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Wiener Slawistischer Almanach ∙ Sonderband ∙ 20

(eBook - Digi20-Retro)

Wolf Schmid (Hrsg.)

Mythos
in der slawischen Moderne

Verlag Otto Sagner München ∙ Berlin ∙ Washington D.C.

Digitalisiert im Rahmen der Kooperation mit dem DFG-Projekt „Digi20“


der Bayerischen Staatsbibliothek, München. OCR-Bearbeitung und Erstellung des eBooks durch
den Verlag Otto Sagner:

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© bei Verlag Otto Sagner. Eine Verwertung oder Weitergabe der Texte und Abbildungen,
insbesondere durch Vervielfältigung, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlages
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«Verlag Otto Sagner» ist ein Imprint der Kubon & Sagner GmbH. Wolf Schmid - 978-3-95479-657-1
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WIENER SLAWISTISCHER ALMANACH
SONDERBAND 20

LITERARISCHE REIHE
HERAUSGEGEBEN VON AAGE A. HANSEN-LÖVE

Wolf Schmid - 978-3-95479-657-1


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MYTHOS IN DER SLAWISCHEN
MODERNE
HERAUSGEGEBEN VON WOLF SCHMID

1987

GESELLSCHAFT ZUR FÖRDERUNG SLAW1STISCHER STUDIEN, WIEN


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.BayeriąctW
S tu tsb lb lto ttu k
München

TTTELGRAPHIK

Diagramm der linken Hand (Jean Belot, Πuvres, Lyon 1649)

DRUCK

Offsetschnelldruckerei Anton Riegelnik


A-1080 Wien, Piaristengasse 19

ZU BEZIEHEN ÜBER

Wiener Slawistischer Almanach


Institut für Slawistik der Universität Wien
A-1010 Wien, Liebiggasse 5

EIGENTÜMER UND VERLEGER

Gesellschaft zur Förderung slawistischer Studien

© Alle Rechte Vorbehalten

ISSN 0258*6827
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I N H A L ‫ז‬

Vorwort

Aage A. HANSEN-LÖVE (Wien)


Mythos als Wiederkehr. Ein Essay

Ig o r ' P. SMIRNOV (Konstanz)


Тотемизм и теория жанров 25

Rainer GRUBEL (Oldenburg)


Wertmodellierung im mythischen, postmythischen und
rem ythisierten Diskurs. Zum Problem des sekundären
Synkretismus 37

Aage A. HANSEN-LÖVE (Wien)


Zur Mythopoetik des russischen Symbolismus 61

N ils Ake NILSSON (Stockholm)


Sergej Gorodeckij and His ‫״‬J a r '" 105

Willem G. WESTSTEIJN (Amsterdam)


Die Mythisierung des ly ris c h e n Ich in der Poesie
V e lim ir Chlebnikovs 119

Aleksandar FLAKER (Zagreb)


Die Straße: Ein neuer Mythos der Avantgarde.
Majakovskij, Chlebnikov, Krleža 139

M iroslav DROZDA (Praha)


Мифологизм Леонида Андреева 157

Dagmar BURKHART (Hamburg)


Mythoide Verfahren der Welt-Generierung
in Andrej B elyjs "Peterburg” 169

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Walter KOSCHMAL (München)


Zur mythischen Modellierung von Raum und Z e it
bei Andrej B elyj und Bruno Schulz 193

R olf FIEGUTH (Fribourg)


Bemerkungen zur Degradation des Mythos im Drama
bei St. Wyspiański und St. I . W itkiewicz 215

Jerzy FARYNO (Warszawa)


Археопоэтика "Писем из Тулы" Пастернака 237

Andre van HOLK (Groningen)


Mythische Handlungsstruktur in a va n tg a rd istisch er
Gestaltung. Am B e is p ie l von P il'n ja k s "G olyj god" 277

Peter Alberg JENSEN (Stockholm)


Der Text a ls T e il der Welt. Vsevolod Ivanovs
Erzählung "Farbige Winde" 293

Jan van der ENG (Amsterdam)


Komplizierung der Thematik durch den Mythos.
Babe1 ' s " Konarmi ja " 327

J. Joost van BAAK (Groningen)


Zur lite r a r is c h e n Physiologie des modernen
lite r a r is c h e n Helden. Am B e is p ie l der
Kosaken in Babel's "Konarmija" 349

Wolf SCHMID (Hamburg)


Mythisches Denken in "ornamentaler" Prosa.
Am B e is p ie l von Evgenij Zamjatins "Überschwemmung" 371

Renate LACHMANN (Konstanz)


Mythos oder Parodie: Nabokovs Buchstabenspiele 399

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VORWORT

Vom 3. b is 5• September 1986 fand in Hamburg das Symposium


Mythos in der slawischen Moderne s ta tt, das sowohl in seiner
Fragestellung a ls auch in der Zusammensetzung der Teilnehmer
an frühere lite r a tu r th e o r e tis c h e Kolloquien anknüpfte. Die Rei-
he d ie ser Tagungen wurde 1982 in Hamburg m it einem s la w is tis c h -
rcmanistischen Kolloquium zur I n t e r t e x t u a l it ä t in der L it e r a t u r
B ild ku n st und Musik e r ö ffn e t; man v g l. dazu den von W olf-D ieter
Stempel und mir herausgegebenen Sairanelband D i a l o g der T exte.
Hamburger K o l lo q u i u m zur Intertextualität (= Wiener S la w is ti-
scher Almanach. Sonderband 11), Wien 1983. Es fo lg te im Jahre
1983 das U t r e c h t e r Symposium z u r Theorie und G e s c h i c h t e der
russischen E r z ä h l u n g , das in dem von Rainer Grübel edierten
Band R u s s i s c h e Erzählung. Russian Short S t o r y . Русский Рассказ
(= Studies in S la vic L ite r a tu r e and P oetics. 6 ), Amsterdam 1984
dokumentiert is t. Im Jahre 1984 wurde die Reihe m it dem von
Aage Hansen-Löve in Wien o rg a n is ie rte n Symposium E r i n n e r n - Ver
gessen - Gedächtnis fo r tg e s e tz t, dessen Beiträge im Band 16
(1985) des W i e n e r Slaw istischen Almanachs abgedruckt sind.
Die Aufgabe des zweiten Hamburger Symposiums war es, die
in jüngster Z e it ‫־‬ zumeist aus der Perspektive der Postmoderne
wieder h e ftig d is k u tie r t e Rückkehr zum Mythos am B e is p ie l der
slawischen L ite ra tu re n als Grundzug der ra tio n a lis m u s k ritis c h e n
a n tire a lis tis c h e n Moderne aufzuweisen. Der B e g r iff der Moderne
wurde im weiteren Sinne verstanden; er schloß auch die Avant-
garde m it e in . Somit b ild e te den Bezugsrahmen die Z e it zwischen
1890 und 1930.
Die Untersuchung der re-mythisierenden Moderne konnte sich
n a tü rlic h n ic h t im s to ffg e s c h ic h tlic h e n Aufweis mythologischer
Gestalten und Motive erschöpfen. Es ging vielmehr um d ie Rekon-
s tru k tio n der w e ite r und t i e f e r reichenden Mythopoiesis der
Moderne. Es g a l t somit, das mythische Denken der Moderne in

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seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen aufzuspüren: als
M e n ta litä t der d a rg e s te llte n Welt, a ls Bauform des diese Welt
präsentierenden poetischen oder prosaischen Textes und schließ-
lie h a ls generatives P rin z ip der Weltimagination und Textpro-
duktion.
Der vorliegende Band e n th ä lt in ü b e ra rb e ite te r und zum
T e il erheblich e rw e ite rte r Form die Vorträge, die auf dem Sym-
posium gehalten und a u sfü h rlic h d is k u t ie r t worden sind. Darüber
hinaus haben Miroslav Drozda und Jerzy Faryno, die an der T e il-
nähme verhindert waren, Aufsätze beigesteuert. Aage Hansen-Löve
hat zu seinem Essay, der das Symposium e rö ffn e te und auch d ie -
sen Band e i n l e i t e t , eine s c h r if t lic h e Vorlage m it einer Abhand-
lung zum Symbolismus v e r t e i l t , die in der Diskussion m it be-
rü c k s ic h tig t wurde. Deshalb i s t er in diesem Band m it zwei Bei-
trägen v e rtre te n .
Der Band i s t im übrigen ein B e isp ie l d a fü r, wie das Objekt
zur Methode werden kann. Archaische Vorstellungsweise them ati-
sierend, verdankt er sich se lbst einer H erstellungstechnik, die
in unseren rasch computerisierenden Tagen n ic h t anders als a r-
chaisch genannt werden kann: is t er doch zum Druck noch über
das m ittle r w e ile s te in z e itlic h e Gerät der Kugelkopfschreibma-
schine gelangt. Das Typoskript-Verfahren aber bedarf, wie man
weiß, s o r g fä ltig e r Schreiber und aufmerksamer Korrektoren. Die-
se standen m ir in einer Redaktionsgruppe zur Verfügung, zu der
Maike Bauer, Ruth Johannsen, Karin I . P a fo rt, M.A., Susanne
Veselov und Reinhold Vogt gehörten. Ihnen danke ich fü r ih re
geduldige M ita rb e it. Mein Dank g i l t auch der U n iv e rs itä t Ham-
bürg, die se lb st in einer Z e it strengster Sparmaßnahmen die
A rb e it der Redaktion f in a n z ie ll u n te rs tü tz t hat.

Hamburg, J u li 1987 Der Herausgeber

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Aage A. HANSEN-LÖVE (Wien)

MYTHOS ALS WIEDERKEHR

Ein Essay

Die Wiederkehr i s t etwas dem Mythos Immanentes ‫־‬ und das in


z w e ie rle i H in sic h t: “Wiederkehr" is t einmal die Weise des Auf‫־‬
tre te n s des Mythos in der G estalt seines Erzähltwerdens. Der My-
thos s e lb s t is t eine A rt des "Erzählens", fü r die das P rin z ip
der Wiederholung unabdingbare Voraussetzung i s t . Zugleich i s t
der einzelne Mythos immer bloß die Wiederholung eines einzigen
Ur‫־‬ und Ausgangsmythos, der a ls kosmischer URTEXT a lle s immer
schon e n th ä lt und im Sinne e in e r allem vorhergehenden DNS-Urmas-
se " in nuce" vorwegnimmt. Im Gegensatz zum z ie ls tre b ig e n Voran-
schreiten des epischen und mehr noch des romanesken, n o v e llis ti-
sehen Erzählens (sei es in Wort oder B ild ) is t das Kompositions-
p rin z ip des Mythos e ig e n tlic h n a r r a tiv , im w örtlichen Sinne prä-
h is to r is c h . Die einzelnen Motive sind noch keiner fix e n Abfolge
im raum -zeitlichen Kontinuum der fik tio n a le n Erzählwelt u n te r-
tan, sie sind vielmehr f r e i beweglich, austauschbar und dienen
allem anderen als dem Unterhaltungsbedürfnis eines auf Spannung
und Auf-Lösung des n arrativen Knotens f ix ie r t e n Hörers. Gerade
das I t e r a t iv e , das In s is tie r e n immer g le ic h e r Symbole und r it u a -
lis ie r te r Abläufe zeichnet das Mythische aus. Da w ir die Mythen
- a lle n voran die griechischen - immer schon in einer weitgehend
e p is ie rte n und n a r r a tiv is ie r te n Erzählform ü b e r lie fe r t haben,
neigen w ir dazu, diese schon sehr späte Form der Erscheinungs-
weise dem Mythischen selbst gleichzusetzen. Tatsächlich b e fr ie -
d ig t aber der Mythos in seiner ursprünglichen Funktion n ic h t ein

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10 Aage A . Hansen-Löve

distanzschaffendes F ik tio n s b e d ü rfn is, das ja eine kla re Trennung


von nacherlebendem Hörer‫ ־‬Ich und dem narrativen Helden, zwischen
dem "h ic e t nunc" der E rz ä h ls itu a tio n und der Szenerie des E r-
zählten voraussetzt ‫־‬ eine "Rampe" also, deren bloß v о r g e -
s t e l l t e s überschreiten den eigentlichen " K itz e l" des
F ik tio n a le n b ild e t .
Der Mythos dagegen hat keine "Rampe" und kennt auch ke in e r‫־‬
le i f ik t io n a le D ia le k tik des g le ic h z e itig im D argestellten an-
und abwesenden Hörers, der zwar die phantasieanregende, ja auch
ka th a rtisch e "Spannung" des episch-tragischen Helden genießt,
genauer: " i n t r o j i z i e r t " , v e r in n e r lic h t, ohne die le ta le n oder
je d e n fa lls strapaziösen Folgen der heroischen P eripetien und
Traumata am eigenen Leibe verspüren zu müssen. Daher erscheinen
auch dem auf das Fiktionslesen o r ie n tie r te n modernen Menschen
mythische Texte (se lb st in ih r e r n a r r a tiv is ie r te n Spätform als
Sage oder Märchen) so la n g w e ilig , w e il da die S t e llv e r t r e t e r -
Spannung auf scheinbar d ile tta n tis c h e Weise immer wieder ge-
s tö rt, ja gar n ic h t e rs t aufgebaut w ird. Auf der Ebene des Be‫־‬
wußtseins und des damit verbundenen n arra tive n Wissens i s t der
Ablauf des Mythos (ebenso wie übrigens auch jener der g r ie c h i-
sehen Tragödie) von A b is Z p rä d ikta b e l, quasi ein Witz ohne
Pointe oder eine Pointe ohne den dazugehörigen W itz. Der Mythos
e rsch e in t s ta r r , s ta tis c h , uninteressant, p r im it iv , w e il er die
fü r jede Fiktionserzeugung unerläßliche I d e n t if ik a t io n m it e in e r
in d iv id u e lle n Perspektive, einem nachvollziehbaren "Standpunkt"
(p o in t o f view) n ic h t aufw eist. Sich Id e n t if iz ie r e n bedeutet ja
n ic h ts anderes als die sehr spät e rs t in der menschlichen Evolu-
t io n auftretende F ähigkeit bzw. F e r tig k e it, das eigene, unver-
wechselbare, in d iv id u a lis ie r t e Ich-Bewußtsein durch das eines
anderen Menschen auf der Vorstellungsebene zu ersetzen, wobei
das eigene Bewußtsein die Rolle des "Zuschauers" lu s tv o ll s p i e lt ,
während dem fremden Bewußtsein die Funktion des "Akteurs" über‫־‬
lassen w ird . Die Aufgabe der Fiktionskünste besteht ja gerade
d a rin , eben diese "Beweglichkeit" des in d iv id u a lis ie r te n Ic h -
Bewußtseins aufrechtzuerhalten, d.h. das Bewußtsein des anderen
in einem solchen Maße "nachspielen" zu können, daß das eigene

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Mythos a l e W iederkehr 11

Bewußtsein gleichsam ‫׳‬,bewußtlos‫ ״‬w ird , ohne dadurch die v ita le n


Lebensfunktionen auszulöschen.
Der Fiktionsmensch " e r h o lt" sich also in "fremden K le id e rn"
von dem Totalitätsanspruch des eigenen Bewußtseins, das zwischen
rollenbedingtem Gewand und eigener Haut n ic h t mehr un terschei‫־‬
d e t. G le ic h z e itig g a ra n tie rt die eigene F ä h ig ke it, sich " in den
anderen zu versetzen", die sehnsuchtsvolle Hoffnung, derselbe
Vorgang müßte auch umgekehrt gelingen: nämlich s e lb s t der "Be‫־‬
wußtseinsfokus" eines anderen zu werden. Die damit verbundene
E rleichterung lie g t g le ic h f a lls auf der Hand: Sie r e s u l t i e r t aus
der beruhigenden Erfahrung, daß die eigene Innenwelt und a l le
damit verbundenen Wahn-Sinne und Zwänge immer noch "n a ch vo ll‫־‬
ziehbar" seien. Gerade die Fixierung auf die Angst, n ic h t mehr
aus der Perspektive eines anderen Menschen nacherlebbar zu sein,
n ic h t mehr die "Helden" der je w e ilig e n Bewußtseinswelten gegen-
einander "austauschen" zu können, eben diese Angst vor dem t o t a -
len Isolationism us des Eigenen macht die I d e n t if ik a t io n fü r den
Kulturmenschen zu einer überlebensfrage. Solange meine "Ge-
schichte" noch einen anderen a ls "supplierenden" Helden zu lä ß t,
kann sie n ic h t so verrückt sein, wie sie m ir selb st immer mehr
vorkommt. Umgekehrt: Solange ic h in der Lage b in , mich an das
Bewußtseinssteuer eines fremden "Autos" (auch im Sinne des
aÔTÓc) zu setzen, kann ich die Gewißheit haben, über einen halb-
wegs gemeinsamen Verstehenshorizont zu verfügen und damit bei
m ir selbst daheim sein zu können, ü b e rs p itz t könnte man sagen:
Im Gegensatz zum axchaisch-mythischen Menschsein i s t d ie rezente
Humankondition darauf angewiesen, die je w e ils eigene In d iv id u a l-
geschichte und damit sich se lb st als n arra tive n Helden im Zu-
stand der 1
1(Nach-)Erzählbarkeit" zu halten.
Umgekehrt könnte man also form ulieren: Das moderne Ic h ‫ ־‬Be‫־‬
wußtsein i s t sich nur dann seiner selb st gewiß, wenn es zum
nachvollziehbaren Erzählsubjekt eines fremden Ich werden kann
und vice versa. Oder noch p rä z is e r: Das Individualbewußtsein,
bestehend aus einem Reflexionsorgan und einem F iktionsorgan,
d.h. aus N a c h ‫־‬ Denken und V o r ‫־‬ S te lle n , is t das Pro-
dukt einer g le ic h z e itig wirksamen Ver- und Entgegenwärtigung.

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‫*י‬ Aage A. Haneen-Löve

Das R eflexions-Ich is t im F ik tio n s -Ic h “ ve rsch lu ckt‫ ״‬, da die


Anwesenheit der Reflexion die Abwesenheit von F ik tio n bedingt -
und umgekehrt. Für den "R e fle k to r" besteht das Wesen des (eige-
nen) "F ik tio n a to rs " in seiner grundsätzlichen Inkonsistenz• Aus
seiner S icht i s t das zur Id e n t if ik a t io n fähige und zur Lust am
Selbst strebende F ik tio n s -Ic h "u n e ig e n tlic h ", "lü g e n h a ft", nur
"scheinbar" und der Reflexion "unverfügbar"; aus der S icht des
F ik tio n s trie b e s bedroht die R e fle x iv itä t die Selbstvergessenheit
und U nm itte lb arke it der Hineinverwandlung in s Andere. Die "Re-
fle x io n " is t Hüterin der Schranken zwischen Ich und Du, Subjekt
und Objekt, F a k t iz it ä t und F i k t i o n a l i t ä t , is t Türhüter zwischen
Eigenem und Fremden an der "Rampe" zwischen Zuschauer und Ak‫־‬
te u r; sie steht unverzüglich m it der ernüchternden "ka lte n Du-
sehe" b e r e it, wenn die Fiktionsverzückung den Rückweg aus dem
"Fremdgehen" zu verlegen d r o h t.. .
Nichts von a l l dem im mythischen Dasein: Der Mythos
" s p ie lt " n ic h t m it dem K itz e l des Fremdgehens ‫־‬ er is t das Frem-
de se lb st und zugleich seine Bewältigung. Der Mythos v e rz ic h te t
auf die "Spannung" der überraschenden E inm aligkeit ‫ ־‬wie sie das
rezente Geschichtenerzählen sich selbst a u fe rle g t -, der Mythos
bewegt sich in der Wiederholung des Unbekannten, er "dreht sich
immer um sich s e lb s t" wie eine Doppelspirale, deren eine Bahn
sich in die T iefe schraubt, während die andere aszendiert. In
dieser Selbstbewegung e rs e tz t die mythische E n t f a l t u n g
die horizontale n a rra tiv e L in e a r itä t; Z y k l i z i t ä t is t
die S tru k tu r einer in sich ruhenden Bewegung, die keinen "F o rt-
s c h r it t" , keine Akkumulation von Wissen und fa k tis c h e r Informa-
tio n kennt, sondern nur das rhythmisch-pulsierende Wachsen und
Vergehen einer unbekannten Wesenheit.
Der Mythos i s t der Text einer Welt, die noch keine h is to -
ris ie rb a re Bewußtseinsgeschichte hat. Aus der S icht dieser Ge-
schichte erscheint er "roh" und "grausam", w e il er kein elabo-
r ie r t e s Bewußtsein kennt, das sich die Welt untertan macht, in -
dem es sie v e rte x te t* Als Ablauf von ikonischen oder verbalen
Motiven i s t der Mythos eine A rt "Unendlichband", das den Kode
der Welt permanent präsent h ä lt . Anders als die Geschichte, de-

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Mythos a l s W iederkehr 13

ren f i k t i o n a l e r Diskurs wie ein F ilm s tre ife n am ‫״״‬geistigen Auge"


des in d iv id u e lle n Projektors v o r b e i z i e h t und damit
die temporale Dynamik der punktuellen S ta tik des Betrachters
e n tg e g e n s te llt, anders als dieser is t der "mythische Mensch"
se lbst immer "bewegt": Er se lb st is t es, der sich durch den "ту-
thischen Raum" bewegt oder dies an der Hand eines r itu e ll be-
stimmten "Mythagogen" (eines Mythenführers) tu t. Während also
das Erzählen in eine kausale und temporale Konsequenz suggestiv
h in e in z ie h t ( is t doch jedes Erzählen auch eine A rt der "Ver-
Führung" und "Behexung"), durchwandelt der Mythagoge einen
R a u m, dem die Kategorie der Z e i t und der m it ih r ve r-
bundenen K o n tin u itä t und Homogenität des Seins fe h lt.
Der mythische Raum v e rfü g t über keine durchgehende physika-
lis c h e oder geographische Ausdehnung, sondern über eine T о -
p o g r a p h i e von imaginativen Zuständen, die d i s -
k o n t i n u i e r l i c h , also sprunghaft und (aus der S icht
des perspektivischen Bewußtseins) inkonsequent a u ftre te n . Im то-
dernen raum -zeitlichen Kontinuum erhalten a lle Gegenstände und
S ituationen dadurch eine k o n tro llie rb a re Bedeutung (und damit
auch Existenzberechtigung), daß sie im Sinne einer praktischen
Erfahrung fu n k tio n ie re n ; im Rahmen dieses kausal-empirischen
Denkens i s t die K o n tin u itä t des Bewußtseins von Einzelnen oder
K o lle k tiv e n nur insofern g e sich e rt, a ls jede Erscheinung (bei
ihrem A u ftre te n oder möglichst schon vorher) s in n v o ll nacher-
zählbar, der eigenen oder allgemeinen Sinnproduktion e in v e rle ib -
bar e rs c h e in t. Der N a r r a t o r is t also jemand, der auf
p r iv ile g ie r t e Weise das A uftreten von Erscheinungen in einen
sin n volle n Bedeutungszusammenhang b rin g t und damit e ig e n tlic h
die H errschaft über die Z e i t a n tr itt, die in das lin e a re
Flußbett eines e in sin n ig ablaufenden, z ie ls tre b ig e n Prozesses
e in r e g u lie r t w ird . Indem der innere Erzähler, a ls welcher das
Bewußtsein a ls I n t e ll e k t sich se lb st gegenüber f i g u r i e r t , die
je w e ils auftretenden Erscheinungen und Eindrücke k a te g o r is ie r t,
s e r ia lis ie r t und dabei tü c h tig s e le k t ie r t und m a n ip u lie rt, tr itt
er a ls I n t e r p r e t a t o r , d.h. Sinngeber, und damit
g le ic h z e itig a ls Produzent und Held der eigenen Geschichte auf.

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14 Aage A. Hansen-Löve

Das "Erzählen" der eigenen Geschichte (also das je w e ilig e In t e r -


p re tie re n der momentanen E indrucksfülle im Chaos des "h ic et
nunc") würde dann, wenn es im Menschen nur das Ich-Bewußtsein
gäbe, zusammenfallen m it dem "Leben der eigenen Geschichte" -
eine Schlußfolgerung, die jenen Bewußtheitsstau verursachte,
welcher den philosophischen und e x is te n tie lle n R a d ik a l-Id e a lis -
mus des 19. Jahrhunderts mitverschuldet h a tte .
Gänzlich anders die D is k o n tin u itä t und kausal-empirische
Inkohärenz des mythischen Raumes: Hier i s t die Bedeutung von
Dingen und Ereignissen n ic h t das Ergebnis von In te rp re ta tio n
durch den Einzelnen (oder jener In s titu tio n e n , denen er sich ah-
v e r tr a u t) , h ie r is t "Bedeutung" quasi "naturgegeben" und "w irk -
lie h " in so fe rn , a ls ih re Wirksamkeit auf unsere Sinngebung und
Zuordnung verzichten kann. Konsequent lä ß t sich daraus fo lg e rn ,
daß der Mythos (in seiner ursprünglichen, v o rk u ltu re lle n und
vornarrativen S truktur) Bedeutungen p rä s e n tie rt, k o n fig u r ie r t,
a rra n g ie rt, die als S y m b o l e und n ic h t als p o te n tie lle
S i n n t r ä g e r a u ftre te n . Daher auch die provokante "Sinn-
Leere" des Mythischen und a l l e r ihm analog und homolog s tru k tu -
r ie r te n "Topographien" - also etwa auch des Unterbewußten.
Der n a rra tiv e Diskurs, die in Bewußtseinsgeschichte über-
setzte A llgegenw ärtigkeit der Welt, lie f e r t "Bedeutungen" und
damit gewissermaßen den "Rohstoff" des "Bewußt-Seins" immer nur
in H in b lick auf den S i n n z u s a m m e n h a n g , den eine
je w e ilig e K u ltu r insgesamt d a r s t e l lt : Geht der Sinn verloren und
damit die als adäquat empfundene In te r p r e tie r b a r k e it des Gesche-
hens, dann g ib t es auch keine "Bedeutungen" mehr. Auch h ie r se-
hen w ir , wie lebenswichtig es fü r das k u lt u r e lle Ich is t, seine
"Sinnkompetenz" je w e ils dadurch zu überprüfen, daß es (wie schon
gesagt: f lk t io n a l) z e itw e ilig die eigene Geschichte durch eine
fremde e rs e tz t. Das "P rivatleben" des Ich-Bewußtseins - also die
In d ivid u a le xiste n z ‫־‬ is t sich paradoxerweise seiner "Einm alig-
k e it " a ls seines höchsten Gutes gerade dann am gewissesten, wenn
#

es (m it Hoffnung auf problemlose Rückkehr) in einer anderen Ge-


schichte, in einem anderen Lebens-Text eine ganz andere G estalt
annimmt. Daher i s t auch eine der Hauptbetätigungen des K u ltu r-

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Mythos a l s W iederkehr ‫>־ י‬

menschen Verkleidungsspiel und Voyeurismus. Der auf sein I n d i-


vidualbewußtsein Beschränkte kann seinen “ Eigen-Sinn‫ ״‬nur mehr
dann entdecken, wenn er - rausch- und suchthaft - sich selb st in
der Verkleidung eines anderen begegnet (das zur T ra n sve stie ); er
kann seinen unendlich unbefriedigten E x h ib itio n s trie b (den er
fü r Selbstverw irklichung h ä lt) nur dadurch s t i l l e n , daß er die
Rolle des Akteurs m it jener des Zuschauers verwechselt, der das
eigene Leben aus dem gegenüberliegenden Fenster b e tra c h te t. In
l e t z t e r Konsequenz erscheint dann die "Lebensgeschichte" a ls das
Produkt einer Sinngebung durch die v ie le n anderen, m it deren Au-
gen w ir uns se lbst betrachten.
Der mythische Mensch, genauer: die mythische Substruktur
des Unbewußten kennt seine eigene Geschichte und damit seine
p rä d e s tin ie rte Sinngebung n ic h t, er befindet sich permanent " in
s ta tu nascendi", indem er immer mehr das w i r d , was er e i -
g e n tlic h von Anfang an schon war bzw. i s t . Wenn also die Be-
deutungen im Mythos n ic h t a ls S i n n re p rä s e n tie rt werden,
sondern als S y m b o l e präsent und wirksam sind, bedarf es
im mythischen Raum auch keiner Sinngebung, die das r e fle k tie r e n -
de und zugleich f ik t io n a le Bewußtsein zum Autor hat. Daher lä ß t
sich der Mythos e ig e n tlic h auch n ic h t im oben gemeinten Sinne
" in te r p r e tie r e n " , wenn damit die Übersetzung der V ie ld e u tig k e it
und Ambivalenz des Symbolischen in die je w e ilig e E in d e u tig k e it
und Benützbarkeit lin e a re r Texte gemeint i s t . Daher sagen die
Mythologen auch: Ein Mythos lä ß t sich nur in einen anderen
"übersetzen", ja a lle Mythen (in der ermüdenden V i e l f a l t ih r e r
je w eilig en Vertextung) sind nur wechselseitige Übersetzungen
eines einzigen Urmythos, der a ls Schöpfungswort Schöpfer und Ge-
schaffenes zugleich d a r s t e l lt .
Der Mythos wird - aus der S icht der geschichtlichen Mensch-
h e it - immer schon a ls v e r b a lis ie r te r T e x t v o r g e s te llt und
in diesem Medium t r a d ie r t . Wir haben es gewissermaßen immer
schon m it "Nach-Erzählungen" von "Nacherzähltem" zu tun, m it
Sinngebungen und In te rp re ta tio n e n also, die - unendlich wieder-
h o lt und solchermaßen v e rb a llh o rn t - eine ursprüngliche Bot-
schaft zum Verstummen gebracht haben könnten. Wenn es auch wahr

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16 Aage Л. fíansen-Lõve

is t, daß der e p is ie rte oder n a r r a t iv is ie r t e Mythos immer schon


unkenntlich gemacht wurde - und das umso mehr, a ls der Anschein
von Sinn und Konsequenz erweckt wird - , wenn also Archaik und
N a tu rh a ftig k e it immer neuen Restaurationsversuchen und Umbauten
unterworfen wurden: Das mythische "stratum imagine" is t dennoch
allgegenwärtig, wo Menschen m it Zeichen umgehen oder solche s e t-
zen. Am allerw enigsten d o rt fr e ilic h , wo ein re s ta u ra tiv e s Kul-
turbewußtsein das Mythische am ehesten vermutete und e in e r
wohlmeinenden "P a rze llie ru n g " zuführen w o llte : In den "Reserva-
ten" einer auf "K lassik" oder "überseeische Exotik" s tilis ie r te n
M o t i v i k , in der b lo ß . thematischen K o s t ü m i e -
r u n g und antikisierenden P a t i n i e r u n g "a lte rtü m -
lic h e r S to ffe " , die über ansonsten hochtechnisierte T rägerstruk-
turen und Funktionsträger d ra p ie rt werden.
Etwas ü b e rs p itz t könnte man sagen: Das Mythische is t gerade
d o rt am wenigsten präsent, wo es als T h e ma am vordergrün-
digsten in Erscheinung t r i t t : Apollo und Dionysos, Demeter und
A starte, Ödipus und Orpheus... So entscheidende Bedeutung der
Na me (vor allem der g ö ttlic h e ) fü r die K onstituierung des
Mythos hat, so nichtssagend i s t das mythoide "name dropping" in
ansonsten durch und durch amythischen modernen Erzähl- oder
Bildwerken. Genaugenommen i s t das Mythische eine vielsagende Ab-
Wesenheit an der Oberfläche der Texte, jenes "beredte Schwei-
gen” , das sich unter der geschwätzigen M itte ils a m k e it e in e r ver-
netzten Kommunikationsgemeinschaft v e r b ir g t.
Der Mythos lä ß t sich n ic h t herbeireden, obwohl er sich doch
in jeder auch noch so nachlässigen Bemerkung ein nisten kann, aus
der er - ohne daß es dem Sprecher oder Erzähler bewußt wäre -
h e r v o r b litz t . V ie lfa ch is t der Mythos das, was der E rzähler gar
n ic h t "sagen w i l l " , was sein Erzählen eben verbergen, v e rh ü lle n ,
unterdrücken s o l l : Scheherezade e rz ä h lt und e rz ä h lt, um eben
n ic h t an jenes Ende zu kommen, das fü r sie den Tod bedeuten wür-
de - und doch i s t ih r Erzählen se lb st eine Form des Sterbens,
das sich vor den lebenden Helden verborgen h ä lt . Aus d ie se r
S icht is t das Mythische gewissermaßen das U n b e w u ß t e
einer jeden Rede, die vom Bewußtsein geführt und gelenkt w ird .

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Mythoe a l e W iederkehr 17

Solange "Ic h " rede, kann "Es" schweigen...


Ein Vergleich der mythisch-archaischen Strukturen m it dem
U n b e w u ß t e n des Menschen oder ganzer K o lle k tiv e is t
aber nur dann s in n v o ll, wenn folgende Einschränkungen immer be-
wußt bleiben. Ich möchte h ie r nur einige aufzählen:

1. Bei einem Vergleich zwischen Mythisch-Archaischem und u n te r-


oder unbewußten psychischen Strukturen kann es sich keineswegs
um eine I d e n t i t ä t handeln, es sei denn, w ir würden als
"Mythologen" die v o rh is to ris c h e und damit vorbewußte P o sition
des Urmenschen einnehmen, der offenbar ausschließ lich oder w e it-
gehend aus e in e r solchen mythisch-unbewußten I d e n t it ä t heraus
le b te und im a g in ie rte , was ja gleichbedeutend m it "Denken" war.

2. Wir dürfen diesen Vergleich aber auch n ic h t so sehr als


A n a l o g i e von B ildern und Motiven sehen, wie dies so o f t
von fe h lg e le ite te n Jungianern propagiert wurde, die sich gerne
das Unbewußte als eine A rt archaischer B ild e rg a le rie v o rs te lle n .
Ich möchte h ie r nur einschieben, daß Jung s e lb st immer wieder
p r ä z is ie r t , es handle sich bei den Archetypen, die im Unbewuß-
ten a ls m y t h o g e n e K rä fte wirksam sind, um "leere
S tru ktu re n ", die e rs t dadurch, daß sie ins Bewußtsein tre te n
und das " L ic h t der Welt e rb lic k e n ", eine konkrete b i 1 d -
h a f t e oder v e r b a l e G estalt annehmen, je nachdem,
welcher Epoche und K u ltu r der je w e ilig e Bewußtseinsträger ange-
h ö rt. Diese "leeren Strukturen" v e rg le ic h t Jung tre ffe n d m it
der Wirksamkeit von " K r i s t a l l g i t t e r n " , an deren Achsen entlang
sich die transparente Materie - k r a ftlin ie n fö r m ig - a n sie d e lt.
So i s t auch der Archetypus (oder wie auch immer sonst eine Aus-
gangsstruktur bezeichnet wird) eine p o te n tie lle g e n e r a -
t i v e und gestaltbildende Ordnung, in die sich - je w e ils
z e it - und bewußtseinsbedingt - unterschiedliche imaginative Eie-
mente ansiedeln, die dem k u ltu r e lle n Kode (d.h. dem semantischen
und ikonographischen Wörterbuch) ih r e r Z e it angehören. Eine
a n a l o g e Beziehung zwischen Mythologemen, d.h. mythischen
oder symbolischen Themen bzw. Motiven und Bewußtseinsinhalten
wäre meiner Meinung nach eher in der Sphäre des je w e ils g ü lti­

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1ö Aage A. Напвеп-Löve

gen k u ltu r e lle n U b e r -Ic h anzusiedeln: Hier in der e ite r n -


oder - genauer - vaterbestiiranten Bewußtseinsordnung i s t der
Mensch M itg lie d einer t r a d i e r t e n und zu jeder Z e it
neu a k tu a lis ie r te n und m o d ifiz ie rte n Zeichen- und Wertordnung,
in die jeder einzelne hineinerzogen w ird. Hier i s t - übersetzt
in d ie V i e l f a l t ikonographischer oder sonstiger Zeichenprogram‫־‬
me - der Mythos als thematische A lle g o rie und damit l e t z t l i c h
a ls Motiv von Bildungswissen gespeichert. Der Vergleich von My-
thos und Unbewußtem b e t r i f f t aber eben n ic h t diese a n a l o g
ausgebaute B ild e r - und Bildungswelt, sondern die Übereinstimmung
auf der Ebene der H o m o l o g i e , d.h. der Denkstrukturen.

Dies bedeutet s c h lie ß lic h 3 ., daß jeder Mensch n ic h t nur einen


Zugang zu seinem eig entlich e n Ur-Wesen über das k u ltu r e lle über-
Ich hat (dieses d ie n t ja v ie lfa c h eher der Verdrängung des U r i-
gen oder seiner Domestizierung im Musealen), es bedeutet auch,
daß es im menschlichen Wesen (in der Psyche eines jeden e in z e l-
nen) u n te rsch ie d lich "archaische" bzw. "rezente" Strukturen
g ib t , wie dies übrigens ja auch die Gehirnphysiologie nahelegt.
Demnach könnte es einen Zugang zum Mythisch-Archaischen fü r je -
den von uns geben, einen Weg, der je n s e its von (analog aufgebau-
te r ) Inform ation, von Wissen und Bewußtsein l i e g t : Es würde be-
deuten, daß w ir n ic h t so sehr durch Zeichen und Gedanken m it un-
serer Vor-Vergangenheit und den Ursprüngen in Kontakt tre te n
können a ls durch die bloße Tatsache, daß es eine A rt V e r -
w a n d t s c h a f t s beziehung zwischen mythischer und unbe-
wußter S tru k tu r g ib t . Ein T e il unseres Selbst scheint über ein
- wenn auch n ic h t d ir e k t zugängliches - " E r b e" zu verfügen,
das sich die anderen T e ile dieses selben Selbst vorenthalten
oder je d e n fa lls n ic h t automatisch aneignen können oder wollen.
Dieses "Erbe" bzw. "Erbgut" is t aber kein nacherzählbares "Wis-
sen", es i s t auch kein s in n v o lle r "Text", es sind vielmehr jene
urtümlichen Ur-Erfahrungen und Gesetzmäßigkeiten, die das "kon-
krete Denken" vom abstrakten Begriffsdenken des I n t e lle k t s un-
terscheiden.

Die platonische Lehre von der Erkenntnis a ls dvduvnoic,

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M ythos a l e W iederkehr 19

d.h. a ls W i e d e r e r i n n e r n einer vorgeburtlichen


Ideenschau, die das Wahrnehmen zu einem Akt des Wiedererkennens
macht, wurde in der europäischen Philosophie o f t sehr e in s e it ig
auf ein "Vor- W i s s e n " re d u z ie rt - wodurch ja die Frage
nach der "V ererbbarkeit" von Wissens- und Bewußtseinsinhalten
gerade f ü r to t a litä r e Umerziehungskulturen so relevant wurde.
Die Konzeption der platonischen "Anamnesis" geht aber von einem
ganz anderen E rinnerungsbegriff aus: Das "Erinnern" im engeren
Sinne bedeutet ein bewußtes, a b sich tlich e s und z ie ls tre b ig e s
Z u r ü c k g e h e n vom Heute ins Gestern m it dem Zweck, eine
Inform ation (also ein gegenständliches Wissen) oder eine E rfah-
rung dem Vergessen zu entreißen und zu vergegenwärtigen. Dieses
kommemorierende, gleichsam autobiographische E r i n n e r n
is t fü r den Aufbau eines in sich kohärenten B e w u ß t -
s e i n s u n e rlä ß lic h , eines Ic h , das sich k o n tin u ie r lic h , also
von Tag zu Tag (auch über die Nächte hinweg) seiner eigenen Ge-
schichte und - wie w ir gehört haben - seiner erinnernden Sinnge-
bung tre u b le ib t . Im Gegensatz zu diesem h o r i z o n t a -
l e n E rinnern, das eine Bewegung auf der biographischen oder
h is to ris c h e n L i n i e v o l lf ü h r t und damit das V o rb ild fü r die
Kommemorierung der "res gestae" d a r s t e l lt , meint "Anamnesis"
einen ganz anderen Erinnerungstypus, nämlich jenen, den die
Griechen auch in der Muse der Mnemosyne p e rs o n ifiz ie r te n : das
Erinnern a ls G e d ä c h t n i s a k t . In der Alltagssprache
wird Gedächtnis gemeinhin a ls ein bloßer Wissens- und Informa-
tion sspe iche r angesehen, der - g le ic h einem Computer - bestimmte
In h a lte und Themen abrufbar b e r e ith ä lt. Diese fr e ie Verfügbar-
k e it is t dem Gedächtnis f r e i l i c h fremd: Das Gedächtnis b e in h a l-
te t - nach der bei Plato in die Philosophie eingeführten sehr
archaischen V orstellung ‫־‬ eben jene archetypischen S trukturen,
die a ls Spur und Prägung in die Psyche des Menschen eingedrückt
wurden. Gedächtnisinhalte sind n ic h t abrufbar oder f r e i ve rfü g -
bar, s ie "steigen" ins Bewußtsein "a u f", wenn dafür eine e x i-
s t e n t ie lle Notwendigkeit besteht.
Nach der Vorstellung v ie le r Mythologen i s t das Gedächtnis
jener archaische Kern im Vor- und Unbewußten, in dem die u n i-

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20 Aage A. Hansen-LÕve

v e rs e ile n , k o lle k tiv e n , d.h. vor und je n s e its des in d iv id u e lle n


Er‫ ־‬Lebens liegenden in s tin k tiv e n Urerfahrungen aufgehoben sind.
Es sind dies solche elementaren Kategorien wie Geburt bzw. Ge-
bären und Tod, Einsamkeit bzw. Trennung und Verschmelzung, Frem-
de und Heimkehr, Rechts und Links, Kindsein und E lte rn s e in ,
Schwellenerlebnisse a l l e r A rt wie jene zwischen Kindheit und Ju‫־‬
gend, Jugend und Erwachsensein, diesem und dem A lts e in e tc . Ord-
nung und Wirksamkeit dieses Gedächtnisses lä ß t sich - wie a lle
v o r- und unbewußten Phänomene -
N
aus der P osition des Bewußtseins
und seiner Wissenschaft nur "re kon stru ie re n ". Einer dieser Ver-
suche m it epochalen Auswirkungen i s t jener Freuds und seiner
Nachfolger. Auch h ie r begegnen, w ir der Idee einer Homologie, d.h
e in e r s tr u k tu r e lle n Äquivalenz von Mythos und Unterbewußtem,
wenn auch m it einer ganz anderen Stoßrichtung a ls bei Jung oder
jenem platonischen Menschenbild, das er wiederaufzurichten
tra c h te te . Der a n a l y t i s c h e Zugang zum Unbewußten i s t
ein zunächst a u fk lä re ris c h e r, entmythologisierender, bewußtseins
fix ie r te r . Indem die unbewußten Prägungen als T e il der eigenen
Geschichte und der i h r eigenen Wiederholungszwänge e r -
к a n n t , d.h. bewußt gemacht werden, wird auch die mythische
S tru k tu r des Unbewußten in diesem Sinne n a r r a t i v i -
s i e r t , d.h. zur eigenen Lebensgeschichte umerzählt, wie
dies e in le ite n d angedeutet wurde. Während Freud und die Seinen
- v e re in fa c h t gesagt - a n alytisch die Individualgeschichte aus
dem k o lle k tiv e n Mythos a b le ite n und damit zu emanzipieren tra c h -
ten, geht die Mythopsychologie vom Typ Jungs den umgekehrten Weg
und versucht, im In d iv id u a lte x t des Einzellebens die Spuren des
Mythischen und Archaischen zu entdecken, auf synthetische Weise
das Selbst ganz und h e il zu machen, indem es seinen mythischen
Urzustand i n t e g r i e r t .
Nun sind w ir wieder beim Thema der Wiederkehr: Diese i s t
eine genuin mythische Erscheinungsweise, wenn man n ic h t annehmen
w ill, daß Mythos se lb st "Wiederkehr" bedeutet, "Rückkehr" nach
dem "Ausgang", nach dem "Abstieg" ins Dasein und in die kőnkre-
te G estalt des Ich und seiner Geschichte. Auf der Ebene der Ge-
schichte hat "Wiederkehr" eine ganz andere, wenn auch n ic h t we-

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Mythoe a l e W iederkehr 21

n ig e r schicksalhafte Bedeutung: Sie meint den Versuch des Be-


wußtseins, seine I d e n t it ä t und damit seine S e lb s th e it dadurch
zu erlangen, daß es zwanghaft und/oder l u s t v o ll die Exposition
der eigenen Geschichte - nach Freud die ersten Zeiten der Kind-
h e it - wiederentdecken möchte, kommemorieren muß, wie wenn a lle s
Glück und das endgültige H e il in der Rückkehr durch das Nadelöhr
der vergessenen N a t iv it ä t und N a iv itä t bestünde. Das neurotische
4
Mißlingen dieser W i e d e r h o l u n g m a n ife s tie rt sich im
Wiederholungszwang des Nichtvergessen-Könnens, im R e g r e -
d i e r e n auf einen pseudoinfantilen, pseudo-ursprünglichen,
pseudo-integralen Anfang, auf den hin der Lebensfluß - gegen die
Strömling - zurückgeschwommen w ird .
Der analytische Erinnerungszwang i s t - in seiner le ta le n
F ix ie r t h e it auf ein ursprüngliches Wissen, auf eine Geheimformel
des "e ig e n tlich e n " Lebens - auf die möglicherweise heilsaune W ir-
kung des Wiederholungszwanges angewiesen in der Hoffnung, daß
ein komraemorierendes Wiederholen der eigenen Geschichte einmal
dazu fü h r t, daß sie als die allgemeine Geschichte e in s e it ig und
erfahrbar w ird: Das aber, was a lle n Geschichten gemeinsam i s t ,
is t der Mythos.
Gleichwohl ve rfü g t die analytische Selbstaufklärung noch
über einen anderen mythischen Aspekt. Er z e ig t sich besonders
eindrucksvoll in der von Freud erstmals in die w issenschaftliche
und therapeutische Praxis eingeführten Perspektive der " fr e i-
schwebenden Aufmerksamkeit" des A n a ly tik e rs . Es handelt sich da-
bei um eine Betrachtungsweise, bei der die Rede des Analysanden
n ic h t nach ih r e r gegenständlichen, th e m a tis c h -in h a ltlic h e n , also
in unserem Sinne erzählerischen In fo r m a tiv itä t verstanden w ird ,
sondern vielmehr a ls Ausdruck einer "ganz anderen Rede", eines
ganz anderen Textes, der a ls " la te n t e r " , verborgener vom "mani-
festen" Erzählen überlagert w ird . Die "freischwebende Aufmerk-
samkeit" k o n z e n trie rt sich eben n ic h t auf die vom Bewußtsein des
Patienten "gelenkte", r a t io n a lis ie r t e "Hauptrede", sondern s ie
d e z e n trie rt sich , sie v e rfä h rt gleichsaun nach dem Verfahren des
"cross reading", indem das Auge auch nur je w e ils von Punkt zu
Punkt des Textes s p rin g t und damit einen zwar d iffu s e n aber

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22 Aage A . Hansen-Löve

gleichwohl umfassenden Uber- und E in b lic k v e rs c h a fft• Diese


D iffu s io n der Aufmerksamkeit v e rh ä lt sich aber analog zur Dis-
k r e th e it und D i s k o n t i n u i t ä t des mythischen Rau-
mes, von dem oben die Rede war. Die mythische Dimension einer
jeden Rede, die Gegenstand der "freischwebenden Aufmerksamkeit”
w ird , tr itt aus d iese r Perspektive (die e ig e n tlic h den unper-
spektivischen Aspekt des Urmenschen s im u lie r t) ebenso k la r
hervor, wie die Umrisse e in e r archäologischen oder p r ä h is t o r i-
sehen K o n fig u ra tio n von Grundmauern aus der S ich t eines F lie -
gers.
Der A n a ly tik e r a ls Mythologe b e fo lg t die Grundregel: "Keine
Auswahl t r e f f e n " , d .h . sich n ic h t hineinziehen lassen in den
Id e n tifika tio n szw a n g der fik tio n a le n Erzählrede, sondern schön
"draußen" b le ib e n . Nur so können B e sta n d te ile , Motive der Rede
des Analysanden zueinander ä q u i v a l e n t gesetzt werden,
also in einen Bedeutungskonnex tr e te n , der ansonsten unter dem
Deckmantel der E rz ä h llo g ik und ih r e r immer schon vorgefaßten In -
t e r p r e ta t o r ik unentdeckt b lie b .
Die "Grammatik" dieser verborgenen Rede w eist wesentliche
Übereinstimmungen m it dem Mythischen e in e rs e its und der Sprache
des Unbewußten anderseits a u f. Es i s t gleichsam eine in der äu-
ßeren Rede versteckte innere Rede, die da zum Klingen kommt und
auf p lö t z lic h ganz einfache und überraschende Weise die Tür zum
Gedächtnis ö f f n e t , wohin die der Erinnerung und damit der v e r-
lorenen Z e it nacheilende Erzählrede immer wieder zurückkehrt,
wie ein Mörder an den O rt seiner Tat oder der verlassene Lieb-
haber an die S tä tte der ersten oder le tz te n Begegnung.
Mythische Wiederkehr bedeutet also n ic h ts anderes a ls ein
p lö tz lic h e s , unvermutetes Finden da, wo je g lic h e s Erinnerungs-
suchen im Wiederholungszwang z i r k u l i e r t e ; Wiederkehr bedeutet
das Durchbrechen des Z ir k e ls , symbolisch ausgedrückt a ls ein
Zerbrechen des "Spiegels" jenes R e fle kto rs , der e i n e Seite
unseres Bewußtseins b ild e te ; Wiederkehr is t Erlösung aus jener
F ik tio n s s u c h t, welcher der a n d e r e T e il des Bewußtseins
v e r fa lle n is t. Am Ende der Geschichte, am Ende unserer Geschieh-
te stehen w ir möglicherweise keineswegs am Z ie lpu n kt e in e r mehr

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M ythos a l s W ied erkeh r 23

oder weniger k u n s tv o ll geflochtenen Erzählung, m it deren Auf10‫־‬


sung w ir s e lb s t auf‫־‬ und e r lö s t werden; am Ende s te h t v i e l l e i c h t
gar n ic h t die Pointe, sondern das B ild jenes mythischen Anderen,
den w ir zwischen den Zeilen und K a p ite ln unseres Lebenstextes
zwar erahnten, aber nie von Angesicht zu Angesicht entgegentra‫־‬
ten. V ie lle ic h t is t die ganze Geschichte deshalb so lang gera‫־‬
ten, w e il w ir so große Angst h a tte n, dieses Gesicht zu sehen?
Jenes Gesicht, das w ir ein Leben lang vergessen mußten, wie je ‫־‬
nen einen, einzigen Mythos, der keinen anderen I n h a lt hat a ls
diesen v o rz e itlic h e n ‫״‬t e r r o r a n tiq u u s", diesen chaotischen Me‫־‬
dusenkopf, der in der Ur-Szene, in der Ur-Verdrängung ‫״‬verges-
sen" gemacht ‫־‬ konkret: enthauptet werden s o l l t e . Es i s t immer
dieselbe Geschichte: Das Bewußtsein t r i t t a ls "Heros" auf den
Plan und versucht die Hydra zu köpfen, um seine G eliebte -‫ ־‬die
Seele ‫־‬ aus ihren Fängen zu r e tte n . Der Mythos hat tausend Häup‫־‬
te r, jedoch nur einen Leib.

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< ѵ *я **» г а*- ,ir-ttÇW *W tø rfctb ‫ ׳‬äfckwx&v «ли'ЪАйч
iiu N i^ H S ^ W C W liK H tS ł^ A a iitU M Ь **Л % *Л ‘ -• *fefcft
, т w • in *110-га Я.-4 Л1±кте?**этш«х ^ іМЫ^ ,‫»י‬-•
и‫ ־‬pwtafttøVru. <*a; CxzâhíJiv$-Ui- ,і&гфі. З.дал■- х‫ ^־‬Н л г 4 ,‫׳‬п Ti.
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И г о р ь П. СМИРНОВ (K onstanz)

ТОТЕМИЗМ И ТЕОРИЯ ЖАНРОВ

‫ ו‬.

В основе тотемизма лежит вера в то, что объектная реальность


эквивалентна субъекту. Мир объектов (животных, растений, нежи-
вой природы) выступает в тотемических мифах и ритуалах в качес-
тве такой инстанции, которая позволяет человеку (коллективу или
индивидууму) идентифицировать с е б я . Объект осознается в ви-
де субститута субъекта и vice versa.1При этом объекту приписы-
вается свойство 1быть предком субъекта1: концептуализация
объектов рассматривается концепту ализ ующим как то, что его со-
здает.
О том, что отношение эквивалентности фундирует литературу
многократно писалось.2 Насколько нам известно, однако, сходство
литературы во всем ее охвате с тотемическими верованиями не при-
влекало внимания исследователей (тотемические представления ре-
конструировались только на материале фольклора или более поздних
произведений, ориентированных на фольклор). Между тем референ-
тное содержание словесного искусства характеризуется, как и то-
темизм, непременной эквивалентностью объектов субъектам. Эта
эквивалентность манифестируется литературой самыми разными спо-
собами, которые сводятся к двум абстрактным:
В первом - простейшем - случае отприродные явления, арте-
факты и инструменты антропоморфизируются - получают в текстах
функцию агенсов, влияющих на ход и исход действия, или рисуются
как потенциальные агенсы.
Во втором случае объект, не будучи антропоморфизированным,
тем не менее служит необходимый и достаточным условием для ус-

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26 Игорь Я. Смирнов

пешного осуществления действия, которое предпринимает субъект.


В былине про Соловья Будимировича заморский купец возводит чу-
десный терем, вмещающий в себя вселенную, и только после этого
добивается руки героини, пораженной постройкой. В сказках по-
беда над противником достижима лишь тогда, когда герой обрета-
ет волшебное оружие. В романах нового времени центральный пер-
сонаж нередко стремится к обладанию богатством или предметами
социального престижа, чтобы обеспечить себе успешную социали-
зацию. Таким образом, объект равносилен субъекту (который не
был бы субъектом, не имей он жизненно важного для него объекта)
и в тех обстоятельствах, когда литература строит сугубу антропо-
центрическую картину мира.
Разумеется, тотемизм претерпевает существенное изменение в
процессе перехода от мифа к литературе. Оно состоит, прежде все-
го, в том, что объект, эквивалентный субъекту, теряет в художес-
твенном творчестве сакральность, которая вменялась ему первобыт-
ным мировоззрением. Если носитель мифов мыслил себя производным
от мыслимого им объекта, то homo h is to ric u s понимает мысль об
объекте как продукт субъекта. Соответственно: если один освящал
объектную среду, то другой ‫־‬ так или иначе - сакрализует субъек-
та и все субъектное, видя здесь начало креативности. Подвер-
гаясь десакрализации, объект, эквивалентный субъекту, превраща-
ется в конструкт - в в о з м о ж н ы й объект, становится до-
стоянием л и шь литературы и тем самым с п е ц и ф и ц и -
р у е т ее в роли одного из дискурсов.

2 .

Из того, что объекты литературных текстов (0) эквивалентны су-


бъектам (5), вытекает ряд общих следствий, которые - ввиду их
всезначимости - являются базисом для образования трансисторичес-
ких смысловых субсистем словесного искусства.
Если 0 * S, то мы вправе сделать отсюда четыре взаимоотри-
цакхцие заключения об объекте:
(і) неверно, что S, и ( іі) неверно, что S (объект не мо-
жет расцениваться ни как отрицание субъекта, поскольку
тот и другой равносильны, ни как самое субъект);

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Тотемизм и теория жанров 27

( ііі) неверно, что 0, и (іѵ ) неверно, что 0 (объект не-


льзя понимать ни как отрицание объекта, ни как собствен-
но объект).
Наряду с этим напрашиваются еще две импликации, касающиеся epa-
зу и субъекта, и объекта:
(ѵ) неверно, что 0> S , и (v i) неверно, что 0 9 S (если
объект эквивалентен субъекту, то они становятся не разли-
чимыми и тем самым совместно теряют присущее им изначаль-
но и противопоставляющее их друг другу содержание, но в
то же время было бы ложью утверждать, что в случае 0 - S
нам не даны ни 0 , ни 5)•
Этим формальным выводам соответствуют шесть хорошо извест-
ных классов литературных текстов - героика, сатира, идиллия,
гротеск, комика, трагика.
В дальнейшем изложении мы будем разуметь под 'объектом' и
объекты-в-себе (= то, что онтологически не субъектно), и объек-
ты-для-субъекта (= то, что операционально объектно для лица,
производящего некоторое действие).

( і) Героическое, апологетическое

Субъект героики направляет действия на объекты так, чтобы из-


бавить их от роли не-субъектов (0 = неверно, что 5 ). Он осво-
боздает женщин из-под власти чудовищ; спасает соотечественни-
ков от угрозы иноземного ига; возвращает родителям детей, похи-
щенных из семьи; заступается за обиженных; создает из неживой
материи мыслящую и мн. др.

( іі) Сатирическое, "низкое"

Сатира непосредственно противостоит героике. Агенс сатирическо-


го текста обращается с людьми как с товаром; эксплуатирует жен-
щин и детей; управляет подданными, помимо удовлетворения их
нужд; промышляет убийством и заключает невинных в темницы; ме-
ханизирует все живое3; раздут от гордости, игнорируя при этом
добродетели окружающих. Во всех перечисленных и родственных им
мотивах объекты выводятся в качестве не-субъектов (0 = невер­

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28 Игорь Я. Смирнов

но, что 5) .

( ііі) Идиллическое, утопическое

В литературе идиллического плана описывается нахождение исчез‫־‬


нувших, починка испорченных, восстановление забытых, принятие
отвергнутых, открытие неизвестных объектов (О = неверно, что 0 ).
Субъект идиллии покидает город и воссоединяется с природой, от
которой он оторвался (которая перестала быть для него объектом),
либо, напротив, задумывает основание города в дикой местности;
семейные или любовные отношения подвергаются в идиллии испыта‫־‬
нию, но в конечном счете субъекту удается вновь встретить объект
с которым он разлучился. К числу идиллических мотивов принадле-
жат и такие, как исправление прекративших функционировать меха‫־‬
низмов, укрощение и воспитание непокорных, упорядочивание дис‫־‬
гармонического универсума, становящегося в результате источником
благ для человека. Понятое так идиллическое куда шире по объему,
чем обычно думают. Утопический художественный текст - одна из
разновидностей категории идиллического; он отличается тем, что
изображает путь к социуму, который в изобилии обеспечен всеми
необходимыми ему объектами, не знаком с объектным дефицитом, под
разумевающимся применительно к социальной норме.

(іѵ ) Гротескное

Гротескные тексты моделируют реальность, субъект которой стал‫״‬


кивается с парадоксальным объектом, не имеющим объектных ка-
честв (О = неверно, что О ) , Подобного рода объект конструирует‫־‬
ся, к примеру, за счет того, что текст придает самостоятельность
неотчуждаемой собственности, которой владеет субъект (скажем,
частям его тела), или за счет того, что текст рассказывает о пер
сонаже-двойнике ‫־‬ об объекте, в котором субъект узнает себя и
только себя (если S V О , то О и S могут, среди прочего, быть
равными друг д р у гу ). В ряд гротескного входят мотивы восстания
машин, оживающих статуй и автоматов, путешествия в царство мерт-
вых, чудовищ, наделенных разумом. Гротескным является также мир
ложных, неисправных, призрачных и разрушенных объектов, ассоци‫־‬

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Тотемизм и теория жанров

ируемый, как правило, с дьявольскими происками.4 Некоторые из


форм гротескного были опознаны в литературоведении как отдель-
ные жанры: назовем хотя бы генологические исследования, посвя-
щенные двойничеству5 и посещению загробного мира.6

(ѵ) Комическое

Смешное предполагает отрицание свойств и объекта, и субъекта.


Эта негация составляет конечный пункт, к которому приходит в
своем развитии комический текст. Иллюстрацией послужит устойчи-
вый комический мотив ,медвежьей услуги1. Некий персонаж нуждает-
ся в помощи, т .е . наделяется функцией персонажа-объекта; персо-
нажем-субъектом будет, естественно, тот, кто оказывает услугу.
Помощь, которую осуществляет персонаж-S, идет мимо цели или да-
же вредит нуждающемуся в содействии. В итоге действующим лицам
вменяются роли не-объекта и не-субъекта (помощи).7

(v i) Трагическое

В противовес комическому, трагический литературный resp. мифо-


логический текст подытоживается отрицанием не-объектности и не-
субъектности его действующих лиц. Таков, в частности, смысл, бе-
зусловно, трагического библейского повествования об изгнании
Адама и Евы из Едема. Обсуждаемая негация негации всплывает здесь
дважды: вначале она обнаруживает себя в нарушении запрета не
вкушать плодов с древа познания (= отрицание не-субъектности лю-
дей и не-объектности плодов) ; затем она реализуется в мотиве пер-
вого соития мужчины (отвергающего тем самым предписанную ему
не‫ ־‬субъектность) и женщины (соответственно, отказывающейся от
не-объектности). Рассмотрим вкратце как контрольный пример сю-
жет об Эдипе. Отец Эдипа, узнав, что он будет убит сыном, изба-
вляется от наследника, т .е . пытается быть не-объектом; тем не
менее отцеубийство происходит (= неверно, что 0 ) . Эдип, уведав
в Дельфах о своей судьбе, старается избежать роковой предопреде-
ленности, т .е . быть не-субъектом всех предназначенных ему дей-
ствий, однако против своей воли совершает их (= неверно, что 5).
Только что названные типы текстов могут и вступать друг с

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30 Игорь П. Смирное

другом в межжанровую борьбу, и контаминироваться каждый с каждым.


Сказанное о них, конечно же, - самое первое приближение к ним,
нуждающееся в многочисленных дополнениях и уточнениях.

3 .

Представление о том, что литература знаменуется эквивалентностью


объектов субъектам, объясняет, помимо прочего, сущность тради-
ционного разграничения лирики, драматики, нарративики.
Эквивалентность, вообще говоря, подразумевает, как это хо-
рошо известно, рефлексивность (если х ^ у, то х = х и у - у ) ,
симметричность (если х £ у, то у - х) и транзитивность (ес-
л и х - у н у £ z, то x * z).
С этими свойствами эквивалентности и связано, как нам ка-
жется, членение художественной речи на лирическую, драматическую
и нарративную формы• Всем этим формам предзадано, что изобража-
емые объекты равносильны субъектам. Каждая из них свободна,
однако, предпринять на этой основе свой собственный вывод о
субъекте, который будет либо рефлексивен (лирика), либо симме-
тричен объекту (драматика), либо эквивалентен еще одному субъек-
ту z (нарративика). в
В сравнении с драматическими и повествовательными произве-
дениями, лирический текст отличается двумя негативными чертами:
Во-первых, он не разрешает субъекту занимать место объек-
та, поскольку симметричность S и 0 здесь иррелевантна. Из лири-
ческого обихода исключено изображение ответных, встречных дей-
ствий (так, содержание народных песен обычно сводится к некоей
апелляции лирического субъекта, ответ на которую не входит в
пределы текста).
Второй негативный признак лирики - в том, что в ней не бы-
вает двух равнозначных субъектов, направляющих свои акции на
один и тот же предмет. Лирический текст поэтому не делится на
такие две части, которые показывали бы объект с неодинаковых
точек зрения, преломляемым в сознании разных индивидуумов. Ины-
ми словами, лирике не знаком ценностный плюрализм: "моя" цен-
ность абсолютна, "его" ценности нет.®
Маркированным в лирическом высказывании является то, что

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Тотемизм и теория жанров •‫י צ‬

на всем его протяжении в каждом последующем речевом отрезке со-


храняется субъект, который имелся в виду в предыдущем. Лиричес-
кий субъект не может быть замещен другим лицом. Точно так же
тождествен себе и лирический объект. Это означает, что лири-
ческое произведение способно передать лишь какую-то одну исто-
рию; в нем нет ни Vorgeschichte, ни Nachgeschichte10 (и то, и
другое реципиенты лирики склонны воссоздавать, обращаясь к би-
ографиям ее творцов). В процессе текстопорождения автор-лирик
не располагает возможностью попеременно говорить за разных субъек-
тов. Он вынужден вести речь от лица, которое он конституирует
как свое. Изображаемый субъект совпадает либо с отправителем со-
общения в мяи-лирике, либо с получателем сообщения в "ты"-лири-
ке. 11 В обеих этих версиях лирика монологична. 13
Драматика снимает запрет, налагаемый лирикой на симметрич-
ность субъекта и объекта. Тот и другой обмениваются в драмати-
ческом произведении и коммуникативными позициями (в процессе
диалога), и социально-экзистенциальными. Последнее обусловливает
устойчивость тематического содержания драматики, в которой слу-
га получает функцию господина, женщина присваивает себе атрибу-
ты мужчины, царедворец узурпирует трон, защищающийся переходит
в нападение и т .п . Центральным актантам драматического сочине-
ния предоставляются, как минимум, две роли - собственная и чу-
жая. Драматический текст передает игровые ситуации и тем самым
допускает не только рецитирование, но и сценическое исполнение.
Драматическая коллизия заключена по преимуществу в конфлик-
те между персонажем-объектом, захватившим место субъекта и по-
лучившим в распоряжение некую ценность (пусть это будет царе-
дворец, коварством устранивший короля и женившийся на короле-
в е ), и персонажем-субъектом (пусть это будет престолонаслед-
ник, задавшийся целью отомстить узурпатору за смерть своего
отца). Как и для лирики, для драматики значим запрет на изобра-
жение двух актантов, которые с самого начала текста предстают
только как субъекты, эквивалентные относительно какого-либо
объекта. Если такие действующие лица все же выводятся в драма-
тическом произведении, то тогда конфликт между ними снимается
тем или иным способом, например, так, что одно из них добро-

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32 Игорь Я. Смирное

вольно отказывается от соперничества, либо так, что по мере paš


звертывания сюжета выясняется необоснованность их столкновения,
поскольку они, на самом деле, стремятся к обладанию не одной и
той же ценностью, но каждый - своей, В подобных случаях драма-
тика полемизирует с нарративикой. Лирика, драматика и наррати-
вика борются друг с другом (но могут быть и синтезированы, ска-
жем, в рамках романа).
В повествовательных конструкциях эквивалентность двух ак-
тантов-субъектов бывает бесконфликтной, когда один из них помо-
гает второму, временно замещая его или кооперируясь с ним для
совместного достижения цели■, и конфликтной, когда заместитель
пытается навсегда отобрать у замещаемого субъекта ценность, с
которой тот связан. Конфликтная ситуация подытоживается наказа-
нием субъекта-заместителя, потому что его действия ведут к упра
зднению эквивалентности субъектов, которая специфицирует нарра-
тивику (ср. хотя бы мотив мужа, возвращающегося из отлучки до-
мой и карающего соперника, который сватается к его жене). Недо-
статочно определять нарратив как текст, рассказывающий о дей-
ствиях (что обычно в современной нарратологии ) . Действия рису
ются и в лирике, и, тем более, в драматике, но там отсутствует
эквивалентность двух субъектов, решающих одинаковую задачу.13
Повествовательная эквивалентность субъектов позволяет со-
здателю нарратива демонстрировать объект с переменной точки
зрения, в разных "перспективах" (эта особенность повествователь
ной литературы тщательно изучена1**). Раз для нарративного созна
ния все субъекты эквивалентны, то отправитель повествования до-
лжен быть эквивалентен каждому из отправителей, которых он изо-
бражает в повествовании. Будучи эквивалентной совокупным речам
персонажей, речь нарратора с неизбежностью располагается по ту
сторону изображаемого. Нарратор - лицо, которое рассказывает о
случившемся после того, как действие исчерпало себя. Его пози-
ция постэкзистентна по отношению к миру, который он моделирует
(даже если нарратор - один из субъектов этого мира). Ясно, по-
чему нарратор в состоянии по ходу изложения забегать вперед,
предпринимать экскурсы в прошлое героев, перетасовывать собы-
тия во времени.

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Тотемизм и теория жанров 33

Намеченная вкратце дифференциация лирики/драматики/нарра-


тивики расходится в ее предпосылках с той методикой классифици-
рования литературных текстов, которую обсуждает G.Genette. В
"In tro d u c tio n à 11a rc h ite x te " он отрывает друг от друга "спосо-
бы речи" и "жанры11:

I l у a des modes, exemple: le r é c i t ; i l y a des genres,


exemple: le roman; la re la tio n des genres aux modes est
complexe, et sans doute n 'e s t - e lle pas, comme le suggère
A r is t o t le , de simple in c lu s io n [ . . . ]
Les catégories modales et thématiques n 'o n t entre e lle s
aucune r e la tio n de dépendance, le mode n 'in c lu t n i
n'im p liq u e le thème, le thème n 'in c l u t n i n'im plique le
mode.. . 15

В нашем понимании, лирика/драматика/нарративика суть несхо-


дные "способы речи" лишь постольку, поскольку эти субсистеки ли-
тературы обладают - каждая - своим особым референтным содержа-
нием1в или, если угодно, своей особой генеральной темой, како-
вой в лирике служит автоидентичность субъекта, в драматике -
замещаемость субъекта объектом, в нарративике - замещаемость
субъекта субъектом•

Героическое, сатирическое, идиллическое, гротескное, коми-


ческое и трагическое, с одной стороны, и лирика/драматика/нар-
ративика,- с другой, представляют собой разные заключения из
одной посылки. Первые шесть типов текстов выводятся из эквива-
лентности о б ъ е к т а субъекту, тогда как вторые три типа -
из э к в и в а л е н т н о с т и объекта субъекту. Отсюда: и
лирика, и драматика, и нарративика могут быть окрашены в ге-
роические, сатирические, идиллические, гротескные, комические и
трагические тона.

4.

Первобытная культура была литературой и искусством par excellence


практикой, организованной сплошь по законам поэтики. В перво-
бытной культуре не было не-литературы и потому там не могла явить
ся литература. История в ее противоположности мифу (первобытной
нарративике), ритуалу (первобытной драматике) и магии (первобыт-
ной лирике, чей смысл состоял в возрождении/сохранении идентич-

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Игорь /7. Смирнов

ности субъекта/объекта) началась тогда, когда художественное


творчество выделилось в особый тип дискурсивности, когда про-
чие дискурсы освободились из-под власти литературы. История
была запущена в движение, когда литература стала литературой.

ПРИМЕЧАНИЯ

1 То обстоятельство, что для первобытной ментальности субъект


и объект взаимоэаместимы, дает нам возможность простейшим обра-
зом понять ритуальный каннибализм - поглощение тела субъекта
взамен съедобных объектов; çp. иную интерпретацию каннибализма
(как im it a t io d e i): М. ELIADE, Das H e ilig e und das Profane. Vom
Wesen des Religiösen (1957), F rankfurt a. M. 1984, 89-92.
2 См. в первую очередь труды Р . О.Якобсона, например: R. JAKOB-
SON, L in g u is tic s and P o e tics.- In : S tyle in Language, ed. by
Th.A. Sebeok, New York 1960, 35 0-377; P. ЯКОБСОН, Поэзия грам-
матики и грамматика поэзии.- In : Poetics. Poetyka. Поэтика,
Warszawa 1961, 397-417. Ср. современное развитие этой научной
линии: W. SCHMID, Der ästhetische In h a lt. Zur semantischen
Funktion poetischer Verfahren, Lisse 1977, passim.
3 Под этим углом зрения определение комического в качестве
"mécanique plaqué sur du v iv a n t" (H. BERGSON, Le R ire. Essai
sur la s ig n if ic a t io n du comique (1900), Paris 1938, 507) было
бы более уместно в приложении к ряду сатирических текстов.
ц Ср.: W. KAYSER, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei
und Dichtung, Oldenburg/Hamburg 1961, 202.
5 Ср. новейшие работы о двойничестве: L. DOLEZe l , Le tr ia n g le
du double. Un champ thématique.- Poétique, 1985, N64, 463-
472; R. LACHMANN, Doppelgängerei.- In : I . N olting-H auff , J.
Schulze (H rsg.), Das frende Wort. Studien zur Interdependenz
von Texten (F e s ts c h rift f ü r Karl Maurer), Amsterdam (im Druck).
в Ср. вычленение жанра "мениппеи": M. БАХТИН, Проблемы поэтики
Достоевского (1929/1963), Москва 1979, 120 f f .
7 Ср. о субъекте и объекте комических действий: К. STIERLE,
Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie.-
In : K. STIERLE, Text als Handlung, München 1975, 71.
0 Таким образом, лирика равноправна с лраматикой и нарративи-
кой ‫ ־‬все три имеют какое-либо позитивное признаковое содержа-
ние. На противоположной точке зрения стоит K. STIERLE (Die
I d e n t it ä t des Gedichts - H ö ld e rlin als Paradigma.- In : O.Mar-
quard, K. S t ie r le (H rsg.), I d e n t it ä t [Poetik und Hermeneutik,
Bd. 8 ], München 1979, 505-552), который моделирует лирику, в
противовес нарративике, как результат невыполнения правил, кон-
тролируюсцих построение дискурсов; ср. также отказ от возведения
лирики на одну ступень с драматикой и нарративи кой в: K.W. HEMP-

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Тотемизм и теория жанров 35

FER, Gattungstheorie• Inform ation und Synthese, München 1973,


148-149.
9 Ср. о лирической аксиологии: Л. ГИНЗБУРГ, 0 лирике, Москва/
Ленинград 1964, 5 f f .
10 Этот факт хорошо известен исследователям лирики - ср. хотя
бы: Т.И. СИЛЬМАН, Лирический текст и вопросы актуального члене-
нения,- Вопросы языкознания, 1974, №6, 93-94. По М.М.Бахтину,
любое литературное произведение

...н е может опираться на вещи и события ближайшего окру-


жения, не вводя даже ни единого намека на них в словес-
ную часть высказывания (В.В. ВОЛОШ ИНOB, Слово в жизни и
слово в поэзии.- Звезда, 1926 » 6, 257).

В лирике такого рода "намеки" свернуты до минимума. В ней гос-


подствуют высказывания с пресуппозицией, не раскрываемой отпраё
вителем. Имена функционируют в лирике аналогично собственным:
чтобы стало понятным, на какой референт указывает собственное
имя, должна быть эксплицирована пресуппозиция его использования.
На эту аналогию обратила внимание Gertrude S te in ; правда, она
ведет речь о поэзии, но, по всему, имеет в виду лирическую по-
эзию (G. STEIN, Poetry and Grammar.- In : G. STEIN, W ritings and
Lectures 1911-1945, ed. by P. Meyerowit z , London 1967, 136 f f ) .
11 Ср. оппозицию "эготивная"/"апеллятивная" лирика: Ю.И. ЛЕВИН,
Лирика с коммуникативной точки зрения.- In : Structure o f Texts
and Semiotics of C ulture, ed. by van der Eng, M. Grygar, The
Hague/Paris 1973, 183; ср. также: E.A. LEVENSTON, The Contextua-
liz a t io n o f L y ric P o e try.- Journal o f L ite ra ry Semantics, 1976,
V-2, 64.
12 Мы говорим о коммуникативном статусе лирики; что касается
ее генезиса, то она, как и всякий текст, использует и трансфор-
мирует "чужое слово"; ср. в этой связи: R. LACHMANN, D ia lo g iz i-
t ä t und poetische Sprache.- In : R. Lachmann (Hrsg.), D ia lo g iz i-
t ä t , München 1982, 51 f f .
13 Ср. проведенную с этой точки зрения критику современных опре-
делений повествовательности: И.П. СМИРНОВ, Логико-семантические
особенности коротких нарративов.- In : R. Grübel (Hrsg.) ,Russi-
sche Erzählung. Russian Short Story. Русский рассказ. U trechter
Symposium zur Theorie und Geschichte der russischen Erzählung
im 19. und 20. Jahrhundert,Amsterdeim 1984, 47-48. Чересчур ши-
рокое, неконкретное представление о нарративике вынуждает ис-
следователей наших дней противопоставлять ее не столько лирике
и драматике, т .е . классам текстов, изображающих действия иначе,
чем повествование, сколько сочинениям дескриптивного плана; на-
иболее подробно это противопоставление проведено в: Ph. HAMON,
In tro d u ctio n à l'a n a ly s e du d e s c r ip t if , Paris 1981, passim.
4‫*י‬ Ср. одну из последних сводок данных по этому вопросу: W.
SCHMID, Der O rt der Erzählperspektive in der n a rra tive n K onsti-
t u t io n . - Signs of Friendship. To Honor A.G.F. van Hoik, ed. by
J .J . van Baak, Amsterdam 1984, 523-552.

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36 Игорь П. Смирнов

15 G. GENETTE, In tro d u c tio n á 1*a rc h ite x te , Paris 1979, 75-76


78; ср .:

There is no "deepest meaning" f o r narratology and there


i s no ingenious, fa rte tc h e d , there are only d if f e r e n t
kinds o f in te r p r e ta tio n (G. PRINCE, N a rra tive Analysis
and N a rra to lo g y.‫ ־‬New L ite r a r y H is to ry , 1982, v o l. X I I I -
2, 187).
16 В том же плане, что и здесь, идеи, которые сформулировал G
Genette, критикуются в: J. DERRIDA, La l o i du genre.‫ ־‬Glyph.
Textual Studies, Baltimore/London 1980, N 7, 180 f f . J.D e rrid a
однако, не предлагает взамен критикуемой никакой конструктив-
ной теории, которая бы объясняла жанровое разнообразие в лите-
ратуре. Намек на то, что жанры формируются в опоре на преце-
денты, не выдерживает возражений, ибо при таком допущении не
ясно, откуда взялось жанровое несходство прецедентов.

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Rainer GRUBEL (Oldenburg)

WERTMODELLIERUNG IM MYTHISCHEN, POSTMYTHISCHEN UND REMYTHISIER‫־‬


ТЕМ DISKURS
Zum Problem des sekundären Synkretismus

O. HISTORISCHE VORBEMERKUNG

Hegels Diktum "Das Wahre i s t das Ganze" beklagt den V e rlu s t e i -


ner T o t a l i t ä t , die sich zugleich nur a ls T e il, a ls gnoseologi-
sehe Wertbestimmung nämlich, zu erkennen g ib t . Dieser T e il war
in Hegels Philosophie fr e ilic h dazu bestimmt, in der re fle x iv e n
Bewegung des Weltgeistes das Ganze zugleich zu erfassen und dar-
zu s te lle n - Kunst, R eligion und praktische Lebenswelt s o llte n
ganz und gar in der Philosophie, ä sth e tisc h e r und e thische r Wert
waren dazu bestimmt, im Wahrheitswert «*philosophischer Erkenntnis
aufgehen. Hegels Entwurf is t h ie r zunächst a ls eminentes B ei-
s p ie l fü r die Bestrebungen n e u z e itlic h e r Kulturen herangezogen
worden, das Auseinandertreten k u l t u r e l l e r Bereiche, k u l t u r e ll e r
Funktionen und k u l t u r e ll e r Werte rückgängig zu machen. Für die
theoretische Begründung des russischen Realismus durch B e lin s k ij,
CernySevskij und Pisarev war Hegels k o g n itiv e Synthese von aus-
schlaggebender Bedeutung, und s ie fand ih re endgültige Ablösung
e rs t in den u n iv e rs e lle n ästhetischen Entwürfen des Symbolismus,
die gnoseologische wie praktische Funktion und n ic h t selten auch
die re lig iö s e Funktion ganz der ä s t h e t i s c h e n
F u n k t i o n nachordneten.
Ein anderer Versuch a llg e m e in k u ltu re lle r Synthese i s t ne-
ben der Anthroposophie Ste ine rs und der Psychoanalyse Freuds in
der symbolischen Theorie des Mythos gegeben, d ie um die Jahrhun-
dertwende ih re e in d rin g lic h e D arstellung in der Völkerpsycholo-

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38 R a in e r Grübet

gie Wilhelm Wundts gefunden h a t, auch in Rußland bekannt war


und n ic h t ohne E influß auf die Mythenkonzeption der russischen
Symbolisten und Avantgardisten gewesen sein d ü r fte . Wundt sah
einen k o n s titu tiv e n Zusammenhang zwischen Dichtung und Mythos,
einen Zusammenhang, der sich fü r ihn auch in der W ir k lic h k e its -
auffassung des Mythenschaffens ausprägte. Er en tw icke lte die
Theorie der mythischen Apperzeption, die m it seinem Verständnis
von Charakter und Funktion der Phantasie zusammenhängt. Anders
a ls Hegel bestimmte Wundt nämlich das poetische B ild vom m ythi-
sehen Denken her: Der Mythos fasse dasjenige a ls W ir k lic h k e it
auf, was in der Dichtung le d ig lic h a ls S piel der Imagination e r-
scheine. Die W ir k lic h k e it gehe jedoch s te ts dem S piel m it seinem
mimetischen Charakter voraus. Wundt hat bezeichnenderweise k e i-
nen grundsätzlichen Unterschied zwischen mythischer und n ic h t-
mythischer Phantasie gesehen. In dem K a p ite l "Die Phantasie und
die Kunst" der Völkerpsychologie fü h rte er aus, die mythische
Phantasie zeichne sich gegenüber der künstlerischen le d ig lic h
durch die P ro jektio n von Gefühlen, Affekten und W ille n sb e stre -
bungen auf ih re Objekte aus, wodurch diese Objekte a ls lebendi-
ge Wesen in Erscheinung gebracht würden. Dieser Vorgang der
m y t h i s c h e n A n i m a t i o n u n d P e r s o n i -
f i k a t i o n war f ü r Wundt (1910:65) le d ig lic h ein "g e s te i-
g e rte r Grad a l l e r jener Vorgänge, die man b e i der ästhetischen
Wirkung a ls *Einfühlung1 zu bezeichnen p f le g t . "
Die Neigung zur ve rein he itliche nd e n Synthese von m ythi-
scher und k ü n s tle ris c h e r T ä tig k e it w ird d o rt unverkennbar, wo
Wundt (1910:66) ästhetische Wahrnehmung und mythische Belebung
nur a ls "M odifikationen der allgemeineren Funktion der A uffas-
sung des Objekts" d e fin ie r t, die er "Apperzeption" genannt hat.
Die mythologische Phantasie a ls in ihrem Wesen durchaus iden-
tis c h m it der Phantasie überhaupt auffassend, hat Wundt die my-
thologische Apperzeption dann auch n ic h t a ls eigenständige Er-
scheinung m it besonderen Gesetzmäßigkeiten entworfen, sondern
a ls jene allgemeine A rt der Apperzeption, die s te ts im Gefolge
einer Verstärkung des A ffe k ts h e rv o rtre te . Wie die Phantasietä-
tig k e it n ic h ts anderes a ls eine unter günstigen Umständen her-

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W ertm o d ellieru n g 39

vortretende Steigerung normaler Funktionen s e i, so werde die


animierende Apperzeption g ru n d sä tzlich von a lle n Objekten aus-
g e lö s t, die sich dazu eigneten, s tä rk s te A ffe k te hervorzurufen.
K ra ft der verstärkenden Wirkung der animierenden Apperzeption
werde der mythische Gegenstand in ein persönliches Wesen verwan-
d e lt.
Die p a ra lle lis ie re n d e Einordnung des Mythos in die Ent-
Wicklung der W e ltk u ltu r, die im Umkehrschluß ja auch die K u ltu r
der Gegenwart der S tru k tu r des Mythos a s s im ilie r t , lä ß t sich
auch be i dem russischen K u ltu r - und L it e r a t u r h is t o r ik e r Veselov-
s k ij beobachten. In einem posthum v e r ö ffe n tlic h te n K a p ite l aus
der H i s t o r i s c h e n Poetik lesen w ir :

И в формальном и в содержательном отношении поэзия продол-


жает собою, на почве уже определившихся исторических от-
ношений, деятельность мифа, как миф явился развитием ело-
ва
Sowohl in form aler a ls auch in in h a lt lic h e r Beziehung
s e tz t die Dichtung auf der Grundlage b e re its ausgebilde-
t e r h is to ris c h e r Beziehungen die T ä tig k e it des Mythos
f o r t , wie der Mythos die Entwicklung des Wortes b ild e te .

Das Verständnis der L it e r a t u r a ls Fortführung der m ythi-


sehen A k t i v i t ä t überschneidet sich aufs D e u tlich ste m it dem
Selbstverständnis von russischen symbolistischen D ichtern.
Es mag überraschen, daß der S t r u k t u r a lis t Lévi-Strauss auf
durchaus vergleichbare Weise die grundsätzliche Isomorphie zwi-
sehen dem mythischen Diskurs und Texten der Gegenwartskultur
h e ra u sg e ste llt h a t. Zwar b ild e t sein Entwurf des w i l d e n
D e n k e n s a ls der Grundstruktur des Denkens überhaupt s i -
c h e rlic h auf weite Strecken eine Reaktion auf die übermächtige
Wirkung der h is to ris ie re n d e n Mythologie L e v i-B ru h ls , die das ту -
thologische Bewußtsein a ls prälogische Stufe des Denkens abge-
wertet h a tte , doch d ü rfte ein n ic h t minderer Impuls fü r die Ent-
stehung dieser d eh isto risiere nd e n Konzeption in der Suche nach
den phonologischen Oppositionen vergleichbaren universalen
Strukturen der Semantik des Diskurses lie g e n . Wie dem auch s e i,
w ir müssen uns die Frage s te lle n , ob w ir n ic h t auf ähnliche Wei-
se der Gefahr e rlie g e n , unsere Vorstellungen, K la s s ifik a tio n e n

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чи R a in e r G rübet

und Wertungen in den ursprünglichen Mythos zu p r o jiz ie r e n , wie


bei Wundt der Wilde seine 1
1Gefühle, A ffe kte und W illensbestre-
bungen" in den Gegenstand der Betrachtung und der Besprechung
v e rla g e rte . S c h lie ß lic h is t unübersehbar, daß das Bewußtsein un-
serer eigenen K u ltu r in s te ts höherem Grade durch unsere Vor-
Stellung von ihrem V e rh ä ltn is zu anderen Kulturen bestimmt w ird .
In dem Maße, in dem w ir unsere eigene K u ltu r von der anderen,
mythischen K u ltu r absetzen oder ih r annähern, verändern w ir auch
ihre S tru k tu r, ih re Funktion und ih re W e rtig k e it.
Im Gegensatz zu den h ie r aufgeführten V e rtre te rn der Uni-
fik a t io n von mythischem und postmythischem Diskurs beharre ich
m it O l'ga Frejdenberg (1978:173-487) auf dem Unterschied zwi-
sehen mythischem und postmythischem Sprechen. Während 0 1 'да
Frejdenberg diese D iffe re n z semasiologisch im Unterschied zu
B ild , Metapher und B e g r iff faß te, sei h ie r der Versuch unternom-
men, axiologische Unterschiede zwischen mythischem und postmy-
thischem Diskurs d a rzu ste lle n und durch die Funktionsdifferenz
zu begründen.
M e le tin s k ij (1976:164 f.) hat den Charakter des "Noch-un-
d iffe re n z ie rt-S e in s " { e s a e - n e v y d e l e n n o a t 165 ,‫ ) ׳‬d.er mythischen
K u ltu r n ic h t so sehr a ls Produkt des in s tin k tiv e n Gefühls fü r
die E in h e it des Menschen m it der Welt und die Zweckmäßigkeit
dieser Welt gedeutet denn vielmehr a ls "U n fä h ig k e it, die Natur
q u a lit a t iv vom Menschen zu d iffe re n z ie re n " (165) . Wir haben es
h ie r wiederum m it jenem postmythischen B lic k auf die mythische
K u ltu r zu tun, der sich auch im sprachlichen Ausdruck der z e it -
liehen Perspektive ("noch n ic h t" ) n ie d e rs c h lä g t. Angemessener
erscheint m ir dagegen seine Rede vom "d iffu s e n Charakter" des
Denkens in der frühen K u ltu r , das sich in einer n ic h t rig id e n
Trennung von Subjekt und Objekt, von Materiellem und Ideellem,
von Zeichenträger und Denotat, von Ding und Eigenschaft, von
E in h e it und V ie lh e it , Statischem und Dynamischem, von Z e it- und
Raum-Bezügen Geltung v e r s c h a fft; der mythische Synkretismus is t
ja p r in z ip ie ll auf T o t a l i t ä t e in g e s t e llt . Leider hat M e le tin s k ij
‫ ״‬4
e in e rs e its sehr zu Recht die q u a lita tiv e n Unterschiede zwischen
den archaischen Kulturen und der modernen Z i v il i s a t i o n hervorge-

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W ertm o d eIIieru n g 41

hoben, andererseits aber behauptet, daß ” die s y n k re tis tis c h e


Natur [der mythischen K u ltu r] in gewissem Sinne von Poesie und
R e lig ion bewahrt w ird , in ih re S p e z ifik Eingang f i n d e t . ” Zwar
finden w ir in der Dichtung ebenso wie in der R eligion eine syn-
k r e tis tis c h e Komponente, doch käme es meines Erachtens gerade
darauf an, diese Komponente vom archaischen Synkretismus abzu-
grenzen.
J e g lic h e r Synkretismus erhebt Anspruch auf T o t a l i t ä t . Wäh-
rend in der mythischen K u ltu r dieser Anspruch aber durch die ge-
samte k u lt u r e lle Praxis s te ts e r fü llt w ird , e r g ib t sich in post-
mythischen k u ltu r e lle n Formationen eine Diskrepanz zwischen dem
t o t a lit ä r e n Anspruch und e in e r nur p a r t ie lle n Geltung. Diese
Diskrepanz t r i t t in der Ideologie (Sinngebung) ebenso hervor wie
im System der Funktionen und Werte. Es i s t daher kein Wunder,
daß die Verstärkung der s y n k re tis tis c h e n Komponente in der Ent-
Wicklung der Kunst s te ts zu e in e r Expansion der Ä s th e tik in die
Bereiche von Erkenntnis und le b e n s w e ltlic h e r Praxis fü h rt. Ein
erhellendes B e is p ie l fü r solche Expansionsversuche is t die Be-
Ziehung Wagners zu Nietzsche und zu Ludwig I I .
In der Betonung der D iffe re n z zwischen dem Mythos und
postmythischen Bewußtseinsformationen is t der ukrainische P h ilo -
loge Potebnja Ol'ga Frejdenberg vorausgegangen. Er hebt hervor,
daß fü r uns, die w ir aus e in e r späteren Z e it auf den Mythos zu-
rückschauen, dieser nur noch a ls e in poetisches B ild erscheine.
Während aber im postmythischen poetischen Text das B ild aus-
s c h lie ß lic h a ls M it t e l zur Schaffung bzw. Bewußtmachung der Be-
deutung diene und m it der E rfü llu n g seines Zwecks z e rs tö rt wer-
de, finde im Mythos t r o t z der Verschiedenheit von B ild und Be-
deutung die u n g e t e i l t e Übertragung des B ildes in die
Bedeutung s t a t t , zumal dem mythisch denkenden Menschen ih r Un-
terschied n ic h t bewußt s e i. Bezeichnenderweise umschreibt Poteb-
nja die S p e z ifik des Mythos f r e i l i c h m it H ilf e der postmythi-
sehen Kategorien des Subjektiven und Objektiven /Potebnja 1905:
587) :

Миф есть словесное выражение такого объяснения (апперцеп-


ции), при котором объясняющему образу, имеющему только

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42 R a in er Grübe I

субъективное значение, приписывается объективность,дейст-


вительное бытие в объясняемом.
Der Mythos i s t eine verbaler Ausdruck e in e r solchen Erklä
rung (Apperzeption)v bei der einem erklärenden B ild , dem
le d ig lic h eine su bjektive Bedeutung zukommt, O b je k tiv itä t
ein w irk lic h e s Sein im zu Erklärenden zugeschrieben w ird.

Einen w ichtigen weiteren S c h r itt in die Richtung einer Hi


s to ris ie ru n g k u l t u r e ll e r Formationen hat der Philosoph und Kul‫־‬
turwissenschaft i e r M ich a il Bachtin (1972:206) vollzogen, indem
er am B e is p ie l des Karnevals, den er a ls "s у n к r e t i-
s t i s c h e S c h a u s p i e l f o r m r it u e lle n Charak‫־‬
te rs " (8 i n k r e t i c e s - k a j a z r e l i S c n a j a
forma obrjadovogo charaktera) ohne Rampe und ohne U nterteilung
in D a rs te lle r und Zuschauer, a ls Leben in e in e r , verkehrten
Welt* bestimmte, die L ite r a r is ie r u n g dieser exzentrischen Le-
bensform nachgezeichnet h a t. Bachtin betont ausdrücklich, daß
die Karnevalisierung der L it e r a t u r , daß der Einbruch dieser a r‫־‬
chaischen Lebensform in die jüngere K u ltu r unausweichlich m it
einer Transformation des Karnevals einherging.
An anderer S te lle , in seiner Untersuchung über die Ge‫־‬
schichte des Chronotops, hat Bachtin (1972b:360) unmißverständ-
lie h auf die Umwertungsprozesse beim Übergang von der a rc h a i-
sehen K u ltu r in jüngere k u lt u r e lle Formationen hingewiesen.
Während die archaische (mythische) K u ltu r von der G le ichw e rtig -
k e it a lle r Elemente im " e in h e itlic h e n großen E re ig n is des Leben
(von Mensch und Natur gemeinsam)" gekennzeichnet s e i, tr e te m it
der Auflösung der Urgemeinschaft eine Is o lie ru n g von W irk lic h -
keitsmomenten auf, die von e in e r Funktionsdifferenzierung (z.B.
Ideologie vs. L ite r a tu r ) und einer hierarchisierenden Umwertung
b e g le ite t werde (Bachtin 1972b:362):

Равнодостойные и большие реальности древнего доклассового


комплекса отрываются друг от друга, подвергаются внутрен-
нему раздвоению и резкому иерархическому переосмыслению.
В идеологиях и в литературе члены соседства расходятся по
разным планам - высоким или низким, по разным жанрам,
стилям, тонам. Они уже не сходятся вместе в одном контек-
сте, не становятся рядом друг с другом, так как утрачено
объемлющее целое. Идеология отражает то, что уже разорва-
но и разъединено в самой жизни.

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W evtm o d elíieru n g 43

Die gleichgeschätzten und großen R e a litä te n des a lte n ,


noch n ic h t in Klassen u n t e r t e ilt e n Komplexes werden von-
einander losgerissen, in n e re r Entzweiung jäher h ie r a r c h i-
scher U m interpretation unterzogen. In den Ideologien und
in der L it e r a t u r tre te n die M itg lie d e r der G esellschaft
nach verschiedenen Gesichtspunkten auseinander: nach ho-
hen oder niederen, nach verschiedenen Gattungen, S tile n ,
Tönen. Sie begegnen sich b e re its n ic h t mehr in ein und
demselben Kontext, sie tre te n n ic h t mehr nebeneinander, da
das umfassende Ganze ve rlo ren gegangen i s t . Die Ideologie
b i ld e t das ab, was im Leben b e re its zerissen und entzw eit
is t.

Dieser B eitrag s o ll zum einen zeigen, daß die (Re-)Mythi-


sierung des Diskurses in der L it e r a t u r der Moderne weder in ih -
re r Funktion noch in ih r e r A xio lo g ie der ursprünglichen m ythi-
sehen T ä tig k e it gleichzusetzen is t. Zum anderen s o ll er an zwei
Beispielen aus der russischen L it e r a t u r vorführen, daß der Ver-
such e in e r Rückkehr zur mythischen E in h e it der Werte und F u n k ti-
onen, zum mythischen Synkretismus, zum Scheitern v e r u r t e i l t is t,
w e il im Rahmen des ästhetischen Diskurses unvermeidlich ä s th e t i-
sehe Funktion und ä sth e tisch er Wert die (möglicherweise e rs tre b -
te) Äquivalenz der Werte und Funktionen durch ih re Dominanz
durchbrechen. S ta tt eines ursprünglichen Synkretismus der Funk-
tionen und Werte e n ts te h t in solchen Fällen vielmehr ein sekun-
därer Synkretismus.

1. VERSUCH EINER ARBEITSDEFINITION DES BEGRIFFS ” MYTHOS1


‫״‬

Angesichts des häufigen und un terschiedlichen Gebrauch des Be-


g r iffs "Mythos” sei an dieser S te lle eine anspruchslose A rb e its -
d e f in it io n vorgeschlagen, die k e in e r le i Anspruch auf eine wei-
tergehende G ü ltig k e it erhebt, sondern le d ig lic h dazu dienen
s o ll, das Verständnis der weiteren Argumentation zu e r le ic h te r n .
Unter einem Mythos verstehe ic h die einem Ensemble von Diskursen
zuordbare kompakte K o n s te lla tio n (archetypischer) semantischer
und axiomatischer E inheiten, eine K o n s te lla tio n , die in der je -
weiligen K u ltu r eine k o n s titu tiv e synthetisierende Funktion aus-
übt. Dabei is t der Mythos selb st im Unterschied zu seiner narra-
tive n Transformation h a n d lu n g s o rie n tie rt, d .h . er im p liz ie r t
seine r i t u e l l e R ea lisation ebenso wie der Ritus den mythischen

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44 R a in er Grübet
%

Diskurs. Die semantische und axiomatische K o n s te lla tio n des My-


thos fin d e t ihren je w eiligen sprachlichen Ausdruck in der Kon-
fig u r a tio n der Ausdrucks- und Bedeutungseinheiten des mythischen
Diskurses.
Ferner gehe ich davon aus, daß die Diskussion über den r i -
tu e lle n Charakter des Mythos ü b e rflü ssig is t, da in der m ythi-
sehen K u ltu r Diskurs und Handlung, Text und r i t u e l l e r T e x tv o ll-
zug ko n ze ption e ll zusammenfallen. In diesem Sinne g ib t es, wie
Leach (1983:6,18) fe s ts te llt, im ursprünglichen Mythos keinen
is o lie r t e n Text: Dieser Text entsteht e rs t durch die Tonbandprò-
to k o lle oder Berichte der Mythologen. In der mythischen K u ltu r
w ird der Mythos im mythischen Diskurs auf die gleiche Weise
vollziehend zur Erscheinung gebracht wie k r a f t des animierenden
Verfahrens aus unserer Sicht abstrakte Qualitäten in lebendige
Erscheinungen tra n s fo rm ie rt werden. Die Semantik des Mythos i s t
ontologisch und e x is t e n t i e ll , seine A xiologie erscheint gegen-
über unserem Wertmodell a ls u n d iffe re n z ie rt. Wenn Leach in Uber-
einstimmung m it Malinowski k o n s ta tie r t, der Mythos habe eine le -
g itim a to ris c h e Funktion, und wenn er ihm damit einen is o lie r t
praktisch-ethischen Wert zuspricht, müssen w ir entgegnen, daß
im Mythos a lle Erscheinungen ontologisch gewertet und damit auch
ontologisch le g it im ie r t werden.

2. FUNKTIONALER, AXIOLOGISCHER UND SEMIOTISCHER SYNKRETISMUS

Die Diskussion über den frü h k u ltu re lle n Synkretismus i s t zu kom-


plex a ls daß sie sich in wenigen Worten zusammenfassen lie ß e .
Ich kann h ie r nur einige in diesem Zusammenhang relevante Punkte
aus dieser Debatte herausgreifen. Unter Berufung auf Veselovskij
hat sich in der russischen K u ltu r- und L ite ra tu rw isse n sch a ft die
Überzeugung herausgebildet, die frühen Kulturen seien n ic h t nur
durch die E in h e it der Medien, sondern auch der Gattungen ge-
p rä g t. Ich habe anderenorts b e re its darauf hingewiesen, daß sich
eine Entsprechung beobachten lä ß t zwischen dem A u ftre te n der
These vom medialen Synkretismus und den Versuchen zur E ta b lie -
rung des Gesamtkunstwerks (Grübel 1986:4 54 f . )

Wolf Schmid - 978-3-95479-657-1


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Wertmode llie r u n g 45

M e le tin s k ij, der in seiner P o e t i k des Mythos das Epos aus


dem generischen Synkretismus ausgenommen h a tte , s p ric h t in s e i-
ner Monographie über den Roman des M it t e la lt e r s (1983:3) vom
" syn kre tistisch e n Zusammenhang (s i n k r e t i o e s k a j a s v j a z 1) des My-
thos m it der re lig iö s e n oder w e ltlic h e n Lehre, m it der a lte n
,W eisheit1” . Tatsächlich scheint der ursprüngliche Mythos Be-
kenntnis und Erkenntnis, r e lig iö s e und gnoseologische Funktion,
m it der b e re its angeführten praktisch-ethischen Funktion der Le-
g itim a tio n zu vereinen. Dabei i s t hervorzuheben, daß sich im my-
thischen Diskurs archetypische Handlungsmuster und p o te n tie lle
gegenwärtige Handlungsreferenz wechselseitig re c h tfe rtig e n . Der
Vollzug des Diskurses b e s tä tig t die G ü ltig k e it t r a d ie r t e r Nor-
men, ohne sie fu n k tio n a l einzugrenzen. Diesen funktionalen Syn-
kretismus sehe ich a ls k o n s t it u t iv an fü r den k u ltu r e lle n Status
des Mythos. Er bestimmt auch das Erscheinungsbild der A xiolo g ie
im ursprünglichen Mythos.

2.1. Axiologischer Synkretismus

Bis in die jüngste Vergangenheit hat die Diskussion über den


Wahrheitsmodus von Aussagen des mythischen Diskurses eine beson-
dere Rolle g e s p ie lt. So hat Levi-B ruhl das P rin z ip des m ythi-
sehen Denkens, er sprach vom "prälogischen Denken", auf den My-
stizism us, den Glauben an übernatürliche K rä fte , zurückgeführt,
einen Glauben, der sich im Gesetz der mystischen K o n tig u itä t ma-
n ife s tie r e . Levi-Bruhl hat damit im Geiste des Historismus die
b e re its d is k u tie rte These von der Isomorphie des "wilden" und
des " z i v i l i s i e r t e n " Bewußtseins zu e n tkrä ften versucht. Mir
scheint dagegen der Unterschied zwischen der Semantik des my-
thischen und des postmythischen Diskurses n ic h t in der Frage
des Glaubens an metaphysische Erscheinungen zu lie g e n , sondern
in der im mythischen Diskurs n ic h t vollzogenen Unterscheidung
zwischen Natur und K u ltu r. Da auch diese D ifferenzierung p ost-
mythischen Charakter hat, ziehe ich es vor, von der im m ythi-
sehen Diskurs fehlenden Unterscheidung zwischen natura naturans
und natura naturata zu sprechen. Damit i s t das Weltmodell des

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ąb R a in e r G rübet

mythischen Diskurses aber keineswegs simpler oder von geringe-


rem Wert a ls das unsere, es s p ric h t den Erscheinungen vielmehr
d o rt eine innere Ambiguität zu, wo w ir sie durch äußere K la s s i-
f ik a t io n voneinander trennen. Diese Ambiguität beruht auf dem
von 01, да Frejdenberg beschriebenen Sachverhalt, daß im m ythi-
sehen Bewußtsein Ding und Eigenschaft n ic h t unterschieden wer-
den und die Eigenschaften den selben ontologischen Charakter ha-
ben wie die Erscheinungen, die w ir Dinge nennen.
Noch Steblin-Kamenskij und Leach stimmen bei a lle n Unter-
schieden in der Auffassung vom Mythos d a rin überein, daß der ту-
thische Diskurs durch Präsupposition des Wahrheitscharakters
seiner Aussagen von Seiten seiner Produzenten und Rezipienten
c h a r a k te r is ie r t werde. M e le tin s k ij (1983:3) s c h re ib t in der be-
r e it s angeführten A rb e it, erstmals tr e t e ” in der G estalt des Ro-
mans die n a rra tiv e L it e r a t u r a ls ein kü n stle risch e s Werk, a ls
Frucht der Phantasie hervor, die keinen ernstha ften Anspruch auf
h is to ris c h e oder mythologische Glaubwürdigkeit erh e b t".
Im B lic k auf den mythologischen Diskurs sind fr e ilic h a l-
les dies Erwägungen aus postmythischer S ic h t. Der fu n ktio n a le
Synkretismus im p liz ie r t nämlich, daß es im mythischen Diskurs
keinen gesonderten Wahrheitswert g ib t . Der Wahrheitswert is t im
Bezug auf den genuinen Mythos n ic h ts anderes a ls die postm ythi-
sehe Transformation des f ü r den Mythos relevanten ontologischen
Wertes. Wilamowitz-Moellendorf (1955:17) hat auf vergleichbare
Weise f ü r den Götterglauben der Griechen k o n s ta t ie r t:

Die Götter sind da. Daß w ir dies a ls gegebene Tatsache m it


den Griechen erkennen und anerkennen, i s t d ie erste Bedin-
gung fü r das Verständnis ih re s Glaubens und ih re s K ultus.
Daß w ir wissen, sie sind da, beruht auf e in e r Wahrnehmung,
se i sie in n e r lic h oder ä u ß e rlic h , mag der Gott se lb st wahr-
genommen sein oder etwas, in dem w ir die Wirkung eines Got-
tes erkennen.

Dieses Z it a t s o ll keineswegs suggerieren, der griechische Göt-


terglaube entstamme dem mythischen Diskurs, sondern darauf h in -
weisen, daß der mythische Diskurs zu seinem Verständnis einer
vergleichbaren Anerkennung des M itg e te ilte n n ic h t a ls Wahres,
sondern a ls Seiendes bedarf. Es i s t der Gegensatz der o n to lo g i-

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W ertm o d e llieru n g ą/

sehen Werte ‫־‬ des S e i e n d e n und des N i c h t s e i ‫־‬


e n d e n -, der im Mythos das Geschehen h e r v o r tr e ib t. Daher i s t
die Kosmogenese auch sein vornehmstes Thema.
Die A xiologie des Mythos könnte nach dem zuvor Gesagten
s ta r r und einfach erscheinen. In W ir k lic h k e it is t sie dagegen
dynamisch und hochkomplex. Ih re Dynamik und Komplexität e n t-
s p rin g t der Ambivalenz des ontologischen Wertes: a lle s trä g t den
Wert des Seins und den Wert des N ichtseins in s ic h . Daher und
nur daher kann es sowohl werden a ls auch vergehen.
Der Mythos i s t , wie w ir oben b e re its sagten, n ic h t reines
Geschehen, sondern b e s p r o c h e n e s Geschehen. Er b in -
det das Sein an das Sagen. Auf der anderen Seite e rsche in t im
mythischen Diskurs a lle s Gesagte a ls Seiendes. Der Gegensatz be-
»
steht daher n ic h t zwischen der Wahrheit oder F alschheit der Aus‫־‬
sage, sondern zwischen dem Gesagt-Werden und dem N ic h t‫ ־‬Gesagt‫־‬
Werden. Was gesagt is t, g ilt: Geltung is t der Seins-Modus des
Sprechens im mythischen Diskurs. Der Ausdruck "in fa n s " fü r das
Kind im Lateinischen bezeichnet ja n ic h t die a r tik u la to r is c h e
U nfähigkeit des Sprechens, sondern den Zustand des Noch-nicht‫־‬
m it‫ ־‬Geltung‫ ־‬Sprechens, der Unmündigkeit.
Das über den Wahrheitswert Gesagte g i l t m utatis mutandis
auch fü r den ästhetischen Wert. Auch er geht beim mythischen
Diskurs v ö l li g auf im ontischen Wert des Seins und des Gesagt‫־‬
Seins vs. des N ich t‫ ־‬Seins und des Nicht-Gesaģt-Seins. Wir können
aber im Vergleich m it dem Diskurs in der postmythischen K u ltu r
die E rs a tz s te lle n des Wertbezugs markieren. Durch die Lösung des
Sprechens vom besprochenen Geschehen können sich so die auf das
Geschehen bezogene In h a lts ä s th e tik und die auf das Sprechen
o r ie n t ie r t e Formästhetik herausbilden; zugleich umfaßt der my-
thische Diskurs auch die Spannung zwischen K o n tin u itä t und D is-
k o n tin u itä t im werdenden Geschehen. Das Sagen s e lb st dagegen
wird a ls K o n tin u itä t v o rg e fü h rt: die Wiederholung des Sprechens
b e k r ä ftig t die zyklische Regelmäßigkeit des Wandels.
Jean Bollak hat in seinem Aufsatz M y t h i s c h e Deutung und Deu-
tung des Mythos (1971:18) die "ursprüngliche Form der In te g ra ‫־‬
tio n a l l e r Wahrnehmung" a ls C harakteristikum des Mythos gegen­

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48 R ai n e r Grübe I

über der Philosophie bezeichnet. In der Tat i s t die Evidenz des


Wahrnehmbaren der Rechtfertigungsgrund f ü r die G ü ltig k e it von
Aussagen im mythischen Diskurs. Wir werden später sehen, wie sie
sich zu S klo vs kijs Theorem des "Neuen Sehens" und zu Jakobsons
Axiom der "E in s te llu n g auf den Ausdruck" v e rh ä lt.
Zusammenfassend können w ir f e s t s t e lle n , daß der ästhetische
Wert im Mythos in der O rientierung auf die Wahrnehmbarkeit von
r itu e lle r Handlung und mythischem Diskurs zwar angelegt, aber
n ic h t a ls eigenständige Größe ausgebildet is t. Da es nur eine
ontische Wertfundierung g ib t , besteht im mythischen Diskurs kein
Unterschied zwischen Wertung und Wert, zwischen Eigenwert und
Wertzuschreibung. N icht z u f ä l l ig w ill uns erscheinen, daß unser
B e g r iff des Ästhetischen sich vom griechischen Ausdruck fü r das
s in n lic h Wahrnehmbare h e r l e i t e t . A p p e llie r t die S in n f ä llig k e it
der Wahrnehmung noch an die mythische Prämisse e in e r u n a u flö s li-
chen E in h e it von Wesen und Erscheinung des Seienden (und zu-
g le ic h Geltenden), so o ffe n b a rt sie doch zugleich, daß diese
Union ebenso zerbrochen is t wie der Zusammenhang von Herauffüh-
rung und Aufnahme, von Produktion und Rezeption.

2.2. Der semiotische Synkretismus

Neben funktionalem und dem axiologischen Synkretismus können w ir


dem mythischen Diskurs auch einen semiotischen Synkretismus zu-
ordnen. Kulakovskij (h ie r z itie r t nach Jüdin 1978:22) hat f o l -
genden Brauch der Jakuten ü b e r lie f e r t : Wenn aus der erloschenen
Feuerstelle ein langgezogener hoher Ton hervorkam, p fle g te n die
Jakuten einen noch längeren P f i f f auszustoßen, L u ft einzusaugen
und zu sagen: "Mein P f i f f is t besser und s tä r k e r ! " , um den Geist
der Habsucht zu besiegen, der ih r e r Überzeugung nach aus dem Ton
des verlöschenden, a lle s verzehrenden Feuers s p r ic h t. Ändern-
fa lls erwarteten s ie , daß im Laufe des Winters der Überlebens-
w ichtigen Nahrung die "Seele", d .h . die N a h rh a ftig k e it entzogen
und sie so ungenießbar gemacht werden könnte.
Der P f i f f is t a ls mythische Handlung in diesem B e is p ie l der
zugleich m a te rie lle wie id e e lle Vollzug des Wettkampfes. Der

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W ertm o d e llieru n g 9‫י‬

P fiff is t Zeichenträger u n d Referenzobjekt, eines I n t e r -


p r e t a n t e n bedarf es f ü r den mythisch Sprechenden im Ge-
gensatz zu unserem Zeichengebrauch n ic h t. Die notwendige meta-
semiotische Handlung des abschließenden U r t e ils is t die unver-
zichtbare Kehrseite der mythischen symbolischen Handlung (my-
th is c h und symbolisch is t sie nur aus unserer S ic h t, fü r den
Handelnden i s t sie so , n a t ü r lic h 1 wie das Atmen). Ohne das Aus-
sprechen des Satzes wäre die Handlung gar n ic h t vollzogen. Ver-
g le ich b a r damit is t in unserer K u ltu r das Aussprechen des Ur-
te ils vor G e ric h t, das ja e rs t das von den Geschworenen oder dem
R ichter b e re its g e f ä llt e U r t e il r e c h ts k r ä ftig werden lä ß t.
O l1да Frejdenberg (1978:191) hat in ih r e r noch immer unzu-
reichend zur Kenntnis genommenen Monographie D e r Mythos und d i e
Literatur des Altertum s das B ild a ls Prototypen des u rs p rü n g li-
chen mythischen Zeichens beschrieben. Es war durch die Ver-
Schmelzung von wahrgenommener Erscheinung und wahrnehmendem Be-
tra c h te r gekennzeichnet. Das mythische B ild bedeutet s te ts das,
was es m i t t e i l t , und es bezeichnet nur das, was es bedeutet. In
ihm kommt ganz zur Erscheinung, worauf es ve rw e ist: Das m ythi-
sehe B ild is t das sich zeigende Ding.

3. DIE WERTMODELLIERUNG IM POSTMYTHISCHEN DISKURS

Uber die Modellierung des ästhetischen Wertes im postmythischen


%
Diskurs kann ich mich kurz fassen, da sie uns a lle n v e rtra u t
is t. Die D ifferenzierung von Natur und K u ltu r, das Auseinander-
tre te n von p ra k tis c h e r, r e lig iö s e r gnoseologischer und ä s th e t i-
scher Funktion geht m it einer medialen und generischen Trennung
von Erscheinungsformen der Kommunikation e in h e r. Besonderes In -
teresse ve rd ie n t h ie r die Entgegensetzung von gnoseologischer
und ä sth e tisch e r Funktion, wie sie sich b e re its in der F o lklo re
beobachten lä ß t. Das Lügenmärchen i l l u s t r i e r t am besten die
Trennung von W ahrheitsfunktion und Kunst. Die Opposition von re -
alem Wesen und ir r e a le r Erscheinung in der griechischen K u ltu r
begründete ja auch die Ablehnung der Dichtung durch Platon.
F u n k tio n a litä t und I l l u s io n werden zu C h a ra k te ris tik a ä s th e t i-

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50 R a in e r G rübet

scher Objekte, die immer weniger an der natura naturans p a r t i -


zip ie re n und immer mehr zur natura naturata re d u z ie rt werden.
Der Ausdifferenzierung der Funktionen e n ts p ric h t in der
postmythischen K u ltu r die Trennung der Normen und Werte. Die
wechselseitige Abgrenzung von Natur und Kunst b r in g t die Schei-‫־‬
dung von Naturschönem und Kunstschönem m it s ic h , die in der F o l‫*־‬
ge einander abwechselnd über‫ ־‬und untergeordnet werden. Igor*
Smirnov (1983) hat in seinem diachronischen Modell der primären
und sekundären S t ile den Entwicklungsgang des postmythischen
künstlerischen Diskurses a ls zyklischen Wechsel der Dominanz von
Welt und Text im V e rh ä ltn is .zueinander entworfen.
Der künstlerisch e Text e n th ä lt einen in der F olklore noch
k o lle k tiv e n , in der L it e r a t u r dann in d iv id u e lle n Autor. Sein
Pendant der Kommunikation, der Zuhörer, Zuschauer oder Leser,
e rla n g t dem Text gegenüber eine gewisse in te r p r e ta tiv e F r e ih e it,
die im mythischen Diskurs noch in der Polysemie des Bildes
se lb st beschlossen la g . Die hierdurch bedingte Trennung von
künstlerischem Text und ästhetischem Objekt is t Bedingung der
M öglichkeit des ästhetischen Wertes. Sie l e g i t i m i e r t e rs t das
Bestehen der L i t e r a t u r k r i t i k und s c h lie ß lic h auch der L it e r a t u r -
Wissenschaft m it ihrem metaästhetischen Diskurs.
Zwar kann es im postmythischen Diskurs auch mythische Ein-
sprengsel geben, doch bestimmen sie meines Erachtens in keinem
F a ll die Semantik des Textes auf die gleiche Weise wie im mythi-
sehen Redegeschehen. In Turgenevs Erzählung P e r v a j a l j u b o v 9 d ie -
nen sie beispielsweise zumeist a ls Widerlager, gegen die sich
die fu n k tio n a lis ie r te Semantik h e ra u sa rb e ite t. Gerade auch Tur-
genevs Gespenstergeschichten können a ls b e is p ie lh a fte Illu s tr a -
tionen der These dienen, daß die Einführung ü b e rn a tü rlich e r Er-
scheinungen keineswegs eine hinreichende Bedingung fü r die Kon-
s titu ie ru n g eines Mythos b ild e t 4 Vielmehr is t die Trennung von
Natürlichem und übernatürlichem, von Physik und Metaphysik ih -
r e r s e its ein Zeichen des Z e r fa lls der mythischen k u ltu r e lle n
Formation.

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W ertm o d e llieru n g 51

4. WERTMODELLIERUNG IM REMYTHI SI ERTEN DISKURS VON RUSSISCHEM


SYMBOLISMUS UND FUTURISMUS IM VERHÄLTNIS ZU ZEITGENÖSSISCHEN
DARSTELLUNGEN

Wenn h ie r in der gebotenen Kürze Erscheinungen der W ertmcdellie-


rung in re m yth isie rte n Diskursen von russischem Symbolismus und
Futurismus behandelt werden, so n ic h t in der A bsicht, eine e r ‫־‬
schöpfende D arstellung ih r e r B re ite und V i e l f a l t zu b ie te n , son-
dern le d ig lic h m it dem Z ie l, an ihrem B e is p ie l die grundlegende
D ifferenz des sekundären axiologischen Synkretismus zu seinem
primären Gegenstück d a rz u s te lle n . Die angeführten Autoren und
ih re Texte haben also le d ig lic h eine B e is p ie lfu n k tio n , obgleich
sie doch b e re its unübersehbare Unterschiede zwischen dem Wert-
synkretismus von Symbolismus und Futurismus zu erkennen geben.
Im Unterschied zum primären Synkretismus, in dem die Axioma-
tik von der O ntik, die A xiolo gie von der Ontologie noch n ic h t
geschieden waren, da a lle s Seiende am Sein g le ic h ra n g ig teilnahm ,
tr itt im Symbolismus m it seiner semiotischen Grundfunktion der
Repräsentation der ästhetische Wert gleichsam a ls V e rtre te r des
ontologischen Wertes in dessen Rechte e in .
V orb e re ite t von D ostoevskijs Auffassung, die Welt se i a l le i n
ästhetisch• g e r e c h tfe r tig t, entdecken w ir in Vjačeslav Ivanovs
P rojekt einer Verschmelzung von g rie c h is c h e r Antike und c h r is t -
lic h e r R eligion eine neue Ä s th e tik , die w ir a ls panästhetische
«
S äkularisation kennzeichnen können. Ivanov (1916a:136 f . ) erhebt
denn auch den Anspruch, der Symbolismus sei mehr a ls eine Kunst:

Слово-символ обещало стать священным откровением или чудо-


творною "мантрой", расколдовывающей мир. Художникам предле-
жала задача цельно воплотить в своей жизни и в своем твор‫־‬
честве (непременно и в подвиге жизни, как в подвиге твор-
чества!) миросозерцание мистического реализма или - по ело-
ву Новалиса ‫ ־‬миросозерцание "магического идеализма";
Das Wort-Symbol versprach, zur h e ilig e n Offenbarung oder
wundertätigen, die Welt zurückverzaubernden "Mantra" zu wer‫־‬
den. Den Künstlern oblag die Aufgabe, in ihrem Leben und in
ihrem Schaffen (unbedingt in der Tat ih re s Lebens wie in der
Tat ihres Schaffens!) g a n z h e itlic h die Weltwahrnehmung des
mystischen Realismus oder - nach einem Wort von Novalis ‫־‬
die Weltwahrnehmung des "magischen Idealismus" zu v é rkö r-
pern.

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52 R a in er Grübe I

Der ganzheitliche Charakter der W ir k lic h k e it lie g t jedoch


n ic h t vor, sondern muß vom Künstler eben e r s t geschaffen werden,
der als s ä k u la ris ie rte r Gott in einer sekundären Kosmogonie je -
ne Welt s y n th e tis ie r t, in welcher der ästhetische Wert die ande-
ren Werte gleichsam aufzehrt.
Die innere hierarchische Gliederung der sym bolistisch то-
d e llie r te n Welt b ild e t einen weiteren gravierenden Unterschied
zur G leichrangigkeit des Seienden in der mythischen K u ltu r. Iva -
nov s t e l l t neben einen ä u ß e r e n K a n o n , der die Ver-
bindung des Symbolisten m it Künstlern der Vergangenheit fe s t -
le g t, einen i n n e r e n - K a n o n , der gerade in der Aner-
kennung einer hierarchischen - und das h e iß t: postmythischen ‫־‬
Axiologie besteht. Wie Andrej Belyjs "Emblematik des Sinns" le -
g it im ie r t auch Ivanovs Ä sth e tik (1916a:140) die semiotische Du-
p liz itä t der Bedeutungswelt den Künstler als Kreator und In t e r -
p re ta to r :

Под "внутренним каноном" мы разумеем: в переживании худож-


ника - свободное и цельное признание иерархического поряд-
ка реальных ценностей, образующих в своем согласии божест-
венное всеединство последней Реальности, в творчестве - жи-
вую связь соответственно соподчиненных символов, из коих
художник ткет драгоценное покрывало Душе Мира, как бы творя
вторую природу, более духовную и прозрачную, чем многоцвет-
ный пеплос естества.
Unter "innerem Kanon" verstehen w ir : im E rleb n is des Künst-
le rs - das fr e ie und ganzheitliche Bekenntnis zur h ie ra r-
chischen Ordnung der realen Werte, die in ih r e r Uberein-
Stimmung die A lle in h e it der le tz te n REALITÄT, im Schaffen
- den lebendigen Verband der entsprechend beigeordneten
Symbole, aus denen der Künstler den w e rtvo lle n S chleier der
WELTSEELE webt, indem er gleichsam eine zweite Natur
schöpft, die g e is tig e r und du rch sich tig e r i s t a ls das Pep-
los der Natur.

In seinem Essay D i e ästhetische Norm d e s Theaters hat Iva -


nov (1916b:276) hervorgehoben, daß ethischer Wert und Wahrheits-
wert dem "wahren Glänzen der Schönheit" zwar immanent seien, daß
ih re Erscheinung jedoch n ic h t in den Bereich der Ä s th e tik fa lle .
Im Theater trä te n dagegen a lle d re i Werte o ffe n nebeneinander
hervor, w eil es n ic h t auf die Kategorie der Form beschränkt s e i,
sondern den ganzen Menschen zum In h a lt habe und eine Reproduk­

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W ertm odellierung 53

tio n eines ganzheitlichen Ereignisses " in einer Gesamtheit von


Seelen" anstrebe. Damit hebt Ivanov das Theater (wohl auch im
Horizont der Idee des Gesamtkunstwerks) a ls jene Kunstform her-
aus, in der eine H ierarchie der Werte n ic h t gegeben i s t . A lle r -
dings müssen seine Versuche der Renaissance einer antiken Tra-
gödié im Geiste des Christentums a ls ge sch e ite rt angesehen wer-
den.
Wenn w ir nun a ls ein B e isp ie l spätsym bolistischer D ich t-
kunst Aleksandr Bloks Poem D i e Z w ö l f unter dem Gesichtspunkt der
Modellierung des ästhetischen Wertes betrachten, so i s t der Ana-
lyse vorauszuschicken, daß der ästhetische Wert zwar nur im Akt
der ästhetischen Produktion und Reproduktion vollzogen w ird, der
Text aber gleichwohl eine Präsupposition der Realisierung dieses
m
Wertes e n th ä lt. Die A rc h ite k to n ik eines Werks ü b e rs te ig t so die
formale sprachliche S tru ktu r des Textes, indem sie primäre und
sekundäre semiotische Modellierung zu einer Gesamtheit zusammen-
s c h lie ß t.
Neben die evidente S tru k tu r wechselnder Lautkorresponden-
zen, die ein dichtes Geflecht sekundärer semiotischer Beziehun-
gen h e r s t e l l t (v g l. in der ersten Strophe die sechsmal auft r e -
tende Phonçmkombination v e ) , neben die intensive Farbensymbolik
m it den Kernfarben schwarz, weiß und r o t , neben eine bedeu-
tu n gsvoll gehandhabte V a ria tio n von rhythmischen Versprofile n ,
Strophenformen und Strophenkonstellationen in den zwölf Kapiteln
des Poems tre te n auf der semantischen Ebene symbolische Natur-
d a rs te llu n g , konträr zugespitzte soziale Interaktionen und
s c h lie ß lic h ein äußerst le b h a fte r Wechsel axiologischer Proposi-
tionen.
Es d ü rfte n ic h t zu w eit gehen, wenn w ir fe s ts te lle n , daß
gerade diese spannungsreiche Welt e thische r, s o z ia le r, r e lig iö -
ser, ideologischer und s c h lie ß lic h auch ästhetischer Wertungen
den Kern des Sinngefüges von Bloks großem Poem ausmacht. Diese
Bewegung durch eine Welt der Bewertung beginnt m it der Natur-
Schilderung des Beginns, in der die im Text angelegte (durch die
Lautkorrespondenzen re p rä se n tie rte ) p o s itiv e ästhetische Wertung
in einen Gegensatz zu ihrem praktischen Wert gerät ("Всякий xo-

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*>4 R a in e r G rübet

док/сколзит - ах, бедняжка!" - "Ein jeder Fußgänger/gleitet aus


‫־‬ ach, armer K e r l! " ; Blok 1971a[1919]:223)•
Es kann h ie r n ic h t darum gehen, die gesamte spannungsreiche
und doch in sich geschlossene Welt der Wertungen des Gedichts
zu re ko nstru iere n , es sei aber auf Erscheinungen wie die v e r-
ständnislose G reisin hingewiesen, die m it einem Huhn verglichen
w ird und aus deren S icht die B o l'š e v ik i eine durchaus negative
Wertung erfahren (233) sowie auf den Bougeois, der in die Nähe
eines aus der Gemeinschaft ausgeschiedenen Hundes (b e z r o d n y j
pe8, 241) gerückt w ird .
N icht zu übergehen i s t in diesem Zusammenhang f r e i l i c h die
Entwertung des R eligiösen, die sich in den Z w ö l f zum einen durch
die an P e t'ja g e ric h te te Personenrede - "От чего тебя упас/Золо-
той иконостас?" ("Wovor hat dich g e re tte t/D ie goldene Ikonosta-
se?", 241) - zum anderen aber durch eine ambivalente Äußerung
des Erzählers h e r v o r t r i t t : " . , .И идут без имени святого/Все две-
надцать в даль" ("Und es gehen ohne h e ilig e n Namen/Alle zwölf in
die Ferne", 242). E rst vor diesem Hintergrund w ird d e u tlic h , was
fü r ein Skandalon es war, daß am Schluß des Poems kein anderer
an der Spitze der re vo lutio n äre n Zwölf ging a ls C hristus. Es i s t
genugsam bekannt, daß Blok s e lb s t von dieser Lösung i r r i t i e r t
war. Weniger i s t in der umfangreichen L it e r a t u r zu diesem Poem
auf die axiologischen Im plikationen dieser überraschenden Pointe
geachtet worden.
In einer Tagebuchnotiz vom 17. Februar 1918 sch re ib t Blok
(1971b:330) zwar b ekräftigend "Daß C hristus ihnen vorangeht, un-
t e r lie g t keinem Z w e ife l", doch fü g t e r , den Wertgesichtspunkt
ausdrücklich erwägend, hinzu: "Es geht n ic h t darum, 1ob sie s e i-
ner würdig s in d ‫ ״‬, und es i s t sch re cklich , das wiederum Er m it
ihnen i s t , und daß es e in s tw e ile n keinen anderen g ib t " . Bezeich-
nenderweise s c h lie ß t Blok (1971b:330) m it der Frage: "Und be- •

d a rf es denn eines Anderen - ?". Zwei Tage später is t er sich


b e re its dessen s ic h e r, daß es ein anderer sein müsse, der v o r-
angeht (Blok 1971b:330). Entscheidender is t fü r das Verständnis
dieses Problems f r e i l i c h seine F e stste llu n g "[...] Патриотизм -
грязь [...] Религия - грязь t...] ("(...] Patriotism us is t

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W ertm o d e llieru n g 55

Schmutz [...] R eligion is t Schmutz I..J1"), da sie zu erkennen


g ib t , daß die a lte n Werte gerade im B lic k auf die ästhetische
Axiomatik abgewertet werden. N ich t verwundern kann dann, daß
auchidie Romantik ä sth e tisc h a ls Schmutz abgetan w ird .
Endgültig scheint sich Blok (1963:330) am 10. März 1918 Re-
chenschaft über die Grundlage der Umwertung zu geben, wenn er
auf die K r itik von O.D. Kameneva, in dem Poem werde C hristus ge-
p rie se n , a n tw o rte t:

Я только констатировал факт: если взглядеться в столбы ме-


тели на э т о м п у т и , то увидишь "Исуса Христа".
Но я иногда сам глубоко ненавижу этот женственный призрак.
Ich habe le d ig lic h e in ‫ ׳‬Faktum k o n s ta t ie r t: wenn man a u f
d i e s e m We g e in Säulen von Schneesturm schaut, so
s ie h t man "Jesus C h ris tu s ". Bisweilen hasse ic h s e lb s t je -
doch dieses w eibliche Gespenst t i e f .

Es i s t die Wahrnehmung, die A is th e s is im ursprünglichen


Sinne, die Christus zur Erscheinung b r in g t . Die ästhetische Per-
zeption der Welt, von Blok n ic h t se lte n in die Metapher des 1Mu-
sik-Hörens' gefaßt, u n t e r w ir f t sich sowohl die h is t o r is c h - p o li-
tische a ls eben auch die r e lig iö s e W ir k lic h k e it . Der S y n k re tis -
mus der Werte fü h r t dann im Symbolismus auch n ic h t zur Dehierar-
chisierung und ontischen Begründung des Wertsystems, sondern zur
Dominanz des ästhetischen Wertes und zur Begründung des Wertsy-
stems auf einer emphatischen Wahrnehmung der Erscheinung. M it
der Semiotik der Repräsentation, die im zwölften K a p ite l ihren
Gipfelpunkt in der semiotischen und axiomatischen Ersetzung des
Windes durch Christus fin d e t und damit Natur und R elig io n a ls
Äquivalente v o r s t e l l t - ” Это ветер с красным флагом/Разыгрался
впереди..." ("Dies i s t : der Wind hat m it der roten Flagge vorn
sein Spiel g e tr ie b e n ..." , 1971a:242) - korrespondiert eine Wert-
bildung, die in der ä sth e tisch wahrgenommenen Erscheinung ihren
Grund hat.
Als ein B eispiel fü r die f u t u r is tis c h e Wertmodellierung
können w ir Chlebnikovs Text Zangezi heranziehen, der nur v ie r
Jahre nach Bloks Poem D v e n a d c a t 9 abgeschlossen und v e rö ffe n t-
l i c h t worden i s t . In diesem le tz te n großen Werk Chlebnikovs, das
sich mir a ls ein besonderer Typus des Entwurfs eines Gesamt-

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56 R a in er GrübeI

kunstwerks d a r s t e l lt , is t zwar durch die Gleichsetzung der


menschlichen Sprache m it der Sprache des Kosmos, durch die In -
terferenz von Held und Erzähler, von Held und Autor, durch die
v ie lf ä lt ig e n Verfahren der Metamorphose eine größere Nähe zur
S truktur mythischer Diskurse e r re ic h t, doch t e i l t sich Zangezi,
der Weise, der Prophet einer neuen Welt, gerade als D i c h -
t e r m it (zur Geschichte der In te rp re ta tio n von Z a n g e z i v g l.
Grübel 1986). Am Ende des komplexen, aus ly ris c h e n , dramatischen
und prosaischen Stücken montierten Textes w ird die Zeitungsnach-
r ie h t von Zangezis Tod w id e rle g t, indem Zangezi e i n t r i t t (auf-
tr itt? ) und die Sätze s p ric h t: "Зангези жив,/Это неумная шутка."
("Zangezi le b t, /D ie s war ein dummer Spaß.", Chlebnikov 1986:
504). Auch h ie r is t es n ic h t das Sein, das die Unwahrheit wider-
le g t, sondern das im Erscheinen des Helden v o r g e f ü h r t
Sein.
S ic h e rlic h lä ß t sich bei Chlebnikov im Besonderen und beim
Futurismus im Allgemeinen eine hohe Stufe der Poetomythik und
damit auch des sekundären Synkretismus rekonstruieren, doch wäre
es h ie r ebenso irre fü h re n d , von Mythik und Synkretismus im Sinne
archaischer Kulturen zu sprechen wie im F a lle des theoretischen
Diskurses über den Futurismus. Es i s t kein Z u f a ll, daß in Maja-
ko vskijs Traktat Kak d e la t' etichi? und in den Arbeiten der rus-
sischen Formalisten v i e l von "Regeln", "Verfahren" und sprach-
liehen Merkmalen der L ite r a tu r die Rede i s t , kaum aber von Er-
scheinungen des Wertes. Majakovskij ve rsteh t sich nur zu dem
Hinweis, der Grundsatz der Sparsamkeit b ild e in der Kunst die
Grundregel der Produktion ästhetischer Werte, bei S k lo v s k ij,
Tynjanov, Êjchenbaum und Jakobson wird man eine Theorie des
(ästhetischen) Wertes durchaus vermissen. Zwar setzen B e g riffe
wie das "Neue Sehen", "Verfremdung", "Desautomatisierung" und
evidenter noch "Dominante" und "Innovation" Werthorizonte voraus
vor deren Hintergrund sie produktiv werden können, doch sind die
entsprechenden Werte in den Arbeiten der Formalen Schule keines-
wegs bestimmt und in ih r e r Arbeitsweise beleuchtet worden. Es
lohnte eine eigene Untersuchung, ob Jakobsons P rin z ip der Äqui-
valenzbildung durch die Egalisierung der Werterscheinungen n ic h t

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W ertm o d ellieru n g 57

in besonderem Maße den W ertnihilismus der russischen Avantgarde


zum Ausdruck b r in g t. Es i s t ein durchaus bedenkenswerter Um-
stand, daß Bachtin den Formalismus wegen der Vernachlässigung
des ästhetischen Wertes k r i t i s i e r t hat und diese Kategorie dann
im tschechischen Strukturalismus bei Jan Mukafovskÿ neben dem
F u n k tio n s b e g riff zur leitenden Kategorie geworden i s t .
Wir haben b e re its darauf hingewiesen, daß im mythischen
Diskurs die Evidenz des Wahrnehmbaren die Legitim ation fü r die
G ü ltig k e it von Aussagen b ild e t . In der Konzeption S klovskijs
und Jakobsons muß die Wahrnehmnarkeit ( o ë â u t i m o s t 9) dagegen
s te ts aufs Neue durch bestimmte Verfahren der Desautomatisierung
herbeigeführt werden. Die "E in ste llu n g auf den Ausdruck" kann ja
auch nur dann das Spezifikum der poetischen Sprache b ild e n , wenn
in der praktischen Sprache die Wahrnehmbarkeit s te ts wieder ve r-
loren geht. Der Mythos kennt die Erscheinung der Überraschung
n ic h t; Christus als Fahnenträger der Revolutionäre und Zangezi
als totgesagter Lebender sind in ih r e r ästhetischen Wirksamkeit
angewiesen auf die getäuschte Erwartung. Die Ä sth e tik der Inno-
vation tr itt der A xiologie der K o n tin u itä t diametral gegenüber.
Zwischen ihnen g ib t es keine Brücke, sondern nur Interferenzen.

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W ertm odellierung 59

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A a g e A. HANSEN-LÖVE (Wien)

ZUR MYTHOPOETIK DES RUSSISCHEN SYMBOLISMUS

Der in dieser Darstellung i m p l i z it und e x p l i z i t verwendete


S y m b o l b e g r i f f b ild e t das Rekonstrukt eben jener
Symbolvorstellungen, die von Symbolisten selb st in zahlreichen
und o f t sehr widersprüchlichen r e lig io n s - und k u ltu rp h ilo s o p h i-
sehen S c h rifte n e n tw ic ke lt wurde•1 Da die Arbeiten zu dieser
Thematik ohnedies sehr ausgedehnt und r e ic h h a ltig vorliegen
(v g l. z u le tz t Deppermann 1982; Holthusen 1957, 1982; West 1970;
Tschöpl 1968; Wallrafen 1982; Mine 1979 e t c . ) , möchte ich h ie r
nur auf jene Besonderheiten hinweisen, die fü r das Symbolver-
ständnis dieser Studie wesentlich sind.
"Symbol" und "Mythos” a ls solche (d.h. je n s e its ih re r the-
matischen Konkretisierung) sind - aus der S icht der poetischen
Paradigmatik des symbolistischen Gedichtkorpus - selbst zentra-
le Paradigmata eben dieses Kodes, wie dies ja auch fü r die Para-
digmata *Kunst1, *Leben', ,Gedicht*, 'D ic h te r ', ,K u lt u r ', 'R e li-
g ion ' e tc . g ilt, die in den Gedichten s y m b o lis ie rt, mythologi-
s i e r t und p a ra d igm a tisie rt sind, obwohl sie g le ic h z e itig außer-
halb der "poetischen Welt" der Gedichte eigene k u lt u r e lle Medien
bzw. Zeichensysteme (Wissenschaft, Kunst, R elig io n , Psychologie
e tc .) und damit eigene Weltmodelle d a rs te lle n , aus deren Per-
spektive die Gedichte und ih re Paradigmatik zum Gegenstand der
Theoretisierung und In te rp r e ta tio n , der Pragmatisierung und
Übersetzung in andere Kodes und andere "Lebenstexte" werden.
K om pliziert wird diese g le ic h z e itig e Anwesenheit von kom-
plexen Zeichensystemen und Kulturmodellen i n n e r h a l b
des poetischen Kodes und a u ß e r h a l b desselben durch das

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62 Aage A . Hansen-Löve

Bestreben der Symbolisten, die "Grenzen" zwischen diesen Syste-


men (also zwischen Kunst und R eligion, Philosophie und Wissen-
sc h a ft, Theorie und Praxis, Werk und Leben e tc .) immer wieder
zu verschieben, neu zu d e fin ie re n und zu transzendieren. V ie l-
fach tre te n die abstrakten3 Bezeichnungen dieser elementaren
Kultursysteme und Kodes a ls p e r s o n ifiz ie r te "Symbole” in den Ge
dichten a u f, wo dann die in der (religionsphilosophischen, k u l-
tu r- und kunsttheoretischen, ideologischen oder w is s e n s c h a ftli-
chen) Theoriebildung abstrakt in W id e rs tre it stehenden K u ltu r-
systeme im Gewände mythischer "Helden" erscheinen und das "Dra-
ma" des "Kultur-Kampfes", der Auseinandersetzung zwischen den
heterogenen semiotischen, medialen und axiologischen Kodes und
In s titu tio n e n der K u ltu r und ih re r Träger 1
'durchspielen", "thea
tr a lis ie r e n " . Solche "Helden” sind - neben den schon erwähn-

ten - v ie le (zumeist groß geschriebene) Abstrakta wie: "Vremja"


( " Z e it ” ) , "Slovo" bzw. " Jazyk" ("Wort" und "Sprache"), "Sozer-
c a t e l'n o s t '" (als sym bolistischer Terminus fü r "Theoria", theo-
r e t is c h - r e f le x iv e r Lebenshaltung) im Gegensatz zu "Tvorčestvo” ,
"Delo", ” Vešč1" , " Z iz n '" (d.h. a lle "k re a tiv e n ", physisch und
psychisch faßbaren Prozesse und Produkte), aber auch Philosophu
mena wie " d io n is ijs t v o " , "bogoborčestvo", " id e ja " , " s t ic h ij-
n o s t1" u .a .
Dieser In te g ra tio n von Abstrakta (und der m it ihnen verbun
denen Modelle) in den poetischen Kode (als Symbole der p o e ti-
sehen Welt) steht die "Abstrahierung” und "Theoretisierung" kon
k re te r poetischer Motive und Symbole im nichtpoetischen Diskurs
gegenüber, wo bestimmte Gegenstandssymbole, (mythologische) Na-
I
men, Mythologeme u .a . als abstrakte "Termini" einer T h e o rie b il-
dung und eines entsprechenden Genres a u ftre te n . Dies g i l t n ic h t
nur fü r mythologische oder p h ilo s o p h isc h -re lig iö s e Motive, son-
dern ebenso f ü r ästhetisch-poetologische P rin z ip ie n , Theorien
und Verfahren, deren Termini sowohl p o e t i s i e r t als
auch t h e o r e t i s i e r t a u ftre te n ("p o é z ija ", "slovo-
semja", "ja z y k ” , ” rifm a ", " s t ic h " , "s o o tv e ts tv ie ” , "prelomle-
n ie " , "o tra ž e n ie ", "pesn' ” , " r itm " , "d ifira m b ” , "proza", "kniga
"ra z v e rty v a n ie ", " s v ito k ” , "poêt", ” pevec", " lir a " , " s v ir e l'”

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Mythopoetik dee rueeiechen Symbolismus 63

e tc .) .
Versucht man den symbolistischen "Symbol-Mythos" in seinen
Grundzügen und unabhängig von den sehr unterschiedlichen Theo-
riebildungen der Symbolisten (v .a . VI. Solov'evs, V j. Ivanovs,
A. B e ly js , D.M. Merežkovskijs u .a .) zusammenzufassen, dann e r -
g ib t sich folgendes B ild , das im wesentlichen auf das S e lbstver-
ständnis des mythopoetischen Symbolismus z u t r i f f t .
Jedes Symbol ve rfü g t zugleich über einen s e m i o t i -
s e h e n (d.h. im weitesten Sinne ,,sprachlichen", "medialen")
Charakter und einen r e a l - d i n g l i c h e n ; es i s t zu-
g le ic h "Zeichen", das fü r etwas ‫״‬anderes" steht ( fü r die "andere
W elt", den metaphysischen "mir in o j" ) und fü r sich "s e lb s t" (a ls
B estandteil der "kosmischen Dingwelt", als "slovo-vešč' " ) . Umge-
k e h rt is t jeder Gegenstand, jede Real'ie der d ie s s e itig e n Welt
und des irdischen Lebens insofern ein Zeichen, d.h. T e il einer
u n ive rse lle n Sprache, als sie den "Welt-Text" des Kosmos dar-
s te llt. Die vielbesprochene symbolistische Theorie der "Korre-
spondenzen" ("correspondances", "s o o tv e ts tv ija ") b a s ie rt ganz
eindeutig auf einer durch und durch (neo-)p 1 a t о n i -
s e h e n Ontologie und der fü r sie typischen Emanationslehre.
Nach dieser b ild e t der Kosmos eine v e r t i k a l e H ie ra r-
chie von "Seinsschichten1
1 (kosmogonischen "Sphären") , deren
"S e in s h a ltig k e it" sich in dem Maße v e rr in g e r t, wie sie sich vom
absoluten "Ur-Sein" und der ,,U r-E in h e it" des kosmischen Ur-
sprungs entfernen. Aus diesem " flie ß e n " , "emanieren" o n to lo g i-
sehe Elem entarteile (also "S e in s p a rtik e l", die üblicherweise a ls
"L ich tm a te rie ", als "Licht-Samen" gedacht werden) in die "Min-
derstufen" des Kosmos; diesem ,,ontischen" Aspekt der Ausstrah-
lung e n ts p ric h t der "energetische" und der " p a r tiz ip a to r is c h e " :
Ein jedes Phänomen einer Seinsstufe gehört dadurch seiner Sphä-
re an, daß es der dieser immanenten M a te r ia litä t und Essenz
e n ts p ric h t; g le ic h z e itig p a r tiz ip ie r t jedes Phänomen insofern
an den je w e ils übergeordneten Seinsschichten, als es an deren
Sein und Energie t e ilh a t . Diese Teilhabe e rs c h lie ß t das Ur-Sein
der Dinge ebenso wie die U r-K ra ft, d.h. sie bezieht sich sowohl
auf die i m a g i n a t i v e U r b ild lic h k e it (also die "Ideen-

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64 Aage A. Haneen-Löve

h a f t ig k e i t " ) der am übergeordneten Sein p a rtiz ip ie re n d e n Dinge


a ls auch an der e n e r g e t i s c h e n U rk r a ft des Seins.
Diese P a rtiz ip a tio n tr itt aber n ic h t in jedem Phänomen, in
jeder S itu a tio n und fü r jeden Menschen gleichermaßen und perma-
nent auf, sondern nur fü r jenen, der fähig is t, die "Sprache der
Dinge" zu lesen bzw. umgekehrt die "Dinge" a ls sprachliche Zei-
chen (genauer: "Vorzeichen") zu erschließen. Diese Teilhabe
macht das solchermaßen s ig n ifik a n te Ding zugleich zum S te llv e r -
tre te r, zum "substituens" eines a b w e s e n d e n Seins,
ohne daß dabei das Ding grundsätzlich seine äußere Erscheinungs-
weise (als "Phainomenon" der immanenten Gegenstandswelt) v e r lie -
ren würde. Dies g i l t auch fü r a lle im engeren Sinne sprachlichen
Zeichen und Texte: Diese verharren e in e rs e its in der konventio-
nelien Gegenstandswelt ("predmetnost1" , "predmetnyj m ir " ) , wenn
sie vom "H y lik e r” , vom "Uneingeweihten" monofunktional benützt
werden; andererseits erschließen sie dem "Sehenden" (also dem
"V is io n ä r", dem "Pneumatik e r" ) in der "imago" des Phänomens
auch in seiner verbalen G estalt) das " U r b ild " , den "Archetypos"
(oder nach Plato die "Idee") seiner absoluten Entsprechung im
Ursein. Untrennbar m it dieser i m a g i n a t i v e n "E in -
s ic h t " 3 i s t die e n e r g e t i s c h e "E instrahlung" v e r-
bunden: Beides zusammen b ild e t die s y m b o l i s c h e Wirk-
samkeit von "Dingen als Zeichen" des W elttextes.
Das Symbolische i s t also eine Wirksamkeit und imaginative
Präsenz, die Zeichen und Dingen n ic h t an ih r e r "Oberfläche" und
als m a te rie lle Substanz a nh a ftet, sondern nur im E r l e b e n
erfahren werden kann. Dieses P rin z ip des "pereživanie" durch-
z ie h t a lle Symboltheorien der Symbolisten und jener Symbolden-
ker der Religionsgeschichte (v.a . in ih re r gnostisch-herm eti-
sehen Unterströmung) , auf die sich die Symbolisten m it größter
Sachkunde und Einfühlsamkeit bezogen. Das "Symbolwort"** ("s lo v o -
simvol") is t also zunächst "Wortterminus" (ein a b s tra k te r "slo vo -
termin") der bloß konventionellen Zeichensprache fü r denjenigen,
der seine rezeptiven Fähigkeiten e in z ig auf die lin g u is t is c h -
semiotische Seite des Zeichens r ic h t e t ; fü r den "Symbolmen-
sehen", fü r die E lit e der " Pneumatik e r " , wie sie die pythagore­

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M y th o p o e tik d es r u s s is c h e n Sym bolism us 65

ischen oder gnostischen Sym bolisten-Kollektive re p räsentierten,


fü r den kre a tiv e n Menschen (im Sinne der K u nstreligio n der Mo-
derne) tr itt das Symbolische (d.h. 1‫״‬imago" und "Energie" Verm it-
telnde) der Zeichen und Realia nur a u g e n b l i c k l i c h ,
im rechten Moment ("k a iro s ") des Lebensvollzugs, im schicksal-
haften A u fb litz e n der E in s ic h t und " Illu m in a tio n " oder " v is io -
nären" Erfahrung in Erscheinung. Außerhalb dieser e x is te n tie lle n
S i t u a t i o n , außerhalb etwa eines m a g isch -ritu e lle n
R a h m e n s (wie ihn das "templum" im Baulichen und die In i-
t i a t i o n s r it e n in der Lebensgliederung d a r s te lle n ) , außerhalb des
K o l l e k t i v s synchron erlebender Menschen, außerhalb der
"h e ilig e n Z e it " , des "Festes", der " ric h tig e n Stunde" is t das
Symbolische u n s i c h t b a r .
Auf die Kunst übertragen bedeutet d ie s, daß der Kunsttext
” e x o te risc h ” gelesen werden kann, d .h . entweder außerkünstle-
ris c h (unter dem Zeichen eines anderen Kodes und einer externen
Pragmatik: etwa a ls h is to ris c h e r, p o lit is c h e r , ideologischer,
dogmatischer u .a . T e x t), oder aber bloß ä s th e tis c h -k ü n s tle ris c h ,
also unabhängig von der m yth isch -re lig iö se n , ja geradezu sakra-
mentalen Wirksamkeit des Symbolischen- Dieser B r u c h zwi-
sehen Kunst a ls religiös-m ythischem "Medium" (ja a ls Religion
selbst) und Kunst a ls autonomer, ästhetischer Denk- und Daseins-
form, zwischen "Real-Symbolismus"5 ( ” r e a lis t ič e s k ij simvolizm"
bei V j. Ivanov) und einem "nom inalistischen" "Idealsymbolismus"
( " id e a lis t ič e s k ij sim volizm "), zwischen "dekadentstvo” und
"K u n s tre lig io n " des S I und dem religiös-mythopoetischen
S II, durchzieht den gesamten Symbolismus, ja v e r le ih t a lle n
symbolistischen Werken eine zunehmend ambivalente I n t e n t io n a li-
tä t: Gerade die E in s te llu n g auf Kunst-Religion (des "Ä s th e tis -
mus") oder "R eligions-K unst"* ("Realsymbolismus" a ls "R eligion"
s e lb s t) , auf A u t o n o m i e oder H e t e r o n o m i e
des Ä sthetisch-K ünstlerischen, auf die Ä s t h e t iz itä t des R e li-
giös-Mythischen oder die R e lig io s itä t des Ä s th e tis c h -K ü n s tle ri-
sehen, gerade die Veränderungen in der O rientierung auf diese
oder jene Werthaltung ch a ra kte risie re n das axiologische System
des Symbolismus und seine oben beschriebene immanente P o la ris ie -

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66 Aage A. Hansen-LÕve

rung und Korrelierung von p o sitive n oder negativen "Programmen”


Das e ig e n tlic h e *1Drama" der Symbolisten, ja der gesamten
Moderne, scheint dieser Widerspruch zwischen Kunst a ls " R e lig i-
onsersatz" (Ästhetizismus, d.h. S I) oder Kunst a ls "E rs a tz re li
g io n ", als "Ersatzmythologie" zu sein (= S I I ) . Es i s t typisch
fü r das groteske W e ltb ild des S I I I , daß h ie r b e i d e Model
le g le ic h z e itig und g le ich w e rtig r e a lis ie r t werden - und zwar
a ls rotierende Pole einer v e rtik a le n W erthierarchie, in der die
Positionen , oben1 - ,unten1, , Sein1 - , N ic h ts 1, , gut* - , böse',
,Himmel* - , Erde*, *Geist' - 'M a te rie ', e tc . einander in e i -
nem Text, im Rahmen e i n e r pragmatischen S itu a tio n wech
s e ls e itig su b stitu ie re n und dynamisieren‫״‬
Das Symbolische v e r le ih t also einem Zeichen einen z u s ä tz li
chen Verweischarakter, der auf der Ebene seines primären semio-
tischen Kodes n ic h t aufscheint: So i s t jedes Zeichen oder Wort
Bestandteil eines lin g u is tis c h e n Kodes (verbale Semantik) und
eines pragmatischen Sprachaktes, in dessen Rahmen es durchaus
Bedeutung und Sinn annehmen kann, o b w o h l seine z u s ä tz li-
che Symbolfunktion außer Acht b le ib t . Die Symbolisten demon-
s tr ie r te n dieses Phänomen gerade am B e is p ie l jener Autoren, die
in der russischen L ite r a tu r des 19. Jahrhunderts a ls Realisten,
ja N aturalisten galten, also an D ostoevskij, T o ls to j, Cechov,
Gogol*, deren Werke von VI. Solov'ev, D. Merežkovskij , V. B rju -
sov, A. Belyj oder A. Blok "sub specie symbolorum" a ls mythopoe
tische Texte gelesen wurden, ohne daß dabei irgend etwas an der
S truktur der Texte zu ändern gewesen w ä re .7
Uberträgt man diese Perspektive der "sym bolistischen Lek-
tü re " von nicht-sym bolistischen Texten auf den Symbolismus
s e lb s t, dann könnte man auch den umgekehrten Prozeß einer
"nicht-sym bolistischen Lektüre" von symbolistischen Werken an-
nehmen. Daß dies durchaus möglich is t, be legt die reiche Rezep-
tionsgeschichte der symbolistischen L it e r a t u r . Es i s t nun wie-
derum c h a ra k te ris tis c h fü r das ambivalente Modell des S I I I ,
daß h ie r diese "doppelte" oder m u ltiv a le n te Lektüre (und auch
Konzeption) der eigenen Werke im M itte lp u n k t der Aufmerksamkeit
stand, während vorher im S I I je g lic h e inadäquate Lektüre a ls

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M y th o p o e tik des r u s s is c h e n Symbolismus 67

Bedrohung von Werk und Autor, ja a ls Selbstzerstörung der Mytho-


poesie b e fü rc h te t wurde. Für den diabolischen Diskurs des S I
kann g e lte n , daß dieser n ic h t von einer möglichen "falschen"
bzw. inadäquaten "Lektüre" ausging, sondern von einer "A nti-Lek-
tü r e " : Der poetische Text des D iabolikers wird dann " r ic h t ig "
verstanden, wenn er e in Maximum an Mißverständnissen, ja an sug-
g e s tiv e r V e rs tä n d n is lo s ig k e it erzeugt.
Z w e ife llo s muß jeder symbolistische Text eine "h orizo ntale "
(d.h. te x tä s th e tis c h e , textpragmatische) In te rp re ta tio n zulas-
sen, was e in s c h lie ß t, daß es auch eine poetische Semantik g ib t ,
ohne daß der In te r p r e t oder A n a ly tik e r von der V e r t i k a -
1 i t ä t eines Emanationsmodells und der m it ihm verbundenen
(Kunst-)Metaphysik ausgeht. Wesentlich is t h ie r jedoch der Hin-
weis darauf, daß die Symbolisten das Merkmal der 1S y m b o liz itä t1
("s im v o lič n o s t'" ) keineswegs auf bestimmte Motive, Personen, Na-
men, S ituationen aus dem archaischen oder klassischen Paradigma
vorgegebener Mythologeme einschränkten, oder auf bestimmte r e l i -
giöse, hermetische, o k k u ltis tis c h e , mystische u .a . "Themen"; fü r
sie war grundsätzlich jede Realie und auch jedes Zeichen (auch
das p o e tisch -kü n stle risch e ) dann ein Symbol, wenn es "sub specie
a e t e r n it a t is " , d .h . a ls "substituens" eines absolut A n d e -
r e n, a u ftr itt und dieses p a r t i e l l vergegenwärtigt. Das Symbo-
lis c h e is t also eine W e r t i g k e i t , die Q ualitäten wie
1H e i l i g k e i t ', ' S u g g e s tiv itä t*, (d.h. unterbewußte psychische Be-
reiche a ktivierende Wirkung), 'Enthusiasmus', 'E kstase', 'Pa-
th o s ', 'v is io n ä re E n tr ü c k th e it', 'J e n s e itig k e it' und 'G ö tt lic h -
keitr* d a r s te llt; zugleich aber i s t das Symbolische auch eine
W e r t o r d n u n g , die a ls sekundärer oder t e r t iä r e r Kode
die primären "modellbildenden Systeme" (der Sprache, der Kultur)
überlagern. Aus der axiologischen Sicht des symbolisch-mytholo-
gischen Denkens sind aber eben diese Systeme der konventionellen
Kulturpragmatik "a b g e le ite te ", "sekundäre" und "minderwertige"
(d.h. "profane" im Sinne M. E lia d e s ), Ordnungen also, die über
eine weitaus geringere Relevanz fü r den Menschen a ls psychisch-
g e istig e s Wesen verfügen a ls die ko n ve n tio n a lisie rte n und a r b i-
trä ren Semioseformen.

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68 Aage A. Hansen-Löve

Ohne eine Pragmatik des Symbolismus zu schreiben oder aber


selbst einen symbolistischen Diskurs zu verfassen, is t die Wirk-
samkeit des Symbolwertes unmöglich zu erfassen und zu demon-
s tr ie r e n . Worum es h ie r nur gehen konnte, war die Darstellung
«
einer Wert - O r d n u n g , welche die a llta g s s p ra c h lic h e , aber
auch im engeren Sinne poetisch-künstlerische Paradigmatik der
symbolistischen Texte übe rla g ert, ohne daß sie in jedem e in z e l-
nen F a lle analytisch nachgewiesen werden könnte. Grundlage der
S y m b o l i s i e r u n g (in jeder Kunst oder R eligion) is t
ein schon vorhandenes Zeichensystem, dessen primäre ("profane",
" a llt ä g lic h e " , "kulturkonform e", ‫״‬exoterische") Semantik noch
einmal f u n k t io n a lis ie r t w ird , wodurch die semantischen Einheiten
und Merkmale Bestandteile eines zusätzlichen, übergeordneten Ko-
des werden, der (meist in G estalt eines mythologischen Kodes) e i-
ne t o t a l a lte rn a tiv e Lektüre derselben Zeichen und Texte e r ö f f -
net ( " h e ilig e " , "hermetische", "prä-" oder " s u b k u ltu r e lle " , "eso-
te ris c h e " In te r p r e ta tio n ) . Derjenige, der sich i n n e r -
h a l b einer symbolisch-mythischen S i t u a t i o n b e fin -
det (also unter der Wirkung des Imaginativen und Energetischen
einer religiös-m ythischen U n m itte lb a rke it s t e h t ) , kann darüber
gewiß k e in e r le i analytische Aussagen machen. B efindet er sich
n ic h t mehr im Rahmen (im magischen " Z ir k e l" ) der mythischen Un-
m it te lb a r k e it, kann er ebensowenig die E v i d e n z des Sym-
bolischen. Mantischen, Apokalyptischen v e rm itte ln . Dies is t auch
das Problem der Analyse und In te rp re ta tio n sym bolistischer Texte
fü r den Wissenschaftler: Beschränkt er sich auf d ie verbale Se-
mantik der poetischen Texte, ohne das "stratum imagine" der Sym-
bolw elt anzuerkennen (bzw. je d e n fa lls a ls etwas Denkbares anzu-
nehmen), wird er u.U. n ic h t einmal den p r im itiv s te n poetischen
Funktionen des Textes gerecht; v e rla g e rt er seine D arstellungs-
Perspektive ausschließlich in eine mythopoetische Hermeneutik,
muß er auf die Analyse verzichten und sich auf das bloße "Auf-
weisen", auf die suggestive Gestik des e rg riffe n e n F e u ille t o n i-
sten beschränken. Immerhin besteht aber g ru n d sä tzlich die Mög-
lic h k e it, die semantische P o s i t i o n eines Paradigmas
innerhalb der poetischen Welt von symbolistischen Gedichten m it

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M y th o p o e tik des r u s s is c h e n Symbolismus 69

ih r e r axiologischen R e l e v a n z innerhalb des jew eiligen


Programmes zu koordinieren und darüber hinaus m it den vorgege-
benen religiös-m ythologischen Systemen zu ko n fro n tie re n . Dabei
wäre zwischen genetisch und typologisch sehr unterschiedlichen
mythologischen Systemen zu unterscheiden: einer archetypisch-
u n ive rse lle n Symbolik und Mythologik, einer "klassischen", also
schon im h is to ris c h e n Rahmen e p is ie rte n und h is to r is ie r te n My-
th o lo g ik (antike Mythologie, jüdisch-alttestam entarische, ägyp-
tis c h e , ira n isch e , indische, chinesische e tc . Mythologie) und
den verschiedenen Systemen der K ulturm ythologik, wie sie sich
in den unterschiedlichen h isto risch e n und epistemologischen
Epochen e n t f a lt e t hat.
Ich habe be i meiner Rekonstruktion des axiologischen S te l-
lenwertes von Motiven, Metaphern, Namen u .a . verbalen Symbolen
des poetischen Textkorpus der Symbolisten n ic h t immer genau un-
terschieden, in welches System das je w e ilig e Mythologem oder
Symbol f u n k t i o n a l einzubauen wäre. Man könnte - schon
aus re ind a rs te lle ris c h e n Gründen - den "Instanzenweg", den ein
#
Motiv durch die unterschiedlichen Mythologiken nimmt, immer nur
auf eine sehr beschränkte Gruppe von Paradigmata einengen, da
n ic h t nur die in Frage kommenden Kontexte ungeheuer zahlreich
und v ie ls c h ic h tig sind, sondern auch die vorhandenen Mythen- und
Symbolbeschreibungen nach ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten
s y ste m a tis ie rt und k a ta lo g is ie r t erscheinen.
Ich habe daher nach einem eher synthetischen Modell mytholo-
gischer und re lig io n sp h ilo s o p h isch e r Kategorien g e a rb e ite t, das
dem mythologischen Wissenshorizont der Symbolisten se lbst ge-
recht w ird , g le ic h z e itig aber jene "Mythenquellen" offen h ä lt ,
die in tu itiv , ja unbewußt wirksam waren. Am nächsten kommt d ie -
sem bewußten und unbewußten mythologischen Denken der Symboli-
sten e in e rs e its die Archetypologie C.G. Jungs, andererseits die
heutige semiotische Mythopoesieforschung, die Kenntnisse der
stru ktu ra le n Anthropologie, Ethnologie, F o lk lo ri s t i k und K u ltu r-
semiotik zu verbinden tra c h te t (dies g i l t v .a . fü r die Werke von
Z.G. Mine, Ju.M. Lotman, I.P . Smirnov, G. Levinton, V.V. Ivanov,
V.N. Toporov und v ie le n anderen Wissenschaftlern, die sich -

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70 Aage A . Hanaen-Löve

te ilw e is e in skeptischer Distanz, te ilw e is e in großer überein-


Stimmung zu den Ideen С•G. Jungs bewegen).
Aus zwei Gründen eignet sich die Mythologik eines C.G.
Jung® (wenn man sie v o r s ic h tig und k r i t i s c h e in s e tz t) besonders
gut fü r Untersuchungen zur Symbolwertigkeit des Symbolismus und
der Moderne überhaupt: Erstens kann gar kein Zweifel darüber be-
stehen, daß das mythologische Denken der Symbolisten (h ie r be-
sonders V j. Ivanovs, aber auch A. B e lyjs oder M. Vološins) aus-
serordentliche Übereinstimmungen m it der Archetypologie Jungs
aufw eist. Gerade was die Mythopoesie und w issenschaftliche Er-
forschung der Mythologie und R eligionsphilosophie b e i Vj . Ivanov
anlangt, kann man in wesentlichen Punkten von weitgehender über-
einstimmung sprechen. Die Analogie zwischen dem Ivanovschen und
dem Jungschen System e r k lä r t sich e in e rs e its durch die Rezeption
id e n tis ch e r m ythologischer, gnostisch-herm etischer, mystischer
und re lig io n s p h ilo s o p h is c h e r Texte, andererseits durch eine fü r
die Moderne c h a ra k te ris tis c h e epistemologische Konvergenz der
re lig iö s e n , ästhetischen und psychologischen Prämissen. Ä h n li-
ches g i l t fü r das V e rh ä ltn is von A. B e ly j und Rudolf S te in e r .9
Als zweiter Grund fü r die erwähnten Konvergenzen kann die
allgemeine Tatsache g e lte n , daß in der Epoche der ( " k la s s i-
sehen” ) Moderne die Kunst und ganz allgemein die Sphäre des Äs-
thetischen wesentliche Funktionen des R e l i g i ö s e n ,
vor allem solche, die von den o f f i z i e l l e n , dogmatischen k i r c h l i -
chen In s titu tio n e n und T rad itio n en "ve rd rä ng t” worden waren,
"a d o p tie rte " und a k t u a lis ie r t e . Die s e it der Romantik immer mehr
erstarkende R e h a b ilitie ru n g der un ( t e r ) b e w u ß t e n
Sphäre der Psyche in der Kunst und durch s ie korrespondierte m it
einer analogen Aufwertung des " k u ltu r e lle n U n (te r)bewußten", das
in der Romantik, dominant dann in der Moderne, sowohl s tru k tu -
r e ll a ls auch thematisch ä s t h e t is ie r t wurde: Auf diese Weise
rückten jene immer mehr oder weniger verborgen wirkenden T ra d i-
tionen des hermetisch-gnostischen, m y s tis c h -o k k u ltis tis c h e n , hä-
retisch-manichäischen, "a n a rch o -re lig iö se n " Denkens und Erfah-
rens in den M itte lp u n k t eines Kunstverständnisses, das diese v i -
ta le n , unterschw elligen, R eligiöses und E rotisches, Ir r a tio n a le s

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M y th o p o e tik d e s r u s s is c h e n Sym bolism us ‫י׳‬

und Spekulatives, Archaisches und W issenschaftliches harmonisie-


renden Geheimlehren a k t u a lis ie r t e und somit das k re a tiv e Poten-
tia l des in der modernen Z i v i l i s a t i o n verdrängten Religiösen in
seiner archaisch-unbewußten G e sta lt der Kunst erschloß. Die A r-
chetypologie und R eligionspsychologie eines C.G. Jung k o rre -
spondiert somit ausgezeichnet m it der symbolistischen Variante
der "mythopoetischen" Moderne (bzw. dem "Neomythologismus" der
Moderne), während der psycho - a n a l y t i s c h e Ansatz S.
Freuds v i e l mehr der postsym bolistischen Moderne (der "Avantgar-
de" der 10er und 20er Jahre in Rußland) e n ts p ric h t (v g l. dazu
Hansen-Löve 1978:161 f f . ,427 f f . ) .
Aus der S ic h t der kirchlich-dogm atischen "Orthodoxie" könn-
te man zu der Auffassung kommen (und dies is t in der r e lig io n s -
philosophischen Debatte der Jahrhundertwende v ie lfa c h gesche-
hen) , daß der Symbolismus die Kunst an jene pragmatische Posi-
tio n in der K u ltu r rü c k t, wo tr a d itio n e lle r w e is e die heterodox-
häretischen R e lig io n s - und Ideologiesysteme beheimatet waren
(also in der Sphäre der Subkultur, der F o lk lo re , der k u l t u r e l-
len Peripherie e tc .). Die romantische wie die symbolistische My-
thopoesie e rs e tz t das die re lig iö s e n ürbedürfnisse des modernen
Menschen n ic h t mehr befriedigende System k ir c h lic h in s titu tio n a -
lis ie r te r R e lig io s it ä t und den gesamten Komplex des "Glaubens",
a ls eines v o lu n ta ris tis c h e n Akts durch die Reaktivierung des
M y t h i s c h - M y s t i s c h e n und der ihm eigenen Sub-
und A n tik u ltu r . Daunit s o ll der dem Bewußtsein und seiner R a tio -
n a l it ä t antagonistisch entgegenwirkende W ille n sa kt des "Glau-
bens" ("credo quia absurdum") durch die im Unbewußten wurzelnde
E v i d e n z , also das Aufscheinen und "Aufsteigen" des M ythi-
sehen e rs e tz t werden.
Im Gegensatz zum Neomythologismus des Klassizismus und der
in der (europäischen) K ulturgeschichte immer wieder auftretenden
Renaissancen k la s s is c h -a n tik e r Mythologeme is t der Neomytholo-
gismus der Moderne (dies g i l t auch f ü r ih re postsym bolistischen
Strömungen des Futurismus, Akmeismus u .a .) n ic h t an e in e r R e s ti-
tu tio n des mythologischen Denkens, der archaisch-unbewußten
"Themen" im Rahmen e in e r insgesamt und w e ite rh in ka u sa l-e m p iri-

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‫*׳‬ Aage A. tiansen-Löve

sehen R a tio n a litä t in te r e s s ie r t, sondern im Gegenteil daran, die


l a t e n t e n a rch a isch -p rim itive n , m y th is c h -ritu e lle n , un-
( t e r ) bewußten Strukturen und T rie b k rä fte eben dieser modernen,
z iv ilis ie r te n Lebenswelt sichtbar zu machen. So ste h t dieser
Neomythologismus der Moderne in totalem Gegensatz zum "mythomu-
sealen" H i s t o r i ( z i ) s mu s des 19. Jahrhunderts; d ie -
ser b ild e t geradezu (neben dem naiven "Realismus" der Nachah-
mungsästhetik) einen der Hauptgegner modernen Kunstwollens-
G le ic h z e itig war schon den romantischen Mythopoeten, v o ll-
ends aber jenen der Jahrhundertwende, durchaus bewußt, daß es
eine " r e s t it u tio ad integrum", eine Rückverwandlung der "K u ltu r
in N atur", der rezenten, ra tio n a le n Denkstrukturen in die archa-
is c h -p rim itiv e n n ic h t geben kann, ebensowenig wie das In d iv id u -
albewußtsein der neuzeitlichen Personologie rückgängig gemacht
^werden kann• Der "moderne Mythos" - dieser Gedanke durchzieht
die gesamte Diskussion des Neomythologismus - is t s e lb s t Bestand-
te il des "Mythos der Moderne", dem es - im Gegensatz zur r e -
m y t h o l o g i s i e r e n d e n ideologischen Reaktion ( e t-
wa des Nationalmythologismus und Rassismus) - primär um die Re-
h a b ilit'ie ru n g des Mythischen als S t r u k t u r und a ls ima-
g in a tiv e , dem Unbewußten entspringende W i r k s a m k e i t
des Psychischen ging. Die Symbolisten z ie lte n (h ie r durchaus in
der Nachfolge von F. Schlegel, Novalis und S c h e llin g 10) auf die
Entdeckung der mythischen Strukturen in ih r e r in v a ria n te n Prä-
senz und Wirksamkeit a ls "mythologische Basis", die - ebenso wie
im marxistischen Modell die "ökonomische Basis" - a l le in d iv id u -
e ile n und k o lle k tiv e n Formen von K u ltu r und Geistesleben als
(sekundären) überbau erscheinen lä ß t: Das Mythische is t i n
uns in s o fe rn , als unsere Existenz einen "Individualm ythos" rea-
lis ie r t ( in den "Lebenstexten", den " te k s ty - Ž iz n i" des "m ifo -
tvorčestvo" e n t f a l t e t 11) , und in so fe rn, a ls w ir einem K o lle k tiv
angehören, das im "Gedächtnis der K u ltu r" ("pam jat' k u l ' t u r y " 12)
die T o t a l i t ä t des Mythischen p r ä s e n t h ä lt , wenn auch im-
mer andere Aspekte desselben a k t u a lis ie r t und f u n k t io n a lis ie r t
werden. Nachdem nun Philosophie, R eligion und Wissenschaft in
der modernen Z iv ilis a t io n ih re "mythenschaffende" Generierungs-

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M y th o p o e tik des r u s s is c h e n Symbolismus 3‫׳‬

k ra ft eingebüßt haben, muß die Kunst diese Funktion (und damit


auch ih re in s titu tio n e ile P o sition in der K ultur) ersetzen. In
diesem Sinne t r i t t der moderne "Mythopoet" n ic h t a ls "poeta va-
te s" einer "goldenen" Vorvergangenheit in der Rolle des U nzeit-
gemäßen auf, sondern er f ig u r ie r t a ls K r i t i k e r der Z i-
v ilis a tio n , in der die K ulturfunktionen und die ihnen entspre-
chenden Grundbedürfnisse des Menschen " d is s o z iie r t " , is o lie r t,
a b s tra h ie rt und degeneriert (also "u n kre a tiv") geworden sind;
der Symbolist verkündet eine utopische K u ltu r (bzw. "K u ltu ru to -
p i e " ) , die a ls A p o k a l y p s e symbolisch schon Gegenwart
is t, während die postsymbolistische Avantgarde die "K u ltu ru to -
p ie " gegen eine "U to p ie k u ltu r" austauscht, in der das Ä s th e ti-
sehe u t o p is ie r t und die Utopie ä s t h e t is ie r t erscheint ( v g l. Han-
sen-Löve 1978:478 ff.).
Das (künstlerische) Symbol macht - aus der S icht des Symbo-
lismus - das Mythische a ls k o lle k t iv e , unbewußte, archaisch-na-
tu rh a fte "Rückbindung" ( " r e lig io " ) des modernen Individuums mög-
lie h , ohne daß dabei unbedingt a n tik-kla ssisch e s Mythenmaterial
oder F o lk lo ris tis c h e s th e m a tis ie rt werden müßte- Es geht v i e l -
mehr um die A k tu a lis ie ru n g des "myth(olog)ischen Denkens" ("m i-
fičeskoe myślenie") in der und durch die S tru ktu r des "k ü n s tle -
rischen Denkens" ( "chudožestvennoe m yślenie"), also weniger um
die thematische A n a l o g i e in der mythologischen "Kostü-
mierung" als um die ( s tr u k tu r e lle ) H o m o l o g i e schemati-
scher und l e t z t l i c h u n iv e rs e lle r Grundsituationen wie z.B. " I n i-
tia tio n " , "Transzendieren von Schwellen", "Auf- und Absteigen",
"Auflösung im Chthonischen und Wiedergeburt", " S tir b und Werde",
"Trennung und Vereinigung", "Ic h v e rlu s t und Selbstwerdung" e t c . 13
Die symbolistische "F u nktion a lisie run g " der Mythologeme war
in ihren Dichtungen immer z u t ie f s t a h i s t o r i s c h und
(aus der Sicht monomythischer Geschlossenheit) s y n к r e -
t i s t i s c h 14*, obwohl oder w e il ihnen die mythogenen und т у -
thologischen Systeme (auch in ih r e r k u ltu rh is to ris c h e n Dimensi-
on) so v e rtra u t waren:'Der neomythologische Diskurs der Symboli-
sten erweist sich somit a ls ebenso "d is k re t" (im Sinne von "D is-
k o n tin u it ä t" , "p re ry v n o s t'" ) und "montagehaft" wie das mythische

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74 Aage A. Haneen-Lőve

Denken se lbst (v g l. die "b ric o la g e ", d .h . die "B a s te le i", a ls


Modell eines jeden "wilden Denkens" in der Mythologik C l. L é v i-
S tra u s s') . 15 Schon deshalb wäre auch eine r e in k u ltu rh is to ris c h e
Rekonstruktion der symbolistischen Mythologeme systemwidrig, da
ja jeder Einsatz des Archaisch-Mythischen im Rahmen rezenter
Diskurse k a t a c h r e t i s c h e n , subversiven bzw. anar-
chistischen Charakter h a t, diente ja der symbolistische "Neomy-
thos" n ic h t einer herrschenden Repräsentationskultur und ih re r
S elbstlegitim ierung durch Vor- und Außerhistorisches (so v o l l -
g ü lt ig noch im Barock).
Eine homologe Korrelierung von rezenten Kulturphänomenen
und archaisch-mythischen Strukturen k o n fr o n tie r t entweder "Fak-
ten" der modernen Lebenswelt (des Z iv ilis a t io n s a llt a g s und s e i-
ner Pragmatik) m it "Funktionen" der Archaik oder eben diese m it
4
jenen: Einmal wird der " A llta g " ("b y t") der Gegenwart m it seinen
achronen Tiefenstrukturen (dem e ig e n tlic h e n " b y tie " ) konfron-
tie r t, wobei a llt ä g lic h e "B analitäten" ( " p o š lo s ti" ) in verfreirt-
dender Weise eine u n iv e rs e lle , kosmische, a u ß e rz e itlic h e Dirnen-
sion erhalten; einmal werden jene i n s t i t u t i o n a li s i e r t e n Gattun-
gen und Träger des Mythischen (bzw. R e lig iö se n ), d ie , to ta l kon-
v e n tio n a lis ie r t und degeneriert, "repräsentieren" (also nur mehr
die "thematische" Präsenz a u fre ch te rh a lte n , ohne daß "Evidenz"
noch möglich wäre), "demythisert" und in ih r e r "B a n a litä t" bloß-
g e s t e llt : Hier m a n ife s tie rt sich dann die jedem Neomythologis-
mus eigentümliche verfrem dend-kritische, (den falschen Mythos)
entlarvende, "demythologisierende" E ffiz ie n z . Diese dominierte
zw e ife llo s im I I I . Modell des Symbolismus, in seiner grotesk-
karnevalesken Phase.
Ein weiteres unterscheidet das "fa lsch e Bewußtsein" des
h is to r iz is tis c h e n Neomythologismus vom symbolistischen der Mo-
derne: Die symbolistischen Mythopoeten r e f le k t ie r t e n d ie Wider-
s p rü c h lic h k e it von Rezentheit bzw. kausal-em pirischer R a tio n a li-
tä t der Gegenwart und Unzeitgemäßheit bzw. U n e in b rin g lic h k e it
des Archaisch-Mythischen a ls Ausdruck des T r a g i s c h e n ,
des "Sündenfalls" des Geistes, der lu z ife ris c h e n Usurpation des
prometheisehen, ja demiurgischen "E inzelnen"1e (im Sinne S t i r -

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M yth o p o etik d es r u s s is c h e n Sym bolism us 75

ners und auch Nietzsches oder Kierkegaards); dieses Bewußtsein


der Unmöglichkeit e in e r ” Rückkehr" 17 in die paradiesische Unmit-
t e lb a r k e it des Archaischen is t fü r den Mythopoeten n ic h t nur Ge-
genstand der R eflexion sondern auch zentrales Verfahren der Kon-
s tru k tio n sym bolistischer Kunsttexte: Während der ” Repräsentati-
onsmythiker" augenzwinkernd die a n a c h r o n i s t i s c h e
Inkongruenz von (mythologischer) "Thematik" und rezentem Z i v i l i -
sationskontext m anipulativ e in s e tz t und dabei die unmittelbare
Evidenz des Mythischen gar n ic h t mehr in te n d ie r t, da es ihm ja
nur um die le g itim ie re n d e Werbewirksamkeit der "Aura” geht, z ie -
len die Mythopoeten des Symbolismus auf eine quasi а г с h ä o-
l o g i s c h e Aufdeckung der a c h r o n e n Schichten
unter dem "Asphalt" der M odernität, unter dem brüchigen ” F ir n is "
der Z iv ilis a tio n . Verkürzt könnte man sagen, der Symbolist de-
s y m b o lis ie rt, dem ythologisiert die ka n o n isie rte , aber e n tle e rte
Kulturm ythik und re m y th o lo g is ie rt (sub-)k u lt u r e lle Randzonen
(S e x u a litä t, Konvergenz von Mystik und E ro tik , von Genie und Pa-
th o lo g ie . Macht und ko lle ktive m Unbewußten, L ib id o - und Thana-
to s tr ie b , R e lig io n und H errschaft e t c . ) . 18
V ielfach bedacht wurde im Symbolismus auch die ir r itie r e n -
de Tatsache, daß die bloße Anwesenheit eines Mythologems a ls
semantischer E in h e it eines Kunsttextes die primär mythologische
Funktion " ä s t h e t is ie r t " und damit "m e ta p h o ris ie rt"1®; die Mytho-
poesie b le ib t eine u n a u flö s lic h ambivalente Synthese aus Mythos
und Poesie unter den fortwirkenden Prämissen der neuzeitlichen
bzw. modernen Kunstwelt. Die m yth isch -re lig iö se (bzw. metaphysi-
sehe) E v i d e n z is t immer "gebrochen" durch die " ir r e a li-
sierende" R e l a t i v i e r u n g der ä s th e tis c h -k ü n s tle ri-
sehen Strukturen (die Symbolisten bedienten sich des später bei
den Formalisten und Semiotikern gleichermaßen zentralen k u ltu -
rologischen Terminus der "u slo vno st' " 20) ; umgekehrt v e rm itte ln
eben diese S trukturen, schon aufgrund ih r e r genetischen und t y -
pologischen Übereinstimmung m it den mythologisch-archaischen
Grundstrukturen und ohne dies immer d ir e k t zu intendieren, "ту-
thoide" Wirkungen. J u r ij Lotman geht soweit, ein V e rhältnis der
E x k lu s iv itä t zwischen Mythos und Metapher, Mythologik und (re ­

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/‫ם‬ Aage A. Haneen-Löve

zenter) Kunst bzw. L it e r a t u r anzunehmen, u n te rschä tzt be i dieser


Extremopposition aber die meiner Meinung nach auch in der Moder-
ne wirksame "mythogene K r a ft" der Kunst. U nbestreitbar is t aber
die Regel, daß ein Kunstwerk, w ird es u nter dem Aspekt e in e r ту -
th is c h - r e lig iö s e n T o ta litä t v e rw e rte t, seine X s t h e t iz it ä t (und
damit auch seine "chudožestvennost* " , seine "p o é tiã n o s t'" ) e in -
büßt; umgekehrt v e r l i e r t ein m y th is c h -re lig iö s e r Text oder eine
entsprechende "Performanz" ( " R it u a l" , " L it u r g ie " , "Sakrament",
"ekstatisch-numinose Trance" e tc .) a u g e n b lic k lic h die "Aura des
H e ilig e n " und damit die mythisch-mystische Evidenz, wenn die äs-
th e tis c h -k ü n s tle ris c h e n Funktionen Übergewicht e rh a lte n oder
wenn andere k u lt u r e lle Wertsysteme die Rezipientenhaltung domi-
nieren (a ls B e is p ie l dafür können r e lig iö s e R itu a le im Dienste
p o litis c h - id e o lo g is c h e r M anifestationen g e lte n ) .
In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß die Symbolisten
a lle s andere a ls naive, u n r e f le k t ie r t e , bloß der I n t u i t i o n la u -
sehende und ihrem Unbewußten v e rfa lle n e K ün stle rp e rsö n lich ke ite n
waren. So gut wie a lle verfügten s ie n ic h t nur über eine außer-
o rd e n tlic h e Kenntnis der Mythologik und Hermetik, sondern waren
allesam t auch im ( n a tu r - ) w issenschaftlichen W e ltb ild ih r e r Z e it
daheim, ja v ie lfa c h auch entsprechend akademisch ausgebildet
(man denke h ie r nur an die mathematischen bzw. naturwissen‫־‬
s c h a ftlic h e n Komponenten im Denken A. B e ly js ) . Die p h ilo s o p h i-
sehen, vor allem erkenntnistheoretischen Interessen der Symbo-
lis t e n , ih re soziologischen, psychologischen, k u lt u r t h e o r e t i-
sehen Studien seien h ie r nur am Rande erwähnt. Insgesamt war der
sym bolistische Mythopoet also im höchsten Maße "d u rc h re fle k -
tie r t" , b is zur Überreizung dem theoretischen Denken v e r fa lle n
und b is zum Zynismus skeptisch. Das ze n tra le Thema der symboli-
stischen Dichtung is t daher auch die S e l b s t d a r s t e l -
l u n g des Mythopoeten a ls eines r a t io n a l- ir r a t io n a le n Doppel-
wesens, das die polare W id e rsp rü ch lich ke it des Künstlerischen in
seiner Person v e rkö rp e rt (deshalb im übrigen auch die V orliebe
f ü r hermaphroditische, kentaurische Doppelgängergestalten bzw.
Zwillingswesen, die v e r t ik a l und/oder h o riz o n ta l gespalten bzw.
d u p liz ie r t s in d ) .

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M y th o p o e tik d e s r u s s is c h e n Sym bolism us

In derselben Weise fu n g ie r t das mythopoetische "Symbol", ja


insgesamt der Symboltext und die Symbolperformanz, nach dem
P rin z ip der ambivalenten S im u lta n e itä t von V isio n und I l l u s i o n ,
Imagination und F ik tio n , U n m itte lb a rk e it der E k s ta tik und Ver‫־‬
m it te lth e it der R e f le x iv it ä t , N a tu r h a ftig k e it und K ü n s tlic h k e it,
Begeisterung und Skepsis, Umwertung und Entwertung.

A N ME R K U N GE N

1 Im Frühsymbolismus der 90er Jahre (SI) i s t der Symbolbegriff


a ls r e lig iö s e und/oder ästhetische Kategorie kaum ausgebildet
(v g l. dazu a u s fü h rlic h e r H .-L. 1984bs293ff. und 1986). Eine Kon-‫־‬
stante im Symboldenken b ild e t von Anfang an die Abgrenzung ge-
genüber dem "A lle g o rism u s". Typisch f ü r das Symbol i s t die V ie l-
d e u tig k e it, während nach Bal'mont "d ie A lle g o rie m it monotoner
Stimme s p ric h t" ( z i t . bei Brjusov, "D ialog о realizme v is k u s s t-
ve", 1906,V I: 12 5 f. ) ; der symbolische Ausdruck i s t immer andeu-
tungsweise ("nameki", "nedomolvki" - B e g r iffe , die im S II immer
wieder auftauchen, i b i d . ) ; er v e r m it t e lt (e v o z ie rt) das Ewige im
Z e itlic h e n . Auch f ü r Merežkovskij lä ß t das Symbol das "U nsägli-
che" ("neskazannoe") durchschimmern: "В поэзии то, что не сказ-
ано и мерцает сквозь красоту символа, действует сильнее на серд-
це, чем то, что выражено словами. Символизм делает садедй стиль,
самое художественное вещество поэзии одухотворенным, п р о з р а ч н ы м ,
насквозь просвечивающим, как тонкия стенки а л е б а с т р о в о й а м ф о р » , в
которой зажжено п л а м я (Merežkovskij, "0 p rič in a c h u p a d k a ...",
1892, X V I I I : 217).
Während im frühen Symbolismus die Symbolik des ' S p ie g e l(n )s ‫״‬
und der , R e fle xio n 1 ( " z e r k a l1n o s t' " , "o tra ž e n ie ") semantisch und
zugleich auch k o n s tru k tiv (te x tg e n e ra tiv ) d o m in ie rt, s te h t der
mythopoetische S II ganz unter dem Zeichen der "Transparenz"
("prozračnost' " ) , die geradezu - wie dies h ie r auch Merežkovskij
ze ig t - m it der "s im v o lič n o s t•" g le ic h g e s e tz t w ird (zu dieser
Paradigmatik v g l. J . S tr ie d te r , "Transparenz und Verfremdung.
Zur Theorie des poetischen B ildes in der russischen Moderne",
in : Immanente Ä s th e tik , München 1 9 6 6 :2 6 3 ff., und zur Paradigma-
t i k v g l. H.-L. 1984a:383-389 und Anm. 205 und d e rs ., 1984b:
3 0 4 ff. ) .
Im Frühsymbolismus w ird die ä sth e tisie re n d e (also "im p re ssi-
ve") Wirksamkeit, die 1 1v p e Č a t lit e i, n o s t1" der symbolischen "na-
meki" v e ra b s o lu tie rt; das "Symbolische" w ird d i a b o l i s i e r t , s e i-
ner vereinigenden K ra ft beraubt ( " d ia - b a lle in " a ls d e s tru k tiv e s ,
zerteilendes, unheilbringendes Gegenprinzip zu "sym ballein" des
m ythisch-religiösen Symbols). Mehrfach belegt i s t der R ü c k g riff
der Symbolisten auf diese Etymologie: B rju s o v ,V I: 12 5 f . ; zu Me-
režkovskijs H erleitung des Symbolbegriffs aus "sym ballein" als
“ soedinenie" v g l. Blok 1903,PP:4 und d e rs ., ZK,1901 (Symbol als
" s lija n ie smyslov").

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78 Aage A. Hansen-Löve

Für Ivanov g le ic h t das Symbol in seiner Energetik dem ” Son-


n e n s tra h l", der a lle "Ebenen des Seins und a lle Bewußtseinssphä-
ren d u rch d rin g t" und auf jeder Ebene andere Wesenheiten bezeich-
net (Ivanov, "Dve s t i c h i i v sovremennom simvolizme",1908,I I :
5 3 7 f.). Ivanovs Symbolauffassung deckt sich weitgehend m it jener
des Neoplatonismus und seiner Lichtgnoseologie (v g l. allgemein
dazu P. Crome 1970; zur " L ic h t "-Paradigmatik im S II v g l. H.-L.
1984a : 363-380).
Die Symbolsprache e n ts p ric h t nach Ivanov, HPôet i č e r n '" ,
1904,1:712, dem mantischen Ausdruck, der das Wort a ls Index, als
"Andeutung" ("namek") augenblicksweise a u fb litz e n lä ß t bzw. dem
ekstatischen V isionär o ffe n b a rt. Damit werden die archaischen
"Formen und Kategorien" der k o lle k tiv e n Seele (des "Volkes") un-
m itte lb a r zugänglich ( " iz n a č a l1nye formy i k a te g o r ii" , i b i d . ) :
Das Symbol w ird zum Zeichen-Index eines k o lle k tiv e n U n b è -
w u ß t e n ebenso wie der je n s e itig e n , "anderen Welt" ("m ir
i n o j " ) . Das Symbol v e r m it t e lt also n ic h t d i r e k t - r e f e r e n t i e l l ,
sondern "energetisch" ("Символы - энергии", i b i d . ) ; seine Seman-
t i k w ir k t u nm itte lb a r aufs Unbewußte ("ja zyk nameka i vnušeni-
j a " ) . Die Mythopoesie des modernen D ichters erwächst aus dem
"bessoznatel1noe pogruŽenie v s t i c h i j u f o l ' k l o r a ” ; sie b e re i-
ch e rt den "a ta v is tis c h e n ", archaischen V o rrat k o lle k t iv e r Eie-
mentarerfahrungen: "Символы - переживания забытого и утерянного
достояния народной души” ( i b i d . ,713). Ivanov verw eist h ie r -
ebenso wie etwa zur gleichen Z e it C.G. Jung - auf die "psycholo-
gische Notwendigkeit" der archetypischen Symbole, die m it ih r e r
"metaphysischen Wahrheit” korrespondieren. Voraussetzung fü r die
Wirksamkeit der Symbolsprache i s t f r e i l i c h ein analoges "sozvu-
č ie ” in der Seele des Hörers.
Der "theurgische K ü n s tle r” i s t immer "Nachfolger" der Natur-
Schöpfung, der "Mirovaja Duša", der "tv o rja š č a ja M a t'” , deren
Stimme er in seinen Werken hörbar macht: " . . . ч т о говорят в е щ и ,
[ . . . ] изощрит зрение, и научится понимать смысл форм и видеть
разум явлений" (Ivanov, "Dve s t i c h i i v sovremennom simvolizme",
1908,11:539). A lle "Dinge" ("v e š č i") - also die " r e a lia " der
"natura n a tu ra ta ” - werden so (sub "specie a e t e r n it a t is " ) - zu
"Symbolen" der " r e a lio r a " , da die Dingwelt (als "P riro d a ") eine
Symbolsprache v e rk ö rp e rt, die der theurgische D ichter ("poeta
vates") e n t z i f f e r t . Sprach-Realismus und Ding-Realismus gehen
also dem Nominalismus bzw. Idealismus ( und mehr noch dem t o t a l
s ä k u la ris ie rte n Impressionismus) voraus. Der wahre Symbolismus
w urzelt im "Erinnern der Poesie an ih re ursprünglichen, e ig e n t-
liehen Aufgaben und M it t e l" (Ivanov, "Zavety simvolizm a",1910,
11:595), die u n m itte lb a r in die psychische R e a litä t e in g re ife n .
Poesie i s t n ic h t Kommunikation ( "soobščenie") sondern "p rio b -
ščenie” , also "communio". Teilhabe. Der echte Symbolismus ve r-
m i t t e l t das harmonische "sozvučie" zwischen " r e a lia " und " r e a l i -
o ra ". Der Realsymbolismus i s t immer eine "unbewußte K r e a t iv it ä t "
( "podsoznatel' noe tv o rč e s tv o ") , die "Energie des Wortes" e r -
s c h lie ß t den W iderhall "rodnych podzemnych k lju č e j" ( ib id . 598).
Z ie l e in e r jeden Symbolkunst i s t also die große "Vereinigung"
( ,,soedinenie” , "so četan ie "; Ivanov, "M ysii о simvolizme, 1912,
11:606): Zwei Elemente werden in einem " D r it t e n " , höheren v e re i-
n ig t , im Symbol, das einen "Regenbogen" h e r s t e l l t , der zwischen

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M y th o p o e tik d es r u s s is c h e n Sym bolism us

dem "s lo v o -lu č " und der "vlaga d u ši" v e r m it t e lt . Dieser Brücken-
fu n k tio n des Symbols e n ts p ric h t seine Auffassung a ls ‫״‬L e ite r "
( " le s tn ic a Jakova"). Der am Symbolischen teilhabende Hörer des
Wortes w ird zum "součastnik tv o r e n ija " ( ib id . 607), in der my-
stischen Schau ("v id e n ie ") w ird er wiedergeboren; ä sth e tisch e r
Eros ( ‫״‬volnenie") w ird zur re lig iö s e n Erfahrung.
Für A. B elyj w ird im re lig iö s -k ü n s tle ris c h e n Symbol jedes
" B ild ‫( ״‬und damit die v is u e ll- s in n lic h e Natur der Welt, ih re
" iz o b r a z it e l 1nost ' 1 1) auf einen dimensionslosen "Punkt" re d u z ie rt
(B e ly j, 1903,PP:11), d .h . zur "bez-obraznost' " und ” bes-predmet-
n o s t1" des mystischen Nichts rü c k g e fü h rt, in dem das " a lte B ild
der Welt" ( ih r archaisch-mythischer Urzustand) r e s t i t u i e r t i s t .
In diesem Sinne s y m b o lis ie rt d ie Musik den "Punkt" (die "vne-
mernost1" , "bezmernost1" ) , die Poesie - die " L in ie " (zu dieser
Idee - unabhängig vom russischen Symbolismus - v g l. auch J. Geb-
s e r , I : 3 5 f f . "Raum- und I c h lo s ig k e it" der unperspektivischen A r-
chaik) .
B elyj unterscheidet zwischen der "ästhetischen" und der " re -
lig iö s e n Symbolisierung" (B e ly j, "Êmblematika smysla", 1909,S:
109): Erstere "z e rle g t unser Leben in den Formen der Kunst",
le tz te r e lä ß t unser Leben a ls "u n ze rte ilb a re n In h a lt e in e r Form"
erscheinen. Die R eligion i s t n ic h ts anderes a ls "eine Reihe suk-
zessiv e n t f a lt e t e r Symbole" (B e ly j, "Simvolizm, как miroponima-
n ie " , 1903,A:225). F r e ilic h i s t die S ym b o lw irklichke it nur im
" in d iv id u e lle n " , besonders aber im " k o lle k tiv e n Erleben" zugäng-
lie h : "символ только выразитель переживания, а переживание (лич-
ное, коллективное) - единственная реальность" (B e ly j, "čechov",
1904,LZ : 12 4 f. ) . " W ir k lic h k e it" i s t fü r B e lyj immer eine psy-
c h is c h -g e is tig e "Wirksamkeit" ( " d e j s t v i t e l ,n o s t1‫" = ״‬d e jstve n -
n o s t1" , i b i d . , 125).
Das "re a le Symbol" des "leibgewordenen Wortes" ("voploščen-
noe slovo") b ild e t ein Dreieck, dessen untere L in ie eine gegebe-
ne Form m it einem "ugadannoe soderžanie" ve rb in d e t, während die
Spitze des Dreiecks die "untrennbare E in h e it im Symbol" d a r-
s t e l l t . Das "fleischgewordene Wort" komprimiert dieses Dreieck
zu einem Punkt. Damit i s t die "posredstvennost1" , die "nevoplo-
ščennost1" und " id e a l'n o s t' " der Dichtung überwunden (B e ly j,
"B rjusov", 1907,LZ:182).
Das Symbol i s t nach B e lyj "e n d lic h " und in seiner " A k tu ā li-
t ä t " d is k o n tin u ie r lic h ( "pre ryve n") . Insofern a ls es "wirkend"
i s t , muß es auch der " W ir k lic h k e it" angehören, d .h . es d a rf
n ic h t nur ein fik t io n a le s V o rs te llu n g s b ild sein (B e ly j, "0 c e le -
soobraznosti", 1905,A :105f. ) : "Взяв образ действительности в ка-
честве нашего представления о цели, мы должны претворить его в
символ". Die "T eleologie" der S ym b o lw irklich ke it ("duchovnaja
d e js t v it e ln o s t ‫ ״ י‬, i b id . ) s t e l l t jeden Gegenstand unter das Zei-
chen seiner eschatologischen In te n tio n .
Rein äußerlich g ib t es zwischen der Symbolik in der Kunst
und in der R eligion keinen Unterschied (B e ly j, "Okno v buduščee",
A: 144) - wohl aber in der Kohärenz der Symbole (also auf der
Ebene des Kodes). Grundprinzip eines jeden mythopoetischen
Sprachdenkens i s t die Gleichsetzung der verbalen semantischen
Prozesse m it außersprachlichen: Das B ild , die semantische Figur
(etwa eine Metapher) wird zur "Ursache e in e r Erscheinung" (Be-

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80 Aage A. Han8en-Löve

l y j , "Magija s lo v " , 1909,S:441): "жемчуг сходен с розой - следо-


вательно, роза рождает жемчуг". B elyj bezeichnet diesen Vorgang
als "mifičeskoe m yślenie", das einem jeden "slovotvorčestvo" zu-
grunde lie g e : ‫״‬Образ в мифе становится причиной существующей ви-
димости" ( i b i d . ) . Das Symbol i s t eine "unzerlegbare E in h e it
zweier semantischer Elemente, deren je w e ilig e Eigensemantik in
der Symbolbedeutung v ö l l i g aufgegangen i s t ("soedinenie dvuch
predmetov v odnom", ib id . 446). Insofern bewegt sich das Symbol
in einer autonomen (imaginativen) S p ra c h w irk lic h k e it: "Символ
становится мифом " ( i b i d . ) .
In seinen frühen kunstphilosophischen Arbeiten versucht Be-
l y j - ausgehend von der Wertphilosophie R ickerts - das Symbol
a ls elementare E in h e it eines "organischen", "g an zh e itliche n "
Denkens zu begründen, das dem th e o re tis ch -a b stra k te n Denken
überlegen i s t , da dieses keine "Seins- und Existenzfragen beant-
worten kann" (B e ly j, "Êmblematika smysla", 1909S:67ff. ) . Das
Denken in Symbolen e rs c h lie ß t den "Sinn" ("smysl") und zugleich
auch den "Wert" des Phänomenalen, wodurch aus dem bloß kontern-
p la tiv e n "mirovozzrenie" (der Philosophie) ein "tv o rče stvo " ( a l-
so k re a tiv e A k t i v i t ä t und Wirksamkeit) w ird . Das Symboldenken
i s t immer "schöpferisch" ( "tvo rče stvo id e j-o b ra z o v ", i b id . 70).
Die "s im v o liz a c ija " i s t eine E rk e n n tn is tä tig k e it s u i generis;
sie se lb st i s t "Produkt eines Wertes", der weder im Subjekt noch
im Objekt l i e g t , sondern "v žiznennom tvorčestve" (71). Die ima-
g in a tiv e Evidenz dieses "žizn etvo rče stvo" ü b e r t r i f f t jene des
abstrakten Denkens oder der Empirie.
Zur Symbolkonzeption im S II (besonders Ivanovs) v g l, Gofman
1937 : 5 8 f f . , 6 4 f.? Holthusen 1 9 5 7 :3 6 ff., Stepun: 2 2 2 ff. , Tschöpl
1968 :91 f f . , West 1970.
2 Zur Hypostasierung großgeschriebener Abstrakta im Symbolismus
v g l. Gofman 1 9 3 7 :8 1 ff.: "...Отсюда стихотворения, написаны в
крайне абстрактном 1ключе1. . . " ( ib id . 85 und 7 9 f . ) . Die symboli-
s ie rte n Abstrakta haben eine extrem ir r e a lis ie r e n d e Wirkung auf
die Semantik sym bolistischer Texte.
3 E rst der k o lle k tiv e "Chor" des "organischen Schaffens" (der
Mythopoetik des Theurgen) macht aus dem Symbol den "Mythos"
(Ivanov, "P redčuvstvija i p r e d v e s tija " , 1906,11:90). Daher i s t
auch der Mythos n ic h t f r e ie "Erfindung" ("vymysel") eines In d i-
vidualbewußtseins, sondern Produkt eines k o lle k tiv e n Schaffens,
"ipostas nekotoroj suščnosti i l i ê n e r g ii" , i b i d . ) . Das ‫״‬m ifo-
tvorčestvo" i s t immer ü b e r in d iv id u e ll, "vsenarodnoe", "b o l'šo e
isku sstvo ". Deshalb i s t nach Ivanov auch das Theater a ls neuzu-
schaffendes "Gesamtkunstwerk" (im Geiste Wagners und Nietzsches)
der höchste Ausdruck des Realsymbolismus.
Anders als Ivanov und auch Blok in te r e s s ie r te sich Belyj
n ic h t so sehr fü r die konkrete Problematik des Dramatischen,
eher schon fü r das P rin z ip der "T h e a tra lis ie ru n g des Lebens" im
Rahmen eines symbolistischen "ž iz n e tv o rč e s tv o ". Für ihn i s t auch
das Theater der vollkommenste Ausdruck des mythopoetischen k o l-
le k tiv e n "ž iz n e tv o rč e s tv o ", da es das dionysische P rin z ip der
unm ittelbaren P e rfo rm a tiv itä t ( "tv o rč e s tv o ", " d e js t v ie " , " d e js t-
vo") gänzlich ungetrübt von der a p o llin is c h e n F i k t i o n a -
1 i t ä t r e a l i s i e r t (B e ly j, "Teatr i sovremennaja drama",

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M yth o p o etik d es r u s s is c h e n Sym bolism us 81

1907,A:17-42) . Das neue Theater b ild e t einen utopisch-eschatolo-


gischen V o r g r if f auf die zukünftige Verschmelzung von Individuum
und K o lle k t iv , Kunst und Leben, V i t a l - und V o rs te llu n g s k ra ft,
Handlung und R eflexion- Anders a ls die illu s io n is t is c h e F ik tio n
w ir k t die mythische Imagination der Entfremdung des is o lie r t e n
Individualbewußtseins entgegen ( ib id . 18) und v e r h i l f t dem Men-
sehen zur T ra n s fig u ra tio n ("duša preobražaemaja mifom", i b i d . ) .
Als le tz te Konsequenz der T h e a tra lis ie ru n g des Lebens und einer
E x is te n tia lis ie r u n g des Theaters w ird "das Leben s e lb s t zu einem
dramatischen Kunstwerk" (19): "Люди станут собственными своими
художественными формами" (20). So verschmelzen s c h lie ß lic h " ž iz -
n e -", "m ifo -" und "s lo v o tv o rč e s tv o ". Der Mythenschöpfer (und das
Mythengeschöpf Zarathustra) w ird zum "dramatischen Schauspieler"
(23) .
Solov'ev, "Pervyj šag к p o l o ž i t e l ' nőj é s te tik e " , 1894, V I I :
7 2 f f . , verwendet den B e g r iff "žizne tvorče stvo" a ls Begründung
einer re lig iö s e n Ä s th e tik - so auch erstmals b e i ihm in den " T r i
r e č i v pamjat' Dostoevskogo- V to ra ja re č ", 1882,111:201. G ip fe l
eines jeden Prophetentums i s t der "podvig l j u b v i " , in dem " s lo -
vo" und "delo" eins werden (Solov'ev, "Značenie p o é z ii v s tic h o -
tv o re n ija c h Puškina", 1899,IX :2 9 9 f.,3 3 1 .) Eines der Hauptthemen
der "d e k a d e n ts tv o "-K ritik des mythopoetischen Symbolismus war
die Konfrontation des theurgischen "tv o rč e stvo " m it dem bloßen
"sozercanie" (a b stra kt der "s o z e rc a te l' n o s t1") des frühsym boli-
stischen Ästhetismus (= S I ) . Dabei wurde der B e g r iff "sozerca-
n ie" aus der Sphäre der mystischen "contem platio" (Solov'ev,
"Hugo von St. V ic t o r " , Enzyklopädie, Ges. Werke (deutsch],6:123)
in jene e in e r e x is te n tie lle n Haltung bzw. I n t e n t io n a lit ä t über-
tragen. Diese Unterscheidung zwischen p h ilo s o p h is c h -th e o re ti-
schem "Wissen" (znanie") und der "W eisheit" ("Sophia", "mudr-
o s t '" ) des Existenz-Symbolismus s p i e lt auch in B e lyjs frühen
philosophischen Versuchen eine w ich tig e Rolle (B e ly j, " K r itic iz m
i simvolizm", 1904,S:29). Besonders a u s fü h rlic h m it der Opposi-
tio n " (žizne-)tvorČ estvo" vs. "s o z e rc a te l' nost ‫ " י‬b e s c h ä ftig t
sich Belyj in "Émblematika smysla" (1909,S: 111f f . ) - Das " tv o r -
Čestvo" w urzelt in der a rc h a is c h -p rim itiv e n Energie des Urchaos,
dem das k o lle k t iv e Unbewußte der Menschheit entstammt; es b ild e t
gleichsam die physiologische Basis ("Rhythmus" und "M u s ik a litä t"
samt " B ild h a f t ig k e it " , d .h . A rc h e ty p ik ), dem der "Kosmos" der
bewußten schöpferischen Produktion entwächst (128).
Zentrale Opposition der symbolistischen Gnoseologie A. Belyjs
i s t jene zwischen "tvo rče stvo " und "poznanie" bzw. "sozercanie":
primärer v i t a l e r Wert : sekundäres th e o re t. Modell
U n m itte lb a rke it des V e r m it te lth e it der
g a n z h e itl. Erlebens analytischen Erkenntnis
aktives E x is tie re n passives Theoretisieren
In tr a n s itiv itä t der T r a n s i t i v i t ä t der
Lebensprozesse Lebens- und E rken n tn isziele
elementare Zweckfrei- : ( k u lt u r e lle ) Zweckgebundenheit
h e it ( " s t i c h i j n o s t 1")

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82 Aage A • Hansen-Löve

Chaos a ls elementare : (v e rfe in e rte r Alexandrismus)


Basis a l l e r V ita lp r o -
zesse ‫ ־‬v .a . des
"pervobytnoe tv o r- : ( ” sovremennost1")
čestvo"
Chaos der Urschönheit : (formale Geordnetheit des
= "pena na grebne tem- Ästhetizismus)
noj volny pervobytnogo
tvorčestva" (111)
” muzykal1naja s tic h ija : ( "u s lo v n o s t' ” des unexisten-
ž iz n i" t i e l l e n ” è ste tizm ” )
Im Gegensatz zur "u s lo v n o s t1 1
1 (also der K u lturb ed in gthe it)
des "Emblems” (£>zw. der ” A lle g o r ie " ) i s t das "Symbol" in seiner
ursprünglichen " iz o b r a z it e l 1n o s t1" immer e rle b n is h a ft (B elyj,
"Êmblematika smysla" ,S: 134) : ‫"־‬Художественный символ есть единст‫־־‬
во переживания воплощаемого в индивидуальном образе мгновения..” .
Insofern i s t der Symbolismus eine "tvorčeskaja d e ja t e l'n o s t '‫״‬
(138), wogegen seine Theorie nur den "emblematischen Aspekt” e r-
fassen kann: "Символизм есть самое т в о р ч е с т в о " (139).
Das "tv o rč e s tv o "‫ ־‬P rin z ip i s t eine z u t ie f s t personologische
Kategorie, denn die P e rs ö n lic h k e it i s t immer die ” Vereinigung
zweier P rin z ip ie n " ‫" ־‬безличной силы действования (духа Диониза,
как говорил Ницше) и столь же безличной силы воображения (пред-
ставления, т .е . духа Аполлона)" (B e ly j, "Prorok b e z lič ija " , 1908,
А: 11f . ) . Der mythische Held i s t Träger des "žizn e tvo rče stvo ",
das im dionysischen P rin z ip des Werdens und Vergehens w u rze lt.
B elyj f ü h r t den Primat des "tvo rč e stv o " über das "poznanie” auf
die M y s te rie n re lig io n der a lte n Griechen zurück (B e ly j, "Proble-
ma k u l 1t u r y ” ,S :457,Anm.1) und s t e l l t auch h ie r eine Rückverbin‫־‬
dung zu " d io n is ijs t v o ” her.
Aus der S icht des S II i s t die Kunst immer auch eine ” Lebens-
kunst” ( ” искусство есть искусство ж и т ь . .." , B e ly j, "Pesn' ž iz n i” ,
1908,A :43ff . ) , im "realen Symbolismus" "сам художник становится
художественным произведением" (B e ly j, "B rju so v", 1907,LZ : 183) ;
die Poesie wandelt sich zu einem " r e lig io z n y j k u l ' t l i č n o s t i ” ,
zur "Theurgie". Das theurgische "Leben" i s t eine kohärente Reihe
von "p e re ž iv a n ija " und damit Produkt eines "lič n o e tvorčestvo"
(B e ly j, "Is k u s s tv o ", 1908,A :211f f . ) . In der Moderne hat sich das
e ig e n tlic h e r e lig iö s e Erleben auf die Sphäre der Kunst zurückge-
zogen (B e ly j, "Simvolizm i sovremennoe russkoe iskusstvo” , 1908,
L 2 :3 3 ff. ) .
Z e ntrale r Mythos der Moderne i s t der Kunst-Lebens-Mythos
s e lb s t: Im künstlerischen Symbol werden Künstler und Kunstwerk
eins (B e ly j, "Êmblematika smysla” ,S: 139): ” Формой художествен-
ного творчества жизни являются форма п о в е д е н и я ." Ideale Vérkör-
perung des "žizn e tvo rčestvo " i s t die G estalt des "Bogočelovek” ,
Held e in e r "prekrasnaja ž i z n ' ” . Das Symbol i s t ein "pereživaemyj
obraz” dieser Lebenskunst (B e ly j, "Simvolizm", L Z :1 9 f.), das
Symbol i s t Produkt e in e r e rle b n is h a fte n Transformation des " B i l -
des" (B e ly j, "Simvolizm", A :245), denn: "Образ, как м о д е л ь п е р е -
ж и в а е м о г о с о д е р ж а н и я с о з н а н и я , есть символ. Метод символизации пе-
реживаний образами и есть символизм” ( ib id . А:258); "Наша жизнь

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M y th o p o e tik d e s r u s s is c h e n Sym bolism us 83

есть предмет ёстетической символизации“ (B e ly j, "Êmblematika


smysla", S: 108). Diese Lebens-Symbole b ild e n gewissermaßen Model-
le bzw. Paradigmata, die in sich jene Energien konzentrieren,
welche d ie G estalt des "žizn e tvo re c" prägen: ‫ ״‬Не статуя Аполло-
на, Диониса и Венеры суть символы: а мы ‫ ־‬мы с и м в о л ы Аполлона и
Венеры..." (B e ly j, "Teatr i sovremennaja drama", 1907,A:35). Das
Symbol a ls ” Ausdruck eines Erlebnisses" v e r e in ig t die "Sukzessi-
v i t ä t der B ild e r ” m it jener der inneren Erfahrungen: "Симво-
лизм - это метод выражения переживаний в образах" ( ib id . 3 0 f . ) .
R eligiöse Basis der Metamorphose des "s lo v o -" und "m ifo tv o rč e s t-
vo" in "žizn e tvo rčestvo " i s t die Inka rna tio n des L o g o s (Be-
l y j , LZ : 28).
Z w e ife llo s war die G estalt Nietzsches - wenn auch auf sehr
ambivalente Weise - paradigmatisch f ü r den symbolistischen Le-
bensmythos. E in e rs e its g a lt Nietzsche a ls ty p is c h e r Repräsentant
des "dekadentstvo" (B e ly j, " F r id r ic h N icše", 1907,A:87f.,
s p ric h t von seiner "loŽnaja vzvyáennost1, vydumannost1‫ ) ״‬anderer-
s e its w ird er als e ig e n tlic h e r Begründer des symbolistischen
"žizn e tvo rče stvo ” g e fe ie r t (B e ly j, " F r id r ic h N icše", 1907,A:60-
90), ja Nietzsche s e lb s t w ird zur mythischen G estalt h o c h s t i l i-
s i e r t (B e ly j, "Kommentarii" , S: 546 : "D io n is -N ic š e ") - v g l. zur
symbolistischen Nietzsche-Rezeption auch Papernyj 1979:84-106,
G rig o r'e v 1 9 7 5 :5 8 ff., Mine 1980a:107f., Kluge 1967:84ff.
Neben B elyj war es vor allem Ivanovs Konzeption eines "th e -
urgischen" Real-Symbolismus ( " r e a l i s t i č e s k i j sim vo lizm "), der
die symbolistische V o rste llu n g des Lebens a ls Individualmythos
prägte. Von Anfang an nimmt Ivanov eine den "dekadenten" Lebens-
mythos ablehnende Haltung e in , wenn er m it seiner berühmten For-
mel "F io , ergo non sum" den Primat des kre a tiv e n W e r d e n s
gegenüber dem passiven (Da-)Sein u n te r s tr e ic h t, das zu einem
"N ichts" schrumpft (Ivanov, "Kop'e A fin y " , 1904,1: 732f. ) . Das
"Ich " des Werdens i s t das e ig e n tlic h e "S e lb s t", wogegen das A l l -
tagsich (sein " d v o jn ik " !) dem "N ich ts" zu s tre b t bzw. ein "N ic h t-
Ich" d a r s t e l l t (also eben jenes lc h ģId e a l, das von den V e rtre -
tern des diabolischen Frühsymbolismus angestrebt w urde!). Das
P rin zip des "stanovlenie" i s t immer dem dionysischen "tv o rč e s t-
vo" zugeordnet, einem k u ltis c h e n "d e js tv o " bzw. tragischen
" d e js tv ie " , wogegen dem A p o llin isch e n das v is io n ä re "sozercanie"
adäquat i s t (Ivanov, "0 suščestve t r a g e d ii" , 1912,11:200). Der
wahre " E x is t e n t ia lis t " i s t ein ” s l u ž i t e l 1 ž iz n i" (Ivanov, "Nicše
i D io n is", 1904,1:721), der das kon te m p la tive "P rin zip des "so-
zercanie" h in te r sich gelassen h a t. Für dieses besteht zwischen
"slovo" und "delo" ein ewiger Gegensatz (Ivanov, "О d e j s t v i i i
d e js tv e ", 1919,11:159), der vom "iskusstvo intimnoe" - einem
ä s th e tis tis c h e n Kunsttyp (etwa dem SI) - a k z e n tu ie rt w ird . Die-
sem Typus s te h t das "kelejnoe iskusstvo" gegenüber (Ivanov,
"Kop'e A f in y " , 1:732). - Auch in seiner höchsten Form b le ib t aber
das ( r e lig iö s e , kü n stle risch e ) Symbol immer nur Ersatz fü r die
"Živaja Ž iz n 1" : "Символ же есть жизнь п о с р е д с т в у ю щ а я и о п о е -
р е д с т ѳ о в а н н а я , не форма, которая содержит, но форма, через кото-
рую течет реальность [ . . . ] медиум струющихся через нее богоявле-
ний." (Ivanov, "О granicach is k u s s tv a ", 1913,111:647),
In bewußter F ro n ts te llu n g gegen die frühsym bolistische Ab-
grenzung von "slovo" und "d e lo ” d e f in ie r t Ivanov den Wahrheits-

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84 Aage A. Han8en-Löve

anspruch des symbolistischen "m ifotvorčestvo” : ‫ ״‬...д л я меня ис-


кусство [ . . . ] мифотворчество ‫ ־‬акт самоутверждения и воли, -
д е й с т в и е , а не п о з н а н и е . . . " (Ivanov, B rie f an Brjusov, 1904, LN:
85, V a le r ij B rju so v,1976:447). - Im Gegensatz dazu beharrt B rju-
sov auf dem Primat des ,,slovo" über dem "d e lo ", wie ihn auch
PuŠkin ve rtre te n habe (Brjusov, "SvjaŠčennaja ž e rtv a ", 1905,VI:
94-99). Während also fü r den mythopoetischen Symbolismus (SII)
das Leben zum Kunstwerk tra n s fo rm ie rt w ird, verwandelt der Dia-
b o lik e r, der dekadente Künstlermensch, das A rte fa k t in Leben:
Auch fü r Merežkovskij, "M.Ju. Lermontov” , X:289f. verkörpert
PuŠkin das P rin zip des "sozercanieH, Lermontov dasjenige des
"d e js tv ie ( ib id . 292).
A. Blok s ie h t seinen Versuch, sich aus der Haltung des ‫״‬so-
zercanie” zu lösen und zum "delo" vorzustoßen, als eine a llg e -
meine Entwicklung der Symbolisten an: ” ...Все отсозерцались. . . "
(Blok, B rie f an A.V. Gippius, 1902,V I I I :36). Vgl. auch Z. Gip-
pius nach ih r e r Wendung zum Religionssymbolismus: ” з н а н и е есть
конец, смерть, или порог безвременья, иной жизни; п о з н а в а н и е
[= analog zu "žizn e tvo rče stvo "] - жизнь мира, движение во време-
ни” (Z. Gippius, LD,1904:2 0 8 f. ) .
** Die mythopoetische Symbolsprache b a s ie rt auf der "h e ilig e n
Sprache" der P rie s te r und Schamanen: ” Слово-символ делается ма-
гическим внушением, приобщающим слушателя к мистериям поэзии"
(Ivanov, "Zavety simvolizma", 1910,I I : 592f. ) . In dieser Sprache
herrscht eine ontologische Beziehung zwischen Subjekt und Prädi-
kat ( ib id . 594), das Verbum " b y t 1” ve rfü g t über eine s e in s s t if -
tende Wirkung. Anders als die "a n a lytisch e ” Natur der A llta g s re -
de eignet sich die mythopoetische Rede zum "synthetischen U rte i-
le n ", wo das ” Subjekt" ein Begriffssymbol i s t , das ” Prädikat"
ein Verbum: "Ибо миф есть динамический вид (modus) символа, -
символ, созерцаемый как движение и двигатель, как действие и
действенная сила" ( ib id . 5 9 4 f.).
Blok, 1906,V:47f. verweist auf die heute n ic h t mehr nach-
vollziehbare "vera v slovo” im archaisch-magischen Sprachdenken:
Für dieses verschmelzen "slovo" und "d e lo "; beide Sphären können
einander ersetzen, te rtiu m comparationis i s t die "duša kudesni-
ka” und seine " v o ija " , die m it der "Weltseele" in Einklang steht.
Im Anschluß an A.A. Potebnja schre ib t Blok diesem archaischen
Sprachdenken einen "niedrigen Grad der Unterscheidung zwischen
"izobražaemoe” und ” izobraženie" zu. Wichtig i s t Bloks k la re Ab-
grenzung der archaischen S truktur der "narodnaja p o ē z ija ” von
der modernen "romantischen Dichtung” ( ib id . 52), in denen das
"Schöne" vom "Häßlichen", das "Ästhetische" von den anderen
Sphären des "Lebens" und der Praxis abgetrennt i s t .
Für F lo re n s kij 1914 zeichnet sich die Symbolsprache durch
einen spezifischen "Etymologismus" aus, der f r e i l i c h n ic h t mit
der lin g u is tis c h erfaßten Wortetymologie übereinstimmen muß
( ib id . 582). Die von Humboldt stammende und durch Potebnja ver-
m itte lte energetische Sprachauffassung (das k re a tiv e Wort als
"energeia" und n ic h t als "ergon") g i l t nach F lo re n s k ij f ü r die
philosophische Sprache ebenso wie fü r die k ü n s tle ris c h e : Seele
des Wortes i s t das "Semem" ("semema"), während "Phoneme" und
"Morpheme" nur seine "äußere Form" repräsentieren, (v g l. auch

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M ythopoetik dee r u s s is c h e n Symbolismus 85

F lo r e n s k ij, "Stroenie slo va ", 1922:348ff. und dazu H.-L. 1978:


5 3 f f . , 2 6 4 f f . ; zusammenfassend zur Konzeption der 1 ‫״‬poetischen
Sprache1 * im Symbolismus v g l, auch Gofman 1 9 3 7 :6 0 ff.).
5 Ivanov, "Dve s t i c h i i v sovremennom simvolizme", 1908,I I : 540f.
unterscheidet zwischen dem e ig e n tlich e n Symbolismus ( 1,r e a l i s t i ‫־‬
scher Symbolismus") und seiner modernen, abgeleiteten Form, dem
"id e a lis tis c h e n Symbolismus": Diesem geht es um die "Mimesis"
und das "oznamenovanie veščej", jenem um "T ra n sfig u ra tio n "
("preobrazovanie"), um die "Metamorphose" der " r e a lia " in "re -
a lio r a " und umgekehrt- Der "theurgische" Realsymbolismus macht
die "Dinge" a ls "Symbole" s ic h tb a r, die "Symbole" als "Mythen"
( ib id . 5 3 8 f.). Insofern wäre der Realsymbolismus e ig e n tlic h als
"re a lio riz m " zu bezeichnen (Ivanov, "Ê stetika i ispovedanie",
1908,11:571) .
"R e a lis tis c h e r Symbolismus" vs. " Id e a lis tis c h e r Symbolis-
mus И
"vešč1" - "simvol" Kombination von "predmety
magisch-archaischer Neuverbindung von "Ding"
"Dingfetischismus" und "Bezeichnung" bzw.
"Bedeutung" ( ib id . 540)
archaisches P rin zip des Autonomes Schaffen der
magischen "oznamenovanie" P h a n t a s i e
Erschaffung von Gegenständen,
die unbedingt "g ö ttlic h e n
Dingen entsprechen" (541)
in d iv id u e lle "mečta"
Ästhetismus
"obman"
m it t e la lt e r lic h e r mystischer id e a lis tis c h e r Kanon
Realismus ( ib id . 5 4 2 ff.) der antiken Kunst
"iskusstvo oznamenovatel' noe" Sophistik analog zu
(543) "dekadentstvo"
Malerei a ls "vnenarodnaja
kniga"
Groteske Phantastik
"p riz ra k " ("eidolon") als
S ch a tte n w irklic h ke it bzw.
Bezauberung
M itte lp u n kt der Zauberwelt
"čarodej", " ja "
Egozentrismus
"preobraženie" (544) "otraženie"
Romantik (546) Klassizismus
"p riroda" " iskusstvennoe"

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Aage A. Hansen-Löve

Konkretheit A b stra kth e it


"o try v ič n o s t' i nerovnost1"
" p r o tiv o r e č ij a " , ” jumor”
Kombination zweier heteroge-
ner Dinge in e i n e m
Symbol
Suche nach der "vnutrennjaja "p rin c ip iz o b re te n ija i
r e a l‫״‬n o s t1 veščej ” preobrazovanija veščej"
" u s ilie postič* fenomen, как ” tvorčestvo obobščajuščich
simvol” (547) fenomeny simvolov"
"novaja ž iz n 1” "son"
o b je ktive Wahrheit subjektive F re ih e it
Natur als Symbolwelt Welt a ls ‫ ״‬P rojektion des
der Korrespondenzen Ich, als* "iskusstvennoe
pereživ a n ie " (550)
Korrespondenz zwischen Makro-
und Mikrokosmos (548)
" r e a l 1nost• veščej” , "iskusstvennost1"
" re a lia in rebus"
( "Dekadentstvo" a ls ty p i-
sehe " id e a lis tis c h e Kunst-
form")
” veŠč1” = ” simvol" (552f.) "sim vol” = "vešč1" oder
"znak"
Symbol a ls psychische und ­‫ ג‬Ht o l *ko sredstvo chud.
metaphysische R e a litä t iz o b r a z it e l,n o s t i” ,
‫״‬s ig n a l”
a re alibus ad re a lio ra
"uslovnyj znak” (552)
Z ie l der M itte ilu n g =
" v p e č a t lit e l,nost ‫ ״ י‬,
"zarażenie”
Illu s io n is m u s , Wahn
Chor, Polyphonie Monolog
Kollektivism us (554) Individualism us, Psycholo-
gismus
Mythopoesie als ob je ktive Impressionismus,
Wahrheit vom Sein ” v p e č a t lit e l*n o s t1”
"mania psychologic a "
Parnassismus und Formalis-
mus
Symbol a ls Same des Mythos Mythos a ls Reproduktion
und Neukombination t r a -
d ie r te r Mythologeme (555);

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M yth o p o etik d es r u s s is c h e n Symbolismus

Mythisierung des Aktuellen A ktualisierung der Mythen


Archaisierung Modernisierung
"novyj m if e s t 1 novoe o tk ro - Mythenneuschöpfung als
venie tech že r e a l'n o s te j* subjektives Surrogat
” obretenie" "izo b re te n ie "
Mythos a ls Erinnerung an ein
kosmisches Geheimnis (556)
" m if‫״‬ HskazkaH
"sobornoe edinomyslie1 ' in d iv id u e lle Hypnose (559)
” r e s , obščenačaščaja der Id e n t if ik a t io n
r e a l'n o s t 1” , auf die ("gipnoz o to ž d e s tv le n ija ")
sich der "Chor” bezieht
" z r i t e l 1” a ls "učastnik "s o z e rc a te l*nost9”
d e jstva "
B e ly j, "Kommentarii” , S:546f. versucht eine Synthese beider
Symbolismen, z e ig t aber auch die H a ltlo s ig k e it der Typologie Iv a ‫־‬
novs, wenn man sie auf die konkrete Kunstentwicklung anwenden
w o llte (v g l. dazu auch B e ly j, "Simvolizm i sovremennoe russkoe
isk u sstvo ” , 1908,LZ:44f. und d e rs ., ” R ealiora", 1908,A:313318‫; ־‬
Zusammenfassung bei Holthusen 1957 ! 4 2 f f . ) .
* Zur Ersetzung der R eligion durch die Kunst bzw. den Kunstmy-
£hos der Neuzeit v g l. die grundlegende Studie von Blumenberg
1979:22f. und 192ff. ('1 Grundmythos und Kunstmythos") .
7 Die k u lt u r e lle Aneignung des mythologischen Erbes - auf der
" le x ik a lis c h e n ” oder der "syntaktischen” Ebene - wurde im 19.
Jahrhundert weitgehend unter dem Zeichen des F o rts c h ritts g la u -
bens des Positivism us als "Demythologisierung” betrieben (dazu
Minc/Lotman 1 9 8 3 :3 5 ff.). Der e ig e n tlic h e Höhepunkt der Demytho-
lo g is ie ru n g lag aber n ic h t im 19. sondern im 18. Jahrhundert, in
der ” allegorischen Kunst" der Aufklärung ( und n ic h t im späteren
Realismus). Gerade die Prosa Dostoevskijs v e rfü g t über mytholo-
gische T ie fe n s tru ktu re n , die eben von den Symbolisten entdeckt
wurden ( ib id . 37; eine Analyse der Mythopoetik Dostoevskijs l i e -
f e r t Toporov 1 9 7 3 :9 1 ff.).
8 Der e ig e n tlic h e Gegenbegriff zu "sim vol‫ ״‬in der poetologischen
Terminologie des Symbolismus i s t ”p r iz r a k ” e in e rs e its (also das
” S cheinbild” ) und "vyntysel” andererseits (= illu s io n ä r e F ik t io -
n a l i t ä t ) . Während das Symbolische gedeckt sein muß durch Analo-
gien in der "Tiefe der Seele” (im k o lle k tiv e n Unbewußten) und in
einer e x is te n tie lle n Erfahrung r e a l i s i e r t w ird (in d iv id u e lle s
"pereživanie” ) , sind die phänomenalen " p r iz r a k i” nur ” Schatten”
einer S c h e in w irk lic h k e it (zur ” t e n ' " ‫ ־‬Paradigmatik v g l. H.-L.
1984a:95ff. ) : ” Символы п е р е ж и в а ю т с я . [ . . . ] Символ воплощает пере-
живание в этих образах." (B e ly j, ” 0 celesoobraznosti", 1905,А:
106f. ) • B elyj unterscheidet zwischen den apokalyptischen Syrabo-
len ( "p re d e l,n y j , vseobščnyj sim vol” [als teleologischem Z ie l-
punkt der irdischen R e a litä t sub specie a e te r n ita tis ]) und den
"proobrazy-simvoly” , die dem B e g riff des Archetypus bei Ivanov
und C.G. Jung entsprechen ( ib id . 107). Die Symbole sind allesamt

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88 Aage A. Hansen-Löve

sukzessive "Verkörperungen" des Archetypus der U reinheit ("Edi-


noe"; ib id . 108), die ‫ ־‬analog zum Prozeß der "Objektivierung
des Wissens" - in die ird isch e n Symbole tra n s fo rm ie rt wird
(= " s im v o liz a c ija " ) . Dabei unterscheidet B elyj k la r zwischen
in d iv id u e lle r und k o lle k t iv e r Symbolerfahrung, die f r e i l i c h den
e ig e n tlich e n Ursprung des Symbolischen b ild e t ( i b i d . ) .
Die H ierarchisierung der Grade bzw. Entwicklungsstufen der
"Symbolisierung" v e rh ä lt sich analog zu jener der B e g riffe (ihre
Gliederung in Gattung und A r t, ib id . 108) und der Realia in
räumliche und z e it lic h e Phänomene. A lle n Prozessen der "s im v o li-
z a c ija " gemeinsam i s t aber die Tendenz, das Symbolerlebnis aus
der bloß in d iv id u e lle n Sphäre in die k o l l e k t i v e zu
verlagern ( ib id . 109): "Благодаря символизации переживание может
стать универсальным. Первоначально единоличное, оно становится
впоследствии к о л л е к т и в н ы м " ( ib id . 109). Umgekehrt i s t das In d i-
viduum Voraussetzung jeder "Symbolisierung" (110): "индивидуум
есть прообраз символа" in s o fe rn , a ls der Mensch Verkörperung des
"u n ive rse lle n W illens" i s t und zu seiner Selbstsymbolisierung
als "Gottmensch" s tr e b t. E rst dieser Anthropos-Archetypus ‫ ־‬wie
Jung sagen würde ‫ ־‬b ild e t die (maskuline) Analogie zur "Anima",
zu Solov'evs "Zena, oblečennaja v solnce'1 (111), die das (masku-
lin e ) Individuum zur k o lle k tiv e n Ganzheit z u rü ck fü h rt, h e i l t
( 112) .
Dieser "primären Symbolisierung", die auf der archetypischen
Ebene a b lä u ft, s t e l l t B e lyj eine "s im v o liz a c ija vtorogo porjad-
ka" gegenüber ( ib id . 112), die das konkrete Symbolsystem (einer
K u ltu r) d a r s t e l lt und den "pervonačal1nyj praobraz", also den
Archetypus, e n t f a lt e t und k o n k r e tis ie r t . Diese konkreten Symbole
haben g le ic h f a lls einen prozessualen Charakter, indem sie im
Rahmen eines "žiznetvorčestvo" a l le Realia des Lebens zu Symbo-
len transform ieren: "вся действительность становится прозрачной"
( ib id . 112).
Das ,,Hervorwachsen des Mythos aus dem Symbol" bedeutet eine
Abkehr vom Individualism us und die Rückkehr zum K o lle k tiv e n und
"sobornoe" des Volkes: "iskonno-narodnyj animizm" (Ivanov,
"E stē tika i ispovedanie", 1908,11:567)? eine jede R eligion ba-
s i e r t auf einer " k o lle k tiv n a ja s im v o liz a c ija " (B e ly j, "Cechov,
1907,A :397).
Noch k la re r a ls die Symbolisten - aber vor dem Hintergrund
ihres Symboldenkens - i s t be i F lo re n s k ij 1914:344ff. eine "Ar-
chetypologie" e n tw ic k e lt, die m it der "Sophiologie" untrennbar
verbunden i s t : Die Sophia i s t gewissermaßen*das "Typische" in
der " t v a r '" (also der "K re a tu r"). Wie Jung bezeichnet auch Fio-
re ń s k ij die Archetypen a ls "schemy čelovečeskogo ducha" ( ib id .
678). - A u sfü h rlich e r zur P a r a l l e l i t ä t zwischen Jung und Ivanov
und den anderen Symbolisten v g l. Averincev 1972 :1 1 0 f f . , 1 3 2 f f . ;
Stepun 1964:2 7 0 f., Holthusen 1957:49f. (zu Ivanovs B e g riff des
"k o lle k tiv e n Unbewußten" Ivanov, "Poèt i čern1" ) ; Smirnov 1977:
6 9 ff. - Im Gegensatz dazu s ie h t Mine 1979a:93 in der Symbollehre
Ivanovs n ic h t so sehr jungianische Anklänge a ls vielmehr einen
R ü c k g riff auf die m it t e la lt e r lic h e Konzeption des "U rereignis-
ses" bzw. "Urhelden". Die Psychologie Jungs sei s e lb s t Produkt
der neomythologischen K u ltu r am Anfang des 20. Jahrhunderts,
wenn auch seine E inflüsse auf die " te k s ty - m ify " der 20er und

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M y th o p o e tik d e s r u s s is c h e n Sym bolism us 89

30er Jahre u n b e s tritte n is t ( ib id . ) .


ö Zu B e ly j in seinem V e rh ä ltn is zu Rudolf S teiner v g l. Beyer
1981: 7 6 f f . und Holthusen 1957.
10 Der "Neomythologismus" des 19. Jahrhunderts ‫ ־‬v .a . in der Ro-
mantik und dann bei Wagner und Nietzsche - w ird in v ie le n Stu-
dien zum Ausgangspunkt der symbolistischen Mythopoetik e r k lä r t
(so Maksimov 1979:3-33), wobei die Symbolisten ih r e r s e its die
russischen D ich te r des 19. Jahrhunderts "m yth o lo g isie rte n " (dies
g i l t besonders f ü r Puškin, Lermontov, Gogol1 und Dostoevskij) -
man denke etwa an V. Rozanovs A rb e it "'Demon' Lermontova v okru-
ž e n ii drevnich m ifo v ", 1901. Der "Neomythologismus" Wagners und
Nietzsches i s t in der russischen Symbolismusforschung und Kul-
tu rs e m io tik ein vielbehandeltes Thema (Lotman/Minc 1981: 5 0 f . ) ,
während f ü r die Konzeption des Neomythologismus in Deutschland
die deutsche Romantik eine noch größere Bedeutung e rla n g t hat -
so v.a . in den Darstellungen be i Bohrer (Hg.) 1983: Nach Bohrer
übernimmt in der Romantik das Kunstwerk die Rolle der V e rm itt-
lung des modernen Menschen zum Archaisch-Mythischen ( ib id . 57),
wobei die romantische Utopie der "neuen Mythologie" im Grunde in
eine reine Poetologie mündet, womit eine "K u n s tre lig io n " a n t i z i -
p ie r t w ird ( ib id . 58). Vgl. dazu auch Blumenberg 1979:36ff. und
Frank 1982:73ff. Vgl. auch die Aufsätze im Sammelband "T error
und S p ie l. Probleme der Mythenrezeption" (= Poetik und Hermeneu-
t i k , V), München 1971.
Mine 1979a:90ff. unterscheidet g ru n d sä tzlich zwischen dem
immer wieder gleichgesetzten Neomythologismus von Romantik und
Symbolismus bzw. der Moderne. Gemeinsam i s t beiden zwar die Vor-
Stellung der "Doppelwelt" ( "dvoem irie") und der Korrespondenz
zwischen D ie sse its und Je n se its , der Symbolismus te n d ie r t jedoch
zu einem "mnogomirie", welches ohne eine (o n to lo g is c h -a x io lo g i-
sehe) H ierarchie auskommt. F r e ilic h grenzt Mine in dieser Studie
den "Realsymbolismus" (S II) n ic h t k la r vom Symbol-Pluralismus
der neomythologischen " te k s ty -m ify " B e ly js , Sologubs oder Bloks
ab (= S I I I : grotesk-karnevalesker Symbolismus). Gerade fü r d ie -
ses d r i t t e Symbolismusmodell, das besonders in der Prosa domi-
n ie r t , in der Poesie ab 1906 den orthodoxen ( "theurgisehen‫ ) ״‬S II
a b lö st, g i l t das von Mine k o n s ta tie rte P rin z ip eines m ythologi-
sehen Polyphonismus: Der Mythos f u n k t io n ie r t "a ls In te r p r e t des
In h a lts " eines konkreten Kunst- und Lebenstextes des modernen
Mythopoeten. Insofern o p e r ie rt der späte Symbolismus durch die
Dehierarchisierung der klassischen Mythenkanones und ih re Auf-
lösung in "Polysemie" und " p o l i k u l ' tu r n o s t1" mythenverfremdend
( ib id . 94); der symbolistische " te k s t- m if" w ird a ls " lit e r a t u r a
о lit e r a t u r e " und damit a ls primär k u ltu r e lle s Phänomen bewußt.
Das "Mythologem" in seiner re in kün stle rische n Funktion w ird zum
Bestandteil e in e r "sekundären Sprache" der K u ltu r (der Jahrhun-
dertwende); die Kunstwerke s e lb s t werden in den "obščesim voli-
če skij m if о mire" i n t e g r ie r t ( ib id . 96).
Der Neomythologismus der Moderne z ie lt e n ic h t so sehr auf die
Rekonstruktion (bzw. Restauration) der archaischen Mythen (auf
einer bloß thematisch-motivischen Ebene), sondern auf die Schaf-
fung innovatorischer " te k s ty - m ify " , in denen die archaischen
S tru k tu rp rin z ip ie n des mythologischen Denkens (Lévi-S trauss'

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90 Aage A . Hansen-Löve

"M ythologik") schöpferisch a k t u a lis ie r t werden: "Es ging also


n ic h t um die S t ilis ie r u n g a lt e r Mythen, sondern um Mythenneu-
Schöpfung‫ ( ״‬ib id . 76). Dabei b lie b der generelle Unterschied
zwischen archaischem Mythos und " a v to r s k ij m if" (v .a . bei Blok)
durchaus bewußt (77). Das moderne Kunstwerk r e a l i s i e r t - vor dem
Hintergrund des kausal-empirischen Denkens der Neuzeit - das
"vorlogische" Denken des Urmythos, aus dem sich die "te k s ty -m i-
fy " des Symbolismus gleichsam ‫״‬e n tfa lte n " (83). Diese Idee der
"E n tfa ltu n g " wird in der (neo-)platonischen Auffassung des My-
thos bei V. Solov'ev m it Schellings und Hegels Entwicklungsdia-
l e k t i k versöhnt, wodurch die Weltgeschichte insgesamt als ent-
f a l t e t e r Mythos lesbar w ird .
A. Dobroljubov war e in e r der ersten - dem "dekadentstvo" und
besonders dem französischen Symbolismus v e r p flic h te te n - Dichter,
der sich einer E x is te n z ia lis ie ru n g des Kunsttextes zuwandte. Pa-
r a l l e l dazu e n t f a lt e t sich bei ihm auch bahnbrechend die Meta-
phorik des "Kunst-Textes" a ls eines "Lebens-Textes" - so beson-
ders in seinem Buch " Iz k n ig i nevidim oj" (M. 1905), indem er ex-
p l i z i t von einer "kniga ž iz n i" s p r ic h t, deren Text m it der " k n i-
да nevidimaja" apokalyptisch korrespondiert (180). Vgl. dazu die
Bemerkungen von Blok, V I I I :151 (Zusammenfassung be i Azadovskij
1979 : 133f . ) .
Für den Mythopoeten B elyj (also in der Phase des S II) i s t
der D ichter "Minnesänger seines eigenen Lebens", da dieses
gleichbedeutend i s t m it der "Pesn' Z iz n i" (B e ly j, 1907,A:59):
"Нам нужна музыкальная программа жизни, разделенная на песни
(п о д в и ги )...‫ ״‬. E x p liz it fin d e t sich das "Welt-Buch" be i Blok, I I :
372 und V III:3 4 4 (v g l. dazu auch Mine 1980a:107) und Blok, I :
226, 1:236). Im Symbolismus i s t der "te k s t ž iz n i" T e il des kos-
mischen "te k s t b y t i j a " und des Kunsttextes gleichermaßen (Smir-
nov 1 9 7 7 :3 0 ff.). Nach Mine 1980a:106f. war aber auch diese Kon-
zeption des mythopoetischen Symbolismus " ä s t h e t i s ie r t ". - Der
Zusammenbruch des "Lebenstext"-Modells (ab 1904) fü h rte d ire k t
zu einer Demythologisierung des Symbolismus und zu e in e r schar-
fen Konfrontation von "Lebens- und W e ltte x t" (Lavrov 1978:16 I f . ) .
11 Im Gegensatz zum "Ursynkretismus" der archaischen Kulturen i s t
die moderne K u ltu r gekennzeichnet durch eine strenge Trennung
zwischen "Pragmatik" und "Ä s th e tik ", zwischen e x is t e n t ie lle r
Handlung und a b s tra k te r Sprache: "Первобытная гармония согласует
эти с л о в а и д е л а ; с л о в а с т а н о в я т с я д е й с т в о м " (Blok, 1906,V :5 2 f. ).
B e ly j, "Émblematika s m y s la 1 9 0 9 ,‫ ״‬, S: 139f . unterscheidet zwi
sehen dem archaischen Urmythos und "künstlerischem Symbol" auf
der einen Seite und ih r e r "R ealisierung" in der "Sprache der
menschlichen Handlungen" ("ja zyk postupkov") auf der anderen Sei-
te . Dadurch e rs t e n tste h t das " r e lig iö s e Symbol". Der Künstler
s e lb s t wird zum Symbol, Lebens- und Kunsttext werden eins. A ll
dies g i p f e l t im "žiznetvorčestvo" des "bogočelovek". Für diesen
g ib t es keine Grenzen mehr zwischen Kunst und R e lig io n , Existenz
und Sein: "Simvoliz r a z b il samye ramki ēstetičeskogo tvorčestva"
( ib id . 143).
VI. Solov'ev versuchte in seiner Philosophie - m it jew eils
u n te rsch ie d lic h e r Akzentsetzung - den Mythos sowohl a ls s t a t i -
sches Seinsprinzip ( e s s e n t ia lis t is c h ) , a ls archetypische Idee

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M y th o p o e tik d e s r u s s is c h e n Sym bolism us

(platonisch) u n d a ls dynamisches P rin z ip des W e r d e n s


(im Sinne der D ia le k tik S chellings und Hegels) zu verstehen
(v g l. dazu Mine 1979a:85) 2 "Законы этого движения, осмысленные
мифопоэтически, формируют как ф а б у л у так и с ю ж е т н у ю с т р у к т у р у
1мира-мифа1" ( ib id • ) • Diese V o rste llu n g von der Welt a ls "My-
thos" (als " te k s t- m if" ) verbindet die platonische Deutung der
phänomenalen R e a litä t ("Mikrokosmos") a ls "A bbild" (Konfigura-
tio n von S ig n ifik a n te n ) der numenalen Welt ("Makrokosmos" a ls
Ordnung der S ig n ifik a te ) m it e in e r Philosophie des W e r -
d e n St die f r e i l i c h w e it h in te r S che lling und Hegel zurück-
w eist auf hermetisch-gnostische Philosopheme. Die Welt i s t dem-
nach ein im permanenten Werden b e g riffe n e r T e x t , der seine
Ausgangsformel (Gott a ls "U r-W ort", a ls "Logos") e n t f a lt e t und,
h e ils g e s c h ic h tlic h b e tra c h te t, " e r f ü l l t " und " e n t h ü llt " (= Apo-
kalypse im w ö rtlich e n Sinne). Der "Lebenstext" des s y m b o lis ti-
sehen Mythopoeten v e rh ä lt sich zum "W e ltte x t" analog und homo-
lo g . Das "Drama" der Entstehung, Trennung und Wiedervereinigung
von V ate rgo tt und Weltseele l i e f e r t das Paradigma fü r a lle Le-
benstexte.
Während aber der orthodoxe Symbolismus (S II) nach wie vor zu
e in e r i m a g i n a t i v e n R ealisierung des Jenseitigen im
D iesseits (als achrone und atopische "Vereinigung") te n d ie r t,
im p liz ie r t das im S I I I dominierende Konzept des "Weltmythos" (ja
des u n iv e rs e lle n "m if о m ife ", v g l. Mine, ib id . 96) eine N a r -
r a t i v i s i e r u n g des Modells eines "m ir v s ta n o v le n ii"
bzw. "slovo v s ta n o v le n ii" . Je t r i v i a l e r , s p e z ifis c h e r, a l lt ä g -
lic h e r die "R ealia" sind, welche auf der Ebene des "b y t" die
" r e a lio r a " s u b s titu ie re n , umso paradoxaler und grotesker i s t der
entsprechende "roman-mif" oder die "poêma-mif" s t r u k t u r ie r t •
12 Bachtin 1963:162 e n tw icke lte eine Konzeption des "o bje ktive n
Gedächtnisses der Gattung" (dazu auch Smirnov 1972:311), das als
k o lle k t iv e r Wert einer K u ltu r vorgegeben i s t .
13 Pančenko/Smirnov 1971: 3 6 f f . d e fin ie re n "ja d e rn y j motiv" bzw.
"ja d ern yj o bra z-a rch e tip " a ls "minimale und n ic h t w e ite r ze rle g -
bare B ild e in h e it " , die u n z w e ig lie d rig s t r u k t u r i e r t i s t nach Op-
Positionen: " b itv a " - " p i r " , "g e ro j" - "solnce" e tc . Die tra n s -
fo rm a tio n e ile Variante eines Kernmotivs, dessen Ursprung Gegen-
stand anthropologischer Forschungen i s t , w ird a ls "obraznyj то-
t i v " bezeichnet, das a ls Produkt eines "ra zve rtyva n ie " von a r-
chetypischen Ausgangsmotiven b e tra c h te t w ird .
Nach Smirnov 1978:195 f ü h r t die Analyse von Texten unter dem
Gesichtspunkt ih r e r u n iv e rs e lle n Generierung zu ‫״‬u n ive rse lle n
semantischen Assoziationen", zum " a r c h e tip ič e s k ij smysl te k s ta "
(vg l. auch Smirnov 1 9 7 7 ;5 9 ff.). Schon Smirnov 1972:288f. u n te r-
scheidet die paradigm atisch-typologische und die syntagmatisch-
evokutionäre Methode in der s tru k tu ra le n Geschichtsschreibung.
Zur Geschichte der Analyse des archaischen Denkens in der sowje-
tischen Wissenschaft der 30er b is 50er Jahre v g l. auch V.V.
Ivanov 1976:65ff.
1** Wenn ein Individuum oder ein K o lle k t iv sich g le ic h z e itig meh-
re re r Welt- und Verhaltensmodelle bedienen kann, dann g ib t es
(nach Ivanov/Toporov 1965:8) folgende Möglichkeiten der Wechsel-

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92 Aage A. Hansen-Löve

Wirkung verschiedener Modelle: 1• ihren is o lie r te n Einsatz (wo-


bei jedes Modell nur e i n e r Kultursphäre zugeordnet i s t ) ;
2. den F a ll der "K re o lis ie ru n g ", d .h . der Überlagerung verschie-
dener Modelle, wobei die ihnen gemeinsamen Merkmale hervorgeho-
ben werden; 3. die "pathologische" Is o la tio n der Modelle und der
Verhaltensprogramme von Personen. Der zweite F a ll i s t n ic h t nur
der vorherrschende in der D arstellung Ivanovs und Toporovs (bei
der Untersuchung der im Urslavischen auftretenden "K re o lis ie -
rung" c h r is t lic h e r und heidnischer Systeme), er dom iniert auch
in der symbolistischen Modellbildung (worauf die Autoren f r e i -
lie h n ic h t eingehen). Im F a lle der Mythopoesie V j. Ivanovs könn-
te man von e in e r sekundären K re o lisieru ng sprechen, da h ie r
n ic h t nur die klassisch-heidnischen (griechischen) bzw. u r s la v i-
sehen und c h r is tlic h e n Systeme übereinander gelagert werden,
sondern auch philosophisch oder ä sth e tisc h -kü n s tle risc h "säkula-
r i s i e r t e " Erscheinungen des Religiösen und Mythisch-Mystischen
allgem ein.
15 In seiner A rb e it über die "Poēzija zagovorov i z a k lin a n ij "
(Blok, V:47) gesteht Blok den m a g isch -ritu e lle n Formeln der
F o lk lo re , ja ih r e r gesamten mythischen Denkstruktur den Status
einer "p o z itiv n a ja nauka" zu, eine Auffassung, die jene Rehabi-
lit ie r u n g des "wilden Denkens" in der Mythologik von Claude
Lévi-Strauss vorwegnahm. Diese p o s itiv e Einschätzung der autono-
men Denkstruktur des archaischen Bewußtseins war zur Z e it Bloks
keineswegs eine S e lb s tv e rs tä n d lic h k e it (v g l. dazu auch die späte
K r i t i k von Lévi-Strauss an der Mythentheorie eines Ernst Cassi-
re r) .
Auch Solov'ev hat sich in mehreren Studien mit der a rch a i-
sehen Mythologik und ih r e r spezifischen Denkstruktur auseinan-
dergesetzt (v g l. Solov'ev, "Pervobytnoe jazyčestvo, ego živye i
mertvye o s t a t k i" , 1890,V I : 1 7 4 ff. ) . Solov'ev s p ric h t von einem
"mifologičeskoe tvorČestvo" der U rvölker, die über ein hohes Maß
an U n iv e rs a litä t v e rfü g t: "Пандемонизм и колдовство: существен-
ная о д н о р о д н о с т ь и магическое взаимодействие всех частей вселен-
н о й ..." ( ib id . 233). Zum Ursynkretismus der archaischen Mytholo-
gien v g l. Solov'ev, "M ifo lo g ič e s k ij process v drevnem jazyćest-
ve", 1873,1:1-26: Diese A rb e it z e ig t noch d e u tlic h R ückgriffe
auf S chelling aber auch auf Chomjakovs religionsphilosophische
Arbeiten.
Zum B e g r iff des "w ilden" bzw. "konkreten Denkens" v g l.
Claude Lévi-Strauss 1973:U f f - und ders. "Mythologica I " , 26f.
und "Mythologica IV ” , 7 3 2 ff.,7 5 3 f. - Auch Blumenberg 1979:18ff.
k r i t i s i e r t die konventionelle Formel "vom Mythos zum Logos" (so
bei N e s tle ), die im p l i z ie r t , daß beide einander ausschliessen
oder aber aufeinander folg e n: "Der Mythos selbst i s t ein Stück
hochkarätiger A rb e it des Logos" (auch 3 4 f.) .
Bei Blok i s t der B e g r iff des "konkreten Denkens" in Bezug
auf Horaz gemeint (Blok, ZK,1905:71 (Exzerpte aus seinen Vorle-
sungsm itschriften zu F.F. Z e l i n s k i j ] ) .
1e Vgl. dazu Ivanov, "Poét i f i er n1904, 1: 714 ,‫ ״ י‬, zum "D ich te r-
Demiurgen" als "naslednik tv o rja š č e j m a te ri", der als Organ der
"Mat1-Zemlja" und damit a ls "vox p o p u li" a u f t r i t t .

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M ythopoetik d es r u s s is c h e n Sym bolism us 93

17 Blok, "Poēzija zagovorov i z a k lin a n ij 1906 ,‫ ״‬, V: 36- 65, behan-


d e lt die Ä sthetik der archaischen Formeln a ls Objekt der "Rekon-
s tr u k tio n " durch den rezenten Menschen, dem die ga n zheitliche
E rle b n is fä h ig k e it der "archaischen Seele" abhanden gekommen i s t .
Zur Dissoziierung des Ursynkretismus in E th ik , Ä s th e tik und Re-
l ig i o n v g l. auch Ivanov, "О l j u b v i derzajuščej " , 1908,111:133.
18 Der Unterschied zwischen symbolistischem und p o s ts y m b o lis ti-
schem (avantgardistischem) "Archaismus" besteht d a rin , daß der
Symbolismus "die Modernität" ( "sovremennost1") m it dem Mythos
s y n c h ro n is ie rte , wogegen die postsym bolistische Avantgarde "um-
gekehrt den Mythos m it der M odernität" syn ch ro n isie rte (v g l.
Dëring-Smirnova/Smirnov 1980:421). A u s fü h rlich zur D iffe re n z ie -
rung von sym bolistischer (hermeneutischer) Mythopoetik und fu -
t u r is t is c h e r "Archaik" v g l. meine A rb e ite n: H .-L. 1985, 1986.
‫ ® י‬Die (De-)Gradation (d.h. S ä kula risieru ng , Ä sth e tisie ru n g ,
L ite ra ris ie ru n g ) des Mythos zur M e t a p h e r in der Mytho-
Poetik (v g l. dazu besonders Lotman/Uspenskij 1973:2 9 4 f.) e n t-
s p ric h t der den Symbolisten durchaus ve rtra u te n Mythentheorie A.
N. Veselovskijs und A.A. Potebnjas (v g l. dazu H .-L. 1 9 7 8 :4 4 ff.).
Vgl. dazu auch Geršenson 1922:25: "слово родилось как миф, потом,
когда драматизм мифа замер и окаменел в слове, оно стало м е -
т а ф о р о й , и наконец образ, постепенно бледнея, совсем по-
мерк, - тогда остался безобразный, бесцветный, безуханный з н а к
отвлеченного, т .е . родового п о н я т и я . . - Lotman 1974: 3 0 f f. de-
f i n i e r t die mythische Zeit als z y k l i s c h e Bewegung
(ebenso wie auch L é vi-S tra u ss); es fehlen im Mythos die Katego-
rie n "Anfang" und "Ende" ( ib id . 30). Im Gegensatz zur mythischen
Z y k liz it ä t und O ffenheit i s t das n a rra tiv e S u j e t syntagma-
tis c h d u rc h s tru k tu rie rt, i n i t i a l und f i n a l f i x i e r t . Die zyklische
Welt des Mythos (in seiner archaischen Verfassung) i s t t o p o -
l o g i s c h geordnet? die an sich heterogenen Zyklen des Kos-
mos werden als "wechselseitig homöomorph" angesehen. Die Phänome-
ne der unterschiedlichen Sphären werden aber n ic h t metaphorisch
miteinander k o r r e lie r t (in H in b lic k auf A nalogien), im Mythos
herrscht das P rin zip der I d e n t it ä t der voneinander abgeleiteten
Phänomene und Sphären (nach dem Gesetz der to ta le n Homogenität).
Dagegen herrscht in Sprachen des nicht-m ythologischen Typs das
P rin z ip der "D is k re th e it" vor. - Die von Lotman hervorgehobene
N ic h t-D is k re th e it, N ic h t-M e ta p h o riz itä t, N ic h t-S u je th a ftig k e it
des (archaischen) Mythos ( ib id . 32) g i l t im wesentlichen auch fü r
das Modell des S II (je d e n fa lls t e n d e n z ie ll) , wogegen .d ie Metapho-
ris ie ru n g , ja n a rra tiv e Metonymisierung zum Modell des grotesk-
karnevalesken S I I I ü b e r le ite t.
Nach Lotman verwandelt das n a rra tiv e S u j e t jedes Phä-
nomen und Ereignis zu etwas Einmaligem und Außergewöhnlichem,
wogegen im Mythos das In v a ria n te , Z e itlo s e , endlos Reproduzier-
bare und Starre dominiert ( ib id . 32). Während der Mythos also
eine "Ordnung" f i x i e r t , h ä lt das Sujet ein "E re ig n is " fe s t (33),
das sich durch "Neuheit" auszeichnet, durch das überschreiten
einer "althergebrachten Ordnung" (also Verfremdung).
Die Mythen der klassischen L it e r a t u r Griechenlands etwa
sind e ig e n tlic h schon stark n a r r a t iv is ie r t e Pseudomythen (34),
da in ihnen der zyklische Zeitmechanismus schon durch v ie lfa c h e
Übersetzung in die Sprache " d is k r e t- lin e a r e r Systeme" z e rs tö rt

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94 Aage A. Hansen-Löve

wurde• Als Folge e in e r solchen N a rra tiv is ie ru n g (und damit De-


mythologisierung) s ie h t Lotman den 1 ‫״‬V erlust des Isomorphismus
zwischen den Textebenen1 ‫ ״‬und die damit einhergehende ” L in e a ri-
sierung" der Konstruktion. Es i s t daher e in s ic h tig , daß die
‫״‬L y rik " aufgrund ih r e r s ta rk reduzierten "sju ž e tn o s t1" dem My-
thos am nächsten kommt ( ib id . 40).
Auch Lotman/Uspenskij 1973:293ff. bezeichnen Mythos und Me-
tapher als einander ausschließende semantische P rin z ip ie n . Da-
her i s t das Symbol einmal als Bestandteil des archaischen My-
thos und einmal als Element einer poetisch-metaphorischen Struk-
tu r zu werten (294). Bezogen auf die archaischen Mythen sind die
lite r a r is c h e n , mythopöetischen Texte "Meta-Texte", "Meta-Syste-
me" ( i b i d . ) . Daher hätten die mythopoetischen Werke der r u s s i-
sehen Symbolisten m it dem "mythologischen Bewußtsein" gar n ich ts
gemein, da h ie r die Textelemente auf nicht-mythologische Weise
(ja sogar auf eine A rt w issenschaftliche Form) g e b ild e t würden.
Das Verfahren der " r e a liz a e ija metafory" i s t daher typisch fü r
den rezenten Neomythologismus. Umgekehrt kann es im Rahmen des
archaischen Mythos keine Poesie oder Kunst im engeren Sinne ge-
ben ( ib id . 300).
Im mythologischen Denken kann es nämlich keine Synonymisie-
rung geben, da h ie r Wort (als "Name") und Ding noch untrennbar
verbunden sind. "Ohne Synonymie kann es aber keine Poesie ge-
ben" ( i b i d . ) . Der Mythos a r b e ite t vielmehr m it "Homonymie".
Während also im S y je tte x t Anfang und Ende den Verlauf der
linearen Z e it markieren, v e rfü g t der archaische Mythos über k e i-
ne Begrenzung und Tem poralität (Lotman 1 9 7 3 :8 6 ff.). Die S u je t-
z e it i s t lin e a r , der Mythos i s t r ä u m l i c h s t r u k t u r ie r t .
Zur Opposition von ikonisch-homöomorphem Sprachtyp (im My-
thos) und verbal-diskretem (in den modernen Kulturen) v g l. auch
Lotman 1978:8f. Analog dazu stehen folgende Oppositionen:
"detskoe soznanie" vs. "vzrosloe soznanie"
"mifologičeskoe soznanie" vs. "isto riče sko e soznanie"
"ikoničeskoe myślenie" vs. "slovesnoe myślenie"
"de jstvo " vs. "povestvovanie"
" s t ic h i " vs. "proza" ( ib id . 8) .
Grundlegend zur D iffe re n zie ru n g von Mythologie und L ite r a -
tu r i s t auch Lotman/Minc 1981: 3 5 f f . Zwischen beiden Sphären
herrscht grundsätzlich ein antagonistisches V erhältnis ("лите-
ратура имеет дело лишь с разрушенными, реликтовыми формами мифа
и сама активно способствует этому разрушению", i b i d . ) . Die то-
derne K u ltu r r e s u l t i e r t aus e in e r "K re o lisie ru n g " eines d is k re -
ten und eines n ic h t-d is k re te n Sprach- und Kommunikationstyps.
Das, was im nichtmythischen Text getrennt und antinom a u f t r i t t ,
kann im mythischen Text in einem einzigen ambivalenten Symbol
ko e xistie re n ( ib id . 39).
Für Mine 1979:199f. i s t das (moderne) "Mythologem" immer
eine Metapher, die ein eigenes semantisches Paradigma b ild e t .
Während sich das Symbol e t a b lie r t aufgrund des "izomorfizm zna-
č e n ij sopolagaemych slov-o bra zo v", erzeugt das "symbolische My-
thologem" einen "izomorfizm značenij celostnych tekstov" (200).
Das Symbol i s t Produkt e in e r einmaligen metaphorischen Substi-
tu tio n einer Wortbedeutung durch eine andere, wogegen das My-
thologem eine ganze Reihe verschiedener Akte des Vergleichens

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M ythopoetik d e s r u s s is c h e n Sym bolism us 95

voraussetzt (sowohl metaphorische a ls auch metonymische) und da-


m it einen Isomorphismus ganzer Sujets r e a l i s i e r t ( i b i d . ) . Im
Symbol i s t eine ganze Menge von semantischen Merkmalen " c h i f f -
r i e r t " , im Mythologem sowohl eine Menge von Merkmalen a ls auch
eine Menge von Sujets ("Mythen"). Das Verstehen eines Symbols
e r fo r d e r t n ic h t mehr als die Kenntnis der Normalsprache und der
Metaphorik einer bestimmten K u ltu r; das Verstehen von Mytholo-
gemen s e tz t die Kenntnis von Texten und Mythen voraus.
Auch fü r M e le tin s k ij 1976:87 b e s it z t die "E n tfa ltu n g " des
Mythos die S tru ktu r einer S p i r a l e , die zu e in e r Annul-
lie ru n g der Ausgangsstruktur (Oppositionen) f ü h r t . Zur binären
S tru k tu r dieser Ausgangssituationen v g l. Toporov 1973:91f. und
besonders M e le tin skij/N e klju d o v e t a l . 1969:101ff. sowie schon
P ja t ig o r s k ij 1965:43f. (Mythos a ls u n iv e rs e lle r "N e u tra lis a to r"
von Oppositionen).
Eine Vorstufe zur D ifferenzierung von Mythos und (rezenter)
L it e r a t u r , ikonischer und v e rb a l-d is k re te r Sprach- und K u ltu r-
ty p ik b ild e t die Unterscheidung zwischen archaischem Mythos und
Märchen (bzw. Folklore allgemein) - v g l. dazu M e le tin s k ij/N e -
k lju d o v e t a l. 1971. Der archaische Mythos b ild e t f ü r das Mär-
chen eine A rt M etastruktur. Im Gegensatz zum Mythos v e rfü g t das
Märchen über eine ausgesprochen prägnante Syntagmatik (v g l. da-
zu M e le tin s kij/N e klju d o v e t a l . 1 9 6 9 :8 8 ff.). Ebenso argumen-
t i e r t auch Levinton 1975:76ff. Für ihn b e s itz t die Metaphorik
in der F o lklore den Charakter e in e r Id e n tifiz ie r u n g der s u b s ti-
tu ie rte n Merkmale, wogegen in der rezenten Kunst dasselbe Ver-
fahren I d e n t it ä t und N ic h t - I d e n titä t ausdrückt.
Nekljudov 1975:65ff. bezeichnet das V e rh ä ltn is von Mytholo-
gie und Mythopoesie a ls "Rückkopplung": Wenn das "mythologische
System eine A rt Resonanzraum fü r die F o lk lo re i s t " (65) , dann
g i l t dasselbe fü r das V e rhältnis von rezenter L it e r a t u r und
Folklore bzw. Mythos. Die Mythopoesie i s t m it dem mythologischen
Denken k o rre lie rb a r aber n ic h t id e n tis c h m it ihm.
Die groteske P olarisierung von archaischem ürmythos (als
"p ra sju že t") m it seiner E ntfaltung zum " a k t u a liz ir u ju š č ij m ir " ,
zur "častnaja m ifo lo g ija " des Kunsttextes (etwa des "roman-mif"
bei B e lyj) i s t typisch fü r das Modell des S I I I (v g l. dazu Pusty-
gina 1977: 8 2 f f . ) .
Smirnov 1977:14ff. e n tw ic k e lt eine p r i n z i p i e l l e k u ltu r ty p o -
logische P o la r itä t von paradigmatischen und syntagmatischen Kul-
t u r - und Kunstsystemen. Für den ersten Typ s te h t der Symbolis-
mus, fü r den zweiten die Avantgarde (v .a . der Akmeismus).
Im Modell des S I I I wird der (Ur-)Mythos n a r r a t i v i -
s i e r t und damit a k t u a lis ie r t , p a ro d ie rt, z i t i e r t , tr a n s fo r -
m iert zum Bestandteil einer halb imaginären, halb fik tio n a le n
narrativen Welt - so etwa B elyjs Romane (v g l. dazu Pustygina
1977:80ff. und 1981: 8 6 f f . ) . - Zur n a rra tiv e n Z yklis ie ru n g der
Gedichte bei Blok v g l. Mine 1979:211 f. ("dvižen ie o t ' romannoj'
к 'mifopodobnoj' é p iè n o s ti‫ ) ״י‬. Die Zuwendung der Symbolisten zur
Prosa behandelt Z. Gippius, LD,1906 : 3 7 3 ff. in einem Aufsatz m it
dem T i t e l "Prosa poêtov".
Frejdenberg 1978:173ff. geht von einem p r in z ip ie lle n Unter-
schied zwischen "mythologischem" und "poetischem B ild " bzw. "Me-
tapher" aus, wobei die S truktur des "Begriffsdenkens" die Meta-

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96 Aage A . Hansen-Löve

phorisierung des Mythologischen b e w irk t. G le ic h z e itig aber be-


s te h t nach Frejdenberg auch ein grundlegender Unterschied zwi-
sehen der Metaphorik in der griechischen Antike und jener im
Hellenismus und späteren Epochen: ,,Художественность античной
литературы есть не данность, а проблема." ( ib id . 176).
Die antiken B e g riffe (in Philosophie und L ite r a tu r ) wurzeln
noch in jener elementaren K onkretheit, die das mythologische
Denken auszeichnet (Frejdenberg 1978:178) und die formal der
Semantik des Bildes e n ts p ric h t, keineswegs aber unserem moder-
nen formallogischen Denken ( ib id . 191f).
Für Frejdenberg 1978:181f. i s t das "mythologische Denken"
ein "gegenständliches, emotionales Denken"; sie verwendet - wie
dann auch Lévi-Strauss - den B e g r iff des "konkreten Denkens",
das dem logisch-abstrakten Begriffsdenken entgegengestellt w ird.
Dabei i s t die E m o tio n a litä t des "konkreten Denkens" keineswegs
ohne System und Ordnung. A u s fü h rlich beschreibt Frejdenberg die
Transformation des mythologischen Bildes zur abstrahierenden
Metaphorik der poetischen Figuren: "Метафора возникала [ . . . ]
как форма образа в функции понятия" (187). Gemeinsam i s t B e g riff
und Metapher das Bewußtsein von der bloß scheinbaren Id e n t it ä t
der s u b s titu ie rte n E inheiten, der F i k t i v i t ä t ih r e r K o rre la tio n .
Anders a ls die moderne Metapher fußte aber die a n tik-g rie c h isch e
auf der I d e n t it ä t der Semantik der verglichenen Elemente ("to ž -
destvo dvueh semantik, voschodivšee к myśleniju m ifologičeskim i
obrazami", 188). Auch das "inoskazanie" hatte einen b e g r i f f l i -
chen Charakter (189), es e n ts te h t a ls "mimesis obrazu", als
" i l l juzornaja forma obraza" ( ib id . 191). Das mythologische Den-
ken b e g r e ift einen Ausdruck immer "buchstäblich" (193), die Me-
tapher und Metonymie jedoch f i k t i o n a l , m im etisch-uneigentlich.
Der a n tike B e g r iff der " F ik tio n " bedeutet aber n ic h t illu s io n ä -
re Täuschung, sondern ein "obraz d e j s t v i t e l ,n o s ti" (195). Die
a n tike Metapher macht das "mythologische B ild " zu einem sekundä-
ren Zeichen und den B e g r iff zu einem b ild h a fte n Ausdruck (sie
v e r m it t e lt also zwischen beiden Denkstrukturen, ib id . 200,204).
In dem Aufsatz "Proischoždenie n a r r a c ii" a n a ly s ie rt Frejden-
berg (1945) 1978:206-229, die Homologie zwischen der Genese der
Metapher aus dem mythologischen Bild-Denken und der Entstehung
der n a rra tive n S ujet-S trukturen bzw. des perspektivischen Erzäh-
lens aus ebendiesen mythologischen Formen. Grundlegend i s t ih re
F e s ts te llu n g , daß in der klassischen Antike Prosa und L y rik nie
a ls i s o l i e r t e Genres sondern immer nur kombiniert und in andere
Gattungen e in g e b e tte t a u ftra te n . - Die "in d ire k te Erzählung"
("kosvennyj rasskaz", d .h . "povestvovanie") und der (metaphori -
sehe) "V ergleich" sind nach Frejdenberg "zwei Formen ein und
derselben b e g r ifflic h e n Transformation der b ild h a fte n , zwei-
g lie d rig e n Subje k t- O b je k t- 1F ik t io n ' " , denn in beiden Fällen -
in der Metapher ebenso wie in der "n a rra tio " - v o llz ie h t sich
der Prozeß einer Ir r e a lis ie r u n g und F ik tio n a lis ie ru n g eines
Ausgangsmythos (214) : "Рассказ - это то, чего нет в действитель-
ности, это ее подобие, ,образ', ,правдивая история*, заведомый
вымысел". Während der Mythos durch das "Reale" (Epos) angeeig-
net w ird , wird das Reale durch den Mythos r e z ip ie r t (Tragödie,
L y rik ) (215). Nach Frejdenberg i s t die "n a rra tio " ein " p o n ja t ij-

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M ythopoetik d es r u s s is c h e n Sym bolism us 97

nyj m if" (1978:227): ,'Миф, который довлел самому себе, обратил-


ся в объект изображения; его стали воспроизводить как нечто
в т о р и ч н о е , созданное субъектной и иллюзорной сферой, и
он из достоверной категории превратился в 'об раз', в ,фикцию1,
только лишь подражавшую действительности". Es konnte also gar
keine " m ify - n a rr a c ii" geben, daher sind auf uns die Mythen nur
a ls Texte in mythologischen Lehrbüchern gekommen.
Zur Transformation der räumlichen Strukturen des m ythologi-
sehen Denkens in die z e itlic h e S u k z e s s iv itä t und immanente Logik
der n a rra tive n S u j e t s (m it Anfang und Ende) v g l. Frejden-
berg 1978:225f. ("Proischoždenie n a r r a c ii" ) . Den Zusammenhang
zwischen Frejdenbergs "S u je t"‫ ־‬B e g r iff und jenem der Formalisten
behandelt z u le tz t Braginskaja, "0 rabote O.M. Frejdenberg , S i‫־‬
stema lite ra tu rn o g o s ju ž e ta '" , in : Tynjanovskij sbo rn ik, I I , R i-
да 1986:272-283.
20 Gerade in der philosophischen Deutung des Symbolismus bei
B e ly j, "Êmblematika smysla", 1909,S : 143f . , w ird der s y n th e ti-
sehe, ja p la g ia to risch e Charakter der modernen Kunst besonders
d e u tlic h . Nach Belyj i s t K u ltu r immer Produkt e in e r "u s lo v n o s t'"
und damit einer "ēmblematičnost' " , die jedes Ursymbol zum k u lt u -
r e lle n "Emblem" r e l a t i v i e r t und u m fu n k tio n ie rt ( ib id . 5 3 f f . ,
9 0 f f . ) . A lle mythischen, g e is tig -s e e lis c h e n R e a litä te n , die
durch das System der K u l t u r gebrochen werden, verwandeln
sich von absoluten zu re la tiv e n Größen, sie werden gewissermas-
sen " v e r b e g r if f lic h t " (als gnoseologische Termini) oder " a l l e -
g o r is ie r t " (als gnoseologische Metaphern oder Metonymien): "Ал-
легория есть связь, в сознательно выбранной и расположенной си-
стеме образов" ( ib id . 90).
Von Anfang an i s t bei B e ly j, "Problema k u l* t u r y " , 1909,S:
1-10, der B e g r iff der K u ltu r gespalten in einen th e o re tis c h -
kontemplativen Aspekt (h ie r dominieren die gnoseologischen "u-
slovnye zn aki", der "êmblematizm") und einen kre ativen t"p rim a t
tvo rče stva ", ib id . 8): Dieser zweite K u ltu r b e g r if f i s t grund-
s ä tz lic h m it der Sphäre der Kunst k o o r d in ie r t und daher eo ipso
das Produkt einer Transformation von Dingen und "B ild e rn " (bzw.
Mythologemen) der "Natur" ( i b i d . ) . Aus d ieser S icht i s t K u ltu r
einmal "Speicher" und "Gedächtnis" archaischer Mythologeme und
Symbole (K ultur als "Paradigma"), einmal "Transformator" von
Naturdingen zu Kulturgegenständen m it h il f e der Symbole.
Lotman (1970) 1974:381ff. behandelt den " m it t e la lt e r lic h e n
K u ltu rty p " als Sonderfall des "semantischen" ("symbolischen")
K u ltu rtyp s, der auf der Semantisierung oder sogar Symbolisierung
der gesamten den Menschen umgebenden W ir k lic h k e it und ih r e r T e i‫־‬
le b a s ie rt. Für diesen K u ltu rty p (der im übrigen große Ä h n lich -
k e it m it jenem des Symbolismus s e lb s t aufw eist) i s t die V o rs te l-
lung z e n tra l, daß "am Anfang das Wort war", d .h . die Welt w ird
als Wort, die Schöpfung als "Schaffung von Zeichen" gedacht
( ib id . 382). Im Gegensatz zum symbolischen (paradigmatischen)
K ultu rtyp te n d ie rt der syntaktische immer zur Desymbolisierung,
E n tritu a lis ie ru n g und Verfremdung (aus der P o s itio n des "gesun-
den Menschenverstandes"). Zu dieser ku ltu rtyp o lo g is ch e n Opposi-
tio n v g l. auch Lotman 1968:364ff. und 1971:167ff.
Der paradigmatisch-symbolische K u ltu rty p (des M it t e la lt e r s

B a y e r is c h •
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98 Aage A. Hanaen-Löve

und ‫ ־‬wie zu ergänzen wäre ‫ ־‬auch des Symbolismus) te n d ie r t zu


e in e r " r i t u a l i z a c i j a form povedenija" (Lotman/Uspenskij 1971:
1 5 1 f.). Dieser K u ltu rty p i s t auf Zeichenausdruck ( "vyraženie")
o r i e n t i e r t , daher e r f o lg t die Welterkenntnis auch v e rm itte ls der
"philologischen Analyse" ( ib id . 152) , ‫ ״‬weshalb das "Buch a ls Sym-
bol der Welt" den M itte lp u n k t der Symbolbildung d a r s t e l lt . Der
” a u s d ru c k s o rie n tie rte ", paradigmatisch-symbolische K u ltu rty p i s t
"geschlossen” (und " a f f i r m a t i v " ) , er s t e l l t die Gesamtheit von
"Texten" dar; der syntagmatische Typ i s t "o ffe n ", er o r i e n t i e r t
sich an "Regeln" und "Funktionen" ( ib id . 153).
Die Idee des Kulturemblematismus begegnet auch im späteren
Schaffen B e ly js , so in seinem Entwurf zu einer " I s t o r i j a stanov-
le n ija samosoznajuščej duši" (pubi, in Christa [Hg.] 1980:41ff.).
Auch h ie r wird die ” u slo vn o st1" der (theoretischen) Erkenntnisse
a ls Hauptmerkmal der emblematisehen K u ltu r bestimmt. V j . Ivanov,
"P redčuvstvija i p re d v e s tija." , 1906 , I I : 8 6 f f . fo rd e rt eine neue,
"organische” K u ltu r, die auf der Grundlage des a rch a isch -p rim i-
tiv e n Erlebens die ” th eo re tisch e" Haltung der "k ritis c h e n Epo-
che" überwindet ( ib id . 89). Die organische K u ltu r s y n th e tis ie r t
a lle K u ltu r- und Kommunikationsformen auf der Grundlage einer
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І І Ж Ѵ : ‫״‬L ••* -Л&
N ils Âke NILSSON (Stockholm)

SERGEJ GORODECKIJ AND HIS ‫ ״‬J AR‫״ ׳‬

In the fir s t years o f the present century, Sergej Gorodeckij


played a small and l i t t l e studied but ra th e r in te re s tin g ro le
as a poet and c r i t i c . Above a l l , perhaps, he was a phenomenon
c h a ra c te ris tic of such periods o f tr a n s itio n , one o f those
ty p ic a l young enthusiasts whose eager response to new signals
and leaders represents t h e ir main c o n trib u tio n to the "new a r t .
He made a promising beginning, however. As V ladim ir P jast
la t e r recorded, the audience th a t lis te n e d to h is "shaman's
voice" a t one o f Vjačeslav Ivanov's Wednesday gatherings in
1905 f e l t th a t "... новый трепет, который определяет, по словам
... Бодлера, рождение нового поэта, нового бога" (Pjast 1929:
93). The appearance in la te 1906 o f h is fir s t poetry c o lle c tio n
J a r ‫ ׳‬was hailed by a l l symbolist poets as a major l i t e r a r y
event. The la te r c o lle c tio n s , which attempted to prolong the
success o f the fir s t through v a ria tio n s on the same images and
devices, e lic it e d in crea sin gly weaker responses. When Goro-
d e c k ij's fifth volume appeared in 1912 Blok noted instead o f
the "shaman's voice" th a t it was a " . . . фальшивый гол ос... боль
шая же часть оставляет равнодушие и скуку" (Blok 1963:178).
Gorodeckij's c r it ic is m , on the other hand, described a reverse
curve. His numerous c o n trib u tio n s to Z o lo to e runo in 1908-1909
were not o r ig in a l or profound and are now seldom quoted, but
his 1913 a r t i c le in A p o l l o n ("Nekotorye te č e n ija v sovremennoj
russkoj p o ê z ii") has remained one o f the best known acmeist
manifestoes.1
Of in te re s t to th is symposium are Gorodeckij's co n trib u -

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106 N i ls Ake N ils s o n

tio n s to the discussion on myth and myth-making th a t took place


in Russia in the years 1906-1909. In an essay e n title d "Id o lo -
tvo rče stvo " in the f i r s t issue o f lo lo to e runo in 1909, he
applied Vjačeslav Ivanov's d is t in c t io n between " r e a l i s t i c "
and " i d e a l i s t i c " symbolism in a review o f recent developments
in the Russian movement, ending the a r t i c l e w ith the declara-
t io n : "... против идолотворчество [r e fe r r in g to " i d e a l is t ic "
symbolism - N.A.N.] крепко стоит мифотворчество." In another
a r t ic le la te r the same year e n title d "Formotvorčestvo," how-
ever (Z o lo to e runo 1909:10), he alluded to m i f o t v o r d e s t v o as a
vogue th a t had come and gone. *
Poets were now looking in new
d ir e c tio n s , focussing, as the t i t l e of the piece suggests, on
questions o f form. "Запнулось мифотворчество, притаилось." As
Gorodeckij saw i t , the time had come to w rite the short h is to ry
of the phenomenon. Who, then, had been the leaders o f t h is trend
in Russian poetry around 1907-1908? S t r i c t l y speaking, he
answered, there were only three: Vjačeslav Ivanov, Aleksej
Remizov, and him self.
It was Ivanov who introduced and discussed the term in
several a r t ic le s (e sp e cia lly "Dva te č e n ija v sovremennom sim-
vollzm e," Z o lo to e runo 1908:4-5). The symbolists regarded the
symbol as a means o f communication through which a higher re -
a lity was suggested to the reader. For Ivanov, myth was another
and higher form o f such symbolic discourse ("Приближение к цели
наиболее полного символического раскрытия действительности есть
мифотворчество," Ivanov 1908:47). The drama, in which the audi-
enee united w ith the author and the actors in an act o f poetic
and r e lig io u s communion (in Ivanov's special understanding of
the concept, see West 1970:83) was a t h ir d and s t i l l higher
form.
In a number o f a r t ic le s and books Ivanov discussed ancient
Greek myths and the Greek tragedies based on them; the Dionysus
myth representing the s u ffe rin g C h rist (and mankind) was an
e s s e n tia l in g re d ien t in his philosophical system. The study o f
myths brought the soul o f modern man in to contact w ith "the dark
roots of the s p ir it" (Ivanov 1904:115)• Since Greek myths and

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S e r g e j G o ro d eckij and H is "J a r r,t 107

tragedies c le a r ly possessed a r e lig io u s s ig n ific a n c e , modern


sym bolist poetry - in accordance w ith Ivanov's formula “ re -
a lio r a in re a lib u s " ‫־‬ should also be " r e lig io u s " ( " to create
myth i s to create b e l ie f , " Ivanov 1909:282).
It was declarations l ik e these th a t fin a lly persuaded Go-
ro d e c k ij - who in his e a r lie r a r t ic le s was stro n g ly influenced
by Ivanov - to distance him self from his master. He pointed out
in "Formotvorčestvo" th a t Ivanov's recent book Po zvezdam seem-
ed to hold the prospect o f becoming a b ib le to a l l myth-makers
but th a t its re lig io u s essence made i t in fa c t useless:

Слишком скоро перевесила в нем религиозная сторона. Раз-


нообразная, воспринимающая деятельность поэта сузилась до
роли связки, соединательного канала. Эпическую сторону
перевесила драматическая, и при том узко- драматическая:
символ стал обрядом, миф ‫ ־‬теургией. Для литературы ре-
эультаты оказались очень плачевными... (Gorodeckij 1909b:54)

The universal Greek myths c o n s titu te d the basis o f Iv a -


nov's system; Russian fo lk lo r e was o f less in te re s t to him. The
propagandist o f Russian myth was instead Aleksej Remizov, the
second name on Gorodeckij's lis t. Remizov's in te r p r e ta tio n of
myth-making i s evident from a l e t t e r to the e d ito r published
in Z o lo to e runo in 1909. The reason fo r the le tte r was e x p la in -
ed in an in tro d u c to ry appeal to the e d ito rs :

Покорно прошу, не откажите напечатать следующее мое разъ-


яснение в ответ на обвинение меня в плагиате, появившееся
в вечернем выпуске Б ир же в ы е В е д о м о с т и от 16 июния 1909,
но. 11, 160, и затем частью перепечатанное, частью сти-
лизованное, частью на все лады пересказанное другими ra å
зетами.

The c r i t i c who had reviewed Remizov's books V o s o l o n * and


L im onar in B irà e v y e vedom osti had observed an often almost
verbatim correspondence w ith recorded and already published
Russian fo lk ta le s . F a ilin g to understand the reason fo r these
s im ila r it ie s , he had accused Remizov o f plagiarism .
Remizov began his answer w ith an explanation o f c e rta in
general p rin c ip le s o f his work. Of the fir s t he says:

Я ставил себе задачей воссоздать народный миф, обломки


которого узнавал в сохранившихся обрядах, играх, колядках.

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108 N i l s Åke N ils s o n

суевериях, приметах, пословицах, загадках, заговорах и ano-


крифах.

This enumeration includes genres o f f o lk lit e r a t u r e th a t


were a ttr a c tin g special a tte n tio n at the tim e. The f i r s t volume
of Is to rija russkoj lite ra tu ry edited by E.V. Aničkov, A.K. Bo-
rozdin and D.N. O v s ja n ik o -K u lik o v s k ij, fo r instance, contained
not only the conventional chapters on f o lk poetry and the b y l i n y ,
but also had sections on genres such as z a g o v o r y i z a k lin a n i ja ,
skazoönye d u d iš č a , duchovnye e tic h i, and the poetry o f r e lig io u s
sectarians.
The volume appeared in 1908 in the midst o f a general
search fo r what Ivanov c a lle d the ” dark ro o ts ” o f Russian c u i-
tu re , its " p r im it iv e , " "a rch a ic" s tr a ta . In a manner th a t was
c h a r a c te r is tic of the pe rio d , t h is h is to r y of Russian l it e r a t u r e
was not e x c lu s iv e ly the work o f learned s p e c ia lis ts but was
based on a c o lla b o ra tio n between scholars and poets. Two poets
were in v ite d to c o n trib u te : Aleksandr Blok, who wrote a chapter
on incantations and s p e lls ( ‫״‬Poēzija zagovorov i z a k lin a n ij ‫) ״‬
and Sergej Gorodeckij, only 22 years old at the tim e, whose
chapter was e n t it le d "Skazoönye č u d iš č a .”
Besides ” re s u rre c tin g a n a tio n a l myth," Remizov pointed out
in h is le tte r th a t he sought to accomplish the more s p e c ific
task o f presenting f o lk lo r e te x ts th a t were " s ig n if ic a n t in
t h e ir own r i g h t . " Such te x ts were included in h is fir s t book
P o s o l o n 9 (1907), in which f o lk ta le s and c h ild r e n 's games were
subjected to what he c a lle d " a r tis tic paraphrase" ( ‫״‬художест-
венный пересказ").
Remizov's r e t e l li n g of f a m ilia r f o lk ta le s played on dual
s ty lis tic references. An o r a l, поп- l i t e r a r y te x t was contrasted
w ith ordinary lite r a r y prose in terms o f s ty le and t o n a lit y .
The a u th o r's personal changes, a d d itio n s and comments provided
fu r th e r d iffe re n ce s from the known and recorded versions of the
ta le , thereby cre a tin g the in te r p la y between " p r im it iv e " and
" lite r a r y " elements, between "archaism" and " k n iž n o s t'" th a t
would become a popular in g re d ie n t o f avant-garde p o e tic s .
In his a r tic le Gorodeckij d id not accept Remizov's approach

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S e r g e j G o ro d e c k ij and H is nJ a r 9109 ‫״‬

to myth-making. While Ivanov's ideas were deeply colored by re -


lig io n , Remizov " . ..в с е время затемняет свое восприятие книж-
ностью, филологией и этнографией." Gorodeckij, however, d id not
regard h im se lf as a proper re p re se n ta tive of the new tre n d,
e it h e r . Some o f the d e f in it io n s in "Formotvorčestvo" in d ic a te
how h is views o f myth-making d iffe r e d from those o f Ivanov and
Remizov, o ffe r in g a t h ir d in te r p r e ta tio n . "M ifotvorčestvo" he
defines as "творчество, непосредственно воспринимающее сущее
(re a lissim a ) и смиренно ознаменовающее его в символах, отнюдь
не затемняя его природы субъективными своими переживаниями и
молниеносными впечатлениями."2 This d e f in it io n r e f le c t s Iv a -
nov's in s is te n c e th a t the a r t i s t renounce h is in d iv id u a lis m
and s e lf - s u f f ic ie n c y and submit to "the o b je c tiv e p r in c ip le of
beauty" (Ivanov 1916:170). This was an im portant element in
Ivanov's " r e a lis t ic symbolism." When Gorodeckij singles out
t h is p a r t ic u la r aspect o f the program, however, he seems to
be moving in another d ir e c tio n . Myth viewed as an o b je c tiv e
form o f the symbolic meanings o f r e a lity p o in ts forward to the
concept o f the "o b je c tiv e c o r r e la tiv e " th a t would soon play an
important ro le in European modernism (c f. T.S. E lio t and h is
use o f m yth). 3
J a r 9, published in la te 1906, is G orodeckij1s most ambi-
tio u s c o n trib u tio n to the trend o f myth-making. It had a l l the
appearances o f belonging to the sym bolist co n te xt, ye t in t r o -
duced something new. The main p a rt o f the c o lle c tio n consisted
of a series o f poems based on o ld Russian mythology. Perun
appeared together w ith S trib o g , J a r il a , Baryba, Udras, Tar,
and other gods some o f those names Gorodeckij invented h im s e lf,
and t h is was a novel approach to fo lk lo r ic and m ythological
m a te ria l. As Ivanov pointed out in a review: "Он ничего вое-
производит исторически точно или этнографически подлинно, но
свободно творит так, как ему дано, ибо иначе он не может..."
(Gorodeckij 1974:561). The method e v id e n tly corresponded to
Ivanov's c a ll fo r new and l i v i n g myths instead o f the usual
s ty liz a tio n s .
Of the genesis o f the book Gorodeckij h im self has said

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110 H ils Åke N ile a o n

th a t w hile working as a tu t o r in Pskov province in the summer


of 1904

Все свободное время я проводил в народе, на свадьбах и


похоронах, в хороводах, в играх детей. Увлекаясь фольк-
лором еще в университете, я жадно впитывал язык, син-
таксис и мелодии народных песен. Отсюда и родилась моя
первая книга Я р ь .

One o f the poems in the c o lle c tio n is e n t it le d "Juchano" (re -


p rin te d w ith the s u b t it le "Na finskom o z e re "). Gorodeckij la te r
explained: ” Имя Юхано, вероятно, слыиал в Куоккала, где часто
бывал" (Gorodeckij 1974:567) . ą
These explanations in d ic a te two s p e c ific sources o f his
in te r e s t in f o lk lo r e and mythology. The f i r s t and fa m ilia r one
is life together w ith the peasants in the countryside. Through-
out the nineteenth century, both in d iv id u a l scholars and o f f i -
c ia l expeditions had v is it e d ru ra l areas in search o f fo lk lo r ic
m a te ria ls . N ik o ła j R e rich 's a rcheological studies induced him
to undertake lengthy excursions along the routes o f the Vikings
to Ladoga, Novgorod, and o ld Latvian towns. Not u n lik e Gorode-
e k ij, Aleksej Remizov came in to c o in c id e n ta l contact w ith gen-
uine Russian f o lk lo r e when he was e x ile d fo r a time to Vologda
province.
Gorodeckij's second explanation, however, contains some-
th in g new and d if f e r e n t . Around the tu rn of the century, the
Karelian isthmus north o f Petersburg became popular among Rus-
sian p a inters and w r ite r s as a place th a t breathed a genuinely
"northern" atmosphere which - combined w ith the then s ig n if -
ic a n t influence o f Scandinavian l it e r a t u r e and a r t - revived
and revised the romantic myth o f the North (see Nilsson 1987).
For Rerich - who liv e d fo r some time in Kuokkala - the
concept o f "the North" represented a symbiosis o f Russian and
Scandinavian landscapes, h is t o r ic a l r e la tio n s , common myths,
and the "northern" n a tio n a l character. Elena Guro's prose and
poetry are permeated w ith the northern atmosphere o f the B a ltic
and the language and f o lk lo r e of the "green-eyed Finns," as
Mandel' štam c a lle d them. Gorodeckij s im ila r ly blends o ld Rus-

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S e r g e j G o ro d e c k ij and Ui8 "J a r ' " 111

sian and Scandinavian mythology (the cycle "T a r," f o r example,


is e v id e n tly based on the myth o f Tor, the Old Norse god o f
lig h t n in g ) . "The hero o f our tim e" is "сын Севера," he declared
(Gorodeckij 1909b:79).
Repin's stud io P enaty was in Kuokkala, and many other
p a in te rs took a special in te r e s t in northern landscapes and the
"northern lig h t,1
' e s ta b lis h in g numerous contacts w ith Finnish
and Scandinavian colleagues. In 1897 D ja g ile v organized an ex-
h ib it io n o f Scandinavian a r t in Petersburg w ith the Swedish
p a in te r Anders Zorn as a sp e cia l in v ite d guest (Abel 1982, Mu-
china 1982). The fo llo w in g year there was an e x h ib itio n o f F in -
nish and Russian p a in te rs . While Zorn's technique impressed
many members o f the M i r ie k u e s tv a group, the canvases o f the
Finnish m ythological school (as w e ll as the archaic landscapes
of the Swede K a rl Nordström and the so c a lle d Varberg group)
gave impulses to p a in te rs lik e N ik o ła j Rerich.
An in te r e s tin g example here is R e rich 's "Id o ly " (1901).
This p a in tin g o f pagan r i t e s represented something new in the
treatment o f old Russian m o tifs . It can be regarded as i n i t i a t -
ing the trend o f "архаическое сознание" (see V o lo š in 's a r t ic le
"Archaizm v russkoj ž iv o p is i, " A p o llo n 1909:1, Markov 1968;
Nilsson 1985, Hansen-Löve 1987) th a t fig u re d prominently in
Russian c u ltu r a l life and culminated in S tra v in s k ij ' s "R ites
of Spring" ( f o r which Rerich designed the scenery).
"Чтобы передать сущность эпохи," said D ja g ile v , "надо трак-
товать ее так, как это сделали бы ее современники, только таким
способом можно передать тонкий аромат и трудновыразиьый харак-
тер времени" (Muchina 1984:45). This statement t y p i f i e s the new
trend. Rerich c le a r ly chooses h is co lo rs in " Id o ly " to produce
an impression o f genuineness (which was something d if f e r e n t
from the realism o f the p e r e d v i ž n i k i ) . As one c r i t i c remarked:

Серые и серебристые оттенки потемневшего дерева сочетаются


с глубокой синевой реки, с насыщенной зеленью холмов, с
желтоватыми конскими черепами на бревнах тына, с белыми
и голубоватыми камнями. Строгость композиции и цветовой
гармонии соответствует суровой природе Севера. Настроение
картины определяется "языческим" восприятием природы и
древней жизни. (Rerich 1978:64)

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112 N i l s Ake N ils s o n

There is an obvious connection between R erich's "Id o ly "


and J a r * (one o f the poems i s moreover dedicated to R erich).
The choice o f co lo rs is important in J a r 9 as w e ll, and r e fle c ts
G orodeckij's special in te r p r e ta tio n of Russian paganism. The
most apparent d iffe re n c e is in the use o f red. It is absent in
" I d o ly , " which instead conveys the w ild , p r im itiv e paganism
of the North through co lo rs l ik e gray (stone) and brown (wood,
fe lls ) . In J a r * red ( 1,красный") and i t s nuances ("алый," "кро-
вавый," "румяный," "русый") is the c o lo r of the bloody s a c ri-
fic e s to the god J a r ila ("Покраснела трава, Заалелся о тко с ,/ и
у ног/ В красных пятнах/ Лежит/ Новый бог") and o f J a r ila him-
s e lf ("Волосом русый/ Щеки а л е е / Морковного с о к а " ) .5
Red is furthermore the c o lo r of Dionysus ("Реет, веет,
стяг румяный,/ Диониэом осиянный"); in G orodeckij's in te rp re ta -
tio n of the old Russian r i t e s , northern and southern myths
blend, Perun occurring side by side w ith the Norse Tor and the
Greek Dionysus. Red was a t th a t time also the c o lo r o f the new
a rt of "Les Fauves," whose p a in tin g s were now being introduced
in Moscow and Petersburg, and o f the v i t a l i s t r e v o lt in e a rly
German expressionism ("Die Farbe Rot, die das Feuer c h a ra k te ri-
s ie r t, is t zugleich das kennzeichnende Epitheton des Lebens,"
Martens 1971:49).
Most c r i t i c s took note o f the expressive and "w ild "
t o n a lit ie s o f J a r *. Ivanov spoke o f а "подлинная динамика на-
родной речи" (Gorodeckij 1974:12). "Dynamism" and "energy" were
e s s e n tia l p rin c ip le s of h is philosophy o f a r t . He was fo llo w in g
Humboldt's notion o f language as a c t i v i t y {e n e rg e ia ) and "the
very form in which l i f e of the s p ir it is re a liz e d " (Bruns 1975:
65). As usual, Gorodeckij developed Ivanov's ideas in h is own
way. His J a r ila poems can be read as examples o f "energetic
speech" in Ivanov's sense th a t c o n tra s t w ith the " s t a t ic " poet-
ry o f " id e a lis t ic symbolism." But they can also be regarded as
p re lim in a ry etudes fo r subsequent avant-garde experiments such
as Kručenych's "Dyr bul šč y l" and Chlebnikov's " Z a k lja tie sme-
chom."e

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S e r g e j G o ro d e c k ij and H is nJ a r 113

The most ty p ic a l examples are the poems about J a r il a . Not


the usual paraphrases using the rhythms o f the b y l i n a o r other
f a m ilia r epic songs, they incorporate s w if t l y changing short
lin e s w ith fre e rhythmic p a tte rn s th a t climax in the incanta-
tio n of the pagan p r ie s ts . The atmosphere o f the p r im itiv e
r ite is evoked by a paranomastic play on the name o f the god
and a blend o f Old Russian forms and f o l k l o r i c formulae:

Ярила, Ярила,
Высокой Ярила,
Твои №.
Яри нас, яри нас
Очима.
Конь в поле ярится.
Уж князь заярится,
Прискаче.
Прискаче, пойме
Любую.
Ярила, Ярила,
Ярую!
Ярила, Ярила,
Твоя яі
Яри мя, яри мя,
Очима
сверкая 1

If the main purpose o f the myths in J a r ‫ ״‬was to serve as


an "o b je c tiv e c o r r e la t iv e , " the question a rise s what the J a r ila
poems were supposed to represent. Gorodeckij has h im self par-
tia lly answered t h is question. In h is 1909 a r t i c l e "B liž a jš a ja
zadača russkoj lit e r a t u r y " he says th a t most o f J a r 9 was w r i t -
ten under the in flu e n ce of the "re v o lu tio n a ry energy" released
in 1905-1906:

Я совершенно был в стороне от политики, но те интер-


психологические волны, которые соединали тогда всех
в одно, доходили до меня во всей полноте и колебали
меня как волосок барометра. Я жил одной волной с на-
родом и его землей.

G orodeckij's explanation is to some extent colored by his


new views, which were influenced by Andrej B e ly j's P e p e l' and
B lok's slogan "мужественность и воля." In a more general sense
J a r 1 re fle c te d the s p e c ific atmosphere o f Russian and European
poetry a f t e r the tu rn o f the century. These were years o f myth-

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‫יי י‬ N i l s Åke N ile e o n

making and neopaganism, the Nietzschean c u l t o f Dionysus and the


sun (c f. Ivanov's Cor A r d e n s , B e ly j's Z o lo to v la z u ri , B a l'‫־‬
mont's Budem как s o ln o e ) , o f bold "Argonautism" and the fresh
"pine scent" of Scandinavian l i t e r a t u r e , of eschatological and
r e v it a liz in g expectations. Like the "needle o f a barometer,"
as he a p tly describes h im s e lf, the young receptive poet reg-
is te re d some o f these important elements in the lit e r a r y e li-
mate.
The book, however, consists o f two p a rts . The f i r s t . J a r *,
was followed by a second c a lle d T e m 1 . A m ythical and v i t a l i s t i c
world was contrasted w ith p ic tu re s of a sad and gloomy r e a li t y
re p le te w ith to p o i of the u rb a n is t poetry o f the period such
as "слезы горевые," "желтых листьев вялый б е г," p r o s titu te s ,
and "лицо опухшее от пянства и все еще несытый рот." Such а
d u a lis t ic s tru c tu re was ty p ic a l o f Russian symbolist poetry,
seeing the world in warring categories o f good and e v i l , lig h t
and dark, movement and im m o b ility .
These s tru c tu re s were, however, not u n fa m ilia r to European
modernist poetry e ith e r . In fa c t , there is a c e rta in p a r a lle l-
ism between G orodeckij's J a r ' and T.S. E lio t 's famous work o f
European modernism T h e Waste Land, which appeared 15 years
la t e r . A e s th e tic a lly and as an in flu e n c e , of course, E l i o t 's
poem was much g re a te r. Yet we should not underestimate the
s ig n ific a n c e of J a r ‫ ׳‬a t the time i t was w r itt e n , as a tr a n s i-
tio n a l work b rid g in g the two p o e tic systems o f symbolism and
modernism. In its sym bolist context it was perceived as some-
thing new and fre s h , leading poets l ik e Blok to reconsider
c e rta in p o e tic p r in c ip le s . But it was also a fa v o r ite book of
the young Chlebnikov.
In its very s tru c tu re and use o f myths J a r ' had something
in common w ith The W aste Land. There is a s im ila r opposition
in both works between modern s o c ie ty , the emptiness and gloom
of the big c ity , on the one hand, and what Ivanov c a lle d "the
dark roots o f being" and o ld fe r tility myths, on the other.
The J a r i l a poems are - as The W aste Land - fu ll of images o f
fe r tility and b ir t h th a t p o in t toward a new Golden Age and the

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S e r g e j G o ro d e c k ij and Hia ,,J a r " ‫׳‬ 115

regeneration o f modern man. Against a s im ila r background o f


war and re v o lu tio n , both works, each in its own way, r e fle c t
a discussion o f mfcdern c u ltu re and the r o le o f myth in th a t
discussion.

NOTES

1 For G orodeckij's biography, see S. M a š in s k ij, "Sergej Goro-


d e c k ij, " in : S. Gorodeckij, S t i c h o t v o r e n i j a i p o è m y , Leningrad
1974, "Moj p u t '" , in : S o v e t a k i e p i a a t e l i . A v to b io g r a fii v
dvuch tomach. T. 1, Moskva 1959.
2 In a l e t t e r to Blok 1906 Gorodeckij proposed another, simple
d e f in it io n : "Миф ‫ ־‬это наибольшая ложь. А большая ложь ‫ ־‬это
существенный призрак той большой, здоровой поэзии, который так
теперь хочется... Выдукывай, сочиняй, и это будет самая н у ж н а я
правда" (Gorodeckij 1974:8). On B lo k 's attempts to d efine myth
in 1902 (...м ечта о странном - мечта вселенская и мечта личная,
так сказать - менее и более субъективная [но никогда не объек‫־‬
т и в н а я ...], see Blok, S o b r a n i e e o č i n e n i j , T. 7, p. 48 f . ) .
3 When Remizov speaks o f "re s u rre c tin g the myth o f the people"
he seems to be r e fe r r in g to a complete n a tio n a l myth th a t ex‫־‬
is te d in p r e h is to r ic a l times but has survived o n ly in fra g -
ments. This romantic idea was behind the com pilation o f the
Finnish n a tio n a l e p ic, the K a l e v a l a , published by E lia s Lönn‫־‬
ro th in 1835 and 1849.
* In the context o f Russian symbolism a myth could be seen as
"a metonymical symbol" compared to the common "metaphorical
symbol", see Z.G. Mine, "0 nekotorych ,neom ifologičeskich‫״‬
tekstach v tvorČestve russkich s im v o lis to v ," B l o k o v a k i j a b o r -
n i k I I I , Ućenye za p iski Tartuskogo gos. u n iv. Vyp. 459, Tartu
1979. - Cf. a common modern d e f in it io n o f myth: "Myths are the
instruments by which we c o n tin u a lly stru g g le to make our ex‫־‬
perience i n t e l l i g i b l e to ourselves. A myth is a la rg e , con‫־‬
t r o l l i n g image th a t gives p h ilo s o p h ic a l meaning to the fa c ts
o f ordin ary l i f e " (M. Schorer, "The Necessity o f Myth," in :
H.A. Murray [ e d . ] . M y t h a n d M y t h - M a k i n g , New York, 1960, p.
355) .
5 The poem "Valkalanda" contains several invented names. Among
these, "ozero Ujuchta" and "gorod J u c h ta a ri" c le a r ly have a
Finnish rin g .
e The f i r s t volume o f G orodeckij' s S o b r a n i e a t i c h o v was p u b lis h ‫־‬
ed in 1910 ("B 1910 г . Городеский объеденил сборники Я р ь и
П е р у н в первый том С о б р а н и я с т и х о в , дав ему общий загаловок
Я р ь . Состав тома был пополнен большим числом [63] новых стихо‫־‬
творений, часть из которых печаталась здесь впервые", Gorode‫־‬
e k ij 1974:561). The 1974 e d itio n o f J a r 1 in S t i c h o t v o r e n i j a i

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N ils Åke N ils s o n

poemy corresponds to the S o b r a n i e s t i c h o v o f 1910, not to the


o r ig in a l te x t . The p o r t r a it o f J a r ila quoted above is frcm the
poem "Rožestvo J a r ily " in the 1910 e d itio n .
7 In his a r t i c l e "B liž a jš a ja zadača russkoj l i t e r a t u r y " { Z o l o t o e
runo 1909:4), Gorodeckij proposed a new poetic method which,
under the influence o f the German lin g u is t Wundt, he c a lle d
"energetism ": "Представьте, что весь театр стал вдруг на ноги.
Или волоси у кого-нибудь встали дыбом на голове. Или же еж
ощетинился. Вот таков язык Иванова и Ремизова. Каждое слово
стоит дыбом. Принцип Энергетизма не допускает нечего лежачего,
невидного, плоского". This p r in c ip le is connected w ith concepts
l ik e "ощутимость языка" or "the p a lp a b ility o f signs" in avant-
garde p o e tics, see N.A. Nilsson, "Futurism, P rim itiv is m and the
Avant-garde," R u s s i a n L i t e r a t u r e , Vol. V I II- V , Amsterdam 1980.
8 An in te re s tin g p a r a lle l to Gorodeckij‫ י‬s J a r * is the French
п ё о р а д а п і в т е , a small group o f poets who in 1907-09 published
t h e i r poetry in the jo u rn a l L e s B a n d e a u x d ' o r . The best known
members o f t h is group were Paul Castiaux and Théo Varl e t . An
influence o f Nietzsche was obvious on these poets who c a lle d
themselves "Les Zarathoustres des futures légendes" and "païens
nouveaux des c la rté s é te rn e lle s " ( L e s B a n d e a u x d ro r , 1908,
Fase. V, p. 10) and opposed a free fa u n e -like l i f e under the
Mediterranean sun "aux b ro u illa rd s e t aux p lu ie s du Nord, à la
b ê tise épaisse des démocraties s a t is f a it e s , â la v ie moderne
e n tiè re , dans sa carcasse d'usines e t de v i l l e s , dans son con-
tenu ch ré tie n " ( L e s B a n d e a u x d f o r , 1911:1, 26).

RE F E R E NCE S

ABEL, U.
1982 "Anders Zorn's T rip to Russia in 1897," Nationalmuseum
B u lle tin , Stockholm, Vol. 6, No. 1.
BLOK, A.
1960-63 Sobranie sočin enij v 8 tomach, M.-L.
BRUNS, G.L.
1975 Modern Poetry and the Idea o f Language: a C r itic a l and
H is to ric a l Study, New Haven.
GORODECKIJ, S.
1909a "Id o lo tv o rč e s tv o ", Zolotoe runo 1909:1.
1909b " B liž a jš a ja zadača russkoj l i t e r a t u r y , " Zolotoe runo
1909:4.
1909c "Formotvorčestvo," Zolotoe runo 1909:10.
1974 S tic h o tv o re n ija i poêmy, L.
HANSEN-LÖVE, A.A.
1987 "Symbolismus und Futurismus in der russischen Moder-
ne". - In : N ils A. Nilsson (e d .). The S la v ic L ite r a -
tures and Modernism, Stockholm.

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S e r g e j G o ro d eckij and Hie "J a r 9,9 117

IVANOV, V.
1904 " E llin s k a ja r e l i ģ i j a stradajuščego boga1‫״‬, Novyj put*
1904:1 .
1908 "Dva te č e n ija v sovremennom simvolizme” (okončanie),
Zolotoe runo 1908:5.
1909 Po zvezdam, S. Peterburg.
MARKOV, V.
1968 Russian Futurism. A H is to ry , Berkeley and Los Angeles.
MARTENS, G.
1971 V italism us und Expressionismus, S tu ttg a rt.
MUCHINA, T .D.
1982 ” The Appraisal o f Anders Zorn by Russian A r t i s t s ” ,
Nationalmuseum B u lle tin , Stockholm, Vol. 6, No. 1.
1984 Russko-skandinavskie chudožestvennye s v ja z i" XIX ‫־‬
načala XX v . , M.
NILSSON, N.Å.
1985 "Pervobytnost1" ‫" ־‬P rim itiv iz m ” , Russian L ite ra tu re
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1987 ” The Myth o f the North: the Modernist Response” ,
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PJAST, V.
1929 V s tre Č i, M.
RERICH, N.K.
1978 ž iz n ' i tvorčestvo. Sbornik s t a t e j , M.
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Willem G. WESTSTEIJN (Amsterdam)

D IE MYTHISIERUNG DES LYRISCHEN ICH IN DER

POESIE VELIM IR CHLEBNIKOVS

Wir wollen m it zwei theoretischen Voraussetzungen zu dem Thema


beginnen. Erstere is t typo log isch und b e t r i f f t die Funktion und
die Rolle des ly ris c h e n Ich im poetischen Text. Die zweite is t,
so könnte man sagen, diachronisch und bezieht sich auf die li-
te ra tu rg e s c h ic h tlic h e Entwicklung, insbesondere auf die gradu-
e ile n Änderungen in der Weise, wie in den verschiedenen S trö -
mungen die W ir k lic h k e it und auch das Ich des D ichters in den
poetischen Texten d a r g e s te llt w ird .
Ich möchte mich etwas a u s fü h rlic h e r m it der Problematik
des lyrisch e n Ich oder ly ris c h e n Subjekts1 beschäftigen, e r-
stens w e il diese Problematik bish e r noch n ic h t g e lö st worden
is t - denn im Gegensatz zu den eingehend d is k u tie rte n K ategori-
en des Erzählers, im p liz ite n Autors usw. im n a rra tiv e n T ext2
hat die Kategorie des ly ris c h e n Subjekts noch kaum umfassende
theoretische Behandlung e rh a lte n -, zweitens w e il gerade in der
Poesie Chlebnikovs das ly ris c h e Ich von sehr ve rä n d e rlich e r Na-
tu r is t und zudem schwierig zu fassen, so daß eine Verstärkung
des theoretischen Fundaments sich fü r ein besseres Verständnis
seiner poetischen Texte n ü tz lic h erweisen kann.
In der Diskussion über das ly ris c h e Ich lassen sich fo lg e n-
de v ie r Standpunkte unterscheiden: entweder geht man vom Dich-
te r aus und b e tra c h te t das Gedicht a ls eine d ir e k te , p e rs ö n li-
che Aussage des D ichte rs, oder man r ic h t e t die Aufmerksamkeit
auf den Leser und s t e l l t in bezug auf das ly ris c h e Ich Spekula-
tionen über die L e s e r Id e n tifik a tio n an. In letzterem F a ll sind

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120 W ille m G. W e s ts te ijn

n ic h t nur Autor und ly ris c h e s Ic h , sondern Autor, ly ris c h e s Ich


u n d Leser id e n tis c h : der Leser weiß immer im voraus, wer
s p r ic h t, und i d e n t i f i z i e r t sich m it dem lyrisch e n Ich und dem
Autor. In einer d r it t e n Auffassung handelt es sich um die Dis-
s o z ia tio n des Autors und des ly ris c h e n Ich oder des 'e m p iri-
sehen‫ ״‬und 'poetischen' Subjekts, die in ih r e r Bestätigung der
N ic h t - I d e n t it ä t von Autor und lyrischem Ich eine Zweiteilung
a ufw eist. S c h lie ß lic h g ib t es Versuche, die ganze Kommunikati-
o n ss tru ktu r in der L y r ik vorzuführen und die Rolle des l y r i -
sehen Ich in bezug auf a l le in dieser S tru k tu r b e te ilig te n Ka-
tegorien fe s tz u s te lle n .
Ein w ic h tig e r V e rtre te r des ersten Standpunkts i s t der
amerikanisch-englische D ichter T.S. E lio t . In seinem Essay The
Three V oices o f P o e try (1953) behauptet e r, daß der Dichter sich
auf d r e ie r le i Weise ausdrücken, d .h . m it d re i verschiedenen
Stimmen sprechen kann:

The f i r s t voice i s the voice o f the poet ta lk in g to him-


s e lf - or to nobody. The second is the voice o f the poet
adressing an audience, whether large or small. The t h ir d
i s the voice o f the poet when he attempts to create a
dramatic character speaking in verse? when he is saying,
not what he would say in h is own person, but only what he
can say w ith in the l im i t s o f one imaginary character ad-
dressing another imaginary character. ( E lio t 1971:09)

In letzterem F a ll id e n tifiz ie r t der Dichter sich m it der Per-


son, seine Stimme ändert sich n ic h t w esentlich, w ird jedoch von
der I d e n t it ä t der in das Gedicht eingeführten Person beschränkt.
Diese Person hat die Funktion e in e r Maske, die der D ichter auf-
s e tz t, wohinter jedoch seine eigene Physionomie nach wie vor
s ic h tb a r b le ib t .
Daß E l i o t nur die Perspektive des Dichters in Betracht
z ie h t, braucht uns n ic h t zu wundern. E ig e n tlic h beschreibt er
ja seine eigene Entwicklung, die eines lyrisch e n D ich te rs, der
aus und fü r sich s e lb s t s p r ic h t, die Entwicklung in Richtung
auf einen D ichter des dramatischen Monologs und s c h lie ß lic h zu
einem Bühnendichter. Eine ähnliche Entwicklung s ie h t man bei
dem österreichischen D ichter Hugo von Hofmannsthal.3
Die Auffassung E lio t s , daß es immer der Dichter se lb st

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Das l y r i s c h e I c h b e i C h le b n ik o v 121

s e i, der s p r ic h t, entweder a ls , I c h 1 oder aber verborgen h in te r


e in e r Maske, w ird von v ie le n D ichtern und Forschern g e t e i l t .
Für G o ttfrie d Benn i s t das ly ris c h e Ich absolut m it dem D ichter
s e lb s t id e n tis c h , wie zum B e is p ie l aus seinem Aufsatz P r o b l e m e
der L y rik (1951) hervorgeht. Auch die e in flu ß re ic h e Studie Käte
Hamburgers D i e L o g ik der D ic h tu n g (1957) v e rs te h t das ly ris c h e
Gedicht a ls unm ittelbare Aussage des m it dem Autor identischen
ly ris c h e n Ic h . In ih r e r Auseinandersetzung m it der ,o b je k tiv e n 1
jeden Biographismus abweisenden L y rik th e o rie sagt s ie unter an-
derem:

Dies aber bedeutet n ic h ts anderes, a ls daß es kein exaktes


weder logisches noch ästhe tisch e s, weder ein in ternes noch
ein externes K rite riu m g ib t , daß uns darüber Aufschluß gä-
be, ob w ir das Aussagesubjekt des ly ris c h e n Gedichtes m it
dem D ichter id e n t if iz ie r e n können oder n ic h t. Wir haben
weder die M öglichkeit und damit das Recht zu behaupten,
daß der D ichter die Aussage des Gedichtes ‫ ־‬g le ic h g ü ltig
ob diese in der Ich-Form e r f o l g t oder n ic h t - a ls die s e i-
nes Erlebens gemeint habe, noch zu behaupten, daß er n ic h t
, sich selbst* meine. [ . . . ] Darum i s t das ly ris c h e Aussage-
subjekt id e n tis c h m it dem D ich te r [ . . . ] (Hamburger 1957:
184-186)

Was Käte Hamburger und die anderen V e rtr e te r d ieser Rieh-


tung meines Erachtens n ic h t berücksichtigen, is t, daß das l y r i -
sehe Subjekt n ic h t nur Aussagesubjekt is t, n ic h t nur eine spre-
chende Instanz oder, wie E l i o t sagt, eine Stimme, a v o ic e , son-
dern auch eine Anwesenheit im Gedicht m it e in e r bestimmten
I d e n t it ä t , die sich a llm ä h lic h im Laufe des Gedichts b ild e t .
Die V e rte id ig e r der L e s e r id e n tifik a tio n , wie in der deut-
sehen L ite ra tu rw isse n sch a ft zum B e is p ie l Herbert Lehnert (S t r u k
tu r und S p ra c h m a g ie , 1966) b ie te n wenig Neues h ie rz u . Für Leh-
n e rt bezeichnet das ly ris c h e Ich die I d e n t it ä t von Autor und
Leser:

Das ly ris c h e Ich i s t die E in h e it von Sprecher und Hörer


oder auch ein Selbstgespräch, was s t r u k t u r e ll auf das g le i
che h in a u s lä u ft. (Lehnert 1966:10)

Auch h ie r w ird das ly ris c h e Subjekt a ls Ursprung des Sprechens


aufgefaßt und außerdem a ls e in d e u tig e r, feststehender Ursprung
überhaupt.

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122 W illem G• W e s ts te ijn

Die Praxis der modernen Dichtung m it ihren Maskengedichten


und m it dem häufig ausgedrückten Zweifel an der M öglichkeit e i-
ner e in h e itlic h e n Selbstdarstellung hat manchem L ite ra tu rw is -
senschaftler die Probleme, die m it dem B e g r iff des lyrisch en Ich
verbunden sind, bewußt gemacht. In Deutschland hat schon 1910
Margarete Susman ( Das Wesen d e r modernen deutschen L y r i k ) sich gegen
die Auffassung g e ric h te t, daß das Ich des Gedichts m it dem in -
d iv id u e lle n Ich des Dichters gleichzusetzen s e i. Susman sagt:

[ . . . ] das ly ris c h e Ich [ i s t ] eine Form [ . . . ] , die der Dich-


te r aus seinem gegebenen Ich e rs c h a fft. [ . . . ] Es i s t kein
gegebenes, sondern ein erschaffenes Ic h , das, wie das
Kunstwerk s e lb s t, v ö l l i g unabhängig von seinen in d iv id u e l-
len oder allgemeinen Inhalten seinen re in formalen Charak-
te r bewahrt. Der Dichter fin d e t dieses Ich n ic h t in sich
vor, sondern ähnlich den redenden und handelnden Gestalten
eines Dramas muß er auch das ly ris c h e Ich e rs t aus dem ge-
gebenen erschaffen. (Susman 1910:16-18)

Die Auffassung der Zweiheit von empirischem und lyrischem


Ich fin d e t man heute in v ie le n Studien über die moderne Poesie.
In der angelsächsischen L i t e r a t u r k r i t i k w ird o f t zur Klärung
des Ich in dem poetischen Text der von Ezra Pound eingeführte
B e g r iff der p e r s o n a gebraucht, z.B. in Michael Hamburgers grund-
legendem Buch über die Poesie des zwanzigsten Jahrhunderts The
T ru th o f P o e try (1969).** Auch in der zeitgenössischen deutschen
L ite ra tu rth e o rie wird der grundsätzliche Unterschied zwischen
lyrischem Ich und Autor betont:

Für den Leser braucht der Autor, der der reale Sprecher
(im lin g u is tis c h e n Sinne) i s t , in keiner Weise Bezugsgrös-
se des deiktischen Ich zu sein: Gedichte werden gelesen,
ohne daß der Leser immer einen Bezug zum Autor h e r s t e l l t .
Am deutlichsten wird das in anonymen Gedichten, bei denen
das Wort , ic h ' keineswegs weniger v e rstä n d lich i s t a ls bei
einem Gedicht m it bekanntem Autor. Die L y rik t e i l t also
m it der dichterischen Prosa die Loslösung vom Bezugsfeld
des Autors, aber die Konstituierung eines f ik t iv e n Bezugs-
feldes im H in b lick auf die Personendeixis w i l l n ic h t e in -
deutig gelingen. Der ,a k tu e lle Bezug', den (mit dem Lingu-
is te n E. Benveniste zu sprechen) das Wort 'ic h * je w e ils
b e s itz t, weist bei fier L y rik ins Leere, w e il das Gedicht
im Augenblick des Verstehens den Bezug zum Augenblick der
Entstehung verloren haben und trotzdem adäquat verstanden
werden kann. [ . . . ] Für das Gedichtverständnis i s t der Be-
zug auf den Autor n ic h t k o n s t it u t iv , sondern b le ib t eine

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Das ly r is c h e I c h h e i C h leb n iko v 123

bloß fa k u lta tiv e M ö glich ke it, und eben darin weist sich
das Gedicht als poetisches Gebilde aus. (Spinner 1975:15‫־‬
16)

Daß d iese r Unterschied noch immer betont werden muß, z e ig t


die H artnäckigkeit der t r a d it io n e lle n , aus der Romantik stammen-
den Auffassung vom D ichter, der sich im lyrisch en Gedicht a u s -
s p r i c h t und daher v ö l l i g m it dem lyrisch e n Subjekt iden-
tis c h is t. 5
Für die Forscher, die die ganze Kommunikationsstruktur des
ly ris c h e n Gedichts untersuchen, genügt diese Zweiteilung von
Autor und lyrischem Subjekt aber n ic h t. In einem k ü rz lic h e r-
schienenen Aufsatz behauptet Klaus D ie te r Seemann, daß, auch
wenn man die Zweiteilung berücksichtige, man meist m it einer
Zweiteilung argumentiere, *,die unter den B e g riffe n des sog.
Rollengedichts und Maskengedichts noch dazu a ls Ausnahme von
einer v e rm e in tlich regulären I d e n t it ä t b e trachtet w ird" (1984:
534), und e r w i r f t den Theoretikern vor, daß sie sich noch im-
mer zu wenig des fik tio n a le n Charakters des lyrischen Sprechens
bewußt seien.
Seemann schlägt ein Kommunikationsschema vor, um s p e z ie ll
den Status der L y rik a ls f ik t io n a le r Gattung zu klären. Von den
Theorien polnischer und sowjetischer S tru k tu ra lis te n , insbeson-
dere Okopierf-Sławińska, J u r ij Levin® und Korman, ausgehend, ent-
w ir ft er ein Schema m it fü n f Kommunikationsebenen, d re i inn e r-
te x tlic h e n und zwei außertextlichen. Dieses Schema unterschei-
det sich n ic h t wesentlich von dem, das fü r die Analyse der Er-
z ä h llit e r a t u r benutzt w ird. Zwar f e h lt im Gedicht häufig die
unterste Schicht, der Dialog der im Gedicht d a rg e ste llte n Figu-
ren, wenn die Figuren eben n ic h t anwesend sind. In der L y rik
aber, sagt Seemann, is t der A n te il erzählender oder dramatischer
Gedichte b e trä c h tlic h , so daß das fü n fg lie d rig e Schema auch auf
poetische Texte angewandt werden muß.
Wichtig fü r die genauere Bestimmung des lyrisch e n Ich
scheint mir in Seemanns Schema insbesondere die Abgrenzung der
Kategorien ly ris c h e s Ich, id e a le r Autor (beide im Text) und
a u ß e rte xtlich e r konkreter Autor. Der s tr u k tu r e lle Rahmen b ie te t

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124 W illem G. W e s ts te ijn

auch die M öglichkeit fü r die Einführung eines verstehenden, in -


terpretierenden Lesers, der bei der Lektüre des poetischen Tex-
tes die I d e n t it ä t des lyrische n Ich fe s tz u s te lle n versucht.
Wie kommt diese F eststellung zustande? Spinner (1975:17f.)
sagt hierzu:

Darin besteht der fik t io n a le Charakter des lyris ch e n Ich :


wie im Theater ein f i k t i v e r Bühnenraum aufgebaut w ird und
im Roman ein eigenes f ik t iv e s Bezugssystem, so tre te n auch
in der L y rik die Zusammenhänge m it der realen Kommunikati-
o nssitu atio n zurück zugunsten der poetischen E ig e n stru ktu r.
Zwar kann ly ris c h e Aussage auf ta ts ä c h lic h Geschehenes,
Erlebtes zurückzuführen sein, aber dieser Bezug w ird a u f-
gehoben in der ä s th e tis c h -fik tio n a le n S tru k tu r des Ge-
d ic h ts , so daB die Bedeutung der Sprache sich w esentlich
am Eigenzusammenhang des dichterischen Textes a u s ric h te t.
Das Ich d e f in ie r t sich durch die Aussagen, die über es im
Text gemacht sind: es wird z.B. in einem Liebesgedicht als
liebendes verstanden. Damit verw eist die Deixis aber immer
noch n ic h t auf eine faßbare Person: das Ich i s t gleichsam
das abstrakte Etwas, dem die Eigenschaften, Handlungen,
Erfahrungen des Gedichts zugeschrieben sind. Man kann das
ly ris c h e Ich deswegen a ls L e e r d e i x i s bezeich-
nen; den B e g r iff form uliere ich in b e g r if f lic h e r Anlehnung
an die 1L e e rs te lle n ', von denen W. Is e r im H in b lic k auf
die lite r a r is c h e Prosa s p ric h t t . . . ] 7

Spinners Konzeption der Leerdeixis is t k ü rz lic h von dem


holländischen L i t e r a t u r k r it ik e r Ton Naaijkens ergänzt worden.
Naaijkens w i r f t Spinner vor, daß dieser nur "eine Strukturana-
lyse des lyrisch e n Ich macht und keine In te r p r e ta tio n , d ie be-
sagt, was an in h a lt lic h e r F ü lle f ü r d ie L e e rd e ix is im G e d ic h t h e re itg e -
s t e l l t i s t und was vom L e s e r z u s ä tz lic h e rg ä n z t und r e a lis ie r t w ird * 1
(1986:28). Spinner, so Naaijkens, geht am e ig e n tlich e n Text
vorbei und r e a l i s i e r t nur die S tru k tu r. Naaijkens (1986:33)
s in n v o lle r Vorschlag i s t , das ly ris c h e Subjekt n ic h t "von der
In te rp re ta tio n abzuschließen und es zu verstehen a ls e in Eie-
ment, das e n ts te h t":

Das ly ris c h e Subjekt ste h t in dieser Auffassung n ic h t


fe s t, sondern muß e ra rb e ite t werden. Der Leser muß den
Prozeß des sich gestaltenden Subjekts nachvollziehen, um
es zu verstehen. Die sprechende Instanz i s t n ic h t schon
am Anfang, wenn es z.B. , ic h ' sagt, i d e n t i f i z i e r t , sondern
wird als ein sich im Text erarbeitendes Element akzep-
tie r t.

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Das l y r i s c h e Ic h b e i C hlebnikov 25‫י‬

Die Konsequenzen dieser Auffassung liegen auf der Hand: die I-


d e n titä t des lyrisch e n Ich kann nur in der Analyse und I n t e r ‫־‬
p re ta tio n des einzelnen Gedichts f e s t g e s t e llt werden. Gerade
fü r die moderne Poesie, in der es o f t kein e in h e itlic h e s , e in -
deutig g e sta lte te s Subjekt g ib t , is t es w ic h tig "je w e ils , an
jedem einzelnen Gedicht, nachzuweisen, wie der Dichter das
Subjekt aus dem Labyrinth der K om pliziertheiten herausführt"
(Naaijkens 1986:34). Auf diese Weise wird wieder eine Brücke
zwischen lyrischem Ich und Autor geschlagen, wobei aber die
V ie lh e it der Erscheinungen des lyrisch e n Ich , seine o f t postu-
lie r te U n e in h e itlic h k e it entweder in einem Text oder in mehre-
ren Texten eines Dichters - Naaijkens s p ric h t von einem , p lu ra -
lis ie r te n Ic h ' - n ic h t aus dem Auge verloren w ird.

Die Problematik des p lu r a lis ie r t e n Ich fü h r t mich zu der


zweiten Voraussetzung, die die Änderungen in der Wiedergabe der
W ir k lic h k e it und des Ich des Dichters im Laufe der Entwicklung
der L ite r a tu r b e tr ifft. Ich erwähne h ie r kurz einige fü r die
moderne L y rik wesentliche Punkte. Es g ib t meines Erachtens eine
Zäsur zwischen der modernen L ite r a tu r , s e it den französischen
Symbolisten, und der L ite r a tu r frü h e re r Jahrhunderte. Diese Zä-
sur t r i t t vor allem in der Auffassung und Wiedergabe der Wirk-
lic h k e i t zutage.
In der prä-modernen L ite r a tu r wird die W irk lic h k e it als
ein Gegebenes b e tra c h te t, das man entweder nachahmen kann, wie
z.B. im Realismus, oder benützen, indem man i h r die Bausteine
entnimmt, um eine imaginäre Dichtungswelt zusammenzusetzen, wie
z.B. im Barock oder Manierismus. Die reale Welt i s t aber immer
e in h e itlic h , ungebrochen. Jeweils wird auf die W ir k lic h k e it Be-
zug genommen, in den 'kla ssisch e n ' Epochen m itte ls einer o ffe n -
baren Mimesis, in den 'n ic h t-k la s s is c h e n ' Perioden m itte ls e i-
ner klaren Bezogenheit der Dichtungswelt auf die reale Welt.
Diese Bezogenheit z e ig t sich unter anderem in der Dominanz des
allegorischen Charakters der in diesen Perioden geschriebenen
L ite r a tu r .
Für die moderne L ite r a tu r und insbesondere fü r die moder-

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**26 W illem G. W e s ts te ijn

ne L y rik c h a ra k te ris tis c h is t die Zerlegung, Deformierung, Zer-


s p litte ru n g der Welt, die eine Dichtungswelt e r g ib t, die von
der realen Welt getrennt i s t und n ic h t, je d e n fa lls n ic h t e in -
deutig sich auf diese Welt bezieht. Diese Entwicklung wird zu-
e rs t in der Poesie und besonders in den theoretischen S c h rifte n
Baudelaires spürbar. 1859 schre ibt e r:

Die Phantasie z e rle g t [ d é c o m p o s e ] die ganze Schöpfung;


nach Gesetzen, die im tie fs t e n Seeleninnern entspringen,
sammelt und g lie d e r t sie die [dadurch entstandenen] T e ile
und erzeugt daraus eine neue Welt. ( Z i t i e r t nach F rie d ric h
1967:55).

Hugo F rie d ric h kommentiert: .

Das i s t - obschon in Theorien s e it dem 16. Jahrhundert v o r-


g e b ild e t - ein Fundamentalsatz der modernen Ä s th e tik . [ . . . ]
Was a ls 1neue W elt 1 aus solcher Zerstörung hervorgeht, kann
n ic h t mehr eine re a l geordnete Welt sein. Es i s t ein i r r e ‫־‬
ales Gebilde, das n ic h t mehr k o n t r o l l i e r t werden w i l l nach
normalen Realordnungen. (1967:55-56)

Das "Wegstreben aus der beengten W irk lic h k e it" und die "ex-
treme Machtausweitung der Phantasie" (F rie d ric h 1967:56;57), die
die Zerstörung der Welt bedingt, hat auch seine Konsequenzen fü r
die Darstellung des lyrisch e n Ich im poetischen Text. Das Ver-
schwinden der id e a lis tis c h e n V orstellung einer realen Welt ve r-
lä u f t p a r a lle l m it dem Verschwinden der V orstellung eines
selbstgewissen, e in h e itlic h e n Subjekts. Ansätze zu der A uffas-
sung des Selbst als etwas Undefiniertem und Unstabilem fin d e t
man im 19. Jahrhundert vor allem in der Philosophie Nietzsches:

Die Annahme des e i n e n S u b j e k t s i s t v i e l l e i c h t n ic h t not-


wendig; v i e l l e i c h t i s t es ebensogut e rla u b t, eine V ie lh e it
von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf
unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrunde
l i e g t . (Nietzsche 1980: VI,473)

Zweifel an der Beständigkeit und an den Grenzen des Ichs


wird ein generelles Merkmal der modernen L y r ik . Bücher über то-
derne Poesie wimmeln gerade von Wörtern wie Desorientierung,
Enthumanisierung, Id e n t it ä ts v e r lu s t, v e rv ie lfa c h te Persönlich-
k e it usw. Diese ontologische Unsicherheit wird in v ie le n Ge-
dichten th e m a tis ie rt, in anderen z e ig t sie sich a ls charakte-

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Das ly r is c h e I c h b e i C hlebnikov 127

r is t is c h fü r das ly ris c h e Ich . Auch g ib t es Versuche, die ver‫־‬


lorengegangene oder verloren gewähnte I d e n t it ä t im Entwurf e i -
nes nach M öglichkeit e in h e itlic h e n lyrisch e n Ich wiederherzu-
s te lle n . Jedes Gedicht hat seine eigene, konkrete Lösung fü r
die in das ly ris c h e Ich p r o jiz ie r t e Problematik des Subjekts.
Die Analyse mehrerer Gedichte eines Dichters kann mehr oder we-
niger beständige Muster dieser Lösung ergeben.

Für die Analyse des lyrisch en Ich in der Poesie V e lim ir Chleb-
nikovs möchte ich einige Gedichte untersuchen, in denen das Ich
eine bestimmte Ausprägung e r fä h r t. In einem früheren Aufsatz
(W eststeijn 1986) habe ich darauf hingewiesen, daß das ly ris c h e
Ich in Chlebnikovs Werk außerordentlich v ie lg e s t a lt ig is t. Es
g ib t Gedichte, in denen das ly ris c h e Ich a ls Aussagesubjekt
fa s t id e n tis c h m it dem Autor zu sein scheint. Es g ib t aber auch
eine Menge verschiedenartiger p e r s o n a e und Darstellungen des
lyrischen Ic h , die kaum m it der V orstellung des realen Autors
in Übereinstimmung zu bringen sind. Manchmal wird das Ich als
ein fa s t übermenschliches Wesen d a r g e s te llt, das in seinen
Handlungen und Fähigkeiten eine mythische Dimension e r h ä lt.
Gerade diese Gedichte w i l l ich etwas genauer betrachten. Ich
gehe dabei aus von dem Gedicht E d i n a j a k n ig a ( I I I : 68-69)8, das
im Jahre 1920 geschrieben und einmal a ls selbständiges Gedicht,
ein andermal, wie das so o f t bei Chlebnikov der F a ll is t, als
T e il eines größeren Ganzen ( V: 24341 ;25‫ ) ־‬v e r ö f f e n t lic h t wurde.

Я видел, что черные Веды,


Коран и Евангелие,
И в шелковых досках.
Книги монголов
Из праха степей,
Из кизяка благовонного,
Как это делают
Калмычки зарей,
Сложили костер
И сами легли на него ‫־‬
Белые вдовы в облако дыма скрывались,
Чтобы ускорить приход
Книги единой,
Чьи страницы - большие моря,
Что трепещут крылами бабочки синей,
А шелковинка-закладка,

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128 W illem G. W e a ta te ijn

Где остановился взором читатель, -


Реки великие синим потоком:
Волга, где Разина ночью поют,
Желтый Нил, где молятся солнцу,
Янцекиянг, где жижа густая людей,
И ты, Миссисипи, где янки
Носят штанами звездное небо,
В звездное небо окутали ноги.
И Ганг, где темные люди - деревья ума,
И Дунай, где в белом белые люди
В белых рубахах стоят над водой,
И Замбези, где люди черней сапога,
И бурная Обь, где бога секут
И ставят в угол глазами
Во время еды чего-нибудь жирного,
И Темза, где серая скука.
Род человечества - книги читатель,
А на обложке - надпись творца,
Имя мое - письмена голубые.
Да, ты небрежно читаешь.
Больше внимания !
Слишком рассеян и смотришь лентяем,
Точно уроки закона божия*
Эти горные цепи и большие моря,
Эту единую книгу
Скоро ты, скоро прочтешь!
В этих страницах прыгает кит
И орел, огибая страницу угла,
Садится на волны морские, груди морей,
Чтоб отдохнуть на постели орлана.

In diesem Gedicht t r i t t uns der a lte Topos vom Buch der Welt
oder vom Buch der Natur entgegen. Die Metapher entstammt dem
la te in isch en M it t e la lt e r und i s t vor allem in der L ite r a tu r der
Renaissance angewandt worden. Die V orstellung von der Welt a ls
Buch w ird in diesen Perioden besonders im re lig iö s e n Sinne auf‫־‬
gefaßt* Die Schöpfung i s t ein Buch Gottes. Neben der Bibel a ls
codex a c rip tu a besteht die Natur a ls codex v iv u a . In beiden Bü-
ehern s p ric h t Gott zu uns a ls Lehrer der Wahrheit. Oder, wie
S ir Thomas Browne in seiner R e l i g i o M e d ic i (1643,1, Kap. 15)
sagt:

So g ib t es denn z w e i B ü c h e r , aus denen ich meine Theologie


nehme; neben dem von Gott geschriebenen ein anderes seiner
Dienerin Natura, jenes allgemeine und ö ffe n tlic h e Manu‫־‬
s k r ip t , das unter a l le r Augen ausgebreitet l i e g t . ( Z itie r t
nach C urtius 1963:327)

Die Auffassung, daß die Welt lesbar is t und daß Gott die

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Das ly r is c h e I c h b e i C hlebnikov 129

Welt geschaffen hat als ein System bedeutungsvoller Zeichen,


hat sich in der europäischen K u ltu r in zahlreichen a lle g o r i-
sehen In te rp re ta tio n e n der Erscheinungen der Welt bewährt. Man
kann in diesem Zusammenhang z.B. an die Emblemata-Bücher des
17. und 18. Jahrhunderts denken, in denen a lle s S innliche als
ein B ild höherer Wahrheit b e tra ch te t w ird .
Die R e h a b ilitie ru n g der Welt-Buch-Metapher in Chlebnikovs
Gedicht E d i n a j a k n ig a hat m it einer allegorischen In te rp re ta tio n
der Welt n ic h ts zu tun. Die aufgeführten Elemente der Welt, die
großen Ströme, sind h ie r n ic h t a ls Symbole b e a b s ic h tig t, die ih -
re je eigene Bedeutung haben. Es handelt sich h ie r um die meta-
phorische Gleichsetzung von Buch und Welt, eine Gleichsetzung,
die in der Darstellung der Elemente der Welt als der Seiten des
Buches w e ite rg e fü h rt w ird . 9
Noch bedeutsamer als diese "Entsymbolisierung" scheint mir
die v ö l l i g andere Perspektive zu sein, aus der die Welt-Buch-
Metapher vorgeführt w ird , ü b lic h war, daß der Sprecher oder das
in den Text eingeführte Ich als der L e s e r des Buches der
Welt i d e n t i f i z i e r t werden konnte oder daß je d e n fa lls das Buch
der Welt vom Standpunkt eines Lesers aus be tra ch te t wurde.
In Chlebnikovs Gedicht geht etwas ganz anderes vor. Schon
in der ersten Z e ile des Gedichts wird das Ich e in g e fü h rt, und
zwar in der fü r Chlebnikov fa s t charakteristischen Anfangsfor-
mel J a v i d e i . Das Ich i s t in dieser Formel noch n ic h t id e n tifi-
z ie r t . Es i s t , wie w ir schon f e s t g e s t e llt haben, ein , le e re s 1
Subjekt, das nur allm ählich im Laufe des Textes eine bestimmte
Id e n t it ä t e r h ä lt. Dasjenige, was das Ich s ie h t, sagt zugleich
etwas Näheres über das Ich se lb st aus. Es s ie h t die h e ilig e n
Bücher der Religionen der Welt einen Scheiterhaufen e rric h te n
und sich darauflegen- Dieses Traumgesicht, das R eligion und e i -
ne eschatologische V orstellung miteinander verbindet, macht das
Ich zu einem Seher. Die Assoziation m it den Offenbarungen des
Propheten Johannes, in denen die Formel I v id e i ja ständig wie-
derholt w ird und in denen das Buch, d.h. das Buch m it den s ie -
ben Siegeln eine w ichtige Rolle s p ie lt , lie g t auf der Hand.
Die Bücher der Religionen machen aus sich se lbst Platz fü r

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1 30 W illem G. W e a ta te ijn

das eine Buch, das Buch m it den Seiten, die größer sind a ls das
Meer: das Buch der Welt, das beschrieben w ird m it te ls e in e r E-
numeration der (acht) großen Ströme der W elt. In dem Text des
Gedichts werden auch die Leser dieses Buches in t r o d u z ie r t : das
ganze Menschengeschlecht. Den Lesern w ird zugesprochen, sie
seien nachlässig, n ic h t achtsam, und ihnen w ird geraten, näher
hinzusehen, damit sie bald das eine Buch lesen können. Unter
den angeredeten Lesern i s t n ic h t der Sprecher s e lb s t, das Ich
des Gedichts. Er gehört n ic h t zu den Lesern, sondern e r is t der
t v o r e c , der Autor des Buches, dessen Name in blauen L e tte rn auf
dem Umschlag des Buchs geschrieben i s t . Die Doppelbedeutung des
russischen Wortes t v o r e c kommt h ie r ausgezeichnet zur Geltung.
Das Ich is t der Autor des Buches, d.h. des Buches der Welt, und
daher zugleich der Schöpfer der Welt. Die V o rste llu n g des Ich
a ls eines der Auserwählten oder v i e l l e i c h t des einzigen, der
das Buch des Universums lesen kann, w e il es die Sprache, in der
es geschrieben i s t , e r le r n t hat, macht h ie r P latz fü r eine noch
bedeutendere P o sition des Ich : es i s t ein Schöpfer, und in s e i-
ner schöpferischen T ä tig k e it is t es g o ttä h n lic h ( , auctor mundi').
In seinem Aufsatz Daa Buch a la Symbol dea Koamoa behauptet D.
Č iže v sk ij (1956:111) im Zusammenhang m it diesem Gedicht Chleb-
nikovs: der frühere 'Topos der Bescheidenheit' sei "b e i den sich
a ls Propheten einer neuen Dichtung und e in e r neuen Z e it empfin-
denden F u tu ris te n durch typische Unbescheidenheit, ja fa s t Grös-
senwahn e r s e tz t" . In den Wörtern U n b e s c h e i d e n h e i t , Größenwahn
spürt man gerade, wie u n ric h tig es i s t , den Autor m it dem l y r i -
sehen Ich gleichzusetzen. Zwar kann man sagen, daß das ly ris c h e
Ich in mehreren Gedichten Chlebnikovs von den Merkmalen P r o p h e t
und G o t t ä h n l i c h k e i t c h a ra k te ris ie rt w ird , aber die von č iž e v s k ij
genannten Wörter sind kaum m it dem D ichter Chlebnikov zu verbin-
den. Die 'Größe' des lyrisch e n Ich hat in der Poesie Chlebnikovs
eine ganz andere Funktion als die ta ts ä c h lic h prahlerischen Äus-
serungen des Ego-Futuristen Severja n in , z.B. in seiner berüch-
tig te n V erszeile Ja g e n ij Ig o r S e v e rja n in . Chlebnikov t r e i b t kein
S piel m it der 'Vergrößerung' des ly ris c h e n Ic h , noch i s t es
bloße P ra h le re i. Die Mythisierung des Ich is t immer ganz e rn s t-

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Das ly r is c h e I c h b e i C hlebnikov 1 31

h a ft gemeint und s p ie lt eine wesentliche Rolle in der D a rs te l-


lung seiner poetischen Welt.
Die , Größe* des lyrischen Ich m a n ife s tie rt sich in Chleb-
nikovs Poesie auf verschiedene Weise. Manchmal behauptet das
Ich von sich s e lb s t, daß es eine berühmte oder bedeutende Per-
son s e i:

Так зыбит, снует молва


С нею славен, славен я! (11,264)
К зеркалу подошел
Я велик• Не во всякую дверь прохожу (Ѵ,111)

Diese d ire k te n Äußerungen sind aber ziem lich se lte n . Gewöhnlich


w ird die Größe des lyrisch e n Ich m it dessen T ä tig k e ite n verbun-
den: das Ich w ird in der anspruchsvollen Rolle eines Lehrers,
Sehers oder Propheten vo rg e fü h rt. Manchmal v e rlä ß t es sogar die
menschliche Ebene und wird zu e in e r G o tth e it.
Ein bedeutender Zug des lyrisch e n Ich in v ie le n Gedichten
Chlebnikovs is t seine F ä h ig ke it, die Zahlen zu lesen und auf
Grund der den Zahlen entnommenen Kenntnisse die Z e it zu v e rs te -
hen.

Я всматриваюсь в Вас, о числа


[...]
Вы позволяете понимать века (11,98)
Невольно числа я слагал
Как бы возвратясь ко дням творенья (11,77)
Познал я числа
Узнал я жизнь (11,280)
Я помню веков поединки
Их лик за сеткою из синих чисел (Ѵ,103)

Diese pythagoräische Fähigkeit des lyrisch e n Ich is t auf Chleb-


nikovs ständige Bemühungen zurückzuführen, die Gesetze der Z e it
zu berechnen. Ende 1915 wurde er dafür von Osip B rik zum K o r o l 9
v re m e n i, zum "König der Z e it " , ernannt (V,333), ein T i t e l , auf
den Chlebnikov sehr s to lz war und den er seitdem auch in seinen
Werken verwendet hat (11,246; V,130). Man kann sagen, daß h ie r
ein bestimmter Zusammenhang zwischen Autor und lyrischem Ich
besteht, aber nur in dem Sinne, daß ein autobiographisches E ie -
ment in das ly ris c h e Ich p r o j i z i e r t is t. Dasselbe Motiv kommt

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132 W illem G. W e 8 t8 te ijn

auch vor, wenn die sprechende Instanz n ic h t ein unbestimmtes


Ic h , sondern eine d e u tlic h e r bestimmte Figur is t wie in dem Ge-
d ic h t V lo m v s e l e n n o j . Der erste T e il dieses Gedichts i s t ein
Gespräch zwischen zwei Personen: Syn-Učenik und š t a r š i j - U č i t e l \
Der Sohn sagt unter anderem:

На крыльях поднят как орел, я видел


сразу, что было и что будет.
Пружины троек видел я и двоек
В железном чучеле миров.
Упругий говор чисел.
И стало ясно мне
Что будет позже. (111,95)

Die F ä h ig ke it des Ic h , die Vergangenheit und die Zukunft zu ken-


nen, macht es dazu geeignet, a ls Führer oder R ette r der Mensch-
h e it a ufzutre ten .

Я победил: теперь вести


Народы серые я буду. (NP,144)
Колокол Воли
Руку свою подымаю
Сказать про опасность.
Далекий и бледный
Мною указан вам путь. (111,311)
Еще раз, еще раз
Я для вас
Звезда. ( I I I , 314)

Die D arstellung des ly ris c h e n Ich a ls eines Propheten wird b is -


weilen eng verbunden m it biographischem M a te ria l, z.B. in dem
langen Gedicht T ruba G u l'- m u lly , das auf Chlebnikovs Reise nach
Persien im Jahre 1921 zurückgeht. Die Perser betrachteten den
langhaarigen russischen D ich te r a ls einen H e ilige n und nannten
ihn G u l ’ - m u l l a , 1
1P rie s te r der Blumen". Diese Ereignisse werden
im Gedicht e rz ä h lt, und fa s t e n ts te h t der Eindruck, daß das Ge-
d ic h t ganz autobiographisch s e i10. Zugleich aber bekommen w ir
eine ganz andere V o rste llu n g von dem Ic h : es i s t n ic h t nur je -
mand, der von den Persern a ls ein P rie s te r b e tra c h te t w ird und
G u l'-m u lla genannt w ird , sondern auch jemand, der ein P rie s te r
i s t , ein höheres Wesen, das von den persischen Propheten a ls
solches anerkannt w ird .

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Das ly r is c h e I c h b e i C h le b n ik o v 133

Ok ! Ok !
Это пророки
Сбежались
С гор
Встречать
Чадо Хлебникова:
‫ ־‬Наш! ‫ ־‬сказали священники гор,
- Наш! ‫ ־‬запели цветы. (1,233)

Die Darstellung des Ich als eines P rie s te rs oder Propheten ge-
schieht häufig m it te ls einer m it Namen genannten Figur (persona).
Obwohl diese Gedichte sich typologisch unterscheiden von denen,
in denen ein U n de finierte s Ich a ls sprechende Instanz a u ftr itt,
is t dieser Unterschied n ic h t von w esentlicher Bedeutung. Der Na-
me macht es möglich, das Ich genauer zu i d e n t if iz ie r e n ; wenn e i ‫־‬
ne p e r s o n a a ls sprechende Instanz in tr o d u z ie r t w ird , is t die
Distanz zwischen Autor und lyrischem Ich darum n ic h t notwendi-
gerweise größer.
Die Mythisierung des lyris ch e n Ich geht noch w e ite r, wenn
aus dem Gedicht hervorgeht, daß das Ich sich auf der Ebene der
Götter b e fin d e t, über g ö ttlic h e K rä fte v e rfü g t oder mindestens
in v ö llig e r G le ic h h e it m it den Göttern v e rk e h rt.

Я господу ночей готов сказать:


"Братишка ! ‫ ״‬,
И Млечный Путь
Погладить по головке.
Былое как прочитанная книжка (111,39)
Перун, ну, дай мне молоток (NP,162)
Меня проносят на слоновых
[...]
Меня все любят - Вишну новый
[— ]
А я, Бодисатва на белом слоне (NP,259)
Тот век, те дни богаты были,
И на земле лишь бури жили.
И в этот миг я кинулся с копьем.
Темный, смуглый,
Серебряным шумя крылом.
Главы кудрями круглый.
[...]
Своим серебряным крылом
Я бурю резал, как мечом.
И в этот миг, когда я солнце кромкое убил
И брызнула на землю кровь.

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1 34 W illem G. W e s ts te ijn

Мне кто-то шептал, что я любил.


Что то была земная первая любовь. (NP,257-258)

Bisweilen v e rlä ß t das Ich auch diese Ebene und w ird eine F ig u r,
der sogar die Götter Ehre erweisen. Sie beugen sich vor ihm a ls
vor dem einzigen Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde.

А боги, что вруны для глаз,


Толпились ночью тополями,
[...]
Вдруг ногомольно пали ниц
И руку целовали мне, крича:
"Бери, возьми нас для бича [ . . . ]
(11,239; v g l. NP,257 f . )

A u ffa lle n d sind die zahlreichen Gedichte, in denen Chlebnikov


ein w eibliches lyrisch e s Ich e in fü h r t, meistens eine G ö ttin (J a -
b o g i n j a ) . Diese 1Androgynisierung' des Ich z e ig t die große und
bewußte Distanz zwischen empirischem und poetischem Ich .
Eine spezifische Form der Mythisierung des ly ris c h e n Ich
in der Poesie Chlebnikovs i s t die Gleichsetzung des Ich m it e i -
nem Element der Natur. Es g ib t Gedichte, in denen das Ich als
ein Freund oder Kenner der Natur i d e n t i f i z i e r t werden kann, aber
auch v ie le Gedichte, in denen das sprechende Ich a ls ein Element
der Natur erscheint.

Я, волосатый реками...
Смотрите! Дунай течет у меня по плечам
И - вихорь своевольный ‫ ־‬порогами синеет Днепр.
Это Волга упала мне на руки,
И гребень в руке - забором гор
Чешет волосы.
А этот волос длинный,-
Беру его пальцами,-
Амур, где японка молится небу.
Руки сложив во время грозы. (V,25)

Bemerkenswert i s t , daß dieses Gedicht als T e il der Äußerungen


der Figur Zangezi erschienen i s t und f o lg lic h als T e il des Ge-
d ic h ts Z a n g e z i , aber auch als T e il eines anderen Gedichts, A z y
i Uzy (das anfängt m it "Das eine Buch"), in dem der Name Zangezi
n ic h t genannt w ird. Im ersten F a ll is t die I d e n t it ä t des l y r i -
sehen Ich d e u tlic h : der Sprecher i s t Zangezi; im zweiten F a lle
aber kann man das Ich n ic h t so einfach id e n t if iz ie r e n . Is t der
Sprecher eine Person, die sich selbst metaphorisch beschreibt.

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Das ly r is c h e I c h b e i C hlebnikov 135

oder die p e r s o n ifiz ie r te Erde? Die metaphorische Gleichsetzung


von Person und Element des Kosmos ermöglicht h ie r je d e n fa lls e i-
ne Wahl.
Das Gedicht oder Gedichtfragment Ja, v o lo e a ty j re ka m i m it der
Analogie von Person und Erde erw eist sich als fa s t programma-
tis c h fü r die Poetik Chlebnikovs. Man hat darauf hingewiesen,
daß Übereinstimmungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos bei
Chlebnikov v ie lfa c h anzutreffen s in d 11. Die Analogie von Mikro-
und Makrokosmos fin d e t sich auch in der allegorischen Naturauf-
fassung der Barockzeit, in der a lle s miteinander in Beziehung
gebracht wurde. In der L ite r a tu r des Barock aber bleiben die
verschiedenen Bereiche voneinander getrennt. In Chlebnikovs Po-
esie - und das scheint mir etwas ganz C harakteristisches ‫־‬ sind
die Bereiche miteinander verschmolzen. Das Ich i s t die Er-
de, die Erde i s t ic h . Die a lle g o risch e Beziehung i s t n ic h t
nur durch eine metaphorische e rs e tz t, sondern durch eine absolu-
te I d e n t it ä t . In dieser S itu a tio n , so könnte man sagen, v e r lie r t
das Subjekt seine eigene I d e n t it ä t , zugleich aber gewinnt es
zahlreiche andere Id e n titä te n . Die V ie lh e it der ly ris c h e n Sub-
je k te in der Poesie Chlebnikovs kann insbesondere e r k lä r t wer-
den aus der Vorstellung des Dichters von der Welt a ls e in e r Ein-
h e it . Der "Chlebnikoved" Duganov hat Chlebnikovs Werk wie f o lg t
c h a r a k te r is ie r t: "Das ästhetische Objekt i s t immer ein und das-
selbe - es i s t die ganze Welt in ih r e r ganzen p r in z ip ie lle n F ü l-
le und E in h e it" . Chlebnikov i s t wie andere D ichter der Avantgar-
de b e stre b t, ein to ta le s B ild der Welt, des Universums zu e n t-
werfen. Ein wichtiges M it t e l, das er fü r diese Modellierung des
Weltganzen anwendet, is t die Mythisierung des lyrisch e n Ic h . Es
is t gerade die Gleichsetzung von Ich , Natur, Welt, Prophet und
Gott, die die p r in z ip ie lle E in h e it des Universums zustande
b r in g t.

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136 W illem Gш W e ß te te ijn

A N ME R K U N GE N

1 Beide Ausdrücke werden benutzt f ü r das Ich a ls Sprecher wie


auch fü r das Ich a ls Person, Ich gebrauche s ie h ie r ebenfalls
ohne Unterschied, a ls Synonyme. Es i s t v i e l l e i c h t aber zweck-
mäßig, die beiden Funktionen des Ich auch term inologisch zu be-
stimmen.
2 Ich verweise h ie r nur auf e in ig e der bekanntesten Arbeiten auf
diesem Gebiet: Booth 1961; Schmid 1973; Genette 1972.
3 Mehrere D ichter der Moderne haben sich auch m it Dramen be-
s c h ä ftig t, in der russischen L it e r a t u r zum B e is p ie l M ajakovskij,
Chlebnikov, Charms. In der (späteren) Poesie Pasternaks t r i t t
das ly ris c h e Ich o f t a ls Schauspieler auf.
ą Vgl. auch Chatman 1968:26-37; Wright 1960.
5 "Zur epischen Poesie fü h r t das Bedürfnis, die Sache zu hören,
die sich fü r sich a ls eine o b je k tiv in sich abgeschlossene Tota-
l i t ä t dem Subjekt gegenüber e n t f a lt e t ; in der L y rik dagegen be-
f r i e d i g t sich das umgekehrte Bedürfnis, s i c h auszusprechen
und das Gemüt in der Äußerung seiner se lb st zu vernehmen" (Hegel
o . J . :471).
e Levin g ib t eine genaue Analyse der Kategorien des Senders und
des Adressaten im G edichttext.
7 Vgl. auch C u lle r 1975:164 ff,
® Die römischen Z iff e r n beziehen sich auf das S o b r a n i e p r o i z v e -
d e n i j , Leningrad 1928-1933, NP bezeichnet d ie N e i z d a n n y e p r o i z -
v e d e n i j a , Moskva 1940.
® Chlebnikovs W elt-Buch-Motivik i s t erschöpfend untersucht in
Hansen-Löve 1985. Der Autor s ie h t in der poetischen Welt Chleb-
nikovs "e in r e la tiv e s Gleichgewicht zwischen den Paradigmata
Welt-Text und Text-W elt". 'Sprache‫ ״‬und 'W e lt1, *Zeichen1 und
, Realia* durchdringen einander w echselseitig und s te lle n zwei
Erscheinungsweisen eines Ganzen dar (1985:27). Vgl. auch Döring-
Smirnov und Smirnov 1986:20 f f . Eine umfassende k u l t u r e l l - h i s t o -
risch e Darstellung der Welt-Buch-Metaphorik b ie te t Blumenberg
1981 .
10 Bemerkenswert i s t der Gebrauch des Neimens C h l e b n i k o v im poe-
tischen Text des D ich te rs, ein Verfahren, das Chlebnikov o f t
verwendet. Diese Einführung des Eigennamens geschieht ganz *ob-
je k t iv * und hat nie einen komischen oder lä c h e rlic h e n E ffe k t.
Sie i s t c h a ra k te ris tis c h f ü r die Distanz zwischen seiner eige-
nen P e rsö n lich ke it und dem in das Werk p r o jiz ie r t e n , Ic h *.
11 Vgl. dazu Holthusen 1981:39 f.; Duganov 1976:429; W eststeijn
1983:204 f f .

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Das ly r is c h e I c h b e i C h le b n ik o v ^*7

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1 38 W illem G. W e e ts te ijn

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Aleksandar FLAKER (Zagreb)

DIE STRASSE: EIN NEUER MYTHOS DER AVANTGARDE

M ajakovskij, Chlebnikov, Krleža

Als die a lte n Griechen glaubten, daß


die Sonne ein lebendes Wesen einer
bestimmten A rt s e i, nämlich der Gott
H elios, der auf seinem feurigen Zwei-
spänner im Osten a u fs te ig t, im Zenit
h e rrsch t, im Westen h in a b ste ig t und
in der Nacht seine Rundfahrt unter
der Erde v o lle n d e t, um am folgenden
Tag von neuem im Osten zu erscheinen,
da war das keine A lle g o rie mehr, k e i-
ne Metapher und auch n ic h t einfach
ein Symbol, sondern das, was w ir
j e t z t m it einem eigenen Terminus be-
zeichnen müssen, eben der M y t h o s .
So wird das, was in die A lle g o rie , in
die Metapher und das Symbol als phä-
nomenal gegebenes B ild eingeht, im
Mythos aís im buchstäblichen Sinne
des Wortes existierende oder vom
menschlichen Subjekt v ö l l i g unabhän-
gige, o b je k tiv gegebene S u b s ta n tia li-
t ä t behandelt. 1

Innerhalb des Prozesses, der von der Moderne zur Avantgarde


fü h rte , e rh ie lte n die urbanen Räume immer mehr eine mythische
Bedeutung: die Stadt und die Straße a ls Räume der städtischen
B e w e g u n g wurden von ih r e r teleologischen Bedeutung be-
fr e it (die Stadt a ls Wohnung, die Straße als Verkehrsader) und
bekamen Merkmale e in e r vom Menschen unabhängigen "o b je k tiv ge-
gebenen S u b s t a n t ia lit ä t " . Die Stadt und die Dynamik ih r e r Be-
wegung boten den europäischen L ite ra tu re n immer mehr Motive an.

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140 A leksa n d a r F ia k e r

doch s e it der Moderne hat der Balzacsche Ankömmling aus der


Provinz n ic h t mehr die städtischen sozialen Räume e robert, son-
dem der Mensch unterlag der Stadt als einem Ungeheuer der Neu-
z e it , wobei die Straße als Trägerin der Bewegung eine besondere
Bedeutung e r h ie l t : eine zerstörerische und katastrophische, und
zugleich verband sich m it ih r darum auch die Eschatologie - die
Erwartung von Wandlungen bis hin zu revolutionären.
In der russischen L ite r a tu r begann die Mythologisierung
fr ü h z e itig m it einer Novelle, die dem "allmächtigen N evskij-
Prospekt" gewidmet war (N e v s k ij p ro s p e k t, 1835)a, einer unzu-
verlässigen Straße, denn s ię " lü g t zu jeder Z e it " , am meisten
aber in der Nacht, "wenn sich die ganze Stadt in Donner und
B lit z verwandelt und sich Myriaden von Kutschen von den Brücken
herabwälzen und wenn der Dämon selbst die Laternen nur
darum anzündet, daß er a lle s in einem unwirklichen Anblick
z e ig t " 3. Von Gogol' gelangte die Mythologisierung der Peters-
burger Straßen über Dostoevskij zu Andrej Belyj**, der die Idee
von der U n w irk lic h k e it der Stadt zur Grundlage eines Romans
machte, der - eben dank der Anhebung des Konkret-Historischen
auf die Ebene des Mythischen ‫־‬ "höchst a k tu e lle , w eltweite Be-
deutung" 5 erlangte. Dieser Roman über die "u n w irklich e " Stadt
beginnt wiederum m it einer Hinwendung zu seiner w ichtigsten
S c h l a g a d e r ( A r t e r i e ) * , m it Iro n ie gegenüber der
Teleologie des Nevskij Prospekt als "Raum fü r die Z irk u la tio n
des Publikums" und gegenüber seinem "geradlinigen" {p rja m o li-
n e jn y j) Charakter7, der Achse einer geom etrisierten Stadt, im
Grunde aber einer endlosen Reihe von fünfstöckigen Häusern
"ohne Anfang und ohne Ende"®, die darum n ic h t der W irk lic h k e it
angehört:

Есть бесконечность в бесконечности бегущих проспектов с


бесконечностью в бесконечность бегущих пересекающихся
теней. Весь Петербург ‫ ־‬бесконечность проспекта, возве-
денного в энную степень. 9
Es i s t eine E ndlosigkeit in der E ndlosigkeit der eilenden
Prospekte m it der E ndlosigkeit der in die E ndlosigkeit
eilenden, sich überschneidenden Schatten. Das ganze Pe-
tersburg i s t die Endlosigkeit eines in die n -te Potenz
erhobenen Prospekts.

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Die S tra ß e a l e neuer Mythos ‫ ך‬4‫ך‬

Während in der russischen T ra d itio n die Mythologisierung


der Stadt und der Straße in ihren Anfängen bei Gogol' zu su-
chen i s t , kamen E inflüsse von außen z w e ife llo s von Verhaerens
Les V ille s T e n ta c u la ire s (1895), die als Modell fü r Brjusovs städ-
tischen dichterischen Zyklus m it apokalyptischen Motiven diente
(Kon* b le d [ ” Das fa h l P fe rd "], 1903-1904)10 - m it einer Hymne an
die Stadt und die "Straßenschluchten" m it ihren "Freuden" der
Unzucht und der Bewegung, aber auch der "re b e llisch e n Stimme"
der städtischen Masse, die "im Wahnwitz berauschter F rö h lic h -
k e it / a lle s Vergangene im Staub z e r t r i t t " und dabei zugleich
den "Weg in k ü n ftig e Jahrhunderte" bahnt! ( S la va to lp e ["Lob der
Masse"], 1904). Den Mythos der Straße a ls Ausgangspunkt von Be-
wegung und Laster, T reffpunkt der Masse, aber auch der Revolte
e n tw ic k e lt in vollem Ausmaß jedoch e rs t Majakovskij, e b e n fa lls
n ic h t ohne Verhaerens Namen (auf die Nachricht von seinem Tod
hin) zu erwähnen:

Сегодня на Верхарна обиделись небеса•


( M r a k , 1916)11
Heute hat Verhaeren den Himmel gekränkt.

Um 1912, als Motive der Straße in den Erstlingswerken von


Majakovskij erschienen, hatte sich die Straße a ls Motiv b e re its
in der avantgardistischen Malerei eingebürgert, der a ls " e in -
heimische" Modelle Ikonen, volkstümliche B ild e r, aber auch F i r ‫־‬
menschilder und In s c h rifte n auf den Straßen dienten. Larionovs
auf eine dynamische k o lo ris tis c h e Abstraktion re du zie rte Straße
auf dem Gemälde S tra ß e n la te rn e n erschien schon 19101a? seine
Orientierung b e s tä tig te der Maler in dem Manifest Podemu my r a s -
k ra š iv a e m s ja . M a n ife s t fu tu r is to v ("Warum malen w ir uns an?", 1913):

Der besessenen Stadt m it ihren Bogenlampen, den von Kör-


pern besprühten Straßen, den zusammengedrängten Häusern
haben w ir keine Vergangenheit gebracht: unerwartete B lü-
ten sind im Gewächshaus aufgeblüht und begeistern uns. 13

In der russischen Kunst und L ite r a tu r is t so die Ä s th e tik


der Straße erschienen, deren wahrer Träger Majakovskij wurde.
Obgleich der Schöpfer "k u b o -fu tu ris tis c h e r" verbaler Texte die
mythopoetische S icht der Straße, wie sie fü r den Symbolisten

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142 A le k sa n d a r F ia k e r

Brjusov bedeutsam war, aufgab, e n tw icke lte er in seinen Texten


der Jahre 1912 b is 1917 im Grunde einen neuen Mythos der Straße-
In Majakovskijs Texten e rsch ein t die Straße in e rs te r L i ‫־‬
nie a ls Subjekt e in e r ästhetischen Umwertung, die ihren Aus-
gangspunkt in wahrhaft "ku b istisch e n " Formen hat, in einer un-
n a tü rlic h e n , vor allem (schon s e it N 05 9 [ ,1Die Nacht" ] , 191 2)
nächtlichen Chromatik, in p lö tz lic h e n , rascher Bewegung zuge-
schriebenen Verschiebungen, die auch die R e la t iv it ä t der Bewe-
gung einschließen:

Фокусник
рельсы
тянет из пасти трамвая,
скрыт циферблатами башни.
( Iz u lic y v u lic u , 1913, 38)
Der Zauberer / z ie h t die Schienen / aus dem Rachen der
Straßenbahn, / verborgen h in te r den Z if f e r b lä t t e r n des
Turms.

Ein w ichtiges Verfahren is t vor allem die Verwendung von


verbalen Elementen in der Ikonographie der Straße, was auch
fü r die (n ic h t nur russische) avantgardistische Malerei von
Bedeutung i s t . Majakovskij wendet sich auf diese Weise häufig
In s c h r ifte n , Firmenschildern und Werbetexten auf den Straßen
zu - unter denen dem zeitgenössischen Leser die Werbung fü r
den Van-Houten-Kakao in die Augen f ä l l t , die dem zum Tode Ver-
u r t e ilt e n im Poem O blako v S tanach ("Wolke in Hosen” , 1914-15)
zugeschrieben w ird , oder f ü r Maggi (Vyveskam [ ” An die Firmen-
s c h ild e r " ] , 1913), die schon im T i t e l eines Textes des Polen
r

Jankowski m it seiner Aussage, daß er "d ie Sprache der S c h il-


der v e rs te h t", nur e in Jahr später erscheint ( 99M aggi99. Rapsod ) . 1a
Obgleich fü r Majakovskij die Straße der Ausgangspunkt fü r
die I k o n iz it ä t e in e r Poesie i s t , in der Straßenbahnen fahren
(die in Petersburg 1910 erschienen) und Autos sausen, so i s t
sie dies dennoch n ic h t im Bereich der Klänge (v g l. die Onomato-
p oe tik M a r in e t t is ! ) , wenn w ir von der Nachahmung ih r e r disso-
nanten Geräusche abstrahieren ( A llite r a tio n s r e ih e n im Text
š ie n ik i , Sumy i S w iiS ö i [ "Geräuschchen, Geräusche, Gedröhne"], der
Nachahmung des Lärms in U liö n o e ["S traßengedicht", 1913]). Im

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D ie S tra ß e a le n e u e r M ythoe 1* ‫כ‬

Unterschied zu Blok, der in seinem Poem D ve n a d ca t9 ("Die Zw ölf",


1918) n ic h t nur die Ikonographie und die Rhythmen der Straße,
sondern auch ih re Sprache e in fin g , betont Majakovskij die zwei-
fache Richtung in der Beziehung Straße ‫־‬ D ic h te r: auf der einen
Seite fü h r t er den le x ik a lis c h e n Turpismus der "Straße" in den
O rb it des ästhetischen Wertes e in , auf der anderen Seite s te llt
er jedoch schon damals die Frage nach e in e r Ä s th e tis ie ru n g des
außerästhetischen Raums auch auf der Ebene der Sprache, Die
Sprache der Straße muß e rs t g e s c h a f f e n werden; so
is t auch das bekannte Z it a t aus der Wolke in Hosen zu verstehen:

[...]
улица корчится безъязыкая
ей нечем кричать и разговаривать•
(181)
[ . . . ] / krümmt sich die Straße ‫ ־‬unausgesprochen: / sie
hat keine Zunge zum Reden, zum Schreien . 15

Die Revolution ve rste ht Majakovskij a ls eine Gelegenheit


fü r die Ä sth e tisie ru n g der Straße, ikonisch und v e rb a l: ein
pragmatischer Beweis dafür sind seine Plakate!
Schon bei B elyj erscheint der Mensch in der Funktion der
Straße:

Мокрый, скользкий проспект пересекся мокрым проспектом


под прямым, девяностоградусным углом; в точке пересече-
ния линий стал городовой... (P e te rb u rg , 21).
Der nasse, s ch lü p frig e Prospekt s c h n itt einen anderen nas-
sen Prospekt in einem rechten Winkel von neunzig Grad; im
Schnittpunkt der Linien stand ein P o l i z i s t . . .
\

Zur gleichen Z e it (der e rs te T e il des Romans wurde 1913


v e r ö ffe n tlic h t) v e rg le ic h t Majakovskijs ly ris c h e s Subjekt seine
Seele m it dem ausgefahrenen P fla s te r und w e in t,

что перекрестком
распяты
городовые
( J a , 1913, 45)
w e il durch die Kreuzung / P o liz is te n / gekreuzigt sind

Das Mythem der Kreuzigung e rsch e in t so a ls Funktion geome-


tris c h e r Regelmäßigkeit, um sich dann in der I d e n t if ik a t io n des

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144 A leksa n d a r F ia ker

ly ris c h e n Subjekts m it dem Propheten von Golgatha zu r e a lis ie -


re n . 1 *
Auch das ly ris c h e Subjekt se lbst is t n ic h t nur ein Spre-
eher der Straße, sondern m it ih r fu n k tio n a l verbunden. Es i s t
ein Fußgänger - ein D ichter eines "unverdauten Schreis" ( A v8e
t a k i ["Und trotzdem "], 1914, 62), "auf den Stufen der Zeilen" e r-
hebt er sich aufsteigend über dem "Straßenstaub” (Ko v8emu [” An
a l le s ” ] , 1916, 106), um daraufhin seinen ” Körper in die Straße
hineinzuwerfen" ( Ļ ilič k a ! Vmeato p is *ma [ " L i l l i ! A n ste lle eines
B r ie fe s " ] , 1916, 107). Der D ichter " z e r k n ü llt die Arten der
Straße" ( Wolke in H osen, 200) .und zappelt "durch nenschenförmigen
Bienenschwarm, / durch wabenförmige Gassen hinweg” (E in M ensch,
1916-1917, Huppert, 105), um auf der "Shukowskistraße" (Huppert,
269) seinen Selbstmord anzukündigen.
Das ly ris c h e Subjekt i s t zugleich Träger eines eschatolo-
gischen Mythos. Die Straße wird so zun Träger k ü n ftig e r Wand-
lungen am Übergang aus dem (eigenen) Chaos in den Kosmos17, und
so le h n t sich Majakovskij schon im Prolog des Poems E in Menach
an den b ib lis ch e n Mythos von der S i n t f l u t an, um später auf
dieser Matrize sein nicht-oberammergauisches1® "Mysterium”
(M is t e r ij- B u f f [‫״‬Mysterium Buffo” ] , 1918) aufzubauen. Dabei is t
hervorzuheben, daß sich der Träger der Veränderungen vor 1917
klassenmäßig n ic h t fe s tle g t: i h r Träger i s t eben die mythische
Straße.
Wie schon bei Verhaeren (v g l. Zee s e x u e ls sym boles in Les V i l l e s )
is t auch bei Majakovskij die Straße Trägerin von Eros, und
schon frü h sagt er:

Лысый фонарь
сладострастно снимает
с улицы
черный чулок.
(Iz u lic y v u lic u , 1913,39)
Die g la tzkö p fig e Laterne / z ie h t w o llü s tig / von der S tra-
ße / den schwarzen Strumpf.

Ih re Merkmale sind P r o s titu ie r te und S y p h ilis , Modeware,


d ie , nach Fedorov, die A n trie b s k ra ft des ökonomischen Auf-
schwungs i s t . 10 Sie is t in ih r e r Gesamtheit

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Die S tra ß e a l e neuer Mythos 145

Река ‫ ־‬сладострастье, растекшееся в слюни.


(Und tro tz d e m , 62)
Ein Fluß - Wollust, in Speichel zerfließend.

Der Mythos der Straße i s t am weitesten e n tw ic ke lt in der


Wolke in Bösem in diesem Poem wird die Straße auch m it den Massen
” s o z ia l n ic h t in das System E ingegliederter oder d ir e k t
1A s o z ia le r 1 " 20 c h a r a k te r is ie r t: "Straßen - Tausende: / Studen-
ten, P r o s titu ie r te ..." (183). Und an eben eine solche Straße
r ic h t e t das ly ris c h e Subjekt seinen umstürzlerischen Appell -
an die "Hungrigen, / Verschwitzten, / Kleinmütigen, / im Unrat
Verwanzten!" (188, Huppert 19), selb st Angehöriger der "asozia-
len" Straße der S y p h ilitik e r und P ro s titu ie rte n ( v g l •U nd t r o t z -
dem, 62), der "Z uhälter, Falschspieler" (187, Huppert 19), zu-
g le ic h aber auch "der dreizehnte Apostel" - "im evangelischen
A lltag ssin n e" (190, Huppert 23). In E in Mensch le h n t sich der
D ichter an das Schema des Evangelienmythos an, aber auch an Mo-
t iv e einer Eschatologie der Straße in Verbindung m it e in e r a l l -
gem einfuturistischen Eschatologie der technischen Z i v il i s a t i o n -
der unterirdischen (der Tunnels) wie der überirdischen (der
Flugzeuge, v g l. 266). Als eine A ktualisie run g des Mythos der
Straße können w ir auch den auf h isto risch en Ereignissen aufge-
bauten Text R e v o lju c ija . P o e to c h ro n ik a betrachten ‫ ־‬m it seinem in
einer Kaserne lo z ie rte n B lickw inkel und einer Szene, in der a l -
les Lebende und Leblose ‫ ־‬Menschen, Pferde, Laternen, Häuser -
"auf die Straße gestürzt is t", während das ly ris c h e Subjekt
h ie r einen schon k o lle k tiv e n Appell einer allgemeinen, aber
auch auf die Subkultur gestützten Umwertung ausspricht:

Сегодня
до последней пуговицы в одежде
жизнь переделаем снова.
Heute / b is zum le tz te n Knopf an der Kleidung / werden
w ir das Leben von neuem umarbeiten.

Den Tag der Februarrevolution vermerkt Majakovskij nun klassen-


bezogen, aber auch mythologisch als "ersten Tag der A rb e ite r-
S in t f lu t " (136).

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46‫ן‬ A le k s a n d a r F ia k e r

An s u b k u ltu re lle Elemente in den Rhythmen, der Lexik und


der I k o n iz it ä t le h n t sich in seiner S icht der Straße in der Re-
v o lu tio n in seinen schon m it Bloks Poem verglichenen Texten21
Chlebnikov an. Der Text N a sto ja ë ô e e ("Gegenwart"; d a t ie r t 1921)
umfaßt Monologe des "Großfürsten" und ihm gegenübergestellte
"Stimmen und Lieder der Straße". Diese "Stimmen" erscheinen in
mehreren Varianten: in der ersten w ird die Straße m it den Be-
g r if f e n "Volk" und (der klassenbezogenen Metonymie) "Schmied"
c h a r a k t e r is ie r t , in der zweiten m it Syntagmen, die auf eine
Verbindung von künstlerischem und in te lle k tu e lle m Wirken m it
mörderischem verweisen, und so v e rtre te n die Straße " S c h r if t -
s te ile r m it Messer", "G e is tlic h e der Schüsse", "C h o rle ite r des
Todes" {z a p e v a ly e m e rti) , "Denker m it Gewehr” , "F ie d le r auf dem
Bauch der Reichen", " f r e ie K ünstler des Beilrückens" (svobodnye
c h u d o S n ik i obucha ) 22, doch erscheinen in einem Fragment auch be-
to n t bäuerliche Stimmen sowie eine Berufung auf Pugačev, wäh-
rend sich das ze n tra le Thema in der Aussage k o n z e n trie rt

И будет народ палачем без удержа


(275)
Und das Volk w ird zu einem Henker ohne Innehalten

Die "Stimmen der Straße" sind v e rs e lb s tä n d ig t, das l y r i -


sehe Subjekt z ie h t sich zurück, die Straße bekommt "ih re eige-
ne" Sprache - Gassenhauer, aber innerhalb der "Stimmen" e r-
scheinen auch "G e is tlic h e des Lachens" (e v ja š č e n n ik i c h o c h o ta , 266,
270), die ein Moment der Id e n tifiz ie r u n g des Dichters m it der
Straße bedeuten (v g l. den bekannten Text Z a k lja tie emchom 1 "Be-
schwörung durch Lachen", 1910] und die Eigencharakterisierung
a ls "G e is tlic h e r der Blumen" schon in der Ü b e rs c h rift Truba G u t ' -
M u lly 1 "Die Trompete des G ul-M ulla ", 1921])23. Einen eschatolo-
gischen Mythos g ib t es jedoch n ic h t mehr, die soziale Vergel-
tung is t vollzogen, bei Chlebnikov im Zeichen des Losungswortes
der französischen Revolution "Frieden den Hütten - Krieg den
Palästen" (d vo re c - P alast, Schloß - is t bei Chlebnikov das häu-
f i g s te Zeichen fü r d ie B egüterten), das in seinem Entwurf fü r
ein P lakat, e b e n fa lls m it dem Zeichen eines bärtigen Bauern,
Chagall benutzte {M ir c h iž in a m ‫ ־‬v o jn a dvorcam , Vitebsk 1918/19) . 2**

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Die S tr a ß e a la n e u e r M ythos 147

Der Mythos der Straße is t fr e ilic h n ic h t nur eine Beson‫־‬


d e rh e it der russischen L it e r a t u r im zweiten Jahrzehnt dieses
Jahrhunderts. Der frühe deutsche Expressionismus beginnt m it
einem Modell, in dem der "R e ih u n g s s til” m it Verschiebungen in
der urbanen Bewegung (Jakob von Hoddis, W e ite n d e , 1911) oder eben
auf der Straße (A lfre d L ic h te n s te in , D ie Därrmerung, 1911) m o ti-
v ie r t w ird 25. Den Text von von Hoddis kannte in Kroatien A.B.
šim ič, und Miroslav Krleža übersetzte ih n . 26
In der kroatischen L it e r a t u r finden w ir vor Krleža eine
verfremdete S ich t der Straße vom B lic k w in k e l eines vom Land Zu-
gezogenen in Ante Kovačičs Roman U r e g ia t r a t u r i ( " In der Regi-
s tra tu r" , 1888), eine h a llu z in a to ris c h e S ic h t der Stadt als
eines "Kolosses, e in e r Sphinx und Hydra" in der Prosa des Mo-
dernisten Nehajev, die 1901 in Wien entstand27, aber e r s t K rle -
ža e n tw icke lte diese modernistische Dämonie in der Poesie in
seinen Texten zwischen 1917 und 1918. "Chaos" und "Kosmos" (die
"Kosmopolis" in der H rv a ta k a ra p a o d ija ["K roatische Rhapsodie,
1917]) sind zwei Schlüsselwörter seines d ich te risch e n Zyklus,
die auf einen eschatologischen Mythos verweisen, innerhalb des-
sen sich das betonte ly ris c h e Subjekt bewegt. Die L y r ik in d ie -
ser Z e it is t vom Kriegsgeschehen und seinen Folgen c h a ra k te ri-
s ie r t, die russische Revolution w ird in ih r n ic h t erwähnt, doch
dafür is t ein Text dem Scheitern der Revolution in Deutschland
gewidmet ( V e lik i P e tá k 1919. K a rlu L ie b k n e o h tu и epomen [" K a r fr e ita g
1919. Dem Gedächtnis K arl Liebknechts gewidm et"]). Diese L y rik
umfaßt städtische Räume m it den S ilh o ue tten von (barocken) K ir -
chen und Kasernen, In te rie u r s von Kirchen und armseligen Woh-
nungen, Straßen und Landstraßen, aber auch außerstädtische
Landschaften. In diesem Raum s p i e lt sich ein m o de rn isie rte r
golgathaesker Mythos ab, weniger prophetisch und betonter mar-
ty ro lo g is c h a ls bei M ajakovskij.
Aus seinem lyrisch e n Zyklus hat Krleža s e lb s t den Text
U lic a и je a e n je ju t r o g o d in e devetatoaedam naeate ("Straße an einem
Herbstmorgen des Jahres neunzehnhundertsiebzehn1‫״‬, v e rö ffe n t-
lic h t 1919) ausgesondert. Dieser Text gehört nämlich n ic h t zu
seiner L y rik , sondern i s t der le t z t e in der Reihe seiner "Sym-

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148 A le k sa n d a r F ia k e r

phonien", d.h. seiner Texte, die nach dem musikalischen P rin -


z ip eines Wechsels von Themen und Motiven und e in e r Polyphonie
von ” Stimmen" komponiert sind, die sich in diesem F a ll um das
im T i t e l bezeichnete Grundthema gruppieren. Hier lenken w ir
unsere Aufmerksamkeit auf den abschließenden T e il der Komposi-
tio n :

ULICA SE VALJA U VELIKOM NAPJEVU KAO RIJEKA, POPUT TALASA


ŠUME AKORDI28
Die Straße w ä lzt sich in e in e r großen Melodie wie ein
Fluß, wie Wellen rauschen die Akkorde

In diesem Finale w ird der eschatologische Mythos der Straße,


der die L y rik 1917-1919 c h a r a k te r is ie r t, nämlich d ir e k t m it der
Apokalypse in Verbindung gebracht ("d ie ganze Straße v e rs in k t
in einem apokalyptischen Schlamm", 178), besonders beim Tages-
anbruch:

Sve su zavjese pale,


i sve se l a ž i t a le ,
i svide eto j u t r o O tkrive n ja .
(181)
A lle Vorhänge sind g e fa lle n , / und a lle Lügen schmelzen, /
und der Morgen der Offenbarung b r ic h t an.

An diesen "Akkord” knüpft die "Stimme des Wehklagenden" an, nun


die zentrale in d iv id u e lle Stimme, die sich an eine mythische
Sonne wendet, noch immer im Zeichen der Apokalypse:

Plameni b i j e l c i sunčani kô z la t n i o klo p i s v ije t e ,


povrh svih k r i z a , povrh sve k r v i, povrh svih buna.
(181)
Die feurigen Schimmel der Sonne leuchten wie goldene Har-
nische, / über a lle n Krisen, über allem B lu t, über a lle n
Aufständen.

Die Erwartung w ird jedoch getäuscht; die Straße i s t dennoch


kein Träger einer "Offenbarung":

U lica himnu u rla t e le tu od z la ta .


U lica smije se glasu. Sto samotan vapi.
U lica d a lje pleše, v a lja se, viče i mota,
о, duša je U lice p r lja v a od k r v i i od banknote!
(182)

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Die S tr a ß e a l e n e u e r M ythos 149

Die Straße b r ü l l t eine Hymne an das Goldene Kalb, / die


Straße v e rla c h t la u th a ls die Stimme, die einsam k la g t. /
Die Straße ta n z t w e ite r, w ä lzt s ic h , s c h r e it und windet
s ic h , / oh, die Straße i s t schmutzig von B lu t und Bank-
noteni
Die Komposition endet m it einem Motiv der Vereinsamung.
Wenn w ir Krležas Gedichte zwischen 1917 und 1919 a ls ge-
schlossenen ly ris c h e n Zyklus betrachten, so wiederholen sich in
ihm (innerhalb des ly ris c h e n Subjekts) Momente, die w ir in der
” Symphonie" hervorgehoben haben.
Die Straße is t in diesem Zyklus n ic h t nur e in Raum der
W idrigkeiten des Krieges und des Eros, sondern - a ls mytholo-
g is ie r te s Ganzes - Gegenstand eines ly ris c h e n A p p e lls. Die
Straße der K rie g s z e it is t ikonisch gekennzeichnet von "Leichen-
zügen", "Totenseide", "schwarzer Trauerkleidung" und "schwarzen
Fahnen"; so ersche int unter Berufung auf das (aus der b ild e n -
den Kunst bekannte) Motiv P ie tà das ly ris c h e Subjekt a ls Sänger
eines "roten Psalms", der an Tragödien von Frauen g e ric h te t is t
{R a z d rti psalam ["Z e rris s e n e r Psalm", 1 9 1 8 ] ) . 29 U nm ittelbar nach
diesem Text e rsche in t schon in dem Gedichtband Pjesm e I ("Ge-
d ic h te " I; 1918) das Gedicht P lam eni v je t a r ( "Flammender Wind"),
das ganz einer von "rotem Sturm", Erdbeben und apokalyptisch-
katastrophischer S ich t des urbanen i n s t i t u t i o n a l i s i e r t e n Raums
gekennzeichneten unbestimmten Zukunft zugewandt i s t :

komēdija i c r k v i, b oln icâ i kavanä,


lu d n ic i, bordelà i samostana.
Komödien und Kirchen, Krankenhäuser und Kaffeehäuser, /
Irre n a n s ta lte n , Bordelle und K lö s te r.

In einem Z u ku n ftslie d des "flammenden Windes" der R e in i-


gung lesen w ir Krležas eigenen A p p e ll, der auch einen párádig-
matischen Vergleich Straße - Fluß e n th ä lt:

U lic o !
Krvavi ta la s
nek te k o v itla danas!
P ro kle t je pean z la ta ,
i dok m iriš u žene, s v ila i šokolata,
vješaju gologa boga na trg u kÔ ta ta .
O, U lic o ,
danas -
budi crve ni ta la s !

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150 A le k sa n d a r F ia k e r

Straßei / Eine b lu tig e Welle / s o l l dich heute durchwir‫־‬


beln! / V e rflu c h t i s t der Päan des Goldes, / und während
Frauen, Seide und Schokolade duften, / hängen sie einen
nackten Gott auf dem P latz wie einen Dieb. / О Straße, /
heute ‫־‬ / sei eine ro te Welle!

Von der lokalen Berufung auf den Kataklysmus des Kriegs,


gewiß i n s p i r i e r t von Vereščagins Gemälde A potheose des K rie g s
(1871-72), m it e in e r "Pyramide t o t e r Landwehrmänner", geht
Krleža zu e in e r katastrophischen P ro je k tio n über, deren Träge‫־‬
r in die "Straße" is t. Die P ro je k tio n is t g lo b a l: ein " a lle s
zerstörender Rhythmus" wird m it e in e r Flamme die ganze "Hirn-
meiskugel" erfassen (25 f . ) .
In der S v ib a n js k a p je s n a ( " M a ilie d " ) , das einen Monat zuvor
v e r ö f f e n t lic h t wurde, war die kosmische P ro je k tio n optim al -
s ie hatte ihren Ausgangspunkt in den "schlammigen Straßen" und
Zeichen des Krieges:

[ . . . ] Svibanj , bajonete,
o, sve to svladat de Čovjek, i L ju d i k o j i le t e ,
i kozmički Žiq zvijezde u d a r it de svemu.
(40 f . )
[ . . . ] Mai, Bajonette, / oh, a lle s w ird der Mensch über‫־‬
winden, und Menschen, die flie g e n , / und den kosmischen
Stempel des Sterns werden s ie allem aufdrücken.

Es i s t h ie rb e i darauf hinzuweisen, daß das Syntagma Men-


sehen , d ie flie g e n an bei Krleža gegenwärtigen Motiven des Ika ro s-
Mythos anknüpft und daß die Zeichen M a i, r o t e Welle und S te rn
von Emblematik b e la s te t sind, insbesondere wegen des Erschei-
nens eben dieser Texte in der s o z ia lis tis c h e n Presse (Novo
d ru š tv o ) .
Nur wenig später w id e r r u ft in Pjearna n a S ih dona ("Lied unse-
re r Tage", Januar 1919) das ly ris c h e Subjekt seine vorherige
Begeisterung fü r die "Rote Kommune und das Flammende Petroleum"
und verwendet ein (angebliches) E ig e n z ita t:

O, U lic o , kad deš i s k e s i t i zube?


O, U lic o , kad deš p o lo m iti spone?
O, U lic o , kad de z a j e č a t i trü b e,
i zvona t r iju m f u tvom kad de da zvone,
da s i o b o rila krune i trone!
0, kad deš U lic o mamutskom rikom
r i k n u t i : danas je svega dostal

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Die S tr a ß e a l s n e u e r M ythos 151

Krvavom svojom kada deš šapom


u d a r it i temeij k r is ta ln o g mosta,
što vodi p r ije k o ,
kad češ p o b je s n iti,
o. U lic o , о, Počelo, o R ijeko!
(1 1 1 )
О Straße, wann w ir s t du die Zähne blecken? / 0 Straße,
wann w ir s t du die Verbindungen abbrechen? / О Straße,
wann werden die Trompeten e rs c h a lle n , / und die Glocken
läuten zu deinem Triumph, / daß du d ie Kronen und Throne
niedergerissen hast! / 0, wann w ir s t du, Straße, m it
Mammut-Gebrüll / b r ü lle n : ab heute haben w ir von allem
genug! / Wann w ir s t Du m it deiner b lu tig e n Pfote / den
Grundstein fü r die k r is t a lle n e Brücke legen, / die h in ‫־‬
ü b e rfü h rt, / wann w ir s t du zu toben beginnen, / о Straße,
o U r s t o f f , о Fluß!

Diese Eschatologie gehörte jedoch der Vergangenheit an. Im Ge-


gensatz zum prophetisch-apokalyptischen Subjekt e rsch e in t nun
ein r e s ig n ie r te r D ic h te r, der u nter den Bedingungen der Beharr-
l ic h k e i t von Massenvergnügungen, k irc h lic h e n Ritualen und
Kriegsereignissen die Rückkehr in das Chaos der S in n lo s ig k e it
anzeigt:

Arene, ka te d ra le , klaonice su pune,


Krvavi Apsurd k o lje i guta m iliju n e ,
i koja k o r is t ako M iroslav Krleža
p r o k lin je i кипе.
( 112)
Arenen, Kathedralen, Schlachthäuser sind v o l l , / das
B lu tig e Absurdum sch la ch te t und v e rs c h lin g t M illio n e n , /
und was n ützt es, wenn M iroslav Krleža / verwünscht
und v e r flu c h t.

Dem früheren "Krachen und Knallen der Barrikaden, Umstürze und


Minen" is t nun eine Sehnsucht nach ” h e ilig s t e r S tille " entge-
g e n g e s te llt. Der Mythos der Straße is t abgeschrieben und abge-
schlossen.
Von nun an wird in Krležas L y r ik die Straße n ic h t mehr
m it einem Fluß, sondern m it einem "Kanal” (einem eingeengten
Raum!) ve rglich en , bedeutet n ic h t mehr den Ausgangspunkt eines
Aufruhrs, der nach dem Kosmos g r e i f t - auf sie tro p ft die "Me-
lodie des Todes" in m itte n von " g if t ig e n S t il le n " {Pjesm a о s m rti
["Lied vom Tod"], 1923, 214), und das ly ris c h e Subjekt wäscht
sich re in "vom Gestank und von der S ta d t” ( Exodus и je s e n ["Exo-

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152 A lekea n d a v F lo k e r

dus in den Herbst"], 1923, 215). Schon in seinem Gedichtband


L ir ik a ("Lyrik", 1919) v e r ö ffe n t lic h te Krleža weder den Ficam én -
den Wind noch das L ie d u n s e re r Tage , sondern z y k lis ie r t e die Ge-
d ich te um c h a ra k te ris tis c h e Ü b ersch rifte n: Chaos, F e a t d e r I l l u s i o -
nen, G e d ich te ohne P o in te , G e d ic h t d e r Versöhnung. Die d ichterische
Reise vom Chaos zum Kosmos fand bald ein Ende. Die "Straße" in
Krležas Prosa lehnte sich an die groteske Ikonographie von
Grosz an.
Den Mythos der Straße g e s ta lte te in der kroatischen Male-
re i synchron Ljubo Babid, der graphisch - eben m it einer roten
Flamme ‫־‬ Krležas Pjeame I , I I t ( "Gedichte I und I I " , 1918) charak-
te r is ie r te . Auf seinen B ild e rn Schwarze Fahne (1916), Schwarze F a h -
nen (1918), R ote F la g g e n (1919) w ird die Straße von oben gesehen,
so daß man den Eindruck e in e r Verkleinerung der unpersönlichen
Spaziergängergruppen gewinnt, die zu e in e r zerrissenen schwar-
zen Fahne in einem Kontrast stehen, aber auch zu einer "macht-
v o lle n Bewegung des fahlen wolkigen Himmels, den t i e f e blaue
Schneisen zerreißen und durchschneiden wie , negative' fin s te r e
B lit z e [...] wie ein kosmogonischer Schwung von K räften, wenn
es n ic h t ein vernichtender Wind der Apokalypse i s t , der a lle s
davonwehen und davontragen w ird " (Schwarze F a h n e ) 3 0 . Im anderen
F a ll gehören die Fahnen von emblematischer Farbe (R ote F la g g e n ,
Revolutionsmuseum Zagreb) der Straße an a ls e in e r "F lu t einer
noch glühenden rotbraunen Lava von Menschenmengen" und der Aus-
breitung ih r e r Massen in einem b i l d l i c h d a rg e s te llte n "Crescen-
do" . 31 Krleža wie Babid benützen sowohl in Golgatha-Motiven als
auch in Straße-Fluß-Motiven barocke Erfahrungen, die in der
kroatischen k u ltu r e lle n T ra d itio n s tä rk e r betont sind als in
der russischen.

Aua dem K ro a tis c h e n


von H eide Zirrnerm ann

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Die S tr a ß e a l s n e u e r M ythos 153

A N ME R K U N G E N

1 A.F. Losev, Znak, s im o o l, m if, M. 1982, S. 444.


2 N.V. Gogol1, S o b ra n ie s o č in e n ij, Bd. III, M. 1949, S. 8.
3 Ebd., S. 41.
** Vgl. J . Holthusen, Petersburg a ls l it e r a r is c h e r Mythos, in :
J . H . , R ußland in Vers und P ro s a , München 1973, S. 9-34.
5 D.S. Lichačev, Ot redaktora, in : A. Belyj, P e te rb u rg , M. 1981,
S. 6.
6 Die B e g r i f f e A r t e r i e , S ch la g a d e r heben w ir a b s ic h tlic h hervor,
w e il der Vergleich des urbanen m it dem menschlichen Organismus
schon in der russischen "naturalen Schule" der v ie r z ig e r Jahre
betont wurde. Val. z.B. die Prosasammlung F iz io lo ģ ija P e te rb u rg a ,
1845.
7 A. B e l y j , P e te rb u rg , M. 1981, S. 9.
8 Ebd., S. 20.
9 Ebd., S. 20.
10 Brjusov z i t i e r t a ls Motto d ie O ffe n b a ru n g 6 , 8 , deshalb über-
setzen w ir den T i t e l nach der L u th e r-B ib e l.
11 PSS$ Bd. I , M. 1955, S. 118. Nach die se r Ausgabe auch die
weiteren Z ita te aus M ajakovskij. Die Seitenzahl f o l g t u n m itte l‫־‬
bar dem Z i t a t .
12 Heute in der G alerie Beyeler, Basel.
13 Z i t .
nach R ussian A r t o f th e A va n t-G a rd e . Theory and C ritic is m
1902-1934. Ed. and T ra n si, by J.E . Bowlt, New York 1976, S.81.
1 ** In: A. Lam (Hg.), P o ls k a aw angarda p o e ty c k a , Bd. II, Kraków
1969, S. 9.
15 W. Majakovskij, Poeme, nachgedruckt von H. Huppert, B e rlin
1968, S. 14. Im weiteren z itie r t a ls "Huppert".
16 Vgl. zum Golgatha-Mythos bei M ajakovskij: J . S tr ie d te r ,
P oesie a ls ' neuer M yth o s ' d e r R e v o lu tio n am B e is p ie l M a ja k o v a k ijs ,
in : M. Fuhrmann tHg.), T e rro r und S p ie l . Probleme der
Mythenrezeption, München 1971, S. 409-434. S tr ie d te r berück-
s ic h t ig t auch den Mythos der Großstadt und der Straße, wobei
auf seine Unterscheidung - in der Poesie Majakovskijs - zwi-
sehen der Stadt als "statischem und hermeneutischem Moment"
und der Straße als "ausgesprochen dynamischem, zum Durchbruch
drängendem Moment1 * (S.423) besonders hinzuweisen i s t .
17 Zum B e g r iff e s c h a to lo g is c h e r M ythos v g l. E.M. M e le t in s k ij, P o e ti-
ka m ifa , M. 1976, S. 222-225.
18 Oberammergau erwähnen w ir h ie r a b s ic h tlic h : das Genre der
Mysterienspiele als ö ffe n tlic h e Aufführungen war im orthodoxen
Rußland n ic h t e n tw ic k e lt, und so b e r ie f sich Majakovskij in
seinem Streben nach Veränderungen im Theater schon 1913 auf das

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154 A le k sa n d a r F ia k e r

"Theater von Oberammergau", das "d ie Worte n ic h t m it den Fes*


sein geschriebener Worte hemmt" (PSS I , 277). Dementsprechend
erschien auch das M yste riu m B u ffo in zwei Textvarianten in zwei
verschiedenen h is to ris c h e n S itu a tio n e n .
10 Vgl. N.F. Fedorov, Vystavka 1889 goda, in : N.F.F., S o ö in e n ija ,
M. 1982, S. 442-472.
20 S tr ie d te r , Poesie a ls , neuer Mythos1, S. 423.
21 V gl. N. Stepanov, V e lim ir C h le b n ik o v ,
M. 1975, S. 217-219. M it
Bloks Poem v e rg lic h S tr ie d te r die vo rre vo lu tio n äre n Poeme Maja-
kovskijs und hob dabei hervor, daß in ihnen die Revolution in
"Mordbrennern, Dirnen und Proleten" ve rkö rp e rt i s t s t a t t im
klassenbewußten P r o le ta r ia t ( S tr ie d te r , S. 427). In dieser Hin-
s ic h t war Chlebnikovs Straße e b e n fa lls verwandt m it der Bloks,
doch erschienen in i h r am Rand auch klassenbezogene Merkmale.
22 A lle s V. Chlebnikov, S o b ra n ie p ro iz v e d e n ij , L. 1928-33, Bd. I I I ,
S. 266, 270. Nach dieser Ausgabe auch die weiteren Z i t a t e aus
Chlebnikov. Die Seitenzahl f o l g t un m itte lb a r dem Z i t a t .
23 Vgl. A. Fiaker, Ruska a va n g a rd a , Zagreb 1984. - In dem u n v o ll-
endeten Text, der der G egenwart vorausging und der heute als G or-
ja ö e e p o le ("Heißes F eld ", v g l. Stepanov, S. 213-224) z i t i e r t
w ird , i s t die Id e n tifiz ie r u n g der avantgardistischen D ichter
m it den Stimmen der Masse (in diesem Text werden sie n ic h t als
"Stimmen der Straße" bezeichnet) noch d e u tlic h e r. Neben den
‫״‬G eistlich e n des Lachens" (257) finden sich h ie r auch "Lieb-
haber der Dachrinnen" ( lju b o v n ik i v o d o s to ä n o j t r u b y ) , was eine d i -
rekte Assoziation m it Majakovskijs programmatischem Text A vy
m o g li by? ("Tja, könnten S i e . . . ? " , 1913) h e r v o r r u ft, der m it der
Aufforderung endet, eine Nocturne "auf e in e r F lö te von Dachrin-
nen" zu sp ielen. Ebenso i s t hervorzuheben, daß in diesem Poem
das ikonoklastische M otiv, das sich später "gottkäm pferisch" in
der Gegenwart e n tw ic k e lt, un m itte lba r an die Straßenmalerei der
Firmennamen anknüpft. Der "Gott der Straße" i s t h ie r ein " d ik -
ker Kaufmann" ( t o l s t y j k u p č in a -b o ž iš č e ) . Ein solcher "G ott" i s t
wiederum den "Schildermalern" (Ž ivo p isa a m v y v e s k i ) wohlbekannt:
Его образа висят
На всех улиц боках
Итак, рядом с мордой тупого быка,
Белою тушей гусят.
(248)
Seine B ild e r hängen / An a lle n Hüften der Straßen / Und so,
neben dem Maul eines stumpfsinnigen S t i e r s , / m it dem weißen
Wanst von Gänsen.
Dann f o l g t Chlebnikovs Annäherung der Bedeutung nach dem Klang,
nun schon geradewegs blasphemisch:
Не даром приделай -атый
Из бога выйдет богатый.
В один гроб закопать их лопатой!
(249)

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Die S tr a ß e a l s n e u e r M ythos 155

Füge n ic h t unnötig [das S u f f i x ] - a t y j an / Aus bog [= Gott]


w ird dann b o g a ty j f= ein R eicher]. / In ein und demselben
Grab s o l l man sie m it der Schaufel begraben!
2a Vgl. die Reproduktion in : L in k s ! L in k s ! L in k s ! Eine Chronik in
Vers und Plakat, 1917-1921, hg. von F. Mierau, B e rlin (DDR)
1970, S. 98.
25 Vgl. S. V ie tta /H .-G . Kemper, E x p re s s io n is m u s , München 1975,
S. 30-40.
20 Eben den Text von von Hoddis b e g le ite t Krleža m it seiner
Aussage über den Menschen und die S tadt:
Čovjek se je izgubio и kameņu, izmedju hidranata, plinom je-
ra, Žica i s ta t is t iČ k ih podataka, čovjek se je и strojevnom
stanju i sam podvrgnuo stro je vn im zakorima i pomalo nestaje
и mehanizmu grada.
Der Mensch hat sich im Stein v e rlo re n , zwischen Hydranten,
Gasuhren, Drähten und s ta tis tis c h e n Angaben, der Mensch hat
sich in einem maschinellen Zustand auch s e lb s t maschinellen
Gesetzen untergeordnet und verschwindet langsam im Mechanis-
mus der Stadt.
Die Stadt wiederum bedeutet h ie r f ü r Krleža ein "Lohnverhält-
n is und eine Unterwerfung von Körper, Seele, A r b e its k r a ft und
Überzeugungen, eine Frage der W o llu st, S in n lic h k e it und Lü-
s te rn h e it vom Ekstatischen b is zum K rim in e lle n *1 (M. Krleža,
0 nemirima današnje njemačke l i r i ķ e [1930], i n : M.K., E s e j i ,
Zagreb 1932, S. 195.
27 M. Nehajev, Bd. I , Zagreb 1964, S. 302.
28 M. Krleža, S im fo n ije , Zagreb 1933, S. 178. Nach diesem Band
auch die weiteren Z i t a t e .
29 M. Krleža, P o ē z ija , Zagreb 1969, S. 24. Nach diesem Band auch
die weiteren Z i t a t e .
30 Eigentümer Josip Vaništa, Zagreb.
31 Ich z i t i e r e R. Ivančevid, B i l j e š k e о L ju b i Babiću, in : Z iv o t
u m je tn o s ti 29/30, 1980, S. 35-44.

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M iroslav DROZDA (Praha)

МИФОЛОГИЗМ ЛЕОНИДА АНДРЕЕВА

"Неомифологизм", характерный для литературы начала XX века,


сказался также в творчестве Леонида Андреева. Это заметно даже
на первый взгляд в таких его произведениях, в которых действие
протекает на фоне общеизвестного мифологического сюжета, являясь
его новой интерпретацией или новым вариантом, как, например, в
рассказах ,,Бен Товит" и "Елеазар", в повести "Иуда Искариот",
в романе "Дневник Сатаны" (здесь мифологический персонаж стал
даже рассказчиком).
Разумеется, цитирование мифологических сюжетов и образов
представляет собой лишь частное проявление общей установки, а
именно ведения мира в более широком, чем только социально-исто-
рическом и психологическом плане: конкретная история и судьба
человека, не являясь уже антропоцентрически-самоценной и еди-
ничной, соотносится с определенным космическим, безраздельно
над ней властвующим порядком.
Мифологические аспекты творчества Л. Андреева получили яр-
кое отражение в современной ему реалистической и символистской
литературной критике. Реакции ее были противоречивы: реалисты
относились к андреевскому мифологизму отрицательно, символисты
находили в нем точки соприкосновения с собственной эстетикой.
Принципиальные возражения реалиста содержит рецензия В.Г.
Короленко на повесть Андреева "Жизнь Василия Фивейского" (1904
г.). Короленко полемизировал с "авторским лиризмом", т.е. с по-
пыткой Андреева противопоставить миропониманию героя, истолко-
вавшего цепь своих семейных бед как проявление своего избрании-
чества для совершения чуда и, следовательно, для доказательства

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158 Mir0 8 lav Drozda

положительного смысла мироздания, собственную идею мистически-


злой преднамеренности природы. Для Короленко это ‫־‬ "злые фантомы
отживших мировоззрений и пугающие призраки злой и бешеной ночи"

4•
Андреев, по его убеждению, анахронически вызывает "в душе совре-
менного человека давно погребенные под другими психологическими
напластованиями старые страхи фетишизма", покидая демократичес-
ки-антропоцентрические позиции, исходящие из научно обоснованной
веры в непрерывный рост познания, во все б&льшую власть человека
над природой и связанную с ней все более широкую гуманизацию
мира.
По мнению Короленко, андреевская искажающая мир концепция
приводит к искажению сюжета и психологической достоверности ге -
роев. Например, реакция матери на рождение ребенка-урода в тол-
ковании Андреева определяется одним ужасом, вызываемым его об-
ликом, который наделен зловещим символическим значением; в этой
реакции автором не учтены два психологически существенных мо-
мента, а именно, с одной стороны, материнская любовь и чувство
сострадания к ребенку и, с другой, привычка, которые в дейст-
вительности совсем по-другому формируют отношение матери к нему.
Такое реальное, психологически достоверное отношение к дефек-
тивному ребенку может даже стать нормой поведения не только
матери, но и самого общества, превратившись в практическую соци-
альную политику. (Ср. Короленко 1904:367-369.)
Таким образом, расхождение с антропоцентризмом привело к
искажению реалистической поэтики, основанной на миметической
репрезентативности героя и среды.
Аналогичный смысл имеют возражения Льва Толстого, при чте-
нии произведений Андреева (как и других писателей) ставившего
им "школьные" отметки (с " 0 " = совершенно неудовлетворительно
по "5" = отлично, или даже +5) или оценки типа " п . " (=плохо).
Там, где Андреев раскрывал напряжение между внутренним нравст-
венным обликом и внешними поступками человека, являющееся ис-
точником его своеобразия и его цельности. Толстой ставил ему
высокие отметки (см., например, отметку "5+", поставленную рас-
сказу "Христиане"). Зато повсюду, где нарушалась иерархия чело-
века и среды и внутреннее состояние героя сливалось с общим со­

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Мифологизм Леонида Андреева 159

стоянием мира, т.е. где человеческая личность больше не являлась


мерой вещей, Толстой строго критиковал Андреева.
Например, "О" получили следующие строки из рассказа "В тем-
ную даль":

[Люди шумно] перекликались, и маленькие, дорогие, хрупкие


и ненужные вещи уже не боялись за себя. Они гордо смотрели
с своих возвышенных мест на суетливых людей и безбоязненно
выставляли свою красоту, и все, казалось, в этом доме слу-
жило им и преклонялось перед их дорого стоящим существова-
нием. (Ср. Библиотека 1958:22)

Оценку " п . " получили следующие строки из рассказа "Защита":

[ . . . ] Хорошо бы пойти к ним. Стать на колена и припасть


головой, ища защиты, к их чистенькому тельцу. Бежать от
этого ужаса! Бежать!... Бежать? Но ведь у нее тоже был ре-
бенок? Только в одном крике, продолжительном, диком, мог
выразить Колосов свое чувство. О, если бы у него был язык
богов! Какая громовая, безумная речь пронеслась бы над этой
толпой! Растворились бы жестокие сердца, рыдания огласили
бы зал, свечи потухли бы от жалости и горя! Как тяжело быть
человеком, только человеком!.. (Там же:18)

В первом отрывке поэтизирующая персонификация вещей отме-


няет реалистическую иерархию человека и среды и создает нечто
похожее на "атмосферу мира", во втором же внутреннее состояние
героя перерастает в состояние мира вообще.
Однако для Андреева миметическая репрезентативность героя
и среды теряет значение самодовлеющей меры вещей не из-за "ста-
рых страхов фетишизма", а благодаря вполне современному миро-
ощущению. Его "мифологизм" стал закономерной реакцией на мифоло-
гичность окружающей его действительности, чтб и удалось уловить
и раскрыть символистам, проявлявшим к Андрееву преимущественно
положительный интерес. Например, Александр Блок (ср. Беззубов
1984:156 и сл.) в своих воспоминаниях 1919 г . охарактеризовал
свою близость к Андрееву как совместное их ощущение, "что везде
неблагополучно, что катастрофа близка, что ужас уже при дверях",
как перекличку свою "с тем хаосом, который он в себе носил";
"так вот перекликнулись два наши хаоса" (Блок 1919:330).
Ощущение мирового "хаоса" находил в Андрееве и Андрей Бе-
лый. В 1904 г . он написал:

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60 ‫ן‬ M iro s la v D rozda

Наша жизнь - безумие. Сама наука - только найденный ритм


безумия. Спокойная маска на воспаленном лице. Загляни
сквозь нее "в пустых очей ночную муть", тот же хаос бес-
цельности, что и в бешеном беге прохожих, мчащихся вдоль
улиц неизвестно куда. Хаос души сливается с хаосом жизни
[...]

Именно в такой контекст Белый включает Андреева:

Хаос всегда за спиной рассказов J1. Андреева. И по мере


того, как рос этот крупный талант, хаос дерзновенный вы-
ростал в его произведениях, и когда герои его проходили
по комнатам, хаос плясал на стенах уродливыми тенями их.
Наконец, скрылись люди и остались их тени, неожиданно рас-
пластанные по всем направлениям. И безумны были их излоьы.
И вот в рассказе "Призраки” сорвана последняя маска обман-
ной здравости, полнозвучней, чудесней звучит в ней песнь
торжествующей ночи. Люди вдруг превратились в карандаши,
которыми чьи-то невидимые руки зачертили прихотливые ара-
бески [ . . . ] . (Белый 1911:485,486)

Белый дает название принципиальному изменению: превращению


человека из самодавлеющей личности, являющейся мерой вещей, в
существо инструментальное. Исходя из несколько иных предпосылок,
к такому же выводу пришел и Александр Блок. Из его мысли о тра-
гически-непреодолимом разрыве между интеллигенцией и народом
также вытекает заключение, согласно которому индивидуум не может
стать настоящей мерой предстоящей катастрофы, движущие силы ко-
торой находятся вне личности.
Важно то обстоятельство, что речь шла именно о мифологи-
ческом образе "хаоса", связанном с семантикой пространственно-
временной бесконечности, "разъятости вплоть до пустоты или, на-
оборот, смешанности всех элементов", неупорядоченности и, вслед-
ствие этого, максимальной энтропичности, т.е. абсолютной изъя-
тости из сферы предсказуемого, "иначе говоря, предельной удален-
ности от сферы , культурного1, человеческого, от логоса, разума,
слова и как следствие - ужасности, мрачности” (Топоров 1982:581).
В символистской прозе принцип деиерархизации антропоцентри-
чески упорядоченного мира привел к глубоким структурным измене-
ниям. В поле притяжения нового мифа попадают в с е планы тек-
ста, вступающие в различные отношения гротескной амбивалентности
- начиная с его субъекта и с персонажей, кончая звуковым планом.
Например, в прозе Ремизова снята граница, разделяющая автокомму-

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Мифологизм Леонида Андреева 161

никацию героя и точку зрения рассказчика, тогда как в "Петер-


бурге" Белого рассказчик превращает персонажей в марионетки
своей всеобъемлющей концепции, одновременно подчиняясь фантас-
магориям героев, т.е. принимая продукты их бреда в дальнейшее
повествование на правах самостоятельных персонажей и т . п . В про-
зе Ремизова и Белого развертывается своеобразная гротескная
игра: отменяется эпический суверенитет повествующего субъекта,
однако не в смысле предоставления ему ограниченного психологи-
чески достоверного горизонта индивидуума, а в смысле допущения
до роли центральной точки зрения текста любого компонента любого
его плана (вплоть до отдельных звуков!). Разумеется, все это -
именно и г р а , маска автора, на самом деле являющегося деми*
ургом текста. Приводя при помощи нарративной игры в движение, в
гротескно-амбивалентные соотношения все планы текста, автор
строит из него - лицом к лицу с "хаосом", разрушением описывав-
мого мира - новое пространство свободы, мир, наделенный своим
автономным порядком, противопоставляемый миру вне произведения.
Гротеск становится принадлежностью не только тематических ком-
понентов текста, но структуры текста как таковой. (См. Дрозда
1981 .)
В прозаическом произведении это сказалось, прежде всего, в
новом понимании сюжета. Его движущей силой является уже не
столкновение характеров, а прямое соотнесение героя с общим на-
чалом мира. И так как это начало полностью и неизменно господ-
ствует над героем, отдельные поступки персонажа не в состоянии
образовать настоящую биографическую последовательность само-
утверждения, они лишь сополагаются параллельно, в виде повторе-
ния одного и того же одностороннего отношения, в рамках которого
герой становится именно "карандашом" - инструментом. Таким об-
разом, взаимоотношение отдельных поступков становится не эпи-
чески-процессуальным, а лирически-параллельным. Единственное
возникающее здесь движение - самопознание героя в состоянии соб-
ственной слабосильности, т.е. инструментальности•
В поэтике символистской прозы с ослаблением эпической про-
цессуальности связана повышенная роль п о в т о р е н и й
с е г м е н т о в т е к с т а . Повторению подвергаются не

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162 Мггов la v Drozda

только отдельные наименования и фразы, но даже целые абзацы и


сцены. (Ср. Кожевникова 1983:86.)
У Л. Андреева также встречаются повторения, обусловленные
аналогичным вйдением мира. Хотя здесь не повторяются более 06 ‫־‬
ширные, сверхфразовые отрезки текста, но повторение более мелких
единиц является неотъемлемой чертой его стиля и источником уси-
ленной его экспрессивности. H.A. Кожевникова (1983:86-93) описа‫־‬
ла многочисленные виды этих повторений, способствующих устано-
влению точек соприкосновения между миром природы и миром челове-
ка, взаимозависимости и взаимопроникновению этих двух миров,
перекрещиванию планов реальности.
Выше мы отметили, что именно это перекрещивание планов ре-
альности вызывало самые резкие возражения реалистической критики
в адрес Л. Андреева. Это вполне понятно: ведь при помощи именно
таких приемов и проводилась деиерархизация мира в виде антропо‫־‬
центрической структуры. И в этом устремлении сказалась близость
Андреева символистской прозе.
Однако близость не есть тождественность. В прозе Андреева
процесс мифологизации повлиял на структуру повествовательного
текста в гораздо меньшей мере, чем в прозе Белого или Ремизова,
чтб главным образом сказалось в андреевском понимании литератур-
ного г е р о я.
Персонажи Андреева не такие уж чисто инструментальные "ка-
рандаши, которыми чьи-то невидимые руки зачертили прихотливые
арабески", какими видел их - в согласии с собственной поэтикой -
Андрей Белый. Все они хотя и обречены на поражение, однако они
вовсе не являются безвольными орудиями мирового хаоса, вступая
в единоборство с ним, отстаивая самоценность своей личности. Сю-
жеты Андреева основаны на столкновении личностной установки ге‫־‬
роя с губящей личность "злой преднамеренностью природы". Поэтому
его герои представляют собою существа в определенном смысле
самостоятельные и, таким образом, хотя бы до некоторой степени
подлежащие оценке с точки зрения своей психологической и соци‫־‬
ально‫ ־‬бытовой достоверности.
Андреев сам, например, сказал о Василии Фивейском, что в
его лице он изобразил очень распространенный тип верующего

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Мифологизм Леонида Андреева 163

христианина (см. M a rtin i 1978:224); по словам В.Г. Короленко


(1904:363,360) основное настроение андреевского героя "типично
даже в своей исключительности", так как оно обусловлено "вечным
вопросом человеческого духа в его искании своей связи с беско-
нечностью вообще и с бесконечной справедливостью в частности".
Жена Василия Фивейского также показана не только под знаком
экзистенциального ужаса, включающего ее в перспективу злой сущ-
ности мира, но одновременно и как "типичная" деревенская попадья
В "Рассказе о семи повешенных" абсурдности мира, олице-
творяемой смертной казнью, противопоставлена целая гамма персона
жей, тщательно различаемых с точки зрения психологических, со-
циальных и идеологических мотивов их действий, из-за которых они
приговорены; чтобы сделать эту гамму как можно более широкой,
Андреев к пяти интеллигентам (террористам) присоединил двух ге-
роев из народа, разных не только по характеру, но и по нацио-
нальности.
В произведениях Андреева абсурдность мира, мировое зло как
источник действия и трагедии героя обычно скрыто в бытовом ходе
вещей, который сам по себе не наделен каким бы то ни было "кос-
мически-системным" смыслом. Таково положение вещей, например, в
рассказе "Мысль": Доктор Керженцев наткнулся на абсурдность мира
(на хаос), когда любимая им женщина не ответила ему взаимностью,
т.е. когда их эмоциональные устремления разминулись. Однако
внешне рассказ основан на обычной теме убийства из ревности; тот
факт, что для героя преступление представлялось актом бунта про-
тив насмешливо-злого миропорядка, скрыт под бытовой поверхностью
события, "реалистически" мотивированного тем обстоятельством,
что убийца является психиатрическим пациентом.
Меньшая степень мифологизации андреевской прозы по сравне-
нию с символистской сказалась также в понимании с у б ъ е к т а
п о в е с т в о в а н и я , его коммуникативной ситуированности.
В противоположность символистам, в прозе которых субъект рас-
сказа втянут в сферу мифа-хаоса, Андреев не сделал прозу пред-
метом указанного структурного преобразования. Здесь субъект со-
храняет четкую эпически-доминирующую позицию, соответствующую
четкой, неамбивалентной позиции героя, чем и объясняется невоз-

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164 M iro sla v Drozda

можность гротескной вэаимозаменимости субъекта текста и героя:


герой действует как самостоятельное существо, а субъект повеет-
вования является голосом его бунта, его лириком и моралистом.
Современники упрекали Андреева в том, что он сплошь и рядом
пользуется поэтическими штампами (вроде "сад вечно таинственный
и манящий", "острая тоска", "жгучее воспоминание", "молчаливая,
творческая дума", "огромное, бездонное молчание" и т.д. и т.п .),
называя это "красноречием дурного вкуса", "революционной казен-
щиной, которая хуже правительственной". (Ср. Мережковский по Чу-
ковскому 19086:82-85.) Даже современный, лишенный литературно-
критического азарта лингвостилистический анализ (см. Кожевникова
1983) отмечает использование писателем традиционных образов,
приводя многочисленные трафаретные метафоры и сравнения.
"Красноречие дурного вкуса" вытекает как раз из противоре-
чия между мифологичностью миропорядка и внемифологической пози-
цией субъекта текста: не участвуя в мифической стихии мира, этот
субъект может только н а з ы в а т ь его чуждую себе сущность,
трафаретной поэтичностью и риторичностью выражая сверхреалисти-
ческий смысл изображаемого.
Изъятость субъекта текста из сферы современного мифа явно
связана с какой-то недоработанностью общего миропонимания Ан-
дреева. По словам Александра Блока, Андреев в ряде своих произ-
ведений ставил

нелепый, досадный вопрос, который предлагают дети: "Зачем?"


Что ни скажешь ребенку, он спрашивает: "Зачем?" Взрослые на
этот вопрос ничего не в состоянии ответить; но они также не
в состоянии признаться в том, что они не могут ответить на
этот вопрос. Просто - "глупый вопрос", "детский вопрос";
вот то, что мне лично кажется самым драгоценным в Л. Андре-
еве/ он всегда задавал этот вопрос и был трижды прав, за-
давая его, потому что вот сейчас этот самый вопрос задает
цивилизации великое дитя - Россия, а ответить на него так,
чтобы за ним не последовало опять второе, полуравнодушное,
полукапризное "Зачем?", никто не может. (Блок 1919:331-332.)

Андреев являлся "детским" потому, что он в равной мере на-


ходил абсурд ("Зачем?") в стихийности и случайности природы и в
нормах общественной жизни. Он произносит свое "Зачем?" и по по-
воду биологической несправедливости ‫־‬ некрасивости и неодарен-

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Мифааогизм Леонида Андреева 165

ности, и по поводу несчастной, неразделенной любви, и трагиче-


ского стечения личных бед, и смертной казни или войн. Сам он
сформулировал свою точку зрения следующим образом:

Стена - это все, что стоит на пути к новой, совершенной и


счастливой жизни. Это [ . . . ] политический и социальный гнет;
это несовершенство человеческой природы с ее болезнями,
животными инстинктами, злобою, жадностью и пр .; это вопросы
о цели и смысле бытия, о боге, о жизни и смерти - "прокля-
тые вопросы". (Женевский 1925:258.)

"Детски-наивный" характер подобного вопроса состоит в том,


что он ставится как-бы на самом п о р о г е затрагиваемой им
сферы, а спрашивающий не способен перешагнуть через порог туда,
где раскрывается определенная иерархия мира. Абсурд здесь сплош-
ной, недифференцированный.
Блок, по своей вероятности, сумел оценить позицию Андреева
потому, что в своем литературном окружении он сплошь и рядом
имел дело с целыми абстрактно-неподвижными мистическими доктри-
нами, удобно распределявшими абсурдный мир по своим априорным
ящикам. По сравнению с ними Андреев выглядел непредвзятым, гру-
бым, "некультурным‫ *״‬и, поэтому, достоверным. Для Блока он являл-
ся одним из голосов той скрытой под поверхностью стихии, которая
готовилась разрушить дотла существование русской интеллигенции.
В таком контексте даже стилистические штампы могли сыграть роль
более "естественных", более неизысканных, чем средства модернис-
тов, моделировавшие автономное пространство художественного
текста.
В.И. Беззубов (1984:179-180) писал, что "Андреев при всей
своей большей реальности и социальности был менее историчен",
чем Блок. Блок, а также Белый были в самом деле более "историч-
ными" потому, что своим повествованием (напр.. Белый в "Петер-
бурге", Блок в "Двенадцати") они раскрывали конфликт и движение
(хотя бы мистически понимаемых) национальных, социальных, paco-
вых и т.п. систем; их миропонимание - процессуальное.
В противоположность этому Андреев "во многих произведениях
[...] стремился показать ,человека вообще1, а не человека дан-
ной исторической эпохи. Он хотел писать о , вневременном‫ ״‬и
1 внепространственном* [...]" (Там же :180) .

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166 M iro sla v Drozda

Эта установка неизбежно повлияла и на особый вид андреев-


ского мифологизма и, прежде всего, на понимание того хаоса, с
которым неизменно сталкиваются его герои: он ‫־‬ именно "стена",
т.е. он остается неподвижно-отрицательным, тогда как "возможно,
важнейшая черта Х[аоса] ‫־‬ это его роль лона, в котором зарождает
ся мир, содержание в нем некоторой энергии, приводящей к порожде
нию" (Топоров 1982:581). Такое понимание хаоса характерно для
символизма, в отличие от Андреева стремившегося к космогонич-
ности.
Думается, что известная статичность повествовательной струк
туры прозы J1. Андреева, исключение субъекта текста из сферы мифо
логии современного мира, нерасчлененность (неиерархичный харак-
тер) абсурда, некосмогоничность хаоса, с которым сталкиваются
его герои, и связанный со свеми этими чертами "беспроблемный"
традиционализм, трафаретность стилевых средств и приемов не от-
крывали ему путь к последующим литературным течениям, а скорее
закрыли его.
Даже современники, считавшие Андреева "синтезом нашей эпохи
под сильнейшим увеличительным стеклом" (Чуковский 19086:218),
часто упрекали его в художественной непоследовательности. Напри-
мер, Андрей Белый писал о нем, что у него свой стиль, что "в
нем бьется ритм души точно в пространстве ночи крылья испуганной
птицы", однако что "слога у него нет. Читаешь - точно черновик
гениального мастера" (Белый 1911:492,493). По словам Д.С. Мереж-
ковского (см. Чуковский 19086:91) "Андреев не художник, но все
же почти гениальный писатель", по мнению А. Блока "есть литера-
торы, популяризаторы и проч. (Боборыкин, Потапенко, наполовину
Л. Андреев) и есть п и с а т е л и (Вал. Брюсов, А. Белый)"
(Блок 1919:155). Сам же Андреев неоднократно говорил, что в ходе
работы над своими произведениями он прежде всего пытался выра-
эить свою мысль, одновременно указывая на несовершенство ее
оформления (см., например, его письмо к Л.Н. Толстому по поводу
"Рассказа о семи повешенных", Андреев 19716:419, или признание
несовершенства рассказа "Мысль" в письме к М. Горькому, Литера-
турное наследство 1965:143).
Для современников, однако, Андреев все же представлял из

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Мифапогизм Леонида Андреева 167

ряда вон выходящее явление, "как бы фокус всех типических черт,


разрозненно пребывающих в других современных писателях" (Чуков-
ский 19086:218). Но для пришедших на смену и "знаньевцам", и
символистам авангардных течений и для связанной с ними литера‫־‬
турной критики и теории он словно не существует; авторы вроде
Шкловского, Эйхенбаума, Жирмунского изучают русский символизм,
но Андреевым, творчество которого именно в годы их юности поль-
зовалось огромной популярностью, они не интересуются, словно он
стоит где-то на забытой всеми тропе, в стороне от магистрального
пути современной им русской литературы. Уже в 1923 г . пишет Д.С.
Мирский: "В настоящее время Андреев [...] почти забыт". (См.
M ir s k ij 1964:370.)
Думается, что такая судьба ‫־‬ прямое последствие своеобраз-
ной художественной позиции Андреева, в том числе и его миф0 л0 ё
гизма.

Л И Т Е Р А Т У Р А

АНДРЕЕВ, Леонид
1971а Повести и рассказы в двух томах. Том первый. 1898-1906
г г . Примечания. С. 651-685.
19716 Повести и рассказы в двух томах. Том второй. 1907-1919
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БЕЗЗУБОВ, В.И.
1984 Леонид Андреев и традиции русского реализма, Таллин.
БЕЛЫЙ, Андрей
1909 Апокалипсис в русской поэзии. - В: Весы, » 5, с. 11-28.
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БИБЛИОТЕКА
1958 Библиотека Льва Николаевича Толстого в Ясной Поляне.
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БЛОК, Александр
1919 Памяти Леонида Андреева. ‫ ־‬В: А.Б., Сочинения в двух
томах, т . I I , Москва, 1955, с. 328-334.
ДРОЗДА, Мирослав
1981 Петербургский гротеск Андрея Белого. - В: Umjetnost
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ЖЕНЕВСКИЙ, Александр
1925 Леонид Андреев и его "Стена". (Новый материал о Леониде
Андрееве.) - В: Звезда, » 2 ( 8 ) , с. 257-258.

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1 68 M iro sla v Drozda

КОЖЕВНИКОВА, H.A.
1983 О некоторых особенностях словоупотребления в прозе J1.
Андреева. ‫ ־‬В: Творчество Леонида Андреева, Курск,
с. 86-99.
КОРОЛЕНКО, В.Г.
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турная заметка. - В: В . Г .К. , 0 литературе, Москва, 1957,
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ЛИТЕРАТУРНОЕ НАСЛЕДСТВО
1965 Т. 72. Горький и Леонид Андреев. Неизданная переписка,
Москва.
МЕЛЕТИНСКИЙ, Е.М.
1976 "Мифологизм" в литературе XX века. - В: Е.М.М., Поэтика
мифа, Москва, с. 277-372.
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МИНЦ, з . г .
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Тарту, с. 76-120.
ТОПОРОВ, В.Н.
1982 Хаос первобытный. - В: С.А. Токарев (ред.), Мифы наро-
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ЧУКОВСКИЙ, К.
1908а Леонид Андреев большой и маленький, С.-Петербург.
19086 Леонид Андреев. - В: К.Ч., От Чехова до наших дней.
Изд. 2-е, доп., С.-Петербург, с. 218-230.
BURGHARDT, Oswald
1941 Die Leitm otive bei Leonid Andrejev, L e ip z ig .
MARTINI, Angela
1978 Erzähltechniken Leonid N ikolaevič Andreevs, München.
MIRSKIJ, D m itr ij S.
1964 Andrejev. - In : D.S.M., Geschichte der russischen L i -
te r a tu r , München, S. 364-371.

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Dagmar BURKHART (Hamburg)

MYTHOIDE VERFAHREN DER WELT‫ ־‬GENERIERUNG IN ANDREJ BELYJS ROMAN


‫ ״‬PETERBURG"

Für uns, die w ir so v i e l später le -


ben und obendrein von so w e it her-
kommen, i s t es überhaupt o f t schwer,
solche Dinge zu verstehen wie die
scheinbar ungezwungene und s e lb s t-
ve rstä n dlich e Logik, m it der die Ge-
s ta lte n der antiken griechischen My-
th o lo g ie je d e rz e it b e r e it s in d , aus
einander zu emanieren, a ls warteten
sie sozusagen nur auf den b e fre ie n -
den Schwertschlag, der aus einer
G o tth e it g le ic h zwei neue machen
w ird .
Lars Gustafsson: Die d r i t t e Rochade
des Bernard Foy, 1986

0. Die russische Moderne und die ih r inhärente mythopoetische


Orientierung gaben Anlaß zu e in e r Theoriediskussion, in deren
Verlauf der Neomythologismus des Symbolismus bzw. der Moderne
häufig m it dem der Romantik g le ic h - oder p a ra lle lg e s e tz t wurde.
Tatsächlich v e re in t beide die Auffassung eines d v o e m irie (vgl.
Mine 1979:90 f f . ) , e in e r Doppelwelt, das h e i ß t : dualer k o r r e -
spondierender Welten von D ie sse its und Je n se its, Bewußtem und
Unbewußtem/Unterbewußtem, doch n e ig t der Symbolismus eher zur
Vorstellung eines m n o g o m i r i e , eines Vielweltensystems ohne
seins- und wertmäßige H ie ra rch isie ru n g . Während in der Frühpha-
se des Symbolismus der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
(bei Hansen-Löve 1987:16 f f . als S I = Symbolismus I bezeichnet)
das Symbolische d ia b o lis ie r t und die "ä sth e tisie re n d e (also 'im -

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170 Dagmar B u rkh a rt

pressive‫ ) ׳‬Wirksamkeit, die v p e č a t lit e l *n o s t ' der symbolischen rtam eki


v e ra b s o lu tie rt” werden, o ffe n b a rt sich in der m ittle r e n Phase des
Symbolismus nach der Jahrhundertwende (= S I I bei Hansen-Löve)
dem theurgischen D ichter und Mythopoeten die andere Welt und das
k o lle k tiv e U n (te r)bewußte in "realen" Symbolen, in denen oder
durch die der in o j m ir hindurchschimmert und aus denen in k o lle k t i-
ven Denk- und Schaffensprozessen der Mythos e n ts te h t. In der Spät-
phase des russischen Symbolismus (= S I I I ) s c h lie ß lic h dom iniert
das ” Konzept des *Weltmythos' ( ja des u n ive rse lle n m if о m ife ) ” , das
” eine N a rra tiv is ie ru n g des Modells eines m ir v a ta n o v le n ii bzw. a lo v o
v a ta n o v le n ii ‫ ״‬im p liz ie r t und "durch die Dehierarchisierung der klas-
sischen Mythenkanones und ih re Auflösung in ,Polysemie1 und p o l i -
k u l'tu m o a t* туthenverfremdend" w ir k t (Hansen-Löve 1987:27-29, unter
Berufung auf Mine 1979:94-96). So in te n d ie rte der Spätsymbolismus
weniger die R e s titu tio n archaischer Mythologeme und Motive, son-
dern vielmehr eine schöpferische Aneignung und A k tu a lisie ru n g ту -
th o -lo g isch er Denkstrukturen in te k a ty -m ify , die a ls L it e r a t u r über
L ite r a tu r und somit a ls komplexe k u lt u r e lle Phänomene aufgefaßt
wurden: Text-Mythen oder besser "Mythen-Texte” .

1, Andrej Belyj, der m it seiner n a rra tiv e n Prosa vor allem zu


dieser spätsymbolistischen Phase gehört, hat sich im Zuge seiner
Mythen-Neuschöpfung e k la ta n t mythoider Verfahren bei der Generie-
rung lit e r a r is c h e r Welten bzw. Weltmodelle bedient, was bei ihm,
und gerade bei ihm, ein ironisches S piel m it Mythologemen und
eine groteske Parodierung von mythischen Stoffen und Strukturen
im p liz ie r t .
Unter "mythoid" s o ll h ie r ,1mythenähnlich” verstanden werden:
in m otivisch-them atischer und/oder s t r u k t u r e lle r H in s ic h t Mythen
entsprechend, Mythen v e rg le ic h b a r.
"Welt” umfaßt im Mythos, wie er uns beispielsw eise in dem
nacherzählten a n tik-g rie ch is ch e n e n tg e g e n tritt, die Komponenten

- Raum ( in der antiken Mythologie ein profaner Raum, in den sa-


k ra lé Räume, g rie ch isch Tøueva 1 , e in g e b e tte t sind), wobei
mythische Orte stets p a ra ta ktisch angeordnet, in sich
jedoch hypotaktisch (m it einem zentralen Punkt) und

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M yth o id e V e rfa h re n d e r W e lt-G e n e rie ru n g ‫ו דו‬

syn ta ktisch s tr u k tu r ie r t sind;

- Zeit (die h e ilig e Zeit, g rie c h is c h Ládeoc xpóvoc), ein n ic h t-


lin e a r e r Z e itv e r la u f, gekennzeichnet durch identische
Wiederholung eines U rereignisses, das seine Ewigkeit im
Gegenwärtigen, seine H e ilig k e it , ausmacht (Lévi-Strauss
1967:253 s p ric h t von e in e r Wiederholung in Spiralbewe-
gung);

‫־‬ numinose Wesen ( id e e lle und m a te rie lle Wesen/Individuen m it


Allgemeinbedeutung), deren Name wie ein B e g r iff fu n g ie rt
(Gaia z.B. is t a lle s Erdhafte e tc .), deren Nennung be-
re its die mythische W ir k lic h k e it des Genannten bedeutet
und deren Wesen durch bestimmte räumliche Bereiche de-
fin ie r t sein kann;

- ein singuläres E reignis (g rie ch isch ápxfi)# das sich beständig


id e n tis c h oder in Varianten w ie d e rh o lt, eine ganzheit-
lie h e G e s ta lt, eine K o n s te lla tio n und ein Sachverhalt,
der ü b e ra ll und allgemein w ir k t und doch s in g u lä r und
zweckbestimmt i s t .

2. Von einigen V e rtre te rn der neuesten sowjetischen L it e r a t u r -


Wissenschaft (z.B. Pustygina 1977:82)a w ird Andrej B elyj als
Schöpfer oder Begründer des Genres "Mythos-Roman" in der r u s s i-
sehen symbolistischen L it e r a t u r bezeichnet und vor allem sein
1913 erstmals p u b liz ie r t e r und 1922 b e tr ä c h tlic h gekürzter Ro-
man P e t e r b u r g global a ls r o m a n - m i f c h a r a k te r is ie r t (Lotman/Minc
1981:52-53):

Наиболее ярко, однако, специфика современного обращения к


мифологии проявилась в создании (в конце XIX - нач. XX в .,
но особенно - в 1920-30-х г г . и позже) таких произведений,
как "романы-мифы" и однотипные им "драмы-мифы", "поэь«-ми-
фы". В этих собственно-"неомифологических" произведениях
миф принципиально не является ни единственной линией по-
вествования, ни единственной точкой зрения текста. Он стал-
кивается, сложно соотносится либо с другими мифами (дающи-
ми иную, чем он, окраску изображения), либо с темами исто-
рии и современности. Таковы "романы-мифы" Джойса, Т. Манна,
Дж. Апдайка, П е т е р б у р г А. Белого и др.

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172 Dagmar B u rkh a rt

Im folgenden s o l l nun dieser E tik e ttie ru n g nachgegangen und da-


bei der Versuch unternommen werden, eine T y p o l o g i e der
in P e te rb u rg r e a lis ie r t e n mythoiden Schreibverfahren zu entwer-
fen. Sie lassen s ic h , meine ic h , auf unterschiedlichen Ebenen
eruieren:

2.1. E in e rs e its is t eine Verarbeitung a n t i k e r My -


t h e n , ein "R ü c k g riff auf die mythologische T ra d itio n "
( S tr ie d te r 1971:410) zu beobachten, und zwar

d i r e k t , durch Z itie r e n des Saturn-Kronos-Mythos (Apollon


Apollonovič Ableuchov, der z a ris tis c h e Regierungsbeamte, e r-
scheint seinem Sohn während eines Traums, e in e r "a stra le n Rei-
se", a ls Saturn, vgl- Belyj 1962:185 f.) und Anspielung auf den
Zeus-Mythos (auch Apollon Apollonovič Ableuchov b rin g t - wie
Zeus - Kopfgeburten zustande, wenn er seine "zerebralen Spiele"
b e tr e ib t, v g l. Belyj 1962:27 ff.), oder andererseits

v e r m i t t e l t über verschiedene S p ie la rten der Ver-


wertung des Apollo-Dionysos-Mythos 3 (der nach dem lic h te n Gott
der Wissenschaften und Künste benannte Senator h e iß t Apollon
Apollonovič und re p rä s e n tie rt die Ordnung; sein Sohn und Anta-
g on ist Nikoł aj w ird m it dem "außer sich geratenen", zerstückel-
ten und "geschundenen Dionysos” verglichen und verkörpert Wahn
und chthonisches Chaos) sowie der durch Nietzsche geprägten
Konzeption des a p o llin is c h e n und des dionysischen P rin z ip s * ,
die sich in Opposition gegenüberstehen und bei Belyj im umfas-
senden philosophischen K o n f lik t des 19./frü h e n 20. Jahrhunderts
zwischen a lte n und neuen Staatsformen bzw. ideologischen Rieh-
tungen in t e g r ie r t und ausgeweitet s in d *; und s c h lie ß lic h lä ß t
sich eine Verarbeitung mythologischer T r a d itio n , ohne Nennung
eines mythologischen Themas oder Namens, nämlich durch

s i t u a t i v e Verwertung des - über Freuds psychoanaly-


tischen und T o l s t o j s lite r a r is c h e n Ansatz ( in Anna K a re n in a )
d iffu n d ie rte n - Ödipus-Mythos ko nstatiere n (gemeint i s t die
dreifache ödipale S itu a tio n , in welcher der Protagonist Nikołaj
Apollonovič sich b e fin d e t: N ik o ła j/Anna Petrovna/Apollon Apol-

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M ythoide V erführen d e r W elt-G en erieru n g 173

lo n o v ič , N ik o ła j/Anna/Annas Liebhaber, Nikolaj / S o f ' j a / L i c h u t i n ,


wobei gerade diese letztgenannte Dreiecksbeziehung, la u t Pusty-
gina 1977:92, autobiographische Bezüge zu der S itu a tio n Belyj/
L. Blok/A. Blok aufw eist und sich im Roman a ls e in durch den B a -
la g a n ö ik von A. Blok gebrochenes T rio H arlekin/K olom bine/P ierrot
d a rs te llt).

A ll diesen Remythisierungsverfahren in P e te rb u rg is t die


I r o n i s i e r u n g gemeinsam, die iro n isch e Brechung* -
ein typisches Merkmal der Moderne, von dem Lotman/Minc (1981:53)
gesagt haben, es beginne in Europa m it James Joyce und in Ruß-
land m it Andrej Belyj.

2.2. Profunder und mythenadäquater a ls die eher vordergründige


Nennung mythologischer Neimen (und ih re s nur noch k u lt u r e lle n ,
n ic h t mehr magischen Signalements!) z e ig t sich die i n d i -
r e k t e Verwertung von Mythen durch Verwendung ih r e r Verfah-
ren bei der lite r a r is c h e n Welt-Generierung. An e rs te r S te lle bei
Belyj steht h ie r die

- m y t h o i d e R a u m a u f f a s s u n g m it dem quasi
mythischen Ort Petersburg, um den sich der komplexe und aus v e r-
schiedenen Richtungen gespeiste Zentralmythos des Romans ra n k t.
In einer Verschränkung von Ebenen und Schichten (siehe die Gra-
phik "Mythos-Schema'1) , wo jede vorhergehende die folgende konno-
tie rt und e r k lä r t (vgl. dazu auch Lachmann 1983), is t auf der
h is to r is c h - p o litis c h e n Ebene das g e s c h ic h tlic h e , von Zar Peter
I. als Durchbruch zum Westen begründete Petersburg (nun, zu Be-
ginn des 20. Jahrhunderts ein Ort des a r is t o k r a t is c h - p r o le t a r i-
sehen Dualismus), auf der ideologischen Ebene Petersburg a ls Ort
des russischen Ost-West-Dualismus m it seinen Exponenten und g e i-
s tig - k u ltu r e lle n Im plikationen des 18. und 19. Jahrhunderts und
auf der lite ra r is c h e n Ebene das Petersburg von Puškin, Gogol'
und Dostoevskij (vgl. hierzu vor allem Pustygina 1977) v e ra rb e i-
tet, die allesamt in der Belyjsehen Synthese aufgehoben sind,
a lle rd in g s m it zusätzlichen Q u a litä te n : Petersburg, als S c h n itt-
punkt von ö s tlic h e r und w e s tlic h e r Sphäre, ve rkö rp e rt das dua-
l is t is c h aufgefaßte Rußland, das - wie Dionysos im Sparagmos -

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4‫׳ י‬ Dagmar B u rk h a rt

untergehen muß, um sich zu erneuern. Es i s t ein Ort, in den kos-


misches Geschehen (Mond versus Sonne e t c . ) e in d r in g t, ein mytho-
id e r Raum, ein dämonischer Ort*7, der jeden d a rin Befindlichen
verwandelt. Dieses Petersburg re p rä s e n tie rt le tz tlic h die ganze
Welt, und die im Petersburg des Jahres 1905 kursierende Bombe
s te h t zeichenhaft fü r eine ganze re v o lu tio n ä re Epoche.
Die Stadt, ” keine bloße E inbildung” , wie es im Prolog ir o ‫־‬
nisch h e i ß t , sondern ” auf der Landkarte zu finden - in Form kon-
ze n trisch e r K r e i s e m it einem schwarzen Punkt in der
M i t t e " (Belyj 1962:6), hat ein Machtzentrum, von dem aus
Apollon Apollonovič seine Rundschreiben z ir k u lie r e n l äß t , und
Prospekte wie den Nevskij Prospekt, der vor allem der "Z i r -
k u l a t i o n des Publikums" d ie n t (K re is fig u r 1) . Umgeben i s t
das a lte Petersburg von einem R i n g aus Fabrikschloten an
der P e rip h e rie , von wo aus die re v o lu tio n ä re Erregung u n a u fh a lt-
sam ins Z e n t r u m der Stadt v o r d r in g t: in das a r is t o k r a t i -
sehe A real, wo der Eherne R e ite r vom Dekabristenplatz aus seine
e re ig n ish a fte n S treifzüge unternimmt. Petersburg, durchsetzt von
g iftig e m Nebel und umgeben von endlosen, k a lte n Weiten je n s e its
der Stadtgrenzen, b ild e t sich m otivisch im Kleinen noch einmal
ab im gelben (= Symbolfarbe des mongolischen Elements!), aristo-
kratischen Haus des Senators, in dem sich die Provokation einge-
n is t e t hat (in G estalt seines m it e in e r Terroristengruppe k o lla -
borierenden Sohnes Nikoł aj und der ihm übergebenen Bombe), und
in seinem Zeus-Schädel, dem im zerebralen S piel (m o z g o v a ja ig ra )
a lle s e n ts p rin g t, auch der Roman P e t e r b u r g m it seinen Figuren
und Ereignissen, wie der Erzähler iro n is c h verm erkt . 8

Die m y t h o i d e Z e i t a u f f a s s u n g , die in
P e te rb u rg zum Tragen kommt, is t eine zyklische (vgl. dazu auch
Lotman/Minc 1981:37 f.). Die Geschichte, durch den F i l t e r des
Petersburg-Mythos gesehen, v e r lä u f t k r e i s f ö r m i g :

Das war der Eherne R e i t e r !


Der matt schimmernde Mantel hing schwer von den m etal-
lis c h glänzenden Schultern und von dem Schuppenpanzer her-
ab. J e t z t wiederholte sich Ewgenijs S chicksal, denn in dem
Augenblick, in dem die Mauern des Hauses in der grünen Un-
e n d lic h k e it verschwanden, wurde d ie Vergangenheit e n t h ü llt .

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M ythoide V erfa h ren d e r W elt-G e n erieru n g 175

Alexander Iwanowitsch r i e f :
" J e t z t erinnere ic h m i c h . . . Ich habe g e w a r t e t . . . “
Der Riese m it dem ehernen Haupt war b is zu diesem Augen-
b lic k durch die Zeiten g a lo p p ie rt; nun war der Kreis ge-
schlossen. Z e it a lt e r waren vorbeigeflogen; N i k o ł a j hatte
den Thron bestiegen, und nach ihm d ie beiden Alexander; und
Alexander Iwanowitsch, ein Schatten, hatte unermüdlich a lle
Zeitepochen überwunden: Tag fü r Tag, Jahr fü r Jahr war er
durch die feuchten Prospekte Petersburgs gewandert, im
Traum und im Wachen... Das Donnern m e ta llis c h e r Schläge
hatte ihn und a lle anderen v e r f o l g t und i h r Leben zerschla-
gen.
Apollon Apollonowitsch war ein m e ta llis c h e r Schlag auf
S tein, Petersburg ein zw eiter - und auch die K aryatide, die
bald fa lle n würde. Verfolgung war unvermeidlich [ . . . ] •
Da erkannte Alexander Iwanowitsch - ein zw eiter Ewge-
n i j - , daß er umsonst e in ganzes Jahrhundert hindurch ge-
laufen war - vom Dezember b is zum Oktober: die donnernden
Schläge h in te r ihm hatten ihn ohne jeden Zorn durch Dörfer,
Städte, Hausgänge und tre p p a u f, treppab v e r f o l g t ; ihm war
verziehen. A lle s Gewesene und a lle s Kommende war nur ein
visionäres Durchwandern des ird is ch e n Lebens b is zum Trom-
petenstoß des Erzengels. (Belyj 1962:242 f . )

Nicht nur Zar Peter, als der Schöpfer und V ernichter seiner
Stadt (bei den Altgläubigen is t Peter I. der A n t ic h r is t und Pe-
tersburg das neue Babel, das in e in e r S in tflu t versinken w i r d ! )
sowie als komplexer h is t o r is c h - id e o lo g is c h - ik o n is c h - lit e r a r i-
scher Bedeutungsträger aufgefaßt, k e h rt wieder, auch C h ristu s,
oder eine iro n is c h gebrochene christomorphe Erscheinung® taucht
immer wieder an S u je t-N a h ts te lle n auf (Opposition weißer vs. ro -
te r Domino; Christuszüge a ttr ib u ie r e n aber auch den g le ic h z e itig
m it Teufels- und Froschzügen ausgestatteten N i k o ł a j ) . Dudkin,
der Mystiker und re vo lu tio n ä re Doppelgänger N i k o l a j s , beschwört
und e rle b t in seinen H alluzinationen den Sprung Peters I. über
die Geschichte (ikonische Figur = h is to ris c h e Figur) und die
Wiederkehr von Kulikovo (das Aufgehen der "russischen Sonne" als
Sinnbild des Siegs über die Tataren, v g l. Belyj 1962:78). Die
zyklische Zeitauffassung, zu der auch das Werden, Vergehen und
Wiedererstehen im Dionysos-Mythos (Frank 1982:316-319) gehört,
sp iegelt sich in der (von gnostischem und anthroposophischem Ge-
dankengut geprägten) K r e is fig u r mentaler E rlebnisse, Träume, Re-
Inkarnationen:

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176 Dagmar B u rk h a rt

Apollon Apollonowitschs Gedanken schweiften in die Ferne


und verdichteten sich zu e in e r V o rs te llu n g . Einer seiner
schweifenden Gedanken war, daß der Unbekannte w ir k lic h
e x i s t i e r t e ; dieser Gedanke kehrte wieder zu seinem Ursprung
zurück: in den Kopf des Senators.
Der Kreis h a tte sich geschlossen. (Belyj 1962:27)
Seine Erlebnisse zogen sich wie ein unsichtbarer Schwanz
h in te r ihm her. Alexander Iwanowitsch durchlebte die Ereig-
nisse in umgekehrter Reihenfolge. Ihm war, a l s öffne sich
sein Rücken g le ic h e in e r Tür und a ls dränge ein r ie s ig e r
Körper heraus - die Erlebnisse der l e t z t e n vierundzwanzig
Stunden. (Belyj 1962:76)
Nikoł aj Apollonowitsch e rin n e rte sich p lö t z lic h , daß er ein
a l t e r Turanier war, der sich in einem russischen Edelmann
r e in k a r n ie r t h a t t e , um das a lte Gebot zu e r f ü lle n : a lle s zu
zerstören. Der a l t e Drache mußte sich von entartetem Blute
nähren und a lle s wie eine Flamme verschlingen; der a lte
Osten hat unsere Z e it m it einem Hagel von Bomben überschüt-
t e t , und Nikoł aj Apollonowitsch, eine a lte turanische Born-
be, e x p lo d ie rte nun, da er seine Heimat sah. Sein Gesicht
nahm mongolische Züge an, und er sah aus wie ein Mandarin
des m ittle r e n Reiches, der im europäischen Gehrock in ge-
heimer Mission nach dem Westen gekommen war. (Belyj 1962:
186 f . )

In dem ‫״‬Das jüngste G ericht" b e t it e lt e n K a p ite l, aus dem


dieses letzte Z itat stammt und in dem N ik o la js Auseinanderset‫־‬
zung m it seinem a ls Saturn erscheinenden Vater während eines
apokalyptischen Traums (m it dem Kopf, schlafend, auf der Bombe!)
th e m a tis ie rt w ird , is t s c h lie ß lic h die Drehbewegung der Zei t
(Saturn w ird a ls ça to u rn e lu d is t is c h "e rk lä rt” , "etym ologi-
s ie rt"!), ih r S t ills t a n d und i h r Rückwärtslauf m it dem zentralen
Dingsymbol, der aufziehbaren Bombe und dem damit verbundenen As-
s o z ia tio n s fe ld , in Beziehung gesetzt. "Der K re is la u f der Zei t
war zu Ende, die H errschaft Saturns war wiedergekehrt" (188) ‫־‬
s o ll heißen: der Sohn oder die Söhne (Zeus, Hades und Poseidon
im Mythos) erhebt/erheben die Hand gegen den Vater (Kronos/Sa-
t u r n ) , um ihn zu entmachten - ” und deshalb geht a lle s zugrunde"
(188). N ik o ła j erwacht; " a lle s drehte sich in seinem Kopf" ("в
голове з а в е р т е л о с ь * , Belyj 1978:199). S o llte er den Bomben-Me-
chanismus zu rü ckste lle n ( *, п о в е р н у т ь ” ) ? Er entscheidet sich fü r
das G egenteil: ” Er drehte den k le in e n Schlüssel zwanzigmal
um... In der Nacht würde der Schlüssel p lö t z lic h s tillste h e n .

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M yth o id e V e rfa h re n d e r V e lt-G e n e rie ru n g ‫ד דו‬

Die Wände würden einstürzen" ("Ключик он п о в е р н у л двадцать раз;


... на исходе же ночи движение ключика не отсрочит: развалятся
стены” , Belyj 198: 199‫)ד‬.

Di e m y t h o i d e F i g u r e n k o n z e p t i o n in
P e te rb u rg m a n ife s tie rt sich vor allem d a rin , daß auf der pragma-
tischen Handlungs- und der Bewußtseins- oder Traumebene ambiva-
lente Gestalten agieren: "numinose", wenn auch p r o f a n i e r t e , ir o -
n is ie r t e Wesen, die Vater u n d Sohn g le ic h z e it ig sind (Apol-
Ion Apollonovič is t Saturn u n d Zeus; N ik o ła j is t ein A ntipo-
de des a lte n "mongolischen" Turaniers Ableuchov, aber g le ic h z e i-
tig s e lb s t ein Ableuchov e t c . ) und die sich in D o p p e l -
g ä n g e r n (einer Abwandlung der mythischen G e s ta lt, die in
v ie le n Erscheinungsformen a u ftre te n konnte) ganz oder p a r t i e l l
spiegeln: Apollon, der die a lte bürokratische und autokratische
Staatsordnung s y m b o lis ie rt, s te h t in a n tag o nistisch er Opposition
zu seinem Sohn, der - wenn auch T e r r o r is t wider W ille n - die re -
vo lu tio n ä re Generation und das Chaos v e rk ö rp e rt. Andererseits
sind beide Ableuchovs auch p a r t i e l l S im ila r it ä t s f ig u r e n , v e re in t
durch das gemeinsame B lu t, dem gleiche oder ähnliche äußere E i-
genschaften und Charakterzüge entspringen (derselbe Vatersname
d ie n t als Signalement!) Als Doppelfiguren treten Dudkin/Lippan-
čenko, M o rko vin /N iko la j, N ik o la j /Dudkin und S o f 1 ja/Varvara auf,
die je w e ils in S im ila r it ä t s r e la t io n (verbunden durch die "ge-
meinsame Sache") u n d Opposition zueinander ( A n tith e tik der
Charakters tru k tu re n , des Äußeren, der p o litis c h e n T a k tik etc.)
stehen. Auch das "Paar" ApolIon/Dudkin gehört h ie rh e r: Die b e i-
den sind e in e rs e its d e u tlic h erkennbar a ls Antipoden (Opfer/Tä-
ter; Regierungsbeamter/Terrorist) und andererseits a ls Komple-
mentärfiguren in dem Sinne, daß a lle zwei, wenn auch auf ver-
schiedenen Ebenen, ih r Zerstörungswerk betreiben in der Nach-
folge Peters I., a ls dessen Parodien sie angelegt sind (Funktion
Entmythisierung des Peter-Mythos).
Das v ie ls c h ic h tig e ideologisch-symbolische Feld des Romans
b rin g t, neben den einfachen Paarbildungen, sogar doppelte Dop-
p elfiguren hervor, die sich in je w e ils analogen "Paaren" ir o -
nisch spiegeln. Von z e n tra le r fu n k tio n a le r S ig n ifik a n z erw eist

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17 8 Dagmar B u rkh a rt

sich h ie r das Q u a rtett N ikolaj/Apollon/Dudkin/Lippancenko, das


man einmal v e r t ik a l a ls Vater-/Sohn-Paarungen (= A pollon/N ikolaj
und Lippančenko/Dudkin) oder h o riz o n ta l a ls Äquivalenz-Paare, bei
denen je w e ils der zweite das dunkle •a l t e r ego des ersten vérkör-
p e rt (N ik o ła j/Dudkin und Apollon/Lippančenko), gruppieren kann.
Ergebnis is t eine doppelt p a r a lle le , "quadratische" Beziehungs-
S tru k tu r

Apollon_______Lippančenko

N ik o ła j Dudkin,

die sowohl durch s p e z ifis c h anagrammatische Naraensformen (JVi/co-


la j ‫־‬ Dudk i n , A p o llo n - Lippančenko), a ls auch P a ra lle le n auf
der In te n tio n s - oder Handlungsebene m a rkiert is t (Nikołaj "er-
mordet" seinen Vater Apollon und Dudkin seinen 1’Vater" Lippančen-
ko; beide verwenden eine Schere; Apollon und Lippančenko legen
sich - etwa g le ic h z e itig - am selben Abend vor ih r e r geplanten
bzw. r e a lis ie r t e n Ermordung eine Patience, die beiden n ic h t auf-
geht, etc. (vgl. Burkhart 1984:151 f.).
Mythoid in Belyjs Figurenauffassung is t auch das Phänomen,
daß bestimmte - p a ra ta ktis ch angeordnete - Räume m it Figuren
"id e n tis c h " sind. Als ekla ta n te ste s B e is p ie l z e ig t sich h ie r die
Identitätsbeziehung Peter = Petersburg: die Stadt und i h r Schöp-
fe r sind e in s; wo Peter auftaucht (als eherner "Gast", a ls Rei-
te rs ta n d b ild , das nachts durch die Straßen g a lo p p ie rt, a ls F lie -
gender Holländer, a ls pfeiferauchender Seemann e t c . ) , i s t
Petersburg. In ähnlicher Weise verkörpert der Senator das a r i -
sto kra tisch e und Dudkin das p ro le ta ris c h e (inselgebundene) Pe-
tersburg, und a lle Grenzüberschreitungen (wenn sich b e is p ie ls -
weise der Inselbewohner Dudkin m it der Bombe in der Hand in s
Petersburg der Regierungs- und Repräsentationsgebäude b e g i b t l )
sind höchst e r e ig n is h a ft.

Das sich ständig wiederholende s i n g u l ä r e E r e i g -


n i s, welches den Mythos ausmacht, is t im Roman P e t e r b u r g in -

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M ythoide V erfa h ren d e r W elt-G e n erieru n g 179

te g r ie r t a ls Mord (Vatermord; Revolution; Verfolgung des Sohns


durch den Vater; Zerstückelung und Durchbohrung des Ermordeten
und des Mörders), a l s Vernichtung u n d Auferstehung, a ls der
omnipräsente Verrat, a ls die allgegenwärtige P г о v о к а-
t i о n (Leitm otive und Dingsymboles Bombe, ro te Farbe, z ir k u -
lie re n d e r Browning, Streiks, Schere, fin n is c h e s Messer e t c . ) •
"Es g ib t in dem ganzen Text", s c h re ib t F r i t z Mierau (1983:176),
"keine Begegnung, die n ic h t durch Provokation zustandekäme und
über Angst, Mißgeschick und P e in lic h k e it in einen te r r o r is tis c h e n
Akt, in eine Durchbohrung mündete. Jede Gebärde i s t v ie ld e u tig ,
jede Reaktion v e rrä te ris c h , jeder B lic k eine Suggestion [...].
P ro vo zie rt durch die Revolution, möchte der Senator die In se ln
je n s e its der Newa, wo der Aufruhr b r ü te t, am lie b s te n aber ganz
Rußland (oder die ganze Welt?) m it den P fe ile n der Prospekte
durchbohren [...]. Der Sohn, der von e in e r ganz anderen Durch-
bohrung träumte, w ird um sein Liebesabenteuer m it Sofja b e tro -
gen und r ic h t e t seine Wut nun gegen den Schuldigen jener Ur-
Durchbohrung, den Vater [...]. Die Bombe, die ihm in s Haus ge‫־‬
bracht w ird , bew irkt über die manischen Verschluckungsphanta‫־‬
sien die Durchbohrung von innen ‫־‬ Bewußtseinsdurchbrüche [...].
Und der T e r r o r i s t [...]? Ihn b r in g t ein fu rc h tb a re r Verdacht um
den Verstand. Der Verdacht, daß ein ganz anderer Provokateur,
ein 'Provokateur höheren Typs', ein P o liz e is p it z e l, in der Ter-
ro ro rg a n isa tio n über ihn bestimme und den Senatorensohn
Hier lie g t der Angelpunkt der K onstruktion: Wie der T e r r o r is t
n ic h t weiß, wo das P o liz e ik a lk ü l beginnt, so weiß der Sohn
n ic h t, wo der Vater in ihm endet. Immer r ic h t e t sich der Akt
gegen den Akteur selber: Petersburg, das sich s e lb s t zugrunde-
rich te t. Um diese Selbstvernichtung zu arrangieren, machte An-
drej Bely - Provokation der Provokationen - seine Petersburger
Europäer auf dem Wege des Bewußtseinsdurchbruchs zu 'Mongolen'.
Der böse Zauber i s t ein 'g e lb e r Za u b e r ' . 1
‫״‬
Lotman und Mine (1981:54 f.) haben zu Recht Belyjs Deutung
der Geschichte des Doppelagenten Azef, die z e n tra l im Roman v e r-
a rb e ite t is t, a ls den "Mythos e in e r weltweiten Provokation"
(m if о m iro v o j p ro v o k a c ii) bezeichnet, und es i s t der Eros des

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180 Dagmar B u rk h a rt

Terrors, eine n ic h t zu verleugnende Lust an der Provokation, die


die Stimmung im Petersburg von 1905 und danach bestimmt. Am 26.
November 1911 s c h re ib t Belyj an A. Blok:

Dein B r ie f hat mich fu rc h tb a r e r r e g t , fre u d ig e r r e g t ; a l -


les, was Du mir s c h re ib s t, i s t mir aus k le in s te n Andeutun-
gen mehr a ls bekannt: der gelbe Zauber ‫ ־‬e rgib dich und -
das Automobil, die Tartaren, die japanischen Gäste, wei-
t e r ‫ ־‬Finnland oder ,etwas' in Finnland, w e ite r ‫ ־‬Helsing-
f o r s , Asef, die Revolution ‫ ־‬genau dieselbe Skala . 10

Hatte der archaische Mythos die Funktion, die Götter sowie


die Entstehung und Beschaffenheit der W e l t und der Dinge zu
e r k l ä r e n , so w ird diese ursprüngliche In te n tio n in Be-
ly js P e te rb u rg vorwiegend iro n is c h -p a ro d is tis c h d e c o u v rie rt: Die
Kosmogenese, die "Erklärung" des russischen Imperiums und seiner
Metropole k l i n g t in dem Prolog, der m it den grotesken Sprachmit-
te ln der Gogol'sehen P e t e r b u r g s k i e rasekazy, dem Mythos von Mos-
kau a ls dem D r itte n Rom, der Bürokratensprache und den o f f i z i e l -
len T ite ln des russischen Zaren parodierend s p i e lt , so:

Was i s t unser Russisches Imperium?


Unser Russisches Imperium i s t eine geographische E in h e it
was besagt: ein T e il eines wohlbekannten Planeten. Das Rus-
sische Imperium umfaßt: erstens - Großrußland, Kleinrußland
Weißrußland und Rotrußland; zweitens - die Königreiche Geor
gien, Polen, Kasan und Astrachan; d r i t t e n s . . . nun, und so
w ei t e r , und so w e i t e r .
Unser Russisches Reich besteht aus einer großen Anzahl
von Städten: aus Hauptstädten, Gouvernementsstädten, Kreis-
Städten, Provinzstädten ohne G erichtsbezirk und fe rn e r aus
e in e r ehrwürdigen a lte n Residenz und aus der Mutter a l l e r
russischen Städte.
Die ehrwürdige a lte Residenz i s t Moskau, und die Mutter
der russischen Städte i s t Kiew.
Petersburg, Sankt Petersburg oder einfach Peter (was das
gleiche i s t ) , gehört g le ic h f a lls zum Russischen Imperium.
Und die Zarenstadt Konstantinograd, auch d ie Stadt Konstan-
t in s oder Konstantinopel genannt, gehört nach dem E rbfolge-
recht zum Russischen Reich. Doch darüber wollen w ir uns
n ic h t v e rb re ite n .
Wir wollen uns vielmehr m it Petersburg befassen. Ob Pe-
tersburg, Sankt Petersburg oder einfach Peter - es i s t ein
und dasselbe. Auf Grund dieser Erwägungen i s t der Newskij
Prospekt ein Petersburger Prospekt.
Der Newskij Prospekt b e s i t z t eine e rsta un lich e Eigen-
schaft : er besteht aus einem weiten Raum, der zur Z irk u la -
tio n des Publikums d ie n t; m it Nummern versehene Häuser be-
grenzen ih n ; die Häuser sind fo rtla u fe n d num eriert, so daß

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M ythoide V erfa h ren d e r W elt-G e n erieru n g 181

man jedes b e lie b ig e Gebäude le ic h t finden kann. Wie jeder


Prospekt i s t der Newskij ein ö f f e n t lic h e r Prospekt, das
h e iß t, er d ie n t zur Z ir k u la tio n des Publikums, n ic h t etwa
der L u ft. Die Häuser, die ihn zu beiden Seiten begrenzen,
s in d . . . hm... ja : fü r das Publikum. Abends i s t der Newskij
Prospekt e le k tr is c h b e le u ch te t. Am Tag braucht er keine Be-
leuchtung.
Der Newskij Prospekt i s t g r a d lin ig , denn er i s t ein eu-
ropäischer Prospekt; jeder europäische Prospekt i s t n ic h t
einfach ein Prospekt, sondern, wie ic h b e re its erwähnte,
i s t ein Prospekt europäisch, w e i l . . . hm - j a . . .
Deshalb i s t der Newskij Prospekt e in g ra d lin ig e r Pro-
sp ekt.
Der Newskij Prospekt i s t e in n ic h t unw ichtiger Prospekt
in dieser sehr unrussischen Hauptstadt. Die übrigen r u s s i-
sehen Städte sind n ic h ts w e ite r a ls ein Haufen Holzhäuser
Wie dem auch sei - Petersburg i s t keine bloße Einbildung,
denn man kann es auf der Landkarte finden - in Form konzen-
tr is c h e r Kreise m it einem schwarzen Punkt in der M itte . Und
dieser mathematische Punkt, der keine Ausdehnung h a t, v e r-
kündet energisch, daß Petersburg e x i s t i e r t : diesem und k e i-
nem anderen Punkt e n ts p rin g t der reißende Strom von Worten•,
die dieses Buch b ild e n , von diesem unsichtbaren Punkt gehen
Rundschreiben nach a lle n Richtungen. (Belyj 1962:5-6)

Und ebenso iro n is c h s tr u k tu r ie r t is t zu Beginn des ersten


K apitels die mythoide ”H e r o e n ' 1 - G e n e s e der Ableu-
chovs:

Apollon Apollonowitsch Ableuchow stammte aus vornehmem Ge-


schlecht: Adam war sein Ahn. Doch das i s t n ic h t die Haupt-
sache: w ic h tig e r i s t , daß e in e r dieses vornehmen Ge-
schlechte, Shem, der Stammvater der semitischen, h e s s it i-
sehen und rothäutigen Rasse war.
An dieser S te lle können w ir uns den Vorfahren aus e in e r
weniger fernen Epoche zuwenden. Sie hatten i h r Leben unter
den k irg is is c h -k a is a c h is c h e n Horden ve rbracht, b is der
Mirza A b -la i, der Urgroßvater des Senators, während der Re-
gierung der Zarin Anna Joannowna mutig in russische Dienste
t r a t und be i der c h r is tlic h e n Taufe den Namen Andrej und
den Familiennamen Uchow e r h i e l t . Der Kürze halber wurde der
Name Ab-lai-Uchow später zu Ableuchow zusammengezogen.
Dieser Urgroßvater begründete das Geschlecht der Ableu-
chow. (Belyj 1962:7)

M it diesen, den europäisch-asiatischen Dualismus in P e te r-


bürg und seinen Bewohnern sig n alisie ren d en Anfangspassagen des
Textes sind a lle M otiv- und Symbolketten (s. Graphik; auch Lach-
mann 1983:94 f f . ) , die sich in S im ila r it ä t s - bzw. Oppositions-
beziehungen m anifestieren, konnotierend verbunden. Vor allem

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182 Dagmar B u rk h a rt

e n tw ic k e lt sich daraus der dominante h is to ris c h -id e o lo g is c h e


und lit e r a r is c h e Signifikanten-Komplex "gelbe Gefahr/Mongolen-
sturm/Osten/schwarze Magie" v s . "Christentum/Westen/Ratio/weiße
Magie", in dem sich die k u lt u r e lle Opposition auf den S ig n if ik a t -
Dualismus zwischen Gut und Böse p r o j i z i e r t ,

2.3• Mythoide Verfahren auf der p o e t i s c h - s t r u k -


t u r e l l e n u n d m e t a p o e t i s c h e n Ebene

Daß der Text P e t e r b u r g g e n e re ll in puncto Schreibverfahren und


S tru k tu r auf der W i e d e r h o l u n g , Wiederkehr, Doppelung/
Spiegelung und Vervielfachung b a s ie rt, wurde mehrfach in der Se-
k u n d ä r lite r a tu r k o n s ta t ie r t. In der Tat lä ß t sich in der bei Be-
ly j eklatanten I n t e r t e x t u a l it ä t eine "Kreisbewegung" fremder,
v e ra rb e ite te r Texte und Motive (vor allem dem Petersburg-Kom-
p le x , v g l. Elsworth 1983:103) beobachten. Pustygina nennt diese -
primär auf die "Petersburger L in ie " in den Werken von Puškin,
Gogol1 und Dostoevskij bezogene - Schicht der Z it a t h a f t ig k e it
(p l a e t a ita tn o s ti) be i B elyj einen "a ktu a lisie re n d e n Mythos"
{a k tu a liz iru ju š č ij m if) , insofern a ls "в рамках концепции мифо-
логической цикличности времени русская история а к т у а л и з и р у е т ,
исторически объясняет повторяющиеся , вечные сюжеты1 мировой ис-
тории ( , прамифы1) , а также представляющие ее сюжеты русской ли-
тературы ( ,миф о Петербурге*)" (Pustygina 1977:82).
So wie sich in B e lyjs apokalyptischem Krisenbewußtsein und
seiner von gnostischem und östlich-anthroposophischem Wissen ge-
speisten K u ltu rp h ilo so p h ie h is to ris c h e und in d iv id u a lp s y c h o lo g i-
sehe Erfahrungen wiederholen ("Vor ihm erhob sich ein r ie s ig e r
Kopf aus dem Jahrtausende a lte n Sand: N ik o ła j Apollonovič saß vor
e in e r S p h in x ...; er sah voraus, daß das Schicksal des a lte n Ägyp-
ten sich im zwanzigsten Jahrhundert w i e d e r h o l e n wür-
de: die K u ltu r war ein vermoderter Kopf, a lle s in ih r war t o t ;
n ic h ts würde b le ib e n : eine Explosion würde a lle s hinwegfegen",
h e iß t es im Epilog von P e t e r b u r g ) , lassen sich in dem Roman gan-
ze Zeichenreihen vorwärts und rückwärts denotierend lesen. Es
geht h ie r in e rs te r L in ie um eine R ealisierung des von B elyj be-
tonten "musikalischen P rin z ip s " (neben dem s a tiris c h e n und sym-

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M ythoide V erfa h ren d e r W elt-G e n erieru n g 183

b o lis c h e n ), das sich k o m p o s itio n e ll11 a ls fugenartige Z y k liz itä t


(v g l. z.B. das K a p ite l 1‫״‬L e tn ij sad“ ) und en d e t a il in der Ver‫־‬
wendung von Leitm otiven, doppelt kodierten Zeichen (Leitsymbo-
len) und Parallelism en z e ig t, in Entsprechung zu den Leitmythen
des Romans (z.B. Mythenkcmplex "Osten, T e rro r, Chaos" = gelbe
Reiterhorden, g r ü n lic h - g if t ig e r Nebel, Bombe/Schere, ro te Plaka-
te /ro te r Domino, Fieber e t c . ) 12. Die F igur der Umkehrung, das
Palindrom, m a n ife s tie rt sich n ic h t nur in der in te n d ie rte n Mög-
lic h k e it, ganze T e x tte ile v o r- und rückwärts zu lesen, sondern
auch im kleinen auf der Namensebene (v g l. die von Dudkin h a llu ‫־‬
z in ie r t e dämonische F igur des "Persers" šišnarfne a lia s Enfran‫־‬
š iš ; Ivanov/Vonavi = ein Russe bzw. Japaner? Morkovin, der P o li‫־‬
z e is p it z e l, der sich anagramnatisch in der Figur des harmlosen
Bezirksschreibers Voronkov s p ie g e lt, usw.). N ich t z u le tz t e r-
w eist sich B elyj a ls ein in P e te rb u rg metapoetisch operierender
Mythenschöpfer auch in der Weise, daß er - neben der auf la u t ‫־‬
lich-sem antischer Wiederholung basierenden Rhythmisierung (vor
allem durch d r e i t e i l i g e Metren) ‫־‬ im Rahmen seines Konzepts der
Lautinstrumentierung und grundlegenden S tru k tu rie ru n g des Tex-
tes durch " L e itla u te " quasi d ie ursprüngliche, nämlich die
klanglich-phonetische Seite des Wort-Zeichens v o r dem
S ch rift-Z e ich e n betont und sich wiederholen lä ß t. B e ly j hat sich
se lb st (1934:306 f.) dazu so geäußert:

Звуковой лейт-мотив и сенатора и сына сенатора идентичен


согласным, строящим их имена, отчества и фамилию: " А п о л л о н
Аполлонович А^леухов": "плл-плл-бл" сопровожлает сенатора;
"Николай Аполлонович А<5леухов": "кл-плл-бл"; все, имеющее от‫־‬
ношение к Аблеуховым, полно звуками "пл-бл" и "к л "; плавное
"л" по закону, отмеченному Якубинским, переходит часто в звук
‫״‬Р ‫; ״‬ "б" группы "би" переходит в "в ". ‫ ־‬Род Аблеуховых "у -
<5л‫ ־‬юдочный" (бл); сенатор ‫ ־‬кавалер "Белого орла" (бл‫ ־‬рл) ;
в доме - пп о л о‫ ־‬сатый б у л ь - дожка" (пл-бл); сенатор питает
страсть к фигуре п а р а - л - л е л е п - н - п е - д а щ (пр-л-ллп-п) ; комби-
нат из согласных "р-л-п-б " сопровождает сенатора: "А-полл‫־‬
он А-полл-онович не лю<5‫ ־‬ил яр‫ ־‬осторной квартиры" (плл‫ ־‬плл‫־‬
лб-пр-р-р‫ ־‬р ) , где име‫ ־‬бел&... о л и -ста л а ...; ме - б е л ь в б е л ‫־‬
ых чех-л-ах ир-едстоя-ла1‫״‬. . . (бл‫ ־‬бл‫ ־‬бл-бл‫ ־‬л‫ ־‬пр-л) [ . . . ] ;
принимая ж во внимание и " к " ( "Ни-к-олай") [ . . . ] ; к нему
"ярил-ете-ли п л и - ты пар‫ ־‬кетного п о л а" (прл-л‫ ־‬пл-пр‫ ־‬п л )[ . . . ] ;
в доме его "л о м а л и п а л ь - цы в п о р ы в е б е - с - п л о - п н ы х . угод-лив-
остей1 1 (лмп-пл-впрв‫ ־‬б‫ ־‬пл-лв) ; "нак-ло-ня-ла-сь, как ла‫ ־‬к.

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}0ą Dagmar B u rkh a rt

. . . ли-сина; п о в е р - х п а р ы б е л ы х - б е л ы х штанов о б л е - к а - л - с я
мунди-р ло-ска с ра-ззо‫־‬ло-ченной г-ру-дью" (л-л-л-л-пвр-
пр-бл-бл-бл-л-рл-р-л-р) [ . . . ] Таков звуковой лейт-мотив Аб-
леухова, осложненный "к к " (Ни-ккк-олай) и "ccc"; в моей
импрессии "лл" - гладкость формы: Апо-ллл-он; "пп" ‫ ־‬дав-
ление оболочек (стен, бомбы); "к к " - поперх неискренности:
” Ни-лгѵк-олай. . . к к к - ланялся на, к к - а - к к л а - к к , п а р - к к - е т а -
X X ‫; ״‬ "сссн - отблески; ирр" - энергия взрыва (под оболоч-
ками) : п77рр-о-рр-ывв" в <5рр-ед? слова: л л - а - к к , л л - о - с с к к ,
б б л л - е - с с к к живописуют согласными: под формой (бб-пп) лью-
щегося (лллл) блеска (сссс) - удушье ( к к к - х х х ) . - Лейт-мо-
тив провокатора вписан в фамилию *,Л и п п а н ч е н к о ": его "лпп"
обратно "плл" (Аблеухова); подчеркнут звук "ппп", как раз-
рост оболочек в бреде сына сенатора, - Липпанченко, шар,
издает звук "пепп-пеппё": иП - е - п п /7-е-ял-ович П - е - п п будет
шириться, шириться, шириться; и П - е - п п П - е - п п - ович П - е п п
л о п - нет: уіоя-нет все": п-пп-п-пп-п-пп-шрс-шрс-шрс-п-пп-п-
пп-п-пп: лп-лп (стены тюрьмы "пп", разорвутся: шрррс);
"ррр" есть разрыв: "ппппі-ссс" - расширение газов, которые
пучатся в желудке у старика; сынок же имеет чувство, что
он, объевшись с а р д и н к а м и , проглотил с ними вместе сардин-
ницу, которая - бомба.

Seine "P h on o sch rift‫״‬ ( z v u k o p i s ') v e rs te h t sich a ls " p r ä h is to r i-


sehe G e s tik u la tio n der Zunge/Sprache" (d o is to riò e s k a ja z e e tik u -
la c ija ja z y k a , v g l. B elyj 1934:234), also eine dem "p rim itiv e n "
Mythos adäquate Ausdrucksform.

3. In te n tio n und Funktion mythoider Verfahren in P e te rb u rg

S in n k o n s titu tio n im k u ltu rh is to ris c h -p h ilo s o p h is c h e n Kontext und


Fragen der h is to ris c h e n Transformation haben B elyj offenbar zu
e in e r seinem Verständnis nach adäquaten, nämlich mythopoetischen
Vertextung gedrängt. Die "Semantisierung von Gegenwart, Vergan-
genheit und Zukunft und der Ausblick auf ein kosmisches Gesche-
hen", wie Holthusen (1978:5 f.) es fo r m u lie r t h a t, "bringen so-
wohl die mythische Z e it a ls auch den mythischen Raum ins S p ie l".
Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart, G le ic h z e itig k e it des
ü n g le ich ze itig e n (v g l. Nachdruck der ersten Fassung von P e t e r -
b ü r g , herausgegeben von D.S. Lichačev, Moskau 1981:604: "старое и
новое раздельно не существуют в категории времени; есть одно:
старое и новое во все времена"), Kunst und S p i r i t u a l i t ä t als ein
unerschöpfliches Reservoir von Zeichen und Symbolen (s. Lachmann
1983:82; Burkhart 1984:33, e tc .) sind Grundgedanken der B e ly j-

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M ythoide V erfahren d e r V e lt-G e n e r ie r u n g 185

sehen K u ltu rp h ilo s o p h ie , die mythogenetische Züge t r ä g t .


In e in e r Welt der .Korrespondenzen, wo a lle s m it allem zu-
sammenhängt, n ic h t z u le tz t die Texte ( v g l. Lachmann 1983:73),
und wo die W o r t e m a g i s c h e K r a f t besitzen, is t
die A usdrucks-Inhalts-R elation des Sprachzeichens auf archaische
Weise außer K ra ft gesetzt: das Wort benennt n ic h t, sondern i s t
sein Denotat. Wortmagie s t e l l t ein E rk e n n tn is m itte l dar:

Indem ich mich bemühe, a lle s , was in mein G esichtsfeld


kommt, beim Namen zu nennen, schütze ich mich im Grunde vor
der fe in d s e lig e n , mir unverständlichen Welt, die von a lle n
Seiten gegen mich andrängt. Durch den Laut des Wortes be-
sä n ftig e ic h diese Elemente; der Prozeß der Benennung der
raum zeitlichen Erscheinungen m it Worten i s t e in Prozeß der
Beschwörung; jedes Wort i s t eine Zauberformel [ . . . ] . Wenn
keine Worte e x is tie r te n , würde auch keine Welt e x is tie r e n .
(B elyj 1910:430 f . )

Hier is t die mythische (oder mythoide) Denkweise der r a t i o -


n a lis tis c h e n vorgeordnet; der p r ä r a tio n a lis tis c h e Mythos ra n g ie rt
vor dem Logos a ls eine dem Symbolismus adäquate In te r p r e ta tio n s -
form der Welt. Dies g i l t in besonderem Maß fü r Andrej B e ly j, der
in P e te rb u rg permanent mythoide m it lite r a r is c h e n Reihen und
Komplexen schneidet, kreuzt und dadurch p o te n z ie rt.
Belyj erw eist sich aber auch a ls ein Überwinder des mytho-
genen Symbolismus (= S I I ) dadurch, daß er den evozierten Mythos
durch Profanierung und p a ro d is tisch e , g ro te s k -lu d is tis c h e Ver-
fahren ganz oder p a r t i e l l wieder z e r s tö r t, ohne indes die Trans-
parenz mythoider Strukturen aufzuheben. Diese Ambivalenz dem My-
thos gegenüber (eine typische A ttitü d e der Moderne) b e w irk t, daß
e ig e n tlic h keine Welt-Generierung (im Sinne der mimetischen Dar-
Stellung einer fik tiv e n "Welt" m it A llt a g , Charakteren e tc .) e r-
fo lg t, sondern daß vielmehr auch die Welt-Generierung vorge-
täuscht und p a ro d ie rt wird (metapoetisch a ls "Kopfgeburt1‫ )״‬, ta t-
sächlich aber eine dominante Z i t a t e n w e l t , eine Kopf-
w e it, eine ä s th e tis ie r te L ite r a tu r w e lt e n ts te h t.
Die wahren Mythen der modernen Z e it sah B e ly j, h e lls ic h t ig
wie immer, in den Massenkulturphänomenen: nämlich in e rs te r L i-
nie im Kino, dem er 1908 eine in höchstem Maße "mythenschöpferi-
sehe" Q u a litä t zugeschrieben hat (v g l. C iv*jan 1984:106,115; Be-

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186 Dagmar B u rkh a rt

ly js Zentralm otiv in P e t e r b u r g , nämlich der Mensch a ls Bombe, i s t


nachweislich dem frühen Film entnommen; zu B elyjs 1
*film is c h e r‫״‬
Schreibweise siehe auch Burkhart 1984:210)13. Diese Prognose wird
b e s tä tig t von Lotman/Minc, die in dem le tz te n der v ie r von ihnen
a u fg e s te llte n Mythen-Verarbeitungsmodi (1981:42,46) gerade den
Film in a ll seinen Erscheinungsformen n ic h t nur a ls "mythogen"
e in s tu fe n , sondern sogar von "Kino-Mythen" ( k in o - m ify , k in o -m ifo ‫־‬
lo g ija ) sprechen. Andrej B elyjs P e te rb u rg is t in dieser - das
h e iß t: a u c h in dieser ‫ ־‬T ra d itio n der Adaptation von Filmen
durch die L ite r a tu r der Moderne zu sehen.
Resümierend-axiologisch lä ß t sich sagen, daß B e ly j, der an-
tik - g r ie c h is c h e , b ib lis c h e und k u ltu r g e s c h ic h tlic h - lite r a r is c h e
Mythologeme zur Synthese b r in g t und daraus einen werkimmanenten
sekundären Individualm ythos k r e ie r t h a t, vor allem dies
in te n d ie r t : durch die A k tu a lis ie ru n g archaischer Mythen und die
spezifisch-moderne groteske Brechung ih r e r Themen und Verfahren
die g e is t ig - k u lt u r e lle und p o litis c h e Umbruchssituation der Ge-
genwart zu deuten und im mythoid-utopischen Appell die Welt
(auch die der L ite r a tu r ) zu e rh e lle n . N icht z u le tz t h ie r in be-
gründet sich der komplexe, auch a u fk lä re ris c h e Anspruch des my-
thopoetischen Textes P e t e r b u r g .

A N ME R K U N GE N

1 Ich folge h ie r der von Hübner 1985 entw ickelten und verwende-
ten Terminologie.
2 Pustygina fü h r t aus, daß B elyjs Hauptwerk P e t e r b u r g in seinem
Sujet auf d re i "Urmythen" b a s ie rt (nämlich dem Mythos vom F lie -
genden Holländer, dem Mythos von Saturn und seinen Söhnen und
dem c h r is tlic h e n Mythos vom Ende der Welt) und sein Autor als
der "Mythos-Roman"-Schöpfer im russischen Symbolismus anzusehen
s e i: ” Прамифологическая основа романа дает право утверждать, что
А. Белым был создан в России жанр 'романа-мифа*. Характер такой
' мифологичности' - осознанный, о чем свидетельствуют мифотворче-
ские концепции русских символистов в целом, частное же подтверж-
дение нашей гипотезе мы находим у самого А. Белого - в его вы-
сказывании о романе Ф. Сологуба М е л к и й б е с (в котором, по мнению
А. Белого, 'натура мирового мещанства', которую изображает Соло-
губ, 'мифологична' - М а с т е р с т в о Г о г о л я , 292) . Сама идея создания

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M ythoide V erfa h ren d e r W e lt-C e n e rie ru n g ‫ ל‬8‫ל‬

жанра романа такого рода во многом, по-видимому, восходит к кон-


цепции так называемой ,частной мифологии' Ф. Шеллинга, а также к
трактовке романа у Новалиса (естественно, - с преломлением
сквозь призму неоромантической концепции 'вечного возвращения'
Ф. Ницше, имя которого прямо называется в П е т е р б у р г е ) ."
3 Zu dem v e rtik a le n Bezugssystem zwischen lite r a r is c h e n und ту-
thischen Konfigurationen in P e t e r b u r g v g l. Lachmann 1983:91.
1
4 Das bei Nietzsche zum philosophischen B e g r iff gewordene anta-
gonistische Wortpaar a p o l l i n i s c h / d i o n y s i s c h hat seine Vorge-
schichte in der klassischen P h ilo lo g ie : Der griechische Haupt-
g o tt Apollon war durchgängig e in e r der E c k p fe ile r des k la s s i-
sehen Humanismus, während der der Mysterienwelt zugehörige Dio-
nysos/Bacchus d o rt w ic h tig wurde, wo man die Nachtseite des G rie-
chentums entdeckte. Nietzsche sah in Apollon und Dionysos Per-
so n ifizieru ng e n der beiden "U rtrie b e " des Weltgrundes: Der apol-
lin is c h e Trieb i s t b e s tre b t, durch Maß und Begrenzung in Raum
und Z e it Gestalten zu schaffen und zu verewigen? der dionysische
Trieb dagegen z e rb ric h t, immer neu zeugend, jede Grenze, a lle s
G e stalte te , und fü h r t es in den einigenden Weltgrund zurück. -
Da diese beiden kosmischen P rin z ip ie n im Menschen fo rtw irk e n ,
verwendet Nietzsche sie a ls psychologische und ästhetische L e it -
b e g r iffe . A p o llin is c h sind V ision und Verklärung, das harmonisch
Geordnete, die ethische Begrenzung, in der Kunst die M alerei,
P la s tik und Epik. Dionysisch i s t aber a lle s le id e n s c h a ftlic h Be-
wegte, der Rausch, die Ekstase, in der Kunst vor allem die Musik
und die L y rik . Die höchste E n tfa ltu n g der Kunst wurde in der a t -
tischen Tragödie e r r e ic h t, in der sich das A p o llin is c h e und das
Dionysische zu e in e r Aussage vereinigen. (Burkhart 1984:204)
5 Daß A. Belyj diese beiden Pole der Nietzscheschen K u ltu r p h ilo -
sophie zu "Krisenmetaphern" n ic h t nur der russischen Moderne,
sondern des modernen Bewußtseins überhaupt r a d i k a l i s i e r t , darauf
hat Maria Deppermann hingewiesen: "B e lyjs Krisenbewußtsein i s t
von dem der beiden anderen Symbolisten [Blok und Ivanov, D.B.j
unterschieden. Nicht primär die Kommunikations- oder Geschichts-
k ris e , sondern die ra d ik a le Grunderfahrung der S p a l t u n g d e s т о -
d e r n e n B e w u ß t s e i n s - und deshalb der ganzen K u ltu r - in die b e i-
den antagonistischen K räfte von R a t i o u n d T r i e b stehen bei B elyj
im M ittelp un kt der K u l t u r k r i t i k . Er s ie h t sie aber n ic h t nur als
zwei polare Grundgegebenheiten an, die s e it jeher vom Bewußtsein
in Einklang zu bringen sind, sondern a ls g e f ä h r l i c h e E x t r e m -
S t r u k t u r e n , die - abgetrennt voneinander - hypertrophieren und
dadurch die W eiterexistenz des Menschen in Frage s te lle n " (Dep-
permann 1982:73 f . ) .
6 So zum B eispiel die Auflösung des D io n yso s-C h ristu s-H eilsb rin-
ger-Mythos und des (ursprünglich eueterischen) Zerstückeltw er-
dens in der ironischen Reihe N iko la j-Pepp-Bombe: N ikokaj, der
sich auf der mentalen Ebene i d e n t i f i z i e r t m it dem zerrissenen
Dionysos und der springenden, zerplatzenden Traumgestalt des
anthropomorphisierten K in d e rb a lls (m it dem onomatopoetisch-wit-
zigen Namen Pepp Peppovič Pepp, v g l. B elyj 1962:183-185,189,
204 f . ) , glaubt, die tickende Bombe verschluckt zu haben. Er i s t

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188 Dagmar B u rkh a rt

l e t z t l i c h die Bombe: nach außen hin k a l t b l ü t i g (m it R e p tilie n -


und F roschattributen) und neukantianisch-kühl, im Innern aber
g e f ü l l t m it einem hochexplosiven Emotionsgemisch aus Haß und
Liebe.
7 Belyjs Petersburg i s t ein te u flis c h e r Raum der "v ie rte n Dirnen-
s io n ", ein "G e is te rre ic h " m it zahllosen Anspielungen auf PuŠkins
M e d n y j v s a d n i k , Gogol's P e t e r b u r g s k i e r a e e k a z y sowie Dostoevs-
k i j s B e s y und I d i o t . Pustygina (1977:86 f . ) merkt dazu an: "Кон-
цепция пространства неокантианцев связывается с другой, не менее
важной, идеей ,страшного суда', суть которой - апокалиптическое
представление о 'бесовском городе*, разделенном сетью дьявола
( , телеграфными и телефонными проволоками', ' проспектными
стрелами* на 'пространственные кубы* (с р .: Аполлон Аполлонович
мечтает, чтобы
'вся сферическая поверхность планеты оказалась охваченной,
как эмениными кольцами, черновато-серыми кубами I . . . ] , чтобы
сеть параллельных проспектов: пересеченная сетью проспектов,
в мировые бы ширилась бездны плоскостями квадратов и кубов:
п о к в а д р а т у на о б ы в а т е л я . . . * [...]).
'Бесовская' же сущность людей, населяющих 'бесовский город', от-
сылает нас к другому источнику - к роману Бесы Достоевского,
играющему важную роль в П е т е р б у р г е как на уровне концептуальном,
так и фабульном ('бесовство* это - , с в и н с т в о рхусское*,
по определению А. Белого [ . . . ] ) . [ . . . ] Ср. в И д и о т е Достоевского
сын Лебедева говорит о том, что 'звезда Полынь' в Апокалипсисе,
павшая на землю на источники вод, есть, по толкованию его отца,
сеть железных дорог, раскинувшаяся по Европе
в Mit dieser S tru ktu rie ru n g g ib t sich B elyjs Petersburg d e u tlic h
a ls mythoider Ort zu erkennen: "Der einzelne Témenos fü r sich
(...) z e ig t seine h y p o t a k t i s c h e S tru k tu r schon d a rin , daß er in
irgendeiner Weise einen M itte lp u n k t h a t: Einen Tempel, eine
Quelle, einen Fluß, einen Hain, Bäume, einen Berg und d e r g le i-
chen [ . . . ] . In solchen M ittelpunkten i s t das numinose Wesen des
Témenos am dichtesten anwesend, und von h ie r aus d r in g t seine
mythische Substanz in a lle seine T e ile . So i s t es aussch ließ lich
diese mythische Substanz, die aus ihm eine s y n t h e t i s c h e E in h e it
macht", betont Hübner 1985:172.
9 Es handelt sich um eine ganze A sso zia tio n ske tte , vom Einhorn
(= Christus) und Kreuzigungsposen und -szenen über die weiß ge-
k le id e te C h ris tu s g e s ta lt b is hin zu einer ch ristu sä hn liche n F i*
gur namens Miša (= Michael m it der Konnotation des Erzengels,
der nach apokrypher V orstellung das Endgericht v o r b e r e ite t, in
der Offenbarung des Johannes a ls Sieger über das Satansheer auf-
t r i t t und nach anthroposophischer Anschauung der Schutzengel von
Rußland i s t ) . Einmal w ird diese lic h t e G e s ta lt, die a lle n m it
i h r zusammentreffenden Romanfiguren Hingabesehnsucht oder Kind-
h e its n o s ta lg ie e in f lö ß t , a ls P o l iz e i o f f iz i e r (R e v ie rp o liz is t)
id e n tifiz ie r t! (Vgl. dazu auch Elsworth 1983:108; Burkhart 1984:
185) .
10 Vgl. A. Blok - A. B e ly j: Perepiska, Moskau 1940, Reprint Mün­

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M ythoide V erfa h ren d e r W elt-G e n erieru n g

chen 1969:280-
11 Darauf hat auch Pustygina (1977:83) hingewiesen: "Мифологиче-
ская цикличность выявляется и на композиционном уровне - так, на-
пример, многие сюжетные ходы первой части П е т е р б у р г а (т.е . пер-
вых четырех глав) зеркально повторяются во второй части с заме-
ной действующих лиц в них (ср. разговор агента охранки и Неуло-
вимого в главках , Наша роль' и , И при том лицо лоснилось1, с
разговором того же агента с Николаем Аполлоновичем в главках
,Господинчик* и , Рюмку водочки!1; эпизод , Аполлон Аполлонович
из кареты видит Неуловимого' - главка ,И увидев, расширились,
засветились, блеснули...' - с аналогичным сюжетным ходом ,Апол-
лон Аполлонович видит в пролетке своего сына' ‫ ־‬главка 'Грифон-
чики ' и др. ) . 1
1
12 Dazu Burkhart 1984:106-166.
13 In seinem Roman hat B e lyj ganz o f f e n s ic h t lic h nach Stummfilm-
manier auch Szenen in Bewegung umgesetzt, das Tempo der Groß-
sta d t k in e tis c h - v is u e ll " in s z e n ie r t" , zum B e is p ie l:
Die Fußgänger waren stehengeblieben [ . . . ] Aus der Ferne des
Prospekts kam ein tausendstimmiges Geheul, eine Droschke r a e t e
v o r b e i ; d a rin saß, halb stehend, ein schäbiger Herr ohne Müt-
ze, eine schwere Stange in der Hand, an der eine Fahne f l a t -
t e r t e ; als die Droschke v o r b e i w a r , s t r ö m t e n a l l die s te ife n
Hüte, Dreimaster, Z y lin d e r, Schirmmützen, Federhüte und die
zottigen mandschurischen Pelzmützen vom Bürgersteig auf die
M itte des Prospekts [ . . . ) Durch ein paar k r ä ft ig e Ellbogen
voneinander g e tre n n t, r a n n t e n s ie in die gleiche Richtung wie
die anderen [ . . . ] Aus der Ferne kam ein lautes Knattern; die
roten Fahnenwirbel w o g t e n a u f und v e r s c h w a n d e n schnell [ . . . ] ;
an der S te lle , von der das Knattern gekommen war, wo soeben
noch die roten Fahnen g e w e h t h a tte n , war keine einzige Fahne
zu sehen; die Menschenmenge f l u t e t e z u r ü c k , und die Droschken,
die d o rt vorn in dichtem Haufen standen, m a c h t e n k e h r t und
s a u s t e n in umgekehrter Richtung davon. (Belyj 1962:255; Kur-
sive von m ir, D .B .).

L I T E R A T U R

B E LY J, A .
1910 Simvolizm, Moskau.
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190 Dagmar B u rkh a rt

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M ythoide V erfahren d e r W elt-G e n erieru n g 191

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192 Dagmar B urkhart

MYTHOS-SCHEMA IN ANDREJ BELYJS ROMAN PETERBURG

E x p o n e n t e n d u a lis tis c h e r
Kräfte auf der H a n d l u n g s
ebene und ih re A/Z/R
in LM und SY

PETERBURG ‫־‬
Zentralmythos, LM/SY
t
lite r a r is c h e Ebene
+
ideologische Ebene
t
h is to r is c h -p o litis c h e
Ebene
(O-W-Dualismus e tc .)

/ \ P e te r
A/Z/R in
I.

t
und seirne
LM/SY

E x p o n e n t e n auf der ik o n is c h -l i t e r a r i - -
p a ych o -m e n ta te n sehe Ebene
Ebene und ihre t
A/Z/R in LM und SY ideologische Ebenie
­‫‘ו‬
h i s t o r i sch-pol ! ­
tis c h e Ebene
( +/ - Dualismus et:c

Legende ;

<------» = Beziehung zu, Spiegelung in


A = A ttrib u te
Z = Zeiten
R = Räume
LM/SY = Leitmotive und Symbole

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Walter KOSCHMAL (München)

ZUR MYTHISCHEN MODELLIERUNG VON RAUM UND Z E IT BEI ANDREJ BELYJ


UND BRUNO SCHULZ

Bei der Erforschung der lite ra ris c h e n Raumzeit d a rf man wohl


zwei Richtungen hervorheben. Die eine wählt primär den l i t e r a -
rischen Text und in ihm vor allem die Raumparameter a ls Analy-
seobjekt. Z e itlic h e Parameter finden dabei eher am Rande Be-
rücksichtigung. J u r ij Lotman d a rf als ih r hauptsächlicher Ver-
tre te r g e lte n.
V ladim ir N. Toporov und M ichail M. Bachtin repräsentieren
in sofern einen anderen Zugang, als sie Raum und Z e it in einem
umfassenden kulturtypologischen und mythologischen Bezugsrahmen
analysieren. Auf diesem Hintergrund verbinden sich Raum und
Z e it fü r sie zu einem unauflöslichen Kontinuum.
In Lotmans Konzept, das vor allem den Raum in Betracht
z ie h t, wird dieser im Erzählvorgang sem antisiert bzw. sem ioti-
s ie r t. Die Grenze - vor allem in ih r e r t r e n n e n d e n
Funktion - is t in diesem Ansatz "wesentliches Differenzmerkmal
1räumlicher Sprache1" . Sie wird a ls "w ich tigste s topologisches
Merkmal des Raumes" gewertet. U ndurchdringlichkeit sei ih re
hauptsächliche Eigenschaft. Die A rt und Weise, wie sie den Raum
t e i l e , c h a ra k te ris ie re diesen vorrangig. Den durch die
Grenzziehung entstandenen räumlichen Oppositionen werden polare
Bedeutungen zugewiesen ( 'oben-unten', 'g e s ch lo ss e n -o ffe n ').
Ein in d iskre te Einheiten bzw. Stationen u n te rg lie d e rte r
Weg prägt diesen Raum. Dynamik gewinnt e r aber e rs t durch das
fü r ihn unverzichtbare Subjekt des Wegs, den Helden. Die auf
diesen bezogenen Ereignisse und Handlungen semantisieren die

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194 W a lter K oschnal


ф

von ihm besetzten oder n ic h t besetzten Räume. Diese Konzeption


des Raums i s t also w esentlich m it der lite r a r is c h e n Handlung
ve rknüpft.

Toporovs Konzept des ” mythopoetischen Raums” , das auch


n ic h t - lit e r a r is c h e Texte e in s c h lie ß t, geht g le ic h f a lls von d i-
s tin k te n , binar geordneten Raumkomponenten aus. Die Bedeutung
des Raums lä ß t sich h ie r aber nur in K o rre la tio n m it einer
Z e ite in h e it bestimmen: Z e it wird s p a tia lis ie r t, Raum tem porali-
s ie r t. Das Mythologem des von der Sonne im Jahreslauf zurückge-
legten Wegs kann dies veranschaulichen.
Toporov behandelt die wechselseitigen Transformationen von
Raum und Z e it a ls abgeschlossen. N icht der Prozeß von Tempora-
lis ie r u n g und S p a tia lis ie ru n g , n ic h t das Werden, sondern ih r
Sein i s t a ls T h e m a w ese n tlich . Mythische Raumzeit faß t To-
porov a ls eine - sich fr e ilic h wiederholende - thematische Korn-
ponente.
Die mythische Raumzeit s te llt zwar damit beide Parameter
in ih r e r W e chse lse itig ke it dar. Toporov beschreibt aber n ic h t
die a k tu e ll im lite r a r is c h e n Werk ablaufenden Prozesse. Die
Abstrahierung allgemein g ü lt ig e r lit e r a t u r th e o r e tis c h e r Verfah-
ren der S p a tia lis ie ru n g und Temporalisierung etwa liegen außer-
halb seines e ig e n tlic h e n Interesses. Diese Verfahren mythischer
Raumzeitmodellierung d ü rfte n fr e ilic h e rs t die Lücke zwischen
e in e r semantisierenden R a u m -M odellierung (Lotman) und der
D eskription ra u m z e itlic h e r Mythen (Toporov) schließen.

Ehe die Verfahren mythischer Raumzeitmodellierung in der


Moderne dargelegt werden, s o lle n d re i dafür w ic h tig e Gruppen
von Prätexten namhaft gemacht werden. Im Bereich der oralen
K u ltu r is t es die V o lk s lit e r a t u r , in der S c h r if t k u lt u r - bezo-
gen auf d ie russische T r a d itio n ‫־‬ zum einen d ie a ltru s s is c h e
L it e r a t u r , zum anderen d ie von Lotman und Toporov in diesem
Kontext w iederholt a n a lys ie rte n Texte Gogol's und D ostoevskijs.
Die F o lk lo re kennt wohl zwei verschiedene Raumzeittypen
(v g l. Gerasimova, Nekljudov, Pljuchanova), die immer in span-

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A n d re j B e l y j und Bruno S c h u lz 195

nungsreicher Kombination nachweisbar scheinen: Es i s t dies zum


einen der s ta tis c h e , geschlossen-diskrete, lin e a re , m it der
Handlung verknüpfte Typus, zum anderen die dynamische, entgrenz-
te (s y n th e tis c h -o ffe n e ), z y k lis c h wiederkehrende, von der Hand-
lung losgelöste Raumzeit. Beide Typen werden von Andrej B elyj
und Bruno Schulz a u fg e g riffen, der e rs te re Typus in deform ier-
te r, der le tz te r e in dominanter S te llu n g .
Als zweite Vorstufe mythischer Raumzeitmodellierung kann
die a ltru s s is c h e L it e r a t u r angeführt werden. In der russischen
L it e r a t u r des 17. Jahrhunderts k o n k u rrie rt die tr a d itio n a lis te
sehe, , s u b s ta n tie lle 1 Z e itv o rs te llu n g der a ltru s s is c h e n L ite r a -
tu r m it der von Simeon P o lo c k ij und anderen propagierten Auf-
fassung von Z e it. Diese i s t a ls Bewegung von einem bestimmten
Standpunkt aus m it den bekannten Parametern meßbar und begrenz-
bar. Sie b ild e t sich p a r a lle l zu der in den p o v e e t i des 17.
Jahrhunderts erstmaligen Dominanz der Handlung heraus.
Der T r a d it io n a lis t E v fim ij vom čudovskij monastyr' (Mathau-
serová 1976:120) und die A ltgläubigen s te lle n dieser grammatisch
begründeten Zeitbestimmung ih re philosophische gegenüber: Nach
der , s u b s ta n tie lle n ' Z e itv o rs te llu n g der a ltru s s is c h e n L ite r a -
tu r bewegt sich die Z e it n ic h t, sondern b r e it e t sich nur in
ih r e r begrenzten und unbegrenzten Existenz aus. Die in der m it-
t e la lt e r lic h e n L it e r a t u r primär m o d e llie rte ewige, unbegrenzte
Z e it d a rf nur auf Gott bezogen werden.
In der mythischen Raumzeitmodellierung, die m it einem e r-
neuten V e rlu st von Handlung einhergeht, w ird nach der Dominanz
der im 17. Jahrhundert neuen 'z iv ilis a t o r is c h e n * Z e it die p h i-
losophische Dimension der Z e it aus der a ltru s s is c h e n L it e r a t u r
wiederbelebt. Bedient man sich der Dichotomie des Moskauer Buch-
korrektors S a w a tij aus dem 17. Jahrhundert, w ird n ic h t mehr
das m a te rie lle b y tie , sondern das wahre, f ü r die a ltru s s is c h e
L ite r a tu r c h a ra k te ris tis c h e p re d b y tie d a r g e s te llt (Mathausero-
vá 1976:116). Der k u lt u r e lle Wandel v o llz ie h t sich im Vergleich
m it dem 17. Jahrhundert fr e ilic h in umgekehrter Richtung. Die
Ausweitung der s u b s ta n tie lle n Z e itv o rs te llu n g auf den Menschen
muß aus dieser S icht a ls S a krile g g e lte n . Die Ausrichtung an

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196 W a lter Koschmal

dem einen Gott w ird in der Moderne durch die Desorientierung


an e in e r V ie lz a h l von Menschen abgelöst.
Raum, Gegenstände, Figuren und Z e it büßen in der dynami‫־‬
sehen Raumzeit ih re festen Konturen e in , sind fortwährendem
Wandel unterworfen. Binare Oppositionen wie 'oben-unten1 werden
ebenso ir r e le v a n t wie in der Malerei der Moderne (MatjuŠin, Ma-
le v ič , K le e ). 1
Lotman beschreibt schon am B e is p ie l Gogol's die Auflösung
von Raumgrenzen und die D e s o rie n tie rth e it des Raumes. Zum ande-
ren rü c k t Toporov D ostoevskijs , Grenzräume' in die Nähe der
Raummodellierung Andrej B e ly js . Die Werke beider Autoren bilden
die d r it te Gruppe von Prätexten f ü r die mythische Raumzeitmo-
d e llie ru n g .
J u r ij Lotman a n a ly s ie rt den Raum in N ik o ła j Gogol's Texten
durchaus z u tre ffe n d . In T aras B u l'b a hätten die Grenzen nur die
Funktion, Übergänge zu m odellieren. Der Raum s e lb s t ble ib e un‫־‬
t e ilb a r (Lotman 1974:237f.). Wesentlich werde bei Gogol' die
"unbegrenzte Erweiterung des Raums", "das Bodenlose, der Ab-
grund", die "Vernichtung des Raums" durch Erstarrung bzw. gren-
zenlose Ausweitung (Lotman 1974:245). Trotz der zentralen Be-
deutung des Weges ( p u t 9) in M e rtvye duši ("Tote Seelen") (Lot‫־‬
man 1974:251), der "Universalform der Organisation des Raumes"
(Lotman 1974:258), sei die fehlende G e ric h te th e it des Raums
sein dominantes C harakteristikum (Lotman 1974:256). Der Weg sei
in T ote S e e le n e rs t im Entstehen b e g riffe n (Lotman 1974:255).
Gerade m it der Auflösung der Raumgrenzen und der Desorien-
tie r th e it des Raums beschreibt aber Lotman Erscheinungen, die
etwa die U n d u rch d rin g lich ke it a ls hauptsächliche Eigenschaft
der Grenze, die räumliche Oppositionen und v ie le andere Postu-
la te der Semantisierung fragwürdig erscheinen lassen. Lotman
kann Gogol's Raummodellierung im Grunde nur durch die Negation
semantisierender Raummodellierung beschreiben. Damit nähert er
sich b e re its der mythischen Raummodellierung an.
M it seinem Konzept semantisierender Raummodellierung kann
Lotman Gogol' n ic h t v ö llig gerecht werden. Die von ihm betonte
W ic h tig k e it der Funktion des Wegs w ird fragw ürdig, wenn die

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A n d re j B e l y j und Bruno S c h u lz 197

Straßen in einem fa s t unpassierbaren Zustand sind, die Kutschen


auseinanderfallen, die Brücken einzustürzen drohen.
Auch die in Lotmans Analysen kaum Berücksichtigung fin de n -
de Z e it e n tfe rn t sich von a n a ly tis c h e r D is k r e th e it: Räume wer-
den in kaum möglichen Z e ita b sch n itte n zurückgelegt, und č ič ik o v
fä h rt im Sommer im Pelz aus. N icht temporale D is k r e th e it, son-
dern In te rfe re n z , n ic h t se m a n tisie rte r Raum, sondern^mythische
Raumzeit gelangen bei Gogol' zu dominanter Bedeutung.
Für den in diesem Zusammenhang von Toporov (1973:233) ins
Feld geführten Fedor Dostoevskij d ü rfte dies kaum in demselben
Maße g e lte n . Toporov s e lb s t s p ric h t von e in e r 1‫״‬ausgeprägt d is -
kreten Gestaltung des Raums im Roman" P r e s t u p l e n i e i n a k a z a n ie
("Verbrechen und B estrafung").
Dennoch d ü rfte beide Autoren eine d e u tlic h e Grenze von der
mythischen Raumzeitmodellierung der Moderne tre n n e n .3 Entgren-
zung und Zerstörung des Raums beziehen sich in ihrem Werk le -
d ig lic h auf die d a rg e s te llte O bjektw elt. Die mythische Raum-
zeitm odellierung entgrenzt aber n ic h t so sehr die Objektwelt
a ls b e re its die Verfahren, die diese O bjektw elt entwerfen.

Zu v o lle r Entwicklung und zu ihrem Höhepunkt gelangen die


Verfahren mythischer Raumzeitmodellierung e r s t in der Moderne,
die h ie r durch Andrej B e lyjs P e te rb u rg (1916) und Bruno Schulz'
S k le p y Cynamonowe ( ‫״‬Zim tläden") (1934) re p rä s e n tie rt sein s o ll.
Die Texte des b is heute - in der Forschung - im Schatten von
W itold Gombrowicz stehenden Polen Bruno Schulz weisen dabei
frappante P a ra lle le n m it dem wohl bedeutendsten russischen Ro-
man des 20. Jahrhunderts a u f. Diese sind vor allem in der b e i-
den gemeinsamen mythischen Raumzeitmodellierung, in ih r e r My-
th is ie ru n g der Raumzeit, die zugleich eine neue Mythisierung
a llt ä g lic h e r W ir k lic h k e it bedeutet, zu finden.
Die N arration e n tw ic k e lt sich bei den Griechen n ic h t aus
der Opposition zweier Sinngehalte, sondern aus ih r e r E in h e it,
so 01'да Frejdenberg im Jahre 194 6 (Frejdenberg 1982:290). Die-
se "Z w e ie in ig k e it" (d v u e d i n e t v o ) se i das der Metapher zugrunde-
liegende P rin z ip . Die p rä na rrativen b ild lic h e n Binome würden

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198 W a lter Koschmal

e rs t in e in e r späteren Z e it in der N a rration b e g r if flic h tra n s -


fo rm ie rt. Bis dahin aber führe der r a s s k a z a ls ,W o rt-B ild ' eine
anschauliche, der Z e it e n tle e rte W ir k lic h k e it vor Augen.3 In
seiner p rän a rra tive n s u b 9te k t n o - o b " e k t n a j a r e è 9 ("s u b je k t-o b je k t
bezogene Rede") b ild e te n Subjekt und Objekt noch eine E in h e it.
Diese werde e r s t m it der Einführung des b e g r if flic h e n Denkens
in Subjekt und Objekt d is s o z iie r t . Noch f ü r die Z e itm o d e llie -
rung der a ltru ssisch e n L it e r a t u r is t der Parameter der Perspek-
t iv e ir r e le v a n t.
Für die Raumzeit a ls B e sta n d te il von r a s s k a z und N arration
d a rf demnach eine analoge p rä n a rra tiv e Entwicklungsstufe ange-
nommen werden, zu der n ic h t nur die genannten Autoren zurückzu-
kehren versuchen. Aufgrund der E in h e it von Subjekt und Objekt
des Raums und der Z e it is t n ic h t die Grenze von entscheidender
Bedeutung. Die Grenze e x i s t i e r t vielmehr n ic h t oder is t - wie
in der F o lk lo re (C iv 'ja n 1975:200) - n ic h t konkret faßbar.
Das aber bedeutet, daß der Raum zum Agens, die u rs p rü n g li-
chen Aktanten zu Objekten, zum Patiens werden können. Die Ge-
genstände in P e te rb u rg sind nie in ih r e r S ta tik gezeichnet,
sondern befinden sich immer in e in e r ih re eigenen Grenzen
sprengenden Bewegung. In S im v o liz m nennt B elyj die Bewegung
1910 die "Innenseite der B ild e r der W ir k lic h k e it " . Toporov etwa
hat darauf hingewiesen, daß das L e itm o tiv der г д і а ("S p itze ")
der A d m ira litä t p ra k tis c h immer a ls "glänzende" a p o stro p h ie rt
w ird (Toporov 1973:294). Der Ursprung dieses Verfahrens, Gegen-
stände und Räume a ls agierende zu g e sta lte n und temporal zu
transform ieren, im Mythos s te h t außer Zw eifel (Frejdenberg 1982
303) :

В обряде и мифе вещь может быть и действующим лицом, и


орудием действия.
Im Brauchtum und im Mythos kann die Sache handelnde Figur
und Instrument der Handlung sein.

Das B e tt, das Herrn Karol wieder zum Schlafen v e r fü h r t, wird


bei Bruno Schulz ebenso zum Aktanten wie Häuser, Balkons oder
Bäume (Schulz 1973:39; deutsch 1968:10):

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A n d re j B e l y j und Bruno S c h u lz 199

Zdawało s ię , że te drzewa a fe k tu ją w icher, wzburzając te a -


t r a ln ie swe korony, ażeby w patetycznych przegięciach uka-
zać wytworność wachlarzy lis tn y c h o srebrzystym podbrzuszu
jak fu tr a szlachetnych l i s i c .
Es sch ie n ,a ls a f f e k t ie r t e n diese Bäume den Wind, indem sie
th e a tra lis c h ih re Kronen s c h ü tte lte n , um in pathetischen
Biegungen die Vornehmheit der B la ttfä c h e r m it ihren S ilb e r
nen U nte rleib e rn wie das F u tte r e d le r Fuchspelze zu zeigen

Die Notwendigkeit e in e r Dynamisierung räumlicher und z e it lic h e r


Komponenten durch den Bezug zum Sujet besteht damit n ic h t lä n -
g e r.
Die Nähe dieser Raummodellierung zu jener der L y r ik fä llt
sogleich auf- Ein längeres Z ita t vom Beginn der Z im tlä d e n s o ll
dies veranschaulichen (Schulz 38, d t . 9 ):

Przez ciemne mieszkanie na pierwszym p ię trz e kamienicy w


rynku przechodziło co dzień na wskroś całe w ie lk ie la t o :
cisza drgających słojów powietrznych, kwadraty blasku,
śniące ż a rliw y swój sen na podłodze; melodia k a ta ry n k i,
dobyta z najgłębszej z ło t e j ż y ły dnia; dwa, tr z y ta k ty re -
frenu, granego gdzieś na fo rte p ia n ie wciąż na nowo, mdłe-
jące w słońcu na b ia ły c h tro tu a ra c h , zagubione w ogniu
dnia głębokiego. Po sprzątaniu Adela zapuszczała cień na
pokoje, zasuwając płócienne s to ry - Wtedy barwy schodziły
o oktawę g łę b ie j, pokój n a p e łn ia ł s ię cieniem, jakby po-
grążony w ś w ia tło g łę b i m orskiej, jeszcze mętniej o d b ity
w zielonych zw ierciadłach, a ca ły upał dnia oddychał na
storach, lekko fa lu ją cy ch od marzeń południowej godziny.
Durch die dunkle Wohnung im ersten Stock des steinernen
Hauses am Ring ging jeden Tag der ganze große Sommer h in -
durch: die S t i l l e z itte r n d e r L u fts c h ic h te n , d ie glänzenden
Quadrate m it ihrem le id e n s c h a ftlic h e n Traum auf dem Fuß-
boden, die Melodie eines Leierkastens, aus der t ie f s t e n
goldenen Ader des Tages g e h o lt, zwei, d re i Takte eines Re-
f ra in s, irgendwo auf dem K la v ie r g e s p ie lt, immer wieder
von neuem, ohnmächtig zusammenbrechend in der Sonne auf
den weißen T r o tto ir e n , ve rlo re n im Feuer des t ie fe n Tages.
Nach dem Aufräumen lie ß Adela Schatten in die Zimmer, in -
dem sie die leinenen Fenstervorhänge herabließ- Dann f i e -
len die Farben um eine Oktave, das Zimmer f ü l l t e sich m it
Schatten, wie versenkt in das L ic h t der M eerestiefe, noch
trüber zurückgeworfen von den grünen Spiegeln und die v o i-
le Glut des Tages atmete auf den Vorhängen, die von den
Träumen der Mittagsstunde le is e wogten.

Rekonstruierbare und somit v o rs te llb a re Räumlichkeit1


* m it kon-
kreten Einrichtungsgegenständen w ird in dieser Passage n ic h t
g e s ta lte t. Aus dem Konglomerat von räumlichen und z e itlic h e n

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W a lte r Koschmal

Parametern lä ß t sich auch keine eindeutige fig u r a le Perspektive


ablösen.5 Der "le id e n s c h a ftlic h e Traum" der Sonnenquadrate lä ß t
sich ebenso wie das ,Atmen der Glut des Tages* sowohl auf die
genannten raum zeitlichen Parameter a ls auch auf das erzählende
Subjekt beziehen. Bezüglich der Perspektive kann g le ic h f a lls
keine Grenze gezogen werden.
Diese umfassende Aufhebung der Grenze hat eine v ö llig e
Desorientierung zur Folge. In e in e r von a lle n d is tin k te n Ein-
heiten b e fre ite n Raumzeit ohne O rientierung gebende Perspektive
v e rirre n sich die Figuren wie in Labyrinthen (Schulz 44, d t . 16).
Labyrinth meint aber bei Schulz n ic h t das von Toporov z i t i e r t e
Mythologem des erschwerten Wegs (Toporov 1983:268), sondern die
"Labyrinthe der eigenen Eingeweide" (l a b i r y n t y w ła s n y c h w n ę trz -
n o ś c i) (48, d t . 21), d ie "Labyrinthe der Winternächte" (l a b i r y n -
ty zim ow ych nocy) (82, d t . 58) oder das "L ab yrinth einzelner
Himmel" (la b iry n t odrębnych n ie b io s ) (83, d t . 60). Das Mytholo-
gern des Labyrinths muß in der mythischen Raummodellierung den
tr a d ie r te n Charakter des Wegs einbüßen. Weg a ls klassischer
c h ro n o to p w ird n ic h t mehr zurückgelegt, da Räume und Zeitseg‫־‬
mente sich überlagern (Döring-Smirnov/ Smirnov 1982:75, 92).
B elyjs Helden tauchen p lö t z lic h an verschiedenen Orten n i o t k u d a
a u f. Ein Raum, der zugleich Subjekt und Objekt is t, kennt keinen
Weg. Die Kategorie des Raums e x i s t i e r t in jedem F a ll nur als
temporal tra n s fo rm ie rt (v g l. Dolgopolov 1981:609,607). Aber
auch der Parameter der Z e it lä ß t die K onstituierung eines Weges
n ic h t mehr zu. Die Z e it kennt keine Dauer ( d l i t e l ,n o s t‫) ׳‬ (F re j-
denberg 1982:303). Diese , andere* Z e it hat sich aus den Fesseln
der Ereignisse ‫־‬ und damit der N arration ‫־‬ b e f r e it (Schulz 77,
d t . 52-53):

Była to chw ila, kiedy czas, o sza la ły i d z ik i, wyłamuje się z


k ie ra tu zdarzeń i ja k zbiegły włóczęga pędzi z krzykiem na
p rz e ła j przez pola. Wtedy la t o , pozbawione k o n t r o li, roś-
nie bez miary i rachuby na c a łe j p rz e s trz e n i, roánie z
dzikim impetem na wszystkich punktach, w dwójnasób, w t r ó j -
nasób, w inny ja k iá wyrodny czas, w nieznaną dymensję, w
obłęd.
Es war ein Augenblick, da die Z e it, v e rrü c k t und w ild , aus
dem Kehrrad der Ereignisse a u sb rich t und wie ein e n tla u fe ‫־‬

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A n d re j B e ly j und Bruno S c h u lz 201

ner Landstreicher m it Geschrei q u e rfe ld e in stürm t. Dann


wächst der Sommer, a l l e r K o n tro lle e n tle d ig t , ohne Maß und
Berechnung auf dem ganzen Raum, wächst m it wildem Impetus
an a lle n S te lle n zweifach, d re ifa c h in irgendwelche ande-
ren, e n ta rte te Z eiten, in unbekannte Dimensionen, in den
Wahnsinn h in e in .

Durch die Demontage des Wegs g ib t es kaum mehr Bewegung


auf der Horizontalen. Bewegungen laufen fa s t a u s s c h lie ß lic h auf
der V e rtika le n ab. Der Modellierung der U nendlichkeit w ird so-
m it Vorschub g e le is t e t . Der bei B e lyj und Schulz o f t m u lt id i-
re k tio n a le Bewegungsablauf wird in P e te rb u rg a ls Fließen, a ls
Leuchten, Aufscheinen, A u fb litz e n ( b l e s t e t *, m e l ' k n u t 9 u. a.)
r e a lis ie r t . ® M u ltid ir e k tio n a le und häufig d is k o n tin u ie r lic h e Be-
wegungen wie s ic h a u s b re ite n , p la tz e n , b e rs te n , em portauche n, v e rse n ke n ,
g ä re n , knospen, schw eben, s ic h v e rz w e ig e n , a u s e in a n d e rla u fe n , k re is e n und
v ie le andere sind f ü r beide Werke gleichermaßen bezeichnend.

Der mythische Raum w ird n ic h t mehr a ls abgeschlossener m it


der Z e it k o r r e l i e r t . Vielmehr w ird der Raum s e lb s t m it z e itli-
chen, die Z e it m it räumlichen Parametern m o d e llie r t . 7 In der
b e re its z it ie r t e n Beschreibung der Wohnung des Erzählers kon-
s titu ie r t sich die Z e it räumlich durch glänzende Sonnenquadra-
te . Der Raum erwächst e rs t aus den in der S t i l l e z itte rn d e n
Luftschichten der Sommerhitze. Ohne diese endet auch seine E x i-
stenz. In Ausdrücken wie , Rand der Z e it ' (za m a rg in e se m czasu)
(Schulz 40, d t.11 ) und , Ränder des unvollendeten Tages* (na ru -
b ie z a c h n ie sko ń czo n e g o d n ia ) (40, d t.1 1 ) transform ieren rä u m li-
che Parameter z e it lic h e und z e it lic h e räumliche. Die K o rre la -
tio n von Raum und Z e it is t also keine abgeschlossener, fix ie r -
te r Größen. Sie muß vielmehr a ls w echselseitige Transformation
der Raum- und Zeit-M o d e l l i e r u n g verstanden werden.
Wie in der von 01*да Frejdenberg beschriebenen p r ä n a r r a ti-
ven Phase tr ä g t die Z e it Ding-Charakter: Z e it und Raum werden
n ic h t in ih r e r spezifischen Ausdehnung, sondern a ls ,,Dinge"
(v e š č i) aufgefaßt (Frejdenberg 1982:298,301). Die Z e it bekommt
so Ränder (Frejdenberg 1982:298):

Это больше *вид*, чем время.

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202 W a lter Koschmal

Das i s t eher eine ,A n sich t' a ls Z e it.

Raum und Z e it sind n ic h t mehr m it Gegenständen oder meßba-


ren Einheiten g e f ü l l t , sondern m it der vorwiegend räumlich
o r ie n tie r te n Farbe (L ic h t) und m it den primär Z e it m odellieren‫־‬
den Tönen und Lauten. Diese erscheinen n ic h t a ls gleichbleibend
und konstant, sondern a ls ständig und schnell wechselnd.® My-
thische Raumzeitmodellierung lä ß t sich aufgrund dieser In s ta b i-
litä t deshalb a ls jene der M e t a m o r p h o s e bezeichnen.
Der 1
*Grad der R e a litä t" (s to p ie ń r e a l n o ś c i ) (Schulz 99, d t . 77)
der d a rg e s te llte n Welt ändert sich damit ständig (Schulz 91,
d t . 67) :

Transformacje nieba, metamorfozy jego w ielokrotnych skie ‫־‬


pierí w coraz kunsztowniejsze ko n fig u ra cje nie miały koiica.
Die Transformationen des Himmels, die Metamorphosen seiner
v i e lf ä lt ig e n Gewölbe in immer k u n s tv o lle re Konfigurationen
nahmen kein Ende.

Der Mensch w ird in seinem Zorn zum Riesen (Schulz 106, d t . 84):

Te [dachy ‫ ־‬W.K.], w któ re w s tą p ił wicher, wstawały w na-


tc h n ie n iu , p rz e ra s ta ły sąsiednie domy i prorokowały pod
rozwichrzonym niebem. Potem opadały i gasły [ . . . ]
Die [Dächer ‫ ־‬W .K.], welche der Wind b e tr a t, erhoben sich
v o lle r Begeisterung, wuchsen über die benachbarten Häuser
hinaus und prophezeiten unter dem windzerzausten Himmel.
Dann nahmen s ie ab und vergingen [ . . . ]

Den auf diese Weise tra n sfo rm ie rte n Raum prägt in seiner
In s ta b ilitä t ein besonders hoher Grad an Dynamik. Dynamische
Raummodellierung i s t in diesem Verständnis per se b e re its tem-
porai tra n s fo rm ie rte Raummodellierung. Die Dynamik erwächst
h ie r n ic h t aus Bewegungen nach oben oder unten. Sie is t s ta tt-
dessen dem Raum und seiner Modellierung s e lb s t in h ä re n t. Beson-
ders c h a ra k te ris ie re n die P lö t z lic h k e it , die H e ftig k e it und die
S c h n e llig k e it der Bewegungen den dynamischen Raum (v g l. Belyj
1981:138-141). Als B e isp ie le mögen die Beschreibung eines Korn-
posthaufens (Schulz 41, d t . 12) und eines Gartens (40, d t . 11)
dienen:

Powietrze nad tym rumowiskiem, zdziczałe od żaru, c ię te

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A n d re j B e ly j und Bruno S c h u lz 203

błyskawicami lśniących much końskich, rozwścieczonych


słońcem, trzeszczało jak od nie widzianych grzechotek,
podniecając do szału.
Die L u ft über diesem Schutthaufen, w ild geworden vor H it -
ze, durchschnitten von den B litz e n funkelnder, sonnentol-
1er P fe rd e flie g e n , k n is te r te wie von unsichtbaren Klap-
pern, die zur Raserei a u fpe itsch te n .

Splątany gąszcz traw , chwastów, z ie ls k a i bodiaków buzuje


w ogniu popołudnia. Huczy rojowiskiem much popołudniowa
drzemka ogrodu. Złote ście rn is ko krzyczy w słońcu ja k ruda
szarańcza;w rzęsistym deszczu ognia wrzeszczą świerszcze?
s tr ą k i nasion eksplodują cicho ja k k o n ik i polne.
Das verworrene D ic k ic h t der Gräser, wuchernder Pflanzen,
Unkräuter und D is te ln g lü h t im Feuer des M itta g s . Es
braust im Gewimmel der Fliegen das M ittagsschläfchen des
Gartens. Das goldene S topp e lfe ld s c h r e it in der Sonne wie
das Erz der Heuschrecken; im dichten Regen des Feuers t o -
ben die G r ille n ; die Schoten von Samenkörnern explodieren
le is e wie Heupferdchen.

Die Explosion is t die le tz te Konsequenz fü r einen d e ra rt


gespannten, d e z e n tra lis ie rte n Raum. Die Explosion is t die le tz -
te a l l e r Metamorphosen. Bei Bruno Schulz b ie t e t sich die äußer-
lie h e , fragmentarische W ir k lic h k e it b e re its a ls Ergebnis e in e r
Explosion des Sinn-Zentrums dar (Stala 1983:97). Das ze n tra le
Motiv der Bombe in P e te rb u rg s te h t a ls Drohung über dem gesam-
ten Roman. Das Gewimmel einer amorphen Menge scheint diese
le tz te Explosion anzukündigen.
Aber auch die verkleinernde Metamorphose, die Verdichtung,
- in das Insekt bei B e ly j, in die Schabe oder den Vogel bei
Schulz - , v e r le ih t den Figuren, in beiden F ä lle n is t es der Va-
t e r 9, ein in s ta b ile s , verunsicherndes und verunsichertes Da-
sein. Ruhiges, behaustes, ra u m ze itlic h gesichertes Leben b le ib t
aus den z itte rn d e n und gespannten Räumen der Stadt der Z im tlä -
den und Petersburgs ausgeschlossen.

Die Metamorphosen von Raum und Z e it g e sta lte n sich dadurch


um so k o m p liz ie rte r, a ls n ic h t ein homogener Raum, n ic h t eine
homogene Z e it w echselseitig tra n s fo rm ie rt werden. Vielmehr wird
häufig ein Raum vom anderen, ein Z e ita b s c h n itt vom n ä c h s tfo l-
genden ü b e rla g e rt. Raumsegmente und Zeitphasen generieren

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204 W alter Koechiml

s e lb s t wieder neue Räume und Zeiten.


Typisch fü r B e ly j, aber auch f ü r Bruno Schulz is t die Geo-
m etrisierung des Raums. Sich auflösende rau m zeitlich e Konturen
scheinen in abstrakten Metakonturen noch einmal H a lt zu finden:
in Prismen, Kuben, Geraden, Quadraten. In dem A bschnitt Kva-
d ra ty , p a r a l l e l e p i p e d y л kuby ("Quadrate, P arallelepipeden, Ku-
ben*1) w ird die Fahrt Apollon Apollonovičs durch Petersburg in
diesem Sinne beschrieben (Belyj 1981:21):

И вот, глядя мечтательно в ту бескрайность туманов, госу-


дарственный человек из черного куба кареты вдруг расши-
рился во все стороны и над ней воспарил; и ему захотелось
чтоб вперед пролетела карета, чтоб проспекты летели на-
встречу - за проспектом проспект, чтобы вся сферическая
поверхность планеты оказалась охваченной, как змейными
кольцами, черновато-серыми домовыми кубами; чтоб вся, про-
спектами притиснутая земля, в линейном космическом беге
пересекла бы необъятность прямолинейным законом; чтобы
сеть параллельных проспектов, пересеченная сетью проспек‫־‬
тов, в мировые бы ширилась бездны плоскостями квадратов и
кубов: по квадрату на обывателя, чтобы... чтобы...
Und a ls der Staatsbedienstete da verträum t in die Unend-
l ic h k e i t der Nebel b lic k t e , dehnte er sich p lö t z lic h aus
dem schwarzen Würfel der Kutsche nach a lle n Seiten und
schwebte über ih r ; und ihn überkam der Wunsch, daß die
Kutsche vorwärtsstürmte, daß die Prospekte entgegenflögen,
ein Prospekt nach dem anderen, daß die ganze Sphärenober‫־‬
fläche des Planeten umfaßt würde von den schwärzlich-
grauen Hauswürfeln wie von Schlangenringen; daß die ganze
von Prospekten gedrückte Erde im lin e a re n kosmischen Lauf
die Unendlichkeit durch das Gesetz der geraden L in ie
durchschneide; daß das Netz p a r a lle le r Prospekte, gekreuzt
von einem anderen Netz von Prospekten sich a ls Flächen von
Quadraten und Würfeln in die Abgründe der Welten dehnte:
ein Quadrat pro Bewohner, d a m it... d a m it...

Der h ie r d a rg e s te llte Stadtraum w ird n ic h t nur von jenem der


Erde und des ganzen Kosmos, sondern auch von abstrakten geome-
tris c h e n Figuren überlagert (v g l. Toporov 1973:298).
Toporov (1973:294) weist darauf h in , daß die bei Dostoev-
s k ij zentralen Parameter des Hauses wie p o r o g , d v e r *, le & tn xca
u.a. ( ‫*״‬Schwelle", "T ür", "Treppe” ) bei B e lyj ih re K ra ft v e r lie -
ren, zu Schnittpunkten werden. Der h ie r a ls wesentlich zu be-
nennende Unterschied aber - da er Dostoevskij eben ganz deut-
lie h n ic h t als V e rtre te r mythischer Raumzeitmodellierung aus­

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A n d re j B e ly j und Bruno S c h u lz 205

w eist - lie g t in der e rs t von B elyj r e a lis ie r te n In te rfe re n z


konkreter und a b s tra k te r Räumlichkeit bzw. in der Überlagerung
verschiedener Raumzeitsegmente allgemein.
M it der vergleichenden Betrachtung von v d r u g ( " p lö t z lic h " )
bei Dostoevskij e rs c h lie ß t Toporov (1973:266-271) eine analoge
Erscheinung im Bereich der Zeitm odellierung. Dostoevskij d ie n t
vdrug noch a ls M it t e l "entschlossener d is k re te r Gestaltung des
Raums im Roman" (k n e rg iö n a ja d ia k r e tiz a c ija romannogo p ro e tra n a tv a ) (To-
porov 1973:267). In P e t e r b u r g hingegen löse sich vdrug aus der
d a rg e s te llte n O bjektw elt, werde zum "Verfahren" und zu einem
"B e sta n dteil der Metasprache, m it der der Autor s e lb s t die
Sprache seines Romans beschreibt" (Toporov 1973:271),10
Metaraum und Metazeit sind nur eine bei Belyj und Schulz
häufige Form ra u m z e itlic h e r In te rfe re n z . Da in der mythischen
Raummodellierung B i ld l i c h k e it und B e g r if f lic h k e it noch n ic h t
voneinander getrennt sind, weist der Autor diese Scheidung auch
bei der d a rg e s te llte n Rauminterferenz a ls unzutreffend zurück
(Toporov 1973:297; B e lyj 1981:137):

Аполлон Аполлонович видел всегда д в а пространства:


одно - материальное (стенки комнат и стенки кареты), дру-
гое же ‫ ־‬не то, чтоб духовное (материальное т а к ж е )... Ну,
как бы сказать: над головою сенатора Аблеухова глаза сена-
тора Аблеухова видели странные токи: блики, блески, ту-
манные, радужно заплясавшие пятна, исходящие из крутящихся
центров, заволакивали в сумраке пределы материальных про-
странств;
Apollon Apollonovič sah immer z w e i Räume: der eine
war m a te r ie ll (die Wände der Zimmer und die Wände der Kut-
sehe), der andere war n ic h t d ir e k t g e is tig (auch m a te ri-
e l l ) . . . Nun, wie könnte man sagen: über dem Kopf des Sena-
tors Ableuchov sahen die Augen des Senators Ableuchov
seltsame Ströme: L ic h tfle c k e und Funkeln, regenbogenfarben
lostanzende Flecken, die von rotierenden Zentren ausgin-
gen, überzogen in der Dämmerung die Grenzen der m a te ri-
e lle n Räume;

Das die Raumgrenzen überschreitende Funkeln und R e fle k tie -


ren rü h rt in den Texten beider Autoren vor allem von den zahl-
reichen Spiegeln und Spiegelungen her. Der Spiegel p r o j i z i e r t
v ö llig unte rsch ied liche Räume ineinander. In P e te rb u rg kommt es
gar zur dreifachen Überlagerung von Räumen, wenn ein Spiegel

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206 W a lter Koschmal

dem anderen die B ild e r z u w irft•


N icht nur der Spiegel w ird bei Bruno Schulz zum Raum gene-
rierenden Faktor. Auch eine Kerze s t r a h l t " v ie lfä ltig aus den
schwarzen Fensterscheiben" ( p rz y ś w ie tle ś w ie c y , o d b ite j w ie lo k ro tn ie
*

w cza rn ych szybach o k ie n ) (57, d t.3 1 ) , Wassertropfen und Augen "wie-


derholen" ganze Zimmer (80, d t . 56), fr e ilic h in extremer Ver-
dichtung.
Diese B eisp iele der in te rfe rie re n d e n Raumgenerierung re -
präsentieren die beiden möglichen polaren F ä lle . Zum einen w ird
ein räumliches Element v e r v ie lfa c h t, zum anderen w ird es ver-
d ic h te t. Im ersten B e is p ie l w e ite t sich der Raum, im zweiten
verengt er sich . G renzenlosigkeit und ü b e rste ig e rte Enge werden
von den Figuren a ls analoge Belastungen wahrgenommen. 11 Die
Dichte der d a rg e s te llte n R e a litä t is t gleichermaßen jene von
Raum und Z e it, von beiden in w e chselse itig er Transformation ve r-
ursacht. Im "Z w ie lic h t" der Nacht " v e r v ie lf ä lt ig e n , verw irren,
und tauschen sich die Gassen gegenseitig aus. Es öffnen sich in
der T ie fe der Stadt sozusagen Doppelgassen, Doppelgängergassen,
Lügengassen und Scheingassen" (z w ie lo k ro tn ia j ą s ię , p lą c z ą i w y m ie n ia ją
je d n e z d ru g im i u lic e . O tw ie ra ją s ię w g łę b i m ia s ta , zeby ta k rz e c , u lic e
podw ójne, u lic e s o b o w tó ry , u lic e k ła m liw e i zwodne . ) . Auch der Mond "v e r-
doppelte und v e rd re ifa c h te s ic h " , "um in dieser V e rv ie lfä ltig u n g
a l le seine Phasen und Positionen zu zeigen" (Schulz 84, d t . 60).
Die V e rv ie lfä ltig u n g des Raums g e n e rie rt auch h ie r die In te rfe -
renz verschiedener Z e ita b s c h n itte in e i n e m Z eitp u n kt. In
dieser extremen Dichte von sich fo rtla u fe n d neu überlagernden
Räumen und Zeiten "überwuchert" das "pulsierende D ic k ic h t der
Tapeten v o lle r G e flü s te r, Zischeln und Raunen" den Menschen
(Schulz 48, d t . 20).
In dieser paradigmatischen raum zeitlichen "Photomontage"
(Schulz 100, d t . 78)13 sind a lle Entfernungen ir r e le v a n t gewor-
den, können Minze und Taubnessel "m it Himmel g e trä n kt" (na-
puszczone niebem ) (77, d t . 51) sein, fin d e t sich der Himmel an
der Zimmerdecke wieder (52, d t . 25; B elyj 1981:303). Durch den
Raum der Wohnung z ie h t g le ic h z e itig m it der M itta g s h itz e eines
Tages der "ganze Sommer" hindurch (38, d t . 9 ). Doch s c h a fft sich

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A n d re j B e ly j und Bruno S c h u lz 207

die Z e it auch s e lb s t manchmal ganz neue Sommer (Schulz 111, d t.


89) :

Każdy wie, że w szeregu zwykłych, normalnych l a t ro d z i n ie -


kiedy zdziwaczały czas ze swego łona la ta inne, la ta oso-
b liw e , la ta wyrodne, którym - ja k szósty, mały palec u rą ‫־‬
k i - wyrasta kędyś trz y n a s ty , fałszywy miesiąc.
Jeder weiß, daß in e in e r Reihe gewöhnlicher, normaler Som-
mer die absonderlich gewordene Z e it manchmal aus ihrem
Schoß andere Sommer, merkwürdige Sommer, e n ta rte te Sommer
g e b ie rt, denen irgendwo ‫ ־‬wie ein sechster, k le in e r Finger
an der Hand ‫ ־‬ein d re ize h n te r, fa ls c h e r Monat wächst.

Das bei Schulz so w ich tig e Thema des Heidentums und heidnischer
F ru c h tb a rk e its k u lte fin d e t in der immerfort neue K o n fig u ra tio -
nen kreierenden metamorphen Raumzeit sein Analogon im Bereich
der Verfahren, seine in jeder H in s ic h t adäquate*Darstellungs-
weise.

Heidnischer Raum d a rf aber b e re its a ls Grenzraum aufgefaßt


werden, als Übergangsraum zum Nicht-Raum, zum "Chaos", zum
"N ic h ts ", zur "Leere". Diese bei B e lyj und Schulz so ze ntrale
B e g r if f lic h k e it lä ß t n ic h t nur die lit e r a r is c h n ic h t mehr dar-
s te llb a re Raumzeit in den Vordergrund tr e te n . Mythische Raummo-
d e llie ru n g b e in h a lte t wesentlich die Entgrenzung des Raums zum
Nicht-Raum h in , zur "Kubatur der Leere" (Schulz 94, d t . 72).
Die Entgrenzung lä ß t sich in der Semantik der Verben b e i-
der Werke anschaulich vor Augen führen. Als hauptsächliche E i-
genschaft des Raums in P e te rb u rg nennt Toporov (1973:295) das
Sich-Ausdehnen ( p r o a t i r a t , a j a ) . Analoge Verben wie S i r i t ' a j a
("s ic h ausweiten"), r a a a y p a t’ a ja ("s ic h v e rs tre u e n "), v a p y c h n u t9
( "aufflammen") , ra e ti ("wachsen"), die a lle eine Aufhebung be-
stehender Grenzen bezeichnen, c h a ra k te ris ie re n diesen Roman
ebenso wie die Z im tlü d e n .
Die Entgrenzung in der mythischen Raumzeitmodellierung
lä ß t auch die Grenze zwischen kognitiv-em otionalem Innenraum
und konkretem Außenraum n ic h t mehr g e lte n . Der Schlaf der v e r-
rückten Maryśka w ird deshalb vom Autor der Z i m t l ä d e n in fo lg en -
der Weise beschrieben (Schulz 42, d t.1 3 f.):

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208 V a lte r K0 8 0 hmal

Czas Maryśki ‫ ־‬czas więziony w j e j duszy, w ystą p ił z n ie j


s tra s z liw ie rzeczywisty i szedł samopas przez izbę, ha-
ła ś liw y , huczący, p ie k ie ln y , rosnący w jaskrawym m ilczeniu
poranka z głośnego młyna-zegara, ja k z ła mąka, sypka mąka,
głu p ia mąka wariatów.
Maryèkas Z e it, die in ih r e r Seele gefesselte Z e it, t r a t in
sch re cklich er R e a litä t aus i h r heraus und ging, sich se lb st
überlassen, durch die Stube: lärmend, krakeelend, h ö llis c h
- im g re lle n Schweigen des Morgens aus der lauten Uhrmühle
geschüttet - wie böses Mehl, lockeres Mehl, dummes Mehl der
Verrückten.

Die Entgrenzung von Raum und Z e it v e r le ih t den d a rg e s te ll-


ten Parametern einen ausgesprochen hohen Grad der Unbestimmt-
h e i t . 13 Petersburg w ird zur nebligen, chaotischen Phantasmago-
r ie (Belyj 1981:21), in der " a lle Räume abgelöst worden s in d ".
Die ir r e a le Unbestimmheit von Z e it und Raum scheint der Autor
von ö e t y r e 8im f o n i i ("V ie r Symphonien") zu meinen, wenn e r pro-
phezeit (v g l. Toporov 1973:297):

Это будут новые времена и новые пространства.


Das werden neue Zeiten und neue Räume sein.

Die Unbestimmtheit dieser neuen Zeiten und Räume r e s u l t i e r t we-


s e n tlic h aus ih r e r immer wieder th em a tisie rte n G renzenlosigkeit
(b e 8 k o n e ö n o 8 t ') , Unermeßlichkeit ( b e z m e r n o s t 9) , aus ih r e r Ab-
g rü n d ig ke it (bezdna) .
Die generative Raumzeitmodellierung w ird h ie r n e g ie rt und
d e s tr u ie r t (Schulz 96, d t . 74):

Chwilami ma się wrażenie, że ty lk o na małym skrawku przed


nami układa się wszystko przykładnie w ten pointowany ob-
raz bulwaru w ielkom iejskiego, gdy tymczasem już na bokach
rozwiązuje się i rozprzęga ta zaimprowizowana maskarada

Manchmal hat man den Eindruck, daß sich nur in einem k l e i -


nen Ausschnitt a lle s vor uns so m u ste rgü ltig zu diesem
p o in tie rte n B ild eines großstädtischen Boulevards ordnet,
während sich m it tle r w e ile auf den Seiten diese im pro vi-
s ie rte Maskerade schon wieder a u flö s t und aus den Fugen
geht [ . . . ]

Auch der in beiden Texten le itm o tiv is c h e V e r f a ll fin d e t in den


b e re its bekannten Formen s t a t t : a ls Auflösung in die Grenzen-
lo s ig k e it oder als extreme Verengung, die m it ih r e r Wurzel e n g

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A n d re j B e l y j und Bruno S c h u lz 209

n ic h t nur etymologisch m it A n g a t verwandt is t. Mythische Raum-


zeitm odellierung muß ganz im Unterschied zur Semantisierung des
Raumes schon per d e fin itio n e m auch den "Rand der Z e it " , das
"N ic h ts ", die "Leere", das "Chaos" einschließen.

Mythische Raumzeitdarstellung lö s t die D is p a ra th e it von


Raummodellierung und Zeitm odellierung in der Synthese beider
auf. Der Raum w ird temporal, die Z e it s p a tia l g e s ta lte t. Eine
entsprechende Verschmelzung v e r lä u f t p a r a lle l in der bildenden
Kunst der Moderne, in der Philosophie und in den Naturwissen-
schäften. M it e in e r von B e lyj und P.P. Uspenskij so bezeichne-
ten v ie rte n Dimension des Raumes (beide verstehen a lle rd in g s
Verschiedenes unter dem B e g r iff) w ird die Annäherung an den
geistig-psychischen Raum des wahren Seins versucht.
Temporalisierung des Raums, seine Transformation durch die
"Bewegung" bedeutet eine Rückwendung h in zu o ra le n , n ic h t d i-
s tin k tiv e n , sondern synthetischen K ulturen, d ie nur den Pararne-
te r der Z e it, n ic h t aber jenen des Raums r e a lis ie r e n (Ong 1982:
76) . 4
‫ * י‬Daraus e r k lä r t sich die W ic h tig k e it der F o lk lo re fü r die
mythische Raumzeitmodellierung*
Sprachlich schlägt sich diese Verschiebung von der D arstel
lung des Seins zur Modellierung des Werdens in e in e r V e rb a lis ie
rung nie d er. Mythische Raumzeit w ird n ic h t mehr vorwiegend sub-
s ta n tiv is c h , sondern primär durch das im p e rfektive Verb ausge-
drückt.
Während Bruno Schulz durch seine Mischung räum licher und
z e it lic h e r Parameter die E in h e it eines verlorenen mythischen
Ur- B i l d e s wiedergewinnen w i l l , n e g ie rt B e lyj durch seine
Temporalisierung des Raumes gerade die " B ild e r " (S im v o liz m 165)
der W ir k lic h k e it. In der Nachfolge Nietzsches, - in der in d ie -
ser H in sich t auch Schulz zu sehen i s t (v g l. Stala 1983:94) -,
b e g re ift B e lyj die Musik a ls "re in e Bewegung". Der Musik fehlen
im Unterschied zu anderen Künsten a l le B ild e r (S im v o liz m 166).
Mythisierung bedeutet in dieser H in s ic h t vor allem M u s ik a li-
sierung. Die Sprache der Musik - so B e lyj (S im v o liz m 168) - sei
eine 'verbindende Sprache1 (j a z y k o b "e d in ja ju Š Č ij) .

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210 V a lte r Koschmal

In der mythischen Raumzeitmodellierung w ird der Grenzpara-


meter m it seiner trennenden Funktion i r r e l e v a n t . 15 Entgrenzung
und ,Mischung1 (bei B e lyj sm e ë e n ie ) heben die Geordnetheit,
die D is k re th e it von Raum und Z e it a u f. Die Unbegrenztheit e r‫־‬
s te h t a ls Bedrohung (B elyj 1981:298). Das Chaos d r in g t im Ver‫־‬
fahren der ,Mischung* in die Objektwelt e i n . 1®
Die E in h e it von Raum und Z e it w ird somit zunächst im Be‫־‬
re ic h der lite r a r is c h e n Verfahren W ir k li c h k e it . 17 Die M yth isie ‫־‬
rung aber der W ir k lic h k e it ‫־‬ so Bruno Schulz ‫־‬ sei n ic h t abge‫־‬
schlossen. Sie kann deshalb nur a ls Prozeß zur Darstellung kom‫־‬
men. Gerade diese dynamische Unabgeschlossenheit und Unbegrenzt
h e it ersche int der bedrohlichen Gestaltung des Mythos in der Mo
derne adäquat: Zentrum und E in h e it des a lte n Mythos sind n ic h t
w ie d e rh e rs te llb a r, R e mythisierung is t in diesem Sinne ausge-
schlossen.

A N M E R K U N G E N

1 Paul Klee meint in seinen Tagebüchern, moderne Malerei wolle


n ic h t die s ta tis c h e G estalt der Dinge, sondern Prozesse und Ge-
schehnisse erfassen (s. Chvatik 1970:39); v g l. auch Linda Dal-
rymple Henderson (1978:180-182).
2 F e lix Vodička (1976:152) z i t i e r t den tschechischen Erzähler
Jan Neruda m it der Behauptung, daß das "Bewußtsein ständigen
Wandels" fü r die Moderne typ isch s e i.
3 Bruno Schulz beschreibt in seinem Aufsatz M b t y z a c j a r z e c z y w i -
s to é c i ("Die Mythisierung der W ir k lic h k e it" ) (1936:334-335) das
e rste Wort a ls universale Ganzheit. Das " B ild " ( o b r a z ) sei vom
ersten Wort, das Mythos, Geschichte und Sinn gewesen s e i, abge-
l e i t e t ; v g l. auch Bolecki (1979) und Stala (1983:98).
** In S i m v o l i z m
(1969:165) f ü h r t Andrej B e ly j aus, es gebe
e ig e n tlic h keine "V o rs te llu n g " ( p r e d s t a v l e n i e ) . Es könnten dem-
nach auch n ic h t zwei Zeitmomente bestimmt werden, in denen sich
n ic h t eine Veränderung der V orste llung v o llz ie h e .
5 Mathauserová (1976:18, 107-130) z e ig t a u s fü h rlic h , daß die
Perspektive a ls eine Komponente der Zeitm odellierung e r s t s e it
dem 17. Jahrhundert (Simeon P o lo c k ij) b e rü c k s ic h tig t werden muß
Auch h ie r in s te h t die mythische Raumzeitmodellierung der Moder-
ne jener der a ltru ssisch e n L it e r a t u r nahe.
e C iv 'ja n (1975:200) bezeichnet fü r albanische Märchen die v e r-

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A n d re j B e ly j und Bruno S c h u lz 211

tik a le Raummodellierung als dominant.


7 J . R. Döring-Smimov und I . Smirnov (1982:110) belegen v e r-
gleichbare o b r a t i m y e m e t a m o r f o z y am B e is p ie l von Evgenij Zamja-
t in s My; B e isp ie le in A. B e lyjs P e t e r b u r g u .a . S. 313, 45.
8 Zu den Farben bei B elyj v g l. Dolgopolov (1981:617 f . ) und A.
Steinberg (1982:206-219), bei Schulz K. S tala (1983:97). Farbe
i s t auch e in z e n tra le r Parameter f ü r P.P. Uspenskijs , Hyperraum
P hilosophie‫ ״‬: Die Bewegung in Richtung der v ie rte n Dimension,
in der die Z e it verschwinde und s p a t i a l i s i e r t s e i, werde durch
Farbwechsel r e a l i s i e r t (Dalrymple Henderson [1978:187]).
9 Auf die zahlreichen interessanten Aspekte eines Vergleichs
der Werke von B elyj und Schulz, so etwa jenen der d a rg e s te llte n
Vater-Sohn-Beziehungen, kann in diesem Rahmen nur hingewiesen
werden. Auch die f r e i l i c h n ic h t unwesentlichen Unterschiede in
den Werken beider können h ie r kaum Erwähnung finden.
10 J. Holthusen hat gezeigt, daß v d r u g in P e t e r b u r g auch zum
Träger e in e r humoristischen, ,,mehrstufigen Cechov-Paraphrase"
avanciert (Holthusen 1985:108-110).
11 Bezogen auf das Ungeheuer der Sphinx bei B e lyj s c h re ib t dazu
Evelies Schmidt (1986:227):
Der Schrecken des Grenzenlosen geht in seiner D arstellung
a llm ä h lich vom Außergewöhnlichen auf das Gewöhnliche über.
Mythisches w ird auf n a tü rlic h e n Grund g e fü h rt, z e i t l i c h be-
stimmt, z u le tz t in den K le in ig k e ite n des A llta g s der Gegen-
wart g re ifb a r ( . - ) .
Interessante P a ra lle le n dazu b ie t e t Bruno Schulz‫ ״‬Aufsatz M y t h i
s i e r u n g d e r W i r k l i c h k e i t (1936).
12 Analog zu dieser B e g r if f lic h k e it bei Schulz beschreibt B elyj
in S i m v o l i z m die "V o rste llu n g " (p r e d e t a v l e n i e ) a ls momentane
Photographie (1969:165). Die Laute des in die Musik übergeführ-
ten verbalen Kunstwerks werden - wie in der Montage - n ich t-ka u
sal ( b e z p r i ò i n n o ) (1969:168) v e rkn ü p ft.
13 Analog dazu i s t die Unbestimmtheit f o lk lo r is t is c h e r Raum-
und Zeitparameter außerhalb eines Handlungskontextes zu sehen,
die m it der Entfernung vom Zentrum zunimmt (Nekljudov 1975:188)
und die O rientierung erschwert (C iv 'ja n 1975:205; Gerasimova
1978:178).
1i* Erste chirographische Kulturen - so W. Ong (1982:76) - redu-
zieren jede Empfindung auf v is u e lle Analoga. " P r in t encourages
a sense o f c lo s u re ." (Ong 1982:132).
15 M. Bachtin (1979:176-177) fü h r t aus, daß in der Prosa von
Dostoevskij b is B e ly j, einer K ris e n z e it der A u to rsch a ft, die
bis dahin g ü ltig e " K u l t u r d e r G r e n z e n " (k u l ' t u r a
g r a n i c ) unmöglich w ird .
1e Zum Zusammenhang zwischen te u flis c h -tra g is c h e m e m e S e n i e und
s lija n ie a ls positivem Gegenbegriff, der m it dem Symbol k o rre -
l i e r t i s t , und zur metaphysischen Dimension dieser Sachverhalte
äußert sich eingehend E. Schmidt. Sie le n k t den B lic k auf den

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212 W a lter Koschmal

B e g r iff der "T ra n s itio n " a ls den grundlegenden f ü r Thematik


und Verfahren des Weltmodells von Andrej B e ly j.
17 Vgl. E. Schmidt (1986:238): " 1Mischung* bewährt sich a ls das
formale P rin z ip des Bewegens, des Veränderns, eines Schaffens
durch Verknüpfung, n ic h t aber g a r a n tie rt sie den metaphysischen
In h a lt durch die Form•"

L I T E R A T U R

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A n d rej B e ly j und Bruno S c h u lz 213

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214 M a lter Koschmal

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R olf FIEGUTH (Fribourg)

BEMERKUNGEN ZUR DEGRADATION DES MYTHOS IM DRAMA BEI


ST. WYSPIAŃSKI UND ST. I, W ITKIEW ICZ

Der B e g r iff des Mythos i s t e in e r p o s it iv is t is c h und r a t i o n a l i -


s tis c h gesonnenen L ite ra tu rw is s e n s c h a ft geraume Z e it unangenehm
gewesen, w e il er ihrem Interesse an S p e zifizie ru n g mehrfach zu‫־‬
w id e r lä u ft: dem Interesse der Konstruktion e in e r ihren uneindeu-
tig e n Objekten k la r gegenüberstehenden eindeutigen Terminologie
("Metasprache") sowie dem Interesse der Abgrenzung ihres For-
schungsbereichs von dem anderer w iss e n sc h a ftlich e r D is z ip lin e n .
Diese Abstinenz is t fr e ilic h der w issenschaftlichen Erfassung
einer lite r a r h is to r is c h e n W ir k lic h k e it n ic h t fö r d e r lic h , in wel-
eher der objektsprachliche B e g r iff des Mythos in seinen v i e l f ä l -
tig s te n und s c h ille rn d s te n Bedeutungen von offenkundiger Rele-
vanz gewesen i s t - in der Romantik, der Neuromantik und dem Sym-
bolismus, und n ic h t z u le tz t auch in der Moderne.
Der polnische Maler, Dramatiker, Romancier, Philosoph und
Ä s th e tik e r der Moderne Stanisław Ignacy W itkiewicz (Witkacy;
1885-1939) hat die angedeutete Skepsis bestimmter Wissenschafts-
richtungen gegenüber dem B e g r iff des Mythos offenbar g e t e i l t ,
denn in seinen ebenso o r ig in e lle n wie wortreichen Theorien e r-
scheint dieser n ic h t an z e n tra le r S te lle . Als K ünstler, S c h r if t -
s te ile r und Theoretiker is t Witkacy aber seiner Herkunft aus
der Kulturatmosphäre der M ł o d a P o l a k a , einem Gemisch aus Neuro-
mantik, Symbolismus, Sezession, Frühexpressionismus und Spätna-
turalism us, s tä rke r verbunden, a ls das "avantgardistische" Pro-
f il seiner ästhetischen S c h rifte n und lite r a r is c h e n Werke zu-

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216 R o l f F ie g u th

nächst vermuten lä ß t. In der M ł o d a P o la k a war nun der Mythos in


seinen v ie lf ä lt ig s t e n Ausprägungen n ic h t weniger re le va n t als
in den Symbolismen und Neuromantiken anderer g le ic h z e itig e r
europäischer Kulturen (Filipkowska 1972; Podraza-Kwiatkowska
1977). Witkacys Verbindung zum polnischen F i n de s iè c le is t in
der P o lo n is tik mehrfach hervorgehoben worden (Błoński 1970;
Danek-Wojnowska 1976; u .a .). Sie äußert sich unter anderem in
Witkacys Rezeption des jungpolnischen Dramatikers Stanisław
Wyspiański (1869-1907), der s e in e rs e its eine Wiederbelebung
des mythologischen Schauspiels angestrebt h a tte , durch die
Einführung eines antiken mythologischen Apparats in manche
seiner Stücke bzw. durch eine an der p a trio tis c h e n Romantik
in s p ir ie r t e Erfindung vo lkstü m liche r oder n a tio n a le r p o ln i-
scher Mythen (v g l. das Stück W esele, "Die H ochzeit"; 1909)*1
Witkacys Wyspiański-Rezeption, wie sie z.B. auch in den S c z c w c y
("Die Schuster"; 1934), seinem le tz te n und nachmalig e r f o lg -
reichsten Stück, z u t a g e t r it t , is t vordergründig von g r e ll- p a r o -
d is tis c h e r A r t, besonders im Bereich der Wyspiańskischen Mythen,
aber auch der Wyspiańskischen th e a tra lis c h e n Sprache. V ieles
scheint fü r Erazm Kuźmas These zu sprechen, wonach Witkacy in
den S c h u a t e v n eine paro distische und s a tiris c h e D estruktion und
Entlarvung der Wyspiańskischen und darüber hinaus der z e itg e -
nössischen polnischen n a tio n a lis tis c h e n und re c h ts - wie lin k s -
revolutionären Mythologien b e a b s ic h tig t. (Kuźma 1980: 111-114
und passim). F r e ilic h is t diese In te r p r e ta tio n in kein über-
zeugendes V e rh ä ltn is zu Wyspiańskis d i f f i z i l e r dramatischer
Verwendung von Mythen bzw. zu Witkacys "metaphysischer" Kunst-
und Theaterkonzeption gebracht. Sie verkennt die M öglichkeit
e in e r konstruktiven F u n k tio n a lis ie ru n g von Witkacys dram ati-
scher Degradation des Mythos und deren lit e r a r h is t o r is c h e r Her-
le itu n g aus Wyspiański. Dieser M öglichkeit s o ll h ie r nun nach-
gegangen werden. Einigen knappen Thesen zum dramatischen Mythos
bei Wyspiański f o lg t eine gedrängte Rekonstruktion von Witkacys
fr ü h e x is te n tia lis t is c h e r "metaphysischer" Ä s th e tik und Dramen-
th e o rie unter dem Aspekt ih r e r mythenbezogenen Elemente sowie
eine Musterung der mythischen Elemente in den S c h u a t e v n e in -

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M ythos im Drama 217

s c h lie ß lic h der parodistischen Einbeziehung der dramatischen


Mythen Stanisław Wyspiarìskis.
Wyspiańskis dramatische Verarbeitung von Mythen lä ß t sich
zur Einführung am besten am B e is p ie l des Dramas N o c lis to p a d o w a
( ‫״‬,Novembernacht"? 1904) 2 i l l u s t r i e r e n . Die dramatische D a rs te l-
lung der ersten Nacht des polnischen Aufstandes von 1830, der
bekanntlich an einer Summierung menschlicher Unzulänglichkeiten
im Lager der Aufständischen und an der russischen Übermacht
s c h e ite rte , v o llz ie h t sich in zwei k u n s tv o ll miteinander ve r-
wobenen Serien von Szenen - e in e r mythologischen und e in e r h i -
s to r is c h - re a lis tis c h e n , wobei Bindeglieder die h e rb s tlic h e
Natur und die mythologischen und h is to ris c h e n Skulpturen im
Warschauer Park von Łazienki sind. In der mythologischen Serie
verbindet sich der Mythos der Demeter, die in ihrem a l l j ä h r l i -
chen Zorn über die Entführung ih r e r Tochter Kora in die Unter-
w e it die Erinnyen zu H ilfe ru ft, m it e in e r mythologischen
Handlungsschicht, in der P allas Athene und verschiedene Sieges-
göttinnen im S t r e i t um die rechte Vorgehensweise den p o ln i-
sehen Aufstand ersinnen, ihn durch Begegnungen m it h isto risch e n
Personen vorbereiten und steuern, b is Zeus den Göttern E in h a lt
g eb ietet und die Menschen ihren Kampf a l l e i n ausfechten müssen.
Bis zu dieser Wendung s p ie lt sich das Einwirken der Götter
te ils überhöhend und erhaben ab: Durch den Mythos von Demeter
und Kora e rh ä lt das h is to ris c h e Geschehen eine Dimension von
elementarer Naturgewalt. Dagegen haben andere Begegnungen
zwischen Menschen und Göttern einen th e a tra lis c h -s a tir is c h e n ,
, degradierenden' Charakter, so etwa, wenn die "Nike der Napo-
leoniden" den General C hłopicki aus dem Theater e n tfü h rt und
den Zögernden durch ein K artenspiel zur Teilnahme am Aufstand
bewegt oder wenn der K rie g sg ott Ares das a lle r e r s te fü r die
Aufständischen siegreiche Scharmützel durch ein Liebesaben-
teuer krö n t und danach den weiteren Gang der Ereignisse v e r-
s c h lä ft. Der mythologische Apparat w ird h ie r also auf Men-
schenmaß , d e g ra d ie rt*. Das h is to ris c h e Tun der Menschen wird
auf das engste m it dem Mythischen p a r a l l e l i s i e r t und dadurch
e n t h is t o r is ie r t und m yth isie rt? zum anderen e r h ä lt die h is to -

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218 R o l f F ie g u th

risch e V e rg e b lich ke it des Aufstandes den ironischen Charakter


einer , nur noch mythischen1 S itu a tio n .
Ähnlich ambivalent i s t der Einsatz n a tio n a lp o ln is ch e r
Mythologie in den Stücken W y z w o l e n i e ("Die B efreiung"; 1903/6)3
und W e s e l e ("Die Hochzeit"; 1901).* In der B e f r e i u n g schwankt
der d a rg e s te llte ontologische Status der zahlreichen mytholo-
g is ie r te n Figuren aus der polnischen Geschichte zwischen An-
Sätzen zu einer seinsautonomen Existenz und e in e r seinshetero-
nomen Existenz als Hirngespinste Konrads, der H auptfigur, auf
den B re tte rn e in e r d a rg e s te llte n nächtlichen leeren Bühne. Kon-
rad s e lb s t schwankt in seiner Existenz zwischen e in e r in die
moderne R e a litä t versetzten lite r a r is c h e n G estalt aus Adam Mie-
kiewiezs D z i a d y I I I ("T o te n fe ie r"; 1832) und einem überspannten
modernen T h e a te r s c h r ifts te lle r und Schauspieler, der sich
nachts in das Krakauer Theater einsperren lä ß t und es m it s e i-
nen Visionen und Mythen b e v ö lk e rt. Am Ende i s t die 'gesamte1
p o ln is c h -h is to ris c h e Mythologie 'n u r ' th e a tra lis c h e s R itu a l.
Der T i t e l B e fre iu n g kann ebensowohl als die Einsperrung der
Idee der nationalen Befreiung in das Theater wie auch a ls die
lit e r a r is c h e Idee einer künstlerischen Befreiung des Theaters
zu sich se lbst verstanden werden.
Von besonderem Interesse fü r unseren Zusammenhang i s t die
Ambivalenz von mythischer Überhöhung und Degradation in der
H o c h z e i t , Wyspiariskis nunmehr durch Andrzej Wajdas gleichnamige
Verfilmung (1963) auch in te r n a tio n a l bekanntestem Theaterstück.
Ausgangspunkt der dramatischen Handlung i s t ein zeitgenössi-
scher n a tio n a l-s o z ia le r Mythos, die Idee e in e r Verbrüderung von
b is vor kurzem b lu t ig verfeindeten Ständen: der polnischen Bau-
ernschaft e in e rs e its und des Landadels und des Krakauer Stadt-
p a t r iz ia t s andererseits. Die Idee dieser Verbrüderung fand
h is to r is c h ihren Niederschlag in einigen Heiraten zwischen Bau-
em und Städtern. Eine solche stadtbekannte H e irat w ird h ie r
m it zum T e il pikanten E inzelheiten zum dramatischen Vorwurf ge-
macht. Das R itu a l des bäuerlichen Hochzeitsfestes zwischen e i -
nem Krakauer D ichter und e in e r Bauerntochter m it dreitägigem
Tanz und Schmaus e r h ä lt eine mythologische Dimension durch den

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Muthoe im Drama *19

E in g r if f zweier , le e re r Symbole' in die dramatische Handlung:


Im Alkoholnebel w ird ein Strohwisch ( c h o c h o ł ) , der im Winter
einen Rosenstrauch vor dem F ro st sch ü tzt, zur Hochzeit einge-
laden. Dieser nimmt die Einladung an und fü h r t neben mehreren
anderen historisch-m ythologischen Figuren die auf einer n a tio -
n a lis tis c h e n Fälschung beruhende G estalt des p o ln is c h -u k ra in i-
sehen R itte r s Wernyhora in die H ochzeitsgesellschaft e in , der
im 18. Jahrhundert der polnischen Nation die Rückkehr zu F r e i-
h e it und Macht prophezeit haben s o l l (Backvis 1952; Kasjan
1962). Wernyhora übergibt dem betrunkenen Hausherrn ein golde-
nes Horn, welches das polnische Volk zum endlich e rfo lg re ich e n
Aufstand gegen die fremden Zwingherren rufen s o ll. Der Haus-
h e rr übergibt es seinem Knecht; d ie se r v e r l i e r t es, und zur
S tra fe v e r u r te ilt der Strohwisch die H ochzeitsgesellschaft zu
einem n ic h t endenwollenden trägen Tanzreigen: Der Ansatz zu
historischem Handeln fängt sich in einem endlosen nationalmy-
thischen R itu a l.
Aus der Ambivalenz zwischen mythischer Überhöhung und sa-
tir is c h e r Mythen-Degradierung i s t in der polnischen Rezeption
von Wyspiarfskis Dramen n ic h t selten eine vereinfachende n a tio -
n a lis tis c h e Deutung gemacht worden. Beide Aspekte sind bei e i -
ner Betrachtung von Witkacys Wyspiarfski-Rezeption zu beachten.
Stanisław Ignacy Witkiewiczs k o m p liz ie rte A ffin itä t zu
Wyspiarískis Umgang m it dramatischen Mythen l i e g t n ic h t auf der
Hand und muß durch eine A rt Indizienbeweis e rs t p la u s ib e l ge-
macht werden.5 Zunächst i s t fe s tz u h a lte n , daß sein frü h e x is te n -
tia lis t is c h e r Entwurf e in e r geschichtsphilosophisch o r ie n t ie r -
ten Ä s th e tik der "Reinen Form" demselben k o lle k tiv e n Entfrem-
dungserleb n is e n ts p rin g t, welches nach dem Vorgang von Richard
Wagner und F rie d ric h Nietzsche das Interesse am Mythos in der
Epoche der Neuromantik und des Symbolismus begründet. Seine
Philosophie nimmt als übergeschichtliche G rundbefindlichkeit
des Menschen ein r a tio n a l in keiner Weise aufklärbares, den
Menschen überwältigendes und entsetzendes "Geheimnis des Seins
der E in h e it in der V ie lh e it" (Witkacy 1974; 5-11) an. Die "me-
taphysische Unruhe", die von diesem Geheimnis ausgeht, war im

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220 R o l f F ie g u th

g lücklicheren Urzustand der Menschheit aufgehoben in einem


noch ungeschiedenen g e is tig e n Zusammenhang von R e lig io n , P hi-
losophie und Kunst, der die Wahrheit eines g ö ttlic h e n Geheim-
nisses vor das grauenvolle Geheimnis des "Seins der E in h e it in
der V ie lh e it" se tz te , s ie "verdeckte", wie Witkacy (1974: 133)
w ö rtlic h fo rm u lie rt. Die Kunst der Menschheit jener Epoche war
Mysterium, in dem sich das "Geheimnis" äußerte. In späteren
Epochen i s t jener Zusammenhang auseinandergetreten, und R e li-
gion, Philosophie und Kunst haben sich zunehmend voneinander
entfremdet. Witkacy nimmt an diesen Stationen seines Gedanken-
ganges eine grundsätzliche Diskussion des M ythos-Begriffs n ic h t
auf. Er erwähnt ihn nur in anderem Zusammenhang (1974: 143) als
den allgemein bekannten und daher keine eigene ästhetische Auf-
merksamkeit erfordernden Inhaltskomplex der antiken Tragödie,
welcher dem s e in e rz e itig e n Zuschauer ein u n ve rm itte lte s E rfas-
sen und Erleben der "Reinen Form" der Tragödie erm öglichte. Er
fü h r t dabei n ic h t aus, ob er h ie r dem Mythos im P rin z ip noch
den Charakter einer allgemein g ü ltig e n Glaubenswahrheit b e i-
mißt, durch die k ra ft der "Reinen Form" der Tragödie das "Ge-
heimnis" hindurchschien, oder ob er den Mythos b e re its in d ie -
sem Stadium als einen g le ic h g ü ltig e n Wahrnehmungshintergrund
fü r die re in konstruktiven Verhältnisse der "Reinen Form" a u f-
fa ß t. In jedem F a ll geht der erwähnte Z e r f a ll des u rs p rü n g li-
chen Zusammenhanges m it einer zunehmenden Abstumpfung der
Menschheit gegen ih re metaphysische E rle b n is fä h ig k e it einher
(Witkacy 1974: 100-149). Die Kunst des klassischen Altertums
begeht die Sünde e in e r ametaphysischen p la tte n Nachahmung der
p la tte n Menschenwirklichkeit. In Europa w ird dieser falsche
Weg des Geistes und der Kunst s e it der Renaissance in immer
schnellerem Tempo weitergegangen. In der Gegenwart der fo rt-
schreitenden Automatisierung und Mechanisierung des grauen Mas-
senlebens und der ge istlosen Menschheitsbeglückung kommt es
zum "Schwund der metaphysischen Gefühle” , zum Absterben der
R eligion und zum "Selbstmord der Philosophie" (116-131). Die
Kirnst degeneriert zur Nicht-Kunst des Realismus und N a tu ra lis -
mus (132-149).

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Mytho8 im Drama 221

In dieser katastrophalen Endstufe der g e istig e n Mensch-


heitsgeschichte kommt der neuen, a n ti- r e a lis tis c h e n Kunst eine
ebenso bedeutsame wie ambivalente Aufgabe zu. Sie s o ll sich dem
e ntsetzlichen "Geheimnis des Seins” d ir e k t , ohne die Milderung
r e lig iö s e r Glaubenswahrheiten, s te lle n und der durch einen
glü cklich en g e istig en Tod bedrohten Menschheit den Zugang zur
metaphysischen Beunruhigung verschaffen (Witkacy 1974: 132-149,
277). Sie s o ll dies tun, indem sie dem Rezipienten durch die
im authentischen Kunstwerk der Gegenwart re in k o n s tru k tiv ve r-
körperte "E in h e it in der V ie lh e it " das metaphysische E rlebnis
des "Geheimnisses" zugänglich macht. Die konstruktiven Eigen-
schäften, die das Kunstwerk zur Ausübung dieser Bestimmung qua-
lif iz ie r e n , begründen seine "Reine Form". Die "Reine Form"
s e tz t sich in einen scharfen Gegensatz zu den Verhältnissen
des realen Lebens, insbesondere zu den Lebensgefühlen der Ge-
därme oder Kaldaunen ( b e b e c h y ) . Dieser drückt sich n ic h t in
einem absoluten und in h a lts le e re n Abstraktionismus aus, son-
dern in e in e r "Deformation" der W ir k lic h k e it und anderer "In -
h a lte " , zu denen w ir e in e rs e its auch Motive anderer Kunstwerke,
andererseits ” Mythen" in einem sehr weiten Sinne rechnen kön-
nen.
Witkacy se lb st bezeichnet die "In h a lte " a ls f ü r das Kunst-
werk der "reinen Form" unwesentlich, aber notwendig. "Selbst
die re in ste Form i s t immer ein wenig le b e n sw e ltlich ve r-
schmutzt” . (Witkacy 1974: 227, 254 f . , 284). Aus seinen Aus-
führungen lä ß t sich schließen, daß sie in produktions-, werk-
und rezeptionsästhetischer H in s ic h t notwendig sind. In einer
Terminologie, die n ic h t die seine is t, lä ß t sich dies wie
f o lg t zusammenfassen:
In p r o d u k t i o n s ä s t h e t i s c h e r Hin-
s ic h t dienen die "In h a lte " a ls S y m p t o m bzw. I n d e x -
Z e i c h e n dafür, daß der K ünstler m it a lle n Schichten s e i-
ner in d iv id u e lle n und h is to risc h e n P e rsö n lich k e it am Hervor-
bringen dieses Kunstwerks b e t e i l i g t is t und es sich n ic h t nur
um ein k a lt zerebrales Experiment handelt (dies is t Witkacys
Hauptvorwurf gegen die übliche Kunst der Avantgarde: v g l. 268,

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222 R o l f F ie g u th

313, 395-403 "über die Folgen des Tuns unserer F u tu ris te n ") -
oder, um es in Anlehnung an eine Tagebuchäußerung von W itold
Gombrowicz (1971: 64) zu sagen, daß der K ünstler sich m it s e i-
ner ganzen Person a ls "Form in Bewegung" der "Bewegung der
Welt*1 gegenüberstellt.® In w e r k ä s t h e t i s c h e r
H in sic h t dienen die In h a lte a ls i k o n i s c h e Zeichen
(Witkacy sagt: "Symbole", 346) fü r die re in ko n struktive n Ver-
h ä ltn is s e im Kunstwerk der "reinen Form" (Formkonzept, Rieh-
tungsspannung, kompositorische Dynamik). Das V e rh ä ltn is der
Zeichendimensionen i s t h ie r gegenüber den t r a d it io n e lle n
Verhältnissen umgekehrt: N icht mehr die k ü n stle risch e Konstruk-
tio n macht sich zum Bezeichnenden fü r eine darzustellende Le-
benswelt (oder mythische R e a lit ä t ) , sondern umgekehrt werden
die lebensweltlichen und sonstigen in h a ltlic h e n Komplexe zu
Zeichenträgern fü r die konstruktiven V erhältnisse im Bereich
der "Reinen Form". In r e z e p t i o n s ä s t h e t i -
s c h e r H in sich t geht m it d i e s e r Semiotisierung der
lebensweltlichen und sonstigen in h a ltlic h e n Komplexe eine pro-
gressive, dramatische Entsem iotisierung der nämlichen in h a lt -
liehen Komplexe in bezug auf die a u ß e rlite ra ric h e Lebenswelt
bzw. auf die Bereiche der lite r a r is c h e n und sozialen Mythen
einher. Dem Rezipienten w ird a u fe rle g t, im ästhetischen E rleb-
n is die Deformation und E n ts u b s ta n tia lis ie ru n g der In h a lte
nachzuvollziehen, um s c h lie ß lic h zur unmittelbaren ä s th e ti-
!
sehen Anschauung der "Reinen Form" und damit zum metaphysi-
sehen E rlebnis der geheimnisvollen "E in h e it in der V ie lh e it"
zu gelangen.7
Dieser rezeptionsästhetische Aspekt hat aber zugleich
auch eine g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e
Dimension. Die "Reine Form" des Kunstwerks e r z i e l t in der ge-
genwärtigen Epoche nur z e it w e ilig metaphysische Gefühle, sie
kann den "Hunger nach Form", die " U n e r s ä ttlic h k e it nach Form"
nur momentan b e frie d ig e n . Ih re Wirkung lä ß t nach wie die eines
Narkotikums. Um sie w iederherzustellen, bedarf es immer s tä r -
kerer Dosierungen von "Deformation*1. Dies t r e i b t die Kunst zu-
g le ic h in ih r unvermeidliches Ende. Die Kunst der "Reinen Form"

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M ythos im Drama 223

is t nämlich "auch ih re le t z t e Zuckung auf unserem Planeten"


(247) .
An diesem Punkt seiner Überlegungen s t e l l t Witkacy sich
eine Frage, die fü r unseren Zusammenhang von Bedeutung i s t :

Kann, und sei es fü r kurze Z e it, eine Form von Theater


entstehen, in der der gegenwärtige Mensch unabhängig
von erloschenen Mythen und Glaubensinhalten die meta-
physischen Gefühle so erleben könnte, wie sie der f r ü -
here Mensch in Verbindung m it diesen Mythen und Glau-
bensinhalten erleben konnte? (247)

Dies i s t die Frage nach e in e r le tz te n und höchsten M öglichkeit


th e a tra lis c h e r Kunst ‫־‬ im Angesicht des unvermeidlichen Endes
wieder ebenso wesentlich zu werden, wie s ie es in u rs p rü n g li-
cheren, "mythischen" Epochen der Menschheitsgeschichte war,
indem sie zu e in e r metaphysischen Kunst w ird , welche a l l e Ver-
bindungen zur herkömmlichen Metaphysik abgebrochen hat. Die
dieser Frage zugrundeliegende Idee hat nach Auschwitz Tadeusz
Różewicz a u fg e g riffe n und in e in e r L y rik und Dramatik von be-
sonderer E in d r in g lic h k e it v e r w ir k lic h t (Różewicz 1979, Nach-
wort P. Lachmann).
An die M öglichkeit e in e r bejahenden Antwort auf seine
Frage hat Witkacy in der ersten Phase seiner A rb e it a ls e r-
wachsener Dramatiker gewiß hie und da geglaubt. De fa cto aber
hat er sie durch seine Stücke dahingehend beantwortet, daß er
ein T h e a t e r d e r s c h n e l l e r l ö s c h e n -
d e n M y t h e n schuf. Es sind Mythen, deren schnelles
Erlöschen durchaus, wie Erazm Kuźma h e ra u s s te llt, durch ihren
widersinnigen, m anipulierten, grotesk-parodistischen und s a t i-
rischen Charakter angezeigt w ird . In ihrem unheimlichen, te il-
weise prophetischen Bezug auf die g esch ichtlich e W ir k lic h k e it
des Jahrhunderts, auf das persönliche Leben des Autors und in s -
besondere durch ihren geradezu masochistischen Bezug auf die
eigene anthropologische, geschichtsphilosophische und ä s th e ti-
sehe Theorie8 weisen sie über ihren k a b a re ttis tis c h e n Anschein
hinaus. Sie haben m it ih r e r N e g a tiv itä t, ihrem schnellen Er-
löschen und ihrem unübersehbaren Theoriebezug eine konstruk-
tiv e Funktion.

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224 R o l f F ie g u th

Stärker a ls in anderen dramatischen Werken i s t das m ythi-


sehe Moment in Witkacys letztem Stück D i e S ch u ste r herausge-
s t e llt . ® Es i s t eine A rt h is to r is c h - p o litis c h e s und ä s th e ti-
sches Endspiel. Die p o litis c h e n Aktionen und Revolutionen, die
seinen diegetischen Hintergrund b ild e n , sind nur mehr Manipu-
la tio n e n e in e r w irk lic h e n Geheimen Regierung, die an der to ta -
len Automatisierung der Menschheit a r b e ite t - s ie sind also
im Augenblick ihres Geschehens schon "bloße Mythen11. Zudem sind
die S ch u ste r offenkundig ein Theaterkunstwerk n a c h der
le tz te n Zuckung der Kunst: Auch die Theorie vom Kunstwerk der
"Reinen Form" als le tz te r M öglichkeit des Zugangs zum metaphy-
sischen Erleben i s t in der Welt dieses Stücks nur noch m ythi-
sehe Erinnerung10 und zugleich Symptom g e is tig e r Automatisie-
rung, "Skorbut auf dem Leib der Menschheit, die an g e is tig e r
Stoffwechselkrankheit le id e t " ( 581) . 11 Der Zugang zum b y t , zum
Sein, le b t nur noch a ls der schöpferische T rieb der Schuster
zum b u t , zum Schuh f o r t (559).
In besonderer Weise i s t vom 1. Akt an das Mythische und
die *mythische' Erinnerung an das erloschene (Witkacysche)
Kunstideal den Schustern, vor allem ihrem Anführer und Meister
Sajetan Tempe zugeordnet:

(Geselle I)
Armer Meister! Er möchte eben, daß die A rb e it zugleich
mechanisch w ird , und daß er diese Mechanik denn durch
den Jeist: in d iv id u a lis ie re n s o l l können zu Unikaten
personaler Erscheinung, wie die o lle n Musikanten und
Maler ih re Ausscheidungen. (515)

Den Meister p la g t nämlich die entfremdete Schusterarbeit:

V ie l mehr re g t es mich auf, daß ich Schuhe fü r sie


[d ie feineren Leute] mache. Ic h , der ic h der Präsident,
der König der Masse sein könnte - nur einen Augenblick,
nur einen ganz kleinen Augenblick. Lampions, Girlanden
und Wörter um die Lampions von Köpfen, und ic h , der
elende, schmutzige Lausekopf m it einer Sonne im Busen
wie der goldene S child des H eliodor, wie hundert Aide-
baranen und Wegas [ . . . ] . (514)

Auf einen der v ie le n Wutausbrüche des Schusters (v g l. die id io -


matische s z e w s k a p a s ja - "Schusterwut") re a g ie rt F ü rs tin I r in a ,

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M ythos im Drama 225

mythisches Symbol des Superweibs, wie es in v ie le n Stücken W it-


kacys vorkommt, m it einer Idee, die wiederum p a ro d is tis c h an
Witkacys Idee von der "E in h e it in der V ie lh e it " anknüpft und
sie zum falschen g e s e lls c h a ftlic h e n Revolutionsmythos umgestal-
te t :

Ich möchte euren Haß veredeln, euren Neid, eure E if e r -


sucht, euren Wahnsinn und eure L e b en su ne rsä ttlich ke it
zur wilden schöpferischen Hyperkonstruktion - so heiß t
das ‫ ־‬eines neuen g e s e lls c h a ftlic h e n Lebens verwandeln,
dessen Keime gewiß in euren Seelen stecken, die gewiß
auch n ic h ts m it euren verschw itzten, verstunkenen, ab-
gearbeiteten Leibern zu tun haben. (530)

Diese Tirade z e ig t übrigens eine fü r unseren Zusammenhang r e le -


vante fu n k tio n a le Deformation der Schusterwerkstatt an, die h ie r
den Charakter eines Versammlungsraums anzunehmen scheint und
die von Anfang an durch geometrische und n a tu rh a fte V e rh ä ltn is -
se verfremdet i s t . 12
Die entfremdete A rb e it verwandelt sich fü r die Schuster in
ein höchstes Id e a l, in einen Mythos, a ls s ie im 2. Akt von der
Regierung in ein Zwangsarbeitslosigkeitsgefängnis gesteckt wer-
den, durch dessen G itte r sie eine h e rrlic h e Schusterwerkstatt
sehen müssen, in welcher die F ü rs tin I r in a untergebracht is t -
ohne Zweifel zur erotischen Einfärbung der steigenden A rb e its -
lu s t der Schuster. Auch die Gestaltung dieses Raums u n te r lie g t
einer ch a ra kte ristisch e n "Deformation".
In einer orgiastischen Meuterei stürmen die Schuster nun
die Werkstatt und machen sich w ild an die S chusterarbeit, und
zwar in , hochdichterischer1 Erregung und (vulgär untermischter)
Redeweise, die n ic h t nur die Romantik und Wyspiański p a ro d ie rt,
sondern stellenweise auch die Gedankenwelt Witkacys s e lb s t:

(Sajetan)
[ . . . ] Ja jestem r e a lis ta - Dawaj go ‫ ־‬masz go - gwóźdź.
0 g w o ź d z iu л d ziw n y g o ś c iu podbutow y - k tó ż tw o ją d z iw -
nośd o c e n i ? D z iw n o ś d p r a c y ! Czyż j e s t w yzsza marka
d z iw n o ś c i ? [ . - . ]
(Sajetan)
( . . . ] Ich bin R e a lis t. Her m it ihm - da hast du - Nagel.
О Nagel, seltsamer Gast unterm Schuh - wer vermag deine
Seltsamkeit zu schätzen? Seltsamkeit der A rb e it! Gibt
es eine höhere Marke der Seltsamkeit? [ . . . ]

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226 R o lf F ie a u th

( I I . Geselle)
[ . . . ] Die A rb e it i s t das höchste Wunder l o u d ] , die
metaphysische E in h e it der V ie lh e it der Welten ‫ ־‬das
Absolute [ a b s o l u t ] .
( I . Geselle)
[ . . . ] A rb e it an und fü r sich! Nimm, hau, den Pechfaden
zieh, s tic h ! Schuhe, Schuhe [ b u t y ] ‫ ־‬entstehen, ent-
heben sich dem Nichts des schuhigen ürseins [ z n i c o ś c i
b u t o w e g o p r a b y t u ] , der ewigen reinen Idee des Schuhs,
die im idealen, wie hundert Scheunen leeren Abgrund
ste ckt• (559)

Daß h ie r die " A r b e it1


* a ls Ersatz der "Kunst" (wie Witkacy sie
verstand) h in g e s te llt w ird , macht ein Kommentar des Staatsan-
waits Scurvy angesichts der w ild schusternden Schuster deut-
lie h :

(Scurvy)
Kunstprobleme ‫ ־‬f o r t m it dieser widerwärtigen Uner-
s ä t t li c h k e i t nach Form und In h a lt. Schau: Die w ild e ,
oder besser v e rw ild e rte A rb e it, ausgeschieden wie
ein re in e r ursp rü ngliche r I n s t in k t , wie der I n s t in k t
des Fressens und Zeugens. (560)

‫־‬ und Sajetan fa ß t seine Schusterwut in poetische Reime:

B u t jako abso-Zut! [ . . . ] Czy rozumiecie t e j c h w ili


c u d ? To w ie lk i symbol je s t b u t - przekory wszelkich
z łu d l
Der Schuh als das Absolute! [ . . . ] Versteht i h r dieses
Augenblickes Wunder? Ein großes Symbol i s t der Schuh ‫־‬
fü r die W id e rs e tz lic h k e it a lle n Trugs! (562)

Das wilde Tun der lin k s p ro le ta ris c h e n Schuster is t Symbol


einer (falschen) Selbstbefreiung und zugleich die K a rika tur
eines in s tin k tg e trie b e n e n , orgiastischen R itu a ls , dessen Unge-
stüm auch die faschistischen Wachmannschaften des Gefängnisses
e rfa ß t: Diese lassen sich von den Schustern " verschustem"
und nehmen an der orgia stisch e n Schusterei t e i l .
Im d r it t e n und le tz te n A k t13 s c h lie ß lic h kommt das, was ich
die "negativmythologische Konstruktion" des Stücks nennen w i l l ,
auf ihren Höhepunkt, und zwar durch eine ironische Totalmytho-
log isie ru n g der gezeigten Vorgänge, die durch massive Wyspiarí-
s k i- Z ita te s ig n a lis ie r t w ird . Sajetan is t Held und Pseudomacht-
haber e in e r Revolutionsregierung geworden. Ihn besucht eine

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*ivth
« o 8 im Drama 227

Bauerndelegation, die ih re re vo lutio n äre n Anliegen te ilw e is e


in Wyspiańskis c h a ra k te ris tis c h e r Verssprache aus der H o c h z e i t
v o rträ g t und v o rs in g t. Sie haben Wyspiańskis Negativsymbol,
den Strohwisch, m itgebracht:

(Kmiotek)
[ . . . ] my tu p r z y s z li z chochołem samego pana Wyspiań-
skiego, z którego id e i nawet faszyści c h c ie li zrobić
podstawą metafizyczno-narodową ic h radosnej wiedzy o
użyciu życia i użyciu państwa dla celów samoobrony
międzynarodowej k o n c e n tra c ji k a p ita łu [ . . . ]
(Bäuerlein)
[ . . . ] w ir sind h ie r m it dem Strohwisch vom Herrn
Wyspiański persönlich da, aus dessen Ideen sogar die
Faschisten die metaphysisch-nationale Grundlage ih r e r
frö h lic h e n Wissenschaft vom Genießen des Lebens und
vom Nießbrauch des Staates fü r die Interessen der
S elbstverteidigung der in te rn a tio n a le n Kapitalkonzen‫־‬
t r a t io n machen w o llte n [ . . . ] (573 f . )

Die Bauern werden von den Schustern zwar m it dem Vorschlag


fr e iw illig e r S e lb s tk o lle k tiv ie ru n g (Anspielung auf die s ta li-
n is tis c h e Zwangskollektivierung) abgespeist und anschließend
symbolisch l i q u i d i e r t - m it ihnen auch g le ic h die Bauernfrage -,
aber der Strohwisch b le ib t auf der Bühne und v e r m it t e lt dem
weiteren Geschehen eine ebenso iro n isch e wie zwanghafte Dimen-
s io n .1ił Wyspiańskis ” Goldenes Horn” w ird zum ” Goldenen B e il" ,
m it dem die Schustergesellen den a llz u beredt an seinem meta-
physischen Individualism us leidenden Sajetan eine tö d lic h e
Verletzung beibringen, um aus ihm, der ja längst zu einem My-
thos geworden i s t , einen Mythos zu machen, welcher den Macht-
Illu s io n e n der Schuster n ic h t mehr g e fä h rlic h werden kann. Sein
Sterben dauert den ganzen d r it t e n Akt und i s t von seinen monu-
mentalen Reden b e g le ite t. Ganz bewußt w ird er dabei m it Wys-
piańskis blutig-mythologischem R it t e r Wernyhora verglichen.
Seine beredte Agonie hat den Charakter eines mythischen R itu -
a ls . Dieses wird durch ein anderes mythisches S te rb e ritu a l pa-
r a l l e l i s i e r t . Es b e t r i f f t den früheren Staatsanwalt und lib e -
ra l-fa s c h is tis c h e n Feind der revolutionären Schuster Scurvy
("Du warst der Skorbut [e n g l, в с и г ѵ у ] der an Geistwechselkrank-
h e it leidenden Menschheit" [ 581] ) . Er w ird fü r seine p o l i t i -

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228 R o l f F ie g u th

sehen Irrtü m e r b e s tr a ft, indem er zu einem gefangenen T ie r


degradiert (er is t in eine Hunde‫־‬ oder Katzenhaut g e kle id e t
und angekettet) und zum langsamen Tod an u n e r f ü llt e r , che-
misch aufgeputschter se xu e lle r Gier nach der F ü rs tin Ir in a ,
dem mythischen Superweib, v e r u r te ilt w ird . Seine Qual is t eine
offenkundige Travestie des Tantalus-Mythos.
Diese kü n stlich e mythologische P a ra lle lk o n s tru k tio n w ird
nun degradiert durch den A u f t r i t t e in e r neuen Bühnengestalt,
des , Schrecklichen Hyper-Arbeiters m it der Thermosbombe, der
sich a ls V e rtre te r der ta ts ä c h lic h herrschenden Geheimregie‫־‬
rung sowie als zynischer Entwerter a l l e r Mythen g ib t . Nach
seinen Worten тив der arme a lt e Sajetan "zum lebendigen, das
heißt toten Symbol werden, das euch eure H eiligen und a lle
eure Mythen e rs e tz t, ih r pseudochristlichen Faschisten, die
ih r die Komödie eures Pseudoglaubens a l l e r Welt v e r le id e t
h abt." (580). In kaum noch p a ro d is tis c h e r Anlehnung an den
Philosophen Witkacy verkündet e r, daß "der biologische Mate‫־‬
ria lism u s als höchste Form der d ia le ktisch e n Weltanschauung
k e in e M ythen und G e h e im n isse z w e ite n und d r i t t e n Grades e r-
t r ä g t . Es g ib t nur ein einziges Geheimnis: das lebendige Ge‫־‬
schöpf und die A rt und Weise, wie andere lebendige Geschöpfe
es k o n s titu ie re n ." (580)
Doch auch diese G estalt u n te r lie g t der to ta le n Mytholo-
gisierung der d a rg e s te llte n Welt. Seine anti-m ythologische
i
E in ste llu n g verkehrt sich unversehens in ih r Gegenteil, wenn
er verkündet:

A lle s auf diesem Stückchen Erde i s t k la r wie der f a r -


nesische S tie r und w ird es bleiben b is zum Ende der
Welt. (580)

Der famesische S t ie r is t aber gerade die monumentale a ntike


Darstellung eines grausamen Rachemythos: Amphion und Zethos
binden die Dirke an die Hörner eines wilden S tie rs , um ih r
dasselbe Schicksal zu b e re ite n , das sie der Antiope, der Mut-
te r ih r e r beiden Quäler, zugedacht h a tte . Der , Schreckliche
Hyper-Arbeiter m it der Thermosbombe* is t se lb st eine mytholo-
gische Emanation der Geheimen Revolutionsregierung, deren t r i -

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M ythos im Drama 229

v ia l-b ü rg e rlic h e n M itg lie d e rn er in der Schlußszene halb be-


f lis s e n , halb bedrohlich m it seiner "Bombe" auf S c h r it t und
T r itt fo lg t. Er i s t ein zeugungsunfähiger P r o le ta r ie r ohne
Kinder, seine Thermosbombe i s t eine Attrappe, aus der e r nach
einem Todesangst verbreitenden "symbolischen Witz" Tee t r i n k t .
Er i s t demzufolge se lb st ein le e re r Mythos, n ic h t anders als
Wyspiarfskis Strohwisch oder Wernyhora, die h ie r ständig evo-
z i e r t werden. N icht grundlos äußert e r: " V ie lle ic h t g ib t es
mich gar n ic h t? " (578).
Das P rin z ip der mythologischen Konstruktion in Witkacys
S ch u ste rn is t somit d e u tlic h : Es i s t das P rin z ip der progres-
siven Degradierung der Mythen. Das, was den einen Mythos de-
g r a d ie r t, erw eist sich schnell s e lb s t a ls Mythos, und so f o r t .
In diesem P rin z ip der progressiven Degradierung der Mythen
ste ckt zugleich das P rin z ip der Entstehung fortwährend neuer
Mythen, deren Quelle offenbar n ic h t nur ta k tis c h e Manipula-
tio n is t, sondern auch die von dem vielbeschworenen "Geheim-
n is des Seins" ausgehende "metaphysische Unruhe". Noch in der
Bemerkung des Hyper-Arbeiters ( " V ie lle ic h t g ib t es mich gar
n ich t? ") kommt diese Unruhe zum Ausdruck.15 Das P rin z ip der
progressiven Degradierung lä ß t sich b e re its in Witkacys ge-
schichtsphilosophischer Ä s th e tik verfolgen: Schon die Glaubens-
Wahrheiten im Urzustand der Menschheit v e r d e c k t e n
das "Geheimnis des Seins" ebenso, wie s ie es in gem ilderter
Form zum Ausdruck brachten. Die modernen Mythen sind a l le un-
wahr und fadenscheinig. Sie sind entweder Manipulation kata-
strophaler Geschichtsmechanismen, oder - n ic h ts a ls Kunst, und
zwar n ic h t nur Kunst im Sinne des jungpolnischen Stanisław
Wyspiański, sondern auch Kunst im Sinne Witkacys s e lb s t. Seine
eigene Kunsttheorie und Kunstpraxis wird ständiger, sar-
kastisch-parodierender K r i t i k unterzogen, und ständig wird
angedeutet, daß sie se lb st ein bloßer Mythos i s t , Symptom des
katastrophalen Endzustandes der Menschheit. Das V e rd ik t, nur
Mythos zu sein, scheint sogar das "Geheimnis des Seins" zu
e rg re ife n , das v i e l l e i c h t nur mythische I llu s io n vor der har-
ten W irk lic h k e it des absoluten geschichtsphilosophischen und

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230 R o l f F ie g u th

e x is te n tie lle n Nichts is t.


Diese geradezu masochistische E in s te llu n g Witkacys zur
eigenen Kunsttheorie und Kunstpraxis is t keineswegs Ausdruck
nur seines Dramas D i e S c h u s te r, seines le tz te n dramatischen
Werks. Schon in früheren Stücken wie D i e neue B e fre iu n g (1922/
23) und S i e (O n ij 1920) wurde die Kunst als b illig e r Mythos
e n t la r v t , der vor der metaphysischen, aber auch vor der aktu-
e ll- p o lit is c h e n W ir k lic h k e it n ic h t standhält. Der Verdacht,
daß Witkacy seine eigene Kunst von Anfang an fü r die mögliche
g e is tig e Verirrung e in e r Endzeit angesehen hat, geht aus v ie ‫•־‬
len seiner theoretischen und künstlerischen Äußerungen andeu-
tungsweise hervor - h ie r insbesondere durch die s e lb s tq u ä le ri-
sehe P a ra lle lis ie ru n g der eigenen kunsttheoretischen Ideen m it
menschenfeindlichen t o t a lit ä r e n Gesellschaftskonzeptionen. Die
Pseudoreligion "M u rti Bing" in seinem Roman U n e r s ä t t l i c h k e i t
(1930), deren Wesen auf e in e r P i l l e beruht, welche die meta-
physische Unruhe des Menschen in einer narkotischen Harmoni-
sierung und Mechanisierung seiner g e istig e n und seelischen
K rä fte b e s ä n ftig t - diese R eligion der Unmenschlichkeit is t
nur a llz u d e u tlic h p a r a lle lis ie r t m it der von Witkiewicz
se lb st angestrebten Wirkung seiner Theaterkunst der "Reinen
Form". Auch diese s o llt e ja wie ein Narkotikum wirken, das
in immer höheren Dosen vera bre icht werden muß (Witkacy 1974:
379 f . u. passim). Der Mythos und die Mythen der Kunst der
"Reinen Form" sind in einem anderen Sinne ambivalent als bei
Wyspiański, wo s ie zwischen Überhöhung und Degradierung
schwanken: Bei W itkiewicz sind sie sowohl Symptom der unab-
wendbaren Katastrophe, a ls auch Erinnerung an metaphysische
E rle b n is fä h ig k e it und K r e a t iv it ä t des menschlichen Geistes.

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M ythos im Drama 231

A N ME R K U N GE N

1 Zum Mythos bei Wyspiański v g l. u.a. Nowakowski 1972, F ilip -


kowska 1972, Nowakowski 1977, Głowiński 1977.
2 Zur Noc l i s t o p a d o w a v g l. Backvis 1952:269-282; Natanson 1965:
180-197; Okońska 1971:183-198; Nowakowski 1972:117-14 3.
3 Zum W y z w o l e n i e v g l. u.a. Backvis 1952:235-251; Natanson 1965:
171-179; Okońska 1971:286-308.
* Zu den W e s e l e v g l. u.a. Backvis 1952:213-235; Łempicka 1961;
Natanson 1965:150-164; Okońska 1971:235-272; Łempicka 1973:279-
345.
5 Mythologische Elemente in Witkacys Dramen in te re s sie re n die
S pezialisten gemeinhin unter dem Aspekt der grotesken Deforma-
tio n (Sokół 1973) bzw. der I n t e r t e x t u a l it ä t (Głowiński 1987).
Hier dagegen s o ll ih r Ort in Witkacys Theorie aufgespürt
und anschließend ih re k o n s tru k tiv e Funktion in einem s e i-
ner Dramen bestimmt werden.
6 An diesem Punkt lä ß t sich ein Anschluß an Peter Alberg Jen-
sens aus Bachtin entw ickelte These über die ,Verwicklung des
Autors in das mythologische Werk* ( v n u t r i n a c h o d i m o s t ‫ ׳‬a v t o r a
im Gegensatz zur v n e n a c h o d i m o s t ' a v t o r a in andersartigen l i t e -
rarischen Werken) h e rs te ile n - v g l. seinen B eitrag in diesem
Band.
7 Diese rezeptionsästhetische Ausdeutung der Inhaltskomplexe
i s t bei Witkacy se lb st n ic h t in a lle n ihren Elementen e x p l i z i t
gegeben, doch scheint sie in der Logik seiner Argumentation zu
liegen und wird durch seine dramatische Praxis v ie lfa c h bestä-
t i g t . Sie muß n ic h t im Widerspruch zu Witkacys Postulat einer
d i r e k t e n , von Handlungsabläufen unabhängigen Hinführung
des Zuschauers auf die "re in e Form" stehen (v g l. hierzu Degler
1987).
8 Zwischen Witkacys Theorie und seiner Dramenpraxis wird n ic h t
selten ein Widerspruch gesehen (v g l. M ille r 1957:65 f . ; Puzyna
1972:31 f . ; van Crugten 1971:111-127); seine Dramen seien l e t z t -
lie h doch konventioneller a ls seine theoretischen Postulate.
Dieser Widerspruch kann indessen unter Berücksichtigung seiner
geschichtsphilosophischen These vom unaufhaltsamen Ende der
Kunst als funktionales Spannungsverhältnis zwischen th e o r e ti-
schem Diskurs und dramatischer Praxis i n t e r p r e t ie r t werden -
v g l. dazu Fieguth 1987.
* Meine nachfolgende Betrachtung der S z e w c y unter dem Aspekt
des Mythischen erhebt n ic h t den Anspruch einer erschöpfenden
In te rp re ta tio n des Werks, sondern unternimmt den Versuch einer
Funktionalisierung des Mythischen, das bei Gerould (1981:422-
444) und bei Kuźma (1980:111-114) nur unter dem Aspekt der gro-
tesken G e se llsch aftssa tire gesehen w ird; die Bedeutung des sa-
tiris c h e n Aspekts s o ll dabei durchaus n ic h t geleugnet werden.

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232 R o l f F ieg u th

10 Vgl. Gerould 1981:432: "Die S c h u s t e r sind ein Stück über


den Tod der schöpferischen K r a f t " .
11 Die Z ita te aus den S c h u s t e r n folgen der Ausgabe S .I. W it-
kiewicz 1972, IX. Die Übersetzung der Z ita te und a lle Hervorhe-
bungen stammen vom V erf.
12 In der Regieanweisung zum 1. Akt wird der Schauplatz wie
f o lg t beschrieben:
Die Bühne s t e l l t eine Schusterwerkstatt (nach Belieben phan-
ta s tis c h e in g e ric h te t) auf kleinem halbrundem Raum dar.
Links ein durch einen kirschroten Vorhang ausgefülltes D rei-
eck. In der M itte b ild e t ein Stück graue Wand m it rundlichem
Fenster ein Dreieck. Rechts ein v e rtro ck n e te r, gewundener
Baumstamm - zwischen dem Baumstamm und der Wand ein Stück
Himmel in der Form eines Dreiecks. Weiter rechts eine ferne
Landschaft m it kleinen Städten auf e in e r Fläche. Die Werk-
s t a t t l i e g t hoch über einem sich im Hintergrund abzeichnen-
den Tal, als wäre sie auf hohen Bergen a u f g e s t e l l t . [ . . . ] ( 5 1 3 )
13 B ildete der Schauplatz des 2. Akts ein phantastisches Gefäng-
n is , so i s t die Szene des 3. Akts eine Transformation des Büh-
nenbildes des 1. Akts:
Schauplatz des 1• Akts, jedoch ohne Vorhang und Fensterchen.
Der Vordergrund, der nach hinten zu halbrund endet, bekommt
dadurch etwas gleichsam Planetarisches. Geblieben i s t nur
der Baumstamm, an dem [ j e t z t ] ro te und grüne Signallampen
(?) leuchten. Auf dem Fußboden ein p ra c h tv o lle r Teppich. Im
Hintergrund, unten, eine ferne Landschaft - menschliche
Lichtpunkte und Vollmond. Sajetan in prächtigem buntem
Schlafrock ( f r i s i e r t e r Bart, gekämmte Haare) steht in der
M itte der Bühne, g e stü tzt von den Gesellen, die geblümte
Schlafanzüge anhaben und g e s c h e ite lt und pomadisiert sind.
Rechts i s t der Staatsanwalt Scurvy, in ein Hunde- oder Kat-
z e n fe ll g e h ü llt (und zwar am ganzen Körper außer am Kopf,
auf dem er ein rosa Strickkäppchen m it Glöckchen h a t ) , an
den Baumstamm angekettet und s c h lä ft, zusammengerollt wie
ein Hund. (563)
Typisch fü r Witkacys Umgang m it 'Mythen1 i s t die Episode m it
dem Strohwisch nach einer der erotisierenden Tiraden der Für-
s t in I r in a :
Die Gesellen und Küßchenfresse kriechen bäuchlings auf sie
zu. Scurvy r e iß t wie t o l l an seiner Kette und k l i r r t und
h e u lt. Sajetan [tö d lic h m it dem Goldenen B e il in den Epi-
strepheus geschlagen! -R. F.] steht auf und wendet sich ih r
ebenfalls zu wie irgendso ein Wernyhora. P lö tz lic h steht der
S t r o h w i s c h auf und b le ib t s ta r r stehen. Ziemliche Bestürzung
unter den Kriechenden: A lle schauen sich nach dem Strohwisch
um, ohne aufzustehen:
KÜSSCHENFRESSE m it Stentorstimme
Wir Kriechenden sind ziemlich b e stü rzt darüber, daß der
Strohwisch aufgestanden i s t . Was bedeutet das? Es geht
n ic h t um die W irk lic h k e it - die i s t sowieso im Eimer -
aber was bedeutet dies in g roß d ich te rlich e n , post-wyspi-
ariskischen Dimensionen, in diesem post-wyspiarfskischen
nationalen Gedankengebäude, welches massenhaft von

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Mythos im Drama

Scharlatanen und S ch riftd e u te rn bevölkert i s t , die


n ic h ts bedeuten und nur eine künstlerische Phantasie
sind: eine dynamische Spannung fü r die Reine Form im
Theater - rede ich Unsinn?
Der S t r o h w i s c h geht auf das Piedestał [der F ü rstin ‫ ־‬R.F.]
zu. Da f ä l l t ihm seine Strohwisch-Verkleidung ab und es e r-
w e ist sich , daß es ein Geck im Frack i s t . (589).
15 Das mythische (bzw. "negativmythische") Strukturelement konn‫־‬
te in dieser knappen Betrachtung nur in allgemeinen Zügen her-
ausgearbeitet werden. Die Annahme eines solchen Elements wider-
s p r ic h t den Konventionen der bisherigen Witkacy-Forschung. Nä-
her s te h t ihrem Kanon die eindrucksvolle Abhandlung Lech Sokółs
(1973) über die G r o t e s k e im Theater Witkacys. Die Be-
Ziehung zwischen dem Grotesken und dem Mythischen würde eine
eingehendere Bearbeitung erfordern - sie i s t auch auf der Ta-
gung s ic h e rlic h n ic h t hinreichend v e r t i e f t worden.

L I T E R A T U R

BACKVIS, C.
1952 Le dramaturge Stanislas Wyspiański, P aris.
BŁOŃSKI, J.
1970 U źródeł te a tru Witkacego. - In : Twórczość 1970, H.5,
S. 81-90.
CRUGTEN, A. van
1971 S. I . W itkiewicz. Aux sources d *un théâtre nouveau
(Slavica L'Age d'Homme), Lausanne.
DANEK-WOJNOWSKA, В.
1976 S t . I . Witkiewicz a modernizm. Kształtowanie id e i kata-
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Jerzy FARYNO (Warszawa)

АРХЕОПОЭТИКА ,,ПИСЕМ ИЗ ТУЛЫ" ПАСТЕРНАКА*

Основной принцип авангардного текстопостроения покоится на меха


ниэме дешифровки. Дешифровка же определяется как обращенный
классический коммуникативный акт, цель которого ‫־‬ не кодировка
получаемой из мира информации, а экспликация кода самой этой
информации. Не вдаваясь в подробности, тут уместно указать на
некоторые самые существенные следствия такой установки.
В первую очередь дешифровка означает прекращение коммуника
ции. В "Письмах из Тулы" (Пастернак 1982:40-47) это отражено на
нескольких уровнях. На уровне вокзальной реальности ‫ ■־‬отсутстви
ем всякой коммуникативной связи с остальной публикой, за исклю-
чением раскланявшегося на прощание "генерала" и знаменательного
размена денег "актеру". Место коммуникации занимает мотив , су-
дебного разбирательства* (ср. упоминание о "свидетеле" во вто‫־‬
ром письме и фразу "Это свидетельское показание обвинения" в
четвертом). На уровне пространственных реляций - сплошной разъ-
единенностью и предельной удаленностью: некий "агроном" локали-
зован "Через стол", , актеры* ‫־‬ "в другом конце стола"; факти-
чески , близкое', как, например, "березка" оказывается "Очень,
очень далеко" или "Далеко, далеко, с того [...] края" , простран
ства совести'; даже киносъемки фильма идут "на том берегу", от-
куда ничего не слышно - ни "звона" "секир” , ни "трагической че‫־‬
ловеческой речи", т . е. "ни одной пятистопной строчки"; анало-
гичньм образом не осуществляется и прерывается коммуникация с
центром Тулы, помимо готовности "Я" поехать "осматривать город"
("Последний вагон тульской конки подошел из города"), и с Mo-
сквой ("Ближайший поезд в Москву в три часа ночи", к тому он

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238 J e r z y Faryno

еще не , составлен': "Бездыханные котлы и вагоны лежали на пло-


ской земле, похожие на скопления низких туч в безветренные но-
чи" ) . На уровне писем заметно постепенное иссекновение коммуни-
кации. В первом ‫־‬ речь о "разлуке" с адресатом, но оно еще
оформлено по всем правилам классической коммуникации. Во вто-
ром отсутствует дата и завершается оно намеком на бесполезность
писать: "Ах, писать - только себя мучить• А расстаться нет сил".
Третье - едва пишется ("Не знаю, как начать. Ничего еще не по*
нимаю"), со сплошными перечеркиваниями, оставленными "без за-
мещения" или "без продолжения", с 'продранными' - пером - места-
ми, с возобновлениями. Но, самое главное, - оно отсылает к , чу-
жому' тексту ("Дорогая, справься с учебником. Ключевский с то-
бой, клал сам в чемодан. [...] Прочти по Ключевскому, - не чи-
тал, думаю, должен быть эпизод с Петром Болотниковым"), с одной
стороны, а с другой - само "остается неотосланным". В конце же -
"писавший" "забыл, с кем ехал, кого проводил, кому писал",
вплоть до упразднения себя как авторской инстанции (инициатора
коммуникации):

Он предположил, что все начнется, когда он перестанет слы-


шать себя и в душе настанет полная физическая тишина.

В дешифровке классический отправитель сообщения удваивает-


ся: будучи фактическим автором сообщения, он должен вести себя
по правилам получателя. Этим, в частности, объясняется отчужде-
ние Пастернаковского "Я" и перевод им самого себя в третье ли-
цо:

Как описать тебе? Приходится с конца. Иначе не выйдет.


Так вот, и позволь в третьем лице. Я писал тебе о чело-
веке, прогуливавшемся вдоль багажной стойки? Так вот.
Поэт, ставящий отныне это слово, пока не очистят огнем,
в кавычки, "поэт" наблюдает себя на безобразничающих ак-
терах, на позорище, обличающем товарищей и время. Может,
он кокетничает? Нет. Ему подтверждают, что его отожест-
вление не химера.

Таков и старик во второй части "Писем из Тулы", который "про-


шелся назад, не своим, чужим шагом" и который 'заставил' "своими
устами говорить постороннего".
Само собой разумеется, что удваивается и сам текст - он

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А рхеопоэтика "Писем из Т у т 239 ‫״‬

расслаивается на некий исходный текст, подлежащий дешифровке, и


на результат дешифровки. Среди ряда возможных вариантов наиболее
интересен такой, когда создается конструкция самодешифрующаяся.
"Письма из Тулы" и являют собой пример такого автодешифрующегося
образования.
Для дешифруемого сообщения дешифровка означает, что в нем
меняются местами код и текст: коммуницируется не текст при по-
мощи кода, а код при помощи текста. Искомым содержанием сообще-
ния (текста) является код, а точнее - та семиотическая система
и та текстообразующая инстанция, в рамках которой порождается
данный дешифруемый текст. Дешифрующее построение движется, таким
образом, к языковой и коммуникационной competence. В случае
автодешифрующегося текста это выражается в виде семантических
экспликаций вводимых словоформ и движением вспять к их семанти-
ческим протоформам и, говоря словами Смирнова (1985:47), к архе-
типической смысловой информации1. Не имея возможности более де-
тального раэбора "Писем из Тулы" в пределах статьи, проследим
с предложенной точки зрения лишь сакые узловые моменты их "ар-
хеопоэтики"2.

1. В ПОЕЗДЕ ВЕЗЛИ СОЛНЦЕ

"Письма из Тулы" обрамлены четким повтором мотива везомого солн-


ца. Их текст открывается так:

На воле заливались жаворонки, и в поезде, шедшем из Москвы,


везли задыхавшееся солнце на множестве полосатых диванов.
Оно садилось.

В конце же начинается обратный путь:

Шел поезд в Москву, и в нем везли огромное пунцовое солнце


на множестве сонных тел. Оно только что показалось из-за
холма и подымалось.

Привозимое "в поезде" закатное и "в нем" увозимое восхо-


дящее солнце атрибутирует Тулу не только как особый ночной ло-
кус и не только как локус , ночевки солнца1, но и как локус его
, смерти1 ("задыхавшееся", "садилось") и ' возрождения-воскресе-
ния1 ( "показалось из-за холма и подымалось")3. Тула этим саідем

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240 J e r z y Faryno

теряет статус бытового географического пространства и обретает


черты динамического переходного и перерождающего локуса. Это ее
свойство как раз и отражено отсутствием города как такового.
Хотя в рассказе он и упоминается, но тем не менее представлен
только промежуточными временными локусами: в первой части _
"вокзалом" с его неутомимой подвижностью и перетасовкой реаль-
ного заполнения, во второй - гостиничным "номером". С той раз-
ницей, что если "вокзал" помещен на окраине ("Пойду осматривать
город. Он в стороне остался. [...]; ходьбы, говорят, минут со-
рок"), то , гостиница1 соотнесена с центром ("Мимо, тенькая, про-
трусила конка. Это шла последняя к вокзалу").
Основной вопрос в свете этих рамок напрашивается сам собой:
в чем состоят особенности локуса ,Тула' и что там происходит с
привезенным туда и затем увозимым оттуда ,солнцем'.

2. ВОКЗАЛ И ГОСТИНИЦА

Высказанное в первом письме намерение "Поеду осматривать город"


и несколько модифицированное во втором "Пойду осматривать го-
род" являет собой повтор и продолжение пути солнца до его , но-
чевки1, некоей исходной центральной (мировой) точки. Эта точка в
очередном письме определена как "могила": "Надо уходить со вто-
poro звонка или же отправляться в совместный путь до конца, до
могилы". Легко заметить, что "могила" поставлена тут в одном ря-
ду с локусом •повторного рождения* или , восхода*: "Послушай,
ведь будет уже светать, когда я проделаю весь этот путь целиком
в обратном порядке". Если учитывать параллелизм с солнцем, то
'обратный путь' солнца как раз и начинается с эквивалента "моги-
лы" - с "холма": "Оно только что показалось из-за холма и поды-
малось". Тем не менее "путь" "Я" "в обратном порядке" - пока еще
путь к ,могиле1 и в ‫״‬преисходнюю'-' чистилище' : "А они будут те-
перь тонкостями изысканной пытки".
Когда поезд подъезжает к Туле, "Мост с надписью ' Упа' по-
плыл по сотне окошек". Это, собственно, значит, что поезд с
солнцем погружается , в воду' или спускается 'под землю' (ср. его
появление в финале "из-за холма") и в единство 'вечности* и 'не-
бытия', что выражено символикой числа ' сто' ("по сотне око-
шек")*, а затем приветственными фразами на улицах города, озна-

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Археопоэтиха "Писем из Тулы" 241

чающими прекращение движения: в этот город можно только прибыть


но нельзя из него выбыть:
"С добрым вечером". Некоторые прибавляли: "Оттуда?" ‫" ־‬Ту-
да", - отвечали иные. Им возражали: "Поздно. Все кончи-
лось".
Вокзал в этом отношении оказывается преддверием мистичес-
кого мирового центра ("город а"). Будучи представлен "багажной"
и "дебаркадером", он соотносится с телесным, материальным нача-
лом. Таковы его "Бездыханные котлы и вагоны” , "товарный вагон
под гроб", падающие под скамейки "Стук пива, безумья и смрада"
и увозимое в финале "множество сонных тел".
Город от вокзала "в стороне остался" и туда "ходьбы, гово-
рят, минут сорок". Пастернаковское число "сорок" сопряжено с
представлением о смерти (ср. такое же значение поезда "номер со
рок" в "На ранних поездах” - Пастернак 1965:404-405). Это зна-
чит, что "город" мыслится здесь как локус, находящийся уже за
пределами 'смерти1, а ,попасть туда1 - ,преодолеть смерть1. По
этой, в частности, причине первичное намерение "поехать" на кон
ке сменяется намерением "пойти" пешком. Дело еще в том, что Па-
стернаковское 1ходить' связано с мотивом ,повторного рождения'
и ,перерождения духовного*. Вот эти смыслы и реализуются во вто
рой части в "гостинице", где некий "старик" сначала "присел к
столу" = *умер1 ("Он решил, что это смерть е го "), потом "встал"
= "преобразился", "выпрямился и бодро прошелся назад, не своим,
чужим шагом"5. Позиция же у "стола", который у Пастернака си-
стематически сопряжен с началом духовным ("он присел к столу,
подпер голову рукой и задумался", что, вероятнее всего, следует
понимать как мышление Пастернаком ,стола ' созвучно латинскому
mensa - 'стол' и mens - ,ум, мышление*, ,мысль1) , знаменует со-
бой 1
духовное перерождение1, ,духовное воскресение'. Мифологи-
чески ,гостиница' эквивалентна ,вокзалу1 как ,преисподняя1 и
1
могила1 (см.: Фрейденберг 1978:65-66,159,547 и 1982:682), но
у Пастернака они дифференцированы: гостиница соотнесена с пере-
стройкой духовного начала, тогда как вокзал - материального (ср
,оживание1 косной материальности и формировку нового поезда:
"Пробуждался чугун, вскрикивали ушибленные цепи", "стали соста-
влять смешанный елецкий" и ночь ” оглушали клочья пара", которые

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242 J e r z y Faryno

особенно знаменательны на фоне прежнего "Бездыханные котлы и ва-


гоны лежали на плоской земле").
Состоявшееся в гостинице обретение своей подлинной и вне-
временной сущности (ср. аналогичное обретение себя в "Волнах" в
"Мне хочется домой, в огромность...” ‫־‬ Пастернак 1965:344-345 и
ср. замечание по этому поводу в: Смирнов 1985а:80-83), преодоле-
ние временного и пространственного разрыва и выход в чистое бы-
тиев осуществляется при помощи искусства как "чужого шага" и
"чужого голоса". Эти "чужой шаг" и "чужой голос" - только внеш-
нее подобие актерской игры. Ва деле они порождены 'задумчивостьк
у стола1 ("он присел к столу, [...] и задумался") и доходящими
извне звуками ночи ("Мимо, тенькая, протрусила конка. Это шла
последняя к вокзалу", "В это время ночь издала долгий горловой
звук. Далеко, далеко. На улице хлопнули дверью и заговорили
взволнованно-тихо"), которые объединяются и образуют "трагичес-
кую человеческую речь"7.
"Долгий горловой звук" ночи - неартикулированная речь бы-
тия (ср. его первое упоминание: ” Ночь издала долгий горловой
звук - и все стихло", промежуточное 1оживание1 вокзала: "Стали
раздаваться свистки. Пробуждался чугун, вскрикивали ушибленные
цепи. (...] За ними росло приближенье чего-то тяжело дышащего,
безвестного, ночного" и последнее: "В это время ночь издала дол-
гий горловой звук. Далеко, далеко. На улице хлопнули дверью и
заговорили", после чего и обретает "чужой голос" старик). Вок-
зал в данном отношении занимает место промежуточного звена. Его
связь с речегенностью выражена двояко: писанием писем на вокза-
ле и упоминанием , тенькающей' последней конки на вокзал в эпи-
зоде преображения старика. Но кроме поэициональных есть для этой
связи и определенные семантические основания. Вокзал постоянно
сочетается у Пастернака со звуко- и речегенной средой, часто с
музыкой (ср. стихотворение "Поэзия" ‫ ־‬Пастернак 1965:193). Это
связано как с историей институции "вокзал” , так и с возможно-
стью этимологизации исходного Vauxhall, бывшего названием парка
и увесилительного места под Лондоном, с возможностью прочтения
Vaux как лат. vox - 'го л о с1; 'зв у к, гул, шум'; ,мычанье1, , кар-
канье'; ,слово', 'р е ч ь ', , язы к'; 'суждение1, ‫״‬сентенция'; 'вы-

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Археопоэтиха ‫״׳‬Писем из Тула" 243

говор, произношение1. В ” Охранной грамоте", например, Венеция


открывается мотивом вокзала и выкриков, а замыкается концертом
на пьяцце и упоминанием "Созвездья Гитары" (Пастернак 1902:243 и
253-254). В "Письмах из Тулы" вокзал дешифруется не только как
vox, но и как Vauxhall - место увеселений и парк. Правда парка в
буквальном смысле тут нет, но весь заключительный эпизод первой
части "Писем из Тулы" построен по той же схеме, по которой будет
затем построена ситуация в стихотворении "Гефсиманский са д "в:

Писавший обогнул вокзал. Он вышел за фасад.


Ничто не изменилось на всем пространстве совести, пока
писались эти строки. [ . . ■ ] Далеко, далеко, с того же ее края,
мерцала березка [ . . . ] . Вырываясь из зала наружу, падали по-
лосы света на коночный пол, под скамейки. Эти полосы буяни-
ли. Стук пива, безумья и смрада попадал под скамейки с ни-
ми. И еще, когда замирали вокзальные окна, где-то побли-
зости слышался хруст и храп. Писавший прохаживался. Он ду-
мал о многом. Он думал о своем искусстве и о том, как ему
выйти на правильную дорогу. Он забыл, с кем ехал, кого про-
водил, кому писал. Он предположил, что все начнется, когда
он перестанет слышать себя и в душе настанет полная физи-
ческая тишина. Не ибсеновская, но а к у с т и ч е с к а я .
Так он думал. По телу его пробежала дрожь. [ . . . ] Серел
восток, [ . . . ] . Пели петухи, и оживала касса.

При этом крайне существенно, что ,обрести полную физическую


тишину1 значит , перестать слышать себя' и обрести , тишину аку-
стическую*. "Акустический" же восходит к греческому Акоиатихбс
- 1относящийся к слуху' и значит: ,способствующий слушать',
1усиливающий с л у х ', 'способствующий распространению голоса', , не
искажающий распространяющегося голоса, з в у ка '. В таком контексте
,обрести полную физическую тишину' значит 'обрести далекую слы-
шимость1 (по аналогии к такой же Пастернаковской категории как
'далекая видимость1 - ср. стихотворение 1958 года "Далекая слы-
шимость" в: Пастернак 1985а:523-524), с одной стороны, а с дру-
гой ‫־‬ , стать "телеграфом"' (ср. отождествление "Яи и "телегра-
фа" в "Балладе" в обеих редакциях, т .е . 1916 и 1928 годов, в:
Пастернак 1965:96-100,589-591), , стать каналом связи для друго-
г о ' , что в "Письмах из Тулы" выражено понятиями "чужого голоса"
и 'артикуляции чужой речи1: Старик ” тоже, как главное лицо, ис-
кал физической тишины. В рассказе только он один нашел ее, за-
ставив своими устами говорить постороннего". Не сложно заметить.

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244 J e r z y Faryno

что в ‫״‬Письмах из Тулы1


‫ ״‬роль такого медиума-телеграфа играет
'тульский вокзал' (подспудно связанный с неназванным графом
Толстым, где 'граф' мыслится как Ypácpco = , пишу', а Толстой -
как 'л е в ', т .е . как символ солнца вообще и подземного солнца в
частности), "Я" - "поэт", "старик" - , актер' с его потребностью
"в трагической человеческой речи". Если учесть, что локус тулье-
кого вокзала определен тут как одно из мест "толстовской биогра-
фии" и что съемки фильма "Смутное время" ведутся тут "фотогра-
фом", то ясно станет, что этот "вокзал" - не только речегенный
локус, но и локус 'фотографии' = 'светописи, писания светом1,
'биографии' = ,жизнеписания' , а точнее - , творения жизни', и ло-
кус, порождающий 'акустические медиумы' (в частности, создавший
Толстого; фразу "Ночь в местах толстовской биографии" надлежит
читать приблизительно так: 'Ночь в местах пишущих жизнь Толсто-
го или создавших Толстого'), медиумы, обладающие 'далекой слыши-
мостью' и ,способствующие не искаженному распространению голоса
бытия' .

3• КОЧЕГАР НА ТЕНДЕРЕ

Переход к мотиву поэта во втором абзаце второго письма (1


1Какое
горе родиться поэтом!") подготовлен упоминанием стихов в первом
письме. Прежде "стихи" мыслились как средство избавления от
"тоски", но тут они поставлены в позицию мучительного вообра-
женья и повторного проследования ("в обратном порядке") прой-
денным путем. Этим самым "стихи" и "поэт‫ ״‬- позициональные экви-
валенты "солнца", с одной стороны, а с другой - , водители в пре-
исподнюю'. Семантически же они объединяются с солнцем иначе -
через связь солнца с Гелиосом-Аполлоном, дарующем поэтическое
воображение и одновременно являющемся психопомпом в потусторон-
нее (загробное) царство.
Связь с психопомпом явствует из мотива "кочегара"-'служи-
теля', представленного одновременно и как потусторонний пере-
возчик через реку (курсив мой - J .F .):

М о с т с надписью "Упа" п о п л ы л по сотне окошек в ту самую


минуту, как к о ч е г а р у , л е т е в ш е м у в п е р е д и состава на т е н д е р е ,
о т к р ы л с я в шуме е г о собственных в о л о с и в с в е ж е с т и в е ч е р -

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Арссеогюэтика "Писем из Тула" 245

него возбуждения, в стороне от путей, быстро несшийся


навстречу город

где "летевший" и "в шуме его собственных волос" отчетливо отсы-


лают к Гермесу с окрыленной головой, а локализация "впереди" и
"на тендере" кроет в себе сьюсл , проводника, водителя* и , слуги,
обслуживающего*: русское "тендер" происходит от английского te n -
der, в корне которого наличествует (to ) tend ‫־‬ *обслуживать1;
двумя абзацами позже этот мотив эксплицируется и вербализуется
в словоформах "перешла" и "проводник": "Ты, значит, перешла, как
уговорились, с проводником" (ср. аналогичное осмысление "курьер-
ского поезда" и "обер-кондуктора" в первой главке "Охранной гра-
моты", рассказывающей о встрече с архепоэтом Рильке едущем к
Толстому - Пастернак 1982:191-192).

4. СОЛНЦЕ - В ПИВЕ

Эта связь *поэта' с , солнцем' тут же и эксплицируется якобы поро-


жденной поэтическим "воображеньем" фразой "Солнце - в пиве.
Опустилось на самое донышко бутылки". На деле же "Солнце - в
пиве" является семантической тавтологией. По нескольким призна-
кам.
В европейских мифологических представлениях, в том числе и
в народных представлениях восточных славян, пиво - небесный 60 ‫־‬
жественный напиток. Одновременно оно и напиток 'поэтический'
как в узком смысле 'напитка поэтов', так и в широком смысле 'на-
питка дарующего тайные знания' ведунам, кудесникам, колдунам и
т .п .
Кроме этого значения Пастернаковское "пиво" подразумевает
также и его прочтение как немецкого das H elle - 'кружка светлого
пива1, die Helle - 'свет, рассвет' и ассоциацию с созвучным die
Hölle ‫־‬ 'ад, преисподняя' и с эллинским ААлос‫״‬омд.
"Бутылка", в свою очередь, восходит к ср.-лат. b u tic u la от
b u tis , b u ttis - , боченок', 'б о чка '.
Этими связями как раз и мотивируются инфернальные и колдов-
ские (так сказать, , артистические1) и, отчасти, , искупительные‫״‬
мотивы "Писем из Тулы" в роде следующих: "чокают кострюли у по-
варят, брызжет сельтерская и звонко, как языком, щелкают целко-

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246 J e r z y Fary no

вые о мрамор” ; "ни живой души у водокачки. В гнилом продаве мііа-


ника чернела вода"; "Бездыханные котлы [...], похожие на скопле-
ния низких туч"; "чад", "угар"; "О, гори, бешеный нефтяной язык,
озаривший полночи"; "В первый, в первый раз с далеких детских
лет я сгораю [...] Новая пытка"; наименование кинематографа "Ча-
ры"; "Небо казалось холодным, удивленно далеким. Голоса были
промаслены еденым и питым. Рыжик, ржаная коврижка, сало и водка
пропитали даже эхо, соловевшее за рекой"; "на путях стали соби‫־‬
рать смешанный елецкий"; "консервировал в слезах, как в спирту",
где "консервировал" активизирует свою связь с conservo - 'со‫־‬
хранять, сберегать, беречь1, , спасать, щадить*, *даровать жизнь*
и conservator - *хранитель, спаситель*, а "спирт" - со s p ir it u s
- *дуновение, веяние, дыхание1, 'душа, дух, жизнь110.
Минуй Пастернак промежуточное трансформирующее звено (что,
впрочем, у Пастернака не редкость), переход от , солнца в пиве1
к инфернальной мотивике и к мотивам , перерождения-преображения*
мог бы быть воспринят как игра воображения героя рассказа, т .е .
как свойственная реалистической манере его психологическая ха-
рактеристика, а не как имманентная закономерность самого мира
"Писем из Тулы". Роль же нужного переходного звена возлагается
тут на мотив "агронома".

5. АГРОНОМ

Мотив "агронома" начинается там, в той точке, где исчезает солн-


це:
Солнце - в пиве. Опустилось на самое донышко бутылки. Через
стол - агроном или что-то в этом роде. У него бурое лицо.
Кофе он помешивает зеленою рукой. Ах, родная, все чужие
кругом.

В буквальном прочтении "агроном" - , заведующий землей* или


, властитель земли': греч. áYPÓç - , земля*, , поле* и - 'вла-
дею' (отсюда затем мотивы ,дерна', ‫״‬боронования тропы1, "тер-
ритории"‫ ' ־‬земли' , "полевого покоя", "болотца", 'платформ' "с ве-
ялками за брезентом" и финального , холма*). Не "кто -то ", а без-
личное "что-то в этом роде" соотносит данного "агронома" с 'вла-
стителем преисподней' и, если в "что-то" видеть табуирование
имени, со 'смертью'. Слова же "Ах, родная, все чужие кругом".

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Археопоэтика пПисем из Тулап т

затем 1‫״‬НичтожестваI " и "не было ни живой души у водокачки" и


"не было ни души на дороге" подсказывают, что греч. vévuo чи-
тается тут Пастернаком также и как латинское пето - , никто, ни
один, никакой'. Ср. родственное именование "смерти" - "земле-
мершею" в стихотворении "Август" (Пастернак 1985а:405-406) со-
пряженное с аналогичным, но более однозначно выраженным, моти-
вом Преображения:

[... ] сегодня
Шестое августа по старому.
Преображение Господне.

В лесу казенной землемершею


Стояла смерть среди погоста.
Смотря в лицо мое умершее.
Чтоб вырыть яму мне по росту.

По Далю (1978:144) "бурый" - "цвет кофейный, коричневый,


ореховый, смурый; искрасна черноватый; [...] бурец, буряк, буря-
чок тул. серяк, смуряк, бурый или серый мужичок, сермяжник"*
Этимологи возводят "бурый" к турецкому bur - , рыжей масти, гне-
дой' или к лат. burrus - , багряный* (см.: Фасмер 1986:249).
"Кофе", которое 1‫״‬помешивает" "агроном", являет собой как
продолжение мотива 'бурого = кофейного' цвета, так и мотива
'п и в а ', так как арабское kahwa, от которого происходит слово
"кофе", означает 'ви н о'.
В пределах эксплицитно выраженных мотивов текста "бурое
лицо" соотносит данного "агронома" с психопомпом "кочегаром” ,
с мотивом 'горючих' веществ - "угля" и "нефти", а потом - во
второй части - с мотивом "подсолнушков", "рыжика", "особой ря-
бости" бабских оборок и "бурьяна". В пределах же мотивов под-
лежащих экспликации - с божеством земли и плодородия.
"Зеленая рука" и "бурое лицо" расшифровываются как потен-
циальный, еще не дифференцированный мотив вегетативности:
"нельзя стало сказать, где трава, где уголь", упоминание "дер-
на", 'боронования', "болотца", позже ‫־‬ "лужайки". На уровне
темпоральных мотивов это состояние соотнесено с предвесенним
периодом, предваряющим ,оживание1 или , повторное рождение* при-
родного мира: "Не апрель, - играли бы зарницы. Но небо волнова-
лось. Пораженное прозрачностью, как недугом, изнутри подтачи-

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44 o J e r z y Faryno

ваемое весной, оно волновалось" и открывающий "Письма из Тулы"


мотив "жаворонков"-1вещевременников' ("На воле заливались жаво-
ронки"), оглашающих, по народным представлениям, не только при-
ход весны, но и , благую весть1 о , воскресении* (в русской народ-
ной обрядности жаворонок связывается с такими христианскими
праздниками как день сорока мучеников, т .е . 9 марта, с Благо-
вещеньем, т .е . 25 марта, и с Пасхой; в этом контексте прозрач-
ным становится датирование первого письма "10‫ ־‬го" числа и упо-
минание числа "сорок" как расстояния от 'вокзала' до "города").
Если "бурое лицо" и "зеленую руку" "агронома" включить в
античный контекст, то данный агроном свободно читается как со-
ответствие древних божеств земли и плодородия. Так, например.
Деметра именовалась у греков ,Хлоей', т .е . 'зеленой*, , зеленью',
'посевом*, с одной стороны, а с другой ‫־‬ 'Мелайной', т .е . 'чер-
ной'. Скульптурные же изображения Деметры, Артемиды и ее рим-
ского варианта - Дианы создавались с черным лицом, а иногда
(как в случае Артемиды Эфесской) и с черными руками. Более то-
го: Артемида отчетливо связана с источниками и с болотами (та-
кова, в частности, Артемида Лимнатнс - 'Болотная'), а само имя
Артемиды этимологи читают как 'медвежья богиня', 'владычица',
'убийца'; генеалогически же Артемида ‫־‬ сестра-близнец Аполлона.
Нельзя не заметить, что все эти мотивы более или менее
отчетливо наличествуют и в "Письмах из Тулы": "водокачка",
"гнилой продав", "болотце", "веялки", "рассоренные подсолнушки",
"солнце" и упоминание "месяца" (у Римлян Артемида-Диана являет
собой олицетворение луны). Самое же существенное то, что мотив
'черноликости' и , черноликого Бога' ‫־‬ не редкость у самого Па‫־‬
стернака. Ср., например, стихотворения "Ландыши" ("Укрывшись
ночью навесной,/Здесь белизна сурьмится углем./Непревзойденной
новизной/Весна здесь сказочна, как Углич", где "Углич" ‫־‬ и от-
сьілка к истории царевича Дмитрия, и патроним от подразумеваемо-
го имени 'бог Уголь'; такое же "Насурмленное лицо" есть и в
"Охранной грамоте", в ее последней венецианской главке ‫־‬ Па-
стернак 1982:253) и "Станция" из "Уральских стихов" ("Уголь,
уголь был их крестным./Целиком пошли в отца/Реки и клыки уще-
лий,/Черной бурею лица,/Клиньями столетних елей", где в пре-

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Археопоэтиха "Писем из Тулы" 249

дыдущих строфах явственны евангельские мотивы, мотивы Пасхи и


,духовной* "смуты"; Пастернак 1965, соответственно 209 и 219‫־‬
221 ) .
В виду скупости цветообозначений в "Письмах из Тулы" опре-
деление руки агронома "зеленою", несомненно, значимо и в данном
отношении. В силу переходного промежуточного положения зеленого
цвета в общеевропейской цветосимволике между неорганическим
(минеральным) и органическим миром (ср. повторяющуюся фразу
"нельзя сказать, где трава, где уголь", затем мотив "пробужда-
ющегося чугуна", а во второй части мотив *грибной* ‫־‬ "рыжика"),
между черным, связанным с представлением о 'смерти9, но и об
исходной креативной потенции ( с р .: "В гнилом продаве мианика
чернела вода", неразличимость "травы" и "угл я", "болотце" с его
символикой как *грязи, шлама, ила' порождающих все виды мате-
риальных, вещественных форм), и красным, знаменующим 'жизнь'
(ср. сначала в финале первой части "Серел восток" и мотив "ро-
сы", играющей роль 'целющей живой воды': "Пели петухи, оживала
касса", а затем, в финале второй части появление "пунцового"
солнца "на множестве сонных тел" с отчетливым смыслом солнца
'воскресающего' и 'воскрешающего'), и между материальным и ду-
ховным этот "агроном" соотносится с посредником, медиатором,
что подтверждается как его связью с "кочегаром" (по признаку
1черноты'), так и с "почтовым ящиком" (по признаку 'зелености':
"Последним сошел человек с письмами, [...] Этот остался за фа-
садом, ища зеленого ящика. Но нельзя сказать, где трава, где
уголь").
Однако и мифическая и Пастернаковская медиации в самом
критическом переходном моменте из сферы в сферу или из состоя-
ния в состояние предполагают временную смерть 'переходящего'.
С той разницей, что если мифические переходы цикличны, предпо-
лагают обновление-восстановление исчерпанного старого цикла,
то Пастернаковские переходы эту цикличность размыкают и пред-
полагают выход в высшее духовное состояние, т .е . духовное пере-
рождение. Так, в "Письмах из Тулы" все разрушается и принци-
пиально перестраивается (даже поезд составляется тут заново:
"Бездыханные котлы и вагоны лежали на плоской земле" - "Про-

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250 J e r z y Paryno

буждался чугун" — "стали составлять смешанный елецкий"). Наи-


более наглядно этот Пастернаковский архисюжет реализован в еле-
дующем пассаже:

Сквозь низкую грудную речь его заплевывали новым. В высоте


рыхло, колобком, таял месяц. Небо казалось холодным, удив-
ленно далеким. Голоса были промаслены еденым и питым. Ры-
жик, ржаная коврижка, сало и водка пропитали даже эхо, со-
ловевшее за рекой. На иных улицах было людно. Грубые оборки
придавали бабам и юбкам особую рябость.

'Тающий' "месяц"-' колобок' и "рыжик" - эквиваленты по при-


знаку небесной креативной субстанции 'сомы', играющей роль как
1миропорождающей1, так и посредника между землей и небом. , Сома1
как напиток и пища, обладая галлюциногенными свойствами, воз-
буждает, одаряет мастерством, сверхзнаниями, дарует любовь. Эти
мотивы и эксплицируются затем в очередных пассажах второй части
"Писем из Тулы". Но пока, однако, остановимся на другом аспекте
процитированного фрагмента.
Грибы греки называли , пищей богов‫ ״‬, в других мифопредстав-
лениях они - , пища мертвых‫ ״‬, , хлеб дьявола' или 'Божья плоть'
(см. Топоров 1979:241). Кроме того "грибы выступают как универ-
сальный классификатор. Эта универсальность обусловливает, в
частности, связь грибов со всеми тремя элементами известного
комплекса с м е р т ь ‫־‬ п л о д о р о д и е - ж и з н ь "
(Топоров 1979:237). В этом контексте Пастернаковская последова-
тельность обнаруживает самую глубокую сущность "Писем из Тулы":
"День был праздничный" — "Голоса были промаслены еденым и пи-
тым", сущность 'причастия' к 'божеству' (поскольку "еденое и
питое" ‫־‬ мировая 'с о м а '), а этим самым и к мировой сущности во-
обще. Но, как уже говорилось, Пастернак не пишет некий миф, а
наоборот - дешифрует его. Поэтому последовательность "Рыжик‫־•־ ״‬
"ржаная коврижка" ■
* "сало" — "водка" отражает формирование из
, сомы'-"рыжика" символического , хлеба-плоти* ("ржаная коврижка")
и ,плоти одушевленной* ("сало и водка"). Позже эта *одушевленная
плоть' будет трансформирована в 'спир т-д ух', т .е . в чистое ду-
ховное начало ("в слезах, как в спирту"). Появление "водки" мо-
тивировано тут прежде упоминаемым "пивом", ‫״‬кофе" - 'вином' и
"молоком", а появление "рыжика" - как смесью ‫״‬,солнца" с "пивом".

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Арссеопоэтика "Писем из Туда251 ‫ה‬

так и , буростью1 "агронома" ("бурый", как уже говорилось, может


означать и , рыжую масть'). Трансформация же "водки" в ,слезы-
спирт* подготовлена мотивом , волнения‫״‬ ("Но небо волновалось";
"Волновался размягченный силуэт этажерки в четыре струи"; "заго-
ворили взволнованно-тихо", - где , волноваться* одна из , сем* лат.
s p ir it u s и s p iro , означающего 1дуть, веять', ,шуметь, бурлить,
волноваться', 'дышать, жить', 'выдыхать, благоухать1, , быть
вдохновенным' и , звучать'; "силуэт этажерки" подразумевает связь
с ' книгами'-'мудростью'; "четыре" - связь с 'грибами', с ,миром
земным' и, возможно, с евангельским четверокнижием; а "небо вол-
новалось" - связь 'спирта' с небесным напитком-'сомой') и про-
межуточным упоминанием "трагической человеческой речи" и "пяти-
стопной строчки", где 'человеческий' и , пятистопный* - синонимы
по признаку их синтаксической позиции, с одной стороны, а с дру-
гой - по устойчивой и у Пастернака символике числа , 51 как обо-
значения 'полноты жизни' и 'человека' как единства небесного и
земного начал (см. статью "Numbers" в C ir l o t 1981:233,235). Пол-
ная одухотворенность обретается, однако, в случае преодоления
материального начала, в частности, через , смерть* (заметим: под-
линная человеческая речь - "чужой голос" - появляются тут после
временной смерти старика и после ' размягчения' - ' исчезновения'
"этажерки в четыре черных струи", т .е . мира материального). Ана-
логичную 'смерть' претерпевает в рассказе и его главный герой -
М
ЯИ.

6. СУДИЛИЩЕ

Восклицание "Ах, родная, все чужие кругом" вводит мотив чуждости


и отсутствия "свидетелей". Чуждость - один из признаков мира пре-
исподней. Отсутствие же свидетелей знаменует собой неузнаваемость
и непризнаваемость "Я" другими, что в своей глубинной семантике
является мифическим мотивом принадлежности 'неуэнающего' и , неу-
знаваемого' к противоположным сферам ,мертвых1 и ,живых' (точнее:
'несуществования' одного для другого; см. Цивьян 1979:202). Таков
тут, собственно, и характер повсеместной ' катахрестической' (о ка-
тахрезе в системе авангарда см. Смирнов 1984, 1986 и Дёринг-Смир-
нова/Смирнов 1982:72-130) разобщенности, например, - "Через

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252 J e r z y Fa ry no

стол", ” в другом конце стола” , "на том берегу", "с того берега"
"Но это было очень далеко. Очень, очень далеко", "Это было
очень, очень далеко, за горизонтом", "Далеко, далеко, с того
ее края", " , Оттуда?‫־ ״‬ ,Туда', - отвечали иные. Им возражали:
, Поздно. Все кончилось‫ " ״‬и т .п . с вопросом старика - Саввы
Игнатьевича - о самом себе включительно: "М-м, ‫־‬ а виноват, Лю-
бовь Петровна, ‫ ־‬а Саввы Игнатьевича что ж - нету?".
Выражение ‫״‬неузнаваемости-непризнаваемости‫ ״‬в категориях
‫״‬свидетельства' открывает и еще одну семантическую линию: семан
тику суда. Эта семантика уже подспудно присутствовала в мотиве
, помешивания кофе1 как мотиве ' гадания о судьбе‫ ״‬, теперь же она
эксплицируется более отчетливо.
Согласно судебной процедуре, для установления полной улики
необходимы по крайней мере два свидетеля. Два таких свидетеля
и упоминаются во втором письме: генерал, опознавший "Я" и покло
нившийся ему "как доброму знакомому" (где ‫״‬поклон1 являет со-
бой предзнаменование 'страстей‫" ״‬Я", так как исходит от 'стар-
шего‫ ״‬к 'младшему'; ср. родственную ситуацию в "Охранной гра-
моте", в 14-ой главке второй части - Пастернак 1982:246-247), и
"другой еще, мировой, которого не признают".
"Генерал" - воинский чин (употребительный в России с XVII
века, т .е . со времен событий снимаемого в Туле фильма "Смутное
время"), а буквально это слово значит ,общий, всеобщий, главный
и восходит к лат. genero - 'рождать, производить, создавать*.
"Мировой" при таком прочтении - едва ли не семантическая экспли
кация слова "генерал". В таком прочтении яснее становится ход
мыслей "Я": " НичтожестваI Ведь они думают, свое солнце похлебы-
вают с молоком из блюдец. Думают, не в твоем, не в нашем вязнут
их мухи". Если учесть, что "мухи" ‫־‬ "воплощение злого духа,
одержимости, особого состояния" (Топоров 1979:266) и связаны с
грибами-‫״‬сомой' (см. G.R. Wasson 1956; G.R. Wasson/V.P. Wasson
1956; G.R. Wasson 1968), и если помнить, что "Солнце - в пиве"
‫־‬ та же 'сома‫ ״‬, что и "молоко" (которое в народных представле-
ниях эквивалентно *небесному бессмертному напитку* вообще и
'пиву* в частности), то фраза "они думают, что свое солнце по-
хлебывают с молоком" определяет окружающую публику как узурпи-

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Аросеогюэтика "Писем из Тулы" 253

рукхцую себе права ,мирового1 - т .е . высшей творческой инстан-


ции11, а в пределе ‫־‬ , бессмертия*.
Суд как таковой, однако, не отменяется. Находясь в противо-
положном "конце стола" (где "стол" - локус 'смерти-воскресения*
и 'духовного перерождения') и наблюдая происходящее по другую
сторону, "Я" постепенно опознает в них себя самого:

Чад, который они подымают, ‫ ־‬мой, общий наш чад. Это угар
невежественности и самого неблагополучного нахальства.
Это я сам

и дальше :

[ . . . ] "поэт" наблюдает себя на безобразничающих актерах,


на позорище, обличающем товарищей и время. Может, он кокет-
ничает? Нет. Ему подтверждают, что его отожествление не
химера.

Требуемое механизмом дешифровки самоотчуждение и превращение


себя в 'те кс т ' оборачивается в данном случае мифологемой 'с у -
дебного жиэнеразбирательства', 'просмотра свитка прожитой жиз-
н и '. Ср. реализацию этой мифологемы в "Воспоминании" Пушкина:

Когда для смертного умолкнет шумный день


И на немые стогны града
Полупрозрачная наляжет ночи тень
И сон, дневных трудов награда,
В то время для меня влачатся в тишине
Часы томительного бденья:
[...]
Воспоминание безмолвно предо мной
Свой длинный развивает свиток;
И с отвращением читая жизнь мою,
Я трепещу и проклинаю,
И горько жалуюсь, и горько слезы лью.
Но строк печальных не смываю.

В общеисторическом плане роль такого ' свитка-памяти* играет


снимаемый кинематографической труппой фильм "Смутное время".
Примечательно при этом, что этот фильм как таковой пока еще не
просматривается ‫־‬ его "поставили точка в точку и сняли с дру-
гого берега. Теперь семнадцатый век рассован у них по чемоданам,
все же остальное виснет над грязным столом", а видевший поста-
новку старик "не услышал с того берега ни одной пятистопной
строчки", т .е . "трагической человеческой речи". Более того:

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254 J e r z y Fcæyno

старик стал рыться в своем собственном репертуаре. Он в нем


не нашел такой хроники. Тогда он решил, что это из довре-
менного еще ему, Озеров или Сумароков.

” Репертуар" ‫ ־‬лат. repertorium = , список, перечень', в тек-


сте "хроника", от repeto = , идти назад, возвращаться, вновь на-
чинать, возобновлять, повторять, вспоминать, считать началом1 -
родственен "чемоданам" как мифологеме , сундук, ящик, ларь* =
, содержащий в себе тайну бытия1, , тайну человеческой жизни1 (а
по психоаналитеческой традиции - , подсознательное1, которому в
"Письмах из Тулы" соответствуют ,смута* душевная и ,совесть*;
cp, Panofsky 1956), как мифологеме 1груди, души, памяти' (ср.
тут же после лексемы "репертуар" упоминание "души", а затем
"грудной речи") и как хранилищу "семнадцатого века", где ,семь'
подразумевает как , конфликтное начало', так и 'совершенство' и
, завершенность некоторого цикла' (см. статью "Numbers” в C ir lo t
1981: 233,235), а возможное ' 1 + 7 = 8 ' ‫־‬ 'бесконечность', 'воз-
рождение' или 'равновесие' между противонаправленными тенден-
циями духовного (небесного) и материального (земного) начал.
' Рассованность' и ,упрятанность' фильма "по чемоданам"
означает 'смерть-забвение' и , не искусство' (ср .; "Терзай, тер-
зай меня, ночь, не все еще, пали дотла, гори, гори ясно, светло,
прорвавшее засыпь, забытое, гневное, огненное слово , совесть'1
'
и ” когда он увидит с экрана 'Смутное время1 [ . . . ] , экспозиция
сцены на Упе застанет его совсем одиноким, если не исправятся к
тому времени актеры и [ . . . ] останутся целы в своем невежестве и
фанфаронстве сновидцы всех толков” ) . Отсутствие же "такой хро-
ники" в "репертуаре" старика означает нечто иное. Это - отсут-
ствие 'трагедии1, при том как исторической (обращение к траге-
диям Озерова, а затем вспять - к трагедиям Сумарокова), так и
человеческой и ‫״‬довременной' - *космической•. Последнее содержит-
ся в самом жанре и слове , трагедия‫״‬, буквально означающем *песнь
жервенного козла'. Вот эта возможность ,жервенности1, воплощения
в ,другого' и , за другого* потеряна "кинематографической труп-
пой из Москвы", но обретена стариком. Недаром его поведение в
"номере" буквально воспроизводит семантику слова "репертуар" и
repeto ("Он вспоминал. Вдруг он выпрямился и бодро прошелся на-

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Археопоэтика ,1Писем из Тула" “ Э

зад, не своим, чужим шагом. По-видимому, он играл") и этим са‫־‬


мым эксплицирует сущность , трагедии' (ср. 'трагедийную* на-
певную растянутость и расстроенность обретенной речи: "услыхал
за той перегородкой милое, веселое: 'До-о-ма'. Тогда опять, и
на этот раз все сходней [...] он протянул, [...] расстраивая
части речи: ,М-м, - а виноват, Любовь Петровна, ‫־‬ а Саввы Иг-
натьевича что ж - н е ту? '", где , трагедийно1 значимо также и не-
винное словечко "виноват", особенно, если помнить, что старик
едва ли не буквально представлен сначала как ,жертвенный ко-
зел*: "Он пошел опечаленный прочь с лужайки"; "Он пошел прочь
удрученный"; "Он шел в старых нанковых штанах [ . . . ] День был
праздничный. Он грелся на рассоренных подсолнушках"; "Сквозь
низкую грудную речь его заплевывали новым"; упоминание "колоб-
ка" и 1масленичного гулянья1; отождествление старика и "бурь-
яна"-'дедовника' : "Палка казалась куском стариковского склеро-
за. Он опирался на это продолженье своих узловатых жил судо-
рожно и подагрически плотно" и, наконец, самое имя "Савва" вое-
ходит к арамейскому sãba - ,старец, дед1).

7. КО ЛЛЕГА , НЕ РАЗМЕНЯЕТЕ ЛИ ТРЕШКУ?

Самый же критический момент данного , суда1 - не только опозна-


ние себя в других, но и опознание другими ("чужими", "актерами")
в этом "Я" ,своего'.
Если прежде "Я" и актеры были разъединены, находились по
разным концам "стола" и этим самым находились в разных мирах ‫־‬
актеры в мире мертвых, а "Я" еще в мире живых, то теперь "Я"
включается в мир мертвых, подвергается 'умерщвлению', которое
выражено тут как формально, так и сущностно. С одной стороны,
опознанием "чужими" в этом "Я" ,своего' (по законам царства
преисподней , увидеть, опознать* = ' умертвить' ; см. Цивьян 1979:
202 и след.), а с другой - признаком , бритые усы' (у "актеров"
- "бритые рты"; "Я” мысленно возражает подошедшему "Бреются не
одни актеры", что значит, что он тоже 'бритый* и в финале о
старике: "Он тоже брил усы, как все в рассказе"). По народны*
представлениям 'бриться', 'стричься' ‫־‬ 'приобщиться к тому ми-
ру', к 'усопшим' (поэтому последовательность в эпизоде о старике

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256 J e r z y Faryno

1‫״‬стал укладываться спать" - "Он тоже брил усы" следует читать


как его 'смерть' и 'выход в вечность‫ )״‬. Но это не все. 'Стриж-
к а '‫' ־‬бритье' и в народных обрядах (см. Успенский 1982:104,109,
141,167-168,78,90,179) и у самого Пастернака является 'пропус-
ком' в загробное царство - таков "брадобрей" в "Балладе" 1916
года (Пастернак 1965:590 и ср. редакцию 1928 года на стр. 98),
привратник локуса "графа":

Как белая пена, бела балюстрада.


И факел привратника, как брадобрей.
Сбривает газоны с сада.
Сбривает людей -
Сбривает людей:
До самых дверей.
Мне надо
Видеть графа !

Чрезвычайно при этом показательно, что опознавая в "Я"


'бреющегося1, "Подымаются, подходят к нему". Правда, не •вста-
ют' , а всего лишь "подымаются", тем не менее это знак и будущего
, перерождения-воскресения1 того, в отношении кого 1встают‫׳‬ или
"подымаются" (ср. противоположность этому акту ,поклон1 "гене-
рала"). Это , воскресение' будет затем более явственно эксплици-
ровано в финале первой части "Писем из Тулы": "[...] По телу
его пробежала дрожь. Серел восток, и на лицо [...] выпадала
быстрая, растерянная роса. Пора было подумать о билете. Пели
петухи, и оживала касса", где "дрожь" может читаться как дейст-
вие 'целющей живой воды1-"росы", "петухи" - как вестники мены
мира и возрождения (ср. раньше "клочья пара, петушками выбивав-
шиеся из клапанов" и вообще мотив 1петухов' -вестников ‫ ׳‬перерож-
дения-воскресения' у Пастернака, хотя бы в стихотворении "Пету-
хи" ‫־‬ Пастернак 1965:208, или упоминание "петухов" в эпизоде
упавшей и поднявшейся старухи в 16-ой главке третьей части
"Охранной грамоты" - Пастернак 1982:281), "билет" * как 'про-
п у с к ', , подорожная' или 'охранная грамота' (соответственно не-
мецкому das B i l l e t t - 'билет, письмецо, записка1) , сопровождающие
усопшего в царство небесное (ср. Успенский 1982:122-125), а
"касса" - как capsa, т .е . *ларь, ящик, сундук' хранящий в себе
тайну жизни и смерти, с эксплицированным признаком "оживала”

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Археопоэтиха ‫״‬Писем из Тула" 257

(и, возможно, тот самый "зеленый ящик", по которому отправляют-


ся "письма").
Сущностное же 1умерщвление-воскрешение‫ ״‬выражено разменом
денег:

Подымаются, подходят к нему. ” К о л л е г а , не разменяете ли


трешку?" Он рассеивает заблуждение. Бреются не одни актеры.
Вот двугривенных на три рубля. Он отделывается от актера.
Но дело не в бритых усах. ” К о л л е г а " , - сказал этот подонок.
Да. Прав. Это свидетельское показание обвинения. В это
время происходит новое, сущий пустяк, по-своему сотрясающий
все случившееся и испытанное в зале до этого момента.

Обмен монет активизирует тут мифологему вручения монеты‫•־‬


двойника усопшего за перевоз в царство теней. О том, что именно
этот мотив имеется в виду, говорят два факта. Первое упоминание
монеты сопровождалось звуком ("щелкают целковые о мрамор"), за-
тем звук - как и полагается в царстве теней и полной тишины ‫־‬
исчезает ("при виде бояр и воевод, колыхавшихся на том берегу
[...] и их секир, нечувствительных к солнцу и не издававших
звона, старик стал рыться в своем собственном репертуаре").
Кроме того обмен и размен означают и мену сущностей меня-
ющихся, их отождествление и родство. Однако данный размен более
сложный: взамен за свои ‫״‬двугривенники' "Я" получает "три
рубля", т .е . целую "трешку". Согласно общей числовой символике
(см. статью "Numbers" в C ir lo t 1981:232,235) ‫״‬два‫ ״‬соотносится
с конфликтным, материальным (означая также Magna m ater), дуаль-
ным и временным миром, тогда как ‫״‬три' знаменует собой духовный
синтез, преодоление дуализма, единство и гармонию и соотносится
с небесным началом; по отношению к человеческой жизни •три‫״‬
образует собой 'полукружие', означающее рождение - достижение
зенита - нисхождение (но этот смысл в "Письмах" соотнесен с
числом "тридцать", означающем у Пастернака лишь одну из фаз
формирования духовной сущности - ср. "Так тридцать уже лет жи-
вут и мочут стьщ все необыкновенные, стар и мал, и уже пере-
кинулось на мир, на безвестных. В первый, в первый раз с дале-
ких детских лет я сгораю [ . . . ] " , после чего и следует обмен
"двугривенных", т .е . трех рублей мелкими, на "трешку" как це-
лое) . В итоге взамен за свое материальное начало "Я" обретает

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258 J e r z y Faryno

целостное начало духовное, переходя одновременно в иную сферу.


Вот это и есть поворотный "момент1‫״‬, "сотрясающий все случив-
шееся и испытанное в зале".

8. БАГАЖНАЯ СТОЙКА И АСТАПОВО

Он состоит в том, что " , Поэт* узнает наконец прогуливавшегося


по багажной" и что " [ . . . ] мгновенное соображение наваливается
на все, что было в зале с •поэтом', и как на рычаге поворачивает
сцену, и вот ка к".
Прогуливавшийся по багажной (раньше: "вдоль багажной стой-
ки ", а в самом начале "к стойке" проследовал "генерал" = 'все-
общий, главный, мировой') - вездесущее лицо: "Я" -

видел его раз, не однажды, в течение одного дня, в разные


часы, в разных местах.

При этом существенно, что

Это было, когда составляли особый поезд в Астапове, с то-


варным вагоном под гроб.

Семантический повтор *багажная ē товарный вагон под гроб'


позволяет идентифицировать "прогуливавшегося" как психопомпа,
а сквозной мотив "багажа" - как оставляемое перед переправой
все суетное (ср. по поводу снятого фильма о 'см уте': "Теперь
семнадцатый век рассован у них по чемоданам"). Не случайно так-
же станционная платформа названа "дебаркадером", мимо которого
"скользили вагоны. Они скользили давно уже, и им не было числа.
За ними росло приближенье чего-то тяжело дышащего, безвестного,
ночного" (ср. в начале рассказа упоминание о "задыхавшемся
солнце") - débarcadère значит •разгрузочная пристань', 'плаву-
чая пристань', 'судно, понтон1 от débarquer - 'выгружать, вы-
саживать на берег'. "Багаж", в свою очередь, франц. bagage вое-
ходит к bagues - •узел с пожитками1 и к др.-исл. Ьадді - 'связ-
ка, узел* (см. Фасмер 1986:101).
"Путанный узел", которым в этом же пассаже названа станция
Астапово, несомненно, семантический эквивалент (экспликация)
'багажа' как 'у з л а '. Мифологема 'узла' соотносится с идеей ла-
биринта, с представлением мистического мирового центра, с тай­

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Арссеопоэтика "Писем из Тулы” 259

ной бытия и небытия (так же, собственно, читается и мифологема


1ящика, ларя* и этим самым ‫״‬багажного' мотива "Писем"). Ср.
явственное 'лабиринтное' оформление описания станции Астапово:

толпы незнакомого народа разъезжались со станции в разных


поездах, кружившихся и скрещивавшихся весь день по неожиданностям
п ута н о го у зл а , где сходились, разбегались и секлись, возвратясь,
четыре железных дороги [курсив мой - J . F . ] .

Нельзя исключить, что упоминая "Астапово", Пастернак имеет в ви


ду и его созвучие с лат.-греч. astu - 'город' (обычно ‫ ־‬Афины),
astutus (astus) ‫־‬ 'хитрый, ловкий, лукавый', что отражалось бы
в 'путаности' "узла" и в 'таинственности' лабиринта (видимо, не
случайно в очередном абзаце вводится словоформа "территория" с
ее "рудоносностью", что эксплицируется из te r r a - 'земля' и
terrenus - 'земляной', 'земной, смертный', 'подземный'), и astu
рео - 'удивляться, смотреть с удивлением', что, в свою очередь,
едва ли не буквально выведено в слове "видел" и затем в словах
"Диво ли, что тут начинают плясать магнитные стрелки? Происшест
вие - в природе местности".
"Багажная стойка" и "Астапово" объединяются и еще одним се
мантическим признаком, признаком 'устойчивость': "Астапово" вое
ходит к имени Евстафий, которое происходит от греч. ебатад^с *
1устойчивый' .
В разбираемом пассаже 'устойчивость' выражена мотивом "ры-
чага", на котором "поворачивает сцену". Так "рычаг"‫" ־‬Астапово"
оказывается 'мировым центром' или 'мировой осью'. И вот эта
'ось мира' теперь и опознается (открывается) "Я":

Ведь это Тулаі Ведь эта ночь - ночь в Туле. Ночь в местах
толстовской биографии.

По Далю (1980,IV :119) "рычаг" - "жердь, шест, для подъема


тяжести, на упорной точке; подъем. [...] Народ с рычагами сошелся,
с кольями, дубинами". Эти смыслы естественным образом сочетают-
ся с мотивом "Смутного времени", крестьянского восстания Болот-
никова и упоминанием "минированной территории духа", а с дру-
гой - с мотивом старика как ' архе‫' ־‬ и , архипоэта'. "Палка", на
которую опирается старик, - все тот же "рычаг", но по верти-
кальной 'мировой оси духа':

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260 J e r z y Faryno

Бурьян ни на шаг не отставал от гулявших. Подымалась пыль,


слипая глаза и застилая лопух, клубами бившийся о плетни
и пристававший к платьям. Палка казалась куском стариков-
ского склероза. Он опирался на это продолженье своих узло‫־‬
ватых жил судорожно и подагрически плотно.

” Узловатые жилы", несомненно, вариант мифологемы , узла1;


"палка" как "продолженье [...] узловатых жил" соотносит старика
и с "генералом"‫ ״ ־‬всеобщим, главным1, который подошел "к стойке"
и с "агрономом", с его "зеленою"‫ ״ ־‬вегетативною' ” рукой", а в
итоге ‫־‬ со ' всеведеньем'. Более того. "Палка" как "кусок стари-
ковского склероза" знаменует собой 'твердость' (тут вероятнее
всего ‫־‬ 'твердость духа') ‫־‬ греч. axXnpóc и значит 'сухой,
твердый‫״‬ (что особенно существенно на фоне сквозного мотива
'сырости', 'гнили' и "сырой русской совести” ) , а ' подагричность
указывает как на уже обсуждавшуюся 'жертвенность-трагедийность'
старика, так и на его статус 'архетворца' (высший ранг Пастер-
наковского "поэта" и высшее духовное 'перерожденье-воскресенье'
обычно сопровождают у Пастернака мотивы 'хромоты', повторного
обучения 'ходьбе' и "комнаты” , "стола" и "окна" ‫־‬ см. наличие
этих мотивов во второй части "Писем"): греч. тюббура происходит
от T10ÓC (txoôóc) , нога' и & ура ‫־‬ 'добыча, жертва', а у Даля
(1980,111:159) "подагра" - "костолом в ступне, в суставах паль-
цев".
'Срастаясь' с "палкой" и будучи и по локализации "бурья-
ном"-' дедовником' и по своему имени 'дедом', данный "старик”
сам оказывается 'осью мира' и ' миром-землей' и в этом отношении
он ‫־‬ эквивалент "агронома" (см. главу 5 ).

9. ВЕДЬ ЭТО ТУЛА!

Топоним "Тула" дает возможность нескольких разных, но в итоге


не противоречивых, прочтений.
Одно из них - связь со словами "туло, тулово, туловище",
означающими , тело, торс, туша' (Даль 1980,ІѴ:441, статья "Ту-
лить"). Этот мотив вербализуется в рассказе в его финальном упо
минании ” тел” !

Шел поезд в Москву, и в нем везли огромное пунцовое солнце

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Археоуюэтика пПисем из Тула" 1‫ם‬

на множестве сонных тел.

Если учесть, что в начале были не "тела", а всего лишь "множест-


во полосатых диванов", и что солнце "показалось из-за холма",
то где-то в пределе позволительно видеть смысл ’ воскрешения из
мертвых1, а точнее ‫־‬ ,обретения иного тела'.
Другое - связь с "тулить", означающим , крыть, укрывать,
слонить1, "тулиться" - ,скрываться, хорониться, ютиться', , за-
граждаться' (примеры у Даля, там же: "Затулись от ветра", "От-
тули оконце"), но и , слоняться' = ,шататься, скитаться' (ср. мо-
тив "прогуливавшегося по багажной", мотив 'вокзала' и 'гостини-
цы', 'прохаживающегося " Я" ' , 'бездомность' "старика" завершаю-
щаяся обретением ,дома' и мотивом 'консервирования'-'спасения' ) .
Третье ‫־‬ связь с "тулка, втулка" в колесной ступице, и этим
самым - связь с 'осью '. Она тут выражена мотивом "рычага"-'миро-
вой о с и '. Но она и значительно глубже. В заключительной, 7-ой,
главке "Трех теней" из автобиографического очерка "Люди и поло-
жения" есть следующее место (Пастернак 1982:466):

Стоит дом в Коджорах на углу дорожного поворота. Дорога


подымается вдоль его фасада, а потом, обогнув дом, идет
мимо его задней стены. Всех идущих и едущих по дороге вид-
но из дома дважды.
[...]
Мы в сборе, делимся новостями, ужинаем, что-нибудь друг
другу читаем. [ . . . ] И, как передок любой повозки на шквор-
не, ночь в высоте медленно поворачивает весь кузов своей
звездной колымаги. А по дороге идут и едут арбы и машины,
и каждого видно из дома дважды.

Тут и в "Письмах из Тулы" ,поворот на оси' означает 'пов-


тор увиденного', при этом 'второе' по отношению к ,первому'
играет роль семантической экспликации, ,сущности' и переводит
'первое' в высший онтологический р а н г.12 В "Людях и положениях"
эта 'повторность* исходит от того, что "дом в Коджорах" ‫־‬ 'дом
поэта' и что он - аналог 'мирового центра', 'небесной повозки',
т .е . Большой Медведицы или Полярной звезды, осмысляемых в индо-
европейских культурах как 'центр мироздания', с одной стороны,
а с другой - особенно в славянских традициях - как 'креативное,
творческое начало', в том числе и 'поэтическое' . 13
В этом контексте "Тула" в "Письмах из Тулы", кроме чисто

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262 J e r z y Faryno

Пастернаковского культа Льва Толстого, мотивируется своими ми-


фопоэтическими Коннотациями.
Тула или Thule (Tula) как мифологема символизирует собой
некую мистическую страну, ирий или 'блаженный остров', страну,
которая считается более древней, чем ,парадиз* ‫־‬ Paradêsha (см.
статью ” Thule" в C ir lo t 1981:341-342). В санскрите Tulâ означа-
ет ,чаши весов1 и соотносится с зодиакальным знаком Весов. Оба
этих прочтения налицо в мотивике ” Писем из .Хулы", они подтвер-
ждаются также уже изложенными наблюдениями. Здесь остается толь-
ко доказать, что еще более полная картина возникает при чтении
"Писем" в свете астрологических толкований Весов (так, более
глубокое толкование может получить мотив ,равновесия', мотив
'совести' с 1самоосуждением', мотив 'магнитного возмущения' в
локусе "Тула” , финальный мотив 'сублимации* в разыгранной ста-
риком сцене, и д р .).
Самое интересное, однако, то, что у восточных народов, в
том числе и у славян, Thule связана с Полярной звездой и с Боль-
шой Медведицей, и этим самым с мировой осью как таковой, с од-
ной стороны, а с другой с креативным (творческим, поэтическим)
началом. На этом уровне чтения "Писем из Тулы" обнаруживается
строгая последовательность ряда их мотивов. Так, открывающий
текст мотив "волос" "кочегара"-1психопомпа1 поддерживается затем
связью "агронома" с 1Артемидой1-'медведицей*, параллелизмом
"агроном"-‫״‬Савва” -'д е д ' - ' бурьян' - 'дедовник 1 и мотивом ' бритых
усов*. При этом показательно, что "бурьян", "лопух" (и родст-
венные им Пастернаковские 1репейники', 'осоты', ,чертополохи',
'волчцы' - ср. хотя бы "Степь" или "Не чувствую к р а с о т ..." в
Пастернак 1965:134-135,387), предполагая 1волохатость' , соот-
носятся в Пастернаковской системе с 'мировой первоматерией1,
с , космогоническим началом', часто именуемым у Пастернака бук-
вально ,шерстью мира' (ср. стихотворение "Матрос в Москве" -
Пастернак 1965:223-224), ‫־‬ началом, являющим собой также и на-
чало всякой ,духовности' и ,поэтичности'. Таков, в частности, в
"Чернее вечера..." из "Путевых записок" Пастернаковский ” овчар”
•é

Он ‫ ־‬повесть ближних сел.


Поди, что хочешь вызнай.
Он кнут ременный сплел

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Арсеопээтика пПисем из Т у т 99 263

Из лиц, имен и жизней.

В предложенном контексте намечается возможность объяснить


в "Письмах из Тулы" и основной его мотив ‫ ־‬мотив "актера" и ‫ ״‬ка
залось бы, необъяснимую семантическими экспликациями связь "ста
рика" с , жертвенностью* (с 'козлом отпущения1) и со 'спасением*
(наличествующим в словоформе "консервировал") . Тем временем все
эти мотивы не введены извне, а по законам дешифровки выведены
из мотива именно 'актерства': лат. actor значит ' действующий,
делающий, приводящий что-либо в движение', 'погонщик', a cto r ре
c o ris ‫־‬ 'п а с т у х '; 'оратор, декламатор, актер', 'исполнитель';
'посредник, поверенный, адвокат'; 'заведующий делами, управля-
ющий, казначей ' . 1*♦

10. ГІЕТР БОЛОТНИКОВ И САВВА ИГНАТЬЕВИЧ

Отмечая связь с горой или белой горой и блаженными островами,


мифологи склонны толковать Thule как 'гору спасения' возвышаю-
щуюся над преходящим временным 'потоком форм' или как непоколе-
бимый остров среди бурного океана, означающего в свою очередь
внешний мир - 1море страданий' или 1море душевной смуты'.
При учете этих коннотаций "Тулы"‫ ־‬ТЬи1е возникает возмож-
ность объяснить и некоторые другие детали "Писем из Тулы".
В первую очередь это обмолвка по поводу Болотникова: дваж-
ды отсылая к "Ключевскому" (имеется в виду "Курс русской исто-
рии" Ключевского, но использование только фамилии историка явст
венно намекает, что дело не в изложении как таковом, а в 'клю-
че' , и что искомым 'ключом' является "Болотников"), Пастернаков
ский "Я" все-таки именует Болотникова не Иваном, а "Петром".
Естественно, не сложно отсюда заключить, что в данном случае
строится сложная отсылка к привратнику царствия небесного - св.
Петру.
Имя "Петр" восходит к греческому néxpa 1 ‫־‬камень, скала'.
Дело, однако, в том, что "Петр" - второе имя апостола Петра.
Первоначально он был Симон, но Христос меняет это имя на имя Ки
фа (Иоанн, 1:42). Симон, древнееврейское šim*on, происходит от
šima' ‫־‬ 'слушать, услышать'. Кифа, Kiefas, происходит от арамей

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264 J e r z y Faryno

ского kef ‫־‬ 'с ка л а '. Эта мена имен у Пастернака отражена меной
семантик (курсив мой - J .F .): "Он предположил, что в с е начнется,
когда он перестанет слышать себя и в душе настанет полная ф и з и -
ческая тиш ина. [...] Пели петухи", где перекличка предыдущего
пассажа с событиями в Гефсиманском саду и заключительное упоми-
нание "петухов" (правда, всего лишь , вторых' - первыми были "пе‫־‬
тушки" пара "выбивавшиеся из клапанов") дешифрует мену имен как
'теофанию' и приятие исходящей отсюда новой миссии.
"Петр" Болотников и есть, в свете этих наблюдений, Thule-
"Тула", т .е . камень-остров среди моря страстей-смуты. Вовсе не
случайно упомянутая в начале стоящая над "мшаником" "березка"
локализована "Очень, очень далеко" ("В гнилом продаве мшаника
чернела вода. В нем дрожало отраженье березки. Ее лихорадило.
Но это было очень далеко. Очень, очень далеко. Кроме нее не было
ни души на дороге" и такой же повтор: "Ночь издала долгий горло-
вой звук - и все стихло. Это было очень, очень далеко, за гори-
зонтом") - эта 'удаленность' соотносит ее с 'запредельностью'
блаженного острова. И не случайно после открывшегося смысла ‫״‬Ту-
лы", после ее опознания как мировой оси, эти же "березка" и
"продав" даны уже иначе: "Далеко, далеко, с того ее края, мер-
цала березка, и, как упавшая серьга, обозначался в болотце про-
дав".
Мена 'дрожащего отраженья березки' на 'мерцанье березки' и
'черной воды' на "болотце" активизирует этимологическую семанти-
ческую связь "березки" и "болотца" с 'белый, светлый, блестящий'
(см. статьи: "Белый", "Береза" и "Болото" в Фасмер 1986:149,154,
190) и этим самым ставит знак эквиваленции между "березкой" и
"болотцем". Эта связь, кстати, тут же и дешифруется самим Па-
стернаком (курсив мой - J .F .):

м е р ц а л а о е р е з к а , и, как у п а в ш а я с е р ь г а , обозначался в 6 0 -
л о т ц е продав. Вырываясь из зала наружу, п а д а л и п о л о с ы с в е -
т а на коночный пол, под скамейки. Э т и п о л о с ы б у я н и л и .

Слова "Эти полосы буянили" подразумевают не только 'буйст-


вовать' (что непосредственно ассоциируется с мотивом восстания
Болотникова15) , но и вводят другие смысли слова 'б у я н ': с одной
стороны 'открытое со всех сторон, возвышенное место, базарная

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Археопоэтика "Писем из Ту/шп 265

площадь, амбар‫״‬, а с другой - ‫״‬речная пристань, место выгрузки


товаров' (см. статью "Буян" в Фасмер 1986:257 и статью ,,Буйный"
в Даль 1978:138). Если второе значение вскрывает связь с 'вокза-
лом'‫"־־‬дебаркадером", то первое ‫־‬ с мифической горой Thule и с
фольклорным русским островом "буяном" как локусом 'камня всем
камням', т .е . камня алатыря - "на море на кияне, на острове на
буяне" (статья "Алаборь" в Даль 1978:9; статья "Алатырь" в Фас-
мер 1986:69). Более того: "алатырь" определяется в фольклоре
как "бел-горюч камень". Этнографами он иногда расшифровывался
как "янтарь", греч. , fi^exTpov' и как "магнит". Не сложно заме-
тить, что когда Пастернак вводит в "Письмах из Тулы" мотивы
"угля" и "нефти" ("О, гори, бешеный нефтяной язык, озаривший
полночи"), то он реализует семантику 'алатыря' как , бела-го-
рюча камня' (тем более, что "нефть" и есть 'горючий камень‫ ״‬: ре-
troleum происходит от Tiéxpa ‫־‬ 'скала, камень' и oleum ‫־‬ ‫״‬масло
(оливковое)'; не отсюда ли, в частности, и неразличимость "где
трава, где уголь", т .е . 'где растительное и где горючее‫) ?״‬, а
когда говорит о "Диво ли, что тут начинают плясать магнитные
стрелки?" и о 'рудоносности' и 'минированности', то реализует
семантику алатыря как 'магнита' и ‫״‬электрона'*
О березе в статье "Растения" (Мифы 1982:369) сказано еле-
дующее :

Берёза в ряде традиций символизирует свет, сияние, чистоту,


ясность, женственность и т .п . В друидической традиции бе-
рёза - дерево начала, символ первого месяца года (24 дека-
бря 21 ‫ ־‬января). В Риме атрибуты из берёзы использовались
при вступлении консула в правление. В Шотландии береза
связывалась с представлениями о покойниках.

У Пастернака "березка" соотнесена со "звездой" и с "живой"


душой" :

Мерцала звезда. Больше не было ни живой души у водокачки.


В [ * . . ] продаве [ . . . ] дрожало отраженье березки. Ее лихо-
радило. [ . . . ] Кроме нее не было ни души на дороге.

Позже, во второй части, аналогичным образом будет атрибутировав


на горящая в номере старика "свеча":

Сияла звезда. Кроме не было ни души кругом. Горела, зябла


и дрожала свеча.

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266 J e r z y Faryno

Соотнесение "продава" "в болотце" с "упавшей серьгой" "бе-


резки" строит сему ,драгоценного камня средь болота' и этим са-
мым эксплицирует имя ,,Петр Болотников" не только по ассоциации
с 'бел-горюч камнем алатырем', но и по космогоническому плану:
по многим мифопредставлениям мир возникает как воздвигнутый 60 ‫־‬
гом среди вод камень, при этом часто данный камень истолковыва-
ется и как жилище самого бога- В некоторых толкованиях и русский
алатырь рассматривается как камень, положенный Спасителем в ос‫־‬
нование Сионской храма. Таков, собственно, и смысл переименова‫־‬
ния Симона в Петра (Матфей, 16:17-19):

Тогда Иисус сказал ему в ответ: блажен ты, Симон [ . . . ] ИЯ


говорю тебе: ты ‫ ־‬Петр, и на сем камне Я создам Церковь
Мою, и врата ада не одолеют ее; И дам тебе ключи Царства
Небесного; а что свяжешь на земле, тб будет связано на не-
бесах; и что разрешишь на земле, тô будет разрешено на не‫־‬
бесах*

Евангельская мена имени "Симон" на имя "Петр" - это мена


'слушать' на 'краеугольный камень веры'. Она и лежит в основе
Пастернаковской мены имени Болотникова "Иван" на имя "Петр". Имя
"Иван" ‫ ־‬древнееврейское Iōhōhānān ‫־‬ толкуется этимологами как
1Яхве (Бог) смилостивился1, 'Яхве (Бог) помиловал1 и 'Яхве (Бог)
‫ ־‬драгоценен1* У Пастернака ,драгоценность* передана мотивом
"серьги", а связь с евангельской меной имен ‫־‬ тем же мотивом
"серьги" и ее связью с 'ухом*. Так "Петр Болотников" оборачива-
ется , Богом' или 'мировой душой' ( "березкой"‫" ־‬живой душой"‫" ־‬зве‫־‬
здой") эпифанирующими в неназванном 'камне' и в эксплицированной
"минированной территории духа" = 'тульской земле' = "в местах
толстовской биографии". Тут можно еще только доказать, что вы-
бор "серьги" вместо иной другой драгоценности вводит также ассо-
циацию с 'буйством' и в пределе с восстанием Болотникова (в по‫־‬
веденческой плоскости одна серьга в ухе у мужчины атрибутирует
его как 'п л у та ', 'буяна', 'разбойника' и т .д .).
Имя возлюбленной Саввы Игнатьевича - Любовь Петровна - сво-
им патронимом "Петровна" соотносит ее с мотивом "Петра Болотни-
кова" и с "березкой". Это станет очевидностью, если имени "Лю-
бовь" вернуть ее первообразец Charis - буквально именно 'любовь'
но греч. XápLC значит также , милость, доброта’ , a x à p ittQ ‫־‬ ха-

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Археопоэтиха wПисем из Тулы" 267

риты знаменуют собой вечно юное начало жизни, они - дочери Гели-
оса и их частные имена связаны со ,светом', 'сиянием', 'домаш-
ним очагом' и т .д .
Сам же Савва Игнатьевич - эквивалент "Петра Болотникова" и
эпифанирующего ' Гелиоса' ‫" ־‬солнца". Имя Ignatus значит, предполо‫־‬
жительно, 'не родившийся' или 'безначальный' и содержит в себе
связь с ig n is - 1огонь, пожар', 'небесное светило', 'молния, ко‫־‬
с те р ', ‫״‬блеск, сияние', 'жара, зной', а в переносном значении -
'огонь, пыл, пламя страсти' и 'предмет страсти'. И не будет рис‫־‬
кованно сказать, что эти смыслы вновь вербализуются в финале
рассказа как сызнова обретенное "огромное пунцовое солнце", ко‫־‬
торое и 'воскрешает' и само 'воскресает'.

ПР ИМЕ Ч А НИЯ

* Часть положений этой статьи в менее систематизированном виде


была уже изложена на Пастернаковском семинаре в Будапештском
университете (28.X I . 1986).
1 Более подробно вопросы обращенного коммуникативного акта, де‫־‬
шифровки, как принципа текстопостроения в художественной практи-
ке авангарда я излагаю в отдельной статье "Дешифровка", предназ‫־‬
наченной для загребского "Понятийника русского авангарда" (см.
Faryno 1987а), предварительный вариант которой обсуждался на
конференции в Опатии (7.XI.1986).
2 В отличие от символизма, который конструирует миф, авангард в
итоге своей дешифрующей установки получает (реконструирует) миф.
Поэтому, если обращаться к распространенному термину "мифопоэти-
ка", то удобнее всего сохранить его за символизмом, а применитель-
но к авангарду пользоваться более адекватным понятием "археопо-
этики" (вскрывающей в дешифруемых текстах культуры 'археологию'
их скислов) .
Некоторые аспекты "Писем из Тулы" в предлагаемой статье наме‫־‬
чены либо только пунктирно, либо вообще пропущены. Это прежде
всего те, которые выводят за рамки "Писем" в общую поэтическую
систему Пастернака и которые я прослеживаю (правда, на ином ма‫־‬
териале) в подготовленной к печати книге "Поэтика Пастернака
('Путевые записки'. 'Охранная грамота')" (см. Faryno 198?).
3 Вопреки привычной дорожной практике пассажиров, когда приезжа-
ющие 'встают со своих мест', а уезжающие 'рассаживаются по своим
местам'. В данном случае Пастернак активизирует две родственных
мифологемы: одна из них ‫' ־‬садиться/вставать'; другая, решенная
при помощи мотива "поезда", ‫' ־‬возврат зашедшего солнца к месту
своего восхода'. В гораздо более поздних вещах Пастернака (на‫־‬

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268 J e r z y Faryno

пример, в стихотворении "На ранних поездах") эта мифологема,


правда, безотносительно к солнцу, обнаруживается в буквальном
, подземном проезде* на метро (иной ее вариант, например, в "Ли-
повой аллее" - "туннель"; см. Пастернак 1965: соответственно
404-405 и 444-445).
Смысл же мифологеь« ' садиться/вставать1 как ' умирать/воскре-
сать' однозначно раскрывается во второй части "Писем", в эпизо-
де со стариком: "он присел к столу" = "Он решил, что это смерть
его" и "Старик встал" = "Он преобразился", "Он стал шевелить ру-
ками и бросаться воздухом, будто пришел с непогоды", где "с не‫״־‬
погоды", которое сам старик называл "Ну и метет, и метет же" ‫־‬
Пастернаковский мир , гибели, смерти* (разбор реляций 'летний мир
‫ ־‬зимний мир' и , вьюжное окружение - дом' у Пастернака см. в Fa-
гупо 1970 и 1978). О символизме 'сидения' и 'вставания' в древ-
ней культовой обрядности см. в Фрейденберг 1978:139-140.
** Числовые обозначения едва ли не один из самых распространен-
ных мотивов в Пастернаковских текстах. "Письма из Тулы" - лишь
частный тому пример. Основной корпус Пастернаковской числовой
символики я оговариваю в моей книге (см. примечание 2 ). Здесь
же уместно обратить внимание только на некоторые детали.
Письма "Я" датированы только частично, без указания года,
что, собственно значит, что они не столько датированы, сколько
атрибутированы указанной числовой символикой. Так, первое пись-
мо, помеченное "1 0 -го ", означает начало нового цикла, как пов-
торение всего сызнова, что и вербализовано словами: "Теперь раз-
лука вдесятеро тяжелей. Воображенью есть с чего начать" и потом
"я проделаю весь этот путь целиком в обратном порядке". Предпо-
лагаемый же числом '10* смысл ,одухотворенности* дублируется как
словом "Тула" (о чем речь пойдет позже), так и мотивом "вообра-
женья" и намеренья поехать "осматривать город".
"Пять" соотносится с , человеком' и с ,одушевленной природой'.
"Прошло пять часов" как раз и эксплицируется как отсутствие , че-
ловека' ("прошло") и смешение , неорганического1 и ' органическо-
г о ': "нельзя стало сказать, где трава, где уголь. Мерцала звез-
да. Больше не было ни живой души у водокачки".
Второе письмо помечено переходом от '1 0 ' к '1 1 ' и ' 1 ' : "Тула,
десятое (зачеркнуто), одиннадцатое, час ночи", '1 1 ' же символизи-
рует 'промежуточный, переходной момент', 'опасность', , конфликт1
и 'м£ку, мученичество1, а '1 ' соотносится с, так сказать, беспри-
знаковым, 'нулевым' состоянием, предваряющим последующий 'дуа-
лиэм‫ ״‬, 'противоречивость, дезинтеграцию'. В тексте письма дан-
ные смыслы выражены, думается, вполне отчетливо: "Не знаю, как
начать. Ничего еще не понимаю- Так странно; так страшно", "Как
страшно видеть свое на посторонних" и затем выход в ' 2 ' : "2 ча-
са. [ . . . ] Терзай, терзай меня, ночь, не все еще, пали дотла
[ . . . ] О, гори, бешеный нефтяной язык, озаривший полночи. [ . . . ]
В первый раз, в первый раз с далеких детских лет я сгораю".
'Третий час' не назван, но в это время "Я" меняет свои "дву-
гривенные" на целую "трешку". "Ближайший поезд в Москву в три
часа ночи". Если учесть, что 'тр и ' означает решение противоре-
чия и конфликтности предваряющего *2' и соотносится с 'духовным'
и 'небесным' началом, то ясно, что данный "поезд в Москву" зна-
менует собой 'перерожденье-воскресенье' и что он не тождестве­

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Археопоэпиха "Писем из Тулы" 269

нен поезду из Москвы прибывшему.


Заключительное ' 25' ("на расстоянии двух с половиной десят-
ков лет услыхал за той перегородкой милое, веселое: « Д о -о -
м а » ") являет собой и универсальное ' 7 ' , и объединение двух лич-
ностей в одну, и эротику и любовь (ср. статью "Числа" в Мифы
1982:629-631 и статью "Numbers" в C i r l o t 1981:230-237).
5 Здесь уместно напомнить о двух особенностях Пастернаковской
системы. Первая состоит в дискретности, точнее - в прерываемо-
сти, пути, в мене средств сообщения, где кризисные моменты обо-
рачиваются трансформациями (перерождениями-воскресениями) "Я" и
мира, а мена транспортных средств, как правило, оказывается дви-
жением во времени, но вспять, в историю. Прерванность пути в
11
Туле" ("вагоны лежали на плоской земле") и переход с мотива по-
езда на мотив "конки" и ,ходьбы1 оборачивается по этой законо-
мерности , выходом' в "семнадцатый век", в "Смутное время".
Вторая - это 'повторное обучение ходьбе', равносильное "вто-
рому рождению". Некоторые замечания об этом мотиве см. в Флейш-
ман 1981:201,249-250,307-308.
в Показательно в этом отношении имя старика: "Саввушка", "Савва"
предполагает связь с "Савватий", древнееврейским 3abb£tai, про-
изводным от šabbāt - 'суббота', которое означает 'прекращение
дел', а в библейско-религиозном плане 'восстановление первичного
божественного миропорядка' и 'приобщение к первичному божествен-
ному первосостоянию мира', 'выход во вневременное'. Это прочте-
ние предполагается и самим текстом "Писем", ср. последователь-
ность "Он [ . . . ] думал о том, что на свете нет уже никого, кто
бы звал его Саввушкой. День был праздничный. Он грелся на рас-
соренных подсолнушках", где "День [ . . . ] праздничный" - семанти-
ческая экспликация имени "Саввушка", а "подсолнушки" и есть ис-
комый 'божественный миропорядок' - их лат. название Helianthus
annuus или In u la oculus C h r is t i, что затем едва ли не буквально
выражается в последовательности: "месяц" -♦ "небо" ‫" ־•־‬Рыжик, ржа-
ная коврижка, сало и водка пропитали даже эхо, соловевшее за ре-
кой", которая рассматривается в главе 5 (а другое значение име-
ни "Савва" - в гл. 6 ).
С данной точки зрения 'поднимающееся' в финале рассказа
"солнце" означает 'воскресный день', 'воскресенье'. Если пом-
нить, что первоначально "котлы и вагоны лежали на плоской земле,
похожие на скопления низких туч" (что в системе Пастернака соот-
ветствует его , палому небу' ) , то теперь вновь составленный "по-
езд в Москву" проделывает уже свой путь 'по небу'. Ср. аналогич-
ное решение 'обратного пути' в 13-ой главке второй части "Охран-
ной грамоты" (Пастернак 1982:245): "Указанный адрес возвращал к
началу нашего странствия. Направляясь туда, мы проделали весь
наш путь в обратном порядке. Так что когда провожатый водворил
меня в одной из гостиниц близ Campo M orosini, у меня сложилось
такое чувство, будто я только что пересек расстоянье, равное
звездному небу Венеции, в направлении, встречном его движенью".
7 Промежуточное звено "Волновался размягченный силуэт этажерки
в четыре черных струи" крайне полисемантично. "Этажерка" пред-
полагает 'к н и г и ', что и единит ее с предваряющим "задумался".
Пастернаковский "силуэт" соотносит эту "этажерку" - ' книги' с 'ар-

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J e r z y Faryno

хеопоэтическим началом' (ср. именование "силуэтом" Марию Райнера


Рильке в "Охранной грамоте" и соотнесение его с 'психопомпом
Гермесом1) . "Четыре" в контексте подразумеваемых , книг' вводит
ассоциацию с , Четвероевангелием', что "трагической человеческой
речи" сообщает характер ‫ ׳‬христианского искупления'. Кроме того
"этажерка" - по-русски , го р к а ', тогда "четыре" было бы числовой
экспликацией ,мира земного', а превращение "этажерки"-' горки1 в
"четыре черных струи" знаменовало бы собой 'физическую смерть',
но и преодоление ,материального начала' (что в этом же пассаже
передано 'восхождением вверх' или , вертикальной осью': "На ули-
це хлопнули дверью" ‫" ״־‬в номере наверху - свет и растворено
окошко" ‫" *־‬Старик встал" ‫" ♦־‬Он преобразился" ‫" ־•־‬выпрямился и
бодро прошелся назад, не своим, чужим шагом"; упоминание же о
"метели" и , вход в дом1, как уже говорилось в примечании 3, -
, выход из локуса смерти' и 'вход в бессмертие', т . е. в Пастер-
наковский локус 'истинной поэтичности', ,истинного искусства';
небезынтересно еще отметить возможность трансформации "этажерки"
в 1этажный дом'- ' гостиницу' , затем их 'физической растворенное-
ти' "в четыре черных струи" и во 'внешнюю метель', что и объяс-
няло бы повторный 'вход' "старика" "с непогоды" в онтологически
уже совершенно иной 'д о м ').
в Христианская (евангельская) мотивика "Писем из Тулы" более
глубока и более системна, чем это может показаться на первый
взгляд. О некоторых ее аспектах пойдет речь дальше. Здесь же же-
лательно обратить внимание на локализацию "старика" "в городе-
ких номерах на Посольской", где "Посольская" вводит семантику
'апостольства' (греч. ájióanroXoc значит 'посланный', 'посол') и
родственную ей семантику 'пастуха', и на сквозной мотив 'масла'.
Ср. "бешеный нефтяной язык", "подсолнушки", "колобок" (заметим,
кстати, что колоба пекут ко дню сорока мучеников), "Голоса были
промаслены", "сапо и водка", "смешанный елецкий". В "Охранной
грамоте" упоминается "речное масло Лана" в Марбургских главах,
"деготь" и "маслянисто-черная вода" в Венецианских главах, ко-
торые кульминируют, в частности, в угощении прибывшего в "гости-
ницу" "пивом и маслом", т .е . в мотиве 'Евхаристии' (Пастернак
1982:217,245,246). В стихотворении 1916 года "Улыбаясь, убывала
Ясность Масленой недели..." (Пастернак 1965:510-511) с "маслом"-
'елеем' связано и 'рыжее солнце':
Лыжи были рыжим конским
Волосом подбиты снизу,
И подбиты были солнцем
Кровли снежной, синей мызы.
В беге нам мешали прясла.
Нам мешали в беге жерди.
Капли благовеста маслом
Проникали до предсердья.
Если учесть этот контекст, то последовательность "Голоса были
промаслены еденым и питым. Рыжик, ржаная коврижка, сало и водка
пропитали даже эхо" может читаться как 'причастие к Богу1, а
"смешанный елецкий" ‫ ־‬как 'елей', 'богоявленье' (и как 'поезд
воскресенья'), на что позволяют и другие прочтения топонима

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Арссеопоэтиха "Писем из Т у т п 271

"Елец": "елец" ‫" ־‬душка, дужка или грудная вилочка у птиц"


(Даль 1978:518), , ель1 ‫ ־‬в частности, символ бессмертия (также
и в общей системе Пастернака; см. статью "Растения" в Мифы 1982:
370) .
Наличие в "Писмах" се№1 , елей' вводит также и семантическую
мотивацию по отношению к мотивам "чада", "угара" и смрада" (лат.
oleo - , пахнуть', olens - 'душистый, пахучий', но и , зловонный'),
стоящего за ними 'предательства' (в переносном значении oleo -
'обнаруживать, выдавать'), и к мотиву "зеленой руки" "агронома"
( o l i t o r - 'зеленщик, огородник') и его связи со "стариком".
а В "Охранной грамоте" немецкий язык возводится в ранг языка
'архи-' и 'архепоэзии' (даже в Венеции "Я" объясняется "по-не-
мецки") и некоторые ее пассажи требуют учета немецкоязычия как
глубинной семантики вводимых мотивов (таково там, в частности,
и "пиво"). Заметим еще, что Пастернаковский 'ад' или , преиспод-
ияя* - не локус ' смерти-гибели' , а локус 'смерти-перерождения',
при этом перерождения материального в духовное. Чаще всего он
осмысляется в Пастернаковских произведениях как 'локус поэтичес-
кого, стихогенного' (ср. хотя бы серию "ад - цейхгауз - арсенал"
в "Про эти стихи" - Пастернак 1965:111-112) или - что тб же -
'локус алхимического' процесса (ср. насыщенность этими мотивами
"Охранной грамоты").
10 Мотив 'спиртного' - один из самых устойчивых и семантически
четких мотивов Пастернаковской системы. Равным образом он сопря-
жен с 'одуряющими, перестраивающими' запахами (ср. мотив "таба-
ка"), т .е . с галлюциногенным действием, которое обычно оборачи-
вается 'стихогенным' состоянием Пастернаковского "Я" (с р ., на-
пример, такую роль мотивов "пива" в стихотворении "Двор" или в
цикле "Тема с вариациями" - Пастернак 1965:74-75,161-167, где
"стихия" морского шторма оборачивается "стихией стиха", но до
этого она дана как 'пиво набивающееся в уши1, т .е . превращаю‫־‬
щееся в 'з в у к ', в 'слышимость неслышимого' - с. 162: "набивается
в уши Клокастый и пильзенский дым" - и в 'оживляющий, воскреша-
ющий феномен': "Как пиво, как жеванный бетель. Песок осушает
взасос").
11 В терминах мифа вся эта сцена ‫' ־־‬поедание тотема', 'приобще-
ние к божеству', 'обоготворение1. Она как раз и эксплицирована
затем в пассаже о "рыжике" и "ржаной коврижке". Данный эпизод
содержит в себе также и архесюжет 'Троицы' или 'самопожертвова-
ния Бога' как искупительного акта (это станет очевидным, если
учесть, что Пастернак еще раз возвращается к данному эпизоду,
но в более эксплицитном виде, в 14-ой главке второй части
"Охранной грамоты" - Пастернак 1982:246).
12 В Пастернаковской системе повтор ‫ ־‬всегда повыиение ранга,
онтологического статуса мира и, в случае текста, перевод текста
в ранг художественного, поэтического. Так, снятый в Туле фильм
"Смутное время" - еще не фильм, "это вообще не пьеса, а покудо-
ва вольная еще фантазия, которая станет пьесой, как только будет
показана в « Ч а р а х » ".
Но Пастернаковский повтор - не редубликация, не второй такой
же экземпляр, а 1разрушенный1 и 'перестроенный' первый. Предель-

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272 J e r z y Faryno

но лаконично этот механизм выражен в "Апеллесовой черте" (Па-


стернак 1982:21): "но Рондольфина и Энрико, свои былые имена от-
бросив, их сменить успели на небывалые доселе: он - «Рондольфи-
н а і » - дико вскрикнув, «Энрико!>> ‫ ־‬возопив - она".
При этом, как правило, повтор ведет вспять, вскрывает вые-
шую сущность повторяемого и этим самым продвигается к 1истине1.
По этой причине снятый "точка в точку" фильм все еще "вольная
[ . . . ] фантазия", т .е . не 1искусство1- 1истина1, "пьесой"‫ ־‬,ис-
кусством'- ' истиной' он станет при повторном просмотре в кинема-
тографе "Чары" (где название "Чары" отсылает к , искусствогенно-
му1 Пастернаковскому перестраивающему 1адско-колдовскому-алхи-
мическому' локусу).
Вот эти механизмы Пастернаковского повтора и лежат в осно-
ве композиции "Писем из Тулы", а вторая часть по отношению к
первой играет роль семантической экспликации (дешифровки).
Как показал Смирнов (1985а,Ь,с), "повтор прекращенного пов-
тора" - фундаментальный механизм художественной речи вообще. У
Пастернака этот механизм не только эксплицирован и семантически
нагружен, но и возведен в принцип 'археологии культуры'. Короче
говоря, у Пастернака - в силу установки на дешифровку - повтор
выявлен в его моделирующих качествах.
13 Мне уже не раз приходилось отмечать, что истоки 'поэтическо-
го начала' соотносятся более или менее явственно с представле-
нием о Волосе-Велесе (ср. хотя бы "Сеновал" Мандельштама, "Про
это" Маяковского, поэму "Царь-Девица" Цветаевой, "Кусок" Хлеб-
никова и др.? см. Faryno 1980,1984,1985,1986,1937b). Вполне от-
четлива эта соотнесенность и у Пастернака. Однако здесь уместно
отметить и еще одну особенность дешифруемой авангардом мифоло-
гемы Волоса-Велеса: у Пастернака (и особенно в "Царь-Девице"
Цветаевой) реконструируется монотеическая 'протоформа' Волоса и
этим самым монотеический характер славянской космогонии (что не-
ожиданным образом подтверждается рядом этнографических данных,
которые, к сожалению, до сих пор с данной точки зрения еще не
исследовались ни этнографами, ни, тем более, филологами). Так,
несомненно, "агроном" и его эквивалент "старик"-'дед'-"Савва Иг-
натьевич" в своей глубинной семантике и есть 'Бог-мир' (таков же
саморазрущающийся и самовосстановливающийся и сидящий "в нутре
земном" Цветаевский 'царь-пропойца'), одно из состояний которо-
го 'разрушительно', а другое - 'творческое'.
1І* О Волосе-Велесе как "скотьем боге", 'пастухе', 'властителе
богатства', 'властителе царства мертвых' и т .д . см. Успенский
1982:95,99-112,150-158 и др. Тут небезынтересно отметить, что
"старик" у Пастернака атрибутирован свойственными и Волосу-Веле-
су 'хромотой', "палкой", "шубой". Ср. также замечание Фрейден-
берг (1978:64-65) о том, что в античности "'А к т е р '" - "метафора
покойника (лавр, маска, 'персона')".
15 Последовательность "Эти полосы б у я н и л и . С т у к п и в а , безумья и
смрада попадал под скамейки за ними" предполагает связь "пива"
с 'топором'. Она станет несколько явственней, если сопоставить
фразу "Солнце - в пиве" и описание увиденной стариком сцены сни-
маемого фильма (курсив мой - J . F . ) : "Сначала, при виде бояр и
воевод, колыхавшихся на том берегу, и черных людей, подводивших

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Археопоэтика нПисем из Тула" 273

связанных и сшибавших с них шапки в крапиву, при виде поляков,


цеплявшихся за ракитовые кусты по обрыву, и их с е к и р , н е ч у в с т -
в и т е л ь н и х к с о л н ц у и не и з д а в а в ш и х з в о н а , старик стал рыться с
своем собственном репертуаре", где, "секиры" оказываются как бы
"пивом" без "солнца". Этот переход обнаруживается в упомянутом
между двумя эпизодами "билете", который созвучен немецкому die
B i l l e - 'кирка, топор'. Позже эта связь выражается парой "сало
и водка" = 'плоть и дух' и подспудным мотивом 'поедания тотема',
а в христианском толковании ‫' ־‬причастия к Богу1• Оговариваемая
связь гораздо отчетливее выражена в "Охранной грамоте" в паре
"пиво и мясо" как эксплицирующей мотив "алебарды" (которая в не-
мецкоязычном прочтении открывает возможность для сеьш 'пиво' ‫נ‬
das Helle и, между прочим, для семы 'секира' ā die Barte ср. еще
der Bart ‫' ־‬борода, усы', но b a rtlo s - 'безбородый; безусый', и
эквивалентность 'сшибаемых шапок' и ' безусости' ) .

Л И Т Е Р А Т У Р А

ДАЛЬ, В
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274 J e r z y Faryno

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А рхеопож ика "Писек из Т у т " * 275

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André van HOLK (Groningen)

MYTHISCHE HANDLUNGSSTRUKTUR IN AVANTGARDISTISCHER GESTALTUNG

Am B e is p ie l von P il'n ja k s G o ly j god

1.

Wenn man, gemäß dem Grundgedanken der Lotmanschen Poetik


(Lotman 1970:14), die K u ltu r a ls "Text" verstehen möchte, erge‫־‬
ben sich daraus unerwartete Forschungsperspektiven (u.a. im
H in b lic k auf die Sprachtypologie, deren Kategorien v ie lfa c h
auch k u lt u r e lle Relevanz b e s itz e n ). Ich fasse dies zusammen in
der These, daß die k u ltu r e lle n Werte e in e r G e se llsch a ft, d.h.
die them atisierten In h a lte menschlichen Handelns und Verhaltens
a ls durchweg nach sprachlichen Modellen s t r u k t u r i e r t und kombi-
n ie rb a r erscheinen. Der Versuch, diese Arbeitshypothese am
M a terial von P il'n ja k s G o ly j god (k ü n ftig h in GG) zu überprüfen,
d ü rfte besonders aufschlußreich se in , w e il, wie ich meine, gera
de dieser Text E in b lic k v e rs c h a fft in die angeblich m ythologi-
sehe Grundlage lit e r a r is c h e r Themen und dadurch zur Klärung des
Verhältnisses zwischen der mythologischen T ie fe n s tru k tu r und
ih r e r Umgestaltung innerhalb der Textoberfläche beizutragen
vermag.
Der vorliegenden Analyse lie g t die Voraussetzung zugrunde,
daß die Textsemantik außer von den n a rra tiv e n Strukturen (Er-
zählsträngen aus Propositionen, etwa nach M e tz e ltin und Jaksche
1983) gerade auch von den le x ik a lis c h e n Elementen und ihren
charakteristischen Satzkonstruktionen mitbestimmt w ird . Es e r‫־‬
h e llt aus der Analyse der Hauptmannstochter durch die genannten
Autoren (Jaksche / M e tz e ltin 1981), daß die S tru k tu r eines E r-
zählstrangs, wie etwa Svabrins R a c h e , die gleichen "Texto-
id e ” aufweist wie Grinevs W e r b u n g u m Masa: um der seman-

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278 André van Holk

tischen D iffere nzie run g d ieser Erzählketten gerecht zu werden,


bedarf es offenbar e in e r e rw e ite rte n Analyse, die auch die
le x ik a lis c h bedingten Isotopie-Ebenen (Greimas 1966; Kallmeyer
e t a l. 1974) b e rü c k s ic h tig t.
Die Bausteine e in e r solchen Analyse bild e n nach meiner
Auffassung gewisse E l e m e n t a r k o n s t r u k -
t i о n e n (EK) , die man sich a ls Konfigurationen aus Tiefen‫־‬
kasus m it einem einzigen Subjekt v o rs te lle n möge. Wenn diese
Voraussetzung z u t r i f f t , lä ß t sich also jedes b e lie b ig e lit e r a -
rische Thema a ls Kombination aus EK d a rs te lle n . Ein B e isp ie l
möge das Verfahren e rlä u te rn .
In Hebbels J u d ith is t die von der Heldin ausgehende Hand‫־‬
lungskette aufgebaut auf e in e r Handlungsbasis, die in der be‫־‬
kannten Gewalttat k u lm in ie rt, und v ie r , g le ic h f a lls von Judith

ausgehenden, modalen Relationen: die Beleidigung von Judiths
V a te rs ta d t, der Haß auf Holofernes, die Beziehung zum Schwert
a ls Werkzeug der Rache und s c h lie ß lic h die S a tis fa k tio n , symbo-
lis ie r t im Holoferneskopf a ls Siegestrophäe (van Holk 1984a).
Während die Gewalttat der J u d ith durchaus den sogenannten
"verbs o f h ittin g and breaking" der Kasusgrammatik e n ts p ric h t,
lassen sich die v ie r modalen Beziehungen le ic h t a ls "verbs o f
experience" in konnektiver Funktion erkennen.

2.

Die anscheinend unübersehbar große Menge möglicher thematischer


Konstruktionen lä ß t sich zuerst aufgrund ih r e r Komposition,
also nach A r t und Zahl der b e te ilig te n EK, in Gruppen a uft e i -
le n ; des weiteren s o ll dann ih re Verwendung unter bestimmten
s t i l is t is c h e n Bedingungen der Textoberfläche Berücksichtigung
finden (v g l. h ierzu van Holk 1984b). Den Grundstock des Bedeu-
tungsm aterials e in e r b e lie b ige n K u ltu r bild en dann diejenigen
thematischen Konstruktionen, welche den Urformen menschlichen
Handelns und Verhaltens entsprechen, also genau jene Bedingun‫־‬
gen e r f ü lle n , die vom amerikanischen Anthropologen E .T .H a ll zur
Kennzeichnung der sogenannten " In fr a k u lt u r " (in f r a - c u lt u r e ) a u f-
g e s t e l l t wurden:

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M yth isch e H a n d lu n g s s tr u k tu r 2 '"

There is an unbroken c o n tin u ity between the f a r past and


the present, fo r c u ltu re i s b io -b a s ic - rooted in b io lo g i-
c a l a c t i v i t i e s . In fr a - c u ltu r e i s the term which can be
given to behaviour th a t preceded c u ltu re but la t e r became
elaborated by man in to c u ltu re as we know i t today. (H a ll
1973:37)

In anderer S ic h t wäre die I n f r a k u lt u r m it dem Lotmanschen


,,k o lle k tiv e n Gedächtnis" (Lotman e t a l. 1973:1) oder gar dem
Jungschen " k o lle k tiv e n Unbewußten" (Jung 1957) zu vergleichen
(v g l. auch Guerin 1966); je d e n fa lls lassen sich sowohl In f r a k u l-
t u r wie k o lle k tiv e s Gedächtnis oder Unbewußtes gewissermaßen a ls
Arsenal jener fundamentalen Themen beschreiben, d ie den Jung-
sehen Archetypen entsprechen, d .h . jenen " s e it a lte r s vorhande-
nen allgemeinen B ild e rn ", welche in Mythologie und F o lk lo re
eine mehr oder weniger gründliche Umgestaltung erfahren (Jung
1957:12). Gerade in Zeiten re v o lu tio n ä re r Gewalt und kriegsbe-
d in g te r Entbehrungen d ü rfte die I n f r a k u lt u r in den vergröberten
Formen des A lltagslebens zutage tre te n (wie dies besonders e in -
drucksvoll in Zamjatins Erzählung PeSöera zum Ausdruck kommt;
v g l. van Baak 1981).
Wie ic h andernorts versucht habe darzutun (van Holk
1984c), lä ß t sich ein gewisser T e il der I n f r a k u lt u r thematisch
auf die verschiedenen Phasen der J a g d handlung zurückführen;
dabei erw eist sich das unten zu behandelnde Thema des Jägers a ls
eine A rt E in h e its k o n fig u ra tio n .1 Im folgenden möchte ic h nun
zuerst kurz darlegen, wie diese Jagdthematik im bekannten Gegen-
satz zwischen "schwankenden I n t e llig e n t e n ” und "Lederjacken" in
P il'n ja k s GG zur Geltung kommt.
Das Thema des Jägers (oder das Jagdthema) lä ß t sich allem
Anschein nach durch eine Kombination aus folgenden d re i EK wie-
dergeben (1).

(1) ( i ) di e H a n d l u n g s b a s i s b ild e n die Verben der


Bewegung und der T ä tig k e it m it den an s ie anknüpfenden
Ausdrücken wie e ch a t* v g o ro d , e z d i t * na ju g > p e re ch o d S erez
ZbruS (Babel‫ ; ) ׳‬a
( ii) das M o d a l p r o f i l b ild e n die vom Subjekt der
Bewegung oder T ä tig k e it ausgehenden Beziehungen zur
Ausgangslage und zum Z ie l der Bewegung oder T ä tig k e it.

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280 André van H olk

Dies w ird an einigen Beispielen aus der C ast* tre t* ja t r ip t io h a


unseres Textes e r lä u t e r t (2).

(2) VIALIS
[ Bewegung, T ä t ig k e it ]
EXP I EXP I I
[W ille des Subjekts, [W ille des Subjekts,
die Ausgangslage zu ein bestimmtes Z ie l
verlassen] zu erreichen]
I
I
ибо там, в голодных
губерниях
I
поезд ползет по черной степи
жгут костры
на станции люди бегут за в о д о й

Außer dem selbständigen Gebrauch a ls Jagdthema b ild e t die


unterliegende Konstruktion auch einen B estan d te il der zwei oben‫׳‬
genannten Heldentypen, die w ir kurz m it den Buchstaben P und Q
bezeichnen w ollen. Beiden Typen gemeinsam i s t der Aufbau aus
Teilthemen folgender A rt (3):

(3)(i) eine n o m i n a l e K o m p o n e n t e , welche die


quasi-permanenten Eigenschaften der Helden, ih re
äußere G e s ta lt, ihren Charakter, ih re g e s e lls c h a ft-
lie h e S te llu n g f e s t le g t ;
( ii) eine l o k a l e K o m p o n e n t e , die in unserem
F a ll aus e in e r oder mehreren Lokativkonstruktionen
besteht;
( iii) eine H a n d l u n g s k o m p o n e n t e , die neben
der e ig e n tlic h e n Handlungsbasis in Form eines Bewe-
gungs- oder T ä tig k e its v e rb s auch ein M o d a lp ro fil aus
zwei oder mehreren E xp e rie n tia lko n s tru ktio n e n umfaßt-

Bei der Nominalkomponente i s t der Unterschied besonders w ic h tig


zwischen einem Aktanten, der le d ig lic h a ls Subjekt eines Zu-
stands- oder E re ig n isp rä d ika ts in Betracht kommt, und einem
solchen, der darüber hinaus zu sich se lb st in e in e r re fle x iv e n
Beziehung s te h t; ic h bezeichne diese Kategorien a ls k o n -
z e n t r i s c h bzw. e x z e n t r i s c h . 3
Die Helden vom Typus P, also die "Lederjacken", weisen
eine konzentrische Nominalkomponente auf; dies e r h e ll t aus der
Tatsache, daß s ie ih r eigenes Handeln n ic h t in Frage s te lle n
und überhaupt vorwiegend k r a f t ih r e r äußeren Eigenschaften in

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M yth iech e Handlunge8t r u k t u r 281

die Umwelt e in g re ife n . Einige B e is p ie le aus v ie le n mögen dies


e rlä u te rn (4):

(4) кожаные люди в кожаных куртках (большевики!)


каждый в стать
кожаный красавец
каждый крепок
из русской рыхлой корявой народности -лучший отбор
у каждого больше всего воли в обтянутых скулах (65)

Im Gegensatz dazu stehen die Helden vom Typus Q, wie


Andrej V o lko vič, Baudek und N a t a l'ja , Gleb Ordynin - der Künst-
1er und Freund des Archäologen Baudek. Diese Figuren sind
durchwegs m it ih r e r inneren Welt, gegebenenfalls auch m it ih r e r
Jugend im a n c ie n regim e b e s c h ä ftig t (5):

(5) Ровно вспыхивает папироса у окна, Глеб прислушивается к


старому дому. В этом доме прошла его юность, та, которая
казалась всегда светлой безмерно и ясной, - и теперь
двоится мороком революции (80 f . )

Aufgrund solcher Gegebenheiten ordnen w ir diesen Helden eine


e x z e n t r i s c h e Nominalkomponente zu.
Aufschlußreich is t des weiteren der Unterschied zwischen
den Typen P und Q h in s ic h t lic h ih r e r L o k a lis ie ru n g . Weil näm-
lie h die Helden vom Typus P durchweg nur in e i n e r Welt
sich bewegen, leben die vom Typus Q in z w e i unterschied-
liehen Welten. So s ie h t man Archip Archipov, Prototyp der Le-
derjacken, in seinem Büro, im Ispolkom oder in seinem Zimmer
sitzend, immer bei der Sache, k o n z e n trie rt auf seine A rb e it (6).

(6) Архип Архипов с зари сидел в исполкоме, писал и думал -


день встретил его с побледневшим лбом, над листом бумаги,
со сдвинутыми бровями (65)

Ein Held vom Typus Q hingegen schwankt zwischen zwei Welten -


entweder zwischen der a lte n Welt der Jugend und der neuen der
Revolution oder zwischen der Kommune und der verschollenen
Märchenwelt der "persischen P rinzessin" (7):

(7)(i ) Андрей Волкович безразлично ответил:


- Обойдите дом, там по лестнице во второй этаж! -
сказав, позевнул, постоял у калитки лениво, лениво
пошел в дом, к парадному входу, -
и

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282 André van H olk

и-
радость безмерная, свобода! Свобода! Дом,
старые дни, старая жизнь, ‫ ־‬навсегда позади, ‫ ־‬смерть
им!
( іі) Заговорил Баудек:
- Где-то Европа, Маркс, научный социализм, а здесь
сохранилось поверье, которому тысяча лет (126)

Die zweifache L o ka lisieru ng der Z w e ifle r und Träumer stimmt na‫־‬


tü r lic h genau m it Peter A. Jensens Befund überein, daß ‫״‬Andrej
Volkovič establishes a lin k between the two l o c a li t i e s of the
work, the town and the c o u n try -s id e " (1979:163 f.).
Auch die Handlungskomponenten der beiden Heldentypen
unterscheiden sich in symptomatischer Weise• Die P‫ ־‬Helden sind
ständig im Kampf m it der Umwelt: s ie sind b e s tre b t, die a lte
Welt zu vernichten und eine neue herbeizuschaffen, wobei sie
keinem Hindernis ausweichen; man vergleiche die Beschreibung
der erneuten Inbetriebnahme des Bergwerks (8).

(8) Белые ушли в марте. [ . . . ] на собрании было установлено,


как дважды два, что положение заводов более чем ката-
строфично, что нет ни сырья, ни инструментов, ни рабочих
рук, ни топлива, - и заводы пустить н е л ь з я .
Н е л ь з я . [ . . . ] Когда по поезду был дан приказ гото-
виться к отъезду, я, автор, думал, что ъы поедем обратно
в Москву, раз ничего н е л ь з я с д е л а т ь . Но мы
поехали - на заводы, ибо н е т т а к о г о , ч е г о
н е л ь з я с д е л а т ь , - ибо нельзя не сделать. По-
ехали, потому что не‫ ־‬спец большевик К ., Лукич, очень
просто рассудил, что если бы было сделано, тогда и не
надо делать, а руки - все сделают.
Большевики.
Кожаные куртки. (200)

In diesem Fragment t r i t t auch das M o d a lp ro fil der


W i l l e n s k r a f t besonders k la r zutage: eine eirnial be-
gonnene A rb e it w ird um jeden Preis v o lle n d e t. Bemerkenswert is t
dabei der Umstand, daß die Helden eine von der e ig e n tlich e n
Handlung getrennte a f f e k t i v e Komponente aufweisen,
welche v e ra n tw o rtlic h is t fü r ih r Gemütsleben, fü r Liebe und
Haß. So bleiben im Zwiegespräch Archip Archipovs m it seinem
Vater die z ä rtlic h e n Gefühle der beiden ganz außerhalb der a l l -
tä g lich e n rohen T ä tig k e it des Sohnes ( r a e e t r e l j a t * ), während
der Vater sich seiner Z ä r t lic h k e it offenbar schämt ( 9 ) •4

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M yth isch e tìa n d lu n g e e tr u k tu r 283

(9) И лишь когда уходил сын, подходил Иван Спиридоныч к окну


и долго провожал сына взглядом, и в глазах, впалых и хму-
рых, были тогда печаль и нежность. (74)

Besonders aufschlußreich in die se r H in s ic h t is t der berühmte


H eiratsantrag Archipovs an N a t a l'ja (10).

( 10) ( i ) Я все время заводом занят, в исполкоме, в революции.


А когда отец умер, о себе подумал. Работать надо, -
ну и работал. А вот еще что. Я к вам пришел предло-
жение вам сделать - руки. Парнишкой я влюбился, ну,
грешил с женщинами. А потом прошло. Я так думаю,
детишки у нас будут. Работаем вместе, заодно. И ре-
бятишек вырастим, как надо. (208)
( іі) - Милый, единственный, мой...
Архипов не нашел, что ответить - в радости. (209)

Diese iro n isch e D arstellung w ird noch v e rs tä rk t durch Archipovs


Unkenntnis des Wörtchens u ju t , welches, wie es h e iß t, " n ic h t in
Gavkins kleinem Fremdwörterbuch vorkommt" (210)
Diese a ffe k tiv e Komponente w ird a ls gegenseitige Modalbe-
Ziehung zwischen Personen gedeutet und i s t daher durch ein Paar
von E xp e rie n tia lko n stru ktio n e n d a rs te lle n (v g l. van Holk
1984c).
Die e ig e n tlic h e Handlungskomponente der Lederjacken i s t
im Diagramm (11) wiedergegeben. Sie besteht, wie g e z e ig t, aus
d re i Phasen - etwa 'E n ts c h lu ß ', 'Ausführung' und 'V o llz u g ', de-
ren jede die innere S tru k tu r des Jagdthemas a u fw e is t.5 Jede
Handlungsphase w ird somit gesteuert vom M o d a lp ro fil des
W о 1 1 e n s, wobei die unbefriedigende Ausgangslage b e s e itig t
und das gesteckte Z ie l um jeden Preis e r r e ic h t werden s o l l- Die
Gesamtstruktur der Lederjacken lä ß t sich also durch eine Kon-
s tru k tio n wie (12) wiedergeben

( 12) konzentrische Lokal- Handlungs-


Nominal- komponente komponente
komponente
‫ז‬
X I LOKATIV
r 1
‫— ־‬I r‫ ־‬T = p L *
EXP EXP VIAL VIAL
VIAL
X I -
nominaler Ausdruck der T ie -
fenkategorie 'Numerus' oder
'Umfang'
EXP EXP EXP
EXP - E x p e rie n tia lis
VIAL - V ia lis

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284 André van H olk

( 11)

Teilstruktur der Handlung einer ”Lederjacke‫״‬

Phase I Phase II Phase III

Vorbereitung, Ausführung# I Handlungsvollzug, I


Entschluß, Zweifel, Sieg
! J
Kriegserklärung Kampf

тщательно мылся Все же жизнь ‫ ־־‬пре- Ты живи» сын, дела


с лицом худьм, красная вещь. (74) своего не бросай!
хмурым, читал
толстую медицинскую Ты меня знаешь, Тогда он встал и
книгу. Даниил Александрия, прошел на кухню,
- Медицина, как ду‫־‬ со мной говорить взял там из угла с
маешь, можно ей надо прямо. (74) полки револьвер,
доверять? [...] выстрелил
‫ ״־‬Медицина *‫ ־‬наука. Архип, надо мне себе в рот. (79)
Можно. с тобой поговорить.
• • • (77)
‫ ־‬Тоже, думаю, можно
(73)

Modalprofil:

EXP I Sorgfältige Vorbereitung IV Hinnahme der Notwendigkeit


zum Besuch im Spital des Todes
II Liebe zum Leben V Abschied vom Sohn
III Entschlossenheit dem VI Entschluß zum Selbstmord
Arzt gegenüber

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M yth isch e H a n d lu n g 8 8 tru ktu r 285

Die Handlungskomponente der Z w e ifle r, vom Typus Q, u n te r-


scheidet sich in symptomatischer Weise von der obigen, zum einen
dadurch, daß s ie nur z w e i Phasen a u fw e is t, zum anderen durch
das Fehlen der a ffe k tiv e n Teilkomponente, welche h ie r in die
e ig e n tlic h e Handlung in k o r p o r ie r t is t. Dies besagt, daß jede der
beiden Phasen aus e in e r V ia lis k o n s tru k tio n und v ie r Experien-
tia lk o n s tru k tio n e n besteht. Dieser Sachverhalt is t im Diagramm
(13) zusammen m it einigen Beispielen d a r g e s t e llt . e Bekanntlich
sind die Z w e ifle r in unserem Text durch Anarchisten v e rtre te n ,
deren Handlungen zum einen im tä g lic h e n Leben der Kommune, zum
anderen in der selbsterfundenen Welt der revo lu tion ä re n B e fre i-
ung wurzeln; zu beiden Handlungsketten verhalten sich diese
Anarchisten wie "Jäger", deren Z ie ls t r e b ig k e it h ie r jedoch von
Sehnsucht nach Liebe und künstlerischem Fernweh ü b e rla g e rt is t.7
Die Verarbeitung d ie se r beiden Handlungsstrukturen zum
mythischen Bedeutungsmaterial eines Textes könnte man sich a ls
eine besonders enge V e r s c h a c h t e l u n g innerhalb
der einzelnen Lexeme v o r s te lle n , in so fe rn nämlich das O b e rflä-
chenvokabular an sich ja immer verschiedenen thematischen Kon-
stru ktio ne n g le ic h z e itig zuzuordnen i s t . Die Phasen und Modal-
p r o f ile werden e r s t d u rc h s ic h tig im Rahmen e in e r episodischen
Makrostruktur, eines sogenannten " S k r ip ts " ; darunter ve rs te h t
van D ijk (1981:5 ff.; 165 f f . ) die "organized conceptual s tru e -
tures o f conventional world knowledge". Außer den beiden ge-
nannten Strukturen e n th ä lt der Gesamttext im allgemeinen auch
andere thematische Gebilde, wie das oben schon erwähnte Jagd-
thema (2), sowie verschiedene Themen p h ilo s o p h is c h -re lig iö s e r
A r t, wie diese etwa im A bschnitt Dve besedy . S t a r ï k i a u fg e g riffe n
werden.8 Dieses gesamte Bedeutungsmaterial e n ts p ric h t in seiner
"achronischen", mythischen U rtü m lic h k e it durchweg der genann-
ten Hallschen I n f r a k u lt u r . Die Strukturgesetze eines solchen
thematischen Gemisches sind zur Z e it noch kaum e r fo r s c h t; es
se i h ie r jedoch hingewiesen auf die P io n ie ra rb e ite n von Lotman
und M e le tin s k ij, die zum Problem eben der "mythischen Syntax"
und der Herkunft des sprachlichen Kunstwerks Grundlegendes b e i-
getragen haben.

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286 André van Holk

(13)

Teilstruktur der Handlung eines "Zweiflers”


1------------------------------
Phase I Phase
1
II

VIALIS VIALIS

ILeben in derI
ІКошпипе J

EXP I + II EXP III + IV EXP I + II EXP III + IV


Erfüllung der un-j !Bedürfnis Baudeks I Baudeks I
mittelbaren I Inach Suche nach Liebe zu I
Lebensbedürfnisse I iLiebe Märchenwelt! Natal‫׳‬ja J
I I
‫ו‬
А возил воду, Понятия археолога s Наталья,
чистил навоз Баудека спутались необыкновен-
веками (124) ная, когда вы
W ф
Жизнь мерил Баудек будете моей
Тогда жгли костры и искусством (124) женой? (126)
сидели около них..•
За рекой в деревне ‫־־‬
пахали, ели, пили и
спали, чтобы жить
! (125)
‫[־‬
Андрюша, выходи ...всею кровью своею почуяла,
гулять приняла революцию... (130)
Выходи, не бойся
/ (114)
Днем работал Андрей в

‫נ‬
парке с Аганькой - и
любовался ею (123)

В тот вечер Андрей возвращался к Николе и,


стоя у Николы, еще раз пережил остро, больно
и нежно всю ту радость, его радость, что тво-
рилась у него мечтой, революцией ‫ ־־־‬мечтой о
правде нищенства, о справедливости, о красоте
- старых пятивековых церквей (122)
Вам надо уйти отсюда. Утром вас схватят и
должно быть, расстреляют [...] На рассвете
Андрей был уже на станции [... ] протискивался
[...] к теплушке (172)

Modalprofil: doppelte Dialogstruktur aus je 2 + 2 Modalbeziehungen, einmal


in bezug auf die unmittelbare Umwelt, einmal auf die erstreb-
te ideale oder spirituelle Welt.

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Mythische Handlungsstruktur 287

3.

Zum Schluß obiger Überlegungen möchte ic h noch kurz darauf h in -


weisen, daß die Anordnung des mythischen Bedeutungsmaterials
in GG (wie überhaupt in jedem lite r a r is c h e n Text) das Ergebnis
einer s tilis tis c h e n Bearbeitung is t, wobei das mythische Mate-
r ia l der k u ltu r e lle n T ie fe n s tru k tu r zur z e it- und ortsgebunde‫־־‬
nen O berflächenstruktur, also zum k u ltu r e lle n S u je t, umgewandelt
w ird.
Man hat es in GG nach meiner Auffassung m it e in e r A rt ka r‫־‬
nevalesker Umwertung gewisser herkömmlicher K ulturw erte zu t un:
dieser Prozeß kommt n ic h t nur in h a lt lic h , in der geradezu "d a r-
w in is tis ch e n " Leugnung in d iv id u e lle r A spira tio ne n , sondern auch
in der Komposition s e lb s t zum Ausdruck•9
Die Frage, wie eine solche Umwertung zustandekommt oder ‫־‬
genauer gesagt ‫־‬ wie die Anordnung des Bedeutungsmaterials im
S u je t thematisch zu verantworten s e i, d ü rfte ih re Lösung finden
in einer bestimmten U m k o d i e r u n g der Handlungsmuster•
Im gegebenen Text sind besonders a u g e n fä llig folgende s t i l i s t i -
sehe M it t e l:

(15)( i ) form elhafte Natur‫־‬ und Situationsbeschreibungen;


( ii) r e f r a in ‫ ־‬a r tig e Wiederholung bestimmter Beschreibungs-
muster;
( iii) onomatopoetische Ausdrücke und K u n s tg riffe , wie
g v iu u u und glavbum a ls ” Lied der R evolution” •

Es fra g t sich nun, wie diese s t i l is t is c h e n M it t e l thematisch


zu deuten sind, angenommen, es sei überhaupt zu lä ssig , von
einem thematischen In h a lt solcher M it t e l zu sprechen. Im An‫־‬
Schluß an einen von Toporov (1977/78) geäußerten Vorschlag
könnte man den gemeinschaftlichen In h a lt des form elhaften Aus‫־‬
drucks als "sakrale Aussage" auffassen, deren thematische Form
derjenigen einer d ekla rativen S e n t e n z (Elam 1980:167)
gleichkommt. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang i s t das
le tz te K a pite l von GG, Z a k lju õ e n ie , m it der Beschreibung der
Hochzeit (Svad3b a) , dem Auszug aus der K n ig a Obykov und den ma-
gischen Formeln des Soldatenliedes (C i- v i-li, v i-lik a v o chodeë*
b e riy
å 217).

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288 André van Holk

Die Umformung des mythischen Ausgangsmaterials f ü h r t nach


meiner Annahme zu e in e r Oberflächenthematik, deren Komponenten
durch die Naturbeschreibungen und das Jagdthema g e b ild e t wer-
den, dann aber auch durch die Thematik der Liebesqual und L ie -
besfreude, welche den ganzen Text von CG durchzieht und ihm ein
gewissermaßen ”m it t e la lt e r lic h e s " Gepräge v e r l e i h t . 10 Das unten
aufgeführte Fragment kann, a ls ein B e is p ie l aus v ie le n , e rlä u -
te rn , wie das Thema der "joye e t d o lo r" der französischen und
mittelhochdeutschen m it t e la lt e r lic h e n L y r ik h ie r angestimmt
w ir d . 11

(16) Наталья [ . . . ] опять почуяла остро, что революция для


нее связана с радостью, радостью буйной, с той, где
скорбь идет рядом, полунная скорбь. Сказка. (131)
Наталья [ . . . ] чуяла, осязала каждым уголком своего тела
огромную радость, радостную муку, сладкую боль; понима-
ла, что горькая горечь полыни - сладость прекрасная,
необыкновенная, безмерная радость. (138)
... чтобы вечером итти за иной полынью, полынью Бауде-
ка, за горечью радости... (129)

Die Aufspaltung des Ausgangsmaterials in N atu r-, Jagd- und


Liebesqualthematik d ü rfte eine allgemeine Erscheinung sein, die
man a ls Z e r f a l l des mythischen Grundzustandes anzusehen
h ä tte - Je d e n fa lls d ü rfte diese These eine Erklärung bieten fü r
das v ie lfa c h belegte, in unserem Text jedoch besonders äugen-
f ä llig e Zusammengehen d ieser Themenkomplexe innerhalb eines
einzigen lite r a r is c h e n Kunstwerks.

A N ME R K U N GE N

1 Vgl- etwa den Eskimomythos des "lügenhaften Jägers" in Finck


(1910) oder die w e it v e rb re ite te n Varianten der ” Gralssuche11-
3 Zu den c h a ra k te ris tis c h e n Valenzen dieser Z e itw ö rte r z ä h lt
besonders auch die V erbindbarkeit m it Bestimmungen der "zurück-
gelegten Strecke" und der "B e fö rde ru n g sm itte l"; in GG wird d ie -
se Valenz v o l l ausgenützt in den B ild e rn der Eisenbahnfahrt
(Ca8t* t r e t * j a t v ip t io h a , 184 f f . ) -
3 Den B e g r iff der " E x z e n tr iz itä t" verdanke ich Plessners e in -
d ru c k s v o lle r Studie Lachen und M einen (1950); anscheinend unabhän-
gig voneinander und von Plessner haben F illm o re (1969) und Ro-

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Mythische Hœ 1 dlung8 8 truktur 289

koszowa (1981) diesem B e g r iff eine sprachliche Grundlage v e r-


liehen in G e sta lt e in e r "doppelten K a su s lin ie " zwischen Agens
und persönlichem Prädikat (v g l. van Holk 1984c).
ą Daß der Vater Ivan S piridonovič sich das Leben nimmt, um den
Jungen P latz zu machen ("Старики nłi, молодым место надо. Пусть
поживут!", 76), paßt genau h in e in in das Gesamtbild des Rück-
f a l l s auf eine n ie d rig e re Kulturebene a ls Folge des Bürger-
k rie g s ; v g l. zu diesem Brauch bei den a lte n Slaven D i t t r i c h
(1963:18), wo f r e i l i c h auch das Umbringen a l t e r Leute und Säug-
lin g e a ls "ü b e rflü s s ig e r Esser" in Betracht zu ziehen i s t .
5 Zu den d re i Phasen des Kampfes siehe besonders van Kesteren
(1975:271).
e Bei genauerem Zusehen e r g ib t s ic h , daß die fehlende V i a l i s -
ko n stru ktio n in Q vom zweiten L oka tiv kompensiert w ird ; le t z t e -
re r i s t n a tü r lic h auch v e ra n tw o rtlic h f ü r die "hesychastische"
Veranlagung von Baudek und Gleb Ordynin, die ih re Z u flu c h t in
der S e ktariersiedlung suchen ("И от - веков и революции Баудек
и Глеб Ордынин хотели следить за теми сектантами, что жили ху-
торами в степи", 124; v g l. w e ite r 146 f . ) .
7 Nicht abzulehnen i s t der Gedanke, daß der Unterschied zwi-
sehen den P- und Q-Helden in ih r e r einfachsten G estalt a ls ein
solcher zwischen "a k tiv e n " und "passiven" Charakteren (etwa
Stolz gegenüber Oblomov) oder gar zwischen "männlichem" und
"weiblichem" Urtypus zum Vorschein käme; e rs te re Bemerkung v e r-
danke ich dem Kolleqen P.A.Jensen, le tz te r e w ird nahegelegt
durch die A rb e it von Saladin d'Anglure (1978), der die Grund-
formen dieses Gegensatzes be i den N etsilik-E skim os Nordkana-
das v e r fo lg t hat.
8 Vgl. dazu besonders Browning (1985:117), wo darauf hingewie-
sen w ird, daß Z ilo to v "has become convinced through a m is in te r-
p re ta tio n o f Masonic l it e r a t u r e th a t Russia i s destined to
s u ffe r ‫ ׳‬hunger, s e d itio n and murder‫ ׳‬. . . f o r twenty years more"
usw.
9 Der englische Übersetzer des GG , Tulloch (1975:190), sagt da-
rüber folgendes: "The very shape o f the novel is anti-W estern.
The t r a d it io n a l novel had evolved from Western c u ltu r e , and i t s
tr a d itio n a l components, such as character development and p lo t
stru ctu re , did not lend themselves e a s ily to P iln y a k 's purpose.
In order to d e p ict the Revolution in terms o f an anti-W estern
re b e llio n , and a t the same time p o rtra y i t s cha o tic nature, i t
was necessary th a t the form o f the novel should also bear as
l i t t l e resemblance as possible to anything in Western c u ltu r e ,
and produce fe e lin g s o f confusion and incomprehension in the
reader."
10 Nicht z u le tz t w ird die se r Eindruck b e s tä tig t durch d ie Grup-
pe der Figuren um den Zauberer Egorka (v g l. Browning 1985:117).
11 Vgl. etwa untenstehendes Fragment:
Waz h i l f e t mich diu sumerzît
und die v i i lie h te n langen tage?

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00064786

290 André van Holk

mîn t r ô s t an einer frouwen l î t


von der ich grožen kumber trage-
w il s î mir geben höhen muot,
dâ tu o t s î tugentlîchen an,
und daz mîn frö id e w irde t guot.
(Künig Chuonrat der Junge; Wehrli 1962:275)

L I T E R A T U R

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00064786

Mythische Handlung88truktur 291

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292 André van Holk

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Peter Alberg JENSEN (Stockholm)

DER TEXT ALS T E IL DER WELT

Vsevolod Ivanovs Erzählung F a r b i g e W in d e

1.

EINLEITUNG

Im I I . T e il seiner P h ilo s o p h ie dev sym bolisch en Formen unternimmt


Ernst Cassirer den faszinierenden Versuch, ein archaisches "т у -
thisches Denken‫ ״‬als Gegensatz zum späteren "theoretischen Den-
ken" zu rekonstruieren. Der Umstand, daß Cassirer seine Rekon-
s tru k tio n in prähistorische Zeiten v e rle g t, kann indessen n ic h t
verhehlen, daß seine Gegenüberstellung aufs engste m it seiner e i -
genen Epoche verbunden i s t . Die avantgardistische Kunst der Zeh-
ner und Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts w eist eine sehr
ähnliche Gegensätzlichkeit zur M e n ta litä t des 19. Jahrhunderts
auf. Anscheinend sch re ib t Cassirer gar n ich ts über Kunst, denn
in jener fernen Z e it gab es die Kunst a ls gesonderte I n s t i t u t i o n
noch n ic h t. Dennoch finden sich zahllose Übereinstimmungen zw i-
sehen dem mythischen Denken, so wie es Cassirer beschreibt, und
der avantgardistischen Kunst, wie sie von den Avantgardisten
selbst und von der späteren Forschung ö r lä u te r t worden i s t . Ob
Cassirer dabei selbst die moderne Kunst im Auge h a tte , is t
n ic h t entscheidend. Wichtig is t fe s tz u s te lle n , daß D ie P h ilo s o p h ie
dev sym bolischen Formen als philosophische Reaktion auf die gleichen
Impulse anzusehen i s t , die in den avantgardistischen Werken
ihren ästhetischen Niederschlag fanden. Das Konzept des m yth i-
sehen Denkens i s t ein philosophisches Analogon zur ästhetischen
Archaik der Moderne.

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294 Peter Alberg Jensen

Dabei h a tte Cassirer re c h t: der in Frage stehende Gegensatz be-


trifft n ic h t nur die Kunst, sondern die ganze M e n ta litä t seiner
Epoche. Noch Jahrzehnte zuvor waren in der Philosophie F rie d ric h
Nietzsches und Henri Bergsons, in der Psychoanalyse Sigmund
Freuds und in Heinrich W ö lfflin s und Wilhelm Worringers S t i l t y -
pologien symptomatische Dichotomien geprägt worden. Es besteht
kein Z w e ife l, daß eine entsprechende P o la r itä t auch frü h e r in
der Geschichte in Betracht genommen wurde, da s ie ganz grundle-
gend i s t . Klar scheint es aber, daß die angesprochene Gegensatz-
lic h k e it fü r die K u ltu r unserer Z e it besonders re le va n t ist,
denn h ie r wird sie in e in e r ganzen Reihe von Varianten vo rge tra -
gen. Es scheint, a ls sei bei der D ifferenzierung der Geisteswis-
senschaften (im Zuge ih r e r *Verw issenschaftlichung', die para-
doxerweise se lb st eine d ire k te Folge der jetzt f r a g lic h geworde-
nen M e n ta litä t des 19. Jahrhunderts war) f ast jede einzelne D is-
z ip lin auf p a ra lle le Befunde gestoßen und bringe m it der Z e it,
unter verschiedenen B lickw inkeln und m it verschiedenen Bezugs-
punkten analoge oder k o rre lie re n d e Bestimmungen hervor. So r e i -
hen sich im Laufe von nur wenigen Jahrzehnten Begriffspaare an-
einander, die von verschiedenen Gebieten herrühren und zum T e il
Verschiedenes erfassen, aber doch, wie mir s c h e in t, der gleichen
Familie angehören - in dem Sinne, daß sie im Zuge derselben Wei-
terentw icklung bzw. Distanzierung vom p o s itiv is tis c h e n Denken
entstehen und l e t z t l i c h auf ein und dieselbe sprachtypologische
Opposition zu beziehen wären. Ich möchte eine Auswahl der 'Fami-
lie n m itg lie d e r 1 anführen, wobei die Bestimmungen in der rechten
Kolonne a ls dominant im 'modernen' Texttypus, diejenigen in der
lin k e n a ls dominant im 'k la s s is c h e n ' Text gelten d ü rfte n :

THEORETISCH VS. MYTHISCH (E. Cassirer)


Prosa/ponja t ie Poesie/obraz (A. Potebnja, Iz zapisok
po t e o r i i s lo ve s n o s ti,
1904)
le temps la durée (H. Bergson, Essai sur
les données immédiates
de la conscience, 1888)
bewußt unbewußt (S. Freud/C.G. Jung)

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Der Text ale Teil der Welt 295

A b stra ktio n Einfühlung (W. Worringer, Abstrak-


tio n und Einfühlung,
1907)
lin e a r malerisch (H. W Ö lfflin , Kunstge-
s c h ic h tlic h e Grundbe-
g r i f f e , 1916)
kla ssisch romantisch (V. Z irm u n skij, O p o ê zii
klassiČeskoj i rom anti-
českoj, 1920)
d is k u rs iv imaginär (S. Langer, Philosophy
in a new Key, 1942)
temporal s p a tia l (J. Frank, S p a tia l Form
in Modern L ite r a tu r e ,
1945)
primärer S t il sekundärer S t i l (D. Lichačev)
symbol icon/index (Ch. Peirce)
syntagmatisch/ paradigmatisch/
Kombination Selektion (F. de Saussure)
r e f e r e n t i e ll poetisch (R. Jakobson)
konsekutiv a d d itiv (E- Lämmert, Bauformen
des Erzählens, 1955)
p r o je k tiv n ic h tp r o je k tiv (V. Ivanov)1
elaborated code r e s tr ic te d code (В. Bernstein)
perspektivisch aperspektivisch (Aa. Hansen-Löve)2
re p rä se n ta tiv p rä se n ta tiv
fik tio n a l w o rtk ü n stle ris ch
Sequenz Äquivalenz/
Juxtaposition
k o n s tru k tiv organisch (B. Gasparov)3
g a n z h e itlic h fragmentarisch
Modell der Welt T e il der Welt

Die Opposition zwischen "th e o re tis c h " und "mythisch" hat,


wie auch v ie le von den übrigen erwähnten, län g st ih re Anzie-
hungskraft bewiesen. Was ih re Anwendung in der lite r a r is c h e n
S lā v is tik anbelangt, möchte ich den heutigen Stand der Forschung
folgendermaßen c h a ra k te ris ie re n .
Die Metabeschreibung der ,G eg e nsä tzlich ke it' der 'modernen'
Texte i s t gut ausgearbeitet. Aber der Erklärungswert der Termini
b le ib t h in te r ihrem d e skrip tive n Wert zurück (notwendigerweise,
da eine Mehrheit der B e g riffe d e s k r ip tiv i s t ) . Je v ie lfa c h e r die

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296 Peter Alberg Jensen

p a rtik u lä re Beschreibung und je heterogener d ie B e g r if f lic h k e it ,


desto spürbarer w ird das Bedürfnis nach einer Verständigung,
nach e in e r Erklärung des Sachgehalts, was mich zur folgenden
Frage ve ranlaß t: Is t es möglich, einen gemeinsamen Nenner fü r
die w ich tig ste n Merkmale der entsprechenden Texttypen zu finden,
wohlgemerkt einen Nenner, der den Gegensatz eben n ic h t nur noch-
mals b e n e n n t , sondern auch e r k l ä r t ?
Unser a k tu e lle s Bedürfnis is t, wie ich meine, z w e ie rle i. So
wie es uns ' ü b e r* der theoretischen Modellierung an E rklä -
rung mangelt, fe h lt es uns auch an etwas ,u n t e r 1 der Theorie
nämlich an Analysen von Textg.anzen, Analysen, die der vie lb e sp ro -
chenen Opposition Rechnung trügen. Sowohl die Erklärung der Oppo-
s it io n a ls auch empirische Untersuchungen von Texten anhand von
ih r stehen der Modellierung noch immer ziem lich nach. Kurz, der
verhältnism äßig schwachen Erklärung unserer Typologie e n ts p ric h t
eine verhältnismäßig schwache empirische Fundierung. Deshalb
möchte ic h in diesem B eitrag versuchen, an beiden die se r Punkte
ein ig e S trich e anzudeuten.

ANTHROPOZENTRISCH VS. WELTLICH

Auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner f ü r die Mehrheit der
oben angeführten Oppositionen bin ich v o r lä u fig bei der Gegen-
Überstellung von a n t h r o p o z e n t r i s c h vs. w elt-lich stehengeblieben.
Den klassischen Text k o n s t it u ie r t ein anthropozentrischer
Aspekt: Dieser Text i s t auf den h is to ris c h e n Menschen a ls das
handelnde, ordnende und in te rp re tie re n d e Zentrum der Welt bezo-
gen, v ie lle ic h t auf den h is to ris c h e n Menschen als den Ursprung
der Welt. Diese Textwelt e n ts p ric h t dem Mikrokosmos, den sie a ls
geschlossene Ordnung r e p rä s e n tie rt.
Den modernen Text dagegen k o n s t it u ie r t ein w e lt - lic h e r
Aspekt, der f ü r sich genommen kein A [d ]‫ ־‬spekt ist, w e il kein Be-
zug vorhanden i s t : Die *Origo' dieses Textes is t außerhalb des
h is to ris c h e n Menschen oder außerhalb seines h i s t о r i-
s e h e n Bewußtseins, welhalb seine Handlungen, Ordnungen und
In te rp re ta tio n e n n ic h t von wesentlichem Belang sind. Diese Text-

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Der Text ala Teil der Welt

w e it e n ts p ric h t dem Makrokosmos; sie w ill gar keine eigene Welt


sein, sondern a ls T e il der realen Welt die Welt präsentieren.
Die Bausteine und das Gerüst des klassischen Textes wie
Personen, Geschichte und Erzählung und sein Gefüge, s e q u e n tie ll
les Erzählen, M otivation und K a u s a litä t, mitsamt der menschen‫־‬
z e n trie rte n Perspektivierung des Ganzen ‫־‬ a lle s das w ird im то-
dernen Text vernachlässigt oder a b s ic h tlic h b e s e it ig t , w e il der
h is to ris c h e Mensch n ic h t mehr a ls Urheber e in e r wesentlichen
Ordnung g i l t . Im Gegenteil, h ie r is t der Mensch g le ic h anderen
Lebewesen und den Dingen (kurz: g le ic h anderen We s e n ) e i-
ner vom Menschen weder ko n zip ie rte n noch k o n t r o llie r t e n Welt‫־‬
(un]Ordnung ausgesetzt•
Es scheint m ir, daß beinahe a lle typologischen Bestimmungen
der beiden Seiten der , Meta-Opposition1 auf eine a n th ro p o ze n tri-
sehe bzw. w e lt- lic h e Anlage zurückzuführen sin d , oder aber davon
h e rg e le ite t werden können. Dasselbe g i l t fü r t r a d it io n e lle r e Be-
Stimmungen, die uns von den L ite ra tu rg e sch ich te n her bekannt
sind, wie beispielsw eise " s u je th a ftig " vs. " s u je tlo s " , "psycho-
lo g isch " vs. "antipsychologisch" et c.

Ich w i l l h ie r meine Begriffsw ahl kurz e rlä u te rn : Während mir


"anthropozentrisch" a ls Nenner f ü r den durch die lin k e Kolonne
c h a ra k te ris ie rte n Texttypus a ls z u tre ffe n d und problemlos e r-
schienen i s t 1 *, habe ich Schwierigkeiten gehabt, den entsprechen-
den Nenner fü r den , rechten' Texttypus zu fin de n . In e in e r e r -
sten Andeutung der vorliegenden Auffassung habe ic h "kosmozen-
tr is c h " vorgeschlagen.5 Aber diese Bezeichnung i s t aus mehreren
Gründen problematisch. Erstens, w e il s ie 'a s t r a le ' Assoziationen
weckt, wo das zu Bezeichnende eher durch ird is c h e K ö rp e rlic h k e it
c h a r a k te r is ie r t i s t , oder, genauer, zwischen Astralem und I r d i -
schem, Geistigem und Sinnlichem .etc. keine Unterscheidung kennt;
zweitens, w e il "kosmozentrisch", sowohl der zw eigliedrigen Form
a ls dem In h a lt des Wortes nach das zu Bezeichnende a ls dem Pol
des Anthropozentrischen ganz ebenbürtig erscheinen lä ß t, was es
aber n ic h t i s t . Denn wo die anthropo-zentrische Semiosis immer
komplex und r e la tio n a l i s t - auf einem ' Im-Verhältnis-zum-Menschen'
b a s ie rt, - i s t der Gegenpol einfach und n ic h t - r e la t io n a l; h ie r
werden die Dinge so genannt, wie sie an und fü r sich sind.®
Die S chw ierigkeit be i dieser b e g r if flic h e n Bestimmung besteht
d a rin , daß die naheliegendsten Bezeichnungen m it herkömmlichen
irreführenden Bedeutungen schon besetzt sind. Das g i l t auch fü r
" w e l t l i c h " , ein Wort, das m it der Bedeutung 's ä k u la r'
f e s t verknüpft i s t . Trotzdem bin ic h dabei stehengeblieben, denn
in seinem buchstäblichen Sinn, den der B in d e strich wiederher-

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298 Peter Alberg Jensen

s te lle n s o l l , bedeutet " w e lt - lic h " genau das, was gemeint i s t :


diese Semiosis p rä s e n tie rt die Welt, die Dinge und Wesen ir. ih -
re r s u b s ta n tie lle n E in e r le ih e it ohne re la tio n a le n hierarchischen
Vorzug fü r den Menschen.

DER ÜBERGANG ZUM NICHT-RELATIONALEN: BACHTIN UND ORTEGA У GASSET

Im Fragment seiner frühen Abhandlung über das V e rh ä ltn is z v i-


sehen Autor und Held im künstlerischen Text beschreibt Michail
Bachtin einen Wandel in diesem V e rh ä ltn is , der sich in jüngster
Z e it vollzogen habe: der Autor se i n ic h t mehr imstande, die dar-
g e s te llte Welt m itte ls seiner all-umfassenden Wertung zu fermen;
die vom Autor zu le iste nde g a n zh e itlich e Formung, die die teson-
dere 'F in a l i t ä t * des Ganzen e rs t begründet, sei ins Schwanken
geraten, seitdem der Autor seine P o s itio n außerhalb des Darge-
s t e llt e n hat aufgeben müssen:

Кризис авторства может пойти и в другом направлении. Рас-
шатывается и представляется несущественной самая позиция
вненаходимости, у автора оспаривается право быть вне жизни
и завершать ее. Начинается разложение всех устойчивых
трансгредиентных форм (прежде всего в прозе от Достоевского
до Белого; для лирики кризиз авторства всегда имеет меньшее
значение - Анненский и проч.); жизнь становится понятной и
событийно весомой только изнутри, только там, где я пережи-
ваю ее как я , в форме отношения к себе самому, в ценностных
категориях моего я - д / і я - с е б я г понять - значит вжиться в пред-
мет, взглянуть на него его же собственными глазами, отка-
заться от существенности своей вненаходимости ему; все из-
вне оплотняющие жизнь силы представляются несущественными
и случайными, развивается глубокое недоверие ко всякой
вненаходимости (связанная с этим в религии имманентизация
бога, психологизация и бога и религии, непонимание церкви
как учреждения внешнего, вообще переоценка всего изнутри-
внутреннего). Жизнь стремится забиться вовнутрь себя, уйти
в свою внутреннюю бесконечность, б о и т с я г р а н и ц , стремится и>
разложить, ибо не верит в существенность и доброту извне фор
мирукхцей силы; неприятие точки зрения извне.7

Aus dem Z it a t geht hervor, daß Bachtin den Übergang vom


klassischen Texttypus zu einem modernen in der russischen L it e -
r a tu r im Auge hat. Er erwähnt Dostoevskij und B elyj als Anfang
und Ende dieser Entwicklung, und die w eitere Erläuterung des
Überganges vom "Außensein" ( ,'A u ß e n b e fin d lic h k e it", v n e n a c h o d i-
most*) zu dem, was w ir entsprechend a ls "Innensein" ("Innenbe-

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Der Text als Teil der Welt 299

fin d lic h k e it" , v n u t r i n a c h o d i m o s t ') zu begreifen haben, i s t mei-


nes Erachtens das beste, was Bachtin über С e с h о v s Poe-
tik geschrieben hat, über čechov, den er fa s t nirgends, und
auch h ie r n ic h t, erwähnt,
Bachtins Auffassung vom Wesen des Überganges i s t n ic h t
ganz neu; einiges daran e r in n e rt an Theodor L ip p s ', Worringers
oder D ilth e y s B e g r iff der ,,E in fü h lu n g ". Bemerkenswert i s t es
aber, zum einen, daß Bachtin die Entwicklung, um die es h ie r
geht, a ls eine A rt phänomenologisehen Aspekt-Wechsels betrach-
te t; zum zweiten, daß sie fü r Bachtin vorrangig die Instanz des
Autors angeht; zum d r it t e n , daß der Übergang ein Übergang i s t
vom R e l a t i o n a l e n ( v n e n a c h o d i m o e t 9 besagt eine Rela-
tio n ) zum E i n f a c h e n ( v n u t r i n a c h o d i m o s t ‫ ׳‬besagt keine
R e la tio n ).
Dabei is t d e u tlic h , wie Bachtin die Aufhebung der Relation
zwischen Betrachter und Betrachtetem a ls den Eingang des Be-
tra c h te rs in den Gegenstand veranschaulicht ("s ic h einleben",
" v z g lja n u t' na nego ego že sobstvennymi g ła z a m i"). Es i s t aber
e b e n fa lls möglich, die Aufhebung der R elation a ls den Eingang
des Gegenstandes in den Betrachter aufzufassen, wie aus einem
anderen beachtenswerten Essay der gleichen Jahre e r s ic h t lic h
w ird , Jose Ortega у Gassets U ber den B lic k p u n k t in d e r K irn s t (1924) . 8
Ortega s e tz t die Entwicklung der abendländischen Kunst m it
e in e r k o n tin u ie rlic h e n Annäherung des Blickpunktes an den
Künstler g le ic h - von dessen B e fin d lic h k e it "draußen" am Körper
jedes einzelnen Gegenstandes über Velázquez, der den B lickpunkt
fe s tle g t ("Das Auge des Künstlers nimmt die M itte der p i a s t i -
* sehen Welt e in "; "Die Malerei des Massiven hat sich endgültig
in eine Malerei des Hohlraumes verwandelt", 318 f . ) w e ite r über
den Impressionismus, wo der Gesichtspunkt an der Hornhaut v e r-
w e ilt , bis zum Expressionismus, wo der Punkt im Bewußtsein des
Subjekts l i e g t und f o lg lic h der le t z t e Rest e in e r Distanz zwi-
sehen dem Betrachter, dem Subjekt, und dem Betrachtetem, dem
Objekt, e lim in ie r t i st . ® Ortega im p liz ie r t dasselbe wie Bach-
tin : Der Übergang, der uns in t e r e s s ie r t , ein entscheidender
S c h r itt in die ,Moderne', h e iß t Übergang vom R elationalen zum

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300 Peter Alberg Jensen

N ich t-R e la tio n a le n .


Ob w ir dabei m it Bachtin das Objekt oder aber m it Ortega
das Subjekt a ls , E n d station1 betrachten, scheint eine Angele-
genheit der pädagogischen Veranschaulichung zu sein. Gemeinsa-
me Hauptsache i s t eben, daß die R elation dazwischen aufgehoben
i s t . 10 Dennoch ve rd ie n t diese Frage eine weitere Überlegung.

An anderer S te lle habe ic h den Gegenstand der ” ornamentalen


Prosa'1 (einer Hauptvariante des , w e ltlic h e n 1 Texttypus) als
” the thing as such" d e f i n i e r t . 11 Dementsprechend habe ich oben
die Origo dieses Texttypus "außerhalb des h is to ris c h e n Bewußt-
seins des Menschen" angesetzt. J e tz t e rla u b t es Ortega, dieses
Konzept zu p rä z is ie re n . Ortega s c h re ib t, Gegenstand der moder-
nen Kunst seien keine äußerlichen Phänomene, sondern reine An-
schauungen oder Ideen. Ich möchte die betreffenden Formulierun-
gen z it ie r e n :
Der so v ie ld e u tig e Kubismus i s t n ich ts w e ite r a ls eine be-
sondere Malweise innerhalb des g le ic h z e itig e n Expressio-
nismus. Bei den Im pressionisten war die äußere O b je k tiv i-
t ä t auf ihrem Minimum angelangt. Eine weitere Verlagerung
des Blickpunktes war nur noch möglich, wenn die Malerei
über die Netzhaut, jene hauchdünne Grenze zwischen Außen
und Innen, hinwegsprang und - in gänzlicher Umkehrung
ih r e r bisherigen Funktion - uns n ic h t mehr in das außer-
halb B e fin d lich e h in e in v e rs e tz te , sondern sich darum be-
mühte, die D i n g e d e s I n n e r e n , die erdach-
ten Gegenstände, auf die Leinwand zu bringen (322, Hervor-
hebung h ie r und im folgenden von m ir, P. A. J . ) .
Der Kubismus Cêzannes [ . . . ] i s t nur ein w e ite re r S c h r itt
einer v e rin n e rlic h te n Malerei entgegen. Die Empfindungen,
das Thema der im pressionistischen Kunst, sind Zustände des
Subjekts, also reale Fakten, ta ts ä c h lic h e Veränderungen,
die sich in jenem v o llz ie h e n . Noch w e ite r innen haben die
Ideen ihren S i t z . Auch sie sind w irk lic h e s Geschehen, das
sich in der Seele des Individuums a b s p ie lt, unterscheidet
sich aber von den Empfindungen in s o fe rn , a ls ih r In h a lt -
das Erdachte - i r r e a l , unter Umständen sogar unmöglich i s t
Wenn ich m ir einen streng geometrischen Z ylin d e r denke, so
i s t mein Denken eine in meinem Innern sich vollziehende
Tatsache, der geometrische Z ylin d e r aber, den ic h denke,
i s t ein i r r e a l e r Gegenstand. I d e e n sind also s u b
j e k t i v e R e a l i t ä t e n m i t v i r t u ‫־־‬
e l l e m O b j e k t , eine v ö l l i g neue Welt, verschie-
den von der, welche die Augen uns v e rm itte ln , und wunder-
bar emporsteigend aus den Tiefen der Seele (321).
Cézanne [ . . . ] e rs e tz t die Körper der Dinge durch ir r e a le
Massen, die reine Erfindung sind und m it jenen nur in me-
taphorischem Zusammenhang stehen. S e i t h e r m a l t
ma n n u r m e h r I d e e n , die n a tü r lic h e b e n fa lls

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Der T e x t a l e T e i l d e r W elt 301

Objekte sind, aber id e e lle , dem Subjekt immanente, in tr a ‫־‬


s u b je k tiv e Objekte (321-322).
Besteht h ie r kein Widerspruch zwischen , Ideen' im Sinne Ortegas
und meiner Bestimmung der , thin g s as such'? Ich glaube n ic h t,
aber beide Konzepte bedürfen e in e r gemeinsamen P räzisierung,
damit ih re Komplementarität zutage t r i t t .
Was i s t , the th in g as such', das der ornamentale Text prä-
s e n tie rt? Es i s t , auf der einen S e ite , kein s p e z ifis c h e r Gegen-
stand, sondern ein generischer, denn ein spezifisches Ding kann
n ic h t das Ding , a ls solches* sein. Noch i s t es aber auf der an-
deren S eite ein a b stra kte r B e g r if f ; abstrakte B e g riffe sind
re in gedanklich, dieses aber i s t d in g h a ft; B e g riffe sind *durch
s i c h t i g ', dieses i s t massiv. ,The th in g as such' i s t ein
k o n k r e t e r B e g r i f f , ei n i n k o r p o r i e r -
t e r B e g r i f f oder, genauer, zumal w ir das Wort haben
‫ ־‬ein I n b e g r i f f . 12
Und was sind Ortegas , Ideen'? Für Ideen g i l t dasselbe, meine
ic h , was ic h eben von B e g riffe n behauptet habe. "Ideen sind a l -
so su b je ktive R ealitäten m it v irtu e lle m O b je k t... S either malt
man nurmehr Id e e n ..." (s .o .) - ja , eben, man m a l t die
'Id e e n ', oder die 'B e g r if f e ', die also "Dinge des Innern" (s .o .
n ic h t bleiben können; und indem sie in einem Zeichenmaterial
(Farbe, Wörter) zum ' B i l d ' , zum 'o b ra z' werden, werden die 'sub
je k tiv e n R e a litä te n ' notwendigerweise o b j e k t i v i e r t ,
und die , v ir t u e lle n Objekte' werden p r ä s e n t - sonst g ib t
es kein B ild oder keinen Text. Kurz, d ie Ideen müssen 'in k o rp o -
r i e r t ' werden. Was i s t der Unterschied zwischen der 'Idee des
Quadrats' und Malevičs S c h w a r z e m Q u a d r a t ? Letzteres i s t in k o r-
p o r ié r t . Malevič hat den B e g r iff des Quadrats gemalt und so
dessen I n b e g r if f geschaffen т d .h . das Q u a d r a t a l s
s o l c h e s p r ä s e n t gemacht.
Eben diese D iffu s io n von Ding und Bewußtsein, von Objekt und
Subjekt, von Ding und Zeichen, oder, m it C assirer, ih re K on
k r e s z e n z , i s t Ursache der terminologischen Verwirrung,
die immer noch herrscht auf dem Gebiet der modernen Kunst, wo
scheinbare Gegensätze wie 'a b s tra k t* /* k o n k r e t' und 'o b j e k t i v ' /
's u b je k tiv ' miteinander konkurrieren, sowohl in Äußerungen der
Künstler se lbst wie auch in der K r i t i k . Solche antonymischen
Termini, die unweigerlich einen polaren Sinn e rh a lte n (indem
sie das Bezeichnete vom Gegensatz abheben) sind n ic h t geeignet,
unser 'konkreszentes' Phänomen zu bezeichnen.

DIE UNSTETIGE ROLLE DES AUTORS

Wenn w ir 'm enschen-zentriert' bzw. 'w e lt - lic h ' a ls gemeinsamen


Nenner fü r unsere typologische Opposition annehmen, w ird v e r-
stä n d lic h , warum der Übergang vom klassischen zum modernen
Texttypus die Instanz des Autors v i t a l angeht, wie oben bei
Bachtin zu sehen war. Eben der mikrokosmische, menschenzen-

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302 P e te r A lb e rg J en se n

tr ie r te Aspekt des klassischen Textes is t es, der dem wertenden


, im p liz ite n A u to r' die R olle des Urhebers der ästhetischen Form
v e r le ih t : wenn der Mensch a ls h is to ris c h e r Agent im Textfokus
s te h t, wobei die 'H is t o r ie ' s ä k u la r is ie r t is t, w ird die sozio-
h is to ris c h e oder ideologische Bewertung des Ganzen von Seiten
des im p liz ite n Autors zur e in h e its s tifte n d e n Forminstanz; solan-
ge der Gang der fik tio n a le n Geschichte m it dem Gang der men-
schenweltlichen Geschichte k o r r e l i e r t , braucht man eine u r t e i-
lende Instanz, einen " s v e r š ite l' is to r ii" , was eben den im p li‫־‬
z ite n Autor zum Text-Urheber, zur 'n a tu ra cre a n s', zu dem, was
Bachtin a ls " z a v e r š it e l' " bezeichnet, macht.
Aber im Gegensatz zu Bachtins ursprü n glich er Ansicht (im
z itie r te n , unvollendeten T ra k ta t) war dies kein ästhetischer
Normalzustand, sondern eher ein archimedischer Punkt des neu-
z e itlic h e n re a lis tis c h e n Romans, ein Punkt, den w ir in der rus‫־‬
sischen L it e r a t u r ziem lich genau und überraschend eng fix ie r e n ,
sogar auf einzelne Autoren beziehen können. 1856 e r r e ic h t diese
Form i h r unstetiges Gleichgewicht m it den ersten Romanen Tur-
genevs und m it Gončarovs O b l o m o v . Das Schaffen T o ls to js mar-
k ie r t den entsprechenden Punkt ein bißchen später, m it V o jn a i
m ir und A n n a K a re n in a , während D ostoevskijs Werke von Anfang an
der anthropozentrischen auktoria le n Formung widerstreben. Und
b e re its in den folgenden Romanen der genannten Autoren, Turge-
nevs Dym, Gončarovs O b r y v und, m it der gleichen Verschiebung,
T o ls to js V o e k re e e n ie , is t die ästhetische Harmonie des vom im p li
z ite n Autor geformten Mikrokosmos z e r r ü t t e t . Sobald die Mikro-
w e it, auf der der Autor b a s ie rte , indem er sie re p rä s e n tie rte ,
gegenüber der Makrowelt nachzugeben a n fin g , konnte die fik -
tio n a le Geschichte n ic h t mehr durch die a u k to ria le Bewertung
h a r m o n i s c h "zaveršena" werden. Was w e ite r p a ss ie rte ,
is t in čechovs Werken zu sehen. Der h is to ris c h e Mensch g l e i t e t
vom Zentrum weg, die Dinge und die Phänomene rücken vom H in te r-
grund in den Vordergrund ‫־‬ die "Geschichte" h ä lt gegenüber dem
"Geschehen" n ic h t mehr stand. Und bei čechov sehen w ir auch,
was dem Autor wie auch dem E rzähler beim Übergang zu einem w e it‫־‬
liehen Aspekt w id e rfä h rt: beide Instanzen v e rlie re n an Bedeu-

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Der T e x t a la T e i l d e r W elt 303

tung und scheinen a n d e r s zu werden•

2 .
VSEVOLOD IVANOVS FARBIGE WINDE

Eben die A n d e rs a rtig k e it der Instanzen Autor bzw• Erzähler im


'w e ltlic h e n ' Text möchte ic h nun anhand eines B e is p ie ls aus den
Zwanziger Jahren des 20• Jahrhunderts besprechen. Welchen Autor
s o lle n w ir zu diesem Zwecke wählen? Obwohl ein mythischer , Ge-
n o te x t' s ic h e r lic h bei e in e r Reihe von Autoren gegeben i s t ,
sind die 'Phänotexte* recht verschieden, und es i s t n ic h t e in -
fach zu entscheiden, wo die re in s te n B e isp ie le anzutre ffen sind.
Ich habe an anderer S te lle *das Mythische' in der Prosa Boris
P i i ' n jaks behandelt und möchte mich j e t z t Vsevolod Ivanov zu-
wenden. 13
Nach P i l'n j a k g a lt Ivanov, zusammen m it N ik o ła j N ik itin ,
a ls a u g e n fä llig e r "O rnam entalist", aber nur eine kurze Weile,
vornehmlich in den Jahren 1922-1923, nach der P u b lik a tio n s e i‫־‬
ner le tz te n Partisanen-povest' C vetnye ve t r a ("Farbige Winde")
und des Romans G o l u b y e peaki ("Blauer Sand"). Ivanovs ornamen‫־‬
ta le Langprosa wurde n a ch h a ltig e r K r i t i k unterzogen, und der
Autor lie ß sich einreden, vor allem von Maksim G or'k i j , daß i h r
S t il abwegig s e i, und gab ihn a llm ä h lic h a u f. Diese Werke sind
im Westen immer noch wenig e r fo r s c h t11♦, was verwundern mag,
wenn man Ivanovs Rang neben Babel' und P i l'n j a k bedenkt. Die
Verwunderung nimmt aber ab, wenn man sie lie s t ‫־‬ fü r den Aus‫־‬
länder sind sie weniger abwegig a ls unwegsam, man braucht ein
großes Wörterbuch a ls Dschungelmesser.
Es lohnt sich aber, im L ic h te unserer Typologie einen Pfad
durch C v e t n y e v e tra zu bahnen• Der 'Ornamentalismus' war Ivanov
weniger , angeboren' a ls P i l 'n j a k , und C v e t n y e v e t r a , worauf ich
mich im folgenden beschränke, is t ein g e m i s c h t e s
Werk, das in sich das H isto risch e m it dem Mythischen, das An‫־‬
thropozentrische m it dem W eltlichen w e tte ife rn lä ß t.
Die 'Geschichte' is t wie f o l g t . 15 Das Haus Smolin ‫־‬ der
Vater, eine Tochter, die Söhne und Schwiegertöchter in einem

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304 P e te r A lb erg J en se n

entlegenen altaischen Dorf - wird in den Bürgerkrieg hineinge‫־‬


sogen. Der Vater K a lis t r a t Efimyä, der eine A rt Glaubender auf
der Suche nach seinem Glauben i s t , kehrt seiner Familie den
Rücken und w i l l eine neue gründen. Eine Z e it v e rw e ilt er im
Lager der roten A u frü h re r, wo ihm seine A u to r itä t bald eine
führende Rolle v e rs c h a fft. Fast a l le M itg lie d e r seines Hauses
kommen im Krieg ums Leben. Im F rüh ling ke h rt er in s abgebrannte
Dorf zurück und fängt a ls e rs te r an zu pflügen. E rs t da, im Bo-
den, f in d e t er seinen neuen (oder eher a lte n ) Glauben.
Auch die Kinder und Schwiegertöchter des K a lis t r a t haben
ih re T eilgeschichten, und a lle sind, wie die des A lte n , m it
dem h isto ris ch e n Geschehen v e rflo c h te n . Eben der Einbruch der
revolutionären Umwälzung in ih r Leben k o n s t it u ie r t diese Ge-
s c h ic h te -L in ie n . Das gleiche g ilt fü r w eitere V e rtre te r der
t r a d it io n e lle n K u ltu r, wie den Popen Is id o r und den k i r g i s i -
sehen Schamanen Apo.1e
In te re ssa n t is t, wie w ir als Leser über diese Geschichte
u n te r r ic h te t werden. Das geschieht zum T e il in d ir e k t . Vorherr‫־‬
sehend in C vetnye v e tra is t der Dialog, und sehr o f t müssen
w ir w ich tige Momente der Geschichte aus der d ire kte n Personen‫־‬
rede erschließen. Der Erzähler e r z ä h l t die Geschichte
n ic h t. In seiner Rede kommen zwar auch Momente der Handlungs‫־‬
entwicklung vo r, sehr v ie le sogar, wenn w ir genau hinsehen,
aber er fo k u s s ie rt s ie n ic h t. Die Sätze, die sie enthalten,
sind weder syn ta ktisch noch kompositorisch hervorgehoben, son-
dern den anderen Sätzen g le ic h g e s t e llt . Die h i s t o r i -
s e h e Entwicklung -‫ ־‬der menschenzentrierte Mikrokosmos, so-
wohl des Dorflebens a ls auch des Bürgerkriegs ‫־‬ scheint wich‫־‬
t ig e r auf der Ebene der Personen, die darüber reden, a ls auf
der Ebene der Textdarbietung, wo s ie eher p u n k tie rt is t. Obwohl
die Geschichte den in h a ltlic h e n Leitfaden im Wirrwarr b ild e t
und auch den H a u p tte il des thematischen M a te ria ls lie fe r t, wird
sie auf der Ebene des Ganzen zu keinem vorrangigen Anliegen.
Hier i s t sie d e h ie ra rc h is ie rt und in ein größeres Geschehen in ‫־‬
te g r ie r t.
Was macht dann der 'E r z ä h le r ', der uns ja besonders in t e r -

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Der T e x t a l e T e i l d e r W elt 305

e s s ie rt? Zuerst muß f e s t g e s t e llt werden, daß er kein r ic h t ig e r


Erzähler is t. Eben w e il die Instanz, die sozusagen zwischen den
d ire kte n Personenreden a u f t r i t t , n ic h t einordnet und n ic h t h ie r -
a r c h is ie r t , w ir k t er n ic h t a ls E r z ä h l e r . S e it langem
fe h lt uns h ie r eine Bezeichnung fü r den E rzähler, der kein Er-
Zähler mehr i s t , w e il er n ic h t e r z ä h lt. "E rzählerrede", "Erzäh-
lerstimme" e tc . sind n ic h t ganz b e frie d ig e n d , vor allem w e il sie
eine a ls Person aufzufassende Instanz Vortäuschen, welche aber
h ie r kaum g re ifb a r is t. Dasselbe g i l t in gewissem Maße f ü r die
Metapher der "Maske", die in der L i t e r a t u r k r i t i k der Zwanziger
Jahre B e lie b th e it gewann und die F. Snyder und E. Krasnoščekova
in den oben erwähnten Arbeiten über C v e t n y e v e tra verwenden;
auch "Maske" täuscht eine Person v o r, jemanden, der sie wech-
s e it . Auf der anderen Seite helfen uns abstrakte B e g riffe wie
"E rzä h lfu n ktio n " e tc . eben so wenig w e ite r, w e il sie zu ab stra kt
sind fü r die sehr konkrete, fa s t k ö rp e rlic h e sprachliche Ge-
s ta lt, um die es geht.
Unser Dilemma i s t um so merkwürdiger, a ls die Darbietung
stellenw eise durchaus a ls Ich-Erzählung bestimmt werden könnte.
Es kommt ein " Ic h " , ein e x p l iz i t e r Sprecher mehrmals v o r17:

(1) Плыли по овиди серебристо-фиолетовые горы. Ревели в белках


медведи или ревели водопады - непонятно. Не мне, не им.
(81/236)
(2) Ревет, говорю, бубен, как синий ветер в Тарбагатайских го -
рах, все ревет и ревет! (130/269)

Dennoch i s t C vetnye v e tra keine Ich-Erzählung, denn aufgrund der


vorherrschenden N ic h t - N a r r a tiv it ä t kann dieses "Ich " das Ganze
n ic h t konkret e in ve rle ib e n . Der Leser kann die nicht-kommunika-
t iv e , n ich t-e rzä h lb a re , un-redeartige Präsentation m it diesem
"Ich " n ic h t id e n t if iz ie r e n . 18
Wie könnte sie dann p o s it iv bestimmt werden, diese verän-
d e rlic h e , aber doch irgendwie konsistente Instanz?
Sie i s t die sprachliche P r ä s e n t a t i o n d e s
G e s c h e h e n s . Sie is t ein Medium. Auch im an thropozentri-
sehen Text i s t die Erzählerrede medial, aber d o rt v e r m it t e lt sie
die Geschichte, wie sie vom E rzähler/A utor gesehen w ird . Hier

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306 P e te r A lb e rg Jen sen

sind diese beiden medialen Richtungen (d.h. die h is to ris c h e 'Re-


la tio n ie r u n g 1 des Ganzen, wie es der Autor p e r s p e k tiv ie r t und
bewertet) abgeblendet, und an ih r e r S te lle tr itt das Lebensge-
schehen a ls solches hervor. Dieses Geschehen, diese Welt k r i -
s ta llis ie r t also keinen , E rzä h le r' heraus, keine persönliche
Instanz; das Leben s e lb s t wird e in v e r le ib t und vergegenwärtigt
in Sprache. Daran ändert n ic h ts , daß Ivanov ab und zu ein "Ic h ”
e in s e tz t, daß er sich manchmal Formen des , uneigentlichen Erzäh-
le n s ' annähert; die vorherrschende sprachliche E in s te llu n g weist
n ic h t auf eine P e rs ö n lic h k e it, sondern 'umgekehrt1 aufs Leben ‫־‬
eine Mehrheit der Segmente f l i e ß t n ic h t zu einem menschlichen
Zentrum zusammen, sondern * lä u f t zurück ins Leben'.
So w ird die Sprache des Textes zur sprachlichen E in v e r le i-
bung der Welt e in s c h lie ß lic h , in gebührender Nebenordnung, e in i-
ger Fragmente von Geschichten. Der 'S prachführer' des Textes
fü h rt n ic h t s e i n e Sprache, sondern eine Sprache der Welt,
und " e r ” fü h r t sie n ic h t, sondern w ird von ih r g e fü h rt, 'ge-
h o rc h t' ih r , wie ein T e il dem Ganzen gehorcht. Wie gesagt, kommt
"e r" gar n ic h t a ls ein 'E r ' zustande, denn g a n z h e itlic h is t nur
ein großes Geschehen, an dem der Text a ls G e sta lt zu p a r t iz ip ie -
ren tr a c h te t, von dem er a ls apostrophierende Benennung E r fü l-
lung sein w i l l .
Dieses große Geschehen i s t Ivanovs Gestaltung jenes Pols,
den Cassirer "mythisch” nennt und den ich oben a ls " w e lt lic h ”
bezeichnet habe. Es handelt sich h ie r um einen weitgehenden Ver‫״‬
such, der Natur im Sinne eines w e ltlic h e n Organismus zur Sprache
zu ve rh e lfe n . Es i s t dies e in u n iv e rs e lle r Zusammenhang, eine
'a llh a f t ' s u b s ta n tie lle E in e r le ih e it , ein organisches Gesamt-
s p ie l, in dem Elem entarkräfte wie Wind und Wasser und Feuer und
Erde walten, wo L ic h t und Dunkel wechseln, wo Berge und Bäume,
Gras und Gebüsch, Tiere und Vögel und Menschen die M its p ie le r
sind und wo sich Farben und Gerüche a ls die sin n lich e n Träger
des Zusammenhanges erweisen.
Auf der Ebene der Geschichte s e tz t sich dieser w e ltlic h e
Pol gegenüber dem h is to ris c h e n oder anthropozentrischen Pol e rs t
am Ende durch. Auf der Ebene der Präsentation aber is t er von

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Der T e x t a l s T e i l d e r W elt ■*°‫׳‬

Anfang an sta rk zu spüren. Eben w e il d ie Präsentation n ic h t zur


Präsentation e in e r G e s c h i c h t e w ird , sondern ständig
deren q u a n tita tiv überwiegende Momente dehierarchisch und a -p e r-
sp e ktivisch m it w e ltlic h e n Geschehensmomenten ,m is c h t', e n ts te h t
der Eindruck e in e r G le ich ste llu n g die se r Lebensdimensionen.
Dieser Eindruck w ird auch dadurch v e r s tä r k t, daß die gleiche
Ausdrucksweise f ü r beides angewandt w ird . Wie w ir unten an B ei‫־‬
spielen sehen werden, is t die Natur anthropomorph und der Mensch
n a tu rä h n lic h . 1 * Aber ebenso w ic h tig is t die v e r b a l e
G le ich ste llu n g m itte ls g le ic h a r tig e r sp ra ch lich e r Ausformung der
entsprechenden Sphären, weswegen s ie sich eben n ic h t zu geschie-
denen Sphären entwickeln können.
Der T e xtve rla u f z e ig t, daß es sich be i dieser *Kookurrenz'
der w e ltlic h e n Geschehensmomente m it Momenten der Geschichte um
eine Konkurrenz handelt. Die Suche des Helden K a lis t r a t Efimyć
nach seinem Glauben i s t sein Schwanken zwischen diesen beiden
Dimensionen seines Lebens. Nach außen h in , d .h . auf der Ebene
der Geschichte (der Handlung), w ir k t seine Suche r ä t s e lh a f t ,
denn K a lis t r a t is t eigensinnig und schweigt sich gerne aus,
s p ric h t nur ausnahmsweise und kurz m it seiner G eliebten, m it dem
Popen und einmal m it dem Bolscheviken N i k i t i n . Sein Inneres aber
kommt auf der Ebene der Präsentation zum Ausdruck. Während d o rt
sein Dilemma auch fü r ihn s e lb s t e r s t am Ende g re ifb a r w ird , is t
es h ie r von Anfang an le b h a ft zu spüren. Im Innern r in g t K a li‫־‬
s tra t darum, den Kontakt m it der Welt h e rz u s te lle n , und das
h eiß t ‫ ־‬an die Welt in der Sprache zu gelangen, ih re Namen zu
erlernen, das Wesenhafte namhaft zu machen, in der Sprache m it
der Welt eins zu werden. K a lis t r a t w ill n ic h t nur m it der
Welt, sondern a ls die Welt sprechen. Sein Ringen darum i s t
auf eigenartige Weise in der Präsentation des Ganzen, d .h . in
der T ex t ‫ ־‬Darbietung, ausgedrückt, ja es k o n s t it u ie r t diese
geradezu. Es s t e l l t sich heraus, daß die höchst su b je ktive Text‫־‬
E rfü llu n g , d ie , wie gesagt, keinen ' E rz ä h le r' h e r a u s k r is t a lli‫־‬
s ie r t, sich von K a lis t r a t Efimyć sozusagen , n ä h r t '. Sein Ringen
um E insicht und Worte dafür is t eine zum T e il verborgene Haupt‫־‬
quelle der Präsentation, die aber zu keiner konkreten S u b je k ti‫־‬

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308 P e te r A lb e rg Jen sen

v itä t werden w i l l , w e il die Suche von der eigenen S u b je k tiv itä t


(der h is to ris c h e n Person) in Richtung auf die ' A llh a f tig k e it'
wegführt• Erst a ls K a lis t r a t nach seinen h is to ris c h e n ,Aus-
Schweifungen‫״‬ (der Teilnahme am Vorhaben der Roten) diesen an-
thropozentrischen Weg a u fg ib t und w ir k lic h zu sich kommt, indem
er s i c h a u fg ib t, indem seine S u b je k tiv itä t m it e in e r ändern,
der w e ltlic h e n S u b je k tiv itä t eins w ird , e rs t da wird die Präsen-
ta tio n , e in g e lö s t 1 a ls Sinn des Ganzen. Die Konkurrenz zwischen
Geschehen und Geschichte w ird aufgehoben, ersteres nimmt le t z t e -
re in sich a u f, wobei ih re 'Kookkurrenz 1 in der Präsentation
sich a ls s in n - v o ll e rw e is t. Und die , ornamentale1 S u b je k tiv itä t
der Präsentation, die b is dahin id e n t it ä t s lo s - im Sinne einer
personenartigen I d e n t it ä t - gewesen i s t , e r h ä lt ih re I d e n t it ä t ,
indem sie m it dem organischen Weltzusammenhang id e n tis c h w ird.
An dieser S te lle fra g t es s ic h : Was "s te c k t dann dahinter?"
Was w ird in diesem Texttypus, in dem kein , Erzähler* mehr
anwesend i s t , aus dem , im p liz ite n Autor*? Einen im p liz ite n
Autor im Sinne der *natura creans* g ib t es h ie r auch n ic h t, eben
w e il der Text n ic h t seine eigene M ikrowelt k r e ie r t , sondern die
Makrowelt p rä s e n tie rt. *Natura creans' wäre h ie r kein Autor,
sondern eher die Natur. Wenn der Gang der Geschichte im Gesche-
hen u n te rta u ch t, kann der Text a ls Ganzes n ic h t durch eine
s o z io -h is to ris c h e menschenzentrierte Wertung , zaveršen1 werden.
Aber i s t dann die G le ic h s te llu n g des Menschen m it anderen Wesen
und den Dingen n ic h t a ls , U r t e il* m it einem im p liz ite n Autor
identisch? Nein, denn diese D ehierarchisierung s te llt die Text-
segmente n ic h t einer inhärenten Instanz g le ic h , sondern u n te r-
s te llt den ganzen Text mitsamt der *Instanzen* e in e r externen
G le ic h h e it, s te llt den Text als T e il eines ihm äußerlichen Gan-
zen h in . Das Textsubjekt is t keine 'natura creans*, sondern
Teilhaber an der Kreation e in e r großen Welt, eines großen Le-
bens. Es g ib t keinen im p liz ite n Autor im Sinne eines wertenden
, zaveršenie' des Ganzen, denn das Ganze i s t kein Ganzes in bezug
auf einen menschlichen *V o llz u g ', sondern e r s t als P a r tiz ip a tio n
an der Welt. Die t r a d i t i o n e ll e B e g r ifflic h k e it *Autor' / *Erzäh-
1 er1, die am klassischen h is to ris c h e n Diskurs e r a r b e ite t worden

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Der T e x t a la T e i l d e r W elt

is t, lä ß t sich auf den w e ltlic h e n Texttypus e ig e n tlic h schwer-


lie h a p p liz ie re n . Der im p liz it e Autor war eine h is to r is c h wer-
tende S u b je k tiv itä t und a ls solche Sinn-Erzeuger und Text-Be-
gründer. Der w e ltlic h e Text dagegen kennt keine eigene S u b je k ti-
v itä t, sondern kommt a ls Text zustande, indem er eine a - h i s t o r i -
sehe, ü b e rin d iv id u e lle S u b je k tiv itä t e r fü llt und präsent macht.

3.

Die h ie r angedeutete Auffassung von C v e t n y e v e tra lie ß e sich nur


m it sehr eingehender und umfangreicher Analyse belegen, die der
Rahmen dieses Beitrages n ic h t zu lä ß t. Abschließend möchte ich
doch eine Auswahl von Z ita te n anführen, um erstens die Weise zu
illu s tr ie r e n , auf die Ivanov die E in e r le ih e it der Phänomene aus-
zudrücken versucht, und zweitens um das e ig e n a rtig e , Zur-Welt-
Kommen1 der Hauptperson K a lis t r a t Efimyć zu belegen.

Das Naturhafte an den Menschen w ird in zahlreichen (über


100) Vergleichen und Metaphern angezeigt, in denen Menschliches
m it Naturhaftem verglichen w ird :

(3) Пришла в клеть Агриппина, сухая темная, как слежалое сено.


(35/205)
(4) Прошла в пригон Фекла, облая, туго поворотливая, как дро-
фа и с глазами, маленькими, серыми, как у дрофи, в мутной
пленочке. (17/193)
(5) Ходила подле ворот, щупая землю тонкими, как перья гуся
пальцами, Устинья. (25/196)
(6 ) Среди фургонов, рвдванов и телег, как огромный подсолнеч-
ник, плавал Наумыч. (115/260)
(7) Офицер в седле, сонно, как увядающий цветок. (136/273)
(8 ) Только, как ветер, листьями - шевелил мчавшийся джигит во-
лосатые веки мужиков. (145/279)
(9) Конопляники тошно-душные - людские лица. (43/211)
(10) Загорелые цвета кедра, лица. (102/250)
(11) Были у них тускло зеленые, как кочка в сограх, лица.
(110/256)
(12) А глаз, глубоко как сом в водах, - незаметен. (82/237)
(13) Плакала старуха широко раскрыв бельма мокрых глаз, похожих
на бабочек по темному замшелому пню. (14/191)

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310 P e te r A lb e rg J e n 8en

(14 Мутнело его желто-синее лицо, но глаза были длинные, жест-


кие и темно-зеленоватые, как у рыси. (19-20/194-95)

(15 И только словно утомленные птицы, устало махая крыльями


летели темные глаза. (99/248)
(16 Заходили проворные, как блохи, глазеньки [...] (132/270)
(17 Беспокойно пели камнем твердые глаза людей - камнем в ве-
трах и вьюгах, (115/259)
(18 Густели кроваво, как свежие раны, белесые, выцветшие глаза
мужиков. (102/251)
(19 Краснобородый высохшим, точно осенняя трава голосом заго-
ворил [ . . . ] (61/223)
(20 Был у него просящий, мелкий, как пшено голос. (36/206)
(21 Увидев [ . . . ] Семена, сказал гнилым, как водянистое бревно,
голосом• (105/253)
(22 Голос у ней ‫־‬ травы весенние. (181/304)
(23 Желтые, сытые, осенние голоса. (100/249)
(24 [...] голоса тиховейные - лен шелестит. (116/260)
(25 И голоса, как таежные сугробы. (158/287)
(26 [ . . . ] шептала слова в плаче, ‫־‬ пересыпные и мелкие, как
степные пески [ . . . ] (44/211)
(27 Только выхлестывались, как камни в потоке, слова [...]
(112/258)
(28 Как хмель по кедру, заплетаясь в плетнях, причитала Агрип-
пина. (136/273)
(29 Как лемех в черной земле, блестели у того зубы. (112/258)
(30 Грудь, как курица-черныш, подстреленная. (108/255)
(31 Плечи, как взбороненная земля. Грудь, как стога свежие.
Голос в лугах теряется. (181/304)

Auch die Gemütsbewegung oder , Seelisches' w ird m it N atur-


haftem ve rg lich e n , so daß von G e is tig k e it a ls dem dem Sinnlichen
Entgegengesetzten keine Rede i s t :

(32) И от его слов жгло и дымилось гарью сердце, как степь в


весенние палы• (43/210)
(33) Как плуг в целых землях, путались и резали коренья души
знакомые слова [ . . . ] (44/211)
(34) [...] широкое, как весенняя туча, сердце. (44/211)
(35) И ныло, как рысь зимой, тонко-свистящее сердце. (49/215)
(36) И как стрепет в небо ‫ ־־‬бьет к горам душа. (55/219)
(37) Смертоносно таяло сердце. (40/208)

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Der T e x t a l s T e i l d e r W elt 311

(38) Сухое, как береста сердце Калистрата Ефимыча. (176/300)


(39) Марева в голове пойдут, облачные, радужные, неземные...
(43/211)

Die der Natur am nächsten stehenden Personen sind K a lis t r a t


Efimyć und der Pope I s id o r . L e tz te re r scheint ganz einem grünen
sumpfigen Grund anzugehören, was Ivanov m it r e ic h lic h e r ,Wort-
magie' u n te rs tre ic h t :

(40) Лохматая, в прозелень, голова у попа Исидора. И голос


глухой, прерывистый, пахнущий зеленью болот. Идет он ши-
роко, в темно-зеленой рясе - кочка осокистая голова, коч-
ки лохматые руки. Подземная вода глаза, ясные и присталь-
ные. (22/196)

(41) Смех у него трескучий, словно раскалывалось дерево. Зубы


показывались острые и желтые, как сосновые клинья.
(24/198)
(42) Хохотали зеленоватые, пахнущие илом волосы, широкие одеж-
ды. (52/216)
(43) И шумный, как падающее дерево, долго гремел в маленьких
тесных комнатках, точно две пчелы копошились в лохматом
зеленом волосе маленькие, чужие, ясные глаза. (54-55/218)
(44) Размахивает возжами, как водорослями, лохматый облакопо-
добный поп Исидор. (85/239)

Die Zahl der Beschreibungen K a lis t r a t Efimyčs i s t gering,


was w ir als Anzeichen dafür nehmen, daß dieser Held zum T e il in
der Präsentation des Ganzen s e lb s t enthalten is t. Diejenigen,
die es g ib t , sind aber d e u tlic h genug:

(45) Был Калистрат Ефимыч особенно росл и грузен. Взрыхляли но-


ги желтую землю. Из переулка корчевался за ним запах под-
нятой земли. [ . . . ] Синяя перелетала на груди борода. Лило
от него землей и травами. (77/233)
(46) Лицо строгое и как кусты над оврагом нависли брови.
(95/246)
(47) Неослабные, тенью зашли его глаза. Тело большое и черное,
как весенние земли, оттолкнуло лавку. Претянул к мужикам
волосатые, твердые как лошадиные ноги, руки. Голос воло-
сатый, нутряной, зыбью по телам идущий. (112/257)
(48) И лед - далекие волосатые глаза Калистрата Ефимыча.
(112/258)
(49) А душа цвела иная, невысказанная, необъемлимая, не камен-
ная. (86/240)

Eine Mehrheit der angeführten B eispiele d a fü r, wie die Ge­

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312 P e te r A lb erg Jensen

mütsbewegung dem Naturhaften g le ic h t, b e tr ifft K a lis t r a t E f i-


myč. O ft is t auch zu sehen, wie zwischen dem w e ltlic h e n Vorgang
und dem Innern K a lis tr a ts keine Grenze besteht:

(50) Выл тоскливым, волчьим воем на пригоне синий


полуночный ветер.
Льдами несло с полуночи, льдами.
И лед шел на сердце, холодные глыбы с острыми,
больно режущими краями. (49/215)

Während g r ü n die 1 L e itfa r b e ' des Popen war, i s t es im Fal-


le K a lis tr a ts d u n k e l b l a u , " s in ij" . Diese Farbe i s t
auch in der Naturbeschreibung sehr w ic h tig , wodurch sich eine
weitere Verbundenheit der Person m it dem w e ltlic h e n Geschehen
h e r s t e l lt (v g l. [45] oben und w eiter [61], [64], [6 6 ] , [69],
[70] u n te n ).

(51) (...) о мужике, высоком, синебородом, и непонятном.


(25/198)
(52) Густо засинели глаза [...] (38/207)
(53) Большие, заросшие синим волосом руки [...] (67/227)
(54) Воротник курчавый, мокрый, борода синяя оттаивает -
каплет. (160/289)
(55) Синебородый по горящему ветруі (155/0)

D ingliches, wie z.B. Gebäude und Fuhrwerk, w ird auf d ie s e l-


be Weise m it Naturhaftem verglichen:

(56) Как темные цветки, отражая звезды, ‫ ־‬пахли людьми окна.


(50/215)
(57) Теплые и низкие, как коровы, дышали темно-зеленые избы.
(51/216)
(58) В светло желтую пену ныряли в долину рьщвины и телеги, как
огромные рыбы. (116/260)
(59) Пахла земля дегтем, телеги - мхами осенними, как паутина
тонкими. Смотрят колеса, как зрачки - неподвижно, по зве-
риному. (117/261)

O ft lä ß t sich kaum entscheiden, *1von wo" die Eigenschaften


"wohin" übertragen werden; sie sind sozusagen Gemeingut, keinem
einzelnen Phänomen zu eigen, denn es g ib t h ie r keine Einzelphä-
nomene:

(60) Спят самогонным угарным сном крыши Талицы. И небо над

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Der T e x t a l8 T e il d e r W elt 313

крышами спит - самогонно-синее, как голый мужик, в разо-


рванных лохмотьях. (139/275)

Die e rste Lektüre von C v e t n y e ve tra h in te rlä ß t den Eindruck,


der Text sei v o l l von Naturbeschreibungen. Aber bei näherem
Hinsehen s t e l l t sich heraus, daß ih re Zahl e rs ta u n lic h gering
is t. O ffe n s ic h tlic h sind sie sehr e f f e k t v o ll. Sie fu n k tio n ie re n
a ls Leitm otive des verzweigten Gewebes des Naturhaften, das be-
r e its an den obigen Beispielen e r s ic h t lic h is t; sie lie f e r n die
1 Hefe1 f ü r das im Text u n iv e rs e lle N atur-Substrat. Die Natur i s t
sehr s ta rk anthropomorphisiert und dynamisch, ja gewaltsam, wo-
bei die im W e rk tite l angekündigten farbigen Winde eine sehr mar-
kante Rolle spielen:

(61) В эту ночь дул в Тарбагатайских горах с севера, с далекого


моря синий, льдистый ветер. Нес он запахи льдов и холодил
души.
Ныли под ним кедры, били ему в лицо костлявыми и могу-
чими сучьями, хватали за синие волосы и трепали по земле,
среди скал и каменьев.
И злого, холодного, втискивали его в ущелье Исык Тау,
что на Чиликтинской долине - камень широкий и упрямый-
Дул в Тарбагатайских горах синий ветер. А в ущелье
Исык-Tay приходил он с запахами кедров, глухих, нечелове-
ческих болот и необузданный и едкий мял и жег камни.
(20/195)
(62) Темная плавится внизу, по долине, в камнях, Борель. Глыбы
мутные и тяжелые виновато выходят из трав. Ползут, цепля-
ясь за камень на скалу сосенки и не могут забраться. Дышат
измученно и смолисто. (59/222, Borei' i s t der Name eines
Flusses, P.A.J.)

Die B elebtheit der Natur wird bald m it Tierischem, bald m it


Menschlichem g le ich g e se tzt. Daher rü h rt u .a . der Eindruck, daß
es sich um W e s e n h a f t e s handelt, ohne weitere D if f e -
renzierung:

(63) Тоскливая вздыхала земля - запахами горькими, чужими.


Желтой лисицей шмыгнул, шевельнув кусты, ветер. (114/259)
(64) [ . . . ] и как клыки рвали синие тучи Тарбагатайские белки -
вершины. (50/215)
(65) Ярко-золотые перстни - скалы и камни неведомые на них -
лиственницы. Шелковисто-розовые снега в белках. Дышет
земля осторожно и чутко, как собравшийся в далекий путь
странник. (55/219)

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314 P e te r A lb e rg Jensen

(6 6 ) Ушел ветер и пахла земля горячими травами. Низко трепыха-


лось в горных речушках блекло-синее небо, как огромная
синяя рыба.
А вершины гор были, как красные утки в синих облаках.
А тело человека просила земля - твердо и повелительно.
А душу его просили горы. (21/195 f . )
(67) Манила голая русалка - земля в короне зеленой, с грудью
теплой. ( I b id . )

E x p liz ite h is to ris c h e Bestimmungen der Z e it des Jahres oder


des Tages (vom Typ n a s t u p i l o le to /n a s tu p il veder) kommen in
C vetnye ve tra fa s t n ic h t vo r. Die naturzyklische Z e it dagegen
is t m it dem Natur-Vorgang organisch verbunden und s p ie lt in des-
sen Benennung eine große R o lle. Ein Tal in Herbstfarben wird
folgendermaßen beschrieben:

(6 8 ) Спит леса лениво в лесах. Хвост китайского золота. Глаза


голубоватые ‫ ־‬белки тарбагатайские. [ . . . ]
А черно-лиловые пятна на пушистом желтом хвосте - ам-
бары, избы, пригоны. (87/240)
(69) Черно-синий метнулся по небу ветер. Пробежал по горам и
нырнул в тайгу, спать, в валежники замшелые и теплые.
Осень 1
XXII
Рвалась долина желтой и твердой грудью. Но жали, при-
минали бока крутые лесистые горные склоны. (93/244)

Oder das Herankommen des Winters:

(70) Дни бежали голые, в лохмотьях, синие от холода. (128/268)


(71) Бежал по земле снег, густой, сизобурый - лисица Обдорских
тундр. (163/291)

Ab und zu werden die Naturphänomene a p o s tro p h ie rt:

(72) Эх, ветер, ветер, пурпуро-бронзовый и тугой. (166/293)


(73) Эх, и голубые же, снега, запашистые! (166/294)
(74) Расступитесь, снега, разомкнитесь - голубое, золотое коль-
цо свадебное 1 (170/296)

Wie an v ie le n Beispielen b e re its zu sehen war, kommt die


s u b s ta n tie lle E in e r le ih e it der Phänomene o f t dadurch zum Vor-
schein, daß eine Eigenschaft vom einen zum benachbarten Phäno-
men übertragen w ird (v g l. [40], [42], [47], [50], [ 60] ) .

(75) Желтые, осенние голоса. Небо дремлет. Гуси сиэоперые.

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Der T e x t a l s T e i l d e r W elt ‫י‬3 1 ‫*־‬

летят на юг. И летят гулко перекликаясь, неведомо куда,


белогрудые, Тарбагатайские го р ы ... (100/249 f . )
(76) Таежными гулами пели телеги. Голоса раскатистые, как рев
зверей. Звериные, сторожкие запахи шли с трав, с г о р . . .
(121/264)
(77) Небо хмельное, играет над поляной. Лица хмельные, волоса-
тые, как кустарники. (147/280)

Diese P a r tiz ip a tio n is t besonders d e u tlic h am Schluß, wo K a li‫־‬


s tra t Efimyč bei seiner Rückkehr in s Dorf und ins Leben den neu-
geborenen Sohn Vas'ka m it sich b r in g t :

(78) А Васька [ . . - ] сосал большие и круглые груди. И небо coca-


ло из белой зимней груди голубой дым. (174/298)
(79) Таяли снега, таяли. Рождалась розовая земля. Телесного
цвета, пухлые, как младенцы, бежали на облака горы.
(176/300)

4.

Die oben angeführten Vergleiche und Beschreibungen sind , Trop-


fen' oder , Proben* des w e ltlic h e n Substrats, das ü b e ra ll in
C vetnye ve tra anwesend i s t . E x p liz it aber kommt es in e in e r Rei-
he expressiver Eruptionen zum Ausdruck, die meistens u n e rk lä rt
und u n v e rm itte lt im Text stehen. Es handelt sich dabei um den
d irekten Ausdruck des Trachtens und Ringens, das ich K a lis t r a t
Efimyćs 1 Zur-Welt-Kommen' genannt habe. V e rstreu t in der Präsen-
ta tio n kommt eine Anzahl ganz kurzer Segmente v o r, die durch be-
sonders starke E m o tio n a litä t und E x p re s s iv itä t gekennzeichnet
sind und o f t Hinwendungen an die Natur e n th a lte n . Am w ich tig ste n
sind aber sechs b is sieben etwas längere Stücke, von denen e i n i -
ge ein eigenes kurzes K a p ite l ausmachen.
Der erste Einbruch is t die folgende (in späteren Ausgaben
gestrichene) S te lle , wo ausnahmsweise der Kontext i m p l i z i t eine
Motivierung e n th ä lt und das Segment m itte ls Parenthesen abgehoben
is t. Es i s t vom Liebesakt K a lis t r a t Efimyćs und seiner neuen
Frau veranlaßt:

(80) ...Пахли травы молоком. А небо низкое, густое и зеленое,


как травы. В травах шумно дышали стреноженные лошади и
шумно хорошо дышали люди.
Мягкие и гладкие губы у Настасьи Максимовны, мягкие и

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316 P e te r A lb e rg *Sensen

гладкие травы. Тепла неутолимой радостью земля.


К земле прижимаются люди, телом гибким, плодоносным и
летним.
- Листратушка. . . ишь, в о т ... ты‫ ־‬ы ...
И зубами перебирала зеленую бороду, пахнущую спелыми
деревьями и зубами перебирала больно и остро ‫ ־״‬его душу.
- Листратушка.. .

(...Слова вы слова - плоды спелые и радостные! Губы


вы, губы, плоды теплые и жизненосные!.. Травы, вы травы -
заросла облепеталась душа вами и сами вы душа м о я!..)
...Откинулся устало и горячо. Небо увидел низкое, зе-
леное и теплое.
А еще ниже ‫ ־‬земля зеленая и теплая. (28 f . / Ø)

Hier werden d ie W ö r t e r (8 l o v a vy e l o v a ) zum *Gefäß'


der Lebensfülle ernannt, m itte ls des syntaktischen und le x ik a -
lischen Parallelism us den "Lippen" und "Gräsern" g le ic h g e s te llt,
und das Ganze wird a ls "meine Seele" a p o stro p h ie rt. In diesem
Stück wird a lle s im Leben e in s, und die Sprache wird zum Träger
der a llh a fte n E in h e it.
Dank diesem ,A uftakt* is t der Leser n ic h t to ta l überrascht,
wenn v ie rz ig Seiten w e ite r p lö t z lic h ein ganzes K a p ite l aus e i -
ner ähnlichen Apostrophe besteht. Diesmal aber s te h t sie ohne
je g lic h e Motivierung im Kontext (in dem K a lis t r a t Efimyć gar
n ic h t anwesend i s t ) :

(81) XVII
Эх, земли, вы мои земли! Ветер алтайский пахучий! Медо-
носные пыли на душе и язык, как журавль на перелете,
тоскует ! . . [...]
А небо густое и теплое, как волчий мех!
Эх, земли, вы мои, земли тучные!
Эх, радость-любовь моя, горная птица над белками!
Верую!.. (72/230 gekürzt)

Einen P a r a l l e l f a l l b ild e t das nächste Segment, Kap. XXVI, das


keinen Zusammenhang m it dem Kontext aufweist (und wo K a lis t r a t
Efimyć wiederum n ic h t in der Nähe i s t ) :

(82) . . . Как туча, обняла небо душа. Как травы ‫ ־‬обняла землю.
Костры вы мои желтые, птицы перелетные - глаза; голос -
ветер луговой, зеленый и пахучий. [ . . . ]
Эх, горы, вы мои горы. Тарбагатайские! Эх, брат мой,
волк, красношерстный!
Сердце ваше целовал !

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Der T e x t a la T e i l d e r W elt 317

Здравствуй! Здравствуй! (106 £•/254 gekürzt)

Das nächste Segment in der Reihe s te h t am Schluß des XXX. Kapi-


t e ls , nach einem kurzen Gespräch zwischen K a lis t r a t Efimyć und
dem Popen Is id o r . Wie im oben z i t i e r t e n (82) , ru ft das Subjekt
die Welt an, indem es T e ile von i h r m it Teilen seines Körpers
id e n tifiz ie r t:

(83) Эй, вы, расступитесь горы, ‫ ־‬рубахи зеленые, - жарко! Чи-


ликтинская долина - грудь волосатую, потную на солнце вы-
ставила - душно! [ . . . ]
Гуси мои - сизоперые скалы - в леса, в тайгу ушли! Го-
готом сытым сшибают ветки.
Белка - зрачок мой, - шишки кедровые точит и летит над
хвоей золотой и розовой 1
Эх, ветры мои, полосатые халаты цветов неведомых! Хозя
ин лесной кабан, клыкастый! Тарбагатайский клык твой в не
6 0 , щетина под тучи, а глаз багровый - злой и милостивый!
Пойду, пойду - всей землей пойду ! Горностай ‫ ־‬мое сер-
дце, тропы степные, таежные и горные - волосы• Волосатые
руки мои и мохнат тяжелый кабан - язык!
Эй, вы, не пришедшие, не любившие!
Осетер полощется в небе, небо полощется в реках.
Зеленый осетер, желтое небо и земля черная.
А душа ваша - радуга!
Цветите!.. (125/0)

Auf der Höhe des *h is to ris c h e n ' Engagements K a lis t r a t E f i-


myčs, wo die roten Aufrührer nach dem Sieg über die weißen Trup
pen iatam an ovcy) und die K irgisen auf der Fahrt in die Städte
sind und wo das Dorf T a lica brennt, is t die Präsentation von
Apostrophen durchsetzt. B eispiele kommen in den Kapiteln XXXVII
XXXIX vor (v g l. [72], [73] oben):

(84) Снега мои ясные - утренний глаз олений! Вся долина, вся
земля - белки Тарбагатайские. [ . . . ]
Ой, не скрипи железо по дороге, не вой за сугробом
волк, - сердце мое, как пурговая туча - по всему небу, по
всей земле ! ! . [...І
Эх, снега мои ясные, утренний глаз олений, - ждите!
(169/295 f .
(85) Эх и голубые-же снега, голубые, запашистые.
Нет, я иду, иду в снегах, пошел!
Нет,.................................................................................................
.........................................знаю,............................................................
Любовь моя, радость неутомимая,.......................
Эх, душа моя, ‫ ־‬кошева на повороте! А ковры Туркестан-
ские, - губы. [...]

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318 P e te r A lb erg Jen sen

Так любите, люди, т а к !•• (170 f . /296 gekürzt)

Das le tz te B e ispiel e r in n e rt an den ,A uftakt* in (80) oben, und


der erotische Impuls in den *Dithyramben' wird unverkennbar
(v g l, auch "Эй, вы не любившие!‫ ״‬in [83] und [ 8 6 ] unten).
Die beschwörende Apostrophierung der erstrebten w e ltlich e n
A l lh a f t ig k e it wird gegen das Ende des Textes in te n s iv e r• K a li-
s t r a t Efimyć hat seine h is to ris c h e Rolle (als ro te r Volksfüh-
re r) aufgegeben und kehrt ins niedergebrannte T a lica zurück.
J e tz t mündet die personale Ebene der G e s c h i c h t e (das
Schicksal der Familie Smolln, K a lis tr a ts Gottessuche e tc .) in
die te x tlic h e Ebene des w e ltlic h e n G e s c h e h e n s . Das
Leben als ewiger K re is la u f nimmt die Geschichte in sich auf:

( 86 ) Было так.
Земля мычит, течет слюна ‫ ־‬жует снега земля.
Дышет в сердце человечье запахами вечными, нерукотворными.
Осилишь-ли, человек?
Не осилишь!
Плечи, как взбороненная земля. Грудь, как стога свежие.
Голос в лугах теряется.
- Листратушка... полосенька сердешная...
Голос у ней - травы весенние. Растет тревогой на душе.

Ветер зеленый плодороден и светел. Здрав будь, сладок!..


К себе землю, колебли ее и жми! Семя принесет тяжелое
и розовое. (181 f . /303 f . )

Die s u b s ta n tie lle E in e r le lh e it der Menschen und des Lebens wird


durch Nebenordnung und G le ic h h e it der Eigenschaften u n t e r s t r i-
chen:

(87) Дегтем мужики пахнут. Дегтярная в небе туча. Дыиіут лица


пятна пятнами земляными.
Запахи земляные, извечные. Непереносные.
Не осилишь, не выпьешь!
Покинь деревянную нору, иди к травам.
Медведь из берлоги выехал. На мохнатой шерсти хвоя.
Ревет - скалы гнутся.
Сердце из берлоги вышло. Тело мягкое, теплое, под-
дающееся - прижми. Земля оно, пашня. (182 f . /304)

Auch der Pope Is id o r , der vorher m it K a lis t r a t Efimyć im Zweifel


war, ob man beten s o ll und zu wem, kommt j e t z t m it seinem Gebet
zurecht. Die folgende pantheistische Beschwörung d ü rfte sein

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B er T e x t a le T e i l d e r W elt 319

B eitrag zur Feier der w e ltlic h e n Wiedergeburt sein:

( 88 ) Лилово-зеленые травы рождаются. Крести их плугом! Блекло-


золотистый ветер мечется - крови его севом!
Рождение твое празднуем, земля, рождение! (183/305)

Diese sprachliche ,V e rw e ltlich u n g 1 g i p f e l t s c h lie ß lic h im


darauffolgenden K a p ite l (dem v o rle tz te n des Textes), wo v ie le s
frü h e r Angebetetes w iederkehrt, aber j e t z t n ic h t mehr a ls Er-
fle h te s , sondern a ls E rre ic h te s . Diese Rede wendet sich n ic h t
e ig e n tlic h a n d ie Natur, sie w i l l vielmehr s e lb s t eine Spra-
che der Natur sein- B eliebige Wesen werden m it dem Subjekt
g le ic h g e s e tz t, die Welt is t sein Körper:

(89) Вот горсть земли моей ‫ ־‬цветет! И зрачки мои - комья


земные, в травах 1
Шагом легким, зверины* обойду я землю и возвращусь
туда, - откуда пришел.
Ветер я, пыль золотая, гам зеленый горный!
Верьте!. .
Харьюз-рыба мечет икру, несется сердцем изгибаясь про-
тив струи. И усталую родительницу уносит струя, в озера,
обратно.. .
А в затонах песчано-клыкастый медведь, гребет ее лапой
на берег.. .
Когти мои, сколько рыб выкинули на берег?
Медведь обнимал меня за плечи, помогал.
Когти мои ‫ ־‬кедры!
Рыбы мои - облака!
А любовь моя, любовь спелая - люди, ясноголосые ле-
беди !
Так горсть земли! Цвети! Оттого, что зрачки твои -
комья земли, опутанные травами. (184/305)

In ihren Ausführungen über C v e t n y e v e tra gla u bt sich E.


Krasnoščekova imstande, die Zugehörigkeit der oben z it ie r t e n
Segmente zum ,A u to r‫״‬/ ,E rz ä h le r 1 bzw. zu K a lis t r a t Efimyä ent-
scheiden zu können (wie sie auch von den ,1Masken•' des Erzählers
s p r ic h t) . Die Stücke werden a ls "innere Monologe" K a lis tr a ts
bzw. " ly ris c h e Digressionen des Autors" bezeichnet (lirič e e k ie
o te tu p le n ija a v to ra , op. c it. 57). Von F. Snyder werden sie
entsprechend " l y r i c a l asides" genannt (op. c it. 190) oder
"th e m a tica lly and s t y l i s t i c a l l y lin ke d stanzas o f the n a rra to r's
eulogy to , and id e n t if ic a t io n w ith , nature" (195). Snyder
schreibt sie g ä n zlich dem Erzähler oder dem "D ic h te r" zu,

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320 P e te r A lb erg Jen sen

s p ric h t nur von einer "P a ra lle le " zu K a lis t r a t Efimyć, so z.B.
in unserem le tz te n B e is p ie l oben: "This image o f the p oet's
movement p a r a lle ls th a t o f K a lis t r a t Efimyć and h is u ltim a te
re tu rn to the s o il" (196).
Ich fin d e diese Auffassungen zu konservativ: sie reduzieren
das Neuartige am Werk auf b e re its Bekanntes und verkennen so das
e ig e n tlic h e ,Wollen 1 der Präsentation. Die Schwierigkeiten bei
dieser konservativen ,Buchführung' (auf das Konto des Autors
oder aber der Person) e r g ib t sich auch d e u tlic h aus e in e r For-
mulierung Krasnoščekovas:

А в конце повести текст оказывается настолько лирически


насыщенньм, что взволнованное восклицание выглядит ч а с т ь ю
с а м о г о п о в е с т в о в а н и я и может быть приписано любому герою
повести, а вернее ‫ ־‬всем: [ . . . ]
Но эти выкрики не отрицают развернутых лирических отступле-
ний, исходящих уже прямо от автора. (57, Hervorhebung von
m ir, P .A .J.)

Ich stimme der ersten Aussage ganz zu, dem darauffolgenden Postu
la t aber n ic h t. Denn in den oben z it ie r t e n Passagen g i p f e l t nach
meiner Auffassung eben die im Ganzen e rs tre b te D i f f u s i o
v o n A u t o r , E r z ä h l e r , P e r s o n u n d de
We l t . Indem der Text a ls Präsentation die organische A llh a f-
tig k e it namhaft machen, in den Wörtern m it ih r eins werden w i l l
( " S lo v a vy s l o v a " ) , en t-g re n zt sich die persönliche S u b je k tiv !‫־‬
t ä t und lö s t s ie sich in e in e r k a te g o ria l andersartigen Subjek‫־‬
tiv itä t a u f. Organische E in h e it h eiß t E in e r le ih e it des Wesenhaf‫־‬
ten. In der d iffu s e n w e ltlic h e n S u b je k tiv itä t haben die vorher
persönlichen Instanzen weder i h r re la tio n a le s 'Der-Welt-Gegen-
ü b e rg e s te llts e in ' (ih ren ' Personen-Charakter') noch ih re h ie ra r-
chische Rangordnung inne. Sie sind n ic h t mehr in t a k t , w o llte n
eben n ic h t mehr in ta k t sein. Sie w o llte n aus der Geschichte, aus
ih r e r h is to ris c h e n Schale, in das Leben hinaus.

SCHLUSSBEMERKUNG

Die oben s k iz z ie r te Auffassung von C v e t n y e v e tra b a s ie rt auf der

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Der T e x t a l s T e i l d e r W elt 321

Unterscheidung zwischen der P r ä s e n t a t i o n und der


G e s c h i c h t e und w e ite r auf meiner A nsicht, es handele
sich h ie r um eine Präsentation des G e s c h e h e n s und
n ic h t um eine der Erzählung (oder der Geschichte). Diese Ansicht
bedarf e in e r Erläuterung, um so mehr a ls sie von bestehenden
Auffassungen abweicht. Ich habe mehrmals b e to n t, daß eine Mehr-
h e it der Segmente in C ve tn ye v e tra Momente der Geschichte e n t-
h ä lt. Dieser Tatbestand hat E. Krasnoščekova zu folgender For-
mulierung veranlaßt:

От распада одной семьи к созданию другой движется сюжет


этой повести. [ . . . ] Вс. Иванов последовательно раэверты-
вает сюжетные линии всех членов семьи - они так или иначе
разрешаются к финалу [ . . . ] (53)

So konnte man schreiben, solange man auf die Opposition f a b u l a


vs. s ju ie t angewiesen war. J e tz t aber e rla u b t uns die von Wolf
Schmid vorgeschlagene D ifferenzierung der n a rra tiv e n Ebenen
einzusehen, daß es um L in ie n der Geschichte geht und n ic h t um
solche der Erzählung oder deren Präsentation. Und h ie r , in d ie -
ser Scheidung der Präsentation von der Handlung, oder, genauer,
in der Vernachlässigung der Geschichte von Seiten der Präsen-
ta tio n s p ie lt die konkrete sprachliche Ausformung der Segmente
eine entscheidende R olle .
A lle s f ü r die Geschichte und ih re V erm ittlung Grundlegen‫־‬
#

de, wie in h a ltlic h e Verknüpfung und h ie ra rc h isie re n d e , kausal‫־‬


temporale Einordnung, w ird von der sprachlichen Form der Seg-
mente n ic h t b e rü c k s ic h tig t; d ie sprachlichen Faktoren, d ie das
le is te n s o llte n , wie z.B. anaphorische P ro n a n in a lisie ru n g , Re‫־‬
la t iv a und K o rre la tiv a , subordinierende Konjunktionen und Par‫־‬
tik e l (t a k - k a k , potom u Ö to , poètom u e tc .) koitmen in diesem
Text äußerst selten oder gar n ic h t v o r. A n s te lle davon t r i t t
in der sprachlichen Ausformung die G le ich ste llu n g und Neben‫־‬
Ordnung, die w ir an Beispielen oben b e re its beobachtet haben,
sehr d e u tlic h zutage. Trotz der le x ik a lis c h exotischen Mannig‫־‬
fa ltig k e it wirken d ie Segmente in C vetnye v e tra recht monoton.
Es g ib t ein Satzmuster, das den Gesamteindruck s ta rk d o m iniert.
Diesen Satztyp kennzeichnen ein schwerer A u fta k t, Inversion von

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322 P e te r A lb erg Jen sen

Subjekt und P rädikat, wobei das Subjekt o f t w eit hinten ste h t,


und fa lle n d e In to n a tio n . Vorrangig sind komplexe und verzweigte
A ttr ib u te ; formal gehören sie o ft zum Verb (A d v e rb ia lp a rtiz i-
pien sind e rs ta u n lic h h ä u fig ) , von der Sache her aber beziehen
sie das Subjekt in die Beschreibung m it h in e in . Generell werden
semantisch und syntaktisch zusammengehörende Komponenten gern
zerrissen und nach w o rtla u tlic h e n K r ite r ie n um gestellt, und
dies in einem Grad, der das unm ittelbare Verständnis sehr beein-
tr ä c h tig t:

(90) Пересекая дорогу из тальников выходили на мостик и шли в


горы арбы киргиз. (37/206)
(91) Косогором в блекло-малахитовых порослях, по откосам в
котловину дребезжа катились, как камни, синие глыбы телег.
(121/263)
(92) Впиваясь в мясо толпы телом лошадей, сливались и прогла-
тывали они поле. (146/0)
(93) Лиловато блеснув шкуркой шмыгнула через сапог ящерица.
(46/213)
(94) Прутья плетневые отламывая грудью, билась Агриппина.
(136/273)
(95) Не слушалось его, мягко раздвигая грудь, радостно неслось,
плыло, таяло, следом за мужиками, широкое как телега
сердце: [ . . . ] (103/251)
(Siehe auch oben die B eispiele [5], [ 6 ], [18], [35], [43] , [44],
[5 0 ], [61] .)

Dieser Satztyp nimmt sozusagen keine Rücksicht auf die


G e s c h i c h t e . N icht deren übergreifender Zusammenhang,
sondern die E in h e it des Satzes als beschwörende Namensgebung
wird ausgedrückt. Die logisch-semantische D ifferenzierung, die
eine t r a d it io n e lle Syntax l e i s t e t , wird h ie r gesperrt, obstru-
ie r t und eine neue E in h e it des Satzes m it te ls anschwellender
w o r tla u tlic h e r Ausprägung g e b ild e t. Die Sätze unter sich wirken
wie g le ic h g e s te llte Nominativa. Es i s t äußerst schwierig, eine
kommunikative S tru k tu r wahrzunehmen - die Thema-Rhema-Gliede-
rung i s t v e r s c h le ie r t, und der einzelne Satz e n th ä lt nur wenige
oder gar keine D ire k tiv e n fü r den nächsten, le g t ihm keine v o r-
aussichtlichen Aufgaben auf. M it anderen Worten, die Funktion
der Segmente erw eist sich a ls eine doppelte: s ie , k o lp o rtie re n '

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Der T e x t a l e T e i l d e r W elt

Momente der Geschichte, diese aber werden von den Segmenten


n ic h t geformt; die Ausformung der Sätze formt etwas anderes -
das, was in der überaus reichen Prosodie ,darüber h in a u s ', über
den S to ff hinaus angesprochen w ird . Die Sprachform ig n o r ie r t den
Zusammenhang der Geschichte, z e rle g t ihn in nebengeordnete
Stücke, die sich m itte ls der Form einem größeren w e ltlic h e n
Vorgang verschreiben.
Diese doppelte Aufgabe, die Ivanov seiner Sprache s t e l l t ‫־‬
1 anthropozentrische 1 Geschichte zu k o lp o rtie re n und g le ic h z e itig
'w e ltlic h e s ' Geschehen namhaft zu machen, d .h . in e in s , in ein
und demselben Satz f ik t io n a le Repräsentation und w o rtk ü n s tle ri-
sehe Präsentation zu le is te n - das i s t meines Erachtens der
Hauptgrund d a fü r, daß seine Prosa so massiv und unwegsam wurde.
Dieselbe Doppelheit v e r b ie te t, C vetnye v e tra als einen ‫״‬w e l t l i -
chen' Text schlechthin zu bezeichnen. Das Werk i s t , wie anfäng-
lie h fe s t g e s te llt wurde, g e m i s c h t . Es lä ß t das 'H is to -
ris c h e ' m it dem 'M ythischen', das 'Anthropozentrische' m it dem
'W e ltlic h e n ' im einzelnen Satz w e tte ife rn .

A N ME RK UN GE N

1 V.V. Ivanov, Kategorija vremeni v iskusstve i k u l't u r e XX veka


in : Ritm, prostranstvo i vremja v lit e r a t u r e i iskusstve, L.
1974:60.
2 Aage A. Hansen-Löve, In te r m e d ia litä t und I n t e r t e x t u a lit ä t . Pro
bleme der K o rre latio n von Wort- und B ildkunst ‫ ־‬Am B e isp ie l der
russischen Moderne, in : W. Schmid/W.-D. Stempel (Hgg.), Dialog
der Texte. Hamburger Kolloquium zur I n t e r t e x t u a l it ä t , Wien 1983
(= Wiener Slaw istischer Almanach. Sonderband 11), 298 f f . Außer
den d re i von mir ausgewählten Gegensatzpaaren werden in dieser
ausgezeichneten in te r d is z ip lin ä r e n Diskussion unserer 'Grund-
opposition' noch eine ganze Reihe anderer Bestimmungen e r ö r t e r t .
3 In einem Vortrag über Roman Jakobson und N ik o ła j Trubeckoj als
wissenschaftliche V e rtre te r der polaren 'M e n ta litä te n ', gehalten
in Stockholm im Mai 1986.
ц Die Bezeichnung i s t mir bei E. M e le tin s k ij begegnet, in seiner
Poétika mifa, M. 1976:278,281.
5 Peter Alberg Jensen, Typological Remarks on Remizov's Prose,
in : G.N. Slobin (Hg.), Aleksej Remizov. Approaches to a Protean

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324 P e te r A lb e rg *lensen

W rite r, Columbus, Ohio, 1987 (= UCLA S la vic Studies. 16), 282 f .


6 F o lg lic h b lie b e auch zu fragen, in welchem Sinne und gegebenen-
f a l l s auf welcher Ebene der n ic h t- r e la tio n a le Texttypus , zen‫־‬
t r i e r t ' wäre.
7 M ich a il Bachtin, Avtor i geroj v ēstetiČ eskoj dej a t e l 1 n o s t i,
in : d e rs .. E stē tika slovesnogo tvo rče stva , M. 1979:176 f .
0 Die parenthetischen Seitenangaben im folgenden beziehen sich
auf: Jósé Ortega y Gasset, Uber den B lickpunkt in der Kunst
[O rig in a l: Sobre e l punto de v is ta en las a r t e s ] , i n : der s. , Ge-
sammelte Werke, Band I I I , S tu ttg a r t 1956:307-325.
9 H ie r, in der Aufhebung der Relation zwischen Subjekt und Objekt
w urzelt das, was Ortega y Gasset im T i t e l eines anderen k la s s i-
sehen Essays dieser Jahre a ls "Entmenschlichung der Kunst" be-
zeichnete (La Deshumanizaciön del A rte , 1925). Vergleiche dazu
auch Dm. T sch iźe w skij: "Wir sprechen von dem , Platz* des Menschen
in einem gewissen U m k r e i s . Das h e iß t aber, daß der Geist
uns je w e ils in der G e g e n ü b e r s t e l l u n g des Men-
sehen (oder der Menschengruppe) zu e t w a s * a n d e r e m '
e rs c h e in t; der Geist e r h ä lt e r s t in dieser Gegenüberstellung eine
gewisse Prägung" (Das h e ilig e Rußland. Russische Geistesgeschich-
te I , Hamburg 1959:7).
10 Die E lim in a tio n der Relation zwischen Subjekt und Objekt wie
zwischen Wort und Sache i s t oftm als e r lä u t e r t worden. Sehr schön
drückt es Marina Cvetaeva über die Dichtung Pasternaks aus:
"Между Пастернаком и предметом - ничего, оттого его дождь -
слишком б л и з о к , больше бьет нас, чем тот из тучи, к кото-
рому мы привыкли. Мы дождя со страницы не ждали, мы ждали стихов
о дожде.” (Èpos i l i r i k a sovremennoj R o ssii, in : d ie s ., Izbran-
naja proza v dvuch tomach, t . I I , N.Y. 1979:18.)
11 Peter Alberg Jensen, The Thing as such: Boris P i l ' n j a k ' s "Or-
namentalism", in : Russian L ite r a tu re XVI (1984):81-100.
12 Ich ziehe die Bezeichnung " I n b e g r if f " dem auch möglichen
"S in n b ild " vo r, erstens w e il "S in n b ild " nach seinem langen Leben
in der Kunstgeschichte schwierig abzugrenzen i s t und zweitens
w e il , I n - b e g r if f * die Einverleibung des B e g r ifflic h e n so d ir e k t
und dynamisch ausdrückt.
13 Siehe den oben (in Anmerkung 11) angeführten Aufsatz: The
Thing as such und w e ite r auch: Chronicle and Myth in P i l 1nja k,
in : N.Â. Nilsson (Hg.), Studies in 20th Century Russian Prose,
Stockholm 1982 (= Stockholm Studies in Russian L ite r a tu r e 14):
108-29.
l k Siehe die Besprechung eines B e is p ie ls aus C v e t n y e v e t r a in
Hongor O ulanoff, The Serapion Brothers, The Hague/Paris 1966:
67-71, und F rie d e rik e Snyders ausgezeichneten Aufsatz: Vsevolod
Ivanov's C o l o r e d W i n d s 1 A L y r ic a l Novel, in : S lavic and East
European Journal, Vol. 26, No. 2 (1982):187-201. Eine gute rus-
sische Behandlung des Werkes i s t E.A. Krasnoščekova, Chudožest-
vennyj mir Vsevoloda Ivanova, M. 1980:52-65.

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Der T e x t a l e T e i l d e r V e it 325

15 Die im folgenden verwendeten B e g riffe "Geschichte", "Gesche‫־‬


hen" und "P räsentation" nach: Wolf Schmid, Die n a rra tiv e n Ebenen
"Geschehen", "Geschichte", "Erzählung" und "Präsentation der Er‫־‬
zählung", in : Wiener S la w is tis c h e r Almanach, Bd. 9:83-110.
16 C v e t n y e v e t r a e n th ä lt auch eine w ich tig e P a r a lle l- L in ie zur
Geschichte der Dorfbewohner, nämlich die Geschichte der roten
Aufrührer, die in der Gegend auftauchen und unter der Leitung
des Bolscheviken N i k i t i n die Weißen besiegen. Ich werde h ie r auf
diese L in ie n ic h t näher eingehen.
17 Ich habe zwei Ausgaben von C v e t n y e v e t r a benutzt, die E rs t-
ausgabe: Vsev. Ivanov, Cvetnye v e tra . Povest' , Peterburg, "Epo-
cha", 1922, 185 S. und: Vsevolod Ivanov, Sobranie s o č in e n ij v
vos'mi tomach, t . 1, M. 1973: 186-306; le tz te r e i s t ein Neudruck
einer zweimal von Ivanov re d ig ie rte n Spätfassung des Textes. Im
folgenden z i t i e r e ich die Originalausgabe, gebe aber die
Seitenzahl (nach dem Schrägstrich) auch zur Spätausgabe.
18 Wie unten hervorgehen w ird , kann dazu noch die I d e n t it ä t des
"Ic h " n ic h t sicher f e s t g e s t e llt werden.
19 Siehe O ulanoff, op. c it. 71.

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Jan van der ENG (Amsterdam)

KOMPLIZIERUNG DER THEMATIK DURCH DEM MYTHOS

Babel's K o n a rm ija

Mehrere Gelehrte in den Vereinigten Staaten sind der Ansicht,


daß die L it e r a t u r die Funktion des Mythos übernommen hat: sie
besteht in "p ro vidin g a society w ith an imaginative v is io n of
the human s it u a t io n " . Diese Worte sind einem Aufsatz Northrop
Fryes entnoimien (1967:35). Dabei handelt es sich nach ihm n ic h t
so sehr um eine S itu a tio n , die der Mensch v o rfin d e t, als v i e l ‫־‬
mehr um die Gestaltung einer neuen Welt (1967:41). Wie im Mythos
wird in der L ite r a tu r der chaotischen Komplexität des A llta g s ‫־‬
lebens E in h a lt geboten. Fryes Verweisung auf z.B. die pastora-
len Konventionen in der amerikanischen K u ltu r und L ite r a tu r un-
te r s t r e ic h t dies (1967:35). Dasselbe t r i f f t zu auf die Ansich-
ten Bairds und Sisks, wie W illiam Van O'Connor (1958) diese z i -
tie r t und kommentiert. O'Connor b e ric h te t über die Aufmerksam-
k e it , die Baird dem "p u rs u it o f innocence" der amerikanischen
S c h r if t s t e lle r widmet. Er resümiert in diesem Zusammenhang den
Aufsatz John Sisks A m e r i c a n P a s t o r a l . O'Connor belegt dabei e i -
gene Beobachtungen m it einem kennzeichnenden Z it a t aus diesem
Aufsatz :

The common c h a ra c te ris tic o f the lit e r a t u r e he [ d . i . Sisk -


J. v . d . E . ] examines is a desire to escape from complexity.
He shows how fre q u e n tly pastoral heroes turn up in our
novels. Behind a l l t h is , he says, ' i s the whole business
of a young, hearty, clean-blooded, freedom-seeking, w ild e r-
ness-encircled band fin d in g a physical and s p ir it u a l vigor
in i t s p r im itiv e environment and asserting i t s e l f bo ldly
and successfully against an e f f e t e r , oversophisticated
fa th e rla n d '. (1958:231)

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328 Jan van dev Eng

Am besten hat v i e l l e i c h t Schorer die gemeinsame Funktion des My-


thos und der L it e r a t u r in Worte gefaßt, Worte, die O'Conr.or in
seiner Erörterung e b e n fa lls z itie r t und kommentiert (1958:228 ‫״‬
f.). Laut Schorer beschwören der Mythos und darauf die Litera‫־‬
tu r die chaotischen und fragmentarischen Aspekte des Lebens und
ordnen diese in eine g e is tig e Perspektive e in , wodurch dem Da-
sein ein Sinn zugewiesen w ird .
Wenn aber auch n a rra tiv e Werke bisw eilen bestimmte nr/tni-
sehe Aspekte aufweisen und wenn auch durch diese Aspekte ver-
sucht w ird , das d a rg e s te llte Leben v e rs tä n d lic h und durchsichtig
zu machen und gewissermaßen das Chaos der Erscheinungsfomen zu
reduzieren, so sind Mythos und Roman, Mythos und L ite r a tu r den-
noch grundverschieden.
Für die archaischen Formen des Mythos und der damit 7er-
bundenen p rim itiv e n G esellschaft is t ta ts ä c h lic h kennzeichnend,
was Bergson " la r e lig io n s ta tiq u e " nennt (1951:105 ff.) und was
Lotman a ls "e in unbewegliches System, in dem immer dieselben
Begebenheiten gemustert werden" c h a r a k te r is ie r t (1979:163 . In
einem solchen System i s t a lle s a u sg erich te t auf eine pragnati-
sehe Ordnung, die die Interessen des K o lle k tiv s und des In d iv i-
duums als eines M itg lie d s dieser Gemeinschaft g a r a n tie r t. In
dieser H in s ich t is t der Standpunkt M a lin o v s k ijs repräsentativ.
M e le tin s k ij g ib t dazu die folgende Zusammenfassung:

Миф кодифицирует шель, укрепляет определенные правила по-


ведения и санкционирует обряды, рационализирует и оправды-
вает социальные установления. Малиновский оценивает миф со
стороны его прагматической функции как инструмент разреиіе-
ния критических проблем, относящихся к благополучию кнди-
вида и общества, и как орудие поддержания гармонии с эко-
номическими и социальными факторами. Он указывает, что
миф - это не просто рассказанная история или повествование,
имеющее аллегорическое, символическое и тому подобные зна-
чения; миф переживается оборигенами в качестве своего рода
устного "священного писания", как некая действительность,
влияющая на судьбу мира и людей. (M e le tin s k ij 1976:38)

Was die L it e r a t u r b e trifft, so vergegenwärtigt sie schon in der


Antike n ic h t mehr die p r im itiv e n k o lle k tiv e n Muster der Gesell-
schaftsordnung, sondern die Anschauungsweisen in d iv id u e lle r
Dichter und Philosophen.

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Mythos in B a b e l’s ‫ה‬Konarm ija " 329

Rüssel (1944) nennt den "Todfeind eines jeden Mythos [...]


den In d ivid u a lism u s". Und die se r Individualism us hat schon rund
500 vor C h risto die klassische L it e r a t u r des Altertums geprägt.
Rüssel sagt darüber:

N icht mehr die o b je k tiv e Welt des Mythos, sondern das sub-
je k tiv e Empfinden des D ich te rs , seine Leidenschaften, [ . . . ]
sein neues Lebensgefühl war schon damals hundert Jahre vor
Euripides in den M itte lp u n k t der Poesie getreten [ . . . ] d ie -
sen in der L y rik entdeckten Individualism us haben die G rie‫־‬
chen nie wieder aufgegeben. (1944:74)

Einen ähnlichen Vorgang s ie h t Rüssel im philosophischen Denken.


Er behauptet, daß schon zur Z e it der V o rso kra tike r die A lle in -
h e rrsch a ft des Mythos gebrochen gewesen s e i. Er z i t i e r t in d ie -
sem Zusammenhang Wilhelm D ilth e y : "Dieselbe Tatsache konnte n ic h t
mehr zugleich mythisch v o r g e s te llt und gedankenmäßig e r k lä r t
werden". Und er fü g t hinzu: "Ein Mythos i s t auf die Dauer n ic h t
mehr h a ltb a r, wenn auch nur e in Philosoph unabhängig und
fre i über das Wesen der Welt seine eigene Vernunft b e fra g t"
(Rüssel 1944:75).
Bergson hat die Funktion der sogenannten statischen oder
n atü rlich e n R eligion - die e r dem Mythos g le ic h s e tz t - als p r i-
mär a n t i - i n t e l l e k t u e l l bezeichnet: "C' est une ré a ctio n d éfensi-
ve de la nature contre ce q u ' i l p o u r r a it y a v o ir de déprimant
pour l 'i n d i v i d u , e t de d is s o lv a n t pour la s o c ié té , dans l ' e x e r -
cise de l 'i n t e l li g e n c e " (1951:217).
Mythos versus Logos, Mythos "as against d ia le c t ic a l d is -
course" (Wellek 1954:195) is t eine g e lä u fig e Opposition. Man
kann sich h ie r v i e l l e i c h t auch der B e g riffe Bachtins und Lotmans
bedienen, um diese Opposition zu beschreiben. Lotman unterschei-
det das monologische System des Mythos vom dialogischen System
der L ite r a tu r , insbesondere des Romans (1979:178-179). Bachtin
verwendet die Ausdrücke p o l y p h o n i s c h und h o m o p h o n i s c h (1929:
9 f., 95 f . ) . Er beschränkt das polyphonische System auf die
Romane Dostoevskij s ; die Romane T o ls to js kennzeichnet er a ls
homophonische S trukturen. Man könnte dagegen einwenden, daß z.B.
auch im Roman A nn a K a re n in a mindestens zwei Lebenshaltungen ge-
geneinander ausgespielt werden: die c h r is t lic h e und die von

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330 Jan van d ev Eng

Schopenhauer i n s p ir ie r t e (v g l. van der Eng 1984:121; Êjchenbaum


1960:190-204).
Tatsächlich scheint m ir der Roman immer polyphonisch oder
d ia lo g is c h e in g e s t e llt , auch wenn er zum Realismus oder Natura-
lismus gerechnet w ird : die dramatischen Forderungen der D a rste l-
lung machen das unumgänglich. Auch poetische, n ic h t- n a r ra tiv e
Formen sind übrigens o ft d ia lo g is c h ve ra n la g t: die v e rm e in tlich
homophone Stimme des D ichters nimmt ja meistens n ic h t nur auf
andere poetische Äußerungen, sondern auch auf philosophische,
r e lig iö s e , p o litis c h e und andere Ansichten Bezug.
Die Wirkung der L it e r a t u r in einer t o t a lit ä r e n G esellschaft
is t h ie r aufschlußreich. Sie e r f ü l l t d o rt auf prägnanteste Weise
ih re dialogische Funktion. Diese Prägnanz z e ig t sich im n e g a ti-
ven Sinne in den harten Maßnahmen gegen S c h r i f t s t e l l e r und Dich-
te r, die gemäß ih r e r Aufgabe versucht haben, eine Suggestion der
W ir k lic h k e it in ih r e r T o t a l i t ä t zu v e rw irk lic h e n , d .h . eine
W ir k lic h k e it v o lle r Widersprüche und Anomalien, dabei n ic h t s e i-
ten paradoxal in ihrem Gemütswert und in ih r e r Verstandeskraft
sowie in mehreren Hinsichten s in n lic h erschütternd suggestiv. Im
p o s itiv e n Sinne z e ig t sich die Prägnanz im f a s t verhängnisvollen
T rieb v ie le r D ichter und S c h r i f t s t e l l e r , a lle n Zwangsmaßnahmen
zum Trotz ih re Aufgabe durchzusetzen. Die L it e r a t u r beansprucht
in ihren hervorragenden Erzeugnissen ja immer eine allumfassen‫־‬
de D arstellung, die in vergleichbaren Annäherungen an das Da-
sein - Philosophie, R e lig ion usw. - n ic h t r e a lis ie r b a r is t. Ich
möchte h ie r anführen, was ich darüber vor einigen Jahren ge-
schrieben habe:
"Die Auffassung der W ir k lic h k e it , ih re Modellierung im l i -
te ra risch e n Werk, b ild e t kein geschlossenes und ausgearbeitetes
System. Die Ausschnitte aus der Masse der Gegebenheiten gehen
Widersprüchen, Paradoxien usw. n ic h t aus dem Wege und sind n ic h t
auf eine Auseinandersetzung e in g e s t e llt , die primär psycholo-
gisch, soziologisch oder r e lig iö s usw. re le v a n t is t. Es handelt
sich vielmehr um mehrere Systeme philosophischer, r e lig iö s e r ,
psychologischer u.a. Art, die aber nur sehr fragmentarisch ange-
deutet werden. Überdies kann man o f t ein Spannungsverhältnis be‫־‬

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M ythos in B a b e l9s ‫״‬K onavm ija99 331

obachten, eine paradoxe und w idersprüchliche Beziehung zwischen


den hervorgehobenen Bruchstücken d ieser Systeme. Es hat sogar
den Anschein, a ls ob die Fragmente s e le k t ie r t und kom biniert
werden, um eine K o llis io n hervorzurufen: was so ziologisch v e r-
n ü n ftig e rs ch e in t, kann psychologisch n a c h te ilig se in , was r e l i -
giös a ls p o s it iv bewertet w ird , kann so ziologisch a ls schädlich,
psychologisch a ls ein krankhaftes Symptom angemerkt werden. Auf
dieser K o llis io n beruht eben der Eindruck, daß d ie L it e r a t u r
zwar nur fragmentarisch an psychologische, philosophische und
andere Systeme a n s ch lie ß t, dabei aber eine sehr wesentliche Pro-
blematik in den Vordergrund rü c k t, die diese Systeme in Frage
s te llt" (van der Eng 1984:115).
Die K o llis io n der Ansichten hat eine K atharsis-Funktion,
eine erlösende Wirkung: sie b e fr e it von mehr oder weniger s ta r -
ren Denkformen und untergräbt die anscheinend unwandelbaren ge-
s e lls c h a ftlic h e n S trukturen. Demgemäß scheint die L it e r a t u r in
offenbarem Widerspruch m it dem Mythos zu stehen, den man, wie
gesagt, m it einem monologischen System gleichsetzen kann. Das
bedeutet aber n ic h t, daß die L it e r a t u r keine mythischen St of f e
verwendete. Der Mythos w ird in der L it e r a t u r zu einem Element,
das weitere Komplizierung h e r v o r r u ft, das die Handlung auf t e i l -
weise ir r a tio n a le n Aktionen fußen lä ß t, das der Personendarstel-
lung ebenso unberechenbare Aspekte v e r le ih t usw. Die mythischen
Elemente verschärfen die dramatischen Ef f ekt e der Dissonanz,
v e rtie fe n Widersprüche und Paradoxe, stoßen zusammen m it r e lig i-
Ösen Ansichten, die n ic h t die d ie s s e itig e Ordnung des K o lle k tiv s
und dessen G lieder in den M itte lp u n k t s t e lle n , sondern a lle
Hoffnung auf eine andere Welt setzen. Als B e is p ie l kann h ie r
J u r ij Lotmans Abhandlung über das Verhalten der Helden in den
Romanen D ostoevskijs D e v S p ie le v und S c h u l d un d Sühne dienen.
Lotman sagt, daß f ü r die Hauptperson im ersten Roman das Rou-
le t t e auf einem System b a s ie r t, das sie zu e n t z if f e r n beabsich-
tig t, um dadurch einen formidablen Gewinn einzuheimsen. Sein
Verhältnis zum Roulette is t e in e rs e its re in r a t io n a l; er be-
tra c h te t aber andererseits den Gewinn a ls etwas Wunderbares,
als ein Auferstehen, ein unm ittelbares Ende seines früheren

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332 Jan van d e r Eng

Sünderlebens - sein V e rh ä ltn is zum Roulette is t dann m it mythi-


sehen Vorstellungen verbunden. Lotman z ie h t daraus eine P a ra lle -
le zum Verhalten Raskol*nikovs, der davon überzeugt ist, daß am
nächsten Tag seine Auferstehung vom Tode s ta ttfin d e n werde und
die Erlösung seiner Seele e r r e ic h t werden könne, und zwar durch
die H ilfe Sonjas (v g l. Lotman 1979:179). Hier scheinen sich An-
sichten aus der R eligion und der Magie zu vermischen. Weiter
g ib t es manchmal in der L it e r a t u r mythische Elemente aus dem
Bereich einer K u ltu r, die s e lb s t schon lä ng st a lle Züge einer
archaischen Gesellschaft abgelegt h a t. So i s t die Moderne n ic h t
selten durchdrungen von mythologischen Aspekten des klassischen
A ltertum s.
In Isaak Babel's K o n a r m i j a b ild e t z.B. die mythisch kompli-
z ie rte Welt der Antike mehrmals den H intergrund. Auch t r e f f e n
w ir d o rt mythische Elemente, die Transformationen a rc h a is c h -p ri-
m itiv e r R itu a lie n sind. Jüdische und c h r is t lic h e Gebräuche sto s-
sen aufeinander und vermischen sich m it offenbar in der F o lklo re
ü b e rlie fe rte n Riten des Mythos. Der re v o lu tio n ä re Kommunismus
steht dem Chassidismus gegenüber a ls ein n e u z e itlic h e r Mythos,
der eine paradiesische Welt in Aussicht s te llt.
Man kann h ie r Mircea Eliade z it ie r e n , der eine P a ra lle le
zwischen dem Marxismus und jü d is c h - c h r is tlic h e n messianischen
Ansichten z ie h t; er unterscheidet dabei a lle rd in g s n ic h t zwi-
sehen d ie s s e itig und je n s e itig g e rich te te n Bestrebungen und An-
schauungen, die entweder den Menschen und seine Erde oder Gott
und sein Reich in den M itte lp u n k t s te lle n : - ich b in der An-
s ic h t, daß die r e lig iö s e E in s te llu n g auf einen transzendenten
Gott, der jede magische Lenkung ü b e rs te ig t, dem mythischen Prag-
matismus entgegengesetzt is t. Die Praxis z e ig t jedoch, daß sich
n ic h t selten r e lig iö s e und mythische Erscheinungsformen verm i-
sehen. Dabei kann die im Judaismus d e u tlic h hervortretende Ten-
denz "der Vollkommenheit, eine ird is c h e S tä tte zu schaffen1
1 (Bu-
ber 1949:17), ein komplizierender Faktor sein.
Gehen w ir jetzt über zur Betrachtung e in ig e r mythischer
Elemente und ih re r Wirkung auf die K o llis io n der Ansichten im
Zyklus K o n a r m i j a - der g e le g e n tlic h auch a ls eine A rt Epos be-

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M ythos in B á b e l98 "K onarm ija‫״‬

zeichnet wird (Catteau 1973; Terras 1966:142 f f . ) .


In verschiedenen Erzählungen dieses Zyklus bzw. Epos begeg-
nen w ir Transformationen archaischer In itia tio n s r it e n : diese
werden in einer mehrdeutigen oder sogar scherzhaften Perspektive
dargeboten. Ein doppelsinniges I n itia tio n s r it u a l kennzeichnet
la u t Joe Andrew das Geschehen in Moj p e r v y j g u s ‫ ׳‬. Es sagt über
die Tötung der Gans:

In psychological terms i t acts as a kind of sexual i n i t i a -


t io n , the n a rra to r loses h is v i r g i n i t y . In re lig io u s terms,
he is i n i t i a t e d in to the secret r i t e s and mysteries o f
l i f e . In human terms, the o u ts id e r jo in s the group.
(Andrew 1974:20)

Die Erzählung Pan A p o le k set zt m it Metaphern e in , die möglichst


nahe an die R itu a lie n der I n i t i a t i o n rücken: Tod und Wiederge-
b u rt. Der Erzähler möchte die Revolution aufgeben und dem Künst-
1er Apolek nachfolgen:

Прелестная и мудрая жизнь пана Аполека ударила мне в голо-


ву, как старое вино. В Новоград-Волынске, в наспех смятом
городе, среди скрюченных развалин, судьба бросила мне под
ноги укрытое от мира евангелие. Окруженный простодушным
сиянием нимбов, я дал тогда обет следовать примеру пана
Аполека. И сладость мечтательной злобы, горькое презрение к
пегий и свиньям человечества, огонь молчаливого и упоитель-
ного мщения - я принес их в жертву новому обету.

Das Ende der Erzählung macht die neue Existenz des Erzählers
aber wieder rückgängig: sein Sehnen nach einem Leben â la Apolek
erweist sich a ls u n e rfü llb a r:

По городу слонялась бездомная луна. И я шел с нею вместе,


отогревая в себе неисполниі^ле мечты и нестройные песни.

Ein Gemälde des Künstlers hat den Erzähler von vornherein faszi-
n ie r t . Er s p ric h t von einem düsteren E i n f a l l : Apolek hat r e l i g i ‫״‬
öse, magische und andere Elemente auf eine sonderbare und sogar
Anstoß erregende Weise ko m bin iert. Aus dem Munde des Propheten
Johannes hängt eine winzige Schlange heraus. Dieses magische
schamanistische A t t r i b u t , das die F ä hig ke it zur Weissagung an-
deutet (v g l. Lotman 1979:171), steht jedoch in einem paradoxen
V erhältnis zu Motiven des Schwindels und des V errats: das Ant-
litz des Propheten hat die Züge des Kirchendieners Romual'd, von

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334 Jan van d e r Eng

dem in der Erzählung K o s t e t v N ovograde gesagt wurde: "Пусть


кроткое забвенье поглотит память о Ромуальде, предавшем нас без
сожаления и расстрелянном мимоходом".
Die Erzählung e n th ä lt des weiteren im Hintergrund mytholo-
gische Elemente der A ntike. Diese vermischen sich m it c h r i s t l i -
chen oder ve rm e in tlich c h r is tlic h e n Aspekten. James Falen hat
sich eingehend m it den a p o llin isch -d io n ysisch e n Hintergründen im
Leben und Werk des Künstlers Apolek und m it den provokatorischen
Aspekten in bezug auf das Christentum b e s c h ä ftig t. Er sagt: "Ba-
bei has given an extended expression of Nietzsche' s A pollo-D io-
nysus synthesis which he uses as a mocking co n tra st to the
C h ris tia n d e ity " (1974:193). Das Thema des Christentums wird
dann aber komplexer in einer Erzählung Apoleks. Diese pseudo-
apokryphe Erzählung s t e l l t - wie Falen sagt ‫ ־‬den Heiland dem
griechischen E rlö se r-G o tt g le ic h : "In takin g p i t y upon the for-
saken Deborah and becoming her lo v e r, Jesus resembles the Dio-
nysus who s im ila r ly consoled Ariadne a f t e r Theseus had abandon-
ed her" (1974:186).
In der Erzählung Z a m o s t ' e treffen in jüdischen Kreisen üb-
lic h e Riten f o lk lo r is t is c h e r Herkunft m it c h ris tlic h e m Zeremo-
n ie ll zusammen. Es handelt sich um Gebräuche und Formeln nach
dem Ableben eines Menschen: eine Münze w ird auf die Augen ge-
le g t, der Mund m it Stroh g e sp errt. Angeblich werden dadurch böse
G eister am Zugang zur Leiche gehindert. Vorher hat es c h r i s t l i -
ches Zeremoniell gegeben. Diese Elemente werden in einem Traum
des Erzählers v o rg e fü h rt; seine anbetungswürdige Geliebte
g la u b t, daß er gestorben s e i, und v o llz ie h t nacheinander c h r is t -
lic h e und jü d is c h - fo lk lo r is tis c h e Zeremonien:

- Иисусе, - сказала она, - прими душу усопшего раба


твоего.. .
Она укрепила два истертых пятака на моих веках и забила
благовонным сеном отверстие рта.

Die c h r is tlic h e n und fo lk lo r is tis c h e n Motive werden k o m p liz ie rt


durch das vorangehende Verhalten dieser Frau und die Reaktionen
des Erzählers; sie geben wiederum Anlaß zum V ergleich m it dem
In itia tio n s r it u a l. Die ganze E ntfaltung der Erzählung scheint

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Mythoe i n B á b e l98 "K onarm ija" 335

dieses Schema auf eine zyklische Perspektive e in z u s te lle n : Tod -


Eros - Auferstehung ‫־‬ Tod - Erwachen - Tod• Diese Suggestion
k o m p liz ie rt die lin e a re Abfolge einzelner Gegebenheiten.
Der Erzähler is t im Anfang wie gestorben: er s c h lä ft in
einer Mulde wie in einem Grabe. Im Traum folgen darauf erschüt-
ternde seelische und k ö rp e rlic h e Erlebnisse. Er i s t wie a u fe r-
standen. Dann aber w ird diese Auferstehung aufs neue abgelöst
von Erlebnissen des Todes: Symptomen der Erstickung, den R itua-
lie n des Totenkults• Endlich wacht er auf. Die R e a litä t besteht
in v is u e lle n und a u d itiv e n Signalen eines Pogroms: Der Tod
h e rrs c h t. Seine H errschaft gelangt zum Ausdruck in den synästhe-
tischen Metaphern: "И в тишине я услышал отдаленное дуновение
стона. Дым потаенного убийства бродил вокруг нас".
Die thematische Essenz des Zyklus besteht meiner Meinung
nach in der Opposition: messianischer Chassidismus vs. kommu-
n is tis c h e Revolution. Chassidismus und Kommunismus konkurrieren
a ls zwei Modellierungen des Daseins, die eine neue Welt bezwek-
ken. Zwar sind die beiden Bewegungen grundsätzlich unterschie-
den: der Chassidismus hat eine transzendente O rientierung, sucht
die Anwesenheit Gottes in a lle n Wesen und Dingen und h o f f t auf
seine ze n tra le S te lle in der ersehnten kommenden Vollendung auf
Erden. Die kommunistische Eschatologie is t durchaus d ie s s e itig
und a n t i- t h e is t is c h . Dennoch g ib t es in der D arstellung Babel's
gewisse Berührungspunkte, die einen p a r t ie lle n Zusammenhang der
beiden Bewegungen im Denken der Protagonisten mehr oder weniger
ermöglicht haben.
Der Unterschied w ird aber vor allem in den Worten Gedalis
betont: der T e rro r auf dem Wege zum Endziel v e rträ g t sich n ic h t
m it der Freude am momentanen Dasein, das f ü r den Chassiden schon
g ö ttlic h e Spuren e n th ä lt, die das Land der Verheißung ankündi-
gen. Gedali sagt:

Революция ‫ ־‬скажем ей да, но разве субботе мы скажем нет?


[ . . . ] Да, кричу я революции, да, кричу я ей, но она пря-
чется от Гедали и высылает вперед только стрельбу [ . . . ] Вы
стреляете потому, что вы - революция. А революция - это же
удовольствие. И удовольствие не любит в доме сирот. Хорошие
дела делает хороший человек. Революция - это хорошее дело

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336 Jan van d e r Eng

хороших людей. Но хорошие люди не убивают.

Ат Ende der Erzählung s p i e lt der Erzähler auf diesen unüber-


brückbaren Gegensatz m it dem pointierenden Schlußsatz an:

Заходит суббота. Гедали ‫ ־‬основатель несбыточного Интер-


национала - ушел в синагогу молиться.

Diese Pointe m a rkie rt die Vermischung und die K o llis io n des


Chassidismus und des Kommunismus, zweier Bewegungen, die auf
eine harmonische E ndsituation h in z ie le n , wobei der Humanismus
der chassidischen Eschatologie dem grausamen Weg zur kommuni-
stischen Utopie entgegengesetzt w ird . S e lb stve rstä n d lich is t der
Ausdruck o s n o v a te l ' nesbytodnogo In te m a c io n a la primär iro n is c h ge-
fä rb t. Sekundär kommt in ihm aber die d ia le k tis c h e Themenent-
Wicklung zur Geltung: humane Umgestaltung im Gegensatz zum ge-
waltsamen Umsturz. Dazu gehört der Kontrast zwischen dem Anfang
und dem weiteren V erlauf der Erzählung. G e d a li beginnt m it nost-
algischen Erinnerungen an die K in d h e it des Erzählers. Diese Er-
innerungen beziehen sich auf die - zum T e il - magischen R itu -
a lie n am Vorabend des Sabbats:

В субботние кануны меня томит густая печаль воспоминаний.


Когда-то в эти вечера мой дед поглаживал желтой бородой
томы Ибн-Эзра. Старуха в кружевной наколке ворожила узлова-
тыми пальцами над субботней свечой и сладко рыдала.

Das h ie r erwähnte R itu a l hat das Leben manches jüdischen Kindes


geprägt. Das kann man lesen in Mark Zborowskis und E lizabeth Her-
zogs Buch L ife is w ith P e o p le . The Je w ish L i t t l e Town o f E a s te rn E urope:

The woman o f the House lig h t s the candles, praying as she


does so 1 *Blessed a r t Thou, oh Lord our God, king o f the
universe, who hast hallowed by His Commandments and com-
mands us to k in d le the Sabbath l i g h t !" She says the prayer
in Hebrew, which she may or may not understand, f o r Hebrew
is the language o f r e lig io n . [ . . . ] Having lig h te d the
candles she moves her arms over them in a gesture o f em-
brace, drawing to her the holiness th a t ris e s from th e ir
flames. She draws the holiness to h e r s e l f , but not fo r h e r-
s e lf o n ly , fo r she represents her household.
In the glow o f the flames and o f t h e i r s a n c tity she
covers her eyes w ith her hands, and now she says her own
prayer, d ic ta te d by her h e a rt. This prayer i s not in the
language o f r i t u a l but in Y iddish, her own v e r n a c u l a r . [ . . . ]
Often she weeps as she prays and i t would be hard to say

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Mythos i n B a b e l's ,*Konarmija” 337

to what extent the tears themselves are p a rt o f the r i t u a l .


For so many generations women have wept as they prayed over
the Sabbath candle, tears o f g r ie f or o f g ra titu d e , o f hope
o r fe a r, tears fo r themselves, f o r t h e i r fa m ilie s , fo r
t h e i r people. Through the years l i t t l e g i r l s have seen
t h e i r mothers standing ra p t and the tears between t h e ir
fin g e rs shining in the candle l i g h t , seeming to be p a rt o f
the prayer. (Zborowski/Herzog 1952:43)

Die Erzählung G e d a l i beginnt ‫ ־‬wie gesagt ‫ ־‬m it vergleichbaren


B ild e rn aus der Kindheit des Erzählers. Vor dem Hintergrund d ie -
ser D arstellung des intimen jüdischen Familienlebens gewinnt der
scheinbar ironische Schluß neue Nuancen. Auch verblassen die
Klischees der Bravour, m it denen der Erzähler im vorangehenden
zentralen T e il seiner Erzählung die In te rn a tio n a le v e r t e id ig t .
Nachdem Gedali ihm vorgeworfen h a t, daß im Namen der In te r n a tio -
naie sinnlos gemordet und geplündert werde, e rw id e rt der E r-
Zähler:

Его [ d . i . die In te rn a tio n a le ‫ ־‬J. v . d . E . ] кушают с порохом


[ . . . ] и приправляют лучшей кровью.

Es i s t bezeichnend, daß g le ic h nach diesen Worten - kurz vor


dem pointierenden Schluß ‫־‬ die nostalgischen Motive aufs neue
die Oberhand gewinnen:

И вот она взошла на свое кресло из синей тыдо, юная


суббота.
- Гедали, - говорю я, - сегодня пятница, и уже настал
вечер. Где можно достать еврейский коржик, еврейский
стакан чаю и немножко этого отставного Бога в стакане
чаю?

Mit den le tz te n Worten dieses Passus macht der Erzähler eine


ironische Anspielung auf den chassidischen Glauben, daß der
Mensch Funken des G öttlichen ü b e ra ll in der Schöpfung entdecken
kann, auch in den profansten Dingen (Buber 1949:19; 1978:13).
Dieser Glaube bezieht sich gewissermaßen auf die Lehre der
Kabbala, obgleich der Chassidismus, im Gegensatz zur Kabbala,
die Trennung zwischen dem Profanen und dem H eiligen und die da-
raus hervorgehende Askese ablehnt. Gleichwohl g ib t es einen
Anhaltspunkt in der kabbalistischen Auffassung, daß bei der
Schöpfung etwas fehlgegangen und f o lg lic h das H e ilig e im Pro-

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338 Jan van d e r Eng

fanen verschlossen i s t . Es i s t die Aufgabe des Menschen, das


H e ilig e in der Schöpfung aufzudecken. Der Chassidismus w i l l
aber n ic h t, daß der Mensch zu diesem Zwecke den sinnlichen Freu-
den abschwört und den tragischen Umständen des Lebens, wo es
möglich i s t , aus dem Wege geht - der Mensch s o ll im Gegenteil
das a lle s hinnehmen und a ls energische T riebfeder verwenden im
Dienst seiner Aufgabe, sich dem H eiligen zu nähern. Er s o ll im-
mer versuchen, an der Freude des Daseins teilzuhaben, wie schwer
die Zeiten auch sind. Durch die Ausrichtung auf das H e ilig e kann
ja jeder Mensch jeden Augenblick, auch wenn er den schlimmsten
Umständen anheimgefallen ist, e r lö s t werden (Buber 1978:267 f f . ;
Fuks/Hoffman u.a. 1982:26).
Diese Idee und somit die Synthese zwischen dem Profanen und
dem H eiligen und die entsprechende Ablehnung jedes Asketismus
bild e n wohl den Hintergrund der Freude am Leben, die dem Chassi-
dismus, den verhängnisvollsten Ereignissen zum Tr ot z, eigen ist.
Es i s t kennzeichnend fü r den E rzähler, daß er sein Verständnis
fü r den chassidischen Glauben und die damit verbundene Lebens-
Sphäre v e rrä t und zugleich Distanz zu ihnen zu halten versucht.
Einem ähnlichen Verhalten gegenüber der chassidischen Le-
bensbejahung begegnen w ir in der Erzählung R a b b i . Während drau-
ßen der Krieg wütet, herrsch t im Hause des Rabbi Freude:

Рабби благословил пищу, и мы сели за трапезу. [...]


Пустыня войны зевала за окном.

Im Zentrum steht der Rabbi oder - wie man ihn in chassidischen


Kreisen bezeichnet - der ‫״‬Tsaddik", der Rechtschaffene, der das
Volk u n te r r ic h te t, der k ö rp e rlic h e und seelische H ilf e le is t e t,
besonders in Zeiten des Elends, der zum Widerstand gegen die
destruktiven Kräf t e der Verzweiflung und zur B e te ilig u n g am
Glücksempfinden, an der Freude Gottes, ungeachtet der Schläge
des Schicksals, anregt (Buber 1949:21 ff.).
Diese Unterrichtungen und Anregungen finden s ta tt durch
Fragen des Tsaddik und durch seine Kommentare auf die Antworten
des "D is z ip e ls ", im gegebenen F a lle des Erzählers. Der Rabbi
wendet sich dreimal an den Erzähler m it Fragen, d ie das E in -

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Mythos in Babel '8 ,,Konarmija” 339

gangswort E v r e j e n th alten : "Откуда приехал еврей? Чем зани-


мается еврей? Чего ищет еврей?" Diese Fragen v e rm itte ln den E in-
druck e in e r In itia tio n s z e re m o n ie . Die Antworten des Erzählers
sind dabei d e ra rt, daß er Rabbi Motalê anscheinend a lle Möglich‫־‬
k e ite n zur U nterrichtung b ie t e t : die wesentlichen Aspekte der
chassidischen Lehre werden vom Tsaddik e r ö r t e r t . So v e r m it t e lt
er scheinbar in gegenseitigem Einvernehmen ein metaphorisches
B ild von der Essenz des Chassidismus. Er äußert sich ‫־‬ nachdem
er den E rzähler a ls Übersetzer des jüdischen T i l l E u le n a p ie g e l,
des R e r e c h e l e gelobt hat - folgenderweise:

- Великий труд, ‫ ־‬прошептал рабби и сомкнул веки. - Шакал


стонет, когда он голоден, у каждого глупца хватает глупости
для уныния, и только мудрец раздирает смехом завесу бы-
тия...

Andere Kommentare des Rabbi un te rstre ich e n auch seine Gering‫־‬


Schätzung des Leidens. Er scheint dem Leiden sogar einen gewis‫־‬
sen Wert beizumessen, insofern es ein gesteigertes Bewußtsein
vom Wesentlichen, vom H eiligen v e r m it t e lt . Seine Kennzeichnung
der Stadt Odessa - des Geburtsortes des Erzählers ‫־‬ is t in d ie -
sem Sinne aufschlußreich:

‫ ־‬Благочестный город , [ . . . ] звезда нашего изгнания, не‫־‬


вольный колодезь наших бедствий!...

Freude am momentanen Dasein und m ild e r Sarkasmus färben seine


Worte, a ls er dem Erzähler die erwünschte F rö h lic h k e it gewährt:

[ . . . ] пусть молодой человек займет место за столом , пусть


он ест в этот субботний вечер вместе с остальными евреями,
пусть он радуется тому, что он жив, а не мертв, пусть он
хлопает в ладоши, когда его соседи танцуют, пусть он пьет
вино, если ему дадут вина...

Zu dieser le ic h te n Stellungnahme b ild e t die vorangehende Äuße‫־‬


rung Gedalis ein düsteres Gegengewicht. Aber auch Gedali s p ric h t
dem Chassidismus unsterblichen Wert zu:

Старик сказал:
‫ ־‬В страстном здании хасидизма выішблены окна и двери, но
оно бессмертно, как душа матери... С вытекшими глазницами
хасидизм все еще стоит на перекрестке ветров истории.

Wir könnten h ie r auf den chassidischen Grundsatz verweisen, nach

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340 Jan van d e r Eng

dem der Mensch das Unsinnige aushalten s o ll, um eben dadurch Er-
lösung zu erlangen.
Die Stellungnahme des Erzählers w ird k o m p liz ie rt durch sein
Interesse an dissonierenden Momenten. Die frö h lic h e n Tischgäste
im Hause des Rabbi c h a r a k te r is ie r t er a ls b e e n o va tye , lê e o y i r o to -
z e i, und er widmet seine besondere Aufmerksamkeit dem k e t z e r i -
sehen Sohne des Rabbi. Man hat den jungen Mann o ff e n s ic h t lic h
unsanft gezwungen, der Sabbatfeier beizuwohnen:

Вдруг я увидел юношу [ . . . ] с лицом Спинозы [ . . . ] Он курил


и вздрагивал, как беглец, приведенный в тюрьму после по-
гони.

W itzige Verstösse gegen den Chassidismus fesseln den E rzähler,


so z.B. die verblümte B it t e um Geld, die der Possenreißer der
G esellschaft, namens Mordchê, an ihn r ic h t e t (v g l. Friedberg
1978:192 f . ) :

‫ ־‬Мой дорогой и такой молодой человек, - забормотал Мордхе


за моей спиной и дернул меня за пояс, - если бы на свете
не было никого, кроме злых богачей и нищих бродяг, как жи~
ли бы тогда святые лкди?
Я дал старику денег и вышел на улицу.

Insbesondere bemüht sich der E rzäh ler, die Pointe in e in e r s o l-


chen Weise auszuarbeiten, daß sie einen scharfen Gegensatz zur
vorhergehenden D arstellung des Chassidismus b i ld e t . Die Pointe
a k z e n tu ie rt die Rolle des Erzählers im Bereich seiner T ä tig k e it
a ls B e ric h te r s ta tte r und Propagandist. Insbesondere g i l t das
fü r die Ausstattung des h e ll erleuchteten Zuges-der-Propaganda-
u n d -d e r-A g ita tio n . In expressiven Worten werden die Apparate der
Rundfunkstation und der Druckerei hervorgehoben. Babel‫״‬s Tage-
buch e n th ä lt Eintragungen, die zeigen, wie 3ehr ihm die Kon‫־‬
tra stw irku ng der Pointe am Herzen lag (v g l. L ite ra tu rn o e пав l e d -
8tv o Bd. 74). Er h a tte offen b ar die A b sich t, dadurch erstens
den F o r t s c h r it t des neuen technischen Z e ita lte r s gegen den Ob-
skurantismus des Chassidismus auszuspielen und zweitens das Ge-
spräch des Erzählers m it dem Tsaddik a ls eine fast betrügerische
Komödie zu e n tla rven . Wenn aber im Rahmen d ie se r Erzählung die
Pointe den Abstand des Erzählers zum Chassidismus a k z e n tu ie rt,
so gewinnt seine Stellungnahme im Rahmen der R e i t e r a r m e e als

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M ythos i n B abel ‫ ׳‬8 ‫ ״‬K onarm ija341 ‫״‬

Ganzem eine andere Bedeutung, die dem w id e rs p ric h t, was in Geda-


li und R a b b i gewissermaßen a ls seine Perspektive su g ge rie rt
w ird : Geringschätzung, Distanz und sogar Iro n ie und Spott. Aus
der u rsprünglich a ls le t z t e r T e il des Zyklus geplanten Erzählung
Syn Rabbi muß man einen entgegengesetzten Schluß ziehen. Diese
Erzählung beginnt m it einem Rückblick. Der Rückblick hat h ie r
fast die Bedeutung, die Eberhard Lämmert m it ihm verbindet
(1968:129). Der Erzähler e rin n e rt sich an die Sabbatfeier im
Hause des Rabbi. Es hat den Anschein, a ls handele es sich um ein
w e rtv o lle s E rle b n is; das geht aus dem entzückten Ton hervor, in
dem der Erzähler der vergangenen Feier gedenkt. Ebenso bemer-
kenswert wie überraschend i s t der Umstand, daß der Erzähler von
Vorgängen b e ric h te t, von denen zuvor gar n ic h t die Rede war und
die damals auch ganz unmöglich erschienen. Babel' verwendet h ie r
das Verfahren der p a v a l i p 8 e - um einen Terminus Gerard Genettes
zu gebrauchen (1972:93). Es handelt sich um eine Rückwendung,
die sich auf eine Periode b ezieht, die anscheinend erschöpfend
d a r g e s te llt wurde; bestimmte w ichtige thematische Elemente wer-
den durchaus auch w ie d e rh o lt, z.B. Motive, die einen scharfen
Gegensatz zur Feier b ild e n : "Пустыня войны зевала за окном".
V ö llig unerwartet werden dann aber n a ch trä g lich ganz neue Um-
stände und Ereignisse erwähnt. Zunächst i s t es e rs ta u n lic h , daß
der Erzähler sich jetzt an einen intimen Freund wendet, V a s ilij ,
der n ic h t nur dem Leser v ö l l i g unbekannt i s t , sondern sich a ls
M itg lie d der T ischg e se llsch a ft bei der Sabbatmahlzeit auch
schwer v o rs te lle n lä ß t. Hat der Erzähler die Gäste n ic h t als
beenovatye, Izeoy i v o to z e i gekennzeichnet? V a s i l i j gehört offenbar
n ic h t zu ihnen, wie die Anrede z e ig t:

Помнишь ли ты Житомир, Василий? Помнишь ли ты Тетерев, Ва-


силий, и ту ночь, когда суббота, юная суббота кралась вдоль
заката.. . usw.

Das w ich tig ste der unerwarteten Begebenheiten besteht aber in


dem A n te il, den der Sohn des Rabbi an den R itu a lie n der Feier
hat:

Потом раздвинулась завеса шкапа, и в похоронном блеске све-


чей од увидели свитки Торы, завороченные в рубашки из пур-

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342 Jan van d e r Eng

пурного бархата и голубого шелка, и повисшее над Торами


безжизненное, покорное, прекрасное лицо Ильи, сына рабби,
последнего принца в династии...

O ffe n s ic h tlic h hat der Rabbi seinen Sohn m it der Vorlesung aus
dem Pentateuch b e a u ftra g t.
Diese Erzählung b ild e t auch in anderen Hinsichten einen Ge-
gensatz zur Erzählung R a b b i . In R abbi is t der Sohn a ls ein Ab-
trü n n ig e r d a rg e s te llt:

Это сын рабби, Илья [ . . . ] проклятый сын, последний сын, не-


покорный сын.

In der v o rle tz te n Erzählung . ( S y n R a b b i) is t es anders. Wenn der


junge Mann tö d lic h v e r le t z t in den Panzerzug hineingezogen w ird ,
s ie h t man unter seinen Habseligkeiten neben Abbildungen Lenins
und F lu g s ch rifte n T ro c k ijs auch P o rträ ts des Gelehrten Majmoni-
des, althebräische Verse, das Hohelied. Am Ende der Erzählung
werden sogar die P h ila k te rie n erwähnt, die bekanntlich Auszüge
aus dem Pentateuch e ntha lte n . Es hat den Anschein, als ob diese
Dinge eine Geisteshaltung bekundeten, die den Judaismus m it dem
Marxismus-Leninismus ve rbin de t: d ie Ideale des Messianismus und
der In te rn a tio n a le scheinen sich h ie r miteinander zu vertragen.
P o litis c h e und anthropologische Zeichen der Neuzeit, die ‫ ־‬wie
gesagt - nach Eliade und auch nach Christopher Frye das z e itg e -
nössische mythische Denken v e rtre te n -, treffen h ie r m it bedeu-
tungsschweren Daten zusammen, die s e it a lte rs h e r die jüdische
G esellschaft in s p ir ie r t haben. Was diese le tz te n Werte anbe-
la n g t: n ic h t ohne Grund hat der Autor in seinen Erzählungen dem
glückseligen Gehalt seiner K indheitserlebnisse und dem Freudig-
k e its k u ltu s des Chassidismus am prägnantesten Ausdruck v e r lie -
hen. In b ild h a fte n Darlegungen w ird im Chassidismus - wie Buber
behauptet - die mythische Essenz festgehalten. Das möchte ich
in te rp re tie re n a ls ein Bekenntnis zum G lückspotential und zum
p o s itiv e n Sinn des heutigen Daseins, a lle n Schrecken und Parado-
xien zum Trotz, - eine Ausrichtung alsdann auch auf die Verhei-
ßung einer vollkommenen ird is ch e n St ä t t e , wo das in der Welt
verweilende G ö ttlic h e oder H e ilig e gänzlich e r lö s t sein w ird .
Diese In te rp re ta tio n kann w e ite r belegt werden m it Bubers Aus-

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M ythos i n B a b e l's "K onarm ija" 343

einandersetzung m it dem Unterschied zwischen dem Chassidismus


und seiner In s p ira tio n s q u e lle / der Kabbala•
Im Gegensatz zur Kabbala g ib t es im Chassidismus - la u t Bu-
ber ‫־‬ keinen Versuch zur Schematisierung des Ir r a tio n a le n , zum
gnostischen Durchschauen der Widersprüche: das Unsinnige s o l l
n ic h t gedeutet, sondern ausgehalten werden; das H e ilig e s o ll
n ic h t e r k lä r t werden, sondern der Mensch s o ll sein ganzes Leben
auf es ausrichten und Freude erleben an der Aufgabe, die Welt zu
einer neuen Erde umzugestalten (Buber 1978:284). Dabei kann es,
wie Buber sagt (1949:27,28), zu freudetrunkenen, ekstatischen
Erlebnissen kommen. Die K o n a r m i j a e n th ä lt die Zeichen d ieser Ge-
sInnung, - was die angeführten B eisp ie le belegen s o llte n .
Diese Zeichen beziehen sich n ic h t nur auf Gedali, auf Rabbi Bra-
c la v s k ij und seinen Sohn, sondern auch auf den E rzähler. Das Be-
wußtsein eines jahrhundertealten messianistischen Traums scheint
auch auf seine Perspektive anwendbar zu sein: die Neubewertung
des Sabbatabends im Hause des Rabbi und auch andere nostalgische
Momente ‫ ־‬wie die Erinnerungen am Anfang der Erzählung G e d a l i -
sind dafür kennzeichnend. Auch die verdeckte Pointe der Erzäh-
lung S yn R abbi is t in diesem Sinne aufschlußreich; der Erzähler
akzentuiert sein Bündnis m it dem jungen B ra c la v s k ij folgender-
maßen:

И я - едва вмещающий в древнем теле бури моего воображения,


- я принял последний вздох моего брата.

Diese Pointe s te llt v ie lle ic h t den ra d ik a ls te n Wendepunkt im


Epos K o n a r m i j a dar. Sie bezeichnet das Empfinden der T ra d itio n
und su g ge rie rt, daß diese Empfindung über den Chassidismus h in -
ausgeht und w e it in die Vergangenheit z u rü c k re ic h t. Der Erzähler
hat das anderswo angedeutet, in den ersten Sätzen der Erzählung
K la d b ië ô e v k o z in e :

Кладбище в еврейском местечке. Ассирия и таинственное


тление Востока на поросших бурьяном волынских полях.

Das bedeutet übrigens n ic h t, daß die dialogische Auseinanderset-


zung dem Monologismus gewichen wäre. Das Ende ‫״‬le b t" sozusagen
von den Schattierungen, Wendepunkten, Korrekturen, trügerischen

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344 Jan van d e r Eng

Darstellungen usw., in einzelnen vorhergehenden Erzählungen und


im Zyklus als Ganzem, überdies is t das dialogische System auch
noch in der le tz te n Erzählung a u fre ch te rh a lte n . D e ta ils im zwei-
ten Absatz, die den fe ie rlic h e n Sabbatabend in Erinnerung b r in -
gen, paraphrasieren und wiederholen bestimmte dissonierende Ge-
gebenheiten, die schon in der Erzählung R a b b i erwähnt wurden.
Als B e isp ie l möchte ich h ie r anführen:

Смешной Гедали, основатель IV Интернационала, вел нас к


рабби [ *. . ] Смешной Гедали раскачивал петушиные перьааки
своего цилиндра [ . . . ]

Das Ende dieses Absatzes v e r m it t e lt etwas Neues, das dennoch auf


eine Dissonanz a n s p ie lt, von der in der vorangehenden Erzählung
ebenfalls schon die Rede war:

[ . . . ] старый шут Чернобыльских цадиков звякал медяшками в


изодранном кармане...

Wenn diese Dissonanzen auch eine Komplizierung bewirken, so


schonen sie doch die expressive Spitze der Erinnerung.
Der zweite Absatz is t von gemütvollen Worten eingeklammert:
am Anfang des vorhergehenden und des nachfolgenden Absatzes wen-
det sich der Erzähler in bewegtem Ton an einen gewissen V a s i l i j ;
die Rührung dieser Anrede t e i l t sich n ic h t nur den farbigen E ie-
menten der Landschaft mi t , sondern auch den anscheinend scherz-
haften V arietäten der F e ier. Der e in h e itlic h e Ton der Aussa-
ge i n t r i g i e r t durch die heterogenen Motive der D arstellung, auf
die Bezug genommen w ird . Hier könnte man eine Bemerkung Sklovs-
kijs anführen: "Смысл приема Бабеля состоит в том, что он одним
голосом говорит и о звездах и о триппере" (1924:154). De facto
handelt es sich in unserm B e is p ie l aber um das G efallen, das der
Erzähler an den grotesken Elementen des Festabends fin d e t . Diese
fu n ktio n ie re n sogar gewissermaßen a ls A u fta k t zum Höhepunkt, der
Szene der Vorlesung.
Weitere komplizierende Ef f ekt e entstehen aus dem Kontrast
zwischen dem B ild des Sohnes in der Erinnerung und seinem zer-
lumpten Aussehen, wenn er sterbend und f a s t nackt in den Panzer-
zug hineingezogen w ird . Die Perspektive des verloren gegebenen

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Mythos i n B a b e l's *,K onarm ija" 345

Krieges kommt w e ite rh in in erschütternden B ild e rn zur D a rste l-


lung, in Szenen der Verzweiflung, in die der Sohn getrieben wor‫־‬
den i s t . Das a lle s dient auch a ls F o lie fü r die jahrhunderte-
lange Eschatologie des Judentums, die z e itw e ilig durch die A l-
te rn a tiv e des Kommunismus e rs e tz t w ird (v g l. Sicher 1982:536),
dann aber im pointierenden Schluß wieder verdeckt zur Geltung
kommt. Diese Pointe is t an sich ein Schwerpunkt; sie e n ts p ric h t
der Aufgabe, am Schluß einer Erzählung die thematische Essenz
vorzubringen. Ih re zentrale Rolle w ird noch durch den Umstand
v e r s tä rk t, daß S y n B a b b i ursprünglich a ls le tz te Erzählung des
Zyklus, a ls das le tz te K a p ite l des Epos oder Romans K o n a r m i j a
geplant war. Als solches nimmt es auf die Hauptthemen Bezug:
auf den Krieg, die Revolution, den Chassidismus und im a llg e -
meinen die ju d a is tis c h e T r a d itio n . Diese Erzählung hat denn auch
die stä rkste " I r r a d ia t io n ” (Barthes 1966:24) und s c h a ttie r t
nachträglich die genannten Themen in vorhergehenden Erzählungen
ab und m o d ifiz ie r t s ie .
Dabei kann es auch scharfe Kontraste geben, die sowohl die
Revolution als auch den Chassidismus b e tre ffe n . Wenn z.B. in
der Erzählung B e r e s t e ö k o die jahrhundertelange T ra d itio n der
Chassiden e in e rs e its als Obskurantismus, andererseits a ls von
Pogromen heimgesuchtes Schicksal gekennzeichnet w ird , dann sind
die in S y n Rabbi angeführten D e ta ils einer messianischen Per-
spektive zusätzliche und kontrastierende Gegebenheiten. Die Re-
v o lu tio n wird im Rahmen der obengenannten Erzählung B e r e s t e ö k o
e in e rs e its als eine neue Ära der k o lle k tiv e n Macht, andererseits
als eine aufrührerische, von län g st vergangenen Aufständen sich
in nichts unterscheidende Bewegung v o r g e s te llt• Suggestiv sind
h ie r die Anspielungen auf Chmel' n ie k ij , die von den Roten v o l l -
zogene grausame Exekution eines Juden, die ethnographischen
Eigentümlichkeiten der angsterregenden Lage der jüdischen Be-
völkerung. Besonders suggestiv w ir k t der pointierende Schluß.
Diese Pointe hebt den Vortrag des ” Voenkomdivs" a ls einen Ver-
such hervor, den ausgeplünderten Juden die Bedeutung der kommu-
nistischen In te rn a tio n a le zu e rk lä re n . Im L ic h t der ursprüng-
lie h le tz te n Erzählung erw eist sich seine utopische P ro je ktio n

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346 Jan van d e r Eng

immer mehr als ein schrecklicher Wahn. Dabei v e r t i e f t sich im


Rahmen des ganzen Zyklus und insbesondere in bezug auf die im
ursprünglichen Plan le tz te Erzählung der Kontrast zwischen Re-
v o lu tio n und Judaismus. Abschattungen dieser A rt beziehen sich
dann auch n ic h t nur auf 'B e r e s t e ö k o , sondern ebenso auf die
schon genannten Erzählungen G e d a l i , R a b b i, K la d b iš Č e v K o z in e ,
und w e ite r auch E s k a d r o n n y j T runov, Z a m o e t'e usw.

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Mythoe i n B a b e l9a "Konarm ija" 347

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348 Jan van d e r Eng

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J. Joost van BAAK (Groningen)

ZUR LITERARISCHEN PHYSIOLOGIE DES MODERNEN MYTHISCHEN HELDEN

Am B e is p ie l der Kosaken in Babel's K o n a rm ija *

Inw iefern sind mythisches Denken (Mythopoesls) und mythologische


T ra d itio n (Thematik) a ls Gegebenheiten jedes lite r a r is c h e n Tex-
tes zu werten? Es g ib t lit e r a r is c h e Texte, in denen die Auff o r -
derung zur mythologischen In te rp r e ta tio n v ö llig zu fehlen
scheint oder nur f a k u lt a t iv , p o t e n t ie ll ist. Es g ib t lit e r a -
rische Texte, in denen mythologische Figuren a ls bloße S t o f f -
entlehnungen, a ls P räfigurationen a u ftre te n . Und es g ib t lit e -
rarische Texte, in denen Mythos, Remythisierung und mythopoeti-
sehe K r e a t iv it ä t (also Neubildungen) m a rk ie rt sind und sich auch
in Komposition, Erzählvorgang, M otivation und S t i l m anifestieren
können.
Obwohl Mythos und mythisches Denken zu den ä lte s te n und
fundamentalsten semiotischen A k tiv itä te n des Menschen gehören,
sind sie also n ic h t in gleichem Maße und auf keinen F a ll auf
dieselbe Weise in den unterschiedlichen Perioden und Strömungen
der L ite r a tu r wirksam (v g l. z.B. M e le tin s k ij 1976:280). Und wenn
man diese Frage typologisch betrachten möchte, müßte man also
doch versuchen, die Unterschiede zwischen den Funktionen des
Mythos im Klassizismus, in der Romantik, im Realismus, im Sym-
bolismus und in der Moderne aufzudecken (v g l. M e le tin s k ij 1976:
484) .
Mythisierungen und mythopoetische K r e a t iv it ä t sind ohne
Zweifel c h a ra k te ris tis c h fü r die Moderne e in s c h lie ß lic h der
Avantgarde, aber es i s t n a tü r lic h zu unterscheiden zwischen der
S tru ktu r, den Funktionen und dem W e ltb ild des ursprünglichen

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350 <7. J o o s t van Baak

archaischen Mythos e in e rs e its und der Rolle des Mythos im то-


dernen lite ra r is c h e n W e ltb ild und seiner Bedeutung fü r das
in d iv id u e lle Bewußtsein des modernen Lesers andererseits.
Als wiederkehrende Merkmale und K r ite r ie n des mythopoe-
tischen Denkens m it seinem p rim itiv e n W e ltb ild werden meist
folgende angeführt (v g l. besonders M e le tin s k ij 1976): Achrone,
unhistorische oder zyklische Zeitbehandlung. Schwache, unver-
bin d liche oder ir r a t io n a le K a u s a litä t. Zusammenhang und M oti-
vation der Welt und ih r e r Vorgänge beruhen weniger auf , p o s i-
t i v i s t i s c h e r 1 Logik a ls auf assoziativen Beziehungen symboli-
scher A r t . Animistische P ro je ktion und P e rs o n ifik a tio n der
Natur und zugleich auch M a te ria lis ie ru n g (R e ifik a tio n ) von
Affekten und mentalen Prozessen und In h a lte n . Geringe psycho-
logische D ifferenzierung und starke R itu a lis ie ru n g . Nach
M e le tin s k ij hängt dies damit zusammen, daß das mythische Den-
ken grundsätzlich metonymisch und konkret i s t (M e le tin s k ij
1976:166; v g l. auch Lotman & Uspenskij 1973). Es i s t nur
schwach hierarchisch o rg a n is ie rt und d if f e r e n z ie r t wenig
zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Sache und Eigenschaft,
zwischen A t t r ib u t und Träger, zwischen Organ und A f f e k t ,
zwischen emotionellen Affekten - also Modalitäten - und Moto-
r ik / K in e t ik . Das bedeutet auch, daß z. B. ste hen und s e in
n ic h t d iffe r e n z ie r t zu sein brauchen, ebensowenig wie g e h e n
und w o lle n . Es i s t dann auch interessant zu fragen, wie sich
in dieser H insicht die modernen mythischen Kosaken in der
K o n a rm ija als a rc h a is ie rte Krieger m it ihren A ttrib u te n und als
Aktanten der Revolution verhalten.
Man kann die anthropologische Rolle des Mythos bekanntlich
verstehen als semiotische S tra te g ie , die Welt als s in n v o ll zu
erklären, als Sieg über das Chaos. In diesem Sinne s c h a f f t der
(typologisch) ursprüngliche Mythos eine p r i n z i p i e l l und v ö l l i g
zusammenhängende, in n e rlic h m o tiv ie rte und g e re c h tfe rtig te
Welt. Das eben f e h lt den avantgardistischen lite ra r is c h e n Wel-
ten m it ihrem grundsätzlich katastrophischen W eltb ild und m it
ih r e r "Zerstörung gewohnter Motivierungen" (Schmid 1978). Diese
modernen Texte sind auch n ic h t in te g ra l als mythisch zu be-

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P h y s io lo g ie des modernen m yth isch en Helden 351

tra c h te n . Durch Archaisierungsverfahren und (Re-)Mythi-


sierung kann lo k a l und fragmentarisch die I llu s io n einer
mythischen, das heißt grundsätzlich zusammenhängenden Welt
entstehen.
Mythos und Mythisierung, Remythisierung, ,Neomythos1 und
auch , Pseudomythos1 als Beschwörung sind aber in der Moderne
im weiteren Sinne v e r b r e ite t; man vergleiche z. B. Toporovs
A rb e it über Remythisierung a ls ' Krisenverfahren‫ ״‬bei Dostoevskij
(Toporov 1973; über Mythisierung und Archaisierung bei Babel*
im allgemeinen v g l. auch Sicher 1982).
Die Avantgarde verbindet archaische Formen und Formeln m it
modernen Themen und Verfahren zu e in e r, wie gesagt, k a ta s tro -
phischen lite ra ris c h e n Welt. Die Kohärenz zwischen den Elemen-
«

ten is t in einer derartigen Welt n ic h t s e lb s tv e rs tä n d lic h . Was


die heterogenen Erscheinungen der modernen/avantgardistischen
L ite r a tu r verbindet, is t auf jeden F a ll Ir o n ie , die sich v i e l -
fä ltig m anifestieren kann, z. B. als Provokation, als K r i t i k
und Skepsis oder in der A u to r e f le x iv it ä t von Texten, die sich
se lb st r e la tiv ie r e n (oder sogar aufzuheben versuchen). In fo r-
maler H insicht äußert sich das Krisenbewußtsein auch in der o f t
beschriebenen Gattungskrise der Avantgarde*
Auch das Mythische als Bedeutungs- und Strukturelement
w ird in der Moderne und besonders in der Avantgarde vor allem
formal m arkie rt. Anders ausgedrückt: die S ig n ifia n t-S e ite des
lite ra r is c h e n Zeichens w ird hervorgehoben. Die E in ste llu n g auf
die Form hat zur Folge, daß die Avantgarde sich auf Komposi-
tio n s - und Gattungsfragen und auf das Sprachmaterial selbst
k o n z e n trie rt und auch diese Ebenen der Mythisierung oder Ar-
chaisierung unterwerfen kann. Am weitesten haben das n a tü rlic h
die F u turisten getrieben, besonders Chlebnikov, bei dem die
Sprache als solche bis in ih re m a te rie lle n Elemente autonom
gemacht ( , s ig n ifia n ts auf der Suche nach s i g n if ié s 1) und my-
th is ie r t w ird: Morpheme und Sprachlaute benehmen sich etwa
wie Kulturhelden und bekämpfen das prim ordiale Chaos der Ge-
räusche.
Auch Babel1s Kosaken werden a ls archaische, *proto*- oder

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352 J . J o o s t van Baak

,archetypische1 Helden d a r g e s te llt, m it H ilf e von sta rk r it u a -


lis tis c h e n , formalen M itte ln , die in hohem Maße die oben e r-
wähnten Funktionen des mythopoetischen Denkens re a lis ie re n . Es
handelt sich um eine K o n s te lla tio n von Mythemen und Verfahren,
die innerhalb einer modernistischen, ir o n is ie r t e n Welt remy-
t h is ie r t e Krieger d a r s t e l lt und zugleich auch die m it ihnen
a s s o z iie rte Weltanschauung r e a k t iv ie r t .
Die Mytheme, die die Konarmija‫ ־‬Kosaken c h a ra k te ris ie re n ,
sind zum T e il auf h is to r is c h id e n tifiz ie r b a r e P räfigurationen
zurückzuführen; andererseits haben w ir m it ,mythoiden' Neubil-
dungen zu tun, die zwar typologisch a ls Mythisierungen fu n k tio -
nieren, aber zugleich auf lokalen s t ilis t is c h e n und l i n g u i s t i -
sehen M itte ln des Konarmija-Textes zu beruhen scheinen. Außer-
dem w ird die archaisierende Rolle zu betrachten sein, welche
dabei die unterschiedlichen Texttypen und Gattungen spielen.
Es geht um f o lk lo r is t is c h e und t r a d i t i o n e l l mundartliche Gat-
tungen (e in s c h lie ß lic h des akaz) oder um formale Anspielungen
auf solche Gattungen m it ihren ausgeprägten r it u e ll e n Merkmalen,
rhetorischen Figuren und im p liz ie r te n , gewissermaßen , vorgege-
benen* Haltungen. S e lbstve rstä nd lich z e ig t sich in eben diesem
s t ilis t is c h e n Bereich Babel's s u b tile iro n isch e M eisterschaft
in höchstem Maße.
In der L ite r a tu r über die K o n a rm ija w ird o f t auf h i s t o r i -
sehe mythische Hintergründe und P räfigu ration e n hingewiesen,
und n a tü rlic h n ic h t nur m it Bezug auf die Kosaken ( vgl . u. a.
Deutsch [ i . Dr.], Sicher 1982). Diese Hinweise bet r ef f en die
mythologischen Bezirke der slavischen K ulturen, besonders die
ukrainische, russische und auch polnische Geschichte und L i t e -
r a tu r (besonders das 17. Jahrhundert, Bogdan Chmel, n ie k ij , den
Feudalismus und Zarismus, die polnischen Könige usw.; lite r a -
ris c h n a tü rlic h Sevcenko (z. B. H a jä a m k y , v g l. Grabowicz 1981,
1982, 1983, und Deutsch), Ryleev ( V o jn a ro v s k ij) , Gnedič, F. N.
Glinka, Gogol1 (vor allem T aras B u i ’ b a ) und auch T o ls to j (vor
allem K a z a k i). Die jü d is c h - c h r is tlic h e n Mythologien spielen
se lb stve rstä n d lic h eine sehr w ich tig e Rolle (vgl . besonders
Sicher 1982). H is to ris c h schw ieriger zu id e n t if iz ie r e n , aber

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P h y s io lo g ie d es modernen m y th isc h e n Helden 353

a ls archaisierende und mythisierende Anspielungen gleichwohl


wirksam sind noch a ltru s s is c h e (v g l. das Ig o r lie d ) oder k la s -
sisch -g rie ch isch e , das h eiß t homerische, Heldenklischees und
Tropen (vgl- u. a. Murphy 1966, van Baak 1978, 1983)•
Wie gesagt, is t die Wirkung der Mythologien und P rä fig u -
rationen ,in der K o n a rm ija n ic h t auf die Kosaken beschränkt. V ie l-
mehr geht es um ein Reservoir von Mythemen, das in den u n te r-
schiedlichen M ilie u s in der K o n a rm ija je nach ihren Ideologien
und Wertsystemen u n te rs c h ie d lic h abgewandelt w ird . Auf dieser
thematischen Ebene Überschneiden sich also die sonst im K o n flik t
stehenden Welten des Konarmija-Zyklus und werden die K o n flik te
von einem gemeinsamen Mythenkreis aus beleuchtet.
So g ib t es die Mytheme der K o l l e k t i v i t ä t und der I d e n t it ä t
der eigenen Kulturgemeinschaft und innerhalb dieser der Familie
oder des ,c l a n ' . Dieser Mythemkomplex hat fü r die t r a d it io n e lle ,
g e is t ig - r e lig iö s o r ie n t ie r t e , geschlossene jüdische Gemein-
schaft eine u n iv e rs e lle , a lle s modellierende Bedeutung. Das
g ilt auch fü r die Kosaken, aber bei ihnen geht es um den Mythos
einer n ic h t (oder kaum) hierarchischen Gemeinschaft von fre ie n
Bauern/Kriegern. Die ze ntrale Idee i s t h ie r das schon s e it
ševčenko k u l t i v i e r t e und auch in Gogol's T aras B u l' ba aufgeführte
mythische Ideal der conrm m itas der Kosaken. Diese corm runitas wird
als Ideal der moralisch korrumpierten (und korrumpierenden),
hierarchisch geschlossenen urbanen und feudalen G esellschaft m it
ihrem in P o lit ik und Geschichte wurzelnden Unrecht gegenüber-
g e s t e llt (v g l. Grabowicz, bes. 1902). In seiner ursprünglich
romantischen Fassung w ird der z e itlo s e Charakter des Communitas-
Mythos betont. Dieses Merkmal erm öglicht die wiederholte A k t i-
vierung des Communitas-Mythos, a ls P ro je k tio n e in e r idealen
Vergangenheit und a ls eschatologische oder c h ilia s tis c h e E r-
Wartung. Besonders diese mythische Funktion b ild e t eine Grund-
läge fü r Babel's ironische D arstellung der Kosaken a ls in tu i-
t iv e r , ir r a t io n a le r Aktanten der R e v o lu tio n .1
Zu demselben Komplex gehört noch ein Mythem, das in der
ganzen K o n a rm ija eine starke mythopoetische Wirkung ausübt,
sowohl fü r die Juden a ls auch f ü r die Kosaken (und die Polen).

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354 J . J o o s t van Baak

Es sind die Figur der Mutter und die m it ih r verbundenen Vor-


Stellungen des Hauses und der F am ilie. Auch Vaterfiguren spie-
len eine R olle, aber meistens eine negative und m it weniger
E x p re s s iv itä t als die M ütter. In der Geschichte G e d a li is t die
Erinnerung an die Sabbatabende seiner K indheit fü r den Erzähler
untrennbar verbunden m it dem nostalgischen B ild der Großeltern,
also auch m it der Großmutter. In einer anderen, m it Gedali ver-
bundenen Geschichte, R a b b i, finden w ir eine barocke, poetisch-
alle g orisch e Lobrede auf die M utter. Es i s t e ig e n tlic h eine
v o lls tä n d ig e Kosmologie und mythopoetische D e fin itio n des
chassidischen W e ltb ild s . Diese Passagen, die von einem modernen
Autor stammen und in einen avantgardistischen Text eingebettet
sind, stehen dem mythischen Denken am nächsten:

...Все смертно. Вечная жизнь суждена только матери. И


когда матери нет в живых, она оставляет по себе воспоми-
нание, которое никто еще не решился осквернить. Память
о матери питает в нас сострадание, как океан, безмерный
океан питает реки, рассекающие вселенную...
[ . . . ] - В страстном здании хасидизма вышиблены окна и
двери, но оно бессмертно, как душа матери... С вытекшими
глазницами хасидизм все еще стоит на перекрестке ветров
истории.

Die tragische F ig u r des I I * j a B ra c la v s k ij, der Rabbi-Sohn,


der a ls Revolutionär s t i r b t , verkörpert die U n v e rträ g lic h k e it
der beiden Welten (v g l. die Geschichten R abbi und Syn R a b b i). Er
hat gebrochen m it der jüdischen Welt seiner Vorfahren, e in e r
Verbindung, die bei den Juden aber t r a d i t i o n e l l von der Mutter
abhängt und die auch die M o tivation war f ü r den Ewigkeitswert,
den Gedali der mythischen Mutter zuschrieb. Als II*ja aber
s tir b t, in der ursprünglich le tz te n Konarmija-Geschichte Syn
R a b b i, sagt er dem E rzähler: "Мать в революции - эпизод."
Zwar sind die Kosaken Träger der Revolution und ih r e r Wer-
te , aber auch bei ihnen gehören Mutter und Haus zu den am t i e f -
sten eingewurzelten mythischen Gestalten. Sie kommen besonders
sta rk zum Vorschein in Erinnerungen, B riefen nach Hause (P is 'm o ),
wo immer die Kosaken und auch der E rzähler, insofern er sich
m it ihnen i d e n t i f i z i e r t , Heimweh fü h le n . Man vergleiche das
B ild , m it dem der Erzähler seinen Hunger und seine Einsamkeit

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P h y s io lo g ie d es m odem en m y th isc h e n Helden 355

m e ta p h o ris ie rt, in M oj p e rv y j д и з ' г

У хаты на кирпичках стоял котел, в нем варилась свинина,


она дымилась, как дьмится издалека родной дом в деревне,
и путала во мне голод с одиночеством без примера.

In den Geschichten Saska C h ris to s und iiz n e o p is a n ie P a v lic e n k i,


M a tv e ja R odionyca werden zwei Kosaken (auto) biographien gegeben.
Beide Kosaken waren H irte n , b is die Revolution sie zu Soldaten
machte. In beiden iro n is c h p rä se n tie rte n Lebensgeschichten wer-
den die Vergangenheit und die Heimat m y th is ie r t, indem s ie als
verlorenes Paradies, a ls Pastorale d a r g e s te llt werden; v g l. z.
B. den ironischen lo c u s amoenus in Saska C h ris to s i "Бабы ковырялись
еще на огородах, а казаки, рассевшись в сирени, пили водку и
пели."
In der Geschichte P e sn ja w ird das- Lied a ls Gattung them ati-
s ie r t (v g l. unten). Es w ird d e u tlic h gemacht, daß das wehmuts-
v o lle V o lk s lie d a ls Trost fü r die nomadisierenden Krieger un-
e n tb e h rlic h ist. Wie im F a ll Gedalis so wird auch h ie r m it e i -
nem d irekten Z it a t so v o lls tä n d ig , k o n z e n trie rt und synthetisch
wie nur möglich der Mythemkomplex Haus & M u tte r in B ildern und
in einer Textform r e a l i s i e r t , die der Kosakenkultur entsprechen

"Звезда полей, - запел он, - звезда полей над отчим домом,


и матёри моей печальная рука” . . .

In beiden Geschichten tre te n neben diesen mythischen Mut-


te rg e s ta lte n auch ,w ir k lic h e 1 M utteräquivalente a u f, die aber
sehr kontrastierend wirken, w e il s ie vom Erzähler äußerst grob
behandelt werden. In M oj p e rv y j g u s ' i s t es die a lte c h o z ja jk a , die
von ihm gezwungen w ird , ih re eigene Gans zu braten; in P esnja
is t es g le ic h f a lls die c h o z ja jk a , die von L ju to v b rü s k ie rt w ird .
(Die ko m p lizie rte Symbolik der Frauenfiguren in K o n a rm ija im
allgemeinen muß h ie r außer Betracht b le ib e n . Man vergleiche be-
sonders W illiams 1972 über die Opposition m ä n n lic h vs. w e ib lic h
und ih re metaphorischen und symbolischen Abwandlungen im Konar-
mija-Zyklus, jetzt auch Hetényi 1985).
Meiner Meinung nach g ib t es noch ein a lle Personengruppen
in der K o n a rm ija verbindendes Mythem, nämlich das der Kunst als
schöpferischer K r a f t , ein L e itm o tiv des Erzählers. Es i s t na-

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J . J o o e t van Baak

tü r lic h von z e n tra le r Bedeutung fü r den unvergeßlichen Pan Apo-


le k , der fü r den Erzähler sowohl a r t is t is c h a ls moralisch den
wahren Künstler ve rkö rp e rt. Als r e lig iö s e r Maler und Erzähler,
als Ketzer gegen die katholische Kirche und als g e is tlic h e r Re-
v o lu tio n ä r kommt er der e ig e n tlich e n Mythopoesis am nächsten.
Aber die Kunst, besonders die Wortkunst, is t auch unzertrennlich
m it der K u ltu r der Juden verbunden, m it ih r e r K u ltu r der K on ti-
n u itä t, des Gedächtnisses und der re lig iö s e n Poesie. Das zeigen
schon die Geschichten G e d a li und R a b b i; man vergleiche besonders
auch die erhabene Poesie der G ra b sch rift in K la d b ia c e v K o z in e . Die
Kosaken der K o n a rm ija sind anderen Kulturen gegenüber zwar sehr
unduldsam, aber auch sie können sich der Macht der wahren Kunst
Apoleks n ic h t v ö l l i g entziehen (vgl . U a v ja to g o V a l e n t a ) . Und wie
w ir schon gesehen haben, sind ih re eigenen Lieder fü r sie un-
e n tb e h rlich . Ih re Sänger stehen bei ihnen in großem Ansehen und
stehen somit in der ukrainischen T ra d itio n der großen Sänger und
Barden ( vgl . Saska C h ris to a ) . Außerdem gehört hippische V ir tu o s i-
tä t zu den größten Kriegertugenden des Kosaken (v g l. besonders
N a c a l'n ik konzapaaa). Sie is t eine Kunst und Tugend zudem, die der
Erzähler unbedingt erwerben muß, bevor er a ls , Pseudokosak1 auch
nur annähernd akzeptabel sein kann ( vgl . besonders Argam ak ) .
Damit gelangen w ir zu jener Verbindung, die w ir wohl als
den konkreten mythologischen Kern des heroischen Kosaken und
seiner lite r a r is c h e n Physiologie betrachten können: Mann und
Pferd oder vielmehr: Pferd und Mann. Man vergleiche die 'n u kle -
äre' Formulierung und D e fin itio n in R a b b i, w iederholt in Syn ra b b i:
"А за окном ржали кони и вскрикивали казаки". Diese mythische
G estalt verdankt ih re E x p re s s iv itä t sowohl der semantisch-syn-
taktischen S tru ktu r des Satzes (dem akustisch-energischen Parai-
lelism us zwischen Pferd und Mensch: r z a l i - v a k r ik iv a li ) a ls auch
der besonderen euphonischen Instrum entierung, die diese Semantik
u n te rs tü tz t.
Im folgenden wollen w ir versuchen, der modernistischen Ко‫־־‬
sakenmythisierung in K o n a rm ija im konkretesten Sinne auf d ie Spur
zu kommen. Dazu werden die formalen und semantischen M it t e l in -
v e n t a r is ie r t , deren Babel1 sich bei seinen Archaisierungen be-

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P h y s io lo g ie d es m odem en m y th isc h e n Helden 357

d ie n t hat.
Die s t r u k t u r e lle Anthropologie le h r t , daß Lied und r i t u e l -
les Verhalten einander unterstützen und damit primäre Funktio-
nen des Mythos tragen. Lieder, Erzählungen usw. haben, in das
zugehörige Zeremoniell e in g e b e tte t, n ic h t nur eine ästhetische
und so zia le U n te rh a ltu n g sro lle . Sie verbürgen k u lt u r e lle K o n ti-
n u it ä t und schaffen Gelegenheit zur k o lle k tiv e n Erfahrung der
eigenen I d e n t it ä t , zur S e lb s tre c h tfe rtig u n g und S e lb s td a rs te l-
lung. Sie bieten ein k u ltu r e ll und menschlich sinnhaftes Welt-
b i ld und re g u lie re n und modellieren Benehmen, Emotionen und
Haltungen. Eben das Vermögen des t r a d it io n e lle n V o lk s lie d s ,
Stimmungen und Haltungen zu g e sta lte n , w ird in der K o n a r m i j a
besonders ausgenutzt {P e s n ja ) .
In den Themen und Modalitäten ih r e r Lieder erleben die Ko-
saken die Skala ih r e r k o lle k tiv e n und in d iv id u e lle n Emotionen
und Haltungen. Durch sie sehen sie sich sozusagen in das Kosa-
kentum *e in g e b e tte t' und g e r e c h tfe r tig t. Sehr ausgeprägt i s t
in den Liedern n a tü r lic h die Grundhaltung der Melancholie und
des Heimwehs. Das Lied b ie te t den Kriegern Trost und macht un-
e rträ g lic h e Umstände e r tr ä g lic h ; man vergleiche die Bemerkung
des Erzählers in P e s n ja :

Сашка устилал звоном и слезой утомительные наши пути.


[ . . . ] Песни нужны нам, никто не видит конца войне, и Сашка
Христос, эскадронный певец, не дозрел еще, чтобы умереть...

Durch Heimweh und Melancholie sind die Kosaken n ic h t nur m it


ihrem Heimatland, der Kuban1, verbunden. Melancholie rufen auch
die spezifischen musikalischen Merkmale der slavischen und be-
sonders der russischen V o lk s lie d e r hervor. Als solches is t das
V o lkslie d eine Textgattung, die weitgehend Mythisierungen (und
Remythisierungen) zuläßt, w e il es sich um geschlossene, formal
sehr markierte Texte handelt. In ihnen sind die Modellierung
der Welt und die te x tu e lle Logik sehr autonom und archaisch
(und achronistisch) und entziehen sich deshalb (fast ) je g lic h e r
h istorischen und pragmatischen K orre ktu r.
Lieder sind also untrennbar m it dem Kosakenleben verbun-
den, und sie be g leite n die Kosaken ü b e r a ll; man vergleiche Be-

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358 j , J o o s t van Baak

re 8te c k 0 ê
.

М ы делали переход из Хотина в Берестечко. Бойцы дремали


в высоких седлах. Песня журчала, как пересыхающий ручей.
[ . . . ] Песня плыла, как дым-

Oder P e s n j a :

Никто не видел тогда конца войне, и один Сашка устилал


звоном и слезой утомительные наши пути. [ . . . ] Песня летала
над нашим следом. Так было [ . . . ] на Уральске и в Кавказ-
ских предгорьях, и вот до сегодняшнего дня. Песни нужны
нам, никто не видит конца войне, и Сашка Христос, эскадрон-
ный певец, не дозрел еще, чтобы умереть...

Der thematische, s tilis tis c h e und emotionelle Bereich der


Kosakenlieder umfaßt w e ite r n a tü r lic h die Soldatenwelt in a lle n
ihren Registern, vom groben Soldatenhumor, wie in K om brig 2
('Головной эскадрон лениво запевал похабные куплеты.") b is zu
der erhabenen F e ie r lic h k e it des Bardenliedes in B e r e s t e c k o . Im
Kontext dieser l et z t en Geschichte g ib t es zudem einen sehr
deutlichen Hinweis auf Mythisierung der Kosakenvergangenheit,
m it m artialischen D e ta ils , Leichen auf u ra lte n k u r ga n y , m it
Bogdan Chmel’ n i c k i j und einer Parodie auf den ukrainischen a r-
c h i p o e t a , den Banduristen ševčenko:

Чудовищные трупы валялись на тысячелетных курганах. Мужики


в белых рубахах ломали шапки перед нами. Бурка начдива
Павличенки веяла над штабом, как мрачный флаг. [ . . . ] Мы
проехали казачьи курганы и вышку Богдана Хмельницкого. Из-
за могильного камня выполз дед с бандурой и детским голо-
сом спел нам про былую казачью славу.

Die Leichen auf den Grabhügeln sind n ic h t nur grausames


D e ta il. In der Poesie ševčenkos b ild e n sie sogar einen sehr
zentralen mythopoetischen Topos a ls tragisches S in n b ild der
com m unitas (vgl . dazu Grabowicz 1981, 1982).
Zwischen diesen beiden Polen s te h t das hum oristische, tra -
gikomische ' Pseudoepos1 vom falben F üllen m it dem a rc h e ty p i-
sehen Kosakenpferdenamen D z i g i t , das m it seinem betrunkenen Ко-
sakenkapitän (p o d f , e 8 a u l ) am Feiertag Johanni Enthauptung zum
Himmel a u f s t e i g t . In der Geschichte P u t ' v Brody wird es gesun-
gen von dem am meisten archetypischen der Konarmija-Kosaken,
Afon'ka Bida, den seine Schwadron b e g le ite t.

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P h y s io lo g ie des modernen m y th isc h e n Helden 3 59

Die Lieder in der K o n a r m i j a werden g rö ß te n te ils n ic h t


w ö r tlic h wiedergegeben, sondern nur a ls Gattung a u fg e fü h rt. Als
solche markieren sie dennoch den p r iv ile g ie r t e n T e x to rt, wo die
Klischees des h isto ris ch e n Kosakenmythos e in g e fü h rt werden kön-
nen. Aber die poetischen und Gattungsmerkmale der Lieder ermög‫־‬
lie h e n ‫ ־־‬wie schon angedeutet wurde - zugleich die Behandlung
allgem einer Mytheme in typologischem Sinne. In dieser le tz te n
k u ltu r e lle n Funktion sind die Kosakenlieder äquivalent m it Ge-
d a lis re lig iö s e n poetischen Äußerungen und m it der G ra b sch rift
auf dem jüdischen Friedhof von Kozin (K la d b is c e v K o z in e ) . Es
sind das die S te lle n , wo Kosaken und Juden auf Grund gemeinsa-
mer Mytheme wie der schon erwähnten F a m i l i e , H au s oder M u t t e r
und dergleichen sich m iteinander id e n t if iz ie r e n und sich von-
einander unterscheiden.
Betrachten w ir nun die Kosaken a ls Krieger und m a r t ia li-
sehe Helden, also in ih r e r Rolle als Aktanten der Revolution.
In dieser I d e n t it ä t sind die lite r a r is c h e n Kosaken ausgestattet
m it systematischen s tr u k tu r e lle n Merkmalen, die g le ic h f a lls aus
der Anthropologie und der auf s ie gegründeten L ite ra tu ra n a lys e
bekannt sind. So g ib t es die typologische Unterscheidung von
Leroy-Gourhan zwischen sogenannten " itin e r a n te n ” und ‫״‬ra d ia le n "
Kulturen. Radial werden seßhafte, also agrarische und auch u r-
bane Gesellschaften qenannt; ih r Kulturraum i s t konzentrisch und
h ierarchisch g e g lie d e rt und ursprünglich auf ein sakrales Zen-
trum a usgerichtet. Die itin e r a n te Raumauffassung i s t charakte-
ristisch fü r p r im itiv e r e , nomadisierende Gesellschaftsformen
wie die der Jäger und Sammler. Welche Rolle diese typologische
Unterscheidung im System der lite r a r is c h e n W e ltb ild e r und in
der lite ra r is c h e n Raumgestaltung der K o n a r m i j a s p i e lt , muß h ie r
außer Betracht bleiben (vgl . van Baak 1983). Es mag genügen,
darauf hinzuweisen, daß das lit e r a r is c h e W e ltb ild und die Welt-
auffassung der Konarmija-Kosaken a ls Krieger und Träger der Re-
v o lu tio n durchaus von dieser itin e ra n te n Raumauffassung be-
herrscht w ird . Sie b ild e t somit den Rahmen fü r den P r im it iv is ‫־‬
mus und den archaischen Heroismus dieser m yth isie rte n Gestal-
ten.

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360 J . J o o a t van Baak

Die Welt- und Raumauffassung in den in d iv id u e lle n Biogra-


phien, Erinnerungen und Liedern der Kosaken sind aber ra d ia l
( vgl . die oben schon angeführten B e is p ie le ). Das entspricht
ganz ih r e r bäuerlichen Herkunft.
Die k o n tin u ie rlic h e d e s tru k tiv e M o b ilitä t der Kosaken als
K a v a lle ris te n der Roten Armee bedeutet immer einen katastropha-
len Einbruch in die Ordnung der unterschiedlichen radialen Kul-
turen der K o n a r m i j a . E in e rs e its gehört das n a tü r lic h zur Phäno-
menologie des Krieges im allgemeinen. Andererseits is t es auch
Motivierung fü r die D arstellung der Kosakenkrieger als überwie-
gend p r im it iv e r , n ic h t oder kaum re fle k tie re n d e r Aktanten, de-
ren W ille unm ittelbar in K in e tik und Motorik zum Ausdruck kommt.
Die typische Verbindung zwischen Babel's avantgardistischer
Iro n ie und dem P rim itivism us dieser Helden i s t auch verantwort-
lie h fü r die K a rik a tu r in ih r e r D arstellung. Es werden uns a r-
c h a is ie rte m a rtia lisch e Helden v o rg e fü h rt, die nur wenig m it
den h isto rische n roten K a v a lle ris te n zu tun haben; das g i l t na-
tü r lic h überhaupt fü r die Frage der H i s t o r i z i t ä t und der geo-
graphisch-faktischen Grundlage der Konarmija-Welt. Außerhalb
dieses modernen Textes finden w ir sehr ähnliche, nah verwandte,
g le ic h f a lls itin e ra n te H eldencharakteristiken in der p fe a ro -F i-
gur, die sich auch s t r u k t u r e ll auf dem Wege b e fin d e t. Und dann
könnte man aus diesen Gründen einen typologischen Vorfahren des
m yth isie rten Konarmija-Kosaken im p rim itiv e n Kulturhelden se-
hen, dem Helden des sogenannten "heroischen Mythos" (vgl . Meie-
tin s k ij 1976), der auch in v ie le n Hinsichten dem Märchen- und
Sagenhelden als V o rb ild gedient hat. Der P rim itivism us des K ul-
turhelden z e ig t sich eben in der Dominanz des v ita le n und moto-
rischen Handelns, wobei die Psychologie einfach is t und m o ra li-
sehe Wertung f e h l t oder sehr s i m p l i f i z i e r t ist.
Diese Merkmale tre te n d e u tlic h in den Vordergrund in den
zahlreichen Konarmija-Geschichten über das w ichtig e Thema der
Rache und der damit verbundenen Ehre ( P i a ' m o , Z iz n e o p ia a n ie P a v li -
ce n kiy Mat veja R odionyea, P r ie c e p a , l a t o r i ja o d n o j lo s a d i, S o l * $ K o n k in ,
A fo n 'k a B id a , Ê a ka d ro n n yj T n m o v , Iv a n y , А г д т ю к ) . Oder in Geschichten,
in denen es um eine Prüfung des Helden geht (K o rrb rig 2 , A fo n 'k a

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P h y s io lo g ie d es modernen m y th isc h e n H elden 361

B id a , E s k a d ro n n y j T runov und auch A rg ó n a k )‫׳‬. Die von der Anthropolo-


gie beschriebene r it e de passage hat h ie r auch i h r lite ra r is c h e s
Äquivalent; die d e u tlich ste n B eispiele sind n a tü r lic h die Ge-
schichten M oj p e ro y j g u s ', A fo n 'k a B id a und A rg ó n a k .
O ft werden die Helden größer a ls gewöhnliche Menschen,
d is p ro p o rtio n a l d a r g e s te llt, m it hyperbolischen A ttrib u te n ve r‫־‬
sehen und m it g e s te ig e rte r Syntax beschrieben; man vergleiche
z. B. den ironischen Titanismus im P o r t r a it des Kommandanten
S a v ic k ij in M oj p e r v y j g u s r;

Савицкий, начдив шесть, встал, завидев меня, и я удивился


красоте его гигантского тела. Он встал и пурпуром своих
рейтуз, малиновой шапчонкой, сбитой набок, орденами, вко-
лоченными в грудь, разрезал избу пополам, как штандарт
разрезает небо.

Oder Korocaev in S m e rt1 D o lg u s o v a :

Корочаев, опальный начдив четыре, сражающийся в одиночку и


ищущий смерти. [ . . . ] И ускакал ‫ ־‬развевающийся, весь чер-
ный, с угольными зрачками.

Oder Kolesnikov in K o m b r i g 2 , nachdem er seine Feuerprobe a ls


Kommandant bestanden hat:

В тот вечер в посадке Колесникова я увидел властительное


равнодушие татарского хана и распознал выучку прославлен-
ного Книги, своевольного Павличенки, пленительного Савиц-
кого.

Oder auch Pavličenko s e lb s t beim Einzug in Berestecko (B e r e s t e -


cko) :

Бурка начдива Павличенки веяла над штабом, как мрачный


флаг. Пуховой башлык его был перекинут через бурку, и
кривая сабля лежала сбоку, как приклеенная.

Zu Babel's ch a ra kte ristis ch e n S t il m it t e l n der Mythisierung


gehört auch ein Topos, den ich h e ro is c h e E inrahm ung nennen
möchte. Es handelt sich dabei in v ie le n F älle n um die o f t z i-
tie r te n Naturbeschreibungen, die in besonders dramatischen S i-
tuationen a ls Hintergrund, a ls Rahmen fu n k tio n ie re n . Die archa-
isierende Wirkung dieser Synthese zwischen Menschendarstellung
und numinoser oder ominöser Natur steht in e in e r sehr a lte n
T ra d itio n der epischen Poesie (v g l. auch die schon erwähnte Pa‫־‬

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362 J . J o o a t van Baak

r a lle le m it der I l i a s und dem I g o v l i e d ) . Diese poetischen F i-


guren re a k tiv ie re n oder rekonstruieren im modernistischen Text
die f ü r das ursprüngliche mythische und mythopoetische Denken
wesentliche Homologisierung zwischen Mensch und Kosmos (v g l.
M e le tin s k ij 1976; w e ite r Lotman & Uspenskij 1973:302, über Is o -
morphie) und auch die S p ir itu a lis ie r u n g des Kosmos. So z.B. in
der Naturbeschreibung der berühmten Kriegspassage in der ersten
Geschichte des Zyklus, Pevechod devez Z b v u å , aber auch mehrmals
in Sm evt* D o l g u š o v a ; man vergleiche d o rt:

- Пропадаем! - воскликнул я, охваченный гибельным востор-


гом, ‫ ־‬пропадаем, отец! - Зачем бабы трудаются, - ответил
он [= Griščuk] еще печальнее, - зачем сватання, венчания,
зачем кумы на свадьбах гуляют... [dann f o l g t die 'h e r o i-
sehe Einrahmung' der S itu a tio n , d.h. die Begegnung m it dem
Helden Dolgušov:] В небе засиял розовый хвост и погас.
Млечный путь проступил между звездами.2 - Смеха мне, -
сказал Грищук горестно и показал кнутом на человека, си-
девшего при дороге, - смеха мне, зачем бабы трудаются.. .

Oder in Kombvig 2, wo Kolesnikov seine heroischen Q ualitäten


beweisen muß:

Он шел опустив голову и с томительной медленностью переби-


рал кривыми и длинными ногами. Пылание заката разлилось
над ним, малиновое и неправдоподобное, как надвигающаяся
смерть. 3

Die von M e le tin s k ij (1976:166) betonte Metonymität und Kon-


k r e th e it des mythopoetischen Denkens kommen noch zum Ausdruck aui
dem s t ilis t is c h e n Gebiet der 'heroischen A t t r ib u t e ' und p o e ti-
sehen Epitheta. Oben wurde die Kombination Mann und P fe vd a ls kon-
krete mythopoetische Essenz des Kosaken angeführt. In den Texten
der K o n a v m i j a finden w ir jedoch noch andere A t t r ib u t e , d ie als
metonymische Q ualitäten des Helden ebenso unentbehrlich sind
wie sein Pferd. Das Pferd is t n ic h t nur unentbehrlich a ls R e it-
tie r und bester Freund des Kosaken (v g l. in A fo n 'k a B id a d ie
Kosakenmaxime "Конь - он друг, [...]. Конь, - он отец, [...]
бесчисленно рас жизню спасает. Пропасть Биде без коня")- In der

konkreten m ythisie rte n G e sta lt des Kosaken gehört das Pferd


m it seinen Teilen auch zur poetischen Kosakenanatomie, genau
so wie Peitsche, S t ie f e l (v g l. Trunovs Beerdigung!) und Waffen.

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P h y s io lo g ie d e s m odernen m y th isc h e n H elden 363

An v ie le n S te lle n is t zu sehen, wie diese Elemente als Erweite-


rung der menschlichen Anatomie fu n ktio n ie re n und a ls solche fü r
den Kosaken zu i n a l i e n a b l e p o s s e s s io n s werden (zu diesem lin g u -
is tis c h e n B e g r iff v g l. z.B. Lyons 1969:301)*. Das bedeutet, daß
zum B e is p ie l Pferd und Waffen am engsten m it der Kriegerehre der
Kosaken verbunden sind. V e rlu s t der Waffen (v g l. I z m e n a ) , aber
besonders des Pferdes is t unvereinbar m it dem Kosakenleben. Es
g ilt a ls das Schlimmste, was einem Kosaken geschehen kann, sei
es als S trafe ( Is to r ija odnoj l o s a d i , Argam ak) oder als Schick-
sai wie in A f o n r ka B id a • V e rlu s t des Pferdes is t fü r den ,Ar-
chikosaken* Afon'ka gleichbedeutend m it V e rlu s t des Lebens; und
er verschwindet aus der Geschichte auf der Suche nach einem
neuen Pferd (eine r ic h t ig e ,Queste1)•
In der I s t o r i j a odnoj lo s a d i finden w ir das wohl am wei-
testen entw ickelte B e is p ie l dieser "metonymischen Anatomie";
S a v ic k ij s p ric h t:

‫ ־‬Я еще живой, Хлебников, - сказал он, обнимаясь с казач-


ко й,- еще ноги мои ходют, еще кони мои скачут, еще руки
мои тебя достанут, и пушка моя греется около моего тела.

Weiter aus dieser Perspektive sind auch die folgenden Bei-


spiele zu werten; man vergleiche in B e re ste cko i "t k r iv a ja s a b ija
le z a la sboku, ка к p rik le e rm a ja . " oder die D eixis des ta 0a>2fca-Fahrers
G riičuk in Sm ert ‫ ׳‬D o lg u s o v a : "‫ [ ־‬. . . ] , s k a z a l G ris c u k g ore& tno i p o -
k a z a l knutom na o e lo ve ka , sid e vse g o p r i d o ro g e . ‫ ״‬Und besonders die Mo-
t o r ik der Krieger und Pferde in ü e s n ik ii

Тогда к надчиву подъехал Ворошилов. Он толкнул его мордой


лошади в грудь и сказал [ . . . ]
[ . . . ] , ‫ ־‬сказал Ворошилов и рванул на себе ремни. Павли-
ченко отступил от него на шаг.
Ворошилов расчесывал маузером гриву своей лошади.
Иван Акинфиев, бывший повозочный Ревтрибунала, проехал
мимо и толкнул меня стременем. ‫ ־‬Ты в строю, Иван? - ска-
зал я ему, - [ . . . ]

Ein Höhepunkt der heroischen Archaisierung w ird in A fo n 'k a B id a


geboten, wo Afon'kas Pferdegeschirr zum metonymischen Symbol
par excellence der e in z ig a rtig e n Zusammengehörigkeit des Reiters
Afon'ka und seines Pferdes Stepan w ird . Das Pferdegeschirr

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364 j , J 0 0 8 t van Baak

selbst is t ein Meisterstück der S a ttle rku n s t ("B rustleder m it


schwarzen Quasten, geschmeidige, in den Schweif e in g e flo ch te -
ne Riemen m it bunten Steinen und Zügel m it eingepreßten S ilb e r-
nen Verzierungen" in der Übersetzung von D m itrij Umanskij) und
is t eine deutliche Anspielung auf eine sehr a lte und v e rb re ite -
te epische T ra d itio n (z.B. Waffenbeschreibungen in der I l i a s ) .
Der F a ll Afon'ka Bida verdient überhaupt unsere besondere
Aufmerksamkeit. Er v e re in ig t wohl die meisten Merkmale der My-
th is ie ru n g in s ic h . Seine Erlebnisse umfassen sehr zahlreiche
formale und in h a lt lic h e archaisch-mythopoetische Elemente. Als
sein Pferd s t i r b t , verabschiedet er sich von seinem besten
Freund, und seine pathetischen Worte sind eine r ic h t ig e Klage5
und Eulogie (man vergleiche die Homerischen Klagen über Patro-
klos und Hektor und auch Jaroslavnas Klage im I g o r l i e d ) . Nach
dem Tode seines Pferdes verschwindet e r. Er s t i r b t im symboli-
sehen Sinne, und wenn er seinen Platz im Peloton auf einem neu-
en Pferd wieder einnimmt, bedeutet das seine mythische Wieder-
geburt a ls , ewiger Kosak1. Er heißt n ic h t umsonst A fon'ka, Afa-
n a s ij, ‫״‬AôaváotoCf der 'U n ste rb lic h e ' (v g l. van Baak 1983:151-
152; auch Wosien 1969, Lotman 1979, Döring-Smirnova & Smirnov
1980) .
S elbstverständlich drängt sich die Frage a u f, welchen l i -
terarischen E ffe k t diese Mythisierungen und ironischen A rch a i-
sierungen anstreben. Die n ic h t unbedingt heroische D arstellung
der Babel'sehen Pseudokosaken i s t n ic h t etwa a ls R e a litä ts tre u e
oder geschichtliche Akkuratesse zu werten; es i s t h in lä n g lic h
bekannt, wie Babel' das h is to ris c h e und fa ktische M a te ria l be-
handelt hat. Schon die sta rk poetisch markierten C h a ra k te ris ie -
rungen (v g l. auch z.B. van der Eng 1963) und die archaisierende
Wahl poetischer Epitheta blockieren den Weg zu einer konventio-
n e ll re a lis tis c h e n In te r p r e ta tio n . Obwohl notwendig m it e in e r
h istorischen Szene verbunden, verdanken diese Helden ih re Fas-
z in a tio n fü r den Erzähler und somit ih re lit e r a r is c h e Bedeutung
ih r e r a -h is to ris c h e n , mythopoetischen Gestaltung, die s ie
gleichsam von der h isto ris ch e n Thematik und M otivation abhebt.
Als solche gehören s ie , genau wie Pan Apolek und G edali, zum

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P h y s io lo g ie d es modernen m y th isc h e n H elden 365

Dilemma des modernen in t e lle k t u e lle n Erzählers m it seiner dop-


pelten V is io n der Welt. Archaisierung, Mythisierung und S im p li-
fiz ie r u n g von Helden und W e ltb ild werden dabei zur Schaffung
e in e r a n ti- r e a lis tis c h e n Distanz unter Beibehaltung von r e a l i -
stischen Motivationsmustern benutzt. Diese avantgardistischen,
zugleich elegischen und ironischen Auseinandersetzungen m it den
M odalitäten e in e r gew alttätigen Gegenwart und (schon vom Anfang
an a ls fa ls c h oder unzulänglich erkannter) , verlorener Paradie-
se* ve rh ü lle n dann eine tie f tragische und humanistische Hai-
tung. M ythisierung, Archaismus und P rim itivism us sind charakte-
r is t is c h fü r die Avantgarde a ls a n t i- r e a lis t is c h e Verfahren zur
D arstellung des katastrophischen W eltbildes dieser L ite r a tu r .
Die Avantgarde is t zu werten als Lösung e in e r ästhetischen Auf-
gäbe, in e in e r S itu a tio n , in der Realismus, Romantik und Symbo-
lismus sich f ü r die lit e r a r is c h e Gestaltung des k a ta s tro p h i-
sehen Bruches in der geschichtlichen und k u ltu r e lle n K o n tin u i-
tä t und Kohärenz a ls unzulänglich erwiesen haben. Das war der
Grund fü r Zamjatins Idee des "Neorealismus" als einer lit e r a -
turtypologischen Synthese (Zamjatin 1967)*. A n ti- r e a lis tis c h e
Mythisierungsverfahren wurden auch von ihm s e lb s t verwendet in
, katastrophischen' Geschichten wie z.B. P e s c e r a , wo er eine
,Mythoide' der Höhlenmenschen e n tw ic k e lt, deren k u lt u r e lle r
P rim itivism us g le ic h f a lls metonymisch fu n k tio n ie r t und als
'nackte E xistenz' die H ierarchie der K u ltu r im Sinne der moder-
nen Z i v i l i s a t i o n bedroht, u n te r w ir f t, n e g ie rt (v g l. van Baak
1981). Auf Babel.'s iro n isch e avantgardistische E rzä h le rg e sta lt
wäre dann auch Zamjatins G leichnis (oder Mythos?) der modernen
Künstlergeneration anwendbar, deren Haltung er a ls doppelte
Negation d e f in ie r t :

+ , - , — Вот три школы в искусстве - и нет никаких других.


Утверждение; отрицание; и синтез - отрицание отрицания.
[ . . . ] Но сегодняшний художник, поэт, сегодняшний Адам ‫־‬
уже отравлен знанием т ой, однажды мелькнувшей Евы, и на
губах э т о й Евы - от его поцелуев вместе с сладостью
остается горький привкус иронии.
(Zamjatin, 0 s i n t e t i z m e )

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366 j . J o o s t van Baak

A NME RK UNGE N

* Die Forschung fü r diese A rb e it wurde m itu n te rs tü tz t von der


Niederländischen Organisation fü r Wissenschaftliche Forschung
(Z.W.O.).
1 Ju dith E. Deutsch (u n verö ff. D is s ., Columbia Univ.) behandelt
die Entwicklung des lite r a r is c h e n Kosaken vom Anfang seiner
T ra d itio n bis ins 20. Jahrhundert. Wie sich h e ra u s s te llt, v o l l -
z ie h t sich in diesem Jahrhundert eine unverkennbare Assim ila-
tio n des fre ih e its lie b e n d e n Kosaken, eine 'Zähmung' (so zia l und
p o litis c h ) und sogar die Degenerierung seiner F r e ih e it. Das
fü h r t somit zum V e rlu st der mythischen Unabhängigkeit und des
'Formats1? man v g l. z.B. die Figur des čapaev, aber vor allem
die Lebensgeschichte des G r ig o r ij Melechov in T i c h i j D o n .
2 Das B ild der Milchstraße und der Sterne w ird auch in G e d a l i
benutzt, um Höhepunkte im Erzählvorgang (der Erzähler begegnet
Gedali) 1einzurahmen', und zugleich als Zeichen des e in tre te n -
den Sabbats.
3 M it Bezug auf die thematische K onfiguration dieser einrahmen‫־‬
den Passage v g l. auch Northrop Frye (la u t M e le tin s k ij 1976:110),
der auf archetypische mythische Verbindungen zwischen den Pha-
sen im Naturzyklus (den Jahreszeiten) und bestimmten Motiven
oder Themen hingewiesen hat. Sein Typ 3 umfaßt Sonnenuntergang,
Herbst und Tod. Die Geschichte K o m b r i g 2 i s t am Ende d a t ie r t
m it August 1920.
** Diese metonymische Anatomie des Kriegers w ir k t n ic h t nur in
der K o n a r m i j a als avantgardistisches Archaisierunçs- und Remy‫־‬
th is ie ru n g s ve rfa h re n . Daß es sich h ie r um eine ursprüngliche,
also r i c h t i g archaische, semiotische S tra te g ie handelt, läßt
sich anhand von heraldischen Konventionen und Formeln der Folk-
l o r e l i t e r a t u r belegen. Man vergleiche z.B. das Wappenschild m it
seinen symbolisch-metonymischen Verbindungen zwischen Körper-
t e i l und Waffe (etwa wie Le B r a s A r m é ) . Außerdem g ib t es in der
K o n a r m i j a auch Anspielungen auf die Klischees der r i t t e r l i c h e n
T ra d itio n ; v g l. z.B. die metonymischen R it t e r a t t r ib u t e der Ko-
saken in K o s t e l v N o v o g r a d e : "Сверкая расшитыми конскими морд-
ами наших обшлагов, перешептываясь и гремя шпорами, мы кружимся
по гулкому зданиг с оплывающим воском в руках." (Die ganze Pas-
sage im katholischen M ilie u der Kirche i s t eine Parodie auf die
G o t h i c No ve I - T r a d it io n ) . Eine iro n isch e Anspielung auf die r i t -
t e r lic h e Modellierung Afon'kas und auf die heraldische Semiotik
i s t noch die Kleidung, die er t r ä g t , wenn er von seiner ,Que-
ste1m it einem neuen Pferd wiederkehrt: auf den Rücken seines
aus einem blauen Teppich geschnittenen Rocks i s t eine - fra n -
zösische - L i l i e g e s tic k t. Auch in der F o lk lo r e lit e r a t u r der
Balkansklaven sind interessante Belege der metonymischen K rie -
geranatomie zu finden. So z.B. im kroatischen V o lk s lie d S m r t
m a j k e J u g o v i d a (Karadžič 1977:11,192-94, N0.47), wo durch eine
Folge von metonymischen H eldenattributen die Entwicklung des
Themas n a r r a tiv und modal g e s te ig e rt w ird , b is s c h lie ß lic h auf
dem dramatischen Höhepunkt die eigene Hand des getöteten K rie ­

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P h y s io lo g ie dea m odem en m yth isch en H elden 367

gers Damjan von zwei Krähen vom S chlachtfeld gebracht und der
Mutter in den Schoß geworfen wird? [d ie M u tte r]: "moja ruko,
zelena ja b u k o ,/ gdje s i ra s la , gdje 1' s i u s trg n u ta !-/ A rasla
s i na k rio c u mome,/ ustrgnuta na Kosovu ravnom!" Metonymische
Heldenanatomie i s t auch Grundlage eines in der balkanslavischen
F o lk lo r e lit e r a t u r v e rb re ite te n Topos, in dem ein Held die S te l-
le eines to te n , meist größeren einnimmt und es also zu einem
Vergleich ih r e r K rie g e rq u a litä te n aufgrund der Waffen und der
Kleidung, vor allem des Schwerts, des Mantels, der Mütze und
der S t ie f e l kommt. V gl. z.B. Karadžic 1977:11,74, (No. 24, Z e -
n i d b a K r a l j a V u k a š i n a ) : "Sto Momčilu b ilo do k o lje n a , / Vukaši-
nu po zemlje se v u č e i/ što Momčilu taman kalpak b i o , / Vukašinu
na ramena pada!/ što Momčilu zlatan prsten b i o , / tu Vukašinu
t r i p rsta z a v la č i!/ što Momčilu taman sa b ija b i l a , / Vukašinu s'
a ršin zemljom vuče!/ što Momčilu taman djeba b i l a , / k r a l j se
pod njom n i dignut ne može!." (Die Angaben aus der B alkanfolk-
lo re verdanke ic h meiner K o lle g in Elka Agoston-Nikolova aus
Groningen.) Man vergleiche dazu auch Trunovs Heldenbeerdigung
(in der Konarmija-Geschichte È e k a d r o n n y j T r u n o v ) nach altem
und verbreitetem M ilitä rb ra u c h : in Begleitung seines Pferdes,
das nur die in die Steigbügel gesteckten S t ie f e l m it fü h r t.
5 Die Klage (z.B. in G e d a li, R a b b i, P u t * v B ro d y , S m e rt' D o lg u so va ,
Saska C h ria to a , KladbiSÖ e v K o z in e , A fo n ’ ka B id a ) wie auch die Apostro-
phe (z. B. in K o a te l v N ovograde, Pan A p o le k , P u t ' v B ro d y , A fo n 'k a B i-
d a ) sind archaisch m arkierte Gattungen oder rhe to risch e Signa-
le , deren Babel' sich o f t in der K o n a r m i j a bedient, n ic h t nur,
wenn es sich um Kosaken handelt, sondern auch im Zusammenhang
m it anderen Aktanten und besonders auch zur ironischen M y s t if i-
kation (oder 'Tarnung') der Erzählerstimme. Die Manipulation
dieser und ä h n lich e r, auch m it der Pseudofolklore- und a k a z - Mo-
d e llie ru n g verbundener Verfremdungsverfahren sind in höchstem
Maße v e ra n tw o rtlic h fü r die besondere n a rra tiv e und a t t i t u d i -
n e lle Kohärenz, die das sonst heterogene M a te ria l des Zyklus
zusammenhält.
* In van Baak (im Druck) w ird die S tru k tu r des W e ltb ild s in der
russischen Avantgarde a ls typologisch "unentscheidbar" ( i n c o n -
e l u s i v e ) c h a r a k te r is ie r t.

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368 J š J o o e t van Baak

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P h y a io lo g ie dea m odernen m y th isc h e n H elden 369

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W o l f SCHMID (H a m b u rg )

MYTHISCHES DENKEN IN ‫ ״‬ORNAMENTALER‫'׳‬ PROSA

Ara B e is p ie l von Evgenij Zamjatins Üb ers ch we mm ung

1.

Die Moderne v e r w ir f t das W irklichkeitsm odell des Realismus als


r a tio n a lis tis c h e Reduktion. Im L a u fe 'ih re r Entwicklung r ic h t e t
sich ih re K r itik fr e ilic h auf zwei ganz unterschiedliche Seiten
dieses Modells. In ih r e r frühen Phase, im Symbolismus, k r iti-
s ie r t s ie die Leugnung des U b e r ra tio n a le n , die Beschrän-
kung auf das dem ra tio n a le n Subjekt zur Verfügung stehende
empirische Wissen und Verstehen. In der Avantgarde dagegen i s t
es die Unterschätzung des V o r ra tio n a le n , des In t u it iv e n und
L e ib lich e n , des elementar Triebhaften, die der K r i t i k v e r fä llt.
Sowohl die frühe als auch die späte Moderne destruieren das
re a lis tis c h e W irklichkeitsm odell im R ü ckg riff auf den Mythos.
An diesem aber a k tu a lis ie re n sie - der Richtung ih r e r K r i t i k
entsprechend ‫־‬ unterschiedliche Seiten. Während sich der idea-
lis t is c h e Symbolismus vor allem fü r die Transzendenz des Mythos
in te r e s s ie r t, fü r die P a rtiz ip a tio n des Irdischen am G öttlichen
r e z ip ie r t die sich ganz m it dem D iesseits begnügende Avantgarde
am Mythos vor allem die archaische Existenz des p rim itiv e n Men-
sehen, der vom Körper, seinen elementaren Empfindungen und T rie
ben bestimmt wird und sich noch n ic h t als ein seiner selb st be-
wußtes Subjekt von der Welt der Objekte abzugrenzen g e le rn t
h a t.1 Für beide Phasen re a lis m u s k ritis c h e r K u ltu r g i l t , daß
sich die Remythisierung v i e l weniger in der Wahl mythologi-
scher S to ffe und Helden z e ig t a ls in einer s tru k tu re lle n R eali-
sierung jener eigentümlichen Welterfassung, die man m it dem

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372 V o l f So h n id

B e g riff des ,,mythischen Denkens"2 umschreibt.


Die modernistische Remythisierung m a n ife s tie rt sich in der
Dominanz des Poetischen, der Wortkunst.3 Fanden der Realismus
und sein wissenschaftliches W e ltb ild ihren künstlerischen Aus-
druck in der Hegemonie des F ik tio n a l-N a rra tiv e n , so e n tsp ric h t
dem neomythischen Denken der Moderne die Vorherrschaft des
Imaginativ-Poetischen. Und wie sich im Realismus die Gesetze
n a rra tiv e r Prosa auf die Poesie und auch auf ih re n ic h t-n a rra -
tiv e n Gattungen ausbreiteten, so expandieren in der Moderne die
K o n s titu tio n s p rin z ip ie n der Poesie auf das Feld der narrativen
Prosa. Ergebnis dieses Prozesses i s t jenes hybride Phänomen,
das man m it dem B e g r iff der ” ornamentalen" Prosa bezeichnet.1
*
Dieses Phänomen s o ll h ie r auf seine mythopoetische K o n stitu -
tio n befragt werden. Meine These i s t , daß in der Prosa der
Moderne Erzähldiskurs, erzählte Welt und ih r Referenzverhält‫־‬
nis von poetischen Strukturen überlagert werden, die die Formen
des mythischen Denkens abbilden. Dank ih r e r P o e tiz itä t wird die
"ornamentale" Prosa zum künstlerischen Ikon des Mythos.
Die Isanorphie von poetischem und mythischem Denken, die
w ir h ie r u n te rs te lle n , bedarf fr e ilic h einer gewissen R e la ti-
vierung. Die frühe Moderne war zwar von der genetischen und vor
allem systematischen Verwandtschaft von Poesie und Mythos Über-
zeugt, b lie b sich aber der grundlegenden D ifferenz der beiden
Denkformen durchaus bewußt. So betont etwa Aleksandr Potebnja,
daß das mythische Denken das B ild fü r o b je k tiv h ä lt , v ö l li g
auf seine Bedeutung überträgt und zur Grundlage w e ite re r Schluß-
folgerungen über die Eigenschaften des Bezeichneten macht, wäh-
rend das poetische Denken das B ild le d ig lic h als "subjektives
M it te l fü r den Übergang zur Bedeutung” b e tra c h te t.5 Diese kate-
g o ria le D ifferenzierung wird nun in der Avantgarde systematisch
abgebaut. Die r e a lis ie r t e Metapher, eben das " o b je k tiv ” genom-
mene, m it seiner Bedeutung i d e n t i f i z i e r t e B ild wird zur charak-
te ris tis c h e n Trope der Avantgarde. Auch ih re übrigen Verfahren
wie Paronomasie, Ikonisierung, Metamorphose und Ausfaltung, die
elementaren Formen magischen Sprechens, werden fü r die Avant-
garde zum Ursprung des Poetischen. Diesem Selbstverständnis

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M ythiaohea Denken гп "o rn a m e n ta le r‫ ״‬Proaa 373

folgen w ir , wenn w ir fü r poetisches und mythisches Denken Is o -


morphie u n te rs te lle n .
Der im Grunde unzutreffende B e g r iff der "ornamentalen"
Prosa su g ge riert, daß es sich um ein Phänomen re in s tilis ti-
scher Natur handelt. Und so hat man unter den B e g r iff sehr he-
terogene s t i l i s t i s c h e Eigentümlichkeiten subsumiert, van fabu-
lierenden skaz bis zur musikalischen Lautinstrumentierung, de-
ren gemeinsames Merkmal le d ig lic h eine gesteigerte Wahrnehmbar-
k e it der Erzählrede i s t . Der s t ilis t is c h e n D e fin itio n und auch
der h istorischen Iso lie ru n g poetischer Prosa a ls eines aus-
s c h lie ß lic h modernistischen Phänomens sei in acht Thesen eine
mythopoetologische Erklärung entgegengesetzt:

1. Die 1‫״‬ornamentale" Prosa i s t das weder gattungstypologisch


noch h is to ris c h fix ie rb a r e Ergebnis der Uberdeterminierung nar-
r a t iv e r Prosa durch die Konstitutionsformen der Poesie. An sich
in a lle n Zeiten v o rfin d b a r, verdichten sich ih re Spuren in Epo-
chen, in denen die Versdichtung und das ih r zugrunde liegende
mythopoetische Denken dominieren.

2. Grundlegendes Merkmal, das die "ornamentale" Prosa m it dem


mythischen Denken homolog macht, is t die Tendenz zum Abbau der
fü r den Realismus g ü ltig e n N ic h t-M o tiv ie rth e it des Zeichens.
Das Wort, das in der re a lis tis c h e n Welt durch Konvention fe s t-
gelegtes, a rb iträ re s Symbol war, wird te n d e n z ie ll zum Ikon, zum
Abbild seiner Bedeutung. Die tendenzielle I k o n iz it ä t , die die
Poesie der Prosa v e r m it t e lt , korrespondiert m it dem Gesetz des
magischen Sprechens im Mythos. Dort t r i t t zwischen Namen und
Ding k e in e rle i verm ittelnde Konvention, im Grunde n ic h t einmal
ein Verweisungs- oder Repräsentationsverhältnis. Der Name i s t
das Ding. Die "Trennung des Id e e lle n vom Reellen", die "Schei-
dung zwischen einer Welt des unmittelbaren Seins und einer Welt
der m itte lb a re n Bedeutung", der "Gegensatz von 'B i l d ' und 1Sa-
che'" is t dem mythischen Denken ‫ ־‬wie Ernst Cassirer a u sfü h rt6 -
z u tie fs t fremd: "Wo w ir ein V erhältnis der bloßen 1Repräsenta-
t i o n 1 sehen, da besteht fü r den Mythos [...] vielmehr ein Ver-
h ä ltn is re a le r I d e n t i t ä t . " Die "ornamentale" Prosa

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374 W o lf Schm id

b ild e t diese mythische Id e n tifiz ie r u n g von Wort und Ding sowohl


in der I k o n iz it ä t des Erzähldiskurses ab a ls auch in der diege-
tischen Realisierung von Vergleichen und Metaphern.

3. Die I t e r a t i v i t ä t des mythischen W eltbildes fin d e t in der


"ornamentalen" Prosa ihre Entsprechung in der Wiederholung so-
wohl k la n g lic h e r a ls auch thematischer Motive. Als Wiederholung
ganzer Motive z e itig t sie die L e itm o tiv ik , a ls Wiederholung
e in ze ln e r Merkmale die Äquivalenz. L e itm o tiv ik und Äquivalenz
überlagern sowohl das sprachliche Syntagma des Diskurses, wo
s ie zu Rhythmisierung und Klangwiederholung führen, a ls auch
die thematische Sukzession der Geschichte, auf deren kausal-tem-
porale Folge sie ein Netz u n z e itlic h e r Verklammerungen legen.*7

4. Die I k o n i z i t ä t bew irkt eine te n d e n z ie lle Kookurrenz oder


Is o to p ie zwischen den Ordnungen von Diskurs und Geschichte. Für
d ie "ornamentale" Prosa g i l t deshalb auch, daß jede formale
Äquivalenz der sig n a n tia eine analoge oder k o n tra s tiv e Äquiva-
lenz der signata s u g g e rie rt. Jeder formalen Ordnung der Dis-
kursebene i s t te n d e n z ie ll eine thematische Ordnung auf der Ebe-
ne der d a rg e s te llte n Welt zugeordnet. Zur Grundfigur w ird die
Paronomasie, d.h. d ie n ic h t nur ornamentale, sondern auch be-
deutungsrelevante, die thematischen Einheiten der Geschichte
ko rre lie re n d e Klangwiederholung. In ih r kommt das von Cassirer
fo rm u lie rte Gesetz des mythischen Denkens zur Geltung, nach
dem jede "wahrnehmbare Ä h n lic h k e it" der "u nm ittelbare Ausdruck
e in e r I d e n t it ä t des We s e n s " is t.8

5. Die Tendenz zur Ik o n is ie ru n g , ja zur Verdinglichung a l le r


Zeichen fü h r t le tz tlic h zur Lockerung der im Realismus streng
gezogenen Grenze zwischen Wörtern und Sachen, zwischen Diskurs
und Geschichte. Zwischen den beiden Ebenen, die gle ich e Rele-
vanz e rh a lte n , b ild e t die "ornamentale" Prosa Übergänge: Meta-
morphosen von reinen Lautgebilden zu Personen und Gegenständen
(die besten B e isp ie le h ie r f ü r lie f e r t B e lyjs P e te rs b u rg ) und
die diegetische Realisierung ve rb a le r Figuren zu Sujetmotiven.

6. Die Poetisierung der Prosa f ü h r t g ru n d sä tzlich zur Schwä-


chung ih re s S ujetcharakters. Diese kann so w e it gehen, daß sich

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M yth ia o h e a Denken in "o rn a m e n ta le r " P roaa

die Geschichte - wie etwa in B e ly js Sym phonien - in einzelne


m otivische Blöcke a u flö s t, deren Zusammenhang n ic h t mehr n a rra -
tiv-syn ta g m a tisch , sondern nur noch poetisch-paradigmatisch
k o n s t it u ie r t is t.

7. Größte thematische K o m p l e x i t ä t e r r e ic h t die poe-


tis c h e Prosa f r e i l i c h n ic h t in der v ö llig e n D estruktion ih re s
n a rra tiv e n Substrats, sondern d o r t, wo die Paradigmatisierung
auf den e rfo lg re ic h e n Widerstand eines Ereigniszusammenhangs
stö ß t. B e isp ie le fü r die hochkcmplexe I n t e r f e r e n z
poetischer und n a r ra tiv e r Zusammenhangbildung sind v o r der
Schwelle zur modernistischen Hypertrophie der Poetisierung die
Erzählungen čechovs, n a c h überschreiten d iese r Schwelle
die Werke Babel's und Zamjatins•® Vorher und nachher b r in g t
*

die hybride Prosa S trukturen hervor, die die unperspektivische


und unpsychologische W e its ic h t des Mythos n a r r a tiv ie r e n , einer
perspektivischen Verkürzung und psychologischen M otivierung un-
terw erfen. N icht se lte n macht sich die Moderne dabei die von
ih r beobachtete Isomorphie zwischen dem mythopoetischen Denken
und der Logik des Unbewußten zunutze.10

8. Die "ornamentale" Prosa hat eine n a tü rlic h e A ffin itä t zur


Darstellung e in e r W e ltb e fin d lic h k e it, in der z y k lis c h -p a ra d ig -
matische Ordnungen herrschen. Das mythische Denken s e tz t sich
also auch im m e n ta litä ts g e s c h ic h tlic h e n Charakter der darge‫־‬
s t e llt e n Welt durch. Und in der Regel verbleiben sogar d ie Er-
zählmedien, die se lte n von den Helden d is s o z iie r t sind, ganz im
Horizont mythischer V orstellungen. Mythische I t e r a t io n hebt
n a tü r lic h auch den S ujetcharakter des Erzählten a u f. Und so e r‫־‬
weist sich in moderner Prosa manche Handlungsfolge, die zu‫־‬
nächst a ls e re ig n is h a fte Geschichte e rs c h e in t, bei näherem Hin-
sehen a ls A usschnitt e in e r zyklischen Wiederholung. Auch die
Aktanten werden von der Remythisierung e rfa ß t. Wo w ir in r e a li-
s tis c h e r E in s te llu n g das Handeln autonomer Subjekte zu e r b l i k ‫־‬
ken glauben, das Veränderung und Entwicklung z e itig t, haben w ir
es o f t m it mythischen Im ita tio n e n , Id e n tifik a tio n e n und I t e r a -
tionen zu tun. Die Moderne te n d ie r t ja überhaupt dazu, d ie Auto-

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376 W olf S o h n id

nomie und R e s u lt a t iv it ä t menschlichen Handelns durch den Bezug


auf mythische Archetypen zu r e la t iv ie r e n .

2.

Ein M eister "ornamentaler" Prosa i s t Evgenij Zamjatin. Auf die


In te rfe re n z mythischen und n e u ze itlic h e n Text‫־‬ und Weltaufbaus
in seinen wohl bekanntesten Erzählungen M am aj und P e õ â e r a ("Die
H öhle"), aus dem Jahr 1920, hat man b e re its hingewiesen.11
N ich t weniger c h a ra k te ris tis c h fü r den Neomythologismus der
Avantgarde is t die späte, 1929 geschriebene und 1930 a ls le t z -
tes Werk in der Sowjetunion erschienene Erzählung N a v o d n e n i e
("Die Überschwemmung"). Nur scheinbar w idersprüchlich hat ih r
der Autor e in e rs e its einen komplexeren Gebrauch eines "in te g ra -
len" B ildes als in M am aj und P e š č e r a a tte s tie r t, andererseits
aber höchste "E in fa c h h e it" (p ro s to ta ) , die Überwindung a l l e r
"K o m p liz ie rth e ite n " ( s lo ž n o s ti) , durch die er in fünfzehn Jah-
ren gegangen s e i . 13 Ein "in te g ra le s " B ild "g e b ie rt ein ganzes
System a b g e le ite te r B ild e r , wächst m it seinen Wurzeln durch
Absätze und Seiten hindurch" und " b r e it e t sich auf das ganze
Werk von Anfang b is Ende aus" (Z a k u lis y, 270). M it dieser my-
thopoetisch-organologischen Metapher beschreibt Zamjatin jenes
Verfahren der Ausfaltung eines kla ng lich en oder thematischen
M otivs, das fü r das neomythische Denken "ornamentaler" Prosa
c h a ra k te ris tis c h is t. Tatsächlich v e r le ih t das in te g ra le B ild
der Überschwemmung, das nach Zamjatins Worten "d ie Erzählung
auf zwei Ebenen d u rc h z ie h t", a ls "re a le Petersburger über-
schwemmung" und a ls d ie s ie widerspiegelnde "Überschwemmung
der Seele"13, v e r le ih t dieses B ild m it seinen zahlreichen Ab-
legem dem Werk höhere Prägnanz14, a ls s ie Zamjatin je vorher
e r r e ic h t hat.
Die E in fa c h h e it, d ie sich Zamjatin b e sch e in ig t, bezieht
sich n a tü r lic h auch auf die Diskursebene. Die kla ngpoetologi-
sehen Äußerungen des Autors1® lassen erkennen, wie sehr ihm
daran gelegen war, die Bewegungen des Prosarhythmus in Ein‫־‬
klang m it den "emotionalen Verzögerungen und Beschleunigungen"
des Erzählten zu b rin g e n .1e Und wohl w e il er sich bemühte, die

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M y th isc h e s Denken i n "o rn a m e n ta le r" Proaa 377

"kla n g lich e n Le itm o tive " n ic h t ornamental ausvuchem zu lassen,


sondern den thematischen oder - wie er sagt ‫־‬ "v is u e lle n L e it -
motiven" zuzuordnen17, is t d ie phonische I t e r a t i v i t ä t im Ver-
g le ic h m it manchem seiner Werke aus den späten Zehner Jahren
eher zurückhaltend p r o f i l i e r t • Die Erzählung L o v e c d e lo v e k o v
("Der Menschenfänger") aus dem Jahr 1918, deren T i t e l b e re its
eine prägnante Paronomasie (Lovec à e - l o v e k - ov) e n t h ie lt , setzte
noch m it wahren Kaskaden quasi-magischer Klangfiguren e in ;

Самое прекрасное в жизни - бред, и самый прекрасный бред -


влюбленность. В утреннем, смутном, как влюбленность, ту-
мане ‫ ־‬Лондон бредил. Розово-молочный, зажмурясь, Лондон
плыл - все равно куда.
Легкие колонны друидских храмов - вчера еще заводские
трубы. Воздушно-чугунные дуги виадуков: мосты с неведомого
острова на неведомый остров. Выгнутые шеи допотопно-огром-
ных черных лебедей-кранов: сейчас нырнут за добычей на
дно. Вспугнутые, выплеснулись к солнцу звонкие золотые
буквы [ . . . ] 18

Dagegen w ir k t der Anfang von N a v o d n e n i e eher karg instrumen-


t i e r t : 1®

Кругом Васильевского острова далеким морем лежал мир: там


была война, потом революция. А в котельной у Трофима Ива-
новича котел гудел все так же, манометр показывал все те
же девять атмосфер.20

Aber immerhin e r h ä lt in den Paronomasien "далёким хорем л е ж а л


м и р " und "в к о т е л ь н о й котел г у д е л ‫ *״‬die topologische Scheidung
»

von Außen und Innen ikonischen Ausdruck. Die kontrastierenden


rhythmischen und euphonischen Muster der beiden Sätze b ild e n
den Gegensatz der Welten ab. Die Außenwelt m it Krieg und Revo-
lu tio n e rs ch e in t in der klangsymbolischen D arstellung a ls Ort
des Friedens im V ergleich m it der Innenwelt, d ie sowohl pho-
nisch, m it ikonisch zu verstehenden dentalen Explosiven, als
auch thematisch durch Spannung und Überdruck c h a r a k te r is ie r t
is t.
Auch in anderen F ällen prägnanter Klangwiederholung beob-
achten w ir eine Tendenz zur Semantisierung. Da i s t zunächst
einmal die Klangsymbolik;

ветер играл сшалоньми л и с т ь я м и в стальном лесу (113)

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378 W o lf Schm id

w o to m с <5ара<5анным <?оем, с пением расстреливали из палок


(117)
хлопнулся 0 6 пол в падучей (119)

Komplexer wird die S tru k tu r, wenn Klangwiederholungen th e -


matische Leitm otive anzeigen und zu ihren Ikonen werden:

Словами это в первый раз сказалось только позже, осенью,


и Софья запомнила: это было ночью в субботу, был ветер,
вода в Неве поднималась. (113)
Вспомнил только ночью. (114)
Земля л е ж а л а г о л а я . (115)
Маятник на стене метался, к а к птица в к л е т к е , чующая на
себе пристальный кошачий глаз. (128)
Оштг> стало тихо, только, как птица, метался маятник на
стене. (129)
Бггло слгшно: наверху передвигали что-то тялгелое, там долх-
но быть лохились спать. (129)

Die rhythmisch-euphonische Organisation is t in N a vodnenie


insgesamt aber so gemäßigt, daß mancher Z a m ja tin -S p e z ia lis t,
der sich von einer r e in s tilis tis c h e n Ornamentalismus-Konzep-
tio n le it e n lä ß t und überdies das Autorwort von der "Einfach-
h e it" zu w ö rtlic h nimmt, die Erzählung ganz aus der "omamen-
ta le n " T ra d itio n ausklammert.21 Das Werk scheint ja auch t a t -
sächlich zum Typus der Sujet-Texte zu gehören. E rz ä h lt es n ic h t
von Ereignissen, die man auf die Formel eines bekannten Prä-
te x te s , auf den es in v ie le n D e ta ils unverkennbar a n s p ie lt,
nämlich auf die Formel von Schuld und Sühne22 gebracht h a t23?
Rekonstruieren w ir also das E rzählte a ls s u je th a fte Geschichte,
die das n e u z e itlic h e E re ig n is par excellence g e s ta lte t, das
überschreiten der Grenze2**, das p r e - a t u p l e n i e .
Trofim Ivanovičs und S o f'ja s Ehe i s t kin d e rlo s geblieben.
S o f'ja fü r c h te t von ihrem Mann, der ih r ih re U n fru ch tb a rke it
v o r h ä lt, verlassen zu werden. Als der Nachbar s t i r b t , schlägt
S o f'ja v o r, seine dreizehnjährige Tochter Gan'ka an Kindes
s ta tt zu sich aufzunehmen. Trofim w illig t fre u d ig e in . Doch
bald nimmt Gan'ka die S te lle der Ehefrau e in , zuerst am Tag,
a ls Gesprächspartnerin Trofim s, und dann auch in der Nacht.
Trofim wendet sich ganz von S o f'ja ab und s c h lä ft bei Gan'ka

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M y th isc h e s Denken i n "o rn a m e n ta le r" P rosa 379

in der Küche• Nach langem Dulden der immer u n e rträ g lic h e r werden-
den Demütigung e rsch lä g t S o f'ja die verhaßte R iv a lin m it dem
B e il, zerhackt die Leiche und ve rgrä bt die T e ile in einer Grube
auf dem Smolensker Feld. Da die anderen glauben, daß Gan'ka,
die schon hä u figer herumgestreunt i s t , das Haus endgültig v e r-
lassen hat, b le ib t die Mordtat unentdeckt. Trofim wendet sich
wieder S o f'ja zu. Sie kann sich en d lich ganz f ü r ihn öffnen und
empfängt das lange ersehnte Kind. M it dem Wachsen des Kindes im
Leib wächst auch die Erkenntnis der schrecklichen T at. Nachdem
sie eine Tochter zur Welt gebracht h a t, e r le b t S o f'ja im Kind-
b e ttfie b e r ih re Mordtat in a lle n E in ze lh e ite n noch einmal, wie
zum erstenmal. J e tz t is t s ie fä h ig , sich a ls Mörderin zu beken-
nen.
Gerade vor dem Hintergrund von D ostoevskijs Sujet-Roman
muß die E r e ig n is h a ftig k e it dessen, was w ir r e a lis t is c h - n a r r a t iv
re k o n s tru ie rt haben, k a te g o ria l in Frage g e s t e l l t werden. Die
mythische Überformung des S u jet-S ubstrats von Schuld und Sühne
sei in acht Punkten dargelegt:

1. S o f'ja handelt z ie ls t r e b ig und um sichtig, aber unbewußt.


Ihre Beweggründe kommen n ic h t aus dem Kopf, sondern steigen
buchstäblich aus dem Bauch a u f. Die Mordtat w ird ausgelöst vom
heißen, süßlichen Schweißgeruch der Nebenbuhlerin, den S o f'ja
in sich e in z ie h t:

[ . . . ] снизу, от живота, поднялось в ней, перехлестнуло


через сердце, затопило всю. (126)
[ . . . ] von unten, aus dem Bauch s tie g es in i h r a u f, flo ß
über den Rand des Herzens und überschwemmte s ie ganz.

S o f'ja handelt im Einklang m it den Zyklen der Natur, der


Tages- und Jahreszeiten. Wenn in der h e rb s tlich e n Neva das Was-
ser s te ig t, dann s t e ig t in S o f 'ja , die - wie sie wahmirrmt -
m it dem Fluß "wie durch u n te rird is c h e Adern verbunden i s t 1
*
("будто связанная с Невой подземными жилами", 114), das B lu t
auf. Wie i s t dieses B ild kommunizierender Röhren zu verstehen?
Der Erzähler benutzt n ic h t einfach B ild e r , die ihm die Außen-
w eit l i e f e r t , um die psychophysische B e fin d lic h k e it seiner

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380 W o lf Schm id

Heldin symbolisch auszudrücken. Es handelt sich auch n ic h t um


personal k o n s titu ie r te Metaphern, die einen inneren Zustand
nach außen p r o jiz ie r e n . Der P arallelism us von Innen und Außen,
der in v ie le n D e ta ils w iederkehrt, z e ig t vielmehr einen menta-
litä ts g e s c h ic h tlic h e n Zustand, in dem die Scheidung von Subjekt
und Objekt noch gar n ic h t vollzogen is t. Mensch und Natur, In -
nen und Außen reagieren in g le ic h e r Weise n ic h t aufgrund von
K a u s a litä t, von wechselseitigem E in flu ß , sondern aufgrund von
sim ultaner P a r t i z i p a t i o n an übergreifenden Ord-
nungen. Im mythischen Denken werden T e ile eines Ganzen dank
gemeinsamer P a r tiz ip a tio n miteinander id e n t i f i z ie r b a r . Erschei-
nungen, die f ü r das n e u z e itlic h e Denken unterschiedlichen Be-
reichen angehören und auch n ic h t in kausalen Zusammenhängen
stehen, b ild e n in der mythischen V o rste llu n g k ra ft ih r e r bloßen
Ä h n lic h k e it oder ih re s g le ic h z e itig e n Vorkommens eine wesens-
mäßige E in h e it. In N a vodn enie w ird die mythische E in h e it von
Mensch und Natur immer wieder dadurch beschworen, daß d ie Grenze
zwischen Innen und Außen fü r die T ra n s itio n z a h lre ic h e r Gegen-
stände und Vorgänge durchlässig w ird .

Vor der Entdeckung des Ehebruchs h ö rt die lauschende Ehefrau:


"d ie Uhren tic k te n an der Wand und in S o f'ja s Innern und über-
a l l" ("тикали часы на стенке, и внутри в Софье, и всюду", 120).
S o f'ja s Lage w ird immer u n e rträ g lic h e r. Sie s p ü rt, daß die
‫״‬grauen, städtischen, n ie d rig e n , steinernen Wolken" ("серые,
городские, низкие, каменные облака", 125), die sie an die schwü-
len Gewitterwolken e rin n e rn , die sich während des ganzen Som-
mers kein einziges Mal entladen haben, daß diese Wolken "n ic h t
h in te r dem Fenster waren, sondern in i h r s e lb s t, in ihrem In -
nern, daß sie sich schon ganze Monate s te in e rn aufeinandertürm-
ten" ("эти тучи не за окном, а в ней самой, внутри, они каменно
наваливались одна на другую уже целые месяцы", 125 f . ) .
M it den Schüssen der Kanone, d ie vor dem Hochwasser warnen,
korrespondiert das Schlagen des Herzens (126). Zu der Tat g e tra -
gen vom Wasser, das auf der Straße das Holz wegschwemmt, und
"e rfa ß t von e in e r Welle, hob [ S o f 'j a ] , ohne nachzudenken, das
B e il vom Boden a u f, sie wußte s e lb s t n ic h t wozu. Noch einmal
schlug das gewaltige Kanonenherz gegen das Fenster" ("Не думая,
подхваченная волной, она подняла топор с полу, она сама не зна-
ла зачем. Еще раз стукнуло в окно огромное пушечное сердце",
126) .
Die mythische Korrespondenz zwischen Innen und Außen v e re i-
n ig t sogar Mörderin und Opfer: Das B lu t der erschlagenen R iv a lin
e rg ie ß t sich in den Raum. "Und a ls käme dieses B lu t - aus ih r .

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M y th isc h e s Denken i n ‫ח‬o rn a m e n ta le r*' P rosa 381

aus S o f 'ja , a ls wäre in I h r e nd lich ein Geschwür aufgebrochen,


flo ß es von d o r t, tr o p ft e es, und m it jedem Tropfen wurde ih r
le ic h t e r " ("И будто эта кровь ‫ ־‬из нее, из Софьи, в ней наконец
прорвало какой-то нарыв, лилось оттуда, капало, и с каждой кап-
лей ей становилось все легче126 ,*‫ )״‬.
Man k lo p f t an die Tür, von den Schlägen e r z i t t e r t der Haken.
" S o f'ja [ . . . ] spürte: der Haken war j e t z t ein T e il ih r e r s e lb s t"
("Софья [ . . . ] чувствовала: крючок сейчас был частью ее самой",
127) .
S o f 'ja verbrennt den Unrat, der Spuren der Tat t r ä g t : " a lle s
verbrannte, j e t z t war es im Raum v ö l l i g r e in . Und ebenso ve r-
brannte der ganze Unrat in S o f 'ja , auch in i h r wurde es re in
und ru h ig " ("все сгорело, теперь в комнате было совсем чисто.
И так же сгорел весь мусор в Софье, в ней тоже стало чисто и
тихо", 128).
Nach der Geburt s ie h t S o f'ja im H albschlaf, wie Trofim Ivanyõ
in der Ferne, wie an einem anderen Ufer in der Dunkelheit des
dichten Regens eine Lampe anzündet, w inzig k le in , wie eine
Stecknadel: "Im Schlaf spürte S o f'ja die ganze Z e it die Lampe:
winzig k le in , wie eine Stecknadel, s ie war j e t z t schon irgendwo
im Innern, im Bauch" ("Сквозь сон Софья все время чувствовала
лампу: крошечная, как булавка ‫ ־‬она была теперь уже где-то вну-
три, в животе", 137).

W ichtigstes Motiv neben der Überschwemmung, an dem sich


die auf e in e r r e a lis ie r t e n Metapher beruhende D urch lässigkeit
der Grenze zwischen Innen und Außen e rw e is t, is t die Grube. Zu-
nächst leere Grube, die Trofim in der verlassenen W erkstatt m it
den le e r schlagenden Treibriemen (113) und dann in der n ä c h t li-
chen Begegnung m it S o f'ja v o r fin d e t (114), w ird s ie zur unge-
fü llte n Höhlung in S o f'ja s Leib (114), um sich s c h lie ß lic h in
jene Grube auf dem Smolensker Feld zu verwandeln, in der die
ze rstü cke lte Leiche Gan'kas vergraben w ird (128).

2. Die Mordtat i s t n ic h t oder n ic h t n u r p r e - 8tu p le n ie einer


ethischen Grenze, a ls welche sie dem Realisten erschien, sie
is t zumindest a u c h der Vollzug e in e r geforderten Handlung,
die die Weltordnung b e s tä tig t: s ie b r in g t S o f'ja ihren Ehemann
zurück und macht ihren Schoß fru c h tb a r. Indem die Mörderin i h r
zerstückeltes Opfer in der Grube ve rg rä b t, fü llt sich die leere
Grube ih re s eigenen Leibes:

[...] все тело у нее улыбалось, оно было полно до краев25


[...] (134)
[...] ih r ganzer Körper lä c h e lte , er war b is zum Rand ge-

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382 W o lf Schm id

fa n t !...‫נ‬

Живот был круглый, это была земля. В земле, глубоко,


никому не видная, лежала Ганька, и в земле, никому не
видные, рылись белыми корешками зерна. (134)
Der Bauch war rund, das war die Erde. In der Erde, t i e f ,
niemandem s ic h tb a r, lag Gan'ka, und in der Erde, nieman-
dem s ic h tb a r, drängten m it ihren kleinen weißen Wurzeln
die Samenkörner empor.

S o f'ja s L e ibesfru ch t is t die wiedergeborene Gan'ka. Des-


halb weiß sie zur Verwunderung der Nachbarin, die ih r Hebammen-
dienste le is t e t, daß s ie ein Mädchen geboren h a t, bevor sie
seiner überhaupt a n s ic h tig geworden i s t .
Man beachte auch: Die Geburt w ird ausgelöst durch Trofims
Erzählung vom tö d lic h e n U n fa ll des Schmierers am Schwungrad,
und sie w ird von S o f'ja a ls Sterben durch Ausbluten e r le b t , als
Sterben, das den Tod des Schmierers‫״‬w ie d e rh o lt:

[ . . . ] Трофим Иваныч рассказал, что вчера у них маховиком


зацепило смазчика и долго вертело [ . . . ] Софья протирала
тряпкой стекла и думала про смазчика, про смерть, и пока-
залось, что это будет совсем просто - вот как заходит
солнце, и темно, а потом опять день. Она встала на лавку
[ . . . ] и тут ее подхватил маховик [ . . . ] все вертелось, все
неслось мимо [ . . . ] Потом все с размаху остановилось, тиши-
на стояла, как пруд, Софья чувствовала - из нее льется,
льется кровь. Должно быть так же было со смазчиком, когда
его сняли с маховика. (136)

[ . . . ] Trofim Іѵапуб e rz ä h lte , daß gestern bei ihnen im


B etrieb das Schwungrad einen Schmierer e rfa ß t und lange
m it sich gedreht habe [ . . . ] S o f'ja wischte m it einem Lap-
pen die Fensterscheiben und dachte an den Schmierer, an
den Tod, und es schien i h r , a ls werde das ganz einfach
sein - genauso wie die Sonne untergeht, und dann i s t es
dunkel und danach wieder Tag. Sie s t e l l t e sich auf die
Fensterbank [ . . . ] und da e r g r i f f sie das Schwungrad [ . . . ]
a lle s drehte s ic h , a lle s flo g vorbei [ . . . ] Dann b lie b
a lle s m it einem Ruck stehen, die S t i l l e stand wie
ein Teich, S o f'ja spürte: aus i h r flo ß es, flo ß B lu t.
Genauso mußte es m it dem Schmierer gewesen sein, a ls sie
ihn vom Schwungrad herabnahmen.

Tod und Geburt, deren zweifache Koinzidenz der R e a lis t nur


a ls Z u fa ll auffassen kann, sind h ie r durch mythische Logik v e r-
kn ü p ft. Und so w ird der Mord an Gan'ka geradezu die Bedingung
fü r S o f'ja s M utterglück, um dessentw illen "s ie ih r ganzes Leben

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M y th isc h e s Denken i n "o rn a m e n ta le r" P rosa 383

gelebt h a t" , um dessentwillen ,,a lle s war" ("ради этой одной ми‫־‬
нуты она жила всю жизнь, ради этого было все", 136)•

3- S o f'ja s Handeln, das n ic h t n u r , auf der re a lis tis c h e n


Ebene, ü b e r t r e t e n , sondern a u c h , auf der Ebene des
mythischen Denkens, E r f ü l l u n g des Lebensgesetzes be-
deutet, is t von Anfang an d e te rm in ie rt. Lange bevor Gan'ka
überhaupt in d ie Erzählung e i n t r i t t , nimmt S o f'ja s Traum die
Mordtat in w ichtigen Motiven vorweg:

Ночью ‫ ־‬должно быть, уже под утро, дверь раскрылась, с


расмаху грохнула в бочку, Софья выбежала на улицу. Она
знала, что конец, что назад уже нельзя. Громко, навзрыд
плача, она побежала к Смоленскому полю, там в‘ темноте
кто-то зажигал спички* Она споткнулась, упала - руками
прямо в мокрое. Стало светло, она увидела, что руки у
нее были в крови. (114)
Nachts, es mußte schon gegen Morgen se in , ö ffn e te sich die
Tür und krachte m it Wucht gegen das Faß, S o f 'ja l i e f auf
die Straße. Sie wußte, daß das das Ende war, daß s ie n ic h t
mehr zurück konnte. Laut schluchzend l i e f sie zum Smo-
lensker Feld, d o rt zündete in der Dunkelheit jemand
S tre ic h h ö lz e r an• Sie s to lp e rte und f i e l m it den Händen
d ir e k t in etwas Feuchtes. Es wurde h e l l , s ie sah, daß ih re
Hände v o lle r B lu t waren.

Die re a le Szene auf dem Smolensker Feld, wo S o f'ja die


ze rstü cke lte Leiche vergräbt, nimmt m it nahezu w ö rtlic h e r Wie-
derholung ze n tra le Motive des Traums auf:

Софья спотыкалась. Она упала, ткнулась рукой во что-то


мокрое и так шла потом с мокрой рукой, боялась ее выте-
реть. Далеко, должно быть на взморье, загорался и потухал
огонек, а может быть это было совсем близко - кто-нибудь
закуривал папироску на ветру. (128)
S o f'ja ging stolpernd. Sie f i e l und s tie ß m it der Hand in
etwas Feuchtes, und so ging s ie dann m it der feuchten
Hand, sie fü rc h te te s ic h , sie abzuwischen. In der Ferne,
wahrscheinlich am Meeresufer, leuchtete immer wieder ein
kleines L ic h t auf und e rlo sch , v i e l l e i c h t war das aber
auch ganz in der Nähe - v i e l l e i c h t versuchte sich jemand
im Wind eine Z ig a re tte anzuzünden.

Zwei Motive des Traums bedürfen der Erläuterung: Das im


Traum von der Tür gestoßene Faß i s t ein Reflex des realen Fas-
ses, das im F lu r , h in te r der Tür s te h t, eines der Objekte, m it

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384 W olf Schm id

denen sich - wie noch zu zeigen sein w ird ‫־‬ S o f'ja to te m istisch
id e n tifiz ie r t. Und das in der Dunkelheit aufleuchtende L ic h t
der S treichhölzer w e ist voraus auf die mehrfache Assoziation
eines kleinen Lichtes (des einsamen Sterns am leeren Himmel
[116], der winzig kle in e n Lampe [s .o .]) m it einem spitzen Ge-
genstand (einer Nadelspitze [116], e in e r Stecknadel [s .o .]) e i-
n e rs e its und anderseits m it dem Schmerz, anfangs m it dem s te -
chenden Schmerz des Bauches, der le e r is t wie der Himmel, den
der einsame Stern d u rc h s tic h t, und später m it dem brennenden
Schmerz, der nach der Geburt des Kindes die Geburt des Geständ-
nisses und dann das Ende ankündigt.
Die im Traum enthaltenen mehr oder weniger d ire kte n Vor-
ausdeutungen zeigen an: S o f'ja s Handeln i s t b e re its fe s tg e le g t,
bevor es überhaupt durch die E ife rsu c h t re a lis tis c h -p s y c h o lo -
gisch m o tiv ie r t wird und sogar bevor das Opfer der Tat in das
B lic k fe ld der Erzählung t r i t t . Es i s t also n ic h t so, daß ‫ ־‬den
psychologischen M otivierungsregeln des Realismus entsprechend -
die E ife rsu ch t auf die junge Gan'ka den Mordgedanken hervor-
brächte, vielmehr sucht sich die vom Leben - zu seiner Erhal-
tung ‫־‬ geforderte Tat a lle r e r s t ih r Objekt und ih re Begründung.
M it dem Töten und Gebären - dem zweifachen Gebären: des Kindes
und des Geständnisses ‫־‬ is t S o f'ja eine mythischen Aufgabe ge-
s te llt, die "vor dem Ende1
‫” ( ״‬до конца134 ,1‫ )״‬, vor dem Erlöschen
der immer kürzer werdenden Tage (132,134) zu e r fü lle n sie sich
b e e ilt (134,137).

4. Das Geständnis is t n ic h t im c h r is tlic h - n e u z e itlic h e n Sinne


a ls Ausdruck m oralischer Läuterung und g e is tig e r Entwicklung zu
verstehen. S o f'ja hat sich von den Popen der a lte n Kirche und
auch den neuen ê i v o a e r k o v c y abgewandt und i s t Anhängerin des
wahnsinnigen Schusters Fedor geworden, der das D r it t e Testa-
ment verkündet. Sie e r le b t ih r Geständnis ganz k ö rp e rlic h , als
Gebären, physiologische Notwendigkeit, als Akt mythischer Ka-
th a r s is , den weder Reue noch Buße b e g le ite n .
Zwar bekennt sich S o f'ja zu ih r e r Tat, aber weder lä ß t
sich daraus ein 1‫״‬Jasagen zu sich s e lb s t" noch das "Eingeständ-

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M y th isc h e s Denken -in ‫״‬o rn a m e n ta le r‫ ״‬P rosa 385

n is ih r e r Schuld"зв, e in e r Schuld im r e lig iö s e n oder r e c h t l i -


chen Sinne a b le ite n . Schuldig hat sich S o f'ja le d ig lic h a ls
n ic h t Empfangende, Unfruchtbare g e fü h lt: " J e tz t war es so, als
säße man jeden Monat Gericht über sie und sie erwartete das Ur-
te il" ("Теперь как будто ее каждый месяц судили, и она ждала
приговора", 114). Nach dem Mord dagegen empfindet sie "weder
Furcht noch Scham ‫־‬ n ic h ts , nur ein neues Gefühl im ganzen Kör-
per, eine L e ic h tig k e it, wie nach langem Fieber" ("Ни страха, ни
стыда ‫־‬ ничего не было, только какая-то во всем теле новизна,
легкость, как после долгой лихорадки", 126 f . ) . Und nach der
Beseitigung a l l e r Spuren f ä l l t S o f'ja erschöpft in den S chlaf;
" v o ll, g lü c k lic h , ganz" ("полно, счастливо, вся", 128).
S o f'ja s mentale Leistung im Geständnis besteht d a rin , daß
«
sie sich m it der Mörderin id e n tifiz ie r t, sich zu Bewußtsein
b r in g t , was s ie bewußtlos getan h a t, was ih re Hände, e in e r Not-
wendigkeit folgend, "wie v ö l l i g lo s g e lö s t von i h r gedacht und
getan" haben, während sie s e lb s t, "b e is e ite stehend, sich
g lü c k s e lig ausruhte" und " a lle s m it Verwunderung b e tra c h te te ":

Дальше было так, как будто Софьины руки совсем отдельно


от нее думали и делали все, что надо, а она сама, в сто-
роне, блаженно отдыхала, и только изредка глаза у нее рас-
крывались, она начинала видеть, она смотрела на все с
удивлением. (127)

Im Geständnis s p ric h t s ie das aus, was s ie e r s t kurz v o r-


her unter Aufbietung a l l e r Bewußtseinskräfte b e g riffe n h a t:

"Кто же, кто это сделал? Она - вот эта самая она - я ...
[ . . . ] 135) ‫)״‬
"Wer hat das denn, wer hat das getan? Sie ‫י‬ niemand anders
als sie s e lb s t - ic h . . . [...]"

Im Geständnis w ird die d r it te Person zur erste n , das Es


zum Ich, w ird das dunkle mythische, unterbewußte Handeln in die
H e llig k e it des Ich-Bewußtseins ü b e rfü h rt. Aber auch diesen Pro-
zeß hat schon der Traum vorausgesagt: "Es wurde h e l l , und sie
sah, daß ih re Hände v o lle r B lu t waren".

5. Unter dem Aspekt der mythischen Aufgabe rü c k t auch die Adop-


tio n in ein neues L ic h t. S o f'ja s Perspektive, die die Erzählung

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386 W o lf Schm id

h ie r o r g a n is ie rt, verbindet Trofim und Gan'ka durch A ssoziatio‫־‬


nen, die auf dem Merkmal des Brotes aufbauen, Imago das mensch-
lieh e n Leibes, I n b e g r if f der F ru c h tb a rke it und v e rd in g lic h te s
Symbol der S e x u a litä t.

Wir wollen einmal die ganze Kette der Assoziationen und damit
die Entstehung der Idee zur Adoption ve rfo lge n . Gan'ka, die
Zwölf- oder Dreizehnjährige, t r i t t in die Erzählung a ls Gegen-
stand von S o f'ja s Wahrnehmung e in : sie i s t auf dem Hof m it den
Jungen, die sie verfolg e n, herumgetobt; sie atmet schnell und
i s t e r h i t z t . S o f'ja s t e l l t sich v o r, daß Gan'ka ih re Tochter
sein könnte, daß man s ie i h r gestohlen habe. In S o f'ja s Bauch
" z ie h t sich etwas zusammen, s t e ig t zum Herzen empor" ("в животе
что-то сжалось, поднялось вверх к сердцу", 115): i h r i s t der
Geruch von Gan1kas warmem Körper verhaßt und auch der Anblick
ih r e r Oberlippe m it dem kleinen schwarzen Muttermal. Gan'ka
sagt i h r , daß der Vater im Sterben lie g e , und S o f'ja drückt
s ie , von Scham und M it le id ü b e rw ä ltig t, z ä r t lic h an s ic h . Nach
dem Tode des Vaters s i t z t Gan'ka, wie S o f'ja wahrnimmt, auf
ihrem B e tt. Auf ihren Knien l i e g t ein unberührtes Stück schwär-
zen Brotes. Wieder unten in der Küche, vergegenwärtigt sich
S o f 'ja , wie oben Gan'ka m it dem Stück Brot auf den Knien s i t z t .
Trofim kommt nach Hause. Aus einem Sack h o lt er ein Laib Brot
heraus und schneidet die K ostbarkeit in Scheiben. Wie zum e r-
stenmal s ie h t S o f'ja dabei sein vom Feuer verbranntes Gesicht,
seinen Zigeunerkopf, der d ic h t m it grauen Haaren, wie m it Salz,
bestre u t i s t . In S o f'ja s Herz s c h re it es v e rz w e ife lt: Es w ird
keine Kinder geben. Und a ls Trofim ein Stück Brot in die Hände
nimmt, b efindet sich S o f'ja in ih r e r V orstellung au g en b licklich
bei Gan'ka: sie s i t z t a l le i n auf dem B e tt, auf ihren Knien l i e g t
das B rot, durch das Fenster schaut ein F rühlingsstern herein,
scharf wie eine Nadelspitze:
И седины, и Ганька, хлеб, одинокая звезда в пустом небе -
все это слилось в одно целое, непонятно связанное между
собой, и неожиданно для самой себя Софья сказала: "Трофим
Иваныч, возьмем к себе Столярову Ганьку, пусть будет нам
вместо.. . " (116)
Die grauen Haare, Gan'ka, das B ro t, der einsame Stern am
leeren Himmel - a lle s das flo ß , auf unbegreifbare Weise m it-
einander verbunden, zu einem Ganzen zusammen, und f ü r sich
s e lb s t unerwartet sagte S o f 'ja : "Trofim Іѵапуб, laß uns die
Gan'ka vom T is c h le r zu uns nehmen, s o ll sie uns s t a t t . . . "
Trofim b l i c k t S o f'ja verwundert an. Dann, a llm ä h lich begreifend,
beginnt er zu lächeln:
[ . . . ] медленно, так же медленно, как развязывал мешок с
хлебом. Когда развязал улыбку до конца, зубы у него за-
блестели, лицо стало новое, он сказал: "Молодец ты, Софья!
Веди ее сюда, хлеба на троих хватит". (116)
[...] langsam, genauso langsam, wie er den Sack m it dem

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M y th isc h e s Denken i n ‫״‬o rn a m e n ta le r" P rosa 387

Brot aufgebunden h a tte . A ls er das Lächeln v o lls tä n d ig a u f-


gebunden h a tte , b lit z t e n seine Zähne, sein Gesicht wurde zu
einem ganz neuen, er sagte: "Du P ra c h tk e rl, S o f'ja ! Bring
sie her, das Brot r e ic h t f ü r d r e i" .

Das weitgespannte, v ie le Motive der Erzählung einbeziehende


Netz der Assoziationen, das h ie r s ic h tb a r geworden i s t , sugge-
r ie r t fü r die Adoption folgende mytho-psycho-logische Erklärung:
In S o f'ja s M it le id m it dem Waisenmädchen mischt sich von Anfang
an der Haß auf die werdende Frau, die sie b e re its a ls R iv a lin
erkannt hat. Wenn S o f'ja gleichwohl die Adoption vorsch lä g t,
f o lg t sie e in e r unbewußt-mythischen Logik. Sie weiß nämlich:
Zu ih r e r te llu ris c h - w e ib lic h e n E rfü llu n g fü h rt nur die z e itw e i-
lig e Zurücksetzung h in te r Gan'ka, die S t e llv e r t r e t e r in zum e i -
nen fü r das Kind, ohne das die Ehe zu sche ite rn d ro h t, zum an-
dern fü r d ie Frau, die Trofims T rie b b e f r ie d ig t . S o f'ja s S e lb st-
o pfer, das der Opferung der M ediatorin vorausgeht, is t die Be-
dingung f ü r das Lösen der mythischen Aufgabe. S o f'ja s c h lie ß t
den K reis, indem sie das z e rs tü c k e lte Mädchen in eben jenem
Sack zur Grube t r ä g t , in dem zu Beginn der Erzählung Trofim den
Laib Brot nach Hause gebracht h a t. In mythischen T ransitionen
geht die geschlechtliche Anziehungskraft vom geopferten Mädchen
auf seine Mörderin über und e rs te h t Gan'ka a ls Frucht der wie-
der möglich gewordenen Vereinigung der Eheleute zu neuem Leben
auf, wie das in den Boden versenkte Samenkorn.

6. Für die mythische Überformung des n a rra tiv e n Sujets is t, wie


b e re its in der theoretischen These 3 angedeutet wurde, auch die
Ornamentalisierung der thematischen Ebene, die Einführung präg-
nanter Rekurrenzen in die d a rg e s te llte Welt c h a ra k te ris tis c h .
Die Rekurrenz thematischer E in h e ite n , die a ls s tr u k tu r e lle s
Ikon des von der Figur der Wiederholung bestimmten mythischen
Denkens b e tra c h te t werden kann, äußert sich auch in N a vodnenie
unter anderm in der o stin a te n Wiederkehr von Motiven, in der
L e i t m o t i v i k .
Eines der a u ff ä llig e n L e itm o tiv e , die die Erzählung m it
einem dichten Netz überziehen, sind die "Lippen" ("губ ы "), zum

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388 W olf Schm id

einen Gan'kas z itte rn d e Łippen (115: d re im a l), zum ändern aber


S o f'ja s zunächst fe s t ,,aufeinandergepreßte" ("сжатые") (113,114,
115,121,124) und dann - nach dem Mord - "w e it geöffnete" Lippen
(131,133), m it deren Erwähnung die Erzählung auch s c h lie ß t:

Она спала, дышала ровно, тихо, блаженно, губы у нее были


широко раскрыты. (140)
Sie s c h lie f , atmete regelmäßig, s till, g lü c k s e lig , ih re
Lippen waren w e it g e ö ffn e t.

Eine andere Kette b ild e n die von S o f'ja wahrgenommenen


körperlichen A ttr ib u te Trofim s: seine kurzen Beine, die ihn aus-
sehen lassen, als sei er b is .z u den Knien in der Erde vergraben
(116,120,128,130), und sein Zigeunerkopf (116,129,132,133) m it
den weißen wie die Tasten e in e r Ziehharmonika blitzenden Zähnen
(116,117,129,131 ,133,134) .
Ein L e itm o tiv , das metonymisch auf die S e x u a litä t verweist
und die d re i Personen miteinander ve rb in d e t, sind die "Knie"
("колени"): in der Nacht sucht Trofim S o f'ja s Knie (114); S o f' ‫־‬
jas B lic k fä llt immer wieder auf Gan'kas runde Knie (116: d r e i-
m al,121,124,126), die w e it gespreizt sind (121,126) oder das
Brot halten (116: d re im a l). Die K o n tig u itä t von Knien und Brot
begegnet auch einmal in Verbindung m it Trofim . Nach der Entdek-
kung des Ehebruchs beobachtet S o f'ja :

Когда она [ d . i . Gan'ka] принесла хлеб, Трофим Иваныч обер-


нулся, задел головой, хлеб упал ему на колени. Ганька за-
хохотала. (120)
Als s ie [ d . i . Gan'ka] das Brot brachte, drehte sich Trofim
um und s t r e i f t e s ie m it dem Kopf. Das Brot f i e l ihm auf
die Knie. Gan'ka lachte la u t a u f.

Nachdem S o f'ja die ze rstü cke lte Gan'ka im Brotsack zur Gru-
be gebracht hat, u n te r lie g t das Brot e in e r merkwürdigen Metamor-
phose: es verwandelt sich in Kohl, die karge A llta g ssp e ise , Sym-
bol der noch leeren Beziehung zwischen den Eheleuten:

Он [ d . i . Trofim ] х л е б н у л щей и остановился, gpengo зажав


ложку в кулаке. Вдруг громко задышал и стукнул кулаком в
стол, из ложки выкинуло к а п у с т у к нему на колени. Он подо-
брал ее и не знал, куда девать, скатерть была чистая, он

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M y th isc h e s Denken i n "o rn a m e n ta le r" P rosa 389

смешно, растерянно держал к а п у с т у в pyge, был к ag малень-


кий цыганено^, которого Софья видела тогда в п у с т о м доме.
Ей стало тепло от жалости, она подставила Трофиму Иванычу
свою, уже п у с т у ю тарелку. Он, не глядя, сбросил туда ка-
пусту и встал. (129)

Er [ d . i . Trofim ] l ö f f e l t e Kohlsuppe und h i e l t inne, wobei


e r den L ö ff e l fe s t in der Faust zusammenpreßte. P lö tz lic h
h o lte er la u t L u ft und schlug m it der Faust auf den Tisch,
aus dem L ö f f e l f i e l ihm der Kohl auf die Knie. Er sammelte
ihn auf und wußte n ic h t, wohin e r ihn tun s o l lt e , das
Tischtuch war sauber, m it komischer, h i l f l o s e r Gebärde
h i e l t er den Kohl in der Hand, war wie der k le in e Zigeu-
nerjunge, den S o f'ja damals in dem leeren Haus gesehen
h a tte . I h r wurde vor M it le id warm ums Herz, sie schob ihm
ih re n schon leeren T e lle r zu. Er warf den Kohl, ohne zu
schauen, h in e in und stand a u f.

7. An dem le tz te n Z ita t lä ß t sich auch gut die thematische Aus-


nutzung phonischer "Ornamente", die Kookkurrenz k la n g lic h e r und
semantischer Ordnungen beobachten, zu der ‫ ־‬wie oben, in der 4.
theoretischen These angedeutet wurde ‫־‬ die ornamentale Prosa
g ru n d sä tzlich te n d ie r t: Das Wort к а р и е t a , das den Kohl bezeich-
net, das Symbol e h e lich e r A l l t ä g l i c h k e i t , is t zum einen ein
Element in der Reihe der Klangwiederholungen, die das к b ild e t
(im Z it a t _ ). Diese Klangreihe d rü ckt m it der Lautsymbolik des
g u ttu ra l explosiven к und der gemeinsamen semantischen Assozia-
tionen der Wörter k u l a k ("F a u s t"), krepko (" fe s t"), grom ko
( " la u t" ) , a tu kn u l ("schlug") Trofims Empörung gegen den V e rlu s t
der jungen Geliebten aus. Dieser sowohl lautsymbolisch a ls auch
semantisch fu n d ie rte Bedeutungswert ü b e rträ g t sich auf das
dreimal vorkommende und thematisch im M itte lp u n k t stehende k a -
p u s t a . Zum ändern aber hat k a p u s t a te il an der semantisch weni-
ger d e u tlic h bestimmbaren 8 t ‫ ־‬Reihe (im Z i t a t u n te rs tric h e n ),
die die k‫ ־‬Reihe a llm ä h lic h a b lö s t. Darüber hinaus b ild e t kap u s ta
eine Paronomasie m it [v ] p u s t om Idom e] ( " in dem leeren Haus")
und p u s t u j u [ta re lk u ] ("den leeren T e lle r " ) und a s s o z iie r t über
die lautähnlichen A d je k tiv e das ganze Paradigma der Motive der
Leere: leere Grube ( in der W erkstatt, im Ehebett), leeren Bauch,
leeren Himmel, leeres Haus und leeren T e lle r . Das Wort k a p u s t a

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390 W olf Schm id

drückt die Leere, zu deren I n b e g r if f es w ird , also n ic h t nur


symbolisch aus, sondern e n th ä lt in seinem Lautkörper sogar das
Wort, das diese B e fin d lic h k e it e x p l i z i t bezeichnet. Und schließ
lie h is t in e h le b n u l ( " lö ff e lte " ) anagrammatisch die Bezeich-
nung jenes Nahrungsmittels m it seiner sexuellen Konnotation
verborgen (a h l e b , " B r o t" ) , das durch Kohl e rs e tz t w ird . In die -
sem Zusammenhang scheint es n ic h t mehr z u f ä l l i g , daß sich S of‫״‬-
ja wenig später, nach der ersten e r f ü l lt e n Nacht m it Trofim ,
gerade daran e r in n e r t, daß man in dem D orf, aus dem sie Trofim
genommen h a t, " je tz t wahrscheinlich den Kohl hackt" (1
‫״‬должно
быть рубят капусту", 132). Wir erh alten somit die makabre Asso-
z ia tio n des zerhackten Kohls, d .h . der b e s e itig te n , a u s g e fü ll-
ten Leere, m it der von S o f'ja zerhackten Gan'ka.

8. Mythisches Denken kommt n a tü r lic h auch in den überaus zahl-


reichen t h e m a t i s c h e n Ä q u i v a l e n z e n zum
Ausdruck, die in N a vo d n e n ie komplex miteinander verflochtene
Ketten b ild e n . Meistens a ls e x p liz it e Vergleiche e in g e fü h rt,
die in S o f'ja s Bewußtsein, dem perspektivischen Prisma der Er-
zählung, aufscheinen, gehen die Äquivalenzen des re a lis tis c h e n
Vorbehalts, den das к а к ("w ie") oder b u d t o ("gleichsam ", "a ls
ob") anzeigen, v e r lu s t ig und verwandeln sich in mythische
I d e n t i f i k a t i o n e n , denen sich der Erzähler an-
s c h lie ß t. Es seien h ie r nur die w ic h tig s te n der zu I d e n t if ik a -
tionen v e rd in g lic h te n Äquivalenzen erwähnt:
S o f'ja is t das im Hausflur stehende " r is s ig gewordene Faß"
aus dem Trofim "tröpfchenweise auszufließen1
1 droht ("если не
будет ребенка, Трофим Иваныч уйдет из нее, незаметно вытечет из
нее весь по каплям, как вода из рассохшейся бочки", 114). Wir
erinnern uns: der a lle s vorwegnehmende Traum beginnt damit, daß
die aufspringende Tür m it Wucht gegen das Faß kra ch t.
S o f 'ja , der " w in te r lic h , le e r zumute i s t " , is t das "leere
Haus m it den ausgehöhlten Fenstern", in dem "man niemals mehr
leben w ir d " , in dem "niemals frö h lic h e Kinderstimmen zu hören
sein werden":

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M y th isc h e s Denken i n "o rn a m e n ta le r‫ ״‬Prosa ■*9 ‫י‬

[ . . . ] ей было зимне, пусто. На Малом против церкви стоял


такой же пустой с выеденными окнами дом. Софья знала: в
нем уже никогда больше не будут жить, никогда не будет
слышно веселых детских голосов. (118)

Trofim is t dagegen der Dampfkessel, dessen Meßröhrchen


unter dem Überdruck p la t z t :

[ . . . ] смех вырывался у него из носа, изо рта, как пар из


предохранительных клапанов распираемого давлением котла.
(117)
[ . . . ] ein Lachen preßte sich aus seiner Nase, seinem Mund,
wie der Dampf aus den S ic h e rh e its v e n tile n des unter Druck
stehenden Kessels.
[ . . . ] на котле у Трофима Иваныча лопнула водомерная труб-
ка [ . . . ] (113)
[ . . . ] am Kessel bei Trofim Ivanyč war das Wassermeßröhr‫־‬
chen g e p la tz t [ . . . ]

In den ehebrecherischen Nächten atmen Trofim und Gan'ka


"durch die zusammengebissenen Zähne, g ie r ig , heiß, wie die Kes-
seldüse" ("сквозь стиснутые зубы, жадно, жарко, как котельная
форсунка", 121).
S o f'ja is t die Erde. "Unter ihren Augen war es dunkel, sie
waren irgendwohin versunken. So w ird im F rühling der Schnee
dunkel, s in k t e in , b r ic h t zusammen, und unter ihm i s t p lö t z lic h
die Erde" ("под глазами у нее было темно, они куда-то осели.
Так весною темнеет, оседает, проваливается снег и под ним вдруг
земля", 133). S o f'ja s Tränen flie ß e n "wie die Tauwetterbäche
über die Erde" ("как талые ручьи по земле", 134). Die leere
Grube in S o f'ja s Bauch verwandelt sich in die Grube auf dem
Smolensker Feld, in die S o f'ja die z e rs tü c ke lte Gan'ka le g t ,
auf daß die Geopferte, wie das in den Boden versenkte Samen-
korn, zu neuem Leben geboren werde. Vor dem "Ende" ‫־‬ der Tat
und des Lebens - , nach der (Wieder-)Geburt des Kindes lie g t
S o f'ja "warm, s e lig , feucht, ruhend, wie die Erde" ("теплая,
блаженная, влажная, отдыхающая, как земля", 136), eine m ythi-
sche t e r r a m a te r.
Die t i e f gedemütigte S o f'ja v e rg le ic h t sich m it der unter
einem umgestürzten Glas gefangenen F liege (121). Diese I d e n t i-
f ik a t io n , die übrigens ein ähnliches F lie g e n b ild aus Dostoevs-

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392 Wolf Schmid

k i j s Roman aufnimmt27, te ilt ih re semantische Energie den Kon-


s titu e n te n m it, d ie , wann immer sie in ändern Zusammenhängen
auftauchen, die innere S itu a tio n der Heldin vergegenwärtigen:
Der m it schweren Gewitterwolken bedeckte Petersburger Himmel
is t aus grünem Glas (121). Aber die Wolken zerreißen, und "zur
Nacht w ird das Glas immer d icke r, schwüler, dumpfer” ("к ночи
стекло становилось все толще, душнее, глуше", 121). Gläsern i s t
auch der tränenlos trockene Sommer (122). Immer wieder k l i r r t
das vom herbstlichen Wind geschlagene Fensterglas (122), bis es
kurz vor der befreienden Mordtat aus dem Fensterrahmen heraus-
gedrückt is t (123). Nach dem Mord, der die totem istische Iden•
tifik a tio n metonymisch umkehrt, k rie c h t die Fliege über Gan'kas
Leiche und wird von S o f'ja verscheucht (127).
Ein zentrales L e itm o tiv b ild e t die Opposition der Id e n ti-
fik a tio n e n : S o f'ja = der kle in e z itte rn d e Vogel vs. Gan'ka =
die Katze m it den unergründlichen grünen Augen (Vogel: 113,118,
120,128,129,130,131,134, Katze: 117,118,120). Zu Beginn der
Überschwemmung kehrt sich die Hierarchie der Totemtiere um. Am
Himmel k r e is t "m it w eit geöffneten Flügeln" ("крылья у нее были
широко раскрыты", 122) ein großer Vogel, vor dem man die Küken
beschützt. S o f'ja ve rste h t: der Raubvogel is t sie s e lb s t; "sie
wendet sich dem Wind entgegen, ih re Lippen öffnen sich, der Wind
b lä s t in sie hinein und s in g t in ihrem Mund, den Zähnen i s t es
k a lt, angenehm" ("Она повернулась навстречу, губы раскрылись,
ветер ворвался и запел во рту, зубам было холодно, хорошо",
122). Durch das Fenster e r b lic k t sie auf einem im grünen Wasser
vorbeitreibenden Tisch eine Katze "m it geöffnetem Maul" ("рот
у нее был раскрыт", 123). Bis zum Mord b le ib t S o f'ja der große
Raubvogel. Danach aber verwandelt sie sich zurück in den k l e i -
nen Vogel, der dem die Z e it bis zum "Ende" ausmessenden Uhrpen-
del verglichen wird (128,129,130).
V e rm itte ls der Äquivalenz der Id e n tifik a tio n e n 'S o f 'ja is t
der große am Himmel kreisende Vogel' und "die Sonne k r e is t wie
ein Vogel über der Erde", die "nackt d a lie g t" ("солнце [...]
птичьими кругами носилось над землей. Земля лежала голая", 115),
w ird S o f'ja , die te rra m a te r is t, zugleich auch zur Sonne. Und

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M yth isch es Denken i n "o rn a m en ta ler" Prosa 393

Gan'ka wird zum Mond, der wie sie (120,127) ein "dünnes Nacht-
hemdchen" trä g t ("в тонкой сорочке из облаков дрожал месяц",
124). Die so ins Spiel gebrachten Himmelskörper vergegenwärti-
gen den kosmischen Zyklus von Tag und Nacht, m it dem die K re is -
bewegung von Geburt, Tod und Wiedergeburt korrespondiert. Beim
Gedanken an den Tod des vom Schwungrad ( !) erfaßten A rb e ite rs
ve rste h t S o f'ja den Zyklus von Sterben und Wiedergeboren-Wer-
den: "es schien i h r , als werde das ganz einfach sein - genauso
wie die Sonne untergeht, und dann i s t es dunkel und danach wie-
der Tag".

la vo d n e n ie
An Zamjatins Л war zu zeigen, daß die Geschichte von
Schuld und Sühne, die das Werk noch einmal zu erzählen sch e in t,
durch das mythische Denken als n a rra tiv e s , e re ig n ish a fte s Sujet
d e s tr u ie r t und zu einer Beschreibung des Zyklus von Tod und
Wiedergeburt umgestaltet w ird. Mythisches Denken m a n ife s tie rt
sich in dieser Erzählung auf zwei ganz unterschiedliche Weisen.
Zum einen s t r u k t u r e ll: in der "ornamentalen", d .h . poetischen,
paradigmatischen Faktur sowohl des Erzähldiskurses a ls auch der
erzählten Welt. Auf beiden Ebenen fin d e t die fü r das mythische
Denken ch a ra kte ristisch e Ite r a tiv itä t in formalen bzw. thema-
tischen Wiederholungen markanter Merkmale oder Motive modell-
haften Ausdruck. Es g ib t darüber hinaus n ic h t nur eine Entspre-
chung zwischen formalen und thematischen Rekurrenzen, w ir be-
obachten sogar, daß die f ü r den Realismus g ü ltig e N ic h t-M o ti-
v ie r t h e it , A r b itr a r it ä t des sprachlichen Zeichens durch die
Ikonisierung des verbalen Ausdrucks, durch Paronomasien und an-
dere Figuren des archaischen, p rim itiv e n Sprachdenkens aufge-
hoben w ird. Zum ändern aber z e ig t sich die mythische M e n ta litä t
in dieser Erzählung - wie te n d e n z ie ll in der "ornamentalen"
Prosa überhaupt - auch im Empfinden und Handeln der Hauptper-
son, aus deren Perspektive die erzählte Welt - ohne jede aukto-
r ia l e Korrektur - dargeboten w ird . Scheinbar re in v e g e ta tiv ,
in s t in k t - und tr ie b h a ft handelnd, fo lg t S o f'ja gleichwohl einem
Sinnentwurf, der Logik magisch-mythischer W e ltvo rste llu n g, die

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394 Wolf Schrtid

sich etwa in den zu totem istischen Id e n tifik a tio n e n verding-


lic h te n Vergleichen nie d ersch lä gt. Die mythische Logik aber
korrespondiert - wie w ir gesehen haben - durchaus m it der Logik
jenes Unbewußten oder Unterbewußten, in dem das mythologische
Modell der Aufgabe, der Opferung und Wiedergeburt gegenwärtig
is t. Insofern kann die in dieser Erzählung zu beobachtende Re-
Mythisierung auch a ls la te n te Psychologisierung verstanden wer-
den. Der r e a k tu a lis ie r te Mythos m it seiner a -ra tio n a le n , asso-
z ia tiv e n , paradigmatischen Logik deckt isomorphe Strukturen der
Psyche a u f. Dies scheint zumindest e in e r der m e n ta litä tsg e -
s c h ic h tlic h e n Gründe fü r die modernistische Remythisierung zu
sein. Dem r a tio n a lis tis c h e n Realismus, der seine Helden in der
H e llig k e it des Ic h - und Tagesbewußtsein e re ig n isb ild e n d agieren
lie ß , s te llt die Moderne a ls g ü ltig e re Modellierung jenes ite -
r a tiv e , zyklusbildende Handeln entgegen, das vom Es, vom dun-
kle n , archaischen Nachtbewußtsein gelenkt is t. Poesie, Mythos
und Unterbewußtes, die d re i paradigmatisierenden, die Welt a ls
Netz von Assoziationen erfassenden Anschauungsformen, werden
der Moderne zu urverwandten Medien der W eltgestaltung, m it de-
nen sie die von i h r beobachteten Illu s io n e n des Realismus zu
überwinden t r a c h t e t .

A N ME RK UN GE N

1 In dem h ie r verwendeten m e n ta litä tsg e s ch ic h tlich e n B e g r iff


des Mythos fa lle n jene Bewußtseinsstrukturen zusammen, die Jean
Gebser in seinem Längsschnitt durch die Menschheitsepochen a ls
die "magische" und die "mythische" unterscheidet (J. Gebser,
Ursprung und Gegenwart. T e il 1: Die Fundamente der aperspekti-
vischen Welt. T e il 2: Die Manifestationen der aperspektivischen
Welt, S tu ttg a r t 1949/53, 31970, Taschenbuchausgabe fd tv ] in 3
Bden: München 1973, 21986). Aus Gebsers großangelegter Typolo-
gie der nach insgesamt 30 Merkmalen d iffe r e n z ie rte n 5 Bewußt-
seinsstrukturen ( "a rc h a is c h ", "magisch", "m ythisch", "m ental",
" in t e g r a l" ; v g l. die synoptische Ü bersicht, S. 695-699) lä ß t
sich fü r die Opposition von magischer und mythischer Existenz
bei Berücksichtigung der w ich tig ste n Merkmale folgendes Po-
l a r i t ä t s p r o f i l herauslösen:

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M y th isc h e s Denken i n "o rn a m e n ta le r" P rosa 395

m a gische S tru k tu r m y th is c h e S tru k tu r


ü n itä t P o la r it ä t
Punkt Kreis
eindimensional zweidimensional
vorperspektivisch unperspektivisch
Schlaf Traum
Natur Seele
I n s t in k t , T rie b , Gefühl Im agination, Empfinden, Gemüt
v o r r a tio n a l: präkausal, i r r a t i o n a l : unkausal, polar
analogisch
Götzen, Id o l, R itu a l G ö tte r, Symbol, Mysterien
Diesen beiden Bewußtseinsstrukturen entsprechen die von der
frühen Moderne und der Avantgarde je w e ils re a k tu a lis ie rte n un-
te rs c h ie d lic h e n Seiten der archaischen Existenz. Da aber die
gegen das n e u z e itlic h e , von der Ratio beherrschte Weltmodell
kämpfende Moderne in ihrem R ü c k g riff auf archaische Haltungen
durchaus s y n k re tis tis c h v e r fä h r t, n ic h t nur Mytheme u n te r-
s c h ie d lic h e r Genese, sondern auch magische und mythische Zu-
stände m ischt, genügt uns h ie r zur Bezeichnung der v o r - "menta-
le n 1
‫ ״‬S tru k tu r der B e g r iff des Mythischen, der "Magisches" und
” Mythisches" (im Sinne Gebsers) zusammenschließt.
2 Vgl. dazu etwa Ernst C assirer, Philosophie der symbolischen
Formen. T e il 2; Das mythische Denken, B e r lin 1925, Darmstadt
71977; E.M. M e le tin s k ij, Poétika m ifa , M. 1976, bes. 164-169
("Obščie svojstva mifologičeskogo m y ś le n ija " ) •
3 Zum modernistischen (symbolistischen) B e g r if f der "Wortkunst"
(slovesnoe iskusstvo) und seinem aus dem Denken der Formalisten
rekonstruierbaren Antonym "Erzählkunst" v g l. Aage A. Hansen-
Löve, Die ” R ealisierung” und "E n tfa ltu n q ” semantischer Figuren
zu Texten, in : Wiener S la w istisc h e r Almanach 10 (1982), 197-
252, h ie r bes.: 231 f . , Anm. 24; d e rs ., In te r m e d ia litä t und In -
t e r t e x t u a l i t ä t . Probleme der K o rre la tio n von Wort- und B ild -
kunst - Am B e is p ie l der russischen Moderne, in : W. Schmid/W.-D.
Stempel (Hgg.), Dialog der Texte, Wien 1983, 291-360. Die
"W ortkunst"-"Erzählkunst"-Dichoton 1ie i s t n ic h t kongruent m it
der von ‫״‬Vers” und "Prosa" oder " L y rik " und ‫״‬E p ik ", sondern
e n ts p ric h t der Opposition von "Imagination*1 und " F ik tio n " und
korrespondiert m it Roman Jakobsons P o la ris ie ru n g von "Äquiva-
lenz” und "K o n tig u itä t" oder "paradigmatischer" und "syntagma-
tis c h e r" S tru k tu rie ru n g .
4 Zur systematischen und h is to ris c h e n Beschreibung des Phäno-
mens v g l. V ik to r S k lo v s k ij, Ornamental1naja proza. Andrej Be-
l y j , in : V .5 ., O t e o r i i prozy, M. 1929, 205-255; Hongor Oula-
n o ff, The Serapion Brothers, The Hague 1966, 53-71 ("The Impact
o f the 'Ornamental1 and , Dynamic' Prose"); P a tr ic ia Carden, Or-
namentalism and Modernism, in : G. Gibian/H.W. Tjalsma (Hgg.),
Russian Modernism, Ithaca 1976, 49-64; Gary L. Browning, Rus-
sian Ornamental Prose, in : S la vic and East European Journal, 23
(1979), 346-352; V. Levin, "Neklassičeskie" t ip y povestvovanija
načala XX veka v iskusstve russkogo lite ra tu rn o g o jazyka, in :

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396 W olf Schm id

Slavica Hierosolymitana, 6-7 (1981), 245-275• Die überzeugend-


sten Strukturbeschreibungen geben N.A. Koževnikova, 0 tip ach
povestvovanija v sovetskoj proze, in : Voprosy jazyka sovremen-
noj russkoj l i t e r a t u r y , M. 1971, 97-163; d ie s ., Iz n a b lju d e n ij
nad neklassičeskoj ( "ornamental' n o j") prozoj , in : Iz v . AN SSSR.
S e rija l i t . i ja z . , 35 (1976), Nr. 1, 55-66; Peter Alberg Jen-
sen, The Thing as Such: Boris P i l 'n j a k 's "Ornamentalism", in :
Russian L ite r a tu r e , 16 (1984), 81-100; Léna S z ilá rd , Ornamen-
t a l ' nost'/ornam entalizm , in : Russian L ite r a tu r e , 19 (1986), 65‫־‬
78.
5 Iz zapisok po t e o r i i slovesnosti (1905), Kap. "Myślenie poé-
tičeskoe i m ifičeskoe", t e ilw . abgedr. in : A .P ., E stē tika i
poétika, M. 1976, 414-421, h ie r : 420.
e Das mythische Denken, 51.
7 Zur u n z e itlic h e n Verklammerung v g l. V e r f., Thematische und
n a rra tiv e Äquivalenz, in : R. Grübel (Hg.), Russische Erzählung.
Russian Short Story. Russkij rasskaz, Amsterdam 1984, 79-118.
8 Das mythische Denken, 87.
® Zum Status der Wortkunst bei Čechov v g l. V e r f., Klangwieder-
holungen in čechovs Erzählprosa, in : J.R. Döring-Smirnov/P.
Rehder/W. Schmid (Hgg.), Text - Symbol - Weltmodell. J . Holthu-
sen zum 60. Geburtstag, München 1984, 489-514, zur N a r r a t iv it ä t
in Babel's Ornamentalismus: V e r f., Das n ic h t erzählte E reignis
in Isaak Babel's "Übergang über den Zbruč‫ ״‬, in : Wiener S law i-
s tis c h e r Almanach, 14 (1984), 117-138.
10 Vgl. dazu Aage A. Hansen-Löve, Mythos a ls Wiederkehr, in
diesem Band.
11 Vgl. etwa J. Joost van Baak, Zam jatin's Cave. On Troglodyte
versus Urban C u ltu re , Myth, and the Semiotics o f L ite r a r y
Space, in : Russian L ite r a tu r e , 10 (1981), 381-422.
12 E .Z ., Zakulisy, erstm. o.T. in : Как my pišem. T e o rija l i t e -
r a tu ry , L. 1930, 29-47, dann m it einigen Auslassungen in : E .Z .,
Lica, New York 1955, 259-274, h ie r : 270 f . , 273.
13 "И более сложный случай [a ls in "Mamaj" und "Peščera"] - в
'Наводнении': здесь интегральный образ наводнения проходит
через рассказ в двух планах, реальное петербургское наводнение
отражено в наводнении душевном ‫ ־‬и в их общее русло вливаются
все основные образы рассказов." (Zakulisy, 270 f . )
‫ *| י‬M it dem organischen Wachsen des "in te g ra le n " Bildes k o r-
respondiert in der Wahrnehmung die organische Verwurzelung des
Eindrucks: "им самим [ d . i . vom Leser] договоренное, дорисован-
ное - будет врезано в него неизмеримо прочнее, врастет в него
органически" (Z akulisy, 271).
15 Как ту pišem, 38 f . In der späteren, "Zakulisy" b e t it e lt e n
Version sind diese Passagen ausgelassen, über sie b e ric h te t
Alex M. Shane, The L if e and Works o f Evgenij Zamjatin, Berkeley
1968, 202.
16 Vgl. Zakulisy, 270.

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M ythiachea Denken i n "o rn a m e n ta le r" P rosa 397

­‫״ די‬и если есть звуковые лейт-мотивы ‫ ־‬должны быть и лейт-моти-


вы зрительные" (Z akulisy, 270) .
18 E .Z., S očinenija, Bd. I, München 1970, 347.
19 Zur klanglichen Instrumentierung des Erzähleinsatzes v g l.
Zamjatins Forderung: "Auf der ersten Seite des Textes muß man
die Grundlage des ganzen musikalischen Gewebes bestimmen, den
Rhythmus des ganzen Werks hören" (Z aku lisy, 269).
20 Sočinenija, Bd. I I , [München] 1982, 113. Nach dieser Ausgabe
m it Nennung nur der Seitenzahl a l le weiteren Z ita te aus der Er‫־‬
zählung.
21 So etwa Gabriele Leech-Anspach, Evgenij Zamjatin. H ä re tike r
im Namen des Menschen, Wiesbaden 1976, 96-98; Leonore S cheff-
1er, Evgenij Zamjatin. Sein W e ltb ild und seine lit e r a r is c h e
Thematik, Köln 1984, 247 f . , 251.
22 Zu den Ä hn lichke ite n und Kontrasten zwischen N a v o d n e n i e und
Dostoevskijs P r e a t u p l e n i e i n a k a z a n i e v g l. Christopher C o llin s ,
Evgenij Zamjatin. An In te r p r e tiv e Study, The Hague 1973, 91-94.
23 " [ . . . ] the p u n i s h m e n t i s the mental anguish th a t
follow s the c r i m e " (Shane, 196) - "M it dem Eingeständnis
ih r e r S c h u l d [ . . . ] nimmt s ie [ d . i . S o f 'ja ] die Verant-
wortung fü r ih re Tat und die S ü h n e auf sich " (Leech-An-
spach, 101; Hervorhebung in beiden Z ita te n von m ir, W.Sch.).
2u Zur D e fin itio n des Ereignisses, d .h . des Kerns eines S u je t-
te xtes, a ls des Überschreitens e in e r Grenze, e in e r to p o lo g i-
sehen Abgrenzung oder e in e r ethischen Norm, v g l. J u r i j Lotman,
Struktura chudožestvennogo te k s ta , M. 1970, 280-289; d e rs .,
Proischoždenie sjužeta v tipologiČeskom osveŠčenii, in : J u .L .,
S t a t ' i po t i p o l o g i i k u l 't u r y , T e il I I , Tartu 1973, 9-42; d e rs .,
Sjužet v k in o , in : J u .L ., Semiotika kino i voprosy k in o ê s t e t ik i,
T a llin n 1973, 85-99. Den S ujettexten s t e l l t Lotman die " s u je t-
losen" oder "mythologischen" Texte gegenüber, die n ic h t von
Neuigkeiten einer sich wandelnden Welt erzählen, sondern die
zyklischen Ite ra tio n e n und die Isomorphien eines geschlossenen
Kosmos d a rs te lle n , dessen Ordnungen g ru n d sä tzlich a f f i r m i e r t
werden. Der moderne S u je tte x t i s t - nach Lotman, Proischoždenie
- das Ergebnis der Wechselwirkung und In te rfe re n z der beiden
typologisch primären Texttypen.
25 Do k r a e v ( " b is zum Rand") b ild e t eine Korrespondenz m it d e -
rez k r a j ("über den Rand", " z u v ie l" ) , das, Ableitung des " in t e -
gralen" Uberschwemmungsbildes, sowohl in e ig e n tlic h e r a ls auch
in übertragener Bedeutung e rs c h e in t: S o f'ja g ie ß t das ö l in die
Lampe. Das ö l " f l i e ß t über" (через край, 133) . Auf Trofims
drängende Frage, was m it i h r s e i, " h i e l t s ie es n ic h t mehr aus,
es war z u v i e l , die Tränen strömten" ("она не выдержала, это
было ч е р е з к р а й , хлынули слезы", 133; Hervorhebung von m ir - W.
Sch.).
26 Leech-Anspach, 101.
27 Vgl. C o llin s , 91-94.

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R en ate LACHMANN ( K o n s t a n z )

MYTHOS ODER PARODIE: NABOKOVS BUCHSTABENSPIELE

1.

Sergej Davydov hat den gnostischen Subtext in den Werken Nabo‫־‬


kovs herausgearbeitet.1 Es geht daher im folgenden n ic h t darum,
neue gnostische Quellen heranzuziehen, um die Davydovsche Lektü-
re Nabokovs zu bestätigen oder zu p rä z is ie re n , denn dessen be‫־‬
d a rf s ie n ic h t, sondern darum, Nabokovs ambivalenten Umgang m it
dem gnostischen Weltmodell zu beleuchten. Dabei w i l l ich mich
auf einen frühen Roman, P r i g l a S e n i e na k a z n 9, und auf einen spe-
z ie lle n Aspekt, die Buchstabenspiele, beschränken.
M it der Buchstabenspielerei b e t r i t t Nabokov ein s y n k re ti-
stisches Feld h e rm e tisch-gnostisch-kabbalistisch-alchim istischer
Ü berlieferung, deren Einzelelemente er in neue K oalitionen über-
fü h r t. Die Lehre von einem abwesenden transmundanen Gott und vom
Kosmos als Schöpfung eines bösen Demiurgen w ird dabei ebenso
aufgenommen wie diejenige von dem in den Kosmos gestürzten (bes-
ser: geworfenen) Menschen, der um seinen vorkosmischen heilen
Zustand weiß und diesen durch die Umkehrung seines Sturzes
- durch Gnosis - wiederzuerlangen sucht. Das in a lle n D iv e r s if i-
zierungen dieser H eilslehre konstante Motiv eines basalen Dua-
lismus - oder eines gespaltenen Zustands der Dinge ‫־‬ is t in
F rig ia m e n te na k a z n 9 in der P olarisierung von Körper und Geist
(öXn und тіѵебца) zu rekonstruieren, ebenso wie die im p liz ite n
Untermotive der Verwerfung des Körpers als Seelengefängnis, der
Negativierung des Kosmos a ls eines Machtsystems, das die Knech-
tung des heilsentfremdeten Menschen zum Z ie l hat, des Glaubens
an die Rückkehr des geläuterten Pneumas zum vorkosmischen Ur-
p rin z ip und an den le tzte n d lich e n Z e r fa ll der m a te rie lle n Welt

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400 R enate Łachmanu

in entsprechenden n a rra tiv e n und semantischen Arrangements des


Textes zu id e n t if iz ie r e n sind.
Es sch e in t, a ls habe Nabokov - wie der Gnosisforscher Hans
Jonas ‫־‬ den künstlichen Charakter der Gnosis als "sekundärer,
a b g e le ite te r M ythologie"2 erkannt (die bekanntlich auf frühe
naive Mythen aus dem ira nische n , ägyptischen, griechischen Kon‫־‬
te x t ebenso wie auf Philosopheme aus dem Neuplatonismus und der
jüdischen D en ktra d ition a ls auf eine A rt v o rg e fe rtig te n M ateri-
a ls r e k u r r ie r t ) und erlaube sich nun, deren K ü n s tlic h k e it durch
einen lu d is tis c h e n E ffe k t zu überhöhen. Doch auch der Ludismus
hat seine Wurzel in e in e r fü r die gn o stisch -ka b b alistisch e Tra-
d it io n k o n s titu tiv e n Denkfigur: nämlich der e in e r den gesaunten
Kosmos erfassenden Korrespondenz. Die Nabokovsche Buchstaben-
s p ie lä s th e tik macht sich die in diesem Korrespondenzmodell m it‫־‬
fo rm u lie rte V orste llung der Verknüpfbarkeit des Sichtbaren m it
dem Unsichtbaren und den dieser V orste llu ng zugrunde liegenden
kom plizierte n Mechanismus der Repräsentation von Zeichen durch
Zeichen zunutze. Nabokov enthebt die Zeichen, g le ic h v ie l ob er
sie ikonisch oder magisch e in s e tz t, ih r e r primären re p rä se n ta ti
ven Aufgabe und v e r le ih t ihnen eine exzentrische Funktion, die
auf einen Sinngewinn z i e l t , der außerhalb des k o n tro llie rb a re n
semiotischen Bezugs l i e g t .
Die Frage nach Grund und Herkunft gnostischer Spuren in то
derner L it e r a t u r su g g e rie rt zwei Antworten: entweder handelt es
sich um einen bewußten, ä sth e tisch m o tiv ie rte n R ü c k g riff auf
gnostische Texte oder um das k u l t u r e l l bedingte Weiterwirken
e in e r häretischen, in o ffiz ie lle n S in n tr a d itio n . Nimmt man den
ersten F a ll fü r Nabokov an, so muß w e ite r d if f e r e n z ie r t werden
in e in e rs e its eine a ffir m a tiv e P a r tiz ip a tio n am gnostischen My‫־‬
thos, der durch die D arstellung seiner Grundelemente in s z e n ie rt
w ird , und anderseits in ein e klektisches S p ie l, das gnostische
Elemente zu neuen S innfiguren ve rb in d e t. Beide Varianten gelten
fü r den Nabokovschen Roman und machen dessen fu n k tio n a le Ambi-
valenz von 1magisch1 und p a ro d is tis c h aus. Diese Doppelfunktion
e rla u b t es, den gnostischen a ls ästhetischen Mythos zu i n t e r ‫־‬
p re tie re n , d.h. die Inszenierung des Mythos in e in s a ls Reprä-

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Nabokove B u c h e ta b e n sp ie le 401

sentation im Medium der L it e r a t u r und a ls gnostisch-ästhetische


Texthandlung zu lesen, die im Text a ls Schreiben gegen den Tod
th e m a tis ie rt w ird . P rig la S e n ie na kazn ' is t ein gnostischer The-
senroman, der ständig den Anschein erweckt, seine These p aro d i-
s tis c h zu u n te rla u fe n .
Man l i e s t den Text wie ein kryptographisches S p ie l, das
einen auf die Spur des Mythos le n k t, eine Spur, die v ie lle ic h t
fa lsch is t, gleichwohl aber eine Doppelsinn-Exegese v e rla n g t,
die im manifesten Zeichen das andere, abwesende m i t l i e s t . Im
Prozeß der Lektüre w ird gewissermaßen die Scheinwelt des Ober-
flächensinns a u fg e lö s t: Jedes Sinnangebot w ird durch die Ahnung
eines H intersinns zurückgewiesen.
Der Roman e rz ä h lt zwei Geschichten: die (manifeste) Ge-
schichte eines zum Tode V e r u r te ilte n , der sich auf seine Hin-
richtung durch Enthauptung v o r b e r e ite t, und die (kryp tische ) Ge-
schichte der durch einen Läuterungsprozeß v o rb e re ite te n Erlösung
des V e ru rte ilte n aus dem kosmischen Gefängnis. Die diese zweite
Geschichte signalisierenden Zeichen sind B estandteile der Text-
s tru k tu r, verweisen aber zugleich auf ein abwesendes Sinnsystem,
das durch die Rekonstruktion des hermetisch-gnostischen Subtex-
tes lesbar gemacht werden kann. Die durch diese k ry p to -re fe re n -
tie lle Zeichensetzung e rre ic h te Doppelkodierung v e rla n g t gewis-
sermaßen eine zweite Lektüre, die sich auf die E n tz iffe ru n g des
semantischen Anagramms k o n z e n trie rt.
Bei der Rekonstruktion von Elementen des gnostischen My-
thos wird d e u tlic h , daß dieser in der thematischen Ausrichtung
von P v i g l a š e n i e na k a z n ' eine Auslegung e r f ä h r t , die a ls *Moder-
nisierung' des gnostischen Grundkonzepts b e tra c h te t werden kann.
Denn Nabokov e n t w ir f t m it H ilf e der gnostischen V o rfa b rik a te
eine Mythopoetik, die einen einzigen Gegenstand h a t: das S chrei-
ben. Der Hauptprotagonist des Romans, C incin n a t, der den D ualis-
mus der Gnosis und das Leiden am gespaltenen Zustand der Dinge
austragen muß, fo lg t a ls H y le tik e r , und a ls solcher v o lle r To-
desfuroht, •der■Einladung zur Enthauptung; währtn'd 'séift fmfeultia’- ‫י‬ ‫י‬
tis c h e r Doppelgänger das Haupt vom R ic h tp flo c k hebt und in eine
andere Welt f o r t s c h r e it e t . Der Überwindung des ird is c h e n "Ver-

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402 R enate Lachmann

blendungszusammenhangs", 3 die ihm damit gelungen is t, f o lg t der


Zusammenbruch der negativen Schöpfung. A lle s Sichtbare, E rfa h r-
bare und Wahrnehmbare e rsch e in t Cincinnat a ls Parodie auf die
transmundane Welt, auf deren Betreten er sich durch den Versuch
zu schreiben v o rb e r e ite t.
Im Schrelbprozeö - so lie ß e sich die Nabokovsche Version
des Dualismus lesen - f a lle n der b ü rg e rlic h -h y le tis c h e und der
künstlerisch-pneumatische Cincinnat auseinander. Das Schreiben
s e lb s t w ird a ls gegen den Tod g e ric h te te Erlösungshandlung deut-
bar. Nabokov in s z e n ie rt dies m it H ilf e a lle r am Schreiben b e te i-
lig t e n Faktoren. Die ver-schriebene Z e it - abgebildet im dahin-
schmelzenden B l e i s t i f t - is t die b is zur H inrichtung v e r s t r e i-
chende Z e it. Der Stummel s c h re ib t a ls le tz te s das Wort "Tod" und
s t r e ic h t es aus. Der Text, der sein eigenes Ende dementiert,
w ird zum U n s te rb lic h k e it garantierenden Doppelgänger des Schrei-
bers und ke h rt das Symbol des S ch re ib ute n sils um: je mehr es
sich a ls U te n s il, a ls Hyle v e r f lü c h t ig t , desto mehr wächst das
Pneuma des Schreibers in der Spur der Ausstreichung.
Diese mythopoetische Schreibutopie - z w e ife llo s das Kern-
stück des Nabokovschen Romans - w ird durch eine Gegenutopie be-
u n ru h ig t, die ein anderes Medium v e rh e iß t: der Fotoapparat. Die
K onfrontation zweier Weisen mimetischen Handelns - die Nabokov
auch in einigen seiner späteren Romane v o r fü h rt - w ird in P ri-
g la š e n ie na k a z n 9 a ls W id e rs tre it des r ic h tig e n und des f ä l -
sehenden Abbildes ausgetragen. Dies is t le tz tlic h eine Neube-
Setzung der in der platonischen Mimesis-Konzeption enthaltenen
Ambivalenz (Mimesis a ls p o s itiv e T e il habe am U rb ild e in e rs e its
und a ls A b fa ll des Abbildes vom U rb ild a n d e rs e its ), deren Spu-
ren in der gnostischen Lehre vom Kosmos a ls Fälschung1
♦ und in
Nabokovs In te rp r e ta tio n der Welt a ls Parodie erkennbar sind. Im
Roman w ird der Schreiber C incinnat, der p o s itiv e Mimetiker und
damit p o s it iv ie r t e Demiurg, vom fotografierenden negativen De-
miurgen, seinem Henker und umgekehrten Doppelgänger, v e r f o lg t .
Der böse Demiurg i s t Fälscher: seine F o to g ra fie n , die e r als
T e ile eines Fotohoroskops bezeichnet, sind Zeitm anipulationen:
sie b ild e n junge Lebende a ls a lte Tote ab. Wie lä ß t sich diese

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Nabokovs B uchsta ò e n s p ie le 403

Gegenüberstellung von L ic h ts c h re ib e r und Buchstabenschreiber,


von Lichtelement (cp&c) und Buchstabe ( yp&UUCü , von Fotoapparat
und B le is tifts tu m m e l lesen? Der Illu s io n is m u s der L ic h t s c h r if t
* ” p a ro d ija na rabotu vremeni" - lä ß t кете P a r tiz ip a tio n zu,
denn die (fa lsch e , m an ipu lie rte) Kopie der Zukunft endet auf dem
Totenbett; die Buchstabenschrift dagegen verbürgt die Teilhabe
am Buchstabierten, der Entwurf des Schreibers verh eiß t das
Nicht-Ende. Cincmnats Schreiben bedeutet die Aufhebung des To-
des und i s t damit ein gnostischer Erlösungsakt. M it dieser In -
te rp re ta tio n lä ß t sich die utopische Dimension der Nabokovschen
Mythopoetik noch einmal bestätigen: die gnostische Kulthandlung
w ird a ls ästhetische ausgelegt, Gnosis e rsc h e in t a ls P oie sis.
Nun i s t d ie ästhetische Handlung im Text s e lb s t präsent und
zwar als sprachliche, genauer buchstäbliche. Sie bedient sich
verschiedener Spielformen: Rekurrenz, Palindrom, Anagramm, Buch-
stabenikonik, Buchstabenonomastik sind die hä ufig ste n . S p ie l be-
deutet bei Nabokov die Aufdeckung eines verborgenen Regelsystems
und die Anwendung e in e r zweiten, absenten Grammatik.9 Es i s t die
Grammatik der Wortmagie, die in die k a b b a lis tis c h e T ra d itio n
verweist und in einem Mythos der Korrespondenzen gründet, der
den Schlüssel fü r den Gesamtkosmos zu e ntha lte n s c h e in t. Der
Sprachludismus lä ß t sich somit einmal a ls Clownerie und zum an-
dern a ls etwas Sakrales in te r p r e tie r e n , das auf e in verborgenes
Sinnsystem verw eist, das des Mythos.
Zwischen dem Mythos, der die magischen Spiele le g it im ie r t ,
und der Parodie des Mythos bewegt sich m ith in der Nabokovsche
Text. Der Mythos von der Lesbarkeit der Welt,® den Nabokov in
seinen Buchstabenspielen in Szene s e tz t, und sein p r iv a te r My-
thos, der das Schreiben als Kreation e in e r noch n ic h t benannten
Welt versteht, die den Schreibprozeß s e lb s t a ls deren Verlänge-
rung e n t w ir f t ‫ ״‬entsprechen einander. Einem vorpoetischen Mythos
korrespondiert ein po e tisch er. Nun geht Nabokov bea der buch-
stabemnagischen S tru ktu rie ru n g seines Werkes sehr präzise vor.
Vom Einzelzeichen über die Reihe und deren Umkehrung , Zyklus-
bildung, Palindrom, Anagramm, S ilb e n - und Wortwiederholung,
gelten a lle M it t e l der N ie d e rs c h rift des Mythos. Diese Nieder-

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404 R en a te Laohmann

s c h r ift, die die Kenntnis des Mythos voraussetzt, is t sie nun


selber ein magisches Schreiben - oder w ird die Magie im
Schreibprozeß aufgehoben? Zunächst s e tz t Nabokov a lle s daran,
die Buchstaben aus dem Status ih r e r kommunikativen Transparenz
zu lösen und opak zu machen; oder anders: ih re kommunikative
Rolle zu u nte rla u fe n durch eine symbolische, die die buchsta-
b ie rte n Worte, die noch in e in e r kommunikativen und a llta g s s e -
mantischen Kette stehen, in andere Systeme ve rke tte n . D.h. die
"ars com binatoria"7, die die Buchstaben ausdeutet, v e r lä u ft un-
te rh a lb der n a rra tiv e n Kunst, die ih r e r s e it s die der "ars combi‫־‬
n a to ria " v e r p flic h te te n MuBter h in s c h re ib t. So i s t die Narra-
t io n , da s ie einem Buchstabengesetz fo lg t, das im Text se lbst
n ic h t zur Gänze e x p l iz i e r t w ird , kryptographisch. Oder: jede
N a rra tio n is t eine der möglichen Versionen des Alphabets, die
die Wahrheit über den Kosmos e n tfa lte n , jede N arration is t durch
die V e rste llu n g der Buchstaben bestimmt: das Anagramm. Es geht
darum, das Anagramm zu erkennen. Der Schöpfer, der k re a tiv e
Schreiber, w ir ft das Alphabet wie e in Netzwerk aus, in dem die
Welt, die d a rin vorgezeichnet is t, gefangen w ird .
Nabokov lä ß t die Protagonisten seiner Romane, die allesamt
Schreiber sind, die Metapher der Lesbarkeit der Welt in immer
anderen Versionen z it ie r e n - besonders a u s fü h rlic h in T he Real
L ife o f S e b a s tia n K n ig h t :

The answer to a l l questions o f l i f e and death, "the abso-


lu te s o lu tio n " was w r itte n a l l over the world he had known:
i t was l ik e a t r a v e l le r r e a liz in g th a t the w ild country he
surveys i s not an a ccidental assembly o f n a tu ra l phenomena,
but the page in a book where these mountains and fo re s ts ,
and f ie l d s , and r iv e r s are disposed in such a way as to
form a coherent sentence; the vowel o f a lake fusing w ith
the consonant o f a s i b i l a n t slope; the windings o f a road
w r itin g i t s message in a round hand, as c le a r as th a t o f
one‫״‬s fa th e r; trees conversing in dumb-show, making sense
to one who has le a rn t the gestures o f t h e ir lan g ua g e....
Thus the t r a v e l le r s p e lls the landscape and i t s sense is
disclosed, and lik e w is e , the in t r ic a t e p a tte rn o f human l i f e
turns out to be monogrammatic, now q u ite c le a r to the inner
eye disentangling the interwoven le tte rs .®

Jedoch a r b e ite t Nabokov auch m it e in e r diese Metapher de-


potenzierenden Version: der e in e r zweiten Schöpfung der Welt,

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Nabokove Buchs ta b e n s p ie le 405

e in e r k ü n s tlic h e n , die den Gesetzen des S piels gehorcht. Und


wie iro n is c h der Bezug des scrabble a ls G e s e lls c h a fts s p ie l, das
er in Ada от A rdour die inzestuösen Liebenden spielen lä ß t (die
Anglorussen nennen es F la v ita = A lfa v ita ) , zu der mythisch le -
g itim ie r te n Buchstabenmagie auch sein mag, der Glaube an die
M atrix des Alphabets in der Verfügungsgewalt des Schreibers,
der die Welt wie der Schöpfergott und S c h r ifte r fin d e r der
Kabbalah e n t f a lt e t und zusammenfaltet, s e tz t sich doch durch.
Am Ende von Р г г д і а ё е п г е na kazn' w ird die Welt wie ein Puppen-
theater zusammengeklappt, eine Bewegung, die jene des Zusammen-
fa lte n s und E in ro lle n s der Buchrolle der Welt w ie d e rh o lt.9 Die
komische T h e a tra llk , die Nabokov in der Beschreibung der Ent-
hauptungsvorbereitungen e in s e tz t, a ffiz ie r t den Mythos, der in
dieser Analogie-Metapher des theatrum mundi zu erkennen i s t . Die
Metapher w ird ingeniös e n t f a l t e t : Gefängnis und Umwelt s te lle n
ein absurdes Theater dar. Der Henker i s t ein Clown, der bei e i-
nem Handstand auf dem Stuhl sein Gebiß auf der Lehne zurück-
lä ß t; der Gefängnis- is t e ig e n tlic h ein Z irk u s d ire k to r; der
Mond i s t Versatzstück ebenso wie die große Spinne, die zwar
tä g lic h g e f ü t t e r t w ird , aber l e t z t l i c h an einem Gummifaden
hängt; das Publikum der ö ffe n tlic h e n Enthauptung i s t aus Pappe;
die sichtbare Welt w ird wie ein einziges großes Versatzstück,
eine " b u t a f o r ija " , zum Verschwinden gebracht. Die Theatermeta-
pher e r fä h r t eine doppelte Auslegung: denn es k o lla b ie r t n ic h t
nur die Welt a ls Theater, sondern auch das Theater in der Welt.
Diesem W elttheater entkommt nur e in e r, der pneumatische Doppel-
gänger, der seine physische, h y le tis c h e G e sta lt in dessen Ku-
lisse n zurückläßt und in gnostischer Schau das Jenseits b e tr itt.
Die z irk u sh a fte T h e a tra lik e rsch e in t aber auch a ls eine im Ge-
h irn s ta ttfin d e n d e "maskarad" (v g l. die "mozgovaja ig r a " in
Belyjs P e te rb u rg ) oder, um bei der Schreibmetapher zu bleiben,
als Enkephalogramm. Sie s i g n a l i s i e r t die H errschaft des Schrei-
ber-Schöpfers über sein Produkt, das er aufbaut und v e rn ic h te t.
Die Ausfaltung der theatrum mundi-Metapher, 1° deren Pointe der
Welt-Kollaps is t, gewinnt durch die Inszenierung der Buchsta-
benspiele eine w e ite re , Kosmos und Alphabet , dramatisch‫ י‬v e r-

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406 R en a te Lachmann

knüpfende Dimension: der Kosmos, so le h r t die Kabballah, is t am


Ende, wenn a l le Buchstabenkombinationen durchprobiert worden
sind. Das Wort- und Buchstabenspiel bedient sich grotesk-komi-
scher E in f ä lle , die m it dem Duktus der Aufzeichnungen des gno-
stischen Helden konkurrieren, der seine pneumatischen Erfahrun-
gen n ie d e rs c h re ib t. Es i s t die Konkurrenz zwischen Oberflächen-
Unterhaltsamkeit und ,T ie fs in n 1, die das eingangs erwähnte seman
tisch e Doppelmuster von seriös und p a ro d is tis c h w ie d e rh o lt. Die-
ses b e t r i f f t die Buchstabenoperationen s e lb s t, die sich auf zwei
scheinbar gegenläufige Traditionen beziehen: die des "lusus ve r-
borúm" (der die " litte r a " m ite in s c h lie ß t) und die der Buchsta-
benmagie. (Daß der Ludismus, insbesondere der barocke, seine
ästhetische Q u a litä t durch eine magische r e c h t f e r t ig t , s p ie lt
h ie rb e i eine w ichtig e R o lle )11 . Lusus und Magie p a r tiz ip ie r e n am
Mythos von der zu lesenden und nachzubuchstabierenden Welt. Der
Lusus beleuchtet die Magie, der er sich verdankt. D.h. die Buch-
stabeninszenierung tr e ib t einen lu d is tis c h e n Symbolismus hervor,
der die Magie en tb löß t und damit die durch die Magie gebundene
A r b itr a r it ä t des Alphabets (und analog der Sprache) wieder fr e i-
g ib t . Die Wechselbeziehung zwischen Lusus und Magie s c h lie ß t
d ie je n ig e zwischen Spiel und Gegenspiel, K a lk u la tio n und Be-
schwörung e in . Nabokov hat gerade dieser Aspekt des Umschlagens
des ,S in n -S p ie ls ' in den 'Sinn-Zauber* in t e r e s s ie r t . Den Wort-
autor und Schreiber p r o f i l i e r t er immer wieder a ls den einzigen,
der die verlorene, überlagerte Magie im Artismus wiederzuerwek-
ken vermag. Nabokov hat sich verschiedene Bestandteile des w e it-
verzweigten, geradezu p ro life rie re n d e n Mythos zunutze gemacht,
eine A rt Synkretismus h e r g e s te llt , der es kaum noch e rla u b t,
eine stimmige Mytho-Logik zu rekon stru iere n.

2.

Die Nabokovsche S p ie lä s th e tik lä ß t in a lle n Einzelverfahren die


O rientierung sowohl an der symbolistischen wie an der fu tu r i-
stischen Sprachkonzeption erkennen. Doch le g t die Einführung des
Schreibthemas, d .h . die Beschreibung von Buchstabenformen,

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Nabokovs B u a h sta b e n sp ie le 407

S c h re ib u te n s ilie n und Phasen des Schreibprozesses nahe, die


durch Lautwiederholung, Lautumkehrung, Assonanz und A l l i t e r a t i o n
erzeugten kla n glich en Q ualitäten in ih r e r g ra p h is c h e n G estalt
zu erfassen. Das unm otivierte Erscheinen der S ch re ib u te n silie n
auf dem Gefängnistisch (a ls Gabe eines außerirdischen Gesandten
deutbar)12 e rö ffn e t den semantischen Bereich, der a ls zentrale
Is o to p ie des Textes gelten kann. 13 Der B l e i s t i f t , g e s p itz t, ab-
gebissen, langsam abnehmend (wie das Leben eines Menschen); das
Papier, seine Weiße; die B lä t t e r , vollgeschrieben oder le e r;
a lle Derivationen von Schreiben und Zeichnen; die Verbindung
von Buchstabe und Ornament; der Hinweis auf u n te rsch ie d lich e
S c h riftz e ic h e n , auf S p ie g e ls c h r ift, auf unverständliche Zeichen
(die einen o rie n ta lis c h e n Charakter haben); der Vergleich des
B le is tifts m it dem Z e ig e fin g e r, a l le diese Elemente haben ihren
Fluchtpunkt im Schreibthema. Das g i l t insbesondere f ü r das Aus‫־‬
streichen des Wortes "Tod" und fü r Sätze, in denen das Benennen/
Be-Schreiben und die Buchstaben e in z ig e r Gegenstand sind.
In dem Passus:

Окружающие понимали друг друга с полуслова, ‫ ־‬ибо не было


у них таких слов, которые бы кончались как-нибудь не-ожи-
данно, на ижицу, что‫ ־‬ли, обращаясь в пращу или птицу, с
удивительными последствиями... То, что не названо, - не су‫־‬
ществует. К сожалению, все было названо. (S. 38)

w ird d e u tlic h , daß Nabokov eine M yth o sin te rp re ta tio n versucht.


"То, что не названо, не существует‫ *״‬k l i n g t wie e in Z it a t aus
k a b b a lis tis c h e r Lehre, a lle rd in g s in gleichsam ve rke h rte r Ver‫־‬
sion. (In der Kaballah b e fin d e t sich die ganze Schöpfung in
ständiger Gott geltender Namengebung, a lle s , was e x i s t i e r t , is t
Ausdruck seiner Sprache) . M it "К сожалению все было названо"
beginnt die Auflehnung des schreibenden poetischen Demiurgen.
Der Benennungsakt r u f t Unerwartetes in die Existenz. Gegen a l -
le s , was benannt und damit e x is te n t is t, muß angeschrieben wer‫־‬
den m it neuen Benennungen ‫־‬ auch wenn man g e s tr a ft w ird d afür.
"Писателей буду штрафовать", sagt der G efängnisdirektor. Namen‫־‬
geben, d.h. Benennen bedeutet auch das r ic h t ig e Kombinieren der
Buchstaben. Die Buchstaben p a r tiz ip ie r e n am r ic h tig e n Namen, der
das Existente ve rb ü rg t. Damit verw eist Nabokov auf den Zusammen‫־‬

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408 R enate Łachmanu

hang von Benennen, Existenz und Buchstaben, den Gershom Scholem


wie f o l g t e x p liz ie r t :

A l l things e x is t only by v ir tu e o f t h e ir degree o f p a r t i c i -


pátion in the great name of God [ . . . ] the le t t e r s of the
s p ir it u a l language are the elements both o f the most fun-
damental s p i r i t u a l r e a l i t y and the profoundest understand-
ing and knowledge. 4 ‫י‬

In jüdisch-m ystischer T ra d itio n le id e t die Torah, die in ih re r


T o ta litä t den geheimen Namen Gottes b u ch s ta b ie rt, an einem Man-
g e l, d.h. an einem falschen oder fehlenden Buchstaben. Das Wie-
derfinden des fehlenden oder r ic h tig e n Buchstaben wird die per-
fe k te Torah w iederherstellen und damit den Namen Gottes und die
Ordnung des Kosmos.15 Auch dieser Aspekt w ird in dem angeführten
Passus ausgelegt. Die geheime Ordnung, die von dem Allesgesagt-
halben der Alltagssprache ü b erla g e rt is t, kann durch die R e s titu -
tio n des verlorengegangenen le tz te n Buchstaben des k irc h e n s la v i-
sehen Alphabets, der " iž ic a " , aufgedeckt oder neu beschrieben
werden. Der archaische Buchstabe w ird in seinen beiden Varianten
zur Schleuder, "prašča", V , zum Vogel " p t ic a " , V . Nabokov be-
d ie n t sich h ie r eines Buchstabenikonizismus,16 der, v e rs te h t man
ihn a ls das Ausdeuten von Buchstabenformen, auf buchstabenmagi-
sehe Praktiken in Gnosis, Kabbalah und g rie ch isch e r Mystik ve r-
w eist und, was " p tic a " angeht, auch im Bereich der Mythen über
die S c h rifte rfin d u n g v e ro rte t werden kann. Als einer der S c h r if t -
e r fin d e r g i l t Hermes, der die Form der Buchstaben aus dem Flug
der Kraniche abgelesen h a t; fü r Palamedes w ird der Mythos (den
Lucan V 716 und M a rtia l X I I I 75 nacherzählen) noch konkreter,
er nämlich hat aus den F lu g lin ie n der Kraniche ein Lamda oder
ein Ypsilon herausgelesen.17 Wenn man sich die Buchstabenvari-
anten der " iž ic a " vor Augen h ä lt , dann hat Nabokov seine Exegese
an dieser Mythosversion a u sg e rich te t. Daß er den Kranich-Buch-
stabenmythos kannte, e r h e llt aus seinem Gedicht An E v e n in g on
R u s s ia n P o e try , in dem es h e iß t: "The Greek, as you remember,
fashioned h is alphabet from cranes in flig h t." Aber die " iž ic a "
is t n ic h t nur der le t z t e Buchstabe des a ltk irc h e n sla vis ch e n A l-
phabets und zusammen m it "агъ", das gegen Ende des Romans a u f-
ta u c h t, das Alpha und Omega, das die gesamte Weltbeschreibung

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Nabokova B u c h s ta b e n s p ie le ąu^

umfaßt, sondern sie gewinnt a ls a ltk irc h e n s la v is c h e Version des


griechischen Ypsilon eine w eitere Nuance innerhalb der Buchsta-
benmeditation:

Y i s t das YpáuucL Ф 1 Л 0 0 0 Ф 0 Ѵ sch le ch th in . [ . . . ] Es w ird an


zahlreichen S te lle n a ls I l l u s t r a t i o n des Gleichnisses von
den beiden Wegen der Tugend und des Lasters aufgefaßt, das
s e it Hesiod in der griechischen, jüdischen und c h r is tlic h e n
M o r a lis tik sehr b e lie b t gewesen i s t . Pythagoras s e lb s t s o ll
diesen Sinn des Ypsilon aufgezeigt haben.18

Nach Pythagoras i s t das ypáuua «piXôoocpov das S in n b ild a lle r


oxoLxeüa, d .h . Buchstaben.19 Die d re i Arme s te lle n die Vokale,
die tönenden und die stummen Konsonanten dar. In te re ssa n t is t
h ie r die Mehrfachbesetzung eines Zeichens: der Dualismus paßt
zur Gnosis. Die V o rs te llu n g , daß e in Buchstabe a lle e n th a l-
te , r e k a p it u lie r t die Denkfigur der Korrespondenz von mikro und
makro, des Einschlusses, der Summe, der M a trix . Die Metapher des
Vogelzuges30 a s s o z iie r t nach dem m ythenproliferierenden Muster
noch ein weiteres Element: den S c h r ifte r fin d e r Thot (der bei den
Griechen m it Hermes g le ich g e se tzt w ird) und der in der ä g y p ti-
sehen H ieroglyphik m it dem Piktogramm ' Ib is k o p f1 aufgezeichnet
und ikonographisch in seiner Funktion a ls Totengott und Toten-
Schreiber, der den Menschen i h r Leben zumißt, a ls anthropomorphe
G estalt e b e n fa lls m it Ib is k o p f d a r g e s te llt w ird . Thot hat die
Sprache g e g lie d e rt und Unbenanntes benannt. Die Assoziation m it
Ägyptischem z ie h t eine w e ite re , fü r Nabokov bedeutsame, nach
sich : m it Vogel is t, wenn man das dem Todesthema s p ie g e lb ild li-
che Schreibthema im Auge b e h ä lt, die "ra js k a ja p tic a s ir in " ge-
meint. S ir in (Sirene) a ls V ogelleib m it Menschenkopf ( in der
russischen Volksmythologie bekannt) lä ß t sich m it dem ä g y p ti-
sehen Seelenvogel Ba vergleichen, der hieroglyphisch und ikono-
graphisch so d a r g e s te llt wird (und im übrigen wie die S irin -F ig u r
in Nabokovs Romanen eine Doppelgänger-Gestaltung is t) . S ir in is t
das Pseudonym des frühen Nabokov (und der Name des Verlages, in
dem Belyjs P e te rb u rg erschienen is t) . So i s t , sehr v e r m it t e lt ,
der Autor a ls Schreiber, a ls Textdemiurg präsent. S ir in ste h t
fü r das pneumatische P rin z ip , fü r den echten Schöpfer. (Diese
A rt von Mythensynkretismus: russische Volksmythologie und Ägyp-

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410 R en a te Laohmam

tis c h e s , is t ja von Chlebnikov her bekannt. Der l i t e r a r i s i e r t e


Mythos e rla u b t sich Mehrfachkodierung, Synkretismen, Wucherun-
gen. )
Ein anderes B e is p ie l: Cincinnat k la g t n ic h t nur über den
fehlenden Buchstaben, sondern auch über sein Unvermögen zu
schreiben:

. . . ничего не получится из того, что хочу рассказать, а


лишь останутся черные трупы удавленных слов, как висель-
ники [ . . . ] вечерние очерки глаголей, воронье... (S. 96)

Hier i s t nun der alphabetische īkonizismus a ls Muster schon


vorausgesetzt, denn der Leser muß sich zu "g la g o le j" die Majus-
kel-Form des v ie rte n Buchstabens des a ltkirch e n sla v isc h e n Alpha-
bets v o rs te lle n (Г). Das S piel m it " g la g o l'" a ls Buchstabenbe-
Zeichnung und a ls Wort in der Bedeutung Galgen, und a ls ik o n i-
sehe Bedeutung, wird durch dasjenige m it " g la g o l‫ "״‬/" g la g o l" (in
der a ltkirch e n sla visch e n Bedeutung *Wort') ergänzt: Cincinnats
Satz, die "verevka" sei ihm lie b e r als der "to p o r", s c h a fft die
P a ra lle le : Wortleichen am Galgen, Schreiber unterm F a llb e il.
Das folgende Buchstabenikon, das Don Barton Johnson b e re its
in t e r p r e t i e r t hat, e rla u b t noch einmal, das Nabokovsche Verfah-
ren m it seiner polysemischen Ausrichtung zu beleuchten:

Тупое "тут" подпертое и запертое четою "твердо", темная


тюрьма, в которую заключен неуемно воюсций ужас, держит меня
и теснит.

M it " tu t", I n b e g r if f der h yle tisch e n , schlechten Welt, des


kosmischen Gefängnisses, w ird dieser semantische Komplex buch-
stabenikonisch und buchstabenonomastisch e n t f a lt e t . "TUT", eine
A rt Ideogramm, b ild e t den "uznik" (u ), umrahmt von zwei "tjurem -
š č ik i" (T, T ), ab. T w ird zudem m it dem Buchstabennamen des a l t -
kirchenslavischen Alphabets "tvërdo" e x p l iz i e r t , was n a tü rlic h
" tv e r d " * ; "tve rd y n ja " a s s o z iie r t ebenso wie "temnica", ein a r-
chaisierendes Wort fü r Gefängnis. Aber auch “ toska", von hoher
Frequenz im Gesamttext, w ird durch das "T" e v o z ie rt. Das "u"
kann auch fü r 1‫״‬užas” stehen, wie Barton Johnson s u g g e rie rt, und
g le ic h z e itig B elyjs "uuu" z it ie r e n , das in P e te rb u rg das révo lu -
tio n ä re Gären v e r la u t lic h t . Doch i s t das "u" eher graphisch als

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Nabokove B u c h e ta b e n sp ie le 411

phonetisch zu lesen, d .h . a ls Versuch, die Belyjsche Lautung zu


v is u a lis ie r e n . Noch einmal zum "T" zurück: durch die Semantik
der Buchstabennamen und die symbolische Exegese, die graphisch-
phonetisch v e r lä u f t , hindurch b le ib t die ä lte r e ikonische Le-
sung des griechischen Tau a ls crcaupöc ( , Kreuz1) sich tb a r (v g l.
das ägyptische Ankh-Kreuz, die U n s te rb lich ke itsh ie ro g lyp h e : *?).
Die Assoziation "stauros" - Stavrogin verw eist über die Ver-
Schiebung vom Kreuzigen zum Erhängen auch auf die (n ic h t kreu-
zigende) Todesart in P rig la š e n ie na k a z n ', die Enthauptung. In
jedem F a ll w ird m it "tu t" a ls Ideogramm eine Buchstabenexegese
nachgespielt, wie sie D o rn se iff etwa im babylonischen Talmud be-
le g t f i n d e t . 21
Ein w eiteres B e is p ie l: bei e in e r ö ffe n tlic h e n Schau, wäh-
rend der Henker und Opfer gemeinsam dem Publikum p rä s e n tie rt
werden und die In itia le n ih r e r beider Namen, P ie rre und C incìn-
nat, in L e u c h ts c h rift32 am Himmel erscheinen, w ird die falsche
Doppelgängerei aufgedeckt: Das П e rsch e in t a ls Umkehrung von 11,
aber nur fa s t : es e n tste h t ein "растянутый грандиозный вензель
из П и Ц не совсем однако вышедший" (S. 187). Das Häkchen macht
den ganzen Unterschied aus. Auch hierzu g ib t es Prätexte in der
buchstabenmystischen T r a d itio n . D o rn s e iff verw eist auf die in
einigen Lehrzweigen der Kabbalah enthaltene V o rste llu n g , daß die
Häkchen und Punkte a ls spezifische Zeichen zu begreifen seien,
in denen die H e ilig k e it enthalten sei und auf die sich die ganze
Verehrung zu ric h te n habe. In Cincinnats Häkchen lie g t seine
Pneumatik, es re p rä s e n tie rt den Punkt, auf den er a lle s , auch
sich s e lb s t, reduzieren kann, wenn er sich Schicht um Schicht
von seiner körperlichen H ülle b e fr e it. In seinem Schreibermono-
log s c h ild e r t er diesen Vorgang des Sich-Entkörperns: "я снимаю
с себя оболочку за оболочкой...". Sich langsam entkleidend ge-
langt er "до последней, неделимой твердой, сияющей точки, и эта
точка говорит: я есмьі - как перстень с перлом в кровавом жиру
акулы." (S. 95) Dieser eine Punkt aber, der a ls der e i n e
Buchstabe i n t e r p r e t i e r t werden kann, re p rä s e n tie rt das pneumati-
sehe Wesen.

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412 Renate Lachmann

Dies is t eine gnostisch *g e s ä ttig te ' S te lle - einen ih r e r


Subtexte b ild e t der Mythos von der die Seele symbolisierenden
Perle, die im H aifisch wiedergefunden w ir d . 23 Man kann s ie , was
die erwähnte, Häkchen, Punkt und Buchstabe betreffende Mythoar-
gumentation angeht, durch einen eindrucksvollen Passus aus S e ‫־־‬
b a s tia n K n ig h t ergänzen:

the in t r ic a t e pattern o f human l i f e turns out to be mono-


grammatic, now q u ite cle a r to the inner eye disentangling
the interwoven le t t e r s (S. '150).

Hier geht es zwar weniger um Häkchen und Punkt, dafür aber


wieder um den e i n e n Buchstaben. Dieser eine Buchstabe beš
deutet gemäß einem Konzept, das die Kabbalah e n tw ic k e lt, GOTT
bzw. re p rä s e n tie rt das Zeichen "Jah", das fü r "Jahve" s te h t. Im
Nabokovschen System der Sprachkreuzung i s t nun durchaus denkbar,
daß "Jah" auch " ja " ( 1ic h 1) bedeutet und daß diese Bedeutung im
englischen Text im Homonym EYE enthalten is t (eye-I) . D.h. ” the
inner eye" wird als Replik auf " ja esm'" lesbar.
Auch Strategien, die eher in den Bereich der Lautspiele ge-
hören, sind vom Alphabetismus dom iniert. L a u t-, S ilb e n - und
Wortwiederholungen vom Typ: "кисти-ли крутого колориста” 2**, die
B e lyjs Manier z itie r e n , sogar die onomatopoetischen Folgen wie
m rik , mrak, turup, turup, tok, to k, tok, syp1, syp1, syp1 e tc .
haben eine g ra p h is c h -lite ra le Q u a litä t.
D o rn se iff in t e r p r e t ie r t Stabreim und Lautwiederholungen in
diesem Zusammenhang als Buchstabenwiederholungen: ” O ft hat man
den Eindruck, daß es dem Magier mehr darauf ankam, daß diese
zauberkräftigen Zeichen geschrieben dastehen, a ls daß sie ge-
sprachen wurden."25
Wortwiederholungen werden bei Nabokov zumeist sta rk seman-
tis ie r t, a ls Verdichtung thematischer Komplexe eingesetzt:

[ . . . ] о близости Тамариных садов. Там, когда Марфинька была


невестой... Там, где бывало, когда все становилось... Зе-
леное, муравчатое Там, тамошние холмы томление прудов, там-
татам далекого оркестра (S. 32). Там, там, оригинал тех
садов, где мы тут бродили... (S. 99).

M it "tam" und dem hoch frequenten " t u t " w ird die d u a lis t i-
sehe S tru k tu r des gnostischen Themas auf den k le in s te n gra p h i-

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Nabokova Buchs ta b e n sp ie le 413

sehen Nenner gebracht: die hiesige Welt a ls “ tu t" - d ie außer-


kosmische als "ta rn ".26 In der Öeschreibung der gnostischen Ek-
stase:

[Ц] встал, снял халат, ермолку, туфли. Снял полотняные


штаны, рубашку* Снял, как парик, голову, снял ключицы, как
ремни, снял грудную клетку, как кольчугу. Снял бедра, снял
ноги, снял и бросил руки, как рукавицы, в угол. То, что
оставалось от него, постепенно рассаялось, едва окрасив
воздух. (S. 44 f . )

w ird n ic h t nur Rhythmisierung im S t ile B elyjs (auf B e lyj deuten


auch "ermolka", " tu fl i " , "c h a ła t” ‫־‬ die Kleidungsstücke N ik o ła j
Apollonovičs) b e w irkt, sondern der Vorgang des Abwerfens der
körperlichen Hüllen in einer graphischen F ig u r, die e in Bewe-
gungsmuster a b b ild e t, aufgezeichnet. In

Ошибкой пропал я сюда - не именно в темницу ‫ ־‬а вообще в


этот страшный, полосатый мир, порядочный образец кустарного
искусства, но в сущности - беда, ужас, безумие, ошибка (S.
96)

entsteht eine zyklische S tru k tu r. Auf das Figurale weisen meta-


te x tu e lle B e g riffe wie "obrazec” , "u zo r", "obrazčik" h in . Das
Zyklische wiederum i s t Denkfigur der Gnosis: gegen die Parameter
f in a lis t is c h e r , lin e a re r Z e it tr itt der K re is, die sich in den
Schwanz beißende Schlange. Die Wortwiederholung i s t n ic h t la u t -
magisch, sondern buchstäblich das niedergeschriebene Muster d ie -
ser Z e itv o rs te llu n g , was der Text kommentiert:

там время складывается по желанию, как узорчатый ковер,


складки которого можно так собрать, чтобы соприкоснулись
любые два узора по нем (S. 99).

Der Text b ie te t fü r die Buchstabenpraxis immer auch die


1Übersetzung' in Konzepte an. Auf die zyklische und S p ir a ls tr u k -
tu r der Romane in to to hat Davydov hingewiesen. (Er entdeckte
das Moebiusband in D ar, die Innenseite wird in die Außenseite
v e rk e h rt.) Beide, Kreis und S p ira le , konnotieren "beskonečnost‫ " י‬.
In D a r wird über Fedor Godunov-Cerdyncevs Biographie černyšev-
s k ijs gesagt:

[ . . . ] составить жизнеописание в виде кольца, задеякающегося


апокрифическим сонетом так, чтобы получилась не столько

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414 R enate Lachmarm

форма книги, которая своей конечностью противна кругообраз-


ной природе всего сущего, сколько одна фраза, следующая по
ободу, т.е - бесконечная. 27

Während die Buchform endlich is t, d .h . telosbezogen, kann


die Kreise und Spiralen bildende Buchstabenkette die Idee der
Unendlichkeit in eine graphische Figur umsetzen. Nabokov fa s z i-
n ie r t sowohl die Idee der festen Kombinatorik als auch die der
Unausschöpflichkeit des Zeichenvorrats. Der Satz aus S e b a s t i a n
K n ig h t : "One should con sta n tly bear in mind th a t a l l men con sist
of the same tw e n ty -fiv e le t t e r s v a rio u s ly mixed‫ ״‬- eine Variante
des schon erwähnten Elements k a b b a lis tis c h e r Lehre von der End-
l i c h k e i t der Welt in fo lg e der ausgespielten Buchstabenkombina-
tionen - wird durch das Unendlichkeitspathos e n tk r ä fte t, das den
Abschluß von D a r m a rk ie rt. In einem in Prosa versteckten Sonett
im P u š k in -S til w eist der Ausgang von D a r darauf h in , daß es e i -
g e n tlic h keinen Abschluß g ib t :

продленный призрак бытия синеет за чертой страницы, как


завтрашние облака, - и не кончается строка. (S. 411)

Die Buchstabenkombinatorik - "tw e n ty -fiv e le t t e r s v a rio u s ly


mixed" - bestimmt das S p ie l, das Nabokov m it dem eigenen Namen
tr e ib t, den er durch alphabetische Permutation in immer anderer
Form in seinen Romanen auftauchen lä ß t: V ivian Darkbloom, V ivian
Bloodmark, V ivian Badlook, Adam von L ib ik o v , Blavdak Vinomori,
Baron Klim Avidov e tc . Dieses anagrammatische Namenspiel paro-
d le r t die ka bb a listisch e Idee vom Namen Gottes, der in a lle n
Buchstabenkombinationen ve rste ckt sein kann. Die Buchstabenge-
bundenheit des Anagramms (entgegen de Saussures P riv ile g ie ru n g
der Lautseite) g ilt auch fü rs Palindrom:

Возьми-ка слово "ропот", говорил Цинциннату его шурин,


остряк, и прочти обратно. А? Смешно получается. (S. 108)

Die Rückwärts 1 e s и n g e r g ib t "to p o r", das 'B e i l ' is t


die Folge des ' Aufmuckens1.
Zur Buchstabenpermutation, die D o rn s e iff "a n a k yk le s is",
"anagrammatismos", " r e v o lu tio " n e n n t,20 gehört die k a b b a lis ti-
sehe Vertauschungsexegese, die "Ziruph" oder "G ilg u l" h e iß t, was

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Nabokova Bucha ta b e n s p ie le 415

' Verschmelzung' bedeutet. Folgender Passus aus P r i g l a S e n i e na


kazn' belegt Nabokovs Kenntnis dieses Verfahrens und seinen Ver-
such, es f ü r seine Poetik auszulegen:

Не умея писать, но преступным чутьем догадываясь о том, как


складывают слова, как должно поступить, чтобы слово обыкно-
венное оживало, чтобы оно заимствовало у своего соседа его
блеск, жар, тень, само отражаясь в нем и его тоже обновляя
этим отражением, - так что вся строка - живой перелив. (S.
98 f . )

Das i s t in e in s poetologisches Programm, das die Sprachtheo-


r ie der Symbolisten z itie r t und deren Praxis b e sch re ib t, und
kabbalistisches Konzept: " p e r e liv " h e iß t u .a . , Umgießen von Me-
t a lle n ', , Schmelzen*, was den Umkreis der Sprachalchimie a u f r u f t .
Zur Schmelzmagie t r i t t die Entsprechungslehre, die le tz tlic h
auch die Metapher von der Lesbarkeit der Welt m o t i v i e r t . a®
Sympathetik und Ik o n ik , die sich aus diesem Ansatz entw ik-
kein, bringen auch Spielformen hervor, magische und lu d is tis c h e
Funktionen überlagern s ic h . Die Welt a ls Text e rsch e in t dabei als
Alphabetreihe, d .h . die Reihe s te h t gegen den Text, die fig u re n -
bildende Reihenfolge (K re is, S p ira le ) s te h t gegen die V e rfle c h -
tung, jedes Element in der Reihe g e n e rie rt Reihen, wuchert.
V ie lle ic h t w ird sogar das Konzept des Textes a ls Zeichenensemble
m it Systemcharakter durch die Reihe, die Korrespondenzreihen e r-
zeugt, a u fg e lö s t. Die alphabetische s tö rt die te x tu e lle Opera-
tio n .
M it Kreis und S p ira le , m it Galgen und Vogel knüpft Nabokov
auch an die T ra d itio n der Tiaiyvta, der Spielformen, der ornamen-
talen Korrespondenzikone an, die aus Buchstaben die Formen von
Herz, F lü g e l, Traube b ild e n und die aus der Magie in die Ästhe-
tik der Klimata und der carmina fig u r a ta geraten s in d .30
Aber so, wie das Ornamentale und das Magische auseinander-

f a lle n 31 und sich doch zugleich auch gegenseitig kommentieren,


is t das V e rh ä ltn is von Alphabet und N arration s p ie le ris c h e und
magische Korrespondenz. Das Gebet an das g ö tt lic h e Ei auf ein
Ei zu schreiben, is t Empfehlung der Magier, die bedeutet, daß
die Welt n ic h t nur gelesen, sondern auch be-schrieben w ird m it
Korrespondenzzeichen. Für Nabokov gelten sympathetisch-metony-

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416 R enate Lachmarm

mische und ikonische Beziehungen zwischen dem weißen B la t t Pa-


p ie r und der Welt, dem Körper und dem Buchstaben: "я так озяб,
что мне кажется отвлеченное понятие 'холод' должно иметь форму
моего тела" (S. 188), aber auch zwischen dem B l e i s t i f t und dem
Schreiber, dessen schreibmagische Handlung die Ausstreichung des
Wortes 1‫״‬Tod" is t, das ausgestrichen a ls einziges Wort auf einer
weißen S eite z u rü c k b le ib t:

‫״‬Но теперь, когда я закален, когда


меня почти не п у г а е т ..."
Тут кончилась страница, и Цинциннат спохватился,
что вышла бумага. Впрочем, еще один лист отыскался.
"...с м е р т ь ", - продолжая фразу, написал он на нем,
‫ ־‬но сразу вычеркнул это слово. (S. 201)

Das Ausstreichen des Wortes "Tod" bedeutet die G leichset-


zung von Wortkörper und Bedeutung, die Wiederholung e in e r im My-
thos wurzelnden Sprachpraxis. Das Ausstreichen se lb st is t ein
Unwirksammachen wie das magische Rückwärtslesen eines Fluches.32
Das Wort w ird n ic h t g e t i l g t , denn es g ib t das Verbot, Geschrie-
benes zu löschen, da in jedem Geschriebenen der Name Gottes ve r-
borgen i s t (v g l. hierzu die Angewohnheit Sebastian Knights, ve r-
worfene Sätze stehenzulassen). Der Schreiber s tr e ic h t seinen e i-
genen Tod aus m it einem S c h re ib u te n s il, das seine Lebensdauer
a b b ild e t. N icht von ungefähr lä ß t Nabokov, wieder sehr v e rm it-
te lt, Buchstaben und S c h re ib s c h rift zusammenfallen, metonymisch
ih re Plätze tauschen. Das griechische Wort fü r Buchstabe,
axoixeEov33, das a ls P ro je k tio n der Sonnenhöhe bzw. des durch-
laufenen Sektors der Gestirnbahn ein Maß bedeutet, aber auch
k le in s te E in h e it, Atom, also ein k o m p liz ie rte r Zusammenfall von
Element, G estirn und Buchstabe, das die Entsprechungsmagiker zu
bestätigen schien, w ird bei Nabokov im abnehmenden B l e i s t i f t e r-
kennbar, der a ls Lebensmaß i n t e r p r e t i e r t werden kann und s t e l l -
ve rtre te n d fü r den Schreiber s te h t: Maß - zu Messendes - Messen-
der (T e ilb e re ic h der Buchstabenmystik is t die Gnomonik). Aber in
Nabokovs Romanen geht es um die Aufhebung des Maßes, die Maßlo-
s ig k e it des Schreibens gegen den Tod.

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Nabokove Buchata b e n a p ie le 417

3.

Der leeren T h e a tra lik des Kosmos w ird ein auf kryptischen Kor-
respondenzen beruhendes Zeichensystem e ntg e ge n g e ste llt, das Be-
deutungen zulä ß t, die s o te rio lo g is c h zu in te r p r e tie r e n sind• Im
Buchstabenspiel a ls zugleich magischer und k a lk u lie r t e r Prozedur
kreuzen sich Konzepte h ä re tisch e r W e ltvo rste llu n g m it ä s th e ti-
sehen der Avantgarde. Aber die Ambivalenz zwischen L it e r a t u r a ls
ko n ve n tio n e lle r Größe o f f i z i e l l e r K u ltu r und gnostischem Mythos,
der die W eiterexistenz e in e r sich des Mediums L it e r a t u r bedie-
nenden i n o f f i z i e l l e n K u lt u r t r a d it io n s ig n a lis ie r t, b le ib t besteh-
hen. Sie b le ib t es auch dann, wenn man fü r Nabokov annimmt, daß
die Kenntnis einer V ie lz a h l einander überlappender, sich ablö-
sender Mythen aus Kabbalah, Gnosis, buchstabenmagischen R itualen
und ihren verzweigten Nachschriften (bei P lo t in , Raimundus L u i-
lu s , Athanasius K irc h e r, Goethe und den Romantikern) das Mate-
%

r ia l fü r die sinnbildenden (sinnbindenden) Elemente seines Ro-


mans g e lie f e r t hat, daß m ythenhistorisch verbürgte Motive nach-
g e s t e llt , um gestellt und umgewertet werden, mal s p ie le r is c h , mal
seriös ausgelegt. Denn daneben und dagegen s te h t das Nieder-
schreiben eines Schreibermythos, in dem der auctor an die S te lle
Gottes t r i t t . Dieser zugleich s ä k u la r is ie r te und p o e tis ie r te My-
thos, ästhetische K o n tra fa ktu r, kann a ls später Nachfahre der
gnostischen und kabbalistischen T ra d itio n diese neu lesbar ma-
chen. Die Lesbarkeit der Welt w ird zur Lesbarkeit des Mythos.
Der auctor buchstabiert die Welt n ic h t nach, sondern neu.
Und n ic h t is t die Welt ein Text, den er lie s t , sondern sein
Text sch re ib t eine Welt a u f, die der Leser nachbuchstabieren
muß.
Und so i s t womöglich umgekehrt die Parodie im Schreiben a ls
mythischer Handlung aufgehoben. Das Schreiben lä ß t sich n ic h t
hintergehen. Im Zer-Schreiben, Z e rte ile n und Wiederzusammenset-
zen. Zusammenschreiben w iederholt der Autor die Urgeste des
Schreibers, deren Verfahren de Saussure in seinen Anagrammstu-
dien und Toporov in seiner diese fortsetzenden A rb e it a n a ly s ie rt
haben.3**

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418 R enate Lachmann

A N ME RK UN GE N

* A lle Z ita te beziehen sich auf Р г г д і а ё е п г е na k a z n 1938) ‫)׳‬ in


der Ardis-Ausgabe, Ann Arbor 1979.
I S. Davydov, "Teksty-M atreśki" Vladim ira Nabokova (= S la v is t i-
sche Beiträge 152), München 1982.
3 H. Jonas, Typologische und h is to ris c h e Abgrenzung des Phäno-
mens der Gnosis (1966/6 7). - In : K. Rudolph (H g.), Gnosis und
Gnostizismus, Darmstadt 1975, S. 626-645, h ie r : S. 640. Vgl.
auch S. A ra i, Zur D e fin itio n der Gnosis in Rücksicht auf die
Frage nach ihrem Ursprung, ebd. S. 646-653, sowie J . Ries (Hg.),
Gnosticisme e t monde h e llé n is tiq u e , Louvain-La-Neuve 1982.
3 Zur gnostischen Im p lik a tio n von Adornos B e g r iff des Verblen-
dungszusammenhangs v g l. N. Bolz, Erlösung a ls ob. Uber einige
gnostische Motive der K ritis c h e n Theorie. ‫ ־‬In : J . Taubes (Hg.),
Gnosis und P o l i t i k , München 1984, S. 264-289.
4 Zum Konzept des Kosmos a ls Fälschung und Nachahmung v g l. H.
Jonas, S. 635.
5 R. Jakobson hat die verborgene Grammatik in der Dichtung
Chlebnikovs a n a ly s ie r t, v g l. Sublim inal P a tterning in Poetry. -
In : R. J ./S h . Kawamoto (Hg.), Studies in General and O rie n ta l
L in g u is tic s , Tokyo 1970, S. 302-308.
e V gl. H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M . 1981.
7 Vgl. G.R. Hocke, Manierismus in der deutschen L ite r a tu r .
Sprachalchimie und esoterische Kombinationskunst, Hamburg 1959.
8 The Real L ife o f Sebastian Knight (1941), z itie r t nach der
Penguin-Ausgabe, London 1982, S. 150.
9 Vgl. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, S. 19, 24f.? E.R.
C u rtiu s , Europäische L it e r a t u r und la te in is c h e s M it t e l a lt e r ,
Bern 1954, S. 304-351.
10 Die Theatermetaphorik umfaßt w eitere Elemente: die Wärter in
Hundemasken (wozu es wiederum einen gnostischen Subtext g i b t ) ;
Cincinnat s e lb s t, der vor seiner "gnoseologičeskaja gnusnost'"
ein Puppenschnitzer war; das wort "v e rte p ", das Abspielen des
Sommergewitters ( " ra z y g ra la s ' le t n ja ja g ro za "), die miteinander
verfließenden Figuren Rodion-Rodrig-Roman, die von zwei Schau-
Spielern d a r g e s te llt werden.
I I Vgl. Hocke zu Athanasius Kirchers E in flu ß auf Quirinus Kuhl-
mann. Die R elation magisch-ästhetisch g i l t nach Hocke auch fü r
D ichter wie Novalis und Mallarmé, s. Kap. "Der magische Buch-
stabe", S. 7-67.
12 Der e ig e n tlic h e auctor des Textes i s t nach Davydov ein "pro-
v o z v e s tn ik ", der C incinnat die ersten Sätze d i k t i e r t . E rst a l l -
mählich w ird C incinnat zum Schreiber, seine ersten Schreibver-
suche sind ungrammatisch (Nabokov knüpft h ie r an den Aphasieto-
pos von Gogol‫״‬, Dostoevskij und B elyj an). Das g i l t insbesonde-
re f ü r den ersten von Cincinnat niedergeschriebenen Satz: и

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Nabokove B u c h sta b e n sp ie le 419

все-таки я сравнительно• Ведь этот финал я предчувствовал этот


финал", in dem n ic h t nur der besagte Topos aufgenommen, sondern
auch der le t z t e Satz aus Dostoevskijs D v o j n i k v a r i i e r t w ird• Im
D v o j n i k , wo das Aphasieverfahren e in d ru c k s v o ll eingesetzt w ird ,
i s t d ieser in der Form der e rlebten Rede erscheinende Satz a l -
le rd in g s gerade n ic h t , d e f e k t ': "Увы! он это давно уже пред-
чувствовал" (S. 375). So w ird der le t z t e Satz des früheren Ro-
mans, der auch das Unmündigwerden der Figur s i g n a li s ie r t (Gol-
ja d k in w ird in die Ir r e n a n s ta lt a b tr a n s p o r tie r t) , im Rahmen des
späteren zum I n i t i a l s a t z eines Textes tra n s fo rm ie rt, der das
langsame (n ic h t so sehr Mündig- als vielmehr) "S chriftig"-W erden
des Hauptprotagonisten ankündigt. G oljadkin (und durch ihn h in -
durch A ka kij) b le ib t u n e rlö s te r A p hatiker, während Cincinnat zum
Schreiber seines eigenen Lebensbuches h e r a n r e ift. Diese Funktion
s ie h t der Mythos f ü r die G ötterschreiber vo r, die die Menschen-
schicksale niederschreiben. Franz D o m s e iff erwähnt in Das A l -
p h a b e t i n M y s t i k u n d M a g i e , Leipzig 1922, S. 2, den babyIoni-
sehen Schreiber Nebo, der das Leben v e rk ü rz t und v e rlä n g e rt, in -
dem er die Schicksale m it seinem " G r i f f e l des Geschickes" f i -
x ie r t.
13 Z.B .: "покатился карандаш, заскользила книга по книге" (S. 41)
"большие черные книги на столе" (S. 44f • ) ; "На столе белел чист-
ый лист бумаги, и, выделяясь, на этой белизне..." (S. 26); "там
белелось ч т о -т о ... На столе блестел карандаш" (S. 33); "Цинцин-
нат был легок как лист" (S. 27); "Есть, которые чинят карандаш к
себе, будто картошку чистят, а есть, которые стругают от себя,
как п а л к у ..." (S. 95) - v g l. die Semantik von " č i n i t ' pero" in
Dostoevskijs B e d n y e I j u d i , D v o j n i k und S l a b o e s e r d e e - . Cin-
cinnat beobachtet, wie ein Tropfen auf eine Seite f ä l l t : "He-
сколько букв сквозь каплю из петита обратились в цицеро, вспух-
нув, как под лежачей лупой." (S. 94) Der G efä ngnisbibliothekar,
eine pneumatische und die einzige 'p o s it iv e ' G e sta lt im Roman,
die als in enge Haut eingeschnürt e rsch e in t (V a ria tio n des gno-
stischen Mythos vom Körpergefängnis: die Haut a ls sich tb are e in -
schnürende Abgrenzung vom Kosmos) b r in g t C incinnat Bücher, dar-
unter solche, die er n ic h t lesen kann, denn s ie sind in fremder
S c h r ift geschrieben. Welche S c h r if t kann h ie r a s s o z iie r t werden?
Der Hinweis auf O rie n ta lisch e s le g t in der Tat das Arabische,
Iranische oder Aramäische nahe, Schriften/Sprachen, in denen
gnostische Texte v e rfa ß t wurden.
1<* Major Trends in Jewish Mysticism, New York 1983, S. 133.
15 Vgl. G. Scholem, Zur Kabbala und ih r e r Symbolik, Frankfurt/M .
1981, S. 110.
Vgl. D. Barton Johnson, The Alpha and Omega o f Nabokov's P r i-
son-House o f Language: Alphabetic Iconicism in I n v it a t io n to a
Beheading. - In : Russian L ite r a tu r e (VI) 1978, S. 347-64. Barton
Johnson bestimmt den alphabetischen Ikonizismus wie f o l g t : "The
ico nic l e t t e r s , a device o f in d isp u ta b le in g e n u ity but necessa-
r i l y o f lim ite d a p p lic a tio n , represent a vain attempt to loosen
the fe t t e r s o f the prison-house o f language f o r in t h e i r v is u a l
aspect they reach beyond the conventional le x ic a l le v e l o f lang-

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4 20 R en a te Lachmarm

uage toward a m ystic a l id e a l tongue in which words mime what


they mean, an a r t i s t i c language o f p e rfe c t c l a r i t y in which the
correspondence between perception and percept and between per-
cept and word is absolute” (S. 362), womit aber weder der Lu-
dismus noch die p a ro d istisch e , das Mystische in fra g e ste lle n d e
Geste e rfa ß t i s t .
17 D o rn s e iff, S. 8. Vgl. auch C u rtiu s , S. 341. C urtius z i t i e r t
ein B e is p ie l des 17. Jahrhunderts, Góngora, S o l e d a d p r i m e r a , 1,
6 0 9 f., wo von Kranichen die Rede i s t , die g e flü g e lte S c h r iftz e i-
chen auf dem durchscheinenden Papier des Himmels b ild e n . Curtius
kommentiert dies damit, daß Góngora ein antikes concetto erneue-
re , dessen le tz te Spur er in Claudianus, De b e llo Gildonico I
(= XV) 477 sehe, die Kraniche b ild e n im Flug das griechische
Lamda. Vgl. auch Mandel'štams B e s s o n n i c a , wo der k e ilfö rm ig e
Kranichzuq von Goethes Kranichen aus F a u s t I I und von Dantes
Kranichen aus der D i v i n a Com med ia z i t i e r t werden.
10 D o rn s e iff, S. 24.
1® Ebd.
20 Vgl. die Vogelmetapher im Rahmen der Schreibsemantik: Puškins
ornithomorphe U n te r s c h r ift, seine "Feder"-Eigenzeichnungen, die
Vogelmetaphern bei Dostoevskij ( B e d n y e l j u d i ) ; Mandel'štams Ver-
g le ic h der Feder Dantes m it V o g e lfle is c h , " i z p t ič e j p io ti* 1,
(R a z g o v o r о D a n t e ) .
21 D o rn s e iff, S. 23.
22 Zur L e u c h ts c h rift a ls Him m elsschrift i s t die parodistische
Nutzung des Korrespondenzgedankens zu beachten: Buchstaben -
Planeten. D o rn s e iff, S. 89f, w e ist auf die Sterne a ls Himmels-
s c h r i f t bei den Babyloniern h in . - Die Buchstaben b ild e n Men-
sehen bzw. repräsentieren sie am Himmel, v g l. das griechische
Buchstabenballet (D o rn s e iff, S. 67) und die grammatotragoedia
des K a llio s (D o rn s e iff, S. 67).
23 Vgl. R. Kühner, "P e a rl” , in : J. Ries (H g.), Gnosticisme, S.
18 9 f.
24 Картина ли кисти крутого колориста (S. 27); Тупик тутошней
жизни (S. 200); Какая тоска, Цинциннат, какая тоска, какая ка-
менная тоска (S. 57); Сползали по скалистым скатам (S. 138/140);
Симпатичный смертник (S. 39); От рокового рокота голосов (S. 45)
По дороге потоки, потопы (S. 131); Хлопот полон рот (S. 76). -
Vgl. auch die Reihe m it пуст/ступ, круг und стук: ступени...
проступив. . . переступил. . . ступени. . . спутался. . . отступившись..
спускалась... сопутствуемые. . . HacTynąa. (S. 53); и вот, выходя
из мрака, подавая друг друга руки, смыкались в круг освещенные
фигуры - и, слегка напирая вбок, ...начинали - сперва тугое,
влачащееся ‫ ־‬круговое движение... (S. 156); кругом к р и к и ... на
крутигрудо - серебряном корабле... путешествовала многорукая лю-
с т р а ... (S. 182); Стук, с т у к . . . вдруг стало. Ток, ток (S. 82).
25 D o rn s e iff, S. 61.
2в Vgl. B e lyjs Dualismus von " r ó j " und " s t r o j " in K o t i k L e t a e v .
Das Nabokovsche "tarn" r e k a p it u lie r t das " ta m "-K apite l in P e t e r -

Wolf Schmid - 978-3-95479-657-1


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Nabokova B uchsta b e n a p ie le 421

burg und den Namen Tamara aus Lermontovs D e m o n .


27 D a r (1952), z itie r t nach der Ardis-Ausgabe, Ann Arbor 1975,
S. 230.
20 D o rn s e iff, S. 136.
2® Vgl. zu diesem Komplex A. Hansen-Löve, Die E n tfa ltu n g des
"Welt-Text"-Paradigmas in der Poesie V. Chlebnikovs. - In : V e li-
m ir Chlebnikov. A Stockholm Symposium. Hg. N.Å. N ilsso n , Stock-
holm 1985, S. 27-87.
30 Die Doppelfunktion von v is u e ll und akustisch in den g r ie c h i-
sehen carmina fig u ra ta (F lü g e l, Traube, Herz) behandelt J . Hol-
lander, V ision and Resonance. Two Senses o f Poetic Form, New Ha-
ven/London 1975 (aber es geht wohl mehr um die Dominanz des V i-
s u e lle n ).
31 D o rn s e iff, S. 66f.
32 Vgl. das Palindrom " r o p o t/to p o r " . Die geschriebene Buchsta-
benreihe g a lt a ls zaubermächtig, das palindromatische Lesen
machte den Zauber wirkungslos, eben dies hieß &ѵаураииа?1£0иеѵа
(eine in der Anagrammtheorie n ic h t b e rü c k s ic h tig te K onnotation).
Vgl. Belyjs Perser-Franzose, eine T e u fe ls g e s ta lt, die " š iš n a r f-
n e V E n fra n š iš " h e iß t ( P e t e r b u r g ) . D o rn s e iff, S. 7 6 f f , s ie h t e i -
ne Entwicklung vom magischen bzw. apotropäischen Gebrauch des
Ornaments zum symbolischen* Der ornamental eingesetzte Buchstabe
überlagert s te ts seine kommunikative Funktion. D o rn s e iff v e r-
weist h ie r auf Pythagoras (S. 81).
33 D ornseiff, S. 15.
3** Vgl. J. S ta ro b in s ki, Les mots sous le s mots. Les anagrammes
de Ferdinand de Saussure, Paris 1971; N. Toporov, Die Ursprünge
der indoeuropäischen P oe tik. - In : Poetica 13 (1981), S. 189-
251 .

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