seiner Liebesenergien.
Es bleibt dennoch rätselhaft, weshalb gerade dieses
Drama, das von drei Frauen aufgeführt wird, seinen Ein-
gang in tantrisch-buddhistische Meditationspraktiken
gefunden hat. Wir können uns das nur aus zwei Grün-
den erklären : Einmal hat der Vajrayana versucht, jede
auch noch so bizarre Opfermagie in sein System zu in-
tegrieren, sogar wenn sie aus matriarchalen Kultkreisen
stammen sollte. Indem er sich das völlig Fremde aneig-

← 11 Elisabeth Anne Benard möchte sich mit ihrer Interpreta-


tion scharf von einer androzentrischen Deutung des Rituals ab-
setzen. Sie bekennt sich offen zu ihren feministischen Absichten
und feiert Chinnamunda sowohl als weibliche »Sonnengottheit«
wie als »Dreieinige Mondgöttin«. Damit gesteht sie ihr die gyn-
andrische Herrschaft über beide Gestirne und beide Geschlech-
ter zu.

178
net, demonstriert der Yogi um so auffälliger seine All-
macht. Da er davon überzeugt ist, letztendlich alle Ge-
schlechterrollen selber spielen zu können und sich zu-
dem als Herr über Leben und Tod erfährt, sieht er sich
auch als der Meister dieses »Frauenrituals« der Chinna-
munda. Zum anderen konnte durch das Selbstopfer der
Göttin das vom Yogi vollzogene »tantrische Frauenopfer«
verschleiert, aber dennoch für Eingeweihte verständlich
angedeutet werden. 12

Zusammenfassung

Die weite Verbreitung des Menschenopfers in fast allen


Kulturen der Welt hat seit Jahren unter Anthropologen
und Psychologen der verschiedensten Richtungen einen
vielseitigen Diskurs über die gesellschaftliche Funktion
und den Sinn des sacrificium humanum ausgelöst. Da-

12 Die tibetischen Texte, welche den Ritus der Chinnamunda be-


schreiben, sehen in ihm ein Symbol für die drei Energiekanäle,
mit denen der Yogi in seinem mystischen Körper experimentiert.
(Daraufkommen wir noch ausführlich zu sprechen.) So schreibt
der berühmte Gelehrte Taranatha : »Wenn dadurch, daß mit dem
Hackmesser in der rechten Hand der Herrin der Kopf vom eige-
nen Hals getrennt wurde, die drei Adern Avadhuti, Ida und Pin-
gala abgeschnitten sind, so ist der Strom von Gier, Haß und Ver-
blendung bei sich selbst und bei allen Lebewesen abgeschnitten.«
(* Herrmann-Pfand, 263, 264) Dieser Vergleich ist jedoch etwas
herbeigezogen, da ja die inneren Energiekanäle geschlechterspe-
zifisch festgelegt sind (Ida – männlich ; Pingala – weiblich ; Avad-
huti – androgyn) und aus diesem Grunde schwerlich durch drei
Frauen repräsentiert werden können.

179
bei wurde immer wieder auf die Doppelbedeutung des
Opferaktes hingewiesen, der sowohl zerstört als auch
gleichzeitig eine regulative Aufgabe in der sozialen Ord-
nung übernimmt. Das klassische Beispiel hierfür ist das
Opfer des sogenannten »Sündenbocks«. In diesem Fall
übertragen die Mitglieder einer Gemeinschaft alle ihre
Verfehlungen und Verunreinigungen durch magische
Gesten und Sprüche auf einen Menschen und töten die-
sen anschließend. Durch die Vernichtung des Opfers
werden zugleich die negativen Eigenschaften der Sozie-
tät mitvernichtet. Der Psychologe Otto Rank sieht den
Grund für solch eine Übertragungsmagie letztendlich
in der Angst des Einzelnen vor dem Tod : »Die Todes-
furcht des Ich wird durch das Opfer des anderen besänf-
tigt ; durch den Tod des anderen kaufen wir uns los von
der Strafe des Sterbens, des Getötetwerdens.« (* Zit. b.
Wilber, 1990, 176)
Eine andere, vor allem in matriarchalen Kulten weit
verbreitete Opfergnosis unterstellt, daß durch den gewalt-
samen Tod und das Ausbluten eines Menschen Frucht-
barkeit erzeugt werde. Man simulierte Vorgänge in der
vegetativen Natur, in der die Pflanzen jedes Jahr abster-
ben, um im Frühjahr wieder zu entstehen. Tod und Le-
ben standen demnach in einem notwendigen Zusam-
menhang, der Tod brachte das Leben hervor.
Auch in der altindischen Kultur der Veden wird eine
Beziehung zwischen Fruchtbarkeit und einem Menschen-
opfer hergestellt. Die Erde und das Leben auf ihr, ja das
gesamte Universum entstand nach dem vedischen Ur-
sprungsmythos durch die eigenmächtige Selbstzerstücke-

180
lung des heiligen Urmenschen Prajapati. Seine verschie-
denen Glieder und Organe bildeten die Bausteine unse-
rer Welt. Aber sie lagen noch unverbunden und wahllos
nebeneinander, bis die Priester (Brahmanen) kamen und
sie durch ständig vollzogene Opferriten wieder sinnvoll
zusammensetzten. Die Brahmanen garantierten durch
das Opfer, daß der Kosmos stabil blieb, und das gab ih-
nen eine enorme soziale Macht.
Alle diese Aspekte mögen in das »tantrische Frauenop-
fer« zumindest in ihrer Allgemeinheit mit hineinspielen,
aber zentral sind die beiden schon erwähnten Momen-
te : 1. Vernichten des Weiblichen als Symbol der Höch-
sten Illusion (Hinayana- und Mahayana-Buddhhïsmus)
und 2. Opferung der Frau, um sich deren Gynergie ein-
zuverleiben (Tantrayana).
Fassen wir zum Schluß dieses Kapitals noch einmal die
Essentialität des Frauenopfers für den tantrischen Ritus
zusammen : Alles, was sich einer Loslösung von dieser
Welt, die durch Leiden und Tod geprägt ist, widersetzt,
alle Verschleierungen der Maya, das ganze Gaukelspiel
des Samsara sind das schändliche Werk des Weibes. Sei-
ne Liquidation als eine autonome Entität macht diese un-
sere Scheinwelt zunichte. Nur die Transzendierung des
Weiblichen führt – so die tantrische Umkehrlogik – zur
Erleuchtung und zur Befreiung aus der Hölle der Wie-
dergeburten. Nur sie allein verheißt das ewige Leben. Der
Yogi darf sich deswegen als »Held« (Vira) bezeichnen,
weil er den Mut hatte und über die Hohe Kunst verfüg-
te, das destruktivste und niedrigste Wesen des Univer-
sums in sich selbst zu absorbieren, um es dadurch nicht

181
nur unschädlich zu machen, sondern um es zum Heile
aller Wesen in positive Energie umzuwandeln.
Dieser »übermenschliche« Sieg über das »weibliche De-
saster« hat bei den Tantrikern zu der Gewißheit geführt,
daß auch in allen sonstigen negativen Handlungen, Sub-
stanzen und Personen der Keim für einen radikalen Um-
schlag ins Positive verborgen ist. Das Unreine, das Böse
und das Verbrechen sind deswegen der Urstoff, aus dem
der Vajra-Meister das Reine, das Gute und Heilige her-
auszudestillieren sucht.

Das »Gesetz der Umkehrung«

Alle Arten von Leidenschaften (sexuelle Genüsse, Zor-


nesausbrüche, Haß und Ekel), die ansonsten durch die
ethischen Normen des Buddhismus tabuisiert sind, wer-
den im Vajrayana aktiviert und gepflegt mit dem Ziel,
sie anschließend in ihr Gegenteil zu verwandeln. Die
buddhistischen Mönche, die sich im Normalfall einem
strikten, puritanisch anmutenden Regelsystem unter-
werfen, kultivieren ohne Grenzen solche »Tabuverlet-
zungen«, wenn sie sich entschlossen haben, den »dia-
mantenen Pfad« zu betreten. Übertreibungen und Ex-
travaganzen zählen jetzt zu ihrem Lebensstil. Dazu sind
sie nicht nur legitimiert, sondern geradezu verpflichtet,
weil nach der tantrischen Doktrin das Böse nur durch
das Böse, die Gier nur durch die Gier und Gift nur durch
Gift geheilt werden können.
Entsprechende radikale Anweisungen gibt es im He-

182
vajra-Tantra : »Ein weiser Mensch sollte den Schmutz in
seinem Geist durch Schmutz beseitigen … Man muß sich
erheben durch das, was einen zu Fall bringt.« Oder noch
anschaulicher : »So wie sich Blähungen durch das Essen
von Bohnen kurieren lassen, indem der Wind den Wind
vertreibt, so wie man einen Dorn im Fuß mittels eines
anderen Dorns entfernt und ein Gift durch ein ande-
res Gift neutralisiert, so kann die eine Sünde durch eine
andere gesühnt werden.« (* Walker, 43) Das Kalachakra-
Tantra fordert aus den gleichen Gründen seine Schüler zu
folgenden Verbrechen auf : töten, lügen, stehlen, die Ehe
brechen, Alkohol trinken, sexuell mit Mädchen aus den
Unterklassen verkehren. (* Broido, 71) Von den Ketten
des Existenzkreislaufes wird ein Tantriker gerade durch
das befreit, was einen normalen Menschen fesselt.
»Was den Narren bindet, befreit den Weisen !« sagt ein
tantrisches Sprichwort (* Dasgupta, 1974, 187), und eine
andere drastischere Passage betont : »Die gleichen Hand-
lungen, für die ein gewöhnlicher Sterblicher hundert Mil-
lionen Äonen in der Hölle brät, durch dieselben Taten er-
langt ein eingeweihter Yogi Erleuchtung.« (* Eliade, 1985,
272) Mit jedem Ritual ist demnach beabsichtigt, den In-
itianten in einen Zustand jenseits von Gut und Böse zu
katapultieren.
Diese spirituelle Notwendigkeit, dem Verbotenen zu
begegnen, hat man im wesentlichen mit fünf Argumen-
ten begründet :
Erstens bestätigt der Adept durch eine Tabuverletzung,
auf die oft hohe Strafen stehen, das Herzstück der gan-
zen buddhistischen Philosophie : die Leerheit (Shunyata)

183
aller Erscheinungen. »Ich bin leer, die Welt ist leer, alle
drei Welten sind leer«, ruft der Maha Siddha Tilopa tri-
umphierend aus, deswegen gibt es »weder Sünde noch
Tugend«. (* Dasgupta, 1974, 186) Das Shunyata-Prinzip
bildet somit die metaphysische Legitimation für alle nur
denkbaren »Verbrechen«, die ja ohne inhärente Existenz
sind.
Aus der Leere folgt als zweites Argument die »Gleich-
heit alles Seienden«. Es existieren weder Reinheit noch
Unreinheit, weder Lust noch Ekel, weder Schönheit noch
Häßlichkeit. Deswegen gibt es »keine Trennung zwischen
Nahrung und Abfall, zwischen Fruchtsaft und Blut, zwi-
schen Gemüsesaft und Urin, zwischen Sirup und Samen.«
(* Walker, 41) Ein furchtloser Maha Siddha legitimiert
eine schwere Untat, deren man ihn beschuldigt, mit den
Worten : »Wenn auch Arzneien und Gift das Gegenteil
bewirken, sind sie doch in ihrem innersten Wesen gleich ;
ebenso sind schlechte und gute Eigenschaften auf dem
Pfad im Wesen eins und sollen nicht geschieden sein.«
(* Stevens, 92) So wandert der Yogi guten Gewissens auf
Wegen jenseits der herrschenden Moral. »Durch die glei-
chen schändlichen Handlungen, welche jedermann in
die Hölle brächten, gewinnt derjenige, der die richtigen
Mittel benutzt, Erlösung, darin besteht kein Zweifel. Al-
les Böse und alles Tugendhafte haben den Gedanken als
ihre Basis.« (* Snellgrove, 1987, Bd. 1, 174)
Die dritte – etwas aufgesetzte, aber dennoch häufig an-
zutreffende – Legitimation für die »Übertretungen« des
Vajrayana besteht im Bodhisattva-Gelübde des Mahaya-
na-Buddhismus, das fordert, jedem Lebewesen so lange

184
beizustehen und zu helfen, bis es Befreiung erlangt. Die-
ser fromme Zweck kann erstaunlicherweise die übelsten
Mittel heiligen. »Wenn man für das Wohl aller lebenden
Wesen und in Übereinstimmung mit Buddhas Lehre«,
lesen wir in einem Tantra, »lebende Wesen töten sollte,
bleibt man von Sünde unberührt … Wenn man für das
Wohl aller lebenden Wesen und in Übereinstimmung mit
Buddhas Lehre den Reichtum anderer entwendet, bleibt
man von Sünde unberührt« und so weiter. (* Snellgro-
ve, 1987, Bd. 1, 176) Im Laufe der tibetischen Geschich-
te hat – wie wir im zweiten Teil unserer Studie zeigen
werden – das Bodhisattva-Gelübde zahlreiche politische
und familiäre Morde legitimiert, wobei noch als »geist-
reiches« Argument hinzukam, daß man die ermorde-
ten Menschen von der Welt des Scheins (Samsara) »be-
freit« habe und daß diese einem deswegen zum Dank
verpflichtet wären.
Die vierte Begründung, die auch in anderen magischen
Kulturen weit verbreitet war, kennen wir aus der Homöo-
pathie. Sie lautet : similia similibus curantur (Gleiches wird
durch Gleiches kuriert). Bei diesem Heilverfahren arbei-
tet man gewöhnlich mit kleinen Mengen, große Sünden
können also durch mindergroße gesühnt werden.
Das fünfte und letzte Argument versucht uns davon
zu überzeugen, daß die Erleuchtung per se aus der radi-
kalen Umkehrung ihres Gegenteils entsteht und es über-
haupt keine andere Möglichkeit gäbe, von den Fesseln
des Samsara loszukommen. Die tantrische Umkehrlogik
ist hier zu einem Dogma geworden, das andere Erleuch-
tungspfade nicht mehr zuläßt. In diesem Sinne lesen wir

185
im Guhyasamaja-Tantra : »Niedrigstgeborene, Flötenma-
cher und ähnliche, solche, die ständig nur Mord im Sinn
haben, gelangen auf diesem höchsten Weg zur Vollkom-
menheit.« (* Gang, 128) Ja, es existiert in einigen Texten
geradezu eine Proportionalität zwischen der Größe des
»Verbrechens« und der Schnelligkeit, mit der die spiri-
tuelle »Befreiung« eintritt.
Die tantrische Umkehrlogik beinhaltet jedoch ein ge-
fährliches Paradoxon. Zum einen steht der Vajrayana
nicht nur im radikalen Gegensatz zu den »gesellschaft-
lichen« Normen, sondern ebenso zu den ursprüngli-
chen Grundregeln des eigenen buddhistischen Systems.
Er muß also ständig auch von seinen Glaubensbrüdern
Anklagen und Verfolgungen befürchten. Zum anderen
besteht die von Friedrich Nietzsche erwähnte Gefahr,
daß derjenige, der zu oft in das Antlitz von Ungeheuern
blickt, selbst zum Ungeheuer werden kann. Leider lehrt
uns die Geschichte, vor allem diejenige Tibets, wie viele
Tantra-Meister die Dämonen, die sie riefen, nicht mehr
los wurden. Wir werden diesem Verhängnis im zweiten
Teil unserer Studie nachspüren.

Die Zwielichtsprache

Um all diese anstößigen Dinge, welche die geforderten


Tabuverletzungen mit sich bringen, vor der Öffentlich-
keit zu verbergen, bedienen sich manche Tantratexte ei-
ner sogenannten »Zwielichtsprache« (samdhyabhasa).
Sie hat die Aufgabe, Anspielungen auf tabuisierte Sub-

186
stanzen, verborgene Körperteile und unrechtmäßige
Handlungen durch poetische Worte zu verschleiern, da-
mit diese für Uneingeweihte nicht erkannt werden kön-
nen. Zum Beispiel sagt sie »Lotus« und meint »Vagina«,
sie setzt den Begriff »Erleuchtungsbewußtsein« (bodhicit­
ta) für Sperma oder das Wort »Sonne« (surya) für Men-
struationsblut. Eine solche Reihe von Synonymen läßt
sich beliebig lang fortsetzen.
Es wäre aber verkürzt zu glauben, die tantrische Zwie-
lichtsprache erschöpfe sich darin, euphemistische Aus-
drücke für sexuelle und kriminelle Ereignisse zu verwen-
den, um keinen Anstoß in der Außenwelt zu erregen. Ent-
sprechend dem magischen Weltbild des Tantrismus wird
oft zwischen der gewählten »poetischen« Bezeichnung
und ihrem Pendant in der »Realität« eine Gleichwertig-
keit oder Interdependenz angenommen. So bewirkt – wie
wir noch sehen werden – der männliche Same in der Tat
das Erleuchtungsbewußtsein (bodhicitta), wenn man ihn
rituell verzehrt, oder die Vagina verwandelt sich durch
meditative Imagination tatsächlich in einen Lotus.
Im Zwielicht solcher Metaphorik ist selbstverständ-
lich alles möglich ! Da in den tantrischen Originaltex-
ten, im Gegensatz zu ihren ausführlichen Kommenta-
ren, die Tabuverstöße oft ohne Scheu beim Namen ge-
nannt werden, haben moderne Textexegeten den Spieß
umgedreht. Zum Beispiel sieht der deutsche Lama Go-
vinda in den unappetitlichen Horrorszenen, die dort zur
Sprache kommen, abschreckende Warnsignale gegenüber
frechen Eindringlingen in die Mysterien. Damit keine
Unberufenen das Paradies betreten, schilderte man es

187
als ein Schlachthaus. Diese unterstellte Umschreibung
des Schönen durch das Grauen widerspricht aber dem
Sinn der Tantras, deren Absicht gerade darin zu suchen
ist, das Niedrige in das Hohe zu verwandeln, und die ei-
nen deswegen bewußt mit den Abscheulichkeiten dieser
Welt konfrontieren.
Die Szenarios, die in den folgenden Seiten zur Auffüh-
rung kommen, sind in der Tat so abnorm, daß den frü-
heren westlichen Wissenschaftlern die Haare zu Berge
standen, als sie die tantrischen Texte zum erstenmal aus
dem Tibetischen oder Sanskrit übersetzten. E. Burnouf
war entsetzt : »Die Feder sträubt sich, so häßliche und er-
niedrigende Lehren wiederzugeben«, schrieb er im Jahre
1844. (* Glasenapp, 167). Selbst weltberühmte Tibetolo-
gen wie Giuseppe Tucci und David Snellgrove gestanden
fast ein Jahrhundert später ein, daß sie in ihren Überset-
zungen auf die Wiedergabe gewisser Passagen wegen der
dort geschilderten Horrorbilder einfach verzichtet hät-
ten, obgleich sie damit die Regeln der Wissenschaft ver-
letzten. (* Walker, 153) Heute, im Zeitalter unbegrenzter
Information, verflüchtigt sich zunehmend jegliche Scheu
vor der Darstellung ehemals tabuisierter Bilder. In eini-
gen modernen Übersetzungen ist man deswegen offen
mit allen »Verbrechen und sexuellen Abweichungen« der
Tantras konfrontiert.

188
Sexuelle Begierde

Wir beginnen wiederum mit der Geschlechterthema-


tik. Sie ist die Achse, um die der gesamte Tantrismus
kreist. Weshalb die Frau als das größte Hindernis auf
dem männlichen Erleuchtungsweg angesehen wurde,
darüber haben wir schon ausgiebig verhandelt. Weil das
Weib das gefürchtete Tor zur Wiedergeburt darstellt,
weil es die Welt der Illusionen hervorbringt, weil es die
Kräfte des Mannes raubt – liegt in ihm der Ursprung des
Bösen. Die Berührung einer Frau war demnach auch die
höchste Tabuverletzung für einen Buddhisten aus der
vortantrischen Phase. Die Schwere der Verbotsübertre-
tung steigerte sich um ein Vielfaches, wenn es zum Se-
xualverkehr kam.
Doch gerade weil den »Töchtern Maras« die extremste
Entfremdung von der Erleuchtung innewohnt, weil sie
als das größte Hindernis für den Mann gelten und das
Reich der Freiheit verbarrikadieren, sind sie nach dem
tantrischen »Gesetz der Umkehrung« für jeden Adepten
der wichtigste Prüfstein auf dem Initiationsweg. Wer es
versteht, die Frauen zu meistern, der versteht es auch, die
gesamte Schöpfung, die von ihnen repräsentiert wird, zu
kontrollieren. Wegen dieses Paradoxons genießt die se-
xuelle Vereinigung im Vajrayana die absolute Priorität.
Alle anderen Ritualhandlungen, wie bizarr sie auch er-
scheinen mögen, sind aus diesem sexualmagischen Ur-
sprung abgeleitet.
An sich müßte auch für die Sexualität das tantrische
Postulat gelten, daß eine Überwindung des Gegenpols um

189
so höher und verdienstvoller zu bewerten sei, je abnor-
mere Charakterzüge dieser zeigt. Je düsterer, abstoßen-
der, aggressiver und perverser eine Frau ist, desto geeig-
neter müßte sie nach dem »Gesetz der Umkehrung« sein,
um als Liebespartnerin in den Ritualen zu dienen. Die-
sem Postulat nach Häßlichkeit scheint jedoch die oben
erwähnte Vorliebe der Yogis für besonders junge und
schöne Mädchen zu widersprechen.
Das Kalachakra-Tantra ist sich übrigens dieses Wi-
derspruchs bewußt, kann ihn jedoch nicht lösen. So
hat das Zeittantra im dritten Buch folgende Ratschläge :
»Schreckliche Frauen, zornige, hochnäsige, geldgierige,
zänkische … sind zu meiden.« (* Grünwedel, Kalacakra
III, 121) Aber dann erfahren wir einige Seiten weiter ge-
nau das Gegenteil : »Ein Weib, der Lebensgier ergeben,
an Menschenblut sich ergötzend … ist vom Yogi zu ver-
ehren.« (* Grünwedel, Kalacakra III, 146)
Das vierte Buch des Kalachakra-Tantras geht direkt auf
das »Gesetz der Umkehrung« ein und beschreibt im Vers
207 die Karma Mudra als eine »knotige Hetäre«. Gleich
anschließend folgt die Begründung, weshalb sich hinter
dem Hetärengesicht eine Göttin verbergen muß, denn für
den Yogi kann »Gold gleichwertig sein mit Kupfer, ein
Edelstein aus der Krone eines Gottes mit einem Stückchen
Glas, wenn durch die Liebesgaben von geschulten Hetären
unerhörte männliche Kraft erhalten wird …« (* Grünwe-
del, Kalacakra IV, 209) – das heißt, aus dem niedrigsten
Weiblichen wird das höchste Männliche gewonnen.
In diesem Sinne empfiehlt das Chakrasamvara-Tan-
tra eine erotische Praxis mit hochmütigen, launischen,

190
stolzen, dominierenden, wilden und unzähmbaren Frau-
en, und die Yogini Laksminkara fordert dazu auf, eine
Frau, die »verstümmelt und mißgestaltet« ist, zu vereh-
ren. (* Gang, 59) Auch der Maha Siddha Tilopa hielt sich
noch strikt an die tantrische Inversionspolitik und kopu-
lierte mit einer Frau, welche die »achtzehn Male der Häß-
lichkeit« trug, was immer darunter zu verstehen ist. Sein
Schüler Naropa folgte ihm nach und wurde von einem
»häßlichen leprösen alten Weibsbild« eingeweiht. Des-
sen Nachfolger Marpa erhielt seine Initiation von einer
»übelriechenden Friedhofsdakini … mit schlaffen, aus-
gezehrten Brüsten und riesigen Geschlechtsorganen von
widerlicher Farbe.« (* Walker, 95). Während die häßlichen
»Liebespartnerinnen« zu Beginn den Heilsweg und das
Leben eines Adepten bedrohen, strahlen sie am Ende des
tantrischen Umkehrungsprozesses als jene märchenhaf-
ten Schönheiten, die sich von Kröten in Prinzessinnen
verwandelt haben. So ist aus einem »Schakalmaul« nach
der Transmutation die »Dakini der Weisheit« geworden ;
aus einer »Löwenschnauze« die ehrenwerte »Buddha Da-
kini« mit »einem bläulichen Teint und einem strahlen-
den Lächeln« ; aus einem »Vogelschnabel« eine »Edelstein
Dakini« mit »hübschem, weißen Gesicht« und so weiter.
(* Stevens, 97) All diese anmutigen Wesen stehen völlig
unter der Kontrolle ihres Gurus, der durch die Bezwin-
gung des dämonischen Weibes die Qualifikation eines
Hexenmeisters erlangt hat und die verwandelten Dämo-
ninnen nun nach seiner Pfeife tanzen läßt.
Aus leicht verständlichen Gründen bleibt jedoch die
Tatsache bestehen, daß in den sexualmagischen Prakti-

191
ken bevorzugt mit jungen und hübschen Mädchen ge-
arbeitet wird. Aber sogar hierbei wird noch eine para-
doxale Erklärung angeführt : Die Jungfrauen seien auf-
grund ihrer Attraktivität weit gefährlicher für den Yogi
als eine alte Vettel. Die Möglichkeit, daß er in einer sol-
chen Beziehung emotional und sexuell außer Kontrol-
le gerate, sei in diesem Fall um ein Vielfaches gesteigert.
Deswegen seien für ihn schöne Frauen eine noch größe-
re Herausforderung als häßliche.
Konsequenter als auf das Alter und die Schönheit wen-
den die Tantras das »Gesetz der Umkehrung« auf die
Klassenzugehörigkeit der Partnerinnen an. Frauen aus
niederen Kasten sind nicht nur empfehlenswert, son-
dern scheinen geradezu notwendig für die Durchfüh-
rung bestimmter Rituale. Das Kalachakra-Tantra führt
Gärtnerinnen, Fleischerinnen, Töpferinnen, Huren und
Näherinnen in seinen Empfehlungslisten auf. (* Grün-
wedel, Kalacakra III, 130, 131) In anderen Texten ist
von Schweinehirtinnen, Schauspielerinnen, Tänzerin-
nen, Sängerinnen, Wäscherinnen, Barmädchen, Webe-
rinnen und ähnlichem die Rede. »Kurtisanen sind auch
bevorzugt«, schreibt der Tibetforscher Matthias Her-
manns, »denn je geiler, verdorbener, schmutziger, mo-
ralisch häßlicher und ausschweifender sie sind, um so
besser seien sie für ihre Rolle geeignet.« (* Hermanns,
1975, 191) Diese Einschätzung deckt sich mit der Auffor-
derung des Tantrikers Anangavajra, jede wie auch im-
mer geartete Mudra zu akzeptieren, denn da »alles seine
Existenz in einer letzten nichtdualen Substanz hat, kann
für die Yogapraxis nichts schädlich sein und deswegen

192
sollte der Yogi alles zur Zufriedenheit seines Herzens
genießen, ohne die geringste Furcht und ohne Zögern.«
(* Dasgupta, 1974, 184)
Immer wieder werden als Sexualpartnerinnen der Tan-
triker die sogenannten Candalis erwähnt. Dabei handelt
es sich um Mädchen der untersten Kasten, die mit aller-
lei Arbeiten ihren dürftigen Lebensunterhalt auf Leichen-
verbrennungsstätten verdienten. Aus einem Kommentar
des Hevajra-Tantras geht hervor, daß sie sich dort unter
anderem den vagabundierenden Yogis für deren Sexu-
alpraktiken anboten. (* Snellgrove, 1987, Bd. 1, 168) Für
einen orthodoxen Hindu galten solche Wesen als unbe-
rührbar. Selbst wenn nur der Schatten einer Candali auf
ihn fiel, zeitigte das verheerende Folgen für sein Leben.
Da er mit seinen Ritualen die strengen hinduistischen
Kastenvorschriften außer Kraft setzte, hat man dem tan-
trischen Buddhismus eine sozialrevolutionäre Grundhal-
tung unterstellt. Insbesondere rechnen ihm das moder-
ne Feministinnen zugute. (* Shaw, 1994, 62) Aber abge-
sehen von der naheliegenden Tatsache, daß Frauen aus
den Unterschichten als Sexualpartnerinnen leichter ver-
fügbar sind, gilt auch hier das »Umkehrungsgesetz« als
ausschlaggebend für die Wahlentscheidung. Die sozi-
ale Minderwertigkeit der Frau potenziert den Antino-
mismus des tantrischen Rituals. »Es ist das Symbol der
›Wäscherin‹ und der ›Kurtisane‹ von bestimmender Be-
deutung«, lesen wir bei Mircea Eliade, »und wir müssen
uns mit der Tatsache vertraut machen, daß in Überein-
stimmung mit der tantrischen Doktrin von der Identi-
tät der Gegensätze das ›edelste und wertvollste‹ genau

193
im ›niedrigsten und banalstem verborgen ist.« (* Eliade,
1985, 261, Anm. 204)
Wenn Frauen aus den höheren Kasten (Brahmanen,
Krieger oder reiche Kaufleute) ebenfalls auf der Wunschli-
ste des Tantrikers stehen, insbesondere dann, wenn sie
verheiratet sind, ist auch hier das Umkehrungsgesetz
wirksam, denn durch die Benutzung einer Ehefrau aus
der Oberschicht wurde ein rigides Tabu gebrochen – ein
Indiz für die grenzenlose Macht des Yogi.

Das Inzestverbot

Von unbestreitbarer Evidenz in archaischen Gesellschaf-


ten ist die Verletzung des Inzestverbotes : kaum ein Tan-
tra der höheren Klasse, in dem nicht der Sexualverkehr
mit der Mutter, der Tochter, mit Tanten oder Schwäge-
rinnen gefordert wird. Auch hier protestiert der deutsche
Lama Govinda mit Nachdruck dagegen, die Texte wört-
lich zu nehmen. Es sei geradezu lächerlich, »daß tantri-
sche Buddhisten tatsächlich Inzest und geschlechtliche
Ausschweifungen ermutigt hätten.« (* Govinda, 1991,
113) Mutter, Schwester, Tochter und so weiter stünden
für die vier Elemente, den »Ichdünkel« oder ähnliches.
Solche symbolischen Zuordnungen brauchen aber ei-
ner inzestuösen Praxis, welche ja nicht nur im alten Tibet,
sondern in voneinander ganz unabhängigen Kulturen
vorkommt und weltweit verbreitet war, nicht zu wider-
sprechen. Auch hierbei gilt, daß der Yogi, der aus Prinzip
an fundamentalen Regelverletzungen interessiert ist, ei-

194
nen Inzest geradezu herbeisehnen muß. Historische Be-
richte fehlen denn auch nicht. Hören wir uns den Fluch
eines puritanisch gesinnten Lamas aus dem 16. Jahrhun-
dert an, der sich gegen die Ausschweifungen seiner liber-
tären Kollegen richtet : »Im Vollzug der Riten sexueller
Vereinigung kopulieren die Leute ohne Rücksicht auf die
Blutsverwandtschaft … Ihr seid unreiner als Hunde und
Schweine. Da ihr den reinen Göttern Kot, Urin, Sperma
und Blut angeboten habt, werdet ihr wiedergeboren im
Sumpf verwester Kadaver.« (* Paz, 95)

Essen und Trinken unreiner Substanzen

Eine zentrale Rolle im Ritus spielt das tantrische Mahl.


Grundsätzlich ist es den buddhistischen Mönchen ver-
boten, Fleisch zu essen oder Alkohol zu trinken. Auch
dieses Tabu wird vom Adepten des Vajrayana bewußt
gebrochen. Um die Überschreitung noch zu radikalisie-
ren, ist der Genuß von Fleischarten begehrt, welche in
der indischen Gesellschaft allgemein als »verboten« gel-
ten : Elefantenfleisch, Pferdefleisch, Hundefleisch, Kuh-
fleisch und Menschenfleisch. Letzteres trägt den Namen
maha mamsa, das »große Fleisch«. Gewöhnlich stammt
es von Toten und ist ein »Fleisch von denen, die aufgrund
ihres eigenen Karmas starben, die in der Schlacht auf-
grund ihres bösen Karmas oder aufgrund eigener Feh-
ler getötet wurden«, schreibt Pundarika in seinem tradi-
tionellen Kalachakra-Kommentar und führt fort, daß es
sinnvoll sei, diese Substanzen in der Form von Pillen zu

195
sich zu nehmen. (* Newman, 1987, 266) Auch in einem
modernen Text zum Kalachakra-Tantra werden kleine
Mengen davon empfohlen. (* Dhargyey, 1985, 25) Es gibt
Rezepte, die zwischen den verschiedenen menschlichen
Körperteilen unterscheiden und den Genuß von Hirn,
Leber, Lungen, Eingeweide, Hoden und so weiter für be-
stimmte Zeremonien fordern.
Die fünf tabuisierten Fleischarten haben sakramen-
talen Charakter. In ihnen konzentrieren sich die Ener­
gien der höchsten Buddhas, welche durch das »Gesetz der
Umkehrung« in Erscheinung treten können. Deswegen
sprechen die Texte von den »fünf Ambrosias« oder »fünf
Nektaren«. Auch andere unreine »Speisen« hat man den
fünf Dhyani Buddhas zugeordnet. Ratnasambhava steht
in Verbindung mit Blut, Amithaba mit Samen, Amogha-
siddhi mit Menschenfleisch, Aksobhya mit Urin, Vairoca-
na mit den Exkrementen. (* Wayman, 1973, 116)
Das Candamaharosana-Tantra zählt genüßlich dieje-
nigen Substanzen auf, die dem Adepten von seiner Weis-
heitsgefährtin während des sexualmagischen Rituals an-
geboten werden und die er zu schlucken hat : Kot, Urin,
Speichel, Speisereste aus ihren Zähnen, Lippenstift, Spül-
wasser, Erbrochenes, das Waschwasser, was nach der Säu-
berung ihres Anus übrig bleibt. (* George, 73, 78, 79) Die-
jenigen, »die Kot und Urin zu ihrer Nahrung machen,
werden wahrlich glücklich sein«, verspricht das Guhya-
samaja-Tantra. (* Gäng, , 134) Im Hevajra-Tantra muß
der Adept aus einer Schädelschale das Menstruationsblut
seiner Mudra trinken. (* Farrow, 98) Aber auch faule Fi-
sche, Kloakenwasser, Hundekot, Leichenfett, Exkremen-

196
te von Toten, Menstruationsbinden sowie alle nur denk-
baren »Rauschtränke« werden genossen. (* Walker, 103)
Es besteht ein striktes Gebot, daß der praktizierende
Yogi beim Genuß dieser Unreinheiten keinen Ekel ver-
spüren darf. »Vor Kot, Urin, Samen und Blut soll man
niemals Ekel empfinden.« (* Gang, 266) Grundsätzlich
gilt : »Er muß essen und trinken, was immer er erhält,
und soll nicht darüber räsonieren, was er mag und nicht
mag.« (* Farrow, 67)
Aber nicht nur bei den tantrischen Riten, sondern auch
in der tibetischen Medizin werden menschliche und tie-
rische Ausscheidungen aller Art für Heilzwecke benutzt.
Kot und Urin hoher Lamas gelten als begehrte Heilmit-
tel. Zu Pillen verarbeitet und auf dem Markt angeboten,
spielten und spielen sie erneut im Wirtschaftsleben tibe-
tischer und exiltibetischer Klöster eine bedeutende Rolle.
Am meisten wurde natürlich für die Ausscheidungen des
Höchsten Hierarchen, des Dalai Lama, geboten. Über den
Aufenthalt des jungen XIV Gottkönigs in Beijing (1954)
liegt ein Bericht vor, der besagt, daß man den Kot Seiner
Heiligkeit täglich in einem goldenen Topf sammelte, um
ihn anschließend nach Lhasa zu schicken und dort zu ei-
nem Medikament zu verarbeiten. (* Grunfeld, 22) Auch
wenn diese Quelle von chinesischer Seite stammt, ist ihr
ohne weiteres Glauben zu schenken, da entsprechende
Praktiken im ganzen Lande verbreitet waren.

197
Nekrophilie

Der mexikanische Essayist und Dichter Octavio Paz


macht in einem brillanten Essay über den Tantrismus
darauf aufmerksam, wie man der großen Vorliebe der
Mexikaner für Skelette und Totenschädel nirgendwo
sonst in der Welt begegnet außer in dem buddhisti-
schen Ritualwesen der Tibeter und Nepalesen. Der Un-
terschied bestehe darin, daß in Mexiko die Knochen-
menschen als Verspottung des Lebens und der Leben-
den angesehen würden, während sie im Tantrismus
»schreckenerregend und obszön« seien. (* Paz, 94) Die-
se Verbindung von Tod und Sexualität ist in der Tat ein
beliebtes Leitmotiv tibetischer Kunst. Auf Rollbildern
werden die tantrischen Paare entsprechend mit Schädel-
schalen und Hackmessern ausgerüstet, tragen Halsket-
ten aus abgeschlagenen Köpfen und trampeln auf Lei-
chen herum, während sie sich in der Liebesvereinigung
umschlungen halten.
Ein durchgängiger, ja beherrschender nekrophiler Zug
ist in der tibetischen Kultur nicht zu übersehen. Bei Fok-
ke Sierksma befindet sich die Beschreibung einer Medi-
tationszelle, in der sich ein Lama hatte einmauern lassen.
Sie war mit menschlichem Haar, Haut und Knochen ge-
schmückt, die ihm wahrscheinlich von den Leichenzer-
stücklern geliefert worden waren. Auf einer Leine hin-
gen mehrere getrocknete Frauenbrüste. Auch die Essens-
schüssel des Höhlenheiligen bestand nicht wie üblich aus
einem Menschenschädel, sondern aus der getrockneten
Haut einer weiblichen Brust. (Sierksma, 1966, 189)

198
Solche makabren Ambiente können als exzessive Rand-
erscheinungen abgetan werden, was sie auch im Gesamt-
gefüge der tibetischen Kultur sind. Sie stehen aber den-
noch in einem tiefen Sinn- und Symbolzusammenhang
mit der paradoxalen Philosophie des Tantrismus, ja des
Buddhismus überhaupt, der seit seinen Anfängen die Me-
ditation über Leichen in den verschiedenen Stadien der
Verwesung als Übung empfiehlt, um die Vergänglich-
keit allen Seins zu erkennen. Schon die frühbuddhisti-
sche Verachtung des Lebens, das die Tore zum Nirvana
verschließt, reicht hin, um die regelrechte Faszination
am Morbiden, Makabren und am Zerfall der Körper zu
verstehen, die den Lamaismus kennzeichnen. Verbren-
nungsstätten, Leichenplätze, Friedhöfe, Scheiterhaufen,
Gräber, aber auch Stellen, wo ein Mord verübt oder eine
blutige Schlacht geschlagen wurden, gelten entsprechend
dem »Gesetz der Umkehrung« als besonders geeignet,
um dort den tantrischen Ritus mit seiner Weisheitsge-
fährtin zu vollziehen.
Auch die sakrale Kunst Tibets schwelgt in makabren
Sujets. In Abbildungen der zornigen Gottheiten des tibe-
tischen Pantheons übertragen sich deren höllische Aus-
strahlungen auf die Landschaften und das Himmels-
gewölbe und verwandeln alles in eine nature morte im
wahrsten Sinne des Wortes. Schwarze Wirbelstürme und
grünliche Giftdämpfe fegen über unfruchtbare Ebenen.
Dunkelrote Blitze durchzucken die Nacht und zerfetzte,
von Hexen als Reittier benutzte Wolken stürmen über
den pechschwarzen Himmel. Überall liegen Leichenteile
herum, an denen allerlei abstoßendes Raubtier nagt.

199
Der holländische Kulturpsychologe Fokke Sierksma
bezieht sich, um das Morbide in der tibetischen Mönchs-
kultur zu erklären, auf Sigmund Freuds These vom »Tode-
strieb« (Thanatos). Interessanterweise fällt dem berühm-
ten Psychoanalytiker bei der Beschreibung der nekrophi-
len Triebstruktur ein Vergleich mit dem Buddhismus ein,
wenn er sie unter anderem auf das »Nirvanaprinzip« zu-
rückführt. Darunter versteht er die allgemeine Sehnsucht
nach Inaktivität, Ruhe, Auflösung und Tod, die allem
Leben eingeboren sein soll. Darüber hinaus aber weist
nach Freud der Todestrieb auch eine konkrete sadistisch-
masochistische Komponente auf. Beide Haltungen sind
Ausdrucksformen von Aggression, die eine nach außen
hin gerichtet (Sadismus), die andere nach innen gewen-
det (Masochismus).

Der Ritualmord

Die aggressivste Form des externalisierten Todestriebes


ist der Mord. Er bleibt als letzte Tabuverletzung inner-
halb des tantrischen Musters noch zu untersuchen. Die
rituelle Tötung von Menschen, um die Götter zu versöh-
nen, ist eine heilige Handlung in vielen Religionen. Sol-
che Ritualopfer gehören keineswegs der Vergangenheit
an, sondern spielen auch heute noch, zum Beispiel in
den tantrischen Kali-Kulten Indiens, eine Rolle. Selbst
Kinder werden der grausamen Göttin auf ihren blutigen
Altären dargebracht. (* Time, August 1997, 18) Bei den
buddhistischen, speziell tibetischen Tantrikern sind sol-

200
che Gewalttaten nicht so offenkundig. Wir müssen also
mit aller Vorsicht die Frage stellen, ob auch hier ein ritu-
eller Mord Teil des Kultgeschehens sein kann.
Feststeht, daß alle Texte der Höchsten Tantraklasse ver-
bal zum Mord aufrufen. Der Adept, der bei dem Dhyani
Buddha Akshobya Zuflucht sucht, meditiert über die ver-
schiedenen Formen des Hasses bis hin zur aggressiven
Tötung. Selbstverständlich soll auch in diesem Fall ent-
sprechend dem »Gesetz der Umkehrung« eine Tabuver-
letzung in ihr Gegenteil, die Erlangung ewigen Lebens,
verwandelt werden. Wenn deswegen das Guhyasamaja-
Tantra den Adepten auffordert, er möge »alle leidenden
Wesen mit (seinem) geheimen Donnerkeil töten« (* Way-
man, 1977, 309), so geschieht das der Doktrin nach, um
sie vom Leiden zu befreien.
Als eine ehrenwerte Handlung wird es weiterhin ange-
sehen, die Welt von Menschen zu »erlösen«, von denen
ein Yogi weiß, daß sie in Zukunft gemeine Verbrechen
begehen werden. So tötete Padmasambhava, der Grün-
der des tibetischen Buddhismus, in seiner Jugend einen
Knaben, dessen kommende Schandtaten er voraussah.
Aber hinter den in den Tantras erwähnten Mordauf-
forderungen stehen nicht nur das reine Mitgefühl und
eine transformatorische Absicht, vor allem dann nicht,
wenn sie sich gegen die Feinde des Buddhismus richten.
Etwa in den Riten des Hevajra-Tantra : »Nachdem Du
Deine Absicht dem Guru und den vollendeten Wesen
(Buddhas) kundgetan hast«, heißt es dort, »führe den Tö-
tungsritus an einer Person durch, die nicht an die Leh-
ren des Buddhas glaubt, sowie an den Verleumdern der

201
Gurus und Buddhas. Man sollte eine solche Person in
seiner Imagination hervorbringen, ihre Form mit dem
Kopf nach unten visualisieren, wie sie Blut erbricht, zit-
tert und mit zerzausten Haaren. Dann stelle man sich
eine glühende Nadel vor, die in ihren Rücken eindringt.
Wenn Du dann die Ursilbe des Feuerelements in ihr Herz
hineinimaginierst, wird sie im selben Augenblick getö-
tet.« (* Farrow, 276) Auch im Guhyasamaja-Tantra wird
wie im Voudou-Zauber gelehrt, Abbilder des Gegners
herzustellen und diesem »mörderische« Verletzungen
beizufügen, welche sich dann in der Realität verwirk-
lichen : »Mit Kreide oder Kohle oder dergleichen zeich-
net man einen Mann oder eine Frau. Man projiziert in
die Hand eine Axt. Dann projiziert man, wie der Hals
durchgeschnitten ist.« (* Gäng, , 225) An anderer Stelle
wird der Feind verhext, vergiftet, versklavt oder paraly-
siert. Entsprechende Sätze gibt es im Kalachakra-Tantra.
Auch dort fordert man den Adepten auf, ein Wesen, das
die buddhistische Lehre verletzt hat, zu ermorden. Der
Text verlangt jedoch, daß dies mit Mitgefühl zu gesche-
hen habe. (* XIV Dalai Lama, 1985, 349)
Die Vernichtung von Gegnern durch magische Mittel
gehört zur Grundausbildung jedes tantrischen Adepten.
Aus dem Hevajra-Tantra erfahren wir zum Beispiel eine
Zauberformel, mit deren Hilfe den Soldaten einer feindli-
chen Armee auf einen Schlag alle Köpfe abgetrennt wer-
den. (* Farrow, 30) Dort steht auch geschrieben, wie ein
brennendes Fieber im Körper des Feindes hervorzurufen
ist und man ihn verdampfen läßt. (* Farrow, 31) Solche
magischen Tötungspraktiken waren – wie wir noch zei-

202
gen – keinesfalls Randerscheinungen in der tibetischen
Religionsgeschichte, sondern fanden Einlaß in die gro-
ße Politik der Dalai Lamas.
Selbst vor Titanen, Göttern und Buddhas macht der
Zerstörungswahn nicht halt. Im Gegenteil, durch die Ver-
nichtung der Höchsten Wesen absorbiert der Tantriker
deren Macht und wird zum Übergott. Auch hier geht es
manchmal sadistisch zu, wie zum Beispiel im Guhyasa-
maja-Tantra, wo die Ermordung eines Buddhas gefor-
dert wird : »Man tränkt ihn mit Blut, man tränkt ihn mit
Wasser, man tränkt ihn mit Kot und Urin, man wendet
ihn um, tritt auf sein Glied, dann wendet man den Kö-
nig des Zorns an. Ist dies achthundertmal erfüllt, zerfällt
auch ein Buddha ganz sicher.« (* Gäng, 219)
Um diesen Buddhamord effektiv durchzuführen, be-
schwört der Yogi ein ganzes Pandämonium, dessen gro-
tesker Auftritt einem Hieronymus Bosch als Bildvorla-
ge hätte dienen können : »Er projiziert die Bedrohung
durch Dämonen, durch vielfältige, rohe, grausige, zor-
nesharte. Dadurch stirbt selbst der Diamantenträger (der
höchste Buddha). Er projiziert, wie er von Eulen, Krä-
hen, von brünstigen Geiern mit langen Schnäbeln gefres-
sen wird. So wird sicher auch der Buddha zerstört. Eine
schwarze Schlange, eine überaus rohe, die den Furcht-
samen fürchten macht … Sie richtet sich auf, höher als
die Stirn. Gefressen von dieser Schlange wird sicher auch
der Buddha zerstört. Man läßt die Nöte und Plagen al-
ler Wesen in den zehn Richtungen auf den Feind fallen.
Das ist das Beste. Das ist die höchste Art der Beschwö-
rung.« (* Gäng, 230) Diese ist mit dem folgenden aggres-

203
siven Mantra zu bekräftigen : »Om, würge, würge, stehe,
stehe, binde, binde, erschlage, erschlage, brenne, bren-
ne, brülle, brülle, sprenge, sprenge die Führer aller Wid-
rigkeiten, Fürst der großen Schar, mach dem Leben ein
Ende.« (* Gäng, 230)
Eine besonders interessante Mordphantasie bege-
gnet uns in der bewußten Inszenierung des Ödipusdra-
mas, die eine Passage aus dem Candamaharosana-Tan-
tra fordert. Der Adept soll seinen Buddha-Vater Aksob-
hya mit dem Schwert umbringen, seiner Mutter Mamaki
das Fleisch des getöteten Vaters zu essen geben und an-
schließend mit ihr Sexualverkehr haben. (* George, 59 ;
Filliozat, 430)
Im Spektrum buddhistisch-tantrischer Tötungsprak-
tiken stellt der bewußt inszenierte »Freitod« des »Sie-
benmal Geborenen« eine Spezialität dar. Wir haben hier
einen siebenmal reinkarnierten Menschen vor uns, der
außergewöhnlich hohe charakterliche Qualitäten auf-
weist. Er spricht mit einer angenehmen Stimme, blickt
mit schönen Augen und verfügt über einen wohlriechen-
den und glänzenden Körper, der sieben Schatten wirft.
Nie zürnt er, und immer ist sein Sinn von unendlichem
Mitgefühl geprägt. Der Genuß vom Fleisch einer sol-
chen wundervollen Person hat die größten magischen
Auswirkungen.
Deswegen soll der Tantriker einem »Siebenmal Gebo-
renen« mit Blumen Verehrung darbringen und ihn dar-
um bitten, zum Wohle aller leidenden Wesen zu handeln.
Daraufhin wird dieser – so heißt es in den einschlägigen
Texten – ohne Zögern selbst sein Leben opfern. Anschlie-

204
ßend sind aus seinem Fleisch Pillen anzufertigen, deren
Verzehr unter anderem die Siddhis (Kräfte) des Luftwan-
delns verleihen. Solche Pillen sind in der Tat auch heute
noch im Umlauf. Ganz besonders begehrt ist das Herz-
blut, auch der Schädel des getöteten Heiligen besitzt ma-
gische Kräfte. (* Farrow, 142)
In Anbetracht der Suizidaufforderung an den »Sieben-
mal Geborenen« wird die zynische Struktur des tantri-
schen Systems besonders deutlich. Sein Fleisch ist des-
wegen so begehrt, weil er jene Unschuld aufweist, über
die der Tantriker aufgrund der Beschmutzung mit allen
Niedrigkeiten der Scheinwelt nicht mehr verfügt. Der
»Siebenmal Geborene« ist das krasse Gegenteil eines Adep­
ten, der sich mit den düsteren Kräften der Dämonie ein-
gelassen hat. Um sich durch das verklärte Fleisch eines
Unschuldigen zu transformieren, fordert der Yogi diesen
auf, sich bewußt selbst zu opfern. Und in der Tat – das
höhere Wesen ist so gütig, daß es auf diese Forderung
eingeht und danach seinen toten Körper zum sakralen
Verzehr freistellt.
Das Mysterium der Eucharistie, in dem das Fleisch und
das Blut Christi an seine Gläubigen verteilt wird, kommt
einem sogleich in den Sinn, und es ist nicht ausgeschlos-
sen, daß das tantrische Mahl eines »Siebenmal Gebo-
renen« eine buddhistische Paraphrasierung des christ-
lichen Abendmahles darstellt. (Die Tantras erscheinen
frühestens im 4. Jh. n. Chr.) Aber es gibt solche Selbst-
aufopferungsszenen auch schon im Mahayana-Buddhis-
mus. Im Sutra der Vollendeten Weisheit in Achttausend
Versen wird erzählt, wie der Bodhisattva Sadaprarudita

205
den eigenen Leib zerstückelt, um seinen Lehrer zu eh-
ren. Zuerst schlitzt er sich beide Arme auf, so daß das
Blut hinausfließt. Dann schneidet er sich das Fleisch von
den Beinen und bricht zuletzt seine Knochen, um auch
das Mark als Gabe anzubieten.
Man mag zu solch ekstatischen Selbstzerstückelungen
stehen, wie man will, sie demonstrieren im Mahayana
immer die heroische Tat eines ethisch hochstehenden
Wesens, das anderen helfen möchte. Dagegen zeigt das
zynische Opfer des »Siebenmal Geborenen« die Benut-
zung einer edlen und selbstlosen Gesinnung, um den
Machtinteressen des Tantrikers zu dienen. Angesichts sol-
cher niedriger Motive bezweifelt der Tibetforscher David
Snellgrove mit einigem Recht die unterstellte Opferbe-
reitschaft des Siebenmal Inkarnierten : »Stellte man ihm
nach und wartete, bis er starb, oder beschleunigte man
den Prozeß ? All diese Tantras beschreiben solch wütende
Riten des Abschlachtens, daß die zweite Alternative nicht
unwahrscheinlich ist …« (* Snellgrove, 1987, Bd. 1, 161)

Symbol und Realität

Ausgehend von Snellgroves Verdacht stellt sich die Fra-


ge, ob in den tantrischen Skripten die rituelle Ermor-
dung eines Menschen real oder nur symbolisch vorgese-
hen ist. Bei westlichen Interpreten der Tantras sind die
Meinungen geteilt. Frühe Forscher wie Austine Wad-
dell oder Albert Grünwedel gingen von einer buchstäb-
lichen Bedeutung der in den Texten beschriebenen Ri-

206
tuale aus und waren darüber entsetzt. Bei moderneren
Autoren, insbesondere wenn sie selber dem Buddhismus
angehören, ist es üblich, die »Verbrechen« des Vajraya-
na als allegorische Metaphern herunterzuspielen, wie
zum Beispiel Michael M. Broido oder Anagarika Govin-
da in ihren Publikationen. Diese entschärfte Sichtweise
wird heute von tibetischen Lamas, die weltweit im We-
sten lehren, aus leicht verständlichen Gründen dankbar
übernommen. Es befreit die Gurus von leidigen Ausein-
andersetzungen mit den ethischen Normen der Kultu-
ren, in denen sie sich nach ihrer Flucht aus Tibet nieder-
gelassen haben. Auch sie sehen sich jetzt dazu berufen,
die anstößigen Schattenseiten der Tantras in freundliche
Lichtseiten zu verwandeln : Unter »Menschenfleisch« sei
zum Beispiel das eigene unvollkommene Selbst zu ver-
stehen, welches der Yogi durch seine sakralen Prakti-
ken im übertragenen Sinne »verzehre«. »Töten« bedeute,
dem dualistischen Denken das Leben nehmen, um die
ursprüngliche Einheit mit dem Universum herzustellen
und so weiter. Aber es bleibt trotz solcher Euphemismen
ein unangenehmer Geschmack zurück, da die Aussagen
der Tantras so unmißverständlich und klar sind.
Eine Tatsache ist es auf jeden Fall, daß das gesamte tan-
trische Ritualwesen ohne Leichenteile nicht auskommt
und davon üppig Gebrauch macht. Die benutzten sa-
kralen Objets bestehen aus menschlichen Organen, aus
Fleisch und aus Knochen. Im Normalfall wurden und
werden diese wohl auf den öffentlichen Verbrennungs-
friedhöfen Indiens oder den Leichenfeldern in Tibet ge-
funden und eingesammelt.

207
Aber es gibt ernst zu nehmende Hinweise darauf, daß
bis hinein in unser Jahrhundert Tibeter aus Ritualgrün-
den ihr Leben lassen mußten. Schon die Blauen Annalen
(14. Jahrhundert), ein Grundlagenwerk zur Geschichte
des tibetischen Buddhismus, berichten darüber, wie in Ti-
bet die sogenannten »18 Raubmönche« Männer und Frau-
en für ihre tantrischen Zeremonien schlachteten. (* Blue
Annals, 697) Der Engländer Sir Charles Bell besuchte in
den 30er Jahren an der buthanesisch-tibetischen Gren-
ze eine Stupa, in der sich die rituell getöteten Körper ei-
nes achtjährigen Knaben und eines gleichaltrigen Mäd-
chens befanden. (* Bell, 1927, 80) Aus den 50er Jahren
stammen Zeugnisse über Menschenopfer im Himalaya
von dem amerikanischen Anthropologen Robert Ekvall.
(* Ekvall, 165–166, 169, 172)
Häufig und mit Nachdruck erwähnen die Chinesen in
ihrer Kritik am Lamaismus solche rituellen Tötungsprak-
tiken, die bis zur sogenannten »Befreiung« des Landes,
also bis Ende der 50er Jahre, verbreitet seien. Ihnen zu-
folge wurden im Jahre 1948 von staatlichen Opferprie-
stern aus Lhasa bei einem Ritual zur Feindvernichtung
21 Personen ermordet, weil man deren Organe als ma-
gische Ingredienzen benötigte. (* Grunfeld, 29) Anstatt
solche Aussagen von vornherein als wüste kommuni-
stische Propaganda abzutun, legt es der ursprüngliche
Geist der Tantratexte nahe, sie unvoreingenommen und
gewissenhaft nachzuprüfen.
Die morbiden Ritualgegenstände, die im von den Chi-
nesen eingerichteten Tibetischen Revolutionsmuseum von
Lhasa ausliegen, lassen einen jedenfalls das Grauen ler-

208
nen : präparierte Schädel, mumifizierte Hände, Rosen-
kränze aus Menschenknochen, zehn Trompeten aus den
Oberschenkelknochen 16jähriger Mädchen und so weiter.
Unter den Museumsstücken befindet sich auch ein Do-
kument mit dem Siegel des Dalai Lama (XIII oder XIV ?),
wo dieser die Abgabe von Menschenköpfen, von Blut,
Fleisch, Fett, Eingeweiden und rechten Händen, ebenso
wie die abgezogene Haut von Kindern, das Menstrual-
blut einer Witwe und Steine, mit denen Menschenschä-
del eingeschlagen wurden, zur »Stärkung der Heiligen
Ordnung« einfordert. (* Epstein, 138) Weiterhin ist dort
ein kleines Paket mit abgeschnittenen und präparier-
ten männlichen Geschlechtsteilen zu sehen, die man zur
Durchführung bestimmter Rituale benötigte, sowie der
verkohlte Körper einer jungen Frau, die als Hexe ver-
brannt worden war. Würden die Tantratexte nicht sel-
ber solche makabren Requisiten erwähnen, dann käme
man gar nicht auf die Idee, diese Demonstration religi-
öser Gewalt ernst zu nehmen.
Daß die Chinesen mit ihren Anklagen gegen tantrische
Exzesse gar nicht so falsch liegen, beweist ein vor kurzem
begangener brutaler Mord an drei Lamas, der die exilti-
betische Community in Dharamsala zutiefst erschütter-
te. Am 4. Februar 1997 fand man, nur wenige Meter von
der Residenz des XIV Dalai Lama entfernt, die ermorde-
ten Leichen des 70jährigen Lamas Lobsang Gyatso, Leiter
der buddhistisch-dialektischen Schule, und zwei seiner
Schüler. Die Mörder hatten ihre Opfer mit zahlreichen
Messerstichen niedergestochen, man schnitt ihnen die
Kehle durch und zog ihnen nach Presseberichten Teile

209
der Haut vom Körper. (* Süddeutsche Zeitung, 1997, Nr.
158, 10) Alle Beobachter und Kommentatoren des Falles
waren sich darüber einig, daß es sich hierbei um einen
Ritualmord handelte. Auf die realen und symbolischen
Hintergründe und politischen Implikationen der Ereig-
nisse vom 4. Februar gehen wir im zweiten Teil unserer
Analyse ausführlich ein.
Für die wirkliche Inszenierung einer Tötung während
eines tantrischen Rituals spricht auf jeden Fall die höch-
ste Anforderung, welche der Yogi an sich stellen muß,
damit er das »real« begangene »Verbrechen« als eine Il-
lusion entlarven kann. Letztendlich führt die Vorstel-
lung, daß alles nur Schein sei und keine eigene Existenz
habe, zu einer Gleichgültigkeit gegenüber der Frage, ob
ein Mord real oder »nur« allegorisch ist. Demnach ist
in der Welt des Vajrayana alles ebenso »wirklich« wie
»symbolisch«. »Wir berühren Symbole, wenn wir Kör-
per und materielle Gegenstände zu berühren meinen«,
schreibt Octavio Paz mit einem Blick auf den Tantris-
mus. »Und umgekehrt : dem Gesetz der Umkehrbarkeit
zufolge sind alle Symbole wirklich und berührbar, die
Ideen und selbst das Nichts hat einen Geschmack. Es ist
gleich, ob das Verbrechen wirklich oder symbolisch ist :
Wirklichkeit und Symbol verschmelzen, und indem sie
verschmelzen, lösen sie sich auf.« (* Paz, 91, 92)

210
Die Übereinstimmung mit dem Dämonischen

Die Exzesse des Tantrismus werden dadurch legitimiert,


daß der Yogi in der Lage sei, durch seine spirituellen
Techniken das Böse in das Gute zu verwandeln. Dieser
maßlose Versuch läßt jedoch die Befürchtung aufkom-
men, ob denn der Adept in der Tat die Kraft hat, allen
Verlockungen des »Teufels« zu widerstehen ? Das »Ge-
setz der Umkehrung« führt ja in der ersten Phase immer
zu einer »Übereinstimmung mit dem Dämonischen«
und sieht die Begegnung mit dem »Teufel« geradezu als
eine Zulassungsprüfung für den Erleuchtungsweg. Kei-
ne andere Strömung innerhalb der Weltreligionen ge-
steht deswegen dem Dämon und seiner Gefolgschaft ei-
nen so hohen Rang zu wie der Vajrayana.
In der bilderwütigen Ikonographie Tibets wimmelt es
nur so von furchtbaren Gottheiten (Herukas) und roten
Henkern. Wenn man es wagt, blickt man in entstellte Ge-
sichter, haßerfüllte Fratzen, blutunterlaufene Augen, her-
vorstehende Eckzähne. Höhnisches Lachen läßt einen er-
schauern – furchtbar und wunderbar zugleich, wie in ei-
nem orientalischen Märchen. Umflattert von Raben und
Eulen, umschlungen von Schlangen und Tierfellen tragen
die männlichen und weiblichen Monstergötter Schlacht-
beile, Schwerter, Spieße und andere mörderische Kult-
symbole in den Händen, jeden Augenblick bereit, ihr Ge-
genüber in tausend Stücke zu schneiden.
Auch die sogenannten »Totenbücher« und andere Ri-
tualtexte sind Fundgruben für alle möglichen Arten

211
von Zombies, Menschenfressern, Gespenstern, Ghulen,
Erinnyen und Satanen. Im Guhyasamaja-Tantra wird die
Übereinstimmung der Buddhas mit dem Dämonischen
und Bösen explizit zum Programm erhoben : »Ständig
essen sie Blut und Fleischfetzen … Verrat trinken sie
wie Milch … Schädel, Knochen, Räucherwerk, Öl und
Fett machen große Freude.« (* Gäng, 259, 260) Die bud-
dhistischen Götter lassen in dieser Schrift ihren aggres-
siven Destruktionsphantasien freien Lauf : »Zerschnei-
de, zerschneide, trenne, trenne, schlage, schlage, brenne,
brenne«, fordern sie mit wütender Stimme den Initianten
auf. (* Gäng, 220) Man könnte glauben, dem ursprüngli-
chen Chaos zu begegnen. Solche Horrorvisionen begeg-
nen nicht nur dem tantrischen Adepten. Sie erscheinen
– nach tibetisch-buddhistischer Tradition – auch jedem
normalen Menschen, manchmal schon im irdischen Le-
ben, immer aber nach dem Tode. Jeder Verstorbene, es
sei denn, er ist schon erleuchtet, muß nach seinem Able-
ben einen Zwischenzustand (Bardo) durchlaufen, in dem
ihn Scharen von Teufeln sadistisch quälen und hinters
Licht führen wollen. Wie im christlichen Mittelalter, so
schwelgt auch die tibetische Mönchsphantasie in uner-
träglichen Höllenbildern. Nicht einmal einem Bodhisatt-
va soll es erlaubt sein, einem Menschen aus der Vajra-
Hölle zu helfen. (* Trungpa, 1992, 68)
Auch hier möchten wir, um auf die anachronistisch-
qualvolle Weltsicht des tantrischen Buddhismus hinzu-
weisen, mit einer längeren Beschreibung aufwarten : »Die
Seelen werden in großen Kesseln gesotten, stecken in eiser-
nen, von Flammen umgebenen Kasten, tauchen in Eiswas-

212
ser und Eishöhlen, waten durch Feuerströme oder Sümp-
fe mit giftigen Nattern. Einige werden von dämonischen
Henkern zersägt, andere mit glühenden Zangen gezwickt,
von Gewürm benagt, oder irren durch einen Wald, des-
sen Laub aus scharfen Dolchen und Schwertern besteht.
Den Lästerern der Lehre wächst die Zunge so groß wie
ein Ackerfeld aus dem Leib, und die Teufel pflügen dar-
auf. Die Heuchler werden durch riesige Lasten von Heili-
gen Büchern und Reliquientürmen zerquetscht.« (* Bleich-
steiner, 224) Insgesamt zählt man 18 verschiedene Höllen,
eine grausamer als die andere. Allen voran sind diejeni-
gen »Sünder« von den brutalsten Strafen betroffen, die ge-
gen Regeln des Vajrayana verstoßen haben. Ihnen werden
»Kopf und Herz zerspringen«. (* Henss, 46)
Daß sich solche Angstbilder und Horrorvisionen
auch einen Zugang in die soziale Realität verschafft ha-
ben, zeigt ein Blick auf das alte tibetische Kriminalrecht.
Dessen Foltermethoden und raffinierte Strafarten stan-
den in nichts hinter den heute allerorten angepranger-
ten chinesischen Grausamkeiten zurück : Zum Beispiel
wurden Dieben beide Hände verstümmelt, indem man
sie in mit Salz gefüllte Lederbeutel einschloß. Das Am-
putieren von Gliedern und blutige Auspeitschungen auf
den öffentlichen Plätzen Lhasas, bewußt inszenierte Er-
frierungen, Anketten, Einsperren in ein Joch und vie-
le andere »mittelalterliche« Peinigungen zählten zu den
Strafmaßnahmen bis hinein ins 20. Jahrhundert. Mit Ab-
scheu und Schauder berichten westliche Reisende von den
dunklen und feuchten Verließen des Potala, des Amts-
sitzes der Dalai Lamas.

213
Dieser vertraute Umgang mit dem Höllenspektakel
von einer Religion, die Liebe und Freundlichkeit, Friede
und Mitgefühl auf ihre Fahnen geschrieben hat, wirkt
für einen Außenstehenden befremdend. Nur die Para-
doxie der Tantras und die Madhyamika-Philosophie (die
Doktrin von der ›Leerheit‹ alles Seienden) läßt das ra-
sante Wechselspiel von Himmel und Hölle zu, das die
tibetische Kultur auszeichnet. »Da alles reine Illusion ist,
muß das auch für die Dämonenwelten gelten«, wird je-
der Lama, wenn man ihn fragt, angesichts des Teufels-
spuks antworten. Er wird darauf hinweisen, daß es die
ethische Aufgabe des Buddhismus sei, den Menschen
von dieser Welt des Horrors zu befreien. Aber erst, wenn
er mutig dem Dämon ins Auge geblickt habe, könne er
ihn als Schein oder als eine Spukgestalt des eigenen Be-
wußtseins entlarven.
Dennoch ist die obsessive und ununterbrochene Be-
schäftigung mit dem Schrecklichen aus solch therapeu-
tischen Absichten und philosophischen Spekulationen
schwer verständlich. Die Dämonie hat in der tibetischen
Kultur einen erschreckend hohen Eigenwert erhalten, der
alle gesellschaftlichen Bereiche beeinflußt, und kann auf
eine lückenlose Tradition verweisen. Als Padmasamb-
hava im 8. Jahrhundert Tibet buddhisierte – so berich-
tet die Sage –, stellten sich ihm zahlreiche einheimische
vorbuddhistische Teufel und Teufelinnen entgegen, die er
alle durch seine magische Kunstfertigkeit besiegte. Aber
trotz seines Sieges tötete er sie niemals, sondern er ließ
sie schwören, in Zukunft dem Buddhismus als Schützer
(Dharmapalas) zu dienen.

214
Warum – so müssen wir uns fragen – wurden die-
se wutschnaubenden Horden durch das tantrische »Ge-
setz der Umkehrung« nicht in eine Versammlung fried-
liebender und anmutiger Wesen verwandelt ? Wäre es
nicht sinnvoll gewesen, daß sie jetzt ihren aggressiven
Charakter aufgegeben hätten, um ein friedvolles und lei-
denschaftsloses Leben im Sinne des Buddha Shakyamu-
ni zu führen ? Das Gegenteil war der Fall – die neu »er-
worbenen« buddhistische Schutzgötter (Dharmapalas)
hatten nicht nur die Möglichkeit, sondern die Pflicht,
ihre angestammte Aggressivität voll auszuleben. Diese
wurde sogar noch um ein Vielfaches gesteigert, aber sie
richtete sich nicht mehr wie vorher gegen rechtgläubige
Buddhisten, sondern zermalmte die »Feinde der Lehre«.
Das atavistische Pandämonium des vorbuddhistischen
Schneelandes überlebte als eine machtvolle Fraktion in-
nerhalb des tantrischen Pantheons, und weil der Schrec-
ken allgemein eine größere Faszinationskraft ausübt als
eine »langweilige« Friedensvision, bestimmte er zutiefst
das tibetische Kulturleben.
Ständig und noch immer glauben sich viele Tibeter, un-
ter ihnen – wie wir noch sehen werden – auch der XIV
Dalai Lama, von teuflischen Mächten bedroht und sind
damit beschäftigt, die dunklen Gewalten mit Hilfe von
Magie, Bittgebeten und liturgischen Techniken zurück-
zuweisen, aber auch in ihren Dienst zu stellen, was – ne-
benbei bemerkt – zu einer beträchtlichen Einnahmequel-
le für die professionellen Exorzisten unter den Lamas ge-
führt hat. Direkt neben diesem unterweltlichen Abgrund
erhebt sich – zumindest in der Imagination – eine mysti-

215
sche Zitadelle des reinen Friedens und der ewigen Ruhe,
von denen in den Heiligen Schriften so oft die Rede ist.
Beide Visionen – die des Schreckens und die der Glück-
seligkeit – ergänzen einander und werden vom Tantris-
mus in einen »theologischen« Ursachenzusammenhang
gebracht, der besagt, daß die Himmel nur nach einer Höl-
lenfahrt betreten werden dürfen.
Fokke Sierksma vermutet in seiner psychoanalyti-
schen Studie über die tibetische Kultur, daß die chro-
nische Angst vor teuflischen Angriffen von den Lamas
zur Aufrechterhaltung ihrer Macht verbreitet wurde und
sich darüber hinaus mit einer sadomasochistischen Lust
am Makabren und Aggressiven vermischte. Diese unter
den Mönchen weit verbreitete Freude am Grauen recht-
fertigte sich unter anderem aus der Tatsache, daß – wie
in den Tantratexten zu lesen ist – selbst die Höchsten
Buddhas die Gestalt grausamer Götter (Herukas) anneh-
men können, um brüllend und haßerfüllt alles kurz und
klein zu schlagen.
Heutzutage lächelt man über die Beobachtungen des
Briten Austine Waddells, der in seinem 1899 erschiene-
nen berühmten Buch The Buddhism in Tibet auf die all-
gemeine Furcht aufmerksam machte, die damals jeden
Teil des religiösen Lebens in Tibet beherrschte : »Immer
wieder mußte man die Mönchspriester rufen, um die dro-
henden Teufel zu beruhigen, deren heißhungriger Appe-
tit durch das Fressen, das ihn stillen sollte, noch mehr
gereizt wurde.« (* zit. b. Sierksma, 164) Waddells Hor-
rorbilder hat jedoch einige Jahrzehnte später der Tibe-
tologe Guiseppe Tucci, dessen wissenschaftliche Serio-

216
sität keiner in Frage stellen kann, bestätigt : »Das ganze
spirituelle Leben des Tibeters«, schreibt der Italiener, »ist
bestimmt von einer permanenten Verteidigungshaltung,
durch die ständige Anstrengung, die Kräfte, vor denen
er sich fürchtet, zu beruhigen und sich günstig zu stim-
men.« (* Grunfeld, 26)
Aber wir brauchen uns keineswegs, um die dämonische
Ausrichtung des Tantrismus zu demonstrieren, auf west-
liche Interpreten zu berufen, sondern können uns selber
einen Einblick davon verschaffen. Schon eine flüchtige
Betrachtung der gewalttätigen tantrischen Ikonographie
bestätigt, daß der Horror ein bestimmender Teil der Dok-
trin ist. Weshalb kämpfen auf den Thangkas die »gött-
lichen« Dämonen nur ganz selten gegen ihresgleichen,
sondern metzeln fast ausschließlich Menschen, Frauen,
Männer und Kinder nieder ? Was bewegt den »friedlie-
benden« Dalai Lama dazu, sich ein wahnsinniges Weib
mit dem Namen Palden Lhamo als primäre Schutzgott-
heit auszusuchen, das Tag und Nacht durch einen kochen-
den Blutsee reitet ? Dabei sitzt die Schreckensgöttin auf
einem Sattel, der von ihr höchstpersönlich aus der Haut
des eigenen Sohnes gefertigt wurde. Sie ermordete diesen
kaltblütig, weil er sich weigerte, den Weg seiner bekehr-
ten Mutter zu teilen und Buddhist zu werden. Warum –
so müssen wir uns weiter fragen – erfährt der militante
Kriegsgott Begtse seit Jahrhunderten in den tibetischen
Klöstern aller Sekten eine hohe Verehrung ?
Man könnte nun glauben, daß sich diese »Vertraut-
heit mit dem Dämonischen« am Ende des 20. Jh. un-
ter den als »weltoffen« gepriesenen Exiltibetern geändert

217
habe. Leider zeigen uns viele Ereignisse, auf die wir im
zweiten Teil unserer Studie noch zu sprechen kommen,
in ganz besonderem Maße aber der jüngste, schon er-
wähnte Ritualmord vom 4. Februar 1997 in Dharamsala,
daß die Höllentore keineswegs geschlossen sind. Die Tä-
ter handelten – nach bisherigen Berichten – im Auftrag
des aggressiven Schutzgeistes Dorje Shugden. Selbst der
XIV Dalai Lama gestand diesem Dharmapala (Schutz-
gott) die Macht zu, sein Leben zu bedrohen und ihn mit
magischen Mittel zu verzaubern.
Was dem Schrecken recht ist, das ist dem Tod billig. Im
Tantrismus gilt der Tod zwar als ein Bewußtseinszustand,
der überwunden werden kann, aber in der tibetischen
Kultur (die auch nicht-tantrische Elemente integriert hat)
gewinnt er ebenso wie die Dämonen ein üppiges »Eigen-
leben« und genießt eine allgemeine Kultverehrung. Er
steht dort – wie wir noch oft zeigen werden – im Zen-
trum zahlreicher makabrer Riten. Sigmund Freuds pro-
blematische Formel : »Das Ziel allen Lebens ist der Tod«
– kann nach unserer Sicht als Leitmotiv dem Lamaismus
vorangestellt werden.

Die Aggressivität des göttlichen Paares

Trifft nun diese Ikonographie des Schreckens auch auf


das Göttliche Paar zu, das im Mittelpunkt der tantri-
schen Rituale seine Verehrung genießt ? Ausgehend von
der oben geschilderten Apotheose der mystischen Ge-
schlechterliebe als der Aufhebung aller Gegensätze,

218
als schöpferische Polarität, als der Ursprung der Spra-
che, der Götter, der Zeit, des Mitgefühls, der Leere und
des weißen Lichts sollten wir eigentlich annehmen, daß
das Paar Frieden, Harmonie, Eintracht und Freude aus-
strahlt. In der Tat gibt es im Tantrismus solche glück-
seligen Liebesdarstellungen von Gott und Göttin. Ins-
besondere ist in diesem Zusammenhang der in der
Nyingmapa-Schule hochverehrte Urbuddha Samantab-
hadra zu erwähnen, der nackt im Meditationssitz und
ohne irgendwelche Ritualgegenstände in den Händen,
seine ebenfalls unbekleidete Partnerin Samantabhadri
umarmt. In dieser reinen Nacktheit der Liebenden zeigt
sich eine machtvolle Vision, welche die ansonsten üb-
liche patriarchale Herrschaftsbeziehung zwischen den
Geschlechtern durchbricht. Alle anderen Abbildungen
der Buddhas mit ihren Gefährtinnen drücken dagegen
eine androzentrische Hierarchie durch die ihnen zuge-
ordneten Symbolgegenstände aus. 13
Friedvolle Bilder des Göttlichen Paares sind jedoch in
den Höchsten Tantras die Ausnahmen und keineswegs
die Regel. Der größte Teil der Yab-Yum-Darstellungen
zählt zum Heruka-Typus, das heißt, sie zeigen Paare in

13 In der üblichen Yab-Yum-Darstellung der Dhyani Buddhas


kreuzt die männliche Buddhagestalt immer hinter dem Rücken
seiner Weisheitsgefährtin die beiden Arme und bildet die so-
genannte Vajrahumkara-Geste. Dabei hält er in seiner rechten
Hand einen Vajra (das höchste Symbol der Männlichkeit) und
in seiner Linken einen Gantha (das höchste Symbol der Weib-
lichkeit). Der symbolische Gehalt der beiden Ritualgegenstände
weist ihn als den Herrn beider Geschlechter aus. Er ist der An-
drogyn, und die Prajna ist Teil seiner selbst.

219
zornigen, destruktiven und gewaltsamen Positionen. Al-
len voran der Buddha Hevajra und seine Gefährtin Nai-
ratmya. Umgeben von acht »brennenden« Dakinis führt
er einen bizarren Höllentanz auf und ist so berauscht
vom Todestrieb, daß er je eine Schädelschale in seinen
sechzehn Händen hält, in denen sich Götter, Menschen
und Tiere als Opfer befinden. Nairatmya schwingt dro-
hend in der Rechten ein Hackmesser. Raktiamari, Yama-
taka, Cakrasamvara, Vajrakila oder wie immer die Paar-
gruppierungen in den anderen Tantras heißen mögen,
alle zeigen dieselbe markante Mischung aus Aggressivi-
tät, Thanatos und Eros.
Ebenso zählt der Zeitgott Kalachakra zum Herukaty-
pus. Seine Wildheit wird durch vampireske Fangzähne
und emporstehendes Haar unterstrichen. Auch das Ti-
gerfell, welches die Hüften bedeckt, signalisiert seinen
aggressiven Charakter. Zwei seiner vier Gesichter sind
nicht friedvoll, sondern drücken Gier und Zorn aus. Vor
allem aber wird die destruktive Haltung durch die Sym-
bole, welche der »Herr über die Zeit« in seinen vierund-
zwanzig Händen hält, betont. Davon sind sechs friedli-
cher und 18 kriegerischer Natur. Zu den letzteren zählen
Vajra, Vajra-Haken, Schwert, Dreizack, Hackmesser, Da-
maru (Trommel aus zwei Schädelschalen), Rapala (Ge-
fäß aus einem Menschenschädel), Khatvanga (eine Art
Zepter, dessen Spitze drei abgeschlagene Menschenköp-
fe zieren), Axt, Diskus, Rute, Schild, Ankusha (Elefan-
tenhaken), Pfeil, Bogen, Schlinge, Gebetskette aus Men-
schenknochen so wie das abgeschlagene Haupt Brahmas.
Die friedfertigen Symbole sind : Juwel, Lotus, weiße Mu-

220
Kalachakra und Vishvamata und die ihnen
zugeordneten Symbolgegenstände

schel, Triratna (Dreierjuwel) und Feuer, insoweit es nicht


zerstörerisch genutzt wird. Als letztes ist noch die Gloc-
ke zu nennen.
Auch seine Gefährtin Vishvamata macht keinen pazi-
fistischen Eindruck. Von den acht Symbolgegenständen,
die sie in ihren acht Händen hält, sind sechs aggressiv
oder morbid, nur zwei, der Lotus und das dreifache Ju-
wel, verweisen auf Glück und Wohlbefinden. Zu ihren

221
magischen Abwehrwaffen zählen Hackmesser, Vajra-Ha-
ken, eine Trommel aus Menschenschädeln, Schädelscha-
le gefüllt mit heißem Blut und eine Gebetskette aus Men-
schenknochen. Um ihre Beherrschung durch das andro-
zentrische Prinzip kundzutun, tragen ihre vier Köpfe eine
Krone, die aus einer kleinen Figur besteht, welche den
männlichen Dhyani Buddha Vajrasattva darstellt. Soweit
die Gesichtszüge der Zeitgöttin zu erkennen sind, drüc-
ken sie vor allem sexuelle Gier aus.
Beide Hauptgottheiten, Kalachakra und Vishvamata,
vereinigen sich stehend im sogenannten Ausfallschritt,
der Angriffslust und Kampfbereitschaft andeuten soll.
Den Untergrund bilden vier Kissen. Zwei davon sym-
bolisieren Sonne und Mond, die anderen beiden die ima-
ginären Planeten Rahu und Kaligni. Rahu gilt als der
Verschlinger beider Himmelslichter und spielt innerhalb
des Kalachakra-Rituals eine ebenso markante Rolle wie
Kaligni, das Endzeitfeuer, das die Welt durch Flammen
vernichtet. Die zwei Planeten sind also von äußerst an-
griffslustiger und destruktiver Natur. Unter den Füßen
des Zeitpaares werden bezeichnenderweise zwei hindui-
stische Götter, der rote Liebesgott Kama und der weiße
Schreckensgott Rudra, zertrampelt. Vergeblich versuchen
ihre beiden Partnerinnen Rati und Urna sie zu retten.
Somit ist das gesamte Szenario des Kalachakra-Tantras
kriegerisch, provokant, morbid und hitzig. Man hat bei
der Betrachtung seiner Ikonographie ständig das Gefühl,
Zuschauer eines Gemetzels zu sein. Dagegen hilft auch
nicht, wenn die vielen Kommentare immer wieder be-
tonen, daß aggressive Ritualgegenstände, kämpferische

222
Körperhaltungen, wütende Ausdrucksformen und zor-
nige Handlungen notwendig seien, um Hindernisse, wel-
che der eigenen Erleuchtung im Wege stehen, zu besiegen.
Auch die Beteuerungen, daß Buddhas Zorn durch Bud-
dhas Liebe kompensiert werde und daß all dieses Grau-
en zum Wohle leidender Wesen geschehe, überzeugen
nicht angesichts der krankhaften Zwanghaftigkeit, mit
der die Tantriker den Schrecken durch den Schrecken
zu vertreiben suchen.
Die Aggressivität der beiden Partner in den Tantras
bleibt ein Rätsel. Sie wird unseres Wissens nirgends
offen diskutiert, sondern stillschweigend hingenom-
men. In den Höchsten Tantras können wir geradezu
von dem Grundsatz ausgehen, daß das Liebespaar als
das zornig-kriegerische und bewegte Element durch ei-
nen friedlichen und unbewegten Buddha im Medita-
tionssitz kontrapunktiert ist. Man hat angesichts die-
ser Ikonographie den Eindruck, daß der Vajra-Meister
eine heiße und aggressive Sexualität bevorzugt, um den
Transformationsprozeß von Eros in Macht zu bewerk-
stelligen. Vielleicht liegt der niederländische Psycho-
loge Fokke Sierksma nicht so falsch, wenn er die tan-
trische Performance als »sadomasochistisch« bezeich-
net, wobei die sadistische Rolle vor allem vom Mann
gespielt wird, während die Frau beide Triebstrukturen
zusammen aufweist. Jedenfalls scheint eine durch »hei-
ßen Sex« freigesetzte Energie ein besonders begehrter
Stoff für die »alchemistischen« Verwandlungsspiele des
Yogis zu sein, auf die wir im Laufe unserer Studie noch
detailliert eingehen werden.

223
Die Poesie und Schönheit der mystischen Geschlech-
terliebe drückt sich in den Worten der Höchsten Tan-
tratexte weit häufiger (wenn auch keineswegs durchgän-
gig) aus als in der bildlichen Darstellung einer morbiden
tantrischen Erotik. Das paßt irgendwie nicht zusammen.
Da am Ende des sexualmagischen Rituals das männli-
che Prinzip alleine übrig bleibt, könnten die verbalen
Lobpreisungen der Göttin, der Schönheit und der Liebe
auch Manipulationen sein, um die Hingabe einer Frau
hervorzuzaubern. Eingedenk, daß die Methode (Upaya)
des Yogis auch mit »Trick« übersetzt werden kann, dür-
fen wir eine solche Möglichkeit nicht ausschließen.

Die westliche Kritik

Angesichts des unverdeckten Gewaltpotentials und der


offenkundigen Machtobsessionen im tantrischen Bud-
dhismus ist es unverständlich, daß sich auch bei vielen
westlichen Autoren und einem großen Publikum die
Vorstellung verbreitet hat, der Vajrayana sei eine Reli-
gionsausübung, die ausschließlich den Frieden fördere.
Dies erscheint um so abwegiger, als das gesamte System
seine eigene Destruktivität keineswegs leugnet und aus
dem Ausreizen von Extremen seine ganze Kraft zieht.
Angesichts solcher Ungereimtheiten projizieren einige
eifrige Interpreten der Tantras die buddhistischen Ge-
waltphantasien nach außen, indem sie den Hinduismus
und den Westen für Aggressivität und Machtgier ver-
antwortlich machen.

224
Der aus Deutschland stammende Tibetologe Herbert
Guenther (geb. 1917) zum Beispiel, der schon seit den
60er Jahren darum bemüht ist, den Vajrayana in Europa
und Amerika philosophisch hoffähig zu machen, greift
die abendländische und hinduistische Kultur mit schar-
fen Worten an : »Diese rein hinduistische Mentalität der
Macht, die der westlichen Psychologie der Vorherrschaft
gleicht, wurde verallgemeinert und auf alle Formen des
Tantrismus von Schriftstellern angewandt, die nicht sa-
hen oder durch ihre starke Verhaftung an die Psycholo-
gie der Macht nicht verstehen konnten, daß das Verlan-
gen nach Verwirklichung des Seins nicht das gleiche ist,
wie das Verlangen nach Macht.« (* Guenther, 1974, 100)
Im Westen werde die sakrale Erotik des Buddhismus völ-
lig mißverstanden und als sexuelles Vergnügen oder als
Ausbeutung gedeutet. »Der Gebrauch der Geschlechtlich-
keit als Werkzeug der Macht zerstört ihre Funktion«, be-
lehrt uns der Autor und fährt fort : »Der buddhistische
Tantrismus verzichtet auf die Vorstellung von Macht, in
der er einen Überrest von subjektiver Philosophie sieht,
und überschreitet sogar das bloße Vergnügen zur Freude
des Seins und der Erleuchtung hin, die ohne Frau nicht
zu erlangen ist.« (* Guenther, 1974, 105)
Noch mehr hat sich Anagarika Govinda (1898–1985),
ebenfalls ein zum Buddhismus konvertierter Deutscher
mit dem ursprünglichen Namen Ernst Lothar Hoff-
mann und nach eigenem Glauben eine Inkarnation des
deutschen Romantikers Novalis, darum bemüht, einen
Machtanspruch im tibetischen Buddhismus zu leugnen.
Er hat sogar – zieht man die Auflagenhöhe seiner Bü-

225
cher in Betracht – den offensichtlich sehr erfolgreichen
Versuch unternommen, den Vajrayana von der sakralen
Sexualität zu säubern und als reine, geistige Weisheits-
schule darzustellen.
Auch Govinda schiebt den Hindus alles Schlechte an
den Tantras in die Schuhe. Shakti – so der deutsche Lama
– bedeute Macht. »Mit Shakti vereint, sei voller Macht !«
heiße es in einem Hindu-Tantra. (* Govinda, 1991, 106)
»Der Begriff der Shakti, der göttlichen Macht«, fährt der
Autor fort, »spielt im Buddhismus überhaupt keine Rol-
le. Während im tantrischen Hinduismus der Begriff der
Macht im Mittelpunkt des Interesses steht.« (* Govinda,
1991, 105) Der tibetische Yogi sei frei von allen Sexual-
und Machtphantasien, erfahren wir weiter. Er vereinige
sich allein mit dem »Ewig-Weiblichen«, dem Symbol für
»Gefühl, Liebe, Herz und Mitleid«. »In diesem Zustand
gibt es nichts ›Sexuelles‹ mehr im hergebrachten Sinne
dieses Wortes …« (* Govinda, 1991, in)
Noch seltsamer erscheint jedoch die feministische
Kritik am Vajrayana, die Miranda Shaw in ihrem 1994
erschienenen Buch über Frauen im tantrischen Buddhis-
mus vorgelegt hat. Unter Berufung auf Herbert Guen-
ther beurteilt auch sie die Auffassung der Autoren, die
den Tantrismus als eine sexuelle und spirituelle Aus-
beutung der Frau entlarven, als ein Manöver »westlicher
Machtpsychologie«. Diese »androzentrischen« Wissen-
schaftler würden ein tief in die abendländische Kultur
eingefahrenes Vorurteil wiederholen, das besage, Män-
ner seien immer aktiv, Frauen dagegen passive Opfer ;
Männer seien machtbewußt, Frauen machtlos ; Män-

226
ner wären durch den Intellekt geprägt, Frauen durch
das Gefühl. Es werde suggeriert, Frauen hätten nicht
die Fähigkeit, tantrischen Yoga zu praktizieren. (* Shaw,
1994, 9)
Kein Wunder, daß die »militante Tantrikerin« Miran-
da Shaw so argumentiert, denn von der ersten bis zur
letzten Zeile versucht sie in ihrem engagierten Buch den
Beweis zu erbringen, daß Frauen den großen Gurus und
Maha Siddhas in nichts nachstünden. Die neben der nicht
mehr zählbaren Ansammlung tantrischer Meister mager
anmutende Zahl von »Yoginis«, welche die Geschichte
des Vajrayana zu verzeichnen hat, wird von der Autorin
zu einer spirituellen, weiblichen Superelite hochstilisiert.
Die Frauen aus der Gründungsphase des Tantrismus –
so erfahren wir – hätten nicht nur gleichberechtigt mit
ihren männlichen Partnern zusammengearbeitet, son-
dern wären ihnen in ihrem Mysterienwissen bei weitem
überlegen gewesen. Sie seien die eigentlichen Meisterin-
nen und ihnen verdanke der tantrische Buddhismus ge-
radezu seine Existenz. Dieser radikal-feministische Ver-
such, den Tantrismus als ein ursprünglich matriarchales
Kultgeschehen zu deuten, ist jedoch nicht ganz ohne Be-
rechtigung. Gehen wir kurz seinen Spuren nach.

Reiner Shaktismus und tantrischer Feminismus

Um die »theologischen« Absichten des Vajrayana, um


seine Ikonographie und seine Psychologie zu verstehen,
ist es von großem Wert, einen Vergleich mit den matri-

227
archalen und gynozentrischen Göttinnenkulten Indiens
herzustellen. Erst aus der Gegensätzlichkeit, mit der die
zwei Kulturströmungen die Geschlechterdynamik be-
handeln, erklären sich die hohen Spannungen und die
Explosivkräfte in den sexualmagischen Szenarien der
Tantras. Es gibt unserer Kenntnis nach keine Kultur, wo
sich die Geschlechter als theokratische Systeme so raffi-
nierte und komplexe Machtkämpfe geliefert haben wie
die indische – und das bis hinein in unsere Zeit.
Als die konträre Gegenkraft zum androzentrischen
Buddhismus nennt Heinrich von Glasenapp den reinen
Shaktismus : »Reiner, hundertprozentiger Shaktismus ist
die Lehre all derjenigen Sekten, welche Durga oder eine
ihrer Formen als die Herrin der Welt betrachten.« (* Gla-
senapp, 123) Durga, das ist nur ein anderer Name der
Göttin Kali, Sie wird von ihren Anhängern als höch-
ste universelle Gottheit verehrt. Alle anderen Götter, ob
männlich oder weiblich, gehen aus ihr hervor. Sie hat an-
genehme und schreckenerregende Eigenschaften, aber die
düsteren und grausamen Züge überwiegen. Traditionell
bringt man sie mit einer destruktiven, männervernich-
tenden Sexualität in Zusammenhang. Sie versinnbild-
licht verbotenen Sex, Zerstörungswut und Tod. Terror
und Wahnsinn zählen zu ihren Charaktereigenschaf-
ten, und ihre abgrundtiefe Destruktivität soll dereinst
die Welt in Schutt und Asche legen. Unser Zeitalter, das
Hindus und Buddhisten gleichermaßen als das »dunk-
le« bezeichnen und das unausweichlich seinem baldigen
Untergang entgegenläuft, trägt den Namen der furchter-
regenden Göttin – Kali Yuga.

228
Kali erscheint ihren Gläubigen als Shakti, das heißt als
weibliche Energie in der Gestalt einer universalen weib-
lichen Gottheit. In ihrer Allmacht »umfaßt sie sowohl
das geistige als auch das materielle Prinzip und kann
daher so verstanden werden, daß (sie) sowohl die Seele
als auch die Natur … umschließt … Das weibliche Prin-
zip erschafft in Verbindung mit dem männlichen Prin-
zip den Kosmos – wobei das männliche dem weiblichen
Prinzip gegenüber immer zweitrangig und untergeordnet
ist …«, lesen wir bei dem Tantra-Forscher Agehananda
Bharati. (* Bharati, 1977, 174)
Hier hat sich das androzentrische Rad der Zeit um
180 Grad gedreht, und die patriarchalen Herrschaftsmu-
ster des Tantrismus wurden in matriarchale umgedeu-
tet. Anstatt kahlgeschorener Mönche oder langhaariger
Maha Siddhas zelebrieren jetzt Frauen als »Priesterin-
nen und Schamaninnen«. Die allmächtige Gottheit of-
fenbart sich nun als Weib. »So rechtfertigen die Anhän-
ger der Shakti-Schuk ihre Berufung durch den Glauben,
daß Gott eine Frau sei und daß es das allgemeine Ziel
sein solle, eine Frau zu werden« (* Bhattacharyya, 109),
schreibt Bhattacharyya in seiner Geschichte der tantri-
schen Strömungen.

Das gynozentrische Männeropfer

Nach einer weitverbreiteten Meinung sollen das Mutter-


rechtselement und der Göttinnenkult in der indischen
Gesellschaft Jahrhunderte lang vorherrschend gewe-

229
sen sein und in der Volkskultur immer noch entdeckt
werden können. (* Bhattacharya, 116, Fußn. 41 ; Tiwa-
ri) Die Ureinwohner der ersten vorarischen Ackerbau-
gesellschaften waren Anhänger der »Großen Göttin«.
Ritualgegenstände aus den freigelegten Urstädten Mo-
henjodaro und Harappa (um 2500 v. Chr.) verweisen auf
matriarchale Kulte, die dort gepflegt wurden. Man hat
verblüffende Parallelen zu den babylonischen Göttinnen
des Zweistromlandes hergestellt.
Erst seit dem gewaltsamen Eindringen patriarchaler
Hirtenvölker aus dem Norden (um 1500 v. Chr.) wur-
den die einheimischen Religionen Indiens systematisch
verdrängt. Das arische Kastenwesen mit seinen Opfer-
priestern (Brahmanen) und Kriegern (Kshatriyas) an der
Spitze bestimmte von nun an die sozialreligiöse Politik.
Auch die erste Phase des Buddhismus zeigt keine wesent-
lichen Änderungen des androzentrischen Musters.
In der Zeit der Maurya- und Gupta-Periode (um 300
n. Chr.) erfährt dieses jedoch eine entscheidende Trans-
formation. An die Stelle der asketischen Doktrin des
Frühbuddhismus (Hinayana) ist das Ideal des mitfüh-
lenden Bodhisattvas (Mabayana) getreten. Die bunten
Göttergeschlechter des Hinduismus bilden sich heraus
– oft als große mythische Paare dargestellt. Aber die Ar-
chäologen haben auch zahlreiche Lehmfiguren aus die-
ser Epoche ausgegraben, welche die Große Muttergott-
heit abbilden. Ihre Gestalt erscheint selbst auf Münzen.
Das verschüttete »Weibliche Prinzip« der Urzeit trat also
zwischen dem 3. und 7. Jahrhundert n. Chr. in Indien
wieder in Erscheinung.

230
Ausgehend von der Landbevölkerung verschaffte es
sich Zugang bis in die höchsten Schichten. »Die Macht
der Massen, die dahinter wirkte«, lesen wir bei Bhat-
tacharyya, »setzte die Göttinnen den männlichen Göt-
tern aller Religionen zur Seite, aber trotzdem konnten
die ganzen Gefühle, die sich auf das weibliche Prinzip
zentrierten, nicht kanalisiert werden. So entstand das
Bedürfnis nach einer neuen Religion, die ganz und gar
frauenorientiert war, einer Religion, in der selbst die gro-
ßen Gottheiten wie Vishnu oder Shiva der Göttin unter-
geordnet blieben. Diese neue Religion wurde als Shak-
tismus bekannt.«(* Bhattacharyya, 207)
Auch die Buddhisten waren nicht in der Lage, sich die-
ser Renaissance archaischer Frauenkulte völlig zu entzie-
hen. Das klingt zum Beispiel in der berühmten Gedicht-
sammlung Therigatha durch, wo buddhistische Nonnen
ihre Befreiung aus der Sklaverei des familiären Alltags-
lebens besingen. Aber eine wirkliche Emanzipationsbe-
wegung von Buddhistinnen hat es nie gegeben. Im Ge-
genteil, den Anhängern des Shakyamuni Buddha ist der
epochale Versuch gelungen, durch Integration und Ma-
nipulation die Herrschaft über die »Neue Weiblichkeit«
zu erlangen, ohne daß die aufkommende »Frauenpower«
bekämpft oder verdrängt werden mußte : Die Mönche
entdeckten den Vajrayana.
Es spricht vieles dafür, daß die tantrischen Praktiken
oder zumindest ähnliche Riten ursprünglich zur Kultver-
ehrung der Großen Göttin zählten, die im Gegensatz zum
Frühbuddhismus ein freies und offenes Verhältnis zur Se-
xualität hatte. Implizit wird das von den buddhistischen

231
Yogis auch zugestanden, wenn sie alle Kräfte des Univer-
sums in einen weiblichen Archetyp hineinprojizieren. Da
sie davon überzeugt waren, über eine Technik (Upaya) zu
verfügen, die ihnen in letzter Instanz die absolute Macht
über die Göttin in die Hände spielt, konnten sie ohne Ge-
fahr diese scheinbare Allmacht des Weiblichen beibehal-
ten. Man hat geradezu den Eindruck, daß sie das omni-
potente matriarchale Bild bewußt übernahmen.
Sobald jedoch die Frau tatsächlich nach der Macht
griff, ist das von allen androzentrischen Kulten Indiens
als ein großes Unheil und mit viel Angst erfahren wor-
den. Sie erschien dann als bestialische Schreckensgöttin
oder blutrünstige Tigerin, die ihren Liebhaber tötet, auf
seinem Leichnam bizarre Tänze aufführt oder sich den
noch erigierten Penis des Toten in die Vulva steckt. Man
bildete sie ab als ein Wesen mit aufgerissenem Maul und
blutigen Fangzähnen. Zahlreiche Varianten solch makab-
rer Porträts sind bekannt. Angesichts dieser Horrorbil-
der hatten die Ängste der Männer durchaus ihre Berech-
tigung, und männervernichtende Kultopfer waren denn
auch im Umkreis der schwarzen Kali keine Seltenheit.
Die Religionswissenschaftlerin Doniger O’Flaherty führt
sie alle auf das archetypische Ritual eines Insekts zurück,
das den Namen »Gottesanbeterin« trägt. Die Großheu-
schrecke beißt während der Kopulation ihrem kleineren
Männchen den Kopf ab und verspeist es anschließend
mit Genuß. (* O’Flaherty, 81) Obgleich in den Kali-Ge-
schichten nicht gesagt wird, daß die Göttin den Kopf ih-
res Liebhabers mit ihren Zähnen abreißt, köpft sie ihn
doch mit einem Säbel.

232
Solche weiblichen Kulte sollten die vegetativen Ereig-
nisse in der Natur nachahmen. So wie die Pflanzen kei-
men, sprießen, blühen, Früchte tragen und dann abster-
ben, um erneut aus dem Samen zu entstehen, so erschien
ihnen der Tod als ein notwendiger Aspekt des Lebens
und als die Voraussetzung einer Neugeburt. Wenn die
archaischen kosmozentrischen Muttergöttinnen Frucht-
barkeit spendeten, dann verlangten sie als Gegenleistung
blutige Opfer.
Meist waren es Tiere und Menschen männlichen Ge-
schlechts, die ihr Leben zur Wahrung und Mehrung des
pflanzlichen, animalischen und humanen Reichtums las-
sen mußten. (* Herrmann-Pfand, 102 ; Neumann, 1949,
55) Es ist aber nicht gesagt, ob diese vegetative Ausrich-
tung des Kultes das alleinige Motiv war oder ob es nicht
auch um eine blutige Machtdemonstration innerhalb ei-
nes religiös motivierten Geschlechterkampfes ging.
Die grausamen Riten der Kali gehören keineswegs der
Vergangenheit an. Wie die aktuelle indische Presse be-
richtet, häufen sich in jüngster Zeit immer mehr Vorfäl-
le von Menschenopfern an die Göttin, bei denen vor al-
lem Kinder dargebracht werden. Der weltweite archaische
Mythos von Mutter Erde, die ihre eigenen Nachkommen
frißt und sich mit deren Leichen mästet, die gierig den
Blutsamen der Menschen und Tiere aufleckt, die als Ab-
grund und dunkles Loch das Leben in sich hineinlockt,
um es zu vernichten, feiert tatsächlich im heutigen Indi-
en eine Renaissance. (* Neumann, 1989, 148f)

233
Vajra und Doppelaxt

Auf solch blutige matriarchale Riten mögen die Män-


ner zuerst mit Angst und dann mit Protest reagiert ha-
ben, wie wir aus vielen patriarchalen Gründungsmy-
then rückschließen können. Vielleicht verbirgt sich hin-
ter der krankhaft anmutenden Überbetonung, die der
Vajra und damit der »Phallus« im tantrischen Buddhis-
mus erfährt, so eine männliche Angstneurose, welche
von längst vergessenen und verdrängten Kämpfen mit
dem Matriarchat herrührt ?
In einer Kulturgeschichte des »Diamantenszepters«
(Vajra) erwähnt der Tibetologe Siegbert Hummel, daß
der Vajra als Blitzsymbol sowohl im vedischen Indien
als auch bei den Griechen verehrt wurde. Über die hel-
lenistisch beeinflußte Kunst von Gandhara sei das Sym-
bol in den Buddhismus eingedrungen. Die jetzige Form
habe sich erst im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet.
Früher glich der Vajra eher einer »Doppelaxt mit blitzar-
tigen Ausstrahlungen«. (* Hummel, 1954, 123 ff.)
Hummel, der sich auch in anderen Schriften mit ma-
triarchalen Einflüssen auf die tibetische Kultur auseinan-
dergesetzt hat, vermutet einen kretisch-gynozentrischen
Ursprung des Symbols : »Vajra« und »Doppelaxt« setzen
»Bilder der kretischen Muttergottheiten voraus, die nicht
nur als Zeichen, sondern auch als Verkörperung ihrer
Hoheit und Macht sowie als magisches Instrument eine
Doppelaxt tragen, ein Vorrecht, das übrigens bedeutsa-
merweise männlichen Gottheiten nicht zukam.« (* Hum-
mel, 1954, 123) Der minoische Kultgegenstand soll als

234
Waffe gedient haben, um den Heiligen Stier zu töten. –
Mit diesem tierischen Blutritual ist erneut das archaische
Männeropfer in die Diskussion gebracht, das nach an-
tiken Berichten und Mythen in den matriarchalen Kul-
ten des Vorderen Orients weit verbreitet war. Denn der
Stier gilt als ein historisch späteres Substitut für den Ge-
mahl der Stammeskönigin, die selbst die Inkarnation ei-
ner Göttin gewesen sein soll. Nach Ablauf seiner Amtspe-
riode opferten ihn ihre Priesterinnen und tränkten die
Erde mit seinem königlichen Blut, um Fruchtbarkeit zu
erzeugen.
Es ist außerdem sehr wahrscheinlich, daß mit der Dop-
pelaxt uralte Kastrationsriten verbunden waren. (* Hum-
mel, 1954, 123 ff.) Immerhin hat die allgewaltige Kybe-
le dieses scharfe Instrument als ihr Herrschaftszeichen
getragen. Mit Entsetzen berichten antike Autoren, wie
sich die fanatischen Priester der phrygischen Muttergöt-
tin rituell entmannen ließen oder die Verstümmelung an
sich selbst vollzogen. »Cybelis« soll übersetzt »Doppel-
axt« bedeuten. (* Alexiou, 92)
Wenn wir Hummels Herkunftsgeschichte des Vajra aus
dem männervernichtenden Szepter der Großen Göttin
akzeptieren, dann wird die exzessive Verehrung, welche
die tantrischen Buddhisten dem »Donnerkeil« entgegen-
bringen, verständlicher : Das Beil, das den Mann einst
fällte oder verstümmelte, ist nun zu seiner gefürchtetsten
magischen Waffe geworden, mit der er seinen Sieg über
die Große Göttin anschaulich demonstriert.
Im Vajra, dem »Diamantenszepter«, »Donnerkeil« oder
»Phallus«, versinnbildlicht sich die androzentrische Herr-

235
schaft über die Welt. Es repräsentiert die Überlegenheit
des männlichen Geistes über die weibliche Natur. »Der
Vajra«, schreibt Lama Govinda, »wurde … zum Inbegriff
höchster geistiger Macht, einer Macht, der nichts wider-
stehen kann und die selbst unangreifbar und unüber-
windlich ist : so wie der Diamant, als härteste aller Sub-
stanzen, jede andere Substanz zerschneiden kann, ohne
selbst von irgend etwas zerschnitten zu werden.« (* Go-
vinda, 1991, 65) Um diese Allmacht absoluter Männlich-
keit zu demonstrieren, entstand innerhalb des »Vajraya-
na« die sprachliche Obsession, alle Ereignisse und alle
Protagonisten des tantrischen Rituals an das Wort Vajra
zu koppeln. Nicht nur die Gegenstände, die zeremoniell
geopfert werden, wie Vajra-Weihrauch, Vajra-Muscheln,
Vajra-Lampen, Vajra-Parfums, Vajra-Blumen, Vajra-Flag-
gen, Vajra-Kleider und so weiter tragen den Sanskritna-
men des »Diamantenszepters«, sondern auch alle rituellen
Handlungen wie Vajra-Musik, Vajra-Tanz, Vajra-Bewe-
gungen, Vajra-Gestiken. »Das gesamte System kulminiert
in der Idee des Vajra, welcher das höchste Ideal darstellt,
aber gleichzeitig den Initianten vom ersten Schritt an be-
gleitet. Alles, was das mystische Training betrifft, trägt
diesen Namen. Das Wasser der einleitenden Reinigung,
der Topf, der es enthält, die darüber zu wiederholenden
Heiligen Sprüche … alles ist Vajra.« (* Carelli, 6)
Selbst das Symbol der Höchsten Weiblichkeit, die »Lee-
re« (Shunyata), bleibt vor seinem Zugriff nicht verschont.
»Der Vajra repräsentiert das aktive Prinzip«, schreibt
Snellgrove, »die Methode, welche zur Erleuchtung und
Umwandlung führt, während die Glocke die Vollendete

236
Weisheit darstellt, die auch als Leere (Shunyata) bekannt
ist. Im Stadium der Vereinigung aber schließt der Vaj-
ra alle beiden Koeffizienten der Erleuchtung in sich ein,
Methode und Leere.« (* Snellgrove, 1987, Bd. 1, 131)
»Shunyata«, lesen wir bei Dasgupta, »ist dicht, substan-
tiell, unteilbar, undurchdringlich, feuerfest, unzerstörbar
und wird deswegen Vajra genannt … Vajra ist die Leere
– und im Vajrayana ist alles Vajra – das heißt, vollende-
te Leere.« (* Dasgupta, 1974, 77, 72)
Vajra und »Glocke« (Gantha) gelten als die beiden wich-
tigsten Ritualgegenstände des Tantrismus. Aber auch hier
hat der männliche »Donnerkeil« die Vormachtstellung
errungen. Diese drückt sich höchst anschaulich in der
symbolischen Konstruktion der weiblichen »Glocke« aus.
Um ihre Unterordnung unter das männliche Prinzip an-
zuzeigen, ist sie immer mit einem Griff in der Form eines
halben Vajras versehen. Auch wird man keinen Ghanta
finden, in dessen äußeren Umrandung nicht zahlreiche
winzige »Diamantenszepter«, sprich »Phalli«, eingraviert
sind. Die Glocke, sichtbares und viel gepriesenes Sym-
bol des Weiblichen, steht also ebenfalls unter der Dikta-
tur des »Donnerkeils«.
Die Herrschaftsgeste, mit welcher der Tantra-Mei-
ster während des Sexualaktes seine Gefährtin versie-
gelt, heißt Vajrahumkara Mudra : Hinter dem Rücken der
Partnerin hat er beide Hände gekreuzt, in der Rechten
hält er den Vajra, in der Linken den Gantha. Der sym-
bolische Gehalt dieser Geste kann nur Folgendes be-
deuten : Der Yogi als Androgyn ist Herr über beide Ge-
schlechterenergien, die männliche (symbolisiert durch

237
den Vajra) und die weibliche (symbolisiert durch den
Gantha). Indem er seine Weisheitsgefährtin durch die
androgyne Gestik einschließt (»versiegelt«), will er zum
Ausdruck bringen, daß sie ein Teil seiner selbst ist, be-
ziehungsweise daß er sie als seine Maha Mudra (»inne-
re Frau«) absorbiert hat.

Die Dakini

In der lärmenden Gefolgschaft Kalis befindet sich – nach


hinduistischen Erzählungen – eine Gruppierung niede-
rer weiblicher Dämoninnen, die Dakinis genannt wer-
den. Diese spielen auch im Heilsgeschehen des buddhi-
stischen Tantrismus eine nicht wegzudenkende Rolle. Es
handelt sich bei den »Himmelswandlerinnen« – wie das
„Wort übersetzt lautet – weniger um eine weibliche Spe-
zies von Engeln, sondern sie zählen primär zu einer un-
tergeordneten Klasse von Teufelinnen. Da sie ursprüng-
lich zum Umfeld der Kali gehören, müßte ihre historisch
spätere Transformation in eine buddhistische Hilfstrup-
pe einige interessante Auskünfte über die Frühgeschich-
te des Tantrismus und sein Verhältnis zu den gynozen-
trischen Kulten geben.
Mit Vorliebe treiben sich die Dakinis auf Leichenver-
brennungsstätten herum. Ihre Lieblingsspeise ist Men-
schenfleisch, das sie in ihren Ritualen zu magischen
Zwecken benutzen. Sie schicken Frauen, Männern und
Kindern Krankheiten, insbesondere Fieber, Besessenheit,
Schwindsucht und Sterilität. Wie die europäischen He-

238
xen fliegen sie durch die Luft und nehmen verschieden-
ste Tiergestalt an. So plagen sie als Katze, Giftschlange,
Löwin und Hündin ihre Umwelt. Man schimpft sie »Lär-
merinnen, Fortschafferinnen, Zischerinnen und Fleisch-
fresserinnen«. Als Vampire saugen sie frisches Blut auf
und verspeisen rituell ihren eigenen oder fremden Mo-
natsfluß. So wie die griechischen Harpien, mit denen sie
auch sonst vieles gemein haben, fressen sie die nach der
Geburt ausgestoßene Gebärmutter und ernähren sich von
Leichen. Den männlichen Samen begehren sie mit beson-
derer Vorliebe. Sogar den Atem eines Lebenden können
diese Schreckensweiber aufessen. (* O’Flaherty, 237)
In einer Biographie des großen tibetischen Heilsbrin-
gers Padmasambhava wird ihr grauenhaftes Aussehen
beschrieben : Einige reiten mit gelöstem Haar auf Lö-
wen und tragen in den Händen Totenschädel als Sie-
geszeichen ; andere sitzen auf dem Rücken von Vögeln
und stoßen schrille Schreie aus ; wieder andere haben
auf ihrem Körper zehn Gesichter und zehn Mäuler, mit
denen sie menschliche Herzen verschlingen ; eine wei-
tere Gruppe erbricht Hunde und Wölfe ; Blitze werden
von ihnen erzeugt, und mit Donnergebrüll stürzen sie
sich auf ihre Opfer. »Auf ihrer Stirn findet sich die Spur
eines dritten Auges ; sie hat lange krallenartige Finger
und ein schwarzes Herz in ihrer Vagina.« (* Stevens, 98)
Hackmesser, mit dem sie Leichen zerstückelt ; eine Schä-
delschale, aus der sie alle Sorten von Blut schlürft ; eine
kleine Doppeltrommel, gefertigt aus den Hirnschalen
zweier Kinder, mit der sie ihre Gefährtinnen herbeiruft,
und ein Szepter, auf dem drei Totenschädel aufgespießt

239
sind, zählen zur Standardausrüstung einer Dakini.
Die Dakinis offenbaren sich normalerweise nur dem
Tantriker – entweder als Menschenfrauen in Fleisch und
Blut oder als Traumgestalten oder als Gespenster. Im Bar-
doszustand, der Zeit zwischen Tod und Wiedergeburt,
begegnen sie jedoch jedem Verstorbenen, um ihre Hor-
roroper aufzuführen. Das Tibetische Totenbuch nennt sie
auch Gauris, und man erfährt die Namen zahlreicher
Einzelpersönlichkeiten unter ihnen : Ghasmari, Canda-
li, Nari, Pukkasi und so weiter. Sie reiten auf Büffeln,
Wölfen, Schakalen und Löwen ; tragen die verschieden-
sten Menschenknochen als Schmuck ; halten Banner aus
Kinderhaut in der Hand ; ihre Baldachine sind aus Men-
schenhaut gefertigt ; ihre grausigen Melodien spielen sie
auf dem Hüftknochen eines Brahmanenmädchens, der
zu einer Flöte umgebaut wurde ; eine hält als Szepter den
Leichnam eines Säuglings, eine andere reißt einem Mann
den Kopf ab und verzehrt diesen. Durch diese grauen-
hafte Aufmachung wollen die »Himmelswandlerinnen«
den Geist des Toten dazu veranlassen, voller Angst die
schützende Gebärmutter einer Menschenfrau zu suchen,
um wiedergeboren zu werden. Widersteht er aber mutig
den Schreckensbildern, dann wird er von dem »Rad des
Lebens« befreit und darf ins Nirvana eintreten.
Folglich fordern die Tantras, daß sich jeder Adept die
Kunst und List Cakrasamvaras, des ersten buddhistischen
Dakini-Bezwingers, verschafft, um diese Unholdinnen zu
besiegen und zu binden, denn nur indem er die Dämonin
unterwirft, kann er Erleuchtung erfahren. Er wird dann
Herr über das Weibliche ganz allgemein, gerade weil die-

240
Rituelle Hackmesser

ses ihm in seiner schrecklichsten Form als Todesgöttin


entgegentrat und er davor nicht zurückwich.
Aber der Vorgang hat nicht nur seine psychologische
Seite. Da die Dakinis aus dem Heer der schwarzen Kali
stammen, ist ihre Unterwerfung auch ein »theokrati-
scher« Akt für den patriarchalen Tantrismus. Mit jedem
Sieg über eine »Himmelswandlerin« wird symbolisch der

241
gynozentrische Kult der großen schwarzen Göttin durch
die androzentrische Macht des Buddha überwältigt.
Die Methoden für diesen Bezwingungsakt sind nicht
selten brutal. Als der Maha Siddha Tilopa die Königin der
Dakinis in ihrem Palast als schönes und zierliches Mäd-
chen (eine Hexentäuschung) antraf, ließ er sich von der
Dämonin nicht hinters Licht führen. Er riß ihr die Klei-
der vom Körper und vergewaltigte sie. (* Sierksma, 112)
Im Guhyasamaja-Tantra zieht die männliche Hauptgott-
heit mit Spießen und Diamantenhaken, die wie »sengen-
de Flammen leuchten«, die Dakinis herbei. Wir haben
oben schon Albert Grünwedels Vermutung erwähnt, daß
die »Himmelswandlerinnen« ursprünglich reale Frauen
waren, die durch ein »tantrisches Feueropfer« in gefügi-
ge Geistwesen umgewandelt wurden. Es ist nicht aus-
zuschließen, daß sie ihr flammendes »Hexenschicksal«
deswegen erlitten, weil sie vor ihrer »Buddhisierung« als
Priesterinnen der schrecklichen Kali ihren Dienst ver-
richteten.
Zwar wurden die Dämoninnen – wie uns der tibe-
tische Historiker Buston erzählt – von der tantrischen
Gottheit Cakrasamvara unterworfen und zum Buddhis-
mus bekehrt, aber ihre Grausamkeit hat sich durch die
Konversion nur teilweise verändert. Es gibt nämlich seit
diesem Zeitpunkt zwei Arten von Dakinis, wobei diese
nicht selten die beiden konträren Aspekte einer einzi-
gen »Himmelswandlerin« darstellen. Zu der abstoßen-
den düsteren Form gesellte sich eine Lichtgestalt, eine
ätherische Tanzfee, eine lächelnde Jungfrau. Dieser gut-
artige Teil übernahm für den Yogi die Rolle der Inana

242
Mudra, der liebenswürdigen Geistfrau und transzenden-
ten Wissensträgerin. Daß eine solche Aufspaltung der
Dakinis in bösartige Hexen und gute Feen ein Primär-
ereignis tantrischer (und alchemistischer) Herrschafts-
techniken darstellt, wird ausführlich im folgenden Ka-
pitel behandelt.
Die böse Fraktion der Dakinis brauchte also ihren vor-
buddhistischen Terror nicht aufzukündigen und verwan-
delte sich nicht wie die blutrünstigen Erynnien der grie-
chischen Sage in staatstragende und friedliebende Eu-
meniden. Vielmehr stellten die Schreckensdakinis ihre
destruktiven Künste in den Dienst der neuen buddhisti-
schen Doktrin. Sie spielten weiterhin Erscheinungsfor-
men der Todesmutter und ihrer einstigen Herrin Kali,
welche durch einen Adepten bezwungen werden muß-
ten. Ihre grauenhaften Auftritte sind auf dem tantrischen
Erleuchtungspfad geradezu zu einer notwendigen, wenn
auch lebensgefährlichen Durchgangsstrecke geworden.
Erst am Ende einer erfolgreichen Initiation erscheinen
die »Teufelinnen« in der Gestalt »weiblicher Engel«.
Für Lama Govinda, der ständig versucht, alle »Hexen-
tänze« aus dem tibetischen Buddhismus herauszuexor-
zieren, ist ihre Lichtgestalt jedoch die einzige Wahrheit :
Die Dakini repräsentiert für ihn das mit unseren Sinnen
nicht mehr wahrnehmbare Element des »Raum-Äthers«,
denn der tibetische Name für die Himmelswandlerin-
nen, »Khadoma«, soll diese Bedeutung haben. (* Govinda,
1991, 228) Die Khadomas erklärt der europäische Lama
zu »Genien der Meditation«, zu »Impulsen der Inspira-
tion, die die naturhafte Kraft in schöpferischen Genius

243
verwandelt« (* Govinda, 1991, 228) – kurz, sie wirken als
die Musen des Yogis. Govinda liegt mit seiner Sicht gar
nicht so falsch, aber er beschreibt nur das Ergebnis eines
vielschichtigen, sehr komplizierten Prozesses, in dem die
dämonische Dakini durch das oben beschriebene »tan-
trische Frauenopfer« in eine sanfte und ätherische »Him-
melswandlerin« transformiert wurde.

Kali als besiegte Zeitgöttin

Wird nun im buddhistischen Tantrismus nur die wilde


ehemalige Gefolgschaft der Kali bezwungen, oder wird
die dunkle Göttin selber besiegt ? Der Tibetforscher
Austine Waddell hat aus einem Abbild des Zeitgottes
Kalachakra und seiner Gefährtin Vishvamata geschlos-
sen, daß es sich hierbei um die Darstellung des Höch-
sten Buddha in der Vereinigung mit der hinduistischen
Schreckensgöttin Kali handle, die beide gemeinsam ein
Teufelswerk betreiben. (Waddell, 1934, 131) Seine Deu-
tung wird heute belächelt und oft als ein abschrecken-
des Beispiel westlicher Uninformiertheit und Überheb-
lichkeit zitiert. Dabei liegt Waddell unserer Ansicht nach
ganz richtig und hilft uns dabei, das Mysterium zu ver-
stehen, das sich im Kern des Kalachakra-Tantras ver-
birgt.
Die Göttin Kali repräsentiert für die gesamte indische
nachvedische Kultur (für den Hinduismus ebenso wie
für den Buddhismus) die Schreckensmutter unserer de-
kadenten Endzeit, die ihren Namen Kali Yuga trägt. Des-

244
wegen ist sie die »Herrin der Geschichte«. Noch umfas-
sender – sie gilt als die Personifikation der manifesten
Zeit (Kala = Zeit) schlechthin. Das Wort »Kali« bedeu-
tet übersetzt die weibliche Form der »Zeit«, aber auch
die Farbe »Schwarz«. Die Göttin symbolisiert somit für
den Hinduismus das apokalyptische »schwarze Loch«,
in dem das gesamte materielle Universum am Ende der
Zeiten verschwindet. Je mehr wir uns dem Ausgang ei-
nes kosmischen Zyklus nähern, desto dichter werden die
»Finsternisse«.
Ihr männlicher Gegenpol und buddhistischer Heraus-
forderer Kalachakra – so könnte man aus Waddells Deu-
tung schließen – versucht, ihr das »Zeitrad« zu entreißen,
um selbst zum »Herrn der Geschichte« zu werden und
eine weltweite androzentrische Buddhokratie zu errich-
ten. Im gegenwärtigen wie kommenden Äon will er und
nur er alleine die Zeit beherrschen. Es geht also darum,
welches von beiden Geschlechtern die Evolution des ge-
samten polaren Universums kontrolliert – sie als Göttin
oder er als Gott ? Wenn es dem Tantra-Meister als dem
Repräsentanten des Zeitgottes auf Erden gelingt, die Göt-
tin Kali zu besiegen, dann schafft er sich – nach tantri-
scher Logik – freie Bahn auf dem Weg zur alleinigen pa-
triarchalen Weltenherrschaft.
Gegenseitige Aggression ist also die Grundstimmung
zwischen den beiden Geschlechtsprätendenten um den
»Zeitenthron«. Aber der buddhistische Kalachakra-Gott
scheint geschickter vorzugehen als seine hinduistische
Konkurrentin Kali-Vishvamata. Durch magische Tech-
niken versteht er es, die aggressive Sexualität der Göt-

245
tin anzustacheln und trotzdem unter seine Kontrolle zu
zwingen.
Wir werden noch sehen, daß es ebenfalls in seiner
Absicht liegt, das bestehende Universum, welches den
Namen Kali Yuga trägt, zu vernichten. Deswegen ist er
sehr an den destruktiven Aspekten der Zeit (Kali) bezie-
hungsweise an der Vernichtungsmacht der Göttin, die
alle Seinsformen unter sich zermalmen kann, interessiert.
»Was ist Kalachakrayana ?« – fragt ein moderner Tantra-
Kommentator und antwortet vielsagend : »Das Wort Kala
bedeutet Zeit, Tod und Zerstörung. Kala – chakra ist das
Rad der Zerstörung.« (* Dasgupta, 1974, 65)

Das »alchemistische Frauenopfer«

»Von allen alchemistischen Systemen des Buddhismus«,


schreibt der Amerikaner David Gordon White in sei-
ner umfangreichen Geschichte der indischen Alchemie,
»bietet uns das Kalachakra-Tantra die tiefste Einsicht.«
(* White, 71) Im fünften Kapitel des Zeittantras wird die
»Hohe Kunst« der Alchemie als eine gesonderte Diszi-
plin behandelt. (* Carelli, 21) Pundarika vergleicht in
seinem Kommentar der Kalachakra-Texte den gesam-
ten sexualmagischen Vorgang in diesem Tantra mit ei-
nem alchemistischen Werk.
Die Alchemie war und ist immer noch eine in Indien
weitverbreitete esoterische Wissenschaft, und das schon
seit dem 4. Jh. v. Chr. Sie wird insbesondere im Ayurve-
da als ganzheitliche Heilkunde gelehrt und angewandt.

246
Neben ihren medizinischen Funktionen galt sie (wie in
China und im Abendland) als die Kunst, aus unedlen
Stoffen Gold (und damit Reichtum und Macht) zu ge-
winnen. Aber darüber hinaus sah man sie immer schon
als ein höchst effektives Mittel an, um Erleuchtung zu
erlangen. Indische Yogis, insbesondere die sogenannten
Nath Siddhas, welche die »Hohe Kunst« als ihre sakra-
le Technik gewählt hatten, erlebten ihre alchemistischen
Versuche nicht als ein »naturwissenschaftliches« Experi-
mentieren mit chemischen Substanzen, sondern als eine
mystische Übung. Sie bezeichneten sich als Anhänger des
Rasayana und gaben durch diesen Begriff bekannt, daß
sie einem besonderen initiatorischen Weg, dem »Pfad der
Alchemie«, anhingen. In ihrer okkulten Praxis kombi-
nierten sie chemische Versuche mit Übungen des Hatha
Yoga und tantrischen Sexualriten.
Man hat arabische Einflüsse auf die indische Alche-
mie angenommen, sie ist aber mit Sicherheit älteren Da-
tums. Noch älter sind die raffinierten alchemistisch-se-
xualmagischen Experimente der Taoisten. Aus diesem
Grunde vertreten einige bedeutende westliche Asienfor-
scher, zum Beispiel David Gordon White, Agehananda
Bharati und Joseph Needham, die Meinung, daß China
als das Ursprungsland ebenso der »Hohen Kunst« wie
auch des indischen Tantrismus in Frage komme. Ande-
rerseits hat die europäische Alchemie der beginnenden
Neuzeit (16. – 18. Jahrhundert) mit der tantrisch-alche-
mistischen Symbolwelt Indiens so viele Ähnlichkeiten,
daß man – da direkte Beeinflussungen schwer vorstellbar
sind – entweder von einem gemeinsamen historischen,

247
am ehesten ägyptischen Ursprung ausgehen kann oder
unterstellen muß, daß sich beide esoterischen Strömun-
gen aus demselben archetypischen Reservoir unseres kol-
lektiven Unterbewußtseins bedient haben. Wahrschein-
lich ist sowohl das eine wie das andere der Fall.
Im Westen wurde die enge Beziehung von abendländi-
scher Alchemie und Tantrismus unter anderen von dem
Religionswissenschaftler Mircea Eliade und dem Tiefen-
psychologen Carl Gustav Jung thematisiert. Jung hat mehr
als einmal auf die Parallelen zwischen den beiden Syste-
men hingewiesen. Seine Einleitung zu einem quasi tan-
trischen Text aus China mit dem Titel Das Geheimnis
der goldenen Blüte ist nur ein Beispiel von vielen. Auch
Mircea Eliade sah »eine merkwürdige Übereinstimmung
zwischen dem Tantrismus und der großen westlichen
mysteriosophischen Strömung …, in der zu Beginn der
christlichen Zeit Gnosis, Hermetik, griechisch-ägypti-
sche Alchemie und die Traditionen der Mysterien zusam-
mengeflossen sind.« (* Eliade, 211) Von den moderneren
Autoren ist vor allem David Gordon White zu nennen,
der ausführlich die enge Verbindung der indischen Sid-
dhas (Zauberer) und ihrer tantrischen Praktiken mit al-
chemistischen Ideen und Experimenten untersucht hat.
Zweifelsohne teilen der Tantrismus und die Alchemie,
ob indischer oder europäischer Provenienz, miteinan-
der viele fundamentale Bilder.
Ebenso wie ihre orientalischen Kollegen drückten sich
die abendländischen Alchemisten in einer Zwielicht-
sprache (Sandhabhasa) aus. Alle Worte, Zeichen und
Symbole, die zur Bezeichnung der Experimente in ih-

248
ren obskuren »Labors« gebildet wurden, waren mehr-
deutig und nur für »Eingeweihte« verständlich. Ebenso
wie in einigen Tantratexten wurden in den europäischen
Traktaten »geheime« Praktiken durch »harmlose« Bilder
dargestellt, ganz besonders galt das für den Bereich des
Eros und der Sexualität. Dieser starke Bezug zum Ero-
tischen mag im Falle chemischer Versuche skurril er-
scheinen, aber die alchemistische Weltsicht war ebenso
wie der Tantrismus von der Idee beherrscht, daß unser
Universum als die Schöpfung und als das Zusammen-
spiel eines männlichen und eines weiblichen Prinzips
funktioniere und daß alle Ebenen des Seins von der
Polarität der Geschlechter durchdrungen seien. »Ge-
schlecht ist in allem, alles hat männliche und weibli-
che Prinzipien, Geschlecht offenbart sich auf allen Ebe-
nen«, lesen wir in einem europäischen Text der Hohen
Kunst. (* Gebelein, 44)
Das galt auch für die Sphäre der chemischen Stoffe
und Verbindungen, der Metalle und Elemente. Beide –
die tantrischen wie die alchemistischen Schriften – sind
deswegen Landkarten der erotischen Imagination, und
jeder mit ein wenig Sprachpsychologie kann die durch-
gängig sexuellen Bezugssysteme erkennen, die sich in ei-
nem hermetischen Text des 16. Jahrhunderts verstecken.
Man hatte damals nicht die geringsten Bedenken, che-
mische Prozesse als erotische Handlungen und erotische
Szenarios als chemische Fusionen zu beschreiben. Das
verhielt sich genauso im Westen wie im Osten.
Sehen wir uns jetzt die tantrische Alchemie etwas ge-
nauer an. Der tibetische Lama Dragpa Jetsen unterschei-

249
det zum Beispiel drei Arten der königlichen Kunst : »Die
Alchemie des Lebens : sie kann das Leben so verlängern
wie dasjenige der Sonne und des Mondes ; die Alchemie
des Körpers : sie kann den Körper ewig so alt machen,
wie denjenigen eines 16jährigen Mädchens ; die Alche-
mie der Freude : sie kann Eisen in Kupfer und Gold ver-
wandeln.« (* Beyer, 253) Es geht also bei diesen drei Ex-
perimenten vor allem um zwei Ziele : einmal die Erlan-
gung der Unsterblichkeit und dann die Produktion von
Gold, das heißt um materiellen Reichtum. Entsprechend
lesen wir in einem Kommentar zum Kalachakra-Tantra :
»Dann kommt die alchemistische Praxis, welche in die-
sem Falle die Herstellung von Gold durch den Gebrauch
des Elixiers darstellt.« (* Newman, 1987, 120)
Doch ging es den »wahren« Adepten (ob Tantrikern oder
europäischen Alchemisten) nicht nur um das reale gelbe
Metall, sondern um das sogenannte »geistige Gold«. Dar-
unter verstand man im Westen den »Stein der Weisen« oder
das »hermetische Elixier«, das den Experimentator in einen
Übermenschen verwandelte. Alchemie und Tantrismus ha-
ben deswegen dasselbe spirituelle Ziel. Um dieses zu errei-
chen, waren im Labor des Adep­ten mehrere Wandlungs-
prozesse notwendig, die nicht nur in der Gestalt von che-
mischen Vorgängen stattfanden, sondern die der Alchemist
auch als sukzessive Transformation seiner Persönlichkeit er-
lebte, das heißt, seine Psyche wurde im Laufe des Experi-
mentierens mehrmals »aufgelöst« und dann wieder zusam-
mengesetzt. Solve et coagula (löse und binde) ist deswegen
die erste und bekannteste Maxime der hermetischen Kunst.
Auch dieser Grundsatz beherrscht das tantrische Ritual in

250
zahlreichen Varianten, etwa wenn der Yogi seinen mensch-
lichen Leib auflöst, um ihn als göttlichen Körper wieder zu
rekonstruieren.
Ohne auf zahlreiche weitere Parallelen zwischen Tan-
trismus und der »Hohen Kunst« einzugehen, wollen wir
uns hier auf ein Primärereignis in der europäischen Al-
chemie konzentrieren, das wir als das »alchemistische
Frauenopfer« bezeichnen und das für die Adepten der
Hohen Kunst eine ebenso zentrale Rolle spielt wie das
»tantrische Frauenopfer« für die Tantriker. Drei Stufen
sind bei diesem Opferereignis zu untersuchen :

1. Das Opfer der »dunklen Frau« oder der »schwarzen


Materie« (Nigredo)
2. Die Absorption der »Jungfrauenmilch« oder Gyner-
gie (Albedo)
3. Die Erstellung des kosmischen Androgyn (Rubedo).

1. Das Opfer der schwarzen Materie (Karma Mudra)


Ausgangspunkt eines alchemistischen Experiments ist in
beiden Systemen, dem europäischen wie dem indischen,
das Reich des Grobstofflichen, Unedlen, Niedrigen, um
es dann gemäß dem »Gesetz der Umkehrung« in etwas
Segensreiches zu verwandeln. Dieser Vorgang ist – wie
wir gezeigt haben – absolut tantrisch. Deswegen kann
der buddhistische Gelehrte Aryadeva (3. Jh. n. Chr.) den
folgenden Vergleich anstellen : »So wie das Kupfer, wenn
man es mit einer Wundertinktur bestreicht, zu purem
Gold wird, so werden auch die Leidenschaften bei dem

251
Wissenden zu Hilfsmitteln des Heils.« (* Glasenapp, 30)
Die gleiche tantrische Anschauung vertritt im 18. Jahr-
hundert der französische Adept Limojon de Saint-Di-
dier, wenn er in seinem Triomphe Hermétique feststellt :
»Die Philosophen (Alchemisten) sagen, daß man die
Vollendung in den unvollendeten Dingen suchen muß
und daß man sie dort findet.« (* Hutin, 25)
In der europäischen Alchemie heißt der grobe Urstoff
des Experiments prima materia und ist grundsätzlich
weiblicher Natur. Ebenso wie in den Tantras werden auch
in den alchemistischen Texten, gleich welcher Kultur sie
angehören, niedere Stoffe wie Kot, Urin, Menstruations-
blut, Leichenteile und so weiter als die materielle Aus-
gangssubstanz für die Experimente genannt. Symbolisch
beschreibt man die Urmaterie mit Bildern wie »Schlange,
Drache, Kröte, Viper, Python«. Sie wird auch durch alle
nur denkbaren abstoßenden Frauengestalten repräsen-
tiert – durch Hexen, Giftmischerinnen, Huren, chtoni-
sche Göttinnen, durch die in der Tiefenpsychologie viel-
fach zitierte »Drachenmutter«. All das sind Metaphern
für die Dämonie des Weiblichen, wie wir sie auch schon
aus der Zeit des frühen Buddhismus kennen. Erinnern
wir uns zurück, daß Shakyamuni die Frauen allgemein
mit Schlangen, Haifischen und Huren verglichen hat.
Diese misogynen Bezeichnungen für die prima mate-
ria sind Bilder, welche einerseits die ungebändigte, tod-
bringende Natur beschreiben sollen ; andererseits gesteht
man durchaus zu, daß in »Mutter Natur« eine geheim-
nisvolle Kraft verborgen ist, die alle Dinge der Erschei-
nungswelt hervorbringen kann. Die Natur verfügt in der

252
Alchemie über die universelle Geburtskraft. Sie stellt die
Urmatrix der Elemente dar, die massa confusa, das große
Chaos, aus dem die Schöpfung hervorbricht. Titus Burck-
hardt, ein begeisterter Kenner der Hohen Kunst, bringt
die abendländische prima materia aus diesem Grunde in
einen direkten Vergleich zur tantrischen Shakti und der
schwarzen Göttin Kali : »Die Hindus betrachten in der
Tat die Alchemie selbst als tantrische Methode. Wie Kali,
so ist die Shakti auf der einen Seite die universelle Mut-
ter, die mit Liebe alle Kreaturen umarmt, auf der anderen
Seite die tyrannische Macht, die sie der Zerstörung, dem
Tode, der Zeit und dem Raum ausliefert.« (* Burckhardt,
117) Durch Kali und ihre einstige Gefolgschaft, die auf
den Verbrennungsfriedhöfen herumspukenden grauen-
erregenden Dakinis, ist im Tantrismus der alchemische
Urstoff (prima materia oder massa confusa) nicht besser
zu personifizieren.
Das Herumexperimentieren mit dem Urstoff hört sich
für einen Uneingeweihten recht harmlos an. Dahinter
verbirgt sich jedoch ein symbolischer Mord. Die schwarze
Materie als ein Symbol des Urweiblichen und der macht-
vollen Natur, aus der wir alle stammen, wird verbrannt
oder je nach Fall auch verdampft, zerschnitten oder zer-
stückelt. Mit der Zerstörung der prima materia zerstören
wir deswegen gleichzeitig unsere »Mutter« oder das »Ur-
weibliche« schlechthin. Der europäische Adept schreckt
denn auch nicht vor den krassesten Tötungsmetaphern
zurück : »Öffne den Schoß Deiner Mutter«, heißt es in
einem französischen Text aus dem 18. Jahrhundert, »mit
einer stählernen Klinge, grabe in ihren Eingeweiden und

253
dringe zu ihrer Gebärmutter vor, dort wirst du unsere rei-
ne Materie (das Elixier) finden.« (* Bachelard, 282) Sym-
bolisch steht dieser gewalttätige erste Akt der alchemi-
stischen Inszenierung mit dem Opfer, dem Tod und der
schwarzen Farbe im Kontext und wird deswegen Nigre-
do, das heißt »Schwärzung«, genannt.

2. Die Absorption der »Jungfrauenmilch« oder Gynergie


(Inana Mudra)
Die »reine Materie« beziehungsweise das »Elixier«, das
nach dem obigen Zitat aus den Eingeweiden der Mutter
Natur gewonnen wird, ist in der Alchemie nichts ande-
res als die im Tantrismus so begehrte Gynergie. Der Al-
chemist macht also ebenso wie der Tantriker einen Un-
terschied zwischen dem »groben« und dem »sublimen«
Weiblichen. Auf die Zerstörung der »dunklen Mutter«,
dem sogenannten Nigredo, folgt die zweite Phase, die
unter dem Namen Albedo (»Weißung«) bekannt ist. Der
Adept versteht darunter die »Befreiung« des feinstofflich
Weiblichen (»reine Materie«) aus den Fängen des grob-
stofflichen »Drachen« (Prima Materia). Der Meister hat
also in seinem Labor die schwarze Materie, die für ihn
die dunkle Mutter symbolisiert, nach ihrer Verbren-
nung oder Zerstückelung in ein ätherisches »Mädchen«
transformiert und die »reine Sophia«, die Inkarnati-
on der Weisheit, die »keusche Mondgöttin«, die »wei-
ße Himmelskönigin« herausdestilliert. Ein Text spricht
»vom Verwandeln der babylonischen Hure in eine Jung-
frau«. (Evola, 1993, 207)

254
Diese Transmutation ist nun nicht – wie es sich ein mo-
derner Beobachter der Vorgänge vielleicht vorstellen mag
– ein rein geistig-seelischer Prozeß. Im Labor des Alche-
misten wird tatsächlich irgendein schwarzer Urstoff ver-
brannt und wird tatsächlich eine chemische, meist flüs-
sige Substanz aus diesem Stoff gewonnen, die der Adept
am Ende des Experiments in einer Phiole auffängt. Die
Inder bezeichnen diese Flüssigkeit als Rasa, ihre euro-
päischen Kollegen als das »Elixier«. Daher der Name für
die indische Alchemie – Rasayana.
Wenn sich in der Diskussion über das alchemistische
»Jungfrauenbild« (das feinstoffliche Weibliche) alle Inter-
preten darüber einig sind, daß es sich hierbei um die gei-
stige und seelische Inspirationsquelle des Mannes han-
delt, so existiert diese dennoch stofflich als eine magi-
sche Flüssigkeit. Die »weiße Frau«, die »heilige Sophia«
ist sowohl ein Sehnsuchtsbild der männlichen Psyche als
auch das sichtbare Elixier in einer Flasche. (Im Zusam-
menhang mit der Samengnosis werden wir zeigen, daß
dies auch für den Tantrismus der Fall ist.)
Dieses Elixier hat viele Namen und heißt unter ande-
rem »Mondtau« oder aqua sapientiae (Weisheitswasser)
oder »weiße Jungfrauenmilch«. Die endgültige (chemi-
sche) Gewinnung der Wundermilch ist als ablactatio (Ab-
milchung) bekannt. Sogar in einem so konkreten Punkt
gibt es Parallelen zum Tantrismus : In der noch zu schil-
dernden »Vaseneinweihung« des Kalachakra-Tantras re-
präsentieren die Ritualgefäße, die als Opfergabe an den
Vajra-Meister übergeben werden, die Weisheitsgefähr-
tinnen (Mudras). Sie heißen »die Vasen, die das Weiße

255
(Milch) enthalten«. (* Dhargyey, 1985, 8) Aus welchen In-
gredienzen auch immer dieser »Mondtau« bestehen mag,
in beiden Kulturkreisen gilt er als das Elixier der Weis-
heit (Prajna) und als eine flüssige Form der Gynergie. Sie
wird von jedem europäischen Adepten ebenso heftig be-
gehrt wie von jedem tibetischen Tantra-Meister.
Wir können also feststellen, daß im Tantrismus die re-
ale Frau (Karma Mudra) der imaginären Geistfrau (In-
ana Mudra) ebenso gegenübersteht wie in der europä-
ischen Alchemie die dunkle Mutter (prima materia) der
»keuschen Mondgöttin« (dem weiblichen Lebenselixier
oder der Gynergie). Deswegen sind die Aufopferung der
meist aus den Unterschichten stammenden Karma Mu-
dra (prima materia) und ihre Transformation in eine
buddhistische »Göttin« (Inana Mudra) ein alchemisti-
sches Drama.
Eine andere Variante des gleichen hermetischen Stücks
zeigt den Sieg des Vajra-Meisters über die dunkle Schrec-
kensdakini (prima materia) und deren Tötung, wonach
sie (post mortem) in schwebender und sanfter Gestalt die
tantrische Bühne betritt – als nektarspendende »Him-
melswandlerin« (»die keusche Mondgöttin«). Die hexen-
hafte Friedhofshure hat sich in eine liebliche Weisheits-
spenderin verwandelt.

3. Die Erstellung des kosmischen Androgyn (Maha Mudra)


Nach dem Genuß der »Jungfrauenmilch«, dem Absau-
gen der Gynergie, wurde in der Imagination des Alche-
misten das ätherisch Weibliche aufgelöst und ist jetzt
zum Teil seines männlich-androgynen Wesens gewor-

256
den. Hier findet deswegen die zweite Opferung der Frau,
diesmal als »Sophia« oder als selbständiges »geistiges
Wesen«, statt, denn erst wenn der Adept ebenso wie der
Tantriker die Autonomie des femininen Prinzips völlig
zerstört und es in sich integriert hat, ist das Ziel des Opus
erreicht. Zu diesem Zweck bearbeitet und vernichtet er
die »keusche Mondgöttin« oder die »weiße Frau« (Inana
Mudra) wiederum durch das Element Feuer. Der italie-
nische Okkultist Julius Evola hat diesen Vorgang unge-
schminkt und mit klaren Worten beschrieben : In dieser
Phase »werden Schwefel und Feuer wieder aktiv, das le-
bendig gewordene Männliche wirkt auf die Substanz ein,
… gewinnt die Oberhand über das Weibliche, absorbiert
es und übermittelt ihm die eigene Natur.« (* Evola, 1983,
435) Das weibliche Prinzip wird demnach gänzlich vom
männlichen vereinnahmt. Etwas prosaisch ausgedrückt
heißt das, der Alchemist trinkt die oben genannte »Jung-
frauenmilch« aus seiner Phiole.
Vergleichen wir noch einmal zusammenfassend diesen
alchemistischen Prozeß mit dem Tantrismus, dann kön-
nen wir sagen, der Alchemist opfert zuerst die weibliche
»Urmutter« (Prima Materia), wie der Tantriker die reale
Frau, die Karma Mudra, opfert. Aus der Vernichtung der
Karma Mudra gewinnt der Vajra-Meister dann die »gei-
stige Frau«, die Inana Mudra, wie der Alchemist aus der
Vernichtung der Prima Materia die »Sophia« gewinnt.
Anschließend internalisiert der Tantriker die »geistige
Frau« als Maha Mudra (»Innere Frau«), wie der Adept der
Alchemie die »weiße Jungfrau« in der Form des glück-
spendenden weiblichen »Mondtaus« in sich aufnimmt.

257
Nach der Vollendung des Werkes schwindet in bei-
den Fällen das Weibliche als eine äußere, eigenständi-
ge und polare Entsprechung des Männlichen und wirkt
nur noch als eine innere Kraft (Shakti) des androgynen
Tantra-Meisters beziehungsweise androgynen Alche-
misten. In der Alchemie ist diese Verinnerlichung des
weiblichen Prinzips (im Tantrismus – die Herstellung
der Maha Mudra) unter der Bezeichnung Rubedo, das
heißt »Rötung«, bekannt.
Da die symbolische Opferung der Frau in beiden Fäl-
len durch das Element Feuer geschieht, handelt es sich bei
der Alchemie ebenso wie beim buddhistischen Tantris-
mus um einen androzentrischen Feuerkult. Durch ma-
gische Riten wird hier wie dort ein doppelgeschlechtli-
ches, egozentriertes Überwesen produziert – ein »gei-
stiger König«, ein »Großer Magier« (Maha Siddha), ein
machtvoller »Androgyn«, der »universelle Hermaphro-
dit«. »Er ist der Hermaphroditus des anfänglichen We-
sens«, schreibt C. G. Jung über die Zielfigur des alche-
mistischen Werkes, »welches in das klassische Bruder-
Schwester-Paar auseinandertritt und in der ›conjunctio‹
sich einigt.« (* Jung, 1975, 338, 340) Endziel jedes über
die Goldmacherei hinausgehenden alchemistischen Ex-
periments ist somit die Vereinigung der Geschlechter in
der Person des Adepten, in der Vorstellung, er könne nun
die unbegrenzte Macht als Mann-Frau entfalten. Diesel-
be doppelgeschlechtliche Definition des abendländischen
Übermenschen widerspiegelt sich im Selbstverständnis
des Tantrikers, der nach seiner mystischen Vereinigung
(conjunctio) mit dem Weiblichen – sprich nach der Ab-

258
sorption der Gynergie – als der »Herr beider Geschlech-
ter« wiedergeboren wird.
Im Westen wie im Osten erfährt er sich dann als »Vater
und Mutter seiner Selbst«, als »Kind seiner Selbst« (Evola,
1993, 48). »Er vermählt sich mit sich selbst, er schwängert
sich selbst.« Er wird »Vater und Erzeuger aller genannt,
weil in ihm jeglicher Dinge Same und Bildkraft wohnt.«
(Evola, 1993, 35) Mit einem Satz : Der mystische König
der Alchemie ist prinzipiell mit dem tantrischen Maha
Siddha (Großzauberer) identisch.
Es würde diese Studie übersteigen, auf weitere Mu-
ster einzugehen, welche die beiden Systeme miteinander
verbinden. Wir werden jedoch im gegebenen Fall darauf
zurückkommen. Unserer Ansicht nach sind alle Ereig-
nisse des Tantrismus in der einen oder anderen Form
im symbolischen Szenario der Alchemie wiederzuent-
decken, die Erotisierung des Universums, die tödlichen
Gefahren, die mit der Entfesselung der weiblichen Ele-
mente verbunden sind, das »Gesetz der Umkehrung«,
das Spiel mit dem Feuer, das Verschlingen des »Mon-
des« (des Weiblichen) durch die »Sonne« (das Männli-
che), die mystische Körpergeographie, die Mantren und
Mandalas, die Planeten- und Sternenmystik, die Mikro-
Makrokosmos-Theorie, das dunkle und das klare Licht,
der inszenierte Weltuntergang, der Machtgriff nach dem
Universum, die Despotie des patriarchalen Eremitentums
und so weiter. Wir wollen es bei dieser Aufzählung be-
ruhen lassen und beenden das Kapitel mit einem lapi-
daren Statement von Lhundop Sopa, einem modernen
tibetischen Spezialisten für das Kalachakra-Tantra : »So

259
wird der Kalachakra-Pfad am Ende eine Art von Alche-
mie.« (* Newman, 1985, 150) Beiden Systemen liegt folg-
lich dasselbe Urskript zugrunde.
3. DAS KALACHAKRA-TANTRA :
DIE MIKROKOSMISCHE KONSTRUKTION
EINES WELTENHERRSCHERS

Das Kalachakra-Tantra (Zeittantra) gilt als der letzte


und jüngste aller offenbarten Tantratexte (ca. 10. Jahr-
hundert), aber auch als der »höchste aller Wege des Vaj­
rayana«, als »der Gipfel aller buddhistischen Systeme«.
Es unterscheidet sich von früheren Tantras durch seinen
enzyklopädischen Charakter. Man hat es als »die am
meisten komplexe und profunde Darstellung (des Bud-
dha) zu Fragen der Spiritualität und weltlicher Angele-
genheiten« bezeichnet. (* Newman, 1985, 31) Wir kön-
nen es deswegen als die Summa Theologia des buddhisti-
schen Tantrismus bezeichnen, als die Wurzel und Krone
der Lehre, als das Haupttantra unseres »degenerierten«
Zeitalters. (* Newman, 1985, 40) Tsongkapa (1357–1419),
der bedeutende Reformator und Gründer des tibeti-
schen Gelugpa-Ordens, war der Meinung, daß derjeni-
ge, der das Kalachakra-Tantra kennt, ohne Mühen alle
anderen buddhistischen Geheimlehren beherrscht.
Wenn auch jede tibetische Schulrichtung das Kalacha-
kra-Tantra praktiziert, so gibt es doch seit jeher nur ein-
zelne Experten, die dieses komplizierte Ritual wirklich
durchführen können. Für die Gelbmützen (Gelugpa) sind
das traditionsgemäß der Dalai und der Panchen Lama.
Eine kleine Studiengruppe des Klosters Namgyal steht
mit Sachkenntnis dem Dalai Lama bei der Durchfüh-
rung der Zeremonien zur Verfügung.

261
Das Ritual beinhaltet einen öffentlichen und einen ge-
heimen Teil, den die Mitwirkenden hinter verschlosse-
nen Türen inszenieren. An den publiken Einweihungen
dürfen Schüler mit geringer oder auch Personen mit gar
keiner Kenntnis teilnehmen. Die geheimen Initiationen
sind dagegen nur für wenige Auserwählte zugänglich.
Trotz der elitären Auslese suggerieren die Texte manch-
mal, es stünde jedem Menschen die Möglichkeit offen, die
höchste Erleuchtungsstufe des Kalachakra-Tantras in ei-
nem einzigen Leben zu erreichen. Die Realität ist jedoch
anders : Von Hunderten, die an einer öffentlichen Ver-
anstaltung teilnehmen – lesen wir in einem Kommen-
tar –, wird wohl nur einer anschließend sein tägliches
Gebet sprechen. Von Tausenden wird nur einer mit der
für dieses Tantra eigentümlichen Yogapraxis beginnen,
und davon wird nur eine Handvoll in die geheimsten
Initiationen eingeführt. (* Mullin, 1991, 28) Im Vima-
laprabha, dem ersten Kommentar zum Urtext, ist un-
mißverständlich zu lesen, daß Laien (Nicht-Mönche) den
Einweihungsweg gar nicht betreten dürfen. (* Newman,
1987, 422)
Aber auch wenn ihm das Höchste Ziel verschlossen
bleibt, so soll jeder Partizipiant nichtsdestotrotz aus
den rituellen Massenveranstaltungen zahlreiche spi-
rituelle Vorteile für sich gewinnen. Karmische Beflec-
kungen werden dadurch nach der Aussage des XIV Da-
lai Lama gesäubert, und neuer Samen für gutes Karma
beginnt zu wachsen. Den Eifrigeren winkt die Wieder-
geburt in Shambhala, einem mit dem Kalachakra-My-
thos eng verbundenen Paradies. Auf jeden Fall erhält

262
ein Schüler »die Gelegenheit, sich in den hellen Strahlen
der geistigen Kommunion mit dem initiierenden Lama
zu sonnen – in diesem Fall Seiner Heiligkeit, dem Dalai
Lama, um voller Hoffnung ein Fünkchen spiritueller En-
ergie aus diesem Anlaß in sich aufzunehmen.« (* Mullin,
1991, 28) Da nach offizieller Version der zelebrierende
Guru das Kalachakra-Ritual unter anderem zur »Befrei-
ung der gesamten Menschheit« und zur »Aufrechterhal-
tung des Weltfriedens« durchführt, nehmen sowohl die
dem Schauspiel beiwohnenden Massen als auch die ein-
zelnen Initianten an dieser hohen ethischen Zielsetzung
teil. (* Newman, 1987, 382)
Grundsätzlich werden die buddhistischen Tantras in
Vater- oder Mutter- oder nicht-duale Tantras unterteilt.
Im Vater-Tantra wird vor allem die »Methode« zur Schaf-
fung eines göttlichen Formkörpers (Vajrakaya), mit dem
sich der Yogi identifiziert, gelehrt. Zentral ist hier also die
Selbsterzeugung als eine Gottheit. Umzuwandeln sind zu
diesem Zweck die folgenden negativen Eigenschaften des
Adepten : Aggression, Begierde und Unwissenheit.
Das Mutter-Tantra legt vor allem Wert auf die Herstel-
lung eines Zustandes der Leere und der unerschütterli-
chen Glückseligkeit, sowie auf das Hervorrufen des Kla-
ren Lichtes. Als Mittel benutzt der Yogi hier ausschließ-
lich die Transformation von sexueller Begierde.
Beim nicht-dualen Tantra handelt es sich um eine Kom-
bination des Vater- mit dem Mutter-Tantra. Die »Schaf-
fung eines göttlichen Formkörpers« wird also mit dem
»Hervorbringen des Klaren Lichtes« und der »Glückseli-
gen Leere« kombiniert. Der Yogi will demnach sowohl als

263
machtvolle Gottheit erscheinen als auch die Fähigkeit er-
langen, in einem Nirvana-gleichen Zustand bedingungs-
los zu ruhen und sich im mystischen Licht zu baden.
Da das Kalachakra-Tantra alle diese Möglichkeiten der
Erleuchtung verspricht, klassifizierte es der berühmte ti-
betische Schriftgelehrte Buston (1290–1364) als nicht-du-
ales Tantra. Seine Meinung blieb jedoch nicht unwider-
sprochen. Ein anderer hervorragender Kenner des Ri-
tuals, Kay-drup-jay (1385–1438) bezeichnete es wie die
meisten Gelugpa-Autoren als Mutter-Tantra.
Eine weitere Klassifizierung unterteilt das »Zeittantra«
in einen äußeren, inneren und alternativen Teil ein.
Das »äußere« Tantra beschreibt die Entstehung und
Vernichtung des Universums, weist Abhandlungen über
Astronomie und Geographie auf und beschäftigt sich mit
der Weltgeschichte, mit Prophezeiungen und Religions-
kriegen. Große Bedeutung haben hier die Berichte über
das Zauberreich Shambbala. Ein anderes Hauptgewicht
liegt auf der Astrologie und den damit verbundenen ma-
thematischen Berechnungen. Aus dem astronomischen
und astrologischen Kalachakra-System leitet sich die ge-
samte nationale Kalender- und Zeitrechnung der Tibe-
ter ab.
Das »innere« Kalachakra behandelt dagegen die en-
ergetische Anatomie des mystischen Körpers. Nach
tantrischen Vorstellungen besteht der Leib eines jeden
Menschen nicht nur aus Fleisch und Blut, sondern aus
mehreren Energiezentren, die miteinander durch Kanä-
le verbunden sind. Flüssigkeiten, Sekrete und »Winde«
durchströmen und durchwehen dieses komplexe Netz-

264
werk. Bei den Sekreten spielen der männliche Same und
das weibliche Menstruationsblut eine wichtige Rolle.
Im »alternativen« Kalachakra lernen wir die Techni-
ken kennen, mit denen der Yogi diese inneren Energie-
ströme je nach Notwendigkeit hervorruft, auflöst oder
kontrolliert. Weiterhin wird hier gelehrt, wie sie mit den
Erscheinungen des äußeren Kalachakra (Sonne, Mond
und Sterne …) in eine magische Beziehung gebracht wer-
den können.
Da das Zeittantra zu den Höchsten Geheimlehren
(Anuttara-Yoga-Tantra) zählt, darf es nur von ganz we-
nigen Auserwählten praktiziert werden. Im Vorspann
eines modernen Kommentars von Ngawang Dhargyey
ist deswegen zu lesen : »Der Verkauf und die Verbreitung
dieses Buches sind eingeschränkt. Wir weisen dringlich
daraufhin, daß nur Eingeweihte in das Höchste Yoga-
Tantra, insbesondere das Kalachakra-System. selbst, es
lesen dürfen. Diese Vorsicht ist für unsere Tradition bin-
dend, sie zu mißachten, kann nur verhängnisvolle Fol-
gen haben.« (* Dhargyey, 1985, iii)
Solche Drohgebärden zählen zum okkulten Showge-
schäft, denn heute ist es nicht einmal notwendig, Tibe-
tisch oder Sanskrit zu verstehen, um sich in die Tantras
einzulesen, da zahlreiche Texte und ihre Kommentare in
europäische Sprachen übersetzt wurden und allgemein
zugänglich sind. Auch Dhargyeys »verbotener« Text (A
Commentary on the Kalachakra Tantra) liegt in den gro-
ßen öffentlichen Bibliotheken aus.
David Snellgrove, ein hervorragender und unbestech-
licher Interpret der tibetischen Religionsgeschichte, glos-

265
siert denn auch die weitverbreitete und von den Lamas
geförderte Geheimniskrämerei mit folgenden Sätzen : »Da
ist nichts besonders Geheimes um den sexuellen Yoga
des Höchsten Yoga Tantra ; man muß nur die Texte le-
sen.« (* Snellgrove, 1987, Bd. 1, 269)
Das war in der Tat im alten Tibet anders. Die Höchsten
Yogalehren durften nicht gedruckt werden, sondern wur-
den allenfalls in Handschriften verbreitet. Es war selbst
für Mönche sehr schwierig, höhere Einweihungen zu er-
halten, und diese setzten eine weit längere Vorbereitungs-
zeit, wie es in unseren Tagen üblich ist, voraus. Massen-
initiationen zählten im Gegensatz zu heute zu den aller-
größten Seltenheiten.

Die sieben unteren Einweihungen


und ihre Symboldeutung

Wenden wir uns jetzt den verschiedenen im Kalacha-


kra-Tantra abgehandelten Initiationsstufen, ihren Ei-
genschaften und Methoden zu. Was versteht man unter
einer Einweihung (abhisheka) ? Es handelt sich dabei um
die Übertragung spiritueller Energien und Einsichten
von einem Priester auf eine Person, die ihn darum ge-
beten hat. Die Einweihung setzt also eine hierarchische
Beziehung voraus. In der klassischen Form überträgt ein
Meister (Guru oder Lama) seine Kenntnisse und my-
stischen Kräfte auf einen Schüler (Sadhaka). Auch der
Meister hat einst vor seinem Guru gesessen, bevor ihn
dieser ebenfalls initiierte. Die Kette der Initiierten, von

266
denen sich alle auf den historischen Buddha zurückfüh-
ren lassen, wird »Übertragungslinie« genannt. Es ist üb-
lich, daß die Übertragung mündlich von Ohr zu Ohr
geschieht. Man spricht deswegen auch von der »ins Ohr
geflüsterten Linie«. (* Beyer, 399) Worte sind aber kei-
nesfalls eine Notwendigkeit. Die Initiation kann auch
ohne Sprache, zum Beispiel durch Handgesten oder das
Zeigen von Symbolbildern vollzogen werden.
Beide Übertragungsarten (die mündliche und die
sprachlose) finden noch zwischen Menschen statt. Wenn
jedoch die buddhistischen Gottheiten ohne eine physi-
sche Zwischenperson den Schüler direkt initiieren, spricht
man von der »Bewußtseinslinie der Sieger«. Als »Sieger«
werden die transzendenten Buddhas (Dhyani Buddhas)
bezeichnet, welche sich unmittelbar an den irdischen Ad-
epten wenden. Eine Unterart solcher Übertragungen aus
dem Jenseits heißt die »Vertrauenslinie der Dakinis«. Hier
entdeckt ein Adept heilige Texte, die in Vorzeiten für ihn
in Höhlen und Bergspalten von den Dakinis versteckt
wurden, um ihn nach ihrer Entdeckung zu unterweisen.
Solche »Bewußtseinsschätze«, auch termas genannt, for-
derten gemeinhin die scharfe Kritik der orthodoxen La-
mas heraus, weil sie ihr Privileg, alleine Einweihungen
vorzunehmen, in Frage stellten.
Das Kalachakra-Tantra ist explizit nach dem Modell der
traditionellen indischen Königsweihe (Rajasuya) aufge-
baut. So wie durch den Rajasuya der Erbprinz autorisiert
wird, den Status eines Königs einzunehmen, so ermäch-
tigt die tantrische Initiation den Adepten, als die Ema-
nation einer buddhistischen Gottheit zu wirken. Selbst-

267
verständlich überträgt auch der Lama nicht als Mensch,
sondern als übermenschliches Wesen in humaner Gestalt
die göttlichen Energien auf den Initianten.
Es ist die Pflicht des Schülers, während des gesamten
Einweihungsprozesses seinen Guru als einen lebenden
Buddha (tibet. Kundun) zu imaginieren. Damit er nie das
übermenschliche Wesen des Meisters vergißt, schreibt
das Kalachakra-Tantra eine Guruyoga-Liturgie vor, die
vom Initianten mindestens dreimal täglich und dreimal
nächtlich aufzusagen ist. Einige solcher Liturgien sind
Hunderte von Seiten lang. (* Mullin, 1991, 109) In allen
aber finden sich sinngemäß solche Worte wie die folgen-
den, mit denen der Lama den absoluten Gehorsam des
Schülers (Sadhaka) fordert : »Von nun an bin ich Deine
(Gottheit) Vajrapani. Du mußt tun, was ich Dir sage. Du
sollst mich nicht verspotten, und wenn Du das tust, wird
die Zeit des Todes kommen, und Du wirst in die Hölle
fahren.« (* XIV Dalai Lama, 1985, 242)
Da es das Ziel jeder tantrischen Initiation ist, daß der
Sadhaka selber einen transhumanen Status erhält, ent-
wickelt er schon zu Beginn seines Einweihungsweges den
»göttlichen Stolz« und wird, wie wir schon vom I Da-
lai Lama erfahren, in ein »Gefäß« verwandelt, das die
übernatürlichen Energien aufnimmt. (* Mullin, 1991, 102).
Das gilt auch für das Kalachakra-Tantra.

268
Die Aufopferung des Schülers

Aber tritt nicht jetzt zwischen der Gottheit, welche hin-


ter dem Guru steht, und der neugeschaffenen Schüler-
gottheit eine metaphysische Konkurrenz auf ? Aus zwei
Gründen ist das nicht der Fall. Zuerst bildet die gött-
liche Wesenheit hinter dem Meister und dem Schüler
eine Einheit. Es gilt geradezu als ein Charakteristikum
göttlicher Entitäten, daß sie in verschiedenen Gestalten
gleichzeitig erscheinen können. Zum anderen ist es nicht
der Schüler (Sadhaka), der die Gottheit hervorbringt, im
Gegenteil – er verliert ganz und gar seine menschliche
Individualität und verwandelt sich in die »reine Lee-
re«, ohne dabei seinen wahrnehmbaren Körper aufge-
ben zu müssen. Dieser »leere Körper« des Sadhaka wird
dann im Verlauf der Einweihung von der Gottheit bezie-
hungsweise vom Lama besetzt. Chögyum Trungpa hat
das unmißverständlich zum Ausdruck gebracht : »Wenn
wir unseren Körper dem Guru übergeben, dann über-
geben wir unseren primären Bezugspunkt. Unser Kör-
per wird Eigentum der Linie ; er gehört nicht mehr uns …
Ich meine, daß wir bei der Übergabe des Körpers unser
geliebtes Leben psychologisch jemandem anderen über-
geben haben. Wir dürfen an unserem geliebten Leben
jetzt nicht mehr festhalten.« (* June Campbell, 161) Der
Schüler hat als individuelle Seele und Geist überhaupt
aufgehört zu existieren. Nur sein Leib, ausgefüllt von ei-
nem Gott beziehungsweise von seinem Guru, wandelt
sichtbar durch die Erscheinungswelt.
Das Kalachakra-Tantra beschreibt diesen Vorgang als

269
einen »Verschlingungsakt«, den der Lama mit dem Initi-
anten vornimmt. In einem mehrmals wiederholten zen-
tralen Drama des Zeittantras wird die orale Vernichtung
des Sadhakas anschaulich demonstriert, auch wenn sich
der Vorgang nur in der Imagination der Kultteilnehmer
abspielt. Folgende Szene spielt sich ab : Der Guru, als Ka-
lachakra-Gottheit, schluckt den Schüler, nachdem dieser
auf die Größe eines Tropfens zusammengeschmolzen ist.
Als Tropfen durchwandert dann der Initiant den Körper
seines Meisters bis hin zur Penisspitze. Von dort aus stößt
ihn der Guru in die Vagina und Gebärmutter Vishvama-
tas, der Weisheitsgefährtin Kalachakras, aus. Im Leibe
Vishvamatas wird der Schülertropfen anschließend in
»Nichts« aufgelöst. Erst nach dieser vaginalen Vernich-
tung findet die Neugeburt des Sadhaka als buddhistische
Gottheit statt. Da der androgyne Vajra-Meister Kalacha-
kra und Vishvamata gleichzeitig in einer Person darstellt
und vom Adepten während des gesamten Initiationspro-
zesses als »Vater – Mutter« imaginiert werden muß, über-
nimmt er als Mann alle geschlechtsspezifischen Stadien
des Geburtsvorganges – angefangen von der Ejakulati-
on, über die Empfängnis, die Schwangerschaft bis hin
zum Gebärakt. 14

14 Das Selbstopfer (Chöd) : Im Chöd-Ritual bietet der Schüler den


Dakinis seinen eigenen Körper zum Fraße an, um Erleuchtung
zu erlangen. Es findet vornehmlich auf Leichenplätzen statt. Die
Fleischfresserinnen erscheinen in finsterer Nacht oder bei Voll-
mond und beginnen damit, dem Kandidaten die Haut vom Leibe
zu ziehen und ihn Stück und Stück bis auf die Knochen auseinan-
derzureißen. Nicht einmal jetzt machen sie halt, sondern verzeh-
ren zum Schluß noch mit schauerlichem Geknacke die Gebeine →

270
In einem gewissen Sinne erlangt der Guru, zumindest
aber dessen übermenschliches Bewußtsein, durch die Be-
nutzung des Schülerkörpers Ewigkeit. Solange der Mei-
ster noch lebt, hat er sich in der Gestalt des Sadhaka so-
zusagen verdoppelt, stirbt er, dann existiert sein Geist
im Körper des Schülers fort. Er kann sich demnach so
lange in der Welt des Samsara reproduzieren, so lange
es Menschen gibt, die bereit sind, ihm in Liebe ihre In-

← und das Mark. Der Initiant »stirbt« dabei, und alle seine körper-
lichen Aggregate werden zerstört. Er schafft damit die vollstän-
dige Befreiung von allem Irdischen und den Sprung in den Er-
leuchtungszustand. De facto findet dieser Tötungsakt nur sym-
bolisch statt, nicht jedoch in der Imagination des Schülers, der
ja die Szene wie einen Traum mit realen Gefühlen erlebt. Das
kann von Menschen, die sich rein passiv verhalten, kaum durch-
gestanden werden. Alexandra David Neel ist auf ihrer Tibetrei-
se gespenstischen, von allen gemiedenen Gestalten begegnet, die
irrsinnig umherirrten, weil sie die Chöd-Zeremonien psychisch
nicht überstanden hatten. Deswegen schreibt das Ritual auch vor,
daß sich der Adept nicht nur als das Opfer, sondern ebenso ak-
tiv als der Opferer in der Gestalt einer Göttin oder einer Daki-
ni zu imaginieren hat. »Sobald Dein Bewußtsein in den Körper
der Göttin eintritt, dann stelle Dir vor, daß Dein früherer Kör-
per jetzt wie ein Leichnam zu Boden sinkt … und Du, der Du
jetzt die Göttin bist, benutzt das geschwungene Messer in Dei-
ner Rechten, um ihm den Schädel gerade über den Augenbrauen
durchzuschneiden.« (* Hopkins, 1982, 162) Der Praktikant ver-
zehrt anschließend als blutgierige Vajra-Dakini den eigenen, vor
ihm liegenden Leib. So gibt er bei diesem Ritual nicht nur sein
Leben hin, sondern spielt ebenso die sadistische Henkerin, die es
zerstört. Da diese immer ein weibliches Wesen ist, identifiziert er
sich mit dem Imago der Bösen Göttin. Er versucht den Akt, den
er als Tantriker am meisten fürchtet, nämlich die Tötung durch
das Weibliche, dadurch zu überwinden, daß er ihn an sich selbst
in der Gestalt einer Frau vollzieht.

271
dividualität aufzuopfern und ihm ihren Leib als Wohn-
stätte zu überlassen.
Der Tantrismus entwickelt demnach nicht die guten
Eigenschaften einer Person, um den Menschen zu ver-
edeln oder zu vergöttlichen, sondern er zerstört konse-
quent und voll bewußt alle »Persönlichkeitsaggregate«
des Initianten, um an deren Stelle das Bewußtsein des
initiierenden Gurus und der diesem unterstellten Gott-
heit zu setzen.

Der Linienbaum

Der Schüler dient als leeres Gefäß, in das nicht nur der
Geist des Meisters, sondern auch die dahinter stehende
Linie aller vorangegangenen Lehrer und die durch sie
repräsentierten Gottheiten hineinströmen können. Sie
alle sind es, die nun den Körper des Sadhakas besetzen
und durch ihn in der realen Welt wirksam werden.
Wer im Lamaismus erst einmal zur Linie der Hohen
Eingeweihten zählt, wird Teil eines »mystischen Baumes«,
dessen Blätter, Äste, Stamm und Wurzeln aus den zahl-
reichen Buddhas und Bodhisattvas des tibetisch-tantri-
schen Pantheons bestehen. An der Spitze oder in der Mit-
te der Baumkrone thront das Höchste Erleuchtungswe-
sen (der ADI BUDDHA), das in den einzelnen Schulen
unterschiedliche Namen trägt. Von ihm aus fließt die
göttliche Energie in alle Teile bis hinab in die Wurzeln.
Evans-Wentz vergleicht diesen Abfluß mit einem elektri-
schen Strom : »Wie die Elektrizität von einer Empfangs-

272
station zur anderen strömt, so wird die göttliche Gnade …
ausgehend vom höchsten Buddha Vajradhara zuerst auf
die Linie der himmlischen Gurus übertragen, dann auf
die irdischen, apostolischen Gurus und von diesen auf
jeden der untergeordneten Gurus und dann durch die
mystische Initiation auf die Neophyten.« (Evans-Wentz,
1978, 9)
Alle Hohen Eingeweihten sind durch einen tiefen Gra-
ben von der Masse der einfachen Gläubigen und der son-
stigen leidenden Wesen getrennt, welche sich entweder
vor dem dynastischen Linienbaum mit höchster Ehr-
furcht verbeugen oder ihn in ihrer Ignoranz gar nicht
wahrnehmen können. Dennoch besteht eine Beziehung
zwischen dem zeitlosen Universum der Gurus und den
»normalen« Menschen, da die Wurzeln des mystischen
Baumes in derselben Welt ankern, in der auch die Sterb-
lichen leben. Von ihnen bezieht die spirituelle Hierarchie
ihre natürlichen und seelischen Ressourcen, sowohl an
materiellen Gütern als auch an religiöser Hingabe und
Liebesenergie. Der kritische Tibetforscher Peter Bishop
hat deswegen mit vollem Recht darauf aufmerksam ge-
macht, daß der mystische Linienbaum im Lamaismus als
eine »bürokratisch, reglementierte Mönchsorganisation«
erscheint : »Dieses idealisierte Bild einer hierarchischen
Ordnung, wo jedes Ding bewertet und benotet wird und
wo ihm ein spezifischer Platz je nach dem Stufengrad zu-
gewiesen wird, wo Kontrolle, Überwachung und Auto-
risierung absolut sind, ist die Wurzelmetapher des tibe-
tischen Buddhismus.« (* Bishop, 1993, 118)

273
Die sieben ersten Einweihungen

Insgesamt zählt das Kalachakra-Tantra 15 Einweihungs-


stufen. Die ersten sieben gelten als untere Weihen und
werden vom Dalai Lama öffentlich und für die breiten
Massen gegeben. Die anderen acht sind nur für eine win-
zige Minderheit von Auserwählten gedacht. Der Tibeto-
loge Alexander Wayman macht einen Vergleich mit den
antiken Mysterien von Eleusis, deren erster Teil auch vor
einem großen Publikum abgehalten wurde, während
am zweiten geheimen Teil nur wenige nachts im Tempel
partizipierten. (* Wayman, 1983, 628).
Die unteren sieben Initiationen sollen hier nur kurz
und bündig geschildert werden. Sie lauten : Wassereinwei-
hung (1), Kroneneinweihung (2), Kronenbandeinweihung
(3), Vajra- und Glockeneinweihung (4), Verhaltenseinwei-
hung (5), Namenseinweihung (6), Erlaubniseinweihung
(7). Alle sieben werden mit den Entwicklungsstadien ei-
nes Kindes von der Geburt bis zum Erwachsensein ver-
glichen. Insbesondere dienen sie der Reinigung des Schü-
lers.
Vor Beginn des Initiationsweges legt der Neophyt ein
Gelübde ab, mit dem er sich verpflichtet, ohne Unterlaß
nach Buddhaschaft zu streben, alle Missetaten zu bereuen
und zu meiden, andere Wesen auf den Erleuchtungsweg
zu führen und den Anordnungen des Kalachakra-Mei-
sters absolute Folge zu leisten. Vor allem aber hat er sei-
nen androgenen Guru als das Göttliche Paar, Kalachakra
in Vereinigung mit dessen Gefährtin Vishvamata, zu vi-
sualisieren. Mit verbundenen Augen muß er sich vorstel-

274
len, durch ein dreidimensionales Mandala (einen ima-
ginären Palast) zu wandern, der von den vier Meditati-
onsbuddhas (Amithaba, Ratnasambhava, Amoghasiddhi,
Vairochana) und ihren Partnerinnen bewohnt ist.
Nachdem man ihm die Binde von den Augen gelöst hat,
wirft er eine Blüte in ein vor ihm liegendes Heiliges Bild
(Mandala), das aus buntem Sand gefertigt wurde. Der
Ort, an dem die Blume zum Liegen kommt, zeigt dieje-
nige Buddhagestalt an, mit der sich der Schüler während
seiner Initiationsreise zu identifizieren hat. In dem darauf
folgenden Abschnitt erhält er vom Guru zwei Halme Kus-
hagras, weil einst der historische Buddha, als er auf dieser
Grasart sitzend meditierte, Erleuchtung erfuhr. Weiterhin
gibt der Lama ihm einen Zahnstocher zur Reinigung, so-
wie ein rotes Band, das er mit drei Knoten am Oberarm
befestigen muß. Danach empfängt er Instruktionen für
den Schlaf. Vor dem Zubettgehen hat er, sooft wie möglich,
bestimmte Mantren zu zitieren, sich dann auf die rechte
Seite zu legen, das Gesicht in Richtung des Sandmanda-
las. In der Nacht werden ihm Träume geschickt, welche
der Guru anderen Tages analysiert. Als besonders ungün-
stig gilt es, wenn ein Krokodil den Schüler im Traum ver-
schlingt. Das Untier gilt als Symbol für die Welt der Illu-
sionen (Samsara) und zeigt dem Sadhaka an, daß er noch
stark darin verhaftet ist. Durch eine Meditation über die
Leerheit aller Erscheinungen kann er aber alle ungünsti-
gen Traumbilder wieder auflösen.
Es folgen weitere Anweisungen und Riten, welche eben-
falls die Reinigung betreffen. Am Ende der ersten sie-
ben Stufen löst dann der Vajra-Meister imaginativ den

275
Schüler in »Leerheit« auf, um ihn anschließend als sein
eigenes polares Ebenbild, als Kalachakra in Vereinigung
mit Vishvamata, zu imaginieren. Wir dürfen nie ver-
gessen, daß der androgyne tantrische Lehrer die beiden
Zeitgottheiten in einer Person darstellt. Da der Schüler
schon von Beginn der Einweihung an keinerlei indivi-
duelle Existenz mehr besitzen darf, werden durch diese
meditative Imagination die beiden Zeitgottheiten ver-
doppelt – sie erscheinen sowohl im Tantra-Meister als
auch in der Person des Sadhakas.
Wir sehen also, daß schon in der ersten Phase der Ka-
lachakra-Einweihung das Wechselspiel von Auflösung
und Kreation das Initiationsdrama bestimmt. Noch oft
wird der Lehrer im Verlaufe des Rituals seinen Schüler
imaginativ vernichten, um an dessen Stelle Gottheiten zu
setzen, oder er wird den Sadhaka dazu auffordern, den
individuellen Vernichtungsakt an sich selber zu vollzie-
hen, bis von seiner Persönlichkeit nichts mehr übrig bleibt.
Im übertragenen Sinne können wir diese Zerstörung und
Selbstzerstörung des Individuums als ein ständig vollzo-
genes »Menschenopfer« bezeichnen, da ja der »Mensch«
zugunsten einer Gottheit seine irdische Existenz lassen
muß. Das ist keineswegs eine großzügige Auslegung der
Tantratexte, sondern wird in ihnen wortwörtlich gefor-
dert. Der Schüler hat sich mit Geist und Seele, Haut und
Haaren dem Guru und den durch ihn wirkenden Göttern
darzubringen. Diese und alle ihre göttlichen Eigenschaf-
ten sind im übrigen durch einen Kanon fixiert, sie haben
keine eigene Entwicklung mehr und wirken als starre ar-
chetypische Bilder auf die Wirklichkeit ein.

276
Angesichts dieses gesamten von uns beschriebenen
Prozedere ist es sinnvoll, sich wieder an die oben auf-
gestellte These zu erinnern, daß die »Hervorbringung«
der Gottheit und die »Vernichtung« des Menschen in ei-
nem ursprünglichen Ursachenzusammenhang mitein-
ander stehen, oder – um es noch klarer auszudrücken
– daß sich die Götter und der sie manipulierende Guru
aus den Lebensenergien des Schülers ernähren.
Die beiden ersten Initiationen, die Wasser- und Kro-
neneinweihung, gelten der Reinigung des mystischen Lei-
bes. Die Wassereinweihung (1) entspricht dem Baden des
Kindes kurz nach der Geburt. Purifiziert werden im Ener­
giekörper des Sadhaka die fünf Elemente (Erde, Wasser,
Feuer, Luft und Äther). In seiner Imagination verschlingt
anschließend der Guru in der Gestalt von Kalachakra den
Initianten, der zur Größe eines Tropfens zusammenge-
schmolzen ist, stößt ihn anschließend durch seinen Pe-
nis aus in den Schoß seiner Partnerin Vishvamata, die
ihn am Ende als eine Gottheit gebiert.
Wir dürfen bei diesem Empfängnis- und Geburtssze-
nario – wie oben schon erwähnt – nie aus den Augen ver-
lieren, daß der androgyne Guru gleichzeitig den Zeitgott
und die Zeitgöttin in seiner Person repräsentiert. Die ge-
samte Aufführung wird also durch ihn alleine inszeniert.
Zum Abschluß der Wassereinweihung berührt der Mei-
ster den Initianten mit einer Muschel an den »fünf Plät-
zen« : dem Scheitel, den Schultern, den Oberarmen, der
Hüfte und den Oberschenkeln. Wahrscheinlich ist die
Muschel hier ein Symbol für das Element Wasser.
Die nun folgende Kroneneinweihung (2) entspricht dem

277
ersten Haarschnitt des Kindes. Gereinigt werden hier die
sogenannten »fünf Aggregate« des Schülers (Form, Ge-
fühl, Wahrnehmung, unbewußte Strukturen, Bewußt-
sein). Unter »Reinigung« müssen wir einmal die Auflö-
sung aller individuellen Persönlichkeitsstrukturen ver-
stehen und anschließend deren »Neuschaffung« als die
Eigenschaften einer Gottheit. So wird der Vorgang in den
Tantratexten beschrieben ; genau genommen handelt es
sich hierbei jedoch nicht um eine »Neuschaffung«, son-
dern um eine Ersetzung der Schülerpersönlichkeit durch
die Gottheit. Am Ende der zweiten Initiation berührt der
Vajra-Meister die »fünf Plätze« mit einer Krone.
Die dritte und vierte Initiation gilt der Reinigung der
Sprache. Erneut verschlingt der androgyne Guru in der
Kronenbandeinweihung (3) den Schüler und gebiert ihn
in der Gestalt von Vishvamata als einen Gott. Purifiziert,
das heißt aufgelöst und neu geschaffen, werden hier die
Energiekanäle, die nach tantrischer Auffassung das »my-
stische Gerüst« des feinstofflichen Körpers ausmachen. In
der menschlichen Kindheitsentwicklung entspricht diese
dritte Initiation dem Durchstechen des Ohres, damit ein
goldener Ring als Schmuck getragen werden kann.
Es folgt die Vajra-Glockeneinweihung (4), die man mit
dem Sprechen der ersten Kinderworte vergleicht. Jetzt
säubert der Guru die drei »energetischen Hauptkanä-
le« im Körper des Schülers. Sie befinden sich entlang
der Wirbelsäule und bilden sozusagen das feinstoffliche
Rückgrat des Adepten. Der rechte Kanal wird dem männ-
lichen Vajra, der linke der weiblichen Glocke (Gantha)
gleichgesetzt. Im mittleren, »androgenen« Kanal treffen

278
beide Energien, männliche und weibliche, zusammen
und bewirken die sogenannte »mystische Hitze«, die in
der noch ausführlich zu schildernden Höchsten Initia-
tion das Hauptereignis darstellt. Der Schüler bittet nun
die Kalachakra-Gottheit, repräsentiert durch den Guru,
ihm Vajra und Glocke zu schenken, das heißt, ihm die
Signaturen der Androgynität zu übertragen.
Erneut findet ein Verschlingungsakt in der fünften In-
itiation statt. Die Verhaltenseinweihung (5) entspricht der
Freude eines Kindes an den Sinnesobjekten. Demgemäß
werden die sechs Sinne (sehen, hören, riechen usw.) und
ihre Objekte (Bild, Geräusch, Duft usw.) meditativ ver-
nichtet und danach als göttliche Eigenschaften neu ge-
schaffen. Der Vajra-Meister berührt rituell die »fünf Plät-
ze« des Schülers mit einem Daumenring.
In der nachfolgenden Namenseinweihung (6) erhält
der Geweihte einen religiösen Geheimnamen, der meist
mit der Gottheit identisch ist, die ihm während der Vor-
bereitungsriten zugewiesen wurde. Der Guru spricht die
Prophezeiung aus, daß der Schüler in Zukunft als ein
Buddha in Erscheinung treten wird. Purifiziert, aufgelöst
und neugeschaffen werden hier die sechs Handlungsfä-
higkeiten (Mund, Arme, Beine, Geschlechtsorgane, Urin-
apparat und Anus) und die sechs Handlungen (Sprechen,
Greifen, Gehen, Kopulieren, Urinieren und Defäkieren).
Naheliegenderweise vergleichen die Texte die Namens-
gebung des Kindes mit der sechsten Einweihung. Fünfte
und sechste Initiation reinigen zusammen den Geist.
Fehlt noch die Erlaubniseinweihung (7), der auf der
menschlichen Ebene die erste Lesestunde des Kindes ent-

279
spricht. Gereinigt, aufgelöst und ersetzt werden die fünf
Symbole (Vajra, Juwel, Schwert, Lotus und Rad) als Me-
taphern verschiedener Bewußtseinszustände in der Tie-
fenmeditation. Der androgyne Guru verschlingt wieder-
um den Schüler und gebiert ihn erneut als Kalachakra
in Vereinigung mit seiner Gefährtin. Dann reicht er ihm
Vajra und Glocke sowie einen nach dem anderen der eben
genannten fünf Symbolgegenstände. Aus dem Mund des
Lamas kommt ein Fluß von Mantras, der in den Mund
des Schülers überströmt und in seinem Herzzentrum ge-
sammelt wird. Mit einem goldenen Löffel gibt ihm der
Meister eine »Augenmedizin«, damit er den Schleier des
Nichtwissens ablegen kann. Dann erhält er einen Spiegel,
als Ermahnung daran, daß die Erscheinungswelt illusio-
när und leer ist wie ein Spiegelbild. Bogen und Pfeil, die
ihm zusätzlich überreicht werden, sollen ihn zur höch-
sten Konzentration auffordern.
Ein besonderes Gewicht legt das Ritual auf die Über-
gabe des Diamantenszepters (Vajra). Der Guru sagt, »daß
die geheime Natur des Vajra in der erhabenen Weisheit
der großen Glückseligkeit besteht. Durch das Halten des
Vajra wird die wahre Natur des Höchsten Vajra hervor-
gerufen, genannt die ›Methode‹ (Upaya).« (* Bryant, 165)
Durch diese abschließende Bemerkung beschwört der
Tantra-Meister eindringlich das männliche Primat im
Ritual. Indem der Schüler den Vajra in der Rechten mit
der weiblichen Glocke in der Linken kreuzt (Vajrahumka-
ra-Geste), demonstriert er seine Androgynität und seine
tantrische Kunstfertigkeit, die weiblichen Weisheitsener-
gien (Prajna) mit »Methode« (Upaya) zu beherrschen.

280
Mit dieser Herrschaftsdemonstration enden die sieben
unteren Initiationen. Der Adept darf sich jetzt als ein
»Herr der siebten Ebene« bezeichnen. Er erhält ab sofort
das Recht, die Lehre des Buddha zu verbreiten, wenn auch
nur in den Grenzen der beschriebenen unteren Einwei-
hungen. Der Vajra-Meister ruft ihm deswegen zu : »Dre-
he das Vajra-Rad (lehre das Dharma), um allen leidenden
Wesen in allen Welten zu helfen.« (Bryant, 164)
Im wahrsten Sinne des Wortes bilden die sieben er-
sten Weihen nur das »Vorspiel« der Kalachakra-Einwei-
hung. Denn erst in den folgenden höheren Initiationen
kommt es zur geschlechtlichen Vereinigung mit einer
realen Partnerin. Die Weisheitsgefährtinnen der sieben
unteren Stufen sind rein imaginärer Natur, und es be-
darf keiner Karma Mudra zu ihrer Durchführung. Des-
wegen können sie auch öffentlich, ja vor großen Men-
schenmassen gegeben werden.

Die göttliche Zeitmaschine

Bisher erschienen auf der Initiationsbühne des Zeit­


tantras der Vajra-Meister und sein Schüler als die ein-
zigen Protagonisten. Vorherrschend in allen sieben Ein-
weihungsszenen ist die ununterbrochene Festigung der
Meisterstellung, vornehmlich dargestellt im Verschlin-
gungsakt und der Neugeburt des Initianten, das heißt in
seiner Vernichtung als Mensch und seiner »Neuschaf-
fung« als Gott. Den »Tod des Schülers« und seine »Ge-
burt als Gottheit« können wir somit als die ständig auf

281
allen sieben unteren Einweihungsstufen wiederholten
Hauptszenen des tantrischen Dramas bezeichnen. Die
individuelle Persönlichkeit des Sadhakas wurde ver-
nichtet, aber sein sichtbarer Körper ist erhalten geblie-
ben. Der Guru benutzt diesen als ein lebendes Gefäß,
um seine göttlichen Substanzen dort hineinfließen zu
lassen und um sich so zu vervielfältigen. Im Schüler und
Meister wohnen jetzt dieselben Götter.
Aber gibt es zwischen dem Guru und dem Sadhaka
nach der Initiation keinen Unterschied mehr ? In der Tat
ist das so, wenn beide auf der selben Einweihungsstufe
stehen. Ist aber der Meister auf einer höheren Stufe einge-
weiht, dann schließt er die untere Stufe, auf der sich sein
Schüler noch befindet, völlig ein. Zum Beispiel : Hat der
Initiant alle sieben unteren Weihen des Kalachakra-Tan-
tras erfolgreich durchlaufen, agiert jedoch der Kalacha-
kra-Meister von der achten Initiationsstufe aus, dann ist
der Schüler zu einem Teil des initiierenden Gurus gewor-
den, der Guru aber keineswegs zu einem Teil des Schü-
lers, denn seine spirituellen Machtkompetenzen sind weit
umfassender und höher.
Die Einweihungsstufen und die ihnen zugeordneten
Personen stehen demnach untereinander in einer klas-
sisch hierarchischen Ordnung. Die Oberen integrieren
immer die Unteren, die Unteren haben den Oberen im-
mer zu gehorchen, die Tieferen sind nichts als der ver-
längerte Arm der Höheren. Sollte zum Beispiel – wie wir
vermuten – der XIV Dalai Lama alleine die höchste Ein-
weihungsstufe des Kalachakra-Tantras erklommen haben,
dann wären alle anderen in das Zeittantra eingeweih-

282
ten Buddhisten ihm nicht nur im bürokratischen Sinne
untergeordnet, sondern geradezu Teile seiner selbst. Er
wäre in seinem System der Übergott (der ADI BUDDHA),
der die anderen Götter (oder Buddhas) in sich integriert,
denn da alle individuellen und menschlichen Elemente
der Initianten vernichtet wurden, leben in den Körpern
der Schüler nur noch göttliche Wesen. Aber auch diese
stehen zueinander in einem Über- und Unterordnungs-
verhältnis, denn es gibt niedere, höhere und höchste Gott-
heiten. Wir haben also – um es etwas provokativ zu for-
mulieren – zu untersuchen, ob das Kalachakra-Tantra
eine gewaltige göttliche Zeitmaschine darstellt, mit dem
Dalai Lama als dem ersten und höchsten Beweger und
seinen Anhängern als den verschiedenen Rädern.

Die vier höheren »geheimen« Einweihungen

Die sieben unteren Einweihungen sollten den Schüler


zuerst »reinigen« und dann in eine Gottheit verwandeln.
Sie werden deshalb als das »Stadium der Hervorbrin-
gung« bezeichnet. Die folgenden »Vier Höheren Initia-
tionen« zählen zum »Vollendungsstadium«. Sie heißen :
Vaseneinweihung (8), Geheime Einweihung (9), Weis-
heitseinweihung (10) und Worteinweihung (11). Sie dür-
fen nur von einer kleinen Zahl von Auserwählten und
unter strengster Geheimhaltung empfangen werden.
In allen Höheren Einweihungen ist die Anwesenheit
einer jungen Frau von zehn, zwölf, sechzehn oder zwan-
zig Jahren notwendig. Ohne eine lebende Karma Mudra

283
kann, zumindest nach dem Urtext, keine Erleuchtung in
diesem Leben erreicht werden. Die Vereinigung mit ihr
gilt deswegen als das Hauptereignis im äußeren Hand-
lungsablauf des Rituals. So heißt es im vierten Buch des
Kalachakra-Tantras mit Nachdruck : »Nicht Meditation
oder das Hersagen von Mantren, noch die Vorbereitung,
noch die großen Mandalas und Throne, noch die Ein-
weihung in das Sandmandala, noch das Herbeizitieren
der Buddhageschlechter gibt die übernatürlichen Kräf-
te, sondern allein die Mudra.« (* Grünwedel, Kalacakra
IV, 226)
Weiterhin ist es in den Höheren Einweihungen für den
Adepten Pflicht, die fünf Fleischarten (Menschenfleisch,
Elefantenfleisch, Pferdefleisch, Hundefleisch und Kuh-
fleisch) rituell zu verspeisen, sowie die fünf Nektare zu
trinken (Blut, Samen, Menses …).
In Texten, welche sich an ein größeres Publikum wen-
den, wird die Vaseneinweihung (8) euphemistisch wie
folgt beschrieben : Der Vajra-Meister hält vor den Au-
gen des Schülers eine Vase hoch. Der Adept visualisiert
eine Opfergöttin, welche die Vase trägt. Das Gefäß ist
mit einer weißen Flüssigkeit gefüllt. (* Henss, 51) In der
Realität jedoch spielt sich folgende Initiationsszene ab :
Zuerst führt der Schüler dem Lama ein »schönes Mäd-
chen, ohne Makel« von 12 Jahren zu. Anschließend bit-
tet er um Einweihung und besingt seinen Guru mit einer
Lobeshymne. »Zufrieden betastet dann der Meister nach
weltlicher Art die Brust der Mudra«. (* Naropa, 190) Das
geschieht alles vor den Augen des Schülers, um dessen
sexuelle Begierde zu stimulieren.

284
Nach einer anderen Textstelle – aber ebenfalls das Ka-
lachakra-Tantra betreffend – zeigt der Vajra-Meister das
entkleidete Mädchen dem Sadhaka und fordert ihn auf,
die Brüste der Karma Mudra jetzt selbst zu berührend
(* Naropa, 188) »Es gibt bei dieser Übertragung«, lesen
wir bei Ngawang Dhargyey, einem modernen Kommenta-
tor des Zeittantras, »keinerlei Vase oder Topf, die benutzt
würden. Was als Topf bezeichnet wird, sind die Brüste
des Mädchens, welche auch als die ›Vase, die das Weiße
enthält‹, bekannt sind.« (* Dhargyey, 1985, 8) Wir haben
schon darauf hingewiesen, daß es sich wahrscheinlich
bei dieser weißen Substanz um jene magische Absonde-
rung aus der weiblichen Brust handelt, die die europä-
ischen Alchemisten des 17. Jahrhunderts enthusiastisch
als »Jungfrauenmilch« bezeichneten und deren Genuß
für den Adepten große Zauberkräfte versprach.
Der Anblick des nackten Mädchens und das Streicheln
seiner Brüste bewirken beim Schüler den »Abstieg« des
semen virile (männlichen Samens). Nach tantrischer Auf-
fassung befindet sich dieser zuerst an einer Stelle unter-
halb der Schädeldecke und beginnt mit der sexuellen Er-
regung des Mannes durch den Körper nach unten in den
Penis zu fließen. Auf gar keinen Fall darf es dabei zum
Samenerguß kommen ! Hat der Schüler erfolgreich sei-
ne Lust gemeistert, erreicht er die achte Initiationsstufe,
welche aufgrund des Fixierens des Samens im Phallus
als die »Unbewegliche« bezeichnet wird.
Fahren wir mit der euphemistischen Darstellung der
nun folgenden Geheimen Einweihung (9) fort : Dem Schü-
ler wird eine Augenbinde angelegt. Der Meister verei-

285
nigt in sich die männlichen und weiblichen Kräfte und
läßt anschließend den Adepten den »mystischen Nektar«,
der ihm in der Form von Tee und Yoghurt gereicht wird,
kosten, damit dieser die Große Glückseligkeit erfährt.
(* Henss, 52) Real spielt sich auf dieser Stufe etwas ande-
res ab : Zuerst übergibt der Adept dem Meister wertvolle
Kleidungsstücke und andere Opfergaben. Dann präsen-
tiert er ihm ein junges und graziles Mädchen. Der Lama
fordert den Sadhaka auf, den Raum zu verlassen oder
sich die Augen zu verbinden. Tantrische Speisen werden
serviert, der Meister verehrt und preist die Mudra mit
Lobliedern, erhöht sie zu einer Göttin und vereinigt sich
anschließend mit ihr solange, »bis ihre sexuellen Fluide
zu fließen beginnen.« (* Farrow, 121) Dann läßt er aus-
nahmsweise seinen Samen in die Vagina strömen.
Die nun entstandene Mischung der »rot-weißen Flüs-
sigkeit«, das heißt des männlichen und des weiblichen
Samens, wird aus dem Geschlechtsteil der Weisheitsge-
fährtin mit dem Finger oder einem Elfenbeinlöffelchen
herausgeschöpft und in einem Gefäß gesammelt. Dann
zitiert der Meister den Schüler herbei, beziehungsweise
er fordert ihn auf, die Augenbinde abzunehmen. Wieder-
um mit dem Finger nimmt er nun etwas von der »Heili-
gen Substanz« und benetzt damit die Zunge des Adepten,
während er die Worte spricht : »Das ist Dein Sakrament,
mein Lieber, wie es von allen Buddhas gelehrt wird ! …«
– und der Schüler antwortet glückselig : »Heute ist meine
Geburt mit Erfolg gesegnet. Heute ist mein Leben frucht-
bar. Heute wurde ich in die Buddhafamilie hineingebo-
ren. Jetzt bin ich ein Sohn der Buddhas …« (* Snellgro-

286
ve, 1987, Bd. 1, 272) Das bedeutet konkret, daß er durch
den Genuß des weiblichen und des männlichen Samens
den Status eines Androgyns erreicht hat.
Es gibt aber noch andere Versionen der zweiten In-
itiation. Wenn wir lesen : »Der Schüler visualisiert den
geheimen Vajra des Vajra-Meisters im eigenen Mund
und kostet den weißen Bodhicitta des Guru Lamas. Die-
ser weiße Bodhicitta geht zum eigenen Herzchakra her-
ab und erzeugt dabei Glückseligkeit … Der Name ›Ge-
heime Einweihung‹ resultiert auch daher, daß man der
geheimen Substanz des Vajra-Meisters teilhaftig wird«
(* Henss, 53 ; Dhargyey, 1985, 8), so bedeutet das in Wahr-
heit, daß der Guru seinen mit Sperma gefüllten Penis in
den Mund des Adepten legt und dieser den Samen ko-
stet, denn der »weiße Bodhicitta« und die »Geheime Sub-
stanz« sind nichts anderes als der semen virile des initi-
ierenden Lehrers.
In der sich anschließenden Weisheitseinweihung (10)
wird der Schüler mit einem noch größeren Reizbild kon-
frontiert und dazu aufgefordert, »einen Blick in die ge-
spreizte Vagina der Weisheitsdame zu werfen. Feurige
Leidenschaft entflammt ihn, die umgewandelt große
Glückseligkeit hervorbringt.« (* I Dalai Lama, 155) Dann
»schenkt« der Tantra-Meister dem Sadhaka das Mädchen
zurück mit den Worten : »O großes Wesen, nimm diese
Gefährtin, die Dir Glückseligkeit geben wird.« (* Farrow,
186) Beide werden zur sexuellen Vereinigung aufgefor-
dert. (* Naropa, 188, 190) Während der Adept das Yuga-
naddha (Verschmelzung) rituell vollzieht, darf er auf gar
keinen Fall seinen Samen verlieren.

287
Das Kalachakra-Tantra gibt nicht alle Geheimnis-
se preis, die sich während dieser Szene abspielen. Es ist
deswegen naheliegend, auf andere Tantratexte zurück-
zugreifen, um sich genauer über die Vorgänge während
der zehnten Einweihungsstufe zu informieren. Zum Bei-
spiel reizt jetzt im Candamaharosana-Tantra die Mudra
den Schüler, nachdem der Meister den Raum verlassen
hat, mit kulinarischen Obszönitäten : »Kannst Du es er-
tragen, mein Lieber«, ruft sie aus, »meinen Schmutz, Kot
und Urin zu essen und das Blut von der Innenseite mei-
ner Vagina aufzulutschen ?« Der Kandidat muß antwor-
ten : »Warum soll ich es nicht ertragen können, Deinen
Schmutz zu essen, o Mutter ? Ich muß den Frauen Ehr-
erbietung erweisen, bis ich das Wesen der Erleuchtung
realisiert habe.« (* George, 55)
Die letzte »Worteinweihung« (11) ist im eigentlichen
Sinne nicht mehr eine Initiation durch den Guru, sie
besteht, wie der Name sagt, nur dem »Worte« nach. So
zeigt sie sich auch in keinem äußeren Szenario, sondern
vollzieht sich ausschließlich im inneren feinstofflichen
Körper des ehemaligen Schülers, denn dieser ist schon
in den vollendeten Erleuchtungszustand übergewechselt
und zu einer Gottheit transformiert worden. Eine Kom-
mentierung der elften Höheren Einweihung gehört also
in das kommende Kapitel, welches sich mit den mikro-
kosmischen Prozessen im Energieleib des Praktizieren-
den auseinandersetzt.

288
Sperma und Menstruationsblut
als magische Substanzen

Aber bevor wir mit einer Erörterung der vier Höch-


sten Einweihungen fortfahren, möchten wir noch einige
Überlegungen zur Spermagnosis, die nicht nur das Ka-
lachakara-Tantra, sondern alle Tantras so entscheidend
bestimmt, anstellen. Der männliche Samen und die
höchste mystische Erfahrung, die des »Klaren Lichts«,
tragen beide denselben Namen : Bodhicitta. Daraus wird
schon ersichtlich, welch enge Verflechtung zwischen dem
semen virile und der Erleuchtung besteht. Der Bodhicit­
ta (»Erleuchtungsgeist«) ist gekennzeichnet durch das
Gefühl »höchster Glückseligkeit« und »absoluter Selbst-
erfahrung«. Eine Koppelung beider Bewußtseinszustän-
de an das männliche Sperma scheint für den Tantriker
eine Notwendigkeit zu sein, denn – so lesen wir im He-
vajra-Tantra – »ohne Samen würde keine Glückseligkeit
und ohne Glückseligkeit kein Samen existieren. Da Sa-
men und Glückseligkeit unabhängig voneinander ohne
Wirkung sind, stehen sie in einem gegenseitigen Abhän-
gigkeitsverhältnis zueinander.« (* Farrow, 169)
In den Tantras werden eigenartigerweise der Mond und
das Wasser symbolisch dem männlichen Samen zugeord-
net, eigenartig deswegen, weil beide Metaphern kultur-
geschichtlich weitgehend weiblichen Charakter tragen.
Wir werden uns noch mit dieser Abnormalie im tantri-
schen Buddhismus zu beschäftigen haben. Eine solare
Zuordnung des Spermas ist aber ebenso bekannt. (* Bha-
rati, 237) Die außergewöhnliche Bedeutung, die dem se-

289
men verile im Vajrayana zukommt, hat in der tibetischen
Bevölkerung die Vorstellung aufkommen lassen, in den
Adern eines hohen Lamas fließe männlicher Samen an-
statt Blut. (* Stevens, 90)

Die Spermaretention

Für die buddhistischen Tantriker ist die Zurückhaltung


des Samens die conditio sine qua non der höchsten spi-
rituellen Erleuchtung. Das steht in einem krassen Ge-
gensatz zur Auffassung des Galenus (129–199 n. Chr.),
der bekanntesten medizinischen Autorität des europä-
ischen Mittelalters. Galenus war der Meinung, die reten-
tio semenis führe zu einer Fäulnis des Sekrets, der ver-
rottete Stoff steige auf in den Kopf und störe die Hirn-
funktion.
Die Tantras dagegen lehren, daß der Samen schon ur-
sprünglich in einer mondartigen Schale unterhalb der
Schädeldecke gelagert ist. Sobald eine Person sexuelle
Lust verspürt, beginnt er Tropfen um Tropfen heraus-
zufließen und passiert die fünf Energiezentren (Chak-
ren). In jedem von ihnen verspürt der Yogi eine spezifi-
sche »seminale« Ekstase. (* Naropa, 191). Endpunkt der
innerkörperlichen Spermareise ist die Spitze des Penis.
Hier sammelt der Adept durch höchste meditative Kon-
zentration die Lust : »Der Vajra (Penis) wird in den Lo-
tus (Vagina) eingeführt, aber nicht bewegt. Bei Aufkom-
men von Lust vergänglicher Art ist das Mantra hum zu
sprechen … Das Entscheidende ist also die Retention des

290
Spermas. Dadurch erhält der Akt eine kosmologische Di-
mension … Er wird zum Mittel, die Erleuchtung (bodhi)
zu erlangen.« (* Grönbold, Asiatische Studien, 34) »In der
Spitze des Vajra (Penis) wohnt die Wonne«, heißt es in
einem Kalachakra-Text. (* Grönbold, 1992)
Mit der Spermaretention sind uralte indische Sexu-
alpraktiken angesprochen, welche noch aus vorbuddhi-
stischer Zeit stammen. Schon im Nationalepos der In-
der, der Mahabarata, lesen wir von Asketen, »die den
Samen oben behalten«. (* Grönbold, Asiatische Studien,
35) Im frühen Buddhismus ist ein Heiliger (Arhat) da-
durch gekennzeichnet, daß seine Ausflüsse versiegt sind
und in Zukunft nicht mehr entstehen. Aus dem Vajraya-
na stammt der markante Spruch : »Ein Yogi, dessen Glied
stets fest ist, ist einer, der den Samen stets oben behält.«
(* Grönbold, Asiatische Studien, 34) Dagegen wird noch
heute in Indien das Hineinfließen des männlichen Sa-
mens in den »feurigen Rachen des weiblichen Sexualor-
gans« als ein sacrificium angesehen und deswegen als ein
Moment des Todes gefürchtet. (* White, 28)
Die zum Teil abenteuerlichen Techniken der Samen-
retention müssen durch ständiges, meist schmerzhaftes
Üben vom Adepten gelernt und verbessert werden. Sie
sind entweder das Resultat mentaler Disziplin oder phy-
sischer Natur, etwa durch einen Druck auf das Perineum
(Damm) im Augenblick des Orgasmus, wodurch der Sa-
menleiter blockiert wird, oder man stoppt den semina-
len Fluß durch seinen Atem.
Kommt es dennoch zur Ejakulation, dann ist das ver-
lustige Sperma mit dem Finger oder der Zunge aus der

291
Vagina der Mudra zu entfernen und anschließend vom
Praktizierenden zu trinken.
Doch was dem Schüler unter Androhung grausamer
Höllenstrafen verboten wird, gilt für seinen Guru noch
lange nicht. So unterscheidet Pundarika, der erste Kom-
mentator des Kalachakra-Tantra, einen »Samenerguß, der
aus dem Karma entsteht und dazu dient, die Kette der
Wiedergeburten zu verewigen, und einen anderen, wel-
cher der mentalen Kontrolle unterfällt …« (* Naropa, 20)
Ein Erleuchteter kann also soviel ejakulieren, wie es ihm
beliebt, unter der Voraussetzung, daß er dabei nicht sein
Bewußtsein verliert. Jetzt wird auch verständlich, wes-
halb der Vajra-Meister in der zweiten Höheren Einwei-
hung (9) des Zeittantras ohne Schaden sein Sperma in
die Vagina der Mudra einströmen läßt, um das zurück-
laufende Gemisch (Sukra) dem Schüler als Heilige Spei-
se anzubieten.

Der weibliche Samen

Als die weibliche Entsprechung zum männlichen Sper-


ma nennen die Texte den Samen der Frau (semen femi-
nile). Es ist unter Tantrikern sehr umstritten, ob es sich
dabei um das Menstruationblut oder um Fluide, welche
die Mudra während des Sexualaktes ausscheidet, han-
delt. Auf jeden Fall werden die sexuellen Flüssigkeiten
des Mannes immer mit der weißen Farbe, die der Frau
immer mit der roten assoziiert. Grundsätzlich kommt
dem weiblichen Ausfluß eine ebenso hohe magische

292
Wirkung zu wie seinem männlichen Pendant. Selbst die
Götter lechzen danach und verehren die Menses als den
Nektar der »Unsterblichkeit«. (* Benard, 103) In den alt-
indischen Matriarchaten und noch heute in bestimm-
ten Kali-Kulten gilt die menstruierende Göttin als eine
der höchsten Erscheinungsformen des weiblichen Prin-
zips. (* Bhattacharyya, 133, 134) Es war in frühesten Zei-
ten eine weitverbreitete und in den letzten Jahren von
radikalen Feministinnen wieder aufgenommene Mei-
nung, daß sich im Menstrualblut das ganze natürliche
und übernatürliche Wissen der Göttin verdichte.
Außerhalb der gynozentrischen und tantrischen Kulte
aber überwiegt eine negative Bewertung des Menstrua-
tionsblutes, die wir aus fast allen patriarchalen Religio-
nen kennen : Eine menstruierende Frau ist unsauber und
höchst gefährlich. Die magische Ausstrahlung des Blu-
tes bringt keinen Segen, sondern hat verheerende Aus-
wirkungen auf die Heilige Sphäre. Deswegen dürfen blu-
tende Frauen ein Tempelgelände niemals betreten. Auch
im Hinayana-Buddhismus ist diese Vorstellung weit ver-
breitet. Das Menstruationsblut wird dort als ein Fluch ge-
sehen, der von einer weiblicher Ursünde ausgeht : »Weil
sie als Frauen geboren wurden«, heißt es in einem Text
des »kleinen Fahrzeuges«, »ist ihr Streben nach Buddha-
schaft wenig entwickelt, während ihre Lüsternheit und
die schlechten Charakterzüge überwiegen. Diese Sünden,
die sich gegenseitig noch verstärken, nehmen die Form
des Menstruationsblutes an, das sich jeden Monat in zwei
Flüssen ergießt, indem es nicht nur den Gott der Erde
beschmutzt, sondern alle anderen Gottheiten auch.« (* B.

293
Faure, 182). Ganz anders die Tantriker ! Für sie tragen die
Fluide der Frau lukullische Namen wie »Wein«, »Honig«,
»Nektar«, und in ihnen verbirgt sich ein Geheimnis, das
den Yogi zur Erleuchtung führen kann. (* Shaw, 157)
Nach der tantrischen Umkehrlogik, daß gerade das
Schlimmste der geeignetste Ausgangsstoff für das Be-
ste sei, braucht der Yogi die magische Destruktionskraft
der Menses nicht zu fürchten, denn durch die richtige
Methode verkehrt er sie in ihr kreatives Gegenteil. Die
Umarmung einer »blutenden« Geliebten ist deswegen ein
großes rituelles Privileg. Philipp Rawsen weist in sei-
nem Buch über indische Ekstasekulte darauf hin, daß
»der wirkungsvollste sexuelle Ritus … mit der Partne-
rin vollzogen wird, wenn sie menstruiert und ihre ›rote
Energie‹ auf dem Höhepunkt ist.« (* Rawson, 24 ; siehe
auch Chöpel, 191)
Es gibt erstaunlicherweise eine Katalogisierung der
verschiedenen Mensesarten, welche für divergente ma-
gische Zwecke benutzt werden. Die Texte unterscheiden
das Menstruationsblut einer Jungfrau, einer Unterschich-
tenfrau, einer verheirateten Frau, einer Witwe und so
weiter. (* Bhattacharyya, 136) Auch der Zeitpunkt, an
dem die Monatsblutung stattfindet, hat eine rituelle Be-
deutung. In Tibet existieren Yiddams (Meditationsbil-
der), die Dakinis darstellen, aus deren Vagina das Blut
in Strömen fließt. (* Essen, Bd. 1 p. 179)
Gemäß der Vorliebe des Tantrikers für alle möglichen
tabuisierten Stoffe ist es kein Wunder, daß er die Menses
trinkt. Die folgende Vision wurde zwar von einer Frau,
der Yogini Yeshe Tsogyal, wahrgenommen, sie könnte

294
Menstruierende Dakini
aber ebenso von jedem beliebigen Lama erfahren wer-
den : »Eine rote Dame, vollkommen nackt und noch nicht
einmal mit einer Knochenkette behängen, erschien vor
mir. Sie führte ihre Vagina an meinen Mund, und Blut
floß daraus, welches ich mit tiefen Zügen trank. Es er-
schien mir jetzt, daß alle Reiche mit Glückseligkeit an-
gefüllt wurden ! Die Stärke, nur vergleichbar mit derje-
nigen eines Löwen, kehrte zu mir zurück !« (* Herrmann-
Pfand, 281).
Nicht immer wird – wie schon erwähnt – der Monats-
fluß als der vom Yogi begehrte Stoff genannt. Manche
Autoren denken dabei auch, an andere Fluide, welche
die Frau während des Sexualaktes oder durch Stimulie-
rung der Klitoris freisetzt. »Wenn Leidenschaft hervor-
gerufen wird, dann kochen die weiblichen Flüssigkei-
ten«, lesen wir bei dem tibetischen Lama Gedün Chöpel,
der sich intensiv damit auseinandergesetzt hat. (* Chö-
pel, 59) Von ihm erfahren wir auch, daß die Frauen die
magische Kraft ihrer Ausflüsse als ein Geheimnis hüten :
»Trotzdem sagen heute die meisten gelehrten Personen
und selbst Frauen, die viele Bücher studiert haben, daß
das Weib keine regenerative ( ?) Flüssigkeit besitzt. Weil
ich Gespräche über die unteren Teile (des Körpers) lie-
be, habe ich viele Freundinnen gefragt, aber außer, daß
sie mir mit Scham und Lachen die Faust zeigten, konn-
te ich keine einzige finden, die mir eine ehrenhafte Ant-
wort gab.« (* Chöpel, 61)

296
Das Sukra

Nach traditionell buddhistischer Auffassung entsteht


der Embryo aus der Vermischung des männlichen mit
dem weiblichen Samen. Diese rotweiße Mixtur bezeich-
nen die Texte als Sukra. Da die Fluide von Mann und
Frau neues Leben hervorbringen, erscheint folgender
Analogieschluß so naheliegend wie einfach : Gelingt es
dem Yogi, beide Elixiere (den semen virile und den sei-
nen feminile) ständig in sich zu vereinigen, dann steht
ihm eine ewige Existenz bevor. Er wird zu einem »aus
sich selbst Geborenen«, hat den Fluch der Wiedergeburt
überwunden und sie durch die esoterische Vision der
Unsterblichkeit ersetzt. Mit der rotweißen Mixtur er-
langt er die »Medizin des langen Lebens«, einen »voll-
kommenen Körper«. (* Hermanns, 194, 195) Sukra ist
der »Lebenssaft« par excellence, die flüssige Essenz der
gesamten Erscheinungswelt. Er wird mit Amrta, dem
»Trank der Todlosigkeit«, oder dem »göttlichen Nektar«
gleichgesetzt.
Auch wenn in vielen tantrischen Texten nur von Bodhi-
citta, dem männlichen Samen, die Rede ist, geht es im
Grunde um die Absorption beider Fluide, der männli-
chen und der weiblichen, kurz – um Sukra. Zwar scheint
sich die Vermischung der sexuellen Flüssigkeiten mit dem
Verbot der Ejakulation nicht zu vertragen, aber durch die
sogenannte Vajroli-Methode können die schädlichen Fol-
gen des Samenausstoßes rückgängig gemacht werden, ja
diese gilt geradezu als ein Prüfstein höchster yogischer
Kunst. Der Tantra-Meister läßt hierbei sein Bodhicitta in

297
die Vagina seiner Partnerin fließen, um die dort entstan-
dene männlich-weibliche Mixtur anschließend durch sei-
nen Peniskanal wieder in sich zurückzuziehen. »Nach-
dem er ausgeströmt hat«, zitiert Mircea Eliade einen Text,
»saugt er ein und sagt : durch meine Kraft, durch mei-
nen Samen nehme ich deinen Samen – und sie ist ohne
Samen.« (* Eliade, 1985, 264) Der Mann raubt also den
Samen der Frau in der Vorstellung, dadurch ein macht-
volles androgynes Wesen zu werden, und läßt sie ohne
eigene Lebensenergie zurück.
Einigen »Eingeweihten« gelingt es sogar, mit dem Pe-
nis ohne Ausstoßen des Spermas den semen feminile ab-
zusaugen, um dann die begehrte Sukra-Mischung im ei-
genen Körper herzustellen. Die Beherrschung dieser Me-
thode verlangt schmerzhafte und langwierige Übungen,
zum Beispiel das Einfügen von Bleistäbchen und »Löt-
röhrchen« in den Harnleiter. (* Eliade, 1985, 242) Hier
zeigt sich ganz klar, welche berechnende und technische
Bedeutung der Begriff Upaya (Methode) in den Tantras
hat. Das hindert den Tantriker Babhaha jedoch nicht
daran, diesen räuberischen Vorgang in einer poetischen
Strophe zu besingen :

In der Heiligen Zitadelle der Vulva


Einer überragenden und kenntnisreichen Partnerin
Mische den Weißen Samen
Mit ihrem Ozean des Roten Samens.
Dann absorbiere den Nektar
Laß ihn in Dir aufsteigen
Und verteile ihn.

298
Ein ekstatischer Strom wird Dich durchfließen,
Wie Du ihn nie gekannt hast.
(* zit. b. Shaw, 1994, 158)

Die Ejakulation

Was geschieht nun, wenn der Yogi die Rücksaugmetho-


de nicht beherrscht ? Grundsätzlich gilt : »Durch den Ver-
lust des bindu (Samens) kommt der Tod, durch sein Zu-
rückbehalten das Leben.« (* Eliade, 254) Nach einer et-
was toleranteren Sicht darf der Adept jedoch den Sukra
aus der Vagina in einem Gefäß auffangen und anschlie-
ßend trinken. (* Shaw, x994› 157) Nicht selten besteht die
Trinkschale aus einem menschlichen Totenschädel. Das
Candamaharosana-Tantra empfiehlt, das Gemisch mit
einem Röhrchen (Pfeife) durch die Nase einzusaugen.
(* George, 75) Schlürft man den Sukra mit dem Mund aus
dem Geschlechtsteil seiner Mudra, dann heißt der Vor-
gang die »Übertragung von Mund zu Mund«. (* White,
200) Ohne Übertreibung kann man dieses Trinken des
»weißroten Bodhicitta« als die große tantrische Eucha-
ristie bezeichnen, in der anstatt Brot und Wein Samen
und Blut sakral verspeist werden. Durch dieses asiati-
sche »Abendmahl« gehen die Macht und die Kraft der
Frau über auf den Mann.
Schon Jahrhunderte vor dem Tantrismus waren die
nächtlichen Samenergüsse der buddhistischen Arhats
(Heilige) ein Thema großer Debatten. Im Tantrismus
wurde ein Mann, der sein Sperma entließ, als Pashu, als

299
»Tier«, bezeichnet, wohingegen derjenige, der ihn beim
Geschlechtsakt zurückhalten konnte, ein Vira, ein »Held«,
war und das Attribut Divya, »göttlich«, erhielt. (* Bha-
rati, 1977, 148)
Wir haben schon berichtet, wie man die Ejakulation
schlichtweg mit dem Tod in eins setzt. Auch das erfah-
ren wir schon aus den vorbuddhistischen Upanishaden.
In der Tat ist die indische Kultur nach Einschätzung ei-
ner ihrer besten Interpreten, Doninger O’Flaherty, von
der tödlichen Furcht des Samenverlustes weit über das
tantrische Milieu hinaus geprägt : »Die Angst, die Kör-
perflüssigkeiten zu verlieren, führt nicht nur zu Retentio-
nen, sondern zu Versuchen, des Partners Fluide zu stehlen
(und der Furcht, daß der Partner denselben Trick anwen-
den wird) – dabei handelt es sich um eine … Form der
Konkurrenz. Wenn die Frau zu machtvoll ist oder zu alt
oder zu jung, werden dem Mann, der in ihre Falle gerät,
schreckliche Dinge passieren.« (* O’Flaherty, 56) Auch
Agehananda Bharati teilt diese Einschätzung, wenn er in
seinem Buch über die tantrischen Traditionen schreibt :
»Der Verlust des Samens ist eine alles durchdringende,
alte Angstvorstellung in der indischen Überlieferung und
wahrscheinlich der Kern des stärksten Angstsyndroms
in der indischen Kultur.« (* Bharati, 1977, 237)
Das Absaugen des Spermas durch eine Frau wird vom
tantrischen Yogi als lebensgefährlicher Raub und als ein
fundamentales Verbrechen erfahren. Handelt es sich da-
bei um reine Männerphantasien ? Keineswegs – eine gy-
nozentrische Entsprechung der räuberischen Samenab-
sorption ist nämlich als rituelles Ereignis aus den Kali-

300
Kulten bekannt. Dabei nimmt die Frau beim Sexualakt
den oberen Platz ein und läßt in bestimmten Riten den
Mann, dessen Lebensenergien sie ausgesaugt hat, als
Leichnam zurück. Nach Ausführungen des Tibetfor-
schers Matthias Hermanns soll es eine Ausbildung von
Yoginis (weiblichen Yogis) in einer Technik gegeben ha-
ben, »durch welche sie den Samen ihres Partners gewalt-
sam aus dem Penis saugen konnten«, und der Autor fol-
gert daraus : »Es ist also das Gegenstück des Verfahrens,
welches der Yogi anwendet, um durch sein Glied die Ge-
nitalsäfte mehrerer Frauen nacheinander aufzusaugen.«
(* Hermanns, 1965, 19) Der Raub des männlichen Sper-
mas im Wachen ebenso wie im Traum zählt ebenfalls
zu den bevorzugten Lustbarkeiten der buddhistischen
Dakinis.

Alchemie und Samengnosis

Bevor wir mit dem Initiationsweg im Kalachakra-Tantra


fortfahren, möchten wir noch einen kurzen Blick auf die
indische Alchemie und die von ihr benutzten sexuellen
Stoffe werfen, weil diese halbokkulte Wissenschaft sich
im Großen und Ganzen mit der tantrischen Samengno-
sis deckt. Die Sanskritbezeichnung für Alchemie ist Ra-
savada. Rasa bedeutet »Flüssigkeit« oder »Quecksilber«.
Quecksilber galt sowohl in Europa wie in Asien als die
bedeutendste chemische Substanz, welche bei den »my-
stischen« Experimenten Anwendung fand. Das flüssi-
ge Metall wurde hier wie dort zur Transformation von

301
Stoffen benutzt, insbesondere in der Absicht, Gold her-
zustellen. Im Abendland trug es den Namen des römi-
schen Gottes Mercurius. Auch das Kalachakra-Tantra
erwähnt das Quecksilber an mehreren Stellen. Die Häu-
figkeit seiner Benennung ergibt sich daraus, daß es sym-
bolisch mit dem männlichen Samen (Bodhicitta) iden-
tisch gesetzt wurde, es war sozusagen die naturstoffliche
Erscheinung des semen virile.
Eine Charaktereigenschaft des Quecksilbers besteht
darin, andere Substanzen zu »verschlucken«, das heißt
chemisch zu binden. Diese Qualität ließ das flüssige Me-
tall zu einem machtvollen Symbol für den tantrischen
Yogi werden, dem es als Androgyn gelingt, die Gyner-
gien seiner Weisheitsgefährtin zu absorbieren, das heißt
zu »schlucken«.
Das entsprechende weibliche Pendant zum Mercurius
bildet der Schwefel (Sulphur), in Indien der Rasavada,
der als die chemische Verdichtung des Menstruations-
blutes angesehen wird. Dessen magische Wirkung ist be-
sonders groß, wenn man eine Frau 21 Tage vor der Men-
ses mit Sulphur gefüttert hat. Beide Substanzen zusam-
men, Merkur und Sulphur, schaffen den Zinnober, den
man konsequenterweise mit Sukra, dem geheimnisvol-
len Gemisch aus männlichem und weiblichem Samen, in
eins setzte. Es wird in den alchemistischen Texten Indi-
ens empfohlen, ein Jahr lang eine Mischung von Queck-
silber und Schwefel mit männlichem Samen und Men-
struationblut zu trinken, um außergewöhnliche Kräfte
zu erlangen. (* White, 199)
Wie fundamental der »weibliche Samen« für das Opus

302
der indischen Alchemisten war, läßt sich folgender Ge-
schichte entnehmen : Der von den Tibetern hochverehr-
te Yogi und Adept Nagarjuna, ein Namensvetter des be-
rühmten Gründers des Mahayana-Buddhismus und oft
mit diesem gleichgesetzt, experimentierte jahrelang, um
das Elixier des Lebens zu entdecken. Albert Grünwedel
nennt ihn deswegen den »Faust des Buddhismus«. Eines
Tages war er der erfolglosen Arbeit überdrüssig und warf
sein Formelbuch in den Fluß. Dieses wurde von einer
Prostituierten beim Baden aufgefischt und dem Meister
zurückgebracht. Er sah darin ein höheres Zeichen und
begann erneut mit seinen Experimenten, wobei ihm die
Hetäre assistierte. Aber wiederum gelang nichts, bis ei-
nes Abends seine Helferin eine Flüssigkeit in die Mixtur
fallen ließ. Da war plötzlich in Sekunden das Elixier des
Lebens entstanden, für dessen Entdeckung Nagarjuna 14
Jahre lang vergeblich geschuftet hatte.
Wer die Tantras kennt, weiß, daß es sich bei der Prosti-
tuierten um eine Dakini und bei der wunderbaren Flüs-
sigkeit um den weiblichen Samen beziehungsweise das
Menstruationsblut handelt. Nagarjuna konnte also sein
Ziel erst erreichen, als er eine Mudra bei seinen alchemi-
stischen Experimenten miteinbezog. Deswegen war bei
den Alchemisten Indiens »eine weibliche Laborassisten-
tin« zur Vollendung des »Großen Werkes« immer not-
wendig. (* White, 6)
Es gibt auch europäische Anleitungen der »Hohen
Kunst«, welche die Arbeit mit dem »Menstruationsblut
einer Hure« verlangen. In einem einschlägigen Text ist
zu lesen : »Eva verwahrt des Weibes Samen.« (* Jung,

303
1968, 320) Selbst das Zurückhalten des Spermas und
seine Transmutation in etwas Höheres sind im Abend-
land bekannt. So konstatiert der Brüsseler Arzt Johan-
nes Baptista Helmont aus dem 17. Jahrhundert : »Wenn
der (männliche) Samen nicht ausgestoßen wird, transfor-
miert er sich in eine spirituelle Kraft.« (* Couliano, 1987,
102) Giordano Bruno, der Ketzer unter den Renaissance­
philosophen, hat einen umfangreichen Essay über die
Manipulation des Eros durch Samenenthaltung und zu
Machtzwecken verfaßt. Wir werden uns seine originelle
These noch genau ansehen.

Das »Ganachakra« und die


vier »höchsten« Einweihungen

Der Initiationspfad des Kalachakra-Tantra, auf den wir


nach diesem Umweg in die Welt der Samengnosis zu-
rückkehren, führt uns jetzt zu den vier Höchsten Ein-
weihungen, beziehungsweise auf die 12. bis zur 15. Initia-
tionsstufe. Der Leser wird bald merken, daß es sich hier
um eine erweiterte Kopie der vier »Höheren Initiatio-
nen« (8–11) handelt. Sie tragen deswegen auch dieselben
Namen : Vaseneinweihung (12), Geheime Einweihung
(13), Weisheitseinweihung (14) und Worteinweihung
(15). Die Differenz besteht vor allem darin, daß statt nur
einer Mudra jetzt zehn Weisheitsgefährtinnen an dem
Ritual teilnehmen. Alle zehn müssen dem Meister vom
Schüler angeboten werden. (* Naropa, 193) Dabei gelten
für Mönche und Laien unterschiedliche Regeln. Von ei-

304
nem Laien wird verlangt, daß die Mudras Mitglieder sei-
ner eigenen Familie sind – die Mutter, die Schwester, die
Tochter, die Schwägerin und so weiter. (* Naropa, 192)
Das macht es für ihn de facto unmöglich, die Kalachakra-
Weihe zu erhalten. Zwar gilt für einen Mönch das gleiche
Gebot, es wird aber jetzt symbolisch interpretiert. So hat
er dem Guru mehrere Mädchen aus den unteren Kasten
abzuliefern, die dann während des Rituals die Namen
der verschiedenen weiblichen Verwandten annehmen
und simulieren. Ihnen werden unter anderem die Ele-
mente zugeordnet : Der »Mutter« die Erde, der »Schwe-
ster« das Wasser, der »Tochter« das Feuer, der »Tochter
der Schwester« der Wind und so weiter. (* Grünwedel,
Kalacakra, III, 125)
Nachdem der Schüler die Frauen seinem Meister über-
geben hat, gibt dieser ihm eine von ihnen als symbolische
»Gattin« für die bevorstehenden Riten zurück. (* Nar-
opa, 193) Es sind also zehn Frauen auf der tantrischen
Ritualbühne präsent – eine als »Ehefrau« des Sadhaka
und neun als Substitute seiner übrigen weiblichen Ver-
wandten. Der Meister wählt jetzt eine von diesen für sich
aus. Die erwählte Weisheitsgefährtin trägt den Namen
Shabdavajra. Es ist vorgeschrieben, daß sie zwischen
zwölf und zwanzig Jahre alt sein soll und schon men-
struiert hat. Zuerst berührt der Guru die Schmuckstüc-
ke der jungen Frau, dann entkleidet er sie und umarmt
sie schließlich. Kreisförmig umstellt ist das tantrische
Paar von den übrigen acht Frauen sowie dem Schüler
mit seiner »Gattin«. Alle Yoginis haben eine bestimmte
kosmische Bedeutung und werden unter anderem den

305
Himmelsrichtungen zugeordnet. Jede von ihnen ist nackt
und trägt das Haupthaar aufgelöst, um das wilde Aus-
sehen einer Dakini zu demonstrieren. In ihren Händen
halten die Frauen einen Menschenschädel, gefüllt mit
verschiedenen abstoßenden Substanzen, und ein Hack-
messer. (* Naropa, 193/194)
Der Guru stellt sich nun mitten in den Kreis (Chakra)
und führt einen magischen Tanz auf. Anschließend ver-
einigt er sich mit Shabdavajra im göttlichen Yoga, indem
er »das Kleinod seines Vajra« (Phallus) in sie einführt.
(* Naropa, 194) Nachdem er sein Glied wieder herausge-
zogen hat, geschieht nach den Worten Naropas folgen-
des : »›Er steckt diesen seinen Vajra (Phallus), der mit Sa-
men gefüllt ist, in den Mund (des Schülers)‹. Darauf gibt
der Meister ihm seine eigene Mudra, die von ihm schon
umarmt wurde.« (* Naropa, 195) Ob sich jetzt der Schü-
ler mit dem Mädchen vereinigt, konnten wir aus den uns
vorliegenden Texten nicht feststellen. Dieser Teil des Ri-
tuals wird als Vaseneinweihung bezeichnet und bildet
die 12. Initiationsstufe.
In der nun folgenden Geheimen Einweihung (13) »muß
der Meister seinen eigenen Vajra (Phallus) in den Mund
der Gattin des Schülers legen und, während dem Schü-
ler die Augen verbunden werden, muß er (der Guru) an
der Naranasika der Weisheitsgefährtin saugen.« (* Naro-
pa, 195) Naranasika bedeutet aus dem Sanskrit übersetzt
»Klitoris«. »Dann«, so fährt Naropa fort, »muß der Mei-
ster seine eigene Mudra dem Schüler geben, in der Vor-
stellung, daß sie dessen Gattin ist.« (* Naropa, 195) Die
Stelle bleibt etwas dunkel, weil er ja schon während der

306
vorangegangenen Vaseneinweihung (12) eine Mudra dem
Schüler als »Gattin« geschenkt hat.
Während der nun folgenden Weisheitseinweihung (14)
vereinigt sich der Sadhaka, umgeben von den übrigen
Frauen, zuerst mit der Mudra, welche ihm vom Guru
überlassen wurde. Aber es bleibt nicht bei der einen. »Da
es sich um zehn Mudras handelt, muß der Meister dem
Schüler all diejenigen anbieten, die dieser in der Lage ist,
sexuell zu besitzen, und zwar in zwei Perioden von je-
weils 24 Minuten, angefangen um Mitternacht bis zum
Aufgang der Sonne« (* Naropa, 195), heißt es bei Naropa.
Er hat also zehnfachen Geschlechtsverkehr in Anwesen-
heit des Meisters und der restlichen Frauen.
Im Gegensatz zu seinem Guru darf der Sadhaka wäh-
rend des Rituals auf gar keinen Fall den Samen verlieren,
sondern muß seinen Bodhicitta-Tropfen nur bis zur Spit-
ze des Penis bringen und dann den semen feminile einer
Yogini nach der anderen absaugen. (* Naropa, 196) Ge-
lingt ihm das nicht, dann fährt er in die Hölle. Es gibt
jedoch für ihn noch eine Chance, dem Strafgericht zu
entkommen : »Wenn aufgrund einer Schwäche des Gei-
stes das Bodhicitta (Samen) in die Vulva ausgeschüttet
wurde, dann ist es ratsam, dasjenige, was davon außer-
halb des Lotus (Vagina) bleibt, mit der Zunge aufzusam-
meln.« (* Naropa, 196)
Die vierte Worteinweihung (15) bezeichnet den »Höch-
sten Vollendungszustand«. Der Sadhaka hat in den drei
vorangegangenen Initiationen die Gynergie seiner Partne-
rinnen abgesaugt und erreicht einen Zustand der Glück-
seligkeit. Er ist jetzt selbst zum Varja-Meister geworden.

307
Das ist das Ergebnis der inneren energetischen Abläufe
in seinem mystischen Körper, die er während des Ritu-
als vollzogen hat und die wir in den nächsten Kapiteln
beschreiben werden.
Was geschieht nun am Ende dieser »disziplinierten«
Orgie mit den Frauen, welche sich an dem »Hexensab-
bath« beteiligten ? Die Quellen sind spärlich. Uns liegt je-
doch eine Übersetzung aus dem dritten Kapitel des Ka-
lachakra-Tantras von Albert Grünwedel vor. Diese ist mit
aller Vorsicht zu genießen, aber der Übersetzer kann hier
aufgrund der Konkretheit der Bilder nicht viele Fehler
gemacht haben. Bei Grünwedel ist zu lesen : »Am Ende
der Weihe ist den gesegneten Erdgebildeten (das heißt
den vorher erwähnten Karma Mudras) eine Busenjac-
ke, wohltuend dem zarten Körper, zu geben. Heiligen
Yoginis ist eine andere Busenjacke mit Rock zu geben.«
(* Grünwedel, Kalacakra III, 201) Und im folgenden Ab-
schnitt empfiehlt das Tantra, den Mädchen als Erinne-
rung an die einmalige Liebesstunde duftende Blumen,
Früchte und einen Schal zu schenken. (* Grünwedel, Ka-
lacakra III, 202)
Das eben beschriebene vierstufige Ritual trägt den Na-
men Ganachakra. Es ist das tiefste Secretum des Kalacha-
kra-Tantras, aber auch in den anderen Höchsten Tan-
tras bekannt. An welchen geheimen Orten werden nun
solche Ganachakras durchgeführt ? Der berühmte tibeti-
sche Historiker Buston (14. Jh.) schlägt vor : »Das eigene
Haus, ein verborgener, verlassener oder auch angenehmer
Ort, ein Gebirge, eine Höhle, ein Dickicht, das Ufer ei-
nes großen Meeres, eine Leichenstätte, einen Tempel der

308
Muttergöttinnen« zu benutzen. (* Herrmann-Pfand, 376)
Nicht empfehlenswert seien dagegen die Wohnstätte ei-
nes Brahmanen oder Adeligen, ein Königspalast oder ein
Klostergarten. Das Hevajra-Tantra ist bei der Ortswahl
für das Ganachakra-Ritual morbider und kompromiß-
loser : »Diese Feste müssen abgehalten werden auf Fried-
höfen, in Gebirgshainen oder an verlassenen Orten, die
von nicht-menschlichen Wesen frequentiert werden. Es
muß neun Sitzgelegenheiten geben, die aus Leichenteilen,
Tigerhäuten oder aus Lumpen, die von einem Friedhof
stammen, verfertigt sind. In der Mitte befindet sich der
Meister, der den Gott Hevajra repräsentiert, und rund-
herum sind die Yoginis … aufgestellt.« (* Naropa, 46)
Diese bilden mit dem Guru im Zentrum einen magi-
schen Kreis, ein lebendes Mandala.
Die Zahl der beteiligten Yoginis ist je nach Tantra-Text
unterschiedlich. Sie reicht von acht bis 64. Zahlen wie
die letztere erscheinen irreal. Man muß jedoch bedenken,
daß in der Vergangenheit Ganachakras auch von mäch-
tigen orientalischen Herrschern durchgeführt wurden,
denen es kaum schwer fiel, dieses stattliche Quantum
von Frauen an einen Ort zu schaffen. Daß diese Tantra-
Meister jedoch mit allen 64 Yoginis in einer Nacht ko-
pulierten, ist sehr unwahrscheinlich.
Verschiedene Ritualgegenstände werden den Frau-
en während des Rituals übergeben, von denen die mei-
sten, wenn nicht alle, aggressiver Natur sind : Hackmes-
ser, Schwerter, Knochentrompeten, Totenschädel, Spieße.
Als Kultmahl serviert man die schon erwähnten heiligen
Nektare : Kot, Menschenfleisch und das Fleisch verschie-

309
dener Tabutiere. Zum Trinken gibt es Menstruations-
blut, Urin, Samen und so weiter. Das dritte Kapitel des
Kalachakra-Tantras empfiehlt : »Schleim, Rotz, Tränen,
Fett, Speichel, Schmutz, Fäkalien, Urin, Mark, Kot, Leber,
Galle, Blut, Haut, Fleisch, Sperma, Gedärme«. (* Grün-
wedel, Kalacakra, 155)
Auch das Opferfleisch des von uns schon erwähnten
»Siebenmal Geborenen« wird, wenn erhältlich, als sakrale
Nahrung auf einem Ganachakra angeboten. In der Rah-
mengeschichte einer tantrischen Erzählung, der Vajrada-
kinigiti, töten einige Dakinis einen siebenmal geborenen
Königssohn, um mit seinem Fleisch und Blut ein Opfer-
mahl abzuhalten. Ebenso sind aus dem Leben des Ka-
lachakra-Meisters Tilopa zwei Szenen bekannt, wo es um
den Genuß eines »Siebenmal Geborenen« geht, der auf
einem Dakinifest verspeist wird. (* Herrmann-Pfand,
393/394)
Albert Grünwedel glaubte, daß die weiblichen Partne-
rinnen des Gurus ursprünglich auf dem Ganachakra ge-
opfert wurden, und zwar wie die europäischen Hexen auf
einem Scheiterhaufen, um dann als »Dakinis«, als tantri-
sche Dämoninnen, wiederaufzuerstehen. Wir werden uns
seine These noch genauer ansehen, sicher ist sie schwer
aus dem vorliegenden historischen Material nachzuwei-
sen. Was jedoch die symbolische Bedeutung des Rituals
anbelangt, so können wir ohne Bedenken davon ausge-
hen, daß es sich hier um eine Opferzeremonie handelt.
Zum Beispiel spricht Buston (14. Jh.) im Zusammenhang
mit den höchsten Kalachakra-Einweihungen und damit
auch in Beziehung zum Ganachakra von »geheimen Op-

310
fern«. (* Herrmann-Pfand, 386) Die zehn während des
Rituals anwesenden Karma Mudras tragen den Namen
»Opfergöttinnen«. Ein Ereignis im Ablauf des Ganach-
akras heißt »Opfer der Versammlung«, damit kann nur
die Aufopferung der anwesenden Frauen gemeint sein …
(* Herrmann-Pfand, 386) Ein weiterer Interpret des Tan-
tras, Abhinavagupta, bezeichnet das Ganachakra als das
»Opfer des Rades« (chakra = Rad) oder als das »Höchste
Opfer«. (* Naropa, 46)
Alles, was wir über das »tantrische Frauenopfer« ge-
sagt haben, gilt zweifelsohne auch für das Ganachakra.
Es gibt Dokumente, die beweisen, daß solche Sacrifizien
real vollzogen wurden. Im 11. Jahrhundert machte – wie
schon erwähnt – eine Gruppe der berüchtigten »Raub-
mönche« von sich reden, über die in den Blauen Annalen
Folgendes zu lesen ist : »Die Doktrin der 18 (Raubmön-
che) bestand in einer korrupten Form der tantrischen
Praxis, sie kidnappten Frauen und Männer und pfleg-
ten Menschenopfer während der tantrischen Feste (ga-
nacakra-puja) durchzuführen.« (* Blaue Annalen, 697)
Solche Exzesse wurden schon von den traditionellen ti-
betischen Historikern kritisiert, wenn auch mit einer ge-
wissen Nachsicht. So sprach der V Dalai Lama, der sel-
ber eine Geschichte Tibets verfaßt hat, den Guru der 18
Raubmönche, Prajnagupta mit Namen, von aller Schuld
frei, während er seine »Schüler« als die Schuldigen ver-
urteilte. (* Herrmann-Pfand, 418 Anm. 11)
Selbstverständlich findet ein buddhistisches Ganach-
akra immer unter männlicher Leitung statt. Doch wie
vieles im Tantrismus, so scheint auch dieses Ritual einen

311
matriarchalen Ursprung zu haben. Die Indologin Marie-
Thérèse de Mallmann beschreibt ausführlich solch ein
gynozentrisches »Kreisfest« aus dem 6. Jahrhundert. Es
wurde von einer mächtigen orientalischen Königin in-
szeniert. In einem Dokument heißt es von ihr : »Durch
sie (die Königin) wurde der Kreiskönig auf die Rolle ei-
nes Opfers reduziert, das im Kreis (chakra) der Göttin-
nen durchgeführt wurde.« (* Mallmann, 1963, 172) Es
handelt sich also um eine Aufführung des in vielen ar-
chaisch-matriarchalen Kulturen verbreiteten Königsop-
fers, bei dem der alte König durch einen neuen jungen
ersetzt wurde. Das Sacrificium ist hier auf jeden Fall ein
Mann. Im Ganachakra des buddhistischen Tantrismus
geschieht genau das Gegenteil : Geopfert werden die Yo-
ginis, und der Guru erhebt sich zum triumphierenden
König des Kreises.
Das gynozentrische Ritual war auch unter dem Na-
men »Rad der Göttinnen«, »Rad der Mütter« oder »Rad
der Hexen« bekannt. Seine weite Verbreitung im 5. und
6. Jahrhundert vor allem in Kaschmir unterstützt unse-
re oben vertretene These, daß es in dieser Zeit zu einer
machtvollen Wiederbelebung alter matriarchaler Kulte
in Indien kam.
Auch der moderne Feminismus hat die matriarcha-
len Ursprünge des Ganachakras erneut entdeckt. Adel-
heid Herrmann-Pfand kann auf einige etwas ambivalen-
te tibetische Textstellen verweisen, in denen ihrer Sicht
nach Ganachakras früher von Frauen dirigiert wurden.
(* Herrmann-Pfand, 379, 479) Sie kommt deswegen zu
dem Schluß, daß es sich bei diesem Ritual um eine »pa-

312
triarchale Usurpation« eines matriarchalen Kultes han-
delt.
Miranda Shaw dagegen schwelgt geradezu in der Vor-
stellung »weiblicher Hexenkreise« und vereinnahmt je-
des Ganachakra, das in den Tantras erwähnt wird, als
ein reines Frauenfest. Sie kehrt die Vorgänge geradezu
um : »Die tantrische Literatur«, schreibt die Feministin,
»berichtet von zahlreichen Ereignissen, wo Yogis die Er-
laubnis erhalten, an einer Versammlung von Yoginis teil-
zunehmen. Die Einbeziehung in ein Yoginifest wird als
eine hohe Ehre für den männlichen Praktikanten gesehen.
Im klassischen Szenario findet sich ein Yogi unerwartet
wieder in der Gegenwart eines Yoginitreffens, vielleicht
in den Tiefen eines Waldes, in einem verlassenen Tem-
pel oder auf einem Verbrennungsfriedhof. Er versucht, in
ihre Zirkel einzutreten und mit ihnen zu feiern, erhält
von ihnen die Initiation und empfängt in ihrer Mitte ma-
gische Unterweisungen und tantrische Lehren.« (* Shaw,
1994, 82) Aus dem, was wir bisher analysiert haben, ist
Shaws Interpretation ja nicht gänzlich von der Hand zu
weisen. In der Tat werden ja im buddhistischen Tantris-
mus dem Weiblichen alle Kräfte zugestanden, nur daß
die Gynergie und Macht der Frau am Ende des Spiels mit
gekonnter Methode (Upaya) in den Händen des männ-
lichen Gurus landet. Wie immer taucht auch in diesem
Fall die Frage auf, ob das Ganachakra real oder »nur«
symbolisch zu verstehen ist. Texte von Sapan (13. Jh.)
und Buston (14. Jh.) lassen keine Zweifel an seiner realen
Durchführung. Alexandra David Néel kommt jedoch zu
dem Schluß, die Festopfer seien in unserem Jahrhundert

313
in der geschilderten Form nicht mehr praktiziert wor-
den. Anders stehe es mit symbolischen Inszenierungen,
bei denen keine wirklichen Frauen teilnahmen, sondern
diese durch Substitute, zum Beispiel Vasen, ersetzt wur-
den. Solche Ersatz-Ganachakras sind nach Aussage mo-
derner Lamas bis vor der chinesischen Besetzung weit
verbreitet gewesen. (* Herrmann-Pfand, 416)
Wir wollen noch kurz darauf zu sprechen kommen, ob
es sich im Fall des Ganachakras um eine Orgie handelt.
Unter einer Orgie verstand der archaische Mensch die
wahllose sexuelle Vermischung innerhalb einer Gruppe.
Gerade das chaotische, rauschhafte und unkontrollierte
Verhalten der Beteiligten bestimmte den Ablauf der all-
gemeinen Promiskuität. Durch die Orgie wurde die ge-
regelte Zeit außer Kraft gesetzt, es gab keine Hierarchie
unter den Partizipianten. Der »profane« Zustand der eta-
blierten gesellschaftlichen Ordnung wich für einige Stun-
den der »heiligen« Turbulenz des Chaos. Meist geschah
dies, um die Fruchtbarkeit der Erde zu beschwören. Ac-
ker- und Gartenbaugesellschaften waren die Sozietäten,
welche die Orgie als einen Höhepunkt ihrer sakralen Ri-
ten vorzüglich pflegten. Das buddhistische Ganachakra
dagegen muß von Anfang bis Ende als eine kontrollier-
te Performance angesehen werden. Zwar benutzt es auch
Elemente der Orgie (Gruppensexualität und wilde Tänze
der Yoginis), aber der Tantra-Meister behält immer die
volle Kontrolle über das Geschehen.

Am Ende dieser Darstellung der 15 Einweihungsstu-


fen des Kalachakra-Tantra können wir somit feststellen,

314
daß in dieser »höchsten« okkulten Lehre des tibetischen
Buddhismus alle wesentlichen Merkmale, die wir im all-
gemeinen Teil über den Tantrismus beschrieben haben,
wieder auftauchen : die Absorption der Gynergie, die al-
chemistische Verwandlung von Sexualenergie, ja von se-
xuellen Fluiden in androzentrische Macht, die Herstel-
lung der Androgynie, die Opferung der Mudra und des
Sadhaka, die Vernichtung von Menschen zugunsten der
Götter und so weiter. Insofern unterscheidet sich das Ka-
lachakra im Wesen nicht von den anderen tantrischen
Lehrsystemen. Es ist nur umfassender, prächtiger und
konsequenter. Hinzu kommt seine politische Eschatolo-
gie, die es zum Staats-Tantra des Lamaimus werden ließ,
auf die wir noch einzugehen haben.
Alle bisher von uns geschilderten Ereignisse der tan-
trischen Aufführung spielten sich in der Außenwelt ab,
im Ritualwesen, den sexualmagischen Praktiken und der
wahrnehmbaren Wirklichkeit. Endziel dieses sichtbaren
tantrischen Unternehmens ist es, daß der Yogi die gesam-
ten, während des Rituals freigesetzten Energien (die der
Mudras, die des Schülers, die der evozierten Gottheiten)
absorbiert. Nur so wird er zu dem EINEN, der das »viele«,
vor allem aber das männliche und das weibliche Prinzip,
in sich verdichtet, um es anschließend, in einer noch zu
schildernden zweiten Phase, wieder aus sich hervorzu-
bringen. Erst von da an hat er seine vollendete Form er-
reicht, die des ADI BUDDHA (des höchsten Buddha), der
im Tantrismus letzten Ursache aller Erscheinungen.

315
Die inneren Vorgänge im
mystischen Körper des Yogi

Wir haben bisher nur geschildert, was sich in der Au-


ßenwelt des Rituals abspielt. Die wahrnehmbare tantri-
sche Bühne hat aber im »Inneren« des Yogi, das heißt
in seinem Bewußtsein und seinem sogenannten mysti-
schen Körper, ihre Entsprechung. Dieses »interne Thea-
ter« wollen wir uns nun genauer ansehen. Es läuft paral-
lel zu den äußeren Geschehnissen ab.
Ein anatomisch geschulter Mensch des 20. Jahrhun-
derts benötigt eine gute Portion Phantasie, um sich mit
den Vorstellungen der tantrischen Physiologie vertraut
zu machen, denn für die Tantras besteht der Körper aus
einem Netzwerk zahlreicher kleinerer oder größerer Ka-
näle, durch welche die Lebensenergien fließen. Sie werden
auch »Adern« oder »Flüsse« (Nadi, Rtsa) genannt. Diese
energetische Körperstruktur ist keine Entdeckung des
Vajrayana, sondern wurde aus vorbuddhistischen Zei-
ten übernommen. Wir finden sie zum Beispiel schon in
den Upanishaden (9. Jh. v. Chr.).
Als die Zentralachse innerhalb des feinstofflich-physi-
schen Systems eines Menschen gelten drei Hauptkanäle,
welche sich vom unteren Rückgrat bis zum Kopf erstrec-
ken. Sie sind, wie alles in den Tantras, den Geschlech-
tern zugeordnet. Der Linke Kanal heißt Laiana (oder
Ida, Kyangma, Dawa), ist männlich, hat als Symbol den
Mond und als Element das Wasser. Der rechte »weibli-
che« Kanal mit dem Namen Pingala (oder Roma, Nyia-
ma) steht in Beziehung zum Feuer und zur Sonne, die

316
beide in den buddhistischen Tantras als feminin angese-
hen werden. Den Zentralkanal (Avadhuti oder Susumna,
Oma) können wir vorläufig als androgyn bezeichnen. Er
repräsentiert unter anderem das Element Raum. Alle Le-
bensenergien werden mit Hilfe von Winden – darunter
versteht der Tantriker verschiedene Formen des Atems
– durch die Kanäle bewegt.
In einer vereinfachten Darstellung (die sich so in den
meisten Kommentaren findet) ist der linke männliche
Kanal (Laiana) mit weißem, wäßrigem Samen gefüllt,
der rechte weibliche (Rasana) mit rotem, feurigem Men-
struationsblut. Der mittlere Hauptkanal dagegen ist erst
einmal leer. Durch sakrale, zum Teil sehr schmerzhafte
Techniken gelingt es dem Yogi, die Substanzen beider Ne-
benkanäle in die Avadhuti, den Hauptkanal, zu pressen.
Das hierdurch entstandene Gemisch (Sukra) durchströmt
jetzt als Erleuchtungsenergie seinen gesamten Körper
und verwandelt ihn zu einem androgynen »Diamant-
wesen«, das in sich die Primärenergien des Männlichen
und des Weiblichen vereinigt.
Alle drei Kanäle passieren fünf im Körper des Yogi be-
findliche Energiezentren, die Chakren (Räder) oder auch
»Lotuskreise« genannt werden. Im tibetischen Buddhis-
mus beginnt die Zählung mit dem Nabelchakra und führt
über das Herz-, Kehlkopf- und Stirn-Chakra zum höch-
sten tausendfältigen Lotus an der Spitze der Schädeldec-
ke. Sehr wichtig für die tantrische Einweihung ist die
Gleichstellung der einzelnen »Energieräder« mit den fünf
Elementen : Nabel = Erde ; Herz = Wasser ; Kehle = Feu-
er ; Stirn = Luft (Wind) ; höchster Lotus (Schädeldecke) =

317
Raum (Äther). Ebenfalls findet eine Einteilung der Cha-
kren nach den Sinnen und Sinnesobjekten statt. Dar-
über hinaus gibt es zahlreiche weitere Zuordnungen der
Lotuszentren (Chakra), soweit sich diese in Fünfergrup-
pen aufteilen lassen : Die fünf »Glückseligkeiten« zählen
ebenso dazu wie die fünf Meditationsbuddhas mit ihren
Weisheitsgefährtinnen und die fünf Richtungen.
Von den »Rädern« gehen feine Energiekanäle aus und
verzweigen sich wie das physiologische Nervensystem
durch den gesamten menschlichen Körper. Insgesamt
kommen die Tantras auf die beachtliche Zahl von 72 000
feinen Kanälen, welche zusammen mit den Lotuszentren
und drei Hauptkanälen den »subtilen« oder »feinstoffli-
chen« Leib des Yogi bilden. Bei einem »normalen Sterbli-
chen« ist dieses Netzwerk blockiert. Die Energien können
nicht frei fließen, die Chakren sind »tot«, die »Räder« be-
wegungslos, die Wahrnehmung spiritueller Phänomene
beschränkt. Man spricht auch von »Verknotungen«.
Es ist nun die erste Aufgabe des Yogi, diese Knoten bei
sich oder bei seinem Schüler zu lösen, die verstopften Ka-
näle in allen Richtungen freizulegen und zu reinigen, um
den ganzen Körper mit göttlichen Kräften aufzufüllen. Die
Lösung der »Knoten« wird im Guhyasamaja-Tantra durch
das Abblocken der beiden Seitenkanäle (Laiana und Pin-
gala), in denen die nach Geschlechtsmerkmalen getrenn-
ten Energien normalerweise auf- und abströmen, und das
Einführen der männlichen und weiblichen Substanzen in
die Avadhuti (den mittleren Kanal) bewirkt. (Dasgupta,
1974, 155) In den ursprünglichen Kalachakra-Texten ist
die Anatomie der Kanäle weit komplizierter. 15

318
Die drei Hauptkanäle im Kalachakra-Tantra
(siehe Fußnote)
← 15 Das Kalachakra-Tantra unterscheidet einen oberen Teil der
drei Hauptkanäle und einen unteren. Oben findet folgende sym-
bolische Aufteilung statt : Links – Mond, männlich ; rechts – Son-
ne, weiblich ; Mitte – Rahu, androgyn. Bei Rahu handelt es sich
um einen imaginären Planeten, der eine Sonnen- oder Mond-
finsternis herbeiführen kann. Die oberen drei Energieflüsse tra-
gen also einen planetaren Charakter. Der untere Teil wird durch
die Substanzen bestimmt, welche sich vor der Yogapraxis in den
drei Kanälen befinden : links – Urin ; rechts – Samen ; Mitte – Ex-
kremente. Diese Anordnung gestaltet sich dadurch noch kompli-
zierter, daß die oberen und unteren Kanäle ihre Positionen wech-
seln. Die Laiana (Mond, oben links) erscheint unten in der Mitte
und ist dort mit Exkrementen gefüllt. Die Píngala (Sonne, oben
rechts) verbindet sich mit dem linken unteren Urinkanal. Rahu,
oben in der Mitte, zeigt sich unten rechts als Spermakanal. Die
oberen und unteren Kanäle haben außerdem noch unterschied-
liche Namen und sind bei Männern und Frauen mit verschiede-
nen Substanzen gefüllt, so soll der rechte untere Kanal im weib-
lichen Körper statt des Samens das Menstruationsblut enthalten.
(* Naropa, 274, 275) →

319
Die tantrische Dramaturgie spielt sich also auch im In-
neren des Yogi zwischen drei Protagonisten – dem männ-
lichen, dem weiblichen und dem androgenen Prinzip – ab.
Entsprechend reflektieren die drei energetischen Haupt-
kanäle das geschlechtliche tantrische Muster mit der Laia-
na als dem Mann, der Pingala als der Frau und der Avad-
huti als dem Androgyn. Die Lotuszentren (Chakra) sind
die einzelnen Bühnenbilder, in denen sich die Handlungs-
folge in der Beziehung dieser Trinität abspielt. Wenn also
die mikrokosmische, »innere« Ereigniswelt des Tantra-
Meisters mit dem äußeren, schon geschilderten Ritual-
geschehen übereinstimmen soll, dann müssen wir die
Höhepunkte der externen Performance auch in seinem
»Innern« wiederfinden : zum Beispiel das tantrische Frau-
enopfer, das Absorbieren der Gynergie, die Herstellung
der Androgynität, die Vernichtung und die Wiederaufer-
stehung aller Körperaggregate und so weiter. Sehen wir
uns also diese »internen« Vorgänge genauer an.

← Bei der Frau trägt der rechte untere Kanal den Namen sank-
hini und ist mit weiblichem Samen gefüllt ; der rechte untere Ka-
nal des Mannes wird khagamukha genannt und enthält den se-
men virile. (* Naropa, 72) Die graphische Darstellung der Kanäle
im Kalachakra-Tantra bei Martin Brauen (* Brauen, 55) ist zwar
aus mehreren Gründen in sich logischer, zum Beispiel weil er
den mittleren Kanal als von oben bis unten durchgehend zeich-
net. Sie entspricht aber nicht den zitierten Textstellen im Sekko-
desha (* Naropa, 72 ff).

320
Die Candali

Das Kalachakra-Tantra weist viele Parallelen mit dem


hinduistischen Kundalini-Yoga auf. Beide Geheimleh-
ren fordern, daß der Energiekörper des Yogi, das heißt
seine mysto-magischen Kanäle und Chakren, durch ein
selbst initiiertes internes Feuer vernichtet werden. Das
alchemistische Gesetz von solve et coagole (»löse auf und
setzt wieder zusammen«) gilt hier ebenfalls als Maxi-
me. Auch von den abendländischen Mystikern kennen
wir solche Phönix-aus-der-Asche-Inszenierungen. Für
unsere Studie ist es jedoch von besonderem Interesse,
daß dieses »innere Feuer« im Zeittantra den Namen ei-
ner Frau trägt. Die Candali – wie sie genannt wird – be-
zeichnet zuerst einmal ein Mädchen aus den niedersten
Kasten, dann bedeutet das Sanskritwort etymologisch
ein »wütendes« oder »rasendes« Weib. (* Cozort, 71)
Die Tibeter übersetzen »Candi« mit »die Heiße« (Tum-
mo) und verstehen darunter eine feurige Kraftquelle im
Körper eines Tantraadepten.
Die Candali erweist sich somit als die buddhistische
Schwester der hinduistischen Feuerschlange (Kundalinì),
die ebenfalls im untersten Chakra eines Yogi schlummert
und sich nach ihrer Entfesselung flammend emporzün-
gelt. Aber der destruktive Aspekt der inneren »Feuerfrau«
wird im Buddhismus weit mehr betont als ihr kreativer.
Die hinduistische Kundalini zerstört zwar auch, aber sie
findet ebenso als Schöpfungsprinzip (Shakti) die höchste
Verehrung : »Sie ist eine Weltenmutter, die ewig schwan-
ger geht mit der Welt … Die Weltfrau und Kundalini sind

321
der makrokosmische und mikrokosmische Aspekt der-
selben Größe : der Shakti, die göttlich alle Gestalt webt
und trägt.« (* Zimmer, 1973, 146)
Was die Körpertechniken anbelangt, die zur Entflam-
mung der Kundalini notwendig sind, so variieren die-
se je nach Kulturtradition. Der buddhistische Yogi zum
Beispiel entfesselt das innere Feuer im Nabel und nicht
zwischen Anus und Peniswurzel wie sein hinduistischer
Kollege. Im Bauch flammt die Candali auf und steigt wild
tanzend den mittleren Energiekanal (Avadhuti) empor.
Ein Text beschreibt sie als »Blitz-Feuer«, ein anderer als
»Tochter des Todes«. (* Snellgrove, 1959, 49) Denn Stu-
fe um Stufe brennt die »Heiße« alle Chakren des Adep-
ten aus. Vernichtet werden in feuriger Glut die mit den
Energiezentren gleichgesetzten fünf Elemente. Von un-
ten beginnend verbrennt zuerst die Erde in der Nabel-
gegend und transformiert sich in Wasser im Herzchakra.
Das Wasser verglüht und wird dann in der Kehle in Feu-
er aufgelöst. In der Stirn hat die Luft mit Hilfe der Can-
dali das Feuer verzehrt, und an der Spitze des Schädels
schwinden alle Elemente im leeren Raum. Gleichzeitig
werden die fünf Sinne und die fünf Sinnesobjekte, wel-
che den jeweiligen Lotuszentren entsprechen, vernichtet.
Da in jedem Chakra ein Meditationsbuddha mit seiner
Partnerin wohnt, verfallen auch diese den Flammen. Das
Kalachakra-Tantra spricht von einer »Dematerialisierung
aller Formaggregate.« (* Cozort, 130)
Letztendlich verzehrt die Candali den gesamten alten
Energiekörper des Adepten, einschließlich der Götter, die
nach mikrokosmischer Vorstellung in ihm wohnen. Wir

322
dürfen nie außer Acht lassen, daß das tantrische Univer-
sum aus einer unendlichen Reihe von Analogien und Ho-
mologien besteht und alle Ebenen des Seins miteinan-
der verbindet. So glaubt der Yogi, durch die Destruktion
seines unvollkommenen menschlichen Leibes gleichzei-
tig die Zerstörung der unvollkommenen Welt zu insze-
nieren, und das meist in bester Absicht. Mit ekstatischer
Begeisterung schildert deswegen Lama Govinda die fünf
Stadien dieser faszinierenden mikro-makrokosmischen
Apokalypse : »Im ersten wird die Susumna (der mittlere
Kanal) mit der in ihr aufsteigenden Flamme als haarfeine
Kapilare vorgestellt ; im zweiten von der Dicke eines klei-
nen Fingers ; im dritten von der Dicke eines Armes ; im
vierten, soweit wie der ganze Körper : als ob der Körper
selbst zur Susumna (Avadhuti), zu einem einzigen feu-
rigen Gefäß geworden sei. Im fünften Stadium erreicht
die entfaltende Schauung ihren Höhepunkt : der Körper
hört für den Meditierenden auf zu existieren. Die gan-
ze Welt wird zu einer feurigen Susumna, zu einem un-
endlichen, sturmgepeitschten Feuer-Ozean.« (* Govin-
da, 1991, 186)
Aber was geschieht mit der Candali, nachdem sie ihr
Flammenwerk hat leuchten lassen ? Ist sie nun mit dem
Yogi als gleichberechtigte Partnerin am Schöpfungsakt
eines neuen Universums beteiligt ? Nein – im Gegen-
teil ! Sie verschwindet ebenso wie die Elemente, die mit
ihrer Hilfe vernichtet wurden, von der tantrischen Büh-
ne. Nachdem sie alle Lotuszentren (Cbakren) bis hin zur
Schädeldecke verdampft hat, bringt sie den dort gelager-
ten Bodhicitta (männlichen Samen) zum Schmelzen. Die-

323
ser besitzt wegen seines »wäßrigen« Charakters die Kraft,
die »Feuerfrau« zu löschen. Sie wird, wie die menschli-
che Karma Mudra auf der sichtbaren Realitätsebene, vom
Yogi verabschiedet.
Angesichts dieses spektakulären Vulkanausbruchs in
der inneren Körperlandschaft des Tantra-Meisters müs-
sen wir uns nach dem Zaubermittel fragen, das ihm die
Macht verleiht, die Candali anzuzünden und in seinen
Dienst zu stellen. Einige Tantras benennen sexuelle Gier,
welche sie zum Lodern bringt. Das Hevajra-Tantra spricht
vom »Feuer der Leidenschaft«. (* Farrow, XXIX) In einem
anderen Text ist ausdrücklich vom »kamischen Feuer« die
Rede. (* Avalon, 1975, 140) Der Begriff weist auf den hin-
duistischen Gott Kama, der die sexuelle Lust repräsentiert.
Entsprechend wird in einer weiteren tantrischen Anlei-
tung direkt auf den Liebesakt Bezug genommen : »Wäh-
rend des sexuellen Verkehrs vibriert die Candali ein we-
nig, und große Hitze entsteht.« (* Hopkins, 1982, 177)
Schon aus den Veden stammt die später vom tantri-
schen Buddhismus übernommene Gleichsetzung des Se-
xualaktes mit einem Feuerritual. Dort wird die Frau als
das »Opferfeuer« bezeichnet, »ihre unteren Partien als der
Opferwald, die Genitalregion als die Flamme, das Ein-
dringen als die Kohle und die Kopulation als der Fun-
ke.« (* Bhattacharyya, 124) Ohne ein Feueropfer kann
nach vedischer Sicht die Welt nicht fortbestehen. Ein
»Feueropfer entsteht aus der Vereinigung mit den weib-
lichen Boten (Dakinis)«, lesen wir aber auch bei Tsong-
kapa, dem Gründer der tibetischen Gelbmützen-Schule.
(* Shaw, 1994, 254)

324
Evans-Wentz hat in seinem Klassiker Yoga und die Ge-
heimlehren Tibets eine besonders beeindruckende Sze-
ne über die »Entfachung« der Candali beschrieben. Die
»Feuerfrau« wird hier durch eine Sonnenmeditation in
Brand gesetzt. Nachdem der Meister seinen Schüler dazu
aufgefordert hat, sich die drei Hauptkanäle, die Chak-
ren und die »leere Form« einer Yogini vorzustellen, soll
er die Übung folgendermaßen fortsetzen : »An diesem
Punkt der Schau stelle Dir mitten in jeder Handfläche
und jeder Fußsohle eine Sonne vor. Dann sieh diese Son-
nen sich gegenüberstehen. Dann stelle Dir im Zusam-
mentreffen der drei psychischen Hauptnerven (Hauptka-
näle) am unteren Ende des Zeugungsorgans eine Sonne
vor. Beim Aufeinanderwirken der Sonnen von Händen
und Füßen flammt Feuer auf. Dieses Feuer entzündet
die Sonne unter dem Nabel … Ein Feuer erfaßt den gan-
zen Körper. Dann stelle Dir beim Ausatmen die ganze
Welt mit dem Feuer in seiner wahren Natur durchdrun-
gen vor.« (* Evans-Wentz, 1937, 154) Die innere Entfes-
selung der Candali im Körper des Yogi ist so eigenartig,
daß sie noch viele offene Fragen aufwirft, welche wir nur
nach und nach im Laufe der folgenden Kapitel behan-
deln können : Weshalb muß es eine Frau und nicht ein
Mann sein, die im Bauch des Tantra-Meisters aufflammt ?
Wieso wird die Frau, welche in den meisten Kulturen mit
dem Element Wasser im Zusammenhang steht, hier mit
dem Feuer in eins gesetzt ? Warum ist die Candali so ag-
gressiv und destruktiv, so wütend und wild anstatt mild,
konstruktiv und ausgeglichen ? Vor allem aber müssen wir
uns fragen, weshalb der Adept ein wirkliches Mädchen

325
benutzen muß, um das »innere Weib« in seinem eigenen
Körper anzuzünden ? Besteht vielleicht zwischen der äu-
ßeren und der inneren Frau, der Karma Mudra und der
Candali, ein Zusammenhang ?
Wir werden hier nur kurz auf diese Fragen eingehen,
sozusagen thesenhaft, um sie dann im Laufe des Textes
noch genauer zu behandeln. Wie wir schon sagten, hat die
Candali ihren Ursprung in der hinduistischen Kundalini-
Schlange, von der Heinrich Zimmer sagt : »Die Schlan-
ge verkörpert die welt- und leibentfaltende Lebenskraft,
sie ist Gestalt der weltwirkenden Gotteskraft (Shakti).«
(* Zimmer, 1973, 141) Leben, Schöpfung, Welt, Macht,
Kundalini oder Candali sind Manifestationen der einen
und der selben Energie, und diese wird sowohl im Hin-
duismus wie im Buddhismus als weiblich angesehen. Ex-
plizit bezeichnet Zimmer deswegen die mystische Schlan-
ge als »Weltenfrau«. (* Zimmer, 1973, 146)
Entsprechende Benennungen der Candali sind eben-
falls bekannt. Der buddhistische Yogi, welcher der Er-
scheinungswelt zutiefst feindlich gegenübersteht, macht
die Frau und den Geburtsakt für die schreckliche Bür-
de des Lebens verantwortlich. »Welt« und »Weib« sind
für ihn Synonyme. Wenn er in seiner Imagination eine
Frau in sich verbrennt, dann wirft er symbolisch mit die-
sem pyromanischen Gewaltakt die »Weltenfrau« auf den
Scheiterhaufen. Zur Welt aber zählen ebenso seine alten
Körper- und Sinnesaggregate, seine seelischen Stimmun-
gen wie seine menschlichen Bewußtseinsstrukturen. Sie
alle werden zum Opfer der Flammen. Erst wenn er das be-
stehende All, das unter dem Gesetz des Weibes leidet, in

326
einem Feuerwerk vernichtet hat, kann er sich selbst zum
göttlichen Herrscher des Universums aufschwingen.
Die im Tantrismus unterstellte Zuordnung des Weib-
lichen zum feurigen Element erweist sich deswegen bei
genauerer Hinsicht als eine symbolische Manipulation.
Alles deutet darauf hin, daß auch in der indischen Kultur
die Frau grundsätzlich mit dem Wasser und dem Mond
verbunden war und ist statt mit dem Feuer und der Son-
ne, wie es die Tantras behaupten. In nicht-tantrischen
indischen Kulten (Veden, Vishnuiten) hat die klassische
Zuordnung der Geschlechter weiterhin ihre volle Gel-
tung. So handelt es sich bei der Entzündung der »Feuer-
frau« um ein gegen die kulturelle Norm gesetztes »künst-
liches« Experiment, das die europäischen Alchemisten als
die »Herstellung des brennenden Wassers« bezeichneten.
Wasser – ursprünglich weiblich – wird von der männli-
chen Potenz des Feuers in Brand gesetzt und wirkt dann
zerstörerisch. Wir werden später noch zu zeigen haben,
daß auch die Candali symbolisch nur als solch eine ange-
zündete Wasserenergie zu verstehen ist. Das Wasser dient
in diesem Falle als eine Art Brennstoff und »explodiert«
als das angezündete weibliche Prinzip im Dienste andro-
zentrischer Destruktionsstrategien. Eine solche raffinier-
te Idee kann nur aus dem tantrischen Umkehrungsgesetz
abgeleitet werden, das uns lehrt, wie eine Sache aus ih-
rem Gegenteil entsteht. »Frauen sind«, so heißt es des-
wegen im Candamaharosana-Tantra, »das höchste Feu-
er der Transformation.« (* Shaw, 39)
Unterstellt man, daß im Kalachakra-Ritual das Weibli-
che gegen seinen Willen Feuer fängt, dann versteht man,

327
weshalb die Candali aggressiv und destruktiv reagiert.
Vielleicht spürt sie instinktiv nach dem Aufflackern, daß
es bei der ganzen Prozedur um ihre systematische Ver-
nichtung geht ? Vielleicht ahnt sie auch die perfiden Ab-
sichten des Yogi und beginnt wie ein wildes Tier die ele-
mentaren und sinnlichen Aggregate ihres Peinigers zu
zerstören mit der Hoffnung, dadurch ihn zu vernichten
und sich von ihm zu befreien ? Angesichts offenkundiger
Erfolge bei der körperlichen Destruktion des patriarcha-
len Urfeindes gerät sie dann in einen Machtrausch, ohne
sich bewußt zu sein, daß sie ihrem Gegner nur als Werk-
zeug dient. Der tantrische Adept will ja gerade einen Zu-
stand erreichen, in dem er nur noch als reines Bewußt-
sein existiert. Sein erstes Ziel ist deswegen die vollständi-
ge Dematerialisierung seines menschlichen Leibes bis hin
zu den letzten Atomen. Dazu benötigt er die flammende
Wut der Candali, die nichts anderes darstellt als den Haß
einer durch das Patriarchat entmündigten Göttin.
Es könnte aber auch das Gegenteil sein, daß die Can-
dali vom »Feuer der Verzehrung« ergriffen wird, jenem
mystischen Liebesfeuer, das Frauen »verbrennen« läßt,
wenn sie mit ihrem Gott die »Heilige Hochzeit« feiern.
Christliche Nonnen beschreiben die Unio Mystica mit
Christus, ihrem himmlischen Bräutigam, oft mit Feuer-
metaphern. Im Falle der Theresa von Avila verbindet sich
der Liebesbrand mit einer eindeutig sexuellen Symbolik.
Berühmt wurden ihre Worte, mit denen sie die göttliche
Durchdringung ihres Leibes ausmalt : »Ich sah ihn (Gott)
mit einer langen Lanze aus Gold, und ihre Spitze war wie
aus Feuer, mir schien es, als stieße er sie wiederholt in

328
mein Herz und durchdringe es bis in meine Eingewei-
de ! … Der Schmerz war so groß, daß ich stöhnen mußte,
und dennoch war die Süße dieses übermäßigen Schmer-
zes derart, daß ich nicht wünschen konnte, davon befreit
zu sein.« (* zit. b. Bataille, 1974, 220) Eine Frau, die sich
ihrem Yogi voll und ganz mit all ihrem Wesen hingibt,
ihm die Liebe ihres ganzen Herzens öffnet, auch sie kann
in Flammen aufgehen. Haß und mystische Leidenschaft
sind beide ein höchst explosiver Stoff.
Gleichgültig, was auch immer das Weibliche in Flam-
men versetzte, von Anfang bis zum Schluß kontrolliert
der Yogi als »Meister des Feuers« das pyromanische Dra-
ma, das sich auf seiner inneren Bühne abspielt. Diese Po-
sition eines »Regisseurs« gibt er nie auf. Geopfert werden
am Ende des tantrischen Schauspiels immer zwei Wesen :
der alte Energiekörper des Vajra-Meisters und die ent-
zündete Candali selbst. Sie ist das tragische innere Sym-
bol für das »tantrische Frauenopfer«, das – wie wir oben
ausgeführt haben – ursprünglich in der Außenwelt auf
einem Feueraltar vollstreckt wurde.
Aber auch hier gilt das schon oftmals Wiederholte :
Wehe, wenn der Adept die Kontrolle über die Kundalini
oder Candali verliert. Dann wird sie zu einem »schreckli-
chen Vampir, wie ein elektrischer Schlag«, zur »reinen Po-
tenz des Todes«, die ihn vernichtet. (* Evola, 1926, 232)

329
Die »Tropfentheorie« als Ausdruck der Androgynität

Betrachten wir nun nach der Zerstörungssequenz den


inneren Schöpfungsakt im mystischen Körper des Yogi,
wie er in den verschiedenen Tantras, insbesondere dem
Kalachakra-Tantra, beschrieben wird. Wir sind schon auf
das Ereignis eingegangen, bei dem die »Feuerfrau« (Can-
dali) die untere Schädeldecke des Yogi erreicht und dort
den Bodhicitta (Samen) zum Schmelzen bringt. Dieser
wird symbolisch mit dem Wasser und dem Mond in Be-
ziehung gebracht. Sein Abstieg heißt deswegen auch der
»Weg des Mondes«, während der Aufstieg der Candali
als »Sonnenweg« bekannt ist. Man nennt den Bodhicitta
auch Bindu, das bedeutet »Punkt«, »Null«, »Nullpunkt«
oder »Tropfen«. In diesem »Tropfen« sind der Doktrin
nach alle Kräfte des reinen Bewußtseins gesammelt und
verdichtet, in ihm konzentriert sich die »Keimenergie des
Mikrokosmos«. (* Grönbold, Asiatische Studien, 33)
Nachdem durch das Feuer der Candali die Kanäle und
Chakren gereinigt sind, kann der Bodhicitta ungehindert
die Avadhuti (den mittleren Kanal) herabfließen. Gleich-
zeitig wird dadurch der Brand, den die »Feuerfrau« ent-
facht hat, gelöscht. Da sie der Sonne zugeordnet ist und
der »Samentropfen« dem männlichen Mond, vernichten
nun die lunaren Kräfte die solaren. Dadurch hat sich je-
doch am Kern der Sache nichts geändert, denn beim Ab-
stieg des »Tropfens«, auch wenn die traditionellen sym-
bolischen Zuordnungen vertauscht sind, handelt es sich,
wie immer in den buddhistischen Tantras, um einen Sieg
des Gottes über die Göttin.

330
Stufe um Stufe fließt der Samen den zentralen Kanal
nach unten, verweilt kurz in den verschiedenen Lotus-
zentren und produziert dort ein Gefühl der Glückselig-
keit, bis er in der Spitze des erigierten Penis zu stehen
kommt. Die hierbei auftretenden ekstatischen Empfin-
dungen werden als »die vier Freuden« katalogisiert. 16
Dieser Freudenabstieg steigert sich graduell und kulmi-
niert am Ende in einer unbeschreiblichen Lust : »Millio-
nen um Millionen mal mehr als bei der normalen Emis-
sion (des Samens)«. (* Naropa, 74) Im Kalachakra-Tantra
wird die Fixation orgiastischer Lust, da sie auf die Re-
tention des Samens zurückzuführen ist, die »nicht ver-
schüttete Freude« oder das »höchste Unbewegliche« ge-
nannt. (* Naropa, 304, 351)
Das »Glück im Unbewegten« steht im krassen Gegen-
satz zum »bewegten« und manchmal »wilden« Sex, den
der Yogi bei Beginn des Rituals mit seiner Partnerin zur
erotischen Stimulierung ausführt. Es zählt zur tantri-
schen Doktrin, daß das »Unbewegte« das »Bewegte« be-
herrscht. Aus diesem Grunde darf in keinem Thangka
ein Buddha oder Bodhisattva fehlen, der nicht als un-
beteiligter Betrachter die abgebildeten bewegten Yab –
Yum Szenen (der geschlechtlichen Vereinigung) emoti-
onslos zur Kenntnis nimmt oder teilnahmslos an sich

16 Die »erste Freude« wirkt in der Stirn und erstreckt sich bis
zum Halschakra. Die zweite reicht von dort bis zum Herzen und
trägt den Namen »höchste Freude«, die dritte endet im Nabel
und heißt »spezielle Freude«. Die vierte, die »eingeborene Freu-
de«, verwirklicht sich in der Penisspitze. (* Cozort, 76)

331
vorüberziehen läßt, mögen diese auch noch so turbulent
und rasend sein. Meist handelt sich dabei um eine klei-
ne Gestalt oberhalb der Erotikszene. Diese ist trotz ih-
rer Unscheinbarkeit die eigentliche Kontrollinstanz im
sexualmagischen Spiel – der kalte, gleichgültige, abge-
klärte, berechnende und geheimnisvoll lächelnde Voy-
eur heißer Liebesleidenschaften.
Um jeden Preis muß die orgiastische Ekstase im my-
stischen Körper des Adepten fixiert werden, niemals darf
er seine männliche Kraft vergeuden, ansonsten drohen
schreckliche Höllenstrafen. »Es existiert keine größere
Sünde als der Verlust der Lust«, lesen wir im Kalachakra-
Kommentar des Naropa. (* Naropa, 73, Vers 135) Auch
Pundarika behandelt in seiner Kommentierung des Zeit­
tantras das heikle Thema ausführlich : »Die Sünde ent-
steht aus der Zerstörung der Lust, … es folgt dann eine
Trübung und daraus der Fall des eigenen Vajra (Phal-
lus), dann ein Zustand geistiger Verwirrung und eine
ausschließliche und unmittelbare Beschäftigung mit
den kleinlichen Dingen wie Essen, Trinken und so wei-
ter.« (* Naropa, 73) Das heißt im Klartext, wenn der Yogi
beim Sexualakt einen Orgasmus und eine Ejakulation
hat, dann verliert er seine spirituellen Kräfte.
Da der Samentropfen die »Mondflüssigkeit« symbo-
lisiert, bringt man seinen Stufenabstieg durch die ver-
schiedenen Energiezentren des Körpers mit den einzel-
nen Mondphasen in Verbindung. Unter der Schädeldecke
beginnt er als »Neumond«, wächst fallend von Stufe zu
Stufe, um dann im Penis während seiner 16. Phase sei-
ne höchste Strahlkraft zu erreichen. Der Yogi fixiert ihn

332
dort in seiner Imagination als leuchtenden »Vollmond«.
(* Naropa, 72, 306)
In der zweiten gegenläufigen Sequenz wird folgerich-
tig der »Aufstieg des Vollmondes« inszeniert. Einen ab-
nehmenden Mond gibt es jetzt für den Adepten nicht
mehr. Da er seinen Samen nicht verschüttet hat, bleibt
ihm die ganze leuchtende Fülle des nächtlichen Him-
melslichtes erhalten. Dieser aufsteigende Siegeszug des
lunaren Tropfens durch den mittleren Kanal nach oben
ist folgerichtig mit einer noch intensiveren Lust verbun-
den als der Abstieg, da er ja mit »der nicht-verschütte-
ten Freude« im Penis als »Vollmond« beginnt und seine
volle Pracht nie mehr verliert.
Während seines Aufstiegs hält er in jedem Chakra an,
um dort erneut »höchste Glückseligkeiten« hervorzuzau-
bern. Durch dieses stufenweise ekstatische Verweilen in
den Lotuszentren formt der Yogi seinen neuen göttlichen
Körper, den er jetzt als den »Leib der Schöpfung« bezeich-
net. (* Naropa, 311) Dieser ist erst dann vollendet, wenn
der »Vollmondtropfen« den Stirnlotus erreicht hat.
Manchmal, wenn auch nicht immer, begegnet der
»Tropfen« beim Durchwandern der vier Lustzentren
verschiedenen Göttinnen, die ihn mit »diamantenen«
Gesängen empfangen. Sie sind jung, zart, wunderschön,
freundlich und dienstbereit. Nichts mehr von der zischen-
den Wildheit und dem roten Zorn der Candali ! »O dia-
mantener Körper, drehendes Rad«, rufen die Schönen aus,
»der Du viele Wesen erfreust ! Du, der Offenbarer aller
Güte, die in der Absicht des Buddha und der höchsten
Erleuchtung liegt, liebe mich mit Leidenschaft zur Zeit

333
der Leidenschaft, wenn Du, milder Herr, willst, daß ich
lebe.« (* Wayman, 1977, 300) Solche erotischen Lockru-
fe führen in einigen Fällen zu einer imaginären Vereini-
gung mit einer der Göttinnen. Aber auch wenn es nicht
dazu kommt, hat der Yogi in jedem Fall während des
»Vollmondaufstieges« sein Glied im Zustand der Erek-
tion zu halten. (* Naropa, 75)
In einigen Kalachakra-Kommentierungen ist das eksta-
tische Modell vom Auf- und Abstieg des weißen Mond-
tropfens im mystischen Körper des Adepten ausschließ-
lich vom Triumph des männlichen Bodhicitta beherrscht.
Dieser vernichtet in der ersten fallenden Phase die feurige
Candali und führt sie sozusagen in die Leere, da der Bin-
du (Tropfen) auch »Null« bedeutet und über die Kraft der
Auflösung verfügt. In der zweiten Phase bildet der Trop-
fen den einzigen kosmischen Baustein, mit dem der neue
Formkörper des Yogi anschließend aufgebaut wird. Es ist
also nach dieser Konzeption nur mehr vom männlichen
Samen die Rede und nicht von einer Mischung des semen
virile mit dem semen feminile. Naropa schreibt explizit in
seinem Kalachakra-Kommentar, daß es der männliche
Mond ist, der die Schöpfung hervorbringt, und die weib-
liche Sonne, welche die Auflösung herbeiführt. (* Naro-
pa, 281) Man muß also den Eindruck haben, daß nach
der Löschung der Candali keinerlei weiblichen Elemente
mehr im Körper des Yogi existieren oder, um es mit den
Worten des schon einmal zitierten Volksglaubens zu sa-
gen, daß in seinen Adern statt Blut Sperma fließt. Aber
es gibt noch andere Modelle.
Daniel Cozort spricht zum Beispiel in seiner modernen

334
Studie über das Höchste Yoga-Tantra von zwei Grund-
tropfen. Der eine ist weiß, männlich, lunar und wäßrig
und befindet sich unterhalb der Schädeldecke ; der andere
ist rot, weiblich, solar und feurig und befindet sich in der
Sexualgegend. (* Cozort, 77) Die »vier Freuden von oben«
werden hervorgerufen, wenn der weiße Tropfen von der
Stirn über die Kehle, das Herz und den Nabel in die Pe-
nisspitze fließt. Die »vier Freuden von unten« entstehen
umgekehrt, wenn der rote Tropfen von der Rückgratba-
sis über die Lotuszentren nach oben strömt. Im Körper
des Yogi sind insgesamt 21 600 männliche und ebenso
viele weibliche Tropfen gespeichert. Der Adept, der sie
zum Fließen bringt, erlebt deswegen 21 600 Momente der
Glückseligkeit und löst 21 600 »Komponenten des physi-
schen Körpers« auf, da die Tropfen nicht nur Lust, son-
dern ebenso Leerheit bewirken. (* Mullin, 1991, 184)
Der Prozeß ist erst dann beendet, wenn sich zwei
»Tropfensäulen«, die eine oben, die andere unten begin-
nend und sich beide stufenweise aufstockend, im Ener-
giekörper des Adepten herausgebildet haben. Am Ende
dieser Tropfenwanderung entsteht »ein weiter leerer Kör-
per, geschmückt mit allen Kennzeichen und Markierun-
gen der Erleuchtung, ein Körper, der dem Raumelement
entspricht. Er ist ›klar und leuchtend‹, weil er unberühr-
bar und immateriell ist, leer von der irdischen Atom-
struktur«, schreibt schon der erste Dalai Lama. (* Da-
lai Lama I, 46)
Eine weitere Version (auch das Zeittantra betreffend)
macht uns mit »vier« Tropfen von der Größe eines Se-
samsamens bekannt, welche sich an verschiedenen Stellen

335
des Energiekörpers befinden und von einem zum ande-
ren Ort wandern können. 17 Durch komplizierte Übungen
bringt der Yogi diese vier Haupttropfen zum Stillstand
und bildet dadurch, daß er sie an bestimmten Körper-
stellen fixiert, einen mystischen Leib.
Die Anatomie des Energiekörpers wird im Kalacha-
kra-Kommentar von Lharampa Ngawang Dhargyey noch
mehr verkompliziert, wenn er zu den oben erwähnten
vier Tropfen noch einen »unzerstörbaren Tropfen« im
Herzen des Yogis einführt. Dieser androgyne Bindu setzt
sich aus dem »weißen Samen des Vaters« in der unteren
Hälfte und dem »roten Samen der Mutter« in der oberen
Hälfte zusammen. Er hat die Größe eines Sesamkornes
und besteht aus einem Gemisch »extrem feiner Energien«.
Auch die anderen Lotuszentren weisen solche »doppel-
geschlechtlichen« Tropfen auf, jedoch mit unterschied-
lichen Mischungsverhältnissen. Im Nabel zum Beispiel
enthält der Bindu mehr roten Samen als weißen, in der
Stirn ist es umgekehrt. Eine der Meditationsübungen be-
steht darin, alle Tropfen im »unzerstörbaren Herztrop-
fen« aufzulösen.

17 Der erste »Tropfen des Tiefschlafes« liegt im Herzen oder an


der Spitze des Penis. Der zweite »Tropfen des Traumzustandes«,
der auch »Sprachtropfen« genannt wird, ist ebenfalls in der Se-
xualregion oder der Kehle zu suchen. Der dritte »Tropfen des
Wachzustandes« bewegt sich zwischen Stirn und Nabel. Der vier-
te »Tropfen der erotischen Ekstase«, der während des sexuellen
Verkehrs zwischen Mann und Frau erfahren wird, ist in den Ge-
nitalien und unterhalb der Schädeldecke aufzufinden. Er wird
auch »Tropfen der transzendenten Weisheit« genannt. (* Dhar-
gyey, 1985, 121, 122)

336
Zum Glück ist es nicht unsere Aufgabe und für unsere
Analyse auch nicht bedeutsam, die verschiedenen Trop-
fentheorien der tantrischen Physiologie aufeinander ab-
zustimmen. Wir haben uns zwar darum bemüht, aber
aufgrund der Begriffsverwirrung und Begriffsspalterei in
den vorliegenden Texten ergaben sich zahlreiche unlös-
bare Widersprüche. Allgemein können wir jedoch sagen,
daß es sich dabei um zwei Grundmodelle handelt :
Im ersten wird der göttliche Energiekörper allein mit
Hilfe des weißen, männlichen Bodhicitta aufgebaut. Die
weibliche Energie in der Form der Candali hilft nur da-
bei, den alten menschlichen Leib zu vernichten.
Im zweiten Fall konstruiert der Yogi einen androgynen
Körper aus roten und weißen, weiblichen und männli-
chen Bodhicitta-Elementen.
Die meisten uns zugänglichen Textstellen gehen da-
von aus, daß die männlich-weiblichen Tropfen schon vor
der Initiation im Energiesystem des Adepten aufzufin-
den sind. Dieser wird also von vornherein als doppel-
geschlechtliches Wesen angesehen. Wieso aber benötigt
er dann eine äußere oder auch imaginierte Frau bei der
Durchführung des tantrischen Rituals ? Wäre es in die-
sem Fall nicht möglich, die scheinbar im eigenen Körper
schon vorhandene Androgynität (und die entsprechen-
den Tropfen) ohne jegliche weibliche Präsenz zu aktivie-
ren ? Wahrscheinlich nicht ! Eine Stelle im Sekkodesha, die
von einem mit semen virile gefüllten Kanal beim Manne
(Khagamukha) und einem mit semen feminile gefüllten
Kanal bei der Frau (Sankhim) spricht, läßt vermuten, daß
der Yogi den roten Bodhicitta oder die roten Tropfen erst

337
von der Karma Mudra (der realen Frau) abzieht und daß
deswegen seine Androgynität das Resultat dieser Praxis
ist und kein naturgegebener Ausgangspunkt.
Für diese Ansicht spricht auch eine andere Textstelle
im Kalachakra-Tantra, in der die Sankhini als der mitt-
lere Kanal im mystischen Körper des Yogi erwähnt wird.
(* Grönbold, 1969, 84) Im Normalfall nämlich fließt durch
die Sankhini das Menstruationsblut, und sie ist im rech-
ten unteren Kanal bei der Frau zu finden. (* Naropa, 72)
Im Körper des Yogi dagegen existiert vor der sexualma-
gischen Einweihung überhaupt kein »Menstruationska-
nal«. Wenn nun im erwähnten Text die Avadhuti (der
mittlere Kanal) des Tantra-Meisters als Sankhini bezeich-
net wird, dann kann das nur bedeuten, daß er nach der
Vereinigung mit der Mudra deren roten Samen »absor-
biert« hat.
Wir müssen also davon ausgehen, daß der rote Bodhi-
citta vor dem sexualmagischen Ritual überhaupt nicht
oder wenn, dann nur in kleinen Mengen, im Körper des
Adepten vorhanden ist. Er ist gezwungen, das rote Elixier
von der Frau zu rauben. Für diese Interpretation spricht
auch die oben geschilderte Absaugetechnik.
Obgleich die tibetischen Lamas von der haushohen
Überlegenheit ihrer Theorien und Praktiken überzeugt
sind, gibt es im Prinzip keinen fundamentalen Unter-
schied zwischen hinduistischen und buddhistischen
Techniken. (* Snellgrove, 1987, Bd. 1, 294) In beiden Sy-
stemen geht es dem Yogi um die Absorption von Gyner-
gie und die Herstellung eines mikrokosmischen – männ-
lich – androgenen – göttlichen Körpers. Im Detail dage-

338
gen sind die Unterschiede zahlreich. Das gilt aber auch
beim Vergleich zwischen den einzelnen buddhistischen
Tantras. Als einzig konträre Lehre zu den beiden Schulen
wäre der totale »Shaktismus« zu nennen, »der die Göttin
über alle Götter erhebt«. (* Glasenapp, 125)

Exkurs : Der mystische Körper der Frau

Aber ist es überhaupt möglich, die in den buddhistischen


Tantras beschriebene mystische Physiologie auf die Frau
zu übertragen ? Oder gehorcht der weibliche Energie-
körper anderen Gesetzen ? Schläft auch bei der Frau die
Kundalini im Perineum beziehungsweise die Candali in
der Bauchgegend ? Hat die Frau ihren roten Tropfen in
der Stirn ? Wo liegt und wie bewegt sich in ihr der weiße
Bodhicittai Sind bei ihr die beiden Seitenkanäle ebenso
wie beim Mann angeordnet oder umgekehrt ? Weshalb
arbeitet auch sie mit dem Feuer in ihrem Körper und
nicht mit Wasser ?
Über den mystischen Leib der Frau gibt es nur sehr
wenige Erfahrungsberichte und noch weniger Anleitun-
gen. Die uns zugänglichen Praxisbücher stammen alle
aus dem chinesischen Kulturraum. Die Französin Ca-
therine Despeux hat einige davon in einer historischen
Darstellung gesammelt (Immortelles de la Chine Anci-
enne). Ein praktisches Handbuch liegt von Mantak und
Maneewan Chia vor – mit dem Untertitel Der geheime
Weg zur weiblichen Liebesenergie.
Ganz allgemein läßt sich nach diesen Texten sagen,

339
daß die spirituellen Energieerfahrungen, die von Frau-
en innerhalb ihres mystischen Körpers gemacht werden,
anders verlaufen als die oben geschilderten bei Männern.
Die beiden Pole, zwischen denen sich bei der Frau das
»tantrische« Szenario abspielt, sind nicht wie im Falle
des Mannes die Genitalien und das Hirn, sondern das
Herz und die Gebärmutter. Während sich beim Yogi die
Höchste Lust zuerst in der Penisspitze konzentriert, von
wo aus sie bis zur Schädeldecke nach oben gezogen wird,
kommt es bei der Frau zu einer Lust in der Gebärmut-
ter und dann zu einem »mystischen Orgasmus« im Her-
zen, oder die Energie geht vom Herzen aus, senkt sich
dann in die Gebärmutter und steigt dann wieder zum
Herzen empor. »Die plötzliche Öffnung des Herzchakra
verursacht eine ekstatische Erleuchtungserfahrung, und
das Herz der Frau wird zum Herzen des Universums.«
(* Thompson, 29)
Nach chinesischen Texten bildet sich zum Beispiel der
rote Samen der Frau zwischen ihren Brüsten, fließt von
dort aus in die Vagina und ist nicht wie der männliche
Samen im Vajrayana unter der Schädeldecke zu suchen.
(* Despeux, 206) Die sich ergebenden Techniken zur Ma-
nipulation des Energiekörpers sind deswegen im Taois-
mus für Männer und Frauen völlig unterschiedlich.
Ohne die inneren Vorgänge im weiblichen Körper wei-
ter zu untersuchen, deutet das in wenigen Sätzen Gesagte
schon darauf hin, daß eine undifferenzierte Übertragung
der Vajrayana-Techniken auf den weiblichen Ener­gieleib
verhängnisvolle Folgen haben muß. Es kommt dann zu
einer Art Vergewaltigung des femininen Körpermusters

340
durch die maskuline Physis. Genau das fordert der XIV
Dalai Lama, wenn er – wie in dem folgenden Zitat – die
inneren Vorgänge bei der Frau mit denjenigen des Man-
nes gleichsetzt. »Einige Leute haben bestätigt, daß das
weiße Element auch bei Frauen vorhanden ist, obwohl
das rote Element bei ihnen stärker ist. Deshalb ist die
Praxis der vorher beschriebenen tantrischen Meditation
für Frauen dieselbe ; das weiße Element sinkt in genau
derselben Weise und wird dann wieder heraufgezogen.«
(Varela, 1997, 154)
Greift die Frau zu den androzentrischen Yogatechni-
ken, dann schwindet ihre Geschlechterdifferenz, und sie
wird energetisch in einen Mann transformiert. Damit er-
füllt sich die im Mahayana-Buddhismus geforderte Ge-
schlechtsumwandlung, welche Frauen ermöglichen soll,
als Männer erneut zu inkarnieren, schon in diesem ir-
dischen Leben – zumindest was ihren mystischen Leib
anbelangt.
Spirituelle Feministinnen, die glauben, ihre weibliche
Ohnmacht dadurch zu überwinden, daß sie die männli-
chen Yogatechniken des Tantrismus kopieren, geraten in
die heimtückischste und zynischste Falle, die ihnen das
Patriarchat überhaupt stellen konnte. In dem Wahn, daß
durch die Entfesselung der Candali im eigenen Körper
das androzentrische Joch abgeschüttelt wird, betreiben
sie in Unkenntnis der sexualmagischen Manipulationen
ihre eigene Auflösung als Geschlecht. Sie vollziehen das
»tantrische Frauenopfer« an sich selbst, ohne darum zu
wissen, und zünden den Scheiterhaufen, auf dem sie als
Candali oder als Hexe (Dakini) verbrennen, selber an.

341
Die Methode oder
Die Manipulation des Göttlichen

Kehren wir noch einmal zu den männlichen Tantra-


Techniken zurück. Die »Methode«, die der Adept an-
wendet, um seinen androgynen Körper hervorzubrin-
gen, wird als der »Yoga mit den sechs Gliedern« (Sa-
danga Yoga) bezeichnet. Dieses Lehrsystem gilt sowohl
für das Kalachakra- wie für das Guhyasamaja-Tantra.
Man hat es als die höchste aller Techniken im Vajraya-
na-Buddhismus bezeichnet. Grundsätzlich ist bei der
Durchführung dieses Yoga der Sexualverkehr mit einer
Frau und die Retention des Samens notwendig. Freilich
– wenn man keine Partnerin findet, kann man auch zur
Masturbation greifen. 18 (* Grönbold, Asiatische Studi-
en, 34)
Die sechs Stadien des Sadanga Yoga heißen : 1. indivi-
dueller Rückzug (Pratyahard) ; 2. Versenkung (Dbyand) ;
3. Atemkontrolle (Pranayama) ; 4. Fixierung oder Zurück-
haltung (Dharand) ; 5. Erinnerung (Anusmrti) und 6. Ent-

18 Der Sadanga Yoga ist nicht mit dem im Westen weit mehr be-
kannten »sechsteiligen Yoga des Naropa« identisch. Der Maha
Siddha (Naropa) muß jedoch beide Yogaarten gekannt haben,
denn in seinem Kommentar zum Kalachakra-Tantra spricht er
die Sadanga-Übungen an. Im Originaltext des Zeittantras (Sek-
kodesha) wird dieser Yoga nur sehr kurz in den Versen 115–119
des vierten Kapitels behandelt. Diese Kürze sagt aber nichts über
seine fundamentale Bedeutung aus, sondern nur, daß zahlreiche
spezifische Schriften existieren, die sich der Yogi leicht zugäng-
lich machen kann. Davon sind mittlerweile mehrere ins Engli-
sche beziehungsweise Deutsche übersetzt worden. (* Siehe vor al-
lem die Arbeiten von Grönbold)

342
faltung oder Erleuchtung (Samadhi). Wir werden die ein-
zelnen Stufen kurz darstellen und interpretieren.
1. Pratyahara (individueller Rückzug) : Der Yogi zieht
sich von allen Sinnesfähigkeiten und Sinnesobjekten auf
sein Inneres zurück, er schließt sich also völlig von der
Außenwelt ab. Man spricht auch davon, daß er die Tore
der Sinne verschließt und die äußeren Winde in sich hin-
einzieht, um sie in einem Tropfen zu verdichten. (* Cozort,
124) Die Meditation beginnt in der Nacht und muß in
völliger Dunkelheit durchgeführt werden. Als ein Hilfs-
mittel empfiehlt der amerikanische Tantra-Interpret Da-
niel Cozort die Konstruktion einer »lichtgeprüften Ka-
bine«. Der Yogi rollt die Augen nach oben, konzentriert
sich auf den höchsten Punkt seines mittleren Energie-
kanals und nimmt dort einen kleinen blauen Tropfen
wahr. Während dieser Übung entstehen vor seinem inne-
ren Auge die zehn Photismen (Licht- und Feuerzeichen)
als Vorzeichen der Höchsten Erleuchtung, dem klaren
unendlichen Licht, in folgender Reihenfolge : Rauch (1),
Lichtstrahl (2), Glühwürmchen (3), das Leuchten einer
Lampe (4) sind die ersten vier Phänomene, die auch den
vier Elementen zugerechnet werden und die der Sadanga
Yoga als »Nachtzeichen, weil man gewissermaßen noch
in der Dunkelheit lebt, wie in einem fensterlosen Haus«
beschreibt. (* Grönbold, Asiatische Studien, 36)
Die übrigen sechs Erscheinungen heißen »Tagzeichen«,
weil man nun »gleichsam in den wolkenfreien Himmel
blickt«. (* Grönbold, Asiatische Studien, 35) Sie begin-
nen mit dem beständigen Licht (5), gefolgt vom Feuer
(6), welches als Leuchten der Leere gilt, dem Glanz des

343
Mondes und der Sonne (7), dem Schein des Planeten
Rahu (8), der mit einem schwarzen Edelstein verglichen
wird. Dann strahlt ein Atom wie ein greller Blitz auf
(9), und zuletzt erscheint der große Tropfen (10), der als
»ein Leuchten des schwarzfarbigen Mondkreises« erblickt
wird. (* Grönbold, Asiatische Studien, 35) Daß am Ende
ein »dunkles Licht« erblickt wird, deutet Grönbold als ei-
nen Blendungseffekt, da die Lichterscheinungen jetzt für
den Yogi nicht mehr faßbar sind. 19 (* Grönbold, Asiati-
sche Studien, 35)
2. Dhyana (Versenkung) : Auf der zweiten Stufe des Sa-
danga Yoga festigt der Adept durch Kontemplation un-
terhalb der Schädeldecke sein Denken, die 11 Tag- und
Nachtzeichen und das eben erwähnte visionäre Buddha-
bildnis. Diese Versenkung ist gekennzeichnet durch fünf
Bewußtseinszustände : Weisheit (1), Logik (2), Reflexion
(3), Lust (4) und unerschütterliches Glück (5). Alle fünf
dienen dazu, die Einsicht von der Leerheit des Seins zu

19 Daniel Cozort dagegen gibt neben den oben genannten vier


»Nachtzeichen« folgende sechs »Tagzeichen« an : destruktives
Feuer (5), die Sonne (6), den Mond (7), den Planeten Rahu (8), ei-
nen Blitz (9) und den blauen Punkt (10). (* Cozort, 125) Im elf-
ten Zeichen zeigen sich innerhalb des blauen Tropfens Kalacha-
kra und Vishvamata in sexueller Vereinigung. Das Sekkodesha
nennt dieses Ereignis das »universelle, klar leuchtende Bild« und
spricht von einer Epiphanie des allwissenden Buddha, der er-
strahlt, »wie die Sonne im Wasser, unbefleckt, von allen Farben,
mit allen Aspekten, erkannt als Ausdruck unseres eigenen Be-
wußtseins, ohne jegliche Objektivität.« (* Naropa, 229 ; 254) An-
dere Texte geben noch weitere Photismen an, aber in allen Fällen
handelt es sich um reine Feuer- und Lichtmeditationen, die der
Yogi erfolgreich zu durchlaufen hat.

344
erfahren. (* Grönbold, Asiatische Studien, 32) Wenn die
Zeichen von ihm stabilisiert sind, hat der Yogi die not-
wendige Reinheit erreicht, um auf die nächste Stufe auf-
zusteigen. Er besitzt jetzt das »göttliche Auge«. (* Nar-
opa, 219)
3. Pranayama (Wind- oder Atemkontrolle) : Atem, Luft
und Wind sind in jeder Form des Yoga synonym. Die in-
nerkörperlichen Energien, welche durch die subtilen Ka-
näle fließen, werden Winde genannt. Ein ausgebildeter
Adept kann sie mit seinem Atem kontrollieren und hat
deswegen die Fähigkeit, durch Ein- und Ausatmen alle
72 000 Bahnen in seinem Körper zu erreichen und zu
beeinflussen. Der Energiewind trägt allgemein den Na-
men Prana, das heißt reine Lebenskraft. In der Kalacha-
kra-Schule wird die Meinung vertreten, bei Prana hand-
le es sich um den Urwind, aus dem sich neun abgeleitete
Hauptwinde entwickeln. (* Banerjee, 1959, 27)
Auch die Zeit wird als ein Kommen und Gehen des
Atems erfaßt. Wer demnach seinen Atem kontrolliert, der
beherrscht die Zeit. Er wird zu einem übermenschlichen
Wesen, das um »die drei Zeiten weiß« : um die Zukunft
durch das Einatmen, um die Vergangenheit durch das
Ausatmen, um die ewige Gegenwart durch das Anhalten
des Atems. (* Grönbold, Asiatische Studien, 29)
Der Wind dominiert als höchstes Kontrollinstrument
des Yogi das gesamte Szenario, mal schiebt er den my-
stischen, unzerstörbaren Tropfen durch die Kanäle, mal
durchstößt er die Knoten in den Chakren, so daß die En-
ergien frei fließen können, mal wird durch Atemübun-
gen das eigene schlechte Karma verbrannt. Es gibt zahl-

345
reiche Katalogisierungen der verschiedenen Windarten.
Grobe und subtile, sekundäre und primäre, nach oben
steigende und nach unten fallende wehen durch den Kör-
per. Im Kalachakra-Tantra unterscheidet man insgesamt
10 Hauptarten von Atemwinden.
Der Höhepunkt im Pranayama Yoga besteht darin,
daß diejenigen Winde, welche sich im rechten und lin-
ken Seitenkanal befinden, in den Zentralkanal (Avad-
huti) gebracht werden. Beim gewöhnlichen Menschen
pulsiert das Prana in den beiden äußeren Bahnen, von
denen die eine männlich und die andere weiblich ist. Des-
wegen lebt er nach tantrischer Auffassung noch in ei-
ner Welt der Gegensätze. Durch die Aktivierung seines
mittleren, androgynen Kanals glaubt nun der Yogi, die
ursprüngliche doppelgeschlechtliche Einheit wiederher-
stellen zu können.
4. Die vierte Übung heißt Dharana (Fixierung) : Fixiert
oder zurückgehalten wird der Atemwind zuerst inner-
halb des mittleren Kanals, dann in den einzelnen Chak-
ren. Festgemacht werden dadurch auch die Gefühle, das
Denken und die imaginative Schau einzelner Gottheiten.
Während dieser Übung muß der Penis des Yogis ständig
erigiert sein. Er ist jetzt der »Herr der Winde« und kann
je nach Belieben die Energien durch den Körper wandern
lassen, um sie dann an bestimmten Orten zu fixieren.
Dazu rechnet auch der Eintritt des Atems in die Tropfen,
wo immer sich diese befinden mögen. Obgleich der Ad-
ept jetzt die zehn Hauptwinde kontrolliert, ist der Körper
in diesem Stadium noch nicht gereinigt. Deswegen kon-
zentriert er die Energie im Nabelchakra und verbindet sie

346
mit »dem Tropfen der sexuellen Ekstase«. Erst diese Pra-
xis hat die Entzündung der Candali zur Folge.
5. Der Auftritt der »Feuerfrau« (Candali) beherrscht
das Szenario des fünften Yoga, Anusmriti genannt. Das
bedeutet seltsamerweise »Rückerinnerung«. (* Grönbold,
1969, 89) Wieso wird das Erblicken der Candali »im Kör-
per und am Himmel« mit einer mystischen Reminiszenz
in Beziehung gebracht ? An was erinnert sich der Yogi  ?
Wahrscheinlich an die »ursprüngliche Ganzheit«, die Ver-
einigung von Gott und Göttin.
6. Im letzten Stadium des Sadanga Yoga erreicht der
Adept Samadhi (Erleuchtung oder Entfaltung), die »un-
zerstörbare Glückseligkeit«. Dieser Zustand wird auch
mit der »Vision der Leere« in eins gesetzt. (* Wayman,
1983, 39) Alle Winde und damit auch alle Manifestatio-
nen des Seins sind jetzt zum Stillstand gebracht – über
den Wipfeln ist Ruh. Der Yogi hält die 21 600 Atemzü-
ge einer Nacht und eines Tages an, das heißt, er braucht
nicht mehr zu atmen. Seine materiellen körperlichen Ag-
gregate sind aufgelöst. Völlige Bewegungslosigkeit tritt
ein, alle sexuellen Leidenschaften schwinden und werden
durch die »unbewegte Lust« ersetzt. (* Naropa, 219)
Da der Fluß der Zeit nichts anderes darstellt als das Strö-
men der Energiewinde im Körper, hat sich der Adept durch
deren Stillegung über den Zeitzyklus erhoben und ist des-
sen absoluter Beherrscher geworden. Schon auf der drit-
ten Stufe der Übungen, während des Pranayama, hatte er
die Kontrolle über den Zeitfluß gewonnen, außer Kraft
setzen aber wird er ihn erst, wenn er den Zustand des
Samadhi erreicht hat.

347
Es ist erstaunlich, daß alle sechs Stufen des Sandanga
Yoga während der sexuellen Vereinigung mit einer Kar-
ma Mudra (einer realen Frau) durchgeführt werden sollen.
Aber bis es dazu kommt, sind viele vorbereitende Stun-
den notwendig. Auch die beschriebenen inneren Photis-
men tauchen im Verlauf des Sexualaktes auf.
Um zum Beispiel beim Pranayama die männlichen und
weiblichen Energieströme in den mittleren Kanal zu pres-
sen, wendet der Adept drastische Hatha Yoga-Praktiken
an, welche als »die Verbindung von Sonnen- und Monda-
tem« bekannt sind. (* Evans-Wentz, 1937, 33) Ha bedeu-
tet übersetzt »Sonne«, tha »Mond«. Hatha, die Kombi-
nation von Ha und Tha, heißt bezeichnenderweise »Ge-
walt« oder »gewaltsame Anstrengung« und annonciert
dadurch das Gewaltmoment im sexualmagischen Akt.
(* Eliade, 1985, 238) Dieser besteht während des Sexual-
verkehrs in einem plötzlichen ruckartigen Hochspringen
bei gleichzeitigem Hand- oder Fersendruck auf das Peri-
neum. Daß solche »Methoden« (Upaya) für eine »Weis-
heitsgefährtin« (Prajna) besonders reizvoll und erotisch
sind, möchten wir bezweifeln. Die Lieblosigkeit, die Ge-
fühlskälte, das Raffinement und die tiefe Frauenverach-
tung, die hinter diesen Yoga-Techniken stehen, müßten
der Karma Mudra eigentlich sogleich ins Auge fallen.
Doch in den Armen eines gottähnlichen Lamas wird sie
es selten wagen, ihre skeptischen Empfindungen ernst zu
nehmen oder gar zu artikulieren.
Der Sadanga Yoga beschreibt die anzuwendende »Me-
thode« (Upaya) des Kalachakra-Tantra während der Hö-
heren und Höchsten Einweihungen. Es handelt sich hier-

348
bei um eine emotionslose, »rationale«, rein technische
Anleitung, um Energien zu manipulieren, die zutiefst
emotional, erregend und instinktiv sind – wie die Zu-
neigung, den Eros und die Sexualität. In der klassisch
tantrischen Polarität von »Weisheit« (Prajna) und »Me-
thode« (Upaya) ist die letztere von diesen Yoga-Techni-
ken abgedeckt. Um alles andere – um die Weisheit, das
Wissen und die Gefühle – braucht sich der Yogi nicht zu
kümmern. Er findet sie schon vor in der »Prajna«, dem
weiblichen Elixier, das er durch die korrekte Ausübung
des Sandanga Yoga der Frau entreißen kann. Was ist nun
das Ergebnis dieser berechnenden und raffinierten Se-
xualmagie ?
4. DER ADI BUDDHA :
HERR DER GESCHICHTE

Das höchste Ziel der Kalachakra-lnitiation ist die Er-


reichung eines spirituellen Zustandes, der als ADI BUD-
DHA bezeichnet wird. Im Jahre 1833 zitierte der Grün-
der der westlichen Tibetologie, der Ungar Csoma de Ko-
ros, zum ersten Mal in einer europäischen Sprache die
berühmten Kalachakra-Thesen, die der Maha Siddha Ti-
lopa an die Pforte der buddhistischen Universität zu Na-
landa geheftet haben soll. In ihnen wird der ADI BUD-
DHA als das Höchste EINE, aus dem alles andere her-
vorgeht, vorgestellt : »Derjenige, der nicht den höchsten
ersten Buddha (ADI BUDDHA) kennt, der kennt nicht
das Rad der Zeit (Kalachakra). Derjenige, der nicht das
Rad der Zeit kennt, kennt nicht die genaue Aufzählung
der göttlichen Attribute. Derjenige, der nicht die Auf-
zählung der göttlichen Attribute kennt, kennt nicht
die höchste Intelligenz und kennt nicht die tantrischen
Prinzipien. Derjenige, der nicht die tantrischen Prinzi-
pien kennt, und alle diejenigen, die im Kreis der See-
lenwanderung umherirren, stehen außerhalb des Weges,
den der höchste Triumphator anweist. Deswegen muß
die Lehre vom ADI BUDDHA von jedem wahren Lama
gelehrt werden, und jeder wahre Schüler, der Befreiung
anstrebt, muß sie hören.« (* Koros, 21, 22) Kein anderes
Tantra hat die Idee des ADI BUDDHA so in das Zen-
trum seiner Lehre gestellt wie das Kalachakra-Tantra.

350
Die Annahme, es handle sich bei dem ADI BUDDHA
um eine Wesenheit, die in der obersten geistigen Sphäre
verweilt, vom historischen Buddha als das Nirvana be-
zeichnet, wäre falsch. Dies wird ersichtlich, wenn wir die
drei Bewußtseinstore untersuchen, welche in dieses letz-
te Reich der Erleuchtung (Nirvana) führen : 1. die Leere
(Shunyata) – 2. das Zeichenlose (Animitta) und 3. das
Wunschlose (Apranihata).
Nirvana, die raison d’être des Buddhismus, ist wegen
dieser drei Tore eine durch Begriffe nicht mehr definier-
bare Größe. Wir können sie nur umschreiben, nie jedoch
mit unserem Verstand und durch unsere Worte erfassen.
Edward Conze, der bedeutende Historiker des Buddhis-
mus, hat eine große Zahl solcher Notationen zusammen-
gestellt, mit denen buddhistische Autoren versuchten, die
höchste spirituelle Stufe ihrer Religion zu »bebildern«.
Wir wollen hiervon einige zitieren : Nirvana ist das Tod-
lose, Unwandelbare, Endlose, Dauerhafte, der Frieden,
die Rast, die Ruhe, die Befreiung, der Verzicht, das Un-
sichtbare, die Zuflucht, das Höchste Gut.
An dieser Aufzählung zeigt sich schon der unpersön-
liche »Charakter« des Nirvana. Das Nirvana ist also auf
keinen Fall eine Person, sondern ein Geisteszustand. Aus
diesem Grunde war in der frühbuddhistischen Ikono-
graphie die körperliche Abbildung des erleuchteten Bud-
dha verboten. Er durfte nach seinem Eintritt ins Nirva-
na nur symbolisch und niemals physisch dargestellt wer-
den – zum Beispiel als ein Rad oder als eine Feuersäule
oder sogar durch seine Abwesenheit, indem der Künst-
ler einen »leeren« Thron schuf. Anschaulicher konnte

351
man den »Erhabenen«, der schon in der »Leere« weilte,
nicht »porträtieren«.
Das Nirvana ist demnach keine Schöpfung, nicht ein-
mal die erste Ursache der Schöpfung, sondern ein Still-
stand. Es ist kein Handeln, sondern Nichthandeln ; kein
zielgerichtetes Denken, sondern ein Nichtdenken. Es ist
absichtslos und kennt keine Motive. Es befiehlt nicht, son-
dern schweigt. Es ist ohne Anteilnahme und Engage-
ment. Es steht außerhalb der Zeit. Es ist geschlechtslos.
Es ist in der historischen Anfangsphase des Buddhismus
nicht einmal mit dem mystischen »Klaren Licht« iden-
tisch. All das – die Schöpferkraft, das Höchste Klare Licht,
das Handeln, das Denken, die Motivation, das Befehlen
– trifft jedoch auf den ADI BUDDHA zu.
Der ADI BUDDHA ist nicht wie das Nirvana ge-
schlechtsneutral, sondern er ist der Große Kosmische
Androgyn, der die Geschlechterpolarität in sich inte-
griert hat. Er ist aus sich selbst entstanden, aus sich
selbst existierend, das heißt, er hat keinen Vater und
keine Mutter. Er ist geburtslos und todlos, ohne An-
fang und ohne Ende. Er ist die höchste Glückseligkeit
und bar aller Leiden. Er ist unbefleckt und ohne Ma-
kel. Er ist der Zusammenfall der Gegensätze, das Un-
geteilte. Er ist Weisheit und Methode, Form und Form-
losigkeit, Mitgefühl und Leere. Er ist die Ruhe und die
Bewegung, er ist statisch und dynamisch. Er hat un-
zählige Namen. Er ist der All-Gott, der höchste Herr.
Hören wir uns einen alten indischen Hymnus an, der
ihm gewidmet wurde :

352
Er ist der Eine und verkündet die Lehre von der Einheit ;
/ er steht an der Spitze der Wesen. / Er durchdringt alles ;
er ist der unfehlbare Weg. / Er ist der Sieger, einer, dessen
Feind besiegt ist, ein Eroberer, / ein Weltenherrscher, der
die großen Kräfte besitzt. / Er ist der Anführer der Schar,
der Lehrer der Schar, / der Herr der Schar, der Meister
der Schar, der Mächtige. / Er hat große Macht, hält allen
Lasten stand. Nicht braucht er / von anderen geführt zu
werden ; er ist der große Führer. / Er ist der Herr der Rede,
der Meister der Rede, der Beredte, / der Meister der Stim-
me, das ewige Wort.«
(* Grönbold, 1995, 53)

Wir stehen hier vor einer interessanten historischen Wen-


de in der Geschichte der buddhistischen Lehre. Anstel-
le der unbenennbaren, unpersönlichen und geschlechts-
losen Leere des Nirvana, sind wir auf einmal mit einem
androgynen Allherrscher konfrontiert. Ein im Nirvana
verweilender Buddha steht außerhalb aller Zeit, der ADI
BUDDHA dagegen ist nach der Aussage des Maha Sid-
dhas Tilopa identisch mit dem Zeitgott Kalachakra. »Er
ist das Rad der Zeit, ohne Gleichem und unzerstörbar.«
(* Carelli, 21) »Der ADI BUDDHA läßt das Rad der Zeit
entstehen, den Zyklus von Schöpfung und Zerstörung,
den Zyklus niemals endenden Wandels, der unsere Exi-
stenz definiert«, lesen wir bei E. Bernbaum. (* Bernbaum,
1982, 133) – Er ist der »König des Kalachakra-Tantras«,
kennt die gesamte tantrische Geheimlehre, beherrscht
den Körper, die Sprache, das Bewußtsein und besitzt alle
magischen Kräfte. Das Kalachakra-Tantra feiert ihn als

353
den Herrn der Illusionen, »der viele illusionäre Formen
hervorbringt. Er benutzt solch emanierte Formen, um
Bäume auszureißen und auch um die Gipfel der Berge zu
erschüttern.« (* Newman, 1987, 296) Er ist ein Dharma-
raja, ein Gesetzeskönig, weil er als Hierarch allen Wesen
befiehlt. Als höchster universeller Richter urteilt er über
Götter und Menschen. Er besiegt als Heilsbringer die
Feinde des Buddhismus und führt seine Anhänger in das
goldene Zeitalter. Der ADI BUDDHA steht handelnd im
Zentrum des buddhistischen Universums, das gleichzei-
tig aus ihm emaniert. Dennoch kann er in der anthropo-
morphen Gestalt eines Menschen, eines Yogis erscheinen.
Wenn wir den ADI BUDDHA in Begriffen des philo-
sophischen Idealismus beschreiben würden, dann müß-
ten wir Worte wie der »absolute Geist«, die »absolute
Subjektivität«, das »absolute Ich« einführen. Er ist das
Ego Ipsissimus des Yogi, das dieser durch seine sexual-
magischen Praktiken zu erreichen sucht. Stolz ruft er am
Ende seiner Einweihung in einem tantrischen Text aus :
»ICH – der ich das Universum bin. ICH bin sein Schöp-
fer … Das Universum löst sich in mir auf. ICH – der ich
die Flamme des einen großen und ewigen Bewußtseins-
feuers bin.« (* Dyczkowski, 189) Selbstverständlich spre-
chen diese Sätze nicht das individuelle »Ich« an, sondern
das »Über Ich« eines göttlichen Allwesens. Neben die
absolute Versubjektivierung des ADI BUDDHA, dessen
Wille Gesetz und dessen Macht ohne Grenzen ist, tritt
seltsamerweise eine Auffassung, die in diesem Höchsten
Wesen eine große kosmische Maschine erkennen will.
Man hat sich den All-Buddha auch wie ein Uhrwerk, bei

354
dem jedes Rad mit anderen Rädern in Beziehung tritt
und alle Räder ineinandergreifen, vorgestellt. In unend-
lichen Wiederholungen, ohne daß sich jemals etwas an
diesem Ereignislauf ändern könnte, läuft die Mechanik
der buddhistischen Kosmogonie und ihres Beherrschers
ab. Alles hat seinen Platz, seine Ordnung, seine Repeti-
tion. Selbst ihre eigene Vernichtung ist – wie wir zeigen
werden – zu einem eingebauten Ereignis dieser Mega-Ma-
schine geworden ebenso wie die unweigerlich darauf fol-
gende Wiederauferstehung des göttlichen Apparates. Ein
nie endender Prozeß, der nie gestoppt, nie zurückgedreht,
nie variiert werden kann. Friedrich Nietzsche muß auf
diese kosmische Uhr geblickt haben, als er seine Vision
von der »Ewigen Wiederkehr« hatte. Der ADI BUDDHA
ist diese Weltenuhr, der dieu machine oder die göttliche
Maschine. Absoluter Wille und absolute Mechanik, ab-
solute Subjektivität und absolute Objektivität, das Abso-
lute ICH und das ANDERE sollen im absoluten Arche-
typ des ADI BUDDHA ihre Einheit finden. Diese Para-
doxie wird von den tantrischen Lehrern als ein großes
mystisches Geheimnis ausgegeben.
Zweifelsohne weist demnach der All-Buddha (ADI
BUDDHA) des Kalachakra-Tantras alle Charaktermerk-
male eines universellen Gottes auf, eines Weltenherr-
schers (Pantokrator), eines Messias (Salvator) und eines
Schöpfergeistes (Creator) ; zweifelsohne trägt er mono-
theistische Züge. 20

20 Das bedeutet nicht, daß er deswegen in den tantrischen Texten


auf die namenlosen »Eigenschaften« des Nirvana verzichten →

355
Die Idee von einem omnipotenten göttlichen Wesen,
das in vielen Zügen den vorderasiatischen Vorstellungen
eines Schöpfergottes entspricht, fand schon Eingang in
den Mahayana-Buddhismus und wurde von den frühen
Tantras (4. Jh. n. Chr.) übernommen. Ihre Reife und end-
gültige Ausformulierung erhält sie erst in der Kalachakra-
Lehre (10. Jahrhundert). Viele westliche Forscher wur-
den durch die monotheistischen Züge des ADI BUD-
DHA dazu veranlaßt, hier nichtbuddhistische, vor allem
vorderasiatische Einflüsse zu vermuten. Überzeugend hat
man auf iranische Quellen hingewiesen. Weiterhin ver-
dankt das Bild seine Fortentwicklung und seine Kontur
einer Reaktion auf den Islam. Die persönlich gefärbte
Theophanie Allahs bot in Indien und Innerasien für die
einfache Bevölkerung ein attraktives und emotionales Ge-
genmodell zur elitären und »abstrakten« Nirvana-Lehre
der gelehrten buddhistischen Mönche an. Es lag also nahe,
entsprechend charismatische Bilder in den eigenen Kult
zu übernehmen. Als Übergott stellte der ADI BUDDHA
auch eine Alternative zur hinduistischen Vielgötterei dar,
die in der damaligen Zeit den Buddhismus ebenso stark
bedrohte wie später die Lehre des Korans.

← müsse. Der Tantrismus sieht sich ja als die Fortsetzung und


Fortentwicklung der beiden vorangegangenen Schulen des Hi-
nayana- und Mahayana-Buddhismus und ist immer darum be-
müht, deren Lehren zu integrieren. Sie bilden nach seiner Vor-
stellung geradezu die notwendigen Stufen, die erstiegen werden
müssen, bevor der Diamentenpfad betreten werden darf. Nicht
selten verwickelt sich jedoch der Vajrayana bei diesem Unterfan-
gen in heillose Widersprüche. Einer davon ist die Personifizie-
rung des ADI BUDDHA zu einem Schöpfergott.

356
Eine solche Versubjektivierung des Gottesbildes hat
es in den philosophisch orientierten Lehrmeinungen
der frühen buddhistischen Schulen bis hin zu dem gro-
ßen Gelehrten Nagarjuna (2./3. Jh. n. Chr.) nicht gege-
ben. Sie alle waren darum bemüht, den »Buddha« als eine
Bewußtseinsebene, als ein kognitives Feld, als eine Er-
leuchtungsstufe, als Leerheit, kurz als einen mentalen Zu-
stand darzustellen, nicht jedoch als einen Creator Mundi
(Schöpfergott). Im ADI BUDDHA-System spielt jedoch
der kreative Aspekt eine ebenso große Rolle wie zum Bei-
spiel die Epiphanie des göttlichen Zorns oder der apoka-
lyptische Richterspruch der göttlichen Vernichtung. Das
höchste mentale und transpersonale Buddha-Bewußtsein
aber existiert auf einer Ebene jenseits von Schöpfung und
Zerstörung, jenseits von Leben und Tod.
Der ADI BUDDHA ist deswegen ein »theologisches«
Prinzip, welches das gesamte tantrische Ritualwesen
durchdringt. In seiner vollendeten Form erscheint er
als der »androgyne Kosmokrator«, in seiner unvollen-
deten Gestalt durchläuft er noch als praktizierender Yogi
die einzelnen Initiationsstufen des Kalachakra-Tantra.
Grundsätzlich deckt sich der mystische Leib des Tantra-
Meisters mit dem des ADI BUDDHA, aber es kommt
erst zur vollen Identität, wenn der Yogi alle Elemente
seines humanen Körper »vernichtet« und ihn in einen
göttlichen Leib transformiert hat.
Sehen wir uns jetzt die Machtentfaltung des ADI BUD-
DHA an, wie sie im Kalachakra-Tantra beschrieben wird.
Sie weist im wesentlichen fünf Aspekte auf :
1. Einen inneren Aspekt. , der sich durch mikrokosmi-

357
sche Vorgänge im androgenen Energieleib des Yogi (be-
ziehungsweise des ADI BUDDHA) beschreiben läßt. Da-
von gibt es eine »physiologische Landkarte«, dargestellt
durch ein kompliziertes Symbolzeichen, das sogenannte
Dasakaro Vasi (die zehn Energiewinde). Dieses Zeichen
werden wir genauer untersuchen.
2. Einen zeitlich-astralen Aspekt, der sich bis in die Ster-
ne ausdehnt. Der ADI BUDDHA umfaßt in seiner ma-
krokosmischen Dimension das gesamte Universum. So-
weit die Himmelslichter (Sonne, Mond und Sterne) an-
gesprochen sind, gelten sie im Kalachakra-Tantra – wie
in allen archaischen Kulturen – als die Indikatoren der
Zeit. Wer sie beherrscht, ist entsprechend Herrscher über
die Zeit. In diesem Kapitel analysieren wir die verschie-
denen tantrischen Zeitmodelle.
3. Einen räumlich-kosmischen Aspekt, der sich ebenfalls
über das gesamte Weltall erstreckt. Der ADI BUDDHA
ist, obgleich auch eine Person, ebenso mit der Struktur
des buddhistischen Kosmos identisch, oder – anders aus-
gedrückt – das makrokosmische Modell des Alls zeigt eine
Homologie zum mikrokosmischen Leib des ADI BUD-
DHA. Beide haben die Form eines Mandalas (eines kos-
mischen Diagramms). Hier beschreiben wir den Auf-
bau des Universums, über das der ADI BUDDHA sei-
ne Macht ausübt.
4. Einen global-politischen Aspekt, der sich in der Idee
von einem buddhistischen Weltenherrscher (Chakravar-
tin) verdichtet. Der ADI BUDDHA beansprucht – so wer-
den wir zeigen – durchaus die realpolitische Macht über
den gesamten Erdkreis.

358
5. Ein mytho-politisches Programm. Das Kalachakra-
Tantra behandelt die Thematik vom Weltenherrscher
nicht nur in seiner Allgemeinheit, sondern hat eine spe-
zifische Utopie, Ideologie und Staatsform entwickelt, die
im sogenannten Shambhala-Mythos zusammengefaßt ist.
Diese global-politische Programmatik des ADI BUDDHA
ist für das Verständnis des Kalachakra-Tantra und später
für die Analyse der tibetischen Geschichte so bedeutsam,
daß wir ihr einen gesonderten Abschnitt widmen.
Im zweiten, dem politischen Teil unserer Studie (Poli-
tik als Ritual) werden wir alle diese fünf Aspekte im Zu-
sammenhang mit dem XIV Dalai Lama untersuchen. Er
ist der zur Zeit höchste Kalachakra-Meister, dessen Per-
son, dessen Handeln und Denken der Vorstellung eines
ADI BUDDHA am nächsten kommt.

Die »zehn Mächtigen« :


Der mystische Leib des ADI BUDDHA

Die im Kalachakra-Tantra beschriebene Kontrolle kos-


mischer Energien durch einen mystischen Körper ist
eine Tradition, die auch im mittelalterlichen Europa be-
kannt war. Auch im Abendland gab es philosophische
Schulen, welche die Anatomie des human-mystischen
Leibes und die Kosmographie als dieselbe Wissenschaft
ansahen. Der Mensch und das Universum bildeten eine
Einheit. Homo omnis creatura – »der Mensch ist die ge-
samte Schöpfung«. Nach dieser Vorstellung hatten die
mikrokosmischen Organe und Glieder, zum Beispiel das

359
Herz, der Nabel, die Arme, der Kopf, die Augen usw., alle
ihre makrokosmischen Entsprechungen.
Um die mikrokosmischen Bedingungen für die Macht­
entfaltung des ADI BUDDHA zu schaffen, ist ein an-
drogyner Körper des Yogi, das heißt die oben von uns
beschriebene Verinnerlichung der Maha Mudra (Inne-
re Frau) notwendig. Diese obsessive Vorstellung, daß
sich absolute Macht durch die »mystische Hochzeit« des
männlichen mit dem weiblichen Prinzip in einer einzi-
gen Person herbeizaubern läßt, hat ebenfalls die europä-
ische Alchemie in ihren Bann gezogen. Hier haben wir
also wiederum ein Ereignis vor uns, das in beiden Kultu-
ren (der westlichen wie der östlichen) an einer so zentra-
len Stelle steht, daß man die Gleichung Tantrismus = Al-
chemie sehr ernst nehmen sollte. Am Ende des »Großen
Werkes« (opus magnum) begegnen wir bei den Abendlän-
dern ebenso jenem transpersonalen und omnipotenten
Überwesen, von dem es heißt, es sei »zur gleichen Zeit
herrschendes Prinzip (männlich) und beherrschtes Prin-
zip (weiblich) und daher androgyn.« (* Evola, 1989, 48)
In den einschlägigen Texten wird dieses auch Herm-
aphroditus genannt, um anzuzeigen, daß sein männlicher
Teil aus dem Gott Hermes, sein weiblicher Teil aus der
Liebesgöttin Aphrodite besteht. Diese doppelgeschlecht-
liche Gottheit ist wie der ADI BUDDHA ein Schöpfer-
geist, der das Universum hervorbringt. Schon im Corpus
Hermeticum, der spätägyptischen Sammlung mysto-ma-
gischer Texte (200 v. Chr. – 200 n. Chr.), aus denen sich
die europäische Alchemie ableitet, können wir lesen, daß
eine »intellektuelle Wesenheit, der männlich/weibliche

360
Gott, der Leben und Licht ist«, das All hervorgebracht
hat. (Evola, 1989, 78, 79) Bei solch fundamentalen Ent-
sprechungen sind wir mit weit mehr als einer verblüffen-
den Parallele zwischen zwei Kulturkreisen konfrontiert.
Es spricht deswegen einiges dafür, daß das Kalachakra-
Tantra und die europäische Alchemie aus einer gemein-
samen Quelle fließen.
Wie wir schon ausführlich berichtet haben, geht der
künstlichen Genesis des kosmischen Androgyns so-
wohl in den abendländisch-alchemistischen als auch in
den tantrisch-buddhistischen Experimenten die Opfe-
rung der weiblichen Sphäre und ihre anschließende In-
tegration in die männliche Sphäre voraus. In beiden Fäl-
len werden zudem die alten seelischen und körperlichen
»Aggregate« der Adepten vernichtet. Auch der Alchemist
stirbt und »durchlebt« gleichzeitig wie sein tantrischer
Kollege mehrere feinstoffliche Tode, bis er sein Ziel er-
reicht hat. Auch er löst sein Menschsein auf, um als Gott-
heit geboren zu werden. Er streift – wie es in den Texten
heißt – seinen »alten Adam« (sein Menschsein) ab, um
sich zum »neuen Adam«, dem universellen Übermen-
schen (oder Gott), emporzuentwickeln, genauso wie der
Tantriker seine irdische Persönlichkeit und sein Ich ab-
sterben lassen muß, um anschließend als das Gefäß ei-
ner Gottheit zu dienen.
Nach der mikro-makrokosmischen Doktrin übt der kos-
mische Androgyn – in der Alchemie wie im Vajrayana –
mit Hilfe seines mysto-magischen Körpers die Herrschaft
über das ganze Universum aus. Im Inneren des Yogi hat
die universelle Macht ihren Ursprung und wächst dann

361
aus seinem »kleinen« Körper hervor, um sich schließlich
zum »großen« Körper des Alls auszudehnen, so wie aus
einer Eichel ein Eichenbaum entsteht. Nach dieser Mi-
kro-Makrokosmos-Theorie müssen wir den mystischen
Leib des Yogi als die zentrale Monade sehen, von der alle
anderen Monaden (auch alle anderen Menschen) nur ein
Spiegelbild darstellen oder, um es konkreter auszudrüc-
ken – sowohl die Alchemisten wie die Tantriker haben
so konkret gedacht –, der kosmische Androgyn (der ADI
BUDDHA oder der Hermaphroditus) bestimmt durch
die Kontrolle seines Energiekörpers sowohl die Kreisbe-
wegungen der Sterne als auch die Politik dieser unserer
Welt als auch die Psyche der Individuen.

Das Dasakaro Vasi

Der mikrokosmische Körper des ADI BUDDHA, mit


dem er das gesamte Universum beherrscht, wird im Ka-
lachakra-Tantra durch ein enigmatisches Symbol darge-
stellt, welches den Namen die »zehn Mächtigen« (Sanskr.
Dasakaro Vasi ; Tibet. Namtschuwangdan) trägt. Der
deutsche Orientalist Albert Grünwedel nannte es die
»Kräftigen in zehn Formen« und der erste westliche Ti-
betologe, Csoma de Koros, die »zehn Hüter der Welt«.
Wir finden das Zeichen auf zahlreichen lamaistischen
Gegenständen. Es schmückt Buchdeckel, Kästchen und
Amulettbehälter, erscheint auf Stupas und gilt als Talis-
man im alltäglichen Leben. Als das persönliche Siegel des
Panchen Lama wird es von dem Mythenvogel Garuda, der

362
Das Dasakaro Vasi

eine Schlange verschlingt, umrahmt. Zum erstenmal soll


das Dasakaro Vasi zusammen mit den oben zitierten ADI
BUDDHA-Thesen von dem Maha Siddha- und Kalacha-
kra-Spezialisten Tilopa am Tore der indischen Klosteruni-
versität Nalanda angebracht und gezeigt worden sein.
Das Zeichen zeigt sieben ineinander verschlungene
Sanskritbuchstaben, von denen jeder eine unterschied-
liche Farbe trägt. Die Lettern eins bis fünf stellen die
vier Elemente dar, in der Reihenfolge : Luft, Feuer, Was-
ser, Erde, Raum. Der sechste Buchstabe repräsentiert den
Berg Meru, die kosmische Achse des buddhistischen Uni-
versums ; der siebente den Lotus oder die nach buddhi-
stischer Kosmologie um den Meru radförmig gelagerten
zwölf Kontinente, von denen einer unsere Erde sein soll.
Darüber erheben sich Mond (8) und Sonne (9). Beide
werden von dem Dunkeldämon Rahu (10) in der Form
einer kleinen Flamme gekrönt.

363
Dieses verschlungene Zeichen (Dasakaro Vasi) ist die
anatomische Karte, die den mikrokosmischen Körper des
ADI BUDDHA abbildet. Die einzelnen Buchstabenlini-
en werden deswegen als sein inneres Adern- oder Ner-
vensystem beschrieben. Auf der mysto-physischen Ebene
verweist das Dasakaro Vasi-Symbol auf die zehn energe-
tischen Hauptkanäle, von denen sich insgesamt 72 000
Nebenkanäle abzweigen. Den Ausgangspunkt für das ge-
samte Körperschema bilden – wie wir oben beschrie-
ben haben – die drei den Geschlechtern zugeordneten
Zentraladern, die linke männliche (Laiana), die rech-
te weibliche (Rasana) und der androgyne Mittelkanal
(Avadhuti).
Jeder der Buchstaben des Dasakaro Vasi entspricht ei-
ner bestimmten Energieform. Auch die Elemente Erde,
Feuer, Wasser und Luft gelten als Energien. Durch einen
entsprechenden Zauberspruch (Mantra) können die je-
weiligen Kraftströme, die durch die Adern fließen, akti-
viert werden. Zusammengefaßt bilden die verschiedenen
Buchstaben, aus denen das Dasakaro Vasi besteht, eine
einzige magische Formel, welche dem, der sie richtig aus-
spricht, die Macht über das gesamte Universum geben
soll, und die folgendermaßen lautet : »hamkshahmala-
varaya« (* Mullin, 1991, 327) Dieses globale Mantra be-
herrscht alle zehn Hauptenergien, welche die Schöpfung
ausmachen und die der Tantra-Meister durch die Kraft
des Geistes und des Atems kontrolliert.
Auch das hat sein Gegenstück in der europäischen Al-
chemie beziehungsweise in der mit ihr eng verflochtenen
Kabbala. Die androgyne kabbalistische Gottheit besitzt

364
in dem jüdischen System ebenso einen mystischen Kör-
per, der aus zehn ( !) Energiezentren, den zehn Sephirot,
und davon ausgehend 32 canales occultae (okkulte Ka-
näle) aufgebaut ist. Die drei ersten Sephirot entsprechen
wie die drei tantrischen Hauptkanäle den Geschlechtern :
Chochma dem männlichen, Bina dem weiblichen und
Kether dem androgynen.

Das Dasakaro Vasi als weiblicher Energiekörper

Daß der ADI BUDDHA mit dem Adernsystem des


Daskaro Vasi eine Identität bildet, daran besteht kei-
nerlei Zweifel. Dennoch müssen wir hier eine Diffe-
renzierung vornehmen. Es gibt nämlich im Kalacha-
kra-Tantra zahlreiche Hinweise darauf, daß die »zehn
Mächtigen« (Dasakaro Vasi) ausschließlich als das Sym-
bol eines weiblichen Energiesystems angesehen werden,
das sich der Adept mit »Methode« (Upaya) dienstbar
macht. Man übersetzt den Begriff nämlich auch mit die
»Zehn Shaktis« oder die »Zehn machtvollen Göttinnen«.
(* Bryant, 157) Jede von ihnen trägt einen besonderen
Namen. Diese Shaktis repräsentieren die zehn Urkräf-
te des ADI BUDDHA. Zudem werden sie mit den zehn
»Vollendungszuständen« des Bewußtseins gleichgesetzt :
Großmut, Moral, Geduld, Anstrengung, Konzentration,
Weisheit, Methode, spirituelle Zielsetzung, spirituelle
Macht und transzendente Weisheit.
Der ADI BUDDHA hat – wie es in einem Kalachakra-
Text heißt – die Shaktis in sich selbst aufgelöst. (* Dalai

365
Lama XIV, 1985, 406) Aus diesem Satz muß geschlos-
sen werden, daß sie vor dem inneren Auflösungsakt ent-
weder real oder feinstofflich in der Außenwelt existiert
haben. Wenn unsere Vermutung stimmt, dann handelt
es sich bei den zehn Shaktis des Dasakaro Vasi um die
zehn Mudras, die in den vier Höchsten Einweihungen
des Zeittantras zusammen mit dem Tantra-Meister ein
Ganachakra veranstaltet haben. Darauf verweist auch ein
weiterer Satz aus dem Kalachakra-Tantra : »Zu dieser Zeit
erscheinen verschiedene Leerkörper von Shaktis«, heißt
es dort. »… Der Yogi, der sich selbst hervorgebracht hat
in der Form eines leeren göttlichen Körpers, vereinigt
sich dann sexuell mit diesen Göttinnen und verursacht
dadurch eine außergewöhnliche, höchste, unwandelbare
Glückseligkeit.« (* Mullin , 1991, 235) Sein »leerer Kör-
per« absorbiert demnach die »Formkörper« der Göttin-
nen, damit diese in seinem Inneren als Energieströme
beziehungsweise als mystisches Adernsystem weiterexi-
stieren. Wir haben in den vorangegangenen Artikeln ge-
zeigt, wie auf einem Ganachakra die realen Frauen (Kar-
ma Mudras) durch eine rituelle Opferung in Geistfrau-
en (Dakinis) transformiert werden, um anschließend als
Maha Mudra (»innere Frau«) im Körper des Yogi fort-
zuexistieren. »Die Dakinis (oder zehn Shaktis)«, schreibt
Adelheid Herrmann-Pfand, »werden mit den Adern der
mystischen Yoga-Physiologie identifiziert, so daß der Kör-
per (des Yogi) zur Schar der Dakinis wird. Der Prozeß
ihrer Vereinigung wird als Vereinigung dieser Adern be-
ziehungsweise der in ihnen zirkulierenden Energie ver-
standen, die sich zu einem großen Strom vereinigt, auf-

366
steigt und schließlich den ganzen Körper durchpulst …
Durch die Vereinigung mit allen Dakinis wird man allen
Buddhas gleich.« (* Hermann-Pfand, 400, 401)
Im Bild des Dasakaro Vasi fließen dann die zehn Shak-
tis (die zehn Mudras) zu einem einzigen machtvollen
weiblichen Wesen zusammen, der sogenannten »Welten-
frau«. Wir kennen sie im Kalachakra-Tantra unter dem
Namen Vishvamata, die Göttin der Zeit. Die verschiede-
nen Linien des Zeichens (Dasakaro Vasi) symbolisieren
deswegen genaugenommen ihr mystisches Adernsystem,
das am Ende des tantrischen Rituals in den leeren Kör-
per des Yogi beziehungsweise ADI BUDDHA eingesetzt
wird, zum Teil seiner selbst wird und von ihm kontrol-
liert werden kann. Der männliche Tantra-Meister ver-
fügt also über einen weiblichen Energieleib.

Der Atem

Wir müssen nun fragen, was bleibt jetzt noch von ihm
(als Mann) übrig ? Wurde der Yogi und sein männlicher
Körper verweiblicht und in die »Große Göttin« verwan-
delt ? Nein ! Wie »leer« sich der Tantra-Meister auch im-
mer gemacht haben mag, nie und nimmer wird er auf
seinen Atem verzichten. Sein Atem ist das absolute Kon-
trollinstrument, mit dem er die inkorporierte »Welten-
frau« beziehungsweise die »Zehn Shaktis« steuert.
Ein Yogi, der seinen Atem beherrscht, reitet – wie
es heißt – auf dem Energiewind. Er verfügt über einen
»Wind- oder Atemkörper«. Wind, Luft und Atem bilden

367
in der tantrischen Terminologie und Praxis eine Einheit.
Deswegen wird im Zeittantra homolog zu den zehn Shak-
tis oder den zehn Adern der »Weltenfrau« vom Dasakaro
Vasi als den zehn »Hauptwinden« gesprochen : »Die acht
ersten Winde entsprechen den acht Göttinnen (Shakti),
die das göttliche Paar Kalachakra und Vishvamata um-
ringen, während die beiden letzten mit dem Zentrum in
Beziehung stehen und mit der Göttin Vishvamata zusam-
menfallen.« (* Brauen, 55)
Der letzte Schritt in der Windkontrolle ist das »Anhal-
ten des Großen Atems«. Damit löst der Yogi die »Welten-
frau« imaginativ in Leerheit auf, das heißt, er vernich-
tet sie oder bringt sie zum Stillstand. Aber da er sie je-
den Augenblick aus dem Nichts neu erschaffen kann, ist
er der »Herr über ihr Leben und ihren Tod«. Mit ihrem
Tode geht die Welt unter, mit ihrer creatio ex nihilo ent-
steht sie neu, denn die Windenergien des Yogi »sind mit
den besonderen Potenzen ausgestattet, welche eine neue
Welt formen können«, lesen wir bei dem tibetischen Ka-
lachakra-Interpreten Lodrö Tayé. (* Tayé, 177)
Nachdem der Yogi das Dasakaro Vasi, die Weltenfrau
oder die »zehn machtvollen Göttinnen« inkorporiert hat,
ist er zum ADI BUDDHA geworden. Dieser besitzt jetzt
einen doppelgeschlechtlichen »Diamantenkörper« (Vajra-
kaya). Der Tantraforscher Alex Wayman hat beschrieben,
wie der Vajrakaya aus der Geschlechterdynamik entsteht :
»Die Tatsache, daß in jedem Augenblick die Göttin als
der Initiator imaginiert wird oder als das weibliche Ele-
ment hinter der Szene wirkt, macht die Initiationen zu
einem schrittweisen Aufbau in der Festigung des tan-

368
trischen eingeborenen Körpers … Gemeint ist der Auf-
bau dieses Körpers zur Gestalt des ursprünglichen an-
drogynen Zustandes und dann zur Gestalt des ›klaren
Lichts‹.« (* Wayman, 1977, 69) Auch die europäische Al-
chemie kennt ihren Vajrakaya, den »Glorienkörper«, den
der Adept beim Finale des Opus erhält.
Fassen wir zusammen : Der mystische Leib des ADI
BUDDHA besteht nach der Lehre des Kalachakra-Tan-
tras aus zehn Hauptenergiekanälen. Diese entsprechen
makrokosmisch den zehn Hauptenergien, auf die sich
alle Kräfte unseres Universums zurückführen lassen. Um
die einzelnen Energien zu bewegen und zu leiten, be-
nutzt der ADI BUDDHA vor allem seinen Atem. Sym-
bolisch dargestellt wird sein Energiekörper durch das
Dasakaro Vasi.
Bei einer »Ätiologie« dieses Zeichens stoßen wir auf
das Ganachakra beziehungsweise die vier letzten Ein-
weihungen des Zeittantras. Die zehn Energiewinde, die
auch den Namen zehn Shaktis tragen, entsprechen den
zehn Karma Mudras, die bei dem sexualmagischen Ri-
tual beteiligt sind. Das Dasakaro Vasi ist deswegen ein
erneuter Beweis für die grundsätzliche Bedeutung des
»tantrischen Frauenopfers« im Vajrayana-Buddhismus,
denn die Gynergien der zehn tantrischen Sexualpartne-
rinnen werden den Partnerinnen auf dem Ganachakra
geraubt und anschließend in den mystischen Körper des
Yogis integriert, damit dieser den androgynen Diamen-
tenleib eines ADI BUDDHA erhalten kann.
Dieser Leib ist das machtvolle Instrument, mit dem er
alle Vorgänge des Universums beherrscht.

369
»Krieg der Sterne« :
Der astral-zeitliche Aspekt des ADI BUDDHA

Zwischen dem mikrokosmischen Körper des ADI BUD-


DHA und dem makrokosmischen Universum gibt es
also eine okkulte Korrespondenz. Der Begriff ADI BUD-
DHA umfaßt im Kalachakra-Tantra sowohl den Ener-
giekörper des praktizierenden Yogi oder Vajra-Meisters
als auch das gesamte All mit seinen Welten und sei-
nen Sternen. Der Yogi, der ADI BUDDHA, der Tantra-
Meister und die Gesetze des Universums sind also Syn-
onyme und bilden eine mystische Einheit. (Wir erlau-
ben uns, auf diese magische Entsprechungslehre immer
wieder hinzuweisen, da sie zum Verständnis der tantri-
schen Logik absolut notwendig ist und wir unter dem
Einfluß unseres westlich-wissenschaftlichen Weltbildes
dazu neigen, sie leicht zu vergessen.)
Schon als der historische Buddha (der Sage nach) dem
König Suchandra zum ersten Male das Kalachakra-Tantra
erklärte, verwies er ihn darauf, daß sich das ganze Welt-
all in seinem Leib befinde. So ist auch die Himmelskarte
in seinem Körper eingeschrieben. Sonne, Mond und Ster-
ne befinden sich nicht nur draußen, sondern auch innen
im mystischen Leib des Yogi (ADI BUDDHA). Deswe-
gen konnte die Vorstellung entstehen, daß ein erleuch-
teter Tantra-Meister die Planeten durch seine internen
Energiewinde bewegt. Folglich ist auch die Drehung der
Sterne, die wir am Firmament beobachten, eine Tat des
Windes. »Das Sternenrad, gebunden an die beiden Pole
(Polarstern), durch Treibwinde angestoßen, geht herum

370
unermüdlich« (* Petri, 58), heißt es in einem astronomi-
schen Fragment des Kalachakra-Tantras. Dieser Treib-
wind gilt als »der kosmische Atem« des ADI BUDDHA.
Da die Bewegung der Himmelskörper die Zeit annon-
ciert, ist entsprechend hierzu der mikrokosmische »Ster-
nenleib« des Tantra-Meisters (ADI BUDDHA) eine Art
Zeitmaschine, eine »kosmische Uhr«.
Nach der Korrespondenzlehre gibt es für das innere
Drama, das sich im Energieleib des Yogi abspielt (der Feu-
eraufstieg der Candali), eine entsprechende Aufführung
am makrokosmischen Himmel. Wir wollen uns dieses
Schauspiel genauer ansehen : Sonne und Mond spielen
hier die Hauptrolle, den fünf Planeten begegnen wir in
Nebenrollen. Zwei weitere machtvolle astrale Protago-
nisten, die uns Abendländern nicht bekannt sind, neh-
men ebenfalls an dem Schauspiel teil. Sie heißen Rahu
und Kalagni. Der Tierkreis und die Fixsterne bleiben zu-
erst Zuschauer, werden aber am Ende in den allgemeinen
Wirbel der Ereignisse mit hineingezogen.

Sonne – weiblich • Mond – männlich

Sonne und Mond entsprechen im Kalachakra-Tantra


dem rechten wie dem linken Energiekanal im mysti-
schen Leib des Yogi. Hierbei gilt ebenso wie in der tan-
trischen Astrologie die Sonne als weiblich, dem Feuer
und dem Menstruationsblut zugehörig ; der Mond dage-
gen als männlich, dem Wasser und dem Samen entspre-
chend. Diese Homologie ist, wie schon öfter erwähnt,

371
kulturgeschichtlich sehr ungewöhnlich, denn traditio-
nell werden der Mond als weiblich und die Sonne als
männlich eingestuft.
Vielleicht können wir diese symbolische Unstimmig-
keit besser begreifen, wenn wir uns die astralen und ele-
mentaren Zuordnungen von Feuer und Wasser, Sonne
und Mond im indischen Kulturkreis ansehen. In der ve-
dischen Zeit (1500–1000 v. Chr.) waren die Symbolbe-
züge noch klassisch : Mann = Feuer und Sonne ; Frau =
Wasser und Mond. Auch die im damaligen religiösen
Leben zentrale Pferdesymbolik orientiert sich an dieser
»Klassik« : Der Hengst repräsentiert die Sonne und den
Tag, die Stute den Mond und die Nacht. Der »Sonnen-
hengst« symbolisiert die Akkumulation von männlicher
Macht, die »Mondstute« weibliche Power. Sie wird des-
wegen in der androzentrischen Gesellschaft mit männ-
lichem Machtverlust gleichgesetzt und gilt als ein Sym-
bol für Kastrationsängste.
In den Upanishaden (800–600 v. Chr.) galt das Feuer
weiterhin als ein männliches Element. Der Mann stößt
seinen »Feuerpenis« und seinen »Feuersamen« in die
»wäßrige« Höhle der weiblichen Vagina. (* O’Flaherty,
1982, 55) Auch hier wurde das Weibliche als minder-
wertig und als schädlich eingestuft. Der »Weg der Sonne«
führte zur Befreiung von der Wiedergeburt, der »Weg des
Mondes« führte zur unerwünschten Inkarnation.
Noch im 1. Jahrhundert benutzten die Puranas (altind.
Mythensammlung) die feurige Energie als eine Bezeich-
nung für den semen virile. Doch taucht in dieser Zeit
schon die Vorstellung auf, daß der männliche Samen auf-

372
grund seiner bleichen Farbe dem Mond zuzurechnen sei,
während das Menstruationsblut eine solare Energie dar-
stelle. Diese Idee wird dann im Tantrismus, sowohl hin-
duistischer wie buddhistischer Prägung, kodifiziert : »Der
männliche Samen repräsentiert den Mond, und die weib-
liche Flüssigkeit repräsentiert die Sonne, deswegen muß
der Yogi mit großer Vorsicht die Sonne und den Mond
in seinem eigenen Körper vereinigen« (* O’Flaherty, 255),
lesen wir zum Beispiel in einem shivaitischen Text.
Die symbolische Ausstattung des Hindugottes Shiva
ist denn auch ein anschauliches Beispiel für diese ge-
schlechtliche Bedeutungsänderung der beiden Himmels-
lichter um 180 Grad. Shiva trägt auf seinem Kopf den
Mond als Krone, reitet auf dem Symboltier der Großen
Mutter, dem Stier Nandi, und hat deren nachtblaue Kör-
perfarbe (wie die Göttin Kali). Er, der männliche Gott,
ist also mit Signaturen ausgestattet, die in den vorange-
gangenen Kulturepochen als weiblich angesehen wurden.
Religionsgeschichtlich vollzieht sich wahrscheinlich in
seiner Gestalt die symbolische Umdeutung von Sonne
und Mond. Aber weshalb ?
Wir haben schon einige Male darauf hingewiesen, daß
der androzentrische Tantrismus tiefe Wurzeln in matri-
archalen Religionsvorstellungen haben muß, weil er dem
Universum einen weiblichen Charakter zugesteht, auch
wenn der Yogi am Ende des tantrischen Rituals die uni-
verselle Überherrschaft ausübt. Das könnte der Grund
dafür sein, daß symbolisch der männliche Samen mit
dem Mond in Verbindung gebracht wird. Es ist nämlich
durch diese Zuordnung ein androzentrischer Machtan-

373
spruch über das traditionell Weibliche formuliert wor-
den, schon bevor der gesamte tantrische Initiationspro-
zeß in Gang kommt. Die höchste männliche Substanz
überhaupt, der semen virile, zeigt sich in einem weibli-
chen Gewand, um seine Allmacht über beide Geschlech-
ter kundzutun. Shiva trägt die Mondkrone, um zu de-
monstrieren, daß er alle Energien der Mondgöttin in sich
integriert hat, das heißt, er ist zum Gebieter des Mondes
(und damit des Weiblichen) geworden.
Natürlich müssen wir uns jetzt fragen, was mit dem
semen feminile und dem Menstruationsblut der Göttin
geschieht. Sie werden auf Grund der Symmetrie der Sym-
bole der Sonne und dem Feuer zugeordnet. Aber absor-
biert jetzt nicht bei dieser kulturgeschichtlich unübli-
chen Aufteilung die Frau die Macht und die Kraft des
vormals männlichen Solarprinzips ? Keineswegs – denn
die »weibliche Sonne« und das »weibliche Feuer« haben
in den Tantras offensichtlich nicht die vielen positiven
Eigenschaften übernommen, die in den vorangegange-
nen Kulturepochen Indiens die »männliche Sonne« und
das »männliche Feuer« auszeichneten. Sie sind im Ka-
lachakra-Tantra nicht mehr leuchtend, warm, rational
und kreativ, sondern im Gegenteil, sie repräsentieren töd-
liche Hitze, Pyromanie, flammenden Zerstörungswahn
und Irrationalität auf allen Ebenen. Der Yogi versteht es
zwar, mit diesen negativen weiblichen Feuerenergien ge-
schickt umzugehen, er benutzt sie geradezu, um seinen
grobstofflichen Körper und das Universum zu verbren-
nen, aber dadurch verwandeln sie sich nicht in etwas Po-
sitives. Während der Tantra-Meister – wie wir gezeigt ha-

374
ben – als »Reiner Geist« das flammende Destruktions-
abenteuer, in dem sein menschlicher Leib vernichtet wird,
überlebt, verbrennt seine »innere Feuerfrau« (das auto-
nome Weibliche) am Ende an sich selbst und verschwin-
det endgültig aus dem tantrischen Geschehen. Wir müs-
sen also zwischen einer destruktiv-weiblichen Sonne und
einer kreativ-männlichen Sonne unterscheiden, ebenso
wie wir einen Unterschied zwischen dem Zerstörungs-
feuer der Candali und dem Feuer als einem bedeuten-
den männlichen Machtsymbol des Buddha einen Unter-
schied machen müssen.

Der ADI BUDDHA (Kalachakra-Meister)


als die androgyne Übersonne

Die Verbindung des Buddhabildes mit Sonnen- und


Feuermetaphern ist im Unterschied zu seiner Bezie-
hung zu Mond- und Wassersymbolen durchgängig und
schon für den frühen Buddhismus verbürgt. Buddhas
Vater, Suddhodana, stammte aus einer »Sonnendyna-
stie« und zählte zur »Sonnenrasse«. Als Zeichen seiner
solaren Abstammung trug sein Sohn Bilder der Sonne,
zum Beispiel ein tausendstrahliges Rad oder ein Haken-
kreuz (die Swastika ist ein archaisches Sonnensymbol)
auf seinen Fußsohlen. Ein Sonnenrad zierte auch die
Lehne seines »spirituellen« Thrones.
In allen Kulturen stellt der Löwe das Sonnentier par ex-
cellence dar, das gilt ebenfalls für den Buddhismus. Nach
einer bekannten Legende stieß Shakyamuni Gautama

375
Buddha beim Verlassen des Mutterleibes einen Löwen-
schrei aus. Man nannte ihn von nun an den »Löwen des
Shakya-Geschlechts«. Auch nachdem der junge Gautama
aus seinem Palast geflohen war, um dem Erleuchtungs-
pfad zu folgen, brüllte er »löwengleich« : »Wenn ich das
andere Ufer jenseits von Geburt und Tod nicht schaue,
werde ich (diese) … Stadt nie mehr betreten.« (* Joseph
Campbell, 308) Da freuten sich die Götter, als sie diese
mächtige »Löwenstimme« vernahmen. Der Mythenfor-
scher Joseph Campbell kommentiert das weltgeschichtli-
che Ereignis mit folgenden Worten : »Das Abenteuer hatte
begonnen, das die Kultur des größten Teils der Mensch-
heit prägen sollte. Das Löwengebrüll, der Schall des Son-
nengeistes, des reinen Geisteslichts, ohne Angst vor der
eigenen Stärke, war in der Sternennacht hervorgebro-
chen. Und wie die Sonne, die im Aufgang ihre Strahlen
aussendet, die Schrecken und Wonnen der Nacht zer-
streut ; wie das Löwengebrüll, das warnend über die von
Tieren wimmelnde Steppe schallt, den schönen Gazel-
len Angst einjagt und sie zerstreut : so warnte das Lö-
wengebrüll dieses Einen, So-Gekommenen, vor einem
kommenden Löwenprankenschlag des Lichts.« (* Jose-
ph Campbell, 308)
Sowohl im folgenden Mahayana-Buddhismus wie spä-
ter im Tantrismus wird die solare Apotheose des Bud-
dha strikt beibehalten und sogar noch ausgebaut. Auch
im Kalachakra-Tantra stehen die Sonnenmetaphern an
zentraler Stelle. Der Zeitgott hat »einen Körper wie die
Sonne«, heißt es dort. (* Newman, 1987, 225, 326) Beson-
ders häufig wird Kalachakra als der »Tagmacher Sonne«

376
(daymaker sun) angesprochen. (* Newman, 1987, 243) Er
ist der Herr »der 360 Sonnentage« (* Newman, 1987, 454)
und sitzt auf einem »Vajra-Löwenthron«. Seine Gläubi-
gen verehren ihn als den »prächtigen Löwen der Sakya«.
(* Newman, 1987, 243) In einem Kommentar des Zeitt-
antras können wir lesen : »Kalachakra ist in allen drei
Welten als die Sonne, welche das Bild der Zeit ist.« (* Ba-
nerjee, 1959, 133)
Wenn es darum geht, die universelle Königsmacht des
Buddha zu illustrieren, dann treten die Sonnensymbo-
le auch im Tantrismus wieder voll ins Rampenlicht. Die
Mondbilder, die im mystischen Körper des Yogi eine so
große Bedeutung hatten, spielen jetzt in denselben Tex-
ten nur noch die zweite Rolle, beziehungsweise sie gel-
ten manchmal als Signaturen der Negativität. So setzt
der Kalachakra-Forscher Günter Grönbold die »solare«
Abstammung des historischen Buddha geradezu in einen
konträren Gegensatz zur Mondsphäre : »Die Dynastie der
Sonne steht, wie der Leser weiß, für das Prinzip des lau-
teren Lichts. Das Licht der Sonne ist rein. Das Licht des
Mondes dagegen hat Anteil an der Dunkelheit. Das Licht
der Sonne ist überdies ewig, während sich das Licht des
Mondes, der im Widerspiel mit seinem eigenen Dunkel
ab- und zunimmt, zugleich sterblich und unsterblich ist.«
(* Grönbold, 1969, 38) Daß sich eine solche plötzliche »He-
liolatrie« nur schlecht mit der Logik der tantrischen Phy-
siologie, bei der das männliche Prinzip den Mond und das
weibliche Prinzip die Sonne darstellt, vereinbaren läßt,
ist auch einigen Kommentatoren des Kalachakra-Tantras
aufgefallen. Deswegen haben die Autoren, damit keiner-

377
lei Zweifel an der solaren Überlegenheit des männlichen
Zeitgottes aufkommen kann, die Zeitgöttin Vishvamata,
die ja nach der tantrischen Körperlehre eine solare Natur
aufweist, folgendermaßen herabgestuft : Sie »repräsentiert
nicht die Sonne selbst, sondern die Wirkung der Sonne
als die täglichen Zyklen (Stunden).« (* Mullin, 1991, 273)
Sie symbolisiert also eine »kleine weibliche Sonne«, die
von der »großen männlichen Sonne« des ADI BUDDHA
überstrahlt wird.
Grundsätzlich ist zu sagen, daß im Kalachakra-Tantra
der androgyne ADI BUDDHA in sich Feuer und Was-
ser, Sonne und Mond vereinigt – dennoch läßt er sich in
letzter Instanz als eine androzentrische Übersonne ver-
herrlichen, um das männliche Lichtprimat gegenüber der
Dunkelheit zu demonstrieren. Das Sonnensymbol ist des-
wegen weit umfassender als der Radius der natürlichen
Sonne. Es integriert in sich alle Lichtmetaphern des Uni-
versums. In einer Beschreibung von Herbert Guenther
erscheint der Höchste Buddha (ADI BUQDHA), »als ob
das Licht der Sonne in einen zinnoberroten Ozean fie-
le ; als ob der Glanz alle Sonnen des Universums in ei-
ner einzelnen Sonne verdichtet würde ; als ob der golde-
ne Altar höher und höher in den Himmel emporwüch-
se ; … es füllt den Himmel mit solchen Lichtstrahlen, als
ob die Sonnen des Universums zu einer einzigen Sonne
geworden wären.« (* Guenther, 1966, 101) Der Leser und
die Leserin sollten niemals aus dem Blick verlieren, daß
der ADI BUDDHA und damit die Übersonne identisch
ist mit dem mystischen Leib des initiierten Yogi.

378
Rahu – der Verschlinger von Sonne und Mond

In der griechischen Mythologie wurde die Vereinigung


von Sonne (Helios) und Mond (Selene) als mystische
Hochzeit gefeiert, als der Zusammenfall der Gegensät-
ze. Solche Aussagen finden wir auch in der Kalacha-
kra-Schule, aber hier ist der Hieros Gamos eine Todes-
hochzeit, ausgelöst von einer schrecklichen Wesenheit
mit dem Namen Rahu, die wir uns nun genauer anse-
hen wollen.
In der tibetischen Astronomie und Astrologie (die nicht
voneinander geschieden sind) treten zu den sieben Wan-
delsternen (Sonne, Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter,
Saturn) noch zwei weitere Planeten hinzu mit den Na-
men Rahu und Ketu. Astronomisch gesehen, handelt es
sich dabei um keine realen Himmelskörper, sondern um
den aufsteigenden und absteigenden Mondknoten, also
die beiden Schnittpunkte der Mondbahn mit der Eklip-
tik (Sonnenbahn). Sie sind auch im Abendland als »Dra-
chenkopf« und »Drachenschwanz« beziehungsweise zu-
sammen als »Drachenpunkte« bekannt. Wenn der Mond
zu astronomisch bestimmbaren Zeiten (den Syzygien)
durch einen solchen Bahnknoten läuft, dann tritt eine
Finsternis ein : bei Vollmond eine Mond-, bei Neumond
eine Sonnenfinsternis.
Die beiden Finsternisse haben in der Vorstellung der
indischen Astronomen zu dem Glauben geführt, ein gi-
gantischer Planet verschlucke das jeweilige Himmelslicht.
Da bei Sonnenfinsternissen der die Sonne verdeckende
Mondschatten stets tiefschwarz ist, trägt der eine ima-

379
Rahu, der Finsternisdämon

ginäre Planet Rahu (der die Sonne frißt) eine schwarze


Farbe. Bei Mondfinsternissen erscheint der Erdschatten
farbig gerändet und der Mond kupferrot, deswegen wird
der andere Planet Ketu (der den Mond frißt) als bunt be-
zeichnet. Ketu tritt jedoch im Kalachakra-Tantra weit-
gehend in den Hintergrund und die mit ihm verbunde-

380
nen Ereignisse (die Mondfinsternis) werden alle auf Rahu
übertragen. Rahu erscheint deswegen hier zugleich als
der Verschlinger von Sonne und Mond.
Sehen wir uns nun den mythischen Ursprung des Dun-
keldämons (Rahu) näher an. Nach alten indischen Erzäh-
lungen stürmte Rahu mit einem finsteren Wagen, gezogen
von acht gedankenschnellen Rappen, über den Himmel.
Er verfolgte die beiden Himmelslichter Sonne und Mond,
um mit seinem riesigen Rachen danach zu schnappen. In
einer anderen Version des Mythos existiert jedoch nur
noch der über das Firmament schwebende Kopf des Rahu,
der von dem Sonnengott Indra abgeschlagen wurde, als
der Dunkeldämon versuchte, den Lebenstrank der Göt-
ter zu rauben. Diese Enthauptung hinderte ihn jedoch
nicht, weiterhin durch den Himmel zu fliegen und Son-
ne und Mond zu verschlingen. Nur fielen diese jetzt un-
verletzt durch ihn hindurch und erschienen bald wieder
befreit aus seinem unteren Halsende. Astronomisch be-
deutet dieser Vorgang das Ende der Sonnen- beziehungs-
weise Mondfinsternis.
Rahu spielt in der Philosophie des Kalachakra-Tantra
eine so hervorragende Rolle, daß die mit ihm verbunde-
nen Ereignisse nach Helmut Hoffmann eine eigene »Fin-
sternistheologie« ausmachen. (* Hoffmann, 1964, 128) Al-
lein die Beinamen des Dunkeldämons sagen vieles über
seine Psychologie aus und annoncieren schon sein um-
fangreiches mythisches Programm. Er heißt unter ande-
rem »Feind des Mondes, Bezwinger des Mondes, Finster-
ling, Fleischfresser, Löwensohn, der Brüller, aber auch Er-
leuchter des himmlischen Paradieses.« (* Petri, 141) Man

381
nennt ihn auch »Drache«, »Schlange«, »Eklipser«, »Herr
der Finsternis«. Im Hevajra-Tantra wird noch davon ge-
sprochen, daß es allein das Bewußtsein des Yogi ist, das
Sonne und Mond unter Kontrolle bringt. Im Kalachakra-
Tantra aber verkündet der Vajra-Meister im Bunde mit
Rahu das Vernichtungsurteil über die beiden Gestirne. Es
wurde zur Aufgabe des »Finsterlings« (Rahu), die beiden
Himmelslichter als zwei autonome Kräfte zu zerstören,
das heißt, die männlichen und weiblichen Energien zum
Stillstand zu bringen.
Die Vernichtung der Geschlechterpolarität erscheint –
wie wir gesehen haben – als eine notwendige Etappe auf
dem Machtpfad jedes tantrischen Rituals. Erst derjeni-
ge Initiant erreicht das Endziel, »bei dem die Wege von
Sonne und Mond völlig zerstört sind« (* Grönbold, 1969,
74), besagt ein Text aus dem Sadanga Yoga, und der be-
rühmte Tantra-Meister Saraha fordert : »Dort, wo Bewe-
gungsfähigkeit und Zielstrebigkeit nicht wirksam sind
und weder Sonne noch Mond erscheinen, dort, ihr Tö-
richten, laßt den Geist ruhevoll sich entspannen.« (* Guen­
ther, 1974, 110) Da Sonne und Mond beide die Zeit indi-
zieren, nennt man Rahu als ihren Vernichter auch »frei
von Zeit«. (* Wayman, 1973, 163)
Ebenso wird im Kalachakra-Tantra der mittlere Ener-
giekanal (Avadhuti) im Körper des Yogis, der die rechten
solaren und linken lunaren Energieströme in sich hinein-
zieht und damit als eigenständige Kräfte ausschaltet, mit
Rahu, der ja ebenfalls Sonne und Mond zerstört, gleich-
gesetzt. Der Avadhuti trägt deswegen seinen Namen und
heißt »Rahus Kanal«. (* Wayman, 1973, 163) In Bezug auf

382
Spitze einer Stupa (Mond, Sonne und Rahu)

den »Herrn der Finsternis« wird der mittlere Kanal auch


»Leitkanal der Dunkelheit« genannt. (* Naropa, 272)
Seine Verbindung mit der Körpergeographie des Yogi
bringt den Planetendämon auch mit der mystischen Hit-
ze in Zusammenhang. Entsprechend lodert Rahu, der
Verschlinger der Himmelslichter, als »androgynes Feuer«
im Leib des Tantrikers. (* Wayman, 1983, 616) »Deshalb
werden auch, wenn man den Zustand des Androgynen
als Feuer in der Mitte erreicht hat, Sonne und Mond ver-
schwinden.« (* Wayman, 1983, 616) Die Beziehung die-
ser Feuersymbolik zur Candali, die ja rein weiblich und

383
nicht androgyn konzipiert ist, bleibt ungeklärt. Aber die
Tantras nehmen es ja, was die Details anbelangt, oft nicht
besonders genau. Wichtig für uns ist, daß im Rahu-My-
thos die Vernichtung der Himmelslichter sowohl durch
Feuer als auch durch Finsternis vollzogen wird. Diese
Kombination hat dem imaginären Planeten Rahu auch
den Namen »dunkle Sonne« eingebracht. 21
Das Machtsymbol des Rahu ziert jede tibetische Stupa.
Es ist nach tantrischer Doktrin diese kleine, unschein-
bare Flamme, welche sich über Sonne und Mond erho-
ben hat, um zu demonstrieren, daß beide Himmelslichter
von ihr beherrscht werden. Anschaulicher und knapper
ist die androgyne Gewalt der »schwarzen Sonne« kaum
darzustellen.

Kalagni und die Weltuntergangsstute

Auch in der Ikonographie des Kalachakra-Paares steht


der Dämon Rahu an zentraler Stelle. Die vier Kissen,
auf denen der Zeitgott mit seiner Partnerin (Vishvama-
ta) tanzt, enthalten konzentriert das gesamte Programm
dieses Tantras. Die beiden oberen Kissen stellen jeweils
Sonne und Mond dar und müssen als die Signaturen der
beiden Zeitgottheiten (Kalachakra und Vishvamata) ge-

21 Aus der Symbolwelt der europäischen Alchemie kennen wir


ebenfalls eine »dunkle« oder »schwarze Sonne«, die genau wie
Rahu im Kalachakra-Tantra die Rolle hat, Sonne und Mond als
das männliche und das weibliche Prinzip zu vernichten und
durch ein androgynes Prinzip zu ersetzen.

384
sehen werden. Darunter liegen die Kissen von Kalagni
und Rahu, die beiden Todesdämonen, die das mystische
Paar vernichten werden. Rahu haben wir schon kennen-
gelernt, wer aber ist Kalagni ?
Kalagni gilt als das »Endzeitfeuer«, das die Welt ver-
nichtet. Auf der mikrokosmischen Ebene wird Kalagni
gleichgesetzt mit der »inneren Feuerfrau« des Yogi, der
Candali. Auf der makrokosmischen Ebene zerstört die-
se Feuerdämonin (wir haben einige noch darzustellen-
de Gründe, diesen Planeten als eine weibliche Kraft an-
zusehen) das gesamte Universum. Sie liquidiert die Ge-
schlechter als die beiden universellen Urkräfte des Seins
und trägt deswegen wie der Planet Rahu den Beinamen
»Fresser von Sonne und Mond«. Vornehmlich aber wird
sie »Vernichtungsfeuer« genannt. Das Sanskritwort Kala-
gni setzt sich nämlich etymologisch zusammen aus »kala«
(Zeit/Vernichtung) und »agni« (Feuer). Kala heißt aber
auch »schwarz« und erinnert uns an »Kali«, die schwar-
ze Zornesgöttin, Herrscherin über die dunkle Endzeit,
das Kali Yuga. Kalagni, Kali und Candali sind demnach
Variationen der Schreckensmutter, die das Universum
und sich selbst in ein Flammenmeer stürzt, so daß es
anschließend der Tantra-Meister als der ADI BUDDHA
durch einen autonomen Schöpfungsakt aus sich hervor-
bringen kann.
Wir sehen also, daß Kalagni ähnliche Funktionen
ausübt wie Rahu. Deswegen können wir beide Planeten
durchaus als die zwei Aspekte derselben Energie (die eine
männlich, die andere weiblich) ansehen. Der deutsche
Erforscher der Kalachakra-Astronomie, Winfried Petri,

385
bezeichnet sie aufgrund ihrer grenzenlosen Zerstörungs-
macht »als die höchsten Instanzen des kosmischen Ge-
schehens«. (* Petri, 146) Sie sind auf jeden Fall die beiden
Protagonisten des Zeittantras, welche den Untergang der
Sternenwelten planstabsmäßig durchführen, denn Rahus
und Kalagnis destruktive Rolle begrenzt sich nicht nur
auf die Vernichtung von Sonne und Mond. So wie der
Yogi durch das innere Feuer
(Candali) die verschiedenen Aggregatzustände seines
Körpers von unten nach oben verbrennt, so zerstören
parallel dazu Rahu und Kalagni am Himmel alle Plane-
ten (Saturn, Jupiter usw.), denn die Energiezentren (Cha-
kren) im mystischen Leib des Tantra Meisters korrespon-
dieren mit den verschiedenen planetaren Sphären. So
wie alle Chakren mikrokosmisch durch die »innere Hit-
ze« ausgebrannt werden, so findet entsprechend hierzu
in der makrokosmischen Welt ein planetarer Holocaust
statt. Candali und Kalagni sind also Aspekte derselben
weiblichen Zerstörungskraft.
Im Kalachakra-Tantra trägt Kalagni auch den Beina-
men »das Feuer aus dem Munde der Stute«. (* Newman,
1987, 229, 481) Dieser eigenartigen Bezeichnung wollen
wir, ausgehend von einer Studie der amerikanischen In-
dologin Doninger O. Flaherty, einige Überlegungen wid-
men. Der Mythos von der sogenannten »Weltuntergangs-
stute« (doomsday mare) besitzt eine alte indische Traditi-
on. Die Überlieferungen erzählen, wie sie an der tiefsten
Stelle des Ozeans gefangen gehalten wird und unaufhör-
lich Flammen aus ihren Nüstern strömen. Am Ende der
Zeiten sprengt das Pferdeungeheuer sein Wassergefäng-

386
nis und setzt das gesamte Universum in Brand. »Das Feu-
er aus dem Munde der Stute trinkt die Wasser des Oze-
ans und spuckt sie wieder aus. Wahrscheinlich wird die-
ses Feuer der Unterwelt am Ende des Kali-Zeitalters das
Weltall zerstören«, erfahren wir aus dem indischen Na-
tionalepos, der Mahabharata. (* O’Flaherty, 213)
Ganz allgemein hat die »Stute« in der indischen My-
thologie ähnliche Eigenschaften, wie wir sie von Beschrei-
bungen der Candali her kennen. Sie ist das Symbol für
eine »Unterklassenfrau«, für den unersättlichen sexuellen
Appetit männervernichtender Hexen, für alle erotischen
Exzesse des weiblichen Geschlechts. »In jeder Sekunde,
in der sie einen Mann wahrnimmt«, lesen wir in einem
Text, »wird die Vulva einer Frau sofort naß … Tod, Hölle,
das stutenköpfige Feuer, die Schneide des Rasiermessers,
Gift, eine Schlange und Feuer – das alles zusammen in
einem sind die Frauen.« (* O’Flaherty, 214) Frauen aus
dem Gefolge der indischen Göttin Kali, die als verführe-
risch und hochgradig sexuell gelten, werden auch heute
noch als Emanationen der gefährlichen Doomsday Mare
(»Weltuntergangsstute«) gefürchtet. 22
In der Tiefe ist die dämonische Stute die zornentbrann-
te Urfeindin des Tantra-Meisters, der sie nur durch die
Zügelung all seiner Leidenschaften unter Kontrolle bringt.

22 Die »Stute«, als das Symbol des gefährlichen, aggressiven und


morbiden Weiblichen muß deswegen im krassen Gegensatz zu
der in Indien hochverehrten »Kuh« gesehen werden. In den bei-
den Tieren stehen sich Prostitution (Stute) und Ehe (Kuh), Aus-
schweifung und Treue, Geilheit und Mutterschaft, Sex und Liebe,
Zerstörung und Fruchtbarkeit gegenüber.

387
O’Flaherty sieht in ihr geradezu die kosmische gynozentri-
sche Gegenspielerin zum androgynen Kosmokrator, dem
doppelgeschlechtlichen Yogi : »Die Stute ist die Quintes-
senz des weiblichen Androgyns, die phallische Frau …
weibliche Androgyne (»Gynandryne«) sind verhältnis-
mäßig rar, aber wenn sie in Erscheinung treten, sind sie
tödlicher als männliche.« (* O’ Flaherty, 236) Aber verges-
sen wir nie, daß der Tantra-Meister die magische Kunst
beherrscht, die Todesenergie der Frau für seine eigenen
Machtzwecke einzusetzen. Vergessen wir auch nicht, daß
am Ende des eschatologischen Feuers durch die Unter-
gangsstute (Kalagni / Candali / Kali) nicht sie, sondern der
Yogi als ADI BUDDELA den Weltenthron besteigt.
Besonders auffallend an dem Stutenmythos ist, daß
das Endzeitfeuer aus dem Wasser kommt. (Die Flam-
menstute befindet sich in der Tiefe des Weltenozeans.)
Wenn wir die Geschichte aus der Sicht der tantrischen
Initiation deuten, wird dieser Ursprung vielleicht ver-
ständlich. Es handelt sich nämlich hierbei um ein Phäno-
men, das in der europäischen Alchemie unter dem Begriff
»brennendes Wasser« bekannt ist. Wasser, ursprünglich
weiblich, wird von der männlichen Energie des Feuers
angezündet und wirkt dann zerstörerisch. Auch in den
alten indischen Gesetzbüchern des Manu lesen wir : »Feu-
er wird aus dem Wasser geboren, wie wir es erkennen
können im Phänomen des Blitzes und des Stutenfeuers.«.
(* O’Flaherty, 214)
Das Wasser verhält sich nach seiner Entzündung wie
eine Art kosmischer Brennstoff und steht als Zerstö-
rungsenergie im Dienste des Männlichen. Auf der ma-

388
krokosmischen Ebene macht sich der Yogi das »submari-
ne Feuer« der Stute nutzbar, um mit seiner Hilfe das alte
Universum aufzulösen, ebenso wie er auf der mikrokos-
mischen Ebene mit Hilfe der Candali seine alten Körpe-
raggregate zerstört. Dabei ist der »Tod« des Ozeans und
damit des Weiblichen mit einprogrammiert, denn wenn
die Weltuntergangsstute alle Meere verbrannt hat, ver-
nichtet sie sich am Ende selbst, so wie parallel dazu die
Candali nach Abschluß des tantrischen Verbrennungs-
ablaufs in sich zusammenfällt und von der tantrischen
Bühne abtritt.

Kalagni verschlingt das Universum

Die Doomsday Mare (Weltuntergangsstute) und das


Endzeitfeuer Kalagni stellen dieselbe zerstörerische En-
ergie dar, nur befindet sich die eine in der Tiefe des Mee-
res, die andere dagegen an den Wurzeln des Weltenber-
ges Meru, dort wo die Feuer der Hölle brennen. Kalagni
steigt, wenn
die Zeit gekommen ist, aus den unteren Schichten em-
por und brennt Stufe für Stufe die Welt, die Planeten und
die Sterne nieder. So wie der Yogi mit vergangener kar-
mischer Schuld belastet ist, die er während seines Er-
leuchtungsweges durch eine Feuertaufe reinigen muß, so
drückt nach der Kalachakra-Lehre auch auf den Sternen
und Planeten die Schuld vieler Jahrtausende. Deswegen
müssen sich ebenso die Himmelslichter einer totalen Feu-
erläuterung unterziehen. Das gleiche gilt für die 12 Mo-

389
nate und die ihnen entsprechenden Tierkreise. Sie sind
ebenfalls mit einem besonderen Nidama, einer Art kar-
mischer Befleckung, behaftet, zum Beispiel das Sternbild
des Steinbocks mit Nicht-Wissen, der Löwe mit Begier-
de, der Skorpion mit Wiedergeburt und so weiter. (* Ba-
nerjee, 1959, 166)
Unerbittlich und grausam läßt Kalagni das gesamte
Universum in Flammen aufgehen. Mit den Sternen ver-
glühen auch die Bewohner des Himmels, die Buddhas
und die Götter, mit der Erde verbrennen die Menschen
und alle anderen Lebewesen. Die Elemente lösen sich
auf – Raum, Luft, Feuer, Wasser und Erde. Die gesamte
Schöpfung versinkt in einem Feuermeer. Im Makrokos-
mos bleiben dann nur noch wenige »galaktische Samen«
zurück, welche die Ausgangsmaterie für eine kommende
Welt bilden. (* Tayé, 41) Als einziges Element übersteht
diese Apokalypse der Wind, das heißt mikrokosmisch der
Atem des Tantra-Meisters (ADI BUDDHAS). Er wirkt
in der nächsten kosmischen Epoche auf die übriggeblie-
benen »galaktischen Samen« ein und schafft daraus ein
neues Universum. 23
Der Mythos von der ewigen Wiederkehr

23 Der Zynismus und die Konsequenzen solcher oder ähnlicher


Aussagen wie »Der vom Yogi erlebte mikrokosmische Weltenun-
tergang ist nur von einer Seite her ein Untergang : Ihm steht ein
Werden im Geistigen gegenüber« ist den Autoren kaum bewußt,
einfach weil sie die mikro-makrokosmische Konsequenz nicht
ernst nehmen. (* Hinze, 48) Alles, was innen ist, so lehrt uns der
Tantrismus, ist auch außen. Das bedeutet ohne Abstriche, daß der
Yogi durch die rituelle Zerstörung des Innen (seiner Körperag-
gregate) auch das Außen zerstört. Oder um das obige Zitat zu →

390
Der Mythos vom Weltenbrand, der das Kalachakra-Tan-
tra beherrscht, war ursprünglich in den griechisch-ori-
entalischen Kulturen beheimatet. Die meisten Orien-
talisten nehmen an, daß er aus dem Iran stammt. Von
dort ausgehend sei er in den indischen Kulturkreis ein-
gedrungen und habe sich unter anderem mit buddhisti-
schen Yogasystemen verbunden. So finden wir das tra-
ditionelle Motiv der apokalyptischen Feuerlehren, näm-
lich den zerstörerischen Triumph des Guten über das
Böse, auch im Zeittantra : Das Böse hat in einer Epo-
che der Dekadenz die Macht an sich gerissen. Deswe-
gen wirkt der große Brand, der das verdorbene Univer-
sum verzehrt, als die finale Katharsis. Die in vielen Re-
ligionen anzutreffende apokalyptische Logik, daß nur
aus der katastrophalen Vernichtung des Alten das Neue
geboren wird, ist also auch ein Paradigma in der Ka-
lachakra-Lehre und hat, wie wir an Beispielen der tibe-
tischen Geschichte noch zeigen werden, verhängnisvol-
le Auswirkungen gehabt, übrigens nicht minder wie die
Johannesapokalypse für das Abendland.
Immer wieder wird Rahu Sonne und Mond verschlin-
gen, immer wieder wird Kalagni das Universum in ei-
nem Flammenmeer ertränken, immer wieder wird die
Welt untergehen, und immer wieder wird sie neu ent-
stehen. Solche Vorstellungen von der »Ewigen Wieder-
kehr« zeigen stereotyp das gleiche apokalyptische Sche-
ma : Paradiesische Zustände am Anfang, dann zuneh-

← kolportieren, das »Werden im Geistigen« wird an eine Vernich-


tung des Materiellen (der Außenwelt) gekoppelt.

391
mende Verschlechterung der Lebensbedingungen und
der Sitten, vernichtende Weltkatastrophe am Ende und
glorioser Neuanfang, der den paradiesischen Ursprung
wieder herstellt.
In der indischen Weltzeitlehre (die vom Buddhismus
übernommen wurde) ebenso wie in der römisch-griechi-
schen unterscheiden wir vier große Zyklen. Der Westen
kennt sie als goldenes, silbernes, kupfernes und eisernes
Zeitalter. Das erste entspricht im indischen System dem
Krta Yuga, das letzte dem Kali Yuga. Alle vier Zeitalter
machen ein Mahakalpa, einen großen Zyklus, aus, an
dessen Ende das Opfer des gesamten Universums und
an dessen Neuanfang eine Erlöserfigur steht. (Wir wer-
den auf diese messianische Gestalt, die an der Schnittstel-
le zwischen Weltvernichtung und Welterneuerung auf-
taucht und die auch im Kalachakra-Tantra ihren spekta-
kulären Auftritt hat, ausführlich bei der Darstellung des
Shambhala-Mythos eingehen.)24
In ewiger Wiederkehr durchläuft das All diesen Rhyth-
mus von Vernichtung und Auferstehung. Billionen um

24 Im Normalfall denkt man sich das Aufeinanderfolgen der Yu-


gas als eine Serie in der Zeit. Das gilt grundsätzlich auch für das
Kalachakra- Tantra. Doch wurde hier noch eine weitere, sehr
originelle Konzeption aus der indischen Mythologie übernom-
men, die besagt, daß alle vier Zeitalter simultan nebeneinander
bestehen, sozusagen als die Segmente eines Kreises. Durch die-
sen Kreis wandert entlang der Peripherie der Zeitgott als der Er-
löser. Das Territorium, das er betritt, befindet sich immer in der
letzten Phase des Kali Yuga. Sobald aber der »Messias« seinen
Fuß daraufgesetzt hat, entsteht an diesem Ort das goldene Zeital-
ter (Krta Yuga). Der Zeitgott befindet sich also ständig auf der →

392
Billionen von Universen erleiden dasselbe Schicksal. So
etwas übersteigt jede menschliche Fassungskraft, aber das
wirklich Ungeheuerliche an dieser Vorstellung ist, daß
der Tantra-Meister, für den es zwischen der Innenwelt
und der Außenwelt eine okkulte Korrespondenz gibt, der
Regisseur dieses kosmischen Dramas sein soll, indem er
in seinem mystischen Leib die Candali (Feuerfrau) ge-
zielt entfesselt. Er erscheint im Kalachakra-Tantra sowohl
als der große Zerstörer, der Rudra Chakrin, der zorni-
ge »Raddreher«, der das Rad der zyklischen Zeit bewegt,
als auch in der Gestalt des lang erwarteten Messias, der
die Auserwählten aus der Schreckenshöhle des Kali Yuga
(dem er den Todesstoß versetzt) ins Sonnenlicht des Krta
Yuga führt. Er ist der ADI BUDDHA, der Herr der astra-
len Welten und der Zeiten. 25 Der berühmte Religionswis-
senschaftler Mircea Eliade spekuliert in einem Text über
den Mythos von der ewigen Wiederkehr Seiten lang dar-
über, wie der archaische Mensch Trost in der Vorstellung
gefunden habe, daß eines Tages die Zeit seines Elends
und seiner Qual vorübergehe und durch eine glückseli-

← Grenzlinie zwischen Katastrophe und Paradies. Er ist der Uhr-


zeiger, der in jeder Sekunde die Hölle in den Himmel verwandelt,
und, da er im Kreise geht, wiederholt sich diese Situation ohne
Unterlaß. (* Petri, 39)
25 Alle Schulen des Buddhismus lehren in den Vier Edlen Wahr-
heiten den Ursprung des Leidens, den Weg zur Aufhebung des
Leidens und den Eintritt in die Zeitlosigkeit (Nirvana). Es ist
schwer zu verstehen, weshalb sich die Lehre schon im Mahayana
und später im Vajrayana eine zyklische Vision der Weltgeschich-
te, welche das Leiden als ständig zu wiederholendes kosmisches
Programm eingespeichert hat, zu eigen machte.

393
ge Zeit ersetzt werde. (* Eliade, 1953) So schlimm es uns
auch ergehen mag, es komme doch die Stunde, in der
wir wieder das ursprüngliche Paradies betreten. Aus der
Katastrophe folge unweigerlich die Auferstehung. Aber
– und das verdrängt Eliade – aus der Auferstehung folgt
nach diesem Modell unweigerlich die nächste Katastro-
phe. (Er verdrängt auch, daß in den meisten Religionen
die Andersgläubigen im apokalyptischen Untergang ge-
opfert werden und nur die Rechtgläubigen ins christli-
che »Neue Jerusalem« oder ins buddhistische Mythen-
reich »Shambhala« einziehen dürfen.)

Das »Mandala-Prinzip« : Der räumlich-kosmische


Machtbereich des ADI BUDDHA

Wir haben beschrieben, wie der »Sternenleib« des Tan-


tra-Meisters (ADI BUDDHA) die Zeit indiziert, aber
sein mystischer Körper umfaßt ebenso den Raum, und
das, was wir über die Himmelskörper gesagt haben,
gilt grundsätzlich auch für die räumliche Gestaltung
des Universums. Der ADI BUDDHA inkorporiert den
gesamten buddhistischen Kosmos. Das ist nach tan-
trischer Sicht sehr konkret zu nehmen und heißt, die
Strukturelemente der »großen Welt« müssen sich als
Strukturelemente im Leib (in der »kleinen Welt«) des
Yogis (ADI BUDDHA) wiederfinden lassen. Wir wer-
den uns also zuerst den Aufbau des buddhistischen
Kosmos ansehen.

394
Der buddhistische Kosmos

Wenn wir uns einen Einblick in die Kosmographie des


Buddhismus verschaffen, dann stellen wir sofort fest,
wie wesentlich sie sich von unserem modernen wissen-
schaftlichen Weltbild unterscheidet. Sie basiert vor al-
lem auf den Beschreibungen des Abhidharmakosa, ei-
ner Überlieferung des Mahayana-Gelehrten Vasubhan-

Das Weltbild des Buddhismus

395
du (5. Jh. n. Chr.). Das Kalachakra-Tantra hat im großen
und ganzen den Entwurf Vasubhandus übernommen
und weicht nur in einzelnen Punkten davon ab.
Im Mittelpunkt des buddhistischen Universums erhebt
sich der Weltenberg Meru, der alles andere überragt und
auf dem sich Himmel und Erde begegnen. Er ist rund wie
die »Achse eines Rades«. An einer Stelle des Kalachakra-
Tantras wird er mit dem Vajra verglichen und als gigan-
tischer »Donnerkeil« beschrieben. (* Newman, 1987, 503)
Der Schweizer Mandalaexperte Martin Brauen sieht in
ihm ein »dolchartiges Gebilde« und nennt ihn deswegen
»Erd-Dolch«. (* Brauen, 127) Nach Winfried Petri hat der
Weltenberg die Gestalt eines »umgekehrten Kegelstump-
fes«. All das sind phallische Metaphern.
Radförmig umgeben den gigantischen »Phallus« fünf
verschiedene große Kreise, die den einzelnen Elementen
zugeordnet sind – von außen nach innen : der Raumkreis,
der Luftkreis, der Feuerkreis, der Wasserkreis, der Erd-
kreis. Luft und Feuer durchdringen jedoch die gesam-
te kosmische Architektur. »In allen Richtungen gibt es
Wind (Luft) und Feuer« (* Newman, 1987, 506) – lesen wir
im Kalachakra-Tantra. Diese beiden Elemente sind sozu-
sagen der Geist, der die ganze Konstruktion durchweht,
aber sie bilden auch die zwei Destruktionskräfte, die das
Weltenbauwerk am Ende der Zeiten vernichten werden,
genauso wie im mystischen Leib des Yogis der Atem (Luft,
Wind) und die Flammen (Feuer, Candali) gemeinsam
die alten Körperaggregate niederbrennen. Der Erdkreis
besteht aus insgesamt zwölf einzelnen Kontinenten, wel-
che auf dem Wasserkreis wie Lotusblüten schwimmen.

396
Er bildet also ein unterbrochenes und kein homogenes
Kreissegment. Einer von diesen Kontinenten ist unsere
Welt, die »Erde«. Sie trägt den Namen Jambudvipa. Das
bedeutet »Rosenapfelbaum Kontinent«.
Nach der ursprünglicheren Darstellung des Vasuband-
hu ist der Meru nicht von den fünf Elementen umgeben,
sondern von sieben ringartigen Bergketten, welche sich
um die Weltenachse wie Räder legen. Zwischen diesen
Rädern befinden sich riesige Ozeane. Das letzte dieser
Meere ist gleichzeitig das größte. Es wird Mahasa Mu-
dra, Große Mudra genannt.
Im buddhistischen Weltentwurf bildet somit der Meru
die Vertikale, die von unten nach oben drei Segmente auf-
weist : die Hölle (1), die Erde (2) und den Himmel (3).
An seiner Wurzel (1) befinden sich die 7 Haupthöllen,
eine grausamer als die andere. Im Gegensatz zur westli-
chen Unterweltslehre gibt es im Buddhismus außer den
heißen noch »kalte Höllen«, wo nicht mit Feuer, sondern
mit Eis gequält wird. Auch Wasserhöllen sind dort zu fin-
den, in anderen zeigen sich nur Rauch und Qualm. Die
präzise Ausmalung der Qualen an diesen grauenhaften
Orten zählt seit Jahrhunderten zu den Lieblingsbeschäfti-
gungen tibetischer Mönche. Oberhalb der Unterwelt, am
Fuße des Merus, leben die sogenannten Hungergeister
(Pretas), ein unruhiges Heer menschenähnlicher Wesen,
das von ständiger Begierde getrieben wird.
Im mittleren Segment (2) des Berges treffen wir auf die
12 Kontinente, unter ihnen Jambudvipa, die Erde. Da die
Kontinente von einem Ozean umgeben sind, haben sie kei-
ne natürliche Landverbindung mit der Weltenachse. Auf

397
dem »Rosenapfelbaum Kontinent« (Jambudvipa) leben wir
Menschen. Man nennt diesen Kontinent auch das »Land
des Karma«, weil die Lebewesen, die dort wohnen, noch
mit Karma (Befleckungen als Folge schlechter Taten) bela-
stet sind. Aber wir Einwohner haben die Möglichkeit, sol-
che karmischen Flecken endgültig abzuarbeiten, indem wir
der Lehre des Buddha folgen. Das ist ein großes Privileg,
welches den Bewohnern anderer Sphären und der anderen
Kontinente nicht in dem gleichen Maße zusteht.
Über der irdischen Welt erhebt sich das Segment des
Himmels (3), und wir befinden uns im Reich der Ster-
ne und Planeten. Danach durchwandert man verschie-
dene Götterkreise, welche nach oben hin immer mächti-
ger werden. Der »göttliche« Aufstieg beginnt in Regionen,
wo Gottheiten wohnen, welche sich noch nicht von Be-
gierden befreit haben. Dann betreten wir die siegreichen
Residenzen der 33 Götter des »Formenreiches«. Wir kön-
nen sie im platonischen Sinne als »Archetypen« ansehen,
also als unbewegliche, nach »unten« hin ausstrahlende
Energiefelder. Zu ihnen zählen ebenfalls wie bei Platon
die höheren Wesenheiten, welche die reine Essenz der
fünf Elemente repräsentieren.
Wir verlassen nun den Meruberg als eine geographisch
beschreibbare Region und »fliegen« durch eine »Zone der
Überschneidung«, in der sich das Reich der Formgötter
und das noch mächtigere, noch grandiosere und noch
heiligere Imperium der Formlosigkeit befindet. Die »Be-
wohner« dieser Sphäre sind überhaupt keine Persönlich-
keiten mehr und können nicht mehr bildlich gefaßt wer-
den, sondern tragen die Namen allgemeiner Begriffe.

398
Das Abhidharmakosa nennt sie »Ohne Trauer«, »Nichts
Größeres«, »Großer Erfolg«, »Fleckenlos« und so weiter.
Noch weiter darüber betreten wir eine Sphäre, die sol-
che Namen wie »Unendlicher Raum«, »Unbegrenztes Be-
wußtsein« und »Allumfassende Leere« aufweist. (* Tayé,
155) Das Kalachakra-Tantra hat dieses Weltbild des Ma-
bayana-Buddhismus voll übernommen.
Aus dieser Stufensymbolik des Weltenberges können
wir leicht erkennen, daß er nicht nur ein kosmisches Mo-
dell, sondern, homolog dazu, auch das Abbild eines In-
itiationsweges darstellt. Ob dieser nun unten in der Hölle
oder von der Mitte des Erdkontinents aus beginnt, in je-
dem Fall soll er nach dem Durchwandern verschiedener
irdischer und himmlischer Sphären bis zu den höchsten
Regionen des formlosen Reiches vordringen.

Der Kosmos und der Energiekörper des Yogi

Wie schon mehrmals angedeutet, besteht eine Homolo-


gie des buddhistischen Kosmogramms mit der Körper-
geographie des Yogi. Mikro- und Makrokosmos decken
sich, die Welt und der mystische Leib eines praktizieren-
den Adepten bilden eine Einheit. Der ADI BUDDHA,
als die vollendete Gestalt des höchsten Tantra-Meisters,
und der Kosmos sind identisch.
»Alles ist im Körper« – diese berühmte okkulte Korre-
spondenz ist auch für den Tantrismus von fundamentaler
Bedeutung. Die Entsprechung zur Weltenachse (Meru)
bildet zum Beispiel der mittlere Kanal (Avadhuti) im my-

399
Die Entsprechung von Mikrokosmos und Weltbild
(Makrokosmos)

stischen Leib des Yogi. Die Texte bezeichnen ihn deswe-


gen schlicht und einfach mit dem Namen »Meru«. So
wie im Kosmos oberhalb des Meruberges das Reich der
Formlosigkeit zu suchen ist, so erfährt der Yogi (ADI
BUDDHA) die Höchste Glückseligkeit von der »Leere
aller Form« oberhalb des Kopfes im »Tausendblättrigen
Lotus«. Dem Stirnchakra und dem Kehlkopfchakra ent-
sprechen die Wohnsitze der verschiedenen oben erwähn-
ten 33 Formgötter (Archetypen). Im Herzen des Yogi le-

400
ben die Menschen, und hinunter geht es bis zu den Ge-
schlechtsteilen, wo sich das Reich der Hölle auftut.
Entsprechend heißt es im Kalachakra-Tantra : »Erde,
Wind, Götter, Meere, alles ist zu erkennen inmitten des
Körpers.« (* Grünwedel, Kalacakra II, 2) Alle Teile des
»kleinen« Körpers korrespondieren mit den Teilen des
»großen« Körpers : Die Zahnreihen des Yogi (ADI BUD-
DHA) bilden die verschiedenen Mondhäuser ; die Adern
die Flüsse. Hände und Füße sind Inseln und Berge, so-
gar eine weibliche Laus, die sich in den Schamhaaren ei-
nes Tantrikers versteckt hält, hat eine »transzendente«
Bedeutung : Sie gilt als die gefährliche Vulva einer Dä-
monin aus einer bestimmten Höllenregion. (* Grünwe-
del, Kalacakra II, 34) Diese Körperhomologie des Kos-
mos ist das große Geheimnis, welches der Buddha dem
König Suchandra enthüllte, als er ihn das Kalachakra-
Tantra lehrte : »Wie es draußen ist, so ist es im Körper«.
(* Newman, 1987, 104, 115, 472, 473, 504, 509) Gleichzei-
tig mit der Öffnung des Geheimnisses wurde das »einfa-
che« Rezept verraten, mit dem der Yogi die Allherrschaft
über das gesamte Universum erhält und ausüben kann :
Indem er die Energieströme in seinem mystischen Leib
kontrolliert, kontrolliert er den Kosmos ; in dem Maße,
wie er Glückseligkeit durch seine Adern (Windkanäle)
fließen läßt, in dem Maße beglückt er das All ; die Turbu-
lenzen, die er in seinem Inneren hervorruft, erschüttern
auch die Außenwelt durch Stürme und Erdbeben. Alles
geschieht parallel : Wenn der Yogi seinen Leib während
der Purifikation verbrennt, wird durch den selben Vor-
gang das ganze Universum in Schutt und Asche gelegt.

401
Chakravala oder das Eisenrad

So wie der androgyne Körper des ADI BUDDHA oder


des erleuchteten Yogi die Energien beider Geschlechter
in sich konzentriert, so liegt auch der buddhistischen
Kosmographie eine Geschlechterpolarität zugrunde.
Meru, der Weltenberg, ist ganz offensichtlich von phal-
lischer Natur und wird deswegen auch als Vajra oder di-
rekt als Lingam (Phallus) bezeichnet. Die großen Oze-
ane, die das männliche Symbol umgeben, repräsentieren
als Kreis und als Wasser das weibliche Prinzip.
Seltsamerweise ist die äußerste Gebirgskette, die das
kosmische Modell einschließt, aus purem Eisen ge-
schmiedet. Dieser Eisenkranz muß eine tiefe symboli-
sche Bedeutung haben, da das gesamte System nach ihm
benannt wurde und Chakravala (»Eisenrad«) heißt. Wir
haben uns also zu fragen, weshalb das buddhistische Uni-
versum von einem Metall umrahmt wird, das man welt-
weit als Symbol des Verletzens, des Tötens und des Krie-
ges ansieht. Das Bild reizt natürlich dazu, eine Bezie-
hung zum »eisernen Zeitalter« herzustellen, an das nach
westlicher Mythologie (Griechenland/Rom) die Mensch-
heit vor ihrem zyklischen Untergang angekettet ist. Die
indische Idee vom Kali Yuga und die europäische vom
»eisernen Zeitalter« decken sich ja in erstaunlich vielen
Punkte. In beiden Fällen kommt es zu einem sich im-
mer mehr beschleunigenden Verfall des Rechts, der Sit-
ten und der Moral. Am Ende bleibt nur noch der Krieg
aller gegen alle. Dann erscheint eine Erlösergestalt, und
das ganze kosmische Spiel beginnt von vorne.

402
Modernes und buddhistisches Weltbild

Unsere Leser und Leserinnen werden sich vielleicht


schon gefragt haben, wie zeitgenössische tibetische La-
mas ihre traditionelle buddhistische Kosmologie mit
unserem naturwissenschaftlichen Weltbild in Einklang
bringen. Lehnen sie dieses strikt ab, wird es von ih-
nen übernommen, oder suchen sie nach einer Kombi-
nation beider Systeme ? Ein guter Kenner des Kalacha-
kra-Tantras, der 1989 verstorbene Kagyüpa-Guru Kalu
Rinpoche, gibt auf alle drei Fragen eine klare und knap-
pe Antwort : »Jede dieser Kosmologien ist vollkommen
für die Wesen, deren karmische Projektionen sie dazu
veranlassen, ihr Universum in dieser Weise zu erfahren
… Deshalb ist auf einer relativen Ebene jede Kosmolo-
gie gültig. Auf einer letzten Ebene ist keine Kosmolo-
gie absolut wahr. Sie kann nicht universell gültig sein,
solange es Wesen in grundverschiedenen Situationen
gibt.« (* Brauen, 109) Der Kosmos ist demnach eine Er-
scheinungsform des Geistes. Die Welt hat kein Sein au-
ßerhalb des Bewußtseins, das sie wahrnimmt. Ändert
sich dieses Bewußtsein, dann ändert sich in gleichem
Maße die Welt. Deswegen beschreibt die Kosmographie
des Buddhismus nicht die Natur, sondern ausschließlich
Formen des Geistes. Ein solch extremer Idealismus und
radikaler Relativismus nimmt sich die Macht, mit einem
einzigen trockenen Satz die Grundlagen unseres natur-
wissenschaftlichen Weltbildes aufzulösen. Wenn aber
nichts mehr endgültig ist, dann ist als Folge dessen al-
les möglich, selbst die Kosmologie des Abhidharmakosa.

403
Doch erst zu dem Zeitpunkt – so die Lamas –, wo die ge-
samte Menschheit das buddhistische Paradigma über-
nommen hat, kann sie auch den gigantischen Meruberg
in der Mitte ihres Universums wahrnehmen. Heute ha-
ben – wie tibetische Gurus behaupten – diese Fähigkeit
nur wenige »Auserwählte«.
Im zweiten Teil unserer Studie werden wir die intensi-
ve und herzliche Beziehung des XIV Dalai Lama zu neu-
zeitlichen westlichen Wissenschaftlern untersuchen und
zeigen, daß auch in solchen Kreisen der radikale Rela-
tivismus eines Kalu Rinpoche Verbreitung findet. Ähn-
liche philosophische Spekulationen von Europäern gibt
es sogar schon aus den 40er Jahren.
Eine Anekdote des Tibetreisenden Heinrich Harrer er-
zählt, wie sich Westler gerne – und sei es auch nur aus
Koketterie – die tibetische Weltsicht zu eigen machen.
Harrer war damit beauftragt, den Tibetern insbesondere
aber dem jungen Dalai Lama das moderne wissenschaft-
liche Weltbild zu erläutern. Als er im Jahre 1948 auf ei-
ner Party eine Gruppe von tibetischen Adligen darüber
aufklären wollte, daß unsere Erde rund und weder eine
Fläche noch ein Kontinent sei, da rief er, um seine The-
se zu untermauern, den ebenfalls anwesenden berühm-
ten italienischen Tibetologen Giuseppe Tucci als Zeugen
an. »Zu meiner größten Überraschung«, lesen wir bei
Harrer, »stellte er sich auf die Seite der Zweifler, denn er
meinte, alle Wissenschaften müßten ihre Theorien dau-
ernd revidieren und eines Tages könne sich ebensogut
die tibetische Lehre als richtig herausstellen.« (* Harrer,
1984, 190)

404
Nach einer Buddhisierung unserer Welt braucht also
von der »bekehrten« Erdbevölkerung nicht auf die tra-
ditionelle kosmische »Landkarte« des Abhidharmakosa
verzichtet zu werden, denn gemäß der buddhistischen
Erkenntnistheorie sind die »Landkarte« und das von ihr
beschriebene Territorium identisch. Beide, die Geogra-
phie und ihr Abbild im Bewußtsein, erweisen sich letzt-
endlich als Projektionen desselben Geistes.

Der Untergang des tantrischen Universums

Der mystische Körperbau des Yogi (ADI BUDDHA)


dupliziert das Kosmogramm des Chakravala. Entspre-
chend erweist sich auch das Schicksal seines Energielei-
bes als identisch mit dem Schicksal des Universums. So
wie im Inneren des Tantra-Meisters die Feuerfrau in der
Gestalt der Candali nach und nach alle grobstofflichen
Elemente verbrennt, so wird das gesamte Universum am
Ende der Zeiten zum Opfer eines Weltenbrandes, der in
der Gestalt von Kalagni an den Wurzeln des Meru sei-
nen Ursprung nimmt. Stufe um Stufe versetzt Kalagni
die einzelnen Segmente der Weltenachse in Flammen
und züngelt empor bis hin in den Bereich der Formgöt-
ter (Archetypen). Erst in höchster Höhe, in der Sphä-
re der Formlosigkeit, kommt das Zerstörungsfeuer zum
Stillstand. Wenn es nichts mehr zu verbrennen gibt, er-
lischt die Flamme von selbst. Das, was vom ganzen Cha-
kravala übriggeblieben ist, sind atomare Raumelemen-
te (»galaktische Samen«), welche die Bausteine für die

405
Konstruktion eines neuen Kosmos hergeben, der – ent-
sprechend dem Gesetz der ewigen Wiederkehr – haarge-
nau so aussehen wird wie der alte und dasselbe Schicksal
hat wie seine Vorgänger.

Das Mandala-Prinzip

Das buddhistische Universum (Chakravala) hat die


Gestalt eines Mandalas. Dieses Sanskritwort heißt ur-
sprünglich »Kreis« und wird im Tibetischen mit kyl-
khor übersetzt, was soviel wie »Zentrum und Periphe-
rie« bedeutet. Im Mittelpunkt des Chakravala befindet
sich der Berg Meru, die Peripherie bildet das oben von
uns erwähnte gigantische Eisenrad.
Es gibt runde und viereckige, zwei- und dreidimensio-
nale Mandalas, in allen Fällen bleibt jedoch das Prinzip
Mittelpunkt und Peripherie erhalten. Die vier Seiten ei-
nes quadratischen Diagramms werden oft mit den vier
Himmelsrichtungen gleichgesetzt. Auch für die tantri-
sche Mandalaform ist eine Fünferkonzeption – mit einem
Zentrum und den vier Kardinalrichtungen – charakteri-
stisch. Die gesamte Konstruktion wird als ein energeti-
sches Feld gesehen, von dem aus, wie von einem platoni-
schen Archetyp, gewaltige Kräfte ausströmen können.
Ein Mandala gilt als das Urbild der Ordnung. Dieser
stehen als konträre Prinzipien die Unordnung, die An-
archie und das Chaos gegenüber. Klimatische Turbulen-
zen, körperliche Krankheiten, wüste und wilde Land-
striche, barbarische Völker und Reiche des Unglaubens

406
zählen zur Welt des Chaos. Um von solchen aus der Ord-
nung geratenen Regionen und Ethnien Besitz zu ergrei-
fen oder um chaotische Störungen (etwa im Leib eines
Kranken) zu beenden, vollziehen tibetische Lamas ver-
schiedene Riten, die letztendlich alle auf die Konstruk-
tion eines Mandalas hinauslaufen. Dieses wird durch
Symbolhandlungen einem »chaotischen« Territorium
aufgeprägt, um es zu besetzen ; es wird mental in den
siechen Körper eines Patienten hineinprojiziert, um des-
sen Krankheiten und die Todesgefahr zu vertreiben ; es
wird als feste Burg gegen Sturm und Hagel über ein
Schutzgebiet »gestülpt«.
Wie eine Schablone prägt sich ein Mandalamuster allen
Seins- und Bewußtseinsebenen auf. Ein Körper, ein Tem-
pel, ein Palast, eine Stadt, ein Kontinent können deswegen
ebenso die Form eines Mandalas haben wie ein Gedanke,
eine Imagination, eine politische Struktur. Die gesamte
Geographie eines Landes mit ihren Bergen, Seen, Flüs-
sen, Städten und Heiligtümern besitzt nach dieser Sicht
ein außerirdisches Urbild, eine mandalaartige Urform,
deren irdisches Abbild sie darstellt. Diese transzendente
Geometrie ist für ein normales Auge nicht sichtbar und
verbirgt sich auf einer höheren kosmischen Ebene.
Verborgen hinter seiner von uns wahrgenommenen
geographischen Gestalt hat auch das Land Tibet in der
Vorstellung der Lamas eine Mandala-Struktur mit der
Hauptstadt Lhasa als Zentrum und den umliegenden
Gebirgsketten als Peripherie. Ebenso wird der Stadtplan
von Lhasa als der Abdruck eines Mandalas angesehen mit
dem heiligsten Tempel Tibets, dem Jokhang, als Mittel-

407
punkt. Dessen Architektur wurde ebenfalls als ein Man-
dala entworfen mit dem Hauptaltar als Zentrum.
Auch die politische Struktur des alten Tibets trägt ei-
nen Mandalacharakter. Der Dalai Lama bildet hierbei die
zentrale Sonne (das Mandala-Zentrum), um die die an-
deren Äbte Tibets als Planeten kreisen. Bis 1959 war die
tibetische Regierung als ein Diagramm mit einem Zen-
trum und vier Sektionen (Seiten) konzipiert. »Vier Res-
sorts begründen die Regierung«, schrieb der VII Dalai
Lama in einer staatpolitischen Anweisung. »Es sind der
Gerichtshof (1), das Steueramt (2), das Depot (3) und das
Kabinett (4). Sie alle sitzen an den vier Himmelsrichtun-
gen entlang den Seiten eines Quadrats, das die zentrale Fi-
gur des Buddhas umschließt.« (* Redwood French, 87)
Man übertrug also das Urbild vom Höchsten Buddha
und den ihn umgebenden Emanationen auf die Staats-
führung und die verschiedenen Amter, die ihr unter-
stellt waren. Mit der zentralen Figur dieses politischen
Mandalas ist selbstverständlich der Dalai Lama gemeint,
weil er die gesamte weltliche und geistige Macht in sei-
ner Person konzentriert. Jedes einzelne Kloster wieder-
holt diese politische Geometrie mit dem jeweiligen Abt
in der Mitte.
Das Mandala strukturiert aber nicht nur die Erschei-
nungswelt, es bestimmt in der buddhistischen Kultur
ebenso die menschliche Psyche, den Geist und alle tran-
szendenten Sphären. Es dient als Meditationshilfe und
als imaginärer Götterpalast bei den tantrischen Übungen.
Auf der mikrokosmischen Ebene wird der Energiekörper
des Yogi als die Konstruktion eines dreidimensionalen

408
Mandalas angesehen mit dem mittleren Kanal (Avadhu-
ti) als zentraler Achse. Die gesamte kosmisch-psychische
Anatomie des ADI BUDDHA (Tantra-Meisters) ist ein
universelles Mandala. Wir können deswegen allgemein
die buddhistische Kultur (nicht nur die tibetische) als ein
kompliziertes Netzwerk von unzähligen Mandalas be-
greifen. Da diese noch dazu auf verschiedenen Seinsebe-
nen existieren, verschachteln sie sich ineinander, schlie-
ßen sich gegenseitig ein und überlappen sich.
Mit Recht hat man in der vergleichenden Kulturwissen-
schaft einen Aspekt des buddhistisch-tantrischen Man-
dalas mit den magischen Kreisen verglichen, welche die
mittelalterlichen Zauberer Europas benutzten, um Gei-
ster, Engel und Dämonen herbeizuzitieren. Denn auch
mittels eines Mandala (»Zauberkreis«) können Buddhas,
Götter und Asuras (Dämonen) beschworen werden.

Das Kalachakra-Sandmandala

In allen tantrischen Ritualen finden Mandala ihre An-


wendung, im Kalachakra-Tantra spielt es jedoch eine
ganz hervorragende Rolle. Noch bevor die sieben unteren
Weihen des Zeittantras beginnen, wird in der sichtbaren
Außenwelt ein Mandala, und zwar ein sehr aufwendiges
konstruiert. Besonders hierfür geschulte Mönche – für
den Dalai Lama eine Sondereinheit aus dem Namgyal-
Institut – sind mit seiner Konstruktion beauftragt. Die
»Baumaterialien« bestehen vor allem aus buntem Sand,
der in einem komplizierten, mehrere Tage dauernden

409
Das Kalachakra-Sandmandala

Verfahren in Linien und Figuren auf eine Skizze über-


tragen wird. Jeder Strich, jede geometrische Form, jede
Tönung, jedes eingefügte Objekt hat seine kosmische Be-
deutung. Da das Mandala aus Sand gebaut ist, handelt es
sich um ein sehr verletzliches Kunstwerk, welches man
leicht zerstören kann, und das ist erstaunlicherweise –
wie wir noch sehen werden – die Endabsicht der ganzen
komplizierten Arbeit. Das Sandmandala des Zeittantras

410
kann jeder, der die dort abgebildeten Symbole versteht,
als die visuelle Repräsentation des gesamten Kalachakra-
Rituals entschlüsseln. Er wird alle Bedeutungsinhalte, de-
nen wir bei der obigen Beschreibung des tantrischen In-
itiationsweges begegnet sind, wiedertreffen.
Wir müssen deswegen dieses äußere Bild aus Sand als
die sichtbare Widerspiegelung einer inner-geistigen Kon-
struktion ansehen, die (in einer anderen Sphäre) der Yogi
als einen prächtigen Palast imaginiert, der auf der Spitze
des Meruberges erbaut wurde. 26 Als dem Zentrum und
den beiden Regenten des imaginierten Tempelpalastes
begegnen wir Kalachakra und seiner Weisheitsgefähr-
tin Vishvamata. Sie thronen als das Göttliche Paar im
Mittelpunkt des Allerheiligsten.
Insgesamt wird dieses buddhistische »Versailles« von
722 Gottheiten bevölkert, von denen die meisten die ein-
zelnen Segmente der Zeit repräsentieren : Die Götter der
zwölf Jahreszyklen, der vier Jahreszeiten, der zwölf Mo-
nate, der 360 Tage, der zwölf Stunden, der 60 Minuten
wohnen hier. Dazu kommen übernatürliche Wesenhei-
ten, welche die fünf Elemente, die Planeten, die 28 Mond-
phasen und die zwölf Sinnesbereiche darstellen. Ganz
nahe dem Mittelpunkt, dem Göttlichen Paar Kalacha-
kra und Vishvamata, befinden sich die vier Meditations-
buddhas in Vereinigung mit ihren Partnerinnen, dann
folgen mehrere Bodhisattvas.

26 Der Weltenberg weist ja – wie wir schon gesehen haben – sel-


ber mit den ihn umgebenden kosmischen Kreisen die Form eines
großen Mandala auf.

411
Die Architektur des Kalachakra-Paiastes umfaßt fünf
einzelne Mandala, die sich jeweils umschließen. Bau-
segmente, welche dem Zentrum (Göttliches Paar) nä-
her liegen, genießen eine höhere spirituelle Wertschät-
zung als diejenigen, die weiter davon entfernt sind. Die
fünffache Anordnung des Gebäudekomplexes soll un-
ter anderem die fünf Ringe (fünf Elemente) widerspie-
geln, welche sich in der buddhistischen Kosmographie
um den Berg Meru legen. Ebenfalls die Höhe und Brei-
te des Palastes kopieren in ihrem Verhältnis zueinander
die Proportionen des Kosmos. Das Kalachakra-Manda-
la ist also auch ein mikrokosmisches Abbild des buddhi-
stischen Universums.
Wer von außen den Kalachakra-Palast betritt, durch-
läuft eine fünffache Stufeneinweihung, die im Allerhei-
ligsten, wo sich das Urpaar Kalachakra und Vishvamata
vereinigt, endet. Von innen nach außen gesehen aber re-
präsentieren jedes der einzelnen Mandalasegmente und
die in ihnen wohnenden Gottheiten eine Ausstrahlung
(Emanation) des göttlichen Urpaares.
Ebenso wie sich das makrokosmische Mandala des Uni-
versums mit dem Berg Meru als Achse im mikrokosmi-
schen Körper des Yogi (ADI BUDDHA) wiederfinden
läßt, so ist auch der Kalachakra-Palast mit seinem my-
stischen Leib identisch. Das dürfen wir niemals aus dem
Blickfeld verlieren. Deswegen muß die nun folgende de-
taillierte Beschreibung des Kalachakra-Sandmandalas
ebenso als die Anatomie des Tantra-Meisters (ADI BUD-
DHA) angesehen werden. Die anatomische »Landkarte«
des ADI BUDDHA zeigt also mehrere unterschiedliche

412
Bilder, einmal hat sie die Struktur, die dem gesamten
Universum entspricht, das andermal bildet sie diejenige
des Kalachakra-Palastes ab, oder sie entspricht dem oben
beschriebenen komplizierten Aufbau des Dasakaro Vasi
(»der zehn Mächtigen«). Immer aber, in allen Modellen,
ist das mandalaartige Grundmuster von einem Zentrum
und einer Peripherie dasselbe.

Die Konstruktion des Kalachakra-Palastes

Im Mittelpunkt des Kalachakra-Palastes regiert das gött-


liche Urpaar, der Zeitgott Kalachakra und die Zeitgöt-
tin Vishvamata. Sie werden in der sichtbaren Welt des
Sandmandalas durch einen blauen Vajra (Kalachakra)
und einen orangenen Punkt (Vishvamata) dargestellt.
Direkt unter ihnen befindet sich eine gelbe Sandschicht,
die das Vernichtungsfeuer Kalagni repräsentiert, darun-
ter liegt eine blaue Schicht, Symbol des Untergangspla-
neten Rahu. Es folgen die Schichten für die Sonne, den
Mond und für eine Lotusblüte. Durch Kalagni und Rahu
ist demnach schon im Zentrum des Sandmandalas, be-
ziehungsweise des Zeitpalastes, die Vernichtung des Ur-
paares vorprogrammiert.
Kalachakra und Vishvamata sind von acht Lotusblät-
tern (all das ist aus farbigem Sand hergestellt) umgeben.
Diese stellen nun nicht – wie man annehmen könnte –
weitere acht Emanationspaare dar, sondern wir begegnen
hier – nach offizieller Deutung – den acht Shaktk. Es han-
delt sich dabei um acht weibliche Wesen, um acht Ener-

413
gieträgerinnen (oder acht »Opfergöttinnen«). Sie entspre-
chen den acht Karma Mudras, welche im Ganachakra der
12. Einweihungsstufe (Vaseneinweihung) den mit seiner
Partnerin vereinten Tantra-Meister umgeben. Jedoch ist
dort, wenn wir uns zurückerinnern, von zehn Shaktis
die Rede. Die Zahl »Zehn« erreichen wir dadurch, daß
wir zu den acht »Opfergöttinnen« (Lotusblättern) zwei
weibliche Aspekte von Vishvamata (der zentralen Göt-
tin) hinzuzählen. Zusammen signalisieren sie die zehn
Hauptwinde (das Dasakaro Vasi), mit denen der Tantra-
Meister alle mikrokosmischen Energien in seinem my-
stischen Leib kontrolliert.
Im innersten Segment des Zeitpalastes ist also durch
ganz wenige Symbole das gesamte tantrische Opfersce-
nario skizziert, da die zehn Shaktis (ursprünglich zehn
Frauen) im Ganachakra-Ritual, wie wir oben ausführlich
geschildert haben, manipuliert und als autonome Indivi-
duen ausgeschaltet werden, damit sie ihre weiblichen En-
ergien auf den Tantra-Meister übertragen. Dieses zentrale
Segment des Sandmandalas trägt den Namen »Mandala
der großen Glückseligkeit«. (* Brauen, 133)
Der zweite anschließende Komplex heißt »Mandala
der erleuchteten Weisheit«. Es gibt dort 16 Säulen, welche
unterschiedliche Formen der Leerheit symbolisieren und
den Raum in 16 verschiedene Zimmer aufteilen. Letzte-
re werden von Paaren bewohnt, und zwar von friedvol-
len Gottheiten. Sie sind im Mandala durch bunte Sand-
häufchen repräsentiert.
In diesem Teil des Palastes befinden sich außerdem
zehn ( !) Vasen (Kalasha). Gefüllt wurden sie mit absto-

414
Das Zentrum des Kalachakra-Sandmandalas

ßenden Substanzen wie Kot, Urin, Blut, Menschenfleisch


und so weiter, die der Tantra-Meister während des Rituals
in glückspendende Nektarspeisen verwandelt. Auch diese
Gefäße symbolisieren wiederum die zehn »Opfergöttin-
nen« beziehungsweise die zehn Mudras des Ganachakra.
In der ersten präzisen Beschreibung eines Kalachakra-Ri-
tuals durch einen westlichen Wissenschaftler (Ferdinand
Lessing) wird auf die feminine Symbolbedeutung dieser
Vasen Bezug genommen : Die »Lamas … umschritten das
Podium, jeder mit einer großen Wasservase (Kalasha). Sie
bewegten diese hin und her. Sie symbolisiert das junge
Mädchen (young lady) der Initiation, welche eine solch
große Rolle bei diesem Kult spielt.« (* Wayman, 1973, 62)
Die Kalashas entsprechen wiederum den zehn Winden

415
oder den »zehn Mächtigen« (Dasakaro Vasi) und damit
dem Diamantenkörper des ADI BUDDHA.
Auf unserer Wanderung durch den Zeitpalast folgt
das dritte Segment mit dem Namen »Mandala des er-
leuchteten Bewußtseins«. Dies ist das Haus der Bodhi-
sattvas und Buddhas. Letzere, die Dhyani- oder Medita-
tions-Buddhas, residieren hier eng umschlungen mit ih-
ren Gefährtinnen : im Osten der schwarze Amoghasiddhi
mit Locano ; im Süden der rote Ratnasambhava mit Mama-
ki ; im Norden der weiße Amithaba mit Pandara ; im We-
sten Vairocana, umarmt von Tara. Die Räume zwischen
den Himmelsrichtungen sind ebenfalls von Buddhapaa-
ren besetzt. Auch alle Bodhisattvas, die im »Mandala des
erleuchteten Bewußtseins« ihren Wohnsitz haben, wer-
den in der Yab-Yum-Stellung (der sexuellen Vereinigung)
dargestellt. Dieses dritte Segment zeigt sehr anschaulich,
daß der Tantrismus die Emanation der Zeit aus dem Eros
göttlicher Paare ableitet.
Folgt das vierte »Mandala der erleuchteten Sprache«.
Darin befinden sich acht Lotusblüten, von denen jede
einzelne wiederum acht Blütenblätter aufweist. In die-
sem Blumenkranz wiederholt sich erneut das Muster des
Ganachakra, dem wir schon im Zentrum des Sandman-
dalas begegnet sind. Eng umschlungen sitzt in der Mitte
jedes der acht Lotusse ein Paar, und auf jedem der acht
sie umgebenden Blütenblätter erkennen wir eine Göttin.
Das macht insgesamt 80 Gottheiten (64 Shaktis, 8 Part-
nerinnen, und 8 männliche Gottheiten).
Die große Anzahl der Shaktis, »Töchter« der im Ga-
nachakra »geopferten« Mudras, weist erneut daraufhin,

416
wie fundamental die Zeitlehre und ihre künstlerische
Darstellung von der Idee des tantrischen Frauenopfers
bestimmt ist. An den Toren, die von dem vierten Seg-
ment aus ins dritte »Mandala des erleuchteten Bewußt-
seins« führen, stoßen wir wieder auf die symbolische
Darstellung von »Opfergöttinnen«. Außerdem leben in
diesem Gebäudekomplex noch weitere 36 Shaktis, wel-
che die Wurzelsilben des Sanskritalphabets und damit
die Grundsteine der Sprache repräsentieren.
Als letztes und äußeres Segment des Mandala-Palastes
betreten wir das »Körpermandala«. Wir treffen dort auf
die 360 Gottheiten der Tage eines Jahres. Auch hier be-
gegnen wir dem Grundmuster des Ganachakra. Es gibt
12 große Lotusse mit jeweils 28 Blütenblättern. Im Zen-
trum jeder Blüte umarmen sich ein Gott und eine Göttin,
um sie herum, gruppiert in drei Reihen, sitzen 28 Göt-
tinnen. Jeder Lotus weist also 30 Gottheiten auf, multi-
pliziert mal zwölf haben wir die 360 Tagesgötter (5 Tage
werden nicht gerechnet). Des weiteren treffen wir im Kör-
permandala auf zwölf Paare aus zornvollen Gottheiten
und 36 Göttinnen der Begierde.
Damit ist jedoch die gesamte Palastanlage noch nicht
beschrieben. Die fünf erwähnten quadratischen Archi-
tektureinheiten werden nämlich noch von sechs Kreis-
segmenten umrandet. In den Halbbögen (Quadranten),
die zwischen dem letzten Quadrat und dem ersten Kreis
entstehen, lagern zahlreiche Glückssymbole wie Räder,
Wunschjuwele, Muscheln, Spiegel und so weiter. Die fünf
folgenden Kreise symbolisieren die Elemente in der Rei-
henfolge Erde, Wasser, Feuer, Wind und Raum. Auf den

417
Kreisen drei und vier befinden sich Friedhöfe, dargestellt
in der Form von Rädern. Sie werden in der Imagination
von zehn schreckenerregenden Dakinis mit ihren Part-
nern bewohnt. Nach buddhistischer Sicht bedeutet die-
ser »Totenring«, daß nur derjenige, welcher seine kör-
perliche Existenz überwunden hat, den Mandala-Palast
betreten darf.
Der fünfte Raumkreis wird durch eine Kette von golde-
nen Vajras dargestellt. Das ganze Mandala ist von einem
Flammenkreis als sechstem Ring umgeben. Dieser soll
nach mehreren Kommentatoren die Weisheit des Bud-
dha repräsentieren, er muß jedoch, wenn wir das Schick-
sal des Sandmandalas weiter verfolgen, mit dem »Wel-
tenfeuer« (Kalagni) assoziiert werden, das am Ende den
Palast der Zeitgötter niederbrennt.
So ästhetisch und friedvoll sich das Sandmandala ei-
nem westlichen Betrachter zeigt, so verbirgt sich doch
dahinter das zu einem Ornament erstarrte Opferritual
des Tantrismus. Alle einzelnen weiblichen Figuren, die
den Zeitpalast bewohnen, ob sie nun Dakinis, Shaktis oder
»Opfergöttinnen« genannt werden, sind die Trägerinnen
der so begehrten »Gynergie«, die sich der Yogi durch seine
sexualmagischen Praktiken angeeignet hat, um sie aus-
schließlich als die Kraftquellen seines androgynen my-
stischen Körpers fließen zu lassen. Der Kalachakra-Palast
ist also ein alchemistisches Labor zur Abzweigung von
Lebensenergien. Am rituellen Schicksal des Sandman-
dalas werden wir unmißverständlich aufzeigen, weshalb
das Sandmandala ein gigantischer Opferaltar ist. Geop-
fert werden nicht nur die Shaktis, sondern auch die eroti-

418
schen Paare, die den Tempel mit ihrer unbekümmerten
Liebesfreude beglücken, ja der Zeitgott (Kalachakra) und
die Zeitgöttin (Vishvamata) selbst. Ihrer aller Untergang
ist von vornherein besiegelt.

Die Herstellung des Kalachakra-Sandmandalas

Die Herstellung des Kalachakra-Sandmandalas ist ein


komplexer und vielschichtiger Vorgang, der von meh-
reren, speziell dafür ausgebildeten Lamas durchgeführt
wird. Die »Baumeister« des Diagramms und der spi-
rituelle Leiter der Kalachakra-lnitiation brauchen nicht
immer identisch zu sein. Sie bilden sozusagen die Hilfs-
kräfte des Tantra-Meisters. Jedoch spricht dieser zu Be-
ginn eine Anrufung des Zeitgottes aus : »Oh, siegrei-
cher Kalachakra, Herr des Wissens, ich verneige mich
vor dem Beschützer und Halter des Mitgefühls. Ich ma-
che hier ein Mandala aus Liebe und Mitgefühl für mei-
ne Schüler und als Opfergabe mit Respekt für Dich. Oh
Kalachakra, bitte sei gnädig und bleibe in meiner Nähe.
Ich, der Tantra-Meister, schaffe dieses Mandala, um die
Befleckungen aller Wesenheiten zu reinigen. Deswegen
sei immer achtsam auf meine Schüler und mich, und
bitte nimm Deine Residenz in diesem Mandala auf.«
(* Bryant, 141)
Das für das Ritual ausgesuchte Gelände unterfällt jetzt
einer genauen Prüfung, der sogenannten »Reinigung des
Platzes«. Mönche untersuchen den Boden, Abmessungen
werden getätigt, Mantren und Sutren werden zitiert. An-

419
schließend kommt es zu einer höchst provokanten Sze-
ne, in der die lokalen Geister und die Erdgöttin mit Ge-
walt gezwungen werden, dem Bau des Mandala zuzu-
stimmen.
Einer der Lamas nimmt zu diesem Zweck die Gestalt
von Vajravega an, das heißt, er imaginiert sich selbst als
diese Gottheit. Vajravega ist von blauer Farbe, besitzt drei
Hälse und 24 Hände. Als Bekleidung trägt er einen Tiger-
rock, geschmückt mit Schlangen und Knochen. Er gilt als
die schreckeneregende Emanation des Zeitgottes Kalacha-
kra. Aus seinem abgründigen Herzen kann er 60 zornvolle
Schutzgottheiten hervorrufen, die dann durch seine Ohren,
Nasenlöcher, Augen, Mund, die Harnröhre, den Anus und
aus einer Scheitelöffnung im Kopf hervorstürmen. Dazu
zählen Zombies, Vampire und tierköpfige Dakinis.
Diese Ungeheuer ziehen jetzt – in der Vorstellung der
Lamas, die das Ritual durchführen – die hindernden
Lokalgeister mit eisernen Haken herbei und nageln sie,
nachdem sie in Ketten gelegt wurden, mit Ritualdolchen
in zehn Richtungen fest. In jeden einzelnen dieser Dolche
(Phurbu) werden obendrein noch zehn zornvolle Gotthei-
ten hineinprojiziert. Es gibt ernst zu nehmende Hinwei-
se darauf, daß bei der Durchführung des Kalachakra-Ri-
tuals nicht nur die Ortsgeister, sondern ebenso die Erd-
mutter (Srinmo) das angenagelte Opfer darstellen. Dieser
Mythos von der Annagelung der Srinmo hat beim Bau ti-
betischer Tempel, die ja nichts anders darstellen als drei-
dimensionale Mandalas eine zentrale »nationale« Rolle
gespielt. Wir kommen im zweiten Teil unserer Studie
ausführlich darauf zu sprechen.

420
Vajravega, die zornvolle Emanation
der Kalachakra-Gottheit

Nun umkreist der Tantra-Meister den Mandalaplatz


feierlich im Uhrzeigersinn und besprengt ihn mit ver-
schiedenen Substanzen und Weihwassern. Daraufhin
stellen sich die an dem Ritual beteiligten Mönche im
Geiste vor, daß dieser Ort mit zahlreichen kleinen Vaj-
ras bedeckt sei.

421
Anschließend gibt es eine signifikante Machtdemon-
stration : Der Tantra-Meister setzt sich alleine in das Zen-
trum der Mandalafläche, das Gesicht nach Osten gewen-
det, und spricht die Worte : »Ich werde an diesem Ort
ein Mandala errichten in der Art, wie ich es vorgestellt
habe.« (* Brauen, 77) Durch diesen Besetzungsakt gibt
er schon zu Beginn unmißverständlich bekannt, wer der
Herr des rituellen Geschehens ist. Es folgen weitere litur-
gische Handlungen.
Erneut evoziert der Tantra-Meister die Schreckensgott-
heit Vajravega und vertreibt noch einmal mögliche Stör-
geister aus dem Mandalagelände. Er ist so aufgefüllt mit
zornvollen Gottheiten, daß selbst aus seinen Fußsohlen
Schreckgestalten, die das Mandala schützen sollen, ema-
nieren. Anschließend wird der Platz von den Symbolen
der fünf Dhyanibuddhas in Besitz genommen. Der Lama
legt einen Lotus, ein Schwert, ein Wunschjuwel, ein Rad
und in der Mitte einen Vajra auf die Tischplatte. Der
zentral plazierte »Donnerkeil« demonstriert erneut die
männliche Herrschaft über die Erde.
Dieses patriarchale Herrschaftsverhältnis gegenüber
der Erde bestand in der Geschichte des Buddhismus nicht
immer. In einer berühmten Szene aus dem Leben des hi-
storischen Buddha ruft dieser die Erde als Zeugin seiner
Erleuchtung an, indem er sie mit seiner Rechten berührt
(Bhumisparsha Mudra). Der tantrische Buddhismus hat
in seinen Buddhalegenden diese Szene aufbewahrt, aber
durch einen kleinen Unterschied ergänzt, denn Shakya-
muni vollzieht hier die Geste der Erdberührung mit ei-
nem Vajra, dem Szepter phallischer Macht. »Dieses In-

422
strument ist unerläßlich für die Liturgie des Großen
Pfades«, schreibt Giuseppe Tucci. »Die vom Vajra ver-
wandelte Erde wird zum Diamanten.« (* Tucci, 1982, 97)
So spirituell wertvoll einem auch der Diamant als Sym-
bol erscheinen mag, er ist nicht nur ein Bild der Rein-
heit, sondern auch eine Metapher der Sterilität. Mit Vaj-
ra und Erde stehen sich der Geist und das Leben oder
– wie es der amerikanische Buddhist Ken Wilber aus-
drücken würde – die »Noossphäre« (das Reich des Gei-
stes) und die »Biosphäre« (das Reich der Natur) gegen-
über. Dadurch, daß die Erde durch die tantrische Geste
des Buddha in einen Diamanten verwandelt wird, wird
symbolisch die Natur in Reinen Geist und die Frau in
einen Mann verwandelt.
Aber kehren wir zu dem Skript zurück, das die Erstel-
lung des Sandmandalas beschreibt. Auf die Fixierung der
Erdgeister beziehungsweise der Erdmutter folgt die »Pro-
zession der zehn Vasen«, die mit Nektaren gefüllt sind. Sie
werden von den Mönchen um den Ritualtisch, auf dem
das Sandmandala errichtet werden soll, herumgetragen.
Wiederum die zehn ! Die zehn Vasen, die zehn Mächte,
die zehn Winde, die zehn Shaktis – sie alle sind Varia-
tionen der zehn Mudras, welche an der Höchsten Ein-
weihung des Ganachakra-Rituals teilnehmen und dort
»geopfert« werden.
Alle ihre Energien strömen in Vishvamata hinein, die
Hauptgefährtin der Kalachakra-Gottheit. Die Zeitgöt-
tin ist durch eine Meermuschel symbolisiert, welche die
Mönche in die Mitte des Ritualtisches legen und die mit
der Essenz aus allen zehn Gefäßen (Vasen) gefüllt sein

423
soll. Die Muschel repräsentiert hier das weibliche Ele-
ment in seiner höchsten Konzentration.
Der Tantra-Meister bindet nun einen goldenen Vaj-
ra an eine Schnur. Das andere Ende der Schnur führt
er an sein Herz und legt dann den »Donnerkeil« mit
Nachdruck auf die zentrale Muschel. Unmißverständli-
cher ist die Oberherrschaft des Männlichen (Vajra) über
das Weibliche (die Muschel) nicht zu demonstrieren. Spä-
ter werden alle Ritualgegenstände wieder von dem Man-
dala entfernt.
Es ist nun die Zeit gekommen, um mit der Vorzeich-
nung des Sandmandalas anzufangen. Die Mönche be-
ginnen mit dem »Zupfen der Weisheitsschnüre«. Dabei
handelt es sich um fünf verschiedene Fäden, welche die
fünf Dhyanibuddhas mit ihren Gefährtinnen symboli-
sieren. Durch »rituelles Zupfen« dieser Fäden wird die
Mandalafläche – so steht es in den Texten – von diesen
fünf Höchsten Wesen in Besitz genommen. 27
Nach vielen Rezitationen fangen nun die Mönche mit
der eigentlichen künstlerischen Arbeit an, umstellt von
zahlreichen Gefäßen, die bunten Sand enthalten. Mit ei-
ner Art Trichter wird dieser vorsichtig auf die Vorzeich-
nung gebracht. Dies setzt eine äußerste Präzision voraus,
da der Sand fadendünne Linien bilden muß und selbst

27 Die eigentliche Markierung des Diagramms geschieht jedoch


durch eine mit Kalkpulver bestrichene Kordel, die in bestimm-
te Richtungen auf den Ritualtisch gelegt wird. Nach einem kur-
zen Zupfen dieser Kordel überträgt sich das Pulver auf die Fläche
und bildet dort eine Linie. Alle Linien zusammen skizzieren das
Grundmuster des Sandmandalas.

424
einige figürliche Zeichnungen aus Sand gefertigt werden.
Man beginnt von innen nach außen, das heißt man fängt
damit an, das Zentrum des Mandala zu erstellen, und
arbeitet sich Schritt um Schritt bis zur Peripherie durch.
Es wird noch weitere fünf Tage dauern, bis das Kunst-
werk beendet ist.
Das Opus wird am Ende von zehn ( !) Ritualdolchen
(Phurbu) als Schutzsymbolen umstellt. Ebenso werden
zehn ( !) Vasen um das Mandala gruppiert, welche die
zehn Shaktis darstellen. Da im Kalachakra-Tantra alle
Zehnersymbole mit den Mudras (Shaktis, Dakinis, Yo-
ginis) des oben beschriebenen Ganachakra-Rituals in ei-
nem homologen Zusammenhang stehen, ist das Mandala
mit seinen zahlreichen Zehnersequenzen – wir wieder-
holen es – eine ornamentale Demonstration des »tantri-
schen Frauenopfers«.
Nach der Plazierung von Vasen und Dolchen verdeckt
man das ganze Kunstwerk hinter einem Vorhang, so als
solle das Opferszenario, das sich hinter dem sakralen
Oeuvre verbirgt, verhüllt werden. Zum Abschluß führen
die Mönche einen Tanz auf. Wer bisher noch Zweifel dar-
an hatte, ob es sich bei dem Kalachakra-Sandmandala
um die bildliche Darstellung eines Opferrituals handelt,
müßte eigentlich durch den Namen dieses Tanzes über-
zeugt sein. Er heißt »Ritualtanz der Opfergöttinnen«.

425
Die Zerstörung des Mandala

Das Sandmandala begleitet die sieben unteren Stufen der


öffentlichen Kalachakra-Einweihung als das stumme
und irdische Abbild eines transzendenten tantrischen
Götterpalastes. Es soll dem Initianten dabei helfen, in
seiner Imagination eine entsprechende Architektur mit
all ihren Bewohnern aufzubauen und ihr dadurch eine
geistige Existenz zu geben. Auch die Imaginationsar-
beit fängt wie die reale Herstellung mit dem Zentrum
des Mandala an, in dem sich Kalachakra und Vishva-
mata vereinigen. Von dort ausgehend baut der Initiant
in seiner Vorstellung Stufe um Stufe den ganzen Zeitpa-
last mit seinen 722 Göttern auf. Er geht also vom Mittel-
punkt des Heiligtums aus, imaginiert anschließend je-
des folgende Mandalasegment und endet bei der Peri-
pherie des Flammenrings, der die gesamte Architektur
umlodert.
Während dieser imaginativen Konstruktion des Man-
dala wird der Initiant plötzlich dazu aufgefordert, sich
eine äußerst rätselhafte Szene vorzustellen, die wir uns
näher ansehen wollen : »Aus der Silbe HUM« – heißt es im
Kalachakra-Tantra – »im Herzen des Meditierenden (In-
itianten) emaniert Vajravega, die zornvolle Form von Ka-
lachakra, grinsend und mit knirschenden Zähnen steht
Vajravega auf einem von einem Fabelwesen gezogenen
Wagen ; mit einem Haken stößt er in den Nabel von Ka-
lachakra, bindet dessen Hände, bedroht ihn mit Waffen
und schleppt ihn vor den Meditierenden, in dessen Her-
zen er sich schließlich auflöst.« (* Brauen, 114)

426
Die Zerstörung des Kalachakra-Sandmandalas
durch einen Vajra

Was geschieht ? Vajravega, die zornvolle Emanation des


Zeitgottes, wendet sich auf einmal gegen seinen eigenen
»Emanationsvater« Kalachakra und zerrt ihn mit bruta-
ler Gewalt vor den meditierenden Adepten. Es wird also
in dieser Szene ein Unterschied zwischen Kalachakra
und Vajravega gemacht. Ist sie – wie das Martin Brau-
en vermutet, als die symbolische Wiederholung des Ge-

427
burtsaktes zu interpretieren, der ja auch mit Schmerzen
verbunden ist ?
Eine solche Deutung erscheint uns nicht überzeugend.
Es liegt vielmehr näher, in der Vajravega-Gestah. eine et-
was undurchsichtige Variante des Dunkeldämons Rahu
zu erkennen, der im Kalachakra-Tantra Sonne und Mond
vernichtet, um sich an deren Stelle die Macht über die Zeit
anzumaßen. Indirekt gesteht das Brauen auch zu, wenn er
das aggressive Auftreten Vajravegas mit der Aktivierung
des »mittleren Kanals« (Avadhuti) im mystischen Leib
des Yogis und der damit verbundenen Vernichtung der
beiden Energieflüsse (Sonne und Mond) vergleicht. Der-
selbe Vorgang wird ebenso als die Hauptaufgabe Rahus
angesehen, und der mittlere Kanal trägt – wie wir oben
beschrieben haben – ebenfalls den Namen des dunk-
len Planeten (Rahu). Wie dem auch sei, der destruktive
Auftritt Vajravegas kündigt schon das Schicksal des ge-
samten Sandmandalas und des hinter ihm verborgenen
Zeitpalastes an.
Während der sieben unteren Weihen des Kalachakra-
Tantras bleibt das Mandala-Kunstwerk erhalten. Am
Ende der ganzen Performance spricht der Tantra-Meister
mehrere Gebete und bestimmte Mantren. Dann umkreist
er das Sandmandala, nimmt mit seinen Fingern die 722
Götter, die darauf in der Form von Samenkörnern ver-
streut waren, heraus und legt sie auf ein Tablett. Gleich-
zeitig stellt er sich vor, daß diese in sein Herz eingehen.
Er absorbiert also alle Zeitenergien, transformiert sie zu
Aspekten seines eigenen mystischen Leibes. Dann ergreift
er einen Vajra, Symbol seiner diamantenen Männlich-

428
keit, und beginnt damit den sandigen »Götterpalast« zu
zerstören. Das beeindruckende Oeuvre löst sich in bun-
te Häufchen auf und wird anschließend zusammenge-
fegt. Mönche schütten das farbige Gemisch in eine Vase.
Ein wenig davon streut sich der Meister auf seinen Kopf,
eine weitere Miniportion gibt er seinen Schülern. Mit Ge-
beten und Gesängen trägt eine Prozession den sandigen
Inhalt der Vase an einen Fluß und überreicht ihn dort
den Nagas (Schlangengöttern) als Geschenk.
Aber eine wichtige Geste fehlt noch. Der Tantra-Meister
kehrt zum Platz des Mandala zurück und wäscht die auf
dem Platz verbliebenen weißen Grundlinien mit Wasser
ab. Dann nimmt er die zehn Ritualdolche weg. Mit dem
Gesicht nach Osten setzt er sich nun auf den gesäuber-
ten Mandalaplatz, Vajra und Glocke in den Händen. Er
ist nun der absolute Herr über beide Geschlechter (Ka-
lachakra und Vishvamata), über die Zeit und über das
Universum.
Gewöhnlich sieht man in dieser Zerstörung des Sand-
mandalas einen Akt, der auf die Vergänglichkeit allen
Seins aufmerksam machen soll. Aber man vergißt dabei,
daß der Zeitpalast nur als eine äußere Konstruktion ver-
nichtet wird und daß er im Inneren des Höchsten Tantra-
Meisters (als ADI BUDDHA) weiterhin fortexistiert. In
dessen mystischem Leib leben Kalachakra und Vishva-
mata als die beiden polaren Zeitströme weiter, wenn auch
unter seiner absoluten Kontrolle. Der Yogi (ADI BUD-
DHA) selbst hat sich am Ende des Rituals in einen Göt-
terpalast verwandelt. Denn sein mikrokosmischer Leib ist
mit dem Kalachara-Palast identisch geworden. Alle Sym-

429
bole, die wir dort angetroffen haben, können wir jetzt als
Kräfte in seinem Energiekörper wiederfinden.

Der Weltenherrscher : Die politisch-soziale


Machtausübung des ADI BUDDHA

In seiner politischen Funktion ist der ADI BUDDHA


ein Weltenherrscher, ein »universeller Souverän«, ein
»Weltenkönig« (dominus mundi), ein »Kaiser des Uni-
versums«, ein Chakravartin.
Die frühen Buddhisten machten noch einen Unter-
schied zwischen einem Buddha und einem Chakravar-
tin. So lesen wir in der Ursprungslegende, wie ein Hei-
liger dem Vater Shakyamunis prophezeite, seine Gattin
Maya werde demnächst einen Erleuchteten (Buddha) oder
einen Weltenherrscher (Chakravartin) gebären, je nach
dem, wofür sich dieser Sohn später als junger Mann ent-
scheide. Gautama wählte den Weg des »spirituellen« Bud-
dha und nicht den des »weltlichen« Chakravartin, der in
der Vorstellung seiner Zeit neben seinen politischen Auf-
gaben auch mit militärischen betraut war.
Im Mahayana-Buddhismus schwindet mehr und mehr
diese Unterscheidung zwischen einem Dominus Mun-
di und einem Erleuchtungswesen, doch trägt der Cha-
kravartin ausschließlich friedliche Züge. Alle seine »Er-
oberungszüge« – so der Gelehrte Vasubandhu (4./5. Jh.
n. Chr.) – sind gewaltlos. Die Potentaten der Welt un-
terwerfen sich ihm freiwillig und ohne Widerstand auf-
grund seiner vereinnahmenden Ausstrahlung. Sie ver-

430
neigen sich vor ihm und sprechen ; »Sei willkommen, o
mächtiger König. Alles gehört Dir, o mächtiger König !«
(* Armelin, 21) Meist inkarniert er als ein Avatar, als die
Wiedergeburt eines göttlichen Erlösers, der die Mensch-
heit aus ihrem irdischen Elend befreien und in das Pa-
radies führen soll.
Im Vajrayana-Buddhismus, insbesondere im Kalacha-
kra-Tantra, ist der Chakravartin das erfolgreiche Resul-
tat der von uns oben beschriebenen sexualmagischen Ri-
ten. Aus dem »asozialen« Yogi, der sich während seiner
Initiationszeit wie ein Outlaw auf Friedhöfen und unter
Prostituierten herumtrieb, ist ein glänzender König ge-
worden, dessen Befehl Nationen gehorchen. Das Zeittan-
tra erweist sich deswegen als ein Mittel, die Welt nicht
nur spirituell, sondern auch machtpolitisch zu »erobern«,
schließlich umfaßt die imperiale Idee vom Chakravartin
das gesamte Universum. Ins Maßlose wachsende Ener-
gien werden hier in einem einzigen Wesen (dem »politi-
schen« ADI BUDDHA) akkumuliert.
Der eminent politische Charakter des indischen Cha-
kravartin machte ihn zu einem Ideal des tibetischen La-
maismus, das sich jedoch erst in der Person des V Dalai
Lama (1617–1682) verwirklichen sollte. Bevor der »Gro-
ße Fünfte« den Thron bestieg, gestanden die Erz-Äbte
der einzelnen lamaistischen Sekten – ob freiwillig oder
aus Notwendigkeit, das mag dahingestellt bleiben – den
Titel eines Weltenherrschers nur den mächtigen chine-
sischen Kaisern oder je nach politischer Lage einzelnen
mongolischen Khanen zu. Für sich beanspruchten die
tibetischen Hierarchen »nur« die Rolle eines Buddhas,

431
eines Erleuchtungswesens, das sie jedoch höher einstuf-
ten als den Chakravartin.
Auch der V Dalai Lama, der zum ersten Mal in der Ge-
schichte Tibets in seiner Person die weltliche und spiri-
tuelle Macht vereinte, war noch vorsichtig damit, sich öf-
fentlich als Chakravartin zu bezeichnen. Das hätte seine
mongolischen Verbündeten und den »Herrscher auf dem
Drachenthron« (den Kaiser Chinas) provozieren können.
Solche Zurückhaltungen zählten zur Diplomatie des alten
Tibet ; oder aber, da die Dalai Lamas das höchste Symbol
der universellen Herrschaft – das »goldene Rad« – bei
ihrer Inthronisation überreicht bekamen, waren sie die
»wahren«, wenn auch verborgenen Weltenherrscher, zu-
mindest in der Vorstellung des tibetischen Klerus. Den
weltlichen Potentaten aus den Nachbarstaaten kam al-
lenfalls die Rolle eines Beschützers zu. Ob solche kosmo-
kratischen Bilder immer noch die Imagination des jetzi-
gen XIV Dalai Lama erregen, darauf werden wir im zwei-
ten Teil unserer Studie ausführlich zu sprechen kommen.
Auf jeden Fall beinhaltet das von ihm ins Zentrum seiner
Ritualpolitik gestellte Kalachakra-Tantra den initiatori-
schen Stufenweg, an dessen Ende sich der Löwenthron
eines Chakravartin erhebt.
Das »goldenes Rad« (Chakra) gilt als das Wappen des
Weltenherrschers und brachte ihm seinen Namen ein, der,
aus dem Sanskrit übersetzt, »Raddreher« lautet. Schon
bei der Geburt trägt ein Chakravartin als den anschau-
lichen Beweis für seine Souveränität ein Signum in der
Form eines Rades auf Händen und Füßen. Ursprüng-
lich verstand man im Buddhismus unter dem Radsym-

432
bol die »Lehre« (Dharma), und der erste »Raddreher« war
kein geringerer als der Buddha selbst, der das »Rad des
Dharma« in Bewegung setzte, indem er seine Wahrhei-
ten unter den Menschen und unter anderen Lebewesen
verbreitete. Später, im Mahayana-Buddhismus, zeigt das
goldene Rad schon den »großen Kreis der Macht und Re-
gierungsgewalt« an. (* Simpson, 45) Der Chakravartin
wurde als »König des Goldenen Rades« bezeichnet. Ein
Titel, der dem »Friedenskaiser« Ashoka (273–236 v. Chr.)
zukam, nachdem er Indien geeinigt und mit großem Er-
folg buddhisiert hatte ; aber auch ein Name, den der Da-
lai Lama annimmt, wenn ihm bei seiner Inthronisation
das »Goldrad« übergeben wird.
Ein buddhistischer Weltenherrscher ergreift das »Rad
des Befehls«, Symbol seiner absoluten Kommandogewalt.
In den alten Texten steht die Betonung seiner militäri-
schen Funktionen an erster Stelle. Er ist der oberste Be-
fehlshaber seiner aufs beste ausgerüsteten Streitkräfte. Als
»König und Politiker« ist der Chakravartin ein Souverän,
der über die Staaten der Erde herrscht. Ihm unterstehen
die Führer der Stämme und Nationen. Sein Beinamen
lautet »einer, der nach eigenem Willen regiert, selbst die
Königreiche anderer Könige«. (* Armelin, 8) Man nennt
ihn deswegen auch den »König der Könige«. Seine Macht-
befugnisse erstrecken sich nicht nur über Menschen, son-
dern ebenso über Buddhas, Bodhisattvas, Zornesköni-
ge, Götter, Dämonen, Nagas (Schlangengötter), männ-
liche und weibliche Gottheiten, Tiere und Geister. Von
seinen Anhängern verlangt er leidenschaftliche Hinga-
be bis hin zur Ekstase.

433
Die sieben »wertvollen Schätze«, welche einem Cha-
kravartin zur Verfügung stehen, sind das Rad (1), das
Wunschjuwel (2), das Wunderpferd (3), der Elefant (4),
der Minister (5), der General (6) und die Prinzessin (7).
Manchmal werden auch der Richter und der Finanzmi-
nister genannt. 28

28 Wo sein Goldenes Rad (1) am Horizont erscheint, verbreitet


sich die buddhistische Lehre. »Dieses Rad hat Tausend Speichen.
Der Monarch, der es besitzt, wird genannt der ›Heilige König,
der das Rad in Bewegung setzt‹, denn von dem Moment an, wo
er es besitzt, dreht sich das Rad und durchläuft das Universum
und gehorcht den Gedanken des Königs.« (* Simpson, 269) Dank
dem Wunschjuwel (2) braucht der Weltenherrscher nur die Hand
zu heben, und schon regnet es Goldmünzen. (* Coomaraswamy,
1979, fig. 19) Das Wunderpferd (3) bringt ihn überall in Windes-
eile hin. Der Elefant (4) ist gehorsam und repräsentiert die Ar-
beitskraft der Untertanen. Der Minister (5) kennt keine Hinter-
gedanken und steht mit Rat und Tat zur Seite. Der General (6) hat
die Macht, alle Feinde zu besiegen. Der Körper der Prinzessin (7)
riecht nach Sandelholz, und aus ihrem Mund kommt der Duft
des blauen Lotus. Sie erfüllt die Funktionen einer königlichen
Mutter : »Der Kontakt mit ihr läßt keine Leidenschaften aufkom-
men ; die Menschen betrachten sie als ihre Mutter oder Schwester
… Sie gebiert viele Söhne ( !). Wenn ihr Gatte abwesend ist, bleibt
sie keusch und wird nicht durch das Vergnügen der fünf Sinne
verführt.« (* Tayé, 136) – Bei den folgenden sieben »halb-wertvol-
len« Schätzen wird noch deutlicher, wie sich die magisch-politi-
schen Objets des Chakravartin mit denen der tantrischen Maha
Siddhas (Großzauberer) decken : Das Schwert (1), das die Gesetze
des Königs verteidigt ; ein Zelt (2), das jeglichen Witterungen wi-
dersteht ; ein Palast (3) voller Göttinnen, welche Musik machen ;
ein Gewand (4), undurchdringlich für jede Waffe und immun
gegen Feuer ; ein Paradiesgarten (5) voller Wunderpflanzen und
Tiere ; eine Schlafstelle (6), die alle falschen Gefühle und Träume
verscheucht sowie ein klares Bewußtsein hervorbringt ; und ein
Paar Siebenmeilenstiefel (7), mit denen jeder Punkt des Univer-
sums blitzschnell erreicht werden kann.

434
Über die räumliche Machtentfaltung des Chakravar-
tin gibt es je nach Text unterschiedliche Meinungen. Mal
beherrscht er »nur« unsere Erde, mal wie im Kalacha-
kra-Tantra das gesamte Universum, mit all seinen Son-
nen und Planeten. Dieses wird – wie wir schon gezeigt
haben – im Abhidharmakosha, der buddhistischen Kos-
mologie, als ein gigantisches Rad beschrieben mit dem
Weltenberg Meru als Mittelachse. Den Umkreis bilden
unübersteigbare Bergketten aus purem Eisen, daher der
Name dieses kosmischen Models – Chakravala, das heißt
Eisenrad. Der Chakravartin ist also der Souverän über
ein »Eisenrad« von astronomischer Ausdehnung.
Zeitlich nennen die buddhistischen Schriften unter-
schiedliche Regierungsdauern des Chakravartin. In ei-
nem Text trägt der Höchste Regent je nach Äon ein gol-
denes, silbernes, kupfernes oder eisernes Rad als Herr-
schaftssymbol in seinen Händen. (* Simpson, 270) Das
entspricht der indoeuropäischen Einteilung der Weltzeit-
alter, wobei diese sich jeweils am Ende verkürzen und
»verschlimmern«. Weltenherrscher des goldenen Zeital-
ters regieren deswegen viele Millionen Jahre länger als
der Herrscher der eisernen Zeit. Der Chakravartin re-
präsentiert auch die Kalachakra-Gottheit, er ist der Hal-
ter des universellen »Zeitrades« und dadurch der »Herr
der Geschichte«.
Als Gesetzgeber wacht er darüber, daß die menschli-
chen Normen mit den göttlichen, sprich buddhokrati-
schen, übereinstimmen. »Er selbst gilt als die inkarnierte
Darstellung des höchsten universellen Gesetzes« (* Coo-
maraswamy, 1978, 13, Fn. 14a), schreibt der Religions-

435
wissenschaftler Coomaraswamy. Somit regiert der Wel-
tenherrscher ebenso als »Hüter« der kosmischen wie der
sozial-politischen Ordnung.
Als universeller Guru setzt er das »Rad der Lehre«
(Dharmachakra) in Gang in Erinnerung an die berühm-
te Predigt des historischen Buddha im Hirschpark von
Benares, wo dieser »das Rad des Wortes zum ersten Mal
gedreht hat.« (* Coomaraswamy, 1979, 25) Der Chakra-
vartin ist folglich der höchste Weltenlehrer und hält des-
wegen auch das »Rad der Wahrheit« in Händen. Als kos-
mischer »Raddreher« hat er das »Rad des Lebens und
des Todes« überwunden, in dem der nicht-erleuchtete
Mensch noch umherirren muß.
Im revolutionären Milieu der Tantras (seit dem 4. Jh.
n. Chr.) wurden die aus dem Hinduismus bekannten
politisch-kriegerischen Aspekte des »Raddrehers« wie-
der aktuell und erreichten dann – wie wir noch sehen
werden – ihre aggressivste Form im Shambhala-Mythos
des Kalachakra-Tantra. Der Chakravartin führt jetzt ei-
nen »gerechten« Krieg, ist sowohl ein Buddha (zumin-
dest ein Bodhisattva) als auch ein glorreicher Armee-
führer in einer einzigen Person. Der »Herr des Rades«
trägt also eindeutig militärpolitische Züge. Als Signa-
tur der Herrschaft symbolisiert das »Rad« auch seinen
Streitwagen, mit dem er eine unbesiegbare Armee an-
führt. Diese erobert und unterwirft den gesamten Erd-
kreis und errichtet eine universelle Buddhokratie. Der
indische Religionswissenschaftler Coomaraswamy ver-
weist auch auf die zerstörerische Kraft des Rades. Wie
der Diskus des hinduistischen Gottes Vishnu kann es

436
den Soldaten ganzer Armeen in Sekundenschnelle den
Kopf abrasieren.
Zerstörung und Wiederauferstehung sind also gleicher-
maßen mit der Figur des Chakravartins angesprochen.
Er erscheint deswegen auch an der Schnittstelle zweier
Zeitalter (des eisernen und des darauffolgenden goldenen)
und repräsentiert sowohl den Untergang des alten wie die
Entstehung des neuen Äons. Dies gibt ihm ausgeprägte
apokalyptische und messianische Züge. Er inkarniert so-
wohl als Weltenzerstörer wie als Weltenerlöser, als uni-
verseller Vernichter und als universeller Heiland.

Profane und geistige Macht

Indiens Geschichte wurde ebenso wie die des mittel-


alterlichen Europas von dem Streit zwischen spiritu-
eller und weltlicher Macht geprägt. »Papst« und »Kai-
ser« standen sich auch auf dem orientalischen Subkon-
tinent in der Gestalt von Brahmanen und von Königen
gegenüber, der Kampf zwischen Sacerdotium (Priester-
herrschaft) und Regnum (Königsherrschaft) war auch
im alten Orient ein politisches Dauerthema. Interessan-
terweise hat man diese Auseinandersetzung sowohl im
Abendland als auch in Asien als einen Geschlechterkon-
flikt angesehen und die zwei Geschlechterrollen auf die
beiden Machtprätendenten übertragen. Mal repräsen-
tierte der König das männliche Prinzip und der Priester
das weibliche, mal war es umgekehrt, je nach dem, wel-
che politischen Fraktionen gerade das Sagen hatten.

437
Dieses alte Thema vom »politischen Geschlechter-
kampf« wurde in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts
von der intellektuellen Elite des europäischen Faschis-
mus aufgegriffen. Die Faschisten hatten ein ideologisches
Interesse daran, dem Kriegertypus und damit dem Kö-
nigtum die erste Rolle im Staat und in der Gesellschaft
einzuräumen. Es war eine damals weit verbreitete These,
daß die heuchlerische und listige Priesterkaste seit Jahr-
hunderten die Könige am Ausüben ihrer Herrschaft ge-
hindert hätten, um selbst die Macht an sich zu reißen.
Solche kriegerfreundlichen Geschichtsbilder bestimm-
ten den nationalsozialistischen Mythologen Alfred Ro-
senberg ebenso wie den Italiener Julius Evola, der zeit-
weise als »spiritueller« Berater von Mussolini arbeitete.
Beide sahen selbstverständlich im »König« das männli-
che Prinzip und im »Priester« die minderwertige weibli-
che Gegenkraft am Werke. »Dem Königtum kommt der
Vorrang gegenüber dem Priestertum zu, genauso, wie in
der Symbolik die Sonne gegenüber dem Mond und der
Mann gegenüber der Frau den Vorrang hat«, schrieb Evo-
la. (Evola, 1982, loi)
Ihm antwortete der indische Religionsphilosoph Anan-
da Coomaraswami mit einer Gegenthese : Ursprünglich
sei der König »fraglos weiblich« und der Priester männ-
lich gewesen : »Das Sacerdotium und der Mann ist das
intellektuelle –, das Regnum und die Frau das aktive Ele-
ment, was wie in einer Symphonie zusammenpassen soll-
te.« (* Coomaraswamy, 1978, 6) Wir finden also hier die
in Indien weit verbreitete Vorstellung, daß das Weibliche
aktiv, das Männliche passiv oder kontemplativ ist, und

438
daß durch Meditation (etwa durch den Stillstand des
Atems) Herrschaft ausgeübt werden kann. Damit sind
wir mit der Ansicht konfrontiert, daß die Yogapraxis auf
die Politik übertragbar sei. Eine solche Vorstellung ist in
der Tat charakteristisch für den Hinduismus. Im tantri-
schen Buddhismus kehrt sich die Zuordnung jedoch wie
im Abendland um : Die Göttin ist passiv und der Gott
aktiv. Deswegen fühlte sich der Faschist Julius Evola, der
dem heroisch-männlichen Prinzip den Königsthron zu-
gesteht, weit mehr vom buddhistischen Vajrayana ange-
zogen als von den hinduistischen Tantras.
Wenn sich aber das Sacerdotium mit dem Regnum in
einer Person wie im Falle des Dalai Lama vereinigt, dann
feiern beide eine »mystische Hochzeit«. Die Mächte der
zwei Kräfte fließen in einem großen Strom zusammen,
aus dem ein universeller »Raddreher«, ein Chakravar-
tin entsteht, der das männliche und weibliche Prinzip,
die weltliche und priesterliche Macht in sich verdich-
tet hat und deswegen zur höchsten Herrschaft befähigt
ist. Ananda Coomaraswamy hat diesen außergewöhnli-
chen Fall mit bewegten Worten beschrieben : »Nur wenn
der Priester und der König, die menschlichen Vertre-
ter von Himmel und Erde, Gott und sein Königreich ›in
der Durchführung eines Ritus vereinigt sind‹, nur wenn
›Dein Wille auf der Erde ebenso befolgt wird wie im Him-
mel‹, dann erst existiert beides, ein Nehmen und ein Ge-
ben, keine Gleichwertigkeit, sondern in der Tat eine Re-
ziprozität. Friede und Wohlstand, Lebensfülle in jedem
Sinn des Wortes sind die Frucht dieser ›Heirat‹ von der
weltlichen Macht mit der spirituellen Autorität, gerade

439
weil sie die Heirat einer ›Frau‹ mit einem ›Mann‹ auf wel-
cher Ebene auch immer ausmacht … Denn wahrhaftig,
wenn eine Hochzeit erfolgreich ist‹, dann erfüllt jeder
den Wunsch des anderen ; und im Fall der göttlichen
Hochzeit‹ zwischen Sacerdotium und Regnum, ob in der
Außenwelt oder in dir selbst, sind die Wünsche beider
Partner für das ›Beste‹, jetzt und später.« (* Coomaras-
wamy, 1978, 69) Die Hochzeit zwischen dem männlichen
und dem weiblichen Prinzip, die hier das Fundament für
die absolute politische Macht darstellt, verweist auf den
Chakravartin als Androgyn, einen doppelgeschlechtli-
chen Übermenschen.
Weder Coomaraswamy noch Evola scheinen in ihren
Theorien die geringsten Bedenken damit zu haben, die
weiblichen Energien männlichen Personen und Institu-
tionen zuzugestehen. Deswegen wird in den Geschichts-
deutungen dieser beiden Autoren die patriarchale Macht-
vision des Tantrismus so offenkundig wie sonst nur in
den tibetischen Originaltexten. Da sich für Coomaras-
wamy das Weibliche im »König« inkarniert und da die-
ses niemals alleine herrschen darf, gilt für den Religions-
philosophen die autonome Macht der Könige als der Ur-
sprung des Bösen : »Aber, wenn auch der König, der mit
den höheren Mächten kooperiert und an sie angeschlos-
sen ist, als der Vater seines Volkes gilt, so ist es nicht we-
niger wahr, daß satanische und tödliche Möglichkeiten in
der weltlichen Macht liegen : wenn das Regnum seine pro-
fanen Absichten verfolgt, wenn der weibliche ( !) Teil der
Verwaltung auf seiner Unabhängigkeit besteht, wenn die
Macht sich erlaubt, ohne Respekt für das Recht zu regie-

440
ren, wenn die ›Frau‹ ihre ›Rechte‹ fordert ( !), dann wer-
den diese tödlichen Möglichkeiten realisiert ; der König
und das Königreich, die Familie und das Haus, werden
gleichermaßen zerstört, und die Unordnung gewinnt die
Oberhand. Es war durch den Anspruch auf seine Unab-
hängigkeit und die Forderung nach ›gleichen Rechtem,
daß Luzifer kopfüber aus dem Himmel fiel und Satan
wurde, der ›Feind‹.« (* Coomaraswamy, 1978, 69) Diese
Gleichstellung des Weiblichen mit dem Bösen schlecht-
hin ist hier nicht weniger deutlich und kraß wie bei dem
Faschisten Julius Evola, der unser »unglückliches« Zeit-
alter als das Ergebnis einer »Gynokratie« interpretiert,
welche von den Priestern der verschiedenen Religionen
vorbereitet wurde.
Daß die Rolle des Chakravartins ausschließlich den
Männern vorbehalten ist, muß nach dem vorher Gesag-
ten als selbstverständlich angenommen werden. Schon
in einem sehr frühen buddhistischen Text heißt es kurz
und lapidar :

Unmöglich ist es und kann nicht sein, / daß das Weib ei-
nen Heiligen, vollkommenen Erwachten / oder einen Kö-
nig Erderoberer (Chakravartin) darstellen mag : / ein sol-
cher Fall kommt nicht vor.
(* Herrmann-Pfand, 172)
5. DER AGGRESSIVE MYTHOS VON
SHAMBHALA : KRIEG ZWISCHEN
BUDDHA UND ALLAH

Die Rolle des ADI BUDDHA beziehungsweise des Cha-


kravartin ist im Kalachakra-Tantra nicht nur in ihrer
Allgemeinheit angesprochen, sondern das Zeittantra
bietet mit dem »Mythos von Shambhala« eine konkre-
te politische Programmatik an. In dieser werden Aussa-
gen über die Machtbefugnisse des Weltmonarchen, über
Aufbau und Administration seines Staates, über die Or-
ganisation seiner Armee und über einen strategischen
Zeitplan zur Eroberung unseres Planeten gemacht. Aber
sehen wir uns zuerst an, was unter dem Shambhala-My-
thos überhaupt zu verstehen ist.
Der Legende nach lehrte der historische Buddha
Shakyamuni den König von Shambhala, Suchandra, das
Kalachakra-Mulatantra und weihte ihn in die geheime
Doktrin ein. Der Urtext umfaßte 12 000 Verse. Er ging
später verloren, was blieb, war eine verkürzte Fassung.
Wenn wir die etwas willkürliche Kalenderrechnung des
Zeittantras zugrunde legen, fand die Begegnung zwischen
Shakyamuni und Suchandra im Jahre 878 v. Chr. statt.
Der Ort der Belehrung hieß Dhanyakataka nahe dem
Geierberg bei Rajagriha im südlichen Indien. Nachdem
ihn Suchandra um Unterweisung gebeten hatte, nahm
der Buddha selbst die Gestalt von Kalachakra an und
predigte von einem Löwenthron aus, umgeben von zahl-
reichen Bodhisattvas und Göttern.

442
Suchandra herrschte als König von Shambhala, einem
sagenhaften Königreich irgendwo im Norden jenseits In-
diens. Er war nicht allein gekommen, um sich in Dha-
nyakataka einweihen zu lassen, sondern mit einem Hof-
staat aus 96 Generälen, Provinzkönigen und Gouverneu-
ren. Nach der Initiation nahm er die Tantra-Lehre mit
in sein Imperium (Shambhala) und machte sie dort zur
Staatsreligion, anderen Berichten zufolge geschah dies
jedoch erst sieben Generationen später.
Aus der Erinnerung hatte Suchandra das Kalachakra-
Mulatantra aufgezeichnet und mehrere umfangreiche
Kommentare dazu verfaßt. Einer seiner Nachfolger (Man-
jushrikirti) schrieb eine Kurzfassung, das sogenannte Ka-
lachakra-Laghutantra, ein Kompendium der ursprüngli-
chen Predigt. Dieser 1000 Verse umfassende Text ist voll-
ständig erhalten geblieben und dient auch heute noch als
Leitfaden. Manjushrikirtis Nachfolger, König Pundarika,
verfaßte einen ausführlichen Kommentar des Laghutan-
tras mit dem Namen Vimalaprabha (makelloses Licht).
Diese beiden Texte (Kalachakra-Laghu­tantra und Vima-
laprapha) sind im 10. Jahrhundert durch den Maha Sid-
dha Tilopa nach Indien zurückgebracht worden und ge-
langten von dort aus hundert Jahre später ins »Schnee-
land« Tibet. Es sind aber auch noch Bruchstücke aus dem
ursprünglichen Originaltext, dem Kalachakra-Mulatan-
tra, erhalten geblieben. Das bedeutendste Fragment heißt
Sekkodesha und wurde von dem Maha Siddha Naropa
kommentiert.

443
Geographie des Königreichs Shambhala

Das Königreich Shambhala, in dem die Kalachakra-Leh-


re als Staatsreligion praktiziert wird, umgibt ebenso wie
seinen ersten Herrscher Suchandra ein großes Geheim-
nis. Er wird denn auch als eine Inkarnation des Bodhi-
sattvas Vajrapani, des »Herrn der okkulten Wissen-
schaften«, angesehen. Seit Jahrhunderten haben die ti-
betischen Lamas das Wunderland bewußt mystifiziert,
das heißt, sie haben seine Existenz oder Nichtexistenz so
in der Schwebe gelassen, daß man paradoxerweise sagen
muß – es existiert, und es existiert nicht. Da es sich um
ein spirituelles Imperium handelt, können seine Gren-
zen nur von denjenigen überschritten werden, die in die
Geheimlehren des Kalachakra-Tantras eingeweiht wur-
den.
Für gewöhnliche sterbliche Augen nicht sichtbar, sind
seit Jahrhunderten über die geographische Lage Shamb-
halas die phantastischsten Spekulationen im Umlauf.
»Konkret« weiß man nur, daß es sich nördlich von Indi-
en, »jenseits des Sitha-Flusses« befinden soll. Den Namen
dieses Flusses aber hat noch keiner auf einer Landkarte
gefunden. So werden im Laufe der Jahrhunderte von den
zahlreichen Shambhala-Suchern alle nur denkbaren Re-
gionen genannt, angefangen von Kaschmir bis hin zum
Nordpol und alles, was dazwischen liegt.
Die am meisten verbreitete Meinung in der Wissen-
schaft tendiert dazu, das Gebiet ursprünglich in der heu-
tigen Wüste des Tarimbeckens zu suchen. Viele Lamas
behaupten, es existiere dort auch weiterhin, sei aber durch

444
Skizze des Königreichs Shambhala
in der Form eines Mandala

einen magischen Vorhang vor neugierigen Blicken abge-


schirmt und gut bewacht. In der Tat sprechen die synkre-
tistischen Elemente, welche sich im Kalachakra-Tantra
finden lassen, dafür, daß der Text ein Produkt der von vie-
len Kulturen durchwanderten Seidenstraße ist, die durch
das Tarimbecken führte. Auch die riesigen Gebirgsketten,
welche die Hochebene fast wie einen Kreis umgeben, ha-
ben ihre Entsprechung in der Shambhala-Geographie.
Typischerweise gleicht die mythische Landkarte von
Shambhala, von der es zahlreiche Abbildungen gibt, ei-
nem Mandala. Es hat die Form eines Rades mit acht
Speichen beziehungsweise entspricht einem Lotus mit
acht Blütenblättern. Jedes der Blätter bildet einen Ver-

445
waltungsbezirk. Ein Gouverneur regiert dort als oberster
Beamter. Er ist der Vizekönig von nicht weniger als 120
Millionen Dörfern, welche sich auf jedem »Lotosblatt«
befinden. Insgesamt weist Shambhala also 960 Millionen
Siedlungseinheiten auf. Umgeben ist das Ganze von ei-
nem Kranz kaum übersteigbarer Schneeberge.
Im Zentrum des Bergkranzes liegt die Hauptstadt des
Landes mit dem Namen Kaiapa. Die Lichtstadt ist auch
des Nachts über taghell erleuchtet, so daß man den Mond
nicht mehr sehen kann. Dort lebt der Shambhala-König
in einem Palast aus allen nur denkbaren Edelsteinen und
Diamanten. Die Architektur richtet sich nach den Ge-
setzen des Himmels. Es gibt dort einen Sonnen- und ei-
nen Mondtempel, eine Nachbildung des Zodiaks und der
astralen Rotationskreise. Etwas südlich des Palastes trifft
der Besucher auf einen wunderschönen Park. Darin hat
Suchandra den Tempel von Kalachakra und Vishvama-
ta anlegen lassen. Er ist aus fünf kostbaren Materialien
gemacht : Gold, Silber, Türkis, Korallen und Perlen. Sein
Grundriß entspricht dem Kalachakra-Sandmandala.

Die Könige und die Verwaltung von Shambhala

Alle Könige von Shambhala gehören einer Erbdyna-


stie an. Seit der historische Buddha den ersten Regenten
Suchandra in das Zeittantra einweihte, waren es zwei
Herrscherhäuser, welche die Geschicke des Landes be-
stimmten. Die ersten sieben Könige nannten sich Dhar-
maraja (Gesetzeskönige). Sie stammten ursprünglich

446
aus demselben Geschlecht, das auch Buddha Shakya-
muni hervorgebracht hat, die Shakyas. Die folgenden
25 Könige der zweiten Dynastie sind die »Kulikas« oder
»Kalkis«. Jeder der Herrscher übt sein Amt exakt 100
Jahre aus. Auch die zukünftigen Regenten sind schon
mit Namen festgelegt.
Wer das Reich zur Zeit beherrscht, darüber sind sich
die Texte nicht immer einig. Am häufigsten wird der
König Aniruddha genannt, der 1927 die Staatsgeschäf-
te übernommen haben soll und sie im Jahre 2027 nie-
derlegen wird. Ein großes Schauspiel erwartet die Welt,
wenn der 25. Sproß der Kalki-Dynastie sein Amt antritt.
Es ist Rudra Chakrin, der zornige Raddreher. Im Jahre
2327 wird er den Thron besteigen. Mit ihm haben wir
uns noch ausführlich zu beschäftigen.
Die Kalkis tragen wie die indischen Maha Siddhas das
Haupthaar lang und zu einem Knoten zusammengebun-
den. Ebenso wie diese schmücken sie sich mit Ohrringen
und Armreifen. »Der Kalki hat ausgezeichnete Minister,
Generäle und eine große Anzahl von Königinnen. Er hat
einen Bodyguard, Elefanten und Elefantenführer, Pferde,
Wägen … Sein eigener Reichtum und der Reichtum sei-
ner Untertanen, die Macht seiner magischen Zauberfor-
meln, die Schlangengötter, Dämonen und Kobolde, die
ihm dienen, der Reichtum, der ihm von den Kentauren
übergeben wurde, und die Qualität der Speisen sind so,
daß nicht einmal der Herr der Götter mit ihnen kon-
kurrieren kann … Der Kalki hat nicht mehr als einen
oder zwei Erben, aber er hat viele Töchter, die als Vajra-
Ladies während des Vollmondfestes Caitra dargebracht

447
werden.« (* Newman, 1985, 57) Sie dienen demnach als
Mudras bei den Kalachakra-Ritualen.
Der Herrscher von Shambhala ist ein absoluter Mon-
arch und verfügt über die gesamte weltliche und spirituelle
Macht im Lande. Er steht an der Spitze einer »hierarchi-
schen Pyramide«, und das Fundament seiner Buddhokra-
tie stellt ein Millionenheer aus Vizekönigen, Gouverneu-
ren und Beamten, welche alle die Anordnungen des Re-
genten ausführen. – Als geistiger Herrscher ist er der
Repräsentant des ADI BUDDHA, als »weltlicher« Poten-
tat ein Chakravartin. Er sitzt auf einem goldenen Thron,
der durch acht Löwenskulpturen gehalten wird. In seinen
Händen hält er ein Juwel, welches ihm jeden Wunsch er-
füllt, und einen magischen Spiegel, durch den er alles in
seinem Reich und auf der Erde beobachten und kontrol-
lieren kann. Nichts entgeht seinem wachsamen Auge. Er
hat die Fähigkeit und das Recht, bis in die tiefsten Seelen-
winkel seiner Untertanen, ja jedes Menschen zu blicken.
Typisch ist die Rolle der Geschlechter im Shambha-
lareich. Es sind ausschließlich Männer, die in dem an-
drozentrischen Staat politische Macht ausüben. Von den
Frauen erfahren wir nur etwas von ihren Funktionen als
Königin Mutter, die Gebärerin des Thronfolgers, und als
»Weisheitsgefährtinnen«. Sie bilden in der »tantrischen
Ökonomie« des Staatshaushaltes ein Reservoir lebensnot-
wendiger Ressourcen, da sie die »Gynergien« liefern, die
durch die offiziellen sexualmagischen Riten in politische
Macht umgewandelt werden. Eine Million ( !) Mädchen,
»jung wie der achttägige Mond«, stehen allein dem Sou-
verän als Partnerinnen zur Verfügung.

448
Die höchste Elite des Landes bildet der tantrische Kle-
rus. Die Mönche gehen weiß gekleidet, sprechen Sanskrit
und sind alle in die Mysterien des Kalachakra-Tantras
eingeweiht. Die meisten von ihnen gelten als erleuchtet.
Dann folgen die Krieger. Der König ist gleichzeitig der
oberste Befehlshaber einer disziplinierten und äußerst
schlagkräftigen Armee mit Generälen an der Spitze, ei-
nem machtvollen Offizierskorps und einem gehorsamen
»Fußvolk«. In den umfangreichen Arsenalen von Shamb-
hala lagern die effektivsten und »modernsten« Zerstö-
rungswaffen. Doch kommt – wie wir noch sehen wer-
den – die Armee erst in dreihundert Jahren (2327 n. Chr.)
zum vollen Einsatz.
Die totalitäre Macht des Shambhalakönigs erstreckt
sich nicht nur auf die Einwohner seines Landes, son-
dern ebenso auf die Menschen unseres Planeten »Erde«.
Der französische Kalachakra-Enthusiast Jean Rivière be-
schreibt die umfassenden Kompetenzen des buddhisti-
schen Despoten wie folgt : »Als Meister des Universums,
Kaiser der Welt, geistiger Regent über die mächtigen sub-
tilen Energieströme, welche die kosmische Ordnung so
wie das Leben der Menschen regeln, dirigiert der Kuli-
ka (König) von Shambhala die spirituelle Entwicklung
der menschlichen Massen, die in die schwere und blinde
Materie hineingeboren wurden.«29 (* Rivière, 36)

29 Jean Marques Rivière war in den 30er Jahren Mitarbeiter der


Zeitschrift Voile d’his, in der die okkulte Elite Europas schrieb.
Als Herausgeber zeichnete René Guénon. In dieser Zeit führte Ri-
vière ein tantrisches Ritual (»mit Blut und Alkohol«) durch, das
ihn von einer tibetischen Gottheit besessen machte. Nur durch →

449
Der »Sonnenwagen« der Rishis

Obgleich alle seine Herrscher mit Namen bekannt sind,


hat das Shambhala-Reich im eigentlichen Sinne keine
Historie. So ist in den vielen Jahrhunderten seiner Exi-
stenz kaum etwas passiert, was wert gewesen wäre, daß
es ein Chronist festgehalten hätte. Man sehe sich dage-
gen die geschichtsträchtige Ereigniskette im Leben des
Buddha Shakyamuni an und die zahlreichen Legenden,
die er hinterlassen hat ! Aber es gibt eine Begebenheit,
die zeigt, daß dieses Land doch nicht ganz frei von hi-
storischen Konflikten war. Es handelt sich dabei um den
Protest einer Gruppe von nicht weniger als 35 Millio-
nen ( !) Rishis (Sehern), an deren Spitze der Weise Surya-
ratha (»Sonnenwagen«) stand.
Als der erste Kulikakönig Manjushrikirti seinen Un-
tertanen das Kalachakra-Tantra predigte, distanzierte
sich Suryaratha davon, und seine Anhänger, die Rishis,
schlossen sich ihm an. Sie wählten lieber die Verban-
nung aus Shambhala als den »diamantenen Pfad« (Vaj­
rayana). Nachdem sie jedoch in Richtung Indien losge-
zogen waren und die Grenzen des Königreiches schon
hinter sich gelassen hatten, versenkte sich Manjushri-
kirti in eine Tiefenmeditation, betäubte die Emigranten
durch Magie und befahl Vogeldämonen, sie wieder zu-
rückzuholen.

← die Hilfe eines katholischen Exorzisten konnte er von der Be-


sessenheit befreit werden. Er konvertierte aus Dankbarkeit wie-
der zum Christentum. Einige Jahre später aber finden wir ihn er-
neut im Lager der Buddhisten. (* Robin, 325)

450
Bei diesem Ereignis handelt es sich wahrscheinlich um
die Konfrontation zweier religiöser Schulen. Die Rishis
beteten ausschließlich die Sonne an. Ihr Guru nannte
sich aus diesem Grunde der »Sonnenwagen« (Suryara-
tha). Der Kulika-König aber hatte als Kalachakra-Mei-
ster und kosmischer Androgyn beide Himmelslichter in
sich vereinigt. Er war der Meister von Sonne und Mond.
Seine Aufforderung an die Rishis, die Lehren des Ka-
lachakra-Tantras anzunehmen, erging denn auch in ei-
ner Vollmondnacht. Manjushrikirti beendete seine Pre-
digt mit den Worten : »Wer diesem Pfad folgen will, soll
in meinem Reich bleiben. Wer diesem Pfad nicht folgen
will, muß das Land verlassen und zu einem anderen Ort
ziehen.« (* Bernbaum, 246)
Die Rishis entschlossen sich zum letzteren. »Da wir
alle dem Sonnenwagen treu bleiben wollen, so wünschen
wir auch nicht unsere Religion aufzugeben und uns einer
anderen anzuschließen«, erwiderten sie. (* Grünwedel,
1915, 77) Es kam zu dem geschilderten Exodus. Durch
ihre Rückholung aber hatte Manjushrikirti seine magi-
sche Überlegenheit bewiesen und hatte gezeigt, daß der
»Pfad von Sonne und Mond« stärker ist als der »reine Son-
nenweg«. Die Rishis brachten ihm deswegen zahlreiche
Goldopfer dar und unterwarfen sich seiner Macht und
dem Primat des Kalachakra-Tantras. In der fünfzehnten
Mondnacht wurde ihnen Erleuchtung zuteil.
Hinter diesem einmaligen historischen Shambhala-
Vorfall verbirgt sich auch ein kaum beachtetes macht-
politisches Motiv : Die Seher (Rishis) waren, wie ihr Name
sagt, eindeutig Brahmanen, sie zählten also zur elitä-

451
ren Priesterkaste. Dagegen integrierte Manjushrikirti als
Priesterkönig in seinem Amt sowohl die Energien der
priesterlichen als auch die der kriegerischen Elite. Er ver-
einigt in sich die weltliche und die spirituelle Macht, die
im indischen Kulturkreis – wie wir oben schon andis-
kutiert haben – zwischen Sonne (Höchster Priester) und
Mond (Kriegerkönig) aufgeteilt war. Die Vereinigung der
beiden Himmelslichter in seiner Person machte ihn zum
absoluten Herrscher.
Wegen der noch von uns zu schildernden militärischen
Zukunftspläne des Shambhala-Reichs hatte der König
und haben seine Nachfolger ein großes Interesse daran,
den Kriegerstand zu stärken. Denn Shambhala wird ein
Millionenheer für die Schlachten, welche ihm bevorste-
hen, brauchen, und Jahrhunderte zählen nichts in die-
sem Mythenreich. Es lag also im Sinne Manjushrikirtis,
alle Kastenunterschiede in einer übergreifenden militä-
risch orientierten Buddhokratie aufzuheben. Schon der
historische Buddha soll prophezeit haben, daß der künf-
tige Shambhala-König, »der zur Vajra-Familie zählt, da-
durch zum Kalki wird, daß er die vier Kasten in einen
einzigen Clan zusammenfaßt, und zwar innerhalb der
Vajra-Familie, und sie nicht zu einer Brahmanenfamilie
macht.« (* Newman, 1985, 64) Die genannte »Vajra-Fa-
milie« steht bei dieser Shakyamuni-Aussage eindeutig
im Gegensatz zur Priesterkaste. Sie repräsentiert auch
innerhalb der verschiedenen Buddhafamilien diejenige,
die für Militärfragen zuständig ist. Selbst im Westen brü-
sten sich heute hohe tibetische Lamas damit, daß sie als
Generäle ( !) der Shambhala-Armee wiedergeboren wer-

452
den, also daß sie daran denken, ihr spirituelles Amt in
ein militärisches umzuwandeln.
Die kriegerische Absicht dieser Kastennivellierung
wird weiterhin durch die Begründung Manjushrikirtis
offenkundig, das Land falle, wenn es nicht dem Vajra-
yana-Buddhismus folge, unweigerlich in die Hände der
»Barbaren«. Bei diesen handelt es sich – wie wir noch zu
zeigen haben – um die Anhänger des Islams, gegen die
ein gewaltiges Sbambhala-Heer aufgerüstet wird.

Die Reise nach Shambhala

Die Reiseberichte, die von Shambhala-Suchern verfaßt


wurden, sind meist so gehalten, daß wir nicht wissen, ob
es sich um eine wirkliche Erfahrung, einen Traum, eine
Imagination, eine Phantasmagorie oder einen Einwei-
hungsweg handelt. Es besteht auch keinerlei Bemühung
darum, hier die Grenzen klar zu ziehen. Eine Shamb-
hala-Reise verkörpert einfach alles zusammen. So ent-
sprechen die schwierigen und hindernisvollen Abenteu-
er, die Menschen auf sich nahmen, um das sagenhafte
Land zu suchen, den »verschiedenen mystischen Übun-
gen, die zur Verwirklichung der tantrischen Meditati-
on im Königreich selbst führen … Die Schneeberge, die
Shambhala nach außen abschirmen, (sind) ein Sinnbild
weltlicher Tugenden, wohingegen der König im Zentrum
Kalapas (der Hauptstadt) den reinen Geist symbolisiert,
der am Ende der Reise verwirklicht wird.« (* Bernbaum,
241) Die Reisen finden also nach solchen Interpretatio-

453
nen des Mythos im Geiste statt. Diesen Eindruck hat
man wiederum nicht, wenn man den Shambha la’i lam
yig, den berühmten Reisebericht des 3. Panchen Lama
(1738–1780), in Händen hält. Es handelt sich dabei um
eine phantastische, aber offensichtlich von der Realität
des Faktenmaterials überzeugte Ansammlung histori-
scher und geographischer Einzelheiten aus Zentralasien,
die den Weg nach Shambhala beschreiben.
Die Landschaften, die nach diesem »klassischen Rei-
seführer« ein Besucher, bevor er das Wunderland be-
tritt, durchqueren muß, und die gefährlichen Abenteu-
er, die er zu bestehen hat, machen die Shambhalafahrt
(ob real oder imaginär) zu einem tantrischen Initiations-
weg. Das wird besonders durch die zentrale Konfronta-
tion mit dem Weiblichen deutlich, welche die ganze Rei-
seroute ebenso beherrscht wie den Vajrayana. Das recht
pittoreske Buch beschreibt seitenlang die Begegnung mit
all den Frauengestalten, die wir schon vom Umfeld der
Tantras her kennen. Mit literarischer Muße malt sich
der Autor die schrecklichsten und lieblichsten Szenen
aus : Schweinsköpfige Göttinnen ; Hexen, auf Ebern rei-
tend ; Dakinis, Schädelschalen schwingend, gefüllt mit
Blut, Gedärmen, Augen und Menschenherzen ; Mädchen,
so schön wie Lotosblumen und mit nektarspendenden
Brüsten ; Har­pien ; fünfhundert Dämoninnen mit kupfer-
roten Lippen ; Schlangengöttinnen, die einen wie Nixen
ins Wasser ziehen wollen ; die einäugige Ekajati ; Gift-
mischerinnen ; Sirenen ; nackte Jungfrauen mit goldenen
Körpern ; Menschenfresserinnen ; Riesinnen ; süße Arara-
Mädchen mit Pferdeköpfen ; die Dämonin der Verzweif-

454
lung ; die Teufelin der Raserei ; Heilerinnen, die labende
Kräuter spenden – sie alle erwarten den Mutigen, der
sich aufmacht, das Wunderland zu suchen.
Jede Begegnung mit diesen weiblichen Wesen muß
gemeistert werden. Für jede Gruppe hat der Panchen
Lama ein Abschreckungs-, Besänftigungs- oder Verein-
nahmungs-Ritual bereit. Einige der Frauen muß der Rei-
sende strikt zurückweisen, andere soll er ehren und an-
erkennen, mit wieder anderen hat er sich in tantrischer
Liebe zu vereinigen. Wehe, wenn er dabei seine emotio-
nale und seminale Kontrolle verliert ! Dann wird er das
Opfer all dieser »Bestien«, ob sie nun wunderschön oder
grauenhaft aussehen. Nur ein perfekter Tantra-Kenner
kann den Weg durch diesen Dschungel aus weiblichen
Leibern fortsetzen.
So wechseln die Sphären von außen nach innen, von
der Wirklichkeit in die Imagination, vom Weltenkönig
im Herzen des einzelnen Menschen zum realen Welten-
herrscher in der Gobiwüste, vom Shambhala als geleb-
ter Alltag zu Shambhala als erträumtes Märchenland,
und alles wird möglich. Als der russische Maler Nicho-
las Roerich auf seinen Reisen durch Innerasien einigen
Nomaden Photographien von New York zeigte, riefen
diese aus : »Dies ist das Land von Shambhala !« (* Roerich,
1988, 274)

455
Der »Rasende Raddreher« :
Die Kriegsideologie von Shambhala

Im Jahre 2327 (n. Chr.) wird – so lauten die Prophezei-


ungen im Kalachakra-Tantra – der 25. Kalki den Thron
von Shambhala besteigen. Er trägt den Namen Rudra
Chakrin, der »zornige Raddreher« oder der »Rasende
mit dem Rad«. Die Aufgabe dieses Herrschers ist es, in
einer gewaltigen eschatologischen Schlacht die »Feinde
der buddhistischen Lehre« zu vernichten und ein golde-
nes Zeitalter zu begründen. Auch heute noch beschäftigt
diese militante Zukunftshoffnung die Gedanken vieler
Tibeter und Mongolen und beginnt, sich in der ganzen
Welt zu verbreiten. Wir kommen auf die Faszination, die
der Archetyp vom »Shambhala-Krieger« auf westliche
Buddhisten ausübt, noch ausführlich zu sprechen.
Der Shambhala-Staat unterscheidet klar und deutlich
zwischen Freund und Feind. Die ursprüngliche Idee ei-
nes buddhistischen Pazifismus ist ihm völlig fremd. So
trägt der Rudra Chakrin als Herrschaftsinsignie einen
martialischen Symbolgegenstand, das »Rad aus Eisen« ( !).
Erinnern wir uns daran, daß nach buddhistischer Welt-
sicht unser gesamtes Universum (Chakravala) in einem
Ring aus Eisenbergen eingeschlossen ist. Wir haben die-
ses Bild als eine Reminiszenz an das »eiserne Endzeital-
ter« aus antiken Prophezeiungen gedeutet.
Auf seinem weißen Pferd, einen Speer in der Hand,
wird der Rudra Chakrin im 21. Jahrhundert seine schlag-
kräftige Armee anführen. »Der Herr der Götter«, heißt
es von ihm im Kalachakra-Tantra, »verbunden mit den

456
Rudra Chakrin, der »rasende Raddreher«

zwölf Kriegslords wird die Barbaren zerstören.« (* New-


man, 1987, 645) Sein Heer besteht aus »außergewöhnlich
wilden Kriegern«, die mit »scharfen Waffen« ausgestat-
tet sind. Hunderttausend Kriegselefanten und Millionen
von Bergpferden, schneller als der Wind, werden seinen
Soldaten als Reittiere dienen. Indische Götter schließen
sich dann den insgesamt zwölf Divisionen des »zorni-

457
gen Raddrehers« an und unterstützen ihren »Freund«
aus Shambhala. Diesen Support verdankt der kriegeri-
sche Shambhala-König wahrscheinlich seinem Vorgän-
ger Manjushrikirti, dem es gelang, die 120 Millionen hin-
duistischen Rishis in das tantrische Religionssystem zu
integrieren. (* Banerjee, 1985, XIII)
Wenn der Autor des Kalachakra-Tantras – wie es die Le-
gende will – der historische Buddha Shakyamuni höchst-
persönlich war, dann muß dieser seine gesamte Friedens-
vision und Botschaft vergessen haben und eine wirklich
große Faszination für das Kriegshandwerk gehabt haben.
Denn Waffen spielen im Zeittantra eine hervorragende
Rolle. Unter »Waffen« versteht man auch dort jene Mittel,
um die physische Tötung von Menschen durchzuführen.
Von Buddhas martialischem Nachfolger, dem kommen-
den Rudra Chakrin, heißt es jedenfalls : »Mit dem sella
(einer tödlichen Waffe) in der Hand … wird er das Ka-
lachakra auf Erden erläutern zur Befreiung der Wesen.«
(* Banerjee, 1959, 213)

Tödliche Kriegsmaschinen

Geradezu beeindruckend und erstaunlich ist die plasti-


sche Schilderung der Kriegsmaschinen, denen die Ka-
lachakra-Gottheit schon im ersten Kapitel des Tantras
mehrere Seiten widmet. (* Newman, 1987, 553–570, Ver-
se 135–145 ; Grönbold, 1996) Insgesamt werden sieben
außergewöhnlich zerstörerische Waffengattungen vor-
gestellt. Alle haben die Form eines Rades. Der Text be-

458
zeichnet sie als Yantras. Es gibt eine »Wind-Maschine«,
die man vor allem gegen Bergforts einsetzt. Sie schwebt
über der feindlichen Armee und läßt brennendes Öl
über sie auslaufen. Das gleiche geschieht mit den Häu-
sern und Palästen des Gegners. Als zweite Waffengat-
tung wird eine »Schwert im Boden – Maschine« be-
schrieben. Diese dient zum persönlichen Schutz für den
»zornigen Raddreher«. Jeder, der unberechtigt in seinen
Palast eindringt und auf die unter dem Boden verbor-
gene Maschine tritt, wird unweigerlich in Stücke zer-
schnitten. Folgt als dritte die »Harpunen-Maschine«,
eine Art archaisches Maschinengewehr. Nach einem
Fingerabzug »schießt sie viele starke Pfeile oder schar-
fe Harpunen ab, die durch den Körper eines durch eine
Rüstung geschützten Elefanten dringen und ihn in Stüc-
ke schneiden«. (* Newman, 1987, 506)
Noch drei weitere, äußerst effektive »Rotations-Waffen«
lernen wir kennen, die alles abrasieren, allem voran die
Köpfe der feindlichen Krieger. Eine von ihnen wird mit
den Rädern des Sonnenwagens verglichen. Wahrschein-
lich handelt es sich dabei um eine Variante des Sonnen-
diskus, die der indische Gott Vishnu erfolgreich gegen
die Dämonenheere einsetzte. Solche Todesräder haben
in der magischen Militärgeschichte Tibets bis hinein in
unser Jahrhundert eine bedeutende Rolle gespielt. Wir
kommen an gegebener Stelle darauf zurück. Heute se-
hen Anhänger des Shambhala-Mythos in ihnen »Flug-
zeuge« oder »Ufos«, welche, mit atomaren Sprengsätzen
bewaffnet, von extraterrestischen Hilfstruppen des Wel-
tenkönigs gesteuert werden.

459
Verschiedene Waffenräder

Angesichts der zahlreichen Mordapparate, die im Ka-


lachakra-Tantra aufgezählt werden, entstand offenbar für
einige »orthodoxe« Buddhisten ein moralisches Problem,
das dazu führte, die Radwaffen nur symbolisch zu ver-
stehen. Es handle sich dabei um radikale Methoden, um
das eigene menschliche Ego zu vernichten. Gegen die-

460
sen frommen Versuch wendet sich ausdrücklich der gro-
ße Gelehrte und Kalachakra-Kommentator Khas Grub je.
Er ist der Meinung, »daß die Maschinen wörtlich zu neh-
men sind«. (* Newman, 1987, 561)

Die »Letzte Schlacht«

Kehren wir zu Rudra Chakrin, dem tantrischen Endzeit­


erlöser, zurück. Er erscheint in einer Zeit, in der die bud-
dhistische Lehre weitgehend ausgerottet ist. Es ist – nach
den Prophezeiungen – die Epoche des »Nicht-Dharmas«,
gegen die er Front macht. Bevor die letzte Schlacht ge-
gen die Feinde des Buddhismus stattfinden kann, haben
sich die Zustände in der Welt extrem verschlimmert. Na-
turkatastrophen, Hungersnöte, Epidemien und Kriege
überschwemmen den Planeten. Die Menschen werden
immer materialistischer und egoistischer. Wahre Reli-
giosität schwindet. Die Sitten verwahrlosen. Macht und
Reichtum sind die einzige Götzen. Eine Parallele zur hin-
duistischen Lehre vom Kali Yuga ist hier offenkundig.
Ein despotischer »Barbarenkönig« wird in diesen
schlechten Zeiten alle Nationen außerhalb von Shamb-
hala unter seine Herrschaft zwingen, so daß am Ende nur
noch zwei große Parteien übrigbleiben : Erstens der laster-
hafte »König der Barbaren«, unterstützt vom »Herrn aller
Dämonen«, und zweitens Rudra Chakrin, der zornvolle
buddhistische Messias. Zu Beginn unterwirft der Bar-
barenherrscher die ganze Welt mit Ausnahme des my-
thischen Königreichs Shambhala. Dessen Existenz sta-

461
chelt seinen Neid und den seiner Untertanen unvorstell-
bar an : »Sie werden sich in ihrer Wut aufbäumen wie die
Wogen eines tosenden Meeres. Erzürnt darüber, daß es
ein derartiges Land gibt, das sich zudem ihrer Kontrol-
le bislang entziehen konnte, werden sie ein Heer aufstel-
len, um Shambhala zu erobern.« (* Bernbaum, 1982, 251)
Dann – so die Prophezeiungen – kommt es zur brutalen
Konfrontation. 30
Neben den Schilderungen aus dem Kalachakra-Tantra
sind noch zahlreiche andere literarische Ausmalungen
dieser buddhistischen Endzeitschlacht bekannt. Sie alle
können die Lust am Krieg und den Triumph über die
Leichen der Feinde nicht verheimlichen. Hier eine Text-
stelle von dem russischen Maler und fanatischen Shamb-
hala-Gläubigen Nicholas Roerich, der in den 30er Jahren
als der Gründer einer weltweiten Friedensorganisation
(»Banner of Peace«) bekannt wurde : »Hart ist das Schick-
sal der Feinde Shambhalas. Ein gerechter Zorn färbt die
Wolken purpurblau. In glänzender Rüstung mit Schwer-
tern und Speeren verfolgen die Krieger des Rigden-jyepo
(tibetischer Name des Rudra Chakrin) ihre entsetzten
Feinde. Viele sind schon niedergestreckt, und ihre Feuer-
waffen, ihre großen Hüte und all ihre Habe sind auf dem

30 Nach einer anderen Version der Prophezeiung gelingt es den


Barbaren zuerst, ins Wunderland einzudringen und den Palast
des Königs zu stürmen. Rudra Chakrin bietet sich dann an, ge-
meinsam mit seinem Gegner über Shambhala zu herrschen. Der
Barbarenkönig willigt anscheinend ein, versucht dann aber durch
einen Mordanschlag die Alleinherrschaft an sich zu reißen. Aber
die Tat schlägt fehl, der Shambhala-König entkommt. Erst jetzt
beginnt die blutige Endschlacht der Guten gegen die Bösen.

462
Schlachtfeld verstreut. Einige liegen im Sterben, vernich-
tet von gerechter Hand. Ihr Anführer ist bereits erschla-
gen und liegt hingestreckt unter dem Roß des großen
Kriegers, des gesegneten Rigden-jyepo. Dem Herrscher
folgen auf Kampfwagen fürchterliche Kanonen, denen
keine Mauer standhalten kann. Mehrere Feinde flehen
auf Knien um Gnade oder versuchen, auf dem Rücken
von Elefanten ihrem Schicksal zu entgehen. Aber das
Schwert der Gerechtigkeit holt die Verleumder ein. Das
Dunkle muß vernichtet werden.« (* Roerich, 1988, 218)
Das »Dunkle«, das sind die Andersgläubigen, die Gegner
des Buddhismus und damit Shambhalas. Sie alle werden
ohne Erbarmen während der »Letzten Schlacht« nieder-
gemetzelt. In diesem begeisterten Vernichtungszug ha-
ben die buddhistischen Krieger das Bodhisattvagelüb-
de, welches das Mitgefühl mit allen Wesen predigt, völ-
lig vergessen.
Die Kämpfe der Endzeitschlacht (im Jahre 2327) sol-
len sich nach Kommentaren des Kalachakra-Tantras über
den Iran bis hinein in die östliche Türkei erstrecken.
(* Bernbaum, 251) Oft wird auch die Ursprungsregion
des Kalachakra Tantras (die Länder Kasachstan, Usbeki-
stan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenien und Afghani-
stan) als das kommende eschatologische Schlachtfeld be-
zeichnet. Das hat eine gewisse historische Berechtigung,
da die »islamische« Südflanke der ehemaligen Sowjetu-
nion zu den explosivsten Krisengebieten der Gegenwart
zählt. (* siehe dazu : Spiegel, 20/1998, 160f)
Als weiteres strategisches Ziel in der Shambhala-
Schlacht plant man die Eroberung des heiligen Berges

463
Kailash. Nachdem der Rudra Chakrin seine Feinde »in der
Schlacht über die ganze Welt getötet hat, wird der Welten-
herrscher mit seinem eigenen vierfachen Heer am Ende
des Zeitalters in die Stadt kommen, die von den Göttern
auf dem Berg Kailash erbaut ist.« (* Banerjee, 1959, 215)
Grundsätzlich gilt : »Wo immer die (buddhistische) Re-
ligion zugrundegerichtet ist und das Kali-Zeitalter her-
aufkommt, dorthin geht er.« (* Banerjee, 1959, 52)31

Buddha gegen Allah

Die Armeen Rudra Chakrins werden das »Nicht-Dhar-


ma« und die Lehre der »irreligiösen Barbarenhorden«
zerstören. Damit ist – nach dem Originaltext des Ka-
lachakra-Tantras – vor allem der Koran gemeint. Mo-
hammed selbst wird mehrmals im Zeittantra mit Na-
men genannt, ebenso wie sein alleiniger Gott Allah. Von
den Barbaren erfahren wir, daß sie Mleccha heißen – das

31 Das Szenario der Shambhala-Kriege läßt sich nicht so leicht


mit den oben beschriebenen vom Tantra-Meister inszenierten to-
talen Weltuntergängen in Einklang bringen. Rudra Chakrin ist
ein Feldherr, der seine Schlachten hier auf Erden führt und sie
allenfalls auf die anderen 11 weiteren Kontinente des buddhisti-
schen Weltbildes ausdehnt. Seine Gegner sind vor allem die An-
hänger Allahs. So global seine Aufgabe auch sein mag, sie ver-
wirklicht sich noch im Rahmen des bestehenden Kosmos. An
anderen Textstellen wird der kommende Shambhala-König auch
mit dem ADI BUDDHA verglichen, der am Ende des Kali Yugas
das gesamte Universum in Schutt und Asche legt und einen Ster-
nenlcrieg entfesselt. Es ist jedoch nicht die Aufgabe unserer Stu-
die, solche Widersprüche zu erklären.

464
bedeutet die »Einwohner Mekkas«. (* Petri, 107) Schon
heute wird Rudra Chakrin als der kommende »Töter der
Mlecchas« gefeiert. (* Banerjee, 1959, 52)
Diese Fixierung der Höchsten Tantras auf den Islam
ist nur allzu verständlich, denn die Anhänger Moham-
meds hatten im Laufe der Geschichte nicht nur grausam
unter den buddhistischen Klöstern und Gemeinden In-
diens gewütet, die islamische Doktrin muß auch vielen
einfachen Bewohnern des Landes attraktiver und emo-
tionaler erschienen sein als der komplizierte, von einer
elitären Mönchsgemeinde repräsentierte Buddhismus. Es
gab in Zentralasien viele »Abtrünnige«, die gerne und be-
reitwillig nach dem Koran griffen. Solche Konversionen
der Bevölkerung müssen sich noch tiefer als die direk-
ten Kriegsereignisse in die Herzen der buddhistischen
Mönche eingefressen haben. Denn das Kalachakra-Tan-
tra, in der Zeit verfaßt, als die Horden der Muslime im
Pandschab und entlang der Seidenstraße wüteten, ist von
unversöhnlichem Haß gegen die »Untermenschen« aus
Mekka geprägt.
Diese dualistische Aufspaltung der Welt zwischen dem
Buddhismus auf der einen Seite und dem Islam auf der
anderen ist ein Dogma, das die tibetischen Lamas auf die
Zukunft der gesamten Menschheitsgeschichte zu übertra-
gen suchen. »Nach gewissen Mutmaßungen«, schreibt ein
westlicher Kommentator des Shambhala-Mythos, »wer-
den dann zwei Großmächte über die Welt herrschen und
gegen einander antreten. Die Tibeter sehen hier einen
Dritten Weltkrieg voraus.« (* Henss, 19)
Dieses Thema ist heute schon aktuell, denn in den letz-

465
ten Jahren zeichnet sich selbst im Westen eine entspre-
chende Aufspaltung in die beiden religiösen Lager ab. Die
schwarzen Unterschichten der USA konvertieren massen-
haft zur Lehre des Propheten, während sich Mitglieder
der weißen Oberschicht immer mehr vom Buddhismus
angezogen fühlen. So als würfen zukünftige Ereignisse
ihre düsteren Schatten voraus, stehen sich heute schon
das tödliche »Schwert des Islams« und das tödliche »Ei-
senrad des Shambhala-Kriegers« in Washington, New
York und Los Angeles gegenüber.
Im historischen Teil unserer Analyse werden wir er-
neut auf diese gefährliche Antinomie zu sprechen kom-
men. Im Gegensatz zu Mohammed erscheinen die weite-
ren vom Shambhala-König zu bekämpfenden »Irrlehrer«,
die ebenfalls im ersten Kapitel des Kalachakra-Tantras
genannt werden, als blaß und bedeutungslos. Es ist den-
noch sinnvoll, sie vorzustellen, um zu zeigen, auf wel-
che Religionsstifter sich das tantrische Feindbilddenken
noch ausdehnt. Kalachakra benennt für die Juden He-
noch, Abraham und Moses, dann Jesus für die Christen
und einen »Weißgekleideten«, von dem man allgemein
annimmt, daß es sich um den Gründer des Manichäis-
mus, Mani, handelt. Es verwundert einen sehr, daß in ei-
ner weiteren Passage die »Irrlehren« dieser Religionsgrün-
der verharmlost und sogar in das eigene System integriert
werden. Nachdem sie im ersten Kapitel als »Ketzereien«
einen starken Angriff über sich ergehen lassen mußten,
bilden sie im zweiten Kapitel die verschiedenen Facetten
eines Kristalls, und der Yogi wird dazu aufgefordert, sie
nicht schlecht zu machen. (* Grönbold, 1992 I, 295)

466
Solche Ungereimtheiten sind – wie wir schon oft er-
fahren haben – in der tantrischen Philosophie selber an-
gelegt. Das zweite Kapitel des Kalachakra-Tantras wech-
selt deswegen nicht über zu einer westlich anmutenden
Forderung nach Religions- und Meinungsfreiheit, viel-
mehr bleiben angebliche Toleranz und Feindbilddenken
nebeneinander bestehen und werden je nach Situation
für die eigenen Machtinteressen eingesetzt. Der XIV Da-
lai Lama ist – wie wir ausführlich zeigen werden – ein
genialer Interpret dieses Doppelspiels. Nach außen hin
vertritt er religiöse Freiheit und ökumenischen Frieden.
Im Ritualwesen dagegen konzentriert er sich auf das ag-
gressive Zeittantra, in dem Zerstörungsphantasien, All-
machtsträume, Eroberungswünsche, Zornausbrüche, py-
romanische Besessenheiten, Erbarmungslosigkeit, Haß,
Tötungswahn und Apokalypsen das Szenario beherr-
schen. Daß solche despotischen Bilder auch die exilti-
betische »Innenpolitik« des tibetischen »Gottkönigs« be-
stimmen, darüber haben wir ebenfalls im zweiten Teil
unserer Studie zu berichten.

Das buddhistische Paradies

Nach gewonnener Endschlacht – so prophezeit das Ka-


lachakra-Tantra – errichtet der Rudra Chakrin das »gol-
dene Zeitalter«. Ein rein buddhistisches Paradies ent-
steht auf Erden. Freude und Reichtum werden herr-
schen. Es gibt keinen Krieg mehr. Jedermann verfügt
über hohe magische Kräfte, Wissenschaft und Technik

467
gedeihen. Die Menschen erreichen ein Alter von 1800
Jahren und brauchen den Tod nicht zu fürchten, weil sie
in einem noch schöneren Eden wiedergeboren werden.
Etwa 20000 Jahre dauert dieser glückselige Zustand.
Das Kalachakra-Tantra hat sich dann in jedem Winkel
der Erde verbreitet und ist zur einzigen »wahren« Welt-
religion geworden. (Danach aber beginnt wieder der
alte Zyklus mit seinen Vernichtungskriegen, Niederla-
gen und Siegen.)

Die nicht-buddhistischen Ursprünge


des Shambhala-Mythos

Untergangsvisionen, letzte Schlachten zwischen Gut


und Böse, Erlöser mit Tötungswaffen in der Hand sind
für den Hinayana-Buddhismus überhaupt kein Thema.
Sie kommen erst in der Zeit des Mahayana (200 v. Chr.)
auf, werden dann vom Vajrayana (400 n. Chr.) integriert
und gewinnen im Kalachakra-Tantra (10. Jh. n. Chr.)
ihre zentrale und endgültige Ausformung. So stellt sich
wie im Falle des ADI BUDDHA die Frage, wo die nicht-
buddhistischen Einflüsse auf den Shambhala-Mythos zu
suchen sind.
Doch bevor wir dazu kommen, sollten wir uns noch
die weitverbreitete Maitreya-Prophezeiung ansehen, die
mit der Shambhala-Vision und dem Kalachakra-Tantra
kollidiert. Maitreya ist schon in der Gandhara-Zeit (200
v. Chr.) als der zukünftige Buddha bekannt, der auf Er-
den inkarnieren wird. Er verweilt immer noch im soge-

468
nannten Tushita-Himmel und wartet auf seine Mission.
Bildnisse von ihm fallen dem Betrachter sogleich auf, weil
er nicht, wie bei sonstigen Buddha-Darstellungen üblich,
im Lotussitz ruht, sondern eine »europäische« Sitzhal-
tung wie auf einem Stuhl einnimmt. Auch in seinem Fall
geht es zuerst mit der Welt abwärts, bevor er erscheint,
um den leidenden Menschen beizustehen. Seine Epipha-
nie ist jedoch nach den meisten Berichten weit heilen-
der und friedfertiger als diejenige des »zornigen Rad-
drehers«. Aber wir kennen aus dem 7. Jahrhundert auch
andere aggressivere Prophezeiungen, wo er erst nach ei-
ner apokalyptischen Endschlacht als Messias die Welt
betritt. (* Sponberg, 31) Für den russischen Maler und
Shambhala-Sucher Nicholas Roerich gibt es schließlich
keinen Unterschied mehr zwischen Maitreya und Ru-
dra Chakrin, es sind nur die beiden Namen desselben
Heilbringers.
Zweifelsohne wird das Kalachakra-Tantra vor allem
von Vorstellungen beherrscht, die wir auch im Hinduis-
mus finden. Das gilt in ganz besonderem Maße für die
Yogatechniken, aber ebenso für die Kosmologie und die
zyklische Zerstörung und Erneuerung des Universums.
Als Erlöser erscheint nach hinduistischer Prophezeiung
am Ende des Kali Yugas der Gott Vishnu, übrigens wie
der buddhistische Rudra Chakrin auf einem weißen Pferd,
um die Feinde der Religion zu vernichten. Er trägt so-
gar den dynastischen Namen der Shambhala-Könige und
wird Kalki genannt.
Es gibt jedoch in der wissenschaftlichen Forschung die
weitverbreitete Meinung, daß das Erlösermotiv sowohl

469
bei Vishnu wie bei Buddha Maitreya wie im Falle des Ru-
dra Chakrin iranischen Ursprungs sei. Die krasse Unter-
scheidung in Licht- und Dunkelkräfte, das apokalypti-
sche Szenario, die Schlachtenbilder, die Idee eines mili-
tanten Weltenherrschers, selbst das Mandalamodell der
fünf Meditationsbuddhas waren den buddhistischen Ur-
gemeinden unbekannt. Der Buddhismus galt als die ein-
zige unter allen Heilsreligionen, die keinen Erlöser hinter
Gautamas Erleuchtungserfahrung anerkannte. Für den
Iran aber waren (und sind auch heute noch, nur jetzt im
islamischen Gewand) diese Heilsmotive zentral.
In einer überzeugenden Studie hat der Orientalist
Heinrich von Stietencron gezeigt, wie spätestens seit dem
1. Jh. v. Chr. iranische Sonnenpriester in Indien einsickern
und ihre Vorstellungen mit den einheimischen Religio-
nen, insbesondere dem Buddhismus, vermischen. (* Stie-
tencron, 170) Sie wurden Maga und Bhojaka genannt.
Die Magas, von denen unser Wort »Magier« abgeleitet
ist, brachten unter anderem den Mithraskult mit und
kompilierten ihn mit Elementen hinduistischer Sonnen-
verehrung. Westliche Forscher nehmen an, daß sich der
Name des zukünftigen Buddhas Maitreya von Mithras
ableitet.
Die Bhojakas, welche Jahrhunderte später nachfolgten
(600–700 n. Chr.), glaubten, aus dem Körper ihres Son-
nengottes emaniert zu sein. Sie gaben sich außerdem als
die Nachfahren des Zarathustra aus. In Indien schufen
sie eine solare Mischreligion aus den Lehren des Avesta
(Lehren Zarathustras) und des Mahayana-Buddhismus.
Von den Buddhisten übernahmen sie das Fasten, das Ver-

470
bot, den Acker zu bestellen und Handel zu treiben. Um-
gekehrt beeinflußten sie den Buddhismus vor allem durch
ihre Lichtvisionen. Ihre »Photismen« sollen insbesondere
die leuchtende Gestalt des Buddha Amithaba mitgeprägt
haben. Da sie den Zeitgott Zurvan in das Zentrum ihres
Kultes stellten, könnten sie es auch gewesen sein, die we-
sentliche Lehren des Kalachakra-Tantra vorausnahmen.
Der iranische Zurvan trägt wie die von uns beschrie-
bene Kalachakra-Gottheit das gesamte Universum in sei-
nem mystischen Körper : Sonne, Mond und Sterne. Die
verschiedenen Zeiteinteilungen wie Stunden, Tage und
Monate leben in ihm als personifizierte Wesenheiten. Er
ist der Herrscher über die ewige und die geschichtliche
Zeit. Aus ihm brechen das weiße Licht und die Farben des
Regenbogens hervor. Seine Verehrer beten ihn als »Vater-
Mutter« an. Manchmal stellt man ihn wie den buddhi-
stischen Zeitgott mit vier Köpfen dar. Er regiert als der
»Vater des Feuers« oder als das »Siegesfeuer«. Feuer und
Zeit werden durch ihn in eins gesetzt. Er ist auch die zy-
klische Zeit, in der die Welt von Flammen verschlungen
wird, um wieder neu zu erstehen.
Auch der Manichäismus (ab 3. Jh.) übernahm zahlrei-
che Elemente aus der Zurvan-Religion, mischte sie mit
christlich-gnostischen Ideen und fügte buddhistische
Vorstellungen hinzu. Der Religionsgründer Mani hatte
eine erfolgreiche Missionsreise nach Indien unternom-
men. Bedeutende Orientalisten nehmen an, daß seine
Lehre auch umgekehrt Einfluß auf den Buddhismus ge-
wann. Genannt werden unter anderem die Fünfergrup-
pe der Meditationsbuddhas, der Dualismus von Gut und

471
Böse, Licht und Finsternis, dann die Welt als Mikrokos-
mos im Körper der Heiligen und die Erlösungsidee. Noch
konkreter sind die weißen Gewänder, welche die Mönche
im Königreich Shambhala tragen. Weiß war die Kultfar-
be der manichäischen Priesterkaste und ist im Buddhis-
mus als Kleidungsfarbe nicht üblich. Die krasse Erotik
aber, welche der Kalachakra-Übersetzer und Asienfor-
scher Albert Grünwedel in den Manichäismus hinein-
gelegt hat, gab es nicht. Manis Religion trägt im Gegen-
teil höchst »puritanische« Züge und verwirft alles Sexu-
elle : »Die Geschlechtssünde«, soll er gesagt haben, »ist
tierisch, eine Nachahmung der Paarung der Teufel. Vor
allem bewirkt sie jegliche Fortpflanzung und Fortsetzung
des Urübels.« (* zit. b. Hermanns, 1965, 105)
Während der italienische Tibetologe Guiseppe Tuc-
ci in der Lehre vom ADI BUDDHA iranische Einflüsse
zu erkennen glaubt, sieht er den lamaistisch-tibetischen
Weg insgesamt eher als gnostisch an, da er versuche, den
Dualismus von Gut und Böse zu überwinden, und nicht
die krasse Moral des Avesta und der Manichäer vertre-
te. Dies stimmt sicher für den Yoga-Weg im Kalacha-
kra-Tantra, für die Eschatologie des Shambhala-Mythos
gilt das jedoch nicht. Hier treten der »Fürst des Lichtes«
(Rudra Chakrin) und der lasterhafte »Fürst der Finster-
nis« gegeneinander an.
Einen direkten iranischen Einfluß gab es auch auf den
Bönkult, die Staatsreligion, die dem Buddhismus in Ti-
bet vorausging. Der Bön, oft fälschlicherweise mit den
alten schamanistischen Kulturen des Hochlandes ver-
wechselt, ist eine explizite Lichtreligion, mit einer orga-

472
nisierten Priesterschaft, einem Erlöser (Shen rab) und ei-
nem Paradiesreich (Olmolungring), das in verblüffender
Weise dem Königreich Shambhala ähnelt.
Altägyptische Einflüsse auf die tantrische Kultur Ti-
bets zu vermuten, hat eine europäische Tradition. Wahr-
scheinlich stammt diese aus den okkulten Schriften des
Jesuiten Athanasius Kirchner (1602–1680), der die Wie-
ge aller Hochkulturen, auch die der Tibeter, im Nilland
entdeckt zu haben glaubte. Ebenso war der Brite Captain
S. Turner, der im Jahre 1783 das Hochland besuchte, von
einer Kontinuität zwischen Altägypten und Tibet über-
zeugt. Noch in unserem Jahrhundert sieht Siegbert Hum-
mel das »Schneeland« geradezu als »Rückzugsgebiet me-
diterraner Traditionen« und nennt ebenfalls Ägypten als
den Ursprung tibetischer Mysterientradition. (* Hummel,
1954, 129 ; 1962, 31) Insbesondere aber ließ die Okkul-
tistin Helena Blavatsky die Ursprünge beider Kulturen
aus derselben Quelle fließen. Die zwei »übernatürlichen
Geheimgesellschaften«, welche ihr die Ideen einflüster-
ten, sind die »Bruderschaft von Luxor« und die »Tibeti-
sche Bruderschaft«.
Zu einem globalen Ereignis, das bis nach Japan sei-
ne Spuren hinterlassen sollte, wurde der bestimmende
griechische Einfluß auf die sakrale Kunst des Buddhis-
mus (Gandhara-Stil). Ebenso ist das Einwirken helleni-
stischer Ideen auf die Entwicklung der buddhistischen
Lehre verbürgt. Viele westliche Forscher sind sich weit-
gehend einig, daß der Mahayana ohne diese Begegnung
gar nicht möglich gewesen wäre. Über das hellenistische
Baktrien (das heutige Afghanistan) und das ihm folgen-

473
de Kusha-Reich, deren Herrscher zwar skytischer Her-
kunft waren, aber die griechische Sprache und Kultur
angenommen hatten, sollen nach Forschungen des Eth-
nologen Mario Bussagli auch hermetische und alchemi-
stische Lehren mit dem Weltbild des Buddha in Berüh-
rung gekommen sein. (* Bussagli)

Bewertung des Shambhala-Mythos

Die archaischen Ursprünge und Inhalte des Shambha-


la-Staates machen ihn, durch die Brille eines westlichen
Politologen gesehen, zu einem antidemokratischen, to-
talitären, indoktrinären und patriarchalen Entwurf. Es
handelt sich hierbei um eine repressive Idealkonstrukti-
on, die allen Menschen nach einem »letzten Krieg« auf-
gezwungen werden soll. Der Souverän (der Sbambhala-
König) und keineswegs das Volk setzt hier die Rechts-
normen. Er regiert als der absolute Monarch einer
planetaren Buddhokratie. König und Staat bilden sogar
eine mystische Einheit, nicht im übertragenen, sondern
im wörtlichen Sinne, denn die inneren körperlichen En-
ergieabläufe des Herrschers sind mit den äußeren staat-
lichen Ereignissen identisch. Die verschiedenen Verwal-
tungsebenen Shambhalas (Vizekönige, Gouverneure
und Beamte) gelten deswegen als die verlängerten Glie-
der des Souveräns.
Des weiteren beruht der Shambhala-Staat (im Ge-
gensatz zur Ursprungslehre des Buddha) auf der klaren
Unterscheidung von Freund und Feind. Sein politisches

474
Denken ist zutiefst dualistisch bis hinein in die morali-
sche Sphäre. Als Erzfeind des Landes wird der Islam an-
gesehen. Zur Lösung zugespitzter Konflikte bedient sich
die Shambhala-Gesellschaft einer hoch technisierten und
äußerst gewalttätigen Militärmaschinerie, und als ihre
zentralen Propagandamittel setzt sie die sozialpolitische
Utopie vom »Paradies auf Erden« ein.
Aus all diesen Merkmalen folgt, daß die ständigen Be-
kenntnisse des jetzigen XIV Dalai Lama zu den Grund-
sätzen westlicher Demokratie solange leere Phrasen blei-
ben, solange er das Kalachakra-Tantra und den Shambha-
la-Mythos in das Zentrum seines Ritualwesens stellt. Der
häufig von Lamas und westlichen Buddhisten hervorge-
brachte Einwand, es handle sich bei Shambhala um eine
metaphysische und nicht um eine weltliche Institution, ist
nicht stichhaltig. Wir wissen nämlich aus der Geschichte,
daß sowohl die traditionell tibetische als auch die mon-
golische Gesellschaft den Shambhala-Mythos sehr kon-
kret und real kultiviert haben, ohne jemals einen Unter-
schied zwischen einem weltlichen und einem metaphysi-
schen Aspekt in dieser Angelegenheit zu machen.
Auch das Argument, die Shambhala-Vision wäre fer-
ne Zukunftsmusik, überzeugt nicht. Der aggressive Krie-
germythos und die Idee vom weltbeherrschenden ADI
BUDDHA beeinflussen schon seit Jahrhunderten die Ge-
schichte Tibets und der Mongolei als ein starres politi-
sches Programm, nach dem sich die Entscheidungen der
klerikalen Machtelite ausrichten. Im zweiten Teil unserer
Studie werden wir unseren Lesern und Leserinnen die-
ses Programm und seine historischen Durchführungen

475
vorstellen. Wir werden auch noch darauf zu sprechen
kommen, daß nach der Sicht einiger Lamas der tibeti-
sche Staat eine irdische Kopie des Shambhala-Reiches
und der Dalai Lama eine Ausstrahlung des Shambha-
la-Königs darstellt.

Shambhala »Innen« und Shambhala »Außen«

Auf die Frage, weshalb denn der »Weltenherrscher auf


dem Löwenthron« (der Shambhala-König) nicht fried-
lich und positiv in das Geschick der Menschheit eingrei-
fe, antwortet der französische Kalachakra-Gläubige Jean
Rivière : »Er inspiriert nicht die Weltpolitik und interve-
niert nicht direkt oder menschlich in die Konflikte der
wiedergeborenen Wesen. Seine Rolle ist spirituell, ganz
innerlich, individuell sozusagen.« (* Rivière, 36) Eine
solche »Verinnerlichung« beziehungsweise »Psychologi-
sierung« des Mythos wird von einigen Autoren mit dem
gesamten buddhokratischen Reich, mit der Geschichte
Shambhalas und mit der dort prophezeiten Endschlacht
betrieben. Das Land, einschließlich seiner Vizekönige,
Minister, Generäle, Beamten, Krieger, Hofdamen, Vaj-
ra-Mädchen, Palastanlagen, Verwaltungseinheiten und
Glaubenssätzen erscheint jetzt als ein Strukturmodell,
das den mystischen Leib eines Yogis beschreibt : »Wenn
Du Deinen Körper zu nutzen verstehst«, lehrt ein mo-
derner Lama, »wird dieser Körper zu Shambhala, und
alle Handlungen der 96 Fürstentümer sind aufeinander
abgestimmt.« (* Bernbaum, 161)

476
Auch die beschwerliche »Reise nach Shambhala« und
die »Letzte Schlacht« werden versubjektiviert und als »Ini­
tiationsweg« beziehungsweise »innerer Seelenkampf« auf
dem Erleuchtungspfad gedeutet. Der Endzeitherrscher
Rudra Chakrin spielt in diesem psycho-mystischen Dra-
ma das »Höhere Selbst« beziehungsweise das »göttliche
Bewußtsein« des Yogis, das dem menschlichen Ego in
der Gestalt des »Barbarenkönigs« den Kampf ansagt und
es vernichtet. Das prophezeite Paradies verweist auf die
Erleuchtung des Initianten.
Wir sind schon mehrmals auf die unter vor allem west-
lichen Buddhisten weit verbreitete Gewohnheit eingegan-
gen, tantrische Bilder und Mythen ausschließlich zu ver-
innerlichen oder zu »verpsychologisieren«. Nach einem
»abendländischen« Verständnis wird eine Verinnerli-
chung so verstanden, daß man ein äußeres Bild (zum Bei-
spiel einen Krieg) als Symbol für einen inneren psychisch-
geistigen Vorgang (zum Beispiel einen »seelischen« Krieg)
zu verstehen hat. Gemäß dem magisch-orientierten öst-
lichen Denken jedoch bedeutet die »Identität« von Innen
und Außen etwas anderes, nämlich daß die inneren Vor-
gänge im mystischen Leib des Yogis den äußeren Ereig-
nissen entsprechen, oder etwas abgeschwächter, daß In-
nen und Außen aus derselben Substanz bestehen (zum
Beispiel aus dem »Reinen Geist«). Das Äußere ist also
nicht wie im westlichen Symbolverständnis eine Meta-
pher für das Innere, sondern beide, Innen und Außen,
entsprechen sich. Das impliziert zwar, daß das Äußere
durch innere Manipulationen beeinflußt werden kann,
aber nicht, daß es dadurch verschwindet. Um diese Vor-

477
stellung auf das oben genannte Beispiel anzuwenden, folgt
daraus der einfache Satz : Der Shambhala-Krieg findet in-
nen und außen statt. So wie der mystische Körper (innen)
des ADI BUDDHA mit dem gesamten Kosmos (außen)
identisch ist, so ist der mystische Leib (innen) des Shamb-
hala-Königs mit seinem Staat (außen) identisch.
Der Shambhala-Mythos und die aus ihm abgeleiteten
Ideologien stehen in krassem Gegensatz zur ursprüngli-
chen Friedensvision des Gautama Buddha und der Ahim-
sa-Politik (Politik der Gewaltlosigkeit) eines Mahatma
Ghandi, auf die sich der jetzige XIV Dalai Lama so häu-
fig beruft. Für von der pazifistischen Botschaft des Bud-
dhismus sensibilisierte »Westler« mag deswegen die »Ver-
innerlichung« des Mythos ein Ausweg aus dem militan-
ten Ambiente des Kalachakra-Tantras darstellen. In der
tibetisch-mongolischen Geschichte aber ist die Prophe-
zeiung von Shambhala seit Jahrhunderten wörtlich ge-
nommen worden und hat – wie wir noch zu zeigen ha-
ben – zu äußerst aggressiven politischen Unternehmun-
gen geführt. Sie trägt in sich die Keime einer weltweiten
fundamentalistischen Kriegsideologie.
6. ZWEI WESTLICHE ZUGÄNGE ZU DEN-
IDEEN DES KALACHAKRA-TANTRA

Wir möchten in diesem Kapitel zwei westliche Autoren


vorstellen, von denen sich der eine direkt mit dem Ka-
lachakra-Tantra auseinandergesetzt hat. Der andere hat
das Zeittantra zwar nicht gekannt, aber von ihm gibt
es einen Text, der die Manipulation des Eros behandelt
und der als Kulturvergleich dazu beiträgt, die Intentio-
nen des tantrischen Buddhismus noch besser zu verste-
hen. Die erste Person ist der deutsche Orientalist und
Archäologe Albert Grünwedel (1856–1935), die zweite
der berühmte Renaissance-Philosoph Giordano Bruno
(1548–1600).

Das »tiefverruchte Buch« : Albert Grünwedel


(Deutscher Orientalist und Übersetzer des
Kalachakra-Tantras)

Albert Grünwedel gilt zuweilen in der buddhistischen


Szene als eine der Personen, die unbefugt in die Ge-
heimnisse des Kalachakra-Mythos eingedrungen seien
und deswegen mit Wahnsinn oder frühem Tod geschla-
gen wurden. Wer war dieser Mann, der sich den Fluch
des Zeittantras zuzog, und wie sah seine Deutung des
Kalachakra-Tantras aus ?
Grünwedel wurde im Jahre 1856 in Bayern geboren
und starb 1935. Er machte sich einen weltweit beachteten

479
Albert Grünwedel (sitzend) auf der
dritten Turfanexpedition

Namen als Orientalist durch umfangreiche Übersetzun-


gen tibetischer Texte und Sanskritmanuskripte und leg-
te eines der ersten richtungsweisenden Werke über die
buddhistische Mythologie und Kunst vor. Angesichts des
damaligen Standes der Wissenschaft waren das Pionier-

480
leistungen und wurden auch als solche bewertet und be-
wundert. Weiterhin wurde Grünwedel einer breiten Öf-
fentlichkeit als ein hervorragender Archäologe bekannt.
Durch seine Mitorganisation, Teilnahme und akribische
Auswertung der beiden deutschen Turfan-Expeditionen
(1. 1902/03 ; 2. 1905/07) nach Zentralasien war seine in-
ternationale Position als wissenschaftliche Koryphäe auf
dem Gebiet der Orientalistik endgültig gefestigt.
Die archäologischen Ausgrabungen in Ost-Turkestan
führte er als leitendes Mitglied des Berliner Museums
für Völkerkunde durch. Er hatte übrigens ein ganz au-
ßergewöhnliches Talent als Zeichner, dem die Expediti-
on zahlreiche hervorragende Dokumente verdankt, die
Grünwedel von Fresken aus der buddhistischen Frühpha-
se Innerasiens verfertigt hatte. 1923, nach seiner Pensio-
nierung, zog sich der Gelehrte nach Lenggries in Ober-
bayern zurück und publizierte bis an sein Lebensende
mehrere sehr umstrittene Bücher, die allesamt von sei-
nen Kalachakra-Studien beeinflußt sind.
Während seines Aufenthaltes in Ost-Turkestan soll sich
Grünwedel eine schwerwiegende Krankheit zugezogen
haben. Der Kunsthistoriker Hartmut Walravens spricht
von einer Syphilis. (* Brief Walravens an d. V. v. 24. 1.
1996) Sein Charakter wies zunehmend paranoide Züge
auf, die mit euphorischen Siegesgefühlen abwechselten –
Verwandlungen der Persönlichkeit, die durch die Krank-
heit hervorgerufen wurden. 32

32 Als Konservativer ließ sich Grünwedel entsprechend dem Zeit-


geist zu antisemitischen Äußerungen hinreißen. Einmal bezeich-
nete er seine jüdischen Kollegen als »wissenschaftliche Schar- →

481
Seit Beginn der 20er Jahre wurden unter dem Einfluß
des Leidens seine wissenschaftlichen Veröffentlichun-
gen immer polemischer und unverständlicher. Zu den
problematischsten Texten zählen die sogenannte Tusca
(1922), wo der Autor versucht, das etruskische Sprach-
und Kulturproblem zu lösen. Es folgen Die Teufel des
Avesta und ihre Beziehungen zur Ikonographie des Bud-
dhismus Zentralasiens (1924), eine umfangreiche Studie
zur Entschlüsselung der altiranischen Kultur. Als letz-
tes größeres Werk publizierte Grünwedel Die Legende
von Naropa, des Hauptvertreters des Nekromanten- und
Hexentums (1933), eine »Hagiographie« des berühmten
indischen Kalachakra-Meisters. Alle erwähnten Bücher
stehen unter dem eminenten Einfluß seiner Übersetzung
des Zeittantras, die nie im Druck erschien.
Der renommierte italienische Tibetologe Giuseppe
Tucci hat 1935 die Arbeiten Grünwedels einer vernich-
tenden Kritik unterzogen und auch überzeugend gezeigt,
daß der deutsche Gelehrte in den letzten Jahren seines

← latane«. (* Walravens, 141) Irgendeine Beziehung oder eine Sym-


pathie zum Nationalsozialismus konnten wir jedoch nicht fest-
stellen. (Er starb schon 1935.) Auch haben ihn faschistische Ide-
en unseres Wissens niemals beeinflußt. Das läßt sich aus einem
Brief rückschließen, in dem er sich – nach seiner Weltanschau-
ung befragt – als »Hellene« bekennt. Er polemisierte auch mit viel
Engagement und bösen Worten gegen die »Tandler, welche dick
und fett werden«, und meinte damit die Zunft der Kunsthändler,
die mit außereuropäischer Kunst verantwortungslose Geschäfte
trieben. (* Ilzhöfer, 23) Seine orientalistischen Fachkollegen griff
er immer vehementer an : »Solche Herren sollen doch Mücken
spießen und sie nach ihrer Großmutter benennen, statt den Ar-
chäologen ins Handwerk zu pfuschen.« (* Walravens, 135)

482
Lebens eher geneigt war, seine eigenen Imaginationen in
die Texte hineinzulegen, als den Kriterien seiner Wissen-
schaft (der Orientalistik) zu folgen. Kurz nach dem Tode
Grünwedels schrieb der berühmte Asienforscher Sven
Hedin in der Brockhaus Enzyklopädie : »Sein Ende war
überaus tragisch. Die allzu große Gelehrsamkeit führte
zur geistigen Umnachtung.« (* Ilzhöfer, 1) Es gibt jedoch
auch andere Stimmen, zum Beispiel von dem Sinologen
A. H. Francke : »Da heißt es immer, Professor Grünwedel
ist irrsinnig (oder ähnlich), aber wenn man ihn in dieser
oder jener Angelegenheit um einen wissenschaftlichen
Rat fragt, so ergibt sich immer nur, daß er seine Gedan-
ken zusammen hat.« (* Ilzhöfer, 33)
Es ist nicht unsere Absicht, hier die Frage zu beantwor-
ten, ob Grünwedel irrsinnig war oder nicht. Sein Hang
zur aggressiven Polemik, sein Verfolgungswahn, die Will-
kür bei seinen Übersetzungen, die Globalisierung seiner
Aussagen zeigen auf jeden Fall, daß er in seinen letzten
Veröffentlichungen den Fachansprüchen der Orientali-
stik nicht mehr gerecht werden konnte. Die Werke sind
denn auch nirgends mehr richtig studiert und ausge-
wertet worden.
Was uns jedoch mehr als die wissenschaftliche Korrekt-
heit von Grünwedels Arbeiten interessiert, ist die außer-
ordentliche Tatsache, daß er sich durch seinen »Wahn«
einen direkten tiefenpsychologischen Zugang zur phan-
tastischen und magisch-mystischen Welt des Kalachakra-
Tantras verschafft hat. Mit seinen Spekulationen öffne-
te der Gelehrte die Tore zu einer Wirklichkeit hinter der
Realität, in der Götter und Dämonen am Werke sind,

483
und ermöglichte sich somit einen Blick in das Unterbe-
wußtsein des tibetischen Buddhismus, den er sich als se-
riöser Fachprofessor niemals zugetraut hätte. Aber dann
erschrak er so, als habe er direkt in die Hölle geblickt.
Im Kalachakra-Tantra sah er das Böse schlechthin am
Werke, welches seit Jahrhunderten versuchte, das Rad der
Zeit und der Menschheitsgeschichte an sich zu reißen.
Angesichts des tantrischen Ungeheuers, das er gleichzei-
tig fürchtete, wurde er selber zum Sklaven eines krassen
Dualismus, den er in seinen Büchern bekämpfte.
So begann er einen »Privatkrieg« mit den »dämoni-
schen« Mächten und Kräften, welche seiner Ansicht nach
ausgehend vom Zeittantra die Welt bedrohen, und er ver-
suchte deren Ursprünge bis zu den Persern, Etruskern und
Ägyptern zurückzuverfolgen. In Ausstellungen buddhi-
stischer Bilder und Plastiken sah er kein rein ästhetisches
Ereignis, sondern Magie am Werke : »Die Basis jener Kün-
ste aber, die heute in den Himmel gehoben werden, ist die
Magie.« (* Grünwedel, 1922, 159) Ein längeres Beispiel aus
den Teufeln der Avesta mag zeigen, welchen Horror der
Vajrayana bei Grünwedel auslöste : »Nein, hier ist ein Au-
giasstall von Wahnwitz auszumisten, es muß eine Litera-
tur angefaßt werden, vor der den Philologen graut, weil
sie ohne Realien völlig unverständlich ist, die aber nach
ernsten Vorarbeiten geradezu das blasse Entsetzen, die
größten Schurkereien, die Menschen je begangen haben,
enthüllt. Schon nach den ersten Schritten in diese Kotwü-
ste stehen wir vor dem Problem des Zauberer- und He-
xentums, vor Frauen- und Kindermorden, Brandstätten
und Feuerrädern und sehen mit Erstaunen, daß wir hier

484
vor einer Lösung für Dinge stehen, für die die zugängliche
mittelalterliche Hexenliteratur versagt. Und hier trifft es
sich gut, daß durch Spiritisten und verwandtes Gelichter
schon die Unterlagen geschäftig herbeigeholt werden. Mit
Freude wird man es, hoffe ich, begrüßen, wenn ich in der
Lage bin, hier Aufklärung zu geben, die die bisher etwa
seit hundert Jahren verbreitete ›humane‹ Aufklärung al-
lerdings verändert.« (* Grünwedel, 1924, II, 3)

Das »tiefverruchte Buch«

Grünwedels tragische Geschichte ist von Anfang bis


Ende mit dem Zeittantra verbunden. Er bezeichnete sei-
ne Arbeiten an dem »tiefverruchten Buch« als sein »Le-
benswerk«. (* Ilzhöfer, 18, 6) Schon 1881 hatte er das Ka-
lachakra – Tantra – Raja in Tibetisch und Sanskrit in
Händen, ein Unikat aus der Zeit des chinesischen Ming-
Kaisers Wan Li (1573–1620). Grünwedel übersetzte die
Schrift mit König der Magie des Zeitrades und verfertig-
te in mühseliger und jahrelanger Kleinarbeit eine Ab-
schrift des Originals in schöner und klarer Schrift. 1913
plante er eine Reise nach Labrang in der Mongolei zu ei-
nem »Kalachakra-Kenner«, einem »einheimischen, rus-
sisch sprechenden Lama«. Es ist mehr als wahrschein-
lich, daß es sich hier um den Burjaten Agvan Dorzhiev,
einen Vertrauten des 13. Dalai Lama, handelte, der in
der tibetischen Rußlandpolitik eine bedeutende Rolle
spielte und auf den wir noch ausführlich zu sprechen
kommen. Grünwedels Vorhaben wurde aber durch den

485
ersten Weltkrieg verhindert. Unklar bleibt, wann er mit
der Übersetzung des Zeittantras begonnen hat.
Als wichtige Vorarbeit hierzu wertete er seine Ent-
schlüsselung der »Mächtigen Zehn« (Dasakaro Vasi), das
magische Hauptsiegel des Kultes. Er hatte Angst davor,
daß aus einem Abbild dieses Zeichens schädliche Kräfte
nach ihm greifen könnten, und legte deswegen ein Blatt
mit griechischen Versen darauf, »sozusagen zur Desin-
fektion des Ganzen«. (* Ilzhöfer, 18) Seine Übersetzungs-
und Kommentierungsarbeiten betrachtete er nicht nur
als wissenschaftlichen Beitrag, sondern gleichzeitig als
eine Art Antimagie : »Vor allem muß die einem Feuerwerk
ähnliche Drehung der Weltenuhr (das Dasakaro Vasi)
und ihre Hemmungen durch Gegenzauber ( !) heraus-
gearbeitet werden auf Grund des Indexes und der Ana-
lyse.« (* Ilzhöfer, 20)
Zuerst hatte er die Absicht, das Tantra für die Biblio-
theca Buddhica in St. Petersburg zu übersetzen, aber dazu
kam es nicht wegen der bolschewistischen Oktoberrevo-
lution. Vergeblich klopfte er nun bei den verschieden-
sten deutschen Institutionen an, um das »schwarze Buch«
(»kala heißt nämlich außer ›Zeit‹ auch ›schwarz‹«) unter-
zubringen. (* Ilzhöfer, 11) Zwei Jahre vor seinem Tode
(1935) wandte er sich noch einmal an Rußland, wo un-
ter dem kommunistischen Regime der berühmte Ori-
entalist Fyodor Ippolitovich Stcherbatsky überlebt hatte.
Von ihm erhielt Grünwedel eine Zusage : »Ich habe das
Kalachakra-Manuskript richtig erhalten. Ich danke Ih-
nen bestens dafür. Die Bibliotheca Buddhica ist wieder
in Angriff genommen. Darf ich auf Ihre Arbeit rechnen ?

486
Es kommt zunächst … Dann könnte der Kalachakra fol-
gen.« (* Ilzhöfer, 20) Leider wurde 1937 die Forschungs-
arbeit der russischen Orientalisten verboten und die Bi-
bliotheca Buddhica eingestellt.
Auch mit der endgültigen Fertigstellung des »Hexen-
werkes« ging es nicht recht vorwärts. Dunkle Kräfte hin-
derten den Autor nach eigener Vorstellung daran : »Ich
bin in großer Sorge, ob ich es noch fertig bekomme, denn
Sie sehen : schreiben kann ich jetzt nicht. Sobald ich das
Buch anfasse, ergreift mich eine Art Lethargie«, schrieb
er an seinen späteren Nachlaßverwalter Ilzhöfer. (* Ilzhö-
fer, 20) Erst einige Monate vor seinem Tode legte er das
vollständige Manuskript in dessen Hände und fügte ei-
nen Brief mit den folgenden Worten bei : »Ich kann Ih-
nen nicht sagen, wie sehr ich mich gräme darüber, daß
ich Ihnen den ganzen Kalachakra überlassen habe. Es ist
also doch wahr, was mir einmal ein Mongole in St. Pe-
tersburg sagte : ›Wer von uns dies Buch verstehen will, be-
darf einer besonderen Weihe, die schwer zu ertragen ist.
Besonders muß gesagt werden, daß er dabei dem Tode
trotzen muß. Gelingt es einem Russen, so muß er fromm
sein und darf dann hoffen, es nur nach langem Leiden zu
vollenden.‹ Mir ist es nun gelungen, das Buch zu verste-
hen, aber ich ließ die Zügel fallen vor Ermüdung.« (* Ilz-
höfer, 21) Auch diese Worte können nur von dem Burja-
tenlama Agvan Dorzhiev gesagt worden sein, den Grün-
wedel bei seinem Aufenthalt in St. Petersburg mehrmals
getroffen haben muß. Er war sogar davon überzeugt, daß
der 13. Dalai Lama durch Dorziev über seine Forschungs-
arbeiten informiert wurde.

487
Der Nachlaßverwalter bot das Manuskript im Jah-
re 1941 der Parteizentrale der NSDAP ohne Erfolg zur
Drucklegung an. Dann resignierte auch Otto Ilzhöfer
und schickte als alter Mann das Kalachakra-Tantra an
die Bayerische Staatsbibliothek, wo es heute mit einigen
anderen Materialien des Übersetzers in der Orientabtei-
lung einsichtig ist. Es handelt sich um die einzig bekannte
Gesamtübersetzung des Tantras in eine westliche Spra-
che. 33 Leider ist das V. Kapitel abhanden gekommen.

Die Opferung der jungen Sonne

Wenden wir uns nun einigen Grundthesen Grünwedels


zum »tiefverruchten Buch« zu.
In seiner Naropa-Schrift charakterisiert er das Zeit-
tantra mit folgenden Worten : »Die eigentliche Basis des
(tantrischen) Systems aber ist das schwierige Buch Ka-
lachakra, das in magischen Formeln, die wie eine astro-
logisch gefärbte Mythologie aussehen, ein heliolatrisches
System, offenbar nicht indischen Ursprungs, in buddhi-
stischen Ausdrücken, mit dem Visnu-Kult entnomme-
nen Vorstellungen verbindet.« (* Ilzhöfer, 3) Grünwedel
nennt also das Tantra ein »heliolatrisches System«. Bud-
dha ist für ihn die »Sonne«, oder die Sonne gilt als die
»Verkörperung« des Buddha. (* Grünwedel, Kalacakra

33 Günter Grönbold, Leiter der Orientabteilung der bayerischen


Staatsbibliothek, sagte d. V. , es gebe in St. Petersburg einen Über-
setzungsentwurf von Anton Schiefner aus dem 19- Jahrhundert,
ebenfalls ins Deutsche.

488
I, 31, 1) In der Kalachakra-Schule erkennt er einen Feu-
erkult : »Ein Ur-Buddha tritt mit Feuer und Auge auf.«
(* Grünwedel, Kalacakra I, 68)
Im Zeittantra findet nach Grünwedels Interpretation
ein »Sonnenkrieg« statt. Als Todfeinde stehen sich zwei
Sonnen gegenüber. Die eine Sonne (1) repräsentiert den
historischen Buddha, die andere (2) den ADI BUDDHA
des Kalachakra-Tantras, den Grünwedel mit dem Dun-
keldämon Rahu (»die schwarze Sonne«) in eins setzt. Die
erste Sonne (1) wird durch eine Feuerkatastrophe vernich-
tet, damit sich die »aufflammende neue Sonne« (2) rege-
nerieren kann. (* Grünwedel, Kalacakra I, 37) Gleichzeitig
kommt es zu einer Zerstörung der gesamten kreatürlichen
Welt. Anschließend findet eine Neuschöpfung statt.
Die Rolle der geopferten Sonne übernimmt im Ritu-
al des Kalachakra-Tantras der Sadakha (der Schüler). Er
wird als junger »Sonnenheld« (1) von der alten Sonne (2),
dem Tantra-Meister, rituell getötet, damit sich dieser re-
generieren kann. Es findet also die Erneuerung eines al-
ten männlichen Prinzips durch ein junges unverbrauchtes
statt. An anderer Stelle übernehmen Bodhisattvas frei-
willig diese Opferrolle. »Sie gehen in den Buddha über
… als Bodhisattvas haben sie sich aufgeopfert«. (* Grün-
wedel, Kalacakra IV, 95 ; siehe auch III, 19, 112 ; IV, 96,
139, 167)
Grünwedel nennt diesen Vorgang, da hier zwei Son-
nen im Spiel sind, die »magische Selbstzeugung der Son-
ne« oder die »Selbstverjüngung der Sonne«. (* Grünwedel,
Kalacakra 1, 92 ; 153 I 30) Übrigens ist die Verschlingung
der jungen Sonne (1) durch eine alte (2) ein symbolisches

489
Drama, das auch in einigen Texten der europäischen Al-
chemie auftaucht.
Aus bestimmten, von uns schon geschilderten Vorgän-
gen während der »Geheimen Einweihung« des Kalacha-
kra-Tantras, wo der Guru seinen Penis und seinen Samen
in den Mund des Sadhakas legt, hat Grünwedel auf ei-
nen homosexuellen Geschlechtsakt zwischen Schüler und
Meister geschlossen und spricht deswegen von der »Be-
gattung eines Urzwillingpaares«, der alten und der jun-
gen Sonne. (* Ilzhöfer, 3 ; Grünwedel, 1933, 247) Die ero-
tische Beziehung zwischen beiden »Sonnen« geht jedoch
für den Schüler tödlich aus. Während seines Sakrifizi-
ums hat der Sadhaka eine Vision. Er sieht »am Himmel
viele seines gleichen, die zeugen sollen, daß die Sonne
sich noch lange so verjüngen wird.« (* Grünwedel, Ka-
lacakra VI, 195)

Das tantrische Frauenopfer

Zentraler noch als das Sakrifizium des Schülers ist für


Grünwedel im Kalachakra-Tantra das »tantrische Frau-
enopfer«. Geopfert werden die zehn Weisheitsgefährtin-
nen (Shaktis), die der Autor in ihrer menschlichen Gestalt
als »Yoginis« bezeichnet. Ihre Opferung findet während
eines Ganacbakra-Rituals statt. Von Getränken berauscht,
tragen die Yoginis schon zu Beginn der Zeremonie die
Symbole für ihre spätere Vernichtung in der Hand, näm-
lich den »Schädel mit den pyramidal gelegten Eingewei-
den, beigegebenen Augen, Ohren, Nase, Zunge usw. und

490
aufgelegtem Herz.« (* Grünwedel, 1933, 242) Auch im Ka-
thvanga, einem Zauberstab, den die Mädchen halten und
auf dem drei Nachbildungen von kleinen Menschenköp-
fen aufgespießt sind, sieht Grünwedel eine Signatur des
Frauenopfers. (* Grünwedel, Kalacakra II, 144)
In seiner Übersetzung spricht die Kalackakra-Gottheit
während des Ganachakra : »Das Opfer ist … ein Brand-
opfer, und mit der so gewonnenen neuen Sonne erschei-
nen die sprühenden Funkenaugen, die Dakinis, die See-
len der Verbrannten.« (* Grünwedel, Kalacakra I, 37, 48)
Das Zitat soll folgendes besagen :
1. Geopfert werden die »realen« Yoginis oder Mudras
durch ein Feuer.
2. Nach dem Opfer verwandeln sie sich in reine Geist-
wesen (Dakinis).
3. Die bei dem Brandopfer freigesetzten Energien kom-
men der »neuen Sonne« (dem ADI BUDDHA) zugute.
Das gleiche will der anschließende Satz zum Ausdruck
bringen : »Jede Kopulation«, läßt der Übersetzer den
Kalachakra-Gott verkünden, »bringt durch die Zehn
Mächtigen, da ihr ein Opfer zugrundeliegt, bald eine
Verfinsterung, bald ein Lichtanschwellen hervor, denn
die Kayas (Körper der Yoginis) sterben und flammen auf
als Dakinis.« (* Grünwedel, Kalacakra I, 54) Die sexu-
elle Vereinigung von Vishvamata und Kalachakra löst
demnach das Brandopfer aus. Der Dunkeldämon Rahu
als »Verfinsterung« und das Weltzeitfeuer Kalagni als
»Lichtanschwellung« wechseln einander ab. Die Körper
der 10 Teilnehmerinnen an einem Ganachakra verbren-
nen und werden in Dakinis transmutiert.

491
Eine Dakini ist deswegen für Grünwedel die »zurück-
kehrende Seele eines Opfers« oder noch klarer : »Eine Da-
kini ist die Seele einer ermordeten Mudra.« (* Grünwedel,
Kalacakra 1, 185 ; 1933, 5) Der Autor führt die Vernich-
tung des Weiblichen auf den schon in der Frühphase des
Buddhismus ausgeprägten Frauenhaß zurück : »Furcht-
bar klingen die Beschimpfungen der Frau … Der Leib
der Frau ist geradezu ein Höllenkessel, die Frau eine ma-
gische Gestalt der Dämonen der Vernichtung.« (* Grün-
wedel, 1924, II, 29)
Aber nach dem Feuertod der Madras geht für Grün-
wedel der Mummenschanz weiter. Der Yogi wird »um-
tanzt von verschiedenfarbigen Hexen (Dakinis), die, mit
den aus Schädelschalen gebildeten Handtrommeln schla-
gend, groteske Sprünge machen. Es sind dies, wie wir sa-
gen würden, die heraneilenden Geister von Mädchen, de-
nen der Zauberer in einer früheren Existenz durch sein
›Erbarmen‹ die Möglichkeit verschafft hat, nach dieser
den Himmel bannenden … Zeremonie ihm ungestraft
ihre transzendenten Mitteilungen zu geben.« (* Grün-
wedel, 1924, II, 46) Auch hier das gleiche Ereignis : Die
Mädchen wurden verbrannt und dienen jetzt dem Tan-
tra-Meister aus dem Jenseits als »Geisterhexen« und als
»transzendente« Beraterinnen.
Die Verbrennung beginnt an den Füßen und steigt
dann nach oben, so wie der Berg Meru am Ende der Zei-
ten von seinem emporlodernden Wurzelfeuer verschlun-
gen wird und ebenso wie die Candali aus dem Nabelcha-
kra des Yogis nach oben steigt : »Aber unten, wo der rote
Feuerhaken durch den des Windes und von ihm getra-

492
gen abschließt, also wo Hüfte, Schenkel, Schienbein und
Fußsohle den Elementen entsprechen, droht die Feuer-
hölle. So ergibt sich die furchtbare Lehre, daß die Feuer-
hölle Schluß ist für jede Dakini, ja für jeden Geborenen.«
(* Grünwedel, Kalacakra, Einleitung, 24) Scharfsinnig
deutet Grünwedel die Candali als die »zornige Manife-
station eines Opfers«. (* Grünwedel, Kalacakra I, 26)
Der deutsche Gelehrte sah im tantrischen Feueropfer
der Mudras eine buddhistische Variante zu den europä-
ischen Hexenverbrennungen. Auch wir haben schon auf
die vielen ähnlichen Züge zwischen »Hexe« und »Daki-
ni« im Verlauf unserer Studie hingewiesen. Während sei-
ner Übersetzungsarbeiten an dem »tiefverruchten Buch«
übten solche Parallelen auf Grünwedels Psyche eine so
nachhaltige Wirkung aus, daß er sich dadurch höchst
persönlich angesprochen fühlte und zu der Überzeugung
gelangte, er selber sei das Opfer einer tantrischen Ver-
schwörung, die sich über Jahrhunderte und alle Grenzen
hinweg erstreckt und ihn und seine Vorfahren bedrohe :
»Traditionen in meiner und verwandten Familien über
furchtbare Hexenprozesse (so der Ulmer von 1416 und
die Wemdinger um 1628–32), in denen meine Familie
furchtbar litt, so daß sogar eine Namensänderung ein-
treten mußte – mein Name (Grünwedel) ist ein Hexen-
name –, gaben mir einige Phrasen in die Hand, die mir
bewiesen, daß noch etruskische Reminiszenzen34 bis ins

34 Bei den Etruskern und Manichäern glaubte er den Ursprung


des Kalachakra-Tantras gefunden zu haben. Wir werden seine
These noch erörtern.

493
Mittelalter weiter liefen – neben manichäischen.« (* Wal-
ravens, 144) Sah sich Grünwedel als der Sproß eines He-
xenclans, dessen Mitglieder auf den Scheiterhaufen der
Inquisition verbrannt wurden ? Die Beschäftigung mit
dem Kalachakra-Tantra ließ jedenfalls solche Vorstel-
lungen in ihm aufsteigen.
Grünwedel durchblickte in seiner Kalachakra-Über-
setzung noch nicht den oben von uns dargestellten so-
phistischen Umgang der Tantriker mit der Symbolik
von Sonne und Mond und interpretiert deswegen das
zentrale Opferritual innerhalb des Kalachakra-Tantras
als eine »Vernichtung des Mondes«, das heißt der Frau,
durch die männliche Sonne. Der von uns beschriebene
Geschlechtertausch zwischen den Himmelslichtern des
Zeittantras (Mond männlich – Sonne weiblich) ist ihm
noch nicht vertraut. Drei Monde, das heißt Voll-, Halb-
und Dunkelmond, werden deswegen nach seiner Deu-
tung durch das »Sonnenfeuer« zerstört : »Es ist klar, daß
der Mond brennt.« (* Grünwedel, Kalacakra, Einleitung,
34) Die Mondzerstörung geschieht nach eigenen Wor-
ten während des »Kopulationsfeuers«, deswegen spricht
er von der »tödlichen Begattung« zwischen Sonne und
Mond : »Da die Monde Kaya (Körper) sind und von der
Sonne begattet werden, dabei aber zugrundegehen, bil-
det sich aus den zerstörten Monden ein Spektrum als
Kaya.« (* Grünwedel, Kalacakra 1, 39) Bei diesem »Spek-
trum« kann es sich nur um den Lichtkörper (Vajrakaya)
des Yogis handeln, der nach dem Zitat eindeutig aus der
Opferung des weiblichen Körpers (Kaya) hervorgeht.
Endergebnis des Rituals ist für Grünwedel die neue

494
androgyne Sonne, die nach der Tötung der Yogini im
Sternzeichen Krebs erscheint. Sie hat den Mond in sich
absorbiert. So heißt es nach Kalachakras eigenen Wor-
ten : »Der Zentralbuddha wirkt im Monde als Sonne.«
(* Grünwedel, Kalacakra I, 65) »Alle Shaktis ist er selbst.«
(* Grünwedel, Kalacakra IV, 102) Er ist zum kosmischen
Androgyn geworden : »Denn da er die mystische Begat-
tung vollzogen hat, repräsentiert er selbst Mond und Son-
ne.« (* Grünwedel, Kalacakra IV, 194) Auch die einzel-
nen Planeten, welche durch die im Ganachakra anwe-
senden Yoginis symbolisiert sind, werden von der Sonne,
beziehungsweise dem leitenden Tantra-Meister, begattet,
dadurch in Flammen versetzt und letztendlich verzehrt.
Alle »werden vom Feuer erfaßt, das der Wind weiter-
treibt«. (* Grünwedel, Kalacakra 1, 118)
Grünwedel betont weiterhin in seiner Interpretation,
daß es dabei um die Vernichtung des Weiblichen als Prin-
zip geht : »Aber es ist nicht zu vergessen, daß die Welten-
uhr ein Weib, eine Dakini, ist. Deshalb liegt in jedem
Weibe der Trieb zur Yogini und damit zur Dakini. Men-
schenopfer helfen den Weibern zu dieser flammenden
Karriere.« Auch würden im Kalachakra-Tantra »die Wei-
ber der verschiedenen Stände und Berufe als Opfermen-
schen zu je einer Manifestation empfohlen«. (* Grünwe-
del, Kalacakra, Einleitung, 27) Als »Weltenuhr« bezeich-
net Grünwedel das Dasakaro Vasi, die »Zehn Mächtigen«,
das heißt die zehn Opfergöttinnen (Mudras, Dakinis) des
Ganachakra. Manchmal gebraucht er hierfür die Worte
»Wasseruhr« oder »Erdgeschöpf«. (* Grünwedel, Kalaca-
kra, Einleitung, 21) Auf dem Höhepunkt der magischen

495
Kopulation mit den Yoginis »verwandelt sich das Uhr-
werk in eine Gluthölle von kreisendem Feuer, wodurch
die Dakinis im Feuer aufsprühen«. (* Grünwedel, Kala-
cakra, Einleitung, 21) »Der Bauch der Ur-Dakini steht
in Flammen, von E (dem Vajra) getroffen, und dadurch
drehen sich die Adern, die Eingeweide … Damit schließt
eine Weltperiode, die Uhr muß sich neu bilden. In der-
selben Weise bilden auch die Dakinis sich um und wer-
den Varianten der Ur-Dakini.« (* Grünwedel, Kalacakra,
Einleitung, 21)
All das sind Darstellungen des »tantrischen Frauen-
opfers« unter verschiedenen Gesichtspunkten. Geopfert
werden die zehn Yoginis, von denen jede aus verschie-
denen Ständen (Kasten) stammt. Ihre Energien verdich-
ten sich in die zuerst noch lebendige Hauptgefährtin des
Tantra-Meisters, die nach ihrer Ermordung zur Ur-Da-
kini transmutiert. Sie trägt jetzt den Namen der Zeitgöt-
tin Vishvamata und repräsentiert als kosmische Uhr die
Weltenzeit und unseren Planeten Erde. Von Vishvama-
ta heißt es in einer Grünwedel-Übersetzung : »Die gelbe,
ganz nackte Yogini, die er (der Yogi) hält, ist die Erde ;
diesmal als goldbringende Kraft, die Ur-Dakini, die nun
unter der Kopulation stirbt und dadurch erst die Shak-
ti wird.« (* Grünwedel, Kalacakra, Einleitung, 31) Hier
spricht der Gelehrte eine ernst zu nehmende globale Ver-
mutung aus, daß unsere Erde (Mutter Erde) durch die
tantrischen und androzentrischen Religionspraktiken
zerstört wird. Wir werden bei unserer Wertung des Va-
jrayana auf diese These zurückkommen.

496
Weitere Zerstörungsereignisse im Kalachakra-Tantra

Neben dem Feuer ist nach Grünwedel im Kalachakra-


Tantra ein »Urvajra« (Ur-Phallus) das zweite Vernich-
tungsinstrument in der Hand des neuen Sonnen-Bud-
dha (Rahu). Mit ihm spaltet er die Weltenachse Meru :
»Der Donnerkeil (Vajra) muß die Berge spalten, durch
das richtige Erkennen muß den Wiedergeburten aus
Mutterschößen (dem Samsara) ein Ende gemacht wer-
den«, schreibt der Gelehrte. (* Grünwedel, 1924, II, 29)
Von den Energien des zerborstenen Weltenberges rege-
neriert sich die neue solare Gottheit. »Licht bricht also
durch mit einem gewaltigen Stoß, öffnet den Felsen des
Meru, und wird die junge Sonne des laufenden Jahres.«
(* Grünwedel, 1924, II, 43) Weiterhin macht uns der Au-
tor auf den Zeitpunkt aufmerksam, an dem die vorpro-
grammierte totale Katastrophe einbricht. »Es handelt
sich darum, daß beim Wandel der Weltperioden der
Tag festgelegt wird, an dem die magische Verbindung
der Shakti und des Gottes stattfinden kann.« (* Grün-
wedel, Kalacakra I, 25) Die Kopulation von Kalachakra
und Vishvamata entfacht also nach Grünwedels Inter-
pretation den vom Yogi initiierten Weltenbrand.
Die Rolle des »Planetenfressers« Rahu im kosmischen
Spiel des Zeitrades ist bei Grünwedel nicht ganz klar.
Einmal tritt er als der Gehilfe der alles verschlingen-
den alten Sonne auf. Dann erscheint er in der Gestalt
eines feurigen Garudas in »Mädchen- und Knabenmor-
dender Form«. (* Grünwedel, Kalacakra, Einleitung, 22)
Dann ist er selbst der Protagonist, der »dunkle Sonnen-

497
dämon«, der den Mond und die junge Sonnenscheibe
durchbohrt und sich dadurch als neue Sonne etabliert :
Rahu saugt die Lebensenergie von Sonne und Mond in
sich hinein, damit er als regeneriertes monströses Son-
nenwesen überleben kann. Dabei beruft sich Grünwedel
auf Übersetzungen aus dem ersten Kapitel des Tantras.
Dort lesen wir : »Nachdem Rahu die Mondscheibe er-
faßt hat, wird er völlig hell … Zuerst werden Mond und
Sonne, dann alle Planeten verschlungen, indem der Dä-
mon alle Regionen durchkreist. Wie dadurch angedeu-
tet ist, tritt also Rahu als Kalachakra, als Personifikation
des Mandala (des Zauberkreises) auf.« (* Grünwedel, Ka-
lacakra IV, 143) Rahu wird »geradezu zum Machtträger
des Ganzen durch Mond und Sonne, also ist er der Ur-
heber der Mondzermalmung durch die Sonne. Nachdem
er den Mond in Flammen gesetzt hat, erhebt er sich über
die Sonne und wird zum Nada, zum Schrei.« (* Grünwe-
del, Kalacakra, Einleitung, 35) Dieser Schrei muß wohl
als eine Mischung aus dem Todesschrei des »ermordeten
Mondes« (der Mudra) und dem Triumphschrei des Fin-
sternisplaneten (Rahu) gewertet werden. »… unter dem
Eingriff der Sonne sieht sich der Mond niedergepreßt
und in Flammen. Es ertönt ein Schrei, denn der bren-
nende Mond wird zu Rahu, zur Brandwolke.« (* Grün-
wedel, Kalacakra, Einleitung, 26)
Nur selten ist in Grünwedels Interpretationen von ei-
nem Selbstopfer des Gurus die Rede. Dieses tritt höch-
stens als Betriebsunfall auf, denn es kann passieren, daß
der Tantra-Meister die von ihm bei dem Ritual freige-
setzten Energien nicht mehr aushält. »Es kommt aber

498
auch vor, daß der Zauberer in einer früheren Existenz in
der Erregung bei der Stuprätion (Vergewaltigung) seines
weiblichen Opfers gleichzeitig damit starb. Dann tritt er
selbst als Führer einer Reihe solcher Verstorbener neu
auf und umtanzt sich selbst, aber als Skelett mit einem
ebenfalls als Skelett auftretenden Opfer.« (* Grünwedel,
1924, II, 46) Doch sogar in diesem Ausnahmefall bleibt
der Yogi der Sieger, indem er sich noch post mortem mit
der Energie der gemordeten Mudra vereinigt. »Damit
ist gesagt, daß der Yogi, der dem Buddha gleich ist, sich
nach dem Tode mit der Seele einer ebenfalls toten Yogi-
ni verbindet.«35 (* Grünwedel, Kalacakra IV, 121)
Der Tantra-Meister ist also nach Grünwedel eine »spuk-
hafte Gegensonne«, welche vampiresk die Lebensenergie
von Mann und Frau absaugt, um unsterblich zu werden.
(* Grünwedel, Kalacakra 1, 53) Er »unterbricht die Kopu-
lation von Sonne und Mond … (und wird zum) Durch-
bohrer von ewiger unfaßbarer Macht.« (* Grünwedel, Ka-
lacakra IV, 133) Dabei kommt es zur Freisetzung einer
magischen Substanz. Dieser begehrte »Lebenssaft« wird
von dem Autor als Ischor oder Rasa bezeichnet, was wahr-
scheinlich dem männlichen und weiblichen Samen ent-
spricht. Beide gelten als die Geburtsstoffe zur Schaffung
neuer Universen. »Der vollendete Magier, die kommende
neue Sonne also, ist auch im Besitz des Rasa genannten
Stoffes und verwendet ihn so, daß nach ihm neue Son-
nen kommen können.« (* Grünwedel, 1933, 243)
Nach einer solchen Interpretation des Zeittantras ist
es kein Wunder mehr, daß Grünwedel dem tibetischen
Buddhismus mit höchstem Abscheu gegenüberstand,

499
was nicht ausschloß, daß er gleichzeitig einer gefährli-
chen Faszination erlag, die bis hin zur Besessenheit führ-
te. Aber er machte nicht die Lehre des Shakyamuni für
das »Horrortheater« und die »Perversionen des buddhi-
stischen Tantrismus« verantwortlich. Im Vajrayana sei-
en wir »in eine Atmosphäre geglitten, die das gerade Ge-
genteil von Buddhismus, ja eine bestialisch gemeine Ver-
höhnung desselben genannt werden muß.« (* Grünwedel,
1924, II, 41) »Wer die Geduld hatte, bis hierher zu fol-
gen, wird sich fragen : ist das überhaupt noch Buddhis-
mus ? Nein, es ist ein untergeschlüpftes, mit allerlei Phra-
sen aufgeputztes System der infamsten Habgier, Wollust,
Grausamkeit und Heuchelei. Es ist fast unerträglich, das
widerliche Gewäsch über Erlösung, Heil der Lebewesen,
Keuschheit (sic !) und unendliches Glück zu lesen, das
solche Legenden und Bilder begleitet … Ehe und Liebe,
Besitz und harmloser Genuß sind Verbrechen, widerna-
türliche Unzucht, Blutgier, Wahnwitz die heiligsten Kult-
handlungen.« (* Grünwedel, 1924, II, 62)

35 Der Autor kommt mehrmals auf die im Kalachakra-Tantra


erwähnte – von uns nur am Rande behandelte – alchemistische
Produktion von Gold und Reichtum zu sprechen. »Vishvama-
ta spendet Reichtum«, heißt es im vierten Kapitel. (* Grünwe-
del, Kalacakra IV, 15) Dort wird auch beschrieben, wie der Guru
»das Gold der Jungfrau auf den gesegneten Leichenstätten ma-
gisch zuwege« bringt. (* Grünwedel, Kalacakra IV, 169)

500
Die Etrusker

Wenn nun nach Grünwedel der Buddhismus nicht der


Schuldige für die grauenhaften Szenarien des Kalachakra-
Tantras ist, wo sind dann die Täter zu suchen ? Der deut-
sche Gelehrte glaubte hinter dem Vajrayana einen globa-
len und uralten »heliolatrischen Kult« entdeckt zu haben.
Dieser habe sich seit Jahrhunderten überall auf unserem
Planeten verbreitet. Eingeschleppt wurde er ins Schnee-
land durch die Manichäer via Seidenstraße, in deren Oa-
sen die Geburtsstätten des Kalachakra-Tantras zu suchen
seien. Das sei auch der Weg, der die perverse Sonnenleh-
re später bis in den fernsten Osten nach Japan bringen
sollte. Die Wurzeln aber seien bei den Etruskern, Altira-
nern, ja letztendlich den Ägyptern zu suchen.
Um Grünwedels Thesen noch besser kennenzulernen
und zu verstehen, müssen wir einen kurzen Blick auf
die von ihm behandelten Kulturkreise, die er in seinen
zwei Spätwerken Tusca und Die Teufel des Avesta unter-
sucht, werfen. Beide Arbeiten gehen von den Kenntnis-
sen und den Grundstrukturen des Kalachakra-Tantras
aus, so wie der Autor das Dokument interpretiert. Bei-
de sind mit Schmerz, Wut und Enttäuschung geschrie-
bene polemische Kassandrarufe, um die Menschheit auf
eine Ungeheuerlichkeit aufmerksam zu machen, die sie
bedroht und die ihren Untergang vorbereitet. Beide sind
aber auch die Ansammlung eines solch gehäuften, ver-
wirrenden und unklaren philologischen Materials, daß
die Texte rational nicht mehr verstanden werden können.
Grünwedel glaubte nämlich nicht nur, zwei unbekann-

501
te Mysterienkulte entschlüsselt zu haben und einer ok-
kulten Weltverschwörung auf der Spur zu sein, sondern
er war gleichzeitig davon überzeugt, zwei bisher noch
nicht übersetzte antike Sprachen, das Etruskische und
das Hethitische, entziffert zu haben. Der sprachwissen-
schaftliche, der kulturkritische, der polemische und der
quasi messianische Ansatz sind in den beiden Büchern
zu einem schwer entwirrbaren Knäuel verknotet. Den-
noch läßt sich mit einiger Mühe ein Grundmuster der
behandelten Kulte herausschälen.
Als Material für seine Forschungen lagen dem Ge-
lehrten unter anderem die in etruskischer Sprache ver-
faßten Agramer Mumienbinden und die Leberinschrift
von Piacenza vor. Mit Freude wandte er sich an den von
ihm hochgeschätzten Fachkollegen Professor Kuhn und
schickte ihm das Manuskript der Tusca, wie er sein »Ent-
schlüsselungswerk« der etruskischen Sprache und des
etruskischen Kultwesens betitelte. Dieser wies ihn mit
einem schroffen Brief zurück, der in dem Satz endet :
»Und der Inhalt, welcher sich ergibt, ist ein solch unmög-
licher, daß schon dadurch die ganze Entzifferung diskre-
ditiert wird. Dazu kommt ein Ton der Polemik, der in
Akademie-Schriften unerhört sein würde.« (* Walravens,
144) Der »unmögliche Inhalt« ist aber nichts mehr und
nichts weniger als die Übertragung von Grünwedels Ka-
lachakra-Deutung auf die etruskischen Mysterien. Das
macht das Buch trotz seiner wissenschaftlichen Mängel
für uns so interessant. Wir geben also eine knappe Zu-
sammenfassung dessen, was der Autor aus den Mumien-
binden herausgelesen hat :

502
Zentrales Ereignis des etruskischen Kultes sei, laut
Grünwedel, die »Selbstbegattung der Sonne«. (* Grün-
wedel, 1922, 120) Dieses Geschehen setzt auf der astra-
len Ebene zwei Sonnen voraus. Eine alte schwache und
eine junge unverbrauchte. Die Jugendsonne wird durch
eine »launische und zornige, brennende und verzehrende
Macht durchstoßen« und dann in zwei Hälften gespalten.
(* Grünwedel, 1922, 45) Die bei dieser Spaltung freige-
setzte Energie gilt als Lebenselixier der alten Mörderson-
ne, die sich damit auffrischt und ewig macht. Vor dem
Opfer lebt sie »bocksköpfig« in der Unterwelt. (* Grün-
wedel, 1922, 45) Grünwedel nennt dieses Wesen den »Zi-
scher«, den »Zerschneider«, und setzt es mit dem Teufel
gleich : »Wird ein Mann dem Brand zum Opfer, erscheint
im Qualm ein stierköpfiger Teufel : die Basis aller Magie
und Hexentums.« (* Grünwedel, 1922, 63) Der »Zischer«
trägt seiner Meinung nach alle Charakterzüge des tan-
trischen Rahu.
Auf der Erde, das heißt auf der physischen Ebene, wird
dieser Kult durch ein Knabenopfer vollzogen. Das männ-
liche Kind, welches die junge Sonne repräsentiert, er-
leidet als erstes durch den »Feuerphallus« des Priesters
eine Vergewaltigung, um dann in einem »Blitzlicht«, ei-
ner »Brandqualmflamme« oder einem »Verwesungs-
dampf« zu verglühen. In Anlehnung an die Tantras be-
zeichnet der Autor den Vorgang als »Magie der dämoni-
schen Liebe«. (* Grünwedel, 1922, 189) Die Energie des
mißbrauchten und ermordeten Knaben geht in den Op-
ferer ein : »Wird an einem Opfer dieser Vorgang richtig
durchgeführt, so wird der Glückliche, der geopfert wur-

503
de, der bocksköpfige Sonnengott des Tages«, indem er
seine »elektrische Ladung« an den alten Priester über-
trägt, der seine eigene Verjüngung damit erreichen will.
(* Grünwedel, 1922, II, 96) »Der Buhlknabe, mißbraucht,
zerschlitzt, repräsentiert die Geburt eines neuen Tages.«
(* Grünwedel, 1922, 123)
Grünwedel glaubt auch in den von ihm entzifferten
Schriften einen konkreten Fall entdeckt zu haben, wo
ein zweieinhalbjähriges Kind zur Verlängerung des Le-
bens eines Achtzigjährigen geschlachtet wurde. (* Grün-
wedel, 1922, 94) Es können jedoch auch Mädchen zu den
Opfern zählen, die vom Hohen Priester in einen bren-
nenden Ofen gesteckt werden. (* Grünwedel, 1922, 63)
Knaben und Mädchen sind austauschbar : »Dieser zum
Zaubersiegel nötige Knabe ist die Jungfrau für den zur
Sonne gewordenen Zischer.« (* Grünwedel, 1922) Wie tief
der Autor in der Vorstellungswelt des Kalachakra-Tantras
lebt, zeigt eine Stelle, wo der Opferknabe auf die Nabe ei-
nes brennenden Rades gespannt wird und von Mädchen,
die Grünwedel als »Flügelwesen« bezeichnet, umgeben
ist. Alle gehen in Flammen auf. (* Grünwedel, 1922, 197)
Wer können diese »Jungfrauen« anders sein als die tan-
trischen »Himmelswandlerinnen« (Dakinis), als die ver-
brannten Yoginis aus dem Ganachakra-Ritual ?36

36 Einer der wenigen, welche sich aus der Tusca bedient haben,
war der Chefideologe des Nationalsozialismus, Alfred Rosen-
berg. In seinem Grundlagenwerk Der Mythos des 20. ]ahrhun-
derts widmet er ein ganzes Kapitel dem etruskischen Satanismus
und greift vor allem auf Grünwedels Thesen zurück. Er kommt
jedoch zu einer völlig konträren Deutung des Kultes, für den →

504
Ägyptische Kulte

Als Ursprungsland der von ihm geschilderten »heliola-


trischen Besessenheit« (sowohl der etruskischen Kulte
wie des Kalachakra-Tantras) nennt Grünwedel jedoch
Ägypten. Auch dort sei eine »Finsternissonne« von per-
vertierten Opferpriestern verehrt worden, die einen
echt tantrischen Kultstil aufwies. Durch die Worte ei-
nes in Angst und Horror versetzten Ägypters stellt uns
der Autor dieses Ungeheuer vor : »Der Herr des Schrec-
kens über beide Länder, Herr der roten Glut, bereitet
den Schlächterblock ; er lebt von Eingeweiden. Bewah-
re mich vor dem Gotte, der die Seelen faßt, Unreinheit
frißt und Schmutz verschlingt, dem Herrn der Finster-
nis, der im Lichte lebt.« (* Grünwedel, 1922, 184) Grün-
wedel interpretiert auch den Osiris-Mythos als ein sola-
res Opferdrama, in dem dessen Bruder Seth die alte Son-
ne spielt, die sich durch die Zerstückelung der jungen
Sonne (Osiris) zu verewigen sucht. Die Anhänger des
zerstückelten Gottes beteten mit Inbrunst : »Rette mich
vor den Schlachtmessern, vor den grausamen Fingern,
welche die morden, die dem Osiris folgen. Nie werden sie
über mich Herr werden, möge ich nie fallen unter ihre
Messer ; mögen ihre Messer sich nie meiner bemächti-

← Tibetologen handelt es sich bei der etruskischen Kultur um ein


patriarchales heliolatrisches Opfersystem, für den Nationalso-
zialisten dagegen um eine der abscheulichsten Formen des Ma-
triarchats, der von der römisch – nordischen Staatsidee der Gar-
aus gemacht wurde.

505
gen, möge ich nie fallen unter ihre Messer.« (* Grünwe-
del, 1922, 183)
Es liegt nahe, daß der Autor in dem Pharao Amenophis
IV (1377–1336 v. Chr.) die in die ägyptische Geschich-
te inkarnierte allgewaltige Sonne erkennen mußte. Die-
ser Herrscher, der später den Namen Echnaton annahm,
ließ alle Ströme der bunten ägyptischen Götterwelt ver-
dampfen und setzte an deren Stelle einen absolutistischen,
»heliolatrischen« Kult. Wie der ADI BUDDHA ließ er
sich als »Vater-Mutter« anbeten, und wie der historische
Buddha wies er eine Cryptorchidie aus, Signatur seiner
Androgynität. Penislose Statuen seiner selbst wurden in
seiner Residenz demonstrativ zur Schau gestellt. Grün-
wedel erklärte ihn deswegen zum »Eunuchen«. (* Grün-
wedel, 1922, 193)
Echnaton, der in der europäischen Gelehrtenwelt so
große Bewunderung auslöste, war für den deutschen
Orientalisten ein machtbesessener und höchst gefähr-
licher Usurpator : »Dieser Vertreter des Monotheismus
erschien in der Zeit, wo ich Ägyptica trieb, wesentlich
anders als heute nach so vielen und doch vergeblichen
Reinwaschungen. Während die Ägyptologen das Genie
bewundern, Kunstschwärmer den feinen Japonismus der
Züge seiner Umgebung preisen, legen Laien, und dazu ge-
höre ich ja auf diesem Gebiete auch, diese ganze Schicht
ad acta, wenn vom alten Ägypten die Rede ist. ›Der Kerl
gefällt mir nicht‹.« (* Grünwedel, 1922, 193)

506
Die Teufel der Avesta

Grünwedels folgendes Werk Die Teufel der Avesta ver-


steht sich vor allem als Entzifferung von Inschriften des
Löwen von Marasch oder der Schwertinschrift von Ma-
rasch. Dabei handelt es sich um hethitische Hierogly-
phen, die der Gelehrte jedoch fälschlicherweise als eine
altiranische beziehungsweise medische Sakralschrift
ansah, welche im engen Kontext mit der Lehre Zara-
thustras (Avesta) stehe. Auch in diesem Buch haben wir
eine kaum entwirrbare Mischung philologischer, emo-
tionaler, kulturkritischer und phantastischer Elemente
vor uns. Suchen wir nach dem Gerüst des Werkes, dann
werden wir bald herausfinden, daß Grünwedel wieder-
um die Inhalte des Kalachakra-Tantras auf eine ande-
re Kultur übertragen hat. Für ihn war das »verfluch-
te Buch« aus Tibet der Schlüssel, um die weltweite und
schon seit Jahrhunderten andauernde Verschwörung ei-
nes heliolatrischen Geheimkultes zu entlarven : »Wir er-
halten für unsere Zwecke die Grundlage aller Zauberei
und sehen eine Reihe von wichtigen Gleichungen tuski-
scher Zauberformeln und medischer Wörter, die wir in
den nordbuddhistischen Tantras, besonders in den Bü-
chern des Padmasambhava und im Kalachakratantrara-
ja, wiederfinden.« (* Grünwedel, 1924, 397)
Welches Drama entziffert nun der Tibetologe aus den
Löweninschrift von Maraschi Sie ist nach Grünwedel der
Hilferuf eines zu Tode erschreckten Menschen, der sich
vom höchsten Dämon der Welt (sprich Kalachakra) ver-
folgt sieht. Ein »Blitzdrache« oder die »Blitzschlange« er-

507
scheint ihm. Das kann nur Rahu sein, der ja denselben Na-
men trägt. Er »schwebt über dem blutüberronnenen Pfahl
des Gestürzten«. Weiter heißt es : »Im Brennofen sind die
Opfer : Mann, Frau und Kind ; zwischen den Tempelpy-
ramiden erscheint der gehörnte Dämon ; ein Brandrost
folgt dem anderen, Rauch steigt auf.« (* Grünwedel, 1924,
138) Alle Protagonisten des Kalachakra-Dramas betreten,
wenn auch unter anderen, altiranischen Namen, die kos-
mische Bühne, zum Beispiel die Kundalini, im Tantrismus
auch als »Blitz- oder Feuerschlange« bekannt : »Derselbe
ist es, über den die Blitzschlange schwebt, mitsamt dem
Pfahl reißt er sich los, … wie eine gespenstische Kralle
greift seine Flamme um sich«. (* Grünwedel, 1924, 139)
In Reminiszenz an das Ganachakra (»Kreisrad«) wird
hier ein menschliches Sakrifizium auf einem brennen-
den »Drehrad« vollzogen.
Ebenso wie in den Agramer Mumienbinden soll in der
Löweninschrift ein ritueller Mord beschrieben sein, der
an einer jungen Sonne vollzogen wird, damit sich aus ih-
ren Lebensenergien eine alte verjüngen kann. Mit dem
Mörder »kann nicht die hochverehrte Sonne am Him-
mel gemeint sein, sondern eine freche Kreatur, die sich
Sonnenähnlichkeit durch Magie anmaßte«. (* Grünwe-
del, 1924, 202) In einer grauenhaften Szene spaltet die-
se die junge Sonnenscheibe und trinkt anschließend de-
ren Energie. Auch hier ist die Grundidee, ewiges Leben
durch die Opferung eines anderen zu erlangen.
Ebenso wie im etruskischen Kult vergewaltigt in der
Avesta die alte Dämonensonne (der »Blitzdrache«) in der
Gestalt eines Priesters die junge Sonne in der Form ei-

508
nes Knaben und tötet diesen während des Sexualaktes.
Den Penis des Dämonenpriesters bezeichnet Grünwedel
immer als »Donnerkeil« (Vajra) und stellt dadurch wie-
derum einen Bezug zum Tantrismus her.
Aber der zentrale sexualmagische Akt findet hier nicht
wie im Kalachakra-Tantra zwischen einem heterose-
xuellen Paar, sondern immer zwischen Männern statt.
(* Grünwedel, 1924, 245, 282, 358, 374, 398) Grünwedel
schämt sich, eine genaue Beschreibung dieser homose-
xuellen »dämonischen Kopulation« in deutscher Spra-
che wiederzugeben und verfaßt sie deswegen in Latei-
nisch. (* Grünwedel, 1924, 399) Nach dem Ritualmord
an dem Jungen ist »der Opferer verjüngt und neu er-
mannt«. (* Grünwedel, 1924, 173) Er verjüngt sich zum
»neuen Goldkind der Sonne«. (* Grünwedel, 1924, 175)
In ihm lebt jetzt der »Geist des Geschlachteten«. (* Grün-
wedel, 1924, 176)
Interessant ist die Aussage des »iranischen« Sonnen-
dämons, daß er »die Erde zum Rade machen« will, be-
ziehungsweise »einen flammenden Zauberkreis auf der
Erdscheibe« entfesseln möchte, um sie so in eine »zwei-
te Sonne« zu verwandeln. Erst »dann kann der Himmel
in Bewegung kommen. Ein flammendes Zauberrad auf
der Erde, ein brennender, aber beweglicher Zauberkreis,
der Sonne gegenübergestellt, ist das Mittel, sich direkt in
den Himmel emporzuschwingen.« (* Grünwedel, 1924,
286) Die Mutter Erde soll also verbrannt werden. Wie im
Kalachakra-Tantra steht deswegen nach Grünwedel am
Ende der Avesta-Kulte eine universelle Feuerhölle : »Es
sind also oben Brände und unten Brände … so ist eine

509
Umgebung von Flammen, ein Flammenkranz gemeint
… ein Flammenring um das Opfer selbst.« (* Grünwe-
del, 1924, 175)
Bestimmte Elemente altpersischer Kultmysterien wur-
den – wie allgemein bekannt – von den Manichäern über-
nommen. Ihr Religionsgründer Mani (ca. 216–ca. 276)
lehrte eine Synthese aus zarathustrischen, buddhistischen
und christlich-gnostischen Ideen. Er gewann einen ge-
wissen Einfluß auf den Sassanidenherrscher Shapur I,
der seine Lehre förderte. Nach dessen Tod wurde Mani
jedoch verfolgt und starb der Legende nach den Märty-
rertod am Kreuz. Seine Doktrin ist wie das Kalachakra-
Tantra von einem krassen Dualismus bestimmt, schwelgt
in Weltuntergangsvisionen, kennt verschiedene religiöse
Photismen und verehrt einen Höchsten Gott, der dem
ADI BUDDHA ähnelt. Dagegen lassen sich für die »tan-
trisch – sexualmagischen« Opferpraktiken, die Grünwe-
del den Manichäern unterschiebt, nach der Forschung
keinerlei Beweise erbringen. Der deutsche Gelehrte war
jedoch der Ansicht, es seien die Manichäer gewesen, die
in den Oasen der Seidenstraße durch Austausch mit Bud-
dhisten das synkretistische Kalachakra-Tantra konzipiert
hätten. 37

Grünwedels Globalisierung des Kalachakra-Tantras

So rollte für Grünwedel das »Zeitrad« vom pharaoni-


schen Ägypten zu den Etruskern, von dort zu den me-
dischen Persern und überrannte Jahrhunderte später

510
den Buddhismus in den Oasen des Tarimbeckens ent-
lang der Seidenstraße. Es waren die Händlerkarawanen
der Manichäer, welche es dorthin brachten. Von da aus
wandte es sich nach Indien gegen Süden und sollte dann
im 11. Jahrhundert nach Norden ins »Schneeland« Tibet.
Es erreichte Japan schon vor dem Buddhismus, da des-
sen shintoistische Sonnenverehrung für Grünwedel eine
Variante des Kultes darstellt. Wie es seiner Meinung
nach zu den Azteken nach Mittelamerika kam, darauf-
bleibt er uns eine Antwort schuldig.
Solche kulturumfassenden Bezüge sind jedoch keines-
wegs nur das Gedankengut Grünwedels geblieben. Be-
deutende Tibetologen und Indologen wie Helmut Hoff-
mann, Marie-Thérèse Mallmann und Giuseppe Tucci
sprechen ebenfalls von iranischen Einflüssen auf den
buddhistischen Tantrismus. Siegbert Hummel knüpft
selbst einen Faden bis zu den Etruskern. (* Hummel, Pai-
deuma, 311)
Der niederländische Psychologe und Kulturkritiker
Fokke Sierksma macht sogar in einer Äußerung Grün-

37 Im Jahre 1906 geriet Grünwedel mit seinem Kollegen F. W.


K. Müller in einen heftigen wissenschaftlichen Streit. Beide Ori-
entalisten nahmen für sich in Anspruch, manichäische Hand-
schriften unter den Funden aus Ost-Turkistan entdeckt zu ha-
ben. Eine völlige Klärung dieser Angelegenheit ist bis heute nicht
möglich. Abgesehen von den wissenschaftlichen Querelen, hat-
te diese Entdeckung einen eminenten Einfluß auf Grünwedels
Interpretation des Kalachakra-Komplexes, denn er glaubte den
Beweis zu haben, daß das Zeittantra eine Fortsetzung manichä-
ischen Gedankengutes sei und mit dem ursprünglichen Buddhis-
mus nur wenig zu schaffen habe.

511
wedels Sprung über den Atlantik zu den Azteken mit,
wenn auch nur als Kulturvergleich : »Die Hypertrophie
von Menschenopfern, die ihre Tempelpyramiden in re-
ligiöse Schlachthäuser verwandelten, war ein Symptom
für die aus Angst entstandene Aggressivität, mit der die
Azteken sich selbst und anderen gegenüber ihre Überle-
genheit zu beweisen suchten und beweisen mußten … In
Tibet finden wir etwas ähnliches.« (* Sierksma, 21)
So paranoid die Verschwörungsvisionen Grünwedels
und so mangelhaft seine Übersetzungen der alten Texte
auch sein mögen, so gibt es keinen Zweifel daran, daß
»heliolatrische Opferkulte« in den verschiedensten Kul-
turen verblüffende Parallelen zu vielen Passagen im Ka-
lachakra-Tantra aufweisen. Aber höchst wahrscheinlich
entstanden diese Ähnlichkeiten nicht durch die histori-
sche Verbreitung einer religiösen Idee, sondern es handelt
sich dabei um ein globales archetypisches Ereignis. Die
Vision, als »kosmische Sonne« über das Weltall zu herr-
schen, ist ein Leitmotiv unzähliger Mythen bei zahllosen
Völkern. Sie ist ein Urthema der europäischen Alchemie.
Dabei repräsentiert der nach der universellen Macht grei-
fende Sonnengott keineswegs immer das Gute. Die Gri-
masse des Teufels legt er ebenso gerne an wie das strah-
lende Antlitz des gütigen Gottes. Seine Anhänger mögen
ihn lieben oder fürchten, Hauptsache ist, sie gehorchen
ihm und bestätigen dadurch seine absolute Herrschaft.
Grünwedel sah sich als der Mahner vor einem archa-
ischen, grausamen und enigmatischen Kult, der dabei
ist, in das Kulturgefüge des Westens einzudringen. Sei-
ne Schriften bezeichnete er deswegen auch als ein Mene-

512
tekel. Mit Pathos beschwor er schon in den 20er Jahren
eine Vereinnahmung Europas durch die orientalischen
Sekten : »Wir brauchen aber die Wahrheit ; denn so geht
es nicht weiter. Der Orient reckt sich, steht riesengroß vor
dem verbluteten Europa, und wer will den Orient ken-
nenlernen, wie er ist ?« (* Grünwedel, 1924, 73) Mit harten
Worten attackierte er die Theosophen und deren Umfeld,
die zusammen – wie er richtig gesehen hat und wie wir
noch zeigen werden – mehr zur Verbreitung des tibeti-
schen Tantrismus beigetragen haben, als das allgemein
bekannt ist : »Die Gaukeleien unserer Tischrücker, Kreis-
zieher, die heuchlerischen Reformatoren des Christentum
und des albernen, von Europa mißverstandenen Buddhis-
mus haben Erfolge : Geister reden, Briefe kommen vom
Himmel, Mahatmas liefern Tee und Blumen, stellen den
Auserwählten Bücher hin, die sie brauchen, wunderba-
re Ehen werden unter dem Siegel der Verschwiegenheit
zwischen Gliedern des Geistesadels geschlossen, uralte
Geister erscheinen.« (* Grünwedel, 1924, 73) Die Geister
des Kalachakra-Tantras sind hier gemeint.
Aber da Grünwedel überall den Teufel am Werk sah,
verfiel er selber dem krassen Schwarz-Weiß-Denken der
Manichäer, die er in seinen Schriften angreift : »Der ge-
hörnte Teufel, das ›nordische Phantom‹, ist gefunden«,
schreibt er in der Einleitung zur Tusca, »der Ausgang in
die grauenvollen Zeiten der Katherer- und Hexenbrände
einerseits, des Kalachakra und seiner Hexenmeister an-
derseits ist begründet. Ich habe vor mir ein Schriftstück,
das in ganz anderer, aber ebenfalls asiatischer Sprache,
dasselbe, nur noch entsetzlicher enthält.« (* Grünwedel,

513
1922, 198) Auch hier bezieht er sich auf das Zeittantra !
Überall in der Welt entdeckte Grünwedel dessen Signa-
turen, und das war für ihn das Inferno. Der tantrische
Teufel Kalachakra beherrschte alles um ihn herum. Er
ist die »Personifikation des ewigen Feuers«, der »Drache«,
der »Satan«, der alles verschlingt, opfert und zerstört, um
seine Macht aufrechtzuerhalten und auszudehnen.
Es gibt somit keine Frage, daß der erste westliche Über-
setzer der tibetischen Geheimschrift besessen war, be-
sessen vom Kalachakra-Teufel, dem tibetischen Zeitdä-
mon, der aus dem »schwarzen, tiefverruchten Buch« nach
seiner Seele griff. Die innerliche Pein, die dieser Mann
durchlitten haben muß, ist nur zu ahnen. Aber das ei-
gentlich Tragische besteht darin, daß er, ohne es zu wol-
len, selbst Teil des kosmischen Theaters wurde, welches
im Kalachakra-Tantra seine Aufführung findet.
Schon der russische Shambhala-Sucher Nicholas
Roerich (und ihm werden mehrere moderne Buddhi-
sten nachfolgen) führt die »Verrücktheit« Grünwedels
als Kronzeugin für die Allgewalt des Zeittantras an. »Ich
habe gehört«, läßt Roerich einen Lama in seinem Reise-
bericht über Innerasien sagen, »daß Csoma de Koros (der
erste Tibetologe) in seinem Leben viel Mißgeschick ern-
tete, und Grünwedel, den Ihr erwähntet, wurde verrückt.
Denn beide berührten aus Neugier den erhabenen Namen
Shambhala, ohne seine gewaltige Bedeutung zu erken-
nen. Es ist gefährlich, mit dem Feuer zu spielen – auch
wenn Feuer für die Menschheit von größtem Nutzen sein
kann.« 38 (* Roerich, 1988, 23) Es hat für Grünwedel nie
die Frage gegeben, ob die Tantras real durchgeführt oder

514
nur symbolisch nachvollzogen wurden. Für ihn war das,
was er aus den Texten übersetzte, eine Tatsache.

Der Manipulator des Eros :


Giordano Bruno (Renaissancephilosoph)

Zum Schluß dieses Kapitels wollen wir den Leser und


die Leserin noch mit einer spektakulären europäischen
Parallele zu der tantrischen Grundidee, daß Eros und
Sexualität in materielle und spirituelle Macht umgesetzt
werden können, bekannt machen. Es handelt sich hier-
bei um einige bisher kaum diskutierte Thesen Giordano
Brunos (1548–1600).
Bruno, geboren zu Nola in Italien, war schon mit 15 Jah-
ren in den Dominikanerorden eingetreten. Sein Interes-
se an den neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen und
seine Faszination an der späthellenistischen Esoterik ver-
anlaßten ihn jedoch sehr bald, seinen Orden zu verlassen,

← 38 Durch seine Dämonisierung des Kalachakra-Tantras macht


Grünwedel ungewollt das »Geschäft« der tibetischen Lamas. Er
gibt dem Inhalt der tantrischen Zeitlehre eine weltweite kosmi-
sche Macht, die angeblich schon seit Jahrhunderten tätig ist. Ge-
mäß der buddhistischen Umkehrlogik folgt aus der absoluten
Verteufelung nur das Gegenteil, nämlich eine Apotheose. Grün-
wedels Kampf gegen den manichäischen Dualismus im Kalacha-
kra-Tantra ist verloren, wenn er selbst ohne Unterlaß den Teufel
an die Wand malt. »Der Teufel freut sich«, schrieb der russische
Philosoph Nikolai Berdjajew, »wenn es ihm gelingt, uns böse, das
heißt teuflische Gefühle ihm gegenüber einzugeben. Der Teufel
feiert Siege, wenn man mit böser, diabolischer Art gegen ihn an-
kämpft.« (* zit. b. Wilber, 1987, 214)

515
ein für die damalige Zeit sehr mutiges Unterfangen. Von
nun an begann ein gehetztes Wanderleben, welches ihn
durch ganz Europa trieb. Dennoch verfaßte und veröffent-
lichte der rastlose und geniale ExMönch zahlreiche »revo-
lutionäre« Schriften, die sich in allen möglichen Themen-
bereichen kritisch zur kirchlichen Dogmatik verhielten.
Die Tatsache, daß sich Bruno viele Ideen des sich damals
herausbildenden modernen wissenschaftlichen Weltbildes,
insbesondere das kopernikanische System, zu eigen mach-
te, hat ihn schon zu Lebzeiten zu einem Helden der Neuzeit
werden lassen. Nachdem er aufgrund eines Urteilsspruchs
der Inquisition im Jahre 1600 auf dem Campo de’ Fiori
in Rom wegen Ketzerei lebendigen Leibes verbrannt wur-
de, erklärte ihn die europäische Intelligenzia zum größten
»Märtyrer der modernen Wissenschaft«. Dieses Image ist
ihm bis heute geblieben. Es besteht jedoch mit einem ge-
wissen Unrecht, da Bruno weit mehr an den esoterischen
Ideen der Antike und dem Okkultismus seiner Zeit inter-
essiert war als an der modernen wissenschaftlichen For-
schung. Fast alle seine Werke haben magisch-mystisch-my-
thologische Themen zum Inhalt.
Wie die indischen Tantriker war dieser exzentrische
und dynamische Renaissancephilosoph davon überzeugt,
daß das gesamte Universum vom Eros zusammengehal-
ten wird. Die Liebe in all ihren Variationen regiert die
Welt von der Physis bis hinauf in den metaphysischen
Himmel, vom Sexus bis zur Herzensliebe der Mystiker :
Sie »führt entweder zu den Tieren (Sexus) oder zum In-
telligiblen und wird dann die göttliche genannt (Mystik).«
(* zit. b. Samsonow, 174)

516
Bruno weitet den Begriff des Eros letztendlich auf alle
menschlichen Gefühle aus und bezeichnet ihn ganz all-
gemein als die Urkraft, die durch Affekte bindet, bezie-
hungsweise, wie er es nennt, »fesselt«. »Die mächtigste
Fessel von allen ist die … Liebe.« (* zit. b. Samsonow, 224)
»Gefesselt« wird der Liebende an die Person des oder der
Geliebten. Umgekehrt muß das keineswegs der Fall sein,
denn der Geliebte braucht nicht notwendigerweise selber
zu lieben. Diese Definition der Liebe als »Fessel« macht
es Bruno möglich, selbst den Haß als eine Ausdrucks-
form des Eros anzusehen, denn der Hassende ist ebenso
mit seinen Gefühlen an den Gehaßten »gefesselt« wie der
Liebende an den Geliebten. Wir werden im Folgenden,
um dem Leser und der Leserin die Parallele von Brunos
Philosophie mit dem Tantrismus plastischer vor Augen
zu führen, die feminine Form benutzen und anstatt von
dem Liebenden (männlich) von der Liebenden (weiblich)
sprechen. Bruno braucht den Begriff ganz allgemein und
wendet ihn sowohl auf Frauen wie auf Männer an.
»Fesseln können« ist nach Bruno auch die Hauptei-
genschaft der Magie, denn ein Magier handelt wie ein
Fesselkünstler, wenn er seine »Opfer« (Menschen oder
Geister) durch die Liebe an sich bindet. »Wir haben dort,
wo wir über die natürliche Magie gesprochen haben, be-
schrieben, inwiefern alle Fesseln auf die Fessel der Lie-
be bezogen werden können, von der Fessel der Liebe ab-
hängig sind oder in der Fessel der Liebe bestehen.« (* zit.
b. Samsonow, 213) Die Liebe bindet die Menschen mehr
als alles andere, und das gibt ihre etwas Dämonisches,
insbesondere dann, wenn sie von einem der Partner zu-

517
ungunsten des anderen ausgenutzt wird. »Für diejeni-
gen, die sich der Philosophie und Magie hingegeben ha-
ben, ist es völlig offenkundig, daß die höchste Fessel, die
wichtigste und allgemeinste dem Eros zuzurechnen ist :
Deswegen nannten die Platoniker die Liebe den Großen
Dämon, daemon magnus.« (* zit. b. Couliano, 91)
Wie funktioniert nun diese erotische Magie ? Zwischen
den Liebenden entsteht nach Bruno eine erotisch-magi-
sche Verstrickung, ein Gewebe aus Affekten, Gefühlen
und Stimmungen. Dieses bezeichnet er als Rete (Netz
oder Gewebe). Es ist aus feinstofflichen »Affektfäden« ge-
woben, aber deswegen um so bindender. (Erinnern wir
uns daran, daß die deutsche Übersetzung des Sanskrit-
wortes »Tantra« »Gewebe« oder »Netz« bedeutet.) Das
Rete (das erotische Netz) kann sich in einer sexuellen Be-
ziehung (durch sexuelle Abhängigkeit) äußern, ist aber
in den meisten Fällen seelischer Natur, was jedoch sei-
ne Bindungskraft noch verstärkt. Alle Formen der Liebe
fesseln auf ihre Weise : »Diese Liebe«, so Bruno, »ist eine
einzige und die eine Fessel, die alles zu Einem macht.«
(* zit. b. Samsonow, 180)
Eine Person kann, wenn sie will, diejenigen beherr-
schen, die sie durch Liebe an sich bindet, denn »durch
diese Fessel wird (die) Liebende hingerissen, so daß sie
in das Geliebte überführt werden will«, schreibt Bruno.
(* zit. b. Samsonow, 181) Der wirkliche Magier ist dem-
nach der Geliebte, der die erotische Energie der Lieben-
den zur Akkumulation eigener Macht ausnutzt. Er trans-
formiert Liebe in Power, er ist ein Manipulator des Eros. 39
Auch wenn wir in Brunos Manipulator keinen Tantriker

518
à la lettre vor uns haben, so trifft doch, wie wir gleich se-
hen werden, der zweite Teil der Definition, die wir unse-
rer Studie vorangestellt haben, auf ihn zu :

Das Mysterium des tantrischen Buddhismus besteht in


… der Manipulation des Eros zur Erlangung universeller
androzentrischer Macht.

Der Manipulator, von Bruno auch als »Seelenjäger« be-


zeichnet, kann durch den Gesichtssinn der Liebenden,
durch ihr Gehör, durch ihren Geist und durch ihre Ima-
gination in ihr Herz eindringen und sie so an sich fes-
seln. Er kann sie anblicken, anlächeln, ihr die Hand hal-
ten, sie mit schönen schmeichelnden Sätzen besprechen,
mit ihr schlafen oder sie durch seine Vorstellungskraft
beeinflussen. »Beim Fesseln«, so Bruno, »gibt es vier Be-
wegungen. Die erste ist das Eindringen oder die Einfüh-
rung, die zweite die Bindung oder die Fessel, die dritte
die Anziehung, die vierte die Verbindung, welche auch
Genuß genannt wird … Deswegen will (die) Liebende
ganz in den Geliebten eindringen, mit der Zunge, dem
Mund, mit den Augen etc.« (* Samsonow, 171, 200) Das-
heißt, daß sich die Liebende nicht nur fesseln läßt, son-
dern höchste Lust an dieser Bindung empfinden muß.
Diese Lust muß sich so steigern, daß sie sich mit ihrem

← 39 Um die Beschreibung dieses Transformationsprozesses geht


es dem Renaissancephilosophen in seiner Schrift Über fesselnde
Kräfte im Allgemeinen (De vinculis in genere – 1591). (* Samso-
now [Hrsg. ], 166)

519
ganzen Wesen dem geliebten Manipulator hingeben will
und »in ihm verschwinden« möchte. Das gibt diesem die
absolute Macht über die Gefesselte.
Der Manipulator produziert alle möglichen Illusionen
im Bewußtsein seines Liebesopfers und entflammt des-
sen Begierden und Gefühle. Er öffnet das Herz der Lie-
benden und kann die dadurch »Verwundete« in Besitz
nehmen. Er ist der Herr über fremde Emotionen und hat
die »Mittel zur Verfügung, um alle Ketten, die er sich
wünscht, zu schmieden : Hoffnung, Mitgefühl, Furcht,
Liebe, Haß, Empörung, Zorn, Freude, Geduld, Verach-
tung gegenüber dem Leben und dem Tode«, schreibt Joan
P. Couliano bezüglich Bruno in seinem Buch Eros und
Magie in der Renaissance. (* Couliano, 94) Die magisch
bewirkte Fesselung darf jedoch nie gegen den offenkun-
digen Willen der Verzauberten geschehen. Im Gegenteil,
der Manipulator muß in seinem Opfer immer die Sug-
gestion hervorrufen, alles geschehe nur in dessen Sinne.
Er schafft die völlige Illusion, die Liebende sei eine Aus-
erwählte, ein unabhängiges Individuum, das seinem ei-
genen Willen folgt.
Bruno erwähnt auch eine indirekte Methode der Ein-
flußnahme, bei der die Liebende überhaupt nicht weiß, daß
sie manipuliert wird. Der Manipulator bedient sich in die-
sem Fall »machtvoller unsichtbarer Wesenheiten, Dämo-
nen und Heroen«, die er durch magische Sprüche (Man-
tras) herbeizitiert, um mit ihrer Hilfe das gewünschte Re-
sultat zu erhalten. (* Couliano, 88) Wie diese beschworenen
Geister für den Manipulator arbeiten, erfahren wir aus
dem folgenden Zitat : Sie brauchen »weder Ohren noch

520
eine Stimme noch Flüstern, sondern sie dringen in den
inneren Sinn (der Liebenden) wie beschrieben ein. So ge-
ben sie nicht nur Träume ein und bewirken, daß Stimmen
vernommen werden und alles mögliche gesehen wird, son-
dern auch dem Wachenden drängen sie bestimmte Gedan-
ken als Wahrheit auf, die sie kaum als von einem ande-
ren stammend erkennen.« (* Samsonow, 140) Die Liebende
glaubt also aus eigenen Motiven und nach eigenem Wil-
len zu handeln, während sie in Wahrheit durch magische
Einflüsterungen gesteuert und kontrolliert wird.
Der Manipulator selber darf sich dagegen keinerlei
emotionalen Neigungen hingeben. Wie ein tantrischer
Yogi muß er von Anfang bis Ende die völlige Kontrol-
le über die eigene Gefühlswelt halten. Eine gut entwic-
kelte Egozentrik ist aus diesem Grunde der notwendi-
ge Charakterzug eines guten Manipulators. Ihm wird
nur eine Liebe erlaubt : die Selbstliebe (philautia), und
nur eine kleine Elite hat nach Bruno die Fähigkeit dazu,
weil sich die Mehrheit der Menschen unkontrollierten
Emotionen hingibt. Der Manipulator muß seine Phanta-
sie voll zügeln und beherrschen : »Sei vorsichtig«, warnt
ihn Bruno, »daß du dich nicht von einem Manipulator
in ein Werkzeug der Phantasmen verwandelst.« (* zit. b.
Couliano, 92) Der wirkliche europäische Magier muß
wie sein orientalischer Kollege (Siddha) in der Lage sein,
seine »Phantasie zu ordnen, zu korrigieren und vorher-
zusehen, um verschiedene Vorstellungen nach seinem
Willen zu schaffen.« (* Couliano, 92)
Er darf keine Gegenliebe für die Liebende entwickeln,
aber er muß sie vortäuschen, denn – so Bruno – »die Fes-

521
seln der Liebe, der Freundschaft, des Wohlwollens, des
Gefallens, der Lust, der Nächstenliebe, des Mitleids, der
Begierde, der Leidenschaft, der Habsucht, des Verlangens
und der Sehnsucht verschwinden leicht, wenn sie nicht
auf Gegenseitigkeit beruhen. Daher rührt jenes Sprich-
wort : Ohne Liebe stirbt die Liebe.« (* zit. b. Samsonow,
181) Dieser Satz ist durchaus zynisch gemeint, denn es
geht dem Manipulator nicht darum, den Eros der Lie-
benden zu erwidern, sondern darum, eine solche Erwi-
derung vorzutäuschen.
Damit der Betrug gelingt, darf der Manipulator aber
nicht völlig kalt bleiben. Er muß die Gefühle, die er bei
der Liebenden hervorruft, aus eigener Erfahrung ken-
nen, aber er darf sich diesen niemals selber unterwerfen :
»Er wird gerade dazu aufgefordert, in seinem Phantas-
ma (seiner Imagination) ausgeprägte Leidenschaften zu
pflegen, vorausgesetzt, sie bleiben steril und er haftet ih-
nen nicht an. Denn es gibt keinen Weg, andere zu ver-
zaubern, als in sich selbst mit dem zu experimentieren,
wovon man wünscht, daß es in der Person des Opfers
hervorgerufen wird.« (* Couliano, 102) Das Hervorrufen
von Leidenschaften, ohne ihnen zu unterfallen, ist – wie
wir wissen – geradezu ein tantrisches Leitmotiv.
Das Erstaunlichste an Brunos Manipulationsthese
ist jedoch, daß er wie im Vajrayana die Retention des
Samens als ein machtvolles Herrschaftsinstrument er-
wähnt, dessen sich der Magier bedienen soll, denn »durch
das Ausstoßen des Samens werden die Fesseln (der Lie-
be) gelockert, durch die Zurückhaltung gestrafft.« (* zit.
b. Samsonow, 175) In einer weiteren Passage lesen wir :

522
»Wenn dieser (der semen virile) einem Teil entsprechend
ausgestoßen wird, geht daher in einem Verhältnis dazu
die Kraft der Fessel zugrunde.« (* zit. b. Samsonow, 175)
Oder umgekehrt : Eine Person, die ihren Samen zurück-
hält, kann dadurch die erotische Fesselung der Lieben-
den stärken.
So deckt sich Brunos Vorstellung, daß zwischen Eros
und Macht eine Korrespondenz besteht, auch in der Fra-
ge der Spermagnosis mit dem tantrischen Dogma. Sei-
ne Theorie von der Manipulierbarkeit der Liebe gibt uns
wertvolle psychologische Einsichten in die Seele der Lie-
benden und des geliebten Manipulators. Sie helfen uns
auch, zu verstehen, weshalb Frauen sich den buddhisti-
schen Yogis hingeben und was sich in ihrer Gefühlswelt
während der Riten abspielt. Dieses Thema wird – wir
haben schon darauf hingewiesen – in der tantrischen
Diskussion völlig verdrängt. Bruno aber spricht es of-
fen und zynisch an – es ist das Herz der Liebenden, das
manipuliert wird. Der Effekt für den Manipulator (oder
Yogi) ist deswegen um so größer, je mehr sich ihm seine
Karma Mudra hingibt.
Brunos Traktat Über die fesselnden Kräfte im Allge-
meinen (1591) ist in seinem Zynismus und seiner Di-
rektheit nur mit Macchiavellis Der Fürst (1513) zu ver-
gleichen. Aber sein Werk geht tiefer. Couliano verweist
mit Recht darauf, daß sich Macchiavelli mit der politi-
schen, Bruno jedoch mit der psychologischen Manipula-
tion auseinandersetzt. Denn weniger die Liebe einer Ge-
fährtin, sondern der Eros der Massen soll – das sei Bru-
nos Absicht – dem Manipulator als »Fessel« dienen. Der

523
ehemalige Mönch aus Nola habe die manipulierte »Lie-
be« als ein machtvolles Herrschaftsinstrument zur Ver-
führung der Massen erkannt. Seine Theorie trage deswe-
gen viel dazu bei, die ekstatische Attraktivität zu verste-
hen, welche Diktatoren und Päpste auf die sie liebenden
Menschen ausüben. Das mache Brunos Schrift trotz ih-
res zynischen Inhaltes so aktuell.
Die Ausführungen Brunos über den »Eros als Fessel«
sind ihrem Wesen nach tantrisch. In ihnen geht es wie
im Vajrayana um die Manipulation des Erotischen zur
Herstellung von spiritueller und weltlicher Macht. Bruno
hat erkannt, daß die Liebe im weitesten Sinne der »Le-
benssaft« ist, der die Errichtung und Aufrechterhaltung
von Machtinstitutionen mit einer Person an der Spitze
(wie zum Beispiel dem Papst, dem Dalai Lama oder ei-
nem »geliebten« Diktator) erst ermöglicht. So stark die
Liebe auch sein mag, sie ist, wenn sie einseitig bleibt, in
der Person des »Liebenden« manipulierbar. Ja – je stärker
sie wird, um so leichter kann sie (durch den »Geliebten«)
für Machtzwecke benutzt oder »mißbraucht« werden.
Daß es im Tantrismus mehr um den Sexus als um
die sublimeren Formen des Eros geht, ändert nichts an
diesem Prinzip der »erotischen Ausbeutung«. Auch der
Vajrayana weiß um die Manipulation feinerer Liebes-
formen wie die des Blickes (Carya Tantra), des Lachens
(Kriya Tantra) und des Berührens (Yoga Tantra). Eben-
so ist für den tantrischen Buddhismus wie für jede reli-
giöse Institution die »seelische Liebe« seiner Gläubigen
eine Lebensenergie, ohne die er nicht existieren könnte.
Wir werden im zweiten Teil unserer Studie zu zeigen ha-

524
ben, wie es dem tibetischen Oberhaupt der Buddhisten,
dem Dalai Lama, gelingt, mit der »Fessel der Liebe« im-
mer mehr westliche Gläubige an sich zu binden.
Couliano ist übrigens in seinem zitierten Buch (Eros
and Magic in the Renaissance) der Meinung, daß der We-
sten über die Massenmedien in ein solch manipulierba-
res »erotisches Netz« (Rete) schon eingewoben ist. Am
Ende seiner Analyse von Brunos Machttraktat kommt er
zu dem Schluß : »Und seit die Beziehungen zwischen den
Individuen durch ›erotische‹ Kriterien im weitesten Sin-
ne dieses Adjektivs (über die Medien) kontrolliert wer-
den, ist in der menschlichen Gesellschaft auf allen Ebe-
nen nur Magie am Werk. Ohne sich selbst dessen bewußt
zu sein und weil die Welt so konstruiert ist, partizipie-
ren alle Lebewesen … an einem magischen Prozeß. Da
er diesen gesamten Mechanismus durchschaut hat, ist
der Manipulator zuerst ein Beobachter der intersubjek-
tiven Beziehungen, während er gleichzeitig das Wissen
gewinnt, von dem er nachträglich Profit zu ziehen ver-
steht.« (* Couliano, 103)
Auf die Frage, wer aber dieser Manipulator sein könnte,
auf diese Frage bleibt uns Couliano die Antwort schul-
dig. Wir werden im zweiten Teil unserer Analyse zu prü-
fen haben, ob der XIV Dalai Lama mit seiner weltweiten
Liebesbotschaft, mit seiner Macht über das Netz (Rete)
der westlichen Medien und mit seinen sexualmagischen
Techniken des Kalachakra-Tantras die Kriterien eines
Magiers im Sinne von Giordano Bruno erfüllt.
7. EPILOG ZUM ERSTEN TEIL

Wir haben gezeigt, wie der Buddhismus von Beginn an


das weibliche Prinzip als eine Kraft erfährt, die seinen
Erlösungsvorstellungen entgegensteht. Alle Typologien
der Frau, angefangen von der Mutter, über die Gelieb-
te, über die Ehefrau, über die Hetäre, ja selbst bis hin
zur buddhistischen Nonne gelten mehr oder weniger als
Hindernisse auf dem Erleuchtungsweg. Diese negative
Einschätzung des Weiblichen ist und war nicht – wie
man das heute oft zu erklären versucht – sozial bedingt,
sondern muß als ein dogmatischer und prinzipieller
Lehrinhalt dieser Religion angesehen werden. Er folgt
notwendigerweise aus dem ersten Satz der Vier edlen
Wahrheiten, der besagt, daß alles Leben per se Leiden ist.
Daraus ist rückzuschließen, jegliche Geburt bringt nur
Elend, Krankheit und Tod, oder umgekehrt, nur eine
Beendigung der Wiedergeburt führt zur Befreiung. Da
die Frau als der Ort der Empfängnis und des Gebärak-
tes das Tor zur Inkarnation öffnet, gilt sie als der größte
Widersacher in der spirituellen Entwicklung des Man-
nes und der Menschheit insgesamt.
Implizit ist deswegen die Ausschaltung, die Aufopfe-
rung und die Vernichtung des weiblichen Prinzips ein
zentrales Anliegen des Buddhismus. Schon in einer der
ersten Legenden des Buddhalebens wird das »Frauenop-
fer« durch den frühen Tod von Buddhas Mutter Maya
aufgeführt. Schon ihr Name evoziert die indische Göt-

526
tin der weiblichen Illusionswelt ; der Tod von Maya (Il-
lusion) bedeutet gleichzeitig das Erscheinen der absolu-
ten Wahrheit (Buddha), denn Maya repräsentiert nur die
relative Wahrheit.
Wir haben gezeigt, wie sich Shakyamunis frauenfeind-
liche Grundhaltung in den folgenden Phasen des Bud-
dhismus fortsetzt. Im Hinayana als die meditative Zer-
stückelung des Weiblichen während einer spirituellen
Übung ; im Mahayana als der Versuch, das Geschlecht
der Frau zu ändern, um ihr als Mann den Zutritt zu den
höheren geistigen Sphären zu öffnen.
Im Vajrayana schlägt das negative Verhältnis gegen-
über dem Weiblichen in eine augenscheinlich positive
Haltung um. Die Frau, die Sexualität und die Erotik er-
fahren in den Tantratexten eine bisher nicht gekannte
Erhöhung, ja Vergöttlichung. Wir konnten jedoch nach-
weisen, daß diese Umkehrung des Frauenbildes für den
Yogi nur ein Mittel zum Zweck darstellt, um die in ihr als
Göttin verdichtete weibliche Energie (Gynergie) zu rau-
ben. Die sexualmagischen Rituale, durch die dieser räu-
berische Energietransfer vollzogen wird, haben wir im
weitesten Sinne als das »tantrische Frauenopfer« bezeich-
net, gleichgültig, ob dieses real oder symbolisch vollzogen
wird, denn der Unterschied von Realität und Symbolwelt
ist für den Tantriker letztendlich ohne Bedeutung. Alles
Reale ist symbolisch, und jedes Symbol ist real !
Das Ziel dieses weiblichen Sakrifiziums und das Ab-
zweigen der Gynergie sind die Produktion eines über-
menschlichen androgynen Wesens, das in sich beide
Kräfte, die männlichen mit den weiblichen, vereinigt.

527
Eine solche Kombination beider Geschlechterenergien
in einer einzigen Person gilt für den buddhistischen Tan-
triker als der Ausdruck höchster Macht. Er ist als Mann
zu einem Träger der Maha Mudra, zum Gefäß einer »in-
neren Frau« geworden. Angesichts des von uns recher-
chierten und interpretierten Materials müssen wir also
unsere Eingangshypothese, die wir hier noch einmal wie-
derholen, als bestätigt ansehen :

Das Mysterium des tantrischen Buddhismus besteht in der


Aufopferung des weiblichen Prinzips und in der
Manipulation des Eros zur
Erlangung universeller androzentrischer Macht.

Weil nach der Sicht des Tantra-Meisters das Höchste (die


androzentrische Macht) nur aus der rituellen Transforma-
tion des Niedrigsten (der realen Frau) gewonnen werden
kann, überträgt er dieses Wandlungswunder auch auf an-
dere Bereiche. So arbeitet er in seinen Ritualen mit aller-
lei abstoßenden niedrigen Substanzen und begeht verbre-
cherische Taten bis hin zum Mord, um daraus durch das
»Gesetz der Umkehrung« das Gegenteil – nämlich Freude,
Macht und Schönheit – zu gewinnen. Wir haben jedoch
eindringlich daraufhingewiesen, wie diese »Vertrautheit
mit dem Dämonischen« sich verselbständigen kann. Es
besteht dann die Gefahr, daß der Tantriker nicht mehr
die Negativität seiner Handlungen überwinden kann. Die
Folge ist eine aggressive und morbide Grundhaltung, die –
wie wir noch zeigen werden – einen Charakterzug der ge-
samten tibetischen Kultur ausmacht.

528
Da das Kalachakra-Tantra die Grundideen und die Me-
thoden aller anderen Tantras in sich verdichtet und da es
das zentrale Ritual des Dalai Lama darstellt, haben wir
uns auf die Analyse dieses Textes konzentriert und eine
detaillierte Beschreibung der verschiedenen öffentlichen
und geheimen Einweihungen gegeben. Wir konnten zei-
gen, wie die inneren Prozesse im Energiekörper des Yogis
mit äußeren rituellen Vorgängen gleichgeschaltet werden
und wie in beiden Sphären das »Opfer des Weiblichen«
seine Aufführung findet – außen durch die »Vernich-
tung« der realen Frau (Karma Mudra) und innen durch
die »Vernichtung« der Candali (»Feuerfrau«).
Auch das Kalachakra-Tantra hat die »alchemische«
Herstellung eines kosmischen Androgyn zum Ziel, der
die totale Herrschaft über die Zeit, über unseren Planeten
und über das Universum ausüben soll. Dieser androgyne
Universalherrscher (Dominus Mundi) ist der ADI BUD-
DHA. Ein praktizierender Yogi wird erst dann zum ADI
BUDDHA, wenn er seine sexualmagischen Riten und sei-
ne inneren physiologischen Prozesse mit den Gesetzen
des Himmels und der Erde gleichschalten kann. Er be-
wegt nun durch seinen Atem Sonne, Mond und Sterne
und steuert durch das gleiche Mittel die Evolution des
Menschengeschlechts. Sein mystischer Leib bildet eine
Einheit mit dem kosmischen Leib des ADI BUDDHA,
deswegen hat seine Körperpolitik (das Bewegen der in-
nerlichen Energieströme) Auswirkungen auf die Welt-
politik im weitesten Sinne des Wortes.
Auf der astralen Ebene entfesselt der Yogi, bevor er zum
ADI BUDDHA wird, einen gigantischen Sternenkrieg,

529
der ebenfalls das Opfer der Geschlechterpolarität (darge-
stellt durch Sonne und Mond) als Ziel hat. Im letzten Akt
dieser apokalyptischen Aufführung verbrennt der Tan-
tra-Meister in einem mörderischen Feuerwerk den Kos-
mos, um aus der Asche der alten eine neue Welt entste-
hen zu lassen, die ganz und gar seinen Vorstellungen und
seinem Willen Untertan ist. 40 Erst danach umfaßt das
Herrschaftsgebiet des ADI BUDDHAS (oder Yogis) das
gesamte Universum, das die Form eines Mandala hat.
In seiner politischen Rolle (als Weltenkönig) ist der
ADI BUDDHA ein Chakravartin, ein »kosmischer Rad-
dreher«, der den als Rad vorgestellten Kosmos regiert.
Diese Machtvision wird im Kalachakra-Tantra durch den
Shambhala-Mythos mit einer politischen Utopie verbun-
den, die aggressiv und kriegerisch, despotisch und tota-
litär ist. Beherrscht wird dieses buddhokratische Wel-
tenreich von einem omnipotenten Priesterkönig (dem
Chakravartin), einem Herrn der Evolution, einerweite-
ren Emanation des ADI BUDDHA.
Es gibt zwar zahlreiche literarische Bemühungen, das
gesamte Gebäude des Kalachakra-Tantras als die sym-
bolische Inszenierung psychisch-geistiger Abläufe dar-
zustellen, die jedem beliebigen Menschen, der den Vajra-

40 Wobei hier zu fragen ist, ob wir wirklich von einem Willen re-
den können, da das ganze kosmische System des buddhistischen
Tantrismus einer Megamaschine gleicht, die sich selbst zerstört
und dann nach denselben Abläufen erneut in Gang setzt, nach
denen sie vorher funktioniert hatte. Der ADI BUDDHA wäre
also viel mehr eine mechanische Weltenuhr und kein Wesen mit
einem freien Willen.

530
yana betritt, zugänglich sein sollen. Aber es besteht die
starke Vermutung – und in unserem historischen Teil
werden wir den endgültigen Nachweis dafür erbringen
–, daß die Ideen und die Ziele des Zeittantras wörtlich
gemeint sind, daß heißt, es geht hierbei um einen realen
Dominus Mundi (Weltenherrscher), um die Errichtung
einer realen Buddhokratie, um die reale Buddhisierung
unseres Planeten – sogar (wie es der Shambhala-Mythos
prophezeit) mit militärischer Gewalt.
Aber vielleicht ist die Shambhala-Vision noch viel kon-
kreter, denn die Idee eines ADI BUDDHA und eines
Chakravartin kann sich in unseren Tagen nur auf eine
einzige Person beziehen, die konkurrenzlos und schon
seit Jahren alle esoterischen Bedingungen des Kalacha-
kra-Tantras erfüllt. Diese Person ist Seine Heiligkeit Ten-
zin Gyatso der XIV Dalai Lama.
Das Zeittantra wäre demnach das ideologische und
dogmatische Fundament, auf dem eine Strategie des ti-
betischen Gottkönigs zur spirituellen Eroberung unseres
Planeten aufbaut. Wollen wir also seine politischen Ent-
scheidungen in ihrer Tiefe verstehen, dann müssen wir
von der magischen Metapolitik des Kalachakra-Tantras
ausgehen, denn beide Ebenen (die rituell-magische wie
die realpolitische) sind – wie wir es noch an vielen Bei-
spielen zeigen werden – in der archaischen Welt des La-
maismus aufs engste miteinander verflochten. Das reli-
giös-autokratische System des Gottkönigs integriert alle
gesellschaftlichen Bereiche und alle politischen Gewal-
ten, die in unserer westlichen Kultur spätestens seit der
nordamerikanischen und französischen Revolution ge-

531
trennt wurden. Der Dalai Lama ist – der Doktrin nach
– Kaiser und Papst, Staat und Gott in einer Person, er ist
das lebende sakrale Zentrum einer »Buddhokratie«.
Alle von uns herausgearbeiteten Kriterien eines tan-
trischen Weltherrschers (Chakravartin) beziehungsweise
des ADI BUDDHAS treffen auf ihn zu. Da er aber unse-
ren Planeten noch nicht wirklich regiert, müssen seine
Rituale und seine machtpolitischen Beschlüsse, müssen
seine Handlungen und seine Statements als taktische und
strategische Momente angesehen werden, um das globale
Endziel (die Weltenherrschaft) eines Tages zu erreichen. 41
Dieses ehrgeizige Unternehmen wird durch den Tod des
Gottkönigs keineswegs unterbrochen, da er – neu inkar-
niert – auf den Taten seiner Vorgänger (die er selber war)
aufbauen und sein Werk fortsetzen kann.
Nie würde Seine Heiligkeit in der Öffentlichkeit zuge-
ben, daß er die globale Rolle eines Chakravartin durch
die Kalachakra-Einweihungen anstrebt. Dennoch sind
zahlreiche symbolische Ereignisse, die sein zeremoni-
elles Leben von der Kindheit an begleitet haben, Signa-
turen seines unumschränkten Anspruchs auf die »Wel-
tenherrschaft«. 1940 führte man ihn mit großem Prunk
in den Potala, den »Palast der Götter«, und setzte den
Fünfjährigen auf den symbolträchtigen »Löwenthron«.

41 Aus diesem Grunde müssen wir realpolitische Äußerungen


des Dalai Lama, die den Ideen des Zeittantras widersprechen
(wie zum Beispiel seine Bekenntnise zur westlichen Demokratie),
als bloße Taktik oder als Trick (Upaya) ansehen, um die Umwelt
über die wahren Absichten (die Errichtung einer weltweiten Bud-
dhokratie) zu täuschen.

532
Schon mit dieser Inthronisierung wurden sein Welten-
königtum demonstriert und sein Recht auf die weltliche
Macht zum Ausdruck gebracht, denn der »Löwenthron«
ist im Gegensatz zum Lotussitz ein Symbol des Imperi-
ums (der weltlichen Macht) und nicht des Sacerdotiums
(der geistlichen Macht). Am 17. November 1950 erhielt
der Gottkönig während eines feierlichen Aktes das »gol-
dene Rad« überreicht, das ihn als den »universellen Rad-
dreher« (Chakravartin) ausweist.
Aber weniger diese Herrschaftszeichen machen ihn,
der sein ganzes Land verloren hat, im Bewußtsein sei-
ner westlichen Gläubigen42 zum potentiellen Souverän
über unseren Planeten, sondern ein längst verschütte-
tes Sehnsuchtsbild ist in der Imagination von Amerika-
nern und Europäern wieder aufgetaucht : »Welches Volk,
welche Nation, welche Kultur«, schwärmt zum Beispiel
Claude B. Levenson über den Dalai Lama, »hat nicht
im Inneren des kollektiven Bewußtseins von einem voll-
kommenen Monarchen geträumt, der durchdrungen von
Gerechtigkeitssinn und Gleichmut damit betraut ist, über
dem wohlgeordneten Ablauf einer harmonischen und in
jeder Hinsicht gerechten Gesellschaft zu wachen ? Auch
das Bild des Groß-Königs nistet irgendwo in den Tiefen
des menschlichen Geistes … Es schwingt etwas von Jüng-
stem Gericht und Auferstehen in diesem vielfältigen In-
terpretationen offenen Glauben mit.« (* Levenson, 303)

42 Für Tibeter und Mongolen, die sich zum Lamaismus beken-


nen, ist die Vorstellung vom Dalai Lama als dem Chakravartin et-
was Selbstverständliches.

533
Einem solchen Weltenkönigtum, das heißt der totalen
Macht über unsere Erde, widerspricht die augenschein-
lich völlige politische Ohnmacht des Dalai Lama, welche
durch die ständig wiederholte Verleugnung seiner selbst
(»Ich bin nur ein einfacher Mönch«) noch gesteigert wird.
Aber vergessen wir nicht das tantrische Spiel mit der Pa-
radoxie und das »Gesetz der Umkehrung«. Die säkula-
re Machtlosigkeit ist geradezu die Voraussetzung für das
Wunder, das zeigt, wie aus dem Niederen das Höhere,
aus der Nichtigkeit die Fülle und aus der Schwäche die
Stärke entstehen. Der »einfache Mönch aus Tibet« kann
– wenn die Lehren seiner Tantra-Texte stimmen – auf
die schwindelerregende Drehung vertrauen, die ihn ei-
nes Tages aus den Tiefen der Ohnmacht blitzschnell zum
mächtigsten Hierarchen des Universums emporschleu-
dern wird. Höchste Bescheidenheit und höchster Macht-
anspruch sind für ihn als Tantriker die beiden Kehrsei-
ten derselben Münze.
Im Licht der Öffentlichkeit erscheint der Dalai Lama
niemals als Tantriker, sondern immer als ein Mahaya-
na-Bodhisattva, der nur das Leiden aller lebenden Wesen
im Sinn hat und diesen mit höchstem Mitgefühl bege-
gnet. Der Tantrismus, auf den im Kern der gesamte tibe-
tische Buddhismus aufbaut, zählt also zur Schattenseite
des Kunduns (»lebenden Buddhas«). Seine sexualmagi-
schen Riten scheuen das Licht ebenso wie die mit ihnen
intendierten globalen Herrschaftsansprüche. Das gilt in
ganz besonderem Maße für das Kalachakra-Tantra.
Wir haben schon in unserer Einleitung erwähnt, daß
der Mensch seinen Schatten leugnen, verdrängen und

534
nach außen hin projizieren kann. Indem er die Vorgänge,
die in den höchsten Einweihungen des Zeittantras statt-
finden, bewußt verschleiert, leugnet der Dalai Lama sei-
nen tantrischen Schatten ; indem er sich wahrscheinlich
über die katastrophalen Konsequenzen des Shambhala-
Mythos nicht im Klaren ist (wie wir es am Fall Shoko
Asahara zeigen werden), verdrängt er seinen tantrischen
Schatten ; indem er alles Negative, was ja nach dem »Ge-
setz der Umkehrung« das Formmaterial (die prima ma-
teria) für die spirituelle Transformation ausmacht, auf
die Chinesen überträgt, projiziert er seinen tantrischen
Schatten auf andere.
Die Aggressivität und Morbidität der Tantras, die sexu-
ellen Exzesse, das »Frauenopfer«, der energetische »Vam-
pirismus«, die omnipotenten Machtansprüche, die glo-
bale Zerstörungswut – all das wird von Seiten des XIV
Dalai Lama systematisch verschleiert und kann sogar,
auch wenn die meisten tantrischen Texte öffentlich zu-
gänglich sind, immer noch verschleiert werden – ein-
mal durch das Argument, daß es sich hierbei nur um
ein Symbolereignis handle, das niemals real vollzogen
werde, zum anderen, weil die Tantras behaupten, daß
die negativen Handlungen sich am Ende des Rituals in
positive verwandelt haben.
Was das erste Argument anbelangt, so konnten wir
zahlreiche Fälle anführen, in denen die Tantratexte
durchaus wörtlich verstanden wurden. Wir haben au-
ßerdem gezeigt, daß dieses Argument schon deswegen
in sich zusammenfällt, weil für einen Vajrayana-Buddhi-
sten im Gegensatz zu einem modernen »Westler« zwi-

535
schen Symbol und Realität kein Unterschied gemacht
werden darf.
Das zweite Argument, die Tantras würden Negatives in
Positives verwandeln (würden den Teufel durch den Teu-
fel austreiben), muß einer empirischen Prüfung stand-
halten. Die höchste Beweiskraft für die tantrische These,
insbesondere für die Philosophie und Vision des Kalacha-
kra-Tantras, hat die Geschichte. Seit vielen Jahrhunder-
ten werden in Tibet Tausende von tantrischen Ritualen
durchgeführt, seit Jahrhunderten versucht man durch
tantrische Rituale auf die Historie des Landes einzuwir-
ken. Aber wie hat sich diese Ritualpolitik bisher für die
Tibeter und die Menschheit ausgewirkt, und wo zielt sie
hin ? Die Benutzung des buddhistischen Tantrismus als
eine politische Methode, um die Geschichte Tibets zu
verstehen und um das Geschick des Landes zu beein-
flussen, werden wir im nun folgenden zweiten Teil un-
seres Buches behandeln. Der Einfluß des Vajrayana auf
den buddhokratischen Staat, die Ökonomie, das Mili-
tärwesen, die Außenpolitik und die Weltpolitik sind hier
das Thema.
TEIL 2
POLITIK ALS RITUAL

Der Shambalisierungsplan für Japan ist


der erste Schritt zur Shamhhalisierung
der Welt. Wenn Sie daran teilnehmen,
werden Sie große Tugend erreichen
und in eine höhere Welt aufsteigen.
(Shoko Asahara)
Um die Person des XIV Dalai Lama und um die Ge-
schichte Tibets verstehen und bewerten zu können,
müssen wir zuerst einmal alle unsere modernen westli-
chen Vorstellungen, nach denen die Bereiche von Religi-
on und Politik, von Magie und Regierungsentscheidung,
von weltlicher und spiritueller Macht voneinander ge-
trennt sind, außer acht lassen. Wir dürfen uns auch
nicht von den öffentlichen Selbstdarstellungen des exilt-
ibetischen Staatsoberhauptes, von seinen Bekenntnis-
sen zur Demokratie, von seinen inständigen Friedens-
beteuerungen, von seinen ökumenischen Bekenntnissen
und von seinen realpolitischen Statements beeinflussen
lassen. Denn bei genauerer Hinsicht wird sich seine ge-
samte an westlichen Werten orientierte Aufführung, die
er täglich auf der politischen Weltenbühne darbringt,
als eine politische Taktik erweisen, mit deren Hilfe er
sein atavistisches und androzentrisches Weltbild global
durchsetzen will – ein Weltbild, in dem Magie, Rituali-
stik, Okkultismus und die Despotie eines Priesterstaates
die herrschenden Prinzipien darstellen.
Es sind nicht die einzelnen politischen Verfehlungen
des Dalai Lama, die erstmals seit 1996 in den euro-ame-
rikanischen Medien angeprangert wurden, welche sei-
ne Person und sein Amt für den Westen zu einem fun-
damentalen Problem machen können. Auch wenn die-
se »Mängel«, gemessen an den moralischen Ansprüchen
eines »lebenden Buddhas«, ein höheres Gewicht haben

539
mögen als bei einem gewöhnlichen Politiker, so handelt
es sich dabei doch nur um Dissonanzen an der Ober-
fläche. Wer dagegen tiefer in das tibetische System hin-
absteigt, der muß unweigerlich die von uns beschriebe-
ne sexualmagische Welt der Tantras betreten. Für einen
»Westler« tut sich hier eine völlig fremdartige Dimensi-
on auf. Er wird eine Ableitung politischer Entscheidun-
gen aus dem Kalachakra-Tantra und aus dem Shambha-
la-Mythos kaum ernst nehmen. Aber gerade diese Ver-
bindung von Ritual und Politik, von sakraler Sexualität
und Macht ist – so wollen wir nachweisen – das zentra-
le Anliegen des Lamaismus.
Die europäisch-amerikanische Ignoranz gegenüber
atavistischen Religionsströmungen betrifft nicht nur den
tibetischen Buddhismus, sondern ebenso andere Kultu-
ren wie zum Beispiel den Islam. Es ist zur Zeit überall im
Westen üblich, kraß zwischen einem religiösen Funda-
mentalismus auf der einen Seite und dem eigentlich hu-
manpolitischen Anliegen aller Religionen auf der ande-
ren zu unterscheiden. Das hatte zur Folge, daß alle reli-
giösen Traditionen der Welt in Europa und Nordamerika
als hochwertige spirituelle Alternativen zum dekadenten
Materialismus der Industrieländer eindringen konnten.
Eine fundierte Religionskritik war in den letzten Jahren
nicht besonders gefragt.
Wer jedoch die Heiligen Texte der verschiedenen Glau-
bensrichtungen (sei es den Koran, Stellen aus dem Al-
ten Testament, die christliche Johannesapokalypse oder
das Kalachakra-Tantra) genau liest, der wird sehr bald
mit einem explosiven Aggressionspotential konfrontiert,

540
welches unweigerlich zu blutigen Kriegen zwischen den
Kulturen führen muß und in der Geschichte auch schon
immer geführt hat. Der Fundamentalismus ist schon im
Kern fast aller Weltreligionen angelegt und stellt keines-
falls ein wesensfremdes Mißverständnis der wahren Dok-
trin dar. 43
Zweifellos ist der XIV Dalai Lama von allen lebenden
Religionsführern am geschicktesten und erfolgreichsten
bei der Unterwanderung des Westens. Er zeigt ein solch
aufgeklärtes, tolerantes und natürlich wirkendes Auftre-
ten in der Öffentlichkeit, daß jeder auf den ersten Blick
von ihm verzaubert wird. Keiner, den er mit seinem herz-
lichen Buddhalächeln anblickt, käme auf die Idee, hier
einen orientalischen Despoten vor sich zu haben, in des-
sen Absicht es liegt, die Welt unter sein Gesetz zu zwin-
gen. Aber darin – so wollen wir im Folgenden nachwei-
sen – besteht in der Tat das konsequent verfolgte Ziel
Seiner Heiligkeit. Er ist ein Trojanisches Pferd, das die
Kultur des Westens zu Fall bringen soll.

43 Wenn eine an humanen Werten orientierte Weltzivilisation


die Ursachen für den »Kampf der Kulturen« und den zur Zeit glo-
bal auftretenden Fundamentalismus feststellen will, dann ist sie
gut beraten, die »Heiligen Texte«, die Riten, die Mysterien und
die Geschichte der religiösen Traditionen mit kritischem Blick zu
untersuchen und mit den Ansprüchen einer planetaren, human-
politischen Vision zu vergleichen. Man würde bei solchen Re-
cherchen und Vergleichen zu ernüchternden Ergebnissen kom-
men. Es waren gerade diese schmerzlichen und desillusionieren-
den Erkenntnisse, die uns zu unserer Studie über den tibetischen
Buddhismus und den Dalai Lama, in den auch wir große Hoff-
nungen gesetzt hatten, bewegten.

541
Obgleich verständlich, kann die westliche Naivität und
Ignoranz nicht entschuldigt werden – nicht nur, weil wir
es bis jetzt versäumt haben, die Geschichte Tibets und die
Religion des tantrischen Buddhismus kritisch zu durch-
leuchten, sondern weil wir auch völlig vergessen haben,
daß wir uns selbst mit größten Opfern aus einer atavisti-
schen Welt befreien mußten. Die Despotie der Kirche, die
Inquisition, die Entmündigung des Menschen, die Aus-
schaltung des Willens, die Verachtung des einzelnen, die
Zensur, die Verfolgung Andersgläubiger – all das waren
schwer zu überwindende historische Hindernisse bei der
Herausbildung der modernen westlichen Kulturen. Das
Abendland hat mit der Aufklärung seine alten »Götter«
und Mythen gestürzt, jetzt holt es sie durch die unkriti-
sche Übernahme exotischer Religionssysteme wieder ins
Land. Da der Westen fest davon überzeugt ist, daß die
Trennung von Staat und Religion für jeden vernünftigen
Menschen einsichtig sein müsse, kann und will er die re-
ligiös-politischen Abläufe der importierten atavistischen
Kulturen nicht verstehen – bis es dann zu spät ist. Der
Faschismus zum Beispiel war ein klassischer Fall für die
Reaktivierung archaischer Mythen.
Fast alle religiösen Dogmen des tantrischen Buddhis-
mus sind con variatione auch in der europäischen Vergan-
genheit aufgetreten und zählen zu unserem westlichen
Erbe. Deswegen erscheint es sinnvoll, bevor wir die Ge-
schichte Tibets und die Politik des Dalai Lama untersu-
chen, einige Maximen des lamaistischen Politik- und Ge-
schichtsverständnisses mit entsprechenden Vorstellungen
aus der abendländischen Tradition zu vergleichen. Das

542
wird – so hoffen wir – dazu beitragen, die Visionen des
»Lebenden Buddha« besser zu verstehen.

Mythos und Geschichte

Für die archaischen Griechen aus der Zeit Homers hatte


die Geschichte keinen Eigenwert, sie wurde als eine Ver-
gegenwärtigung des Mythos erlebt. Die Mythen der Göt-
ter und in späterer Zeit die der Heroen bildeten sozusa-
gen jene Urereignisse, die von den Menschen in Tausen-
den von Varianten hier auf Erden nachgespielt wurden,
und dieses »Nachspiel« nannte man Historie. Die Ge-
schichte war deswegen nicht mehr und nicht weniger als
die humane Simulation göttlicher Mythen. »Wenn sich
unter den Menschen etwas entscheiden soll«, schreibt
W. F. Otto im Hinblick auf die archaische Weltsicht der
Hellenen, »muß zuerst zwischen den Göttern die Aus-
einandersetzung stattfinden.« (* zit. b. Hübner, 131)
Falls jedoch historische Ereignisse, wie zum Beispiel
der Trojanische Krieg, eine überdimensionale Bedeutung
erhielten, dann verwischten sich die Grenzen zwischen
Mythos und Geschichte. Die geschichtlichen Ereignis-
se konnten jetzt selbst zum Mythos werden, oder besser
umgekehrt, der Mythos ergriff die Geschichte, um sie zu
vereinnahmen und sich ähnlich zu machen. Diese »My-
thisierung« der Historie bedeutete für den archaischen
Menschen etwas sehr Konkretes – nämlich den direk-
ten Eingriff der Götter in das historische Geschehen. Das
war nicht dunkel und mysteriös gemeint, sondern sehr

543
anschaulich und gegenwärtig : Entweder erschienen die
Himmlischen sichtbar in humaner Gestalt (und kämpf-
ten zum Beispiel in den Schlachten mit), oder sie »be-
setzten« menschliche Protagonisten und »begeisterten«
sie zu großen Taten und Untaten.
Wenn es nach archaischer Sicht die Überirdischen sind,
von deren Willen die Humangeschichte abhängt, dann
ergibt sich daraus der notwendige Schluß, daß die Men-
schen nicht direkt, sondern nur über einen religiösen
»Umweg«, nämlich durch die Beschwörung der Götter,
auf die Historie einwirken können. Aus diesem Grunde
erhielten die Priester, die den unmittelbaren Kontakt zu
den transzendenten Mächten herstellen konnten, ein ho-
hes Gewicht in der Politik. Das Ritual, das Orakel und
das Gebet hatten einen primären Stellenwert und wurden
oft höher bewertet als die Entscheidung eines Regenten.
Insbesondere wurde der von den Priestern durchgeführ-
te Opferritus als die eigentliche Ursache dafür angese-
hen, ob eine politische Entscheidung von Erfolg gekrönt
ist oder nicht. Je wertvoller das Opfer, desto größer die
Wahrscheinlichkeit, daß sich die Götter gnädig zeigten.
Deswegen und um den Krieg gegen Troja überhaupt be-
ginnen zu können, ließ Agamemnon seine eigene Toch-
ter Iphigenie in Aulis rituell töten.
Sehr ähnliche Vorstellungen – so werden wir nach-
weisen – beherrschen auch heute noch das archaische
Geschichtsverständnis des lamaistischen Buddhismus.
Religion und Historie werden im tibetischen Weltbild
nicht voneinander getrennt, ebensowenig wie Politik und
Ritual, ebensowenig wie Symbol und Realität. Da hin-

544
ter den Menschen übermenschliche Kräfte und Mächte
(Buddhawesen und Götter) wirksam sind, ist (für den
Lamaismus) die Geschichte in ihrem Kern die Tat ver-
schiedener Gottheiten und nicht ein Tun von Politikern,
Feldherren und Meinungsmachern. Die Charaktere, die
Motive, die Methoden und Handlungen einzelner Götter
(und Dämonen) müssen deswegen in letzter Instanz für
die Entwicklung der nationalen wie der globalen Politik
verantwortlich gemacht werden. Folglich ist die tibeti-
sche Geschichtswissenschaft – nach eigenem Verständ-
nis – immer auch Mythologie, wenn wir darunter die
»Geschichte der Götter« verstehen.
Was für die Geschichte gilt, hat im gleichen Maße sei-
ne Bedeutung für die Politik. Nach tantrischer Doktrin
befiehlt ein sakraler Herrscher (wie zum Beispiel der Da-
lai Lama) nicht allein durch Wort und Schrift seinen Un-
tertanen, sondern vollzieht verschiedene innere (medi-
tative) und äußere Rituale, um dadurch seine »Realpo-
litik« zu steuern oder zumindest zu beeinflussen. Ritual
und Politik, Orakelwesen und politische Entscheidungs-
prozesse verschmelzen nicht nur im alten Tibet zu einer
Einheit, sondern – das ist in der Tat erstaunlich – auch
heute noch bei den Exiltibetern.
Im Zentrum bedeutet »Politik« für die lamaistische Eli-
te eine Abfolge rituell-magischer Handlungen zur Erfül-
lung eines kosmischen Plans, den letztendlich die Göt-
ter (deren Inkarnationen die Lamas sind) durchführen.
Deswegen erhält die Ritualistik in einem buddhokrati-
schen Staatswesen einen enormen, ja zentralen Stellen-
wert. Sie ist die eigentliche Schmiede, in der die Reali-

545
tät dieser archaischen Gesellschaft geformt wird. Daß
daneben augenscheinlich »normale« politische Abläufe
(wie etwa die Arbeit eines »demokratischen« Parlaments
oder die Aktivitäten von Menschenrechtskommissionen)
existieren, braucht dem okkulten Ritualwesen – wie das
exiltibetische Beispiel zeigt – nicht im Weg zu stehen,
sondern bietet geradezu den notwendigen Schleier, um
die primären Vorgänge zu verdecken.

Geschlechterkampf und Geschichte

Kehren wir zu Homer und in seine Zeit zurück. Der


Trojanische Krieg weist anschaulich darauf hin, wie eng
die Geschichte der alten Griechen mit dem Geschlech-
terkampf in Beziehung gebracht wurde. Gleich mehre-
re Geschlechterkonflikte bildeten die auslösenden Er-
eignisse : das Urteil des Paris und die Eitelkeit der drei
Hauptgöttinnen (Hera, Athene, Aphrodite), der Raub
und der Ehebruch der Helena und das Opfer der Iphi-
genie. Auch am Ende der langwierigen und grausamen
Kämpfe stehen blutige Geschlechterthemen : die hinter-
hältige Ermordung des Agamemnon durch seine Gat-
tin Klytämnestra, deren Tötung durch ihren Sohn Orest,
die Flucht des Äneas (aus Troja) und seine Heirat mit
Dido (der Königin von Karthago), der Selbstmord der
verlassenen Dido und die Gründung der römischen Dy-
nastien (durch Äneas).
Der Schriftsteller und Mythenforscher Robert Ran-
ke Graves (1895–1985) hat in einer mittlerweile wissen-

546
schaftlich anerkannten Studie umfangreiches Material
zusammengetragen, das seine These – hinter der gesam-
ten ( !) griechischen Mythologie und Frühgeschichte ver-
berge sich ein Geschlechterkampf zwischen matriarcha-
len und patriarchalen Gesellschaftsordnungen – hinrei-
chend beweist. Diese »unterirdisch« wirkende, kaum ans
Tageslicht tretende mythisch-geschlechtliche Strömung,
welche die Historie aus den Tiefen des Unterbewußten
vorwärtstreibt, war auch für Sigmund Freud (1856–1939)
eine Tatsache. In seinem ausführlichen Essay Totem und
Tabu versucht er, auf die sexuellen Ursprünge der huma-
nen Kultur aufmerksam zu machen.
Für die lamaistische »Geschichtsschreibung« ist das
– wie wir zeigen werden – nicht anders : Ausgehend von
der geschlechterspezifischen Konstruktion des gesam-
ten tantrischen Universums (männlich, weiblich und an-
drogyn) geht auch die tibetische Historie von einer my-
thologisch begründeten Geschlechterbeziehung aus. Da
der Vajrayana wesentlich die Unterdrückung des weib-
lichen Prinzips durch das männliche Prinzip, der Frau
durch den Mann fordert, basiert analog hierzu die Ge-
schichte Tibets auf der Repression des Weiblichen durch
das Männliche. Ebenso werden wir das im Zentrum der
tantrischen Mysterien vollstreckte »Frauenopfer« in der
»Mythen-Geschichte« des Landes wiederfinden.

547
Das sakrale Königtum

Als die Repräsentanten der Götter wurden in vielen ar-


chaischen Gesellschaften die »sakralen Könige« angese-
hen. Diese konzentrierten in sich die weltliche und die
spirituelle Macht. Je nach Kultur schätzte man ihre Got-
tesnähe unterschiedlich ein. In den alten orientalischen
Gemeinwesen überstiegen die Könige die stellvertreten-
de Funktion und wurden als die Gottheit selbst angese-
hen. Das gab ihnen das Recht, mit absoluter Macht über
ihre Untertanen zu herrschen. Ihrer Gottähnlichkeit
widersprach keineswegs ihre Sterblichkeit, denn man
glaubte, daß sich der Geist des Gottes in der Todesstun-
de aus dem Menschenleib des Heiligen Königs zurück-
ziehe, um sich dann im nachfolgenden Herrscher wieder
zu inkarnieren. Die Geschichte der sakralen Könige war
deswegen im eigentlichen Sinne eine »Epiphanie«, das
heißt ein Erscheinen der Gottheit in der Zeit.
Im europäischen Mittelalter dagegen galten die »sa-
kralen Herrscher« nur noch als die Stellvertreter Gottes
auf Erden, aber die Vorstellung von ihrer Doppelrolle
als sterbliche Menschen und als göttliche Instanz hatte
weiterhin ihre Geltung. Deswegen sprach man von den
»zwei Körpern des Königs«, einem ewigen überirdischen
und einem vergänglich humanen.
Ein weiterer Charakterzug der politischen Theologie des
Mittelalters bestand in der Aufteilung des früher beide Be-
reiche umfassenden Königsamtes, so daß die spirituellen
(1) und die weltlichen (2) Aufgaben von zwei verschiede-
nen Persönlichkeiten, dem Priester und dem König, dem

548
Papst und dem Kaiser ausgeübt wurden. Beide Institutio-
nen zusammen, oder gegeneinander – bestimmten ent-
scheidend die Geschichte Europas bis hin zur Neuzeit.
Alle Kriterien des sakralen Königtums treffen auch
auf den XIV Dalai Lama und sein Staatswesen zu. Sei-
ne Institution unterliegt nicht einmal der Gewaltentei-
lung (zwischen Priesteramt und Königswürde), wie wir
sie aus dem europäischen Mittelalter kennen, sondern
orientiert sich an den archaisch-orientalischen Despoti-
en (z. B. Ägypten und Persien). Weltliche und spirituelle
Macht vereinigen sich in seiner Person. Er ist nicht der
menschliche Stellvertreter eines Buddhawesens auf dem
Löwenthron, sondern er ist – der Doktrin nach – dieses
Buddhawesen selbst.
Sein Beiname Kundun, der nach Martin Scorseses
gleichnamigem Film in aller Munde ist, bedeutet »Prä-
senz« oder »kostbare Anwesenheit«, also die Gegenwart
einer Gottheit beziehungsweise die Präsenz eines Bud-
dha in menschlicher Gestalt. »Kundun« mit »lebender
Buddha« zu übersetzen, ist deswegen durchaus berech-
tigt. Im Playboy antwortet Seine Heiligkeit auf die Fra-
ge, was das Wort bedeutet : »Kostbare Anwesenheit. Der
tibetischen Überlieferung zufolge ist ›Kundun‹ ein Be-
griff, mit dem ausschließlich ich bezeichnet werde. Ge-
meint ist damit die höchste Stufe der spirituellen Ent-
wicklung, die ein Lebewesen (also nicht nur ein Mensch,
sondern auch ein Gott) erreichen kann.« (* dt. Playboy,
März 1998, 40)
Die sichtbare Präsenz (Kundun) eines Gottes auf der
politischen Weltenbühne als der Regierungschef eines

549
»demokratisch gewählten Parlaments« mag für ein west-
liches Bewußtsein schwer zu fassen sein. Vielleicht wird
das Amt klarer verstanden, wenn wir sagen, daß der XIV
Dalai Lama strikt an seine tantrische Philosophie, seine
rituelle Praxis und religionspolitische Ideologie gebun-
den ist und deswegen über keinen individuellen Willen
mehr verfügt. Sein Körper, sein Menschsein und damit
auch sein Humanismus gelten für ihn ausschließlich als
die Instrumente seiner Göttlichkeit. In einem Lied des
VII Dalai Lama, welches sich dieser selber vorgesungen
hat, kommt das ganz deutlich zum Ausdruck :

Wohin immer du gehst, was immer du tust, / Sieh dich


selbst in der Form einer tantrischen Gottheit,  / Mit
einem Phantomkörper, der manifest ist, aber doch
leer.
(* Mullin, 1991, 61)

Dennoch hat sich in der westlichen Presse die Bezeich-


nung des XIV Dalai Lama als »Gottkönig« durchaus ein-
gebürgert. Ob das nun ironisch gemeint ist oder nicht,
das kann man in vielen Fällen kaum mehr feststellen.
»Ein Gott zum Anfassen«, schreibt die Süddeutsche Zei-
tung 1998 über den tibetischen Religionsführer, und Der
Spiegel proklamiert zum gleichen Zeitpunkt : »Schließ-
lich ist er der Dalai Lama und auf diesem Planeten der
Erleuchtetste unter den Erleuchteten, das rückt die Din-
ge ins rechte Licht.« (* Süddeutsche Zeitung, 1. Nov. 1998,
4 ; Spiegel, 45/1998, 101)

550
Eschatologie und Politik

Die Historie des europäischen Mittelalters war auf ein


einziges kosmisches Ereignis hin ausgerichtet : die Wie-
derkunft Christi. Nach einer solchen eschatologi­schen
Weltsicht ist die Menschheitsgeschichte nicht mehr (wie
in der altgriechischen Götterlehre) eine Kopie von My-
then oder ein Spielfeld göttlicher Willkür, sondern die
Aufführung eines gewaltigen, Jahrtausende andauern-
den Erlösungsdramas, an dessen Anfang eine vollkom-
mene Schöpfung steht, die durch menschliche Unvoll-
kommenheit und Sünde ständig zerfällt und nach ei-
nem himmlischen Strafgericht in einem katastrophalen
Untergang endet. Am »Ende der Zeit« werden die Bö-
sen in einem brutalen kosmischen Krieg (der Apoka-
lypse) vernichtet, und die Guten (die wahren Christen)
werden gerettet. Es erscheint ein Messias und führt die
kleine Schar der Auserwählten in ein ewiges Reich des
Friedens und der Freude. Das Ziel heißt Erlösung und
Paradies.
Eschatologisch verstandene Historie ist immer Heils-
geschichte, das heißt, am Beginn steht eine Verletzung,
welche geheilt werden soll. Ein Christ bezeichnet diese
Verletzung als Erbsünde, weil sie sich automatisch von
einer Generation auf die andere überträgt. Die Heilung
vollzieht sich hier durch den Kreuzestod, die Auferste-
hung und das zweite Kommen Jesu Christi sowie durch
die dadurch bewirkte Resurrektion der guten Menschen
von den Toten. Danach endet die Geschichte, und der von
allem Leid befreite Mensch betritt ein ewiges Paradies

551
in einer geschichtslosen und glückseligen Zeit. Für die
Christen ist vor allem die Johannesapokalypse das Text-
buch dieses göttlichen Theaters.
Auch aus buddhistisch-tantrischer Sicht wird die
Menschheitsgeschichte und in ihrem Gefolge die Hi-
storie Tibets als »Heilsgeschichte« erfahren. Ihre Escha-
tologie ist im Kalachakra-Tantra, dem höchsten Kultmy-
sterium des Dalai Lama, aufgeschrieben. Der mit die-
sem Tantra verbundene Shambhala-Mythos prophezeit
ebenfalls (wie die Johannesapokalypse) das Erscheinen
eines kriegerischen Messias (Rudra Chakrin) und die
grausame Endschlacht zwischen den Guten und den
Bösen. Nur sind die Guten diesmal Buddhisten und die
Bösen vor allem Moslems. Nach dem Sieg Rudra Cha-
krins erwartet die Menschen die totale »Shambhalisie-
rung« ihres Planeten (d. h. eine globale Buddhokratie).
Diese wird mit einem Eden des Friedens und der Freu-
de gleichgesetzt.
Die Kenntnis der Shambhala-Vision ist notwendig, um
die historischen Ereignisse in Tibet (einschließlich der
Besetzung durch die Chinesen) und die Politik des Da-
lai Lamas beurteilen zu können. Jedes geschichtliche und
realpolitische Ereignis muß – nach lamaistischer Sicht –
auf das im Kalachakra-Tantra formulierte Endziel (die
Errichtung einer weltweiten Buddhokratie) hin beurteilt
werden. Das gilt – entsprechend der tantrischen Lehre –
ebenfalls für die Evolution der gesamten Menschheit.
Vom Prinzip her gleicht deswegen die tantrisch-bud-
dhistische Vision der traditionell-christlichen. In beiden
Fällen steht am Anfang ein Reich der Glückseligkeit, das

552
durch ein Fehlverhalten der Menschen zerfällt und an-
schließend in einer Katastrophe untergeht. Dann wird
es durch die kriegerischen ( !) Taten eines messianischen
Heilsbringers wiederhergestellt. Aber dieser dramatische
Prozeß ist nach buddhistischer Sicht nie zu Ende, er muß
sich nach kosmischer Gesetzmäßigkeit ständig wieder-
holen. Das neu entstandene Paradies hat im Gegensatz
zur Vorstellung des Christentums keinen Bestand, es un-
terfällt wie alles Vergängliche dem Fluch der Zeit. Ge-
schichte erscheint deswegen für den Lamaismus als die
ewige Wiederkehr des immer Gleichen, die unausweich-
liche Repetition des gesamten universalen Geschehens in
ungeheuer großen Zeitzyklen. 44

Geschichte und Mystik

Daß zwischen einzelnen Personen und der Geschichte


nicht nur eine offensichtlich aktive, sondern auch eine
mystische Beziehung bestehen kann, davon ist in der
neuzeitlichen, abendländischen Philosophie nur selten
die Rede. Wir finden eine solche Auffassung zum Bei-
spiel in dem enigmatischen Satz des deutschen Roman-

44 Spuren von einem zyklischen Geschichtsbild gibt es auch im


Denken Oswald Spenglers (1880–1936), für den sich jede histori-
sche Kulturepoche wie ein Organismus verhält, der die Lebens-
phasen einer Geburt, der Kindheit, der Jugend, des Erwachsen-
seins, des Alters und des Todes aufweist. Geschichtswissenschaft
ist deswegen für ihn eine Biographie, die für jede Kultur neu ge-
schrieben werden muß.

553
tikers Novalis (1772–1801) : »Das größte Geheimnis ist
der Mensch sich selbst. Die Auflösung dieser unendli-
chen Aufgabe ist die Tat der Weltgeschichte.«45
In der Renaissance dagegen waren solche »okkulten«
Interdependenzen durchaus ein Thema. Die Mikro-Ma-
krokosmostheorie, die zwischen dem Energiekörper ei-
nes »göttlichen« Individuums und dem ganzen Univer-
sum Homologien herstellte, hatte damals eine weite Ver-
breitung. Sie wurde in alchemistischen Kreisen auch auf
die Geschichte übertragen.
Entsprechend gab es in der traditionellen jüdischen
Kabbala und im Chassidismus die Idee vom Zaddik, dem
»Gerechten«. Die Aufgabe des Zaddik bestand in einem
korrekten und vorbildlichen Lebenswandel, um soziale
Harmonie und Frieden herzustellen. Seine Taten und sei-
ne Gedanken waren so eng mit der Volksgemeinschaft,
der er angehört, gleichgeschaltet, daß sich die Geschich-
te seines Volkes parallel zu seinem individuellen Seelen-
schicksal entwickelte. So hatte zum Beispiel das Fehlver-

45 Einen schwachen Nachklang mystischer Geschichtsspekula-


tion finden wir im Geniekult des 19. und 20. Jahrhunderts. Dort
werden Messiasgestalten und Heilande durch jene außergewöhn-
liche Gestalten, die Thomas Carlyle (1795–1881) »Helden« nannte,
ersetzt, in deren Denken und Handeln sich der Zeitgeist verdich-
ten sollte. Nicht nur in Politikern und Feldherrn, sondern auch
in Wissenschaftlern, Philosophen oder Künstlern kann sich nach
dieser Anschauung die Essenz der Geschichte konzentrieren. Für
den Kulturkritiker Egon Friedell (1878–1938) infiziert der Geist
eines historischen Genies eine ganze Epoche. Er wird zum »Gott«
seines Zeitalters – selbst wenn er wie René Descartes den Ratio-
nalismus oder wie Karl Marx den dialektischen Materialismus
eingeführt hat.

554
halten eines Zaddiks eine negative Auswirkung auf den
historischen Prozeß und konnte seine Mitmenschen ins
Verderben stürzen.
Solche Vorstellungen umschreiben jedoch nur sehr
vage das weit konsequentere Verhältnis des buddhisti-
schen Tantrismus zur Historie. Ein Tantra-Meister muß
– wenn er sich an seine eigenen Ideen und die eigene mi-
kro-makrokosmische Logik hält – die magischen Korre-
spondenzen zwischen seinem Bewußtsein und der Au-
ßenwelt wörtlich nehmen. Er muß davon überzeugt sein,
daß er (als Maha Siddha, d. h. als Großzauberer) durch
meditative Versenkung, durch Atemtechniken, durch ri-
tuelle Handlungen, durch sexualmagische Praktiken auf
den Geschichtsverlauf Einfluß nehmen kann. Er muß
weit mehr die von ihm beschworenen oder durch ihn re-
präsentierten Gottheiten als die ihn umgebenden Men-
schen zu Agenten seiner »Politik« machen.
Ein in die Mysterien des Vajrayana eingeweihter Kö-
nig beherrscht deswegen nicht nur sein Land und seine
Untertanen, sondern sogar den Lauf der Sterne mit Hil-
fe seines mystischen Atems. »Der Kosmos, wie er sich in
der tantrischen Konzeption offenbart«, schreibt Mircea
Eliade, »ist ein großes Gewebe magischer Kräfte, und die
nämlichen Kräfte können durch die Techniken der my-
stischen Physiologie auch im menschlichen Körper ge-
weckt und geordnet werden.« (* Eliade, 225)
Eine Bedingtheit des Weltgeschehens von den sakra-
len Praktiken initiierter Individuen mag für uns absurd
klingen, aber sie besitzt ihre eigene Logik und Überzeu-
gungskraft. Wenn wir zum Beispiel die Historie Tibets

555
aus dem Blickwinkel der tantrischen Philosophie unter-
suchen, dann werden wir zu unserem Erstaunen feststel-
len, daß es den Lamas sehr gut gelungen ist, eine in sich
schlüssige Heils- und Symbolgeschichte des Schneelan-
des zu verfassen. 46 Es ist ihnen sogar geglückt, diese von
Anfang an auf die Person des Dalai Lama hin zuzuschnei-
dern, obgleich dessen Institution als politischer Macht-
faktor erst 900 ( !) Jahre nach der Buddhisierung des Lan-
des (seit dem 8. Jh. n. Chr.) errichtet wurde.
Vor allem die Inkarnationslehre bietet ihnen ein schlag-
kräftiges Argument für die politische Kontinuität dersel-
ben Machtelite über ihren Tod hinaus. Damit ist deren
machtpolitisches Mandat für alle Zeiten gesichert. Es
wurden aber ebenso die Inkarnationen in die Vergangen-
heit zurückdatiert, um politisch bedeutsame »Vorfahren«
für sich in Anspruch zu nehmen. Von diesem Verfahren
hat der V Dalai Lama ausgiebig Gebrauch gemacht.
Um also die tibetische Geschichtsauffassung und die
»Politik« des XIV Dalai Lama darzustellen und zu ver-
stehen-, sind wir mit den oben beschriebenen vier Vor-
stellungen einer archaischen Weitsicht konfrontiert :
1. Geschichte und Politik Tibets werden von den tibeti-
schen Göttern bestimmt.
2. Geschichte und Politik Tibets sind der Ausdruck ei-
nes mythischen Geschlechterkampfes.

46 Mittlerweile sind die von ihnen verdrehten historischen Fak-


ten von zahlreichen »seriösen« wissenschaftlichen Arbeiten aus
dem Westen übernommen worden. Wir werden im einzelnen
darauf eingehen.

556
3. Geschichte und Politik Tibets orientieren sich am es-
chatologischen Plan des Kalachakra-Tantras.
4. Geschichte und Politik Tibets sind das magische Werk
eines höchsten Tantra-Meisters (des Dalai Lama), der
als »sakraler König« und Yogi die Geschicke seines
Landes steuert.
Auch wenn man diese Thesen grundsätzlich als ein Phan-
tasma verwirft, ist es notwendig, von ihnen auszugehen,
um das Selbstverständnis des tantrischen Buddhismus,
des Dalai Lama, der führenden Exiltibeter und der vie-
len westlichen Buddhisten, die sich in den letzten Jah-
ren dieser Religion angeschlossen haben, adäquat auf-
zuzeigen und zu beurteilen. Obgleich wir die tibetische
Sicht keineswegs teilen, sind wir dennoch davon über-
zeugt, daß das »große Gewebe magischer Kräfte« (das
nach den Worten Mircea Eliades den Tantrismus kenn-
zeichnet) die historische Realität formen kann, voraus-
gesetzt, daß viele daran glauben.
Wir werden also die Geschichte Tibets und die Poli-
tik des XIV Dalai Lama in den folgenden Kapiteln als
ein tantrisches Projekt, als die Ausstrahlung göttlicher
Archetypen und als Szenenfolgen in der Dramaturgie
des Kalachakra-Tantras darstellen, so wie sie auch vom
Lamaismus gesehen werden. Als erstes müssen wir des-
wegen unseren Lesern und Leserinnen die Hauptgötter
präsentieren, welche seit der Buddhisierung Tibets auf
der politischen Bühne des Schneelandes auftreten. Denn
der lamaistische Mönchsstaat gilt auf einer metaphysi-
schen Ebene als die organisierte Versammlung zahlrei-
cher Gottheiten, die seit Jahrhunderten immer wieder in

557
menschlicher Form (in verschiedenen Lamas) erschei-
nen. Wir werden hier mit einer lebendigen »Theokra-
tie« oder besser »Buddhokratie« konfrontiert. Die tibeti-
schen Götter sind es, denen Tenzin Gyatso, der XIV Dalai
Lama, seinen menschlichen Leib zur Verfügung gestellt
hat und die durch ihn sprechen und handeln. Das mag
der Grund dafür gewesen sein, weshalb Seine Heiligkeit,
als er 1959 auf seiner Flucht aus Tibet die indische Gren-
ze überschritt, so laut er nur konnte, schrie : »Lha Gye-
lo – Sieg den Göttern«. (* Dalai LamaXIV, 1993 1, 168)
Er öffnete ihnen mit diesem Ruf die Tore zur Welt, spe-
ziell zum Westen.
1. DER DALAI LAMA : INKARNATION
DER TIBETISCHEN GÖTTER

Die beiden primären göttlichen Wesen, die durch die


Person des Dalai Lama tätig werden, sind der Bodhi-
sattva Avalokiteshvara (tibet. Chenrezi) und der Medi-
tationsbuddha Amithaba. Amithaba steht (als Buddha)
spirituell auf einer höheren Stufe. Er »senkt« sich nicht
direkt in den »Gottkönig« (den Dalai Lama) nieder, son-
dern erscheint zuerst in der Gestalt des Avalokiteshvam.
Erst Chenrezi verkörpert sich dann im Dalai Lama.

Buddha Amithaba : Die Sonnen- und Lichtgottheit

Der Meditationsbuddha Amithaba herrscht – nach einer


Doktrin des Mahayana-Buddhismus – als Regent über
das gegenwärtige Zeitalter. Schon der historische Bud-
dha Shakyamuni galt als seine irdische Ausstrahlung.
Ihm sind Sonne und Licht zugeordnet, und der Sommer
ist seine Jahreszeit. Der Pfau, ein klassisches Sonnen-
tier, schmückt seinen Thron. Auch die rote Körperfarbe
Amithabas signalisiert seinen solaren Charakter. Eben-
so wird sein Mantra »HRIH« als ein »Sonnensymbol«
bezeichnet : »Es besitzt nicht nur die Wärme der Sonne,
das heißt das emotionale Prinzip der Güte und des Er-
barmens, sondern auch die Leuchtkraft, die Qualität des
Sichtbarmachens, der Erkenntnis, der unmittelbaren

559
Thron und Fußsohle des Buddha mit Sonnensymbolen

Schauung.« (* Govinda, 277) Amithaba ist die buddhi-


stische Lichtgottheit par excellence, und seine Anhänger
beten ihn deswegen mit »glänzender Herr« an. Als das
»Unbegrenzte Licht« durchleuchtet er das gesamte Uni-
versum. »Hunderttausendmal heller als der Glanz des
Goldes« beschreiben alte Texte seine Strahlkraft. (* Joseph
Campbell, 363)
Die opulente Sonnensymbolik, die sich so eng mit der
Gestalt dieses Buddhas verbindet, hat dazu geführt, daß
einige westlich orientierte Wissenschaftler den Buddhis-
mus insgesamt als einen Solarkult bezeichnet haben. Der
Tantraforscher Shashibhusan Dasgupta zum Beispiel sieht
geradezu eine Identität zwischen dem historischen Bud-
dha (der Inkarnation des Amithaba), dem Dharma (der
buddhistischen Lehre) und der indischen Sonnengottheit
(Surya). (* Dasgupta, 1946, 337) Auch wird das Dharma

560
(die Lehre) in traditionellen buddhistischen Schriften oft
als »Sonne« bezeichnet, weil die Buddhaworte »ausstrah-
len wie das Sonnenlicht«. Manchmal identifizierte man
sogar das Prinzip der »Leerheit« mit der Sonne : »Dhar-
ma ist Shunya (Leere), und Shunya hat die Gestalt einer
Null«, schreibt Dasgupta. »Deswegen ist auch Dharma
von der Gestalt einer Null ; und da die Sonne auch von
der Gestalt einer Null ist, wird Dharma mit der Sonne
gleichgesetzt. Mehr noch, das Dharma bewegt sich in
der Leere, und der Himmel ist die Leere, und die Son-
ne bewegt sich im Himmel, und deswegen ist die Sonne
Dharma.« (* Dasgupta, 1946, 337)
Nicht nur mit der Sonne, sondern auch mit dem Ele-
ment »Feuer« werden Amithaba und der historische Bud-
dha in Verbindung gebracht. »Was nun die feurige En-
ergie anbelangt«, lesen wir bei Ananda Coomaraswamy,
»so ist das Feuerelement als unsichtbare Energie in al-
len Existenzen anwesend, aber vor allem manifestiert es
sich durch die Arhats (Heilige) oder durch den Buddha.«
(* Coomaraswamy, 1979, 10)
Schon aus dem 3. Jh. v. Chr. gibt es mehrere Darstel-
lungen des Gautama als »Feuersäule«. (* Coomaraswamy,
1979, 210) Die Feuerkolonne ist sowohl ein Symbol für die
Weltenachse wie für die menschliche Wirbelsäule, in der
die Kundalini aufsteigt. Sie hat weiterhin einen eindeutig
phallischen Charakter. Ein nepalesischer Text bezeichnet
den ADI BUDDHA als eine »linga-förmige (phallische)
Flamme«, die sich auf einem Lotus erhebt. (* Hazra, 30)
Diese enge Beziehung der Buddhagestalt zum Feuer hat
solch differenzierte Autoren wie den indischen Religions-

561
wissenschaftler Ananda Coomaraswamy dazu veranlaßt,
in Shakyamuni eine Inkarnation des Agni, des indischen
Feuergottes, zu sehen. (* Coomaraswamy, 1979, 65)
Die Macht des Feuers wird jedoch in der indischen
Mythologie nicht nur positiv gewertet. Mit Sonne und
Flamme sind in dem heißen Subkontinent ebenso die
zerstörerischen Kräfte angesprochen. Nicht nur Götter,
sondern auch berüchtigte Dämonen beriefen sich dar-
auf, von Surya, dem Sonnengott, abzustammen. So er-
zählt der Indologe Heinrich Zimmer mehrere traditio-
nelle Geschichten, in denen dämonische Yogis durch die
Herstellung innerer Hitze nach der göttlichen Macht grei-
fen. Er nennt diese yogische Flammenkraft Tapas, was
soviel wie »innere Glut« bedeutet.
Dagegen verdrängt Lama Govinda die zerstörerische
Kraft der Tapas gänzlich und erklärt sie schlichtweg zum
tragenden Prinzip der buddhistischen Mystik : »Es ist die
alles verzehrende, flammende Macht, die alles überwäl-
tigende innere Glut, die seit dem Erwachen des indi-
schen Denkens das religiöse Leben der von ihm ergrif-
fenen Menschen erfüllte : die Macht der Tapas … Tapas
ist hier das schöpferische Prinzip, das sowohl im Mate-
riellen wie im Geistigen wirkt … Es ist ›Begeisterung‹,
die in ihrer niedrigsten Form ein von blinder Emotion
genährtes Strohfeuer ist, in ihrer höchsten die von un-
mittelbarer Erkenntnis genährte Flamme der Inspirati-
on. Beide haben die Natur des Feuers.« (* Govinda, 1991,
188) Govinda läßt mit seinem Zitat keinen Zweifel dar-
an, daß der tantrische Buddhismus einen universellen
Feuerkult darstellt. 47

562
Feuer galt schon in vedischer Zeit als die Ursache des
Lebens. Die alten Inder sahen im Sexualakt zwischen
Mann und Frau ein Feuerritual und verglichen ihn mit
dem Reiben zweier Holzstücke aneinander, wodurch Glut
hervorgerufen werden konnte. Die dem »Feuerbuddha«
Amithaba zugeordneten Sphären sind denn auch die ero-
tischen Leidenschaften und die Sexualität. Von den se-
xualmagischen Flüssigkeiten wird der männliche Samen
mit ihm assoziiert. Das macht ihn zum prädestinierten

← 47 Rätselhaft bei dieser Betonung des solaren und feurigen We-


sens, welches den historischen Buddha auszeichnet, ist seine enge
Beziehung zur Schlangensymbolik, vor allem weil Schlangen mit
dem Wasser und dem Weiblichen assoziiert werden. Als Nagas
sind sie jedem Studenten des Buddhismus bekannt. Sie regieren
als Könige der Quellen, Bäche, Ströme und Seen. Der Engländer
C. F. Oldham hat in seinem Buch The sun and the serpent (Die
Sonne und die Schlange) nachzuweisen versucht, daß die bud-
dhistische Schlangenverehrung eine solare Einrichtung gewesen
sei. Buddha habe schon zu Lebzeiten als Maha Naga, als große
Schlange, eine weitverbreitete Verehrung genossen. (* Oldham,
179) Da er und sein Stamm zur »Sonnenrasse« zählten – so mut-
maßt der Autor –, seien auch die Schlangengötter »sonnenhaft«.
Er beruft sich dabei unter anderem auf ein altes Sutra : »Der Herr
der allmächtigen Schlangen gehört zu Surya (dem Sonnengott)«,
ist dort zu lesen. (* Oldham, 66) Wir halten jedoch Oldhams The-
se, daß der buddhistische Schlangenkult ursprünglich solarer Na-
tur sei, für einen Fehlschluß. Die enge Beziehung des heliozentri-
schen Buddhismus zur Schlangensphäre kann deswegen nur so
gedeuret werden, daß sich Buddha die Nagas untertan machte,
um mit diesem Sieg seine Oberherrschaft als patriarchaler Son-
nengott zu festigen. Das ist genau der Vorgang, den wir auch von
der tantrischen Praxis her kennen, wo das Weibliche, durch die
männliche Feuerenergie entzündet, dem androzentrischen Yogi
letztendlich dient. Das angezündete weibliche Element wird, wie
wir wissen, als Kundalini, das heißt Feuerschlange, bezeichnet.

563
Vater des tantrischen Buddhismus. In der Hand trägt
der »Feuergott« einen Lotus. Damit ist seine Affinität zur
weiblichen Symbolwelt angesprochen. »Die Lotuslinie ist
diejenige von Amithaba«, schreibt der XIV Dalai Lama
in einem Kommentar zum Kalachakra-Tantra. »Prak-
tizierende dieser Linie sollten speziell das Gelübde be-
folgen, sich von der Glückseligkeit, die mit dem Aussto-
ßen des Samens verbunden ist, zurückzuhalten.« (* Da-
lai Lama XIV, 1985, 229)
Amithaba herrscht als Souverän über das westliche
Paradies Sukhavati. Rechtschaffene Buddhisten wer-
den hier nach ihrem Tode aus einer Lotusblume wie-
dergeboren. Sie alle bewegen sich durch dieses jenseiti-
ge Reich in einem goldenen Körper. Frauen sind jedoch
unerwünscht. Haben sie in ihrem irdischen Leben gro-
ße Verdienste gesammelt, dann gesteht man ihnen ein
Recht auf Geschlechterwechsel zu, und sie dürfen Amit-
habas Land nach einer vorherigen Inkarnation als Män-
ner betreten. 48
Außerdem wird der Lichtbuddha als der »Herr der
Sprache« verehrt. Auch das analytische unterscheiden-
de Denken gehört zu seinem Zuständigkeitsbereich. Das
veranlaßte Lama Govinda dazu, ihn zum Schirmherrn
der modernen (auch westlichen) Wissenschaften zu ma-
chen. Er sei »unterscheidend«, »forschend« und »unter-
suchend«. (* Govinda, 123)

48 Die seelische »Pilgerreise« in das »Reine Land« des Lichtgottes


ist zu einem in Asien – vor allem in China und Japan – weit ver-
breiteten religiösen Glauben geworden und hat zur Bildung ver-
schiedener buddhistischer Schulen geführt.

564
Fassen wir also zusammen : Buddha Amithaba trägt
die Charakterzüge einer Licht-, Feuer- und Sonnengott-
heit. Seine Himmelsrichtung ist der Westen. Als Grün-
dungsvater der Lotusfamilie steht er in einem tiefen Sym-
bolzusammenhang mit der Sexualität und dadurch mit
dem Tantrismus.

Amithaba als der Herrscher unseres Zeitalters

Angesichts seiner Qualitäten als »Feuergott«, als »Herr


des Westens« und als »Patron der Wissenschaft« könn-
te man Amithaba in der Tat als den Regenten unseres
modernen Zeitalters ansehen, denn die letzten zwei-
hundert Jahre der westlichen Zivilisation und die Ent-
wicklung der Technik wurden überwiegend vom Ele-
ment Feuer beherrscht : Elektrizität, Licht, Explosionen
und die neuzeitliche Kriegsführung zählen ebenso dazu
wie der Treibhauseffekt und die weltweite Verwüstung.
Auch sind die großen Erfindungen – die Dampfmaschi-
ne, das Dynamit, das Automobil, das Flugzeug, die Ra-
keten und zuletzt die atomaren Sprengstoffe – ein Werk
des »Feuers«. Das flammende Element regiert die Welt
wie nie zuvor in der Geschichte.
Engagierte Buddhisten – allen voran der Dalai Lama
– bezeichnen unsere westliche Zivilisation als dekadent
und als unbalanciert, weil sie den spirituellen Werten
nicht mehr gerecht werde. Aber eine elementare Unba-
lanciertheit – so könnte man sagen – bestimmt ebenso
den Mythos von der »Weltenherrschaft« des Amithaba,

565
der als der Buddha eines einzigen ( !) Elements (das »Feu-
er«) unsere Epoche beherrscht. Feuer und Sonne gelten
kulturgeschichtlich als die klassisch-patriarchalen Sym-
bole, während Mond und Wasser das Weibliche reprä-
sentieren. So ist Amithaba auch ein Symbol für unsere
weltweite androzentrische Kultur, die aber erst ihre völ-
lige Reinheit in seinem von Frauen gänzlich befreiten
Paradies Sukhavati entfalten kann.

Die verschiedenen Masken des Avalokiteshvara

Als Ausstrahlung aus dem rechten Auge seines geistigen


Vaters Amithaba entstand sein Sohn Avalokiteshvara mit
tibetischem Namen Chenrezi. Er ist der »Bodhisattva«
unseres Zeitalters, die »Hauptgottheit« Tibets und die
göttliche Energie, die direkt hinter der Person des Da-
lai Lama wirkt. Keine Gestalt des buddhistischen Pan-
theons genießt ein größeres Ansehen als er. Sein Name
bedeutet der »gütig Herabblickende«. Als Haupteigen-
schaft zeichnen ihn seine Barmherzigkeit und sein Mit-
gefühl mit allen lebenden Wesen aus. Diese enge Ver-
flechtung mit dem Gefühlsleben hat ihm die tiefe Ver-
ehrung der Massen eingebracht.
Avalokiteshvara kann in zahllosen Formen erscheinen,
108 davon sind ikonographisch festgelegt. In einem of-
fiziellen Gebet wird er als puer aeternus (ewiger Knabe)
beschrieben :

566
Aus zehn Millionen Strahlen erzeugt,
ist sein Körper ganz weiß.
Er trägt einen Kopfschmuck,
und die Locken fallen bis auf die Brust.

Sein gütiges, lächelndes Antlitz ist das eines
Sechzehnjährigen.
(* Lange, 172)

Seine bekannteste und originellste Erscheinung zeigt


ihn mit elf Köpfen und tausend Armen. Zu dieser Ge-
stalt kam es – wie der Mythos berichtet –, nachdem das
Haupt des Bodhisattvas in zahllose Stücke zersplittert
war, weil er das Elend dieser Welt und die Unvernunft
der lebenden Wesen nicht mehr ertragen konnte. Dar-
aufhin nahm sein »Vater« Amithaba die Reste mit ins
Paradies Sukhavati, bildete aus den Splittern zehn neue
Köpfe und fügte den eigenen als die Spitze einer Pyrami-
de hinzu. Diese Selbstzerstörung aus Mitgefühl für die
Menschen und die anschließende Wiederauferstehung
des Bodhisattvas verführt dazu, seine Leidensgeschich-
te mit der christlichen Passion zu vergleichen.
In einigen Texten des Mabayana-Buddhismus über-
steigert sich die Gestalt des Avalokiteshvara so, daß er zu
einem Übergott wird, der alle anderen Götter und selbst
den Höchsten Buddha (ADI BUDDHA) in sich absorbiert.
Auch erscheint er schon in Indien (später in Tibet in der
Gestalt des Dalai Lama) als Chakravartin, d. h. als ein
»König aller Könige«, als ein »Herrscher über die Welt«.
(* Mallmann, 1948, 104)

567
Seine Gläubigen verbeugen sich vor ihm als dem
»leuch­tenden Herrn«. Auf einem interessanten Bild aus
der Sammlung des Fürsten Uchtomskij ist er in einem
Flammenkranz und mit Sonnenscheibe abgebildet. Sein
Beiname lautet »einer, dessen Leib die Sonne ist«. (* Goc-
kel, 21) Er sitzt auf einem Löwenthron, auf dem Rücken
eines Löwen oder hat sich ein Löwenfell umgelegt. So
werden alle solaren Symbole des Amithaba und des hi-
storischen Buddha auch mit ihm verbunden.
Angesichts dieser Lichterpracht vergißt man allzu leicht,
daß Avalokiteshvara ebenso seine Schattenseite hat. Jeder
Buddha und jeder Bodhisattva – so die tantrische Dok-
trin – kann in einer friedvollen und einer schrecklichen
Form erscheinen. Das gilt auch für den Bodhisattva des
höchsten Mitgefühls. Unter seinen elf Köpfen befindet
sich das furchterregende Haupt des Totengottes Yama.
Dieser und Avalokiteshvara bilden eine Einheit. Deswe-
gen herrscht der »Lichtgott« ebenfalls als der »König al-
ler Dämonen« (ein Beiname Yamas) über die verschie-
denen buddhistischen Höllen.
Auf tibetischen Thangkas wird Yama als gehörnter Dä-
mon, mit einer Krone aus Menschenschädeln und einem
erigierten Penis dargestellt. Meist tanzt er wild auf ei-
nem Stier, unter dessen Gewicht eine Frau, mit der das
Tier kopuliert, zerdrückt wird. F. Sierksma und ande-
re sehen in dieser Szene die Attacke auf einen vorbud-
dhistischen (vielleicht matriarchalen) Fruchtbarkeitsri-
tus. (* Sierksma, 215)
Als Totengott (Yama) und zähnefletschendes Monster
hält Avalokiteshvaraauch das »Rad des Lebens« in seinen

568
Klauen, das für den Buddhismus in Wahrheit ein »To-
desrad« (ein Zeichen der Wiedergeburt) ist. Unter den
zwölf Grundübeln, die eine irdisch-menschliche Existenz
als wertlos erscheinen lassen und die am Rande des Ra-
des eingezeichnet sind, befinden sich die »geschlechtliche
Liebe«, die »Schwangerschaft« und die »Geburt«.
In der Erscheinungswelt repräsentiert Yama Leiden
und Sterblichkeit, Geburt und Tod. Mit seiner Gestalt ver-
bindet sich in der tantrischen Imagination soviel Grau-
samkeit und Morbidität, daß er geradezu als der Schat-
tenbruder zum Bodhisattva der Barmherzigkeit und Lie-
be angesehen werden muß. Beide Buddhawesen erweisen
sich jedoch als eine paradoxe Einheit. Daß sich die Cha-
raktereigenschaften des Yama auch mit der Person des
Dalai Lama (der höchsten Inkarnation des Avalokitesh-
vara) verbinden können, versteht sich nach der Doktrin
des Tantrismus von selbst. Bei einer Begegnung mit dem
»friedlich herabblickenden« Gottkönig aus Tibet hat das
wohl selten einer in Betracht gezogen.
Auffallend in der Ikonographie des Avalokiteshvara
sind weiterhin die weiblichen Züge, welche viele seiner
Darstellungen aufweisen. Als ein enigmatisches Wesen
zwischen Jungfrau und Jüngling mit weichen Zügen und
runden Brüsten scheint er beide Geschlechter in sich zu
vereinigen. So heißt es in einem Gedicht, das an einen
Maler gerichtet ist :

Zeichne Avalokiteshvara wie eine Muschel,


wie einen Jasmin und wie einen Mond,
wie einen Helden, der auf einem weißen Lotussitz sitzt.

569
Sein Gesicht lächelt wunderbar.
(* Hopkins, 1980, 160)

Muschel, Jasmin und Mond sind weibliche Metaphern.


Der Beiname des Bodhisattvas, Padmapani (Lotusträ-
ger), weist ihn (ebenso wie Amithaba) als einen Ange-
hörigen der Lotusfamilie aus und stellt ihn gleicherma-
ßen in eine direkte Beziehung zur weiblichen Symbolik.
In ganz Asien wird der Lotus mit der Vagina assoziiert.
Aber da Chenrezi grundsätzlich in einer männlichen Ge-
stalt mit weiblichen Zügen erscheint, müssen wir ihn als
androgyn, als einen Gott, der die Gynergie der Göttin
in sich absorbiert hat, bezeichnen. Für Robert A. Paul
übernimmt er deswegen in der tibetischen Gesellschaft
eine »Vater-Mutter Rolle«. (* Paul, 140) Die beiden Far-
ben, in denen er bildlich dargestellt wird, sind rot und
weiß. Das entspricht symbolisch dem roten und weißen
Samen, welche sich im Körper des Tantra-Meisters mit-
einander vermischen.
Am deutlichsten ist seine Androgynität an dem be-
rühmten Mantra zu erkennen, mit dem Padmapani (Ava-
lokiteshvara) angerufen wird und das Millionen von Bud-
dhisten täglich vor sich hinmurmeln : OM MANI PAD-
ME HUM. Eine umfangreiche Literatur beschäftigt sich
mit Deutungen dieses Spruchs, von denen die sexualma-
gische am überzeugendsten klingt. (* siehe dazu Lopez,
114 ff.) Das Mantra lautet übersetzt : »Om, Juwel im Lotus,
hum«. Das Juwel ist der männlichen Kraft und dem Phal-
lus zuzuordnen, während die Lotusblume ein Sinnbild der
weiblichen Energie darstellt. Das »Juwel in der Lotusblü-

570
te« entspricht deswegen der tantrischen Vereinigung und,
da diese in einer männlichen Person vollzogen wird, dem
Prinzip der Androgynität. Mit der Silbe OM ist der Ma-
krokosmos angesprochen. HUM bedeutet »ich bin« und
signalisiert den Mikrokosmos. Die Formel meint also sinn-
gemäß : »In der Vereinigung des männlichen und weibli-
chen Prinzips bin ich das Universum.« Wer die Magie des
berühmten Mantras kennt, »besitzt die Herrschaft über
die Welt«. (* Mallmann, 1948, 101) Auch Trijang Rinpo-
che (1901–1981), ein bedeutender Lehrer des jetzigen Dalai
Lama, gibt eine klare und unmißverständliche Überset-
zung : »… Mani bedeutet das Vajra-Juwel des Vaters, Pad-
me den Lotus der Mudra, und der Laut Hum besagt, daß,
wenn sich beide vereinigen, zur Zeit des irdischen Weges
ein Kind geboren wird und zur Zeit des (tantrischen) Pfa-
des die Götter emanieren.« (*zit. b. Lopez, 134)
Erwähnenswert erscheint uns noch in diesem Zusam-
menhang der feministische »Griff« nach dem berühm-
ten Mantra des edlen Avalokiteshvara. In ihrem kriti-
schen Buch Traveller in Space führt die ehemalige Mu-
dra June Campbell aus, daß es nicht korrekt sei, »Mani«
mit »Phallus« zu übersetzen, für den normalerweise das
Wort »Vajra« gebraucht würde. Sie gibt deswegen zu be-
denken, daß »Mani« ursprünglich das Wort für »Klito-
ris« gewesen sei und daß das Mantra (OM MANI PAD-
ME HUM) früher eine Invokation der »Klitoris-Vagi-
na-Gottheit« beinhaltet habe, einer vorbuddhistischen
tibetischen Göttin, deren Geschlecht durch »die eifrigen
Missionare des indischen Buddhismus« verändert wor-
den sei. (*Campbell, 64)

571
Die berühmteste lebende Inkarnation des Avalokitesh-
vara ist der XIV Dalai Lama. In ihm konzentrieren sich
alle Energien des Bodhisattva, dessen Androgynität eben-
so wie dessen solare und feurige Qualitäten, dessen Mil-
de ebenso wie dessen Zorn als der Torengott Yama. Im
Sinne der tibetischen Inkarnationslehre ist der XIV Dalai
Lama als Mensch nur die körperlich-menschliche Hülle,
mit der Chenrezi (Avalokiteshvara) in Erscheinung tritt.
Es sind – nach tantrischer Sicht – die Visionen und Mo-
tive, die Strategien und Taktiken des »milde herabblic-
kenden Bodhisattvas«, welche die Politik Seiner Heilig-
keit und dadurch das Schicksal Tibets bestimmen.

Der XIV Dalai Lama als


der Höchste Kalachakra-Meister

Da der tibetische Gottkönig als der Höchste Meister des


Kalachakra-Tantra agiert, inkarniert sich in ihm eben-
falls der androgyne Zeitgott (Kalachakra und Vishva-
mata in einer Person). Ziel des Zeittantras ist die »al-
chemistische« Hervorbringung des ADI BUDDHA.
Wir haben die Genesis, »Funktionsweise« und Macht-
fülle des Höchsten Buddha im ersten Teil unserer Stu-
die präzise beschrieben, insbesondere sind wir auf seine
Stellung als Chakravartin, als »Weltenherrscher« einge-
gangen. Diese globale Machtrolle wird vom Dalai Lama
in unserer Zeit noch nicht eingenommen. Im Gegenteil :
Die westliche Öffentlichkeit bezeichnet ihn manchmal
als den »machtlosesten Politiker unseres Planeten«. Um

572
also seine Position auf dem Evolutionspfad des Kalacha-
kra-Tantras genau zu orten, müssen wir feststellen, daß
der Kundun noch nicht die geistig-reale Ebene eines ADI
BUDDHA erreicht hat, sondern sich erst auf dem Weg
zum Weltenherrscher (Chakravartin) befindet.
Alle die oben genannten »göttlichen« und »dämoni-
schen« Eigenschaften des Avalokiteshvara (letztlich auch
die des Amithaba) kombiniert der tibetische »Gottkönig«
als höchster Vajra-Meister mit dem Kalachakra-Tantra.
Nach der sogenannten Rwa-Tradition steht der Bodhisatt-
va Avalokiteshvara sogar als »Wurzelguru« am Anfang
der buddhistischen Zeitlehre. (* Newman, 1985, 71) Was
wissen wir nun über die Durchführungen des Kalacha-
kra-Systems durch die aktuelle Inkarnation des Chenre-
zi, Seiner Heiligkeit des XIV Dalai Lama ?
Über die im ersten Teil unserer Studie beschriebenen
acht »Höchsten Einweihungen« des Zeittantras ist in der
Öffentlichkeit so gut wie nichts bekannt, um so mehr ist
man über die sieben unteren Initiationen informiert. Sie
wurden und werden von Seiner Heiligkeit häufig, pu-
blik, im großen Stil und in der ganzen Welt aufgeführt.
Die von den Mönchen des Namgyal Instituts49 in bunten
Gewändern inszenierte pompöse Darbietung eines Ka-
lachakra-Schauspiels ist mittlerweile eine exotische Sen-
sation, die jedesmal ihre Beachtung in der Weltpresse
findet. Tausende, in den letzten Jahren Hunderttausen-

49 Eine speziell für die Durchführung der großen öffentlichen


Initiationen des Kalachakra-Tantras eingerichtete Institution,
die der direkten Aufsicht des Dalai Lamas untersteht.

573
Der XIV Dalai Lama als Kalachakra-Gottheit auf einer
Postkarte aus Indien

de, strömten herbei, um das religiöse Spektakel mitzu-


erleben und zu bestaunen.
Das Kalachakra-Tantra, dessen aggressiven und impe-
rialistischen Charakter wir detailliert nachweisen konn-
ten, wird vom XIV Dalai Lama ohne die geringsten Skru-
pel als ein »Fahrzeug für den Weltfrieden« bezeichnet :
»Wir glauben unbedingt an seine Fähigkeit«, so der Gott-
könig zum Zeittantra, »Spannungen zu verringern. Die
Initiation ist also öffentlich, weil sie unserer Meinung
nach geeignet ist, Frieden zu schaffen, den Frieden des
Geistes und folglich auch den Frieden der Welt zu för-
dern.« (* Levenson, 304)
Westlichen Interessenten, die sich dem magisch-re-
ligiösen Denken des Lamaismus noch versperren, prä-

574
sentiert man das Kalachakra-Ritual und das zugehö-
rige Sandmandala als ein »Gesamtkunstwerk, in dem
sich Klang und Farbe, Gestus und Wort auf eine viel-
schichtige, bedeutungsschwere Weise miteinander ver-
binden«. (* Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Februar
1986) Für den Dalai Lama dagegen findet während der
Riten tatsächlich eine Versammlung der dort angerufe-
nen Gottheiten statt : »Ich habe die Kalachakra-lnitiati-
on in Bodhgaya, Ladakh, Lahoul-Spiti, Arunachal Pra-
desh usw. durchgeführt. Bei dieser Gelegenheit nahm
ich die verschiedenen Schutzgottheiten des tibetischen
Volkes als Gemeinschaft wahr. Ich nahm wahr, daß sie
ebenfalls anwesend waren.« (* Dalai Lama XIV – Sehn-
sucht nach dem Wesentlichen – ISBN 3–7701–2734-X,
Freiburg, Webmaster)
Es war im Jahre 1953, als Seine Heiligkeit der XIV Da-
lai Lama von Ling Rinpoche zum ersten Mal in die Ka-
lachakra-Riten eingeweiht wurde. Bis zu welchem Gra-
de, ist uns nicht bekannt. Zutiefst beeindruckt von der
Schönheit des Sandmandalas, verfiel der junge Kundun
in einen Schwindelzustand. Kurz darauf verbrachte er ei-
nen Monat in Klausur und war während dieser Zeit in-
nerlich sehr bewegt. Beim Aufsagen der Gebete blieben
ihm oft vor Rührung die Worte im Halse stecken : »Im
nachhinein begreife ich diesen Umstand als glückverhei-
ßend, als ein Vorzeichen dafür, daß ich die Kalachakra-
lnitiation viel öfter durchführen würde als irgendeiner
meiner Vorgänger.« (* Dalai Lama XIV, 1993 1, 118)
Eigenartigerweise geschah die erste von ihm selber
durchgeführte Initiation in das Kalachakra-Tantra (1954)

575
nach eigenen Worten »auf Wunsch einer weiblichen Lai-
engruppe«. (* Dalai Lama XIV, 1993 1, 119) Ob sich hin-
ter diesem euphemistischen Satz ein Ganachakra mit 10
oder 8 Karma Mudras (wirklichen Frauen) verbirgt, kön-
nen wir nur vermuten. Doch ist dies sehr naheliegend,
denn wie sollte gerade eine »weibliche Laiengruppe« im
alten Tibet, wo Frauen in religiösen Dingen nicht die ge-
ringsten Rechte hatten, das hohe Privileg genossen haben,
den 19jährigen Hierarchen zu seiner ersten Kalachakra-
Zeremonie zu bewegen ? Das ist angesichts des strengen
Hofzeremoniells, das im Potala herrschte, ganz und gar
undenkbar für die damalige Zeit, und wir müssen des-
wegen von der taktvollen Umschreibung eines tantri-
schen Rituals mit Yoginis ausgehen.
1956 und 1957 zelebrierte Seine Heiligkeit zwei weitere
Kalachakra-Einweihungen in Lhasa. 1970 fand die erste
öffentliche Initiation im Exil (Dharamsala) statt. Er selbst
empfing kurz vorher einen Traum : »Als ich aufwach-
te, wußte ich, daß ich in Zukunft dieses Ritual sehr oft
durchführen würde. In meinen vorherigen Leben hatte
ich eine enge Beziehung mit den Kalachakra-Lehren. Es
ist eine karmische Macht.« (* Bryant, 112) Dieser Traum
sollte sich in den nächsten Jahren tatsächlich verwirk-
lichen.
Im Sommer 1981, dem »Eisenvogel-Jahr« des tibeti-
schen Kalenders, erteilte der Gottkönig zum ersten Mal
außerhalb Asiens eine öffentliche Kalachakra-lnitiation.
Man bezog das Datum und den Ort (Wisconsin, USA)
der Einweihung direkt auf eine Prophezeiung des tibe-
tischen »Religionsgründers« Padmasambhava, der den

576
Vajrayana im 8. Jahrhundert aus Indien im Schneeland
einführte : »Wenn der Eisenvogel fliegt und die Pferde auf
Rädern rollen, kommt die buddhistische Lehre in das
Land des Roten Mannes.« (* Bernbaum, 33) Die Eisenvö-
gel – so wird diese Vision gedeutet – sind die Flugzeuge,
die Räderpferde sind die Automobile, und das Land des
Roten Mannes (der Indianer) sind die USA. Während des
Rituals soll ein Falke mit einer Schlange in den Klauen
am Himmel erschienen sein. Die Teilnehmer erkann-
ten darin den Mythenvogel Garuda, der die patriarcha-
le Macht, die das Weibliche in der Gestalt der Schlange
vernichtet, repräsentiert. 50 Handelt es sich hierbei um

50 Der Greifvögel Garuda wird in der tibetischen Mythologie als


ein machtvoller Schlangentöter vorgestellt. Er ist der Feueradler,
der sich vom Fleisch der Nagas (Schlangen) ernährt. Schon aus
dem indischen Nationalepos, der Mahabharata, wissen wir, daß
er der Sonnenrasse angehört und Stämmen, welche die Sonne als
ihre höchste Gottheit verehrten, als Totemtier galt. Der Garuda ist
auch das Schutztier des Dalai Lama und wird im Kalachakra-Tan-
tra erwähnt. Repräsentiert er die feurige männliche Macht über
die weibliche Schlangenwelt ? Albert Grünwedel hat dies so ge-
sehen, wenn er schreibt : »Wir kennen die garudahaften, furcht-
baren, in die Höhe fliegenden Greife, welche Mädchen (Nagi’s)
zerfleischen …« (* Grünwedel, 1924, II, 68) Der Autor ist weiter-
hin davon überzeugt, daß im Kalachakra-Tantra von einer Trans-
formation der Nagas in Garudas die Rede sei. (* Grünwedel, 1924,
II, 68 ; Kalacakra IV, 182) Wie immer man zu Grünwedels Deu-
tung stehen mag, sie macht in jedem Fall auf das tantrische My-
sterium aufmerksam, das hinter dem Garuda-Mythos aufblitzt :
die Transformation weiblicher Wasserenergie (Schlange) durch
männliches Feuer (Garuda) beziehungsweise die Absorption des
Mondes (Schlange) durch die Sonne (Garuda) als die Vollendung
patriarchaler Machtentfaltung.

577
ein tantrisches Wunschbild, nach dem schon in naher
Zukunft der Westen in die Fänge des tibetischen Bud-
dhismus geraten soll ?
An der ersten westlichen Einweihung in Wisconsin
nahmen nicht mehr als 1200 Menschen teil. 1985 wur-
de die Kalachakra-Zeremonie in der Schweiz und da-
mit zum ersten Mal in Europa durchgeführt. Jetzt gab
es schon 6000 westliche Partizipianten. Im gleichen Jahr
erschienen bei der Initiation in Bodh Gaya (Indien) mehr
als 300 000 Menschen. Dieses grandiose Spektakel wurde
von der Presse zum »buddhistischen Ereignis des Jahr-
hunderts« deklariert. (* Tibetan Review, Januar 1986, 4)
Viele sehr arme Tibeter hatten illegal die chinesische
Grenze überschritten, um an den Feierlichkeiten teilzu-
nehmen. Es ist sicher erwähnenswert, daß mindestens
50 Menschen während des Rituals starben ! (* Tibetan
Review, Januar 1986, 6)
1991 gab es im Madison Square Garden von New York
City vor 4000 Teilnehmern eine weitere, in der Öffent-
lichkeit viel beachtete Kalachakra-Zeremonie. Zur glei-
chen Zeit wurde im Museum of Asian Art ein Sandman-
dala errichtet, das Zehntausende von Besuchern herbei-
lockte. Insgesamt blickt der XIV Dalai Lama Ende 1998
auf 25 öffentliche Einweihungen in das Zeittantra zurück,
die er als der Höchste Varja-Meister leitete.
Die hohe Bedeutung, die der XIV Dalai Lama dem Ka-
lachakra-Tantra und seiner weltweiten Verbreitung bei-
mißt, verlangt, daß alle seine politischen Handlungen
aus den Visionen und Absichten des Zeittantras zu in-
terpretieren sind. Das Kalachakra-Tantra ist ein hohes

578
Politikum. Es ist das magisch-metapolitische Instru-
ment, mit dem der Kundun den Westen und die Welt
erobern will. Er selbst beziehungsweise die hinter ihm
wirkenden Mächte und Kräfte wollen zum Herrscher
über Zeit und Geschichte werden. 51

51 Vielleicht hat es etwas mit seinet Rolle als Höchster Zeitgott


zu tun, daß der Kundun mit ganz besonderer Vorliebe moder-
ne Armbanduhren auseinandernimmt, repariert und dann wie-
der zusammensetzt ? Von einer Schweizer exiltibetischen Orga-
nisation werden Uhren mit dem Hauptsymbol des Kalachakra-
Tantras (dem Dasakaro Vasi) vertrieben und über das Internet
angeboten. Schon der Mönch Daoxuan (596–667) verglich den
Buddhismus mit einer Uhr. Wenn ein Buddha in der Welt er-
scheint – so erfahren wir von ihm –, dann funktioniert auch die
Uhr. Wenn sie falsch läuft, dann bedeutet das, daß die Menschen
nicht mehr dem Dharma folgen. Als Shakyamuni starb, »funk-
tionierte das Uhrwerk nicht mehr«. (* Forte, 259)

579
Äußerungen des XIV Dalai Lama
zur Sexualität und Sexualmagie

Über die acht höchsten Einweihungen in das Kalacha-


kra-Tantra und die entsprechenden sexualmagischen
Riten erfahren wir (öffentlich) aus dem Munde des Kun-
duns so gut wie gar nichts. Nach außen hin gibt sich der
Gottkönig strikt asexuell. Auf die Frage, wie er zum Sex
stehe, antwortete er im Playboy. »Du meine Güte. So was
fragen Sie einen 62jährigen Mönch, der sein ganzes Le-
ben im Zölibat gelebt hat. Zum Sex habe ich nicht viel zu
sagen – außer, daß es völlig in Ordnung ist, wenn zwei
Menschen sich lieben.« (* dt. Playboy, März 1998, 46)
Ein halbes Jahr später philosophierte er im Zeitmagazin :
»Sex sieht auch nach einer Menge Ärger und Anstren-
gung aus, nach Qual und Schweiß, dann wieder scheint
es für Augenblicke recht erfreulich zu sein.« (Zeitmaga-
zin, Nr. 44, 22. Oktober 1998, 24) Oder er löst das deli-
kate Thema mit saloppem Humor, wenn er zum Beispiel
den indischen Gelehrten Nagarjuna mit einem Dreizei-
ler zur Erosfrage zitiert :

Wenn es einen juckt, dann kratzt man sich.


Besser als jede Menge Kratzen
Ist aber, wenn es einen überhaupt nicht juckt.
(* Dalai Lama XIV, 1993 I, 301)

Solche Sprüche erinnern an die Lebensphilosophie ei-


nes humorvollen Mahayana-Buddhisten, nicht aber an
die eines Tantrikers. Ob der Kundun selber sexualma-

580
gische Praktiken durchführt oder durchgeführt hat, ist
ein Geheimnis, das er aus verständlichen Gründen nicht
preisgibt. Nur an Randbemerkungen – nie würde das
Tabuthema ansonsten in der Öffentlichkeit zur Sprache
kommen – läßt sich ablesen, daß der Dalai Lama über
die Konsequenzen, die aus den tantrischen Riten folgen,
genauestens informiert ist.
So diskutierte Seine Heiligkeit auf einer Veranstaltung
in San Francisco (1994) mit Studenten über das Thema
»Sexualität und Buddhismus«. Als die Sprache auf den
»weisen Narren« Drungpa Kunley kam, der durch seine
erotischen Eskapaden, durch sein riesiges männliches
Glied und durch die tibetische Literatur bekannt wur-
de, rechtfertigte der Kundun dessen wildes Sexualleben :
Bei Drungpa habe es sich um ein hochentwickeltes Er-
leuchtungswesen gehandelt, seine erotischen Aktivitäten
– wie bizarr sie auch einem normalen Menschen erschei-
nen mögen – wären immer zum Wohle aller lebenden
Wesen vollzogen worden. »Er konnte sogar«, so der Da-
lai Lama lachend, »Exkremente und Urin wie feine Spei-
sen und Wein goutieren«, und dann witzelte er im Hin-
blick auf die modernen tibetischen Lamas : »Wenn Du
in ihren Mund Urin hineintust, dann werden sie sich
nicht daran erfreuen !« (* Ariana, 23. 2. 1997 – ‹wlotus@
scn.org›) Daraus läßt sich folgerichtig rückschließen, daß
jeder Erleuchtete die tantrische »Geschmacksprobe« be-
stehen muß und daß die derzeitigen Lamas nicht bereit
sind, diese Prüfung auf sich zu nehmen.
Auf einem wissenschaftlichen Seminar über Traumfor-
schung in Dharamsala kommentierte der Kundun einen

581
Vortrag mit dem Satz : »Solche Arbeit mit Träumen, bei
denen es zum Samenerguß kommt, könnte wichtig sein.«
(* Dalai Lama XIV, 1996 I, 115) Wer die tantrische Sa-
mengnosis kennt, der weiß, wie fundamental dieses In-
teresse des Gottkönigs an der angesprochenen Thematik
sein muß. Auf dem selben Treffen plauderte er über or-
giastische Erfahrungen, als wären sie ständig Teil seiner
Erlebniswelt. Auch der Vergleich des mystischen Klaren
Lichts mit dem Orgasmus ist für ihn eine Selbstverständ-
lichkeit. (* Dalai Lama XIV, 1996 1, 116)
Einige Jahre später, auf der »Mind and Life«-Konfe-
renz in Dharamsala (1992), sprach er sehr detailliert über
die tantrischen Praktiken und erwähnte sogar die anrü-
chige Vajroli-Methode : »Eine besondere Übung, an der
man die Fähigkeit zur Kontrolle (des Samenflusses) mes-
sen kann, besteht darin, einen Strohhalm in das Genital
einzuführen. Zuerst zieht der Yogi Wasser, später dann
Milch durch den Strohhalm herauf. (Wieder später – so
fügen wir hinzu – das Sukra aus der Vagina seiner Sexu-
alpartnerin.) Damit wird die Fähigkeit der Umkehr der
Flusses während des Geschlechtsverkehrs geübt.« (* Vare-
la, 1997, 232) Mit einem etwas anzüglichen Lächeln klär-
te er anschließend die anwesenden westlichen Wissen-
schaftler über die verschiedenen Typologien der Mudras
auf : »In der tantrischen Literatur werden vier Arten von
Frauen oder Gefährtinnen beschrieben : die Lotos-artige,
die Reh-artige, die Muschel-artige und die Elefanten-ar-
tige.« Dann witzelte er : »Wenn diese Einteilung aus Tibet
stammte (anstatt aus Indien), dann hätte man sie Yak-ar-
tige genannt. Diese Unterscheidungen«, führt der Zoliba-

582
tär mit genauer Kenntnis fort, »haben in erster Linie et-
was mit der Form der Genitalien zu tun, doch beziehen
sie sich auch auf Verschiedenheiten in der körperlichen
Konstitution. Für Männer gibt es keine derartige Eintei-
lung.« (* Várela, 1997, 155)
Der Ehe steht der Kundun wie alle Priester wohlwol-
lend und altväterlich gegenüber, ohne ihr irgendeine be-
sondere spirituelle Bedeutung zuzubilligen. »Auf den er-
sten Blick erscheint das Leben der Verheirateten ausge-
füllt und attraktiv und das der Zölibatäre armselig. Aber
ich glaube, das Leben als Mönch ist ausgeglichener, es
gibt weniger Extreme, weniger Höhen und Tiefen. Das
sage ich auch immer meinen jungen Mönchen und Non-
nen zum Trost.« (* Zeitmagazin, Nr. 44, 22. Oktober 1998,
24) Als Reproduktion zur Aufrechterhaltung der tibeti-
schen Rasse ist ihm die Ehe jedoch sehr wichtig, und er
sieht es überhaupt nicht gerne, wenn Exiltibeter anders-
rassige Ehepartner wählen. Ebenso abstoßend empfindet
er es, wenn sich ordinierte Mönche plötzlich zur Heirat
entschließen. Als sein Bruder Lobsang Samten ihm sei-
ne Ehepläne bekannt gab, schrie ihn der Kundun mit ei-
ner Anspielung auf die chinesische Repression an : »Selbst
ein Hund kopuliert sich nicht, wenn er geschlagen wird.«
(* Craig, 260) Später entschuldigte er sich für diese un-
kontrollierte Äußerung.
1997 auf seiner Reise durch die USA benannte der Da-
lai Lama als sexuelles Tabu den Oral- und Analverkehr
für Hetero- wie für Homosexuelle, aber auch die Mastur-
bation. Letztere wird bei den geheimen Tantras dann ge-
billigt, wenn keine reale Partnerin zur Verfügung steht.

583
Die Fellatio und der Cunnilingus sind sogar – wie wir es
im ersten Kapitel unseres Buches ausführlich beschrie-
ben haben – in den vier Höchsten Einweihungen des Ka-
lachakra-Tantras vorgeschrieben. Bei normalen Sterbli-
chen aber werden nach dem Tode beide Sexualpraktiken
– gemäß einem einschlägigen Sutra – durch die Zerstö-
rung der Sexualorgane in der Samghata-Hölle geahn-
det. Als besonders verwerflich erklärte der Kundun die
sexuelle Beziehung zu einem Mönch oder einer Nonne,
die das Zölibatsgelübde abgelegt hätten, selbstverständ-
lich auch nur, wenn diese außerhalb der tantrischen Ri-
ten stattfinde. Ebenso sei der Sexualakt in Tempeln ver-
boten. Der Verkehr mit einer Prostituierten ist erlaubt,
wenn man selber dafür zahlt und das Geld nicht von ei-
nem dritten erhält.
Männliche wie weibliche Homosexualität ist – so
der Kundun –, wenn sie keine Oral- oder Analkontak-
te praktiziere, nicht verboten. Es war zumindest eine po-
litische Unklugheit, daß er diese Äußerung in San Fran-
cisco verlauten ließ, dem Mekka der amerikanischen
Schwulenbewegung. Das sexuelle Verbot (von Oral- und
Analverkehr) führte sofort zu heftigsten Protesten. Viele
Amerikaner seien enttäuscht, hieß es in einem Statement
der homosexuellen Szene, »da sie sich dem Buddhismus
zugewandt hätten, weil sie glaubten, er sei in sexuellen
Dingen ohne Vorurteile.«52 (* Peterson, 30. 09. 1997 –
‹rdpeterson@ntr.net›) Es ist wohl kein Zufall, daß José
Ignacio Cabezón, engagierter amerikanischer Homo-
sexueller, ehemaliger buddhistischer Mönch und Pro-
fessor für Philosophie, 1998 mit einer scharfen Kritik

584
des tibetischen Buddhismus an die Öffentlichkeit trat
(Prisoners of Shangri La).

← 52 Äußerst bizarr erscheint in diesem Zusammenhang ein


Text zur Homosexualität, den einer der intimsten westlichen
Mitarbeiter Seiner Heiligkeit kürzlich publizierte. Der jüngste
Buchtitel Jeffrey Hopkins, derzeit Professor für Tibetische Studi-
en an der Universität von Virginia, trägt den Titel Sex, Orgasmus
und das Bewußtsein des Klaren Lichts : Die 64 Künste der homose-
xuellen Liebe. (* Hopkins, 1996) Beim Durchlesen des Textes ha-
ben wir uns selbstverständlich die Frage gestellt : Kann der tan-
trische Energieaustausch auch zwischen Männern stattfinden ?
Ist zur Vollziehung sexualmagischer Praktiken überhaupt eine
Weisheitsgefährtin notwendig, oder darf es auch ein Weisheits-
gefährte sein ? Das Buch will hierauf keine Anwort geben und
muß deswegen, wie Hopkins selber betont, nicht als ein tantri-
scher Text angesehen werden. Es handle sich dabei vielmehr um
ein homosexuelles Kama Sutra, eine Anleitung zum erotischen
Amüsement. Dem Analverkehr, den Seine Heiligkeit zu den se-
xuellen Tabus zählt, werden dort mehrere lustvolle Zeilen gewid-
met. – Ein Text, in dem homosexuelle tantrische Praktiken von
einem Guru diskutiert werden, ist The Dawn Horse Testament
von Da Free John, dem ehemals spirituellen Lehrer des ameri-
kanischen Evolutionstheoretikers Ken Wilber. Der Autor befür-
wortet in begrenztem Maße homosexuelle Riten, betont aber mit
ganzem Nachdruck, daß während des sexualmagischen Aktes
strikt der eine Mann die maskuline und der andere die feminine
Rolle zu spielen hat. (* Da, 348) Einer der Männer wird deswegen
energetisch als ein Frauensubstitut benutzt, was die grundsätz-
lich heterosexuelle Ausrichtung des Tantrismus nur bestätigt.
2. DER DALAI LAMA (AVALOKITESHVARA)
UND DIE DÄMONIN (SRINMO)

Geschichte im Sinne des Kalachakra-Tantras ist apoka-


lyptische Heilsgeschichte, sie ist – so haben wir gesagt –
ein alchemistisches Experiment zur Herstellung eines
ADI BUDDHA. Die Protagonisten dieses Schauspiels sind
keine Menschen, sondern Götter. Geschichte und Mythos
bilden deswegen eine Einheit. Nehmen wir die Philoso-
phie des Vajrayana wörtlich, dann müßten sich alle Ereig-
nisse der tantrischen Aufführung in der Historie Tibets
wiederfinden lassen. Sie wäre deswegen als der Ausdruck
einer Geschlechterdynamik zu deuten. Bevor wir selber
damit beginnen, hinter den realpolitischen Fakten der ti-
betischen Historie nach symbolischen Zusammenhän-
gen und mythischen Feldern zu suchen, haben wir uns zu
fragen, ob die Tibeter aus eigenem Antrieb eine solch ge-
schlechtsspezifische und sexualmagische Interpretation
ihrer historischen Abläufe durchgeführt haben.
Wir wissen, daß die Spielregeln jeder tantrischen In-
szenierung immer zwei Hauptdarsteller verlangen, ei-
nen Mann und eine Frau, beziehungsweise einen Gott
und eine Göttin. In jedem Fall ist das Stück in drei Akte
aufgeteilt :
1. Die sexualmagische Vereinigung von Gott und Göttin
2. Das anschließende »tantrische Frauenopfer«
3. Die Herstellung des kosmischen Androgyns (ADI
BUDDHA).

586
Sehen wir uns also die einzelnen Szenen an, in denen
sich dieses kosmische Theater auf dem Dach der Welt
abspielt. Dabei sind die Entstehungsmythen des Landes
von entscheidender Bedeutung, denn sie liefern das ar-
chetypische Raster, aus dem sich nach einem archaischen
Geschichtsverständnis alle späteren Ereignisse ableiten
lassen.

Die Fesselung der Erdgöttin Srinmo und


die Ursprungsgeschichte Tibets

Der Bodhisattva Avalokiteshvara gilt als Stammvater der


Tibeter, er bestimmt also von den allerersten Anfängen
an das Geschehen. Zu der Zeit, als noch keine Menschen
auf Erden lebten, verkörperte sich das Buddhawesen in
einem Affen und verbrachte auf dem Dach der Welt sei-
ne Stunden in tiefer Meditation. Da erschien wie aus
dem Nichts eine Felsdämonin mit dem Namen Srinmo.
Die Schreckgestalt stammte aus dem Clan der Srin, einer
blutrünstigen Gemeinschaft von Naturgöttinnen. Von
»Geilheit aufgestachelt« – wie es in einem Text heißt –,
nahm auch sie die Gestalt eines (weiblichen) Affen an
und versuchte sieben Tage lang, Avalokiteshvara zu ver-
führen. Aber der göttliche Bodhisattvaaffe widerstand
allen Versuchungen und blieb unberührt und keusch.
Als er sich am achten Tage immer noch weigerte, sprach
Srinmo vor ihm folgende Drohung aus : »König der Affen,
höre auf mich, was ich denke. Durch der Liebe Macht
liebe ich dich gar sehr. Durch dieser Liebe Macht um-

587
schwänzle ich Dich und gestehe : Wenn Du nicht mein
Gatte sein willst, werde ich den Felsdämonen eine Ge-
nossin sein. Wenn dann ungezählte Felsdämonen-Junge
entstehen, werden sie jeden Morgen 1000 und aber 1000
Leben töten. Das Schneeland-Gebiet selbst wird in die
Natur der Felsdämonen verwandelt. Alle anderen Lebe-
wesen werden dann von den Felsdämonen verschlungen.
Wenn ich dann selbst in Folge meiner Tat sterbe, werden
die Lebewesen in die Hölle stürzen. Darum gedenke mei-
ner und habe Erbarmen.« (* Hermanns, 1956, 32)
Damit hatte sie ins Schwarze getroffen. Ein »Beischlaf
aus Mitgefühl zum Wohle aller leidenden Wesen« war –
wie wir schon wissen – eine verbreitete »ethische« Praxis
des Mahayana-Buddhismus. Trotz dieses Gebots wandte
sich der Affe zuerst an seinen Emanationsvater Amithaba
und bat diesen um Rat. Der »Lichtgott aus dem Westen«
antwortete ihm in weiser Voraussicht : »Nimm die Fels-
dämonin zur Gemahlin. Deine Kinder und Enkel-Nach-
kommen werden sich vermehren. Wenn sie schließlich
Menschen geworden sind, werden sie der Lehre Stütze
sein.« (* Hermanns, 1956, 32)
Diese buddhistische, an Charles Darwin erinnernde
Abstammungslehre entstand jedoch nicht nur aus der
Mitleidsgeste eines göttlichen Affens, sondern beinhal-
tet auch ein weitverbreitetes elitäres Werturteil des Kle-
rus, das die Tibeter und ihr Land als unzivilisiert, unter­
entwickelt und tierisch darstellen soll, zumindest was die
negativen Einflüsse ihrer Urmutter anbelangt. »Von ih-
rem Vater ausgehend arbeiteten sie hart, waren sie nett
und fühlten sich zu religiösen Aktivitäten hingezogen ;

588
von ihrer Mutter her waren sie schnell erregbar, leiden-
schaftlich, anfällig für Eifersucht und gierig auf Spiele
und Fleisch«, heißt es in einem alten Text von den Ein-
wohnern des Schneelandes. (* Samuel, 1993, 222)
Zwei Kräfte standen sich also schon in der tibetischen
Genesis gegenüber : die disziplinierte, zähmende, kultur-
schöpferische, geistige Welt der Mönche in der Gestalt
des Avalokiteshvara und die wilde, destruktive Energie
des Weiblichen in der Gestalt der Srinmo.
In einem weiteren Mythos erscheint das nichtbuddhi-
stische Tibet selbst als die Verkörperung der Srinmo. (* Ja-
net Gyatso, 44) Die ortsansässige Dämonin soll sich mit
allen Mitteln, mit Waffen und mit Zauberei, gegen die
Einführung der wahren Lehre durch die aus Indien stam-
menden buddhistischen Missionare gestellt haben, bis sie
dann endlich vom großen Gesetzeskönig Songtsen Gam-
po (617–650), einer Inkarnation Avalokiteshvaras (und
damit des jetzigen Dalai Lama), besiegt werden konnte.
»Der See in der Milchebene«, schreibt der Tibetforscher
Rolf A. Stein, »wo der erste buddhistische König seinen
Tempel (den Jokhang) baute, repräsentierte das Herz der
Dämonin, welche auf ihrem Rücken lag. Die Dämonin ist
Tibet selbst, die erst gezähmt werden muß, bevor sie be-
wohnt und zivilisiert werden kann. Ihr Körper bedeckt
noch immer die gesamte Ausdehnung von Tibet in den
Perioden seiner militärischen Größe (8. bis 9. Jh. n. Chr.).
Ihre ausgebreiteten Glieder reichten bis an die Grenzen
der tibetischen Besiedlung … Um die Glieder der nieder-
geworfenen Dämonin unter Kontrolle zu halten, wurden
zwölf Nägel der Unbeweglichkeit in sie hineingetrieben.«

589
(* Stein, 34) Über jedem Ort dieser zwölf Annagelungen
entstand ein buddhistischer Tempel.
Geheimnisvolle Geschichten sind bei den Tibetern im
Umlauf, die von einem Blutsee unter dem Jokhang be-
richten, der aus dem Herzblut der Srinmo bestehen soll.
Wer in der Kathedrale, dem sakralen Mittelpunkt des
Schneelandes, sein Ohr auf den Boden hält, kann – so be-
haupten viele – ihr schwaches Herz noch schlagen hören.
Ein Vergleich dieses bedauernswerten Frauenschicksals
mit der Unterwerfung des griechischen Pythondrachens
in Delphi liegt nahe. Der Lichtgott Apollon (Avalokitesh-
vara) ließ das Erdungeheuer Python (Srinmo), nachdem
er es besiegt hatte, am Leben, damit es für ihn weissage,
und baute auf dem geschundenen Körper in Delphi den
berühmtesten Orakeltempel Griechenlands.
Festgenagelt wurde die Erddämonin mit Phurbas. Das
sind Ritualdolche mit dreikantiger Klinge und einem Vaj-
ra-Griff. Wir kennen sie schon aus dem Kalachakra-Ri-
tual, wo sie ebenfalls dazu benutzt werden, um die Erd-
geister und die Erdmutter zu fixieren. Über die aggressiv
phallische Symbolik des Phurba sind sich alle Autoren,
die die Symbolbedeutung der Zauberwaffe untersucht
haben, einig.
Srinmo repräsentiert demnach eine archetypische Vari-
ante der aus allen Kulturen bekannten Mutter Erde, wel-
che die Griechen Gaia nannten. Als Natur und als Frau
steht sie im krassen Gegensatz zur reinen Geisteswelt des
tantrischen Buddhismus. In ihr bündeln sich die Kräf-
te der Wildnis, die sich gegen die androzentrische Zivi-
lisation auflehnen. Sie bildet die weibliche Schattenwelt

590
Bildnis der Srinmo, auf deren Körper
sich verschiedene Tempel befinden

im Gegensatz zum männlichen Lichterparadies des glän-


zenden Amithaba und seines strahlenden Emanations-
sohnes Avalokiteshvara. Srinmo symbolisiert die (histo-
rische) prima materia, die Matrix, den irdischen Urstoff,
der notwendig ist, um ein tantrisches Mönchsimperium
zu errichten, denn sie liefert die Gynergie, den weiblichen
Elan vitale, der das Schneeland pulsieren läßt. Als Besie-
ger der Erdgöttin triumphiert Avalokiteshvara in der Ge-
stalt des Königs Songtsen Gampo, desselben Bodhisattva
also, der vorher im Mythos als Affe mit Srinmo die Ti-
beter zeugte und der später als Dalai Lama die absolute
Herrschaft auf dem Dach der Welt ausüben wird.

591
Tibets sakrales Zentrum, der Jokhang (die Kathedrale
Lhasas), steht demnach – so erzählen es die Königschro-
niken – auf dem durchbohrten Herzen einer Frau, der
Erdmutter Srinmo. Bei der Errichtung eines jeglichen la-
maistischen Heiligtums, ob Tempel oder Kloster, gleich-
gültig ob die Gründung in Tibet, in Indien oder im We-
sten geschieht, wird dieser Annagelungsakt wiederholt.
Denn bevor der erste Grundstein für das neue Gebäu-
de gelegt ist, betreten die tantrischen Priester den aus-
gewählten Ort und vollziehen mit ihren Phurbas die ri-
tuelle Durchbohrung der Erdmutter. Tibets heilige Geo-
graphie erhebt sich somit auf den geschundenen Leibern
mythischer Frauen, ebenso wie sich die tantrischen Hei-
ligtümer Indiens an den Orten (den Shakta Pithas) be-
finden, auf die der zerstückelte Leib der Göttin Sati nie-
dergefallen war.
Im Gegensatz zu ihrer babylonischen Schwester Tiamat,
welche von ihrem Urenkel Marduk zerschnitten wird, da-
mit aus ihren Gliedern das Weltall geformt werde, bleibt
Srinmo nach ihrer Unterwerfung und Annagelung am
Leben. Ihre Gynergie soll entsprechend dem tantrischen
Muster als ständige Lebensquelle für das buddhokrati-
sche System fließen. So vegetiert sie – halb tot, halb le-
bendig – über Jahrhunderte im Dienste des patriarchalen
Klerus dahin. Eine Interpretation dieses Vorgangs nach
Kriterien der in den letzten Jahren viel diskutierten Gaia-
These wäre sicher sehr aufschlußreich. (Bei der Analy-
se der exiltibetischen Ökologieprogramme kommen wir
darauf zurück). Nach dieser These wird die geschundene
»Mutter Erde« (Gaia ist der Name der griechischen Erd-

592
mutter) seit Jahrtausenden von den Menschen (und Göt-
tern ?) ausgebeutet und ist dabei zu verbluten.
Srinmo ist aber nicht nur ein Reservoir unerschöpf-
licher Energie. Sie ist auch das absolut ANDERE, das
Fremde und die große Gefahr, die den buddhokratischen
Staat bedroht. Srinmo ist – das werden wir noch zu be-
weisen haben – der mythische »innere Feind« des tibe-
tischen Lamaismus, während der äußere Mythenfeind
ebenfalls durch eine Frau repräsentiert wird, die chine-
sische Göttin Kuan Yin.
Srinmo hat – wenn auch unter den grausamsten Um-
ständen – überlebt, doch kennen die Tibeter auch einen
Zerstückelungsmythos, der die babylonische Tiamat-Tra-
gödie wiederholt. Als ein Symbol der Mutter Erde wird
bei ihnen wie bei vielen Völkern die Schildkröte verehrt.
Ein tibetischer Mythos erzählt, wie in grauen Vorzeiten
der Bodhisattva Manjushri »zum Wohle aller Wesen« ein
solches Tier opferte. Damit ein festes Fundament für die
Welt gebildet werde, schoß er einen Pfeil auf die Schild-
kröte ab, der sie in die rechte Seite traf. Das getroffene
Tier spie Feuer, ließ sein Blut ausströmen und gab Kot
ab. So vermehrte es die Elemente der neuen Welt. Albert
Grünwedel führt diesen Mythos als einen Beweis für das
»tantrische Frauenopfer« im Kalachakra-Ritual an : »Die
Schildkröte, welche Manjushri mit einem langen Pfeil
durchschießt, … (ist) nur eine andere Form der Weltfrau,
deren innere Organe die Dasakaro Vasi-Figur (die Zehn
Mächtigen) darstellt.« (* Grünwedel, 1924, II, 92)
Die Beziehung des tibetischen Buddhismus zur Erd-
beziehungsweise Landesgöttin ist also die einer brutalen

593
Unterwerfung, einer Gefangennahme, einer Versklavung,
eines Mordes oder einer Zerstückelung. Euphemistisch
und in Unkenntnis des tantrischen Musters kann man
sie auch als Zivilisierung der Wildnis durch die Kultur
deuten. Doch wie immer man die Relation einschätzt –
es findet keine Begegnung, kein Austausch, keine gegen-
seitige Anerkennung der beiden Kräfte statt. In der Tiefe
von Tibets Geschichte spielt sich – so werden wir zeigen
– ein brutaler Geschlechterkampf ab.

Weshalb Frauen nicht den reinen Kristallberg


besteigen dürfen

Selbst die Landschaft ist nach tibetischem Volksglau-


ben (auch das deckt sich mit den Vorstellungen des Tan-
trismus) sexualisiert. In Bergseen, deren Wasser (wahr-
scheinlich durch Quecksilber) eine rote Farbe angenom-
men hat, sehen die Lamas das Menstrualblut der Göttin
Vajravarahi. In Flüssen, Seen und Quellen hausen die Lu,
welche unseren Nixen ähneln. Uns Menschen stehen sie
feindlich gegenüber, jedoch wurden sie in archaischen
Zeiten von den Königen des Hochlandes als Gattinnen
bevorzugt und brachten ihre Zauberkräfte mit in die
Ehe ein. Vom V Dalai Lama erfahren wir, daß sie nach
ihrem Tode keinen Leichnam hinterließen.
Auch die gewaltigen Schneegipfel des Hochlandes ha-
ben die Mythen auf beide Geschlechter aufgeteilt. So kam
es nicht selten zwischen bestimmten Bergen zur Hoch-
zeit, und die Nachkommen solcher Verbindungen sollen

594
mächtige Königshäuser gegründet haben. Eine der Berg-
göttinnen ist weltberühmt, weil sie als die höchste Erhe-
bung unseres Planeten alle anderen Gipfel der Erde über-
ragt. Wir kennen sie unter dem Namen Mount Everest,
die Himalaya-Völker dagegen beten zu ihr als der »Mut-
ter der Erde«, der »Weißen Himmelsgöttin«, der »Weißen
Gletscher-Herrin«, der »Göttin der Winde«, der »Herrin
des langen Lebens«, der »Göttin Elefant«.
Der Tibetforscher Toni Huber schildert in seiner Stu-
die mit dem bezeichnenden Titel : Weshalb dürfen Frau-
en nicht auf den Reinen Kristall-Berg steigen ?, einen inter-
essanten mythischen Fall, wo eine Berggöttin von einem
tantrischen Siddha entmachtet wurde und der Ort ihrer
ehemaligen Herrschaft seither nicht mehr von Frauen be-
treten werden darf. Es handelt sich um den Tsari, einen
Berg, der in vorbuddhistischer Zeit der Sitz einer mächti-
gen weiblichen Gottheit war. Sie wurde im 12. Jahrhundert
von einem Yogi besiegt. Der brutale Kampf zwischen ihr
und dem Vajra-Meister zeigt eindeutig Züge einer tantri-
schen Performance. Als der Yogi ihr Herrschaftsgebiet be-
trat, ließ die Göttin durch magische Manipulationen eine
Serie von Vaginas erscheinen, um ihren Herausforderer zu
verführen, doch diesem gelang es, den Zauber durch einen
brutalen Unterwerfungsakt zu bannen. Als sie sich dann,
auf dem Boden liegend, willig zeigte, mit ihrem Überwin-
der zu schlafen, wurde sie zuerst mit der Begründung zu-
rückgewiesen, sie sei weiblichen Geschlechts (!).
Doch nach einer „Weile akzeptierte der Yogi sie als
Weisheitsgefährtin und nahm ihr nach der sexuellen Ver-
einigung alle magische Macht. (* Huber, 1994, 352)

595
Von diesem Zeitpunkt an war der Tsari, der zu den
heiligsten Bergen des Hochlandes zählt, für Frauen tabu,
sowohl für buddhistische Nonnen wie für Laienfrauen.
Dieses Verbot gilt bis in unsere Tage. Pilgergruppen, die
in den 80er Jahren den Berg besuchten, schickten ihre
Frauen vorzeitig zurück. Toni Huber befragte nun meh-
rere Lamas nach der Bedeutung dieses misogynen Brau-
ches. Die meisten Antworten verwiesen auf die »Reinheit
des Ortes«, der nach der Sicht der Mönche ein geogra-
phisches Mandala bildet : »Weil es ein solch reiner Wohn-
sitz ist, … sind Frauen nicht berechtigt, ihn zu betreten
… Der einzige Grund ist, daß Frauen von geringerer Ge-
burt und unrein sind. Es gibt viele machtvolle Manda-
la auf dem Berg, die göttlich und rein sind, aber Frauen
verbreiten Schmutz.« (* Huber, 1994, 356)
Aber es gab auch eine andere Begründung für den
Ausschluß der Pilgerinnen, die ebenfalls zeigt, wie und
mit welcher Anmaßung die androzentrische Machteli-
te des Landes von der ehemals weiblichen Geographie
Besitz ergriff : »Der Grund, weshalb Frauen nicht dort
hinaufsteigen können, besteht darin, daß es auf dem
Tsari viele selbstentstandene Manifestationen von Bud-
dhas Genitalien gibt, die aus Stein gemacht sind. Wenn
du sie mit deinen Augen anblickst, erscheinen sie ganz
natürlich, aber sie sind in Wirklichkeit Wunderphallus-
se des Buddha, so daß, wenn Frauen daran vorbeigehen,
diese Wunder durch ihre Gegenwart außer Kraft gesetzt
werden, und auch die Frauen bekommen viele Probleme.
Sie werden krank und sterben vielleicht frühzeitig. Es
ist ganz allgemein schädlich für ihre Gesundheit, des-

596
wegen ließ man sie in der Vergangenheit zu ihrem ei-
genen Vorteil diesen heiligen Platz nicht betreten. Das
Problem liegt darin, daß Frauen niedrig und schmut-
zig sind, so sind sie zu unrein, um dorthin zu gehen.«
(* Huber, 1994, 357)
Es wundert einen nicht, daß in feministischen Krei-
sen die zukünftige Besteigung des Tsari durch eine Frau
und seine »Rückeroberung« zu einem Symbol für den
weiblichen Widerstand gegen den patriarchalen Lama-
ismus geworden ist.

Matriarchate im Schneeland ?

Siegbert Hummel sieht in den weiblichen Berggotthei-


ten Tibets und ihren Attributen Erinnerungsreste an
längst verschollene Mutterkulte. Diese wären schon in
der jüngeren Steinzeit (ab 4000 v. Chr.) aus mediterra-
nen Gebieten nach Indien und in die tibetische Hoch-
ebene gelangt.
Es handle sich um eine der beiden konträren Kultur-
strömungen, welche sich vor Jahrtausenden tief in die ti-
betische Volkspsyche eingeprägt hätten : »Die erste ist lu-
naren Charakters und dürfte mit dem tibetischen Mega-
lithikum zusammenhängen … Ihr Weltbild ist triadisch,
zeigt chthonische, dämonische und phallizistische Züge,
Schlangen – und Baumkult so wie die Verehrung von
Muttergottheiten … Die andere Komponente ist ausge-
sprochen solar, dualistisch und oberweltsbezogen, vor-
nehmlich nomadisch. Schamanistische Elemente wohl

597
aus einer früheren solaren, jägerischen Basis sind zahl-
reich.« (* Hummel, 1954, 128)
Indem er die Geschlechterdissonanz benennt, welche
die Zivilisationen des Schneelandes schon seit Urzeiten
in Spannung hält, spricht Hummel hier mit dem Voka-
bular des Tantrismus, ohne das wahrscheinlich zu wissen.
Es stehen sich also – nach seiner Sicht – schon im vor-
buddhistischen Tibet die beiden Himmelslichter Mond
und Sonne als zwei polare kulturprägende Kräfte gegen-
über. Nach dem solaren Bön-Kult übernimmt seit dem
8. Jahrhundert der tantrische Buddhismus die Sonnen-
rolle. Die Mondkulte dagegen werden – so lehrt es uns
der Mythos von der Annagelung der Srinmo – von den
Sonnenkriegern unterworfen.
Anschaulich lassen sich nach Hummel die lunaren und
solaren Kulturströmungen an dem in der tibetischen Kunst
sehr beliebten Garuda-Motiv nachweisen. Der Garuda ist
ein mythischer Sonnenvogel. In seinem Schnabel hält er
nicht selten eine Schlange, die der lunaren, matriarcha-
len Welt zugeordnet werden muß. Zwischen beiden Kul-
turen gab es also eine grundsätzliche Auseinandersetzung :
»Daß der Garuda dabei als Feind der Schlangen verstan-
den wird, legt die Vermutung nahe, daß sich da, wo der
Schlangentöter Garuda entstanden ist, die lunare und so-
lare Kultur bei ihrer Begegnung feindlich gegenüberstan-
den«, schreibt Hummel. (* Hummel, 1954, 101)
In der Tat gab es viele historisch nachweisbare mut-
terrechtliche Elemente in der alttibetischen Kultur. Noch
ungeklärt und geheimnisvoll sind in diesem Zusammen-
hang die mit den matriarchalen Kulten in Verbindung

598
gebrachten Steinkreise, welche schon Sven Hedin auf sei-
nen Forschungsreisen entdeckte. Zahlreiche prähistori-
sche Höhlenheiligtümer geben uns dagegen eine klarere
Auskunft. Es ist eindeutig nachgewiesen worden, daß an
diesen chthonischen Plätzen weibliche Gottheiten ver-
ehrt wurden. Noch in unserem Jahrhundert galten sol-
che Höhlen als ein Geburtskanal, und ihr Besuch wur-
de als eine Initiation und damit als Neugeburt angese-
hen. (* Stein, 1988, 2–4)
Ein weiteres Geheimnis bilden die mythischen Frauen-
reiche, welche in Tibet existiert haben sollen – eines im
Westen, das andere im Osten und das dritte im Norden
des Schneelandes. Die zum Teil ausführlichen Berichte
hierüber stammen aus chinesischen Quellen und lassen
sich bis ins 7. Jh. n. Chr. zurückverfolgen. Wir erfahren,
daß die als sehr machtvoll dargestellten Reiche von Kö-
niginnen beherrscht wurden, die einen aus Frauen be-
stehenden Stammesrat befehligten. (* Chayet, 51) Bei ih-
rem Ableben gingen mehrere Angehörige des Hofstaa-
tes freiwillig mit den Herrscherinnen in den Tod. Der
weibliche Adel hatte männliche Diener, und die Frauen
waren die »Chefin« in der Familie. Ein Kind nahm den
Namen der Mutter an.
Noch in den 50er Jahren existierte südlich von Buthan
ein mutterrechtlich organisierter Stamm mit dem Namen
»Garo«, dessen Mitglieder davon überzeugt waren, sie sei-
en in Vorzeiten aus einer Provinz in Tibet eingewandert.
(* Bertrand, 41) Erinnern wir uns auch daran, daß in den
Shambhala-Reisebüchem des III Panchen Lama von Ge-
genden gesprochen wird, in denen nur Frauen leben.

599
Es wäre sicher etwas voreilig, allein aus den vorliegen-
den Materialien auf die Existenz eines Matriarchats im
ganzen Himalaya zu schließen. Auf jeden Fall aber malte
sich die männliche Imagination seit Jahrhunderten das
unzugängliche Hochland als ein von Frauenstämmen
und ihren Königinnen beherrschtes Gebiet aus.

Die westliche Imagination

Schon im 13. Jahrhundert gelangte der Mythos von den


tibetischen Frauenreichen bis nach Europa. Spekulatio-
nen hierüber haben westliche Reisende bis in unsere Zeit
hinein nicht mehr losgelassen. Ebenso bemerkenswert
ist die häufige allegorische Verbindung Tibets mit etwas
enigmatisch Weiblichem, also eine westliche Imaginati-
on, die sich mit der traditionell tibetischen deckt. Euro-
päische Forscher, Bergsteiger und Esoteriker schwärmen
seit dem 19. Jahrhundert vom Schneeland wie von einer
Frau, die es zu erobern gelte, deren Schleier zu lüften
sei und in deren Geheimnisse man »eindringen« wol-
le. Der Tibetforscher Peter Bishop hat diesem abendlän-
dischen Phantasma eine ausführliche Studie gewidmet.
(* Bishop, 1993, 36)
Die wohl skurrilste Darstellung einer westlichen Be-
gegnung mit der »Großen Mutter Tibet« finden wir in
dem Reisebericht des Engländers Harrison Forman aus
den 30er Jahren unseres Jahrhunderts. Um unsere Leser
und Leserinnen etwas zu erheitern, aber vor allem um zu
zeigen, wie stark die Kultur des Schneelands die männli-

600
che Phantasie eines Abendländers überreizen kann, wol-
len wir eines von Formans lebendig geschilderten Erleb-
nissen ausführlicher darstellen. Der Brite hatte von der
Äbtissin Alakh Gong Krisang, einem lebenden »weibli-
chen Buddha«, gehört, was seine Neugierde aufs äußer-
ste anstachelte. Er besuchte ihr Kloster und wurde sehr
freundlich empfangen. Während eines Rundganges frag-
te er nach einer geheimnisvollen Grotte, deren Eingang
an einem Berghang zu sehen war. Die Äbtissin blickte ihn
mit scharfen Augen an und erklärte sich bereit, ihm das
»Heiligtum« zu zeigen. In diesem Augenblick verspürte
Forman eine schmerzende Übelkeit, war aber dennoch
bereit, zu folgen. So erreichten beide, die Äbtissin und
er, nach einem schwierigen Aufstieg die Grotte. Alakh
Gong Krisang zündete zwei Fackeln an, und sie betraten
die Höhle. Eine dichte Finsternis, Modergeruch und tan-
zende Schatten empfingen sie. Quiekende Fledermäuse
flatterten durch die stickige Luft. Das schauerliche Am-
biente machte den Briten nervös, und er fragte sich : »Wer
war wirklich dieser lebende weibliche Buddha ? Die Ver-
nunft kämpfte mit dem Gefühl. Das war Tibet, wo Mil-
lionen an die ständige Gegenwart böser Geister und ihre
Hinterhältigkeit glaubten.« (* Forman, 179)
Die Äbtissin ging, ohne sich umzublicken, und mit fe-
stem Schritt weiter in die Grotte hinein. »Fürchte Dich
nicht, mein Freund !« beruhigte sie Forman. Man stieg
tiefer und tiefer durch Gänge voll mit Stalaktiten und
Stalagmiten. Dann gelangten sie in einen Raum, in des-
sen Zentrum sich vier Pyramiden aus Menschenknochen
erhoben, in ihrer Mitte eine goldene Statue. Die Äbtis-

601
Alakh Gong Krisang

sin lächelte »wie in einer hysterischen Ekstase«, schreibt


Forman. Unbewegt starrte sie auf die Goldplastik.
Und nun sollten wir den Autor selber zu Wort kommen
lassen : »Als ich sie anblickte, traute ich meinen Augen

602
nicht. Sie begann langsam sich zu entkleiden. Mit einer
Schulterbewegung fiel ihre Toga auf den Boden. Dann
löste sie ihren Gürtel und ließ ihren voluminösen Rock
zu Boden fallen. Die anderen Kleidungsstücke folgten,
eines nach dem anderen, und bildeten bald einen roten
Haufen vor ihren Füßen. Und ich sah, dessen bin ich
mir sicher, was noch kein weißer Mann vor mir gesehen
hatte, noch jemals sehen wird, den nackten Körper von
Alakh Gong Krisang, dem großen lebenden weiblichen
Buddha von Drukkur Gomba. Ihr Körper war erstaun-
lich verführerisch und ich glaube schön. Die Brüste wa-
ren wie die einer Schülerin, fest und rund, wie zwei He-
misphären aus Alabaster. Sie erinnerte mich an die Akte
des Michelangelo und seiner Schule. Und sie stand in-
mitten der Fledermäuse und blickte in Ekstase über sie
hinweg.« (* Forman, 183) Wenn wir das Photo betrach-
ten, das Forman von der Äbtissin im Kloster aufgenom-
men hat und auf dem sie sich nicht von einem behäbigen
männlichen Abt unterscheidet, ist man in der Tat sehr
erstaunt, was sich unter den Kleidern des Lebenden Bud-
dhas alles verbergen soll.
Aber die Szene steigert sich noch : »Plötzlich stürzten
sich die Fledermäuse auf sie wie Geier auf das Aas. In ei-
nem Augenblick war sie vom Kopf bis zu den Füßen be-
deckt. Wie verdurstete Vampire schlugen sie die schreck-
lichen gierigen Zähne in ihr Fleisch, und das Blut floß aus
hundert Wunden.« (* Forman, 183, 184) Forman erstarr-
te zu Stein, dann aber – auch in der ausweglosesten Si-
tuation ein Gentleman – besann er sich und begann, mit
seinem Revolver wie wild auf die Blutsauger zu schießen.

603
Er leerte mehr als sieben Magazine, bevor ihn die Äb-
tissin zu seinem größten Erstaunen mit einem Lächeln
aufforderte, sich zu beruhigen. Mit einer majestätischen
Geste belebte sie die Fledermäuse aufs neue, welche er
getötet hatte. Nicht die geringste Spur einer Wunde war
mehr auf ihrem Körper zu sehen. »Und in diesem Augen-
blick«, berichtet Forman weiter, »war sie die lieblichste
Frau der ganzen Welt … Nichts blieb von der grausigen
Szene, die sich einige Momente vorher abgespielt hatte,
als diese nackte Frau und die unerschütterliche goldene
Statue mit ihren vier Wächterpyramiden aus Menschen-
knochen. Irgendwo in der Dunkelheit konnte ich noch
schwach das obszöne Quieken der Fledermaushorde hö-
ren.« (* Forman, 185) Als sie die Grotte verließen, kom-
mentierte Forman den Vorfall – typisch britisch – mit den
lapidaren Worten : »Das muß die Höhe gewesen sein !«
(* Forman, 186) So skurril diese Geschichte auch anmu-
ten mag, sie trifft doch sehr genau die Bilderwelt, welche
das tantrische Milieu beherrscht, und sie übertreibt kei-
neswegs die oft noch phantastischeren Berichte, die wir
aus dem Leben berühmter Yogis kennen.

Die Frau in der alt-tibetischen Gesellschaft

Wie drückt sich nun das Schicksal der Srinmo in der ti-
betischen Gesellschaft aus ? Wir wollen die soziale Rolle
der Frau im alten Tibet nur sehr gerafft darstellen, ohne
daß wir hier die Ereignisse seit der chinesischen Be-
satzung und die Situation bei den Exiltibeterinnen be-

604
rücksichtigen. Sie war sehr spezifisch und läßt sich wohl
am besten mit dem Satz umschreiben : Gerade wegen
ihrer Inferiorität genoß die tibetische Frau ein gewis-
ses Maß an sozialer und sexueller Freiheit. Grundsätz-
lich galten Frauen als minderwertige Geschöpfe. Ent-
sprechend bedeutet das tibetische Wort für Frau wört-
lich übersetzt »niedrig Geborene«. Mann dagegen heißt
»Wesen von höherer Geburt«. (* Herrmann – Pfand, 76)
Ein bei den Tibeterinnen weitverbreitetes Gebet lautete :
»Ich will meinen weiblichen Körper zurückweisen und
als ein männlicher wiedergeboren werden.« (* Grunfeld,
19) Die Geburt eines Mädchens brachte Unglück, Söhne
versprachen Glück und Wohlstand.
Die Ehe selbst zählte keineswegs zu den buddhistischen
Tugenden, hatte doch schon der historische Buddha sie
gegen ein rauhes Pilgerleben ausgetauscht. Kindersegen
war aufgrund des Fluchs, den die Wiedergeburt mit sich
brachte, etwas Belastendes. Shakyamuni floh deswegen
unmittelbar nach der Geburt seines Sohnes Rahula aus
dem Palast seines Vaters. Mit unmißverständlichen und
entschiedenen Worten hat auch Padmasambhava dieser
Familienfeindlichkeit Ausdruck verliehen : »Wenn Du
das Dharma der Befreiung praktizierst und Dich dann
verheiratest und ein Familienleben führst, ist es so, als
würdest Du mit starken Ketten gefesselt ohne jegliche
Freiheit. Du möchtest daraus entfliehen, aber Du bleibst
im Kerker des Samsara gefangen, ohne Fluchtmöglich-
keit. Du magst es später bedauern, aber Du bist in den
Sumpf der Gefühle gesunken, ohne dort herauszukom-
men. Wenn Du Kinder hast, mögen diese liebenswert

605
sein, aber sie sind der Pfahl, an den Dich das Samsara
bindet.« (* Binder – Schmidt, 131)
Frauen konnten nach herrschender Lehre keine Er-
leuchtung erlangen, galten also entsprechend als unter-
entwickelt. Eine Reinkarnation als ein weibliches Wesen
wurde als Strafe angesehen. Die Folge all dieser Schwä-
chen, Unfähigkeiten und Minderwertigkeiten war, daß
sich die patriarchale Mönchsgesellschaft wenig um das
Leben der Frauen kümmerte. Man ließ sie sozusagen ma-
chen, was sie wollten. Auch das Familienleben unter-
stand keinen strikten Regeln. Ehen wurden ohne große
Formalitäten geschlossen und konnten bei gegenseitigem
Konsensus ohne offizielle Institution geschieden werden.
Dieses Desinteresse des Klerus führte, wie gesagt, zu ei-
ner gewissen, oft von sensationslüsternen westlichen Rei-
senden übertriebenen Unabhängigkeit der Tibeterin. Es
kam häufig zu außerehelichen Liebesbeziehungen, ins-
besondere mit den Dienstboten. Eine Ehefrau mußte je-
doch treu sein, ansonsten hatte der Mann das Recht, ihr
die Nase abzuschneiden. Solche Privilegien existierten
selbstverständlich nicht im umgekehrten Fall.
Auch die viel besprochene und von westlichen Ethno-
logen mit Faszination diskutierte Polyandrie war weniger
ein emanzipatorisches Phänomen als eine ökonomische
Notlösung. Eine Gattin bediente zwei Männer, weil sich
diese das Geld für eine weitere Frau einsparten. Selbst-
verständlich verlangte man von ihr die doppelte Arbeit.
Männliche Angehörige der Oberschichten neigten dage-
gen zur Polygynie und hielten sich mehrere Ehefrauen.
Dies wurde geradezu zu einem Statussymbol, und deswe-

606
gen verbot man den niederen Schichten die Vielweiberei.
Fehlte es an Bargeld, so konnte der Gatte seine Schulden
damit bezahlen, daß er seinen Gläubigern die Ehefrau
überließ. Umgekehrte Fälle sind nicht bekannt.
Ein libertäres Verhältnis des Klerus gegenüber der Frau
ergibt sich schon aus dem Tantrismus. Da die Lamas
nach allgemeiner Sicht höhere Wesenheiten darstellten,
widersetzten sich Frauen und Mädchen den Wünschen
der verkörperten Gottheiten nie. Der Österreicher Hein-
rich Harrer war erstaunt über die sexuelle Freiheit in den
Klöstern. Ebenso wunderte sich der japanische Mönch
Kawaguchi Eikai auf seiner Tibetreise »über die große
Schönheit der jugendlichen ›Gemahlinnen‹ alter Äbte«.
(* Stevens, 106) Ein Teil der tantrischen Partnerinnen mag
sich später, nachdem sie als Mudra ausgedient hatten,
den Lebensunterhalt durch Prostitution verdient haben.
Davon gab es in den Städten zahlreiche, und so kam ein
Spruch auf, der besagt, in Lhasa liefen ebenso viele Dir-
nen herum wie Hunde.
Es existierte auch ein verheiratetes Priestertum in Ti-
bet. Für Klosterangehörige galt die Durchbrechung des
Zölibats jedoch nur in Ausnahmefällen. Vor allem lei-
steten die ehelichen Lamas mit ihren Frauen »seelsorge-
rische« Arbeit in den Dörfern. Soweit das zu überblic-
ken ist, diente aber die Ehegattin in solchen Fällen nur
ganz selten als die tantrische Weisheitsgefährtin ihres
Mannes. In der Sekte der Sakyapa waren die Großäb-
te verheiratet und zeugten Kinder. Aus ihren Familien
entstand eine regelrechte Dynastie. Gerade von diesen
mächtigen Hierarchen ist bekannt, daß sie für ihre Ri-

607
ten nicht die Ehefrau, sondern jungfräuliche Mädchen
(Kumaris) benutzten.
Die »Freiheit« der Tibeterin war null und nichtig, so-
bald sie die sakralen Grenzen überschritt – zum Beispiel
die Klostertore, die für sie verschlossen blieben. Nur bei
den großen Jahresfesten wurden sie manchmal einge-
laden, durften aber nie aktiv an den Schauspielen teil-
nehmen. Die Rollen von Göttinnen oder Dakinis in den
offiziellen Mysterienspielen wurden ausschließlich von
Männern dargestellt. Selbst das Federvieh, welches in den
Gärten des Dalai Lama herumgackerte, bestand nur aus
Hähnen, da Hühner das heilige Gelände durch ihre fe-
minine Ausstrahlung verdorben hätten. Niemals durfte
eine Frau die Besitztümer eines Lamas berühren.
Die tibetischen Nonnen nehmen zwar an bestimmten
Riten teil, leben aber insgesamt weit eingeschränkter als
die Laienfrauen. Hatte nicht schon der historische Bud-
dha gesagt, daß sie der Entwicklung der Lehre im Wege
stünden, und hatte er nicht lange Zeit gezögert, Frauen
zu ordinieren ? Er war davon überzeugt, daß die »Töch-
ter Maras«, auch wenn sie sich den Kopf scheren ließen,
den Untergang des Buddhismus beschleunigen würden.
Noch heute schuldet eine tibetische Nonne nach dem Ge-
setz dem geringsten Mönch den höchsten Respekt, was
keineswegs umgekehrt der Fall ist. Anstatt sie für ihre
fromme Entscheidung, ein Klosterleben zu führen, zu
loben, werden sie als unfähig beschimpft, ein geordne-
tes Familienleben aufzubauen. Trotz all dieser Degradie-
rungen, an denen sich bis in unsere Tage nichts Wesent-
liches verändert hat, stehen die Nonnen in der seit 1987

608
in Tibet aufbrechenden Protestbewegung, ohne auf Leib
und Leben zu achten, an der Spitze.

Die alchemistische Aufspaltung des Weiblichen :


Die tibetischen Göttinnen Palden Lhamo und Tara

Wir haben wiederholt in unseren Ausführungen über den


buddhistischen Tantrismus die Spaltung des Weiblichen
in einen düsteren, abstoßenden, aggressiven und in ei-
nen hellen, anziehenden und milden Aspekt gesprochen.
Der schreckenerregenden und grausamen Dakini steht
die liebliche und segenspendende »Himmelswandlerin«
gegenüber. Das Weibliche schwankt zwischen diesen bei-
den Extremen (der Madonna und der Hure) hin und her
und kann mit dieser Zerrissenheit unter Kontrolle gehal-
ten werden. Im selben Kontext haben wir auf entspre-
chende Parallelen in der indischen und europäischen Al-
chemie hingewiesen, wo der dunkle Teil als prima ma-
teria und der helle als das vom Adepten heiß begehrte
weibliche Elixier (Gynergie) beschrieben wird. Findet
eine solche Aufspaltung des Weiblichen ihren Ausdruck
auch in der Mythengeschichte des Schneelandes ?

Palden Lhamo – Schutzgöttin des Dalai Lama

Eine gewaltige und dunkle Zornesmutter par excellence


ist Palden Lhamo, die ebenso wie ihre »Schwester« Srin-
mo in vorbuddhistischen Zeiten eine freie und wil-

609
de Matriarchin war, dann aber, von einem Vajra-Mei-
ster bezwungen, in den Dienst der »wahren Lehre« ge-
stellt wurde – nur übt sie diesen im Gegensatz zu Srinmo
durch aktive Unterstützung aus. Sie ist die Schutzgott-
heit des Dalai Lama, des ganzen Landes und seiner
Hauptstadt Lhasa. Dadurch wird ihr ein außerordent-
lich hoher Platz im Pantheon Tibets zuteil. Der V Dalai
Lama zählte zu ihren größten Verehrern, die Göttin soll
ihm mehrmals persönlich erschienen sein, sie war sei-
ne politische Beraterin und Vertraute. (* Karmay, 35) Ei-
ner ihrer vielen Namen, der sowohl auf ihren martiali-
schen wie ihren tantrischen Charakter verweist, lautet :
»Große Kriegsgöttin, die mächtige Mutter der Welt der
Sinnenfreude.« (* Richardson, 1993, 87) Nachdem der
»Große Fünfte« eine Zeitlang ständig ihr Mantra rezi-
tiert hatte, träumte ihm, daß »die Geisterwesen in Chi-
na bald unterworfen werden.« (* Karmay, 35) Seither gilt
sie bis heute als eine Hauptfeindin von Beijing.
Betrachtet man ein Abbild von ihr, dann ist man si-
cher, daß Palden Lhamo in einer weltweiten Dämonen-
galerie zu den abstoßendsten Gestalten zählen würde.
Mit fletschenden Zähnen, herausquellenden Augen und
einem schmutzig-blauen Körper reitet sie auf einem wil-
den Maultier dahin. Unter dessen Hufen erstreckt sich
ein Blutmeer, das aus den Adern erschlagener Feinde ge-
flossen ist. Abgehackte Arme, Köpfe, Beine, Augen und
Gedärme schwimmen darin herum. Der Sattel des Maul-
tiers besteht aus einer abgezogenen Menschenhaut. Das
wäre schon abstoßend genug ! Aber das Grauen über-
kommt einen, wenn man erfährt, daß es sich dabei um

610
die Haut ihres eigenen ( !) Sohnes handelt, der von der
Göttin getötet wurde, als er sich widersetzte, ihrem Bei-
spiel zu folgen und die buddhistische Lehre anzunehmen.
In der Rechten schwingt Palden Lhamo eine Keule in der
Gestalt eines Kinderskeletts. Einige Interpreten der Sze-
ne behaupten, daß es sich hierbei ebenfalls um die Reste
ihres Sohnes handelte. Mit ihrer Linken hebt die Unhol-
din eine Schädelschale mit Menschenblut an den Mund.
Überall ist sie von Giftschlangen umwunden. 53
Wie die indische Göttin Kali, tritt sie mit einem lauten
Gefolge auf. Nachts kann man ihr und ihrer lärmenden
Schar auf Leichenfeldern begegnen. Welche hemmungs-
lose Aggressivität dieses weibliche Gespensterheer in der
Imagination der Mönche entfacht, zeigt am besten ein
Gedicht, das die Lamas des Drepung-Klosters zu Ehren
ihrer Schutzherrin, Dorje Dragmogyel, welche zur Hor-
de der Palden Lhamo zählt, singen :

Du glorreiche Dorje Dragmogyel …


Wenn Du Deinen Feinden zürnst,
Dann reitest Du auf einem feurigen Kugelblitz.
Eine Flammenwolke – wie die am Ende aller Zeiten –

53 Eine gräßliche Schwester der Palden Lhamo ist die Göttin Eka-
jati, die »Schützerin der Mantras«. Einäugig und mit nur einem
Zahn ausgestattet, tanzt sie auf zerschundenen Leibern, mit ei-
ner Hand eine Menschenleiche schwingend, mit der anderen ein
menschliches Herz in den Mund führend. Als Schmuck trägt
sie eine Kette aus Totenköpfen. Sie ist eine Art Kriegsgöttin und
wird deswegen auch unter dem Namen »Magische Waffen-Ar-
mee« angebetet.

611
Kommt aus Deinem Munde hervor,
Rauch entströmt Deiner Nase,
Feuersäulen folgen Dir.
Eilig sammelst Du Wolken auf dem Firmament,
Das Grollen des Donners dringt durch die
   zehn Weltgegenden.
Ein furchtbarer Regen von Meteoren
und großen Hagelkörnern stürzt herab,
Und die Erde wird von Feuer und Wasser überflutet.
Teufelsvögel und Käuzchen schwirren umher,
Schwarze Vögel mit gelben Schnäbeln
   schweben herbei,
einer nach dem anderen.
Es wirbelt der Kreis der Mnemo-Göttinnen,
Es drängen die Kriegshorden der Dämonen.
Und die Pferde der Tsän-Geister rasen im
   Galopp davon.
Wenn Du glücklich bist,
dann schlägt der Ozean gegen den Himmel.
Erfüllt Dich Zorn, dann fallen Sonne und
   Mond herab.
Lachst Du, dann zerfällt der Weltberg zu Staub …
Du und Deine Begleiterinnen
Besiegt alle, die der buddhistischen Lehre
   schaden möchten,
Und das Leben der Mönchsgemeinde zu
   stören versuchen.
Verletze alle, die böser Gesinnung sind,
Und beschütze insbesondere unser Kloster,
diesen heiligen Ort …

612
Nicht Jahre und Monate sollst Du warten,
Trinke jetzt das warme Herzblut der Feinde,
und vernichte sie in Blitzesschnelle.
(Nebesky-Wojkowitz, 1955, 34)

Bei der Darstellung des tantrischen Rituals haben wir


gezeigt, wie die Schreckensgöttinnen oder Dakinis, wel-
che Gestalt sie auch immer annehmen mögen, durch
den Yogi bezwungen werden müssen. Sie dienen dann –
einmal unterworfen – dem patriarchalen Mönchtum als
Feindvernichterin. Deswegen geht es dem Vajra-Meister
– wir wiederholen es – bei der Begegnung mit der dunk-
len Mutter nicht darum, ihre Aggressivität zu transfor-
mieren, sondern vielmehr, sie als tödliche Waffe gegen
Angreifer und Nichtbuddhisten einzusetzen. In letzter
Instanz aber – so lehren uns die Tantras – hat das Weib-
liche, auch wenn es in seiner zornvollen Form auftritt,
keine eigene Existenz. Insofern ist Palden Lhamo nichts
anderes als eine der vielen Masken des Avalokiteshvara,
beziehungsweise des Dalai Lama selbst.
Wir kennen dazu eine erstaunliche Parallele aus dem
Pharaonenreich. Die alten Ägypter personifizierten den
Zorn des männlichen Königs als weibliche Gestalt. Die-
se wurde Sachmet genannt, die flammende Göttin der
Gerechtigkeit mit dem Anlitz einer Löwin. (* Assmann,
89) Da der Herrscher ebenso die Aufgabe hatte, neben
dem gerechten Zorn Milde walten zu lassen, hatte Sach-
met eine sanfte Schwester, die Katzengöttin Bastet. Auch
diese Gottheit war eine in weiblicher Form dargestellte
Eigenschaft des Königs. Der milden Schwester der Pal-

613
den Lhamo entspräche im tibetischen Buddhismus die
göttliche Tara.

Ein gynozentrisches Männeropfer an Palden Lhamo ?

Auch wenn die grausame Dämonin in letzter Instanz


eine Imagination des Dalai Lamas darstellt, heißt das
nicht, daß sich diese Projektion nicht verselbständi-
gen kann, sich von ihm eines Tages losreißt, ihre eige-
ne und unabhängige Gestalt annimmt und dann auf
ihren gehaßten »Projektionsvater« als Feindin zurück-
schlägt. Solche radikalen »Emanzipationen« von tibeti-
schen Schutzgöttern sind keinewegs selten, und die Ge-
schichtensammlungen Tibets sind voll von Berichten, in
denen sich gefügige Diener der Lamas befreien und ge-
gen ihre Herren den Aufstand proben. Gerade zur Zeit
wird die tibetische Exilgemeinde von einem solchen re-
bellischen Schutzgeist mit dem Namen Dorje Shugden
zutiefst erschüttert, der es immerhin geschafft hat, das
bisher im Westen völlig reine Bildnis des Kunduns mit
sehr hartnäckigen Flecken zu verunstalten. Wir werden
noch öfter darüber berichten. Aus den Shugden-Kreisen
kommt auch die Vermutung, Palden Lhamo habe als die
spirituelle Beschützerin Tibets, Lhasas und des Dalai
Lamas völlig versagt und das Land an die chinesischen
Besatzer ausgeliefert. Man mag zu solchen Spekulatio-
nen stehen, wie man will, die extreme Aggressivität der
Dämonin und die realpolitischen Fakten schließen eine
solche Sicht der Dinge nicht aus.

614
Besonders grausam und numinos an der Lebensge-
schichte Palden Lhamos ist die Beziehung zu ihrem Sohn.
Wieso ein Weib, das als höchste Schutzheilige Tibets und
des Dalai Lamas verehrt wird, die Schlächterin ihres ei-
genen Kindes sein muß, das mag selbst einem an die
Monstrositäten der Tantras gewohnten Gemüt als unge-
heuerlich erscheinen. Wenn wir den Fall psychologisch
interpretieren, dann müssen wir uns folgende Fragen stel-
len : Wird Palden Lhamo nicht als Mutter von ständigem
Entsetzen getrieben ? Ist ihr abgrundtiefer Hass nicht der
Ausdruck ihrer abscheulichen Tat ? Muß sie nicht in ih-
rem Herzen die Hauptfeindin des Buddhismus sein, der
die Ursache für den Mord an ihrem Sohn war ?
Ist dieser abstoßende Kult noch mörderischer, als er eh
schon erscheint ? Bringt man der Göttin vielleicht Op-
fer dar, die sie zugleich befriedigen wie bannen ? Da die
Dämonin das Höchste, was eine Mutter überhaupt ge-
ben kann, nämlich ihr Kind, für den tibetischen Bud-
dhismus schlachten mußte, wird auch das Opfer, das sie
selber mit Genugtuung erfüllt, das Höchste sein müssen,
das der Lamaismus zu bieten hat.
In der Tat lassen die frühen Todesumstände des IX,
X, XI und XII Dalai Lama die Frage aufkommen, ob
es sich hierbei um eine bewußt initiierte Opfergabe an
Palden Lhamo handelte ? Alle vier Gottkönige starben
in einem Alter, bevor sie ihre Regierungsgeschäfte an-
treten konnten.
In jedem der Fälle wurden die Regenten, welche die
reale Macht bis zur Volljährigkeit des neuen Dalai La-
mas ausübten, mit gutem Grund als die Mörder verdäch-

615
tigt. Giftmorde waren im alten Tibet geradezu an der Ta-
gesordnung. Es soll sogar den morbiden Glauben gege-
ben haben, daß demjenigen, der einen hochangesehenen
Mann vergiftet, alles Glück und alle Privilegien seines
Opfers zufallen würden.
Das sind die historischen Fakten. Aber zur kurzen Bio-
graphie der vier unglücklichen »Gottkönige« zählt ein
mysteriöses Ereignis, das ihrem Schicksal einen tieferen,
symbolischen Sinn geben könnte. Wir meinen damit den
Besuch eines Tempels etwa hundert Meilen südöstlich
von Lhasa, der einer Emanation der Palden Lhamo ge-
weiht war. Solche, den zornigen Gottheiten gewidmete
Heiligtümer (Gokhang) müssen wir uns als wahrhaftige
Horrorkabinette vorstellen. Vollgestopft mit realen und
magischen Waffen, aufgefüllt mit allerlei getrockneten
Leichenteilen, erregten sie bei Besuchern aus dem We-
sten höchste Abscheu.
Um die seelische Widerstandsfähigkeit der jungen
Kunduns zu testen, wurden die Kinder zumindest ein-
mal im Leben in den erwähnten düsteren Tempel einge-
sperrt und wahrscheinlich den schrecklichsten Auffüh-
rungen der Göttin ausgesetzt. »Jung, wie sie waren, hat-
ten sie nicht die genügende Kenntnis, sie (die Göttin) zu
überzeugen, ihren Zorn zu besänftigen, der sie so leicht
überfällt, und starben in diesem Sinne bald nach der
Begegnung«, schreibt der berühmte Tibetforscher Char-
les Bell über diesen grausamen Einweihungsritus. (* Bell,
159) Was immer im Ghokang stattgefunden haben mag,
die Kinder kamen völlig verstört aus dieser Hölle heraus
und waren alle vier dem Wahnsinn nahe.

616
Das Los des jungen XII Dalai Lama ist besonders tra-
gisch gewesen. Seinen Kammerherrn, einen der weni-
gen Vertrauten, hatte man bei umfangreichen Diebstäh-
len im Potala erwischt. Nach der Aufdeckung der Tat
ergriff er die Flucht. Man holte ihn ein und brachte ihn
um. Die Leiche band man wie lebend sitzend auf ein
Pferd. So führte man den Toten vor das Angesicht des
jungen Kunduns. Unter den Augen des Fünfzehnjähri-
gen schlug man Kopf, Hände und Füße des Übeltäters
ab und warf den Rumpf auf ein Feld. Der Gottkönig war
von dem Anblick, den der zerstückelte Leichnam seines
»besten Freundes« bot, so entsetzt, daß er überhaupt kei-
nen Menschen mehr sehen wollte und sich in Sprachlo-
sigkeit flüchtete. Dennoch mutete man ihm anschließend
den Besuch des Schreckenstempels der Palden Lhamo zu.
Der »Große Dreizehnte« dagegen besuchte das Heilig-
tum der Dämonin erst im Alter von 25 Jahren und kam
ungeschoren davon. Selbst die Chinesen waren darüber
erstaunt. Ob der XIV Dalai Lama das Heiligtum je be-
treten hat, wissen wir nicht.
Wenn man einer tantrisch-tibetischen Logik folgt, gibt
es natürlich einen Sinn, den vorzeitigen Tod der vier Da-
lai Lamas als Opfer an Palden Lhamo zu interpretieren, da
es der Tradition nach ständig notwendig ist, die Schrec-
kensgötter mit Blut und Fleisch zu füttern, um sie zu be-
sänftigen. Die extreme Grausamkeit der Dämonin steht
ja außer Zweifel, und daß sie sich das Opfer von Knaben
wünscht, zeigt ihre eigene tragische Geschichte.
Übrigens mag die Schlachtung ihres eigenen Sohnes
auf einen ursprünglich matriarchalen Opferkult hinwei-

617
sen, der von den Buddhisten in das eigene System inte-
griert wurde. Zum Beispiel hat der Forscher A. H. Franc-
ke Felseninschriften in Tibet entdeckt, die auf Menschen-
opfer an die Große Göttin hindeuten. (* Francke, 21)
Angesichts der tantrischen Methoden kann es auch sein,
daß Palden Lhamo, die nicht aus Überzeugung, sondern
aufgrund einer magischen Niederzwingung zum Bud-
dhismus konvertierte, von ihren neuen Herren zur Er-
mordung ihres Sohnes gezwungen wurde und daß sie sich
durch die Tötung der jungen Dalai Lamas gerächt hat.
Selbst eine scheinbar paradoxe Deutung ist möglich :
Als weibliches Wesen steht die Dämonin in einer radi-
kalen Konfrontation zur Doktrin des Vajrayana, und sie
mag ihre Loyalität und Unterwerfung zum höchstmögli-
chen Preis verkauft haben, nämlich dem des Opfers der
Gottkönige. Solche sado-masochistischen Befriedigun-
gen sind nur innerhalb des tantrischen Musters zu ver-
stehen, aber dort treten sie – wie wir wissen – keineswegs
selten auf. Wenn man nämlich die Knabenopfer zeitlich
und personell begrenzt, dann mögen sie späteren Inkar-
nationen des Gottkönigs, das heißt konkret dem XIII
und XIV Dalai Lama, zugute gekommen sein. Die au-
ßergewöhnlich lange Regierungszeit der beiden letzten
Kunduns würde eine solche Deutung nach tantrischer
Logik stützen.

618
Die grüne Tara

Tara – Tibets Madonna

Im mytho-geschichtlichen Pantheon des tibetischen


Buddhismus repräsentiert die liebliche Göttin Tara das
pure Gegenbild zur schrecklichen Palden Lhamo. Tara
ist – mit den Worten der europäischen Alchemie – die
»weiße Jungfrau«, die ätherisch-weibliche höchste In-
spirationsquelle für den Adepten. In eben diesem Sinne
repräsentiert sie das positive Pendant zur destruktiven
Palden Lhamo beziehungsweise zur Urmutter Srinmo.
Das in allen Phasen der indischen Religionsgeschich-
te auffindbare gespaltene Weiblichkeitsbild lebt somit
in der tibetischen Kultur fort. »Hexe« und »Madonna«

619
sind die beiden femininen Archetypen, welche die patri-
archale Imagination Tibets genauso wie die des Abend-
landes seit Jahrhunderten beherrscht haben und immer
noch beherrschen. Wenn sich in der Hexe alle negativen
Eigenschaften des Weiblichen bündeln, dann verdichten
sich in der Madonna alle positiven.
Der Tara-Kult ist wahrscheinlich jüngeren Datums.
Zwar sprechen Legenden davon, daß die Verehrung der
Göttin im 7. Jahrhundert von einer der Frauen des tibe-
tischen Königs Songsten Gampo ins Schneeland gebracht
wurde, aber historisch wahrscheinlicher ist es, daß der
indische Gelehrte Atisha den Kult erst im 11. Jahrhun-
dert dort einführte.
Anders als die Vielzahl abstoßender Dämonengötter,
die auf die geplagten Tibeter einschlagen, ist Tara zu
einem Ort der Zuflucht geworden. Bei ihr können die
Gläubigen ihre edlen Gefühle kultivieren. Hingabe, Lie-
be, Glaube und Hoffnung schenkt sie denen, die sie rufen.
Alle Eigenschaften einer barmherzigen Mutter zeichnen
sie aus. Als Schutzengel erscheint sie den Menschen im
Traum. Sie kümmert sich um die ganz persönlichen Be-
lange und Nöte. Ihr darf man seine Sorgen anvertrauen.
Sie hilft bei Vergiftungen, heilt Krankheiten und kuriert
Besessenheiten. Aber auch für Erfolg in Geschäften und
Politik ist sie die richtige Adressatin. Jeder betet zu ihr als
»Erlöserin«. Übersetzt lautet ihr Name »Stern«, »Stern der
Hoffnung«. Man kann sagen, daß sie außerhalb der Klö-
ster die am meisten verehrte Gottheit des Schneelandes
darstellt. Kaum ein tibetischer Haushalt, wo nicht eine
kleine Statue der Tara aufgestellt ist.

620
Ihren verschiedenen Erscheinungsformen sind meh-
rere Farben zugeordnet. Es gibt eine weiße, eine grüne,
eine gelbe, eine blaue, ja eine schwarze Tara. Sie trägt
oft einen Lotus mit 16 Blütenblättern, was besagen soll,
daß sie 16 Jahre alt ist. Mit den schönsten Juwelen ist ihr
Körper geschmückt. In königlicher Sitzhaltung blickt sie
mild hinab auf diejenigen, welche um ihre Gnade bitten.
Man hat natürlich den Eindruck, daß sie für die tantri-
schen Sexualpraktiken nicht geeignet ist. In ihr scheint
sich das Mütterliche von seiner ganzen positiven Seite
her zu verdichten. Europäer erleben sie als eine von der
Sexualität unberührte Madonna. Das ist jedoch nicht der
Fall, denn im Gegensatz zur abendländischen Schwester,
mit der sie ansonsten so viel verbindet, ist auch die wei-
ße Tara eine Weisheitsgefährtin. 54

54 Aber auch Tara hat wie alle tibetischen Buddhas und Bodhi-
sattvas ihre Schreckensseiten. Brechen diese aus, nennt man sie
die rote Kurukulli, die auf Leichen tanzt und verschiedene Waf-
fen in Händen hält. Eine Kette aus Menschenknochen hängt ihr
um den Hals, ein Tigerfell verdeckt ihre Hüften. Oft ist sie in die-
ser Form von mehreren wilden Dakinis umgeben. Sie wird in ih-
rer grausamen Form unter anderem beschworen, um politische
Gegner zu vernichten.
Ich werfe mich vor derjenigen zu Boden,
die innerhalb eines Kranzes aus Flammen wohnt
wie das Zeitalter, welches im Feuer endet.
(* Dalai Lama 1, 130)
– heißt es in einem Gedicht des ersten Dalai Lama an die zorn-
volle Tara. Vor allem die Sakyapa-Sekte verehrt sie in dieser ag-
gressiven Form. Sie gilt als die spezifische Schutzpatronin dieses
Ordens. Vielsagend ist, daß auch die »fleischfressende und geile«
Felsdämonin Srinmo, welche Avalokiteshvara verführte und mit
ihm die Tibeter zeugte, eine Verkörperung der Tara sein soll.

621
Manchmal kippt ihr Kult, wie wir das auch bei der
europäischen Marienverehrung kennen, in einen vom
Klerus nicht gewollten Machtzuwachs der Göttin um,
der dem patriarchalen System gefährlich werden könn-
te. Man nennt Tara zum Beispiel die »Mutter aller Bud-
dhas«. Auch eine Legende, in der sie sich weigert, als
Mann zu erscheinen, ist im Umlauf und wird heute oft
zitiert : Als einige Mönche sie fragten, ob sie nicht einen
männlichen Körper vorziehe, soll sie geantwortet haben :
»Da es kein solches Ding wie einen ›Mann‹ oder eine
›Frau‹ gibt, ist die Bindung an Männlich und Weiblich
hohl … Es gibt viele, welche die höchste Erleuchtung im
Körper eines Mannes erreichen wollen, aber diejenigen,
welche wünschen, zum Wohle der Lebewesen im Kör-
per einer Frau zu dienen, sind wenige ; deswegen möch-
te ich, bis diese Welt völlig leer ist, zum Wohle der We-
sen in nichts als einem Frauenkörper dienen,« (*. Beyer,
65) Solche Äußerungen sind geradezu revolutionär und
stehen in krassem Gegensatz zur herrschenden Doktrin,
daß Frauen gar keine Erleuchtung erringen können, son-
dern erst einmal in männlicher Gestalt wiedergeboren
werden müssen.
Das erste Schutzmittel des tantrischen Buddhismus ge-
gen eine potentielle weibliche Übermacht der Tara ist die
Geschichte ihrer Herkunft. Zum einen hat sie nicht den
Status eines Buddhas, sondern ist ein weiblicher Bod­hi­
sattva. Als Kopfschmuck trägt sie eine kleine Statue des
Amithaba, Indiz dafür, daß sie dem Höchsten Herrn des
Lichtes (der in seinem Paradies keine Frauen zuläßt) un-
tersteht und als dessen Ausstrahlung gilt.

622
Des weiteren ist Tara nicht mehr und nicht weniger
als die personifizierte Träne des Avalokiteshvara (Chen-
rezi). Eines Tages, als dieser voller Mitgefühl auf alle lei-
denden Wesen herabblickte, mußte er weinen. Die Trä-
ne aus seinem linken Auge wurde zur grünen Tara, die-
jenige, welche aus dem rechten floß, wurde zur weißen.
Auch wenn Chenrezi nach einigen tantrischen Schulen
beide Taras zu seinen Weisheitsgefährtinnen wählt, so
bleiben sie dennoch seine Geschöpfe. Er hat sie als An-
drogyn, als »Vater-Mutter«, geboren.
Eine noch raffiniertere Zähmung der Göttin besteht
darin, daß sie sich in Männern inkarniert. Unzählig die
Mönche, die Tara als ihr Yiddam gewählt haben und die
sich selbst in ihrer Meditationspraxis als die Göttin vor-
stellen. »Immer und bei allen Praktiken muß er sich selbst
als die Heilige Lady imaginieren, in seinem Bewußtsein
tragen, daß seine Erscheinung die Göttin ist, daß seine
Sprache ihr Mantra darstellt und seine Erinnerung und
mentalen Entwürfe ihre Kenntnis ausmachen.« . (* Bey-
er, 465) Auch ihre Rolle als »Mutter aller Buddhas« über-
nimmt der männliche Meditierende, der deswegen fol-
gende Worte spricht : Ich bin »die Mutter, welche die Er-
oberer (Buddhas) und ihre Söhne (Bodhisattvas) gebiert.
Ich besitze alles, ihren Körper, ihre Sprache, ihr Bewußt-
sein, ihre Eigenschaften und ihre Handlungsfunktionen.«
(* Beyer, 449) Albert Grünwedel zeigt in einem seiner
Werke das Abbild eines hohen mongolischen Lamas, der
als eine Inkarnation der Tara verehrt wurde. Selbst mo-
derne westliche Anhänger des Buddhismus wollen den
16. Karmapa als Grüne Tara gesehen haben.

623
Tara mischt ebenso wie Palden Lhamo bei der tibeti-
schen Realpolitik mit, denn diese wird – nach eigener
Vorstellung – nicht von Menschen, sondern von Göttern
gemacht. So sollen – das war die offizielle Meinung im
Potala – die Zaren von Rußland eine Verkörperung der
Tara gewesen sein. Solche Übertragungsbilder sind na-
türlich sehr dazu geeignet, die globalen Machtphantasi-
en der Lamas zu stimulieren. Denn da die Göttin aus ei-
ner Träne des Avabkiteshvara enstand, muß der Zar als
Tara ein Produkt des Dalai Lamas, der höchsten lebenden
Inkarnation des Avalokiteshvara, sein. Dazu kommt die
aus den Tantras abzuleitende Idee, daß der Zar und da-
mit Rußland als Tara durch einen sexualmagischen Akt
bezwungen werden konnte. Das erscheint recht phan-
tastisch, aber – wie wir wissen – der Tantra-Meister be-
nutzt seine Karma Mudras als Symbole fur die Elemen-
te, Planeten, aber auch für Länder.
Im 19. Jahrhundert kam ebenfalls die Idee auf, die bri-
tische Königin Victoria sei eine Wiedergeburt der Tara,
doch benannte man manchesmal auch die Palden Lhamo
als die hinter der Engländerin wirkende weibliche Gott-
heit. Es lag also für den Dalai Lama näher, mit den Briten
oder Russen zu kooperieren, denn die Chinesen wurden
schon seit Jahrhunderten von einer »neunköpfigen Dä-
monin« besessen, mit der es keine Einigung geben konn-
te. Der China-freundliche Panchen Lama sah dies jedoch
anders. Für ihn waren die chinesischen Kaiser der Man-
dschu-Dynastie, die dem buddhistischen Glauben ange-
hörten, Inkarnationen des Bodhisattvas Manjushri und
galten deswegen als angenehme Verhandlungspartner.

624
Tara und Maria

Ein Vergleich der tibetischen Tara mit der christlichen


Maria ist mittlerweile in buddhistischen Kreisen zu ei-
nem Gemeinplatz geworden. Auch der XIV Dalai Lama
macht von dieser Kulturparallele ausgiebig und mit
frommem Pathos Gebrauch. Maria repräsentiert für den
»gelben Papst« sozusagen die Inana Mudra (das »ima-
ginierte Weibliche«) des Katholizismus. »Wenn ich ein
Marienbildnis sehe«, so der Kundun, »habe ich stets das
Empfinden, daß sie Liebe und Mitgefühl verkörpert. Sie
ist ein Symbol der Liebe. Innerhalb der buddhistischen
Ikonographie hat die Göttin Taratine, ähnliche Positi-
on.« (* Dalai LamaXIV, 1997, 169)
Vor nicht allzu langer Zeit unternahm der »Gottkö-
nig« eine Pilgerreise nach Lourdes und faßte anschlie-
ßend seine Eindrücke aus dem größten katholischen Ma-
rienheiligtum mit bewegten Worten zusammen. »Dort
habe ich – vor der Höhle – eine ganz besondere Erfah-
rung gemacht. Ich verspürte eine spirituelle Schwingung,
die Präsenz einer bestimmten Art von spiritueller Ener-
gie. Und dann habe ich vor dem Bild der Jungfrau Ma-
ria gebetet.« (* Dalai Lama XIV, 1997, 171)
Von dem Versuch, den katholischen Marienkult durch
den tibetischen Tarakuh zu vereinnahmen, berichtet das
autobiographische Buch der Amerikanerin China Gal-
land mit dem Titel Grüne Tara und schwarze Madonna.
Nachdem die zweite Ehe der Autorin gescheitert war, trat
sie (erneut) der katholischen Kirche bei und gab sich ei-
ner exzessiven Marienverehrung mit feministischen Un-

625
tertönen hin. Letzteres war der Grund dafür, daß sich
Galland vor allem von den im Katholizismus verehrten
schwarzen Madonnen angezogen fühlte. Die »Schwar-
ze Jungfrau« wird schon seit Jahren von Feministinnen
als apokryphe Muttergottheit angebetet.
Eines Tages begegnete der Autorin die tibetische Göt-
tin Tara, und die Amerikanerin war sogleich fasziniert.
Tara wirkte auf sie wie eine Vorkämpferin für »spiri-
tuelle« Frauenrechte. Die Göttin habe – so die Auto-
rin – entgegen der buddhistischen Doktrin verkündet,
daß auch in einem weiblichen Körper Erleuchtung er-
langt werden könne. Insbesondere fühlte sich die Au-
torin von der Figur der »grünen Tara«, angezogen, die
sie an einer Stelle ihres Buches mit der hinduistischen
schwarzen Kali gleichsetzt : »Die Dunkelheit dieser weib-
lichen Gottheiten beruhigte mich. Ich fühlte Balsam auf
die Wunde der endlosen weißen Männlichkeit, die wir
im Westen vergöttlicht haben. Diese Göttinnen stellten
die andere Seite von allem dar, was ich seit je über Gott
gewußt hatte. Eine dunkle weibliche Gottheit. Oh, ja !«
(* Galland, 28)
Wir haben es also bei Galland mit einer spirituellen Fe-
ministin zu tun, die ihre schwarze Urmutter wiederent-
deckt hat und deren Spuren in allen Kulturen sucht. Die
Autorin sieht denn auch im buddhistischen Tara-Kult ar-
chetypische Bezüge zur vielbrüstigen Artemis von Ephe-
sus, zur ägyptischen Isis, zur phönizischen Alma Mater
Kybele, zur mesopotamischen Unterweltsgöttin Ishtar. Er-
neut führt ihr Weg, von der dunklen Tara ausgehend, zu
den »Schwarzen Madonnen« Europas und Amerikas, von

626
dort zur indischen Schreckensgöttin Kali (oder Durga).
»War die Schwärze der Jungfrau eine Verbindungsschnur
zu Tara, Kali oder Durga, oder war es nur Zufall ?« fragt
Galland. (* Galland, 39) Für sie war es kein Zufall !
Galland aktivierte mit einem Wort das gynozentrische
Weltbild, welches hinreichend aus der feministischen Li-
teratur bekannt ist. Überall sieht sie die Große Göttin am
Werk. (* Galland, 42) Die universale Position, die sie ihr
als dem ersten Schöpfungsprinzip zugesteht, wird unmiß-
verständlich durch ein Gedicht wiedergegeben. Die Au-
torin hat es in einem christlich-gnostischen Text gefun-
den. Dort spricht eine weibliche Macht, die »mehr nach
Kali als nach Muttergottes klingt«, folgende Worte :

Denn ich bin die Erste und die Letzte.


Ich bin die Verehrte und die Verachtete.
Ich bin die Hure und die Heilige.
Ich bin die Ehefrau und die Jungfrau
Ich bin das Schweigen, das unbegreiflich ist.
(* zit. b. Galland, 41)

Trotz ihrer unmißverständlichen Frauenposition wird


die Feministin im Oktober 1986 ihrem androzentri-
schen Meister begegnen, der ihre schwarze Kali (oder
Tara oder Maria) in eine fügsame tantrisch-buddhisti-
sche Dakini verwandelt. Während ihrer Audienz, auf
die sie mehrere Tage fieberhaft in Dharamsala gewar-
tet hat, fragt sie Seine Heiligkeit den XIV Dalai Lama :
»Ergibt es einen Sinn, wenn Tara mit Maria verknüpft
wird ?« – »Ja«, antwortet ihr der Kundun, »Tara und Ma-

627
ria schaffen eine gute Brücke. Diese Richtung führt be-
stimmt weiter.« (* Galland, 77)
Dann erzählt er der Feministin, wie frauenfreundlich
der tibetische Buddhismus sei. Zum Beispiel habe der
Sakya Lama, unter ihm der zweithöchste Hierarch des
Schneelandes, eine Frau und eine Tochter. Irgendwo in
Nepal lebe eine 70jährige Nonne, die berechtigt sei, das
Dharma zu lehren. Als er jung gewesen sei, habe es eine
berühmte Einsiedlerin in Tibets Bergen gegeben. Für ihn,
den Dalai Lama, mache es keinen Unterschied auf dem
Erleuchtungsweg, ob eine Person einen männlichen oder
weiblichen Körper habe. Und zum Schluß kommt der
Höhepunkt : »Die Tara«, so der Kundun, »könnte eigent-
lich als strenge Feministin verstanden werden. Der Le-
gende nach wußte sie, daß es kaum Buddhas gab, die in
der Form einer Frau erleuchtet wurden. Deshalb war sie
entschlossen, ihre weibliche Form zu erhalten und nur
in dieser Form erleuchtet zu werden. Diese Geschichte
ist von einiger Bedeutung, nicht wahr ?«, sagt er mit »an-
steckendem Lächeln« zu Galland. (* Galland, 80)
»Lächeln« ist die erste Kommunikationform mit einer
Frau, die in den niederen Tantras (dem Kriya Tantra)
gelehrt wird. Als nächste tantrische Kategorie folgt das
»Anblicken« (Carya Tantra) und dann die »Berührung«
(Yoga Tantra). Galland berichtet später fasziniert, was
während der Audienz mit ihr passierte : »Er (der Kundun)
steht von seinem Stuhl auf, kommt zu mir herüber und
ergreift mich mit einem Lachen fest am Arm. Der Da-
lai Lama, Tenzin Gyatso, ist von unerschütterlicher Hei-
terkeit. Seine Berührung überrascht mich. Sie ist kräftig

628
und energiegeladen wie ein schwarzer Gürtel im Aiki-
do. Die physische Kraft in seinen Händen steht im Wi-
derspruch zur Sanftheit seiner Erscheinung. Er legt sei-
ne Stirn an meine, dann verliert sich sein Lachen, und
er steht da und schaut auf mich, seine Arme auf meinen
Schultern. Sein Blick geht durch all die ausgetauschten
Wörter, mir wird warm ums Herz. Ich fühle, daß ich
eben ungeheuer viel über ihn lerne und daß mir in ge-
nau diesem Moment ungeheuer viel von ihm gegeben
wird, wenn es auch nicht in Worte zu fassen ist. Dies ist
der wirkliche Segen.« (* Galland, 80)
Von diesem Augenblick an veränderte sich die gesam-
te bisherige Metaphysik der Autorin. Aus der revolutio-
nären dunklen Kali ist eine gehorsame »Himmelswand-
lerin« (Dakini) geworden, aus der radikalen Feministin
eine gefügige »Weisheitsgefährtin« des tantrischen Bud-
dhismus. Mit welchen Mitteln auch immer, dem Dalai
Lama gelang es, aus der engagierten Anhängerin der Gro-
ßen Göttin eine gläubige Buddhistin zu machen. Galland
beginnt von nun an, sich nach tantrischem Muster als
Tara zu visualisieren. Die Legende, in der die Göttin ih-
rem Tränenvater Avalokiteshvara (Tara entsteht aus ei-
ner Träne des Bodhisattvas) anbietet, ihm zu helfen, alle
leidenden Wesen auf den richtigen Pfad zu führen, in-
terpretiert sie als ihre persönliche Aufgabe.
Die »Initiation« durch den Kundun war mit dieser er-
sten Begegnung noch nicht beendet, sie sollte in einem
späteren Traum der Autorin fortgesetzt werden. Galland
sieht dort, wie der Dalai Lama völlig angezogen in einem
Waschzuber herumplantscht und sich köstlich amüsiert.

629
Sie selber sitzt auch in einer solchen Wanne. Dann steht
der Kundun plötzlich auf und blickt sie mit vielsagen-
dem Schweigen an. »Nichts stand zwischen uns, nur rei-
nes Sein. Es war ein starker und wirklicher Austausch.
– Plötzlich fuhr ein blaues Schwert oben vom Kopf des
Dalai Lama auf meinen Scheitel, mein Rückgrat hinun-
ter. Ich hatte das Gefühl, als hätte er gerade eine große,
wortlose Lehre übermittelt. Das Schwert war aus blauem
Licht. Ich war sehr glücklich. Dann stieg er in die drit-
te Wanne, in der ich nun allein saß. Wir saßen stumm
nebeneinander, ich zu seiner Rechten. Unsere Gesichter
waren einander ganz nah, berührten sich leicht.« (* Gal-
land, 134)
Der Dalai Lama steigt darauf aus der Wanne. Sie ver-
sucht ihn dazu zu bewegen, ihr die Situation zu erklären,
insbesondere die Bedeutung des Schwertes zu entschlüs-
seln. »Doch jedesmal, wenn ich ihm eine Frage stellte, ver-
änderte er seine Form wie Proteus, der alte Meeresgott,
und schwieg.«55 (* Galland, 135) Am Ende des Traumes
verwandelt er sich in einen türkisenen Skarabäus, der die
Zimmerwand heraufklettert. 56
Auch wenn die beiden Protagonisten des Traumes (der
Dalai Lama und China Galland) voll bekleidet sind, als

55 Das Bild von Proteus, dem griechischen Gestaltenwandler,


ist sehr gut getroffen. Wir werden im folgenden noch oft auf die
Wandlungskünste des Kunduns zu sprechen kommen.
56 Interessant ist, wenn wir Albert Grünwedels These vom ägyp-
tischen Ursprung des Kalachakra-Tantras folgen, daß in Gal-
lands Traum Seine Heiligkeit als Skarabäus (das Symboltier der
Pharaonen) über die Wand krabbelt.

630
sie gemeinsam in dem Waschzuber sitzen, gehört nicht
allzuviel Phantasie dazu, in dieser Szene ein sexualmagi-
sches Ritual aus dem Repertoire des Vajrayana zu erken-
nen. Das blaue Schwert ist ein klassisches Phallussymbol
und erinnert uns an ähnliche Beispiele aus der christ-
lichen Mystik : Es war ein Pfeil, der die heilige Theresa
von Avila durchbohrte, als sie ihre mystische Liebe zu
Gott erfuhr. Bei China Galland war es das Lichtschwert
des höchsten tibetischen Tantra-Meisters.
1989 wird die Autorin in Los Angeles von ihrem
»Schwertmeister«, dem Dalai Lama, höchst persönlich
in das Kalachakra-Tantra eingeweiht. Ob sie als Weis-
heitsgefährtin (Karma Mudra) an den acht Höchsten In-
itiationen teilnahm, das wissen wir nicht.
Bald nach der spektakulären Traumeinweihung began-
nen die in ihrem Buch geschilderten »Pilgerreisen« zu
den Heiligen Plätzen, an denen die Schwarzen Madon-
nen Europas und Amerikas verehrt werden. Statt Mari-
en sieht sie jetzt nur noch westliche Variationen der ti-
betischen Tara vor sich. Entsprechend ruft sie angesichts
der »dunklen Mutter« von Einsiedeln (Schweiz) eksta-
tisch aus : »Jetzt war ich in die Schweiz gekommen, um
die schwarze Madonna zu finden, und ich finde nicht
nur sie, sondern wieder einmal – vor mir – die Buddha-
Tara.« (* Galland, 130) Die Träne (Tara) des Avalokites-
hvara (Dalai Lama) wird für die Amerikanerin zum al-
les beherrschenden Prinzip. In der dunklen Zigeuner-
madonna von Saintes-Marie-de-la-Mer (Frankreich), in
ihrer berühmten schwarzen Schwester von Czestochowa
(Polen), in deren Kopie von San Antonio (Texas), aber vor

631
allem in der Madonna von Medjugorje, die sie im Okto-
ber 1988 besucht, sieht Galland nur noch Ausstrahlun-
gen der tibetischen Göttin.
Während sie an dem jugoslawischen Wallfahrtsort über
Maria und Tara nachdenkt, kommt ihr ein Gebet an die
tibetische Gottheit in den Sinn. »Darin heißt es, daß sie
jeweils die Form annimmt, die jemand braucht, damit sie
helfen kann : echtes Mitleid. Die Buddha-Tara, überhaupt
alle Buddhas, sollen in Milliarden von Formen emanieren,
jeweils in der Form, die für den Betreffenden angemessen
ist. Wer vermöchte zu sagen, daß Maria nicht die Tara ist,
die in einer für den Westen nützlichen und wahrnehm-
baren Form erscheint ? Als der ehrwürdige Tara Tulku
(Gallands buddhistischer Guru, eine männliche Emana-
tion der Tara) vor einigen Monaten … kam, sprachen wir
darüber. Aus buddhistischer Sicht kann man nicht sagen,
daß dies unmöglich ist, versicherte er mir : Wenn es je-
mand gibt, der entschieden verneint, daß die Madonna
eine Emanation der Tara ist, dann hat er die Lehre des
Buddha nicht verstandene Christus könnte eine Emana-
tion des Buddha sein.« (* Galland, 232)
Was sich hinter diesem blumigen Zitat und der ex-
zentrischen Marienverehrung Gallands verbirgt, kann
auch als die Vereinnahmung eines nichtbudhistischen
Kultus durch den Vajrayana bezeichnet werden. Denn
Maria und Tara sind beide so kulturspezifisch, daß ein
Vergleich der zwei »Göttinnen« nur auf einer sehr allge-
meinen Ebene Sinn hat. Weder gebiert Tara einen Mes-
sias, noch dürfen wir uns eine Maria vorstellen, die sich
mit einem christlichen Mönch sexualmagisch vereinigt.

632
Trotz solcher krasser Unterschiede läßt die Emanations-
lehre des Tantrismus die Absorption fremder Götter ohne
Bedenken zu, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß
die tibetische Gottheit den Ursprungsplatz einnimmt und
die nichtbuddhistische von dieser abgeleitet wird. Die
Literatur, in der buddhistische Autoren Christus als Bo-
dhisattva und als eine Ausstrahlung des Avalokiteshvara
vorstellen, wächst von Jahr zu Jahr. Wir werden im Ka-
pitel über die ökumenische Politik des Dalai Lama dar-
auf zu sprechen kommen. 57

Die Klage der Yeshe Tshogyal

Als das historische Beispiel einer Frauengestalt, die alle


widersprüchlichen Kräfte des Weiblichen in sich inte-
griert haben soll, wird häufig die tantrische Partnerin
Padmasambhavas, des Gründervaters des tibetischen
Buddhismus, angeführt. Sie trägt den Namen Yeshe
Tshog­yal und soll eine in der Geschichte weiblicher Yo-
ginis einmalige Selbständigkeit erlangt haben. Einige
Autoren sagen sogar (entgegen aller Doktrin), sie habe
das höchste Ziel, die volle Buddhaschaft, erreicht. Des-
wegen ist sie heute zu einer der seltenen Ikonen für die-
jenigen, vor allem westlichen, Gläubigen geworden, wel-

57 Die Gottesmutter Maria als eine Emanation der Tara zu sehen,


ist auch historisch nicht gerechtfertigt, eher wäre das Gegenteil
denkbar, denn der Tarakult ist jüngeren Datums als der Marien-
kult. In Tibet wurde er erst im 11. Jahrhundert n. Chr. durch den
Gelehrten Atisha eingeführt.

633
che nach emanzipierten Frauengestalten innerhalb des
tantrischen Buddhismus Ausschau halten.
Die Legende berichtet, daß Yeshe Tshogyal im Alter
von dreizehn Jahren den tibetischen König Trisong De-
tsen (742–803) heiratete. Dieser schenkte sie drei Jahre
später an Padmasambhava als dessen Karma Mudra. Sol-
che großzügigen Frauengeschenke an den Guru waren
im Tantrismus – wie wir wissen – üblich und selbstver-
ständlich. Yeshe Tshogyal wurde zur hervorragendsten
Schülerin ihres Meisters. Als sie zwanzig Jahre alt war,
initiierte er sie durch ein Flammenritual.
Während der Zeremonie übernahm der Guru in der
Form einer Schreckensgottheit »die Herrschaft über ih-
ren Lotusthron (Vagina) mit seinem flammenden Dia-
mantenstab (Phallus).« (* zit. b. Stevens, 93) Das zeigt, daß
sie das Schicksal einer klassischen Weisheitsgefährtin zu
ertragen hatte, sie wurde symbolisch verbrannt.
Später praktizierte sie den Vajrayana mit anderen
Männern und durchlief anschließend als »Eisjungfrau«
eine lange Zeit der Askese in den kältesten Bergen Ti-
bets. Wie der historische Buddha, so wurde auch sie von
lüsternen Wesen versucht, nur handelte es sich bei ihr
nicht um die »Töchter Maras«, sondern um schöne Teu-
felsburschen. Sie erkannte deren Lockungen als Satans-
werk und wies sie entschieden zurück. Aber aus Mitge-
fühl schläft sie anschließend mit allen möglichen Män-
nern und »schenkt ihr Geschlechtsteil den Wollüstigen«.
(* Stevens, 94) Ihre Hingabe in der Liebe ist so überzeu-
gend, daß sie sieben Wegelagerer, die sie vergewaltigten,
zum Buddhismus bekehren konnte.

634
Padmasambhava soll zu ihr gesagt haben : »Grundbe-
dingung für die Erleuchtung ist ein menschlicher Kör-
per. Männlich oder weiblich macht keinen großen Unter-
schied. Doch wenn der Geist sich zur Erleuchtung hin-
wendet, ist der Körper einer Frau besser.« (* zit. b. Stevens,
94) Diese Aussage ist zwar revolutionär, dennoch dürfen
wir kaum annehmen, daß Yeshe Tshogyal einen wesent-
lich anderen Weg gegangen ist als die unzähligen anony-
men Yoginis, welche auf dem Altar des Tantrismus »ge-
opfert« wurden. 58
Denn durch ständige Visionen wird sie immer wieder
daran gemahnt, sich ganz und gar ihrem Meister darzu-
bringen – ihr eigenes Fleisch, ihr Blut, ihre Augen, Nasen,
Zungen, Ohren, Herzen, Eingeweide, Muskeln, Knochen,
Mark und ihre Lebensenergie zu opfern. Es mögen ei-
nem auch ernste Zweifel an ihrer privilegierten Stellung
innerhalb des tibetischen Buddhismus kommen, wenn
man die beeindruckende und resignierende Klage über
ihr Frauenlos vernimmt :

58 Wie eng Yeshe Tshogyal mit dem tantrischen Dakini-Kult ver-


woben war, zeigt das Szenario ihrer »Heimholung«. Nicht Engel
bringen sie nach ihrem schweren Leben ins Paradies, sondern
»riesige Scharen fleischfressender Dakinis, insgesamt zwölf ver-
schiedene Arten, die je einen Teil ihres menschlichen Körpers
verschlingen : Atemnehmerinnen, Fleischfresserinnen, Bluttrin-
kerinnen, Knochenbeißerinnen und so weiter – gefolgt von Raub-
tieren.« (* Herrmann – Pfand, 460, 461) Dann erscheinen Geister
und Dämonen. Die Königin der Nacht singt ein Lied, um die Ver-
dienste der Yogini zu ehren. Das geht so neun Tage lang, bis sie
am zehnten als blaues Licht in einem Regenbogen verschwindet
und ihre gespensterhafte Gästeschar traurig zurückläßt.

635
Ich bin eine Frau
– ich habe wenig Kraft, mich den Gefahren
   zu widersetzen.
Aufgrund meiner niedrigen ( !) Geburt
   greift mich jeder an.
Wenn ich als Bettlerin auftrete,
   attackieren mich die Hunde.
Wenn ich Reichtum und Nahrung habe,
greifen mich die Räuber an.
Wenn ich ein großes Geschäft mache,
greifen mich die Ortsansässigen an.
Wenn ich nichts tue, werde ich
   von Verleumdungen angegriffen.
Wenn irgend etwas falsch läuft, greifen mich alle an.
Was immer ich tue, ich habe keine Chance
   zur Glückseligkeit.
Weil ich eine Frau bin, ist es schwer,
   dem Dharma zu folgen.
Es ist selbst schwer, am Leben zu bleiben.
(* zit. b. Gross, 1993, 99)

Für den V Dalai Lama wird Yeshe Tshogyal viele Jahr-


hunderte nach ihrem irdischen Tod zu einer ständigen
Begleiterin in seinen Visionen und berät ihn bei seinen
politischen Entscheidungen. Während einer Sitzung
»erschien Tshogyal, in der Form einer weißen Frau ge-
schmückt, mit einem Knochenornament. Sie vereinigte
sich mit ihm. Der weiße und rote Bodhicitta (Same) floß
auf und ab.« (* Karmay, 54) Solche Vereinigungsszenen
mit ihr werden in den Geheimen Visionen des »Großen

636
Fünften« mehrmals erwähnt. Einige davon sind so kon-
kret, daß es sich wahrscheinlich um reale menschliche
Mudras handelte, welche in die Rolle der Yeshe Tshogyal
schlüpften. Einmal sah Seine Heiligkeit in ihrem Her-
zen »das Mandala der Purbhu (Ritualdolch)-Gottheit«.
(* Karmay, 67) Vielleicht wollte sie ihn mit diesem Bild
an das qualvolle Schicksal der Srinmo, der Mutter Tibets,
erinnern, der auch ein Ritualdolch im Herzen steckt. In
einer weiteren Vision trat sie zusammen mit der Göttin
Candali und drei weiteren Dakinis auf. Sie tanzten und
sangen die Worte : »Purbhu ist die Essenz aller Schutz-
gottheiten.« (* Karmay, 67)59
Gerade wenn Yeshe Tshogyal die hervorragendste hi-
storische Gestalt einer »emanzipierten« Vajrayana-Bud-
dhistin sein soll, wie das von vielen modernen Tantra
Meistern und Feministinnen behauptet wird, zeigt ihr
schweres Schicksal, wie degradierend und verächtlich die
unzähligen unbekannten und nie genannten Karma Mu-
dras der tibetischen Religionsgeschichte behandelt wor-

59 Aus der tibetischen Geschichte sind noch die Namen und die
Lebensläufe einiger anderer Yoginis bekannt, deren Biographien
in einem Buch der Italienerin Tsultrim Allione nachgelesen wer-
den können. Alle diese »praktizierenden« Frauen bilden in der
Gesamtkultur Tibets derart die Ausnahme, daß sie vor allem die
frauenfeindliche Regel beweisen. Sie verdanken die aktuelle in-
tensive Beschäftigung mit ihnen ausschließlich dem westlichen
Feminismus, der eifrig darum bemüht ist, seine tantrischen Göt-
tinnen »zurückzuerobern«. Somit ersparen wir es uns, die tibe-
tischen Yoginis einzeln vorzustellen. Bei einer detaillierten Ana-
lyse ihrer Leben würden wir sowieso immer wieder auf die im
ersten Teil unserer Analyse ausgeführten tantrischen Ausbeu-
tungsmechanismen zurückkommen.

637
den sein müssen. Ihr Beispiel sollte eher abschreckend
als exemplarisch wirken, denn sie ist mehr oder weniger
ein Instrument Padmasambhavas gewesen. Die aktuellen
Überhöhungen ihrer Person folgen ausschließlich dem
modernen Zeitgeist, der Gegenbilder zu einem im We-
senskern androzentrischen Buddhismus entwerfen muß,
um in der westlichen Welt bestehen zu können.

Die mythologischen Hintergründe des tibetisch-chinesi-


schen Konflikts : Avalokiteshvara und Kuan Yin

Wir wollen nun aufzeigen, daß in seinem historischen


Verhältnis zu Tibet das chinesische Reich den weiblichen
Part spielte und immer noch spielt, so als stünden sich
in den himmelhohen Bergen des Himalaya und den chi-
nesischen Stromebenen Mann und Frau gegenüber, so
als würde zwischen dem »maskulinen« Lhasa und dem
»femininen« Bejing ein Jahrhunderte alter Geschlech-
terkrieg ausgefochten. Das soll nun nicht bedeuten, daß
in China im Gegensatz zum patriarchalen Schneeland
ein Matriarchat das Sagen habe. Wir wissen sehr wohl,
wie das »Reich der Mitte« von seinen Anfängen an eine
grundsätzlich androzentrische Politik verfolgt hat und
wie sich daran bis heute nichts geändert hat. Deswegen
sprechen wir hier primär davon, wie der Konflikt zwi-
schen den beiden Ländern von tibetischer Sicht aus als
ein Geschlechterkonflikt interpretiert wurde. Dem Da-
lai Lama – das wollen wir in diesem Kapitel nachwei-
sen – steht in China das bedrohliche und verschlingen-

638
de »Große Weibliche«, die Schreckensdakini, gegenüber,
die er gemäß dem tantrischen Muster erobern und un-
terwerfen muß.
Umgekehrt können wir das nicht so einfach behaupten :
Die chinesischen Kaiser sahen zwar in den Herrschern
vom Potala mächtige spirituelle Konkurrenten, aber ver-
standen sich deswegen nur in ganz wenigen Fällen als
die Repräsentanten einer »Frauenpower«. Doch es gibt
solche historischen Ausnahmen, und mit diesen wollen
wir uns etwas genauer auseinandersetzen. Hinzu kommt,
daß die androzentrische Kultur Chinas immer wieder
durch starke weibliche Elemente eingeschränkt und re-
lativiert wurde. Es sind in der chinesischen Mythologie,
in bestimmten nationalen Philosophien (insbesondere
dem Taoismus) und manchmal auch in der Politik ech-
te feminine Einflüsse zu erkennen, weit mehr als das je-
mals im maskulinen tibetischen Mönchsimperium der
Fall war. Laotse, der große Verkünder des Tao Te King,
betont zum Beispiel in seiner praktischen »Theorie der
Herrschaft« eindeutig den weiblichen Faktor, beziehungs-
weise, was man damals darunter verstand :

Nichts auf Erden ist so weich und schwach


Wie das Wasser.
Dennoch, im Angriff auf das Feste und Starke
Wird es durch nichts besiegt.

Schwaches besiegt das Starke,
Weiches besiegt das Harte.

639
So heißt es im 78. Kapitel des Tao Te King. Die höch-
ste Verehrung unter den chinesischen Buddhisten erfährt
bis heute eine Göttin (Kuan Yin), ein weiblicher Bud-
dha, und kein Gott. Insbesondere zeigten Chinas wenige
aber berühmt-berüchtigte Herrscherinnen eine eigenar-
tige Spannung zu den Königen und Hierarchen des tibe-
tischen »Schneelandes«. Deswegen werden wir uns mit
ihnen ausführlicher beschäftigen. Aber wenden wir uns
zuerst der chinesischen Göttin Kuan Yin zu.

China (Kuan Yin) und Tibet (Avalokiteshvara)

Wie leicht die ambivalente Geschlechterrolle des männ-


lich-androgynen Avalokiteshvara ins Weibliche über-
kippen konnte, zeigt seine Transformation in Kuan
Yin, die »Göttin des Erbarmens«, die bis heute in Chi-
na und Japan eine hohe Verehrung findet. Kuan Yin
hatte ursprünglich keine eigene Existenz, sondern galt
ausschließlich als eine feminine Erscheinungsform des
Bodhisattvas (Avalokiteshvara). In Erinnerung an ihre
männliche Vergangenheit trägt sie manchmal auf alten
Abbildungen ein kleines »französisches« Bärtchen. Wie,
wo und weshalb der Geschlechterwechsel zustandekam,
das gilt unter den Wissenschaftlern als äußerst rätsel-
haft. Er muß sich in der frühen Tang-Dynastie ab dem 7.
Jahrhundert vollzogen haben, denn vorher wurde Ava-
lokitashvara auch in China fast ausschließlich in seiner
männlichen Gestalt angebetet.
Es gibt zwar schon aus dem frühen 5. Jahrhundert ei-

640
nen indischen Kanon, in dem 33 Erscheinungsformen des
»Lichtgottes« erwähnt werden, und 7 davon sind weib-
lich. Das beweist, daß die Inkarnation eines Bodhisatt-
vas in Frauengestalt nach der Doktrin des Mahayana-
Buddhismus nicht ausgeschlossen war. Zum Heil aller
leidenden Wesen – heißt es in einem Text – könnte der
»Erlöser« alle nur denkbaren Formen annehmen, zum
Beispiel diejenige eines Heiligen Spruchs, von Medizin-
kräutern, von mythischen Flügelwesen, von Menschen-
fressern, ja selbst diejenige von Frauen. (* Chayet, 154)
Aber solche Ausnahmen erklären gerade nicht, weshalb
der maskuline Avalokiteshvara in China ganz wesent-
lich von der femininen Kuan Yin verdrängt und ersetzt
wurde. Im Jahre 828 n. Chr. hatte jedes chinesische Klo-
ster mindestens eine Statue der Göttin. Die Chroniken
berichten von 44 000 Figuren.
Unter Orientalisten ist man sich mehr oder weniger
einig darüber, daß es sich bei der Kuan Yin um eine
synkretistische Gestalt handelt, die durch die Integrati-
on ehemals mächtiger einheimischer chinesischer Göt-
tinnen in den aus Indien importierten Buddhismus ge-
formt wurde. Eine Legende erzählt, daß Kuan Yin ur-
sprünglich als die Königstochter Miao shan unter den
Menschen weilte und sich in grenzenloser Güte für ihren
Vater aufopferte. Diese fromme Geschichte ist jedoch für
die Genesis einer so einflußreichen religiösen Herrin wie
Kuan Yin etwas farblos, aber dennoch interessant, weil
sie wieder einmal über ein Frauenopfer zugunsten eines
Patriarchen berichtet.
Ebenso wenig überzeugend erscheint uns die häufig

641
von tibetischer Seite vertretene These, bei der Kuan-Yin-
Verehrung handle es sich um eine chinesische Variante
des tibetischen Tara-Kultes, denn dieser wurde erst im
11. Jahrhundert in Tibet eingeführt, 400 Jahre nach der
Umwandlung Avalokiteshvaras in eine Göttin. Angesichts
der außerordentlichen Macht, welche Kuan Yin in Chi-
na genießt, ist es viel naheliegender, in ihr eine Nach-
folgerin der großen taoistischen Matriarchinnen zu se-
hen : der Urmutter Niang Niang oder der großen Göttin
Si Wang Mu oder von Tien hou sheng mu, die als »Meer-
stern« angebetet wurde.
Wenn Avalokiteshvara eine »Feuergottheit« darstellt,
dann ist Kuan Yin eindeutig eine »Wassergöttin«. Man
sieht sie in Abbildungen oft mit einem Wasserfläschchen
oder einer Lotusblüte in der Hand auf einem Felsen über
dem Meer. Die »Göttin auf der Wasserlilie«, die manch-
mal ein Kind in den Armen hält und dann der christ-
lichen Madonna ähnelt, faszinierte schon im 17. Jahr-
hundert die Höfe Europas, und die ersten europäischen
Porzellanmanufakturen bildeten ihre Statue nach. Auch
ihre Beinamen »Kaiserin des Himmels«, »Heilige Mut-
ter«, »Mutter der Barmherzigkeit« brachten sie für das
Abendland in die Nähe des Marienkultes. Wie Maria,
wird denn auch Kuan Yin als die Retterin aus den Nöten
und Ängsten einer elenden Welt angerufen. Wenn einen
Sorgen und Schmerzen unglücklich machen, dann wen-
det man sich an sie.
Die Transformation des Avalokiteshvara in eine chi-
nesische Göttin ist ein mythisches Ereignis, das die me-
tapolitischen Beziehungen von China und Tibet zutiefst

642
geprägt hat. So läßt sich das historische Verhältnis bei-
der Nationen, obgleich sie gemeinsam patriarchalen Mu-
stern folgen, mit der Symbolik eines Geschlechterkampfes
zwischen dem Feuergott Chenrezi und der Wassergöttin
Kuan Yin beschreiben. Was sich zwischen Göttern ab-
spielt, das hat – so glauben es die Tantras – auch unter
Menschen seine Entsprechung. Am Schicksal der drei
machtvollsten Frauengestalten aus Chinas Vergangen-
heit werden wir untersuchen, ob sich das tantrische Mu-
ster auf die geschichtlichen Konflikte zwischen Tibet und
China schlüssig übertragen läßt.

Wu Zhao (Kuan Yin) und Songtsen Gampo


(Avalokiteshvara)

Nach dem Zusammenbruch des Han-Reiches im 3. Jh.


n. Chr. verbreitet sich in China der Mahayana-Buddhis-
mus und erreicht in der frühen Tang-Zeit (618–ca. 750)
seine Blüte. Danach beginnt eine Renaissance des Kon-
fuzianismus, die ab Mitte des 9. Jh. zu einer Verfolgung
der Buddhisten führt. Im Hua-yen-Buddhismus des
7. Jh. (eine chinesische Form des Mahayana mit einigen
tantrischen Elementen), insbesondere in den Schriften
des Fa-tsang, wird der kosmische »Sonnenbuddha« Vai-
rocana als die höchste Instanz verehrt.
Ende des 7. Jh., als sich der Kuan-Yin-Kult in China
herausbildete, regierte im »Reich der Mitte« eine mächti-
ge Frau und Buddhistin, die Kaiserin Wu Zhao (ca. 625–
ca. 705). Ehemals eine Konkubine von zwei Kaisern, dem

643
Vater und dem Sohn, eroberte Wu Zhao nach deren Tod
Schritt um Schritt und mit großem Geschick im Jahre 683
den »Drachenthron«. Sie führte einen radikalen Wechsel
in der Machtelite des Landes durch. Die herrschende Li-
Sippe wurde systematisch und brutal durch Angehöri-
ge des eigenen Wu-Stammes ersetzt. Trotzdem schreck-
te die Matriarchin nicht davor zurück, selbst ihre Söhne
aus machtpolitischen Interessen zu verbannen und an-
dere Familienmitglieder exekutieren zu lassen, als sich
diese ihrem Willen widersetzten. Ihre Feldherren waren
mit wechselhaftem Kriegsglück in blutigste Kämpfe mit
den Tibetern und anderen Grenzvölkern verstrickt.
Wahrscheinlich weil sie eine Frau war, wurden ihre
Skrupellosigkeit und despotischen Auftritte sprichwört-
lich. Noch heute hallt die Ungeheuerlichkeit, die diese
»monströse« Grande Dame auf dem Drachenthron aus-
strahlte, in der Beschreibung der Historiker nach. Der
deutsche Sinologe Otto Franke charakterisiert sie zum
Beispiel mit für einen Wissenschaftler außergewöhn-
lich starken Emotionen : »Heimtückisch, rachgierig und
grausam bis zum Sadismus, so beginnt sie ihre Laufbahn,
hemmungslose Herrschsucht, Unempfindlichkeit auch
gegen das natürliche Muttergefühl und eine unstillba-
re Mordsucht begleiten sie auf dem gestohlenen Throne,
grotesker Größenwahn, verbunden mit religiösem Irr-
sinn, verzerrt ihr Alter, kindische Hilflosigkeit gegenüber
jeder Scharlatanerie und völlige Urteilslosigkeit in Ver-
waltung und Politik führen schließlich ihren Sturz her-
bei und bringen den Staat an den Rand des Abgrundes
… Ein Dämon in ihrer ungezügelten Leidenschaft, gesellt

644
sich Wu Zhao zu den finstersten Gestalten der chinesi-
schen Geschichte.« (* Franke, 424)
Wu Zhao förderte fanatisch den Buddhismus, um ihn
anstelle des Taoismus als Staatsreligion zu etablieren. Me-
galomanisch war »die sich Gott zum Vorbild nehmende
Kaiserin«, wie sie sich selber nannte, nicht nur in poli-
tischen sondern auch in religiösen Dingen, insbesonde-
re weil sie sich als die Inkarnation des Buddha Maitreya,
des Herrschers des kommenden Äons, feiern ließ. Sie
berief sich dabei auf Prophezeiungen aus dem Munde
des historischen Buddha. In dem Großen Wolken-Sutra
ist zu lesen, daß sich Shakyamuni 700 Jahre nach sei-
nem Tode in der Gestalt einer wunderschönen Prinzes-
sin inkarniere, deren Reich sich zu einem wahrhaftigen
Paradies gestalten werde. »Weil sie die Keime des We-
ges schon während zahlloser Zeitalter (Kaipas) pflanz-
te, stimmt sie mit ihrer freudvollen Erhöhung (als Mai-
treya) durch das Volk überein«, heißt es von der Kaise-
rin in einem zeitgenössischen Dokument. (* Forte, 122)
Nach anderen Quellen ließ sich die Wu Zhao auch als
der Bodhisattva Avalokiteshvara und als Sonnenbuddha
Vairocana anbeten.
Als Buddhistin orientierte sie sich an den oben von
uns dargestellten zyklischen Vorstellungen des Abhid-
harmakosa von den vier Weltzeitaltern, die wir auch im
Kalachakra-Tantra finden. Am Ende des dunklen und
am Beginn des kommenden neuen Zeitalters stand also
diese chinesische Kaiserin in der Erlösergestalt des Bud-
dha Maitreya. Ihre chiliastische Bewegung, die sie als
ein lebender buddhistischer Messias anführte, hatte im

645
Volk nicht wenige Anhänger, geriet jedoch mit dem eta-
blierten Buddhismus und den konfuzianischen Kräften
des Hofes in einen starken Konflikt, vor allem auch weil
Maitreya von einer Frau gestellt wurde.
Aus der buddhistischen Lehre übernahm Wu Zhao
auch die politische Doktrin vom Chakravartin, dem Rad-
dreher, der über unseren gesamten Erdkreis herrscht. Sie
wird ihr Volk führen, lesen wir in einer Prophezeiung,
»indem sie das Goldene Rad dreht«. (* Forte, 122) Einer
ihrer Titel lautete »das goldene Rad der Herrschaft dre-
hender Götterkaiser«. (* Franke, 417) Aber auch das ge-
nügte ihr noch nicht. Zwei Jahre später potenzierte sie
ihren bisherigen Beinamen und ließ sich »der die frühe-
ren das goldene Rad drehende Götterkaiser übertreffen-
de heilige Götterkaiser« benennen. (* Franke, 417) Das
»goldene Rad« mit den dazugehörigen anderen Emble-
men des Chakravartin wurde in ihrer Audienzhalle auf-
gehängt.
Um ihre Weltenherrschaft sichtbar zu demonstrieren
und symbolisch zu untermauern, ließ sie das ganze Reich
mit einem Netz von Staatstempeln überziehen. Jeder der
Tempel beherbergte eine Statue des Sonnenbuddhas (Vai-
rocana). Alle diese Bildnisse galten als die Ausstrahlung
eines gigantischen Vairocana, der im Kaisertempel der
Hauptstadt aufgestellt war und in dem sich die Herrsche-
rin selber verehren ließ.
Unter den auf ihren Befehl hin errichteten Sakralbau-
ten befand sich auch ein sogenannter Zeitturm (Tian-
tang). Nach Antonino Forte wurde dort die erste mecha-
nische Uhr der Geschichte eingebaut. Die Erfindung ei-

646
ner »Zeitmaschine« (der Uhr) ist sicher eine der größten
Kulturleistungen in der Geschichte der Menschheit. Den-
noch sehen wir heute ein solches Ereignis nur von sei-
ner technischen und quantitativen Seite. Für Menschen
mit einer archaischen Weltsicht aber bedeutete die »me-
chanische« Uhr weit mehr. Mit ihrer Konstruktion und
Aufstellung war symbolisch und real die Herrschaft über
die Zeit als solche angesprochen. Wu Zhao ließ sich also
nach Errichtung des Tiantangs (Zeitturm) als die leben-
de Zeitgöttin anbeten.
Neben den »Zeitturm« baute sie eine riesige Metall-
säule (die sogenannte »Himmelsachse«). Diese sollte den
Berg Meru darstellen, das Zentrum des buddhistischen
Universums. Wie der Tiantang die Herrschaft über die
Zeit, so symbolisierte die metallene »Himmelsachse« die
Herrschaft der Kaiserin über den Raum. Entsprechend
galt auch ihr Palast als das mikrokosmische Abbild des
gesamten Weltalls. Ihre Hauptstadt Luoyang erklärte sie
nicht nur zur Metropole Chinas, sondern ebenso zum
Wohnort der Götter. Raum und Zeit waren also, der Dok-
trin nach, in Wu Zhaos Hände gelegt.
Unseren Lesern und Leserinnen wird schon aufgefal-
len sein, daß die religiös-politischen Visionen der Wu
Zhao in so vielen Punkten mit dem Geist des Kalachakra-
Tantras übereinstimmen, daß man an eine Beeinflussung
denken könnte. Aber diese Herrscherin lebte dreihun-
dert Jahre vor der historischen Publikation des Zeittan-
tras. Einflüsse des Vajrayana (der ja schon im 4. Jh. in In-
dien nachzuweisen ist) sind jedoch nicht auszuschließen.
Entsprechend wird der Hua-yen-Buddhismus, aus dessen

647
Ideen die Kaiserin ihre Staatsphilosophie ableitete, un-
ter Experten als »proto-tantrisch« angesehen : »So ist die
Chou-Wu-Theokratie (der Kaiserin) in China die Staats-
form, die einer tantrischen Theokratie bzw. Buddhokra-
tie am nächsten kommt : Die ganze Welt gilt als Buddha-
körper, und der Kaiser, der über dieses sakramentalisier-
te politische Gemeinwesen herrscht, gilt als der höchste
aller Buddhas und Bodhisattvas.«60 (* Brück, 630)
Vergleiche mit dem Kalachakra-Tantra lassen sich je-
doch ohne weiteres symbolisch ziehen. Zum Beispiel fin-
den wir neben dem Anspruch auf den »Weltenthron«
als Chakravartin, auf die unterstellte Herrschaft über die
Zeit und über den Raum noch eine andere Parallele in
Wu Zhaos Griff nach den beiden Himmelslichtern (Son-
ne und Mond), der für das Zeittantra charakteristisch

60 Der Hua-yen-Buddhismus, der eine buddhokratisch-totalitä-


re Staatsform propagierte, erfreut sich heute bei amerikanischen
Akademikern einer besonderen Beliebtheit. Die beiden Religi-
onswissenschaftler Michael von Brück und Whalen Lei sehen
darin eine wenig fruchtbare, exotische Spielerei und empfehlen
in der Tat, sich statt dessen dem »totalistischen Paradigma« (!)
des XIV Dalai Lama zuzuwenden, der das lebende Modell ei-
ner buddhokratischen Idee sei. Diese Empfehlung ist durchaus
im positiven Sinne gemeint : »Doch Hua-yen ist keine lebendige
Tradition mehr … Das bedeutet nicht, daß ein totalistisches Pa-
radigma nicht wiederholt werden könnte«, und jetzt sollte man
meinen, die beiden westlichen Autoren würden eine Warnung
aussprechen. Nein, das Gegenteil ist der Fall – »aber es scheint
sinnvoller zu sein, dafür in der tibetisch-buddhistischen Traditi-
on zu suchen, denn die tibetischen Buddhisten haben eine leben-
dige Erinnerung an eine wirkliche ›Buddhokratie‹ und einen le-
benden Dalai Lama, der das Volk als religiöse und politische Leit-
figur führt.« (* Brück, 631)

648
ist. So ließ sie sich als eigenen Namen ein spezielles chi-
nesisches Zeichen schaffen, das »Sonne und Mond, aus
dem Leeren emporsteigend« lautete. (* Franke, 415) Auch
daß ihre messianische Bewegung von einem buddhisti-
schen Kloster mit dem Namen »Weißes Pferd« ausging, ist
wohl nur als zufällige Anspielung auf das »weiße Pferd«,
auf dem der Shambhala-König Rudra Chakrin die letz-
te Schlacht anführt, zu erklären. Dennoch erstaunt es
einen, wie sich die Bilder und Intentionen beider religi-
ösen Systeme decken. 61
Aber die letzten Absichten beider Systeme sind nicht
kompatibel. Die Kaiserin Wu Zhao wird kaum die Bud-
dhokratie eines androzentrischen Lamaismus angestrebt
haben. Daß sich hinter ihrer buddhistischen Maske gy-
nozentrische Kräfte versteckt hielten, ist dagegen wahr-
scheinlich. Sie ließ zum Beispiel offiziell ihre weiblichen
( !) Vorfahren mit bombastischen Titeln und Beinamen

61 Über eine mögliche, wenn auch phantastisch-amüsante »Be-


ziehung« zwischen dem Tantrismus und der berüchtigten chi-
nesischen Kaiserin berichtet eine alte indische Anekdote : Im be-
rühmten Kloster Nalanda, wo dreihundert Jahre später zum er-
sten Mal die Kalachakra-Thesen veröffentlicht wurden, lehrte ein
Tantra-Meister mit dem Namen Dharma-gupta. Während der
Mahlzeiten sahen seine Schüler mit Erstaunen, daß seine Scha-
le mit chinesischen Gerichten gefüllt war, während alle ande-
ren indisches Essen vor sich hatten. Auf die Frage nach der Her-
kunft seiner Speise antwortete der Maha Siddha (Großzauberer),
er sei am Morgen nach China geflogen, um bei der Einweihung
eines Tiantang(!), eines chinesischen Zeitturmes, teilzunehmen.
Dort habe man ihm seine Schale mit Essen gefüllt. Zu Mittag sei
er dann mit der dampfenden Gabe nach Indien zurückgeflogen.
(* Forte, 212) Dharmagupta war ein Zeitgenosse der Wu Zhao.

649
der »Mutter Erde« ausstatten. (* Franke, 415) In der pa-
triarchalen Kultur Chinas wurde dieser femininistische
Staatsakt als eine ungeheuerliche Blasphemie aufgefaßt.
So lesen wir in einer zeitgenössischen historischen Kritik
in Bezug auf diese Namensgebung : »Eine solche Verwir-
rung der Begriffe wie die der Wu hat man, seitdem es Auf-
zeichnungen gibt, nicht mehr erlebt.« (* Franke, 415)
Die hemmungslose Herrscherin usurpierte alle Positio-
nen der männlichen Mönchsreligion. In ihrer Machtgier
verleugnete sie selbst ihre Weiblichkeit und ließ sich als
»alter Buddha Herr« ansprechen. Eine Tat, die für den an-
drozentrischen Lamaismus eine teufliche Anmaßung be-
inhalten mußte. Jedenfalls sieht das so ein exiltibetischer
Historiker, der die chinesische Kaiserin tausend Jahre
nach ihrem Tod als einen monströsen, von allen Lastern
besessenen, männervernichtenden Drachen porträtiert.
»Die Kaiserin Wu«, schreibt K. Dhondup noch im Jah-
re 1995 in der Tibetan Review, »eine der schrecklichsten
und grausamsten Charaktere der chinesischen Geschich-
te, brachte ihre sexuelle Begierde in einem Alter von 70
Jahren zum Erwachen und verfolgte sie mit solch rastlo-
sem Eifer, daß ihre sexuellen Befriedigungen in den 90er
Jahren die Hauptnahrung der Straßengerüchte und des
Klatsches wurden. Die machtvollen Aphrodisiaka, wel-
che sie sich selbst zubereitete, gaben ihr ein jugendliches
Aussehen.« (* Tibetan Review, Januar 1995, 11)
Stand Wu Zhao in einer religiösen Konkurrenz zu den
kosmischen Ambitionen der Herrscher des damaligen ti-
betischen Großreiches ? Darüber können wir nur speku-
lieren. Außer daß sie mit den gefürchteten Tibetern in

650
heftige Kriege verwickelt war, wissen wir nur sehr wenig
über die »weltanschaulichen« Beziehungen beider Länder
zur Zeit ihrer Regierung. Es ist jedoch für unsere »Sym-
bolanalyse« der innerasiatischen Geschichte interessant,
daß die lamaistischen Historiker den tibetischen König
Songsten Gampo, der vierzig Jahre vor der Regierung Wu
Zhaos im Jahre 650 starb, ex post zum Chakravartin er-
klärten. Songsten Gampo (617–650) war es – wenn wir
uns zurückerinnern –, der als die Inkarnation des Avalo-
kiteshvara die Mutter Tibet (Srinmo) mit Phurbas (Ritu-
aldolchen) an den Boden nagelte, um auf ihr die sakrale
Geographie des Schneelandes aufzubauen.
Zwei Weltenherrscher kann es per definitionem nicht
geben, zumindest nicht auf demselben Erdkreis und vor
allem nicht, wenn sie sich als Mann und Frau als die al-
leinigen Prätendenten gegenüberstehen. So kollidierten
schon in der Frühphase der zentralasiatischen Geschichte
mit China und Tibet zwei religiös-politische Mächte, die
beide nach der höchsten Position auf Erden griffen.
Wer aber waren die eigentlichen Protagonisten dieses
Machtkampfes ? Die Lebensgeschichte der Wu Zhao läßt
hinter ihr das archetypische Bild der Kuan Yin als der
weiblich-chinesischen Konkurrentin zum männlich-tibeti-
schen Avalokiteshvara aufleuchten. Sie selber gab sich zwar
als die Inkarnation eines Buddha (Vairocana beziehungs-
weise Maitreya) aus, aber da sie weiblichen Geschlechts war,
ist es durchaus möglich, daß sie die historische Erschei-
nung gewesen ist, in der sich die von uns oben erwähnte
Geschlechtsumwandlung Avalokiteshvaras in die Haupt-
göttin des chinesischen Buddhismus (Kuan Yin) vollzog.

651
Auf jeden Fall repräsentieren beide, Songtsen Gampo
und Wu Zhao, die kosmischen Machtansprüche des Ava-
lokiteshvara beziehungsweise der Kuan Yin. Wir können
sie als die historischen Emanationen dieser beiden Arche-
typen ansehen. Ihre metapolitische Konkurrenz wird heu-
te im Konflikt der zwei Länder (China und Tibet) völlig
übersehen, was zu einer verkürzten und oberflächlichen
Interpretation der tibetisch-chinesischen Dissonanzen
führt. Dabei sind in der Vergangenheit die mythischen
Dimensionen im Kampf zwischen dem »Schneeland« und
dem »Reich der Mitte« von den beiden Parteien nie ge-
leugnet worden, nur das »realpolitische« Auge des We-
stens konnte sie nicht wahrnehmen.
Wu Zhao hat ihre buddhistisch-gynozentrischen Vi-
sionen nicht ausgelebt. Im Jahre 691 wurden der Tian-
tang (Zeitturm) und die in ihm befindliche Uhr durch
einen »schrecklichen« Sturm zerstört. Ihre Regentschaft
geriet in eine gefährliche Krise, denn die Götter – so ei-
nige einflußreiche Priester – hätten sie durch das »Natur-
ereignis« zurückgewiesen. Doch verfügte sie noch über
soviel Kraft und politischen Einfluß, den Turm wieder-
aufzubauen. 694 wurde aber auch dieser neue Tiantang
vernichtet, und zwar diesmal durch Feuer. Der Hof sah
in den Flammen eine wiederholte Strafe des Himmels
und folgerte daraus ein Scheitern der kaiserlich-religiösen
Machtansprüche. Wu Zhao, die nur noch kurze Zeit im
Amt blieb, mußte von nun an auf ihren messianischen
Titel »Buddha Maitreya« verzichten. 62

652
Tze Hsi (Kuan Yin) und der XIII Dalai Lama
(Avalokiteshvara)

Die kosmologische Rivalität zwischen China (Kuan Yin)


und Tibet (Avalokiteshvara) fand 1000 Jahre später eine
tragische Neuinszenierung in der gespannten Bezie-
hung des XIII Dalai Lama zur Kaiserin-Witwe Tze Hsi
(1835–1908).
Tze Hsi erschien im Jahre 1860 auf der politischen Büh-
ne. Schon als 17jährige hatte sie sich wie ihre Vorgänge-
rin Wu Zhao als adlige Konkubine des Kaisers Stufe um
Stufe in der Hierarchie seines Harems emporgearbeitet
und gebar den einzigen Thronfolger. Der kaiserliche Va-
ter Kaiser Hien fong starb bald nach der Geburt, und die
ehrgeizige Mutter des neuen Himmelssohnes übernahm
bis zu dessen Volljährigkeit und de facto darüber hinaus
die Regierungsgeschäfte des Landes. Als ihr Sohn plötz-
lich im Alter von 18 Jahren tot umfiel, adoptierte sie ih-

← 62 Der zweimalige Sturz des Zeitturmes (Tiantang könnte zu


einigen interessanten Spekulationen Anlaß geben : Die beiden
Kräfte, welche die »erste mechanische Uhr« der Weltgeschichte
(die gleichzeitig ein Symbol gynozentrischer Universalherrschaft
war) zu Fall brachten, waren Wind (Sturm) und Feuer. Das sind
aber die Elemente, welche nach der Lehre des Kalachakra-Tan-
tras am Ende der Zeiten das buddhistische Universum vernich-
ten. Daß – wie wir gezeigt haben – bei dieser tantrischen »Apo-
kalypse« zwei weibliche Wesen die Exponenten sind, nämlich
die innere Feuerfrau (Candali) und die äußere Feuerfrau (Kala-
gni), mag für die myrho-politische Rolle der chinesischen Kai-
serin eine Deutung im Sinne des Vajrayana zulassen. Jedenfalls
gleicht ihr Schicksal dem einer tantrischen »Feuerfrau«, die sich
am Ende ihres Machtaufstiegs selbst vernichtet.

653
ren Neffen, der als Kaiser Kuang-hsü den Drachenthron
bestieg, aber ebenfalls bis zu seinem Tode ganz und gar
unter ihrem Einfluß stand.
Offiziell förderte Tze Hsi den Konfuzianismus, als Pri-
vatperson aber fühlte sie sich wie viele Mitglieder der
Manchu-Dynastie (1644–1911) vor ihr von der lamaisti-
schen Lehre angezogen. Sie selbst war in den kanoni-
schen Schriften gut belesen, verfaßte mit eigener Hand
buddhistische Mysterienspiele und ließ diese von ihren
Eunuchen aufführen. In ihren Gemächern waren zahlrei-
che Buddhastatuen aufgestellt, und sie sammelte leiden-
schaftlich alte lamaistische Tempelfahnen. Als Lieblings-
plastik bewunderte sie eine Jadedarstellung der Kuan Yin,
die ihr ein Großlama geschenkt hatte. Sie selbst sah sich
als die irdische Manifestation dieser Göttin und legte
manchmal deren Gewänder an. »Wenn ich mich ärge-
re oder mir Sorgen mache«, sagte sie zu einer ihrer Hof-
damen, »ziehe ich mich an wie die ›Göttin der Gnade‹,
und das hilft mir, mich zu beruhigen und die Rolle der
Gestalt, die ich darstelle, zu spielen … Indem ich mich
in dieser Verkleidung photographieren lasse, kann ich
mich so sehen, wie ich eigentlich immer sein möchte.«
(* Seagrave, 562).
Solche Verkleidungen waren keinesfalls ein reines
Theater, sondern Tze Hsi erlebte sie als sakrale Auffüh-
rungen, als Rituale, während derer die Energie der chine-
sischen Wassergöttin (Kuan Yin) in sie einfloß. Sie selbst
bekannte sich offen als eine buddhistische Inkarnation
und legte sich ebenfalls den männlichen Titel »alter Bud-
dha Herr« (lao foyeh) zu, eine Bezeichnung, die geradezu

654
volkstümlich wurde. Wir haben es hier also wie im Falle
der Kaiserin Wu Zhao mit einer gynozentrischen Um-
kehrung des androgynen Avalokiteshvara-Mythos zu tun :
Kuan Yin, die chinesische Göttin der Barmherzigkeit, be-
ansprucht für sich allein die männliche Herrschaft und
verfügt deswegen souverän im Körper einer Frau über
die Energien eines männlichen Buddhas. Im imperiali-
stisch-patriarchalen Westen war Tze Hsi, wie der ameri-
kanische Historiker Sterling Seagrave nachgewiesen hat,
das Opfer einer mit Haß durchtränkten, diffamatorischen
Sensationspresse, die ihr alle nur denkbaren Verbrechen
unterstellte. »Die Vorstellung«, schreibt Seagrave, »daß
die korrupten Chinesen von einer Schlangenfrau mit ab-
artigen Sexualgelüsten beherrscht würden, hielt die ame-
rikanischen Männer in Atem.« (* Seagrave, 354) Sie wur-
de ebenso wie ihre Vorgängerin Wu Zhao zur fürchterli-
chen »Drachin«, einem Symbol aggressiver Weiblichkeit,
das die männliche Phantasie schon seit Jahrtausenden be-
herrscht : »Nach allgemeiner Übereinkunft war die Frau,
die auf dem chinesischen Drachenthron saß, ein Reptil.
Allerdings kein ruhmreicher chinesischer Drache – ge-
lassen, gütig, gutmütig, ein Wasserbewohner –, sondern
ein höhlenbewohnender, feuerspeiender, westlicher Dra-
che, dessen Atem bereits giftig war. Eine Drachenfrau.«
(* Seagrave, 359) Westliche und tibetische Projektionen
deckten sich in diesem Fall, so wie sie es auch heute noch
allzu oft tun.
Mythologisch gesehen trafen sich also in den Gestalten
des XIII Dalai Lama und der Kaiserin-Witwe erneut die
zwei Bodhisattvas Avalokiteshvara und Kuan Yin. Beide

655
Tze Hsi im Alter
historischen Gestalten standen deswegen von dem Au-
genblick an, als die Kaiserin ihren Machtanspruch ver-
wirklichte, in scharfer Konkurrenz und Dissonanz zu-
einander, die weit über die realpolitischen Fragen hin-
ausreichten. Der kaiserliche Obereunuch Li lien ying sah
diesen Konflikt sehr klar voraus und warnte Tze Hsi
mehrmals vor einer persönlichen Begegnung mit dem
tibetischen Gottkönig. Er verwies sogar auf eine akute
Lebensgefahr, sowohl für die Kaiserin-Witwe als auch
für ihren Adoptivsohn, den Kaiser Kuang-hsü. Von ihm
oder einem anderen Höfling stammen die Worte : »Die
Großlama-Inkarnationen sind Ausgeburten der Hölle. Sie
kennen keine menschlichen Regungen, wenn es um die
Macht der Gelben Kirche geht.« (* Koch, 216)
Aber Tze Hsi wollte nicht auf solche warnende Stim-
men hören und forderte gebieterisch den Besuch des
Hierarchen vom Dach der Welt, um mit ihm die mitt-
lerweile international sehr komplexe Tibetfrage zu erör-
tern. Erst nach mehreren vergeblichen Versuchen und
vielen direkten und indirekten Drohungen konnte sie
den mißtrauischen und vorsichtigen Kirchenfürsten aus
seinem »Götterpalast«, dem Potala, herauslocken und
dazu bewegen, im Jahre 1908 die beschwerliche Reise
nach China anzutreten.
Der Empfang für den Dalai Lama war pompös, doch
schon zu Beginn kam es zu Schwierigkeiten, was das Pro-
tokoll anbelangte. Keine der Parteien wollte durch eine
noch so geringe Geste kundtun, daß sie der anderen in
irgendeiner Weise untertan sei. Im großen und ganzen
behielten die Chinesen die Oberhand. Der Kotau blieb

657
dem Hierarchen aus Lhasa zwar erspart, denn es wur-
de schließlich nach langen Verhandlungen vereinbart, er
habe nur diejenigen Höflichkeitsrituale durchzuführen,
die man ansonsten von Mitgliedern der kaiserlichen Fa-
milie verlangte – aus der Sicht Beijings ein außergewöhn-
liches Privileg, aus der Perspektive des Gottkönigs und
potentiellen Weltenherrschers eine höchst problemati-
sche Abstufung. Hat sich der XIII Dalai Lama für diese
Erniedrigungen gerächt ?
Am 30. Oktober veranstalteten Tze Hsi und Kuang-hsü
ein Festbankett in der »Halle des Purpurglanzes«. Der
Dalai Lama hatte sich schon eingefunden, als der Kaiser
in letzter Sekunde wegen Krankheit absagen ließ. Drei
Tage später, zu ihrem 74. Geburtstag, wünschte sich die
Kaiserin-Witwe, daß der Kirchenfürst in der »Thronhalle
der eifrigen Regierung« die »Zeremonie zur Erlangung ei-
nes langen Lebens« für sie durchführe. Das geschah auch.
Der Dalai Lama reichte geweihtes Wasser und kleine Ku-
chen, welche ihr den Wunsch nach Langlebigkeit erfül-
len sollten. Danach wurde Tee serviert, und anschlie-
ßend übergab Tze Hsi ihre Geschenke. Mittags verfaßte
sie eigenhändig ein Edikt, in dem sie ihrem Dank gegen-
über dem Dalai Lama Ausdruck verlieh und sich selbst
verpflichtete, ihm ein Jahresgehalt von 10 000 Taels aus-
zuzahlen. Außerdem sollte ihm der Titel »aufrichtig ge-
horsamer, durch Wiederverkörperung hilfreicher, höchst
vortrefflicher, durch sich selbst existierender Buddha des
Westhimmels« verliehen werden.
Dieses Geschenk und der bombastische Titel waren
eine in Seide gehüllte Provokation. Mit ihnen wollte Tze

658
Hsi den Dalai Lama keineswegs erhöhen, sondern im Ge-
genteil die Abhängigkeit Tibets vom »Reich der Mitte«
demonstrieren. Zum einen wurde der Gottkönig durch
die »Gehaltsanweisung« zu einem kaiserlichen Beam-
ten degradiert. Indem sie weiterhin die Inkarnation des
Avalokiteshvara als einen »aufrichtig gehorsamen Bud-
dha« bezeichnete, ließ sie zum anderen keinen Zweifel
darüber, wem er in Zukunft Gehorsam zu leisten hatte.
Wie wichtig für die Beteiligten solche »Floskeln« waren,
zeigt die Reaktion des anwesenden amerikanischen Ge-
sandten, der die Betitelung als das Ende der politischen
Macht des Dalai Lamas deutete. Dieser protestierte denn
auch vergeblich dagegen, und »sein Stolz litt schreck-
lich«. (* Mehra, 20) All das geschah in der Welt der po-
litischen Phänomene.
Metaphysisch gesehen aber wollte Tze Hsi als Kuan
Yin den mächtigen Avalokiteshvara zu ihrem Diener ma-
chen. Das eigentliche »Götterspiel« fand denn auch am
Nachmittag desselben Tages (3. November) während ei-
ner Festivität statt, auf die der »gehorsame Buddha« er-
neut von Ihrer Kaiserlichen Hoheit geladen wurde. Tze
Hsi als der weibliche »alte Buddha Herr« wagte es dort,
im Kostüm der Wassergöttin Kuan Yin vor der Inkarna-
tion des gedemütigten Feuergottes Avalokiteshvara (dem
XIII Dalai Lama) zu erscheinen, umtanzt von Bodhisatt-
vas und Himmelswandlerinnen, die durch die kaiser-
lichen Eunuchen dargestellt wurden. Man sang, lachte,
schäkerte, fuhr Kahn und amüsierte sich köstlich. Solche
»göttlichen« Auftritte der Kaiserin-Witwe hatte es schon
früher gegeben, aber angesichts des zuvor politisch und

659
religiös degradierten Gottkönigs aus Tibet, des verspot-
teten patriarchalen. Urfeindes, bildete der Triumphzug
der Kuan Yin diesmal einen spektakulären und provo-
kativen Höhepunkt.
Wahrscheinlich glaubte die Kaiserin-Witwe, durch die
Langlebenszeremonie des Tages zuvor vor jeglichen An-
griffen auf ihren Gesundheitszustand geschützt zu sein.
Am Abend stellte sich jedoch bei ihr ein Unwohlsein ein,
das sich am nächsten Tage verschlimmerte. 48 Stunden
später begab sich der Dalai Lama zu der Herrscherin und
überreichte ihr eine Statuette des »Buddhas des unend-
lichen Lebens« (eine Variante des Avalokiteshvara) mit
der Weisung, diese an den Kaisergräbern im Osten Chi-
nas aufzustellen. Der Prinz Tsch’ing wurde, obgleich er
sich auf Grund einer Vorahnung strikt dagegen sträub-
te, von Tze Hsi mit harschen Worten beauftragt, dies
trotzdem zu tun. Als er am 13. November in den kai-
serlichen Palast zurückkehrte, fühlte sich der weibliche
»alte Buddha Herr« wieder in guter Stimmung und war
erneut bei Kräften, aber der Kaiser (ihr Adopitvsohn) lag
jetzt im Sterben und verschied schon am folgenden Tag.
Er hatte schon seit Jahren gekränkelt, doch daß ihn der
Tod in so kurzer Zeit ereilte, fanden auch seine persön-
lichen Ärzte höchst mysteriös und schlossen deswegen
einen Giftmord nicht aus. 63

63 Im Zusammenhang mit der in unserem Buch ausführlich be-


handelten Beziehung zwischen Samenretention und tantrischen
Machtobsessionen ist es erwähnenswert, daß der willensschwache
Kuang-hsü unter ständigen Spermaergüssen litt. Jede Belastung,
sogar laute Geräusche, bewirkten bei ihm eine Ejakulation.

660
Aber der Besuch Seiner Heiligkeit brachte noch wei-
teres Unglück für die kaiserliche Familie, so wie es der
Obereunuch Li lien ying prophezeit hatte. Am 15. No-
vember, einen Tag nach dem Ableben des Regenten, er-
litt die Kaiserin-Witwe Tze Hsi einen schweren Ohn-
machtsanfall, erholte sich für wenige Stunden, sah dann
aber ihr Ende herannahen, diktierte ihr Abschiedsdekret,
verbesserte es noch mit eigener Hand und starb bei vol-
lem und klarem Bewußtsein.
Daß diese beiden unmittelbar aufeinanderfolgen-
den plötzlichen Todesfälle des Kaisers und seiner Adop­
tivmutter zu wilden Gerüchten führten und daß dabei
über die Rolle und die Anwesenheit des Dalai Lama al-
lerlei Spekulationen angestellt wurden, liegt auf der Hand.
Es gab bei dem mit tantrischen Ideen und Praktiken ver-
trauten Hof selbstverständlich den Verdacht, daß der
»Gottkönig« aus Tibet magisch wirksam geworden sei,
um seine kosmische Rivalin aus dem Wege zu schaf-
fen. Aufgrund der noch zu schildernden rituellen Vou-
doupraktiken, die im Potala seit Jahrhunderten kulti-
viert wurden, ist eine solche Vermutung auch keineswegs
auszuschließen, sondern eher wahrscheinlich. Immerhin
repräsentierte der Hierarch als Avalokiteshvara ebenso
den Totengott Yama. Selbst der heute lebende XIV Dalai
Lama sieht – wie wir noch zeigen werden – mit Stolz ei-
nen Ursachenzusammenhang zwischen einem von ihm
1976 durchgeführten tantrischen Ritual und dem Tode
Mao Zedongs. Sogar wenn man nicht an die Wirksamkeit
solcher magischer Handlungen glaubt, muß man ihnen
in diesen Fällen einen cui bonum-Effekt zugestehen. Des

661
weiteren sind sie, zumindest für die tibetische Tradition,
eine kulturelle Selbstverständlichkeit. Schon immer wa-
ren die lamaistischen Kirchenfürsten davon überzeugt,
daß es ihnen gelingen kann, ihre Feinde anstatt durch
Waffen durch Magie zu besiegen.
Was jedoch bei den Beijinger Ereignissen mit aller Klar-
heit vor unseren Augen steht, ist das Ergebnis, nämlich
der Triumph des Avalokiteshvara über Kuan Yin : Der Pa-
triarch hat die Matriarchin vernichtet. Vielleicht mußte
Kuan Yin in diesem metaphysischen Kampf unterliegen,
weil sie nicht die energetischen Feinheiten des Tantris-
mus verstand ? Als Tze Hsi hatte sie nach der männli-
chen Macht gegriffen, als Wassergöttin nach dem Feu-
er und sich in ihren übermenschlichen Ambitionen von
den Flammen des Ehrgeizes anstecken lassen. Vielleicht
spielte sie die Rolle der entzündeten Candali (des »bren-
nenden Wassers«), ohne zu wissen, daß es der Tantra-
Meister aus dem Schneelande war, der sie in Brand ge-
setzt hatte ?
Doch ging die politische Rechnung für den Dalai Lama
keineswegs auf. Die neue Regentschaft hielt ihn solange
in Beijing fest, bis er der chinesischen Forderung, Tibet
als Provinz des chinesischen Reiches anzuerkennen, zu-
stimmte. Auch England und Rußland hatten sich, um ei-
nen gegenseitigen Konflikt zu vermeiden, den Chinesen
gegenüber verpflichtet, jede Einmischung in die Verhält-
nisse Tibets zu unterlassen. Erst 1913, zwei Jahre nach der
endgültigen Entmachtung der Manchu-Dynastie (1911),
kam es zu einer tibetischen Unabhängigkeitserklärung,
und zwar mit einer höchst interessanten Begründung.

662
Der XIII Dalai Lama ließ nämlich wörtlich verkünden,
der Manchu-Thron, der vom rechtmäßigen Kaiser als
dem »Weltenherrscher« (Chakravartin) besetzt worden
sei, wäre jetzt frei. Aus diesem Grunde hätten die Tibe-
ter keinerlei Verpflichtungen mehr gegenüber China und
die weltliche Macht gehe jetzt auf ihn, den Hierarchen
aus dem Potala, automatisch über – zwischen den Zei-
len gelesen heißt das, er selbst übe jetzt die Funktionen
eines Chakravartin aus. (* Klieger, 32)

Jiang Quing (Kuan Yin) und der XIVDalai Lama


(Avalokiteshvara)

Die problematische Beziehung des XIII Dalai Lama


(Avalokiteshvara) zur Kaiserin-Witwe Tze Hsi (Kuan
Yin) findet in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts eine
erstaunliche Wiederholung. Wir meinen das Verhält-
nis der Jiang Quing, der Gattin Mao Zedongs, zu Sei-
ner Heiligkeit dem XIV Dalai Lama. Bis heute ist der
Kundun davon überzeugt, daß der Vorsitzende der kom-
munistischen Partei Chinas über die vandalistischen Er-
eignisse in Tibet, in denen die »Roten Garden« die Klö-
ster des Schneelandes verwüsteten, nicht voll informiert
war und daß er sie wahrscheinlich nicht gebilligt hätte.
Er sieht die chinesischen Übergriffe gegen den lamaisti-
schen Klerus vor allem als das Zerstörungswerk der Ji-
ang Quing.
In der Tat trieb die Gefährtin Maos die Rebellion der
Jugendlichen ohne Rücksichtnahmen auf die eigene Partei

663
und die Bevölkerung auf die Spitze und verschlimmerte
das Chaos im ganzen Lande beträchtlich. In dieser Mei-
nung stimmt der tibetische Gottkönig, wohl ungewollt,
mit der offiziellen Kritik des heutigen Chinas überein :
»Während der Kulturrevolution bediente sich die kon-
terrevolutionäre Clique um … Jiang Quing unter Verdec-
kung ihrer wahren Motive des linken Irrtums, und so trat
sie mutwillig die wissenschaftlichen Theorien des Marxis-
mus-Leninismus so wie die Gedanken Mao Zedongs mit
Füßen. Sie verwarf die korrekte Religionspolitik, die die
Partei bereits nach der Gründung der VR China verfolg-
te. Damit zerstörte sie die Religionsarbeit der Partei voll-
ständig«, heißt es in einem Dokument der chinesischen
Regierung aus dem Jahre 1982. (* Maclnnis, 46)
Auch in diesen modernen Ereignissen, die für die Ge-
schichte des Schneelandes so bedeutsam waren, erscheint
das Weibliche – entsprechend dem tantrischen Muster
und nach der androzentrischen Sicht des Dalai Lama –
als die radikale und haßerfüllte Vernichtungskraft, wel-
che den lamaistischen Mönchsstaat (wie eine ungebän-
digte »Feuerfrau«) zerstören will. Denn nach exiltibeti-
scher Sicht wird die Große Proletarische Kulturrevolution
als der Beginn des »kulturellen Völkermordes« angese-
hen, der Tibet seit dieser Zeit bedrohen soll. Nicht ohne
Bitterkeit vermerkt deswegen der jetzige Gottkönig, die
Roten Garden hätten Maos Frau die Möglichkeit gege-
ben, »sich wie eine Kaiserin aufzuführen«. (* Dalai Lama
XIV, 1993 I, 267)
Dennoch ist es im Fall der Jiang Quing nicht so leicht,
sie als eine Inkarnation der Kuan Yin und als eine Ge-

664
genspielerin des Avalokiteshvara (des Dalai Lama) zu se-
hen, wie bei Tze Hsi, die bewußt diese göttliche Rolle an-
nahm. Die an marxistisch-leninistischen Ideen orientier-
te Kommunistin kann nur unbewußt oder halbbewußt
zu einem »Gefäß« der chinesischen Wassergöttin gewor-
den sein. Nach außen hin jedenfalls gab sie sich – zumin-
dest für die westliche Wahrnehmung – atheistisch. Aber
diese antireligiöse Grundhaltung des Maoismus muß –
und darüber sind sich immer mehr Historiker einig – als
ein Schein entlarvt werden. Er war – und das werden
wir noch ausführlich zur Sprache bringen – eine zutiefst
religiös-mythische Bewegung, die ganz und gar in der
Tradition des chinesischen Kaisertums stand. Der Dalai
Lama hat deswegen Recht, wenn er vermutet, daß sich
Jiang Quing als Imperatorin fühlte.
Dies tat sie übrigens sehr bewußt, denn sie verglich sich
öffentlich mit der Kaiserin Wu Zhao, die ja als weiblicher
Buddha versuchte, die Weltenherrschaft an sich zu reißen,
und die durch die Konstruktion eines Zeitturms und die
Erfindung der mechanischen Uhr die Ideen des Kalacha-
kra-Tantras symbolisch vorwegnahm. Auch Jiang Quing
wollte nach dem Zeitrad der Geschichte greifen. Entspre-
chend der chinesischen Vorliebe für jegliches Ahnenerbe
ließ sie (die Kommunistin) sich Kleider im Stil der alten
Tang-Herrscherin (Wu Zhao) anfertigen.
Aber können wir aus Jiang Quings Vorliebe für impe-
riale Machtentfaltungen schließen, daß es sich bei ihr um
eine Inkarnation der Kuan Yin handelt ? Wenn wir von
ihren eigenen Vorstellungen ausgehen, dann müssen wir
die Frage wahrscheinlich verneinen. Wenn wir aber – wie

665
die buddhistischen Tantristen – unterstellen, daß Gott-
heiten Kraftfelder repräsentieren, die sich in Menschen
verkörpern, dann erscheint eine derartige Annahme na-
heliegend. Fragt sich nur, ob es in jedem Fall notwendig
ist, daß solche Personen bewußt die Götter herbeirufen,
oder ob es genügt, wenn deren Geist und wenn deren En-
ergie die von ihnen besessenen Menschen zu Handlun-
gen »inspirieren«. Was für einen Tantriker letztendlich
zählt, ist eine schlüssige Symboldeutung der politischen
Ereignisse : Die mythische Konkurrenz zwischen China
und Tibet, zwischen dem chinesischen Kaiser und dem
Dalai Lama, zwischen der Kaiserin Wu Zhao und den
tibetischen Königen, zwischen der Kaiserin-Witwe Tze
Hsi und dem XIII Dalai Lama geben dem Konflikt des
XIV Dalai Lama mit Jiang Quing einen metapolitischen
Sinn und machen ihn innerhalb eines tantrischen Mu-
sters verständlich. Die Parallelen zwischen diesen Kon-
flikten sind so auffällig, daß sie nach archaischer Sicht
ohne weiteres als der Ausdruck einer göttlichen Ursze-
ne gesehen werden dürfen, dem Streit zwischen Avalo-
kiteshvara und Kuan Yin um den Weltenthron des Cha-
kravartins.
Bevor wir abschließend die religiös-politische Rolle
der drei »Kaiserinnen« miteinander vergleichen, möch-
ten wir noch einmal mit Nachdruck betonen, daß nicht
wir es sind, die in China eine matriarchale Macht sehen,
die einem patriarchalen Tibet gegenübersteht. Im Ge-
genteil – wir haben noch einige Male im Verlauf unse-
rer Studie die Absicht, auch über den chinesischen An-
drozentrismus zu berichten. Was wir jedoch vermitteln

666
wollen, ist die Tatsache, daß aus lamaistischer-tantrischer
Sicht der chinesisch-tibetische Konflikt als Geschlechter-
kampf erfahren wird. Der Tantrismus sexualisiert nicht
nur Landschaften, die Elemente, die Zeit und das gesam-
te Universum, sondern ebenso die Politik.
Aus chinesischer (taoistischer, konfuzianistischer oder
kommunistischer) Sicht mag das völlig anders aussehen.
Wir dürfen aber nicht außer Acht lassen, daß zwei der
von uns vorgestellten Herrscherinnen fanatische ( !) Bud-
dhistinnen mit tantrischen (Tze Hsi) beziehungsweise
proto-tantrischen (Wu Zhao) Ideen waren. Beide wer-
den deswegen ihre politische Beziehung zu Tibet durch
die Brille des Vajrayana wahrgenommen haben.
Wu Zhao ließ sich als inkarnierter Buddha-Herr und
als buddhistischer Messias verehren. Ihre religiös-poli-
tische Vision zeigt verblüffende Ähnlichkeiten mit dem
Kalachakra-Tantra, obgleich dieses erst mehrere Jahrhun-
derte später ausformuliert wird. Als Chakravartin stand
sie in einer mythisch unvereinbaren Gegenposition zu
den tibetischen Königen, die denselben Titel fur sich be-
anspruchten. Man kann zwar bei ihr nicht von einer In-
karnation der Kuan Yin sprechen, da sich der Kult der
chinesischen Göttin erst in ihrer Zeit herauskristallisierte.
Aber es spricht einiges dafür, daß sie die historische Per-
son war, in der sich die Umwandlung des Avalokiteshva-
ra in Kuan Yin vollzog. Sie war – nach eigener Vorstel-
lung – der erste »lebende Buddha« in weiblicher Gestalt,
und das trifft ebenfalls auf die Kuan Yin zu.
Am unmißverständlichsten »inkarnierte« sich Kuan
Yin in Tze Hsi, da sich die Kaiserin-Witwe offen als eine

667
Verkörperung der Göttin zu erkennen gab. Vieles spricht
dafür, daß die chinesische Autokratin tief in die Geheim-
nisse des lamaistischen Tantrismus eingeweiht war. Sie
muß deswegen ihre Begegnung mit dem XIII Dalai Lama
als ein hohes Symbolspiel angesehen haben, welches sie
am Ende mit ihrem eigenen Leben bezahlte.
Bei Jiang Quin klingt die Aussage, sie sei eine Inkar-
nation der Kuan Yin, nicht mehr so überzeugend. Die fa-
natische Kommunistin war keine Anhängerin Buddhas
wie ihre beiden Vorgängerinnen und präsentierte sich
nach außen hin atheistisch. Aber in ihren »kulturrevo-
lutionären« Entscheidungen und »proletarischen« Kunst-
ritualen, in ihrer Verachtung gegenüber jeglichem Kle-
rus handelte und dachte sie wie eine »rasende Göttin«,
die mit Haß und Gewalt gegen patriarchale Traditionen
revoltiert. Ihre Radikalität macht sie in einem Götter-
spiel des Tantrismus (so wie dieser die Geschichte sieht)
zu einer rächenden Erinnye (oder einer außer Kontrol-
le geratenen Dakini).
Alle drei »Kaiserinnen« sind mit ihrer Politik und ih-
rem religiösen System gescheitert. Wu Zhao mußte ihrem
Titel als »kommender Buddha« offiziell abschwören und
wurde gezwungen, frühzeitig abzudanken. Kurz nach ih-
rem Tod gewann der Konfuzianismus wieder an Macht,
und es begann eine landesweite Buddhistenverfolgung.
Tze Hsi starb während des Besuchs ihres »Erzfeindes«
(des XIII Dalai Lama). Wenige Jahre nach ihrem Tode
endete die Herrschaft der Manchu-Dynastie (1911).
Jiang Quin wurde von ihrer eigenen (kommunisti-
schen) Partei als »Linksabweichlerin« zu Tode verurteilt,

668
dann begnadigt und starb bald darauf. Nach ihrem Ab-
leben war das maoistische Reich »der roten Sonne« end-
gültig zusammengebrochen und machte der neokapita-
listischen Deng-Ära Platz.
Wiederum ausgehend von einem tantrischen Muster
kann man darüber spekulieren, ob alle drei historischen
Frauengestalten (die als Inkarnationen der Kuan Yin dem
Element »Wasser« zuzuordnen sind) das Schicksal einer
»Feuerfrau«, einer Candali, erfahren mußten. Denn am
Ende gehen sie, wie die Candali, an ihren eigenen Flam-
men (politischen Leidenschaften) zugrunde. Alle drei, ob-
gleich heftige Gegnerinnen eines rein männerorientier-
ten Buddhismus, greifen bewußt zu den religiösen Bil-
dern und Methoden der patriarchal organisierten Welt.
Wu Zhao und Tze Hsi lassen sich mit einem männlichen
Titel als »alter Buddha Herr« ansprechen ; Jiang Quing
vertreibt alle weiblich-erotischen Elemente aus der Gro-
ßen Proletarischen Kulturrevolution und läßt die jun-
gen Rotgardistinnen in männliche Uniformen stecken.
Der Gedanke, daß eine emanzipatorische Frauenbewe-
gung nicht überleben kann, wenn sie die androzentri-
schen Machtsymbole und Haltungen für sich erobert und
anwendet, blitzt angesichts der drei chinesischen »Kaise-
rinnen« auf. Wir werden uns mit diesem Gedanken im
folgenden Kapitel auseinandersetzen.

669
Feminismus und tantrischer Buddhismus

Nachdem die meisten hohen tibetischen Lamas seit


Ende der 50er Jahre aus dem Schneeland fliehen mußten
und damit begannen, den tantrischen Buddhismus im
Westen zu verbreiten, waren sie nolens volens mit dem
modernen Feminismus konfrontiert. Diese Begegnung
zwischen der Frauenbewegung des 20. Jh. und dem ar-
chaischen System der androzentrischen Mönchskultur
entbehrt nicht einer gewissen Delikatesse. An sich müß-
te man annehmen, daß hier zwei unversöhnliche Urfein-
de aufeinanderträfen und jetzt »die Fetzen flögen«. Aber
diese eigenartige Beziehung gestaltete sich viel kompli-
zierter. Vorher möchten wir jedoch noch eine mutige
und selbstbewußte Frau aus der tibetischen Geschichte
vorstellen, die eine klare und unmißverständliche Absa-
ge an den tantrischen Buddhismus formuliert hat.

Tes Pongza – die Herausforderin Padmasambhavas

Padmasambhava (Guru Rinpoche), der Gründer des ti-


betischen Buddhismus, machte sich, kurz nachdem er
das »Schneeland« betreten hatte, eine bemerkenswer-
te Frau zur entschiedenen Gegnerin. Es war keine ge-
ringere als Tse Pongza, die Hauptgemahlin des tibeti-
schen Königs Trisong Detsen (742–803 n. Chr.) und die
Mutter des Thronfolgers. Der Herrscher hatte den be-
rühmten Vajra-Meister aus Indien ins Land geholt, um
die nationale Bon-Religion und den Adel zu schwächen.

670
Mit seiner aktiven Hilfe wurden die alte Priesterschaft
(die Bon) verbannt und ihr Kult mit drastischen Metho-
den unterdrückt. Ein Teil der Bonpo (Bonanhänger) gab
dem Druck nach und konvertierte, ein anderer Teil floh
aus dem Land, einige ließ man enthaupten und die Lei-
chen in einen Fluß werfen. Doch blieb Tse Pongza wäh-
rend der ganzen Verfolgungszeit eine treue Anhängerin
der traditionellen Riten und versuchte mit allen Mitteln
den Einfluß Guru Rinpoches zurückzudrängen.
Um ihre Standhaftigkeit in ein schiefes Licht zu stellen,
warfen ihr später buddhistische Historiker vor, sie habe
aus verschmähter Liebe gehandelt, weil Padmasambha-
va ihre erotischen Annäherungen kalt zurückgewiesen
habe. Wie dem auch sei, die Königin wandte sich mit
Abscheu gegen die neue Religion. »Macht ein Ende mit
diesen Hexenmeistern«, soll sie gesagt haben : »… Wenn
derartige Dinge sich ausbreiten, werden die Menschen ih-
res Lebens beraubt werden. Das ist nicht Religion, son-
dern etwas Schlimmes !« (* Hermanns, 1956, 207) Auch
die folgende offene und scharfe Absage an den Tantris-
mus ist von ihr erhalten geblieben :

Was man Rapala nennt, ist ein menschliches Haupt,


   auf einen Ständer gelegt ;
Was man Basuta nennt,
   sind ausgebreitete Eingeweide.
Was man Beintrompete nennt,
   ist ein menschlicher Beinknochen.
Was man ›Segensstätte des großen Feldes‹ nennt,
   ist eine ausgespannte menschliche Haut.

671
Was man Rakta nennt,
   ist ausgesprenkeltes Blut auf Opferpyramiden.
Was man Mandala nennt,
   sind schillernde bunte Farben.
Was man Tänzer nennt, sind Leute,
   die Kränze aus Knochen tragen.
Das ist nicht Religion,
   sondern das Übel, was Indien Tibet gelehrt hat.
(* Hoffmann, 1956, 61)

Mit großer prophetischer Voraussicht verkündete Tse


Pongza : »Ich fürchte, daß der Königsthron verloren ge-
hen wird, wenn wir mit der neuen Religion gemeinsame
Sache machen.« (* Hoffmann, 1956, 58) Die Geschichte
sollte ihr Recht geben. Die Herrschaft der Yarlung-Dy-
nastie brach etwa hundert Jahre nach ihren Worten (838
n. Chr.) zusammen und wurde von Kleinreichen der ver-
schiedenen lamaistischen Sekten abgelöst. Aber es soll-
te noch weitere 800 Jahre dauern, bis in der Institution
des Dalai Lama die weltliche Macht der tibetischen Kö-
nige mit der spirituellen Macht des Lamaismus kombi-
niert werden konnte und eine neue Staatsform entstand,
die bis heute überlebte : die tantrische Buddhokratie. Bis-
her wurde nach unserem Wissen Tse Pongza, die muti-
ge Herausforderin Guru Rinpoches (Padmasambhava),
noch nicht vom Feminismus als eine Vorläuferin ent-
deckt. Dagegen gibt es keinen von Feministinnen ver-
faßten Text über den tibetischen Buddhismus, in dem
nicht große Worte über die gehorsame Dienerin des Gu-
rus, Yeshe Tsogyal (der Zeitgenossin Tse Pongzas und

672
ihr Gegenpol), zu lesen wären. Oft sind solche Schriften
auch voll des Lobes für Padmasambhava. Dies ist um so
verwunderlicher, weil dieser – wie es der Ethnologe und
Psychoanalytiker Robert A. Paul überzeugend nachge-
wiesen hat und wie wir noch ausführlich zeigen werden
– als ein sexuell aggressiver, frauen- und lebensverach-
tender Kulturheros angesehen werden muß.

Westlicher Feminismus

In der modernen westlichen Auseinandersetzung von


Frauen mit dem tantrisch-tibetischen Buddhismus und
der tibetischen Geschichte können wir vier Gruppen
unterscheiden :
1. Die Befürworterinnen, welche sich dem patriarchalen
Mönchssystem bedingungslos unterworfen haben.
2. Die radikalen Feministinnen, die es strikt ablehnen
und es bedingungslos verdammen.
3. Diejenigen Frauen, welche eine grundsätzliche Re-
form anstreben, um eine gleichberechtigte Partner-
schaft innerhalb der buddhistischen Lehre zu errei-
chen.
4. Die Feministinnen, die in das System eingedrungen
sind, um für sich und andere Frauen die im Tantris-
mus entwickelten Machtmethoden nutzbar zu ma-
chen, das heißt, die ein gynozentrisches Projekt ver
folgen.
Außerhalb dieser Gruppen steht wie ein Monolith eine
Persönlichkeit, welche von allen vieren hoch verehrt

673
und als Zeugin angerufen wird : Alexandra David Neel
(1868–1969). Die mutige Französin durchquerte Anfang
unseres Jahrhunderts unter den abenteuerlichsten Um-
ständen und illegal das tibetische Hochland. Sie selber
wurde von den Tibetern als ein weiblicher Lama aner-
kannt und als eine – wie sie selbst schreibt – Inkarnati-
on aus der »Rasse des Dschingis Khan« verehrt. (* zit. b.
Bishop, 1989, 229)
Als erste westliche Frau stand sie 1912 vor dem XIII
Dalai Lama. Trotz ihrer Faszination für Tibet und ihrer
tiefen Kenntnis der lamaistischen Kultur hat sie sich nie
ganz einfangen und verzaubern lassen. Als es zu einer
zweiten Audienz mit Seiner Heiligkeit kommen sollte,
sagte die Französin, Tochter eines calvinistischen Vaters
und einer katholischen Mutter : »Ich mag keine Päpste.
Ich liebe nicht den buddhistischen Katholizismus, über
den er herrscht. Alles an ihm ist affektiert, er ist weder
herzlich noch liebenswürdig.« (* Batchelor, 311)
Alexandra David Neel stand dem Lamaismus und
der tantrischen Lehre ebenso kritisch wie bewundernd
gegenüber. Sie war auch abgestoßen von den schmut-
zigen und entwürdigenden Verhältnissen, unter denen
die Menschen in Tibet leben mußten, und befürworte-
te deswegen die chinesische Invasion von 1951. Ande-
rerseits wurde sie vom tibetischen Buddhismus so stark
angesprochen, daß sie sich als eine seiner eifrigsten und
genialsten Studentinnen erwies. Ihr verdanken wir die
–, schärfsten Einblicke in die Schattenseite der lamaisti-
schen Seele. Heute ist die Autorin, die über 100 Jahre alt
wurde, zu einer Ikone des Feminismus geworden.

674
Sehen wir uns nun die oben genannten vier Positio-
nen von Frauen zum Lamaismus genauer an :
1. Die befürwortende Gruppierung kristallisierte sich
erst als Reaktion auf die drei anderen genannten Frau-
enpositionen heraus. Sie hat mit einer »feministischen«
Haltung ausschließlich eines gemein, daß sie es näm-
lich wagt, in religiösen Dingen den »Mund aufzuma-
chen«, was den tibetischen Frauen in früheren Zeiten
nur in sehr wenigen Fällen erlaubt war. Die Gruppe bil-
det sozusagen die weibliche Schutztruppe des patriarcha-
len Buddhismus. Zu ihnen zählen Autorinnen wie Anne
Klein, Carole Divine, Pema Dechen Gorap und ande-
re. Ihr Hauptargument gegen die Behauptung, die Frau
werde im Vajrayana unterdrückt, besteht darin, daß die
Lehre grundsätzlich sexuell neutral sei. Das Dharma sei
weder männlich noch weiblich, die Geschlechter wären
Erscheinungsformen in einer illusionären Welt. Karma
Lekshe Tsomo, eine buddhistische Nonne westlicher Her-
kunft, reagiert deswegen auf moderne radikalfeministi-
sche Strömungen mit den folgenden ablehnenden Wor-
ten : »Eine wachsende Zahl von Frauen und auch einige
Männer fühlen das Bedürfnis, die Erleuchtung mit ei-
ner weiblichen Art und Weise zu identifizieren. Ich leh-
ne die Vorstellung ab, daß die Erleuchtung überhaupt in
Geschlechterrollen katalogisiert und damit identifiziert
werden kann … Warum soll das Bewußtsein so inten-
siv mit einer Form verbunden werden, wie es die Geni-
talien sind ?« (* zit. b. Herrmann-Pfand, 11) Was die so-
ziale Lage der Frauen im alten Tibet betrifft, so verkün-
den die Autorinnen der ersten Gruppe –, hätten diese

675
im Vergleich mit den anderen asiatischen Ländern die
größten Freiheiten genossen.
2. Die Diskriminierung des weiblichen Geschlechts in
allen historischen Etappen des Buddhismus ist jedoch so
augenfällig, daß sie eine umfangreiche, nicht mehr über-
blickbare Literatur von feministischer Kritik hervorge-
bracht hat, die sehr genau und ungeschminkt das System
auf allen Ebenen demaskiert und anklagt. Für den frü-
hen Buddhismus hat vor allem Diana Y. Paul eine be-
deutende und fundierte Arbeit geleistet. Ihr Buch Wo-
men in Buddhism ist mittlerweile zu einem Standard-
werk geworden.
Der sexuelle Mißbrauch von Frauen in den modernen
buddhistischen Zentren des Westens wurde unter ande-
rem von der Amerikanerin Sandy Boucher bekannt ge-
macht. In vielen dieser feministischen Kritiken sind so-
ziale Argumente – auf der einen Seite eine androzentri-
sche Hierarchie, auf der anderen die unterdrückte Frau
– ebenso häufig zu finden wie theologische und philo-
sophische.
Die Punkte, welche die amerikanische Neoschama-
nin Starhawk gegen die Leidensthese des Buddhismus
anführt, erscheinen uns so wertvoll, daß wir sie aus-
führlich zitieren wollen. Starhawk sieht sich als Vertre-
terin der Hexenbewegung, als eine feministische Daki-
ni : »Die Hexen glauben nicht, wie die Erste Wahrheit des
Buddhismus, daß alles ›Leben Leiden ist‹. Im Gegenteil,
Leben ist ein wunderbares Ding. Vom Buddha wird er-
zählt, daß er diese Einsicht (über das Leiden) erhielt, als
er mit Alter, Krankheit und Tod konfrontiert wurde. In

676
der (Hexenbewegung) ist das Alter ein natürlicher und
hoch eingeschätzter Teil des Lebenszyklus, die Zeit der
größten Weisheit und des größten Verstehens. Krank-
heit natürlich verursacht Elend, aber es ist nicht etwas,
was unausweichlich erlitten werden muß. Die Praxis der
Hexen war immer verbunden mit den Heilkünsten, mit
Kräuterkunde und Hebammendienst. Noch ist der Tod zu
fürchten : Er ist nur die Auflösung der physischen Form,
die es dem Geist erlaubt, sich auf ein neues Leben vor-
zubereiten. Natürlich existiert Leiden im Leben – es ist
Teil eines Lernprozesses. Aber die Flucht vor dem Rad
der Geburt und des Todes ist keine optimale Heilung,
ebensowenig wie hara kiri die beste Medizin gegen Un-
terleibsschmerzen ist.« (* zit. b. Gross, 1993, 284)
Diese radikal-feministische Kritik erstreckt sich selbst-
verständlich auch auf den Vajrayana : Die zynische Ver-
wendung hilfloser Mädchen bei den sexualmagischen Ri-
tualen und die Ausnutzung patriarchaler Machtpositio-
nen von Seiten der tantrischen Gurus stehen im Zentrum
der »patriarchalen Verbrechen«. Aber die von uns im er-
sten Teil unserer Studie so ausführlich behandelte alche-
mistische Transformation weiblicher Energie in männ-
liche und das »tantrische Frauenopfer« sind bisher kein
Punkt der Anklage. Wir werden bald sehen, weshalb.
3. Zu der dritten »Reformpartei« zählen die Autorin-
nen Tsultrim Allione, Janice Willis, Joana Macy und Rita
M. Gross. Letztere hält es für möglich, daß sich aus der
Begegnung von Feminismus und Buddhismus eine neue
weltumspannende Vision entwickeln kann. So baut sie
auf den kritischen Arbeiten der radikalen Feministinnen

677
auf, ihr Ziel aber ist ein »post-patriarchaler Buddhismus«,
das heißt die Institutionalisierung der Geschlechter-
gleichheit innerhalb der buddhistischen Lehre. (* Gross,
1993, 221) Diese Reform soll nicht von außen an das Re-
ligionssystem herangetragen werden, sondern sich »im
Herzen des traditionellen Buddhismus, seinen Klöstern
und Erziehungsinstitutionen« durchsetzen. (* Gross, 1993,
241) Rita Gross sieht diese Verbindung mit den Frauen
als ein Jahrtausendwerk, welches die großen Etappen in
der Geschichte des Buddhismus fortsetzen soll.
Deswegen braucht sie für die Beschreibung ihrer Visi-
on keine geringere Metapher als das »Drehen des Rades«,
in Erinnerung an Buddhas erste Predigt in Benares, wo
er mit der Verkündigung der Vier edlen Wahrheiten das
»Rad der Lehre« in Gang setzte. Wenn man, wie das in
einigen buddhistischen Schulen üblich ist, als erste Dre-
hung das »Kleine Fahrzeug« (Hinayana, als zweite das
»Große Fahrzeug« (Mahayana) und als dritte den Tan-
trismus (Tantrayana) sieht, so könnte man mit Gross die
Verbindung von Buddhismus und Feminismus als das
»vierte Fahrzeug« oder die vierte Drehung des Rades be-
zeichnen. »Und mit jeder Drehung«, so die Autorin, »wer-
den wir eine zunehmend reichere und vollere Basis für die
Rekonstruktion eines androgynen ( !) Buddhismus ent-
decken.« (* Gross, 1993, 155) Viele der buddhistischen
Grundlehren über die Leerheit, über die verschiedenen
Energiekörper, über den zehnstufigen Erleuchtungsweg,
über Emanationsvorstellungen werden von ihr beibehal-
ten, können aber jetzt auch von Frauen befolgt werden.
Vor allem aber legt die Autorin das Schwergewicht auf die

678
ethischen Normen des Mayayana-Buddhismus und gibt
diesem eine familienorientierte Färbung : Mitgefühl mit
allen Wesen, also auch mit Frauen und Kindern, Verbin-
dung von Familienstrukturen mit der Sangha (buddhisti-
sche Gemeinschaft), Sakralisierung des Alltags, männli-
che Hilfestellung im Haushalt und ähnliche Vorstellungen,
die weniger aus dem Buddhismus als aus der gemäßigten
Frauenbewegung stammen.
Ebenso wie die Italienerin Tsultrim Allione sieht Gross
weiterhin ihre Aufgabe darin, vergessene Frauengestal-
ten in der Geschichte des Buddhismus ausfindig zu ma-
chen und ihnen in der Historiographie einen bedeuten-
den Platz einzuräumen. Texte wie die Therigatha, in der
Frauen schon zu Zeiten des Hinayana ihr Verhältnis
zur Lehre offen und freizügig behandelten, nimmt sie
als Beweis für eine starke weibliche Präsenz innerhalb
der buddhistischen Frühphase. Schuld am Verschweigen
»erleuchteter Frauen« seien nicht nur die Lamas, sondern
vor allem die westlichen Forscher, welche sich kaum um
die Existenz weiblicher Adepten gekümmert hätten.
Im buddhistischen Tantrismus sieht sie eine Technik,
um die Geschlechterpolarität zu überwinden, selbst-
verständlich in der Form der Gleichberechtigung. Man
kann freiweg sagen, daß sie den alchemistischen Prozeß,
mit dem die weibliche Energie während des tantrischen
Rituals abgesaugt wird, nicht verstanden hat. Wie die
männlichen Traditionalisten greift sie nach dem Bild ei-
ner Androgynität (nicht nach einer Gynandrie), welches
fälschlicher Weise als ein »geschlechtsneutraler« Zustand
befürwortet wird.

679
4. Es folgen viertens diejenigen Frauen, die die Ge-
schlechterthematik im Buddhismus ausschließlich zu ih-
ren Gunsten umkehren wollen. Dazu zählen die amerika-
nische Schriftstellerin Lynn Andrews, im gewissen Sin-
ne die Engländerin June Campbell, vor allem aber die
Amerikanerin Miranda Shaw. In ihrem Buch Passiona-
te Enlightment – Women in Tantric Buddhism spricht sie
offen von einer »gynozentrischen« Perspektive des Bud-
dhismus. (* Shaw, 71) Shaw steht deswegen an der Spitze
westlicher Frauen, die versuchen, die tantrische Macht-
lehre in ein feministisches Lehrgebäude zu transformie-
ren. In gleicher Absicht versieht June Campbell ihr kriti-
sches Buch Traveller in Space mit dem Untertitel : Auf der
Suche nach einer weiblichen Identität innerhalb des tibe-
tischen Buddhismus. Auch sie macht tantrische Prakti-
ken, welche sie als jahrelange Schülerin des Kagyü-Mei-
sters Kalu Rinpoche gelernt hat, für die Frauenbewegung
nutzbar. Ebenso spürt man in der Studie der deutschen
Tibetologin Adelheid Herrmann – Pfand über die Da-
kinis den Wunsch, weibliche Alternativen innerhalb des
tantrischen Musters aufzuspüren.
Von allen aber hat Miranda Shaw den radikalsten An-
satz. Wir werden uns deswegen auf sie konzentrieren. Je-
der muß bei der Lektüre ihres passionierten Buches den
Eindruck haben, daß es ihr um die Kodifizierung einer
mit dem Vajrayana rivalisierenden matriarchalen Religi-
on geht. Alle weiblichen Bilder, welche uns der Tantris-
mus liefert, werden als Machtsymbole der Göttin umge-
deutet. Was dabei herauskommt, ist ein umfassendes, von
einer weiblichen Übergottheit beherrschtes Weltbild. Er-

680
innern wir uns daran zurück, daß sich eine solche matri-
archale Schau von der Sicht eines androzentrischen Tan-
trikers nicht wesentlich zu unterscheiden braucht. Auch
er sieht ja den Weltenkörper als weiblich und erfährt die
Kräfte, welche das Universum leiten, als die Energien der
Göttin. Erst in der letzten Instanz will der Vajra-Meister
das ganze Sagen haben.
Deswegen dürfen die »tantrischen« Feministinnen
ohne Bedenken der Lamas in die Schatztruhe des Vaj­
rayana hineingreifen und die dort gelagerten weiblichen
Gottheiten hervorholen, beginnend mit der »Mutter aller
Buddhas«, der »Höchsten Weisheit«, der Göttin »Tara«
bis hin zu allen nur denkbaren Formen von Schreckens-
dakinis. Als nährende und schützende Mutter, als Not-
helferin und als Spenderin von Initiationen stehen diese
ehemals buddhistischen Frauengestalten augenscheinlich
im Zentrum eines neuen Kultes. Mit Recht kann Shaw
auf zahlreiche Fälle verweisen, in denen Frauen als Da-
kinis die Maha Siddhas in die Geheimnisse des Tantris-
mus einführten. Sie waren es, die ihre männlichen Schü-
ler mit magischen Fähigkeiten ausstatteten. Ihre Macht
übertraf, so lehrten uns die Legenden, bei weitem die
der Männer. Auch seien die Tantratexte ursprünglich
von Frauen verfaßt worden. Die Reihe der 84 offiziellen
Maha Siddhas (Großtantriker) enthalte immerhin 4 Frau-
en, von denen eine, Lakshminkara, als Begründerin ei-
ner eigenen Lehrtradition gelte. Auch in der späteren
Geschichte des Vajrayana stoße man immer wieder auf
»erleuchtete Frauen« : Die Yoginis Ni guma, Yeshe Tsho-
gyal, Ma geig und andere.

681
Als Beweis für ihre These von der Frauenpower im
buddhistischen Tantrismus wird von feministischer Sei-
te mit Vorliebe das Candamaharosana-Tantra mit seinen
Passagen angeführt, in denen sich der Mann völlig dem
weiblichen Diktat zu unterwerfen hat. Die anschließend
zitierte Hymne an die Göttin bleibt aber trotz der darin
geschilderten dienenden Haltung des Geliebten nur eine
Sequenz des tantrischen Umkehrspieles : Nicht die weib-
liche Gottheit, sondern der zentrale männliche Gott ist
auch in diesem Fall wie üblich der Sieger in der Gestalt
eines Gurus. Hier die Worte, welche die Göttin zu ih-
rem Partner spricht :

Setz meine Füße auf deine Schultern


und sehe mich von unten bis oben an.
Laß dein voll erwachtes Szepter (Penis)
die Öffnung im Zentrum des Lotus (Vagina) betreten.
Bewege dich hundert, tausend, hundert tausend Mal
in meinem dreiblättrigen Lotus
aus geschwollenem Fleisch.«
(* Shaw, 155, 156)

Shaw kommentiert dieses erotische Gedicht mit den fol-


genden vielsagenden Sätzen : »Diese Passage gibt wieder,
was wir als weiblichen Blick‹ oder ›gynozentrische Per-
spektive‹ bezeichnen können, denn sie beschreibt die
Verkörperlichung und die erotische Erfahrung von ei-
nem weiblichen Gesichtspunkt aus … (Der Mann) wird
angewiesen, den Dienst nicht zu beenden, bis die Frau
voll befriedigt ist. Nur dann darf er eine Pause einlegen,

682
um sich mit Nahrung und Wein zu beleben, nachdem er
die Frau bedient hat und sie selbstverständlich als erste
hat essen lassen. Selbstische Vergnügungssuche ist für
ihn kein Thema, denn er muß der Göttin dienen und
gefallen.« (* Shaw, 156) Das Candamaha-vojana-Tantra.
aber ist in Wahrheit einer zornvollen und sehr gewalt-
tätigen männlichen Gottheit gewidmet und unterschei-
det sich von anderen Texten allenfalls dadurch, daß der
Adept sich die völlige sexuelle Unterwerfung unter die
Frau als eine harte Übung auferlegt hat, um dann nach
dem »Gesetz der Umkehrung« einen um so größeren
Triumphsieg über das Weibliche und die eigenen Lei-
denschaften zu feiern. Auch die Domina-Rolle der Frau,
auf die sich Shaw so stolz beruft, muß als ein ephemeres
Moment auf dem männlichen Weg zur Erleuchtung ge-
wertet werden.
Doch Miranda Shaw sieht das anders. Für sie waren es
Frauen, welche den Tantrismus erfunden und eingeführt
haben. Sie waren schon immer die Träger der Geheim-
nisse. Deswegen muß an den Tantras im kommenden
»Zeitalter der Gynandrie« nichts verändert werden, au-
ßer daß die Texte erneut die Vormachtstellung der Frau
fundamentieren, damit sie ihr einstiges tantrisches Lehr-
amt wieder antreten und erneut das entglittene Steuer-
rad ergreifen können. Von nun an hat der Mann wieder
zu gehorchen : »Die tantrischen Texte«, so Shaw, »spezifi-
zieren, was ein Mann zu tun hat, um Anklang zu finden,
um zu gefallen und um die Aufmerksamkeit einer Frau
zu gewinnen, aber es gibt keine entsprechenden Forde-
rungen, welche eine Frau zu erfüllen hätte.« (* Shaw, 70)

683
An einer anderen Stelle lesen wir : »Es steht der Frau frei,
in bestimmten rituellen Kontexten auch ihren männli-
chen Partner als eine Gottheit zu sehen, aber diese Gött-
lichkeit trägt nicht das gleiche symbolische Gewicht. Sie
(die Frau) ist nicht dazu aufgefordert, auf seine Göttlich-
keit mit irgendeiner speziellen Ehrerbietung, Achtung
oder demütigen Unterwerfung zu antworten oder ihm
in der gleichen Weise Dienste zu erweisen, wie es von
ihm verlangt wird, ihr zu dienen.« (* Shaw, 47) Anstelle
des absoluten Gottes betritt nun die absolute Göttin die
kosmische Bühne und ergreift alleine das langersehnte
Szepter der Weltenherrschaft.
Solche feministischen Annäherungen an den Vajraya-
na-Buddhismus erweisen sich jedoch bei näherer Hinsicht
als ein Hineintappen in eine gut getarnte Falle. Gerade
in dem Augenblick, in dem die emanzipierte, moderne
Frau glaubte, sich aus den Fesseln des patriarchalen Sy-
stems befreit zu haben, verstrickt sie sich noch mehr dar-
in, ohne es zu merken. Die Ursachen hierfür finden wir
im tantrischen »Gesetz der Umkehrung«. Es liegt – wie
wir wissen – in der Logik dieses Gesetzes, daß die Yogi-
ni vor ihrer Bezwingung und Beherrschung durch den
Guru zu einer Göttin erhöht werden muß und daß der
Vajra-Meister keineswegs davor zurückschrecken darf,
wenn sie ihm in einer aggressiven und wütenden Ge-
stalt entgegentritt. Im Gegenteil, er ist – nimmt er das
»Gesetz der Umkehrung« ernst – geradezu verpflichtet,
das Weibliche »anzuzünden«, oder besser noch, zur Ex-
plosion zu bringen.
Die hysterischen Schreckensdakinis bei den Ritualen

684
sind nur einer der Beweise für die »Entflammung« weib-
licher Emotionen während der Initiationen. Bei unserer
Analyse des weiblichen inneren Feuers (der Candali) ha-
ben wir als weiteres Beispiel gezeigt, wie die vom Yogi
entzündete »Feuerfrau« in radikaler Konfrontation zu
ihm (der sie selber entfacht hat) steht, da sie ja alle seine
körperlichen Aggregate verbrennen soll. Auf der Astral-
ebene benutzt der Tantra-Meister das ebenfalls weibli-
che »Weltuntergangsfeuer« (Kalagni), um den Kosmos
in Schutt und Asche zu legen. Das aggressiv Weibliche,
welches sich gesellschaftlich in der Form eines radika-
len gynozentrischen Feminismus ausdrücken kann, ist
deswegen Teil des tantrischen Projekts. Wer repräsentiert
eine flammende, zornvolle, gefährliche Göttin besser als
eine Feministin, die sich wütend gegen die Grundprin-
zipien der Lehre (Dharma) wendet ?
Wenn wir uns die feministische Gier nach Feuer als ei-
nem Element der Macht bei einer so exponierten Gestalt
wie der amerikanischen Kulturforscherin Mary Daly an-
sehen, dann mag man sich die Frage stellen, ob solche ra-
dikalen Frauen nicht das Geschäft der tibetischen Yogis
machen und von diesen überlistet wurden. Daly fordert
für die neuen Frauen geradezu eine »pyrogenetische Ek-
stase« und ruft ihren Genossinnen zu : »Wütend, rasend
begeben wir uns an die Aufgabe des pyrognomischen
Be-Zeichnens der Tugenden : Wir entzünden/entfachen
die Feuer leidenschaftlicher Tugenden und sengen und
brennen die dämonischen Fesseln hinweg, die uns im
domestizierten Staat/Status niederhalten. So setzen wir
unsere eigenen Dämonen/Musen/Gezeitenhaften Kräf-

685
te der Schöpfung frei … vulkanische Kräfte werden ent-
pfropft, die Wut der Erde wird zusammen mit der uns-
rigen freigesetzt, Lebens-Lust sprudelt heraus wie Lava
und belebt das Ödland und die Welt neu.« (* Daly, 286)
Eine solche Haltung paßt sich exakt in die patriarchale
Strategie einer feurigen Weltvernichtung ein, wie wir sie
im buddhistischen Kalachakra-Tantra ebenso wie in der
christlichen Johannesapokalypse finden. In ihrem blin-
den Machtdrang setzen die »pyromanischen« Femini-
stinnen die Mutter Erde, welche sie zu retten vorgeben,
ebenfalls in Brand. Somit erfüllen sie die apokalypti-
sche Aufgabe der mythischen Weltuntergangsstute Indi-
ens, aus deren Nüstern das Endzeitfeuer (Kalagni) aus-
strömt und die aus den Tiefen des Ozeans hervorsteigt.
Ungewollt sind sie deswegen Schachfiguren im kosmi-
schen Spiel des werdenden ADI BUDDHA.
Erinnern wir uns an eine Aussage Giordano Brunos
über einen Grundsatz des Manipulators : Derjenige ist
am leichtesten zu manipulieren, der glaubt, seine eige-
nen egomanischen Interessen zu vertreten, während er
in Wahrheit das Instrument eines Magiers ist und des-
sen Wünsche erfüllt. Das ist der »Trick« (Upaya), mit dem
der Yogi das furchterregende Weibliche, die »böse Mut-
ter« und die dunkle Kali verblendet. Je mehr sie mit ihren
scharfen Zähnen fletschen, um so attraktiver werden sie
für den Tantra-Meister. Gemäß dem »Gesetz der Umkeh-
rung« spielen sie eine notwendige dramaturgische Szene
auf der tantrischen Bühne. Als magische Regisseure sind
die patriarchalen Yogis nicht nur auf einen Angriff des
radikalen Feminismus vorbereitet, sondern haben ihn zu

686
einem Moment der eigenen androzentrischen Entwick-
lung gemacht. Vielleicht ist das der Grund, weshalb Mi-
randa Shaw mit ausdrücklicher Erlaubnis des XIV Dalai
Lama ihre Studien in Dharamsala betreiben durfte.
Es gibt innerliche und äußerliche Gründe für diese
unbewußte, aber wirksame Selbstzerstörung des radi-
kalen Feminismus. Äußerlich sehen wir, wie die Femi-
nistinnen in der Konkurrenz zum Patriarchat nach dem
Element Feuer greifen, das auch von den Anhängerin-
nen der Großen Göttin mit dem Begriff »Macht« syn-
onym gesetzt wird. Das Element Wasser als das weibli-
che Pendant zum männlichen Feuer spielt in den Visio-
nen Dalys und Shaws eine völlig untergeordnete Rolle.
Somit wird durch die feurige Wut dieser Frauen dieje-
nige Kraft potenziert, unter der die Erde eh schon leidet.
Avalokiteshvara und Kalachakra sind – wie wir gezeigt
haben – Feuergottheiten, sie ernähren sich also von Feu-
er, auch wenn oder gerade weil dies von »brennenden«
Frauen entfacht wird.
Im Inneren liegt die Ursache für die feministische
Selbstvernichtung in der unreflektierten Übernahme
der tantrischen Physiologie von Seiten der Frauen. Wenn
solche Frauen einen Yoga praktizieren, wie es Miranda
Shaw empfiehlt, dann bedienen sie sich genau derselben
Techniken, welche auch die Männer benutzen, und ge-
hen von denselben energetischen Bedingungen in ihrem
Körper aus. Sie beginnen unwissend damit, ihren weib-
lichen Leib zu zerstören und ihn durch eine männliche,
nicht kompatible Struktur zu ersetzen. Das ist ganz im
Sinne der budddhistischen Doktrin. Dank der androzen-

687
trischen Rituale wird ihre Weiblichkeit aufgelöst, und sie
werden energetisch zu einem Mann.
Ob nun die Yogis mit ihren »Tricks« (Upaya) wirklich
und endgültig die Kontrolle über die Frauen aufrechter-
halten können – das ist wiederum eine andere Frage, die
ausschließlich von ihren magischen Fähigkeiten abhängt,
über die wir uns hier kein Urteil bilden möchten. Auf die
hohen Gefahren ihrer Experimente wird ja in den tan-
trischen Texten immer wieder hingewiesen. Es besteht
jederzeit die Möglichkeit, daß die »Töchter Maras« das
trickreiche System durchschauen und die Lamas in die
Hölle stürzen. Srinmo, die gefesselte Erdmutter, mag sich
eines Tages befreien und sich an ihren Peinigern grau-
sam rächen, denn mittlerweile ist auch sie zu einem zen-
tralen Symbol der gynozentrischen Bewegung geworden.
Ihre Entfesselung gilt als ein feministisches Programm :
»Man verspürt ein erhebendes Gefühl«, lesen wir bei Ja-
net Gyatso, »in der Beschreibung der massiven Dämo-
nin. Sie erinnert die Tibeter an ihre stolzen und wilden
Wurzeln in der Vergangenheit. Sie hat auch vieles den ti-
betischen Frauen zu sagen, die anspruchsvoller als ihre
asiatischen Nachbarn mit ihrer Unabhängigkeit sind …
Srinmo wurde angenagelt und bewegungslos gemacht,
aber sie droht beim geringsten Nachlassen der Wach-
samkeit und bei jeglicher Schwächung der Zivilisation
loszubrechen« (* Janet Gyatso, 50)
Weiter oben haben wir Palden Lhamo, die Schutzgöt-
tin des XIV Dalai Lama, mit der ägyptischen Sachmet
verglichen, die den feurigen Zorn des Pharao darstellt.
Von Sachmet ist die Geschichte im Umlauf, daß sie sich

688
verselbständigt und ihre Gewalt gegen den eigenen Va-
ter, den Sonnengott, wendet. (* Assmann, 99) Solche re-
bellischen Vorstellungen findet man tatsächlich, wie wir
an dem folgenden Beispiel zeigen können, in der okkul-
ten Szene des Feminismus.

Die gyonozentrische »Rückeroberung« des Schneelandes

Recht anschaulich, wenn auch etwas naiv, schildert ein


Roman der amerikanischen Autorin Lynn Andrews mit
dem Titel Der Geist der vier Winde die feministische
Rückeroberung Tibets und seiner esoterischen Geheim-
nisse : Die Protagonistinnen ihrer Erzählung bilden eine
Gruppe moderner Heilerinnen aus dem Westen. Die
meisten von ihnen wurden durch die indianische Me-
dizinfrau Agnes Whistling Elk initiiert. Nach der Ein-
weihung durften sie sich »Machthaberinnen« nennen.
Mit dem anspruchsvollen Titel war die Verpflichtung
verbunden, alle Heiligen Plätze unseres Planeten zu be-
suchen, die in Vorzeiten matriarchale Kultstätten waren,
um sie durch weibliche Ritualmagie zurückzuerobern.
Ihr Recht, die Geheimnisse des Schneelandes zu erfor-
schen, leiten die »Machthaberinnen« aus dessen matri-
archaler Vorgeschichte ab : »Vor langer, langer Zeit, viel-
leicht sogar vor vierzigtausend Jahren ( !), folgten die
Völker der asiatischen Länder der Linie der Frauen. Wir
lebten in einem Matriarchat. Und was man heute Tantra
nennt, übten ursprünglich die Frauen aus. Es handelte
sich um Tantrika-Frauen. Man nannte sie Vratyas oder

689
die Machthaberinnen. Diese Frauen gaben ihr Wissen
an die folgenden Generationen von Schülerinnen oder
Töchtern weiter.« (* Andrews, 47) Es ist schon Jahrtau-
sende her, daß die ersten aggressiven männlichen Krie-
gerhorden damit begannen, die Matriarchinnen zu be-
kämpfen, zu unterdrücken und ihre Lehren zu verfäl-
schen. »Das ganze Wesen des Tantra wurde verändert, so
daß es der neuen Gedankenform, oder auch der Religion
der Patriarchen, angepaßt wurde.« (* Andrews, 48) Erst
am Ende unseres Jahrhunderts – so die Autorin – sei der
Zeitpunkt gekommen, daß sich die Frauen an ihre längst
vergessenen Riten zurückerinnern und erneut ihre Shak-
ti-Energien entfesseln.
Andrews Buch schildert nun, wie die »weisen Frauen«
in ein geheimnisvolles Tal in Tibet eindringen und dort
einen »uralten Geheimtext« entdecken, der als matriar-
chales terma (Bücherschatz) die Jahrtausende überdau-
ert hat. In ihm werden der bevorstehende Untergang des
Patriarchats sowie die Errichtung der gynozentrischen
Weltherrschaft prophezeit.
Das Weltbild der feministischen Autorin ersehöpft sich
wesentlich in einer unkomplizierten Umkehr der tibe-
tischen Geheimlehren : Wo früher »Mann« zu lesen war,
steht jetzt »Frau« geschrieben, wo vorher ein Gott ima-
giniert wurde, erscheint jetzt eine Göttin. Die verschie-
denen Episoden der tantrischen Ritualistik werden nun
von Frauen unter der Aufsicht von Frauen durchgeführt.
So wie der Yogi seine »innere Frau« hervorbringt, so pro-
duziert die Machthaberin ihren »inneren Geistmann«,
ihr männliches alter ego. Ziel der spirituellen Praktiken

690
ist in umgekehrter Analogie zum männlichen Tantra-
yana die Herstellung einer gynandrischen Weltenherr-
scherin. Diese erscheint am Ende des Textes als rächen-
des Flammenwesen, »wie ein großer weißer Erzengel mit
einem Feuerschwert in der Hand. Ich blinzelte und konn-
te nicht glauben, was ich da sah«, ruft die Romanheldin
angesichts der Vision aus. »Sie ( !) sah weder männlich
noch weiblich aus.« (* Andrews, 242)
Der tantrische Dualismus, das Denken in Feindbildern
und die Ausschaltung des anderen Geschlechts, um die
eigene Machtsphäre zu potenzieren, charakterisieren die
Religion des kommenden Frauenreichs ebenso, wie sie
vorher den tibetischen Buddhismus charakterisiert haben.
Das Urteil der »Machthaberinnen« über den Verlauf der
menschlichen Geschichte läßt keinen Zweifel an ihrem
Anspruch auf Alleinherrschaft übrig : »Das Patriarchat,
die männlich orientierten Systeme, haben ihre Chance
gehabt. Sie hatten wirklich eine Chance, und sie wissen,
daß sie sie verpaßt haben. Viel von der schwierigen En-
ergie, die Du im Augenblick erfährst, ist ein Todestanz
… Allmählich erlangen auch Frauen in der Gesellschaft
Macht. Wir sind dabei, das weibliche Bewußtsein wie-
der einzusetzen. Aber zur Zeit müssen wir besonders
vorsichtig und trickreich sein. Denk ja nicht, daß Dir
Macht und Freiheit auf einem silbernen Tablett gereicht
werden.« (* Andrews, 187, 188)
Sind solche feministischen Visionen von der Rücker-
oberung buddhistischer Hoheitsgebiete als reine Spekula-
tion abzutun ? Wenn wir uns den Erfolg der Sektengrün-
derin Suma Ching Wai ansehen, dann haben wir ein an-

691
schauliches Beispiel dafür, wie die »Große Göttin« in die
sakrale Sphäre des Buddha eindringt. Die Vietnamesin
hat mittlerweile nach Aussage der Süddeutschen Zeitung
zwei Millionen ( !) Anhänger. Sie sieht sich unter anderem
als eine Inkarnation der Kuan Yin und steht deswegen –
nach unserer Analyse – in Konkurrenz zum männlichen
Buddha. »Manche Leute sagen Buddha zu mir«, erfahren
wir aus ihrem Munde. »Aber im Ernst – seh’ ich aus wie
der ? Wie Buddha ? Habe keine Glatze, bin nicht so dick,
hm ? Ich seh’ besser aus. Viel besser, oder nicht ?« (* Süd-
deutsche Zeitung Magazin, 29. 05. 1998, 32)

Der XIV Dalai Lama und die Frauenfrage

Das Verhältnis des XIV Dalai Lama zum weiblichen Ge-


schlecht wirkt nach außen hin herzlich, positiv und un-
verklemmt. Wir müssen – wenn wir die tantrischen Göt-
tinnen auslassen – drei Kategorien von Frauen in seinem
Umfeld unterscheiden :
1. Die buddhistischen Nonnen
2. Die Exiltibeterinnen
3. Die westlichen Laienfrauen.

Die Nonnenfrage

Wir haben am Anfang unserer Studie die höchst misogy-


nen Gefühle beschrieben, die Shakyamuni Buddha den
ordinierten Buddhistinnen entgegenbrachte. Mit einer

692
gänzlich anderen Stimmung gelang es 1987 auf der er-
sten internationalen Konferenz Buddhistischer Nonnen
in Bodhgaya (Indien) dem XIV Dalai Lama, zum Hoff-
nungsträger aller dort versammelten Frauen zu werden.
Der Kundun war es, und nicht eine Nonne (Bhiksuni),
der mit seiner Hauptrede das Treffen einleitete. Es hat-
te für ihn sicher eine tiefe symbolisch-tantrische Bedeu-
tung, daß er seine Belehrung innerhalb des örtlichen
Kalachakra-Tempels abhielt. Dort, im höchsten Heilig-
tum des Zeitgottes, fanden auch die Nachfolgeveranstal-
tungen der Nonnen statt, die jedesmal mit einer Grup-
penmeditation begannen. Bemerkenswert ist weiterhin,
daß sich auf der Konferenz nicht nur Vertreterinnen des
tibetischen Buddhismus, sondern auch die Nonnen an-
derer buddhistischer Schulen an den Gottkönig als den
Fürsprecher für ihre Rechte wandten. 64
In seiner Rede begrüßte der Kundun die Initiative der
Frauen. Zuerst kam er auf die hohe moralische und emo-
tionale Bedeutung der Mutter für die menschliche Ge-
sellschaft zu sprechen. Dann unterstellte er, daß nach
den Grundsätzen des Mahayana-Buddhismus kein Un-
terschied zwischen den Geschlechtern gemacht werden
dürfe und daß nach dem Tantrayana der Frau große Ach-
tung entgegengebracht werden müsse. Der einzige Satz,
mit dem der Kundun in seiner Rede den Tantrismus er-
wähnte, lautet : »Es gilt zum Beispiel als Verstoß, wenn

64 In Bodhgaya gründeten die dort anwesenden Nonnen die so-


genannte Sakyadhita-Bewegung (»Töchrer des Buddha«). Diese
hat mittlerweile zu einer internationalen Organisation geführt,
in der Frauen aus über 26 Ländern vertreten sind.

693
sich Tantra-Praktizierende bei ihrer gewohnten Aus-
übung des Yoga (in der Meditation) nicht vor Frauen
verbeugen oder sie umschreiten.« (* Lekshe Tsomo, 34)
Von realen Frauen (Karma Mudras), die bei den sexual-
magischen Praktken teilnehmen, von der zeremoniellen
Erhöhung der Frau durch den Lama, um anschließend
ihre Gynergie zu absorbieren, vom »tantrischen Frauen-
opfer« – davon haben die anwesenden Buddhistinnen
wohl kaum etwas gewußt.
Der Dalai Lama setzte seine Rede fort, indem er die
Existenz mehrerer historischer Yoginis in der indischen
und tibetischen Tradition betonte, um zu beweisen, daß
der Buddhismus den Frauen immer schon gleichberech-
tigte Chancen eingeräumt habe. Zum Schluß verwies er
darauf, daß das negative Verhältnis zum weiblichen Ge-
schlecht, das wir in so vielen buddhistischen Texten fän-
den, ausschließlich sozial bedingt sei.
Als es dann zu der entscheidenden Forderung kam,
Frauen innerhalb der buddhistischen Sekten als Linien-
halterinnen einzuweihen, so daß sie berechtigt seien, als
weibliche Gurus Schüler und Schülerinnen zu initiieren,
verwies der Kundun mit Bedauern darauf, daß eine sol-
che Bhiksuni-Überlieferung in Tibet nicht bestehe. Da es
sie jedoch in China (Hongkong und Taiwan) gäbe, wäre
es sinnvoll, die Regeln der dortigen Orden zu übersetzen
und sie unter tibetischen Nonnen zu verbreiten. Auf die
Frage »Wird man sie (dann) offiziell als Bhiksunis (Leh-
rerinnen) anerkennen ?« anwortete er ausweichend. »In
erster Linie hängt die religiöse Praxis von der eigenen In-
itiative ab. Es ist eine persönliche Angelegenheit. Ob nun

694
die volle Ordination offiziell anerkannt wird oder nicht,
so ist doch auf alle Fälle eine Art von gesellschaftlicher
Anerkennung in der Gemeinschaft vorhanden, was äu-
ßerst wichtig ist.« (* Lekshe Tsoma, 246) Er selber aber
könne eine solche Tradition nicht begründen, da er sich
an die traditionellen Grundsätze seines Ordens (die Mu-
lasarvastivada-Schule) gebunden sähe, welche ihm das
verböten, aber er werde sein Bestes versuchen und ein
Zusammentreffen verschiedener Schulen unterstützen,
um die Bhiksuni-Frage zu diskutieren. 10 Jahre später
in Taiwan, wo das »chinesische System« weit verbreitet
ist, war zwar in dieser Frage noch nichts Konkretes ge-
schehen, aber der Kundun hatte wiederum die progres-
sivsten Worte bereit : »Ich hoffe«, sagte er zu seinen Zu-
hörern, »daß die Sekten das (Thema) diskutieren und
einen Konsensus erreichen werden, die Tradition außer
Kraft zu setzen. Denn Frauen und Männer sind gleich
und können beide auf einer gleichen Basis Buddhas Leh-
ren empfangen.« (* Tibetan Review, Mai 1997, 13)
Große Worte – denn die Reformierung der von Män-
nern diktierten repressiven Nonnentradition ist inner-
halb des Lamaismus äußerst umstritten. Aber selbst wenn
die Bhiksunis in Zukunft entsprechend dem chinesischen
Modell Rituale durchführen dürfen und als Lehrerinnen
anerkannt werden, so sind damit keineswegs die tantri-
schen Riten angesprochen, die es innerhalb des chinesi-
schen Systems überhaupt nicht gibt und die ja die Dis-
kriminierung der Frau geradezu als ein Kultmysterium
feiern.

695
Die Exiltibeterinnen

Was ihre soziale und politische Stellung anbelangt, so hat


sich bei den Exiltibeterinnen sicher vieles in den letzten
35 Jahren geändert. Ihnen steht zum Beispiel das aktive
und passive Wahlrecht zu. Dennoch bilden Klagen über
traditionelle Unterdrückungsmechanismen in den Fa-
milien ein großes Thema, welches nicht selten dank der
Unterstützung westlicher Frauenrechtlerinnen an die
Öffentlichkeit dringt. Der Kundun spielt jedoch auch in
diesem Fall den Reformator, und wir glauben durchaus,
daß es ihm dabei sehr ernst ist, denn er hat seit vielen
Jahren die Hingabefähigkeit, die Geschicklichkeit und
den Mut vieler Frauen fur seine Anliegen erfahren dür-
fen. Alle Exiltibeterinnen werden vom Kundun ermu-
tigt, sich an den Staatsgeschäften zu beteiligen. Auch die
in sozialen Belangen äußerst aktive Tibetische Frauen-
vereinigung (Tibetan Women’s Association) wurde mit
seiner Förderung gegründet.
Trotz dieser nach außen hin günstigen Bedingungen
realisiert sich der emanzipatorische Fortschritt nur sehr
langsam. Zum Beispiel konnten die drei festen Sitze, die
im Exilparlament für Frauen vorgesehen waren, lange
Zeit nicht besetzt werden, einfach weil es keine Kandi-
datinnen gab. (Es gibt 130 000 Exiltibeter.) Das hat sich
mittlerweile etwas verbessert. 1990 veranlaßte der Kun-
dun seine Schwester Jetsun Pema, als erste Frau ein wich-
tiges Amt in der Regierung zu übernehmen. 1996 wur-
den acht Frauen in die Volksvertretung gewählt.
Manchmal bricht innerhalb der exiltibetischen Com-

696
munity die Frauenfrage unter dem Einfluß des westlichen
Feminismus mit aller Schärfe hervor. Man konnte aber
solche Eruptionen immer wieder durch zwei Argumente
mit Erfolg abschneiden und im Sande verlaufen lassen :
1. Die Frauenfrage ist sekundärer Natur und zerstört die
nationale Front, die gegenüber den Chinesen – koste
es was es wolle – aufrechterhalten werden muß. Dar-
aus folgt : Die Frauenfrage ist ein Thema, das erst nach
der Befreiung Tibets vom chinesischen Joch Aktuali-
tät erhält.
2. Im Exil sei es die Hauptaufgabe der Frauen, durch die
Produktion von Kindern das Überleben der vom Aus-
sterben bedrohten tibetischen Rasse zu garantieren.

Die Begegnung des Kunduns mit dem


westlichen Feminismus

Im Westen ist der XIV Dalai Lama ständig mit Eman-


zipationsthemen konfrontiert, zumal nicht wenige Bud-
dhistinnen ursprünglich aus dem feministischen La-
ger stammen oder später – die Welle hat erst begonnen
– dorthin hinüberwechselten. Wie in allen Bereichen
des modernen Lebens gibt sich der Gottkönig auch hier
weltmännisch aufgeschlossen, liberal und in letzter Zeit
sogar verbalrevolutionär. Als 1993 kritische Stimmen
laut wurden, die das hemmungslose exzessive und ent-
würdigende Sexualverhalten mehrerer Lamas anklag-
ten, nahm er dies mit ernster Miene entgegen und ver-
sprach, daß alle Fälle ernsthaft geprüft würden. Im sel-

697
ben Jahr traf sich unter der Leitung von Jack Kornfield
eine Gruppe von zwei Dutzend westlicher Lehrer und
besprach mit Seiner Heiligkeit das mittlerweile immer
prekärer werdende Thema »sexueller Mißbrauch durch
tibetische Gurus«. Der Kundun sagte den Amerikanern :
»Laßt immer die Leute wissen, wenn die Dinge falsch
laufen. Bringt sie selbst in die Zeitungen, wenn es nötig
ist.« (* Lattin – ›Thu Nov 10 22 :57 :55 PST 1994‹)
1983, auf einem Kongreß in Alpach/Österreich, geriet
Seine Heiligkeit unter starken feministischen Druck und
wurde von den anwesenden Frauen scharf angegriffen.
Eine der Teilnehmerinnen überforderte ihn völlig mit
dem Satz : »Ich bin sehr überrascht, daß heute keine Frau
auf der Bühne sitzt, und ich hätte sehr gerne wenigstens
eine Frau dort oben sitzen gesehen, und ich habe das Ge-
fühl, daß der Grund dafür, daß es keine weiblichen Da-
lai Lamas gibt, ganz einfach der ist, daß man ihnen nicht
genügend Platz einräumt.« (* Kakuska, 61) Eine andere
Teilnehmerin fauchte ihn aus dem gleichen Grunde und
auf demselben Treffen als »Dalai Lama, His Phoninessl«
(»Seine Scheinheiligkeit«) an. (* Kakuska, 60)
Aus solchen Konfrontationen, von denen es sicher An-
fang der 80er Jahre einige gab, hat der Kundun schnell
gelernt. Schmunzelnd bezeichnete er zum Beispiel 1996
in einem Interview die Göttin Tara als die »erste Femi-
nistin des Buddhismus«. (* Dalai Lama XIV, 1996 II, 76)
Auf die Frage, weshalb Shakyamuni die Frauen so miß-
achtet habe, anwortete er : »2500 Jahre vorher, als der
Buddha in Indien lebte, zog er die Männer vor. Wür-
de er heute in Europa als ein blonder Mann leben, wür-

698
de er seine Vorzüge vielleicht den Frauen geschenkt ha-
ben.« (* Tibetan Review, März 1988, 17) Seine Heiligkeit
geht jetzt sogar soweit, die Inkarnation eines zukünfti-
gen Dalai Lamas in der Gestalt einer Frau für möglich
zu halten. »In der Theorie gibt es nichts dagegen einzu-
wenden.« (* Tricycle, Vol. V, No. 1, 1995, p. 39 ; siehe auch
Dalai Lama XIV, 1996 II, 99) 1997 prophezeite er sogar
enigmatisch, daß er demnächst in weiblicher Gestalt er-
scheinen werde : »Der nächste Dalai Lama könnte auch
ein Mädchen sein.« (* 27. 06. 1995 – ‹thenet.ch/tages.an-
zeiger/fa270695/welt1.htm›)
Solche charmanten Schmeicheleien gegenüber dem
weiblichen Geschlecht müssen wir nach unserer Ana-
lyse des Tantrismus im geringsten Fall als eine unver-
bindliche, wenn auch höchst einträgliche Schönmalerei
ansehen. Sie sind aber eher eine bewußt eingesetzte Ma-
nipulation, um von den Ungeheuerlichkeiten des tantri-
schen Ritualwesens abzulenken. Vielleicht sind sie selber
eine Methode (Upaya), um sich die »Gynergie« der char-
mierten Frauen anzueignen. So etwas braucht ja nicht
nur durch den Sexualakt zu geschehen. In den niederen
Tantras wird beschrieben, wie sich der Yogi alleine schon
durch ein Lächeln, einen erotischen Blick oder eine zarte
Berührung das weibliche »Elixier« verschaffen kann.
Daß der Dalai Lama ständig charmante Augenkontak-
te mit Frauen aus seiner Zuhörerschaft herstellt, ist schon
vielen, die ein Teaching von ihm besucht haben, aufge-
fallen und wird tatsächlich im Internet diskutiert : »Es
ist wohl möglich«, schreibt dort Richard P. Hayes über
die »Flirts« des Kunduns, »daß er bewußt eine Anstren-

699
gung macht, den Augenkontakt mit Frauen herzustel-
len, um deren Selbstbewußtsein und deren Selbstwert-
gefühl … aufzubauen. Es ist ebenfalls möglich, daß er
unbewußt die Gesichter der Frauen mit seinen Blicken
abtastet, weil er sie attraktiv findet. Und es kann auch
sein, daß er Frauen attraktiv findet, weil sie irgendwie sei-
nen Anima-Komplex auslösen.« (* 25. 03. 1998 – ‹rhayes@
wilson.lan.mcgill.ca›) Hayes hat mit seinem letzten Satz
recht, wenn er die weibliche Anima mit der tantrischen
Maha Mudra (der »inneren Frau«) gleichsetzt. Mit sei-
nen Flirts verzaubert der Kundun die Frauen und trinkt
gleichzeitig ihre »Gynergie«.
Nur wenn es zu einer grundsätzlichen Absage an die
traditionellen, tantrischen Mysterien käme, würde sich
die Rolle der Frau im sakralen Zentrum des tibetischen
Buddhismus ändern – das haben wir versucht, im ersten
Teil unseres Buches deutlich zu machen. Aber wir haben
bisher nicht den geringsten Hinweis dafür gefunden, daß
der Kundun in irgendeiner Weise seine androzentrische
Tradition, die im Kern in der Opferung des Weiblichen
besteht, aufkündigen will.
Dennoch gelingt es ihm, erstaunlicherweise selbst bei
kritischen Feministinnen, den Eindruck zu erwecken, er
sei im Wesenskern ein Reformator, der sich bereitwillig
modernen emanzipatorischen Einflüssen öffne. Es käme
bisher nur deswegen nicht zu den versprochenen Verän-
derungen, weil ihm als dem Opfer einer traditionellen
Umgebung die Hände gebunden seien. (* Gross, 35) Die-
se fromme Wunschvorstellung seitens der Frauenbewe-
gung beweist nichts mehr als die Faszination, die der gro-

700
ße »Manipulator des Eros« auf sein weibliches Publikum
ausübt. Seine charmante Magie erlaubt es ihm mittlerwei-
le, in den verschiedensten Ländern der Welt ein ganzes
Heer von Frauen für den tibetischen Buddhismus und
für seine Tibetpolitik zu begeistern und einzusetzen.

Das »Ganachakra von Hollywood«

Locker und unbekümmert, ausgestattet mit dem gewis-


sen spirituellen Sex Appeal, genießt der Kundun alle sei-
ne Begegnungen mit westlichen Frauen. Der »bescheide-
ne Mönch« aus Dharamsala zählt – das wird durch die
Weltpresse bestätigt – zu den größten Charmeuren un-
ter den aktuellen Politikern und Kirchenfürsten. »Jede
Frau«, schreiben Hicks und Chögyam in ihrer Dalai
Lama-Biographie, »der einmal das Glück zuteil gewor-
den ist, in Audienz von ihm empfangen zu werden, weiß
davon zu berichten, welch charmanter Gastgeber er ist.«
(* Hicks, 92) Da hatte Alexander David Neel von seiner
vorangegangenen Inkarnation, dem XIII Dalai Lama,
den sie als steif, machtbesessen und herzlos beschrieb,
eine ganz andere Meinung.
So wie ein großer Filmstar von begeisterten Fans um-
schwärmt ist, so sammelt der Dalai Lama – nur eine Stu-
fe höher – begeisterte weibliche und männliche Filmstars
um sich. Der Anteil weltberühmter Schauspielerinnen
und Sängerinnen in seinem »Gefolge« ist mittlerweile
beachtlich angewachsen. Unter ihnen befinden sich vie-
le der bekanntesten Gesichter : Sharon Stone, Anja Kru-

701
se, Urna Thurman, Christine Kaufmann, Sophie Mar-
ceau, Tina Turner, Doris Dörrie, Koo Stark, Goldie Hawn,
Meg Ryan, Shirley MacLaine und manche andere zäh-
len noch dazu. »Selbst Madonna hat sich schon spirituell
geoutet«, sinniert der Spiegel. »Das ›Material Girl‹ dem-
nächst womöglich eine Tibet-Schwester ?« (* Der Spiegel,
16/1998, 109) »In Hollywood wird der Tibet-Führer der-
zeit wie ein Gott verehrt«, schreibt der Playboy. (* dt. Play-
boy, März 1998, 44)
Aber was bewegt die internationale Prominenz dazu,
sich dem Kundun und seiner tantrisch-buddhistischen
Lehre mit solcher Begeisterung anzuschließen ? Wir wer-
den auf die männlichen Staranhänger noch gesondert
zu sprechen kommen und begnügen uns in diesem Ab-
schnitt damit, einen Blick auf die berühmten Frauen zu
werfen, die sich in den letzten Jahren dem Buddhismus
angeschlossen haben. Die Bunte, eine auflagenhohe deut-
sche Illustrierte, hat versucht, die Motive der weiblichen
Stars für ihren Glaubensentschluß zu ergründen. Neben
den üblichen Worten über Ruhe, Gelassenheit und Frie-
den lesen wir auch die folgenden Sätze :
»Immer mehr Frauen wenden sich dem Buddhismus zu,
in Europa wie in Amerika. Und wenn man sie betrach-
tet, mag man denken : Nanu, wohl gerade eine Schön-
heitsoperation hinter sich ? – Nein, es ist die Lehre des
Buddha, die sie begehrenswert und schön macht. Der
Buddhismus … gibt ihnen Ruhe – und Ruhe ist die Ba-
sis der Ausgeglichenheit, auf der allein Erotik wachsen
kann … In den großen Weltreligionen werden die Men-
schen, im besonderen Maße die Frauen, ständig bedrängt :

702
durch Gebote, Verbote, Tabus, Schuldkomplexe und my-
stische Visionen vom Fegefeuer, Jüngsten Gericht und
Hölle. Der Buddhismus aber droht nicht, straft nicht, ver-
dammt nicht … Und dann – der ›Chef‹ : Buddha ist kein
unsichtbarer, strafender, zürnender oder auch liebender
Gott. Er ist ein sichtbarer Mensch … Ein Mensch, der
seinen Weg gefunden hat und deswegen auf Abbildern
ständig lächelt. Aber man muß ihn nicht anbeten – man
soll ihm folgen. Buddha ist für Frauen nicht der allmäch-
tige Partriarch im Himmel, sondern ein Guru ( !) im Le-
ben. Das macht ihn besonders Frauen sympathisch. Im
Buddhismus müssen Frauen ihre Sinnlichkeit nicht ver-
leugnen …« Goldie Hawn, Sexkomödiantin aus Holly-
wood, schwärmt : »Ich meditiere und fühle mich sexy,
ich bin sexy.« Anja Kruse, deutsche Filmschauspielerin,
strahlt : Durch den Buddhismus habe ich »mehr positi-
ve Kraft und erotische Ausstrahlung gewonnen.« Lauri
Andersen, Sängerin, glaubt : »Der Buddhismus ist so an-
tiautoritär, das ist attraktiv.« Shirley MacLaine, Schau-
spielerin, weiß : »Du lernst, auch du bist Gott.« (* Bunte
Nr. 46, 6. 11. 1997, 20 ff.)
Kaum läßt sich die Manipulation des weiblichen Eros
besser demonstrieren als durch solche Artikel. Die ge-
samte frauenfeindliche Geschichte des Buddhismus wird
hier mit ein paar flotten Worten in ihr pures Gegenteil
verkehrt. Das ist jedoch nur die eine Täuschung. Die
andere besteht darin, daß nach solchen Sätzen der Bud-
dhismus die Dolce Vita der »Schönen und der Reichen«
als ein hohes »spirituelles« Ziel hat. »Christen und Mos-
lems«, so heißt es weiter in der Bunten, »winken Para-

703
diese im Jenseits. Prominente haben es bereits auf Er-
den – ganz im Sinne des Buddhismus.« (* Bunte Nr. 46,
6. 11. 1997, 22) Die Absage des historischen Buddhas an
die Annehmlichkeiten des Lebens – ein wichtiges Dog-
ma seines Heilsweges – wird hier ins krasse Gegenteil ge-
kehrt : Buddhismus, so will man den Stars weismachen,
bedeutet Luxus und völlige Ungebundenheit.
Hier wird bewußt und mit großem Erfolg manipuliert.
Dafür ist sicherlich nicht alleine die westliche Presse ver-
antwortlich. Indem die tibetischen Lamas die Egozentrik
und die geheimen Wünsche der Publicity-Frauen poten-
zieren und deren Erfüllung durch den Buddhismus ga-
rantieren, bekommen sie diese mit einer ähnlichen Me-
thode (Upaya = Trick) unter ihre Kontrolle, mit der sie
bei ihren tantrischen Ritualen die Karma Mudras (re-
alen Frauen) zu Göttinnen erheben. Wer wird als Frau
nicht nach den Angeboten greifen, die ihnen nach der
Bunten von den Mönchen im orangenen Gewand ver-
sprochen werden : »Buddhismus ist ewiges Leben. Wenn
man Glück hat, auch ewige Jugend.« (* Bunte Nr. 46, 6.
11. 1997, 22)
Angesichts der Höllen, der Tabus, der Jüngsten Gerichte,
der Hauslosigkeit, der Endzeitkriege, des absoluten Gehor-
sams, der bedingungslosen Anbetung des Gurus, der pa-
triarchalen Autorität, der Frauen- und Lebensverachtung
und vielem ähnlichen mehr, womit die »wahre« Lehre
des tibetischen Buddhismus traditionell belastet ist, sind
die von der Bunten Illustrierten genannten Verlockungen
reine Illusion, insbesondere wenn wir die harte Disziplin
und die Strenge beachten, die in den buddhistischen La-

704
maklöstern ertragen werden muß. Oder hat sich vielleicht
heute eine der berühmtesten Buddhalegenden umgekehrt ?
Nicht mehr wird ein künftiger Buddha, der Erleuchtung
erlangen will, von den »Töchtern Maras« (den Töchtern
des Teufels) versucht, sondern die »Töchter Maras« (die
weiblichen Stars Hollywoods), die bereit sind, den Erleuch-
tungspfad zu betreten, werden vom Buddha (dem Da-
lai Lama) versucht. Es bleibt nur zu hoffen, daß es ihnen
ebenso wie dem historischen Shakyamuni gelingt, den
süßen und charmanten »Teufelsspuk« des »herzlichen«
und lachenden Kunduns zu durchblicken.
Machen wir uns die tantrische Sichtweise zu eigen,
dann dürfen wir nicht ausschließen, daß alle diese be-
rühmten Frauen von den Lamas auf eine sehr sublime
Art und Weise zu einem Teil des weltweiten Kalachakra-
Projekts gemacht worden sind. Sie bilden – so wollen
wir es etwas überspitzt ausdrücken – eine Art symboli-
sches Ganachakra, das die Apotheose des Dalai Lamas
(Avalokiteshvara) zum ADI BUDDHA unterstützen soll.
An dem Beispiel der Popsängerin Patty Smith möchten
wir aufzeigen, wie fein und »geistreich« mittlerweile die
weiblichen Energien durch den Kundun gesteuert wer-
den, ohne daß dies den von ihm verzauberten »westli-
chen Dakinis« überhaupt bewußt ist.

Patty Smith

Schon in der Jugend antikonventionell bis hin zum Ra-


dikalismus, eine große Verehrerin der poetes maudits –

705
von Arthur Rimbaud, Frederico Garcia Lorca, Jean Ge-
net, William S. Bouroughs und anderen – wächst Patty
Smith in der Factory von Andy Warhol auf und erfährt
dort ihre »antiautoritäre« Lebenseinstellung. Anarchi-
stisch und libertär, macht sie mit einem Repertoire Kar-
riere, das sich gegen alle gesellschaftlichen Normen stellt.
Outside of society is where I want to be (»Außerhalb der
Gesellschaft ist dort, wo ich sein möchte«) – heißt eines
ihrer berühmtesten Stücke. In den 80ern sterben plötz-
lich ihr Gatte und mehrere ihrer engsten Freunde, was
sie sehr betroffen macht. Um ihren Schmerz zu über-
winden, wendet sie sich dem tibetischen Buddhismus
zu. Sie erinnert sich, schon als 12jähriges Mädchen um
das Schicksal des Dalai Lama geweint und gebetet zu
haben. Aber erst im September 1995 trifft sie in Berlin
auf den Gottkönig und ist hingerissen : »Ich habe eini-
ges von diesem Mann gelernt«, sagt sie später. »Er muß
die Dinge ständig in Balance bringen.« (Shambhala Sun,
Juli, 1996)
Die antiautoritäre Patty Smith hatte ihren Meister ge-
funden, angesichts des lächelnden Kunduns wird sie wohl
kaum daran gedacht haben, daß sie einen Papst vor sich
hat, dessen Geschichte, Ideologie und Visionen all ihren
libertären und anarchischen Freiheiten als das pure Ge-
genteil gegenüberstehen. Nein – wie eine gefügige Mu-
dra beugt sich diese Sozialrebellin vor dem allgewalti-
gen Kalachakra-Meister, ohne zu hinterfragen, woher er
kommt, wer er ist und wohin er geht. In einem Gedicht,
daß sie auf Seine Heiligkeit verfaßt hat, zeigt sie, wie sie
bedingungslos sich als Frau dem göttlichen Guru und

706
kommenden ADI BUDDHA unterwirft. Es beginnt mit
den Zeilen :

May I be nothing Ich will nichts sein


but the peeling of a lotus als das Entblättern eines
Lotus,
papering the distance um den Weg auszulegen
for You underfoot für Deine Fußsohlen

In diesem Gedicht ist in einer sehr feinen Art die ge-


samte sexualmagische Dramaturgie des Tantrismus auf-
geführt. »Peeling« (»entblättern«) heißt im Amerikani-
schen auch, »sich nackt ausziehen, um sich zu lieben«.
Der »Lotus« ist bekanntlich ein Symbol für die »Vagi-
na«. Underfoot – bedeutet auch »unter Kontrolle« oder
»in seine Gewalt« bringen. Patty Smith, die Sozialrebel-
lin und Poetin der Freiheit, ist zu einer gehorsamen Da-
kini des tibetischen Gottkönigs geworden.
Vergessen oder nicht einmal gekannt haben all diese
schönen Sängerinnen und Schauspielerinnen des We-
stens das Herz ihrer angenagelten Schwester Srinmo, das
noch immer unter dem Jokhang (dem sakralen Zentrum
des tibetischen Buddhismus) blutet. Die Klagen der tibe-
tischen Erdmutter, die vergebens darauf wartet, von ihren
Nageldolchen befreit und erlöst zu werden, dringen nicht
in die Ohren der unwissenden Filmstars. Vergessen sind
auch all die anonymen Mädchen, die im Laufe der Jahr-
hunderte ihre weiblichen Energien für den tantrischen
Klerus hingeben mußten, damit dieser seine machtvol-
le Buddhokratie aufbauen konnte. Vergessen ist Palden

707
Lhamo, die immer noch, vom schrecklichen Trauma des
Sohnesmordes getrieben, durch einen kochenden Blutsee
reitet. Vergessen ist die apokalyptische Zukunft, die uns
allen droht, wenn wir den Weg nach Shambhala gehen.
Diese westlichen Frauen haben – wie es viele von ihnen
sagen – geglaubt, den christlichen Kirchen und dem »wei-
ßen Papst« zu entkommen, und sind direkt in das Netz
(Sanskr. Tantra) des »gelben Papstes« hineingelaufen.
3. DIE GRUNDLAGEN DER
TIBETISCHEN BUDDHOKRATIE

Das Kultdrama des tibetisch-tantrischen Buddhismus


besteht darin, das Weibliche, die Dämonin, ständig zu
zähmen. Schon in der Sprache ist das vorgezeichnet. Das
tibetische Wort dulwa hat folgende Bedeutungen : zäh-
men, unterwerfen, erobern, besiegen, manchmal : töten,
vernichten, aber auch das Land kultivieren, eine Nation
zivilisieren, zum Buddhismus bekehren, erziehen, diszi-
plinieren. Gewaltsame Eroberung und Kulturarbeit bil-
den also für den Lamaismus eine Einheit. Die Haupt-
aufgabe des tibetischen Mönchsstaates besteht darin,
die Wildnis (die wilde Natur), die »heidnischen« Bar-
baren, die Frauen zu zähmen. In der tantrischen Termi-
nologie entspricht das der Methode (Upaya), mit der die
weibliche Wildheit (Candali oder Srinmo) bezwungen
wird. Parallel dazu stehen sich Staatsbuddhismus und
soziale Anarchie seit Beginn der tibetischen Geschichte
als Feinde gegenüber – sie führen ihren Urstreit in der
politischen, gesellschaftlichen, philosophischen, göttli-
chen und kosmischen Arena auf. Auch wenn sie sich bis
aufs Messer bekämpfen, sind sie dennoch – wie wir se-
hen werden – voneinander abhängig.

709
Die Geschichte des buddhistischen Staatsgedankens

Die Grundeinstellung des historischen Buddha war an-


archistisch. Er verließ nicht nur seine Familie, sondern
der Königssohn legte auch alle staatlichen Ämter nie-
der. Bei der Gründung der buddhistischen Gemein-
schaft (Sangha) ging er davon aus, daß es sich hierbei
um eine rein spirituelle Vereinigung handle, die ethisch
den weltlichen Institutionen bei weitem überlegen sei.
Die Sangha bildet das Grundmuster einer idealen Ge-
sellschaft, während der profane Staat durch seine weltli-
chen Geschäfte ständig karmisch beschmutzt wird. Des-
wegen war die Beziehung zwischen beiden Institutionen
(Sangha und Staat) immer gespannt und zeigte viele der
Dissonanzen, die schon früher in der vedischen Zeit
zwischen Kshatriyas (Krieger, Könige) und Brahmanen
(Priester) bestanden hatten.

Kaiser Ashoka

Die antistaatliche Einstellung der Buddhisten änder-


te sich jedoch im 3. Jh. v. Chr. mit der Machtergreifung
des Kaisers Ashoka (Reg. 272–236 v. Chr.). Ashoka, ein
Herrscher aus der Gupta-Dynastie, hatte nach einigen
sehr grausamen Feldzügen fast den gesamten indischen
Subkontinent erobert. Er war zum Buddhismus kon-
vertiert und legte großen Wert darauf, daß die Religi-
on Shakyamunis im ganzen Lande verbreitet wurde. Im
Sinne der Lehre verbot er das Tieropfer und propagierte
den Vegetarismus.

710
Seine staatspolitische Position ist unter den Historikern
nicht ganz klar, denn es gibt mehrere sich widersprechen-
de Dokumente darüber. Nach einer Meinung unterwarf
er sich und den ganzen Staat der Sangha (Gemeinschaft
der Mönche) und ließ sich bei seinen Entscheidungen
von dieser leiten. Nach einem anderen Dokument trat er
selber an die Spitze der Gemeinschaft und wurde zum
Sangharaja (zum König und obersten Kommandanten
der Mönchsgemeinde). Am wahrscheinlichsten ist die
dritte Ansicht, daß er zwar zum buddhistischen Glauben
konvertierte, aber seine politische Autonomie beibehielt
und der Mönchsgemeinde aus der kaiserlichen Stellung
heraus seinen Willen aufzwang. Dafür spricht, daß er es
war, der ein Konzil einberief und dort seine »buddholo-
gischen« Vorstellungen durchsetzte.
Man hat bis heute in Ashoka die Idee vom gerechten
»Friedenskönig« gefeiert und dabei gänzlich übersehen,
daß durch seine Person die Sangha mit dem staatlichen
Gewaltproblem konfrontiert wurde. Die buddhistische
Mönchsgemeinde war ja ursprünglich völlig gewaltfrei.
Nach ihrer Verbindung mit dem Staat mußte das Prinzip
der Gewaltfreiheit notwendigerweise mit den machtpoli-
tischen Erfordernissen in Konflikt geraten. Zum Beispiel
soll der historische Buddha eine solche Abneigung gegen
die Todesstrafe gefühlt haben, daß er sich als Substitut
anbot, um das Leben eines Verbrechers zu retten. Asho-
ka aber, der ein Edikt gegen das Schlachten von Tieren
erließ, verzichtete auf die staatlich verordnete Hinrich-
tung von Verbrechern nicht.
Ob schon zu Lebzeiten oder erst dank späterer Deu-

711
tungen – der Kaiser wurde (auf jeden Fall ex post) zum
Chakravartin (Weltenherrscher) erklärt, der das »golde-
ne Rad« des Dharma (der Lehre) in seinen Händen hielt.
Er war der erste historische Bodhisattva-König, das heißt
ein in der Gestalt eines weltlichen Herrschers inkarnier-
ter Bodhisattva. Weltliche und spirituelle Macht fielen bei
ihm in einer Person zusammen. Interessanterweise er-
richtete er seine spirituelle Weltenherrschaft durch eine
Art »kosmisches Opfer«. Die Legende erzählt nämlich,
der Kaiser sei in den Besitz der ursprünglichen Buddha­
reliquie gelangt, habe diese in 84 000 Stücke zerkleinern
lassen und über das gesamte Universum verstreut. Dort,
wo ein Partikel dieser Reliquie hinfiel, breitete sich sein
Herrschaftsgebiet aus, das heißt überall, da 84 000 im da-
maligen Indien die Symbolzahl für das kosmische Ganze
darstellte. 65 Diese fromme Geschichte von seiner Univer-
salherrschaft machte ihn von der buddhistischen Sangha
völlig unabhängig.
Im Mahayana-Goldglanz-Sutra wurde wenige Jahr-
hunderte nach Ashoka die staatliche Gewalt bejaht und
als eine Doktrin des historischen Buddha ausgegeben.
Die anarchistische Zeit der Sangha ging damit zu Ende.
Spätestens 200 Jahre n. Chr. hatte sich das buddhistische
Königtum unter dem Einfluß griechisch-römischer und
iranischer Staatsideen in seiner vollen autokratischen
Form herausgebildet, die von Historikern als »Cäsaro-

65 Dabei handelt es sich offensichtlich um eine Buddhisierung ei-


nes vedischen Ursprungsmythos, wonach das Universum aus ei-
ner Selbstzerstückelung des Urmenschen Prajapati entsteht.

712
papismus« bezeichnet wird. Ein Beispiel hierfür ist Kö-
nig Kanishka aus der Kushana-Dynastie (2. Jh. n. Chr.)
In ihm wurden die Attribute eines weltlichen Königs und
die eines Buddhas miteinander verschmolzen. Selbst der
»kommende« Buddha Maitreya und der regierende Kö-
nig bildeten eine Einheit. Der Herrscher war zum Erlö-
ser geworden. Er war jetziger Bodhisattva und gleich-
zeitig die Erscheinung des kommenden buddhistischen
Messias, der schon in diesem Leben vom Himmel her-
abgestiegen war, um den Menschen seine Heilsbotschaft
zu verkünden.

Der Dalai Lama und der buddhistische Staat


sind eins

Erst im Jahre 1642 wurde Tibet zu einem zentrali-


stischen Priesterstaat mit dem Dalai Lama als Ober-
haupt. Der Priesterkönig verfügte nach selbst geschaf-
fenem Recht über die absolute Macht. Er war de iure
nicht nur Herr über seine menschlichen Untertanen,
sondern ebenso über die Geister und alle sonstigen We-
sen, die »über und unter der Erde« lebten. Einer der er-
sten westlichen Besucher des Landes, der Brite S. Tur-
ner, beschrieb die Institution wie folgt : »Ein souveräner
Lama, unbefleckt, unsterblich, allgegenwärtig und all-
wissend, steht an der Spitze ihrer Fabrik ( !). Er wird ge-
schätzt als der Vizeregent des einzigen Gottes, der Mitt-
ler zwischen den Sterblichen und dem Höchsten … Er
ist auch das Zentrum der Zivilregierung, die von seiner

713
Autorität ihren gesamten Einfluß und ihre Macht ablei-
tet.« (* Bishop, 1993, 93)
Turner, der nichts von den Geheimnissen des Tantris-
mus wußte, sah den Dalai Lama als eine Art Brücken-
schläger (pontifex maximus) zwischen Transzendenz und
Realität. Er war für ihn der Statthalter und das Bild Bud-
dhas, seine Majestät erschien als der irdische Abglanz der
Gottheit. Das ist jedoch zu bescheiden ! Der Dalai Lama
repräsentiert nicht den Buddha auf Erden, noch ist er
ein Vermittler, noch ein Abbild – er ist die umfassende
Gottheit selbst. Er ist ein Kundun, das heißt, er ist die
Gegenwart, die Präsenz des Buddha, er ist ein »lebender
Buddha«. Deswegen gelten seine Macht und sein Mitge-
fühl als grenzenlos. Er ist Weltenkönig und Bodhisatt-
va in einer Person.
Der Dalai Lama vereinigt geistige und weltliche Macht
in Personalunion – ein Traum, von dem Papst und Kai-
ser während des europäischen Mittelalters vergeblich
träumten. 66 Der Kundun ist der Doktrin nach die sicht-
bare Form (Nirmanakayd) dieser umfassenden göttlichen
Macht in der Zeit, er lebt als die irdische Erscheinung des
Zeitgottes Kalachakra, er ist der höchste »Herr des Zeit-
rades«. Deswegen überreicht man ihm bei seiner Inthro-
nisation ein goldenes Rad als Zeichen seiner Allmacht.
Man betet ihn an als den »Herrscher der Herrscher«, den
»Sieger« und den »Eroberer«. Auch wenn er selbst das

66 Die Philosophen und Theologen des europäischen Mittelalters


entwarfen eine »Zwei-Körper-Theorie« des sakralen Königtums.
Sie machten einen Unterschied zwischen dem sterblichen →

714
Schwert nicht benutzt, so kann er andere auffordern und
verpflichten, für ihn in den Krieg zu ziehen.
Eine Unterscheidung zwischen machtpolitischer und
religiöser Organisation gab es im alten Tibet ebenso we-
nig wie im Ägypten der Pharaonen. Alle Handlungen des
tibetischen Gottkönigs, wie profan sie uns auch erschei-
nen mögen, waren (und sind) als solche religiös fundiert
und heilig. Der von ihm regierte Mönchsstaat galt (und
gilt) als die irdische Widerspiegelung eines kosmischen
Reiches. Im Kern bestand (und besteht) kein Unterschied
zwischen der übernatürlichen Ordnung und der gesell-
schaftlichen. Beide variieren ausschließlich durch den
Grad ihrer Vollkommenheit, denn die in dieser Welt er-
scheinende ordo universalis (universelle Ordnung) ist nur
aufgrund der Unvollkommenheit des Menschen (nicht
aufgrund der Unvollkommenheit des Kunduns) mit Feh-
lern behaftet. Anarchie, Unordnung, Aufstände, Hun-
gersnöte, Ungehorsam, Niederlagen, Vertreibungen be-
treffen die Mängel unseres Zeitalters, nie aber ein Fehl-
verhalten des Gottkönigs. Er ist ohne Makel und nur in
dieser Welt, um uns Menschen das Dharma (die bud-
dhistische Doktrin) zu lehren.

← und profanen Leib eines Königs und einem ewigen königlichen


Metakörper. Dieser war grundsätzlich von seiner menschlichen
Erscheinungsform unabhängig. Nach dem Tode des Leibes, der
ihm als Wohnstatt gedient hatte, zog er sich daraus zurück, um
dann im Nachfolger des alten Königs neu zu inkarnieren. Dieses
Modell entspricht grosso modo der Inkarnationslehre des tibeti-
schen Buddhismus.

715
Der Staat als mikrokosmischer Körper des Dalai Lamas

Ashoka, der erste buddhistische Kaiser, galt als die Inkar-


nation eines Bodhisattvas und wahrscheinlich als die ei-
nes Chakravartins (Weltenherrschers). Seine Rolle als der
Höchste Staatsträger war jedoch nicht tantrischer Natur.
Er handelte im Grunde wie jeder sakrale König vor ihm.
Seine Entscheidungen, seine Edikte und seine Taten wa-
ren heilig – aber er regierte nicht durch eine Kontrolle sei-
ner inneren mikrokosmischen Energien. Der vortantri-
sche Chakravartin (z. B. Ashoka) beherrscht den Kosmos,
der tantrische Weltenherrscher (z. B. der Dalai Lama)
aber ist der Kosmos selbst. Diese Gleichschaltung von
makrokosmischen Vorgängen und mikrokosmischen Er-
eignissen im mystischen Körper der tantrischen Hierar-
chen umschließt selbst sein Volk. Der Tantra-Meister auf
dem Löwenthron repräsentiert nicht nur, sondern er ist –
genau genommen – sein Volk. Auf ihn trifft der viel zitier-
te Satz »Der Staat bin ich« im wörtlichen Sinne zu.
Er kontrolliert ihn – wie wir oben beschrieben ha-
ben – durch seinen inneren Atem, durch das Verschie-
ben der zehn Winde (Dasakaro Vasi). Seine beiden me-
tapolitischen Hauptaktivitäten bestehen im Ritus und in
der Körperkontrolle, mit denen er den Kosmos und sein
Königreich insgeheim steuert. Das Politische, das Kul-
tische und die mystische Physiologie sind bei ihm nicht
voneinander zu trennen. In seinem Energiekörper spielt
er wie in einem Computer die Ereignisse virtuell durch,
um sie dann in der Erscheinungswelt Wirklichkeit wer-
den zu lassen.

716
Die tantrische Buddhokratie ist deswegen ein verwo-
benes Ganzes aus kosmologischen, religiösen, territori-
alen, administrativen, ökonomischen und innerphysio-
logischen Ereignissen. Wir müssen also – wenn wir die
Doktrin wörtlich nehmen – davon ausgehen, daß sich Ti-
bet mit all seinen Gebieten, seinen Bergen, Tälern, Flüs-
sen, Städten, Dörfern, mit seinen Klöstern, Beamten, sei-
nen Aristokraten, seinen Händlern, Bauern und Hirten,
mit seinen Pflanzen und Tieren im Energiekörper des Da-
lai Lama wiederfindet. Solche für uns phantastisch anmu-
tenden Vorstellungen sind nicht spezifisch tibetisch. Wir
finden sie im alten Ägypten, China, Indien, selbst im eu-
ropäischen Mittelalter bis hin zum Beginn der Neuzeit.
Wenn deswegen der XIV Dalai Lama 1996 in einem In-
terview sagt : »Mein Vorschlag behandelt Tibet als etwas
wie einen menschlichen Körper. Ganz Tibet ist ein Kör-
per«, so ist das nicht nur allegorisch und geopolitisch ge-
meint, sondern auch tantrisch. (* Shambhala Sun, Archiv,
Nov. 1996) Der Satz bedeutet in einer strikten Auslegung
auch : Tibet und mein Energiekörper sind identisch.
Tibet wiederum ist ein mikrokosmisches Abbild der
gesamten Menschheit, jedenfalls sieht das so die tibeti-
sche Nationalversammlung in einem Brief aus dem Jah-
re 1946. Dort ist zu lesen : »Es gibt viele große Nationen
auf der Erde, die unvorstellbaren Reichtum und Macht
angehäuft haben, aber es gibt nur eine Nation, die für
das Wohlbefinden der Menschheit auserwählt ist, und
das ist das religiöse Land von Tibet, welches die Verbin-
dung eines spirituellen und weltlichen Systems bewahrt
hat.« (* 08. 02. 1998 ‹kauffner@hotmail.com›)

717
Mandala-Darstellung der tibetischen Staatsregierung (oben) und
der entsprechenden Gebäudeanordnung um die Jokhang-Kathe-
drale (unten). Im oberen Mandala befindet sich in der Mitte ein
Buddha, der den Dalai Lama als höchstes Staatsoberhaupt reprä-
sentiert. Die ihn umgebenden fünf Dhyani-Buddhas entsprechen
oben : dem Gerichtshof ; unten : der Regierung ; links : den Depots ;
rechts : den Finanzen. Um den Jokhang sind die Gebäude der ver-
schiedenen Ämter entsprechend plaziert.

718
Das Mandala als Organisationsform
des tibetischen Staates

Im Staatsaufbau der historischen Buddhokratien fin-


den wir etwas Spezifisches, das ihn von der rein pyra-
midialen Verfassung vorderasiatischer Theokratien un-
terscheidet. Schon allein wegen der vielen Schulen und
Unterschulen des tibetischen Buddhismus können wir
nicht von einer klassischen Herrschaftspyramide spre-
chen, an deren Spitze der Dalai Lama steht. S. J. Tam-
biah hat, um die buddhokratische Staatsform ganz allge-
mein zu beschreiben, einen mittlerweile in der einschlä-
gigen Literatur weitverbreiteten Begriff eingeführt. Er
nennt sie »Galaktische Politik« oder »Mandala-Politik«.
(* Tambiah, 112 ff.) Was ist darunter zu verstehen ?
Wie in einem Sonnensystem kreisen die Hauptklöster
des Schneelandes als Planeten um die höchste Inkarnati-
on Tibets, den Gottkönig und Weltenherrscher von Lhasa,
und bilden mit ihm ein lebendiges Mandala. Dieses pla-
netare Prinzip wird in der Organisationsform der Haupt-
klöster, in deren Zentrum ebenfalls ein Tulku als »klei-
ner« Chakravartin herrscht, wiederholt. Hier ist der je-
weilige Erzabt die Sonne und der Vater, um den sich die
sogenannten »Kinderklöster«, das heißt die ihm unter-
gebenen Mönchsgemeinschaften, bewegen. Diese können
unter Umständen ein ähnliches Muster mit noch kleine-
ren Einheiten bilden.
So entsteht eine Ansammlung von vielen »Sonnensy-
stemen«, die zusammen eine »Galaxis« ausmachen. Zwar
stellt der Dalai Lama ein übergreifendes Symbolfeld dar,

719
dennoch haben die einzelnen Klöster eine weitreichende
Autonomie innerhalb ihrer eigenen Planetenwelt. Jedes
Monasterium, jeder Tempel, ja jeder Tulku bildet folglich
ein Miniaturmodell des gesamten Staates. Nach dieser
idealistischen Auffassung sind sie alle die »kleinen« Ko-
pien des universellen Chakravartins (Raddrehers) und
müßten sich idealtypisch auch wie dieser verhalten. Alle
Gedanken und Taten des Weltenherrschers müßten sich
bei ihnen wiederholen, und Differenzen zwischen ihm
und ihnen dürfte es eigentlich nicht geben. Denn alle
planetaren Einheiten innerhalb des galaktischen Modells
sind aufeinander abgestimmt. Angesichts dieser Idee wir-
ken die häufigen und heftigen Dissonanzen innerhalb
des tibetischen Klerus um so paradoxer.
Lhasa, Tibets Hauptstadt, bildet das kosmische Zentrum
dieser Galaxis. Zwei prachtvolle Gebäude der Stadt sym-
bolisieren die spirituelle und die weltliche Herrschaft des
Dalai Lamas : die Kathedrale (der Jokhang-Tempel) sein
Priesteramt ; der Palast (der Potala) sein Königtum. Der V
Dalai Lama hatte die Errichtung seiner Residenz auf dem
»Roten Berg« (Potala), wo einst die tibetischen Herrscher
der Yarlung-Dynastie regierten, in Auftrag gegeben, aber
seine prachtvolle Vollendung durfte er nicht mehr erle-
ben. Statt einer Grundsteinlegung ließ der Gottkönig einen
Pfahl ins Erdreich des »roten Berges« treiben und rief die
Zornesgötter an, wahrscheinlich um auch hier seine Macht
über die Erdmutter Srinmo, deren angenageltes Herz un-
ter dem Jokhang schlägt, zu demonstrieren.
Bezeichnenderweise wurde in früheren Zeiten ein
Sanktuarium des Avalokiteshvara in Südindien »Pota-

720
la« genannt. Für den »von oben herabschauenden Herrn«,
wie der Name des Bodhisattvas übersetzt lautet, war sein
tibetisches Domizil, von dem man aus ganz Lhasa über-
blicken konnte, ein würdiger Hochplatz. Man nannte den
Potala auch den »Wohnsitz der Götter«.
Auch Tibet wird in der religiös-politischen Literatur als
ein Mandala dargestellt. »Während es (das Mandala) die
Hierarchie, die Machtbezüge und die gesetzlichen Ebe-
nen anzeigt«, schreibt Rebecca Redwood French, »pulsiert
das Mandala ständig mit Bewegungen nach oben und
unten und zwischen den verschiedenen Teilen.« (* Red-
wood French, 179)

Die Mchod-Yon-Beziehungzu anderen Ländern

Wie gestaltet sich nun nach tibetischer Sicht die Bezie-


hung eines Chakravartins vom Dach der Welt zu den
Herrschern anderer Nationen ? Der Dalai Lama war
(und ist) – der Doktrin nach – die höchste (spirituelle)
Instanz für alle Völker unseres Erdkreises. Ihre Bezie-
hungen zu ihm wurden traditionell durch die sogenann-
te Mchod-Yon-Formel geregelt.
Die Tibeter interpretieren unter Berufung auf den hi-
storischen Buddha die Mchod-Yon-Relation folgender-
maßen :
1. Die sakrale Mönchsgemeinde (die Sangha) ist der
weltlichen Herrschaft weit überlegen.
2. Die weltliche Herrschaft (der König) hat die Aufgabe,
ja die Pflicht, die Sangha militärisch zu schützen und

721
durch großzügige »Almosen« am Leben zu halten. In
der mchod-yon-Beziehung standen (und stehen) sich
demnach »Priester« und »Patron« gegenüber, wobei
der Patron alle weltlichen Bedürfnisse des Klerus zu
erfüllen hatte.
Nachdem sich der Buddhismus seit den Zeiten Ashokas
mehr und mehr mit der Staatsidee verbunden hatte und
der »Höchste Priester« selber zum »Patron« (weltlicher
Herrscher) geworden war, übertrug man die Mchod-Yon-
Relation auf die Nachbarländer. Das heißt, Staaten, die
noch nicht real der Herrschaft des Priesterkönigs (z. B.
des Dalai Lama) unterfielen, hatten ihm militärischen
Schutz und »Almosen« zu gewähren. Diese delikate Re-
lation zwischen der lamaistischen Buddhokratie und
ihren Nachbarstaaten spielt bis heute eine bedeutende
Rolle in der chinesisch-tibetischen Politik, da jede der
Parteien sie unterschiedlich auslegt und deswegen auch
konträre Rechte daraus ableitet.
Die chinesische Seite ist seit Jahrhunderten der Mei-
nung, die buddhistische Kirche (und der Dalai Lama)
müsse zwar für ihre religiösen Aktivitäten mit »Almo-
sen« bezahlt werden, hätte aber nur begrenzte Rechte in
weltlichen Angelegenheiten. Die Chinesen (insbesonde-
re die Kommunisten) machen also einen klaren Unter-
schied zwischen Staat und Kirche und entsprechen in die-
sem Punkte weitgehend westlichen Vorstellungen, bezie-
hungsweise sie berufen sich mit Recht auf die traditionell
buddhistische Trennung von Sangha (Mönchsgemein-
de) und Politik. (* Klieger, 24) Die Tibeter dagegen neh-
men nicht nur für sich alle politischen Vollmachten in

722
Anspruch, sondern sind davon überzeugt, daß die Chi-
nesen aufgrund der Mchod-Yon-Relation geradezu dazu
verpflichtet sind, sie mit »Almosen« zu unterstützen und
mit »Waffen« zu schützen. Auch wenn ein solcher An-
spruch in der jetzigen politischen Situation nicht ausge-
sprochen wird, so bleibt er dennoch ein Wesensmerkmal
der tibetischen Buddhokratie. 67
Christiaan Klieger hat überzeugend nachgewiesen,
daß heute die gesamte exiltibetische Ökonomie nach
dem oben beschriebenen traditionellen Mchod-Yon (Prie-
ster-Patron)-Prinzip funktioniert, das heißt, die Gemein-
schaft mit den Mönchen an der Spitze wird ständig von
nichttibetischen Institutionen und Privatpersonen aus
aller Welt durch Bargeld, unbezahlte Arbeit und Ge-
schenke unterstützt. Die tibetische Wirtschaftsform ist
also auch in der Emigration »mittelalterlich« geblieben.
Ob die beachtlichen Schenkungen an die Exiltibeter ur-
sprünglich für religiöse oder humanitäre Projekte fließen,
spielt bei der anschließenden Verteilung keine besonde-
re Rolle mehr. »Fonds, die im Westen als Teil eines reli-
giösen Schenkungssystems geschaffen wurden«, schreibt
Klieger, »werden konsequent in eine politische Unter-
stützung des tibetischen Staates umgewandelt.« (* Klie-

67 Die Mchod-Yon-Beziehung zu China wurde von lamaistischer


Seite auch als eine Relation der beiden Himmelslichter unterein-
ander gedeutet. So lesen wir in einem Text aus dem 17. Jahrhun-
dert, daß sich die Potentaten aus Beijing und Lhasa als Sonne und
Mond gegenüberstünden, wobei der Dalai Lama den Thron der
Sonne innehat. (* Klieger, 45) Dem Kaiser als Mond wird durch
diese Klassifizierung die weibliche und damit untergeordnete
Rolle übertragen.

723
ger, 21) Die Formel, die von der Verbindung der spiri-
tuellen mit der weltlichen Macht ausgeht, lautet konse-
quenterweise : Wer die Politik der Exiltibeter unterstützt,
der fördert den Buddhismus als solchen oder umgekehrt
– wer den Buddhismus fördern will, der muß die tibeti-
sche Politik unterstützen.

Scheinbekenntnisse des XIV Dalai Lama zur


westlichen Demokratie

Wie autoritär und undemokratisch der buddhistische


Staat vom Prinzip her auch ist, so bekennt sich der XIV
Dalai Lama heute (ganz im Gegensatz hierzu) aus-
schließlich zu einem westlichen Demokratiemodell.
Handelt es sich nun bei diesem Demokratieverständ-
nis des Kunduns um eine ernstgemeinte Reform der al-
ten feudalen tibetischen Verhältnisse oder um ein noch
nicht realisiertes politisches Langfristziel oder einfach
um eine taktische Täuschung ?
Es gibt zwar seit 1961 bei den Exiltibetern eine Art
Parlament, in dem Vertreter der verschiedenen Provin-
zen und Repräsentanten der vier Religionsschulen als
Abgeordnete sitzen. Der »Gottkönig« ist aber weiterhin
der oberste Regierungschef geblieben. Seine Befugnis-
se als Staatsoberhaupt und als die höchste politische In-
stanz können ihm nach der Verfassung nicht entzogen
werden. Es gab – so der Vizepräsident Thubten Lung-
ring – niemals eine Mehrheitsentscheidung, die sich ge-
gen den Dalai Lama gerichtet hätte. Dieser soll einem

724
westlichen Journalisten auf die Frage, ob überhaupt Be-
schlüsse gegen ihn gefällt werden können, lächelnd ge-
antwortet haben : »Nein, nicht möglich !« (* 10. 1. 1998,
‹oneu-bert@acess.ch›)
Diese absolutistische Machtposition sei ihm gegen sei-
nen ausdrücklichen Willen aufgedrängt worden, wieder-
holt der Kundun immer dann, wenn er auf sein unerschüt-
terbares Amt angesprochen wird. Das Volk habe von ihm
mit Nachdruck verlangt, seine Rolle als Regent auf Lebens-
zeit beizubehalten. Im Hinblick auf die charismatische In-
tegrationskraft, die er ausübt, war das sicher eine vernünf-
tige politische Entscheidung. Aber damit bleibt die exiltibe-
tische Staatsform weiterhin in ihrem Kern buddhokratisch.
Das hindert den Kundun jedoch nicht, die 1963 endgül-
tig verabschiedete Verfassung als »auf den Prinzipien der
modernen Demokratie beruhend« auszugeben und stän-
dig die Trennung von Staat und Kirche zu fordern. (* Da-
lai Lama XIV, 1993 II, 25 ; 1996 II, 30)
Im Laufe seiner 35jährigen Existenz erwies sich das
exiltibetische »Parlament« als reine Kosmetik. Es war
kaum arbeitsfähig und spielte bei den politischen Ent-
scheidungsprozessen eine völlig untergeordnete Rolle.
Die, wie es in ihrem Grundsatzprogramm heißt, »erste
demokratische Partei, welche jemals in der Geschichte
Tibets gegründet wurde« (die National Democratic Party
of Tibet – NDPT), erblickte erst Mitte der 90er Jahre das
Licht der Welt. Zumindest bis 1996 war das »Volk« völlig
desinteressiert an den demokratischen Spielregeln. (* Ti-
betan Review, Februar 1990, 15) Politik wurde allenfalls
von verschiedenen Pressure Groups gemacht – von den

725
miteinander zerstrittenen Regionalvertretern, der mili-
tanten Tibetan Youth Association und den Großäbten der
vier Hauptsekten. Letztendlich aber lagen und liegen die
Entscheidungen in den Händen Seiner Heiligkeit, eini-
ger Exekutivorgane und der Mitglieder von drei Fami-
lien, unter ihnen der des Kunduns als mächtigster, der
sogenannte »Yabshi Klan«.
Das gleiche gilt für die Pressefreiheit und die freie
Meinungsäußerung. »Der Historiker Wangpo Tethong«,
schrieben 1998 exiltibetische Gegner des Dalai Lama,
»dessen adelige Familie ständig mehrere Posten in der
Exilregierung besetzt hält, setzt Demokratisierung im
Exil mit der Propagierung einer nationalen Einheitsideo-
logie‹ und religiöser und politischer Vereinheitlichung‹
gleich. Dies widerspricht den westlichen Vorstellungen
von Demokratie.« (* Pressemitteilung der Int. Vereini-
gung Dorje Shugden Praktizierender, 7. Feb. 1998) Die
einzige ( !) unabhängige Zeitung in Dharamsala mit dem
Namen Demokratie (tib. Mangtso) mußte ihr Erscheinen
unter Druck von Mitgliedern der Exilregierung einstel-
len. In den Tibet News soll ein Artikel von Jamyang Nor-
bu zur Lage der Pressefreiheit erschienen sein. Der Autor
faßt seine Analyse mit den folgenden Worten zusammen :
»Nicht nur gibt es keine Ermutigung und Unterstützung
für eine freie tibetische Presse, sondern es gibt beinahe
ein Auslöschen der Meinungsfreiheit in der tibetischen
Exilgemeinschaft.« (* Pressemitteilung der Int. Vereini-
gung Dorje Shugden Praktizierender, 7. Feb. 1998)
Das exiltibetische Parlament und die Demokratie der
Exiltibeter sind eine Farce. Davon ist selbst Thubten J.

726
Der XIV Dalai Lama vor der tibetischen Nationalflagge

Norbu, ein Bruder des Dalai Lama, überzeugt. Als er


sich Anfang der 90er Jahre mit Gyalo Thondop, einem
anderen Bruder des Kunduns, heftig über die außenpo-
litische Fragen stritt, waren dank dieses Bruderzwistes
die Regierungsgeschäfte lahmgelegt. (* Tibetan Review,
September 1992, 7) Die 11. Versammlung des Parlaments
(1991) konnte sich beispielsweise nicht darauf einigen,
ein vollständiges Kabinett zu wählen. Die Abgeordne-
ten baten deswegen Seine Heiligkeit, die Entscheidung
vorzunehmen. Das Resultat war, daß von den sieben Mi-
nistern zwei dem »Yabshi Klan«, das heißt der eigenen
Familie des Kunduns, angehörten : Gyalo Thondop wur-
de zum ersten Vorsitzenden des Ministerrates bestimmt
und war außerdem zuständig für das Ressort »Sicherheit«.

727
Die Schwester des Dalai Lama, Jetsun Pema, wurde mit
dem Erziehungsministerium betraut.
Aber in Zukunft soll alles anders werden. Vettern-
wirtschaft, Korruption, undemokratische Entscheidun-
gen, Unterdrückung der Pressefreiheit soll es im neuen
Tibet nicht mehr geben. Am 15. Juni 1988 gab der XIV
Dalai Lama vor dem europäischen Parlament in Straß-
burg bekannt, im Schneeland werde nach seiner Rück-
kehr eine verfassungsgebende Versammlung gebildet, mit
einem Präsidenten an der Spitze, der die gleichen Voll-
machten hätte, wie er sie jetzt genieße. Danach würden
demokratische Wahlen abgehalten. Eine Trennung von
Staat und Kirche sei nach westlichem Modell von An-
fang an in Tibet garantiert. Auch gegenüber den Chinesen
werde freiwillig auf Teile der politischen Machtausübung
verzichtet. Er, der Dalai Lama, werde die außenpoliti-
sche und militärische Vorherrschaft Chinas anerken-
nen und sich nur mit »den Bereichen Religion, Handel,
Erziehung, Kultur, Tourismus, Wissenschaft, Sport und
anderen nichtpolitischen Aktivitäten« zufrieden geben.
(* Grunfeld, 234)
Aber trotz solcher verbaler Bekenntnisse sprechen die
nationalen Symbole eine andere Sprache : Mit Stolz er-
klärt einem jeder Exiltibeter, daß die beiden Schneelöwen
auf seiner Landesflagge die Vereinigung von spiritueller
und weltlicher Macht bedeuten. Die tibetische Fahne ist
deswegen eine sichtbare Demonstration der tibetischen
Buddhokratie. In ihrer Mitte befindet sich übrigens ein
chinesisches Yin Yang-Zeichen. Dies soll kaum auf ein
Königspaar hinweisen, sondern ist eindeutig ein Symbol

728
der Androgynität des Dalai Lamas als des höchsten tan-
trischen Herrschers des Schneelandes. Auch alle ande-
ren heraldischen Bilder auf der Flagge (die Farben, die
Flammenjuwelen, die zwölf Strahlen usw.), die das Wap-
pen eines demokratisch-nationalen Tibet darstellen sol-
len, stammen aus dem royalistischen Repertoire der la-
maistischen Priesterherrschaft.
Die Straßburger Erklärung von 1989 und der in ihr
ausgesprochene Autonomieverzicht wurden hart kriti-
siert vom Tibetan Youth Congress (TYC) von der Euro-
pean Tibetan Youth Association und vom älteren Bruder
des Dalai Lama, Thubten Norbu. Als man den Chef des
Tibetan Youth Congress heftig angriff, weil er die poli-
tische Entscheidung des XIV Dalai Lama nicht billige,
verteidigte er sich damit, der Kundun selbst habe ihn zu
dieser Hardliner-Haltung aufgefordert – wahrscheinlich
um die Option zu haben, sich je nach politischer Wet-
terlage von der Straßburger Erklärung zu distanzieren.
(* Goldstein, 1997, 139)
Diese Doppelpolitik spitzt sich zur Zeit noch zu : Wäh-
rend der Gottkönig zunehmend seine Kontakte zu Bei-
jing ausbaut, gebärdet sich der TYC immer wortradi-
kaler. »Wir wurden zu gewaltlos, zu passiv«, deklarier-
te 1998 der Präsident der Organisation, Tseten Norbu.
(* Reuters, Beijing, 22. Juni 1998) Im Gegenzug bietet
sich der Dalai Lama seit Clintons China-Besuch (Juli
1998) den Chinesen als Friedensstifter gegenüber sei-
nem eigenen Volk, als einziges Bollwerk gegen einen ge-
fährlichen tibetischen Radikalismus an : »Das Ressen-
timent in Tibet gegen die Chinesen ist sehr stark. Aber

729
es gibt einen, der das tibetische Volk beeinflussen und
repräsentieren kann (er meint damit sich selbst). Wenn
es ihn nicht mehr gibt, könnte sich das Problem radi-
kalisieren«, drohte er den chinesischen Machthabern,
von denen es heißt, sie wollten seinen Tod im Exil ab-
warten. (* Time, 13. Juli, 1998, 26)
Was immer auch in Zukunft mit dem tibetischen Volk
geschehen mag, in seiner doppelten Funktion als politi-
scher und spiritueller Führer bleibt der Dalai Lama ein
machtvolles archaisches Urbild. In dem Augenblick, wo
er diese Doppelrolle aufkündigen muß, verliert die im
Kalachakra-Tantra verankerte Idee vom »Weltenkönig«
zunächst einmal ihren sichtbaren säkularen Teil, denn
der Chakravartin ist weltlicher und geistiger Herrscher
zugleich. Der Dalai Lama würde in diesem Fall ein rein
spirituelles Amt ausüben, das mehr oder weniger dem-
jenigen eines katholischen Papstes entspricht.
Wie nun der Kundun den komplizierten Balanceakt
zwischen Religionsgemeinschaft und Nationalismus, De-
mokratie und Buddhokratie, Weltenherrschaft und Par-
lamentarismus, Priestertum und Königtum in den näch-
sten Jahren meistern wird, bleibt völlig offen. Er wird sich
auf jeden Fall – das lehrt uns die tibetische Geschichte,
und das lehren uns seine vorangegangenen Inkarnatio-
nen – taktisch nach der jeweiligen politischen Macht-
konstellation richten.

730
Die demokratische Fraktion

Es gibt innerhalb der tibetischen Gemeinschaft einige


wenige in der westlichen Kultur erzogene Exiltibeter, die
vorsichtig damit begonnen haben, die Schein-Demokra-
tie von Dharamsala zu hinterfragen. In einem Leserbrief
an die Tibetan Review schreibt zum Beispiel ein Lob-
sang Tsering : »Die tibetische Gesellschaft hat in ihren
33 Jahren Exil viele Skandale und Tumulte zu verzeich-
nen. Aber wissen die Leute wirklich die Details über die
Ereignisse ? … Der letzte Skandal war die ›Yabshi versus
Yabshi‹-Affäre, die die beiden älteren Brüder des Dalai
Lamas betraf. (Yabshi ist der Name der Familienmitglie-
der des Dalai Lamas.) Die Gerüchte begannen zu rol-
len und verbreiteten sich wie ein Wildfeuer. Viele wissen
aber immer noch nicht, worum es bei dieser Affäre ging.
Wer muß für diesen Mangel an Information verantwort-
lich gemacht werden ? Bis jetzt wurde jegliche Kontro-
verse von unserer Regierung als ein Staatsgeheimnis ge-
hütet. Es ist richtig, daß nicht jede Regierungspolitik in
die Öffentlichkeit gebracht werden sollte. Aber in unse-
rem Fall wird überhaupt nichts in die Öffentlichkeit ge-
bracht.«68 (* Tibetan Review, September 1992, 22)

68 In der Tibetan Review, dem publizistischen Aushängeschild


für den Westen, wird in einem Artikel sogar der platte Dualis-
mus »Tibet – gut und China – böse« als Problem gesehen : »Tibet
ist die Verkörperung der Mächte des Heiligen ; China die Verkör-
perung der Mächte des Dämonischen ; Tibeter sind übermensch-
lich, Chinesen untermenschlich. In dieser orientalistischen (da-
mit ist hier ›westlich‹ gemeint) Logik der Gegensätze muß China
erniedrigt werden, damit Tibet erhöht werden kann ; damit es →

731
Wir sollten auch die freiheitlich-demokratischen Ab-
sichten junger Tibeter im Mutterland ernst nehmen. So
macht das sogenannte Drepung-Manifest, das 1988 in
Lhasa erschien, einen erfrischend kritischen Eindruck,
obgleich es aus den Händen von Mönchen stammt :
»Nachdem es sich von den Praktiken der alten Gesell-
schaft mit all ihren Fehlern gelöst hat«, heißt es dort,
»wird das zukünftige Tibet nicht dem früheren gleichen.
Es wird nicht zu einer Restauration der Leibeigenschaft
kommen und nicht, wie das ›alte System‹, eine Herrschaft
sich reinkarnierender feudaler Meister oder mönchischer
Institutionen sein.« (* Schwartz, 127) Ob solche State-
ments wirklich ernst gemeint sind, darüber kann man
nur spekulieren. Die demokratische Realität unter den
Exiltibetern läßt da einige Zweifel aufkommen.
Es ist ebenfalls eine Tatsache, daß die sich seit den
80er Jahren immer weiter ausdehnende Protestbewegung
in Tibet alles sammelt, was irgendwie unzufrieden ist,
angefangen von aufrechten Demokraten bis hin zu den
finstersten Mönchsritualisten, denen jedes Zaubermit-
tel recht ist, um durch Magie die Macht des Dalai Lama
auf dem Dach der Welt zu restaurieren. Wir werden auf
einige Beispiele hierfür in unserem Kapitel Krieg und
Frieden noch zu sprechen kommen. Westliche Touristen,
die weit mehr an den okkulten und den mystischen Strö-
mungen des Landes interessiert sind als an dem Aufbau

← einen spirituellen und erleuchteten Orient gibt, muß es einen


dämonischen und despotischen Orient geben.« (* Tibetan Re-
view, Mai 1994, 18)

732
einer »westlichen« Demokratie, fördern solche Atavis-
men nach Kräften.
Für die Tibeter in und außerhalb ihres Landes ist des-
wegen die Situation äußerst kompliziert. Sie werden täg-
lich mit westlich-demokratischen Bekenntnissen auf der
einen Seite und einer buddhokratisch-archaischen Rea-
lität auf der anderen Seite konfrontiert und sollen sich
(nach der Vorstellung des Kunduns) für zwei Gesell-
schaftssysteme gleichzeitig entscheiden, die nicht mit-
einander kompatibel sind. Im Zusammenhang mit der
noch zu schildernden Shugden-Affäre ist dieser Wider-
spruch voll aufgebrochen und sichtbar geworden.
Hinzu kommt, daß die Tibeter erst in unseren Tagen
angefangen haben, sich als eine Nation herauszubilden,
ein Selbstverständnis, das vorher keineswegs – zumin-
dest seit der klerikalen Beherrschung des Landes – exi-
stierte. Wir müssen das Tibet der Vergangenheit als eine
Kulturgemeinschaft und nicht als eine Nation bezeichnen.
Gerade der Lamaismus und die Vorgänger des XIV Da-
lai Lama, der sich heute an die Spitze der tibetischen Na-
tion stellt, haben die Entwicklung eines wirklichen Na-
tionalgefühls bei der Bevölkerung verhindert. Die »Gel-
be Kirche« vertrat ihre buddhistische Lehre, beschwor
ihre Gottheiten und verfolgte ihre ökonomischen Belan-
ge – nicht jedoch die Interessen der Tibeter als ein ein-
heitliches Volk. Deswegen hatte der Klerus im Laufe der
Geschichte auch niemals die geringsten Bedenken, sich
mit Mongolen und Chinesen gegen die Einwohner des
Schneelandes zu verbünden.

733
Der »Große Fünfte« –
Absoluter Sonnenkönig über Tibet

Die Geschichtswissenschaft ist sich darüber einig, daß


der tibetische Staat die geniale Konstruktion eines ein-
zigen Mannes war. Das goldene Zeitalter des Lamaismus
beginnt mit Ngawang Lobsang Gyatso, dem V Dalai
Lama (1617–1682), und endet mit ihm. Auf ihn mag der
Spruch des berühmten Historikers Thomas Carlyle, daß
die Weltgeschichte nichts anderes sei als die Biographie
großer Männer, ganz besonders zutreffen. Alle seine
Nachfolger haben nie mehr die gleiche Macht und visio-
näre Kraft erreichen können wie der »Große Fünfte«. Sie
sind in der Tat nur die schwachen Ausstrahlungen einer
ganz besonderen Energie, die im 17. Jahrhundert in sei-
ner Person gebündelt wurde. Die geistigen und materiel-
len Grundlagen, welche er gelegt hat, haben das Bild Ti-
bets bis heute in West und Ost geprägt. Dabei war seine
realpolitische Macht, zuerst durch verschiedene buddhi-
stische Schulen, dann durch die Mongolen und Chine-
sen begrenzt, keineswegs so gigantisch. Seine überzeitli-
che Autorität gewann er vielmehr durch die geschickte
Akkumulation aller spirituellen Ressourcen und Ener-
gien, welche er sich mit einer bewunderungswürdigen
Hemmungslosigkeit und einem unbegrenzten Ideen-
reichtum dienstbar machte. Mit List und Gewalt, mit
Liebenswürdigkeit und Brutalität, mit Begeisterung für
pompösen Prunk und mit Magie organisierte er alle be-
deutenden religiösen Ausdrucksformen seines Landes
um sich als leuchtenden Mittelpunkt. Skrupellos und

734
flexibel, herrschsüchtig und geschickt, intolerant und
diplomatisch setzte er seine Ziele durch. Er war Staats-
mann, Priester, Historiker, Grammatiker, Dichter, Ma-
ler, Architekt, Liebhaber, Prophet und Schwarzmagier in
einem – und das alles zusammen in einer hervorragen-
den und höchst effektiven Art und Weise.
Das Grand Siècle des »Großen Fünften« erstrahlte zur
gleichen Zeit wie dasjenige Ludwig XIV (1638–1715), des
französischen Sonnenkönigs. Man hat denn auch des öf-
teren die zwei Monarchen miteinander verglichen. Der ei-
serne Zentralisierungswille, die Faszination für das höfi-
sche Ritual, der ständige Austausch mit den Mythen und
vieles mehr vereinte sie. Der V Dalai Lama und Ludwig
XIV dachten und handelten als Ausdruck derselben Zeit-
strömung, und darin lag das Geheimnis ihres Sieges, der
weit über ihre realpolitischen Machterfolge hinausreichte.
Wenn es der Sinn des 17. Jahrhunderts war, den Staat in
einer einzigen Person zu konzentrieren, so gilt für beide
Potentaten der Spruch l’état c’est moi (»der Staat bin ich«).
Beide lebten aus der gleichen göttlichen Energie, der all-
mächtigen Sonne. Auch der »König« von Lhasa sah sich
als ein solarer »Feuergott«, als der Herr seines Zeitalters,
als eine Inkarnation des Avalokiteshvara. Sein Geburts-
jahr (1617) wurde nach dem tibetischen Kalender der
»Feuerschlange« zugeordnet. War dies vielleicht ein kos-
mischer Hinweis darauf, daß er ein Meister hoher tantri-
scher Praktiken werden sollte, der mit Hilfe der Kundali-
ni (»Feuerschlange«) sein Imperium regierte ?
In den zahlreichen Visionen des Potentaten, in denen
ihm die wichtigsten Götter und Göttinnen des Vajraya-

735
na erschienen, fanden ständig tantrische Vereinigungen
statt. Für ihn war die Transformation von Sexualität in
spirituelle und weltliche Macht geradezu ein politisches
Programm. Von ihm selbst verfaßte Texte beschreiben,
wie er, bei einer solchen Übung von einem Götterpaar
absorbiert, in die Vagina seiner Weisheitsgefährtin ge-
langte, sich dort »im roten und weißen Bodhicitta« bade-
te und anschließend regeneriert und glückselig in seinen
alten Körper zurückkehrte. (* Karmay, 49)
Dokumente seiner Zeit verehren ihn als »Sonne und
Mond« in einer Person. (* Yumiko, 41) Er beherrschte
eine große Zahl tantrischer Techniken und praktizierte
sogar seine rituelle Selbstzerstörung (Chöd), ohne mit der
Wimper zu zucken. Einmal sah er, wie ein riesiger Skor-
pion in seinen Leib eindrang und alle seine inneren Kör-
perteile auffraß. Dann ging das Tier in Flammen auf, die
den noch übriggebliebenen Rest seines Leibes verzehr-
ten. (* Karmay, 52) Eine besondere Vorliebe zeigte er für
die unterschiedlichsten Schreckensgötter, die ihn bei der
Durchsetzung seiner Machtpolitik unterstützten.
Der V Dalai Lama war besessen von den Delirien der
Magie. All seine politischen und kulturellen Erfolge hat
er letztendlich als das Ergebnis eigener Beschwörungen
gesehen. Armeen waren für ihn nur die ausführenden
Organe vorausgegangener tantrischer Rituale. Überall
erblickte er – der Gott auf dem Löwenthron – Götter
und Dämonen am Werke, mit denen er sich verbündete
oder gegen die er zu Felde zog. Jeder Schritt, den er un-
ternahm, wurde durch Prophezeiungen und Orakelsprü-
che vorbereitet. Häufig waren die Visionen, in denen ihm

736
Avalokiteshvara erschien, und ebenso häufig waren seine
Identifikationen mit dem »Feuergott«. Mit einer großen
Geste löste er die ganze Welt in Energiefelder auf, welche
er magisch zu beherrschen suchte – und das gelang ihm
in der Tat. Das damalige Asien nahm ihn ernst und ließ
sich sein System aufdrücken. Er herrschte als Chakravar-
tin, als der Weltenherrscher und als der ADI BUDDHA
auf Erden. Chinesische Kaiser und mongolische Khane
fürchteten sich vor seiner metaphysischen Macht.
Man könnte vielleicht meinen, daß sein religiöses Pa-
thos nur vorgeschoben sei, um es als Mittel zur Etablie-
rung realer Macht einzusetzen. Seine manchmal sarka-
stische, immer aber weltmännische Art mag daraufhin-
weisen. Dies ist aber höchst unwahrscheinlich, denn der
göttliche Staatsmann hat seine okkulten und liturgischen
Geheimnisse aufschreiben lassen, aus denen klar hervor-
geht, daß er die Beherrschung der Symbolwelt und der
tantrischen Rituale an die erste Stelle setzte und aus ih-
nen seine politischen Entscheidungen ableitete.
Seine Geheime Biographie und das von ihm verfaßte
Goldene Manuskript (* Karmay) wurden bis in die jüng-
ste Zeit hinein unter Verschluß gehalten und waren nur
einer Handvoll Oberen aus dem Gelugpa-Orden zugäng-
lich. Auch diese beiden Schriften – die jetzt einsichtig
sind – offenbaren den Autor als einen Großmagier, der
alles und jedes als den Ausdruck göttlicher Pläne wertet
und dessen Machtvorstellungen nicht mehr als säkular
zu interpretieren sind. Es besteht kein Zweifel daran, daß
der »Große Fünfte« in vollem Bewußtsein als eine Gott-
heit dachte und handelte. So etwas soll bei Königen des

737
öfteren vorkommen, aber der Herr vom Dach der Welt
besaß auch die Tat- und Überzeugungskraft, seine tan-
trischen Visionen in eine Wirklichkeit zu verwandeln,
die bis heute andauert.

Die Vorgänger des V Dalai Lama

Die organisatorische und disziplinarische Stärke des


Gelugpa (»Gelbmützen«)-Ordens bildete die Hausmacht
des V Dalai Lama, auf der er sein System aufbauen konn-
te. Kurz nach dem Tode Tsongkapas (des Gründers der
»Gelbmützen«) hatten dessen Nachfolger die Inkarnati-
onslehre von der Kagyüpa-Sekte übernommen. So stand
die inkarnierte Ahnenkette des »Großen Fünften« von
vornherein fest. Sie umfaßte vier Verkörperungen aus
den Reihen der Gelugpas, von denen nur die beiden letz-
ten den Titel Dalai Lama trugen, den beiden ersten wur-
de dieser posthum angedichtet.
Die Kette beginnt mit Gyalwa Gendun Drub (1391–
1474), ein Schüler Tsongkapas und später der I. Dalai
Lama. Dieser war ein ausgezeichneter Kenner und ho-
her Eingeweihter des Kalachakra-Tantras und hat eini-
ge heute noch gelesene Kommentare dazu verfaßt. Seine
diesbezüglichen Schriften, wenn sie auch nie die metho-
dische Präzision und kanonische Kenntnis seines Leh-
rers Tsongkapa erreichen, zeigen, daß er das Tantra prak-
tizierte und die Doppelgeschlechtlichkeit in »der Form
von Kalachakra und seiner Gefährtin« anstrebte. (* Da-
lai Lama 1, 181)

738
Besonders deutlich werden seine androgynen Sehn-
süchte in den Hymnen, mit denen er die Göttin Tara be-
schwört, um deren weibliche Gestalt annehmen zu kön-
nen : »Plötzlich erscheine ich als die heilige Arya Tara«,
schreibt er, »deren Bewußtsein jenseits des Samsara zu su-
chen ist. Mein Körper ist von grüner Farbe, und mein Ge-
sicht strahlt ein warmes, seliges Lächeln zurück … Aus-
gestattet mit der Unsterblichkeit ist meine Erscheinung
diejenige eines 16 Jahre alten Mädchens.« (* Dalai Lama
1, 135, 138)
Diese Erscheinung als Göttin der Barmherzigkeit hielt
ihn jedoch nicht davor zurück, eine ziemlich harte Linie
im Aufbau des Rechtswesens zu verfolgen. Er bestimmte,
daß in allen Klöstern Gefängnisse eingerichtet wurden,
wo einige seiner Gegner unter unmenschlichen Umstän-
den ihr Leben ließen. Das von ihm kodifizierte Strafsy-
stem war unnachgiebig und grausam. Tagelanger Entzug
der Nahrung und Auspeitschungen zählten ebenso dazu
wie das Abhacken der rechten Hand bei Diebstahl oder
die Todesstrafe bei Zölibatsbruch, soweit dieser außer-
halb der tantrischen Rituale stattfand. Seine Härte und
Strenge brachten ihm dennoch die Sympathie des Vol-
kes ein, das ihn als den Arm eines gerechten und zür-
nenden Gottes sah, der in die völlig heruntergekomme-
ne Welt des Mönchsklerus Ordnung brachte.
Zum erstenmal taucht der Titel Dalai Lama bei der
Begegnung des Erzabtes von Sera, Sönam Gyatso (1543–
1588), mit dem mongolischen Khan Altan auf. Der Kir-
chenfürst (später der III Dalai Lama) hatte den Mongo-
len auf dessen Bitte hin im Jahre 1578 aufgesucht und

739
die beschwerliche Reise in den Norden unternommen.
Mehrere Tage verbrachte er am Hofe Altan Khans, weih-
te diesen in die Lehre des Buddha ein und demonstrierte
erfolgreich seine spirituelle Macht durch allerlei sensa-
tionelle Wundertaten. Eines Tages erschien der Steppen-
fürst in einem weißen Gewand, das die Liebe symboli-
sieren sollte, und bekannte sich mit Pathos zum buddhi-
stischen Glauben. Er versprach, durch die Änderung der
mongolischen Gesetze das »Blutmeer« in ein »Meer aus
Milch« zu verwandeln. Sönam Gyatso antwortete. »Du
bist der Tausend goldene Räder drehende Chakravartin
oder Weltbeherrscher.« (* Bleichsteiner, 89)
Aus dieser Apotheose ist klar zu entnehmen, daß der
Mönch dem Nachfolger Dschinghis Khans die säkula-
re Herrschaft zugestand. Sich selbst aber, als inkarnier-
ten Buddha, stellte er darüber. Das ergibt sich aus ei-
ner Einweihungsrede, in der ein Neffe Altans diesen mit
dem Mond, den Hohen Lama aus dem Schneeland aber
mit der allgewaltigen Sonne betitelt. (* Bleichsteiner, 88)
Der Mongolenfürst wiederum nannte seinen Gast »Da-
lai Lama«, eine etwas bescheidene Bezeichnung, wenn
man die heute übliche Übersetzung »Ozean der Weis-
heit« zugrundelegt. Robert Bleichsteiner übersetzt denn
auch etwas pathetischer »Donnerkeiltragender Weltmeer-
priester«. Der Gottkönig von Tibet trägt also keinen ti-
betischen, sondern einen mongolischen Titel.
Auf dem Treffen zwischen Sönam Gyatso und Altan
Khan gab es sicher auch Verhandlungen über die kom-
mende vierte Inkarnation des »Dalai Lama« (Yönten Gya-
tso, 1589–1617), denn diese erschien unter den Mongo-

740
len in der Gestalt eines Urenkels des Khans. Bleichsteiner
bezeichnet diese »Inkarnationsentscheidung« als einen
»besonders klugen Schachzug«, der endgültig die Herr-
schaft der »Gelbmützen« über die Mongolei sicherte und
die Khane zu Hilfestellungen gegenüber dem Orden ver-
pflichtete. (* Bleichsteiner, 89) Der mongolische IV Dalai
Lama starb mit 28 Jahren und spielte keine bedeutende
politische Rolle.
Diese wurde in jener Zeit von der mächtigen Kagyüpa-
Sekte (die sogenannten »Rotmützen«) übernommen. Die
»Rotmützen« rekrutierten sich ausschließlich aus natio-
nal-tibetischen Kräften. Sie hatten die mongolische Rei-
se Sönam Gyatsos (des III Dalai Lama) als Landesver-
rat attackiert und konnten ihre machtpolitischen Erfol-
ge immer weiter ausdehnen, so daß in den 30er Jahren
des 17. Jahrhunderts der Gelugpa-Orden nur noch durch
eine äußere Intervention zu retten war.
Es lag also nichts näher, als daß der »Große Fünfte« de-
monstrativ nach dem mongolischen Titel »Dalai Lama«
griff, um dadurch die kriegerischen Nomadenstämme
aus dem Norden zu bewegen, Tibet zu erobern und zu
besetzen. Dieses staatspolitische Kalkül sollte voll aufge-
hen. Ein grausamer Bürgerkrieg zwischen den Kagyüpas
und den Anhängern der Fürsten von Tsang auf der ei-
nen Seite und den Gelugpas und dem Mongolenherrscher
Gushri Khan auf der anderen Seite war die Folge.
Wenn die Dokumente nicht lügen, hat der Mongolen-
fürst Gushri Khan dem V Dalai seine militärischen Er-
oberungen (das heißt Tibet) zum Geschenk gemacht und
sein Schwert nach dem Sieg über die »Rotmützen« ausge-

741
händigt. Dies wird symbolisch nicht als eine pazifistische
Tat gewertet, sondern als die zeremonielle Ausstattung
des Kirchenfürsten mit der säkularen Macht. Doch bleibt
fraglich, ob der machtbewußte Mongole diesen Symbo-
lakt auch wirklich so verstanden hat, denn de iure be-
hielt Gushri Khan den Titel »König von Tibet« für sich.
Der »Große Fünfte« dagegen hat das Schwertgeschenk
sicher als eine Unterwerfungsgeste des Khans (den Ver-
zicht auf die Machtausübung in Tibet) gedeutet, denn de
facto schaltete und waltete er von nun an wie ein abso-
luter Herrscher.

Die geheime Biographie

Der V Dalai Lama hat seine Selbsterhöhung zur Gottheit


und seine magischen Praktiken ebenso ernst genommen
wie seine reale Machtpolitik. Jede politische Handlung,
jede Militäraktion wurde von ihm durch ein visionäres
Ereignis eingeleitet oder durch ein Beschwörungsritu-
al vorbereitet. Dennoch stand für ihn als Tantriker hin-
ter dem ganzen rituellen und mystischen Theater, das
er aufführte, das Dogma von der Nichtigkeit alles Sei-
enden und von der Nichtexistenz der Erscheinungswelt.
Das war die erkenntnistheoretische Voraussetzung, um
die Protagonisten der Historie ebenso wie diejenigen der
Geisterwelt zu beherrschen. In diesem Sinne leitet der
»Große Fünfte« mit einer sein eigenes Lebenswerk auflö-
senden Selbstironie seine Autobiographie (Geheime Bio-
graphie) mit folgenden Gedichtzeilen ein :

742
Die Gelehrten sollten dieses Werk nicht lesen,
   wenn sie es tun,
dann werden sie verwirrt sein.
Es ist nur als Leitfaden fur Narren geschrieben,
   die sich an phantastischen Ideen ergötzen.
Obgleich es versucht, jegliche Anmaßung zu meiden,
ist es nichts desto trotz mit Täuschungen verdorben.

Als ob die Illusionen des Samsara nicht schon
   genug wären,
Dieses mein stupides Bewußtsein ist weiterhin
   von ultraillusionären Visionen attrahiert.
Es ist in der Tat verrückt zu behaupten,
   daß das Bild von Buddhas Mitgefühl
Sich im Spiegel karmischer Existenz reflektiert.
Laßt mich nun die folgenden Zeilen schreiben,
Obwohl es diejenigen enttäuschen wird,
   die daran glauben, daß eine Fata Morgana Wasser ist,
Ebenso wie diejenigen, die von Feenmärchen
   verzückt sind,
Und diejenigen, die sich an roten Wolken
   im Sommer erfreuen.«
(* Karmay, 27)

Bis in unsere Zeit erschien die Geheime Biographie nicht


in der Öffentlichkeit, sie war eine Geheimschrift und
nur wenigen Auserwählten zugänglich. Es besteht kein
Zweifel daran, daß der machtbesessene »Gottkönig« den
höchst intimen und magischen Charakter seiner Schrift
durch das alles auflösende Einleitungsgedicht schüt-

743
zen wollte. In der Münchner Staatsbibliothek ist eines
der wenigen handgeschriebenen Exemplare aufbewahrt.
Dort kann eingesehen werden, daß der Große Fünfte
seine »Feenmärchen« immerhin so wichtig nahm, daß
er die einzelnen Kapitel durch einen roten Daumenab-
druck kennzeichnete.
Alles, was den westlichen Menschen so an Tibet faszi-
niert, ist in der vielschichtigen Person des V Dalai Lama
gebündelt. Heiligkeit und Barbarei, Mitgefühl und Re-
alpolitik, Magie und Macht, König und Bettelmönch,
Prunk und Bescheidenheit, Krieg und Frieden, Größen-
wahn und Demut, Gott und Mensch – der Papst von
Lhasa konnte diese Paradoxien auf eine einzige Formel
bringen, und die war er selbst. Er war eine für den nor-
malen Verstand unfaßbare Größe, ein fleischgewordener
Widerspruch, ein großer Solitär, von dem nach eigener
Doktrin das Leben der Welt abhing. Er war ein Myste-
rium für die Menschen, ein Monstrum für seine Feinde,
eine Gottheit für seine Anhänger, eine Bestie für seine
Gegner. Dieser geniale Despot ist – wie wir noch sehen
werden – das höchste Vorbild für den jetzigen XIV Da-
lai Lama.

Der Regent Sangye Gyatso

Für einen Nachfolger brauchte der V Dalai Lama nicht


zu sorgen, denn er war davon überzeugt, sich einige Tage
nach seinem Tode erneut in einem Kind zu inkarnieren.
Mit weiser Voraussicht mußte jedoch die Zeit zwischen

744
seiner Wiedergeburt und seiner Volljährigkeit geregelt
werden. Auch hier war die Wahl des »Großen Fünften«
machtpolitisch brillant. Als »Regenten« entschied er sich
für den Lama Sangye Gyatso (1653–1705) und stattete
ihn schon in den letzten Jahren seines Lebens mit allen
Regalien eines Königs aus. Er setzte ihn »auf den breiten
Thron des furchtlosen Löwen als den Vollstrecker zwei-
er Pflichten (einer weltlichen und einer religiösen), die
einem großen Chakravartin-Königtum entsprechen, als
einen Herrn von Himmel und Erde.« (* Ahmad, 43) Der
Dalai Lama hatte ihn also bis zur Volljährigkeit seines
Nachfolgers (der er selber war) zum Weltenherrscher er-
nannt. Man munkelte mit Recht, der Regent sei sein leib-
licher Sohn gewesen. (* Hoffmann, 1956, 176)
Von seinen Fähigkeiten her muß Sangye Gyatso nicht
nur als ein geschickter Staatspolitiker angesehen werden,
sondern er zeichnete sich auch als der Verfasser mehrerer
intelligenter Bücher zu solch unterschiedlichen Themen
wie Heilkunde, Rechtswesen, Geschichte und Ritualistik
aus. Gegen die Frauen von Lhasa ging er mit großer In-
toleranz vor. Nach einer zeitgenössischen Nachricht soll
er ein Gebot erlassen haben, nach dem sich jedes weibli-
che Wesen in der Öffentlichkeit nur mit einem schwarz
gefärbten Gesicht zeigen dürfe, damit die Mönche nicht
in Versuchung gerieten.
Um seine in der unruhigen Zeit gefährdete Position
zu festigen, hatte er das Ableben seines »göttlichen Va-
ters« (des V Dalai Lama) 10 Jahre lang geheimgehalten
und erklärt, der Kirchenfürst verharre in tiefster Medi-
tation. Als im Jahre 1703 der Mongolenprinz Lhazang

745
die zwischen Lhasa und den Kriegsnomaden nie völlig
geklärte Machtfrage stellte und selbst die Regentschaft
über Tibet beanspruchte, kam es zu einer bewaffneten
Auseinandersetzung.
Der rechte Flügel des Mongolenheeres wurde von der
martialischen Frau des Prinzen, Tsering Tashi, befehligt.
Ihr gelang es, den Regenten gefangen zu nehmen und sein
Todesurteil eigenhändig zu vollstrecken. Wenn sie im
»Lande der Götter« eine rächende Inkarnation der Srin-
mo war, dann hat sich ihre Rache auch auf den kommen-
den VI Dalai Lama ausgedehnt, über dessen Schicksal wir
noch in einem eigenen Kapitel sprechen werden.

Die Nachfolger des »Großen Fünften« :


Der XIII und der XIV Dalai Lama

Der VII und VIII Dalai Lama spielten in der politischen


Außenwelt nur eine blasse Rolle. Wie wir schon berich-
tet haben, starben die vier folgenden Gottkönige (IX–XII
Dalai Lama) eines frühzeitigen Todes oder wurden er-
mordet. Erst der sogenannte »Große Dreizehnte« kann
wieder als ein »Politiker« bezeichnet werden. Obgleich
mit der modernen Welt in ständigem Kontakt, dach-
te und handelte Thubten Gyatso, der XIII Dalai Lama
(1874–1933), wie sein Vorgänger, der »Große Fünfte«. Vi-
sionen und Magie bestimmten weiterhin das politische
Denken und Handeln in Tibet, nachdem der Knabe am
31. Juli 1879 unter großem Prunk in den Potala eingezo-
gen war. 1894 ergriff er die Macht im Staate.

746
Der amtierende Regent war kurz vorher wegen eines
schwarzmagischen Rituals, das er gegen den jungen, drei-
zehnten Gottkönig durchgeführt haben soll, und wegen
einer Konspiration mit den Chinesen verurteilt worden.
Man warf ihn in eines der furchtbaren Klosterverließe,
kettete ihn dort an und mißhandelte ihn zu Tode. Ein
Mitverschwörer, Oberhaupt einer angesehenen Adelsfa-
milie, wurde nach der Aufdeckung seiner Tat auf den Po-
tala gebracht und von der höchsten Zinne des Palastes
herabgestoßen. Namen, Besitz und sogar die Frauen sei-
nes Hauses gab man anschließend einem Günstling des
Dalai Lama als Geschenk.
1904 mußte der Gottkönig vor den Engländern, die
Lhasa besetzten, in die Mongolei fliehen. Auf Druck der
Manchu-Dynastie besuchte er 1908 Beijing. Wie der chi-
nesische Kaiser und die Kaiserin-Witwe Tze Hsi während
dieses Besuches auf eine mysteriöse Art und Weise star-
ben, haben wir schon erzählt. Später überwarf sich der
XIII Dalai Lama mit dem Panchen Lama69, der mit den
Chinesen kooperierte und 1923 aus Tibet fliehen muß-
te. Der »Große Dreizehnte« hat eine recht ergebnislose
Wechselpolitik zwischen Rußland, England und China
betrieben, weshalb ihm der Beiname »der Große« gege-
ben wurde, weiß keiner so recht, nicht einmal sein Nach-
folger aus Dharamsala.
Von einem amerikanischen Gesandten stammt der Ein-
druck, daß sich Seine Heiligkeit (der XIII Dalai Lama)

69 Nach dem Dalai Lama die zweithöchste Autorität in der Ge-


lugpa-Sekte.

747
»sehr wenig, wenn überhaupt, um etwas kümmerte, was
nicht seine persönlichen Privilegien und Vorzüge betraf,
daß er seinen Fall völlig von demjenigen des tibetischen
Volkes trennte, das er bereit war, ganz und gar der Gnade
Chinas auszuliefern.« (* Mehra, 20) Wenn wir uns daran
zurückerinnern, daß die Institution des Dalai Lama eine
Einrichtung der Mongolen war, die im Bürgerkrieg von
1642 gegen den Willen eines Großteils der Tibeter durch-
gesetzt wurde, mag eine solche Einschätzung durchaus
ihr Recht haben.
Als Inkarnation des Avalokiteshvara sah sich auch der
XIII Hierarch (wie der »Große Fünfte«) weniger von Poli-
tikern und Staatsoberhäuptern umgeben als von Göttern
und Dämonen. David Seyfort Ruegg weist scharfsinnig
darauf hin, daß die Kategorien, nach denen buddhistische
Machtträger historische Ereignisse und Persönlichkeiten
beurteilen, mit unseren westlichen, rationalen Vorstel-
lungen nichts gemein haben. Für sie sind an erster Stel-
le »übernatürliche« Kräfte und Mächte am Werk, welche
die Menschen als körperliche Hüllen und Instrumente
benutzen. Wir haben schon eine Kostprobe davon gege-
ben, wie der Gottkönig als Inkarnation des Avalokitesh-
vara der Kuan Yin in der Gestalt der Kaiserin-Witwe Tze
Hsi gegenüberstand. Weitere Beispiele sollen in den kom-
menden Kapiteln zeigen, wie Magie und Politik, Krieg
und Ritual auch bei ihm ineinanderspielen.
Wie steht es nun mit diesen Verflechtungen beim le-
benden XIV Dalai Lama ? Hat seine fast 40jährige Ver-
trautheit mit der westlichen Kultur etwas Grundsätzli-
ches an dem traditionellen Politikverständnis geändert ?

748
Ist der heutige Gottkönig frei von den archaisch-magi-
schen Machtvisionen seiner Vorgänger ? Lassen wir ihn
selber diese Frage beantworten : »Indem ich die Position
des V Dalai Lama einnehme«, erklärte der Kundun 1997
in einem Interview, »bin ich dazu verpflichtet, dem zu
folgen, was er getan hat.« (* Dalai Lama – ‹gn.apc.org/ti-
bet.london/dolgyal3.html›) Folglich sind auch wir dazu
berechtigt, alle Taten und Visionen des Großen V Hier-
archen dem XIV Dalai Lama anzurechnen und seine
Politik nach den Kriterien seines berühmten Vorbildes
zu beurteilen.

Inkarnation und Macht

Die spezifische Herrschaftsgewalt des Lamaismus ba-


siert auf der Inkarnationlehre. Früher (vor der kommu-
nistischen Invasion) überzog das Inkarnationssystem
das gesamte Schneeland wie ein Netzwerk. In Tibet wer-
den die mönchischen Inkarnationen »Tulkus« genannt.
Tulku heißt wörtlich der »sich umgestaltende Leib«. In
der Mongolei nennt man sie »Chubilgane«. Davon gab
es Ende des verflossenen Jahrhunderts über Hundert.
Selbst in Beijing waren während der Kaiserzeit unter den
Manchus vierzehn lamaistische Tulkus als feste Staats-
posten vorgesehen, wenn auch nicht immer besetzt.
Die tibetische Inkarnationslehre wird oft mißverstan-
den. Während in westlichen Wiedergeburtsvorstellungen
eine rein individualistische Idee vorherrscht in dem Sin-
ne, daß ein Individuum hintereinander mehrere Leben

749
auf dieser Erde durchläuft, unterscheidet man in Tibet
drei Typologien von Inkarnation :
1. Die Inkarnation als die Ausstrahlung eines überna-
türlichen Wesens, eines Buddhas, Bodhisattvas oder
einer zornvollen Gottheit. Inkarnation bedeutet hier,
daß der entsprechende Lama die Verkörperlichung ei-
ner Gottheit ist, so wie der Dalai Lama eine Verkörpe-
rung des Avalokiteshvara. Ein Tulku lebt aus den spi-
rituellen Energien eines transzendenten Wesens oder
umgekehrt, dieses Wesen emaniert in einem mensch-
lichen Körper.
2. Die Wiederverkörperung entsteht durch die initia-
torische Übertragung vom Meister auf den Sadhaka,
das heißt, der »Wurzelguru« (repräsentiert durch den
Meister) und die hinter ihm stehenden Gottheiten in-
karnieren sich im Schüler.
3. Es handelt sich um die Wiedergeburt einer histori-
schen Gestalt, die sich in der Form eines neugebore-
nen Kindes offenbart. Zum Beispiel ist der XIV Dalai
Lama auch eine Inkarnation des V Dalai Lama.
Die erste und dritte Inkarnationsvorstellung brauchen
sich nicht zu widersprechen, sondern können sich er-
gänzen, so daß sich in einer Person gleichzeitig ein ehe-
mals verstorbenes Individuum und eine Gottheit »ver-
fleischlichen«. Der Gottheit sind aber auf jeden Fall der
Vorrang und die höchste Autorität zuzugestehen.
Es liegt auf der Hand, daß ihre körperliche Kontinuität
und Präsenzin dieser Welt durch die Inkarnationsdok-
trin weit besser gewährleistet ist als durch eine natürliche
Erbfolge. In einem religiösen System, in dem der Mensch

750
letztendlich nichts, die hinter ihm stehenden Götter da-
gegen alles bedeuten, stellt der humane Leib nur das In-
strument dar, damit ein Höheres Wesen in Erscheinung
treten kann. Von der Gottheit aus gesehen würden bei
einer natürlichen Reproduktion die persönlichen Inter-
essen einer Familie mit den eigenen göttlichen Ambitio-
nen in Konflikt geraten.
Das Inkarnationssystem hingegen ist unpersönlich,
anti-genetisch und anti-aristokratisch. Deswegen wird
dadurch der Mönchsorden als solcher geschützt. Durch
die Erziehung eines »göttlichen« Kindes schafft er sich
die besten Voraussetzungen für das Fortleben seiner Tra-
dition, die nicht mehr durch unfähige Erben, Familien-
intrigen und Nepotismus geschädigt werden kann.
Auf einer grundsätzlicheren symbolischen Ebene muß
die Inkarnationsdoktrin jedoch als ein genialer Schach-
zug gegen das Gebärprivileg der Frau und die Abhän-
gigkeit des Menschen vom Geburtenkreislauf gesehen
werden. Sie macht »theoretisch« von der Geburt und von
der Frau als Großer Mutter unabhängig. Daß dennoch
Mütter benötigt werden, um die kleinen Tulkus auf die
Welt zu bringen, ist buddhologisch gesehen nicht von
Bedeutung. Die Frauen dienen hierzu ausschließlich als
ein Werkzeug, sind sozusagen die fleischliche Wiege, in
die sich der Gott in der Gestalt eines Embryos niederlegt.
Deswegen sieht man auch die Empfängnis eines inkar-
nierten Lamas (Tulku) immer als einen übernatürlichen
Vorgang an, und sie entsteht nicht wie im Normalfall
aus der Vermischung des männlichen mit dem weibli-
chen Samen. Wie in der Buddhalegende, wo die Mutter

751
des Erhabenen in einem Traum von einem Elefanten ge-
schwängert wird, so hat die Mutter eines tibetischen Tul-
kus Visionen und Träume von göttlichen Wesenheiten,
welche in sie eintreten. Der »Ammendienst« aber wird
schon von den Mönchen übernommen, die das Kind vom
zartesten Alter an mit der Milch ihrer androzentrischen
Weisheit säugen.
Die Reinkarnationsdoktrin stattet den Klerus mit einem
hochgradigen Symbolsystem aus, das von normalen Sterb-
lichen nicht betreten werden darf. Aber wie historische
Beispiele zeigen, ließen sich zuweilen Vorteile der Verkör-
perungslehre durchaus mit der natürlichen Abstammung
kombinieren. So galt bei den machtvollen Sakyapas, bei
denen sich die Abtwürde innerhalb einer Familiendyna-
stie vererbte, sowohl die Erbfolge wie das Inkarnationsge-
bot. Verwandte, meist die Neffen des Sakyapa-Kirchenfür-
sten, wurden einfach zu Tulkus deklariert.
Sehen wir uns noch den lamaistischen »Linienbaum«
oder »spirituellen Stammbaum« und seine Beziehung
zum Tulku-System an. Eigentlich müßte man vermuten,
daß das als Wiedergeburt erkannte Kind schon über alle
Einweihungen, welche es in früheren Leben erhalten hat,
verfügt. Das ist jedoch paradoxerweise nicht der Fall. Je-
der Dalai Lama, jeder Karmapa, jeder Tulku wird »er-
neut« in die verschiedenen tantrischen Mysterien durch
einen Meister eingeweiht. Erst danach darf er sich als ein
Zweig des »Linienbaumes« betrachten, dessen Wurzeln,
Stamm und Krone aus den vielen Vorgängern seines Gu-
rus und dessen Guru bestehen. Es gibt Kritiker des Sy-
stems, die deswegen mit einigem Recht behaupten, ein

752
als Inkarnation erkanntes Kind werde erst nach seiner
»Indoktrinierung« (nach seinen Initiationen) zum »Ge-
fäß« einer Gottheit.
Die traditionelle Macht der einzelnen lamaistischen
Sekten wird vor allem durch ihren Linienbaum demon-
striert. Er ist das idealisierte Bild einer hierarchisch-sa-
kralen Sozialstruktur, die ihre Legitimation aus den göttli-
chen Mysterien zieht, und soll den Untertanen suggerieren,
daß ihre Machtelite die sichtbare und die Zeit transzen-
dierende Versammlung einer unsichtbaren, unveränder-
lichen Überordnung darstellt. Am Ursprung des Einwei-
hungsbaumes steht immer ein Buddha, der in einen Bo-
dhisattva emaniert, und dieser verkörpert sich dann in
einen Maha Siddha. Die umherschweifenden, wild aus-
sehenden Gründer-Yogis (Maha Siddhas) werden jedoch
sehr bald in den folgenden Generationen durch gesichts-
lose »Beamtentypen« innerhalb des Linienbaumes ersetzt,
aus phantastischen Großzauberern sind uniformierte
Staatsträger geworden. Der Linienbaum besteht jetzt aus
den Gelehrten und Erz-Äbten des Lamastaates.

Der »Große Fünfte« und das Inkarnationssystem

Historisch spielte die Inkarnationsfrage bei der »gelben


Sekte« (Gelugpa), die traditionsgemäß den Dalai Lama
stellt, zuerst keine so bedeutende Rolle wie zum Beispiel
bei den »Rotmützen« (Kagyüpa). Erst der V Dalai Lama
baute das System richtig für seine Institution aus und
entwickelte es zu einem genialen politischen Kunstpro-

753
dukt, dessen einzelne Entstehungsphasen in den Jahren
1642 bis 1653 wir anhand der Dokumente genau rekon-
struieren können. Der »Große Fünfte« sah sich als eine
Inkarnation des Bodhisattvas Avalokiteshvara. Die Ver-
körperung des tibetischen »Nationalgottes« wurde vor-
her vor allem von dem Sakyapa- und Kagyüpa-Orden,
nicht aber von der Gelugpa-Schule in Anspruch genom-
men. Deren Gründer, Tsongkapa, galt vielmehr als eine
Ausstrahlung des Bodhisattvas Manjushri, des »Herrn
der transzendentalen Wissenschaft«. Dagegen traten die
Karmapas schon im 13. Jahrhundert als Manifestationen
des Avalokiteshvara an die Öffentlichkeit.
Eine Identifizierung mit dem tibetischen »National-
gott« und Urvater Chenrezi (Avalokiteshvara) war sozu-
sagen eine mythologische Bedingung, um das Schnee-
land und seine Geister beherrschen zu können. Vor al-
lem da die Unterwerfung und Zivilisierung Tibets mit
den »guten Taten« des Bodhisattva in Zusammenhang
gebracht wurde, angefangen von seiner Vereinigung mit
der Urmutter Srinmo. Auch im Volk genoß der Bodhi-
sattva die höchste göttliche Autorität, und sein Mantra
om mani padme hum war täglich in aller Munde. Wer
also über die Tibeter und vom Dach der Welt aus über
das Universum regieren wollte, der konnte dies nur als
eine Manifestation des Feuergottes Chenrezi, des Herr-
schers unseres Zeitalters, tun.
Das wußte der »Große Fünfte« sehr genau, und durch
ein raffiniertes Meisterstück der metaphysischen Ge-
schichtsfälschung gelang es ihm, sich selbst als Avalo-
kiteshvara und als die letzte Station von insgesamt 57

754
vorausgegangenen Inkarnationen des Gottes zu etablie-
ren. Oder war – wie er selber berichtet – tatsächlich ein
Wunder geschehen, das ihm die politisch schwerwiegen-
de Inkarnationsliste in die Hände spielte ? Denn durch
ein von ihm persönlich gefundenes Terma (das ist ein
wiederentdeckter, in der Zeit der tibetischen Könige ver-
faßter und versteckter Text) wurde ihm seine Inkarna­
tionskette »geoffenbart«.
Unter den in diesem Text aufgezählten »Ahnen«
befinden sich zahlreiche Größen der tibetischen Ge-
schichte – hervorragende Politiker, geniale Gelehrte,
Meisterma­gier und siegreiche Feldherren. So konnte sich
der »Große Fünfte« mit diesem von ihm »gefundenen«
oder »erfundenen« Dokument eine über die Jahrhun-
derte hinweg reichende staatspolitische und intellek-
tuelle Autorität sichern. Insbesondere war die Liste ein
wertvoller Legitimationsbeweis für sein sakral-weltli-
ches Königtum, da sie den großen Imperator Songsten
Gampo unter seinen »Inkarnationsvorfahren« aufführ-
te. Der japanische Tibetologe Ishihama Yumiko läßt in
seiner Analyse über die Einführung des Chenrezi-Kul-
tes durch Seine Heiligkeit keinen Zweifel daran, daß
es sich hierbei um eine machtpolitische Konstruktion
handelt. (* Yumiko, 54, 55)
Welche Wesenheiten saßen nun und sitzen immer noch,
ausgehend von der Inkarnationstheorie des V Dalai Lama,
auf dem goldenen Löwenthron ? Zuerst der feurige Bodhi-
sattva Avalokiteshvara, dann der androgyne Zeitdreher
Kalachakra, dann der tibetische Kriegerkönig Songsten
Gampo, dann der zauberkundige Siddha Padmasambha-

755
va (der Gründer des tantrischen Buddhismus in Tibet)
und zum Schluß der V Dalai Lama selbst mit all seinen
Namensvorgängern. Das war keineswegs alles, aber die
genannten sind die Hauptprotagonisten, welche das In-
karnationsschauspiel in Tibet bestimmten. Auch der XIV
Dalai Lama als der Nachfolger des »Großen Fünften« re-
präsentiert die oben genannten »Gottheiten« und histo-
rischen Vorgänger.
Bei einer Beurteilung des buddhokratischen Systems
und der Geschichte Tibets müssen deswegen an erster
Stelle die machtpolitischen Absichten der beiden Haupt-
götter (Avalokiteshvara und Kalachakra) untersucht und
bewertet werden, um von da aus auf die Intentionen des
jeweils lebenden Dalai Lamas zu schließen. »Es ist un-
möglich«, schreibt der Tibetologe David Seyfort Ruegg,
»eine klare Grenze zwischen dem ›Heiligen‹ und ›Pro-
fanen‹, beziehunsgweise zwischen dem Spirituellen und
Zeitlichen zu ziehen. Das ist sehr eindeutig im Fall der
Bodhisattva-Könige, welche von den Dalai Lamas dar-
gestellt werden, da diese sowohl Erscheinungskörper des
Avalokiteshvara … als auch weltliche Herrscher … sind.«
(* Ruegg, 91)

Der Panchen Lama

Wenn wir davon ausgehen, daß, je höher eine geisti-


ge Wesenheit steht, desto größer seine Macht ist, müs-
sen wir die Frage stellen, weshalb der V Dalai Lama den
ersten Panchen Lama Lobzang Chokyi Gyaltsen (1567–

756
1662), seinen ehemaligen Lehrer, im Jahre 1650 als eine
Inkarnation des Amithaba bestätigte und ausrufen ließ.
In der Hierarchie rangiert ja Amithaba, der »Buddha des
unendlichen Lichts«, über dem aus ihm emanierten Bo-
dhisattva Avalokiteshvara. Die Entscheidung des äußerst
machtbewußten Gottkönigs aus Lhasa ist deswegen nur
zu verstehen, wenn man weiß, daß Amithaba als Medita-
tionsbuddha nicht in das weltliche Geschehen eingreifen
darf. Er existiert der Doktrin nach nur als ein Prinzip der
Bewegungslosigkeit und wirkt ausschließlich durch seine
Ausstrahlung. Auch wenn er der Buddha unseres Zeital-
ters ist, so muß er dennoch jede weltliche Aktivität dem
Bodhisattva Avalokiteshvara, seinem aktiven Arm, über-
lassen. Nach einer solchen Kompetenzverteilung konnte
eine Konkurrenz zwischen dem Panchen Lama und dem
Dalai Lama überhaupt nicht aufkommen.
Trotzdem haben sich die Panchen Lamas nie in diese
ihnen zugewiesene unpolitische Rolle fügen wollen. Im
Gegenteil – mit allen Mitteln haben sie versucht, in das
»Weltgeschehen« einzugreifen. Ihr Zentralkloster, Tas-
hi Lhunpo, wurde zeitweise zu einer Hochburg, in der
alle diejenigen ausländischen Potentaten Gehör fanden,
welche vom Potala abgewiesen worden waren. Während
man Anfang des Jahrhunderts in Lhasa mit den Rus-
sen und Mongolen verhandelte, konspirierte man in Tas-
hi Lhunpo mit den Engländern und Chinesen. So wur-
de die staatsmännische Autonomie des Panchen Lama
oft die Ursache für zahlreiche und heftige Dissonanzen
mit dem Dalai Lama, die mehrmals bis an den Rand des
Schismas gerieten.

757
Die sakrale Macht der tibetischen Könige
und deren Übertragung auf die Dalai Lamas

Um seine volle weltliche Herrschaft zu begründen, lag es


für den »Großen Fünften« nahe, Anleihen bei der Sym-
bolik des sakralen Königtums zu machen. Das Effekt-
vollste war, sich selbst als Inkarnation bedeutender sä-
kularer Herrscher zu präsentieren mit der Vorgabe, de-
ren erfolgreiche Politik jetzt fortzusetzen. An diese Idee
knüpfte der V Dalai Lama an und erweiterte seine In-
karnationskette bis hin zu den göttlichen Urkönigen aus
vorhistorischer Zeit.
Diese waren aber, wie wir wissen, keineswegs buddhi-
stisch, sondern pflegten einen besonderen schamanistisch
geprägten Religionsstil. Sie leiteten ihre Herkunft aus ei-
nem alten Geistergeschlecht ab, das aus der Region des
Himmels auf die Erde herabgestiegen war. Durch ein Edikt
des V Dalai Lama wurden sie und mit ihnen die späteren
historischen Könige als Ausstrahlungen von »Buddhafel-
dern« umgedeutet. Als Beweis hierfür galt neben einem
von dem fündigen Hierarchen selbst »entdeckten« Doku-
ment ein weiterer »verborgener« Text (Termo), das Moni
Kabum, welches ein eifriger Mönch im 12. Jahrhundert
entdeckt haben will. Darin wurden die drei mächtigsten
Herrschergestalten der Yarlung-Dynastie zu Emanationen
von Bodhisattvas erklärt : Songtsen Gampo (617–650) als
eine Verkörperung des Avalokiteshvara, Trisong Detsen
(742–803) als eine Ausstrahlung von Manjushri und Ral-
pachan (815–883) als eine von Vajrapani. Sie galten von
nun an als Träger der buddhistischen Lehre.

758
Die tibetischen Könige übernahmen posthum, nach-
dem ihre buddhistische Herkunft gesichert war, alle Ei-
genschaften eines Weltenherrschers. Als Dharmarajas
(Gesetzeskönige) repräsentierten sie von nun an das kos-
mische Gesetz auf Erden. Ebenso konnte sich jetzt der
»Große Fünfte« als die Wiedergeburt des mächtigsten
säkularen Königs (des Songsten Gampo, der ebenfalls
eine Inkarnation des Avalokiteshvara war) feiern lassen
und dadurch das Imperium (die weltliche Herrschaft)
mit dem Sacerdotium (der geistigen Macht) kombinie-
ren. Diese Wahl legitimierte ihn als nationalen Heros
und obersten Kriegsherrn und erlaubte eine grundsätz-
liche Reform des lamaistischen Staatssystems, das S. J.
Tambiah als die »Feudalisierung der Kirche« bezeich-
net. Der große Feldherr und Stammeshäuptling Songt-
sen Gampo (617–650), der während seiner Regentschaft
das Hochland zu einem Staat von bis dahin nie erreichter
Größe zusammenschweißte, wurde also in das buddhi-
stische Pantheon aufgenommen. Noch heute finden wir
beeindruckende Darstellungen des gefürchteten Kriegs-
herrn – meist in voller Rüstung, flankiert von seinen bei-
den Hauptfrauen, der Chinesin Wen Cheng und der Ne-
palesin Bhrikuti.
Der König soll ein Heer von 200 000 Mann befehligt
haben. Seine Kriegsführung galt als äußerst barbarisch,
und die »Rotgesichtigen«, wie die Tibeter von den um-
liegenden Völkern genannt wurden, verbreiteten Angst
und Schrecken in ganz Zentralasien. Die Größe, zu der
Songtsen Gampo sein Imperium ausdehnen konnte, ent-
spricht in etwa dem Territorium, welches heute noch der

759
XIV Dalai Lama als sein Autonomiegebiet beansprucht.
So wurden dank dem »Großen Fünften« auch die geo-
politischen Maßstäbe aus dem sakralen Königtum über-
nommen.
Im Sinne eines tantrischen Geschichtsverständnisses
waren jedoch die größte Tat dieses archaischen Königs
(Songtsen Gampo) die Festnagelung der Erdmutter Srin-
mo und die Fixierung ihres Herzens unter dem höchsten
Heiligtum des Landes, dem Jokhang-Tempel. Der »Gro-
ße Fünfte« hat als überzeugter Ritualist sicher die »Be-
zwingung der Dämonin« als Ursache für die geschicht-
lichen Erfolge des Songtsen Gampos gewertet. Auch er
wird fast tausend Jahre später jeder politischen und mi-
litärischen Entscheidung ein magisches Ritual voraus-
gehen lassen.
Eines Tages soll ihm Songtsen Gampo im Traum er-
schienen sein und ihn aufgefordert haben, eine goldene
Statue von ihm (dem König) im »Stil eines Chakravar-
tin« herstellen und diese im Jokhang-Tempel aufstellen
zu lassen. Als der »Große Fünfte« im Jahre 1651 Orte be-
suchte, an denen der Große König früher wirksam ge-
wesen war, regnete es dort nach den Chroniken Blumen
aus dem Himmel, und durch die Luft schwebten die acht
tibetischen Glückszeichen.

Der XIV Dalai Lama und die Inkarnationsfrage

Der XIV Dalai Lama kam am 6. Juli 1935 als das Kind
einfacher Leute in einem Dorf mit dem Namen Takster,

760
das heißt soviel wie »leuchtender Tiger«, zur Welt. Im
Zusammenhang mit unserer Studie über die Geschlech-
terthematik ist es interessant, daß die Eltern dem Kna-
ben ursprünglich einen Mädchennamen gaben. Man
nannte ihn Lhamo Dhondup, das heißt »wunscherfül-
lende Göttin«. Die Androgynität dieser Inkarnation des
Avalokitshvara war somit schon vor der offiziellen Aner-
kennung signalisiert.
Mittlerweile ist die Geschichte seiner Entdeckung so
oft erzählt und spektakulär verfilmt worden, daß wir sie
hier nur skizzieren wollen. Nach dem Tode des XIII Da-
lai Lama sah der damalige Regent (Reting Rinpoche) in
einem See, welcher der Schutzgöttin Palden Lhamo ge-
weiht war, geheimnisvolle Buchstaben, die zusammen mit
anderen Visionen daraufhinwiesen, daß sich die neue In-
karnation des Gottkönigs im Nordosten des Landes in der
Provinz Amdo befinde. Eine Suchkommission wurde in
Lhasa ausgerüstet und machte sich auf die beschwerliche
Reise. In einer Hütte des Dorfes Takster soll einem der
Komissionäre ein kleiner Knabe entgegengelaufen sein
und die Halskette des XIII Dalai Lama, die dieser in Hän-
den hielt, verlangt haben. Der Mönch weigerte sich und
wollte sie nur geben, wenn das Kind sage, wer er sei. »Ihr
seid ein Lama aus Sera !« soll der Knabe im Dialekt, der
nur in Lhasa gesprochen wurde, gerufen haben. 70
Aus den ihm vorgelegten Gegenständen wählte er an-
schließend diejenigen seines Vorgängers aus ; die ande-
ren legte er zur Seite. Auch die durchgeführte körper-

70 Sera ist das Kloster, dem der Regent angehörte.

761
liche Untersuchung des Kindes zeigte die notwendigen
fünf Merkmale, die einen Dalai Lama auszeichnen : Ab-
druck einer Tigerhaut auf dem Schenkel ; verlängerte Au-
genwimpern mit gekrümmten Wimpern ; große Ohren ;
zwei Fleischauswüchse auf den Schultern, welche zwei
rudimentäre Arme des Avalokiteshvara darstellen sol-
len ; Abdruck einer Muschel auf der Hand.
Es wird aus verständlichen Gründen gerne verschwie-
gen, daß im Elternhause Seiner Heiligkeit ein chinesi-
scher Dialekt gesprochen wurde. Der deutsche Tibet-
forscher Matthias Hermanns, der zu der Zeit der Auf-
findung in Amdo Feldforschungen betrieb und mit der
Familie des jungen Kunduns gut bekannt war, berichtet,
daß das Kind überhaupt kein Tibetisch verstand. Als er
mit ihm zusammentraf und nach seinem Namen fragte,
antwortete der Knabe auf Chinesisch, er heiße »Tschi«.
Das war der offizielle chinesische Name für das Dorf
Takster. (* Hermanns, 1956, 319) Unter schwierigen Um-
ständen gelangte das Kind Ende 1939 nach Lhasa und
wurde dort als Kundun, als lebender Buddha, empfan-
gen. Schon als Achtjähriger erhielt er die ersten Einfüh-
rungen in die tantrischen Lehren.

Mutter und Kind

Jedem kleinen Tulku, der schon in frühester Jugend von


der Familie getrennt wird, geht die mütterliche Berüh-
rung ab. Diese Rolle übernahm für den XIV Dalai Lama
sein Koch, Ponpo mit Namen. Nicht beim Tode seiner

762
Das Scheren der Haare beim Eintritt ins Kloster

Mutter, sondern beim Tod seiner Ersatzmutter Ponpo


vergoß der Kundun bittere Tränen. »Er ernährte mich !«
sagte er traurig. »Die meisten Säugetiere betrachten die
Kreatur, welche sie ernährt, als wichtigste in ihrem Le-

763
ben. So etwa empfand ich Ponpo. Ich weiß, daß meine
Lehrer wichtiger waren als mein Koch, aber emotional
hatte ich an ihn die engste Bindung. Er war meine Mut-
ter, mein Vater, meine ganze Familie.« (* Craig, 326)
Bei einem Gespräch, das der Dalai Lama später mit
Wissenschaftlern führte, interessierte er sich sehr für die
mütterliche Wärme und zärtliche Berührung des Kin-
des als ein wichtiges Moment in der Persönlichkeitsent-
wicklung. Nachdenklich wurde er, als ihm eine Refe-
rentin erklärte, daß es ohne solche körperlichen Kon-
takte in der Kindheit zu schweren psychischen Schäden
bei den betroffenen Menschen kommen könne. (Dalai
Lama XIV, 1995, 319)
Alle jungen Tulkus müssen in der rein männlichen Ge-
sellschaft der Klöster jeglicher mütterlicher Berührung
entbehren, und das mag ein unausgesprochenes psycholo-
gisches Problem des gesamten Lamaismus sein. Der tibe-
tische Guru Chögyum Trungpa hat, ohne es zu wollen, in
seinem »Trotzgedicht« Nameless Child dieser Sehnsucht
nach familiärem Kontakt Ausdruck verliehen : »Plötzlich«,
heißt es dort, »tritt ein leuchtendes Kind ohne Namen in
das Sein … In einer Welt, wo Metallvögel krächzen, kann
das aus sich selbst geborene Kind keinen Namen finden …
Weil es keinen Vater hat, hat das Kind keine Familienli-
nie. Es hat nie die Milch geschmeckt, weil es keine Mut-
ter hat. Es hat keinen, mit dem es spielen kann, weil es
keinen Bruder und keine Schwester hat. Da es kein Haus
hat, hat es keine Wiege. Da es keinen Lutscher hat, hat es
nie geschrien. Da es keine Kultur gibt, so kennt es kei-
ne Spielzeuge … So weil es keinen Bezugspunkt gibt, hat

764
es nie ein eigenes Selbst gefunden.« (* zit. b. June Camp-
bell, 88) Das Gedicht soll das »aus sich selbst geborene
Kind« verherrlichen, aber es ähnelt mehr dem Verzweif-
lungsschrei eines Wesens, das auf das Glück der Kind-
heit verzichten mußte, weil es tantrisch in das Gefäß ei-
ner Gottheit verwandelt wurde.

Die Einführung der Inkarnationslehre in den Westen

Heute ist der Westen von der Inkarnationsidee geradezu


fasziniert. Sie hat in den letzten zwanzig Jahren blitzar-
tig die Vorstellungswelt von Millionen erobert. Ein gro-
ßer Prozentsatz der Nordamerikaner glaubt an die Wie-
dergeburt. Bücher über dieses Thema sind mittlerwei-
le Legion. Fasziniert sind die Menschen auch von der
Vorstellung, daß ihnen in der Gestalt eines tibetischen
Lamas eine wahrhaftige »Gottheit« gegenüberstehe. So
wurde der Wiedergeburtsgedanke zu einem machtvol-
len Instrument bei der lamaistischen Eroberung des We-
stens. Schon früher hatte sich unter einigen wenigen Eu-
ropäern die Vorstellung gebildet, sie seien die Wieder-
geburten ehemaliger Tibeter oder Mongolen. In Kreisen
der Theosophie waren solche Inkarnationsspekulatio-
nen en vogue. Auch Alexandra David Neel wurde von ei-
nem tibetischen Lama darauf aufmerksam gemacht, daß
sie aus der Rasse des Dschinghis Khan stamme.
1985 entdeckte man, daß sich der ehrenwerte Lama
Yeshe als das Kind zweier spanischer Eltern inkarniert
habe. Seine Heiligkeit kommentierte das spektakuläre

765
Ereignis mit folgenden Worten : Der Buddhismus »kennt
viele verschiedene Methoden der Praxis, des Verständ-
nisses und der Meditation. Er hat deswegen die Anzie-
hungskraft eines Supermarktes. So ist die Tatsache, daß
Lama Yeshe, dessen Hauptarbeit sich im Westen abspiel-
te, in Spanien wiedergeboren wurde, nur logisch … Zur
Zeit gibt es schon einige im Westen inkarnierte Lamas.«
(* Mackenzie, 155)
Auch mit Bernardo Bertoluccis Film Little Buddha
wurde die Idee westlicher Reinkarnationen propagiert.
Die Handlung schildert, wie ein Lama sich gleichzeitig
in einen weißen Jungen aus Seattle und erstaunlicher-
weise auch in einem Mädchen verkörpert.
Eine amüsante Anekdote, ebenfalls aus der Filmwelt,
brachte die tibetische Inkarnationsdokrin ein wenig in
Mißkredit. Der berühmte Aikido-Kämpfer und Schau-
spieler Steven Seagal gab nämlich bekannt, er sei die
Wiedergeburt eines bedeutenden Lamas (Chungrag Dor-
je), der vor mehreren Jahrhunderten gelebt und sich als
Schatzsucher (Terton) einen Namen gemacht habe. 71 Es
war keineswegs so, daß Seagal seine vorgeburtliche Iden-
tität aus reiner Willkür annahm, er konnte sich vielmehr
auf die Bestätigung von Penor Rinpoche, dem Oberhaupt
der Nyingmapa-Schule, berufen.
Unter westlichen Buddhisten löste diese »Offenbarung«

71 Unter solchen »Schätzen« (Termo) versteht man – wie wir


schon erwähnt haben – von Dakinis oder dem »Religionsgrün-
der« Padmasambhava versteckte Geheimlehren. Viele Jahre spä-
ter werden sie von auserwählten Personen entdeckt und dann
auch praktiziert.

766
eine Menge von Fragen und einige Verwirrung aus. Im
Internet spekulierte man zum Beispiel, ob Seagal den »In-
karnationstitel« gekauft habe, ob es sich hierbei nicht um
einen Akt religionspolitischer Propaganda handle, um
die Popularität des Schauspielers auszunutzen, und vieles
mehr. Für andere war der Vorfall eher peinlich, da sich
Seagal bald nach seiner Anerkennung in Mönchsroben
zeigte. Als er sich zu Beginn des Jahres 1997 in Bodghaya
(Indien) aufhielt, setzte er sich auf den Platz, wo der hi-
storische Buddha seine Erleuchtung erfuhr, und »segnete
Hunderte völlig verdutzter tibetischer Mönche«. (* Time,
Sept. 8, 1997, 65) Erst kürzlich wurde Seagal nach eigenen
Worten vom Dalai Lama aufgefordert, an von ihm per-
sönlich durchgeführten Belehrungen teilzunehmen.
Solche sensationellen und freigiebigen Verbreitungen
von Inkarnationen im Westen könnten jedoch der ganzen
buddhistisch-tantrischen Idee in Zukunft schaden. Das
System hat ja nicht nur seine Stärken, sondern auch seine
Schwächen, die vor allem in der Unmündigkeit des in-
karnierten Kindes liegen, von dem man nicht genau weiß,
was mit ihm später geschieht, und das bis zu seiner Voll-
jährigkeit handlungsunfähig bleibt. Ernennungen durch
den Dalai Lama wären wahrscheinlich ein viel effektive-
res Mittel, um seine zentralistische Macht zu sichern. In
der Tat wird deswegen in seinem Umkreis darüber dis-
kutiert, ob die Wiederverkörperung von Mönchen über-
haupt sinnvoll sei. »Es wäre besser, das gesamte Tulku-
System aufzugeben«, schreibt Dahyb Kyabgö Rinpoche
in der Tibetan Review, da es zu einer unkontrollierbaren
Inflation von mönchischen Wiederverkörperungen ge-

767
führt habe. (* Tibetan Review, Juli 1994, 13)
Auch der Kundun spekuliert zuweilen in der Öffent-
lichkeit darüber, ob es nicht politisch klüger wäre, einen
Nachfolger zu benennen, anstatt erneut zu inkarnieren.
Aber er legt sich da nicht fest. Auf einer Konferenz von
350 Tulkus gab er im Jahre 1989 bekannt, daß er sich auf
keinen Fall im Herrschaftsgebiet der Chinesen wieder-
verkörpern werde. (* Tibetan Review, Januar 1989, 5)
Insgesamt ist der XIV Dalai Lama an einer zahlen-
mäßig sehr kleinen und gut funktionierenden Inkarna-
tionselite interessiert, die mit einem effektiven Benen-
nungssystem kombiniert wird. Er weiß, daß eine zu loc-
kere Ausdehnung oder gar eine Demokratisierung des
Inkarnationsgedankens die Exklusivität desselben völ-
lig unterhöhlen würde. Benennungen und Initiationen
durch einen Guru sind ihm deswegen im Grunde wich-
tiger, aber nie wird er auf das System als solches, das ei-
nen so bezaubernden Reiz auf die westliche Imaginati-
on ausübt, verzichten wollen.
Auf die Frage ob er selber noch einmal als Dalai Lama
inkarnieren werde, antwortet er schon seit Jahren immer
wieder mit demselben Satz : »Sollte das tibetische Volk
nach meinem Tod noch immer einen Dalai Lama wol-
len, dann wird auch ein neuer Dalai Lama kommen. Ich
werde allerdings nicht versuchen, diese Entscheidung in
irgendeiner Weise zu beeinflussen. Wenn sich mein Volk
in den nächsten Jahren entscheiden wird, mit alten Tra-
ditionen Schluß zu machen, dann muß man das akzep-
tieren.« (* Playboy, März 1998, 44)
Wir müssen es dem Urteil unserer Leser und Leserin-

768
nen überlassen, wie ernst sie eine solche »demokratische«
Lösung der Traditionsfrage durch den tibetischen Budd-
hokraten nehmen. Daß sich die Götter dem Volkswillen
beugen, wäre zumindest in der Geschichte Tibets völlig
neu. Aber auf jeden Fall werden wir in den nächsten In-
karnationen nicht auf die »kostbare Anwesenheit« (Ti-
bet. Kundun) Seiner Heiligkeit verzichten müssen, auch
wenn er nicht mehr in der Gestalt eines Dalai Lama er-
scheint. Am Ende seines schon mehrmals zitierten Play-
boy-Interviews gibt er seinen Lesern noch folgenden Satz
mit auf den Weg : »So lange, wie der Kosmos besteht, und
so lange, wie es Lebewesen gibt, so lange werde ich hier
gegenwärtig sein, um das Leid der Welt zu vertreiben.«
(* Playboy, März 1998, 44)

Die verschiedenen Orden des


tibetischen Buddhismus

Drei der vier Hauptschulen, die das religiöse Leben Ti-


bets bestimmten, haben sich alle vom 11. bis zum 14.
Jahrhundert herausgebildet : die Sakyapa, die Kagyüpa
und die Gelugpa. Die Nyingmapa dagegen existieren
schon seit Anfang des 9. Jahrhunderts. Alle vier »Sek-
ten« sind auch heute noch die wichtigsten Träger der
tantrischen Kultur. Es war das geniale Werk des »Gro-
ßen Fünften«, die spirituelle und politische Essenz aus
allen traditionellen Orden wie ein Alchemist heraus-
zudestillieren und seiner Institution als »Dalai Lama«
souverän einzuverleiben. Ein machtpolitischer Akt, der

769
heute von seiner Inkarnation dem XIV Dalai Lama wie-
derholt wird.

Die Gelugpa

Der »Große Fünfte« stammte aus dem Gelugpa-Orden.


Von allen tibetischen Schulen waren die sogenannten
»Gelbmützen« die am straffsten organisierte Richtung.
Ihr Gründer und hervorragender Gelehrte Tsongkapa
(1357–1419) hatte mit einem moralischen Feldzug gegen
die Verwahrlosung der Lehre und die Ausschweifungen
in den Klöstern begonnen. Er verbot den Genuß berau-
schender Getränke, forderte die strikte Einhaltung des
Zölibats, bestand auf strenger Arbeitsdisziplin, verbes-
serte die Kleiderordnung und reformierte die tägliche
Liturgie. Gegen Ende seines Lebens war es ihm gelungen,
die allgemeine Dekadenz in den verschiedenen Schulen
durch die Errichtung eines neuen Ordens aufzuhalten.
Dieser wurde programmatisch Gelugpa genannt, das
heißt »Anhänger des Tugendpfades«. Obgleich es Vor-
läufer gab, verdankt der tibetische Buddhismus letzt-
endlich den »Tugendhaften« seine buddhokratisch-kle-
rikale Struktur. Zur »gelben Kirche« zählen die drei »ge-
lehrtesten« Klöster des Hochlandes : Ganden, Drepung
und Sera. Diese »drei Juwelen« des Geistes beherbergten
seit Jahrhunderten Tausende von Mönche und galten als
die mächtigsten religiösen und politischen Institutionen
des Landes neben dem Potala, der Residenz des Dalai
Lama, und Tashi Lhunpo, dem Sitz des Panchen Lama.

770
Wie keine andere Schule sind die »Gelbmützen« als
scholastisch zu bezeichnen. Sie besaßen die besten Bi-
bliotheken, den besten Lehrapparat, den stringentesten
Ausbildungsweg. Was ihnen mangelte, waren die Phan-
tasie und die oft pittoreske Wildheit der anderen Orden.
Die Gelugpas haben kein einziges originäres Werk her-
vorgebracht, sondern sahen ihre Aufgabe ausschließlich
darin, die schon kodifizierten buddhistischen Texte zu
studieren, zu kommentieren und in den meisten Fällen
auswendig zu lernen. Auch die 16 Bände von Tsongka-
pas Schriften sind Kommentare der im Kanjur (Ȇber-
setzung der Worte« Buddhas) und Tanjur (»Übersetzung
der Lehrbücher«) kanonisierten Literatur. Die Stärke der
Gelugpas lag also nicht in ihrer Kreativität, sondern in ih-
rer überlegenen politischen und organisatorischen Bega-
bung, die sie mit den Lehren der Tantras auf eine höchst
effektvolle Art und Weise kombinierten. Trotz seiner »pu-
ritanischen« Politik, die ihm den Titel eines tibetischen
Luther einbrachte, war Tsongkapa ein hervorragender
Kenner und Kommentator der tantrischen Geheimschrif-
ten, insbesondere der Kalachakra-Lehren. Seine Schü-
ler führten diese Tradition mit umfangreichen eigenen
Arbeiten fort. Das machte den Gelugpa-Orden zu einer
Hochburg des Zeittantras.
»Puritanisch« war Tsongkapa nur in dem Sinne, daß
er bei der Ausübung der sexualmagischen Riten äußer-
ste Disziplin und ein eisernes Reglement verlangte und
bestimmte, daß sie nur von zölibatären Mönchen durch-
geführt werden durften. Obgleich er nach seinem Tode
zu einer Person emotionaler Verehrung wurde, wirken

771
seine Kommentare zu den sakralen Liebestechniken auf-
grund der Präzision und Systematik besonders gefühls-
kalt und kalkulierend. Sie sind wahrscheinlich nur das
Produkt seiner Imagination, denn er selbst soll nie mit ei-
ner wirklichen Karma Mudra (Weisheitsgefährtin) prak-
tiziert haben – geschrieben hat er jedoch ausführlich dar-
über. In den tantrischen Übungen sah er eine extrem ge-
fährliche, aber auch höchst effektive Praxis, die nur von
einer winzigen klerikalen Elite und nach einem langen
und mühsamen Stufenweg ausgeübt werden durfte. Die
große Masse der Mönche blieb deswegen im Laufe des
akademischen und dann später tantrischen Trainings
immer weiter zurück und bildete ein umfangreiches und
devotes »Fußvolk«.
Es lag und liegt in der Logik des Gelugpa-Systems, eine
kleine Minderheit intensiv geschulter Gelehrter und eine
noch kleinere Anzahl tantrischer Adepten hervorzubrin-
gen, deren Energien am Ende in einer einzigen Person
gebündelt werden. Die gesamte monastische »Fabrik«
ist deswegen in letzter Instanz die Produktionsstätte ei-
ner einzigen allmächtigen buddhistischen Gottheit in
menschlicher Gestalt. Nach den metapolitischen Absich-
ten der Kalachakra-Lehren, welche als das höchste Tantra
die Grundpfeiler des Gelugpa-Ordens ausmachen, muß
es der Zeitgott selber sein, der in der Gestalt der Dalai
Lama als patriarchaler Chakravartin die Welt beherrscht.
In letzter Instanz ist er der ADI BUDDHA.
Obgleich es bei der Gründung der Gelugpas die Insti-
tution des Dalai Lama noch nicht gab, war sie in nuce
schon angelegt. So bauten die »Tugendsamen« Schritt um

772
Schritt das »asiatische Rom« (Lhasa) mit dem »Gelben
Papst« (dem Kunduri) an der Spitze. Dank ihres Orga-
nisationstalents beherrschten sie bald den größten Teil
Zentralasiens. Von den Ufern der Wolga und des Amur,
von den weiten Steppen Innerasiens bis hin zu den Tun-
dren Sibiriens, von den Oasen des Tarimbeckens, aus
der Kaiserstadt Beijing, aus den hinterindischen Fluß-
tälern kamen Pilgerzüge, Gesandte und Geschenke, um
dem Gottkönig in Lhasa zu huldigen. Selbst seine Geg-
ner anerkannten ihn als eine alles überragende spiritu-
elle Kraft.

Die Kagyüpa

Während die Gelugpas schon sehr früh mit den Mongo-


len zusammenarbeiteten und diese als ihre Schutzmacht
ansahen, können wir die Kagyüpas mit dem Karmapa an
der Spitze mehr oder weniger als die nationaltibetischen
Kräfte bezeichnen (zumindest bis zum 17. Jahrhundert).
Schon der erste Dalai Lama war in kriegerische Schar-
mützel mit den »Rotmützen« (Kagyüpa) verwickelt. 150
Jahre später hatten sie, von dem Fürsten Tsangpa unter-
stützt, ihre Machtstellung so ausgebaut, daß die Gelug-
pas um Gut und Leben zittern mußten. Tsangpa nahm
in den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts Lhasa ein und
übergab den Heiligen Tempel, den Jokhang, an die Prie-
ster der »Roten«. Selbst das mächtige Gelugpa-Kloster
Drepung fiel unter seinem Ansturm. Während dieser
Kämpfe soll ein mißglückter Mordanschlag auf den V

773
Dalai Lama durchgeführt worden sein. An seiner Stelle
erschlug man jedoch seine leibliche Mutter.
Der »Gelbe Orden« konnte nur noch durch eine äu-
ßere Intervention gerettet werden. Es lag also nichts nä-
her, als daß der »Große Fünfte« demonstrativ nach dem
mongolischen Titel »Dalai Lama« griff, um dadurch die
kriegerischen Nomadenstämme aus dem Norden zu be-
wegen, Tibet zu erobern und zu besetzen. Dieses staats-
politische Kalkül ging voll auf.
In seiner höchsten Not gelang es dem »Großen Fünf-
ten«, sich mit Gushri Khan (1582–1654), dem Chef der
Oirat-Mongolen, zu verbinden. Der Khan fiel mit einer
Zehntausendschaft in das »Schneeland« ein. Es kam zu
einem blutigen »Bürgerkrieg«, in dem sich zwar auf frei-
em Felde zwei weltliche Herrscher, der König von Tsang
und Gushri Khan, gegenüberstanden, hinter denen sich
jedoch die beiden mächtigsten Mönchshierarchen des
Landes als die wirklichen Kräfte verbargen, der »Dalai
Lama« und der »Karmapa«, der einflußreichste Kirchen-
fürst im Kreise der Rotmützen.
Es ging bei diesem Bürgerkrieg um mehr als um die
weltliche Macht. Man kämpfte entsprechend den tantri-
schen Obsessionen, von denen beide Parteien getrieben
wurden, um den Weltenthron und die Herrschaft über
den Zeitgeist. (Auch die »Rotmützen« praktizieren das
Kalachakra-Tantra) Während der Kämpfe besuchte der
Dalai Lama das Kloster Ganden und erblickte dort ober-
halb eines Altars das riesige, grinsende und schwarze Ge-
sicht eines Dämons, in dessen aufgerissenes Maul viele
menschlichen Köpfe hineinflogen. Diese Vision deutete

774
er als den endgültigen Sieg über die Kagyüpas.
Gushri Khan intervenierte entsprechend den Gesetzen
seiner Ahnen mit rücksichtsloser Gewalt. Innertibet wur-
de durch ihn – nach einer Schrift der »Roten« – »in ein
Land der Hungergeister verwandelt, wie die Herrschafts-
gebiete des Totengottes«. (* Bell, 125) Erinnern wir uns
daran, daß der Dalai Lama als eine Inkarnation des Ava-
lokiteshvara auch den Totengott Yama repräsentiert.
Der Mongole befahl, die Anführer der Gegenseite in
Fellsäcke zu nähen und zu ertränken. Im Jahre 1642 war
der Rote Orden nach heftigen Widerständen endgültig
besiegt. Viele Kagyüpas wurden aus ihren Klöstern ver-
trieben und diese in Stätten der Gelbmützen umgewan-
delt, so wie es vorher umgekehrt geschehen war. Eine
Massenflucht war die Folge. Teile der besiegten Rotmüt-
zen wanderten nach Sikkim und Buthan aus und verban-
den sich mit den dortigen Dynastien.
Doch ließ sich der »Große Fünfte« als intelligenter Des-
pot nicht von Rachegefühlen hinreißen. Er wußte aus der
Geschichte, daß die verschiedenen Fraktionen der Ka-
gyüpa keine einheitliche Front bildeten. So überschütte-
te er nach der Festigung seiner Herrschaft einige von ih-
nen mit hohen Ehren und trieb damit Keile in ihre Rei-
hen. Aber er ging noch einen Schritt weiter. Er drang
nämlich in die Mysterien der Rotmützen ein, indem er
von ihnen den »nationalen« Bodhisattva Avalokiteshva-
ra (Ckenrezi) als seinen persönlichen Inkarnationsgott
übernahm. Diese Aneignung war – wie wir schon ge-
zeigt haben – ein politisches Meisterstück.
Die Nyingmapa

775
Der Gründer der Nyingmapa, der halbmythische Yogi
und Magier Padmasambhava (Guru Rinpoche), wurde
aufgrund seines wilden Lebensstils von den Gelugpas
als unseriös eingestuft. Noch heute löst der Name »Guru
Rinpoche« bei manchem »Gelbmützen« heftige Abwehr-
reaktionen aus. Ganz anders aber verhielt sich in die-
sem Fall der V Dalai Lama. Er verwies nicht nur darauf,
daß Padmasambhava als die Emanation des Avalokitesh­
vara einer seiner inkarnierten Vorgänger war, sondern
er fühlte sich geradezu magnetisch von den tantrischen
Praktiken angezogen, die Guru Rinpoche zur Erobe-
rung des Schneelandes angewandt hatte. Was der König
Songsten Gampo auf militärisch-politischem Gebiet lei-
stete, das wurde von Guru Rinpoche mit seinen Leistun-
gen auf der metapolitisch-magischen Ebene noch über-
trumpft. Wir kommen ausführlich auf die Eroberungs-
taten des unkonventionellen Yogi zurück.
Padmasambhava (8. Jahrhundert) ist der Gründungshe-
ros und die Ikone der Nyingmapas, der ältesten der bud-
dhistischen Schulen. Sie erhoben den Zauberer (Siddha)
zu einem Rang, der ihn manchmal sogar über den histo-
rischen Buddha stellte. Die »Alten«, wie die Nyingmapas
genannt wurden, hatten zwar die Patina des Ursprungs
(sie waren die ersten), zogen sich jedoch im Laufe der
Jahrhunderte den allerschlechtesten Ruf zu. Als wandern-
de Bettler, ungepflegt und ruhelos, durchstreiften sie Ti-
bet, galten als zügellos in sexuellen Dingen und ernähr-
ten sich neben Almosen vom Verkauf allerlei dubioser
Zauberstückchen. Die von ihnen kultivierte Verwahrlo-

776
sung und Anarchie, durch die sie ihrer Verachtung ge-
genüber der Welt (des Samsara) Ausdruck verliehen, för-
derte jedoch bei der abergläubischen Bevölkerung ihren
Ruf als mächtige Magier. Überhaupt waren sie bei einfa-
chen Leuten nicht unbeliebt, weil sie selten (wie die straff
organisierten Klöster der anderen Sekten) Steuern und
Fronarbeit forderten.
Ihr Verhältnis zum vorbuddhistischen Bon-Kult und
zu Resten des archaischen Schamanismus war äußerst
locker, so daß in die religiösen Praktiken der Nyingmapa
viele unorthodoxe Elemente einflossen. Neben den klas-
sischen Tantras übten sie sich zum Beispiel in der soge-
nannten Dzogchen-Methode, nach der Erleuchtung ohne
lange Vorbereitung und ohne Stufenweg erreicht werden
kann. Manchmal verspottete man sie als Landstreicher,
manchmal fürchtete man sie als mächtige Zauberer. Vor
allem aber waren es die strenggläubigen und »puritani-
schen« Gelugpas, welche die »Alten« mit Abscheu und
tiefer Verachtung straften.
Auch hier fühlte und handelte der »Große Fünfte« völ-
lig konträr zu der herrschenden Meinung seines eigenen
Ordens. Er selbst hatte einen bedeutenden Nyingmapa
als Lehrer und war sehr genau über deren »ketzerischen«
Schriften informiert. Die in dieser Schule gepflegte Ter-
ma-Lehre (das Auffinden alter mystischer Texte) mach-
te er sich selbst mit großem Erfolg zu Nutze. Vor allem
aber galt sein besonderes Interesse den magischen Prak-
tiken des Ordens, und das von ihm verfaßte Goldene
Manuskript ist ein geniales Kompendium von barbari-
schen Beschwörungen, wie sie bei den Nyingmapas ge-

777
lehrt wurden.

Die Sakyapa

Die große Politik und die Feinheiten der Diplomatie


lernte der »Große Fünfte« von den Sakyapas, die vom
12. bis zum 14. Jahrhundert als potente Priesterfürsten
mit den Mongolen und Chinesen kooperiert hatten.
Das Kloster Sakya wurde im Jahre 1073 von dem indi-
schen Gelehrten Atisha gegründet. Wie alle Schulen des
tibetischen Buddhismus, so waren auch die Sakyapa tan-
trische Ritualisten. 150 Jahre nach der Klostergründung
hatte sich dieser Orden zur mächtigsten Institution des
damaligen Tibets entwickelt. In ihm wurden die Grund-
lagen für eine »moderne Politikwissenschaft« gelegt, die
Staatsverwaltung und internationale Beziehungen, trans-
personale Energiefelder (tibetische »Götter«) und sexual-
magische Ritualistik zu einer einzigen Disziplin zusam-
menschweißte – eine Kombination, die auch den V Da-
lai Lama zeit seines Lebens in den Bann zog.
Der Legende nach soll einer der bedeutendsten Äbte
des Klosters, der mächtige Sakya Pandita (1182–1251), mit
Dschinghis Khan in Korrespondenz gestanden sein. Hi-
storisch verbürgt ist jedoch nur, daß er fast zwei Jahrzehn-
te nach dem Tode des großen Feldherrn im Jahre 1244 in
die Mongolei reiste, um dort den Buddhismus erfolgreich
als Staatsreligion zu verankern. Gödan Khan ernannte ihn
aus Dankbarkeit zum Vizeregenten des Schneelandes.
Dieses geschichtsträchtige Bündnis war dem 400 Jahre

778
später lebenden »Großen Fünften« so wichtig, daß er sich
kurzerhand zu einer Inkarnation des Neffen und Nachfol-
gers Sakya Panditas, des ebenfalls mit großem staatsmän-
nischem Talent ausgestatteten Phagspa Lama (1235–1280),
ernannte. Von sagenhafter Berühmtheit ist dessen Tref-
fen mit Kublai Khan (1260–1294), kurz bevor der Mon-
golenfìirst den Thron Chinas eroberte. Der künftige Kai-
ser war so beeindruckt von dem Wissen und der Rhetorik
des Lamas, daß er den buddhistischen Glauben annahm
und sich sogar in das Hevajra-Tantra einweihen ließ.
Der »Große Fünfte« sah diese historische Begegnung
mit Recht als einen Eckstein der Weltpolitik, der sich
wie maßgeschneidert in die Grundfesten seiner eigenen
Globalvision einfügte. So deklarierte er die Gespräche
zwischen sich und dem mongolischen Potentaten Gushri
Khan, die im Jahre 1637 stattfanden und in denen es um
die Niederschlagung des Kagyüpa-Ordens ging, schlicht-
weg als die »inkarnatorische« Fortsetzung der Dialoge,
die 1276 zwischen Kublai Khan und dem damals macht-
vollen Phagspa Lama ihren Anfang nahmen, um dann im
Jahre 1578 zwischen dem III Dalai Lama und Altan Khan
wieder aufgenommen zu werden. Gushri Khan soll sich
während des Treffens mit dem Gottkönig (dem V Dalai
Lama) an ihre gemeinsamen vergangenen »Inkarnations-
treffen« (als Kublai Khan und Phagspa Lama, als III Da-
lai Lama und Altan Khan) erinnert haben. Das Beispiel
zeigt, wie Politik über die Jahrhunderte hinweg gemacht
wurde. Der Tod spielte in diesen für Asien so wichtigen
politischen Ereignissen keine Rolle mehr.
Die Jonangpa

779
Die nicht mehr existierende Schule (bis zum 17. Jahr-
hundert) der Jonangpa war eine kleine, aber macht-
volle Abspaltung des Sakyapa-Ordens. Während des
»Bürgerkrieges« zwischen Gelugpas und Kagyüpas
verbanden sich ihre Anhänger mit dem König von
Tsang (dem Verbündeten der »Rotmützen«). Sie wur-
den deswegen vom »Großen Fünften« als häretisch ge-
brandmarkt und de facto vernichtet. Dies ist um so ver-
wunderlicher, als ein Abt der Schule, der berühmte Hi-
storiker Taranatha (1575–1634), von den Eltern des V
Dalai Lama gebeten worden war, ihrem Kind den Na-
men zu geben. Es zeigt jedoch wiederum die unsenti-
mentale Kompromißlosigkeit, mit welcher der Gottkö-
nig seine Machtziele verfolgte. Er ließ die Druckplat-
ten der Sekte (ihre Schriften) versiegeln und gliederte
das Ordensvermögen mit dem Großteil der Mönche
in das Gelugpa-System ein. Interessant ist, daß diese
Schule zu ihrer Zeit als die erste Spezialistin in Sachen
Kalachakra-Tantra galt, dem auch Taranatha mehrere
Schriften widmete. Vielleicht lag auch hierin eine Ur-
sache für den Konflikt, denn es kann kein Zweifel dar-
an bestehen, daß der »Große Fünfte« den kosmischen
Machtentwurf des Zeittantras wörtlich nahm und für
sich alleine beanspruchte.

Die Bon-Religion

780
Auch der vorbuddhistischen Bon-Religion stand der Ek-
lektiker auf dem Löwenthron (der V Dalai Lama) keines-
wegs feindlich gegenüber. In einer Vision erschien ihm
Avalokiteshvara und forderte ihn auf, »die Bonpos oft ein-
zuladen, um ihre Rituale durchzuführen, wodurch der
Wohlstand des Landes gewährleistet sei«. (* Karmay, 64)
Dabei ist diese Liaison nicht ganz so paradox, wie sie auf
den ersten Blick erscheinen mag. Zwar wurden die Bon-
Priester seit alters her als das pure Gegenteil des Buddhis-
mus arg verfolgt – über Jahrhunderte schmähte man sie
als Schwarzmagier, Tieropferer, Dämonenanbeter. Die-
se negative tibetische Einschätzung haben viele westliche
Forscher bis in die jüngste Zeit hinein geteilt. Neuere Re-
cherchen ergaben jedoch, daß die Bon-Religion dem Bud-
dhismus näherstand, als bisher angenommen wurde. Es
handelt sich ja hierbei nicht – was oft verwechselt wird –
um die schamanistische Urreligion des Hochlandes.
Ebenso wie später die indisch-buddhistischen Gurus,
so waren die ersten Bonpos (im 6. Jahrhundert, wahr-
scheinlich aus Persien) ins Land geholt worden. Sie brach-
ten eine in Tibet unbekannte, ausgeprägte Lichtlehre mit,
die an den Amithaba-Kult erinnert. Als messianischen
Heilsbringer verehrten sie Shen Rab, ein übernatürliches
Wesen, das viele Kriterien eines Avalokiteshvara aufweist.
Auch für die Bon existiert ein unzugängliches mythi-
sches Königreich Olmolungring, das wesentliche Züge mit
Shambhala gemein hat. Die Emanationslehre war ihnen
ebenso bekannt wie ein gut durchorganisiertes Priester-
tum. Selbst mit tantrischen Praktiken und anderen Yoga-

781
lehren waren sie vertraut. Auf sie soll nach der Vermutung
des tibetischen Lamas Namkhai Norbu die berühmte
Meditationspraxis des Dzogchen, wonach die Erleuch-
tung direkt und ohne Stufenweg erreicht werden kann,
zurückgehen. Beide Religionen (die der Buddhisten wie
die der Bonpos) verehren die Swastika als Kultsymbol,
wobei die weitverbreitete Meinung nicht richtig ist, daß
die Bon-Anhänger nur das linksgerichtete »böse« und
die buddhistischen Tantriker das rechtsgerichtete »gute«
Hakenkreuz als Symbol benutzen.
Da die Bon-Religion nach der Buddhisierung des
Schneelandes (seit dem 7. Jahrhundert) trotz schwerster
Verfolgungen weiterexistieren konnte, gingen die Histo-
riker bisher davon aus, daß sie vom Buddhismus viele
Elemente übernommen habe, um sich vor Nachstellun-
gen zu schützen. Das wird sicher auch hier und dort der
Fall gewesen sein. Es zeigt sich aber aufgrund neu ent-
deckter Dokumente immer klarer, daß der ursprüngliche
Bon-Kult schon von Beginn an »buddhistische« Elemente
aufwies, ja einige bedeutende Autoren – wie David Snell-
grove zum Beispiel – sprechen sogar von einer »hetero-
doxen« Buddhalehre, die über Persien in das Hochland
eindrang und sich dort mit der schamanistischen Landes-
religion verband. Wo ein wirklicher Unterschied besteht,
das ist die offene Befürwortung des Tier- und gelegent-
lich des Menschenopfers im Bon-Kult. Aber selbst das
soll ja den tantrischen Riten nicht ganz fremd sein. Der
»Große Fünfte« brauchte also keinerlei Berührungsängste
vor der Religion der »Schwarzhutmagier«, wie die Bonpo
manchmal genannt werden, haben. Er konnte durch ihre

782
»Integration« sein eigenes System nur stärken.
Mit seiner Integrationspolitik gab der V Dalai Lama
demonstrativ bekannt, daß er sich als der Herrscher al-
ler Sekten und aller Tibeter sehe und daß er nicht die
absolute Vormachtstellung des »Gelben Ordens« (Gelug-
pas) anstrebe, sondern die uneingeschränkte Überherr-
schaft seiner eigenen Institution. Die »Gelbmützen« da-
gegen wollten immer, daß die anderen Schulen zu Po-
tenzen zweiten oder dritten Grades herabsänken ; der V
Dalai Lama dagegen wollte, daß sich alle Schulen glei-
chermaßen vor ihm als dem Höchsten Tantra-Meister
verbeugten. Spannungen mit dem eigenen Orden waren
auch aus einem weiteren Grunde angelegt. Traditions-
gemäß stellten die Gelugpas in der Jugend des Gottkö-
nigs den Regenten, der nach der Volljährigkeit des »le-
benden Buddhas« (Kundun) abzudanken und auf seine
Macht zu verzichten hatte.
Fassen wir noch einmal zusammen : Es war die politi-
sche Absicht des »Großen Fünften«, in Tibet ein buddho-
kratisches System mit der Institution des Dalai Lama an
der Spitze zu errichten. Dazu benötigte er alle materiel-
len und spirituellen Ressourcen des Landes. Von den Ge-
lugpas übernahm er Disziplin, Organisationstalent, Ver-
waltungsgeschick, Staatsräson und Gelehrsamkeit ; von
den Kagyüpas die Inkarnationslehre, seinen Inkarnati-
onsgott Avalokiteshvara und die nationale Verwurzelung ;
von den Nyingmapas die Ritualmagie ; von den Sakya-
pas diplomatisches Geschick ; von den Jonangpa ein gut
durchorganisiertes Kalachakra-System ; von den Bonpos
die Unterstützung derjenigen priesterlichen Kräfte, die

783
vor allem die Idee des archaischen sakralen Königtums
getragen hatten, eine Idee, die zur Errichtung des Wel-
tenthrons auf dem Potala notwendig war.
Nach den Gesetzen der mikro-makrokosmischen Vor-
stellungswelt, in der der V Dalai Lama lebte, muß er in
seiner Machtpolitik einen symbolischen Akt gesehen ha-
ben, der sich auf den ganzen Kosmos erstreckte : Hatte er
einmal die absolute Herrschaft im Schneeland (Mikro-
kosmos) errungen, dann besaß er als Chakravartin ho-
molog hierzu die Macht über die Welt (Makrokosmos).
Mit genialem Geschick verstand er es, alle spirituellen
Energien des Landes in seiner Person und der von ihm
repräsentierten Institution des Dalai Lama zu bündeln.
Aus allen Schulrichtungen holte er sich das stärkste Ex-
trakt und mischte es mit den anderen in seinem Zauber-
kessel zu einem Machttrank, dessen Genuß ihm die Herr-
schaft über das Universum verleihen sollte.
Durch die politische Anwendung der Inkarnationsleh-
re verfügte der V Kundun souverän über alle wichtigen
politischen Figuren der tibetischen Geschichte und be-
nutzte sie als die Marionetten seines kosmischen Thea-
ters. Er machte die tantrische Idee zur treibenden Kraft
seines Zeitalters. Nicht er als Mensch, sondern die von
ihm beschworenen Götter, insbesondere Avalokiteshva-
ra und Kalachakra, der Zeitgott, waren das organisie-
rende Prinzip, das Schöpferische, das einzig Wahre, der
ADI BUDDHA.

Die Vereinigung der tibetisch-buddhistischen Orden un-

784
ter die absolute Vorherrschaft des XIV Dalai Lama

Es ist fast unheimlich, wie präzise der XIV Dalai Lama


die Integrationspolitik seines genialen, skrupellosen
und hochverehrten Vorgängers aus dem 17. Jahrhundert
zur Stärkung der eigenen Machtposition fortführt und
potenziert, nur diesmal in der Tat auf der großen Wel-
tenbühne. Als das effektive Mittel zur Gleichschaltung
der verschiedenen Sekten dient ihm vor allem das Ka-
lachakra-Tantra. Jede der verschiedenen Schulrichtun-
gen des tibetischen Buddhismus ist mittlerweile dem
Zeittantra verpflichtet und gibt rund um den Globus
Kalachakra-Einweihungen in kleinerem Stil. In der of-
fiziellen Kalachakra-Homepage des Internet (›kalacha-
kra.com‹) werden die folgenden »Dharmameister« oder
»Shambhalakrieger« als die exponiertesten zeitgenössi-
schen Lehrer des Zeitrades vorgestellt :

Sakya Trizin (Sakyapa)


Gelek Rinpoche (Gelugpa)
Chögyum Trungpa (Kagyüpa)
Namkhai Norbu (Nyingmapa, Dzogchen)
Jamgon Kongtrul (Kagyüpa)
Drukchen Rinpoche (Kagyüpa)
Dzongsar Khyentse (Nyingmapa)
Sogyal Rinpoche (Rime Tradition)
Tulku Urgyen (Nyingmapa, Dzogchen)

785
Die obersten Shambhala-Krieger

Bei dieser Zusammenstellung fällt sofort auf, daß sich


unter den 9 genannten hohen Lamas, die das Kalacha-
kra-Tantra nach außen hin vertreten, nur ein Gelugpa-
Meister befindet. Das ist in der Tat sehr erstaunlich. Sei-
ne einzigartige Stellung im Exil erlaubt es dem XIV Kun-
dun noch mehr als dem »Großen Fünften«, sich an die
Spitze aller Schulen zu stellen. Dies gilt nicht nur auf der
Ebene der Realpolitik als Staatsoberhaupt, sondern auch

786
im Initiationswesen. So ließ sich Seine Heiligkeit in alle
bedeutsame Linien der verschiedenen Sekten einweihen.
1986 initiierte ihn ein Nyingmapa-Lehrer in seine Tra-
dition. Auch beim höchsten Meister der Sakyapa-Sekte
erhielt Seine Heiligkeit eine tantrische Einweihung. Es
war ein Nyingmapa-Lama, Lopon Tsechu Rinpoche, der
1994 die erste 13 Meter hohe Kalachakra-Stupa im We-
sten (in Spanien) errichten ließ.
Die Gelugpa galten traditionsgemäß als die einzigen,
welche auf die Staatspolitik einen effektiven Einfluß hat-
ten – vor allem durch die Stellung des »Regenten«, der
aus ihren Reihen bestimmt wurde und der die Staats-
geschäfte bis zur Volljährigkeit des Dalai Lamas leitete.
Angesichts eines übermächtigen Kunduns werden nun-
mehr die »Gelbmützen« den anderen Sekten gleichgestellt.
Ihre Privilegien sind geschwunden. »Heute dienen die
Aktivitäten Seiner Heiligkeit des Dalai Lamas der gan-
zen Welt und allen Schulen des tibetischen Buddhismus
einschließlich des eingeborenen Bon-Kultes ungeteilter-
maßen«, heißt es in einem offiziellen Statement aus Dha-
ramsala. »Die Neigungen der Gelugpa-Klöster, sich al-
leine mit der Regierungsmacht in Beziehung zu bringen,
verursachen mehr Schaden und Hindernisse anstatt Vor-
teile und Unterstützung für Seine Heiligkeit und die Exil-
regierung.« (* Tibetan Review, Juli 1994, 12)
Dieser Anspruch des Gottkönigs, alle buddhistischen
Sekten seines Landes spirituell und politisch zu repräsen-
tieren, hat in der jüngsten Zeit ebenso wie früher bei dem
»Großen Fünften« zu einer scharfen Protestbewegung
aus den Reihen des eigenen Ordens (Gelugpa) geführt,

787
dessen Machtposition dadurch eine Minderung erfährt.
Man wirft von dieser Seite dem Kundun die Schaffung
eines »religiösen Misch-Masch« vor oder benennt sogar
offen seine persönlichen Machtambitionen. »Meiner Mei-
nung nach«, schreibt der ehemalige Gelupga-Mönch Ge-
she Kelsang Gyatso, ein erbitterter Gegner des Gottkö-
nigs, »ist es der Hauptwunsch des Dalai Lamas, die vier
tibetischen Traditionen zu einer zu machen. Die Führer
der anderen Traditionen werden stufenweise verschwin-
den, und er wird übrigbleiben als das Oberhaupt des ti-
betischen Buddhismus. Zu Beginn wurde der Plan durch
die Sakya-, Kagyü- und Nyingma-Traditionen zurück-
gewiesen, während die Gelugpa neutral blieben. Später
änderte der XIV Dalai Lama seine Vorgehensweise. Er
versucht jetzt, die Dorje-Shugden-Praxis (siehe unten) zu
zerstören und die Gelug-Tradition zu verändern, wäh-
rend er zur gleichen Zeit enge Beziehungen zu den an-
deren Traditionen aufbaut. Schritt um Schritt hofft er,
daß seine Wünsche in dieser Art und Weise durchge-
setzt werden.« (* Gyatso, 19. 12. 1997 – ‹zmadhyama@
mail.rmplc.co.uk›)
Anfang der 60er Jahre soll, nach Kelsang Gyatso, der
Kundun mehrere Sitzungen mit den Großäbten der vier
Hauptschulen durchgeführt haben, auf denen er ihnen
vorschlug, die Sekten unter seiner Führung zu vereini-
gen. Dieser Vorschlag blieb ohne Erfolg. Im Gegenteil, die
Sakyapa, Kagyüpa und Nyingmapa schlossen sich in 13
exiltibetischen Niederlassungen zusammen, um sich vor
einer Bevormundung durch den Dalai Lama zu schützen.
Ihr Führer, Gongtang Tsultrim, aber wurde auf myste-

788
riöse Weise ermordet. Bisher ist dieser Mord noch nicht
aufgeklärt. (* Sky Warrior, 10. 12. 1997 – ‹Hl2m@p0e.
acc.Virginia.EDU›)
Mittlerweile hat es sich eingebürgert, daß bei allen In-
karnationen von Großlamas, gleichgültig welcher Sek-
te sie angehören, eine Bestätigung des Kunduns als das
letzte Wort eingeholt wird. Das war früher nicht der Fall.
Konkurrenzlos überstrahlt heute Seine Heiligkeit der XIV
Dalai Lama alle anderen Hierarchen des Schneelandes.
Auch seine oft aufreibende politisch-religiöse Konkur-
renz mit dem chinafreundlichen Panchen Lama besteht
nicht mehr, da dieser 1989 verstarb.
Die aus dem 19. Jahrhundert stammende Rime-Bewe-
gung, welche sich als Ziel eine Einheitskirche vorstellt, in
der alle Schulen (bei Beibehaltung bestimmter Eigenar-
ten) aufgehen, kommt dem Absolutismus des Gottkönigs
ebenfalls zugute. Selbst die Bon-Priester im Exil haben
den Kundun mittlerweile als ihre de facto-Autorität aner-
kannt. Wie sein Vorgänger aus dem 17. Jahrhundert (der
»Große Fünfte«), hält er mit ihnen einen guten Kontakt
und betet in ihren Klöstern.
»Der Dalai Lama«, schreibt einer seiner buddhisti-
schen Gegner polemisch, »versucht alles zu lehren : Kagyü,
Nyingma, Sakya, Gelug, Bonpo, und kürzlich gab er so-
gar Unterweisungen im Christentum. Später wird er viel-
leicht Sufismus, Hinduismus, Schamanismus oder ähn-
liches lehren. Was ist die Motivation hierfür ? Es ist klar,
daß seine Motivation darin besteht, so viele Schüler wie
möglich von den verschiedenen Traditionen zu sammeln.
Auf diese Art und Weise wird er zu ihrem Wurzel-Guru

789
und kann mehr Macht und Kontrolle gewinnen.« (* Sky
Warrior, io. 12. 1997 – ‹Hl2m@p0e.acc.Virginia.EDU›) So
feiern seine Anhänger ihn nicht nur als den »höchsten
spirituellen und weltlichen Führer von sechs Millionen
Tibetern«, sondern ebenso als das »Oberhaupt der Bud-
dhisten weltweit«. (Head of Buddhists World Wide) (* Ron,
20. 01. 1998 – ‹Lobsang@allgaeu.org›) In einer Resoluti-
on der Tibetan Cholsum Convention vom 27.–31. August
1998, in der Vertreter aller ( !) wichtigen Organisationen
der Exiitibeter Mitglied sind, heißt es : »(Der Dalai Lama)
ist der Friedenschef in der Welt ; er ist das überragende
Oberhaupt aller buddhistischen Traditionen auf dieser
Erde ; er ist der Meister, der von allen religiösen Tradi-
tionen der Welt anerkannt wird.«

Die »Karmapa-Affare«

Ein spektakuläres Beispiel dafür, wie der Kundun aus


der Spaltung der anderen Schulen seine Vorteile zieht,
ist die sogenannte »Karmapa-Affäre«. In den turbulen-
ten Ereignissen, welche sich seit Beginn der 90er Jahre
zwischen verschiedenen Fraktionen der Kagyüpa-Sek-
te abspielten, ging es um radikale Konfrontationen und
Gerichtsprozesse, um brutale Schlägereien und gegen-
seitige Mordvorwürfe.
Ursache für diese unbuddhistische Auseinandersetzung
war, daß sich bei der Auffindung der 17. Inkarnation des
neuen Karmapa, des Führers der Kagyüpa, zwei Haupt-
kandidaten und deren Befürworter gegenüberstanden –

790
auf der einen Seite Situ Rinpoche und Gyaltsab Rinpoche,
die sich für einen Jungen in Tibet einsetzten, auf der an-
deren Seite Shamar Rinpoche, der einen Knaben in Indi-
en vorschlug. Ein dritter Abt, Jamgon Kongtrol Rinpoche,
dessen Stimme bei der Auswahl von großem Gewicht ge-
wesen wäre, hatte kurz vor der Entscheidung einen myste-
riösen, tödlichen Autounfall erlitten. Bald darauf warfen
sich die übriggebliebenen Konkurrenten gegenseitig vor,
die jeweils andere Partei habe durch magische Manipu-
lation den Tod von Jamgon Kongtrol herbeigeführt. Es
kam in Indien zu handfesten Streitigkeiten und blutigen
Köpfen zwischen den beiden Mönchsfraktionen, selbst
Schüsse wurden aufeinander abgegeben, so daß die in-
dische Polizei eingreifen mußte. (* Nesterenko)
Als seinen Karmapa-Kandidaten repräsentierte Situ
Rinpoche einen sino-tibetischen Knaben (Ugen Thin-
ley), der auch die Unterstützung des Kunduns und der ti-
betischen Exilregierung fand. Shamar Rinpoche dagegen
stellte am 17. März 1994 in Delhi seinen eigenen Karma-
pa der Öffentlichkeit vor. Seit dieser Zeit geht durch die
Kagyüpa-Linie ein großer Riß, von dem auch die zahl-
reichen Gruppierungen westlicher Gläubiger betroffen
sind. Oberflächlich konnte man den Eindruck gewinnen,
als repräsentiere Situ Rinpoche den asiatischen und Sha-
mar Rinpoche den europäisch-amerikanischen Teil der
Rotmützen-Anhänger. Das erweist sich jedoch bei einer
näheren Hinsicht als eine Fehleinschätzung, denn Sha-
mar Rinpoche baute im Königreich Buthan eine beacht-
liche Hausmacht auf, und Situ Rinpoche hat für seinen
Kandidaten auch im Westen viele Befürworter. Es gibt

791
nur noch wenige Gruppierungen, die zwischen den bei-
den Rivalen vermitteln wollen.
Aber man weiß sehr wohl, was bei diesen grundsätz-
lichen Differenzen für die Kagyüpa-Linie auf dem Spiel
steht. Am Ende eines offenen Briefes von »neutralen« Rot-
mützen-Äbten ist zu lesen : »Wenn die Differenzen weiter
andauern, dann ist sicher, daß keine Seite da als ›Gewin-
ner‹ oder als ›Verlierer‹ herauskommen wird. Der einzi-
ge Verlierer wird die Karmapa Kagyüpa-Linie als ganze
sein.« (* Tibetan Review, Oktober 1993, 8)
Diese Spaltung der Kagyüpa aber kommt dem Dalai
Lama zunutze. Seit jeher in der tibetischen Geschichte
war der Karmapa der Hauptkonkurrent des Kunduns
und schon mehrmals mit Lhasa in kriegerischen Aus-
einandersetzungen verstrickt. Er bekämpfte ihn als sein
großer Gegner in dem oben geschilderten tibetischen
Bürgerkrieg.
Auch nach der Flucht der beiden Hierarchen aus Tibet
war diese Rivalität nicht beendet. Von Anfang an (seit
Ende der 60er Jahre) hatte die Kagyüpa-Sekte im We-
sten einen unvergleichlich höheren Zulauf als die ortho-
doxen Gelbmützen : Die Rotmützen galten als jung, dy-
namisch, unkompliziert, ungezwungen und kosmopoli-
tisch. Das unkonventionelle Auftreten des Kagyü-Tulkus
Chögyum Trungpa, der sich in den 70er Jahren voll mit
der künstlerischen Avantgarde Europas und Amerikas
identifizierte, war auch für viele andere Meister der Sek-
te vorbildlich. Westliche Schüler des Buddhismus bevor-
zugten bis Mitte der 80er Jahre auf jeden Fall den roten
Orden. Hier bildete sich ihrer Ansicht nach eine auto-

792
nome, von traditionellen Fixierungen unabhängige Ge-
genkraft heraus, zumindest traten die Kagyüpa so nach
außen hin auf. Sie entwickelten sich zu einer machtvol-
len Konkurrenz der Gelugpa, die ebenfalls versuchten,
im Westen Proselyten zu gewinnen.
Das wird unter anderem der Grund dafür gewesen sein,
weshalb sich der Kundun mit dem »verhaßten« China
auf den Kandidaten Situ Rinpoches, Ugen Thinley, geei-
nigt hat, der sich auf chinesischem Hoheitsgebiet im Klo-
ster Tsurphu aufhält. Auf der westlichen Politikbühne ist
er für den Dalai Lama oder dessen Nachfolger keinerlei
Konkurrenz. Man kann das Oberhaupt der Rotmützen
schwer besuchen, und ohne chinesische Genehmigung
wird der Hierarch kaum außer Landes reisen dürfen. In
diesem Fall decken sich also die Interessen des Kunduns
mit denen Beijings.
Ein mehr westlich orientierter Karmapa wäre vor allem
für die globalen Machtansprüche des Kunduns gefähr-
lich. Es darf nur einen Weltenherrscher (Chakravartin)
geben ! Dagegen können ihm, als dem lachenden Drit-
ten, zwei miteinander konkurrierende und sich gegen-
seitig schwächende Karmapas auf seinem Weg zur Al-
leinherrschaft nur recht sein. Deswegen wurde auch von
Dharamsala der Versuch abgelehnt, beide Kandidaten als
zwei Verkörperungen Karmapas anzuerkennen. Diese
»Aufspaltung« eines Tulku in zwei Persönlichkeiten ist
der Doktrin nach möglich. Bertolucci behandelt sie in
seinem Film Little Buddha. 72
Die offenkundige machtpolitische Konkurrenz des Da-
lai Lama mit dem Karmapa kann auch der Grund da-

793
für gewesen sein, daß sich in westlichen Kagyüpa-Krei-
sen lange das Gerücht gehalten hat, der Kundun habe
den XVI Karmapa durch magische Praktiken ermordet.
(* Tibetan Review, August 1987, 21)
Bei diesem »Mordvorwurf« kommt einem nicht nur
der tibetische Bürgerkrieg, sondern auch eine andere
mysteriöse Geschichte in Erinnerung : Nach dem Tode
des XV Karmapa (1922) wollte ein machtvoller Gelug-
pa-Minister gegen den Willen der Rotmützen die Aner-
kennung seines eigenen Sohnes als die folgende Inkar-
nation des Kagyüpa-Hierarchen durchsetzen. Diese au-
tokratische Entscheidung wurde vom XIII Dalai Lama
anerkannt, und man zwang die Mönche des Stammklo-
sters Tsurphu, gegen ihren Willen den Knaben der Gelb-
mützen zu akzeptieren. Es dauerte aber nicht lange, bis
sich das Kind auf ungeklärte Weise vom Dach eines Ge-
bäudes zu Tode stürzte. Es gab nie eine Aufklärung des
»Unfalls«, auf jeden Fall kam er dem genuinen Kandida-
ten der Rotmützen zugute, der jetzt als der XVI Karma-
pa anerkannt wurde.
Die offizielle Geschichtsschreibung der Gelugpas wirft
übrigens der 10. Inkarnation des Shamar Rinpoche vor,
sie habe im 18. Jahrhundert einen Krieg der Nepalesen
gegen Lhasa angezettelt. Man ließ daraufhin seine Be-

← 72 Es spielen auch handfeste materielle Interessen in die


»Karmapa-Affäre« mit hinein. Die Besitztümer des Klosters
Rumtek, des westlichen Hauptklosters des Karmapa, werden von
Dharamsala (vom Kundun) beansprucht, weil sich Situ und Sha-
mar Rinpoche darüber streiten und das Kloster für ihren jeweili-
gen Kandidaten beanspruchen.

794
sitztümer schleifen oder beschlagnahmte sie. Eine künf-
tige Wiederverkörperung des Großabtes wurde von den
Gelbmützen nicht akzeptiert. »Verdienst bedeutete immer
weniger !« kommentierte der XVI Karmapa diese Periode.
»Es gab viele politische Zusammenstöße. Schwarz wur-
de weiß. Das Reale wurde unwirklich. Zu dieser Zeit war
es praktisch nicht sinnvoll, irgendeinen Shamarpa anzu-
erkennen oder zu inthronisieren. Alles mußte insgeheim
geschehen. Die Inkarnationen erschienen, aber wurden
nicht öffentlich bekannt gemacht.« (* Nesterenko, 8) Erst
im Jahre 1964 erlaubte der XIV Dalai Lama nach einer
langen Meditation und aufgrund von Träumen die offizi-
elle Wiedereinsetzung der Shamarpa-Linie. Der Kundun
hätte wissen müssen, daß sich nach der eigenen Doktrin
die Geschichte wiederholt und daß alte Konflikte nicht
nur Wiederaufleben, sondern daß sich nach dem Inkar-
nationsgesetz immer wieder dieselben Personen (hier Sha-
marpa versus Dalai Lama) gegenüberstehen.
Entsprechend ließen sich die derzeitig sehr gespannten
Beziehungen des Gottkönigs zu den Nepalesen erklären.
Nepal baut seit mehreren Jahren gute Kontakte zu seinem
Nachbarland China auf und wählte (1998) eine »kommu-
nistische« Regierung. Tibetische Flüchtlinge werden stän-
dig aus dem Lande gewiesen. Es gab in der Vergangenheit
mehrere bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der
Königlich Nepalesischen Armee und tibetischen Unter-
grundkämpfern (ChuShi Gang-Drug).
Bevormundungen der »Roten Sekte« (Kagyüpa) und der
Versuch, sie zu spalten, werden dem XIV Dalai Lama und
den Gelugpas auch von Regierungskreisen aus dem Kö-

795
nigreich Bhutan vorgeworfen. Die sogenannte »Schweiz
des Himalaya« und ihr Herrscherhaus (das heute mit dem
Shamarpa kooperiert) gehören traditionell der Kagyüpa-
Schule an und hatten deswegen mit Lhasa seit Jahrhun-
derten zum Teil sehr ernste Streitereien. Den Gelbmüt-
zen-Klöstern und ihren Äbten, die seit den 60er Jahren
als Flüchtlingsstätten im Lande geduldet wurden, werfen
die Buthanesen kein geringeres Verbrechen vor als die
politisch-motivierte Ermordung ihres Premier-Ministers
Jigme Dorji (1964) und eine von langer Hand geplante
Revolte, um die Macht im Lande an sich zu reißen.
Dabei soll seitens der »Gelbmützen« auch der Ver-
such unternommen worden sein, den buthanesischen
Thronfolger zu liquidieren. In dieses vor seiner Voll-
endung aufgedeckte Attentat sei neben einer Mätresse
des Königs, die unter dem Einfluß der Gelugpas stand,
auch der Bruder des Dalai Lama, Gyalo Thondrup, ver-
wickelt gewesen. Es ist angesichts solcher Anschuldi-
gungen ohne weiteres zu verstehen, weshalb sich die
Buthanesen im Streit um den neuen Karmapa hinter
die Entscheidung Shamar Rinpoches gestellt haben und
Ugen Thinley, den von Dharamsala bestätigten Kandi-
daten von Situ Rinpoche, als eine Marionette des Da-
lai Lama ablehnen.
4. DIE SOZIALE WIRKLICHKEIT
IM ALTEN TIBET

Wie unseriös bei den Exiltibetern mit wissenschaftli-


chen Arbeiten über ihre Geschichte und über die soziale
Wirklichkeit des alten Tibet umgegangen wird, zeigt ein
Beispiel aus der Tibetan Review, dem englischsprachigen
Presseorgan der exiltibetischen Community. Im April
1991 durfte der renommierte amerikanische Historiker
Melvyn C. Goldstein dort einen Artikel publizieren, wo
er ein der offiziellen Linie aus Dharamsala widerspre-
chendes Bild der tibetischen Geschichte zur Diskussi-
on stellte. In der sich anschließenden Debatte gibt ein
tibetischer Gelehrter freimütig zu, daß Goldsteins Un-
tersuchungen so gut dokumentiert seien, »daß er wahr-
scheinlich mit seiner Analyse recht hat«, und dann fährt
der Tibeter fort : »Aber seine Präsentation hat dazu ge-
führt, die meisten Tibeter tief zu beleidigen.« (* Tibetan
Review, Januar 1992, 18)
Die historische Wahrheit führte also bei der exiltibe-
tischen Community nicht zu einer selbstkritischen Hal-
tung der eigenen Geschichte gegenüber, sondern man
war beleidigt und glaubte sich deswegen dazu berechtigt,
Goldsteins Arbeiten zu desavouieren und als chinesische
Propaganda zu verunglimpfen. (Siehe vor allem Phintso
Thondons Artikel in der Tibetan Review vom Mai 1991.)
Goldsteins Replik auf die Angriffe gegen ihn benennt
sehr präzise, was von der exiltibetischen Meinungsfrei-
heit zu halten ist : »Mr. Thondon scheint zu glauben, daß

797
alles, was die tibetisch-nationalistische Rhetorik, die aus
Dharamsala oder von den Tibetischen Support-Gruppen
stammt, kritisiert oder ihr widerspricht, pro-chinesisch
sein muß. Seine ›Erwiderung‹ zielt a priori darauf hin-
aus, meine Entdeckungen und Beobachtungen zu dis-
kreditieren, indem er den Eindruck vermittelt, ich hätte
pro-chinesische Vorurteile. Indem er Taktiken benutzt,
die denen der McCarthy-Ära in den USA gleichen, reißt
Mr. Thondon Sätze aus dem Zusammenhang, zerstückelt
Meinungen und, noch schlimmer, unterstellt Meinungen,
die es gar nicht gibt. Seine Antwort repräsentiert die dun-
kelste und unerfreulichste Seite der tibetischen Exilbe-
wegung.« (* Tibetan Review, September 1991, 18)
Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, daß die of-
fiziellen Stellen aus Dharamsala jede um Neutralität be-
mühte historische Analyse Tibets als kommunistische
Propagandaschrift diffamieren. Um noch ein Beispiel zu
nennen, zitieren wir ihre Reaktion auf A. Tom Grun-
felds gut recherchiertes Buch The Making of Modern Ti-
bet. »Dieses Buch«, heißt „ es in einer Rezension der Ti-
betan Review, »kann nur als die sophistische Präsentation
der Version angesehen werden, wie Beijing die Ereignis-
se sieht. Obgleich eine Menge von Material in dem Buch
aufgeführt wird, das pro-tibetische Schriftsteller oft über-
sehen ( !), und der Autor offensichtlich den Versuch ge-
macht hat, unparteiisch zu sein ( !), sind seine sino-zen-
trischen und marxistischen Ansichten so extrem, daß
er fast nicht in der Lage ist, sie zu meistern.« (* Tibetan
Review, Juli 1989, 13)

798
Das westliche Tibetbild

Für die Schattenseiten des tibetischen Mönchsstaates


sind westliche Beobachter mittlerweile mehr und mehr
blind geworden. In unzähligen Büchern und Schriften
aus der jüngsten Zeit stellt man das alte Tibet als einen
Friedensstaat, einen Zufluchtsort der Stille, ein Herzzen-
trum des Mitgefühls, eine Oase der Ökologie, eine In-
sel der Weisheit, ein Refugium der Wissenschaft, eine
Heimat der Glückseligen – kurz als ein verlorenes irdi-
sches Paradies, bewohnt von friedliebenden, erleuchte-
ten Menschen und von geheimnisvoll-leuchtenden Göt-
tern, dar. Schon in den 40er Jahren lobte Marco Pallis
die Tibeter als »eines der zivilisiertesten Völker auf der
Erde«. (* zit. b. Bishop, 1989, 231) »Alle Einwohner von
Lhasa, reich und arm, hoch und niedrig, sind friedfer-
tig«, lesen wir in einem modernen Bericht. »Selbst die
Bettler von Lhasa haben morgens nur kurze Zeit, ihr Ge-
schäft zu verrichten, um genügend Essen für den Tag zu
erhalten. Abends sind sie alle in einer angenehmen Art
betrunken. Die Leute von Lhasa sind physisch ausge-
ruht, geistig zufrieden und glücklich. Die Verpflegung
in der Stadt ist nahrhaft. Keiner hat besonders hart zu
kämpfen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das
Leben regelt sich von selbst, als etwas Selbstverständli-
ches. Alles ist hervorragend.« (* zit. b. Craig, 86, 87)
Auch der Kundun weiß über die Vergangenheit des
Schneelandes nur das Positivste zu berichten : »Der fort-
währende Einfluß des Buddhismus ergab eine Gesell-
schaft des Friedens und der Harmonie. Wir genossen

799
Freiheit und Zufriedenheit.« (* Panorama Nr. 553, 20. 11.
1997, 2) Oder an anderer Stelle : »Ein armer Tibeter hatte
wenig Veranlassung, seinen reichen Gutsherrn zu benei-
den oder anzufeinden, denn er wußte, daß jeder die Saat
aus seinem früheren Leben erntet. Wir waren schlicht
und einfach glücklich.« (* Panorama Nr. 553, 20. 11. 1997,
2) Dieses Bild vom armen, tiefreligiösen, reinen und über-
glücklichen Tibet hat sich mittlerweile im Bewußtsein
von Millionen festgesetzt.
Es ist unter anderem zu einem bevorzugten Thema
der esoterischen Literatur, aber vor allem der amerika-
nischen Filmindustrie geworden. Der Schauspieler Brad
Pitt, der in einer melodramatischen Geschichte (»Sieben
Jahre in Tibet«) die Rolle des deutschen Dalai Lama-Leh-
rers Heinrich Harrer spielt, kommt am Ende der Dreh-
arbeiten zu der folgenden Konklusion : »Gucken Sie sich
die Tibeter an, wie arm sie sind, materiell gesehen. Und
dann gucken Sie sich an, wie glücklich und wie fried-
lich sie sind, und ihre Lebenseinstellung, mit der sie ih-
ren Weg gehen. Das ist einfach phantastisch. Es geht un-
ter die Haut. Es sind die Herzen der Menschen, die Tibet
zum Shangri-La, zum Paradies machen. In Amerika ist
daraus eine richtige Bewegung geworden.« (* Panorama
Nr. 553, 20. 11. 1997, 1)
Solche Glorifizierungen haben sich in den letzten Jah-
ren wie ein Lauffeuer verbreitet. »Das Resultat war ein
einseitiges helles Bild spiritueller Reinheit«, schreibt der
Tibetforscher Peter Bishop. »Viele zeitgenössische west-
liche Studien machen lange Ausführungen, um zu ver-
meiden, sich mit der Schattenseite des tibetischen Bud-

800
dhismus zu konfrontieren. Man kann oft eine soziolo-
gische Naivität feststellen, die im starken Kontrast zu
den Zielen wissenschaftlicher Exaktheit stehen.« (* Bi-
shop, 1993, 73)
Bei den meisten der früheren Tibetreisenden dage-
gen hinterließ das Alte Tibet, zumindest was seine sozi-
ale Lage anbelangt, höchst negative Eindrücke, die man
heute allzu leicht als imperialistische Arroganz und eu-
ropäischen Rassismus abtut, obgleich dieselbe Kritik an
den sozialen Zuständen auch von Bewunderern der ti-
betischen Kultur ausgeprochen wurde. Alexandra David
Neel zum Beispiel war von dem allgemeinen Elend des
Landes ebenso abgestoßen wie von der Korruptheit der
Priesterkaste. Selbst ein solch fanatischer Anhänger des
Kalachakra-Tantra wie Nicholas Roerich beklagte sich
über die allgemeine Dekadenz im damaligen Tibet.
Heinrich Harrer malt ebenfalls kein rosiges Bild von
Lhasa in den 40er Jahren, sondern schildert das Land
als einen ungerechten, wenn auch faszinierenden Ana-
chronismus. In seinem weltberühmten Reisebericht Sie-
ben Jahre in Tibet schreibt der deutsche Mentor des ju-
gendlichen Dalai Lama : »Die Herrschaft der Mönche in
Tibet ist einmalig und läßt sich nur mit einer strengen
Diktatur vergleichen. Mißtrauisch wachen sie über jeden
Einfluß von außen, der ihre Macht gefährden könnte. Sie
sind selbst klug genug, nicht an die Unbegrenztheit ihrer
Kräfte zu glauben, würden aber jeden bestrafen, der Zwei-
fel in dieser Richtung äußerte.« (* Harrer, 1984, 71)
Solche Einschätzungen, wie die des »besten Freundes
des Dalai Lama«, lassen sich dutzendweise in der frü-

801
hen Tibetliteratur finden. Viele Besucher vor dem Jahre
1959 berichten, daß im Reich der Dalai Lamas diktato-
rische Entscheidungen, Beamtenwillkür, Gehirnwäsche
und paranoider Dämonenglaube, spirituelle Kontrolle
und kriecherische Servilität, bitterste Armut und orien-
talischer Reichtum, Sklaverei, Leibeigenschaft, Hunger,
Krankheiten, Mangel an jeglicher Hygiene, Trunksucht,
grausame Strafen, Folter, politischer und privater Mord,
Angst und Gewalt, Diebstahl, Räuberei und gegenseitiges
Mißtrauen an der Tagesordnung waren. Der Chakravar-
tin aus Lhasa herrschte über ein Jammertal.
Selbstverständlich schließen diese negativen Zustände
keineswegs aus, daß es im Schneeland auch Oasen des
Friedens, des Gleichmuts, der Gelehrsamkeit, der Freu-
de, der Hilfsbereitschaft, des Edelmuts, oder wie die bud-
dhistischen Tugenden alle heißen mögen, gab. Aber das
Spezifische am heutigen Tibetbild ist, daß es nur seine
Lichtseiten betont und seine Schattenseiten einfach leug-
net und verdrängt.

Die Struktur der alttibetischen Gesellschaft

Bildungswesen, Vermögensverwaltung, Gerichtsbar-


keit und Polizeidienst lagen Jahrhunderte lang in den
Händen von Mönchsbeamten. Bürokratie und Sakrali-
tät sind in Asien schon seit jeher kompatibel. So ken-
nen wir bei den Chinesen einen langweiligen konfuzia-
nischen Beamtenhimmel, der vom Himmelskaiser und
seinen Ministern, von Mandarinen, Schreibern und

802
Verwaltern bevölkert ist. Solche Bilder sind auch in Ti-
bet bekannt. Erinnern wir uns nur daran, wie bürokra-
tisch selbst die Verwaltungsstruktur des Wunderlandes
Shambhala imaginiert wird.
Die klerikale Administration funktionierte so lange
gut, wie es um die unmittelbaren Angelegenheiten ei-
nes Klosters ging. Alle darüber hinausreichenden Staats-
und gesellschaftspolitischen Ressorts des Hochlandes
aber konnten kaum bewältigt werden. Westliche For-
scher, die Tibet im 19. und 20. Jahrhundert besuchten,
fanden denn auch eine völlig unbewegliche Verwaltung
vor : Entscheidungsprozesse dauerten Wochen, Ignoranz
und Furchtsamkeit beherrschten den unfähigen Beam-
tenapparat, und ohne Bestechungsgelder war nirgends
etwas zu erreichen. 73
Die Sozialstruktur des Alten Tibet entsprach keines-
wegs einem idealtypischen Modell glücklicher Individu-
en, wie sie heute so oft dargestellt wird. Neben dem all-
gegenwärtigen Klerus wurde das Land von etwa 150–300

73 Auf der geistigen Ebene entsprachen dieser Bürokratie ein mi-


nutiös durchdachtes Klosterregiement und eine trockene Schola-
stik, die oft in Wortspalterei und einer nie enden wollenden Kom-
mentierung der Originaltexte ausartete. So entstanden Kom-
mentare von den Kommentaren von den Kommentaren eines
bestimmten Tantras. Die tibetische Lust an der ewigen Wieder-
holung der gleichen Formeln, der unermüdlichen Umkreisung
derselben Themen hat zur Erfindung der Gebetsmühle geführt –
eine einmalige Einrichtung, die das Mechanische und Stereotype
dieser Religion wohl am anschaulichsten charakterisiert. Es han-
delt sich dabei um einen metallenen Zylinder, der von Gläubigen
stundenlang, meist mit dem Spruch om mani padme hum auf den
Lippen, durch Handbewegung in Drehung versetzt wird.

803
»profanen« Familien beherrscht. Man unterschied Grup-
pierungen der Aristokratie. Die höchste Schicht leitete
ihre Abstammung von den alten tibetischen Königen ab,
dann folgten die Familienmitglieder der Dalai Lamas.
Diese wurden sogleich nach der Inthronisierung des neu-
en Gottkönigs geadelt. Jede Familie war stolz darauf, ei-
nen Sohn als Mönch zu haben. Für Aristokraten genüg-
te es jedoch, daß der Novize nur eine Nacht im Kloster
verbrachte, um danach gegen eine angemessene Bezah-
lung als ordiniert zu gelten. Ausgestattet mit den beacht-
lichen Privilegien eines Lamas, durfte er dann nach Hau-
se zurückkehren.
Einer reichen Herrschaftselite stand der allergrößte Teil
der seßhaften Bevölkerung als »Leibeigene« gegenüber,
die mit hohen Steuerabgaben belastet waren. Das Leben
dieser Tibeter war hart und karg, ihre Ernährung schlecht
und das heute im Westen gepriesene Gesundheitswesen
ohne großen Erfolg. Man kannte bis hinein in unser Jahr-
hundert Formen der Sklaverei – was heute von den Exil­
tibetern geleugnet wird. Wie in Indien gab es eine Kaste
der Unberührbaren. Dazu zählten Bettler, Prostituierte,
Schmiede ( !), Fischer, Musiker und Schauspieler. Diesen
stigmatisierten Gruppen war es in vielen Teilen des Lan-
des nicht einmal erlaubt, Mönch zu werden.
Dagegen bewahrten die Nomaden eine relative Auto-
nomie, sowohl gegenüber dem Klerus als auch gegen-
über chinesischen oder mongolischen Invasoren. Das galt
selbst für ihre Sitten und Bräuche. Zum Beispiel war das
Töten von Tieren – vom Buddhismus strengstens verbo-
ten – bei ihnen üblich. Die Mönche in Lhasa – alle kei-

804
ne Vegetarier – ließen sich die Tiere von mohammeda-
nischen Metzgern schlachten, die dadurch das schlechte
Karma des Tötens auf sich luden, denn der Fleischver-
zehr ist für die Tibeter keine »Sünde«, das Schlachten
dagegen wohl.
Der XIV Dalai Lama, selber ein Fleischesser aus »ge-
sundheitlichen Gründen«, macht dennoch (im Westen)
ständig Kampagnen für einen vegetarischen Lebens-
wandel.
Ausgehend von der Karmalehre, sahen die privilegier-
teren Schichten des alten Tibet ihre Vorteile als eine Be-
lohnung für vorangegangene gute Taten aus vorherigen
Existenzen. Wer in niedere Kasten hineingeboren wur-
de, verdankte das einer schlechten Lebensführung in der
Vergangenheit und war von vornherein als ein ehemaliger
Bösewicht gekennzeichnet. Solche degradierenden Ein-
schätzungen leben unter den Exiltibetern weiter. Rebecca
Redwood French berichtet zum Beispiel von einem Fall,
wo ein Kind, das seltsame Geräusche von sich gab und
ein Bild des Dalai Lamas zur Erde warf, als die Inkarna-
tion eines Hundes erkannt wurde. Man kann sich vor-
stellen, wie leicht entsprechende Klassifizierungen zu ei-
ner allgemeinen sozialen Überheblichkeit und zu Macht-
mißbrauch führen können.

Das tibetische Strafrecht

Ausgehend von westlichen Vorstellungen, die sich an


Demokratie und Menschenrechten orientieren, müs-

805
sen wir das Alte Tibet als totalitären Staat bezeichnen.
Das Rechtssystem beruhte unverändert dreihundert
Jahre lang auf dem Ganden Podrang-Kodex des »Gro-
ßen Fünften«. Doch wurde das Kriminalrecht schon im
13. Jahrhundert von den Sakyapa-Sekte kodifiziert. Es
stand unter starkem mongolischen Einfluß, leitete sich
von dem Yasa (Gesetzbuch) des Dschinghis Khan ab
und war wie der Strafvollzug im europäischen Mittelal-
ter extrem grausam.
Bizarre Verstümmelungen wie Blendungen, das Ab-
schneiden von Gliedern und das Herausreißen der Zun-
ge, bewußt inszenierte Erfrierungen, Pranger, Anketten,
Einsperren in ein Joch, lebenslange Einkerkerungen in
feuchten Gruben zählten zu den gängigen Strafmaßnah-
men bis hinein ins 20. Jahrhundert, auch nachdem der
XIII Dalai Lama einige Milderungen eingeführt hatte.
Ein britischer Gesandter sah noch 1940 ȟberall in Ti-
bet Menschen, denen wegen Diebstahl ein Arm oder ein
Bein abgehackt worden war«. (* Grunfeld, 24)
Da der Buddhismus grundsätzlich die Tötung eines
lebenden Wesens verbot, wurden Verbrecher oft bis an
die Grenze des Todes gefoltert und dann sich selbst über-
lassen. Starben sie jetzt an den Folgen, dann handelte es
sich ausschließlich um ihr eigenes Karma.
Heute bewahrt die Machtelite in Dharamsala über sol-
che unmenschlichen Akte peinliches Schweigen und tut
sie als chinesische Propaganda ab, westliche Beobachter
des Alten Tibet und deren Berichte gelten als voreinge-
nommen und als europäische Arroganz. Es 1st wirklich
erstaunlich, wie diese Verschleierung der eigenen grau-

806
samen Vergangenheit den Lamas im Westen gelungen ist.
Dabei gibt es sogar einiges an authentischem Photomate-
rial, zum Beispiel von einer öffentlichen Auspeitschung,
die 1950 mitten in Lhasa stattfand und in der amerikani-
schen Illustrierten Life abgebildet wurde. (* Life, 13 Nov.
1950, pp. 130–136)
Die Bestrafung krimineller Delinquenten erstreckte
sich keineswegs nur auf diese Welt, vielmehr verdamm-
ten die Mönche Menschen für Millionen ( !) von Jahren in
die scheußlichsten Höllen, die noch grotesker und noch
sadistischer waren als ihre Pendants im christlichen Mit-
telalter. Voltaires Schrei »Erinnert Euch der Grausamkei-
ten«, mit dem er an erster Stelle die Politik des christli-
chen Klerus meinte und mit dem er seinen Kampf für
die Menschenrechte eröffnete, sollte auch in Dharamsa-
la gehört werden !
Die Gleichheit vor dem Gesetz war in Tibet je nach
sozialer Stellung und Börse unterschiedlich. Für einen
Mord zahlte man ein sogenanntes »Lebens-Geld« (Mi-
stong) an die Hinterbliebenen und konnte sich damit ei-
ner Strafverfolgung entziehen. Gemäß der Aussage eines
der Brüder des jetzigen Dalai Lamas wurde diese Pra-
xis noch Mitte unseres Jahrhunderts gepflegt. Der Preis
richtete sich selbstverständlich je nach dem Status des
Opfers. So kostete in den 50er Jahren das Leben eines
hohen Mönchsbeamten zwischen 8000–10 000 US Dol-
lar. (* Grunfeld, 24) Für die Ermordung einer Frau aus
den Unterkasten wurden 10 Liang (ungefähr 11 Unzen)
Silber gezahlt.

807
Kommerz des Klerus

Der buddhistische Klerus war auch im Kommerz tätig,


und die wichtigsten Klöster galten als bedeutende Han-
delszentren. Selbst Kreditgeschäfte wurden von den La-
mas getätigt. Die Produktion bestand hauptsächlich aus
Devotionalien, welche die Mönche meist selber herstell-
ten : Heiligenbilder, Götterstatuetten, Amulette und ähn-
liches. Als Dienstleistungen bot man Wahrsagerei, Astro-
logie und die Durchführung von allen möglichen Ritu-
alen an. Weitere Einnahmequellen waren der Bettelgang.
Scharen von Mönchen wurden durchs Land geschickt, um
Gaben zu sammeln. Oft kehrten sie mit großen Ladun-
gen zurück. Die Miete für eine Wohnzelle innerhalb des
Klosters mußte von den Verwandten des Mönchs bezahlt
werden. War dies nicht möglich, dann hatte der Novize
seinen Unterhalt abzuarbeiten. Franz Michael bezeichnet
deswegen das tibetische Monasterium als ein »privates,
profitorientiertes, kapitalistisches Unternehmen. Es war
kapitalistisch in dem Sinne, daß das Ziel des Managers
(Klosterverwalters) klar und offiziell darin bestand, den
größtmöglichen Profit für seinen Besitzer, die Inkarnati-
on (des Abtes), herauszuschlagen.« (* Michael, 49)
Prächtig blühte das lamaistische Apothekerwesen. Aus-
scheidungen (Kot und Urin) hoher Tulkus wurden als
wertvolle Medikamente zu Pillen verarbeitet und ver-
kauft. Auch heute verkaufen die Lamas im Westen Hun-
derttausende kleiner Pillen als Heilmittel, deren Grund-
substanz Tierkot darstellt, die aber als eine Mischung aus
gemahlenen Edelsteinen angepriesen werden.

808
Als höchstes Palliativ galt selbstverständlich der Kot
des »lebenden Buddha« (Kundun). Als sich der XIV Da-
lai Lama in China aufhielt, sammelte sein Kammerherr
täglich seine Exkremente in einem goldenen Topf, um sie
anschließend nach Lhasa zu schicken und dort zu einem
Medikament zu verarbeiten. (* Grunfeld, 22)
Die heute weltweit angebotene traditionelle tibetische
Medizin, von der westliche Bewunderer behaupten, sie
könne Krebs heilen, mußte sich im eigenen Land mit we-
niger Erfolgen zufrieden geben. Ein Großteil der Bevöl-
kerung litt an Geschlechtskrankheiten. Die Pocken wa-
ren weit verbreitet und selbst der XIII Dalai Lama wur-
de ihr Opfer.

Die politische Intrige

Es ist keine Frage, daß die Lamas ihre religiös-charis-


matische Ausstrahlung ständig für den Aufbau weltli-
cher Macht und für die Entfaltung persönlicher Pracht
einsetzten. »Die ursprüngliche Buddha Lehre«, schreibt
Matthias Hermanns, »von der ›Flucht aus dem welt-
lichen Leben‹ wurde in das Macchiavelli-Prinzip der
ungehemmten, moralfreien Machtpolitik verändert.«
(* Hermanns, 1956, 372) Nur hätten die Mönche dies nie
so genannt. Es zählte zu ihrer Herrschaftsideologie, jede
noch so säkulare und dekadente Äußerung als den Ent-
schluß einer Gottheit auszugeben.
Ein wichtiges Instrument der tibetischen Machtpoli-
tik war die politische Intrige. Sie ist zwar unter Men-

809
schen ein allgemeines Phänomen, aber in Tibet erhielt
sie deswegen einen so hohen Rang, weil die weltlichen
Ressourcen, welche den Lamas zur Verfügung standen,
kaum hinreichten, um Zentralasien zu kontrollieren. Vor
allem gab es nur Rudimente einer Armee. So war es im-
mer wieder nötig, bewaffnete Verbündete zu suchen be-
ziehungsweise bewaffnete Gegner untereinander auszu-
spielen. Davon haben die Großäbte, Regenten und Dalai
Lamas im Laufe der Geschichte ausgiebig Gebrauch ge-
macht. Sie waren Meister des politischen Ränkespiels und
wurden deswegen von den chinesischen Kaisern ebenso
gefürchtet wie von den mongolischen Khanen.
Gift und Meuchelmord beherrschten selbst die inter-
ne lamaistische Szene. Nicht alle »lebenden Buddhas« er-
reichten das Regierungsalter. Die vier göttlichen Kinder
(der IX–XII Dalai Lama) wurden – wie wir oben schon
berichtet haben – die Opfer machtvoller Cliquen inner-
halb des klerikalen Establishments. Besonders gefürchtet
waren die Großäbte wegen ihrer magischen Fähigkeiten,
die sie gegen ihre Feinde einsetzten. Magie stand neben
der Staatsgewalt als das andere bedeutende Herrschafts-
mittel, das ständig zur Anwendung gelangte. Es spielte in
der hohen Politik eine noch bedeutendere Rolle als die bü-
rokratische Verwaltung und internationale Diplomatie.

Die neueren Entwicklungen im Geschichtsbild

Die krassen Dissonanzen in der Beurteilung des Schnee-


landes und seiner Kultur sind nicht nur ein Produkt

810
westlicher Imagination, sondern müssen ebenso aus
dem Auseinanderklaffen vom eigenen idealtypischen
Anspruch des Lamaismus und einer »unterentwickel-
ten« sozialen Realität erklärt werden. Ein gläubiger tibe-
tischer Buddhist neigt dazu, ausschließlich auf die Ide-
ale seiner Lehre (Dharma) zu schauen und für die sozi-
ale Wirklichkeit seines Landes blind zu sein. Dies trifft
fast immer zu, wenn es um das Alte Tibet geht. Als Tan-
triker hat er außerdem noch die Möglichkeit, aufgrund
des »Umkehrungsgesetzes«, alles Schlechte und Unvoll-
kommene seiner Umgebung als den Formstoff spirituel-
ler Transformationsarbeit zu sehen, denn nach der Um-
kehrlogik macht der Vajrayana die niedere gesellschaft-
liche Realität zu einem Moment der Ganzwerdung, zur
Prima Materia des tantrischen Experiments.
Es versteht sich von selbst, daß die Lamas die westli-
chen Heile-Welt-Visionen vom friedlichen und spirituel-
len Tibet dankbar aufnahmen. Diese vermischten sie mit
Paradiesbildern aus der eigenen buddhistischen Mytho-
logie und verrührten das Ganze mit historischen Ereig-
nissen seit der Zeit der tibetischen Könige. Das Resultat
war das Bild von einer Gesellschaft, in der alle Menschen
von alters her glücklich lebten, wo sie Tag und Nacht mit
einem Lächeln auf den Lippen verbrachten. Alle Bedürf-
nisse einer sinnvollen menschlichen Existenz konnten da-
nach im Alten Tibet erfüllt werden, es mangelte an nichts.
Jeder achtete den anderen. Mensch, Tier und Natur leb-
ten friedlich und respektvoll zusammen. Das ökologi-
sche Gleichgewicht war garantiert. Die tibetischen Kö-
nige herrschten wie gütige Väter, und die Priesterfürsten

811
taten es ihnen nach. Dann kam die chinesische Soldates-
ka mit Geschützen und Gewehren, versklavte das Volk,
folterte seine Priester, zerstörte seine Kultur und plante,
die tibetische Rasse insgesamt zu vernichten.
Mit solchen oder ähnlichen Bildern ist es dem XIV Da-
lai Lama bis hinein in die jüngste Zeit im großen und
ganzen gelungen, das Bild vom reinen, edlen, humanen,
ökologischen, spirituell hochentwickelten Tibet, diesem
Hort gegen Materialismus und Unmenschlichkeit, im Be-
wußtsein der Weltöffentlichkeit zu verankern. Sogar das
in solchen Fragen äußerst kritische deutsche Nachrich-
tenmagazin Der Spiegel gerät ins Schwärmen : »Tibet als
Symbol des Guten, als letzter Hort der Spiritualität, wo
Weisheit und Harmonie bewahrt werden, während die
Welt in Dunkel und Chaos liegt : Ist das ›Dach der Welt‹
die Projektionsfläche für alle unsere Sehnsüchte gewor-
den ? Welches Geheimnis verbirgt sich hinter der westli-
chen Faszination mit diesem fernen Land, seiner Religion
und seinem Gottkönig ?« (* Spiegel, 16/1998, 110)
Aber unter dem Druck der seit 1996 vehement einset-
zenden Kritik an der Geschichte des Landes, die ein un-
widerlegbares Beweismaterial vorlegen kann, wird man
auch in Dharamsala mit der unbegrenzten Glorifizie-
rung des Alten Tibet vorsichtiger. Immer häufiger läßt
sich deswegen der Dalai Lama jetzt auf die griffige For-
mel ein, Tibet zeige wie alle Nationen seine guten und
seine schlechten Seiten, die Zukunft werde jedoch nur
noch die guten betonen. (* Shambhala Sun, Archiv, Nov.
1996) Das ist mehr oder weniger alles. So wird auf den
Schatten, der die Historie des Schneelandes verdunkelt,

812
nur sehr allgemein Bezug genommen – etwa im Sinne,
wo viel Licht ist, da sei auch viel Dunkelheit.
Es ist hier nicht unsere Aufgabe, eine Einschätzung der
von chinesischer Seite vielgepriesenen Errungenschaften,
die sie in das mittelalterliche Land gebracht hätten, zu
geben. Wir selber glauben, daß das tibetische Volk heu-
te sozial besser lebt als unter der Herrschaft des Lamais-
mus. Aber damit meinen wir keineswegs, daß die aktuel-
le gesellschaftliche Situation im Schneelande ideal wäre.
Viele der exiltibetischen Anklagen und Kritiken an der
»Minderheitenpolitik« Beijings halten wir durchaus für
zutreffend. Es ist auch keineswegs zu leugnen, daß heu-
te der Widerstand unter den Tibetern gegenüber China
wächst und sich vor allem religiöser Argumente bedient.
Wie überall in der Welt entstand auch auf dem Dach der
Welt seit Mitte der 80er Jahre eine religiöse Renaissance.
In dieser lamaistischen Restauration, nicht in der tibeti-
schen Demokratiebewegung, sehen wir ein Problem. Das
Eigentümliche und Verwirrende an der politischen Situa-
tion ist jedoch, daß die klerikale Restauration mit gro-
ßem Erfolg vorgibt, selber die Demokratiebewegung zu
sein, und mit dieser Täuschung das Bewußtsein sowohl
der Tibeter als auch des Westens manipuliert.
5. BUDDHOKRATIE UND ANARCHIE –
EIN WIDERSPRUCH ODER EINE
ERGÄNZUNG ?

Der totalitäre lamaistische Staat (die tibetische Buddho-


kratie) mit ihrem absoluten Herrscher, dem Dalai Lama,
an der Spitze war – so widersprüchlich das auf den er-
sten Blick erscheinen mag – nur die eine machtpoliti-
sche Kraft, die die Geschichte Tibets bestimmend präg-
te. Auf der anderen Seite finden wir all die auflösenden
und antistaatlichen Mächte, die die klerikale Sphäre
als gefährliche Gegnerinnen ständig herausforderten.
Sie repräsentierten – wie wir sehen werden – im sozi-
alen Gesamtgefüge die Kräfte der Anarchie. »Die Tibe-
ter verstehen Macht in zweifacher Weise«, schreibt Re-
becca Redwood French. »Einmal als eine hochzentrali-
sierte, rigid kontrollierte und hierarchisch bestimmte
Kraft und zum anderen als eine diffuse und verwirrende
Kraft.« (* Redwood French, 108) Wer sind diese »diffu-
sen und verwirrenden Kräfte«, und wie geht der buddhi-
stische Staat (»die hochzentralisierte und hierarchisch
bestimmte Kraft«) mit ihnen um ?
Die Mächte, die im alten Tibet gegen die etablier-
te Mönchsordnung rebellierten, waren Legion – allen
voran die allgewaltige Natur des Landes. Extreme kli-
matische Bedingungen und das riesige, verkehrstech-
nisch kaum erschlossene Territorium machten eine ef-
fektive Staatskontrolle durch die Lamas nur sehr be-
grenzt möglich.

814
Aber die Probleme waren nicht nur faktischer Art. Hin-
zu kam, daß die wilde Natur nach tibetisch-animistischer
Sicht von unzähligen Göttern, Dämonen und Geistern
bewohnt ist, die alle unter Kontrolle gebracht werden
müssen. Die Lu – Wassergeister, welche Brunnen ver-
schmutzen und Flüsse umleiten ; die Nyen – Baumgei-
ster, die Krankheiten, insbesondere Krebs, hervorrufen ;
die Gyelpos – schädliche Gespenster von schlechten Kö-
nigen und Lamas, welche ihre Gelübde gebrochen ha-
ben ; die schwarzen Düd– offene Rebellen, die sich be-
wußt gegen das Dharma wenden ; die ebenfalls schwar-
zen Mamos – eine Art gefährlicher Hexen und Harpien ;
die Sa – üble Astraldämonen und noch viele andere. Sie
alle bildeten im Alten Tibet eine tägliche Bedrohung für
Leib und Seele, Leben und Eigentum und mußten durch
ständige Rituale und Beschwörungen gebändigt werden.
Diese animistische Weltsicht ist auch heute noch, trotz
chinesisch-kommunistischem Materialismus und Ratio-
nalismus, weiterhin lebendig und hat zur Zeit eine regel-
rechte Renaissance.
Mit einer (meist magisch-rituellen) Besiegung und Fes-
selung der aufgezählten Naturgeister aber war es nicht
getan. Sie bedurften anschließend einer ununterbroche-
nen Aufsicht und Bewachung, damit sie nicht erneut ihr
Unwesen trieben. Selbst die sogenannten Dharmapalas,
Gottheiten, welche die buddhistische Lehre schützen soll-
ten, pflegten von Zeit zu Zeit ihre Aufgabe zu vergessen
und sich gegen ihre eigene Herren (die Lamas) zu wen-
den. Diese »Allgegenwart des Dämonischen« versetzte
die Mönche und die Bevölkerung in ständige Alarmbe-

815
reitschaft und bewirkte extreme Anspannungen inner-
halb der tibetischen Kultur.
Auf der sozialen Ebene war es unter anderem die hohe
Kriminalität, die den tibetischen Staatsbuddhismus im-
mer wieder herausforderte und als staatszersetzend er-
fahren wurde. Die meisten westlichen Tibetreisenden
(aus der Zeit vor der chinesischen Besetzung) berichten,
daß das Brigantentum im Lande eine allgemeine Pla-
ge darstelle. Bestimmte Nomadenstämme, zum Beispiel
die Khampas, betrachteten die Räuberei als einen lukra-
tiven Nebenverdienst oder verlegten sich sogar hauptbe-
ruflich darauf. Sie wurden zwar gefürchtet, aber deswe-
gen keineswegs verachtet, sondern waren die Helden ei-
ner im Lande weitverbreiteten Räuberromantik. Ohne
Bedienstete und unbewaffnet auszugehen, galt auch im
alten Lhasa als gefährlich. Man lebte in ständiger Furcht
vor Überfällen.
In der Volkskultur gab es beachtliche Strömungen eines
ursprünglichen, anarchistischen (nicht-buddhistischen)
Schamanismus, der das gesamte Land durchsetzte und
sich nicht so leicht unter das Diktat einer buddhistischen
Staatsidee zwingen ließ. Gleiches galt für die Sekte der
Nyingmapa, deren Mitglieder einen libertären und va-
gabundierenden Lebensstil pflegten. Dazu kamen als
weitere Vertreter des »Anarchismus« die umherziehen-
den Yogis und Asketen. Last not least führten die gro-
ßen Orden einen unerbittlichen Konkurrenzkampf un-
tereinander aus, der den Gesamtstaat bis an den Rand
des Chaos stürzen konnte. Wenn zum Beispiel die Sa-
kyapas auf dem Höhepunkt der Macht standen, dann

816
lagen die Kag­yüpas auf der Lauer, um deren Schwächen
ausfindig zu machen und sie zu Fall zu bringen. Grif-
fen die Kagyüpas zur Herrschaft über das Schneeland,
dann wurden sie von den Gelugpas mit Hilfe der Mon-
golen daran gehindert.
Lamaistischer Staat und Anarchie standen sich in der
tibetischen Geschichte immer gegenüber. Aber können
wir deswegen sagen, daß der Buddhismus ausschließlich
und immer die Rolle des Staates einnahm, der mit allen
nichtbuddhistischen Kräften der Anarchie im ständigem
Streit lag ? Wir werden sehen, daß sich diese soziale Dyna-
mik komplexer gestaltete. Der tantrische Buddhismus ist
selber – das ergibt sich aus dem Lebensstil, den die Tan-
tras fordern – eine Ausdrucksform der »Anarchie«. Aber
nur zum Teil und nur zeitweise. Ihm gelingt es letztlich
beides, den autoritären Staat und eine anarchische Le-
bensform miteinander zu verbinden oder, besser gesagt,
die Lamas haben in Tibet (und jetzt im Westen) eine ge-
niale Idee und Praxis entwickelt, wie sie die Anarchie zur
Festigung der Buddhokratie nutzen können. Sehen wir
uns das anhand der Lebensbeschreibungen verschiede-
ner tantrischer »Anarchisten« genauer an.

Die »Großzauberer« (Maha Siddhas)

Das anarchistische Element in der Landschaft des Bud-


dhismus ist keineswegs eine spezifisch tibetische Er-
scheinung. Der Gründungsvater Shakyamuni selbst hat
ein höchst antistaatliches und antisoziales Verhalten

817
gezeigt und später das gleiche von seinen Anhängern
verlangt.
Anstatt seine Erbschaft als königlicher Herrscher an-
zutreten, wählte er die Hauslosigkeit ; anstatt für seine
Ehefrau und für seinen Harem entschied er sich für die
Enthaltsamkeit ; anstatt Reichtum suchte er die Armut.
Aber die eigentlich »anarchistischen« Repräsentanten des
Buddhismus sind die 84 Großzauberer oder Maha Sid-
dhas, welche die legendäre Gründergruppe des Vajraya-
na ausmachen und von denen die verschiedenen Linien
des tibetischen Buddhismus abstammen. Wir müssen
also, um die Ursprünge der antistaatlichen Strömungen
in der Geschichte Tibets zu erfassen, einen Blick über
die Grenze ins alte Indien werfen.
Alle Geschichten über die Maha Siddhas erzählen spek-
takuläre Abenteuer, die sie bestehen mußten, um ihr Er-
leuchtungsziel (die rituelle Absorption der Gynergie) zu
erreichen. War ihnen dies gelungen, dann durften sie sich
als »Meister der Maha Mudra« bezeichnen. Die Zahl 84
entspricht keiner historischen Realität. Wir haben hier
vielmehr eine mystische Zahl vor uns, welche in mehre-
ren indischen Religionssystemen die Vollendung symbo-
lisiert. Vier der Maha Siddhas waren Frauen. Sie alle leb-
ten in Indien zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert.
Die meisten dieser Großzauberer stammten aus den
Unterschichten. Sie waren ursprünglich Fischer, Weber,
Holzhacker, Gärtner, Vogelfänger, Bettler, Bedienstete
oder ähnliches. Die wenigen, die den höchsten Kasten
angehörten – die Könige, Brahmanen, Äbte und Uni-
versitätslehrer – ließen alle ihre Privilegien hinter sich,

818
um als »Aussteiger« das Leben bettelnder Wanderyogis
zu führen. Aber ihre Biographien haben nichts von den
frommen christlichen Legenden – sie sind gewalttätig,
erotisch, dämonisch und grotesk. Der Amerikaner Keith
Dowman unterstreicht den rebellischen Charakter dieser
unheiligen Heiligen : »Unter den Siddhas sind Bilderstür-
mer, revolutionäre Freidenker, Anti-Establishment-Re-
bellen … Die zwanghaften Kastenbestimmungen und -
regeln innerhalb der Gesellschaft und religiöse Rituale,
die zum Selbstzweck geworden waren, wurden von der
beispielgebenden Ungebundenheit der Siddhas untergra-
ben.« (* Dowman, 1991, 20, 21) Explizit bezeichnet Dow-
man ihren Lebensstil als »spirituellen Anarchismus«, der
sich durch keine Institutionalisierung beherrschen lasse.
(* Dowman, 1991, 22)
Die Beziehung zu einer Frau, um mit ihr die sexual-
magischen Riten durchzuführen, war das Kernstück ei-
nes jeden Siddha-Lebens. Ob König oder Bettler – alle
bevorzugten sie Mädchen aus den Unterschichten : Wä-
scherinnen, Prostituierte, Schankwirtinnen, Tanzgirls,
Friedhofshexen.
Auch die Kleidung und das Äußere der Großzauberer
widersprachen ganz und gar dem Bild der buddhistischen
Mönche. Sie waren dämonisch pittoresk. Der Oberkörper
wurde frei gelassen, als Lendenschurz trugen die Maha
Siddhas Felle, mit Vorliebe von Raubtieren. Riesige Ringe
zierten die Ohren und Ketten aus Menschenknochen den
Hals. Im Gegensatz zu den ordinierten Bhiksus (Mön-
chen) rasierten sich die Großzauberer nie die Haare ab,
sondern ließen sich eine dichte Mähne wachsen, die sie

819
auf dem Kopf zu einem Knoten zusammenbanden. Ihr
Stil glich vielmehr demjenigen shivaitischer Yogis, und
man konnte schwer traditionelle Anhänger des Gautama
Buddha in ihnen erkennen. Viele der Maha Siddhas wur-
den denn auch sowohl von den Shivaiten wie von den
Buddhisten gleichermaßen verehrt. Daraus schließt der
Indologe Ramachandra Rao, daß in der Frühphase des
Tantrismus die Zugehörigkeit zu einer bestimmten reli-
giösen Strömung keinesfalls das ausschlaggebende Krite-
rium für das Weltbild eines Yogis war, sondern die tan-
trische Technik machte sie (unabhängig von ihrer Glau-
benszugehörigkeit) alle zu Mitgliedern einer einzigen
esoterischen Gemeinschaft. (* Rao, 42)
Die Maha Siddhas wollten provozieren. Ihr »dämo-
nischer Nihilismus« machte vor nichts Halt. Sie schoc-
kierten durch ihr bizarres Äußere, waren respektlos
selbst gegenüber Königen und machten grundsätzlich
das Gegenteil von dem, was sowohl von einem »norma-
len« Menschen als auch von einem ordinierten Maha-
yana-Mönch erwartet wurde. Es gehörte zu ihrem Eh-
renkodex, ihre mystische Zunft durch ein völlig unkon-
ventionelles Verhalten öffentlich darzustellen. Anstatt der
Abstinenz liebten sie den Brandwein, statt Friedensstifter
waren sie Raufbolde. Die meisten unter ihnen nahmen
bewußtseinserweiternde Drogen. Sie waren schmutzig
und ungepflegt. Ihre Bettelgaben sammelten sie in einer
Schädelschale. Einige von ihnen ernährten sich stolz von
menschlichen Leichenteilen, die auf den Verbrennungs-
friedhöfen herumlagen. Über ihre erotischen Praktiken
haben wir im ersten Teil unserer Studie ausführlich be-

820
richtet, ebenso wie über ihre grenzenlosen Machtphanta-
sien, die vor keinem Verbrechen Halt machten. So standen
die Zauberkräfte (Siddhis) ganz an der Spitze ihrer Wün-
sche, auch wenn in den Legenden immer wieder betont
wird, die »weltlichen« Siddhis wären nur von sekundärer
Bedeutung. Telepathie, Hellsichtigkeit, Fliegen, über das
Wasser schreiten, Tote auferwecken, Lebende durch Ge-
danken töten – ständig zeigten sie ihrer Umwelt Wun-
dertaten, um ihre Überlegenheit zu beweisen.
Aber wie verträgt sich nun der »spirituelle Anarchis-
mus« der Maha Siddhas mit der buddhistischen Staats-
idee ? In seinem Grundcharakter ist der Siddha ein Gegner
aller staatlichen Hierarchien und jeglicher Disziplin. Alle
Formalitäten des Lebens sind ihm zuwider – Ehe, Beruf,
Position, offizielle Ehrungen und Anerkennungen. Aber
dies gilt nur zeitweise, denn hat der Yogi den Erleuch-
tungszustand erreicht, dann bildet sich entsprechend dem
Gesetz der Umkehrung eine geordnete und wunderschö-
ne Gegenwelt heraus. Dank der sexualmagischen Riten
des Tantrismus sind jetzt aus den Bordellkneipen Götter-
paläste geworden, aus ekelerregendem Schmutz diaman-
tenklare Reinheit, aus stinkendem Kot glänzende Gold-
stücke, aus geilen Hetären edle Königinnen, aus unstillba-
rem Haß unendliche Liebe, aus dem Chaos die Ordnung,
aus der Anarchie der absolute Staat. Der Mönchsstaat ist,
wie wir anhand der »Kirchengeschichte« Tibets zeigen
werden, das Ziel, das »wilde Leben« der Maha Siddhas
dagegen nur eine Durchgangsphase.
Deswegen dürfen wir den tantrischen Yogi nicht wie
Keith Dowman einfach als »spirituellen Anarchisten«

821
Padmasambhava

oder als »Bösewicht« bezeichnen. Er ist vielmehr ein dis-


ziplinierter Heros des »Guten«, der in die Unterwelt des
Eros und des Verbrechens hinabtaucht, um dort eine to-
tale Umkehrung zu inszenieren, indem er alles Negative
in Positives verwandelt. Er ist kein libertärer Freidenker,
sondern ein »Agent« der Mönchsgemeinschaft, der sich
aus spirituell taktischen Gründen ins Rotlicht- und Ver-
brechermilieu eingeschlichen hat. Aber nicht immer sieht
er seine Aufgabe darin, die Huren, Mörder und Totschlä-

822
ger in Heilige zu verwandeln, sondern er versteht es eben-
so, ihre Aggressivität zu nutzen, um seine eigenen Ideen
und Interessen zu schützen und durchzusetzen.

Der anarchistische Gründervater


des tibetischen Buddhismus : Padmasambhava

Der berühmteste aller Großmagier Tibets ist, auch wenn


er nicht zu den 84 Maha Siddhas zählt, der Inder Pad-
masambhava, der »Lotusgeborene«. Die Tibeter nennen
ihn Guru Rinpoche, »wertvoller Lehrer«. Er gilt nicht nur
als eine Ausstrahlung des Avalokiteshvara (wie der Dalai
Lama), sondern ist nach der Doktrin des »Großen Fünf-
ten« selbst eine Vorinkarnation des tibetischen Gottkö-
nigs. Unsere Leser und Leserinnen sollten sich deswegen
immer vor Augen halten, daß die wilde Biographie des
Guru Rinpoche dem heutigen XIV Dalai Lama als des-
sen Vorleben anzurechnen ist.
Die Legende erzählt von seiner wunderbaren Geburt
aus einer Lotusblume – daher sein Name (Padma = Lo-
tus). Er erschien in der Gestalt eines achtjährigen Knaben
»ohne Vater und Mutter«, das heißt, er hatte sich selbst
hervorgebracht. Inmitten eines Sees entdeckte ihn der
indische König Indrabhuti. Dieser brachte den Lotus-
knaben in seinen Palast und nahm ihn an Sohnes Statt
an. In der Ikonographie begegnen wir Padmasambha-
va in acht unterschiedlichen Erscheinungsformen, hin-
ter denen jeweils eine Legende gefunden werden kann.
Sein Markenzeichen, das ihn von allen anderen tibeti-

823
schen »Heiligen« unterscheidet, ist ein elegantes »fran-
zösisches« Kavaliersbärtchen. Den Kathanga, einen Stab
mit drei winzigen aufgespießten Menschenköpfen, hält
er als sein Lieblingsszepter. Sein Geburtsland Uddiyana
in Indien war berühmt und berüchtigt für die Wildheit
der tantrischen Praktiken, die dort gepflegt wurden.
Um 780 n. Chr. holte der tibetische König Trisong Det-
sen Padmasambhava nach Tibet. Die politischen Absich-
ten hinter dieser königlichen Berufung waren eindeutig :
Der Herrscher wollte den mächtigen Adel und die Kaste
der Bon-Priester durch die Einführung der neuen Reli-
gion schwächen. Padmasambhava sollte den indischen
Gelehrten Shantarakshita (ebenfalls ein Buddhist) am
Hofe ablösen, der zu schwach war, um gegen die aufsäs-
sige Aristokratie durchzuhalten.
Guru Rinpoche dagegen galt schon in Uddiyana als tan-
trischer Supermann. Für sein Kommen verlangte er von
dem König einen Stapel aus Goldbarren von der Schwe-
re seines Körpergewichts. Als er vor Trisong Detsen trat,
forderte ihn dieser auf, Respekt durch eine Verbeugung
zu zeigen. Statt dessen ließ Guru Rinpoche Blitze aus sei-
nen Fingern sprühen, so daß anstatt seiner der König in
die Knie sank und den Zauberer als den richtigen Bünd-
nispartner anerkannte, um die ebenfalls in magischen
Dingen versierten Bon-Priester zu bekämpfen. Der Guru
wurde deswegen von ihnen und vom Adel gehaßt wie der
Tod, selbst die Minister des Königs feindeten ihn mit al-
len nur denkbaren Mitteln an.
Die Sage hat Padmasambhava zum Gründervater des
tibetischen Buddhismus gemacht. Seine Lebensgeschich-

824
te ist eine phantastische Ansammlung von Wunderta-
ten, die ihn beim Volke so beliebt machten, daß er bald
eine höhere Verehrung genoß als der historische Bud-
dha, dessen Leben im Vergleich nüchtern und blaß er-
scheint. Berichte über Guru Rinpoche und Schriften von
ihm stammen vor allem aus den schon oben erwähnten
Termas (Schätzen), die, wie es heißt, von ihm selbst ver-
steckt wurden, um Jahrhunderte später wieder ans Ta-
geslicht zu treten.
Schon in frühester Jugend fiel der Knabe durch sein
abnormales und gewalttätiges Wesen auf. Er erschlug
ein schlafendes Baby durch einen Steinwurf und recht-
fertigte diese Tat mit der Vorgabe, das Kind wäre ein
bösartiger Magier geworden, der vielen Menschen in
seinem späteren Leben geschadet hätte. Außer seinem
königlichen Adoptivvater Indrabhuti nahm ihm diese
Argumentation keiner ab, und mehrere Personen ver-
suchten, ihn zur Verantwortung zu ziehen. Auf Drän-
gen eines Ministers sperrten ihn Soldaten erst einmal in
einen Palast ein. Bald darauf erschien der Guru nackt
auf dem Dach des Gebäudes, nur mit einem »sechsfa-
chen Knochenschmuck« bekleidet, in den Händen ei-
nen Vajra und einen Dreizack. Das Volk lief zusammen,
um sich an dem seltsamen Schauspiel zu ergötzen, un-
ter ihnen einer der feindlichen Minister, seine Frau und
sein Sohn. Plötzlich und ohne Vorwarnung drang der
Vajra Padmasambhavas in das Hirn des Knaben, und
der Dreizack durchbohrte das Herz der Mutter, so daß
beide sterben mußten.
Dieser zusätzliche Doppelmord brachte das Faß zum

825
Überlaufen, und der ganze Hof verlangte jetzt, daß der
Übeltäter gepfählt werde. Doch gelang es ihm erneut,
nachzuweisen, die Ermordeten hätten ihr gewaltsames
Ende als gerechte Strafe für ihre in früheren Leben be-
gangenen Missetaten verdient. Man beschloß, von der To-
desstrafe abzusehen und Padmasambhava zu verdammen.
Da erschien eine Schar tanzender Dakinis am Himmel,
die ein Wunderpferd am Halfter führten. Guru Rinpoche
bestieg es und entschwand durch die Lüfte. Gewalttaten
werden fürderhin sein Leben kennzeichnen.
So sehr er ein Meister des tantrischen Eros war, so
entschieden lehnte er die Heirat als Institution ab. Als
Indrabhuti eine Ehefrau für ihn finden wollte, antwor-
tete er mit dem. Spruch, Weiber wären wie wilde Tiere,
ohne Geist, und würden sich in eitler Weise für Göttin-
nen halten. Es gäbe jedoch Ausnahmen, die so versteckt
seien wie eine Nadel in einem Heuhaufen, und wenn es
schon sein müsse, daß er heirate, dann solle man ihm
eine solche Ausnahme zuführen. Nach vielen mißlunge-
nen Präsentationen wurde endlich Bhasadhara gefunden.
Mit ihr begann er seine tantrischen Praktiken, so daß
»die Berge erzitterten und der Sturmwind wehte«.
Die Ehe hielt nicht lange. Guru Rinpoche kehrte wie
der historische Buddha dem vergnüglichen Palastleben
seines Adoptivvaters den Rücken und machte die indi-
schen Verbrennungsfriedhöfe zu seinen beliebtesten Auf-
enthaltsorten. Dort pflegte er zu meditieren, und dort hat-
te er seine ständigen Rendezvous mit grauenhaft ausse-
henden Hexen (Dakinis). Ein Dokument berichtet, wie er
sich die Kleider der Toten anzog und von deren verwe-

826
sendem Fleisch ernährte. (* Herrmann-Pfand, 195) Ins-
gesamt soll er acht Leichenstätten besucht haben, um an
Ort und Stelle mit der jeweils amtierenden Dakini einen
magischen Initiationskampf auszufechten.
Seine spektakulärste Begegnung war wohl das Treffen
mit Guhya Inana, dem Oberhaupt der Schreckensgöttin-
nen, eine Erscheinungsform der Vajrayogini. Sie lebte in
einem Schloß aus Menschenschädeln. Als Padmasamb-
hava ans Tor gelangte, konnte er trotz seiner magischen
Kräfte das Gebäude nicht betreten. Er beauftragte eine
Dienerin, ihrer Herrin seinen Besuch zu melden. Als die-
se unverrichteter Dinge wieder zurückkehrte, versuch-
te er erneut, sich durch allerlei Zauberstücke Zugang zu
verschaffen. Da lachte ihn das Mädchen aus, nahm ein
Kristallmesser und schlitzte sich damit ihren Brustkorb
auf. In ihrem Inneren erschien die unendliche Schar aller
Buddhas und Bodhisattvas. »Ich bin nur eine Dienerin«,
sagte sie. Jetzt erst wurde Padmasambhava vorgelassen.
Guhya Inana saß auf ihrem Thron. In den Händen hielt
sie eine Doppeltrommel und eine Schädelschale, umge-
ben von 32 dienenden Mädchen. Der Yogi verbeugte sich
mit großer Achtung und sprach : »So wie alle Buddhas
durch die Weltzeitalter Gurus hatten, so bitte ich Dich,
mein Lehrer zu sein und mich als Schüler anzunehmen.«
(* Govinda, 226) Daraufhin sammelte sie die Schar aller
Götter in ihrer Brust, verwandelte den Bittsteller in eine
Keimsilbe und verschlang diese. Während die Silbe auf
ihrer Lippe ruhte, gab sie ihm die Weihe des Amithaba,
während er in ihrem Magen lag, wurde er in die Geheim-
nisse des Avalokiteshvara eingeweiht. Nach dem Verlas-

827
sen ihres Lotus (ihrer Vagina) erhielt er die Weihe des
Körpers, der Rede und des Geistes. Jetzt erst hatte er sich
seinen unsterblichen Vajra-Körper erworben.
Auch diese Szene verleiht der weiblichen Kraft inner-
halb des Initiationsprozesses einen hervorragenden Stel-
lenwert. Aber die Geschichte hat mehrere Versionen. In
einem anderen Fall ist es Padmasambhava, der Vajrayo-
gini in seinem Herzen auflöst. Jeffrey Hopkins beschreibt
sogar eine Tantratechnik, bei der sich der Schüler als die
Göttin imaginiert, um dann von seinem Lehrer, den er
sich als Guru Rinpoche vorstellt, absorbiert zu werden.
(* Hopkins, 1982, 180)
Zweifelsohne zeigt die Beziehung Padmasambhavas
zu Yeshe Tshogyal, der ihm von Indrabhuti geschenk-
ten Karma Mudra, und zu der Prinzessin Mandavara,
der Wiedergeburt einer Dakini, eine seltene Toleranz.
So konnten beide Yoginis der Überlieferung nach eine
gewisse Individualität und Persönlichkeit über die Jahr-
hunderte hinweg bewahren – eine seltene Ausnahme in
der Geschichte des Vajrayana. Man könnte deswegen
glauben, Padmasambhava habe eine revolutionäre Ein-
stellung gegenüber der Frau gezeigt, zumal von ihm der
hier im Westen viel zitierte Spruch stammt : »Die Basis,
um Erleuchtung zu verwirklichen, ist der menschliche
Körper. Männlich oder weiblich – da gibt es keinen gro-
ßen Unterschied. Aber wenn sich das mit der Erleuchtung
verbundene Bewußtsein entwickelt, dann ist der Körper
einer Frau besser geeignet.« (* Gross, 1993, 79)
Nur wie soll sich diese Aussage, die aus einem Terma
des 18. Jahrhunderts ( !) stammt, mit dem folgenden State-

828
ment des Gurus vertragen, das er auf die Frage Yeshe Ts-
hogyals über die Tauglichkeit der Frauen für die tantri-
schen Rituale gemacht hat ? »Euer Glaube ist platt, eure
Ehrerbietung unehrlich, aber eure Gier und eure Eifer-
sucht sind stark. Euer Vertrauen und euer Großmut sind
schwach, eure Respektlosigkeit und euer Zweifel dagegen
riesig. Euer Mitgefühl und eure Intelligenz sind schwach,
aber eure Prahlerei und eure Selbstüberschätzung sind
groß. Eure Hingabe und eure Ausdauer sind schwach,
aber ihr seid geschickt darin, einen fehlzuleiten und zu
verwirren. Eure reine Wahrnehmung und euer Mut ist
klein.« (* Binder – Schmidt, 56)
Dieser Spruch ist jedoch noch harmlos ! Es gibt auch
den »dämonischen« Guru Rinpoche – den aggressiven
Menschenschlächter und Serienvergewaltiger. So ist von
ihm die Geschichte im Umlauf, daß er einen tibetischen
König tötete und dessen 900 Frauen schwängerte, um mit
ihnen Kinder zu zeugen, die der buddhistischen Leh-
re ergeben wären. In einer anderen Episode aus seinem
früheren Leben wurde er wie aus dem Nichts von Da-
kinis und männlichen Dakas angegriffen. »Er tötet die
entstandenen männlichen Wesen und vergewaltigt die
weiblichen«, heißt es dort. (* Paul, 163) Robert A. Paul
sieht deswegen in Padmasambhava einen unnachgiebigen,
aktiven, phallischen und sexistischen Archetyp und stellt
ihn in Kontrast zu Avalokiteshvara, den milden, asexu-
ellen, verweiblichten und transzendenten Gegenpol. Bei-
de Typologien, so Paul, bestimmten die Dynamik der ti-
betischen Geschichte und vereinigten sich in der Person
des Dalai Lama. (* Paul, 87)

829
Viele Anekdoten, die von Guru Rinpoche im Umlauf
sind, schildern ihn auch als einen abstoßenden Prahlhans.
In einer Taverne bezahlte er sein Bier damit, daß er für
die Kneipenwirtin die Sonne zwei Tage lang anhielt. Das
brachte ihm nicht nur den Ruf eines Sonnenherrschers,
sondern auch die Sage ein, daß er in einer früheren In-
karnation das Bier erfunden habe. Seine Zugehörigkeit zu
solaren Kulten wird auch durch andere Anekdoten ver-
bürgt. So nahm er eines Tages die Form des Sonnenvogels
Garuda an und besiegte die Lu, die weiblichen ( !) Wasser-
geister. Zu seinen bevorzugten Aufführungen zählte wei-
terhin der Blitzzauber, von dem er nicht selten Gebrauch
machte. Eine zusätzliche Spezialität war die Erscheinung
in einem Flammenmeer, die ihm als Emanation des »Feu-
ergottes« Avalokiteshvara nicht schwer fiel. Seine Siddhis
(Zauberkräfte) galten als unbegrenzt, er flog durch die Luft,
sprach alle Sprachen, kannte alle magischen Kampftech-
niken, konnte jede beliebige Gestalt annehmen. Dennoch
reichten all diese Zaubertechniken nicht aus, sich lange als
spiritueller Berater des tibetischen Königs Trisong Det-
sens zu halten. Die Bon-Priester und die Gattin des Königs
(Tse Pongza) waren zu stark, und Guru Rinpoche mußte
den Hof verlassen. Doch war damit seine Karriere nicht
beendet. Er zog nach Norden, um die ungebändigten Dä-
monen des Schneelandes zu bekämpfen. Ständig versperr-
ten ihm die Widergeister, meist lokale Erdgottheiten, den
Weg. Ausnahmslos wurden jedoch alle »Feinde der Leh-
re« durch magische Kräfte besiegt. Das Unternehmen ge-
staltete sich bald zu einem Triumphzug.
Es war der spezifische Stil Guru Rinpoches, die von ihm

830
besiegten Gegner niemals zu vernichten, sondern von ih-
nen eine dreifache Unterwerfungsgeste zu verlangen : 1.
Die Dämonen mußten ihm symbolisch ihre Lebenskraft
oder ihr »Herzblut« darbringen, 2. sie hatten einen Treu-
eeid zu schwören und mußten 3. die Verpflichtung aus-
sprechen, anstatt wie bisher gegen jetzt für die buddhisti-
sche Lehre zu kämpfen. Waren diese Bedingungen erfüllt,
dann brauchten sie ihre aggressiven, blutrünstigen und
extrem destruktiven Eigenschaften nicht abzulegen. Im
Gegenteil, sie wurden von ihrem mörderischen Kampf-
geist und ihrer schaudererregenden Häßlichkeit nicht be-
freit, sondern der tantrische Buddhismus bediente sich
ihrer von nun an als schreckliche Schutzgötter, die um
so heiliger waren, je grausamer sie sich gebärdeten. So
füllte sich allmählich das tibetisch-buddhistische Panthe-
on mit allen nur denkbaren Ungestalten, deren Wahn-
sinn, deren Greueltaten und deren Misanthropie gren-
zenlos waren. Unter ihnen befinden sich Vampire, Kan-
nibalen, Henker, Ghule (grausige Gespenster), Sadisten.
Guru Rinpoche und seine spätere Inkarnation, der Dalai
Lama, galten und gelten weiterhin als die konkurrenzlo-
sen Meister dieses Horrorkabinetts, das sie souverän von
ihrem Lotusthron aus befehligen.
Sein Sieg über die Dämonie wurde durch die Errich-
tung eines dreidimensionalen Mandala besiegelt : Das erste
buddhistische Kloster Tibets (Samye) symbolisierte nichts
weniger als ein mikrokosmisches Modell des tantrischen
Weltsystems, mit dem Berg Meru im Zentrum. Dem von
Padmasambhava durchgeführten Gründungszeremoniell
ging eine Bannung aller giftigen Teufel voraus. Dann wur-

831
de die Erdgöttin Srinmo festgenagelt, indem Guru Rin-
poche mit feierlicher Geste seinen Phurbu (Ritualdolch)
in den Boden rammte. Anwesend bei diesem Ritual wa-
ren unter anderem 50 aufs schönste geschmückte Mäd-
chen und Knaben mit Vasen, die kostbare Stoffe enthiel-
ten. Bei den anschließenden Bauarbeiten versuchten die
Widergeister erneut und immer wieder die Fertigstellung
des Tempels zu verhindern und rissen des Nachts ein, was
tagsüber errichtet worden war. Doch auch in diesem Fall
verstand es der Guru, die Nachtdämonen zu bändigen und
anschließend als Bauarbeiter zu verpflichten.
Im Allerheiligsten von Samye befand sich eine Sta-
tue des Avalokiteshvara, die aus sich selbst entstanden
sein soll. Ansonsten hatte das Kloster etwas Schauerli-
ches und Düsteres an sich. Einmal im Jahr versammel-
ten sich Tibets Schreckensgötter – so berichtet die Sage
– auf den Dächern des Monasteriums zu einem kanni-
balischen Festmahl und einem Würfelspiel, bei dem die
Seelen der Menschen als Einsatz galten. An diesem Tage
sollen alle Orakelpriester des Schneelandes wie auf höhe-
ren Befehl in Trance gefallen sein. Wegen der mikrokos-
mischen Bedeutung Samyes ist sein Schutzgott, der Rote
Tsiu, eine mächtige Kraft im Pandämonium des Hoch-
landes. »Er besitzt rote Locken, sein Körper ist von einer
Feuerglorie umgeben. Sternschnuppen fliegen aus seinen
Augen, und ein großer Bluthagel fällt aus seinem Mund.
Er fletscht seine Zähne … Er wickelt eine rote Schlinge
um den Körper eines Feindes, einem anderen stößt er
gleichzeitig eine Lanze ins Herz.« (* Nebesky – Wojko-
witz, 1955, 224)

832
Im Tempel hing auch eine rätselhafte rotbraune Leder-
maske, die ein dreiäugiges, zorniges Dämonengesicht zeigt.
Die Legende berichtet, daß sie aus geronnenem Menschen-
blut bestehe und manchmal zum Schrecken aller lebendig
werde. Neben dem Sakralraum des Roten Tsiu lag eine klei-
ne düstere Kammer. Starb ein Mensch – so erzählten die
Mönche –, dann mußte seine Seele durch ein enges Loch
in diesen Raum hineinschlüpfen und wurde dort auf ei-
nem Hackblock zerstückelt. Nachts seien das Schreien und
das Stöhnen der geschundenen Seelen zu hören gewesen,
und im ganzen Hause habe sich ein widerlicher Blutgeruch
verbreitet. Jährlich wurde der Block ausgewechselt, da er
sich durch die vielen Schläge abgenutzt habe.
Guru Rinpoche, die Vorinkarnation des Dalai Lama,
war eine explosive Mischung von strengem Asket und
Hexer, Apostel und Abenteurer, Mönch und Vagabund,
Kulturgründer und Verbrecher, Mystiker und Erotiker,
Gesetzgeber und Gaukler, Politiker und Dämonenban-
ner. Er hatte einen solchen Erfolg, weil er in seiner Person
die Spannung zwischen Zivilisation und Wildnis, Gött-
lichkeit und Dämonie austrug. Ja, er konnte die Dämo-
nen nach tantrischer Logik nur besiegen, indem er selbst
zum Dämon wurde. Fokke Sierksma charakterisiert ihn
deswegen auch als einen hemmungslosen Usurpator : »Er
war ein Eroberer, besessen von Machtlust und sexueller
Begierde, nur benutzte dieser Eroberer nicht den Weg der
physischen, sondern der spirituellen Gewalt, in Über-
einstimmung mit der indischen Doktrin, daß die Ener-
giekonzentration des Yogi die Materie, die Welt und die
Götter unterwirft.« (* Sierksma. 111)

833
Auch die orthodoxen Gelugpas lassen im allgemeinen
kein gutes Haar an dem Erzmagier. Eine Schrift wirft
ihm zum Beispiel vor, er habe sich nachts im schwarzen
Gewand den Weibern und tagsüber dem Suff hingege-
ben und diese dekadente Praktik als »das Opfer der zehn
Tage« bezeichnet. (* Hoffmann, 1956, 55)
Anders der V Dalai Lama – für ihn war Guru Rinpoche
diejenige Kraft, welche durch magische Kunst die Wild-
heit des Schneelandes gezähmt hatte, wie kein anderer
vor ihm und nach ihm. Da die Magie ebenfalls das be-
vorzugte Kampfmittel des »Großen Fünften« war, konn-
te er sich mit gutem Recht auf Padmasambhava als sei-
nen Vorläufer und Meister berufen. Die verschiedenen
Erscheinungen des Gurus, die dem Herrscher auf dem
Potala in seinen Visionen zuteil wurden, sind deswegen
auch zahlreich und von großer Intensität. In ihnen be-
rührte Padmasambhava mehrmals seinen königlichen
Schüler mit einem Juwel an der Stirn und übertrug ihm
damit seine Macht. Guru Rinpoche wurde zum Hauspro-
pheten des »Großen Fünften« – er beriet den Hierarchen,
weissagte ihm die Zukunft und griff aus dem Jenseits
in die Realpolitik ein, welche die Geschichte Tibets fast
900 Jahre nach seinem Tode (durch die Errichtung des
Staatsbuddhismus) grundsätzlich veränderte.
Der »Imperator« Songtsen Gampo und der »Magier-
priester« Padmasambhava, die frühen Haupthelden des
Schneelandes, trugen in sich den Keim aller zukünftigen
Ereignisse, welche das Geschick der Tibeter bestimmen
sollten. Beide Charaktere wurden Jahrhunderte nach ih-
rer irdischen Existenz in der Gestalt des V Dalai Lama

834
zu einer überragenden Figur verschmolzen. Der eine re-
präsentierte die weltliche Macht, der andere die geistige.
Als Inkarnation des einen wie des anderen war der Da-
lai Lama auch berechtigt und befähigt, beide Machtfor-
men auszuüben. Wie eng er sie miteinander in Beziehung
brachte, zeigt eine seiner Visionen, in der Guru Rinpoche
und König Songtsen Gampo blitzartig ihre Gestalt aus-
tauschten und so zu einer einzigen Person wurden. Die
starke Identifikation des Dalai Lamas mit dem Erzma-
gier hatte zur Folge, daß auch dessen Hauptyogini Yes-
he Tshogyal des öfteren in seinen Imaginationen auf-
trat. Sie wurde zur präferierten Inana Mudra des »Gro-
ßen Fünften«.
Unter die Herrschaft des Trisong Detsen (der Padma-
sambhava nach Tibet geholt hatte) fiel auch das berühm-
te Konzil von Lhasa. Der König ließ eine großangeleg-
te Debatte veranstalten, in der sich zwei buddhistische
Schulmeinungen gegenüberstanden : die Lehre des Inders
Kamalashila, die besagte, daß der Weg zur Erleuchtung
ein stufenweiser sei, und die chinesische Position, welche
die unmittelbare, spontane Erleuchtung forderte, die sich
plötzlich und unerwartet in ihrer gesamten Dimension
entfaltet. Der Vertreter der Spontaneitätslehre war Hos-
hang Mahoyen, ein Meister des chinesischen Chan-Bud-
dhismus. In Lhasa trug die indische Stufendoktrin nach
einer zweijährigen Debatte den Sieg davon. Hoshang soll
des Landes verwiesen worden sein, und einige Anhänger
wurden von den Jüngern Kamalashilas getötet. Aber die
Position des Chinesen ist nie völlig aus dem tibetischen
Kulturleben verschwunden und gewinnt wieder an Be-

835
achtung. Sie wird mit gutem Recht mit der sogenannten
Dzogchen-Lehre verglichen, die auch einen unmittelba-
ren Erleuchtungsakt für möglich hält und die heute im
Westen besondere Beliebtheit genießt. Der bedeutende
Abt Sakya Pandita griff zum Beispiel die Dzogchen-Prak-
tiken an, weil sie eine Spätform der chinesischen Doktrin
wären, die man auf dem Konzil zu Lhasa widerlegt habe.
Dagegen hatten die unorthodoxen Nyingmapa keine Pro-
bleme mit dem »chinesischen Weg«. In unserer Zeit be-
ruft sich der in Italien lebende tibetische Lama Norbu
Rinpoche explizit auf Hoshang.
Naturwüchsig steht die Dzogchen-Lehre dem Staats-
buddhismus konträr gegenüber. Sie löst sofort alle For-
men auf, und es ist nicht übertrieben, wenn wir sie als
»spirituellen Anarchismus« bezeichnen. Das politische
Genie des V Dalai Lama, das wußte, daß eine Budd-
hokratie nur haltbar ist, wenn sie die anarchischen Ele-
mente integrierte und kontrollierte, bediente sich stän-
dig der Dzogchen-Praxis. (* Samuel, 1993, 464) Ebenso
soll der heutige XIV Dalai Lama in diese Disziplin ein-
geweiht sein, auf jeden Fall zählt der Dzogchen-Meister
zu seinen höchsten spirituellen Vertrauten.
Bemerkenswert ist auch, daß in feministischen Krei-
sen das berühmte Konzil von Lhasa als die Konfrontation
zwischen einer männlichen (indischen) und einer weibli-
chen (chinesischen) Grundströmung innerhalb des tibe-
tischen Buddhismus gewertet wird. (* Chayet, 322, 323)

836
Von der Anarchie zur Ordensdisziplin :
Die Tilopa-Linie

Der Maha Siddha Tilopa (10. Jahrhundert) verdient des-


wegen unser besonderes Interesse, weil er und sein Schü-
ler Naropa die einzigen historischen Persönlichkeiten
aus der Frühgeschichte des Kalachakra-Tantras sind, sie
zu den Gründungsvätern mehrerer tibetischer Schulrich-
tungen zählen und weil Tilopas Leben exemplarischen
Charakter für die anderen 83 »Großzauberer« hat.
Der indische Meister soll der Legende nach ins Wun-
derland Shambhala gelangt sein und dort die Zeitleh-
ren vom regierenden Kalki empfangen haben. Zurückge-
kehrt nach Indien, heftete er im Jahre 966 in der Kloste-
runiversität Nalanda das Symbol des Dasakaro Vasi (»die
Zehn Mächtigen«) an die Eingangspforte und fügte die
oben schon zitierten Zeilen dazu : »Derjenige, der nicht
den höchsten ersten Buddha (ADI BUDDHA) kennt, der
kennt nicht das Rad der Zeit (Kalachakra). Derjenige, der
nicht das Rad der Zeit kennt, kennt nicht die genaue Auf-
zählung der göttlichen Attribute. Derjenige, der nicht die
Aufzählung der göttlichen Attribute kennt, kennt nicht
die höchste Intelligenz und kennt nicht die tantrischen
Prinzipien. Derjenige, der nicht die tantrischen Prinzi-
pien kennt, und alle diejenigen, die im Kreis der See-
lenwanderung umherirren, stehen außerhalb des Weges,
den der höchste Triumphator anweist. Deswegen muß
die Lehre vom ADI BUDDHA von jedem wahren Lama
gelehrt werden, und jeder wahre Schüler, der Befreiung
anstrebt, muß sie hören.« (* Koros, 21, 22)

837
Schon als Kleinkind erschien dem Tilopa eine Dakini,
welche die 32 Zeichen der Häßlichkeit trug, und verkün-
dete dem Knaben an der Wiege seine zukünftige Karriere
als Maha Siddha. Von nun an wurde diese Hexe, die kei-
ne andere war als Vajrayogini, zur Lehrerin des späteren
Gurus und führte ihn Schritt um Schritt in das Erleuch-
tungswissen ein. Einmal erschien sie ihm in der Gestalt
einer Prostituierten und stellte ihn als Bediensteten ein.
Eine seiner Aufgaben bestand darin, Sesamsamen (Tila)
zu stampfen, woher er seinen Namen erhielt. Als Beloh-
nung für die geleisteten Dienste machte ihn Vajrayogini
zum Leiter eines Ganachakras.
Tilopa erwies sich immer als der androgyne Souverän
über die Geschlechterrollen. So ließ er eines Tages Son-
ne und Mond vom Himmel stürzen und ritt auf einem
Löwen über sie, das heißt, er vernichtete den männli-
chen und weiblichen Energiestrom und beherrschte sie
mit der Kraft des Verfinsterers Rahu. An anderer Stel-
le wurde er, um seine Herrschaft über die Geschlechter-
polarität zu demonstrieren, als der Mörder eines Men-
schenpaares vorgestellt, »der die Schädel von Mann und
Frau zerschlug«. (* Grünwedel, 1933, 72)
Eine weitere dramatische Szene erzählt, wie sich ihm
Dakinis, als er den Palast ihrer Chefzauberin betreten
wollte, wütend entgegenstellten und mit schriller Stimme
schrien : »Wir sind fleischfressende Dakinis. Wir erfreu-
en uns an Fleisch und sind gierig nach Blut. Wir werden
dein Fleisch fressen, von deinem Blut trinken und deine
Knochen in Staub und Asche verwandeln.« (* Herrmann
– Pfand, 207) Tilopa besiegte sie mit der Geste der Furcht-

838
losigkeit, durch ein zorniges Brüllen und einen durch-
dringenden Blick. Die Hexen fielen ohnmächtig um und
spien Blut. Auf dem Weg zur Königin begegnete er noch
anderen weiblichen Monstren, die er auf die gleiche Art
zur Strecke brachte. Schließlich traf er im Inneren des
Palastes auf Inana Dakini, die Hüterin des tantrischen
Wissens, umgeben von einem großen Gefolge. Er ver-
beugte sich aber nicht vor ihrem Thron, sondern ver-
sank in eine Meditationshaltung. Alle Anwesenden wa-
ren empört, und man herrschte ihn zornig an, vor ihm
stünde die »Mutter aller Buddhas«. Nach einer Version,
die von Alexandra David Neel erzählt wird, erhob sich
Tilopa jetzt aus seiner Versenkung, ging festen Schritts
auf die Königin zu, riß ihr die Kleider und den Schmuck
vom Leibe und zeigte seine männliche Überlegenheit, in-
dem er sie unter den Augen ihres gesamten Hofstaates
vergewaltigte. (* zit. b. Hoffmann, 1956, 149)
Tilopas Charakter wird erst plastisch, wenn wir uns
das Verhältnis zu seinem Schüler Naropa ansehen. Die-
ser erblickte im männlichen Feuerdrachenjahr als Sohn
eines Königs und einer Königin das Licht der Welt. Spä-
ter weigerte er sich zuerst, zu heiraten, folgte dann jedoch
dem Willen seiner Eltern. Die Ehe war nicht von langer
Dauer und wurde alsbald aufgelöst. Naropa gab folgende
Begründung an : »Da die Sünden eines Weibes endlos sind,
wird mein Geist gegenüber dem Sumpfschlamm trügeri-
schen Giftes die Art des Stieres annehmen, und so werde
ich Mönch werden.« (* Grünwedel, 1933, 54) Seine junge
Gattin stimmte der Scheidung zu und nahm alle Schuld
auf sich : »Er hat Recht !« sagte sie zu seinen Eltern, »ich

839
habe endlose Sünden, an mir sind durchaus keine Vor-
züge … Aus diesem Grunde und Anlaß ist es angebracht,
mit uns beiden Schluß zu machen.« (* Grünwedel, 1933,
54) Danach ließ sich Naropa als Mönch ordinieren und
wurde später zum Abt der damals bedeutendsten bud-
dhistischen Klosteruniversität Nalanda.
Der Kirchenfürst verzichtete jedoch eines Tages auf sei-
ne klerikalen Privilegien ebenso, wie er auf seine könig-
lichen verzichtet hatte, und schweifte als Bettler durchs
Land, um seinen Lehrer Tilopa zu suchen. Von dessen
Existenz hatte er durch die Dakini mit den 32 Merkma-
len der Häßlichkeit (Vajrayogini) erfahren. Diese warf,
während er in Nalanda die heiligen Texte las, einen be-
drohlichen Schatten auf seine Bücher. Höhnisch lach-
te sie ihn aus, da er glaube, den Sinn der Tantras durch
Lektüre zu verstehen.
Nachdem Naropa seinen Meister mit viel Mühen ge-
funden hatte, spielte sich eine Groteske ab, die selbst in
der tantrischen Literatur ihresgleichen sucht. In zwölf
spukhaften Erscheinungen narrte Tilopa seinen Schüler,
bevor er ihn endgültig initiierte. Das erstemal erschien
er als übelriechende, aussätzige Frau. Dann verbrannte
er an einem Feuer lebendige Fische, um sie anschließend
zu verspeisen. Auf einem Friedhof öffnete er einem Le-
benden die Bauchhöhle und wusch diese mit schmutzi-
gem Wasser aus. In der folgenden Szene hatte der Mei-
ster seinen eigenen Vater mit einem Pfahl aufgespießt
und war dabei, seine eigene im Keller eingeschlossene
Mutter zu töten. Ein anderes Mal mußte Naropa seinen
Penis mit einem Stein traktieren, so daß das Blut heraus-

840
spritzte. Dann verlangte Tilopa von ihm, daß er sich bei
lebendigem Leib zerstückele.
Um die Welt als Illusion zu entlarven, ließ der Tantra-
Meister seinen Schüler ein Verbrechen nach dem ande-
ren begehen und präsentierte sich selber als ein ruchlo-
ser Verbrecher. Naropa bestand alle Prüfungen und wur-
de zu einem der besten Kenner und Kommentatoren des
Kalachakra-Tantras.
Einer seiner vielen Schüler war der Tibeter Marpa
(1012–1097). Naropa weihte ihn in die tantrischen Ge-
heimlehren ein. Nach weiteren Initiationen durch Lei-
chenstätten-Dakinis, die Marpa mit der Hilfe des aus
dem Jenseits erscheinenden Tilopa besiegte, und nach
der Begegnung mit dem seltsamen Yogi Kukkuri (»Hun-
deasket«) kehrte er aus Indien in seine Heimat zurück.
Er hatte einige Tantra-Texte in der Tasche und übersetz-
te sie in die Landessprache, worauf sein Beiname, der
»Übersetzer«, hinweist. In Tibet nahm er sich mehrere
Frauen, zeugte viele Söhne und führte einen Haushalt.
Er soll mit seiner Hauptfrau Dagmema die tantrischen
Riten durchgeführt haben. Dagmema zeigt im Gegensatz
zu den Yoginis der legendären Maha Siddhas, höchst in-
dividuelle Züge und bildet deswegen in der Reihe tibe-
tischer Frauengestalten eine vielzitierte Ausnahme. Sie
war herzlich, klug, schlau, beherrscht und arbeitsam. Au-
ßerdem besaß sie ein von ihrem Manne unabhängiges
Eigentum. Sie kümmerte sich um die Familie, beacker-
te die Felder, beaufsichtigte das Vieh und stritt sich mit
den Nachbarn. Mit einem Wort, sie glich einer norma-
len Hausfrau im besten Sinne.

841
Eine mönchische Interpretation von Marpas »gewöhn-
lichen« Lebensumständen zeigt jedoch, wie tief die anar-
chistische Dimension damals das Bewußtsein der Yogis
beherrschte : Marpas »Normalität« wird ihm nicht des-
wegen als eine gute Tat angerechnet, weil sie nach den
herrschenden sozialen Regeln als sittlich galt, sondern im
Gegenteil, weil er die schwerste aller Übungen auf sich
genommen hat, indem er seine Erleuchtung in der so ver-
achteten »Normalität« verwirklicht. »Nur Menschen mit
den höchsten Fähigkeiten können und sollten so prak-
tizieren.« (* Chökyi, 143) Das besagt : Für die spirituelle
Entwicklung eines Tantra-Meisters ist das Familienleben
weit hinderlicher als ein Verbrennungsfriedhof. Darauf
wollte auch Marpas Schüler Milarepa hinweisen, als er
für sich eine Heirat mit folgenden Sätzen ablehnte : »Mar-
pa hatte in der Absicht geheiratet, um anderen zu die-
nen, aber … wenn ich vorgebe, ihn zu imitieren, ohne
mit der Reinheit seiner Absicht und seiner spirituellen
Macht ausgestattet zu sein, dann wäre das so, als würde
eine Stute den Sprung des Löwen nachahmen, und das
würde sicherlich meinen Absturz in den Abgrund der
Zerstörung bedeuten.« (* Paul, 234)
Marpas pragmatische Persönlichkeit, insbesondere das
fast gleichberechtigte Verhältnis zu seiner Frau, steht in
der Geschichte des tibetischen Mönchtums einzigartig da.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich einen reformier-
ten Buddhismus vorgestellt hat, bei dem die Geschlech-
terrollen ausgeglichen sein sollten und der eine Normali-
tät der Familienbeziehungen anstrebte. So wollte er auch
seinen Sohn zum Nachfolger machen, der jedoch bei ei-

842
nem Unfall ums Leben kam. Deswegen übertrug er sein
Wissen auf Milarepa. Dieser sollte die klassisch andro-
zentrische Linie der Maha Siddhas fortsetzen.
Milarepas (1052–1135) Familie wurde in seiner Jugend
von Verwandten in bösartiger Weise betrogen. Um sich
zu rächen, ließ er sich als Schwarzmagier ausbilden und
führte einige tödliche Revancheakte gegen seine Fein-
de durch. Der Legende nach soll er durch seine Mutter
dazu aufgestachelt worden sein. Angesichts des Unglücks,
das er hervorgebracht hatte, sah er das Unrechtmäßige
seines Tuns ein und suchte Zuflucht bei der buddhisti-
schen Lehre. Marpa nahm ihn nach langem Zögern als
Schüler an und steigerte ihm gegenüber seine Strenge bis
hin zur Brutalität, damit Milarepa durch eigenes Leiden
sein schlechtes Karma abarbeiten könne. Immer wieder
mußte der Schüler ein Haus bauen, das sein Lehrer im-
mer wieder einriß. Nachdem Milarepa anschließend sie-
ben Nächte auf den Knochen seiner verstorbenen Mut-
ter ( !) meditiert hatte, erlangte er Erleuchtung. In seinen
Gedichten besingt er nicht nur die Götter, sondern auch
die Schönheit der Natur. Diese »natürliche« Begabung
und Neigung hat ihm bis auf den heutigen Tag viele Be-
wunderer eingebracht.
Milarepa wird ebenso wie sein Lehrer Marpa vor al-
lem wegen seiner Menschlichkeit verehrt, einer in der
Geschichte des Vajrayana seltenen Qualität. Die Will-
kür Marpas und die Verzweiflung seines Schülers ha-
ben etwas so Realistisches, daß sie viele Anhänger des
Buddhismus mehr bewegen als die phantasmagorischen
Friedhofszenen, die wir von Seiten der Maha Siddhas

843
und Padmasambhavas gewöhnt sind. Deswegen zählt die
Schinderei Milarepas durch seinen Guru zu einer der
bekanntesten Szenen tibetischer Hagiographien. Doch
wurden nach seiner Initiation die Ereignisse auch für ihn
phantastisch. Er verwandelte sich in alle möglichen Tie-
re, besiegte einen machtvollen Bon-Magier und erober-
te dadurch den Berg Kailash. Der Tod dieses Übermen-
schen ist aber wiederum ebenso menschlich wie der des
Buddha Shakyamuni. Er starb an vergifteter Milch, wel-
che ihm von einem Neider gereicht wurde. Der histori-
sche Buddha erlag mit 80 Jahren dem Verzehr vergifte-
ten Schweinefleisches.
Milarepas Sexualleben schwankte zwischen asketischer
Enthaltsamkeit und tantrischen Praktiken. Es
gibt mehrere misogyne Gedichte von ihm. Als
Dorfbewohner dem Dichter ein schönes Mädchen als
Braut anboten, sang er das folgende Lied :

Zuerst ist die Dame wie ein Engel vom Himmel ;


Je länger du sie anschaust, desto mehr
  wünschst Du zu sehen.
In mittleren Jahren wird sie
  zum Dämon mit Leichenaugen.
Sagst Du nur ein Wort zu ihr,
  kreischt sie zwei zurück.
Sie reißt an Deinen Haaren und schlägt Deine Knie.
Du schlägst sie mit Deinem Stab,
Doch sie wirft eine Schöpfkelle zurück …
Von Weibern haltet mich fern,
  um Kampf und Zwist zu meiden.

844
Auf eure junge Braut verspüre ich keinen Appetit.
(* Stevens, 100)

Ständig warnte der Yogi vor der zerstörerischen Kraft


der Frauen, attackierte sie als Störenfriede, als die Ur-
sprungsquelle allen Leidens. Wie alle bedeutsamen An-
hänger Buddhas wurde er mehrmals sexuellen Versu-
chungen ausgesetzt. Einmal ließen Dämoninnen eine
riesige Vagina vor ihm erscheinen. Milarepa legte dort
einen phallusartigen Stein hinein und bannte dadurch
den Zauber. Mit der schönen Tserinma und ihren vier
Schwestern führte er ein Ganachakra durch.
Milarepas Schüler Gampopa (1079–1153) setzte der wil-
den und anarchischen Phase der Tilopa-Linie ein Ende.
Dieser Mann mit einem klaren Kopf, der vorher den Be-
ruf eines Arztes ausgeübt hatte und der aufgrund einer
tragischen Liebe zu seiner früh verstorbenen Frau Mönch
geworden war, brachte das genügende Organisationsta-
lent mit, um die asozialen Züge seiner Vorgänger zu über-
winden. Bevor er Milarepa traf, war er in den Kadampa-
Orden eingeweiht worden, eine auf den indischen Ge-
lehrten Atisha zurückgehende Organisation, die schon
einen etatistischen Charakter hatte. Seine Ordensbrü-
der fragten Gampopa, als er sie verlassen wollte, um den
Dichter­yogi (Milarepa) zum Lehrer zu nehmen : »Sind
unsere Lehren nicht ausreichend ?« Als er dennoch insi-
stierte, sagten sie ihm : »Gehe, aber verlasse nicht unsere
Regel !« (* Snellgrove, 1987, Bd. 2, 494) Gompopa hielt sich
an diese Warnung, aber er nahm sich ebenso die folgen-
de kritische Aussage Milarepas zu Herzen : »Die Kadam-

845
pa haben Lehren, aber praktische Lehren haben sie nicht.
Weil die Tibeter von bösen Geistern besessen sind, erlaub-
ten sie dem Noblen Herrn (Atisha) nicht, die Mystische
Doktrin zu lehren. Wenn das anders wäre, so müßte Ti-
bet schon mit Heiligen überfüllt sein.« (* Bell, 93)
Die Spannung zwischen der Rigidität des Mönchsstaa-
tes und der Anarchie der Maha Siddhas ist durch diese
beiden Aussagen gut dargestellt. Wenn wir die Geschich-
te des tibetischen Buddhismus weiterverfolgen, dann hat
sich Gampopa mehr an die Regeln seines Ursprungsor-
deps gehalten und sich nur zeitweise vom wilden Leben
des »Bergasketen« Milarepa verführen lassen. Er ist des-
wegen à la longue als ein Bezwinger der anarchischen
Strömungen zu sehen. Mit einem seiner Schüler grün-
dete er den Kagyüpa-Orden.
Die eigentliche Hauptfigur bei der Errichtung des ti-
betischen Mönchsstaates war der schon erwähnte Ati-
sha (982–1054). Der Fürstensohn aus Bengalen hatte eine
Ehe hinter sich und neun Kinder gezeugt, bevor er sich
entschloß, Zuflucht in der Sangha zu nehmen. Zu seinen
Lehrern zählte unter anderem Naropa. Im Jahre 1032
ging er nach mehrmaligen Bitten des Königs von Guge
(Südtibet) ins Schneeland, um dort den Buddhismus zu
reformieren. 1050 organisierte Atisha ein Konzil, an dem
neben vielen tibetischen Mönchen auch Inder teilnah-
men. Das Hauptthema dieses Treffens war die »Neube-
gründung der Religion in Tibet«.
Der Tantrismus hatte das Land verwahrlost. Verbre-
chen, Mord, Orgien, Schwarzmagie, Disziplinlosigkeit
waren keine Seltenheit in der Sangha (Mönchsgemein-

846
de). Atisha stellte sein gut durchorganisiertes und diszipli-
niertes monastisches Modell, seine sittliche Strenge und
sein hohes Ethos dagegen. Reiner Lebenswandel und ech-
te Ordenszucht wurden jetzt verlangt. Erneut galten die
zölibatären Regeln. Es entstand eine Orthodoxie, aber der
Tantrismus wurde keineswegs abgeschafft, sondern höch-
ster Striktheit und Kontrolle unterworfen. Atisha führte
ein neues Zeitsystem in Tibet ein, das auf dem Kalender
des Kalachakra-Tantras beruhte, wodurch dieses Werk
ein außergewöhnlich hohes Ansehen gewann.
Zwar gibt es eine Geschichte, die erzählt, daß ihn eine
wilde Dakini auf einem Friedhof initiierte, auch studier-
te er drei Jahre im berüchtigten Uddiyana, woher Pad-
masambhava stammte, aber sein Lebensstil war von Be-
ginn an strikt und klar, sauber und diszipliniert, maß-
voll und streng.
Dies zeigt sich ganz besonders in der Wahl seines weib-
lichen Yiddams (Götterbildnis) Tara. Atisha brachte den
Kult der buddhistischen »Madonna« mit nach Tibet. Man
könnte sagen, er führte eine »Marianisierung« des tan-
trischen Buddhismus durch. Tara unterschied sich ganz
wesentlich von den anderen weiblichen Gottheiten durch
ihre Reinheit, Barmherzigkeit und ihre relative Asexua-
lität. Sie ist die »Geistfrau«, die bei der Reform auch an-
derer androzentrischer Kirchen eine so bedeutende Rol-
le spielt, wie wir es zum Beispiel von der Geschichte des
Papsttums her kennen.
Atishas Schüler Bromston gründete nach den Direk-
tiven seines Lehrers die oben schon erwähnte Gemein-
schaft der Kadampas, eine straffe klerikale Organisation,

847
die später für alle Orden des Schneelandes einschließ-
lich der Nyingmapas und der Reste der vorbuddistischen
Bonpos zum Vorbild wurde. Insbesondere aber bereitete
sie den Siegeszug der Gelugpas vor. Diese sahen sich als
die eigentlichen Vollstrecker Atishas. Mit ihm setzte dem-
nach die Verstaatlichung des tibetischen Mönchtums ein.
Diese sollte in der Institutionalisierung des Dalai Lama
ihren historischen Höhepunkt erreichen.

Die eingeplante Gegenwelt zur Bürokratie


des Klerus : Heilige Narren

Der Archetyp des anarchistischen Maha Siddha ist vor


allem eine indische Erscheinung. Er wird später in Tibet
durch das Urbild des »Heiligen Narren«, das heißt des
umherschweifenden Yogis mit einem unkonventionel-
len Lebenswandel, ersetzt. Während die »Großzaube-
rer« Indiens noch höchste spirituelle Autorität genossen,
vor der sich Äbte und Könige beugen mußten, hatten die
Heiligen Narren nur noch die Rolle eines sozialen Ven-
tils. Alles Wilde, Anarchische, Ungezügelte und Oppo-
sitionelle in der tibetischen Gesellschaft konnte durch
solche Personen abgeleitet werden, so daß der repressi-
ve Druck der Buddhokratie nicht Überhand nahm und
zu wirklich gefährlichen Revolten führte. Die Rolle der
Heiligen Narren war deswegen im Gegensatz zu derjeni-
gen der Maha Siddhas von Staats wegen eingeplant und
festgelegt und damit ein Teil der absolutistischen Budd-
hokratie. John Ardussi und Lawrence Epstein haben die

848
Haupteigenschaften dieser Figur in sechs Punkten zu-
sammengefaßt :
1. Eine allgemeine Ablehnung von üblichen gesellschaft-
lichen Verhaltensmustern, insbesondere von Regeln
des klerikalen Establishments.
2. Eine Neigung für bizarre Bekleidung.
3. Eine kultivierte Nichtbeachtung von Höflichkeiten,
vor allem was den Respekt vor dem sozialen Status
anbelangt.
4. Eine öffentlich bekundete Verachtung für die Scho-
lastik, insbesondere eine Verspottung des religiösen
Studiums allein durch Bücher.
5. Die Benutzung volkstümlicher poetischer Formen,
von Mimik, Gesängen und Geschichten als Mittel der
Predigt.
6. Der häufige Gebrauch von obszönen Anspielungen.
(* Ardussi und Epstein, 1978, 332, 333)
Eine echte anarchistische Absage an den Staatsbuddhis-
mus ist in diesen sechs Charaktereigenschaften nicht
enthalten. Die Heiligen Narren machten sich allenfalls
über die klerikalen Autoritäten lustig, nie aber griffen
sie diese als solche an.
Berühmt wurden die umherschweifenden Yogis vor
allem wegen ihrer völlig freien und hemmungslosen Se-
xualmoral und bildeten deswegen das Ventil für Tau-
sende von enthaltsam und zölibatär lebenden Mönchen,
welche durch die tantrische Symbolik einem extremen
sexuellen Druck ausgesetzt waren. Was den ordinierten
Klosterinsassen verboten war, lebten die vagabundieren-
den »verrückten Mönche« voll aus : Sie lobten die Größe

849
ihres Phallus, brüsteten sich mit der Anzahl der Frauen,
welche sie besessen hatten, und zogen als sakrale Casa-
novas von Dorf zu Dorf. Der Lama Drugpa Künleg (1455–
1529) war der berühmteste von ihnen. In einem schlüpf-
rigen Liedchen besingt er sich selbst :

Die Leute sagen, Drugpa Künleg


  ist ganz und gar wahnsinnig
Im Wahnsinn sind alle Sinnestaten der Weg,
Die Leute sagen, Drugpa Künlegs
  Geschlecht ist riesengroß
Sein Glied bringt Freude in die
  Herzen junger Mädchen !
(* Stevens, 103)

Künlegs Biographie beginnt damit, daß er mit seiner


Mutter im Bett liegt und versucht, sie zu verführen. Als
sie nach heftigem Widerstand schon bereit war, sich ih-
rem Sohn zu fügen, springt er, ein Meister tantrischer
Samenretention, unversehens auf und verläßt sie. Dieser
hemmungslose Außenseiter war erstaunlicherweise ein
Mitglied des gestrengen Kadampa-Ordens – auch das ist
nur verständlich, wenn wir die Rolle des Narren als pa-
radoxes Herrschaftsinstrument begreifen.

Ein anarchistischer Erotiker : Der VI Dalai Lama

Es mag auf den ersten Blick widersinnig erscheinen, die


Gestalt des VI Dalai Lama, Tsangyang Gyatso (1683–

850
1706), unter dem Kapitel »Anarchismus und Buddhokra-
tie« abzuhandeln, doch haben wir dafür unsere Gründe.
An seiner Person scheiden sich die Geister : Den einen,
die ihm mit Sympathie begegnen, gilt er als ein Rebell,
ein Volksheld, ein poète maudit, ein Bohémien, ein Ro-
mantiker auf dem Göttersitz, ein liebevoller Erotiker, als
schön und klug. Die anderen, die ihn mit Abscheu be-
trachten, halten ihn für einen Häretiker und Beschmut-
zer des Löwenthrons, für lasterhaft und leichtsinnig. Bei-
de Parteien jedoch bezeichnen ihn als höchst apolitisch.
Bekannt und berüchtigt wurde er vor allem durch sei-
ne Liebesgedichte, die er an mehrere schöne Einwohne-
rinnen Lhasas richtete. Deren Selbstironie, Melancholie
und feine Verspottung des lamaistischen Beamtenstaa-
tes haben sie zu einem Teil der Weltliteratur werden las-
sen. Zum Beispiel faßt der folgende Fünfzeiler alle drei
Elemente zusammen :

Bin ich im Potala-Kloster,


nennt man mich den Gelehrten
»Ozean des Reinen Gesangs«.
Treibe ich mich in der Stadt herum,
so heißt man mich den Dirnenprinz.
(* Stevens, 104 ; 65/174)

Der junge »Dichterfürst« stand in ohnmächtiger Op-


position zum herrschenden Regenten Sangye Gyatso
(1653–1705), welcher die staatliche Macht ausschließlich
für sich beanspruchte. Die Beziehung der beiden zuein-
ander entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, wenn

851
man mit Helmut Hoffmann unterstellt, daß der Regent
der leibliche Sohn des »Großen Fünften« war und des-
wegen dem VI Dalai Lama als der jugendlichen Inkar-
nation seines eigenen Vaters gegenüberstand. Das hin-
derte ihn jedoch nicht daran, den jungen »Gottkönig«
in seinem Machtspiel mit den Chinesen und Mongolen
als eine Marionette zu behandeln. Als der Dalai Lama
seine eigenen Herrschaftsansprüche artikulierte, wur-
de auf einmal sein »sündhaftes Treiben« als so anstößig
empfunden, daß man seine Absetzung forderte.
Eigenartigerweise ließ sich der VI Kundun ohne gro-
ßes Zögern darauf ein und beschloß im Jahre 1702, sein
geistliches Amt an den Panchen Lama zu übertragen, die
weltliche Herrschaft aber, die er de iure, aber nie de facto
ausübte, wollte er behalten. Diese Rechnung ging jedoch
nicht auf. Eine Priesterkongregation stellte fest, daß der
Geist Avalokiteshvaras von ihm gewichen sei, und setzte
einen Gegenkandidaten ein. Bei der nun im Lande auf-
tretenden allgemeinen politischen Verwirrung, bei der
auch der Regent Sangye Gyatso ums Leben kam, wurde
auch der VI Dalai Lama im Alter von 24 Jahren ermor-
det. Hinter der Tat stand ein Komplott zwischen dem
chinesischen Kaiser und dem Mongolenfürsten Lhab-
sang Khan. Jedoch berichtet eine weitverbreitete Legende,
der »Gottkönig« sei nicht umgebracht worden, sondern
habe anonym als Bettler und Pilger weitergelebt und sei
noch unter seiner nachfolgenden Inkarnation, dem VII
Dalai Lama, im Lande erschienen.
Westliche Historiker sehen meist in der Gestalt des
Dichterfürsten einen tragischen Schöngeist, der mit sei-

852
nen erotischen Zeilen das gnadenlose Machtspiel der
Großlamas wohltuend durchbrach. Wir sind von dieser
Sicht nicht ganz überzeugt. Im Gegenteil, unserer An-
sicht nach war Tsangyang Gyatso geradezu versessen dar-
auf, die weltliche Macht in Tibet zu erlangen und auszu-
üben, die ihm ja rechtens auch zustand. Nur setzte er zu
diesem Zweck nicht die üblichen politischen Mittel ein,
sondern vermeinte, durch die Praktizierung sexualmagi-
scher Riten sein Ziel erreichen zu können. Er glaubte fest
daran, was in den Heiligen Texten der Tantras stand ; er
war davon überzeugt, daß er durch »sexuelle Anarchie«
staatliche Macht erringen könnte.
Die wichtigste Information, die ihn als einen prakti-
zierenden Tantriker ausweist, ist der viel zitierte Spruch
von ihm : »Schlafe ich auch jede Nacht mit einer Frau, so
verliere ich nie einen Samentropfen.« (* Stevens, 105) Mit
diesem Satz rechtfertigte er nicht nur seine skandalösen
Frauenbeziehungen, sondern er wollte damit auch aus-
drücken, daß sein Liebesleben im Dienste seines hohen
Amtes als höchster Varja-Meister stehe.
Eine Geschichte berichtet, wie er in Gegenwart seines
Hofstaates öffentlich von der Dachplattform des Potala
herab in hohem Bogen uriniert habe und in der Lage ge-
wesen sei, sein Wasser wieder in den Peniskanal zurück-
zuziehen. Durch diese Performance wollte er den Beweis
antreten, daß er sich bei seinem von allen getadelten Lie-
besleben korrekt und entsprechend dem tantrischen Ko-
dex verhielt, ja daß er sogar über die schwierige Absau-
getechnik (Vajroli-Methode) verfüge, um sich den weib-
lichen Samen anzueignen. (* Schulemann, 284) Aus dem

853
folgenden Gedicht läßt sich ohne große Schwierigkeiten
herauslesen, daß es ihm bei seinen Amouren um das Auf-
saugen der männlich-weiblichen Fluide ging.

(Vermische) kristallklares Schneeberg-Wasser


und den Tau vom »Vajra« der dämonischen Schlange
mit einem Kräuternektar als der Quintessenz.
Laß die Weisheitsdakini das Likörmädchen sein.
Wenn Du mit reinen Absichten trinkst,
brauchst Du die höllische Verdammnis nicht zu
schmecken.
(* siehe Sorensen, 113)

Auch andere seiner Gedichtzeilen verweisen unmißver-


ständlich auf sexualmagische Praktiken. (* Sorensen,
ioo) Er hat selber einige Schriften verfaßt, die sich vor
allem mit der Schreckensgottheit Hayagriva beschäfti-
gen. Nach tantrischer Sicht wird seine »Seriosität« auch
nicht dadurch geschmälert, daß er sich mit Barmäd-
chen und Prostituierten einließ, sondern im Gegenteil,
sie wird geradezu dadurch unter Beweis gestellt, weil ja
nach dem Umkehrungsgesetz aus dem Niedrigsten das
Höchste entsteht. Er verhält sich ganz nach dem Geiste
der indischen Maha Siddhas, wenn er singt :

Wenn das Schankmädchen nicht zögert,


fließt und fließt das Bier.
Diese Maid ist meine Zuflucht,
und dieser Ort mein Refugium.
(* Stevens, 105)

854
Wahrscheinlich zur Durchführung seiner tantrischen
Riten ließ er innerhalb des Potala einen prachtvoll de-
korierten Raum einrichten, den er sinnigerweise das
»Schlangenhaus« nannte. Auch in seinem Äußeren war
der »Gottkönig« ein Exzentriker des Vajrayana, der die
längst vergangene Zauberzeit der großen Siddhas be-
schwor. Wie diese ließ er sich das Haar lang wachsen und
zu einem Knoten binden. Schwere Ringe zierten seine
Ohren, auch an jedem seiner Finger stak ein wertvoller
Ring. Nur nackt, wie viele seiner Vorbilder, lief er nicht
herum. Im Gegenteil, er liebte es, sich prächtig zu kleiden.
Seine Brokat- und Seidenkleider wurden von Lhasas jeu-
nesse dorée, mit der er seine Feste feierte, bewundert.
Aber all das waren nur Äußerlichkeiten. Alexander Da-
vid Neels Vermutung trifft offenbar das Richtige, wenn
sie annimmt : »Tsangyang Gyatso ist anscheinend in Me-
thoden eingeweiht worden, die für unsere Begriffe ein
Leben in Wollust gestatten oder sogar dazu ermutigen
und die auch wirklich für einen in diese wunderliche
Schulung nicht Eingeweihten Ausschweifungen bedeu-
ten.« (* Hoffmann, 1956, 178, 179)
Wir wissen, daß im tantrischen Ritual die einzelnen
Karma Mudras (Weisheitsmädchen) die Elemente, die
Sterne, die Planeten, ja selbst die Zeiteinheiten darstel-
len können. Weshalb sollen sie nicht auch Aspekte der
politischen Macht repräsentieren ? In der Tat gibt es eine
solch »politologische« Deutung der erotischen Gedich-
te des VI Dalai Lamas von Per K. Sorensen. Der Autor
behauptet, die Poesie des Gottkönigs benutze die eroti-
schen Bilder als Allegorien : Das in einem Poem vom VI

855
Kundun bezwungene »Tigermädchen« soll den Clanchef
der Mongolen symbolisieren. (* Sorensen, 226) Der »süße
Apfel« beziehungsweise die »Jungfrau«, nach der er greift,
wird als die »Frucht der Macht« angesehen. (* Sorensen,
279) Die »Liebe zur Frau« interpretiert Sorensen in die
»Liebe zur Macht« um, wenn er schreibt : »Die ständi-
ge Anspielung auf das Mädchen und die Geliebte (soll-
ten) wir als eine versteckte Referenz auf die Aneignung
realer Macht verstehen, ein Recht, von dem er (der VI
Dalai Lama) ungerechterweise durch einen despotischen
und selbstgefälligen Regenten ausgeschlossen wurde, der
in der Tat eine bemerkenswerte Interesselosigkeit daran
zeigte, seine Machtposition in irgendeiner Art mit dem
jungen Herrscher zu teilen.« (* Sorensen, 48)
Aber es geht dabei weit mehr als um Allegorien. Ein
richtiges Verständnis der Tantras bringt sofort Klarheit
in die Angelegenheit : Der VI Dalai Lama führte mit sei-
nen Mädchen ständig tantrische Rituale durch, um an die
reale Macht im Staat zu gelangen. Seine Karma Mudras
repräsentierten in seinem Bewußtsein verschiedene En-
ergien, die er sich durch seine sexualmagischen Prakti-
ken aneignen wollte, um dadurch die ihm vorenthaltene
Regierungsgewalt zu erlangen. Wenn er dichtete :

Solange der bleiche Mond


Über dem Ostberg wohnt,
Zieh’ Kraft und Seligkeit
Ich aus der Mädchen Leib. (* Koch, 172)

– dann geschah das aus machtpolitischer Absicht.

856
Doch sind einige seiner Zeilen von einer solchen Me-
lancholie, daß er wahrscheinlich seine tantrischen Kon-
trolltechniken nicht immer aufrechterhalten konnte und
tatsächlich in eine tiefe Liebe gefallen ist. Das folgende
Gedicht mag daraufhinweisen :

Ich ging zum weisen Juwel, dem Lama,


Und bat ihn, meinen Geist zu leiten.
Oft saß ich zu seinen Füßen,
Doch meine Gedanken umdrängten
Das Bild des Mädchens.
Ich konnte des Gottes Erscheinung
Nicht beschwören.
Nur Deine Schönheit steht mir vor Augen,
Und ich wollte die Hochheilige Lehre erfassen.
Sie entgleitet mir, ich zähle die Stunden,
Bis wir uns wieder umschlingen.
(* Koch, 173)

Eine tantrische Geschichte Tibets

Der folgende VII Dalai Lama (1708–1757) war das pure


Gegenteil seines Vorgängers. Man hat bisher keinen Ver-
gleich zwischen den beiden angestellt. Doch würde sich
dieser lohnen, denn während der eine Wildheit, Exzes-
se, Phantasie und Poesie repräsentierte, verlegte sich
sein Nachfolger auf strikte Observanz, Bürokratie, Be-
scheidenheit und Gelehrsamkeit. Das tantrische Mu-
ster von Anarchie und Ordnung, das der »Große Fünf-

857
te« in seiner Person genial vereinigte, fiel bei seinen bei-
den unmittelbaren Nachfolgern wieder auseinander.
Nichts interessierte den VII Dalai Lama mehr als die
staatlich-bürokratische Festigung des Kalachakra-Tan-
tra. Er beauftragte das Namgyal-Institut, das bis heute
diese Aufgabe betreut, mit der rituellen Durchführung
der äußeren Zeitlehre. Außerdem führte er in die all-
gemeine Liturgie des Gelugpa-Ordens ein Kalachakra-
Gebet ein, das am achten Tage jedes tibetischen Monats
gesprochen werden muß. Ihm verdanken wir weiterhin
die Konstruktion des Kalachakra-Sandmandalas und
die Choreographie der komplizierten Tänze, die immer
noch das Ritual begleiten.
Anarchie und Staatsbuddhismus brauchen sich also
nicht zu widersprechen. Beide können aufeinander ab-
gestimmt werden. Vor allem der »Große Fünfte« hat-
te das Geheimnis erkannt : Dem Schneeland war nicht
durch pure etatistische Befehlsgewalt beizukommen, es
mußte tantrisch beherrscht werden, das heißt das Cha-
os und die Anarchie mußten als Teile der Buddhokratie
integriert werden. Übertragen auf die verschiedenen ti-
betischen Religionsschulen bedeutete das : Wenn es ihm
gelänge, die puritanischen, bürokratischen, zentralisti-
schen, disziplinierten, arbeitsamen und tugendhaften
Qualitäten der Gelugpas mit den libertären, phantasma-
gorischen, magischen und dezentralisierten Eigenschaf-
ten der Nyingmapas zu verbinden, dann müßte die ab-
solute Herrschaft über das Schneeland zu erreichen sein.
Alle anderen Orden ließen sich innerhalb dieser beiden
Extreme ansiedeln.

858
Ein solches Unterfangen hatte etwas in der damaligen
Vorstellung Unmögliches zu leisten, waren doch die Ge-
lugpas aus der radikalen Kritik an den sexuellen Aus-
schweifungen und sonstigen Exzessen der Nyingmapas
und der anderen Sekten hervorgegangen. Aber dem po-
litischreligiösen Genie des V Dalai Lama gelang dies Un-
mögliche. Der disziplinierte Administrator auf dem Lö-
wen thron sah sich selbst am liebsten als Padmasamb-
hava (den Wurzelguru der Nyingmapas) und deklarierte
seine Geliebten zu Verkörperungen der Yeshe Tshogyal
(der Weisheitsgefährtin Padmasambhavas). Tibet erhielt
einen Herrscher über den Staat und die Anarchie.
Somit fügt sich die politische Mythengeschichte des
Schneelandes einer tantrischen Deutung : Am Anfang al-
ler folgenden historischen Ereignisse steht die Fesselung
der chaotischen Erdgöttin Srinmo durch den König Songt-
sen Gampo (die Bezwingung der Karma Mudra durch
den Yogi). Dadurch geht die im sexualmagischen Ritual
beschworene Herrschaft der männlichen Methode (Upa-
ya) über die weibliche Weisheit (Prajna) dem Supremat
des Staates über die Anarchie, der Zivilisation über die
Wildnis, der Kultur über die Natur voraus. Der englische
Anthropologe Geoffrey Samuel spricht deswegen von ei-
ner Synthese, welche sich aus der Dialektik zwischen anti-
staatlich-anarchistischem und klerikal-etatistischem Bud-
dhismus in Tibet herausgebildet habe, und erkennt in die-
ser Wechselbeziehung eine eigenartig fruchtbare Dynamik.
Er glaubt, im tibetischen System einen erstaunlich hohen
Grad an Fluidität, Offenheit und Wahlmöglichkeiten zu
erkennen. Dies ist seine Sicht der Dinge.

859
Für uns aber macht Samuel aus der Not eine Tugend.
Wir würden es genau umgekehrt sehen : Der Widerspruch
zwischen den beiden feindlichen Extremen (Anarchie
und Staat) führte zu sozialen Spannungen, welche die ti-
betische Gesellschaft einer dauernden Zerreißprobe aus-
setzten. Man muß sich klar darüber sein, daß das tantri-
sche Muster eine Kultur höchster Dissonanzen hervor-
bringt, welche zwar große Energien freisetzt, aber weder
historisch zu einer friedfertigen und harmonischen Ge-
sellschaft zum Wohle aller Wesen geführt hat, noch in
Zukunft führen kann.
Samuel macht noch einen weiteren Fehlschluß, wenn er
dem klerikalen staatlichen Buddhismus den wilden tan-
trischen Buddhismus als gleichwertigen Pol gegenüber-
stellt. Wir haben oft genug gezeigt, daß die Kontrollfunk-
tion (Upaya) der wichtigere Teil des tantrischen Rituals
ist, wichtiger und beständiger als die zeitweise Entfesse-
lung wilder Leidenschaften. Dennoch bleibt der Wider-
spruch von Wildheit (weibliches Chaos) und Zähmung
(männliche Kontrolle) ein Grundmuster jedes sexualma-
gischen Projekts – aus diesem Grunde ist die (»kontrol-
lierte«) Anarchie ein Teil der tibetischen »Staatstheolo-
gie«, und deswegen gab es niemals, weder für Atisha noch
für Tsongkapa, den beiden Gründungsvätern des Staats-
buddhismus, die Frage, ob die Tantras abzuschaffen sei-
en. Im Gegenteil, beide bemühten sich erfolgreich darum,
die Kontrollmechanismen innerhalb der tantrischen Ri-
ten zu stärken und auszubauen.
Wenn die »politische Theologie« des Lamaismus das
tantrische Muster auf die tibetische Gesellschaft über-

860
trägt, dann produziert sie – metaphysisch gesehen – be-
wußt das Chaos bis hin zur Zerstückelung, um erneut ex
nihilo Gesetz und Ordnung zu etablieren. Die Produkti-
on des Chaos geschieht innerlich im mystischen Körper
des Yogi durch die Entfesselung der alles vernichtenden
Candali. Durch die innerliche Fragmentierung wird der
Yogi völlig von seiner irdischen Persönlichkeit »befreit«,
um anschließend als die Emanation der hinter der Rea-
lität wirkenden Geisterschar aus Buddhas, Bodhisattvas
und Schutzgöttern neu zu entstehen.
Dieser Umkehrlogik der Tantras entspricht auf der äu-
ßeren Ebene die bewußte Produktion von Chaos durch
den buddhistischen Staat. Die umherschweifenden »Hei-
ligen Narren«, das wilde Leben der Großzauberer (Maha
Siddhas), die Exzesse des Gründungsvaters Padmasamb-
hava, die noch zu schildernde Institution des tibetischen
»Sündenbocks« und die damit verbundenen öffentlichen
Ausschweifungen während des Neujahrsfestes, ja selbst
die erotischen Spielereien des VI Dalai Lama sind solche
anarchistischen Momente, welche die Buddhokratie ins-
gesamt stabilisierten. Diese muß – den tantrischen Ge-
setzen nach – ihre eigene Zerstörung mit einkalkulie-
ren (wir werden im Zusammenhang mit der »Aufopfe-
rung« Tibets darauf noch zu sprechen kommen), denn
sie legitimiert sich aus der Fähigkeit, Unordnung in Ord-
nung, Verbrechen in Wohltat, Untergang in Auferste-
hung zu transformieren. Um sein Programm zu erfül-
len, aber auch um seine Allmacht zu beweisen, schafft
sich der buddhistisch-tantrische Staat selbst – und zwar
bewußt – chaotische Szenarien, er kündigt Gesetz und

861
Sitte, Recht und Tugend, Autorität und Gehorsam auf,
in der Absicht, diese nach einem Chaosdurchgang wie-
der zu etablieren. Mit anderen Worten : Er benutzt die
Revolution zur Restauration. Daß der XIV Dalai Lama
dieses Zusammenspiel auf der Weltbühne aufführt, wer-
den wir gleich sehen.
Dennoch bleibt zu bedenken, daß die Autorität des ti-
betischen Staatsbuddhismus über die Realität einer be-
grenzten Ordensherrschaft nicht hinausgekommen ist.
Von der Machtausübung eines Chakravartin, eines Wel-
tenherrschers, kann zumindest in der sichtbaren Welt
nicht gesprochen werden. Die Institution des Dalai Lama
blieb historisch gesehen äußerst schwach, gemessen an
ihrem Anspruch geradezu bedauernswert ohnmächtig.
Von den insgesamt vierzehn Dalai Lamas ist nur einer
als wirklicher Potentat zu bezeichnen : der »Große Fünf-
te«, mit dem die Institution ihren eigentlichen Anfang
nimmt und über die sie nie hinausgewachsen ist. Alle an-
deren Dalai Lamas waren in ihren Machtkompetenzen
äußerst beschränkt oder starben vor ihrer Regierungsfä-
higkeit. Selbst der Dreizehnte, dem man manchmal be-
sondere Potenzen zugeschrieben hat und den man des-
wegen ebenfalls als den »Großen« bezeichnet, überleb-
te nur, weil sich die damaligen Supermächte England
und Rußland nicht über die Aufteilung Tibets einigen
konnten. Trotzdem übte die Institution des Gottkönigs
seit Jahrhunderten eine große Anziehungskraft auf ganz
Asien aus und verstand es geschickt, ihre Machtkompe-
tenz von den sichtbaren Maßstäben der politischen Rea-
lität unabhängig zu machen und diese als magisch ok-

862
kultes Kraftfeld auszubauen, vor dem selbst der Kaiser
von China zitterte.

»Crazy Wisdom« und der Westen

Schon in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts gab es


Stimmen von radikal-anarchistischen Künstlern der
westlichen Moderne, welche die Buddhokratie des Dalai
Lama herbeisehnten und herbeibeschworen. »O Großer
Lama ! Wir sind deine gläubigsten Diener. Richte deine
Lichter auf uns in einer Sprache, die unsere verseuchten
europäischen Bewußtseine verstehen können, und wenn
nötig, transformiere unseren Geist …« (* Bishop, 1989,
239) Diese pathetischen Sätze stammen aus der Feder
Antonin Artauds (1896–1948). Der Dramatiker zählte zu
den französischen Intellektuellen, die 1925 zur »surrea-
listischen Revolution« aufriefen. Mit dem von ihm kon-
zipierten »Theater der Grausamkeit«, indem er die Dar-
stellung ritueller Gewalt auf die Bühne holte, näherte er
sich wie kein anderer moderner Dramatiker den Schrec-
kenskammern des buddhistischen Tantrismus. Artauds
Sehnsucht nach der Oberherrschaft des Dalai Lama ist
ein anschauliches Beispiel dafür, wie eine anarchistisch
asoziale Weltsicht in die Befürwortung einer »theokra-
tischen« Despotie umschlagen kann.
Eine enge Verflechtung gab es auch zwischen dem Bud-
dhismus und der amerikanischen »Beat Generation«, die
bestimmend die Jugendrevolte der 60er Jahre mitbeein-
flußt hat. Die Poeten Jack Kerouac, Alan Watts, Gary

863
Snyder, Allan Ginsberg und andere wurden schon ein
Jahrzehnt früher von östlichen Weisheitslehren angezo-
gen, vor allem vom japanischen Zen. Auch sie waren ins-
besondere an der anarchischen, das normale Leben ver-
achtenden Seite des Buddhismus interessiert und sahen
darin eine fundamentale und revolutionäre Kritik der
alle individuellen Freiheiten unterdrückenden Massen-
gesellschaft. »Verblüffend … ist schon«, wundert sich das
deutsche Nachrichten-Magazin Der Spiegel in Bezug auf
den tibetischen Buddhismus, »daß viele antiautoritäre,
anarchistisch und feministisch geprägte Alt 68er so in-
spiriert sind von einer Religion, die hierarchische Struk-
turen, selbstbeschränkende Klosterkultur und die Auto-
rität des Lehrers predigen.« (* Spiegel, 16/1998, 121)
Alan Watts (1915–1973) war Engländer und mit dem
japanischen Zenmeister und Philosophen Daietsu Teita-
ro Suzuki in London zusammengetroffen. Er begann da-
mit, Suzukis Philosophie zu populariseren und in einen
unkonventionellen und anarchischen »Lebensstil« um-
zudeuten.
Timothy Leary, der die Wunderdroge LSD auf der gan-
zen Welt propagierte und als Guru der Hippiebewegung
und amerikanischen Subkultur angesehen wird, mach-
te das »Tibetische Totenbuch« zur Grundlage seiner psy-
chodelischen Experimente. 74
Schon Anfang der 50er Jahre hatte Allen Ginsberg mit
Drogenexperimenten (Peyote, Mescalin und später LSD)

74 Siehe Timothy Leary, Psychodelische Erfahrungen. Ein Hand-


buch nach Weisungen des Tibetanischen Totenbuches, Amster-
dam 1975.

864
begonnen, bei denen die zornvollen tantrischen Schutz-
gottheiten eine zentrale Rolle spielten. Er bezog sie in sei-
ne »bewußtseinserweiternden Sitzungen« mit ein. Als er
1962 den Dalai Lama in Indien besuchte, war er daran in-
teressiert, zu wissen, was Seine Heiligkeit von LSD hielt.
Dieser antwortete jedoch mit einer Rückfrage und woll-
te erfahren, ob Ginsberg unter Einfluß der Droge sehen
könne, was sich innerhalb einer im Raum befindlichen
Aktentasche befinde. Der Dichter antwortete ja, sie sei
leer. Sie war leer ! (* Shambhala Sun, Juli, 1995)
Über die Leerheit aller Dinge klärte ihn später der ti-
betische Lama Dudjom Rinpoche, der damalige Führer
der Nyingmapa, auf. Als Ginsberg ihn um einen Rat bat,
wie er mit seinen LSD-Horrortrips umgehen solle, ant-
wortete ihm der Rinpoche : »Wenn Du etwas Schreck-
liches siehst, dann hafte nicht daran. Wenn Du etwas
Schönes sieht, dann hafte nicht daran !« (* Shambhala
Sun, Juli, 1995) Dieser Spruch wurde zur Lebensmaxi-
me des Beat-Poeten.
In Sikkim nahm Ginsberg 1962 an der Schwarzhut-Ze-
remonie des Karmapa teil und traf schon damals den jun-
gen Chögyum Trungpa. Mit ihm sollte er 10 Jahre später
(1972) gemeinsam radikale Gedichte auf spektakulären
Veranstaltungen zitieren. Beide »Buddha-Poeten« lebten
auf diesen »Lesungen« ihre anarchistischen Gefühle voll
aus, wobei Lama Trungpa meistens betrunken war.
Es zeigt sein geniales Gespür für Bewußtseinskontex-
te, wenn der XIV Dalai Lama dem gegen Staat und jeg-
lichen Zwang revoltierenden Ginsberg auf dessen Frage,
ob er jemals meditiere, antwortete : »Nein, das habe ich

865
nicht nötig«. (* Tricycle, Vol. V, No. 2, p. 6) Aus anderen
Interviews Seiner Heiligkeit erfahren wir dagegen, daß
er jeden Morgen vier Stunden meditiert, wie es sich für
einen guten buddhistischen Mönch gehört. Der Kundun
hat somit für jegliche Geisteshaltung seiner Gesprächs-
partner die entsprechende Antwort parat.
Seine damalige Nonchalance gegenüber der im ande-
ren Kontext stark betonten Meditationsdisziplin deckte
sich mit der anarchistischen und antiautoritären Grund-
haltung Ginsbergs. Dessen unkonventionelle Eskapaden
vertrugen sich wiederum mit dem tibetischen Archetyp
des »Heiligen Narren«. Ginsberg hat deswegen seine Ge-
dichte auch als einen Ausdruck des »Crazy Wisdom« (der
»Verrückten Weisheit«) erklärt, ein Begriff, der sich bald
darauf als Qualitätsmarke für die antibürgerliche Hal-
tung vieler tibetischer Lamas im Westen erwies.
Nach tantrischer Logik brauchte sich der XIV Gottkö-
nig vor dem chaotischen und antibourgeoisen Lebensstil
der 60er Jahre und ihrer anarchistischen Führer nicht zu
fürchten. Alle Maha Siddhas hatten ja ihre wilde Pha-
se vor ihrer Erleuchtung durchlaufen. Die Beat-Genera-
tion bildete geradezu einen idealen primären Stoff (Pri-
ma Materia), mit dem der göttliche Alchemist auf dem
Löwenthron experimentieren konnte, und es gelang ihm
in der Tat, viele von ihnen in Propagandisten seiner bud-
dhokratischen Vision zu »veredeln«.
Der unkonventionelle, berühmte deutsche Maler und
Aktionskünstler Joseph Beuys sah sich seit Beginn sei-
ner künstlerischen Laufbahn als Eingeweihter einer scha-
manistisch-tartarischen Tradition. Seine berühmten Ar-

866
beiten mit dem Werkstoff Filz, einem Material, das vor
allem von den mongolischen Nomaden verwendet wird,
begründete er mit seiner Affinität zur Kultur und zur
Religion der Steppenvölker. Zwischen ihm und dem XIV
Dalai Lama kam es zu mehreren Begegnungen, die – ohne
daß dies in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde –
für die Bewußtseinsentwicklung des Künstlers von ent-
scheidender Bedeutung waren.
1990 trafen sich in Amsterdam berühmte Artisten wie
Robert Rauschenberg und John Cage mit Seiner Heilig-
keit. Auch der Maler Roy Lichtenstein oder der Kompo-
nist Philipp Glass sind vom Buddhismus angezogen. 1994
amüsierte sich der Kundun mit dem tschechischen Mini-
sterpräsidenten und ehemaligen Schriftsteller Vaclav Ha-
vel über die erotischen Gedichte seines anarchistischen
Vorgängers, des VI Dalai Lama.
Selbst in der Popszene wird der Gottkönig gefeiert.
Großstars wie David Bowie, Tina Turner, Patty Smith
bekennen sich offen zur Lehre des Buddha. Mönche aus
dem Namgyal-Kloster, das sich speziell mit dem Kalacha-
kra-Tantra beschäftigt, treten als exotische Einlage auf
Pop-Festivals auf.
Der anarchistische Buddhismus ist aber – wie wir wis-
sen – immer nur das satyrische Vorspiel für die buddho-
kratische Staatsidee. So wie im Vajrayana wilde Sexua-
lität in Macht verwandelt wird, ja die Voraussetzung für
Macht überhaupt darstellt, so bildet die anarchistische
Kunstszene des Westen den Rohstoff und die Durchgangs-
phase für die Errichtung einer totalitären Buddhokratie.
An der Person Chögyum Trungpas, der sich im Laufe

867
seiner USA-Karriere von einem Dharmafreak in einen
Miniaturdespoten mit faschistoiden Allüren verwandelte,
können wir einen solchen Umschlag von antiautoritärer
Anarchie in ein autoritäres Staatsdenken in einer einzi-
gen Person beobachten. Wir werden dieses Beispiel noch
ausführlich darstellen.
6. DER KÖNIGSMORD ALS URSPRUNGS-
MYTHOS DES LAMAISMUS UND DIE
RITUELLE AUFOPFERUNG TIBETS

Wir haben im ersten Teil unserer Studie das »tantrische


Frauenopfer« als das zentrale Kultmysterium des tibe-
tischen Buddhismus beschrieben. In ihm werden – wir
wiederholen es – weibliche Energien (Gynergie) für die
androzentrischen Machtambitionen eines Yogi absor-
biert. Das allgemeine Prinzip, das sich hinter diesem »En-
ergieraub« verbirgt, nämlich das eigene Kraftfeld durch
die Lebenskraft eines Gegners zu potenzieren, ist allen
archaischen Gesellschaften gemeinsam. In sehr »primi-
tiven« Stammeskulturen nahm man diesen »Transfer«
von Lebensenergie wörtlich und verspeiste seine getöte-
ten Feinde. Auch in der archaischen Kultur Tibets war
die Vorstellung, daß dem Opferer die Fähigkeiten und
Kräfte seines Opfers zugute kommen, ein weit verbrei-
teter Topos. Sie betraf nicht allein die sexualmagischen
Praktiken des Tantrismus, sondern beherrschte das ge-
samte Sozialwesen. Wir werden sehen, daß der Lamais-
mus aus einer solch archaischen Sichtweise heraus das
tibetische Königtum opferte, um sich dessen Energien
anzueignen und um seine eigene weltliche Macht zu be-
gründen.

869
Das rituelle Königsopfer in der Geschichte Tibets
und der tibetische »Sündenbock«

Die Könige der tibetischen Yarlung-Dynastie (7. bis An-


fang des 9. Jahrhunderts n. Chr.) leiteten ihr Amt aus
einem göttlichen Ursprung ab. Dieser war keineswegs
buddhistisch, sondern wurde erst ex post als solcher um-
gedeutet. Als Beweis für ihre buddhistische Herkunft
galt ein »Geheimtext« (Mani Kabum), den ein eifriger
Mönch erst 500 Jahre später im 12. Jahrhundert »ent-
deckte«. Darin wurden die drei bedeutendsten Yarlung-
Herrscher als Emanationen von Bodhisattvas ausgewie-
sen : Songtsen Gampo (617–650) als eine Verkörperung
des Avalokiteshvara, Trisong Detsen (742–803) als eine
Ausstrahlung von Manjushri und Ralpachan (815–838)
als die von Vajrapani. Ihr originärer vorbuddhistischer
Herkunftsmythos, nach dem sie von einem alten Göt-
tergeschlecht aus der Region des Himmels stammten,
war damit vergessen. Die Könige vertraten von nun an
– nach lamaistischer Geschichtsdeutung – als Dharma-
rajas (»Gesetzeskönige«) das buddhistische Gesetz auf
Erden.
Dank alter, zum Teil zeitgenössischer Dokumente (aus
dem 8. Jahrhundert) aus den Höhlen von Tunhuang wis-
sen wir, daß die historische Realität komplexer war. Die
Yarlung-Herrscher lebten und regierten weniger als strik-
te Buddhisten, sondern sie spielten die verschiedenen re-
ligiösen Strömungen ihres Landes gegeneinander aus, um
ihre eigene Macht zu festigen. Mal förderten sie den Bon-
Glauben, mal die eingewanderten indischen Yogis, mal

870
die chinesischen Chan-Buddhisten, mal ihre alten scha-
manistischen Zauberpriester. Von den verschiedenen Ri-
ten und Lehren übernahmen sie nur das, was sich mit
ihren Interessen deckte. Songtsen Gampo, die angeb-
liche Verkörperung Avalokiteshvaras, ließ zum Beispiel
zur Versiegelung von Verträgen und bei seinem Begräb-
nis Menschen und Tiere opfern, wie es nach der Bon-Tra-
dition üblich war, von den Buddhisten aber strengstens
verworfen wurde.
Allein der vorletzte König der Dynastie, Ralpachan,
kann als ein überzeugter, ja fanatischer Anhänger des
Buddhismus angesehen werden. Dies ergibt sich unter
anderem aus einem von ihm erlassenen Gesetzestext, der
die Rechte der Mönche weit über diejenigen des gemeinen
Volkes stellte. Wer zum Beispiel mit einem Finger auf ei-
nen Ordinierten zeigte, dem sollte der Finger abgeschnit-
ten werden. Wer über die Lehre des Buddha schlecht re-
dete, dem wurden die Lippen verstümmelt. Wer einen
Mönch schief ansah, dem stach man die Augen aus, und
wer ihn bestahl, der mußte das Fünfundzwanzigste des
Wertes ersetzen. Je sieben Familien des Landes hatten
für den Unterhalt eines Lamas aufzukommen. Der Herr-
scher selbst unterwarf sich voll den religiösen Vorschrif-
ten und soll einer Sangha (Mönchsgemeinschaft) beige-
treten sein. Es ist nicht verwunderlich, daß er nach der
Durchsetzung eines solch harten Regimes im Jahre 838
n. Chr. ermordet wurde.

871
Der Mord an König Langdarma

Ebensowenig erstaunt es einen, daß sein Bruder Lang-


darma, der ihm auf dem Thron folgte, die von Rapalchan
errichtete Despotie der Mönche wieder rückgängig ma-
chen wollte. Langdarma war fest entschlossen, mit den
alten Bon-Kräften erneut zusammenzuarbeiten, und be-
gann mit einer Verfolgung der Buddhisten, vertrieb sie
oder zwang sie zu heiraten. Alle Privilegien wurden ih-
nen entzogen, die indischen Yogis aus dem Land gejagt
und die Heiligen Texte (Tantras) verbrannt. Langdarma
gilt deswegen für die Lamas bis heute als der Erzfeind
der Lehre, als die Inkarnation des Bösen schlechthin.
Aber seine radikale antibuddhistische Aktivität sollte
nur vier Jahre dauern. Im Jahre 842 ereilte ihn das Schick-
sal. Auf einem mit Kohle schwarz verfärbten Schimmel
und verhüllt in einen schwarzen Mantel, ritt sein Mör-
der nach Lhasa. Palden Lhamo, die furchtbare Schutzgöt-
tin der späteren Dalai Lamas, hatte dem buddhistischen
Mönch Palgyi Dorje den Befehl erteilt, Tibet von Lang-
darma zu »befreien«. Da der König einen Bon-Priester
vor sich glaubte, gewährte er seinem Mörder Au­dienz.
Unter dem Gewand hatte Palgyi Dorje Pfeil und Bogen
verborgen. Zuerst kniete er nieder. Noch während er sich
erhob, schoß er Langdarma aus nächster Nähe tödlich
durch die Brust und rief aus : »Ich bin der Schutzgott
(Dämon), schwarzer Yashe. Wenn jemand wünscht, ei-
nen sündigen König zu töten, dann laßt ihn so verfah-
ren, wie ich es getan habe.« (* Bell, 48) Dann schwang
er sich auf sein Pferd und floh. Unterwegs badete er das

872
Tier in einem Fluß, so daß wieder sein weißes Fell zum
Vorschein kam. Dann kehrte er seinen schwarzen Mantel
um, der jetzt ebenfalls eine weiße Farbe zeigte. So konn-
te er unerkannt entkommen.
Bis heute legitimiert die tibetische Geschichtsschrei-
bung diesen »Tyrannenmord« als einen notwendigen
Verzweiflungsakt der bedrängten Buddhisten. Um das
schlechte Gewissen zu beruhigen und um die Tat mit
dem buddhistischen Verbot jeglicher Tötung in Einklang
zu bringen, wurde sie schon bald als eine Geste des Mit-
gefühls bewertet : Langdarma sei durch seine Tötung
davon abgehalten worden, noch mehr schlechtes Kar-
ma anzusammeln und noch mehr Menschen ins Ver-
derben zu stürzen. Solche »mitfühlenden« Ermordun-
gen, die – wie wir noch sehen werden – Teil der tibeti-
schen Staatspolitik wären, vermieden das Wort »töten«
und ersetzten es durch Begriffe wie »retten« oder »be-
freien«. »Den Feind der Lehre durch Mitgefühl zu be-
freien und sein Bewußtsein in eine bessere Existenz zu
führen, ist eines der wichtigsten Gelübde, welche bei
den tantrischen Machtübertragungen eingehalten wer-
den müssen«, schreibt Samten Karmay. (* Karmay, 72)
Von dem »Retter« wurde in einem solchen Fall nur ge-
fordert, im Augenblick des Tötungsaktes dem Ermorde-
ten eine gute Wiedergeburt zu wünschen. (* Beyer, 304,
466 ; Stein, 1993, 219)

873
Der sakrale Mord

Aber all das macht die Ermordung König Langdarmas


noch nicht zu einem historisch außergewöhnlichen Er-
eignis. Die tibetische Frühgeschichte ist voll mit Regi-
ciden (Königsmorden), von den 11 Herrschern der Yar-
lung-Dynastie sollen mindestens sechs umgebracht wor-
den sein. Es gibt sogar eine gewichtige Meinung, nach
welcher der rituelle Königsmord Teil des alttibetischen
Kulturlebens gewesen sei. Jeder Regent soll an dem Tag,
als sein Sohn regierungsfähig wurde, gewaltsam ermor-
det worden sein. (* Tucci, 1953, 199 f.)
Das wirklich Einschneidende und Spezifische an der
Tötung Langdarmas ist aber die Tatsache, daß mit ihm
das sakrale Königtum und die damit verbundene göttli-
che Ordnung Tibets endgültig zu Ende ging. Durch den
Mord an ihm wurde symbolisch und real die Aufopfe-
rung der weltlichen Herrschaft zugunsten der klerikalen
Mächte vollzogen, und so trat an die Stelle eines auto-
kratischen Regenten die Buddhokratie der Mönche. Zwar
kam diese erst 800 Jahre später unter dem V Dalai Lama
zu ihrer vollen Entfaltung, aber in der Zwischenzeit ge-
lang es keinem einzigen weltlichen Herrscher mehr, die
Macht über Gesamttibet an sich zu reißen, die sich die
Großäbte der verschiedenen Sekten untereinander auf-
teilten.
Der rituelle Königsmord ist seit jeher ein großes The-
ma der Anthropologie, der Kulturforschung und der Psy-
choanalyse. James George Frazer erklärt ihn in seinem
umfangreichen Werk Der Goldene Zweig zum Ursprung

874
aller Religionen. Sigmund Freud versucht in seinem Es-
say Totem und Tabu, die hinterhältige und gemeinsam
begangene Tötung des omnipotenten Patriarchenvaters
durch die jungen Männchen einer Affenhorde als den
Gründungsakt der menschlichen Kultur darzustellen,
und sieht in jedem historischen Königsmord eine Wie-
derholung dieser Urtat. Die Argumente des Psychoana-
lytikers sind nicht sehr überzeugend, seine Grundidee
jedoch, die eine Gewalttat und deren rituelle Wiederho-
lung als eine machtyolle kulturelle Inszenierung sieht,
hat moderne Forscher weiterhin beschäftigt.
Die überragende Bedeutung des Regicids ist sofort
klar, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die archa-
ischen Könige in den meisten Fällen mit einer Gottheit
gleichgesetzt wurden. Was geschah, war also nicht die
Tötung eines Menschen, sondern ein Gottesmord, meist
in der pathetischen Absicht, daß der rituell Ermordete
wieder auferstehen oder eine andere Gottheit an seine
Stelle treten werde. Dennoch hinterließ die Tat immer
tiefe Spuren von Schuld und Schrecken in den Seelen
der Ausführenden. Auch wenn der reale Königsmord
sogar nur ein einziges Mal vollzogen wurde, so prägte
sich das Ereignis unauslöschbar in das Bewußtsein ei-
ner Gemeinschaft ein. Es verdichtete sich zu einem ge-
nerativen Prinzip (generative principle). Darunter ver-
steht René Girard in seiner Studie über Das Heilige und
die Gewalt, daß ein »Gründungsmord« alle folgenden
kulturellen und religiösen Entwicklungen einer Sozie-
tät beeinflußt und daß ein kollektiver Zwang entsteht,
ihn ständig real oder symbolisch zu wiederholen. Die-

875
ser Wiederholungszwang geschieht aus drei Gründen :
erstens aus einem Schuldgefühl der Mörder, die glau-
ben, durch eine Repetition die Tat bannen zu können ;
zweitens, um die eigenen Kräfte zu erneuern, die von
dem Opfer auf seine Mörder überfließen ; drittens als
Machtdemonstration. So entsteht eine Kette religiöser
Gewalt, die sich jedoch, je weiter sich die Gemeinschaft
von dem verbrecherischen Ursprungsereignis entfernt,
immer mehr »versymbolisiert«. An die Stelle von Men-
schenopfern tritt jetzt das Verbrennen von Puppen.

Der Tscham-Tanz

Auch der Mord an König Langdarma wird später in Ti-


bet durch eine symbolische Repetition ersetzt. Die La-
mas wiederholen das Verbrechen in einem jährlich auf-
geführten Tanzmysterium, dem Tscham-Tanz. Dieser
hat je nach Ort und Zeit spezifische Sequenzen, und
jede Sekte führt ihre eigene Choreographie durch. Es
sind immer mehrere geschichtliche und mythische Er-
eignisse, die zur Aufführung kommen. Aber im Kern
dieses Mysterienspiels steht stets das rituelle Opfer ei-
nes »Religionsfeindes«, für den Langdarma den Arche-
typ hergibt.
Da es sich um ein Ritual handelt, darf eine Tscham-
Performance nur von ordinierten Mönchen gespielt wer-
den. Man spricht auch vom »Tanz der Schwarzhüte«, in
Erinnerung an den schwarzen Hut, den der Königsmör-
der Palgyi Dorje bei der Ausführung seines Verbrechens

876
trug und der jetzt von einigen der Spieler aufgesetzt wird.
Neben den Schwarzhut-Priestern nimmt eine beträcht-
liche Zahl von meist zoomorphen Maskentänzern teil.
Tierfiguren führen bizarre Sprünge auf : Krähe, Eule,
Hirsch, Yak und Wolf. Yama, der gehörnte Totengott,
spielt die Hauptrolle des »Roten Henkers«.
Im Zentrum eines Freilichttheaters haben die Lamas
einen sogenannten Lingam aufgebaut. Dabei handelt es
sich um die anthropomorphe Darstellung eines Glau-
bensfeindes, in den meisten Fällen um ein Abbild des
Königs Langdarma. In die aus Teig gefertigte Figur wer-
den Substitute von Herz, Lunge, Magen und Eingewei-
den eines Menschen hineingearbeitet, und alles wird mit
einer roten blutähnlichen Flüssigkeit überschüttet. Aus-
tine Waddell will erfahren haben, daß man in Lhasa bei
wichtigen Angelegenheiten echte Leichenteile aus dem
Ragyab-Friedhof sammelte, um damit die Teigfigur auf-
zufüllen. (* Waddell, 527)
Mit wilden Sprüngen und unter dem Klang von Hör-
nern, Becken und Trommeln umtanzen anschließend die
Maskenträger den Lingam. Dann erscheint der stierköp-
fige Todesgott Yama, durchstößt Herz, Arme und Beine
der Figur mit seiner Waffe und bindet ihre Füße mit ei-
nem Seil. Eine Glocke läutet, und Yama beginnt, mit dem
Schwert dem Opfer die Glieder abzuschneiden und die
Brust aufzuschlitzen. Jetzt reißt er das blutige Herz und
die anderen inneren Organe, die vorher in den Lingam
eingearbeitet wurden, heraus. In einigen Versionen des
Spiels ißt er danach das »Fleisch« und trinkt das »Blut«
mit gutem Appetit.

877
In anderen ist nun der Augenblick gekommen, wo sich
die Tierdämonen (Maskentänzer) auf den schon zerstüc-
kelten Lingam werfen und ihn endgültig zerfetzen. Die
Stücke werden in alle Himmelsrichtungen geschleudert.
Hilfsteufel sammeln die zerstreuten Brocken in Men-
schenschädeln auf und bringen sie in einer feierlichen
Prozession vor den auf einem Thron sitzenden Yama. Die-
ser ergreift mit einer würdevollen Geste eines der blutigen
Stücke, verzehrt es ruhig und gibt durch ein Handzeichen
den Rest zur allgemeinen Mahlzeit frei. Sofort stürzen
sich die anderen Mysterienspieler darauf und versuchen,
etwas zu erhaschen. Nun kommt es zu einem wilden Ge-
rangel, bei dem wohl mit Absicht viele Teile des Lingams
in die Zuschauermenge geworfen werden. Jeder ergreift
ein Stückchen, um es anschließend zu verzehren.
In dieser eindeutig kannibalistischen Szene wollen sich
die klerikalen Tscham-Tänzer etwas von der Lebenskraft
des königlichen Opfers aneignen. Die archaische Vorstel-
lung, daß durch das Töten und Verspeisen des Feindes
dessen Kraft auf einen übergeht, ist auch hier die kaum
verholene Absicht. Auf einer »künstlerischen« Ebene wie-
derholt somit jede Tscham-Aufführung die politische An-
eignung der weltlichen Königsmacht durch den Lama-
ismus. Wir müssen uns aber immer wieder vor Augen
halten, daß für die tantrische Kultur der uns geläufige
Unterschied zwischen Symbol und Realität nicht existiert.
König Langdarma und mit ihm seine säkulare Herrschaft
werden deswegen bei jedem aufgeführten Tscham-Tanz
erneut geopfert. Es ist nur allzu verständlich, weshalb der
V Dalai Lama, in dessen Person sich zum ersten Mal die

878
gesamte weltliche Macht der tibetischen Könige verdich-
tete, den Tscham-Tanz so gefördert hat.
Weshalb wird das Opfer und damit der »Feind der Re-
ligion« Lingam genannt ? Dieses Sanskritwort bedeutet
bekanntlich »Phallus«. Wollen sich die Lamas die könig-
liche Zeugungskraft dienstbar machen ? Der Psychoana-
lytiker Robert A. Paul gibt eine andere interessante Deu-
tung. Er sieht in der Zerstörung des Lingams eine »sym-
bolische Kastration«. Dadurch werde von den Mönchen
demonstriert, daß die natürliche Reproduktion, die Ge-
burt aus der Frau, eine menschliche Fehlentwicklung dar-
stelle. Übertragen auf das Königsopfer habe diese sym-
bolische Kastration jedoch noch eine weitere machtpo-
litische Bedeutung : sie symbolisiere die Ersetzung der
dynastischen Erbfolge, welche den Gesetzen der Repro-
duktion folgt und die den Geschlechtsakt voraussetzt,
durch das Inkarnationssystem.
Robert A. Paul beobachtete bei seinen Feldforschungen
auch, wie sich am Tage nach einer Tscham-Aufführung
der Abt und seine Mönche als Dakinis verkleideten und
auf der Opferstätte erschienen, um die herumliegenden
Reste aufzusammeln und sie mit anderen Gegenständen
in einem Feuer zu verbrennen. Da die »männlichen« La-
mas diesen letzten rituellen Akt in der Gestalt von »Him-
melswandlerinnen« vollziehen, liegt die Vermutung nahe,
daß sich hinter dem symbolischen Königsmord noch ein
tantrisches Frauenopfer verbirgt.

879
Das Ersatzopfer

Die Opferung eines Lingam war eine besondere Spe-


zialität des V Dalai Lama, die er nicht nur während
des Tscham-Tanzes durchführen ließ, sondern auch,
wie wir gleich sehen werden, zur Feindvernichtung be-
nutzte. Es handelt sich dabei um eine weitverbreitete
Praxis des tibetischen Kultlebens. Zu allen nur denk-
baren Gelegenheiten werden kleine Teigfigürchen (Tor-
ma oder Bali) hergestellt, um diese den Göttern oder
Dämonen darzubringen. Man formt sie aus Tsam-
pa oder Butter oft in anthropomorpher Gestalt. Ein
Text verlangt, sie wie »die Brüste von Dakinis« zu bil-
den. (* Beyer, 312) Oft werden Blut und Fleischstück-
chen, Harze, Gifte und Bier hinzugefügt. In den mei-
sten Fällen nimmt man dafür Substitute. Daß es sich
bei der Darbringung eines Tormas um den symboli-
schen Nachvollzug eines ehemaligen Menschenopfers
handelt, darüber sind sich zahlreiche Tibetforscher ei-
nig. (* Hermann, Hoffmann, Nebesky-Wojkowitz, Paul,
Sierksma, Snellgrove, Waddell)
Es gibt nun verschiedene Vorstellungen darüber, was
die Darbringung eines Ersatzopfers bedeutet. Zum Bei-
spiel kann man alles Böse, auch die eigenen schlechten
Eigenschaften, in das Torma hineinprojizieren, um es an-
schließend zu zerstören. Der Opferer fühlt sich danach
gereinigt und vor schädlichem Einfluß sicher. Oder aber
das Opfer wird den Dämonen zum Fraß vorgeworfen, sei
es, um sie günstig zu stimmen oder um sie davon abzu-
lenken, einem bestimmten Menschen zu schaden. Es han-

880
Stilisierte Opfergaben : Menschenhäute, herausgerissene
Augen, Hirnschale, Herzen, Innereien
delt sich dabei um das vom V Dalai Lama kodifizierte
Bali-Ritual. Der Zweck der Zeremonie besteht darin, die
Dakinis oder andere Schadgeister daran zu hindern, ei-
nen Kranken oder Sterbenden mit in ihr Reich zu neh-
men. Damit sich der Patient nicht von ihnen verführen
läßt, wird ihm von einem Lama das Dakiniland in recht
grausamen Farben geschildert, und seine weiblichen Be-
wohner werden als Monster dargestellt :

Sie verzehren warmes Menschenfleisch als Speise


Sie trinken warmes Menschenblut ah Getränk
Sie gieren nach Taten und Zerstückeln als Tätigkeit
Es gibt keine Zeit, in der sie von Kampf und Streit
  ablassen.

Und der Besprochene wird anschließend aufgefordert :

Bitte geh nicht in ein solches Land,


bleibe in der Heimat in Tibet !
(* Herrmann – Pfand, 463)

Damit ist zwar die Seele des Kranken abgeschreckt, aber


die Dakinis, die danach greifen wollten, sind noch nicht
befriedigt. Deswegen schlagen die Texte ein Ersatzopfer
vor. Angeboten werden den Menschenfresserinnen eine
Bali-Pyramide, bestehend aus einem Totenschädel, ab-
gezogenen Hautfetzen, Butterlampen mit menschlichem
Fett und verschiedenen Organen, die in einer stark rie-
chenden Flüssigkeit aus Hirn, Blut und Galle schwim-
men. Das soll die Gier der »Himmelswandlerinnen« stil-

882
len und sie von dem Kranken ablenken. (* Herrmann-
Pfand, 466)

Der tibetische »Sündenbock«

Der Anthropologe James George Frazer bringt die bei


vielen Völkern zu Beginn eines Jahres vollzogenen sym-
bolischen Opferhandlungen ebenfalls mit dem rituellen
Königsmord in Zusammenhang. Das vergangene Jahr,
repräsentiert durch den alten Herrscher, wird geopfert,
und das Neue Jahr in der Gestalt eines jungen Königs
hält seinen feierlichen Einzug. Diesem tief in der Men-
scheitsgeschichte verankerten Ritus haben sich die re-
gierenden Könige im Laufe der Zeit dadurch entziehen
können, daß sie an ihre Stelle Substitute setzten, an de-
nen die Ritualgewalt ausgelassen werden konnte. Auf
ein solches Ersatzopfer für den König übertrug man alle
schlechten Eigenschaften wie Krankheiten, Schwäche,
Unfruchtbarkeit, Armut und so weiter, damit sie nach
dem gewaltsamen Tod des Substituts die Gemeinschaft
nicht mehr belasteten.
Diese Rolle eines menschlichen »Sündenbocks« über-
nahm beim tibetischen Neujahrsfest (Mönlam) eine Per-
son, die den Namen »König der Unreinheit«, »Ochsendä-
mon« oder »Erlösungskönig« erhielt. Sein Gesicht wurde
halb Weiß und halb Schwarz bemalt, und man kleidete
ihn neu ein. Dann zog er, einen schwarzen Yakschwanz
als Zepter schwingend, durch die Straßen Lhasas, um
Gaben einzusammeln und sich Dinge, die ihm gefielen,

883
Der Sündenbock von Gyantse,
behangen mit Tierinnereien
anzueignen. Viele spendeten auch Geld, aber auf all die-
se Gegenstände übertrugen die ehemaligen Besitzer jeg-
liches Unglück, was sie in Zukunft erwartete.
Das ging so einige Tage. Zu einem festgesetzten Zeit-
punkt erschien der »Ochsendämon« vor Lhasas Kathe-
drale, dem Jokhang. Dort erwartete ihn ein Mönch des
Drepung-Klosters in einer prachtvollen Robe. Er reprä-
sentierte in den sich nun abspielenden Szenen den Dalai
Lama. Zuerst kam es zu einem heftigen Wortgefecht, bei
dem der Sündenbock mit scharfer Zunge die buddhisti-
sche Lehre verspottete. Daraufhin forderte ihn der Schein-
Dalai Lama zum Würfelspiel auf. Würde nun der »König
der Unreinheit« gewinnen, dann hätte das unübersehba-
re Schadensfolgen für das ganze Land. Aber es war dafür
gesorgt, daß dies nicht passierte, denn ihm stand nur ein
Würfel zu, der auf jeder Seite eine Eins aufwies, während
sein Gegner immer Sechsen warf. Nach seiner Niederla-
ge floh der Verlierer mit einem Schimmel aus der Stadt.
Der Mob verfolgte ihn, soweit er konnte, schoß blinde
Gewehrschüsse auf ihn ab und bewarf ihn mit Steinen.
Man trieb ihn entweder in die Wildnis oder nahm ihn
gefangen, um ihn dann für eine Zeit in einer Schrec-
kenskammer des Klosters Samye einzusperren. Starb er,
dann galt das als ein gutes Vorzeichen.
Auch wenn er nie absichtlich getötet wurde, so bezahl-
te er doch seine erniedrigende Behandlung oft mit dem
Leben. Eigentlich wurde sein Absterben erwartet, zu-
mindest herbeigewünscht. Man glaubte nämlich, daß
Sündenböcke allerlei seltsame Krankheiten auf sich zie-
hen oder durch mysteriöse Umstände zu Tode kommen.

885
Konnte der Ausgestoßene trotzdem seine Haut retten,
dann durfte er nach Lhasa zurückkehren und die Rolle
noch einmal übernehmen.
Hinter dem »Sündenbock-Ritual« – einem Ereignis,
das wir in archaischen Kulturen überall auf der Welt
finden können – steht eine Reinigungsidee. Das Opfer
nimmt jede Widerlichkeit und alle möglichen Besude-
lungen auf sich, um die Gemeinschaft davon zu befreien.
Folglich muß es zu einem Monster werden, das die Macht
der Finsternis ausstrahlt. Nach der Übertragung hat die
Gemeinschaft das Recht, ja die Pflicht, dieses »Ungeheu-
er«, das ja nichts anderes ist als die verdrängte Schatten-
seite seiner Verfolger, durch einen aggressiven Akt zu tö-
ten oder zu vertreiben. Der Opferer wird dann frei von
allem Bösen, das der Sündenbock mit in den Tod nimmt,
und die Gesellschaft kehrt in einen Zustand ursprüng-
licher Reinheit zurück. Demnach ist die angewandte ri-
tuelle Gewalt kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um
das Gegenteil zu erreichen, den sozialen Frieden und die
Ruhe im Staat. Der Sündenbock – schreibt René Girard
– muß »die bösartige Gewalt insgesamt auf sich ziehen,
um sie durch seinen Tod in gutartige Gewalt, in Frieden
und Fruchtbarkeit zu verwandeln … Er ist eine Maschine,
die die sterile und ansteckende Gewalt in positive kultu-
relle Werte umwandelt.« (* Girard, 143, 160)
Doch wird mit dem tibetischen Mönlamfest nicht nur
eine jährliche Psycho-Reinigung des Lamaismus durch-
geführt, sondern auch die kollektive Säuberung von der
historischen Beschmutzung, die als tiefe Wunde im Un-
terbewußtsein des Mönchsstaates blutet. Die Vertreibung

886
oder Tötung des Sündenbocks ist ebenso wie der Tscham-
Tanz ein Sühneritual für den Mord an König Langdar-
ma. Tatsächlich verweisen auf die ursprüngliche Tat in
der Szenenfolge der Feierlichkeiten zahlreiche symboli-
sche Anspielungen. Zum Beispiel erscheint der »Ochsen-
dämon« (einer der Namen des Sündenbocks) ebenso wie
der Königsmörder Palgyi Dorje in schwarz-weißer Farbe
und flieht auf einem Schimmel. Der »Ochse« war zudem
das Totemtier Langdarmas. Während des Festes schos-
sen Einheiten der tibetischen Artillerie mit drei Kano-
nen, von denen zwei die »alte und die junge Dämonin«
hießen, auf einen Berg, wo sich das Grab des abtrünni-
gen Königs befand. »Da die Dalai Lamas bei einem wei-
ten historischen Verständnis unmittelbar die Nutznießer
von Palgyi Dorjes (der Mörder Langdarmas) Verbrechen
waren«, schreibt der Ethnologe Robert A. Paul, »können
wir annehmen, daß es teilweise in der Absicht des jährli-
chen Sündenbockrituals liegt, die Schuld für diese Tat in
der Figur des Ochsendämons zum Ausdruck kommen zu
lassen, um dadurch die Legitimation für die Herrschaft
des Dalai Lamas zu bestätigen.« (* Paul, 296)
Autoren wie James George Frazer und Robert Bleich-
steiner sind sogar der Meinung, daß der »König der Un-
reinheit« in letzter Instanz den Dalai Lama selber dar-
stellt, der ja als weltlicher Herrscher Tibets zum »illegiti-
men« Nachfolger des getöteten Regenten wurde. »Sicher
war in älterer Zeit der König selbst das Opfer«, lesen wir
bei Bleichsteiner, »das zu Beginn einer neuen Epoche als
Sühne und Bürgschaft für das Heil des Volkes darge-
bracht wurde. So war wohl auch der lamaistische Prie-

887
sterkönig als Sühneopfer des Neuen Jahres gedacht …«
(* Bleichsteiner, 213) Für diese These spricht auch, daß
man bei frühen Aufführungen des Ritus forderte, das
Substitut müsse das gleiche Alter wie der Gottkönig auf-
weisen, und während der Zeremonie führte man eine
Puppe mit, die den Dalai Lama darstellte. (* Richard-
son, 1993, 64)
Im Sündenbock konzentrierte sich demnach der böse,
dunkle, despotische und unglückliche Schatten des Hier-
archen, an dem die Bevölkerung und die losgelassene
Schar der Mönche ihre Wut auslassen konnten. Denn
während dieser Zeit der Neujahrsfeierlichkeiten brach,
nachdem der »Große Fünfte« das Fest institutionalisiert
hatte, in Lhasa die Anachie aus : 20 000 Mönche aus den
verschiedensten Klöstern hatten freies Spiel. Alles, was
ansonsten verboten war, galt jetzt als erlaubt. In grölen-
den und wild gestikulierenden Trupps zogen die »heili-
gen« Männer die Straßen entlang. Einige beteten, ande-
re fluchten, wieder andere stießen wilde Schreie aus. Sie
drängten sich, sie stritten sich, sie schlugen sich. Es gab
blutige Nasen, blaue Augen, zerdroschene Schädel und
zerrissene Kleider. Meditative Versunkenheit und Raserei
konnten blitzschnell ineinander überwechseln. Heinrich
Harrer, der mehrere Feste Ende der 40er Jahre miterlebte,
beschreibt eines davon mit folgenden Worten : »Wie aus
der Hypnose erwacht, stürzen in diesem Augenblick die
Zehntausende aus der Ordnung ins Chaos. Der Übergang
ist so plötzlich, daß man fassungslos ist. Geschrei, wilde
Gesten … sie trampeln sich gegenseitig zu Boden, bringen
sich fast um. Aus den noch weinend Betenden, ekstatisch

888
Versunkenen sind Rasende geworden. Die Mönchssolda-
ten beginnen ihr Amt ! Riesige Kerle mit ausgestopften
Schultern und geschwärzten Gesichtern – damit die ab-
schreckende Wirkung noch verstärkt wird. Rücksichts-
los schlagen sie mit ihren Stöcken auf die Menge ein …
Heulend steckt man die Schläge ein, aber selbst die Ge-
schlagenen kehren wieder zurück. Als ob sie alle von Dä-
monen besessen wären.« (* Harrer, 1984, 142)
Das tibetische Mönlamfest ist also eine Variante der
schon oben untersuchten Paradoxien, bei denen gemäß
dem tantrischen Gesetz der Umkehrung bewußt An-
archie und Unordnung hervorgerufen werden, um die
Buddhokratie insgesamt zu stabilisieren. In diesen Tagen
kann sich die angestaute antistaatliche Gewalt der Un-
tertanen voll entladen, wenn auch nur für begrenzte Zeit
und unter den Knüppelschlägen der Mönchssoldaten.
Es war wiederum der »Große Fünfte«, der den hohen
staatspolitischen Wert des Sündenbock-Schauspiels er-
kannte und deswegen das Neujahrsfest im Jahre 1652 zu
einer besonderen Staatsangelegenheit machte. Vom Po-
tala, dem »Sitz der Götter«, aus konnte die Inkarnation
Avalokiteshvaras lächelnd und mitfühlend auf das Deli-
rium in Lhasas Straßen und auf das traurige Schicksal
seines schändlichen Doppelgängers (des Sündenbocks)
herabblicken.
Der Sündenbock-Mechanismus zählt zum Kulturer-
be der ganzen Menschheit. Er deckt sich erstaunlich mit
dem tantrischen Muster, wonach der Yogi bewußt eine
aggressiv-bösartige Grundhaltung produziert, um sie an-
schließend durch das »Gesetz der Umkehrung« in ihr

889
Gegenteil zu verwandeln : Aus dem Gift wird das Gegen-
gift, aus dem Übel das Heilmittel. Daß diese Rechnung
keineswegs aufgeht, sondern daß die »Heilpriester« nach
der Ausübung des Rituals selbst zu den Dämonen wer-
den können, die sie angeblich austreiben wollen, darauf
haben wir oft genug hingewiesen.
Wir können also zusammenfassend sagen, daß der ti-
betische Buddhismus über das »tantrische Frauenopfer«
hinaus die symbolische Opferung von Menschen in allen
möglichen Varianten zu einem wesentlichen Bestandteil
seines Kultlebens gemacht hat. Das ist auch keineswegs
verwunderlich, denn die gesamte tantrische Idee beruht
in ihrem Fundament auf der Opferung des Menschen (der
Person, des Individuums, des humanen Körpers) zugun-
sten der Götter beziehungsweise zugunsten des Yogi. Es
sind verschiedene Dämonen des tibetischen Pantheons,
die den Opferritus – zumindest in der Imagination der
Lamas – durchführen oder denen die Opfer dargebracht
werden. Die Unholde erfüllen somit eine wichtige Aufga-
be im tantrischen Szenario und stehen als Schutzgötter
(Dharmapalas) im Dienst der Lehre. Als Lohn für ihre
Arbeit verlangen sie noch mehr Menschenblut und noch
mehr Menschenfleisch. Solche kannibalistischen Speisen
heißen auf Tibetisch Kangdzä. Bildlich dargestellt finden
wir sie als zerstückelte Leiber, herausgerissene Herzen
und abgezogene Häute auf schauerlichen Thangkas, die
in eigens den Dämonen gewidmeten Sakralräumen ver-
ehrt werden. Kangdzä bedeutet »wunscherfüllende Ga-
ben«, was unmißverständlich darauf hinweist, daß man
der Meinung war, durch die Opferung von Menschen

890
seine höchsten Wünsche erfüllen zu können. Daß dies
tatsächlich so verstanden wurde, zeigt die ständige Ver-
wendung menschlicher Leichenteile in der tibetischen
Magie.

Die Aktualität des Ritualmordes bei den Exiltibetern

Daß rituelle Menschenopfer bei den Tibetern keines-


wegs der Vergangenheit angehören, sondern bis hin-
ein in unsere Tage stattfinden, darauf verweisen die
schrecklichen Ereignisse vom 4. Februar 1997 in Dha-
ramsala, dem indischen Regierungssitz des XIV Dalai
Lama. Nach dem Polizeibericht drangen an diesem Tage
sechs bis acht Männer in die Zelle des 70jährigen Lamas
Lobsang Gyatso, dem Leiter der buddhistisch-dialekti-
schen Schule, ein und ermordeten ihn und zwei seiner
Schüler mit zahlreichen Messerstichen. Die blutige Tat
wurde in unmittelbarer Nähe der Dalai Lama-Residenz
in einem Gebäude durchgeführt, das zum Namgyal-
Kloster zählt. Das Namgyal-Institut ist, wie wir schon
mehrmals erwähnt haben, für die rituelle Durchfüh-
rung des Kalachakra-Tantras zuständig. Die Weltpres-
se gab sich – soweit sie überhaupt von dem Verbrechen
berichtete – von der extremen Grausamkeit der Mör-
der entsetzt. Man schnitt den Opfern die Kehle durch,
und nach einigen Presseberichten wurden ihnen Teile
der Haut vom Körper gezogen. (* Süddeutsche Zeitung,
1997, Nr. 158, 10) Es gibt in der exiltibetischen Commu-
nity sogar das Gerücht, die Täter hätten den Opfern Blut

891
abgesaugt, um es für magische Zwecke zu benutzen. All
das geschah in knapp einer Stunde.
Die indischen Kriminalbeamten und die westlichen
Medien waren sich einig, daß es sich hierbei um einen
Ritualmord gehandelt habe, denn Geld und wertvolle
Gegenstände wie zum Beispiel ein goldener Buddha, der
sich in dem Anwesen befand, rührten die Täter nicht
an. Auch das »Sprachrohr« des Dalai Lama in den USA,
Robert Thurman, sah in dem Mord eine rituelle Hand-
lung : »Die drei wurden wiederholt mit Dolchen verletzt
und in einer Art und Weise aufgeschnitten, die an einen
Exorzismus erinnert.« (* Newsweek, Mai 5, 1997, 43)
Allgemein vermutete man hinter der Tat einen Rache-
akt von Anhängern der Schutzgottheit Dorje Shugden,
deren exponierter Gegner Lobsang Gyatso war. Aber ei-
nen wirklichen Nachweis konnte die Polizei bisher nicht
erbringen. Die Shugden-Anhänger sehen dagegen in die-
sem Mord den Versuch des XIV Dalai Lama, sie als Ver-
brecher zu marginalisieren. (Wir kommen im nächsten
Kapitel darauf zu sprechen.)
Wie wichtig es auch sein mag, daß die Tat geklärt wird,
so hat es für unsere Analyse keine entscheidende Bedeu-
tung, wer sie letztendlich ausführte. In jedem Fall sind
wir hier mit einem Ereignis konfrontiert, durch welches
das tantrische Muster eine erschreckende Realität und
Aktualität erhalten hat. Die Ritualmorde vom 4. Februar
machen unter die seit Jahren laufende »wissenschaftliche«
Diskussion und Frage, ob es sich bei den Mordaufforde-
rungen der Tantras (auf die wir im ersten Teil unserer
Studie ausführlich eingegangen sind) nur um symboli-

892
sche oder auch um wörtlich zu verstehende Weisungen
handelt, einen endgültigen Schlußstrich. Beides trifft zu.
Das wurde diesmal selbst in der westlichen Presse wahr-
genommen, wenn zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung
fragt : »Exorzistische Ritualmorde ? Fanatiker auch in der
sanfmütigsten aller Religionen ? Für viele Buddhismus-
Fans im Westen bricht eine heile Welt zusammen.« (* Süd-
deutsche Zeitung, 1997, Nr. 158, 10) Ungeklärt bleibt je-
doch, welche metaphysischen Spekulationen mit dem blu-
tigen Ritus vom 4. Februar verbunden wurden.

Die rituelle Aufopferung Tibets

Wenn es um die Besetzung Tibets durch die Chinesen


geht, dann ziehen es die ansonsten sehr »mystischen«
Lamas vor, ausschließlich westlich und unmythologisch
zu argumentieren. Man spricht über Menschenrechts-
verletzungen, Völkerrecht und vom »kulturellen Völ-
kermord«. Sehen wir uns jedoch die Unterwerfung des
Schneelandes und den Exodus des Dalai Lamas aus ei-
nem symbolisch-tantrischen Blickwinkel an, dann kom-
men wir zu ganz anderen Schlußfolgerungen.
Primär geht es einem politisch orientierten Tantra-
Meister (insbesondere wenn er wie der Dalai Lama das
Kalachakra-Tantra praktiziert) – das haben wir ausführ-
lich gezeigt – keineswegs darum, eine bestehende staat-
liche Ordnung aufrechtzuerhalten und zu festigen. Eine
solche konservative Haltung gilt nur so lange, wie sie
dem Endziel, der Eroberung der Welt durch eine Bud-

893
dhokrätie, nicht im Wege steht. Dieser Kaiserweg zur
Weltherrschaft ist mit Opfern gepflastert : die Opferung
der Karma Mudra (Weisheitsgefährtin), die Opferung
der individuellen Schülerpersönlichkeit, die symbolische
Opferung des weltlichen Königtums usw.
So wie der Guru bei seinem Sadhaka (Schüler) men-
tale Zustände evozieren kann, die zu Fragmentierungen
seiner Psyche führen, damit dieser auf einer höheren spi-
rituellen Ebene neu geboren wird, so wird er solche be-
wußt initiierten Zerstückelungspraktiken auch auf den
Staat und die Gesellschaft übertragen, damit diese auf
einer höheren Stufe neu entstehen können. So wie der
Tantra-Meister die Strukturen seines humanen Körpers
auflöst, ebenso kann er die etablierten Strukturen einer
sozialen Gemeinschaft zu Fall bringen. Denn die buddhi-
stisch-tantrische Staatsidee ist ihrem Wesen nach symbo-
lischer Natur und unterscheidet sich nicht grundsätzlich
von den Vorgängen, die der Yogi in seinem Energieleib
und mit seinen rituellen Praktiken durchführt.
Alle wichtigen Ereignisse in der tibetischen Geschich-
te weisen nach der Vision des Kalachakra-Tantra escha-
tologisch auf die Beherrschung des Universums durch
einen Chakravartin (Weltenherrscher) hin. Vorausset-
zung hierfür ist die Zerstörung der alten Gesellschaft und
die Errichtung einer neuen Sozietät unter den Richtlini-
en des Dharmas (der Lehre). Nach einer solchen Logik
und gemäß dem tantrischen »Gesetz der Umkehrung«
könnte die Vernichtung eines nationalen Tibets zur Be-
dingung für eine höhere übernationale buddhokratische
Ordnung werden.

894
Wurde – so müssen wir uns jetzt fragen – das tibeti-
sche Volk geopfert, damit seine Lebensenergie für die
weltweite Verbreitung des Lamaismus freigesetzt wer-
den konnte ? So phantastisch und zynisch eine solch my-
thische Geschichtsdeutung auch klingen mag, sie ist in
okkulten Kreisen des tantrischen Buddhismus unter der
Hand weit verbreitet. Man verweist hier stolz auf einen
Vergleich mit dem Christentum : Wie Jesus Christus ge-
opfert wurde, um die Welt zu erlösen, so wurde das alte
Tibet zerstört, damit sich das Dharma über den Erdkreis
verbreiten konnte.
In einem Insider-Dokument, das 1993 dem Tibetologen
Donald S. Lopez Jr. zugeschickt wurde, heißt es über die
chinesische Zerstörung der tibetischen Kultur : »Von ei-
nem esoterischen Standpunkt aus ist Tibet auf der natio-
nalen Ebene durch einen brennenden Abgrund der Rei-
nigung gegangen. Was ist dieser »brennende Abgrunde
Wenn eine entwickelte Wesenheit, mag dies eine Person
oder eine Nation sein (die Dynamik ist die gleiche), eine
gewisse Ebene der spirituellen Entwicklung erreicht hat,
kommt die Zeit, wo niedrige Gewohnheiten, alte Verhal-
tensformen, Illusionen und versteinerte Glaubensinhalte
gereinigt werden müssen, damit die spirituellen Energi-
en des inneren Wesens … ohne Hindernisse frei fließen
können … Nach einer solchen Reinigung ist diese We-
senheit fähig, die nächste Stufe des Dienstes auszuüben.
Die Tibeter waren spirituell stark genug, diesen brennen-
den Abgrund zu ertragen, und so den Pfad zu pflastern
für ihren schicksalhaften Aufbau einer Neuen Welt.« In
dieser – so versichern uns die Autoren – wird die »erste

895
Heilige Nation« zum »Synthesepunkt« der »universellen
Liebe, der Weisheit und der Güte«. (* zit. b. Lopez, 204)
Oder waren sogar der Exodus der omnipotenten La-
mas und die Tötung vieler tibetischer Gläubiger durch
die Chinesen von buddhistischer Seite »beabsichtigt«, da-
mit der Tantrismus die Welt erobern kann ? Eine solche
Theorie diskutiert der Tibetologe Robert Thurman (das
»Sprachrohr des XIV Dalai Lama« in Amerika) in sei-
nem Buch Essential Tibetan Buddhism : »Die verlockend-
ste, wenn auch etwas dramatische (Theorie), ist«, schreibt
Thurman, »daß Vajrapani (der Bodhisattva der okkulten
Geheimnisse) als Mao Zedong emanierte und sich selbst
die schändliche Sünde aufbürdete, die Buddha Dharma-
Institutionen (Tibets) einschließlich vieler Lebewesen aus
drei Gründen zu zerstören : um andere materialistisch
gesinnte Wesenheiten, meistens Menschen, davor zu be-
wahren, die Konsequenzen einer solch schrecklichen Tat
auf sich nehmen zu müssen ; um die tibetischen Buddhi-
sten herauszufordern, den Fallstricken ihrer eigenen Reli-
gion und Philosophie zu entkommen und sich selbst dazu
zu zwingen, erneut ihre Fähigkeit zu zeigen, in diesem
schrecklichen Zeitalter die Lehren des Nicht-Verhaftet­
seins, des Mitgefühls und der Weisheit zu verkörpern ;
um die indo-tibetisch-buddhistischen Lehrer aufzurüt-
teln und in dieser apokalyptischen Zeit ihre Lehren über
den ganzen Planeten und bei allen Menschen, ob diese
nun religiös oder nicht-religiös sind, zu verbreiten, in ei-
ner Zeit, wo die Menschheit einen Quantensprung von
der Gewalt zur Friedfertigkeit machen muß, um das Le-
ben auf Erden zu retten.« (* Lopez, 274)

896
Solche Reinigungs- und Opfervisionen mögen für ei-
nen westlichen Historiker phantastisch und bizarr klin-
gen, wir müssen sie jedoch als Ausdruck einer archa-
ischen Kultur ansehen, die hinter jedem historischen Leid
und hinter jeder menschlichen Katastrophe den Willen
und den Plan eines Höchsten Wesens erkennt. Die Kata-
strophe Tibets ist im Skript des Kalachakra-Tantras vor-
gezeichnet. So geht es dem jetzigen Dalai Lama auch pri-
mär nicht um die nationale Freiheit Tibets, sondern um
die Ausbreitung des tantrischen Buddhismus auf Welten­
ebene. »Mein Hauptanliegen, mein Hauptinteresse ist die
tibetisch-buddhistische Kultur und nicht nur die politi-
sche Unabhängigkeit«, sagte er Ende der 80er Jahre in
Straßburg. (Shambhala Sun, Archiv, Nov. 1996)
Wie tief die Schicksalsbindung Tibets an das Zeittantra
von Anhängern des Kunduns erlebt wird, zeigt die Visi-
on eines Tibetreisenden, die dieser 1996 auf einer Kon-
ferenz in Bonn (Mythos Tibet) beschrieb : Er habe plötz-
lich das Hochland als ein großes Mandala gesehen. Ge-
nau wie das Sandmandala im Kalachakra-Tantra, sei es
dann zerstört worden, damit sich die gesamte Kraft Ti-
bets in der Person des Dalai Lama als dem Weltenlehrer
des kommenden Zeitalters konzentriere.
So zynisch es klingen mag, das Leid, das die Tibeter un-
ter chinesischer Herrschaft erfahren haben, erhält durch
solche Imaginationen einen höheren Sinn und seine spi-
rituelle Weihe. Es war die Morgengabe für die Verbrei-
tung des tibetischen Buddhismus im Westen. 75
Das spektakuläre Selbstopfer ist seit dem Frühjahr 1998
zu einem neuen Kampfmittel sowohl unter den Tibe-

897
tern wie den Exiltibetern geworden : Die meisten Mön-
che des tibetischen Drepung-Klosters waren 1997 davon
überzeugt, daß der Dalai Lama bald mit der Unterstüt-
zung der USA zurückkehren werde, um Tibet zu befrei-
en. Deswegen wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, sich für
Seine Heiligkeit, für die Religion und für Tibet selbst zu
opfern. (* Goldstein, 1998, 42) Um die Weltöffentlichkeit
auf die Zustände in ihrer Heimat aufmerksam zu machen
und vor allem um die Tibetfrage vor die UNO zu brin-
gen, protestieren tibetische Mönche in Indien durch ei-
nen sogenannten »Hungerstreik bis zum Tode«. Als die
indische Polizei die Protestierer nach mehreren Tagen
ins Hospital einweisen ließ, verbrannte sich der 50jäh-
rige Mönch Thubten Ngodub öffentlich mit dem Spruch
»Lange lebe der Dalai Lama !« auf den Lippen. 76 Er wur-
de zum Märtyrer der Nation erklärt, und sein Begräb-
nis in Dharamsala war eine bewegte Demonstration, die
Stunden andauerte. Jugendliche schrieben sich mit ei-
genem Blut Free Tibet auf ihre Brust. In einem öffentli-
chen Communiqué der Jugendorganisation (TYC) hieß
es : »Das tibetische Volk hat eine klare Botschaft an die
Welt gesandt, daß es sich selbst für die Sache eines unab-
hängigen Tibets opfern kann … Mehr Blut wird in den

← 75 Andererseits wird die »Aufopferung« Tibets von allen Seiten


beklagt oder sogar an das Schicksal der gesamten Menschheit ge-
koppelt : »Wenn man es zuläßt, daß so eine spirituelle Geseilschaft
zerstört wird«, schreibt der Regisseur Martin Scorcese, »verlieren
wir einen Teil unserer eigenen Seele.« (* Focus, 46/1997, 168)
76 Im Lotus Sutra gibt es eine Passage, in der sich ein Bodhisatt-
va selbst verbrennt als Opfer für einen Buddha.

898
folgenden Tagen fließen !« (* AFP, New Delhi, 29. April,
1998) Noch viele weitere Tibeter, die bereit seien, für ihr
Land zu sterben, stünden auf einer Liste.
Der Dalai Lama verurteilte einerseits solche Vorgän-
ge, weil sie sich eines Gewaltmittels bedienten (Selbst-
mord sei Gewalt gegen sich selbst), andererseits gab er
zum Ausdruck, daß er die Motivation und Entschlos-
senheit dieser Tibeter (die sich selbst aufopfern) bewun-
dere. (* The Office of Tibet, 28. 4. 1998”) Er besuchte die
Hungerstreikenden und segnete den nationalen Märty-
rer Ngodup in einem besonderen Ritual. Das Groteske
an der Situation war, daß sich der Kundun zur gleichen
Zeit unter amerikanischem Druck auf eine baldige Be-
gegnung mit den Chinesen vorbereitete. Während er öf-
fentlich immer wieder betont, daß er auf ein »unabhän-
giges Tibet« verzichte, opfern sich seine Untertanen ge-
rade für diese Forderung. Wir werden auf die Dissonanz,
die sich zwischen Lamaismus und nationaler Frage auf-
tut, noch zu sprechen kommen.

Reale Gewalt und eigene Imagination

Ist vielleicht die Gewalt, die das Schneeland unter der


chinesischen Besatzung erfahren mußte, ein Spiegelbild
seiner eigenen Kultur ? Blicken wir auf die Szenen gren-
zenlosen Leidens und eines gnadenlosen Sadismus, wel-
che auf unzähligen Tangkhas dargestellt werden, dann
haben wir hier eine exakte Bildprognose dessen vor Au-
gen, was den Tibetern von den Chinesen angetan wurde.

899
Aggressive tibetische Gottheit (Yamataka)
in der Form eines Ritualdolches

Man werfe nur einen Blick in das tibetische Totenbuch,


sofort wird man mit den gleichen Höllenbildern kon-
frontiert, wie sie von tibetischen Flüchtlingen beschrie-
ben werden. Die Geschichte des Grauens ist – wie wir
wissen – sowohl in der sakralen Ikonographie des tan-
trischen Buddhismus wie in der Szenenabfolge der Tan-
tras kodifiziert.
Müssen deswegen die Schreckbilder des Lamaismus
im Hinblick auf die Geschichte Tibets als eine Prophe-
zeiung kommender Geschehnisse gewertet werden, oder

900
haben sie selber zur Produktion der brutalen Wirklich-
keit beigetragen ? Folgt der meditativen Imagination die
Tat, wie der Donner dem Blitz ? Orientierte sich die tibe-
tische Leidensgeschichte nach einem tantrischen Mythos ?
Die buddhistische Erkenntnislehre, wäre sie konsequent,
müßte diese Fragen mit »ja« beantworten. Joseph Camp-
bell hat denn auch als einer der wenigen westlichen Au-
toren die chinesischen Übergriffe, die er ansonsten scharf
verurteilt, als »eine Wirklichkeit gewordene Vision, (als)
die Materialisation der Mythologie im Leben« bezeich-
net und auf die Darstellung des Schreckens in den Tan-
tras hingewiesen. (* Joseph Campbell, 594)
Spinnt man dieses mythologische Netz weiter, dann
stellt sich sofort die folgende Frage : Wieso wurden Tibet
und die »allmächtigen« Lamas nicht von ihren Gottheiten
geschützt ? Waren die zornvollen Dharmapalas (Schutz-
gottheiten) zu schwach, um den »neunköpfigen« chine-
sischen Drachen abzuwehren und vom Dach der Welt zu
vertreiben ? Hat sich vielleicht die Göttin Palden Lahmo,
der weibliche Schutzgeist des XIV Dalai Lama und der
Stadt Lhasa, aus den Fängen des androzentrischen Kle-
rus befreit und gegen ihre einstigen Bezwinger gewandt ?
Verband sich die gefesselte Srinmo, die Mutter Tibets, mit
den Dämonen aus dem Reich der Mitte, um sich für ihre
Annagelung an den Lamas zu rächen ? Oder war der Ex-
odus der omnipotenten Lamas beabsichtigt, um jetzt die
Welt zu erobern.
Auch solche Fragen mögen einem westlichen Histori-
ker phantastisch vorkommen, für die tibetisch-tantrische
»Geschichtswissenschaft«, die hinter der Politik das Werk

901
übermenschlicher Kräfte vermutet, haben sie ihre Bedeu-
tung. Wie entscheidend eine solche atavistische Sicht die
Politik des XIV Dalai Lama bestimmt, wollen wir im fol-
genden Kapitel anhand des tibetischen Orakelwesens und
der damit verbundenen Shugden-Affäre aufzeigen.
7. KRIEG DER ORAKELGÖTTER
UND DIE SHUGDEN-AFFÄRE

Ohne zu übertreiben, kann man die Tibeter als »ora-


kelsüchtig« bezeichnen. Die verschiedensten Metho-
den der Mantik und Hellseherei zählen im Schneeland
seit Urzeiten zum Alltag. In einer Botschaft des Inter-
nets werden folgende Orakelformen, die alle noch (auch
bei den Exiltibetern) Anwendung finden, beschrieben :
Teigbällchen-Orakel, Würfel-Orakel, Rosenkranz-Ora-
kel, Stiefelschlaufen-Orakel, Interpretation »zufälliger«
Ereignisse, Traum-Orakel, Flammen-Orakel, Betrach-
ten einer Butterlampe, Spiegel-Orakel, Krähen-Ora-
kel, Schulterblätter-Orakel, Orakel des Hineinhorchens.
(* ‹tibet.com/Buddhism/divination.html›) Als der »Gro-
ße Fünfte« im 17. Jahrhundert die weltliche Macht in
Tibet ergriff, richtete er die Institution eines Staatsora-
kels ein, um sich bei seinen Regierungsgeschäften divi-
natorisch beraten zu lassen. Dabei handelt es sich um
ein menschliches Medium, das als Sprachrohr einer be-
stimmten Gottheit dient. Diese Form »übernatürlicher«
Konsultation bildet auch heute noch ein bedeutsames
Ressort der tibetischen Exilregierung. Bei allen wichti-
gen politischen Ereignissen wird die Meinung von Ora-
keln, oft durch den XIV Dalai Lama persönlich, einge-
holt. Er ist – so werfen es ihm seine Gegner vor – von der
Divination geradezu besessen, wobei an erster Stelle die
Prophezeiungen des Staatsorakels genannt werden. Be-
vor wir diesen Vorwurf überprüfen, sollten wir uns die

903
Geschichte und den Charakter dieses »Staatsorakels«
genauer ansehen.

Das tibetische Staatsorakel

Im alten Tibet wohnte das Staatsorakel (besser sein


menschliches Medium) als einer der ranghöchsten La-
mas in der Nechung-Residenz. Es befehligte einen be-
achtlichen »Hofstaat« und zelebrierte seine Liturgien
in einem eigenen Tempel. Die dominierende Farbe des
Tempelinneren war schwarz. An den Wänden des dü-
steren Heiligtums hingen rätselhafte Waffen, von denen
große Zauberwirkungen ausgehen sollten. In den Win-
keln lauerten ausgestopfte Vögel, Tiger und Leoparden.
Bilder von Schreckensgöttern blickten auf den Besucher,
der plötzlich vor einer im ganzen Lande gefürchteten
Maske aus vertrocknetem Leder stand. Zu den ikono-
graphischen Hauptmotiven des Tempels zählte die Dar-
stellung menschlicher Gerippe.
Am Beginn einer Orakelsitzung wird der Nechung
Lama durch allerlei rituelle Gesänge und Räucherungen
in Trance versetzt. Nach einer Weile schließen sich sei-
ne Augen, die Gesichtsmuskeln fangen an zu zucken, die
Stirn färbt sich dunkelrot und trieft von Schweiß. Sichtbar
kehrt dann der Weissagegott in ihn ein, denn das Medi-
um entwickelt während der Trance – das ist durch Pho-
tographien und westliche Zeugenaussagen bezeugt – ge-
radezu übermenschliche Kräfte. Es kann Eisenschwerter
verbiegen und, obwohl es eine 40 Kilo ( !) schwere Metall-

904
krone auf dem Kopfe trägt, einen wilden Tanz aufführen.
Aus seinen schaumigen Lippen kommen unverständliche
Laute. Dabei soll es sich um eine Sakralsprache handeln.
Erst nach deren Entzifferung durch die Priester kann der
Inhalt der Orakelbotschaft erkannt werden.

Pehar

Die durch den Nechung Lama heraufbeschworene Gott-


heit heißt Pehar oder Pedkar. Oft zitiert man jedoch nur
ihren Adjutanten herbei, Dorje Drakden mit Namen.
Ein direkter Auftritt Pehars kann nämlich so gewalttä-
tig sein, daß er das Leben seines Mediums (den Nechung
Lama) in Gefahr bringt. Pehar steht einer Gruppe von
fünf zornigen Göttern vor, die zusammen das »Schutz-
rad« genannt werden. Es liegt nahe, sich über diesen
weissagenden Gott, der schon seit Jahrhunderten einen
so entscheidenden Einfluß auf die tibetische Politik aus-
übt, einige Gedanken zu machen.
Pehar hat (in ikonographischen Darstellungen) drei
Gesichter in verschiedenen Farben. Auf dem Haupt trägt
er einen Bambushut, der mit einem Vajra gekrönt ist. In
den Händen hält er Pfeil, Bogen, Schwert, Hackmesser
und einen Knüppel. Sein Reittier ist der Schneelöwe.
Die Ursprungsheimat Pehars lag im Norden Tibets,
dort, wo nach Vorstellung der Alttibeter (im Gesar-
Epos) das »Teufelsland« zu suchen ist. In früheren Zei-
ten herrschte er als Kriegsgott der Hor-Mongolen. Dieser
wilde Stamm zählte – der Sage nach – zu den erbittert-

905
Das Nechung-Orakel in Trance
sten Gegnern der vorbuddhistischen Tibeter und ihres
Nationalhelden Gesar von Ling.
Alte Dokumente aus Tunhuang beschreiben die Hor als
»fleischfressende rote Dämonen«. (* Stein, 36) Ihr martia-
lischer König hatte das Schneeland verwüstet und des-
sen Königin, die Gattin Gesar von Lings, geraubt. Nach
grausamen Kämpfen unterwarf der tibetische National-
held die räuberischen Hors, denen wir im Deutschen das
Wort »Horde« verdanken, und verpflichtete sie und ih-
ren Hauptgott Pehar durch einen ewigen Treueeid. Die
Bezeichnung Hor wird dann im Laufe der Jahrhunderte
für verschiedene Mongolenstämme benutzt, unter ande-
rem auch für die Dschingiskhaniden. So war Pehar (der
Hauptorakelgott des Dalai Lama) ursprünglich ein er-
bitterter Erzfeind der Tibeter.
Hatte Gesar den Mongolengott unschädlich gemacht,
so gelang die eigentliche Indienststellung Pehars erst
dem Maha Siddha Padmasambhava (Guru Rinpoche).
Die Sage berichtet, Guru Rinpoche habe dem barbari-
schen Gott einen Vajra auf den Kopf gedrückt und ihn
dadurch magisch bezwungen. Nach dieser Tat konnte Pe-
har als Diener in das buddhistische Pantheon eingereiht
werden. Sein Hauptsitz war siebenhundert Jahre lang das
Gründungskloster Samye, an dessen Bau er als »Zwangs-
arbeiter« mithelfen mußte. Etwa 900 Jahre später trans-
portierte ihn (seine Symbole) der »Große Fünfte« nach
Nechung in die Nähe des Klosters Drepung und beför-
derte den ehemaligen Kriegsgott der Hor zum Staatso-
rakel. Weil er nach seiner »Buddhisiserung« nicht mehr
an seine einstige Niederlage (durch den Nationalhelden

907
Gesar) erinnert werden wollte, durfte kein einziger Satz
aus dem Gesar-Epos im Drepung-Kloster und an allen
anderen Orten, wo er sich einstmals aufgehalten hatte,
zitiert werden.
Es liegt nahe, sich die Frage zu stellen, weshalb gera-
de Pehar, der ehemals grimmige und grausame Gegner
des Schneelandes, das delikate Amt eines übernatürli-
chen Regierungsberaters des tibetischen »Gottkönigs«
erhielt. Dieses stünde doch eher einem Bodhisattva wie
Avalokiteshvara oder einen ; Nationalhelden wie Gesar
von Ling zu.
Auch bei dieser Frage ist der Schlüssel in der »politi-
schen Theologie« des »Großen Fünften« zu suchen. Erin-
nern wir uns daran, daß sowohl die Verleihung des Titels
Dalai Lama als auch die Errichtung der säkularen Macht
des Hierarchen eine Tat der Mongolen und nicht die des
tibetischen Volkes waren. Im Gegenteil – die eigentlich
nationalen Kräfte des Landes sammelten sich im 17. Jahr-
hundert, wie wir berichtet haben, unter den Königen von
Tsang und um den Thron des Karmapa (Oberhaupt der
»roten« Kagyüpa-Sekte). Es gehört also nicht viel Phan-
tasie dazu, sich auszumalen, weshalb Pehar als der Be-
rater des »gelben« Staatsbuddhismus (damals repräsen-
tiert durch den V Dalai Lama) gewählt wurde. Man er-
wartete von dem ehemaligen Mongolengott und Gegner
Tibets, daß er die aufsässigen Tibeter (die den Karmapa
unterstützten) zähmte. Seine Interessen und diejenigen
des »Gottkönigs« gingen hierin völlig konform. Hinzu
kam, daß der »Große Fünfte« selber von einer aristo-
kratischen Familie abstammte, welche sich auf die Hor-

908
Mongolen zurückführte. (* Zahiruddin, 45) Pehar, das
spätere Staatsorakel, ist also eine dem tibetischen Volk
aufoktroyierte Fremdgottheit.
Der Orakelgott hat zwar einen Treueeid geschworen,
aber es ist – nach Meinung der Lamas – keineswegs aus-
geschlossen, daß er diesen eines Tages bricht und daß er
seine Rachegelüste an den Tibetern, die ihn in früheren
Zeiten besiegten, voll ausläßt. Was dann passiert, hat er
mit eigenen Worten gegenüber Padmasambhava ausge-
sprochen : Er wird die Häuser und die Felder zerstören.
Die Kinder des Schneelandes werden Hungersnöte erdul-
den müssen, und der Wahnsinn wird sie schlagen. Durch
Hagel und Insekten werden die Früchte des Landes ver-
nichtet. Die Starken werden dahingerafft, und nur die
Schwachen überleben. Kriege verwüsten das Dach der
Welt. Pehar wird selbst die Meditationen der Lamas un-
terbrechen, ihren Zaubersprüchen die magische Macht
nehmen und sie zum Selbstmord treiben. Brüder werden
ihre Schwestern vergewaltigen. Die Weisheitsgefährtin-
nen (Mudras) der Tantra-Meister wird er krank und ket-
zerisch machen, ja sie in Feinde der Lehre verwandeln,
die in die Länder der Ungläubigen auswandern. Vorher
aber wird er noch mit ihnen kopulieren. »Ich«, so ruft
Pehar aus, »der Herr der Tempel, der Stupas und der
Schriften, ich werde die schönen Körper aller Jungfrau-
en besitzen.« (* Sierksma, 165)
Auch in der Realpolitik waren die Empfehlungen des
martialischen Mongolengottes für die Tibeter nicht im-
mer vorteilhaft. Zum Beispiel gab er dem XIII Dalai Lama
den katastrophalen Ratschlag, die britische Armee unter

909
Colonel Younghusband anzugreifen, was zu einem Mas-
saker unter den tibetischen Soldaten führte.

Aktuelle Politik und Orakelwesen

Man sollte nun glauben, daß sich heute die Exiltibeter


von einer solchen kriegerischen Gottheit wie Pehar, der
ihnen ständig mit blutigen Racheakten droht, insbeson-
dere nach ihren Erfahrungen mit der chinesischen Be-
setzungsmacht, distanzieren würden. Weiterhin sollte
man annehmen, daß nach den lautstarken Demokratie-
bekenntnissen des XIV Dalai Lama das Orakelwesen als
solches zurückgegangen oder gar aufgekündigt worden
sei. Aber das Gegenteil ist der Fall : Immer noch haben
in Dharamsala die Orakelkunst, die Sternenkunde, die
Traumdeutung und auch das Los einen ganz entschei-
denden ( !) Einfluß auf die exiltibetische Politik. Jeder
( !) politisch bedeutsame Schritt wird erst nach der Be-
fragung der Medien, Wahrsager und Hofastrologen un-
ternommen, jede staatspolitisch wichtige Handlung ver-
langt die Beschwörung des zornigen Mongolengottes
Pehar. Das hat in den letzten Jahren noch zugenommen.
Es sollen heute außerdem drei weitere Medien (die un-
terschiedliche Gottheiten vertreten) beansprucht wer-
den. Darunter ein junges und attraktives Mädchen aus
einer Ostprovinz Tibets. Einige Mitglieder der exiltibeti-
schen Community sind deswegen der Meinung, die ver-
schiedenen Orakel würden Seine Heiligkeit den XIV Da-
lai Lama für ihre eigenen Zwecke mißbrauchen und ihm

910
ihren Willen aufzwingen. Am 15. Juli 1997 trat deswegen
ein Tibeter in den Hungerstreik, um die Öffentlichkeit
auf diesen Mißbrauch aufmerksam zu machen. (* Jigme
13. 12. 1997 – ‹Jigme@mail.com›)
Wie sieht das nun der »Gottkönig« mit seinen eigenen
Augen ? »Selbst einige Tibeter«, erfahren wir durch den
Kundun, »die sich als ›progressiv‹ begreifen, stellen mei-
nen fortwährenden Rückgriff auf diese alte Methode der
Informationsermittlung in Frage. Ich halte aber aus dem
einfachen Grund daran fest, weil ich im Rückblick auf-
zahlreiche Befragungen feststellen konnte, daß das Ora-
kel noch immer recht hatte.« (* Dalai Lama XIV, 1993 I,
312) »Ich glaube nicht nur an Geister, sondern an ver-
schiedene Arten von Geistern !« bekennt Seine Heiligkeit
weiter, »… Zu dieser Kategorie gehört das Staatsorakel
Nechung (Pehar). Wir halten diese Geister für zuverläs-
sig, denn sie haben eine lange Geschichte ohne jede Kon-
troverse in über 1000 Jahren.« (* Tagesanzeiger [Schweiz]
23. 3. 1998) Pehar bestimmte – nach offizieller Darstel-
lung – den Zeitpunkt, an dem der Dalai Lama aus Ti-
bet zu fliehen hatte, und prophezeite mit dem Satz, »daß
der Glanz des Wunscherfüllenden Juwels‹ (Name des
Dalai Lama) im Westen leuchten wird«, die Verbreitung
des Buddhismus in Europa und Nordamerika. (* Dalai
Lama XIV, 1993 1, 154)
Selbst die Aggressivität seines Orakelgottes wird vom
Kundun nicht geleugnet : »Seine Eigenschaft als Beschüt-
zer und Verteidiger spiegelt den zornvollen ( !) Aspekt wi-
der. Obwohl unsere Funktionen ähnlich sind, läßt sich
mein Verhältnis zum Nechung-Orakel mit dem zwischen

911
Befehlshaber und Untergebenen vergleichen. Zum Bei-
spiel verbeuge ich mich nie vor ihm, er muß sich aber vor
mir verbeugen.« (* Dalai Lama XIV, 1993 I, 312) Der Satz
bestätigt erneut, daß nach tantrischer Sicht die exiltibe-
tische Politik nicht von Menschen, sondern von Göttern
gemacht wird. Der Dalai Lama als Avalokiteshvara und
als Kalachakra-Gottheit befiehlt dem Mongolengott Pe-
har, Aussagen über die Zukunft zu machen. 77 Vieldeutig
an diesem Zitat ist die Bemerkung des Kunduns, daß sei-
ne Funktionen und die »Funktionen« Pehars »ähnlich«
seien. Will er damit auf seinen eigenen »zornvollen As-
pekt« anspielen ? Am 4. September 1987 inthronisierte
man in Dharamsala ein neues Nechung-Medium, da das
alte drei Jahre zuvor verstorben war. Es fand seine offizi-
elle Bestätigung nach einer demonstrativen Trance-Sit-
zung, bei der der Rundún, Kabinettmitglieder der tibeti-
schen Exilregierung und der Vorsitzende des Parlaments
anwesend waren. Etwa zwei Monate später gab es noch
einmal eine Séance vor dem Ministerrat und mehreren
hohen Lamas. Diese erlauchte Runde aus den höchsten
Repräsentanten des tibetischen Volkes zeigt, wie die poli-
tischen Prophezeiungen und Weisungen des Gottes Pehar
nicht nur vom Dalai Lama, sondern auch von den exilt-
ibetischen »Volksvertretern« ernst genommen werden.

77 Dabei ist zu fragen, wieso eine niedrige Gottheit wie Pehar


dem hierarchisch höherstehenden Bodhisattva Avalokiteshvara
und dem inkarnierten Zeitgott (Kalachakra), die durch den Da-
lai Lama verkörpert werden, überhaupt die Zukunft voraussagen
kann.

912
Bei politischen Entscheidungen haben deswegen weder
die Vernunft noch die Mehrheit der Stimmen noch die
öffentliche Meinung, sondern der mongolische Orakel-
gott alleine hat das letzte Wort.

Dorje Shugden –
eine Lebensbedrohung für den XIV Dalai Lama ?

Pehar und sein Nechung-Medium haben spätestens seit


1996 eine erbitterte Konkurrenz aus den eigenen tibeti-
schen Reihen erhalten. Es handelt sich um die Schutz-
und Orakelgottheit Dorje Shugden. Auf Bildern wird
Dorje Shugden dargestellt, wie er mit grimmigem Ge-
sicht auf einem Schneelöwen durch einen See aus ko-
chendem Blut reitet. Um ihn gruppieren sich vor allem
konservative Kreise der Gelugpas (»Gelbmützen«). Sie
fordern die ausschließliche Vorherrschaft der Gelben
Sekte (Gelugpa) gegenüber den anderen buddhistischen
Schulen.
Diese traditionelle Politik der Shugden-Verehrer ist
für den XIV Dalai Lama (obgleich er selber der gelben
Sekte angehört) nicht akzeptabel, weil er eine Integrati-
on aller religiösen Richtungen Tibets einschließlich der
Bonpos anstrebt. Ebenso entschlossen wie der »Große
Fünfte«, sieht er in einer Sammelbewegung aller Schu-
len die einmalige Chance, die Macht der eigenen Insti-
tution zu potenzieren. Es wundert einen deswegen nicht,
daß schon aus der Frühgeschichte des Dorje Shugden
eine unversöhnliche Konfrontation des Schutzgottes mit

913
dem V Dalai Lama bekannt ist, die sich heute zu wie-
derholen scheint.
Was hat sich damals ereignet, und wie verlief die Ge-
schichte des aufsässigen Shugden ? Das »pan-buddhisti-
sche« Programm des »Großen Fünften«, insbesondere
aber seine okkulten Neigungen zur Nyingmapa-Sekte,
führten dazu, daß Drakpa Gyaltsen, der Abt des mäch-
tigen Drepung (Gelbmützen)-Klosters, eine Rebellion
gegen den Herrscher auf dem Potala organisierte. Das
Komplott wurde aufgedeckt, und es kam nicht zu sei-
ner Ausführung.
Sehr wahrscheinlich auf Befehl des in solchen Dingen
skrupellosen Gottkönigs wurde der Rebell vorher ermor-
det. Während man die Leiche auf einem Scheiterhaufen
verbrannte, bildete sich aus dem aufsteigenden Rauch
eine bedrohliche Wolke, die wie eine riesige schwarze
Hand aussah, die Hand des Rächers. Der umgebrachte
Lama Drakpa Gyaltsen verwandelte sich nach seinem
Tode in einen martialischen Geist und nahm den furcht-
einflößenden Namen Dorje Shugden an, das bedeutet der
»Brüller des Donnerkeils«. Aus dem Jenseits heraus ver-
folgte er weiterhin seine religionspolitischen Ziele.
Kurz nach seinem Tode – so berichtet es die Legende
– befielen das Land allerlei unglückliche Vorkommnisse.
Städte und Dörfer wurden durch Krankheiten heimge-
sucht. Die tibetische Regierung traf ständig Fehlentschei-
dungen, selbst der V Dalai Lama wurde nicht verschont.
Jedesmal, wenn er mittags eine Mahlzeit zu sich nehmen
wollte, manifestierte sich sein Opfer (Dorje Shugden) als
eine böse unsichtbare Kraft, stieß die Speisetische um

914
und beschädigte das »Eigentum Seiner Heiligkeit«. 78 End-
lich gelang es, den Rächergeist durch allerlei Rituale zu
besänftigen, er blieb aber deswegen nicht inaktiv.
Mit Hilfe eines menschlichen Mediums, durch das er
auch heute noch mit seinen Priestern kommuniziert, or-
ganisierte der in einen Schutzgott verwandelte Abt (sozu-
sagen aus dem Jenseits) eine oppositionelle Gruppierung
innerhalb der Gelbmützen (Gelugpas), die mit magischen
und realpolitischen Mitteln die absolute Vorherrschaft
ihres Ordens durchsetzen wollte und immer noch will.
Zum Beispiel wurde Anfang des 20. Jahrhunderts die An-
rufung Shugdens von dem mächtigen Gelbmützen-Lama
Pabongka Rinpoche dazu benutzt, um in Osttibet die
Nyingmapas und Kagyüpas zu unterdrücken. Man focht
einen regelrechten rituellen Krieg aus : »… wann immer
in den Gelugpa-Klöstern dieses (Shugden) Ritual prakti-
ziert wurde, (machten) die umliegenden Klöster anderer
Schulen bestimmte Praktiken, um das Negative wieder
einzudämmen.« (* Kagyü Life 21–1996, 34)
Nichtsdestotrotz gewann die »reaktionäre« Shugden-
Bewegung ständigen Zulauf, insbesondere auch von Mit-
gliedern des tibetischen Adels. Später verstand sich die-
se »Untersekte« der Gelbmützen als ein geheimes Wi-
derstandsnest gegen die chinesischen Besatzer, da die
traditionellen Schützer Tibets (zum Beispiel Palden Lha-

78 Nach Aussage der Shugden-Anhänger soll der V Dalai Lama


später seine Meinung geändert und zu der Schutzgottheit gebe-
tet haben. Er habe sogar die erste Statue Dorje Shugdens mit eige-
nen Händen geformt und Gebete an den Schutzgott verfaßt. Die-
se Statue soll sich heute in Nepal befinden.

915
mo oder Pehar) das Land angeblich verlassen und verra-
ten hätten. Einer der Hauptvertreter des konservativen
Geheimbundes (Trijang Rinpoche) war ein Lehrer des
XIV Dalai Lamas, der seinen göttlichen Schüler selbst in
den Shugden-Kult initiierte.
Ebenso hoch steht die Shugden-Verehrung bei den
Exiltibetern im Kurs und ist durchaus weltweit (überall
wo sich Gelugpas aufhalten) verbreitet. Ein Fünftel, nach
anderer Version sogar zwei Drittel der Gelben Sekte soll
den »reaktionären« Dharmapala (Schutzgeist) anbeten.
Aber auch unter Westlern ist die Bewegung mittlerweile
verbreitet. Sie sammelt sich vor allem in der New Kadam-
pa Tradition (NKT), einer in England heimischen Grup-
pierung des Lama Geshe Kelsang Gyatso. Von ihm heißt
es in der Ausschlußerklärung seines ehemaligen Klosters :
»Dieser Dämon mit gebrochenen Gelübden brennt mit
der Flamme unerträglicher Bosheit gegen den unüber-
troffenen, allwissenden XIV Dalai Lama, dem einzigen
Lebenszentrum der gläubigen Menschen in Tibet, des-
sen Handlungen und dessen Freundlichkeit dem Him-
mel gleichen.« (* Lopez, 195) Online informieren seine
Anhänger unter dem Namen Shugden Supporters Com-
munity (SSC) über ihre Konflikte mit Dharamsala.

Der Kundun und Shugden

Zwar hatte der XIV Dalai Lama schon im Jahre 1976 er-
klärt, er wünsche nicht mehr, daß seine Person in ir-
gendeiner Weise mit Dorje Shugden in Verbindung ge-

916
bracht werde, insbesondere weil die Anbetung dieses
»reaktionären« Geistes in Konflikt mit drei anderen von
ihm hoch verehrten Dharmapalas (Schutzgöttern) gera-
ten sei, dem Orakelgott Pehar, der grauenhaften Palden
Lhamo und dem Schutzgott Dharmaraja. Gerüchte be-
richten von einem Traum des Kunduns, in dem Shug-
den und Pehar miteinander gekämpft hätten. Pehar pro-
phezeite mehrmals durch den Nechung Lama, Shugden
versuche die Souveränität des Kunduns zu untergraben
und liefere damit Tibet an die Chinesen aus. Der Mon-
golengott erhielt bei seinen Anschuldigungen unerwar-
tete Unterstützung durch ein junges attraktives weib-
liches Medium mit dem Namen Tsering Chenma, das
während der Vorbereitungen für eine Kalachakra-In-
itiation ( !) in Lahul Spit bekannt gab, 30 Mitglieder der
Dorje Shugden Society würden den Dalai Lama im Laufe
der Einweihung angreifen. Daraufhin untersuchten die
Sicherheitskräfte des Kunduns alle Anwesenden nach
Waffen. Nichts sei gefunden worden, und kein einziger
Repräsentant der Shugden-Gesellschaft sei anwesend ge-
wesen. (* Burns 15. 02. 1998 – ‹jim-burns@metanode.de-
mon.co.uk›)
Es wurde noch ein weiteres weibliches ( !) Orakel über
die Shugdenaffäre befragt. Während der Sitzung soll
sich die Frau in Anwesenheit des Dalai Lamas auf einen
Mönch gestürzt haben und ihn, während sie an seinen
Kleidern zerrte und seinen Kopf schüttelte, gerufen ha-
ben : »Dieser Lama ist schlecht, er folgt Dorje Shugden,
werft ihn raus, werft ihn raus.« (* Burns, 10. 05. 1998 –
‹tibet-l@listserv.indiana.edu›)

917
Die Mehrheit der Exiltibeter war selbstverständlich
über solche Vorgänge, die sich mehr oder weniger hin-
ter verschlossenen Türen abspielten, nicht informiert und
deswegen sehr erstaunt, mit welcher Schärfe und Kom-
promißlosigkeit der Kundun 1996 an der Shugden-Bewe-
gung seine Kritik wiederholte.
Am 21. März wandte er sich während der Einweihung
in ein bestimmtes Tantra (»Hayagriva«) mit den folgen-
den Worten an die Anwesenden : »Ich habe neulich einige
Gebete für das Wohlergehen unserer Nation und Religi-
on gesprochen. Es wurde ziemlich klar, daß Dolgyal (ein
anderer Name für Shugden) ein Geist der dunklen Kräfte
ist … Wenn einige unter euch vorhaben, weiterhin Dhol-
gyal (Shugden) anzurufen, wäre es besser für euch, die-
ser Ermächtigung fernzubleiben, aufzustehen und diesen
Platz zu verlassen. Es ist unpassend, wenn ihr weiterhin
hier sitzt. Es wird euch nicht nutzen. Es wird im Gegen-
teil den Effekt haben, das Leben des Gyalwa Rinpoche
(des Dalai Lamas, also sein eigenes) zu verkürzen. Was
nicht gut ist. Wenn es jedoch einige unter euch gibt, die
wollen, daß Gyalwa Rinpoche (er selbst) bald sterben soll,
dann bleibt nur.« (* Kagyü Life 21–1996, 35)
An einem anderen Ort gab der Kundun die Befürch-
tung kund, daß ihm Shugden durch psychischen Terror
alle Freude am Leben zu verderben suche : »Ihr solltet
nicht annehmen, daß Gefahr für mein Leben nur von
Menschen droht, die mit einem Messer, einem Gewehr
oder einer Bombe bewaffnet sind : So ein Ereignis ist äu-
ßerst unwahrscheinlich. Aber Gefahren für mein Leben
entstehen dann, wenn meine Ratschläge ständig unter-

918
miniert werden, und ich mich so entmutigt fühle, daß
ich keinen Zweck mehr im Leben sehe.« (* Kashag – ‹gn.
apc.org/tibetlondon/dolgyal2.html›)
Solche Äußerungen Seiner Heiligkeit mögen andeu-
ten, daß der Dalai Lama (und hinter ihm der Bodhisatt-
va Avalokiteshvara) vor diesem Rächergeist große Angst
hat, was die indische Associated Press zu der spöttelnden
Bemerkung veranlaßte : »Ein 350 Jahre altes Gespenst er-
schreckt den Dalai Lama.« (* AP – 21. 8. 1997 – 2 :54 a.
m.) Immerhin besteht der Sicherheitsdienst des Gottkö-
nigs, der seine Residenz in Dharamsala schützt, mittler-
weile aus 100 Polizeibeamten.
Aus einem Geheimtreffen in Caux (Schweiz) mit ein-
flußreichen exiltibetischen Politikern und hohen Lamas,
das zum Shugden-Fall einberufen wurde, sickerte folgen-
des Statement des Kunduns durch :
»Jedermann, der mit der tibetischen Gesellschaft der
Ganden Phodrang-Regierung (der exiltibetischen Regie-
rung) in Verbindung steht, sollte seine Beziehungen mit
Dhogyal (Shugden) abbrechen. Das ist notwendig, weil
diese eine Gefahr für die religiöse und die weltliche Si-
tuation in Tibet darstellt. Das gleiche gilt für Fremde …
Wir haben ihnen das Dharma zu lehren und nicht sie uns
… Wir sollten (dieses Verbot) so durchführen, daß wir si-
cher sein können, daß man sich in zukünftigen Genera-
tionen nicht einmal an den Namen Dholgyal (Shugden)
erinnert.« (* Burns, 15. 02. 1998 – ‹jimburns@ metanode.
demon.co.uk›)
Zahlreiche Tibeter, die vorher von dem persönlichen
Lehrer des Kunduns, Trijang Rinpoche, in den Shugden-

919
Kult eingeweiht worden waren und die glaubten, Sei-
ner Heiligkeit dadurch zu gefallen, sahen sich nach dem
Verbot auf einmal hintergangen und fühlten sich zutiefst
enttäuscht. Für den weltgewandten Dalai Lama dagegen
war die sektiererische Position der »gelben Fundamenta-
listen« und »Sektierer« nicht mehr tragbar und ganz of-
fensichtlich ein bedeutendes Hindernis auf seinem Weg,
alle Sekten unter seine absolute Herrschaft zu zwingen
und dadurch die Vormachtstellung der Gelugpas zu be-
grenzen : »Dieser Shugden-Geist«, so der Kundun, »hat
während 360 Jahren Spannungen zwischen der Gelug-
Tradition und den anderen Schulen verursacht … Einige
mögen (wegen des Verbots) das Vertrauen in mich ver-
loren haben. Aber gleichzeitig haben zahlreiche Anhän-
ger der Kagyüpa- oder der Nyingma-Schule erkannt, daß
der Dalai Lama einen wirklich nichtsektiererischen Kurs
verfolgt. Ich glaube, diese Shugden-Verehrung ist seit 360
Jahren wie eine quälende Eiterbeule. Nun habe ich wie
ein moderner Chirurg eine kleine Operation unternom-
men.« (* Tagesanzeiger, [Schweiz] – 23. 3. 1998)
Er brandmarkte den Shugden-Kult denn auch als »Göt-
zenverehrung« und als einen »Rückfall in den Schama-
nismus«. (* Süddeutsche Zeitung, 1997, Nr. 158, 10) Am
30. März 1996 wurde das Verbot der Shugden-Verehrung
durch Regierungsdekret erlassen. Das »Sprachrohr« des
Kunduns in den USA, Robert Thurman, wetterte mit pa-
thetischen Worten gegen die »Sektierer« und machte sie
öffentlich als die »Taliban des Buddhismus« verächtlich.
Die Anschuldigungen aus Dharamsala gegenüber den
Shugden-Verehrern füllen mittlerweile viele Seiten : Sie

920
kooperierten mit den Chinesen und erhielten von Be-
jing Gelder ; sie beschmutzten das eigene Netz ; sie spiel-
ten »russisches Roulette«, weil sie die gesamte exiltibeti-
sche Sache (und damit sich selber) in den Abgrund zögen.
Sie trachteten nach dem Leben des Kunduns.

Die Beschuldigungen von Seiten der Shugden-Verehrer

Auf der anderen Seite sprechen die Shugden-Anhänger,


deren Führer mittlerweile offiziell zu »Feinden des Vol-
kes« erklärt wurden, von einer wahren Hexenjagd, wel-
che gegen sie schon seit mehreren Monaten im Gang sei.
Sie werfen dem Dalai Lama eine eklatante Verletzung
der Menschenrechte und der Religionsfreiheit vor und
scheuen sich nicht, Vergleiche mit der chinesischen Be-
satzungsmacht und der katholischen Inquisition anzu-
stellen. Häuser der Sekte sollen illegal von Anhängern
des Kunduns durchsucht worden sein, maskierte Schlä-
gertrupps hätten wehrlose Shugden-Gläubige attackiert,
Bildnisse und Altäre des Schutzgottes seien mutwillig
verbrannt und in Flüsse geworfen worden. Namensli-
sten von Dorje Shugden-Praktizierenden (»Feinde des
Volkes«) seien angefertigt worden, und Bilder von ihnen
und von ihren Kindern seien, um sie zu diffamieren, an
öffentlichen Gebäuden aufgehängt worden. Anhängern
der Schutzgottheit habe man jeglichen Zutritt zu Äm-
tern der Exilregierung verwehrt, und Kinder aus ihren
Familien hätten keinen Zugang mehr zu den offiziellen
Schulen. Nach einer Resolution der sogenannten Tibetan

921
Cholsum Convention (vom 27.–31. August 1998) würden
Shugden-Anhänger von Auslandsreisen, Renten, staatli-
cher Kinderhilfe und Sozialhilfe ausgeschlossen. Tibe-
tern werde dort verboten, Schriften des Kultes zu lesen,
und sie würden aufgefordert, diese zu verbrennen.
Eine militante Untergrundorganisation mit dem Namen
»Geheimgesellschaft zur Vernichtung innerer und äußerer
Feinde Tibets« habe zwei junge Linienhalter, die Lamas
Kyabje Trijang Rinpoche (13 Jahre) 79 und Song Rinpoche
(11 Jahre), die (unter dem Einfluß ihrer Lehrer) Riten zu
Ehren Dorje Shugdens durchführten, mit Mord bedroht :
»… wir werden ihr Leben und ihre Aktivitäten zerstören.«
(* Schweizer Fernsehen, SFi, 06. 01. 1998) In einem Do-
kument der Gruppe, welches von den Shugden-Anhän-
gern vorgelegt wurde, heißt es : »Jeder, der gegen die Poli-
tik der Regierung aufsteht, muß genau isoliert, konfron-
tiert und dann mit dem Tode bestraft werden … Was die
Reinkarnationen von Trijang und Song Rinpoche anbe-
langt, wenn sie nicht damit aufhören, weiterhin Dholgyal
(Shugden)-Rituale zu praktizieren und den Worten des
Dalai Lama zu widersprechen, werden wir ihnen nicht
nur den Respekt verweigern, sondern ihr Leben und ihre
Handlungen werden Zerstörung erfahren. Dies ist unse-
re erste Warnung !« (* Burns, 15. 02. 1998 – ‹jimburns@
meta-node.demon.co.uk›) Während der Dreharbeiten ei-
nes westlichen Fernsehteams erhielt ein tibetischer Mönch,

79 Bei Trijang Rinpoche handelt es sich um die Reinkarnation


des verstorbenen Lamas, der früher als Lehrer des XIV Dalai
Lama diesen in den Sbugden-Kult eingeweiht hat.

922
der mit den Reportern kooperierte, eine Morddrohung :
»… in sieben Tagen wirst du tot sein !« (* Schweizer Fern-
sehen, SF1, 06. 01. 1998)
Des weiteren habe Dharamsala buddhistische Zentren
im Westen unter vehementen psychischen Druck gesetzt
und ihnen verboten, Shugden-Rituale durchzuführen.
Mit einem Wort – die Verehrer des Schutzgottes wären
zu den »Juden des Buddhismus« geworden. (* Newsweek,
April 28, 1997, 26)
In London, wo die Untersekte an die 3000 Mitglieder
zählt, gab es Protestdemonstrationen, auf denen man Bil-
der des Kunduns hochhielt mit dem Slogan : Your Smiles
Charm, Your Actions Harm (»Dein Lächeln charmiert,
Deine Handlungen bringen Schaden«). Dort bezeichne-
te man ihn als einen »unbarmherzigen Diktator, der sein
Volk mehr unterdrückt, als die Chinesen es tun.« (* Ka-
gyü Life 21, 1996, 34)
Die Exilregierung stritt jedoch in einem offiziellen
Kommunique vom 14. Mai 1996 jegliche Vorwürfe ab.
Im Gegenteil – sie gab bekannt, daß Morddrohungen von
Shugden an die Büros Seiner Heiligkeit und der Tibetan
Women’s Association geschickt worden seien. »Wenn es
zu einer Trennung zwischen den prominenten Persön-
lichkeiten der Gelugpas kommt, dann wird es Blutver-
gießen in den Klöstern und Siedlungen geben !« soll es
in einem der Drohbriefe geheißen haben. (* Newsweek,
April 28, 1997, 26) Beide Seiten fürchten sich davor, daß
ihr Leben von der jeweils anderen bedroht sei.
All diese gegenseitigen Ängste, Beschuldigungen und
Verleumdungen im Kampf der zwei Orakelgötter erreich-

923
ten ihren Höhepunkt mit dem oben geschilderten Ritual-
mord vom 4. Februar 1997 an dem Lama Lobsang Gyatso.
Lobsang Gyatso galt als ein besonderer Freund des Dalai
Lama und als ein ausgesprochener Gegner der Shugden-
Sekte. Wenige Tage nach dem Mord ging die Pressemel-
dung der Exilregierung um die Welt, Dorje Sbugden-An-
hänger seien mit Sicherheit für den Mord verantwortlich.
Man sprach von Geständnissen und Inhaftierungen. Die-
se Meinung hat sich bis heute in der breiten Öffentlich-
keit gehalten. – Als Beweismittel wurde unter anderem
ein Brief an den Ermordeten (Lobsang Gyatso) angeführt,
in dem der Sekretär der Dorje Shugden-Gesellschaft den
Abt mit Mord bedroht habe. Dieses Dokument, das in ti-
betischer Sprache verfaßt ist, hielt Tashi Wangdu, Minister
der tibetischen Exilregierung, in der Hand und zeigte es
noch am 25. Januar 1998 im Schweizer Fernsehen (Sen-
dung »Sternstunde«). Dabei handelte es sich jedoch um
eine bewußte und höchst plumpe Irreführung, denn in
dem tibetischen Dokument, das später übersetzt wurde,
ist kein einziges Wort von einer Morddrohung enthalten.
Es beinhaltet vielmehr eine Einladung an Lobsang Gyatso,
in Delhi über »theologische« Fragen mit der Dorje Shug-
den Society zu diskutieren. 80 (* ‹gassner@ibm.net›)

80 Eine englische Übersetzung des Briefes findet man unter Email :


‹gassner@ibm.net›. Das tibetische Dokument wurde von Helmut
Gassner übertragen, persönlicher Übersetzer des Dalai Lama für
die Deutsche Sprache. Gassner, selber ein ordinierter buddhisti-
scher Mönch, war über die Fälschung zutiefst erschüttert. »Ich
konnte einfach nicht daran glauben, daß sie gefälschte Beweise in
einem Mordfall vorlegen würden.« (* ‹gassner@ibm. net›)

924
Aber dieses Dokument reichte hin, alle bekannten An-
hänger des Schutzgottes (Shugden) in Delhi festzuneh-
men und illegal einzusperren. Sie stritten jedoch eine wie
auch immer geartete Beteiligung an dem Verbrechen ab. 81
In der Tat ist ihnen bisher trotz wochenlanger Verhöre
durch die indische Kriminalpolizei nichts nachzuweisen.
Das Beweismaterial ist so gering, daß mit großer Wahr-
scheinlichkeit das Verbrechen von anderer Hand began-
gen wurde. So sah es auch ein Gericht in Dharamsala,
das jegliche Verbindung der Dorje Shugden-Gesellschaft
mit den Morden vom 4. Februar verneinte.
Von Seiten der Shugden-Anhänger gibt es deswegen
die Behauptung, man habe ihnen den Mord aus Kreisen
des Dalai Lama in die Schuhe geschoben, um sie mund-
tot zu machen und zu marginalisieren. Angesichts der
machtpolitischen Ambitionen und relativen Stärke der
Sekte – sie soll alleine in Indien über 20 000 aktive Mit-
glieder verfügen – hat auch diese Version ihren Sinn. Ei-
nige westliche Verehrer des Schutzgottes gehen sogar so-
weit zu behaupten, hinter der Tat stünde ein höherer Be-
fehl des Kunduns. Bis die Mörder überführt sind, muß
ein guter Kriminologe alle diese Möglichkeiten mit ins
Auge fassen.

81 Die Polizei will bis jetzt (Februar 1998) zwei der sechs Täter
identifiziert haben. Diese seien jedoch über die Grenze nach Ne-
pal entwichen.

925
Reaktionen des tibetischen Parlaments

Innerhalb des exiltibetischen Parlaments führten die Vor-


fälle zu großer Nervosität und hohen Spannungen. Man
verabschiedete eine Resolution, die forderte, daß »im Kern
alle Regierungsabteilungen, Organisationen und Gesell-
schaften, Klöster und ihre Niederlassungen unter der Di-
rektion der exiltibetischen Regierung fest im Bann gegen
die Dhogyal (Shugden)-Verehrung zusammenstehen soll-
ten.« (* Burns, 15. 02. 1998 – ‹jimbums@metanode.de-
mon.co.uk›) – An weiteren Reaktionen der Volksvertre-
ter kann man ablesen, wie riskant die ganze Angelegen-
heit angesehen wird. So stellte auf der Parlamentssitzung
vom 20. September 1997 einer der Abgeordneten fest, daß
ȟberall eine unvorhergesehene Menge an Literatur ver-
öffentlicht werde, die den Dalai Lama kritisiere und die
tibetische Exilregierung heruntermache.« (* Burns, 22. 09.
1997 – ‹jimbums@metanode.demon.co.uk›) Dies sei »ex-
trem gefährlich«, und in den Hauptklöstern werde offen
über ein Schisma gesprochen. Während der parlamenta-
rischen Sitzung kam es zu einer scharfen Kritik an der
Regierung, die nichts dafür getan habe, die Shugden-Af-
färe als eine interne tibetische Angelegenheit zu behan-
deln, sondern sie an die große Glocke gehängt habe, so
daß sich jetzt die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit
daraufrichte. Aus den engagierten Diskussionen der Ab-
geordneten müssen wir entnehmen, daß Macht und Ein-
flußmöglichkeiten der Shugden-Anhänger doch bedeu-
tender sind, als man den bisherigen offiziellen Statements
aus Dharamsala entnehmen konnte.

926
Am dritten Sitzungstag war die Situation im Parla-
ment so verfahren, daß man sich nichts mehr zu sagen
hatte. Was machen exiltibetische Volksvertreter in einer
solchen Situation ? – Sie befragen das Staatsorakel ! Nicht
die Abgeordneten, als die Repräsentanten des Volkswil-
lens, sondern der Orakelgott Pehar entscheidet darüber,
welchen Kurs die Regierung in der Kontroverse um den
aufsässigen Dorje Shugden einzuschlagen habe. Der Vor-
gang ist als Groteske kaum zu überbieten, da Pehar und
Shugden – so erfahren wir aus Schriften beider Partei-
en – aufs höchste miteinander verfeindet sind. Wie soll
also der Mongolengott (Pehar) objektiv über seinen Erz-
gegner (Shugden) urteilen können. Pehar war es ja, der
1996 dem Dalai Lama prophezeite, dessen Leben und
damit das Schicksal Tibets sei durch den Shugden-Kult
gefährdet. Das Shugden-Orakel dagegen gab kund, daß
der Kundun schon seit Jahren durch Pehar falsch bera-
ten würde. Das Aussage des vom Parlament befragten
Staatsorakels lag demnach von vornherein fest. Sie lau-
tete : Bekämpfung der Shugden-Anhänger mit kompro-
mißloser Schärfe.
Es handelt sich also in diesem interessanten Fall um
einen Krieg zweier Orakelgötter, welche die Macht auf
Tibets Politik anstreben. An keinem anderen Beispiel ist
seit der Flucht des Dalai Lama (1959) in der Öffentlich-
keit so deutlich geworden, daß hinter dem tibetischen
Staat, hinter der Realpolitik des Kunduns und hinter den
Machtgruppen der exiltibetischen Gesellschaft »Götter«
wirksam sind. Dem mag man mit völliger Skepsis ge-
genüberstehen – aber man kommt nicht umhin anzu-

927
erkennen, daß sich die Herrschaftselite und die Unter-
tanen des lamaistischen Staates nach einer solchen ar-
chaischen Weltsicht orientieren. Wie sich diese okkulten
Kämpfe mit den unermüdlich wiederholten Bekenntnis-
sen der Exiltibeter zur Demokratie vereinbaren lassen,
das ist für ein westlich orientiertes Denken schwer nach-
zuvollziehen.
Dharamsala ist sich durchaus dessen bewußt, daß sol-
che antidemokratischen Methoden im Westen Befrem-
den auslösen müssen. Zum Beispiel spielten Berichte über
Orakelsprüche seit Mitte der 80er Jahre im Gegensatz zu
vorher in der Tibetan Review (dem wichtigsten fremd-
sprachigen Presseorgan der Exiltibeter) keine große Rol-
le mehr. Erst seit der »Shugden Affäre«. (1996) ist die
exzessive Verwendung von Orakelmedien in der exilti-
betischen Politik erneut aufgedeckt und dann weltweit
ruchbar geworden. In Mönchskreisen witzelt man offen
darüber, der Kundun beschäftige mehr Orakel als Mini-
ster : »Höflinge und Hexenmeister manipulieren den Sou-
verän«, heißt es in einer spanischen Zeitschrift. »Dämo-
nen und Götter kämpfen, um das Bewußtsein der Men-
schen zu kontrollieren …« (* Más Allá de la Ciencia – Nr.
103/9/1997)
Dennoch ist es dem Kundun erstaunlich gut gelungen,
den Shugden-Kult international zu marginalisieren und
als mittelalterlichen Aberglauben abzustempeln. Das an-
sonsten in religiösen Dingen äußerst kritische Magazin
Der Spiegel war zum Beispiel bereit, die offizielle Shug-
den-Version von Dharamsala blind zu übernehmen : die
Shugden-Anhänger – so Der Spiegel – seien gleich für

928
zwei ( !) Morde verantwortlich, deren Fluchtspuren nach
China zum chinesischen Geheimdienst führten. (* Spie-
gel, 16/1998, 119) Fast alle westlichen Medien wiederho-
len stereotyp, daß die Ritualmörder der drei in Dharam-
sala umgebrachten Mönche aus den Reihen des Schutz-
gottes stammten. (* Zum Beispiel : Time Magazine Asia,
September 28, 1998)
Eines der Argumente der Shugden-Anhänger in die-
sem »Götterkampf« besteht darin, der Dalai Lama betrei-
be einen Verkauf seines eigenen Landes an die Chine-
sen. Er vertrete keineswegs die Interessen seines Volkes,
da er in seiner Straßburger Erklärung auf die nationale
Souveränität Tibets verzichtet habe.
Für uns ist es nicht möglich, uns ein endgültiges Urteil
über solche Anschuldigungen zu bilden, was wir jedoch
auf jeden Fall annehmen dürfen, ist die Tatsache, daß
der mongolische Kriegsgott Pehar (das Nechung-Ora-
kel) kein Interesse an den Tibetern und ihrer Nation ha-
ben kann, die er einstmals verbissen als Hor-Mongolen
bekämpfte und die ihn dann versklavten. 82 Selbstver-

82 Für Liebhaber des Esoterischen mag es interessant sein, daß


in der deutschen Berichterstattung manchmal von »Schugden«
anstatt von »Shugden« und von »Nedschung« anstatt von »Ne-
chung« die Rede ist. Da die Lautschrift des Tibetischen noch
nicht kodifiziert wurde, mag eine solche Schreibweise durchaus
berechtigt sein. Bei einer Alliteration der zwei so geschriebenen
Worte zeigt sich, daß beide aus exakt denselben Buchstaben be-
stehen. Die zwei Orakelgötter haben noch etwas gemeinsam, sie
tragen beide in ihrer Ikonographie einen Bambushut und rei-
ten auf einem Schneelöwen. Man kann nun darüber spekulieren,
ob »Schugden« nicht das alter ego oder der Schatten des »Ned-
schung« ist oder umgekehrt.

929
ständlich können auch die nationalen Interessen des XIV
Dalai Lama und seine weltweiten Ambitionen zur Ver-
breitung des tantrischen Buddhismus miteinander kolli-
dieren. In unserem Artikel über seine Chinapolitik kom-
men wir darauf zurück.
Wenn hinter der »menschlichen« Politik – wie es der
tantrische Glaube unterstellt – Gottheiten als die Draht-
zieher stehen, dann folgt daraus unmittelbar, daß die Ma-
gie (als Beschwörungskunst, um Einfluß auf Götter und
Dämonen zu gewinnen) zu den »politischen« Handlun-
gen par excellence zählen muß. Magie als Staatskunst ist
deswegen eine tibetische Spezialität. Sehen wir uns die-
ses »Ressort« einmal genauer an.
8. MAGIE ALS EIN MITTEL DER POLITIK

Seit seiner Flucht aus Tibet (1959) bewegt sich der XIV
Dalai Lama auf dem internationalen politischen und
kulturellen Parkett wie ein sensibler Demokrat und auf-
geklärter Weltmann. Er nimmt für sich wie selbstver-
ständlich alle westlichen »Tugenden« in Anspruch, den
Humanismus, die Meinungsfreiheit, die rationale Argu-
mentation, den Glauben an den technischen und wis-
senschaftlichen Fortschritt usw. Man glaubt den aufge-
schlossenen Präsidenten einer modernen Nation vor sich
zu haben, der souverän seinen Kosmopolitismus mit ei-
ner hohen spirituell fundierten Ethik verbindet. Aber
diese an der praktischen Vernunft orientierte Erschei-
nung trügt. Dahinter verbirgt sich der tiefverwurzelte
Glaube an übernatürliche Mächte und magische Prakti-
ken, die entscheidend auf das gesellschaftliche und poli-
tische Geschehen einwirken sollen.

Dämonenbeschwörung

Ritualmagie und Politik bildeten in Tibet von alters her


eine Einheit. Ein Großteil dieser Zauberpraktiken wid-
mete sich der Feindvernichtung, insbesondere auch der
Ausschaltung des politischen Gegners. Zu solchen Zwec-
ken war die Hilfe von Dämonen notwendig. Und denen
konnte man allerorten begegnen, denn das Schneeland

931
quoll geradezu über von Schreckensgöttern, Unheilgei-
stern, Vampiren, Ghulen, Rachegöttinnen, Teufeln, To-
desboten und ähnlichen Wesenheiten, die nach den
Worten des deutschen Tibetforschers Matthias Her-
manns »die milden und gütigen Elemente (des Buddhis-
mus) völlig überwuchern und kaum zur Geltung kom-
men lassen«. (* Hermanns, 1965, 401)
Dämonenbeschwörungen waren deswegen keineswegs
Ausnahmefälle, noch beschränkten sie sich auf das Pri-
vat- und Familienleben. Sie zählten ganz allgemein zu
den vorzüglichen Aufgaben der Lamas. So galt die »Dä-
monologie« als Hohe Wissenschaft, die an den Kloster­
universitäten gelehrt wurde, und der rituelle Umgang mit
Schadgeistern war – wie wir gleich sehen werden – eine
wichtige Aufgabe des lamaistischen Staates. 83
Damit die Dämonen erscheinen, mußten ihnen dieje-
nigen Opfer dargebracht werden, nach denen ihnen ge-
lüstete, wobei jede Teufelsklasse einen unterschiedlichen
Geschmack aufwies. René von Nebesky-Wojkowitz nennt
einige kulinarische Spezialitäten aus den lamaistischen
»Dämonenkochbüchern« : aus dunklem Mehl und Blut
hergestellten Kuchen ; Fleisch von fünferlei Art, darun-
ter Menschenfleisch ; der mit Blut und Senfkörnern ge-
füllte Schädel eines inzestuös gezeugten Kindes ; die Haut

83 Die tiefste Einsicht in die tibetische Dämonologie verdankt


die Wissenschaft dem großen Werk Oracles and Demons of Ti-
bet, das der Österreicher René de Nebesky-Wojkowitz verfaßt hat.
Sein frühzeitiger Tod und der kurz darauffolgende Selbstmord
seiner Frau werden von dem Tantraforscher John Biofeld als eine
Rache der Geister, die er beschrieb, gesehen.

932
eines Knaben ; Schalen mit Blut und Hirn ; eine Lampe,
die mit Menschenfett gespeist wird und einen Docht aus
Menschenhaaren hat ; eine teigige Masse aus Galle, Hirn,
Blut und menschlichen Eingeweiden. (* Nebesky-Wojko-
witz, 1955, 261)
Hatten die Geister das Opfer akzeptiert, dann stan-
den sie dem Willen des Ritualmeisters zur Verfügung.
Die vierhändige Schutzgottheit Mahakala galt als beson-
ders tatkräftiger Helfer, wenn es um die Vernichtung von
Feinden ging. Bei nationalen Angelegenheiten wurde sei-
ne blutrünstige Emanation, der sechshändige Kschetra-
pala, in Anspruch genommen. Mit Goldtinte oder Blut,
das von der Klinge eines Schwertes stammte, schrieb der
amtierende Magier das Mantra des Kriegsgottes auf ein
Stück Papier zusammen mit den Wünschen, die er gerne
erfüllt sähe, und begann mit der Beschwörung.
Gegen Ende der 40er Jahre setzten Gelugpa Lamas
Kschetrapala im magischen Kampf gegen die Chinesen
ein. Man bannte ihn in einen etwa drei Meter hohen Op-
ferkuchen (Torma). Diesen steckte man anschließend au-
ßerhalb von Lhasa in Brand, und während die Priester
ihr Siegesbanner senkten, befreite sich der Dämon und
flog mit seinem Heer in Richtung der bedrohten Gren-
ze. Dort fand ein regelrechter Geisterkampf statt, denn
auf dem Schlachtfeld erschien ein »neunköpfiger chinesi-
scher Dämon«, von dem man annahm, daß er den Kom-
munisten in allen Fragen, die Tibet betrafen, zur Seite
stehe. Beide Geisterfürsten (der tibetische und der chi-
nesische) sind schon seit Jahrhunderten die erbittertsten
Feinde, und jeder ist auf den Tod des anderen aus. Of-

933
fensichtlich ging aus dieser letzten Dämonenschlacht der
Neunköpfige als der Sieger hervor.
Die Chinesen behaupten, daß für dieses Feindritu-
al 21 Individuen getötet wurden, um deren Organe zur
Herstellung des riesigen Tormas zu benutzen. Angehöri-
ge der Opfer sollen dies bezeugt haben. (* Grunfeld, 29)
Man kann nun wegen der politischen Lage zwischen dem
»Reich der Mitte« und dem »Dach der Welt« mit gutem
Grund die chinesischen Anschuldigungen bezweifeln,
nicht aber, weil sie der Logik der tibetischen Kriegsri-
ten widersprächen, denn diese sind in zahlreichen tan-
trischen Texten nachzulesen.
Ebenfalls Mitte unseres Jahrhunderts wurden die
Gelbmützen des Klosters Samye von der tibetischen
Regierung mit der Aufgabe betraut, das Heer der ro-
ten Tsän-Dämonen in vier riesigen »Fadenkreuzen«
einzufangen, um es anschließend gegen die Feinde
des Schneelandes zu senden. Dieses magische Instru-
ment, ein rechteckiges Geflecht aus vielfarbigen Fäden,
stand auf einem mehrstufigen Sockel, der mit solchen
tantrischen Substanzen aufgefüllt war wie der Erde
von Leichenfeldern, Menschenschädeln, Mordwaffen,
den Nasenspitzen, Herzen und Lippen von Männern,
die eines unnatürlichen Todes starben, giftigen Pflan-
zen und ähnlichem. Das abstoßende Gemisch soll die
Tsän anziehen wie eine Kerze die Motten, so daß sie
sich ausweglos in der mit magischen Formeln bespro-
chenen Geisterfalle verhaspeln. (* Nebesky-Wojkowitz,
1955, 258) Nach der siebentägigen Tiefenmeditation ei-
nes hohen Lama war es dann soweit, und den Dämo-

934
nen konnte der Befehl erteilt werden, gegen den Feind
(sprich die Chinesen) loszuziehen.
Ein solches Ritual soll auch in früherer Zeit ein schreck-
liches Erdbeben und eine große Panik in Nepal hervorge-
rufen haben, als sich Tibet mit den Nepalesen im Krieg
befand. Die Erfahrung lehrte aber, daß es manchmal viel
Zeit braucht, bis die Wirkungen dieser Schadriten auf-
treten. Erst zwei Jahrzehnte’ nach der erfolgreichen Be-
setzung Tibets durch die Engländer (1904) gab es in der
indischen Provinz Bihar ein Erdbeben, bei dem mehre-
re britische Soldaten ums Leben kamen. Auch in diesem
Falle führten die Tibeter die Naturkatastrophe auf magi-
sche Aktivitäten zurück, die sie vor der Invasion durch-
geführt hatten.

»Voudouzauber«

Die aus dem haitischen Voudou-Glauben allgemein be-


kannte Praxis, von einem Feind ein Abbild oder eine
Puppe anzufertigen und dieses stellvertretend zu quälen
oder zu vernichten, in der Absicht, damit Auswirkungen
auf die lebende Person zu haben, ist auch im tibetischen
Buddhismus weit verbreitet. In das Substitut muß nor-
malerweise eine Substanz, sei es ein Haar oder ein Stof-
fetzen aus einem Kleid des Gegners, eingearbeitet wer-
den. Es reicht jedoch schon, wenn man dessen Namen
auf einem Stückchen Papier vermerkt. Dennoch sind
manchmal, wie das folgende buddhistische Ritual zeigt,
schwer zu beschaffende Ingredienzen zur wirkungs-

935
vollen Durchführung des Vernichtungsrituals notwen-
dig : »Zeichne ein rotes Zauberdiagramm in der Form
eines Halbmondes, dann schreibe auf ein Stück Baum-
wollstoff, das zum Zudecken einer Pestleiche verwen-
det wurde, Namen und Abstammung des Opfers. Als
Tinte benutze das Blut eines dunkelhäutigen Brahma-
nen-Mädchens. Rufe die Schutzgottheiten an und halte
das Stoffstück in schwarzem Rauch. Dann lege es in das
Zauberdiagramm. Einen Zauberdolch schwingend, der
aus Knochen einer Pestleiche angefertigt wurde, spreche
hunderttausendmal die entsprechende Beschwörungs-
formel. Dann lege das Stoffstück dorthin, wo das Opfer
sein Nachtlager hat.« (* Nebesky-Wojkowitz, 1955, 260)
Hierdurch wird der Tod der Person herbeigeführt. 84
Derselbe Ritualtext enthält ein Rezept zur Hervorbrin-
gung von Wahnsinn : »Ziehe einen weißen Zauberkreis
auf dem Gipfel eines Berges und stelle in ihn die Figur
des Opfers, die du aus den todbringenden Blättern ei-
nes giftigen Baumes anfertigen mußt. Dann schreibe auf
diese Figur mit weißem Sandelholzharz den Namen und
die Abstammung des Opfers. Halte sie in den Rauch ver-
brannten Menschenfettes. Während Du die entsprechen-
de Zauberformel sprichst, nimm in die rechte Hand einen

84 Diese Tötungspraktiken stehen selbstverständlich in einem


unversöhnlichen Gegensatz zu dem buddhistischen Verbot, kei-
nem Lebewesen Schaden zuzufügen. Um diese Dissonanz zu
überspielen, haben die Lamas die schlaue Entschuldigung parat :
Der mitfühlende Ritual-Meister halte sein Opfer davon ab, weite-
re schlechte Taten zu begehen, die ihn nur mit sündigem Karma
belasten würden und ihm eine sichere Höllenstrafe einbrächten.

936
Tibetische Opferzeichnung

aus Knochen hergestellten Dämonendolch und berüh-


re mit ihm den Kopf der Figur. Zum Schluß lasse sie an
einem Ort zurück, wo sich Mamo-Dämoninnen zu ver-
sammeln pflegen.« (* Nebesky-Wojkowitz, 1955, 261)
Solche Voudou-Praktiken waren keineswegs seltene
Auswüchse der Nyingmapa-Sekte oder der verachteten

937
vorbuddhistischen Bonpos. Unter dem V Dalai Lama
wurden sie Teil der hohen Staatspolitik. Der »Große
Fünfte« ließ ein grauenhaftes »Rezeptbuch« (das Golde-
ne Manuskript) auf schwarzen Thangkas anfertigen, das
sich ausschließlich mit magischen Techniken zur Feind-
vernichtung beschäftigte. Darin sind auch mehrere Va-
riationen des sogenannten gan tad-Rituals beschrieben :
In das Zentrum eines Kreises wird ein Mann oder eine
Frau gezeichnet, die das Opfer darstellen. An Händen
und Füßen sind sie durch schwere Ketten gefesselt. Um
die Figur herum hat der Tantra-Meister Schad-Sprüche
aufgeschrieben wie die folgenden. »Das Leben sei abge-
schnitten, das Herz sei abgeschnitten, der Körper sei ab-
geschnitten, die Macht sei abgeschnitten, die Herkunft sei
abgeschnitten.« (* Nebesky-Wojkowitz, 1993, 483) Letz-
teres bedeutet, daß auch die Verwandten des Opfers ver-
nichtet werden sollen. Jetzt muß das Menstruationsblut
einer Prostituierten auf die Beschwörungsformeln ge-
tropft werden, Haare und Nägel werden der gezeichne-
ten Figur beigegeben. Nach einigen Texten genügt ein
wenig Erde von einem Fußabtritt oder etwas Putz vom
Hause des Opfers. Dann faltet der Ritualmeister das Pa-
pier in ein Stoffstück. Das Ganze wird mit weiteren grau-
enhaften Ingredienzen, deren Aufzählung wir uns erspa-
ren möchten, in ein Yakhorn gestopft. Das Ritual ist in
Handschuhen durchzuführen, da die Substanzen auf den
Magier sehr schädliche Auswirkungen haben könnten,
wenn er sie berührt. Auf einem Friedhof beschwört er
ein Heer von Dämonen, sich auf das Horn zu stürzen
und es mit ihrer zerstörerischen Energie zu schwängern.

938
Dann wird es auf dem Grundstück des Feindes vergra-
ben, der bald darauf stirbt.
Im Klostertempel von Ganden soll der »Große Fünfte«
ein »Vbudou«-Ritual zur Niederwerfung der Kagyüpa-
und der Tsang-Sippe vollzogen haben. Er betrachtete sie,
»deren Geist durch Mara und durch ihre Devotion ge-
genüber dem Karmapa verblendet war«, als Feinde der
Lehre. (* Ahmad, 103) Bei dem Ritual wurde ein Abbild
des Fürsten von Tsang in der Form eines Torma (Teig-
kuchens) benutzt. In die Teigfigur hineingearbeitet wa-
ren das Blut eines im Kampfe gefallenen Jünglings, Men-
schenfleisch, Bier, Gift und so weiter.
Als sich Tibeter 200 Jahre später mit den Nepalesen be-
kriegten, ließen die Lamas ein Substitut vom Komman-
danten des nepalesischen Heeres anfertigen und führ-
ten dagegen ein Vernichtungsritual durch. Dieser starb
bald darauf, und die Invasionspläne der feindlichen Ar-
mee mußten aufgegeben werden. (* Nebesky-Wojkowitz,
1993, 495)

Das La (bla)

Die tibetische Magie geht unter anderem von der Exi-


stenz einer Kraft oder Energie aus, die jedes Wesen am
Leben erhält und die als La bekannt ist. Die Lebensener-
gie braucht jedoch nicht in der Person selbst gelagert zu
sein, sie kann sich völlig außerhalb des Betreffenden be-
finden, etwa in einem See, einem Berg, in einem Baum
oder einem Tier. Ein Mensch kann auch über mehrere

939
Las verfugen. Wenn eines seiner Energiezentren ange-
griffen oder vernichtet wird, ist er in der Lage, sich aus
den anderen zu regenerieren. Bei Aristokraten und ho-
hen Lamas finden wir das La in »königlichen« Tieren wie
dem Schneelöwen, Bären, Tiger oder Elefanten. Für die
soziale »Mittelschicht« sind es Ochse, Pferd, Yak, Schaf
oder Maultier, für die Unterschichten Ratte, Hund und
Skorpion. Das La hält auch eine Familie, einen Stamm,
beziehungsweise ein ganzes Volk am Leben. Zum Bei-
spiel soll der Yamdrok See die Lebensenergie der tibe-
tischen Nation in sich tragen, und es geht die Sage, daß
die gesamte Bevölkerung ausstirbt, wenn das Gewässer
vertrocknet.
Tatsächlich gibt es bei den Exiltibetern das Gerücht,
die Chinesen planten eine Trockenlegung des gesamten
Sees. (* Tibetan Review, Januar 1992, 4)
Will ein Tantra-Meister einen Feind magisch außer
Gefecht setzen, dann muß man sein La ausfindig ma-
chen und dagegen einen rituellen Angriff starten. Dies
gilt selbstverständlich auch für den politischen Gegner.
Ist die Lebensenergie einer feindlichen Person in einem
Baum versteckt, so ist es zum Beispiel sinnvoll, diesen
zu fällen. Der Gegner wird im selben Augenblick zu-
sammenbrechen. Jeder Lama soll grundsätzlich in der
Lage sein, durch Astrologie und Hellseherei das La von
Menschen zu orten.

940
Magische Superwaffen

Aus der Waffenkammer des Kalachakra-Tantras und


des »Großen Fünften« stammt das »Zauberrad mit den
Schwertspeichen«, das von einem zeitgenössischen Lama
mit folgenden Worten beschrieben wird : »Es ist eine Zau-
berwaffe von furchtbarer Wirkung, ein großes Rad mit
acht haarscharf geschliffenen Schwertern als Speichen.
Unsere Magier verwendeten es vor sehr langer Zeit im
Kampf gegen fremde Eindringlinge. Das Rad wurde mit
magischen Kräften geladen und dann gegen den Feind
losgelassen. Es flog wirbelnd durch die Luft den feindli-
chen Truppen entgegen, und seine sich schnell drehen-
den Speichen mähten die Soldaten zu Hunderten nieder.
Die Verheerungen, die diese Waffe anrichtete, waren so
schrecklich, daß die Regierung verbot, sie jemals wieder
zu benutzen. Die Behörden ließen gar alle Aufzeichnun-
gen über ihre Anfertigung vernichten.« (* Nebesky-Wo-
jkowitz, 1955, 257)
Ein weiteres Zaubergerät, das noch unter dem XIV Da-
lai Lama, wenn auch erfolglos, zur Anwendung gelang-
te, befand sich in einem Gelbmützenkloster nahe Lhasa
(Kardo Gompa). Es wurde als die »Mühle der Todesdä-
monen« bezeichnet und bestand aus zwei aufeinander
ruhenden kleinen Rundsteinen, von denen der obere ge-
dreht werden konnte. René von Nebesky-Wojkowitz be-
richtet, wie die Lamas diese Mordmaschine 1950 zu Be-
ginn des Konfliktes mit China in Betrieb setzten : »Die
›Mühle des Todesdämonen‹ wurde von der tibetischen
Regierung verwendet, um die Führer der gegnerischen

941
Partei zu töten. Ein in den Künsten der schwarzen Magie
besonders erfahrener Priester wurde von den Behörden
dazu bestimmt, das Gerät zu bedienen. In wochenlan-
ger Meditation mußte er versuchen, die Lebenskraft (La)
der Menschen, die er töten sollte, in einige Senfkörner
zu überführen. Merkte er an bestimmten Kennzeichen,
daß ihm dies gelungen war, dann legte er die Körner zwi-
schen die Steine und zermahlte sie … Die vernichtende
Kraft, die von diesem Zaubergerät ausging, soll selbst auf
die Magier gewirkt haben, die es bedienten. Einige von
ihnen, so sagt man, sind nach dem Drehen der ›Mühle
der Todesdämonen‹ gestorben.« (* Nebesky-Wojkowitz,
1955, 257, 258)

Der »Große Fünfte« als Magier und der XIV Dalai Lama

Der V Dalai Lama war ein Enthusiast und ein Mei-


ster magischer Ritualpolitik. Bei den von ihm durchge-
führten Zeremonien wurde zwischen kontinuierlichen
Staatsereignissen, die sich jährlich wiederholten, und
Sonderaktionen, meist zur Feindbekämpfung, unter-
schieden. Seine »Rituale betreffen die Macht – die spi-
rituelle wie die politische«, schreibt Samten Karmay. »…
Wir stehen mitten in der Arena im Morgengrauen der
modernen tibetischen Geschichte.« (* Karmay, 26)
Fest glaubte der Gottkönig daran, daß er seine poli-
tischen Siege vor allem der »außergewöhnlichen Macht
der tantrischen Riten« verdanke und erst dann der In-
tervention durch die Mongolen. (* Ahmad, 134) Nach ei-

942
nem Dokument der Kagyüpas war die, mongolische Be-
setzung des Schneelandes die Tat von neun Schreckens-
göttern, die, vorher gefangen, von den Gelugpas unter
der Bedingung freigesetzt wurden, daß sie die mongoli-
schen Horden zum Schutz ihres Ordens nach Tibet hol-
ten. »Aber dieses Ereignis brachte unserem Land viel Lei-
den«, lesen wir am Schluß der Schrift. (* Bell, 98)
Die Visionen und Praktiken des von der Magie be-
sessenen V Dalai Lama sind – wie wir schon erwähnt
haben – in zwei von ihm verfaßten Texten festgehalten :
einmal der Versiegelten und Geheimen Biographie und
dann dem Goldenen Manuskript. Dieses ausgiebig illu-
strierte Ritualbuch, das den berüchtigten Grimoires (Zau-
berbüchern) des europäischen Mittelalters ähnelt, wurde
nach des Meisters Worten »für alle diejenigen verfaßt, die
Zeichnungen und Bilder herstellen wollen aus den Him-
meln und von den Göttern.«85 (* Karmay, 19)
Über moderne »Voudou-Praktiken« des XIV Dalai
Lama, der sich den Magierfürsten aus dem 17. Jahrhun-
dert, den »Großen Fünften«, als bedeutendstes Vorbild

85 Das Goldene Manuskript gilt als Vorläufer der schwarzen


Thangkas, die ansonsten erst im 18. Jahrhundert auftauchten.
Sie sind speziell zur Evokation tantrischer Schreckensgötter ent-
wickelt worden. Der Hintergrund der Bilder ist immer von dun-
kelster Farbe, mit knappen Mitteln, oft mit Goldschrift sind die
Zeichnungen darauf ausgeführt – deswegen der Name Goldenes
Manuskript. Diese Technik gibt dem Bild einen mysteriösen, ge-
fährlichen Charakter. Die Gottheiten »springen plötzlich aus der
grauenhaften Dunkelheit der kosmischen Nacht hervor, alle in
Flammen« – vermerkt der italienische Tibetologe Guiseppe Tuc-
ci. (* Karmay, 22)

943
auserkoren hat, ist uns direkt nichts bekannt. Hierbei
gelang es dem Kundun ebenso geschickt wie bei den
sexualmagischen Initiationen des Tantrismus, einen
Schleier über die Schattenwelt seines okkulten Ritualle-
bens zu legen. Aber es gibt Gerüchte und Anspielungen,
die vermuten lassen, daß auch er solche tantrischen Tö-
tungsriten bewußt durchführt beziehungsweise durch-
geführt hat.
In einem Fall ist das ganz offensichtlich und wird durch
ihn selber bestätigt. So lesen wir in der letzten Ausga-
be seiner Autobiographie, wie er am Todestage Mao Ze-
dongs einen Ritus inszenierte, der mit dem Kalacbakra-
Tantra in Verbindung stand. »Am zweiten Tage der drei-
tägigen Feierlichkeiten starb Mao, und am nächsten Tag
regnete es den ganzen Vormittag. Nachmittags erschien
jedoch einer der schönsten Regenbogen, die ich je gesehen
habe. Ich war überzeugt davon, daß es ein gutes Omen
war«, hören wir aus dem Munde des Dalai Lama. (* Da-
lai Lama XIV, 1993 I, 326) Der Biograph Seiner Heilig-
keit, Claude B. Levenson, berichtet von diesem Ritual, es
habe sich um »eine äußerst strenge Praxis (gehandelt), die
eine mehrere Wochen dauernde völlige Abgeschiedenheit
verlangt, verknüpft mit einer ganz besonderen Lehre des
V Dalai Lama.« (* Levenson, 242) In Erinnerung an den
oben beschriebenen seltsamen Tod der Kaiserin-Witwe
Tze Hsi und ihres kaiserlichen Adoptivsohnes darf man
wohl die Frage aussprechen, ob es sich nicht bei dieser
»strengen Praxis« um einen im Goldenen Manuskript des
»Großen Fünften« aufgeschriebenen Tötungsritus gehan-
delt haben mag. In buddhistischen Kreisen wird denn

944
auch der Tod Mao Zedongs als der Sieg der spirituell-
magischen Kräfte des XIV Dalai Lamas über die rohe
Gewalt des Materialismus gefeiert.
In einem solchen Kontext und nach tantrisch-magi-
scher Sicht mag auch der Besuch von Gyalo Thondup, ei-
nem Bruder des Kunduns und selber ein Tulku, bei Deng
Xiaoping eine folgenreiche Bedeutung haben. Thondup
verhandelte mit dem chinesischen Parteichef über die Ti-
betfrage. Deng starb wenige Tage nach diesem Treffen am
12. Februar 1997. (* dt. Playboy, März 1998, 44)
Die magischen Kräfte des Kunduns werden zwar von
der westlichen Presse nicht offen zugestanden, aber es hat
sich ein modischer »Jargon« eingebürgert, der mit solchen
Vorstellungen kokettiert. So unterstellt die Neue Züricher
Zeitung, daß Seine Heiligkeit über Wind und Wetter ge-
biete : »Ein buddhistisches Sprichwort soll es geben, wo-
nach das Kommen großer Lehrer mit einer merklichen
Bewegung der Elemente einhergehe«, schreibt das seriöse
Blatt zum Besuch des »Gottkönigs« in Norddeutschland
(1998) und den heftigen Sturmböen, die das Land wäh-
rend dieser Zeit heimsuchten. »Die (nicht nur) über deut-
sche Lande hinwegfegenden Herbststürme dieser Woche
könnten somit durchaus eine Begleiterscheinung des Auf-
tritts sein, den der Dalai Lama bis morgen vor großem
Publikum in der Lüneburger Heide absolviert.« (* Neue
Züricher Zeitung, 1. November 1998)

945
Mandalapolitik

Eine nicht so spektakuläre, aber – nach tantrischer Auf-


fassung – ebenso bedeutsame Zauberpraxis wie die
Tötung eines politischen Gegners führt der XIV Da-
lai Lama dagegen ständig und ganz öffentlich durch –
nur wird diese nicht als ein magischer Akt erkannt. Wir
sprechen jetzt über die Errichtung eines Mandala, ins-
besondere die Konstruktion des Kalachakra-Sandman-
dalas.
Es wurde schon ausführlich von den Homologien zwi-
schen einem tantrischen Mandala, dem Körper eines Yo-
gis, der gesellschaftlichen Umwelt und dem Universum
berichtet. Konsequent durchgedacht, führt diese Gleich-
stellung dazu, daß die Errichtung eines Mandala als ein
politisch-magischer Akt angesehen werden muß. Durch
das Zauberdiagramm kann ein Tantra-Meister den Ort
seiner Konstruktion und das entsprechende Umfeld »en-
ergetisch« besetzen und für sich in Anspruch nehmen.
Die Menschen, welche sich im Machtbereich einer sol-
chen magischen Mandala-Architektur aufhalten, werden
durch deren Energie beeinflußt, und ihr Bewußtsein wird
durch sie manipuliert.
Das Kalachakra-Sandmandala dient deswegen nicht
nur zur Initiation eines Adepten, sondern ebenso als ein
okkulter Besitztitel, um mit ihm die Herrschaft über ein
bestimmtes Territorium zu begründen. Die Zauberkraft
des Diagramms gibt demnach seinen Konstrukteuren
die Möglichkeit, fremde Gebiete zu erobern. Man baut

946
einen Zauberkreis (ein Mandala) und »verankert« ihn in
der beanspruchten Region. Dann ruft man die Götter an
und bittet diese, in dem »Mandalapalast« ihren Wohn-
sitz aufzuschlagen. (Das Mandala wird sozusagen mit
göttlichen Kräften »energetisiert«.) Nachdem ein geogra-
phisches Gebiet durch ein Mandala (Kosmogramm) be-
setzt wurde, verwandelt es sich automatisch in ein sakra-
les Zentrum der buddhistischen Kosmologie. 86 Jede Er-
richtung eines Mandala bedeutet – wenn man sie nach
tibetischer Sicht ernst nimmt – ebenfalls die magische
Unterwerfung der Einwohner der Region, in welcher der
»Zauberkreis« errichtet wurde. Im Falle des Kalachakra-
Sandmandalas transformieren sich deswegen die Plätze,
auf denen man es aufgebaut hat, zu Herrschaftsdomänen
der tibetischen Zeitgötter. Demnach wäre – nach tan-
trischer Sicht – das 1991 in New York mit großem Auf-
wand konstruierte Kalachakra-Mandala eine kosmolo-
gische Machtdemonstration, die besagen will, die Stadt
steht jetzt unter dem spirituellen Einfluß von Kalachakra
und Vishvamata. Da in diesem Fall der XIV Dalai Lama
als der Höchste Tantra-Meister das Ritual durchführte,
muß er als der spirituell-magische Oberherr der Millio-
nenstadt angesehen werden. Solche phantastischen Spe-
kulationen ergeben sich aus der archaischen Logik sei-
nes eigenen Systems. Sie decken sich nicht mit unseren

86 Eine solche magische Okkupation braucht nicht einmal durch


einen äußeren Akt getätigt zu werden, sondern ein dafür ausge-
bildeter Lama kann sie im Geiste durch die Kraft der Vorstellung
bewerkstelligen.

947
Vorstellungen. Dennoch sind wir davon überzeugt, daß
Gesetze der Magie in dem Maße die humane Wirklich-
keit prägen, wie Menschen daran glauben.
Es besteht weiterhin kein Zweifel daran, daß die Zauber-
diagramme eine außergewöhnliche Faszination auf man-
che Betrachter haben. Das wird zum Beispiel von Malcom
Arth, Kunstdirektor eines amerikanischen Museums, wo
tibetische Mönche ein Kalachakra-Sandmandala errichte-
ten, bestätigt : »Der normale Museumsbesucher verbringt
ungefähr zehn Sekunden vor einem Kunstwerk, aber für
dieses Ausstellungsstück rechnet sich die Zeit in Minuten,
manchmal in Stunden. Selbst die Kinder, die ins Muse-
um kommen und dort wie auf einem Spielplatz herum-
laufen – diese Kinder treten in einen Raum ein, und ir-
gend etwas passiert mit ihnen. Sie werden transformiert.«
(* Bryant, 245, 246) Der amerikanische Buddhist Barry
Bryant spricht sogar davon, daß »eine elektrische Art von
Energie« den Raum ausfülle, in dem sich das Kalachakra-
Mandala befinde. (* Bryant, 247)
Was jedoch die meisten Menschen aus dem Westen
nur als einen reinen Kunstgenuß bewerten, das erfahren
die Lamas und ihre westlichen Anhänger als numinose
Begegnung mit übernatürlichen Kräften und Mächten,
die sich in einem Mandala verdichten. Diese Vorstellung
kann sich soweit steigern, daß moderne Ausstellungen
tibetischer Kunstwerke von den buddhistischen Orga-
nisatoren wie ein Tempel und ein Initiationsweg kon-
zipiert werden, welche die Besucher wissend oder auch
unwissend durchlaufen. Mircea Eliade hat das Durch-
schreiten eines Heiligen Ort (eines Tempels) in archa-

948
ischer Zeit folgendermaßen beschrieben : »Jedes rituel-
le Gehen kommt einem Gang zum Zentrum gleich, und
das Betreten eines Tempels wiederholt das Eintreten in
ein Mandala bei der Initiation oder den Durchgang der
Kundalini durch die Chakren.« (* Eliade, 253)
In genau diesem Sinne wurde im Sommer 1996 die
große Tibetausstellung »Weisheit und Liebe« in Bonn,
die auch an mehreren anderen Orten der Welt zu sehen
war, von Robert A. E Thurman und Marylin M. Rhie
entworfen. Die Konzeption dieser Ausstellung, schreibt
Thurman, »hat symbolische Bedeutung. Sie … nimmt ihr
Leitprinzip von dem Mandala des ›Rades der Zeit‹ (Ka-
lachakra), dem mystischen Ort, der die vollkommene
Geschichte und den Kosmos des Buddha verkörpert …
Die Anordnung der einzelnen Exponate zeugt von dem
bewußten Bestreben, die Umgebung tibetischer Tempel
zu simulieren.« (* Thurman 13, 14)
Am Eingang passierte man ein Kalachakra-Sandman-
dala. Dann betrat der Besucher, je nach Räumen geord-
net, die verschiedenen historischen Phasen des indischen
Buddhismus, angefangen mit den Legenden des Buddha-
lebens, dem Hinayana, Mahayana und Vajrayana. Der
simulierte »Einweihungsweg« führte weiter nach Tibet
und durchlief die vier verschiedenen Hauptschulen – in
der Reihenfolge Nyingmapa, Sakyapa, Kagyüpa und Ge-
lugpa. Nachdem der »Besucher-Initiant« sozusagen die
Geheimlehren der verschiedenen Sekten »empfangen«
hatte, trat er in die letzte »Halle« des Ausstellungstem-
pels. Diese war wiederum wie der Anfang dem Kalacha-
kra-Tantra gewidmet.

949
Durch den Aufbau der Ausstellung wurde die Ge-
schichte des Buddhismus und Tibets als ein über die
Jahrhunderte ablaufendes Mysterienspiel präsentiert. Jede
einzelne historische Epoche der buddhistischen Lehre
galt als eine Art Initiationsstufe im Evolutionsgang der
Menschheit, der in der Errichtung eines globalen Shamb-
hala-Staates enden soll. Dieselbe initiatorische Rolle er-
füllten die vier tibetischen Schulrichtungen. Sie alle stan-
den – nach der Interpretation der Aussteller – zueinander
in einer hierarchischen Ordnung. Jede höhere baute auf
der jeweils unteren auf : die Sakyapas auf den Nyingma-
pas, die Kagyüpas auf den Sakyapas und die Gelugpas
auf den Kagyüpas. Die Geschichte des Buddhismus, ins-
besondere Tibets – das war die Botschaft –, mußte wie
ein Initiant Stufe um Stufe die einzelnen Schulrichtun-
gen und Sekten durchlaufen, um sich bewußtseinsmäßig
höher zu entwickeln und dann in der Person des Dalai
Lama ihr irdisch höchstes Ziel zu erreichen.
Der Besucher betrat die Ausstellung durch einen Raum,
in dem sich ein Kalachakra-Sandmandala (der »Zeitpa-
last«) befand. Das sollte besagen, daß er sich von jetzt an
in der Dimension der Zeit bewege. Entsprechend dem zy-
klischen Weltbild des Buddhismus endete jedoch seine
Zeitreise dort, wo sie begonnen wurde. Also verließ der
Besucher nach seinem Rundgang die Ausstellung durch
denselben Raum, durch den er sie betreten mußte, und
passierte erneut das Sandmandala (den »Zeitpalast«).
Wenn die Bonner Tibetausstellung nach den Worten
Thurmans eine symbolische Bedeutung haben sollte, dann
war die Botschaft am Ende katastrophal. Das letzte ( !)

950
Bild in der »Tempelausstellung« (bevor man erneut den
Raum mit dem Kalachakra-Sandmandala betrat) stellte
nämlich die apokalyptische Shambhala-Schlacht oder –
wie es der Katalog wörtlich bezeichnet – das »buddhi-
stischen Armageddon« dar. 87 Wir zitieren aus dem of-
fiziellen, mit Begeisterung geschriebenen Text, der das
entsprechende Thangka erklärt : »Die Kräfte des Guten
aus dem Königreich Shambhala bekämpfen die Mäch-
te des Bösen, die die Welt in ihrer Gewalt haben, Jahr-
hunderte in der Zukunft. Phalangen von Soldaten stel-
len sich zur Schlacht auf, große Karren voller Soldaten,
klein wie Liliputaner, werden von riesigen weißen Elefan-
ten in den Kampf gezogen, laserartige ( !) Gewehre ver-
schießen ihr Feuer, und phantastische elefantenähnliche
Tiere drängen sich zusammen und kämpfen unterhalb
des leuchtenden Kreises des Königreiches.« (* Thurman,
1996, 482) Mit dieser Endzeitvision vor Augen verließ
der Besucher den »Tempel« und kehrte zum Kalackakra-
Sandmandala zurück.
Wer aber war der Herrscher dieses Zeitpalastes, wer
ist der Zeitgott (Kalacbakra) und die Zeitgöttin (Vish-
vamata) in einer Person ? Kein anderer als der Schirm-
herr der Bonner Tibet-Ausstellung, Seine Heiligkeit der
XIV Dalai Lama. Er hat mit dem oben von uns beschrie-
benen Ritual das Bonner Kalachakra-Sandmmdala zer-
stört oder zerstören lassen und dann dessen Energien (die

87 Der Katalogtext gebraucht in der Tat den hebräischen Begriff


»Armageddon«, ebenso wie der Doomsday-Guru Shoko Asahara
von »Armageddon« gesprochen hat.

951
darin wohnenden Zeitgötter) in sich aufgesaugt. Folgen
wir weiterhin der tantrischen Logik, dann übernahm der
Kundun nach der Absorption der Mandalaenergien die
Herrschaft über das Gebiet, das durch das Zauberdia-
gramm (Sandmandala) versiegelt wurde. Kurz, er wurde
zum spirituellen Regenten von Bonn ! Das ist nicht un-
sere Vorstellung – wir wiederholen es –, sondern die ar-
chaische Logik des tantrischen Systems. Daß sie sich in
diesem Fall jedoch mit der Realität deckt, zeigt der unge-
heure Erfolg, den Seine Heiligkeit nach dem Besuch sei-
nes Bonner »Kalachakra-Tempels« (1996) im deutschen
Bundestag erzielte. Die Regierung Kohl mußte sich an-
schließend wegen der Tibetfrage auf ihre größte politi-
sche Zerreißprobe mit China einlassen.
Verstreut über die ganze Welt wurden durch den XIV
Dalai Lama, parallel zu seinen Kalackakra-lnitiationen,
Sandmandalas errichtet. Was für einen westlichen Be-
trachter als hochwertiges traditionelles Kunstwerk er-
scheint, ist der Intention nach ein Machtsiegel der tibe-
tischen Götter und ein magisches Fundament für die
angestrebte Weltenherrschaft des ADI BUDDHA (in der
Gestalt des Kunduns).
9. DIE KRIEGSGÖTTER
HINTER DER FRIEDENSMASKE

Wenn heute im Westen vom Buddhismus gesprochen


wird, dann ist die kriegerische Vergangenheit Tibets kein
Thema. Unter der Lehre des Buddha versteht die Groß-
zahl der Menschen eine Religion, die den inneren und
äußeren Frieden, die Harmonie des humanen Zusam-
menlebens, die Absage an jegliche Gewalt und Aggressi-
on, das Tötungsverbot und ganz allgemein eine radikal
pazifistische Einstellung als Programm hat. Mit Recht
wird eine solche ethische Grundhaltung von Buddhi-
sten unter Berufung auf ihren Gründer gefordert. Der
historische Buddha Shakyamuni stammte zwar als Ab-
kömmling eines Königs aus der Kriegerkaste, er verließ
jedoch seine Familie, ging in die »Hauslosigkeit« und di-
stanzierte sich von jeglicher Form des Kriegshandwer-
kes. Dies tat er nicht nur aus moralischen Gründen, son-
dern auch aus der Erkenntnis, daß Kriege Ausdruck des
eigenen fehlgeleiteten Bewußtseins seien und daß der in
ihnen auf die Spitze getriebene Dualismus eine falsche
Sicht der Welt beinhalte. Auf eine knappe Formel ge-
bracht wollte er damit sagen : Das Ich und sein Feind bil-
den in letzter Instanz eine Einheit. Shakyamuni war ein
Pazifist, weil er ein idealistischer Erkenntnisphilosoph
war. Erst später, im Mabayana-Buddhismus, trat ne-
ben das philosophische das ethische Argument für die
grundsätzliche Friedenshaltung des Dharmas (Lehre).

953
Ein striktes Tötungsverbot, die Forderung nach Gewalt-
losigkeit und das Mitgefühl mit allen Lebewesen galten
als die drei höchsten moralischen Maximen.
Diese beiden Argumente gegen den Krieg, das erkennt-
nistheoretische und das humanpolitische, spielen heute
in der internationalen Selbstdarstellung des XIV Dalai
Lama eine fundamentale Rolle. Unermüdlich und bei un-
zähligen Anlässen hat sich Seine Heiligkeit in den letzten
Jahrzehnten für den Weltfrieden eingesetzt. 1989 erhielt
er deswegen den Friedensnobelpreis. Nicht zuletzt waren
seine pazifistischen Predigten und Programme die Ur-
sache dafür, daß im Westen das alte Tibet (vor der chi-
nesischen Besatzung) zunehmend als ein Zufluchtsort
des Friedens, bewohnt von unkriegerischen und ethisch
hochentwickelten Menschen, als ein Paradies auf Erden
beschrieben und bewundert wurde. Ein westlicher Dhar-
ma-Schüler faßt Tibets Geschichte in folgendem knappen
Satz zusammen : »(Der Buddhismus) veränderte ihre Ge-
sellschaft (die tibetische). Aus einer gewalttätigen, grim-
migen Welt des Krieges und der Intrige wurde ein fried-
volles, farbiges, herzliches Reich eines angenehmen und
sinnvollen Lebens.« (zit. b. Lopez, 7) Mit diesem Sehn-
suchtsbild griff der Kundun einen Faden auf, den zahlrei-
che euro-amerikanische Autoren, allen voran James Hil-
ton mit seinem Bestseller Der verlorene Horizont, schon
vorher (seit den 30er Jahren unseres Jahrhunderts) ge-
sponnen hatten.
So ist es den Exiltibetern mit ihren Lamas an der Spit-
ze gelungen, in der Weltöffentlichkeit als ein vom Geno-
zid bedrohtes spirituelles Friedensvolk dazustehen, das

954
in einer von Kämpfen erschütterten Zeit seine pazifisti-
sche Freudenbotschaft verbreiten möchte. »Ein Bekennt-
nis, mit dem man nichts falsch, machen kann«, schreibt
der deutsche Spiegel in Bezug auf den tibetischen Buddhis-
mus. »Zweieinhalbtausend Jahre Friedfertigkeit statt In-
quisition, stets heiter wirkende Mönche statt präpotenter
Kirchenfürsten, Nirvana-Hoffnung statt Djihad-Drohung
– der Buddhismus tut keinem weh und ist trendy gewor-
den.« (* Spiegel, 16/1998, 109) Und der deutsche Buddhist
und Schauspieler Sigmar Solbach erklärt seinen Fernseh-
zuschauern : »Im Namen des Buddhismus ist noch nie ein
Krieg geführt worden.« (* Spiegel, 16/1998, 109)
Das Gegenteil ist leider der Fall – im Namen des Bud-
dhismus sind ebenso wie im Namen des Christentums
unzählige Kriege geführt worden. Mit Recht – so wer-
den wir noch anhand historischer Ereignisse zeigen – hat
man den Shambhala-Mythos als einen »buddhistischen
Djihad« (Heiligen Krieg) bezeichnet.

Die Aggressivität der tibetischen


Schutzgötter (Dharmapalas)

Wenn wir uns die Ikonographie des tantrischen Bud-


dhismus ansehen, dann wimmelt es dort geradezu von
aggressiven Kriegertypen, von Dämonen, Vampiren,
Monstren, Schwertträgern, Flammenmagiern und Ra-
chegöttern, die über ein bis oben hin vollgestopftes Waf-
fenarsenal aus Speeren, Spießen, Pfeilen, Schilden, Keu-
len, Haken, Schlingen, Messern, Dolchen und allerlei

955
Tötungsmaschinen verfügen. Diese geradezu groteske
Ansammlung abstoßender Gestalten spiegelt einmal die
sozialen Kämpfe wider, die der indische Buddhismus im
Streit mit dem Hinduismus und später mit dem Islam
durchzustehen hatte. Andererseits ist sie ein dogmati-
scher Teil des tantrischen Projekts, das Zorn, Aggressi-
vität, Mord und Feindvernichtung zum Ausgangspunkt
seiner Ritualistik macht. Insgesamt werden im Vajraya-
na-Buddhismus drei Typologien kriegerischer Gotthei-
ten unterschieden :
1. Der Schreckensaspekt eines friedlichen Buddhas, der
sogenannte Heruka.
2. Die »fleischfressende« Dakini, die den Adepten auf
seinem Initiationsweg herausfordert.
3. Kriegerische Fremdgötter, die in das tantrische Sy-
stem als »Hüter der Lehre« (Dharmapala) übernom-
men wurden.
In allen drei Fällen richten die »Zornesgötter« ihr Ag-
gressionspotential nach außen, gegen die »Feinde der
Lehre«, und man darf ohne Übertreibung sagen, daß der
Heruka-Aspekt eines Buddhas im Kulturleben des tibe-
tischen Buddhismus eine ebenso große Rolle spielt wie
der Friedensaspekt eines mitfühlenden Bodhisattvas.
Tibets Mythengeschichte und »Zivilisierung« wurde
vom Lamaismus immer schon als die Bezwingung und
Versklavung der einheimischen Götter und Dämonen er-
lebt und dargestellt. Wollten diese in ihrem magischen
Kampf mit den Zauberlamas am Leben bleiben, dann
mußten sie sich unter Eid verpflichten, in Zukunft als
Schutztruppe unter tibetischem Oberkommando zu die-

956
nen. Ihre kriegerische Grundeinstellung wurde also kei-
neswegs durch den Buddhismus abgebaut und transfor-
miert, sondern als ein Mittel für die eigenen Machtam-
bitionen genutzt und deswegen noch potenziert.
Diese Metapolitik des lamaistischen Klerus hat zu ei-
nem systematischen Auf- und Ausbau ihres grotesken
Pandämoniums geführt, welches das Land über die Jahr-
hunderte hinweg heimsucht. Kein Tempel, in dem die-
se Monster nicht angebetet wurden und werden. Im dü-
steren Gokhang, der Kammer oder Halle, wo ihre Kult-
verehrung stattfand und stattfindet, waren und sind ihre
schwarzen Thangkas aufgehängt, umgeben von einem
Arsenal bizarrer Waffen, Masken und ausgestopfter Tiere.
Man entdeckt dort getrocknete menschliche Organe, die
gegerbte Haut von Feinden und die Knochen von Kin-
dern. Westliche Besucher erlebten früher dieses Schat-
tenreich als eine »chaotische, gegensätzliche Welt wie die
Bilder aus einem Delirium«. (* Sierksma, 166)
Über die obskuren Rituale, die man in den »Horror-
kammern« (Austin Waddell) durchführte, gibt es schau-
rige Gerüchte, und das nicht ohne Grund, denn um die
Schreckensgötter zu befrieden, galten Menschenfleisch,
Blut und andere körperliche Substanzen als die effektiv-
sten Opfergaben. Versiegt jemals dieser Blutstrom zur
Ernährung der Dämonen, dann stürzen sie sich nach ti-
betischen Prophezeiungen selbst auf unschuldige Men-
schen, ja sogar auf die Lamas, um ihren vampiresken
Durst zu stillen. (* Hermanns, 1956, 198) Die Zahl der
»roten und schwarzen Henker«, wie die »Schützer der
Lehre« zuweilen genannt werden, ist Legion, da jede Lo-

957
kalität des Landes ihre eigenen regionalen Dämonen in
den Dienst gestellt hat. Dennoch ragen unter ihnen einige
besonders hervor, wie zum Beispiel der Kriegsgott Begtse,
auch Tschamsrin genannt. In der Ikonographie schreitet er
über Leichen, mit der rechten Hand das Schwert schwin-
gend, mit der Linken führt er ein menschliches Herz an
den Mund, um es zu verzehren. Seine Gattin Dongmar-
ma, das »Rotgesicht«, kaut auf einer Leiche herum und
reitet auf einem menschenfressenden Bären. Ein anderer
»Schutzgott«, der Totenrichter Yama, Höllenkönig und
eine Emanation des Avalokiteshvara (und damit auch des
Dalai Lama), droht in der Rechten mit einer Keule in der
Form eines Kinderskeletts. Palden Lhamo, die von uns
schon vorgestellte Schutzgöttin des tibetischen Gottkö-
nigs, galoppiert durch einen Blutsee und benutzt die ab-
gezogene Haut ihres Sohnes als Sattel.
Dieses Höllenheer ist auch für die »übermenschlichen«
Lamas nur schwer unter Kontrolle zu halten. So gelingt
es den Dämonen nicht selten, ihre magischen Fesseln zu
zerreißen, um dann ihren Zorn selbst an frommen Gläu-
bigen auszulassen. Zum Beispiel durften Frauen früher
den Haupttempel des Klosters Kumbum nicht betreten,
weil dann die dort verehrten »Schrecklichen Götter« in
blinde Wut verfielen und die Gefahr bestand, daß sie sich
über die ganze Menschheit hermachen würden.
Manchmal ergriffen die Widergeister sogar den Körper
eines naiven Mönchs, besetzten ihn mit ihrer destrukti-
ven Energie und liefen dann in seiner Gestalt Amok. Oder
umgekehrt, ein enttäuschter Lama, der sich im Leben
ungerecht behandelt fühlte, verwandelte sich nach sei-

958
nem Tode in einen gnadenlosen Rächergeist. 88 Auch die
tibetische Regierung (der Kashag) und der Dalai Lama
mußten sich immer wieder gegen Racheakte von Seiten
oppositioneller Schutzgottheiten zur Wehr setzen. James
Bums verweist im Zusamenhang mit der weiter unten
geschilderten Shugden-Affäre auf insgesamt elf histori-
sche Beispiele. (* Burns, 10. 05. 1998, ‹tibet-l@listserv.in-
diana.edu›)
Tag und Nacht war der Klerus im alten Tibet damit
beschäftigt, fremde Dämonen abzuwehren und die eige-
nen zu kontrollieren. Das geschah nicht allein aus Furcht,
denn die Gelder für Abwehrrituale gegen Schadgeister
galten als lukrative Einnahmequelle, wenn nicht als
die bedeutendste überhaupt. Sobald irgend etwas nicht
stimmte, vermuteten die abergläubischen Menschen da-
hinter das Werk eines Dämons und holten sich, um ihn
zu vertreiben, einen bezahlten Lama als Exorzisten.
Der holländische Psychologe und Kulturkritiker Fok-
ke Sierksma interpretiert den Kult der Schreckensgötter
als eine »unvollständige Akkulturation einer Krieger-
nation, die zugunsten des Buddhismus einen Teil ihrer
selbst aufgeben mußte, und eines Buddhismus, der für
die Kriegernation auch einen integralen Teil seiner selbst
verlassen mußte, während beide keine letztendliche Ver-
söhnung gefunden haben.« (* Sierksma, 168)

88 Wie aktuell und tiefgreifend solche Aktivitäten von »Rächer-


lamas« sein können, zeigt die oben beschriebene Shugden-Affä-
re, in der es dem »Schutzgott« (Dorje Shugden) gelungen ist, das
Lichtbild des Dalai Lama zu überschatten.

959
Es fällt uns nicht schwer, diesem Urteil zuzustimmen.
Doch muß hinzugefügt werden, daß die Aufkündigung
buddhistischer Prinzipien wie Gewaltlosigkeit und Fried-
fertigkeit nicht erst in Tibet beginnt, sondern in der tan-
trischen Doktrin selber angelegt ist. Es war also nicht so,
daß ein pazifistischer Buddhismus aus Indien kam, um
ein kriegerisches Land zu zähmen, sondern die indischen
Gründungsväter des tibetischen Buddhismus schleppten
selber zahlreiche Schreckensgötter mit ein und erhöh-
ten dadurch beträchtlich das schon vorhandene einhei-
mische Dämonenheer. Mahakala, Vajrabhairava, Yama,
Acala oder, wie sie alle heißen mögen, sind indischen
Ursprungs.

Gesar von Ling – der tibetische »Siegfried«

Wer sich weiterhin einen Einblick in die archaische


Kriegermentalität der Tibeter verschaffen möchte,
der kommt nicht umhin, das vorbuddhistische Gesar-
Epos zu studieren. Alter Schamanenglaube und »heid-
nische« Zauberbräuche spielen in den Abenteuern des
Nationalhelden eine ebenso große Rolle wie die Spra-
che der Waffen. Man hat die Lebensgeschichte des Ge-
sar von Ling mit dem germanischen Nibelungen-Epos
verglichen, und das nicht ohne Grund : Tollkühnes
Draufgängertum, Prahlsucht, unerschrockener Mut,
Rachedurst, sportliche Wettspiele, Schlachtengetüm-
mel, Kriegslist, Tricks, Betrug, Verrat finden sich hier
wie dort, ebenso wie Liebesglück, Liebesleid, Frauen-

960
minne, weibliche Hingabe, Vergewaltigungen, starke
Amazonen, Zauberinnen, eheliche Untreue, Eifersucht,
Furienrache. Aufgrund der Ähnlichkeit ganzer Szenen
ist sogar nicht auszuschließen, daß die Dichter beider
Epen aus gleichen Quellen schöpften. Ein Unterschied
besteht vielleicht darin, daß im Umfeld Gesars noch
barbarischer gegessen und gezecht wird als bei germa-
nischen Recken.
Mag sich historisch der Name des Helden von einer
Tibetisierung des lateinischen »Cäsar« (Kaiser) herlei-
ten lassen, so ist sein mythischer Ursprung göttlicher
Natur. Der Haudegen wurde vom Himmel gesandt, um
eine Mission zu erfüllen. Seine göttlichen Eltern schick-
ten ihn auf die Erde, damit er das Land Ling (Tibet) von
einem bösen Dämon befreie, was ihm nach vielen über-
menschlichen Taten auch gelang. Es ist hier nicht unse-
re Absicht, über die phantastischen Abenteuer des Hel-
den zu berichten. Was uns interessiert, ist die durchgän-
gig aggressive Mentalität Gesars. Besonders fallen einem
die zahlreichen Episoden auf, die vom stolzen Selbstbe-
wußtsein und der körperlichen Stärke der Frauen be-
richten, so daß das Epos auf keinen Fall aus der Feder
eines Lamas stammen kann. Es gibt in einigen Versio-
nen (mehrere sehr unterschiedliche sind davon bekannt)
auch recht ketzerische Bemerkungen über den buddhi-
stischen Klerus und einen beißenden Spott, der nichts
Positives am Klosterleben übrig läßt. Was jedoch über
jegliche Kritik erhaben bleibt, ist eine grenzenlose Glo-
rifizierung des Krieges. Das hat Gesar zum Vorbild für
alle Militärs Zentralasiens gemacht.

961
Als Kostprobe für die prahlerische Grausamkeit, die
das ganze Epos beherrscht, zitieren wir einen von Char-
les Bell übersetzten Passus – das Lied eines Recken aus
Gesars Gefolge :

Wir brauchen keine Schwerter ;


Unsere rechte Hand reicht hin.
Wir werden den Körper (unserer Feinde)
In zwei Teile aufsplittern
Und die Seiten in Stücke schneiden.
Andere Männer gebrauchen Holzkeulen.
Wir brauchen kein Holz.
Unser Daumen und Zeigefinger sind genug.
Wir können zerstören,
Indem wir dreimal mit unseren Fingern schnippen.
Das Blut aus der Leber (unserer Feinde)
Wird aus dem Mund entweichen.
Obgleich wir die Haut nicht verletzten,
Werden wir alle Eingeweide
   aus dem Mund herausziehen.
Der Mann wird noch leben,
obgleich sein Herz aus dem Mund herauskommt.
Dieser Körper (des Feindes) mit Augen und Kopf
Wird zu einem Hut für den König
Aus dem Weißen Zelt Stamm gemacht.
Ich opfere sein Herz dem Kriegsgott
Des weißen Volkes von Ling.
(* Bell 13/14)

962
Von Ethik, Moral und buddhistischem Mitgefühl ist hier
nicht viel zu spüren ! In einer von Geoffrey Samuel her-
ausgegebenen Anthologie verweisen denn auch Pema Ts-
ering und Rudolf Kaschewsky darauf, daß das »Grund-
prinzip« des Epos darin bestehe, »seinen eigenen Vor-
teil mit allen nur verfügbaren Mitteln zu erreichen. Ob
der Gegner durch Betrug hintergangen wird, ob Verrat
angewandt wird oder ob die Schwäche des anderen bru-
tal mißbraucht wird, Skrupel oder irgendwelche Gewis-
sensbisse fehlen vollständig. Wenn es da eine Grundidee
gibt, die sich durch das ganze Werk zieht, ist es das Prin-
zip, daß Macht gleich Recht ist.« (* Samuel, 1994, 64)
Aber gerade das machte den vorbuddhistischen Gesar-
Mythos für die Philosophie der Tantriker so interessant.
Geoffrey Samuel kommt deswegen auch zu dem Schluß,
das Epos sei »ein klassischer Ausdruck der schamani-
stischen Vajrayana-Religion von Tibet.« (* Samuel, 1993,
55) Das soll wohl heißen, daß beide Systeme, das tan-
trisch-buddhistische Indiens und das vorbuddhistisch-
schamanistische Tibets, eine kulturtragende Symbiose
miteinander eingegangen sind.
Die Nyingmapas zum Beispiel sahen in dem Helden
(Gesar) eine Inkarnation Padmasambhavas, der zurück-
kehrte, um die Dämonen aus dem Schneeland zu ver-
treiben. Andere lamaistische Interpreten des Epos feiern
Gesar als den »Herrn über den dreischichtigen Kosmos«
und als Chakravartin. (* Hummel, 1993, 53) Der Glaube,
der »Große Fünfte« sei eine Inkarnation des halbgöttli-
chen Kriegers gewesen, war und ist noch weit verbreitet.
In Osttibet wurde Anfang dieses Jahrhunderts der XIII

963
Dalai Lama als eine Wiedergeburt Gesars verehrt. Die
höchste klerikale Inkarnation der Mongolei, der Jebtsun-
damba Khutuktu, gilt dagegen als eine Verkörperung von
Gesars Wunderpferd.
Häufig hat man auch den Shambhala-Mythos mit dem
rohen Draufgänger in Beziehung gebracht. Nach seinem
irdischen Tod soll er ins Mythenland gegangen sein, um
dort auf die prophezeite Endschlacht zu warten. Nach-
dem er »diese Menschenwelt wieder verlassen hatte, be-
steht nach den Vorstellungen der Tibeter eine Verbin-
dung zwischen ihm und der lamaistischen Apokalypse«.
(* Hummel, 1993, 37)
Sein Archetyp als militanter Heilsbringer spielte selbst
in diesem Jahrhundert bei der tibetischen Guerrilla in
den 50er und 60er Jahren eine wichtige Rolle. Im Kampf
gegen die chinesischen Kommunisten sehnte man die
Rückkehr des Kriegshelden herbei, um Tibet von der »ro-
ten Tyrannei« zu befreien. Seit der Zeit der chinesischen
Kulturrevolution bis in die 90er Jahre beschwor der re-
putierte Nyingmapa-Lama Khenpo Jikphun in Tibet den
Kriegshelden und bat ihn um Unterstützung. Seine Be-
schwörungsrituale hatten Erfolg, denn in den letzten Jah-
ren erlebte der Mythos in den tibetischen Untergrundzir-
keln eine Renaissance. 1982 gab es in der Provinz Amdo
eine Bewegung, deren Anführer, Sonam Phuntsog, sich
als eine Inkarnation des Krieghelden Gesar ausgab. Die
Aktivitäten der Gruppierung waren meist magischer Na-
tur und bestanden vor allem im Herbeizitieren der Schrec-
kensgötter. Diese verkündeten gut dualistisch durch die
Stimme eines Besessenen : »Jetzt ist die Zeit gekommen,

964
wenn die Götter der ›weißen Seiten‹ ihre Köpfe empor-
heben und die ›Dämonen der dunklen Seite‹ geschlagen
werden.« (* Schwartz, 229) Es ist verwunderlich, wie ernst
die »atheistischen« Chinesen solche magische Séancen
nehmen und sie als »offene Rebellion« verbieten.
Auch im Westen erlebt der Gesar-Mythos eine Renais-
sance. Zum Beispiel ließ der Rotmützen-Lama Chögyum
Trungpa den Barbaren in den USA als ein militantes Vor-
bild von seinen Schülern verehren. Mittlerweile ist der
Held für viele westliche Buddhisten, die sich nicht im ge-
ringsten die Mühe machen, dessen atavistischen Lebens-
stil zu hinterfragen, zu einem nachahmenswerten Sym-
bol für Freiheit und Selbstbewußtsein geworden.
Selbst der XIV Dalai Lama (»der größte lebende Frie-
densfürst«) kritisiert den Kriegshelden nicht, sondern
sieht ihn – diese Sicht muß als ein Höhepunkt tantri-
scher Verkehrungen angesehen werden – geradezu als
einen Meister des Mitgefühls : »Könnte Gesar eines Ta-
ges wiederkehren, wie dies von einigen behauptet, von
anderen geglaubt wird ?« fragt der Kundun und antwor-
tet : »Tatsache ist, daß er es versprochen hat … Sagt man
nicht auch, Gesar sei eine Inkarnation von Avalokitesh­
vara, dem Buddha des grenzenlosen Mitleids ? Er ist also
auch ein Meister, und die Meister haben viel Macht …«
(* Levenson, 83) Ausgehend von solchen Zitaten wird in
buddhistischen Kreisen darüber spekuliert, ob Seine Hei-
ligkeit (ebenfalls eine Inkarnation des Avalokiteshvara)
nicht auch eine Verkörperung des barbarischen Gesar
sei, zumal der »Große Fünfte« diese Rolle für sich in An-
spruch nahm. Die Frage, wie sich eine solche martiali-

965
sche Vergangenheit mit der Verleihung des Friedensno-
belpreises verträgt, bleibt unbeantwortet.
In den aktuellen eschatologischen Protestbewegun-
gen Tibets werden nach Ronald D. Schwartz die Wie-
derkehr des Mythenkriegers Gesar, die Erscheinung des
Shambbala-Königs und die Epiphanie des Buddha Mai-
treya mit der »unmittelbaren und greifbaren Möglich-
keit der Rückkehr des Dalai Lama nach Tibet« verbun-
den. (* Schwartz, 231) Regenbögen und Erdbeben sol-
len anzeigen, daß bei den Aufständen übermenschliche
Kräfte mitwirken. 89
Damit jedoch der martialische Charakter Gesars west-
liche Gemüter nicht abschreckt und sie in einen Konflikt
mit ihren buddhistischen Idealen bringt, lösen die La-
mas das Problem – wie immer in solchen Fällen – mit
einer Versubjektivierung des Mythos. So sieht Tarthang
Tulku in den Abenteuern Gesars den inneren Kampf je-
des Adepten mit seinem schlechten Selbst : »Symbolisch
gesehen repräsentiert König Gesar Freiheit und Befrei-
ung von den Fesseln der Unwissenheit, er ist der König
des menschlichen Bewußtseins. Das Königreich von Ling
ist das Reich rastloser Erfahrung, das vereint und gefe-
stigt werden muß. Der zu gewinnende und zu schützen-
de Schatz ist unser eigenes Selbstverständnis. Die Feinde,

89 Während einer Kultzeremonie erschienen 1989 in Kongpo die


»Götter« Amithaba, Avalokitesbvara und Padmasambhava. Im-
mer mehr Medien treten auf, durch deren Mund sich die Dharm-
apalas (Schutzgottheiten) zu Wort melden und die Befreiung
vom chinesischen Joch verkünden. (* Schwartz, 227)

966
die wir besiegen müssen, sind Emotionalität und Igno-
ranz.« (* zit. b. Samuel, 1994, 65)
Westliche Schüler, von denen kaum einer das bracchi-
ale Epos gelesen haben mag, nehmen solche Botschaf-
ten mit leuchtenden Augen entgegen. Konsequent durch-
dacht würde jedoch die Übertragung des Gesar-Musters
auf die seelischen Kämpfe bedeuten, daß man Brutalität,
Mord, Hinterhältigkeit, Untreue, Vergewaltigung, Grob-
heit, Prahlerei, Gnadenlosigkeit und ähnliches gegen sich
selber einsetzen muß, um Erleuchtung zu erlangen. Was
zählt, ist der Sieg, hierzu ist jedes Mittel recht.
Die politische Gefahr, die aus einer solchen undifferen-
zierten Gesar-Verherrlichung entstehen kann, wird viel-
leicht deutlich, wenn wir uns wieder an das Nibelungen-
epos zurückerinnern, das nach einigen Forschern – wie
schon erwähnt – aus den gleichen mythischen Quellen
schöpft. Den meisten Deutschen und Juden steckt im-
mer noch die verhängnisvolle Glorifizierung des Dra-
chentöters Siegfried durch die Nationalsozialisten in den
Knochen. Dabei erscheint der blonde germanische Recke
in einem Vergleich zu seinem barbarischen tibetischen
»Bruder« noch edel, ehrlich, gutmütig und fromm.

Die tibetischen Kriegerkönige


und ihre klerikalen Nachfolger

In den Richtlinien für eine neue Regierungsform nach


der Befreiung des Schneelandes von der chinesischen
Bevormundung schreibt der XIV Dalai Lama (1993) :

967
»Unter der Herrschaft seiner Könige und der Dalai La-
mas war das politische System Tibets fest in seinen spiri-
tuellen Werten verwurzelt. Folglich herrschten Frieden
und Glück in Tibet.« (Dalai Lama XIV, 1993 II, 24)
Ob diese Aussage der Wahrheit entspricht, können nur
die historischen Ereignisse beweisen. Werfen wir also
einen Blick zurück in Tibets Vergangenheit. Die zwei
bedeutendsten Könige der Yarlung-Dynastie, Songtsen
Gampo (617–650) und Trisong Detsen (742–803), haben
als erfolgreiche und brutale Feldherren das Reich mit ei-
ner konsequenten Kriegspolitik bis tief hinein nach Chi-
na ausgedehnt. Beide waren, zumindest der Sage nach,
Inkarnationen von Bodhisattvas, das heißt mitfühlende
Wesen, obgleich man die tibetischen Heere wegen ihrer
erbarmungslosen Grausamkeit in ganz Innerasien fürch-
tete. Berichte aus den Tang-Annalen bewundern zudem
die hohe Kriegskunst der tibetischen »Barbaren«. Selbst
moderne Tibetexperten schwärmen noch heute von den
guten alten Zeiten, als Tibet noch eine militärische Groß-
macht war : »Diese Armeen wurden wahrscheinlich bes-
ser geführt und waren disziplinierter als diejenigen des
späten mittelalterlichen Europas und können in ihrer all-
gemeinen Struktur nur verglichen werden (mit Armeen)
der modernen Ära unter Generälen wie Wellington und
Rommel«, lesen wir 1990 in der Tibetan Review. (* Tibe-
tan Review, Oktober 1990, 15)
Nach dem Untergang der Yarlung-Dynastie kam es
in der Tat Jahrhunderte lang nicht mehr zu größeren
Kriegsereignissen. Das lag aber keineswegs daran, daß
jetzt die Tibeter friedlicher und mitfühlender geworden

968
wären. Ganz im Gegenteil, die einzelnen untereinander
zerstrittenen Sekten und die verschiedenen Fraktionen
des Volkes schwächten sich so stark durch gegenseitige
und häufige Kleinkriege, daß es nicht zu einer umfas-
senden Staatenbildung kommen konnte. Gar nicht selten
führten Großlamas mit den ihnen untergebenen Mönchs-
haufen regelrechte Schlachten gegeneinander. Dabei war
sich keine der Richtungen jemals zu schade, Fremde ins
Land zu holen, um mit deren Hilfe aufeinander loszu-
schlagen. Bis in unser Jahrhundert hinein konnten des-
wegen Chinesen und Mongolen in allen Fällen als die ge-
rufenen Bündnispartner bestimmter Mönchsklöster in
die Politik Tibets eingreifen.
Zum Beispiel wurde 1290 das Brigung-Kloster der Ka-
gyüpa-Sekte von bewaffneten Mönchen der Sakyapa mit
Hilfe der Mongolen dem Erdboden gleichgemacht. »Das
Elend war selbst größer als das derjenigen, die in die Höl-
le gegangen sind« (* Bell, 67), heißt es in einem Text der
Rotmützen. Die zahlreichen kriegerischen Streitigkeiten
in der Geschichte des Schneelandes sind nur deswegen
nicht bekannt geworden, weil sich meist kleinere Grup-
pen gegenüberstanden. So waren die Kämpfe weder von
langer Dauer, noch verbreiteten sie sich über weite Ge-
biete. Dazu kam, daß die »reine Lehre« offiziell jegliche
Gewaltanwendung verbot und daß deswegen jeder Streit
zwischen den Orden von beiden Parteien möglichst bald
vertuscht oder verdrängt wurde. Wie paradox es auch
klingen mag, das Land blieb relativ »ruhig« und »fried-
lich«, weil alle Parteien untereinander extrem stark ver-
kriegt waren. In dem Augenblick aber, als es im 17. Jahr-

969
hundert unter dem V Dalai Lama zur Errichtung eines
Großstaates kam, war ein grausamst geführter Bürger-
krieg dafür die Voraussetzung.

Die Dalai Lamas als höchste Kriegsherren

Über diesen Bürgerkrieg zwischen den Gelugpas und


den Kagyüpas, aus dem der »Große Fünfte« als Schlach-
tenheld hervorging, wird heute ungern gesprochen. Wir
wissen, daß der V Dalai Lama mehrmals, um seine po-
litischen Absichten durchzusetzen, den Kriegsgott Begt-
se gegen die Tibeter anrief. In Osttibet wurde er zudem
als eine Inkarnation des archaischen Helden Gesar ge-
feiert. Er selber war der Autor mehrerer Schlachtenlie-
der wie das folgende :

Mutig und erprobt sind die Krieger,


Unwiderstehlich und scharf die Waffen,
Unzerbrechlich und hart die Schilde,
Ausdauernd und schnell die Pferde.
(* Sierksma, 140)

Von ihm stammt auch die brutale Aufforderung zur to-


talen Feindvernichtung bis hinein ins dritte Glied :

Macht die männlichen Linien zu Bäumen,


  deren Wurzeln abgeschnitten werden.
Macht die weiblichen Linien zu Bächen,
  die im Winter versiegen.

970
Macht die Kinder und Enkelkinder zu Eiern,
  die gegen Felsen geschleudert werden.
Macht die Diener und Gefolgsleute zu Heuhaufen,
  die durch Feuer verzehrt werden.
Macht ihre Wohnsitze zu Lampen,
  deren Öl verbraucht ist.
Kurz – vernichtet all ihre Spuren,
  selbst ihre Namen.
(* zit. b. Sperling, 3)

Mit dieser Anweisung, die Kinder seiner Feinde an Fel-


sen zu zerschlagen und deren Frauen unfruchtbar zu ma-
chen, richtete sich der »Große Fünfte« (das höchste hi-
storische Vorbild des jetzigen XIV Dalai Lama) an die
Mongolen unter Gushri Khan und legitimierte damit de-
ren grausames Vorgehen gegen die Tibeter. »Man mag
mit einiger Berechtigung sagen«, schreibt Elliot Sperling,
»daß der V Dalai Lama nicht dem Standard-Image ent-
spricht, das heute viele Leute von einem Dalai Lama ha-
ben, vor allem vom Bild eines Nobelpreisträgers.« (* Sper-
ling, 4) Knapp zwei Jahrhunderte später (Ende des 18.
Jahrhunderts) rächte sich ein Rotmützen-Lama für die
Schmach, die der Dalai Lama seinem Orden angetan hat-
te, und holte die indischen Gurkhas ins Land.
Der »Große Dreizehnte« baute selber ein Heer auf, das
aus regulären Truppen, einer Laienmiliz und der »Gol-
denen Armee«, wie die Mönchssoldaten genannt wurden,
bestand. Kriegermönche waren nichts Außergewöhnli-
ches im alten Tibet, obgleich ihr Training und ihre mi-
litärische Ausrüstung einiges zu wünschen ließen. Sie

971
glaubten fest an das Gesetz der Gewalt, verehrten ihre
spezifischen Gottheiten und pflegten ihre eigenen Ge-
heimkulte. Lama ›Langohr‹ war der Führer der Truppen
in der Lamaserie – so heißt es in einem westlichen Reise-
bericht über einen Lama-Kommandanten (Anfang dieses
Jh.). »Obgleich ein Mönch, wußte er nicht seine Gebete
zu sagen, und weil er mehrere Leute getötet hatte, durfte
er nicht an Andachten teilhaben. Aber er wurde als ein
Mann von Mut und Kühnheit angesehen – war sehr in
der Lamaserie gefürchtet, ein mächtiger Freund und der
Schrecken seiner Feinde.« (* zit. b. Sierksma, 130)
Das vom XIII Dalai Lama aufgebaute tibetische Heer
setzte sich aus drei Gattungen zusammen : der mit Lan-
zen und Brustpanzern ausgerüsteten Kavallerie und der
etwas moderneren Infanterie und der Artillerie. Eigen-
artigerweise war in den Helmen der Reiter der Name Al-
lah eingraviert. Diese stammten von einer mohammeda-
nischen Armee, die einst gegen Lhasa gezogen sein soll.
Ein fürchterlicher Schneesturm hätte sie überrascht und
alle erfrieren lassen. Ihre Waffen und Rüstungen wur-
den anschließend in die Hauptstadt gebracht und dort in
einer jährlichen Parade zur Schau gestellt. Wahrschein-
lich glaubte man, sich mit den Helmen im Kampf gegen
die Mohammedaner – den Erzfeind aus dem Kalacha-
kra-Tantra – zu schützen, da diese es nicht wagen wür-
den, auf den Heiligen Schriftzug ihres Höchsten Gottes
zu feuern.
Diese Armee des XIII Dalai Lamas, die zum größten
Teil aus Leibeigenen bestand, war mehr oder weniger pit-
toresk, was selbstverständlich ihrem kriegerischen, »un-

972
buddhistischen« Gehabe keinen Abbruch tat. Man focht
jedoch nicht nur mit der Waffe in der Hand, sondern war
auch magisch im Einsatz. Während des »Großen Gebets-
festes« wurden zum Beispiel von der Kavallerie und In-
fanterie Tormas (Teigfiguren) in ein Feuer geworfen, um
durch diesen Brandzauber den Feinden des Landes Scha-
den zuzufügen. Jede einzelne Opfergabe sollte später in
der Realität wie eine »Bombe funktionieren«. 90 (* Chö-
Yang, Vol. 1 No. 2, 1987, 93)
Von noch größerem martialischen Gehabe wie die tibe-
tische Armee war die sogenannte »Mönchspolizei«. Hein-
rich Harrer (der »beste Freund des XIV Dalai Lama«) be-
schreibt die »finsteren Gesellen«, die Anfang der 50er Jah-
re in Lhasa den Ordnungsdienst stellten, mit folgenden
Worten : »Die Gestalten in den roten Kutten sind nicht
immer sanfte und gelehrte Brüder. Die meisten sind gro-
be und gefühllose Gesellen, für die die Peitsche der Diszi-
plin nicht streng genug sein kann … Sie tragen eine rote
Binde um den nackten Arm und schwärzen sich das Ge-
sicht mit Ruß, um recht furchterregend auszusehen. Im
Gürtel haben sie einen riesigen Schlüssel stecken, der je
nach Bedarf als Schlagring oder Wurfwaffe dient. Nicht
selten tragen sie auch ein scharfes Schustermesser in der
Tasche versteckt. Viele von ihnen sind berüchtigte Rau-

90 Rudolf A. Stein nahm 1954 an einer martialischen Zeremonie


in Sikkim teil, auf der verschiedene Kriegsgötter angerufen wur-
den. Es gab eine »Rezitation zur Aufhetzung des Schwertes« und
eine weitere für das Gewehr. Der Text endete mit einer »Aufhet-
zung« des Planeten Rahu. (* Stein, 1993, 247) Solche Veranstal-
tungen gab es auch im alten Tibet.

973
fer ; schon ihr frecher Gang wirkt herausfordernd ; ihre
Angriffslust ist bekannt, und man hütet sich, sie zu rei-
zen.« (* Harrer, 1994, 216, 217)
Offiziere und Mannschaft der tibetischen Streitkräf-
te neigten ebenso wie die Polizei von Lhasa zur exzessi-
ven Korruption und sind in den Nachtstunden die Täter
von allerlei Verbrechen gewesen. Wie die westliche Ma-
fia, verlangten sie von den Gewerbetreibenden Schutzgel-
der und drohten bei Nichtzahlung mit Angriffen auf Gut
und Leben. Das war sicher nicht im Sinne ihres obersten
Kriegsherrn, des XIII Dalai Lama, der noch in seinem
Testament von »effizienten und gut ausgerüsteten Trup-
pen … als sichere Abschreckung gegen jegliche Feinde«
träumte. (* Michael, 173)
Da das einst mächtige Tibet seit dem Untergang der
Yarlung-Dynastie (9. Jh.) nie mehr aus sich heraus eine
große militärische Macht entwickeln konnte, vibriert das
Land geradezu von aufgestauter Kriegsenergie. Das ha-
ben mehrere westliche Reisende bestätigt. Auch der bri-
tische Freund des XIII Dalai Lama, Charles Bell, muß-
te feststellen, »daß die kriegerische Energie der Tibeter,
obgleich vom Buddhismus untergraben, auch jetzt noch
nicht zerstört ist. Sollte der Buddhismus jemals schwin-
den, wird der kämpferische Geist zurückkehren.«(* Bell,
77) Bell übersieht dabei, daß dieser Geist Teil der tan-
trischen Praxis ist, doch scheint er das zu ahnen, wenn
er mit den folgenden Sätzen fortführt : »In der Tat er-
warten die Tibeter, später für ihre Religion zu kämpfen.
Man kann manchmal in den tibetischen Büchern über ein
Land mit dem Namen Shambhala lesen … ein mystisches

974
Land, das drei oder vier Jahrhunderte in der Zukunft der
Schauplatz von heftigen und bestimmenden Feindschaf-
ten zwischen den Buddhisten und Mohammedanern sein
wird.« (* Bell, 77) Ein tibetisches Sprichwort sagt : »Für
den Buddha, der von Feinden bedroht wird, ergreifen
seine Schüler die Waffen.« (* Bell, 191)

Die Geschichtsklitterung vom »friedlichen« Tibeter

Die im Westen verbreitete Darstellung des Alten Tibet


als friedliches Land ist also eine bewußte und grobe Ver-
fälschung der Geschichte. Selbst offizielle Texte aus der
tibetischen Tradition haben sich selten zu solch pazifi-
stischen Übertreibungen hinreißen lassen, wie es heute,
vor allem nach der Verleihung des Friedensnobelpreises,
der Dalai Lama tut. Die einheimischen Historiker wuß-
ten sehr wohl Bescheid über das kämpferische und ag-
gressive Potential, das in den Seelen der Tibeter schlum-
merte. Sie verleugneten nicht, wie die Lamas oft genug
aus eigenen Machtinteressen Gewalt anwenden mußten.
Schon das Mani Kambum, ein Buch über die Mythenge-
schichte Tibets aus dem 13. Jahrhundert, hat zu berich-
ten, daß dessen Einwohner von ihrem Vater Avalokitesh-
vara den Glauben, die Weisheit und die Güte geerbt hät-
ten, von ihrer Mutter Shrinmo jedoch »die Freude am
Töten, die körperliche Kraft und den Mut«. (* Stein, 37)
Die Bewertung des Krieges durch den Lamaismus ist
grundsätzlich bejahend und positiv, soweit es um die Ver-
breitung des Buddhismus geht. (Wir werden das noch an

975
vielen Beispielen zu zeigen haben.) Dabei handelt es sich
keineswegs um ein Auseinanderklaffen von historischer
Realität und buddhistisch-pazifistischer Doktrin. Der Vaj­
rayana selber kultiviert ein aggressiv-kriegerisches Ver-
halten, und das nicht nur, um es durch Bewußtseinskon-
trolle zu überwinden. Kriege werden – wie es auch bei
anderen Religionen üblich ist – ausgelöst, um gegen die
»Feinde der Lehre« vorzugehen. Immer schon war die
Staatsreligion des Schneelandes (der Vajrayana) ihrem
Wesen nach kriegerisch, und ein buddhistischer Tantri-
ker greift nicht nur aus Not zur Waffe, sondern ebenso,
um zu erobern und um Gegner zu vernichten. Die Tu-
genden eines Soldaten – Mut, Selbstaufgabe, Tapferkeit,
Ehre, Durchhaltekraft, List, sogar Wut, Haß und Gnaden-
losigkeit – zählen ebenso zu den spirituellen Disziplinen
des buddhistischen Tantrismus.
»Kriege« führen die Lamas jedoch nicht nur auf realen
Schlachtfeldern. Weit mehr noch kämpft man in der Ima-
gination. Jeder, auch wenn er sich nur einen flüchtigen
Einblick in die aggressive tantrische Ikonographie ver-
schafft, kann das feststellen. Ebenso übertragen alle ( !)
Tantras die Militärsprache auf religiöse Ereignisse und
beschreiben den Kampf des Geistes gegen seine Beflec-
kungen als einen »Krieg«. Auf dem Erleuchtungsweg wird
gekämpft, geschlagen, durchbohrt, verbrannt, zerschnit-
ten, gefesselt, geköpft, besiegt, vernichtet, gesiegt und tri-
umphiert. Die Buddhas betreten als »Sieger«, »Helden«,
»Kämpfer«, »Generäle«, »Heerführer« das Schlachtfeld
des Samsara (unserer sogenannten Illusionswelt).
Entsprechend verehrt die tibetische Gesellschaft schon

976
immer die »Gestalt des Kriegers« neben der »Gestalt
des Heiligen« (Buddha, Bodhisattva, Tulku) als ihren
höchsten Archetyp. Seit den halbmythischen Königen
des 7. Jahrhunderts bis hin zu den modernen Guerill-
aführern der Khampas gilt der »kämpfende Held« als
das heroische Urbild, nach dem sich auch heute noch
Tausende von Jugendlichen und jungen Männern in Ti-
bet und im Exil orientieren. Schon von Beginn der ti-
betischen Geschichte an wurden die Grenzen zwischen
dem »Krieger« und dem »Heiligen« verwischt. Ein gu-
ter »Schüler« des Vajrayana und ein Shambala-»Krie-
ger« sind identisch.

Ist der XIV Dalai Lama


der »größte lebende Friedensfürst« ?

Seit der Verleihung des Friedensnobelpreises (1989) wird


der XIV Dalai Lama in der westlichen Presse als der
»größte lebende Friedensfürst« unserer Zeit gefeiert. Mit
einem selbstbewußten und gütigen Lächeln nimmt er
diese Auszeichnung entgegen und erinnert seine Zuhö-
rer bescheiden daran, welch enormen Einfluß er Mahat-
ma Gandhi verdankt. Ausgerüstet mit dessen Doktrin
über die Gewaltlosigkeit (Ahimsa), gibt es kein Thema,
das Seine Heiligkeit häufiger und mit mehr Pathos an-
spräche wie den »äußeren« und »inneren« Frieden. »Für
mich kann Gewalt unmöglich der Weg sein«, ist in den
letzten Jahren eines der meist gehörten Worte aus sei-
nem Munde. (* Levenson, 349)

977
Ahimsa (Absage an jegliche Gewalt) war ursprünglich
kein buddhistischer Wert, insbesondere nicht im Kon-
text mit den Tantras. Der XIII Dalai Lama wußte zum
Beispiel mit diesem Begriff überhaupt nichts anzufangen,
als Gandhi ihn in einem Brief aufforderte, sich seiner
Idee anzuschließen. Wie dem auch sei – das zukünftige,
vom chinesischen Joch erlöste Tibet soll nach den Wor-
ten des XIV Dalai Lama in eine »Friedens- und Ahimsa-
Zone« umgewandelt werden. Keine Armee, keine Waffen,
vor allem keine atomaren Sprengköpfe werde es nach der
Befreiung im Schneeland mehr geben. Der Kundun hält
darüber hinaus den Handel mit Militärgütern für etwas
ebenso Unverantwortliches wie das aggressive, unkon-
trollierte Aufbrausen eines Individuums. Beispielhaft for-
derte er die Israelis und die Palästinenser auf, ihre Waffen
niederzulegen. Als erstrebenswertes Endziel verkündet er
die Demilitarisierung unseres gesamten Planeten.

Kriegsspielzeuge

Im Gegensatz zu dieser ständig nach außen hin demon-


strierten pazifistischen Grundeinstellung steht überra-
schenderweise eine gewisse Faszination für das Kriegs-
handwerk, die Seine Heiligkeit schon als Kind in ihren
Bann zog. In Martin Scorses Film (Kundun) über das
Leben des Dalai Lama wird diese Vorliebe in einer klei-
nen Szene plastisch dargestellt. Der kindliche Gottkönig
spielt mit Zinnsoldaten. Mit einem Handstreich wirft er
sie plötzlich um und ruft emphatisch aus : »Ich will die

978
Macht !« Diese Filmanekdote dürfte realistischer gewe-
sen sein als die fromme und weitverbreitete Legende,
nach der der junge Gottkönig diese Zinnsoldaten ein-
schmelzen ließ, um sie anschließend zu Spielzeugmön-
chen umzumodellieren.
Als Heranwachsender schätzte der Kundun Schieß-
übungen mit einem Luftgewehr aus dem Nachlaß sei-
nes Vorgängers und ist immer noch stolz darauf, ein guter
Schütze zu sein. Ohne Scham verweist er in seiner Au-
tobiographie darauf, daß er eine Luftpistole besitze und
sich damit im Scheibenschießen übe. Eines Tages tötete er
eine Hornisse, die ein Wespennest ausräuberte. »Ein Be-
schützer der Schutzlosen !« – kommentierte ein Biograph
ehrfurchtsvoll diesen Scharfschuß. (* Hicks, 197)
Die offen eingestandene Schwäche des Kunduns für
Kriegsliteratur und Kriegsfilme hat nicht wenige seiner
Bewunderer erstaunt. Als Junge war er begeistert von eng-
lischen Militärbüchern. Sie dienten ihm als Vorlage, um
Kampfflugzeuge, Schiffe und Panzer nachzubauen. Spä-
ter ließ er sich Passagen daraus ins Tibetische überset-
zen. Das ehemalige SS-Mitglied Heinrich Harrer mußte
ihm gegen Ende der 40er Jahre über die eben erst ver-
gangenen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges berichten.
Seit seiner Jugend hat sich an dieser Passion für Militaría
wenig verändert. Noch im Jahre 1997 bekannte der Kun-
dun in einem Interview seine Begeisterung für Unifor-
men : Sie »sind aber auch sehr attraktiv … Jeder Knopf an
der Jacke glänzt so schön. Und erst die Gürtel. Die Ab-
zeichen.« (* Süddeutsche Zeitung, Magazin, 21. 3. 1997,
79) 1998 erzählte der Friedensnobelpreisträger auf seinem

979
Deutschlandbesuch : »Ich habe mir schon als Kind gern
Bilderbücher aus der Bibliothek meines Vorgängers an-
gesehen, speziell über den ersten Weltkrieg. Ich liebte all
die Instrumente, die Waffen und Panzer, die Flugzeuge,
die tollen Kriegsschiffe und U-Boote. Später bat ich um
Bücher über den zweiten Weltkrieg. Als ich 1954 Chi-
na besuchte, wußte ich darüber mehr als die Chinesen.«
(Zeitmagazin, Nr. 44, 22. Oktober 1998, 24) Auf die Fra-
ge nach seinen Fernsehgewohnheiten plauderte er (eben-
falls in Deutschland) über seine Vorliebe für Kriegsfilme :
»Früher hatte ich allerdings eine Lieblingssendung. Sie
werden es mir nicht glauben ! ›M :A :S.H‹ – die US-Serie
über den Vietnamkrieg. Sehr komisch … (lacht) (* Fo-
cus 44/1998, 272)
Als er 1986 die Normandie besuchte, wünschte er sich
aus heiterem Himmel und völlig gegen das Programm,
das Landungsgebiet der Alliierten im Zweiten Weltkrieg
zu besuchen. »Ich wollte auch die Waffen sehen, diese
mächtigen Kanonen und alle diese Gewehre, die mich
schmerzlich berührten. In der Nähe von diesen Maschi-
nen, diesen Waffen und diesem Sand habe ich die Emo-
tionen jener gespürt und geteilt, die sich damals dort
befanden …« (* Levenson, 291) Trotz solch frommer
Beteuerungen des Berührtseins mit den Schlachtenop-
fern klingt auch hier die kindliche Begeisterung an den
Kriegsmaschinen durch. Oder handelt es sich dabei le-
diglich um eine Laune des »Zeitgottes«, dessen Enthusi-
asmus für verschiedene Waffensysteme im Kalachakra-
Tantra – wie wir schon berichtet haben – so ausführlich
zu Wort kommt ?

980
Auch wenn solche martialischen Vorlieben und Spie-
lereien im Normalfall harmlos sein mögen, so dürfen
wir nie vergessen, daß der Dalai Lama, anders als ein
normaler Mensch, auch eine Symbolfigur darstellt. Al-
les Fromme, was es ansonsten aus der Kindheit und dem
Leben des Gottkönigs zu berichten gibt, gilt mittlerweile
dank einer machtvollen Filmpropaganda als wunderba-
res Vorzeichen und als das Indiz eines kosmischen Pla-
nes. Ist es deswegen nicht konsequent, auch seine Faszi-
nation für das Kriegsmilieu als ein höheres Zeichen zu
deuten, welches auf die aggressiven Potentiale seiner Re-
ligion hinweist ?

Reting Rinpoche und die Ermordung


des Vaters Seiner Heiligkeit

Das frühe Leben des jungen Dalai Lama verlief alles an-
dere als friedlich. Sein Umfeld war in den 40er Jahren in
gewaltsame und blutige Auseinandersetzungen verwic-
kelt, die keineswegs immer auf das Konto der Chinesen
gingen. Obschon der damalige Regent, Entdecker und
erste Lehrer des Gottkönigs, Reting Rinpoche, 1941 die
Regierungsgeschäfte an seinen Nachfolger Taktra Rin-
poche übertragen hatte, wollte er später die verlorene
Macht für sich zurückgewinnen. Seit 1945 kam es des-
wegen zu immer schärfer werdenden Dissonanzen zwi-
schen der tibetischen Regierung und dem Ex-Regenten.
Zu dessen getreuen Anhängern zählte auch der ungeho-
belte und durch seine Eskapaden landesweit gefürchte-

981
te Vater des Dalai Lama, Choekyong Tsering. 1947 starb
dieser plötzlich als 47Jähriger an einer Mahlzeit. Nicht
nur Gyalo Thondup, ein Bruder des Kunduns, ist davon
überzeugt, daß er von Regierungskreisen vergiftet wur-
de. (* Craig, 120)
Kurz danach entschied sich Reting Rinpoche zu ei-
ner offenen Rebellion. Seine Anhänger versuchten, den
Regenten Taktra zu ermorden, und gingen die Chine-
sen um Waffen und Munition an. Sie wurden aber bald
von den tibetischen Regierungstruppen überwältigt, die
den Ex-Regenten gefangen nahmen. Mönche des Klosters
Sera eilten diesem zur Hilfe. Zuerst ermordeten sie ihren
Abt, einen Anhänger Taktras. Dann stürmten sie unter
der Führung eines 18jährigen Lamas, Tsenya Rinpoche,
der als die Inkarnation einer zornvollen Schutzgottheit
(Dharmapala) anerkannt war und von seinen Mitmön-
chen als »Kriegsführer« bezeichnet wurde, nach Lhasa,
um Reting Rinpoche zu befreien. Auch dieser Aufstand
zerfiel unter dem Artilleriefeuer der Regierungstruppen.
Mindestens 200 Sera-Mönche kamen in diesem »Bürger-
krieg« der Mönche ums Leben. Retings Residenz wurde
dem Erdboden gleichgemacht.
Bald darauf klagte man ihn wegen Hochverrats an, er-
klärte ihn für schuldig und warf ihn in die berüchtigten
Kerker des Potala. Er soll grausam gefoltert und später
erdrosselt worden sein. Andere berichten, man habe ihn
vergiftet. (* Goldstein, 1989, 513) Einem hohen Beamten,
der mit den Aufständischen symphatisierte, wurden die
Augballen ausgedrückt. Wie grausam und quälend die
Atmosphäre dieser Zeit war, beschrieb später ein tibeti-

982
scher Flüchtling ( !) : »Rivalität, interne Streitereien, Kor-
ruption, Nepotismus – es war dekadent und schrecklich.
Alles wurde zu einer Angelegenheit von Show, von Ze-
remonien, von Wettrennen nach gesellschaftlichen Po-
sitionen.« (* zit. b. Craig, 123)

Die tibetische Guerilla und der CIA

In den 50er Jahren bildete sich in Tibet eine Guerilla mit


der Unterstützung der USA heraus, die jahrelang gegen
die chinesischen Besatzer militärische Aktionen durch-
führte. Geplant war eine groß angelegte antikommuni-
stische Offensive zusammen mit taiwanesischen Spezi-
aleinheiten und mit einem indirekten Support des in-
dischen Geheimdienstes. An der Spitze des Aufstandes
standen die stolzen und »grausamen« Khampas. Diese
Nomaden waren schon seit Jahrhunderten als Briganten
gefürchtet, so daß das Wort »Khampa« in Tibet iden-
tisch gebraucht wurde mit dem Wort »Räuber«. Mitte
der 50er Jahre hatte der amerikanische Geheimdienst
(CIA) mehrere Gruppen des wilden Stammes via Ost-
Pakistan nach Taiwan und später nach Camp Hale in
den USA gebracht. Dort erhielten sie eine Ausbildung
in Guerillataktik. Anschließend setzte man die meisten
per Fallschirm über Tibet ab. Einige von ihnen nahmen
damals mit der Regierung in Lhasa Kontakt auf. Ande-
re schreckten vor ihrem traditionellen Räuberhandwerk
nicht zurück und wurden zu einer Plage für die Land-
bevölkerung, die sie eigentlich von den Chinesen befrei-

983
en und nicht durch Plündereien noch mehr in die Mise-
re stürzen sollten.
Trotz ständiger, bis heute wiederholter Beteuerungen
des XIV Dalai Lama, seine Flucht aus Tibet hätte ohne
jeglichen äußeren Einfluß stattgefunden, war diese schon
Monate vorher in Washington von hohen Militärs durch-
gespielt worden. Alles verlief wie geplant. Die in den USA
ausgebildeten Guerilleros holten 1959 Seine Heiligkeit
aus seiner Sommerresidenz (in Lhasa) ab. Während des
langen Marsches zur indischen Grenze standen die Un-
tergrundkämpfer in ständigem Funkkontakt mit den
Amerikanern und wurden von Flugzeugen aus mit Le-
bensmitteln und Ausrüstungen versorgt. »Diese phan-
tastische Flucht und ihre wesentliche Bedeutung zählen
zum Sagengut der CIA als einem der Erfolge, über die
man Schweigen bewahrt. Der Dalai Lama wäre niemals
ohne die CIA gerettet worden«, erfahren wir von einem
»Eingeweihten«. (* Grunfeld, 155, 156)
Hinzukam, daß die Chinesen nicht besonders an ei-
ner Verfolgung der Flüchtlinge interessiert waren, weil
sie glaubten, sie würden mit der Rebellion in Tibet bes-
ser fertig, wenn der Kundun außer Landes sei. Mao Ze-
dong soll deswegen persönlich die Flucht des Dalai La-
mas ex post gebilligt haben. (* Tibetan Review, Januar
1995, 10) Ja – Beijing war noch Monate lang nach dem
Exodus davon überzeugt, Seine Heiligkeit wäre von den
Khampas gekidnappt worden.
In der Tat hatten die Chinesen allen Grund zu dieser
Annahme, wie sich aus einer Korrespondenz zwischen
dem Kundun und dem chinesischen Militärkommandan-

984
ten von Lhasa, General Tan Guansan, ergibt. Nur wenige
Tage, bevor der Gottkönig aus der Stadt fliehen konnte,
hatte er sich an den General mit der inständigsten Bit-
te gewandt, ihn vor den »reaktionären und bösartigen
Elementen« zu schützen, »die Aktivitäten entfalten, um
mich zu gefährden unter dem Prätext, für meine Sicher-
heit zu sorgen«. (* Grunfeld, 135) Gemeint waren mit
diesen »bösartigen Elementen« Hunderte von Tibetern,
welche seinen Sommerpalais Tag und Nacht umstellt hat-
ten, um ihm zuzujubeln.
Diese Massen wurden mehrmals vom politischen Stab
des Dalai Lama aufgefordert, ihre »Belagerung« aufzuge-
ben, da sie dadurch die Chinesen provozierten und die
große Gefahr bestehe, daß diese mit Artilleriefeuer auf
die unerlaubte Versammlung antworteten und dadurch
womöglich das Leben des Kunduns gefährdeten. Aber die
Leute blieben trotzdem, eben unter dem Vorwand, für die
Sicherheit ihres »Gottkönigs« zu sorgen. Dieser verfaßte
daraufhin das obige Schreiben an General Tan Guansan.
Insgeheim aber holte ihn eine Gruppe von Khampas in
einer Nacht- und Nebel-Aktion ab und brachte ihn un-
beschadet bis zur indischen Grenze.
Die von den Chinesen geduldete und von der CIA or-
ganisierte Flucht wurde später in der westlichen Presse
und vom Dalai Lama selbst zu einem göttlichen Exodus
hochmythisiert. Geheimnisvoll war von einer »mysti-
schen Wolke« die Rede, die den Flüchtlingstreck wäh-
rend des langen Marsches nach Indien verhüllt und vor
dem Blick und Zugriff des chinesischen Feindes geschützt
haben soll. Die Flugzeuge der CIA, die die Flüchtlinge

985
aus der Luft heraus begleiteten und mit Nahrungsmitteln
versorgten, wurden zu »Aufklärern« der Chinesen, wel-
che über dem flüchtigen Gottkönig kreisten, aber dank
wunderbarer Fügung und der »mystischen Wolke« nichts
erkennen konnten.
Auch wenn sich der Kundun seit Jahren von der tibe-
tischen Guerilla öffentlich distanziert, zeigte er in der
exiltibetischen Community »seinen« Untergrundkämp-
fern gegenüber immer große Sympathie. Seine Heiligkeit
hat die Dienste seiner Guerilleros auch im Exil geschätzt
und sich nach 1959 mehrmals öffentlich zu ihnen be-
kannt. »Trotz meines Glaubens«, heißt es in seiner 1964
publizierten Autobiographie, »bewundere ich sehr ihren
Mut und ihre Entschlossenheit, den grimmigen Kampf
auf sich zu nehmen, welchen sie für unsere Freiheit, un-
sere Kultur und Religion begonnen hatten. Ich danke ih-
nen für ihre Stärke und ihren Wagemut, und auch per-
sönlich für den Schutz, den sie mir gegeben hatten …
So konnte ich ehrenwerterweise ihnen nicht den Rat ge-
ben, Gewalt zu vermeiden. Um zu kämpfen, hatten sie
ihre Heime geopfert und all die Annehmlichkeiten und
Vorteile eines friedvollen Lebens. Jetzt konnten sie keine
Alternative mehr sehen, als weiter zu kämpfen, und ich
hatte dem nichts entgegenzusetzen.« (* Dalai Lama XIV,
1964, 190) In der neuen, 1990 erschienenen Fassung der
Autobiographie (Das Buch der Freiheit) des jetzigen Frie-
densnobelpreisträgers wird dieser Passus nicht mehr er-
wähnt. Er steht in einem zu offenkundigen Widerspruch
zum jetzigen Image des Kunduns als »der höchste Frie-
densfürst unseres Jahrhunderts«.

986
Eine andere Äußerung, die in der Biographie The Last
Dalai Lama von Michael Harris Goodman zu lesen ist,
zeigt noch deutlicher die Doppelzüngigkeit des Gottkö-
nigs in Sachen Gewaltlosigkeit : »In einer offiziellen Bot-
schaft«, soll er gesagt haben, »nannte ich die Guerille-
ros ›Reaktionäre‹ und gab bekannt, daß das tibetische
Volk sie nicht unterstützen solle. Zur gleichen Zeit wur-
de die Delegation instruiert, der Guerilla zu sagen, sie
sollten weiterkämpfen. Wir sprachen mit zwei Zungen,
der offiziellen und der inoffiziellen. Offiziell sahen wir
ihre Akte als Rebellion, aber inoffiziell betrachteten wir
sie als Heroen und sagten es ihnen.« (* Goodman, 271)
Schon im Exil zeichnete der Dalai Lama Anfang der
60er Jahre einen exponierten Rebellenführer mit densel-
ben Ehren aus, die im Normalfall bei der Ernennung zu
einem General vorgenommen werden. (* Grunfeld, 142)
Zur gleichen Zeit flogen mehrere freiwillige Exiltibeter
in die USA, um sich dort erneut unter Aufsicht der CIA
im Guerillakrieg ausbilden zu lassen. Die Vermittlun-
gen machte Gyalo Thondup, ein älterer Bruder des Da-
lai Lama.
Parallel hierzu baute Thondup 1962 zusammen mit
dem indischen Geheimdienst die Special Frontier Force
(SFF), rekrutiert aus Exiltibetern, auf, eine schlagkräftige
und gut ausgerüstete Gebirgsarmee, die jeden Augenblick
mit Fallschirmen in Tibet abgesetzt werden konnte. Sie
war 10 500 Mann stark und hatte ihr eigenes Offiziers-
korps. Gleichzeitig kam es zur Gründung der »Nationa-
len Freiwilligen Verteidigungsarmee« (National Volun-
teer Defence Army). Es ist kaum anzunehmen, daß der

987
Kundun nicht bestens über diese ehrgeizigen Militärpro-
jekte seines Bruders informiert war. Dennoch wird das
bis heute von offizieller Seite geleugnet. Auch von den 1,7
Millionen Dollar, die in den 60er Jahren vom CIA jähr-
lich den Tibetern für Militäraktionen zuflossen, soll Sei-
ne Heiligkeit nichts gewußt haben.
Der bewaffnete Kampf der Tibeter wurde auf höch-
ster politischer Ebene vor allem in Washington, Delhi
und Taipeh vorbereitet. Es kam nur deswegen zu kei-
nem Einsatz, weil Richard Nixon Anfang der 70er Jah-
re mit seiner chinafreundlichen Politik begann und jeg-
liche militärische Unterstützung der Tibeter einstellen
ließ. Ohne den Support der Amerikaner aber war der
Guerilla-Kampf völlig aussichtslos, und der Dalai Lama
distanzierte sich von nun an öffentlich von jeglicher Ge-
waltanwendung.
Jetzt hatte eine militärische Aktivität keinerlei Chan-
ce mehr, und man begann in Dharamsala damit, die Ge-
schichte der tibetischen Guerilla erfolgreich umzuschrei-
ben, »indem man die Fiktion fördert, daß der Volkswider-
stand gewaltlos war«, schreibt Jamyan Norbu und fährt
fort : »Tibetische offizielle Sprecher, Anhänger des Bud-
dhismus, westliche Unterstützer und Intellektuelle sehen
in der Resistance-Bewegung einen Störfaktor … weil es
irgendwie das bevorzugte friedensliebende Bild von Tibet
als Shangri La zerstört.« (* zit. b. Huber, 1997, 13)
Die Äußerungen des »Friedensnobelpreisträgers«
zum bewaffneten Kampf der Tibeter sind äußerst wi-
dersprüchlich und richteten sich in der Vergangenheit
weniger nach Grundsätzen als vielmehr nach der jewei-

988
ligen politischen Situation und Machtkonstellation. Zeit-
weise vertrat der Dalai Lama die Ansicht, »es sei durch-
aus angebracht, für eine gerechte Sache zu kämpfen und
sogar zu töten«. (* Levenson, 135) In einem Interview aus
dem Jahre 1980 antwortete er auf die Frage, ob sich Ge-
walt und Religion nicht gegenseitig ausschlössen : »Sie
sind vereinbar. Es hängt von der Motivation und vom
Ergebnis ab. Wenn beide gut sind und die Umstände
keine andere Alternative erlauben, dann ist Gewalt er-
laubt.« (* Avedon, 1982, 24)
Erst seit 1989, nachdem ihm der Friedensnobelpreis
verliehen wurde, pflegt der Gottkönig einen ausschließ-
lich pazifistischen Rückblick in die gewaltvolle Geschich-
te seines Landes. Noch vor ein paar Jahren erfuhr man
von Seiner Heiligkeit, daß es im alten Tibet viel Ag-
gressives gab, worüber man nicht gerade glücklich sein
konnte. Ab 1989 heißt es stereotyp, in der Vergangen-
heit des Schneelandes hätte es nur »Friede und Glück«
gegeben. 91 Früher konstatierte der Kundun : »Die Tibe-
ter sind ihrer Veranlagung nach ziemlich aggressiv und
kriegerisch«, und konnten nur durch den Buddhismus
gezähmt werden. (* Dalai Lama XIV, 1993 1, 18) Heute
lesen wir von demselben Autor : »Das tibetische Volk ist
von Natur aus aufrichtig, sanftmütig und freundlich«,
(* Dalai Lama XIV, 1993 II, 34), während zur gleichen
Zeit die indische Presse tibetische Jugendliche in Dha-

91 Erst seit 1997 zeichnet sich unter dem Einfluß der Sbugden-
Affäre eine selbstkritischere Haltung ab. Auch diese hat – wie wir
noch zeigen werden – rein taktische Gründe.

989
ramsala als »militant«, »gewalttätig«, »ungeduldig« und
»ruhelos« bezeichnet. (* Tibetan Review, Mai 1991, 19)
1994 erstach ein tibetischer Jugendlicher einen jungen
Inder, was zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die
Community der Exiltibeter führte.

Marschmusik und Terror

Sind die Tibeter ein friedliches Volk ? Im Lager der Exil­


tibeter wird ein etwas anderer Ton als auf den westli-
chen Pressekonferenzen des XIV Dalai Lama angeschla-
gen. Wer einmal in Dharamsala an den offiziellen Fest-
lichkeiten des tibetischen Nationalfeiertags (10. März)
teilgenommen hat und die uniformierten Jugendgrup-
pen vor dem Löwenthron Seiner Heiligkeit vorbeidefi-
lieren sah, wer die Fahnenzeremonien miterleben und
die dort gesungenen Kriegs- und Kampflieder mithören
durfte – der muß den Eindruck gewinnen, hier hand-
le es sich um eine Militärparade und keinesfalls um ein
Friedensfest sanfter Mönche. Zwar leitet der Kundun
auch diese Feierlichkeit immer wieder mit einem Be-
kenntnis zur Gewaltlosigkeit ein, aber nach seiner An-
sprache – so der Historiker Christiaan Klieger – »schlägt
der Ton des Ereignisses in einen dezidiert martialischen
Charakter um«. (* Klieger, 62) Die uns schon bekannten
Khampa-Krieger erscheinen in archaischen Uniformen
aus Leopardenfellen. Ehrengarden salutieren mit der ti-
betischen Flagge, auf der zwei Schneelöwen den Dop-
pelpfeiler von Kirche und Staat symbolisieren. Enthusia-

990
stisch ertönt das Lied »Gesang des aufstehenden Volkes«
(Long shog), das als Militärmarsch komponiert wurde.
Dort heißt es in den letzten beiden Strophen :

Tibet folgt seinem wahren Führer …


Dem großen Beschützer,
Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama,
Der innen wie außen von den Tibetern
  anerkannt wird.
Der Metzger – Feind mit roten Händen,
Der imperialistische rote Chinese,
Wird sicher aus Tibet herausgeworfen werden.
Steht auf, all ihr Patrioten!
(* Klieger, 63)

Solch kriegerische Marschlieder mögen zur Herausbil-


dung des wenig entwickelten tibetischen Nationalbe-
wußtseins von großer Bedeutung sein – sie werden auch
mit der entsprechenden Begeisterung von allen Anwe-
senden gesungen, mit dem viel beschworenen Ahim-
sa-Prinzip haben sie jedoch nicht das Geringste zu tun.
Im Gegenteil, sie festigen das Feindbilddenken und ver-
herrlichen Seine Heiligkeit (»den größten lebenden Frie-
densapostel«) als den »höchsten Feldherrn«.
Kriegerische Tendenzen unter den Exiltibetern er-
schöpfen sich nicht nur in Marschmusik und zeremoni-
ellen Auftritten während des Nationalfeiertages. Schon
Anfang der 60er Jahre beschloß eine kleine Gruppe von
Militanten, »daß die Zeit gekommen (sei), um im Kampf
für Tibet terroristische Aktionen anzuwenden«. (* Ave-

991
don, 1985, 146) 1994 brüsteten sich junge Mitglieder des
Tibetan Youth Congress öffentlich mit solchen Sprüchen
wie dem folgenden : »Eine Bombe in einer Diskothek von
Lhasa oder in Bierfässer gekipptes Gift könnte da viel be-
wirken.« (* 16. 02. 1995 _ ‹wadmin@maz.net›) Kuncho
Tender, ein Militant, der 20 Jahre im tibetischen Unter-
grund verbrachte, plädierte 1998 auf einer Pressekonfe-
renz in Dharamsala für eine Renaissance der Guerilla in
Tibet, »die einen Chinesen nach dem anderen tötet, bis
das Land frei (sei)«. (* AP, Dharamsala, 28. 05. 1998)
Auch im heutigen besetzten Schneeland ist die Diskus-
sion über den »Terror als Mittel der Politik« bei radika-
len tibetischen Untergrundgruppen, zum Beispiel der Ti-
ger-Leoparden Jugend Organisation, wieder hoch aktuell :
»Unsere gewaltlosen Methoden«, heißt es in einem Brief
dieser Organisation an den Generalsekretär der Verein-
ten Nationen, »wurden als ein Zeichen der Schwäche ge-
nommen. Wir sind entschlossen, unsere Freiheit zurück-
zugewinnen, und die kürzliche UN-Entscheidung (in der
eine Kritik Chinas abgelehnt wurde) zeigt uns, daß wir
ohne Blutvergießen, Sabotage und aggressive Akte keine
Öffentlichkeit, keine Sympathie und keine Unterstützung
erhalten … Weshalb sollten wir nicht dem destruktiven
Pfad folgen ?« (* Schwartz, 224) Weiterhin beteuern die
jungen Patrioten, sie seien sich bewußt, daß diese Me-
thoden der Politik des Dalai Lamas widersprächen, aber
es blieben ihnen keine anderen Optionen.
Eine andere Untergrundorganisation aus Osttibet
nennt sich »Freiwillige Armee zur Verteidigung des Bud-
dhismus«. (* Huber, 1997, 7) Eine solche Selbstbetitelung

992
zeigt, daß diese Gruppen den »destruktiven Pfad« der Be-
freiung nicht im Gegensatz zu ihrer Religion sehen. Im
Gegenteil – zur täglichen Untergrundarbeit zählt ein in-
ständiges Gebet, mit dem die schrecklichen Schutzgöt-
ter des Landes herbeigeschworen und gegen den chine-
sischen Feind aufgehetzt werden. 1996 gab es in Lhasa
drei Bombenattentate.
Dem Kundun können solche Aktivitäten überhaupt
nicht schaden, denn, indem er sie öffentlich kritisiert,
steigert er sein Image als »Friedensapostel«. Das braucht
ihn nicht daran zu hindern, die »bewaffneten Gruppen«
insgeheim trotzdem zu fördern, wie er es schon bei den
Khampas getan hat. Auch wenn dies seinen pazifistischen
Beteuerungen widersprechen würde, den Prinzipien des
tantrischen Buddhismus widerspricht es nicht.
Diskussionen über Buddhismus und Militärwesen tau-
chen mittlerweile im Westen zunehmend als ein Thema
buddhistischer Kreise auf. Zum Beispiel findet man in
der Zeitschrift Tricycle aus dem Jahre 1996 einen Arti-
kel mit dem Titel Apologie eines buddhistischen Soldaten,
wo der Autor Argumente sammelt, die den »gerechten«
Krieg für einen Buddhisten rechtfertigen sollen. (* Tri-
cycle, Vol. V, No. 3, p. 71) Dabei geht es selbstverständ-
lich sehr ethisch zu, unter anderem mit Berufung auf den
buddhistischen Kaiser Ashoka (273–226 v. Chr.), der In-
dien zu einem Friedensstaat geeint hatte. Ashoka war je-
doch, bevor er zur Macht gelangte, ein großer und grau-
samer Feldherr, der blutigste Schlachten schlug. Einige
buddhistische Traditionen verehren ihn ohne Scheu als
einen gnadenlosen Kriegshelden. »Deswegen ist die Not-

993
wendigkeit zu töten«, schreibt P. J. Tambiah in Bezug auf
den Kaiser, »bevor man zu einem großen König wird,
der mit Gerechtigkeit herrschen kann, ein fundamen-
tales Dilemma des Buddhismus. – Könige müssen gute
›Töter‹ sein, bevor sie Mitgefühl und gute Taten zeigen.«
(* Tambiah, 50, 522)

Politisches Kalkül
und buddhistische Friedensbotschaft

Es ist nicht die Aufgabe unserer Analyse, eine persön-


liche Entscheidung zwischen »Bewaffnetem Aufstand«
und »Ahimsa-Prinzip« zu treffen und die Frage zu be-
antworten, ob Gewaltaktionen in Tibet moralpolitisch
gerechtfertigt und nationalpolitisch sinnvoll sind. Auch
liegt uns nicht daran – wie es die Chinesen versuchen
–, den Kundun nur als einen fanatischen Kriegstreiber
im Schafspelz zu entlarven. Vielleicht ist er persönlich
ein im großen und ganzen friedliebender Mensch, aber
er repräsentiert zweifelsohne eine Kultur, die seit ih-
ren Ursprüngen kriegerisch war und die nicht daran
denkt, ihre gewalttätige Vergangenheit einzugestehen,
geschweige denn aufzuarbeiten.
Statt dessen zählt es zur ständigen Propagandaarbeit
Dharamsalas und des jetzigen Dalai Lama, den tibeti-
schen Buddhismus und die Geschichte Tibets als ein La-
gerhaus ewiger Lehren über Gewaltlosigkeit und Frie-
den in der Weltöffentlichkeit bekannt zu machen. Man
gibt sich also nicht damit zufrieden, daß sich der Kun-

994
dun seine pazifistischen Ideen (etwa unter dem Einfluß
von Mahatma Gandhi) erst nach seiner Flucht angeeig-
net habe, sondern unterstellt, sie stammten aus dem un-
erschöpflichen Erbe einer Jahrhunderte alten Tradition
und Historie. Selbst der aggressive »Große Fünfte« und
der militärisch stark interessierte »Große Dreizehnte« er-
scheinen nun als die Vorläufer des aktuellen »Friedens-
buddhismus«. Aufgrund dieser Verfälschung kann sich
der jetzige Dalai Lama voll mit seiner fünften Inkarna-
tion identifizieren, ohne dessen kriegerische und mac-
chiavellistische Machtpolitik und mörderische Magie zu
erwähnen : »Indem ich die Position des V Dalai Lama
einnehme, bin ich dazu verpflichtet, dem zu folgen, was
er getan hat«, erklärte der Kundun 1997. (* Dalai Lama
– ‹gn.apc.org/tibetlondon/dolgyal3.html›) Vieles spricht
deswegen dafür, daß der Pazifismus des XIV Dalai Lama
ausschließlich einem politischen Kalkül unterfällt und
niemals der Ausdruck eines Prinzips war. Jamyang Nor-
bu, Kodirektor des tibetischen Kulturinstituts, beschuldigt
deswegen seinen »verehrten Führer« (den Kundun) und
dessen exiltibetische Politiker, der westlichen Mythenbil-
dung vom guten alten friedlichen Tibet Vorschub zu lei-
sten. Nie in der Geschichte seien die Tibeter besonders
pazifistisch gewesen – die grausam ausgetragenen Kon-
flikte zwischen einzelnen Klöstern bewiesen dies, auch
der blutige Widerstand gegen die Besatzer in den 50er
Jahren. »Die Exilregierung«, so Norbu, »schlägt aus den
westlichen Klischees Kapital, verhindert eine Entmytlio-
logisierung, eine kritische Auseinandersetzung mit der
eigenen Geschichte.« (* Spiegel, 16/1998)

995
Diese ist auch gar nicht beabsichtigt. Welche Grundhal-
tung eingenommen wird, das richtet sich für den Dalai
Lama nach der jeweilig machtpolitisch günstigen Situa-
tion. Deswegen ist ein sofortiges Umschwenken auf eine
kämpferische Linie in seinem System durchaus angelegt.
Weder religiöse noch ideologische und schon gar nicht in-
karnationsgeschichtliche Hindernisse stehen einer mög-
lichen Kriegsentscheidung im Wege. Im Gegenteil, seit
Jahrhunderten warten die tibetischen Kriegsgötter dar-
auf, loszuschlagen. Jedes Höhere Tantra ruft zum Kampf
gegen die »Feinde der Lehre« auf, und in jedem Fall sind
das Kalachakra-Ritual und die dahinter wirkende Ideo-
logie als Kriegserklärung an die nichtbuddhistische Welt
zu verstehen. Bedeutende Mitglieder des tibetischen Kle-
rus haben sich schon jetzt ihren Platz in der großen End-
zeitarmee Shambhalas gesichert. »Einige wissen bereits
jetzt ihren zukünftigen Namen und kennen den Rang,
den sie innehaben werden.« (* Bernbaum, 35)
Wenn die politischen Umstände reif sind, dann wird
der »einfache Mönch« aus Dharamsala von seinen indi-
viduellen pazifistischen Neigungen absehen müssen und
als die verkörperte Kalachakra-Gottheit kaum davor zu-
rückschrecken, den Schlachtengott Begtse herbeizuzitie-
ren oder selbst in der Gestalt eines Heruka zu erschei-
nen. »Die zornvollen Göttinnen und die erzürnten Götter
sind da«, erfahren wir aus seinem Mund (vor der Ver-
leihung des Friedensnobelpreises), »um anzuzeigen, daß
man zur Gewaltanwendung als Methode greifen kann,
dabei handelt es sich um ein wirkungsvolles Instrument,
das aber nie und nimmer ein Zweck sein kann.« (* Leven-

996
son, 284) Es gibt keinen namhaften politischen Führer in
der Gewaltgeschichte der Menschheit, der anders gedacht
hätte. Auch für Diktatoren wie Adolf Hitler und Joseph
Stalin war Gewalt niemals ein Selbstzweck, sondern ein
»wirkungsvolles Instrument« zur Erreichung »ehrenwer-
ter« Ziele. Selbst einige westliche Stimmen scheuen heu-
te nicht mehr davor zurück, mit Faszination auf das Ge-
fährliche und Gewalttätige in der Gestalt des Kundun
hinzuweisen : »Dieser Mann hat etwas von einer Raub-
katze auf dem Sprung, einem von Freiheit und Einsam-
keit durchdrungenen Schneeleoparden, den kein Käfig
zurückhalten vermöchte«, schreibt sein Biograph Clau-
de B. Levenson. (* Levenson, 160)

»Buddha hat gelächelt« : Der XIV Dalai Lama


und die indischen Atomversuche von 1998

Die Religion des Buddha scheint auch nach den Vor-


stellungen der indischen Militärs nicht so pazifistisch
zu sein, wie wir sie hier im Westen präsentiert bekom-
men. Wieso wurde ansonsten der erste indische Kern-
waffenversuch (von 1974) mit dem Geheimcode »Bud-
dha, der Herr, hat gelächelt !« bezeichnet ? Wieso wurden
die spektakulären Tests von 1998 bewußt am Geburtstag
des Gautama Buddha gezündet ? (* Focus, 21/1998, 297 ;
Spiegel, 21/1998, 162) In der Tat hat der zur Zeit einzi-
ge »lebende Buddha«, der Dalai Lama, ein fundamenta-
les Interesse an den indischen Atomversuchen. Für ihn
(»als dem lächelnden Dritten«) wäre eine Konfrontation

997
der beiden asiatischen Giganten (China und Indien) von
großem politischem Vorteil. Es war also nur folgerichtig,
daß der »Gottkönig« aus Tibet der atomaren Machtde-
monstration seines Gastlandes den buddhistischen Se-
gen erteilte. Während die ganze Welt, insbesondere die
zu dieser Zeit in Birmingham versammelten Staatschefs
der G8 Länder, mit scharfen Worten dagegen protestier-
ten (Präsident Bill Clinton sprach von »einem fürchter-
lichen Fehler«), billigte der tibetische »Friedensnobel-
preisträger« die indischen Bombe. »Indien sollte«, so der
Dalai Lama, »nicht von den entwickelten Ländern unter
Druck gesetzt werden, seine Atomwaffen aufzugeben …
Es sollte denselben Zugang zu den Nuklearwaffen haben
wie die entwickelten Länder … Die Vorstellung, daß we-
nige Länder nukleare Waffen besitzen dürfen und der
Rest der Welt nicht – das ist undemokratisch.«92 (* AP,
13. Mai, 1998) Die verheerende Konsequenz einer sol-
chen Aussage ist, daß jegliche Nation sich ungehindert
mit Atomwaffen ausstatten darf, nur weil andere Län-
der ebenfalls solche besitzen. Es versteht sich von selbst,

92 Diese Aussagen bleiben bestehen, auch wenn der XIV Dalai


Lama zwei Tage später, wohl unter westlichem Druck, betont,
daß er für eine allgemeine Abrüstung ist. Die Nachrichtenagen-
tur CND kehrte sogar die Statements Seiner Heiligkeit in ihr Ge-
genteil um und berichtete am 20. Mai : »Am Dienstag sagte der
Dalai Lama, er sei enttäuscht von Indiens Atomtest und er un-
terstütze Chinas Aufruf, alle Nuklearwaffen zu bannen.« (* CND,
20/05/1998) Der hemmungslose Opportunismus des Gottkönigs,
von dem wir noch zahlreiche Beispiele zu erwähnen haben, läßt
durchaus vermuten, daß er beide Aussagen (für und gegen Indi-
en) gemacht hat.

998
daß die indische Öffentlichkeit von der Zustimmung des
Kunduns begeistert war. »Wenn ein Friedensmann wie
der Dalai Lama«, schreibt ein Marnata Shah im Inter-
net, »Indiens atomare Position rechtfertigt, dann würde
auch Gandhi nicht gezögert haben, sie zu rechtfertigen.«
(* siehe 22. 05. 1998 ‹lchow@lava.net›)
Hinzukommt, daß das gesamte atomare Spektakel
zwischen Indien und Pakistan symbolisch den im Ka-
lachakra-Tantra prophezeiten Shambhala-Krieg ankün-
digt. Die Bombe des lächelnden Buddha war »das Signal
für die Pakistaner, mit Macht die Entwicklung der isla-
mischen Bombe zu betreiben« und zu zünden (* Spiegel,
21/1998) – ein Vorgeschmack von dem, was uns erwartet,
wenn sich in der letzten Schlacht (nach dem Shambhala-
Mythos) Buddhisten und Moslems gegenüberstehen.
10. VORREITER DES SHAMBHALA-KRIEGES :
DIE MONGOLEN

Krieg bedeutete im alten Tibet mehrmals das militäri-


sche Eingreifen verschiedener Mongolenstämme in die
inneren Angelegenheiten des Landes. Zu den kriegeri-
schen Nomaden aus dem Norden entwickelte sich im
Laufe der Zeit eine tiefe kulturelle Bindung, die am Ende
zu einer völligen Buddhisierung der Mongolei führte.
Diese wird heute von buddhistischen »Historikern« als
eine Pazifizierung des Landes und seiner Einwohner ge-
deutet. Aber sehen wir uns einige hervorstechende Er-
eignisse der innerasiatischen Geschichte unter der Herr-
schaft des Buddhismus näher an.

Dschinghis Khan als Bodhisattva

Der größte Eroberer der Menschheit, zumindest was


die Ausdehnung seines Herrschaftsgebietes anbelangt,
war Dschinghis Khan (1167–1227). Er einte die mongo-
lischen Steppenvölker Asiens und formte aus ihnen ein
Reiterheer, vor dem Europa und China ebenso erzitter-
ten wie die islamischen Staaten. Seine Kriegsführung
war für die damalige Zeit äußerst modern. Meist dauer-
ten die Vorbereitungen für einen Feldzug mehrere Jah-
re. Genau ließ er die Stärken und Schwächen seiner Geg-
ner studieren. Dies geschah unter anderem durch ein

1000
geschickt ausgebautes Netz von Spionen und Agenten.
Seine berüchtigte Kavallerie war weder chaotisch noch
wild noch so zahlreich, wie es oft von den Völkern, die
er besiegte, dargestellt wird. Im Gegenteil – sie zeichne-
te sich durch eine strikte Disziplin aus, war aufs aller-
beste ausgerüstet, mutig, höchst effektiv und zahlenmä-
ßig meist kleiner als ihre Feinde. So lange die Kriegsvor-
bereitungen dauerten, so schnell wurden die Schlachten
geschlagen, und das mit einer erbarmungslosen Grau-
samkeit. Frauen und Kinder fanden ebensowenig Gna-
de wie Greise und Kranke. Wenn sich eine Stadt dem
Großen Khan widersetzte, mußte jegliches Leben ausge-
löscht werden – selbst die Tiere, die Hunde und Ratten
ließ man hinrichten.
Doch für diejenigen, welche sich ihm unterwarfen,
wurde er zum Heilsbringer, Gottmenschen und Frie-
densfürsten. Die Mongolen haben bis heute nicht ver-
gessen, daß aus ihrem Blut der Mann stammte, der die
Welt eroberte und beherrschte.
Als sich der tibetische Lamaismus in der Mongolei
verbreiten wollte, tat er zumindest aus taktischen Erwä-
gungen gut daran, den als göttlich verehrten Dschinghis
Khan zu einem der Ihren zu erklären. Dem stand entge-
gen, daß der Welteroberer kein Anhänger der buddhisti-
schen Lehre war und sich nur an die eigene Person be-
ziehungsweise an die schamanistischen Religionsprakti-
ken seiner Ahnen hielt. Es gibt sogar ernstzunehmende
Hinweise, er habe sich von monotheistischen Ideen an-
gezogen gefühlt, um dadurch die Einzigartigkeit seiner
Globalherrschaft zu legitimieren.

1001
Doch unter Berufung auf ihr ADI BUDDHA-System
konnten es die Lamas ohne weiteres mit der monothe-
istischen Konkurrenz aufnehmen. Es soll denn auch der
Sage nach ein Wettkampf der Religionen vor dem Thro-
ne des Herrschers stattgefunden haben, den aus tibeti-
scher Sicht die Buddhisten gewonnen hätten. Die glei-
che Geschichte wird bei den Mohammedanern erzählt,
jedoch mit dem Ausgang, der »Herrscher der Welt«
habe sich für die Lehre des Propheten entschieden. Die
sprichwörtliche Grausamkeit des Mongolenkhans war
dagegen kein Hindernis für seine erdichtete »Buddhi-
sierung«, da er sich als Schreckensaspekt eines Buddhas
(Heruka) oder als blutrünstiger Dharmapala (Schutz-
gott) ohne weiteres in das tantrische System integrie-
ren ließ. So wurden immer mehr Geschichten erfunden,
welche ihn als einen Vertreter der Heiligen Lehre (Dhar-
ma) schilderten.
Mongolische Lamas konstruierten unter anderem seine
Abstammung von einem buddhistischen indischen Ge-
setzeskönig und setzten diese Genealogie an die Stelle
der unter den Schamanen verbreiteten zoomorphen Le-
gende, Dschinghis Khan sei der Sohn eines Wolfes und
einer Hirschkuh. In einer anderen Geschichte wurde er-
zählt, er stamme von einer königlichen tibetischen Fami-
lie ab. Fest glaubte man daran, daß er mit einem Groß-
abt der Sakyapa-Sekte in Korrespondenz gestanden habe
und diesen um geistigen Schutz angegangen sei. In ei-
nem gefälschten Brief, in dem der Mongole den tibeti-
schen Hierarchen anspricht, steht folgender Satz : »Hei-
liger ! Ich wollte Dich wohl berufen ; weil aber der Lauf

1002
meiner weltlichen Geschäfte noch unvollendet ist, habe
ich Dich nicht berufen. Von hier aus vertraue ich Dir, von
dorther schütze mich.« (* Schulemann, 89) Ein weiteres
Schreiben »von seiner Hand« soll den Orden von Steu-
ern befreit haben. Im Kampf gegen die Chinesen habe
Dschinghis Khan – so wird berichtet – zum ADI BUD-
DHA gebetet.

Die Buddhisierung der Mongolei

Aber erst nach dem Tode des Großen Khans gelang es


den missionierenden Lamas, die mongolischen Stämme
zum Buddhismus zu bekehren, auch wenn sich dieser
Prozeß über vier Jahrhunderte hinziehen sollte. (Übri-
gens galt dies keineswegs für alle, denn einige schlos-
sen sich dem Islam an.) Wenn man von verschiedenen
kleineren Berührungen absieht, stand am Anfang des
Bekehrungswerkes, das am Ende die gesamte nördliche
Mongolei unter buddhistischen Einfluß brachte, die Rei-
se des Sakya Pandita Kunga Gyaltsen (1244) an den Hof
des Nomadenherrschers Ügedai, eines Enkels Dschin-
ghis Khans. Der schon sehr betagte Großabt überzeugte
die Mongolen von der Macht seiner Religion, indem er
den Sohn Ügedais von einer schweren Krankheit heilte.
Die Schriften feiern ihre anschließende Bekehrung als
einen Triumph der Zivilisation über die Barbarei.
Etwa 40 Jahre später (1279) folgte ein Treffen zwischen
Chögyel Phagpa, ebenfalls ein tibetischer Großabt der Sa-
kyapa-Linie, mit Kublai Khan, dem mongolischen Erobe-

1003
rer Chinas und Begründer der Yuän-Dynastie. Bei die-
sen Gesprächen kamen auch Themen zur Sprache, wel-
che die politische Situation Tibets betrafen. Es gelang
dem geschickten Hierarchen aus dem Schneeland, den
Kaiser dazu zu bewegen, ihm den Titel »König des gro-
ßen und kostbaren Gesetzes« und damit einige weltli-
che Machtbefugnisse über das noch nicht geeinte Tibet
zu verleihen. Als Gegenleistung weihte der Phagpa Lama
den Kaiser in das Hevajra-Tantra ein.
Dreihundert Jahre später (1578) traf sich der Gelugpa-
Abt Gyalwa Sonam Gyatso mit Althan Khan und erhielt
von diesem den folgenschweren Namen »Dalai Lama«. Er
beanspruchte damals nur die geistige Herrschaft und be-
titelte seinerseits den Mongolenfürsten als den »tausend
goldene Räder drehenden Weltenherrscher«. Ab 1637 be-
gann die Kooperation des »Großen Fünften« mit Gushri
Khan. Spätestens am Anfang des 18. Jahrhunderts war
die Buddhisierung der Mongolei abgeschlossen, und das
Land lag fest in der Hand der Gelben Kirche.
Es wäre aber falsch zu glauben, daß die Bekehrung
der Mongolenherrschers zu einer grundsätzlichen Ab-
sage an die kriegerische Politik der Stämme geführt hät-
te. Zwar gab es zuweilen einen mildernden Einfluß. Der
III Dalai Lama hatte zum Beispiel gefordert, daß bei den
archaischen Totenfeiern für verstorbene Steppenfürsten
nicht mehr die Frauen und Sklaven als Opfergaben ge-
schlachtet würden. Aber Seiten wären zu füllen, wenn
wir Berichte über die Grausamkeit und Erbarmungslo-
sigkeit der »buddhistischen« Khane lieferten. Soweit es
um die Bekämpfung von »Feinden der Lehre« ging, wa-

1004
ren die Lamas zu allen Kompromissen mit der Gewalt
bereit. Hier konnte ohne Einschränkung das aggressive
Potential der Schutzgottheiten (Dharmapalas) in der Rea-
lität ausgelebt werden. Man muß jedoch gerechterweise
sagen, daß sich beide Momente, die Befriedung und die
Militarisierung, parallel entwickelten, was ja in der para-
doxen Welt der tantrischen Lehre ohne weiteres möglich
ist. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird der sprich-
wörtliche Kampfgeist der Mongolen wieder voll zur Gel-
tung kommen und sich dann, wie wir sehen werden, mit
der Kriegsideologie des Kalachakra-Tantras verbünden.

Der Khutuktu

Bevor die Kommunisten in den 20er Jahren die Macht


in der Mongolei ergriffen, waren mehr als ein Viertel der
männlichen Bevölkerung einfache Mönche. Das Haupt-
kontingent der Lamas gehörte dem Gelugpa-Orden an
und gehorchte deswegen, zumindest formal, dem Gott-
könig von Lhasa. Die reale Macht übte jedoch der höch-
ste Khutuktu aus, die mongolische Bezeichnung für ein
inkarniertes Buddhawesens (tibet. Kundun). Seine Befug-
nisse betrafen zu Beginn seiner Amtszeit nur die religi-
ösen Belange, denn staatsrechtlich war das Steppenland
Dschingis Khans zu einer Provinz Chinas geworden.
Im Jahre 1911 kam es zu einer Revolte, und der »le-
bende Buddha«, Jebtsundamba Khutuktu, wurde zum
ersten Staatschef (Bogd Khan) der autonomen mongoli-
schen Völker ausgerufen. Gleichzeitig erklärte man die

1005
nationale Unabhängigkeit des Landes. In dem Grün-
dungsdekret heißt es : »Wir haben den Bogd, strahlend
wie die Sonne, Myriaden Jahre alt, zum großen Khan
der Mongolei und seine Gattin Tsagaan Dar zur Mutter
der Nation erhoben.« (* Onon, 16) Der Großlama ant-
wortete unter anderem mit den Worten : »Nachdem ich
die Erhebung zum Großkhan der mongolischen Nation
angenommen habe, werde ich unaufhörlich dafür strei-
ten, die buddhistische Religion, die so leuchtet wie Mil-
lionen Sonnen, zu verbreiten.« (* Onon, 18)
Von nun an herrschte in der Mongolei ebenso wie in Ti-
bet eine Buddhokratie mit der Inkarnation eines Gottes
an der Spitze. 1912 signierte ein Gesandter des XIII Dalai
Lama einen Vertrag mit dem neuen Staatschef, in dem sich
die beiden Hierarchen gegenseitig als Souveräne und ihre
Länder als autonome Staaten anerkannten. Das Dokument
wurde für alle Ewigkeit geschlossen und erklärte den tibe-
tischen Buddhismus zur einzigen Staatsreligion.
Jabtsundamba Khutuktu (1870–1924) war kein gebürti-
ger Mongole, sondern kam in Lhasa zur Welt als der Sohn
einer hohen Beamtenfamilie, die im Dienste des Dalai La-
mas stand. Mit vier Jahren begann sein Klosterleben in
der damaligen mongolischen Hauptstadt Khüre. Schon
als junger Mann führte er ein ausschweifendes Leben. Er
liebte Frauen und Wein und begründete seine Libertina-
ge mit tantrischen Argumenten. Diese gingen selbst in
die mongolischen Schulbücher der Zeit ein, wo wir lesen
können, daß es zwei Arten des Buddhismus gebe : den
»Tugendweg« und den »Mantrapfad«. Wer dem letzten
folgte, »der wandelt, auch ohne daß er das Trinken berau-

1006
schender Getränke, die Eheschließung und eine weltliche
Betätigung aufgibt, wenn er das Wesen des Absoluten in
Betrachtung erschaut, … auf dem Pfad der großen Yoga-
Meister.« (* Glasenapp, 24) Als der XIII Dalai Lama auf
seiner Reise in die Mongolei über die Ausschweifungen
seines Amtsbruders boshafte Bemerkungen machte, soll
der Khutuktu vor Wut geschäumt haben, und das Ver-
hältnis der beiden sank auf einen Tiefpunkt.
Gegen seine Untertanen war der »lebende Buddha«
aus der Mongolei brutal und überschritt nicht selten
die Grenze zur Grausamkeit. Ihm sagte man zahlreiche
Giftmorde nach. Wohl nicht ganz zu Unrecht vertrau-
te er keinem und verdächtigte jeden. Dennoch verfüg-
te er über politisches Geschick, einen unzerbrechlichen
Ehrgeiz und auch einen beachtlichen Wagemut. Er ver-
stand es immer wieder, sogar in den undurchsichtigsten
Situationen, die politische Macht an sich zu reißen, und
überlebte als Staatschef, selbst nachdem die Kommuni-
sten das Land erobert hatten. Seine Standhaftigkeit ge-
genüber den Chinesen brachte ihm sowohl den Respekt
des einfachen Volkes wie des Adels ein.
Eine Zeit des Friedens hat es für ihn kaum gegeben.
Das Land wurde bald nach seiner Unabhängigkeitser-
klärung (1911) zu einem Spielball verschiedenster Inter-
essen : Chinesen, zaristische Russen, Kommunisten und
zahlreiche nationale und regionale Gruppierungen ver-
suchten den Staat an sich zu reißen. Blind und vom Alko-
holgenuß gezeichnet, starb der Khutuktu im Jahre 1924.
Der Weißrusse Ferdinand Ossendowski, der das Land
damals auf der Flucht durchstreifte, legte ihm folgende

1007
Prophezeiung und Vision in den Mund, die, wenn sie
auch historisch nicht verbürgt ist, den Geist eines ag-
gressiven Panmongolismus beschwört : »In der Nähe von
Karakorum und an dem Ufer von Ubsa Nor sehe ich rie-
sige vielfarbige Lager … Darüber sehe ich die alten Ban-
ner Dschingis Khans, der Könige von Tibet, Siam, Af-
ghanistan und indischer Fürsten, die Zeichen aller la-
maistischen Hohenpriester, die Wappen der Khane des
Olets und die einfachen Zeichen der nordmongolischen
Stämme … Dort sind das Gebrüll und das Krachen des
Feuers und wilder Kampfeslärm zu hören. Wer führt die
Krieger an, die unter dem geröteten Himmel ihr eigenes
Blut und das Blut anderer vergießen ? … Ich sehe … eine
neue große Wanderung, den letzten Marsch der Mongo-
len.« (* Ossendowski, 360, 361)
Noch im Todesjahr Jabtsundamba Khutuktus ergriff
die »Mongolische Revolutionäre Volkspartei« (die Kom-
munisten) die volle Regierungsgewalt, die sie mehr als
60 Jahre lang ausüben sollte. Dennoch gingen die Spe-
kulationen über die neue Inkarnation des »Lebenden
Buddha« weiter. Die Kommunisten beriefen sich dabei
auf eine alte Vorhersage, wonach der achte Khutuktu als
Shambhala-General wiedergeboren werde und deswegen
hier auf Erden nicht mehr erscheinen könne. Die listigen
Lamas aber konterten mit dem Argument, das hindere
nicht die unmittelbare Verkörperung des neunten Khu-
tuktu. Man entschloß sich, den XIV Dalai Lama und IX
Panchen Lama um Rat anzugehen. Die Kommunistische
Partei setzte sich jedoch durch und machte 1930 mehre-
ren mongolischen Adligen und Geistlichen im Zusam-

1008
menhang mit dieser Inkarnationssuche einen großange-
legten Schauprozeß.
Zu dieser Zeit gab es in der Mongolei Versuche, kom-
munistische und buddhistische Ideen aufeinander ab-
zustimmen. Hierbei ereiferten sich Lamas für den My-
thos, Lenin sei eine Wiedergeburt des historischen Bud-
dha. Aber man konnte ebenso andere Stimmen hören. In
einem Pamphlet aus den 20er Jahren ist zu lesen : »Rot-
Rußland und Lenin sind die Reinkarnation von Langdar-
ma, dem Feind des Glaubens.« (* Bawden, 265) Mit die-
ser Vielfalt der Meinungen war es endgültig vorbei unter
Josef Stalin. Gnadenlos ging die Kommunistische Partei
gegen die religiösen Institutionen der Mongolei vor, ver-
trieb die Mönche aus den Klöstern, ließ die Tempel schlie-
ßen und verbot jeglichen klerikalen Lehrbetrieb.

Der mongolische Shambhala-Mythos

Es ist nicht unsere Absicht, die jüngste Geschichte der


Mongolei detailliert nachzuzeichnen. Was uns vor al-
lem interessiert, sind die tantrischen Muster, welche
hinter der politischen Bühne wirksam wurden. Seit dem
19. Jahrhundert florierte die prophetisch-religiöse Litera-
tur im Lande. Unter den vielen mystischen Heilserwar-
tungen steht dem Shambhala-Mythos der erste Rang zu.
Er hat die nationale mongolische Bewegung immer be-
gleitet und findet heute nach der Beendigung des Kom-
munismus eine machtvolle Renaissance. Bis hinein in
die 30er Jahre war es in den lamaistischen Milieus des

1009
Landes geradezu eine Selbstverständlichkeit, die Ausein-
andersetzungen mit China und Rußland als ein Vorge-
plänkel einer zukünftigen weltumfassenden Endschlacht
zu sehen, die in einem universellen Sieg des Buddhismus
enden würde. Dabei verdichteten sich die Gestalten des
Rudra Chakrin, des Buddha Maitreya und des Dschinghis
Khan in einer übermächtigen messianischen Figur, die
zuerst unvorstellbaren Schrecken verbreiten würde, um
dann die bekehrten Massen, allen voran die Mongolen
als das auserwählte Volk, ins buddhistische Paradies zu
führen. Die Soldaten der mongolischen Armee nannten
sich stolz »Shambhala-Krieger«. In einem Kriegslied aus
dem Jahre 1919 lesen wir :

Wir erhoben die gelbe Fahne


Für die Größe der Buddhalehre ;
Wir, die Schüler des Khutuktu,
Zogen in den Kampf von Shambhala !
(* Bleichsteiner, 104)

Fünf Jahre später, 1924, traf der Russe Nicholas Roerich in


Urga auf einen Trupp mongolischer Reiter, die sangen :

Laß uns in diesem Krieg sterben,


Um wiedergeboren zu werden
Als Ritter des Herrschers von Shambhala.
(* Schule, 66)

Man berichtete ihm geheimnisvoll, ein Jahr vor seiner


Ankunft sei ein Mongolenknabe geboren worden, an den

1010
sich die Heilserwartungen des ganzen Volkes knüpften,
weil er eine Inkarnation von Shambhala sei.
Der Burjate Agvan Dorzhiev, ein Vertrauter des XIII
Dalai Lamas, über den noch ausführlich zu berichten ist,
engagierte sich beharrlich in allen Ereignissen, welche die
Mongolei seit Beginn unseres Jahrhunderts heimsuchten.
»Es war sein besonderer Beitrag«, schreibt John Snelling,
»den Pan-Mongolismus, der als die ›einzig machtvolle
Idee Zentralasiens im Zwanzigsten Jahrhundert bezeich-
net wurde, zu dem noch expansiveren Pan-Buddhismus
erweitert zu haben, den er auf dem Kalachakra-Mythos
aufbaute, einschließlich der Legende vom messianischen
Königreich Shambhala.« (* Snelling, 96)
Im Untergrund lebte nach der kommunistischen
Machtübernahme der Shambhala-Mythos fort, so als
stünde ein militärisches Eingreifen aus dem Mythen-
reich kurz bevor. 1935–1936 wurden in Khorinsk Ritu-
ale durchgeführt, um die Intervention des Königs von
Shambhala zu beschleunigen. Die Lamas produzierten
Postkarten, auf denen zu sehen war, wie die Heere Shamb-
halas aus einer emporsteigenden Sonne hervorbrachen.
In diesem Motiv vermutete der sowjetische Geheimdienst
nicht ohne Grund eine Anspielung auf Japan, das eine
aufgehende Sonne als Staatswappen aufweist. In der Tat
nutzten die Japaner die Shambhala-Legende für ihre ei-
genen imperialistischen Interessen und versuchten, mon-
golische Lamas mit Berufung auf den Mythos als Agen-
ten anzuwerben.

1011
Der blutige Rächerlama Dambijantsan

Zu welcher Unmenschlichkeit und Grausamkeit das


tantrische Muster in Kriegszeiten führen kann, zeigt
die Geschichte des »Rächerlama«, eines Rotmützen-
mönches mit dem Namen Dambijantsan. Er war der
Herkunft nach ein Wolgakalmüke, der in Rußland we-
gen revolutionärer Tätigkeit ins Gefängnis gesteckt wor-
den war. »Nach einer abenteuerlichen Flucht«, schreibt
Robert Bleichsteiner, »ging er nach Tibet und Indien, wo
er sich in der tantrischen Magie ausbildete. In den Neun-
ziger Jahren beginnt er seine politische Tätigkeit in der
Mongolei. Ein irrender Ritter des Lamaismus, Steppen-
dämon und Tantriker in der Art des Padmasambhava,
erweckte er dumpfe Hoffnungen bei den einen, Furcht
bei den anderen, scheute vor keinem Verbrechen zurück,
ging aus jeder Gefahr wohlbehalten hervor, so daß er für
unverwundbar und unangreifbar galt, kurz, er hielt die
ganze Gobi in seinem Bann.« (* Bleichsteiner, no)
Dambijantsan glaubte, die Inkarnation des westmongo­
li­schen Kriegshelden Amursana zu sein. Es gelang ihm,
mehrere Jahre hindurch, eine ziemlich große Streitmacht
zu befehligen und eine beachtliche Zahl siegreicher Mi-
litäraktionen durchzuführen. Dafür wurde er vom »le-
benden Buddha« aus Urga mit hohen kirchlichen und
adeligen Titeln ausgezeichnet. Der Russe Ferdinand Os-
sendowski berichtet über ihn, wenn auch unter einem an-
deren Namen (Tushegoun Lama)93 : »Wer seinen Befehlen
nicht gehorchte, kam um. Der Ungehorsame konnte nie-
mals Tag und Stunde wissen, wann der strafende Lama,

1012
der merkwürdige und mächtige Freund des Dalai Lama,
auftauchen würde. Ein Messerstich, eine Kugel oder ein
Griff an die Kehle waren der kurze Prozeß, mit dem der
Wundertäter strafte.« (* Ossendowski, 139) Es gab in der
Tat das Gerücht, daß der Gottkönig von Lhasa den mi-
litanten Kalmüken honoriert habe.
Die Kriegsführung von Dambijantsan war von kal-
kulierter Grausamkeit, die von ihm jedoch als religiöse
Tugendtat angerechnet wurde. Am 6. August 1912 ließ
er nach der Einnahme von Khobdo gefangene Chinesen
und Sarten innerhalb eines tantrischen Ritus schlachten.
Er stieß ihnen in vollem Ornat wie ein aztekischer Op-
ferpriester das Messer in die Brust und riß mit der Lin-
ken die Herzen heraus. Diese legte er zusammen mit
Teilen des Hirns und einigen Innereien in Schädelscha-
len, um es als Bali-Opfer den tibetischen Schreckensgöt-
tern darzubringen. Die nächsten zwei Jahre führte er sich,
obgleich offiziell ein Gouverneur des Khutuktu, wie ein
Autokrat in der Westmongolei auf und tyrannisierte ein
riesiges Gebiet mit einer Gewaltherrschaft »jenseits aller
Vernunft und Grenzen«. (* Bawden, 198) An den Wän-
den der von ihm bewohnten Jurten hingen die abgezo-
genen Häute seiner Feinde.
Erst die Bolschewiki setzten ihm spürbar zu. Er floh
in die Wüste Gobi und verschanzte sich dort mit eini-
gen Getreuen in einer Festung. Sein Ende gestaltete sich

← 93 Es muß sich hierbei um dieselbe Person handeln, da ihn


der Autor als kalmükischen Russen und als den »Rächerlama«
bezeichnet.

1013
ebenso blutrünstig wie sein ganzes Leben. Die Russen
schickten einen mongolischen Fürsten vor, der sich als
ein Gesandter des »lebenden Buddha« ausgab und des-
wegen das Lager unbeschadet betreten konnte. In Front
des ahnungslosen »Rächerlamas« schoß er sechs Revol-
verkugeln auf diesen ab. Dann riß er dem Ermordeten
das Herz aus dem Leibe und verschlang es vor aller Au-
gen, um – wie er nachträglich sagte – dessen Anhänger
in Angst und Schrecken zu versetzen. So gelang ihm die
Flucht. Später kehrte er mit den Russen an den Ort zu-
rück und holte den Kopf von Dambijantsan als Beweis-
stück ab.
Aber das »Herausreißen und Essen des Herzens« war
in diesem Fall nicht nur ein grausames Mittel, um Furcht
zu verbreiten, sondern ein traditioneller Kult der mongo-
lischen Kriegerkaste, der schon unter Dschinghis Khan
praktiziert wurde und die Jahrhunderte überlebt hat-
te. Auch in einem von uns bereits zitierten Passus aus
dem Gesar-Epos wird davon gesprochen. Man findet ihn
gleichfalls als Motiv auf tibetischen Thangkas : Begtse, der
hochverehrte Kriegsgott, schwingt mit der Rechten ein
Schwert, mit der Linken führt er ein menschliches Herz
in den Mund.
Angesichts der scheußlichen Folterungen, die der chi-
nesischen Armee vorgeworfen werden, und der gnaden-
losen Metzeleien, mit denen die mongolischen Heere ant-
worteten, war in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts
eine extrem grausame Kriegsführung in Innerasien die
Regel. So ist in der Mongolei seitens der Bevölkerung ein
Verständnis für den Rächerlama aufgekommen, das sich

1014
manchmal bis zu einer Verherrlichung seines Lebens und
seiner Taten steigert. Auch der Russe Ossendowski sah
in ihm einen fast übernatürlichen Heilsbringer.

Ungern von Sternberg

1919 hatte sich Dambijantsan der Armee des weißrus-


sischen Generals Roman Ungern von Sternberg ange-
schlossen. Der gebürtige Balte war von einer ähnlich
inhumanen Exzentrik wie der »Rächerlama«. Unter
Admiral Koltschak hatte er zuerst im Osten eine weiß-
russische Bastion gegen die Bolschewiki aufgebaut. In
den Kommunisten sah er »böse Geister in menschlicher
Gestalt«. (* Webb, 202) Später ging er in die Mongolei.
Durch sein Draufgängertum gelang es ihm dort, eine
eigene Armee aufzubauen und sich an deren Spitze zu
stellen. Diese erregte bald wegen ihrer atavistischen Grau-
samkeit Furcht und Schrecken. Sie bestand aus Russen,
Mongolen, Tibetern und Chinesen. Die tibetischen und
mongolischen Regimenter trugen nach Ossendowski als
Uniform rote Röcke mit Achselstücken, auf denen das
Hakenkreuz des Dschinghis Khan und die Initialen des
»Lebenden Buddha« aus Urga angebracht waren. (In der
okkulten Szene wird Ungern von Sternberg deswegen als
ein Vorläufer des Nationalsozialismus gesehen.)
Beim Aufbau seines Heeres wandte der Baron mit äu-
ßerster Präzision das tantrische »Gesetz der Umkehrung«
an. Zuerst wurden die angeheuerten Soldaten mit Al-
kohol, Opium und Haschisch bis zum Umfallen voll-

1015
gestopft und dann über Nacht auf Entzug gesetzt. Wer
jetzt noch trank, den ließ man erschießen. Der General
selbst galt als unverletzlich. In einer Schlacht hätten sich
74 Kugeln in seinem Mantel und seinem Sattel verfangen,
ohne ihm etwas anzuhaben. Alle nannten den Balten mit
dem struppigen Schnurrbart und zerzausten Haaren den
»Verrückten Baron«. Uns liegt das bizarre Portrait eines
Augenzeugen vor, der ihn in den letzten Tagen vor sei-
ner Niederlage gesehen hat : »Der Baron ritt mit auf die
Brust gesenktem Kopf schweigend die Front seiner Trup-
pen entlang. Er hatte seinen Hut und seine Kleider ver-
loren. Auf seiner Brust hingen zahlreiche mongolische
Talismane an einer hellen gelben Schnur. Er sah aus wie
die Inkarnation eines prähistorischen Affenmenschen.
Die Leute fürchteten sich schon vor ihm, allein, wenn
sie ihn anblickten.« (* zit. b. Webb, 203)
Diesem Mann war es gelungen, den von den Chinesen
vertriebenen Khutuktu wieder nach Urga zu bringen. Mit
ihm zusammen veranstaltete er 1921 ein tantrisches Ab-
wehrritual gegen die Rote Armee, wenn auch ohne gro-
ßen Erfolg. Danach verlor der Hierarch das Vertrauen in
seinen einstigen Retter und soll selber zu den Roten Kon-
takt aufgenommen haben, um den Balten loszuwerden.
Auf jeden Fall forderte er die dem General unterstellten
mongolischen Truppen auf zu desertieren.
Ungern von Sternberg wurde dann von den Bolsche-
wiki gefangen genommen und erschossen. Darauf dran-
gen die Kommunisten nach Urga vor und besetzten ein
Jahr später die Hauptstadt. Der Khutuktu hatte in sei-
nem Interesse richtig gehandelt, denn bis zu seinem Tode

1016
blieb er zumindest pro forma Staatschef, obgleich die re-
ale Macht Schritt um Schritt in die Hände der kommu-
nistischen Partei überwechselte.

Der »Orden der buddhistischen Krieger«

An Ungern von Sternberg knüpfen sich allerlei okkulte


Spekulationen, die sich wesentlich auf eine Quelle zu-
rückführen lassen, den schon mehrmals zitierten Best-
seller des Russen Ferdinand Ossendowski mit dem deut-
schen Titel Tiere, Menschen, Götter. Das Buch wird ins-
gesamt von Historikern als problematisch angesehen,
gilt jedoch, was die Schilderungen über den Baron anbe-
langt, als authentisch. (* Webb, 201) Ungern von Stern-
berg wollte einen »Orden von Buddhisten-Kriegern«
aufbauen. »Wozu ?« läßt ihn Ossendowski fragen. »Zum
Schutz des Evolutionsprozesses der Menschheit und
zum Kampf gegen die Revolution. Denn ich bin sicher,
daß die Evolution zur Göttlichkeit und die Revolution
zur Bestialität führt.« (* Ossendowski, 282) Dieser Or-
den sollte die Elite eines asiatischen Staates sein, der die
Chinesen, die Mongolen, die Tibeter, die Afghanen, die
Tataren, die Burjaten, die Kirgisen und die Kalmüken
unter sich vereinigte.
Nach der Berechnung seines Horoskops hatten die
Lamas in von Sternberg die Inkarnation des mächtigen
Tamerlan (1336–1405), des Gründers des zweiten mon-
golischen Imperiums, erkannt. Der General nahm diese
Erkenntnis mit Stolz und Freuden entgegen und entwarf

1017
als Verkörperung des Großkhans seine Vision von einem
Weltreich »als militärische und moralische Verteidigung
gegen den verrotteten Westen …« (* Webb, 202) »In Asi-
en wird es einen großen Staat von dem Pazifischen und
Indischen Ozean bis an das Ufer der Wolga geben«, läßt
Ossendowski den Baron prophezeien. »Die weise Religion
Buddhas wird sich nach Norden und Westen ausbreiten.
Es wird der Sieg des Geistes sein. Ein Eroberer und Füh-
rer wird erstehen, der stärker und kühner sein wird als
Dschinghis Khan … und er wird die Macht bis zu dem
glücklichen Tage in der Hand behalten, an dem der Kö-
nig der Welt aus seiner unterirdischen Hauptstadt an das
Tageslicht heraustreten wird.« (* Ossendowski, 304)
Hier ist das Stichwort gefallen, das bis heute die ok-
kulte Szene des Westens in Bann zieht, der »König der
Welt«. Dieser soll in einem unterirdischen Reich irgendwo
in Innerasien regieren und von dort aus Einfluß auf die
Menschheitsgeschichte nehmen. Auch wenn Ossendow-
ski dessen magisches Imperium mit dem Namen Agarthi
bezeichnet, so handelt es sich dabei nur um eine Varian-
te oder Ergänzung des Shambhala-Mythos. 94 Sein »Wel-
tenkönig« ist identisch mit dem Herrscher des Kalacha-
kra-Reiches. Er »kennt alle Kräfte der Welt und vermag in
den Seelen der Menschheit und dem großen Buch ihres
Geschickes zu lesen. Unsichtbar regiert er über acht Mil-

94 Marco Pallis ist der Meinung, daß Ossendowski einfach den


Namen Shambhala durch Agarthi ersetzt hat, weil der letztere
als »Weltenzentrum« in Rußland sehr bekannt war, während
mit dem Namen Shambhala überhaupt nichts verbunden wur-
de. (* Robin, 314 f.)

1018
lionen Menschen, die die Erdoberfläche bewohnen. Sie
sind jedem seiner Befehle unterworfen.« (* Ossendowski,
346) Unter Berufung auf Ossendowski spekulierte der
französische Okkultist René Guénon, daß der Chakra-
vartin als eine Dreieinigkeit in unserer Erscheinungswelt
präsent sei : In der Gestalt des Dalai Lama repräsentiere
er die Spiritualität, in der Person des Panchen Lama die
Wissenschaft und in seiner Emanation als Bogdo Khan
(Khutuktu) die Kriegskunst. (* Guénon, 37)

Der XIV Dalai Lama und die Mongolei

Seit Ende der 50er Jahre ließ der Druck auf die Reste der
»Gelben Kirche« in der Mongolei langsam nach. Im Jah-
re 1979 kam der XIV Dalai Lama zum ersten Mal auf
Besuch. Moskau, das sich in Konfrontation mit China
befand, sah solche Visiten gerne. Jedoch erst 1990 ver-
zichtete die Kommunistische Partei der Mongolei auf
ihr Machtmonopol. 1992 trat eine neue demokratische
Verfassung in Kraft.
Heute (1999) werden die alten, von den Kommuni-
sten zerstörten buddhuistischen Klöster zum Teil mit
westlicher Unterstützung wieder aufgebaut. Seit Beginn
der 90er Jahre findet bei den Mongolen eine regelrech-
te »Re-Lamaisierung« statt und damit eine Renaissance
des Shambhala-Mythos und eine Neuverbreitung des Ka-
lachakra-Rituals. Der Gelugpa-Orden hat dort einen so
hohen Zulauf, daß den meisten Novizen keine regelrech-
te Ausbildung garantiert werden kann, weil die tantri-

1019
schen Lehrer fehlen. Die Folge ist ein beachtliches Heer
unqualifizierter Mönche, die nicht selten ihr Geld durch
allerlei dubiose Zauberpraktiken verdienen und die ein
gefährliches Potential für einen möglichen buddhisti-
schen Fundamentalismus bilden.
Die Person, welche die »Wiedergeburt« des Lamais-
mus in der Mongolei mit großem Organisationstalent
beaufsichtigt und beschleunigt, heißt Bakula Rinpoche,
ein ehemaliger Lehrer des XIV Dalai Lama und dessen
rechte Hand in Fragen der mongolischen Politik. Der als
hoher Tulku anerkannte Lama übt überraschenderweise
neben seiner religiösen Tätigkeit auch das Amt eines in-
dischen Botschafters in Ulan Bator aus und wird in dieser
Doppelfunktion als Ambassadeur Indiens und als zentrale
Figur im »Re-Lamaisierungs-Prozeß« von der einheimi-
schen Regierung akzeptiert und unterstützt. Im Septem-
ber 1993 ließ er aus Indien für einige Wochen eine Urne
mit der Asche des historischen Buddha in die Mongolei
bringen, ein Privileg, das bisher keinem anderen Land von
der indischen Regierung zugestanden wurde. Bakula ge-
nießt einen so großen Einfluß, daß er 1994 den Mongolen
bekannt gab, die Neunte Inkarnation des Jabtsundamba
Khutuktu und damit die höchste spirituelle Persönlich-
keit ihres Landes sei in Indien entdeckt worden.
Der Dalai Lama kennt die hohe Bedeutung der Mon-
golei für seine Globalpolitik. Er ist dort ständig zu Gast
und leitete beachtliche Massenveranstaltungen (1979,
1982, 1991, 1994, 1995). 1996 zelebrierte der Gottkönig
in Ulan Bator vor einer riesigen begeisterten Menge das
Kalachakra-Ritual. Als er 1994 die mongolischen Bur-

1020
jaten in Rußland besuchte, wurde er von diesen gebeten,
den größten Feldherrn der Welt, Dschinghis Khan, als
»Bodhisattva« anzuerkennen. Enigmatisch lächelte der
Träger des Friedensnobelpreises und ging schweigend zu
einem anderen Tagesordnungspunkt über. Der Kundun
genießt in der Mongolei wie in keinem anderen Teil der
Welt (außer Tibet) eine grenzenlose Verehrung. An ihn
knüpfen sich die grandiosen Hoffnungen dieses armen
Volkes, das einmal die Welt beherrscht hat. Er erscheint
vielen Mongolen als der Erlöser, der sie aus der wirtschaft-
lichen Misere, die sie zur Zeit erleben, herausführen und
ihren vergangenen Ruhm aus den Zeiten des Dschinghis
Khan wiederherstellen kann.
11. DER SHAMBHALA-MYTHOS
UND DIE BUDDHOKRATISCHE
EROBERUNG DES WESTENS

Die Verbreitung des Shambhala-Mythos und des Kala­


chakra-Tantras im Westen hat ihre eigene Geschichte.
Sie beginnt keineswegs erst mit der Vertreibung der La-
mas aus Tibet (1959) und ihrer Diaspora über die gan-
ze Erde, sondern setzt zu Beginn unseres Jahrhunderts
in Rußland durch die religiös-politische Aktivität eines
Burjaten mit dem Namen Agvan Dorzhiev ein.

Der Shambhala-Missionar Agvan Dorzhiev

Agvan Dorzhiev (1854–1938), der seine Mönchsausbil-


dung in Tibet erhielt, war schon in seiner Jugend eine
vielversprechende Persönlichkeit. Man vertraute ihm
deswegen als jungem Mann die Betreuung des XIII Da-
lai Lama an. Zu den Aufgaben des Burjaten zählte unter
anderem, den Körper und das Schlafzimmer des Gott-
königs rituell zu reinigen, was einen sehr intimen Kon-
takt voraussetzt. Später wurde er zeitweise der engste
politische Berater Seiner Heiligkeit.
Dorzhiev war davon überzeugt, daß die Verbindung
Tibets mit Rußland eine für das Hochland äußerst vor-
teilhafte Zukunft darstelle, und konnte mehrere Jahre
hindurch den Hierarchen auf dem Löwenthron von sei-

1022
ner politischen Vision überzeugen. So avancierte er zum
Gesandten Tibets in St. Petersburg und am russischen
Hof. Seine Tätigkeiten in der Hauptstadt waren äußerst
aktiv und vielseitig. 1898 kam es zur ersten Audienz bei
Zar Nikolaus II, der weitere folgen sollten. Die russische
Regierung hatte sich tolerant gegenüber den asiatischen
Minderheiten geöffnet, zu denen auch die Burjaten zähl-
ten, und versuchte, sie unter Achtung ihrer religiösen
und kulturellen Autonomie mehr in das Reich zu inte-
grieren, anstatt sie, wie noch zu Beginn des 19. Jahrhun-
derts, zu missionieren.
Schon als Knabe war Nikolaus II von Tibet und dem
»gelben Papst« aus Lhasa fasziniert. Der berühmte For-
schungsreisende Nikolai Przhewalsky führte den 13jäh-
rigen Zarewitch in die Geschichte und Geopolitik Zen-
tralasiens ein. Przhewalsky beschrieb den Dalai Lama als
einen »machtvollen orientalischen Papst mit einer Herr-
schaft über 250 Millionen asiatische Seelen« und glaubte,
daß ein russischer Einfluß in Tibet zur Beherrschung des
gesamten Kontinents führen würde und dies das erste
Ziel der zaristischen Außenpolitik sein müsse. (* Schim-
melpennink, 16). Auch der am Hofe einflußreiche Prinz
Esper Esperovich Ukhtomsky – zutiefst beeindruckt von
der Lehre des Buddha – träumte von einem asiatischen
Großreich unter der Führung des »Weißen Zaren«.
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Bud-
dhismus in der hohen russischen Gesellschaft zu einer re-
gelrechten Mode, nur vergleichbar mit dem, was zur Zeit
in Hollywood geschieht, wo sich immer mehr Stars zur
Lehre des Dalai Lama bekennen. Es galt als schick, sich

1023
auf Rußlands asiatisches Erbe zu berufen und mit pathe-
tischen Sprüchen das mongolische Blut zu beschwören,
das in den Adern eines jeden Russen fließe. Der Dich-
ter Wladimir Solowjow deklamierte : »Pan-Mongolis-
mus – dieses Wort : Barbarisch, ja ! Doch süßer Klang
…« (* Block, 247)
Allgemein bekannt sind die mysto-politischen Einflüs-
se des naiv-dämonischen Dorfzauberers Rasputin auf den
Zarenhof. Von weit größerer Tragweite sollen jedoch die
machtpolitischen Ränkespiele eines intelligenten asiati-
schen Arztes mit dem Namen Peter Badmajev gewesen
sein. Wie Dorzhiev, den er gut kannte, war dieser ein Bur-
jate, ursprünglich Buddhist, dann aber zur russischen Or-
thodoxie konvertiert. Man nahm ihm seinen Glaubens-
wechsel niemals ab, sondern frequentierte ihn vor allem
als einen machtvollen Schamanen, der in »alle Geheim-
nisse Asiens eingeweiht sein sollte«. (* Golowin, 219)
Badmajev leitete die berühmteste Privatklinik St. Pe-
tersburgs. Dort wurden unter seiner Regie die Kabinetts-
listen für die jeweiligen Regierungsmitglieder zusammen-
gestellt. R. Fülöp-Miller hat die machtpolitischen Akti-
vitäten des Arztes plastisch beschrieben : »Im Laufe der
Zeit vermengten sich Heilkunde und Politik, Minister­
ernennungen und ›Lotosessenzen‹ immer mehr, und es
entstand ein phantastisches politisches Zauberwesen, das
von dem Sanatorium Badmajews ausging und die Ge-
schicke von ganz Rußland bestimmte. Diesen Einfluß
verdankte der Wunderdoktor besonders seiner erfolgrei-
chen medizinisch-politischen Behandlung des Zaren …
Die aus rätselhaften Steppenkräutern gebrauten Mixtu-

1024
ren, Tränklein und Pulver Badmajews dienten nicht nur
dazu, die Stoffwechselstörungen der Patienten zu behe-
ben ; wer diese Medikamente einnahm, sicherte sich zu-
gleich ein wichtiges Amt im Staate.« (* Fülöp-Miller, 112,
148) Die tragende Idee auch dieses »weisen und listigen
Asiaten« war die Errichtung eines asiatischen Imperiums
mit dem »Weißen Zaren« als oberstem Schutzherrn.
In diesem überhitzten pro-asiatischen Klima glaub-
te Dorzhiev, wahrscheinlich etwas voreilig, daß der Zar
ein ernstzunehmendes persönliches Interesse daran habe,
sich in die Geheimnisse des Buddhismus einweihen zu
lassen. Das Ziel des Burjaten war, zwischen Nikolaus II
und dem Gottkönig von Lhasa eine mchod-yon-Bezie-
hung aufzubauen, das heißt eine Patronage des Lama-
ismus durch den russischen Staat. So wurde eine Ruß-
landreise des XIII Dalai Lama vorbereitet, die jedoch nie
zur Durchführung kam.

Bolschewistischer Buddhismus

Man sollte meinen, daß in Dorzhiev ein mitfühlendes


Herz für das tragische Schicksal der Zarenfamilie ge-
schlagen habe. Immerhin hatte Nikolaus II ihn gefördert,
und der XIII Dalai Lama hatte den russischen Throner-
ben sogar zu einem Bodhisattva erklärt, weil mehrere
Versuche, ihm die christliche Taufe zu verabreichen, auf
mysteriöse Weise fehlschlugen. Bilder der Romanows
zierten auf Veranlassung Dorzhievs den buddhistischen
Tempel von St. Petersburg.

1025
Es ist also höchst verwunderlich, daß der Burjate mit
großem Pathos die russische Oktoberrevolution und die
Machtübernahme durch die Bolschewicki begrüßte. Stand
hinter dieser Kehrtwende ein Gesinnungswandel oder ein
verständlicher Opportunismus ? Wohl mehr das erste,
denn zu Beginn der 20er Jahre war Dorzhiev zusammen
mit vielen der berühmten russischen Orientalisten davon
überzeugt, daß Kommunismus und Buddhismus kompati-
bel seien. Er erklärte offen, bei der Lehre des Shakyamuni
handle es sich um eine »atheistische Religion« und es wäre
falsch, sie als »unwissenschaftlich« zu bezeichnen. Män-
ner aus seiner unmittelbaren Umgebung gingen sogar so-
weit, den historischen Buddha als den ersten Gründer des
Kommunismus zu feiern und Lenin als eine Inkarnation
des Erhabenen zu verherrlichen. Es gibt ernstzunehmen-
de Gerüchte, daß Dorzhiev Lenin getroffen habe.
Zuerst honorierten die Bolschewicki solche Anbiede-
rungen und bedienten sich ihrer, um buddhistische Rus-
sen für ihre Ideen zu gewinnen. Schon im zweiten Revo-
lutionsjahr 1919 erlaubte und förderte man noch während
der größten gesellschaftlichen Wirren eine Ausstellung
buddhistischer Kunst. Die Lehre des Shakyamuni erlebte
ihre goldene Zeit, Vorlesungen über die Sutren wurden
gehalten, zahlreiche buddhistische Bücher veröffentlicht,
Kontakte zu mongolischen und tibetischen Gelehrten ge-
knüpft. Selbst der Pan-Mongolismus lebte wieder auf, und
man begann, blutige Bilder zu träumen. Im selben Jahr
prophezeite Alexander Block in seinem berühmten Haß-
gedicht Die Skythen den Untergang Europas durch eine
gemeinsame Tat von Russen und Mongolen :

1026
Wir werden aus den Augenschlitzen sehn
Wie sich um euer Fleisch die Hunnen streiten
Wie eure Städte untergehn
Und zwischen Trümmern ihre Pferde weiden.
(* Block, 249)

Selbst der damalige höchste Kulturbeamte der Sowjetu-


nion, Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski, pries Asi-
en als eine reine Quelle unerschöpflicher Kraftreserven :
»Die Revolution brauchen wir, um die Herrschaft der
Bourgeoisie und zugleich die Herrschaft der Vernünf-
tigkeit über den Haufen zu werfen, um die große Herr-
schaft des elementaren Lebens zurückzuerlangen, um
die Welt in der echten Musik intensiven Seins aufzulö-
sen. Wir achten und ehren Asien als einen Landstrich,
der bislang gerade aus diesen richtigen Quellen der Le-
bensenergie lebt und mit der europäischen Vernunft
nicht vergiftet ist.« (* Trotzkij, 55)
Doch das buddhistisch-panasiatische Eldorado von Le-
ningrad verwandelte sich 1929 zur Hölle, als der stalini-
stische Geheimdienst mit einer Ausrottungskampagne
aller religiösen Strömungen begann. Einige Jahre spä-
ter nahm man Dorzhiev als Konterrevolutionär fest und
machte ihm dann ein Verfahren wegen Staatsverrat und
Terrorismus. Am 29. Januar 1938 starb der »Freund des
Dalai Lama« in einem Gefängniskrankenhaus.

1027
Der Kalachakra-Tempel in St. Petersburg

Für Dorzhievs Rußlandbegeisterung gibt es einen ein-


fachen Grund. Er war davon überzeugt, daß das Ka-
lachakra-System und der Shambhala-Mythos im Reich
des Zaren seinen Ursprung habe und durch ihn dort-
hin zurückkehren werde. 1901 hatte der Burjate Ein-
weihungen in das Zeittantra von Seiten des IX Panchen
Lama erhalten, die für seine zukünftige Vision von zen-
traler Bedeutung sein sollten. Ekai Kawaguchi, ein bud-
dhistischer Mönch aus Japan, der um die Jahrhundert-
wende Tibet besuchte, will von einem Phamphlet gehört
haben, in dem Dorzhiev schrieb : »Shambhala war Ruß-
land. Der Zar war darüber hinaus eine Inkarnation von
Tsongkapa und wird früher oder später die ganze Welt
unterwerfen und ein gigantisches buddhistisches Reich
errichten.« (* Snelling, 79) Obwohl es nicht sicher ist, ob
der Lama diese Schrift wirklich verfaßt hat, entsprach
sie seinen religiös-politischen Vorstellungen. Darüber
sind sich die Historiker einig : »Meiner Meinung nach«,
schreibt W. A. Unkrig, »war der religiös fundierte Vor-
schlag von Agvan Dorzhiev die Gründung eines lamai-
stisch ausgerichteten Königreichs von Tibetern und
Mongolen als einer Theokratie unter der Leitung des Da-
lai Lama … und dem Schutz des zaristischen Rußland …
Hinzu kam, daß zwischen den lamaistischen Gruppen
die religiös begründete Hoffnung auf die Hilfe von ei-
nem messianischen Königreich aus dem Norden, das als
nördliches Shambhala bezeichnet wurde, bestand.« (* zit.
b. Snelling, 79)

1028
Agvan Dorzhiev in den 30er Jahren

Im Zentrum von Dorzhievs Rußlandaktivitäten stand


der Bau eines dreidimensionalen Mandala, des buddhi-
stischen Tempels in St. Petersburg. Das Heiligtum war
der Kalachakra-Gottheit gewidmet. Es gelang dem Ge-
sandten des Dalai Lama, eine beachtliche Zahl an rus-
sischen Prominenten zusammenzubringen, welche das
Projekt befürworteten und förderten. Die Architekten
kamen aus dem Westen. Ein Kunstmaler mit dem Na-
men Nicholas Roerich, der später zu einem fanatischen
Propagandisten der Kalachakra-Lehre wurde, verfertigte
die Zeichnungen für die Glasfenster. 1909 begann man

1029
mit den Arbeiten. In der Zentralhalle waren verschiede-
ne Hauptgötter des tibetischen Pantheons mit Statuen
und Bildern vertreten, unter anderem auch Dorzhievs
zornvolle Initiationsgottheit Vajrabhairava. Von der Aus-
stattung ist vielleicht noch ein Hakenkreuz-Motiv von
Interesse, das die Bolschewisten während des Zweiten
Weltkrieges herausschlugen. Es gab genügend Platz, so
daß auf dem Gelände einige Lamas leben konnten, die
sich um das Ritualleben kümmerten. Dorzhiev hatte ur-
sprünglich vorgehabt, die Belegschaft zu verdreifachen
und nicht nur einen Tempel, sondern ein ganzes Kloster
aufzubauen. Dies wurde jedoch aufgrund einer Interven-
tion der russisch-orthodoxen Kirche verhindert.
1915 fand die Einweihung statt, ein bedeutendes ge-
sellschaftliches Ereignis mit zahlreichen Persönlichkei-
ten des öffentlichen Lebens und den offiziellen Repräsen-
tanten verschiedener asiatischer Länder. Der Dalai Lama
schickte eine machtvolle Delegation, »um das buddhi-
stische Papsttum zu repräsentieren und den tibetischen
Gesandten Dorzhiev zu unterstützen«. (* Snelling, 159)
Schon einige Tage vor der offiziellen Veranstaltung hat-
te Nikolaus II zusammen mit Familienmitgliedern den
Kalackakra-Tempel privat besichtigt.
Nach außen hin wurde das Heiligtum zu einer Betreu-
ungsstätte der burjatischen und kalmükischen Minder-
heiten in der Hauptstadt deklariert. Von seiner okkul-
ten Seite her gesehen war es zweifellos ein tantrisches
Mandala, um das Kalachakra-System in den Westen zu
transplantieren. Denn nach traditioneller Sicht der La-
mas werden – wie wir schon beschrieben haben – Tem-

1030
pelgründungen als ein Akt der spirituellen Okkupation
eines Territoriums angesehen. Die Legenden vom ersten
buddhistischen Klosterbau (Samye) auf tibetischem Bo-
den zeigen, daß es sich hierbei um ein Symbolwerk han-
delte, mit dem der Sieg des Buddhismus über die einhei-
mischen Götter (oder Dämonen) gefeiert wurde. Solche
sakralen Gebäude wie der Kalachakra-Tempel in St. Pe-
tersburg sind Kosmogramme, die von den Lamas – in
ihrer eigenen Vorstellung – als magische Siegel einge-
setzt werden, um Länder und Völker spirituell zu un-
terwerfen. In diesem Sinne hat der Italiener Fosco Ma-
raini in seinem poetischen Reisebericht über Tibet die
Mönchsklöster auch als »Fabriken einer heiligen Techno-
logie oder Laboratorien einer spirituellen Wissenschaft«
beschrieben. (* Maraini 1952, 172) Dies kommt unserer
Meinung nach dem lamaistischen Selbstverständnis sehr
nahe. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, daß die
Bolschewicki im später konfiszierten Kalachakra-Heliig-
tum von St. Petersburg ein Labor für Evolutionstechnik
unterbrachten und unter den Blicken tantrischer Schrec-
kensgötter Gen-Experimente durchführten.
Erst im Juni 1991 wurde der Tempel an die Buddhisten
zurückgegeben. Im selben Jahr, wenige Tage vor seinem
eigenen Tode, beendete der englische Buddhismusfor-
scher John Snelling die Biographie über den burjatischen
Gesandten des Gottkönigs. Dort ist die Frage zu lesen :
»Wer weiß, ob nicht das, was ich als Dorzhievs Shamb-
hala-Projekt für eine große buddhistische Konföderati-
on von Tibet bis nach Sibirien bezeichne, bald eine sehr
reale Möglichkeit sein mag, aber jetzt mit Verbindungen

1031
über Westeuropa und sogar auf internationaler Ebene ?«
(* Snelling, XII) Snelling kann hier nur die explosions-
artige Verbreitung des tantrischen Buddhismus über die
ganze Welt meinen.
Wenn wir den Wandel, den die Zeit mit sich bringt, in
Betracht ziehen, dann wäre heute der Petersburger Ka-
lachakra-Tempel mit dem Tibet House in New York ver-
gleichbar. Bei beiden Institutionen handelt es sich um
halbokkulte Zentren, die nach außen hin als Kulturin-
stitutionen getarnt sind. In beiden Fällen steht auch die
Verbreitung der Kalachakra-ldee im Mittelpunkt. Aber es
gibt noch eine viel engere Beziehung : Robert Alexander
Farrar Thurman, der Gründer und derzeitige Leiter des
Tibet House, ging Anfang der 60er Jahre nach Dharam-
sala. Dort ordinierte ihn der XIV Dalai Lama persönlich.
Anschließend wurde dem Amerikaner, der heute von sich
behauptet, er werde die Buddhisierung der USA noch in
dieser Existenz erleben, der Kalmüke Geshe Wangyal
(1901–1983) als Lehrer zugeteilt. Thurman erhielt also
von Wangyal seine tantrischen Einweihungen.
Mit dieser Guru-Linie ist ein direkter Bezug zu Agvan
Dorzhiev hergestellt. Lama Wangyal ging nämlich als
19jähriger Novize mit dem Burjaten nach St. Petersburg
und wurde von ihm initiiert. Der »Linienguru« Robert
Thurmans ist also via Wangyal der Altmeister Dorzhiev.
Dorzhiev – Wangyal – Thurman bilden eine Initiations-
folge. Nach tantrischer Sicht lebt der Geist des Meisters in
der Gestalt des Schülers fort. Man kann deswegen auch
annehmen, daß Thurman als der »Nachfolger« Dorzhievs
eine Emanation der höchst aggressiven Schutzgottheit

1032
Vajrabhairava darstellt, welche sich in dem Burjaten in-
karniert hatte. Auf jeden Fall muß Thurman mit der glo-
balen Shambhala-Utopie Dorzhievs in Zusammenhang
gebracht werden. Seine enge Verflechtung mit dem Ka-
lachakra-Tantra ergibt sich außerdem daraus, daß er in
Dharamsala einige Monate unter der Aufsicht der auf die
Zeitlehre spezialisierten Namgyal-Mönche verbrachte.

Madame Blavatsky und der Shambhala-Mythos

Als die eigentliche Pioniertat bei der Verbreitung des


Shambhala-Mythos im Westen müssen wir uns jedoch
das Werk und das Leben einer Frau vorstellen. Helena
Petrowna Blavatsky (1831–1891), die einflußreiche Be-
gründerin der Theosophie, hat vielleicht mehr zur Glo-
balisierung eines kriegerischen Buddhismus beigetra-
gen, als ihr selber bewußt war. Die adelige Russin soll
schon in ihrer Kindheit ein befähigtes Medium gewesen
sein. Nach einem abenteuerlichen Leben (sie übte un-
ter anderem den Beruf einer Zirkusreiterin aus) begann
ihre eigentlich spirituelle Karriere in den 70er Jahren
des vorigen Jahrhunderts in den USA. Zuerst versuchte
sie sich in allerlei spiritistischen Séancen. Dann schrieb
sie ihr erstes, später weltberühmtes, okkultes Werk, die
Entschleierte Isis (erschienen 1875). Wie schon der Titel
besagt, orientierte sie sich zu dieser Zeit an ägyptischen
Geheimlehren. An buddhistischen Gedanken ist in die-
sem Oeuvre so gut wie nichts zu finden. 1879 machte
Blavatsky mit ihrem treuesten Anhänger, dem Obersten

1033
Helena Petrowna Blavatsky

Henry Steel Oleott, eine Reise nach Bombay und kon-


vertierte zur Lehre des Gautama Buddha. Dort wurde
auch die Doktrin von der »großen Weißen Bruderschaft
aus Tibet« und von den geheimnisvollen spirituellen
Meistern, die das Geschick der Menschheit bestimmen,
erfunden beziehungsweise nach der Vorstellung Blavats-
kys aus den höheren Welten »empfangen«.
Tibet, das sie wahrscheinlich entgegen eigenen Be-
hauptungen nie besucht hat, war für die Okkultistin
die große Obsession. Sie gefiel sich darin, ihre eigenen
Gesichtszüge als »kalmükisch – buddhistisch – tata-

1034
risch« zu bezeichnen. Auch wenn ihr esoterisches Sy-
stem ein Synkretismus aus allen Religionen darstellt, so
nimmt doch unter ihnen der tibetisch-tantrische Bud-
dhismus seit den Arbeiten an der Secret Doctrine den
Königsplatz ein.
Bei einem detaillierten Vergleich zwischen dem spä-
ten Werk der Theosophin, dem Shambhala-Mythos und
dem Kalachakra-Tantra würde man verblüffende Ähn-
lichkeiten entdecken. Zwar kannte sie das Zeittantra nur
aus den kurzen Bemerkungen des ersten westlichen Ti-
betologen, des Ungarn Csoma de Koros, aber durch ihre
Schriften weht derselbe Geist, der auch das »Höchste aller
Tantras« beseelt. Zentral für ihre Lehre ist das mystische
Buch von Dzyan, das die Russin von einem tibetischen
Meister empfangen haben will und zu dem sie ihre Se-
cret Doctrine (Geheimlehre) als Kommentar schrieb. Es
soll der erste Band der 21 Bücher von Kiu te sein, in de-
nen nach Blavatsky alle esoterischen Lehren unseres Uni-
versums verschlüsselt sind. Worum handelt es sich hier ?
Der Historiker David Reigle vermutet, daß mit den ge-
heimnisvollen Büchern von Kiu te die Tantrasektion des
tibetischen Tanjur und Kanjur, der offiziell kodifizierten
tibetischen Sammlung buddhistischer Lehrtexte, gemeint
ist, über die damals in der Wissenschaft wenig bekannt
war. Aber das ist nicht sicher. Es soll auch eine tibetische
Tradition geben, die behauptet, die Bücher von Kiu te be-
fänden sich allesamt im Königreich Shambhala. (* Reig-
le, 1983, 3) Folgt man diesen Stimmen, dann würde die
Geheimlehre von Madame Blavatsky direkt aus dem Kö-
nigreich stammen.

1035
In ihrer Philosophie ist das ADI BUDDHA-System von
zentraler Bedeutung, ebenso wie die Fünfergruppe der
Dhyani (Meditations) Buddhas und die Verherrlichung
Amithabas als des Höchsten Lichtgottes, den sie mit dem
»Alten der Tage« in der jüdischen Kabbala vergleicht. Die
chinesische Göttin Kuan Yin erkennt sie scharfsinnig als
den »Genius des Wassers«. (* Spierenburg, 13) Aber als
»Mutter, Weib und Tochter« wird sie dem »Ersten Logos«,
dem tibetischen Feuergott Avalokiteshvara untergeordnet.
Die Folge ist – wie im Kalachakra-Tantra – ein obsessi-
ver Solar- und Feuerkult. Eine originelle Ausprägung hat
ihre Feuerverehrung in der Hauptgottheit unseres Zeital-
ters, Fohat mit Namen, gefunden. Er soll unter anderem
in allen Formen der Elektrizität emanieren.
Über die sexualmagischen Praktiken in den Tantras
aber war Madame Blavatsky nicht informiert. Sie selbst
befürwortet sexuelle Enthaltsamkeit als »okkulte Hygie-
ne für Geist und Körper«. (* Meade, 398) Zeitlebens gab
sie sich als Jungfrau aus, was nach einem Bericht ihrer
Ärzte nicht der Wahrheit entsprach. »Zum Teufel mit die-
ser sexuellen Liebe !« fluchte sie. »Es ist ein bestialischer
Appetit, der durch Unterdrückung ausgehungert werden
sollte.« (* Symonds, 64) Als die Geschlechter erschienen
– so erfahren wir aus dem Buch Dzyan –, kam das Un-
heil in die Welt. Der Abstieg in die Materie begann mit
einem sexuellen Fehltritt der Götter : »Sie nahmen Wei-
ber, die schön waren. Weiber von den Gemütlosen, den
Schwachköpfigen … Da wirkte das Dritte Auge nicht
mehr.« (* Blavatsky, Bd. II, 23)
Wahrscheinlich war Blavatsky davon überzeugt, daß

1036
ihr weiblicher Körper von einem männlichen tibetischen
Yogi ausgeliehen wurde. Auf jeden Fall vermutete das ihr
engster Mitarbeiter, Henry Steel Oleott, der ihre Arbeiten
so bewunderte, daß er nicht glauben konnte, sie könn-
ten das Werk einer Frau sein. Also fragte er einen indi-
schen Guru in Bezug auf Madame : »Aber kann das At-
man (höhere Selbst) eines Yogis in den Körper einer Frau
überwechseln ?« Darauf antwortete der Inder : »Er kann
seine Seele mit ihrer physischen Form bekleiden, ebenso
leicht wie er Frauenkleider anlegen kann. Was nun jeden
physischen Aspekt und jede physische Beziehung anbe-
langt, wird er jetzt wie eine Frau sein ; innerlich wird er
aber er selbst bleiben.« (* Symonds, 142)
Wie im Kalachakra-Tantra, so gilt die Androgynität
auch in der Theosophie als das höchste Ziel auf dem
Erleuchtungsweg. Die Götter sind »männlich-weiblich«
zugleich. Ihre Doppelgeschlechtlichkeit verdichtet sich
in der Gestalt des Avalokiteshvara des kosmischen Ur-
menschen.
Durch ihre Gleichstellung des ADI BUDDHA mit dem
Bodhisattva Avalokiteshvara bereitete Madame Blavats-
ky eine Kosmologisierung von dessen irdischer Verkör-
perung, dem Dalai Lama, vor. Für sie ist der Bodhisatt-
va »der Mächtige und Allsehende«, der »Heiland der
Menschheit«, und wir erfahren, daß er sich als der »voll-
kommenste Buddha« im Dalai Lama oder im Panchen
Lama inkarnieren wird, um die ganze Welt zu erlösen.
(* Blavatsky, Bd. II, 188)
Die Russin geht wie im Shambhala-Mythos von der Exi-
stenz einer geheimen Weltregierung aus, deren Mitglie-

1037
der, die Mahatmas, im 14. Jahrhundert von dem Gründer
des Gelugpa-Ordens, Tsongkapa, in einer esoterischen
Gesellschaft zusammengefaßt wurden. Die »Weiße Bru-
derschaft«, wie dieser Geheimbund genannt wird, exi-
stiert immer noch, wenn auch vor allen Blicken verbor-
gen, in Tibet und wirkt auf den Lauf der Geschichte ein.
Sie besteht aus Übermenschen, welche die Evolution der
Erdenbürger überwachen.
Ebenso sind die katastrophale Zerstörung des alten
Äons und die Entstehung eines neuen Paradiesreiches
Teil des theosophischen Weltentwurfs. Blavatsky zitiert
hier die gleiche indische Quelle, aus der sich auch das
Kalachakra-Tantra speist, das Vishnu Purana. Vom End-
zeitherrscher heißt es dort : »Er … wird geboren wer-
den als ein hervorragender Brahmane aus Shambhala …
begabt mit den acht übermenschlichen Kräften. Durch
seine unwiderstehliche Macht wird er … alle vernich-
ten, deren Herzen der Bosheit ergeben sind. Er wird die
Rechtschaffenheit auf Erden wieder aufrichten.« (* Bla-
vatsky, Bd. III, 348)
Selbstverständlich konnte die Russin vieles in die tibe-
tisch-buddhistische Lehre hineininterpretieren, da zu ih-
rer Zeit nur wenige Originaltexte in eine westliche Sprache
übersetzt waren. Aber ihre zahlreichen Thesen als reine
Phantasien abzutun, ist sicher falsch, denn ihre spekula-
tive Welt bringt sie mit den Imaginationen und dem ok-
kulten Ambiente des Lamaismus enger in Verbindung als
manche philologisch richtige Übersetzung einer Sanskrit-
schrift. Mit einem unbeirrbaren Instinkt und einer visio-
nären Meisterschaft hat sie viele der Ideen und Mächte

1038
ausfindig gemacht, die in der tantrischen Lehre wirksam
sind. Da sie zu diesen Entdeckungen mehr durch Intuiti-
on und Medialität als durch wissenschaftliche Recherchen
gelangte, kann man sie als das halbbewußte Instrument
einer buddhistisch-tibetischen Welteroberung ansehen.
Auf jeden Fall hat sie von allen westlichen »Tibetgläubi-
gen« das meiste dazu beigetragen, das Schneeland als ein
unergründliches Mysterium bekannt zu machen. Ohne
den okkulten Schleier, den Madame Blavatsky über Ti-
bet und seinen Klerus geworfen hat, wäre heute der tan-
trische Buddhismus im Westen nur halb so attraktiv. Der
XIV Dalai Lama weiß denn auch um die hohe Bedeutung
solcher weiblicher Bundesgenossen und hat deswegen Bla-
vatskys Pionierarbeit des öfteren gelobt.

Nicholas Roerich und das Kalachakra-Tantra

Zwei weitere Personen, die dem Shambhala-Mythos vor


der Flucht des XIV Dalai Lama die meiste Beachtung im
Westen verschafften, waren ebenfalls Russen, Nicholas
Roerich (1874–1947) und seine Frau Helena Iwanowna
(1879–1955). Roerich übte Zeit seines Lebens den Beruf
eines Kunstmalers aus und stand unter dem Einfluß ei-
nes späten Jugendstils. Er selbst sah sich als eine Inkar-
nation des Leonardo da Vinci. Über seine Bilder, von de-
nen die größte Zahl asiatische Sujets, insbesondere die
Berglandschaften des Himalaya, zum Gegenstand haben,
versuchte er seine religiösen Botschaften zu verbreiten.
Schon sehr früh interessierte er sich für die Ideen der

1039
Theosophie, seine Frau übersetzte Madame Blavatskys
Geheimlehre ins Russische. Durch die Okkultistin kam er
zum Buddhismus, der damals, wie gesagt, in der St. Pe-
tersburger Gesellschaft en vogue war. Als Ausstatter von
Agvan Dorzhievs Kalachakra-Tempel ist er uns schon
kurz begegnet. Mit dem Burjaten verband ihn eine tiefe
Freundschaft. Dagegen haßte er Albert Grünwedel und
betrachtete dessen Arbeiten mit großem Mißtrauen. In
den Jahren 1924 bis 1928 durchstreifte der Russe Innera-
sien auf der Spurensuche nach dem Königreich Shamb-
hala und publizierte anschließend einen Reisebericht,
dessen Titel in der deutschen Übersetzung Shambhala –
Das geheimnisvolle Weltzentrum im Herzen Asiens lautet.
(* der engl. Titel ist etwas nüchterner : Altai Himalaya –A
Travel Diary – Broofield, 1983. Erste Ausgabe 1929)
1929 hatte er mit einer sehr erfolgreichen internatio-
nalen Aktion, dem Roerich Banner of Peace (Friedens-
banner) und dem Peace Pact (Friedenspakt), begonnen,
wonach sich kriegführende Nationen verpflichten sollten,
gegenseitig ihre Kulturgüter vor Zerstörung zu schüt-
zen. 1935 wurde der Roerich-Pakt im Weißen Haus von
21 Staaten und in Anwesenheit von Präsident Roosevelt
unterzeichnet. Dem emigrierten Russen war es gelun-
gen, sich einen ständigen Zugang zu Regierungskreisen
zu verschaffen, insbesondere weil ihn der amerikanische
Agrarminister Henry Wallace als seinen Guru akzeptier-
te. 1947 starb der Maler in Nordindien in den Ausläu-
fern des Himalaya.
Mit größtem Eifer setzte seine Frau die religiöse Ar-
beit ihres Mannes bis in die 50er Jahre hinein fort. Hele-

1040
na Iwanowna hatte von Anfang an aktiv an der Ideenbil-
dung ihres Mannes teilgenommen. Sie ist es vor allem, der
wir die zahlreichen Schriften über den Agni – Yoga, das
Herzstück ihrer gemeinsamen Lehre, verdanken. Roerich
sah in ihr so etwas wie seine Shakti und hat ihren Beitrag
bei der Entwicklung seiner Vision offen zugestanden. In
einem Statement heißt es, daß es nach seinem Weltver-
ständnis »die Aufgabe der Frau (sei), ihren männlichen
Partner zum Höchsten und Schönsten zu führen, ihn
dann zu inspirieren, sich der höheren Welt des Geistes
zu öffnen und sowohl das Hochwertige und Schöne als
auch ethische und soziale Aspekte in das Leben hinein-
zutragen.« (* Augustat, 50) Es gab in seinem ansonsten
indisch-buddhistischen Lehrgebäude eine wahrschein-
lich aus der russischen Orthodoxie stammende Vereh-
rung der »Mutter der Welt«.

Das Kalachakra-Tantra

Über das Kalachakra-Tantra erfuhr Roerich zum ersten


Mal etwas von Agvan Dorzhiev während seiner Tem-
pelarbeiten in St. Petersburg. Später in Darjeeling hat-
te er Kontakt zu Lama Ngawang Kalzang, der auch der
Lehrer des Deutschen Lama Govinda war und sich in
der Zeitlehre gut auskannte. Ob Roerich jedoch von ihm
oder anderen spezifische Einweihungen erhielt, ist sehr
unwahrscheinlich, da seine Aussagen, das Kalachakra-
Tantra betreffend, keine großen Fachkenntnisse auf-
weisen. Vielleicht gerade deswegen sah er hier die »Fro-

1041
he Botschaft« des kommenden neuen Äons vor sich. So
nahm er genau die Gegenposition seines Zeitgenossen
und Bekannten Albert Grünwedel ein, der das höchste
buddhistische Lehrgebäude als ein Teufelswerk fana-
tisch anprangerte. »Kalachakra«, schreibt Roerich, »ist
die Lehre, die zahlreichen Herrschern von Shambhala
zugeschrieben wurde … Aber in Wirklichkeit ist die-
se Lehre die große Offenbarung, die der Menschheit ge-
bracht wurde … durch die Herren des Feuers, die Söh-
ne der Vernunft, die die Lords von Shambhala sind und
waren.« (* Schule, 79, 81)
Bis ins Zwanzigste Jahrhundert hinein war – laut
Roerich – die »Feurige Lehre von Staub bedeckt«. (* Schu-
le, 122) Nun aber sei der Zeitpunkt gekommen, wo sie
sich über die ganze Welt verbreite. Alle anderen Religio-
nen sollen, was ihren Wesenskern anbelangt, schon im
Zeittantra enthalten sein : »Es gibt jetzt so viele Lehrer –
so verschieden und einander so feindlich ; und dennoch
sprechen so viele von dem Einen, und das Kalachakra
drückt dieses Eine aus«, läßt der Russe einen tibetischen
Lama sprechen. »Einer eurer Priester fragte mich einmal :
Sind die Kabbala und Shambhala nicht Teile der einen
Lehre ? Er fragte : Ist der große Moses nicht ein Einge-
weihter derselben Lehre und ein Diener ihrer Gesetze ?«
(* Schule, 78)

1042
Agni Yoga

Für Roerich und seine Frau beinhaltet das Zeittantra


eine sprühende Feuerphilosophie : »Diese Lehre des
Kalachakra, dieser Gebrauch primärer Energie, wurde
als die Lehre des Feuers bezeichnet. Die Hindu-Völker
kennen den großen Agni – auch wenn es sich hier um
eine uralte Lehre handelt, wird sie die neue Lehre für
eine neue Ära sein.« (* Reigle, 1986, 38) Die Interpreta-
tion, welche das russische Ehepaar in seinen zahlreichen
Schriften dem Kalachakra-Tantra zukommen läßt, darf
ohne Übertreibung als eine »pyromanische Obsession«
beschrieben werden. Das Feuer wird bei ihnen zum au-
tokratischen, alles in seinen Flammen auflösenden Ur-
stoff. Es wirkt als das einzig kreative Universalprinzip.
Alle anderen Elemente, aus deren gegenseitiger Vermi-
schung die Buntheit des Lebens entsteht, verschwinden
im flammenden Schöpfungsprozeß : »Sucht das schöpfe-
rische Feuer nicht in der Trägheit der Erde, in den wallen-
den Wogen des Wassers, in den Stürmen der Luft.« (* H.
I. Roerich I, 5) Haltet euch vor den anderen »Elemen-
ten« zurück, denn »jene lieben das Feuer nicht«. (* H. I.
Roerich I, 7) Nur die »Feurige Welt« bringt Segen. Jeder
trägt die »Funken der feurigen Welt im Herzen«. (* H. I.
Roerich II, 8) Durch »feurige Zeichen« kündigt sich die-
se an. »Regenbogenflammen« bestätigen das Streben des
Geistes. Aber erst nach einer »Feuertaufe« gehen alle Ge-
rechten mit »flammendem Herzen« dem »Reich der feu-
rigen Welt« entgegen, wo es keinen Schatten gibt. »Feuer­
engel« empfangen sie. »Die Leuchtkraft aller Teile der

1043
feurigen Welt erzeugt ein immerwährendes Strahlen.«
(* H. I. Roerich II, 8) Der »Gesang des Feuers erklingt
als Sphärenmusik«. (* H. I. Roerich II, 8) Im Zentrum
dieser Welt steht das »Höchste Feuer«. Da der kleine und
der große Kosmos eine Einheit bilden, entsprechen die
»feurigen Chakren« des Einzelmenschen »den feurigen
Gebilden des Weltenraums«. (* H. I. Roerich I, 240)
Uralt soll dieser Feuerkult sein, und schon in grauer
Vorzeit hätten seine Heiligtümer auf dem Himalaya ge-
standen : »Jenseits des Kanchen-junga sind alte Menhire
des großen Sonnenkultes. Jenseits des Kanchen-junga ist
der Geburtsort der Heiligen Swastika, Sinnbild des Feu-
ers. Heute, in den Tagen des Agni Yoga, tritt das Feuer-
element wieder in den Geist ein.« (* N. Roerich, 40) Auch
Madame Blavatskys oben erwähnter Elektrizitätsgott Fo-
hat steht bei den Roerichs in großen Ehren.
Praktiziert wird Roerichs Feuerphilosophie durch ein
bestimmtes sakrales System, das sich Agni Yoga nennt.
Wir konnten nicht feststellen, inwieweit es sich an die
Tradition des im Kalachakra-Tantra praktizierten und
von uns schon beschriebenen Sadanga-Yoga anschließt.
Man hat den Eindruck, daß der Agni Yoga stärker ethisch
und mit Gefühl als technisch und mit Methode durchge-
führt wird. Zwar sprechen auch die Roerich-Texte von ei-
ner Entfesselung der Kundalini (Feuerschlange), aber von
sexuellen Praktiken ist nirgends die Rede. Im Gegenteil :
Die Philosophie der beiden Russen verlangt strikte Absti-
nenz und steht allem Erotischen feindlich gegenüber.
1920 wurde die erste Agni Yoga-Gruppe von dem Ehe-
paar gegründet. Die Lehre komme aus dem Osten, so er-

1044
fahren wir, und zwar direkt aus dem mythischen König-
reich : »Und wenn Asien von dem gesegneten Shambha-
la, über Agni Yoga, über die Lehre der Flammen spricht,
so weiß es, daß der Heilige Geist der Flamme die Men-
schenherzen in einer strahlenden Evolution vereinigen
kann.« (* N. Roerich, 272) Agni Yoga soll die großen Welt-
religionen miteinander verbinden und als eine gemein-
same Basis für diese dienen.
Mit großem Bedauern stellen die Roerichs fest, daß die
Menschen nicht auf die »feurigen Zungen« hören, die zu
ihnen sprechen und die sie in die Geheimnisse der Flam-
men einweihen wollen. Sie eigneten sich nur die äuße-
ren Erscheinungen der Feuerkraft an wie die Elektrizität,
ansonsten fürchten sie sich vor dem Element. Doch das
»Raumfeuer verlangt nach Offenbarung«, und wer sich
seiner Stimme verschließt, der werde durch die Flam-
men umkommen. (* H. I. Roerich, 30)
Die Vernichtung aller unwissenden und dunklen Kräf-
te geschieht, wenn auch im kosmischen Plan vorgesehen,
nicht von selbst. Sie bedarf einer Beschleunigung durch
die guten Mächte. Es geht um Sieg und Niederlage, um
Heldenmut und Opfertod. Hier ist nun der Augenblick,
wo die Figur des Shambhala-Kriegers auf den Plan tritt
und sich mit dem unaufhaltsam vordringenden Bösen,
das die Heilige Flamme löschen will, schlägt : »Sie wer-
den kommen – die Verlöscher ; sie werden kommen – die
Verderber ; sie werden kommen – die Gewaltigen der Fin-
sternis. Bereits eingesetzte Zersetzung kann nicht aufge-
halten werden.« (* H. I. Roerich 1, 124)

1045
Shambhala

»Der Begriff Shambhala ist mit feurigen Erscheinungen


wirklich untrennbar verbunden«, hören wir von Hele-
na Iwanowna Roerich. (* H. I. Roerich I, 26) »Feuerzei-
chen leiten die Epoche von Shambhala ein«, schreibt ihr
Gatte. (* Schule, 29). Es ist nicht erstaunlich, wenn sich
die russischen Visionäre die Tempel von Shambhala als
»alchemistische Laboratorien« vorstellen, denn auch im
Zentrum der hermetischen Kunst, wie die abendländi-
sche Alchemie genannt wurde, stand ein Feuerofen, der
Athanor.
Shambhala, die »Stadt des Glücks«, gilt für das Ehepaar
als der »geographische Wohn- beziehungsweise Arbeits-
ort der Bruderschaft und Sitz der Interplanetaren Regie-
rung im Transhimalaya«. (* Augustat, 153) In einer of-
fiziellen Grundsatzerklärung der beiden heißt es : »Die
Bruderschaft ist die geistige Vereinigung höherentwic-
kelter, von anderen Planeten stammender Wesenheiten
oder Hierarchen, die als kosmische Institution die Ver-
antwortung für die Gesamtevolution des Planeten Erde
gegenüber einer höheren Institution tragen. Die Inter-
planetare Regierung besteht aus kosmischen Ämtern, die
von den Hierarchen je nach Aufgabe und Zeitalter be-
setzt werden.« (* Augustat, 149) Die Mahatmas, wie diese
Hierarchen unter Bezug auf Madame Blavatsky genannt
werden, haben realpolitische Machtinteressen und ste-
hen mit bestimmten Staatschefs unserer Welt in direk-
tem Kontakt, auch wenn die normal Sterblichen davon
nichts ahnen.

1046
Denn es ist für nicht eingeweihte Menschen unmög-
lich, die Hauptloge des Geheimbundes zu entdecken :
»Wie kann man den Weg zu unseren Laboratorien fin-
den ? Ohne gerufen zu werden, wird niemand zu uns
gelangen«, ruft Roerich aus. (* Schule, 9) Von dort aus
steuern die Mahatmas ein Heer von zum Teil bezahlten
Agenten, die hier auf Erden im Namen des verborgenen
Königreiches operieren. Mittlerweile ist unser gesamter
Planet mit einem Netz von Mitgliedern, Mitarbeitern,
Verbindungsleuten und Spionen der »Internationalen Re-
gierung« überzogen, die nur auf das Zeichen aus ihrer
Kommandozentrale in Shambhala warten, um ans Tages-
licht zu treten und sich der Menschheit zu offenbaren.
Ebenso sind die Aktivitäten und Beschlüsse der »Un-
sichtbaren Internationalen Regierung« für einen Außen-
stehenden kaum zu durchblicken. Es gibt ein Gesetz, ge-
mäß dem jede irdische Nation nur einmal in einem Jahr-
hundert von einem Gesandten Shambhalas aufgesucht
und »gewarnt« wird. Wahrscheinlich hat man während
der Französischen Revolution eine Ausnahme gemacht,
denn zu diesen unruhigen Zeiten waren »Hierarchen«
wie zum Beispiel der Graf de Saint Germain äußerst rüh-
rig. Leider starb er schon im Jahre 1784 »infolge undis-
ziplinierten Denkens eines seiner Mitarbeiter«. (* Schu-
le, 117) Wahrscheinlich sei das Lotterleben seines Sad-
hakas (Schülers) Cagliostro schuld daran gewesen, daß
er an den großen Ereignissen von 1789 (Sturm auf die
Bastille) nicht mehr teilnehmen konnte.
Nach Roerich haben die Regierungsmitglieder von
Shambhala die Fähigkeit, durch Telepathie in das Be-

1047
wußtsein von Erdenbürgern einzudringen, ohne daß die-
se wissen, woher ihnen bestimmte Gedanken kommen :
»Wie Pfeile bohren sich die Sendungen der Gemeinschaft
in das Gehirn der Menschheit ein.« (* Schule, 10) Das ge-
schieht manchmal mit eigens für diesen Zweck konstru-
ierten Apparaten. Es ist ihnen aber nicht erlaubt, ihre er-
staunlichen magischen Fähigkeiten offen zu zeigen : »Wer
kann ohne Nahrung existieren ? Wer kann ohne Schlaf
auskommen ? Wer ist unempfindlich gegen Hitze und
Kälte ? Wer kann Wunden heilen ? Wahrlich nur, wer Ka-
lachakra studiert.« (* Schule, 77)
Alle Interventionen der regierenden Yogi-Kaste haben
für das russische Ehepaar nur ein einziges Ziel, das Kom-
men des zukünftigen Buddha Maitreya Morya oder Rig-
den-jyepo vorzubereiten, der dann jede wichtige Entschei-
dung fällt. Beide Namen sind nach den Roerichs Synony-
me für den Rudra Chakrin, den »zornigen Raddreher« und
Endzeitherrscher des Kalachakra-Tantras. Wir erwarten
also einen orientalischen, um seine Untertanen besorgten
Märchendespoten : »Gleich einem Diamanten glüht das
Licht aus dem Turm von Shambhala. Er ist da – Rigden-
jyepo, unermüdlich, immer wachsam um der Mensch-
heit willen. Seine Augen schließen sich niemals. In sei-
nem Zauberspiegel sieht er alles, was auf Erden geschieht.
Und die Macht seiner Gedanken dringt zu den fernen
Landen … Seine unermeßlichen Reichtümer liegen bereit,
allen Bedürftigen zu helfen, die sich erbieten, der Sache
der Rechtschaffenheit zu dienen.« (* Augustat, 11)
Dieser Endzeitkaiser aus Shambhala offenbart sich ne-
benbei noch als der westliche Gralskönig, der den Heili-

1048
gen Stein in seinen Händen hält, und der vor Jahrhunder-
ten in die Verdeckung nach Tibet ausgewandert ist. Jetzt
kehrt er zurück, Boten kündigen ihn an. Echte Gralsritter
seien bereits unerkannt auf Erden inkarniert. Die Anhän-
ger der Roerichs glauben sogar, ihr Meister selbst habe
zeitweise den Gral gehütet und dann auf seiner Asienrei-
se nach Shambhala zurückgebracht. (* Augustat, 114)

Apokalypse

»Warum sammeln sich Wolken, wenn der Stein (der


Gral) sich trübt ? Wenn der Stein schwer wird, wird
Blut vergossen«, erfahren wir geheimnisvoll von den
Roerichs. (* Schule, 88) Hinter diesem Gralsgeheimnis
verbirgt sich der apodiktische Satz, den wir aus fast al-
len Religionen kennen und der besagt, daß zur Erlan-
gung des Paradieses der totale Krieg, ja eine Weltver-
nichtung notwendig sei. Sie seien notwendig, denn der
»Bruderschaft des Guten« steht nach gut dualistischem
Klischee immer die »Bruderschaft des Bösen« gegenüber.
Den »Söhnen der Finsternis« ist es gelungen, die Ver-
bindung der Menschheit zur »Höheren Welt«, zur »Hel-
len Hierarchie« durchzuschneiden. Überall lauern die
Mächte des Abgrunds. Höchste Vorsicht ist angebracht,
denn ein normaler Sterblicher kann die Bösen kaum
noch von den Guten unterscheiden, zumal »die Bruder-
schaft des Bösen die Methoden der Handlungsweise des
Guten nachzuahmen sucht.« (* Schule, 126)
Nicholas Roerichs Sohn, der geschätzte Tibetologe

1049
George Roerich, zog sich jahrelang täglich Reiterkleidung
an. Damit folgte er dem Wunsch seines Vaters, der die
Meinung vertrat, daß alle, die das Erscheinen des Shamb-
hala-Königs vorbereiten, immer bereit sein müßten, sich
der Armee der buddhistischen Krieger anzuschließen.
Die Endschlacht zwischen Licht und Dunkel ist – so
die Roerichs – in den Prophezeiungen der Ahnen und
den Schriften der Weisen angekündigt und hat deswegen
stattzufinden. Wenn sich auf Erden Naturkatastrophen
und Verbrechen häufen, werden die Krieger von Shamb-
hala erscheinen. An der Spitze ihres Heeres steht der
Buddha Maitreya Morya, der »den Fürsten der Finster-
nis selbst (bekämpft). Dieser Kampf findet vor allem in
feinstofflichen Sphären statt, wohingegen der Herrscher
von Shambhala hier durch seine irdischen Krieger wirkt.
Er selbst kann nur im äußersten Ausnahmefall gesehen
werden und würde nie in einer Menge oder unter Neu-
gierigen erscheinen. Sein Erscheinen in feuriger Gestalt
wäre für alle und alles unheilvoll, weil seine Aura mit
Energien ungeheurer Kraft geladen ist.« (* Schule, 152)
Man könnte meinen, es handle sich um die Atombombe.
Jedenfalls wird der Kampf mit einer Feuer- und Explosi-
onskraft geführt, die nur die atomaren Ereignisse in Hi-
roshima und Nagasaki als Vergleich zulassen :

Feurig der Kampf


mit lodernden Fackeln,
blutrot die Pfeile
gegen den leuchtenden Schild.
(* Schule, 110)

1050
So stürmen die Armeen Shambhalas vor. »Mit Feuer ist
der Raum erfüllt. Schon zuckt der Blitz des Kalki Ava-
tar (Rudra Chakrin) – der vorbestimmte Maitreya – am
Himmel.« (* N. Roerich, 76) Auch wenn der Kalki den
Beinamen »Herr des Mitgefühls« trägt, kennt er kein Er-
barmen mit seinen Feinden. Auf einem »weißen Pferd«,
in der Hand ein »kometenähnliches, feuriges Schwert«,
wird er heranstürmen, begleitet von Gesar, dem mythi-
schen Kriegshelden der Tibeter. Eiserne Schlangen wer-
den den Weltraum mit Feuer und Rauch verschlingen.
(* N. Roerich, 12) »Der Herr«, so lesen wir, »sucht das
Volk im Feuer heim. Dasselbe feurige Element wurde
zum Höchsten Gericht erwählt. Die Läuterung vom Bö-
sen vollzieht sich durch das Feuer. Mißgeschicke sind
von Bränden begleitet.« (* H. I. Roerich I, 46)
Die Kämpfer für Shambhala sind die Vorläufer einer
neuen Rasse, die nach dem Armageddon die Herrschaft
über das Universum ergreift, nachdem die »Spreu vom
Weizen getrennt ist«. (* Augustat, 98) Das heißt im Klar-
text, nachdem alle minderwertigen Rassen in einem Ho-
locaust ausgerottet sind.

Die Verbreitung im Westen

Was das Geschick Tibets anbelangt, so sind Roerichs


Prophezeiungen, die er Ende der 20er Jahre machte, in
der Tat eingetroffen : »Die wahre Lehre wird Tibet ver-
lassen«, läßt er damals einen Lama verkünden, »und im
Süden wieder erscheinen. In allen Ländern werden dann

1051
die Gebote Buddhas kundgetan.« (* N. Roerich, n) 1959
floh der XIV Dalai Lama in den Süden nach Indien, und
von diesem Zeitpunkt an begann sich der tibetische Bud-
dhismus über die ganze Welt zu verbreiten.
Roerich selber und seine Frau sahen sich als Agenten
von Shambhala, die zu den Regierenden unserer Welt
Kontakt aufnehmen sollten, um sie zu warnen. Immer-
hin konnten sie auf ein Treffen mit Roosevelt verweisen.
Ihre Anhänger glauben jedoch, daß sie in der Hierarchie
höher standen und selber inkamierte Mahatmas aus dem
Königreich waren.
Mittlerweile erfreut sich der Roerich-Kult im europä-
ischen Osten großer Beliebtheit, wo er schon vor dem
Ende des Kommunismus bis in die höchsten Regierungs-
kreise vordrang. Die ehemalige bulgarische Kultusmini-
sterin Ludmilla Schiffkova, Tochter des kommunistischen
Staatschefs Todor Schiffkov, war geradezu fanatisch in die
Philosophie des Agni-Meisters vernarrt, so daß sie plan-
te, seine Lehre als offizielles Fach in den Schulunterricht
zu bringen. Die Kulturpolitik eines ganzen Jahres stellte
sie unter das Motto »N. K. Roerich – ein Weltbürger der
Kultur«, und auch im Ausland organisierte sie mehrere
Ausstellungen mit Werken ihres spirituellen Vorbildes.
Auch Michael Gorbatschow und seine Frau Raissa unter-
stützten zahlreiche Roerich-Initiativen. Aufwendige Sym-
posien und Ausstellungen kündigten die Renaissance des
visionären Malers schon seit Jahren in Rußland an, um sich
dann in der postkommunistischen Ära voll zu entfalten.
Im Oktober 1992 wurde in Alma Ata unter der Patronage
des Präsidenten von Kasachstan eine ökumenische Groß-

1052
Allan Ginsberg und Chögyum Trungpa

veranstaltung von den internationalen Roerich-Gruppen


organisiert, sozusagen vor der geographischen Tür, hinter
der nach weitverbreiteter Ansicht einst das Land Shamb-
hala gelegen ist. Der eingeladene XIV Dalai Lama zögerte,
ob er diesen Kongreß besuchen sollte, dann entschied er
sich aus zeitlichen Gründen, ein Grußtelegramm und ei-
nen hohen Repräsentanten an seiner Stelle zu schicken.

Der »Shambhala-Krieger« Chögyum Trungpa

1975 sammelte der Tibeter Chögyum Trungpa (1940–


1987) mehrere seiner westlichen Schüler um sich und
begann damit, sie in eine spezielle spirituelle Disziplin

1053
einzuweihen, die er als die »Lehre von Shambhala« be-
zeichnete. Der Rinpoche aus der tibetischen Provinz
Kham wurde als Kleinkind im Alter von dreizehn Mo-
naten als die zehnte Wiedergeburt des Trungpa Tulku
erkannt und in den Kagyüpa-Orden aufgenommen.
1959 mußte er vor den Chinesen fliehen. 1963 reiste
er nach England und studierte an der Oxford-Universi-
tät abendländische Philosophie und vergleichende Reli-
gionswissenschaft. Wie kein anderer tibetischer Lama
seiner Zeit, verstand er es, sich in die westliche Zivili-
sation und Kultur einzubringen. Als brillanter Rhetori-
ker, als Poet und exotischer Freigeist fand er bald zahl-
reiche begeisterte Zuhörer und Anhänger. 1967 gründe-
te er das erste europäische Tantra-Kloster in Schottland.
Er gab ihm den Namen und den Grundriß von Samye
Ling – in Erinnerung an das tibetische Gründungshei-
ligtum gleichen Namens, daß Padmasambhava Ende des
8. Jahrhunderts gegen den Widerstand zahlloser Dämo-
nen errichtet hatte.
Auch in Schottland – so die Meinung von Trungpa-
Anhängern – waren die dämonischen Widerstände ge-
waltig : 1969 erlitt der junge Lama einen schweren Auto-
unfall, so daß er bis an sein Lebensende hinken mußte.
Über dieses fatale Ereignis ist eine vieldeutige Anekdote
im Umlauf. Trungpa sei mit dem Wagen an eine Stra-
ßengabelung gekommen – die rechte Fahrbahn führ-
te in Richtung seines Klosters, die linke in das Haus,
in dem seine zukünftige Frau lebte. Er sei aber gerade-
aus gefahren, mitten hinein in einen Laden für Zauber-
und Witzgegenstände. Dennoch hatte sein kometenhaf-

1054
ter Aufstieg erst begonnen. Er ging 1970 in die Verei-
nigten Staaten.
Die charmante und zu Beginn anarchische Art Trung-
pas, sein Humor und seine Loyalität, seine Respektlosig-
keit und sein Lachen zogen viele junge Menschen der 60er
Generation wie magnetisch an. Sie glaubten, hier diese
gefährlich-süße Mischung aus Exotik, Gesellschaftskritik,
freier Liebe, bewußtseinserweiternden Drogen, Spiritua-
lität, politischem Engagement und Selbstfindung wieder-
zufinden, die sie während ihrer Jugend in den Revolte-
jahren gekostet hatten. Trungpas Freundschaft mit dem
radikalen Beatnikpoeten Allan Ginsberg und anderen be-
kannten amerikanischen Dichtern steigerte sein Ansehen
als »junger Wilder« vom Dach der Welt noch mehr. Schon
seine erste Klostergründung Samye Ling war bekannt für
die libertären »spirituellen« Parties, die dort abgehalten
wurden, und für freien Sex und Drogenkonsum.
Aber solche Exzesse stellten nur die eine Seite dar.
Durch das tantrische Umkehrungsgesetz war von Trung-
pa intendiert, alle Ausschweifungen (von sich und seinen
Schülern) am Ende in Disziplin, Güte und Erleuchtungs-
bewußtsein zu transformieren. Die missionarischen Er-
folge des Gurus kannten keine Grenzen. Viele Tausen-
de pilgerten zu ihm. In Amerika und Europa – überall
entstanden spirituelle Zentren (Dharmadatus). Als Pri-
vatuniversität wurde das Naropa-Institut (Denver, USA)
gegründet, wo man neben verschiedenen buddhistischen
Disziplinen auch die Freien Künste lernen konnte.

1055
Der Shambhala-Krieger

Trungpa hat einem seiner Schüler erzählt, er könne wäh-


rend einer Tiefenmeditation einen Blick nach Shambha-
la werfen. Direkt aus dem Königreich habe er auch die
Lehre für das »Shambhala-Training« erhalten. Das Pro-
gramm sieht fünf Stufen vor : 1. – Einfache Magie. 2. –
Die Geburt des Kriegers. 3. – Der Krieger und die Welt.
4. – Erwachtes Herz. 5. – Offener Himmel : Urknall.
Wer alle Stufen durchlaufen hat, gilt als vollendeter
»Shambhala-Kriegern. Er ist als ein spiritueller Held von
den Widerlichkeiten, die das Militärhandwerk ansonsten
mit sich bringt, befreit. Seine Eigenschaften sind Güte,
ein offenes Herz, Würde, Eleganz, Präzision, Bescheiden-
heit, Achtsamkeit, Furchtlosigkeit, Gleichmut, Konzen-
tration, Siegesbewußtsein. »Ein Krieger zu sein«, schreibt
ein Schüler Trungpas, »gleichgültig ob als Mann oder
Frau, bedeutet, aufrichtig zu leben, auch angesichts von
Angst, Zweifel, Depression und von außen kommender
Aggression. Krieger zu sein, bedeutet nicht, Krieg zu füh-
ren. Krieger zu sein, heißt vielmehr, den Mut zu haben,
sich selbst ganz zu ergründen.« (* Hayward, 11) Diese Ver-
subjektivierung des Kriegerethos bringt es mit sich, daß
die verwendeten Waffen erst einmal reine psychisch-phy-
sische Zustände darstellen : der kontrollierte Atem, die
strikte Haltung, der aufrechte Gang, der klare Blick.
Als erste Grundforderung des Trainings gilt, wie in
jeder tantrischen Praxis, ein Zustand der »Ichlosigkeit«.
Diese ist »in den Shambhala-Lehren von großer Wich-
tigkeit«, schreibt Trungpa. »Es ist unmöglich, ein Krie-

1056
ger zu sein, solange Sie die Ichlosigkeit nicht erlebt ha-
ben. Ohne Ichlosigkeit wird Ihr Bewußtsein immer mit
Ihrem Ich, Ihren persönlichen Plänen und Vorhaben er-
füllt sein.« (* Hayward, 247) So wird durch diese Übung
nicht das individuelle Ich verändert, sondern der Schüler
bemüht sich ausschließlich darum, eine innerliche Leere
herzustellen. Dadurch läßt er sich in ein Gefäß transfor-
mieren, in das die Kultfiguren des tibetischen Pantheons
einfließen können. Diese heißen nach Trungpa Dralas.
Wörtlich übersetzt bedeutet das : »über den Feind hin-
aussteigen« oder in einem weiteren Sinn Energie, Kraft-
linie oder »Götter«.
Die »leeren« Schüler werden also von tantrischen Gott-
heiten besetzt. Als potentielle »Krieger« attrahieren sie
naturwüchsig alle möglichen Formen kämpferischer
Dharmapalas (Schutzgötter). So tritt ein zornvoller ti-
betischer »Hüter der Lehre« an die Stelle des Sadhakas
und seiner bisherigen westlichen Identität. Diese perso-
nale Transformation geschieht durch ein Ritual, welches
in Trungpas Shambhala-Überlieferung »die Götter ru-
fen« heißt. Herbeizitiert werden die Überirdischen durch
Zaubersprüche und mit Räucherungen. »Wenn der dic-
ke, süßlich duftende, weiße Rauch aufsteigt, singen die
Schüler eine lange Beschwörung, die die Dralas herbei-
ruft. Am Ende des Gesanges umschreiten die Krieger-
schüler den Rauch im Uhrzeigersinn und stoßen stän-
dig den Siegesschrei des Kriegers aus.« (* Hayward, 275)
Dieser lautet : »Lha Gyelo – Sieg den Göttern« – derselbe
Schrei, den der Dalai Lama ausstieß, als er 1959 auf sei-
ner Flucht die tibetische Grenze überschritt.

1057
Mehr noch als von den Dharmapalas, war Trungpa fas-
ziniert von dem archaischen Nationalhelden Gesar, des-
sen barbarisches Draufgängertum wir schon ausführlich
skizziert haben. Der Guru empfahl seinen Anhängern
den atavistischen Kriegshelden als nachahmenswertes
Vorbild. Stolz wies er immer wieder darauf hin, daß seine
Familie dem kämpferischen Nomadenstamm der »Muk-
po« angehöre, aus dem auch Gesar hervorgegangen sei.
Seine Schüler adelte er deswegen als die »Mukpo-Fami-
lie« und erklärte sie dadurch zu den Mitstreitern Gesars.
Dieser – so Trungpa – kehre aus Shambhala zurück, »um
eine Armee anzuführen, damit die Kräfte der Dunkelheit
in der Welt besiegt werden«. (* Trungpa, 1986, 7)
Aber nicht nur tibetische Dharmapalas und Heroen
zitierte Trungpa durch seine Magie herbei, sondern er
beschwor auch die verstorbenen Geister einer interna-
tionalen, bei genauerer Hinsicht höchst problematischen
Kriegerkaste : die japanischen Samurai, die nordamerika-
nischen Plain-Indianer, den jüdischen König David und
den britischen König Arthur mit seiner Tafelrunde – al-
les archetypische Leitfiguren, die glaubten, nur mit dem
Schwert in der Hand sei Gerechtigkeit herzustellen, die
alle über Leichen gingen, um Frieden zu schaffen. Die-
sen »Heiligen Kriegern« standen immer die »Barbaren«
einer anderen Religion gegenüber, die vernichtet wer-
den mußten. Das nichtdualistische Weltbild, das viele der
buddhistischen Ur-Texte so eindringlich fordern, wird
in der Mythengeschichte dieser kriegerischen Vorbilder
völlig aufgekündigt.
Trungpa leitete seine Kurse unter dem Namen »Dorje

1058
Dradul«, das bedeutet »unbesiegbarer Krieger«. Ganz im
Sinne einer atavistischen Kämpfertradition wurden als
Totemtiere seiner Schüler nur Raubtiere akzeptiert : der
Schneelöwe, der Tiger, der Drache. Von dem mythischen
Sonnenvogel Garuda schwärmte Dorje Dradul ganz be-
sonders : Er sei »schockierend, furchtbar – seine feurige
Röte, Wildheit und sein durchdringender Schrei gebieten
dem Denken Einhalt wie ein Blitz«. (* Hayward, 251)
Garuda ist der Sonnenvogel par excellence, und seit
alters her sind auch die Anhänger der Kriegerkaste Ver-
ehrer der Sonne. Im Zentrum von Trungpas Shambha-
la-Botschaft wird somit ein solarer Kult gepflegt. Aber es
ist nicht die natürliche Sonne, die allen leuchtet, sondern
die Große Östliche Sonne (»Great Eastern Sun«), die am
Beginn einer neuen Weltära aufgeht, wenn die Shamb-
hala-Krieger die Macht über die Welt ergreifen. Sie senkt
sich als ein mächtiges Kultsymbol in die Herzen seiner
Schüler : »So fangen wir damit an, die Große Östliche
Sonne zu verehren, nicht als etwas, was sich außerhalb
von uns befindet, wie die Sonne im Himmel, sondern
die große Östliche Sonne in unserem Kopf und unseren
Schultern, in unserem Gesicht, unseren Haaren, unse-
ren Lippen, unserer Brust.« (* Trungpa, 1986, 39) Wieso
es gerade der Vorsitzende der Kommunistischen Partei
Chinas, Mao Zedong, war, der von den Rotgardisten als
Große Östliche Sonne verehrt wurde, darauf kommen wir
noch zu sprechen.

1059
Von der Anarchie zum Despotentum

Trungpa spielte brillant mit der Austauschbarkeit von


Realität und Nichtrealität, auch was seine eigene Person
anbelangte, insbesondere war er ein Meister des tantri-
schen Umkehrgesetzes. So erklärte er schlichtweg seinen
exzessiven Alkoholismus und seinen sexuellen Heißhun-
ger zu Übungen des Tantra-Pfades : »Ob Alkohol Gift
oder Arznei ist, hängt von der eigenen Achtsamkeit ab.
Bewußtes Trinken – wenn sich der Trinker also seiner
selbst bewußt bleibt – verändert die Wirkung des Alko-
hols. Hier wird das System durch Achtsamkeit gestählt.
Alkohol wird zum intelligenten Schutzmechanismus. Er
wirkt aber zerstörerisch, wenn man sich der Gemütlich-
keit hingibt.« (* Hayard, 306, 307) Frei von den aggressi-
ven Anwandlungen, die im Normalfall bei starkem Al-
koholismus auftreten, war Dorje Dradul jedoch nicht.
Deswegen verbreitete er durch seine häufigen Zornesaus-
brüche Furcht und Schrecken. Aber seine Schüler verzie-
hen ihm alles, erklärten ihn zum »Heiligen Narren« und
priesen seine Exzesse als den Ausdruck einer »verrück-
ten Weisheit« (Crazy Wisdom). Oft versuchten sie selbst,
seine Trunksucht nachzuahmen : »Ich denke, da ist eine
Lehre für uns in seinem Trinken«, glaubte Dennis Ann
Roberts. »Ich weiß, sein Trinken hat uns sicher alle dazu
ermuntert, mehr zu trinken.« (* Boucher, 243) Eine ande-
re Schülerin schreibt begeistert : »Er ist groß. Ich liebe es,
daß er an seinen Problemen so arbeitet, wie er es macht.
Er verdeckt nichts. Er trinkt, und es bringt ihn fast um. So
arbeitet er daran. Ich finde das gut.« (* Boucher, 243)

1060
Ahnliche Begründungen wurden für seine sexuellen
Eskapaden angeführt. 1970 hatte er sein Zölibatsgelüb-
de abgelegt und heiratete eine junge britische Aristokra-
tin. Seine Braut soll 1969 dreizehn Jahre alt gewesen sein.
(* Tibetan Review, August 1987, 21) Daneben hielt er sich
eine beachtliche Anzahl von »Yoginis«, die offensichtlich
über die androzentrischen Manipulationen des Tantris-
mus nicht aufgeklärt wurden. Es gab zwar einen kleinen
Aufstand in der weiblichen Gefolgschaft, als der Karma-
pa während seines Besuches in einem Trungpa-Zentrum
darauf bestand, ausschließlich mit Männern zu sprechen,
aber grundsätzlich verhielten sich die von tibetischen
Gottheiten besetzten westlichen Karma Mudras gegen-
über ihrem Herrn und Meister loyal. Eine Menge Frau-
en seien Gefährtinnen von Rinpoche – erzählte eine von
ihnen : »Die Tibeter sind voller Leidenschaft, sie glauben,
die Sexualität ist eine wesentliche Energie, mit der man
arbeiten muß. Du lehnst das nicht ab. So ist es über-
haupt eine ganz andere Wahrnehmung von Sexualität.«
(* Boucher, 244)
Solche Bejahungen der tantrischen Praxis von seiten
der Schülerinnen sind keineswegs die Ausnahme und
annoncieren ganz klar das Charisma, das von dem Tan-
tra-Meister ausstrahlte. So erfahren wir von einer ande-
ren Geliebten Trungpas : »Beim ersten Treffen mit ihm
hat’s mir den Magen umgedreht. Ich war der Meinung,
ich will keinen Guru, der solche Dinge macht. Die Ironie
bestand darin, daß ich meinen anderen tibetisch-buddhi-
stischen Lehrer teilweise deswegen verlassen habe, weil
er mir nachstellte. Aber ich konnte die Sache nicht in

1061
den Griff kriegen. Und Rinpoche steht sehr stark unter
Alkohol und hat Freundinnen. Jetzt verstehe ich alles.«
(* Boucher, 241)
Chögyum Trungpa ist es offensichtlich gelungen, sei-
ne westlichen Karma Mudras unter Kontrolle zu halten.
Dies war für den 1951 verstorbenen tibetischen Tantriker
Gedun Chöpel noch viel schwieriger. Er hat eine amüsan-
te Einschätzung der »Westlerinnen« aus den 30er Jahren
hinterlassen, die zeigt, wie vieles sich mittlerweile ver-
ändert hat : »Allgemein ist ein Mädchen aus dem Westen
schön, glänzend und mutiger als andere. Ihr Verhalten ist
derb, und ihr Gesicht gleicht dem eines Mannes. Sie hat
selbst Haare um den Mund. Furchtlos und schreckener-
regend, kann sie nur durch Leidenschaft gezähmt wer-
den. Da sie fähig ist, während des Sexualaktes am Phal-
lus des Mannes zu saugen, ist das Mädchen aus dem We-
sten dafür bekannt, daß es das Sperma trinkt. Sie macht
das selbst mit Hunden, Stieren und anderen Tieren, so
wie mit dem Vater und dem Sohn und so weiter. Sie geht
ohne Zögern mit jedem ins Bett, der ihr sexuelle Freu-
den bereiten kann.« (* Chöpel, 163)
Gegen Ende seines Lebens rückte der »unzerstörbare
Krieger« Trungpa immer mehr von seiner Hippie-Ver-
gangenheit ab. Der Karmapa als sein Linienoberhaupt
soll die libertären Praktiken in den Zentren des »wilden«
Gurus gar nicht gerne gesehen haben. Gemäß dem tan-
trischen »Gesetz der Umkehrung« schlug jedoch nach
wenigen Jahren das Pendel von der Anarchie auf die Ge-
genseite zur Despotie um, und Trungpa gab sich auf ein-
mal faschistoiden Träumen hin. Seine Schutztruppe Dor-

1062
je Kasung, zuerst eine Art Bodyguards aus Freiwilligen,
verwandelte sich in kurzer Zeit zu einer paramilitäri-
schen Einheit in Khakiuniform. Der Guru selbst legte
zuweilen sein Zivil ab und erschien in hoher Militärklei-
dung als »Shambhala-General«. Wir wissen nicht, ob ne-
ben dem kriegerischen Ethos aus der tantrischen Tradi-
tion nicht auch die Körperbehinderung, die er sich bei
seinem Autounfall in England zugezogen hatte, eben-
falls sein außergewöhnliches Interesse an militärischen
Dingen als Gegenreaktion auslöste. Auf jeden Fall wur-
den seine »Militärparaden« zum festen Bestandteil des
Shambhala-Trainings.
Bei anderen Gelegenheiten legte der ehemalige »Freak«
einen Nadelstreifenanzug mit bunter Krawatte an und
sah dann einem asiatischen Filmgangster zum Verwech-
seln ähnlich. So hat er real das schillernde Spektrum
vom poetischen Anarchisten und Flower Power-Tänzer
bis hin zum säbelrasselnden Diktator und Unterwelts-
boss, das im tantrischen Repertoire durchaus angelegt
ist, brillant durchgespielt. 1987 starb der Meisterkrieger,
und sein Leichnam wurde in Vermont (USA) den Flam-
men übergeben.

Das Erbe

Das unmittelbare Erbe, das Trungpa hinterließ, war ka-


tastrophal. Ganz im Geiste seines tibetischen Gurus
führte der Amerikaner Thomas Rich, der unter dem
Namen »Vajra-Regent Ösel Tendzin« die Nachfolge an-

1063
trat, die unbekümmerte Libertinage seines Meisters mit
tantrischer Begründung fort. 1988 kam es jedoch zu ei-
nem Skandal, von dem sich die Organisation bis heute
nicht erholt hat. Der »Vajra-Regent« war schon seit drei
Jahren HIV positiv und hatte in der Zwischenzeit zahl-
reiche Mitglieder mit dem Aidsvirus infiziert. Er starb
1991. Danach übernahm Trungpas Sohn Sawang Ösel
Rangdroel die Leitung.
Auch wenn Trungpas Shambhala-Krieger in den letz-
ten Jahren einiges an ihrer Attraktivität einbüßten, ver-
ehren Tausende den Meister weiterhin als den »Heiligen
Narren« und »Unzerstörbaren Krieger«, der die »Östli-
che Sonne« in den Westen brachte. Aus diesem Grunde
soll er auch »in ganz Asien als großer Bodhisattva und
Maha Siddha« angebetet werden. (* Hayward, 319) »Zehn
Jahre lang präsentierte er die Shambhala-Lehren«, resü-
miert einer seiner Sadhakas. »Was die Zeit und die Ge-
schichte anbelangt, so erscheint das unbedeutend ; da-
gegen aber setzte er in dieser kurzen Spanne die macht-
volle Kraft der Güte in Bewegung, die sofort die Welt
verändern kann.« (* Trungpa, 1986, 157) Nur selten mel-
det sich ein »Abtrünniger« öffentlich zu Wort, wie zum
Beispiel P. Marin, ein scharfer Kritiker des Naropa-Insti-
tuts, für den diese westliche Organisation des tibetischen
Buddhismus »eine feudale Priestertradition verkörpert,
die in ein kapitalistisches Umfeld transplantiert wurde.«
(* zit. b. Bishop, 1993, 101)
Es versteht sich andererseits von selbst, daß wir von
dem Tantriker Trungpa immer wieder darauf aufmerk-
sam gemacht werden, es handle sich bei all den kriegeri-

1064
schen Gestalten, die er herbeiruft, um illusionäre Spiegel-
bilder des menschlichen Egos, und sogar die Shambba-
la-Könige seien Projektionen des eigenen Bewußtseins.
Aber wenn sich tatsächlich alles in Bewußtseinsformen
auflöst, dann bleibt völlig unverständlich, weshalb immer
wieder die Phantome eines destruktiven Schwarz-Weiß-
Denkens beschworen werden, um als Vorbilder auf dem
persönlichen Initiationsweg zu leuchten. Wäre es dann
nicht sinnvoller, ja logischer, direkt diejenigen »Friedens-
götter«, die das dualistische Denken überwunden ha-
ben, herbeizuzitieren ? Weshalb diese Verherrlichung ei-
ner atavistischen Kriegerkaste ?
Es versteht sich von selbst, daß in Trungpas System kei-
ner berechtigt ist, ja überhaupt auf die Idee kommt, die
Dralas (Götter) kritisch zu hinterfragen. Obgleich nach
der Doktrin nur Projektionen des eigenen Bewußtseins,
gelten sie als sakrosankt. Sie sind rein, gut und vorbild-
lich. Da Trungpas Shambhala-Training alle etablierten
tantrischen Gottheiten fraglos übernimmt, wird das ge-
samte martialische Feld des tibetischen Buddhismus mit
seinem krassen Feindbilddenken und seiner abstoßen-
den Dämonie von Menschen übernommen, die sich gut-
willig und naiv aufmachten, um persönliche Erleuch-
tung zu erlangen.
Wir haben deswegen den Eindruck, daß die Schüler
des Tantra-Meisters einer hypnotischen Suggestion aus-
gesetzt wurden, um sie glauben zu machen, ihre eige-
ne spirituelle Entwicklung stünde auf der Tagesordnung,
während sie schon längst zur Schachfigur des tibetischen
Okkultismus geworden waren, in dessen undurchschau-

1065
barem Regelnetz (Tantra = Netz) sie sich verstrickt ha-
ben. Sind ihre persönlichen Ambitionen erst einmal in
die Leere aufgelöst, dann können sie als treue Hand-
langer einer spirituellen Machtpolitik versklavt werden,
die im »universellen Monarchen« nicht mehr das »Hö-
here Selbst« sieht, sondern einen realpolitischen »zorni-
gen Raddreher« (Rudra Chakrin), der mit seinen Heeren
aus Shambbala die Welt verwüstet, um dann eine globa-
le Buddhokratie zu errichten.

Andere westliche Shambhala-Visionen

Zu einem der Bestseller unseres Jahrhunderts zählt Ja-


mes Hiltons 1933 erschienene Novelle Lost Horizon.
Sie erzählt von einem Kloster im Schneelande, dessen
Name Shangri-La an das Königreich Shambhala erin-
nert. Mittlerweile hat sich der Begriff als ein Synonym
für Muße, Kultiviertheit und Geschmack zumindest in
der angelsächsischen Welt verbreitet und wird von ei-
ner Kette asiatischer Luxushotels in Anspruch genom-
men. Die in dem Buch geschilderte Idylle handelt von
Menschen, welche sich aus dem Trubel der modernen
Welt in den Himalaya zurückgezogen haben und sich
nun rein geistigen Genüssen hingeben. Es ist jedoch
kein tibetischer Tulku, sondern ein katholischer Missio-
nar, der die Zivilisationsmüden in einem verborgenen
Tal des Schneelandes sammelt, um mit ihnen ein Stu-
dium der schönen Künste und ein überlanges Leben zu
teilen. Selbst auf europäische Badewannen – ansonsten

1066
im Tibet der 30er Jahre nicht bekannt – brauchen die
»Mönche« aus dem Westen nicht zu verzichten. Die Es-
senz des Shangri-La-Mythos besteht letztlich im Trans-
port »echter« europäischer Kultur- und Zivilisationsgü-
ter auf das »Dach der Welt«.
Der jüngste westliche Versuch einer Verbreitung des
tibetischen Mythos ist Victoria LePage’s Buch Shambha-
la. Die Autorin stellt das Geheime Königreich wie eine
übergreifende Mysterienschule dar, deren Hohepriester
»als unsichtbare, wissenschaftliche und philosophische
Gesellschaft (tätig seien), die ihren Studien in der maje-
stätischen Isolation des Himalaya nachgeht«. (* LePage,
13) Shambhala ist für LePage das esoterische Zentrum
aller Religionen, der geheime Ort, aus dem jede bedeut-
same okkulte und damit auch religiöse Strömung die-
ser Welt hervorgegangen sei. Hier hätten der esoterische
Buddhismus ebenso wie die altägyptischen Priesterschu-
len, die Pythagoräer, der Sufismus, die Templer, die Al-
chemie, die Kabbala, die Freimaurerei, die Theosophie –
ja selbst die Hexenkulte ihren Ursprung. Entsprechend
sei das Kalachakra-Tantra die übergreifende »Geheime
Doktrin«, aus der sich alle anderen Mysterienlehren ab-
leiten ließen. (* LePage, 8)
Das mythische Königreich, das von einem Sonnenherr-
scher regiert werde, befinde sich in Zentralasien, dort, wo
auch die Achse der Welt, der Berg Meru, zu suchen sei.
Diese unbekümmerte Übernahme der buddhistischen
Kosmologie macht der Autorin keine Schwierigkeiten, da
die axis mundi nur für Initiierte sichtbar ist. Nach dem
Mandalaprinzip verteilt sich ihr Shambhala in zahlrei-

1067
chen Kopien über den gesamten Globus – die Gizeh Py-
ramide, das Athos Kloster, der Heilige Berg Kailash. Orte
des Grals wie Glastonbury und Rennes le Chateau seien
solche »Ableger« des verborgenen Imperiums – ebenfalls
nur für eingeweihte Augen erkennbar. Zusammen bilden
sie die Akkupunkturstellen eines kosmischen Körpers,
der im mystischen Leib des Kalachakra-Meisters seine
Entsprechungen habe (wörtlich genommen, im Energie-
körper des Dalai Lama). Auch LePage sieht im Zeittantra
eine große »mystische Uhr«. Die Segmente dieser Zeitma-
schine notieren die zyklischen Perioden des Weltenlaufs.
Dafür daß die auf dem Ziffernblatt der Uhr eingetrage-
nen kosmischen Stunden eingehalten werden, sorgt ein
»verborgenes Direktorat«, jene mysteriöse Bruderschaft
unsterblicher Weisen im Himalaya.

Der XIV Dalai Lama und der Shambhala-Mythos

LePage’s globale Vereinnahmung des gesamten Kult-


lebens unseres Planeten durch das Kalachakra-Tantra
könnte als ein wichtiger Schritt in einem weltweiten
Shambhalisierungsplan des XIV Dalai Lamas angese-
hen werden. Dennoch überläßt der Kundun bewußt sol-
che esoterischen Spekulationen (die keineswegs mit sei-
ner Doktrin in Widerspruch stehen) lieber anderen, am
besten »Hobby-Buddhisten« wie der Autorin. Um nicht
an politischer Seriosität zu verlieren, gibt sich der Kun-
dun, was die Shambhala-Frage anbelangt, enigmatisch :
»Selbst für mich bleibt Shambhala ein rätselhaftes, ja pa-

1068
radoxes Land«, versicherte der oberste Kalachakra-Mei-
ster seinen Zuhörern. (* Levenson, 305) Alles, was wir
konkret von ihm erfahren, ist der Satz, daß »das König-
reich Shambhala zwar existiert, aber nicht im herkömm-
lichen Sinne«. (* Dalai Lama XIV, 1993 I, 307)
Ob wir entsprechend den Prophezeiungen in etwa 300
Jahren einen totalen Weltkrieg erwarten ? Daran zweifelt
auch Seine Heiligkeit nicht : »Das liegt in der Logik des
Kreislaufes !« (* Levenson, 305) Dann aber modifiziert er
wieder seine Aussage und spekuliert darüber, ob nicht
die Endschlacht als ein seelischer Vorgang im Einzel-
menschen zu deuten sei. Für Phantasten, denen eine sol-
che psychologische Deutung jedoch zu trocken ist, läßt
der Kundun anschließend durchblicken, bei Shambhala
könne es sich vielleicht um einen anderen Planeten han-
deln und bei den Soldaten des Königreiches um Außer-
irdische. (* Levenson, 305)
Wie ein Jongleur versteht er es, blitzartig die verschie-
denen Realitätsebenen zu wechseln, und steigert damit
noch das okkulte Ambiente, welches den Shambhala-My-
thos eh schon umgibt. »Geheimnisse, die nur partiell ent-
schleiert werden, sind sehr machtvoll«, schreibt Chri-
stiaan Klieger und führt fort : »Die Fähigkeit des Dalai
Lama, geschickt einen Komplex von verschiedenen Be-
deutungen zu manipulieren und geeignete Teile davon
seinem Volk und der Welt zu präsentieren, ist Teil seines
Erfolges als ein Führer.« (* Klieger, 76) In diesem Verwirr-
spiel ist letztendlich alles möglich, zum Beispiel, daß in
der Gestalt Seiner Heiligkeit der Shambhala-König leib-
haftig vor uns steht, wie es manche Verehrer glauben, oder

1069
daß Lhasa die Hauptstadt des Mythenlandes »Kaiapa« sei,
wenn auch für sterbliche Augen nicht sichtbar. Würde der
Kundun dereinst als Heilsbringer nach Tibet zurückkeh-
ren – so glauben einige –, dann werde sich der Schleier
heben und das irdisch-überirdische Reich (Shambhala)
werde sich weltweit offenbaren.
Tatsächlich stehen ähnliche Spekulationen in der bud-
dhistischen Szene hoch im Kurs. In der offiziellen ( !) Ho-
mepage des Kalachakra-Tantra klärt der »Dharmamei-
ster« Khamtrul Rinpoche seine Leser auf, daß der jetzi-
ge Dalai Lama eine Inkarnation von Kulika Pundarika
sei, dem achten Shambhala-König und berühmten ersten
Kommentator des Zeittrantras. Aber es kommt noch ge-
waltiger : »Meine Begleiterin (die Göttin Tara, die ihn
in einem Traum durch Shambhala führt) erzählte mir«,
schreibt Khamtrul, »daß der letzte Kulika-König ›Rudra
mit dem Rad‹ genannt werde, ›der machtvolle und wil-
de König, der das Eisenrad in seiner Hand hält‹ … und
er wird kein anderer sein als Seine Heiligkeit der Dalai
Lama, der alles Böse im Universum unterwerfen wird.«
(* Khamtrul – ‹kalachakra.com›) Anschließend an diese
Offenbarung, die den Kundun als den Kriegsherrn einer
Endzeitarmee prophezeit, macht sich Rinpoche noch Sor-
gen darüber, ob die Shambhala-Armee auch der moder-
nen Rüstungsindustrie mit ihren Raketen und Atombom-
ben gewachsen sei. Da beruhigt ihn die gütige Tara und
versichert ihm, welche Zerstörungswaffen in unserer Welt
auch produziert würden, automatisch entstünden in der
magischen Rüstungsindustrie Shambhalas die überlege-
nen Gegenwaffen. (* Kamthrul – ‹kalachakra.com›)

1070
Mit jedem Kalachakra-Ritual soll nach den Worten
des XIV Dalai Lama der »Weltfrieden« gefestigt werden.
Das wiederholt er immer wieder ! Aber ist das wirklich
seine Absicht ?
Mit ironischem Unterton schreibt der Tibetologe Do-
nald L. Lopez (ehemals einer der engsten Anhänger des
Kunduns) im letzten Abschnitt seines Buches Prisoners
of Shangri-La : »Dieser Frieden mag eine ganz spezielle
Bedeutung haben, denn die, welche die Initiation ent-
gegennehmen, setzen damit den Samen, im kommen-
den Leben in Shambhala wiedergeboren zu werden, dem
reinen buddhistischen Land jenseits der Berge, wo der
Buddhismus bewahrt wird. Im Jahre 2245 ( ?) bricht die
königliche Armee aus Shambhala aus, um die Barbaren
in einem buddhistischen Armageddon ( !) zu vernich-
ten, um den Buddhismus in Indien und in der Welt er-
neut zu errichten und eine Friedensherrschaft einzulei-
ten.« (* Lopez, 207)

Negative Shambhala-Visionen aus dem Westen

Wir kennen aus westlicher Sicht auch negative Visionen


von okkulten tibetischen »Regierungen«, die auf Ge-
schichte und Politik der Menschheit Einfluß nehmen.
Zum Beispiel wird in Alfred Kubins phantastischem Ro-
man Die andere Seite der Untergang des Abendlandes
durch einen österreichischen ( !) Despoten (»ein Magi-
er mit riesigen seelischen und materiellen Hilfsmitteln«),
der sich in Innerasien ein Phantasiereich aufgebaut hat,

1071
vorgeträumt. Dieses Reich befindet sich östlich von Us-
bekistan, also in der Ursprungsregion des Shambha-
la-Mythos. Patera – so heißt der Despot – manipuliert
seine Untertanen durch Träume. »Pateras Art blieb un-
ergründlich«, schreibt der Romanheld, »ebenso unver-
ständlich die Macht, die uns im Traumlande zu Mario-
netten machte. Bei jeder Kleinigkeit fühlte man sie. Der
Herr besaß unseren Willen, trübte unsere Vernunft.«
(* Kubin, 144) Nichtsdestotrotz wird Patera von den
Menschen, die er versklavt, abgöttisch geliebt : »Ich lieb-
te ihn ekstatisch, wie wenn ich ein Weib gewesen wäre,
ich war verzückt«, fährt der Erzähler fort. »Ich war der
Vertraute dieses ungeheuersten Herrn, dieses glorrei-
chen Weltfürsten, dessen Schönheit unschilderbar ist für
alle, die ihn fühlen. Er war mein letztes, mein größtes
Glück … seine Zerstörungen als Liebesumarmungen zu
fühlen, machte mich glücklich.« (*Kubin, 276)
Der »glorreiche Weltfürst« hat zuerst die besten Ab-
sichten, dann aber kann er seine Traumbilder nicht mehr
unter Kontrolle halten, das Chaos bricht aus, und alle
Einwohner seines Landes werden in fürchterliche Ab-
gründe gestoßen, deren bizarre Grausamkeiten nur von
so einem genialen Autor des Makabren wie Kubin aus-
gemalt werden können. Der Roman erschien 1909, fünf
Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und 24
Jahre vor der Machtergreifung des Österreichers Adolf
Hitler. Besonders interessant im Zusammenhang mit un-
serer Studie ist Kubins Phantasiestück vor allem deswe-
gen, weil sein Traummagier von einer kleinen Gemein-
schaft innerasiatischer Mönche abhängt, die ihn als ihr

1072
Instrument benutzen, um ihre Vorstellungen Wirklich-
keit werden zu lassen. Näheres aber erfahren wir nicht.
Kubin beendet seine Erzählung, ohne daß man so richtig
weiß weshalb, mit dem Satz : »Der Demiurg ist ein Zwit-
ter«. (* Kubin, 277) Ist das ein Hinweis auf die Andro-
gynie des Shambhala-Königs und die Doppelgeschlecht-
lichkeit des ADI BUDDHA ?
Auch Gustav Meyrink, ein weiterer Meister des okkul-
ten Genres, grübelt in seiner Novelle Das Grillenspiel über
die »metaphysischen« Ursachen des Ersten Weltkrieges
nach. Er schildert dort, wie ein tibetischer Mönch zwei
Inseketenstämme aufeinanderhetzt, die sich gegenseitig
zerfleischen. Bald darauf bricht als Folge dieses Spiels
der Krieg von 1914 aus.
In seinem Aufsatz Dämonenfang in Tibet zitiert Mey-
rink eine markante Stelle aus einem Buch von Jean Mar-
qués-Rivière über dessen Tibetreise – ein Zitat, das direkt
auf die okkulte Weltbeherrschung durch den tibetischen
Buddhismus anspielt : »Ich habe bei meinem Aufenthalt
in Tibet«, schreibt der Franzose, »den Eindruck gewon-
nen, daß es eine methodisch arbeitende geheime Orga-
nisation gibt, die sich über den ganzen Orient erstreckt
und ihn geistig und gewissermaßen auch politisch eint.
Hinter den Bonzen, Symbolen oder Lamas gibt es Meister,
Gurus, Naldjorpas (Tibetanische Okkultisten), die Asien
beherrschen, die Wissenden außerordentlicher Geheim-
nisse und Träger einer Weisheit, die nicht mehr mensch-
lich ist. Ich sprach über das alles mit unserem Lama Lhasa.
Nach seiner Lehre gibt es geheimnisvolle Strömungen
in der Menschheit, die ›schweifenden Einflüsse‹ der gel-

1073
ben Metaphysik : die Völker, die keine wissenden Lei-
ter, keine Weisen, die sie führen könnten, mehr haben,
sind diesen Strömungen, diesen unsichtbaren Stürmen
blind unterworfen, und die Beutegötter, die vom Fleisch
und Blut der Menschen leben, die Götter, die zum Krie-
ge, zur Herrschaft und zur Knechtschaft treiben, die ge-
heimnisvollen Feinde des Menschengeschlechtes sind am
Werk, sich ihr teuflisches Festmahl zu bereiten … Ich
habe schreckliche Mysterien über das Leben der Völker
und die unglaublichen Inkarnationen der Kriegsgotthei-
ten, der ›Gegs‹ und besonders des schwarzen Dha-Lha
( !), wenn die Sterne und Zyklen ihnen zu handeln gestat-
ten, erfahren.« (* Meyrink, 367) Diese Sätze stammen aus
dem Jahre 1931, kurz vor Hitlers Machtübernahme. Im
folgenden Kapitel werden wir zeigen, wie eng der Lama-
ismus und seine tantrischen Praktiken mit der faschisti-
schen Szene verknüpft waren und immer noch sind.
12. DER FASCHISMUS
UND SEINE ENGE BEZIEHUNG ZUM
BUDDHISTISCHEN TANTRISMUS

Die buddhokratische Staatsform hat eine außerge-


wöhnlich große Faszination auf den visionären Faschis-
mus ausgeübt und übt sie immer noch aus. Ende der
30er Jahre (als die verschiedenen faschistischen Syste-
me in Europa und auf der ganzen Welt blühten) schrieb
der Tibetreisende Spencer Chapman : »Selbst in den Ta-
gen der Diktatoren kann man nur erstaunt darüber sein,
welche konkurrenzlose Macht er (der Dalai Lama) be-
sitzt.« (* Chapman, 192), Die Idee vom Weltenkönigtum,
die Vereinigung der weltlichen und geistigen Macht in
einer einzigen Person, die Kriegsideologie des Shamb-
hala-Mythos, die kompromißlose androzentrische Aus-
richtung, die tantrische Vision des Weiblichen, das ge-
samte okkulte Ambiente und vieles mehr wurde von
einigen faschistischen Intellektuellen konkret aufge-
nommen und zu einem aggressiven Mythos zusammen-
geschweißt. Ganze faschistische Systeme basieren – wie
wir zeigen werden – auf der Übernahme tibetisch-tan-
trischer Lehren.

1075
Der ehemalige SS’ler Heinrich Harrer :
Lehrer des XIV Dalai Lama

So betrüblich das auch für die Anhänger des Friedens-


nobelpreisträgers sein mag, es gibt kontinuierliche Kon-
takte des XIV Dalai Lama zur extremen Rechten und zu
ehemaligen Nationalsozialisten. Am bekanntesten wur-
de die tiefe Freundschaft mit seinem deutschen Mentor
Heinrich Harrer. Sie löste 1997/98 einen kleinen Skan-
dal aus : Nach mehrjährigen Recherchen gelang es dem
österreichischen Journalisten Gerald Lehner, die brau-
ne Vergangenheit Harrers, die dieser Jahre lang ver-
heimlichen konnte, ans Tageslicht zu bringen. 95 Harrer
ist nicht irgendwer ! Er zählt zu den bekanntesten inter-
nationalen Autoren und hat weltweit mehr als 4 Millio-
nen Bücher (die meisten über Tibet und den XIV Dalai
Lama) in 57 Sprachen verkauft.
Der österreichische Bergsteiger und Skisportler war
am 1. April 1938 der SS beigetreten und hatte im glei-
chen Jahr nach einer offiziellen Begegnung mit Adolf Hit-
ler den Auftrag erhalten, den Nanga Parbat im Himalaya
zu besteigen. Der an okkulten Phänomenen sehr inter-
essierte Heinrich Himmler soll ihm – nach Harrers ei-
genen Worten – eine Tibetexpedition angeboten haben.
Himmler hatte 1942 die Gründung des Sven Hedin In-

95 Gerald Lehner wird – nach eigener Aussage – seit der Ver-


öffentlichung seiner Dokumente mit Drohbriefen aus pro Dalai-
Lama-Kreisen belästigt. Aus gleicher Quelle wirft man ihm vor,
er stehe im Sold chinesischer Kommunisten.

1076
stituts für Innerasienforschung veranlaßt. Die Lehranstalt
verband esoterische, wissenschaftliche und rassenkundli-
che Absichten. Ganz in diesem Sinne war der berüchtigte
Chef der SS an okkulten Lehren aus dem »geheimnisvol-
len Tibet« interessiert, und glaubte, daß dort eine »Rasse
mit nordischem Einschlag«, unterdrückt durch England
und China, existiere und auf ihre Befreiung durch die
Deutschen warte. Himmlers »Berater« – so das deutsche
Magazin Der Spiegel – »und der Wissenschaftler Ernst
Schäfer glaubten, Tibet sei die Wiege der Menschheit,
Zufluchtsort einer ›arischen Wurzelrasse‹, wo eine Prie-
sterkaste ein geheimnisvolles Reich Shambhala geschaf-
fen habe – dekoriert mit dem buddhistischen Symbol
vom Rad der Lehre, einem Hakenkreuz. Schäfer brach
1934 zu ersten von zwei durch die SS finanzierten Ex-
peditionen auf, um Reste von ›nordisch-geistigem‹ Adel
aufzuspüren.« (* Spiegel, 16/1998, 111) Der Mythos vom
Königreich Shambhala scheint dem okkulten Kern der
Nazis also bekannt gewesen zu sein.
Der Tibetspezialist Schäfer arbeitete nicht nur als ein
einfaches Mitglied der SS, sondern zählte zum persön-
lichen Stab Heinrich Himmlers und übernahm 1943 die
naturwissenschaftliche Leitung des berüchtigten Projek-
tes »Ahnenerbe«, das primär der Rassenkunde gewid-
met war. Seine zweite Forschungsreise in den Himalaya
wurde offiziell als »SS-Expedition Schäfer« bezeichnet
und galt als ein Riesenerfolg. (* Kater, 80) Der Wissen-
schaftler erhielt nach seiner Rückkehr im August 1939
den SS-Totenkopfring und den SS-Ehrendegen als Aus-
zeichnungen. Anschließend hatte der Reichsführer des

1077
Schwarzen Korps (Himmler) große Pläne mit seinem
Schützling : Schäfer sollte nach Tibet zurückkehren und
mit einem Stoßtrupp von 30 Mann »die tibetische Ar-
mee gegen die britisch-indischen Truppen aufwiegeln«.
(* Kater, 212) Die Sache wurde jedoch auf direkten Befehl
Hitlers abgeblasen. Schäfer baute stattdessen in den fol-
genden Jahren mit großem Erfolg das Sven Hedin Insti-
tut für Innerasienforschung auf und machte es zur größ-
ten Abteilung innerhalb des »Ahnenerbes«.
Kehren wir jedoch zu Heinrich Harrer zurück. Wäh-
rend er sich in Indien aufhielt, brach der Krieg aus, und
der junge Deutsche wurde von den Briten interniert. Erst
1944 konnte er mit einem Kameraden nach Tibet fliehen.
Ein Zufall oder das Schicksal führten dazu, daß er bis An-
fang der 50er Jahre als der persönliche Lehrer des jungen
Dalai Lama tätig war, den er über alle »Wunder« der west-
lichen Zivilisation unterrichtete und auch in die englische
Sprache einführte. Es ist sehr wahrscheinlich, daß seine
Lehrstunden vom damaligen Zeitgeist, wie er durch Hit-
lers Deutschland wehte, berührt gewesen sind und nicht
durch die britischen Vorstellungen des ebenfalls in Lhasa
anwesenden Gesandten Hugh Richardson. Das führte in
der Tat zu einigen Problemen am Hofe des jungen Gottkö-
nigs, und die Engländer sahen dessen Kontakte zu Harrer
nicht gern. Dennoch gibt es keine Anhaltspunkte dafür,
die Unterrichtsstunden, die der ehemalige SSler seinem
»göttlichen« Zögling gab, als faschistisch zu bezeichnen,
zumal sie vor allem nach Beendigung des Zweiten Welt-
krieges gegeben wurden. 1952 kehrte der deutsche »Leh-
rer« Seiner Heiligkeit nach Europa zurück.

1078
Die Verfilmung von Harrers biographischem Bestseller
Sieben Jahre in Tibet löste jedoch einen Skandal insbe-
sondere in der internationalen jüdischen Gemeinde aus.
Der berühmte Tibetreisende hatte dem Regisseur Jean
Jaques Annaud nichts von seiner braunen Vergangen-
heit erzählt. Als diese nach der Fertigstellung des Films
öffentlich bekannt wurde, sah sich Annaud gezwungen,
»Korrekturen« anzubringen. Gezeigt wird jetzt ein reuiger
Österreicher, der seine Bergsteigerkarriere als Mitläufer
eines wegen Völkermordes angeklagten Regimes beginnt
und sich dann unter dem Einfluß des jungen Kunduns
und des tibetischen Buddhismus zu einem »Kämpfer für
die Menschenrechte« emporläutert. Angesichts der bru-
talen Chinesen sagt er im Film : »Grausig – ich darf gar
nicht daran denken, daß ich selbst einmal so intolerant
war.« (* Stern 41/97, 24)
Der bekannte Bergsteiger Reinhold Messner konnte mit
einem solchen Schuldbekenntnis aus Hollywoods Traum-
fabrik nicht viel anfangen. Er meldete sich zu Wort und
versicherte, Harrers politische Einstellung sei ihm seit
langem bekannt gewesen. Dieser Mann habe bis heu-
te nichts dazugelernt, er vertrete immer noch die Ideale
des NS-Alpinismus. Dagegen verteidigte der Bruder des
Dalai Lama (Gyalo Thondup) den ehemaligen SS’ler mit
dem etwas geschmacklosen Satz : »Was China in Tibet tut,
ist schlimmer als das, was die Nazis in Europa getan ha-
ben.« (* 1997/10/10 ‹gui@cs.concordia.ca›)
Tatsache ist, daß sich Harrer – nach eigenen Worten
– erst Ende der 50er Jahre gegen die Chinesen wandte,
nachdem er Tibet schon verlassen hatte. Von einer tie-

1079
fen Katharsis des Deutschen, wie sie in Annauds Film
erwähnt wird, ist auch in seinen Schriften nicht das Ge-
ringste zu finden. Sie war eine reine Erfindung des Re-
gisseurs, um vor der Weltöffentlichkeit nicht das Gesicht
zu verlieren.
Der Journalist Gerhard Lehner ging einer weiteren
Spur nach. Am 13. September 1994 trafen sich in Lon-
don mit dem XIV Dalai Lama acht Veteranen, die Tibet
vor 1950 besucht und darüber berichtet hatten. Neben
Heinrich Harrer erkennt man auf einem Repräsentati-
onsfoto (‹http ://www.tibet.com/Status/statement.html›),
das bei diesem Anlaß entstand, direkt hinter dem Kun-
dun eine zweite SS-Größe : Dr. Bruno Beger. Beger gilt
als der eigentliche »Profi«, der die rassenkundliche For-
schung von Himmlers »Ahnenerbe« vorantrieb. (* Kater,
208) Auch er zählte, wie der Tibetforscher Heinz Schäfer,
zum Persönlichen Stab des Reichsführers. 1939 ging er
als Mitglied der »SS-Expedition Schäfer« in den Himala-
ya. Dort nahm er an mehr als 400 Tibetern Schädelmes-
sungen vor, um mögliche Bezüge der tibetischen mit der
arischen Rasse zu untersuchen. 1943 wurde Beger nach
Auschwitz geschickt und machte seine Vermessungen an
150 vorwiegend jüdischen Häftlingen. Diese wurden spä-
ter getötet und einer Skelettsammlung einverleibt. Beger
will davon nichts gewußt haben. Man stellte ihn jedoch
1971 vor ein deutsches Gericht, das ihn wegen seiner NS-
Verbrechen zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteil-
te. Beger, der als letzter aus der »SS-Expedition Schäfer«
überlebt hat (1998), traf Seine Heiligkeit den XIV Dalai
Lama mindestens fünfmal (1983, 1984, 1985, 1986, 1994).

1080
Die Treffen waren jedesmal von großer Herzlichkeit. Der
ehemalige SS’ler widmete den ersten dreien eine kleine
Broschüre mit dem Titel : »Meine Begegnungen mit dem
Ozean des Wissens.« (* Beger)
Wenn man die These des chilenischen Faschisten und
ehemaligen Chile-Botschafters, Miguel Serrano, mit des-
sen esoterischen Nazipublikationen wir uns noch aus-
führlich beschäftigen werden, ernst nimmt (Serrano be-
hauptet, im okkulten Kern der SS hätten sich Krieger aus
dem Königreich Shambkala inkarniert), dann erhalten
die vielen Umarmungen des Gottkönigs mit den SS’lern
Heinrich Harrer, Heinz Schäfer (der Kundun traf ihn zu-
mindest 1986) und Bruno Beger eine höchst signifikante
und makabre Bedeutung. Aber der Kundun (von seinen
Anhängern wegen seiner »Allwissenheit« als ›Ozean der
Weisheit‹ verehrt) will über die Vergangenheit seiner Nazi-
Freunde nicht informiert gewesen sein. Dem mag man
wohl Glauben schenken, doch von ihnen distanziert hat
er sich nach den Enthüllungen nicht. Selbst seine Äuße-
rungen zu Adolf Hitler und dessen »Endlösung der Ju-
denfrage« wirken befremdlich. Ebenso wie sein Bruder
(Gyalo Thondup) sieht er in dem Diktator eine noblere
Gestalt als in den chinesischen Besatzern Tibets : »1959,
in Lhasa, schossen Chinesen aus Flugzeugen mit Maschi-
nengewehren auf tibetische Familien«, äußerte er 1998
im Daily Telegraph. »Systematische Zerstörung im Na-
men der Freiheit gegen die Tyrannei des Dalai Lama ! (ha,
ha, ha) Was Hitler anbelangt, so war er ehrenvoller. In
den Konzentrationslagern machte er klar, daß er die Ju-
den vernichten wollte. Die Chinesen aber nannten uns

1081
ihre Brüder. Großer Bruder tyrannisiert kleinen Bruder !
(ha, ha, ha) Es ist weniger ehrenvoll !« (* The Daily Tele-
graph, 15. August 1998)

Julius Evola :
Der »tantrische« Berater Benito Mussolinis

Sollte der Dalai Lama wirklich wenig an der politischen


Rechten interessiert sein, so haben sich umgekehrt Ideo-
logen und Theoretiker des Faschismus ausführlich, ja
geradezu obsessiv mit Tibet, seiner Kultur und dem Ri-
tualleben der Lamas auseinandergesetzt.
Das bekannteste Beispiel sind die Arbeiten des Italie-
ners Julius Evola (1898–1974), zeitweise der Chefideologe
von Benito Mussolini. In mehreren Büchern und Arti-
keln hat er die Relation von Tantrismus und Machtpoli-
tik untersucht und weiterentwickelt. Er ist »tantrischen
Spuren« in der europäischen Kulturgeschichte nachge-
gangen und überall auf sie gestoßen : bei den Katharern,
den Troubadouren, bei den Templern, bei Dante Alig-
hieri, in der Gralsmystik, im europäischen Rittertum, in
der Alchemie.
Von ihm gibt es die klarsten Aussagen über das »tan-
trische Frauenopfer« und über die Transformation von
Sexualität in politische Macht. Der Italiener hat die Er-
eignisse, die sich in den Mysterien des Yogis abspielen,
wie kaum ein anderer offen benannt und sich dann dazu
bekannt : »Die junge Frau«, schreibt er – »die zuerst ›dä-
monisiert‹, dann vergewaltigt wird, … ist im wesentli-

1082
chen … das Grundmotiv der höheren Formen der tan-
trischen und vajrayanischen Sexualmagie.« (* Evola, 1983,
389) In Diktatoren wie Adolf Hitler und Benito Musso-
lini sah er die Vorläufer zukünftiger Maha Siddhas, die
dereinst die Welt mit ihren magischen Kräften erobern
werden : »Der Magier, der Herrscher, der Herr«, ruft er
angesichts des Tantrismus aus, »das ist der Typus der
zukünftigen Kultur !« (* Evola, 1926, 304) Der Tantris-
mus wird von ihm als »der Weg für eine westliche Eli-
te« empfohlen. (* Evola, East and West, 29)
Wir könnten Seiten füllen, um die Beeinflussung von
Evolas Werk durch den tibetischen Tantrismus darzu-
stellen. Jedoch werden wir uns statt dessen auf eine aus-
führlichere Diskussion der Ideen eines seiner Schüler, Mi-
guel Serrano, konzentrieren. Serrano verbindet Evolas
faschistische Macht- und Kriegerphilosophie mit dem
nationalsozialistischen Rassegedanken. Nicht nur weil
er noch lebt (1998), sondern auch weil er mehrmals in
Verbindung mit dem XIV Dalai Lama stand, sind seine
Ausführungen für uns besonders interessant.

Miguel Serrano : »Freund« des XIV Dalai Lama


und Chefideologe des »esoterischen Hitlerismus«

»Miguel Serrano«, schreibt sein Interviewer Isidro Pala-


cios, »war der einzige ( !) westliche Ausländer, der dem
Dalai Lama entgegenreiste, als der Mönchskaiser der ti-
betischen Buddhisten zufolge der chinesischen Invasion
das heilige Land Tibet verließ und in den Süden flüchte-

1083
te. Von Indien reiste unser Gesprächspartner (Serrano)
in den Himalaya, wo seine Zusammenkunft mit dem
Dalai Lama stattfand, und seitdem besteht zwischen
ihm und dem nunmehrigen Nobelpreisträger eine inni-
ge Freundschaft.« (* Palacios, 2) Wer ist nun dieser »in-
nige Freund« des Kunduns ?
Der Chilene Miguel Serrano wurde 1917 in Santia-
go/Chile geboren. 1947/48 besuchte er zum ersten Mal
die Antarktis, wohin er später noch viele Reisen unter-
nahm. Eines der dortigen Bergmassive, das er in einer
Expedition erforschte, trägt heute seinen Namen. 1939–
1945 gab er die esoterische Zeitschrift Das Neue Zeital-
ter (La Nueva Edad) heraus. Er war als Diplomat sei-
nes Landes in mehreren Ländern tätig, unter anderem
in Indien, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien und Öster-
reich. Als Botschafter arbeitete er auch in der interna-
tionalen Atom­energie-Kommission in Wien und bei der
UNO-Organisation für industrielle Entwicklung (UNU-
DI). Der Chilene kehrte Ende der 70er Jahre nach Chi-
le zurück und lebte (1990) einige Kilometer von Santia-
go entfernt.
Er veröffentlichte zahlreiche Bücher mit okkult-poeti-
schem Inhalt. Auch sein im Westen bekanntestes Werk,
in dem er seine Begegnungen mit dem deutschen Dich-
ter Hermann Hesse und dem Tiefenpsychologen C. G.
Jung schildert, weist – liest man es mit Aufmerksam-
keit – eine Menge von okkultistischen Spekulationen auf.
Serrano betitelte sein Buch mit Der Hermetische Kreis.
Unterhaltungen, Briefwechsel und Erinnerungen an Her-
mann Hesse und C. G. Jung. 96 Schon dieser Titel soll si-

1084
gnalisieren, daß der Autor mit Jung und Hesse eine eso-
terische Bruderschaft gebildet habe, eine Art Triumvi-
rat von Magiern, das sich Zugang zu den archetypischen
Lagerhäusern des menschlichen Unterbewußtseins ver-
schafft habe und das in unserem Jahrhundert einmalig
dastehe. Jung stand dem Chilenen, der ihn hofierte, mit
Sympathie gegenüber. Zu Serranos Erzählung Die Be-
suche der Königin von Saba schrieb er ein überschweng-
liches Vorwort : »Dieses Buch ist außergewöhnlich. Es
ist ein Traum inmitten anderer Träume, so könnte man
sagen, und ganz anders als die spontanen Schöpfungen
des Unbewußten, mit denen ich vertraut bin.« (* Serra-
no, 1980, 7) Serrano war weiterhin ein großer Verehrer
des amerikanischen Dichters Ezra Pound, der mit den
italienischen Faschisten sympathisierte. Mit der Witwe
Pounds (Olga Rudge) und dem Prinzen Ivanici ließ Ser-
rano in Italien einen Gedenkstein errichten.
Seine okkulten Studien brachten ihn in alle Teile der
Welt. Er sah sich als moderner Parzival und Minnesänger,
der sich unter dem Schutz seines Diplomatenpasses auf
die Suche nach dem Gral machte. »Das Leben der Bot-
schafter ist eine Farce und eine Dummheit«, sagte er bei
einem Interview in der Zeitschrift Cedade : »Mein Amt
diente mir dazu, mit wertvollen Menschen zusammen-
zukommen wie dem Dalai Lama, Nehru, Indira Gandhi,

96 Der deutschsprachige Rascher Verlag in Zürich akzeptierte


den Titel so nicht, weil er fürchtete, das Buch würde als zu ok-
kult nicht seinen Käuferkreis finden. Er entschied sich für Mei-
ne Begegnungen mit C. G. Jung und Hermann Hesse in visionä-
rer Schau.

1085
Hanna Reitsch (Hitlers berühmte Kampffliegerin) und
anderen.« (* Cedade, 1986) In die Schweiz, nach Westfa-
len, in die Salzburger Berge, in die Pyrenäen, in all die-
se »geomantisch« bedeutsamen Stätten führte ihn seine
Gralsreise ebenso wie in den Himalaya, nach Patagoni-
en und in die Antarktis.
Der Chilene gilt mit Recht als die okkulte Eminenz
des modernen, internationalen Faschismus. Seine phan-
tasmagorischen Schriften haben mittlerweile auch in der
deutschen Naziszene eine fanatische Anhängerschaft ge-
funden : Es ist das obsessive Anliegen des Autors, seine
Leser davon zu überzeugen, daß Adolf Hitler ein Avatar
(eine göttliche Inkarnation) beziehungsweise ein Tulku
war und immer noch ist, weil er in einer anderen Sphä-
re, dem Königreich Shambhala, und in einem anderen
Körper weiterlebt. Der »Führer« wird – nach Serrano –
erneut, in den nächsten Jahren, als Endzeitherrscher er-
scheinen und eine fürchterliche Schlacht schlagen. Wie
kam es nun zu dieser bizarren Imagination ?
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg soll dem Chilenen
ein geheimnisvoller »Meister« aus dem Jenseits erschie-
nen sein und ihm gesagt haben : »Hitler ist ein Einge-
weihter, er kann sich mit in der Astralebene Weilenden
verständigen. Es ist mir nicht bekannt, welche seine gei-
stigen Führer sind, aber ich habe mich entschlossen, ihm
zu helfen. Hitler ist ein Wesen mit einem eisernen, un-
erschütterlichen Willen, welchen er unweigerlich in die
Tat umsetzt. Er weicht niemals zurück. Ich bin mit ihm
in Verbindung gestanden.« (* Serrano, 1987, 21)
Serrano war nach dieser Erscheinung seines geistigen

1086
Gurus felsenfest davon überzeugt, mit einer Jahrhunder-
taufgabe betraut worden zu sein : die weltweite Verbrei-
tung des Hitlerismo Esoterico (des »esoterischen Hitle-
rismus«). Während seiner internationalen Tätigkeit als
chilenischer Botschafter hielt er sich damit noch sehr zu-
rück, obgleich er die Idee schon seit den 50er Jahren in
seinem Herzen trug. Er veröffentlichte in dieser Zeit bei
einigen seriösen westlichen Verlagen Bücher mit poe-
tisch-esoterischem Inhalt, die zwar ohne Ausnahme das
tantrische Thema (insbesondere das »Frauenopfer«) zum
Inhalt haben, aber in denen der Name Adolf Hitler tun-
lichst vermieden wird. Erst 1978 wagte sich der Chilene
mit einem offenen Bekenntnis zu dem deutschen Nazi-
Diktator an die Öffentlichkeit und publizierte El Cordón
Dorado – Hitlerismo Esoterico (dt. Das goldene Band –
Esoterischer Hitlerismus). Mitte der 80er Jahre folgte das
fast 650 Seiten starke großformatige Buch Adolf Hitler, el
Ultimo Avatára (»Adolf Hitler, der letzte Avatar«). Das
Ergebnis seiner umfangreichen okkulten Recherchen zu
diesem Thema faßt Serrano in dem knappen Satz zusam-
men : »Der esoterische Hitlerismus ist tantrisch.« (* Ser-
rano, 1987, 330)

Shambhala – das Zentrum des »esoterischen Hitlerismus«

Wieviel Serrano bei seiner faschistischen Weltsicht dem


Tantrismus verdankt, das werden wir in den folgen-
den Abschnitten zu zeigen haben. Besonders interes-
sant im Zusammenhang mit unserer Studie ist, daß er

1087
den »esoterischen Hitlerismus« als eine zentrale Dok-
trin aus dem Königreich Shambhala erkennt : »Tatsäch-
lich«, so der Autor, »ist ja Shambhala das Zentrum des
esoterischen Hitlerismus. Der Zugang dazu (zum Reich
Shambhala) befand sich in der Nähe von Shigatse oder
bei Gyangtse (Süddtibet). Durch meine Nachforschun-
gen bin ich zu der Auffassung gelangt, daß sich dort
ebenfalls unser Zentrum (dasjenige von Serranos okkul-
tem Orden) befunden hat. Die Verbindungen des Hitle-
rismus zu den Tibetern oder den Mongolen bestanden
sodann nicht unmittelbar, sondern mittelbar, insofern
als sie den Kontakt zu den Hyperboräern (den arischen
Göttern des Nordens) herstellten und den freien Durch-
gang sowie die Überbringung physischer Botschaften
ermöglichten. Tibeter und Mongolen waren ihre Vasal-
len, welche die magischen Zugangstore zu jener Welt zu
bewachen hatten … Bei meinem Besuch in Berchtesga-
den (dem Obersalzberg, wo Hitler sich immer wieder
zurückzog) wurde meine Aufmerksamkeit stets durch
eine tellurische Kraft, eine spürbare Schwingung in der
Luft gefesselt, welche diesen Punkt augenblicklich mit
dem tibetischen Himalaya und Transhimalaya verbin-
det : den hochgelegenen Zufluchtsort Hitlers mit dem
Lhasa des Dalai Lama, mit Shambhala. Aus irgendei-
nem bestimmten Grunde hat der esoterische Hitleris-
mus diesen Punkt, der voller unmittelbarer Verbindun-
gen, magnetischer und mit den Sternen in Berührung
stehender Schwingungen ist, als das heilige Zentrum
seines Ordens (der SS) ausgesucht, und er hat es vermie-
den, dort einen physischen Endkampf stattfinden zu las-

1088
sen, der diesem Landstrich hätte Schaden zufügen kön-
nen.« (* Serrano, 1987, 32) In seinem Buch NOS definiert
Serrano das Königreich Shambhala als »eine der verbor-
genen unterirdischen Städte, in der tantrische Initiatio-
nen durchgeführt werden, die die Materie und die Welt
transformieren, transmutieren und transfigurieren. Es
gibt einige, die sagen, daß es sich hierbei um die Haupt-
stadt von Agarthi handelt.« (* Serrano, 1984, 186) Bevor
Shambhala von den hyperboräischen (nordischen) Sid-
dhas in den Himalaya verlagert wurde, war es ein König-
reich am Nordpol.
Shambhala und Agarthi sind also die beiden okkulten
Regionen (oder Städte), aus denen der nationalsozialisti-
sche Diktator Adolf Hitler auf unseren Planeten gesandt
wurde. Die zwei Orte liegen nach Serrano in einem Zau-
berreich unterhalb der Erdoberfläche. »Dort befindet sich
also das untergegangene Agarthi und Shambhala, von
dem die Tibeter und Mongolen als dem Sitz des Königs
der Welt … sprechen, und auch der symbolische Orient
der Templer und der echten Rosenkreuzer. Dorthin ha-
ben sich also die unbekannten Führer dieser beiden Or-
den sowie die Organisation des esoterischen Hitlerismus
(die SS) begeben. Und von dort hat Hitler wohl Anwei-
sungen erhalten.«97 (* Serrano, 1987, 32)
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam in okkulten Krei-
sen das Gerücht auf (das Serrano dankbar aufgreift), Hit-

97 Zu einiger Verwirrung führen die Bezeichnungen Agarthi und


Shambhala auch in einem Bestsellerroman der rechten Szene mit
dem Titel Die Schwarze Sonne von Tashi Lunpho (Rüssel McC-
loud). Auch hier steht ein nationalsozialistischer Geheimbund →

1089
ler habe in Berlin eine Bruderschaft von tibetischen La-
mas angesiedelt, die in direktem Kontakt mit dem Kö-
nigreich Shambhala stünden. Nach dem Einmarsch der
Russen hätten die Ordensmitglieder Selbstmord began-
gen. 98 (* Ravenscroft, 262 f.)
Hitler aber sei – so Serrano – nicht durch einen Suizid
geendet, sondern konnte in seine unterirdische Heimat
Shambhala zurückkehren. »Hitler lebt. Er starb nicht in
Berlin. Ich habe ihn unter der Erde gesehen … Dieses
Geheimnis habe ich viele Jahre lang gehütet ; denn es war
gefährlich, es zu enthüllen, und es war noch schwieriger,
darüber zu schreiben«, klärt der schon erwähnte geheim-
nisvolle Meister seinen Schüler Serrano auf. (* Serrano,
1987, 37) Der »Führer« sei jedoch nicht, wie andere ok-
kulte Spekulationen annahmen, nach Tibet geflohen. Ser­
rano bezweifelt solche Annahmen, da er aufgrund seiner
Recherchen zu dem Schluß gekommen sei, daß das My-
thenreich Shambhala nach dem Weltkrieg aus dem Hima-

← im engen Kontakt mit den tibetischen Lamas. Seine Mitglie-


der werden jedoch als die Anhänger Agarthis bezeichnet, wäh-
rend sich ihre Gegner um Shambhala scharen. In der Erschei-
nungswelt sind die Shambhala-Anhänger Vertreter der westli-
chen Großfinanz und des Freimaurertums.
98 Höchstwahrscheinlich handelt es sich bei den Betroffenen um
eine versprengte Gruppe von Kalmüken, die sich den Deutschen
im Kampf gegen die Sowjetunion angeschlossen hatten und am
Ende des Krieges in die Hauptstadt zurückgedrängt worden wa-
ren. Aber der Mythos, daß führende Köpfe des Nationalsozialis-
mus eine Verbindung zu lamaistischen Sekten (»Achse Berlin –
Lhasa«) unterhielten, hat sich bis heute gehalten und ist das The-
ma einer umfangreichen okkulten Literatur.

1090
laya in den Südpol (Antarktis) verlagert wurde und sich
heute dort der Zugang zu dem unterirdischen Imperium
befände. Hitler sei also in die Antarktis gereist.
Aus dem unterirdischen Shambhala (jetzt am Südpol)
werde der »Führer« verjüngt und in nächster Zukunft
das zweite Mal auf unsere Erde hinaufsteigen, und zwar
mit einer schlagkräftigen Armee aus UFOs. An anderer
Stelle berichtet Serrano, daß Hitler seine Armee wie der
Rudra Chakrin, der zornige Raddreher aus Shambhala,
sein wildes Heen, auf einem Schimmel anführen wer-
de. Der »letzte Avatar« (Hitler) wird unseren Planeten
mit einem fürchterlichen Endzeitkrieg überziehen, in-
dem sich die Kräfte des Lichtes (die hyperboräisch ari-
sche Rasse) und die Kräfte der Finsternis (die jüdische
Rasse) gegenüberstehen. Die Juden, die zur Zeit die Welt
beherrschen, werden vernichtet werden, und die Nazis
werden das Edad Dorada (das »goldene Zeitalter«) und
das »Vierte Reich« errichten.
Serrano nahm seine »Phantasien« wörtlich. Um seine
geistigen Führer (beziehungsweise den Tulku-Hitler) zu
suchen, machte sich der chilenische Diplomat (damals in
Indien) auf und begann mit Nachforschungen im Hima-
laya und in der Antarktis. »In dem Buche Die Schlange
des Paradieses schildere ich meine Suche nach dem Ash-
ram der Siddhas im Himalaya, das sich ebenfalls unter-
irdisch im Berge Kailash, in einer völlig entlegenen Ge-
gend befindet, wo gleichfalls der Wohnsitz der Meister
meines Meisters ist.«99 (* Serrano, 1987, 40) Er war davon
überzeugt, daß er am Kailash einen Zugang zu Shamb-
hala oder Agarthi finden würde. Auch versuchte er, bis

1091
zum Yamdrok-See vorzudringen, weil er dort ebenfalls
ein Eingangstor ins unterirdische Shambhala vermutete.
Die Chinesen wiesen ihn aber an der Grenze zurück.

El/Ella

Die Zeit war nicht reif, Serrano konnte den Zugang zu


Shambhala noch nicht entdecken. In Kalimpong, »vor
den Toren Tibets« begegnete ihm ein »Mann«, der dem
Chilenen versicherte, ein geheimnisvoller »Orden« übe
auf die Angelegenheiten der längst vergangenen wie der
jüngsten weltgeschichtlichen Ereignisse Einfluß aus. Of-
fensichtlich handelt es sich bei diesem Mann um den
Guru, der Serrano – wie er in seinem Schlüsselbuch EL/
ELLA ausführt – in die Riten der Sexualmagie einführ-
te, und bei dem Orden um eine tantrische Geheimge-
sellschaft. Dessen Mitglieder, so der »Mann«, »wohnen
in zwei Städten des Himalayas, Agarthi und Shambhala.
Um dorthin zu gelangen, muß man diesen (tantrischen)
Weg zurückverfolgen, bis zum Ursprung der Zeit.« (* Ser-
rano, 1982, 10)
Der Schüler (Serrano) – lesen wir in EL/ELLA – ist
bereit, diesen Weg zu gehen, und wird von dem Meister
in die Tantras und die »Gesetze der Androginie« einge-
weiht : »Dieses Wissen ist uns von der Schlange (Kunda-

← 99 Nach Serrano ist »der Siddha oder Gottmensch … der selbst


vom Einfluß der Sterne Befreite, ihn berühren die Gestirnein-
flüsse nicht mehr, er ist Chakravartin, König der Welt.« (* Serra-
no, 1987, 289)

1092
lini) überliefert worden, die auf dem Meeresgrund über-
lebte, als die Welt der Gottmenschen zerstört wurde, in
der die Frau nicht außen, sondern innen war, und wo
Mann und Weib eins waren … Ehe du nicht mit der Frau
eins wirst …, wirst du kein Priesterkönig sein … Der
Hengst muß zur Stute, der Mann zur Frau werden …«,
führt der Guru mit seinen Belehrungen fort. 100 (* Serra-
no, 1982, 11, 12)
Niemals sei, so erfährt der Schüler, dies durch Keusch-
heit und Askese möglich. Der Mann müsse vielmehr der
Frau in der »magischen Liebe« begegnen, um deren weib-
liche Energien umzulenken. Dazu bedarf es – wie wir wis-
sen – der absoluten Kontrolle über den Sexualakt und vor
allem der Retention des Samens : »Wenn der Hengst den
Samen ausstößt, dadurch verarmt er … Solange sich der
Samen wie ein Fluß nach außen ergießt, wird das Spiel
der trügerischen Erscheinungen fortgesetzt.« (* Serrano,
1982, 13) In einem anderen Text heißt es : »die magische
Liebe, die in … Shambhala gelehrt wird … Der Samen

100 Serrano wurde in die Tantras der Kaulas, eines shivaitischen


Ordens, eingeweiht. Die von uns geschilderten Initiationsszena-
rios aus seinen Büchern decken sich jedoch voll mit dem Vajra-
yana. Was die hinduistischen und buddhistischen Tantra-Tradi-
tionen anbelangt, so nimmt es Serrano nicht sehr genau. Es geht
ihm um das Prinzip der tantrischen Initiation, und das findet er
bei den Buddhisten und Hindus im gleichen Maße. Der Tantris-
mus ist für ihn ein esoterischer Weltkult, den er bei den Ägyp-
tern, den Templern, den Katharern, den Rosenkreuzern und bei
den Geheimgesellschaften hinter Hitler (Thule-Gesellschaft) ent-
deckt. Auf jeden Fall sieht er in Shambhala und Agarthi die bei-
den mythischen Ursprungsorte, aus denen die Tantras stammen.

1093
darf hierbei nicht austreten und nach außen hin in der
Frau verloren gehen, sondern er muß sich im Körper sei-
nes Besitzers nach innen ergießen, um diesen mit dem
Androgyn … zu schwängern, wie man in der ebenfalls
symbolischen Sprache der Alchemie sagt.« (* Serrano,
1987, 289) Stößt der Mann sein Sperma nicht aus, dann
kann er die Gynergien der Frau voll absaugen. »Wenn
die Frau nicht empfängt«, so Serrano, »dann gibt sie !
Aus ihrer Haut gibt sie Stoffe ab, eine geballte Energie,
die dich sättigt und in dein Blut und Herz eindringt.«
(* Serrano, 1982, 14)
Aber es kann geschehen, daß das tantrische Experi-
ment mißlingt. Verliert der Sadhaka (Schüler) beim ma-
gischen Sexualakt seinen Samen, dann wird er durch das
aggressiv Weibliche vernichtet : »Die Spinne verschlingt
das Männchen, das sie befruchtet, die Bienen bringen
die Drohnen um, die furchterregende Mutter trägt das
männliche Fortpflanzungsorgan an ihren Hals gebunden.
Alles Weibliche verschlingt, jede Stute, Mutter, Göttin
oder Frau. Auf die eine oder andere Art wird der Mann
verzehrt.« (* Serrano, 1982, 13)
Es geht also um Leben und Tod. Letztendlich ist deswe-
gen nach Serrano die »Tötung« der äußeren Frau (Karma
Mudra) notwendig, damit die innere Frau (Maha Mudra)
entstehen kann. Der Autor hat keine Scheu, das »tantri-
sche Frauenopfer« direkt anzusprechen : »Nur diejeni-
gen, welche die Frau derart lieben können ( !), daß sie sie
äußerlich töten ( !), um ihre innere Wiedergeburt zu er-
möglichen, werden die unsterbliche Stadt Agarthi (oder
Shambhala) finden.«101 (* Serrano, 1982, 13) Für einen

1094
uninformierten Leser verdeckt, aber für einen, der die
Logik des Tantrismus kennt, offenkundig, wird in sei-
nen beiden Einweihungsschriften EL/ELLA (»ER/SIE«)
und NOS (»WIR«) jeweils ein tantrischer Frauenmord
geschildert.
In einer Liebesszene aus EL/ELLA verendet eine junge
Frau in den Armen Serranos, um dann als innere Maha
Mudra in ihm neu zu entstehen. Er, beugt sich über sie,
streichelt ihr Haar und küßt ihre blutenden Lippen : »Sie
schmeckten wie bitterer Honig, und er schluckte ein we-
nig von ihrem Blut.« Dann sieht er plötzlich die Stigma-
ta : »Merkwürdigerweise hatte sie es (das Blut) nur auf
den Füßen und den Handflächen, als wäre sie gekreu-
zigt worden. ›Hier !‹ – sagte sie. Sie deutete auf ihre Seite,
in Brusthöhe. Ein weißer Strich schien dort hindurch-
zugehen, wie eine Speerwunde.« (* Serrano, 1982, 72, 73)
Die Bezüge zum Christusopfer sind offenkundig, ja wir-
ken geradezu plump. »Wenn ich sterbe«, sagt dann die
Frau, »wirst du mich in deinem Inneren tragen ; ich wer-
de du sein, in dir leben … Du hast mein Blut getrun-
ken, und wir sind jetzt zwei Geschwister. Meine Gestalt
geht schon in dein Blut über … Wenn Gott will, werde
ich dich noch mehr lieben, wenn ich tot bin … Ich wer-
de sterben müssen, damit du leben kannst.« (* Serrano,
1982, 73, 74) Damit erfüllt sich der Weisheitsspruch von

101 Agarthi und Shambhala werden von Serrano oft synonym


gebraucht. Auf der Seite 257 seines Buches Das Goldene Band
schreibt er : »Manche sind der Meinung, Shambhala sei die
Hauptstadt von Agarthi.«

1095
Serranos Meisters : »Der Zerfall des Einen (der Frau) ist
die Reinigung des Anderen (des Mannes).« (* Serrano,
1982, 93) »Die absolute Frau«, heißt es an anderer Stelle,
»kann schlafen oder sie kann sterben, was dasselbe ist.«
(* Serrano, 1987, 289)
Auch der in Fantasy-Manier verfaßte Text NOS – Book
of the Resurrection (Wir – Das Buch der Auferstehung)
schildert ein tantrisches Frauenopfer. Die Heldin dieser
»hermetischen Biographie« heißt Allouine, der Hauptheld
ist zugegebenermaßen Serrano. Daneben tauchen ver-
schiedene »tantrische« Meister auf. Unverkennbar un-
ter ihnen sind C. G. Jung, Hermann Hesse und der ame-
rikanische Dichter Ezra Pound. Der Inhalt des Buches
schildert das freiwillige Selbstopfer von Allouine, ihre
Interiorisierung als Maha Mudra durch den Autor (Ser-
rano) und dessen durch die Absorption der Gynergie er-
langte Unsterblichkeit. »Die Frau stirbt. Sie ist tot. Sie
muß sterben … Sie ist die Begleiterin des Kriegers (Yo-
gis), die nur in seinem Bewußtsein, in seinem Geist exi-
stiert«, (* Serrano, 1984, 11) – werden wir erneut durch
Serrano belehrt. »Sie (die Frau) wird durch ihren Tod
in dich interiorisiert, sie inspiriert dich«, klärt ihn ei-
ner seiner Meister auf und führt an einer weiteren Stelle
fort : »Der heilige Pfad des Yoga, den du jetzt beschritten
hast, ist nur für den Krieger, für den initiierten Helden.
Er ist nicht der Weg der Frau ; denn die Frau hat keine
Chakras, keine Kundalini zum Erwecken … Eine Frau
ist die Kundalini. Eine Frau hat keine Seele. Sie ist die
Seele. Eine Frau hat keine Ewigkeit. Sie ist die Ewigkeit.
(* Serrano, 1984, 102, 147)

1096
Serrano veranstaltet mit Allouine eine tantrische Sé-
ance, auf der beide die fünf verbotenen Speisen verzeh-
ren. Dann trinkt er »den Likör des Orgasmus, … das
himmlische Soma, den Geist des geheimen Weines …,
der nur im Fluß deines Blutes gefunden werden kann.«
(* Serrano, 1984, 112) Wir wissen, daß es sich hierbei um
das Sukra, die Mischung von männlichem und weibli-
chem Samen, von Menstruationsblut und Sperma, han-
delt. Dieser magische Trank bringt die Totlosigkeit für
den Tantriker. Wie ein Vampir begehrt der Autor auch in
NOS das Blut seiner Geliebten und verfällt in die größte
Andacht, wenn er es auf seinen Lippen spürt. Nachdem
er die sterbende Allouine gewaschen hat, küßt er sie und
trinkt von ihrem Blut.
Das Opfer von Allouine wird jedoch von ihr geduldig
und willenlos hingenommen : »Meine Sehnsucht nach dir
(sprich zu Serrano) erreicht ihren Höhepunkt. Das Op-
ferfeuer wurde in meiner Vagina entzündet und schlägt
dort wie ein Herz … Mein Wille existiert nicht mehr.«
(* Serrano, 1984, in) »Die authentische absolute Frau op-
fert sich selbst freiwillig«, lesen wir in NOS. »Sie bringt
sich selbst als Opfer dar, um ihre Ewigkeit ihrem Lieb-
haber zu schenken … Die Geliebte ist nun die verborge-
ne Geliebte, die starb und die sich selbst in deinen Kno-
chen und deinen Venen begraben hat. Die weibliche So-
phia, die Lehrerin der Seele, die durch das Blut fließt, der
weibliche Philosoph, Sophia, die Weisheit, die Taube, die
Gnosis.« (* Serrano, 1984, 147, 148) Sterbend sagt seine
»Weisheitsgefährtin« zu ihm : »Ich werde dich besser lie-
ben, nach meinem Tode. Ich gebe Dir meine Ewigkeit …

1097
Mein Geliebter, du wirst mein Sarg sein, aus duftendem,
wertvollem Holz.« (* Serrano, 1984, 140)
Der Tantriker Serrano kann jetzt, nachdem er Alloui-
ne in sich interiorisiert hat, sein EGO überwinden, er
kann jetzt von NOS (WIR) sprechen, denn ewig wird
die Geliebte (Maha Mudra) in ihm wohnen. Durch die
für die Frau tödliche Liebe gewinnt der Mann ewiges
Leben. Serrano spielt in diesem Kontext mit dem Wort
AMOR, was nicht nur Liebe bedeute, sondern auch A –
MOR, jenseits des Todes.
Nach dem physischen Tod von Allouine ewig vereint
mit ihrer Gynergie, begräbt Serrano ihre Leiche und setzt
auf ihr Grab einen Stein, in den er ein linksläufiges Ha-
kenkreuz gemeißelt hat, das höchste Symbol des »esote-
rischen Hitlerismus«.
Es gibt durchaus auch andere, nicht-faschistische Au-
toren, die eine okkulte Korrespondenz zwischen Natio-
nalsozialismus und tibetischem Buddhismus durch eine
esoterische Deutung des Hakenkreuzes (Swastika), eines
buddhistischen Symbols par excellence, herstellen : »Das
rechtsläufige Hakenkreuz (bezeichnet) in Tibet eine Ge-
betsformel«, schreibt der Kulturologe Friedrich W. Dou-
cet. »In seiner linksläufigen Form – so wie das national-
sozialistische Hakenkreuz – kennzeichnet es die ortho-
doxen Gelbmützen … die Gelbmützen sind es, die das
geistige Reglement im tibetischen Priesterstaat überwa-
chen und auch die weltliche Macht ausüben.«102 (* Dou-
cet, 81)

1098
Hitler als Tantriker und als Weltenkönig (Chakravartin)

Für die tantrische Weltsicht Serranos ist es nur allzu na-


heliegend, daß auch Hitler (als Tulku) sexualmagische
Praktiken mit einer Weisheitsgefährtin (Mudra) durch-
führte. Eva Braun, die Geliebte des Diktators, scheint
diese Aufgabe nur zum Teil erfüllt zu haben. Hinter ihr
– so Serrano – stand eine Größere : »Wir müssen deshalb
in Betracht ziehen, daß die Beziehungen zu Eva Braun
solche waren wie die zwischen Jesus und Magdalena der
christlichen Legende, wie die eines Alchemisten zu sei-
ner mystischen Schwester … Die Gegenwart der Frau,
ihrer telepathischen, sich mitteilenden Energie, die hier-
durch erzeugten Spannungen sind für einen tantrischen
Magier, für einen Kraftträger dieser Art unerläßlich.
Die mystische Gemahlin Hitlers war jedoch nicht Eva
Braun, sondern eine andere« (Serrano, 1987, 25). Er be-
zeichnet sie als die »Walküre« oder auch als Lilith. Mit
Lilith macht er einen Bezug zu Adam. Auch der bibli-
sche Urvater der Menschheit (Adam) habe wie Hitler
zwei Frauen besessen, eine äußere Eva und eine inne-
re Lilith. Hat Hitler – so der Autor – vielleicht einen
entscheidenden tantrischen Fehler gemacht, als er Eva

← 102 Man hat – wohl unter dem Eindruck, daß die Swastika
zum Emblem des Nationalsozialismus wurde – eine moralische
Kategorie eingeführt, indem man das rechts- und linksgerichtete
Hakenkreuz unterschied. Das linke soll Böses, das rechte Gutes
hervorbringen. (* Doucet, 74) Das beruht fraglos auf einer Fehl-
information. Im tibetischen Ritualwesen sind beide Swastikafor-
men gebräuchlich.

1099
Braun (kurz vor seinem Selbstmord) heiratete ? »… Da-
durch, daß die heimliche Eva (Braun) aus vergänglichem
Fleisch und Blut angenommen wurde, (nahm) sie nun-
mehr den Platz der mystischen Gemahlin ein.« (* Serra-
no, 1987, 25) – und Hitler verlor einen Teil seiner magi-
schen Kräfte (Siddhis).
Der »Führer« des Dritten Reiches war ein Tantra-Mei-
ster aus Shambhala, nach Serrano der »Hohepriester des
Abendlandes«. (* Serrano, 1987, 269) Er kam auf die Erde,
um eine Mission zu erfüllen – die Beherrschung der Welt
durch die nordische (»hyperboräische«) Rasse. Aber Ser-
rano sieht in ihm nicht nur die Inkarnation eines kriege-
rischen Archetypen, der sich in den 30er und 40er Jah-
ren unseres Jahrhunderts in menschlicher Gestalt nie-
dersenkte. Er erkennt in dem Diktator direkt einen aus
Shambhala gesandten Tulku und Gott. Hitler »war ein
hoch entwickeltes Wesen, ein Bodhisattva, ein Tulku …
die Inkarnation einer Gottheit.« (* Serrano, o. J. , 119)
So wie ein Tulku nicht nur in der Gestalt einer einzi-
gen Person erscheinen muß, sondern viele Ausstrahlun-
gen seiner selbst hervorbringen kann, so waren die ver-
schiedenen nationalen faschistischen »Führer« in der er-
sten Hälfte unseres Jahrhunderts die Emanationen des
mächtigsten und zentralen Tulkus und Shambhala-Für-
sten Adolf Hitler ; Benito Mussolini in Italien ; Oliveira
Salazar in Portugal ; Leon Degrelle in Belgien ; José Anto-
nio Primo de Rivera in Spanien ; Plinio Salgado in Bra-
silien ; Doriot in Frankreich ; Jorge González von Marée
in Chile und Subhash Chandra Böse in Indien. Im deut-
schen »Führer« (Hitler) konzentrierte sich die gesamte

1100
faschistische Energie der Welt : »Der Tulku«, so Serrano,
»in diesem Fall ist es Hitler – strahlt von einem höheren
Machtzentrum aus, das wie eine gewaltige Sonne alle in
sich aufnimmt und sie in sein Feuer und in sein Schick-
sal hineinzieht. Fällt ER, dann fallen alle anderen auch,
der ER ist ja ALLE.« (* Serrano, 1987, 270)
Hitler muß nach Serrano auch als die irdische Erschei-
nung des Chakravartins gesehen werden : »Für die Einge-
weihten der SS war Hitler jener geheimnisvolle Prophet
oder Magier, der … den Sinn für die königliche Würde
wiederbrächte, wo der König der Welt, der Imperator,
der Priester aller Priester und König aller Könige ist ; es
ist der Führer, der für tausend Jahre und länger ein neu-
es Goldenes Zeitalter errichten wird.« (* Serrano, 1987›
354) Das ist durchaus für die Zukunft gemeint, denn Hit-
ler wird – nach Serrano – bald wieder zurückkehren, um
seine kosmische Aufgabe zu erfüllen. Man mag zu sol-
chen Prognosen stehen, wie man will, aber es ist auf je-
den Fall erstaunlich, welch großen Aufschwung die fa-
schistischen Bewegungen weltweit seit Ende der 80er Jah-
re erlangt haben.

Die SS als tantrischer Kriegerorden aus Shambhala

Für Serrano ist die tantrische Einweihung der zentrale


Ritus einer »hyperboräischen« (nordischen) Kriegerka-
ste. Als die höchste Mysterienstätte für die Einweihung
der »Priester-Krieger« gilt Shambhala. »In Shambhala«,
so der Autor, »lehrt man den Gebrauch der Kraft, durch

1101
welche die Mutation der Erde und des Menschen vollzo-
gen werden kann, und man führt letzteren in die kriege-
rische Einweihung ein, die das ermöglicht … Diejenigen,
welche diesem Einweihungsfluß folgen, haben gekämpft,
um hier auf der gegenwärtigen Erde einen neu-alten Or-
den zu gründen, der seine Wurzeln in den transzenden-
ten Ursprüngen hat, mit dem Ziel, das goldene Zeitalter
wiederzuerwecken, und sie werden bis zum Ende weiter-
kämpfen …«103 (* Serrano, 1987, 258)
Dieser Orden ist die geheime Bruderschaft der Shamb-
hala-Offizieie, die sich schon seit Jahrhunderten in un-
serer Welt inkarniert haben – etwa als Gralsritter oder
als Rosenkreuzer oder zuletzt als die okkulte Elite der SS,
Hitlers berüchtigte Schutz-Staffel. »Einmal jährlich«, so
erfahren wir, »traf sich der Innere Kreis der SS-Leute mit
seinen Höchsten Führern für einige Tage der Zurückge-
zogenheit, der Einsamkeit und der Meditation. Man übte
dabei eine Art westlichen Yoga, worüber aber nichts be-
kannt geworden ist.« (* Serrano, 1987, 171, 172)
Die SS war nach Serrano in zwei Abteilungen aufge-
teilt, eine innere esoterische und eine äußere. Die »exo-
terische SS« war dazu ausersehen, »in der äußeren Welt

103 Serrano sieht Julius Evola und sonderbarer Weise auch Herr-
mann Hesse als die zwei Lehrer an, die ihn zum ersten Mal auf
den kriegerischen Geist des Buddhismus aufmerksam gemacht
hätten : »Beiden habe ich es zu verdanken, daß ich den Buddhis-
mus als einen Weg des Kriegers kennen lernte. Evola legt dar, daß
die Religion des Gautama hauptsächlich eine kriegerische Lehre
ist, die von einem Fürsten ausging, welcher der indischen Krie-
gerkaste, den Kshatriyas, angehörte.« (* Palacios, 11)

1102
mit den schwierigsten Aufgaben und Abenteuern fertig
zu werden«. Ihr war »von der Esoterik des Schwarzen Or-
dens, seinen Praktiken und Lehren, seinen unsichtbaren
Verbindungen und seinen okkulten Doktrinen nichts be-
kannt.« (* Serrano, 1987, 264)
Der »innere Kreis« der SS bestand aus »Sonnenmen-
schen, Supermännern, Menschengöttern, dem totalen
Mensch, dem Menschen-Magier.« (* Serrano, o. J. , 96)
Die esoterischen SSler waren Siddhas (Magier) aus dem
unterirdischen Königreich Shambhala, oder zumindest
deren Boten. SS – das sind die Initialen der »Schwarzen
Sonne«, Serrano nennt die Mitglieder des Ordens denn
auch – »die Männer der Schwarzen Sonne«. Das erinnert
uns daran, daß der tibetische Finsternis-Planet Rahu, der
Sonne und Mond verdunkelt, im Kalachakra-Tantra eben-
falls als »Schwarze Sonne« bezeichnet wird.
Der Autor ist selbstverständlich davon überzeugt, daß
in der SS (der »neuen Aristokratie der arischen Rasse«)
sexualmagische Riten praktiziert wurden. Wie vor ihm
schon Julius Evola, verweist der Chilene ständig in sei-
nen Schriften darauf, wie sich Sexualität durch tantrische
Praktiken in hochwertige aggressive Kriegsenergie und
politische Macht umsetzen lasse : »Komm, nimm mich
wie ein Krieger!« – sagt an einer Stelle seiner Schlüssel-
romane eine Geliebte (seine Karma Mudra) zu ihm. »Ich
gebe dir mein Herz, auf daß du es verschlingst. Laß uns
unser Blut trinken.« (* Serrano, 1982, 54) In EL/ELLA
empfiehlt der Autor dem in die Tantras eingeweihten
Helden : »Der Krieger soll dem Tod das Gesicht seiner Ge-
liebten geben, so wird die feurige Weiblichkeit des Todes

1103
hervorgerufen.« (* Serrano, 1982, 87) Tantrische Prak-
tiken und das Kultleben einer faschistisch-esoterischen
Kriegerkaste bilden für Serrano eine Einheit.
Die Sexualmagie der SS war zudem mit Rassenexpe-
rimenten verbunden. Beabsichtigt sei eine Mutation der
menschlichen Rasse oder besser eine Rückgewinnung des
ehemals hochstehenden arischen Gottmenschen gewesen,
die sich in grauer Vorzeit durch den »gewöhnlichen« Ge-
schlechtsverkehr mit Menschenfrauen beschmutzt und
eine niedere Rassenform hervorgebracht hätten. Solche
Experimente wurden nach Serrano in der Wewelsburg
(Westfalen), dem okkulten Zentrum der SS, durchgeführt.
Dort hätten sich »Laboratorien der linksgerichteten Ma-
gie« zur Wiederherstellung der ursprünglich reinen ari-
schen Rasse befunden. (* Serrano, o. J. 488, 589) Diese sei-
en aber nichts anderes gewesen als die überirdischen Dé-
pendancen von entsprechenden Einrichtungen aus dem
unterirdischen Shambhala. »Sie versuchten in Shambha-
la eine Mutation ihrer Art hervorzubringen, die es ih-
nen erlauben sollte, zu dem zurückzukehren, was vor ih-
rer Vermischung mit den Söhnen der Menschen war …«
– als sie noch einen weißen, fast durchsichtigen Körper
und blondes Haar hatten. (* Serrano, 1982, 54)
Als Tantriker standen die SSler »jenseits von Gut und
Böse«, und ihre »schrecklichen Taten« werden deswegen
von Serrano gerechtfertigt, zumal sie auf höheren kosmi-
schen Befehl geschahen. (* Serrano, 1987, 331) Die »End-
lösung der Zigeunerfrage« (viele Zigeuner kamen in den
KZs um) soll zum Beispiel direkt »aus Tibet an Hitler,
sicherlich aus Shambhala« ergangen sein. Die Zigeuner

1104
Der »androgyne« Mensch des goldenen Zeitalters,
nach Serrano ein SS’ler

1105
hätten früher in Shambhala gelebt und wären dann von
dort vertrieben worden. »Die Gründe hierfür«, so Ser-
rano, »waren im Tibet des Dalai Lama bekannt.« (* Ser-
rano, 1987, 366)
Der innere okkulte Kern der SS bestand ebenso wie bei
den Templern aus Inkarnationen der Gralshüter, und »der
Gral der Siddhas (Magier), der solaren und kriegerischen
Einweihungen« befindet sich in Shambhala. (* Serrano,
1987, 264) Die Wunder, die vom Gral ausstrahlten, hätten
sich in den Leistungen des Schwarzen Ordens während
des Zweiten Weltkrieges gezeigt : »Untersucht man das
von den Hitleranhängern in allen Bereichen der Schöp-
fung innerhalb eines Zeitraumes von nur sechs Jahren
Erreichte, so kann man nicht umhin, dieses Wunder zu
bewundern und einen Vergleich mit dem Templerorden
anzustellen. Und man gelangt zu dem Glauben, daß die
SS den Gral gleichfalls gefunden und ihn sogar enträt-
selt hat.« (* Serrano, 1987, 278) Selbst die monumenta-
le Architektur des Dritten Reiches soll auf den Bauplät-
zen Shambhalas vorbereitet worden sein. Die Hyperbo-
räer (die Götter des Nordens) – lesen wir – »wanderten
zu zwei geheimen Städten in den Himalaya aus, Agarthi
und Shambhala … In Shambhala übten sie sich in der
Magie der Riesen, die Monumentalbauten möglich mach-
te.« (* Serrano, 1982, 54)
Im Zweiten Weltkrieg standen sich die Kräfte des Lichts
und der »Sonnenrasse« (Hitler und die SS) und die Kräfte
der Dunkelheit und »Mondrasse« (die Alliierten und die
Juden) gegenüber. Es war kein gewöhnlicher Krieg, son-
dern eine Weltenschlacht zwischen Göttern (den Nazis,

1106
der arischen Lichtrasse) und Dämonen (den Juden, der
semitischen Dunkelrasse), zwischen Odin, dem obersten
Gott der Germanen, und Jehova, dem obersten Gott der
Juden. Die nordischen (hyperboräischen) Helden schlu-
gen sich mit dem »Herrn der Finsternis«, dem »satani-
schen Demiurgen«. Im Kern bekämpften sich – so Serra-
no – die patriarchalen und die matriarchalen Mächte.
Hitler hat den Krieg zwar nach außen hin verloren,
aber durch sein Opfer und sein Beispiel habe er die Ide-
ale der Kriegerkaste aus Shambhala gerettet. Er wird an
der Spitze seines »wilden Heeres« wiederkommen, um
endgültig die weiße Rasse vom Herrn der Finsternis (Je-
hova) zu befreien. Dann kommt es zu einer fürchterlichen
Endschlacht. »Das ist die Dimension von Hitler, dem Ge-
sandten der hyperboräischen (nordischen) Siddhas, dem
Tulku, dem Bodhisattva, dem Chakravartin, dem Füh-
rer der Arier, so daß der Demiurg Jehova alle seine irdi-
schen und außerirdischen Legionen mobilisieren muß.«
(* Serrano, o. J. , 250)
Man mag Serranos Visionen als Spiel einer überhitz-
ten Phantasie abtun, aber es ist nicht zu leugnen, daß
der moderne Faschismus im Shambhala-Mythos und im
Tantrismus eine Heimat und eine Vorgängerin gefunden
hat. Ohne Schwierigkeiten kann er seine mythologischen
Vorstellungen und Machtvisionen in allen grundsätzli-
chen Fragen mit der Praxis und politischen Ideologie des
Kalachakra Tantras in Einklang bringen. Die Annähe-
rung der okkulten Rechten an den tibetischen Buddhis-
mus ist deswegen keineswegs so zu verstehen, als würde
das Dharma für unedle Zwecke ausgenutzt, denn es gibt

1107
zwischen diesen beiden Weltanschauungen eine tiefe in-
nere Verwandtschaft.

Der XIV Dalai Lama und Serrano

Der XIV Dalai Lama würde selbstverständlich jegliche


Beziehung des Shambhala-Mythos und Kalachakra-Tan-
tras zum »esoterischen Hitlerismus« Serranos von der
Hand weisen, egal wie weitgehend sich auch prinzipielle
Vorstellungen der beiden Systeme decken mögen. Den-
noch ist es für unsere kulturkritische Studie von gro-
ßem Interesse, daß der Kundun dem rassistischen Chi-
lenen mehrmals begegnete (zumindest 1959, 1984, 1992).
Als Seine Heiligkeit im Jahre 1992 Chile besuchte, be-
grüßte ihn am Flughafen unter anderem auch der Füh-
rer der Nationalsozialistischen Partei Chiles – Miguel Ser­
rano mit Namen. Den anwesenden Reportern sagte der
Chefideologe des Esoterischen Hitlerismus, er und der
Hierarch aus Tibet seien seit seiner Zeit in Indien gute
»Freunde«. (* Grunfeld, 302) Serrano war auch mit dem
von uns schon oft zitierten deutschen, in Indien leben-
den Lama Govinda befreundet, in dessen Meditations-
turm er sich angesichts der Himalaya-Berge versenken
durfte.
Die erste Begegnung mit dem Kundun fand 1959 statt.
Der Gründer des »esoterischen Hitlerismus« begrüßte
nach eigener Aussage als einziger Ausländer den Dalai
Lama, als dieser nach seiner Flucht aus Tibet die indische
Grenze überschritt. »Kurz vor der Einnahme Tibets«, be-

1108
richtet er mit eigenen Worten, »durch die Truppen von
Mao gelingt dem Dalai Lama die Flucht nach Indien. Ich
reiste in den Himalaya, um dort auf ihn zu warten. Ich
zog mir tibetische Kleidung an, die mir der Maharaja von
Sikkim geschenkt hatte, um zu versuchen, von dort aus
nach Tibet zu gelangen. Ich kam bis zur tibetischen Gren-
ze, wo ich – nebenbei gesagt – einen der Söhne Roerichs
kennenlernte, der mir auch von der in den Bergen lie-
genden Verborgenen Stadt (Shambhala) berichtete. Der
damals noch sehr junge Dalai Lama schenkte mir später,
als alles vorüber war, als Zeichen seiner Dankbarkeit ei-
nen kleinen tibetischen Hund.« (* Palacios, 4)
Es ist immerhin interessant, daß der Kundun, der durch
einen SSler (Heinrich Harrer) in die westliche Kultur ein-
geführt wurde, nach seiner Überschreitung der indischen
Grenze als ersten ( !) Westler auf den Faschisten Miguel
Serrano trifft, der im esoterischen Kern der SS ein mythi-
sches Kommando aus dem Königreich Shambhala sieht.
Serrano von sich selbst : »Ich bin als Werkzeug gebraucht
worden und werde weiter benutzt.« (* Cedade, 1986) Bei
seiner Grenzüberschreitung hatte der Dalai Lama – er-
innern wir uns zurück – den Ruf »Sieg den Göttern !« auf
den Lippen. Die Götter, die Serrano repräsentierte und
als deren Werkzeug er diente, waren Wotan, Odin und
nach seinen eigenen Worten Adolf Hitler.
Was nun die »bezaubernde« tibetische Tempelhündin
von »honiggelber Farbe«, die ihm vom Kundun geschenkt
wurde, anbelangt, so hatte dieses Tier für den Chilenen
eine ganz besondere Bedeutung. Die Lamas – so der Au-
tor – bezeichneten die kleine Rasse als »Löwe von der

1109
Hintertür des Tempels« (The lion of the back door of the
Temple). Serranos »Hintertürlöwe« wurde Dolma geru-
fen, »mit dem Namen einer tibetischen Göttin ; in Wahr-
heit der Shakti«. (* Serrano, o. J. , 189) Dolma ist der ti-
betische Name für die Göttin Tara.
So abstrus es auch klingen mag, der Chilene erkannte
nach einiger Zeit in der ihm vom Kundun übergebenen
Dolma die Reinkarnation einer Frau, die er als »mysti-
sche Partnerin« einstmals liebte und die (nach den Ge-
setzen des »tantrischen Frauenopfers«) sterben mußte.
(* Serrano, o. J. , 189) Als Dolma, die Hündin, eines Ta-
ges in seinen Armen dahinschied – Serrano war, um sie
ins Jenseits zu begleiten, extra von Spanien nach Wien
geflogen –, da erinnerte er sich an ein Ereignis von my-
thologischer Tragweite aus dem 16. Jahrhundert. Er fühl-
te auf einmal wie in einer Trance, daß er nicht die tibeti-
sche Dolma, sondern die sterbende Schwester des letzten
Azteken-Kaisers Montezuma, Papan mit Namen, um-
schlungen hielt. Papan, nach Serrano ursprünglich eine
Hohepriesterin aus dem Norden (»Hyperboräa«), hatte
in Mexiko – der Legende nach – die Rückkehr der wei-
ßen Götter nach Amerika prophezeit. Dolma (Hündin)
strahlte in ihrer letzten Stunde die Energie dieser azte-
kischen Prinzessin aus, die einen rituellen Opfertod er-
leiden mußte.
Erneut konnte Serrano dank dieser Vision die Faszina-
tion erleben, die ihn bei der Umarmung sterbender Frau-
en zu durchfluten pflegte, auch wenn sich eine von ihnen
diesmal in einer Hündin inkarniert hatte. In NOS redet
ihn ein sterbender Hund (wahrscheinlich verbirgt sich da-

1110
hinter das Schicksal der Dolma) mit menschlicher Stim-
me wie eine tantrische Geliebte an : »Du brauchst mich
nicht außerhalb von dir. Ich werde innerhalb von dir heu-
len, wie mein Bruder der Wolf.« (* Serrano, 1984* 21)
Solche zentralen »hermetischen« Erlebnisse verbanden
den Chilenen natürlich mit dem Kundun und seiner tan-
trischen Weltanschauung aufs tiefste, und so ist es auch
nicht verwunderlich, daß Serrano den »esoterischen Hit-
lerismus« und das Schicksal Deutschlands direkt mit dem
Dalai Lama verknüpft : Sein »Geschick« – so der Autor
über den XIV Dalai Lama – »(ist) eng mit demjenigen
Hitlerdeutschlands verbunden … aufgrund noch nicht
entdeckter Verbindungen. Wenige Jahre nach Deutsch-
land fällt auch Tibet.« (* Serrano, 1987, 366)
Der Chilene hat von der SS-Vergangenheit Heinrich
Harrers, dem »besten Freund« und Lehrer des Kunduns,
noch nichts gewußt, da diese erst 1997 im Zusammen-
hang mit dem Film Sieben Jahre in Tibet bekannt wur-
de. Aber wir können sicher sein, daß diese Tatsache von
ihm als ein weiterer Beweis angeführt worden wäre, um
die okkulte Connection zwischen Shambhala und der SS,
zwischen dem Dalai Lama und Adolf Hitler zu begrün-
den, zumal der Chilene an vielen Stellen seiner Schriften
darauf hinweist, die SS habe »geheime Missionen« nach
Tibet gesandt, um dort nach Spuren der arischen Ras-
se zu suchen. Auch über die häufigen Begegnungen des
Kunduns mit dem ehemaligen Rassenspezialisten der SS,
Dr. Bruno Beger, war Serrano entweder nicht informiert,
oder er hielt sie geheim.
Serrano selber läßt sich als der »Führer« der National-

1111
sozialistischen Partei Chiles feiern. Seine Zeitrechnung
beginnt mit dem Geburtsjahr Adolf Hitlers 1889. Den
»esoterischen Hitlerismus« bezeichnet er als die »neue
Religion der jungen Helden und künftigen Krieger und
Priester, den wahrhaften Mythos des kommenden Jahr-
hunderts«. (* Cedade, 1986) 1989, zum 100. Geburtstag
Hitlers (für Serrano das Jahr 100), fand eine Gedenkfei-
er statt, wo der Chilene und Vertreter des »esoterischen
Hitlerismus« aus verschiedenen Ländern (Chile, Spani-
en, Italien, Deutschland) sprachen : »Auf dem Gipfel ei-
nes Berges des Anden-Gebirgszuges«, schreibt die chile-
nische Zeitung La Epoca, »welcher Santiago beherrscht,
und unter den Klängen des Walkürenmarschs aus Wag-
ners Ring der Nibelungen gedachten in der Abenddäm-
merung des gestrigen Tages etwa 100 chilenische An-
hänger sowie Ausländer Adolf Hitlers und versprachen,
daß im neuen hitlerischen Zeitalter der fortführende Tri-
umph seiner Ideen von Chile ausgehen werde … Hitler,
so meinte Serrano, werde von den Anden her (›Anden‹
bedeutet ›vollendeter, totaler Mensch‹) wieder auferste-
hen und er werde es tun wie der Caleuche (mystischer
Held Chiles, dessen Name bedeutet ›der Mensch, der zu-
rückkehrt‹), und das Zeitalter Hitlers einleiten.« (* Epoca,
21. Ap. 1989) Man sollte dieses Ereignis wegen der gerin-
gen Zahl der Teilnehmer nicht unterschätzen. Es hatte
fur Serrano eine rituell-symbolische Bedeutung, und in
der deutschen Naziszene wurde zum Beispiel ausführ-
lich darüber berichtet.
Wir glauben in diesem Kapitel nachgewiesen zu haben,
daß der Tantrismus und der Shambhala-Mythos die ok-

1112
kulten Grundlagen für eine faschistische und rassistische
Kriegerideologie gebildet haben und immer noch bilden.
Dennoch könnte man die ganze Angelegenheit »Serra-
no« als einen bedauerlichen Einzelfall und als die Ima-
ginationen eines »Spinners« abtun, ebenso wie man die
Kontakte des XIV Dalai Lama zu dem Chilenen als einen
bedauerlichen Zufall übersehen mag (obgleich es nach
dem tantrischen Weltbild keinen Zufall gibt). Das wäre
jedoch zumindest leichtfertig, da Serrano – wie schon
erwähnt – einen eminenten Einfluß in der internatio-
nalen Naziszene hat und da er aufgrund seiner sozialen
Stellung (als Diplomat und Botschafter bei der Unesco)
vielfach ernst genommen wurde und mit bedeutenden
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens weltweit zu-
sammenkam. Der Chilene ist in faschistischen Kreisen
weltweit ein »heißer Geheimtip«, und seine bizarren Vi-
sionen haben in der Tat eine faszinierende Anziehungs-
kraft auf viele junge Menschen. In allen südamerikani-
schen Ländern werden seine nazistischen Bücher offen
zum Verkauf angeboten. Der Cordon Dorado – Hitle-
rismo Esoterico ist ins Deutsche in einem gebundenen
Buch übersetzt (Das goldene Band – esoterischer Hitleris-
mus). Von den anderen Werken (über den Hitlerismus)
und einzelnen Propagandaaufsätzen kursieren hochbe-
gehrte deutsche Übersetzungskopien, die von Hand zu
Hand gereicht werden. Die tantrische Literatur des Au-
tors, die sich nicht namentlich auf Hitler bezieht, ist in
vielen Sprachen verbreitet.
Aber dürfen wir den tibetischen Tantrismus und
Shambhala-Mythos deswegen als faschistisch bezeich-

1113
nen, weil sich die okkulte Rechte seiner ausgiebig be-
dient und weil er die Ideologie Evolas und Serranos so
fundamental beeinflußt hat ? Das reicht sicher nicht hin,
doch wir glauben, nachgewiesen zu haben, daß das Ka-
lachakra-Tantra und die mit ihm verbundenen Visionen
auch unabhängig von solchen direkten Auswirkungen auf
die okkulte Rechte in sich selber faschistische Kernge-
danken aufweisen ! Im folgenden Kapitel werden wir ei-
nen weiteren Fall vorstellen, wo der tantrische Buddhis-
mus, der Shambhala-Mythos und der Dalai Lama bei ei-
ner modernen, äußerst radikalen und aggressiven Form
des Faschismus Pate gestanden haben. Ein Fall, der die
ganze Weltgemeinschaft erschütterte, wir meinen die Ge-
schichte des japanischen Doomsday Guru (»Weltunter-
gangsguru«) Shoko Asahara.

Ole Nydahl

Doch bevor wir zu diesem brisanten Thema überwech-


seln, noch einige Bemerkungen zu den Auftritten von
»Lama« Ole Nydahl, die mehr und mehr dabei sind, in
ein faschistisches Fahrwasser zu geraten. Nydahl, ein
blonder Däne, bekannt und bewundert nicht nur für
seine weltweite und unermüdliche Tätigkeit als Multi-
plikator des tibetischen Buddhismus im Westen, son-
dern auch für seine »unzähligen« Sexaffären, nennt sei-
ne »Weisheitsmädchen« in aller Öffentlichkeit »Daki-
nis«. Auf seine kommende Reinkarnation hin gefragt,
antwortete er : Nach seinem Tode »würde man den som-

1114
mersprossigen, wilden Jungen suchen, der den Frau-
en die Schürzen hochhebt, um zu sehen, was drunter
ist, und ihn als meine neue Wiedergeburt küren.« (* 06.
05. 998 – ‹pukk77@hot-mail.com›) Er soll vom verstor-
benen Karmapa legitimiert worden sein, als westlicher
Lama zu lehren und Initiationen durchzuführen. Der
höchste Kagyü-Meister habe in ihm die Emanation der
tantrischen Schutzgottheit Mahakala erkannt und ihn
dann zum »Dharma General« ernannt. Diesem militä-
rischen Titel und seinem zornigen Yiddam (Mahakala)
macht Nydahl in der letzten Zeit alle Ehre. Lautstark und
aggressiv tritt er auf Großveranstaltungen gegen den Is-
lam auf und beschwört die im Shambhala-Mythos pro-
phezeite Konfrontation zwischen den beiden Religionen
(Islam und Buddhismus).
Aber dieser Religionskonflikt macht solche Auftrit-
te noch nicht zu faschistischen. Erst in Zürich (Früh-
jahr 1998) zeigte Nydahl, daß es ihm im Kern um einen
»Krieg der Rassen« geht. Dort war zu hören : »Wir sind
die Rasse der blonden, blauäugigen, großgewachsenen
und zivilisierten Arier, die ursprünglich aus dem Ural,
der Ukraine und Sibirien stammen … Der Buddha war
auch weiß mit blauen Augen … Diese Ausländer aus den
warmen Regionen gefährden unsere Zivilisation … Alle
diese schwarzen Frauen sind immer schwanger. Denkt
nur an die Huti- und Tuti-Frauen, ich meine die Tuti
in Ruanda. Wie sie sich abschlachten lassen. Das ist ty-
pisch für diese Schwarzen und Braunen … Es ist nicht
normal, sich mit anderen Rassen zu vermischen … Tür-
ken sind keine Weißen … Wir müssen uns gegen diese

1115
Gefahr wehren und aufhören, nett zu sein.«104 (* 29. 04.
1998, ‹surfer@here.ch›)
Dürfen wir nun den Dalai Lama für solche Auftritte
verantwortlich machen ? Sicher nicht, wenn wir in ihm
nur den »einfachen Mönch« aus Dharamsala sehen. Au-
ßerdem hat sich Seine Heiligkeit von solchen »selbster-
nannten« Dharmalehrern aus dem Westen wie Nydahl
öfter distanziert. Was jedoch die Ideologie des Kalacha-
kra-Tantras und des Shambhala-Mythos betrifft, so lassen
sich die faschistischen Sprüche des Dänen durchaus (wie
wir im Fall Serrano gesehen haben) damit vereinbaren.
Die Attraktivität des tantrischen Buddhismus für rechte
Ideologien und Visionen ist eine historische Tatsache.

104 Die Reihenfolge der Sprüche wurde von uns zusammenge-


stellt.
13. DER WELTUNTERGANGSGURU SHOKO
ASAHARA UND DER XIV DALAI LAMA

Am 20. März 1995 fand in Tokyos U-Bahnen ein Gift-


gasanschlag statt, dem mehrere Tote und etwa 5500 Ver-
letzte zum Opfer fielen und der die Weltöffentlichkeit er-
schütterte. Der Sektenführer Shoko Asahara hatte hier-
zu den Befehl erteilt. Asahara wurde 1955 als Sohn einer
kinderreichen japanischen Familie geboren. Da er kaum
sehen konnte, mußte er eine Blindenschule besuchen.
Vergebens bemühte er sich nach dem Schulabschluß um
einen Studienplatz an der Tokyoer Universität. In den
folgenden Jahren beschäftigte er sich mit asiatischer Me-
dizin und fing an, verschiedene Yoga-Übungen zu prak-
tizieren. 1978 heiratete er. Aus dieser Ehe gingen sechs
Kinder hervor. Die erste spirituelle Gruppe, die er 1984
gründete, nannte sich AUM Shinsen-no-kai, das heißt
»AUM – Gruppe der Bergasketen«.

Die Beziehungen Shoko Asaharas


zum XIV Dalai Lama

Die »mystische« Geschichte der AUM-Sekte begann


1986 in Indien. Wochenlang war Shoko Asahara durch
die südlichen Hänge des Himalaya gewandert und hat-
te buddhistische Klöster besucht. Diese Reise sollte der
Endpunkt einer jahrelangen Pilgerfahrt durch die ver-

1117
Shoko Asahara mit dem XIV Dalai Lama

schiedensten esoterischen Landschaften sein : »Ich pro-


bierte alle religiösen Rituale aus, Taoismus, Yoga, Bud-
dhismus, und fügte deren Essenz in meine Übungen ein.
Mein Ziel war die höchste spirituelle Verwirklichung
und Erleuchtung. Ich setzte die strenge Praxis mit bud-

1118
dhistischen Texten als meinen einzigen Hilfsmitteln
fort. Schließlich gelangte ich an mein Ziel in der hei-
ligen Atmosphäre des Himalaya. Ich erreichte höchste
Verwirklichung und Erleuchtung.« (* Asahara, 1991, Bd.
2, 13) Nach Japan zurückgekehrt, änderte er den Namen
seiner Yogagruppe und nannte sie AUM Shinrikyo, was
soviel bedeutet wie »AUM – Lehre der absoluten Wahr-
heit«.
Asaharas Weltbild war von diesem Zeitpunkt an vom
mitfühlenden Ethos des Mahayana-Buddhismus ge-
prägt : »Ich konnte nicht die Tatsache ertragen, daß nur
ich glücklich war und die anderen Menschen noch in ei-
ner Welt des Leidens lebten. So dachte ich : Ich will die
anderen Menschen retten, indem ich mich selbst opfe-
re. Ich habe verstanden, daß das meine Mission war. Ich
muß denselben Pfad wie Buddha Shakyamuni gehen.«
(* Asahara, 1991, Bd. 2, 13)
Aber der Himalaya ließ ihn noch nicht los. Ein knap-
pes Jahr später, im Februar 1987, stand Shoko Asahara
vor dem XIV Dalai Lama. Er wurde von dem Höchsten
Kalachakra-Meister persönlich empfangen. Wahrschein-
lich ist er ihm zum ersten Mal schon im Jahre 1984 be-
gegnet, als Seine Heiligkeit in Tokyo auf Einladung der
Agon-shu-Sekte eine Zeremonie abhielt. Asahara war zu
diesem Zeitpunkt noch Mitglied dieser Glaubensgemein-
schaft.
Der Japaner wird später von seinem Treffen in Dha-
ramsala Folgendes berichten : Lächelnd habe ihn der Da-
lai Lama nach einem intensiven Gedankenaustausch mit
den Worten verabschiedet : »Lieber Freund, betrachte den

1119
Buddhismus im modernen Japan. Er ist zu einem bloßen
Zeremoniell verkommen, aus dem die essentielle Wahr-
heit seiner Lehre entwichen ist. Wenn dieser Zustand an-
hält, dann wird der Buddhismus aus Japan verschwin-
den. Es muß etwas geschehen.« (* Kaplan, 27) Daraufhin
habe ihn der Gottkönig mit einem spirituellen Auftrag
betraut : »Verbreite den wahren Buddhismus in Deiner
Heimat. Du bist für diese Aufgabe genau der Richtige,
denn Du hast die Gesinnung eines Buddha. Wenn Du
dies tust, werde ich sehr glücklich sein, denn Du wirst
damit meiner Mission helfen.« (* Kaplan, 28) Asahara war
in der Tat überglücklich. Anschließend segnete ihn Seine
Heiligkeit mit Wasser und trat mit ihm vor die Kamera.
Dieses Foto sollte 8 Jahre später durch alle Zeitungen der
Welt gehen. Der japanische Guru bezeichnete sich von
nun an als der Schüler des XIV Dalai Lama.
Anders die endgültige Version des Gottkönigs. Nie
habe er den Japaner mit irgend etwas beauftragt und
auch keine besondere Beziehung zu ihm aufgebaut, schon
gar nicht habe er ihn als Sadhaka angenommen. Für ihn
wäre Asahara nur einer von den vielen Hunderten von
Verehrern und Besuchern gewesen, denen er im Laufe ei-
nes Jahres begegne. Ex post ließ Seine Heiligkeit in Bezug
auf den japanischen Guru einen kritischen Satz verlaut-
baren, den er offensichtlich nur auf andere, nicht jedoch
auf sich selbst bezog : »Mir sind Wunder und übernatür-
liche Kräfte verdächtig. Anhänger des Buddhismus soll-
ten sich nicht zu sehr an einen spezifischen Führer bin-
den. Das ist ungesund.« (* Tibetan Review, Mai, 1995, 9)
– Worte, die aus dem Munde eines »Gottkönigs« und ei-

1120
nes Staatsoberhauptes kommen, die ihre politischen Ent-
scheidungen nach einem Orakel richten.
Aber ein völliger Nobody war der Asahara für den Gott-
könig nicht. Nach der deutschen Illustrierten Stern hat
man sich seit 1987 fünfmal getroffen. (* Stern 36/95, 126)
Erstaunlicherweise nannte Seine Heiligkeit noch Wo-
chen nach dem ersten Giftgasangriff den Guru einen
»Freund, wenn auch nicht unbedingt einen vollkomme-
nen«. (* Stern 36/95, 126) Dann kam ein Dokument aus
dem Jahre 1989 zum Vorschein, in dem sich der Kundun
bei der AUM-Sekte für Spenden bedankt und bestätigt,
daß sie »das öffentliche Bewußtsein durch religiöse und
soziale Aktivitäten fördert«. (* Focus 38/95, 114) Am 21.
Januar 1989 hatte Asahara einen Betrag von $ 100 000
für die tibetische Flüchtlingshilfe nach Dharamsala ge-
schickt. Als eine Art Gegenleistung erhielt er ein offizi-
elles Schriftstück vom Rat für religiöse und kulturelle An-
gelegenheiten Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, worin zu
lesen ist : »AUM strebt nach unserem besten Wissen an,
das öffentliche Wohl durch verschiedene religiöse und
soziale Aktivitäten zu fördern, zum Beispiel durch Un-
terricht in buddhistischen Lehren und Yoga.« (* Focus
38/95, 116/116)
Am 8. Februar schrieb Asahara zurück : »Es ist mein
tiefster Wunsch, daß in allernächster Zukunft Tibet in
die Hände der Tibeter zurückkehren wird. Ich bin wil-
lens alles zu tun, was von Hilfe sein kann.« (* Shimatsu
– ‹pelago.com/oioi/storyi.html›) Diese Dankbarkeit des
japanischen Gurus ist nur allzu verständlich, denn mit
dem erwähnten Schreiben in der Hand gelang es ihm, bei

1121
den japanischen Behörden als Religionsgemeinschaft an-
erkannt und dadurch von Steuern befreit zu werden.
Es gab zwar schon vor dem Giftanschlag eine gewis-
se Abkühlung im Verhältnis zwischen den beiden Reli-
gionsführern, da Exiltibeter aus Japan die öffentlichen
Auftritte Asaharas scharf kritisiert hatten. Doch solche
Kritiken wurden von diesem einfach übersehen. Das zeigt
sein spektakulärer Brief an den Kundun vom 24. Febru-
ar 1995, der etwa einen Monat vor den Tokyoer Ereignis-
sen abgeschickt wurde. Das Schreiben läßt keinen Zwei-
fel darüber, wie tief sich der japanische Sektenführer mit
dem tibetischen Religionsraum verbunden sah. Asaha-
ra verkündete dort nicht ohne Stolz, sein Sohn Gyok-
ko sei die Wiedergeburt des 1989 verstorbenen Panchen
Lama : »Darf ich Seiner Heiligkeit in aller Bescheiden-
heit mitteilen«, schreibt er an den Dalai Lama, »daß ich
davon überzeugt bin, daß Gyokko eine Reinkarnation
des Panchen Rinpoche ist.« (* Shimatsu – ‹pelago.com/
oioi/storyi.html›)
Als Beweis für diese Vermutung berief sich Asahara
auf Synchronizitäten und Wunderzeichen. Wie der Pan-
chen Lama, sei auch sein Sohn auf einem Ohr taub. Noch
eindeutiger wäre jedoch die Vision, von der die Mutter
des Kindes während ihrer Schwangerschaft heimgesucht
wurde : »Ein Junge im Lotossitz flog ruckartig über eine
Kette aus Schneebergen. Eine tiefe männliche Stimme
sagte : ›Panchen Lama‹. Dann fuhr die Stimme fort : ›Der
tibetische Buddhismus ist zu Ende. Ich bin gekommen,
um ihn wiederaufzubauen‹.« (* Shimatsu – ›pelago.com/
oioi/storyi.html‹)

1122
Auch andere hohe tibetische Tantra-Meister traf Asa-
hara, zum Beispiel Khamtrul Rinpoche, einen bedeu-
tenden Nyingmapa-Lehrer, und Kalu Rinpoche, den
Kalachakra-Spezialisten der Kagyüpas, dessen vielseiti-
ge Aktivitäten uns schon beschäftigt haben. Zwischen
dem tibetischen Gelehrten Khamtrul (der den Kundun
als den zukünftigen Rudra Chakrin prophezeit hat), dem
Dalai Lama und einem Mitglied der AUM-Sekte (Hisako
Ishii) soll es zu einem Treffen gekommen sein, auf dem
darüber gesprochen wurde, esoterische Lehren Padma-
sambhavas in japanischer Sprache zu publizieren.
Angesichts solcher, nachträglich höchst peinlicher Be-
gegnungen zwischen dem Kundun und hohen lamaisti-
schen Würdenträgern mit Shoko Asahara gab der Reprä-
sentant Seiner Heiligkeit in Japan (Karma Gelek Yuthok)
einige Wochen nach dem Anschlag ein interessantes
Communiqué heraus. Karma Gelek Yuthok erklärte vor
der Weltpressse : »Welche flüchtige Beziehung Asahara
auch mit Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama und ande-
ren tibetischen Lamas hatte, diese gehörte ausschließ-
lich zum religiösen Bereich, im Denken wie im Handeln.
Sie hatte nichts mit dem die ganze Welt schockierenden
Verbrechen zu tun, für die der AUM-Kult verantwort-
lich gemacht wird. Es ist undenkbar, daß Seine Heilig-
keit der Dalai Lama mit den kriminellen Handlungen
der AUM-Sekte nur wegen einer gelegentlichen spiritu-
ellen Beziehung zu Asahara in Zusammenhang gebracht
wird.« (* Samdup – ‹tibetlondon@gn.apc.org›)
Das sehen wir jedoch völlig anders : Gerade aufgrund
dieser spirituellen Begegnungen mit dem Gottkönig und

1123
seinen »Vizekönigen« und gerade aufgrund seines inten-
siven Studiums der tibetisch-tantrischen Esoterik und
Apokalyptik entwickelte sich im Bewußtsein Asaharas
der unaufhaltsame Wahnsinn, der ihn dann in der west-
lichen Presse zum Doomsday Guru (Weltuntergangsgu-
ru) werden ließ.

Der inszenierte Shambhala-Krieg

Beginnen wir also damit, das »spirituelle« Beweis- und


Belastungsmaterial Akte um Akte vorzulegen : Es gibt
keinen Zweifel daran, daß sich Asahara als die Inkarna-
tion eines Shambhala-Kriegers sah und felsenfest davon
überzeugt war, im höheren Auftrag des mythischen Kö-
nigreiches zu handeln. »Es wird eine letzte Schlacht zwi-
schen Rudra Chakrin, dem König von Shambhala, und
einem Narren namens Vemacitta geben. Der Krieg am
Ende dieses Jahrhunderts ist das letzte Ereignis, das von
vielen Propheten aus den vergangenen Jahrtausenden
vorausgesehen wurde. Wenn es passiert, dann möchte
ich mutig mitkämpfen«, ließ der Guru vier ( !) Monate
vor den Tokyoer Attentaten (4. Dez. 1994) über seinen
Rundfunksender verlautbaren. (* Archipelago – ‹pela-
go.com/0201/story4.html›) Aber er wollte mehr als nur
»mitkämpfen«, er wollte selbst der Initiator der buddhi-
stischen Apokalypse sein.
Asahara entwarf nach eigenen Worten einen »Shamb-
halisierungsplan für Japan«. Dieser sei »der erste Schritt
zur Shambhalisierung der Welt. Wenn Sie daran teilneh-

1124
men«, klärt er seine Leser auf, »werden Sie große Tugend
erreichen und in eine höhere Welt aufsteigen«. (* Kaplan,
34) Etwas phantasielos und allzu begrenzt sehen die bei-
den Journalisten David E. Kaplan und Andrew Marshall
dieses »Shambhala-Projekt« als die geplante »Eröffnung
von AUM-Büros und Ausbildungszentren in jeder großen
japanischen Stadt sowie die Errichtung des ›Lotus-Dor-
fes‹, einer utopischen Gemeinschaft, in der AUM-Mit-
glieder das Armageddon überleben sollten.« (* Kaplan,
34) Aber was immer sich Asahara darunter vorgestellt
haben mag, Shambhala war für ihn der Leitstern, der
ihn in den Abgrund führte und dem er bewußt gefolgt
ist. Einer der Songs, die sich die Sektenmitglieder täg-
lich über Kopfhörer anhören mußten, lautete »Shamb-
hala, Shambhala !«

Das Ritualwesen der Sekte ist tantrisch-buddhistisch

Im Frühjahr 1990 führte Asahara das von ihm so be-


nannte Tantra-Vajrayana-System der Praxis als Dis-
ziplin von AUM Shinrikyo ein. Etwas später erschien
eine Zeitschrift mit dem Titel Vajrayana Sacca. Von
diesem Zeitpunkt an war das Tor für die Legitimati-
on jeglichen Verbrechens geöffnet. Gemäß dem tantri-
schen »Umkehrungsgesetz« verkehrte sich von nun an
das Unten in das Oben. »Schlechte Taten«, schrieb der
junge Tantra-Meister, »verwandeln sich ständig in gute
Taten. Das ist die tantrische Art zu denken.« (* Asahara,
1991, Bd. 1, 65/ 46)

1125
Über den Kundalini-Yoga hielt Asahara ständig öffent-
liche Vorträge, selbst im Moskauer Sport-Stadion sprach
er über die »Feuerschlange«, natürlich ohne auf die se-
xualmagischen Praktiken seines Tantra-Vajrayana-Sy-
stems einzugehen. Als oberstem Guru standen ihm auf-
grund göttlichen Wohlwollens und de facto alle Frauen
der Organisation zur Verfügung, und er machte von die-
sem Recht häufig Gebrauch. Ebenso wie in Tibets Klö-
stern war für ihn die tantrische Vereinigung mit einer
Karma Mudra ausschließlich das Privileg der höchsten
Eingeweihten. Die Masse der AUM-Mitglieder mußte sich
dagegen einem strikten Gebot sexueller Enthaltsamkeit
beugen. Wer beim Masturbieren erwischt wurde, der hat-
te einige Tage Einzelhaft zu verbüßen.
Das galt jedoch nur – und auch hier sehen wir, wie
strikt sich Asahara an die Vajrarayana-Gesetze hielt –,
wenn es zum Samenerguß kam, ansonsten empfahl er
seinen männlichen Schülern das genaue Gegenteil : »Be-
friedige dich täglich, aber ejakuliere nicht ! Mache das
10 Tage lang, dann masturbiere zweimal am Tag … Be-
schaffe dir ein Foto deines Lieblingsstars, am besten ein
Nacktfoto. Rege damit deine Phantasie an und mastur-
biere jetzt viermal am Tag.« (* Kaplan, 220) Diese Anzahl
der täglichen Selbstbefriedigungen wurde im Laufe des
Initiationsweges noch gesteigert.
In der sechsten Woche war es dann soweit. Man be-
sorgte sich eine Partnerin und gab ihr ein wenig Alko-
hol zu trinken. Dann zog sich das Paar zurück und be-
gann zuerst mit »etwas Petting«, wobei der Adept die
Brustwarzen seiner Mudra streichelte und ihre Klitoris

1126
stimulierte. Anschließend kopulierte er mit dem Mäd-
chen nach einem festgesetzten Rhythmus, der sich im-
mer aus einer Multiplikation der Zahl neun ergab : 81
Atemzüge stillhalten, 9 mal den Phallus hinein- und hin-
ausbewegen ; wieder 81 Atemeinheiten stillhalten, 27 mal
hinein und hinaus und so weiter. Aus der Übersetzung
von Kaplan und Marshall geht nicht hervor, ob auch
hierbei der Samen zurückgehalten wird. Auf jeden Fall
muß »die Frau zuerst zum Orgasmus kommen«. (* Ka-
plan, 220)
Ebenso wurde die in den Hohen Tantras erforderliche
Darbringung seiner „Weisheitsgefährtin an den Guru in
der AUM-Sekte praktiziert. Ein Schüler, der seine Freun-
din zur Verfügung stellte, begründete diesen Schen-
kungsakt so : »Wenn sie sich dem ehrwürdigen Meister
opfert, strömt seine Energie in sie ein. Das ist besser für
sie, als mit mir zu verkehren.« (* Kaplan, 222) Auch Asa-
hara bediente sich dieser Begründung : »Das ist eine tan-
trische Initiation. Deine Energie wird schneller strömen,
und du wirst rascher erleuchtet werden«, soll er zu einer
sich weigernden Schülerin gesagt haben, während er ihr
dabei die Kleider vom Leibe riß. (* Kaplan, 218)
Asahara hat ebenfalls mit den tantrischen Fluiden Blut
und Sperma gearbeitet. Er selbst ließ sich Blut abzapfen
und bot es, oft gegen hohe Bezahlung, als Allheilmittel
den Sektenmitgliedern an. Haare von ihm wurden zu
einer Art Tee verkocht und getrunken. Selbst sein Ba-
dewasser soll als eine Heilige Substanz verkauft worden
sein. Solche Praktiken waren auch in Tibets Klöstern
weit verbreitet, zum Beispiel galt der Kot der Großlamas

1127
Asahara – hinter ihm eine tantrisch-tibetische Gottheit
als Medizin und fand, mit anderen Substanzen zu Pillen
verarbeitet, laufenden Absatz.
Die Wissenschaftsabteilung von AUM, so hieß es ei-
nes Tages, habe herausgefunden, daß das »DNA des Mei-
sters« magische Eigenschaften aufweise und jedem, der es
trinke, übernatürliche Kräfte (Siddhis) verleihe. Es han-
delte sich dabei um Asaharas Sperma, von dem ein klei-
nes Fläschchen nach Kaplan und Marshall den Preis von
7000 Dollar einbrachte. Auch hier besteht ein Bezug zur
Spermagnosis des Kalachakra-Tantras, wo der Meister
während der »geheimen Einweihung« dem Schüler sei-
nen Samen zu kosten gibt.
Tantrisch sind ebenfalls die Schreckensszenarien, wel-
che die Mitglieder der Sekte durchlaufen mußten, um
Furchtlosigkeit zu üben. »Delinquenten«, die die Ordens-
regeln übertreten hatten, wurden tagelang in kleine Kam-
mern eingesperrt und hatten sich über Video einen Hor-
rorfilm nach dem anderen anzusehen. Über einen Laut-
sprecher prasselten ständig Todesdrohungen auf sie ein.
Schon nach seiner ersten Indienreise glaubte sich Asa-
hara im Besitz »übernatürlicher Kräfte« (Siddhti). Er be-
hauptete, mit Verstorbenen Kontakt aufnehmen zu kön-
nen und die Gedanken anderer Menschen zu lesen. Wie
die »Maha Siddhas« sei er befähigt, durch Mauern zu
schreiten. »Künftig werde ich frei durch die Lüfte fliegen
können« (* Kaplan, 20) – prophezeite er. Später entwic-
kelte er das »göttliche Ohr« und war nach eigener Aus-
sage in der Lage, »die Stimmen der Götter und der Men-
schen zu hören«. (* Kaplan, 269)

1129
Die Götter

Die Metaphysik und die spirituellen Praktiken der Sekte


wurden vor allem durch tibetisch-buddhistische Bilder
und Übungen beherrscht. »Im Grunde war AUM Höch-
ste Wahrheit«, so erfahren wir von Kaplan und Marshall,
»eine populäre New-Age-Mischung aus östlicher Religi-
on und Mystik. Ihre Rituale und Anschauungen ent-
sprachen stark dem tibetischen Buddhismus, ihr phy-
sischer Rigorismus dem Yoga«. (* Kaplan, 30) Er selbst
bezeichnete seine Rituale als »tibetischen Buddhismus«.
(* Tibetan Review, Mai, 1995, 9)
Das wird selbstverständlich von Dharamsala mit Pro-
test zurückgewiesen, indem man die Praktiken des Ja-
paners der hinduistischen Konkurrenz (wie das oft ge-
schieht) in die Schuhe schiebt : »Die Rituale, die er sei-
ne Schüler lehrte, schlossen Yoga-Übungen und andere
Akte ein, die weder tibetisch noch buddhistisch waren,
und mehr den Ritualen Indischer Sadhus (Hindu-Aske-
ten) entsprachen. Der Lehrer trug ebenso wie seine Schü-
ler weiße Gewänder, was ein Praktikant des Buddhismus
nicht tut.« (* Tibetan Review, Mai, 1995, 9) Auch das ist
nicht ganz richtig – bei bestimmten Szenen des Kalacha-
kra-Rituals werden weiße Roben angelegt, und alle Prie-
ster von Shambhala sind weiß gekleidet.
Asahara selbst sah sich als Inkarnation des Buddha
Shakyamuni. Öffentlich erklärte er, daß er »mit Buddha
auf der gleichen Stufe« stehe. (* Kaplan, 41) In Bihar (In-
dien) setzte er sich auf einen Heiligen Stuhl und gab den
Anwesenden bekannt : »Ich bin der Buddha !« (* Kaplan,

1130
93) – »Meister Shoko Asahara ist der Buddha unserer
Zeit !« – so priesen ihn seine Schüler. (* Kaplan, 92) Vie-
le der Sektenmitglieder erhielten buddhistische Namen.
Sein engster Mitarbeiter, die graue Eminenz der Sekte,
Kiyohide Hayakawa, wurde nach dem großen Kalacha-
kra-Meister »Tilopa« benannt. Der Guru erkannte ihn
als »einen Bodhisattva in seinem früheren Leben« und
erklärte : »Ohne Meister Tilopas Anstrengungen gäbe es
AUM – Höchste Wahrheit nicht.« (* Kaplan, 103) Es war
die erklärte Absicht Asaharas, unseren Planeten zu bud-
dhisieren. »Verbreitet die Lehren von AUM in der gan-
zen Welt«, predigte der Guru, »und entsendet Buddhas
in alle Teile der Erde.« (* Kaplan, 31)
Auf die Beschreibung des tantrischen Buddhismus als
Solarkult sind wir ausführlich eingegangen. Auch Asa-
hara trat wie ein Sonnenpriester und wie der Prophet ei-
nes kommenden Lichtreiches auf : »Nach den substanz-
losen Religionen mit einem Pseudolicht«, verkündete er,
»wird  eine Religion erscheinen, die das gleiche Licht wie
die Sonne hervorbringt, und das wird die Zukunft verän-
dern.« (* Archipelago – ‹pelago.com/0201/story4.html›)
Obgleich sein Ritualwesen bestimmend von der tibeti-
schen Mystik beeinflußt war, galt das nicht ausschließlich
für die Götter. Hier wurden entsprechend dem Weltkon-
zept des Gurus auch die Gottheiten anderer Religionen
beschworen. Da diese nach den Gesetzen des Tantris-
mus nichts als Projektionen des Yogis waren, konnte sich
die Lehre leicht über die kulturellen Schranken hinweg-
setzen.
Hinter Asaharas Entschluß zu seinen Vernichtungs-

1131
aktionen stand der indische Gott Shiva, der Herr der
Zerstörung. Dieser sei ihm – so der Guru – mehrmals
erschienen und habe ihm mit eigenen Worten seine Er-
leuchtung bestätigt. Die Mitglieder der Sekte wurden von
nun an ausdrücklich dazu aufgefordert, ihren eigenen
Willen durch denjenigen Shivas zu ersetzen. Ein Beiname
dieses Gottes, der die Welt in Schutt und Asche legt, um
sie anschließend in dem gewaltsamen Kreislauf von Tod
und Wiedergeburt neu hervorzubringen, ist Rudra. Aus
dem Sanskrit übersetzt bedeutet das der »Schreckliche«,
der »Wilde«, der »Gewaltsame«. Als Rudra des Endzeit-
feuers (Kalagni Rudra) zerstört er das Universum und
die Zeit. (* White, 232) »Wenn er die Wasser des Oze-
ans vernichtet hat,« – heißt es in einem tantrischen Text,
»wird er zu Kalagni Rudra, das Feuer, welches die Zeit
konsumiert.« (* White, 232) Es gibt keinen Zweifel daran,
daß Asahara den Vernichtungswillen Rudras vom tan-
trischen Buddhismus übernommen hat. Das gilt wahr-
scheinlich auch für den Namen : Rudra Chakrin, der 24.
Shambhala-König, der die Letzte Schlacht schlägt, kom-
biniert zweifelsohne in seiner Person die Eigenschaften
Buddhas und die des zornvollen Shiva. Genau das streb-
te Asahara an. (* Repp, 48) Übrigens ist die Region um
Dharamsala, den Sitz des Dalai Lamas und der exiltibe-
tischen Regierung, nach hinduistischer Vorstellung dem
Gott Shiva geweiht.
Auch vor Anleihen beim Christentum machte der ja-
panische Guru nicht halt. Schon nach seiner ersten Bi-
bellektüre gab er bekannt : »Hiermit erkläre ich mich zu
Christus !« (* Kaplan, 92) Anschließend verfaßte er eine

1132
Schrift zu diesem Thema und verwies dort auf seine Ähn-
lichkeiten mit Jesus von Nazareth : »Jesus machte Wasser
zu Wein, ich habe gewöhnliches Wasser in leuchtendes
Wasser verwandelt.« (* Kaplan, 33) Asahara spielte da-
mit auf ein Wandlungswunder an, das er im Beisein sei-
ner Schüler bewirkte. »Ich bin der letzte Messias dieses
Jahrhunderts«, erfahren wir aus seinem Munde. (* Ka-
plan, 92)
Einfluß auf ihn gewann auch die phantastische Welt
bestimmter Comics. Es ist eine Tatsache, daß Asahara
und Mitglieder der Sekte die virtuelle Realität der Zei-
chenhefte für bare Münze nahmen. Das gleiche galt für
Novellen der Science Fiction-Literatur. Isaak Asimovs
berühmtes Epos Foundation erklärte man zu einer Art
Heiliger Schrift. Dort lesen wir den Satz : »Das Imperi-
um wird vergehen und mit ihm alles, was gut ist. Alles
Wissen wird verloren gehen und mit ihm die alte Ord-
nung.« (* Kaplan, 46)
Asahara war außerdem davon überzeugt, daß Außer-
irdische ständig unseren Planeten besuchen. Er stand
ihnen jedoch nicht freundlich gegenüber, weil er unter
anderem glaubte, sie würden sich von Menschenfleisch
ernähren. Aus der Welt des »esoterischen Faschismus«
stammt auch seine Verehrung für Adolf Hitler, der noch
am Leben sei und in nächster Zeit mit einer UFO-Staf-
fel landen werde.

1133
Der japanische Chakravartin

Innerhalb seiner Gruppe übte der japanische »Buddha


unserer Zeit« das absolute Gewaltmonopol aus. Er war
Herr über Leben und Tod im wahrsten Sinne des Wortes,
denn es gab Fälle, wo Mitglieder, die sich seinem Willen
widersetzten, zu Tode gequält wurden. Gemäß der aus
den Tantras stammenden Verabsolutierung des Lehrers
forderte er von seinen Schülern, ihren eigenen Willen
durch den seinen zu ersetzen.
Aber Macht war für Asahara nicht nur spiritueller Na-
tur. Schon sehr früh verband er damit realpolitische Vor-
stellungen. Als er sich als junger Mann, wenn auch ver-
geblich, bei der Tokyoer Universität bewarb, wollte er Pre-
mierminister von Japan werden. Später sah er sich an der
Spitze einer japanischen Buddhokratie. Er prophezeite,
er werde bald den Kaiserthron besteigen, und setzte ein
Schattenkabinett aus seinen Leuten ein.
Doch nicht einmal mit dieser Rolle eines Tennos woll-
te sich der Guru zufrieden geben. Asahara beabsichtig-
te, ein »Tausendjähriges Reich« ( !) zu errichten, welches
sich über unseren gesamten Planeten erstrecken sollte.
Er nannte sein politisches Modell den »Höchsten Staat«.
Kaplan und Marschall kommentieren die Metapher mit
folgenden Worten : »… diese Bezeichnung erlaubt kei-
nerlei Zweifel, wer die Welt erben soll.
Über dem Imperium, den ganzen Kosmos regierend,
thront Shoko Asahara, der per Gesetz zum ›Kaiser der
Heiligen Mönche‹ ernannt wurde.« (* Kaplan, 217) Der
Anspruch auf den Weltenthron des Chakravartin war also

1134
ein politisches Programm : »Ich beabsichtige, ein spiritu-
eller Diktator zu werden, ein Weltbeherrscher !« rief der
Doomsday-Guru offen aus. (* Kaplan, 41)
Die ihm von Kaplan und Marshall unterstellten Geldin-
teressen standen deswegen nicht an erster Stelle. Sie gal-
ten ihm nur als Mittel zum Zweck. Eine japanische Ken-
nerin der Sekte hat das klar zum Ausdruck gebracht :
»Asahara unterschied sich von den anderen Kultführern
dadurch, daß er keine große Menge Geld für sich selber
ausgab … Sein primäres Ziel war, Macht zu erlangen.«
(* Repp, 1996, Bd. II, 195)

Mord, Gewalt und Religion

Zuerst versuchte der Guru auf legale Weise an die Macht


zu kommen, gründete eine Partei und stellte sich zur
Wahl. Die Niederlage war verheerend, nicht einmal alle
Sektenmitglieder sollen ihn gewählt haben. Bald darauf
griff er zur Gewalt.
Die Aggressivität Asaharas entstand aus ihrem Gegen-
teil. Alles begann mit seiner proklamierten Selbstaufop-
ferung im Sinne des Mahayana-Buddhismus. Eines der
Mantren, welche die Mitglieder der Sekte ständig wie-
derholen mußten, lautete : »Ich mache aus meinem Leid
eine Freude ; ich mache das Leiden anderer zu meinem
eigenen Leiden.« (* Repp, 1996, Bd. 1, 45) Der Guru woll-
te, ganz in der buddhistischen Tradition, »die Menschen
von ihrem Leiden befreien und die Welt zur Erleuchtung
führen«. (* Kaplan, 29) In dieser frühen Phase zählte des-

1135
wegen der Verzicht auf Gewalt zu seinen höchsten ethi-
schen Grundsätzen : »Gewaltlosigkeit«, so Asahara, »be-
deutet, jedes Lebewesen zu lieben.« Und an anderer Stel-
le deklamierte er : »Das Töten von Insekten verstärkt das
schlechte Karma !« (* Kaplan, 71)
Aber entsprechend dem tantrischen »Gesetz der Um-
kehrung«, dank der Tatsache, daß der Buddha auch in
seiner Schreckensgestalt als Heruka erscheinen kann, ver-
wandelte sich alsbald die Gewaltlosigkeit in ihr krasses
Gegenteil – den kalten Terror. Wir ersparen es uns, de-
tailliert auf die zahlreichen Verbrechen der Sekte einzuge-
hen. Dazu rechnen Fälle von Freiheitsentzug, Erpressung,
Körperverletzung, Kindesmißhandlung, Folterungen und
alle Varianten von Mord. Insgesamt legt die Polizei Asa-
haras Anhängern 27 Morddelikte zur Last.
Die Tötung bestimmter Personen wurde durch ein Ri-
tual legitimiert, das der Guru Poa nannte und das er
ebenfalls aus dem tibetischen Kulturkreis importiert hat-
te. Darunter versteht man das bewußte Hinführen einer
Seele auf eine höhere spirituelle Ebene (im Klartext : die
Ermordung eines Menschen), damit er von dem an ihm
haftenden schädlichen Karma in seinem jetzigen Leben
befreit werde. Mit dieser »guten« Tat rechtfertigte der
Guru jeden seiner Mordbefehle, selbst als diese an dem
einjährigen Sohn des Rechtsanwaltes Sakomoto, der die
Sekte juristisch verfolgte, vollstreckt wurden : »So wird
das Kind wenigstens von Sakomoto nicht erzogen, der
schlechte Taten aus seinem früheren Leben wiederholt.«
Es werde »in einer höheren Welt wiedergeboren.« (* Ka-
plan, 62) Nach Kaplan und Marshall soll der Guru wei-

1136
terhin gesagt haben : »Es ist gut, Menschen zu eliminie-
ren, die dauernd Böses tun und dazu verdammt sind, zur
Hölle zu fahren.« (* Kaplan, 71) In erster Linie waren da-
mit unmittelbare Gegner der Sekte gemeint, wie Eltern
von Mitgliedern, Anwälte und Publizisten.

Das japanische Armageddon

Schon früh machte sich Asahara mit »Theologien der


Zerstörung« vertraut. Ein Jahr nach seinem Besuch beim
Dalai Lama (1988) begann er mit dem Studium der Jo-
hannesapokalypse. Bald folgten die Prophezeiungen des
Nostradamus. Der französische Prophet wurde zu einer
Leitfigur der Sekte. Aufgrund von Eingebungen, welche
ihm die Schreckensgötter zuflüsterten, entwickelte der
Guru nun seine eigenen Untergangsprognosen.
Zuerst ging es um Rettungspläne. Unser Planet sei in
Gefahr und AUM dazu auserwählt, den Weltfrieden zu
sichern. Aber dann wurden die Prognosen immer düste-
rer. Der planetare Countdown sollte kurz bevorstehen :
»Nach meiner Meinung«, so Asahara, »wird das Reich der
Begierde durch das Gesetz dieses Universums in seine ur-
sprüngliche Form, von wo aus es begann, zurückkehren.
Kurz, wir gehen dem Armageddon entgegen.« (* Asaha-
ra, 1996, Bd. 2, 103) Er gebrauchte tatsächlich das hebrä-
ische Wort »Armageddon«. Aber auch jetzt war immer
noch von Mitgefühl und Hilfeleistungen die Rede, und
Asahara glaubte, »daß AUM die Zahl der Opfer von Ar-
mageddon auf ein Viertel der Weltbevölkerung reduzie-

1137
ren kann, wenn wir uns anstrengen. Mit meinem Plan
zur Rettung der Menschheit bin ich jedoch momentan
völlig im Rückstand. Die Quote der Überlebenden wird
immer geringer.« (* Kaplan, 48) »Und was wird nach Ar-
mageddon geschehen ?« fragt er in einer seiner Predig-
ten. »Nach Armageddon werden die Menschen in zwei
extreme Gruppen gespalten : in jene, die in den Himmel
des Lichts und des Klanges auffahren, und jene, die in
die Hölle stürzen.«(* Kaplan, 69)
Seine Untergangsvisionen sind präzise zeitlich termi-
niert : »Im Jahre 1992«, heißt es in einer Prophezeiung
aus dem Erleuchtungsjahr 1987, »wird sich Japan wie-
derbewaffnen. Zwischen 1999 und 2003 wird ein Atom-
krieg ausbrechen. Ich, Asahara, habe den Ausbruch ei-
nes Atomkrieges als erster erwähnt. Es bleiben nur noch
15 Jahre Zeit.« (* Kaplan, 31)
Etwas später, in seinem Buch Der Tag der Vernichtung,
bleibt nicht mehr so viel Zeit. Nach diesem Text wird Ja-
pan schon im Jahre 1996 im Meer versinken. 1998/99 be-
ginne das Weltenende. Ein Schüler sieht in einer Vision,
wie eine AUM-Abteilung 1998 nach Jerusalem zieht, wo
Mitglieder der Sekte in Gefangenschaft geraten sind und
dann gefoltert werden. In einem triumphalen Feldzug be-
freit man die Glaubensgenossen. Asahara – so diese Pro-
phezeiung – stirbt während der Befreiungsaktion den Tod
eines Märtyrers und löst einen finalen Weltkrieg aus.
Um seine »Shambhalisierung der Welt« einzuleiten,
war es nur natürlich, daß Asahara ein großes Endzeit-
heer anführen wollte, denn das steht im Skript des tan-
trischen Mythos. So sprach, als er eines Tages an der ja-

1138
panischen Pazifikküste meditierte, eine gewaltige Stim-
me zu ihm : »Du bist auserwählt, die Armee Gottes zu
führen.« (* Kaplan, 25) Von diesem Zeitpunkt an änder-
te sich die Musik der Sekte ; anstelle der alten harmoni-
schen New-Age-Sphärenklänge erschollen jetzt Militär-
märsche über die Lautsprecher. »Die Zeit ist reif. Wir
müssen kämpfen … Eine Niederlage bedeutet für den
Guru den Tod«, schrieb der engste Vertraute Asaharas
in sein Notizbuch. (* Kaplan, 213)

Religion und chemische Labors

Ohne effektive Waffen konnte der Endkrieg nicht ge-


führt werden. Asahara rekrutierte eine kleine Gruppe aus
hochqualifizierten Wissenschaftlern, alles Absolventen
naturwissenschaftlicher Fächer an der Universität : Che-
miker, Biochemiker, Elektroingenieure. Diese wurden da-
mit beauftragt, Großlaboratorien zur Herstellung chemi-
scher und biologischer Waffen aufzubauen. Nach Kaplan
und Marshall züchtete man dort alle möglichen Koloni-
en von tödlichen Bakterien, Milzbranderregern, Mikro-
ben der Balkangrippe und sogar den berüchtigten Ebo-
la-Virus. Die jungen Leute träumten von gigantischen
Laserkanonen. »Wenn der Energiestrom des Lasers ver-
stärkt wird«, so Asahara, »wird ein vollkommen weißer
Streifen – oder ein Schwert – sichtbar werden. Dies ist das
Schwert aus der Offenbarung. Dieses Schwert wird alles
Leben zerstören.« (* Kaplan, 279) Besonders war er von ei-
ner »Mikroplasma«-Waffe fasziniert, mit der alles Leben

1139
in Sekunden verdampft werden kann. »Die Waffen des
dritten Weltkrieges«, schrieb er 1993, »werden die Atom-
und Wasserstoffbombe als Spielzeug erscheinen lassen.
Zur Zeit wird als das Hauptstück in den russischen Arse-
nalen die ›Sternen-Reflektor-Kanone‹ genannt. Die USA
haben die Strategie Defense Initiative (SDI), und die Er-
weiterung davon ist das ›Mikroplasma‹.« (* Archipelago
– ‹pelago.com/0201/story4.html›)
Insbesondere Asaharas genialer Wissenschaftler Hi-
deo Murai schwelgte bei der Vorstellung aller Arten von
apokalyptischen Vernichtungsmaschinen. Er war Spe-
zialist für elektromagnetische Phänomene (EM). Auch
für ihn und seine Arbeit wurde eines Tages das tantri-
sche Umkehrgesetz wirksam. Zuerst begann Murai damit,
Schutzwaffen gegen den Militärapparat der Supermäch-
te zu bauen. Paranoisch sah sich sein Guru jahrelang als
das Ziel elektromagnetischer und chemischer Attacken
von Seiten der verschiedensten weltlichen und religiösen
Geheimdienste. Nur seiner hohen Spiritualität sei es zu
verdanken, daß er überhaupt noch lebe. Als Weltenhei-
ler wollte er die Menschheit vor einem unmittelbar be-
vorstehenden Zerstörungskrieg retten, und so machte
er sich Gedanken darüber, welche Gegentechniken ent-
wickelt werden könnten. Dann aber kam der Zeitpunkt,
wo die Abwehr in Angriff umschlug. Hideo Murai wur-
de von seinem Guru damit beauftragt, Wunderwaffen
zu entwickeln, die nicht mehr verteidigen, sondern den
Untergang der Welt beschleunigen sollten.
In den Blickpunkt der Sekte rückten jetzt die physika-
lischen Theorien und Experimente des berühmten ser-

1140
bokroatischen Erfinders Nikola Tesla (1846–1943), der
sich ausführlich mit elektromagnetischen (EM) Ener-
giefeldern ungeheuren Ausmaßes, die unseren Erdball
umspannen sollten, beschäftigt hat. Tesla glaubte, man
könne Einfluß darauf gewinnen und dadurch Erdbeben
hervorrufen oder die Wetterlage verändern. Er soll ent-
sprechende Maschinen entworfen und erfolgreiche Expe-
rimente durchgeführt haben. Im Verlauf seiner gewonne-
nen Erkenntnisse kam er zu dem Schluß, es sei möglich,
die Welt durch ein »EM-Experiment« wie einen Apfel
in zwei Stücke zu spalten. Diese verlockende apokalyp-
tische Vorstellung veranlaßte die jungen Wissenschaft-
ler von AUM, mit der Tesla-Gesellschaft in New York
brieflichen Kontakt aufzunehmen und das Tesla-Muse-
um in Belgrad aufzusuchen, um dort Einsicht in seine
Notizen zu erhalten.
Im März 1994 ging Hideo Murai mit einigen Assisten-
ten nach Australien und führte dort auf einer von der Sek-
te gekauften Schafsfarm elektromagnetische (EM) Expe-
rimente durch. Er soll an einer all round-Maschine gebaut
haben, die sowohl Erdbeben hervorrufen wie als Schild
gegen atomare Raketen dienen sollte. Dieses Gerät erwies
sich als das ideale Massenvernichtungsmittel für einen
Einsatz im »letzten Krieg«. (* Archipelago – ‹pelago.com/
020i/story4.html›) Es gibt Spekulationen darüber, daß das
japanische Erdbeben von Kobe (1995) künstlichen Ur-
sprungs sei und von den Technikern der AUM-Sekte in-
szeniert wurde. Das mag allzu phantastisch klingen, aber
dieses Mal traf eine der Prophezeiungen Asaharas, die sich
ansonsten sehr selten erfüllt haben, ein. Neun Tage vor

1141
dem großen Beben, das die Hanshin-Region erschütterte,
am 8. Januar 1995, gab der Guru in einer Radiosendung
bekannt : »Japan wird 1995 durch ein Erdbeben heimge-
sucht. Der wahrscheinlichste Ort ist Kobe.« (* Archipe-
lago – ‹pelago.com/0201/story2.html›) Nach den Ereig-
nissen erklärte AUM, daß die Infrastruktur der Provinz
Kobe mit ihren Hochhäusern und großen Brücken ein
hervorragendes Modell gewesen sei, um »den Angriff ei-
ner Erdbeben-Waffe gegen eine große Stadt wie Tokyo zu
simulieren. Kobe war das geeignete Versuchskaninchen.«
(* Archipelago – ‹pelago.com/0201/story2.html›)
Aber auch konventionelle Waffen gingen am Fuße des
Heiligen Berges Fudschijama in Serienproduktion. Dort
produzierten Sektenmitglieder in den als spirituelle Zen-
tren getarnten Fabriken das russische Schnellfeuergewehr
AK-47. Gewährsleute kauften in Rußland einen Militär-
hubschrauber, der, in einzelne Stücke zerlegt, per Schiff
in Japan ankam.
Als die gefährlichste aller Waffen sah der Tantra-Mei-
ster Asahara – das versteht sich von selbst – die Spreng-
kraft des eigenen Bewußtseins. »Unter den Tantrayana-
Gelübden gibt es eines«, hören wir aus seinem Mund,
»das die Praktikanten daran hindern soll, Dörfer oder
Städte zu zerstören. Das heißt, daß die Macht, eine Stadt
oder ein Dorf zu zerstören, durch Tantrayana- oder Va-
jrayana-Übungen erlangt werden kann.« (* Archipelago
– ‹pelago.com/020i/story4.html›) Nach der von uns aus-
führlich dargestellten tantrischen Umkehrlogik sah sich
der Guru durchaus berechtigt, für sich dieses Gelübde
zu brechen.

1142
Asaharas Fabriken entsprachen vom Grundgedanken
her den alchemistischen Labors des 17. und 18. Jahrhun-
derts in Europa, obgleich sie technisch unvergleichlich
aufwendiger waren. In beiden Fällen experimentierten
Wissenschaftler nicht nur mit chemischen Stoffen, son-
dern kombinierten ihre Erkenntnisse mit religiösen Vor-
stellungen und Symbolen. Erinnern wir uns auch daran,
wie das Ehepaar Nicholas und Helena Iwanowna Roerich
die Tempelanlagen von Shambhala als »Laboratorien« be-
zeichnete und die Mönchspriester des Wunderlandes als
»Adepten einer sakralen Alchemie« verherrlichte. Auch
Asahara gab seiner Chemiefabrik heilige Namen und
nannte sie den »Tempel am klaren Strom« oder das »In-
stitut der Höchsten Wissenschaft«. (* Kaplan, 117) In der
dreistöckigen Halle, in der die Giftgase produziert wur-
den, befanden sich mehrere Altäre. Kurz nach dem Be-
treten erreichte man einen Zwischenstock und stand vor
einer goldenen Gestalt des Zerstörergottes Rudra Shiva.
Links daneben erhob sich ein kleines Andachtsheiligtum,
das nach Asaharas Aussage einige Knochen des histori-
schen Buddha beherberge. Er habe sie aus Sri Lanka mit
nach Japan gebracht. Der Raum, in dem die verschie-
densten Tinkturen zur Herstellung des Giftgases gela-
gert waren, wurde als der »Ort des Entstehens« bezeich-
net. Im Erdgeschoß ging es nüchterner zu, es gab Tanks,
Einspritzanlagen, Reaktoren, Rohrsysteme, Umwälzpum-
pen. Die Haupthalle hieß Satian 7, was »Wahrheit 7« be-
deutet. Sie hatte aber noch einen Spitznamen. Die jungen
Wissenschaftler bezeichneten sie einfach als »der Ma­gier«.
Noch in den letzten Tagen vor dem verhängnisvollen U-

1143
Bahn-Anschlag wurde dort eine gigantische Buddhasta-
tue aufgestellt.

Das Lied vom Sarin

Da es nicht schwierig herzustellen ist und die Basisstof-


fe für AUM leicht zu beschaffen waren, konzentrierten
sich Forschung und Produktion auf ein höchst effekti-
ves Nervengas mit dem Namen Sarin. Dieses Gift hatten
die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg entwic-
kelt. Asaharas Beziehung zu dem tödlichen Stoff erwies
sich als sehr vielschichtig. Sie folgte einem teuflischen
Dreiklang : Zuerst war ständig davon die Rede, die Sekte
selbst sei Opfer von Giftgasanschlägen. »Wo immer ich
mich aufhalte«, verkündete der Guru, »ich werde stän-
dig von Flugzeugen und Hubschraubern besprüht. Die
Stunde meines Todes ist bereits angekündigt, und Gas-
angriffe sind bereits erfolgt ; nächstes Mal kann es eine
Atombombe sein.« (* Kaplan, 164) Als Schlußfolgerung
aus dieser Paranoia wurde dann beschlossen, mit der
gleichen Waffe zurückzuschlagen. In der dritten Pha-
se verselbständigte sich das Gift und entwickelte sich zu
einer quasi göttlichen Substanz. Man benannte es halb
ironisch mit Namen wie »Magie, Hexe oder Sally« (* Ka-
plan, 159) und besang es mit folgender Hymne :

Es kam aus Nazideutschland,


eine kleine gefährliche C-Waffe.
Sarin ! Sarin !

1144
Wer seinen geheimnisvollen Duft inhaliert,
der verblutet,
und Schleim rinnt aus seinem Mund.
Sarin ! Sarin ! Sarin – die chemische Waffe.
Lied vom Sarin, dem Tapferen.
In einer friedlichen Nacht in Matsumoto
Kann man Menschen töten,
sogar mit bloßen Händen.
Überall liegen Leichen.
Da ! Inhaliere Sarin, Sarin.
Bereitet Sarin ! Bereitet Sarin !
Von Gifigaswaffen
soll der Platz überquellen.
Dampfe ! Dampfe !
Sarin, der tapfere, Sarin.
(* Kaplan, 286)

Ursprünglich bestand die Absicht, das Giftgas mit einem


Helikopter über das Parlaments- und die Regierungsge-
bäude zu verspritzen, um den japanischen Staatsapparat
lahmzulegen. Die U-Bahn-Attentate sah man deswegen
nur als eine vorbereitende Übung an.
Interessanterweise bringt der von uns ausführlich por-
trätierte Russe Nicholas Roerich 60 Jahre vor den Ereig-
nissen in Tokyo den Shambhala-Mythos mit Giftgasen in
Verbindung. Er war davon überzeugt, das Wunderland
würde durch eine gasige Substanz, die er »Sur« nannte,
vor Eindringlingen geschützt. Hier seine Geschichte, die
ihm auf seiner Reise durch Innerasien auf der Suche nach
Shambhala von einem buddhistischen Mönch erzählt wor-

1145
den sei : »Ein Lama, Führer einer Karawane, verbindet sich
Nase und Mund mit einem Schal. Man fragt ihn nach dem
Grund, denn es ist nicht kalt. Er berichtet : Jetzt ist Vor-
sicht notwendig. Wir nähern uns der verbotenen Zone von
Shambhala. Bald werden wir Sur, das giftige Gas, welches
die Grenze Shambhalas schützt, wahrnehmen‹. Konchok,
unser Tibetaner, reitet zu uns heran und sagt mit gedämpf-
ter Stimme : ›Nicht weit von hier, als der Dalai Lama in die
Mongolei reiste, begannen alle Menschen und Tiere der
Karawane zu zittern, und der Dalai Lama erklärte, sie soll-
ten sich nicht erschrecken, denn sie hätten die verbotene
Zone von Shambhala betreten und die Luftschwingungen
seien ihnen fremd.« (* Schule, 73) Ein giftiger Gaswind soll
auch aus einer der berühmten Leichenverbrennungsstät-
ten Indiens, dem Treffpunkt vieler Maha Siddhas, aus-
geströmt sein. Er wurde mit dem submarinen Feuer der
auch im Kalachakra-Tantra erwähnten Weltuntergangs-
stute (Kalagni) assimiliert. (* White, 234)

Die internationalen Kontakte

AUM-Shinrikyo war kein japanisches, sondern ein in-


ternationales Phänomen, das sich explosionsartig in
mehreren Ländern, vor allem aber in Rußland, ausge-
breitet hat. Die hungernde Nation, nach so vielen Jah-
ren kommunistischer Diktatur begierig auf jegliche spi-
rituelle Botschaft, wurde für den Guru aus dem fernen
Osten zu einem irdischen Paradies. 1992 stand er mit
300 seiner Anhänger vor der St. Basilius-Kathedrale in

1146
Moskau, lächelte und machte das Victory-Zeichen. Die
Pose hatte ihre Wirkung. Schon innerhalb weniger Mo-
nate konnte AUM einen nichtabbrechenden Zulauf in
ganz Rußland verzeichnen. Auf dem Höhepunkt über-
stieg die Mitgliederzahl 30 000. Asahara genoß eine er-
staunlich breite öffentliche Anerkennung. In der Uni-
versität von Moskau hielt er vor vollbesetztem Auditori-
um eine Predigt mit dem Titel : Der Welt durch Wahrheit
zum Glück verhelfen. Man führte ihn als »Japans bedeu-
tendsten buddhistischen Führer« in die frühkapitalisti-
sche Machtelite ein. (* Kaplan, 96)
Der Guru gewann selbst Einfluß auf russische Spit-
zenpolitiker. Eine besonders herzliche Beziehung unter-
hielt er zum mächtigen Vorsitzenden des russischen Si-
cherheitsrates, Oleg Iwanowitsch Lobov, einem zu dieser
Zeit engen Vertrauten Boris Jelzins. Lobov soll nicht we-
nig zur Verbreitung der Sekte beigetragen haben. Auch
zu bekannten Naturwissenschaftlern wußte sich Asaha-
ra Kontakt zu verschaffen. Ebenfalls ausgezeichnet lief
die Propagandaarbeit : 1992 sandte das staatliche Radio
Moskau zweimal täglich seine Sendung »Die Absolute
Wahrheit des Heiligen Himmels« aus.
Selbstverständlich war Asahara mit Geldspenden nicht
kleinlich, eine Geste, die zur Zeit in Rußland alle Türen
öffnet. Aber das erklärt nicht den großen Zulauf der Be-
geisterten, die ja nichts erhielten als die schönen Worte
des »letzten Messias«. Man hat den Eindruck, daß sich
hier ein Erbe von Agvan Dorzhievs Shambhala-Vïsion,
nach der das verborgene Königreich in Rußland zu su-
chen sei, niederschlug.

1147
AUM-Shinrikyo war die erste religiöse Sekte aus ei-
nem hochindustrialisierten Land, die mit gezieltem Ter-
ror gegen die humane Gesellschaft als solche vorging.
Sie kam aus einem religiösen Umfeld, das wie kein an-
deres die Gewaltlosigkeit auf seine Fahnen geschrieben
hat – dem Buddhismus. Bisher kannte man nur okkulte
Gruppierungen wie die 900 Anhänger des Jim Jones in
Jonestown, die Sonnentempler in der Schweiz und Kana-
da oder die Branch Davidians von Waco, die sich selbst,
nicht aber unbeteiligte Außenstehende zerstörten. We-
gen seiner neuen Qualität in der religiösen Gewalt hat
das Tokyoer Ereignis überall in der Welt große Bestür-
zungen ausgelöst. Man hätte nun meinen können, daß
eine globale Recherchenarbeit und Diskussion über die
Ursachen und Hintergründe des Asahara-Phänomens die
Folge gewesen wäre. Dabei hätte man notwendiger Wei-
se den großen Einfluß des Vajrayana erkannt, den dieser
auf das System des Doomsday-Gurus hatte.
Man hätte auch den engen Zusammenhang mit dem
Shambhala-Mythos und dem Kalachakra-Tantra entdeckt.
Obgleich solche Bezüge offen liegen, da Asahara sie ex-
plizit in seinen Schriften benennt, stellt sich die westli-
che und östliche Öffentlichkeit bisher blind und war-
tet passiv auf die nächste Katastrophe. In der Weltpres-
se hat man das Ereignis schon vergessen und verdrängt.
Auch in Japan will keiner hinter die Bühne blicken, ob-
gleich der Prozeß gegen Asahara zur Zeit läuft : »Allge-
mein löst man hier diesen Widerspruch zwischen Religi-
on und Gewalt, indem man schlichtweg behauptet, AUM
sei gar keine Religion«, schreibt Martin Repp und führt

1148
fort : »So leicht kann man es sich … nicht machen, denn
AUM-Shinrikyo ist nach eigenem Selbstverständnis wie
in seiner Praxis Religion und hat wesentliche buddhisti-
sche Glaubensinhalte.« (* Repp, 96, II, 190)

Die beiden Brüder

Mit Blick auf unsere Studie kann man mit Recht sagen,
daß die AUM-Sekte eine konsequente und buchstaben-
getreue Schülerin tantrischer Lehrinhalte war. Das ok-
kult-magische Weltbild, der Kundalini-Yoga, die Sexual-
magie, die Verbindung von Macht und Samenretention,
der Griff nach den Siddhis, das Herbeizitieren der Göt-
ter, die Beschleunigung des universellen Untergangs,
die Verherrlichung der Zerstörung, die große Faszinati-
on an phantastischen Destruktionsmaschinen, die mili-
tärischen Obsessionen, die Heilsidee, die Hoffnung auf
ein Paradies, der Anspruch auf Weltenherrschaft, der
Shambhala-Mythos – alle diese für Asahara so bedeutsa-
men Leitmotive sind Melodien aus dem Repertoire des ti-
betischen Buddhismus, speziell des Kalachakra-Tantras.
Die Geschichte Asaharas zeigt, daß der Vajrayana und
der Shambhala-Mythos ein äußerst dämonisches Poten-
tial in sich tragen, das jeden Augenblick aktiviert wer-
den kann. Für die asiatische Seite, insbesondere für die
Mongolen (wie wir gesehen haben), ist das aggressive
Kriegerethos in der Shambhala-ldee nie in Frage gestellt
worden und existiert auch heute noch in der Wunsch-
vorstellung vieler fort. Es besteht durchaus die Gefahr

1149
– wie wir im nächsten Kapitel zeigen werden –, daß sie
sich zu einer panasiatischen Vision mit faschistoidem
Charakter entwickelt.
Anders der tibetische Buddhismus im Westen : Dort
wird von den Lamas ausschließlich und mit großem Er-
folg allein die pazifistische Karte gespielt. Sie ist gera-
dezu der höchste Trumpf, mit dem Seine Heiligkeit der
XIV Dalai Lama die Herzen der Menschen gewinnt. Auf
dem ganzen Planeten verehrt man ihn deswegen als den
»größten Friedensfürsten unserer Zeit«.
Wie steht nun der Kundun zu Shoko Asahara ? Auf
der Realitätsebene hat der Japaner den Exiltibetern hohe
Geldsummen überwiesen und wurde deswegen von Sei-
ner Heiligkeit mehrmals empfangen. Dies ist normal und
selbstverständlich. Sieht man jedoch die Begegnung mit
den Augen des Tantrismus, dann kommen wir notwen-
digerweise zu dem Schluß, daß der Dalai Lama, als der
Höchste Meister des Zeittantras, den Doomsday-Guru
auf einem ihrer Treffen direkt in die Geheimnisse sei-
ner »politischen Mystik« (den Shambhala-Mythos) einge-
weiht hat. Die Berichte von Menschen, die eine Audienz
mit dem Kundun aufgrund seiner magischen Ausstrah-
lung als eine Art Einweihung erlebten, sind mittlerwei-
le Legion. Wie sollte es angesichts einer »allmächtigen«
und »allwissenden Gottheit« im Gewand eines »einfa-
chen tibetischen Mönchs« auch anders sein ? Wir müs-
sen also – wenn wir die Begegnung der zwei Gurus tan-
trisch interpretieren – von einer okkulten Relation zwi-
schen einem »Gott« (Dalai Lama) und einem »Dämon«
(Asahara) ausgehen.

1150
Was macht nun den Inhalt der Beziehung zwischen die-
sen beiden ungleichen Brüdern aus ? Symbolisch gesehen
teilen sie sich die zwei im tantrischen Weltbild angelegten
Aufgaben : Der eine spielt den mitfühlenden Bodhisattva
(Dalai Lama) ; der andere den zornigen Heruka (Asaha-
ra), der eine den »mild herabblickenden« Avalokiteshva-
ra (Dalai Lama), der andere den Totengott und Höllen-
fürsten Yama (Asahara). Mit überzeugenden Argumen-
ten hat der Anthropologe und Psychoanalytiker Robert
A. Paul nachweisen können, wie tief diese Doppelgesich-
tigkeit des »guten« und des »bösen« Buddha die tibeti-
sche Kultur geprägt hat. Beide Buddhawesen (das helle
und das dunkle) gelten als die konträren Erscheinungs-
formen ein und derselben göttlichen Substanz, die eine
Licht- und eine Schattenseite aufweist. Erinnern wir uns
daran, daß Palgyi Dorje bei seinem Ritualmord an König
Langdarma einen weißschwarzen Mantel trug.
Ist Asahara aus diesem Grunde der nach außen hin
projizierte Schatten des Dalai Lama ? Auch seine zwei be-
deutendsten Vorgänger hatten einen solchen »Schatten-
bruder«, der Grausamkeit und Verbrechen in sich kon-
zentrierte. Unter dem V Dalai Lama war es der Mongole
Gushri Khan. Dieser verwandelte Tibet in einen »kochen-
den Blutsee«. Dem XIII Hierarchen war der blutrünsti-
ge kalmückische »Rächerlama« Dambijantsan zugesellt.
Sollte es nur ein Zufall sein, daß der XIV Dalai Lama
zusammen mit dem japanischen Doomsday-Guru Shoko
Asahara auf der Weltenbühne erschienen ist ?105
Da Asahara als Verbrecher angeklagt wird, während
der Kundun als Seine Heiligkeit unbeschadet und ohne

1151
Makel weiteragieren darf, wird durch die Beziehung der
beiden auch das »Sündenbock-Spektakel« des tibetischen
Neujahrsfestes aufgeführt. Erinnern wir uns daran, daß
der tibetische Sündenbock ursprünglich und von seiner
Symbolstellung her den Dalai Lama selber repräsentier-
te. Er war ein Substitut, auf das alle schlechten und ne-
gativen Eigenschaften des Gottkönigs übertragen wur-
den, damit dieser im Licht, der andere im Schatten ste-
he. Ausgehend von einer solchen Übertragungsmagie hat
Asahara die Sünden des Dalai Lama geradezu auf sich

← 105 Ein weiterer, sehr eigenartiger Fall ereignete sich im Jah-


re 1996. Der amerikanische Multimillionär und Chemie-Erbe
John E. du Pont erschoß auf offener Straße den Olympia-Sieger
(im Ringen) David Schultz. Das Verbrechen beschäftigte mona-
telang die internationale Presse. Als Entlastung führte die Vertei-
digung des Mörders an, ihr Mandant sei schizophren und habe
die Tat in einem bewußtlosen Zustand begangen. Du Pont – und
das macht die Angelegenheit für uns interessant – war davon
überzeugt, der »Dalai Lama« und das »Oberhaupt einer weltwei-
ten buddhistischen Kirche« zu sein. »Das letzte Jahr« – so sei-
ne Frau – »stand er ständig unter dem Eindruck, er sei der Da-
lai Lama, und er kleidete sich normalerweise in Rot.« (* CNN -
Web, 28. Jan. 1996) Gehen wir von der Selbstinszenierung des
Kunduns als dem »größten Friedensfürsten« und als Inkarnati-
on des Avalokiteshvara (des »Herrn des Mitgefühls«) aus, so pas-
sen du Ponts Faszination für Waffen und seine mörderische Ag-
gressivität mit dem von ihm »gewählten« Bild (der Dalai Lama)
überhaupt nicht zusammen. Anders ist es, wenn wir das aggres-
sive Potential des Gottkönigs und seiner Religion kennen. Nach
tantrisch-magischer Sicht könnte die Tat du Ponts als die nach
außen hin projizierte destruktive Energie des Kunduns gedeutet
werden. Dem steht die Schizophrenie des Angeklagten keines-
wegs entgegen. Im Gegenteil, Schizophrene neigen dazu – wie es
C. G. Jung gezeigt hat –, sich von Bildern aus dem archetypischen
Reservoir des kollektiven Unterbewußtseins besetzen zu lassen.

1152
genommen – vielleicht um die Welt davon abzulenken,
das Gewaltpotential, das sich hinter den buddhistischen
Tantras verbirgt, zu erkennen.
Wie dem auch sei, wenn der Westen die Schuldigen
immer bei den ausführenden Organen sucht und nicht
bei den eigentlichen »Drahtziehern«, die menschenun-
würdigen Systemen vorstehen, dann wird er gegen eine
Hydra kämpfen, deren abgeschlagene Köpfe sich immer
wieder erneuern. Deswegen ist eine Kulturkritik, die bis
in die Mysterien der Religionen vordringt, eine conditio
sine qua non für das Überleben des westlichen Huma-
nismus und seiner Werte.
14. CHINAS TRADITIONELLER ANSPRUCH
AUF DEN WELTENTHRON UND SEINE
METAPHYSISCHE KONKURRENZ MIT TIBET

Diejenige innerasiatische Kraft, mit der die tibetische


Buddhokratie seit Jahrhunderten in tiefste Konkurrenz
geriet, war das chinesische Kaisertum. Auch wenn in der
heutigen Diskussion über die historischen Beziehungen
beider Länder territoriale Fragen im Mittelpunkt stehen,
so müßen wir diese bei genauerer Betrachtung als die vor-
geschobenen Objekte der eigentlichen Streitigkeiten an-
sehen. Hinter der staatspolitischen Oberfläche verbirgt
sich nämlich ein weit bedeutender, metaphysisch moti-
vierter Machtkampf. Die magisch-exotische Welt des La-
maismus und das Herabströmen der großen lebenswich-
tigen Flüsse aus den westlichen Gebirgsländern ließen im
»Reich der Mitte« die Vorstellung wachsen, Ereignisse in
Tibet hätten einen bestimmenden Einfluß auf das Schick-
sal des eigenen Landes. Die Geschichte des »Schneelan-
des« und Chinas wurde von beiden Seiten als eng mit-
einander verknüpft gesehen. Führende Tibeter erzählten
Anfang dieses Jahrhunderts dem Engländer Charles Bell,
daß Tibet die »Wurzel Chinas« wäre. (* Bell, 114) So ab-
surd es klingen mag, die chinesische Machtelite war nie
ganz frei von diesem Glauben und nahm deswegen ihre
tibetische Politik besonders ernst.
Zudem waren die Herrscher beider Nationen, der
»Sohn des Himmels« (der chinesische Kaiser) und der

1154
»Ozean-Priester« (Dalai Lama), Anwärter auf den Wel-
tenthron und hatten den prätentiösen Anspruch, die Mit-
te des Kosmos zu repräsentieren, von dem aus sie das
Universum regieren wollten. Wie wir am Schicksal und
der Vision der Kaiserin Wu Zhao gezeigt haben, beein-
flußte die Idee vom buddhistischen Chakravartin schon
sehr früh das chinesische Kaisertum (700 n. Chr.). Wäh-
rend der Tang-Dynastie wurden die Herrscher Chinas
als Inkarnationen des Bodhisattvas Manjushri und als
»raddrehender König« (Chakravartin) verehrt.
Im übrigen war es völlig gleichgültig, ob der jeweilige
chinesische Kaiser mehr taoistischen, konfuzianischen
oder buddhistischen Anschauungen zuneigte, denn alle
drei Systeme kannten die Idee eines Kosmokrators. Selbst
die Tibeter übetrugen ihm zeitweilig diese Rolle, wie zum
Beispiel noch der XIII Dalai Lama, der die Manchu-Herr-
scher als Chakravartine bezeichnete. (* Klieger, 32).
Vergessen wir auch nicht, daß sich einige der chinesi-
schen Potentaten in die Tantras einweihen ließen und die
dort formulierten Machtvisionen selbstverständlich für
sich in Anspruch nahmen. 1279 initiierte Chögyel Phag-
pa, Großabt der Sakyapa, den mongolischen Eroberer
Chinas und Begründer der Yuän-Dynastie, Kublai Khan,
in das Hevajra-Tantra. 1746 erhielt der Ch’ien-ling-Herr-
scher eine lamaistisch-tantrische Einweihung als Chakra-
vartin. Es war weiterhin eine feste Tradition, den Kaiser
von China als eine Ausstrahlung des Bodhisattva Man-
jushri anzuerkennen. Darin zeigt sich schon, daß auch
zwei Bodhisattvas miteinander in arge politische Disso-
nanzen geraten könnten.

1155
Die tibetische Kultur verdankt der chinesischen eben-
soviel wie der indischen. Ein in ganz Tibet verehrtes Bild-
nis des großen Feldherrn und Königs Songtsen Gam-
po (617–650 n. Chr.), der das Hochland zu einem Staat
von bis dahin nie erreichter Größe zusammenschweißte,
zeigt ihn in voller Rüstung, flankiert von seinen beiden
Hauptfrauen. Die Chinesin Wen Cheng und die Nepale-
sin Bhrikuti gelten der Legende nach als Verkörperungen
der weißen und der grünen Tara. Beide sollen den Bud-
dhismus ins »Schneeland« gebracht haben. 106
Historisch verbürgt ist, daß der kaiserlichen Prinzes-
sin Wen Cheng Kulturgüter aus China folgten, die zu
einer Revolutionierung des gesamten tibetischen Ge-
meinwesens führten. Getreide- und Obstanbau, Bewäs-
serungsanlagen, Metallverarbeitung, Kalenderrechnung,
Schulwesen, Maße und Gewichte, Umgangsformen und
Kleidung – diese und ähnliche zivilisatorische Errungen-
schaften ließ der König mit großer Aufgeschlossenheit
aus dem »Reich der Mitte« importieren. Junge Männer
des tibetischen Adels wurden nach China und Indien
zum Studium geschickt. Auch aus den anderen Nach-
barstaaten des Hochlandes machte der Songtsen Gam-
po kulturelle Anleihen.

106 Wahrscheinlich handelt es sich um eine erfundene historia


sacra, denn zeitgenössische Dokumente, die in der Höhlenbi-
bliothek von Tunhuang gefunden wurden, erwähnen die Lehre
des Buddha als die Staatsreligion jener Zeit mit keinem Wort. Sie
taucht erst 150 Jahre später unter Trisong Detsen in den Quel-
len auf. Sicher ist auch, daß Songtsen Gampo nicht zwei, sondern
fünf Frauen heiratete – und zwar aus verschiedenen Nachbar-
staaten, um diese an sich und seine Dynastie zu binden.

1156
Diesen chinesischen Friedenstaten und Kulturschöp-
fungen war jedoch – wie wir schon berichtet haben – von
tibetischer Seite eine höchst aggressive und imperialisti-
sche Eroberungspolitik vorausgegangen. Der König soll ein
Heer von 200 000 Mann befehligt haben. Die Kriegsfüh-
rung dieser Inkarnation des »mitfühlenden« Bodhisattva
Avalokiteshvara galt als äußerst barbarisch, und die »Rot-
gesichtigen«, wie die Tibeter genannt wurden, verbreite-
ten Angst und Schrecken in ganz Zentralasien. Die Größe,
zu der Songtsen Gampo sein Imperium ausdehnen konn-
te, entspricht in etwa dem Territorium, welches heute die
Exiltibeter als ihr Herrschaftsgebiet beanspruchen.
Nie ist seither der intensive Austausch zwischen den
beiden Ländern versiegt. Fast alle Regenten der Manchu-
Dynastie (1644–1912) bis hin zur Kaiserin-Witwe Tze
Hsi fühlten sich aufgrund ihrer mongolischen Herkunft
dem Lamaismus verpflichtet, obgleich sie in der Öffent-
lichkeit meist konfuzianische Ideen vertraten. Ihr Glau-
ben veranlaßte sie dazu, prachtvolle lamaistische Tem-
pel in Beijing bauen zu lassen. Insgesamt gab es seit dem
18. Jahrhundert 28 bedeutende Lama-Heiligtümer in der
Kaiserstadt. Jenseits der großen Mauer im manchurisch-
mongolischen Grenzgebiet errichteten die Kaiserfamili-
en ihren Sommerpalast, den Jehol. Ganz in der Nähe lie-
ßen sie ein mächtiges buddhistisches Kloster bauen und
nannten es wie den Sitz des Dalai Lama – den »Potala«.
Die kaiserliche Prinzessin Der Ling berichtet in ihrer
Biographie, daß noch zu Beginn unseres Jahrhunderts
in der Verbotenen Stadt tantrische Rituale abgehalten
wurden. 107 (* zit. b. Klieger, 55)

1157
Wenn ein Dalai Lama nach China reiste, dann geschah
das mit ungeheurem Pomp. Es gab ein ständiges und
enervierendes Gerangel um die Etikette, den symboli-
schen Maßstab für die Ranghöhe der sich begegnenden
Herrscher. Wer begrüßt wen zuerst, wie ist die Sitzord-
nung, mit welchem Titel spricht man sich an – solche
Fragen waren weit wichtiger als Diskussionen über die
Landkarte. In ihnen spiegelte sich in den feinsten Schat-
tierungen die jeweilige Position innerhalb eines kosmolo-
gischen Gesamtentwurfs. Als der »Große Fünfte« 1652 in
Beijing einzog, wurde er zwar wie ein regierender Fürst
aufgenommen, da der herrschende Manchu-Kaiser Shun-
chih der buddhistischen Lehre sehr zugetan war. Beim
Abschied ließ er den Hierarchen auch mit wertvollen Ge-
schenken überhäufen und als »selbstenstandenen Buddha
und Oberhaupt der kostbaren Lehre und Gemeinschaft,
Vajradhara Dalai Lama« (* Schulemann, 247) ehren, aber
insgeheim spielte er ihn gegen den Panchen Lama aus.
Das kosmologische Schachspiel dauerte Jahrhunder-
te, ohne daß jemals Klarheit geschaffen wurde, und so
blieben die meisten staatspolitischen Fragen beider Län-
der ungelöst. Zum Beispiel war Lhasa verpflichtet, jähr-

← 107 Diese Sympathie der Manchus für die lamaistische Leh-


re war allein der Grund dafür, weshalb die buddhistischen und
dennoch sehr kämpferischen Mongolen so lange friedlich blie-
ben und sich der chinesischen Vorherrschaft beugten. Kurz vor
ihrer Unabhängigkeitserklärung (1911) schickten Adelige und
hohe Lamas des Landes eine Petition an den russischen Zaren, in
der es unter anderem hieß : »Früher haben wir uns mit Respekt
den Manchu Khans unterworfen, weil sie die buddhistische Reli-
gion pflegten und den Segen verteilten.« (*. Onon, 10)

1158
lich Geschenke an Beijing zu schicken. Selbstverständ-
lich wurde dies von chinesischer Seite als eine Art Tri-
but, der die Abhängigkeit des Schneelandes unter Beweis
stellte, angesehen. Da sie aber diese Gaben durch Gegen-
geschenke kompensierten, sahen die Tibeter darin eine
Gleichwertigkeit der beiden Parteien. Die Chinesen kon-
terten mit der Einrichtung einer Art chinesischer Gou-
verneursstellen in Tibet, deren beide Inhaber Ambane
genannt wurden. Sie stellen nach chinesischer Sicht die
weltliche Administration des Landes dar. Um sie gegen-
einander auszuspielen und um Korruption zu vermeiden,
wurden immer zwei Ambane nach Tibet gesandt.
Einfluß versuchten die Chinesen auch auf die Inkar-
nationspolitik des Lamaismus zu gewinnen. In der tibe-
tischen und mongolischen Aristokratie hatte sich näm-
lich immer mehr durchgesetzt, Kinder aus den eigenen
Reihen als hohe Wiedergeburten anzuerkennen. Dahin-
ter stand die Absicht, wichtige klerikale Posten für die
tibetischen Adelssippen de facto erblich zu machen. Um
solche familiäre Machtenfaltungen zu verhindern, setz-
te der chinesische Kaiser ein Orakelverfahren durch. Im
Falle des Dalai Lama sollten immer drei Knaben als po-
tentielle Nachfolger gesucht werden, und zwischen die-
sen sollte unter chinesischer Aufsicht das Los entschei-
den. Die Namen und die Geburtsdaten der Kinder wur-
den auf Zettel geschrieben, mit Teig umhüllt und in eine
goldene Urne gelegt, die der Kaiser Kien Lung selbst stif-
tete und 1793 nach Lhasa schicken ließ.

1159
Mao Zedong : Die Rote Sonne

Aber endete das Machtspiel um den Weltenthron zwi-


schen beiden Ländern mit der Errichtung des chinesi-
schen Kommunismus in Tibet ? Standen sich im tibe-
tisch-chinesischen Konflikt der letzten 50 Jahre ledig-
lich Spiritualismus und Materialismus gegenüber, oder
wirkten auch hinter der chinesischen Politik »Kräfte und
Mächte«, die Beijing als das Zentrum der Welt auf Ko-
sten Lhasas errichten wollten ? »Fragen der Legitimation
haben alle chinesischen Dynastien geplagt«, schreibt der
Tibetologe Elliot Sperling im Hinblick auf die aktuellen
chinesischen Souveränitätsansprüche auf Tibet. »Tradi-
tionell drehten sich solche Fragen um das Grundthema,
ob eine bestimmte Dynastie oder ein gegebener Herr-
scher das ›Mandat des Himmels‹ besaß. Zu den Zeichen,
die den Besitz des Mandats bezeugten, gehörte die Fä-
higkeit, das Land zu einigen und alle gegnerischen An-
sprüche auf das Gebiet und auf den Thron von China aus
der Welt zu schaffen. Es wäre ein Fehler, das gegenwär-
tige Regime außerhalb dieser Tradition zu sehen.« (* Ti-
betan Review, August 1983, 18) Aber um Sperlings inter-
essante These zu überprüfen, müssen wir uns zuerst mit
einem Mann auseinandersetzen, der die Politik der KP
Chinas wie kein anderer geprägt hat und der von seinen
Anhängern wie ein Gott verehrt wurde : Mao Zedong.
Die Besetzung Tibets durch die Chinesen kündigte sich
nach tibetischen Berichten Anfang der 50er Jahre durch
zahlreiche »übernatürliche« Zeichen an : Während einer
Meditation, die der XIV Dalai Lama im Kloster Ganden

1160
durchführte, sah er, wie die Statue der Schreckensgottheit
Yamantaka ihren Kopf bewegte und mit grimmigem Aus-
druck nach Osten blickte. Verschiedene Naturkatastrophen,
darunter ein heftiges Erdbeben und Trockenheiten, such-
ten das Land heim. Menschen und Tiere brachten Mißge-
burten zur Welt. Ein Komet erschien am Himmel. Steine
lockerten sich an verschiedenen Tempelheiligtümern und
fielen zu Boden. Am 9. September 1951 marschierte die
chinesische Volksbefreiungsarmee in Lhasa ein.
Bevor er aus Tibet fliehen mußte, hatte der junge Da-
lai Lama mehrere Begegnungen mit dem »Großen Vor-
sitzenden« und war von ihm sehr beeindruckt. Als er
Mao Zedong zum ersten Mal die Hand schüttelte, fühlte
der Kundun nach eigenen Worten »die Gegenwart einer
starken magnetischen Kraft«. (* Craig, 178) Auch Mao
sah sich angesichts des Gottkönigs zu einem metaphy-
sischen Urteil veranlaßt : »Der Dalai Lama ist ein Gott
und nicht ein Mensch«, sagte er und fügte einschränkend
hinzu : »Zumindest wird er so von der Mehrheit der ti-
betischen Bevölkerung gesehen.« (* Tibetan Review, Ja-
nuar 1995, 10) Mehrmals plauderte Mao mit dem Gott-
könig über Religion und Politik und soll bei diesen Ge-
sprächen verschiedene und einander widersprechende
Meinungen vertreten haben. Einmal war die Religion
für ihn im klassisch marxistischen Sinne »Opium fürs
Volk«, ein anderesmal sah er im historischen Buddha ei-
nen Vorläufer der kommunistischen Idee und deklarier-
te die Göttin Tara zu einer »guten Frau«.
Mit Bewunderung blickte der zwanzigjährige Hier-
arch aus Tibet zu dem väterlichen Revolutionär aus Chi-

1161
na empor und hegte sogar den Wunsch, Mitglied der
Kommunistischen Partei zu werden. Er fiel, wie es Mary
Craig ausdrückt, unter den Zauberbann (spell) des »ro-
ten Kaisers«. (* Craig, 178) »Ich habe den Vorsitzenden
Mao über verschiedene Angelegenheiten sprechen hö-
ren«, schwärmte der Kundun 1955, »und ich erhielt An-
weisungen von ihm. Ich bin zu der festen Schlußfolge-
rung gelangt, daß die brillanten Aussichten für das chi-
nesische Volk als ganzes auch die Perspektiven für unser
tibetisches Volk ausmachen. Der Weg unseres ganzen
Landes ist auch unser Weg, und ansonsten gibt es kei-
nen.« (* Grunfeld, 142)
Mao Zedong, der damals eine gradualistische Poli-
tik verfolgte, sah in dem jungen Kundun ein machtvol-
les Instrument, um die feudalen und religiösen Eliten
des Schneelandes mit seinem multiethnischen kommu-
nistischen Staat vertraut zu machen. Er hatte in einem
17 Punkte-Programm die »nationale regionale Autono-
mie« Tibets »unter der Führerschaft der zentralen Volks-
regierung« zugestanden und versichert, daß das »existie-
rende politische System«, insbesondere »der Status, die
Funktionen und die Machtbefugnisse des Dalai Lamas«
nicht angetastet würden. (* Goldstein, 1997, 47)

Die große proletarische Kulturrevolution

Nach der Flucht des Dalai Lama war das 17 Punkte-Pro-


gramm hinfällig und die gradualistische Politik Bei-
jings zu Ende. Aber erst unter der »Großen Proletari-

1162
schen Kulturrevolution« (Mitte der 60er Jahre) änderte
sich die Haltung Chinas zu Tibet grundlegend. Inner-
halb eines tan wischen Geschichtsverständnisses müß-
te die chinesische Kulturrevolution als eine Periode des
Chaos und der Anarchie dargestellt werden. Mao Ze-
dong selbst hatte bewußt – so wie ein fachkundiger Vaj-
ra-Meister – eine allgemeine Unordnung hervorgerufen,
um nach der Zerstörung der alten Werte ein Paradies
auf Erden zu errichten : »Ein großes Chaos wird zu einer
neuen Ordnung führen«, schrieb er zu Beginn der Ju-
gendrevolte. (* Zhisui, 491)
Überall im Lande zogen Studenten, Schüler und junge
Arbeiter aufs Land, um die Ideen Mao Zedongs zu ver-
breiten. Auch die »Roten Garden« von Lhasa verstanden
sich als die Erfüllungsgehilfen ihres »Großen Vorsitzen-
den«, als sie im Dezember 1966 folgende Erklärung publi-
zierten : »Wir, eine Gruppe gesetzloser Rebellen, werden
einen eisernen Besen führen und die machtvollen Keulen
schwingen, um die alte Welt in den Abfall zu kehren und
die Leute in die völlige Verwirrung zu treiben. Wir fürch-
ten keine Unwetter und keine Stürme, noch fliegenden
Sand, noch stürzende Berge … Rebellieren, Rebellieren,
Rebellieren in der Absicht, um eine glänzende, rote, neue
Welt des Proletariats zu schaffen.« (* Grunfeld, 183)
Obgleich in Tibet die Zerschlagung der lamaistischen
Religion im Zentrum der roten Attacken lag, darf man
nicht vergessen, daß nicht nur Mönche, sondern auch
altgediente chinesische Parteikader in Lhasa und in den
tibetischen Provinzen zu Opfern brutaler Umtriebe wur-
den. Die Kulturrevolution war wesentlich eine Jugend-

1163
revolte und drückte einen tiefen Generationenkonflikt
aus. Nationale Interessen spielten bei diesen Ereignissen
keine bedeutende Rolle. So nahmen an den rebellischen
Umzügen in Lhasa ebenfalls viele tibetische Jugendli-
che teil, was heute von Dharamsala aus verständlichen
Gründen vertuscht wird.
Ob Mao Zedong die Radikalität, mit der die Roten
Garden vorgingen, billigte, bleibt zweifelhaft. Bis heu-
te glaubt – wie wir schon berichtet haben – der Kun-
dun nicht, daß der Parteivorsitzende über die vandali-
stischen Übergriffe in Tibet voll informiert wurde, und
daß Jiang Quing, seine Gattin, die Übeltäterin war. 108
Man wird Maos Haltung wahrscheinlich am besten mit
dem Satz beschreiben können, soweit das Chaos der Fe-

108 Es ist hinreichend bewiesen, daß die Menschenrechtsver-


letzungen, die von den chinesischen Besatzertruppen zwischen
1953 bis heute in Tibet verübt wurden, eminent waren. Mön-
che wurden geschlagen, gefoltert, verschleppt und hingerichtet,
Nonnen und Mädchen wurden geschändet. Während der Auf-
stände bombardierte man Dörfer und führte Massenerschießun-
gen durch. Zu den vielseitigen Foltermethoden zählte unter an-
derem das Abziehen der Haut bei lebendigem Leibe. Die Szenen
waren grauenvoll und sind in zahlreichen Dokumenten nachzu-
lesen. (* z. B. Campbell, Bd. 2, 585 ff.) Es ist deswegen nicht unse-
re Absicht, in irgendeiner Weise die Übergriffe der chinesischen
Soldateska zu beschönigen oder gar zu leugnen. Jegliche Form
von Tötung und Tortur, insbesondere aber wenn sie an Hilflo-
sen geschieht, ist aufs schärfste zu verurteilen. Die Fehlpolitik der
chinesischen Kommunisten macht jedoch ihre Kritik an den re-
pressiven sozialen Verhältnissen im feudalistischen Tibet nicht
falsch. Sie hat aber dazu geführt, daß die Exiltibeter nun eine
Geschichtsklitterung durchführen konnten, die der historischen
Wirklichkeit vor 1950 auf gar keinen Fall entsprach.

1164
stigung seiner Stellung diente – wird er es befürwortet
haben, soweit es seine Position schwächte – nicht. Mao
ging es ausschließlich um die Akkumulation von per-
sönlicher Macht, wobei jedoch in Betracht gezogen wer-
den muß, daß er sich ganz in der Tradition chinesischer
Kaiser als eine energetische Verdichtung des Landes und
seiner Bewohner sah. Was ihn stärkte, das stärkte auch
die Nation und das Volk. Insofern dachte er mikro-ma-
krokosmisch.

Die Vergöttlichung Mao Zedongs

Der Volkstribun war also von den Versuchungen seiner


eigenen »Vergöttlichung« nicht frei : »Der Mao-Kult«,
schreibt sein Leibarzt Zhisui, »verbreitete sich in Schu-
len, Fabriken und Kommunen – der Parteivorsitzende
wurde zum Gott.« (* Zhisui, 442) Im Kern muß die Gro-
ße Proletarische Kulturrevolution als eine religiöse Be-
wegung angesehen werden, und der »Marxist« aus Bei-
jing genoß seine Verehrung als ein »Höheres Wesen« mit
vollen Zügen.
Zahlreiche Berichte über die »Wunderwerke der Ge-
danken Mao Zedongs«, die unzähligen gebetsähnlichen
Leserzuschriften in den chinesischen Zeitungen und das
kleine »rote Buch« mit den sakrosankten Worten des
Großen Steuermanns, weltweit als »Mao-Bibel« bekannt,
und vieles mehr machen den Maoismus selbst zu einer
Religion. Gegenstände, die der »Große Vorsitzende« Fa-
brikarbeitern schenkte, ließ man auf Altären zur Schau

1165
stellen und verehrte sie wie Reliquien. Nachdem ihm
»Menschen aus dem Volk« die Hand geschüttelt hatten,
wuschen sie sich diese wochenlang nicht mehr und zogen
durchs Land, um die Hände der Herbeiströmenden zu
ergreifen, in der Vorstellung, sie könnten ihnen ein we-
nig von Maos Energie übertragen. In einigen tibetischen
Tempeln ersetzte man sogar Bilder des Dalai Lama durch
Ikonen des chinesischen Kommunistenführers.
Mao glich somit mehr einem roten Papst als einem
Volksrebellen. Seine Anhänger verehrten ihn als Gott-
menschen, angesichts dessen die Individualität jedes
anderen sterblichen Chinesen ausgelöscht werde. »Die
›Gleichheit vor Gott‹« – schreibt Wolfgang Bauer un-
ter Bezug auf den Großen Vorsitzenden Mao Zedong –
»strahlt in die Wirklichkeit über und läßt alle, die sich
davon angerührt fühlen, zu ›Brüdern‹ werden, zu einer
Art Mönchen ( !), die nicht nur das niedrigste, sondern
damit auch das gleiche Gewand tragen, das alle persön-
lichen Eigenschaften schwinden läßt.« (* Bauer, 569)
Die Tibeter, selbst die Untertanen eines Gottkönigs,
hatten mit solchen Bildern keine Probleme, für sie war
der »kommunistische« Mao Zedong spätestens seit der
Kulturrevolution der »chinesische Kaiser«. Selbst auf den
»kapitalistischen« Reformer Deng Xiaoping übertrugen
sie später die imperialen Metaphern : »Weder der Begriff
›Kaiser‹ noch allerhöchster Führen noch ›Patriarch‹ er-
scheinen in der chinesischen Verfassung. Trotzdem ist
das die Position, die Deng innehat … er hat die politi-
sche Macht über das Leben, so wie die Kaiser des alten
Regimes.« (* Tibetan Review, März 1997, 23)

1166
Mao Zedongs »Tantrismus«

Das Erstaunlichste ist jedoch, daß auch Mao Zedong wie


der Dalai Lama »tantrische« Praktiken durchführte, nur
à la chinoise. Wie sein Hofarzt Li Zhisui berichtet, hat-
te der Große Vorsitzende bis ins hohe Alter hinein ei-
nen unstillbaren sexuellen Heißhunger. Eine Konkubi-
ne folgte der anderen. Damit kopierte er ein Privileg, das
in diesem Ausmaße, nur den chinesischen Kaisern zu-
stand. Wie diese sah er in seinen Liebschaften weniger
eine Befriedigung seiner Lust, sondern verstand sie als
sexualmagische Übungen. Die chinesische »Tantrik«109
ist vor allem auf die Verlängerung des menschlichen Le-
bens spezialisiert. Nicht selten wird in den alten Texten
empfohlen, jüngere Mädchen als energetische »Frisch-
macherinnen« mit älteren Männern zusammenzubrin-
gen. Diese Verjüngungsmethode ist in ganz Asien ver-
breitet und war auch den Hohen Lamas in Tibet bekannt.
Im Kalachakra-Tantra wird »die Verjüngung eines 70jäh-
rigen durch die Mudra (Weisheitsmädchen)« empfohlen.
(* Grünwedel, Kalacakra II, 115)
Mao kannte auch das Geheimnis der Samenretention :
»Er wurde zum Anhänger taoistischer Sexualpraktiken«,
schreibt sein Leibarzt, »durch die er Verlängerung des Le-
bens zu erreichen suchte und die ihm als Vorwand für sei-
ne Vergnügungen dienen konnten. So behauptete er zum

109 Es handelt sich hierbei genau genommen um taoistische Prak-


tiken. Zwischen den beiden Systemen (dem tantrischen und tao-
istischen) bestehen jedoch zahlreiche Ähnlichkeiten, insbeson-
dere was die androzentisch orientierten Praktiken anbelangt.

1167
Beispiel, er brauche yin shui (das Wasser des yin, nämlich
die Vaginalsekrete), um sein eigenes, zur Neige gehendes
yang (seine männliche Substanz, die Quelle seiner Stärke,
Macht und Langlebigkeit) zu ergänzen. Da es so wichtig
für seine Gesundheit und Kraft war, yang aufzubauen,
durfte er es nicht verschwenden. Deshalb ejakulierte er
während des Koitus nur selten und gewann statt dessen
Kraft und Stärke aus den Sekreten seiner Partnerinnen.
Je mehr yin shui der Vorsitzende aufnahm, desto kräf-
tiger wurde seine männliche Substanz. Dazu war häu-
figer Geschlechtsverkehr nötig, und er ging am liebsten
mit mehreren Frauen gleichzeitig ins Bett. Auch forderte
er seine Partnerinnen dazu auf, ihn mit anderen Frauen
bekannt zu machen – angeblich, um durch gemeinsame
Orgien seine Lebenskraft zu stärken.« (* Zhisui, 387/388)
Weiblichen Neuzugängen übergab er ein Handbuch mit
dem Titel Geheimnisse des einfachen Mädchens zu le-
sen, damit sie sich auf ein taoistisches Rendezvous mit
ihm vorbereiten konnten. Wie die Schüler eines Lamas,
so waren junge Mitglieder des »roten Hofstaates« faszi-
niert davon, dem Großen Vorsitzenden ihre Ehefrauen
als Konkubinen anzubieten. (* Zhisui, 388, 392)
Als Signaturen seiner tantrischen Androgynität könn-
ten die beiden Hauptsymbole seines Lebens angesehen
werden : das weibliche »Wasser« und die männliche »Son-
ne«. Wolfgang Bauer hat auf die hohe sakrale Bedeutung
hingewiesen, welche das Wasser und das Schwimmen in
Maos Symbolwelt spielen. Seine Schwimmdemonstratio-
nen, bei denen er weite Strecken im Yangtzu, dem »gel-
ben Fluß«, zurücklegte, sollten »den Anbruch eines neuen

1168
kühnen Unternehmens bekunden, durch das eine bessere
Welt heraufgeführt werden würde : Es war« – so der Au-
tor – »eine Art kultischer Handlung«, die er »… am Vor-
abend der Kulturrevolution mit einer fast rituellen Not-
wendigkeit vollzog.« (* Bauer, 566) Eines der beliebtesten
Bilder dieser Zeit war Mao als der »Große Steuermann«,
der unbeirrt die Massen durch die Wellen des revolutio-
nären Ozeans führt. Gedichte wie das folgende wurden
in Milliardenauflage ( !) unters Volk gebracht :

Beim Fahren auf hoher See vertraun wir


  auf den Steuermann,
Wie die zehntausend Wesen in ihrem Wachstum
  auf die Sonne vertraun.
Wenn Regen und Tau sie benetzen,
  werden die Sprößlinge stark.
So vertrauen wir, wenn wir
  die Revolution betreiben,
Auf die Gedanken Mao Zedongs.
Fische können nicht leben, getrennt vom Wasser,
Melonen nicht wachsen, getrennt vom Beet.
Die revolutionären Massen können
  nicht getrennt bleiben
Von der Kommunistischen Partei.
Die Gedanken Mao Zedongs sind
  ihre nie untergehende Sonne.
(* zit. b. Bauer, 567)

In diesem Lied begegnen wir nun neben dem Wasser


dem zweiten Machtsymbol des Mao-Kults : der »Ro-

1169
ten Sonne« oder der »Großen Östlichen Sonne«, einer
Metapher, die – wie wir schon berichtet haben – spä-
ter bei dem tibetischen »Shambhala-Krieger« Chögyam
Trungpa wieder auftaucht. »Langes Leben für den Vor-
sitzenden Mao, unseren höchsten Kommandanten und
die röteste rote Sonne in unserem Herzen«, sangen die
Kulturrevolutionäre. (* Avedon, 1985, 349) Auch die
»Gedanken Mao Zedongs« wurden mit einer »Roten
Sonne gleichgesetzt, die gleichsam über einem roten
Zeitalter aufgeht, eine Verehrung, die in unzähligen Ab-
bildungen des von roten Strahlen umgebenen Antlitzes
Maos ihren Niederschlag gefunden hat«. (* Bauer, 568)
Der Sinologe Wolfgang Bauer sieht in dieser Heliolatrie
einen religiösen Einfluß, der nicht in China seinen Ur-
sprung habe, sondern in westasiatischen Lichtreligionen
wie den Zaroastrismus und Manichäismus, die während
der Tang-Zeit ins Reich der Mitte eingedrungen seien
und sich dort mit buddhistischen Ideen verbunden hät-
ten. (* Bauer, 567) Die gleiche Herkunftsgeschichte wird
ja von mehreren Wissenschaftlern ebenfalls für das Ka-
lachakra-Tantra herangezogen.
Tantrisch wirkt auch Mao Zedongs Theorie von der
»Blankheit«. Bereits 1958 schrieb er, das Gewicht Chinas
in der Völkerfamilie beruhe darauf, daß es »zu allererst
arm und zum zweiten blank sei … Ein blankes Blatt Pa-
pier hat keine Flecken, und so können die neusten und
schönsten Worte darauf geschrieben, die neusten und
schönsten Bilder daraufgemalt werden.« (* zit. b. Bauer,
555, 556) Bauer sieht darin explizit Spuren des buddhi-
stischen Ideals von der »Leere« : »Der ›blanke Mensch‹,

1170
der sich nach Maos Ansicht im chinesischen Volk in be-
sonders ausgeprägter Weise präsentiert, ist nicht nur der
›reine‹, sondern gleichzeitig auch der ›neue Mensch‹, in
dem … alle alten Organe im Leibe gegen neue ausge-
wechselt sind, und alle alten Gesinnungen gegen neue.
Hier gewinnt die bewußt alle Fasern der Persönlichkeit
durchdringende, ans Mystische grenzende, mit sämtli-
chen Mitteln der Massenpsychologie vorangetriebene gei-
stige Transformierung des chinesischen Menschen, die
der Westen mit Entsetzen als ›Gehirnwäsche‹ klassifizier-
te, ihre eigentliche Bedeutung.« (* Bauer, 556)
So als wollten sie die eigenen abstoßenden Tantra-Prak-
tiken durch die Projektion auf ihren großen Gegner ban-
nen, so wird von den Exiltibetern unter Berufung auf
chinesische Quellen die Kulturrevolution mit kanniba-
listischen Ritualpraktiken in Beziehung gebracht. Per-
sonen, die während der ideologischen Kämpfe getötet
wurden, seien Opfer von Menschenfresserei geworden.
Nachts und unter größter Geheimhaltung hätten Rot-
gardisten Herz und Leber der Ermordeten herausgeris-
sen und blutend verzehrt. Ja, es habe Szenen gegeben, wo
man Menschen niederschlug, um ihnen dann mit einer
Metallröhre das Hirn herauszusaugen. (* Tibetan Review,
März 1997, 22) Die antichinesische Propaganda mag ei-
nen an dem Wahrheitsgehalt solcher Schilderungen zwei-
feln lassen, sollten sie jedoch wirklich stattgefunden ha-
ben, dann bringen auch sie die revolutionären Ereignis-
se in die Nähe eines tantrischen Musters.

1171
Eine spirituelle Konkurrenz zwischen
dem XIV Dalai Lama und Mao Zedong ?

Die versteckte religiöse Basis der chinesischen Kulturre-


volution verbietet es uns, die umfassende Gegnerschaft
zwischen Mao Zedong und dem Dalai Lama als die An-
tinomie zwischen Materialismus und Spiritualität zu be-
schreiben – eine Interpretation, auf die sich, wenn auch
mit jeweils anderer Bewertung, sowohl die tibetischen
Lamas wie die chinesischen Kommunisten wie der We-
sten eingelassen haben. Beide Systeme (das chinesische
und das tibetische) standen vielmehr – wie schon seit
Jahrhunderten die Herrscher des Potala und die Regen-
ten der verbotenen Stadt – in einer mythischen Konkur-
renz um die Weltenherrschaft, beide griffen nach dem
Symbol der »Großen Östlichen Sonne«. Auch Mao hatte
versucht, seine politische Ideologie der ganzen Mensch-
heit aufzuzwingen. Die von ihm verfaßte und im »Lan-
gen Marsch« praktisch durchgeführte »Theorie von der
Einnahme der Städte durch das Land« übertrug er als re-
volutionäres Konzept auf den gesamten Planeten, indem
er die nichtindustrialisierten Länder Asiens, Afrikas und
Südamerikas zu »Dörfern« deklarierte, die gegen die rei-
chen Industrienationen als die »Städte« revoltierten.
Aber es kann nur einen Weltenherrscher geben ! 1976,
im Todesjahr des »roten Papstes« (Mao Zedong), so be-
richten die exiltibetischen Schriften, drohte sich wieder
einmal alles für die Tibeter zum Schlechten zu wenden.
Das Staatsorakel hatte die dunkelsten Vorahnungen aus-
gesprochen. Da zog sich Seine Heiligkeit der XIV Da-

1172
lai Lama in eine Klausur zurück, die längste, die er je-
mals in Indien durchgeführt hat : »Eine äußerst strenge
Praxis«, äußerte er sich später persönlich darüber, »die
eine mehrere Wochen dauernde völlige Abgeschieden-
heit verlangt, verknüpft mit einer ganz besonderen Leh-
re des V Dalai Lama.« (* Levenson, 242) Das Ergebnis
dieser »Praxis« war – wie Claude B. Levenson berichtet
– folgendes : Zuerst ereignete sich »ein schweres Erdbe-
ben, das in China Tausende von Opfern forderte. Dann
machte Mao seine letzte Verneigung auf der Bühne der
Menschheit. Was einen den Tibetern nahestehenden In-
der zum Ausspruch veranlaßte : ›Das genügt, hört mit eu-
ren Gebeten auf, sonst fällt den Chinesen noch der Him-
mel auf den Kopf.« (* Levenson, 242) In der Tat wurde der
»Große Vorsitzende« kurz vor seinem Tode durch dieses
Erdbeben unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen. Wie
sein anwesender Leibarzt berichtet, wackelte das Bett,
das Haus schwankte, und ein naheliegendes Blechdach
klapperte furchterregend.
Ob Zufall oder nicht, wenn ein geheimes Ritual des
XIV Dalai Lama zur »Befreiung« Mao Zedongs durch-
geführt wurde, dann kann es sich dabei nur um eine der
voudouartigen Tötungspraktiken aus dem Goldenen Ma-
nuskript des V Dalai Lama gehandelt haben. Der Auto-
biographie des XIV Dalai Lamas ist noch zu entnehmen,
daß er am Todestag Maos mit dem Zeittantra beschäftigt
war. »Im September 1976«, so der Kundun, »führte (ich)
eine Kalachakra-Einweihung durch. Am zweiten Tage der
dreitägigen Feierlichkeiten starb Mao, und am nächsten
Tag regnete es den ganzen Vormittag. Nachmittags er-

1173
schien jedoch einer der schönsten Regenbogen, die ich je
gesehen habe. Ich war überzeugt davon, daß es ein gutes
Omen war.« (* Dalai Lama XIV, 1993 I, 326)
Heute nennt der Kundun Mao Zedong polemisch den
»Großen Manipulator« – er mag Recht damit haben. Aber
wir sind davon überzeugt, daß er in der Kunst der Ma-
nipulation seinen »mysto-politischen« Gegner von einst
bei weitem übertrifft. (* Spiegel, 16/1998, 115)

Die nachmaoistische Ära in Tibet

Die Chinesen der Deng-Ära sahen ihre falsche Politik


während der Kulturrevolution ein und kritisierten sich
selbst in aller Öffentlichkeit wegen der tibetischen Er-
eignisse. Es wurde der Versuch unternommen, Fehler
zu korrigieren, und verschiedene alte Einschränkun-
gen wurden Schritt um Schritt aufgehoben. Schon 1977
bot man dem Kundun die Rückkehr nach Tibet an. Das
war kein Täuschungsmanöver, sondern das aufrichtige
Bemühen, eine Versöhnung einzuleiten. Über alles, so
Deng Xiaoping, könne man reden mit Ausnahme über
die totale Unabhängigkeit Tibets.
So kam es im Laufe der Jahre, mit zeitweisen Unterbre-
chungen, immer wieder zu informellen Kontakten zwi-
schen den Vertretern der Exiltibeter und chinesischen
Parteikadern. Aber einigen konnte man sich nie.
Die Kommunistische Partei Chinas garantierte die
freie Religionsausübung, wenn auch in gewissen Gren-
zen. Zum Beispiel besteht das Verbot, »religiöse Propa-

1174
ganda« außerhalb der Klostermauern auszuüben, oder
das Verbot, Mönche unter 18 Jahren zu rekrutieren, um
Kinder vor einer »religiösen Indoktrination« zu bewah-
ren. Im großen und ganzen aber durfte der buddhisti-
sche Glaube wieder ungehindert ausgeübt werden und
blüht wie nie zuvor in den letzten 35 Jahren.
Hunderttausende von westlichen Touristen haben mitt-
lerweile das »Dach der Welt« besucht. Auch Individuen
und Reisegruppen der Exiltibeter durften das Schnee-
land privat betreten oder wurden sogar als »Staatsgäste«
offiziell eingeladen. Unter ihnen befand sich auch Gyalo
Thondup, der Bruder und Militärberater des Dalai La-
mas, der Jahre lang mit der CIA gegen die chinesischen
Kommunisten konspiriert hatte und zu den größten Fein-
den Beijings zählte. Die Chinesen waren fest davon über-
zeugt, daß die offiziellen Delegationen des Kunduns in
der Bevölkerung nicht auf großes Interesse stoßen wür-
den. Das Gegenteil war der Fall. Viele Tausende ström-
ten in Lhasa zusammen, um den Bruder des Dalai La-
mas zu sehen.
Aber dieses »liberale« Klima konnte und kann anschei-
nend nicht die tiefen Wunden heilen, die nach der Inva-
sion und während der Besetzung von den Chinesen ge-
schlagen wurden.
Denn die Opposition in Tibet gegen Beijing war bis
1998 stärker denn je zuvor nach der Flucht des Dalai
Lama, wie es die blutigen Aufstände vom Oktober 1987110
und die seither nicht mehr abbrechenden Proteste und
Demonstrationen zeigen. Bis 1990 herrschte deswegen
in Lhasa und Umgebung der Ausnahmezustand. Der Ti-

1175
betforscher Ronald Schwartz hat hierzu eine interessante
Studie vorgelegt, in der er überzeugend nachweist, daß
die tibetischen Widerstandsaktionen ritualisierten Mu-
stern folgen. Religion und Politik, Protest und Ritual ver-
mischen sich auch hier. Jede Demonstration erhält somit
neben ihrem aufklärerischen einen symbolischen Stellen-
wert und ist im Kern für die Ausführenden ein magischer
Akt, der durch ständige Wiederholung die Vertreibung
der Chinesen und die Herausbildung eines Nationalbe-
wußtseins bei der Bevölkerung bewirken soll.

Die Umkreisung des Jokhang

Die zentrale Protestzeremonie des Landes besteht in der


Umkreisung des Jokhang-Tempels durch Mönche und
Laien, welche die tibetische Flagge mit sich tragen. Die-
se Aktion wird Khorra genannt und knüpft an die tradi-
tionelle Circumambulation (Umkreisung) an. Im Uhr-
zeigersinn, die Gebetstrommeln in der Hand und die
Formel om mani padme hum auf den Lippen, umkrei-
sen die Gläubigen seit jeher das Heiligtum, einmal um
selber eine bessere Wiedergeburt zu erlangen, zum an-
deren um die dort wohnenden Gottheiten zu verehren.
Die Khorra verbindet sich jedoch heute – und das ist hi-

← 110 Die Demonstranten brannten eine Polizeistation, mehrere


Fahrzeuge und Läden ab. 6 bis 20 Tibeter wurden getötet, als die
Polizei in die Menge feuerte. Einige der diensthabenden Polizi-
sten waren ebenfalls Tibeter.

1176
storisch neu – mit Protestaktionen gegen die Chinesen :
Flugblätter werden verteilt, Plakate mitgetragen, Hoch-
rufe auf den Dalai Lama gerufen. Gleichzeitig bringen
Mönche Opferkuchen dar und beschwören vor allem
die schreckliche Schutzgöttin Palden Lhamo. Als wür-
den sie die Magie des Protestrituals außer Kraft setzen
wollen, haben die Chinesen damit begonnen, in umge-
kehrter Richtung, also gegen den Uhrzeigersinn, den
Jokhang zu umwandern.
Die in den 80er Jahren während des Rituals von den
chinesischen Sicherheitskräften verletzten und getöte-
ten Mönche gelten als die höchsten nationalen Märtyrer.
Ihr Opfertod fordert breite Nachahmung und läßt sich
im Gegensatz zum buddhistischen Gewaltverbot ohne
Schwierigkeiten legitimieren. »Dein Leben zu opfern,
widerspricht nicht dem Buddhismus !« erzählten junge
Mönche aus dem Drepung-Kloster westlichen Touristen.
(* Schwartz, 71)
Ohne seine Behauptung ausführlich zu begründen,
bringt Schwartz die Umkreisung des Jokhang mit der
Vision des buddhistischen Weltenkönigtums in Zusam-
menhang. Er verweist darauf, daß Tibets erster buddhi-
stischer Herrscher, Songtsen Gampo, das Nationalhei-
ligtum gebaut habe und daß sein Geist durch die stän-
digen Circumambulationen herbeigerufen werden soll :
»In den aufeinanderfolgenden Jahrhunderten assimilier-
ten die Tibeter Songsten Gampo mit dem universellen ( !)
buddhistischen Paradigma des idealen Königs, des Cha-
kravartin oder des raddrehenden Königs, der die dämo-
nischen Kräfte unterwirft und eine Politik etabliert, die

1177
sich verpflichtet, das Dharma und die Gerechtigkeit zu
verbreiten.« (* Schwartz, 33)
Eine Verflechtung des evozierten Weltenherrschers mit
dem »tantrischen Frauenopfer« ist dadurch gegeben, daß
dem Mythos nach das lebendige Herz Srinmos, der Mutter
Tibets, in einem geheimnisvollen See unter dem Jokhang
schlägt, wo es einst von dem König Songsten Gampo mit
einem Dolch angenagelt wurde. Angesichts der Ausrich-
tung des modernen Buddhismus, der fest in der andro-
zentrischen Tradition verhaftet bleibt, kann es kaum be-
absichtigt sein, daß durch die rituellen Umkreisungen
des Tempels die Erdgöttin befreit werden soll. Im Ge-
genteil, es ist anzunehmen, daß es den Mönchen darum
geht, die Fixierung der weiblichen Gottheit noch mehr
zu verstärken, so wie bei jedem Kalachakra-Ritual die
Erdgeister erneut am Boden festgenagelt werden.
Seit 1986 wurde zum ersten Mal wieder nach 25 Jah-
ren in Front des Jokhang das von den Chinesen 1960 ver-
botene tibetische Neujahrsfest (Mönlam) gefeiert. Diese
religiöse Veranstaltung, die, wie wir oben gezeigt haben,
mit der Tötung des Königs Langdarma in einem sym-
bolischen Kontext steht, nahmen die Mönche als eine
Gelegenheit wahr, um die chinesische Vorherrschaft zu
provozieren. Der politische Protest ist jedoch auch hier
nicht von der mythologischen Absicht zu trennen. »Die
letzte Zeremonie«, lesen wir bei Schwartz in Beziehung
auf die aktuellen Mönlamfeste, »die sich auf Maitreya,
den Buddha des kommenden Zeitalters, konzentriert, er-
strebt die Rückkehr der Harmonie für die Welt durch
das Wiedererstehen der reinen Lehre in einer mytholo-

1178
gischen Zukunft.« (* Schwartz, 88) Die rituelle Umkrei-
sung des Jokhang und die vor der »Kathedrale« abgehal-
tenen Feste bereiten also nicht nur – aus buddhistischer
Sicht – die Befreiung Tibets vom chinesischen Joch vor,
sondern ebenfalls die Errichtung einer weltweiten Bud-
dhokratie (das Wiedererstehen der reinen Lehre in einer
mythologischen Zukunft).

Die soziale Lage im heutigen Tibet

Bei einer neutralen Betrachtung erweist sich die sozi-


ale Situation im heutigen Tibet als weit komplexer, als
es die Exiltibeter gerne sähen. Es gibt fraglos viele und
einschneidende Verbesserungen gegenüber dem feuda-
len Staatsbuddhismus vor 1959, die von den Chinesen
eingeführt wurden. Aber ebenso ist es keine Frage, daß
die tibetische Bevölkerung in den letzten 35 Jahren un-
ter Verboten, Unterdrückungen, Festnahmen und Men-
schenrechtsverletzungen leiden mußte. Die meisten die-
ser Ungerechtigkeiten und Restriktionen treffen aber
auch für das übrige China zu, auf die eigene Bevölke-
rung wie auf die anderen nationalen Minderheiten. Spe-
zifisch mögen die kulturellen und ethnischen Verände-
rungen unter dem Einfluß der ins Land strömenden Han-
Chinesen und islamischen Hui sein. Doch auch hier sind
Prozesse im Gang, die sich kaum als »kultureller Völker-
mord« beschreiben lassen, sondern als eine Folge des
Übergangs von einem Feudalstaat via Kommunismus in
ein hochindustrialisiertes und multikulturelles Land.

1179
Eine panasiatische Vision des Kalachakra-Tantras ?

Wir möchten in diesem Abschnitt zwei mögliche poli-


tische Entwicklungen diskutieren, welche unseres Wis-
sens nach noch nie in Betracht gezogen wurden, weil sie
aufgrund der gegenwärtigen internationalen Lage ab-
surd erscheinen. Man muß sich jedoch vom aktuellen
Stand der Fronten freimachen, wenn man über künftige
Ereignisse in der Weltgeschichte spekuliert. Unser Jahr-
hundert hat unvorstellbare Veränderungen in kürzester
Zeit hervorgebracht, wobei die drei wichtigsten politi-
schen Ereignisse der Zusammenbruch des Kolonialis-
mus, der Aufstieg und Untergang des Faschismus sowie
des Kommunismus waren. Wie oft mußten wir erleben,
daß die erbittertsten Feinde von heute zu den besten
Freunden von morgen wurden und umgekehrt. Es ist
deswegen berechtigt, die Frage zu untersuchen, ob sich
der jetzige Dalai Lama oder eine seiner zukünftigen In-
karnationen unter Berufung auf den Shambhala-Mythos
an die Spitze einer zentralasiatischen Großmachtpolitik
mit China als der führenden Nation stellen kann. Die
andere Frage, auf die wir eingehen wollen, lautet : Könn-
ten die Chinesen selbst in Zukunft die Ideologie des Kal-
chakra-Tantras benutzen, um eine imperialistische Poli-
tik zu betreiben ?

1180
Das Kalachakra-Tantra und Asien

Das Kalachakra-Tantra und der Shambhala-Mythos hat-


ten und haben immer noch eine ganz außergewöhnliche
Popularität in Zentralasien. Sie erfüllen dort kaum das
Bedürfnis nach Weltfrieden, sondern werden insbeson-
dere in der Mongolei zu einem Symbol von Großmacht-
träumen. – Zweifelsohne liegt deswegen in der Shambha-
la-Prophezeiung die Sprengkraft für eine imperialistische
Ideologie eines aggressiven Asiens. Bei den Kalmüken,
den verschiedenen Mongolenstämmen, den Buthanesen,
den Sikkimenen und bei den Ladhakis ist diese Idee ver-
breitet. – Selbst die Japaner bedienten sich des Shambha-
la-Mythos in den 40er Jahren, um in der Mongolei Fuß
zu fassen. Die machthungrige faschistische Elite der In-
sel war großzügig in politisch-religiösen Kombinationen.
In ihrem eigenen Land hatte sie es verstanden, Budddhis-
mus und Shintoismus miteinander zu einer imposanten
imperialistischen Ideologie zu verschmelzen. Weshalb
sollte das nicht auch mit dem Lamaismus geschehen ?
So bemühten sich japanische Agenten darum, mit den
Lamas Zentralasiens und Tibets Kontakte herzustellen.
(* Kimura) Sie statteten sogar einen Suchtrupp nach der
Inkarnation des IX Jebtsundampa Khutuktu, des »gelben
Papstes der Mongolen«, mit Geldern aus und ließen ihn
zu diesem Zweck nach Lhasa schicken. (* Tibetan Review,
Februar 1991, 19) Schon unter dem XIII Dalai Lama gab
es enge Kontakte zu Japan, zum Beispiel beriet ihn ein Ja-
paner namens Yasujiro Yajima in Militärfragen. (* Tibe-
tan Review, Juni 1982, 8 f.)

1181
Im Zuge der weltweiten Renaissance aller Religionen
und ihrer fundamentalistischen Strömungen ist es des-
wegen nicht ausgeschlossen, daß der Lamaismus auch in
China erneut Fuß faßt und die Kalachakra-ldeologie dort
nach einer Rückkehr des Dalai Lama weite Verbreitung
findet. Es würden dann – wie Edwin Bernbaum meint
– nur Samen, die man vorher gesät hat, zum Sprießen
kommen. »Durch die Mongolen und die Manchus und
den Einfluß des Panchen Lamas hinterließ das Kalacha-
kra auch in China seine Spuren. So trägt zum Beispiel
der Pa t’a, ein tibetischer Stupa, auf einem Hügel über
der Verbotenen Stadt, das Zeichen des Kalachakra. Auch
fanden in Beijing große und bedeutende Kalachakra-In-
itiationen statt.« (* Bernbaum, 290) Diese wurden in den
30er Jahren vom Panchen Lama durchgeführt.

Taiwan – ein Sprungbrett für den tibetischen


Buddhismus und den XIV Dalai Lama ?

Als ein entscheidendes Indiz für eine potentielle »Erobe-


rung« Chinas durch den tibetischen Buddhismus muß
jedoch seine explosive Verbreitung in Taiwan erwähnt
werden. Zum ersten Mal missionierten tibetische La-
mas auf der Insel im Jahre 1949. Ihre Arbeit erlosch aber
bald und konnte erst 1980 wieder aufgenommen wer-
den. Von diesem Zeitpunkt an kommt es jedoch zu ei-
nem Triumphzug der tantrischen Lehre. Die Deutsche
Presse Agentur schätzt die Zahl der Kundun-Anhänger
in Taiwan auf 200 bis 300 Tausend mit steigender Ten-

1182
denz, während die Tibetan Review vom Mai 1997 sogar
von einer halben Million berichtet. Über hundert tibe-
tisch-buddhistische Heiligtümer wurden gebaut. Mo-
natlich besuchen etwa 100 lamaistische Mönche aus al-
len Ländern Taiwan, um dort Geld »für tibetische Tem-
pel in der ganzen Welt zu sammeln«. (* Tibetan Review,
Mai 1995, 11)
Zunehmend inkarnieren sich auch hohe Lamas in
taiwanesischen, das heißt chinesischen Familien. Bisher
wurden vier davon – ein Erwachsener und drei Kinder –
in den Jahren 1987, 1990, 1991, 1995 – »entdeckt«. Lama
Lobsang Jungney erzählte einem Reporter : »Reinkarna-
tionen können überall dort auftreten, wo es dafür von
Seiten des Buddhismus ein Bedürfnis gibt. Taiwan ist ein
gesegnetes Land. Es kann 40 inkarnierte Lamas haben.«
(* Tibetan Review, Mai 1995, 10, 11)
Im März 1997 bereitete man dem Dalai Lama einen
spektakulären Empfang an vielen Orten des Landes. Das
politische Klima hatte sich grundlegend geändert. Die
frühere Skepsis und Reserviertheit, mit der die offiziellen
Stellen in Taipeh dem Gottkönig entgegentraten, da sie
als Nationalisten eine Loslösung des Schneelandes von
China nicht befürworteten, war einer warmherzigen At-
mosphäre gewichen. Seine Heiligkeit wurde in der Presse
als der »bedeutendste Friedensvisionär« unserer Zeit ge-
priesen. Die Begegnung mit dem Präsidenten Lee Teng-
hui, bei der sich beide »Regierungschefs« unter anderem
über spirituelle Themen unterhielten, feierte man in der
Presse als ein »Treffen der Philosophenkönige«. (* Tibe-
tan Review, Mai 1997, 15) Selten ist der Kundun so um-

1183
jubelt worden. »In der Tat«, schreibt die Tibetan Review,
»der Taiwan-Besuch war der politischste von allen sei-
nen Überseebesuchen, soweit die jüngste Erinnerung zu-
rückreicht.« (* Tibetan Review, Mai 1997, 12)
In der südlichen Hafenstadt Kaohsiung hielt der Kun-
dun in einem Sportstadion vor 50 000 Anhängern eine
begeisternde Rede. Die tibetische Nationalflagge wehte
an allen Orten, wo er sich zeigte. Zur Errichtung eines
Tibetbüros in Taipeh billigte die taiwanesische Regierung
eine größere Summe. Das Büro wird von den Exiltibe-
tern als »de facto Botschaft« bezeichnet.
Etwa gleichzeitig brachten tibetische Mönche trotz
heftiger Proteste Beijings einen alten Zahn des Buddha,
der während der Kulturrevolution von geflohenen La-
mas mitgenommen wurde, nach Taiwan. Die Festland-
chinesen verlangten den Zahn zurück. »Taiwanesische
Politiker äußerten die Hoffnung«, heißt es dagegen in ei-
nem Pressebericht, »die Reliquie bringe Frieden nach Tai-
wan, nachdem mehrere Korruptionsskandale und Flug-
zeugunglücke über 200 Menschenleben gekostet haben.«
(* Schweizerisch Tibetische Freundschaft, 14. April, 1998
– Internet)
Die spektakuläre Entwicklung des lamaistischen Bud-
dhismus in Nationalchina (Taiwan) zeigt, daß das Land
als ein ideales Sprungbrett benutzt werden könnte, um
sich in einem vom Kommunismus befreiten China als
Staatsreligion zu etablieren. Schließlich, so der Kundun,
hätten sich die Chinesen durch die Besetzung Tibets ne-
gatives Karma aufgeladen und müßten die Konsequen-
zen daraus tragen. (* Tibetan Review, Mai 1997, 19) Wie

1184
könnte dieses Karma besser verarbeitet werden als da-
durch, daß sich das »Reich der Mitte als ganzes dem La-
maismus anschlösse« ?

Der XIV Dalai Lama und die Chinesen

Die kulturellen Beziehungen des Kunduns und die sei-


ner Familienmitglieder zu den Chinesen sind kompli-
zierter und vielschichtiger, als dies vom Westen wahrge-
nommen wird. Erinnern wir uns daran, daß im Eltern-
hause des Gottkönigs, in Takster, Chinesisch gesprochen
wurde. Mit dem Regenten Reting Rinpoche verbündet,
hatte der Vater des Dalai Lama eine so große Sympa-
thie zu Beijing gezeigt, daß ihn die Chinesen noch heu-
te als einen ihrer »Patrioten« feiern. (* Craig, 232) Zwei
Brüder Seiner Heiligkeit, Gyalo Thundup und Tendzin
Choegyal, beherrschen die chinesische Sprache fließend.
Sein souveräner Umgang mit Beijing und seine pragma-
tische Politik brachten Gyalo Thundup mehrmals von
Seiten der Exiltibeter den Vorwurf ein, er sei ein Landes-
verräter, der Tibet an China verkaufe. (* Craig, 334 ff.)
Zu vielen einflußreichen Persönlichkeiten in Hongkong
und Taiwan unterhält Dharamsala seit den 60er Jahren
persönliche Kontakte.
Der ständige Austausch mit den Chinesen rückt seit
den 90er Jahren in der Politik des Kunduns an zentra-
le Stelle. In einer Rede, die er am 9. September 1995 vor
chinesischen Studenten in Boston (USA) gehalten hat,
beginnt Seine Heiligkeit mit den Sätzen, wie wichtig ihm

1185
die Kontakte zu China und seinen Menschen seien. Dann
folgen die üblichen staatsrechtlichen Erklärungen und
die bekannten Forderungen nach Frieden, Menschen-
rechten, Religionsfreiheit, Pluralismus usw., so als würde
ein westlicher Parlamentarier für die Demokratie seines
Landes werben. Erst am Ende seiner Rede läßt der Kun-
dun die Katze aus dem Sack und bietet nonchalant den
tibetischen Buddhismus als die neue Religion Chinas
und sich damit indirekt als den buddhistischen »Mes-
sias« an : »Schließlich glaube ich fest daran und hoffe
darauf, daß – wie klein die tibetische Nation auch sein
mag – wir dennoch zum Frieden und zum Wohlstand
von China beitragen können. Jahrzehnte kommunisti-
scher Herrschaft und die wirtschaftlichen Aktivitäten der
jüngsten Jahre, beide von einem extremen Materialis-
mus geprägt, sei dieser nun kommunistischer oder ka-
pitalistischer Natur, haben vieles von Chinas spirituellen
und moralischen Werten zerstört. Ein großes spirituelles
Vakuum hat sich deswegen sehr schnell in der chinesi-
schen Gesellschaft entwickelt. In dieser Situation wür-
de die tibetisch-buddhistische Kultur und Philosophie
in der Lage sein, Millionen von chinesischen Brüdern
und Schwestern auf ihrer Suche nach moralischen und
spirituellen Werten zu dienen. Immerhin ist der Tradi-
tion nach der Buddhismus keine fremde Philosophie für
das chinesische Volk.« (* Tibetan Review, Oktober 1995,
18) Für die im Jahr 1999 geplante Kalachakra-Einweihung
in Bloomington (USA) wird im Internet auch in chine-
sischer Sprache geworben.
»Prochinesische« Statements von Seiten des Kunduns

1186
sind in den letzten Monaten immer häufiger zu hören.
1997 erklärte er, daß die materialistischen Chinesen von
einer Übernahme des spirituellen Lamaismus nur profi-
tieren könnten. Überall zeigten sich schon Zeichen, die
auf eine Re-Buddhisierung Chinas hinwiesen. Zum Bei-
spiel habe sich kürzlich von dem mongolischen Großla-
ma Kusho Bakula Rinpoche, als sich dieser kurzfristig
in Beijing aufhielt, ein hochrangiges Mitglied des chi-
nesischen Militärs segnen lassen. Ein anderer chinesi-
scher Offizier habe im Lotossitz sitzend an einer lamai-
stischen Veranstaltung teilgenommen und eine Tibete-
rin habe ihm berichtet, wie in verschiedenen Regionen
Chinas der tibetische Buddhismus gedeihe.
»Angesichts solcher Geschichten können wir anneh-
men«, führt der Dalai Lama fort, »daß, wenn sich die
Situation im eigentlichen China öffnet und wenn mehr
Freiheit entsteht, dann werden in der Tat viele Chinesen
eine wertvolle Inspiration aus der tibetisch-buddhisti-
schen Tradition erhalten.« (* Shambhala Sun, Archiv, Nov.
1996) 1998 heißt es in einem Interview, das Seine Heilig-
keit dem deutschen Playboy gegeben hat, recht materiali-
stisch : »Wenn wir ein Teil Chinas bleiben, profitieren wir
auch materiell vom enormen Aufschwung des Landes.«
(* dt. Playboy, März 1998, 44) Das Heer von Mönchen, die
dieses ehrgeizige Projekt einer »Lamaisierung Chinas«
durchführen soll, wird zur Zeit in Taiwan trainiert.
1997 schrieb der Kundun an den chinesischen Partei-
sekretär Jiang Zemin, daß er gerne eine »nicht-politische
Pilgerreise« nach Wutaishan in der Shanxi-Provinz (nicht
in Tibet) unternehmen würde. In Wutaishan befindet sich

1187
das höchste Heiligtum des Bodhisattvas Manjushri, der
sich nach lamaistischer Sicht in der Person des chinesi-
schen Kaisers inkarnierte. Der Heilige Ort birgt deswe-
gen für die Lamas das La, die Herrschaftsenergien des
chinesischen Kaisertums. Der in solchen Fragen konse-
quent denkende Kundun wird sich bei der Vorbereitung
einer solchen Reise sicher Gedanken darüber gemacht
haben, wie er sich das La des geomantisch so bedeutsa-
men Wutaishan magisch aneignen könnte.
An diesem sakralen Ort will sich der Gottkönig mit
Jiang Zemin treffen, um über die Autonomie Tibets zu
diskutieren. Aber sein primäres Anliegen dürfte – wie
schon angedeutet – ein esoterisches sein. Geplant ist dort
ein »Kalachakra-Ritual für den Weltfrieden«. Traditions-
gemäß werden die Wutai-Berge als das Tor des Lamais-
mus nach China angesehen. Im magischen Weltbild des
Dalai Lama wäre die Errichtung eines Sandmandalas
an diesem Platz der erste Schritt in der spirituellen Er-
oberung des chinesischen Reiches. Schon im Jahre 1987
führte der bekannte tibetische Lama Khenpo Jikphun
im Wutai-Gebiet eine Kalachakra-Initiation vor mehr
als 6000 Leuten durch. Er soll dort auch eine Levitati-
on gezeigt haben und für eine kurze Zeit in der Luft ge-
schwebt sein. (* Goldstein, 1998, 85)
Auf die Vision des XIV Dalai Lama, China speziell
durch das Kalachakra-Tantra zu. »erobern«, geht der Ti-
betologe und Buddhist Donald S. Lopez am Ende seines
kritischen Buches Prisoners of Shangri-La ein. Er spricht
hier von der Vorstellung, daß Teilnehmer an dem Zeit­
ritual als Shambhala-Krieger wiedergeboren werden.

1188
»Der Dalai Lama«, so Lopez, »mag eine (… effektive)
Technik gefunden haben, um Shambhala zu bevölkern
und Truppen für die Armee des 25. Königs zu rekru-
tieren, eine Armee, welche die Feinde des Buddhismus
schlagen wird und die die Utopie von Shambhala, das so
lange jenseits des Himalaya verborgen war, in die Welt
bringen wird. Es ist das Gebet des Dalai Lama – so sagt
er selber –, daß er eines Tages die Kalachakra-Initiation
in Beijing durchführen kann.« (* Lopez, 207)
Die »Straßburger Erklärung« (15. Juni 1988), in der der
Dalai Lama auf eine staatliche Autonomie Tibets ver-
zichtet hat, wenn er in sein Land zurückkehren dürfe,
schafft die besten Voraussetzungen für eine mögliche
Lamaisierung des chinesischen Großreichs. Interessant
in diesem Zusammenhang ist, daß der Kundun mit dem
Verzicht auf politische Autonomie gleichzeitig eine Ge-
bietsausdehnung für die kulturelle Autonomie Tibets ar-
tikuliert hat. Jetzt sollen auch die Grenzprovinzen Kam
und Amdo, die schon seit Jahrhunderten eine chinesisch-
tibetische Mischbevölkerung aufwiesen, unter die kul-
turpolitische Herrschaft des Kunduns gelangen. Gemä-
ßigte Kreise in Beijing befürworten eine Rückkehr des
Dalai Lama ebenso wie die neugegründete Demokrati-
sche Partei Chinas unter Xu Wenli.
Auch ging es in den letzten Jahren bei den zahlrei-
chen Berührungen der exiltibetischen Politiker mit Bei-
jing durchaus nicht nur feindlich zu, vielmehr erwecken
die Kontakte manchmal den Eindruck, hier werde hin-
ter verschlossenen Türen ein für den Westen nicht mehr
durchschaubares asiatisches powerplay gespielt. Zum Bei-

1189
spiel kooperierten die Chinesen und Seine Heiligkeit er-
folgreich bei der Reinkarnationssuche und Einsetzung des
neuen Karmapa, des Führers der Rotmützen, wobei eine
Fraktion der Kagyüpas allerdings einen anderen Kandi-
daten vorschlug und auch in Indien inthronisierte.
Nach der Chinareise Clintons (1998) werden Ereignisse
der exiltibetischen Geheimdiplomatie mit China immer
häufiger bekannt. Clinton hatte im chinesischen Fern-
sehen zu Jiang Zemin gesagt : »Ich habe den Dalai Lama
getroffen. Ich halte ihn für einen aufrechten Mann und
glaube, er und Präsident Jiang würden sich sehr mögen,
wenn sie miteinander sprächen.« (* Süddeutsche Zeitung,
17. 07. 1998) Daraufhin gab Seine Heiligkeit öffentlich zu,
daß schon mehrere »private Kanäle« zu Peking existier-
ten, die »fruchtbare Kontakte« erbrächten. (* Süddeut-
sche Zeitung, 17. 07. 1998)
Wenige Tage später forderte Robert Thurman, das ame-
rikanische Sprachrohr Seiner Heiligkeit, ein von Clinton
organisiertes Treffen zwischen dem Dalai Lama und Ji-
ang Zemin auf höchster Ebene. Jedenfalls bereitet sich
der Kundun auf diese Begegnung vor. Er verzichtete so-
gar) im Juli (1998) auf einen Besuch in Taiwan, dessen
Autonomiebestrebungen er mittlerweile in Frage stellt,
um die Kontakte zu China nicht zu gefährden.

Der XIV Dalai Lama und der Kommunismus

Als eine weitere Anbiederung an das chinesische System


ist die ständige Beteuerung des Kunduns zu werten, daß

1190
Buddhismus und Kommunismus gemeinsame Interes-
sen hätten. So kann man aus der Feder Seiner Heiligkeit
zahlreiche Sätze wie die folgenden lesen : »Der Buddha
erstrebte den Fortschritt im spirituellen Bereich und
Marx im materiellen Bereich ; welche Verbindung könn-
te denn fruchtbarer sein ?« (* Hicks, 182) – oder – »Ich
glaube fest daran, daß es eine gemeinsame Basis zwi-
schen Kommunismus und Buddhismus gibt.« (* Grun-
feld, 188) »Normalerweise beschriebe ich mich als halb
Marxist, halb Mönch.« (Zeitmagazin, Nr. 44, 1998, 24)
Es ist sogar von seiner Seite ein Plädoyer für eine kom-
munistische Wirtschaftspolitik bekannt : »Was die Wirt-
schaft betrifft, so kann die marxistische Theorie mög-
licherweise den Buddhismus ergänzen …« (* Levenson,
334) Kein Wunder also, daß auf Anregung des Gottkö-
nigs hin die »Kommunistische Partei Tibets« gegrün-
det wurde. Selbst für westliche Nostalgiker, die einem
untergegangenen Kommunismus nachtrauern, wird der
Kundun zum linken Revolutionär : »Der Dalai Lama ist
geradezu ein Antiserum zum grassierenden Kapitalis-
mus«, berichtet die New York Times (Stern, Nr. 45, 25.
Oktober, 28)
Bis in die 80er Jahre ging es dem Dalai Lama darum,
durch solche Äußerungen eine gute Beziehung mit der So-
wjetunion herzustellen, die seit den 60er Jahren mit Chi-
na in einen gefährlichen Konflikt geriet. Schon der Ge-
sandte des XIII Dalai Lama, Agvan Dorzhiev, war – wie
wir gesehen haben – ein Meister des politischen Fronten-
wechsels, als er nach der bolschewistischen Machtüber-
nahme den Zaren problemlos gegen Lenin austauschte.

1191
Interessant ist jedoch, daß die promarxistischen Sätze
Seiner Heiligkeit nach dem Zusammenbruch der mei-
sten kommunistischen Systeme weiterhin von ihm ar-
tikuliert werden. Vielleicht aus ethischen Gründen oder
weil China zumindest ideologisch weiterhin an seiner
kommunistischen Vergangenheit festhält ?
Heute will sich der Kundun durch solche Statements
eine Rückkehr nach Tibet unter chinesischer Herrschaft
auf jeden Fall offen halten. 1997 erklärte er in Taiwan,
daß er weder anti-chinesisch, noch anti-kommunistisch
sei. (* Tibetan Review, Mai 1997, 14) Er kritisierte sogar
China, weil es seine marxistische Wirtschaftstheorie auf-
gekündigt habe und deswegen der Graben zwischen arm
und reich immer größer werde. (* Martin Scheidegger –
Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft, 18.
8. 1997)

Gibt es ein Interesse Chinas am Shambhala-Mythos ?

Besteht nun ein chinesisches Interesse am Kalachakra-


Tantra und am Shambhala Mythos ? China und Tibet
haben sich – wir wiederholen es – seit jeher an einem
mythischen Geschichtsverständnis orientiert, das den
Europäern und Amerikanern nicht ohne weiteres ver-
ständlich ist. Daß dieses archaische Denken auch un-
ter dem »materialistischen« Kommunismus fortexi-
stierte, ja noch potenziert wurde, will hier kaum einer
wahrhaben. Für einen Westler repräsentiert heute Chi-
na immer noch »das Land des Materialismus« und Ti-

1192
bet »das Land der Spiritualität«. Es gibt aber seltene Aus-
nahmen von diesem Klischee, wie zum Beispiel Hugh
Richardson, der in seiner Historie Tibets folgendes fest-
stellt : »Die Chinesen haben einen tiefen Bezug zur Ge-
schichte. Aber Geschichte ist für sie nicht einfach eine
wissenschaftliche Studie. Sie hat die Charaktereigen-
schaften eines Kultes, verwandt mit der Ahnenvereh-
rung, mit der rituellen Präsentation der Vergangenheit,
den Umständen nach verbessert und aufpoliert als Mo-
dell für aktuelle politische Handlungen. Sie steht auch
mit der mystischen Sicht in Zusammenhang, die China
als das Zentrum der Welt sieht, als das Universelle Impe-
rium, von dem jedes andere Land gemäß eines natürli-
chen Bedürfnisses ein Teil sein möchte … Die Kommu-
nisten waren die ersten Chinesen, welche die Macht hat-
ten, ihre atavistischen Theorien in die Tat umzusetzen.«
(* zit. b. Craig, 146)
Dieses mythisch begründete Geschichtsverständnis
wird, wenn es sich selbst während des Kommunismus
hatte halten können, kaum mit diesem schwinden. Im
Gegenteil – religiöse Erneuerungen gehen heute mit dem
prosperierenden Aufbau kapitalistischer Wirtschaftssy-
steme und der zunehmenden Technisierung des Landes
parallel. Zwar sind die Han-Chinesen ein stark an ma-
teriellen Dingen orientiertes Volk, und der in den letz-
ten Jahren wieder zu Ehren gekommene Konfuzianis-
mus gilt als Vernunftphilosophie und nicht als Religion.
Aber die Geschichte zeigt, daß visionäre und ekstatische
Kulte leicht von außen nach China eindringen konnten.
Die chinesische Machtelite hat mehrmals in den vergan-

1193
genen Jahrhunderten ihre religiös-politischen Ideen aus
anderen Kulturen importiert. Somit ist das Reich der
Mitte auf solche ideologisch-spirituelle Invasionen hi-
storisch vorbereitet, denn es hat sich bis hin zum mar-
xistischen Kommunismus gezeigt, schreibt der Sinologe
Wolfgang Bauer, »daß China, was die Religion anging,
nie von sich aus nach außen vorstieß, nie selbst mis-
sionierte, sondern umgekehrt immer nur zum Ziel sol-
cher Missionierungen von außen wurde.« (* Bauer, 570)
Dennoch konnten solche religiösen Importe das Land
nicht wirklich vereinnahmen, sondern hatten alle nur
die eine Aufgabe, nämlich die Idee von China als dem
Zentrum der Welt zu festigen. Das galt auch für den
marxistischen Maoismus.
Vergessen wir weiterhin nicht, daß das Reich der Mitte
jahrhundertelang den Lehren des Buddha folgte. Die frü-
hesten Spuren des Buddhismus lassen sich bis ins erste
nachchristliche Jahrhundert verfolgen. Unter der Tang-
Dynastie waren viele Kaiser Buddhisten. Speziell auf das
letzte Reich, auf die Manchus, übte der tibetische Lama-
ismus eine große Faszination aus. Eine chinesische Reak-
tivierung des Shambhala-Mythos könnte also ohne wei-
teres für eine selbstbewußte chinesische Machtelite eine
traditionell verankerte großasiatische Ideologie liefern,
die den auslaufenden Kommunismus ersetzt. Wie unter
den Manchus braucht sich eine solche Vision keineswegs
mit den Vorstellungen des gesamten Volkes zu decken.

1194
Der Panchen Lama

Vielleicht bedarf es auch gar keiner Rückkehr Seiner


Heiligkeit nach Tibet, damit sich das Zeittantra in Chi-
na ausbreiten kann. Vielleicht bauen die Chinesen schon
ihren eigenen Kalachakra-Meister, den Panchen Lama,
auf, der traditionell als chinafreundlich gilt. »Die Tibe-
ter glauben«, schreibt Edwin Bernbaum, »daß die Pan-
chen Lamas eine besondere Verbindung zu dem verbor-
genen Königreich besitzen, und deswegen werden sie in
allen Angelegenheiten, die Shambhala betreffen, für be-
sondere Autoritäten gehalten.« (* Bernbaum, 194) Hinzu
kommt die weitverbreitete Prophezeiung, daß der End-
zeitgeneral Rudra Chakrin eine Inkarnation des Pan-
chen Lama sein werde.
Die gemeinsame Geschichte des Dalai Lamas und des
Herrschers von Tashi Lunpho (Panchen Lama) zeigt zahl-
reiche politische und spirituelle Dissonanzen, die un-
ter anderem dazu führten, daß sich die beiden Hierar-
chen in ihrem gegenseitigen Kleinkrieg jeweils mit un-
terschiedlichen ausländischen Mächten verbündeten.
Stolz haben die Panchen Lamas immer ihre Unabhän-
gigkeit von Lhasa verteidigt. Im großen und ganzen wa-
ren sie den Chinesen gegenüber freundlicher gesinnt als
die Herrscher auf dem Potala. 1923 gipfelte der innerti-
betische Konflikt in der Flucht des IX Panchen Lamas
nach China. Eigenen Worten zufolge war er »nicht mehr
in der Lage, unter diesen Ärgernissen und Wunden zu
leben«, die ihm Lhasa zufügte. (* Mehra, 45) Sowohl er
als auch der XIII Dalai Lama hatten im Vorfeld Waffen

1195
und Munition erworben, und eine bewaffnete Auseinan-
dersetzung zwischen den beiden Kirchenfürsten lag jah-
relang in der Luft. Sie erschöpfte sich jedoch darin, daß
eine Truppe von dreihundert Mann auf Befehl von Lhasa
den fliehenden Hierarchen aus Tashilunpho vergeblich
verfolgte. Der XIII Dalai Lama war so erbost, daß er der
flüchtigen Inkarnation des Amithaba die Buddhaschaft
abstritt, weil sie selbstisch, stolz und unwissend sei. Sie
habe sich »mit ihren sündigen Genossen, die verrückten
Elefanten glichen und den falschen Pfad einschlugen, aus
dem Staub gemacht.« (* Mehra, 45)
Im Jahre 1932 soll der Panchen Lama eine Invasion
Tibets mit 10 000 chinesischen Soldaten geplant haben,
um das Schneeland zu erobern und sich selbst als dessen
Herrscher zu etablieren. Erst nach dem Tode des »Großen
Dreizehnten« kam es zu einer wirklichen Aussöhnung
mit Lhasa. 1937 kehrte der geschwächte und enttäusch-
te Kirchenfürst nach Tibet zurück, starb aber noch im
selben Jahr. Seine chinafreundliche Politik drückte sich
jedoch noch in seinem Testament aus, wo er prophezeit :
»Buddha Amithabas nächste Inkarnation wird unter den
Chinesen gefunden werden.« (* Hermanns, 1956, 323)
Bei der Suche nach dieser neuen Inkarnation gab es ei-
nen Kandidaten der Nationalchinesen und einen der tibe-
tischen Regierung. Jede Partei weigerte sich, den Knaben
der anderen anzuerkennen. Unter starkem politischen
Druck konnten sich jedoch die Chinesen am Ende durch-
setzen. Die Erziehung des X Panchen Lama geschah denn
auch unter ihrem Einfluß. Mit einigem Recht bezeichne-
te man ihn deswegen als eine Marionette Beijings.

1196
Nachdem der XIV Dalai Lama 1959 aus Tibet geflohen
war, ernannten die Chinesen den Hierarchen von Tashi-
lunpho zum nominellen Staatsoberhaupt Tibets. Er übte
sein Amt jedoch nur sehr begrenzt aus und ließ sich eini-
ge Male zu Solidaritätserklärungen für den Dalai Lama
hinreißen. Das brachte ihm einen jahrelangen Hausar-
rest und Öffentlichkeitsverbote ein. Auch wenn solche
Äußerungen heute von den Exiltibetern als patriotische
Bekenntnisse hochgespielt werden, hat der X Panchen
Lama im großen und ganzen den Part Beijings bezie-
hungsweise den eigenen gespielt. 1978 brach er das Zö-
libat, das ihm der Gelugpa-Orden auferlegte, heiratete
eine Chinesin und zeugte mit ihr eine Tochter.
Noch kurz vor seinem Tode nahm er aktiv an der ka-
pitalistischen Wirtschaftspolitik der Deng-Xiaoping-Ära
teil und gründete 1987 in Tibet den Kangchen. Dabei
handelt es sich um eine machtvolle Dachorganisation,
die eine Anzahl von Firmen und Geschäften kontrolliert,
internationale Entwicklungfonds für Tibet verteilt und
den Export tibetischer Produkte betreibt. Die im Kang-
chen versammelte neokapitalistische Wirtschaftselite re-
krutiert sich großteils aus den alten tibetischen Adelsfa-
milien und steht der Politik des XIV Dalai Lama feind-
lich gegenüber, während sie auf der anderen Seite das
unterstützende Wohlwollen Beijings genießt.
Was die tibetischen Protestbewegungen der letzten
Jahre anbelangt, so versuchte der X Panchen Lama, be-
schwichtigend auf die revoltierenden Mönche Einfluß zu
nehmen, bedauerte aber, daß diese nicht auf ihn hören
wollten. »Wir bestehen darauf, die meisten Mönche und

1197
Nonnen, die sich leichte Verbrechen zuschulden kommen
ließen (gemeint sind damit Widerstände gegen die chi-
nesische Staatsgewalt), umzuerziehen«, gab er öffentlich
bekannt und fuhr fort : »Aber gegenüber denjenigen, die
zu Unruhen angestiftet haben, werden wir keine Gnade
walten lassen.« (* Maclnnes, 282)
Im Jahre 1989 starb die zehnte Inkarnation des Amit-
haba. Die Chinesen machten aus den Trauerfeierlichkei-
ten ein pompöses Staatsereignis ( !), das landesweit durch
Radio- und Fernsehsendungen ausgestrahlt wurde. Sie
luden den XIV Dalai Lama zu dem Begräbnis, das in
Beijing stattfand, ein, wollten aber nicht, daß er danach
Tibet besucht. Der Kundun lehnte aus diesem Grunde
ab. Zur gleichen Zeit gaben die Exiltibeter bekannt, der
Panchen Lama sei vergiftet worden.
Das politische Machtspiel fand seine spektakuläre Neu-
aufführung bei der Suche nach der elften Inkarnation.
Zuerst schien es so, als würden beide Parteien (die Chi-
nesen und die Exiltibeter) zusammenarbeiten. Doch dann
gab es wiederum zwei Kandidaten : einen des Kunduns
und einen Beijings. Letzterer wurde in Tashi Lunpho in-
thronisiert. Eine durchaus machtbewußte Gruppierung
von chinafreundlichen Lamas führte die Zeremonien
durch, während man den vom Dalai Lama designier-
ten Anwärter unter dem Protest der Weltöffentlichkeit
zu seinen Eltern zurückschickte. Dharamsala sprach zu-
erst von einem Mord des Knaben und dann von einer
Entführung.
All das mag als Ausdruck des tibetisch-chinesischen
Kleinkrieges gewertet werden, doch ist es selbst für die

1198
Exiltibeter verwunderlich, weshalb die Chinesen auf die
magische Prozedur des Wiedergeburtsmythos so viel
Wert legten und ihn zu einer Staatsaffäre hochspielten,
zumal die Erziehung des Dalai Lama-Kandidaten eben-
falls in ihren Händen gelegen hätte. Wahrscheinlich wer-
den sie sich primär aus pragmatisch politischen Erwä-
gungen dazu entschlossen haben, aber die Magie reli-
giöser Systeme weist ihre Eigendynamik auf und kann
diejenigen einfangen, die sich ihrer nichtwissend bedie-
nen. Eine Lamaisierung Chinas mit oder ohne den Da-
lai Lama ist durchaus eine historische Möglichkeit. Zum
Beispiel war der junge Karmapa der Hauptgast bei den
Nationalfeiertagen in Beijing, und bedeutende Führer der
chinesischen Regierung unterhielten sich mit ihm. Die
nationale Presse berichtete ausführlich über seine an-
schließende Reise durch China, die für den jungen Hier-
archen vom Staat organisiert wurde. Er soll ausgerufen
haben : »Lang lebe die Volksrepublik China !« (* Tibetan
Review, November 1994, 9)
Was für eine Perspektive für die Politik der Kalachakra-
Gottheiten, wenn sie sich in einer Kombination von Pan-
chen Lama und Dalai Lama in China verankern könn-
ten, um dort die Grundlage einer panasiatischen Ideolo-
gie abzugeben ! Endlich könnten sich »Vater« und »Sohn«
wieder vereinigen, denn als solche werden der Herrscher
von Tashilunpho (der Vater) und der Hierarch vom Potala
(der Sohn) bezeichnet, und so betiteln sie sich gegenseitig.
Der eine hätte die Aufgabe übernommen, das Zeittantra
in den Westen zu bringen, der andere würde es in seinem
Ursprungsland in Innerasien wieder zum Leben erwec-

1199
ken. Amithaba und Avalokiteshvara, in der Gestalt ihrer
irdischen Inkarnationen als der Panchen und der Dalai
Lama zwar immer wieder zerstritten, würden sich jetzt
ergänzen – aber diesmal ginge es nicht mehr um Tibet,
sondern um China und dann um die ganze Welt.

Die kommunistische Partei Chinas

Die offizielle Stellung der Kommunistischen Partei Chi-


nas zur gesellschaftlichen Rolle der Religion ist zwar im-
mer noch marxistisch-leninistisch geprägt : »Religiöser
Glaube und religiöses Gefühl, religiöse Zeremonien und
Organisationen, die mit dem entsprechenden Glauben
und Gefühl übereinstimmen, sind alle Produkte der Ge-
schichte einer Gesellschaft.
Der Beginn einer religiösen Mentalität spiegelt das
niedrige Produktionsniveau …«, heißt es in einer Grund-
satzerklärung der chinesischen Regierung, und der Text
fährt fort, daß in vorkommunistischen Zeiten die Religi-
on als ein Mittel »zur Kontrolle und Betäubung der Mas-
sen« benutzt wurde. (* Maclnnes, 43) Nichtdestotrotz ist
die Religionsfreiheit, wenn auch mit einigen Einschrän-
kungen, seit den 70er Jahren garantiert. Im ganzen Land
kann man eine sich zunehmend ausweitende religiöse Re-
naissance feststellen, die zwar noch unter staatlicher Kon-
trolle steht, aber dabei ist, wie ein unterirdischer Strom
gewaltig anzuschwellen, und bald mit voller Macht an
die Oberfläche treten wird.
Alle religiösen Richtungen sind davon betroffen – der

1200
Taoismus, der Chan-Buddhismus, der Lamaismus, der
Islam und die verschiedenen christlichen Konfessionen.
Der Konfuzianismus gilt nach offizieller Version nicht als
ein Glaubensbekenntnis, sondern als eine Philosophie.
Seit der Deng-Ära verurteilt man selbstkritisch und öf-
fentlich die Übergriffe der Großen Proletarischen Kul-
turrevolution gegen Religionsvertreter. Im Augenblick,
noch mehr aus schlechtem Gewissen und aus touristi-
schen Motiven als aus Glaubenseifer, werden in ganz Chi-
na Unmengen von Geld zum Wiederaufbau der zerstör-
ten Heiligtümer ausgegeben.
Alle erwarten in jedem Augenblick den großen Sprung
vorwärts in eine religiöse Wiedergeburt des Landes.
»Chinas Balgerei mit dem Dalai Lama erscheint als eine
Nebenaufführung, verglichen mit der Taiwan-Krise«,
schreibt der ehemalige Herausgeber des Japan Times
Weekly, Yoichi Clark Shimatsu. »Aber Beijing ist dabei,
einen politischen Krieg um die Herzen und Bewußtseine
von Asiens Buddhisten zu führen, der weit bedeutender
sein kann als der Kampf um die Zukunft der Demokra-
tie in Taiwan.« (* Shimatsu – ‹pacificnews.org/jinn/sto-
ries/2.06/960314-dalai.html›)
Es mag aus rein machtpolitischen Erwägungen gesche-
hen, daß sich die chinesischen Kommunisten buddhi-
stischer Konstruktionen bedienen, um durch eine Vor-
wärtsstrategie der allgemeinen religiösen Renaissance im
Lande den Wind aus den Segeln zu nehmen, zum Bei-
spiel dadurch daß Mao Zedong zu einem Bodhisattva de-
klariert wird. (* Tibetan Review, Januar 1994, 3) Aber es
gibt tatsächlich – wie wir uns durch eine Fernsehdoku-

1201
mentation überzeugen konnten – Bewohner in den öst-
lichen Provinzen des Großreiches, die auf ihren Altären
neben Bildnissen der Kuan Yin und des Avalokitshvara
dasjenige des Großen Vorsitzenden aufgestellt haben, den
sie in ihrer Not um Hilfe anflehen. Eine Mythisierung
Maos und seine Transformation in eine Bodhisattva-Fi-
gur dürften um so leichter fallen, je mehr die Zeit die
konkreten historischen Ereignisse vergessen macht.
Im anbrechenden Kampf um die Herrschaft Buddhas
über China stehen sich jedoch mehrere Fraktionen einan-
der gegenüber. Einige der einflußreichen japanisch-bud-
hhistischen Sekten zum Beispiel, die ihren Ursprung aus
chinesischen Mutterklöstern ableiten, sehen im tibeti-
schen Klerus einen Erzfeind. Auch das hat seine histori-
schen Ursachen. Im 13. Jahrhundert ließen Lamas unter
dem Schutz der großen Mongolenherrscher (Yuan-Dy-
nastie) die Tempel der chinesisch-buddhistischen Lotus-
Sekte in Südchina schleifen. Als Reaktion organisierte
diese eine Bauernguerilla, und es gelang ihr, die Fremd-
herrschaft abzuschütteln, die Tibeter nach Hause zu schic-
ken und die Ming-Dynastie zu errichten (1368). »Die-
se Tradition religiöser Rebellion«, schreibt Yoichi Clark
Shimatsu, »verschwand unter dem Kommunismus nicht,
sondern setzte sich hinter einem ideologischen Schleier
fort. Mao Zedong’s utopische Vision, die sowohl die Kul-
tur-Revolution wie die Unterdrückung der Intellektuel-
len auf dem Tiananmen-Platz antrieb, weist verblüffende
Ähnlichkeiten mit der populistisch buddhistischen Po-
litik des Kaisers Zhu Yuanzhang auf, dem Gründer der
Ming-Dynastie, selbst ein Anhänger der Lotus-Sekte und

1202
ein buddhistischer Priester.« (* Shimatsu – ‹pacific-news.
org/jinn/stories/2.06/960314-dalai.html›)
Viele japanische Buddhisten sehen in einer Kombina-
tion von maoistischem Populismus, der Fortsetzung von
Deng Xiaoping’s ökonomischen Reformen und familiären
Werten des (nicht-tibetischen) Buddhismus, eine neue
»irdische« Utopie. Auf einem Treffen der Soka Gokkai-
Sekte wurde herausgestellt, daß der Vorname des chine-
sischen Premiers Li Peng »Roc« laute, was dem Namen
des mythischen Riesenvogels entspräche, der den Bud-
dha geschützt habe. Li Peng anwortete allegorisch, daß
im gegenwärtigen China der Buddha »das Volk ist, und
ich selbst betrachte mich als ein Hüter des Volkes«. (* Shi-
matsu – ‹pacificnews.org/jinn/stories/2.06/960314-dalai.
html›) Repräsentanten der Soka Gokkai interpretierten
auch die Beziehung zwischen Shoko Asahara und dem
Dalai Lama als einen gemeinsam geplanten Angriff auf
die chinafreundliche Politik der Sekte.
Die Chinesen wissen ebenso wie die Exiltibeter, daß
die Macht in den Händen der gesellschaftlichen Eliten
liegt. Diese werden entscheiden, wohin die zukünftige
Entwicklung geht. Ob die nationale Frage überhaupt noch
beim tibetischen Klerus eine Rolle spielen wird, wenn er
mit staatlicher Duldung und Unterstützung seinen Ein-
zug nach China halten darf, ist zu bezweifeln. Seit dem
Mord an König Langdarma, so lehrt uns die tibetische
Geschichte, stehen bei politischen Entscheidungen die
Interessen der Mönchspriester und nicht die des Volkes
an erster Stelle. Das galt ebenso umgekehrt für die chi-
nesischen Kaiser. Auch die chinesische Herrschaftseli-

1203
te mag sich in Zukunft nach machtpolitischen Kriteri-
en entscheiden, welchen religiösen Weg sie einschlägt :
»Beijing sieht klar einem buddhistischen Revival entge-
gen, um die spirituelle Leere im Herzland Asiens auf-
zufüllen, soweit dieses nicht die nominellen, weltlichen
Autoritäten herausfordert. Eine solche Wiederbelebung
könnte der Hauptimpetus in einem Jahrhundert des Pa-
zifik sein. Wie alle Utopien kann diese aber auch zu ei-
nem Desaster führen.« (* Shimatsu – ‹pacific-news.org/
jinn/stories/2.06/960314-dalai.html›)
Der Westen, der sich nicht mit dem Gewaltpotential
des tantrisch-tibetischen Buddhismus auseinandersetzt,
beziehungsweise es überhaupt zur Kenntnis nimmt, sieht
– blind, wie er ist – in einer Verbreitung des Lamais-
mus in China eine pazifistische Heilstat des XIV Da-
lai Lama. Der Tibet-Experte des Weißen Hauses, Mel-
vyn Goldstein, fordert den Kundun geradezu dazu auf,
nach Tibet zurückzukehren. Er gibt damit die offizielle
Meinung der amerikanischen Regierung wieder : »Will
er (der Dalai Lama) wirklich etwas erreichen«, so Gold-
stein, »muß er aufhören, China auf der internationalen
Bühne anzugreifen, muß er zurückkehren und öffentlich
die Souveränität über seine Heimat akzeptieren.« (* Spie-
gel 16/1998, 118)
Alles deutet daraufhin, daß das bald geschehen könnte,
und zwar zuerst unter Bedingungen, welche die Chine-
sen diktieren. In seiner Kritik des Films Kundun schreibt
der Journalist Tobias Kniebe : »So wenig reale Macht die-
ser Mann (der Dalai Lama) im Augenblick haben mag :
Als Symbol ist er nicht anzugreifen und nicht auszulö-

1204
schen. Die Geschichte des gewaltfreien Widerstandes
ist eine der größten, die es gibt – und darin ist Kun-
dun (der Film) nur eine Art Preludium. Der eigentliche
Film, auf den wir warten, beginnt vielleicht schon bald :
Wenn ein scheinbar unangreifbarer Milliardenmarkt von
der Macht eines Symbols (dem Dalai Lama) unterwan-
dert wird, dessen Evidenz er auf Dauer nicht widerstehen
kann. Falls dieser Film je gedreht wird, läuft er nicht im
Kino – sondern auf CNN.« (* Süddeutsche Zeitung, 17.
3. 1998) Kniebe und viele andere erwarten also ebenso
wie der Dalai Lama und sein Klerus eine Lamaisierung
des chinesischen Großreiches.
Eine wilde Spekulation ? – David Germano, Professor
für tibetische Studien in Virginia, stellte auf seiner Ti-
betreise fest : »Die chinesische Faszination für den tibe-
tischen Buddhismus ist außerordentlich bedeutsam, und
ich kann persönlich extreme personelle Devotionen und
finanzielle Unterstützungen von Han-Chinesen sowohl
für monastische als auch für weltliche Persönlichkeiten
(d. h. Lamas) innerhalb der Volksrepublik China bezeu-
gen.« (* Goldstein, 1998, 86)
Am deutlichsten wird eine solche Perspektive wohl
durch einen Diskussionsbeitrag im Internet, der am 8. 4.
1998 gesendet wurde : »Seine Heiligkeit der Dalai Lama«,
heißt es dort, »wird die Völker Taiwans und Chinas dazu
bewegen können, den buddhistischen Glauben anzuneh-
men. Bald darauf wird es die Konföderierten Republiken
Großasiens geben (Confederate Republics of Greater Asia
– CROGA). Die Republik von Taiwan, die Volksrepublik
China, die demokratische Republik Mongolei, die Ost-

1205
turkestanische Republik, die Inner-Mongolische Repu-
blik, Japan, Korea … alle werden Teil der CROGA sein.
Der Dalai Lama wird der Chef der CROGA sein. (Dalai
Lama will be the head of the CROGA).« (* 08. 04. 1998
‹brigitte@news.xnet.com›)
Aber ob der Kundun aufs Dach der Welt heimkehrt
oder nicht, seine imperialistisch-faschistoide-aggres-
sive Kalachakra-Ideologie. ist im Westen, wo Religion
und Politik fein säuberlich voneinander getrennt werden,
kein Thema der Analyse und der Kritik. Die despotische
Idee vom Weltenherrscher, das kommende Armageddon,
der Weltkrieg zwischen Buddhismus und Islam, die Er-
richtung einer Mönchsdiktatur, die Herrschaft der tibe-
tischen Götter über den Planeten, die Unterwanderung
des Westens, die Entwicklung einer panasiatisch-lamai-
stischen Großmachtpolitik – alles Visionen, die im fun-
damentalistischen System des Kunduns angelegt sind und
durch jede Kalachakra-lnitiation magisch gefestigt wer-
den – nehmen Politiker aus Europa und Amerika nicht
wahr. Sie lassen sich durch die Demokratie- und Frie-
densbekenntnisse des Gottkönigs ständig Sand in die Au-
gen streuen und wissen nicht, daß sie dabei sind, ihren
eigenen kulturellen Ausverkauf zu betreiben. Wie und
mit welchen Mitteln Seine Heiligkeit den Westen kultu-
rell zu erobern sucht, das wollen wir uns in den folgen-
den Kapiteln ansehen.
15. DIE BUDDHOKRATISCHE EROBERUNG
DES WESTENS (TAKTIKEN, STRATEGIEN,
ZIELE)

Die Verbreitung des Buddhismus im Westen wurde aus


der Sicht der tibetischen Lamas von einer uralten Pro-
phezeiung vorausgesagt. So soll schon der historische
Buddha folgende Prognose gemacht haben : »2500 Jahre
nach meinem Dahinscheiden wird das Dharma im Lan-
de der Rotgesichter verbreitet werden.« (* Mullin, 1991,
145) Gemeint seien damit die USA und die Ureinwoh-
ner des Kontinents, die Indianer. Eine verblüffend ähn-
liche Vorhersage liegt von seiten des tibetischen Kul-
turgründers Padmasambhava vor : »Wenn der Eisenvo-
gel fliegt und die Pferde auf Rädern rollen, kommt die
buddhistische Lehre in das Land des Roten Mannes.«
(* Bernbaum, 33) Westliche Kulturträger wie der Regis-
seur Martin Scorsese zitieren einen berühmten Spruch,
den das tibetische Staatsorakel vor der Flucht des Kun-
duns in den 50er Jahren gemacht hat : »Das Juwel, das die
Wünsche in Erfüllung gehen läßt, leuchtet im Westen«,
wird dort prophezeit. (* Focus, 46/1997, 168) »Das Juwel,
das die Wünsche in Erfüllung gehen läßt« ist ein Beina-
me des Dalai Lama.
In den 60er und 70er Jahren gestaltete sich die Aus-
breitung des tantrischen Buddhismus im Westen noch als
schwierig, insbesondere was seine gesellschaftliche Aner-
kennung anbelangte. Die buddhistischen Gruppen teilten

1207
Der XIV Dalai Lama in New York während eines
Kalachakra-Rituals

mehr oder weniger das Schicksal aller anderen »exoti-


schen« Sekten. Man machte in der Öffentlichkeit keinen
Unterschied zwischen Hare Krishna, Bhagwan-Anhän-
gern und Gelugpa-Mönchen. Doch dank der Mobilität,
des politischen Geschicks, der weltmännischen Art und
der charismatischen Ausstrahlung des XIV Dalai Lama
hat sich diese Isolation des Lamaismus mittlerweile in

1208
ihr Gegenteil verwandelt und ist in den letzten Jahren zu
einen Triumphzug geworden. Während der Mitglieder-
zuwachs der anderen östlichen Sekten seit den 90er Jah-
ren stagniert oder sogar zurückgeht, wächst der tibeti-
sche Buddhismus »wie eine Ozeanwelle« an, berichtet das
Nachrichten-Magazin Der Spiegel und fährt fort : »Nach
Sekten und Esoterik haben Deutsche ein neues Flucht-
ziel aus der Sinnkrise : den Buddhismus. In der Bundes-
republik sympathisieren 300 000 Menschen mit der fern-
östlichen Religion, die Frauen diskriminiert, für Mönche
und Nonnen den Zölibat fordert und deren westliche
Lehrer Banalitäten als Weisheiten verkünden.« (* Spiegel,
6/1994) Vier Jahre später, berichtet das gleiche Magazin,
diesmal in einem Leitartikel, der sich seitenlang wie eine
Lobeshymne auf den Kundun liest, daß jetzt schon eine
halbe Million Deutsche dem buddhistischen Weg folgen :
»Werbetexter und Wirtschaftsbosse, Hochschulprofesso-
ren und Hausfrauen bekennen sich zur fernöstlichen Re-
ligion – Tendenz stark steigend … Selbst in den neuen
Bundesländern, etwa im brandenburgischen Menz, flat-
tern inzwischen schon Gebetsfahnen, murmeln frisch Be-
kehrte Mantras, basteln an vergoldeten Buddhafiguren.«
(* Spiegel, 16/1998, 109) Die Zahl der tibetischen Zen-
tren in der Bundesrepublik erhöhte sich innerhalb von
nur sechs Jahren von 81 auf 141 (1998).
Die deutsche Presse ist – ohne es wahrscheinlich zu
wissen – zu einem Propagandainstrument des tibetischen
Buddhismus geworden. Das zeigt die folgende kleine ( !)
Zitatenauswahl : »Tibet hat Hochkonjunktur im Westen.
Der Buddhismus ist die Religion à la mode.« (* Spiegel, 13.

1209
4. 1998) »Buddhismus wird auch in Deutschland immer
mehr zum Thema.« (* Gala, 21. 3. 1998) »Der Siegeszug
des Dalai Lama läßt sogar den Papst vor Neid erblassen.
In Hollywood wird der Tibetführer derzeit wie ein Gott
verehrt.« (* dt. Playboy, März, 1998) »Buddhismus boomt,
und keiner weiß so richtig, warum.« (* Bild 19. 3. 1998)
»In Buddhas Armen entdecken immer mehr Power-Frau-
en ihre Seele hinter der Fassade des Erfolges.« (* Bunte,
1. 11. , 1997) »Der Buddhismus wird in Deutschland zur
Trendreligion.« (* Focus 5/1994)
Höhere Zuwachsraten als Deutschland verzeichnen die
USA und andere westliche Länder. 111 In den Vereinigten
Staaten soll es mittlerweile 1, 5 Millionen Buddhisten ge-
ben. »Eine Alte Religion schlägt immer stärkere Wurzeln
in einer Neuen Welt, mit Hilfe des Kinos, der Pop-Kultur

111 Die Verbreitung und der Einfluß des tantrischen Buddhis-


mus in den USA sind in der Tat beachtlich. Selbst die Kriminal-
polizei (FBI) bedient sich mittlerweile tantrischer Magie, um ge-
gen radikale christliche Sekten vorzugehen. Als sich 95 Anhän-
ger des David Koresh in Waco (Texas) verschanzten und damit
drohten, sich mit ihren Kindern in die Luft zu sprengen, wurden
sie bis hinein in die tiefe Nacht übet Polizeilautsptecher mit dröh-
nenden tibetischen Mantras berieselt. »Koresh begann schließ-
lich, sich zu beschweren«, schreibt die Tibetan Review, »aber der
FBI ließ das Tonband weitetlaufen und plante, seine Anstren-
gungen fortzusetzen, bis die Kultanhänger aufgeben würden.
Das Drama endete endlich am 19. April (1993), als die Sekten-
mitglieder Selbstmord begingen, indem sie ihr Lager in Brand
setzten.« (* Tibetan Review, Mai 1993, 9) Ob die Zauberformeln
mitgeholfen haben, dieses traurige Ende herbeizuführen, dar-
über schweigt die Tibetan Review. Verhindert haben sie die Tra-
gödie jedenfalls nicht.

1210
und der Politik eines unterdrückten Tibet«, schreibt die
Zeitschrift Time. (* Time, Oct. 13, 1997, VOL. 150 NO.
15) Zwischen New York und San Francisco entsteht ein
buddhistisches Zentrum nach dem anderen, »religiöse
Refugien, in denen Schauspieler, aber auch Manager und
Politiker zur inneren Einkehr fliehen … Nirgendwo au-
ßerhalb des Vatikans treffen sich derzeit so viele promi-
nente Pilger in diesem ›little Lhasa‹ (gemeint ist Dharam-
sala). »Eine Audienz beim Gottkönig gilt als Non-plus-
ultra«, schreibt Der Spiegel. (* Spiegel, 16/1998, 109, 108)
Zehntausende von Amerikanern und Europäern haben
mittlerweile irgendwelche tantrischen Praktiken durch-
geführt, viele Hunderte das traditionelle dreijährige Re-
treat absolviert, und die Zahl der ordinierten »Westler«
wächst ständig an.
Die westliche Zivilisation wurde angesichts des tibeti-
schen Buddhismus mit einem Sehnsuchtsbild konfron-
tiert, das die verschütteten und vergessenen Wahrneh-
mungen theokratischer Kulturen (die vor der Neuzeit
ebenfalls die Politik Europas bestimmten) beschwört.
Nach den vielen nüchternen Jahren des Rationalismus
(seit der Französischen Revolution) halb verdurstet nach
göttlichen Offenbarungen, trifft der moderne Mensch hier
auf eine sprudelnde Quelle. Lamas von »jenseits des Ho-
rizonts«, noch in okkulten Kreisen bis Mitte unseres Jahr-
hunderts als enigmatische östliche Meister einer Gehei-
men Doktrin verehrt, die kaum einmal einem normalen
Menschen begegneten, sind heute vom »Dach der Welt«
herabgestiegen und haben die überzüchteten Städte des
westlichen Materialismus betreten. Sie brachten ihre alten

1211
Weisheitslehren, ihre mystische Wissenschaft, ihre archa-
ischen Riten und ihre geheimnisvollen Zauberpraktiken
mit sich. In Fleisch und Blut können wir ihnen in Lon-
don, New York, Paris, Rom, Madrid, Berlin, ja selbst in
Jerusalem begegnen – so als wäre ein fernöstliches Mär-
chen wahr geworden.
Das politische Ziel dieser bewunderten religiösen Be-
wegung ist von uns oft genug beschrieben worden. Es
besteht in der Errichtung einer globalen Buddhokratie,
einer Shambhalisierung der Welt, gesteuert und regiert,
wenn möglich, vom Potala aus, dem höchsten »Sitz der
Götter«. Von dort aus soll der ersehnte buddhistische
Weltenherrscher, der Chakravartin, über den Erdkreis
und die Völker regieren.
So direkt würde diese Vision selbstverständlich von
Seiner Heiligkeit dem XIV Dalai Lama niemals benannt
werden. Aber sein Prophet in den USA, Robert Thur-
man112, nimmt da schon weniger ein Blatt vor den Mund.

112 Thurman wurde 1964 dem Dalai Lama als ein »verrückter
amerikanischer Junge, äußerst intelligent und mit einem gu-
ten Herz«, der buddhistischer Mönch werden will, vorgestellt.
(* Thurman, 1998, 7) Der Kundun akzeptierte den Wunsch des
jungen Amerikaners, schickte ihn in das Namgyal-Kloster (das
speziell mit der Durchführung des Kalacha-kra-Tantras beauf-
tragt ist) und überwachte dessen Studien und Übungen persön-
lich. Aus Indien in die USA zurückgekehrt, begann Thurman
dort mit einer akademischen Karriere, studierte in Harvard und
übersetzte mehrere Texte aus dem Tibetischen. Dann gründete
er das »Tibet House« in New York, ein als Kulturinstitution ge-
tarntes Missionsbüro zur Verbreitung des Buddhismus in Ame-
rika. Neben Richard Gere ist Elsie Walker, eine Kusine des ehe-
maligen Präsidenten George Bush, im Vorstand.

1212
Robert Thurman

Der Herald Tribune nennt ihn »den akademischen Gott-


vater der tibetischen Sache« (* Herald Tribune, 20. März,
1997, 6), und das Magazin Time reihte ihn 1997 unter die
25 einflußreichsten Leute Amerikas ein. Er wird dort mit
einem vielsagenden ironischen Unterton als der »Heili-
ge Paulus oder Billy Graham des Buddhismus« bezeich-

1213
net. (* Time, 28 April, 1997, 42) Auch seine berühmte
Tochter, die Hollywood-Schauspielerin Uma Thurman,
welche schon als kleines Kind auf dem Schoß des tibe-
tischen »Gottkönigs« saß, trägt nicht wenig zur Popula-
rität ihres Vaters bei.
Der Buddhismus – so Thurman – sei dabei, eine »coo-
le Revolution« auszulösen. »Cool« im Gegensatz zu den
»heißen« Revolutionen der Weltgeschichte, die Blut und
Tote forderten. Dennoch beschreibt er die buddhistische
Eroberung mit Militärmetaphern : »Als cooler Kriegsge-
neral (cool war general) sendet der Buddha seine Armee
aus Mönchen und Nonnen aus, um alle Länder zu infil-
trieren.« (* Thurman, 1998, 103)
Die fünf Grundsätze dieser »coolen Revolution« wer-
den geschickt einem westlichen Wertesystem zugeordnet :
Transzendentaler Individualismus (transcendental indi-
vidualism), gewaltloser Pazifismus (nonviolent pacifism),
Erziehungsevolution (educational evolutionism), ökosozi-
aler Altruismus (ecosocial altruism), universeller Demo-
kratismus (universal democratism). Der Westen – erklärt
Thurman – habe seit der Renaissance die »Äußere Mo-
derne«, das heißt die »Äußere Erleuchtung«, durch die
wissenschaftliche Revolution verwirklicht. In der gleichen
Zeit (vor allem seit der Regierung des V Dalai Lama im
17. Jahrhundert) habe sich im Himalaya eine »Innere Re-
volution« vollzogen, die von dem Amerikaner kühn als
»Innere Moderne« gedeutet und proklamiert wird : »So
müssen wir das, was wir normalerweise im Westen als
›Modernität‹ bezeichnen, als eine ›materialistische‹ oder
›äußere‹ Modernität qualifizieren, und es mit einer par-

1214
allelen, aber alternativen tibetischen Modernität kontra-
stieren, die wir als ›spirituelle‹ oder ›innere‹ Modernität
einschätzen.« (* Thurman, 1998, 247)
Die widersprüchliche Geschichte Tibets, die blutigen
Kriege der verschiedenen Fraktionen des Mönchsklerus,
die Entwürdigung des Menschen unter der gelben Kirche,
die durchgängige Frauenverachtung dieser Religion, die
grausamen tantrischen Rituale, der Geisterglaube – all
das sind für Thurman keine Themen. Für ihn steht die
heilige, tibetische Kultur der »Sakralisation«, der »Magie«,
der »individuellen Erleuchtung«, des »spirituellen Fort-
schritts«, des »friedlichen Mönchtums« einer westlichen
Zivilisation der »Verweltlichung«, der »Entzauberung«,
der »Rationalisierung«, des »profanen Fortschrittsglau-
bens«, des »Materialismus, des Industrialismus und des
Militarismus« gegenüber. (* Thurman, 1998, 246) Auch
wenn die »Innere Revolution« eindeutig als höherwertig
eingeschätzt wird, so soll doch auf die »Errungenschaf-
ten des Westens« nicht verzichtet werden. In der Verbin-
dung beider sieht Thurman die Weltkultur des kommen-
den Jahrtausends.
Was damit gemeint ist, das gab das »Sprachrohr des
Dalai Lama« auf einer internationalen Tibetkonferenz in
Bonn (»Mythos Tibet«) 1996 bekannt. Mit Pathos pro-
phezeite er dort den »Untergang des Abendlandes« und
ließ keinen Zweifel daran, daß die Zukunft unseres Pla-
neten einer weltweiten, wie er es wörtlich betonte, »Bud-
dhokratie« gehöre. Er bezog sich in seinen Ausführun-
gen unter anderem auf den von uns schon beschriebenen
Begriff der »galaktischen Politik« und verstand darun-

1215
ter den Aufbau buddhistischer Klöster in allen Nationen,
die als mikrokosmische Modelle von verschiedenen Mut-
terklöstern den tantrischen Weltentwurf vorwegnehmen
sollten. So wie unsere Galaxis eine Ansammlung ver-
schiedener Sonnensysteme darstellt, so soll unsere Erde
von tantrischen Hauptklöstern überzogen werden, um
die sich die Unterklöster wie Planeten drehen. Der »Po-
talapalast« soll nach der Heimkehr des Dalai Lama zum
neuen Weltenzentrum werden, so wie er dies in frühe-
ren Zeiten (nach tantrischer Imagination) schon einmal
war : »Der Potala wurde zum Energiezentrum der neuen
Hauptstadt (Lhasa) und funktionierte zur gleichen Zeit
als Kloster, als Palast, und als heiliges Mandala, die glei-
chermaßen die drei Rollen symbolisieren, die der Dalai
Lama in sich verdichtet : die des selbstlosen Mönchs, des
Königs und des großen Adepten. Es war ein fröhliches,
spirituelles Zentrum, welches durch seine Ausstrahlung
für Tausend Jahre das Bewußtsein der Nation einigte.«
(*Thurman, 1998, 253)
Thurman ist wie sein großes Vorbild, der indische Kai-
ser Ashoka (Reg. 272–236 v. Chr.), davon besessen, die
ganze Welt der buddhistischen Mönchsgemeinschaft aus-
zuliefern. »Die Politik der Erleuchtung«, so der Kalacha-
kra-Schüler des Dalai Lama, »schlägt seit Ashoka eine
Wahrheitseroberung des Planeten vor – eine Dharma-Er-
oberung, das heißt eine kulturelle, erzieherische und in-
tellektuelle Eroberung.« (*Thurman, 1998, 282)
Man kann nur darüber staunen, wie es ihm gelingt,
die neue »Buddhokratie« der Lamas als die höchste Form
der Demokratie, den tibetischen Buddhismus, der auf

1216
einer rituellen Auflösung des Individuums aufbaut, als
die höchste Entwickung des menschlichen Individuums,
den Tantrismus als die einzige Religion, in der Gott und
Göttin gleichberechtigt und ausbalanciert verehrt wer-
den, die Kriegsgötter Tibets als Pazifisten anzupreisen.
(* Thurman, 1998, 274, 275, 281) Zehntausende seiner Le-
ser nehmen ihm das gutgläubig ab.
In der Tat ist Thurman sehr wortgewaltig und ver-
steht es, mit einer faszinierenden Polemik seine Zuhö-
rer zu verzaubern. Die Tibeter nennt er schwungvoll
»die Seerobbenbabys der Menschenrechtsbewegung«,
und exiltibetische Gegner (Shugden-Anhänger) des Da-
lai Lama bezeichnet er als »die Taliban des Buddhismus«.
Sein Freund, der Hollywood-Schauspieler Richard Gere,
war 1997 davon überzeugt, daß sich die Transformation
der Welt in eine Buddhokratie plötzlich wie eine Atom-
explosion ereignen werde und daß wir schon bald die
»kritische Masse« erreicht hätten. (* Herald Tribune, 20.
März 1997, 6) Ebenso spricht Thurman gerne und oft
vom tibetischen Buddhismus als der »Nuclear Energie
des Bewußtseins«. (* Thurman, 1998, 7)
Die Methode, sich dem Bewußtsein und den Sitten sei-
ner Umwelt bis hin zur Selbstverleugnung anzupassen,
ohne das eigentliche große Ziel aus den Augen zu verlie-
ren, hat in der Geschichte Tibets Tradition. Padmasamb-
hava zum Beispiel buddhisierte das Schneeland, indem er
souverän die unterschiedlichen Stammeskulturen, denen
er auf seiner Missionsreise begegnete, mit ihren jeweili-
gen Ideen und Kultpraktiken in sein tantrisches System
integrierte. Das machte er so geschickt, daß die vorbud-

1217
dhistischen Bewohner Tibets glaubten, der Buddhismus
sei nichts anderes als die Realisierung ihrer eigenen tra-
ditionellen Heilserwartungen. Meisterhaft wiederholt der
XIV Dalai Lama dieses heuristische Prinzip seiner Inkar-
nation aus dem 8. Jahrhundert auf der heutigen Welte-
nebene. Mittlerweile kennt er alle Varianten und Spiel-
regeln der westlichen Zivilisation und hat es geschafft, in
der Öffentlichkeit als großer Reformer und Demokrat zu
erscheinen, der brillant moderne politische Grundsätze
mit alten östlichen Weisheitslehren kombiniert. Es gibt
unzählige Predigten von ihm, in denen er seinen Zuhö-
rern ans Herz legt, sie sollten ihrer jeweiligen religiösen
Tradition treu bleiben, da alle am Ende auf dasselbe hin-
ausliefen. Solche souveräne Aufforderungen haben, wir
werden noch darauf zurückkommen, einen Double Bind-
Effekt. Die Menschen sind von der scheinbaren Toleranz
des tibetischen Buddhismus und seines höchsten Reprä-
sentanten so begeistert, daß sie zum Dharma konvertie-
ren und sich im tantrischen Fangnetz verstricken.

Die »Tibetlobby«

Religion und Politik sind nach westlicher Sicht seit der


Neuzeit (18. Jahrhundert) fein säuberlich voneinander
getrennt. In diesem Sinne macht man hier zu Lande ei-
nen klaren Unterschied zwischen der Verbreitung des
tantrischen Buddhismus und der völkerrechtlichen Ti-
betfrage. Eine solche Trennung ist jedoch für eine ar-
chaische Kultur wie die tibetische überhaupt nicht mög-

1218
lich. Alle Ebenen – die mystische, die mythische, die
symbolische und die rituelle – sind hier mit jedem po-
litischen Ereignis angesprochen. Es ist deswegen von ti-
betischer Sicht auch ganz folgerichtig, wenn die Befrei-
ung des Schneelandes aus den Krallen des chinesischen
Drachen zu einer exemplarischen Tat hochgespielt wird,
die dem ganzen Planeten zugute kommen soll. »Tibet zu
retten, bedeutet, die Welt zu retten !« – ist ein unter en-
gagierten Westlern weitverbreiteter Slogan.
Ebenso wie die Lehre des Buddha war die politische Ti-
betfrage zuerst ein Thema, das in der westlichen Öffent-
lichkeit keinen großen Widerhall fand. Schnitt man das
Schicksal des tibetischen Volkes in amerikanischen und
europäischen Regierungskreisen an, so stieß man weit-
gehend auf Ablehnung und Desinteresse. Aber Mitte der
80er Jahre änderte sich diese ablehnende Haltung. Mehr
und mehr wurde Seine Heiligkeit der XIV Dalai Lama
von westlichen Staatschefs offiziell empfangen, die sich
vorher aufgrund chinesischer Proteste geweigert hatten,
mit ihm öffentlich in Kontakt zu treten.
Seit 1985 arbeitet in zahlreichen Ländern die soge-
nannte Tibetlobby.
Dabei handelt es sich um eine überparteiliche Samm-
lung von Abgeordneten, die in ihren jeweiligen Parlamen-
ten versuchen, eine Tibetresolution durchzubringen, in der
China wegen ständiger Menschenrechtsverletzungen und
»kulturellem Völkermord« moralisch verurteilt wird. Eine
Anerkennung Tibets als autonomer Staat ist mit solchen
Resolutionen nicht verbunden. Auf der Bonner Konferenz
der Tibet Support Groups (1996) referierte Tim Nunn aus

1219
England über die Methoden (Upaya) eines erfolgreichen
Lobbying : das gepflegte Auftreten, den diplomatischen Re-
destil, die korrekte Kleidung, die geschickte Präsentation
und ähnliches. Tim Nunn konnte auf erfolgreiche Erfah-
rungen verweisen : 131 Mitglieder des britischen Unter-
hauses hatten sich für das Schneeland in London einge-
setzt. (* Friedrich-Naumann-Stiftung, 77 ff.)
In den USA werden die Interessen der tibetischen Exil-
regierung von dem Rechtsanwalt Michael van Walt van
Praag erfolgreich sowohl bei Senatoren wie bei Kongreß-
mitgliedern vertreten. Ihm gelang die Verabschiedung
einer Tibetresolution im US-Senat. Einer seiner größ-
ten politischen Erfolge war es, daß der Kundun 1991 in
der Rotunde des amerikanischen Kongreßhauses spre-
chen durfte. Danach traf dieser sich mit Präsident Geor-
ge Bush. Bush signierte eine offizielle Akte, in der Tibet
als »besetztes Land« bezeichnet wurde. Seit 1990 sendet
The Voice of America Sendungen in tibetischer Sprache.
Ein neuer Sender Free Asia, ebenfalls mit einer Tibetab-
teilung, wurde neulich vom Kongreß gebilligt. Ab 1997
benannte das State Department einen »Spezialbeauftrag-
ten für Tibet«, der die Aufgabe haben soll, zwischen dem
Kundun und China zu vermitteln.
Anfang September 1995 umarmte der Dalai Lama la-
chend den wegen seiner ultra-konservativen Haltung
berüchtigten Senator Jesse Helms. Das war ein Höhe-
punkt in der durchgängigen Verehrung seitens der Re-
publikaner.
Die Demokraten nahmen solch konservative Schulter-
schlüsse kaum zur Kenntnis, waren sie es doch, die dem

1220
»liberalen« Gottkönig als erste den Weg in die große Öf-
fentlichkeit geebnet hatten. Anfangs verhielten sich der
amerikanische Präsident Bill Clinton und sein Vizepräsi-
dent Al Gore dem Dalai Lama gegenüber, dem sie mehr-
mals begegnet sind, noch zurückhaltend und ambivalent.
In einem Statement aus dem Jahre 1994 wird die ame-
rikanische Regierungsposition unmißverständlich zum
Ausdruck gebracht : »Da wir Tibet nicht als einen unab-
hängigen Staat anerkennen, unterhalten die Vereinigten
Staaten keine diplomatischen Beziehungen mit der sich
selbst so nennenden ( !) Tibetischen Exilregierung«, heißt
es dort. (* Goldstein, 1997, 121)
Aber nach mehreren Treffen mit Präsident Clinton und
seiner Gattin Hillary konnte der Gottkönig einen nach-
haltigen Eindruck auf das Präsidentenehepaar hinterlas-
sen. Clinton engagierte sich wie nie zuvor in der Tibet-
frage. Eines der großen Themen auf seiner China-Reise
(1998) war die Aufforderung an Jiang Zemin, mit dem
Gottkönig Kontakte aufzunehmen. Jeder westliche Staats-
chef, der das Reich der Mitte besucht, wiederholt jetzt die-
ses Anliegen. Mit Erfolg – denn mittlerweile wird stän-
dig unter Ausschluß der Öffentlichkeit zwischen beiden
Parteien (Beijing und Dharamsala) konferiert.
1989 wurde dem XIV Dalai Lama der Friedensnobel-
preis verliehen. Daß er diese hohe Auszeichnung erhielt,
verdankt er weniger der politischen Situation in Tibet,
sondern vor allem den blutigen Ereignissen auf dem Tia-
nanmen Platz in Beijing, wo zahlreiche gegen das Regime
protestierende chinesische Studenten ihr Leben ließen.
Der Westen wollte China moralisch verurteilen, und der

1221
Tibetlobby war es gelungen, die Ehrung Seiner Heiligkeit
als das beste Mittel hierfür vorzuschlagen.
Von nun an verfügte der Gottkönig über eine inter-
nationale Prominenz, die er zu keiner Zeit vorher beses-
sen hatte. Die Osloer Ernennung verschaffte ihm gera-
dezu einen Passepartout und öffnete ihm die Türen zu
den meisten Staatschefs der Welt. Kaum ein Präsident,
der sich jetzt noch angesichts chinesischer Proteste wei-
gerte, den Gottkönig zumindest als Religionsvertreter
offiziell zu empfangen. In Irland, Frankreich, Liechten-
stein, Österreich, Litauen, Lettland, Bulgarien, Rußland,
den USA, Kanada, England, der Schweiz, in Deutsch-
land, Schweden, Israel, Japan, Taiwan, Gabun, Austra-
lien, Neuseeland, in mehreren südamerikanischen Län-
dern – überall ehrte man den »bescheidenen Mönch«
wie einen Papst.
1996 gelang es den Lobbyisten durch die Verabschie-
dung einer Tibetresolution im Deutschen Bundestag, das
Land in eine spektakuläre Konfrontation mit China hin-
einzumanövrieren. Die Resolution wurde von allen Frak-
tionen, ob grüne, linke, liberale oder konservative, des
Parlaments unterstützt. Das Paradoxe bei diesem Spiel
war, daß sowohl der Dalai Lama als auch die Chinesen
daraus Gewinn zogen, während die naiven Deutschen zur
Kasse gebeten wurden. Die Fraktion des Kunduns konn-
te mit diesem Coup ihren bisher größten politischen Er-
folg im Westen feiern. Auf der anderen Seite glückte es
den Chinesen, die von ihnen eingeschüchterte Bundes-
regierung dazu zu veranlassen, die begehrten Hermes-
Bürgschaften, welche vorher verweigert worden waren,

1222
weiterhin China zu gewähren. Mit dieser Zusage in der
Tasche war die Tibetfrage für Beijing im Verhältnis zu
Deutschland erst einmal erledigt. Auch wenn wir hier-
bei nicht von einer direkten Kooperation reden können
– nach dem cui bonum-Prinzip profitierten die beiden
asiatischen Parteien bestens aus dem Konflikt, in den sie
eine im Grunde unbeteiligte Nation wie Deutschland in
ihre Differenzen hineingezogen hatten.
Die Medienarbeit der Kundun-Anhänger ist mittler-
weile perfekt. Zahlreiche Büros in allen Ländern, allen
voran das Tibet Information Network (TIN) in London,
versorgen die Presse mit Material über die Mißstände im
Schneeland, das Leben in der exiltibetischen Community
und die Aktivitäten des Gottkönigs. Man arbeitet erfolg-
reich mit chinesischen Dissidenten zusammen. Die Be-
richterstattung Beijings, die zwar mit großer Vorsicht zu
genießen ist, aber dennoch viele wichtige Informationen
aufweist, wird von Dharamsala stets als kommunistische
Propaganda abgestempelt. Diese Einseitigkeit bei der Be-
urteilung tibetischer Angelegenheiten hat die westliche
Presse mittlerweile ebenfalls übernommen.
Als zum Beispiel der deutsche Kanzler Helmut Kohl
auf Einladung der Chinesen als erster westlicher Regie-
rungschef Lhasa besuchte und anschließend bekannt gab,
die Lage in Tibets Hauptstadt sei keineswegs so kriminell,
wie sie vom Büro des Dalai Lama geschildert würde, da
lachte man ihn in den Medien aus und erklärte, er sei be-
reit, für wirtschaftliche Aufträge seine Moral zu verkau-
fen. Den gleichen Eindruck vor Ort hatte aber auch der
für sein großes Engagement in Sachen Menschenrech-

1223
te bekannte ehemalige amerikanische Präsident Jimmy
Carter. (* Grunfeld, 232)
Die Tibetfrage ist zu einem wichtigen Mittel geworden,
um den tantrischen Buddhismus im Westen zu veran-
kern. Als ein Politikum erscheint sie im Westen völlig ge-
trennt von jeglicher religiösen Instrumentalisierung. Der
Kundun tritt in der Öffentlichkeit auf als Friedenskämp-
fer, als Demokrat, als Humanist, als Anwalt der Unter-
drückten. Diese geschickt angepaßte westlich-ethische
»Mischung« verschafft ihm freien Zugang zu den höch-
sten Regierungsstellen.

Die Manipulation der »Grünen«

Zuerst wurde die Tibetfrage in Deutschland von grü-


nen Politikern in die Parlamente getragen, allen vor-
an von den Abgeordneten Petra Kelly und Gert Basti-
an. Ihre pro-tibetische Intervention ist immer noch von
einem andauernden Erfolg geprägt. »Unterhaltungsgrö-
ßen und Umweltschützer«, schreibt Der Spiegel, »haben
mit ihrem Engagement für das Reich auf dem Dach der
Welt einen gemeinsamen Nenner gefunden. Hollywood
trifft Robin Hood – Tibets Buddhismus ist der gemeinsa-
me Nenner.« (* Spiegel, 16/1998, 109) Man hat später den
selbstlosen Einsatz Petra Kellys als eine Form des »enga-
gierten Buddhismus« gedeutet, zu dessen Hauptanliegen
die Verteidigung der Menschenrechte, ökologische Ver-
antwortung und die Gleichberechtigung der Geschlech-
ter zählen sollen. 113 Der XIV Dalai Lama griff geschickt

1224
alle diese westlichen Forderungen auf und erschien
plötzlich (Ende der 80er Jahre) als ein Vorreiter der glo-
balen Ökologiebewegung auf der politischen Bühne.
»Grüne Politik« und Umweltfragen haben mittlerweile
in der politischen Propaganda der Exiltibeter ihren zen-
tralen Platz gefunden. Konferenzen wie die von Seiner
Heiligkeit 1993 eingeleitete mit dem Titel »Ökologische
Verantwortung : Ein Dialog mit dem Buddhismus« gibt
es Hunderte. Der Kundun ist Mitglied des ökologisch
orientierten Goal Forum of Spiritual and Parliamentary
Leaders on Human Survival. 1992 besuchte er das Green-
peace-Flaggschiff Rainbow Warrior. Auch auf dem »Glo-
bal Forum« von Rio de Janeiro hatte der Dalai Lama er-
greifende Worte für die Probleme unserer Erde : »Dieser
blaue Planet ist eine wundervolle Wohnstätte. Sein Le-
ben ist unser Leben ; seine Zukunft unsere Zukunft. In
der Tat, die Erde handelt wie eine Mutter für alle. Wie
Kinder sind wir von ihr abhängig … Unsere Mutter Erde
lehrt uns eine Stunde universeller Verantwortung«, ver-
kündet der Gottkönig mit Pathos.
Seit Ende der 80er Jahre ist es weltweit üblich, auf den
internationalen Umwelttreffen das Alte Tibet als ein Öko-
Paradies zu beschreiben, wo wilde Gazellen und »Schnee-

← 113 Nicht der Dalai Lama, sondern Thich Nhat Hanh, der 1926
in Zentral-Vietnam geborene Theravada-Mönch, ist der Inspira-
tor des »engagierten Buddhismus«. Durch Meditation, soziales
Engagement und die praktizierte Gemeinschaft mit christlichen
Gruppen in aller Welt sollen die Ursachen von Unwissenheit,
Egozentrismus, Gewalt, Krieg und Umweltverschmutzungen
überwunden werden.

1225
löwen« den Mönchen aus der Hand fraßen – so der Bru-
der des Dalai Lama (Thubten Jigme Norbu) auf einer Ti-
bet-Konferenz in Bonn (1996). Seit Jahrtausenden – heißt
es in erbaulichen Schriften – würden die Tibeter Pflan-
zen und Tiere als ihresgleichen verehren. »Historische«
Idyllen wie die folgende werden von gutgläubigen West-
lern fur bare Münze genommen : »Das tibetisch-traditio-
nelle Erbe, das bekannterweise dreitausend Jahre ( !) alt
ist, kann als eine der frühesten Traditionen der Welt an-
gesehen werden, in der die Menschheit und ihre natürli-
che Umgebung ständig in perfekter Harmonie geblieben
sind.« (* Huber, 1997, 4)
Was in der Vergangenheit glänzte, soll auch in Zukunft
leuchten. Entsprechend malen sich viele westliche An-
hänger des Kunduns aus, wie nach dessen Rückkehr in
das Schneeland der einstmals blühende Garten wieder-
auferstehen wird. Auch diesem Sehnsuchtsbild kommt
Seine Heiligkeit großzügig entgegen und verspricht, in
einem »befreiten« Tibet den ersten ökologischen Staat auf
Erden zu errichten – für viele »Grüne« ein Hoffnungs-
schimmer in einer Welt, die ihre Umweltaufgaben stän-
dig vernachlässigt.
Grün, umweltfreundlich, naturliebend, vegetarisch
und tibetisch-buddhistisch gelten heute bei vielen enga-
gierten Anhängern der internationalen »Ökoszene« als
geradezu identisch. Aber entspricht eine solche Gleichset-
zung der Wahrheit ? War das Alte Tibet wirklich ein »ir-
discher Paradiesgarten« ? Ist der tantrische Buddhismus
seinem Wesen nach naturfreundlich und tierliebend ?

1226
Die Naturfeindlichkeit des tibetischen Buddhismus

Es bedarf keiner komplizierten Recherchen, um nach-


zuweisen, daß die Einwohner des Alten Tibet wie alle
Hochgebirgsvölker ein ambivalentes Verhältnis zur Na-
tur hatten, wobei Angst und Schrecken vor ständigen
Katastrophen (Witterungsumschwüngen, Kälte, Hun-
gersnöten, Unfällen, Krankheiten) überwogen. Die Na-
tur, die ja animistisch als von Geistern belebt erfahren
wurde und oft auch heute noch erlebt wird, war nur sel-
ten eine Freundin und Partnerin, sondern meist eine
bösartige und zerstörerische Kraft, in vielen Fällen eine
schreckenerregende Dämonin. Wir haben einige dieser
menschenfeindlichen Naturgeister in unserem Kapitel
Anarchie und Buddhismus vorgestellt. Sie mußten durch
Gewalt, List und Magie bezwungen, gezähmt und nicht
selten getötet werden.
Der Tibetforscher Geoffrey Samuel hat in einer um-
fangreichen Studie (Civilized Shamans – Zivilisierte Scha-
manen) gezeigt, daß die gewaltsame Unterwerfung der
wilden Natur ein sich ständig wiederholendes Drama in
der tibetisch-mönchischen Zivilisation ausmacht : Ange-
fangen mit der Festnagelung der tibetischen Ur- und Erd-
mutter Srinmo durch König Songsten Gampo, um auf ih-
ren Wunden die zentralen Heiligtümer des Schneelandes
zu errichten, wurde und wird jede Konstruktion eines
lamaistischen Tempels (wo auch immer das auf der Welt
geschah und geschieht) durch ein Ritual eingeleitet, das
die schändliche Stigmatisierung der »Erdmutter« erneu-
ert. Srinmo ist zweifelsohne die (tibetische) Emanation

1227
von »Mutter Erde« oder »Mutter Natur«, deren Rettung
der Dalai Lama so pathetisch auf internationalen Öko-
logiekongressen beschwört. (»Die Erde handelt wie eine
Mutter für alle.«) Der Kundun selber aber war es – neh-
men wir seine Inkarnationsdoktrin beim Wort –, der vor
vielen Jahrhunderten in der Gestalt des Songsten Gampo
»Mutter Erde« (Srinmo) annagelte. Er selber hat die blu-
tigen Fundamente (auf dem geschundenen Körper der
Srinmo) gelegt, auf denen sein klerikales und androzen-
trisches System aufbaut. Er selber ist es, der diesen ag-
gressiven »Zähmungsakt« bei jeder öffentlichen Auffüh-
rung des Kalachakra-Rituals wiederholt : Vor Errichtung
eines Sandmandalas werden die lokalen Naturgeister (ei-
nige Interpreten sagen die Erdmutter Srinmo) durch Phur-
bas (Ritualdolche) an den Boden genagelt.
Die Gleichsetzung der Natur mit dem weiblichen Prin-
zip ist ein archetypisches Bild, das wir in vielen Kultu-
ren finden. Gaia bei den Griechen und Srinmo bei den
Tibetern sind nur zwei unterschiedliche Namen für die-
selbe göttliche Substanz der Erdmutter. In der europä-
ischen Alchemie ist die Natur der Ausgangspunkt (die
Prima Materia) magischer Experimente und ebenfalls ein
Principium Feminile. Wir sind ausführlich auf die enge
Verflechtung von Alchemie und Tantrismus eingegan-
gen und haben in beiden Systemen die Aufopferung des
weiblichen Prinzips zugunsten eines männlichen Expe-
rimentators nachgewiesen. Indem wir uns die tantrische
Sichtweise, daß alles mit allem verbunden ist, zu eigen
machten, konnten wir die Annagelung der Srinmo (die-
ses symbolträchtige Urereignis der tibetischen Geschich-

1228
te) als die historische Variante des »tantrisch-alchemisti-
schen Frauenopfers« erkennen. Songsten Gampo opfer-
te die »Erdmutter«, um sich deren Energien anzueignen,
ebenso wie jeder Tantra-Meister seine Karma Mudra op-
fert, um deren Gynergie zu absorbieren.
In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche Schriften er-
schienen, welche die Mißachtung, Versklavung und Zer-
stückelung der Natur durch das moderne wissenschaft-
liche Weltbild und die moderne Technologie zum Inhalt
haben. Viele der Analysen verweisen, insbesondere wenn
sie aus feministischer Feder stammen, darauf, daß Natur-
zerstörung und Naturbeherrschung gleichzusetzen sind
mit dem Primat des männlichen Prinzips über das weibli-
che, des Gottes über die Göttin, kurz mit der Übermacht
der Patriarchats. Dieser kritische Blick auf die Unterdrüc-
kungs- und Ausbeutungsgeschichte des wissenschaftli-
chen Zeitalters hat den Blick auf die Naturfeindlichkeit
atavistischer Religionen weitgehend unscharf gemacht,
insbesondere wenn diese wie der tibetische Buddhismus
aus dem Osten kommen.
Der buddhistische Tantrismus ist aber – das möch-
ten wir ohne Einschränkung behaupten – naturfeind-
lich und deswegen ökologiefeindlich aus Prinzip, weil er
die natürliche, sinnliche und weibliche Sphäre vernich-
tet, um sie für die männliche nutzbar zu machen. Jeder
Tantra-Meister läßt zudem bei der Durchführung seiner
Erleuchtungsrituale alle natürlichen Bestandteile des ei-
genen menschlichen Körpers und parallel hierzu (auf der
makrokosmischen Ebene) das gesamte natürliche Uni-
versum in Flammen aufgehen. Die Natur besteht – nach

1229
traditioneller Sicht – aus einer bunten Mischung der ver-
schiedenen Elemente (Feuer, Wasser, Erde, Luft, Äther).
Im Tantrismus jedoch vernichtet das Feuer die anderen
elementaren Bausteine. Es ist letztendlich der »feurige«
GEIST, der sich alles andere, insbesondere aber die NA-
TUR, Untertan macht. Erinnern wir uns daran, daß Ava-
lokiteshvara, der Inkarnationsvater des Dalai Lama, den
»Herrn des Feuers« und den Bodhisattva unseres Zeit-
alters repräsentiert.
Auch die zivilisatorischen Zentren des Alten Tibet wa-
ren keineswegs umweltfreundlich. Das alte Lhasa zum
Beispiel, die Hauptstadt der lamaistischen Welt, kann
kaum als ein ökologischer Vorzeigeort bezeichnet wer-
den, sondern zählte bis Mitte dieses Jahrhunderts – wie
zahlreiche Weltreisende berichteten – zu den unsauber-
sten Städten unseres Planeten. Der Müll wurde grund-
sätzlich auf die Straßen gekippt. In den Häusern gab es
keine Latrinen. Überall, wo es ihnen gerade einfiel, ver-
richteten die Menschen ihre Bedürfnisse. Tote Tiere ließ
man auf den öffentlichen Plätzen liegen und verwesen.
Aus solchen Gründen waren die Gerüche so penetrant
und ekelerregend, daß der XIII Dalai Lama sich jedesmal
krank fühlte, wenn er die Stadt passieren mußte. Adeli-
ge, die ausgingen, hielten sich gewöhnlich ein Taschen-
tuch vor die Nase.
Noch absurder ist es, die tibetische Mönchsgesellschaft
als eine Kultur des Vegetarismus zu beschreiben. Die
Fleischproduktion und der Fleischkonsum zählen seit je-
her (nicht zuletzt wegen der Witterungsbedingungen) zu
den bedeutendsten Wirtschaftszweigen des Landes. Es

1230
Berliner Mauerdurchbruch

stimmt zwar, daß ein gläubiger Tibeter kein Tier eigen-


händig töten darf, es zu essen aber ist ihm nicht verbo-
ten. So werden die Schlachtungen von Andersgläubigen,
vor allem Moslems, durchgeführt. Auch der Kundun (an-
sonsten ein engagierter Verfechter des Vegetarismus) ist
ein eifriger Fleischesser, wenn auch, schenkt man seinen
Worten Glauben, nicht aus Begeisterung, sondern aus
gesundheitlichen Gründen. Wer zudem die hohe Ver-
achtung kennt, die vom Buddhismus ganz allgemein ei-
ner Wiedergeburt als Tier eingeräumt wird, der mag sich
über solche ökoparadiesisch-vegetarische Rückblicke, wie
sie heute in der exiltibetischen »Geschichtswissenschaft«
angeboten werden, nur verwundern.

1231
Aber die Exiltibeter glauben mittlerweile selber ger-
ne an solche ökologischen Märchenbilder. Für sie sind
ausschließlich die »brutalen« Chinesen (die sich jedoch
nicht schlechter und nicht besser als jedes andere kapita-
listische Land gegenüber der Mutter Erde verhalten) die
Bösewichte und werden (in diesem Fall mit Recht) ange-
klagt, weil sie die uralten Wälder des Landes zerstören
und weil sie für Aphrodisiaka, die aus den Knochen des
Schneeleoparden gewonnen werden, hohe Summen be-
zahlen. Aber es gibt auch einige sachgerechte Ausnahmen
von dieser Meinung, das Alte Tibet wäre ein Öko-Para-
dies gewesen. Nie seien die Tibeter ökologisch bewußter
gewesen als andere Völker, schreibt Jamyan Norbu, Ko-
direktor des tibetischen Kulturinstituts in Dharamsala,
und warnt vor gefährlichen Mythenbildungen. (* Spie-
gel, 16/1998, 119)

Petra Kelly und Gert Bastian

Wir möchten in diesem Abschnitt, den wir mit den bei-


den deutschen »Grünen«, Petra Kelly und Gert Bastian,
eingeleitet haben, auf einige interessante Spekulationen
aus der buddhistischen Szene aufmerksam machen, die
sich mit der Wiedervereinigung Deutschlands beschäf-
tigen. Direkt und offen mischt sich der Dalai Lama au-
ßerhalb der Tibetfrage nur sehr selten in die Weltpolitik
ein, es sei denn, er ermahnt zum allgemeinen Frieden.
Jedoch sind zahlreiche okkulte Gerüchte unter seinen
Anhängern im Umlauf, die andeuten, er wäre dennoch

1232
der politische Weltenregisseur, der die Fäden aus einer
»anderen Dimension« heraus in der Hand halte. Zum
Beispiel hat sich herumgesprochen, der Fall der Berliner
Mauer käme auf sein Konto. Als Beweis hierfür wird un-
ter anderem ein Graffiti angeführt, das genau an der Stel-
le aufgemalt war, wo der erste Mauerdurchbruch statt-
fand und das Long Live Dalai Lama lautete.
In der Tat war der Kundun sechs Monate vor der deut-
schen Wiedervereinigung, mit einer Kerze in der Hand
betend, vor der »Schandmauer« gestanden. Die Pazifi-
stin, Atomkraftgegnerin, Umweltschützerin und enga-
gierte Kämpferin für die Freiheit Tibets, Petra Kelly, hat-
te ihn dazu bewegen können, im Dezember 1989 mit sei-
nem ganzen Stab über die DDR-Grenze zu fahren. Nach
der erwähnten Kerzenzeremonie wurde die Gruppe vom
Staatssicherheitsdienst der DDR ( !) zu einem Round Ta-
ble-Gespräch der Bürgerrechtsbewegung gebracht. 114
Petra Kelly beschrieb später die Situation als ein poli-
tisches Vakuum, in dem die demokratische Opposition
mit der Vision auftrat, die ehemalige DDR in einen block-
freien Staat ohne Militär und Atomwaffen zu transfor-
mieren, der sich weder nach kapitalistischen noch nach
kommunistischen Ideen richten sollte. Man versicher-
te dem Dalai Lama, daß er der erste Gast dieses neuen
Staates sein werde und daß man als ersten außenpoli-
tischen Akt Tibets Autonomie anerkennen werde. Die
deutschen Teilnehmer an diesem Gespräch betrachte-

114 Es war die Zeit, in der die Kommunistische Partei (SED)


schon die Kontrolle über das Land verloren hatte.

1233
ten sich als eine Art provisorische Regierung. Alle sollen
tiefbewegt von der Anwesenheit Seiner Heiligkeit gewe-
sen sein. »Nur sechs Monate später, am 22. Juni 1990«,
schreibt Stephen Batchelor, »wurden seine Gebete gehört,
als (der Grenzübergang) Checkpoint Charly feierlich ab-
gebaut wurde.« (* Batchelor, 378)
Der Dalai Lama als politischer Magier, der durch sei-
ne Gebete die Berliner Mauer zum Einsturz bringt ? Mit
solchen Vorstellungen werden die Grundlagen für eine
»Metapolitik« gelegt, die durch Symbolakte auf das in-
ternationale Geschehen Einfluß nimmt. Petra Kelly wird
wahrscheinlich so gedacht haben, ansonsten ist ihre au-
ßerordentliche Hingabe an die tibetische Sache und den
Dalai Lama nicht zu verstehen
Die Pazifistin war mit Sicherheit weder über den ag-
gressiv-kriegerischen Kern des Kalachakra-Tantras, noch
über die androzentrische Sexualmagie des tibetischen
Buddhismus, noch über die dunklen Kapitel der tibe-
tisch-mongolischen Geschichte informiert. Wie Tausen-
de folgte sie gutgläubig den Friedensbotschaften Seiner
Heiligkeit und war blind für die Machtobsessionen der
Götter des Vajrayana, die durch ihn wirksam sind. Als
sie und ihr Lebensgefährte Gert Bastian 1988 Dharam-
sala besuchten, zeigten sich beide, die in der Bundesrepu-
blik mit Luchsaugen jeden kleinsten Demokratieverstoß
wahrnahmen, »ungeheuerlich beeindruckt von den äu-
ßerst demokratischen Diskussionen«, die im tibetischen
Exilparlament stattgefunden hätten.
Eine völlige Fehleinschätzung der Lage. Denn – wie
wir schon ausführlich gezeigt haben und wie jeder, der

1234
nur ein wenig in die inneren politischen Angelegenhei-
ten der Exiltibeter eingeweiht ist, weiß – stellt ihre von
Orakel-Göttern gesteuerte Volksvertretung eine Farce
dar. Anders Petra Kelly – sie wurde seit ihrem Besuch in
Dharamsala so tief vom Charme und von der humanpo-
litischen Maske des Kunduns verzaubert, daß sie die Ti-
betfrage zum »moralischen Prüfstein der internationalen
Politik« schlechthin machte. (* Tibetan Review, Juli 1993,
19) Das heißt konkret, die Politiker unserer Welt stehen
am Scheidewege : Unterstützen sie den Dalai Lama, dann
gehen sie den Weg der Moral und der Tugend ; wenden
sie sich gegen den Kundun oder verhalten sich nur pas-
siv, dann geraten sie auf den Pfad der Unmoral !
Die grüne Politikerin Petra Kelly nahm die religiös
motivierte Machtpolitik und den tantrischen Okkultis-
mus aus Dharamsala überhaupt nicht wahr. Sie wurde
wie viele andere Frauen zu einer weiblichen Figur (eine
Königin) im Schachspiel des Kunduns, die ihm die Tore
in das deutsche Parlament und zu den höheren politi-
schen Rängen öffnete. 115

115 Wenn wir uns auf die tantrisch-magische Weltsicht einlas-


sen, die alles mit allem verknüpft und an die Synchronizität hi-
storischer Ereignisse glaubt, dann müssen wir uns fragen, ob die
tragische Tötung Petra Kellys durch ihren Lebensgefährten Gert
Bastian und dessen anschließender Selbstmord (1992) nicht ei-
nen symbolischen Stellenwert innerhalb der Vision des Kalacha-
kra-Tantras haben. Immerhin waren beide grünen Politiker aufs
engste mit dem Kundun befreundet und spielten beim Aufbau
der internationalen Tibet Lobby eine Pionierrolle. Gert Bastians
Motivation für die Tat bleibt bis heute ein Rätsel. Es wurde un-
ter anderem Eifersucht genannt, weil Petra Kelly zu ihrem tibeti-
schen Hausarzt eine Beziehung unterhalten haben soll. →

1235
← Vielleicht ist es etwas übertrieben, wenn wir uns fragen, ob
die beiden Lebenspartner – innerhalb eines tantrischen Musters
– die Rolle des Opfers zu spielen hatten ? Aber eine solche hypo-
thetische Annahme braucht ja nicht zu heißen, daß die Tötun-
gen (die Erschießung Petra Kellys durch Gert Bastian und des-
sen anschließender Selbstmord) das Ergebnis gezielter magischer
Handlungen (von tibetischer Seite) gewesen sein müssen. Es ge-
nügt ja, wenn ein tantrisches Ritual (z. B. das Kalachakra-Tan-
tra) als ein generatives Prinzip (generative principle) wirkt, in
dem Sinne, daß sein Muster die Verhaltensdynamik seines Um-
feldes beeinflußt. Dies gilt insbesondere für Menschen, die sich
dem Machtbereich eines atavistischen Kultmysteriums genähert
und emotional geöffnet haben wie Petra Kelly, auch wenn sie über
dessen Inhalte und Praktiken nichts wissen.
Als die Vollstrecker solcher Opfer handeln – nach tantrischer
Sicht – die beschworenen Götter und nicht deren individuel-
le Priester, die hier auf Erden die Zeremonien durchführen. Es
wäre also der Zeitgott Kalachakra und nicht der Dalai Lama als
Mensch, der die Kelly-Bastian-Tragödie inszeniert haben könn-
te. Was aber war das Motiv des Zeitgottes ? Was konnte durch ein
Opfer der beiden Deutschen gewonnen werden ? Schließlich ver-
traten sie mit höchstem Engagement die tibetische Sache und wa-
ren dem Kundun kritiklos ergeben. Ihr Tod erscheint deswegen
nach außen hin mit Recht als ein großer Verlust für die Tibeter,
und es gab deswegen auch Spekulationen, daß die Chinesen hin-
ter der Tat gestanden hätten. Aber im okkulten Milieu der Tan-
tras sind die Bezüge oft komplexer und weniger eindeutig, als es
die Erscheinungen der Außenwelt annehmen lassen. Wir haben
ja schon ausführlich gezeigt, daß es bei der Inszenierung eines
atavistischen Sacrifiziums um die Übertragung der Lebensener-
gie des Geopferten geht – im Falle des buddhistischen Tantris-
mus vor allem um die Gynergie der »geopferten« Frau. Der Opfe-
rer eignet sich die energetischen Kräfte des Opfers an – das reicht
von der körperlichen Gesundheit bis hin zum theoretischen Wis-
sen. Die beiden wesentlichen Energieformen, die durch Petra Kel-
ly und Gert Bastian repräsentiert wurden, waren – so könnte man
sagen – pazifistisches und ökologisches Bewußtsein, welches sie
weltweit als Aktivisten auf der internationalen Bühne berühmt
gemacht hatte. Diese beiden zentralen Anliegen des Paares →

1236
← (Ökologie und Pazifismus) bestimmen immer mehr nach au-
ßen hin die exiltibetische Politik, obgleich sie weder in der Tradi-
tion des Landes noch im Kultwesen des tibetischen Buddhismus
verankert sind. Dennoch möchten wir zu einer solch spekulativen
Interpretation des Falles Kelly/Bastian nichts Endgültiges sagen,
sondern anhand dieses Beispiels dazu auffordern, zu untersuchen,
ob das tantrische Ritualwesen und die tibetischen Gottheiten auf
das Schicksal von Individuen Einfluß gewinnen können.

Die Scheinwelt des interreligiösen


Dialogs und der Ökumene

Obgleich wie jede andere Religion von kulturell fixier-


ten Bildern und Ritualen beherrscht, präsentiert sich der
tibetische Buddhismus zuerst einmal als eine Tradition,
die weder an eine Kultur noch an eine Gesellschaft noch
an eine Rasse gebunden sei. Die Lehre des Shakyamu-
ni Buddha bestehe – so hören wir aus dem Munde jedes
Lama – ausschließlich in den Erfahrungen jedes Einzel-
nen. Ihre Glaubwürdigkeit könne jeder durch seine re-
ligiösen Praktiken selber nachprüfen. Andere nichtbud-
dhistische Glaubensbekenntnisse stünden solchen sa-
kralen Übungen nicht im Wege.
Diese angesichts des tantrischen Ritualwesens und des
»barocken« tibetischen Pantheons vorgetäuschte puristi-
sche und liberale Grundaussage erlaubt es Seiner Heilig-
keit dem XIV Dalai Lama, sich so tolerant und so weltof-
fen darzustellen, daß man ihn schon seit Jahren als den
»aufgeschlossensten und weitherzigsten Kirchenfürsten«
unseres Planeten feiert. Seine Dialogbereitschaft ist ge-
radezu sprichwörtlich geworden.

1237
Wenn wir jetzt die interreligiöse Aktivität des Kunduns
vorstellen, so tun wir dies immer mit dem klaren Bewußt-
sein, daß das gesamte lamaistische System in seinem Kern
mit anderen Glaubensrichtungen inkompatibel ist und
auch sein will. Wir fassen die Gründe hierfür noch ein-
mal in sieben Punkten zusammen. Der tantrische Bud-
dhismus, insbesondere das Kalachakra-Tantra und der
damit verbundene Shambhala-Mythos, beinhalten :
1. Die Vernichtung Andersgläubiger.
2. Eine kriegerische Gewaltphilosophie und die Entfes-
selung eines Weltenkrieges.
3. Die Grundlagen für eine faschistische Ideologie.
4. Die Verachtung des Menschen, des Individuums (zu-
gunsten der Götter) und insbesondere der Frau (zu-
gunsten des androzentrischen Tantra-Meisters).
5. Die Opferung des anderen zur Akkumulation eigener
materieller und spiritueller Vorteile.
6. Die Verbindung von religiöser und staatlicher Macht.
7. Die Eroberung der Welt und die Errichtung einer glo-
balen buddhokratischen Mönchsdiktatur mit mani-
pulativen und kriegerischen Mitteln.
Ausgehend von diesen Punkten bleibt die ökumenische
Aktivität des Kunduns so lange eine Lüge, wie er an den
Prinzipien des tantrischen Ritualwesens und an den ideo-
logisch-politischen Grundsätzen des Shambhala-Mythos
(und dem damit verbundenen Griff nach dem Welten-
thron) festhält. Sie hat für ihn dennoch eine wichtige tak-
tische Bedeutung und erweist sich als ein ausgezeichnetes
Instrument, um die Ideen des Lamaismus überall auf der
Welt, ohne Anstoß zu nehmen, verbreiten zu können.

1238
Diese indirekte Missionsmethode hat ihre Tradition in
der tibetischen Geschichte. Als Padmasambhava (Guru
Rinpoche) im 8. Jahrhundert das Schneeland für den Tan-
trismus eroberte, ging er niemals direkt vor und predig-
te niemals offen die Grundsätze des Dharmas. Als geni-
aler »Taktiker und Manipulator« gelang es ihm, sich der
Sprache, der Bilder, der Symbole und der Götter der ein-
heimischen Religionen als Transportmittel für den von
ihm importierten indischen Buddhismus zu bedienen.
Die Volksstämme, denen er predigte, waren davon über-
zeugt, das Dharma wäre nichts anderes als eine verständ-
liche Deutung ihrer alten religiösen Vorstellungen. Nicht
einmal auf ihre Gottheiten (auch wenn diese sehr grau-
sam waren) brauchten sie verzichten, wenn sie zum tan-
trischen Buddhismus »konvertierten«, da Pandmasamb-
hava diese in sein eigenes System geschickt integrierte.
Sogar das auf einem krassen Feindbilddenken aufbau-
ende Kalachakra-Tantra empfiehlt die integrationistische
Manipulation Andersgläubiger. Das »Zeittantra« läßt er-
staunlicherweise die Ausübung nichtbuddhistischer Ri-
ten durch den Tantra-Meister zu. Es gibt dabei aber eine
wichtige Bedingung, nämlich die, daß die mystische Phy-
siologie des ausübenden Yogi (sein Energiekörper), mit
der er das gesamte okkult-religiöse Geschehen kontrol-
liert, stabil bleibt und sich strikt und ohne Abweichung
an die tantrische Methode (Upaya) hält. Dann »ist kei-
ne Religionsform auf dem Wege des eigenen oder eines
fremden Volkes für Yogis verderblich«, heißt es in der
Zeitlehre. (* Grünwedel, Kalacakra II, 177) Mit dieser Er-
laubnis ist der Weg frei, sich nach außen hin gegenüber

1239
jeder religiösen Richtung tolerant und aufgeschlossen zu
zeigen, ohne gegen die machtpolitischen Zielsetzungen
des Kalachakra-Tantras und des Shambhala-Mythos, die
den Buddhismus zur einzigen Weltreligion erheben wol-
len, zu verstoßen. Im Gegenteil, die vorgespielte »religiöse
Toleranz« wird zu einem machtvollen Mittel, den eigenen
Fundamentalismus unbemerkt durchzusetzen.
Wie sieht nun unter diesen Aspekten die ökumeni-
sche Politik des XIV Dalai Lamas aus ? Interreligiöse Ge-
spräche zählen zu den Spezialitäten des Kunduns, kei-
ne bedeutende Großveranstaltung der Weltökumene, wo
nicht seine vermittelnde Stimme gehört würde. Er ist ei-
ner der Präsidenten des »Weltparlaments der Religionen«
von Chicago. Niemals wird die Stimme des Gottkönigs
müde, die frohe Botschaft zu verkünden, daß alle Reli-
gionen trotz verschiedener Philosophien die gleiche Mo-
tivation hätten, nämlich die Vervollkommnung des Men-
schen. »Was immer die Unterschiede zwischen den Re-
ligionen sein mögen«, erklärte er 1985 in Madras, »jede
von ihnen möchte, daß der Mensch gut ist. Liebe und
Mitgefühl bilden das Wesen jeder Religion, und dies al-
lein kann die Menschen zusammenbringen, den Frieden
und das Glück für die Menschheit bewahren.« (* Tibetan
Review, Januar 1985, 9)
Doch dürfe man die Unterschiede zwischen den Glau-
bensansätzen um der Qualiät willen nicht überspielen. Es
sei keineswegs wünschenswert, wenn es zu einer über-
greifenden Einheitsreligion käme, das könne nicht das
Ziel des Dialoges sein. Man hüte sich vor einem »Cock-
tail der Religionen«. Die Verschiedenheit der Religionen

1240
sei geradezu ein notwendiges Mittel zur Evolution der
Menschheit. »Eine neue Weltreligion zu formen«, so der
Kundun, »ist schwierig und nicht besonders wünschens-
wert. Da aber Liebe wesentlich für alle Religionen ist,
könnte man von einer universalen Religion der Liebe
sprechen. Hinsichtlich der Methoden zur Entwicklung
von Liebe und zur Erlangung des Heils oder der perma-
nenten Befreiung unterscheiden sich die Religionen je-
doch von einander … Die Tatsache, daß es so viele ver-
schiedene Darstellungen des Weges gibt, ist ein Reich-
tum.« (* Brück, 520) Grundsätzlich solle jeder bei der
Religion, in die er hineingeboren werde, bleiben.
Es gehe ihm um gezielte Zusammenarbeit bei Beibehal-
tung der Autonomie, um einen Dialog über die allen ge-
meinsame Menschlichkeit. 1997 schlägt der Gottkönig vor,
daß Gruppen aus verschiedenen Glaubensbekenntnissen
gemeinsam an die heiligen Orte der Welt pilgern, um von-
einander zu lernen. Die religiösen Führer der Welt sollten
sich häufiger zusammensetzen, »denn solch ein Treffen ist
eine machtvolle Botschaft in den Augen von Millionen von
Menschen«. (* Tibetan Review, Mai 1997, 14)

Das Christentum

Austauschprogramme zwischen tibetisch-buddhisti-


schen und christlichen Mönchs- und Nonnenorden sind
mittlerweile durch einen Beschluß des Dalai Lamas in-
stitutionalisiert, wobei alle vier großen tibetischen Tra-
ditionslinien (Nyingmapa, Sakyapa, Kagyüpa und Ge-

1241
lugpa) sich daran beteiligen. In den 60er Jahren be-
suchte der amerikanische Trappist und Dichter-Mönch
Thomas Merton (1906–1968) den Kundun in Dharam-
sala und faßte seine Erlebnisse mit den folgenden Wor-
ten zusammen : »Ich habe hauptsächlich mit Buddhisten
zu tun gehabt … Es hat unschätzbaren Wert, mit Men-
schen unmittelbar in Verbindung zu treten, die lebens-
lang harte Arbeit daran gesetzt haben, ihr Bewußtsein
zu trainieren, und sich von Leidenschaften und Illusio-
nen zu befreien.« (* Brück, 49)
1989 leiteten der Gottkönig und der Benediktiner-Abt
Thomas Keating im Westen eine Versammlung von meh-
reren Tausend Christen und Buddhisten zur gemeinsa-
men Meditation. Der Kundun bereiste Lourdes und Je-
rusalem, um dort in stiller Andacht zu beten. Auch zwi-
schen den lutherischen Kirchen und dem Council for
Religious and Cultural Affairs of H. H. the Dalai Lama
bestehen engste Kontakte. Auf den sogenannten Naro-
pa-Konferenzen in Boulder Colorado (USA) werden The-
men wie »Gott« (christl.) und »Leere« (buddh.), »Gebet«
(christl.) und »Meditation« (buddh.), »Theismus« und
»Nicht-Theismus«, die »Trinität« und die »Drei Körper
Theorie« als Dialog zwischen Christen und Buddhisten
behandelt.
Der Vergleich von Christus mit Buddha hat eine alte
Tradition. (* siehe dazu Brück, 314 ff.) Es gibt in der Tat
viele Parallelen (zum Beispiel die Jungfrauengeburt, der
Messianismus). Insbesondere aber hat das Mitgefühlsge-
bot des Mahayana-Buddhismus die beiden Gründerge-
stalten als die Repräsentanten des selben Geistes erschei-

1242
nen lassen. Avalokiteshvara, der höchste Bodhisattva des
Mitgefühls, wird denn auch oft als ein quasi christliches
Urbild im Buddhismus herausgestellt und auch als sol-
ches angebetet. Das kommt natürlich dem Kundun sehr
zugute, der selber eine Inkarnation des Avalokiteshvara
ist und durch den Vergleich (der beiden Gottheiten) die
machtvollen Qualitäten eines Christusbildes für sich be-
anspruchen kann.
Aber Seine Heiligkeit ist in solchen Fragen äußerst vor-
sichtig und diplomatisch. Für einen Buddhisten – so der
Dalai Lama – könne Christus selbstverständlich als Bo-
dhisattva betrachtet werden, jedoch müsse man es ver-
meiden, Christus für den Buddhismus zu beanspruchen.
(Übrigens ist Christus im Kalachakra-Tantra als einer der
»Ketzer« genannt.) Der Kundun weiß nur zu genau, daß
eine offene Integration des Christus-Archetyps in sein
tantrisches Pantheon zu scharfen Protesten von christ-
licher Seite führen würde.
Er muß also, will er den Nazarener in sein System doch
integrieren, so wie damals Padmasambhava die einhei-
mischen Götter Tibets vereinnahmt hat, geschickter vor-
gehen. Zum Beispiel beschreibt er so viele Parallelen zwi-
schen Christus und Buddha (Avalokiteshvara), daß sei-
ne (christlichen !) Zuhörer ganz aus sich heraus zu dem
Schluß gelangen, bei Christus handle es sich um einen
Bodhisattva.
Wie erfolgreich dem Kundun eine solche Manipula-
tion gelingt, zeigt eine Konferenz zwischen einem klei-
nen Kreis von Christen und ihm (1994), deren Verlauf in
dem Buch Das Herz aller Religionen ist eins – Die Leh-

1243
re Jesu aus buddhistischer Sicht festgehalten wurde. In-
dem der Gottkönig auf diesem Treffen immer wieder
und mit Nachdruck betont, daß er nicht im geringsten
die Absicht habe, irgend etwas und irgend wen für den
Buddhismus zu vereinnahmen, erzielte er tatsächlich ei-
nen gegenteiligen Effekt. Je toleranter und respektvoller
er sich gegenüber anderen Religionen gab, desto mehr
überzeugte er seine Zuhörer davon, der Buddhismus sei
doch die einzig wahre Lehre. Mit dieser Double Bind-Wir-
kung gelang es dem Dalai Lama am Ende der genann-
ten Veranstaltung, als ein buddhistischer Supermönch
dazustehen, der alle Qualitäten der drei bedeutendsten
christlichen Mönchsorden in sich vereinigt : »Drei Dinge
bringt er (der Dalai Lama) in den spirituellen Gedanken-
austausch hinein«, so der Veranstaltungsleiter der klei-
nen Ökumene, ein Benediktiner, »Charakterzüge, die in
manchen Kreisen (gemeint sind damit christliche) un-
serer Tage überaus rar sind. – Diese drei Eigenschaften
sind Sanftmut, Klarheit und Fröhlichkeit. Falls der Da-
lai Lama etwas Benediktinisches an sich haben sollte, so
weist er gleichfalls eine franziskanischeste und eine je-
suitische Note auf.« (* Dalai LamaXIV, 1997, 16, 17) Der
Kundun erschien den vorwiegend katholischen Teilneh-
mern auf diesem interreligiösen Treffen in vielen Punk-
ten christlicher als die Christen.
Wenn der Dalai Lama jegliche Vereinnahmung ande-
rer Religionen durch den Buddhismus mit Entrüstung
von sich weist, so gilt dies keinesfalls für seine Anhän-
ger. Es gibt in letzter Zeit eine immer umfangreicher wer-
dende esoterische Literatur, in der die Autoren »nachwei-

1244
sen«, daß der Buddhismus die Urquelle aller Religionen
sei. Insbesondere versucht man das Christentum als eine
Variante des »Großen Fahrzeuges« (Mahayana) darzu-
stellen. Christus wird zu einem Bodhisattva erklärt, zu
einer Ausstrahlung des Avalokiteshvara, der sich in sei-
nem Mitgefühl für alle lebende Wesen aufgeopfert habe.
(* z. B. Gruber)
Ökumenische Treffen haben von tibetischer Seite her
nicht die Begegnung mehrerer Glaubensrichtungen im
Sinn. 116 Das widerspräche dem gesamten tantrischen Ri-
tualwesen. Sie beabsichtigen vielmehr die Unterwande-
rung einer fremden Religion, in der Absicht (eines Pad-
masambhavas), sie letztendlich in das eigene System
zu integrieren. Selten, wenn auch sehr sublim, werden
manchmal die Methoden einer solchen Aneignungspo-
litik diskutiert. 1987 und 1992 fanden in den USA zwei
Konferenzen statt, in der man über das zentrale The-
ma sprach, ob die buddhistische Konzeption von Upaya
(»geschicktes Mittel«) das Instrument »für einen gelasse-
neren Umgang mit der Wahrheitsfrage im Dialog (zwi-

116 Auch Papst Johannes Paul II ist in der ökumenischen Frage


eher zurückhaltend als vorwärtstreibend. Trotz der spektakulä-
ren Großveranstaltung aller Religionen, die aufgrund seiner Ein-
ladung am 25. Oktober 1986 in Assisi stattfand und auf der auch
der Kundun anwesend war. Knapp zehn Jahre nach diesem Tref-
fen, in das viele Anhänger des ökumenischen Gedankens große
Hoffnungen setzten, bezeichnete der Papst in seinem Buch Über
die Schwelle der Hoffnung die Lehre des Shakyamuni Buddha als
atheistisch, negativ und weltabgewandt und konstatierte, daß die
»Heilslehren des Buddhismus und des Christentums einander
entgegengesetzt seien.« (* Tibetan Review, Juni 1995, 12)

1245
schen Christen und Buddhisten) sein könnte«. (* Brück,
281) »Gelassener Umgang mit der Wahrheitsfrage«, das
kann nur bedeuten, daß man das Kultmysterium der se-
xualmagischen Riten, die kriegerische Shambhala-Ideo-
logie und die »Kriminalgeschichte« des Lamaismus auf
solchen ökumenischen Treffen überhaupt nicht oder ver-
fälscht zur Sprache bringt. 117
Ein 800 Seiten starkes Beispiel hierfür ist das Buch
der beiden Theologen Michael v. Brück und Whalen Lai
(Buddhismus und Christentum), das die Begegnung von
Buddhismus und Christentum als Thema hat. In ihm
wird mit keinem einzigen Wort auf die eminente Bedeu-
tung des Vajrayana in der buddhistischen Religionsge-
meinschaft eingegangen, so als gäbe es diese Schulrich-
tung überhaupt nicht. Seitenlang lesen wir fromme und
betuliche Mahayana-Sprüche tibetischer Lamas, von ih-
rer tantrischen Geheimphilosophie ist dagegen so gut
wie nirgends die Rede. Die Worte Shambhala und Ka-
lachakra-Tantra kann der Leser nicht im Index finden,
obgleich sie die Grundlage für die Religionspolitik des
XIV Dalai Lamas bilden, der von den Autoren seiten-
lang als der glänzendste Star des ökumenischen Dialogs

117 Wir möchten in diesem Zusammenhang unsere Leser und


Leserinnen an die problematische Rolle, die der Begriff Upaya
im Tantrismus spielt, erinnern. Von David Snellgro-ve stammt
folgende Definition : »In allen Fällen muß betont werden, daß die
Methode (Upaya) … als Mittel zu einem Zweck dient.« (* Snell-
grove, 1987, Bd. 1, 244) Dieser Zweck ist während des tantrischen
Rituals die Beherrschung der Karma Mudra beziehungsweise des
durch sie repräsentierten weiblichen Universums.

1246
verherrlicht wird. Dieses »theologisch« hochgestochene
Buch können wir als einen Beweis für die verfeinerte und
verdeckte Manipulation anführen, mit der das »totalisti-
sche Paradigma« des tibetischen Buddhismus im Westen
verankert werden soll.
Nur an einer einzigen verfänglichen Stelle, welche wir
oben schon einmal zitiert haben, lassen die beiden Au-
toren die Katze aus dem Sack. Dort empfehlen sie ame-
rikanischen Intellektuellen, die sich vom chinesischen
Hua-yen-Buddhismus angezogen fühlen, sich doch dem
Kundun zuzuwenden, der als einziger in der Lage wäre,
eine Buddhokratie zu errichten : »Doch Hua-yen ist kei-
ne lebendige Tradition mehr … Das bedeutet nicht, daß
ein totalistisches Paradigma ( !) nicht wiederholt werden
könnte, aber es scheint sinnvoller zu sein, dafür in der ti-
betisch-buddhistischen Tradition zu suchen, denn die ti-
betischen Buddhisten haben eine lebendige Erinnerung
an eine wirkliche ›Buddhokratie‹ und einen lebenden Da-
lai Lama, der das Volk als religiöse und politische Leitfi-
gur führt.« (* Brück, 631) Die Autoren glauben also trotz
seitenlanger vorgespielter christlicher Ökumene, daß ein
»totalistisches Paradigma« in der Zukunft wiederholt
werden könne, und empfehlen als Vorbild den Gottkö-
nig aus Dharamsala. Sie bestätigen damit offen und klar
die buddhokratische Vision des Kalachakra-Tantras und
des Shambhala-Mythos, die sie selber mit keinem Wort
erwähnt haben.

1247
Der Islam (Die Mlecchas)

Selbst der Zugriff auf das »immune« Judentum scheint


dem Kundun zu gelingen. Nach dem Besuch des Dalai
Lamas in Jerusalem (1996) bildeten sich in Israel und
den USA-Gruppen heraus, in denen sich jüdische und
buddhistische Ideen begegnen sollen. Ein Film wurde
über das Schicksal des israelischen Schriftstellers Rod-
ger Kamenetz gedreht, der, nachdem er den Dalai Lama
in Dharamsala besucht hatte, zum Buddhismus konver-
tierte und damit begann, seine eigenen religiösen Wur-
zeln buddhistisch umzuinterpretieren. Die sogenannten
Bu-Jews (buddhistische Juden) sind das jüngste Produkt
in der tantrischen Eroberungspolitik des Kunduns. Ih-
nen wird wohl kaum die von uns ausführlich dargestell-
te Verflechtung des tantrischen Buddhismus mit dem
okkulten Faschismus bekannt sein.
Dagegen tut sich Seine Heiligkeit mit dem Islam schwe-
rer als mit den Juden und Christen : »Ich kann mich kaum
an eine ernsthafte theologische Diskussion mit Moham-
medanern erinnern«, sagte er zu Beginn der 80er Jahre.
(* Levenson, 288) Das ist angesichts der im Shambhala-
Mythos prophezeiten Endschlacht zwischen den Mlec-
chas (Anhängern Mohammeds) Und den buddhistischen
Armeen des Mythengenerals Rudra Chakrin nur zu ver-
ständlich. Ein Vorgeschmack dieser radikalen Konfron-
tation, welche uns nach den Kalachakra-Prophezeiungen
im Jahr 2327 erwartet, war zu verspüren, als die moslemi-
schen Taliban 1997 in Afghanistan erklärten, sie würden
die 2000 Jahre alten Buddha-Statuen von Bamyan zerstö-

1248
Der XIV Dalai Lama vor der Klagemauer in Jerusalem

ren, weil der Islam Bildnisse verbiete. Unter dem Druck


der Weltöffentlichkeit, die äußerst heftig reagierte, konnte
dies jedoch verhindert werden. (Wir möchten nebenbei
daraufhinweisen, daß sich die aus dem Felsen geschlage-
nen Buddha-Bildnisse von Bamyan, von denen eines 55
Meter hoch ist, in einer Region befinden, aus der nach
der Vermutung ernstzunehmender Forscher wie Helmut
Hoffmann und John Ronald Newman ursprünglich das
Kalachakra-Tantra stammt.)
Nach seiner Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis
hat der Kundun jedoch in seiner Funktion als religiöser

1249
World Leader seine traditionelle Reserviertheit gegenüber
dem Islam revidiert. Er weiß, daß es weit publikums-
freundlicher ist, wenn er auch in diesem Fall größte To-
leranz zur Schau stellt. 1998 forderte er deswegen indi-
sche Muslime dazu auf, im Diskurs der Weltreligionen
eine führende Rolle zu spielen. Im gleichen versöhnen-
den Sinne äußerte er schon vorher in einem Interview
den Wunsch, eines Tages Mekka zu besuchen. 118 (* Da-
lai Lama XIV, 1996 II, 152)
Auf der anderen Seite unterhält Seine Heiligkeit jedoch
engste Kontakte zur indischen BJP (Bhatiya Janata Par-
ty) und der RSS (Rashtriya Svayam Sevak Sangh), zwei
restaurativ-konservativen hinduistischen Organisationen
(zur Zeit, 1998, an der Regierung beteiligt), die mit aller
Schärfe gegen den Islam vorgehen. 119
Eine ehrliche Absage an die Islam-Feindlichkeit des
tantrischen Buddhismus bestünde ausschließlich in der
klaren Distanzierung des Kundun zu allen diesbezügli-
chen Passagen aus der Kalachakra-Tradition. Das ist bis-
her – unseres Wissens nach – nirgends erfolgt.
Es gibt dagegen im buddhistischen Lager schon heute
radikale Entwicklungen, die auf eine direkte Konfron-
tation mit dem Islam hinsteuern. Zum Beispiel geht der
westliche Buddhist »Lama« Ole Nydahl (Kagyüpa) mit

118 Dazu wird es niemals kommen, denn die Muslime sind in


Fragen Okkultismus und »Weltenherrschaft« ebenso versiert und
empfindsam wie Seine Heiligkeit.
119 Mitglieder der RSS waren 1948 wesentlich an der Ermordung
Mahatma Gandhis beteiligt, von dem der Dalai Lama behauptet,
er sei sein größter nichtbuddhistischer Lehrer.

1250
außerordentlicher Schärfe und Radikalität gegen die Ein-
wanderung von Mohammedanern nach Europa vor.
So problematisch wir auch einen fundamentalistischen
Islam empfinden, so sind wir dennoch nicht davon über-
zeugt, daß die Kalachakra-Ideologie und die von dem
Tantra prognostizierte Endschlacht mit den Mlecchas
(Mohammedanern) zu einer Konfliktlösung im Kampf
der Kulturen führen kann. Mit Recht bezeichnet ein Dis-
kussionsbeitrag im Internet die Ideen vom Shambhala-
Krieger als eine buddhistische Entsprechung zum Djihad,
zum moslemischen »Heiligen Krieg«. Religionskriege, die
die Vernichtung des jeweils Andersgläubigen zum Ziel
haben, sind in den letzten Jahren tatsächlich und für den
Westen völlig überraschend zu einer Bedrohung des Welt-
friedens geworden. Wir kommen in unserer Konklusion
darauf zurück, insbesondere auf die Frage, ob die im Ka-
lachakra-Tantra vorhergesagte Zweiteilung der Mensch-
heit in ein buddhistisches und in ein islamisches Lager
nur eine Fiktion darstellt, oder ob es sich hier um eine
reale Gefahr handelt.

Der Schamanismus

Bis in die 80er Jahre hinein spielte für den Dalai Lama
die Begegnung mit den Naturreligionen eine bedeuten-
de Rolle. Es gab damals eine Menge Literatur, die be-
geistert auf die Parallelen zwischen der nordamerikani-
schen Hopiindianer-Kultur und dem tibetischen Bud-
dhismus hinwies. Man stellte sogar die gleichen Begriffe

1251
Der XIV Dalai Lama und der Älteste der Hopi-Indianer
fest, nur mit gegensätzlicher Bedeutung : Zum Beispiel
soll das tibetische Wort »Sonne« in der Hopisprache
»Mond« bedeuten, und umgekehrt, die Hopisonne ent-
spreche dem Tibetmond. (* Keegan, o. S.) Erstaunliche
Übereinstimmungen gebe es auch bei den Ritualen, ins-
besondere den »Feuerzeremonien«.
Zeitweise kam die Idee auf, der Dalai Lama wäre der
in der Hopi-Religion angekündigte Messias. Dieser sei –
der Legende nach – in mythischer Vorzeit ein Mitglied
des »Sonnenclans« gewesen und hätte seine indianischen
Brüder verlassen, um dann in Zukunft als Heilsbringer
zurückzukehren. »Sie wollten mir über eine alte von Ge-
neration zu Generation überlieferte Prophezeiung ihres
Volkes berichten«, erzählt Seine Heiligkeit, »wonach ei-
nes Tages jemand aus dem Osten käme … Sie meinten,
ich könnte es sein, und waren gekommen, es mir zu sa-
gen.« (* Levenson, 277)
Solche Kontakte des Kunduns zu den Indianern und
anderen Urvölkern, die in den 70ern und Anfang der
80er Jahre eine große Bedeutung für ihn hatten und wo
er mit großer Ehre und Anerkennung gefeiert wurde,
sind in der letzten Zeit mehr oder weniger eingeschla-
fen. Die Hopi-Indianer spielen heute auf der politischen
Weltenbühne eine völlig unbeachtete Nebenrolle, wenn
sie überhaupt jemals eine gewisse Machtposition erreicht
haben sollten. Seine Heiligkeit dagegen betrat Mitte der
80er Jahre erfolgreich das internationale Parkett, wur-
de in die exklusive Gemeinschaft der World Leader auf-
genommen. Er schaffte es, einen beachtlichen Teil jener
weißen Männer und Frauen, die sich vorher mit Solidari-

1253
tät und Sympathie weltweit für die Indianer und andere
Aborigines eingesetzt hatten, zu motivieren, sich zuneh-
mend für den tantrischen Buddhismus zu interessieren
und sich heute in der Tibetfrage zu engagieren. Diese
Vereinnahmung seitens des Lamaismus gilt – wie wir
zeigen werden – für die gesamte esoterische Bewegung,
die unter dem Begriff New Age bekannt wurde.

Die okkulte Szene und das New Age

Wie sieht nun das Verhältnis des XIV Dalai Lama zur
sogenannten esoterischen Szene aus, die sich in den letz-
ten Jahren explosionsartig in allen Ländern des Westens
verbreitet hat ? In der Beziehung zu verschiedenen tradi-
tionellen okkulten Sekten (Moon, Brahmakumaris, Sci-
entology, Theosophen, Roerich-Gruppen), die im allge-
meinen in der offiziellen Presse keinen guten Ruf genie-
ßen, ist Seine Heiligkeit oft toleranter und intimer, als
in der großen Öffentlichkeit angenommen wird. Wir
haben schon ausführlich über seine Relation zur AUM-
Sekte des Shoko Asaltara berichtet. Auch zu den Theo-
sophen der unterschiedlichsten Richtungen bestehen
herzliche Kontakte. Vor ein paar Jahren leitete Seine
Heiligkeit eine Schriftensammlung von Madame Blava-
tsky mit einem lobenden Vorwort ein.
Von entscheidender Bedeutung sind jedoch seine Be-
ziehungen zu der religiösen Subkultur, die weltweit als
New Age Mouvement bekannt wurde. An die Stelle der
jugendlichen Protestaktionen der 68er trat schon Anfang

1254
der 70er Jahre die spirituelle Praxis von Individuen und
Gruppen, an die Stelle einer politisch links orientierten
Utopie von der klassenlosen Gesellschaft die Vision von
der »Gemeinschaft der Heiligen«. Alle Anhänger des New
Age sahen sich als Mitglieder einer »sanften Verschwö-
rung«, welche das »Neue Wassermann Zeitalter« und
die Erscheinung messianischer Heilsbringer (oft aus au-
ßereuropäischen Kulturen) vorbereiten sollten. Jede nur
denkbare Glaubensrichtung, politisch-religiöse Anschau-
ung und surreale Phantasie sammelte sich in dieser dy-
namisch-kreativen Kulturströmung. Zu Beginn wies das
New Age eine naive, aber souveräne Unabhängigkeit von
den bestehenden religiösen Traditionen auf. Man glaubte,
aus allen Kultmysterien – bei den Indianern, den Tibetern,
den Indern, den Ägyptern, den Sufis, den Theosophen usw.
– das Beste herausholen zu können, um es ohne Beden-
ken mit den eigenen spirituellen Erfahrungen zu verbin-
den und es im Sinne einer friedlichen Weltgemeinschaft
weiterzuentwickeln. Selbst traditionell verankerte Gurus
der Frühphase wie der Inder Rajneesh Baghwan oder der
Tibeter Chögyam Trungpa wurden diesem »spirituellen
Liberalismus« gerecht und kombinierten ihre tradierten
Initiationstechniken mit allen möglichen Methoden der
westlichen Moderne, insbesondere mit denen der thera-
peutischen Psychologie. Aber schon nach wenigen Jahren
schöpferischer Freiheit setzten sich in der New Age-Be-
wegung orthodox-kirchliche Richtungen und atavistische
Sekten durch, die dieses »mystisch-ursprüngliche Poten-
tial« für die eigenen Zwecke nutzten, ja für ihre Regene-
ration lebensnotwendig benötigten.

1255
An diesem Prozeß (der Vereinnahmung des New Age)
war der Buddhismus von Anfang an intensiv beteiligt.
Zuerst überwog der Einfluß des japanischen Zen, zwei
Jahrzehnte später jedoch gelang es dem tibetischen La-
maismus, immer mehr New Age-Protagonisten an sich
zu binden. Dabei half sicher die Tatsache, daß Tibet seit
dem 19. Jahrhundert ein Objekt westlicher Phantasie ist,
in das alle nur denkbaren okkulten Sehnsüchte und my-
stischen Erwartungen hineinprojiziert wurden. Die theo-
sophische Vision von omnipotenten Mahatmas, welche
von den Höhen des Himalayas aus die Geschicke der
Welt dirigieren, hat sich zu einem machtvollen Bild reli-
giöser Subkulturen auch nicht-theosophischer Prägung
entwickelt.
Für den XIV Dalai Lama war die New Age-Bewegung
sowohl das primäre Rekrutierungsfeld für westliche Bud-
dhisten als auch das Einstiegstor in die offizielle Gesell-
schaft. Bei seiner geschickten Eroberung der spirituellen
Subkultur kam ihm der von uns dargestellte Doppelcha-
rakter seiner Religion, diese Mischung aus buddhokra-
tischer Offizialität und anarchistischem Aussteigertum
äußerst zugute. Denn die »Kinder des Wassermannzeit-
alters«, die sich als Rebellen gegen die bestehenden ge-
sellschaftlichen dogmatischen Normen verstanden (ihr
anarchistischer Zug) und nicht selten von der bürgerli-
chen Öffentlichkeit lächerlich gemacht wurden, kämpften
auf der anderen Seite verbissen um ihre gesellschaftliche
Anerkennung und die Durchsetzung ihrer Ideen als kul-
turell anerkannte Werte. Ein Besuch des Dalai Lama auf
ihren Veranstaltungen gab ihnen eine beachtliche Offizia-

1256
lität, welche sie ansonsten niemals erreicht hätten. Und
sie zahlten viel Geld und Arbeitseinsatz dafür. Da der
Dalai Lama vor Ende der 80er Jahre nur sehr selten von
staatlichen Stellen empfangen wurde, aber dennoch aus-
gedehnte Reisen als seine politische Aufgabe sah, spielten
ebenfalls die materiellen Mittel aus der New Age-Szene.
eine wichtige Rolle für ihn. »Er eröffnet buddhistische
Zentren neureicher New Age-Protagonisten«, schreibt
Der Spiegel, »von deren Seriosität er nicht immer über-
zeugt sein kann.« (* Spiegel 16/1998, in) Es waren esote-
rische Kleingruppen, die ihn bis Mitte der 80er Jahre in
die verschiedenen westlichen Länder einluden und nach
seinem Besuch die Rechnung für die Kosten beglichen
– nicht die Staatschefs und die Minister aus Bonn, Ma-
drid, Paris, Washington, London und Wien.
Eine solche unkonventionelle Regelung war den staatli-
chen Stellen wiederum Recht, da sie sich nicht durch das
Engagement für eine Dalai Lama-Reise mit den Chinesen
überwerfen mußten. Andererseits übte die exotisch-ma-
gische Ausstrahlung des Kunduns, des »lebenden Bud-
dhas« und »Gottkönigs«, schon immer eine große An-
ziehungskraft auf die offizielle Gesellschaft aus. Kaum ei-
ner, der Rang und Namen hatte (ob aus der Wirtschaft,
der Politik oder der Kunst), konnte diesem charmanten
und »menschlichen« Übergott widerstehen. Dem »gelben
Papst« und »spirituellen Herrscher vom Dach der Welt«
die Hand zu drücken und sogar locker mit ihm zu plau-
dern, das war schon immer ein einmaliges gesellschaft-
liches Ereignis. So fanden auf diesen eher marginalisier-
ten New Age-Reisen »nebenbei« immer wieder »geheime«

1257
Treffen mit den verschiedensten Staatschefs und auch sehr
berühmten Künstlern (zum Beispiel Herbert v. Karajan
oder Joseph Beuys) statt, die sich vom Lächeln und der
Exotik des Kunduns verzaubern ließen. Solch unzählige
inoffizielle Begegnungen bereiteten den späteren Großen
Sprung des Kunduns in die offizielle Politik vor, der Ende
der 80er Jahre mit der Tibet Lobby und der Verleihung
des Friedensnobelpreises (1989) endgültig gelang.
Seither sind es die Staatschefs, die berühmten Stars,
der Hochadel, die Rektoren der großen Universitäten, die
den tibetischen Kalachakra-Meister mit großem Pomp
empfangen. Die interessante, originäre, wenn auch na-
ive New Age-Bewegung existiert nicht mehr. Sie wur-
de aufgerieben zwischen den verschiedenen religiösen
Traditionen (insbesondere dem Buddhismus) auf der ei-
nen Seite und der »bürgerlichen »Presse (der sogenann-
ten »kritischen Öffentlichkeit«) auf der anderen. Bei aller
Problematik, welche diese spirituelle Nachfolgerin und
Erbin der 68er-Bewegung aufwies, gab es in ihr zahlrei-
che Ideen und Lebenspraktiken, welche für eine spiritu-
ell fundierte Kultur jenseits der bestehenden religiösen
Traditionen und ihren Machtträumen ausreichend ge-
wesen wären. Die bürgerliche Gesellschaft (aus der die
»Kinder des Wassermannzeitalters« stammten) hat aber
dieses Potential weder erkannt noch aufgegriffen. Dage-
gen reagierten die traditionellen Religionen, insbesonde-
re der Buddhismus, sehr sensibel auf die New Age-Sze-
ne. Sie alle erlebten in den 60er Jahren die gefährlichste
Krise ihres Niedergangs, und sie benötigten die Visionen,
das Engagement, den Enthusiasmus und das frische Blut

1258
einer noch unverbrauchten und dynamischen Generati-
on, um überhaupt überleben zu können.
Heute ist das New Age passé, und der Kundun kann
sich mehr und mehr von seinen alten Freunden absetzen
und völlig ins Establishment überwechseln.
Wie bestimmend der Kundun an dem Prozeß der re-
staurativen Vereinnahmung (des New Age) beteiligt war,
das werden wir im folgenden Kapitel zeigen. Es gelang
ihm nämlich, die intellektuelle und wissenschaftliche
Elite der New Age-Bewegung an sein eigenes atavisti-
sches System zu fesseln. Dabei handelt es sich um junge
und ältere westliche Wissenschaftler, die in den klassi-
schen Disziplinen (Atomphysik, Chemie, Biologie, Neu-
robiologie) ausgebildet waren und die den Versuch unter-
nahmen, ihre naturwissenschaftlichen Grundlagen mit
religiös-philosophischen Themenstellungen zu kombi-
nieren, wobei die östlich orientierten Weisheitslehren zu-
nehmend an Bedeutung gewannen. Dieser internationa-
le Kreis von wagemutigen Denkern und Forschern, zu
der so bekannte Persönlichkeiten wie Carl Friedrich von
Weizsäcker, David Böhm, Francisco Várela, Ken Wilber
und Fritjof Capra zählen, soll uns jetzt beschäftigen. 120

120 Einige der genannten Persönlichkeiten haben öfters betont,


daß sie sich nicht dem New Age zugehörig fühlen. Bei dieser Zu-
rückweisung, die meist aus der Angst entstand, unseriös zu er-
scheinen, handelt es sich weitgehend um ein Sprachspiel. Die
New Age-Bewegung, die ein Milieu und keine Organisation dar-
stellte, diskutierte auf sehr unterschiedlichem Niveau die Para-
digmen für ein »Neues Zeitalter«, und alle genannten Wissen-
schaftler taten dies in derselben Absicht.

1259
Ein weiter Teil der New Age-Szene arbeitet heute als Fuß-
volk durch sein Engagement in der Tibetfrage und wird
durch einige Lama-Besuche und Retreats von Zeit zu Zeit
spirituell belohnt.

Moderne Wissenschaft und tantrischer Buddhismus

1939 schrieb der große Psychologe Carl Gustav Jung in


einem Kommentar zum Tibetischen Totenbuch sinnge-
mäß, das Praktizieren von Yoga in der 5th Avenue oder
an einem anderen Platz, der durch ein Telefon zu errei-
chen sei, wäre ein spiritueller Witz. Jung war also davon
überzeugt, daß die archaischen Yogapraktiken des tibe-
tischen Tantrismus nicht mit dem modernen, von Wis-
senschaft und Technik bestimmten westlichen Weltbild
vereinbar seien. Für ihn stellte die Verbindung von Tele-
fon und Tibet ein Paradoxon dar. »Das Telefon ! Gibt es
denn keinen Platz auf Erden, wo man nicht vor diesem
Fluch geschützt würde ?« fragt in einem anderen Text ein
zivilisationsmüder Westeuropäer und entschließt sich
prompt, nach Tibet zu reisen, das Heilige Land, in dem
man noch nicht durch einen Fernsprecher erreichbar ist.
(* Riencourt, 49/50) Solche westlichen Sehnsuchtsbilder
vom unberührten Tibet täuschen jedoch. Schon ein Jahr
nach Jungs Aussage (im Jahre 1940) besaß der Potala
sein eigenes Telefon.
Aber es gab in den 30er Jahren auch andere Stimmen !
Stimmen, die einen kühnen Vergleich moderner techni-
scher Möglichkeiten mit den tantrischen Zauberkräften

1260
(Siddhis) wagten : Evans-Wentz zum Beispiel, der berühm-
te Übersetzer des Tibetanischen Totenbuches, schwärmte :
»Wie von mächtigen Funkstationen, die dynamisch mit
Gedankenkräften ausgestattet sind, senden die ›Groß-
mächtigen‹ (the ›Great Ones‹) über die Erde diese vitale
Spiritualität, die allein die menschliche Evolution mög-
lich macht.« (* Evans-Wentz, 1978, 18) Diese »Großmäch-
tigen« sind die Maha Siddhas (»Großzauberer«), die sich
im Himalaya (in Shambhala) verborgen halten und mit
ihrer Magie jedes menschliche Hirn erreichen können,
um es in ihrem Sinne zu manipulieren.
In den letzten dreißig Jahren hat der tibetische Bud-
dhismus einen erfolgreichen Anschluß an die westli-
che Moderne aufgebaut. Es gibt von Seiten der »atavisti-
schen« Religion Tibets keinerlei Berührungsängste mehr
zur Wissenschaft und Technologie des Westens. Ausgie-
big und geschickt wird die gesamte Informationstechnik
des Abendlandes von exiltibetischen Mönchen und ih-
ren westlichen Anhängern benutzt. Unzählbar sind die
verschiedenen Homepages, welche im Internet für das
Dharma (die buddhistische Lehre) werben. Lamas, die
rund um den Globus fliegen, um ihre spirituellen Zen-
tren in aller Welt zu besuchen, zählen zum internatio-
nalen Jet Set.
Aber der tibetische Buddhismus geht noch einen Schritt
weiter : Der Mönchsklerus eignet sich nicht nur die wis-
senschaftlich-technischen Errungenschaften des Westens
an, sondern versucht, sie mit seiner buddhokratisch-tan-
trischen Weltsicht in ein erkenntnistheoretisches Abhän-
gigkeitsverhältnis zu bringen. Selbst der Kundun ist – wir

1261
werden das gleich zeigen – davon überzeugt, daß sich die
modernen Naturwissenschaften »buddhisieren« lassen.
Das fällt den Buddhisten viel leichter als zum Beispiel
den Moslems, die zur Zeit eine ähnliche Aneignungs-
strategie der westlichen Moderne verfolgen. Die Lehre
Mohammeds ist eine Offenbarungsreligion und wurde in
einem heiligen Buch, dem Koran, kodifiziert. Der Koran
gilt als das absolute Wort Gottes und bildet die unver-
änderliche Grundlage der islamischen Kultur. Er erweist
sich als äußerst sperrig, wenn man die europäisch wis-
senschaftlichen Disziplinen unter diesen Offenbarungs-
text subsumieren will.
Dagegen baut der tibetische Buddhismus (auch das
Kalachakra-Tantra) auf einer abstrakten Philosophie der
»Leere« auf, die als das allgemeinste Prinzip alles »umfas-
sen« kann, selbst die westliche Kultur, »Alles entsteht aus
Shunyata (der Leere) !« Mit diesem fundamentalen Satz,
den wir noch zu erörtern haben, verschafft sich die phi-
losophische Elite des Lamaismus den Zugang zur aktu-
ellen Paradigmendiskussion, welche die europäische Wis-
senschaft seit der Quantentheorie Heisenbergs in Atem
hält. Was ist darunter zu verstehen ?
»Um als Paradigma angenommen zu werden«, schreibt
Thomas Kuhn in seinem Klassiker Die Struktur der wis-
senschaftlichen Revolutionen, »muß eine Theorie besser
erscheinen als die mit ihr in Wettstreit liegenden, sie
braucht aber nicht – und tut es tatsächlich auch niemals
– alle Tatsachen, mit denen sie konfrontiert wird, zu er-
klären.« (* Kuhn, 37) Kuhn geht in seinem Satz von ei-
nem wissenschaftlichen Paradigmenstreit (von »Theori-

1262
en«) aus, öffnet aber gleichzeitig das Tor für Glaubenssät-
ze, da ja ein Paradigma – nach seinen Untersuchungen
– nicht alle seine Voraussetzungen zu erklären braucht.
Unter Paradigmen können wir deswegen ganz allgemein
die fundamentalen Grundsätze verstehen, aus denen sich
eine menschliche Kultur ableitet, mögen diese nun wis-
senschaftlicher oder religiöser Natur sein. Das Dogma,
ob am Anfang der Schöpfung ein Gott oder eine Göttin
stehen, ist deswegen ebenso ein Paradigma wie die unter-
stellte Trennung von denkendem Geist (res cogitans) und
ausgedehnter Materie (res extensa) durch René Descar-
tes oder das natürliche Ursachenprinzip in der Newton-
schen Physik. Traditionelle Christen, welche die Johan-
nesapokalypse als Lehrinhalt anerkennen, interpretie-
ren die Menschheitsgeschichte ebenso wie die Anhänger
des tantrischen Shambhala-Mythos nach einem eschato-
logisch-intentionalen Paradigma. Alle historischen Ereig-
nisse steuern in beiden Systemen auf ein Endziel zu, näm-
lich auf die Erscheinung eines Messias (Christus oder Ru-
dra Chakrin) und die Inszenierung einer Letzten Schlacht
zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Die Zukunft der
Menschheit ist also endgültig fixiert. Der westliche Histo-
rizismus dagegen sieht in der Geschichte ein Aufeinan-
derwirken verschiedener Ursachen, die gemeinsam eine
noch offene, nicht festgelegte Zukunft hervorbringen. Er
folgt also einem kausalen Paradigma. Eine Demokratie
hat die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit aller Men-
schen als Paradigma, Theokratie oder Buddhokratie an-
erkennen die Allmacht Gottes beziehungsweise Buddhas
als den obersten Grundsatz ihres Staatssystems.

1263
Neue Paradigmen treten erst ins kulturelle Bewußtsein
einer Gesellschaft, wenn ihre alten herrschenden para-
digmatischen Grundsätze in eine Krise geraten sind. Eine
solche Paradigmenkrise erschüttert zur Zeit die abend-
ländische Welt. Das wissenschaftliche, an den Ideen von
René Descartes und Isaac Newton orientierte »Zeitalter
der Vernunft« – so seine heutigen Kritiker – werde den
vielschichtigen Anforderungen einer postmodernen Ge-
sellschaft nicht mehr gerecht. Weder reiche das mecha-
nistische Weltbild mit seinem an der klassischen Physik
orientierten Kausalitätsprinzip aus, das Universum in
seiner Komplexität zu erkennen, noch helfe der westli-
che »Rationalismus«, das menschliche und das natürli-
che Leben sinnvoll zu gestalten. Die »Vernunft« habe bei-
spielsweise als das unangefochten höhere Prinzip das Ge-
fühl, die Intuition, die Vision, die Religiosität, den Eros,
ja selbst den Humanismus beherrscht. Eine fundamen-
tale Erkenntnis- und Sinnkrise sei die Folge gewesen. Ei-
nige sprechen unter Berufung auf Oswald Spengler vom
Untergang des Abendlandes.
So wurden Vorschläge für die neuen, »postmodernen«
Paradigmen des dritten Jahrtausends in den letzten Jah-
ren (nicht zuletzt in Kreisen der New Age-Bewegung) al-
lerorten auf Konferenzen und Symposien diskutiert. Zum
Beispiel : Anstatt durch linear-kausale Modelle, wie in
der Newtonschen Physik, sei die Natur durch ganzheit-
liche, synchrone, synergetische, ökologische, kyberneti-
sche, mikro-makrokosmische Strukturen zu erklären.
Solche neuen Modelle lösen Revolutionen des Denkens
und Empfindens aus und sind leichter benannt als umge-

1264
setzt und gesellschaftlich gefestigt. Denn ein Paradigma
formt die Wirklichkeit als solche gemäß seinen Grund-
sätzen, es »verobjektiviert« sie sozusagen nach seinem
Bild und schafft mit anderen Worten (wenn auch erst
nach seiner kulturellen Fixierung) die »objektive Welt
der Erscheinungen«, das heißt, die Menschen nehmen
die Realität durch die paradigmatische Brille ihrer jewei-
ligen Kultur wahr. Ein Paradigmenwechsel wird deswe-
gen von den traditionellen Schichten einer Gesellschaft
als eine Art Realitätsverlust empfunden.
Deswegen sind Paradigmen als die Fundamente einer
Kultur nicht so leicht zu erschüttern. Um zum Beispiel
das »überholte« Newtonsche Weltbild der klassischen
Physik aufzuheben, müssen dessen realitätsschaffenden
Denkgrundlagen (vor allem das Kausalitätsprinzip) re-
lativiert werden. Dabei geht es – wie Kuhn überzeugend
ausgeführt hat – nicht unbedingt um einen erneuten
und überzeugenderen wissenschaftlichen Beweis oder
um eine rationale Erklärung für das neue (postmoderne,
nach-Newtonsche) Paradigma, sondern es reicht, wenn
die neue Weltsicht insgesamt besser erscheint als die alte.
Im Klartext heißt das – das mächtigste und nicht etwa
das vernünftigste Paradigma ist nach seiner kulturellen
Etablierung das beste und wird deswegen als die Grund-
lage einer neuen Kultur akzeptiert.
So geht jedem Paradigmenwechsel immer der tödli-
che Machtkampf verschiedener Weltanschauungen vor-
aus. Tödlich deswegen, weil das einmal gefestigte (das
siegende) Paradigma seine Konkurrenten völlig ausschal-
tet, also ihnen jegliche paradigmatische (das heißt wirk-

1265
lichkeitserklärende) Bedeutung abspricht. Das kosmolo-
gische Paradigma des Ptolomäus (»die Sonne dreht sich
um die Erde«) hat nach Kopernikus (»die Erde dreht sich
um die Sonne«) keine realitätsstiftende Bedeutung mehr.
Deswegen gelten die ptolomäischen Ansichten im koper-
nikanischen Zeitalter allenfalls noch als Wahrheiten der
Imagination, sind aber zur Erklärung der Realität nicht
mehr tauglich. Oder ein anderes Beispiel : Für einen ti-
betischen Lama ist das, was ein positivistischer Wissen-
schaftler als Realität bezeichnet, reiner Schein (Samsara),
während umgekehrt für den Wissenschaftler die religi-
öse Welt des Lamas eine phantastische, wenn nicht gar
pathologische Scheinwelt darstellt.
Die Krise der westlichen Moderne (des rationalen Zeit-
alters) und die abendländische Diskussion über einen
Paradigmenwechsel haben primär nichts mit dem Bud-
dhismus zu schaffen, sie sind ein kulturelles Ereignis, das
seit Beginn unseres Jahrhunderts in wissenschaftsorien-
tierten Kreisen Europas und Nordamerikas auftrat, und
ein Resultat der kritischen Selbstreflexion der abendlän-
dischen Wissenschaft selbst. Vor allem waren an die-
sem Prozeß exponierte Vertreter der Atomphysik betei-
ligt. (Wir kommen darauf noch kurz zu sprechen.) In den
»leeren« und »paradigmenlosen« Raum, der heute durch
die Selbstzweifel und den »Sinnverlust« der westlichen
Moderne entstanden ist, strömen nun atavistische Religi-
onssysteme mit ihren fraglichen Weisheitslehren ein, um
sich als neue Paradigmata anzubieten und durchzuset-
zen. Sie bieten frisch, fröhlich, frei wie nie zuvor in den
letzten Jahrzehnten ihre alten Dogmen (welche schon im

1266
»Zeitalter der Aufklärung« verworfen wurden) an, wenn
auch oft in einer neuen zeitgerechten Verpackung.
Der XIV Dalai Lama ist nur einer von vielen, die sich
(aus dem Osten kommend) dem Westen als Retter in gro-
ßer Not mit ihrer spirituellen Sinngebung vorstellen, aber
er betreibt dieses Unternehmen ganz besonders geschickt.
Daß auf seinem öffentlichen Lehrplan (über das neue Pa-
radigma) nicht die sexualmagischen Doktrinen des Ka-
lachakra-Tantras und die Kriegsideologie des Shambhala-
Mythos zu finden sind, sondern nur die erkenntnistheore-
tischen Diskurse der beiden wichtigsten buddhistischen
Philosophieschulen (Madhyamika und Yogachara) und
die mitfühlende, ans Herz greifende Ethik des Mahaya-
na-Buddhìsmus – das versteht sich von selbst.
Man muß jedoch ohne Vorbehalt zugeben, daß die Er-
kenntnislehre des Buddhismus den Einstieg in die west-
liche Paradigmendiskussion besonders leicht macht. Wel-
cher Schulrichtung sie auch angehört – sie geht immer
von der Vorstellung aus, daß ein Objekt nur mit dem Er-
kennen des Objektes auftritt. Objektivität (Realität) und
subjektive Wahrnehmung (Bewußtsein) sind also niemals
voneinander zu trennen, sie sind in letzter Konsequenz
identisch. Dieser radikale Subjektivismus führt notwen-
digerweise zu der philosophischen Aussage, daß alle Er-
scheinungen der Außenwelt keine »inhärente Existenz«
aufweisen, sondern von einem Bewußtsein (Yogachara-
Schule) hervorgebracht werden oder als »leer« zu bezeich-
nen sind (Madhyamika-Schule).
Es handelt sich hierbei um zwei epistemologische Lehr-
meinungen, welche auch dem Westen nicht fremd sind.

1267
So konnte sich die buddhistische Madhyamika-Philoso-
phie, die von der »Leerheit« (Shunyata) alles Seienden
ausgeht, ein gewichtiges Mitspracherecht im euro-ameri-
kanischen Philosophiegespräch erobern. Man vergleicht
zum Beispiel die These des modernen Logistikers Ludwig
Wittgenstein (1889–1951), daß alles Reden über »Gott«
und die »Leere« nichts als »Sprachspiele« seien, mit der
radikalen Aussage des Madhyamika-Gelehrten Nagarju-
na (2./3. Jahrhundert), der intellektuelle Diskurs sei ein
»Wortspiel in der Vielheit«. (* Brück, 443)121
Des weiteren wird die Yogachara-Schule (»alles ist Be-
wußtsein«) als eine buddhistische Zeugin für die »Quan-
tentheorie« Werner Heisenbergs (1901–1976) aufgeboten.
Der deutsche Atomphysiker hatte die Dependenz »objek-
tiver« physikalischer Vorgänge von einem (beobachten-
den) Subjekt in die wissenschaftliche Erkenntnisdiskussi-
on eingebracht. Je nach experimenteller Anordnung kann
zum Beispiel derselbe physikalische Vorgang als eine Be-
wegung von nicht-materiellen Wellen oder als die Bewe-
gung von subatomaren Teilchen gesehen werden (Un-
schärferelation). Okkulte Schulen aller möglichen Rich-
tungen begrüßten in Heisenbergs Unschärferelation eine
Bestätigung für die von ihnen unterstellte Vergeistigung
(Versubjektivierung) alles Seienden und feierten seine
Ausführungen als eine »wissenschaftliche« Bestätigung

121 Nagarjuna, Gründungsvater des Madhyamika, hat sich mit


seiner Shunyata-Lehre sogar Eingang in die christliche Theologie
verschafft, etwa durch Abe Masaos Begriff eines »sich selbst ent-
leerenden, sich selbst – verleugnenden Gottes«. (* Brück, 448)

1268
ihrer »Nur Geist«-Theorien. (»Die Realität ist abhängig
vom Subjekt des Betrachters«.)
Selbst der XIV Dalai Lama spricht nonchalant über
Heisenbergs Theorem und die Subjektivität atomarer
Welten : »So werden gewisse Phänomene in der Physik«,
hören wir aus seinem Munde, »manchmal als elektro-
magnetische Welle und ein andermal als Partikel be-
schrieben. So scheint die Beschreibung des Phänomens
sehr vom Subjekt, sehr vom Beschreibenden abzuhän-
gen. Auch in der Wissenschaft besteht also diese konkre-
te Beziehung zum Geist, zum beobachtenden Geist, der
die Phänomene zu beschreiben sucht. Bezüglich der Be-
schreibung des Geistes ist der Buddhismus sehr reich …
»(* Dalai Lama XIV, 1995, 52)
Erstaunlicherweise werden solche erkenntnistheoreti-
schen Aussagen des Kunduns, die sich mittlerweile jeder
Esoteriker zu eigen gemacht hat, in wissenschaftlichen
Kreisen ernst genommen. Selbst Koryphäen ihres Fachs,
wie der deutsche Teilchenphysiker und Philosoph Carl
Friedrich von Weizsäcker, der zu den führenden theore-
tischen Gründungsvätern der Atombombe zählt, sind be-
geistert davon, mit welcher Selbstsicherheit der Gottkö-
nig aus Tibet über Themen der Quantentheorie plaudert,
und kommen zu dem weitreichenden Schluß : »Deshalb
glaube ich (v. Weizsäcker), daß in der Tat die moderne
Physik mit dem Buddhismus vereinbar ist, in einer hö-
heren Weise, als man sich das früher vielleicht vorgestellt
hätte.« (* Dalai Lama XIV, 1995, 11)
Auf der anderen Seite bezeichnete sich der Kundun
in einem charmanten Gegenzug als der »Schüler von

1269
Herrn Professor von Weizsäcker … Ich selbst betrachte
… ihn als meinen Lehrer, meinen Guru.« (* Dalai Lama
XIV, 1995, 13) Und er fügte an einer weiteren Stelle hin-
zu : »Tatsache ist, daß die Vorstellung von Atomen und
Elementarteilchen für den Buddhismus nichts Neues ist.
Seit den frühesten Zeiten sprechen unsere Texte davon
und erwähnen noch feinere Teilchen … Nach zahlrei-
chen Gesprächen mit verschiedenen Forschern habe ich
erkannt, daß es beinahe völlige Übereinstimmung gibt
zwischen dem, was ich vom buddhistischen Standpunkt
aus die subtile Unbeständigkeit der materiellen Phäno-
mene nenne, und dem, was die Physiker in Begriffen von
ständigem Wandel und Fluktuationsebenen ausdrücken.«
(* Levenson, 246, 247) In der Kosmogonie des Kalacha-
kra-Tantras sei von »Raumteilchen« die Rede, die nach
der Zerstörung eines Universums den Keim einer neu-
en Welt beinhalten. Darin könne man eine Parallele zur
atomaren Struktur der Materie sehen.
Wenn der Dalai Lama eine Stelle aus dem Kalachakras-
Tantra, wo zu lesen ist, daß nach dem flammenden Un-
tergang des buddhistischen Universums »galaktischer Sa-
men« übrigbleibt, als eine Vorwegnahme der westlichen
Atomwissenschaft bezeichnet, dann ist das wohl etwas
gewagt. Der Buddhismus soll demnach vor Jahrhunder-
ten schon dasselbe formuliert haben, was heute von der
Elite der westlichen Wissenschaft ausgesprochen wird.
Die Atomlehre des griechischen Philosophen Demokrit
(um 460–370 v. Chr.), der 1500 Jahre vor dem Kalacha-
kra-Tantra lebte, hat viel eher das Recht darauf. Jedenfalls
haben solche rückblickenden Aussagen des Kunduns die

1270
Aufgabe, das eigene (buddhistische) System als ursprüng-
licher, überlegener und umfassender im Vergleich zu der
westlichen Kultur herauszustellen. Sie geschehen in der
machtpolitischen Absicht, die atavistische Kalachakra-
Lehre (das Textbuch seiner tantrischen Welteroberung)
als Paradigma des nächsten Jahrtausends zu verankern.
Es geht also bei solchen äußerlich harmlosen Schlußfol-
gerungen des Kunduns (»Das Kalachakra-Tantra kannte
schon die Teilchenphysik«) um eine sublime Machtstra-
tegie auf geistiger Ebene, nicht unbedingt um die Wahr-
heitsfrage. (Erinnern wir uns noch einmal an Kuhns The-
se, daß ein Paradigma nicht rational bewiesen werden
muß, sondern daß es allein die Kraft haben muß, sich
gegen seine Konkurrenten durchzusetzen.)
Und der Dalai Lama hat mit seinen Statements Erfolg !
Es erstaunt einen immer wieder, mit welcher Selbstver-
ständlichkeit er und seine Lamas sich in die gegenwärtige
Krise des abendländischen Denkens mit ihren erkennt-
nistheoretischen Modellen und ethischen (Mahayana)
Grundsätzen einnisten und das Ganze als Originalität
zu verkaufen wissen. So werden die großen tibetischen
Gelehrten vergangener Jahrhunderte von dem amerika-
nischen »Sprachrohr« des Dalai Lama, Robert Thurman,
als bedeutender und umfassender eingeschätzt als ihre
europäischen »Kollegen«. Sie seien »Wissenschaftshero-
en« gewesen, »die Quintessenz der Wissenschaftler in
dieser nichtmaterialistischen Zivilisation (Tibets)«. (* zit.
b. Lopez, 81) Als »Psychonauten« eroberten sie, im Ge-
gensatz zu den westlichen »Astronauten«, die inneren
Sternenwelten. (* zit. b. Lopez, 81) Aber auch die »Lich-

1271
ter« der modernen europäischen Philosophie wie Hume
und Kant, wie Nietzsche und Wittgenstein, wie Hegel
und Heidegger könnten – so spekuliert Thurman weiter
– sich in einem späteren Zeitalter (nachdem der Buddhis-
mus die Welt erobert hat) als Linienhalter und Emana-
tionen des Bodhisattvas der Wissenschaft, Manjushri, er-
weisen. (* Lopez, 264) Ex oriente lux – das gilt jetzt auch
für die Wissenschaft des Okzidents.
Dabei wird von westlicher Seite nur allzu oft übersehen,
daß in Europa ohne Unterbrechung eine neben dem herr-
schenden materialistischen und mechanistischen Welt-
bild (Newton und Descartes) einhergehende metaphysi-
sche Tradition bestehen blieb und ständig weiterentwic-
kelt wurde, zum Beispiel der deutsche Idealismus mit all
seinen Varianten. Die klassische europäische Frage, ob
unsere Welt aus Geist und Subjektivität anstatt aus Ma-
terie und ausgedehnten Körpern besteht, haben heute
östlich orientierte Philosophen geschickt an die Frage
gekoppelt, ob die Welt dem Paradigma der buddhisti-
schen Erkenntnislehre folgt oder nicht.
Der paradigmatische Machtkampf der Lamas wird
nach außen hin nicht sichtbar, sondern als interdiszi-
plinärer Dialog getarnt, wie zum Beispiel die jährlichen
»Mind and Life«-Symposien, an denen der Dalai Lama
mit bekannten westlichen Wissenschaftlern teilnimmt.
Aber handelt es sich wirklich – wie ständig unterstellt
– um ein »fruchtbares Gespräch« zwischen Buddhismus
und moderner Wissenschaft ? Kann die tibetische Kultur
in der Tat, wie es die Tibetan Review unterstellt, Antwor-
ten geben auf Fragen »westlicher Epistemologen, Neuro-

1272
logen, Physiker, Psychoanalytiker und anderer Wissen-
schaftler« ? (* Tibetan Review, August 1990, 10)
Wir wagen es, ohne Vorbehalt zu behaupten, daß ein
»rationaler« und »ehrlicher« Diskurs zwischen beiden
Kulturen überhaupt nicht stattfindet und niemals statt-
gefunden hat, da bei solchen Begegnungen die Magie, die
sexualmagischen Praktiken, die Mythologie (die Götter),
die Geschichte, die Kosmologie und die politische »Theo-
logie« des buddhistischen Tantrismus als Thema völlig
ausgespart blieben und bleiben. Sie alle zusammen aber
machen die Realität der tibetischen Kultur aus, weit mehr
als die Erkenntnistheorien der Yogachara- oder Mad-
hyamika-Philosophie, weit mehr als die ständigen Lie-
besbeteuerungen des Mahayana-Buddhismus. Das, was
die Menschheit erwartet, wenn sie dem Paradigma des
Vajrayana folgen würde, wären die Götter und Dämo-
nen des tibetischen Pantheons und die im Kalachakra-
Tantra und Shambhala-Mythos festgelegte Eschatologie
und Kosmogonie.

Die Kosmogonie des Buddhismus


und das postmoderne Weltbild

In jedem Paradigmenstreit steht die Festlegung der Kos-


mogonie an vorderster Stelle. Wie sieht unsere Welt aus,
ist sie rund oder viereckig, eine Scheibe oder eine Kugel,
ein Zentrum oder Teil der Peripherie, ist sie das Resultat
eines Urknalls oder das Sieben-Tagewerk eines Demiur-
gen ? Der Orientalist John Wanterbury aus Princeton be-

1273
fürchtet zum Beispiel, daß der islamische Fundamenta-
lismus zu einem »neuen Zeitalter des flat earthism« füh-
ren könnte. Flat earthism bedeutet, daß die Menschen
des moslemischen Kulturraumes wieder zu glauben an-
fangen, die Erde sei eine Scheibe (wie es der Koran lehrt),
und jedes davon abweichende Denken wird als Häresie
inkriminiert. Bei einer paradigmatischen Verankerung
des Kalachakra-Tantras und der mit ihm verbundenen
buddhistischen Kosmologie des Abhidharma steht uns
etwas ähnliches bevor : ein Universum mit dem Berg
Meru in der Mitte, den darum liegenden zwölf Konti-
nenten und den ihn umkreisenden Planeten.
Ein solches Weltmodell widerspricht den wissenschaft-
lichen Erkenntnissen des Westens weit mehr als das von
Nikolaus Kopernikus überwundene ptolomäische System,
in dem die Sonne um die Erde kreist. Wie reagiert nun
Seine Heiligkeit der XIV Dalai Lama auf die Inkompa-
bilität der beiden Weltsysteme ? Er scheint in diesem Fall
zu einer Revision der tantrischen Kosmologie bereit zu
sein. Ebenfalls mit der Begründung, daß alles aus der
Leere entstehe, lesen wir : »Es liegt vollkommen auf der
Linie des Buddhismus, das Weltbild des Abhidharma zu
verwerfen, da es mit der direkten Erfahrung der Erde
als rund nicht zu vereinbaren ist.« (* Dalai Lama XIV,
1996 I, 60)
Diese Aussage steht jedoch in einer krassen Disso-
nanz zur Doktrin des Kalachakra-Tantras, dessen gesam-
ter kosmogonischer Entwurf sich nach dem Abhidhar-
ma-Modell richtet. Mehr noch – da die mikrokosmische
Körperstruktur des Tantra-Meisters die makrokosmische

1274
Welt mit dem Berg Meru im Zentrum und die ihn um-
gebenden Kontinente und Ozeane simuliert, müßte mit
einer Veränderung der tantrischen Kosmologie auch der
mystische Leib des Dalai Lama (als des höchsten Kalacha-
kra-Meisters) transformiert werden. Das ist schlechthin
undenkbar, da unsere moderne Kosmologie jegliche an-
thropomorphe Gestalt des Weltalls ablehnt ! Auch würde
bei einer grundsätzlichen Absage an das Abhidarma das
ganze Kalachakra-System seinen Sinn als die synchrone
Verbindung des Yogi-Körpers mit den. kosmischen Ereig-
nissen der buddhistischen »Evolution« verlieren. Konse-
quenterweise halten alle Schulen des tibetischen Buddhis-
mus bisher strikt an der traditionellen Kosmogonie (und
ihrer Entsprechung im mystischen Körper) fest. Neben
dem Sandmandala des Zeittantras (das auch das bud-
dhistische Universum repräsentiert) errichten tibetische
Mönche noch weit häufiger das sogenannte Meru-Man-
dala. Dabei handelt es sich – wie der Name sagt – um
ein kleines Abbild des buddhistischen Kosmos mit dem
Weltenberg Meru als Zentralachse.
Wenn also der Dalai Lama, der im Ritualwesen des tan-
trischen Buddhismus keinerlei grundsätzliche Verände-
rungen durchführt, in der Öffentlichkeit davon spricht,
daß die Kosmologie des Abhidharma revisionsbedürftig
sei, dann scheint das durchaus nicht ernst gemeint zu
sein. Man muß vielmehr damit rechnen, daß seine radi-
kal subjektivistische Erkenntnisphilosophie (»alles ist Be-
wußtsein, alles entsteht aus der Leere«) jeden Augenblick
das naturwissenschaftliche Weltbild als Schein (Samsa-
ra) aufheben und durch das phantastische Weltbild des

1275
Abhidharma ersetzen und dieses als sinnvoll und »ratio-
nal« erscheinen lassen kann. Kosmogonien haben nach
tantrischer Sicht keine Objektivität, sondern sind letzt-
endlich das Ergebnis subjektiver Vorstellungen, das gilt
selbstverständlich auch für das kopernikanische System.
Kalu Rinpoche, der schon oft zitierte Kagyü-Meister des
Kalachakra-Tantras, hat diese Abhängigkeit des Weltalls
von einem entsprechenden Bewußtsein klar in den fol-
genden Sätzen zum Ausdruck gebracht : »Jede dieser Kos-
mologien ist vollkommen für die Wesen, deren karmi-
sche Projektionen sie dazu veranlassen, ihr Universum in
dieser Weise zu erfahren. Es gibt eine gewisse Relativität
in der Art, wie man die Welt erfährt … Deshalb ist auf
einer relativen Ebene jede Kosmologie gültig. Auf einer
letzten Ebene ist keine Kosmologie absolut wahr. Sie kann
nicht universell gültig sein, solange es Wesen in grund-
verschiedenen Situationen gibt.« (* Brauen, 109) Das be-
deutet aber auch, daß die Kosmologie des Abhidharma
für alle verbindlich wird, wenn – wie es das Kalachakra-
Tantra voraussagt – die Welt nach der letzten Shambha-
la-Schlacht zum Buddhismus bekehrt wurde.

Ein »tantrischer« Wissenschaftler : Ken Wilber

Mit Wissenschaftlern trifft sich XIV Dalai Lama – nach


eigener Aussage – weit lieber als mit Vertretern ande-
rer Religionen. Kaum ein naturwissenschaftliches Fach,
das ihn nicht interessieren würde. Doch auch wenn Sei-
ne Heiligkeit zu allen komplexen Fragen etwas zu sagen

1276
hat, so wird die »Buddhisierung« des westlichen Wis-
senschaftsbetriebes von jungen buddhistischen Top-Ge-
lehrten aus dem Westen wie dem Evolutionstheoretiker
Ken Wilber oder dem Neurobiologen Francisco Várela
geleistet.
Zur Zeit gilt der Amerikaner Ken Wilber (geb. 1947)
als der originellste und brillanteste Evolutionstheoretiker.
Selbstbewußt nimmt er solche Auszeichnungen, mit de-
nen ihn die Kritik bejubelt, wie »der langerwartete Ein-
stein der Bewußtseinsforschung« und »ein Genie unse-
rer Zeit« entgegen. (* Wilber, 1992, 11) Anfang 1997 re-
gistrierte die Suchmaschine Excite im Internet 363 000
Eintragungen unter dem Stichwort »Ken Wilber« – In-
diz für die große Wirkung des theoretisch anspruchs-
vollen Autors. Stolz und mit einigem Recht kann Wilber
darauf hinweisen, daß es ihm gelungen sei, die Tore der
amerikanischen Universitäten für seine interdisziplinä-
re Vision, für die Heirat der alten östlichen und westli-
chen Weisheitslehren mit den modernen Wissenschaf-
ten geöffnet zu haben.
Es ist hier nicht der Ort, den umfangreichen und kom-
plexen Evolutionsentwurf Wilbers (den er selber als Pa-
radigma anbietet) darzustellen und kritisch zu hinterfra-
gen. Wir haben das in einer anderen Studie ausführlich
gemacht und sind zu dem Schluß gekommen, daß sein
System dem buddhistischen Tantrismus, weit mehr als
allgemein angenommen, zu Dank verpflichtet ist – insbe-
sondere jedoch dem Kalachakra-Tantra, in das Ken Wil-
ber und seine früh an Krebs verstorbene Frau Treya durch
den Kagyüpa-Lama Kalu Rinpoche eingeweiht wurden.

1277
Der Autor hat auch nie verschleiert, in welchem Erbe
er steht, und offen über die fundamentalen und exklu-
siven Einflüsse des Vajrayana auf ihn und seine Theo-
rie gesprochen : »Ich selbst war praktisch allen östlichen
und westlichen Schulen der Mystik zugetan, aber keine
andere Mystik war für mich so tief und machtvoll wie
die des Buddhismus … Mich zog jedoch auch die tibe-
tische Form des Buddhismus an, der Vajrayana, den ich
für das bei weitem umfassendste ( !) und vollständigste
( !) System der Welt halte.« (* Wilber, 1992, 200, 201)
Wilbers System ist ein hierarchisches Entwicklungs-
modell der Natur, der Kultur und des Geistes, das aus
niedrigen Seinsstufen zu immer höheren emporsteigt und
am Ende in einem alles umfassenden Principium Unum
(Einheitsprinzip) endet. Dieses dürfen wir durchaus als
den ADI BUDDHA bezeichnen, da es zuweilen von dem
Amerikaner selber so genannt wird. Der gesamte Kos-
mos einschließlich der menschlichen Gesellschaft strebt
wie im Kalachakra-Tantra auf einen absoluten höchsten
Punkt (den ABSOLUTEN GEIST) zu und vernichtet bei
seinem Aufstieg die Autonomie aller unteren Seinsebe-
nen (die unbelebte und belebte NATUR) beziehungswei-
se zwingt sie unter seine absolute Herrschaft.
Es kommt nicht zu einem Austausch und einer Koope-
ration zwischen GEIST und NATUR, sondern zu einer
Beherrschung der NATUR durch den GEIST oder – und
das ist ein Zentralgedanke des Wilberschen Werkes – zu
der Beherrschung des natürlichen Weiblichen (der »Bio-
sphäre«) durch das rational-mystische Männliche (»Noo-
sphäre«). Hierarchisierung des Kosmos bedeutet auch für

1278
Wilber – insofern ist er ein konsequenter Tantriker – die
Absorption des Principium Feminile (weibliches Prinzip)
durch das Principium Masculine (männliches Prinzip) in
der Gestalt des kosmischen Androgyns.

Der Yogi als Computer

Ganz besonders ist der XIV Dalai Lama an Phänomenen


der künstlichen Intelligenz interessiert. Da das Bewußt-
sein nach buddhistischer Lehre unabhängig vom Körper
ist, sozusagen ein Muster geistiger Synopsen, ist es nach
seiner Meinung möglich, daß es nicht nur in Menschen,
sondern auch in Maschinen wiedergeboren werde : »Ich
kann aber die Möglichkeit nicht ausschließen«, so der
Gottkönig, »daß ein vorhandener Bewußtseinsstrom in
den Computer eintritt, wenn die entsprechenden äuße-
ren und karmischen Bedingungen gegeben sind … ganz
so wie bei der gewöhnlichen Reinkarnation auch. Solch
eine Wiedergeburt wäre dann halb Mensch, halb Ma-
schine.« (* Dalai Lama XIV, 1996 I, 204, 205) Auf die an-
schließende Frage von Eleanor Rosch, einer bekannten
Kognitionspsychologin aus Kalifornien, ob ein großer
Yogi, der vor dem besten Computer der Welt stehe, sein
subtiles Bewußtsein dort hineinprojizieren könne, ant-
wortete Seine Heiligkeit enigmatisch, das »kann nur die
Zeit entscheiden«. (* Dalai Lama XIV, 1996 I, 205)
Seine Heiligkeit begründet diese Möglichkeit, den
Computer als ein Modell des Geistes darzustellen, un-
bekümmert mit einer archaisch-magischen Praktik des

1279
tibetischen Buddhismus. Sie wird Trongjug genannt und
besteht darin, daß ein Yogi sein Bewußtsein in einen
»frisch« verstorbenen Toten transplantiert und danach
dessen von ihm wiederbelebten Leib für eigene Zwec-
ke benutzt. (* Evans-Wentz, 1937, 184) »Es handelt sich«,
so Seine Heiligkeit, »um einen Austausch des gesamten
Körpers … Das ist sehr mystisch, denn stellen sie sich
vor : ein Tantriker, der sein Bewußtsein wahrhaftig auf
eine frische Leiche überträgt. Sein früherer Körper ist
tot, ein für allemal erledigt. Jetzt ist er in einen neuen
Körper eingegangen. Er hat einen völlig neuen Körper,
aber er ist doch dasselbe Leben, dieselbe Person.« (* Da-
lai Lama XIV, 1996 I, 208) Bilder dieser Art lassen sich
ohne weiteres in die Computersprache übersetzen : Die
»frische Leiche« bildet sozusagen die Hardware, die dann
das Bewußtsein des Tantrikers, der den toten Körper zu
seinen Zwecken benutzt, als Software speichert.
Weiterhin führen solche tantrisch-buddhistischen Spe-
kulationen dazu, im »Internet« und »Cyberspace« eine
vom Menschen unabhängige Subjektivität, eine Art Über-
bewußtsein zu sehen. Könnte nicht eines Tages der Geist
des höchsten Kalachakra-Meisters unabhängig von ei-
nem menschlichen Körper das internationale Netzwerk
aller Computer von innen heraus beherrschen ? So phan-
tastisch und unheimlich eine solche Frage auch klingen
mag, ihre Bejahung ist auf jeden Fall im tantrischen Sy-
stem als theoretische Möglichkeit enthalten. Sie wird des-
wegen auch in exiltibetischen Lamakreisen ernst genom-
men – zum Beispiel vom Namgyal-Institut. Die Nam-
gyal-Mönche sind wesentlich mit der Durchführung des

1280
Kalachakra-Tantras beauftragt und unterstehen direkt
dem Dalai Lama. Man kann diese Institution auch als
eine Art »Eliteuniversität« des tantrischen Buddhismus
bezeichnen.
Am 8. Februar 1996 sandte dieses Tantra-Institut Sei-
ner Heiligkeit online ein Curriculum in den Cyberspace.
Das Dokument ist insofern von Interesse, als es die ok-
kulte Beziehung zwischen dem Tantrismus, insbesondere
dem Kalachakra-Tantra, und dem Internet zum Thema
hat. Wir wollen deswegen einige längere Passagen dar-
aus zitieren : »Cyberspace ist eine Dimension, die durch
ein Netzwerk von Computern unterstützt wird und die
Aufgabe hat, die Macht des Bewußtseins auszudehnen.
Bemerkenswert ist, daß das Internet oft in einer mysti-
schen Art und Weise erscheint, als habe es ein eigenes
Leben, das größer ist als die Summe seiner Teile. Men-
tale Projektionen können selbstverständlich sowohl po-
sitive wie negative Resultate haben und entsprechend ge-
braucht werden. Der tibetische Buddhismus, bekannt für
seine Beherrschung von Bewußtseinsphänomenen, hat
ein Arbeitsgebiet, das Tantra‹ genannt wird und darauf
spezialisiert ist, spirituelle Motivationen in das Reich der
mentalen Projektionen zu bringen …« (* ‹namgyal.org/
information/curriculum.html›) Daraus ergebe sich – so
führen die Autoren fort – die Notwendigkeit, im Sinne
des Buddhismus auf das Netz einzuwirken, es zu segnen
und zu reinigen.
Der Text fährt folgendermaßen fort : Die Mönche des
Namgyal-Instituts, »des persönlichen Klosters des Da-
lai Lama, diskutierten, ob eine Segnung des Cyberspace

1281
möglich sei. Sie antworteten begeistert, daß ein tantri-
sches System, insbesondere das Kalachakra-Tantra … sich
bestens als ein Segnungsinstrument eignen würde, da es
besonders ›den Raum‹ betone … Zufälligerweise ist auch
das Kalachakra-Tantra das am weitesten verbreitete bud-
dhistische Tantra-System …« (* ‹namgyal.org/informati-
on/curriculum. html›) Der Cyberspace – so erfahren wir
weiter – könne als Vehikel einer tantrischen Projektion
(gemeint ist das Kalachakra-Tantra) benutzt werden.
Am 8. Februar 1996 führte deswegen das Namgyal-In-
stitut die erste Kalachakra-Cyberspace-Segnung mit einem
Ritual durch : »Die aktuelle Zeremonie betrug 30 Minuten
und bestand darin, daß die Mönche Segensgebete des Ka-
lachakra-Tantra sangen, während sie in ihrer Imagination
den Cyberspace als Raum visualisierten und das Netzwerk
als das Reich der Computer. Ein Abbild des Kalachakra-
Mandala … wurde durch einen Computer als visuelle Hil-
fe wiedergegeben … Zukünftige Cyberspace-Segnungen
werden gerne bei anderen günstigen Gelegenheiten durch-
geführt.« (* ‹namgyal.org/information/curriculum.html›)
Es versteht sich von selbst, daß die Gebete der Mönche den
ständig rezitierten Mahayana-Wunsch beinhalten, allen
lebenden Wesen zu helfen. Die im Kalachakra-Tantra aus-
gesprochene Vision einer globalen Buddhokratie kommt
dagegen nicht öffentlich zur Sprache. 122

122 Am Rande muß jedoch vermerkt werden, daß die Segnung


des Internets durch die Kalachakra-Mönche keinen positiven Ef-
fekt in ihrem Sinne hatte. In Tausenden von den Beiträgen, die
seit 1996 über das Netz laufen, ist der Dalai Lama erstmals heftig
kritisiert und angegriffen worden.

1282
Es hat etwas ebenso Faszinierendes wie Erschrecken-
des an sich, wenn buddhistische Theoretiker und sogar
der Dalai Lama selber den Tantrismus als das mögliche
Bewußtsein eines weltumspannenden Megacomputers
darstellen. Eine Identität des ADI BUDDHA als globa-
les Superhirn ist darin vorgeprägt. Hat es vielleicht etwas
mit dieser buddhistischen Vision zu tun, daß sich Seine
Heiligkeit der XIV Dalai Lama für einen Werbespot des
Computerherstellers Apple zur Verfügung stellte ? (* Spie-
gel, 16/1998) 123
Liest man Literatur über Bewußtseinsstrukturen und
ihr Verhältnis zur Computertechnik, fällt einem auf, daß
»Tantra« und »Netz« häufig miteinander verglichen wer-
den, nicht nur weil das Sanskritwort »Tantra« in der Über-
setzung aus dem Sanskrit »Geflecht« oder »Netzwerk« be-
deutet, sondern weil irgendwie eine fundamentale Ver-
wandtschaft zwischen beiden Systemen unterstellt wird.
Selbst ein so komplexer Denker wie der Astrophysiker und
Systemtheoretiker Erich Jantsch setzt erstaunlicherwei-
se (schon Ende der 70er Jahre) – wahrscheinlich aus Un-
kenntnis der Sache – das Prinzip »kybernetische Lernpro-
zesse« mit dem Tantrismus in eins. (* Jantsch, 324)

123 Apple hatte eine Kampagne mit dem Titel Think Different
gestartet, in der lebende und verstorbene Persönlichkeiten für
die Computerfirma warben – unter anderen (Pablo Picasso, Mu-
hammad Ali, Mahatma Gandhi, Alfred Hitchcock usw.) der Da-
lai Lama. Da in den asiatischen Ländern das Konterfei des Gott-
königs auf Kritik stieß, wurde es von Apple aus dem Verkehr ge-
zogen. Das wiederum führte im Internet zu einer engagierten
Diskussion.

1283
Im Oktober 1987 reiste eine kleine Gruppe von bekann-
ten westlichen Wissenschaftlern unter der Führung von
Francisco Várela nach Dharamsala, um in einem mehr-
tägigen Seminar mit dem Dalai Lama über Neurobiolo-
gie, Kognitionspsychologie, Künstliche Intelligenz und
Evolutionstheorie zu diskutieren. Man traf sich täglich zu
einem Fachvortrag mit anschließender Diskussion. Die
Intention der gesamten Veranstaltung lief jedoch letzt-
endlich auf die einzige Frage heraus : Wie können die
neuesten Erkenntnisse der modernsten wissenschaftli-
chen Forschungszweige aus dem Buddhismus abgelei-
tet werden ? Nach jedem referierten Sachthema hieß es
– ja das gibt es auch schon im Buddhismus ! Seine Hei-
ligkeit sprach zwar pathetisch von einem »Zusammen-
wirken westlicher Wissenschaft und östlicher Geistesent-
wicklung«, aber im Kern ging es nicht um eine Koope-
ration, sondern um die oben geschilderte Festigung des
buddhistischen Paradigmas. Solche Treffen Seiner Hei-
ligkeit mit westlichen Wissenschaftlern wurden mittler-
weile von Dharamsala institutionalisiert und finden jähr-
lich statt (Mind and Life).
Viele seit Jahrzehnten nach, mystischen Erlebnissen
ausgehungerte Forscher des Westens haben in dem »le-
benden Buddha« aus Dharamsala endlich ihren spiritu-
ellen Meister gefunden. Sie konvertieren wie Francisco
Várela zum tibetischen Buddhismus oder geraten ange-
sichts des Kunduns in eine Art verhaltene Ekstase wie
Carl Friedrich von Weizsäcker. Obgleich die »wissen-
schaftlichen« Interventionen Seiner Heiligkeit sehr all-
gemein und abstrakt bleiben und eigentlich immer wie-

1284
der auf einige wenige erkenntnistheoretische Statements
hinauslaufen, wird er nichtsdestotrotz von einigen Wis-
senschaftlern als »Kollege« behandelt, hinter dem die
Allwissenheit eines Yogis aufleuchtet. »Eure Heiligkeit«,
schwärmt zum Beispiel Francisco Várela, »wie schon des
öfteren scheinen Sie zu ahnen, wohin die Fragen der Wis-
senschaftler gehen.« (* Dalai Lama XIV, 1996 I, 298)
Wer auch immer die »wissenschaftlichen« Paradigmen
eines Zeitalters in der Menschheitsgeschichte formulie-
ren und festigen kann, der ist im eigentlichen Sinne als
der »geistige Herrscher« dieses Zeitalters anzusehen ; er
repräsentiert die Kraft, welche die Bewußtseine, das Füh-
len und das Denken von Millionen und für Jahrhunder-
te bestimmt. Ptolomäus, Kopernikus, Descartes, Newton,
Marx, Freud und Einstein waren solche »Geistesriesen«.
Der XIV Dalai Lama, ein brillanter Meister der Bewußt-
seinstechnik, weiß sehr genau um diese historische Kraft
und um die machtpolitische Bedeutung des Paradigmen-
streits. Er weiß ebenso, daß ihn eine »Buddhisierung«
der westlichen Wissenschaft gegenüber anderen Glau-
bensrichtungen besonders stark machen würde. Für ei-
nen solchen Aneignungsprozeß bilden die buddhistischen
Erkenntnistheorien die besten Voraussetzungen. Sowohl
die Yogachara-Schule (»alles ist Bewußtsein«) als auch
die Madhyamika-Schule (»alles entsteht aus der Leere«)
lassen es (jedenfalls theoretisch) zu, die wissenschaftli-
che Kultur des Westen zu relativieren und sie durch die
Weltsicht des Kalachakra-Tantras zu ersetzen.
So sublim, philosophisch und rational die tantrische
Weltsicht unter der westlichen Wissenschaftselite disku-

1285
tiert wird, so spektakulär, emotional und mythisch geht
es bei der Verbreitung des tantrischen Buddhismus un-
ter den Massen zu. Dem Kundun ist es in den letzten
fünf Jahren gelungen, den größten Propagandaapparat
der Welt, die Filmindustrie Hollywoods, für seine Sache
und seine Person zu aktivieren.

Hollywood und tantrischer Buddhismus

Der exotische Flair, der vom tibetischen Gottkönig und


seinen Lamas, ihrer mysteriösen Doktrin und ihrer
abenteuerlichen Geschichte ausstrahlt, haben dazu ge-
führt, daß Tibet und seine Religion zunehmend zu ei-
nem Stoff geworden sind, aus dem Filmträume verwirk-
licht werden. Zuerst errichtete der italienische Regisseur
Bernardo Bertolucci mit seinem Werk Little Buddha
dem Religionsgründer ein etwas süßliches, aber viel be-
achtetes Monument. Der Film war deswegen für den ti-
betischen Buddhismus von großem propagandistischem
Wert, weil er die Inkarnation eines Lamas in einen ame-
rikanischen Knaben und in ein indisches Mädchen zum
Inhalt hatte und dadurch die Verbreitung der Lehre im
Westen vorbereitete.
Während wir diesen Text schreiben, sind zwei weite-
re großangelegte Filme über Seine Heiligkeit erschienen.
Einer von ihnen, Martin Scorceses Kundun, schildert die
Lebensgeschichte des Gottkönigs von seiner Auffindung
als Knabe bis zu seiner Flucht aus Tibet (1959), der an-
dere, Seven Years in Tibet (»Sieben Jahre in Tibet«) von

1286
Jean Jacques Annaud, hat die Abenteuer des österreichi-
schen Dalai Lama-Mentors und ehemaligen SSlers Hein-
rich Harrer zum Inhalt, mit dem Schauspieler Brad Pitt
in der Hauptrolle. »Tibet ist der Duft der Saison ! … Rund
zwei Millionen Deutsche mochten in den letzten Monaten
den Teenie-Star Brad Pitt als österreichischen Abenteu-
rer und Lama-Freund Heinrich Harrer sehen«, schwärmt
Der Spiegel, ohne mit einem Wort auf die SS-Vergangen-
heit Harrers einzugehen. (* Spiegel, 16/1998, 110)
Brad Pitt erfuhr bei den Dreharbeiten so etwas wie ei-
nen mystischen Schauder : »Und dann schossen sie die
Szene, wo sie sagen : ›Gebt dem Dalai Lama die Macht !‹
Jeder klinkt sich in den Gesang ein, und es war so, als
würde sich etwas niedersenken und als würde Gott durch
die Wolken scheinen. Es war heavy.« (* Newsweek, Mai
19, 1997, 25)
Der Italoamerikaner Scorsese wird von Seiner Hei-
ligkeit mit unwiderstehlich doppelbödigem Humor als
Mönch vereinnahmt. Nachdem der Filmemacher ihn am
Ende einer anstrengenden Reise in Dharamsala besucht
hatte, konstatierte der Kundun : »Martin wirkte gleich
viel ruhiger. Nicht mehr wie ein hektischer New Yor-
ker, sondern wie ein tibetischer Mönch.« (* dt. Playboy,
März 1998, 40)
Scorsese selber ist davon überzeugt, daß sein Film
Kundun magische Auswirkungen auf die Zuschauer hat.
»Kundun erinnert an ein filmisches Gebet – als woll-
ten Sie zeigen, was fürs Auge unsichtbar ist : Spirituali-
tät. Kann das im Kino gelingen ?« fragt das in spirituellen
Fragen ansonsten äußerst skeptische, ja zynische deut-

1287
sche Wochenmagazin Der Spiegel. »Unbedingt«, antwor-
tet Scorsese. »Wenn man Bewegungen, Rhythmen, Mu-
sik, Gesichter in einer bestimmten Weise zusammenstellt,
dann kann in dieser Gesamtheit der Bilder so etwas wie
ein spiritueller Sog entstehen.« (* Spiegel 12/1998, 261)
Der Regisseur hat einen Ritualfilm gemacht, der – sei-
ner Meinung nach – sprachlos das Bewußtsein der Men-
schen (im Sinne des tibetischen Buddhismus) beeinflußt :
»Diese Rituale zum Beispiel, die ich im Kundun zeige,
brauche ich nicht zu erklären. Sie sind etwas Wunder-
bares und Universales.« (* Süddeutsche Zeitung, 14. /15.
März 1998, 19)
In den USA kam der Film jedoch weder beim brei-
ten Publikum noch bei der Kritik an. »Gekränkt haben
mich die vernichtenden Reaktionen der amerikanischen
Mainstream-Presse« – so der Regisseur auf der Präsen-
tation seines Missionswerkes in München. (* Münchener
Abendzeitung, 19. März 1998) Dagegen ließen sich zahl-
reiche deutsche Filmkritiker ganz unkritisch und ganz
im Gegensatz zu ihren amerikanischen Kollegen in den
»spirituellen Sog« des Kunduns hineinziehen. Die Bild-
zeitung schwärmte zum Beispiel : »Er erzählt seine Ge-
schichte fast wortlos, in magischen Bildern. Und lang-
sam. So langsam, daß man sich bald dem Sog der Bilder
hingibt, die Zeit vergißt und jeden Augenblick auskostet.«
(* Bild, 19. März, 1998, 6) In der Münchener Abendzei-
tung lesen wir : »Scorseses Film ist hypnotisch und luzid.«
(* Münchener Abendzeitung, 19. März 1998) Selbst Der
Spiegel hatte keine Bedenken, sich verzaubern zu lassen,
und sprach schwärmerisch von den »eindrucksvollen

1288
Bildern«, mit denen Scorsese »das Portrait eines außer-
gewöhnlichen Menschen und eines mystischen Traum-
landes Shangri-La (entwirft) – anspruchsvolles, gefühls-
starkes Kino.« (* Spiegel, 16/1998, 110) Bei der glanzvol-
len Deutschland-Premiere des Films in München war
die bundesrepublikanische Prominenz aus Politik und
Kunst anwesend.
Scorseses Film, dessen Drehbuch vom Dalai Lama sel-
ber redigiert wurde, ist ein exiltibetisches Propaganda-
werk, das in zahlreichen Szenen die jüngste Geschichte
Tibets verfälscht beziehungsweise verzerrt. Von der Hilfe
des CIA bei der Flucht des Kunduns ist mit keinem Wort
die Rede ; daß sein Vater von politischen Fraktionen ver-
giftet wurde, daß der ehemalige Regent Reting Rinpoche
brutal im Potala erdrosselt wurde, daß damals minde-
stens 200 Mönche aus dem Drepung-Kloster, die Reting
Rinpoche aus dem Gefängnis befreien wollten, unter den
Maschinengewehren der tibetischen Armee starben – all
das wird verschwiegen oder falsch dargestellt. Mao Ze-
dong erscheint als dekadenter Riese mit der Ausstrah-
lung eines adeligen Spielcasinobesitzers. Sogar in seiner
eigenen Biographie schreibt der Kundun, daß er Mao
sehr bewundert habe, im Film dagegen begegnet er dem
»Großen Vorsitzenden« mit der ständigen, fast mißtrau-
ischen Achtsamkeit eines jungen, wenn auch noch etwas
unerfahrenen, spirituellen Meisters.
Noch weitere fünf Filme über das Schneeland sollen
1998/99 auf den Markt kommen : Über den CIA in Tibet,
über den schrecklichen Yeti in Tibet, über den Terror in
Tibet, über eine romantische Liebe in Tibet, über zerstörte

1289
Jugendträume in Tibet. IMAX, eine Gesellschaft, die gi-
gantische 3-D Movies produziert, hat ein Werk in Auftrag
gegeben, in dem ein tibetischer Bergsteiger unter drama-
tischen Umständen die Nationalflagge des Schneelandes
auf dem höchsten Punkt der Welt (dem Mount Everest)
entrollt. (Erinnern wir uns daran, daß der Mount Eve-
rest von der Bevölkerung als eine Göttin verehrt wird.)
Zu den Spielfilmen kommen noch zahlreiche Dokumen-
tarfilme, unter anderem einer über »Bu-Jews«, Juden, wel-
che für sich den Buddhismus als religiösen Pfad entdeckt
haben. Von Denise Di Novi, dessen Produktionsgesell-
schaft ebenfalls ein »Tibet-Projekt« mit dem Titel Bud-
dha von Brooklyn durchführt, erfahren wir : »Die Histo-
rie des Dalai Lama und der Kampf des tibetischen Vol-
kes ist die Art von Geschichte, welche die Imagination
von Hollywood gefangen nimmt. Es ist eine sehr epische,
tragische und letztendlich inspirierende Story.« (* News-
week, Mai 19, 1997, 24) Tibetdrehbücher häufen sich in
den Redaktionen der großen Filmgesellschaften. »Es ist
so, als wolle jeder, der eine Kamera trägt, einen Film über
Tibet machen«, meint Tenzing Chodak, Direktor des Ti-
bet Fund. (* Newsweek, Mai 19, 1997, 24)
Zweifelsohne ist dem XIV Dalai Lama ein besonders
beachtlicher Sieg durch seinen Einstieg in die Hollywood-
Szene gelungen. »Tibet leuchtet heller als jemals auf der
Showbusiness-Landkarte«, lesen wir im Herald Tribune.
(* Herald Tribune, 20. März, 1997, 1) Im August 1996
hatten sich in Los Angeles Harrison Ford, Sharon Stone,
Steven Seagal, Shirley MacLaine und andere Superstars
aufgereiht, um dem »lebenden Buddha« die Hand zu

1290
drücken. Barbara Streisand und Alec Baldwin forder-
ten Präsident Bill Clinton auf, China wegen der Men-
schenrechtsverletzungen an den Tibetern zurechtzuwei-
sen. »Tibet ist dabei, in die Volkskultur des Westens ein-
zudringen, wie es nur einer kann, wenn Hollywood die
Unterhaltungsspritze in das Weltsystem tätigt«, schreibt
der Journalist Orville Shell. »Erinnern wir uns daran, daß
Hollywood neben dem U. S. Militär die mächtigste Kraft
auf der Welt darstellt.« (* Herald Tribune, 20. März, 1997,
6) 88 von 100 der weltweit meistbesuchten Filme im Jah-
re 1993 kamen aus den USA. Orville Shell, der an ei-
nem Buch über »Tibet und der Westen« arbeitet, sieht
die Hollywood Connection des Kunduns als einen Ersatz
für das fehlende diplomatische Corps, das die Interessen
des Dalai Lamas international vertreten könnte : »Da er
keine Botschaften hat, und da er keine politische Macht
hat, muß er etwas anderes suchen. Hollywood ist eine Art
eigenständiges Land, und er hat hier eine Art von Bot-
schaft etabliert.« (* Newsweek, Mai 19, 1997, 24)
Der Gottkönig verdankt es vor allem dem Schauspie-
ler Richard Gere, daß er selber zu einem Star für die be-
rühmten Schauspieler Amerikas wurde. »Für das tibeti-
sche Volk sind Richard Gere, Hollywood und die Filme
ein absoluter Glücksfall !« erklärte Seine Heiligkeit im
deutschen Playboy. (* dt. Playboy, März 1998, 38) Gere
selbst empfing durch den Kundun die Initiation in das
Kalachakra-Tantra, bis zu welchem Grade, ist uns unbe-
kannt. In der Zeitschrift Tricycle hat er sehr offen über
seine Einweihungserfahrungen gesprochen und dort
auch auf die magische Macht des Tantrismus hingewie-

1291
sen, die ihn bis an die Grenzen seiner eigenen Existenz
trieb. (* Tricycle, Vol. V, No. 3, 54) Schon jetzt gibt es
ein Gedicht, das Gere wie eine tibetische Gottheit ver-
ehrt : »Der große Kopf von Richard Gere«, heißt es in
dem Poem, »eine Tsonga Blüte in seinem Haar / treibt
wie ein Macy’s Parade Ballon ( ?) / über die Schneewipfel
des heiligen Berges Kailash.« (* Time, Oct. 13, 1997, VOL.
150 NO. 15) Der Dalai Lama, der sehr wohl um die gro-
ße Bedeutung des Showbusiness weiß, hat sich den Hol-
lywood-Star als seinen persönlichen Schüler ausgesucht
und behandelt ihn nach Aussage des Schauspielers mit
väterlicher Strenge.
Selbst vor der Modebranche schreckt Seine Heiligkeit
nicht zurück, um »die Aufmerksamkeit des internatio-
nalen Jet Set auf Tibet und den Buddhismus zu lenken«.
(Tibet Review, Januar 1993, 7) »Schnöder Materialis-
mus ist passé, Lamaismus en vogué.« lesen wir im Spie-
gel. (* 16/1998, 109) Im Januar 1993 gab der Kundun eine
Nummer des Modemagazins Vogue als Exceptional Edi-
tor in Chief heraus. Modedesigner wie Anna Sui, Todd
Oldham und Marc Jacobs verkaufen Modelle für »Tibets
Freiheit«. Als »Prominentenkoch« empfiehlt der Gottkö-
nig »ein hitverdächtiges Klößchenrezept«. (* Spiegel Spe-
cial, 4/1998, 133)
Ein Höhepunkt in seiner »Öffentlichkeitsarbeit« ist das
Interview des Kundun, das in der Märzausgabe (1998) des
deutschen Playboy abgedruckt wurde. In der Einleitung
präsentiert die noble Sexzeitschrift Seine Heiligkeit mit
bombastischen Worten : »Er ist gütig, weise und friedlie-
bend – und erobert die Welt ( !) : Der Siegeszug des Dalai

1292
Lama läßt sogar den Papst vor Neid erblassen. In Holly-
wood wird der Tibet-Führer derzeit wie ein Gott verehrt.
Im Playboy redet er jetzt offen wie nie. Über Buddhismus,
China, Sex und Alkohol.« (* dt. Playboy, März 1998, 38)
Auch wenn ein leichter ironischer Unterton in dieser Prä-
sentation nicht überhört werden kann, so ist die Aussa-
ge dennoch eindeutig : Der Dalai Lama erobert die Welt
( !) und wird in Hollywood, dem mächtigsten Zentrum
der Bewußtseinsindustrie, als Gott verehrt.
Diesem Interview des Playboy kommt noch ein weiterer
Symbolwert zu, insbesondere wenn wir uns die tantrisch-
magische Sicht, daß alles mit allem vernetzt ist, zu eigen
machen. Danach muß es einen Sinn haben, daß die from-
men Sprüche und die Photos Seiner Heiligkeit in der Zeit-
schrift zusammen mit zahlreichen Abbildungen weibli-
cher Akte und inmitten erotischer und zuweilen obszö-
ner Texte abgedruckt werden. Es kommt einem sogleich
das Bild eines Ganachakras in den Sinn, wo der zentrale
Guru, umgeben von seinen Karma Mudras (Weisheitsge-
fährtinnen oder Playgirls), residiert und seine sexualma-
gische Riten durchfuhrt. Als der Playboy aber den höch-
sten tibetischen Tantra-Meister fragt : »Beschäftigen Sie
sich eigentlich auch mit Sex ?« – da antwortet der in alle
Geheimnisse der Sexualmagie initiierte Kalachakra-Mei-
ster : »Du meine Güte. So was fragen Sie einen 62jähri-
gen Mönch, der sein ganzes Leben lang im Zölibat ge-
lebt hat (lacht ausgiebig). Zum Sex habe ich nicht viel zu
sagen …«(* dt. Playboy, März, 1998, 46)
Ebenso euphorisch und begeistert widmete Der Spie-
gel im April 1998 dem Kundun eine Titelgeschichte. Das

1293
Titelbild der Zeitschrift zeigt einen Buddhakopf, in den
Westler in Massen hineinströmen. Handelt es sich da-
bei, so könnte man etwas ironisch fragen, um den Kopf
des Kunduns, der Inkaranation Avalokiteshvaras und des
Zeitgottes Kalachakra ? Der Hauptgeschichte dieses Spie-
gels ist jedenfalls weitgehend dem XIV Dalai Lama und
dem tibetischen Buddhismus gewidmet, beziehungswei-
se dem, was der Autor (Erich Follath) darunter versteht.
Sie beginnt – zufällig oder nicht – auf der Seite 108, der
heiligsten und magischsten Zahl des tantrischen Bud-
dhismus. Es ist wahrscheinlich, daß Follath bewußt in
der Spiegelredaktion die magische Seite fur den Beginn
seines Artikels verlangt hat, da er über die Heilige Zahl
108 genau informiert war. In einem Reisebericht über
Buthan erwähnt er die 108, und da diese Erwähnung im
Zusammenhang auf ein Ereignis Bezug nimmt, das wir
ausführlich in unserer Studie behandelt haben, möch-
ten wir die Stelle zitieren. »… ein halbes Dutzend wei-
tere Lamas halten hier im Vorhimalaya Wacht, an der
Stelle, wo der König Songsten Gampo im 7. Jh. die erste
von insgesamt 108 heiligen Stätten erbauen ließ : Es galt
den schrecklichen Teufel in Frauengestalt zu vertreiben,
der damals überall auf dem Dach der Welt, der Heim-
statt der Götter, sein Unwesen trieb.« (* Spiegel Special,
4/1998, 60) Der »schreckliche Teufel in Frauengestalt« ist
keine andere als »Mutter Tibet«, die stigmatisierte Srin-
mo, auf deren Körper sich die sakrale Landschaft des
Schneelandes erhebt.
Der Stern des Dalai Lama leuchtet so hell wie nie zu-
vor. Dennoch begann sich das Lichtbild des Gottkönigs

1294
seit dem Shugden-Aufstand (1996) zu verdunkeln, und
es ist eine Ironie des Schicksals, daß die heftigen An-
klagen gegen ihn von einer konservativen Fraktion der
eigenen Schule (den Gelugpas) ausgingen. Dazu kommt
noch, daß die Anhänger des aufsässigen Schutzgottes
(Shugden) in der Öffentlichkeit keineswegs »reaktionär«
argumentieren, sondern sich (ebenso wie der Kundun)
auf demokratische Grundsätze, auf die Menschenrechte
und auf die Meinungsfreiheit berufen. Über Nacht wur-
de so in gewissen Kreisen aus dem »größten Friedens-
fürsten unserer Zeit« ein Despot, ein politischer Verrä-
ter, ein Vertreter der Vetternwirtschaft, ein Heuchler, ja
selbst ein potentieller Mörder. Seine Ankläger beschimp-
fen ihn nicht nur, sondern begründen ihre Behauptun-
gen mit »harten« Fakten, die es wert sind, überprüft zu
werden, und vor denen der »offizielle« Westen bisher Au-
gen und Ohren verschließt.
In der noch anhaltenden Shugden-Debatte (1998) kom-
men viele bisher verdrängte und nicht aufgearbeitete The-
men aus der Geschichte Tibets und der Exiltibeter an
die Oberfläche. Angeklagt werden Seine Heiligkeit und
die Exilregierung unter anderem wegen ständiger Diffa-
mierung tibetischer Oppositioneller als chinesische Spi-
one (z. B. Dujom Rinpoche), um sie dadurch politisch
mundtot zu machen ; wegen undemokratischer Maß-
nahmen gegenüber 13 indischen Niederlassungen der
Exiltibeter und möglicher Ermordung von deren Spre-
cher Gungthang Rinpoche ; wegen falschem Spiel mit der
nationalen Guerilla, die nach außen hin bekämpft, hinter
dem Rücken aber unterstützt und aufgebaut wurde ; we-

1295
gen politischem Mord an opposionellen Politikern (Gong-
tang Tsultrim) ; wegen machtpolitisch motivierter Eifer-
sucht auf den XV Karmapa, das Oberhaupt der größten
Kagyüpa-Linie ; wegen Nepotismus und absoluter Bevor-
zugung seiner Familienmitglieder (»Yabshi Clan«) ; we-
gen Fehleinschätzung der weltpolitischen Lage, insbe-
sondere der jahrelangen Verzögerung, einen guten Kon-
takt zu Taiwan aufzubauen ; wegen Kooperation mit den
Chinesen bei der Inthronisierung des neuen Karmapa ;
überhaupt wegen einer Geheimdiplomatie mit Beijing,
wobei das Land zugunsten der lamaistischen Kultur an
China verkauft werde.
Intrigen spielen in Dharamsala (»Klein Lhasa«) eine
ebenso große Rolle wie im alten Lhasa. Auch der jahrhun-
dertelange Kampf zwischen den verschiedenen Sekten hat
im Exil nicht aufgehört, ebensowenig wie die Konkur-
renz zwischen den einzelnen Regionen des Schneelandes.
Korruption und ominöse Geldgeschäfte sind unter den
Exiltibetern an der Tagesordnung. Jeden Tag kommen
irgendwelche neue Anklagepunkte hinzu. Insbesondere
fülle sich das Internet, wie ein Sprecher der Exilregie-
rung beklagte, mit einer »unvorhersehbaren Menge von
Literatur, die den Dalai Lama kritisiere und die tibeti-
sche Exilregierung klein mache«. (* Bums, 21. 09. 1997
– ‹jimburns@metanode.demon.co.uk›)
Die aufziehende Wolke der Kritik überschattet jedoch
nicht nur die Person des Kunduns, sondern beginnt da-
mit, das gesamte Umfeld des Buddhismus zu verdun-
keln. 1996 publizierte June Campbell ihr Buch Travel-
ler in Space, worin sie (als Betroffene) mit den lamai-

1296
stischen Sexualpraktiken abrechnet. Im Zentrum ihrer
Kritik steht der verstorbene Kagyüpa-Lehrer Kalu Rin-
poche – bis dahin eine unangefochtene Ikone in der bud-
dhistischen Welt. Im gleichen Jahr fand wegen des glei-
chen Themas Anklage gegen den exponierten Guru So-
gyal Rinpoche statt.
Wird der Stern des Dalai Lama, der gefeierte Star von
Hollywood, das Schicksal vieler seiner Schauspielerkol-
legen teilen müssen und dereinst erblassen ?
16. KONKLUSION

Wir sind am Ende unseres ausführlichen Textes über


den Dalai Lama, den tantrischen Buddhismus und die
tibetische Geschichte angelangt. Im Mittelpunkt des er-
sten Teils unserer Studie (Ritual als Politik) stand die Ge-
schlechterthematik, insbesondere die sexualmagische
Ausbeutung der Frau durch das androzentrische System
des Vajrayana zum Zweck mytho-politischer Machtak-
kumulation. Die Ableitung der tibetischen Geschich-
te und der Politik des Dalai Lama aus den Kultmyste-
rien des buddhistischen Tantrismus (insbesondere dem
Kalachakra-Tantra) ist der Inhalt der zweiten Teils un-
seres Buches (Politik als Ritual). Ganz allgemein ha-
ben wir versucht zu zeigen, daß sakrale Sexualität, Ma-
gie, Mystik und Mythos in der lamaistischen Weltsicht
eine Einheit mit ihrer Politik- und ihrem Geschichtsver-
ständnis bilden.
Der tibetische Buddhismus verdankt seinen Erfolg im
Westen vor allem zwei Tatsachen : Einmal dem Char-
me und der brillanten Selbstinszenierung seines höch-
sten Repräsentanten des XIV Dalai Lama, zum ande-
ren dem Versprechen, Menschen auf den Weg der Er-
leuchtung zu führen. Obgleich es auf dem tantrischen
Erleuchtungsweg explizit um eine Auflösung des Ego geht,
wird zuerst einmal das Ich des Schülers als Adressat an-
gesprochen. »Ich möchte die Sinnlosigkeit und die Lei-
denserfahrung meiner irdischen Existenz überwinden.

1298
Ich möchte Befreiung vom Samsara (der Welt des Scheins)
erfahren.« Wenn ein westlicher Sadhaka bereit ist, sein
»kleines Ich« zu opfern, so macht er sich doch von dem
»großen Ich« (dem Höheren Selbst oder dem Buddha-
Bewußtsein), das ihm durch die tantrische Philosophie
und Praktiken des Vajrayana als spirituelle Zielvorga-
be angeboten wird, keineswegs dieselben Vorstellungen
wie die Lamas. Die Westler glauben, das Erleuchtungs-
bewußtsein habe immer noch irgendetwas mit einem
selbst zu tun. Ein Lehrer des tantrischen Buddhismus
dagegen weiß, daß die Individualität des Schülers völlig
ausgelöscht und durch ein strikt kodifiziertes, kulturell
verankertes Götterheer ersetzt wird. Es sind die tibeti-
schen Buddhas, Herukas, Bodhisattvas, Gottheiten, Dä-
monen (Dharmapalas) und die Repräsentanten der ein-
zelnen Guru-Linien, die an die Stelle des individuellen
Schülerbewußtseins treten. Man muß deswegen den Ein-
druck gewinnen, daß ein »exklusiver Club« von überir-
dischen, wenn auch kulturell eingefaßten Wesen (Bud-
dhas, Bodhisattvas, Götter usw.) dadurch überlebt, daß
diese immer wieder aufs neue menschliche Körper (bis
zu deren Verschleiß) besetzen. Der tibetische Buddhis-
mus beabsichtigt in seinem Kern nicht die Erleuchtung
von Individuen, sondern die Fortexistenz einer Kultur von
Übermenschen (Yogis, Götter) in der Gestalt von »beses-
senen« Menschen (den Schülern). Es geht ihm dabei um
die Verewigung einer Priesterkaste, die nicht zu sterben
braucht, weil ihr Bewußtsein immer wieder in den hu-
manen Körpern ihrer Sadhakas und Anhänger inkarnie-
ren kann. Diese Kaste und ihre Gottheiten gelten als sa-

1299
krosankt. Sie leben jenseits jeglicher Kritik. Ihre Symbo-
le, ihre Taten und ihre Geschichte werden als vorbildlich
hingestellt, sie sind das kulturelle Erbe, das nicht hinter-
fragt werden darf, sondern das von den Gläubigen blind
zu übernehmen ist.
Aus diesen Gründen bildet das gesamte Erleuchtungs-
versprechen des tibetischen Buddhismus eine Falle, um
intime und religiöse Sehnsüchte von Menschen zu benut-
zen und um die religionspolitischen Ziele des Mönchs-
klerus auf magische Art und Weise durchzusetzen. (Wir
diskutieren hier nicht, ob dies wirklich möglich ist, son-
dern wir sprechen von der Intention des lamaistischen Sy-
stems.) Das entspricht exakt dem, was Giordano Bruno
als »Manipulation« bezeichnet. Bruno hat – erinnern wir
uns daran – darauf verwiesen, daß ein meisterhafter Ma-
nipulator nicht über seine eigentlichen machtpolitischen
Absichten sprechen darf. Er schmeichelt im Gegenteil dem
Ego des zu Manipulierenden (dem Ego der Massen), so
daß dieser immer daran glaubt, nur seinen eigenen In-
teressen zu folgen und seinen ganz persönlichen Zielen
nachzugehen – in Wahrheit aber erfüllt er (ohne es zu wis-
sen) die Wünsche und Vorgaben des Manipulators. Über-
tragen auf den Dalai Lama und seine Religion bedeutet
das : Die Menschen folgen dem tibetischen Buddhismus,
weil sie sich hierdurch Erleuchtung (Befreiung von per-
sönlichem Leid) erhoffen, in Wirklichkeit jedoch werden
sie zu Erfüllungsgehilfen des politischen Lamaismus und
der hinter ihm wirksamen tibetischen Götter. Der Dalai
Lama ist also ein besonders eindrucksvolles Beispiel für
einen »Manipulator« im Bruno’schen Sinne.

1300
Werden Menschen benutzt, um als Gefäße der tibeti-
schen Götter zu dienen, so besteht die Hauptenergie, die
unmittelbar den mysto-politischen Motor des lamaisti-
schen Systems antreibt, in der sakralen Sexualität, im
Eros, insbesondere in der Gynergie der Frau (als Brenn-
stoff). Der tibetische Buddhismus ist eine Mysterienre-
ligion, und seine Mysterien sind das Antriebsaggregat
für seine politischen Entscheidungen und Zielsetzun-
gen. Auf eine knappe Formel gebracht heißt das : Se-
xualiät wird über den Weg der Mystik in Macht trans-
formiert. Der französische Dichter Charles Péguy soll
gesagt haben, »jegliche Mystik endet in Politik«. Besser
kann die Dynamik des tantrischen Systems nicht be-
schrieben werden. Es handelt sich dabei um eine groß-
angelegte »mystische Ritualmaschine«, deren einziges
Ziel die Produktion des allumfassenden ADI BUDDHA
und die Errichtung seiner universellen politischen Herr-
schaft sind.
Wie eng die Verflechtung von Sexualmagie und Politik
seitens des Lamaismus gesehen wird, das zeigt die Dop-
pelspurigkeit des Kalachakra-Tantras. Die sexualmagi-
schen Rituale, die Kosmologie und die politische Pro-
grammatik des Shambhala-Mythos sind in diesem Do-
kument aufs engste miteinander verflochten. Für einen
westlich orientierten Leser wirkt der Text uneinheitlich,
zerrissen und widersprüchlich, für einen buddhistischen
Tantriker aber bildet er eine nahtlose Einheit.
Tantrische Rituale sind also Politik, wie wir es im er-
sten Teil unserer Studie beschrieben haben. Politik ist
aber umgekehrt auch ein Ritual, das heißt jedes politi-

1301
sche Ereignis, sei es die Flucht des Dalai Lama aus Tibet,
seien es die vandalistischen Ausschreitungen der chine-
sischen Roten Garden, sei es der Tod Mao Zedongs oder
sei es ein Film wie Scorseses Kundun – sie alle bilden
nach traditionell tibetischer und nicht nach westlicher
Sicht eine Performance auf dem Weg des Kalachakra-
Meisters zum Thron des ADI BUDDHA.
Wenn wir die Politik der lamaistischen Buddhokratie,
insbesondere die des Kalachakra-Tantra und des Shamb-
hala-Mythos, aus westlicher Sicht beurteilen, so kommen
wir zu den folgenden 9 Einschätzungen :
1. Die Politik des Zeittantras ist »unmenschlich«, weil
sie von Göttern und Yogis, nicht aber von Menschen
gemacht wird. Diese Götter weisen zum Teil höchst
destruktive Eigenschaften auf. Sie sind jedoch sakro-
sankt und dürfen weder kritisiert noch ausgetauscht
noch transformiert werden.
2. Ziel dieses Tantras ist die Errichtung eines androzen-
trischen, undemokratischen, despotischen Mönchs-
staates mit einem Alleinherrscher (dem ADI BUD-
DHA) an der Spitze.
3. Der buddhokratische Staat basiert strukturell auf dem
Opfer : dem Sakrifizium der liebenden Göttin, der
Frau, des Individuums, des Schülers, des Königs, des
Sündenbocks.
4. Die Buddhokratie manipuliert geschickt mehrere Mo-
delle des temporären Anarchismus, um sie am Ende in
ein autoritatives System umschlagen zu lassen.
5. Der Staat und seine Organe schrecken in einer Bud­
dhokratie tibetischer Prägung nicht vor schwarzma-

1302
gischen Ritualen zurück, um politische Gegner aus
dem Weg zu schaffen.
6. Die buddhokratische Politik richtet sich nicht nach
demokratischen Entscheidungsprozessen, sondern
nach göttlichen Befehlen, insbesondere nach Aussa-
gen von Orakeln, unter denen Pehar, der vorbuddhi-
stische Kriegsgott der Hor-Mongolen, die führende
Rolle (als Staatsorakel) einnimmt.
7. Der tantrische Staat verfolgt eine aggressive Kriegs-
und Eroberungspolitik (die Shambhalisierung der
Welt).
8. Der Shambhala-Mythos beinhaltet eine von einem
»faschistischen« Kriegerethos getragene Endzeitvisi-
on, in der die Gläubigen (die Buddhisten) alle Ungläu-
bigen (vor allem die Moslems) brutal vernichten.
9. Der tantrische Buddhismus manipuliert die westli-
chen Massen mit verfälschten Bildern von Frieden,
Ökologie, Demokratie, Frauenfreundlichkeit, sozialer
Gerechtigkeit und Mitgefühl.
Wir möchten in diesem Zusammenhang noch einmal
(warnend) auf den eminenten Einfluß zu sprechen kom-
men, den der buddhistische Tantrismus allgemein so-
wie das Kalachakra-Tantra und der Shambhala-Mythos
im besonderen auf den Faschismus und auf den deut-
schen Nationalsozialismus ausgeübt haben und immer
noch ausüben. Im 16. Kapitel berichteten wir über das
okkulte Interesse Heinrich Himmlers an Tibet ; über den
ehemaligen SSler Heinrich Harrer, den Tutor des jungen
Dalai Lama, und über die Bedeutung des Vajrayana für
die faschistische Ideologie des Mussolini-Vertrauten Ju-

1303
lius Evola. Im Zentrum dieses Kapitels aber stand die
ausführliche Analyse des Esoterischen Hitlerismus, einer
Weltsicht des chilenischen Diplomaten und Schriftstel-
lers Miguel Serrano, die sich aufs engste an den buddhi-
stischen Tantrismus anlehnt und sie mit okkulten Leh-
ren der Nazis kombiniert. Serrano zeigt am deutlichsten,
was die Menschheit erwartet, würde das Kalachakra-
Tantra die Herrschaft über die Welt erlangen : eine ras-
sistische Autokratie von androgynen Kriegern, die das
reale Opfer der Frau als ihr höchstes Kultmysterium fei-
ern und die in Hitlers SS ihr historisches Vorbild vereh-
ren. Wir verweisen (warnend) darauf, daß Seine Heilig-
keit der XIV Dalai Lama mit diesem fanatischen Ver-
ehrer der SS und des deutschen »Führers« nicht zufällig
seit seiner Flucht aus Tibet (1959) Kontakte hält, son-
dern mit ihm aus der Tradition des Tantrismus in vie-
len weltanschaulichen und visionären Fragen überein-
stimmt.
Bleiben Serranos Shambhala-Visionen bisher noch Spe-
kulation, so haben sie in der Gestalt des japanischen Sek-
tenführers Shoko Asahara eine schauerliche Realität er-
fahren. Im Falle Asahara hielt die Welt den Atem an, als
er 1995 in Tokios überfüllten U-Bahnen ein Gasattentat
auf seinen Befehl hin durchführen ließ, bei dem es meh-
rere Tote und zahlreiche Verletzte gab. Es war der erste
generalstabsmäßig ausgearbeitete Mordanschlag einer re-
ligiösen Gruppierung aus einem Industrieland, welcher
sich nach außen (nicht wie bei vielen anderen Sekten ge-
gen die eigenen Mitglieder) richtete. Die ungeheure Ge-
fahr solcher heimtückischen Attentate, der die Massen

1304
schutzlos ausgeliefert sind, liegt auf der Hand. So tief
die Tat auch die internationale Öffentlichkeit berühr-
te, so hat sich doch bisher keiner der Mühe unterzogen,
die ideologischen und religiösen Grundlagen und Moti-
ve zu untersuchen, welche Asahara zu seinen Verbrechen
veranlaßten. Auch in diesem Fall führen die Wege zum
tibetischen Buddhismus, insbesondere zum Shambhala-
Mythos des Kalachakra-Tantras. Asahara sah sich als eine
Inkarnation des Rudra Chakrin, des rasenden Raddre-
hers, der die eine Hälfte der Welt zerstört, um die ande-
re Hälfte durch seinen Shambhalisierungsplan (wörtlich)
zu retten. Er war nicht nur ein Praktikant des Vajraya-
na, sondern ebenso ein »guter Freund« des Dalai Lama,
dem er fünfmal persönlich begegnete.

Das atavistische Muster des tibetischen Buddhismus

Trotz all dieser problematischen Punkte verbreitet sich


das Bild vom tibetischen Buddhismus als dem besten al-
ler Religionssysteme und dem Dalai Lama als dem sanf-
mütigsten ( !) aller Wesen erfolgreich weiter. Einer der
letzten Höhepunkte dieser Glorifizierung war wohl die
Titelgeschichte Buddhismus des deutschen Nachrichten-
magazins Der Spiegel (April 1998). Dieser, bekannt für
seine ansonsten religionskritischen und kirchenfeind-
lichen Beiträge, die oft vor einem scharfen Zynismus
nicht zurückschrecken, ließ sich im Fall des XIV Da-
lai Lama als Propagandainstrument von dessen atavi-
stisch-autokratischem Religionssystem benutzen. Der

1305
Autor des euphorischen Artikels, Erich Follath, war of-
fensichtlich wie so viele seiner Kollegen nach einem Be-
such in Dharamsala ganz und gar dem Zauber des Gott-
königs erlegen. »Alte Freunde wie Sie führe ich durch
meinen Garten !« hatte der Kundun dem Spiegelredak-
teur zugelächelt und ihm seine Blumenzucht gezeigt.
(* Spiegel, Nr. 16/13. 4. 1998) Der Journalist nahm die-
se persönliche Geste des göttlichen Charmeurs mit tie-
fer Dankbarkeit entgegen und kündigte gleichzeitig sein
kritisches Bewußtsein und seine journalistische Verant-
wortung auf. Sein Artikel ist eine Ansammlung von hi-
storischen Verfälschungen und sentimentalen Verherr-
lichungen des Kunduns, seines Landes und seiner Reli-
gion. 124
Wenn wir die Selbstinszenierung Seiner Heiligkeit des
XIV Dalai Lama auf der politischen Weltenbühne charak-
terisieren wollen, dann werden wir bald erkennen, daß er
sich strikt an vier positive (a) und vier negative (b) Regeln
hält, die ihn eben als großen Manipulator erweisen :
1. (a) Argumentiere in der Öffentlichkeit immer mit Be-
griffen des Mahayana-Buddhismus. Sprich von Mit-
gefühl, Liebe und Frieden, (b) Erwähne nie die sexual-
magischen Mysterien und machtpolitischen Obsessio-
nen des Vajrayana.
2. (a) Führe alle Argumente, die sich in irgendeiner
Weise gegen den Buddhismus richten könnten, in die

124 Wir gehen hier nicht noch einmal auf die einzelnen Punk-
te des Artikels ein, den wir an gegebener Stelle in unserem Text
verarbeitet haben.

1306
»Leere« (Shunyata) und »shunyatisiere« in der Öffent-
lichkeit selbst den eigenen religiösen Ansatz : »Alles ist
ohne inhärente Existenz« – das heißt, alles kommt aus
dem Nichts, und alles endet im Nichts.
(b) Sprich dagegen nie in der Öffentlichkeit über die ti-
betischen Götter, Dämonen und Geister (Nechung-Ora-
kel) und ihre machtpolitischen Programme (Shamb-
hala-Mythos), die sich in diese »Leere« niedersenken,
um ihre »buddhokratischen« Interessen und ihre tan-
trische Weltanschauung global durchzusetzen.
3. (a) Eigne Dir scheinbar alle progressiven Strömungen
der westlichen Kultur an (Demokratie, Meinungsfrei-
heit, Menschenrechte, Individualismus, Frauenrechte,
Ökologie, Humanismus u. ä.).
(b) Sprich nie von den autokratisch-klerikalen Ab-
sichten des tantrischen Systems, von den frauenver-
achtenden Sexualpraktiken, schon gar nicht von der
Errichtung einer weltweiten Herrschaft des buddhi-
stisch-androzentrischen Mönchtums, welches sich
durch die Inkarnationsdoktrin und die Vernichtung
des Weiblichen verewigen kann.
4. (a) Lächle und erscheine immer freundlich, einfach,
bescheiden, demütig und menschlich. Spiele immer
den sanftmütigen »Herrn des Mitgefühls«, den Bo-
dhisattva Avalokiteshvara. 125
(b) Zeige niemals in der Öffentlichkeit Verdruß oder

125 Die ständig vorgeschriebene Notwendigkeit zu lächeln hat


bei dem deutschen Journalisten Michael Cornelius, der den
Gottkönig 1996 interviewte, eher einen melancholischen Ein-
druck hinterlassen : »Der Dalai Lama lacht sein kehliges Dalai →

1307
Stolz und verberge hinter dichten Schleiern die Zer-
störungsaspekte jener Götter und Dämonen (Heru-
kas), deren Emanation auf Erden Du ebenfalls dar-
stellst. Schweige über die Grausamkeiten der lamai-
stischen Geschichte.

Das Lächeln und die freundlichen Worte des »lebenden


Buddha« sind nur die äußere Fassade seiner vielschichti-
gen Persönlichkeit. Aber nicht, was der Dalai Lama sagt,
sondern was das religiöse System, das hinter ihm steht
und was seine Götter ihm befehlen, bestimmen die Po-
litik des tibetischen Buddhismus, wie wir es im Verlauf
unserer Studie gezeigt haben.
Nicht die neue pseudowestliche Verfassung der Exil­
tibeter zählt, sondern die im Kalachakra-Tantra und
Shambhala-Mythos niedergelegte »politische Theologie«
und die dort zur Machtakkumulation vorgeschriebenen
sexualmagischen Praktiken sind in der letzten Instanz
ausschlaggebend. Nicht die lockeren und freundlichen
Beziehungen Seiner Heiligkeit zu westlichen Prominen-
ten sind problematisch, sondern seine engen Kontakte zu
okkulten Sekten wie die AUM des Shoko Asahara und
zu Vertretern des »esoterischen Hitlerismus« wie Miguel

← Lama-Lachen und krümmt sich dabei. Nimmt sich die Brille


ab und wischt sich die Tränen weg. Nicht immer ist während des
Interviews sicher, ob das Lachen Ironie oder der pure Schmerz
ist … Die dröhnende Fröhlichkeit irritiert. Seine Offenheit auch.
Er ist albern, ernsthaft, weise – und reißt gleichzeitig Witze. Göt-
ter dürfen so sein. Vielleicht müssen sie so sein.« (* Süddeutsche
Zeitung Magazin, 31. 3. 1997, S. 69)

1308
Serrano. Höchst problematisch und sehr gefährlich des-
wegen, weil beide Okkultisten (Asahara und Serrano) die
Philosophie und Praxis des Vajrayana und den kriegeri-
schen Shambhala-Mythos in das Zentrum ihres destruk-
tiven Weltbildes gestellt haben. Nicht der Konflikt des
Dalai Lama mit Beijing bildet für den Westen und die
Weltgemeinschaft eine Bedrohung, sondern im Gegen-
teil eine mögliche zukünftige kulturelle Eroberung des
»chinesischen Drachen« durch den »tibetischen Schnee-
löwen« (Lamaismus). Denn der Shambhala-Mythos liefert
die besten ideologischen Grundlagen für eine aggressive,
panasiatische Großmachtpolitik und für die Entfesselung
eines buddhistischen Djihad (Heiliger Krieg). Nicht der
sanftmütig herabblickende Avalokiteshvara und der »ein-
fache Mönch« aus Dharamsala, sondern der Todesgott
Yama und der Zeitgott Kalachakra mit seinem frauenver-
nichtenden Kult sind das Problem, da sie sich ebenfalls
in der Gestalt des Dalai Lama inkarnieren. Nicht, daß
sich der Dalai Lama privat durch Orakel beraten läßt, ist
problematisch, sondern daß ein mongolischer Kriegsgott
als institutionalisiertes Staatsorakel spricht ; nicht die Po-
pularität des Kunduns durch Hollywood ist zu kritisie-
ren, sondern die Benutzung dieses Mediengiganten, um
historische Tatsachen zu verfälschen.
Das atavistisch-mythische Muster des tibetischen Den-
kens und des tantrischen Buddhismus wird jedoch vom
Westen (soweit es sich nicht um konvertierte Buddhi-
sten handelt) überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.
Würde man sich damit auseinandersetzen, dann käme
man unweigerlich zu dem Schluß, daß es in der lamai-

1309
stischen Kultur Tibets überhaupt keine Meinungsfreiheit
und damit auch keine wirkliche Kritik geben kann, da
das tibetische Volk immer autokratisch verwaltet wurde
und sich auch im Exil nicht für eine Demokratie, son-
dern für eine in der Verfassung verankerte ( !) Buddho-
kratie »entschieden« hat. Weil darüber hinaus der Dalai
Lama als oberster Herrscher seines Landes – der Doktrin
nach – kein Staatspräsident, sondern ein lebender »Gott«
(eine Inkarnation des Avalokiteshvara und der Kalacha-
kra-Gottheit) ist, muß sein Wille immer höher bewer-
tet werden als derjenige seiner Untertanen, mögen diese
auch in der exiltibetischen Regierung sitzen.
Zudem weist Tibet keine gewöhnliche Historie auf, son-
dern eine Heilsgeschichte mit dem Shambhala-Mythos
im Zentrum und als Ziel. Deswegen muß jede politische
Handlung des Kunduns und der Exiltibeter dieser Escha-
tologie untergeordnet werden. Die lamaistische Kultur
ist in ihrem Wesenskern undemokratisch, fundamen-
talistisch und totalitär und sieht darin gar nichts Böses,
sondern im Gegenteil, sie betrachtet sich als das beste
aller Systeme. Dank der Inkarnationslehre wird die kle-
rikale Herrschaftselite – dem eigenen Selbstverständnis
nach – nicht einmal durch den Tod in ihrer absolutisti-
schen Machtausübung begrenzt.
Jegliche Reformpolitik, jegliche Demokratisierungsbe-
teuerung, jegliches Bekenntnis zum Frieden bleiben so
lange eine Lüge, als sich der Dalai Lama nicht von der tan-
trischen Ritualistik, insbesondere dem Kalachakra-Tantra,
losgesagt hat. Diese beruht im Kern auf der magischen
Transformation von Sexualität in Macht und strebt in letz-

1310
ter Instanz die mit militärischen Mitteln durchgesetzte
Inthronisation eines sakral-politischen Weltenkönigs an.
Ohne die geringsten Abstriche hält jedoch der Lamaismus
aller Schulrichtungen mit dem Kundun an der Spitze an
den – wie wir glauben, nachgewiesen zu haben – höchst
destruktiven und menschenverachtenden Riten und der
mit ihnen verbundenen politischen Ideologie fest.
Sogar wenn der tibetische Klerus in einem »befrei-
ten« oder »autonomen« Tibet zeitweise auf seine politi-
schen Privilegien verzichten sollte, würde die Idee von
der Herrschaft einer patriarchalen Mönchsdiktatur als
die höchste Zielvorstellung weiterhin bestehen bleiben,
denn sie ist das Zentrum des gesamten tantrischen Ri-
tualwesens. Das theokratische System, das wir in allen
vergangenen Kulturen der Welt finden, hat heute nur im
tibetischen Buddhismus und in Teilen des Islam über-
lebt. In beiden Fällen verlangt es seine weltweite Aner-
kennung und Verbreitung. Es tut dies bei den Exiltibe-
tern – und das ist das Groteske – in der Maske der Demo-
kratie, der Menschenrechte, des ökumenischen Auftrags
und des Naturschutzes.
Dagegen haben die tibetischen Gurus jenseits der Öf-
fentlichkeit keinerlei Scheu, über ihre mystisch-visionären
Imaginationen, ihre Eroberungspläne, ihre Endschlach-
ten und die weltweite Ausdehnung einer Buddhokratie
zu plaudern. Im Kreis ihrer Anhänger ist der Shambha-
la-Mythos schon längst zu einem machtpolitischen Fak-
tor geworden. In der Weltpresse dagegen kommt er über-
haupt nicht zur Sprache. Je nach Publikum haben sich
die Lamas ihr nach außen hin präsentiertes Tibetbild

1311
zurechtgeschneidert. Wird auf einer wissenschaftlichen
Konferenz nüchtern diskutiert, dann argumentieren die
Exiltibeter ebenfalls nüchtern, analytisch und kritisch.
Wenn es auf einem anderen Treffen emotional und eso-
terisch zugeht, dann schließen sich dieselben Leute an
die phantastischen Geschichtsmythen vom ewig fried-
lichen und geheimnisvoll okkulten Hochland (Shangri-
La) an, von dem es noch auf der ersten Konferenz hieß,
es wäre die Erfindung eines verfehlten »westlichen Ori-
entalismus«. Auf Kongressen des »engagierten Buddhis-
mus« wiederum wird das Alte Tibet dann zum Hort all
derjenigen Werte hochstilisiert, die in der postmodernen
Gesellschaft an Boden gewinnen. »Die Tibeter im Exil«,
schreibt Toni Huber, ein anerkannter Tibetologe, »ha-
ben eine Art modernes liberales Shangri-La-Image von
sich selbst entdeckt«, indem sie Bilder aus den Protest-
bewegungen des industrialisierten Westens übernehmen,
»die jetzt in ihrem Ausmaß und ihrer Anziehung trans-
national sind – Umweltengagement, Pazifismus, Men-
schenrechte und Feminismus.« (* Huber 1997, 2) Westli-
che Werte wie die Trennung von geistiger und weltlicher
Macht, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Rechtsstaat-
lichkeit, die freie Meinungsäußerung, der gesellschaftli-
che Pluralismus, die Repräsentativorgane, die Gleichheit
von Mann und Frau und der Individualismus hatten je-
doch in der Geschichte Tibets keinen Platz.
Es ist aber nicht nur eine Folge reiner Naivität, wenn
Regierungsstellen aus Amerika und Europa die Meinung
vertreten, der autokratische Lamaismus ließe sich mit den
Grundsätzen einer neuzeitlichen Verfassung in Einklang

1312
bringen. Dahinter steht auch das machtpolitische Tak-
tieren mit einer »drohenden« chinesischen Gefahr. Ins-
besondere hat Washington ein großes Interesse daran,
ein unterdrücktes Tibet in der Auseinandersetzung mit
China, dem größten Konkurrenten der USA, als Argu-
ment zu benutzen.
Dieser gefährliche Antagonismus zwischen den beiden
Großmächten (China, USA) wird von der jeweiligen In-
nenpolitik tüchtig angeheizt, wobei Dharamsala keine
Gelegenheit vorübergehen läßt, um Benzin ins Feuer zu
schütten. Der Kundun mit seiner lauten und die »Herzen
ergreifenden« Chinakritik ist dabei eine amerikanische
Königsfigur im politischen Schachspiel zwischen Was-
hington und Beijing. Dabei sind offizielle Stellen in den
USA durchaus über die »wahre« Geschichte des alten und
des neuen Tibet sowie über die »undemokratischen« Zu-
stände in Dharamsala informiert. Sie werden unter ande-
rem von solch objektiven Wissenschaftlern wie A. Tom
Grunfeld und Melvyn C. Goldstein beraten. In der Öf-
fentlichkeit jedoch folgt das State Department bisher der
protibetischen Argumentation des Hollywood-Schauspie-
lers und Kalachakra-lnitianten Richard Gere.

»Kampf der Kulturen« :


Der fundamentalistische Beitrag des Lamaismus

Welche politische Brisanz heute an der Schwelle zum


dritten Jahrtausend weltherrschaftliche, religiös fun-
dierte Strategien (wie der Shambhala-Mythos) und ma-

1313
gisch-mystische Praktiken (wie das Kalachakra-Ritual)
gewinnen können, das mußte der Westen in den letzten
fünfzehn Jahren zu seinem größten Erstaunen feststellen.
Theokratische (und buddhokratische) Visionen der ver-
schiedensten Glaubensrichtungen sind – ohne daß die
westlichen Kulturen darauf vorbereitet gewesen wären
– explosionsartig aus den Tiefenschichten des mensch-
lichen Unterbewußtseins, in denen sie seit der bürgerli-
chen Aufklärung (18. Jahrhundert) verborgen überlebten,
wieder hevorgebrochen. Die Ereignisse im Iran – dem
Land, wo die Mullahs den ersten, gut funktionierenden
moslemischen Gottesstaat der Neuzeit errichteten, lösten
im Westen einen Kulturschock aus. Auf einmal waren
die mit den theokratischen Systemen verbundenen atavi-
stischen Ansichten und Regeln von Gewalt, Kriegerethos,
Rassismus, Intoleranz, Frauendiskriminierung, Diktatur
des Priestertums, Verfolgung Andersgläubiger, Inquisi-
tionen, Weltkriegs- und Weltuntergangsvisionen … er-
neut (wie im Mittelalter) hoch aktuell.
Der amerikanische Politologe Samuel P. Huntington
hat in einem viel beachteten Buch Kampf der Kulturen
(Clash of Civilizations) mit überzeugenden Argumenten
daraufhingewiesen, daß sich für die Welt des 21. Jahr-
hunderts Konfrontationen abzeichnen, die primär we-
der ökonomische, klassenkämpferische noch nationali-
stische Ursachen haben. Die Menschen gruppieren sich
seit den 80er Jahren bei ihrer Identitätssuche um »Kul-
turen«, ganz besonders aber um die Religionen.
Erstaunlicherweise haben alle religiösen Traditionen
mittlerweile ihre Technikfeindlichkeit überwunden. »We-

1314
sten« und »Technik« werden nicht mehr wie früher mit-
einander identifiziert. Selbst die radikalsten Fundamen-
talisten benutzen High Tech-Geräte und modernste Kom-
munikationsmittel. Im Islam sind es Studenten aus den
Ingenieursfakultäten und naturwissenschaftlichen Fach-
bereichen, die sich besonders von religiösen Ideen ange-
zogen fühlen. Auch die sozialen Konflikte (Arm gegen
Reich) sind nach Huntington nicht mehr primärer Natur
bei der Auslösung von Kriegen. Kulturelle Kreise können
gleichzeitig extrem reiche und extrem arme Länder um-
fassen. Ausschlaggebend ist die gemeinsame Religion.
Der Westen mit seinen Werten – so Huntington – wer-
de als eine Zentralmacht zunehmend schwächer, wäh-
rend sich andere kulturelle Machtblöcke herauskristal-
lisieren. Davon sind die beiden bedeutendsten der Islam
und China. »Seine universalistischen Ansprüche bringen
den Westen zunehmend in Konflikt mit anderen Kultur-
kreisen, am gravierendsten mit dem Islam und China …
Der Islam und China verkörpern große kulturelle Tra-
ditionen, die von denen des Westens sehr verschieden
und ihnen in den Augen jener Kulturkreise unendlich
überlegen sind. Macht und Selbstbewußtsein dieser bei-
den Kreise im Vergleich zum Westen nehmen zu, und
die Wert- und Interessenkonflikte zwischen ihnen und
dem Westen werden zahlreicher und heftiger.« (* Hun-
tington, 19) Kriege, unter Umständen Weltkriege, sind
für Huntington kaum zu vermeiden.
Wenn wir Huntingtons These ernst nehmen, dann
müssen wir uns fragen, ob das Kalachakra-Tantra und
der Shambhala-Mythos des Dalai Lama nicht auch ei-

1315
nen höchst gefährlichen ideologischen Sprengsatz dar-
stellen, der die ganze Welt in Flammen setzen kann. Im
Zeittantra wird – wie wir wissen – ein eschatologischer
Endkrieg mit dem Islam vorausgesagt. Im Jahre 2327 –
so die Prophezeiung – führt Rudra Chakrin, der »zor-
nige Raddreher« aus Shambhala, seine Armee gegen die
Mlecchas (Moslems) ins Feld. Mit Recht hat deswegen ein
Beitrag im Internet die Idee vom islamischen Heiligen
Krieg (Djihad) mit der Vision des Zeittantras verglichen.
»Die Kalachakra-lnitiation«, schreibt Richard P. Hayes,
»scheint der Ruf nach einem buddhistischen Äquivalent
des Djihad zu sein … das Kalachakra wurde extern als
ein Aufruf zum Heiligen Krieg (um das Dharma gegen
seine Feinde zu schützen) interpretiert … »(* 30. 12. 1997
‹rhayes@wilson.lan.mcgill.ca›)
Aus geschichtlichen Gründen erweist sich der Islam
als die kulturell aggressivste Gegenkraft zur westlichen
Kultur. Die Kämpfe zwischen christlichem Abendland
und dem islamischen Morgenland haben eine Jahrhun-
derte alte Tradition. Deswegen schüren das Kalachakra-
Tantra und der Shambhala-Mythos mit ihrer expliziten
Islamfeindlichkeit ein Feuer, welches auf der aktuellen
politischen Weltenbühne schon heftig glüht und selbst
in das Zentrum der größten westlichen Macht (die USA)
übergegriffen hat.
Denn die beiden dynamischsten religiösen Strömun-
gen innerhalb der Vereinigten Staaten sind der tibetische
Buddhismus auf der einen Seite und der Islam auf der an-
deren. 6 Millionen ( !) bekennende Moslems, vor allem
aus der schwarzen amerikanischen Bevölkerung, grup-

1316
pieren sich dort um die Lehre des Propheten, während
sich 1,5 Millionen, vor allem weiße Amerikaner, aus der
Oberschicht für den Buddhismus (meist tibetischer Prä-
gung) entschieden haben. Der in den Shambhala-Prophe-
zeihungen vorausgesagte Riß zwischen den Anhängern
des Dharma (den tantrischen Buddhisten) und den An-
hängern des Korans (den Mlecchas / Moslems) beginnt
jetzt schon die amerikanische Gesellschaft in zwei feind-
liche Lager zu spalten.
Nach Huntington wird China sehr bald die ökono-
misch und ethnisch potenteste Herausforderin des We-
stens sein. Das Land werde sich als der »Kernstaat und
Magnet« eines sinischen Kulturkreises herausbilden und
alle seine Nachbarländer kulturell beherrschen, die ge-
samte Wirtschaft Ostasiens werde sich auf China zentrie-
ren. Eine Vereinigung der Volksrepublik mit Taiwan gilt
nur als eine Frage der Zeit. Huntington sieht im »Reich
der Mitte« diejenige Macht, die eines Tages den globalen
Einfluß des Westens in Frage stellen kann.
Im Gegensatz zum Islam ist die zur Zeit herrschende
(kaum noch als kommunistisch zu bezeichnende) Philo-
sophie Chinas, die sich sowohl auf dem Festland als auch
in Taiwan als das »Erbe des konfuzianischen Denkens«
bezeichnet, nach außen hin nicht aggressiv und auf Er-
oberungen ausgerichtet. Denn auf einer allgemeinen Ebe-
ne betont das Ethos des Konfuzius Autorität, Hierarchie,
Familiensinn, Ahnenverehrung, Unterordnung der Rech-
te des Einzelnen unter die Gemeinschaft, Supremat des
Staates vor dem Individuum, aber auch das »Vermeiden
von Konfrontationen«, das heißt auch von Kriegen.

1317
Trotzdem dürfen wir nicht vergessen, daß China im
Laufe seiner Geschichte niemals frei von äußeren ideolo-
gischen Beeinflussungen war. Sowohl der Buddhismus in
seinen verschiedenen Prägungen als auch das Christen-
tum wie auch der Kommunismus sind kulturelle Impor-
te und hatten zeitweise auf die Politik des Landes einen
bestimmenden Einfluß. Im 18. Kapitel des zweiten Teils
unserer Studie stellten wir deswegen die Frage, ob nicht
auch die Chinesen für die globalen Machtvisionen des
Shambhala-Mythos anfällig werden könnten ? Das »Reich
der Mitte« hatte immer schon spirituell und mythisch be-
gründete Weltherrschaftsansprüche. Auch wenn es die-
se nicht militärisch durchzusetzen suchte, so wurde der
chinesische Kaiser dennoch als ein Weltenkönig (Cha-
kravartin) verehrt. Wie wir in dem ausführlichen Por-
trät Mao Zedongs nachgewiesen haben, lebte ein solcher
Anspruch selbst unter dem Kommunismus fort. Das ist
dem XIV Dalai Lama sehr wohl bewußt. Seit gut fünf
Jahren hat er den Schwerpunkt seiner missionarischen
Arbeit auf Taiwan (Nationalchina) gelegt. Wir zitierten
mehrere Prophezeiungen aus seinem Munde, die besagen,
daß der Lamaismus bei der Gestaltung der chinesischen
Zukunft ein entscheidendes Mitspracherecht haben will.
Taiwan, das – allen Prognosen nach – früher oder spä-
ter ins Mutterland heimkehrt, gilt als das Sprungbrett,
von dem aus die tibetischen Mönche und der von ihnen
ordinierte nationalchinesische Nachwuchs in das chi-
nesische Kulturgefüge eindringen können. Der Westen
und die Weltengemeinschaft sollten sich deswegen ern-
ste Gedanken darüber machen, ob eine Verbreitung der

1318
lamaistischen Religion in China wirklich im Interesse
eines globalen Friedens liegt, oder ob nicht dadurch die
zur Zeit mehr oder weniger schöne politische Wetterla-
ge im »Reich der Mitte« in einen panasiatischen Sturm
verwandelt werden könnte.
Denn sollte das Großreich eines Tages tatsächlich zum
Lamaismus bekehrt werden und zur Ideologie des Ka-
lachakra-Tantras und zum Shambhala-Mythos greifen,
dann könnte sich die mächtigste wirtschaftliche Macht
auch in das Erbe Dschinghis Khans stellen und sowohl
den Islam wie den »dekadenten« Westen zu überfluten
suchen. 126 Der Islam und die Mongolen waren die ein-
zigen Kulturen, die das Überleben des Abendlandes exi-
stentiell bedroht haben, der Islam sogar zweimal.

Rückkehr zum Rationalismus ?

Weshalb ist der Westen so hilflos, wenn er dem »Kampf


der Kulturen« begegnet, und weshalb ist er jedesmal
überrascht, wenn es zu gewaltsamen Ausbrüchen fun-
damentalistischer Religionssysteme (wie zum Beispiel

126 Sinische Konflikte mit dem Islam bestimmen immer schon


die chinesische Westgrenze, sind jedoch nach Huntington noch
nicht von entscheidender Bedeutung, weil sich China und der Is-
lam gegen den übermächtigen Westen zusammenschließen. Aber
dabei handelte sich nur um einen Pakt auf Zeit : »Islamische und
sinische Gesellschaften, die im Westen ihren Gegenspieler se-
hen, haben Grund, miteinander gegen den Westen zu kooperie-
ren, weil es sogar die Alliierten und Stalin gegen Hitler taten.«
(* Huntington, 295)

1319
im Islam) kommt ? Wir glauben, daß der Grund hier-
für primär erkenntnistheoretischer Natur ist : Seit dem
Zeitalter der Aufklärung macht die abendländische
Kultur einen klaren Trennungsstrich zwischen Staat
und Kirche, Wissenschaft und Religion, Technik und
Magie, Politik und Mythos, Kunst und Mystik. Die-
se Aufspaltung hat einmal dazu geführt, alle staatli-
chen, wissenschaftlichen, technischen, politischen und
künstlerischen Phänomene rein nach Kriterien der
Vernunft beziehungsweise der Ästhetik zu beurteilen.
Der Rationalismus fordert ohne Einschränkung, daß
die Kirche, die Religion, die Magie, der Mythos und die
Mystik keinen Einfluß auf die »wissenschaftliche Kul-
tur der Aufklärung« haben dürfen. Naiverweise über-
trägt er solche Vorstellungen auch auf nichtwestliche
Kulturkreise. In der Tibetfrage zum Beispiel trennt der
Westen den tantrischen Buddhismus und seine Myste-
rien (über die er so gut wie nichts weiß) fein säuber-
lich von politischen Fragen der Menschenrechte, des
Demokratieverständnisses, der nationalen Interessen
des tibetischen Volkes. Für den Dalai Lama und sein
System aber bilden Politik und Religion seit Jahrhun-
derten eine Einheit. Für ihn und den Lamaismus sind
machtpolitische Entscheidungen – gleich welcher Art –
taktische und strategische Elemente des im Kalachakra-
Tantra und Shambhala-Mythos aufgezeichneten Welt-
eroberungsplanes.
Da der Rationalismus die Effektivität der Mythen und
Religionen auf die historische und politische Entwick-
lung nicht ernst genug nimmt, verzichtet er von vorn-

1320
herein darauf, sich mit den zentralen Inhalten der reli-
giösen Kulte (wie zum Beispiel dem Kalachakra-Tantra)
auseinanderzusetzen. Die Mysterien der verschiedenen
Glaubensrichtungen waren nie verborgener und geheim-
nisvoller als im Zeitalter der Vernunft, einfach deswegen,
weil sich diese nicht mit ihnen auseinandersetzte.
Eine kritische Analyse und Wertung einer archaischen
Weltanschauung muß jedoch, wenn sie erfolgreich sein
will, drei Voraussetzungen mitbringen :
1. Sie muß sich zuerst in das Weltbild der jeweiligen
Religion hineinversetzen können, das heißt, sie muß in
der Lage sein, die Welt und das Universum mit der Bril-
le und mit den Augen der zu untersuchenden religiösen
Dogmen wahrzunehmen. Ansonsten wird sie nie erfah-
ren, um was es dabei geht. Im konkreten Fall der tibe-
tischen Kultur heißt das, sie muß sich mit der sexual-
magischen, mikro-makrokosmischen Philosophie des
Kalachakra-Tantra und der politischen Ideologie des
Shambhala-Mythos vertraut machen, um überhaupt die
Politik des Dalai Lama und seiner Exekutivorgane ver-
stehen zu können.
2. Sie muß erst nach der genauen Kenntnis über die
Grundlagen, die Ziele und die Geschichte der jeweiligen
Religion diese mit westlichen Werten vergleichen, um da-
nach eine Bewertung durchführen zu können. Zum Bei-
spiel muß sie das im buddhistischen Tantrismus prak-
tizierte »Frauenopfer« und die Absorption der Gyner-
gie durch Yoga-Praktiken mit der modernen Forderung
nach der Gleichberechtigung der Geschlechter in Bezie-
hung bringen.

1321
Nicht dadurch, daß der Westen die Macht der Mythen
leugnet, kann er sie überwinden. Er selber hat deren un-
gebrochene und gewaltige Präsenz auch in unserem Jahr-
hundert erleben müssen. Die mythologische Weltsicht
hat im Falle des Nationalsozialismus eine geradezu über-
menschliche Potenz entwickelt. Nur wenn aufklärerisch
orientierte Denker einen Einstieg in die Zentren der re-
ligiösen Kultmysterien wagen und bereit sind, sich mit
dem innersten Kern dieser Mysterien auseinanderzuset-
zen, wird es zu einer Entschärfung der »religiösen Zeit-
bomben« kommen. Deswegen lautet
3. die Voraussetzung für eine kritische Aufarbeitung
der Kulturen : Ihre Mysterienkulte müssen mit ihren In-
halten in die Arena der öffentlichen Auseinandersetzung
gebracht werden – sicher ein Verfahren, daß die meisten
Esoteriker und Fundamentalisten erschauern läßt. Dabei
wäre eine solche Diskussion des Mysterienwissens in pu-
blico keinesfalls die Errungenschaft eines liberal-demo-
kratischen Zeitalters. Wenn wir zum Beispiel an die kriti-
sche und polemische Auseinandersetzung der christlichen
Kirchenväter mit den verschiedenen religiösen Strömun-
gen ihrer Zeit und an deren Repliken denken, dann war
vom 2. bis 5. Jahrhundert n. Chr. – trotz des sehr niedri-
gen Standes der Kommunikationstechnik – eine weit grö-
ßere Öffentlichkeit in weltanschaulichen Grundsatzfragen
gegeben als heute. Zur Zeit werden Religionen entweder
blind übernommen oder per se abgelehnt, damals wur-
den Religionen gemacht, geformt und kodifiziert.
So absurd es klingen mag, der »westliche Rationalis-
mus« ist im eigentlichen Sinne die Ursache für den Ok-

1322
kultismus. 127 Er drängt die esoterischen Lehren und ihre
Praktiken (zum Beispiel das New Age) in den gesellschaft-
lichen Untergrund, wo sie sich ungestört und hemmungs-
los ausbreiten können und unbemerkt ein Bewußtsein
nach dem anderen besetzen – bis sie dann eines Tages wie
im Falle des Nationalsozialismus im Deutschland der 30er
Jahre, des Mullah-Regimes im Iran der 80er Jahre und
vielleicht des Shambhala-Mythos in Asien der ( ?) Jahre mit
ungeheurer Gewalt hervorbrechen und die ganze Gesell-
schaft in ihren atavistischen Sog mit hineinziehen. 128

127 Das Wort »Okkultismus« in seiner heutigen Bedeutung


kommt erst im Zeitalter des Rationalismus auf.
128 Eine Deutung des Nationalsozialismus aus seinen »okkul-
ten und mythologischen Hintergründen« gilt unter den meisten
etablierten Historikern und Kulturforschern des Westens immer
noch als höchst unseriös. Dabei gibt es keine politische Bewe-
gung des 20. Jahrhunderts, die sich so bewußt und effektiv aus
dem Mythos abgeleitet hat. Wir verdanken C. G. Jung mehrere
Artikel zu Hitler und seiner Bewegung, in denen der Tiefenpsy-
chologe das »Dritte Reich« und den »Führer« als die Epiphanie
(oder Inkarnation) des gewalttätigen Germanengottes Wotan/
Odin deutet, dessen Geist sich nicht nur in dem Diktator, son-
dern ebenso in dessen Anhängern niedergesenkt habe. Jung nä-
hert sich mit dieser Analyse – wie es Miguel Serrano klar gese-
hen hat – der Darstellung des tibetischen Tulku-Prinzips. Da sei-
ne Artikel eine gewisse Sympathie mit den Nazis durchblicken
lassen, wurden sie nach dem Zweiten Weltkrieg von ihrem Autor
aus dem Verkehr gezogen. Auch wenn wir uns von Jungs Sympa-
thien für den Faschismus strikt distanzieren, so halten wir den-
noch seine Diagnose des Hitlerismus als »Wotan-Kult« für bril-
lant und für stimmig. Wenn wir die Gottheit, die hinter einer
politischen Bewegung die Fäden zieht, erkannt haben, dann be-
deutet das ja keineswegs, daß wir deswegen zu Anhängern die-
ser Gottheit und ihrer Mysterien (im konkreten Falle zu einem →

1323
Auf der anderen Seite macht der »kritische Abstieg« in
die Mysterienkulte der religiösen Traditionen wertvolle
Lernprozesse möglich. Wir wollten ja mit unserer Ana-
lyse des buddhistischen Tantrismus nicht zu dem Schluß
gelangen, daß alles an den traditionellen Religionen (im
speziellen Fall am Buddhismus) zu verwerfen sei. Viele
religiöse Lehrinhalte, viele Gesinnungen, Praktiken und
Visionen scheinen bei der Errichtung einer friedvollen
Weltengemeinschaft durchaus als wertvoll und sind so-
gar notwendig. Auch wir vertreten die Meinung, daß die
»Aufklärung« und der westliche »Rationalismus« nicht
mehr allein die Kraft haben, die Welt sinnvoll zu inter-
pretieren, und schon gar nicht, sie zu verändern. Der
Mensch lebt nicht vom Verstand allein !
Die Welt des kommenden Jahrtausends ist deswegen
unserer Sicht nach nicht zu entmythologisieren (nicht
zu entzaubern oder zu re-rationalisieren), sondern der
Mensch hat die Kraft, das Recht und die Verantwortung,
die bestehenden Mythen, Mysterien und Religionen ei-
nem kritischen Untersuchungs- und Selektionsverfahren
zu unterziehen. Er kann, darf und muß denjenigen Göt-
tern widerstehen, die destruktiven Vorstellungen und ei-
nem dualistischen Denken und Handeln folgen. Er kann,
darf und sollte sich denen anschließen, die zum Aufbau

← Anhänger des Wotan-Kultes und der Nazis) werden müssen.


Im Gegenteil – wir können erst jetzt ein differenziertes Verhält-
nis zu den mythischen Kräften und Mächten, die eine Kultur be-
stimmen, gewinnen – wir können sie ebenso bekämpfen wie ih-
nen folgen, wir können sie ebenso öffentlich anklagen und verur-
teilen wie mit ihnen Kompromisse schließen.

1324
einer Friedenswelt beitragen. Er kann, darf und vielleicht
sollte er sich sogar auf die Suche nach neuen harmoni-
schen Göttern machen. Es besteht jedoch die große Ge-
fahr, daß die Zeit für eine grundsätzliche Erneuerung des
religiösen Prozesses verfliegt, wenn sich die atavistisch-
kriegerischen Weltanschauungen (auch noch mit west-
licher Hilfe) immer weiter verbreiten und nicht durch
friedliche Weltbilder (und Mythen) ersetzt werden. Die
bestehenden Traditionen (und die hinter ihnen stehen-
den Gottheiten und Mysterien) dürften in einem solchen
Erneuerungsprozeß nur insoweit behilflich sein, als sie
sich an bestimmte Grundsätze wie gegenseitigen Re-
spekt, Friedfertigkeit, Transparenz, Gleichberechtigung
der Geschlechter, Kooperation mit der Natur, Nächsten-
liebe usw. halten.
Der Kulturkritiker Samuel P. Huntington lehnt jedoch
die Idee einer universalen Kultur, einer neuen Weltkul-
tur von vornherein als unrealistisch und unerwünscht
ab. Weshalb eigentlich ? Die allgemeine Vernetzung des
Wissens und der Politik, die Technisierung, die Verflech-
tungen der Ökonomie, der Ausbau des internationalen
Verkehrs schaffen wie noch nie in der Geschichte der
Menschheit die kommunikativen Voraussetzungen für
die Diskussion eines globalen kulturellen Ansatzes. Die-
ser wird zumindest, was bestimmte westliche Werte wie
Menschenrechte, Gleichberechtigung, Demokratie u. a.
anbelangt, schon von der World Community (insbeson-
dere der UNO) mit mehr oder weniger großem Erfolg
gefördert. Auf der religiösen Ebene aber bleibt alles beim
alten – oder wird es neue Mysterien geben, die sich an

1325
einem humanen Harmoniegesetz orientieren, ohne da-
bei auf die interkulturelle Vielfalt und -Farbenpracht ver-
zichten zu müssen ?
POSTKRIPTUM : SCHÖPFERISCHE
POLARITÄT JENSEITS DES TANTRISMUS

So überraschend das nach unserer kritischen Analyse


des Vajrayana auch klingen mag, wir möchten am Ende
die Frage aufwerfen, ob nicht gerade der tantrische Bud-
dhismus in sich ein religiöses Urbild birgt, dessen Ent-
hüllung, dessen Verbreitung und dessen Erörterung
ein großes transkulturelles Interesse auslösen könnten.
Wäre es nicht wertvoll, solche tantrischen Prinzipien
wie die »mystische Geschlechterliebe«, die »Vereinigung
des männlichen mit dem weiblichen Prinzip«, die unio
mystica zwischen Gott und Göttin als einen religiösen
Entwurf zu diskutieren ?
Der Tantrismus beruht in all seinen Ausdrucksfor-
men – wie wir zu Beginn unserer Studie gezeigt haben
– auf einer Vision von der Polarität des Seins. Er sieht
in einer mystischen Konjunktion der Pole, konkret in
der mystischen Vereinigung der Geschlechter das pri-
märe Kult­ereignis des Erleuchtungsweges. Alle Phäno-
mene des Universums sind nach tantrischer Vorstellung
durch Eros und Sexus miteinander verbunden, und un-
sere Erscheinungswelt gilt als das Wirkfeld dieser bei-
den Grundkräfte (tibet. Yab und Yum ; chin. Yin und
Yang). Sie manifestieren sich als Polarität in der Natur
ebenso wie in den Sphären des Geistes. Die Liebe ist –
nach tantrischer Sicht – die große Lebenskraft, die durch
den Kosmos pulsiert, und zwar primär als die doppelge-

1327
schlechtliche Liebe zwischen Gott und Göttin, zwischen
Mann und Frau. Ihre gegenseitige Zuneigung wirkt als
das Schöpfungsprinzip.
»Es ist durch die Liebe und angesichts der Liebe, daß
sich die Welt entfaltet, durch die Liebe findet sie ihre ur-
sprüngliche Einheit und ihre ewige Nicht-Trennung zu-
rück.« Auch das verkündet ein Satz des Vajrayana. (* Fau-
re, 56) Für einen Tantriker sind erotische und religiöse
Liebe nicht getrennt. Sexualiät und Mystik, Eros und Aga-
pe (spirituelle Liebe) bilden keine sich ausschließenden
Widersprüche.
Wir wiederholen noch einmal die schönen Worte, mit
denen tantrische Texte die »Heilige Hochzeit« zwischen
Mann und Frau beschreiben : Im Yuganaddha (der my-
stischen Vereinigung) gibt es »weder Zustimmung noch
Ablehnung, weder Sein noch Nicht-Sein, weder Verges-
sen noch Erinnern, weder Verhaftung noch Nicht-Haf-
tung, weder Ursache noch Wirkung, weder Hervorbrin-
gen noch Hervorgebrachtes, weder Reinheit noch Unrein-
heit, weder Form noch Formlosigkeit ; es besteht allein
in der Synthesis all dieser Dualitäten.« (* Dasgupta, 1974,
114) In dieser Synthesis wird »das Ego abgeschafft, und
die beiden polaren Gegensätze vereinen sich in einem Zu-
stand von warmer und vertrauter Verzückung.« (* Wal-
ker, 85)
An die Stelle des Kampfes der Gegensätze (oder Ge-
schlechter) ist jetzt die Kooperation der Pole getreten. Kör-
per und Geist, Eros und Transzendenz, Gefühl und Ver-
stand, Sein (Samsara) und Nicht-Sein (Nirvana) feiern
Hochzeit. Alle Kriege und Kontroversen zwischen Gut

1328
und Böse, Himmel und Hölle, Tag und Nacht, Traum
und Wahrnehmung, Freude und Leid, Lob und Verach-
tung werden im Yuganaddha– so heißt es – pazifiziert und
aufgehoben. Die Umarmung des männlichen Buddha mit
dem weiblichen Buddha feiert Miranda Shaw als »ein Bild-
nis der Einheit und der glückseligen Übereinstimmung
zwischen den Geschlechtern im Zustand des Gleichge-
wichts und der gegenseitigen Vereinigung. Dieses Symbol
bringt machtvoll die Ordnung ursprünglicher Ganzheit
und Vollendung zum Vorschein.« (* Shaw, 1994, 200)
Der göttliche Eros führt nicht nur zur Erleuchtung
und Befreiung, sondern die mystische Geschlechterlie-
be kann – auch das ist tantrische Anschauung – alle lei-
denden Wesen befreien. Aus dem göttlichen Urpaar ent-
steht die Zeit in all ihren Ausdrucksformen. Sonne und
Mond und die »strahlenden Planetenpaare« ebenso wie
die fünf Elemente verdanken ihr Erscheinen dem kos-
mogonischen Eros. »Durch die Vereinigung des männli-
chen mit dem weiblichen Sexualorgan (wird) die Einheit
im Eros hergestellt«, heißt es im Hevajra-Tantra. »Aus
dem Kontakt in dieser erotischen Vereinigung, als der
Qualität der Härte, entsteht das Element Erde ; Wasser
kommt aus den Flüssigkeiten des Samens ; Feuer aus der
Reibung beim Geschlechtsakt ; Luft bildet sich aus der Be-
wegung und das Raumelement aus der erotischen Freu-
de.« (* Farrow, 134) Die Sprache, die Gefühle, die Sinne
– alles hat seine Ursache in der Liebe des Urpaares. »In
der von Finsternis gereinigten Welt steht ein Paar am
Ende der Finsternis«, heißt es selbst im Kalachakra-Tan-
tra. (* Banerjee, 1959, 24)

1329
Dennoch wird – und das haben wir nachgewiesen –
dieses harmonische Urbild durch die tantrischen Ritu-
ale zu spirituellen und profanen Machtzwecken einer an-
drozentrischen Mönchskaste mißbraucht. Wir ersparen
uns, die sexualmagische Ausbeutung durch den Vajra-
yana noch einmal zu beschreiben, sondern wollen zum
Schluß auf eine philosophische Frage, die das Thema auf-
wirft, eingehen, nämlich auf das Verhältnis des EINEN
(als dem männlichen Prinzip) zum ANDEREN (als dem
weiblichen Prinzip).
Das Thema des ANDEREN ist seit Friedrich Hegel zu
einem Königsthema des philosophischen Diskurses ge-
worden. Das absolut EINE oder der absolute Geist kann
nichts ANDERES neben sich dulden. Erst wenn das AN-
DERE völlig in das EINE integriert ist, erst wenn es im
EINEN »aufgehoben« wurde, ist der Weg des Geistes voll-
endet. Dann ist die Natur (das ANDERE) zum Geist (das
EINE) geworden. So könnte man in knappen Worten
einen Grundgedanken der Hegelschen Philosophie be-
schreiben.
In der Terminologie des Vajrayana stellt der androgy-
ne ADI BUDDHA das absolut EINE dar, das nichts AN-
DERES (weibliches) außerhalb seiner selbst zuläßt. Das
ANDERE (weibliche) verliert unter der Herrschaft des
EINEN (männlichen) seine Autonomie. Es wird mit ei-
nem Wort vernichtet. Durch ein ANDERES (weibliches)
würde das absolute EINE des ADI BUDDHA radikal
in Frage gestellt, sein Anspruch auf Unendlichkeit, auf
Kosmozentrizität, auf Allmacht und Göttlichkeit wäre
bedroht. »Alles ist EINES, oder alles ist der ADI BUD-

1330
DHA !« ist eine Grundmaxime des tantrischen Weges.
Aus diesem Grunde versetzt das ANDERE das EINE in
Furcht und Schrecken. Der Buddhist Ken Wilber (ein
Propagandist des ADI BUDDHA-Prinzips) zitiert in die-
sem Kontext die Upanishaden : »Wo immer ANDERES
ist, da ist Furcht.« (* Wilber, 1990, 174) Und er bekennt
selbst : »Doch überall, wo es ein ANDERES gibt, ist auch
Angst.« (* Wilber, 1990, 280)
Hinter dieser existentiellen Angst vor dem ANDEREN
verbirgt sich – wie schon angedeutet – eine prinzipielle
Geschlechterthematik. Diese wurde vor allem von fran-
zösischen Feministinnen aufgegriffen und theoretisch
verarbeitet. Simone de Beauvoir sah in der »Andersheit«
(autruité) des Weiblichen noch eine höchst problema-
tische Fixierung der Frau durch den androzentrischen
Blick. Der Mann wollte die Frau als das ANDERE se-
hen, um sie beherrschen zu können. Sie war gezwun-
gen, ihre Identität über den Blick des Mannes zu de-
finieren. Nachfolgerinnen Beauvoirs dagegen, wie etwa
die Feministin Luce Irigaray, haben der »Geschlechter-
differenz« und AUTRUITÉ (Andersheit) eine höchst po-
sitive Bedeutung gegeben und sie zum Zentralthema ih-
rer femininen Philosophie gemacht. Die Andersheit wird
hier geradezu zu einer weiblichen Welt, die weder durch
den männlichen Blick noch durch die männlichen Ver-
nunft zu fassen ist. Sie entzieht sich jeder maskulinen Fi-
xierung. Die weibliche Subjektivität ist der männlichen
nicht zugänglich.
Gerade die ANDERSHEIT macht es den Frauen mög-
lich, ihre Autonomie zu wahren. Sie entziehen sich da-

1331
durch der Verobjektivierung durch den Mann (das männ-
liche Subjekt) und entwickeln ihre eigene Subjektivität
(das weibliche Subjekt). Irigaray spricht sehr klar aus, wie
der Frau von bestehenden Religionen der Zugriff auf die
eigene Ichwerdung versperrt wird : »Sie muß immer für
den Mann verfügbar sein als dessen Transzendenz !« (zit.
b. June Campbell, 155) – das heißt als Sophia, Prajna, als
»weiße Jungfrau«, als Wissensdakini (Inana Mudra). Sie
ist für das männliche Bewußtsein ohne eigene Subjekti-
vität, eine leere Leinwand (Shunyata), auf die der Mann
seine Imaginationen projiziert.
Die Autonomie des ANDEREN braucht jedoch keines-
wegs als Trennung, Fragmentierung, Mangel oder als ein
Moment der Entfremdung erfahren zu werden. Sie kann
genauso umgekehrt als die Voraussetzung für die Verei-
nigung von zwei Subjekten, als gegenseitige Ergänzung
oder als Copula dienen. Männliches und Weibliches ha-
ben die Möglichkeit, sich als Dualität (sich einander aus-
schließende Gegensätze = Vernichtung des ANDEREN)
wie als Polarität (sich einander ergänzende Gegensätze
= Begegnung mit dem ANDEREN) völlig unterschied-
lich zueinander zu verhalten. Es ist geradezu eine Gna-
de, daß es den Geschlechtern grundsätzlich erlaubt ist,
sich in Liebe zu begegnen, ohne auf ihre Autonomie ver-
zichten zu müssen.
Im buddhistischen Tantrismus geht es jedoch nicht um
eine solche Begegnung von Mann und Frau, sondern al-
lein um die Frage, wie kann der Yogi (als das männliche
Prinzip des EINEN) das ANDERE (das weibliche Prin-
zip) in sich integrieren und für sich durch das Absaugen

1332
der Gynergie nützlich machen ? Um das gleiche nur mit
umgekehrtem Vorzeichen geht es dem okkulten Femi-
nismus : Wie kann sich die Yogini (hier als das weibli-
che Prinzip des EINEN) die Androenergie des Mannes
(hier als das ANDERE) zur Akkumulation von gynan-
drischer Macht aneignen.
Die Aneignung des ANDEREN (der Göttin) durch das
EINE (den ADI BUDDHA) ist der philosophische Kern-
gedanke des buddhistischen Tantrismus. Er ist damit ein
Phänomen, welches in dieser Allgemeinheit auch west-
liche Kulturen und Religionen bestimmt : »Das männ-
lich Religiöse maskiert eine Aneignung«, schreibt Luce
Irigaray. »Diese unterbricht die Beziehung zum natürli-
chen Universum, ihre Einfachheit wird pervertiert. Si-
cher, dieses Religiöse versinnbildlicht ein von Männern
organisiertes soziales Universum. Aber diese Organisa-
tion ist auf einem Opfer gegründet : dem der Natur, dem
des geschlechtlichen Körpers, insbesondere dem der Frau.
Es erzwingt ein von seinen natürlichen Wurzeln und sei-
ner Umwelt abgeschnittenes Spirituelles. Es kann daher
die Menschheit nicht zur Vollendung bringen. Spirituali-
sieren, Sozialisieren, Kultivieren erfordert, daß man von
dem, was ist, ausgeht. Das patriarchale System tut dies
nicht, weil es das, worauf es gegründet ist, auslöschen
will.« (* Irigaray, 1991, 33)
Die Lösung des Mysterienrätsels, das uns der Tantris-
mus aufgibt, liegt auf der Hand. Es kann nur um die
Vereinigung der beiden Pole, nicht um ihre gegenseiti-
ge Beherrschung gehen. Der (männliche) Geist genügt
nicht allein, um »ganz« zu werden, sondern Natur und

1333
Geist, Gefühl und Verstand, Logos und Eros, Frau und
Mann, Gott und Göttin, ein männlicher und ein weib-
licher Buddha als zwei autonome Wesen müssen mysti-
sche Hochzeit (als Yab und Yum ; Yin und Yang) feiern,
als zwei Subjekte, die zu einem WIR verschmelzen. Der
ADI BUDDHA des Kalachakra-Tantra dagegen ist ein
göttliches SUBJEKT (ein SUPER ICH), das versucht, das
ANDERE (die Göttin) zu verschlingen. Erst wenn das
EINE SUBJEKT mit einem ANDEREN SUBJEKT eine
Copula bildet, kann eine wirklich neue Dimension (im
WIR) betreten werden : das große WIR, in dem beide Ichs,
das männliche wie das weibliche, wirklich »aufgehoben«
werden, wirklich »bewahrt« und wirklich »transzendiert«
werden. Vielleicht ist dieses WIR das kosmische Geheim-
nis, welches an den tiefsten Stellen der Tantras zu ent-
decken ist, und nicht der ADI BUDDHA ?
Denn im WIR verschmelzen alle Polaritäten des Uni-
versums, das Subjektive und das Objektive, das Herr-
schen und das Dienen, die Vereinigung und die Tren-
nung. Die unio mystica mit dem Partner beziehungsweise
der Partnerin löst die individuelle und die transperso-
nale Subjektivität (das humane Ego und das göttliche
Ego) auf. Beide Pole, der männliche wie der weibliche,
erleben ihre geistige, psychische und physische Einheit
als Intersubjektivität, als Austausch, als WIR. Sie ver-
binden sich zu einer höheren Dimension, ohne sich zu
vernichten. Das mystische WIR bildet deswegen eine
umfassendere Erlebnisqualität als das mystische EGO
des ADI BUDDHA, das versucht, das ANDERE (die
Göttin) zu schlucken.

1334
Würden sich Mann und Frau selber als kosmisches
Zentrum, als Gott und Göttin erfahren – wie es in den
tantrischen Texten zu lesen ist –, würden sie sich ge-
meinsam als eine religiöse Instanz erleben, dann würde
der androgyne Guru als der Übergott aus den »Myste-
rien der Geschlechterliebe« verschwinden. Die Indolo-
gin Doninger O’Flaherty beschreibt in einem Essay über
tantrische Praktiken mehrere Varianten der Androgyni-
tät und ergänzt diese – nicht ohne einen ironischen Un-
terton – durch ein weiteres »androgynes« Modell, das
im Grunde gar keines ist : »Ein dritter psychologischer
›Androgyn‹«, so die Autorin, »weniger eng mit irgendei-
ner Doktrin verbunden, findet sich nicht in einem einzi-
gen Individuum, sondern in zweien : dem Mann und der
Frau, welche sich in perfekter Liebe miteinander verbin-
den – Shakespeare’s Tier mit zwei Rücken. Dies ist das
Bild der ekstatischen Vereinigung, eine andere Metapher
für die mystische Vereinigung mit der Gottheit. Dies ist
das romantische Ideal der vollendeten Vermischung, des
einen mit der anderen, so daß jeder die Freude des/der
anderen erfährt und nicht mehr weiß, wem von beiden
die Hand gehört, die einen zärtlich streichelt, oder von
wem die Haut ist, die gestreichelt wird. In diesem Zu-
stand erleben der Mann und die Frau im ›tantrischen‹
Experiment des anderen Freude und Schmerz. Dies ist
der göttliche Hierosgamos (die mystische Hochzeit), und
in seinen verschiedenen Manifestationen – als Yab und
Yum, Yin und Yang, Animus und Anima – ist es sicher-
lich das am weitesten verbreitete ›androgyne‹ Konzept.«
(* O’Flaherty, 1982, 293)

1335
Gemeinsam – so lehrt uns trotz allem der Tantrismus
– konzentrieren Mann und Frau in sich die Macht, ge-
trennt sind sie ohnmächtig. Das WIR bedeutet gleicher-
maßen Machtzuwachs und Machtverzicht. Im WIR ver-
dichten sich die beiden Urkräfte (männlich – weiblich)
des Seins. Insofern ist das WIR absolut, die Omnipotenz.
Aber zur gleichen Zeit begrenzt das WIR die Macht der
Teile, sobald sie getrennt auftreten oder für sich als Ein-
zelgeschlecht (als androgener Übergott oder als gynan-
drische Übergöttin) den Kosmos beanspruchen. Insofern
ist das WIR in seinem Kern relativ. Es ist nur dann ef-
fektiv, wenn sich die zwei Pole komplementär verhalten.
Schon gar nicht kann das WIR, als das höchste Prinzip,
etwas ANDERES mißbrauchen und zu seinen Zwecken
manipulieren, denn jedes ANDERE ist per definitionem
ein autonomer Teil des WIR. Politisch gesehen reprä-
sentiert das WIR ein Grundprinzip der Demokratie. Es
überwindet Feindbilddenken und Krieg. Die traditionel-
len Dualismen von Oben und Unten, Weiß und Schwarz,
Hell und Dunkel vereinigen sich im WIR zu einer schöp-
ferischen Polarität.
Das androgyne Prinzip des buddhistischen Tantris-
mus führt – das haben wir sowohl aus der rituellen Logik
des Vajrayana als auch empirisch aus der Geschichte des
tantrischen Buddhismus (insbesondere des Lamaismus)
nachweisen können – unvermeidlich zu Menschenopfern
und Kriegen. Am Ursprung jedes Krieges steht ein Ge-
schlechterkampf : Dieser Satz aus der griechischen My-
thologie gilt im besonderen Maße auch für den Tantris-
mus, der das Weltgeschehen aus dem Eros ableitet. Folgt

1336
daraus nicht durch einen Umkehrschluß, daß der Frieden
zwischen den Geschlechtern den Frieden in der Welt her-
vorbringen kann ? Globale Verantwortung entsteht aus
der gegenseitigen Anerkennung und dem Respekt vor
der Stellung des Partners als der anderen Hälfte des Gan-
zen. Mitgefühl, Sensitivi tat für alles andere, Verständnis,
Harmonie – alles hat hier seinen Ursprung. Ludwig Kla-
ges sieht im kosmogonischen Eros zwischen zwei Men-
schen eine umwälzende Macht, die die Kraft hat, selbst
die »Geschichte« aufzuheben : »Geschähe das Unerhör-
te indes auch nur zwischen zweien aus Hunderten von
Millionen, so wäre die Fluchmacht des Geistes gebrochen,
der entsetzliche Angsttraum der Weltgeschichte zerrän-
ne‹, und es ›blühte Erwachen in Strömen des Lichts‹.«
(* Klages, 198) Das Ende der Geschichte durch die Lie-
be von Mann und Frau, Gott und Göttin : ein Gedanke,
welcher sich durchaus mit einer tantrischen Philosophie
vereinbaren ließe – wenn da nicht die ultimative männ-
liche Usurpation durch den Yogi ins Spiel käme.
Vielleicht – so wollen wir etwas weiter spekulieren –
könnte die mystische Geschlechterliebe das Mysterium
für eine universelle »Kultur des Eros« darstellen, die so-
wohl auf sinnlichen als auch spirituellen Grundlagen auf-
baut ? Eine solche Idee ist keineswegs neu. Ende der 60er
Jahre hat der amerikanische Philosoph Herbert Marcuse
in seinem Buch Eros and Civilization einen »erotischen«
Kulturentwurf skizziert. Leider ist mittlerweile sein – so
würden wir heute sagen – «paradigmatischer« Ansatz, der
Ende der 60er Jahre in aller Munde war, völlig in Ver-
gessenheit geraten. Zu den fundamentalen Freuden der

1337
menschlichen Existenz gehört nach Marcuse »die Tei-
lung in Geschlechter, der Unterschied zwischen männ-
lich und weiblich, zwischen Penis und Vagina, zwischen
Du und Ich, ja sogar zwischen Mein und Dein, und sie
sind höchst erfreuliche und befriedigende Teilungen, oder
sie können es sein ; ihre Abschaffung wäre nicht nur ein
Wahn, sondern ein Alptraum – der Gipfel der Unterdrüc-
kung.« 129 (* Marcuse, 239)
In den Tagen, in denen wir mit der Endkorrektur un-
seres Manuskriptes beschäftigt waren, erschien in der
Bunten, der Illustrierten, die noch einige Wochen vor-
her den Dalai Lama als einen Gott auf Erden gefeiert
hatte, ein Artikel des deutschen Kultursoziologen Nico-
laus Sombart mit dem Titel »Sehnsucht nach dem Gött-
lichen Paar«. Sombart drückt unsere eigenen Vorstellun-
gen sehr präzise aus, so daß wir ihn ausführlich zitieren
wollen : »Warum erscheint das Projekt Mensch im gött-
lichen Design als Doppelgestalt ? Die Zweiheit steht sinn-
bildlich für die Polarität der Welt – die Bipolarität, auf
der die Dynamik allen Weltgeschehens beruht. Yin und
Yang. Scheinbar getrennt und doch zusammengehörend,
widersprüchlich und komplementär, antagonistisch, aber
auf Harmonie, Synthese und Symbiose angelegt. Erst in
gegenseitiger Durchdringung ergänzen sie sich und sind

129 Dieser Alptraum wird durch die alchemistischen Praktiken


des buddhistischen Tantrismus wahr. Indem der Vajrayana alle
Unterschiede und zuletzt die Geschlechterpolarität im androgy-
nen Prinzip des ADI BUDDHA auflöst, zerstört er den Eros des
Lebens, obgleich er paradoxerweise die Geschlechterpolarität als
die höchste kosmische Kraft anerkennt.

1338
das Ganze. Das Weltmodell ist das ewig nach Vereini-
gung strebende Paar. Das kosmische Paar steht zueinan-
der in der Wechselwirkung einer erotischen Spannung.
Es ist ein Liebespaar. Das Elend der Welt liegt in der
Trennung, der Vereinzelung, der Vereinsamung der zu-
einander gehörenden, zueinander strebenden Teile ; die
Wonne, das Glück liegen in der Vereinigung der beiden
Geschlechter, nicht zweier Seelen, das genügt nicht, son-
dern zweier dazu ausgestatteter Körper – ein lustvoller
Vorgeschmack auf die Rückkehr ins Paradies.« (* Bunte,
Nr. 46/1998, 40)
Es ist jedoch erstaunlich, wie wenig es in der mensch-
lichen Kulturgeschichte der mystischen Geschlechterlie-
be gelungen ist, sich als religiöses Urbild zu verankern.
Obwohl das Mysterium der Liebe zwischen Mann und
Frau von Milliarden von Menschen praktiziert und erlebt
wurde und wird, obwohl die meisten Kulturen männli-
che und weibliche Gottheiten kennen, ist der Unio Mysti-
ca der Geschlechter ihre Anerkennung als Religion weit-
gehend verwehrt geblieben. Dabei spricht unendlich viel
dafür, daß die Harmonie und die Liebe zwischen Mann
und Frau (Gott und Göttin) das Gewicht eines univer-
sellen Paradigmas erhalten und zu einer Friedensbrücke
zwischen den verschiedenen Kulturen werden könnten.
Selektierte Einsichten und Bilder aus den Mysterien des
tantrischen Buddhismus dürften beim Herausbilden ei-
nes solchen Paradigmas sehr nützlich sein.
Göttliche Paare, auch wenn ihre religiöse Verehrung
nicht zu den zentralen Mysterien zählt, lassen sich in allen
Kulturen entdecken. Auch in der vorbuddhistischen My-

1339
thologie Tibets begegnen wir ihnen, wobei sich beide Ge-
schlechter die Herrschaft über die Welt gleichberechtigt
teilen. Matthias Hermanns nennt Khen pa, den Herrscher
des Himmels, und Khon ma, die Erdmutter, und zitiert
folgenden Satz aus einem einheimischen Schöpfungsmy-
thos der Tibeter : »Zunächst sind Himmel und Erde wie
Vater und Mutter.« (* Hermanns, 1965, 72) Bei den tibe-
tischen Urkönigen kannte man einen Gott des Mannes
(pho-lha) und eine Göttin der Frau (mo-lha). Mehrere in-
nerasiatische Mythen sehen Sonne und Mond als gleich-
wertige Mächte an, wobei der Sonne die männliche Rolle,
dem Mond die weibliche zugestanden wird. (* Bleichstei-
ner, 19) Licht und Dunkelheit gelten in einem Bon-My-
thos als das kosmische Urpaar. (* Paul, 49)
Im tantrischen Buddhismus ist das bei der Nyingmapa-
Schule verehrte zentrale buddhistische Paar, Samantab-
hadra und Samantabhadri, übersetzt das »höchste männ-
liche Gute« und das »höchste weibliche Gute«, eine solche
potentielle Urgestalt. Dieses Buddhapaar wird in einer
Yab – Yum-Haltung dargestellt. Beide Partner sind nackt,
das heißt, rein und frei. Keiner von den beiden trägt ir-
gendwelche Symbole mit sich, die auf irgendeine dahinter
verborgene magisch-religiöse Absicht hinweisen könnten.
Samanthabdra und Samanthabadri stehen – so könnte
man ihre Nacktheit interpretieren – jenseits der Symbol-
welt und sind deswegen ein Bild der polaren Reinheit, frei
von Göttern, Mythen und Insignien. Nur ihre Körper-
farben mögen noch als eine Metapher gewertet werden :
Samanthabadra ist blau klar und offen wie der Himmel,
Samanthabdri ist weiß wie das Licht.

1340
Würde man Visionen religiöser Paarverehrung mit
buddhistischer Terminologie beschreiben, so könnten
aus einem Urbuddhapaar die vier Buddhapaare der vier
Richtungen hervorgehen, ohne daß diese mystische Pen-
tade von einem Tantra-Meister als androgyner ADI BUD-
DHA (einer sexualmagischen Meisterin als gynandri-
sche Übergöttin) vereinnahmt werden könnte. In einer
nepalesischen Tantra-Schrift werden zum Beispiel der
ADI BUDDHA (»höchstes Bewußtsein«) und die ADI
PRAJNA (»höchste Weisheit«) als der Urvater und die
Urmutter der Welt verehrt. (* Hazra, 21) Alle weiblichen
Wesen des Universums sind nach diesem Text Ausstrah-
lungen der ADI PRAJNA, alle männlichen die des ADI
BUDDHA.
BILDNACHWEIS

83 »Die Götter des Himalaya. Buddhistische Kunst Tibets«


(Band 1) von G.-W. Essen und T. T. Thingo, Prestel-Verlag,
München 1989. © Prof. Hans Meyer-Veden.
89 »The Wheel of Time Sand Mandala : Visual Scripture of Ti-
betan Buddhism« von Barry Bryant, Verlag : Harper Col-
lins Publishers Inc. , USA-New York 1992, S. 155, Zeich-
nung und © : Sidney Piburn.
171 »Erleuchtung durch Ekstase. Frauen im tantrischen Bud-
dhismus« von Miranda Shaw, Wolfgang Krüger Verlag,
Frankfurt/Main 1997, S. 34, Abb. 4, © Princeton Universi-
ty Press, USA-Princeton 1994.
177 Gleiche Herkunft wie s. 171, S. 155.
221 Gleiche Herkunft wie s. 89, S. 155, © Zeichnung und © :
Sidney Piburn.
241 Gleiche Herkunft wie s. 83, S. 270, Abb. I–171.
295 Gleiche Herkunft wie s. 83, S. 179, Abb. I–112.
192 Gefunden in : »East and West«, Beitrag von Giacomella
Orofina (»On the Sadangayoga and the Realisation of Ulti-
mate Gnosis in the Kalachakra Tantra«), Verlag : East and
West, Italy, Rome 1996, S. 33.
363 Zeichnung : Thomas Brink (nach Martin Brauen, Das Man-
dala. Der Heilige Kreis im tantrischen Buddhismus, Du-
Mont Buchverlag, Köln 1992).
380 Gefunden in : »Chö-Yang. Council for Religious and Cul-
tural Affairs of H. H. The 14th Dalai Lama.« Volume 1, No.
2, S. 21, India-Dharamsala 1987.
383 Zeichnung : Thomas Brink (nach Martin Brauen, Das Man-
dala. Der Heilige Kreis im tantrischen Buddhismus, Du-
Mont Buchverlag, Köln 1992).
395 Zeichnung : Thomas Brink (nach Martin Brauen, Das Man-
dala. Der Heilige Kreis im tantrischen Buddhismus, Du-
Mont Buchverlag, Köln 1992).
400 Zeichnung : Thomas Brink (nach Martin Brauen, Das Man-
dala. Der Heilige Kreis im tantrischen Buddhismus, Du-
Mont Buchverlag, Köln 1992).
410 »The Golden Yoke. The Legal Cosmology of Buddhist Ti-

1343
bet« von Rebecca Redwood French, S. 83, Abb. 3, Cornell
University Press, USA-Ithaka.
415 Gleiche Herkunft wie s. 89, S. 199, Zeichnung Barry Bryant,
© Samaya Foundation, USA-New York.
421 Gleiche Herkunft wie s. 89, Foto und © : Ernst Haas, S. 115
(gegenüberliegende Seite).
427 Gleiche Herkunft wie s. 89, Foto und © : John Bigelow Tay-
lor/Tibet Center.
445 Gefunden in : »Der Weg nach Shambhala. Auf der Suche
nach dem sagenhaften Königreich im Himalaya« von Ed-
win Bernbaum, Verlag Hermann Bauer, Freiburg 1995, S.
15, Abb. 1.
457 Gleiche Herkunft wie s. 269, S. 249, Abb. 15.
460 »Buddhistische Glückssymbole im tibetischen Kultur-
raum« von L. S. Dagyab Rinpoche, Eugen Diederichs Ver-
lag, München 1995, Seite 48, Abb. 2b.
480 »Die Seidenstraße. Malerei und Plastiken aus buddhisti-
schen Höhlentempeln« von H. Härtel und M. Yaldiz (Aus
der Sammlung des Museums für Indische Kunst Berlin,
Dietrich Reimer Verlag, Berlin, S. 26. © Preussischer Kul-
turbesitz, Berlin 1987).
560 Gefunden in : »The Buddhist Praying Whell. A Collection
of Material Symbolism of the Wheel« von William Simp-
son, India-New Delhi 1991, S. 42.
574 Postkarte aus Indien.
591 Gleiche Herkunft wie s. 246, S. 179, © P. van Etten (1995).
602 Gefunden in : Harrison Forman, Through forbidden Tibet,
London 1936, S. 173.
619 Gefunden in : »The Cult of Tara. Magic and Ritual« von
Stephen Beyer, Verlag : University of California Press, USA-
Berkeley 1978, S. 9.
656 Gefunden in : »Pu Yi – Ich war Kaiser von China. Vom
Himmelssohn zum neuen Menschen«, Carl Hanser Verlag,
München 1973, S. 25.
718 Gleiche Herkunft wie s. 410, Seite 86, Abb. 5.
727 © Foto : Henri Bancaud.
763 »Tricycle. The Buddhist Review«, Winter 1995, S. 59, USA-
New York.

1344
786 © Kalachakra Creations Pte Ltd. , Singapore, http ://www.
Kalachakra.com.
822 Gleiche Herkunft wie s. 380, S. 7.
881 Bildausschnitt, gleiche Herkunft wie s. 83, S. 252, Abb. I–155.
884 Gefunden in : »Ceremonies of Lhasa Year« von Hugh Richard-
son, Verlag : Serinda Publication, GB-London 1993, S. 71.
900 Gleiche Herkunft wie s. 372, S. 44.
906 © Foto : Henri Bancaud.
937 »Die Kultur Tibets« von Rolf A. Stein, Verlag : Edition We-
ber, Berlin 1989 (Zeichnung : Sammlung Stein).
1029 Gefunden in : »Buddhism in Russia. The Story of Agvan
Dorzhlev, Lhasa’s Emissary to The Tsar« von John Snelling,
Verlag : Element Books Ltd. , GB-Shaftesbury, Dorset 1993,
© John Snelling, Abb. 20.
1034 Gleiche Herkunft wie s. 768, Spring 1996, S. 16.
1053 Gleiche Herkunft wie s. 768, Fall 1995, S. 68.
1105 Gefunden in : »Adolf Hitler, el Ultimo Avatara« von Miguel
Serrano, Verlag : Editorial Solar, Colombia-Bogota, S. 622.
1118 »Berliner Dialog« 2/95 (Titelbild), Redaktionsanschrift :
Dialog Zentrum Berlin, Informationen und Standpunkte
zur religiösen Begegnung. Vierteljahreszeitschrift, Heimat
27, 14165 Berlin, Fax-Nr.  : 030/84509640.
1128 News Week, 14. 4. 1997, USA-New York.
1208 Gleiche Herkunft wie s. 89, S. 172, Foto und © : Lawrence
Lauterborn/Tibet Center.
1213 Time Magazin, 28. 4. 1997, 43, USA-New York.
1231 © Foto : Jochen Knobloch.
1249 Presseagentur Reuters AG, Bonn.
1252 Gleiche Herkunft wie s. 457, Fall 1995, S. 37.
LITERATURNACHWEIS

Adorno, Theodor W., Drei Studien zu Hegel, Frankfurt 1971


Ahmad, Zahiruddin, Sino-Tibetan Relations in the Seventeenth
Century, in : Serie Orientale Roma XL, Roma 1970
Alexiou, Stylianos, Minoan Civilisation, Heraclion, o. J.
Allione, Tsultrim, Women of Wisdom, London 1984
Andrews, Lynn, Der Geist der vier Winde. Mein Weg zu den
Schamanen im tibetischen Luktang Tal, München 1993
Aris, Michael, Hidden Treasures and Secret Lives. A Study of
Pemalingpa and the Sixth Dalai Lama, New Delhi 1988
Armelin, L, Le roi détenteur de la roue solaire en révolution
(Cakravartin). Selon le Brahmanisme et selon le Bouddhis-
me, Paris, o. J.
Asahara, Shoko, Supreme Initiation. An Empirical Science for
Supreme Truth, New York 1988
Asahara, Shoko, The Teachings of the Truth, 5 Bände, Fujino-
miya 1991–1993
Assmann, Jan, Politische Theologie zwischen Ägypten und Is-
rael o. 0. 1991
Augustat, Wilhelm, Das Geheimnis des Nicholas Roerich. Agni
Yoga und die geheimen Lehren, München 1993
Avalon, Arthur, Die Schlangenkraft. Die Entfaltung der schöp-
ferischen Kräfte im Menschen, Bern u. a. 1975
Avedon, John F., Ein Interview mit dem Dalai Lama, München
1982
Avedon, John F., In Exile from the Land of Snows, London
1985
Azis, Barbara Nimri, Moving Towards a Sociology of Tibet, in 
The Tibet Journal, Vol. XII, No. 4, 1987
Bachelard, Gaston, Psychoanalyse des Feuers, Frankfurt 1990
Banerjee, Biswanath, Über das Lokadhatu Patala, I. Kapitel des
Laghu-Kalachakra-Tantra-Raja, München 1959
Banerjee, Biswanath, A critical edition of Sri Kalacakratantra
Raja, Calcutta 1985

1347
Barkmann, Udo B. , The revival of Lamaism in Mongolia, in :
Central Asian Survey 1997, 16 (1), 69–79
Batchelor, Stephen, The Awakening of the West. Encounter of
Buddhism and Western Culture, Berkeley 1994
Baudler, Georg, Töten oder Lieben. Gewalt und Gewahiosigkeit
in Religion und Christentum, München 1994
Bauer, Wolfgang, China und die Hoffnung auf Glück. Para-
diese, Utopien, Idealvorstellungen in der Geistesgeschichte
Chinas, München 1989
Bawden, C. R. , The Modern History of Mongolia, London
1969
Beckwith, Christopher I. , The Tibetan Empire in Central Asia :
A History of the Struggle for Great Power among Tibetans,
Turks, Arabs and Chinese during the Early Middle Ages,
Princeton 1987
Beger, Bruno, Meine Begegnungen mit dem Ozean des Wissens,
Königstein 1986
Bell, Charles, Tibet Past and Present, London 1927 Bell, Char-
les, The Religion of Tibet, Delhi 1994
Bellinger, Gerhard J. , Im Himmel wie auf Erden. Sexualität in
den Religionen der Welt, München 1993
Benard, Elisabeth Anne, Chinnamasta. The Aweful Buddhist
and Hindu Tantric Goddess, Delhi 1994
Bernbaum, Edwin, Der Weg nach Shambhala. Auf der Suche
nach dem sagenhaften Königreich im Himalaya, Hamburg
1982
Bertrand, Gabriele, Geheimnisvolles Reich der Frauen. Zwei
Jahre unter tibetanischen Stämmen in Assam, Zürich
1957
Beyer, Stephen, The Cult of Tara. Magic and Ritual in Tibet,
Berkeley u. a. 1978
Bharati, Agehananda, Die Tantra-Tradition, Freiburg 1977
Bhattacharyya, N. N. , History of the Tantric Religion, Mano-
har 1982
Binder, Schmidt, Marcia (Hrsg.), Avice from the Lotos Born. A
Collection of Padmasambhava’s Advice to the Dakini Yeshe
Tsogyal and other close disciples, Ârhus u. a. 1994

1348
Birnbaum, Raoul, Studies on the Mysteries of Manjushri. A
group of East Asian Mandalas and their traditional sym-
bolism, o. 0. 1983
Bishop, Peter, The Myth of Shangri-La. Tibet, Travel writing and
the Western creation of sacred Landscape, London 1989
Bishop, Peter, Dreams of Power. Tibetan Buddhism in the We-
stern Imagination, London 1993
Blavatsky, H. P. , Die Geheimlehre, Bd. I–III, Den Haag, o. J.
Bleichsteiner, Die Gelbe Kirche. Mysterien der buddhistischen
Klöster in Indien, Mongolei und China, Wien 1937
Block, Alexander, Ausgewählte Werke Bd. I. Gedichte, Poeme,
München, o. J.
Blofeld, John, Der Weg zur Macht. Praktische Einführung in
Mystik und Meditation des tantrischen Buddhismus, Weil-
heim 1970
Blofeld, John, Bodhisattva of Compassion. The mystical traditi-
on of Kuan Yin, Boston 1988 Blue Annals (Ubers. George
N. Roerich), Delhi 1995
Boucher, Sandy, Turning the Wheel. American Women Crea-
ting the New Buddhism, San Francisco 1985
Brauen, Martin, Dos Mandala. Der heilige Kreis im tantrischen
Buddhismus, Köln 1992
Broido, Michael M. , Killing, Lying, Stealing andAdultry : A
Problem of Interpretation in the Tantras, in : Donald P. Lo-
pez, Buddhist Hermeneutics. Studies in East Asian Bud-
dhism 6, Honolulu 1988
Bronfen, Elisabeth, Over her dead body. Death, feminity and
the aesthetic, Manchester 1992
Brown, Norman O. , Life against death, London 1959
Brown, Norman O. , Love’s Body. Wider die Trennung von Geist
und Körper, Wort und Tat, Rede und Schweigen, München
1977
Brück, Michael von und Lai, Whalen, Buddhismus und Chri-
stentum. Geschichte, Konfrontation und Dialog, München
1997
Bryant, Barry, The wheel of Time Sand Mandala : Visual Scrip-
ture of Tibetan Buddhism, New York 1992

1349
Burckhardt, Titus, Alchemy. Science of the Cosmos, Science of
the Souk Longmead 1986
Burkert, Walter, Girard, René, Smith, Jonathan Z., Violent
Origins, Ritual Killing and Cultural Formation, Stanford
1987
Bussagli, Mario und Chiappori, Maria Grazia, I Re Magi, real-
tà storica e traditione magica, Milano 1985
Cabezón, José Ignazio, Buddhism, Sexuality and Gender, New
York 1992
Campbell, Joseph, Mythologie des Ostens. Die Masken Gottes,
Bd. 2, Basel 1991
Campbell, June, Traveller in Space. In Search of Female Identi-
ty in Tibetan Buddhism, London 1996
Carelli, Mario E. , Sekoddesatika ofNadapada (Naropa). Being
a commentary of the Sekkodesa of the Kalacakra Tantra,
Baroda 1941
Chapman, F. Spencer, Lhasa : The holy City, London 1940
Chattopadhyaya, Sudhakar, Reflections on the Tantras, Delhi
1990
Chayet, Anne, La femme au temps des Dalai Lamas. Paris
1993
Chia, Mantak und Maneewan, Tao Yoga der heilenden Liebe.
Der geheime Weg zur weiblichen Liebesenergie, Interlaken
1987
Chökyi Nyima Rinpoche, The union of Mahamudra and Dzog-
chen. A commentary on the quintessence of spiritual prac-
tice, the direct instructions of the great compassionate one
by Karma Chagmey Rinpoche, Honkong u. a. 1989
Chöpel, Gedün, Tibetan Arts of Love, Ithaca 1992 Chö-Yang
(Hrsg. Pedron Yeshi), Vol. 1, No. 2, 1987
Conze, Edward, Eine kurze Geschichte des Buddhismus, Frank-
furt 1984
Conze, Edward, Buddhistisches Denken. Drei Phasen buddhi-
stischer Philosophie in Indien, Frankfurt 1990
Coomeraswamy, Ananda K. , Spiritual Authority and Tempo-
ral Power in the Indian Theory of Government, New Del-
hi 1973

1350
Coomeraswamy, Ananda K., Elements of Buddhist Iconogra-
phy, New Delhi 1979
Coomeraswamy, Ananda K. , Time and Eternity, New Delhi
1993
Couliano, Joan P. , Eros and Magic in the Renaissance, Chica-
go u. a. 1987
Cozort, Daniel, Highest Yoga Tantra. An Introduction to the
Esoteric Buddhism of Tibet, Idiaca 1986
Craig, Mary, Kundun. A Biography of the Family of the Dalai
Lama, London 1997
Da, Free John, The Dawn Horse Testament. The testament of
secrets of the divine World Teacher and true Heart Master
Da Avabhasa, Naitauba 1991
Dagyab Rinpoche, L. S. , Buddhistische Glückssymbole im tibe-
tischen Kulturraum, München 1992
Dagpo, Rinpoche und Borromée, Antoine, Der Dalai Lama.
Weltliche und Spirituelle Macht, München, o. J. ,
Dalai Lama I, Selected Works. Bridging the Sutras and the Tan-
tras (Hrsg. Glenn H. Mullin), Ithaca 1985
Dalai Lama III, Gesang der inneren Erfahrung. Die Stufen auf
dem Pfad zur Erleuchtung, Hamburg 1993
Dalai Lama XIV, My Land and my People, London 1964
Dalai Lama XIV, The Kalachakra Tantra. Rite of Initiation for
the Stage of Generation. A Commentary on the text of Kay-
drup-ge-lek-bel-sang-bo by the Fourteenth Dalai Lama
and the text itself, London 1985
Dalai Lama XIV, – Yoga des Geistes, Hamburg 1991, 1
Dalai Lama XIV, Der Schlüssel zum Mittleren Weg, Hamburg
1991, II
Dalai Lama XIV, Das Buch der Freiheit, Bergisch Gladbach
1993, 1
Dalai Lama XIV, Frieden für die Welt, Frieden fur Tibet, Ham-
burg 1993, II
Dalai Lama XIV, Brücken zur Klarheit. Vorträge zu Naturwis-
senschaft und Buddhismus, Hamburg 1995
Dalai Lama XIV, Gewagte Denkwege. Wissenschaftler im Ge-
spräch mit dem Dalai Lama, München 1996, 1

1351
Dalai Lama XIV, Beyond Dogma. Dialogues and Discourses,
Berkeley 1996, II
Dalai Lama XIV, Das Herz aller Religionen ist eins, Die Lehre
Jesu aus buddhistischer Sicht, Hamburg 1997
Daly, Mary, Reine Lust, Elemental-feministische Philosophie,
München 1986
Dargyay, Eva K., Srong-Btsan Sgam-Po of Tibet : Bodhisattva
and King, in : Monks and Magicians. Religious Biographi-
es in Asia (Hrsg. Phyllis GranofTund Koichi Shinohara),
Delhi 1994
Dasgupta, Shashi Bhusan, Obscure Religious Cults, Calcutta
1946
Dasgupta, Shashi Bhusan, An Introduction to Tantric Bud-
dhism, London 1974
Dash, Vaidya Bhagawan, Alchemy and Metallic Medicines in
Ayurveda, New Delhi 1986
Despeux, Catherine, Immortelles de la Chine ancienne. Taois-
me et alchimie féminine, Puiseaux 1990
Dhargyey, Lharampa Ngawang, A Commentary on the Ka-
lachakra Tantra, New Delhi 1985
Dhondup, K. , Songs of the Sixth Dalai Lama, Dharamsala 1981
Doucet, Friedrich W. , Im Banne des Mythos. Die Psychologie
des Dritten Reichs, Esslingen
Dowman, Keith, Die Meister der Mahamudra. Leben, Legen-
den und Lieder der vierundachtzig Erleuchteten, München
1991
Dowman, Keith, Der Flug des Garuda. Vier Dzogchen-Texte
aus dem tibetischen Buddhismus, Zürich 1994
Dyczkowski, Mark S. G. , The Doctrine of Vibration. An Ana­
lysis of the Doctrines and Practices of Kashmir Shaivism,
New York 1987
Ekvall, Robert B. , Religious Observances in Tibet : Patterns and
Functions, Chicago 1964
Eliade, Mircea, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewi-
gen Wiederkehr, Frankfurt 1984
Eliade, Mircea, Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit, Frankfurt
1985

1352
Epstein, Israel, Tibet Transformed, Beijing 1983
Essen, Gerd Wolfgang und Thingo, Tsering Tashi, Die Götter
des Himalaya. Buddhistische Kunst Tibets, Bd. I und Bd.
II, München 1989
Evans, Wentz, W., Yoga und die Geheimlehren Tibets, Mün-
chen 1937
Evans, Wentz, W., Tibets Great Yogi Milarepa, New York 1978
Evola, Julius, L’uomo come potenza. I Tantra nella loro metafisica e
nei loro metodi di autorealizzazione magica, Roma 1926
Evola, Julius, Revolte gegen die Moderne Welt, Interlaken 1982
Evola, Julius, Metaphysik des Sexus, Frankfurt u. a. 1983
Evola, Julius, Magie als Wissenschaft vom Ich. Praktische
Grundlegung der Initiation, Interlaken 1985
Evola, Julius, Die Hermetische Tradition. Von der alchemisti-
schen Umwandlung der Metalle und des Menschen in Gold,
Interlaken 1993
Evola, Julius, What Tantrism means to modern western civili-
zation, in : East and West I, No. 1
Farrow, G. W. and Menon, I. , The concealed Essence of the He-
vajra Tantra with the Commentary Yogaratnamala, Del-
hi 1992
Faure, Bernard, Sexualité Bouddhique. Entre désirs and réali-
tés, Aix-en-Provence 1994
Feigon, Lee, Demystifying Tibet, Unlocking the Secrets of the
Land of Snows, Chicago 1996
Filliozat, Jean, Religion Philosophy Yoga. A selection of articles,
Delhi 1991
Forman, Harrison, Through forbidden Tibet. An Adventure
into the Unknown, London 1936
Forte, Antonio, Mingtang and Buddhist Utopias in the History
of the Astronomical Clock. The Tower, Statue and the Ar-
millary Sphere constructed by the Empress Wu, Roma, Pa-
ris 1988
Francke, A. H. , Antiquities of Indian Tibet. Bd. 1, Calcutta 1914
Franke, Otto, Geschichte des Chinesischen Reiches. Eine Dar-
stellung seiner Entstehung, seines Wesens und seiner Ent-
wicklung bis zur neuesten Zeit, Bd. II, Berlin 1961

1353
Frazer, James George, Der Goldene Zweig. Das Geheimnis von
Glauben und Sitten der Völker, Reinbek 1989
Freud, Sigmund, Abriß der Psychoanalyse, in : Gesammelte
Werke, Bd. XVII, Frankfurt 1978
Friedrich-Naumann-Stiftung (Hrsg.), Second International
Conference of Tibet Support Groups, Bonn 1996
Fülöp-Miller, R., Rasputin, Berlin 1927
Galand, China, Grüne Tara und schwarze Madonna. Abenteu-
erliche Suche nach dem weiblichen Anlitz Gottes, Düssel-
dorf 1993
Gang, Peter, Das Tantra der Verborgenen Vereinigung. Guhya-
samaja-Tantra, München 1988
Gebelein, Helmut, Alchemic, München 1991
George, Christopher, The Candamaharosana Tantra, New Ha-
ven 1974
Girard, René, Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987
Glasenapp, Helmut von, Tantrismus und Shaktismus, in : Osta-
siatische Zeitschrift, N. F. 12, Heft 3/4, Berlin 1936
Glasenapp, Helmut von, Buddhistische Mysterien. Die geheimen
Riten und Lehren des Diamantfahrzeuges, Stuttgart 1940
Gockel, Eberhard, Kuan-shiyin. Ein Beitrag zur Deutung poly-
genetischer Phänomene im tibetischen Buddhismus, Bonn
1992
Gold, Daniel, Guru’s Body, Guru’s Abode, in : Law, Jane Marie
(Hrsg.), Religious Reflections on the Human Body, India-
napolis u. a. 1995
Goldstein, Melvyn C. , A History of Modern Tibet 1913–1951.
The Demise of the Lamaist State, Berkeley u. a. 1989
Goldstein, Melvin C. , The snow lion and the dragon. China, Ti-
bet and the Dalai Lama, Berkeley u. a. 1997
Goldstein, Melvyn C. und Kapstein, Matthew T. , Buddhism in
Contemporary Tibet-Religious Revival and Cultural Iden-
tity, Berkeley u. a. 1998
Golowin, Sergius, Hexen, Hippies, Rosenkreuzer. 100 Jahre ma-
gische Morgenlandfahrt, Hamburg 1977
Goodman, Michael Harris, The Last Dalai Lama. A Biogra-
phy, Boston 1986

1354
Gordon, Antoinette K., The Iconography of Tibetan Lamaism,
Delhi 1978
Govinda, Lama Anagarika, Grundlagen tibetischer Mystik,
Frankfurt 1984
Grönbold, Günter, Sad-Anga-Yoga, Ravisrijnana’s Gunabarani
nama Sadangayogatippani. Mit Text, Übersetzung und li-
teraturhistorischem Kommentar, München 1969
Grönbold, Günter, Materialien zur Geschichte des Sadanga-
Yoga I. Der Sadanga-Yoga im Hinduismus, in : Indo-lrani-
an Journal 251983 ›
Grönbold, Günter, Materialien zur Geschichte des Sadan-
ga-Yoga III. Die Guru-Reihen im buddhistischen Sadanga-
Yoga, in : Zentralasiatische Studien 16, 1982
Grönbold, Günter, Materialien zur Geschichte des Sadanga-
Yoga IL Die Offenbarung des Sandanga-Yoga im Kalacakra-
System, in : Central Asiatic Journal, Vol. 28, No. 1–2, 1984
Grönbold, Günter, Das Datum des Buddha nach tantrischen
Texten, in : Heinz Bechert (Hrsg.), Die Datierung des hi-
storischen Buddha, Part. 1, Göttingen 1991
Grönbold, Günter, Hétérodoxe Lehren und ihre Widerlegung im
Kalacakra-Tantra, in : Lndo-Lranian Journal’35, 1992, 1
Grönbold, Günter, Zwei Adibuddha-Texte, in : Sanskrit-Tex-
te aus dem buddhistischen Kanon : Neuentdeckungen und
Neueditionen, Göttingen 1992, II
Grönbold, Günter, Weitere Adibuddha-Texte, in : Wiener Zeit-
schrift für die Kunde Südasiens und Archiv für indische
Philosophie, Vol. XXXIX1995
Grönbold, Günter, Kriegsmaschinen in einem buddhistischen
Tantra, in : Festschrift Dieter Schlingloff (Hrsg. Dieter
Schlingloff, Reinbek 1996)
Grönbold, Günter, Der sechsgliedrige Yoga des Kalacakra-Tan-
tra, in : Asiatische Studien, Bd. 37, H 1
Gross, RitaM., Yeshe Tsogyel, Enlightened Consort, Great tea-
cher, Female Role Model, in : The Tibet Journal, Vol. XII,
Nr. 4, 1987
Gross, Rita M., Buddhism after Patriarchy. A Feminist History,
Analysis and Reconstruction of Buddhism, New York 1993

1355
Gruber, Elmar R. und Kersten, Holger, Der Ur-Jesus. Die bud-
dhistischen Quellen des Christentums, München 1994
Grunfeld, A. Tom, The Making of Modern Tibet, New York u.
a. 1996
Grünwedel, Albert, Mythologie des Buddhismus in Tibet und
der Mongolei, Leipzig 1900
Grünwedel, Albert, Der Weg nach Shambhala, München 1915
Grünwedel, Albert, Die Geschichten der vierundachtzig Zau-
berer (Mahasiddhas) aus dem Tibetischen übersetzt, in :
Baessler-Archiv 1916
Grünwedel, Albert, Tusca, Leipzig 1922
Grünwedel, Albert, Die Teufel des Avesta und ihre Beziehung zur
Ikonographie des Buddhismus Zentral-Asiens, Berlin 1924
Grünwedel, Albert, Die Legenden des Naropa, des Hauptver-
treters des Nekromanten- und Hexentums, Leipzig 1933
Grünwedel, Albert (Originalmanuskript), Kalacakra-Tantra
Raja. Der König der Magie des Zeitrades (rotae fatalis),
in Sanskrit und Tibetisch hrsg. und mit deutscher Analy-
se und Wortindex versehen von A. Grünwedel, München,
Nachlaß in der Bayer. Staatsbibliothek, o. J.
Guénon, René, Le Roi du Monde, Paris 1958
Guenther, Herbert V., The Life and Teachings of Naropa, Ox-
ford 1963
Guenther, Herbert V., Tibetan Buddhism without Mystificati-
on, Leiden 1966
Guenther, Herbert V., Tantra als Lebensanschauung, Bern u.
a. 1974
Guenther, Herbert V. und Trungpa, Chögyam, Tantra im Licht
der Wirklichkeit. Wissen und praktische Anwendung, Frei-
burg 1976
Gyatso, Janet, Down with the demoness : Reflections on a femi-
nine ground in Tibet, in : Feminine Ground. Essays on Wo-
men and Tibet (Hrsg. Janis D. Willis), New York 1989
Gyatso, Kelsang, Guide to Dakini Land. The highest Yoga Tan-
tra Practice of Buddha Vajrayogini, London 1991
Härtel, H. und Yaldiz, M., Die Seidenstraße. Malereien und
Plastiken aus buddhistischen Höhlentempeln, Berlin 1987

1356
Hamerton-Kelly, Robert G., Sacred Violence. Paul’s Herme-
neutic of the Cross, Minneapolis 1992
Hayward, Jeremy, Heilige Welt. Die Shambhala-Krieger im All-
tag, München 1997
Hazra, Kanai Lai, The Adi-Buddha, Delhi 1986
Heesterman, J. C., Veda and Society : Some Remarks apropos
of the Film ›Altar ofFirei, in : Asko Parpóla (Hrsg.), Pro-
ceedings of the Nordic South Asia Conference, June, 10–12
içSo, Helsinki 1981
Helbig, Madeleine, Kulturanthroplogie und Psychologie sexu-
eller Rituale, Naven (Papua-Neuguinea) und Tantra (Altes
Indien, Nepal, Tibet), Berlin 1991
Henss, Michael, Kalachakra. Ein tibetisches Einweihungsritu-
al, Zürich 1985
Hermanns, Matthias, Mythen und Mysterien. Magie und Reli-
gion der Tibeter, Köln 1956
Hermanns, Matthias, Das Nationalepos der Tibeter, Gling Kö-
nig Ge Sar, Regensburg 1965
Herrmann-Pfand, Adelheid, Dakinis. Zur Stellung und Symbo-
lik des Weiblichen im Tantrischen Buddhismus, Bonn 1992
Hicks, Roger und Chögyam, Ngakpa, Weiter Ozean. Der Da-
lai Lama, Essen 1985
Hilton, James, Der verlorene Horizont, Frankfurt 1992
Hinze, Oscar Marcel, Tantra Vidya. Wissenschaft des Tantra,
Freiburg 1983
Hoffmann, Helmut, Religionen Tibets. Bon und Lamaismus in
ihrer geschichtlichen Entwicklung, Freiburg u. a. 1956
Hoffmann, Helmut, Das Kalacakra, die letzte Phase des Bud-
dhismus in Indien, in : Saeculum, Bd. 15, Freiburg 1964
Hoffmann, Helmut, Kalacakra Studies I. Manichaeism, Chri-
stianity and Islam in the Kalachakra Tantra, in : Central
Asiatic Journal Vol. XIII, No. 1, Wiesbaden 1969
Hoffmann, Helmut, Kalacakra Studies I. Addenda et Corrigenda,
in : Central Asiatic Journal Vol. XV, No. 4, Wiesbaden 1972
Hopkins, Jeffrey, Tantra in Tibet. Das geheime Mantra des
Tsongkapa, Köln u. a. 1980
Hopkins, Jeffrey, Tantric Practice in Nying-ma, Ithaca 1982

1357
Hopkins, Jeffrey, The Tantric Distinction, London 1984
Hopkins, Jeffrey, Sex, Orgasm and the Mind of Clear Light : The
64 Arts of Gay Male Sex, o. 0. 1996
Houston, G. W. (Ubers.), Wings of the white crane. Poems of Ts-
hang dbyangs rgya mtsho (1683–1706), Delhi 1982
Huber, Toni, Why can’t women climb pure crystal mountain ?
Remarks on gender, ritual and space at Tsa-Ri, in : Kvaerne,
Per, Tibetan Studies, Proceedings in the 6th seminar of the
International Association for Tibetan Studies, Oslo 1994
Huber, Toni, Shangri-La : Tibetan Identity Representations and
Transnational Culture, Manuskript 1997
Hübner, Kurt, Die Wahrheit des Mythos, München 1985
Hummel, Siegbert, Grundzüge der Urgeschichte der tibetischen
Kultur, in : Jb. Mus. f. Völkerkunde, Bd. XIII, Leipzig 1954
Hummel, Siegbert, Die Frauenreiche in Tibet, in : Zeitschrift für
Ethnologie, Bd. 85, Braunschweig i960
Hummel, Siegbert, Die Herrin der Berge, in : Ethnos, Bd. 27, p.
23–34, 1961
Hummel, Siegbert, Mythologisches aus Eurasien im Gesar-Hel-
denepos der Tibeter, Ulm 1993
Hummel, Siegbert, Die heilige Höhle in Tibet, in : Anthropos
VI, 52, 3/4, 1962
Hummel, Siegbert, Euroasiatische Traditionen in der tibeti-
schen Bon-Religion, in : Opuscula ethnologica memoria Lu-
dovici Biro sacra, o J.
Hummel, Siegbert, Die tibetische Frühgeschichte und die Etrus-
kerfrage, in : Paideuma, Bd. VI
Hummel, Siegbert, Shaktisches im Lamaismus der Tibeter, in :
Sinologica V
Huntington, Samuel P., Kampf der Kulturen. Die Neugestal-
tung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1997
Hutin, Serge, L’Amour Magique, Paris 1971
Ilzhöfer, Otto, Zu Albert Grün wedels Kalacakra-Manuskript,
Aktenstücke und Glossen, Nachlaß in der Bayerischen
Staatsbibliothek, München 1953
Irigaray, Luce, Zeit der Differenz. Für eine friedliche Revoluti-
on, Frankfurt 1991

1358
Jantsch, Erich, Die Seljrstorganisation des Universums. Vom
Urknall zum menschlichen Geist, München 1982
Jung, Carl Gustav, Mysterium conjunctions. Untersuchungen
über die Trennung und Zusammensetzung der seelischen
Gegensätze in der Alchemie, Ges. W. 14. Bd., 2 Hlbd., Öl-
ten 1968
Jung, Carl Gustav und Wilhelm, Richard, Das Geheimnis der
goldenen Blüte. Ein chinesisches Lebensbuch, Ölten 1971
Jung, Carl Gustav, Die Psychologie der Übertragung, Ölten
1973
Jung, Carl Gustav, Psychologie und Alchimie. Traumsymbole
des Individuationsprozesses. Die Erlösungsvorstellungen in
der Alchemie u. a., Ölten 1975
Jung, Carl Gustav, Mandala. Bilder aus dem Unbewußten, Öl-
ten 1981
Kakuska, Rainer (Hrsg.), Andere Wirklichkeiten. Die Neue
Konvergenz von Naturwissenschaften und spirituellen Tra-
ditionen. Mit Beiträgen von S. H. d. Dalai Lama, David
Böhm u. a., München 1984
Karmay, Samten Gyaltsen, Secret Visions of the Fitfh Dalai
Lama. The Gold Manuscript in the Fournier Collection,
London 1988
Kater, Michael H., Das »Ahnenerbe« der SS 1935–194S. Ein Bei-
trag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, München 1997
Katz, Nathan, Anima and mKha’-’gro-ma : A critical compe-
rative study of Jung and Tibetan Buddhism, in : The Tibet
Journal, Vol. 2, No. 3, 1977
Keegan, Marcia, Teachings of His Holiness the Dalai Lama,
New York 1981
Keilhauer, Anneliese, Buddhismus, Stuttgart 1994
Kimura, Hisao, Japanese Agent in Tibet, London 1990
Kinsley, David, Hindu Goddesses : Visions of the Divine Femi-
nine in the Hindu Religious Tradition, Berkeley 1986
Klages, Ludwig, Vom kosmogonischen Eros, Jena 1930
Klein, Anne Carolyn, The Birthless Birthgiver. Reflections on
the Liturgy of Yeshe Tsogyel, the Great Bliss Queen, in : The
Tibet Journal, Vol. XII, No. 4, 1987

1359
Klieger, Christiaan P., Tibet Nationalism. The Role of Patrona-
ge in the Accomplishment of a National Identity, Chana-
kya Puri 1991
Kloetzli, W. Randolph, Buddhist Cosmology, Science and Theo-
logy in the Images of Motion and Light, Delhi 1989
Koch, Erwin Erasmus, Auf dem Dach der Welt. Tibet. Die Ge-
schichte der Dalai Lamas, Frankfurt 1960
Koros, Alexander Csoma de, Tibetan Studies. Beeing a reprint
of the articles contributed to the journal of the Asiatic So-
ciety of Bengal and Asiatic Researches, Budapest 1984
Kotier, Arnold (Hrsg.), Engaged Buddhist. Reader, Berkeley 1996
Krishna Murthy, K., Iconography of the Buddhist Deity Heru-
ka, Delhi 1989
Kubin, Alfred, Die andere Seite. Ein phantastischer Roman,
München 1975
Kuhn, Thomas S., Die Struktur der wissenschaftlichen Revolu-
tionen, Frankfurt 1967
Kvaerne, Per, Aufstieg und Untergang der klösterlichen Traditi-
on, in : R. Gombrich und H. Bechert (Hrsg.), Die Welt des
Buddhismus
Lange, Kristina, Über die Präexistenzen der Dalai Lamas, in :
Jb. d. Mus. f. Völkerkunde, Bd. 26, Leipzig
Lange, Kristina, Manifestationen des Avalokiteshvara und ihre
Inkarnation in den Oberhäuptern der gelben Kirche, in :
Studia Asiael
Lebois, André, L’occultisme et l’amour, Paris 1969
Lekshe Tsomo, Karma (Hrsg.), Töchter des Buddha. Leben und
Alltag spiritueller Frauen im Buddhismus heute, München
1991
LePage, Victoria, Shambhala. The Fascinating Truth behind
the Myth of Shangri-La, Wheaton 1996
Levenson, Claude B., Dalai Lama. Die autorisierte Biographie
des Nobelpreisträgers, Zürich 1990
Lopez, Jr. Donald S., Prisoners of Shangri-La. Tibetan Bud-
dhism of West, Chicago 1998
Maclnnes, Donald E., Religion im heutigen China. Politik und
Praxis, Nettetal 1993

1360
Mackenzie, Vicki, Reincarnation. The Spanish boy whose desti-
ny was to be a Tibetan Lama, Delhi 1992
Macy, Joanna, Wächter der Zukunft, in : Gottwald, Franz-
Theo ; Klepsch, Andrea (Hrsg.), Tiefenökologie. Wie wir in
Zukunft leben wollen, München 1995
Macy, Joanna, Mut in der Bedrohung. Friedensarbeit im Atom-
zeitalter, o. J. und o. O.
Mallmann, Marie-Thérèse de, Introduction à l’Étude
d’Avalokitecvara, Paris 1948
Mallmann, Marie-Thérèse de, Les Enseignements Iconogra-
phiques de l’Agni-Purana, Paris 1963
Mar-pa Chos-Kyi bLo-gros (Übers. Fabrizio Torriceli und
Acharya Syngye T. Naga), The Life of Mahasiddha Tilopa,
New Delhi 1995
McCloud, Russel, Die schwarze Sonne von Tashi Lhunpo, En-
gerda 1997
Meade, Marion, Madama Blavatsky. The Woman behind the
myth, New York 1987
Mehra, Parshotam, Tibetan Polity 1904–37, The Conflict bet-
ween the 13th Dalai lama and the 9th Panchen, Wiesba-
den 1976
Meyrink, Gustav, Das Haus zur letzten Laterne, München 1973
Michael, Franz, Rule by Incarnation. Tibetan Buddhism and
its Role in Society and State, Boulder 1982
Mullin, Glenn H., The Practice ofKalachakra, Ithaca 1991
Naropa (a cura di Ranieri Gnoli e Giacomella Orofino), In-
iziazione, Kalacakra, o. 0. 1994
Nebesky-Wojkowitz, René de, Das tibetische Staatsorakel,
Wien 1948
Nebesky-Wojkowitz, René de, Wo Berge Götter sind. Drei Jahre
bei unerforschten Völkern des Himalaya, Stuttgart 1955
Nebesky-Wojkowitz, René de, Oracles and Demons of Tibet.
The Cult and Iconography of the Tibetan Protective Deities,
Kathmandu 1993
Nesterenko, Michel, The Karmapa Papers, Paris 1992
Neumaier-Dargyay, Eva K., The Sovereign All-Creating Mind.
The Motherly Buddha, New York 1992

1361
Neumann, Erich, Ursprungsgeschichte des Bewußtseins, Zü-
rich 1949
Neumann, Erich, Die große Mutter. Eine Phänomenologie der
weiblichen Gestalten des Unbewußten, Ölten u. a. 1989
Newman, John Ronald ; Jackson, Roder ; Sopa, Lhundup, The
Wheel of Time. The Kalacakra in Context, Madison 1985
Newman, John Ronald, The outer wheel of time : Vajrayana
buddhist cosmology in the Kalacakra Tantra, Madison
1987
Nobumi, Iyanaga, Récits de la soumission de Maheshvara par
Trailokyavijaya d’après les sources chinoise et japonaise, in :
Tantric and Taoist Studies in Honour of R. A. Stein, Brüs-
sel 1985
Norbu, Namkhai, Dzog Chen and Zen, Nevada City 1984
Norbu, Namkhai, Der Zyklus von Tag und Nacht. Die prakti-
schen Übungen des Ati-Yoga, München 1990
O’Flaherty, Wendy Doniger, Women, Androgyne and other
Mythological Beasts, Chicago 1982
O’Flaherty, Wendy Doniger, Other Peoples Myths. The Cave of
Echoes, London 1988
Oldham, C. F., The Sun and the Serpent. A contribution to the
History of Serpent-Worship, New Delhi 1988
Olschak, Blanche Christine, Tibet : Erde der Götter. Vergessene
Geschichte, Mythos und Sage, Zürich u. a. 1960
Onon, Urgunge und Pritchatt, Derrick, Asia’s first modern re-
volution. Mongolia proclaims it’s independence in ipu, Lei-
den u. a. 1989
Orofino, Giacomella, On the Sadangayoga and the Realisation
of Ultimate Gnosis in the Kalachakra Tantra, in : East and
West, Rom 1996
Ossendowski, Ferdinand, Tiere, Menschen und Götter, Frank-
furt 1924
Palacio, Isidro, Interview mit Miguel Serrano, in : Reportaja,
Aug. 1990
Pallis, Marco, Peaks and Lamas, London 1946
Paul, Diana Y., Die Frau im Buddhismus. Das Bild des Weibli-
chen in Geschichten und Legenden, Hamburg 1981

1362
Paul, Robert A., The Tibetan Symbolic World, Chicago 1982
Paz, Octavio, Verbindungen. Trennungen, Frankfurt 1984
Petri, Winfried, Indo-tibetische Astronomie, München 1966
Rabten, Geshe, Mahamudra, Zürich 1979
Ramchandra Rao, p. K., Tibetan Tantrik Tradition, New Del-
hi 1977
Ravenscroft, Trevor, Der Speer des Schicksals. Die Geschichte
der Heiligen Lanze, München 1988
Rawson, Philip, Tantra : The Indian Cult of Ecstasy, London
1973
Redwood French, Rebecca, The golden Yoke. The Legal Cosmo­
logy of Buddhist Tibet, Ithaca u. a. 1995
Reed, Barbara E., The Gender Symbolism of Kuan-Yin Bodhi-
sattva, in : Cabezón, op. cit.
Reigle, David, The Books ofKiu-Te or the Tibetan Buddhist Tan-
tras, San Diego 1983
Reigle, David, The Lost Kalacakra Mula Tantra on the Kings
ofShambhala, in : Kalacakra Research Publication Nr. 1,
Oregon 1986
Repp, Martin, Der erste werfe den Stein. Aum Shinrikyo und
die gegenwärtige Gesellschaft in Japan, in : Zeitschrift für
Mission, Hefti, 1996, 1
Repp, Martin, Religion und Gewalt im gegenwärtigen Japan.
Der Fall Aum Shinrikyo, in : Dialog der Religionen, 6. Jg.,
Heft 2, 1996, II
Richardson, Hugh, Tibet and its History, Boulder u. a. 1984
Richardson, Hugh, Ceremonies of the Lhasa Year, London
1993
Riencourt, A. de, Lost World : Tibet, in : Victor Gollancz, Key
to Asia, London 1951
Rivière, Jean M., Kalachakra. Initiation tantric du Dalai Lama,
Paris 1985
Robin, Jean, René Guénon. Témoin de la Tradition, Paris 1986
Roerich, Helena Iwanowna, Feurige Welt. Zeichen des Agni
Yoga, Bd I, III, Linz 1980
Roerich, Nicholas, Shambhala. Das geheime Weltenzentrum
im Herzen Asiens, Freiburg 1988

1363
Ruegg, David Seyfort, The Life ofBu Ston Rin Po Che, Roma
1966
Ruegg, David Seyfort, Ordre spirituel et ordre temporel dans la
pensée bouddhique de L’Inde et du Tibet, Paris 1995
Samsonow, Elisabeth von (Hrsg.), Giordano Bruno, München
1995
Samuel, Geoffrey, Civilized Shamans. Buddhism in Tibetan So-
cieties, Washington u. a. 1993
Samuel, Geoffrey, Ge Sar of gLing. Shamanic Power and Po-
pular Religion, in : Tantra and Popular Religion in Tibet
(Hrsg. Geoffrey Samuel), New Delhi 1994
Santideva, Eintritt in das Leben zur Erleuchtung. Bodhicarya-
vatara, Köln u. a. 1981
Sarközi, Alice, Political prophecies in Mongolia in the 17–20th
Centuries, Wiesbaden 1992
Schimmelpennink van der Oye, David, Tournament of Sha-
dows. Russia’s Game in Tibet, in : Tibetan Review, Janu-
ar 1994, p. 13 f
Schule der Lebensweisheit (o. Autor), Wahres Wissen. Legen-
den über Shambhala, München 1990
Schulemann, Günther, Die Geschichte der Dalai Lamas, Leip-
zig 1958
Schüttler, Günter, Die letzten tibetischen Orakelpriester. Psych-
iatrisch-neurologische Aspekte, Wiesbaden 1971
Schwartz, Ronald D., Circle of protest. Political Ritual in the Ti-
betan Uprising, New York 1994
Seagrave, Sterling, Die Konkubine auf dem Drachenthron. Leben
und Legende der letzten Kaiserin von China, München 1992
Serrano, Miguel, El Circolo Hermético (Conversiones, Corre-
spondencia y Recuerdos de Hermann Hesse y C. G. Jung),
Santiago de Chile 1965
Serrano, Miguel, Meine Begegnungen mit C. G. Jung und Her-
mann Hesse in visionärer Schau, Zürich 1968
Serrano, Miguel, Die Besuche der Königin von Saba, Freiburg
1980
Serrano, Miguel, El/Ella. Das Buch der magischen Liebe, Zü-
rich 1982

1364
Serrano, Miguel, NOS. Book of the Resurrection, London 1984
Serrano, Miguel, Das goldene Band. Esoterischer Hitlerismus,
Wetter 1987
Serrano, Miguel, Adolf Hitler el Ultimo Avatara, Bogota, o. J.
Sharpa Tulku und Perron, Michael, A Manual of Ritual Fire
Offerings, Dharamsala 1987
Shaw, Miranda, An Ecstatic Song by Laksminkara, in : The Ti-
bet Journal, Vol. XII, No. 4, 1987
Shaw, Miranda, Passionate Enlightenment. Women in Tantric
Buddhism, Princeton 1994
Sierksma, Fokke, Tibet’s Terrifying Deities. Sex and aggression
in religious acculturation, Den Haag 1966
Simpson, William, The Buddhist Praying Wheel. A Collection
of Material bearing upon the Symbolism of the Wheel, New
Delhi 1991
Sircar, D. C., The Shakta Pithas, Delhi 1973
Sivin, Nathan, State, Cosmos and Body in the Last three Cen-
turies B. C, in : Harvard Journal of Asiatic Studies, Vol. 55,
Nr. 1, Cambridge 1995
Smith, Brian K., Reflections on Resemblance, Ritual and Religi-
on, Oxford u. a. 1989
Snellgrove, David, The Hevajra Tantra. A critical Study, Part
I, London 1959
Snellgrove, David, Indo-Tibetan Buddhism, Indian Buddhist
and their Tibetan Successors, Bd. 1 und Bd. 2, Boston 1987
Snellgrove, David and Richardson, Hugh, A Cultural History
of Tibet, Boston u. a. 1995
Snelling, John, Buddhismus. Ein Handbuch für westliche Le-
ser, München 1991
Snelling, John, Buddhism in Russia. The Story of Aguan Dorz-
hiev, Shaftesbury u. a. 1993
Sombart, Nicolaus, Die deutschen Männer und ihre Feinde.
Carl Schmitt, ein deutsches Schicksal zwischen Männer-
bund und Matriarchatsmythos, München 1991
Sorensen, Per K., Divinity Secularized. An inquiry into the na-
ture and form of songs ascribed to the Sixth Dalai Lama,
Wien 1990

1365
Sperling, Eliot, »Orientalism« and aspects of violence in the ti-
betan tradition, Manuskript 1997
Spierenburg, H. J., The Buddhism of H. P. Blavatsky, San Di-
ego 1991
Sponberg, Alan und Hardacre, Helen (Ed.), Maitreya, the Fu-
ture Buddha, New York u. a. 1988
Srimanjusriyasa, Vimalaprapbhatika of Kalkin Sripundarika
on Srilaghuklacakratantraraja, in : Rare Buddhist Texts
Research Project, Sarnath 1994
Stein, Rolf A., Avalokiteshvara / Kouan Yin, Exemple des
Transformations d’un Dieu en Déesse, in : Cahiers dExtrê-
me-Asie, Nr. 2, 1986
Stein, Rolf A., Grottes-Matrices et Lieux Saints de la Désse en
Asie Orientale, Paris 1988
Stein, Rolf A., Die Kultur Tibets, Berlin 1993
Stevens, John, Lust und Erleuchtung. Sexualität im Buddhis-
mus, Bern u. a. 1993
Stietencron, Heinrich von, Indische Sonnenpriester, Samba
und die Sakadvipiya-Brahmana, München 1965
Suyin, Han, Chinas Sonne über Lhasa, München 1978
Symonds, John, Madame Blavatsky. Medium and Magician,
London 1959
Tambiah, P. J., World Conqueror and World Renouncer. A Stu-
dy of Buddhism and Polity in Thailand against a historical
background Cambridge 1976
Tayé, Kongtrul Lodrö, Myriads Worlds. Buddhist Cosmology in
Abhidharma, Kalacakra and Dzog-chen, Ithaca u. a. 1995
Thompson, William Irving, Der Fall in der Zeit. Mythologie,
Sexualität und Ursprung der Kultur (The time falling bo-
dies), Stuttgart 1985
Thurman, Robert A. F. und Rhie, Marylin M., Weisheit und
Liebe. 1000 Jahre Kunst des tibetischen Buddhismus, Bonn
1996
Thurman, Robert A. E, Inner Revolution. Life, liberty and the
pursuit of real happiness, New-York 1998
Tiwari, J. N., Goddess Cults in Ancient India, Delhi 1985 Trotz-
kij, Leo, Literatur und Revolution, Berlin 1968

1366
Trungpa, Chögyam und Freemantle, Francesca, Das Toten-
buch der Tibeter, Köln 1977
Trungpa, Chögyam, Shambhala. The sacred path of the Warri-
or, New York u. a. 1986
Trungpa, Chögyam, Mudra. Gesten der Weisheit, Aitrang
1990
Trungpa, Chögyam, Orderly Chaos. The Mandala Principle,
Boston u. a. 1991
Trungpa, Chögyam, The Lion’s Roar. An Introduction to Tan-
tra, Boston u. a. 1992
Trungpa, Chögyam, Spirituellen Materialismus durchschnei-
den, Zürich u. a. 1993
Tucci, Giuseppe, The sacred character of the Kings of Tibet, in :
East andWest, Vl, Nr. 3, Roma 1953
Tucci, Giuseppe, Tibet, Genève 1973 Tucci, Giuseppe, Geheim-
nis des Mandala. Der asiatische Weg zur Meditation, Düs-
seldorf 1982
Tucci, Giuseppe, Earth in India and Tibet, in : Éranos Jahrbuch,
XXII Várela, Francisco, Principles of Biological Autonomy,
New York 1979
Várela, Francisco, Traum, Schlaf und Tod. Grenzbereiche des
Bewußtseins. Der Dalai Lama im Gespräch mit westlichen
Wissenschaftlern, München 1997
Waldschmidt, Ernst, Albert Grünwedel, in : Ostasiatische Zeit-
schrift, 1935
Walker, Benjamin, Tantrismus. Die Lehren und Praktiken des
linkshändigen Pfades, Basel 1987
Walravens, Hartmut, Albert Grünwedels Briefwechsel. Eine
Quelle zur Vorgeschichte des Museums für indische Kunst,
in : Sonderdruck aus dem Jahrbuch Preußischer Kulturbe-
sitz, Bd. XXV, Berlin 1988, p. 125–150
Wang Füren and Suo Wenqing, Highlights of Tibetan History,
Beijing 1984
Wayman, Alex und Lessing, Ferdinand D., Mkhas-Grub-Rje’s
Fundamentals of Buddhist Tantras, Den Haag u. a. 1968
Wayman, Alex, The Buddhist Tantras. Light on Indo-Tibetan
Esotericism, New York 1973

1367
Wayman, Alex und Hideko, The Lion’s Roar of Queen Shrima-
la. A Buddhist Scripture on the Tathagatagarbha Theory,
New York u. a. 1974
Wayman, Alex, Yoga of the Guhyasamajatantra. The Arcane
Lore of Forty Verses, Delhi 1977
Wayman, Alex, Male, Female and Androgyne per Buddhist
Tantra. Jacob Boehme and the Greek and Taoist Mysteries,
in : Tantric and Taoist Studies in Honour of R. A. Stein,
Brüssel 1983
Weinstein, Stanley, Buddhism under the T’ang, Cambridge u.
a. 1987
White, David Gordon, The Alchemical Body. Siddha Tradition
in Medieval India, Chicago u. a. 1996
Wilber, Ken, Das Spektrum des Bewußtseins. Ein metaphysi-
sches Modell des Bewußtseins und der Disziplinen, die es
erforschen (The Spectrum of Consciousness), München
1987
Wilber, Ken, Halbzeit der Evolution (Up From Eden), München
1988, 1
Wilber, Ken, Wege zum Selbst. Östliche und westliche Ansät-
ze zum persönlichen Wachstum, (No Boundary), München
1988, II
Wilber, Ken, Das Atman-Projekt. Der Mensch in transpersona-
ler Sicht (The Atman Project), Paderborn 1990
Wilber, Ken, Mut und Gnade. In einer Krankheit zum Tode
bewährt sich eine große Liebe. Das Leben und Sterben der
Treya Wilber (Grace and Grit), München 1992
Wilber, Ken, Eros, Kosmos, Logos. Eine Vision an der Schwel-
le zum nächsten Jahrtausend (Sex, Ecology, Spirituality),
Frankfurt 1996
Willis, Janice D., Dakini. Some Comments on its Nature and
Meaning in : The Tibet Journal, Vol. XII, No. 4, 1987
Wilson, Elizabeth, The female body as a source of horror and
insight in post-ashokan Indian Buddhism, in : Law, Jane
Marie (Hrsg.), Religious Reflections on the Human Body,
Indianapolis u. a. 1995
Wimmer, Michael, Das Andere als Spur des Heiligen, in : Kam-

1368
per, Dietmar und Wulf, Christoph, Das Heilige. Seine Spur
in der Moderne, Frankfurt 1987
Yi, Pu, Ich war Kaiser von China. Vom Himmelssohn zum Neu-
en Menschen, München 1973
Yumiko, Ishihama, On the Dissemination of the Belief in the
Dalai Lama as a Manifestation of the Bodhisattva Avalo-
kiteshvara, in : Acta Asiatica. Bulletin of the Institute of Ea-
stern Culture, Nr. 64, Tokyo 1993
Zhisui, Li, Ich war Maos Leibarzt, Bergisch Gladbach 1994
Zimmer, Heinrich, Yoga und Buddhismus. Indische Sphären,
Frankfurt 1973
In ihrer »metaphysischen Kriminalgeschichte«
entlarven Victor und Victoria Trimondi den ti-
betischen Buddhismus als einen im Kern ata-
vistischen, fundamentalistischen, sexistischen
und kriegerischen Kulturentwurf, der eine glo-
bale Buddhokratie anstrebt und der die »west-
lichen Werte« von Demokratie, Meinungsfrei-
heit, Menschenrechten, Gleichberechtigung der
Geschlechter und Humanismus grundsätzlich
in Frage stellt, obgleich er sich ständig darauf
beruft. Geisterglaube, Sexualmagie, politischer
und ritueller Mord, Kriegsideologien, Folte-
rungen, apokalyptische Visionen, Menschen-
verachtung und eine zutiefst frauenfeindliche
Kultur erscheinen auf der tibetisch-buddhisti-
schen Bühne, wenn der pazifistische Vorhang
des »Mitgefühls« weggezogen wird.
Die Autoren eröffnen in ihrer fundierten wis-
senschaftlichen Analyse einen grundsätzlichen
Diskurs über die Zusammenhänge von Sexuali-
tät, Religion und Politik in der Geschichte. Ihr
Buch ist ein aufklärendes und spannendes kul-
turhistorisches Grundlagenwerk und einzigar-
tig in der Fülle der international zum Thema
angebotenen Literatur.

Das könnte Ihnen auch gefallen