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Die Reihe „Studium: Pflege, Therapie, Gesundheit“ richtet sich an Studierende von pflege-
und gesundheitsbezogenen Studiengängen. Das Angebot ist vielfältig und reicht von Pflege,
Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie über Gesundheitsmanagement/ -Ökonomie,
Pflegepädagogik, Gesundheitsförderung und Gesundheitspsychologie bis hin zu Gesundheits-
tourismus, Fitnessökonomie und Neurorehabilitation. Hier finden Sie die relevanten Themen
mit interdisziplinärer Ausrichtung für Ihr Studium und konkrete Unterstützung beim wissen-
schaftlichen Arbeiten.
Wissenschaftliches
Arbeiten und
Schreiben
Verstehen, Anwenden, Nutzen für die Praxis
Mit 52 Abbildungen
Herausgeber
Valentin Ritschl Roman Weigl
Medizinische Universität Wien Universitätsklinikum St. Pölten
Institut für Outcomes Research Karl Landsteiner Privatuniversität für
Wien Gesundheitswissenschaften
Österreich St. Pölten
Österreich
Tanja Stamm
Medizinische Universität Wien
Institut für Outcomes Research
Wien
Österreich
Die Darstellung von manchen Formeln und Strukturelementen war in einigen elektronischen
Ausgaben nicht korrekt, dies ist nun korrigiert. Wir bitten damit verbundene Unannehmlich-
keiten zu entschuldigen und danken den Lesern für Hinweise.
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Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen.
Geleitwort
Hervorzuheben ist auch der Blick auf die forschenden Praktikerinnen und Praktiker, die sich der
Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen aus dem unmittelbaren beruflichen Handlungs-
feld und außerhalb etablierter Forschungseinrichtungen zuwenden und damit anwendungs-
bezogene Forschung als ein Element wissenschaftsbasierter Praxis leben. Thematisiert werden
die spezifische Situation und die Besonderheiten von Forschung im niedergelassenen Bereich.
Die umfassende Auswahl und Beschreibung relevanter methodischer Zugänge für spezifisch
gesundheitswissenschaftliche Themenbearbeitungen sowohl qualitativer wie quantitativer Art
und ihre für den Forschenden klar nachvollziehbare Erläuterung zeichnet die vorliegende Pu-
blikation aus – es gelingt den Autoren, eine Brücke zwischen theoretischem Forschungswissen
und der Umsetzung in die Forschungspraxis von Gesundheitsberufen zu schaffen.
Ich danke den Autorinnen und Autoren sowie allen weiteren beitragenden Expertinnen und
Experten für das vorliegende Werk ganz herzlich und wünsche allen Lesern eine erkenntnis-
reiche und Forschungsfreude entwickelnde Lektüre.
Silvia Mèriaux-Kratochvila
Wien, April 2016
VII
Vorwort
Dieses Buch entstand gemäß den Wünschen von Studierenden. Es basiert auf zahlreichen me-
thodischen Diskussionen, vielen Vorlesungsunterlagen und Skripten sowie auf zusätzlichen
methodischen Textbausteinen. Die Leserinnen und Leser dieses Buchs sind Studierende in den
Gesundheitswissenschaften im Bachelor- oder Masterstudium sowie forschungsinteressierte
Praktiker, die einen Überblick über verschiedene Forschungsmethoden erhalten möchten. Die
Autorinnen und Autoren dieses Buches kommen aus den unterschiedlichen Gesundheitsberu-
fen und Gesundheitswissenschaften und haben daher Beispiele aus eben diesen unterschied-
lichen Fachgebieten ausgewählt. Wenn aber spezielles und fortgeschrittenes Wissen in bestimm-
ten methodischen Bereichen erworben werden soll, reicht dieses Buch nicht aus, sondern wir
verweisen auf weiterführende, vertiefende Literatur sowie auf Unterricht und Vorlesungen.
Inhaltsverzeichnis
2 Forschungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Roman Weigl
2.1 Ablauf des Forschungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.2 Theoriebildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.2.1 Notwendigkeit von Theorie im Forschungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.2.2 Sichtweisen auf die Welt: Deduktion und Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.2.3 Theoriebildung und wissenschaftsmethodischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.3 Forschungsfragen und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.3.1 Wie komme ich zu einer geeigneten Forschungsfrage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.3.2 Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.3.3 Variablen bzw. Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.4 Messtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.4.1 Skalenniveaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.4.2 Konzeptionalisierung und Operationalisierung von Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.4.3 Kappa-Koeffizient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
2.4.4 Goldstandard versus klinischer Standard. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
2.5 Datensammlung und -analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.6 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.6.1 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.6.2 Dissemination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.6.3 Verknüpfung der Ergebnisse im Sinne der Weiterentwicklung der
Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
II Forschungsmethoden
6 Qualitative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Susanne Perkhofer, Verena Gebhart, Gerhard Tucek, Frederick J. Wertz,
Roman Weigl, Valentin Ritschl, Helmut Ritschl, Barbara Höhsl,
Barbara Prinz-Buchberger, Tanja Stamm, Julie S. Mewes, Martin Maasz,
Christine Chapparo, Verena C. Tatzer, Petra Plunger, Elisabeth Reitinger,
Katharina Heimerl
6.1 Was ist qualitative Forschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
6.2 Qualitative Forschung in den Gesundheitsberufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
6.3 Qualitative Forschungsdesigns und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
6.3.1 Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
6.3.2 Interpretative phänomenologische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
6.3.3 „Grounded theory“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
6.3.4 Ethnographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
6.3.5 „Case study“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
6.3.6 Inhaltsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
6.3.7 Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
6.3.8 Partizipative Gesundheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .112
6.3.9 Qualitative Themenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
6.4 Qualitative Datensammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
6.4.1 Wann werden Daten qualitativ gesammelt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
6.4.2 Methoden der qualitativen Datensammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
6.4.3 Erstellung der Datensammlungsinstrumente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
6.4.4 Analyse der gesammelten Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
6.5 Gütekriterien für qualitative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
6.5.1 Einteilung der Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
6.5.2 Strategien zum Erreichen der Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
8 Reviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
Agnes Sturma, Valentin Ritschl, Silke Dennhardt, Tanja Stamm
8.1 Wann werden Literaturreviews durchgeführt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
8.2 Themenstellungen für Literaturreviews als eigene Forschungsprojekte. . . . . . . . . . . . . . . 208
8.3 Arten von Literaturreviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
8.3.1 Systematische Literaturreviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
8.3.2 Metaanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
8.3.3 Scoping Review . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
8.3.4 Realist Review . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
8.3.5 Metasynthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
8.3.6 Metasummary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
8.3.7 Metaethnographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
8.3.8 Integrative Reviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
8.3.9 Metanarrative Reviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
8.3.10 Metaempirische Reviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
8.4 Welche Schritte müssen bei einem Literaturreview eingehalten werden? . . . . . . . . . . . . . 212
8.4.1 Schritt 1: Identifizierung und Formulierung einer geeigneten
Problem- und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
8.4.2 Schritt 2: Identifizierung relevanter Literatur durch eine umfassende
Literaturrecherche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
8.4.3 Schritt 3: Selektion relevanter Literatur und kritische Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
8.4.4 Schritt 4: Darstellung, Analyse und Zusammenfassung der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
8.4.5 Schritt 5: Interpretation und Präsentation der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
8.5 Stärken und Schwächen von Literaturreviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
11 Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Erna Schönthaler
11.1 Wahl des Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
11.1.1 Standardisierte Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
11.1.2 Normierte Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
11.1.3 Kriterienreferenzierte Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
11.1.4 Inhaltliche Kriterien für die Wahl des Assessment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
11.2 Methoden der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
11.3 Gütekriterien, psychometrische Eigenschaften, Messeigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
11.3.1 Reliabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
11.3.2 Validität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
11.3.3 Responsivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
11.3.4 Praktikabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
11.4 Suche und Checklisten für die Bewertung von Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
11.4.1 Wie und wo suche ich nach geeigneten Assessments? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
11.4.2 Checklisten für die Auswahl und Bewertung von Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
XV
Autoren
Grundlagen der
Forschung
Kapitel 1 Grundlagen und anwendungsbezogene Wissenschaft
in den Gesundheitsberufen – 3
Susanne Perkhofer
Kapitel 2 Forschungsprozess – 9
Roman Weigl
Grundlagen und
anwendungsbezogene
Wissenschaft in den
Gesundheitsberufen
Susanne Perkhofer
1.4 Ausblick – 6
Literatur – 6
Wissenschaft und Forschung sind der Motor von und geschlechtsspezifische Aufteilung der Heilkunde
42
1 Innovationen und Weiterentwicklung. Wissen- in einen männlich-herrschenden Anteil der Medizin
schaftler und Wissenschaftlerinnen hinterfragen und einen weiblich-dienenden Anteil der Pflege statt
Annahmen, arbeiten an neuem Wissen und entwi- (Bischoff 1992, Mischo-Kelling 1995). Dem Pflege-
ckeln neue Theorien, Modelle und Einsichten. Neben personal wurde die Fähigkeit, Wissenschaft zu betrei-
einer Spezialisierung in einem bestimmten Bereich ben, schlichtweg nicht zugestanden, sie „müssen sich
ist oft speziell eine methodische Diskussion an den den Anordnungen der Ärzte ohne Kritik fügen und
Schnittstellen zu anderen Fachbereichen besonders ihnen gehorchen […]. Aufgrund ihrer Berufsausbil-
bereichernd. dung müssen besonders die Schwestern die Hoheit
Entwicklungsgeschichtlich gesehen sind Wissen- der Wissenschaft begreifen und einsehen, dass sie
schaft und Forschung eng mit der Akademisierung selbst zu wissenschaftlichem Urteil nicht fähig sind“
einer Profession verbunden. Wissenschaft und For- (Bischoff u. Wanner 1993).
schung zu betreiben und zu lehren sind die zentralen Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelang es
Aufgaben von Universitäten und Fachhochschulen. beispielsweise der Frauenbewegung in Deutschland,
Kennzeichnend sind das Betreiben von Forschung, Zugang für Frauen zu den Universitäten zu errei-
das Generieren von Theorien, die Verbreitung von chen. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis es zu den
gewonnenen Erkenntnissen in Form von wissen- ersten Gründungen von universitären Ausbildungen
schaftlichen Publikationen oder Vorträgen sowie im Pflegebereich kam. 1907 bzw. 1910 wurde in New
das Heranführen zukünftiger Berufsangehöriger an York der erste Lehrstuhl für Pflege an einer Universi-
das dem jeweiligen Akademisierungsgrad entspre- tät errichtet, in Europa war Großbritannien 1956 der
chende wissenschaftliche Arbeiten. Die Medizin ist Vorreiter. Im deutschsprachigen Raum wurde erst
als Profession schon seit Jahrhunderten an Univer- 1987 die erste Professur für Pflege und Sozialwissen-
sitäten verortet und betreibt sowohl Grundlagenfor- schaften etabliert (Bartholomeyczik u. Müller 1997).
schung als auch anwendungsbezogene Forschung. In Österreich mussten Pflegepersonen, die einen aka-
Im Vergleich dazu ist das bei den nicht ärztlichen demischen Abschluss anstrebten, lange Zeit entwe-
Gesundheitsberufen eine vergleichsweise neuere der in andere Länder mit akademischer Pflegeausbil-
Entwicklung. Gerade deshalb waren aber die Medi- dung oder auf andere Studienrichtungen im Inland
zinuniversitäten oftmals ein fördernder Faktor für ausweichen. Die Einrichtung der ersten Institutsab-
die wissenschaftliche Entwicklung der Gesundheits- teilung für Pflegforschung war der Startschuss für
berufe. So sind an Medizinuniversitäten im deutsch- die Akademisierung der Pflege in Österreich. Im
sprachigen Raum die ersten meist interdisziplinären Laufe der nächsten 25 Jahre folgten weitere univer-
Forschungsgruppen der Gesundheitsberufe entstan- sitäre Studiengänge in Wien, Klagenfurt, Graz und
den. Beispiele dafür sind Halle (Deutschland) und Hall (Mayer 2007).
Wien (Österreich). Interdisziplinarität ist damit Neben der Pflegeausbildung an Gesundheits-
ebenfalls ein wichtiger Faktor, um Forschung vor- und Krankenpflegeschulen werden in Öster-
anzutreiben. Eine Vernetzung der Gesundheitspro- reich Studierende in den anderen nicht ärztlichen
fessionen mit anderen Professionen und Disziplinen Gesundheitsberufen an Fachhochschulen auf Bache-
ist essenziell, um Forschungsmethoden in diesen ver- lorniveau ausgebildet. Der Fokus liegt hierbei auf
gleichsweise jungen Bereichen zu entwickeln. der Ausbildung der Studierenden für die Berufsaus-
Auch die Pflege weist eine relativ junge Tradi- übung in der Praxis. Jedoch gewinnt die Forschung
tion im Bereich Wissenschaft und Forschung auf. und Wissenschaft immer mehr an Bedeutung. Dies
Heilen und Pflegen haben seit dem Altertum eine zeigt sich auch im Rahmen von Masterausbildun-
gemeinsame Geschichte, die Aufgaben wurden von gen, die derzeit etabliert werden. Die Grundvoraus-
demselben Personenkreis wahrgenommen. Die setzung für das selbstständige Betreiben von Wissen-
endgültige Aufspaltung der beiden Bereiche vollzog schaft und Forschung auf hohem Niveau ist jedoch
sich im 19. Jahrhundert durch die Verwissenschaft- meist das Doktorat. Doktoratsmöglichkeiten in den
lichung der Medizin und die Errungenschaften in nicht ärztlichen Gesundheitsberufen bestehen in
Naturwissenschaften und Technik (Bartholomeyczik Österreich erst seit ca. 10–15 Jahren. Die nicht ärzt-
u. Müller 1997). Es fand eine streng hierarchische lichen Gesundheitsberufe sind also vergleichsweise
1.3 · Translationale Forschung – „from bench to bedside“
5 1
junge Professionen, die sich ihren Platz in der „scien- die Praxis eine hohe Bedeutung. Die anwendungs-
tific community“ erst erarbeiten müssen. bezogene Wissenschaft schafft praktisch nützliches
Wissen zur Gestaltung, Lenkung und Entwicklung
von Strukturen und Prozessen (Fricke 2010).
1.1 Grundlagenbezogene
Wissenschaft
1.2.1 Von den Grundlagen zur
Die grundlagenbezogene Wissenschaft beinhaltet angewandten Forschung
Forschung, die wie folgt definiert ist: „Basic rese-
arch is experimental or theoretical work under- Der Hauptunterschied zwischen den grundlagen-
taken primarily to acquire new knowledge of the und den anwendungsorientierten Wissenschaften
underlying foundations of phenomena and obser- besteht darin, dass Letztere dezidiert auf die Stiftung
vable facts without any particular application or use eines unmittelbaren Nutzens für die Praxis abzielen.
in view.“ (Organisation for Economic Co-Operation Die Frage des Nutzens kann sich dabei sowohl auf die
and Development 2002) Mikro- (z. B. involvierte Praxispartner) als auch auf
Sie ist demnach eine reine erkenntnisgetriebene die Meso- (z. B. Gemeinde) oder Makroebene (z. B.
Forschung. Hierbei werden Fragestellungen und Pro- Gesellschaft, Nationalökonomie) beziehen.
bleme in einer spezifischen Disziplin mit dem letzten Die „Versorgungsforschung“ befasst sich mit der
Stand des Wissens geklärt. Die Grundlagenforschung „letzten Meile“ der Gesundheitsversorgung hinsicht-
beschäftigt sich also in einem hohen Maße mit fun- lich der Wirkung auf Qualität und Effizienz aus indi-
damentalen neuen Erkenntnissen bzw. Durch- vidueller und sozioökonomischer Perspektive. Eine
brüchen, ohne den Anspruch zu haben, ob diese ihrer vielfältigen Herausforderungen ist das Auffin-
in die Praxis umsetzbar bzw. anwendbar sind. Mit den effektiver Wege, um das in klinischen Studien
anderen Worten dient die Grundlagenwissenschaft generierte Wissen an die jeweiligen Professionen
dem Erkenntnisgewinn und nicht der Anwendung im Gesundheitswesen (einschließlich Patienten) zu
dieser Erkenntnisse. Zu derartigen Erkenntnissen vermitteln.
der Grundlagenwissenschaft gehören zum Beispiel Ein sehr bekanntes Beispiel für den Erfolg der
in der Physik die Quantenmechanik und die Laser- angewandten Forschung auf Basis der Grundlagen-
physik, in der Biologie die Entdeckung der Struktur wissenschaft ist die Entwicklung des mp3-Verfahrens.
der DNA (Doppelhelix; Watson u. Crick 1953, Wolf Im Jahr 1987 bildete die Universität Erlangen-Nürn-
2003). Allerdings gibt es auch in den gesundheitswis- berg und das Fraunhofer-Institut für Integrierte
senschaftlichen Fächern grundlagenwissenschaftli- Schaltungen eine Forschungsallianz im Rahmen des
che Forschungsthemen, zum Beispiel physiologische EU-geförderten Projekts „EUREKA EU147: Digital
Zusammenhänge zwischen Betätigung und Gesund- Audio Broadcasting (DAB)“. Dabei gelang der erste
heit in der Ergotherapiewissenschaft und der soge- Meilenstein in der Geschichte der Audiocodierung:
nannten „occupational science“. Mit dem „low complexity adaptive transform coding“
(LC-ATC-Algorithmus) war es erstmals möglich,
Stereomusik in Echtzeit zu codieren. 1995 bekam
1.2 Anwendungsbezogene mp3 seinen heutigen Namen (Fraunhofer-Institut
Wissenschaft für integrierte Schaltungen 2012).
Forschungsprozess
Roman Weigl
2.2 Theoriebildung – 10
2.2.1 Notwendigkeit von Theorie im Forschungsprozess – 10
2.2.2 Sichtweisen auf die Welt: Deduktion und Induktion – 11
2.2.3 Theoriebildung und wissenschaftsmethodischer Hintergrund – 12
2.4 Messtheorie – 17
2.4.1 Skalenniveaus – 17
2.4.2 Konzeptionalisierung und Operationalisierung von Variablen – 20
2.4.3 Kappa-Koeffizient – 21
2.4.4 Goldstandard versus klinischer Standard – 21
2.6 Ergebnisse – 22
2.6.1 Interpretation – 22
2.6.2 Dissemination – 22
2.6.3 Verknüpfung der Ergebnisse im Sinne der Weiterentwicklung der
Theorie und Praxis – 22
Literatur – 23
2.1 Ablauf des Forschungsprozesses Stufen dieses Prozesses müssen folgende Punkte
im Rahmen der Planung eines Forschungsprojekts
Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt in der Dar- beantwortet werden können (vgl. die „10 essentials
2 legung der Grundzüge des Forschungsprozesses of research“ von DePoy u. Gitlin 2011 und die „basic
aus dem Blickwinkel der Gesundheitswissenschaf- research steps“ von Mayring 2014, S. 15):
ten und Gesundheitsprofessionen. Bezugnehmend 4 Konkretisierung und Ausformulierung einer
auf das Thema muss im Vorfeld geklärt werden, was Forschungsfrage (bis hin zu einer möglichen
unter dem Begriff der Forschung verstanden wird. Hypothese)
Nach DePoy und Gitlin (2011) handelt es sich bei 4 Verbindung der Fragestellung mit der bishe-
Forschung in diesem Bereich um „multiple, systema- rigen Theorie
tische Strategien, die angewandt werden, um Wissen 4 Auswahl des für die Beantwortung der
über das menschliche Verhalten, menschliche Erfah- Fragestellung am besten geeigneten
rungen und über menschliche Umgebungen zu gene- Forschungsdesigns
rieren. Die Prozesse des Denkens und Handelns der 4 Definition des Samples bzw. Darlegung der
Forscher und Forscherinnen sind klar spezifiziert, Sampling-Strategie
sodass sie logisch, verständlich, beweisbar/überprüf- 4 Datensammlung
bar und nützlich sind.“1 4 Datenanalyse
Nachdem sich über viele Jahre in der Forschungs- 4 Interpretation der Ergebnisse (inkl. Frage nach
kultur zwei parallele sich oft misstrauisch beäugende der Güte der Ergebnisse im Sinne von Reliabi-
Lager gebildet haben, die quantitative und die quali- lität und Validität)
tative Forschungskultur (7 Abschn. 2.2), erscheint es 4 Dissemination der Ergebnisse
an der Zeit, den Versuch zu unternehmen, die Stufen 4 Verknüpfung der Ergebnisse im Sinne der
des wissenschaftlichen Forschungsprozesses in ihrer Weiterentwicklung der Theorie
Gemeinsamkeit darzulegen. Wie Babbie (2010) argu-
mentiert, bedarf es oft beider Zugänge, um Phäno- Es werden im Folgenden die einzelnen Stufen des
mene adäquat beschreiben zu können. Es wird in Forschungsprozesses unabhängig von der jewei-
diesem Kapitel der Versuch gemacht, die Grundzüge ligen Forschungsmethode beschrieben. Über die
des wissenschaftlichen Arbeitens und Denkens im Besonderheiten der einzelnen Forschungsmetho-
Rahmen des Forschungsprozesses darzulegen, und den erfährt der Leser in den methodenspezifischen
dies soweit möglich unabhängig davon, ob es sich Kapiteln im zweiten Teil des Buches.
um ein qualitatives oder quantitatives Forschungs-
projekt handelt, ohne dabei die jeweiligen Besonder-
heiten der beiden Ansätze zu vernachlässigen. Versu- 2.2 Theoriebildung
che in diese Richtung wurden bereits von mehreren
Autoren unternommen, beispielhaft seien Sullivan 2.2.1 Notwendigkeit von Theorie im
(2003), DePoy und Gitlin (2011), Babbie (2010) oder Forschungsprozess
Mayring (2012, 2014) genannt.
Im Sinne eines Stufenmodells muss in jedem Was macht nun Theorie notwendig, warum brauchen
Forschungsprojekt, egal welcher Methode es sich wir sie überhaupt? Mit anderen Worten ausgedrückt:
bedient, die Auseinandersetzung mit bestimm- „Tere is no good research without theory.“
ten Fragen erfolgen. Reduziert auf die wichtigsten Eine wissenschaftliche Theorie beschäftigt sich
immer mit dem Versuch, Zusammenhänge zu klären,
Erklärungen zu bieten und diese logisch und nachvoll-
1 „Research is multiple, systematic strategies to generate ziehbar darzulegen (Babbie 2010, S. 10). Hier zeigen sich
knowledge about human behavior, human experience,
die beiden Grundsäulen wissenschaftlichen Denkens:
and human environments in which the thinking and
action processes of the researcher are clearly specified so
Es muss Sinn machen (Logik), und es ist (empirisch)
that they are logical, understandable, confirmable, and beobachtbar. Beide Elemente werden in diesem Kapitel
useful.“ immer wieder auftauchen, sei es bei der Formulierung
2.2 · Theoriebildung
11 2
von Hypothesen oder bei der Operationalisierung von
Variablen. Und hier zeigt sich der Hauptnutzen einer Theorien
guten Theorie: Passt das Beobachtbare zu dem, was in
DEDUKTION
INDUKTION
der aufgestellten Theorie behauptet wurde?
Empirische
Was wird nun genau unter einer Theorie ver- Generalisierung
Hypothesen
standen? Eine der weit verbreiteten Definitio-
nen stammt von Kerlinger (1973), der unter einer
Theorie eine Reihe von miteinander in Beziehung ABDUKTION
Beobachtungen
stehenden Konstrukten (Konzepten), Definitio-
nen und Behauptungssätzen versteht, die einen
systematischen Blick auf Phänomene ermöglicht, . Abb. 2.1 Zusammenhang zwischen Induktion und
indem Beziehungen zwischen Variablen spezifiziert Deduktion in den Gesundheitswissenschaften. (Adaptiert
nach Wallace 1971)
werden, um Phänomene erklären und vorhersagen
zu können.2 (Kerlinger 1973, S. 9).
Eine Theorie ist nach Suddaby (2014) notwen- Hier kann wie eingangs erwähnt zwischen 2
dig, da die empirisch erfahrbare Welt sich ansons- großen Strömungen innerhalb der forschungs-
ten zu komplex gestaltet. Und schlussendlich bildet theoretischen Ansätze unterschieden werden: der
sich in Theorien die Wissensbasis von Professio- Deduktion und der Induktion. Vereinfacht leitet
nen und Disziplinen auf einer abstrakten Ebene ab die Deduktion aus allgemeinen (theoretischen)
(Bacharach 1989). Wenn eine Theorie zu haben nun Überlegungen Forschungsfragen bzw. noch spe-
so hilfreich ist, wie gelange ich dann zu einer? Darauf zieller Hypothesen ab und überprüft diese dann
wird im folgenden Absatz eingegangen. auf ihre Richtigkeit. Die Induktion geht den umge-
kehrten Weg: Beobachtungen werden gemacht und
aus diesen Rückschlüsse gezogen, ob sie nicht auch
2.2.2 Sichtweisen auf die Welt: für die Erklärung allgemeiner Phänomene gelten
Deduktion und Induktion können (. Abb. 2.1).
Eine der größten Veränderungen in der Wis-
Im Rahmen der Gesundheitswissenschaften und senschaftsgeschichte war die langsame Etablie-
der darin tätigen Gesundheitsprofessionen stellt rung des positivistischen Denkens im 17. Jahr-
sich die Frage: Ist die Gesundheitswissenschaft nun hundert durch die ersten naturwissenschaftlich
eine Naturwissenschaft oder eine Sozialwissenschaft? Arbeitenden. Als Beispiele seien Leonardo da Vinci,
Kurz gesagt, um die relevanten Fragen in ihrem Galileo Galilei und Johannes Kepler genannt. Die
Bereich beantworten zu können, müssen die Gesund- Veränderung lag hier im bewussten Einsatz von
heitsprofessionen Wissen und Forschungsansätze aus logisch-rationalem Denken zur Begründung und
beiden großen Wissenschaftsströmungen entneh- Erforschung von Zusammenhängen und in der
men. So bedarf es, beispielsweise um die Effektivität Abkehr von jeder Form von Metaphysik, wie zum
einer bestimmten Behandlungsmethode nachzuwei- Beispiel der bis dahin vorherrschenden Aristote-
sen, klar naturwissenschaftlich-deduktiver Metho- lischen Metaphysik. Das Formulieren von allge-
den. Hingegen ist es notwendig, auf die induktiven meingültigen Naturgesetzen, das Kategorisieren,
Methoden der Sozialwissenschaften zurückzugrei- die Abbildung der einen Realität lag daraufhin im
fen, um Menschen und deren Handeln, Bedürfnisse Fokus der Forschung.
und Motivationen in den unterschiedlichsten Berei- Wissenschaftshistorisch gesehen trat der Kri-
chen des täglichen Lebens verstehen zu können. tische Rationalismus durch Popper in den 1950er-
Jahren an, um den naiven Wahrheitsanspruch des
bis dahin vorherrschenden Denkens im Positivis-
2 "A set of interrelated constructs (concepts), definitions,
and propositions that present a systematic view of spe-
mus nach der einen Wahrheit/Realität in der For-
cifying relations among variables, with the purpose of schung zu erschüttern und damit in der (Natur-)
explaining and predicting the phenomena." Wissenschaft das Konzept der Annäherung an die
12 Kapitel 2 · Forschungsprozess
Wirklichkeit und damit das Arbeiten mit Wahr- stehen. Man könnte dies bereits als „lockere“ Theorie
scheinlichkeiten zu etablieren. bezeichnen. Ebenso ist die rein deduktiv abgeleitete
Es gibt in der Formulierung einer Theorie keinen Theorie der quantitativen Forschung oftmals nicht
2 endgültigen Beweis durch die empirische Forschung. gegeben, da auch hier oftmals erst durch Beobach-
Im Sinne Poppers Kritischen Rationalismus bzw. tungen „im Feld“ Fragen überhaupt gestellt werden
Postpositivismus (vgl. Popper 1935, Lincoln et al. und sich mögliche Zusammenhänge zwischen Fakto-
2011) können Theorien nur als vorläufig bestätigt ren/Dingen als zu überprüfend präsentieren.
angesehen werden. Dem Prinzip der Falsifikation
folgend (Popper 1935) genügt eine abweichende Zusammenfassung
Beobachtung, die der Theorie widerspricht, um eine Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine
Widerlegung bzw. Falsifikation der Theorie zu bewir- Annäherung beider Lager über eine gemeinsame
ken oder auch zu einer Adaptierung und Erweite- Metadefinition, was gute Forschung ist, nur positi-
rung dieser Theorie zu gelangen3. Diese Sichtweise ve Folgen nach sich ziehen kann. Ein Zunahme der
auf die Welt prägte die moderne deduktive Wissen- Auseinandersetzung mit Mixed-method-Ansätzen
schaft und zeigt sich in allen Forschungsschritten, (Kuckartz 2014) und eine Definition der Cochrane
zum Beispiel in der Hypothesenbildung, die noch Library über „qualitative research“ (CerQUAL 2015)
später in diesem Kapitel beschrieben werden. weisen hier bereits die Richtung einer möglichen
Dem Ansatz des Messens und Quantifizierens tritt Versöhnung der beiden Lager.
die qualitative Position, zum Beispiel verankert im
Konstruktivismus, entgegen. Beispielsweise geht die
Sichtweise des Konstruktivismus nicht von der einen 2.2.3 Theoriebildung
Realität aus, sondern er gesteht ein, dass jeder Mensch und wissenschaftsmethodischer
sich seine Welt selbst „konstruiert“. Das heißt, dass Hintergrund
aufgrund der subjektiven Wahrnehmung der Mensch
vor allem von dem beeinflusst wird, was er sieht, wahr- Wie von DePoy und Gitlin (2011, S. 67) beschrieben
nimmt und für wichtig erachtet. Als konsequente Wei- kann dem deduktiven Denken eher ein theorietes-
terentwicklung geht der Konstruktivismus davon aus, tender Ansatz zugeordnet werden. Im Rahmen der
dass jeder Mensch in seiner für sich konstruierten Theorietestung steht oftmals das Ziel der Reduktion
Welt lebt und daher von „außen“ nur begrenzt darauf des Abstraktionsniveaus im Vordergrund, d. h. die
zugegriffen werden kann bzw. dass der Mensch seiner Zusammenhänge auf so wenig Variablen wie möglich
eigenen Wahrnehmung nur begrenzt, sich dieser sub- zu reduzieren. Dies steht im direkten Zusammen-
jektiven Vorgänge bewusstmachend, vertrauen kann. hang mit dem Wunsch nach möglichst guter Relia-
Es muss betont werden, dass davon ausgegan- bilität. Je weniger Variablen verwendet werden, desto
gen werden kann, dass beide Radikalpositionen der leichter ist es, die Messgenauigkeit zu kontrollieren.
quantitativen und der qualitativen Forschung in ihrer Im Gegensatz dazu steht induktives bzw. abduk-
Reinform Gültigkeit behalten. So ist festzustellen, tives4 Denken, dieses eignet sich eher, eine Theorie
dass die vollkommene Unvoreingenommenheit der die aus Beobachtungen entstanden ist, zu validieren.
qualitativen Forscherin ihrem Untersuchungsgegen- Dadurch kommt es oftmals zu einer Zunahme des
stand gegenüber nicht gegeben ist, da gewisse Über- Abstraktionsniveaus, so wie sich Konzepte und Konst-
legungen und Erwartungen fast immer schon mit rukte im Rahmen des Forschungsprozesses erst entwi-
der Wahl des Forschungsgebietes in Zusammenhang ckeln können bzw. verfeinern können oder erweitert
3 Hier hält Kuhn (1970) entgegen, dass auch wissenschaft- 4 Abduktion: ein auf den Philosophen Charles S. Peirce
lich-experimentelle Entwicklung nicht immer dem Prin- zurückgehende Schlussweise. Erkenntnistheoretisch
zip der Falsifikation und dem Rationellen folgt, sondern wird mittels Abduktion eine Hypothese generiert, aus der
oft mit Etablierung und Ansehen derer die eine Theorie Hypothese werden Vorhersagen gebildet (Deduktion),
prägten, verbunden ist. Er prägte hier den Begriff des und die Gültigkeit dieser Vorhersagen wird überprüft
Paradigmas. (Induktion) (vgl. Meidl 2009).
2.3 · Forschungsfragen und Hypothesen
13 2
werden – gewissermaßen das „no go“ der quantita- DePoy und Gitlin (2011) unterscheiden zwischen
tiven Forschung. Hier steht der Wunsch nach hoher verschiedenen Zugängen, um zu Forschungsfragen
Validität im Vordergrund, d. h. möglichst nahe an der zu gelangen. Neben dem persönlichen Interesse, der
Komplexität des Alltags des Geschehens zu sein. Relevanz des Themas, können auch zur Verfügung
Nach langer Zeit einer deutlichen Trennung zwi- stehende Ressourcen stark auf das Thema einwirken.
schen deduktiven (oftmals quantitativen) und induk- So gestalten die zur Verfügung stehenden zeitlichen
tiven (oftmals qualitativen) erkenntnistheoretischen und finanziellen Ressourcen die Fragestellungen von
Zugängen zeigt sich immer mehr eine Annäherung Master-Studierenden deutlich anders, als die einer
zwischen den Vertretern beider Lager. So ist eine in eine Institution eingebettete Forschungsgruppe
deutliche Zunahme an sogenannten Mixed-met- (7 Abschn. 12.3).
hod-Designs (7 Abschn. 9.2), die die Vorzüge beider Im Rahmen der Identifikation eines Themas
Forschungsansätze nutzen, in Projekten zu beobach- spielen neben dem eigenen professionellen Hin-
ten (Kuckartz 2014). Kuckartz spricht hier sogar vom tergrund natürlich auch allgemeine gesellschaftli-
dritten methodologischen Paradigma. che Trends oder Trends innerhalb der eigenen Pro-
fession eine große Rolle (vgl. DePoy u. Gitlin 2011,
S. 38). Als Beispiel sei hier die demographische Ent-
2.3 Forschungsfragen und wicklung mit der zunehmenden Alterung der Gesell-
Hypothesen schaft in der westlichen Welt genannt, die es deutlich
leichter macht, an Forschungsgelder für Projekte zur
2.3.1 Wie komme ich zu einer Unterstützung des alten Menschen durch technische
geeigneten Forschungsfrage? Hilfsmittel („ambient assisted living“) zu gelangen.
Im Gegenzug ist es nach Jäger (2015) aber wesent-
lich schwieriger, an Forschungsgelder für Projekte
Woher kommen Forschungsfragen? mit Kindern oder Jugendlichen zu gelangen.
Forschungsfragen werden entwickelt, um Babbie (2010) unterscheidet zwischen 3 ver-
5 Beobachtungen im Alltag (im Feld) zu schiedenen Zielsetzungen von Forschung: Explo-
untersuchen, ration, Deskription und Erklärung. . Tab. 2.1 gibt
5 Beobachtungen im klinischen Alltag zu einen Überblick über die Zielsetzungen der einzel-
untersuchen, nen Bereiche und welche Fragestellungen üblicher-
5 ein Assessment zu entwickeln, weise verwendet werden.
5 die Wirksamkeit einer Die Formulierung einer Forschungsfrage kann
Behandlungsmethode zu erforschen, unterschiedliche Komplexitätsniveaus bzw. Kon-
5 eine Theorie über Gesundheitszusam- kretisierungsniveaus aufweisen. Dieses Konkretisie-
menhänge zu erforschen, rungsniveau ist oftmals mit dem Umfang der zum
5 die Gültigkeit vergangener Forschungs- Thema vorhandenen Theorie verbunden. Salopp aus-
tätigkeit zu evaluieren. gedrückt: Je mehr ich schon über ein Thema weiß,
desto genauer kann ich meine Frage formulieren.
14 Kapitel 2 · Forschungsprozess
Hough (2003, S. 39–40) unterscheidet hier zwischen klaren Formulierung eines Zusammenhangs und
3 Ebenen von Forschungsfragen, die auch den Ziel- der Möglichkeit, diesen durch die Daten zu bestäti-
setzung aus . Tab. 2.1 zugeordnet werden können: gen oder falsifizieren zu können. Forschungsansätze
2 4 allgemeine Forschungsfragen (der Zusam- werden hier oftmals relational („corrational“) oder
menhang ist erstmalig aufgefallen) kausal ausgewählt. Hypothesen sind klar Teil des
4 spezifischere Forschungsfragen deduktiven erkenntnistheoretischen Ansatzes inner-
4 Hypothesen (erwarteter Zusammenhang wird halb der beiden großen Grundströmungen wissen-
formuliert, kann falsifiziert werden) schaftlicher Erkenntnisgewinnung.
Eine mögliche Formulierung einer Hypothese
für die Forschungsgruppe, die sich mit dem kind-
Allgemeine Forschungsfrage lichen Asthma beschäftigt, wäre: Im Gegensatz zum
Auf Ebene 1 ist noch wenig Vorwissen über das Wohnumfeld (kein signifikanter Zusammenhang)
Thema vorhanden, es kann sein, dass der Zusam- besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen
menhang zum ersten Mal aufgefallen ist. Daher der Menge von Zigaretten, die Eltern im Wohnraum
kann auch die Forschungsfrage nur allgemein for- rauchen, und dem Risiko für Kinder, an Asthma
muliert werden. Forschungsansätze die auf diesem bronchiale zu erkranken.
Frageniveau angewandt werden, haben oft explora-
tiven oder deskriptiven Charakter. Forschungsfragen
auf dieser Ebene entspringen oft mehreren Einzel- 2.3.2 Hypothesen
beobachtungen, d. h. der induktiven Zugangsweise
wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung. So könnte Der in der heutigen Wissenschaft gebräuchliche
aus einer Häufung von Berichten in den Medien Umgang mit Hypothesen stammt aus dem bereits
über kranke Kinder in stark befahrenen Städten beschriebenen postpositivistischen Denken Karl
eine Kollegengruppe aus dem Public-Health-Be- Poppers. Direkt mit dem ebenfalls bereits erwähn-
reich folgende allgemeine Frage formulieren: Gibt ten Denkmodell der Falsifikation (siehe oben) ver-
es einen Zusammenhang zwischen der Lokalisation bunden, entstammt auch die Arbeitsweise des
des Wohnorts (Stadt/Land) von Kindern und dem Formulierens einer Arbeitshypothese und einer
Risiko, an Asthma bronchiale zu erkranken? Nullhypothese. Im Wort Hypothese (Duden: von
Widersprüchen freie, aber zunächst unbewiesene
Aussage, Annahme von Gesetzlichkeiten oder Tat-
Spezifische Forschungsfrage sachen) steckt bereits die Möglichkeit eines Irrtums,
(„aim or objektives“) d. h. dass sie sich als falsch herausstellt.
Nach erfolgter Studie zeigt sich, dass das Thema, an Es wird gewissermaßen eine Richtigkeit unterstellt,
Asthma bronchiale zu erkranken, doch komplexer die erst bewiesen werden muss. Nachdem der Zusam-
ist, als anfangs gedacht. Verschiedene Einflussfak- menhang zwischen Gegebenheiten im Sinne einer
toren sind im Rahmen der explorativen Erhebung Hypothese sehr schwierig und oftmals unklar zu for-
aufgetaucht. Die Public-Health-Forschungsgruppe mulieren ist (sonst würde es ja keines Forschungspro-
möchte nun aus diesen Faktoren heraus eine spezifi- jekts bedürfen), ist es wesentlich einfacher, einen nicht
schere Fragestellung formulieren: Hat der Lebensstil vorhandenen Unterschied zu definieren. Zum Bei-
und/oder der Wohnort (mehr) Einfluss auf das Risiko spiel könnte eine Forschungsgruppe am Zusammen-
von Kindern, an Asthma bronchiale zu erkranken? hang zwischen der Dauer sitzender Tätigkeiten und
Beschwerden im Wirbelsäulenbereich interessiert sein.
Hypothesen
Nach mehreren Untersuchungen bzw. spezifische- Nullhypothese und Alternativhypothese
ren Fragestellung ist es oftmals (aber nicht immer) Die Theorie der Falsifikation geht davon aus, dass
möglich, Hypothesen zu formulieren. Der Unter- es kaum möglich ist, alle Aspekte eines möglichen
schied zu den beiden ersten Ebenen liegt hier in der Zusammenhangs im Rahmen einer Hypothese zu
2.3 · Forschungsfragen und Hypothesen
15 2
höchstes
2
Ratio
Wie Intervall, zusätzlich
gibt es absoluten Nullpunkt
Interval
Abstände sind gleich und haben Bedeutung
Ordinal
Attribute können nur sortiert werden
Nominal
Attribute sind Namen ohne mathematische Bedeutung,
auch wenn Zahlen verwendet werden
niedrigstes
. Tab. 2.3 Mögliche Parameter in Abhängigkeit vom jeweiligen Messniveau. (Adaptiert nach Janssen u. Laatz 2013, S. 211)
Die Möglichkeiten der Datensammlung stellen ein Jede Forschung sollte das Ziel verfolgen, zugäng-
2 weites Feld in der Forschung dar. Hier reicht der lich gemacht zu werden. Nur so kann das gewon-
Bogen von offenen Beobachtungsverfahren und nene Wissen wieder in die Forschungsgemeinschaft
Interviews bis hin zur strukturierten Anwendung zurückfließen. Neben etablierten Journalen und
standardisierter normierter Tests. Die Auswahl der Konferenzpräsentationen stehen heute viele unter-
jeweiligen geeigneten Datensammlungsverfahren schiedliche Möglichkeiten wie Online-Journals,
erfolgt immer abhängig von der Fragestellung und Open-Access-Publikationen etc. zur Verfügung,
den Genauigkeitsforderungen an die zu treffenden um die Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit
Aussagen. Mehr darüber ist in einzelnen Kapiteln zu zugänglich zu machen. Hier erscheint es wichtig zu
den jeweiligen Forschungsmethoden in der Sektion erwähnen, dass auch unklare oder negative Ergeb-
II zu erfahren. nisse publikationswert sind. Oftmals stellen solche
Je nach Forschungstradition differiert der Publikationen erst die Basis für verfeinerte Fragestel-
Prozess der Datenanalyse. Während es im Rahmen lungen und damit für erfolgreichere Projekte dar. Als
der Analyse bei quantitativen Projekten vereinfacht oberstes Ziel sollte immer eines stehen: der Aufbau
ausgedrückt darum geht, statistisch-mathematische des Informationstands zum Thema und die Weiter-
Verfahren (7 Abschn. 7.4) anzuwenden, um die For- entwicklung einer Theorie.
schungsfrage beantworten zu können, umfasst die
qualitative Analyse die Anwendung methodenspe-
zifischer Techniken. Auch hierzu sind die Details 2.6.3 Verknüpfung der Ergebnisse im
in Sektion II in den jeweiligen Methodenkapiteln Sinne der Weiterentwicklung der
beschrieben. Theorie und Praxis
3.1 Einleitung – 27
3.3 Datenschutz – 33
3.3.1 Identifikationsmerkmale – 33
3.3.2 Datenflüsse und Speicherorte – 34
3.3.3 Möglichkeiten der Anonymisierung und Pseudonymisierung
im Forschungsprozess – 34
3.3.4 Verschwiegenheit – 35
3.3.5 Anonymität und Verschwiegenheit als Bestandteil des
Forschungsvertrags – 35
3.3.6 Aufbewahrung und Löschung von Daten – 35
3.3.7 Anonymisierung in Publikationen – 36
3.3.8 Qualitätssicherung im Rahmen des Datenschutzes – 37
Literatur – 46
3.2 · Forschungsethik im Gesundheitswesen
27 3
3.1 Einleitung Unabhängig vom Vorliegen einer Disziplin und
der Zuordnung zur Grundlagenwissenschaft oder
Tanja Stamm, Gabriele Karner, Jutta Möseneder, angewandten Forschung kann Wissenschaft und For-
Valentin Ritschl schung auf jedem Niveau (Bachelor, Master, PhD)
erfolgen: Es wird immer dann geforscht, wenn ein
Forschung in den nicht ärztlichen Gesundheitsbe- Forschungsprozess nach bestimmten, anerkannten
rufen ist in vielen Ländern außerhalb des deutsch- Kriterien (7 Kap. 2) durchgeführt wird. Es ist also
sprachigen Raums bereits selbstverständlich. Auch nicht zulässig zu sagen, dass Berufsangehörige in den
in diesen Ländern unterscheidet sich aber der For- Gesundheitsberufen nicht forschen können/dürfen,
schungsbereich der nicht ärztlichen Gesundheits- wenn (noch) keine anerkannte wissenschaftliche Dis-
berufe von vielen anderen Forschungsbereichen ziplin vorliegt oder sie „nur“ angewandte Forschung
dadurch, dass es keine lange Forschungstradition gibt machen „dürfen“. In der Wissenschaft und Forschung
und es sich daher meist um „junge“ Forschungsfächer müssen bestimmte Anforderungen erfüllt werden.
handelt. Unter Wissenschaftlern und Experten wird Diese werden im folgenden Abschnitt mit speziellem
eine Diskussion darüber geführt, ob es sich bei den Bezug zu den nicht ärztlichen Gesundheitsberufen
nicht ärztlichen Gesundheitsberufen um eine eigene beschrieben. Wichtig ist, dass es in den verschiede-
wissenschaftliche Disziplin handelt oder die Profes- nen Ländern, aber auch in verschiedenen Regionen
sion mit „angewandter“ Forschung. Angewandte innerhalb eines Landes unterschiedliche Vorschrif-
Forschung versteht sich in Abgrenzung zur Grund- ten geben kann. Es gelten grundsätzlich immer die-
lagenwissenschaft oft als die (klinische) Anwendung selben Anforderungen bezüglich der Einreichung bei
von bestimmtem neuem Wissen, neuen Prinzipien, der Ethikkommission und der Einreichung bei den
Theorien und/oder Methoden im praktischen Feld. Behörden des Ortes, an dem die Studienteilnehmer
Welche Kriterien eine wissenschaftliche Diszi- und -teilnehmerinnern rekrutiert werden.
plin ausmachen, wird allerdings sehr unterschiedlich Für die Forschung in den nicht ärztlichen
definiert. So charakterisiert sich eine wissenschaft- Gesundheitsberufen sind bestimmte formelle Anfor-
liche Disziplin zum Beispiel durch einen kritischen derungen und Dokumente erforderlich (. Tab. 3.1).
Diskurs zwischen diversen Schulen und Denkrich- Unumgänglich bei der Durchführung eines For-
tungen und die Etablierung von Personen, die sich schungsprojekts ist es, sich an die gesetzlichen Vor-
ausschließlich mit dieser wissenschaftlichen und gaben und Regeln zu halten. Meist werden von den
akademischen Disziplin in der Forschung auseinan- zuständigen Institutionen, zum Beispiel Ethikkom-
dersetzten (z. B. Universitätsprofessoren und Post- missionen, Fachhochschulen etc., Hilfestellungen
Docs); weiter durch den Austausch von akademi- und Fortbildungen angeboten.
schem Wissen auf demselben Niveau, zum Beispiel
durch die Vernetzung mit anderen Fächern auf dem-
selben Niveau, sowie durch internationale Publika- 3.2 Forschungsethik im
tionen und Repräsentationen (Prodinger et al. 2008, Gesundheitswesen
Ottenbacher 1996, Carlson u. Clark 1991, Clark et al.
1991, Yerxa et al. 1989). Diese Charakteristika werden Susanne Perkhofer, Gerhard Tucek
zunehmend von den Gesundheitsberufen im Ausland
erfüllt, allerdings vielleicht nicht im deutschsprachi- Die Ethik ist ein Teilgebiet der Philosophie. Sie hat
gen Raum. Zudem werden neben der angewandten das sittliche Verhalten des Menschen zum Gegen-
Forschung immer mehr Grundlagenforschungspro- stand und setzt sich mit der Moral auseinander
jekte in den Gesundheitsberufen/-fächern durchge- (Kerres u. Seeberger 2001). Die Ethik stellt Richt-
führt. Ein Grundlagenforschungsprojekt in der Ergo- linien auf, an denen sich menschliches Verhal-
therapie, das sich mit immunologischen Parametern ten ausrichten soll. Sie beruft sich dabei auf „ein
als Biomarker für Betätigungsbalance beschäftigt durch Vernunft erkennbares und somit für jeden
hat, wurde zum Beispiel vom Austrian Science Fund Vernunftbegabten einsehbares, oberstes Prinzip“
bezahlt (Dur et al. 2014a, b). (Wolf 2004).
28 Kapitel 3 · Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen
Dokument Anmerkungen
Exposé, Proposal Wird meist zur Genehmigung des Themas einer Diplomarbeit,
Bachelorarbeit oder Masterthese verlangt
3 Studienprotokoll, Forschungsplan Deutlich ausführlicher als ein Exposé/Proposal; ist für die
Einreichung bei der Ethikkommission erforderlich; muss für eine
klinische Studie vor Beginn öffentlich registriert werden
Einverständniserklärungen („informed consent“) Einzuholen von Studienteilnehmern (bei Kindern muss zusätzlich
das Einverständnis der Eltern eingeholt werden), auch von
gesunden Probanden, Professionisten und Experten
Genehmigungen Von der zuständigen Ethikkommission (oder Ethikkommission für
Tierversuche), von der zuständigen Behörde, von teilnehmenden
Institutionen (diese verlangen oft eine zusätzliche
Genehmigung!), von Vorgesetzten; Genehmigungen sollten
schriftlich vorliegen
Eventuell Genehmigungen für die Verwendung Im akademischen Bereich ist es üblich, Instrumente ohne
Instrumenten/Erhebungsmethoden Bezahlung zugänglich zu machen. Instrumente, die mit
öffentlichen Forschungsgeldern entwickelt wurden, sind in vielen
Ländern kostenlos im akademischen Bereich zur Verfügung zu
stellen.
Genehmigung für das Abdrucken von Texten Achtung bezüglich Plagiaten: am besten selbst eine Abbildung
oder Abbildungen, die einem Copyright erstellen und den Text selbst schreiben; wenn Fremdmaterial
unterliegen unbedingt erforderlich, dann immer Genehmigung einholen
(Ausnahme: Zitate als Unterfall der urheberrechtlichen
Schranken, siehe dazu Urheberrechtsgesetz für Deutschland,
Österreich, Schweiz)
„Case report form“ (CRF) und Zur Aufzeichnung von Daten für jedes Interview, für jede
Dokumentationsbögen klinische Visite, jede Untersuchung und jede Intervention
Datenschutzmeldung und Meldung bei bzw. Wenn erforderlich, z. B. für ein Register, eine Datenbank und die
Genehmigung durch zuständige Behörde, wenn Befragung von Experten in manchen Institutionen; z. B. muss eine
erforderlich klinische Studie mit einem Medizinprodukt in Österreich unter
bestimmten Bedingungen bei dem Bundesamt für Sicherheit im
Gesundheitswesen (BASG) und der Medizinmarktaufsicht (AGES)
gemeldet werden
Statement zum „conflict of interest“ Zur Offenlegung von möglichen Vorteilen, die auf eine Studie
Einfluss haben könnten
. Tab. 3.2 Gesetze als Grundlagen für die Einhaltung der Ethik
. Tab. 3.2 Fortsetzung
4 einer Fachärztin, in deren Sonderfach die > Ein wichtiges Augenmerk ist der Einwilligungs-
jeweilige klinische Prüfung fällt, oder ggf. erklärung zu widmen. Diese Patienten- bzw.
einem Zahnarzt, und der nicht Prüfer ist, Probandeninformation ist ein wichtiges
4 einem Angehörigen des gehobenen Dienstes und fundamentales Patientenrecht und die
für Gesundheits- und Krankenpflege, Voraussetzung für die Durchführung einer
4 einem Juristen, Forschung am/über den Menschen. Die
4 einer Pharmazeutin, Aufklärung über den Inhalt der Studie enthält
4 einer Patientenvertreterin, den Titel sowie den Zweck der Studie und muss
4 einer Person, die über biometrische Expertise eine laienverständliche Erklärung zu allen
verfügt. Punkten beinhalten, zum Beispiel Behandlungen,
Maßnahmen, Nebenwirkungen und Risiken.
Ethikkommission wenden sollen. In diesem Kapitel > Der Ort, an dem das Forschungsprojekt
sollen die wichtigsten Fragen in Bezug auf die recht- durchgeführt wird, bestimmt, welche
lichen Rahmenbedingungen bei den Vorbereitun- Gesetze zur Anwendung kommen, welche
gen zur Durchführung eines Forschungsprojekts im institutionellen Prozesse eingehalten werden
nicht ärztlichen Gesundheitsbereich geklärt werden. müssen und welche Ethikkommission
Die Begutachtung von nicht ärztlichen For- zuständig ist.
3 schungsvorhaben durch Ethikkommissionen ist wie
von Stühlinger und Schwamberger (2013) ausgeführt
derzeit noch unzureichend geregelt (7 Abschn. 3.5). 3.4.2 Historischer Kontext
Daher erscheint das Bewilligen von Forschungs-
projekten für Studierende oft wie ein Hindernis- Die heute geltenden rechtlichen Rahmenbedingun-
lauf zwischen verschiedensten Zuständigkeiten und gen müssen immer in ihrem historischen Kontext
Kompetenzen. gesehen werden. Die Etablierung von Ethikkommis-
sionen und die Einführung von Einverständniserklä-
Beispiel rungen für Teilnehmende an Forschungsvorhaben
Eine Masterstudentin studiert an einer Wiener stehen in engem Zusammenhang mit vielen ethisch
Hochschule. Für ihre Masterthese möchte sie ein fragwürdigen Forschungsprojekten, die schlussend-
empirisches Forschungsprojekt mit Patienten lich in einem Überdenken und einer Neustrukturie-
durchführen. Sie hat allerdings vor, ihr Forschungs- rung der Forschungspraxis mündeten. In den folgen-
projekt an einer Institution durchzuführen, die wie den Absätzen werden nun beispielhafte Experimente
ihr Wohnort in einem anderen Bundesland loka- und deren Zusammenhang mit Veränderungen der
lisiert ist. Sie steht nun vor der Frage, ob sie sich rechtlichen Grundlagen von Forschungsprojekten
für die Freigabe bzw. die positive Beurteilung ihres dargelegt.
Projekts an ihre Ausbildungsstätte, an die Institu- In den USA wurde als Konsequenz von unethi-
tion oder an die Ethikkommission der geographisch schen Forschungsprojekten 1978 die National
nächstgelegenen Universitätsklinik für Medizin Commission for the Protection of Human Sub-
wenden soll.2 jects of Biomedical and Behavioral Research 3
gegründet. Anlass war das Bekanntwerden der
Grundsätzlich kann von einer Gebietszuständig- Tuskegee-Syphilis-Studie (Centers for Disease Control
keit der Ethikkommission, abhängig vom Durch- and Prevention 2013) durch das US Public Health
führungsort der Studie, ausgegangen werden. Das Service von 1932 bis 1972. In dieser Studie wurden
heißt, hier gelten die gesetzlichen Rahmenbedingun- einkommensschwache afroamerikanische Männer in
gen des jeweiligen Bundeslandes in Deutschland und Tuskegee, Alabama, die an Syphilis erkrankt waren,
Österreich bzw. des Kantons in der Schweiz, basie- rekrutiert, um den natürlichen Verlauf der Krank-
rend auf den jeweiligen Bundesgesetzen. Die wich- heit studieren zu können. Um diesen Verlauf unge-
tigsten Gesetze, die bei der Durchführung von For- stört zu beobachten, erhielten die Studienteilnehmer
schungsprojekten von Relevanz sind, finden sich in keine Diagnoseaufklärung und keine (zum damaligen
7 Abschn. 3.2. Zeitpunkt bereits vorhandene) Behandlung.
Bezüglich der europäischen Geschichte sei hier
auf Experimente in den 1940er-Jahren an Menschen
durch medizinische Wissenschaftler in Österreich
2 Lösung: In diesem Fall muss die Studentin die Projekt- und Deutschland verwiesen. Beispielhaft sind hier
bewilligung durch die Ausbildungsstätte (Masterthese) die Wirksamkeitstest für Impfstoffe durch absicht-
und die Institution, an der das Projekt durchgeführt wird, liche Tuberkuloseinfektion an „bildungsunfähigen“
einholen. Nachdem gesundheitsbezogene Daten von
Patienten erhoben werden, ist zusätzlich eine Freigabe
durch die institutionseigene Ethikkommission oder die 3 Nationale Kommission zum Schutz von Versuchsperso-
Ethikkommission des Bundeslandes, in dem dieInstitution nen in der biomedizinischen Forschung und der Verhal-
ist, erforderlich. tensforschung
3.4 · Rechtliche Rahmenbedingungen
39 3
Heimkindern der städtische Fürsorgeanstalt „Am Einrichtungen, nicht nur, da aufgrund des jeweiligen
Spiegelgrund“ in Österreich oder die Antibiotikaex- Projekts Ressourcen gebunden werden, sondern weil
perimente durch künstlich herbeigeführte Wund- zusätzlich auch Haftungsverpflichtungen durch die
infektionen an polnischen Frauen im Konzentra- Studie entstehen können.
tionslager Ravensbrück in Deutschland erwähnt. Die Etablierung von Ethikkommissionen für
Als Ergebnis der Nürnberger Ärzteprozesse wurde den nicht medizinischen Forschungsbereich ist im
1947 der Nürnberger Kodex über die Zulässigkeit Gegensatz zur angloamerikanischen und skandi-
medizinischer Versuche verfasst. navischen Universitätskultur, wo oftmals jedes For-
Diese und viele andere Vorkommnisse führten schungsprojekt (auch Studierendenprojekte!) vorab
schrittweise zum Überdenken der Forschungspra- zur Bewilligung bei der zuständigen universitären
xis. Im Rahmen der Deklaration von Helsinki konnte Ethikkommission eingereicht werden muss, im
sich die World Medical Association (1964, 1975) auf deutschsprachigen Raum noch sehr unzureichend
gemeinsame ethische Standards in der medizini- bzw. heterogen geregelt. Beispielsweise ist es möglich
schen Forschung einigen. Als Meilenstein der ethi- und üblich, klinische Forschungsprojekte in nicht
schen Richtlinie in der Forschung mit Menschen ärztlichen Gesundheitsberufen an der Ethikkom-
hatte und hat diese Deklaration einen starken Ein- mission der Medizinischen Universität Wien oder
fluss auf nationale Gesetzgebungen. Zum Beispiel der Ethikkommission des jeweiligen Bundeslandes
wurden in vielen Ländern Ethikkommissionen ein- einzureichen. Anderenorts kann es aber sein, dass
geführt und die Einverständniserklärungen etab- ein Antrag für ein Forschungsprojekt durch einen
liert, um Studienteilnehmer transparent über Sinn Angehörigen der nicht ärztlichen Gesundheitsbe-
und Zweck der Forschung und über möglich Risiken rufe oftmals der erste Antrag aus dieser Berufsgruppe
oder Behandlungserkenntnisse zu informieren. Mitt- überhaupt ist, der dadurch entsprechend viele recht-
lerweile gibt es mehrfache Überarbeitung der Helsin- liche und methodische Fragen aufwirft. Hier zeigt
ki-Deklaration, die aktuelle Fassung stammt aus dem sich ein inhomogenes Bild, das vergleichbar mit den
Jahr 2013. Die Deklaration bezieht sich aber nach wie uneinheitlichen ethischen Standards für Forschungs-
vor alleine auf den Berufsstand der Medizin. projekte in den Gesundheitsberufen ist, wie Reichel,
Marotzki und Schiller (2009) am Beispiel der Ergo-
> Studienteilnahme nur nach erfolgter therapie dargelegt haben.
Aufklärung durch Information und freiwilliger Stühlinger und Schwamberger (2013) weisen
Einwilligung („informed consent“). auf eine umfassende Problematik im Hinblick auf
Vorlagepflichten und Prüfmöglichkeiten für Pro-
Als Konsequenz des „informed consent“, der jekte in nicht ärztlichen Gesundheitsberufen hin.
informierten Einwilligung, hat sich die Wissen- Als Grundsatz kann von einer flächendeckenden
schaftsgemeinschaft darauf verständigt, dass die Vorlagepflicht für Arzneimittel- und Medizinpro-
Schutzbedürftigkeit des Menschen mehr wiegt als duktestudien ausgegangen werden. Hingegen ist
die Forschungsergebnisse, die durch manche For- die Vorlagepflicht für Forschungsprojekte, die der
schungsprojekte erhalten wurden (7 Abschn. 3.4.7, Erprobung neuer Behandlungsmethoden dienen,
„Verdeckte Experimente“). österreichweit gesetzlich nur im Rahmen der Kran-
kenanstaltengesetze und des Universitätsgesetzes
2002 geregelt. Daher kann es sein, dass die Schutz-
3.4.3 Forschungsprojekte an würdigkeit der Studienteilnehmerinnen je nach Ort,
Krankenanstalten und an dem Forschung stattfindet, variiert. Die Autoren
vergleichbaren Einrichtungen argumentieren, dass Forschungsprojekte, die nicht
in Krankenhäusern, sondern an vergleichbaren Ins-
Die Durchführung von Forschungsprojekten an titutionen wie Heimen oder Rehabilitationszentren
klinischen Einrichtungen ist durch entsprechende durchgeführt werden, keine gesetzlich zwingenden
Bewilligungsprozesse geregelt. Das Bewilligen von Ethikkommissionsanträge erfordern, da sie in Öster-
Forschungsprojekten liegt im Interesse der klinischen reich nicht unter das Krankenanstaltenrecht fallen.
40 Kapitel 3 · Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen
Dass in diesen Institutionen trotzdem ethisch Sind Forschungsprojekte außerhalb von klini-
basierte Forschung stattfindet, ist weniger auf gesetz- schen Einrichtungen geplant, bietet es sich für Stu-
liche Regelungen als auf das Engagement der jeweili- dierende an, zuerst mit der Ethikkommission der
gen Institutionen und Forschenden zurückzuführen. eigenen Ausbildungsinstitution Kontakt aufzu-
Ergänzend machen Stühlinger und Schwamberger nehmen. Sofern die Ausbildungsstätte keine eigene
(2013) darauf aufmerksam, dass die aktuelle öster- Ethikkommission hat, empfiehlt es sich, sich mit
3 reichische Rechtslage nicht mehr mit der dynami- der gebietszuständigen Ethikkommission in Ver-
schen Forschungsrealität in den Gesundheitsberufen bindung zu setzen. Standesrechtliche Ethikkom-
übereinstimmt und eine Anpassung der bestehen- missionen, wie es sie für Ärzte gibt, existieren für
den Rechtslage wünschenswert ist. Als Beispiel für die nicht ärztlichen Gesundheitsberufe nicht. For-
eine umfassende Regelung erscheint das Schweizer schenden Kolleginnen in der freien Praxis wird
Bundesgesetz über die Forschung am Menschen daher empfohlen, mit der jeweiligen Ethikkom-
zukunftsorientierter. Das Humanforschungsgesetz mission des Bundeslands, in dem das Forschungs-
(HFG) geht von einer allgemeinen Ethikkommis- projekt stattfinden soll, Kontakt aufzunehmen.
sionspflicht für alle Forschungsprojekte mit Men- Des Weiteren gilt es abzuklären, ob zusätzlich eine
schen4 aus. Dies erfolgt unabhängig davon, durch etwaige behördliche Bewilligung notwendig ist (z. B.
welche Berufsgruppen diese Forschung durchführt Datenschutzbehörde).
wird, und ist nicht auf medizinische Forschung ein-
gegrenzt. Dadurch passt sich das Gesetz leichter auf
die sich verändernde Forschungslandschaft an. 3.4.5 Entscheidungsprozess über
die Notwendigkeit eines
Ethikkommissionsantrag
3.4.4 Gesundheitsbezogene
Forschung abseits klinischer Allgemein zeigen die aktuellen Erfahrungen mit
Einrichtungen Studierendenprojekten, dass eine erste informelle
Kontaktaufnahme mit den infrage kommenden
Im Rahmen gesundheitsbezogener Forschungspro- Institutionen, Behörden oder Ethikkommissio-
jekte durch die Angehörigen der nicht ärztlichen nen sinnvoll ist, bevor ein umfangreicher Bewilli-
Gesundheitsberufe kommt es zunehmend auch zu gungsantrag gestellt wird. Im Vorfeld kann oftmals
Forschung, die nicht mehr im klassisch-medizini- bereits telefonisch oder schriftlich abgeklärt werden,
schen Patientenkontext zu sehen und daher nicht ob für das jeweilige Forschungsprojekt überhaupt
mehr in klinischen Institutionen angesiedelt ist. In ein formeller Antrag gestellt werden muss. Als erste
7 Kap. 1 wird in diesem Zusammenhang von der grund- Orientierungshilfe empfiehlt es sich, den Entschei-
lagenbezogenen Wissenschaft der nicht ärztlichen dungsbaum in . Abb. 3.1 zu konsultieren. Der Ent-
Gesundheitsberufe gesprochen (vgl. auch Weigl 2002). scheidungsbaum ermöglicht es, anhand von Fragen
zum Forschungsprojekt einen Ersteindruck zu
Beispiel bekommen, ob für das Forschungsvorhaben vor-
Ein grundlagenbezogenes Forschungsprojekt der Er- aussichtlich ein Antrag bei einer Ethikkommission
gotherapie/„occupational science“ ist beispielsweise benötigt wird.
die Pensionierung – ein Betätigungsübergang („oc-
cupational transition“) mit Auswirkungen auf die zeit- > Sobald gesundheitsrelevante Daten von
lichen Aspekte, die Balance und die Bedeutung von Menschen5 direkt oder indirekt im Rahmen
menschlichen Betätigungen (Jonsson et al. 2000). des Forschungsprojekts erhoben werden,
ist eine Vorlage bei der Ethikkommission
notwendig.
4 Der Begriff „Menschen“ in diesem Gesetz umfasst Perso-
nen, verstorbene Personen, Embryonen und Föten sowie
biologisches Material und gesundheitsbezogene Perso-
nendaten. 5 Personenbezogene Gesundheitsdaten
3.4 · Rechtliche Rahmenbedingungen
41 3
3. Frage: Quellen
Keine Einreichung bei einer EK notwendig.
gesundheitsrelevanter Fragestellungen?
Expertlnnenbefragung (Professionalistln),
die NUR zu ihrer Andere Quellen außer Expertlnnen
Fachexpertise befragt wird.
Keine Einreichung bei einer EK notwending. Eine Einreichung bei der EK ist notwending.
Forschungsprojekte bedürfen nicht in jedem Fall („informed consent“) und an die Datenschutzricht-
einer Freigabe durch eine Ethikkommission. Keine linien (7 Abschn. 3.3) zu halten.
Freigabe ist beispielsweise bei Meinungsumfra-
gen, Marktforschungsprojekten oder Experten- > Auch wenn für das Forschungsprojekt keine
interviews zu Fachthemen erforderlich. Unabhän- Ethikkommissonsfreigabe erforderlich ist
gig davon, ob ein Forschungsprojekt eine Freigabe (Beispiel: Marktforschung), ist es notwendig,
durch eine Ethikkommission benötigt oder nicht, ist sich an die Datenschutzrichtlinien zu halten.
es aus forschungsethischen Gesichtspunkten trotz- Zusätzlich sollte auch bei nicht ethikkommissi-
dem immer notwendig, sich an die Prinzipien des onspflichtigen Forschungsprojekten immer eine
freiwilligen und informierten Einverständnisses Einverständniserklärung eingeholt werden.
42 Kapitel 3 · Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen
3.4.6 Umsetzung der Grundsätze des Helmchen, Stock und Hank (2014) verdeutli-
„informed consent“ chen in diesem Zusammenhang, dass vulnerable
Patientengruppen das Recht auf Forschung haben,
Wie bereits im 7 Abschn. 3.4.2 ausgeführt hat sich aber nicht die Verpflichtung, daran teilzunehmen
die Wissenschaftsgemeinschaft darauf geeinigt, zu müssen. In ihrer Publikation, herausgegeben
dass die Schutzbedürftigkeit der Studienteilnehme- von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der
3 rinnen höchste Priorität bei der Durchführung von Wissenschaften, empfehlen die Autoren auch, sich
Forschungsprojekten hat. Um diese Schutzbedürf- vertiefend mit der Problematik der vulnerablen Per-
tigkeit zu gewährleisten, ist vor dem Stattfinden des sonengruppen in der Forschung auseinanderzuset-
Projektes dafür Sorge zu tragen, dass die potenziellen zen. Beispielsweise beschäftigen sich Helmchen et al.
Studienteilnehmerinnen (2014) mit den rechtlichen und ethischen Aspekten
4 den Sinn und Zweck der Studie verstehen der Teilnahme von Kindern, Personen mit kogniti-
(Grundsatz der Aufklärung durch Information) ven oder psychischen Einschränkungen oder inten-
und sivstationspflichtigen schwersterkrankten Patienten
4 zustimmen, dass sie an dieser Studie aus an klinischen Forschungsprojekten.
freiem Entschluss teilnehmen6 (Grundsatz der Abhängig von der Komplexität des zu erklä-
freiwilligen Einwilligung). renden Studieninhalts und den potenziellen
Studienteilnehmern gestaltet sich die Erstellung des
Es muss hier zwischen dem praktischen Umsetzen Informationsmaterials zeitlich mehr oder weniger
des „informed consent“ und der Dokumentation, aufwendig. Ebenso kann die Informationsbereit-
dass der „informed consent“ erfolgt ist, differenziert stellung beim Informationsgespräch unterschied-
werden. liche zeitliche Ressourcen in Anspruch nehmen.
Bei manchen Forschungsprojekten kann ein kurzes
> Der Fokus des „informed consent“ Informationsgespräch als ausreichend erachtet
liegt auf dem Informieren über das werden, um ein Verständnis über den Studienin-
Forschungsprojekt, nicht auf dem halt zu erlangen. Bei komplexeren Zusammen-
Dokumentieren, dass informiert wurde! hängen und Patientengruppen, bei denen ver-
mehrter Aufklärungsbedarf zu vermuten ist, kann
Das Hauptaugenmerk sollte selbstverständlich auf es dagegen notwendig sein, mehr Zeit oder einen
dem Bereitstellen der Information über die Studie zweiten Termin nach einer Nachdenkpause zu Ver-
für die potenzielle Teilnehmer liegen. Im Ideal- fügung zu stellen.
fall sind dem Studienteilnehmer im Rahmen eines
Gespräches die Studieninhalte zu erklären. Als > Ziel der Informationsbereitstellung im
Mindeststandard sollte es den Teilnehmern ermög- Rahmen des „informed consent“ ist es, das
licht werden, offene Fragen zu den vorab erhaltenen die potenziellen Studienteilnehmerinnen
Informationsmaterialien zu stellen (7 Abschn. 3.4.7, wissen, was das Ziel und der Inhalt des
„Einverständniserklärung bei Online-Befragungen“). Forschungsprojekts ist. Sie sollen ebenso
Die Möglichkeit, eine Person zu diesem Gespräch wissen, welche Rolle ihnen dabei zukommt
mitzunehmen, kann bei potenziellen Studienteilneh- und welche zeitlichen Anforderungen an sie
mern vertrauensbildend wirken. Vor allem bei vul- gestellt werden. Basierend auf dem erlangten
nerablen Personengruppen (7 Abschn. 3.2) erscheint Informationsstand kann die Studienteil-
dieses Angebot aus ethischen Gesichtspunkten, nehmerin letztlich entscheiden, ob sie bereit
beispielsweise aufgrund etwaiger kognitiver oder ist, an diesem Projekt teilzunehmen, oder
sprachlicher Verständnisprobleme, als besonders nicht. Im Englischen spricht man hier von der
zu empfehlen. „informed choice“.
zu betreiben. Für die Ausbildung und Lehre, aber weiterzuentwickeln und zu erforschen hat sich zum
auch für eine qualitativ hochwertige Forschung, ist Beispiel das „International Journal of Health Profes-
es nötig, klinische Praxis, Lehre und Forschung eng sions“ (IJHP), eine neue Fachzeitschrift für die nicht
zu verknüpfen. ärztlichen Gesundheitsberufe im deutschsprachi-
Der Forschungsprozess unterscheidet sich gen Raum, zum Auftrag gemacht (www.ijhp.info). In
grundsätzlich nicht und ist somit unabhängig von dieser Fachzeitschrift werden neben interdiszipli-
3 der durchführenden Person – egal ob Forscherin, nären Fachartikeln auch fachlich spezialisierte For-
Studierende oder Praktiker. Die Schritte im For- schungsthemen publiziert, die interdisziplinär rele-
schungsprozess, die erforderlichen Dokumente und vant sind.
Genehmigungen bleiben gleich. Kliniker und Kli- Die wissenschaftliche und professionelle Ent-
nikerinnen bringen allerdings zusätzlich wertvolle wicklung der Gesundheitsberufe im deutschsprachi-
Praxiserfahrung sowie Erfahrungen im Umgang gen Raum hat enormes Potenzial. Allerdings wird es
mit Patienten mit. Vor allem im deutschsprachigen am besten gelingen, dieses Potenzial zu entwickeln,
Raum werden derzeit viele Forschungsprojekte nicht wenn die Gesundheitsberufe zusammenarbeiten und
an Ausbildungsstätten, sondern in der klinischen darauf achten, dass Forschung und Projekte im allge-
Praxis durchgeführt. Dies kommt unter Umstän- mein anerkannten Diskurs anschlussfähig sind. Die
den auch daher, dass Praxis, Lehre und Forschung beschriebenen geltenden Richtlinien für Forschung
in den nicht ärztlichen Gesundheitsberufen oft an an Menschen und Tieren müssen dabei eingehalten
getrennten Institutionen angesiedelt sind – im Unter- werden.
schied zu medizinischen Universitäten und Universi-
tätskliniken, an denen Praxis, Forschung und Lehre Literatur
an einem Ort stattfinden und von denselben Perso-
nen durchgeführt werden. Vielfach werden daher Aronson E, Wilson, TD, Akert RM (2010) Sozialpsychologie, 6.
„Hochschulen für Gesundheit“ für die nicht ärzt- Aufl. Pearson Studium – Psychologie. Pearson, München
lichen Gesundheitsberufe gefordert, die zusätzlich Babbie ER (2010) The practice of social research. Wadsworth
Inc Fulfillment, Belmont
zur Lehre auch einen Versorgungsauftrag erfüllen. Breuer J, Freud S (2007) Studien über Hysterie, 6. Aufl. Fischer
Kooperationen mit Kliniken in Form von Lehrkran- Taschenbuch, Frankfurt am Main
kenhäusern, Lehrambulanzen oder -praxen können Bundesamt für Gesundheit (BAG) (2014) Bundesgesetz über
ideale Modelle darstellen, um Praxis mit Lehre und die Forschung am Menschen. www.bag.admin.ch/
Forschung zu verbinden. Wichtig ist zu bedenken, themen/medizin/00701/00702/07558/, letzter Zugriff
30.11.2015
dass Forschung, genauso wie andere Tätigkeiten, Burger JM (2009) Replicating Milgram: Would people still obey
bestimmte Kenntnisse und das Wissen über Rege- today? American Psychologist 64 (1): 1–11
lungen erfordert, die man entweder selbst lernt oder Carlson ME, Clark FA (1991) The search for useful methodo-
zukauft. logies in occupational science. Am J Occup Ther 45 (3):
Die Forschung in den nicht ärztlichen Gesund- 235–241
Clark FA, Parham D, Carlson ME, Frank G, Jackson J, Pierce D,
heitsberufen hat häufig – neben der Spezialisierung Zemke R (1991) Occupational science: academic innova-
im eigenen Fach – Interdisziplinarität zum Thema. tion in the service of occupational therapy's future. Am J
Interdisziplinarität ergibt sich, wenn nötig, aus der Occup Ther 45 (4): 300–310
Primärversorgung und der nachfolgenden Versor- Centers for Disease Control and Prevention (CDC) (2013) Tus-
gung durch Spezialisten. Eine hochspezialisierte kegee Study and Health Benefit Program. www.cdc.gov/
Tuskegee, letzter Zugriff 23.9.2015
Gesundheitsversorgung erfordert ebensolche hoch- Datenschutz Bayern (2007) Merkblatt zum Datenschutz bei
spezialisierte Expertinnen aus verschiedenen Fach- medizinischen Studien mit Patientendaten. www.daten-
bereichen für die klinische Praxis, die dann von schutz-bayern.de/technik/orient/merkblatt_med_stu-
spezialisierten Forschern unterstützt und ergänzt dien.html, letzter Zugriff 23.9.2015
werden. Neben der Entwicklung und dem Erwerb DePoy E, Gitlin LN (2011) Introduction to research: understan-
ding and applying multiple strategies, 4th ed. Elsevier
von Wissen im eigenen Fach muss auch Wissen Mosby, St. Louis
über die eigenen Grenzen hinaus erworben werden. Dörner K, Ebbinghaus A, Linne K (Hrsg) (1999) Der Nürnberger
Interdisziplinäres Wissen an den Schnittstellen Ärzteprozeß 1946/47. Wortprotokolle, Anklage- und
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47 3
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49 II
Forschungsmethoden
Kapitel 4 Die richtige Methode wählen – 51
Valentin Ritschl, Barbara Prinz-Buchberger, Tanja Stamm
Literatur – 59
Die richtige Methode zu wählen, damit eine Fra- spezifische Fragestellung über das Vorgehen
gestellung bestmöglich beantworten werden kann, entscheidet.
stellt häufig eine große Herausforderung dar. Ein
Entscheidungsbaum kann diese Entscheidungsfin-
dung unterstützen. Ähnliche Prozesse wurden von 4.1.2 Reviews
folgenden Autoren beschrieben: Bortz u. Döring
2006, Creswell 2012, DePoy u. Gitlin 2005, Kielhof- Sie werden gewählt um den Stand der Literatur
ner 2006, Lamnek u. Krell 2005, LoBiondo-Wood u. darzustellen. Es kann sowohl qualitative und/oder
4 Haber 2001. quantitative Literatur für ein Review herangezogen
werden (7 Kap. 8).
Eine empirische Arbeit erscheint Ein Review erscheint als Eine Anpassung der Fragestellung
notwendig um das Thema aufzuarbeiten nächster Schritt sinnvoll, um einen ist nötig, da meine Frage bereits
bzw. die Fragestellung zu beantworten. systematischen Überblick zu geben. mit der Literatur beantwortet wurde.
Andere empirische Designs Die Fragestellung handelt von einer Hypothesen- Qualitative Studien
testung oder dem Quantifizieren von Variablen.
Dann muss ein quantitativer Ansatz gewählt werden.
Grounded Theory zum Identifizieren und Beschreiben Biographieforschung zur Sinnkonstruktion aus der
von Prozessen innerhalb einer gegebenen Situation. Rekonstruktion von Lebensverläufen.
Stichprobenverfahren und
Stichprobengröße
Valentin Ritschl, Tanja Stamm
5.3 Stichprobengröße – 63
5.3.1 Qualitative Studien – 63
5.3.2 Quantitative Studien – 64
Literatur – 64
Die gut überlegte Auswahl von Teilnehmern und 2005, Krippendorff 2012, LoBiondo-Wood u. Haber
Teilnehmerinnen, die in eine Studie eingeschlossen 2001). Es sei angemerkt, dass in der Literatur eine
werden sollen, stellt einen sehr wichtigen Punkt im sehr große Zahl an Stichprobenverfahren beschrie-
Forschungsprozess dar (Judd 1972). Will der For- ben wird und diese zusätzlich sehr unterschiedlich
scher beispielsweise eine generalisierbare Aussage charakterisiert und eingeteilt werden. Nachfolgende
über eine Population anstellen, dann muss die Stich- Aufzählung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
probe repräsentativ für die Population sein. Ist dies
nicht der Fall, ist eine generalisierbare Aussage nur
bedingt oder nicht möglich. 5.1 Probabilistische
4 Zuerst muss sich die Forscherin Gedanken Stichprobenverfahren
5 über die Zusammensetzung der Stichprobe,
z Einfache Zufallsstichprobe
also über die ideale Auswahl an Probanden,
machen. Der Forscher oder die Forscherin definiert eine
4 Im zweiten Schritt muss sie die Größe der Population (z. B. alle Physiotherapeutinnen, die im
Stichprobe definieren. Physiotherapieverband gemeldet sind) und stellt
4 Im letzten Schritt wird ein Plan für die konkrete einen Stichprobenrahmen auf. Diese Personen
Rekrutierung erstellt und durchgeführt. werden fortlaufend gelistet. Im zweiten Schritt wird
am Computer eine Tabelle mit Zufallszahlen gene-
Diese Schritte werden beispielhaft im folgenden riert. Diese Zahlen entsprechen der Zahl der Person
Abschnitt beschrieben. aus der Liste der Physiotherapeutinnen. Werden
Es können im Groben 2 unterschiedliche Formen beispielsweise die Zahlen 50, 28, 7 ausgewählt, wird
des Stichprobenauswahlverfahrens unterschieden in der Liste mit den Therapeutinnen die 50., 28., 7.
werden: probabilistische und nicht probabilistische Person in die Stichprobe eingeschlossen. Dies wird so
Auswahlverfahren. Probabilistisch bedeutet in diesem lange wiederholt, bis die Stichprobe die gewünschte
Zusammenhang, dass jede Person in der Population Größe erreicht hat.
mit der gleichen Wahrscheinlichkeit für die Stich-
probe herangezogen werden kann. Im Gegensatz z Geschichtete Zufallsstichprobe
dazu ist bei nicht probabilistischen Stichproben die Bei diesem Verfahren, auch Stratifizierung nach
Wahrscheinlichkeit für die Auswahl nicht bei allen bestimmten Kriterien genannt, wird die Population
Personen einer Population gleich hoch. Der Vorteil in homogene Untergruppen aufgeteilt. Dann wird
des probabilistischen Stichprobenverfahrens ist die analog zum Vorgehen bei einfachen Zufallsstichpro-
gute Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Popula- ben aus jeder Untergruppe die entsprechende Anzahl
tion, jedoch sind diese Verfahren meist aufwendiger an Probanden gezogen. Beispielsweise werden die
und kostenintensiver. Physiotherapeuten nach ihrem Geschlecht aufge-
Sowohl probabilistische als auch nicht probabi- teilt, und erst dann wird das Stichprobenverfahren
listische Erhebungen der Stichproben können für durchgeführt. Dadurch kann beispielsweise gewähr-
qualitative und quantitative Verfahren angewandt leistet werden, dass in Bezug auf die Population in der
werden, abhängig vom gewünschten Ergebnis: Pro- Stichprobe die gleiche Verteilung von männlichen
babilistische Stichprobenverfahren werden ange- und weiblichen Physiotherapeuten besteht.
wandt, wenn Generalisierung erreicht werden soll.
Nicht probabilistische Stichprobenverfahren können z Mehrstufige Zufallsstichprobe
eine Generalisierung nicht erreichen, dafür ein Ver- Die mehrstufige Zufallsstichprobe setzt sich aus meh-
ständnis von komplexen Phänomenen bei einzelnen reren, aufeinander aufbauenden einfachen Zufalls-
Individuen ermöglichen. stichproben zusammen. Soll beispielsweise eine
Im Folgenden werden beispielhaft unterschied- Stichprobe aus Pädagogen gezogen werden, kann
liche Formen des probabilistischen und nicht pro- folgendermaßen vorgegangen werden: In einem
babilistischen Stichprobenverfahrens beschrieben ersten Schritt können alle Schulen in Deutschland
(Bortz u. Döring 2006, Creswell 2012, DePoy u. Gitlin auf einer Liste erfasst werden, und es werden analog
5.3 · Stichprobengröße
63 5
zur einfachen Zufallsstichprobe Schulen gezogen. häufig durchgeführt, da sie mit wenig Aufwand
Die Direktoren dieser gezogenen Schulen werden verbunden ist. Allerdings ist das Ergebnis hier nur
gebeten, eine Liste mit den vor Ort tätigen Pädagogen bedingt auf die Population übertragbar.
zu erstellen. In einem zweiten Schritt wird anhand
dieser Liste analog zur einfachen Zufallsstichprobe z Quotenstichprobe
ein Pädagoge für die Stichprobe gezogen. Hierbei wird versucht, in der Stichprobe einen reprä-
sentativen Charakter der Population zu erreichen,
z Systematische Stichprobe indem Merkmalsverteilungen innerhalb einer Popu-
Bei einer systematischen Stichprobe wird eine Auswahl lation bewusst berücksichtig werden. Will der Forscher
an Probandinnen in ganz bestimmten Intervallen aus beispielsweise eine Studie durchführen, in der der Bil-
der Auflistung einer Population getroffen. Beispiels- dungsstand der Probanden von Bedeutung ist, muss
weise könnte anhand der Mitgliedsnummern eines der Bildungsstand der Population mit dem in der Stich-
Verbandes jede 15. Person für eine Stichprobe heran- probe übereinstimmen.
gezogen werden.
z Gezielte Stichprobe
Kenntnisse über die Population werden genutzt,
Vor- und Nachteile um Teilnehmer zu rekrutieren, die „typisch“ für die
Allgemein sind probabilistische Stichproben- Population sind. Dies wird vor allem dann verwen-
verfahren gut, um generalisierbare Aussagen det, wenn eine eher ungewöhnliche Gruppe unter-
zu treffen, andererseits zeigen sich in der sucht werden soll, wie zum Beispiel erstgebärende
praktischen Durchführung Schwierigkeiten: Mütter mit einer bestimmten Erkrankung.
5 Probabilistische Stichproben können nur
gezogen werden, wenn alle Individuen z Schneeballverfahren
einer Grundgesamtheit bekannt sind. Das Stichprobenverfahren nach dem Schneeball-
5 Probanden und Probandinnen können prinzip bedeutet, dass Personen, die dem Forscher
jederzeit die Teilnahme an einer Studie oder der Forscherin bekannt sind, direkt für die Teil-
zurückweisen. Das heißt, selbst wenn nahme an der Studie angefragt werden. Zusätzlich
eine Stichprobe probabilistisch gezogen werden sie gebeten, die Einladung zur Studie an alle
wurde, besteht immer noch das Recht, eine ihnen bekannten Personen weiterzuleiten. Auch
Teilnahme abzulehnen. Dadurch kann eine diese werden wieder gebeten, die Einladung weiter-
Verzerrung des Ergebnisses entstehen. zuversenden. Diese Strategie eignet sich vor allem
für Populationen, die für den Forscher nicht bekannt
Trotz der beschriebenen Schwierigkeiten oder greifbar sind. Ein Beispiel hierfür ist die Rekru-
muss eine Stichprobe probabilistisch tierung von Expertinnen, die jeweils weitere Exper-
gezogen werden, wenn eine Aussage für eine tinnen nennen können.
Population getroffen werden soll. Zusätzlich zu den Auswahl- und Rekrutierungs-
verfahren muss die Anzahl der Teilnehmer und Teil-
nehmerinnen an einer Studie bestimmt werden.
„grounded theory“, in der meist eine allgemein benötigt, um signifikante Unterschiede aufzeigen zu
gültige Aussage getroffen werden soll. Andere können. Für klinische Studien gibt es derzeit zahlrei-
Methoden wiederum fokussieren auf einzelne Erleb- che Online-Tools zur Berechnung der Fallzahl, wobei
nisse und Erfahrungen, wie beispielsweise eine IPA meist zwischen stetigen Zielgrößen (bei den Funk-
(„interpretative phenomenological analysis“), welche tionswerten treten keine Sprünge auf, die Funktion
eine ideale Größe von 3 Probandinnen empfiehlt weist keine Sprungstellen auf und kann „mit einem
(7 Abschn. 6.3). Strich“ gezeichnet werden, zum Beispiel Größe und
Für die praktische Anwendung empfiehlt es sich, Gewicht) und Häufigkeiten (Anzahl der Teilnehmer,
sich entweder an den Empfehlungen der gewählten die ein bestimmtes Ergebnis erreichen, oder Anteil
qualitativen Methoden oder an bereits durchgeführ- von Neuerkrankungen) unterschieden wird. Ein
5 ten Studien zu dieser Thematik zu orientieren. Eine Beispiel für ein Online-Tool ist der folgende Online-
dritte Möglichkeit stellt die theoretische Sättigung Rechner: www.clinical-trials.de/de/Werkzeuge/Online_
dar. Die Rekrutierung der Probandinnen und somit Hilfsmittel/online_hilfsmittel.html
die Erhebung der Daten wird so lange weitergeführt, Die für eine Regressionsanalyse (7 Abschn. 7.4.2)
bis keine Erweiterung der Ergebnisse durch neue erforderliche Fallzahl hängt unter anderem von der
Datenerhebungen erreicht wird. Es kann davon aus- Anzahl der Einflussfaktoren ab. Ist die Stichprobe zu
gegangen werden, dass eine Repräsentativität erfüllt klein, lassen sich nur sehr starke Zusammenhänge
ist und somit die Daten „gesättigt“ sind. Das Argu- nachweisen. Für multivariate Regressionsmodelle
ment der Datensättigung wird von einigen qualitati- empfehlen Tabachnick und Fidell (2014) N>50+8×m
ven Methodenexperten vertreten. Es kann allerdings Teilnehmer zu rekrutieren, wobei m die Anzahl der
davon ausgegangen werden, dass bei jedem weiteren unabhängigen Variablen und N die Anzahl der Teil-
Interview oder jeder weiteren Fokusgruppe irgend- nehmer und Teilnehmerinnen an einer Studie sind.
etwas Neues entdeckt werden kann, da jeder Mensch Wenn beispielsweise 10 Variablen in das Regres-
individuell und unterschiedlich ist. Allerdings wird sionsmodell eingeschlossen werden, ergibt das
der Zugewinn an neuer Information mit der Anzahl 10×8+50=130. Andere Experten schlagen mindes-
an weiteren Interviews immer geringer. Wenn dieser tens das 20-Fache der Anzahl der Variablen vor. In
Zugewinn unter eine bestimmte Schwelle fällt, wird diesem Beispiel ergibt das 20×10=200. Für Regres-
bei bestimmten Methoden eben von einer theore- sionsmodelle gilt generell, dass größere Fallzahlen
tischen Sättigung gesprochen, während man dies besser sind.
bei anderen Methoden aus den genannten Gründen
ablehnt (jeder Menschen und damit jedes Interview Zusammenfassung
ist individuell). Die Auswahl der Teilnehmer und Teilnehmerinnen
für eine Studie stellt einen entscheidenden Faktor
in der Planung einer Studie dar. Dabei spielt sowohl
5.3.2 Quantitative Studien die konkrete Auswahl als auch die Anzahl der Teil-
nehmer eine Rolle. Verschiedene Methoden erfor-
In den meisten quantitativen Studien wird die Fall- dern unterschiedliche Auswahlverfahren.
zahl berechnet. Die Fallzahl ist die Anzahl der Teil-
nehmer und Teilnehmerinnen an einer Studie. Die
Literatur
Fallzahlberechnung für eine quantitative Studie
richtet sich nach dem zu erwartenden Unterschied Bortz J, Döring N (2006) Forschungsmethoden und Evaluation,
zwischen den Gruppen bzw. der Effektgröße (wenn 4. Aufl. Springer, Heidelberg
es sich um eine Studie mit einem möglichen Unter- Creswell JW (2012) Qualitative inquiry and research design:
schied zwischen Gruppen handelt), dem in der Stu- choosing among five approaches, 3rd ed. Sage, Los
dienplanung vorgesehenen statistischen Test, der Angeles
Daudt HML, van Mossel C, Scott SJ (2013) Enhancing the
Power (Treffsicherheit des Ergebnisses) und dem scoping study methodology: a large, inter-professional
statistischen Signifikanzniveau. Grundsätzlich team's experience with Arksey and O'Malley's frame-
wird bei kleinen Effektgrößen eine größere Fallzahl work. BMC Medical Research Methodology 13 (48): 1–9
Literatur
65 5
DePoy E, Gitlin LN (2005) Introduction to research: understan-
ding and applying multiple strategies, 3rd ed. Elsevier
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Dixon L, Duncan D, Johnson P, Kirkby L, O'Connell H, Taylor H,
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with Parkinson's disease. The Cochrane Database of Sys-
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Krippendorff K (2012) Content analysis: an introduction to its
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reporting systematic reviews and meta-analyses of stu-
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and elaboration. Annals of Internal Medicine 6 (4): W.
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Smith JA (2004) Reflecting on the development of interpreta-
tive phenomenological analysis and its contribution to
qualitative research in psychology. Qualitative Research
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TabachnickBG, FidellLS (2014) Using multivariate statistics,
6thed. Pearson, Harlow
67 6
Qualitative Forschung
Susanne Perkhofer, Verena Gebhart, Gerhard Tucek, Frederick J. Wertz,
Roman Weigl, Valentin Ritschl, Helmut Ritschl, Barbara Höhsl,
Barbara Prinz-Buchberger, Tanja Stamm, Julie S. Mewes, Martin Maasz,
Christine Chapparo, Verena C. Tatzer, Petra Plunger, Elisabeth Reitinger,
Katharina Heimerl
Literatur – 130
Wann soll die Methode angewendet selbst verflochten in eine komplexe soziale Welt, die
werden? Erfahrungsbedeutungen begründet und darstellt.
Die Phänomenologie ist eine qualitative Forschungs- Phänomenologen haben reiche und grundlegende
methode, die sich mit gelebter Erfahrung beschäftigt. Kenntnisse über das menschliche Leben beigetragen,
Sie ergänzt deshalb die Naturwissenschaften und das einschließlich Wahrnehmung, Verhalten, Emotio-
biomedizinische Modell, die sich ausschließlich auf nen, Vorstellungskraft, Gedächtnis, Sprache, Persön-
die materielle Natur (engl. „material nature“) kon- lichkeit, soziale Beziehungen, menschliche Entwick-
zentrieren. Die Bedeutung der Phänomenologie lung und Psychopathologien (vgl. Spiegelberg 1972,
wächst mit dem Anstieg des personenzentrierten Bogard u. Wertz 2006).
Ansatzes in der Gesundheit stetig, dies spiegelt sich Die Haltung des phänomenologischen Forschers
seit 2008 in der jährlichen Konferenz über personen- (Husserl 1913, 1954), unabhängig davon, ob eine phi-
zentrierte Medizin in Genf wider, an der bisher 33 losophische, psychologische, soziale oder spirituelle
Weltorganisationen teilgenommen haben (Mezzich Thematik adressiert wird, ist offen, frisch und frei
6 et al. 2010). von Vorurteilen. Die Früchte vorhergehender Theo-
Die Phänomenologie als ganzheitlicher und rien und Forschungsergebnisse werden, mit allem
kontextuell sensitiver Zugang zu den menschlichen Respekt, in der phänomenologische Forschung bei-
Zielen, Bedeutungen und Werten leistet einen ent- seitegelegt. Die phänomenologische Forschung
scheidenden Beitrag zu unserem Verständnis vom orientiert sich nicht an Hypothesen, sondern wendet
In-der-Welt-sein (engl. „being in the world“) einer sich konkreten Beispielen des Forschungsgegen-
Person, mit allen physischen, sozialen, wirtschaft- stands zu und geht dabei „von der Wurzeln“ („from
lichen und historisch wechselnden Herausforde- the grassroots“) aus (Spiegelberg 1965, S. XLV).
rungen und Komplexitäten, von denen Gesundheit Neben dem bewussten Ausblenden des Vor-
abhängt. wissens bricht die phänomenologische Forsche-
Aufbauend und antizipierend auf die Philoso- rin auch mit dem Glauben an eine objektive Exis-
phen Brentano und Dilthey im 19. Jahrhundert, die tenz von Gegenständen und Situationserfahrungen
darauf bestanden, dass der Mensch nicht auf seine („Epoche“) und wendet sich ihren Bedeutungen und
Körperlichkeit reduzierbar ist, begründete Edmund den subjektiven Prozessen, durch die diese Bedeu-
Husserl die Phänomenologie als eine Disziplin, deren tungen entstehen, zu. Diese phänomenologische
grundsätzliche Motivation angesichts unserer Bemü- Reduktion der Welt als eine Erfahrung zweifelt nicht
hungen, die Bedeutung unsere Existenz zu verste- an der Existenz dessen, was erlebt wird, sondern wird
hen, und angesichts unserer Versuche, uns, unserer streng aus methodischen Zwecken vorgenommen,
Welt und unser Schicksal frei und verantwortungs- sodass die teleologischen, zeitlichen, verkörper-
voll zu gestalten, ethisch und zielgerichtet ist (Husserl ten, sozialen, praktischen und Werteeigenschaften
1954). Husserls Philosophie hat vielen tragfähigen von Situationen beachtet und beschrieben werden
und weitreichenden philosophischen Entwicklun- können.
gen des 20. Jahrhunderts zum Wachstum verhol- Obwohl die Phänomenologie mit konkreten
fen, darunter befinden sich die Arbeiten von Martin Erfahrungsbeispielen beginnt und durch konkrete
Heidegger, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Erfahrungsbeispiele im Rahmen der Forschung
Maurice Merleau-Ponty, Edith Stein, Max Scheler, arbeitet, ist es das Ziel der phänomenologischen
Emmanuel Levinas, Gabriel Marcel, Alfred Schütz, Untersuchung, Gemeinsamkeiten, unveränderli-
Gaston Bachelard, Paul Ricoeur und Jacques Derrida. che („invariant“) Bestandteile und ganzheitliche
Genauso hat sie die sozialkritischen Gedanken der Organisationen oder Strukturen zu finden, die in
Philosophen, wie beispielsweise Jürgen Habermas allen Variationen innerhalb der Beispiele ersicht-
und Michel Foucault, beeinflusst. lich werden. Phänomenologische Erkenntnisse
Die Phänomenologie versteht sich als umfassend werfen ein Licht auf die Variationen als Variatio-
humanistisch und betrachtet die Person als Zentrum nen, liefern Beispiele für das Wesen der betrachte-
der Erfahrung wie auch der Wirkung, wenngleich ten Einheit, wie sie ursprünglich empirisch durch die
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
71 6
Forscher erfasst wurden oder wie sie der Forscherin gemacht zu werden (Wertz 1983a), gestaltet sich
konkret zugänglich sind, einschließlich frei imagi- diese Methode als sehr flexibel und ermöglicht viele
nierter Variationen. Diese Analyse der Essenz, der Variationen, abhängig vom Thema, den Zielen der
qualitativen Invarianz, wird „eidetische Reduktion“ Forschung und den jeweiligen Forscherstilen. Die
genannt, sie vermittelt ein Verständnis von dem, was einzelnen Schritte bauen logisch aufeinander auf.
die Erfahrung ist (seine essenzielle Struktur), und
von allen vorstellbaren und denkbaren beispielhaf-
ten Variationen. Welche Schritte müssen eingehalten
Die grundlegendste, allgemeinste Erfahrungs- werden?
konzeption, die durch die phänomenologische Der erste Schritt der empirischen phänomenologi-
Analyse erzielbar ist, ist die der „Intentionalität“, schen Forschung nach Giorgi umfasst konkrete Bei-
die darauf Bezug nimmt, dass alles Bewusstsein spiele des Forschungsgegenstands. Diese Beschrei-
auf ein Objekt über es hinaus gerichtet ist. Erfah- bungen können auf verschiedene Weise gesammelt
rung transzendiert über sich hinaus; die erlebende werden, zum Beispiel in schriftlicher oder mündli-
Person ist ein „In-der-Welt-seiendes-Wesen“, kör- cher Form, mittels Interviews oder Gruppenunter-
perlich und zeitlich mit anderen verbunden in einer haltungen. Es kann ein Beispiel für das Forschungs-
holistischen existenziellen Struktur des Selbst, phänomen aus der Ichperspektive der Person
der Umgebung, der Anderen, eingebettet in die beschrieben werden, d. h. aus der eigenen Erfah-
Geschichte („self-surroundings-others-history“). rung, oder aus dem Leben einer anderen Person.
Bei ihren Untersuchungen der menschlichen Erfah- Sobald der phänomenologische Forscher im Besitz
rung beschreiben Phänomenologen, basierend auf von Beschreibungen konkreter Beispiele ist, führt er
den jeweiligen Perspektiven der eigenen Disziplin 4 analytische Schritte aus:
und den aktuellen Interessen ihrer Forschung, die 1. Zuerst liest die Forscherin die Beschreibung
Strukturen der Lebenswelt („lifeworld“) und der vollständig und offen, mit der Absicht,
Existenz. das Erfahrene zu verstehen, noch gänzlich
Die Grundhaltung und die Methoden des phä- ohne spezifischen Bezug auf die
nomenologischen Forschers umfassen die Ausset- Forschung.
zung mit den Vorkenntnissen, die strikte Fokussie- 2. Die Forscherin unterscheidet und grenzt
rung auf situative Beispiele, die erfahren wurden, und Bedeutungseinheiten („meaning units“) in der
die Aufmerksamkeit auf das Wesen des Forschungs- Beschreibung voneinander ab. Dies ist eine
gegenstandes mit empirischen und bildhaft prä- flexible und individuelle Operation, durch die
senten („imaginal“) Variationen. Das phänomeno- sie Bestandteile der Beschreibung identifiziert.
logische Forschen wird umfassend, aber informell Dies dient als Vorbereitung für die sorgfältigen
durchgeführt, dabei wird versucht, eine Starre zu ver- Überlegungen über das Einzelne im Rahmen
meiden, die durch die Kenntnis unserer Erfahrung des Ganzen.
bedingt ist. 3. Die Forscherin reflektiert über jede
Husserl identifizierte und codierte diese Verfah- Bedeutungseinheit und beschreibt
ren, verwurzelte sie erkenntnistheoretisch und arti- unter besonderer Berücksichtigung des
kulierte ihre Methodologie, um sie für die Human- Forschungsinteresses seine Relevanz für das
wissenschaften verwendbar zu machen. Die klarste Forschungsphänomen, in Abhängigkeit vom
und zugänglichste Anpassung dieser Verfahren für disziplinären Anliegen der Forscherin, ob
die empirisch fundierte Humanwissenschaftsfor- es psychologisch, soziologisch, linguistisch
schung wurde vom Psychologen Amedeo Giorgi und/oder interdisziplinär ist.
(1970, 1985, 2009) entwickelt. Basierend auf der 4. Danach synthetisiert die Forscherin diese
Grundlage ihrer Anwendung in Dutzenden von Reflexionen, um die wesentlichen Bestandteile
Dissertationen und in einer hochreflexiven Studie und die Struktur des Forschungsphänomens
über die Erfahrungen, durch eine Straftat zum Opfer umfassend zu beschreiben.
72 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
„Individuelle Strukturbeschreibungen“ für jedes Bei- Bedeutung dessen, was in jeder Einheit für den
spiel eines Phänomens werden durchgeführt. Noch Erlebnisprozess als Ganzes beschrieben wird,
wichtiger ist es aber, dass der Forscher die allgemeine zu offenbaren.
Struktur, die in vielen Beispielen durch viele empi- 4 Strukturelle Beschreibung: Die Forscherin
rische und bildhaft präsente Variationen des Phäno- synthetisiert Reflexionen über alle Bedeutungs-
mens vorhanden sind, identifiziert. einheiten und stellt ganzheitliche Beschrei-
bungen, einschließlich der wesentlichen
> Es ist wichtig, dass der Forscher die Bestandteile der Erfahrung(en), her.
allgemeine Struktur des Forschungs-
phänomens auf Basis der unterschiedlichen Diese Bestandteile der deskriptiven Analyse wurde
identifizierten Variationen beschreibt. auch implizit in einer breiten Vielfalt von psycho-
logischen Studien über die 100-jährige Geschichte
Beispielsweise fand Giorgi nur eine sehr allgemein der phänomenologischen Forschung, einschließ-
6 gehaltene Struktur in seinen Beispielen für Eifersucht lich der bahnbrechenden Studien von Sartre,
(2009), aber er konnte zahlreiche typische Struktu- Bachelard, Straus, Minkowski, Boss, van der
ren in seinen Beispielen für Lernen (1985) beschrei- Berg und Laing, über eine Vielzahl von Themen,
ben. Allgemeine Strukturen können sich ebenfalls inklusive der grundlegenden Prozesse der Wahr-
als komplex herausstellen und beinhalten eine zeit- nehmung, Emotion, Leib („embodiment“) und
liche oder Entwicklungsreihe von substrukturellen vielen Formen der Psychopathologie, als wirksam
Phasen, wie der Autor dieses Kapitels (Wertz 1985) erkannt (Wertz 1983b). Indikatoren für die frucht-
in den Untersuchungen zu Viktimisierungserfahrun- bare Verwendung dieser Bestandteile der psycho-
gen1 von Personen fand, die einen kriminellen Über- logischen Reflexion konnten während der gesam-
griff erlebt hatten. ten Geschichte psychoanalytischer Forschung
Die Schritte der phänomenologisch-psychologi- gefunden werden, beispielhaft sind hier die Analy-
schen Analyse beinhalten nach Giorgi (2009): sen der Pioniere wie Freud, Jung, Erikson, Sullivan,
4 Sicherung der Beschreibungen der Beispiele: Winnicott, Guntrip, Kohut und Stolorow genannt
Die Forscherin sichert Beschreibungen (Wertz 1987).
verschiedener Beispiele des untersuchten Phänomenologische Forschung hat ein Nahe-
Phänomens. verhältnis und weist Überschneidungen mit anderen
4 Offenes Lesen: Der Forscher liest sich jede qualitativen Methoden auf. Dabei handelt es sich um
Beschreibung mit einer empathischen, historische Methoden, wie sie von William James,
verständnisvollen Haltung durch. James Flanagan, Abraham Maslow und Lawrence
4 Abgrenzung von Bedeutungseinheiten: Die Kohlberg praktiziert wurden, und um qualita-
Forscherin notiert sich Bedeutungsver- tive Methoden, die erst in jüngere Zeit entwickelt
schiebungen und differenziert die Teile jeder wurden. Trotz des Naheverhältnisses weißt die phä-
Beschreibung, die der Reihe nach analysiert nomenologische Forschung einzigartige Verfahren
werden können. und Ziele auf (Wertz et al. 2011). Die Phänomeno-
4 Fachspezifische (z. B. psychologische) logie teilt sich mit anderen Ansätzen die Sammlung
Überlegungen: Der Forscher analysiert jede konkreter Erfahrungsbeispiele, die Verwendung von
Bedeutungseinheit mittels des Forschungs- Beschreibungen und die Aufmerksamkeit auf Bedeu-
themas und der Fragestellung(en), um die tungen und Erfahrungsprozesse und die Reflexion
darüber
Im Gegensatz zu anderen Methoden zeigt sich
1 Bemerkung des Übersetzers, Roman Weigl: Der Begriff
der Viktimisierung stammt aus der Kriminologie: jeman-
die Einzigartigkeit phänomenologischer Forschung
den zum Opfer machen, d. h. eine Person durch eine in ihrer „reinen“ Aufmerksamkeit auf die Bedeu-
Straftat zu schädigen. tung (im Gegensatz zu den unabhängigen, objektiven
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
73 6
Bedingungen), der strikten Orientierung (engl. Beispiel für die phänomenologische
„adherence“, Anhaftung) an der Beschreibung (im psychologische Analyse
Gegensatz zur Theorie), ihrer umfassenden Ausrich- Das folgende Beispiel wurde aus dem oben genannten
tung auf ganzheitliche Strukturen der Erfahrung (im Methodenvergleichsprojekt über die Psychologie von
Gegensatz zu partiellen Themen) und ihrer Achtsam- Trauma und Resilienz entnommen (Wertz et al. 2011).
keit auf die Essenz oder die Invarianz (im Gegensatz Es werden 2 Bedeutungseinheiten („meaning units“)
zu Berichten über faktische Trends um ihrer selbst aus den Rohdaten, 2 beispielhafte Reflexionen und
willen). eine thematische Reflexion, die auf die psychologische
Wertz et al. (2011) verglichen 5 moderne Struktur des Individuums Bezug nimmt, präsentiert.
Methoden der qualitativen Analyse: die Phänome- Des Weiteren werden einige allgemeine Bestandteile
nologie, die „grounded theory“, die Diskursanalyse, des Phänomens anhand der vergleichenden Analysen
die narrative Forschung und die „intuitive inquiry“ mittels imaginativer Variation vorgestellt.
im Rahmen des Themas Resilienz und Trauma, Die Teilnehmerin, die im Rahmen des For-
jeweils unter der Verwendung der gleichen Inter- schungsprojekts Teresa genannt wurde, nahm an
viewdaten. Diese Studie ist für die Gesundheits- einem einstündigen Interview teil. Dieses Interview
wissenschaften und die Gesundheitsprofessionis- wurde vom Autor in ein wortwörtliches, zeitliches
ten nicht nur durch ihre Abgrenzung der Praktiken Narrativ umgewandelt und in 55 Bedeutungseinhei-
der verschiedenen qualitativen analytischen Metho- ten unterteilt, von denen jedes zwischen 1–15 Sätze
den und die detaillierten Vergleichsmethoden von umfasste. Im Folgenden werden 2 Bedeutungsein-
Interesse, sondern auch aufgrund des Inhalts der heiten dargelegt, in denen Teresa, eine aufstrebende
Interviews, die von allen 5 Forschern analysiert Opernsängerin, ihre Situation nach dem Erhalt der
wurden. Eine Teilnehmerin, eine junge Frau an Diagnose Schilddrüsenkrebs beschreibt.
der Schwelle zu einer vielversprechenden chirur-
gischen Karriere, stellte ein Interview zur Verfü- z z Transkript „Meaning unit“ 16
gung, in dem sie über ihren lebensbedrohenden und Ich erstarrte. Ich konnte nicht atmen, konnte mich
wiederkehrenden Schilddrüsenkrebs, ihre Strah- nicht bewegen, konnte nicht einmal blinzeln. Ich
lentherapie und den erfolgreichen Kampf, zu über- fühlte mich, als wäre ich gerade erschossen worden.
leben und sich zu transformieren, berichtete. Eine Mein Bauch hatte sich versperrt, als wäre ich gerade
andere Teilnehmerin beschrieb eine schwere Ver- in ihn geschlagen worden. Mein Mund wurde trocken
letzung, einen gebrochenen Arm, die sie in einem und meine Finger, die gerade mit einem Stift gespielt
akademischen Gymnastikwettbewerb erlitten hatte, hatten, waren plötzlich kalt und taub. Anscheinend
und berichtete über den Prozess ihrer Wiederher- meinen Schock wahrnehmend, lächelte der Chirurg
stellung, der in einer höheren Ebene des Wettbe- ein wenig. „Wir werden Ihr Leben retten, dennoch.
werbserfolgs gipfelte. Das ist, was zählt. Und wissen Sie was? Der andere
Die Verfahren dieser 5 Methoden der quali- Chirurg, der mit mir arbeitet, ist ein „voice guy“. Wir
tativen Analyse überlappten und ergänzten sich werden alles daran zu setzen, damit wir so wenig wie
ebenso wie die sehr reichen und fruchtbaren Ana- möglich intrusiv arbeiten.“ Ich begann zu atmen, ein
lyseergebnisse. Die phänomenologische Analyse wenig, sehr wenig, und ich fühlte, wie ich zitterte.
wurde als die Analyseform ausgewiesen, die aus- Ich habe versucht, etwas zu sagen, etwas Sinnvolles,
drücklich für Verfahren steht, die in einigen Fällen etwas Expressives. Alles, was ich heraus brachte, war:
explizit, in anderen implizit mit den 4 anderen Ver- „Mann.“ Ich war eigentlich ziemlich gut.
fahren der Analyse kompatibel waren. Sie stellte
sich als der umfassendste, ganzheitlichste und z z Transkript „Meaning unit“ 17
beschreibenste Ansatz heraus, um Erfahrungen, Dann ließ alles in mir los. Ich schluchzte, aber es war
unabhängig von der zugrunde liegenden Theorie, nichts zu hören; nur eine Flut von Tränen und das
zu erfassen. Zischen des Weinens aus meinem offenen Mund,
74 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
das sich durch den Druck dieser verfluchten Masse2 rationalen, praktischen und kompetenten medizini-
durchdrücken musste. Der Chirurg eilte zu meiner schen Praxis einzugehen. Der Arzt erscheint Teresa
Seite, mit einem Taschentuch bewaffnet und einer nicht nur als technischer Experte, sondern als derje-
festen, beruhigenden Hand auf der Schulter. Ich nige, der sie als eine Person (eine Sängerin) versteht;
hörte ihn leise sprechen, neben mir, wie ich in mein als verbündeter Helfer, der eine besondere Fähig-
stilles Klagen versunken war. „Sie werden gewinnen. keiten bei der Pflege der menschlichen Stimme hat.
Sie sind jung, und Sie werden dieses Ding schlagen. Dadurch werden Teresas zentrale und höchste Werte
Und Sie werden Ihre Stimme wiederbekommen, als Person bekräftigt, ihr Potenzial als Opernsänge-
und Sie werden an der Met singen. Und ich möchte rin. Dies ist ein wunderbarer, bewegender, kraftvoller
Tickets, also vergessen Sie mich nicht.“ und dialektischer Austausch.
Es folgen die Überlegungen zu diesen Bedeu- Als Reaktion auf den Arzt beginnt Teresa wieder
tungseinheiten, gefolgt von der Reflexion über zum Leben zu erwachen, zu atmen, zuerst noch
soziale Unterstützung, die für diese Kapitel etwas zaghaft und zitternd vor Angst. Die Situation ist
6 gekürzt und überarbeitet wurden (Wertz et al. 2011, so primär, dass Teresa nicht in der Lage ist, deren
pp. 137–141). Bedeutung durch Sprache zum Ausdruck zu bringen,
obwohl sie es in einem mikroheroischen Anstren-
z z Reflexion über die „meaning unit“ 16 gungsakt versucht. Sie ist nach einem Abstieg in den
Als sie aufhört zu atmen, kommt Teresas Leben Tod ein Bündnis mit einer Person eingegangen, die
zu einem Stillstand, das Leben stellt sich ein, eine wenige Augenblicke zuvor noch ein Fremder war, die
Art von Tod. Sie ist gelähmt und sie wird kalt und sie aber zu einer intimen und effektiven, lebensret-
taub. Ihr starker Sinn für Bewegung und Transzen- tenden Beziehung eingeladen hat. Teresa „war gut“3,
denz – die hohe Geschwindigkeit der Engagements die Wahrheit und Tatsache ihrer schweren Erkran-
ihrer Gesangskarriere und ihre neueren praktischen kungen sehend (wie in der Arztdiagnose mitgeteilt),
Bemühungen, um ihre medizinischen Problem zu absorbierte die lähmende emotionale Wirkung der
beheben, kommen alle zur Ruhe. Sie fühlt sich ange- Diagnose, öffnete sich für die volle und unerschütter-
griffen und die grundlegenden Qualitäten ihres liche Realisierung der Bedeutung und für die Mög-
Lebens, ihre Feuchtigkeit (im Sinne der Mundtro- lichkeiten der Situation.
ckenheit), ihre Bewegung, ihr Empfindungsver-
mögen, kommen zum Stillstand. In dieser Tod-im- z z Reflexion über die „meaning unit“ 17
Leben-Situation erfährt Teresa die Reaktion ihres In Reaktion auf Teresas Ausdruck einer überwälti-
Arztes auf ihre Lebenseinstellung mit einer Gegen- genden Verletzlichkeit geht der Arzt ein Bündnis mit
versicherung, der hoffnungsvollen Erwartung, dass ihr ein, er „joint“4 Teresa mit seinem mitfühlenden
Teresa nicht sterben wird, er ihr Leben retten wird. Engagement für ihr Wohlbefinden. Im Weinen lässt
In einem dramatischen und tiefgründigen State- Teresa ihren Emotionen in einem globalen Rhyth-
ment geht ihr Arzt auf die Hauptsorge der Mög- mus des Lebens freien Lauf, dessen Bedeutung sehr
lichkeit ihres Todes und der sekundären Besorg- schwer zu artikulieren ist. Es beinhaltet eine starke
nis über die mögliche Zerstörung ihrer Stimme Lebenskraft, eine Bejahung des Lebens und doch
ein und kündet sein Engagement für die Erhaltung eine Art von Reduktion des Lebens auf einen rich-
ihres Lebens und den Schutz ihrer Stimme an. Seine tungslosen, pulsierenden Schrei. Teresas Schrei des
Aussage ist ein Appell an Teresa, er lädt sie ein und Schmerzes und der Verzweiflung ist ein einsamer
drängt sie, mit ihm an diesem grundlegenden und Schrei im Angesicht des Todes und doch ein Schrei,
lebensrettenden Projekt teilzunehmen. Er versichert
ihr seine technischen Kompetenzen und die Erfolgs-
aussichten und lädt sie damit ein, aus ihrer Lähmung
3 Anmerkung des Übersetzers: „was good“ (Anführungszei-
zu steigen und wieder ihre frühere Allianz mit der
chen im Original ebenfalls vorhanden)
4 Anmerkung des Übersetzers: Der Begriff „joining“ stammt
aus der systemischen Therapie und bezeichnet ein Bünd-
2 Teresa leidet an Schilddrüsenkrebs. nis zwischen Therapeutin und Klientin.
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
75 6
der auch ihre expressive Bewegung der Rückkehr Eine der Forschungsfragen in diesem Projekt war
zum Leben verkörpert. Dieser Schrei hat auch zwei- die Rolle von sozialer Unterstützung im Prozess, resi-
fellos eine soziale Dimension, die fordernde Qualität, lient ein Trauma zu durchleben. Die Phänomenolo-
als ein Ruf zu ihrem Chirurg. Es ist eine unverfrorene gie beginnt die Kultivierung potenzieller allgemeiner
Antwort auf die Person, die sich bereit erklärt hat, Erkenntnisse bereits in der Reflexion der Bedeutung
alles daran zu setzen, um ihr Leben zu retten. Teresa in den Einzelanalysen, die in den folgenden Über-
ist vertrauensvoll offen ihm gegenüber und teilt die legungen zu sozialer Unterstützung zum Vorschein
grundlegendsten Lebensimpulse und -bedürfnisse kommen.
mit ihm.
Teresas Lebenskraft, sich ausdrückend als Schrei, z z Thematische Reflexion über soziale
drückt diametral gegen den Schilddrüsenkrebs und Unterstützung
befindet sich im Gegensatz zu dieser „verfluchten Wir erfahren hier etwas über die Rolle des anderen
Masse“, die ihr Leben und ihre Stimme bedroht. im Angesicht des Traumas. Das Verhalten des Arztes
Dieser kraftvolle Schrei wird vom Chirurgen zuerst zeigt sich als außerordentlich vorteilhaft und affir-
verstanden und dann moduliert, indem er an ihre mativ in der hochpersönlichen Situation seiner
Seite eilt. Er ist mit der Melodie von Teresas Lebens- Patientin. Eine Situation, in der Teresas Ausdruck
kraft im Einklang, die zunächst so in ihrem Inneren von Emotionen über den bisherigen pragmati-
gefangen ist, dass sie kaum von ihren Lippen ent- schen, rationalen Problemlösungsmodus hinaus-
kommen kann. Wie diese Wellen durch ihren Körper geht, in dem er und Teresa sich bisher gewohn-
fließen, „joint“ ihr Arzt sie, indem er sich dicht neben heitsmäßig befunden haben (und den Teresa von
sie in ihren körperlichen Raum begibt und dabei ihrer Mutter erlernt hatte). Gemeinsam in diesem
durch die affirmative Schulterberührung eine Art Moment öffnet sich das Arzt-Patientin-Paar einem
Wiederbelebung („resuscitation“) bereitstellt. viel umfassenderen und tieferen emotional-per-
Er ist mit einem Taschentuch „bewaffnet“ – sönlichen Austausch und angestrebten Leben. Der
eine Stärke und nötiges Mittel, um ihre Tränen, ihr Autor zeigt sich beeindruckt von den Fähigkeiten
Leiden, ihre Qualen zu entfernen. Er berührt sie mit des Chirurgen, zwischen den verschiedenen Modi
der Hand, mit seinen Fähigkeiten, und sie fühlt seine zu wechseln – von dem authentischen persönlichen
feste, spürbare Beruhigung auf ihre Schulter (er hilft Ausdruck seiner eigenen Emotionen, dem professio-
ihr, die Belastung durch Krebs zu „schultern“), diese nellen Übermitteln der Wahrheit und dem Tragen
Beruhigung ist ein Teil von ihm, sie verkörpert, dass der Verantwortung bis hin zu der technischen Pro-
der verfluchte Tumor zu entfernen ist. Seine Berüh- blemlösungsrationalität, dem persönlichen Dialog,
rung hat eine Festigkeit und Entschlossenheit (engl. der emotionalen Verfügbarkeit, einer Integration der
„firmness“), die verspricht, dass der lebensbedroh- Wärme und praktischen Kompetenz, dem Ausdruck
liche Tumor entfernt wird. Der Arzt spricht da, wo einer lebensbejahenden und kreativen ethische Rede
Teresa still ist, fast spricht er für sie, und doch vor einer bescheidenen Anerkennung der relationalen
ihr als Verbündeter, der nicht nur ihr vitales Leben (Arzt-Patientin-)Interdependenz – all dies passiert
retten wird, sondern sie auch befreien wird, damit synchron mit und in Reaktion auf die dynamisch flie-
ihre höchsten persönlichen Wünsche erfüllt werden ßende Präsenz und die Bedürfnisse von Teresa, seine
können. In diesem Ausdruck des Engagements, ihr Patientin. Hier erlebt sie, in guten Händen zu sein –
dabei zu helfen, den Erfolg in ihrer Opernkarriere die Antinomie5 des Traumas und die Vorboten der
zu erreichen, teilt er auch seine Abhängigkeit von Wiederherstellung.
Teresa mit, ihr bei seinem Wunsch, ihren persön- Teresas individuelle Struktur und die allgemeine
lichen Triumph erfüllen zu können. Dies ist eine Struktur des resilienten Durchlebens des Traumas
Begegnung der am im höchsten Maße lebensbeja- sind zu lang, um hier ausgeführt zu werden. Das
henden und persönlich unterstützenden Art, ein
tiefes Zeugnis und ein Engagement der menschli-
chen Interdependenz: „Ich möchte Tickets, also ver- 5 Anmerkung des Übersetzers: griech. für (scheinbare) logi-
gessen Sie mich nicht.“ sche Widersprüchlichkeit
76 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
Verfahren der analytischen Verallgemeinerung 4 Der Leidende führt eine Schlacht gegen das
beinhaltet zuerst das Verständnis der allgemeinen Trauma in einem Versuch, ein relativ freies,
Möglichkeiten im Einzelfall von Teresa, dann einen selbstbestimmtes Leben wieder aufzunehmen,
Vergleich der individuellen Struktur mit der einer das einem traumatisch reduzierten oder
zweiten Teilnehmerin, Gail, und dann weitere Ver- verlorenen Leben vorgezogen wird.
gleiche mit anderen realen und imaginierten Erfah- 4 Die Bedeutung von Trauma ist nicht in
rungen. Um die Demonstration einer phänomeno- einem isolierten Ereignis enthalten, sondern
logischen Analyse abzuschließen, sind im Anschluss beinhaltet die Verkürzung der geschichtlichen
26 „knowledge claims“6 angeführt, die sowohl bei der Bewegung des Lebens einer Person; Trauma
Analyse von Teresas Erfahrung, die sich in Bezug auf untergräbt die laufenden Bemühungen in
die Erfahrung, resilient ein Trauma zu durchleben, Richtung Zielerfüllung und negiert die eigene
stark verallgemeinern lassen, als auch in den Bei- Zukunft.
spielen von Gail und durch die imaginativen Varia- 4 Die vorliegende, tatsächliche Erfahrung von
6 tionen der Forscher entstanden (Wertz et al. 2011, pp. Trauma zieht die persönliche Bedeutung
154–156). zum Teil aus der eigenen Geschichte etwaiger
4 Zunächst wird das Trauma passiv erlitten. Es traumatischer Ereignisse, deren Bedeutung, im
passiert einer Person, war nicht beabsichtigt aktuellen Trauma, gleichsam wiederholt und
und führt zu kognitiven Schock und weitergeführt wird.
Unglauben, durch unheimliche Gefühle wie 4 Die eigene Haltung gegenüber Trauma
Terror, Horror, Furcht und Angst, durch die ein und die eigenen Strategien, ein Traum zu
zuvor aktiver Mensch ein Leidender wird. durchleben und zu bewältigen, sind auch
4 Das traumatische Ereignis ist negativ-feindlich, Fortsetzungen der üblichen Art und Weise, mit
zerstörerisch, reduktiv, wie es den Kern und der eine Person mit bisherigen Widrigkeiten,
zentrale Intentionalität des psychischen Lebens Schädigungen oder Zerstörung im Leben
einer Person inaktiviert und nivelliert. umgegangen ist.
4 Das Traumatische ist ein „Anderes“, fremd 4 Die Person macht eine konzertierte
und antithetisch, grundlegend dem Selbst Anstrengung, um die Opferrolle zu
entgegengesetzt. überwinden und sich die Zukunft wieder zu
4 Das, was zerstört oder reduziert wird, ist nicht eröffnen, wobei manchmal neue Formen des
nur eine Person, die tatsächliche Existenz, der Empowerments entstehen.
„way of life“, sondern es sind die Möglichkeiten 4 Im Prozess der Wiederherstellung ändert sich
des Weltbezugs des Menschen; das Trauma das Leben der Person.
de-potenziert die Person. 4 Eine typische, aber nicht immer vorhandene
4 Der Leib („lived body“) im Trauma ist taub, Art, mit einem Trauma umzugehen, beinhaltet,
gelähmt, vermindert, zusammengezogen, Wissen über die feindselige Situation zu
geschrumpft und in Bezug auf die Welt sammeln und sie als ein praktisches Problem
zurückgezogen. aufzufassen, das es zu analysieren und zu
4 Im Vernichten zentraler Intentionalitäten lösen gilt.
und den Beziehungen zur Welt sind trauma- 4 Trauma individualisiert, isoliert, macht einsam
tische Erfahrungen anwesend und tragen – das Individuum wird ausgesondert und von
zu Untergang und Tod bei. Auch wenn das den anderen getrennt.
eigene Leben nicht wortwörtlich bedroht 4 Andere Menschen werden als potenzielle
oder in Gefahr ist, beinhaltet Trauma einen Schädiger und Helfer gefürchtet bzw. es wird
existenziellen Tod, eine Verneinung des Lebens ihnen vertraut, sie werden hinsichtlich ihrer
in der-Welt. Tendenzen geprüft und bewertet, ob sie weiter
traumatisieren oder helfen, die gefährdete,
verringerte Weltbeziehung der betroffenen
6 Anmerkung des Übersetzers: Wissensbehauptungen Person wiederherzustellen.
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
77 6
4 Stigma und Scham (Selbstabwertung) sind 4 Die spirituelle Dimension des Traumas liegt in
intrinsische Möglichkeiten, insofern beinhaltet der Akzeptanz des Leidens und der Fehlbarkeit
Trauma die Verminderung und das Versagen und einer vertieften, lebensbejahenden
der persönlichen Existenz. Trauma birgt die Intentionalität, die als Glauben bezeichnet
Möglichkeit, sich abzuwerten, abzulehnen werden könnten.
und zu verlassen – ein Verlust von Sozial- und
Selbstwertgefühl.
4 Das Offenlegen, das Teilen von Traumata mit Stärken und Schwächen
anderen Menschen ist wichtig, aber riskant. Die Phänomenologie bietet Gesundheitswissen-
Typische Schwankungen reichen von die schaftlerinnen und Gesundheitsprofessionistin-
Wahrheit zu sagen bis hin zu schützend alles zu nen Kerngrundsätze, Verfahren und beschreibende
verbergen und zu täuschen. Begriffe für die Untersuchung der menschlichen
4 Angst und Vertrauen prägen zwischenmensch- Erfahrung, indem sie persönliche Ziele, Bedeutun-
liche Beziehungen, die in der Regel verbessert gen, Werte und Wirkungen im Rahmen ihrer multip-
oder aufgelöst werden, wenn man in anderen len Kontexte, in denen sie stattfinden, reflektiert. Sie
wahre Freunde, Feinde und/oder Gleichgültige eignet sich daher für die interdisziplinäre Forschung
entdeckt. unterschiedlichster Ausrichtungen, einschließlich
4 Bewunderte Qualitäten in unterstützenden der medizinischen, gesundheitswissenschaftlichen,
Anderen sind Miterleben, Wahrhaftigkeit, soziologischen, historischen Forschung und Theo-
Teilen, praktische Hilfe, Weichheit, riebildung. Ihre Flexibilität und die Einsatzmöglich-
Anerkennung und Verständnis von persönlichen keiten sind nahezu unbegrenzt.
Zielen und Ressourcen, Allianz, Sich-Kümmern, Die Erfahrungen von Individuen mit körperli-
Ermutigung und Begleitung in die Zukunft. chen Erkrankungen, Krankheiten, Behinderungen
4 Weinen ist eine Möglichkeit, die Qual und die und Herausforderungen aller Art können aus der
unheimliche Emotionalität auszudrücken, eine Ichperspektive untersucht werden. Dies umfasst
Trauer über die verlorenen Wirklichkeiten und nicht nur die zeitliche (Weiter-)Entwicklung des
Möglichkeiten. Weinen ist gleichzeitig auch leiblichen Lebens, sondern auch die Erfahrungen
ein Ausdruck der Vitalität des Lebens und ein von medizinischen Interventionen und zwischen-
Aufruf an andere um Beachtung und Hilfe. menschlichen Interaktionen mit Gesundheitsdienst-
4 Der Zusammenbruch und das Sich-Ergeben leistern und Gesundheitsprofessionisten. Ebenfalls
sind nicht nur Zeugnisse der Verminderung, von Bedeutung sind Untersuchungen über die Erfah-
sondern sie sind auch notwendige Momente rungen und Einstellungen von Familien, Communi-
der resilienten Erholung, die die Annahme der ty-Mitgliedern und Bezugspersonen im Zusammen-
Zerstörung und des Verlusts erfordern. hang mit Personen, die Gesundheitsdienstleistungen
4 Trauma und Wiederherstellung haben die nutzen.
Bedeutung von Tod und Wiedergeburt. Die Erfahrungen von Fachleuten, Führungskräf-
4 Trauma beinhaltet eine übernatürliche ten und Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen im
Bedeutung in seinen ungewohnten, unheim- Hinblick auf die Patienten und Familien sowie inner-
lichen, numinosen (lat. gestaltlos-göttlich) und halb von Teams und ihren Institutionen bieten eben-
un- oder außerweltlichen Qualitäten. falls eine Vielzahl von Forschungsgegenständen, die
4 Bei einem Trauma steht die Existenz als Ganzes phänomenologisch untersucht werden können. Und
auf dem Spiel, was den traumatischen Horizont schließlich bietet sich die Erweiterung des Radius
weit macht und sich letztlich in der traumati- der phänomenologischen Forschung auf das weite
schen Bedeutung niederschlägt. Gebet, Demut, Feld der Stakeholder innerhalb der Gesundheitsver-
Dankbarkeit, Bitte um Gnade, Heilung und sorgung, einschließlich der Forschenden, der Leh-
Vollendung des Lebens sind Versuche, diesem renden, der Industrie- und Wirtschaftstätigen, der
extremen Geltungsbereich und der Tragweite Versicherer und der Entscheidungsträger an. Diese
gerecht zu werden. Stakeholder können als Schlüsselakteure durch ihre
78 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
Erfahrung und ihr Engagement der phänomenolo- Wann soll die Methode angewendet
gischen Forschung ein ergiebiges Aufforderungs- werden?
feld mit einem reichen Angebotscharakter („fruitful Eine solche Analyse ist immer dann passend, wenn
affordances“) bieten, das im Speziellen dafür geeig- individuelle Entscheidungen und Entscheidungspro-
net ist, deskriptives Wissen mit hoher Wiedergabe- zesse von Menschen erforscht werden sollen. Ob eine
treue über die menschliche Dimension der Existenz Analyse der Daten nach IPA angebracht ist, hängt von
zu generieren. der Fragestellung ab. Die IPA geht davon aus, dass die
Daten etwas über das Eingebundensein einer Person
Zusammenfassung in ihre Umwelt und/oder über die Bedeutung, die
Die Phänomenologie ermöglicht es Gesundheits- die Personen dem Erlebten beimessen, sagen. Das
wissenschaftern und Gesundheitsprofessionisten, bedeutet, dass die persönliche Bedeutung und das
menschliche Erfahrung in Bezug auf die persönli- Verständnis dieser in einer für den Menschen indi-
chen Ziele, Bedeutungen, Werte in multiplen Kon- viduellen Umwelt im Zentrum des Interesses der IPA
6 texten zu reflektieren. Sie ist in ihrer Flexibilität und stehen. Die IPA gibt die Möglichkeit, in einzelnen
ihren Einsatzmöglichkeiten nahezu unbegrenzt Fällen die Komplexität von Erfahrungen darzustellen.
und eignet sich für interdisziplinäre Forschung mit
unterschiedlichsten Fragestellungen, dazu gehören
medizinische, gesundheitswissenschaftliche, sozio- Themenstellungen
logische, wirtschaftliche, historische Forschung und 4 Entscheidungsfindung für oder gegen
die entsprechende Theoriebildung in Bezug auf die bestimmte medizinische und/oder therapeu-
menschliche Gesundheit. tische Behandlungen (Borg Xuereb et al. 2015)
4 Entscheidungsfindung für oder gegen Aktivi-
täten im täglichen Leben, unter Berücksich-
6.3.2 Interpretative tigung von gesundheitlichen Beschwerden, wie
phänomenologische Analyse zum Beispiel chronischen Schmerzen (Schmidt
et al. 2015)
Valentin Ritschl, Tanja Stamm 4 Einfluss auf Entscheidungsfindungen
durch Veränderungen im Alltag/Leben von
Menschen, wie zum Beispiel die veränderte
Definition Sichtweise von Patientinnen ihre Essstörung
betreffend durch den Eintritt einer Schwanger-
Die interpretative phänomenologische schaft (Taborelli et al. 2015)
Analyse (IPA) wurde vom Psychologen 4 Entscheidungsfindungen verstehen und unter-
Jonathan A. Smith (1996) entwickelt. Die IPA stützen, beispielsweise wenn Entscheidungen von
ist ein qualitativer Forschungsansatz mit einer Eltern in Bezug auf das Ende des Lebens ihres
ideographischen Ausrichtung (Fokussierung Kindes getroffen werden müssen (Popejoy 2015)
auf einzigartige/einzelne Personen). Der
Ursprung der Methode findet sich in der Wie unterscheidet sich der Ansatz der IPA nun von
psychologischen, phänomenologischen anderen qualitativen Ansätzen?
Forschung. Es werden phänomenologische
und hermeneutische Ansätze kombiniert. Beispiel
Ziel der IPA ist es, die Bedeutung einzelner Unterschied zwischen IPA, Phänomenologie und
Erfahrungen im Leben einzelner Personen zu „grounded theory“ am Beispielthema „Krankheit“
beschreiben und zu verstehen. Wichtig hierbei (Smith et al. 2013):
ist, dass die Erfahrung für die Person von 4 IPA: Wie erleben Menschen Krankheit? Welchen
Bedeutung sein muss. Dieser Ansatz findet vor Sinn verbinden Menschen mit Krankheit und
allem in den Sozial- und Gesundheitswissen- Gesundheit? Wie können Wertvorstellungen
schaften Anwendung (Smith et al. 2013). genutzt werden, um das Selbstmanagement
bei Krankheiten anzuregen? – Fokussierung auf
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
79 6
Entscheidungen, persönliche Bedeutung und weiterzuversenden – häufig über Probanden und
Sinnhaftigkeit in einer einzigartigen Situation. Probandinnen; DePoy u. Gitlin 2005) kontaktiert.
4 Phänomenologie: Was sind die wichtigsten Das Ziel ist hier eine bezüglich des zu beforschen-
Merkmale des Krankheitsbegriffs in den Parameters (Merkmal einer Gruppe) sehr homo-
verschiedenen Kulturen? – Fokussierung auf eine gene Gruppe zu erreichen.
allgemeine Struktur des Krankheitsbegriffs. Bezogen auf die Größe der Stichprobe gibt es
4 „Grounded theory“: Welche Faktoren in der IPA keine klaren Vorgaben. Die Größe dif-
beeinflussen die Art und Weise eines Menschen, feriert aufgrund der Reichhaltigkeit der Erfahrung
mit Krankheit umzugehen? – Fokussierung sowie der organisatorischen Grenzen der Durchfüh-
liegt hier auf der Entwicklung einer erklärenden rung. Prinzipiell sind kleine Stichproben für die IPA
Theorie. günstig (Smith et al. 2013). Smith (2004) empfiehlt
für Masterarbeiten beispielsweise maximal 3 Perso-
nen. Dies erscheint eine günstige Größe, um sowohl
Welche Schritte müssen eingehalten einzelne Fälle in der Detailliertheit zu bearbeiten als
werden? auch um Vergleiche zwischen den Probandinnen
und Probanden zu erheben.
z z Fragestellungen
In der IPA werden Antworten auf Fragestellungen z z Datensammlung
gesucht, die auf persönlich bedeutende Erfahrun- Bei der Datensammlung sollen die Personen einge-
gen von Menschen und/oder das Verständnis dieses laden werden, viel und detailreich über ihre Erfah-
speziellen Phänomens abzielen. Die Orientierung rungen zu berichten. Um dies zu erreichen, eignen
der Forschung bezogen auf das Untersuchungsinte- sich vor allem Tiefeninterviews (7 Abschn. 6.3.8).
resse sollte daher sehr offen und prozessorientiert Auch Tagebücher können eine mögliche Ressource
sein (Smith et al. 2013). Beispiele von Fragestellun- sein. Dies schließt Fokusgruppen oder auch teilneh-
gen aus anderen Studien sind: mende Beobachtungen nicht aus, sie werden aber in
4 Wie erlebt ein Mensch mit einer komplexen der Regel nur unter besonderen Umständen gewählt.
psychischen Erkrankung beim Malen und bei
anderen selbstgewählten kreativen Tätigkeiten z z Datenanalyse
den „flow“ und welche Bedeutung hat dieser Die IPA sieht vor, dass zuerst ein Fall im Detail ana-
für ihn in seinem Alltag? (Mietz 2011) lysiert werden soll, bevor zu einem nächsten über-
4 Warum entscheiden sich Menschen mit einem gegangen wird. Smith et al. (2013) gibt Schritte
schmerzhaften Gelenkhypermobilitätssyndrom der Analyse vor, die unterstützend sein können –
für oder gegen Tätigkeiten im Alltag, von denen der Prozess der Analyse soll als flexibel verstanden
erwartet wird, dass dadurch die Schmerzen werden und kann, wenn es in der Analyse erscheint
und/oder das Luxationsrisiko erhöht werden? sinnvoll, abgewandelt werden. Der Datenanalysepro-
(Schmidt et al. 2015) zess wird in folgende 6 Schritte unterteilt:
4 Welche Erfahrungen machen Eltern während
des Entscheidungsprozesses bezogen auf die 1. Schritt
Sterbebegleitung ihrer Kinder? (Popejoy 2015) Lesen und wiederholtes Lesen: Um den Prozess der
Analyse zu starten sollte das Transkript wiederholt
z z Teilnehmer gelesen werden (eventuell auch parallel zum Hören
Da sich der Forscher und die Forscherin im Sinne der Aufnahme). Dies ermöglicht eine aktive Ausein-
der IPA für spezielle Erfahrungen von einzelnen andersetzung mit den Daten und ein Eintreten in die
Menschen interessiert, muss die Stichprobe gezielt Lebenswelt des Teilnehmers oder der Teilnehmerin.
ausgesucht werden. Meist werden Menschen auf-
grund von Empfehlungen durch andere Personen, 2. Schritt
durch persönliche Kontakte oder den Schneeball- Anfängliches Notieren: Während des Lesens des
effekt (durch das Versenden einer Einladung mit Transkriptes wird alles, was interessant erscheint,
der Bitte, diese an potenzielle andere Menschen notiert. Dieser Schritt garantiert ein immer größeres
80 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
argumentierte Charmaz, dass es sich bei den gewon- > Das zentrale Element der „grounded theory“
nenen „grounded theories“ um eine Interpretation im ist das Memo, der Merkzettel.
Sinne des Konstruktivismus handelt, basierend auf den
individuellen Vorerfahrungen von Studienteilneh- Als Memo wird die Verschriftlichung von interessan-
mern und Forschenden entsteht eine „shared reality“. ten Ideen, Beobachtungen und Gedanken in Bezug
auf das Forschungsprojekt verstanden (Strauss u.
Corbin 1991, S. 197). Neben den Ideen und Beobach-
Welche Schritte müssen eingehalten tungen werden in Memos auch immer der Kontext
werden? und der Zeitpunkt des Entstehens festgehalten.
Glaser und Strauss (1967/1999) argumentierten Memos können entweder direkten Bezug zum Daten-
stets, dass in der soziologischen Feldforschung das material haben oder für sich stehende Gedanken und
von Popper formulierte Ideal des Kritischen Ratio- Ideen beinhalten. Wichtig ist, immer klar zwischen
nalismus (7 Kap. 2) der Überprüfung vorher aus der Datenmaterial und Analyse zu trennen (Friese 2009).
6 Deduktion generierten Hypothesen als einzig wahre Memos können zu einem späteren Zeitpunkt auch
Wissenschaft nicht zu halten ist. Forscher machen als Puzzlestücke dienen, um die Theoriebildung zu
sich bereits während der Datensammlung Gedan- komplettieren (Friese 2014, S. 251).
ken über die zugrunde liegenden Mechanismen Im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung
und lassen diese auch einfließen. Ziel von Glaser dienten Memos immer der spontanen Niederschrift
und Strauss war es daher, diesen Prozess des wissen- von Ideen (Glaser 1978: „stop and memo“) im Sinne
schaftlichen Arbeitens nicht zu verhindern, sondern eines Forschungstagebuchs (7 Abschn. 6.5.2). Im
möglichst transparent abzubilden und nachverfolg- Rahmen von Interviews oder Ähnlichem muss aber
bar zu machen. im Gegensatz zur teilnehmenden Beobachtung, bei
Im Detail umfasst das Forschen im Rahmen der der das Memo im Moment erfolgen kann, dazu über-
„grounded theory“ folgende Arbeitsschritte: gegangen werden, diese Notizen zum Beispiel im
4 Datenerhebung und etwaige Transkription Anschluss eines Gesprächs zu machen. Ein Beispiel-
4 Schreiben von Memos, d. h. das Festhalten von memo, dass mithilfe der Software ATLAS.ti erstellt
Ideen, Notizen, Kommentaren, insbesondere wurde, ist in . Abb. 6.1 zu sehen.
zum jeweiligen Stand der Codierung – anhand Prägendes Merkmal der „grounded theory“
der Memos soll im Verlauf der Forschung ist das permanente Vergleichen bzw. das paral-
letztlich die Theorie entwickelt werden lele Durchführen des Sammelns, Codierens und
4 Codieren, d. h. die Bildung von Kategorien und Analysierens der Daten. Im Englischen „constant
die Zuordnung von Daten (Indikatoren) zu comparison“ genannt, wird in einem abwechselnd
diesen („rooted within the data“) bzw. gleichzeitig durchgeführten Prozess immer
4 Kontrastieren („constant comparison“, perma- wieder zwischen Datenanalyse und Datensamm-
nenter, wiederkehrender Vergleich) von Fällen lung gewechselt, die sich durch diesen Prozess auch
zum Zweck der Überprüfung der Reichweite der gegenseitig beeinflussen. Das Ziel des Prozesses liegt
bislang entwickelten Kategorien, d. h. ein itera- im Erfassen von verborgenen Bedeutungen inner-
tiver Prozess, der die generierte Theorie und halb der Daten.
Analyse (Codierung) miteinander vergleicht Mit dem Grounded-theory-Ansatz sind vor-
4 „theoretical sampling“, d. h. die Fallauswahl wiegend 3 verschiedene Arten von Codierungen7
gemäß dem jeweiligen Stand der Datenaus- (Strauss u. Corbin 1990) verbunden:
wertung und der daraus entstandenen Ideen,
Konzepte und Fragen, auch mit dem Ziel, 7 Sowohl Glaser (2004) als auch Charmaz (2006) haben zum
neue Vergleichsfälle zu generieren, bei Bedarf axialen und selektiven Codieren eine eher ablehnende
neuerliche Datenerhebung bis zum Erreichen Haltung, da diese als zu strukturierend oder nicht ziel-
führend empfunden werden. Beispielsweise überspringt
von Sättigung
Glaser (1978) den Schritt des axialen Codierens und
4 Schlussendlich ist nach erreichter Sättigung definiert gleich „theoretical codes“, die die Beziehung zwi-
die Bildung einer „grounded theory“ schen den Codes für die Bildung einer Theoriehypothese
abgeschlossen. beschreiben.
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
83 6
4 Offenes Codieren („open coding“) wie von Bestätigung suchen“ als zentraler Code heraus-
Strauss und Corbin (1990) beschrieben: stellen, der mit dem Code „Persönlichkeitsfak-
Initiale Grundbestandteile des Codes ist eine toren“ in Beziehung steht. Diese Zusammen-
Benennung und eine Definition des Codes. hänge lassen sich grafisch gut mittels „concept
Um die Bedeutung eines Codes zu verdeut- maps“ darstellen (s. unten).
lichen, hat es sich bewährt, die besten Beispiele
aus dem Datenmaterial zur Verdeutlichung In der „grounded theory“ ist das Sampling eng mit
anzuführen. Um die Nähe zum Forschungs- der Datenanalyse verknüpft, Glaser und Strauss
gegenstand zu bewahren, werden, sofern (1967/1999) prägten hier den Begriff des theoreti-
es möglich ist, sogenannte In-vivo-Codes schen Samplings („theoretical sampling“). Kriterium
verwendet (Glaser 1978, Strauss 1987), d. h. die für die Sample-Auswahl ist nicht wie in der quantita-
Codenamen werden direkt aus dem Datenma- tiven Forschung die Repräsentativität (7 Abschn. 7.4),
terial in der Sprache der Studienteilnehmenden sondern Fälle werden bezüglich ihres Erkenntnisge-
entnommen. Strauss (1987, S. 30) versteht winns ausgewählt. Ziel der theoretischen Stichpro-
darunter „terms used by the people who are benbildung ist immer die Sättigung („saturation“),
being studied“. d. h. es ist ab einem Punkt nicht mehr davon auszu-
4 Axiales Codieren: Ziel des axialen Codierens gehen, noch an neue Erkenntnisse zu gelangen.
ist die Identifikation von Kernkonzepten
innerhalb der Studie. Zum Beispiel können > In der „grounded theory“ werden Sampling
verschiedene offene Codes wie „sofortiges und Datenanalyse nicht getrennt, sondern
Feedback einfordern“ oder „möchte motiviert bilden einen iterativen Prozess. Die
werden“ zu einem gemeinsamen Code Forscherin nutzt beispielsweise Erkenntnisse
„externale Bestätigung suchen“ zusammen- aus der Analyse (z. B. die ersten „open
gefasst werden. codes“), um ein neues Sample (Personen,
4 Selektives Codieren sucht nach den zentralen Orte etc.) aufzusuchen und seine bisherige
Codes innerhalb der Studie, die Codes mit Theorie auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.
denen andere Codes in Beziehung stehen. Dieser Prozess wird auch „purposeful
Zum Beispiel kann sich der Code „externale sampling“ genannt (Emmel 2013).
84 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
Software zur Unterstützung der und für eine weitergehende Analyse fruchtbar zu
Grounded-theory-Analyse – Computer- machen.
Assisted Qualitative Data Analysis
Software (CAQDAS)
4 ATLAS.ti: http://atlasti.com/free-trial-version/ Themenstellungen
4 Coding Analysis Toolkit (CAT): http://cat.ucsur. Das Wort Ethnographie setzt sich aus den grie-
pitt.edu chischen Wörtern éthnos für Volk oder Gruppe
4 HyperRESEARCH: www.researchware.com und graphein für Beschreibung zusammen. Die
4 MAXQDA: www.maxqda.com Ethnographie definierte sich lange Zeit über ihre
4 NVIVO: www.qsrinternational.com geographisch oder sozial möglichst „exotischen“
4 QDA Miner Lite: http://provalisresearch.com/ Forschungsfelder von fernen Dorfgemeinschaften
products/qualitative-data-analysis-software/ Papua-Neuguineas und anderen Enden der Welt
freeware oder über Bewohner von Armenhäusern nord-
6 4 Qualrus: www.qualrus.com amerikanischer Städte (Schmidt-Lauber 2007). Das
4 Transana: www.transana.org Soziale und Kulturelle ist überall, weshalb das eth-
nographische Selbstverständnis mittlerweile stärker
auf den Forschungsmethoden als auf dem jeweiligen
6.3.4 Ethnographie Forschungsfeld basiert. Diese könnten in der Zwi-
schenzeit vielgestaltiger nicht sein. Ethnographien
Julie S. Mewes medizinisch-therapeutischer Praktiken untersuchen
beispielsweise die Bedeutung von Gesundheit und
Definition Krankheit, subjektive Erfahrungen von und Bedeu-
Die Ethnographie ist mit der teilnehmenden tungszuschreibungen zu Krankheit und Leiden und
Beobachtung und weiteren Methoden kulturelle, institutionelle sowie soziale Beziehungs-
der Feldforschung eine zentrale Sammlung verflechtungen innerhalb pluraler medizinisch-
qualitativ-empirischer Datenerhebungs- therapeutischer Behandlungssysteme (vgl. Bruna
methoden zur Erforschung sozialer 2009). Als Beispielethnographien über medizinisch-
Lebenswelten. Zugleich wird das Ergebnis der therapeutische Versorgungsysteme seien die Mono-
Forschung, der im Anschluss entstehende graphien von Goffman (1973), Estroff (1981), Mat-
Text, als Ethnographie bezeichnet tingly (1998), Townsend (1998), Mol (2008) sowie
(Schmidt-Lauber 2007). der Sammelband von Mol, Moser und Pols (2010)
genannt.
Ebene Beschreibung
haben, zu erforschen. Im Gegensatz zu anderen Ana- dass die Schritte im Großen und Ganzen sehr ähnlich
lysemethoden ist an der qualitativen Inhaltsanalyse verlaufen. Unterschiede sind vor allem in der Detail-
besonders das starke Einbeziehen des Kontextes bei liertheit der Differenzierung der einzelnen Schritte
der Interpretation von Texten/Kommunikation her- erkennbar. Doch trotz der Ähnlichkeiten beinhalten
vorzuheben. Die Inhaltsanalyse findet in folgenden die unterschiedlichen Vorgehensweisen auch unter-
Bereichen Anwendung: schiedliche Vor- und Nachteile.
4 Darstellung von Entwicklungen, Mustern, Wie eingangs erwähnt, ist das bewusste Einbe-
Trends oder Unterschieden, zum Beispiel ziehen des Kontextes, d. h. der Zusammenhang des
zwischen Behandlungsmustern oder Behand- Textes mit seiner Entstehungszeit, dem Verfasser,
lungsparadigmen verschiedener Institutionen den soziokulturellen Zusammenhängen etc., in die
4 Identifikation, Beschreibung und Evaluation, Analyse der Inhalte das Besondere an dieser qualita-
Beurteilung von Phänomenen, zum Beispiel tiven Methode. Diese Einbeziehung findet sich aller-
Beschreibung von Phänomenen wie Langeweile dings im Vorgehen nach Mayring und Krippendorff,
6 oder Spiel; für inhaltlich tiefgehende Interpre- während andere Autoren die Reduktion und Zusam-
tationen sollten phänomenologische Verfahren menfassung von Inhalten als Aufgabe der Inhaltsana-
(7 Abschn. 6.3.1) berücksichtigt werden lyse beschreiben. Hier muss bereits in der Planung
4 Beschreibung von Symptomen und Symptom- eines Projekts und anhand der Forschungsfrage
komplexen, zum Beispiel Darstellung und überlegt und entschieden werden, ob das Einbezie-
Beschreibung von Störungsbildern wie der hen des Kontextes für valide Ergebnisse notwendig
„occupational imbalance“ ist oder nicht. Diese Entscheidung beeinflusst dann
4 Analyse schriftlicher Materialien und auch die Vorgehensweise. Die Vorgehensweise nach
Beratungsgesprächen, zum Beispiel Krippendorff bietet darüber hinaus die Möglichkeit,
Beschreibung fördernder und hemmender sich einem Text ohne Fragestellung und ohne theore-
Faktoren bei der Umsetzung von Heimübungs- tische Vorüberlegung zu nähern und sich dem Text
programmen, Dokumentationen oder Texte für somit unvoreingenommen zu widmen.
Patienteninformationen
4 Analyse von institutionellen Prozessen, zum Beispiel
Beispiel Darstellung des für die Erfüllung einer Das folgende Beispiel entstammt einer Inhaltsana-
Arbeit notwendigen impliziten und expliziten lyse nach Kvale und Brinkmann (2009)
Wissens
Auszug aus transkribierten Interviewtexten
Mein Name ist (…), ich hab die Psoriasisarthritis9
Welche Schritte müssen eingehalten eigentlich relativ früh bekommen, mit 38 Jahren,
werden? und bei mir hat es eigentlich keiner erkannt, außer
Es existieren sehr unterschiedliche „Anleitungen“ das Allgemeine Krankenhaus. Weil ich habs eigent-
zur Durchführung von qualitativen Inhaltsana- lich nicht von der Psoriasis10 her, so richtig kommt
lysen (Gläser u. Laudel 2010, Mayring 2010, Krip- es bei mir nicht zum Vorschein, sondern eher die Ar-
pendorff 2013) und von Techniken, die der Inhalts- thritis11. Die Diagnose konnte erst im Allgemeinen
analyse ähneln, wie die „meaning condensation“ Krankenhaus gestellt werden.
und „meaning interpretation“ (Kvale u. Brinkmann Ich muss ganz ehrlich gestehen, ich hab das frü-
2009). . Tab. 6.4 zeigt eine Zusammenfassung der her nicht so beachtet, die Psoriasis, und ich hab sie
Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Vorge-
hensweisen. Das gemeinsame Ziel der qualitativen
Inhaltsanalyse ist es, „die wesentlichen Inhalte (zu) 9 Anmerkung der Autoren: Eine Psoriasisarthritis ist eine
erhalten (…), durch Abstraktion einen überschauba- chronisch rheumatische Autoimmunerkrankung, die
sowohl die Gelenke als auch die Haut betreffen kann
ren Korpus zu schaffen, das immer noch ein Abbild
10 Anmerkung der Autoren: Symptome im Sinne einer
des Grundmaterials ist“ (Mayring 2010). Schuppenflechte
Bei den unterschiedlichen Vorgehensweisen für 11 Anmerkung der Autoren: Symptome einer Gelenkentzün-
eine qualitative Inhaltsanalyse kann man erkennen, dung
. Tab. 6.4 Vorgehen bei der qualitativen Inhaltsanalyse: Gegenüberstellung verschiedener Ansätze
Schritte Krippendorf (2013) Mayring (2010) Gläser u. Laudel (2010) Kvale u. Brinkmann (2009)
Datenanalyse Grundsätzliche Richtung der Durchlesen der Daten/Texte: Durchlesen der Daten, bis man
Analyse: Inhalt des Textes selbst Sind die erstellten Kategorien sich mit dem Text vertraut
analysieren, Rückschlüsse zum passend oder müssen sie erwei- gemacht hat
Textverfasser ziehen oder die tert oder angepasst werden?
Wirkung des Textes das Umfeld Technische Vorbereitungen, falls
darstellen die Texte computerunterstützt
ausgewertet werden
6
6
96
Schritte Krippendorf (2013) Mayring (2010) Gläser u. Laudel (2010) Kvale u. Brinkmann (2009)
Text MU I # C
Ich hab die Psoriasisarthritis eigentlich relativ früh Symptome „relativ früh“, mit 2 131 0
bekommen, mit 38 Jahren 38 Jahren aufgetreten
Und bei mir hat es eigentlich keiner erkannt Diagnose konnte erst in einem 2 132 8
außer das Allgemeine Krankenhaus. Weil ich habs bestimmten Krankenhaus
eigentlich nicht von der Psoriasis her, so richtig gestellt werden; Arthritis >
kommt es bei mir nicht zum Vorschein, sondern Hautbeschwerden
eher die Arthritis.
Ich muss ganz ehrlich gestehen, ich hab das früher Geschlechtsverkehr = unange- 2 147 38, 109
nicht so beachtet, die Psoriasis, und ich hab sie nehm, Schmerzen
eigentlich auf den Geschlechtsteilen, und das ist,
muss ich sagen, beim Geschlechtsverkehr sehr
unangenehm. Es tut sehr weh.
Und der Hausarzt verschreibt mir gar nichts mehr, Ärztliches Spezialwissen ist 2 148 110
auch nicht der Frauenarzt, als ich bei ihm war. erforderlich
Jetzt muss ich mir einen Spezialisten suchen, denn Ärztliches Spezialwissen ist 2 149 110
da gibt es angeblich ein Präparat, dass das Problem erforderlich
mit den Geschlechtsteilen weggeht, weil es beim
Verkehr sehr schmerzt und unangenehm ist.
MU Thema der Bedeutungseinheit, I Nummer der Fokusgruppe, # Nummer der Bedeutungseinheit, C Nummer
des Konzepts
eigentlich auf den Geschlechtsteilen, und das ist, Interviewpartner klar ist. Außerdem sollte die
muss ich sagen, beim Geschlechtsverkehr sehr un- Nummer der Bedeutungs- bzw. Analyseeinheit
angenehm. Es tut sehr weh, und der Hausarzt ver- (#) genannt werden, um eine einfachere
schreibt mir gar nichts mehr, auch nicht der Frauen- Zuordnung zu Kategorien bzw. den Unter- oder
arzt, als ich bei ihm war. Jetzt muss ich mir einen Subkategorien zu ermöglichen, und die Nummer
Spezialisten suchen, denn da gibt es angeblich ein des Konzepts bzw. der Kategorie (C), dem es
Präparat, dass das Problem mit den Geschlechtstei- zugeordnet wird, mitgeführt werden (. Tab. 6.5).
len weggeht, weil es beim Verkehr sehr schmerzt
und unangenehm ist. Diese Überkategorien können nun genutzt werden,
um eine neue Theorie darzustellen oder um schon
Auszug aus der Analyse bestehende Theorien/Assessments (z. B. Fragebö-
4 Der Text wird in eine Tabelle kopiert und in gen) zu bestätigen bzw. zu ergänzen. Um bestehen-
Bedeutungseinheiten bzw. Analyseeinheiten de Theorien/Assessments zu überprüfen, werden
unterteilt. Eine Einheit bedeutet hier ein die gewonnen Kategorien den Konzepten aus den
Textabschnitt innerhalb einer Zeile. bestehenden Theorien/Assessments gegenüber-
4 Im nächsten Schritt wird das Thema der gestellt. Somit kann dargestellt werden, ob die be-
Einheit in der nächste Spalte (MU = Thema der stehenden Theorien/Assessments notwendige Inhal-
Bedeutungseinheit) zusammengefasst. In der te ausreichend abdecken oder ob diese an die neuen
Auswertung sollte die Interviewnummer Erkenntnisse angepasst werden müssen (sich also
(I = Nummer der Fokusgruppe bzw. des neue, noch nicht bekannte Kategorien ausbilden,
Interviewten) genannt werden, damit in die dann z. B. in einen Fragebogen aufgenommen
der Auswertung immer der Bezug zu dem werden müssten, . Abb. 6.3).
98 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
Unterkonzept C Überkonzept
Beginn der Hautsymptome war im Wechsel 1 Krankheitsverlauf
Die richtige Diagnose wurde erst von Spezia- Institutionen im Gesundheitssystem
listen gestellt 8
Haut im Genitalbereich 38 Funktionen der Haut
Probleme beim Geschlechtsverkehr 109 Sexualfunktionen
Spezialwissen für Probleme mit Sexualfunk-
tionen und dem Genitalbereich ist erforder-
lich 110
. Abb. 6.3 Auszug aus dem Schema der Unter- und Überkonzepte
Wann soll die Methode angewendet Perspektive einer Person, die auf ihren vergangenen
werden? und gegenwärtigen Lebenserfahrungen basiert. Der
Bei der Verwendung eines hermeneutischen Ansat- Horizont von Personen ist nicht festgelegt, sondern
zes in der Forschung fungieren die Wissenschaft- erweitert sich, so wie sich auch das Verständnis der
ler als Dolmetscher, die ein komplexes Bild erleb- eigenen Erfahrung und der Erfahrungen mit anderen
ter Erfahrungen des Menschen durch die Analyse vertieft. In der hermeneutischen Forschung ver-
von Texten, Worten, Notizen, E-Mails, Medienma- schmelzen die eigenen Überzeugungen und die
terialien, Berichten, medizinischen Diagrammen Interpretationen des Forschers (dessen Horizont)
oder Geschichten, die detaillierte Ansichten von mit denen des Narrativs. Die endgültige Interpreta-
anderen enthalten, aufbauen (Joubish et al. 2011). tion ist ein Verständnis, das weder den eigene Vor-
Dieser Ansatz umfasst mehrere Charakteristika, konzeptionen des Interpretierenden noch denen des
die betonen, wie das Verstehen, im Gegensatz zum Textes zuzuschreiben ist, sondern es stellt eine Fusion
Erklären, in der hermeneutischen Untersuchung beider Sichtweisen dar (Weinsheimer 1985).
6 gesucht wird.
Zum einen ist Verstehen eine „Fusion“ der Per- z z Die Interpretation der Teile und des Ganzen
spektiven, die sowohl die Perspektive des Forschers durch die Verwendung des hermeneutischen
wie auch die der anderen umfasst. Zum anderen Zirkels
wird Interpretation durch ein Verständnis von Teilen Hermeneutisches Verständnis tritt nur dann auf,
der Erfahrung und ihre Beziehungen zum Gesam- wenn der Interpretierende die Bedeutung verschie-
ten durch einen zirkulären Interpretationsprozess dener Teile des Textes und die Art, wie die Teile mit-
konstruiert. Zudem erkennt die Hermeneutik an, einander als Ganzes in Beziehung stehen, erkennt.
dass jede Interpretation der menschlichen Erfahrung Gadamer (1996) schlägt vor, dass Interpretationen
nur partiell ist. Erfahrungen sind in Zeit, Ort und eine „zirkuläre Bewegung des Verständnisses, die
Umständen situiert13, und dieser Kontext wird bei rückwärts und vorwärts entlang des Textes verläuft
der Interpretation des Textes durch die Forscherin und endet, wenn der Text perfekt verstanden ist“14
berücksichtigt. Daten werden immer als Gespräch (S. 293) beinhalten. Dies ist als hermeneutischer
angesehen, unabhängig ob diese in verbaler, nicht Zirkel bekannt, es ist von zentraler Bedeutung für
verbaler oder geschriebener Form vorliegen. Und als das hermeneutische Verstehen und von grundlegen-
letzter Punkt lässt der hermeneutische Ansatz Ambi- der Bedeutung für 2 voneinander abhängige metho-
guität (Mehrdeutigkeit) zu (Kinsella 2006). dologische Prozesse: das Verständnis der Bedeutung
des gesamten Textes und das Verständnis seiner Teile
z z Die Interpretation wird aus der Fusion (Schwandt 2001).
der Perspektiven abgeleitet
Der Schwerpunkt in der hermeneutischen Forschung z z Die Interpretation ist partial
ist auf das Verständnis und die Interpretation, im Jede menschliche Perspektive ist einzigartig und
Gegensatz zur Erklärung und Verifizierung, gerichtet reflektiert immer die eigene Sichtweise, was die
(Kinsella 2006). Die hermeneutische Untersuchung Frage aufwirft, inwieweit eine einzelne Interpreta-
geht über bloße Beschreibungen von Erfahrung tion jemals in der Lage ist, Vollständigkeit zu erlan-
hinaus und ermöglicht es, Bedeutungen, die nicht gen. Eine vollständige Erklärung von Textdaten, die
sofort sichtbar werden, zu verstehen. Das Erlangen die Erfahrungen anderer beschreibt, ist unmöglich,
von Verständnis ist ein dynamischer, evolutionärer und alle Forschungsinterpretationen, auch wenn sie
Prozess, der als Synthese oder Fusion einer Reihe auf noch so rigorose Art und Weise erzielt wurden
von Elementen konzipiert ist und als „Horizontver- und die Ansichten vieler beinhalten, können immer
schmelzung“ („fusion of horizons“, Gadamer 1996) nur teilweise erfolgen.
bezeichnet wird. Ein „Horizont“ ist die einzigartige
4 Erfahrung durch Schreiben und Umschreiben und die Konsequenzen der subjektiven Erfahrung
beschreiben der Mutterschaft. Das interpretative hermeneuti-
4 die Teile und das Ganze berücksichtigen sche Paradigma wurde daher aufgrund des Poten-
zials, ein individuelles und gemeinsames Verständnis
Im Folgenden werden die Schritte, die von grundle- von einer komplexen multidimensionalen menschli-
gender Bedeutung für die Erstellung strenger qualita- chen Reaktion (Mutter eines kleinen Kind mit einer
tiver Forschung sind, dargestellt und erläutert, wie sie Behinderung zu sein) zu erzeugen, als die am besten
in einem hermeneutischen Ansatz verwendet werden geeignete Methode für diese Forschung erachtet.
können. Jeder Schritt des Forschungsprozesses wird
von einem Beispiel, wie der Schritt im Rahmen eine z z Verständnis durch den Dialog mit den
Studie verwendet wurde, begleitet. Diese Studie ver- Teilnehmern gewinnen
wendete einen hermeneutischen Ansatz, um die In der hermeneutischen Forschung geht es nicht um
Reaktionen von Müttern auf Kinder mit Behinde- die Entdeckung einer verallgemeinerbaren Wahrheit,
6 rungen („reactions to mothering children with disa- daher ist ein gezieltes Sampling die Auswahlmethode
bilities“) zu explorieren (Ferris 2013). der Wahl (Gadamer 1996, Guba u. Lincoln 2005).
Ziel ist es, begründet Textdaten oder ein Sample
z z Auswahl der Fragestellung und der Methode von Menschen auszuwählen, die eine reiche und
Ein wesentliches Kriterium für die Wiedergabe- dichte textuelle Beschreibung des Themas anbieten
treue im Rahmen des hermeneutischen Ansat- können, um die Interpretation und das Verständnis
zes ist die Angemessenheit des Interessensbereichs zu erleichtern (Patton 2002, van Manen 1997). Alle
und wie dies durch eine Forschungsfrage zum Aus- Mütter in unterem Forschungsbeispiel konnten indi-
druck gebracht wird. Forschung in der hermeneu- viduelle Erfahrungen und Reaktionen darauf, Mutter
tischen Tradition wird vom Ziel getragen, ein tiefes eines kleinen Kindes mit einer Behinderung zu sein,
Verständnis für eine bestimmte Erfahrung zu errei- aus einer „Insider-Perspektive“ anbieten. Sie wurden
chen. Der Aufbau der „richtigen“ Frage beeinflusst daher als „keyinformants“, d. h. als Schlüsselperso-
den gesamten Forschungsprozess. nen, für das Thema erachtet. Health-service-delive-
ry-Forschungen haben gezeigt, dass es mehrere Rea-
Beispiel litäten der Erfahrung mit Behinderung gibt, deren
Die Forschungsfrage der Studie über die Reaktio- Komplexität die Überzeugungen und die Perspekti-
nen von Müttern auf Kinder mit Behinderungen ven der Gesundheitsprofessionisten übersteigt (Hol-
(Ferris 2013) lautete: Was sind die Reaktionen einer loway u. Freshwater 2007).
Gruppe von Müttern, die in einer ländlichen und
abgelegenen Region Australiens leben, darauf, ein Beispiel
kleines Kind mit einer Behinderung zu haben, das Die Studienteilnehmerinnen waren 19 Mütter, die ein
eine spezialisierte Therapie für das frühe Kindesalter Kind mit einer Behinderung im Alter von 2–5 Jahren
(„specialist early childhood therapy“) erhielt? hatten. Alle Mütter lebten in einer ländlichen Region
im Süden Australiens, die Kinder erhielten eine spe-
„Mothering“ (Muttersein) umfasst mehrere Absich- zialisierte Therapie für das frühe Kindesalter („spe-
ten, Reaktionen und interaktive Prozesse, die häufig cialist early childhood therapy“), die auf verschie-
stillschweigend, unterbewusst und im Kontext auf- denste Aspekte der Behinderung fokussiert war.
treten. Der Schwerpunkt der Forschung lag auf
den subjektiven Beziehungserfahrungen zwischen z z Identifikation des Vorverständnisses der
Müttern und ihren Kindern und den Auswirkun- Forscherin und Orientierung zum Thema
gen, die die Behinderung auf sie hat. Der Versuch, Hermeneutik ist nicht nur einfach eine For-
Reaktionen darauf, Mutter eines Kindes mit Behin- schungsmethode, sondern expliziert eine Haltung:
derungen zu sein, in einer abgelegenen geographi- eine Weise des Seins in der Welt. Hermeneutische
schen Region mit einem spezifischen akontextuel- Wissenschaftlerinnen bringen ihre Befangenhei-
len quantitativen Verfahren (z. B. Fragebogen) zu ten, Vorurteile und Annahmen in die Forschung
beschreiben, ignoriert die Komplexität der Realität ein, die Färbungen ihrer Interpretationen bewirken.
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
103 6
Gadamer (1996) bezieht sich auf die Elemente mit Müttern von Kindern mit Behinderungen be-
solcher Vorbedeutungen als die Mittel, mit denen schäftigt. (…) Mir war bewusst, dass die Tatsache,
sich die Forscher zum Thema hin orientieren, und dass ich eigene Kindern habe, dazu beiträgt, eigene
stellt fest: „Das Wichtigste ist, sich seiner eigenen Überzeugungen und Werte zum Muttersein zu ha-
Voreingenommenheit bewusst zu sein.“16 (Gadamer ben, viele von diesen Erfahrungen waren anders, als
1996, S. 269) die der Teilnehmerinnen. (…) Als ich die Geschich-
Als ersten Schritt der hermeneutischen Untersu- ten der Teilnehmer las, musste ich einen Schritt zu-
chung wird von Forschern erwartet, dass sie unter- rück machen, um meine eigenen Reaktionen auf die
suchen, was sie selbst zu dem Thema bringt und Wörter wahrzunehmen und zu bemerken und die
was ihre Haltung beeinflusst. Dies kann beispiels- Auswirkung der Signifikanz dieser Wörter und ihre
weise durch das Lesen von Texten in Bezug auf das Bedeutung auf meine Haltung zu bewerten.
Forschungsthema und durch das Schreiben und
Umschreiben von Texten, die die eigenen Lebens- Diese Forscherin hat zu halten versucht, was van
erfahrungen der Forscherin beschreiben, durchge- Manen (1997) als hermeneutische Wachheit („her-
führt werden. Gespräche mit Kolleginnen und das meneutic alertness“) bezeichnet. Hermeneutische
Führen eines Forschungsjournals unterstützen die Wachheit bezieht sich auf Situationen, in denen
Forscherin dabei, sich aktiv auf Veränderungen ihres Forscher einen Schritt zurück machen, um über die
Vorverständnisses zu konzentrieren, wenn der For- Bedeutung von Texten in Bezug auf ihre eigenen
schungsprozess voranschreitet. Das folgende Beispiel Ansichten zu reflektieren, anstatt die scheinba-
legt dar, wie die Forscherin zu ihrem Forschungs- ren Annahmen ihrer Präkonzeptionen und Inter-
thema kam. Im zweiten Beispiel wird das For- pretationen einfach zu übernehmen. Achtsame
schungsvorverständnis der Forscherin identifiziert. Untersuchungen der Beziehung zwischen den For-
schern, den teilnehmenden Menschen und der For-
Beispiel schung wurden in den Forschungsprozess eingebaut
Ich sprach eines Tages mit einer Mutter in der Klinik und sind im schriftlichen Bericht der Forschung
über die Schwierigkeiten, die sie erlebte, während expliziert.
sie sich um ihr Kind kümmerte. Ich erwartete Ant-
worten in Bezug auf die Schwierigkeiten bezüglich z z Durch den Dialog mit dem Text Verständnis
der Hilfsmittel oder den täglichen Aktivitäten. Statt- gewinnen
dessen begann sie zu schluchzen und erzählte mir, Diese Phase des hermeneutischen Forschungspro-
wie betrübt sie war. Ich war von dem, was wie Trauer zesses umfasst eine Reihe von Schritten, die nicht
klang, gerührt. Trauer über das Kind, das sie sich ge- notwendigerweise in einer linearen Abfolge zu absol-
wünscht hatte. Ich recherchierte in der Literatur vieren sind, sondern eher zirkulär erfolgen. Dies
nach Informationen über solche Trauerreaktionen beinhaltet Methoden, um die Textdaten zu erhalten
und fand Bezüge zum Konzept des „chronischen und das Geschriebene zu interpretieren. Es gibt viele
Kummers und Leids „17, die von Eltern von Kindern Wege, um Textdaten zu erhalten, und der hermeneu-
mit einer Behinderung erlebt werden. Ich stellte mir tische Ansatz kann mehr als einen dieser Wege in
die Frage, ob andere Mütter von Kindern mit einer einer Studie nutzen. In der Forschung im Gesund-
Behinderung ähnliche Reaktionen erlebten. heitsbereich können Daten Krankengeschichten,
Therapienotizen, Bilder, E-Mails, Patientenversor-
Beispiel gungsleitlinien und vieles mehr enthalten. Es über-
Ich habe chronische Gesundheitsprobleme in mei- steigt den Umfang dieses Kapitels, alle Möglichkeiten
ner eigenen Familie erlebt, die tiefe Reaktionen aus- zu skizzieren. Dieser Abschnitt wird sich daher auf
gelöst haben. (…) Ich habe mich als Ergotherapeutin 2 übliche Textquellen konzentrieren: geschriebener
im Bereich der frühen Förderung seit über 20 Jahren Text, der aus Interviews erzielt wurde, und Textdaten,
die aus den reflektierenden schriftlichen Aufzeich-
16 „The important thing is to be aware of one's own bias.“ nungen wie Feldnotizen und Geschichten gewon-
17 „Chronic sorrow“ nen wurden.
104 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
z z Hermeneutisches Interview
Eine der häufigsten Quellen von Textdaten sind Wichtige Punkte für die Gestaltung eines
Interviews zwischen Forschern und Teilnehmern hermeneutischen Interviews
des hermeneutischen Gesprächs. In der Hermeneu- 5 Wählen Sie ein Setting, das Privatsphäre
tik dient das Interview ganz bestimmten Zwecken. bietet.
Zum einen dient es als Mittel für die Erforschung 5 Wählen Sie einen Ort, an dem es keine
und Sammlung von Narrativen (oder Geschichten) Ablenkungen gibt und an dem es leicht ist
über Erlebnisse und Erfahrungen. Zum anderen ist zu hören, was die Personen berichten.
das Interview eine Möglichkeit, eine Gesprächsbe- 5 Wählen Sie einen angenehmen,
ziehung mit Menschen über ihre Erfahrungen zu komfortablen Ort.
entwickeln, während mit der Person über das vor- 5 Wählen Sie eine nicht bedrohliche
liegende Thema reflektiert wird (van Manen 1997). Umgebung.
Interviews ermöglichen es auch, Geschichten in den 5 Wählen Sie einen Ort, der leicht zugänglich
6 eigenen Worten mitzuteilen. ist.
Der Interviewprozess arbeitet in einem Umfeld 5 Wählen Sie einen Standort, der mit Audio-
von Sicherheit und Vertrauen, die zu Beginn festge- oder Videoaufzeichnung ausgestattet ist,
legt werden und während des gesamten Kontaktes falls dies erforderlich ist.
der Forscherin mit den Teilnehmerinnen eingehalten 5 Stellen Sie sicher, dass es keine
werden müssen. Ein hermeneutisches Interview wird Unterbrechungen durch Telefon oder
nach dem Vorbild eines Dialogs oder einer Konver- Besucher gibt.
sation durchgeführt. Ein Interviewleitfaden ist nütz- 5 Stellen Sie Sitzgelegenheiten zur
lich, soll aber nicht starr eingehalten werden. Die Verfügung, die die Mitwirkung und
erste Frage ist von entscheidender Bedeutung, da sie Interaktion fördern.
den Schauplatz vorgibt und in das Thema einführt.
Einleitende Fragen, die am besten funktionieren,
sind allgemein gehalten Fragen und Sachfragen, die
z z Aufnehmen und Transkribieren von
sich auf das Thema beziehen. Direkte Fragen sollten
Interviewdaten
hier vermieden werden, weil diese bedrohlich oder
störend wirken können. Ebenso sollten dichotome Das detaillierte Aufnehmen ist ein notwendiger
Fragen (ja/nein) vermieden werden, da sie die Kon- Bestandteil der Interviews, da die Aufnahmen die
versation „einfrieren“. Grundlage für die Analyse bilden. Drei Verfahren
Der Sprachfluss sollte sich den alltäglichen können zum Aufzeichnen der Daten verwendet
Gesprächen in der Lebenswelt der Person anglei- werden. Erstens, die Forscherin (oder der Transkri-
chen. Zur gleichen Zeit sollte ein bloßes Geplauder bierende bzw. die Schreibkraft) hört den Interview-
vermieden werden, hier gilt es, das Gespräch wieder aufnahmen zu und schreibt ein ausführliches wort-
sanft auf das Thema zurückzubringen. Der Forscher wörtliches Protokoll von allem, was gesagt und getan
nimmt die zentrale Rolle in Bezug auf die Person ein, wurde. Dieses Protokoll wird durch die Beschreibun-
alles, was die befragte Person sagt, beachtet er mit gen der Charakteristika, der Körpersprache und der
Aufmerksamkeit, Interesse und Geduld. Der For- allgemeinen Stimmung der Teilnehmenden während
scher formuliert keine autoritären Meinungen (und des Interviews durch die Forscher ergänzt (Schilling
Vorbeurteilungen) und verwendet keine Mahnun- 2006). Dieser Ansatz wird von einigen hermeneu-
gen. Anstatt zu versuchen, ein Interview zu verlän- tischen Forscherinnen befürwortet, die die Über-
gern, ist es besser, das Gespräch in 2 oder mehrere legenheit des Zuhörens während des Lesens von
Sitzungen zu unterteilen. Eine Zusammenfassung Text im Rahmen der Analyse bekräftigen (Fleming
der wichtigsten, zusätzlichen Punkte für die Durch- et al. 2003). Wenn hierfür die notwendigen finan-
führung eines hermeneutischen Interviews gibt die ziellen und personellen Ressourcen zur Verfü-
Übersicht. gung stehen, die Transkriptionen von Interviews in
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
105 6
einer angemessenen Zeitspanne hergestellt werden Dialogs zu sein. Dieses Verfahren wird daher am
können und die Worte und Formulierungen der besten in Folgeinterviews benutzt, bei denen die Ver-
Person für das Verständnis notwendig sind, stellt tiefung bestehender Texte im Fokus steht.
dies die Methode der Wahl dar.
Die wichtigsten Vorteile dieses Transkriptions- z z Verwendung schriftlicher Dokumente
verfahrens sind die Vollständigkeit und die Möglich- Eine Methode, die manchmal in Verbindung mit
keit, die es den Forschern bietet, während des Inter- Interviews verwendet wird, um die Sichtweise der
views aufmerksam und konzentriert zu bleiben. Menschen zu verstehen, ist es, geschriebene Daten
Die Transkriptionen können der befragten Person in Form von Dokumenten zu verwenden. Die Doku-
zu einem späteren Zeitpunkt vorgelegt werden, um mente sind vorhandene Datensätze und bieten oft
weitere Kommentare und ein erweitertes Verständ- die Möglichkeit, mehr über den Kontext oder über
nis in späteren Stadien des hermeneutischen Zirkels die Menschen zu erfahren und zu verstehen, wie
zu erhalten. Die Hauptnachteile liegen im Zeit- und dies auf andere Weise nicht beobachtbar oder fest-
Ressourcenaufwand, um vollständige Transkrip- stellbar ist. Dokumente können nach Guba und
tionen zu produzieren, und in der hemmenden Lincoln (2005) in 2 Hauptkategorien unterteilt
Wirkung, die Aufzeichnungen auf manche Men- werden: öffentlichen Aufzeichnungen und persön-
schen haben. Wenn diese Technik gewählt wird, ist liche Dokumente.
es wichtig, dass den Interviewpartnern Vertraulich-
keit gewährleistet wird und dass ihre Berechtigung Öffentlichen Aufzeichnungen („public records“) Diese
hierfür erhalten wird. Materialien werden erstellt, um ein Ereignis zu attes-
Ein zweites mögliches Verfahren für die Auf- tieren oder zu dokumentieren („attesting an event“
zeichnung der Interviews zielt weniger auf die Wort- (Guba u. Lincoln 2005). Öffentliche Datensätze, die
für-Wort-Transkription des Interviews ab, sondern in der gesundheitswissenschaftlichen Forschung ver-
basiert mehr auf den von der Forscherin während der wendet werden, sind beispielsweise Patientendaten und
Aufnahmen getätigten Notizen. Nach Beendigung Behandlungsrichtlinien, aber auch Dokumente wie his-
des Interviews hört sich die Interviewerin sobald wie torische Berichte, institutionelle Leitbilder, Jahresbe-
möglich nochmals das aufgezeichnete Interview an, richte, standardisierte Testberichte, Besprechungspro-
um bestimmte Fragen zu klären und um zu bestäti- tokolle, interne Vermerke, strategische Handbücher,
gen, dass alle wichtigen Punkte in die Notizen aufge- institutionelle Geschichtsbücher, offizielle Korres-
nommen wurden. Diese Vorgehensweise empfiehlt pondenzen, demographische Materialien, Medienbe-
sich, wenn die Ressourcen knapp sind und wenn die richte und Beschreibungen von Therapien und thera-
Ergebnisse in einer kurzen Zeit vorliegen müssen. peutischen Programmen. Diese Materialien können
Ein offensichtlicher Nachteil dieser Vorgehensweise sowohl für das Verständnis des Kontextes als auch für
ist, dass die Forscher selektiver oder voreingenom- die Erfahrungen von Menschen, die in der hermeneu-
mener sein könnten. Dies beeinflusst die Auswahl tischen Forschung involviert sind, hilfreich sein.
dessen, was sie berichten bzw. schreiben, und es wird
ein Verständnis gefördert, das näher bei den bereits Persönliche Dokumente Darunter werden Schilde-
bekannten Vorannahmen und Ideen liegt. rungen von Ereignissen und Erfahrungen aus erster
Im dritten Ansatz verwenden die Forscher Hand durch die Personen selber verstanden. Diese
keine Aufzeichnungen, sondern fertigen detaillierte können als „documents of life“ verstanden werden
Notizen während des Interviews an. Die Notizen und beinhalten Tagebücher, Fotografien, Kunst-
werden aus dem Gedächtnis direkt nach dem Inter- werke, Terminplaner, Scrapbooks18, Gedichte, Briefe
view schriftlich erweitert und erklärt. Dieser Ansatz
ist zwar sinnvoll, wenn die zeitlichen Ressourcen
18 Anmerkung des Übersetzers: Unter Scrapbooks werden
knapp sind. Allerdings ist es nahezu unmöglich, im angloamerikanischen Raum leere Bücher verstanden,
gleichzeitig ein Gespräch zu dokumentieren und die mit Fotos, persönlichen Notizen, Zeitungsartikeln, Ein-
selber Teilnehmer eines komplexen menschlichen trittskarten etc. angereichert werden.
106 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
und Geschichten. Persönliche Dokumente können Selbst jetzt, wie ich zurückdenke, muss ich meine
der Forscherin helfen, vertiefend zu verstehen, wie Tränen zurückdrängen, wenn ich mich erinnere, wie
ein Mensch die Welt sieht und was er kommunizieren ich in einem Zimmer sitze und ein paar einfache Wör-
möchte. Informationen aus persönlichen Dokumen- ter höre, die mein Leben für immer verändert haben.
ten können auch verwendet werden, um Interview- Zweite Mutter:
fragen zu erzeugen, und sie können der Forscherin Von mir wird erwartet, dass ich die Starke bin. Die
eingangs helfen, sich in der Lebenswelt einer Person Mutter und Anwältin, die die Zügel der Behandlung
zu orientieren, bevor ein intensiver Dialog darüber meines Sohnes in die Hand nimmt, und die ihm al-
aufgenommen wird. les, was er nur jemals brauchen wird, zur Verfügung
Im Forschungsbeispiel, dass in diesem Kapitel stellt, damit er seine Herausforderungen meistern
beschrieben wird, verwendete die Forscherin 2 Nar- kann. Meine Rolle hat sich verändert, von einer trau-
rative, um Text für die Interpretation zu erhalten: ernden Mutter zu einem Fels in der Brandung, als ich
sowohl Lebensgeschichten, die eingangs im Privaten begann seine Behinderung der erweiterten Familie
6 von den Müttern geschrieben wurden, als auch Fol- zu erklären. Plötzlich wurde ich gelobt, wie gut ich
low-up-Interviews. In der ersten Instanz wurden die das alles „bewältige” und was für einen „tollen Job”
teilnehmenden Mütter gebeten, „einfach darüber zu ich leiste. Da hatte ich das Gefühl, dass ich mich so
schreiben, wie es ist, Mutter ihres Kindes zu sein“. Sie verhielt, wie eine Mutter eines behinderten Kindes
konnten über beliebiger Aspekte des Themas schrei- sich verhalten soll. Ich darf mich nicht bedauern.
ben und beliebige Texterzeugungsverfahren ver- Bis zum jetzigen Tag verbreite ich das für jeden um
wenden: Computertext, handschriftlicher Text oder mich herum. Die Realität ist freilich eine andere.
Audioaufzeichnungen, die dann zu Text transkribiert
wurden. Alle Mütter wählten die schriftliche Form z z Interpretation des Textes
der Textverfassung, die Länge der Texte lag zwischen Sobald die Daten vorliegen, sind mehrere Schritte
einer und 20 Seiten. Sie berichteten, wie sehr sie die an der Interpretation der Textdaten beteiligt. In der
Möglichkeit wertschätzten, ihre Gefühle im priva- hermeneutischen Forschung beginnt die Analyse,
ten Setting aufzuschreiben. Viele entdeckten, dass sie sobald das erste Interview oder der erste Text vor-
zum ersten Mal die Möglichkeit hatten, zusammen- liegt. Später gewonnene Interviewdaten werden dann
hängend über ihre Gefühle und Gedanken reflektie- zum jeweiligen Zeitpunkt der Erstellung analysiert.
ren zu können. Die folgenden Textbeispiele enthal- Bei der Analyse orientiert man sich an nachfolgen-
ten kurze Ausschnitte aus den Texten zweier Mütter. den Verfahren.
Thema 2:
“Ich kann mich nicht an einen Tag in den letz ten 15 Monaten Sorge ist eine allge-
erinnern, wo nicht die Wor te Autismus oder autistisch in genwärtige Reaktion
meinen Gedanken vorgekommen sind. An manchen Tagen ist und dauert an, so
es nichts anderes, kein Komma nach als die Erinnerung an einen Termin, lange das Kind
an ande-ren ist es ein Gespräch mit meinem Mann, manchmal eine auf- lebt.
gez wungene Erklärung fur einen unwissenden Fremden und an Thema 4:
manchen Tagen ist es noch immer genug, um mich zum Die Intensität der
Weinen zu bringen. Sorgenreaktion kann
variieren, nimmt aber
nicht ab.
6
. Abb. 6.4 Codierung und Interpretation im Rahmen der Hermeneutik
effizient zu unterstützen. Zu den Grundfunktionen, oder Gruppen wesentlicher Themen geclustert. Das
die von diesen Programmen unterstützt werden, Beispiel in . Abb. 6.4 stammt aus den Codierungs-
gehören die Textverarbeitung, die Notizen und notizen der Forscherin und ist ein Beispiel dafür, wie
Memoanfertigung, das Codieren und die Textre- ein Abschnitt des Narrativs einer Mutter durch die
cherche (Lewins u. Silver 2007). Aktuelle qualitative Forscherin interpretiert wurde. Das Beispiel zeigt 2
Datenanalysesoftware beinhaltet üblicherweise ein Themen, die gefunden wurden und die sich in den
visuelles Präsentationsmodul, dass es den Forschern Narrativen aller Mütter wiederholt haben.
ermöglicht, die Beziehungen zwischen den Katego-
rien darstellbar zu machen. Einige Programme erlau- Finalisieren der Interpretationen Die Interpreta-
ben es darüber hinaus, die Codierungshistorie auf- tion ist ein fortlaufender, konzeptioneller Prozess.
zuzeichnen, um den Überblick über die Entwicklung Jedoch erreicht sie irgendwann einen Punkt, an dem
der Interpretationen halten zu können. Sobald mit sie beendet wird und der Forscher sich für die bis zu
vielen Interviews zu arbeiten ist oder ein ganzes For- diesem Zeitpunkt aus den Daten abgeleiteten Bedeu-
scherteam im Projekt tätig ist, erweist sich Daten- tungen entscheiden muss. Forschungsaktivitäten in
analysesoftware zur Unterstützung des Prozesses als dieser Phase bestehen beispielweise aus der weiteren
vorteilhaft. Kleinere Studien, wie jene, die in diesem Erforschung der Eigenschaften und Dimensionen
Kapitel veranschaulicht wird, werden am besten „von der Kategorien, dem Identifizieren von Beziehun-
Hand“ gemacht, sodass die Forscherinnen einen gen zwischen den Kategorien, dem Aufdecken von
engen Dialog mit den Daten eingehen können. Mustern und der Überprüfung thematischer Kate-
Im Forschungsbeispiel, das in diesem Kapitel gorien gegen die vollständige Bandbreite der Daten
präsentiert wird, hat die Forscherin die Daten mehr- (Bradley 1993).
fach auf ihre Vollständigkeit und die Richtigkeit der Dies ist ein entscheidender Schritt im begriffli-
Transkriptionen mit den aufgezeichneten Inter- chen Interpretationsprozess, und der Erfolg beruht
views überprüft. Die geschriebenen Lebensgeschich- fast ausschließlich auf den Schlussfolgerungsfähig-
ten und die anschließenden Interviewtranskripte keiten („reasoning“) des Forschers. Das folgende
wurden dann untersucht und in Statements gliedert, Beispiel stellt dar, wie die Forscherin Unterthe-
ein Prozess, den Creswell (2007, S. 55) als „Horizon- men innerhalb einer thematischen Kategorie grup-
talisierung“ bezeichnet. Diese Aussagen wurden piert hat. Diese thematische Kategorie stellt dar,
dann unter Verwendung eines Cut-and-Paste-Ver- wie Eltern eine Erschütterung („shock“) bei der
fahrens zu Gruppen mit ähnlichen Bedeutungen initialen Entdeckung erfahren, dass ihr Kind eine
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
109 6
Entwicklungsstörung hat. Für die Unterthemen interpretativ, und die Interpretation stellt immer das
dieser Kategorie verwendete die Autorin Ausdrü- persönliche und konzeptionelle Verständnis der For-
cke, die direkt in den schriftlichen Narrativen der scherin zum Gegenstand der Untersuchung dar. Ein
Eltern auftauchten. akzeptabler hermeneutischer Bericht sollte daher
den zirkulären Prozess der Forschung selbst reflek-
Beispiel tieren: Ausreichende Beschreibungen erlauben es
Thema 3: Eltern empfinden einen Schock bei der anderen, die textliche und inhaltliche Basis der Inter-
ersten Entdeckung pretationen des Forschers zu verstehen, und ausrei-
Unterthemen: chende Interpretationen ermöglichen es anderen
4 Schock wiederum, ein tieferes Verständnis der Beschreibung
4 Du weißt nicht, wie du es herausfinden wirst des Forschungsthemas zu erlangen.
4 Komplikationen
4 Nichts bereitet dich darauf vor Vertrauenswürdigkeit Wie bei anderen Methoden
4 Bist du sicher? der qualitativen Forschung üblich, sind hermeneu-
4 Das muss ein Irrtum sein tische Forscher dafür verantwortlich, die Vertrau-
4 Bitte nicht. Nicht ich. enswürdigkeit des Forschungsprozesses und den
4 Der Traum geht verloren Wahrheitsgehalt der Analyse zu etablieren. Die hier
4 Was dir die Diagnose nicht sagt von Guba und Lincoln (2005) beschriebenen Kri-
4 Verzögerungen bei der Diagnose terien eignen sich besser für qualitative Studien als
die quantitativen Begriffe der Reliabilität und Vali-
z z Über die Ergebnisse berichten dität und können im Rahmen hermeneutischer For-
Um die Studie replizierbar zu machen und die Ver- schung zur Anwendung kommen. In Forschungsta-
fahren transparent zu halten, ist es notwendig, die gebüchern („write-ups“) werden sowohl die Schritte
Interpretationsverfahren und -prozesse so vollstän- der Forschung als auch die verschiedenen Entschei-
dig und wahrheitsgemäß wie möglich wiederzuge- dungen, die während der laufenden Analysephase
ben (Patton 2002). Die hermeneutische Forschung (wie bereits oben erwähnt) ablaufen, transparent
hat den Anspruch, dass die Forscher ihre Ent- dokumentiert. Dieser Vorgang wurde als „auditabi-
scheidungen und Verhaltensweisen bezüglich der lity“19 (Guba u. Lincoln 2005) bezeichnet und ist eine
Codierung ebenso wie die Methoden, die verwen- Grundkomponente der Vertrauenswürdigkeit qua-
det worden sind, ausweisen, um die Vertrauenswür- litativer Forschung.
digkeit der Ergebnisse darzulegen. Die Präsentation Glaubwürdigkeit und Bestätigbarkeit werden
von Forschungsergebnissen einer hermeneutischen ebenfalls als wesentliche Bestandteile der Vertrauens-
Analyse stellt eine Herausforderung dar. Obwohl es würdigkeit erachtet (Clayton u. Thorne 2000). Glaub-
eine übliche Praxis ist, typische Zitate zu verwenden, würdigkeit bezieht sich auf eine „angemessene Ver-
um Schlussfolgerungen zu rechtfertigen (Schilling tretung der Konstruktionen der sozialen Welt, die
2006), können auch andere Informationen, etwa beforscht wird“20 (Bradley 1993, S. 436). Diese Ange-
Matrizen, Grafiken, Diagramme und konzeptionelle messenheit wird dann hergestellt, wenn die Perspekti-
Netzwerke, eingearbeitet werden. ven der Teilnehmer sowohl umfassend und so kohärent
Die Form und der Umfang des Abschlussbe- wie möglich als auch im Kontext dargestellt werden.
richts hängen von den spezifischen Forschungszie- Die Verwendung direkter Zitate aus den Texten ermög-
len der Fragestellung ab, und die Verbindung zu den licht es den Lesern, eigene Urteile über die Größe der
Forschungsfragen muss klar werden (Patton 2002). Übereinstimmung zwischen der Interpretation und
Bei der Vorstellung der Ergebnisse der hermeneu- dem zitierten Text zu fällen. Bestätigbarkeit bezieht
tischen Forschung sollte immer ein Gleichgewicht
zwischen Beschreibung und Interpretation bestehen.
Reiche, dichte Beschreibungen schaffen den kontex- 19 Prüfsicherheit, Revisionssicherheit
tuellen Hintergrund für die Auslegung. Allerdings 20 „Adequate representation of the constructions of the
ist hermeneutische Forschung in ihrem Grundsatz social world under study“
110 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
. Tab. 6.6 Elemente der Glaubwürdigkeit und der Aufrichtigkeit bei der Bewertung hermeneutischer Forschung
Kohärenz Die Interpretation eines Textes stellt ein klares, einheitliches Bild des Ganzen und seiner Teile
ohne Widersprüche dar.
Umfang Das Interpretieren des Textes nimmt Kenntnis von den „Gedanken“ der Teilnehmer.
Durchdringung Die Interpretation ist durchdringend, sie bringt unsere zugrunde liegenden Gedanken und
Absichten in Aussagen zutage, liest zwischen den Zeilen und achtet sowohl darauf, was weg-
gelassen wurde, als auch auf die Stille.
Gründlichkeit Die Interpretation versucht, alle Forschungsfragen zu beantworten, die an die Textdaten
gestellt wurden.
Kontext Der Text wird weder aus dem Zusammenhang herausgerissen gelesen, noch wird über ihn
aus dem Zusammenhang herausgerissen berichtet.
6 Einigkeit Eine Auslegung stimmt dem eindeutig zu, was der Text zu sagen hat.
Fragen aufwerfen Eine endgültige Interpretation wirft weitere Fragen auf, die beim Leser weitere Interpretatio-
nen stimulieren.
sich auf „das Ausmaß, in dem die vom Forscher pos- wurden, darzulegen. . Tab. 6.6 fasst die methodischen
tulierten Charakteristika der Daten durch andere, Grundprinzipien zusammen, die verwendet werden,
die die Forschungsergebnisse lesen, bestätigt werden um Zuverlässigkeit und Aufrichtigkeit22 im Rahmen
können“21 (Bradley 1993, S. 437). Bestätigbarkeit kann des hermeneutischen Ansatzes zu etablieren.
durch mehrere Möglichkeiten erreicht werden, etwa
durch Bestimmung des Niveaus der Textdurchdrin- Mitteilen der Ergebnisse Mit dem Schreiben über
gung, Überprüfung der Interpretationen gegen die die Daten kommt das „making sense“, d. h. es entsteht
Rohdaten, „peer debriefing“ und Überprüfung der das Verständnis der Daten. Der letzte Akt einer Inter-
Interpretationen mit den Teilnehmern. pretation tritt zu einem beliebigen Zeitpunkt auf,
Die Ansichten über die Wahrhaftigkeit der wenn der Forscher über das schreibt, was im Dialog
Analyse können in der hermeneutischen Tradi- mit der Gesamtheit der Daten und deren Teile ent-
tion von anderen qualitativen Ansätzen abwei- deckt worden ist. Das Schreiben über die Erkennt-
chen. Gadamer (1996) zum Beispiel nimmt an, dass nisse bringt die Entscheidungen mit sich, festzulegen,
es kein universell „wahres“ Statement gibt, weil es was in die Beschreibung aufgenommen werden soll
weder möglich ist, Erklärungen aus dem Kontext, in und was nicht, welche Interpretationsaspekte betont
dem sie gemacht wurden, noch von der Komplexi- werden und in welcher Form der Bericht erfolgt. Die
tät der Interpretation, die ihr durch die Forscherin Ergebnisbeschreibung in der hermeneutischen For-
auferlegt wurde, loszulösen. In der hermeneutischen schung unterscheidet sich von anderen Formen der
Forschung wird das Verständnis durch die Kohärenz Forschungsberichterstattung, da die Dokumentation
des Ganzen und seiner Textteile erreicht. Vertrauens- der Bedeutungen, die im Text gefunden wurden, mit
würdigkeit wird daher durch den in der Forschung einer Diskussion über sie verschmilzt. Das zirkuläre
verwendeten Forschungsprozess erzielt und nicht Denken, das Teil der hermeneutischen Methodologie
durch die Schlussfolgerungen des Forschers. Es liegt ist, kann zu Schwierigkeiten und Redundanz beim
in der Verantwortung der Forscherin, genügend Ein- Schreiben führen. Daher ist es empfehlenswert, vor
zelheiten der verwendeten Prozesse zu schildern und dem Beginn des Verfassens einer endgültigen Inter-
die Ergebnisse, die durch die Interpretationen erzeugt pretation über die Interpretationen nachzuden-
ken und sich eine Liste möglicher Interpretationen
21 „The extent to which the characteristics of the data, as
posited by the researcher, can be confirmed by others
who read the research results“ 22 „Trustworthiness and truthfulness“
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
111 6
Die Mütter stellten ihre eigenen persönlichen Bedürfnisse und Dem interpretativen
Ziele zurück, um zusätzliche Aufgaben durchführen zu können, Statement folgt eine
die die Behinderung ihres Kindes erfordert, ebenso wie auch Beschreibung der Inter-
die mütterlichen Aufgaben, denen sich alle Mütter verpflichtet pretation, die eine
fühlen. Sally berichtete über die Erfahrung in der Betreuung Fusion der Wörter des
ihres Kind als ... es ist den ganzen Tag, jeden Tag. Es gibt keine Forschers und der
”
Pause. Er braucht dich, um sein Gehim zu sein und um ihm bei Teilnhmer verwendet
seinen Entscheidungen und Denkprozessen zu helfen.“
Die Mütter wollten, dass ihre Kinder betreut werden, qualitäts-
volle Erfahrungen in ihrem täglichen Leben haben und class sie Dem interpretativen
sich sicher fühlen. Sie waren sich aber nicht immer uber die Art Statement folgt eine
der Betreuung, die ihre Kinder brauchten, sicher oder wer sie Beschreibung der Inter-
anbleten könnte, wenn sie es nlcht selber taten. Als lhr Kind pretation, die eine
mehr Unabhängigkeit, vor allem in den Selbsterhaltungs- Fusion der Wörter des
fähigkeiten, entwickelte, fühlte Patricia ein Erfolgserlebnis zu Forschers und der
”
wissen, dass er funktiosfähig war, ohne dass ich immer 24 Teilnhmer verwendet
Stunden am Tag um ihn herum sein muss, das ermöglichte es
mir zu“ ahhhhh Atmen.“
”
. Abb. 6.5 Beispiel eines hermeneutischen Berichts (für die Mütter und die Kinder wurden Pseudonyme verwendet)
anzulegen. Eine Reihe von Strategien kann verwen- Interpretationen werden ebenfalls beschrieben, um
det werden, um die Punkte in diesem Forschungsab- die Interpretationen der Forscherin dazulegen. Im
schnitt zu sortieren und zu organisieren. Beispiel in . Abb. 6.5 wird dargelegt, dass hermeneu-
In der hermeneutische Forschung ist es tisches Schreiben eine Fusion aus der Beschreibung
die Aufgabe des Schreibers, die Gedanken und und der Interpretation des Dialogs des Forschers und
Gefühle des Lesers in einer Weise zu stimulieren des Teilnehmers darstellt. Das Beispiel stammt aus
und zu halten, das weitere Interpretationen fazili- dem Write-up23 der Studie, die als Beispiel in diesem
tiert werden (Gadamer 1996, S. 393). Die Forsche-
rin gestaltet das Schreiben klar, aber eindrucksvoll.
23 Anmerkung des Übersetzers: Unter Write-up wird im ang-
Direkte Zitate von Teilnehmerinnen (oder andere loamerikanischen Raum üblicherweise eine Niederschrift
Texte) werden verwendet, um die Interpretationen im Sinne einer schriftlichen Notiz oder eines schriftlichen
zu veranschaulichen. Die Quelle und der Kontext der Berichts verstanden.
112 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
Kapitel verwendet wird, und beschreibt das Vorhan- nicht nur für eine Forscherin, sondern auch für ein
densein von chronischem Kummer von Müttern, ganzes Team. Er erfordert vor allem auf Seiten der
die Kinder mit Behinderungen haben (Ferris 2013, Forschungsleiter und der Studenten viel Zeit und
S. 106–107). Das Unterthema „Ein Leben lang die Energie. Forschungsstudenten, die diesen Ansatz
Last sich zu kümmern“24 enthielt die folgenden 3 erwägen, wird daher empfohlen, eine kleine, über-
Aspekte, die ein Teil jedes Themas sein sollte, von schaubare Samplegröße zu verwenden. Schließlich
dem berichtet wird: konzentriert sich die Hermeneutik auf Erfahrungen,
4 Verwendung von Wörtern, die direkt aus dem die einzigartig für den Menschen und ihr jeweiliges
Text stammen Setting sind. Daher können die Erkenntnisse weder
4 Kontextualisieren des Textes auf eine größere Population verallgemeinert, noch
4 Interpretation der Textteile innerhalb des als alleinige Grundlage für (gesundheits-)politische
Ganzen Entscheidungen verwendet werden.
ProjektpartnerInnen
und -strukturen
Bindestrich Bindestrich
an die richtige an die richtige
Stelle setzen Stelle setzen
Organisationen
A A in der
A
A Kommune
Steuergruppe: A
AA, ÖAK, A A
A A
Wissenschaftler A
18 Apotheken Menschen
A
A mit
6 Projektteam: A A
A Demenz
Wissenschaftler A
A A
Betreuende
Angehörige
Beirat:
Angehörige
Palliative Care
Gesundheitsförderung Fördergeber
Apothekenmitarbeiter
Ergebnissen ist zu bedenken, dass neben der 3 genannten Organisationen, trifft gemeinsame Ent-
wissenschaftlichen Community (Zwischen-) scheidungen. Beratend steht der Steuergruppe ein
Ergebnisse des Forschungsvorhabens auch Beirat zur Seite, der Fachexpertinnen und betreuen-
an die Praxispartner in geeigneter Form de Angehörige einschließt. 18 Apotheken aus Wien
kommuniziert werden. Aus einer forschungs- und Niederösterreich beteiligen sich am Projekt
ethischen Perspektive lässt sich argumentieren, (. Abb. 6.6). Als gemeinsame Ziele wurden definiert:
dass diejenigen, die an der Forschung und Die Beteiligung von Apotheken an der Beratung und
Entwicklung von Maßnahmen beteiligt sind, Betreuung von Menschen mit Demenz und von be-
auch über zentrale Ergebnisse informiert treuenden Angehörigen in der Kommune zu erhö-
werden sollen, um diese aus ihrer Perspektive hen und die Lebensqualität bei diesen beiden Ziel-
zu kommentieren (von Unger 2014). gruppen zu fördern, aber auch im Apothekensetting
umsetzbare Maßnahmen zu entwickeln.
Beispiel In der ersten Phase des Projekts wurde aufbauend
Das Projekt „Demenzfreundliche Apotheke” illust- auf einer Bedürfniserhebung mit betreuenden An-
riert die oben beschriebenen Prozesse. In diesem gehörigen und einer Bedarfserhebung mit Mit-
Projekt kooperieren Wissenschaftler des Instituts für arbeiterinnen in den teilnehmenden Apotheken
Palliative Care und Organisationsethik mit der Selbst- eine Workshop-Reihe konzipiert, um Wissen und
hilfegruppe Alzheimer Austria (AA) und der Öster- Kompetenzen der Mitarbeiterinnen zu fördern und
reichischen Apothekerkammer (ÖAK). Eine Projekt- um Räume zur Reflexion über die professionelle
steuergruppe, bestehend aus Teilnehmern aus den Praxis und die Anliegen der betreuenden Angehö-
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
115 6
rigen und Menschen mit Demenz zu eröffnen. Die
Teilnehmenden reflektierten bereits in dieser Pha-
se die Umsetzbarkeit möglicher Interventionen in
der Apotheke unter den ökonomischen Vorzeichen
eines Kleinbetriebs, zum Beispiel: Wie lassen sich län-
gere Beratungsgespräche in einem Apothekenalltag
realisieren, der von kürzeren Kontakten und einem
. Abb. 6.7 Logo des Projekts „Demenzfreundliche
produktbezogenen Fokus der Beratung geprägt ist? Apotheke“
Anschließend hatten die Apothekenmitarbeiter die
Möglichkeit, begleitet und beraten durch die Wis-
senschaftlerin und im Austausch mit Kolleginnen Problemstellungen. Über die Zusammenarbeit in oft
aus den Partnerapotheken, Maßnahmen in „ihrer” interdisziplinären Forschungsteams mit Praxispart-
Apotheke bzw. im lokalen/regionalen Umfeld zu ner kann sichergestellt werden, dass Fragestellungen
entwickeln. Diese Praxisprojekte reichten von einer und die Bearbeitung der Themen für die Beteiligten
demenzsensiblen Arzneimittelberatung über die relevante Erkenntnisse bringen. Damit in Zusam-
Wissensvermittlung zu Beratungs- und Unterstüt- menhang stehen das prozesshafte Vorgehen und die
zungseinrichtungen bis zu in der Kommune ange- während des Projekts gesammelten Erfahrungen, die
siedelten Projekten mit lokalen Partnern (z. B. Pfle- ein Lernen während des Tuns ermöglichen.
gedienste, Gemeinde, Kino, Buchhandlung).
Im Verlauf des Projekts ist es gelungen, dass sich z z Schwächen
in einem partizipativen Prozess alle am Projekt be- Diese Offenheit im Vorgehen birgt umgekehrt das
teiligten Akteure auf ein Logo verständigten, das Risiko in sich, dass die Erkenntnisse, die im Kontext
eine doppelte Zielsetzung erfüllt: Das Angebot des Anwendungsgebiets neu und innovativ sind, in
der Apotheken wird sichtbar gemacht und gleich- den entsprechenden „scientific communities“ mögli-
zeitig wird zur Entstigmatisierung beigetragen cherweise schon ähnlich veröffentlicht wurden. Auch
(. Abb. 6.7). Eine im Verlauf des Projekts entwi- die Veränderung von Fragestellungen im Laufe des
ckelte Toolbox soll die Projektergebnisse nachhal- Forschungsprozesses durch Partizipation kann pro-
tig sichern: Sie enthält erfolgreiche Maßnahmen, blematisch werden. Darüber hinaus bewegen sich
Handreichungen und Informationsbroschüren, die Projekte der partizipativen Gesundheitsforschung
im Projekt erprobt wurden. Darüber hinaus wird am prinzipiell an der Grenze von Wissenschaft und
Aufbau eines Netzwerks „Demenzfreundliche Apo- Praxis. Dadurch werden sie innerhalb von wissen-
theken“ gearbeitet. schaftlichen Paradigmen, die Objektivität und Kon-
In diesem Forschungsprojekt wurden auch „klas- textunabhängigkeit fordern, kritisch betrachtet. Es
sische“ Erhebungsmethoden verwendet, wie zum geht auch um die Frage, wodurch sich spezifisch
Beispiel Fragebogenerhebungen durch das Evalua- wissenschaftliches Wissen auszeichnet (Felt et al.
tionsteam (Plunger et al. 2014), eine Fokusgruppe 1995). Eine Herausforderung für partizipative For-
und Tiefeninterviews mit betreuenden Angehörigen schungsvorhaben ist die Sicherung der Nachhaltig-
(Tatzer et al. 2014) sowie Beobachtungen und Feld- keit sowohl von Projekterkenntnissen als auch von
notizen. Der Beteiligungsgrad der Praxispartner am Partnerschaften, die entstanden sind. Hier lohnt es
Forschungsprozess (Bergold u. Thomas 2012, von Un- sich, bereits frühzeitig im Projektverlauf darüber
ger 2012) war im Laufe des Projektes unterschiedlich. nachzudenken, wie auch nach Projektende Ergeb-
nisse nachhaltig gesichert werden können.
1
2
3
4
X
6 Funktionen, das zum Beispiel folgende untergeord- Danach wird in der Tabelle in jedem Kästchen
nete Themen umfassen kann: emotionale Stabilität, eingetragen, was die Person zum jeweiligen Thema
Ängstlichkeit, depressive Verstimmungen, positive gesagt hat, als wortwörtliches Zitat aus dem Inter-
Gefühle etc. view oder in den Worten der Forscherin (selektives
Element). Es muss nicht das ganze Interview berück-
> Um eine gute Qualität der Analyse zu sichtigt werden, die Bedeutung der Inhalte darf aber
gewährleisten, ist es hier sinnvoll, dass keinesfalls verändert werden.
mindestens 2 Forscher einen Teil der Daten Diese Matrix gibt der Forscherin die Möglich-
(z. B. 10 %) getrennt voneinander analysieren keit, die Daten aus unterschiedlichen Sichtweisen zu
und dann die Ergebnisse vergleichen. Bei betrachten. So können die Ergebnisse aus der The-
unterschiedlichen Ergebnissen kann dann menbildung mit den Ergebnissen des Rasters vergli-
eine weitere Expertin zurate gezogen chen und dadurch auch quantifiziert werden. Zum
werden, um eine Entscheidung zu treffen. Beispiel besteht dann die Möglichkeit, das Thema
Wenn die Themen sehr strukturiert durch Zahlen zu ergänzen, zum Beispiel für wie viele
formuliert werden, zum Beispiel einem Probanden ein Thema eine Bedeutung hat. Des Wei-
bestimmten Schema folgen, können auch teren können durch dieses Raster auch qualitative
Kappa-Koeffizienten zur Übereinstimmung Daten mit quantitativen Daten verknüpft werden,
der beiden Forscher berechnet werden zum Beispiel durch eine Berechnung von Häufig-
(Stamm et al. 2005). keiten. Dies ergibt allerdings nur dann Sinn, wenn
eine große Fallzahl vorliegt.
4. Inhalte strukturieren und den Themen Wenn eine Interpretation der Daten erfolgen soll,
zuordnen sollte eine hermeneutische oder phänomenologische
Die Inhalte werden in diesem Schritt nun zusam- Methode gewählt werden, die Methode der qualitati-
mengefasst und strukturiert. Dies geschieht mit- ven Themenbildung ist dann nicht sinnvoll.
hilfe einer Matrix (Spreadsheet): In die erste Zeile
kommen Themen, die in den Daten genannt werden, 5. Themen im Detail beschreiben
und/oder Themen, die die Forscherin vorher festge- Die letzte Phase ist die Phase der Dissemination,
legt hat. In der ersten Spalte werden die Personen, also das Verfassen einer Bachelor-, Master- oder
Interviews bzw. Texte aufgezählt. Für Interviewdaten PhD-Arbeit, einer These und/oder Publikation:
gilt: Die Personen werden dann aufgezählt, wenn Die Daten werden nun anhand ihrer Eigenschaf-
eine Person mehrmals interviewt wurde und die ten, Unterschiede und Beziehungen zwischen den
Person als Einheit betrachtet werden soll. Kommen Kategorien beschrieben und dargestellt. Wörtliche
die Themen aus den Daten, kann mit einem Thema Zitate aus den Interviews dienen als Belege für die
begonnen werden, wobei dann im Zuge der Analyse Datenanalyse. Grundsätzlich ist es gut, an einem Bei-
weitere Themen ergänzt werden können (. Tab. 6.7). spiel zu verdeutlichen, wie der Forscher von einem
6.4 · Qualitative Datensammlung
119 6
Textabschnitt zu übergeordneten und untergeordne- 6.4 Qualitative Datensammlung
ten Themen gekommen ist.
Valentin Ritschl, Helmut Ritschl, Barbara Höhsl,
Stärken und Schwächen Barbara Prinz-Buchberger, Tanja Stamm
z z Stärken
4 Die Methode der qualitativen Themenbildung
ermöglicht eine breite und gut erlernbare 6.4.1 Wann werden Daten qualitativ
Auswertung von Daten, bei der durch andere gesammelt?
Verfahren die Ergebnisse noch vertieft werden
können (z. B. durch eine weitere hermeneu- Ein wichtiger Schritt im Forschungsprozess ist der
tische interpretative Analyse). Weg zu den Daten, also die Datensammlung. Dabei
4 Die Datenauswertung kann durch mehr oder wird prinzipiell zwischen „qualitativen“ und „quan-
weniger Strukturierung und durch eine kleine titativen“ Daten unterschieden. Quantitative Daten
oder große Fallzahl mehr in eine qualitative beziehen sich (fast) immer auf Messdaten von Tests,
oder quantitative Richtung gelenkt werden. Untersuchungen oder Assessments, d. h. beispiels-
4 Die Methode erlaubt, mit „unstrukturiertem“ weise nominale, ordinal skalierte oder metrische
und bereits bestehendem Datenmaterial zu Daten aus physiologischen, psychologischen oder
arbeiten. anatomischen Messungen. Qualitative Forschung
will Daten über die Auswirkungen der Umwelt, Ver-
z z Schwächen halten, Emotionen, Entscheidungen und Erfah-
4 Die Methode der qualitativen Themenbildung rungen erfassen. Dazu können meist keine phy-
liefert keine Interpretationen der Daten im siologischen oder psychologischen Messverfahren
Sinne einer hermeneutischen Analyse. herangezogen werden, sondern es muss der Mensch
4 Der Anwender muss reflexiv sein, um klar befragt oder beobachtet werden. . Abb. 6.8 zeigt
zwischen möglichst „objektiven“ Beobachtungen einen Entscheidungsbaum für die Wahl der Daten-
und „subjektiven“ Interpretationen unter- sammlung (erstellt nach Bortz u. Döring 2006, DePoy
scheiden zu können. Gerade einem unerfah- u. Gitlin 2005, LoBiondo-Wood u. Haber 2001).
renen Forscher kann beim Versuch, die Daten zu
kondensieren, eine Interpretation entstehen.
4 Um zu tiefgehenden Beschreibungen der 6.4.2 Methoden der qualitativen
Themen zu kommen, muss der Anwender bei Datensammlung
einem Interview nachfragen. Menschen neigen
beim Sprechen eher zu Interpretationen als zu Für die Sammlung qualitativer Daten stehen unter-
nachvollziehbaren Beobachtungen. Beispiel: schiedliche Methoden zur Verfügung. Diese müssen
„Und dann ist er gekommen und hat mich entsprechend des Ziels der Forschung gut ausgewählt
wieder mal geärgert!“ Wenn nun auf Nachfrage werden. In einem ersten Schritt muss unterschieden
der Forscher erfährt, dass „ärgern“ in dem Fall werden, ob die Daten neu erhoben werden müssen
bedeutet, dass der andere Mensch „zu spät oder ob es sich um bereits bestehende Texte handelt.
gekommen ist“, können Faktoren gesammelt Für bestehende Texte muss beachtet werden, dass die
werden. Ist jedoch lediglich bekannt, dass sich Recherche sauber und vollständig (z. B. systematisch
der Interviewpartner geärgert hat, kann der nach PRISMA) durchgeführt wird. Für neu zu erhe-
Forscher daraus keine klare Information ableiten. bende Daten muss zwischen Daten aus Beobach-
tungen und Selbstberichten unterschieden werden.
Zusammenfassung . Tab. 6.8 zeigt die Funktion, Stärken und Schwächen
Die Methode der qualitativen Themenbildung bie- der unterschiedlichen Möglichkeiten der qualitati-
tet eine gute Möglichkeit, in die beschreibende qua- ven Datensammlung (Bortz u. Döring 2006, DePoy
litative Forschung einzusteigen. Für interpretative u. Gitlin 2005, LoBiondo-Wood u. Haber 2001, Petty
Analyse eignet sich diese Methode nicht. et al. 2012).
6
120
...physiologischen, psychologischen oder ... Beobachtungen gewonnen werden können, ... bereits bestehenden Texten gewonnen werden ... Selbstberichten gewonnen werden können,
können, weil es sich zum Beispiel um eine
Kapitel 6 · Qualitative Forschung
anatomischen Messungen gewonnen werden können. weil diesem dem Teilnehmer nicht bewußt sind. weil diese nicht beobachtbar sind.
Literaturarbeit handelt.
Vernwendung von Messinstrumenten, Assessments, Bereits bekannte/beforschte Noch unbekannte Themen Bereits bekannte/beforschte Noch unbekannte Themen
Untersuchungen, Screenings. Themen und lnhalte und lnhalte Themen und inhalte und Inhalte
Führt zu einer (meist) quantitativen Auswertung. Fertige/standardisierte Feldforschung/freie Dokumenationen, Studien, Strukurierte Interviews/ Unstrukturierte Inteviews/
Verweis quantitative Datensammlung. Beobachtungsbögen Beobachungen Artikel, Briefe usw. Fokusgruppen, Fragebögen Fokusgruppen
Meist größere Anzahl an Teilnehmer Meist größere Anzahl an Meist kleinere Anzahl an Meist größere Anzahl an Meist größere Anzahl an Meist kleinere Anzahl an
Teilnehmer Teilnehmer Datensätzen / Personen Probandinnen Probandinnen
Wenn auf mehreren Ebenen Daten erhoben werden (siehe z.B. Mixed Methods oder Methodentriangulation), dann werden werden diese auch zusammengefuhrt, wobel wieder neue Daten entstehen.
Wann wird diese Beobachtungen werden immer dann ein- Gibt es bestehende Texte, aus denen Inhalte Selbstberichte werden immer eingesetzt,
Methode eingesetzt? gesetzt, wenn Umwelteinflüsse oder dem synthetisiert oder interpretiert werden sollen, wenn die zu erhebenden Daten nicht beob-
Probanden unbewusste Vorgänge beforscht können diese für eine qualitative Datenanalyse achtet werden können. Wenn es das Ziel der
werden sollen (z. B. ein Verhalten), Mimik oder eingesetzt werden. Dafür bieten sich Doku- Arbeit ist, Emotionen, Erleben, Erfahrungen,
Gestik kann nicht aktiv erfragt werden mentationen von Patienten an (retrospektive Entscheidungen oder Ähnliches zu beschrei-
6.4 · Qualitative Datensammlung
Datenanalyse), Artikel, Briefe oder Ähnliches ben, zu interpretieren oder zu verstehen, dann
ist die Forscherin auf Berichte der Probanden
angewiesen
Stärken der Methode Wenn verdeckte Beobachtung, dann so gut Retrospektive Analyse, dadurch keine Beein- Einblicke in das Erleben der Menschen
wie keine Beeinflussung der Datenerhebung flussung der Datenerhebung
Schwächen der Menschen fühlen sich beobachtet, Einfluss auf Retrospektive Datenanalyse, dadurch kein Ein- Wenig objektiv, da die Lebenswelt des Pro-
Methode Datenerhebung fluss auf Störfaktoren banden mit derjenigen des Forschers ver-
Bei unstrukturierten Beobachtungen können Manchmal ist das vorhandene Textmaterial schwimmt. Interpretationen sind oft subjektiv
entscheidende Prozesse aufgrund der Menge unvollständig, Fragen können nicht geklärt durch die Forscherin gekennzeichnet
an Beobachtungen übersehen werden werden
Unterstützung zur Videos können hilfreich sein, um mehr Zeit Es ist günstig, eine zweite Person in die Recher- Tonbandaufnahmen unterstützen die Auswer-
Durchführung bei der Beobachtung zu haben, allerdings che und Aufarbeitung einzuschließen und de- tung des Interviews. Zusätzlich sollten Fragen
stellen sie immer nur einen Ausschnitt der ren Resultate mit den eigenen zu vergleichen, notiert werden, damit der Redefluss der Pro-
Situation dar um möglichst objektiv in der Analyse zu sein banden nicht gestört wird
Vorgehen bei bereits (Standardisierte) Beobachtungsbögen, eng Strukturierte Interviews/Fokusgruppen, Frage-
bekannten Inhalten definierte Beobachtungsinhalte bögen mit offenen/geschlossenen Fragen
Vorteile/Nachteile Eventuell gehen „neue“ Erkenntnisse verloren, da nur auf Bekanntes fokussiert wird. Der Vorteil liegt in der Möglichkeit, größere Gruppen und damit
breitere Daten zu bekommen. Dadurch wird die Auswertung aber auch quantitativer (Dicicco-Bloom u. Crabtree 2006)
Vorgehen bei neuen Feldbeobachtungen, freie/unstrukturierte Be- Unstrukturierte Interviews/Fokusgruppen
Inhalten obachtungen
121
Vorteile/Nachteile Datenerhebung ist aufwendiger, allerdings können die Daten mehr in der Tiefe beschrieben werden
Sinnvolle Anzahl an Je unstrukturierter ein Vorgehen ist, desto kleiner ist die Probandenanzahl (<30). Je strukturierter vorgegangen wird, desto größer sollte die
Probanden Probandenanzahl sein (≤100). Bei Fragebögen sind es idealerweise über 100 Probanden, auch wegen der Tiefe/Breite des zu untersuchenden
Forschungsgebiets
6
122 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
> Die Wahl der Datensammlung wird – Dadurch können nicht ideal formulierte Fragen
ausgehend von der Fragestellung – von der geändert werden. Leitfäden können auch nach dem
gewählten Analysemethode vorgegeben. ersten „tatsächlichen“ Interview geändert werden.
Eine Ethnographie zum Beispiel benötigt Dies sollte aber nur eine Notlösung sein und aus-
meist eine teilnehmende Beobachtung in reichend dokumentiert werden.
Kombination mit Interviews (7 Abschn. 6.3.4). Insgesamt wird in der Literatur eine Spann-
weite von narrativen/unstrukturierten Interviews
Das Vorgehen bei der Datensammlung (Zeitpunkt bis zu sehr stark strukturierten Interviews beschrie-
der Erstellung von Leitfäden, Ethikkommission, Rek- ben. Ziel von unstrukturierten Interviews ist es, die
rutierung der Probandinnen usw.) entspricht dem Lebenswelt von Probandinnen zu erfahren. Pro-
des quantitativen Vorgehens (7 Kap. 7). bandinnen werden zum Erzählen aufgefordert –
ein Leitfaden gibt Initialfragen/Themen vor, die zum
Erzählen anregen sollen. Im weiteren Verlauf folgt
6 6.4.3 Erstellung der der Interviewer der Probandin. Beim halbstruktu-
Datensammlungsinstrumente rierten Interview gibt es einen etwas strukturier-
ten Leitfaden mit Fragen, die auf jeden Fall inhalt-
Bestehende Texte und lich vorkommen sollen. Der Leitfaden fungiert
Dokumentationen dann als Richtschnur für das Gespräch, wobei der
Es wird in der Literatur kein standardisiertes Proze- Proband freier erzählen soll als beim strukturierten
dere für die Datensammlung empfohlen. Bei Arti- Fragebogen. Strukturierte Fragebögen ähneln vom
keln für Literaturrecherchen sollte bei der Recherche Aufbau her einem Fragebogen wie in 7 Abschn. 7.3.1
wie in 7 Kap. 14 beschrieben vorgegangen werden. beschrieben. Der Proband antwortet auf die Fragen,
Abhängig von der Art des Reviews unterscheidet er soll inhaltlich nicht oder nur wenig von diesen
sich das Vorgehen. Handelt es sich um Patientendo- abweichen (Petty et al. 2012). Für Bachelor- oder
kumentationen oder Ähnliches, dann müssen diese Masterarbeiten werden häufig semistrukturierte
Daten aus entsprechenden Datenbanken herunter- Leitfadeninterviews geführt, unabhängig von Ein-
geladen werden. Unabhängig von der Art der Daten- zelinterviews oder Fokusgruppen.
sammlung sollte der Prozess transparent dargestellt Grundsätzlich gilt für die Fragen, den Aufbau
und genau beschrieben werden. bzw. die Kommunikation in einem Interview (Flick
2007, Krueger u. Casey 2014, Krueger 1997):
> Auch wenn „alte“ Patientendokumen- 4 Aufbau der Fragen: Von der Literatur oder
tationen verwendet werden, muss eine dem eigenen Vorwissen werden Themen-
Ethikkommission hinzugezogen werden felder abgeleitet. Die Themenfelder werden
(retrospektive Studie). im Leitfaden zusammengesetzt. Dabei wird
empfohlen, den Aufbau so zu gestalten, dass
ein einfaches Einsteigen des Interviewpartners
Erstellung eines Interviewleitfadens für möglich ist. Dies bedeutet, dass man:
Einzelinterviews oder Fokusgruppen 4 vom einfachen zum komplexen Inhalt/
Werden Interviews zur Datensammlung gewählt, Thema überführt,
so ist es wichtig, einen guten Interviewleitfaden 4 vom unpersönlichen zum persönlichen
zusammenzustellen. Das Interview bezieht sich in Inhalt/Thema überleitet,
diesem Zusammenhang sowohl auf Einzelinter- 4 von Beschreibungen zu persönlichen
views als auch auf Gruppeninterviews (Fokus- Stellungnahmen übergeht.
gruppe, . Tab. 6.9). Die Durchführung des Inter- 4 Der Interviewpartner sollte möglichst viel
views sollte vor dem ersten Interview mit einer sprechen, der Interviewer möglichst wenig.
Person, die nicht mit dem Thema vertraut ist, Dies bedeutet, aktiv zuzuhören statt zu reden:
geübt werden, zum Beispiel mit einer Freundin/ Benennen der Emotionen/Situationen und
einem Freund oder einem Familienangehörigen. Gesagtes umschreibend wiederholen, um zu
6.4 · Qualitative Datensammlung
123 6
Einzelinterview Fokusgruppe
signalisieren, dass man dem Gesagten folgt, 4 Wertende Fragen, Fragen, die etwas als positiv
und um zu versichern, dass man es korrekt oder negativ bezeichnen, sowie Suggestiv-
verstanden hat. (Beispiel: „Habe ich das jetzt fragen (Fragen, die eine bestimmte Antwort
richtig verstanden, Sie meinten … “) Vor jeder vorschlagen) sollten vermieden werden.
neuen Frage könnte der Interviewer auch 4 Grundsätzlich eignen sich Fragen, die mit
fragen: „Möchten Sie zu der vorherigen Frage „Wie“ beginnen („Wie haben Sie … erlebt?“
noch etwas sagen?“ oder „Wie war Ihre Erfahrung mit … ?“) oder
4 Die Fragen sollen zum Erzählen anregen. Fragen nach bestimmten Dingen im Rahmen
Dichotome Fragen (Antwortmöglichkeiten der Forschungsfrage (z. B. „Welche Probleme
nur Ja/Nein) sollten in einem Interview haben Sie bei Ihren alltäglichen Tätigkeiten?“).
vermieden werden. Achtung: Hier bestehen 4 „Nachhaken“ des Interviewers im Gesprächs-
große Unterschiede zu einem Fragebogen! verlauf („probing“) sollte immer nach Erlebnissen
(Beispiel „Wunderfrage“: Wenn Sie die oder Beispielen erfolgen (Etwa: „Können Sie dazu
Möglichkeit bekämen, wie würden Sie das noch ein Beispiel aus Ihrem Leben nennen?“ oder
Problem lösen?) „Wie war Ihre Erfahrung mit … ?“).
124 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
4 „Aktives empathisches Zuhören“: Wird eine Einstieg: „Herzlichen Dank, dass Sie sich dazu bereit
Frage beantwortet, sollte der Interviewer die erklärt habt, an dem heutigen Interview teilzuneh-
Antwort nicht werten, sondern er sollte „aktiv men. Das Thema dieses Gesprächs wird die Sicht-
empathisch zuhören“. Das bedeutet, dass er weise von Patienten zu fehlender Adhärenz bezüg-
am besten wertfrei die Antwort des Inter- lich Behandlungsempfehlungen bei rheumatoider
viewpartners zusammenfasst und danach erst Arthritis sein.“
eine neue Frage stellt. Kurze Gesprächs- oder Rahmenbedingungen werden festgelegt:
Redepausen sollten ausgehalten werden und „Das gesamte Gespräch wird auf Tonband aufge-
nicht sofort durch den Interviewer unter- zeichnet. Mit diesen Tonaufzeichnungen kann ich
brochen werden („Zeit haben und Stille mich später bei der Datenanalyse besser auf das
bewusst aushalten“). Wenn längere Pausen Gespräch beziehen. Alle persönlichen Daten wer-
eintreten, sollte der Interviewer dem Inter- den anonymisiert. Falls Sie sich mit einer Situation
viewpartner „zu Hilfe kommen“ und selbst nicht wohlfühlen, sprechen Sie es bitte an, und ich
6 etwas sagen (z. B. eine Zusammenfassung des werde versuchen, etwas an der Situation zu ändern.
bereits Gesagten). Solche Pausen können bei Es steht Ihnen frei, jederzeit die Zusage zur Teilnah-
der Auswertung der Daten sehr aufschlussreich me zurückzuziehen und das Interview zu beenden.
sein. Bitte sprechen Sie laut und deutlich. Ich werde hier
und da Aussagen in meinen Worten wiederholen
Nach dem Interview sollte ein „Debriefing“ erfol- und nachfragen, um Missverständnisse zu vermei-
gen, d. h. der Interviewer reflektiert kurz (am besten den. Ich werde ein paar Notizen machen, sodass ich
schriftlich im Forschungstagebuch) über den Verlauf später den Gesprächsverlauf so gut wie möglich
des Interviews, über die Kommunikation, wie er sich nachvollziehen kann. Ich schätze, dass das gesam-
selbst gefühlt hat etc. te Gespräch ungefähr 20 Minuten bis maximal eine
Stunde dauern wird. Wenn Sie eine Gesprächspause
Beispiel benötigen, dann sagen Sie es bitte. Bitte versuchen
Das folgende Beispiel für einen Interviewleitfaden Sie, bei Ihrer Meinungsäußerung so ehrlich wie
ist nach Flick (2007), Krueger u. Casey (2014) und möglich zu sein.“
Krueger (1997) aufgebaut (. Tab. 6.9). Opening (Teilnehmer fühlen sich vertraut): „Ich
Fragestellung: Welche Faktoren fördern und/oder würde Sie bitten, zu Ihrer Person folgende Daten zu
hemmen Adhärenz bei Patientinnen mit rheumato- nennen: … “ (Geschlecht, Alter, Familienstand, Aus-
ider Arthritis. bildungsstand, Beruf, Wohnort).
Aus der Fragestellung und der Hypothese wurden Introductory (Einführungsfrage in das Thema):
folgende Themenfelder abgleitet: 4 „Wenn Sie an Ihren letzten Besuch bei uns an der
4 Auslöser für fehlende Adhärenz können personen- Ambulanz denken, welche Gedanken kommen
bezogene Faktoren darstellen: Geschlecht, Alter, Ihnen da in den Sinn?“
Familienstand, Ausbildungsstand, Beruf, Wohnort, 4 „Welche Medikamente/welche Behandlungs-
Krankheitsaktivität, Schmerz, persönliche Werte empfehlungen haben Sie verordnet bekommen?
und Einstellungen, Nebenwirkungen und Wechsel- Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?“
wirkungen von Medikamenten.
4 Auslöser für fehlende Adhärenz können alltags- Transition (Übergang zu Hauptfrage): „Wie gut ha-
bezogene Faktoren darstellen: Funktionsniveau ben Sie die Behandlungsempfehlungen umsetzten
der Gelenke bei Alltagsaktivitäten, erfolgreiches können? Was haben Sie umgesetzt? Was nicht?“
Bewältigen von Alltagsaktivitäten. Nach Zweidritteln der Zeit:
4 Auslöser für fehlende Adhärenz können umwelt- Key (zentrales Thema der Studie): „Aus welchen
bezogene Faktoren darstellen: Einstellungen der Gründen haben Sie die Besuche an unserer Ambu-
Gesundheitsprofessionistinnen, Einstellungen lanz abgebrochen? Aus welchen Gründen haben Sie
von Familie und Freunden bezüglich Krankheit, die eben erwähnten Behandlungsempfehlungen
Medikamenten oder Schulmedizin. nicht umgesetzt?“
6.4 · Qualitative Datensammlung
125 6
5 Personenbezogene Faktoren: noch nicht gesprochen haben, das aber für Sie
– „Wie aktiv ist Ihre Erkrankung im Moment? Wie noch erwähnenswert wäre?“
stark sind Ihre Schmerzen? Welche Nebenwir- – „Gibt es von Ihrer Seite noch Fragen, Wünsche,
kungen/Wechselwirkungen der Medikamente Anmerkungen?“
haben Sie erlebt?“
– „Wie haben Sie andere Behandlungsempfeh- Verabschiedung: „Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihr
lungen/Alltagsempfehlungen erlebt?“ aktives Mitarbeiten. Wenn Sie an den Ergebnissen
– „Wie stehe Sie im Allgemeinen zu Medika- unserer Studie interessiert sind, können Sie diese
menten/zur Schulmedizin?“ gerne nach Abschluss der Studie einsehen.“
5 Alltagsbezogene Faktoren:
– „Haben Sie das Gefühl, dass Sie durch Ihre
Erkrankung im Alltag eingeschränkt sind? In Vorbereitung auf eine Beobachtung
welcher Weise ist Ihr alltägliches Leben durch Die teilnehmende Beobachtung wurde besonders in der
die Erkrankungen betroffen? Bitte nenne Sie Völkerkunde (Ethnologie und Kulturanthropologie) als
Beispiele von Einschränkungen im Alltag.“ wissenschaftliche Methode etabliert (Lamnek u. Krell
– „Hatten Sie das Gefühl, dass sich die Behand- 2005). Die wissenschaftliche Beobachtung erfolgt syste-
lungsempfehlungen in Ihren Alltag gut eingefügt matisch und geplant, mit einer Prüfung auf Zuverlässig-
haben? Wie müssten Behandlungsempfehlungen keit und Wiederholbarkeit. Es werden unterschiedliche
gestaltet sein, damit sich diese für Sie gut in den Arten der Beobachtung unterschieden (Girtler 2001,
Alltag einfügen lassen?“ Lamnek u. Krell 2005, LoBiondo-Wood u. Haber 2001):
Umweltbezogene Faktoren: 4 Strukturierte Beobachtung: Hier werden
im Vorhinein die Art der Beobachtung, die
5 „Wie wurden Sie über die Medikamente/Behand- Beobachtungskategorien und -ziele festgelegt
lungsempfehlungen von unserer Seite aufgeklärt? (im Extremfall ein standardisierter Beobach-
Wie haben Sie diese Aufklärung erlebt?“ tungsbogen). Das Gegenteil ist die unstruktu-
5 „Werden Sie zu Hause bei der Einhaltung der rierte Beobachtung.
Behandlungsempfehlungen unterstützt? Wenn ja, 4 Bei der offenen Beobachtung ist die Tatsache
wer unterstützt Sie? Wie sieht diese Unterstützung der Beobachtung der Probandin bekannt, bei
aus?“ der verdeckten Beobachtung nicht.
5 „Wie ist die Einstellung Ihrer Familie/Freunde 4 Bei der teilnehmenden Beobachtung führt der
bezüglich Ihrer Erkrankung/Medikamente/ Beobachter eine Rolle aus. Das Gegenteil ist die
Schulmedizin? Haben Sie das Gefühl, dass nicht teilnehmende Beobachtung.
Sie die Einstellung Ihrer Familie/Freunde 4 Als Feldbeobachtungen werden Alltagsbeob-
beeinflusst bezüglich der Einhaltung der achtungen bezeichnet. Das Gegenteil ist eine
Behandlungsempfehlungen?“ Beobachtung im Labor, d. h. in einem künst-
lichen Umfeld.
Ending (Interview beenden): 4 Beobachtungen können direkt durchgeführt
5 All-Things-Considered Questions: „Von alldem, werden (Live-Beobachtung, „face to face“) oder
was im Rahmen dieses Gesprächs besprochen indirekt erfolgen, beispielsweise über Videoauf-
wurde: Wie würde ein idealer Besuch bei uns in der nahmen (Datenmaterial).
Ambulanz aussehen? Wenn Sie etwas verbessern
könnten an unserer Rheuma-Ambulanz, was Generelle Empfehlungen für eine teilnehmende
würden Sie verändern? Was bräuchten Sie, um Beobachtung (Lamnek u. Krell 2005):
Behandlungsempfehlungen leichter einhalten zu 4 Die Beobachtung soll überschaubar sein,
können?“ beschränkt auf wenige Situationen,
5 Final Question: beschränkt auf wenige Personen und klar
– „Wir kommen langsam zum Ende unseres von anderen sozialen Situationen
Gesprächs. Gibt es noch ein Thema, über das wir abzugrenzen.
126 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
4 Eine Beobachtung soll durch Offenheit geprägt 6.4.4 Analyse der gesammelten Daten
sein, damit beispielsweise unvorhergesehenes
Verhalten und unvorhergesehene Haltungen Analyse der Interviews
beobachtet werden können. Die Interviews müssen erst transkribiert werden.
4 Wichtig ist die Aufgeschlossenheit gegenüber Transkription meint eine Wort-für-Wort-
anderen Werten. Toleranz und Akzeptanz sind Verschriftlichung des Gesagten. Wie exakt transkri-
sehr wichtig. biert wird, hängt vom Analyseverfahren ab (Bortz
4 Die Rolle des Beobachters soll im Rahmen u. Döring 2006, DePoy u. Gitlin 2005, Kielhofner
der Methodenbeschreibung klar formuliert 2006, Lamnek u. Krell 2005). Es wird empfohlen, den
werden, da die Rolle bewusst und unbewusst Dialekt zu bereinigen, aber die Alltagssprache und
Einfluss auf das soziale Umfeld nimmt und die Grammatik zu belassen, Pausen werden mar-
somit auf das Forschungsergebnis. kiert. Auffällige Betonungen oder Besonderheiten
4 Vertrauenspersonen sind wichtig, um (wie z. B. Störungen durch andere Personen) werden
6 feststellen zu können, ob die beobachtete direkt im Transkript beschrieben. Die Analyse der
Situation wirklich dem Alltag entspricht oder Daten erfolgt nach der gewählten Analyseme-
ob die bloße Anwesenheit eines Beobachters thode. Die notwendigen Schritte hierfür werden in
die Situation verändert hat. den Kapiteln für die jeweiligen Forschungsdesigns
4 Interpretation: Wesentlich bei der teilneh- beschrieben.
menden Beobachtung ist die Bildung von
Vertrauen, das Hineinversetzenkönnen
in jemand anderen (Empathie), was Analyse der Beobachtungen
schließlich den Prozess der Interpretation Es existiert wenig Literatur zur Analyse von Beob-
ermöglicht. achtungen. Prinzipiell kann zwischen strukturierten
und unstrukturierten sowie qualitativen und quan-
Einschränkungen bei der teilnehmenden Beobach- titativen Analysen unterschieden werden (Bortz u.
tung (Lamnek u. Krell 2005): Döring 2006, Merkens 2010).
4 Eine teilnehmende Beobachtung ist lokal 4 Strukturiert/quantitativ: Je strukturierter/
begrenzt. Der Forscher kann nicht überall standardisierter oder quantitativer die
gleichzeitig sein. Beobachtung durchgeführt wurde, umso
4 Die Beobachtung ist zeitlich limitiert. Was mehr wurden auch die zu beobachtenden
passiert vorher und nachher? Inhalte objektiviert (operationalisiert).
4 Sie ist durch die Zugangsmöglichkeiten des Eine Analyse ergibt sich dadurch an den
Forschers limitiert. operationalisierten Kriterien. Wird beispiels-
4 Es kann nur etwas beobachtet werden, was weise „Interaktion“ eines autistischen Kindes
explizit beobachtbar ist und sich nicht der definiert über „Blickkontakt“ und „Präsen-
Beobachtung entzieht. tieren von Gegenständen“, dann könnten zum
4 Es besteht das Problem der selektiven und Beispiel nur diese definierten und beobacht-
verzerrten Wahrnehmung, d. h. es erfolgt baren Handlungen beobachtet und notiert
eine Verzerrung der Beobachtung durch die werden.
Ziele, Vorstellungen, Werte, Haltungen oder 4 Unstrukturiert/qualitativ: Je unstrukturierter
kulturelle Prägung des Beobachters. oder qualitativer eine Beobachtung durchge-
4 Es besteht das Problem der Vertrautheit: Je führt wird, desto weniger klar wird die Analyse.
vertrauter eine Situation ist, desto eher besteht Es können auch hier Kriterien definiert werden,
die Möglichkeit der schwindenden Aufmerk- es kann aber auch eine Analysemethode, wie
samkeit und damit die Gefahr, Wesentliches zu zum Beispiel eine Inhaltsanalyse (Krippendorff
übersehen. 2012), gewählt werden.
6.5 · Gütekriterien für qualitative Forschung
127 6
4 Für eine Interpretative Analyse wird eine 4 Teilnehmerinnen
objektive Hermeneutik empfohlen 4 Interaktion:
(7 Abschn. 6.3.7). 4 Ursache/Auslöser der Interaktion
4 Motive der Teilnehmerinnen
z z Protokollierung von Beobachtungen 4 Art der Interaktion
Wann wird protokolliert: Der Zeitpunkt des Proto- 4 Ablauf der Interaktion
kollierens erfolgt möglichst zeitnah nach der Beob- 4 Folgen/Auswirkungen der Interaktion
achtung. Das Erinnerungsvermögen ist begrenzt, die 4 Häufigkeit
Wahrnehmung selektiv. Es besteht die Tendenz, dass 4 Zeitrahmen
sich Beobachtungen nur auf Vertrautes konzentrie- 4 Interaktionskontext
ren. Nicht Vertrautes wird weniger intensiv wahrge- 4 Unterschiede zu anderen vergleichbaren
nommen. Eine unmittelbare Aufzeichnung kann den Interaktionen
sozialen Alltag stören. Es ist auch ratsam, nach der
ersten Protokollierung das Protokoll einen Tag lang > Lehrvideo auf Youtube zum Thema
liegen zu lassen und erst danach erneut zu überarbei- teilnehmende Beobachtung: www.youtube.
tet (Lamnek u. Krell 2005). com/watch?v=V8doV3P0us4 (abgerufen am
Wie wird protokolliert: Ein stark strukturier- 04.02.2016).
tes Beobachtungsschema ist wesentlich, wenn man
Daten quantifizieren will. Ein offenes Beobachtungs-
schema ist sinnvoll, wenn es darum geht, etwas qua- Zusammenfassung
litativ zu entdecken. Aufnahmegeräte genauso wie Zur Sammlung qualitativer Daten stehen dem For-
Videogeräte sind zwar sehr hilfreich, sie stören aber scher oder der Forscherin vor allem Beobachtun-
in der Regel den sozialen Alltag. Gedächtnispro- gen, Interviews und bereits bestehende Texte zur
tokolle werden als optimal bewertet, da hier keine Verfügung. Entscheidend für ein gutes Ergebnis
Störung des sozialen Alltags stattfindet (Girtler stellt die korrekte Wahl der Datensammlungsme-
2001). Diese Gedächtnisprotokolle erfolgen in Form thode in Bezug auf die Fragestellung dar.
von kurzen Notizen oder Stichwortsammlungen. Sie
können auch in einem Tagebuch mit den Gedanken
des Beobachters verbunden werden. Handschriftli- 6.5 Gütekriterien für qualitative
che Protokolle bergen das Problem der Lesbarkeit. Es Forschung
ist zu beachten, dass die Anonymität der beobachte-
ten Personen gewährleistet ist. Ein Verstoß dagegen Barbara Höhsl
ist einem Bruch des Vertrauens gleichzusetzen. Für
Protokolle gilt: Je ausführlicher die Beobachtungen
beschrieben werden, desto besser sind sie! Die Beob- Definition
achtungsprotokolle sollen stets in einem sozialen Unter Gütekriterien werden Kriterien
Kontext gebracht werden und nicht für sich alleine zusammengefasst, die die Güte, d. h. die
stehen bleiben (Lamnek u. Krell 2005). wissenschaftliche Exaktheit von Studien
Was wird protokolliert: Protokolliert werden beschreiben. Gütekriterien dienen einerseits
soziale Interaktionen, die im Erkenntnisinteresse Forschern und Forscherinnen als Richtlinien,
sind. Es werden das Alltagswissen und die All- um wissenschaftliche Exaktheit in ihren
tagsinteraktionen von sozialen Feldern beschrie- Forschungsstudien zu gewährleisten.
ben. Es werden allgemeine Handlungsfiguren Andererseits können sie auch zur kritischen
und allgemeine Handlungsmuster herausgearbei- Beurteilung von Studien herangezogen
tet. Konkret wird Folgendes beschrieben (Lamnek werden.
u. Krell 2005):
128 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
a Die Auflistung der Gütekriterien erfolgt in dieser Tabelle in alphabetischer Reihenfolge, die Strategien sind nach der
In der quantitativen Forschung werden die Validi- Je mehr Strategien definiert und je genauer diese
tät und Reliabilität des Erhebungsinstrumentariums umgesetzt werden, desto höher ist die Güte einer
und Kriterien der inneren und äußeren Überprüfung Studie (LoBiondo-Wood u. Haber 2005, Cope
(Validität) als Gütekriterien herangezogen. Ziel der 2014).
quantitativen Forschung ist vor allem die Genera-
lisierbarkeit oder externe Validität der Ergebnisse.
Ziel der qualitativen Forschung hingegen ist die ver- 6.5.2 Strategien zum Erreichen
ständliche und wahrheitsgemäße Darstellung von der Gütekriterien
Zusammenhängen. Daher werden andere Gütekri-
terien angewendet (LoBiondo-Wood u. Haber 2005, Im Folgenden werden die in . Tab. 6.10 gelisteten
Cope 2014). Strategien zur Erreichung einer bestmöglichen Güte
von qualitativen Studien, nach deren Verortung im
Forschungsprozess gereiht, beschrieben.
6.5.1 Einteilung der Gütekriterien
z Forschungstagebuch („audit trail“)
In der qualitativen Forschung werden mehrere Das Führen eines Forschungstagebuchs während des
Definitionen und Systeme von Gütekriterien gesamten Forschungsprozesses ermöglicht die Nach-
beschrieben. . Tab. 6.10 zeigt die Einteilung nach vollziehbarkeit der Überlegungen und der gesetz-
Cope (2014) und Lincoln und Guba (1985) sowie ten Handlungsschritte (z. B. bei Entscheidungen im
Strategien, um diese Gütekriterien zu erreichen. Codierungsprozess). Die Aufzeichnungen sollten
6.5 · Gütekriterien für qualitative Forschung
129 6
so ausführlich sein, dass getroffene Entscheidungen Erhebungszeiten (z. B. Tage, Wochen, Monate),
im Nachhinein begründet und diskutiert werden unterschiedliche Erhebungsorte (z. B. in verschie-
können (DePoy u. Gitlin 2005). denen Krankenhäusern) und unterschiedliche Orga-
nisationsformen von Studienteilnehmenden (z. B.
z Besprechung mit Kollegen („peer review/ einzelne Personen, eine Gruppe oder Gesellschaft)
debriefing“) erreicht werden.
Diese Strategie beinhaltet die fachliche Diskussion Die Forschertriangulation kann durch die par-
der Hypothesen, der Methodik, der Analyse, der allele Datenanalyse von mehr als einer Forscherin
Ergebnisse und Schlussfolgerungen mit fachlichen umgesetzt werden. Nach der Analyse erfolgt die Dis-
Kollegen und Kolleginnen (Lincoln u. Guba 1985, kussion der Datenanalyse und der Ergebnisse. Die
Creswell 2013). Methodentriangulation wird durch den Einsatz
unterschiedlicher Methoden (entweder nur quali-
z Längerfristige Beschäftigung („prolonged tativ oder qualitativ und quantitativ) erreicht. Die
engagement“) Theorientriangulation wird durch einen Vergleich
Hierzu zählt der Vertrauensaufbau und Rapport zwi- der erhobenen Daten mit schon vorhandener Lite-
schen Forscher und Forscherin und den Studien- ratur (z. B. mit Studien zum Thema) umgesetzt
teilnehmern und Studienteilnehmerinnen, um eine (Lincoln u. Guba 1985, Curtin u. Fossey 2007, DePoy
detaillierte und ausführliche Informationsweiter- u. Gitlin 2005).
gabe zu fördern. Ausreichende zeitliche Ressourcen
während der Datenerhebung stellen eine wichtige z Referenzielle Angemessenheit („referential
Voraussetzung dafür dar. Die Erfassung des Unter- adequacy“)
suchungsgegenstands in seiner Bandbreite und ein Nach der Datensammlung wird ein Teil der Daten
grundlegendes Verständnis der Studienteilneh- nicht analysiert und archiviert. Dieser wird nach der
mer und Studienteilnehmerinnen werden dadurch Datenanalyse (die mit dem anderen Teil der Daten
ermöglicht (Cope 2014, Lincoln u. Guba 1985). durchgeführt wurde) ebenfalls analysiert und dient der
Überprüfung der Ergebnisse (Lincoln u. Guba 1985).
z Beständige Beobachtung („persistent
observation“) z Negativfallanalyse („negative case analysis“)
Diese Strategie beinhaltet die andauernde Aufmerk- Im Lauf des Forschungsprozesses wird die Arbeits-
samkeit des Forschers für die Wahrnehmungen und hypothese durch eventuell auftretende Evidenzen,
Gefühle der Studienteilnehmer während des For- die diese widerlegen, verfeinert. Die Erwähnung und
schungsprozesses (Cope 2014, Lincoln u. Guba 1985). Beschreibung solcher negativer Evidenzen ermög-
licht eine realistische Erfassung des Untersuchungs-
z Triangulation („triangulation, gegenstands (Creswell 2013).
crystallization“)
Die Strategie der Triangulation wird bezogen auf die z Überprüfung durch Studienteilnehmende
Daten (Datentriangulation), auf die Einbeziehung („member-checking“)
mehrerer Forscher (Forschertriangulation), den Nach der Datenanalyse werden die Ergebnisse
Einsatz unterschiedlicher Methoden (Methoden- von den Studienteilnehmerinnen und -teilneh-
triangulation) und unterschiedlicher Theorien und mern gelesen, kontrolliert und eventuell korrigiert.
Perspektiven (Theorientriangulation) umgesetzt. Dadurch wird überprüft, ob diese die Erfahrungen
Bei der Datentriangulation werden unterschiedli- der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer korrekt
che Datenerhebungsstrategien und Datenquellen im wiedergeben (Curtin u. Fossey 2007, Creswell 2013).
Erhebungsprozess eingesetzt, um einen möglichst
vielfältigen Blick auf den Untersuchungsgegenstand z Sättigung („saturation“)
zu ermöglichen (es wird also ein Dreieck zwischen Die Datenerhebung (durch Interviews, Fokusgrup-
Untersuchungsgegenstand und Forscher gebildet). pen, Beobachtungen usw.) wird so lange durchge-
Datentriangulation kann durch unterschiedliche führt, bis die erhobenen Daten zu keinem besseren
130 Kapitel 6 · Qualitative Forschung
z Genaue Beschreibung („thick description“) Blumer H (1973) Der methodologische Standort des Symbo-
lischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder
Dies beinhaltet die genaue Beschreibung und Soziologen (Hrsg) Alltagswissen, Interaktionen und
Begründung der Wahl der Methodik, eine ausführ- gesellschaftliche Wirklichkeit. Rohwolt, Reinbek, S 80–146
liche Darstellung des Datenerhebungsprozesses Corbin J, Strauss A (2004) Weiterleben lernen. Verlauf
(Beschreibung der Studienteilnehmer, des Settings und Bewältigung chronischer Krankheit, 2. Aufl.
der Datenerhebung, der Störfaktoren im Prozess Huber, Bern
Flick U (2011) Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung.
usw.), die genaue Beschreibung des Rohdatenma- Rohwolt, Reinbek
terials und eine nachvollziehbare Darstellung der Glaser B, Strauss A, Paul A (2010) Grounded Theory. Strategien
Analyseschritte. qualitativer Forschung, 3. Aufl. Huber, Bern
Lamnek S (2010) Qualitative Sozialforschung, 5. Aufl. Beltz,
6 z Reflexion („reflexivity“) Weinheim
Mayring P (2002) Einführung in die qualitative Sozialfor-
Der Forscher erläutert eine mögliche Einflussnahme schung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken, 5. Aufl.
der eigenen Person auf den Forschungsprozess und Beltz, Weinheim
stellt so seine Position dar. Dies beinhaltet die Dar- Morse J et al. (1998) Qualitative Pflegeforschung. Anwendung
stellung eigener Annahmen und die Reflexion über qualitativer Ansätze in der Pflege. Ullstein Medical,
eine mögliche eigene Befangenheit bezüglich des Wiesbaden
Rorty R (1991) Inquiry as recontexualization: An anti-dualist Hopf C (2002) Forschungsethik und qualitative Forschung. In:
account of interpretation. In: Hiley D, Bohman J, Shuster- Flick U, v. Kardoff E, Steinke I (eds) Qualitative Sozialfor-
man R (eds) The interpretive turn: Philosophy, science and schung: eine Einführung. Rowohlt, Reinbek, pp 589–600
culture. Cornell University Press, Ithaca, pp 59–80 Minkler M, Wallerstein N (2008) Introduction to community
Schilling J (2006) On the pragmatics of qualitative assessment. based participatory research. In: Minkler M, Wallerstein N
Designing the process for content analysis. European (eds) Community-based participatory research for health:
Journal of Psychological Assessment 22 (1): 28–37 from process to outcomes. Jossey-Bass, San Francisco,
Smith NH (1997) Strong hermeneutics: Contingency and pp 3–26
moral identity. Routledge, London Plunger P, Heimerl K, Tatzer VC, Zepke G, Klicpera D, Hoorman
Schwandt T (2001) Hermeneutic circle. In: Dictionary of quali- L, Reitinger E (2014) Perspectives of community pharmacy
tative inquiry. Sage, Thousand Oaks, pp 112–118 staff on caring for people living with dementia and their
Tesch R (1990) Qualitative Research: Analysis types and soft- caregivers – findings from a participatory research project
ware tools. Falmer, New York with community pharmacies in Austria. Paper presented
Thompson JL (1990) Hermeneutic inquiry. In: Moody LE (ed) at the 24th Alzheimer Europe Conference 2014, Glasgow
Advancing nursing science through research (vol. 2). Reitinger E, Krainer L, Zepke G, Lehner E (2014). Kommunika-
Quantitative Forschung
Susanne Perkhofer, Tanja Stamm, Valentin Ritschl, Elisabeth Hirmann,
Andreas Huber, Gerold Unterhumer, Heidi Oberhauser, Roman Weigl,
Andreas Jocham, David Moser, Lisa Ameshofer, Sabrina Neururer
Literatur – 202
7.1 Was ist quantitative Forschung? einer Substanz oder eines Vorgangs mit einem Mess-
instrument immer dieselben Werte liefern. Wenn
Susanne Perkhofer man dasselbe Instrument mehr als einmal zur
Messung eines bestimmten, normalerweise gleich
7.1.1 Einleitung bleibenden Verhaltens verwendet, dann müssen diese
Ergebnisse ähnlich sein, wenn es reliabel ist.
Die quantitative empirische Forschung hat ihren
Ursprung im naturwissenschaftlichen Bereich und z Validität
ist deduktiv, d. h. sie prüft Theorie bzw. Hypothesen. Dieses Kriterium, auch Gültigkeit genannt, gibt an,
Ihr Anspruch ist es, (am besten) über standardisierte ob das verwendete Messinstrument tatsächlich das
Methoden eine Fragestellung mittels „harter Daten“ misst, was es messen soll (so ist z. B. ein Instrument,
(Zahlen) zu klären. Die daraus resultierende wissen- das Angst messen soll, aber eigentlich Stress misst,
schaftliche Aussage zielt darauf ab, eine allgemein- nicht valide) (Bartholomeyczik u. Müller 1997,
gültige Aussage zu tätigen, die auch nomothetisch Lienert 1989, Mayer 2002, 2007, Wilke 1998).
genannt wird (Windelband 1904). In der quantitati-
7 ven Forschung geht es folglich darum, was „objektiv
wahr“ ist und damit eine allgemeine Aussagekraft 7.1.2 Quantitativ Forschen in den
hat. Damit weist die quantitative Forschung eine Gesundheitsberufen
hohe Differenz zur qualitativen Forschung (7 Kap. 6).
Maßgeblich für die empirischen Untersuchungen Gerade in den Gesundheitsberufen bieten sich quan-
sind die Haupt- und Nebengütekriterien. Hauptkri- titative Methoden sehr gut an, um Forschungsfra-
terien sind die Objektivität, die Reliabilität und die gen zu klären. Darüber hinaus können auch quan-
Validität, Nebengütekriterien sind die Ökonomie titative Verfahren in Kombination mit qualitativen
(Wirtschaftlichkeit), Nützlichkeit, Normierung und Methoden („mixed methods“, 7 Abschn. 9.2) nütz-
Vergleichbarkeit von empirischen Untersuchungen. lich sein, um komplexe Fragen der Gesundheit bzw.
Weist eine Untersuchung diese Gütekriterien nicht der Gesundheitsversorgung ganzheitlich zu beant-
auf, fehlen die wissenschaftlich überprüften Grund- worten und zu klären. Im Bereich Gesundheit/
lagen und notwendigen Kontrolluntersuchungen Gesundheitsversorgung nehmen das Wissen und
(Bartholomeyczik u. Müller 1997, Lienert 1989, der Anspruch, neues Wissen zu generieren, sehr
Mayer 2002, 2007, Wilke 1998). stark zu. Der Beitrag der Forscher liegt in der Iden-
tifizierung der relevanten Probleme durch struk-
z Objektivität turiertes Systemdenken, in einer experimentellen
Sie zeigt an, wie unabhängig die Testergebnisse vom Haltung, der Fähigkeit und Bereitschaft zur koope-
Interviewer oder Auswerter sind. Diese Objektivität rativen Zusammenarbeit sowie der Fähigkeit, Fach-
einer Untersuchung ist sehr stark vom Standardisie- wissen und Forschungsgeist kreativ und effektiv in
rungsgrad der Mess- oder Erhebungsmethoden abhän- Forschungsvorhaben anzuwenden.
gig. Ein Beispiel hierfür ist eine standardisierte Labor-
messmethode. Ein solches standardisiertes Instrument
garantiert ein höheres Ausmaß an Objektivität bei der 7.2 Quantitative Forschungsdesigns
Datenerhebung. Diese Objektivität ist auch bei den Aus- und Methoden
wertungsverfahren wichtig und notwendig. Um ein
hohes Maß an Objektivität bei der Datenauswertung 7.2.1 Randomisierte kontrollierte
zu erreichen, sind standardisierte Auswertungsverfah- klinische Studien
ren (z. B. mathematische Operationen) anzuwenden.
Tanja Stamm
z Reliabilität
Die Reliabilität ist ein Synonym für die Zuverlässigkeit Die randomisierte kontrollierte Studie („ran-
bzw. Beständigkeit eines Messinstruments. Sie zeigt domized controlled trial“, RCT) ist eine metho-
an, ob wiederholte Messungen eines Gegenstands, disch angelegte Untersuchung zur empirischen
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
139 7
Gewinnung von Information und damit ein spe- einzelne klinische Studien. Diese werden wiederum
zieller Typ von Experiment, bei dem eine Perso- je nach Design eingeteilt. Studien mit höherer Qua-
nengruppe, die Versuchsgruppe, eine Behandlung lität werden eher als Beweis für die Wirksamkeit
oder ein Medikament erhält, während eine andere einer Therapiemethode betrachtet (und „zählen“
vergleichbare Personengruppe, die Kontrollgruppe, daher mehr) als solche mit einem qualitativ niedri-
dies nicht bekommt oder ein Placebo erhält. Ein geren Design. Diese kommen dann zur Anwendung,
weiterer wichtiger Begriff in diesem Zusammen- wenn keine anderen Studien höherer Güte existie-
hang ist die klinische Studie. Eine klinische Studie ren. Das Studiendesign der randomisierten kontrol-
wird mit Patientinnen oder gesunden Probandin- lierten Studien wird üblicherweise als das Design
nen, den Versuchspersonen, durchgeführt, um der höchsten Qualität bezeichnet. RCT-Studien
Medikamente, Medizinprodukte oder medizinische sind daher ein wesentlicher Teil der evidenzbasier-
Behandlungen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen, ten Praxis (7 Kap. 14).
sobald ausreichend Daten zur Sicherheit vorhan- Als erste historische RCT-Studie gilt die Studie
den sind. In den Gesundheitsberufen fassen wir den über Streptomycin zur Behandlung von Lungen-
Begriff der klinischen Studie aber weiter: tuberkulose aus dem Jahr 1948 (Medical Research
Council 1948). Eine historische Suche in Pubmed mit
dem Suchwort „randomised controlled trial“ im Titel
Definition liefert die erste Studie aus dem Jahr 1969: „Selective
Als klinische Studie wird jede Art von Studie or truncal vagotomy? A double-blind randomised
bezeichnet, die am Menschen durchgeführt wird. controlled trial“ (Kennedy u. Connell 1969). Verwen-
Qualitative Studien, Fragebogenerhebungen, det man „randomised controlled trial“ als generel-
Beobachtungsstudien, Auswertungen les Suchwort und beschränkt dies nicht auf den
von klinischen Daten oder auch Studien Studientitel, stammt der erste Treffer aus dem Jahr
zur Entwicklung von Assessments zur 1960: „Interactions between pharmacodynamic and
Funktionsfähigkeit sind daher ebenfalls Beispiele placebo effects in drug evaluations in man“ (Modell
für klinische Studien in den Gesundheitsberufen. u. Garrett 1960). Interessanterweise veröffentlichte
Jede Studie an Menschen oder an menschlichen auch das American Journal of Occupation Therapy
Materialien erfordert nach der Deklaration 1968 bereits eine Studie mit dem Keyword „rando-
von Helsinki, der sich die meisten Länder mised controlled trial“ mit dem Titel „Industrial
angeschlossen haben, ein positives Votum der therapy and changes in self-esteem“ (Pile u. Swanson
zuständigen Ethikkommission (7 Abschn. 3.2). 1968). In dieser Studie wurden Patienten eines Kran-
Auch bei RCT-Studien ist die Freiwilligkeit der kenhauses zufällig 3 verschiedenen arbeitstherapeu-
Teilnahme obligat, und die Teilnehmer müssen tischen Vorgehensweisen zugeordnet. Selbstwertge-
über den Ablauf der Studie vollständig fühl wurde vor diese Zuordnung und nach 4 Wochen
aufgeklärt werden. gemessen, wobei kein Unterschied zwischen den 3
verschiedenen Vorgehensweisen festgestellt wurde.
wird die Publikationsmöglichkeit stark einge- auch, auf Basis des ersten Assessments der primä-
schränkt, und auch bei einem Review oder einer ren Zielgröße in Blöcken zu randomisieren. Effekt-
Bewertung würde die Studie einen „unnötig“ nied- größen beschreiben die Größe des Unterschieds
rigen Wert erhalten. Eine RCT-Studie erfordert eine zwischen den Messungen vor und nach der Inter-
sinnvolle Planung, sie wird sich über einen längeren vention. Die primäre Zielgröße ist ein von der Pla-
Zeitraum erstrecken und erfordert meist finanzielle nerin einer Studie ausgewählte Messgröße, die als
Ressourcen, damit die Qualitätskriterien eingehalten vorrangiges Ergebnis der Studie betrachtet wird.
werden können und die investierte Arbeit entspre- In einer unserer RCT-Studien, in der Patientinnen
chende Ergebnisse bringen kann. Daher eigenen sich mit Fingerpolyarthrose, einer degenerativen rheu-
RCT-Studie meistens nicht als Bachelorarbeit oder matischen Erkrankung der kleinen Fingergelenke,
Masterthese in den Gesundheitsberufen. eine Übungsbehandlung und eine Gelenkschutz-
unterweise erhielten, unterschieden sich die beiden
Gruppen durch Zufall bereits zu Beginn der Studie in
Themenstellungen der Handkraft und damit in der primären Zielgröße
RCT-Studien dienen vor allem dazu, die Wirkungen (Stamm et al. 2002).
7 von Therapiemethoden zu untersuchen. Besteht bereits zu Beginn einer Studie ein sig-
nifikanter Unterschied in der primären Zielgröße,
können die Daten fast nicht sinnvoll ausgewertet und
Welche Schritte müssen eingehalten interpretiert werden. Daher raten wir üblicherweise,
werden? zuerst die primäre Zielgröße bei allen Teilnehmerin-
Die beiden wichtigsten Merkmale einer RCT-Studie, nen zu messen und danach Gruppen von Teilneh-
nämlich eine Randomisierung und das Vorhanden- merinnen mit ähnlichen Werten zu bilden, was oft
sein einer Kontrollgruppe, geben auch die ersten als Stratifizierung nach einem bestimmten Merkmal
Schritte der Durchführung vor. Weitere Qualitäts- bezeichnet wird. Diese werden dann mittels Zufalls-
merkmale, wie zum Beispiel geblindete Untersucher zahlenliste möglichst gleichmäßig auf beide Gruppen
oder eine ausreichende Fallzahl, sollten allerdings verteilt. Immer abwechselnd einen Teilnehmer der
ebenfalls gegeben sein. einen und den nächsten Teilnehmer der anderen
Gruppe zuzuordnen ist keine Randomisierung, da
immer eine Zufallskomponente enthalten sein muss.
Definition
Zusätzlich sind Merkmale, die einen Einfluss auf das
Randomisierung ist die Zuteilung der Ergebnis haben können, zu bedenken. Auch danach
Studienteilnehmenden zu der Versuchs- und kann bei der Randomisierung eine Stratifizierung
Kontrollgruppe durch den Zufall, zum Beispiel erfolgen, damit zu Beginn der Studie zwischen beiden
durch Zuweisen einer Zufallszahl oder das Gruppen keine signifikanten Unterschiede bestehen.
Ziehen eines vorbereiteten verschlossenen Die Randomisierung sollte außerdem durch eine
Kuverts mit Zuordnung. unabhängige Person erfolgen, die sonst keinen Ein-
fluss auf die Behandlung der Teilnehmenden, die
Dateneingabe oder die Datenauswertung hat.
Das zweite besonders wichtige Merkmal einer
Listen mit Zufallszahlen können zum Beispiel im RCT-Studie ist das Vorhandensein einer Kontroll-
Excel erstellt werden. Verschlossene Kuverts mit gruppe. Dies ist eine Gruppe von Teilnehmenden,
entsprechender Zuordnung müssen vor Beginn der die keine Behandlung oder ein Placebo, also eine
Studie vorbereitet werden. Die Randomisierung unwirksame Scheinbehandlung oder ein Schein-
dient dazu, dass die Studienleiterin nicht absichtlich medikament, erhält. Der Sinn einer Kontrollgruppe
Personen, bei denen eine deutlichere Verbesserung besteht darin, den Placeboeffekt einzubeziehen: Ein
zu erwarten ist, in die Versuchsgruppe einteilt. Patient verbessert sich aufgrund der Einnahme eines
Aufgrund der meist eher geringen Effektgrö- unwirksamen Medikaments, das er für ein wirksa-
ßen in den Gesundheitsberufen empfiehlt es sich mes Medikament hält, oder eine Patientin verbessert
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
141 7
sich allein aufgrund der erhaltenen Aufmerksam- RCT-Studie der Kontrollgruppe angeboten werden,
keit durch Angehörige von Gesundheitsberufen im oder die Kontrollgruppe wird danach als Versuchs-
Rahmen einer Studienteilnahme. Die Behandlung gruppe geführt und umgekehrt – damit kommt es
oder das Studienmedikament muss in der Studie allerdings zu einem Cross-over-Design, das nicht
besser als der Placeboeffekt sein, damit eine Wirk- mehr unbedingt einem reinen RCT-Design ent-
samkeit zugeschrieben werden kann. Ein statistisch spricht. Die Planerin einer RCT-Studie muss immer
signifikanter Unterschied zwischen den beiden diese ethischen Überlegungen anstellen und im Stu-
Gruppen am Studienende ist der Beweis für das dienprotokoll (Prüfplan, genauer Umsetzungsplan
Vorliegen einer Wirksamkeit über den Placeboeffekt der Studie) schriftlich festhalten.
hinaus. Grundsätzlich gilt, dass ein Placebo besser ist Das Assessment beinhaltet die primäre Ziel-
als keine Behandlung, da allein die erhaltene Auf- größe, welche vor Studienbeginn festgelegt werden
merksamkeit durch Angehörige von Gesundheits- muss, weitere Messungen und soziodemographische
berufen im Rahmen einer Studienteilnahme bereits Daten, damit die Stichprobe beschrieben werden
zu einer Verbesserung führt. Placebos für gesund- kann. Die Randomisierung erfolgt im Idealfall auf
heitsberufliche Interventionen zu entwickeln kann Basis der ersten Assessments der primären Ziel-
allerdings eine Herausforderung darstellen und ist größe, damit nicht bereits zu Beginn der RCT-Stu-
natürlich in einer Medikamentenstudie deutlich ein- die signifikante Unterschiede zwischen den beiden
facher zu bewältigen. Gruppen bestehen. Die primäre Zielgröße wird von
der Person, die die Studie plant, ausgewählt und
> Wichtig ist, dass sich die Kontrollgruppe zu als solche im Studienprotokoll angegeben. Zusätz-
Beginn der Studie in der primären Zielgröße lich können weitere Messungen gemacht werden,
nicht signifikant von der Versuchsgruppe aber die Wirksamkeit der Behandlung wird in erster
unterscheidet. Die Kontrollgruppe wird Linie an der primären Zielgröße gemessen. Um
zufällig ausgewählt (Randomisierung). die primäre Zielgröße zu messen, muss ein Unter-
suchungsverfahren oder Instrument (Assessment)
Grundsätzlich müssen auch immer ethische Aspekte ausgewählt werden. Dieses sollte die üblichen Güte-
überlegt werden, wenn eine Studie mit einer Kont- kriterien erfüllen (7 Kap. 11) und den zu erwarten-
rollgruppe erfolgt. Gibt es eine nachgewiesen wirk- den Effekt messen können (Achtung: oft sind kleine
same Behandlung für eine bestimmte Erkrankung, Effektgrößen bei Behandlungen der Gesundheitsbe-
dann müssen Patienten diese Behandlung erhalten rufe zu erwarten!). Zusätzlich können dann weitere
(die Behandlung darf nicht vorenthalten werden); Messungen erfolgen.
eine neue Behandlung könnte nur als zusätzli- Idealerweise werden alle Messungen durch eine
che Behandlung („add-on“) in einer RCT-Studie geblindete Untersucherin durchgeführt, das heißt,
gemacht werden. Dasselbe gilt auch für Erkran- diese Person weiß nicht, in welche Gruppe die jewei-
kungen, die fortschreiten oder bei denen in einem lige Studienteilnehmerin eingeteilt wurde. Doppel-
bestimmten Zeitraum Verbesserungen aufgrund blinde RCT-Studien mit vollständiger Blindung von
einer Behandlung zu erwarten sind. Bei Kindern, vor Teilnehmenden/Patientinnen und Behandlerinnen
allem in Bezug auf Fähigkeiten, die sich im Rahmen sind in den Gesundheitsberufen oft schlecht möglich,
einer normalen kindlichen Entwicklung ergeben, ist da oft ersichtlich ist, was die Behandlung und was das
besondere Vorsicht geboten. Wenn keine Daten über Placebo darstellt. Dennoch stellt das Vorhandensein
die Wirksamkeit einer bestimmten Behandlung exis- einer geblindeten Untersucherin eine sehr sinnvolle
tieren, können auch keine Aussagen über die Wirk- Methode dar, um den Einfluss von Personen auf die
samkeit oder Nichtwirksamkeit dieser Behandlung Messung zu reduzieren. Messungen sind in der übli-
getroffen werden (außer Expertenmeinungen), eine chen Form nach Standardassessment vorzunehmen.
RCT-Studie mit einer Kontrollgruppe könnte damit . Abb. 7.1 zeigt den Ablauf einer RCT-Studie. Das
sogar wünschenswert sein. Besteht eine Erkrankung, folgende Fallbeispiel einer interdisziplinären RCT-
die im Behandlungszeitraum kaum fortschreiten Studie soll die beschriebenen theoretischen Inhalte
wird, kann die Behandlung auch nach Abschluss der verdeutlichen.
142 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
X (Behandlung, Medikament,
Medizinprodukt)
A1 R A2
. Abb. 7.1 Ablauf einer Studie. A1/A2 erstes/zweites Assessment, R Randomisierung, X Behandlung, 0 keine Behandlung oder
Placebo
Follow-up am
Telefon und 2.
A1: Assessment Interdisziplinäre A2: Assessment
Behandlung, wenn
zu Beginn der Behandlung am Ende der
nötig, nach einem
Studie Studie
Monat
Routinebehandlung + Massage-Igelball
instruiert, mit dem Massage-Igelball den Handrü- Gesundheitsberufe ist das eher möglich (z. B. funk-
cken zu massieren. Beim Follow-up-Termin nach tionelle Fingerübungen in der Rheumatologie) als
2 Monaten wurde das Angebot unterbreitet, zusätz- in anderen Bereichen (individuelle Therapie zu
lich die multidisziplinäre Intervention zu erhalten. Hause). Trotzdem können zum Beispiel Prinzipien,
Alle Patientinnen dieser Gruppe machten vom An- die in der individuell abgestimmten Behandlung
gebot Gebrauch. Es wurde allerdings erwartet, dass immer enthalten sein müssen, standarisiert werden.
diese Intervention vor allem für Patientinnen, die In einem unserer Projekte zu einer gesundheitsför-
gerne aktiv an der Behandlung mitwirken möch- derlichen Intervention bei älteren Menschen haben
ten, besonders effektiv sein wird. Die Behandlung wir das Prinzip der Wiederholung, der Herausfor-
wird möglicherweise nicht alle Patientinnen glei- derung beim Training von Alltagstätigkeiten, sowie
chermaßen ansprechen, da eine aktive Teilnahme das Vorhandensein von „dual tasks“ definiert, ohne
erforderlich ist. dabei aber jede einzelne Therapieeinheit standardi-
Diese Studie wurde von der Österreichischen siert durchzuplanen.
Gesellschaft für Rheumatologie und Rehabilitation Die Fallzahl einer RCT-Studie richtet sich nach
(ÖGR Projektförderpreis 2012), den Berufsverbän- der zu erwartenden Effektgröße. Effektgrößen in den
den Ergotherapie Austria und Physio Austria, der Gesundheitsberufen sind oft eher mittelgroß oder
Fachhochschule Campus Wien, der Medizinischen klein. Effektgrößen können aus Pilotstudien oder
Universität Wien und der Fachhochschule Gesund- ähnlichen Studien (Literatursuche und -analyse)
heitsberufe Oberösterreich finanziell unterstützt. abgeleitet werden. Kleinere oder mittelgroße Effekt-
Populärwissenschaftliche Artikel über die Studie größen benötigen größere Fallzahlen, um die Effekte
wurden in den Zeitschriften Fakten der Rheumat- überhaupt messbar machen zu können. Um die
ologie sowie Jatros Orthopädie im Jahr 2014 ver- Effektgröße zu ermitteln, schätzt man zum Beispiel
öffentlicht. . Abb. 7.3 zeigt ein Beispiel für eine den Mittelwert und die Standardabweichung der pri-
Übung mit Therapieknetmasse. mären Zielgröße der beiden Gruppen zu Beginn und
am Ende der Studie. Nachdem das Signifikanzniveau
Generell sollte die Behandlung oder Interven- und die statistische Power festgelegt wurden, kann
tion in einer RCT-Studie möglichst weitgehend die Fallzahl mittels Fallzahlrechner im Internet oder
standardisiert werden. In manchen Bereichen der mit einem Statistikprogramm berechnet werden.
144 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
VG
Auswahl
Population Stichprobe Random
Random
KG
. Abb. 7.4 Ablauf einer randomisierten kontrollierten Studie. KG Kontrollgruppe, Random Randomisierung, VG
Versuchsgruppe
VG
KG
zwischen 3 und 8 Messungen. Durch die Folgende Interpretationen sind möglich (. Abb. 7.7).
multiplen Messungen wird der krankheitsbe- 4 Beispiel 1: Der Patient zeigt vor der Inter-
dingte Zustand der Patientin festgehalten. Um vention einen stabilen Wert bei 1 (Y-Achse).
eine Veränderung möglichst gut abbilden zu Nach der Intervention zeigt sich ein deutlich
können, sollten die Testergebnisse nicht signi- besserer, stabiler Wert bei 5. Es kann ein
fikant unterschiedlich sein (SEM [„standard Zusammenhang zwischen der Verbesserung
error of measurement“], 7 Kap. 11). und der Intervention vermutet werden.
4 Phase B: Die Patientin erhält nun eine Inter- 4 Beispiel 2: Der Patient zeigt vor der Inter-
vention. Während der Interventionsphase vention einen stabilen Wert bei 1. Nach der
können auch Testungen stattfinden, um Intervention ist eine kurzfristige Verbesserung
den Verlauf einer möglichen Veränderung ersichtlich, die aber keinen nachhaltigen Effekt
darzustellen. hat.
4 Phase A: Die Patientin wird wieder getestet 4 Beispiel 3: Der Patient zeigt vor der Inter-
(entsprechend der ersten A-Phase). Diese vention einen wechselnden, instabilen Wert.
zweiten Messungen sollten sich nun signifikant Nach der Intervention zeigt sich ein
von der ersten A-Phase unterscheiden. stabiler Wert.
4 Beispiel 4: Der Patient zeigt vor der Inter-
> Patienten sollten andere Interventionen wie vention einen wechselnden, instabilen
Therapien oder Medikamente während der Wert. Nach der Intervention zeigt sich keine
Studie möglichst nicht verändern, da sonst Veränderung in den Werten – es muss davon
etwaige Veränderungen nicht mehr auf eine ausgegangen werden, dass die Intervention
einzelne Intervention zurückgeführt werden keinerlei Effekte auf den Gesundheitszustand
können. des Patienten zeigt.
148 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
. Abb. 7.7 Interpretation der Ergebnisse: Die ersten 3 Punkte stellen die Testungen vor der Interventionsphase dar, die
Interventionsphase findet immer bei Zeitpunkt „3“ statt (X-Achse) und die letzten 3 Punkte stellen die Testungen nach der
Interventionsphase dar. Weitere Erläuterungen siehe Fließtext
7
Population Stichprobe
Entscheidend für eine gute Studie sind hier Assess- Verbesserung im Krankheitsbild kommen. Das
ments und Instrumente, die Veränderungen verläss- ist im ABA-Design sofort ersichtlich. Beim Ver-
lich abbilden können und eine ausreichende Verän- zicht der multiplen Messungen aber nicht mehr –
derungssensitivität aufweisen. hier bestimmt dann der Zeitpunkt der Messung das
Messergebnis. Beispiel: Findet der Pretest zum Zeit-
z z Pilotstudien punkt 0 statt und der Posttest zum Zeitpunkt 6, wäre
Pretest-Posttest-Design oder Vorher-Nachher- keine Veränderung das Ergebnis der Messung. Wäre
Design Bei diesem Design gibt es weder eine Ran- aber der Posttest zum Zeitpunkt 5, würde ein signi-
domisierung noch eine Kotrollgruppe (. Abb. 7.8). fikanter Unterschied gemessen werden. Fände der
Es wird vor und nach der Intervention jeweils eine Pretest zum Zeitpunkt 1 statt und der Posttest zum
Testung durchgeführt. Dieses Design ist sehr anfällig Zeitpunkt 6, würde eine signifikante Verschlechte-
für intervenierende oder störende Variablen, da weder rung als Ergebnis der Messung entstehen.
multiple Testungen noch eine Kontrollgruppe einge- Das Vorher-Nachher-Design eignet sich, um
setzt werden, um eventuelle Störfaktoren zu erken- erste Effekte abzuschätzen, es dient dadurch als Pilot-
nen oder zu kompensieren. Somit kann das Ergebnis studie, auf deren Ergebnisse zum Beispiel ein RCT
einer solchen Studie nicht mehr nur auf die Interven- aufgebaut werden kann.
tion zurückgeführt werden. Beispiel: Wird eine Studie
zum Thema Depression durchgeführt, dann hat unter „One -shot case study “ oder Schrotschussde -
anderem das Wetter einen Einfluss auf die Stimmung sign Diese Studien eignen sich vor allem für Hypo-
der Probanden (Sommer versus Winter). thesenfindungen im Sinne von Pilotstudien. Da
Ein Beispiel zeigt . Abb. 7.9. Wie schon beim weder eine Vortestung, eine Randomisierung noch
ABA-Design erwähnt (Beispiel 4), würde es bei eine Kontrollgruppe zum Einsatz kommt, kann
diesem Patienten durch die Intervention zu keiner dieses Design nicht zur Hypothesentestung eingesetzt
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
149 7
Beispiel
6
5
4
3
2
1
0
0 1 2 3 4 5 6
. Abb. 7.9 Beispiel für die Problematik eines Pretest-Posttest-Designs ohne multiple Messungen und Kontrollgruppe. Die
ersten 3 Punkte (X-Achse) stellen mögliche Zeitpunkte für einen Pretest und die hinteren 3 Punkte unterschiedliche Zeitpunkte
für einen möglichen Posttest dar
Population Stichprobe
Population Stichprobe
Vergleichs-
gruppe
7
. Abb. 7.11 „Case-control study“
z z Schwächen
Retrospektive Designs Diese Designs dienen der
nachträglichen Datenauswertung. Es können 4 Das größte Problem an diesen Designs ist,
zum Beispiel Dokumentationen von Patienten dass im Vergleich zu RCT immer Abstriche
herangezogen werden, um Interventionen und in der Aussagekraft gemacht werden
ihren Einfluss auf den Verlauf von Erkrankungen müssen. Soweit dies die Ressourcen zulassen,
zu beschreiben. Das Problem bei retrospektiven sollten RCT diesen Designs vorgezogen werden.
Designs ist, dass Störvariablen nur bedingt oder
nicht kontrolliert werden können. Zusammenfassung
Klinische kontrollierte Studien und andere quantita-
Ex-post-facto-Design Dies ist ein Forschungsde- tive Designs können gut als Pilotstudien eingesetzt
sign, das immer nach dem zu messenden Ereignis werden. Nach Möglichkeit sollte aber ein RCT an-
durchgeführt wird. Sollen zum Beispiel die Auswir- gestrebt werden, außer es liegen besondere Gründe
kungen von Autounfällen oder Naturkatastrophen oder spezielle Fragestellungen vor.
gemessen werden, dann muss gewartet werden,
bis das Ereignis stattgefunden hat, und erst dann
können die Teilnehmerinnen in die Studie einge- 7.2.3 Studien in der bildgebenden
schlossen werden. Das Problem ist hier, ebenso wie Diagnostik
bei allen retrospektiven Designs, das Störvariablen
nur noch bedingt kontrolliert werden können. Gerold Unterhumer
Informations-
Medizintechnik
technologie
Human-
Physik
wissenschaften
Radiologie-
7 Medizin Fragestellungen technologie
. Tab. 7.1 Übersicht über den Ablauf und die jeweils zu klärenden Fragen
Schritt Frage
Welche Schritte müssen eingehalten konzipiert wird, hängt im Wesentlichen von der Fra-
werden? gestellung und den vorhandenen Ressourcen ab.
Zur Durchführung von bildgebenden diagnostischen
Studien empfiehlt es sich, die in . Tab. 7.1 dargestell-
ten Schritte zu planen, in denen jeweils phasenspe- Stärken und Schwächen
zifische Fragen zu beantworten sind. Diese Phasen z z Stärken
laufen nicht linear, sondern im Forschungsalltag Stärken von Studien in der bildgebenden Diagnostik
zumeist zirkulär und zum Teil parallel ab. Die Ent- sind ihre Gütekriterien und Maßzahlen, die ein Aus-
scheidung, welche Art von Studie (Studiendesign) druck der Leistungsfähigkeit eines Tests sind. Diese
154 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
Quantifizierung ermöglicht die Vergleichbarkeit von 4 Dokumentation der Daten (Bilddaten und
Tests mit einem Referenzverfahren (Goldstandard). Messwerte)
. Tab. 7.2 zeigt die möglichen Testergebnisse einer
untersuchten Patientengruppe (Stichprobe einer Als entscheidende Kennzahl (. Tab. 7.3) für den
7 Population) mit einem bildgebenden Verfahren. klinischen Einsatz eines diagnostischen Verfah-
In der Stichprobe finden sich Patientinnen, die an rens wird die Likelihood-Ratio (LR) berechnet.
einer gesuchten Erkrankung leiden, und weitere Sie gilt als Indikator für die Nützlichkeit eines dia-
Patientinnen, die nicht daran erkrankt sind. Der gnostischen Tests und hat ähnliche Bedeutung wie
durchgeführte Test (Untersuchung) kann 4 mög- „number needed to treat“ bei therapeutischen Ver-
liche Ergebnisse zeigen: Wenn eine Erkrankung fahren. Sie drückt aus, wie viel häufiger ein Erkrank-
vorliegt, und der Test zeigt diese an, spricht man ter gegenüber einem Gesunden ein positives Test-
von einem „richtig-positiven“ Ergebnis. Wenn der ergebnis zeigt. Wenn das Verhältnis LR+ (positive
Test jedoch kein Ergebnis liefert, obwohl die Patien- Likelihood-Ratio) bei 1 liegt, dann ist das Verfahren
tin krank ist, spricht man von einem „falsch-ne- zur Diagnostik nicht geeignet, weil es wenig an der
gativen“ Ergebnis. Bei Patientinnen ohne Erkran- Vortestwahrscheinlichkeit ändert. Nach der Unter-
kung sollte der Test dies ebenso eindeutig anzeigen. suchung ist keine zusätzliche Sicherheit in der Dia-
Wenn er das tatsächlich tut, liegt ein „richtig-nega- gnose einer Erkrankung erreicht worden, welche
tives“ Ergebnis vor. Sollte das Testergebnis jedoch vor der Untersuchung bereits vermutet wurde. Ab
Hinweise auf eine Erkrankung zeigen, obwohl die einem Wert >10 ist die Nützlichkeit des Verfahrens
Patientin diese nicht hat, spricht man von einem sehr hoch und damit eindeutig. Werte zwischen 5
„falsch-positiven“ Ergebnis. Jeder diagnostische und 10 deuten auf eine hohe Nützlichkeit hin (Fel-
Test (Untersuchung) kann diese 4 Ergebnisausprä- der-Puig et al. 2009).
gungen annehmen (Felder-Puig et al. 2009, Thomas
et al. 2015, Zidan et al. 2015). Beispiel
Zu den Stärken von diagnostischen Tests zählen An einem fiktiven Beispiel sollen diese Kennzahlen
(Benesch u. Raab-Steiner 2013, Felder-Puig et al. veranschaulicht werden: Die Themenstellung lau-
2009, Thomas et al. 2015): tet: Ist der Ultraschall der Rippen (Usch) geeignet,
4 Beiträge zur Verbesserung der Diagnostik bei Patienten mit Schmerzen im Thorax nach einem
durch die Unterstützung bei der Sturztrauma eine Fraktur der Rippen zu diagnosti-
Entscheidungsfindung zieren? Referenzverfahren für diese Indikation ist
4 schnelle Durchführbarkeit (in Abhängigkeit das Rippenröntgen (Rö). Es wurden 348 Patienten
von der Modalität) in die Studie eingeschlossen, alle Patienten erhiel-
4 Reproduzierbarkeit und intersubjektive ten beide Untersuchungen. Die Untersuchungs-
Überprüfbarkeit ergebnisse (Befunde) wurden in die . Tab. 7.4
4 Objektivität, ausgedrückt in quantifizierten eingetragen. 72 Patienten waren richtig-positiv, 23
Kennzahlen und Wahrscheinlichkeiten falsch-positiv, 12 falsch-negativ, 325 richtig-negativ.
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
155 7
. Tab. 7.3 Kennzahlen und Maßzahlen, die aus diagnostischen Tests errechnet werden
a
Sensitivität Anzahl der Erkrankten, die von einem Test als krank
erkannt werden (a + c )
Spezifität Anzahl der Gesunden, die von einem Test als gesund d
erkannt werden (b + d )
Positiver Voraussagewert (PPV) Wahrscheinlichkeit, dass ein Erkrankter mit einem a
positiven Testergebnis, tatsächlich krank ist (a + b )
Negativer Voraussagewert (NPV) Wahrscheinlichkeit, dass ein Gesunder mit einem d
negativen Testergebnis, tatsächlich gesund ist (c + d )
Positive Likelihood-Ratio (LR+) Wahrscheinlichkeitsverhältnis; verbindet die Sensitivität
Sensitivität und Spezifität zum Verhältnis der 1– Spezifität
Häufigkeit mit der ein Erkrankter und ein Gesunder
jeweils ein positives Testergebnis zeigt.
Negative Likelihood-Ratio (LR−) Gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der ein negatives (1– S ät)
Testergebnis bei Gesunden im Verhältnis zu Spezifität
Erkrankten eintritt
Vortestwahrscheinlichkeit Wahrscheinlichkeit, dass eine Erkrankung in einer
(a + c )
(Prävalenz) Patientengruppe vorliegt
n
Ergebnis der Ultraschalluntersuchung Patient mit Verletzung Patient ohne Verletzung Summen
Aus diesem Testergebnis lassen sich die wesentli- dass alle Erkrankten mit dieser Untersuchung diag-
chen Kennzahlen mit den Formeln aus . Tab. 7.3 nostiziert werden. Im angeführten Beispiel beträgt
berechnen. die berechnete Sensitivität 86%, d. h. von allen
Für die Berechnung der Sensitivität a/(a+b) wer- Rippenfrakturen werden 86% mit der Ultraschall-
den die Ergebnisse aus . Tab. 7.4 in die Formel untersuchung gefunden. Die Spezifität d/(b+d)
eingetragen: 72/(72+12)=0,86. Ein Test mit einer drückt den Anteil der Nicht-Verletzten (Gesunden)
maximalen Sensitivität von 1 (= 100 %) bedeutet, aus, die vom Test als nicht verletzt (gesund) erkannt
156 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
Sensitivität Spezifität PPV NPV LR+ LR- Prävalenz Vortest- Nachtest- Nachtest-
Odds Odds (+) wahrsch.
(+)
Wert 0,86 0,93 0,76 0,96 12,3 0,15 0,19 0,24 3,08 0,75
[%] 86 93 76 96 19 75
werden. Dieser Anteil beträgt im Beispiel 93,3 % Der negative Voraussagewert (NPV) wurde mit 96 %
[325/(23+325)=0,93]. Ein hoch spezifischer Test wie berechnet. Die Ultraschalluntersuchung der Rippen
dieser eignet sich sehr gut, um die Gesunden in die- hat in dieser Patientengruppe eine sehr hohe diag-
ser Patientengruppe zu identifizieren. Der positive nostische Aussagekraft gezeigt.“ (Fiktives Beispiel)
7 Voraussagewert [PPV=a/(a+b)] beträgt 76% und der
negative Voraussagewert [NPV=d/(d+c)] 96 %. z z Schwächen
Die positive Likelihood-Ratio [LR+ = Sensitivität/(1− Zu den Schwächen von bildgebenden klinischen
Spezifität)] ist 12,3 und besagt, dass ein positives Studien zählen die Anfälligkeit für Zufallsergeb-
Ergebnis im Ultraschall 12,3-mal öfter bei Patienten nisse („random error“), Störfaktoren („confoun-
mit einer Rippenfraktur vorkommt, als bei Nicht-Ver- ding“) und Verzerrungen („bias“) (Sardanelli u.
letzten (Gesunden). Likelihood-Werte über 10 deu- Di Leo 2009). Diese Faktoren können niemals zur
ten auf eine sehr hohe Nützlichkeit eines Verfahrens Gänze ausgeschlossen werden, müssen jedoch bei
hin. Die negative Likelihood-Ratio [(1−Sensitivität)/ der Beurteilung von diagnostischen Studien mit-
Spezifität] beträgt 0,15. Ein Wert <0,1 schließt das berücksichtigt werden. Um die Studienergeb-
Vorhandensein einer Verletzung (Erkrankung) nahe- nisse möglichst nahe an der Realität zu generieren,
zu aus. Die Vortestwahrscheinlichkeit (Prävalenz) in bestehen Möglichkeiten, insbesondere die Verzer-
dieser Patientengruppe beträgt 19 %, die Nachtest- rungen zu limitieren. Dazu zählen ein geplantes, sys-
wahrscheinlichkeit 75 %. Die Wahrscheinlichkeit für tematisches und korrekt durchgeführtes Studiende-
das Vorliegen einer Rippenfraktur nach Durchfüh- sign und die sorgfältige Analyse und Interpretation
rung einer Ultraschalluntersuchung der Rippen ist der erhobenen Daten. Für statistische Methoden
in diesem Beispiel bei tatsächlich Verletzten 3-mal zur Berücksichtigung dieser Verzerrungen sei auf
(Wert = 3,08) höher als bei Gesunden. Eine Über- die einschlägige Fachliteratur verwiesen (Sardanelli
sicht über alle berechneten Werte zeigt . Tab. 7.5. u. Di Leo 2009).
In einem Fachartikel könnten diese Ergebnisse fol- Bildgebende Modalitäten (Untersuchungsme-
gendermaßen beschrieben sein: thoden mit Schnittbildverfahren wie z. B. MRT)
„Patienten (n=432) nach einem Sturztrauma zeichnen sich durch hohe Sensitivitäten aus,
mit Schmerzen im Thoraxbereich und Verdacht auf wodurch das Risiko der Überdiagnose steigt. Auch
Rippenfraktur wurden mittels Ultraschall unter- die Zahl der Zufalls- und Nebenbefunde kann anstei-
sucht und mit den Ergebnissen einer anschließend gen. Methoden mit geringer Spezifität können bei
durchgeführten Röntgenaufnahme der Rippen fehlenden Vorinformationen über die untersuchte
(Rö) verglichen. Die Prävalenz in dieser Patienten- Patientin (mangelhafte oder fehlende Anamnese)
gruppe betrug 19 %. Die Sensitivität und Spezifität zu gering aussagekräftigen Ergebnissen führen,
der Ultraschalluntersuchung verglichen mit dem da verschiedene Erkrankungen ähnliche Muster
Röntgen erreichten 86 % und 93 %. Die positive zeigen können. Untersuchungsverfahren mit ioni-
Likelihood-Ratio beträgt 12,3. Ein positives Untersu- sierender Strahlung (Röntgenstrahlung) gehen
chungsergebnis in der Ultraschalluntersuchung bei immer mit einer Strahlenbelastung für die Patien-
einer Fraktur der Rippen nach einem Sturztrauma tinnen einher. Der Einsatz dieser Verfahren muss
ist somit 12,8-mal häufiger als bei Nicht-Verletzten. daher immer durch eine korrekte Indikation und
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
157 7
eine strahlenhygienische Durchführung gerechtfer- Je nach Fragestellung handelt es sich bei biomedi-
tigt sein (Nutzen-Risiko-Abschätzung). Insbeson- zinischer Forschung um Grundlagenforschung oder
dere Computertomographien (z. B. des Abdomens) um angewandte Forschung – die Schnittmenge ist
sind oft mit einer erhöhten Strahlenbelastung der ein medizinischer Aspekt, der eine medizinische
Patientin verbunden. Die rasche technologische Ent- Anwendung oder Intervention untersucht und die
wicklung in der bildgebenden Diagnostik kann dazu Voraussetzung für eine evidenzbasierte Medizin
führen, dass die Evidenz in der Fachliteratur bereits bildet. Die biomedizinische Forschung wird von
von aktuellen Entwicklungen überholt wurde (Puig einem interdisziplinären und multiprofessionellen
u. Felder-Puig 2006). Team vorangetrieben, an der vor allem Mediziner,
Biologen, aber auch andere Naturwissenschaftler wie
Zusammenfassung Physiker, (Bio-)Chemiker und Biotechnologen sowie
Die Methoden in der bildgebenden Diagnostik zie- biomedizinische Analytiker beteiligt sind. Auch
len auf die Erhöhung der diagnostischen Sicherheit weitere Personen wie Statistikerinnen oder Epide-
und Prognose von Erkrankungen. Der Einsatz dieser miologinnen tragen ihren Teil zur Kooperation und
Untersuchungsmethoden muss durch Studien ge- zum Dialog bei.
rechtfertigt werden. Erst wenn die diagnostische In der biomedizinischen Forschung werden
Genauigkeit und Nützlichkeit nachgewiesen wurde, sowohl qualitative als auch quantitative Forschungs-
dürfen Untersuchungen an Menschen in die Routi- methoden angewendet, im Sinne einer Triangulation
nediagnostik übernommen werden. finden idealerweise verschiedene Forschungsmetho-
Studien in der bildgebenden Diagnostik kommen den („mixed methods“ oder Methodenmix) ihren
zum Einsatz, um diagnostische Tests zu entwickeln, Einsatz (Mertens u. Hesse-Biber 2012).
zu prüfen, zu standardisieren und zu evaluieren
(Testentwicklung) sowie deren Einsatz am Men-
schen zu rechtfertigen (Nutzen-Risiko-Abschät- Quantitative Methoden
zungen). Ergebnisse aus klinischen Studien sind Allgemein betrachtet, geht es in der quantitativen
Kennzahlen. Dazu zählen die Sensitivität, die Spezi- Forschung um die systematische und standardi-
fität, der positive und negative Voraussagewert, die sierte Messung und Darstellung der zahlenmäßigen
Likelihood-Ratio (Wahrscheinlichkeitsverhältnis), Ausprägung eines Phänomens (Hug u. Poschesch-
Vortest- und die Nachtest-Odds und die Nachtest- nik 2010). Im Gegensatz zur qualitativen Forschung
wahrscheinlichkeit. Die klinisch aussagekräftigste bestehen bereits zu Beginn des Forschungsprozesses
Kennzahl für die Nützlichkeit einer diagnostisch Theorien und Modelle über den Forschungsgegen-
bildgebenden Untersuchungsmethode ist die stand, aus denen deduktiv Hypothesen abgeleitet
Likelihood-Ratio. werden, die mithilfe geeigneter Methoden aufgrund
von messbaren Indikatoren überprüft werden sollen.
Das Verfahren zur Datenerhebung, die zu messenden
7.2.4 Studien in der biomedizinischen Größen (Indikatoren), geeignete Untersuchungs-
Forschung objekte (Probanden, Zelllinien, Proben etc.) sowie
passende Kontrollen werden im Studienprotokoll
Susanne Perkhofer, Heidi Oberhauser definiert. Die Datenauswertung erfolgt über statis-
tische Verfahren, die Ergebnisse werden über Signi-
Der in der Literatur nicht einheitlich definierte fikanzprüfungen abgesichert und die gewonnenen
Begriff „biomedizinisch“ kann als gemeinsame Erkenntnisse wieder vor dem Hintergrund des theo-
Sprache verstanden werden, „die sowohl auf der retischen Modells interpretiert (Hug u. Poschesch-
Verwissenschaftlichung der Medizin als auch der nik 2010).
Medikalisierung der Wissenschaften […] beruht Wie alle Forschungsmethoden unterliegen auch
und darauf abzielt, die Bedingungen der Möglich- quantitative Methoden den Hauptgütekriterien
keit eines fruchtbaren Dialogs zwischen Grundla- Objektivität/Intersubjektivität, Reliabilität und Vali-
genforschern und klinischen Forschern zu verbes- dität. Im Rahmen einer quantitativen Studie muss
sern“ (Benninghof et al. 2014). man sich somit folgende Fragen stellen:
158 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
4 Ist die Messung objektiv, d. h. führt sie Ist die randomisierte Zuteilung zu den Unter-
unabhängig von äußeren Rahmenbedingungen suchungsgruppen nicht möglich, spricht man von
wie Zeit, Ort oder Untersucher zu denselben einer kontrollierten klinischen Studien (7 Abschn.
Ergebnissen? 7.2.2), die zu den quasi-experimentellen Studien
4 Ist die Messung reliabel/zuverlässig, d. h. sind zählt. Die randomisierte Zuteilung kann entwe-
die gewonnenen Messergebnisse stabil, sind die der aus ethischen Gründen nicht erfolgen oder
verwendeten Messinstrumente zuverlässig? auch aufgrund vorhandener/nicht vorhande-
4 Ist die Methode valide/gültig, d. h. misst ner Eigenschaften bei den Versuchsobjekten, d. h.
die Methode tatsächlich das, was gemessen die Gruppenzugehörigkeit erfolgt aufgrund des
werden soll, ist die Stichprobe groß genug und bestehenden Merkmals, das untersucht werden
repräsentativ? soll (Behrens u. Langer 2010). Wenn beispielsweise
untersucht werden soll, ob sich die Genexpression
von antimykotikumresistenten Pilzstämmen von
Welche Studiendesigns soll gewählt antimykotikumsensiblen Stämmen unterscheidet,
werden? dann kann die Zuteilung zu den Stämmen nicht
7 Ausgehend von der Fragestellung werden die bisheri- randomisiert erfolgen, sie ist gegeben. Ein Nachteil
gen Erkenntnisse zum Gegenstand in der vorhande- des Nichtrandomisierens ist, dass unbekannte Stör-
nen Literatur systematisch gesichtet, die Forschungs- größen zu einer systematischen Verzerrung führen
frage geschärft und das Studiendesign festgelegt. können, d. h. dass die Effekte nicht ausschließlich
Quantitative Studiendesigns können grob in expe- auf das zu untersuchende Merkmal zurückzufüh-
rimentelle, quasi-experimentelle und nicht experi- ren sind.
mentelle Studien eingeteilt werden. Zu den nicht experimentellen Studien zählen
Zu den experimentellen Studien gehört die ran- die Kohortenstudien (Längsschnittstudien), die
domisierte kontrollierte Studie („randomized con- Fall-Kontroll-Studien und die Querschnittstudien
trolled trial“, RCT), die als Goldstandard für den (Surveys). Kohortenstudien oder Längsschnitt-
Nachweis des Effekts einer medizinischen Interven- studien sind Beobachtungsstudien, bei denen über
tion angesehen wird. Die Probanden (oder Proben) einen längeren Zeitraum an einer Stichprobe von
werden nach einem Zufallsprinzip in mehrere exponierten und nicht exponierten Probandinnen
Gruppen aufgeteilt (randomisiert), wobei mindes- (sog. Kohorten) zu unterschiedlichen Zeitpunk-
tens eine Gruppe die Kontrollgruppe darstellt, bei ten Daten erhoben werden. Diese Daten sollen den
der keine Intervention gesetzt wird. Die Gruppen Zusammenhang zwischen verschiedenen Expositio-
können auch verblindet werden, d. h. die Proban- nen und der Entstehung einer Krankheit feststellen.
den wissen nicht, welcher Gruppe sie zugeteilt sind. Kohortenstudien können sowohl prospektiv als auch
Wissen auch die Forscherinnen nicht, welche Pro- retrospektiv angelegt sein. Eine bekannte prospek-
banden welcher Gruppe zugeteilt sind, dann nennt tive Kohortenstudie ist die Framingham-Studie, die
man die Studie doppelverblindet. Die Effekte, die in den USA seit 1948 systematisch in einem 2-Jah-
in der/den Versuchsgruppe/n beobachtet werden, res-Rhythmus an ausgewählten Personen (mittler-
werden mit der Kontrollgruppe verglichen, die somit weile in der 2. Generation) den Einfluss kardiovasku-
einen Referenzwert darstellen (7 Abschn. 7.2.1). lärer Risikofaktoren untersucht; Expositionsfaktoren
Klinische Arzneimittelstudien werden oft als sind u. a. Nikotin- und Alkoholgenuss (Herkner u.
RCT durchgeführt. Randomisierte Probandengrup- Müllner 2011). Bei einer retrospektiven Kohorten-
pen erhalten das Medikament, dessen Effekt man studie könnte zum Beispiel rückblickend überprüft
messen möchte. Je nach Studienprotokoll erhalten werden, ob sich eine Kaliumjodidgabe nach dem
andere Gruppen alternative Medikamente, Placebo, Tschernobyl-Unfall positiv bezüglich Karzinom-
andere Behandlungen oder keine Interventionen. neubildungen ausgewirkt hat.
Die Effekte der verschiedenen Gruppen werden Bei einer Fall-Kontroll-Studie müssen zunächst
miteinander verglichen und bewertet, ebenso ist Probandinnen gefunden werden, die das zu unter-
eine Vorher-nachher-Bewertung möglich (Herkner suchende Merkmal (z. B. eine Erkrankung) bereits
u. Müllner 2011). aufweisen. Dazu sucht man sich eine Kontrollgruppe,
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
159 7
die der Fallgruppe möglichst ähnelt (z. B. in Alter, und auch mit Schmerzen verbunden ist, ist die
Geschlecht, sozioökonomischem Status), aber genau Methode der Wahl die Messung mittels der Druck-
das Merkmal nicht aufweist. Retrospektiv werden manschette am Oberarm nach Riva Rocci (Herkner
Expositionsfaktoren untersucht, die einerseits eine u. Müller 2011).
pathogene und andererseits eine protektive Wirkung Bei der Auswahl einer in der biomedizini-
auf die Erkrankung haben. Dieses Studiendesign schen Forschung anzuwendenden Methode fließen
eignet sich vor allem für seltenere Erkrankungen also Genauigkeit und Limitationen, aber auch die
oder auch, wenn es länger dauert, bis ein Effekt aus- Anwendbarkeit und die Kosten in die Entscheidung
geprägt ist (Behrens u. Langer 2010). mit ein. Die Validität der Methode ist nicht immer
Da Längsschnittuntersuchungen langwierig und nachgewiesen, vor allem nicht in der Grundlagenfor-
teuer sind, kann eine Gruppe von Probandinnen schung, da nicht für alle Untersuchungen standardi-
ausgewählt werden, an der zu einem einzigen Zeit- sierte Methoden vorhanden sind. Deshalb ist es von
punkt verschiedene Merkmale gemessen werden – in enormer Wichtigkeit, das Testverfahren mit geeigne-
diesem Fall spricht man von einer Querschnittstudie ten Kontrollen abzusichern, die Reproduzierbarkeit
bzw. einem Survey oder auch von einer Prävalenz- der Ergebnisse festzustellen, indem Untersuchun-
studie, da mit diesem Design die Prävalenz (Häufig- gen (evtl. von verschiedenen Forschern) wiederholt
keit) von Krankheiten untersucht werden kann. Die werden, und nicht standardisierte Methoden durch
Vorteile dieses Studiendesigns liegen in der raschen andere Methoden zu bestätigen.
Realisierung und den relativ niedrigen Kosten, Es genügt nicht, ein Experiment einmal durch-
jedoch ist das Design nicht geeignet, um Ursachen zuführen. Die Anzahl an Wiederholungen, aber auch
und Wirkungen von Interventionen/Expositionen die Anzahl an Probanden (egal ob Patienten, Proben
zu begründen (Behrens u. Langer 2010). oder Versuchstiere) ist statistisch mit einer Fallzahl-
Ein weiteres Anwendungsgebiet von Quer- schätzung zu berechnen (Herkner u. Müllner 2011).
schnittstudien stellt die Überprüfung von diag- Es ist also von großem Vorteil, (Bio-)Statistiker schon
nostischen Tests dar (Behrens u. Langer 2010) – in in die Planung der Studien mit einzubeziehen, für
diesem Fall spricht man von Diagnosestudien bzw. die Formulierung der Hypothese (Null- und Alter-
diagnostischen Studien. Medizinische diagnostische nativhypothese), die Festlegung der Ein- und Aus-
Verfahren – von der Anamnese über die körperliche schlusskriterien, die Fallzahlberechnung (diese gibt
Untersuchung bis hin zu labordiagnostischen und Auskunft darüber, wie viele Probanden/Proben zu
bildgebenden Verfahren – können untersucht, eva- untersuchen sind, damit der gewünschte Effekt nach-
luiert und bewertet werden. Diagnostische Studien gewiesen werden kann) und schlussendlich für die
untersuchen, ob ein Verfahren dazu geeignet ist, statistische Auswertung der Daten.
eine Krankheit zu bestätigen bzw. auszuschließen. Für die Beurteilung der Aussagekraft eines Ver-
Es kann aber auch untersucht werden, ob ein Ver- fahrens bei diagnostischen Studien müssen verschie-
fahren besser geeignet ist als ein anderes oder ob ein dene diagnostische Gütekriterien beachtet werden.
neues billigeres/weniger aufwendiges Verfahren zum Die Gültigkeit des Verfahrens wird durch die Sensi-
selben Ergebnis kommt wie das derzeit eingesetzte. tivität (Wahrscheinlichkeit eines richtig-positiven
Gemessen werden Indikatoren (Parameter), die Ergebnisses bei Krankheit) und die Spezifität (Wahr-
entweder kontinuierliche (theoretisch sind unend- scheinlichkeit eines richtig-negativen Ergebnisses
lich viele Werte möglich) oder kategorische (vor- bei Fehlen der Krankheit) beschrieben. Oft handelt
handen/nicht vorhanden) Werte ergeben. Für die es sich um kategorische Werte (vorhanden/nicht
Messung des Parameters ist die genaueste Methode vorhanden), und der Grenzwert zwischen positi-
(Goldstandard) vorzuziehen. In der Praxis ist die vem und negativem Ergebnis muss gesetzt werden.
Methode der Wahl oft aber eine andere, da Risiken, Aufgrund dieser Tatsache, gibt es auch falsch-posi-
Nebenwirkungen, Kosten oder andere Rahmen- tive (positives Ergebnis bei Fehlen der Krankheit)
bedingungen in die Entscheidung miteinbezogen und falsch-negative (negatives Ergebnis bei Krank-
werden müssen. So ist beispielweise für die Messung heit) Werte. Wird der Grenzwert herabgesetzt, so
des Blutdrucks der Goldstandard die intraarterielle resultiert daraus eine höhere Sensitivität auf Kosten
Messung – da diese aber mit einem gewissen Risiko einer niedrigeren Spezifität – man erhält mehr
160 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
falsch-positive Ergebnisse. Diese Strategie wird systematische (Bias) und grobe Fehler sind durch
bei Screeninguntersuchungen eingesetzt, wenn entsprechende Qualitätssicherung zu vermeiden.
man Kranke nicht übersehen möchte, zum Beispiel Es ist unerlässlich, Forschungsergebnisse zu publi-
beim HIV-Screening von Blutspendern. Umgekehrt zieren. Leider werden oft nicht signifikante oder nega-
wird man den Grenzwert erhöhen, wenn es darum tive Daten nicht publiziert bzw. von den Journalen nicht
geht, wenig falsch-positive Ergebnisse zu erhalten angenommen und deshalb von der „scientific commu-
– um zum Beispiel gesunde Probandinnen einer nity“ nicht gelesen. Dies führt teilweise zu unnötigen
Reihenuntersuchung nicht durch ein falsch-positi- weiteren Studien, die einerseits Geld kosten, aber auch
ves Ergebnis zu verunsichern bzw. einer Reihe von schwerwiegende Folgen für Patientinnen nach sich
(invasiven und damit risikoreicheren) Folgeunter- ziehen können (Chan et al. 2014). Denn Ziel biomedi-
suchungen auszusetzen, wie zum Beispiel beim zinischer Forschung ist es, Testverfahren zu entwickeln,
Mammographiescreening. die der Bestätigung und/oder dem Ausschluss von
Für die behandelnde Medizinerin sind vor allem Krankheiten dienen, die das Screening von symptom-
der positive prädiktive Wert (Wahrscheinlichkeit für losen Patientinnen ermöglichen, die eine Aussage über
das Vorliegen der Krankheit bei positivem Ergebnis) den prognostischen Verlauf von Krankheiten erlauben
7 und der negative prädiktive Wert (Wahrscheinlich- und die zu Therapieentscheidung und -monitoring bei-
keit für den Ausschluss der Krankheit bei negativem tragen (Thompson und van den Bruel 2012).
Ergebnis) von besonderem Interesse, die beide vor
dem Hintergrund der Prävalenz (die Wahrschein-
lichkeit für das Vorliegen der Krankheit in der reprä- 7.3 Quantitative Messverfahren
sentativen Stichprobe)interpretiert werden. Tritt eine
Krankheit selten auf, nimmt der positive prädiktive 7.3.1 Fragebogen
Wert drastisch ab und der negative prädiktive Wert
steigt (Hofmann et al. 2014) Roman Weigl
Prognose Wie entwickelt sich ein Zustand, Phänomen oder eine Erkrankung?
Diagnose Was passiert mit der Person, dem Klienten, wenn … ?
Frequenzen Wie üblich ist dieses Phänomen oder Outcome (Risikofaktor,
(z. B. Prävalenz oder Inzidenz) Krankheit etc.)?
Ätiologie Welche Risikofaktoren sind mit diesem Phänomen oder Outcome assoziiert?
Faktoren und Risikofaktoren Welche Faktoren stehen mit einem Phänomen in Zusammenhang?
Welche Risikofaktoren stehen mit dem Ausbruch einer Erkrankung in
Zusammenhang?
beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Frage- Einsatz der Mittel kann durch ein Fragebogendesign
bogenanwendung im Rahmen von Umfragen. Im eine größere Stichprobe realisiert werden, als dies mit
Gegensatz dazu liegt die grundlegende Intention anderen Erhebungsmethoden möglich ist. Zusätz-
eines Assessments immer im Versuch, Eigenschaf- lich ermöglichen es Fragebögen den Probandinnen,
ten oder Fähigkeiten einer Person abbildbar bzw. sich Zeit zu nehmen und Antworten in Ruhe (oft
messbar zu machen. Meistens geht mit dem Assess- sogar im eigenen Lebensumfeld) zu überdenken.
ment auch der Versuch einher, diese Eigenschaften Heikle Fragestellungen, für deren ehrliche Beantwor-
oder Fähigkeiten mit der typischen Leistung oder der tung die Zusicherung von Anonymität einen wich-
üblichen Eigenschaftsausprägung vergleichbar zu tigen Aspekt darstellt, sprechen für die Durchfüh-
machen, die sogenannte Normierung oder Eichung rung einer schriftlichen Befragung. Jedoch gilt es zu
(7 Kap. 11). bedenken, dass sogar im anonymen Setting soziale
Um einen Fragebogen für ein Assessment zu ent- Wirkmechanismen zum Tragen kommen (s. unten,
werfen, um zum Beispiel die graphomotorischen Abschn. „Antworttendenzen“).
Fähigkeiten oder die depressive Stimmungslage einer Wie von Hoffmann, Bennett und Del Mar (2013)
Person erheben zu können, muss eine Vielzahl test- bemerkt, eignen sich Umfragen oder Surveys nicht,
theoretischer Überlegungen bei der Entwicklung um Fragen nach der Wirksamkeit einer Intervention
berücksichtigt werden, etwa die Normierungsstich- zu überprüfen. Hier ist der RCT das geeignetste Ver-
probe, Trennschärfeanalyse, Cut-off-Punkte und fahren. Hingegen eignet sich das Umfragedesign, um
einiges mehr. Diese Aspekte werden im 7 Kap. 11 Beobachtungen („observational design“) im Rahmen
beschrieben. Im Folgenden wird speziell auf die Ent- von Kohorten oder Fallstudien zu überprüfen, im
wicklung von Fragebogenassessments im Rahmen des Speziellen nennen Hoffmann et. al (2013) Fragen
Rasch-Modells eingegangen. Weiterführende Litera- nach der Prognose, der Diagnose, den Frequenzen
tur zur Entwicklung von Fragebögen im Rahmen von und der Ätiologie (. Tab. 7.6). Im Folgenden werden
Assessments findet sich am Ende des Kapitels. die Unterschiede zwischen Paper-pencil-Fragebögen
und Online-Fragebögen beschrieben und diskutiert.
mehr zu. Die Vorteile von Online-Medien liegen in gewählt wird, sollte in jedem Fall zusätzlich
der zeitlichen und räumlichen Unabhängigkeit der eine Papierversion des Online-Fragebogens
Befragung, der wesentlich höheren Interaktivität1 an ältere Studienteilnehmer ausgegeben
mit den Beantwortenden gegenüber traditionellen oder eine Ausfüllhilfe zur Verfügung gestellt
Befragungen und der Möglichkeit der Anreiche- werden. Dies kann zum Beispiel die Möglichkeit
rung mit multimedialen Inhalten (Wagner u. Hering sein, den Fragebogen mit entsprechender
2014). Bortz und Döring (2007) weisen darauf hin, Hilfe im Rahmen eines Ambulanzbesuchs am
dass entgegen vieler Mutmaßungen aufgrund der Studienzentrum auszufüllen.
unverbindlicheren Settings in Vergleichsstudien
keine erhöhten Falschangaben in Online-Befragun-
gen nachgewiesen werden konnten. Themenstellungen
Diese Vorteile können sich aber je nach Ziel- Grundsätzlich ist das Fragebogendesign inhaltlich
gruppe der Befragung auch als Nachteile herausstel- für Themenstellungen, die Beobachtungen überprü-
len. So kann beispielsweise die mediale Präsentation fen, am besten geeignet. Im Gegensatz zu anderen
schnell zur Überforderung von Menschen führen, Methoden ist der Fragebogen aber immer den sub-
7 die mit neuen Medien weniger Erfahrung haben. jektiven Bewertungen der Person, die den Fragebo-
Tendenziell werden mit Online-Umfragen bevor- gen ausfüllt, unterworfen. Es kann davon ausgegan-
zugt Viel-Netz-User erreicht. Zusätzlich ist zu beden- gen werden, dass je heikler ein Themenbereich ist,
ken, dass nach wie vor nur zwischen 80 und 87 % umso mehr Effekte wie soziale Erwünschtheit oder
der Personen in den deutschsprachigen Ländern bewusstes Täuschen bei der Beantwortung zutage
das Internet benutzen. Österreich liegt basierend treten. Dies muss in Relation zur Themenstellung
auf Daten der Broadband Commission for Digital immer beachtet werden. Je größer diese Effekte im
Development2 (2014) bei 80,6 %, Deutschland und Vorfeld von den Forschern eingeschätzt werden,
die Schweiz liegen mit 84 und 86,7 % über diesem desto eher sollte ein Interviewdesign bzw. ein quali-
Wert. Vor allem ältere Menschen nutzen das Internet tatives Setting in Betracht gezogen werden.
seltener als jüngere Vergleichsgruppen. Als oberste
Prämisse gilt, dass die Zielpopulation möglichst gut
abgedeckt werden soll. Bortz und Döring (2006) Welche Schritte müssen eingehalten
geben zu bedenken, dass es derzeit bei Online-Befra- werden?
gungen immer zu einer Unterabdeckung der älteren Die folgenden Schritte sind in der quantitativen
Menschen kommt. Daher eignen sich Online-Be- Forschung mit Fragebögen einzuhalten:
fragungen zum derzeitigen Zeitpunkt weniger, um 4 theoriebasierende Konstruktion des
ältere Menschen zu befragen. Ebenso ist dieser Fragebogens
Zusammenhang zu beachten, wenn der Anspruch 4 Aufbau einer Dramaturgie
besteht, ein repräsentatives Sample älterer Menschen 4 Pilottestung/Vortestung („pretesting“) und
als Teil der Gesamtstichprobe zu erzielen. Überarbeitung des Fragebogenentwurfs
4 Durchführung der Befragung
> Zum derzeitigen Zeitpunkt kann keine 4 Sichtung der Daten
Online-Befragung empfohlen werden, wenn 4 Analyse der Daten
die Befragungszielgruppe ältere Menschen
sind. Falls trotzdem ein Online-Design
Theoriebasierende Konstruktion des
Fragebogens
1 Zum Beispiel adaptive Fragenpräsentation, abhängig Unabhängig davon, ob es sich um einen Papier-
vom Beantwortungsmuster (TELS, s. unten)
oder Online-Fragebogen handelt, gilt es immer als
2 Die Broadband Commission wurde 2010 von der Tele-
communication Union (ITU) and the United Nations Edu-
ersten Schritt bei der Konstruktion von Fragebögen,
cational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) die dem Fragebogen zugrunde liegende Theorie
gegründet. des Phänomens (7 Kap. 2) zu beachten. Erst nach
7.3 · Quantitative Messverfahren
163 7
. Tab. 7.7 Konstrukte der Playfulness-Theorie und ihre Beziehung zu den Fragebogen-Items
> Erweisen sich mehrere offene Fragen als In jedem Fall muss mit einer händischen Auswertung
notwendig, gilt es zu überdenken, ob nicht der Antworten gerechnet werden, da automatisierte
gleich ein qualitatives Forschungsdesign Codierungsprozesse durch Textanalyse-Software
ausgewählt werden soll. zum gegenwärtigen Stand der Technik zu fehleran-
fällig sind (Mayer 2009). . Tab. 7.8 fasst nochmals die
Eine weitere Anwendungsmöglichkeit ist das zusätz- Vor- und Nachteile der offenen und geschlossenen
liche Anbieten eines offenen Antwortfeldes, um Fragestruktur zusammen.
weitere Informationen erhalten zu können, die durch
die geschlossenen Antwortkategorien nicht abge- > Achtung bei offenen Fragen: sinnvoll
bildet werden. Dies kann vor allem in der Entwick- einsetzen lassen sich offene Fragen
lungsphase oder der Pretest-Phase von Fragebögen nur bei geringeren Fallzahlen bzw. als
wichtige Hinweise der Teilnehmenden liefern. Zusatzinformation zu einer quantitativen
Fragebogenstruktur. Je höher die
Beispiel Fallzahl ist, desto aufwendiger gestaltet sich
In der deutschsprachigen Version der The Expe- die Analyse der offenen Antworten. Es wird
rience of Leisure Scale (TELS) verwendeten Weigl daher geraten, offene Fragen, wenn unbedingt
und Bundy (2013) ein zusätzliches offenes Kom- notwendig, auf das Minimum zu reduzieren.
mentarfeld, um es den Teilnehmern zu ermög-
lichen, Erklärungen und Begründungen zu den
einzelnen Items abzugeben (. Abb. 7.13). Die Skalierungsverfahren
Auswertung erfolgte im Rahmen der Rasch-Ana- Bei der Verwendung geschlossener Antwortmöglich-
lyse rein statistisch. Die Kommentare konnten keiten bieten sich verschiedene Skalierungsverfahren
allerdings im Rahmen der Auswertung genutzt für die Gestaltung der Antwortkategorien an. Basie-
werden, um mögliche Ursachen für Abweichun- rend auf den im 7 Abschn. 2.4.1 erwähnten Skalen-
gen des wahrscheinlichkeitstheoretischen Rasch- niveaus von Variablen können auch Antwortkatego-
Modells zu explorieren. rien nach diesem System eingeteilt werden.
7.3 · Quantitative Messverfahren
165 7
. Tab. 7.9 Patientenzufriedenheit in der ambulanten Versorgung. (Adaptiert nach Bitzer et al. 2002)
Sehr geehrte Patientin, sehr geehrter Patient, wie Sehr Eher Eher Sehr
zufrieden sind Sie im Allgemeinen (d. h. nicht nur zufrieden zufrieden unzufrieden unzufrieden
auf den letzten Arztbesuch bezogen) mit Ihrem
Arzt in Bezug auf
… die Informationen über die geplante Therapie?
… die Verständlichkeit der Informationen?
z z Nominale Skalen
Fragebögen verwendet wird3 (Likert 1932). Die im
Hier stellen Antwortkategorien reine Bezeichnun- Rahmen der Skala verwendeten Antwortmöglich-
gen dar, sogenannte Labels, deren Eigenschaften keiten sollten so konstruiert sein, dass der Abstand
keinerlei Rangordnung ergeben. Dies kann demo- zwischen den Antwortmöglichkeiten möglichst
graphische Daten betreffen, wie die Frage nach dem gleich empfunden wird (auch wenn er mathematisch
Geschlecht (männlich oder weiblich). Es kann aber gesehen nicht gleich ist). Es wird hier von der Äqui-
ebenso eine Frage nach dem Krankenhaus sein, in distanz gesprochen. . Tab. 7.9 zeigt ein Beispiel für die
dem der Fragebogen ausgefüllt wurde. Somit ist Anwendung dieses Skalentyps, es ist ein Ausschnitt
zwar keine Rangordnung gegeben, aber es ist der aus der Patientenzufriedenheitsbefragung der Medi-
Forscherin möglich, Kategorien zu bilden. Zum zinischen Hochschule Hannover (Bitzer et al. 2002).
Beispiel könnten die Umfrageergebnisse bezüglich Im mathematischen Sinne handelt es sich aber
der Patientinnenzufriedenheit innerhalb mehre- bei den Abständen zwischen den Antwortkategorien
rer Krankenhäuser miteinander verglichen werden. nur um eine Pseudoäquidistanz, da die Wahrneh-
Ebenso könnte erhoben werden, ob bestimmte Aus- mung der Abstände durch die ausfüllenden Perso-
prägungsmerkmale in bestimmten Krankenhäusern nen unterschiedlich sein kann. Es herrschen in der
gehäuft auftreten (korrelieren, nicht mehr nur durch Fachwelt daher unterschiedliche Auffassungen, ob
Zufall erklärbar sind).
z z Ordinale Skalen 3 Streng genommen bezieht sich die Verwendung nur auf
das von Rensis Likert verwendete Antwortformat und
Likert-Skala oder nummerische Rating-Skala Benannt
nicht auf den gesamten von Likert entwickelten wesent-
nach seinem Entwickler, dem amerikanischen Psy- lich komplexeren Frage-Antwort-Skalentyp, der ähnlich
chologen Rensis Likert, stellt die Likert-Skala den wie die Guttman-Skala ein Composite-Format hat
am meisten verwendeten Skalentyp dar, der in (Carifio u. Perla 2007).
166 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
7
. Abb. 7.14 Patientenbefragung im therapeutischen Bereich der Niederösterreichischen Landeskliniken-Holding
. Tab. 7.10 Guttman-Skala zur Evaluierung der Einstellung gegenüber psychisch kranken Menschen, basierend auf
der Social Distance Scale nach Bogardus (1933), beginnend mit dem am wenigsten extremen Item
dass Personen, die eine starke Ausprägung einer haben. In der Praxis erfüllt sich diese klare Trennli-
zugrunde liegenden Variablen wählen, automatisch nie der aufbauenden Skala allerdings oft nicht so wie
auch die schwächeren bejahen. Man spricht hier von gewünscht, daher spricht die Rasch-Analyse kritisch
einer Composite-Skala (. Tab. 7.10). von einer „Guttman-like reponse“, wenn die Ergeb-
Die Guttman-Skala sollte so konstruiert sein, nisse „zu schön sind, um wahr zu sein“4 (Bond u.
dass sie möglichst unidimensional ist. Im Gegen- Fox 2015, S. 272).
satz zur Rasch-Analyse wird die Unidimensionali-
tät einer Guttman-Skala allerdings nicht mathema- z z Intervallskala
tisch überprüft, sondern theoretisch gebildet. Des Intervallantwortkategorien stellen entweder eine
Weiteren sollen die einzelnen Aussagen aufeinan- natürliche Intervallkategorie dar (Frage nach dem
der aufbauen. Im Sinne der Unidimensionalität des Gewicht, der Körpertemperatur, Anzahl der Kinder
zugrunde liegenden Konstruktes wäre beim Beispiel etc.), oder die Werte müssen in Relation zu den
in . Tab. 7.10 zu überprüfen, ob alle 4 Fragen dieselbe Werten einer Normierungsstichprobe stehen. Eine
Dimension erfassen. Es könnte eventuell von Vorteil weitere Methode der Erzeugung von mathemati-
sein, Aspekte noch mehr zu differenzieren, zum Bei- schen bedeutsamen Abständen zwischen Antwortka-
spiel Untergruppen zu bilden: allgemeine Einstellung tegorien stellt die Rasch-Analyse dar. Am Beispiel der
zu psychischen Erkrankungen und die Einstellung zu Erhebung des Konstruktes Phobie soll dieser Prozess
bestimmten psychischen Krankheiten. Des Weiteren dargelegt werden.
kann es sinnvoll sein, den Begriff psychische Erkran-
kung für die Befragten noch zu erläutern, indem Fall- Intervallstruktur durch Rasch-Analyse
vignetten geschildert werden oder Ähnliches (vgl. Primär muss eingangs davon ausgegangen
Angermeyer et al. 2013). werden, dass die Items des Fragebogens wirk-
Das Aufbauen der Aussagen wird im obigen Bei- lich adäquat die latente Variable Phobie in ihrer
spiel ersichtlich: Personen, die es nicht stört, einen gesamten Bandbreite von leichter bis schwerer
Menschen mit psychischer Erkrankung für eine ängstlicher Befindlichkeit abbilden. Für seine
offene Stelle vorzuschlagen (Frage 3), werden mit Antwort stehen dem Probanden die Skalenkate-
hoher Wahrscheinlichkeit auch den ersten beiden gorien gar nicht (0 Punkte), manchmal (1 Punkt)
„schwächeren“ Aussagen 1 und 2 zustimmen. Den und oft (2 Punkte) zur Verfügung. Die Rasch-Ana-
Aussagen 4 und 5 würden nur Menschen zustim-
men, die eine deutlich positivere Einstellung gegen-
über Menschen mit psychischen Erkrankungen 4 „Too good to be true“
168 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
Wie lange liegt das erstmalige Auftreten der Erkrankung an Diabetes mellitus Typ 1 zurück?
⃞ Vor Kurzem (1–2 Monate) ⃞ 3–6 Monatea ⃞ Schon länger (länger als ½ Jahr)a
a Nur die Beantwortung der Kategorien 2 und 3 (≥3 Monate) würde nun im Fragebogenablauf zur Frage nach den
Problemen mit der Erkrankung im schulischen Kontext führen, da hier schon erste Erfahrungen zu erwarten sind.
Fragen 15 bis 25
mit
7 anderen
e
Ang grafisch
Fragen 1 bis 14
aben
alleine
o
Dem
gleich Weiterleitung
zu demografischen Angaben
Der Vorteil von Online-Fragebögen liegt in ist es wahrscheinlicher, dass Menschen die Frage
der Möglichkeit von sehr komplexen Fragebogen- nach ihrem Gesundheitszustand kritischer beant-
strukturen, die interaktiv den Teilnehmenden prä- worten, wenn sie vorher mehrere Fragen über
sentiert werden können. Die komplexe Struktur bestimmte Krankheiten zu beantworten hatten
verwirrt die Teilnehmer nicht, da immer nur die (Sullivan 2003). Umgekehrt würde die Antwort
jeweils relevanten Fragen durch die Software bzw. auf die Frage nach dem Gesundheitszustand an
Skriptsprache angezeigt werden. So konnte in der einer Position vor den Krankheitsfragen positiver
Befragung von Erwachsenen zur ihrer Verspieltheit ausfallen.
in Freizeitaktivitäten durch die serverseitige PHP-
Skript-Programmierung nur die jeweils relevante
TELS-Version für Freizeittätigkeiten mit anderen Formulierung von Fragebogen-Items
oder die TELS-Variante für Freizeittätigkeiten, die Unabhängig von der gewählten Skalen- und Ant-
alleine durchgeführt werden, den Teilnehmern prä- wortstruktur gibt es einige Punkte die im Rahmen
sentiert werden (The Experience of Leisure Scales der Erstellung von Fragebogen-Items zu beachten
von Weigl u. Bundy (2013), ausgehend vom sozialen sind.
Kontext der Tätigkeit, d. h. alleine oder mit anderen;
. Abb. 7.17). z z Klarheit von Items
Die Fragensukzession hat nicht nur Folgen für Die Klarheit von Items hängt oftmals mit der Nähe
die Orientierung der Teilnehmenden einer Befra- des Forschungsteams zum jeweiligen Themenbereich
gung, sondern sie nimmt auch direkten Einfluss zusammen. So ist eine Frage aus der Sicht der For-
auf die inhaltliche Beantwortung der Fragen, es scher oftmals klar und deutlich formuliert, wogegen
wird hier vom Reihenfolgeeffekt gesprochen. So diese für Personen, die sich mit der Materie nicht so
7.3 · Quantitative Messverfahren
171 7
intensiv auseinandergesetzt haben, als sehr unklar z z Negativ formulierte Fragen und Statements
erscheint. Ebenso kann es auch umgekehrt sein, dass Probandinnen stimmen mehrheitlich lieber positi-
ein Fragebogen-Item als sehr oberflächlich von den ven Statements als negativ formulierten zu (Moos-
Teilnehmenden empfunden wird, die sich dadurch brugger u. Kelava 2012). Zusätzlich kommt es durch
in ihrer Kompetenz nicht ernst genommen fühlen. Negationen zu einer deutlich höheren Anzahl von
Um die Klarheit von Items zu gewährleisten, hat sich Missinterpretationen der durch den Fragebogen prä-
eine Pretest und eine Pilotphase (s. unten) als sehr sentierten Fragen oder Statements.
sinnvoll erwiesen.
Negativbeispiel
z z „Double-barreled questions“ Ärztinnen sollten Jugendlichen keine Schlaftablet-
Unter diesem Begriff wird eine Frage verstanden, die ten verordnen.
mehrere Themen umfasst, aber deren Beantwortung ⃞ Stimme zu ⃞ Stimme nicht zu
nur eine Antwort zulässt (Babbie 2010). Meine Eltern interessierten sich nicht für meine
Probleme.
Beispiel ⃞ Ja ⃞ Nein
Wie zufrieden sind sie mit Ihrem Gesundheitszu-
stand und der erhaltenen Behandlung? Obwohl voraussichtlich die Mehrzahl der Bevölke-
⃞ Zufrieden ⃞ Unzufrieden rung die Gabe von Schlafmedikamente an Jugendli-
che ablehnen würde, kann es durch die komplizierte
Aufgrund der Fragenkonstellation ist keine zufrie- negative Fragestellung im obigen Beispiel passieren,
denstellende Beantwortung möglich, da nur beide dass Teilnehmerinnen fälschlich „Stimme nicht zu“
Themen gemeinsam beantwortet werden können. ankreuzen. Besser ist es hier, einfach formulierte
In diesem Beispiel fehlt in der Beantwortung der Statements zu verwenden:
Frage die Möglichkeit, zwischen der Zufriedenheit
mit der Behandlung und der Zufriedenheit mit dem Beispiel
Gesundheitszustand differenzieren zu können, es Sollen Ärzte Jugendlichen Schlaftabletten verordnen?
bedarf daher zweier Fragen. ⃞ Stimme zu ⃞ Stimme nicht zu
Meine Eltern haben ein offenes Ohr für meine Probleme.
z z Anordnung der Skalen ⃞ Ja ⃞ Nein
Keller (2013) empfiehlt, Skalen von links nach
rechts verlaufen zu lassen. Das heißt die Skala geht z z Kompetenz und Motivation der Befragten
vom niedrigsten Wert (für keine Zustimmung) aus Babbie (2010) führt 2 Grundanforderungen an die
und verläuft nach rechts zum höchsten Wert im Teilnehmenden von Befragungen an: Die Befragten
Sinne der vollen Zustimmung. Diese Vorgehens- sollten einerseits kompetent sein, um die Fragen
weise kommt dem Befragten entgegen, der intui- auch wirklich beantworten zu können. Und die
tiv diese Ordnung analog zur lateinischen Schrift Befragten sollten anderseits auch motiviert sein,
erwartet. die Fragen zu beantworten. Hier gilt es im Rahmen
des Fragebogenentwurfs, immer die Situation der
z z Optische Verstärkungen Befragten, ihren Wissens- und Entwicklungsstand
Ebenso sollten keine optischen Verstärkungen der zu berücksichtigen. So macht es zum Beispiel wenig
Skala erfolgen. Laut Keller (2013) hat sich in Experi- Sinn, jugendliche Patienten mit frisch manifestier-
menten gezeigt, dass die Verwendung beispielweise tem Diabetes mellitus Typ 1 über ihre Probleme
von Keilen oder größer werdenden Kästchen die mit der Erkrankung im schulischen Alltag zu befra-
Ergebnisse verändert. Laut Keller (2013) kann auch gen, da sie meistens erst den Umgang mit ihrer
die Verwendung von Minuszeichen, zum Beispiel Erkrankungen im Rahmen eines stationären Auf-
bei einer Codierung von −2 bis 2 (im Gegensatz zu 1 enthalts in der Klinik erlernen müssen. Hingegen
bis 5), die Ergebnisse beeinflussen, für diese Behaup- macht es sehr wohl Sinn, diese Frage zu stellen,
tung werden allerdings keine Quellen genannt. wenn die Erkrankung bereits länger besteht. Die
172 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
Frage könnte zum Beispiel ein Bestandteil eines „mit Drogenabhängigkeit umzugehen“ als auf „Dro-
Fragebogens sein, der im Rahmen einer stationä- genrehabilitation“. Es ist daher immer notwendig, die
ren (Nach-)Schulungswoche in derselben Klinik Sichtweise der Befragten im Rahmen des Fragebo-
ausgegeben wird. gendesigns zu berücksichtigen, um etwaige Beein-
Die Bereitschaft, Fragen möglichst wahrheits- flussungen möglichst zu vermeiden. Dies führt direkt
getreu zu beantworten, hängt mit vielen Faktoren zur Auseinandersetzung mit dem Thema der Ant-
zusammen. Eine der wichtigsten Maßnahmen, um worttendenzen im nächsten Abschnitt.
negative Konsequenzen für Teilnehmende zu ver-
meiden, ist das Ermöglichen der Anonymität im z z Überspringen von Fragen
Rahmen der Befragung (s. unten, Abschn. „Antwort- Im Gegensatz zu Paper-pencil-Designs lässt sich bei
tendenzen“). Dies erleichtert es den Teilnehmenden, Online-Designs zumindest vordergründig festle-
Antworten zu geben, von denen sie denken, dass sie gen, ob das Überspringen von Antworten von den
nicht Mehrheitskonform sind. Eine weitere Mög- Forscherinnen erlaubt wird oder nicht. Die For-
lichkeit, die Motivation der Teilnehmenden an einer mulierung „vordergründig“ nimmt darauf Bezug,
Befragung zu erhalten, ist, alle relevanten Fragen in dass die Teilnehmenden dadurch indirekt gezwun-
7 kurzer und kompakter Form zu präsentieren. Dies gen werden, entweder Antworten zu geben, auf die
ist durch das Verwenden von Verzweigungsfragen sie keine Antwort wissen, oder im schlimmsten Fall
gut erreichbar. einfach die Umfrage abbrechen. Es stellt sich dabei
die Frage, ob fehlende oder „fälschlich“ valide Daten
z z Vermeidung von beeinflussenden Fragen in Kauf genommen werden. Aus forschungstheore-
(Itembias) tischer Sicht im Sinne der mangelnden Datenquali-
„Stimmen sie dem Bundespräsidenten mit seiner tät ist eindeutig der ersten Variante, den fehlenden
Aussage zu, dass … “ Mit dieser wenig subtilen For- Daten, der Vorzug zu geben.
mulierung wird klar, dass die Autorität des Bun-
despräsidenten benutzt wird, um es Personen zu > Fehlende Daten sind gegenüber „fälschlich“
erschweren, eine abweichende Antwort zu geben. validen Daten durch erzwungene Antworten
Wer widerspricht schon leichtfertig dem Bundes- zu bevorzugen. Aus diesem Grund empfiehlt
präsidenten … Obwohl diese Form der Beeinflus- Couper (2008), das Überspringen von Fragen
sung eher in politischen Umfragen zu beobachten zu ermöglichen.
ist, muss auch bei wissenschaftlichen Kontext ein
mögliches Itembias kritisch reflektiert werden. Nicht Als innovatives Design erprobten De Leeuw, Boevee
immer erfolgt eine Beeinflussung leicht erkennbar. und Hox (2013) eine Fragebogenvariante, die die
Die US-Amerikanische General Social Survey Kategorie „Weiß nicht“ anbot. Nach dem Wählen
(GSS) erhebt alle 2 Jahre neben allgemeinen demo- dieser Kategorie erhielten die Teilnehmenden einen
graphischen Angaben wie Geschlecht, Alter etc. die Hinweis, dass die Antwort gespeichert wurde. Sie
Einstellung und Einstellungsveränderung der ame- wurden aber nochmals gebeten, ob sie nicht doch
rikanischen Bürger zu verschiedensten Themen. noch eine Präferenz zu einem Ja oder Nein hätten
Im Rahmen der GSS konnte Rasinski (1989) Aus- oder beim „Weiß nicht“ bleiben wollten. Dieser neu-
wirkungen der Formulierungen der Frage-Items erliche Hinweis reduzierte die Antworten mit „Weiß
auf die Befragungsergebnisse nachweisen. Als Bei- nicht“ um 16 %.
spiel bewegte die Formulierung „die Armen unter-
stützen“6 deutlich mehr Menschen zur Zustimmung
als die Formulierung „Sozialhilfe“. Ebenso reagier- Antworttendenzen
ten die Befragten eher positiv auf die Formulierung z z Soziale Erwünschtheit („socially desirable
responding“)
Menschen haben ein intuitives Verlangen, sich
6 „Assistance to the poor“ versus „welfare“, „dealing with möglichst positiv zu präsentieren. Dies führt
drug addiction“ versus „drug rehabilitation“ oftmals dazu, dass Antworten in Relation zum
7.3 · Quantitative Messverfahren
173 7
sozialen Umfeld gewählt werden. Moosbrug- hingewiesen werden, Extrempositionen innerhalb
ger und Kelava (2012) unterscheiden zwischen 2 einer Skala zu vermeiden, außer es gibt diese wirk-
Formen der sozialen Erwünschtheit: Selbsttäu- lich. „Nie“ sollte daher nur als Endpunkt einer Ant-
schung und Fremdtäuschung. Unter Fremdtäu- wortskala verwenden werden, wenn es wirklich eine
schung wird die Tendenz verstanden, über sich „Nie-Ausprägung“ des Verhaltens gibt. Ansonsten
selber überwiegend positive Beschreibungen 7 ist eine weichere Formulierung wie „so gut wie nie“
(Paulhus 1991, S. 17) oder Antworten zu geben, empfohlen. Am anderen Pol der Antwortskala gilt
die eher als gesellschaftlich anerkannt empfunden es, beispielsweise „immer“ durch „fast immer“ zu
werden (z. B. Vermeiden von Radikalpositionen). ersetzen.
Bei der Selbsttäuschung erfolgt die verzerrte vor-
teilhafte Selbsteinschätzung hingegen auf einer für z z Akquieszenz
die Person nicht bewussten Ebene, die Probanden Unter Akquieszenz wird die Tendenz verstanden,
empfinden sich selber als ehrlich (Moosbrugger u. einer Aussage unabhängig von ihrem Inhalt zuzu-
Kelava 2012, S. 59). stimmen (Moosbrugger u. Kevala 2012). Verein-
Um dem Problem der sozialen Erwünscht- facht kann das Phänomen der Akquieszenz so erklärt
heit zu begegnen, zeigt sich als wichtigste Maß- werden, dass Befragte Statements lieber zustimmen
nahme, den Teilnehmern die Anonymität zuzu- als diese ablehnen. Dieses Phänomen ist auch zu
sichern und auch entsprechend zu erklären. So ist beobachten, wenn Fragen inhaltlich gegensätzlich
es von größter Wichtigkeit für den Arbeitgeber, formuliert sind. So würde die Frage „Sollen Men-
die Befragung über die Arbeitszufriedenheit der schen mit psychiatrischen Erkrankungen offener mit
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen anonym durch- ihrer Erkrankung umgehen?“ von einer Mehrheit der
zuführen. Die Sorge um negative Konsequenzen Befragten mit Ja beantwortet werden, aber ebenso
am Arbeitsplatz würde ansonsten das Antwort- die gegenteilig formulierte Frage „Sollen Menschen
verhalten deutlich beeinflussen und dadurch das mit psychischen Problemen lieber nicht zu öffent-
Zustandekommen von verwertbaren Ergebnisse lich ihrer Erkrankung ansprechen, um Nachteile im
verhindern. Berufsleben zu verhindern?“.
Eine weitere Möglichkeit stellt das Einfüh- Um den Akquieszenzgehalt in Datensätzen
ren sogenannter Kontrollfragen dar. Dazu werden abschätzen zu können, werden auch absichtliche
Fragen verwendet, die negative Eigenschaften mit Invertierungen derselben Frage eingefügt (Moos-
sehr weiter Verbreitung in der Bevölkerung umfas- brugger u. Kevala 2012). Gleichzeitige Zustim-
sen. Ein Verneinen dieser „üblichen“ negativen mung und Ablehnung desselben Themas deutet auf
Eigenschaften würde auf erhöhte soziale Erwünscht- Akquieszenz in den Antworten hin (Raab-Steiner u.
heit im Antwortverhalten hindeuten, als Konse- Benesch 2010).
quenz müssen die Ergebnisse vorsichtiger interpre-
tiert werden. z z Verwendung einer Mittelkategorie in den
Antwortstufen
z z Tendenz zur Mitte Die Forschungsgemeinschaft teilt sich bezüglich
Unter Tendenz zur Mitte wird die unbewusste (oder der Verwendungen einer Mittelkategorie (ungerade
bewusste) Bevorzugung von mittleren Antwortka- versus gerade Stufenanzahl) in den Antwortstufen
tegorien verstanden (Moosbrugger u. Kevala 2012). in 2 Lager. Eine Gruppe von Wissenschaftlern geht
So wird empirisch davon ausgegangen, dass eine davon aus, dass eine Mittelkategorie im Sinne der
gerade Anzahl von Fragekategorien Befragte dazu Messgenauigkeit notwendig sei. Die andere Gruppe
zwingt, sich eher für eine Richtung zu entschei- geht davon aus, dass dadurch zu viele Antworten
den. In diesem Zusammenhang muss auch darauf der Mitte gewählt werden. Um die Frage, ob die Ver-
wendung einer Mittelkategorie wünschenswert ist,
beantworten zu können, müssen die vorher erwähn-
7 „The tendency to give answers that make the repondent ten Antworttendenzphänomene, Tendenz zur Mitte
look good.“ und Akquieszenz, kritisch beleuchtet werden.
174 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
Der Nachteil der ungeraden Stufenanzahl ist die Beispiel: Sind die Fragen verständlich? Ist der Ablauf
missbräuchliche Verwendung der Mittenkategorie des Fragebogens für die Teilnehmenden nachvoll-
als „Fluchtkategorie“, d. h. bei Zweifeln die Mittel- ziehbar? Sind Begriffe erklärt?
kategorie zu wählen. Dadurch können Fehlmes- Neben den inhaltlichen Rückmeldungen können
sungen verursachen werden. Im Gegensatz dazu gerade Online-Befragungen so auch wichtiges tech-
tritt bei geraden Stufenkategorien das Phänomen nisches Feedback bekommen, zum Beispiel ob
der Akquieszenz stärker zutage. Bedingt durch die bestimmte Betriebssysteme Probleme bereiten, all-
Akquieszenz treten daher häufiger Zustimmungen gemein übliche Browser-Einstellungen Schwierig-
als Ablehnungen auf („Im Zweifel lieber Ja“). keiten bei interaktiven Elementen machen, ob Mobil-
Im Sinne einer empirischen Überprüfung der geräte Zugriff auf alle für die Befragung notwendige
Frage nach der Verwendung einer Mittelkategorie Elemente haben usw.
konnte Moors (2008) in einer Untersuchung keine Ein Pretest des Fragebogens mit einer Gruppe
wesentlichen Unterschiede zwischen 5-stufigen und von Kommilitonen bzw. Studienkollegen ist gar
6-stufigen Antwortkategorien entdecken. Von einer keinem Pretest vorzuziehen. Wenn es möglich ist,
verbesserten Reliabilität bei Skalen mit Mittelkate- ist allerdings der Fragebogen-Pretest mit Repräsen-
7 gorie berichten hingegen O'Muircheartaigh, Krosnik tanten der zukünftigen Studienteilnehmern immer
und Helic (2000). Moors (2008) gibt in seiner zu bevorzugen.
Analyse abschließend zu bedenken, dass es noch zu
wenige Empfehlungen gibt, welches Antwortformat > Als Personenanzahl für den Pretest nennt
abhängig vom Forschungsgegenstand verwendet Babbie (2010) 10 Personen, Forsyth und Kviz
werden soll. Als Lösung empfiehlt Moors die Wei- (2006) empfehlen 15–30 Personen.
terentwicklung sogenannter Split-Ballot-MTMM-
Designs (Saris et al. 2004), die als geeignet erachtet Nur so können Verständnisprobleme etc. bereits
werden, die Empfehlungen bezüglich des am besten vor Beginn der Befragung aufgedeckt werden und
geeigneten Antwortformats zu liefern. die Fragen überarbeitet werden. Die Revidierung
des Fragebogens ist nach erfolgter postalischer
Aussendung bzw. Online-Freischaltung entwe-
Pilottestung, Vortestung, der aus finanziellen oder forschungsmethodischen
Pretesting Gründen nicht mehr durchführbar. Sind umfang-
Selbst bei einer noch so sorgfältigen Erstellung eines reiche Änderungen am Fragebogen notwendig,
Fragebogens kann die Wirkung der Fragen und des empfiehlt Mayer (2009) eine neuerliche Wieder-
Bogens auf die Probandinnen oftmals nicht vor- holung des Pretest.
hergesehen werden. Jedes Fragebogendesign sollte
daher idealweise eine Pretesting-Phase beinhalten. > Wenn irgendwie möglich, sollten typische
Bradburn, Sudman und Wansink (2004, S. 317) Vertreter aller geplanten Zielgruppen
bringen es auf den Punkt: „If you do not have the am Pretest teilnehmen, um Probleme
resources to pilottest your questionnaire, don't do vor Beginn der Fragebogenausgabe zu
the study.“ erkennen. Ob diese Personen dann später
an der eigentlichen Befragung teilnehmen
> Ein Pretesting des Fragebogens ist in jedem können, ist davon abhängig zu machen, ob
Fall dringend empfohlen. der Pretest zu einer Verhaltensänderung,
zum Beispiel durch vermehrte Reflexion
Unter Pretest wird die Präsentation des Fragebo- über das Thema, führen könnte. Wenn ja,
gens an Personen, die nicht in den Planungsprozess ist es wissenschaftlich korrekter, dass die
des Fragebogens involviert waren, verstanden. Dies Personen, die am Pretest beteiligt waren,
ermöglicht es, Feedback über die wichtigsten Punkte nicht mehr an der eigentlichen Befragung
des Fragebogenablaufs und -designs zu erhalten, zum teilnehmen.
7.3 · Quantitative Messverfahren
175 7
Durchführung der Befragung Binder, Sieber und Angst (1979, zitiert in Bortz
Im Falle einer postalischen Befragung ist die u. Döring 2006) beschreiben, dass Antwortende ten-
Rücksendung möglichst einfach zu gestalten. denziell andere Grundcharakteristika als Nichtant-
Üblicherweise wird ein vorfrankiertes und beschrif- wortende haben: Der Bildungsstand und die Aus-
tetes Rückkuvert beigelegt, was auch meistens von bildung der Antwortenden ist allgemein höher, das
den Ethikkommissionen verlangt wird. Meistens Interesse am Befragungsthema stärker und die Ver-
enthält das Anschreiben eine Rücksendefrist. Um bindung zum Befrager ist deutlicher ausgeprägt.
die Rücklaufquote zu erhöhen, werden nach einer Daher empfehlen Bortz und Döring (2006) immer
definierten Zeitspanne auch sogenannte Erinne- eine sorgfältige quantitative und qualitative Analyse
rungsschreiben an die Studienteilnehmerinnen der Rückläufe. Hier ist es sehr hilfreich, mehr über die
versandt (s. unten). Werden die Fragbögen durch Parameter der Grundpopulation zu wissen. Dadurch
andere Personen an die Studienteilnehmerinnen ist es möglich, die demographische Zusammenset-
ausgeteilt, empfiehlt es sich, Handanweisungen zu zung des Teilnehmersamples statistisch mit denen
formulieren, die die wichtigsten Punkte zusam- der Grundpopulation zu vergleichen. Gröbere Abwei-
menfassen, die von der austeilenden Person ange- chungen bezüglich Bildungsstand, Geschlecht, Alters-
sprochen werden sollen. verteilung oder Ähnlichem fallen sofort ins Auge.
Folgende Maßnahmen sind bei Verzerrungen von
z z Rücklaufquote und Rücklaufbias Binder et. al. (1979, zitiert in Bortz u. Döring 2006)
Die Rücklaufquote ist der Anteil der wieder eingegan- empfohlen:
genen ausgefüllten Fragebögen im Vergleich zu den
verschickten oder ausgeteilten Fragebögen. Dieser Gewichtungsprozeduren Die demographischen
Anteil kann nur bestimmt werden, wenn es sich um Merkmale des Teilnehmersamples können bei
geschlossene Befragungen handelt, d. h. wenn die genauer Kenntnis der Grundpopulation mit dieser
Anzahl der ausgegebenen Fragebögen bekannt ist. verglichen werden. Sollten hier signifikante Abwei-
Um bei Online-Befragungen die Zahl zu ermitteln, chungen bestehen, man spricht von einer mangeln-
bedarf es einer geschlossenen Gruppe, die per Ein- den Stichprobenrepräsentativität, ist es möglich,
ladesystems, zum Beispiel mittels Tokens, E-Mail, diese mittels Gewichtungsprozeduren auszugleichen.
IP-Range etc., identifiziert wurde. Viele Befragun- Ein Quotient, der aus der demographischen Soll-
gen beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Vermei- Ist-Situation gebildet wird, gewichtet eine Gruppe
den einer niedrigen Rücklaufquote (Orientierungs- höher und die andere Gruppe niedriger. Bortz und
werte s. unten). Statistisch wesentlich wichtiger bzw. Döring (2006) weisen darauf hin, dass diese Verfah-
zumindest genauso wichtig wie eine niedrige Rück- ren nur sinnvoll sind, wenn genug Teilnehmerinnen
laufquote ist das oft damit verbundene Thema des der Subgruppe geantwortet haben. Ansonsten ist auf
Rücklaufbias. die von Kauermann und Küchenhof (2011) beschrie-
benen statistischen Korrekturverfahren und auf den
> Nicht der geringe Rücklauf stellt ein Problem Umgang mit fehlenden Werten und nicht erreichba-
dar, sondern das damit oft verbundene ren Individuen verwiesen, die in der entsprechen-
Rücklaufbias („nonreponse bias“). den Fachliteratur zu finden sind. Berechnungsver-
fahren zur Gewichtung können ebenfalls dem Buch
Rücklaufbias nimmt auf die Tatsache Bezug, dass von Kauermann und Küchenhof (2011) entnommen
Personen mit bestimmten Charakteristika gehäuft werden.
an einer Befragung teilnehmen und dadurch die
Umfrageergebnisse entsprechend in eine Richtung > Gewichtungsquotienten dürfen nur reale
beeinflussen. Dies kann selbst dann passieren, wenn Differenzen in der Stichprobenrepresen-
mit aller Sorgfalt eine Zufallsstichprobe unter guten tativität mathematisch abbilden, da sie
Bedingungen (definierte Grundgesamtheit, qualita- ansonsten künstlich verzerrend
tiv hochwertige Teilnehmerlisten etc.) für die Befra- wirken und einen manipulativen
gung gezogen wurde (Gusy u. Marcus 2012). Charakter annehmen.
176 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
Gezielte Befragung von Nichtbeantwortern Eine Wie von Brent (2001) exploriert, verbringen Stu-
weitere, wenn auch sehr aufwendige Methode stellt dienteilnehmer bei längeren Befragungen nicht
die gezielte Nachbefragung fehlender Subpopulatio- mehr Zeit mit jeder Einzelfrage, sondern Teilen
nen bzw. Teilpopulationen dar. So kann sichergestellt die gesamte Beantwortungszeit auf die Fragen auf.
werden, dass die Ergebnisse nicht durch das Fehlen Das heißt, es kommt zum oberflächlicheren Beant-
dieser Teilnehmerinnen verzerrt wird. worten und zum „speeding“ durch den Fragebo-
gen. Wann dieser Effekt auftritt, ist immer abhän-
Vergleich von Sofort- und Spätbeantwortern Der gig von der Art der Erhebung, dem Sample und
Vergleich der Sofort- und Spätbeantworter folgt der der Beziehung des Befragten zu den Teilnehmern
Hypothese, dass bei relativ geringem Unterschied (Brent 2011).
zwischen diesen beiden Gruppen anzunehmen ist,
dass das Ergebnis durch die Nichtbeantworter kaum > Als Faustregel können 15–25 Fragen
verändert werden würde. Umgekehrt bedeutet ein und max. 10 min Zeitaufwand
Auffinden von signifikanten Unterschieden, dass eine genannt werden.
weitere Befragung der Nichtbeantworter notwendig
7 ist (Bortz u. Döring 2006). In der Literatur finden sich verschiedenste Metho-
den, um die Rücklaufquote zu verbessern, es sei hier
> Allgemein nennt Babbie (2010) zum Beispiel auf Babbie (2010) oder Anseel et al.
Rücklaufquoten von 50 % als vertretbar, (2010) verwiesen.
wohin gehend 60 % bereits als gut bzw.
70 % als sehr gut gelten. Tendenziell zeigen
Online-Umfragen allerdings eine geringere Sichtung der Daten, Datenbereinigung
Rücklaufquote als Papierbefragungen und Umcodierung
(Anseel et al. 2010). Sollten die Befragung online durchgeführt worden
sein, muss aus der eigenen Webapplikation (z. B.
z z Steigerung der Rücklaufquote LimeSurvey) oder des jeweiligen Umfrageanbie-
Welche Maßnahmen wirken sich positiv auf die ters (z. B. SoSci, www.soscisurvey.de) ein Datenfile
Rücklaufquote aus? Meistens handelt es sich um ein exportiert werden. Zu empfehlen sind gebräuch-
Gesamtpaket verschiedener Maßnahmen. In erster liche Formate wie Excel (*.xls bzw. *.xlsx), ein
Linie wirken sich allerdings 3 Maßnahmen als beson- tabellenkalkulationsunabhängiges Format wie
ders effektiv aus, die bereits bei der Erstellung des Comma Separated Values (*.csv) oder das SPSS-
Fragebogens beachtet werden können. Format (*.sps). Bei Paper-pencil-Surveys werden
4 Die Niederschwelligkeit der Itemformulierung die Daten üblicherweise per Hand in ein Daten-
wirkt sich deutlich auf den Rücklauf aus, d. h. file eingegeben.
die Fragen und die Antwortkategorien sind so
einfach wie möglich zu formulieren. > Bei SPSS ist es für den Import des Datenfiles
4 Ebenso erhöht eine gute Fragebogendrama- notwendig, im Syntax-Editor entweder
turgie die Wahrscheinlichkeit, den Fragebogen mittels Ausführen → Alle die Daten zu
ausgefüllt zurückzuerhalten. importieren oder die gesamte Syntax per
4 Des Weiteren ist die Länge des Fragebogens Strg-T + A zu markieren und dann auf den
zu beachten: nicht kurz (Studie könnte als grünen Pfeil (Auswahl ausführen) zu klicken
unbedeutend erachtet werden), aber auch (. Abb. 7.18).
nicht zu lang (da sonst die Abbruchquote
ansteigt), Danach kann zur Fehlerkontrolle der Daten überge-
gangen werden.
Die meisten Autoren nennen keine konkreten Folgende typische Fehler gilt es zu beachten:
Zeitangaben, meistens wird empfohlen, den Fra- 4 Liegen Werte außerhalb der vorgesehenen
gebogen „kurz“ zu halten (vgl. Welker et al. 2005). Codierung?
7.3 · Quantitative Messverfahren
177 7
4 Sind Werte nicht plausibel (z. B. ein > Fehlende Werte stellen dann eine Bedrohung
123-Jähriger)? für die Integrität der Daten dar, wenn das
4 Bestehen Widersprüche zwischen Auslassen von Fragen nicht zufällig erfolgt,
Datenfeldern (Beruf „Wissenschaftler“, sondern mit dem untersuchten Thema oder
höchster Ausbildungsabschluss einem anderen zugrunde liegenden Faktor in
„Volksschule“)? Zusammenhang stehen.
4 Gibt es leere Felder (online: vorausgesetzt,
es wurde das Überspringen von Fragen Beispiel
erlaubt)? Menschen mit niedrigem Einkommen scheuen sich
aufgrund von Schamgefühlen, ihr Einkommen bei
Die sauberste Methode, mit kompromittierten einer Befragung preiszugeben. Dadurch kommt es
Datensätzen umzugehen, ist der vollständige Aus- zu einer deutlichen Verzerrung des Durchschnitts-
schluss aus der Befragung. Dadurch kann es aber einkommens nach oben (http://marktforschung.
zu einem erheblichen Verlust von Datensätzen wikia.com/wiki/Fehlende_Werte).
kommen. Für den Umgang mit fehlenden Werten
gibt es erweiterte Methoden, die im Folgenden Es gibt 3 mögliche Umgangsformen mit fehlenden
beschrieben werden. Daten:
nur die Fälle, die für die aktuellen Berech- z z Arbeiten mit dem Datensatz
nungen keine Werte aufweisen. Nachteil: Wenn schließlich der Datensatz bereinigt ist, ist es
Die Statistiken können auf unterschiedlichen oftmals notwendig, entweder neue Variablen zu
Stichproben von Beobachtungen bilden, Variablenwerte umzucodieren oder Variab-
basieren. len zusammenzufassen.
Ersatzwertverfahren Beim Ersatzwertverfahren Löschen von Variablen Es ist wichtig, das Datenfile
werden die fehlenden Werte Beispielsweise durch die nach dem Import in SPSS oder Excel zu überprüfen.
Mittelwerte der jeweiligen Variablen ersetzt. Dieses Gerade wenn die Umfragesoftware nicht selbst pro-
Verfahren ist einfach durchzuführen, aber hat den grammiert wurde, kommt es oft vor, dass die Umfra-
Nachteil, dass es zu Verzerrung der wahren Vertei- geanbieter Variablen in das Datenfile exportieren,
lung kommen kann bzw. dass es durch die Mittel- die nicht von den Studierenden angelegt wurden. Als
werte zur Unterschätzung von Zusammenhängen Beispiel ist in . Abb. 7.19 zu sehen, dass ein Export
und Varianz kommen kann. aus dem Programm SoSciSurvey nicht nur die essen-
ziellen Variablen wie „case number“ oder die Fra-
7 Algorithmische Modelle Statistisch korrekter ist die gebogenantworten exportiert hat, sondern auch
Anwendung von algorithmischen Modellen, um eine Variablen wie „mode“ belegt mit dem Wert Inter-
Schätzung der fehlenden Werte anhand der vorhan- view, „serial“ und „ref “ ohne Belegung etc. Sofern
denen Werte vorzunehmen (vgl. Schafer u. Graham diese Daten nicht gebraucht werden, können sie
2002). Diese Modelle sind allerdings deutlich komple- problemlos gelöscht werden (. Abb. 7.19).
xer in der Anwendung. Eine weitere Möglichkeit des
Umgangs mit fehlenden Werten ist die Verwendung > Immer das Datenfile unter neuem Namen
des Rasch-Modells, das fehlende Werte in seinen speichern, wenn Variablen gelöscht
Modellaufbau miteinbezieht. oder ersetzt werden. So kann im Notfall
bei Fehleingaben immer noch auf das
> Software-Tipp: NORM („software for Ursprungsfile zurückgegriffen werden.
multiple imputation“): simulations-
basierender Ansatz, fehlende Werte zu Umcodierung in neue Variable mit SPSS SPSS bietet
berechnen (http://sites.stat.psu.edu/~jls/ die Funktion Umcodieren in andere Variable.
misoftwa.html)
Beispiel
z z Erkennen von Item- oder Antwortbias Die bestehende Variable Alter, die in Jahren im Daten-
Bühner (2006, S. 71) stellt fest, dass selbst eine sorg- satz vorliegt, soll in Altersklassen überführt werden:
fältige Itemkonstruktion nicht vor dem Auftreten 4 Transformieren → Umcodieren in andere Variab-
eines Antwort- oder Itembias schützt. Unter Bias le (nicht die Option Umcodieren in dieselbe Va-
wird laut Osterlind (1983, S. 10) der „systemati- riable nehmen!)
sche Fehler im Prozess des Messens“8 verstanden. 4 Auswahl der Variable Alter mit blauen Pfeil
Im vorhergehenden Abschnitt wurde bereits eine auswählen
Ursache des Bias beschrieben, das Antwortbias, das 4 neuen Variablennamen vergeben (die alte
aus dem Bedürfnis der Teilnehmenden nach sozia- Variable wird dann nicht überschrieben)
ler Erwünschtheit (Paulhus 1991) oder Akquieszenz 4 Ausgabevariable Altersklasse
entsteht. Die am weitesten entwickelte Technik, um 4 Alter → Altersklasse
mit Antwort- oder Itembias statistisch umzugehen, 4 Klick auf Button Ändern
stellt die Rasch-Analyse dar.
Wie umcodiert wird, bestimmt der Button Alte und
neue Werte
8 „Bias is defined as a systematic error in the measurement 4 Rubrik Alte Werte, Bereich, kleinster bis Wert: in
process.“ der Box den Wert19 eintragen
7.3 · Quantitative Messverfahren
179 7
. Abb. 7.19 Bereinigung eines Datenfiles vor dem Import in SPSS oder Excel
4 Rubrik Neuer Wert: in der Box Wert 1 eintragen passende SPSS-Syntax. In SPSS-Syntax schaut das
4 Dadurch werden alle Werte, die kleiner als 19 obige Beispiel so aus:
sind, in die Kategorie 1 überführt 4 lowest thru 19 → 1
4 Rubrik Alte Werte,Bereich 20 bis 65 4 20 thru 65 → 2
4 Rubrik Neuer Wert: in der Box Wert 2eintragen 4 66 thru highest → 3
Alle Werte, die zwischen 20 und 65 liegen, werden
in die Kategorie 2 zusammengefasst Umcodierung von Zahlenwerten mit Excel Auch
4 Rubrik Alte Werte,Bereich,Wert bis größter: hier in Excel ermöglicht es, Werte umzuwandeln, hierfür
der Box den Wert 66 eintragen bietet sich die Wenn-Funktion an.
4 Rubrik Neuer Wert: in der Box den Wert 3 eintragen
4 So werden alle Werte, die größer als 65 sind, der Beispiel
Kategorie 3 zugeordnet Umwandlung des Wertes 2 in 4 und 5 in 1
4 Abschließend mit Button Weiter bestätigen =WENN(A2=2;“4“;WENN(A2=5;“1“))
4 Danach Button Einfügen anklicken, um die neue
Variable zu erstellen Die einfachste Möglichkeit, in Excel Variablen in
Kategorien umzucodieren, stellt die Transformie-
Es empfiehlt sich, gleichzeitig den neuen nummeri- rung mittels der WENN.Funktion dar. So ist es
schen Kategorien auch Wertelabels9 vergeben. ebenfalls möglich, eine Wertereihe in Kategorien zu
Beispiel: 1 = unter 19, 2 = zwischen 20 und 65, unterteilen.10
3 = älter als 65
Zusammenhang mit der Prognose, der Diagnose, Die Nachteile der Methode des Fragebo-
den Frequenzen und der Ätiologie von Phänome- gens liegen in der Reduktion auf die rein schrift-
nen und Outcomes. liche Fragenpräsentation. Hier hat die Lesekom-
Der Fragebogen hat den Vorteil, dass er die Teil- petenz der Probanden einen starken Einfluss auf
nehmenden zeitlich nicht unter Druck setzt und das Verständnis der gestellten Fragen. Das Ant-
diese ihre Antworten in Ruhe überlegen können. wortverhalten wird ebenso rein auf den schriftli-
Sowohl Online- als auch Paper-pencil-Befragun- chen Ausdruck reduziert. Menschen mit niedrige-
gen können meistens in der gewohnten Umgebung rem Bildungsstand neigen hier eher zum Drop-out,
durchgeführt werden und stellen dadurch weniger dadurch kommt es oftmals zu einer systematischen
Stress für die Probanden dar. Zusätzlich ist bei Fra- Verschiebung, die durch die stärkere Präsenz von
gebögen die im Rahmen des Forschungsprojekts Menschen mit hohem Bildungsstand bedingt ist
zugesicherte Anonymität den Teilnehmenden (Rücklaufbias).
leichter verständlich zu machen als beispielsweise Ein weiterer Nachteil des Fragebogens liegt in
bei einem Experiment, das physische Anwesenheit der hohen Beeinflussbarkeit der Ergebnisse durch
erfordert. die Probandinnen begründet, egal ob diese bewusst
182 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
Ausgehend von der Reihenfolge der Fragen sind In Bewegungsanalyselaboren werden menschliche
immer auch mögliche beeinflussende Reihen- Bewegungen in biomechanischer Betrachtungsweise
folgeeffekte auf die Antworten der Befragten zu hinsichtlich der Qualität und Quantität der Bewe-
reflektieren. gungsabläufe untersucht. In solchen Einrichtungen
kann, abhängig von der technischen Ausstattung,
erhoben werden, wie eine Bewegung ausgeführt
Zusätzliches Material wird (Kinematik), welche externen und internen
Auf http://extras.springer.com findet sich eine all- Kräfte dabei wirken (Kinetik) und ob die Kräfte
gemeine Checkliste, die eine grundsätzliche Über- durch Muskulatur erzeugt werden (Muskelaktivität).
prüfung der wichtigsten Punkte im Rahmen des Um diese Daten zu erheben, werden verschiedene
Fragebogendesigns abdeckt. Ergänzend zu diesem biomechanische Messverfahren eingesetzt, welche
Dokument kann die Online-Checkliste mit rele- je nach Bedarf einzeln oder in Kombination ange-
vanten Fragen bei Online-Befragungen verwendet wendet werden können (Baker 2013). Im Folgenden
werden. Beide Dokumente können auch als Word- werden die gängigsten Methoden der Bewegungs-
bzw. PDF-Dokument über http://extras.springer.com analyse sowie die damit zu erhebenden Parameter
heruntergeladen werden. kurz vorgestellt.
7.3 · Quantitative Messverfahren
183 7
Da sich eine große Anzahl der klinischen Bewe- Instrumentelle Bewegungsanalyse
gungsanalyselabore mehrheitlich mit dem mensch- Bei der instrumentellen Bewegungsanalyse werden
lichen Gang befassen, wird besonders auf die dabei mittels mechanischer, elektronischer oder optischer
angewendeten Messverfahren eingegangen. Um die Messverfahren objektive Messwerte erhoben. Bei den
Möglichkeiten der einzelnen Messmethoden ver- meisten Messmethoden ist, abhängig von der Frage-
ständlicher darzustellen, werden mögliche Frage- stellung, eine Aufbereitung der Rohdaten mittels spe-
stellungen, die mit den verschiedenen Systemen zieller Software erforderlich.
beurteilt werden können, am Beispiel einer Person
mit Problemen im Bereich des Sprunggelenks beim z z Kinematische Messverfahren
Gehen erläutert. Die Kinematik beschreibt die Art wie sich der Körper
im räumlichen und zeitlichen Ablauf bewegt. Um
diese Bewegungen darzustellen, werden folgende
Beobachtende Bewegungsanalyse Messgrößen verwendet:
Die beobachtende Bewegungsanalyse stellt die 4 Ortskoordinaten, Längen, Wege (in Meter)
technisch einfachste Methode der Bewegungsana- 4 Zeit, Zeitdauer (in Sekunden)
lyse dar. Hierbei wird mit freiem Auge oder unter- 4 Frequenz (in Hertz)
stützt durch Videoaufnahmen der zu analysierende 4 Winkel (in Grad)
Bewegungsablauf hinsichtlich der Bewegungsqua- 4 Geschwindigkeiten (in Meter pro Sekunde)
lität bzw. relevanten Merkmalen der Bewegung 4 Beschleunigungen (in Meter pro Sekunde zum
beurteilt. Bei der Durchführung von beobachten- Quadrat)
den Bewegungsanalysen ist darauf zu achten, dass
ausreichend Platz vorhanden ist, damit sich die zu Da menschliche Anatomie zu komplex ist, um
beobachtende Person ungehindert bewegen kann Bewegung in ihrer Gesamtheit darzustellen, werden
und die beobachtende Person bzw. die Kamera in abhängig von der Fragestellung nur Teilaspekte
ausreichender Entfernung in allen relevanten Beob- erhoben. Wenn es notwendig, ist komplexere Bewe-
achtungsebenen positioniert werden kann. Dabei gungszusammenhänge zu erheben, werden verein-
ist zu beachten, dass der Bewegungsablauf aus stan- fachte Modelle des Körpers für die Bewegungsana-
dardisierten Perspektiven (meist Sagittal- und/oder lyse verwendet. Der menschliche Körper wird dazu
Frontalebene) beurteilt wird, um optische Verzer- in starre Segmente unterteilt, um die Bewegungen
rungen zu vermeiden. Die Aussagekraft der beob- der Segmente zueinander bzw. der Segmente in Rela-
achtenden Bewegungsanalyse ist stark von der tion zum Koordinatensystem des Raumes zu analy-
Erfahrung der durchführenden Person mit dieser sieren (Baker 2013, . Abb. 7.21).
Methode abhängig (Götz-Neumann 2011). Der
Übergang von der beobachtenden Bewegungsana- 2D-Bewegungsanalyse Bei der zweidimensiona-
lyse zur 2D-Bewegungsanalyse ist fließend und len Bewegungsanalyse werden Bewegungsabläufe
davon abhängig, welche Parameter beurteilt werden in einer Bewegungsebene mit Videokameras, aber
sollen. Um die Analyseergebnisse einer Person (z. B. auch mit anderen Sensoren, wie zum Beispiel Elek-
vorher/nachher), aber auch von verschiedenen Per- trogoniometern oder Beschleunigungssensoren,
sonen untereinander vergleichbar zu machen, ist erhoben. Eine häufig verwendete Methode, um
es notwendig, die Vorgaben an die Probandinnen kinematische Zusammenhänge darzustellen, ist die
(Bekleidung, Tageszeit, Platzangebot usw.) sowie die zweidimensionale Bewegungsanalyse mithilfe von
Instruktionen zu standardisieren. Videoaufnahmen. Dazu können je Anforderungen
und technischen Möglichkeiten eine oder mehrere
Beispiel Kameras verwendet werden. Bei der Bewegungs-
Beurteilung, ob es beim Gehen zu einer Fersenabhe- analyse mit Videokameras ist die Positionierung der
bung während der terminalen Standphase kommt. Kameras für das Analyseergebnis ausschlaggebend.
184 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
Bio-
Relevante
Segmente Drehachsen mechanisches
Bewegung
Modell
Die Kamera sollte genau vertikal auf die zu analy- 3D-Bewegungsanalyse Mit dreidimensionalen
sierende Bewegungsebene ausgerichtet sein. Abwei- Bewegungsanalysesystemen können Bewegungs-
chungen davon führen zu einer optischen Verzer- abläufe in allen Raumebenen gemessen werden.
rung des Bildes, welche das Analyseergebnis ver- Dazu werden unterschiedliche technische Metho-
7 fälschen kann. Das Aufnahmezentrum der Kamera den verwendet, die auf Ultraschall, Magnetfeld
sollte auf Höhe des primär analysierten Gelenks oder Infrarot basieren. Bei optoelektronischen Sys-
positioniert werden, bei Ganzkörperaufnahmen, temen werden die Probanden an definierten Kör-
wie zum Beispiel bei der Ganganalyse, auf Höhe perstellen mit Markern versehen, die vom Ana-
des Beckens. lysesystem erfasst werden. Es gibt Systeme mit
Bei der Wahl der Kamera sind folgende Para- passiven (der Marker reflektiert das Signal) und
meter zu beachten: die Auflösung, die Aufnahme- aktiven Markern (der Marker sendet das Signal).
frequenz und die Belichtungszeit. Die Auflösung Des Weiteren gibt es Systeme, die auf Ultraschall,
(Anzahl der Bildpunkte bei Digitalkameras) der Magnetfeld oder Infrarot basieren und ohne Mar-
Kamera ist abhängig von der Größe des Bewegungs- kierung der Probanden funktionieren (Alt 2009,
details, das beurteilt werden soll, zu wählen. Kleine . Abb. 7.22).
Bewegungen und Details können bei zu geringer
Bildschärfe nicht erkannt bzw. beurteilt werden. Beispiel
Abhängig von der Geschwindigkeit der Bewegung Messung des Winkelverlaufs im oberen Sprungge-
sollte eine Aufnahmefrequenz (Anzahl der Ein- lenk in 3 Raumebenen.
zelbilder pro Sekunde) gewählt werden, die genü-
gend Einzelbilder eines Bewegungsablaufs liefert. z z Kinetische Messverfahren
Ebenso sollte die Belichtungszeit (Zeit, in der Licht Kinetik beschreibt die Kräfte, die auf den Körper
auf den Sensor der Kamera trifft) je nach Bewe- wirken. Um die bei Bewegung entstehenden Kräfte
gungsgeschwindigkeit kurz gehalten werden, um zu erheben, kommen Kraft- und Druckmesssenso-
Bewegungsunschärfe zu minimieren. Dabei ist zu ren zum Einsatz, die je nach Fragestellung unter-
beachten, dass bei vielen Kameras mit Erhöhung schiedlich eingesetzt werden können (Gollhofer u.
der Aufnahmefrequenz die Auflösung abnimmt. Bei Alt 2009).
Reduzierung der Belichtungszeit sollten zusätzliche
Lichtquellen verwendet werden, da die Aufnahmen Kraftmessung In der Ganganalyse wird die
durch die kurze Belichtungszeit, in der das Licht während der Standphase auftretende Bodenreak-
auf den Sensor trifft, dunkler erscheinen (Gollho- tionskraft mittels Kraftmessplatten erfasst. Die
fer u. Alt 2009). Sensoren der Kraftmessplatte können sowohl auf
dem piezoelektrischen Prinzip als auch auf dem
Beispiel Dehnmessstreifenprinzip basieren. Es werden die
Messung des Winkelverlaufs im oberen Sprung- vertikale, die anterior-posteriore und die medial-
gelenk in der Sagittalebene während des laterale Kraftkomponente sowie der Kraftangriffs-
Gangzyklus. punkt („center of pressure“) gemessen. Wenn
7.3 · Quantitative Messverfahren
185 7
. Abb. 7.22a–d 3D-Bewegungsanalyse. a, b Markerposition beim Cleveland Clinic Marker-Set, c Prozess-Labelingmit- Vicon
Nexus (mit freundlicher Genehmigung von Vicon Motion Systems Ltd), d 3D-Modell im Gehen (mit freundlicher Genehmigung
von C-Motion Inc.)
7 . Abb. 7.23 Zwei- und dreidimensionale Darstellung einer Druckverteilungsmessung, die mit einer Druckmessplatte
durchgeführt wurde. (Mit freundlicher Genehmigung der Zebris Medical GmbH)
und erfordert zusätzliche Erhebungen, wie zum Bei- Bei Bewegungsanalysen hat das Messumfeld bzw.
spiel die vorherige Bestimmung der maximalen will- die Laborsituation einen nicht zu vernachlässi-
kürlichen isometrischen Kraft („maximum voluntary genden Einfluss auf das Bewegungsverhalten der
contraction“) oder der funktionellen Potenzialent- Probanden. Bei vielen Analysen sind die Proban-
wicklung des Muskels bei einer bestimmten Aktivität. den bis auf die Unterwäsche unbekleidet, tragen
Bei Messungen mittels Oberflächen-EMG werden Messinstrumente am Körper und wissen, dass sie
Klebeelektroden an definierten Stellen auf die zu bei der Durchführung des Bewegungsauftrags
messende Muskulatur aufgebracht. Mit dieser nicht genau beobachtet werden. Ob der gemessene Bewe-
invasiven Methode können nur relativ große, ober- gungsablauf dem natürlichen Bewegungsverhal-
flächlich liegende Muskeln abgeleitet werden. Für die ten entspricht, sollte demnach kritisch hinterfragt
EMG-Messung kleinerer tiefliegender Muskeln ist werden. Des Weiteren können Ungenauigkeiten
die Verwendung von Dünndraht-Elektroden not- durch die Anwender (z. B. ungenau positionierte
wendig, die direkt in den Muskel eingebracht werden. Marker oder Elektroden), die Probanden (z. B.
Da es sich um eine invasive Methode handelt, ist diese Haut- und Weichteilverschiebung), das Mess-
nur unter ärztlicher Aufsicht gestattet. Um die Aus- system (z. B. zu geringe Aufnahmefrequenz oder
sagen über die verschiedenen Messparameter treffen Auflösung) sowie die Nachbearbeitung der Daten
zu können, ist die Signalverarbeitung der EMG-Roh- (z. B. Filterung, mathematische Rekonstruktion
daten mittels verschiedener Filter und zusätzlicher fehlender Informationen) entstehen.
Verarbeitungsschritte, je nach Fragestellung, erfor-
derlich (Gollhofer u. Alt 2009).
7.3.3 Andere Verfahren zur
Beispiel Datensammlung
Erfassung des Aktivitätsverlaufs des Musculus so-
leus während der Standphase beim Gehen. Roman Weigl
zu integrieren, diese ggf. zu adaptieren oder sogar Nähens und Stickens) erwähnt. Ebenso steht die
Annahmen zu verwerfen. Im Umkehrschluss bietet Sichtweise auf menschliche Betätigungen aus his-
sich aber auch die Gelegenheit, dass sich die Gesund- torisch-politischer Perspektive im Fokus des Inter-
heitsprofessionen mit ihren Expertisen aus den esses der „occupational science“ (z. B. Kantartzis u.
jeweiligen Fachbereichen in den Diskurs mit den Molineux 2012).
Neurowissenschaften einbringen – sei es beispiels-
weise das Wissen um das komplexe Zusammenspiel
menschlicher Bewegung, um Sprache, Sprechen und Literarische Quellen und persönliche
Kommunikation oder das Wissen um die menschli- Dokumente
che Betätigung und das Verständnis von Handlungen z z Hintergrund
und Funktionen. Oftmals bestätigen neurowissen- Die (vergleichenden) Sprach- und Literaturwissen-
schaftliche Untersuchungen Erkenntnisse, die Kolle- schaften spielen aus naheliegenden Gründen seit
gen vor Ort mit ihren Klientinnen bereits beobachten jeher die Hauptrolle bei der Analyse literarischer
konnten. Hier könnten die Gesundheitsberufe nicht Quellen. Neben der Analyse von geschichtlichen
nur bloße Rezipienten von Forschungsergebnissen Hintergründen liegt das Hauptaugenmerk auf der
7 sein, sondern aktiv an der Weiterentwicklung dieses Interpretation literarischer und nicht literarischer
faszinierenden Forschungsgebiets durch interdiszi- Werke und der Entwicklung von Untersuchungs-
plinäre Forschungsprojekte teilhaben methoden und theoretischen Grundlagen.
Im Gegensatz zum literarischen Werk stellt
das Tagebuch ein zutiefst persönliches Dokument
Natürlich entstandene Daten/ dar. Tagebücher wurden vor allem durch die Lite-
Dokumente ratur- und Geschichtswissenschaften eingehend
z z Hintergrund erforscht, in letzter Zeit auch zunehmend durch
Unter natürlichen Daten werden nach Salheiser die Sprachwissenschaften (Linguistik). Tagebü-
(2014) Dokumente verstanden, die nicht für For- cher werden von Dusini (2005) folgendermaßen
schungszwecke bzw. nicht durch die Beteiligung beschrieben: „Tagebücher sind wie Autobiogra-
von Forschenden entstanden sind. Darunter können phien und Briefe, materialisierte Zeit. Wer ein Tage-
sowohl offizielle Dokumente fallen (z. B. Handbü- buch liest, hält Zeit in Händen, […].“ (S. 9–10). Im
cher, Jahrbücher) als auch interne Dokumente von Sinne der „occupational science“ und Ergotherapie
Institutionen, Behörden oder Unternehmen. Eine sieht Dusini Tagebücher im Schnittpunkt zwischen
traditionelle Wissenschaftsdisziplin für die Analyse Handlung und Text.
solcher Dokumente stellt die Geschichtsforschung
dar. So kann anhand von Quellen neues Wissen über z z Forschungsansätze in den
die Vergangenheit generiert werden. Gesundheitswissenschaften
Auch literarische Daten können von Relevanz für
z z Forschungsansätze in den Gesundheitsprofessionisten sein. Ein Beispiel ist
Gesundheitswissenschaften die eigene Untersuchung des Romans „The world
Als bereits bestehende Forschung im Bereich der according to Garp“ von John Irving (Weigl 2002)
Gesundheitswissenschaften können Arbeiten aus mit der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse
dem Bereich der Betätigungswissenschaft („occu- (Mayring 2010, 2014) anhand des „Occupational
pational science“) genannt werden. So liegt es in Performance Model“ (Australien) nach Chapparo
der Natur der „occupational science“, nicht nur und Ranka (1997). Eine der Erkenntnisse der Arbeit
über Betätigungen an sich, sondern auch mehr war die Schwierigkeit, den in Irvings Roman geschil-
über die Geschichte menschlicher Betätigungen derten Einfluss von einmaligen Lebensereignissen
zu erfahren. Beispielhaft sei hier die Forschungs- auf die Handlungsperformanz/Betätigungsperfor-
arbeit von McHugh Pendleton (1996) über die manz innerhalb des theoretischen Frameworks des
Geschichte des Handarbeitens (im Speziellen des Modells zu beschreiben. Hier erscheint es sinnvoll,
7.3 · Quantitative Messverfahren
189 7
ein entsprechendes Konstrukt im Occupational „User generated content“
Performance Model (Chapparo u. Ranka 1997) zu z z Hintergrund
ergänzen, um den Einfluss von Life Events auch im Die Forschung in Bezug auf „user generated
Leben der Klienten der Ergotherapie entsprechend content“ (Blogs, Videoblogs, Social Media, Wikis
abbilden zu können (Weigl 2002). etc.) ist aus naheliegenden Gründen stark auf das
Als Beispiel für die Analyse anhand persönli- Marketing, die wirtschaftlichen und die soziologi-
cher Dokumente sei exemplarisch die Forschungs- schen Aspekte fokussiert. Im Gegensatz zur Erfor-
arbeit von White (1996) genannt, in der der Autor schung traditioneller Medien wie Zeitungen oder
anhand der Autobiographie des Jazzmusikers Miles Fernsehen steht bei „user generated content“ der
Davis eine Analyse der Betätigungen des Musikers interaktionelle Aspekt zwischen Mediengestaltern
(z. B. über die „occupational balance“/Betätigungs- und Lesern viel stärker im Vordergrund. Durch
balance) und ein Betätigungsnarrativ des Lebens von Kommentare, Posts etc. besteht die Möglichkeit
Davis anfertigt. der direkten Kontaktaufnahme mit dem Content-
Gestalter, der seinerseits wiederum auf die Postings
durch Antworten oder neuen Content reagiert. Die
Medien Grenze zwischen Gestalter und Leser ist fließend,
z z Hintergrund der Leser und Kommentator eines fremden Blogs
Zeitungsartikel, Fernsehbeiträge, Nachrichtensen- unterhält möglicherweise ein eigenes Blog, wo er
dungen etc. präsentieren das Bild der Medien zu wieder Inhalte einfließen lassen bzw. zu dem er ver-
bestimmten Themenbereichen, ein Bereich in dem linken kann.
die Soziologie und die Publizistik seit Langem tätig
sind. So kann zum Beispiel die Rolle der Medien bei z z Forschungsansätze in den
der Integration von Migranten untersucht werden, Gesundheitswissenschaften
indem die Darstellung von Migranten und deren Auch hier können Gesundheitsprofessionisten wich-
Wirkung in den Medien analysiert wird (Weber- tige Aspekte ihrer Profession und ihre Sichtweise(n)
Menges 2008). in den wissenschaftlichen Diskurs einbringen. So
wäre es durchaus interessant, Blogs (Internettagebü-
z z Forschungsansätze in den cher oder Videotagebücher) für und von Menschen
Gesundheitswissenschaften mit psychischen Erkrankungen (z. B. Depression)
Auch die wissenschaftlich tätigen Gesundheits- aus der Sicht der „health professions“ zu untersu-
professionistinnen können an der Abbildung ihrer chen. Als neuen Aspekt betonen beispielsweise
Tätigkeitsbereiche in den Medien interessiert sein. Meshi, Tamir und Heekeren (2015), dass Menschen
So könnte zum Beispiel in der Diätologie das Bild in Online-Situation durch die Ungebundenheit
des Diabetes mellitus in den Medien von Interesse bezüglich sozialer Normen deutlich mehr ichbezo-
sein. Eine genaue Analyse kann helfen, ein besseres gene Gesprächsinhalte teilen, als dies in Offline-Ge-
Verständnis des Informationsstands von Klientinnen sprächen passiert.
einer Diabetesschulung zu erhalten und dieses Ver- Ebenso wäre beispielsweise eine Analyse der
ständnis in die Entwicklung von Schulungskonzep- am häufigsten genutzten Blogs über Fitness- und
ten einfließen zu lassen. Dehnungsübungen oder Rückenproblemen für
In der Logopädie könnte beispielsweise die Physiotherapeuten interessant. Zum Beispiel ließe
Häufigkeit der Besetzung von sprach- und sprech- sich analysieren, wie viele Übungen davon nicht der
auffälligen Kindern in Werbespots („das süße lis- aktuellen Lehrmeinung entsprechen, wo falsche
pelnde Kind“) Aufschluss geben, inwieweit in Theorien über die Muskelphysiologie verbrei-
Bezug auf das Problembewusstsein der Eltern und tet werden etc. Diese Erkenntnisse könnten wie-
im Kinderbereich tätigen Berufsgruppen außer- derum in die Beratungspraxis der Physiotherapie
halb des Gesundheitsbereichs Informationsarbeit einfließen oder zu neuen eigenen Internetangebo-
notwendig ist. ten führen.
190 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
Typ Definition
Offene/verdeckte Beobachtung Die beobachteten Personen wissen, dass sie beobachtet werden,
oder wissen es nicht.
Teilnehmende/nicht teilnehmende Der Beobachter nimmt am beobachtenden Geschehen aktiv teil
Beobachtung oder nicht.
Beobachtung in natürlich/künstlicher Die beobachtenden Personen befinden sich in ihrem natürlichen
Situation Umfeld oder in einem gestalteten Umfeld („Labor“)
Systematische/unsystematische Ein ausformuliertes Kategoriensystem zur Beobachtung liegt vor
Beobachtung oder nicht.
Mittelwert
Model
Median
0,1 % 2,1 % 13,6 % 34,1 % 34,1 % 13,6 % 2,1 % 0,1 %
_
x −x
zv = v
SD(x)
~68,3 %
~95,4 %
~99,6 %
z-Skala
−3 −2 −1 0 +1 +2 +3
7
. Abb. 7.24 Lagemaße: Mittelwert, Median, Modalwert. Bei symmetrischer Verteilung sind Mittelwert, Median und
Modalwert identisch
Art Beschreibung
z z Perzentile
Die Perzentile ist der Prozentsatz der Fälle, über den Berechnung mit Excel
ein gegebener Wert hinausgeht. In Befehlszeile Eingeben: = MAX(Werte mar-
kieren) − MIN(Werte markieren)
7 Beispiel
Datensatz: 0, 8, 6, 14, 0, −4, 0, 12, −7, 0, −10. Die 50.
Perzentile wäre in diesem Beispiel der Median, also
der Wert genau in der Mitte = 0. z z Interquartilsabstand
(Interquartilsrange, IQR)
Die Berechnung mit Excel erfolgt wie bei IQR (mit Die IQR ist das Ausmaß der Schwankungsbreite der
Angabe der gewünschten Perzentile, s. unten. mittleren 50 % der Werte. Die IQR wird in Kombina-
tion mit dem Median angegeben. Berechnung: IQR
= Quartile 0,75 (= 75. Prozentrang) – Quartile 0,25
(= 25. Prozentrang). Die IQR ist stabiler als die Range
Berechnung mit SPSS gegenüber Extremwerten.
„Analysieren“, „Deskriptive Statistiken“,
„Explorative Datenanalyse“, Variabel einspielen, Beispiel
„Statistiken“, „Perzentile“ Datensatz: 0, 8, 6, 14, 0, −4, 0, 12, −7, 0, −10
Wenn für jede eine einzelne: „Analysieren“, 75. Prozentrang = 8; 25. Prozentrang = −4; IQR:
„Deskriptive Statistiken“, „Häufigkeiten“, 8–(−4)=12
„Häufigkeitstabelle“, die kumulierten Prozent
geben die Perzentile an.
Berechnung mit Excel
=QUARTILE(Werte;0,75) − QUARTILE(Werte;0,25)
z z Spannweite (Range) Cave: Excel zieht immer den oberen
Wert hinzu, d. h. die IQR ist nicht korrekt!
Die Range ist das Ausmaß der Schwankungsbreite Empfehlung: entweder händisch
der Werte. Berechnet wird der Wert, indem der (Daten müssen gereiht sein!) oder
geringste Wert vom höchsten Wert abgezogen wird. mittels SPSS.
Wie auch der Mittelwert ist dieser Wert sehr instabil
gegenüber Extremwerten. Berechnung mit SPSS
„Analysieren“, „Deskriptive Statistiken“,
Beispiel „Explorative Datenanalyse“, Variabel
Datensatz: 0, 8, 6, 14, 0, −4, 0, 12, −7, 0, −10 einspielen, „Optionen“, „Paarweiser
Höchster Wert 14, niedrigster Wert −10, Range: Fallausschluss“
14–(−10)=24
7.4 · Auswertung quantitativer Daten
197 7
Warum ist die IQR robuster gegen Extremwerte?
Angenommen, es gibt in unserem Datensatz Bestimmung der Normalverteilung
einen Extremwert, der in unserem Beispiel mit mit Excel
100 angegeben wird. Der Datensatz würde fol- Die Normalverteilung wird in Excel durch das
gende Werte beinhalten: −10, −7, −4, 0, 0, 0, 0, visuelle Inspizieren der Kurve bestimmt: Daten
6, 8, 12, 14, 100. Die Range würde sich dann eintragen, Klassen (nach denen die Häufigkeit
vom vorigen Beispiel deutlicher unterscheiden gereiht wird) eingeben; „=Häufigkeiten“,
als die IQR. Matrixfunktion (siehe Modalwert), dann
4 Range: 100–(−10)=110 (statt vorher 24) Diagramm zeichnen.
4 IQR: 12 (gleicher Wert wie vorher)
Bestimmung der Normalverteilung
Daher ist die IQR robuster gegenüber dieses mit SPSS
Extremwerts. „Analysieren“, „Nicht parametrische Tests“,
„Alte Dialogfelder“ (alternativ „Eine
z z Standardabweichung (SD, „standard Stichprobe“), „K-S bei einer Stichprobe“. Wenn
deviation“) der Kolmogorow-Smirnow-Test signifikant
Die Standardabweichung ist die durchschnittlich ist, sind die Daten nicht normalverteilt. Wenn
Abweichung der Werte vom Mittelwert. Eine Darstel- der Test nicht signifikant ist, sind die Daten
lung der Standardabweichung muss immer gemein- normalverteilt. Alternativ bzw. zusätzlich kann
sam mit dem Mittelwert erfolgen. Die SD basiert auf auch eine Sichtung der Normalverteilung
dem Konzept der Normalverteilung. 1 SD=68 % aller anhand von Histogrammen durchgeführt
Fälle um den Mittelwert, 2 SD = 95 %, 3 SD = 99,7 %. werden.
Individuelle Messwerte können daher bezogen auf
die SD interpretiert werden.
Tests zur Berechnung von 4 Ein Typ-I-Fehler (α-Fehler) ist die Verwerfung
Unterschieden der eigentlich zutreffenden Nullhypothese.
Sollen Unterschiede dargestellt werden, soll also Um einen Typ-I-Fehler zu vermeiden, müssen
7 beschrieben werden, wie sich 2 oder mehr Gruppen zur die Messinstrumente eine gute Güte haben,
Baseline (am Beginn einer Studie) und/oder nach einer und es müssen alle notwendigen Aspekte, die
Intervention voneinander unterscheiden, dann müssen Hypothese betreffend, erhoben werden.
Tests zur Berechnung von Unterschieden durchgeführt 4 Ein Typ-II-Fehler (β-Fehler) ist die Annahme
werden. Hierbei unterscheidet man parametrische und der falschen Nullhypothese. Um einen Typ-II-
nicht parametrische Tests. Voraussetzungen für das Fehler zu verhindern, muss die Stichprobe groß
Anwenden von parametrischen Tests: genug sein.
4 intervall- oder rational-skalierte Daten
4 Daten müssen normalerteilt sein Direkt kann nur der Typ-I-Fehler kontrolliert werden.
4 ausreichende Teilnehmeranzahl Der Typ-II-Fehler ist abhängig vom Typ-I-Fehler (je
kleiner der Typ-I-Fehler, desto größer der Typ-II-Feh-
Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, müssen ler), von der Stichprobengröße (je größer die Stichprobe,
nicht parametrische Tests durchgeführt werden. desto geringer der Typ-II-Fehler) und von der Größe der
Werden Tests zur Berechnung von Unterschie- Differenz der Parameter, die getestet werden (je größer
den durchgeführt, wird als Ergebnis ein p-Wert die Differenz, desto kleiner der Typ-II-Fehler).
(„probability“) ausgegeben. Dieser gibt den Signi-
fikanzwert an. Liegt der p-Wert eines statistischen z z Welcher Test soll angewendet werden?
Tests unter dem angegebenen Signifikanzniveau, Dies ist, wie in . Abb. 7.25 dargestellt, abhängig von
spricht man von einem signifikanten Unterschied. der Art der Stichprobe (verbundene oder unverbun-
Befindet sich dieser Wert über dem Signifikanz- dene Stichprobe), von der Anzahl der zu vergleichen-
niveau, spricht man davon, dass der Unterschied zwi- den Gruppen, vom Skalentyp und von der Verteilung
schen den beiden Gruppen auf den Zufall zurück- der Daten. Der dargestellte Entscheidungsbaum soll
zuführen ist und nicht beispielsweise durch eine bei der Suche nach den richtigen Tests und deren
Intervention herbeigeführt wurde. Das Ergebnis ist Bedingungen eine Hilfestellung darstellen.
somit nicht signifikant. Üblicherweise wird das Sig-
nifikanzniveau mit 5 % angegeben. Der p-Wert muss Parametrische Tests
also kleiner oder gleich 0,05 sein, damit von einem z t-Test für unabhängige Stichproben
signifikanten Unterschied gesprochen werden kann. Dies ist ein parametrischer Test, der Mittelwerte
unabhängiger Gruppen auf signifikante Unter-
z z Fehlermöglichkeiten bei der Durchführung schiede testet.
von Signifikanztests
Beim Testen von Hypothesen können Fehler auftre- z t-Test für verbundene Stichproben
ten. Die Fehler werden eingeteilt in Typ-I- und Typ- Dies ist ein parametrischer Test, der Mittelwerte abhän-
II-Fehler (. Tab. 7.15). giger Gruppen auf signifikante Unterschiede testet.
7.4 · Auswertung quantitativer Daten
199 7
nein
Kruskal-Wallis-Test
Noralverteilt?
nein
Einfache Varianzanalyse
ja
Verbundene
Stichprobe?
nein
Friedman-Test
ja
Normalverteilt?
nein
Varianzanalyse für Messwiederholungen
ja
2 Gruppen?
nein
Mann-Whitney-U-Test
ja
Normalverteilt?
nein
t-Test für unverbundene Stichproben
ja
Verbundene
nein Stichprobe?
nein
Wilcoxon-Test
Daten nominal (oder ja
ordinal)?
Normalverteilt?
nein
Chi-Quadrat-Test
Verbundene
Stichprobe?
nein
Q-Test von Cochran
ja
2 Gruppen?
nein
Chi-Quadrat-Test / Exakter Fisher-Test
ja
Verbundene
Stichprobe?
McNemar-Test
ja
z ANOVA
Die ANOVA ist ein parametrischer Test für mehr als „t-Test bei unabhängigen
2 Stichproben. Stichproben“, abhängige Variable
hinzufügen, Gruppenvariable
hinzufügen und Gruppen
Berechnungen für t-Test/ANOVA definieren
SPSS 5 bei abhängigen Stichproben
5 Bei unabhängigen Stichproben: (korrelierter T-Test): „Analysieren“,
Gruppenvariable muss definiert sein, „Mittelwerte vergleichen“, „t-Test
„Analysieren“, „Mittelwerte vergleichen“, bei verbundenen Stichproben“.
200 Kapitel 7 · Quantitative Forschung
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207 8
Reviews
Agnes Sturma, Valentin Ritschl, Silke Dennhardt, Tanja Stamm
Literatur – 220
Literaturreviews werden immer dann verfasst, wenn Mithilfe von Literaturreviews können Übersichts-
sich die Forscherin oder der Forscher einen Über- arbeiten zu unterschiedlichsten Themen erstellt
blick über die bisherige Literatur verschaffen will. werden. Einige Beispiele sind:
Dabei wird zwischen kontextualisierenden Reviews 4 Zusammentragen und Synthetisieren von
und Literaturreviews als eigenständige Forschungs- Definitionen, wie beispielsweise die Studie von
projekte unterschieden. Laulan et al. (2011), um einen Überblick über
Kontextualisierende Reviews stehen am Anfang Definitionen des Schultergürtelkompressions-
eines jeden Forschungsprojekts und bilden meist die syndroms zu erstellen
Einleitung von empirischen Arbeiten. Durch sie wird 4 Darstellen von Kosteneffizienz, wie beispiels-
der Kontext der eigenen Forschung dargelegt und weise in der Studie von Angell et al. (2014),
die Studie so im Forschungsfeld positioniert. Das in der die Kosteneffizienz von Interventionen
beinhaltet die Auseinandersetzung mit der bereits innerhalb einer indigenen Bevölkerung
vorhandenen Literatur und damit den vorhande- beforscht wurde
nen Forschungslücken, aus denen sich die Relevanz 4 Zusammentragen von Anwendungsbereichen
der Fragestellung der eigenen Studie ableitet. Dabei und Gütekriterien von Assessments (7 Kap. 11)
handelt es sich in der Regel nicht um ein Review mit 4 Erstellen von Anforderungskatalogen
einem spezifischen methodischen Vorgehen, aber bezüglich technischer Entwicklungen, wie
um eines, indem systematisch, d. h. wissenschaft- beispielsweise die Studie von Ritschl (2015), in
lich gearbeitet wird. der ein Anforderungskatalog für einen Pflege-
Im Gegensatz hierzu stehen Reviews als eigene roboter erstellt wurde
Forschungsprojekte. Diese Reviews sind geleitet 4 Zusammentragen früherer Forschungs-
durch eine vorher festgelegte Methode und zielen arbeiten, um dem Leser und der Leserin den
darauf ab, eine bestimmte Fragestellung zu beant- Stand der aktuellen Forschung zu präsentieren,
worten. Sie stellen eigene Studien dar, produzieren wie beispielsweise in den Studien von Yu und
neue Erkenntnisse und unterliegen ebenso wie empi- Mathiowetz (2014a, b), in denen der aktuelle
rische Studien (Originalarbeiten) methodischen Forschungsstand von ergotherapeutischen
8.3 · Arten von Literaturreviews
209 8
Interventionen bezüglich multipler Sklerose durch die Zusammenführung aller vorhandenen
zusammengetragen wurde Evidenzen zu treffen. Damit lässt sich zusätzlich
4 Aufzeigen von Zusammenhängen, Wider- auch eine Aussage über eventuell vorhandene For-
sprüchen, Lücken oder Inkonsistenzen, wie schungslücken treffen. Um eine hohe Qualität der
beispielsweise in der Studie von Bagayoko und eingeschlossenen Studien zu gewährleisten, werden
Brockmeier (2012), in der der Umgang mit in die Analyse zumeist nur randomisierte, kontrol-
Epikondylitis diskutiert wird lierte Studien (RCT) eingeschlossen.
Abhängig von der Themenstellung und der vorhan- Während traditionelle systematische Reviews quan-
denen Literatur werden unterschiedliche Arten von titative Studien beschreibend zusammenfassen,
systematischen Literaturarbeiten unterschieden. bilden Metaanalysen eine mathematische Möglich-
Dies kann abhängig sein vom Zweck des Reviews, keit, die Ergebnisse von vielen einzelnen Studien zu
von der Art der eingeschlossenen Studien, von der einem Gesamtergebnis zu vereinen. Die Metaanalyse
Fragestellung, vom untersuchten Phänomen sowie erschafft so eine Gesamtevidenz, die alle Einzelstu-
von der zugrunde liegenden Intention (Booth et al. dien umfasst (Borenstein et al. 2009, Gough 2007,
2012). Allen ist gemeinsam, dass sie auf einer klaren Khan et al. 2013). Im Idealfall können die Autoren
und expliziten Forschungsmethodologie beruhen und Autorinnen für die Berechnung die Original-
und von dieser geleitet werden (Gough 2007, Jesson daten der einzelnen Studien nutzen. In der Praxis
et al. 2011). Eine weitere zentrale Charakteristik stehen allerdings vielfach nur die Daten in der Form,
besteht in der konkreten Forschungsfrage, die mit- in der sie publiziert wurden, zur Verfügung. Durch
hilfe der Literatur beantwortet werden soll. Die Ziel- die nun wesentlich größere Anzahl an Probanden
setzung umfasst dabei nicht nur die bloße Auflistung und Ergebnissen, mit denen die statistischen Tests
von gefundenem Wissen, sondern auch das Gene- neu gerechnet werden können, kann es auch vor-
rieren von zusätzlichen Erkenntnissen (Al-Nawas kommen, dass sich bei der Metaanalyse neue sig-
et al. 2010). nifikante Ergebnisse zeigen, die aufgrund der klei-
Die wichtigsten Formen werden im Folgenden neren Fallzahlen in keiner Einzelstudie beobachtet
erläutert. Dabei muss allerdings beachtet werden, werden konnten. Inhaltlich steht auch bei der Meta-
dass in der Literatur bei vielen Formen von Reviews analyse das Aufzeigen der Evidenzlage bzw. die Effek-
keine oder mehrere gültige Definitionen und Vor- tivitätsbewertung im Mittelpunkt. Oftmals werden
gehensweisen bestehen. Daher ist eine allgemein daher in der wissenschaftlichen Praxis systematische
gültige Beschreibung nicht möglich. Reviews mit Metaanalysen kombiniert. Allerdings ist
dennoch nicht jedes systematische Review auch eine
Metaanalyse (Al-Nawas et al. 2010).
8.3.1 Systematische Literaturreviews
Publikationen, im Idealfall RCT, vorhanden sein Bewertung der Evidenzlage erweitern realistische
muss, eignet sich der Scoping Review daher auch für Reviews also die Frage, ob eine Maßnahme effektiv ist
Themengebiete, bei denen es kaum „wissenschaft- oder nicht, um einige Aspekte, die für das therapeu-
liche“ Literatur gibt. Für Scoping Reviews ergeben tische Setting sehr relevant sind (Pawson et al. 2005):
sich daher 4 Haupteinsatzgebiete (Daudt et al. 2013): Was von dieser Intervention funktioniert? Für wen?
4 um das Ausmaß und die Bandbreite von Unter welchen Umständen? Und warum (nicht)?
Forschungstätigkeit zu erheben,
4 als Vorstudie, ob ein vollständiger systematischer
Review bzw. eine Metaanalyse angebracht ist, 8.3.5 Metasynthese
4 um Forschungsergebnisse zusammenzufassen
und zu veröffentlichen und Da in den Gesundheitsberufen die qualitative For-
4 um Wissenslücken in der bestehenden schung ebenfalls einen hohen Stellenwert hat, wurde
Literatur zu identifizieren. mit der Emanzipation der nicht ärztlichen Gesund-
heitswissenschaften die Forderung laut, auch nicht
experimentelle Ansätze als Evidenzen aufzuneh-
8.3.4 Realist Review men (Dixon-Woods et al. 2006). Es entwickelten
sich neue Formen von systematischer Zusammen-
8 Das Realist Review (oder auch „realist synthesis“) ist
eine relative neue und innovative Reviewform, die
fassung qualitativer Forschungsergebnisse. Auch
hier ist das Ziel der Übersichtsarbeiten, Ergebnisse
auch im Gesundheitsbereich, wie zum Beispiel Pfle- besser nutzen und verwerten zu können, indem sie
gewissenschaften, Public Health und Gesundheits- kombiniert und kritisch eingeschätzt werden. Da die
förderung, Verwendung findet (Mühlhauser et al. Essenz der qualitativen Forschung die Diversität an
2011). Seine Besonderheit besteht in der Evaluation Fällen und Sichtweisen ist, gehen die Expertenmei-
von komplexen Interventionen. Das Realist Review nungen über die Machbarkeit, das geeignete metho-
versucht dabei, Evidenzen zu den Bedingungen der dische Vorgehen und die Inhalte von Zusammen-
Effektivität einer Maßnahme zu bestimmen, d. h. fassungen von Studien weit auseinander. Genereller
die zugrunde liegenden Prozesse, die Maßnahmen Konsens ist dabei jedenfalls, dass eine reine Genera-
funktionieren lassen, Kontexte, die diese Mechanis- lisierung der Ergebnisse nie das Ziel sein kann und
men auslösen, und deren Outcomes zu identifizie- stattdessen auf die Vertiefung oder Erweiterung von
ren. Deshalb eignet sich diese Reviewform besonders Perspektiven gesetzt werden sollte. Ebenso soll das
für die Evaluation komplexer sozialer Interventionen Verständnis von Theorien, Kontexten, Lebenswel-
und Behandlungsprogramme, wie zum Beispiel bei ten, Erfahrungen und Bedeutungen erweitert werden
Interventionen durch ein interprofessionellen Team (Saini u. Shlonsky 2012). Daher wird widersprüch-
(Hewitt et al. 2014). lichen Ergebnissen von unterschiedlichen Studien
Dies können beispielsweise Maßnahmenpakete auch viel Aufmerksamkeit gewidmet.
sein, wie beispielsweise zur Sturzprävention, wenn Die Bezeichnung „Metasynthese“ ist dabei ähnlich
Schulungen, Informationen, Training, Medikamente wie beim systematischen Literaturreview nicht ganz
u.v.m. im Sinne einer multifaktoriellen Intervention eindeutig: Sie wird sowohl als übergreifender Begriff
verordnet werden. Dabei liegt bei unterschiedlichen für die Zusammenfassung qualitativer Studien genutzt
Outcomes von Studien mit ähnlichen Fragestellungen als auch für bestimmte eigenständige Form von quali-
(etwa, ob ein interdisziplinäres Programm zur Sturz- tativer Übersichtsarbeit (Barroso et al. 2003).
prävention tatsächlich die Sturzanzahl reduziert) der
Fokus darauf, warum manche Studien positive und
andere negative Ergebnisse berichten. Es wird also 8.3.6 Metasummary
identifiziert, welche Kontextfaktoren Wirkmechanis-
men beeinflussen und wie sie das tun. Dies ermöglicht Wie schon der Name Metasummary (Zusammenfas-
eine praxisnahe Analyse der Wirksamkeit von Inter- sung) aufzeigt, nutzt die Metasummary einen quan-
ventionen und der begleitenden Faktoren. In ihrer titativ-orientierten, summativen Ansatz, um die
8.3 · Arten von Literaturreviews
211 8
Ergebnisse qualitativer Studien zu einer spezifischen Dies schließt theoretische und empirische, qualita-
Fragestellung systematisch zusammenzufassen. Dazu tive und quantitative Methoden ein. Durch dieses
werden die Ergebnisse einzelner Studien extrahiert, holistische Vorgehen haben gut durchgeführte integ-
in Gruppen zusammengefasst und geordnet. Wie rative Reviews das Potenzial, den aktuellen Stand der
beim systematischen Review liegt der Schwerpunkt Forschung abzubilden, Theorien zu entwickeln und
in der Metasummary darauf, die Ergebnisse einzel- direkte Anwendungsbereiche in Praxis und Politik
ner Studien zu „gewichten“ (d. h. die Qualität in Bezug aufzuzeigen. Diese Art des Reviews stand lange in
auf die Bedeutung für die Gesamtaussage einzuschät- großer Kritik, da die Synthese von derart unter-
zen), die Häufigkeit von bestimmten Ergebnissen zu schiedlichen Methoden als große Herausforderung
bestimmen und so Evidenz zur Bedeutung dieser gilt (Whittemore u. Knafl 2005).
Ergebnisse über einzelne qualitative Studien hinaus
aufzuzeigen (Saini u. Shlonsky 2012). Durch diese
Gesamtbetrachtung soll eine größere Aussagekraft der 8.3.9 Metanarrative Reviews
qualitativen Evidenz erreicht werden. Die Metasum-
mary ist unter qualitativen Forschern nicht unumstrit- Metanarrative Reviews (auch metanarrative Synthe-
ten, da ihr quantitativer Ansatz in der Zusammenfas- sis) fassen Literatur zusammen, indem sie histori-
sung die unterschiedlichen Forschungsmethodologien sche und philosophische Perspektiven, zum Beispiel
der eingeschlossenen Studien nicht berücksichtigt. in der Entwicklung eines bestimmten Konzepts, auf-
spüren. Dadurch verdeutlichen sie, wie bestimmte
Evidenzlagen entstehen und entstanden sind. Im
8.3.7 Metaethnographie Unterschied zum traditionellen Review, bei dem zum
Beispiel eine Expertin Literatur zu einem Thema im
Ein besonderer Ansatz zur Synthese qualitativer beliebiger Vorgehensweise zusammenträgt, stellt das
Daten ist die Metaethnographie. Im Gegensatz zur metanarrative Review eine systematische Übersichts-
Metasummary bedient sie sich bei der Datenzusam- arbeit dar, da es protokollgeleitet einer bestimmten
menfassung eines sehr qualitativen, interpretativen festgelegten Reviewmethodologie folgt (Green-
Ansatzes und versucht, soziale und theoretische Kon- halgh et al. 2005). Metanarrative Reviews untersu-
texte, in denen die Ergebnisse einzelner Studien ent- chen eine weite, offene Fragestellung in Bezug auf
standen sind, zu erhalten (Noblit u. Hare 1988). Es die wesentlichen Forschungstraditionen und Denk-
geht hier also nicht um das klassische Zusammenfüh- schulen, die untersucht werden, um die Fragestellung
ren von Evidenzen, sondern um die Vergrößerung zu beantworten.
des Verständnisses zu einem Thema. Es sollen Ana- Metanarrative Reviews beschäftigen sich mit Fra-
logien zwischen den einzelnen Studien aufgezeigt gestellungen wie (Wong et al. 2013): Welche theore-
werden. Es wird Wissen so verbunden, das tiefere tischen Ansätze und Methoden wurden angewandt,
Bedeutungen eines Phänomens und Interpretationen um ein bestimmtes Konzept zu erforschen? Was sind
sichtbar werden, es geht darum, Wissen in Beziehung die wesentlichen empirischen Ergebnisse? Welche
zu setzen, Vielfältigkeit, Widersprüche und Kontexte Erkenntnisse/Einsichten können aus der Kombina-
abzubilden, Perspektiven zu erweitern und reich- tion und dem Vergleich verschiedener Traditionen
haltiger zu machen (Noblit u. Hare 1988, Saini u. gewonnen werden?
Shlonsky 2012). Es ist eine sehr häufig gebrauchte
Form der qualitativen Synthese.
8.3.10 Metaempirische Reviews
in der aktuellen Literatur zu finden. Dies ermög- 4 Selektion relevanter Literatur anhand von
licht zum Beispiel, Einblicke in Häufigkeiten von Ausschlusskriterien, kritische Bewertung der
gewissen Forschungsfeldern zu bekommen (Bellini gewählten Evidenz
u. Rumrill 2009, Rumrill et al. 2010). Will der For- 4 Darstellung, Analyse und Zusammenfassung
scher oder die Forscherin beispielsweise Informa- der Evidenz
tionen sammeln, mit welchen Themenfeldern die 4 Interpretation und Präsentation der Ergebnisse
pädiatrische Ergotherapie sich beschäftigt, um bei-
spielsweise einen Indikationskatalog zu erstellen,
bietet sich die Form eines metaempirischen Reviews 8.4.1 Schritt 1: Identifizierung und
an. Das heißt, es wird aus den wissenschaftlichen Formulierung einer geeigneten
Themenfeldern der pädiatrischen Ergotherapie auf Problem- und Fragestellung
die praktische Tätigkeit rückgeschlossen. Themen,
die in der Ergotherapie wissenschaftlich bearbeitet Am Beginn eines jeden Forschungsprozesses, so auch
wurden, werden somit in einen Indikationskatalog in der Durchführung eines Reviews, steht immer die
für die Praxis übernommen (vergleiche z. B. Breuer Identifizierung und Formulierung der Forschungs-
u. Piso 2013). frage. Die Fragestellung ist zentral – sie bestimmt das
. Tab. 8.1 gibt einen Überblick darüber, wann Design des Reviews und alle weiteren Schritte. Um
8 welche Form des Reviews sinnvoll sein kann. von einer offenen zu einer fokussierten Fragestel-
lung zu kommen, schlagen Khan, Kunz, Kleijnen und
Antes (2013) vor, diese mithilfe der 4 Komponenten
8.4 Welche Schritte müssen nach PICO (7 Abschn. 12.2.1) zu präzisieren. Die Fra-
bei einem Literaturreview gestellungen, die ein Review leiten, können unter-
eingehalten werden? schiedliche Schwerpunkte aufweisen und bestimmen
somit auch die methodische Aufarbeitung:
Da systematische Reviews als Sekundäranalysen 4 Schwerpunkt bezogen auf die Methode: Hierbei
„Forschung von Forschung“ sind, unterliegen sie bezieht sich die Fragestellung auf methodolo-
den gleichen generellen Standards und Vorgehen gische Parameter wie Design, Methoden, Setting.
wie primäre Forschung in Bezug auf methodischen 4 Schwerpunkt bezogen auf Theorien: Hierbei
Aufbau und Logik. Jede Reviewmethode beinhaltet bezieht sich die Fragestellung auf eine oder
die Grundschritte: Problemformulierung, Literatur- mehrere Theorien in Bezug auf ein bestimmtes
suche bzw. Datenerhebung, Bewertung der Qualität Thema.
der Daten, Datenanalyse, Interpretation der Ergeb- 4 Schwerpunkt bezogen auf Outcomes: Hierbei
nisse und Präsentation (Whittmore 2005). bezieht sich die Fragestellung auf empirische
Da sich die Schritte der beschriebenen Review- Studien zu einem bestimmten Thema, das
formen ähneln, werden sie im Folgenden gemein- Outcomes und Beziehungen zwischen
sam beschrieben. In der konkreten Ausführung der Variablen untersucht (Hedges u. Cooper 2009).
einzelnen Schritte, in der spezifischen Zielsetzung 4 Schwerpunkt bezogen auf Scopes: Hierbei
und in den zugrunde liegenden Annahmen zur bezieht sich die Fragestellung auf den Umfang
Wissenssynthese gibt es allerdings Unterschiede bzw. Rahmen eines Themas (Daudt et al. 2013).
zwischen den verschiedenen Reviewformen.
Auf diese wird bei der Beschreibung der Analyse
genauer eingegangen. Für die Erstellung eines 8.4.2 Schritt 2: Identifizierung
Reviews werden meist 5 Schritte beschrieben. Diese relevanter Literatur durch eine
sind (. Abb. 8.1): umfassende Literaturrecherche
4 Identifizierung und Formulierung einer
geeigneten Problem- und Fragestellung Nachdem die Forschungsfrage identifiziert und for-
4 Identifizierung relevanter Literatur durch eine muliert wurde, muss die relevante Literatur gesucht
umfassende Literaturrecherche und selektiert werden. Es wird empfohlen, den
8.4 · Welche Schritte müssen bei einem Literaturreview eingehalten werden?
213 8
Art des Reviews Für qualitative Für quantitative Typische Fragestellung Besonderheit
Studien Studien
Art des Reviews Für qualitative Für quantitative Typische Fragestellung Besonderheit
Studien Studien
8
kritische Bewertung Darstellung, Analyse
Identifizierung der
Literaturrecherche und Ausschluss und Ergebnispräsentation
Fragestellung
unpassender Studien Zusammenfassung
diese Duplikate nun entfernt werden. Hierfür bedeutet nicht, dass hier keine kritische
eigenen sich Literaturverwaltungsprogramme Bewertung der Studienqualität durchgeführt
besonders gut (7 Abschn. 13.4). werden sollte (Daudt et al. 2013).
4 Selektion der Artikel anhand der Abstracts:
Nach der Entfernung der Duplikate müssen die So soll in der Interpretation der Ergebnisse später
verbleibenden Studien anhand der Abstracts im Reviewprozess sehr wohl hinterfragt werden,
selektiert werden. Hierfür wird der Abstract wie groß die Gefahr ist, dass die Daten der einzel-
den Ein- und Ausschlusskriterien gegenüberge- nen Studien durch ein Bias verzehrt sind. Die Bewer-
stellt. Alle Studien, die nicht eindeutig anhand tung von Studien wird im Detail im 7 Abschn. 14.2.1
des Abstracts ausgeschlossen werden können, beschrieben.
müssen im Volltext besorgt werden. Möglich-
keiten, um Volltexte zu bekommen, werden im > Werden mehrere Personen in den Recherche-,
7 Abschn. 14.2.1 beschrieben. Selektions- und Bewertungsprozess
4 Selektion der Artikel anhand der Volltexte: Im eingebunden (7 Abschn. 6.5), wird die
letzten Schritt werden die Volltexte gelesen und Objektivität und somit die Qualität der
den Ein- und Ausschlusskriterien gegenüber- Reviews deutlich gehoben.
gestellt. Alle Artikel, die in dieser Phase nicht
8 ausgeschlossen werden können, werden für das
Review herangezogen. 8.4.4 Schritt 4: Darstellung, Analyse
und Zusammenfassung der
Literatur
Bewertung
Die selektierte Literatur muss nun anhand ihrer Im vierten Schritt werden die selektierten und
Qualität bewertet werden. Dies ist ein zentraler bewerteten Studien nun aufbereitet und analysiert.
Schritt in einem Review, da die Aussagekraft der Dieser Schritt unterscheidet sich von Reviewform zu
Ergebnisse stark von der Qualität der einzelnen Reviewform.
Studien abhängt. Allerdings müssen Unterschiede
in Bezug auf die einzelnen Reviewmethodologien
berücksichtigt werden. Während für systemati- Systematische Literaturreviews
sche Reviews die kritische Bewertung der Qualität Die Analyse von klassischen systematischen Reviews
und Gewichtung der gefundenen Studien von zen- kann in Kombination mit einer Metaanalyse stattfin-
traler Bedeutung für die Stärke der Aussagekraft den (Rumrill et al. 2010) oder rein narrativ durch-
ist, spielt dies in interpretativen Reviews keine so geführt werden (Liberati et al. 2009). Ziel des sys-
große Rolle. Das macht Sinn, denn wenn beispiels- tematischen Literaturreviews ist es dabei, immer
weise konzeptuelle Annahmen in einem bestimm- quantitative Studien zusammenzufassen, um durch
ten Feld und in Forschungsstudien dominant sind, die Zusammenführung aller vorhandenen Evidenzen
spielt hierfür die Qualität (eine objektive, isolierte eine Aussage bezüglich der Effektivität einer Maß-
Qualität) der einzelnen Studien keine Rolle, wohl nahme zu treffen. Werden diese Studien narrativ
aber die Qualität der Daten/Studien in Bezug auf zusammengefasst, kann dies mit mehreren Metho-
die Forschungsfrage. Zusätzlich wird bei der Bewer- den durchgeführt werden. Eine gute Möglichkeit
tung qualitativer Studien oft auch die Frage disku- stellen hier beispielsweise inhaltsanalytische Ver-
tiert, ob Studien unterschiedlicher Methodologien fahren (7 Abschn. 6.3.6.) dar.
überhaupt sinnvoll verglichen und zusammengefasst
werden können (Dixon-Woods et al. 2006).
Metaanalysen
> Dass bei Scoping Reviews die Qualität der Metaanalysen bieten eine mathematische Möglich-
eingeschlossenen Studien nicht bestimmt, keit, die Ergebnisse von vielen einzelnen Studien zu
ob sie in die Analyse eingeschlossen werden, einem Gesamtergebnis zu vereinen. Die statistischen
8.4 · Welche Schritte müssen bei einem Literaturreview eingehalten werden?
217 8
Methoden der Metaanalyse stellen Erweiterungen Realist Reviews
der Methoden der primären Forschung dar. Meta- Realist Reviews haben die Evaluation von komple-
analysen errechnen, ebenso wie die primäre For- xen Interventionen zum Ziel. Die Datenanalyse kann
schung, einen Mittelwert und eine Standartabwei- somit keiner vorgegebenen, allgemeinen Strategie
chung für den Behandlungseffekt. Es können weitere folgen. Allgemein werden die Dokumente in einem
Prozeduren, Methoden oder Techniken, die ähnlich ersten Schritt gelesen. Dabei werden Anmerkun-
der Varianzanalyse oder Multiregressionsanalyse gen gemacht, um Ideen, wie Interventionen wirken,
sind, genutzt werden, um Beziehungen zwischen zu entwickeln. Dieser Prozess ähnelt der Auswer-
dem Effekt und den studienbezogenen Kovarianzen tung qualitativer Texte. Wie auch in der qualitati-
zu messen (Borenstein et al. 2009). ven Datenanalyse werden Gemeinsamkeiten und
Gegensätze notiert. Es werden dabei Hinweise darauf
> Voraussetzungen für Metaanalysen ist gesucht, welcher Teil der Intervention für welche
eine grundsätzliche Vergleichbarkeit der Zielgruppe unter welchen Umständen wirkt. Außer-
Studien, der eingesetzten Verfahren und der dem wird untersucht, welche Outcome-Parameter
Ergebnisse (Al-Nawas et al. 2010, Higgins u. sich verbessern, und es werden Erklärungsmodelle
Green 2008). erstellt. Die Analyse für ein Realist Review erfolgt nie
linear, sondern stellt immer einen iterativen Prozess
Ein sehr einfaches Beispiel einer Metaanalyse ist die dar (Pawson et al. 2005, Wong et al. 2013).
Studie über die Reliabilität und der Standardmess-
fehler bei Goniometern von Zänger und Ritschl
(2014). In dieser Studie wurden Reliabilitätsstu- Metasynthesen
dien zu Universalgoniometern gesucht und aus dem Wie bereits erwähnt steht der Begriff Metasynthese
Reliabilitätswert und der Standardabweichung der oft allgemein für die Synthese qualitativer Studien.
einzelnen Studien ein neuer Reliabilitätswert und Zum Teil wird die Metasynthese aber auch als eine
Standardmessfehler berechnet. Dasselbe Verfahren eigenständige Form beschrieben (Barroso et al. 2003,
zur Standardmessfehlerbemessung der einzelnen Walsh u. Downe 2005). In diesem Fall haben auch
Studien wurde für die neue Berechnung des Stan- Metasynthesen das Ziel, Studienergebnisse besser
dardmessfehlers übernommen. nutzen und verwerten zu können, indem sie kombi-
niert und kritisch eingeschätzt werden. Auch wider-
sprüchlichen Ergebnissen wird Aufmerksamkeit
Scoping Reviews gewidmet (Saini u. Shlonsky 2012). Wurden rele-
Scoping Reviews bieten eine Möglichkeit, große und vante Studien identifiziert, müssen sie im Zuge der
zum Teil auch sehr unterschiedliche Literaturbei- Metasynthese verglichen und in Zusammenhang
träge zu einem Thema zu bearbeiten. Hierfür müssen gebracht werden. In einem ersten Schritt ist es not-
in einem ersten Schritt die Daten organisiert und wendig, die Schlussfolgerungen, Ideen und Ergeb-
sortiert werden. Dieses „charting“, also das Erfassen nisse, die der Studienautor angibt, zusammenzufas-
der Daten in einer Tabelle, erfolgt in 2 Schritten: Der sen, um Themen und Konzepte ableiten zu können.
erste Schritt ist, dass Kategorien gebildet werden. In Die Studien sollten hierbei in ihrem Kontext verstan-
einem zweiten Schritt werden die Studien gelesen den und interpretiert werden. Ist dies in der Ergeb-
und alle Informationen diesen Kategorien zuge- nisdarstellung des Artikels nicht möglich, müssen
ordnet. Es werden generell 2 Arten von Kategorien die originalen Arbeiten oder Daten herangezogen
unterschieden: 1. generelle Kategorien, die Infor- werden. Im Weiteren werden die Ergebnisse nach
mationen enthalten wie Forschungsmethode, Ziel, hermeneutischen Kriterien (7 Abschn. 6.3.7) analy-
Assessment, Intervention, Population, Ergebnis; 2. siert (Walsh u. Downe 2005).
spezifisch Kategorien zur Beantwortung der Frage-
stellung (Daudt et al. 2013). Dieses „charting“ der
Informationen bzw. das Bilden der Kategorien kann Metasummarys
durch Techniken aus inhaltsanalytischen Verfahren Die Metasummary nutzt einen quantitativ-orien-
(7 Abschn. 6.3.6.) unterstützt werden. tierten, summativen Ansatz, um die Ergebnisse
218 Kapitel 8 · Reviews
Weitere Forschungsmethoden
Kathrin Malfertheiner, Helmut Ritschl, Valentin Ritschl, Michaela Stoffer,
Anna Bösendorfer, Stefanie Höchtl
Literatur – 236
Die Methode des klinischen Behandlungspfads In der Literatur werden verschiedene Methoden zur
eignet sich vor allem bei folgenden Inhalten einer Erstellung klinischer Behandlungspfade beschrie-
Bachelor- oder Masterarbeit: ben, die Grundprinzipien sind aber bei allen gemein-
4 Gewährleistung einer auf Leitlinien und sam (Vanhaecht et al. 2010). Die folgende Auflis-
Evidenzen basierten Versorgung tung orientiert sich an der Methodik von de Luc
4 Verbesserung eines klinischen Prozesses (2001a, b). Die einzelnen Schritte können teilweise
bzw. der Behandlung einer bestimmten auch parallel erfolgen, sich überschneiden oder für
Patientengruppe verschiedene Behandlungspfade in einer etwas abge-
4 Verkürzung der Aufenthaltsdauer (z. B. durch änderten Reihenfolge verlaufen.
Entlassungsmanagement) Die Entwicklung eines klinischen Behand-
4 Reduzierung von Behandlungsvariablen lungspfades ist in 3 Hauptschritte eingeteilt (de Luc
mit daraus resultierender Zeit- und 2001a):
Risikoreduktion 4 Entwicklung
4 Darstellung und Berechnung von 4 Umsetzung
Behandlungskosten 4 laufende Überprüfung (entspricht der Behand-
4 Verbesserung des interdisziplinären Informati- lungspfad den Zielen oder muss er abgeändert
onsflusses und der Dokumentation werden?)
4 Verbesserung der Kommunikation zwischen
Klinikern und Patienten/Nutzern (de Luc
2001a, Roeder u. Küttner 2007) Entwicklung
z Problemidentifizierung
Bevor ein Behandlungspfad erstellt wird, muss ein
9.1.2 Themenstellungen Problem identifiziert werden. Beispiel: Einsparungs-
maßnahmen im Gesundheitssystem durch Bettenab-
Klinische Behandlungspfade können in Kranken- bau sowie die Zunahme an chronischen Krankheiten
häusern und Pflegeheimen, in öffentlichen und führen zur Notwendigkeit eines interdisziplinären
9.1 · Klinischer Behandlungspfad
225 9
Behandlungspfades über eine frühe unterstützte Ent- Hause anwesend, aktive Teilnahme an einfachen
lassung von Patientinnen nach Insult mit Ergothera- Alltagstätigkeiten möglich
pie oder interdisziplinärer Therapie zu Hause. 5 Ausschlusskriterien: andere Diagnosen, Patienten
zu weit vom Krankenhaus entfernt, keine
z Zieldefinition betreuenden Angehörigen anwesend usw.
Zu den Zielen eines klinischen Behandlungspfads
gehören u. a. die Verbesserung der Qualität der z Festlegen der Dauer des Behandlungspfads
Patientenbetreuung sowie eine effiziente Ressourcen- Behandlungspfade erstrecken sich auf eine
nutzung. Beispiel: Kostenreduktion für das Gesund- bestimmte Periode, beispielsweise vom Zeitpunkt
heitssystem durch eine frühe unterstützte Entlassung der Vorbereitung für eine frühe unterstützte Entlas-
von Patientinnen nach Insult mit Ergotherapie oder sung von Patienten nach Insult bis zur Beendigung
interdisziplinärer Therapie zu Hause. der Therapie zu Hause bzw. bis zum Übergang zur
ambulanten Therapie.
z Festlegen der Patientengruppe
Behandlungspfade werden für genau definierte Patien- z Analyse des lokalen Kontextes
tengruppen erstellt. Beispiel: Patientinnen nach Insult, Es wird der Ist-Zustand analysiert, um feststellen zu
welche in einer bestimmten Rehabilitationsabteilung können, wie Leitlinien oder Evidenzen aus der Lite-
stationär behandelt werden und die Einschlusskrite- ratur im lokalen Kontext umgesetzt werden können.
rien für eine frühe unterstützte Entlassung erfüllen. Relevante Informationen können in institutions-
internen Dokumenten und Daten, in Dokumen-
z Ernennen der Arbeitsgruppe ten über das lokale Gesundheits- und Sozialsystem
Ein klinischer Behandlungspfad wird von einer inter- sowie durch Gespräche/Interviews mit Vertre-
disziplinären Arbeitsgruppe erarbeitet, um die Kom- tern der verschiedenen Berufsgruppen gesammelt
munikation sowie die Rollen- und Aufgabenvertei- werden.
lung von interdisziplinärem Team, Patienten und
Angehörigen zu regeln. Beispiel: Ärztinnen, Ergo- z Erstellen eines interdisziplinären
therapeutinnen, Physiotherapeutinnen, Logopädin- Dokumentationsbogens
nen, Krankenpfleger, Sozialassistentinnen, Patien- Behandlungspfade können die gesamte klinische
tenvertreter und Angehörigenvertreter. Kartei oder einen Teil davon ersetzen und erleich-
tern eine einheitliche interdisziplinäre Dokumen-
z Recherche von evidenzbasierter Literatur tation. Als Bezugsrahmen für interdisziplinären
Klinische Behandlungspfade sind die praktische Informationsaustausch und Dokumentation eignet
Anwendung der Empfehlungen aus Leitlinien in sich beispielsweise die ICF (International Classifica-
einem lokalen Kontext. Daher ist eine ausführliche tion of Functioning, Disability and Health) (DIMDI
Literaturrecherche der aktuellen Leitlinien und Evi- 2005).
denzen erforderlich.
Beispiel
z Definition der Ein- und Ausschlusskriterien Erstellung eines an die ICF angelehnten, interdis-
Behandlungspfade werden für eine genau definierte ziplinären Dokumentationsbogens, in dem jede
Patientengruppe erstellt, entsprechend der Ein- und Berufsgruppe den aktuellen Stand, Behandlungs-
Ausschlusskriterien. maßnahmen sowie Ziele in einer interdisziplinär
verständlichen Sprache dokumentieren kann.
Beispiel
5 Einschlusskriterien: Patienten nach Insult,
medizinisch stabil oder vom Hausarzt/ Umsetzung
Krankenpflegedienst zu Hause behandelbar, z Mitarbeiterschulung
wohnhaft maximal 30–45 min vom Krankenhaus Nach der Entwicklung des Behandlungspfads sollte
entfernt, barrierefreie Wohnung, Angehörige zu eine Mitarbeiterschulung durchgeführt werden.
226 Kapitel 9 · Weitere Forschungsmethoden
. Tab. 9.1 Ausschnitte aus einem interdisziplinären Behandlungspfad für eine frühe unterstützte Entlassung von
Patienten nach Insult
Vorbereitung
Zieldefinition bis zur Ärzte, Krankenpfleger, 1–2 Wochen vor Entlassung Protokoll der
Entlassung gemeinsam mit Ergotherapeuten, in der Teambesprechung interdisziplinären
Patienten und Angehörigen Physiotherapeuten, Teambesprechung
Beurteilung des Bedarfs Logopäden,
an Betreuung und Sozialassistenten
Rehabilitation zu Hause
Entlassungsplanung
Definieren des Ärzte, Krankenpfleger, Eine Woche vor Entlassung Protokoll über
Behandlungsplans für zu Ergotherapeuten, bis zum Entlassungsdatum Hilfsmittelverschreibung,
Hause durch Aktivierung Physiotherapeuten, Protokoll der
des Rehabilitationsteams im Logopäden, Teambesprechungen
Territorium, Verschreibung Sozialassistenten
von Hilfsmitteln, Information
und Anleitung der Patienten
und Angehörigen
9 Übergang in die Therapie zu Hause
Alltagsorientierte Therapie, Ergotherapeuten, Während der gesamten ICF-basierter,
Training im Umgang Physiotherapeuten, Therapie zu Hause interdisziplinärer
mit den Hilfsmitteln, Logopäden Dokumentationsbogen
Umweltadaptierung,
Angehörigenberatung
Aufnahme Beginn
Insultpatient in Therapie
Rehabilitations- zu Hause
abteilung
Kontrolle Organisation
Einschluss in ja Checkliste nein Checkliste Stundenplan ET, PT,
Behandlungspfad erfüllt? 1-mal LP, bei Bedarf HKP
Woche und HPD
ja
. Abb. 9.1 Flussdiagramm des interdisziplinären Behandlungspfads für eine frühe unterstützte Entlassung von Patienten
nach Insult mit Ergotherapie oder interdisziplinärer Therapie zu Hause. A Ärzte, CM Case-Manager, ET Ergotherapeut,
Fagenstraße Zentrum für Physische Rehabilitation in der Fagenstraße, HA Hausarzt, HKP Hauskrankenpflegedienst, HPD
Hauspflegedienst, KH Krankenhaus, KP Krankenpflege, LP Logopäde, PT Physiotherapeut, RA Rehabilitationsarzt, SA
Sozialassistent
228 Kapitel 9 · Weitere Forschungsmethoden
bzw. umzusetzen. Die Phase der Entwicklung eines et al. 2010). Hier ist eine methodische Offenheit und
Behandlungspfads könnte aber Inhalt einer Bache- Diversität erforderlich. Neben der qualitativen und
lor- oder Masterarbeit sein, während die Umset- der quantitativen Forschung (Monomethoden) stellt
zungs- und Überprüfungsphase nur theoretisch der Methodenmix (multiple Methoden) den dritten
beschrieben werden könnten. großen Untersuchungszugang dar (Johnson et al.
2007).
z z Stärken
Die Einführung von klinischen Behandlungspfa- Definition
den bietet viele Vorteile für die Klinik, die Mitar- „Mixed methods research is […] an approach to
beiterinnen und die Patienten (Roeder und Küttner knowledge (theory and practice) that attempts
2007): to consider multiple viewpoints, perspectives,
4 Verbesserung von Behandlungsqualität und positions, and standpoints (always including
Behandlungsergebnissen the standpoints of qualitative and quantitative
4 Reduzierung der Verweildauer research).“ (Johnson et al. 2007)
4 Senkung der Behandlungskosten durch
verbesserte Ablauforganisation und Reflexion
bezüglich der Notwendigkeit bestimmter Beispiel
Leistungen Sie wollen eine neue Form der Gesundheitseduka-
4 Verbesserung der Teamarbeit tion zum Thema Ernährung entwickeln. Hier wäre
4 verbesserte Schulung neuer Mitarbeiterinnen es in einem ersten Schritt sinnvoll, im Rahmen einer
9 4 vermindertes Risiko von Behandlungsfehlern Fokusgruppe zu erheben, welche Bedürfnisse und
4 verbesserte Planung von Dienstleistungen und Interessen betroffene Personen haben (Methode
Einrichtungen 1). Die Ergebnisse aus der Fokusgruppe werden in
ein didaktisches Rahmenkonzept gegossen und mit
Zusammenfassung Probandinnen getestet. Der Mehrwert könnte im
Ein klinischer Behandlungspfad bietet eine gute ersten Schritt durch biometrische Daten (z. B. Blutzu-
Möglichkeit, um klinische Prozesse zu verbessern cker, Gewicht etc.) festgestellt werden (Methode 2).
und Ressourcen effektiv einzusetzen. Leitlinien In einem ergänzenden Verfahren werden die Patien-
definieren dabei, was durchgeführt werden soll, tinnen mittels Fragebogens (Inventar) zu ihrer Zu-
während klinische Behandlungspfade definieren, friedenheit befragt, bezogen auf den Wissenstrans-
wer etwas wie, wann und wo durchführen soll. Auf- fer zum Thema Ernährung (Methode 3) (. Abb. 9.2).
grund seiner Komplexität ist für eine Bachelor- oder
Masterarbeit aber nur die Entwicklungsphase eines
klinischen Behandlungspfads realistisch. 9.2.1 Anwendungsfelder
Methode 2
Methode 1 Forschungs-
gegenstand
Methode 3
. Abb. 9.2 Methodenmix in Bezug auf den Forschungsgegenstand. Jede Methode (hier in unterschiedlichen Farben und
Formen dargestellt) beleuchtet den Forschungsgegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlicher Tiefe
Gesamt-
analyse
Methodenmix ist ersichtlich, wenn die qualitative dass dies mit einem entsprechenden Zeitauswand
und die quantitative Methode die gleichen Erkennt- verbunden ist.
nisse zulassen. Hier spricht man von Komplemen-
tarität. Wenn die qualitative und die quantitative Fallbeispiele zum Methodenmix
Methode zu unterschiedlichen Erkenntnissen führen, Möglichkeiten zur Anwendung eines Methodenmix
können dadurch neue Aspekte eines Forschungsfelds sind sehr vielfältig. Vier Beispiele sollen die häufigs-
identifiziert werden (Initiation). Der Einsatz einer ten Anwendungen in der Praxis vorstellen:
9 qualitativen bzw. quantitativen Methode zum Zeit-
punkt X führt möglicherweise zu Erkenntnissen, die z z Methodenmix in der „health technology“ –
es erforderlich machen, eine weitere Untersuchung Evaluationsforschung
mit einer qualitativen bzw. quantitativen Methode Im Bereich der Evaluationsforschung ist ein Metho-
zum Zeitpunkt Y durchzuführen. Eines führt zum denmix oftmals hilfreich. Ob beispielsweise eine Tech-
anderen (Fortschritt). Die Anwendung einer qua- nologie in einem konkreten Problemfeld der Gesund-
litativen und einer quantitativen Methode ermög- heit einen Mehrwert darstellt oder nicht, kann in der
licht unterschiedliche Breite, Tiefe und Perspektive ersten Phase der Untersuchung durch den Einsatz
in Bezug auf einen Forschungsgegenstand (Erweite- eines Fragebogens herausgearbeitet werden (quanti-
rung) (Tashakkori u. Teddlie 1998, Johnson u. Onwu- tative Methode). Ergebnis dieser Untersuchung kann
egbuzie 2004). die Identifikation konkreter Problemfelder sein. In
der zweiten Phase der Untersuchung erfolgt beispiels-
z z Schwächen weise ein Leitfadeninterview mit dem Ziel, genauere
Eine Gefahr besteht möglicherweise bei der Anwen- Erklärungsmodelle für die einzelnen Problemfelder
dung mehrerer Methoden darin, dass eine gewisse zu erarbeiten (qualitative Methode, . Abb. 9.3).
Unerfahrenheit bei jungen Forschern zu Fehlern im 4 Eine Erläuterung zu den Ergebnissen aus
Rahmen der einzelnen Methoden führt. Dadurch der Untersuchung zu Phase 1 wird in der
wird das Ergebnis (Eingrenzung, Komplementari- Fachsprache erklärendes/begründendes Design
tät, Initiation, Fortschritt oder Erweiterung) bzw. die („explanatory design“) genannt.
Validität (Aussagekraft) gestört (Johnson u. Onwueg- 4 Die Nachbearbeitung der Evaluation aus Phase
buzie 2004). Da sich der Methodenmix nicht klar sys- 1 wird unter „qualitative follow up“ subsumiert.
tematisieren lässt, entsteht eine besonders große Ver- 4 Der Einsatz der Methoden erfolgt hinterein-
antwortung für den Forscher, die einzelnen Schritte ander (sequenziell).
seiner Untersuchung genau und nachvollziehbar zu
beschreiben. Darunter kann unter Umständen die z z Methodenmix in der „health education“
Reliabilität (Wiederholbarkeit) der Untersuchung Die Forschung im Bereich der „health education“
leiden. Ein nicht zu unterschätzendes Problem bei bedient sich oftmals eines Methodenmixes. Um
der Anwendung mehrerer Methoden ist die Tatsache, einen Wissenstransfer im Bereich der Gesundheit
9.2 · Methodenmix
231 9
Gesamt-
analyse
Qualitative Qualitative
Quantitative
Untersuchung Untersuchung
Untersuchung
(Interview) (Interview)
Gesamt-
analyse
Quantitative
Untersuchung
(Fragebogen)
Forschungs-
gegenstand
Qualitative Qualitative
Untersuchung Untersuchung
(Forkusgruppe) (Experteninterview)
Vorbereitung des ersten Fragebogens Je mehr Teilnehmende, desto mehr Daten können
Als erster Schritt müssen das Ziel und auch das erfasst werden, was jedoch auch die Analyse der
Ergebnis der Studie definiert werden. Je genauer Daten erschwert. Heterogen bedeutet, möglichst alle
definiert wird, was von den Expertinnen und Exper- Menschen, die ein Interesse an der untersuchten The-
ten erwartet wird, desto einfacher kann ein Konsens matik haben, zu erfassen. Dies sind zum Beispiel die
erreicht werden. Wichtig ist es auch zu definieren, Professionalisten und Patienten. Nur dann wird das
wann ein Konsens erreicht ist. Wird eine 100 %ige Ergebnis auch interprofessionell anerkannt werden.
Übereinstimmung erwartet, wird dies schwerer zu Um potenzielle Expertinnen zu rekrutieren, können
erreichen sein als bei einer 75 % Übereinstimmung. Autoren von Fachliteratur, Expertinnen aus Wissen-
Die Literatur beschreibt einen Konsens zwischen 51 schaft und Praxis und persönlich bekannte Experten
und 80 % (Hasson et al. 2000). Wenn das Ziel fest- eingeladen werden.
steht, muss im nächsten Schritt die Umfrage, der Die Auswahl der Experten stellt einen sehr
erste Fragebogen erstellt werden. Dies wird aufbau- wichtigen Punkt im Prozess dar, da alle Ergebnisse
end auf einer Literaturrecherche durchgeführt, zum der Diskussion auf genau diesen Experten basie-
Beispiel bieten sich Scoping Reviews an (Davis et al. ren (Judd 1972). Es wird daher empfohlen, diesen
2009). Schritt gut zu planen und aufmerksam durchzu-
führen. Problematisch ist, dass „Expertinnen und
> Je besser und genauer diese Recherche Experten“ nicht klar definierbar sind – d. h. die Ent-
durchgeführt wird, desto besser kann auch scheidung, ob eine Person dazu zählt, ist sehr sub-
ein Konsens gefunden werden. jektiv. Anschließend werden die potenziellen Teil-
9 nehmerinnen angeschrieben und zu der Studie
Aus den Ergebnissen dieser Recherche erstellt der eingeladen.
Projektleiter die erste Definition/Beschreibung
eines Themas. Der erste Fragebogen ist durch
offene Fragen meist qualitativ aufgebaut. Alterna- Aussenden des ersten Fragebogens
tiv können die qualitativen Daten auch durch eine Der fertige Fragebogen wird nun an alle Teilnehme-
Fokusgruppe oder durch Interviews eingeholt rinnen ausgesendet, die einer Teilnahme zugestimmt
werden. Wie bei allen Befragungen sollten auch die haben. Es wird empfohlen, für diese Aussendung ein
Fragebögen einer Delphi-Studie an einer kleine- (für Studierende) kostenloses Online-Tool, wie zum
ren Gruppe vorgetestet werden. Es wird empfohlen, Beispiel SoSci Survey (www.soscisurvey.de), zu ver-
der Umfrage auch eine Skala zum Bewerten dieser wenden. Dieses Tool bietet eine nutzerfreundliche
Definition zuzufügen. Dies kann zum Beispiel eine Anwendung zum Erstellen, Verwalten und Auswer-
visuelle Analogskala sein. Außerdem wird empfoh- ten von Fragebögen. Die Expertinnen beantworten
len, Möglichkeiten zum Kommentieren in den Fra- die Fragen anonym und unabhängig voneinander.
gebogen einzubauen, damit die Expertinnen und Meist reagieren nicht alle Expertinnen auf den ersten
Experten auch Feedback und Ideen hinzufügen Aufruf, sodass hier einerseits Erinnerungs-E-Mails
können. versandt werden müssen und andererseits genügend
Zeit eingeplant werden muss, um die Studie erfolg-
reich durchzuführen.
Rekrutierung der Teilnehmerinnen
Um einen möglichst breiten Konsens zu erreichen, > Es wird empfohlen, im Fragebogen einen
wird empfohlen, eine maximal heterogene, inter- Code von den Teilnehmern eingeben zu
nationale und große Gruppe an Expertinnen und lassen. So kann identifiziert werden, wer
Experten zusammenzustellen. Dies sind Menschen, schon an der Umfrage teilgenommen hat und
die bereits über umfangreiches Wissen über das wer noch erinnert werden muss. Zusätzlich
Thema der Studie verfügen (McKenna 1994). Die können so die Antworten von der ersten bis
in der Literatur beschriebene Anzahl der Teilneh- zur letzten Runde verfolgt werden, auch wie
menden variiert sehr stark zwischen 15 und über 60. sich diese verändert haben.
9.3 · Delphi-Studien
235 9
Durchführung weiterer Umfragen Beispiel
Die Ergebnisse jeder Runde werden zusammenge- Ein Beispiel für eine Delphi-Studie ist die Studie von
fasst und anonymisiert an die Experten weiterge- Stoffer (et al. 2013) zur Entwicklung von Standards,
leitet. Basierend auf den Ergebnissen wird für jede Empfehlungen und Leitlinien in der Versorgung
Runde ein neuer Fragebogen erarbeitet. Themen von Patienten mit rheumatoider Arthritis. In dieser
oder Teile von Definitionen, die als nicht bedeutend Studie wurden von einer internationalen und inter-
eingeschätzt wurden, werden entfernt. Die Kom- disziplinären Expertengruppe Behandlungsstan-
mentare, Ideen und Anmerkungen der Teilneh- dards für Experten und für Patienten entwickelt.
menden werden in die nächste Version der Umfrage Ziel dieser Arbeit war es, evidenzbasiertes Wissen
eingebaut. Große Diskrepanzen werden entweder in einfacher Sprache einer großen Personengruppe
eingearbeitet oder in der Gruppe diskutiert. Dieser zugänglich zu machen. Die Grundlage dieser Arbeit
Prozess wird fortgesetzt, bis ein Konsens erreicht bildete eine umfangreiche Literaturrecherche, um
ist oder kaum mehr Antworten zurückkommen. nationale und internationale Leitlinien zu identifi-
Meist benötigt eine Delphi-Studie zwischen 2 und zieren. Alle Empfehlungen/Interventionen aus den
4 Runden. Um einen Konsens zu erreichen, wird Leitlinien wurden extrahiert und zusammengefasst
meist in der letzten Runde ein Fragebogen erstellt, und stellten die Basis für die erste Runde im Delphi-
in dem die Expertinnen sowohl ihre eigene, letzte Prozess dar. Die Bewertungen und Rückmeldungen
Einschätzung (z. B. visuelle Analogskala) als auch der Expertengruppe wurden eingearbeitet und
einen Durchschnitt aller Expertenschätzungen stellten die Grundlage für die nächste Befragungs-
sehen können. Aufgrund dieses Wissens sollen runde dar. Der Konsensus konnte in 3 Runden er-
sie eine letzte, finale Schätzung abgeben. In dieser reicht werden und resultierte in 16 Behandlungs-
Runde werden dann keine Anmerkungen oder standards. Diese wurden in 23 Sprachen übersetzt.
Formulierungsvorschläge an die Forscherinnen
gerichtet.
9.3.4 Stärken und Schwächen
> Es ist wichtig, auch alle Zwischenergebnisse
gut zu dokumentieren. z z Stärken
4 Da es sich um Expertenbefragungen handelt,
ist das Einreichen bei der Ethikkommission
Varianz in der Durchführung von nicht nötig.
Delphi-Studien 4 Die Delphi-Studie stellt die einzige Möglichkeit
Kann kein Konsens erreicht werden, wird ein dar, um kostengünstig zu einer breiten
Treffen der Expertinnen oder eine Telefonkon- Expertenmeinung zu kommen.
ferenz empfohlen. Die Expertinnen bekommen 4 Sie bietet die Möglichkeit, eine Basis zu kreieren,
dadurch die Möglichkeit, sich im direkten Kontakt auf der weitere Studien zu Assessments, Inter-
auszutauschen, Unklarheiten zu besprechen und ventionen oder Pathways aufbauen können.
Missverständnisse auszuräumen. Diese Treffen 4 Die Teilnehmenden müssen sich nicht
fördern meist den Prozess, und ein Konsens kann gemeinsam an einem Ort zusammenfinden.
schneller erreicht werden. Jedoch kommen an
diesem Punkt gruppendynamische Prozesse in z z Schwächen
Gang, die das Ergebnis des Konsenses beeinflus- 4 Delphi-Studien sind meist sowohl für die
sen können. Forscherinnen und Forscher als auch für die
Expertinnen und Experten sehr zeitaufwändig
> Auch ein Konsensus über Dissens ist ein (Hsu u. Standford 2007).
möglicher Konsensus (Ergebnis) einer 4 Zeitplanung: Man weiß im Vorhinein nicht, wie
Delphi-Studie, der somit zu einer Beendigung viele Runden nötig sind, um einen Konsens zu
führen kann. erlangen.
236 Kapitel 9 · Weitere Forschungsmethoden
4 Meinungen von Expertinnen haben keinen Roeder N, Hensen P, Hindle D, Loskamp N, Lakomek H-J (2003)
Instrumente zur Behandlungsoptimierung. Klinische
Anspruch auf Richtigkeit und können sich
Behandlungspfade. Chirurg 74 (12): 1149–1155
als falsch herausstellen. Ein Beispiel für eine Roeder N, Küttner T (Hrsg.) (2007) Klinische Behandlungspfa-
berühmte Fehleinschätzung stammt von Darryl de. Mit Standards erfolgreicher arbeiten. Deutscher Ärzte
Zanuck, Leiter von 20th Century-Fox (1902– Verlag, Köln
1979): „Das Fernsehen wird nach den ersten Vanhaecht K, Panella M, van Zelm R, Sermeus W (2010) An
overview on the history and concept of care pathways
6 Monaten am Markt scheitern. Die Menschen
as complex interventions. International Journal of Care
werden es bald satt haben, jeden Abend in eine Pathways 14 (3):117–123
Sperrholzkiste zu starren.“
4 Es gibt kein objektives Merkmal von Experten. Literatur zu Abschn. 9.2
Das heißt, die Auswahl ist subjektiv und muss Hussy W, Schreier M, Echterhoff G (2010) Forschungsmetho-
gut bedacht werden, um nicht von Anfang an den in Psychologie und Sozialwissenschaften für Bache-
lor. Springer, Heidelberg
einen negativen Einfluss auf das Ergebnis zu
Jick T (1979) Mixing qualitative and quantitative methods:
haben. Triangulation in action. Administrative Science Quarter
4 Um das Thema gut für die Expertenbefragung 24: 602–611
aufzubereiten, muss im Vorfeld eine Literatur- Johnson RB, Onwuegbuzie AJ (2004) Mixed methods research:
recherche durchgeführt werden. Das heißt, A research paradigm whose time has come. Educational
Researcher 33 (7): 14–26
eine Delphi-Studie hat immer im Vorfeld eine
Johnson RB, Onwuegbuzie AJ, Turner LA (2007) Toward a
andere Methodik, die den Aufwand für die definition of mixed methods research. Journal of Mixed
Forscher erhöht. Methods Research 1 (2): 112–133
9 4 Bei offenen und nicht anonymen Befragungen Meissner H, Creswell J, Klassen A, Clark V, Smith K (2010)
können gruppendynamische Prozesse Best practices for mixed methods research in the health
sciences. https://tigger.uic.edu/jaddams/college/busi-
entstehen, die die Ergebnisse der Studie stören.
ness_office/Research/Best_Practices_for_Mixed_Met-
hods_Research.pdf, letzter Zugriff 25.8.2015
Zusammenfassung Tashakkori A, Teddlie C (1998) Mixed methodology: Combi-
Die Delphi-Methode eignet sich schon auf Bachelo- ning qualitative and quantitative approaches applied
rebene, um einen internationalen Expertenkonsens social research, Vol. 46. Sage, London
zu schaffen. Da jedoch ein Review der Delphi-Me- Literatur zu Abschn. 9.3
thode vorausgehen muss, ist mit einem erhöhten
Bösendorfer A, Höchtl S (2015) A generally accepted definition
Zeitaufwand zu rechnen. of „Play“ – a Delphi study based on a scoping review. IMC,
Krems
Boulkedid R, Abdoul H, Loustau M, Sibony OO, Alberti C (2011)
Literatur Using and reporting the Delphi method for selecting
healthcare quality indicators: a systematic review. PloS
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239 10
ICF-basierte
Forschungsmethoden
Ursula Costa
Literatur – 246
ICF kann als Bezugsrahmen für Querschnitts- wie ICF-Komponente dafür, nach dem angemessensten
für Längsschnittstudien zum Beispiel zur Untersu- Kapitel daraus und der präzisesten Kategorie im aus-
chung der Beziehungen von Gesundheitskomponen- gewählten Kapitel. Diese Zuordnungen werden unter
ten eingesetzt werden (Rouquette et al. 2015). den Forscherinnen verglichen und bis zum Konsens
In der ICF findet der Kontext als Wirkgröße abgestimmt. Der ICF nicht zuordenbare Informa-
auf die Gesundheit (Funktionsfähigkeit, Krankheit tionen werden mit „nc“ („not covered“) bezeichnet.
oder Behinderung) besondere Beachtung. Insofern Die 2005 aktualisierten 8 Regeln zum Linken von
eignet sich die ICF auch zur Systematisierung von ICF-Kategorien (vgl. Cieza et al. 2005, S. 215) sind:
Forschungszielen, Fragestellungen und Ergebnis- 4 Es gilt, eine gute Wissensgrundlage über
sen, die sich mit Einflüssen von materieller, sozia- Konzept und Taxonomie der ICF zu haben,
ler und einstellungsbezogener Umwelt auf Gesund- einschließlich der Kapitel, Domänen und
heitssituationen auswirken. Umgekehrt kann sich Kategorien.
die Gesundheitssituation eines Menschen auch auf 4 Jede Bedeutungseinheit wird mit der präzi-
dessen Umwelt auswirken. Auch solche Fragestellun- sesten ICF-Kategorie „gelinkt“.
gen und Ergebnisse können mithilfe der ICF näher 4 „Nicht spezifiziert“ (Code 8) sollte beim Linken
untersucht und diskutiert werden. als Kategorie nicht verwendet werden; statt-
Durch das Anerkennen und Beschreiben der dessen wird dokumentiert, dass die entspre-
Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt chende Zusatzinformation in der ausgewählten
auf die jeweilige Gesundheitssituation können Kategorie nicht explizit benannt ist.
sowohl für die Praxis als auch für die Forschung 4 Ebenso soll die Kategorie „nicht anwendbar“
„nützliche Profile der Funktionsfähigkeit, Behin- (Code 9) beim Linken nicht verwendet werden.
derung und Gesundheit eines Menschen für unter- 4 Wenn die Zuordnung der Information einer
10 schiedliche Domänen“ dargestellt und wissenschaft- Bedeutungseinheit nicht eindeutig zu einer
lich untersucht werden (WHO 2011a, S. 29). Gerade bestimmten ICF-Kategorie vorgenommen
die Untersuchung der Auswirkungen von Interven- werden kann, soll sie mit „nd“ („not definable“)
tionen auf die Partizipation von Klienten unterstützt bezeichnet werden.
das Einholen der Perspektive der Betroffenen und 4 Wenn die Bedeutungseinheit in der ICF nicht
ihres unmittelbaren sozialen Kontexts. Hier können enthalten ist, sie aber eindeutig den personen-
u. a. Zugänge aus der partizipativen Sozialforschung bezogenen Kontextfaktoren zuordenbar ist, soll
dem Erkenntnisgewinn dienen. sie als „pf “ („personal factor“) gekennzeichnet
Auch theoretische Arbeiten, wie zum Beispiel die werden.
Verbindung von berufsspezifischen Modellen mit 4 Wenn die Bedeutungseinheit in der ICF
der ICF (vgl. Stamm et al. 2006), sind unverzichtbare nicht enthalten und kein personenbezogener
Beiträge, die die Berufsentwicklung in Theorie und Kontextfaktor ist, wird sie „nc“ („not covered“)
Praxis wesentlich unterstützen können. Eine ICF- zugeordnet.
basierte Forschungsmethode, die in dieser Studie 4 Wenn sich die Bedeutungseinheit auf eine
angewandt wurde, ist das systematische Zuordnen bestimmte Diagnose bzw. Gesundheitssituation
(Linken) von Konzepten und/oder den Items von bezieht, wird sie „hc“ („health condition“)
Instrumenten und berufsspezifischen Modellen zu zugeordnet.
den ICF-Kategorien, die jeweils am genauesten den
Inhalt eben dieser Items abbilden (Cieza et al. 2002, ICF-Core-Sets erleichtern die Beschreibung der
2005). Dadurch können Instrumente und Modelle in Funktionsfähigkeit bzw. Behinderung eines Men-
die ICF-Sprache übersetzt und anhand dieses Klassi- schen, indem sie eine für die spezifische Gesund-
fikationsrahmens inhaltlich verglichen werden. heitsproblematik und den jeweiligen Gesund-
Beim Linken setzen sich die Forscher unabhän- heitskontext relevante Liste von Kategorien, die
gig mit dem vorhandenen Datenmaterial auseinan- auf wissenschaftlicher Basis erarbeitet wurden,
der und identifizieren sog. Bedeutungseinheiten. zur Verfügung stellen (Bickenbach et al. 2012, Selb
Im nächsten Schritt suchen sie nach der passenden et al. 2015). Für die praktische und wissenschaftliche
10.2 · ICF als Bezugsrahmen für Forschungsvorhaben
243 10
Arbeit gibt es sowohl kurze als auch umfassende Fas- solchen Forschungsarbeiten ist der direkte Kontakt
sungen der Core-Sets für Akut- und Postakutphase zur entsprechenden Berufsvertretung und zum
sowie für chronische Erkrankungen. Die Erarbeitung jeweiligen ICF Research-Branch (dem damit befass-
von Core-Sets folgt einem klar beschriebenen evi- ten Studienzentrum) wichtig. Andere ICF-basierte
denzbasierten und internationalen Konsensuspro- Studien können sowohl zum Entlassungsmanage-
zess, in den auch Beiträge von Studierenden einflie- ment als auch zum Übergang von der Akutstation
ßen können. zur stationären und weiter zur ambulanten Rehabi-
In der ersten Phase werden in empirischen und litation auch von Masterstudierenden konzipiert und
qualitativen Studien Patientendaten erhoben, Exper- evaluiert werden.
tenmeinungen weltweit eingeholt, und die Literatur
wird im Hinblick auf eine bestimmte Gesundheitssi-
tuation systematisch recherchiert (z. B. Scheuringer 10.2.2 Themenstellungen
et al. 2010). In Phase 2 werden in internationalen
interdisziplinären Konsensuskonferenzen in den Die ICF unterstützt interdisziplinäre Forschung zu
WHO-Regionen darauf aufbauend Erstversionen Behinderung und Gesundheit im Alltagskontext von
der Core-Sets entwickelt. In Phase 3 folgen, in inter- Menschen, indem sie ein Rahmenmodell und eine
nationaler Zusammenarbeit, interdisziplinäre und Struktur bietet, die die Forschungsergebnisse ver-
berufsspezifische Validierungs- und Implementie- gleichbar macht (WHO 2002, S. 7). Dabei ermög-
rungsstudien (z. B. Core-Sets für Patientinnen nach licht sie, nicht nur auf Körperstrukturen und Körper-
Schlaganfall aus Sicht der Ergotherapie/Physiothe- funktionen, sondern ebenso auf soziale Rollen und
rapie/Pflege). Diese wurden für einige Krankheits- Bedingungen von Menschen systematisch einzuge-
bilder (z. B. Depression oder Querschnittssyndrom) hen. So wird dem Menschen als handelndes Wesen in
bereits durchgeführt (Ballert et al. 2014), für andere seiner Lebensumwelt Beachtung geschenkt, was auch
(z. B. Schizophrenie) liegen sie zum gegebenen Zeit- wesentlicher Forschungsgegenstand der Handlungs-
punkt noch nicht vor. wissenschaften („occupational science“) ist. Für die
Validierungsstudien, die zusätzlich zur Pers- Vergleichbarkeit und die Bezugnahme von Daten auf
pektive der Gesundheitsberufsangehörigen auch die ICF ist die Berücksichtigung der oben genann-
die Patientenperspektive erheben, können zum Bei- ten Regeln für das Linken notwendig (vgl. Cieza
spiel im Rahmen von Fokusgruppen oder Einzel- et al. 2002, 2005).
interviews untersuchen, ob die ICF-Core-Sets die Das Wechselwirkungsmodell der ICF ermög-
Aspekte der Funktionsfähigkeit, die aus der Sicht der licht es zum Beispiel bei Interventions- und Wirk-
Patientinnen relevant sind, beinhalten (vgl. Stamm samkeitsstudien (z. B. Sabariego et al. 2013), die
et al. 2005). In Implementierungsstudien, die den Auswirkung von Maßnahmen auf die Teilnahme
Gebrauch des Core-Sets für eine bestimmte Erkran- in geprüften Lebensbereichen zu erfassen. Manche
kung/Funktionsstörung untersuchen, wird u. a. ana- Interventionen wirken auf Körperfunktionsebene,
lysiert, ob die Core-Sets den Problemen der betref- andere im Bereich der Aktivitäten und der Partizi-
fenden Patientin im klinischen Alltag entsprechen. pation, bzw. sie verändern die Umwelt durch mehr
Weitere Forschungsarbeiten können die Entwicklung Förderfaktoren oder eine Reduzierung von Barrie-
von ICF-basierten Dokumentationsformularen hin- ren. All diese Ergebnisse können die Funktionsfä-
sichtlich Praktikabilität überprüfen. Empfehlenswert higkeit beeinflussen (WHO 2002, S. 8).
ist dabei die Kooperation mit den jeweiligen natio- Die Bezugnahme auf das Modell der ICF erlaubt
nalen und internationalen Berufsverbänden, um bei- ein Zuordnen und Konkretisieren von Forschungs-
spielsweise via E-Mail-Survey Angehörige der jewei- vorhaben und Forschungsfragen. Diese können sich
ligen Berufsgruppe im entsprechenden Arbeitsfeld zum Beispiel mit Körperstrukturen, Körperfunk-
zu erreichen. tionen, Aktivitäten, Partizipation, personenbezo-
Auch im lokalen interdisziplinären Team kann genen, umweltbezogenen Kontextfaktoren und mit
Rückmeldung mittels wissenschaftlichen Vorgehens der Gesundheitssituation selbst befassen. Auch ein
eingeholt werden (vgl. van der Donk et al. 2014). Bei Erforschen der Beziehung(en) zwischen diesen und
244 Kapitel 10 · ICF-basierte Forschungsmethoden
innerhalb dieser Gesundheitsfaktoren kann mithilfe werden; die Spezifität eines Assessments kann
des Übersichtsmodells der ICF konkretisiert werden auf ICF-Kategorien und -Codes bezogen werden
(Ptyushkin et al. 2015). Dabei stellen sich zum Bei- (vgl. Stamm et al. 2004). Ebenso können Empfeh-
spiel Fragen nach den Wirkungen bestimmter Kör- lungen für den Gebrauch spezifischer Assessments
perfunktionen (oder deren Schädigungen) auf eine mithilfe der ICF abgeleitet werden (Silva et al. 2015;
Gesundheitssituation, bzw. nach der Wirkung eines vgl. 7 Kap. 11).
bestimmten umweltbezogenen Kontextfaktors auf Auch die Entwicklung von Rehabilitationsver-
eine Gesundheitssituation. Auch Fragen zu Wech- läufen und die jeweils dominierenden Gesundheits-
selwirkungen zwischen Partizipation und Gesund- komponenten können in den verschiedenen Phasen
heitssituation bzw. zwischen Partizipation, Körper- einer Erkrankung bzw. Funktionseinschränkung –
funktionen und Gesundheitssituation können neue zum Beispiel nach Schlaganfall – mithilfe der ICF
Erkenntnisse erschließen. systematisch mit Einbeziehung interdisziplinärer
Gesundheitsberufe können durch Forschungs- und internationaler Perspektiven untersucht werden
arbeiten derzeit vorhandenes Gesundheitswissen auf (vgl. Scheuringer et al. 2010).
dessen Gültigkeit hin überprüfen und neues generie- Angehörige von Gesundheitsberufen können
ren. Sie tragen u. a. zur Weiterentwicklung der ICF forschungsbasiert an der Entwicklung und Evalua-
bei, wenn sie Fragen aus ihrer disziplinären Perspek- tion von ICF-Core-Sets und an Empfehlungen
tive in Verbindung mit der ICF nachgehen und Ant- für die klinische Versorgung mitwirken (vgl. z. B.
worten auf diese Fragen in Bezug auf die ICF disku- Ballert et al. 2014 zu ICF-Core-Sets für Querschnitt-
tieren (Ptyushkin et al. 2015). syndrom; Ptyushkin et al. 2015 zur Untersuchung
häufigster Gesundheitsprobleme bzw. Funktions-
einschränkungen in Verbindung mit 21 ICF-Co-
10 10.2.3 Beispiele re-Sets zur Generierung übergreifender ICF-Ka-
tegorien; www.icf-research-branch.org/download/
Biomedizinische Analytiker untersuchen zum Bei- category/4-icf-core-sets).
spiel Fragen zum Zusammenhang zwischen perso- Eigene Forschungsthemen erschließen sich aus
nenbezogenen Kontextfaktoren (z. B. Geschlecht, der Bezugnahme professionsspezifischer Begriff-
Alter, genetische Prägung, Lebensstil) und Blutwer- lichkeiten mit jener der ICF. Solche Arbeit regt für
ten (Körperfunktionen). Für Ergotherapeutinnen die Weiterentwicklung notwendige Diskurse und
sind u. a. Fragen nach Auswirkungen von Partizipa- damit das Überdenken und (neu) Definieren von
tion in den Lebensumwelten auf die Gesundheitssi- Fachsprache und damit ausgedrückten Inhalten,
tuation eines Menschen (und umgekehrt) wesent- Vorstellungen und Ideen zur Gesundheit, Krank-
lich. Diätologen können sich mit umweltbezogenen heit, Behinderung von Menschen an (vgl. Prodinger
Kontextfaktoren (z. B. Zugänglichkeit zu gesunden et al. 2015, Ptyushkin et al. 2015, Schönwiese 2009).
Nahrungsmitteln) und deren Auswirkungen auf Kör- Mithilfe der ICF als Bezugsrahmen in der Forschung
perstrukturen (z. B. Strukturen von Haut, Knochen, können u. a. Fragen untersucht werden hinsichtlich
Organen) und Partizipation (gemeinschaftliches der optimalen Abläufe in interdisziplinärer Gesund-
Zubereiten und Einnehmen von Mahlzeiten) befas- heitsversorgung, des Schnittstellenmanagements,
sen. Solche und andere Forschungsthemen sind nicht der Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen auf
nur für die jeweilige Berufsgruppe und deren Klien- unterschiedliche Gesundheitsfaktoren sowie der
tinnen relevant, sondern können und sollten auch Dokumentation und Übermittlung von Gesund-
interdisziplinär diskutiert und bearbeitet werden. heitsdaten (vgl. Rentsch 2004, Schuntermann 2005,
Die Orientierung von Forschungsfragen am Willeit et al. 2015).
berufsbezogenen Prozess (z. B. am ergothera- Entscheidungen in der beruflichen Praxis und
peutischen, physiotherapeutischen Prozess) kann das damit verbundene klinische/professionelle Rea-
ebenfalls von Querverbindungen zur ICF profi- soning können mithilfe der ICF strukturiert unter-
tieren. In den beruflichen Assessments verwen- sucht und in Bezug auf aktuelle Gesundheitsthe-
dete Terminologie kann mit jener der ICF gelinkt men und Qualität in der Gesundheitsversorgung
10.3 · Stärken und Schwächen
245 10
weiterentwickelt werden (Atkinson u. Nixon-Cave Wahrnehmungsverarbeitung auf die
2011, Tempest u. McIntyre 2006). Solche For- Fahrtüchtigkeit)
schungsergebnisse zu klinischem Reasoning in Ver- 4 Einfluss von Partizipation auf die Körperfunktionen
bindung mit der ICF dienen der Reflexion und Wei- (z. B. Auswirkungen von Singen im Chor auf
terentwicklung beruflicher Praxis und eignen sich Funktionen der Lunge)
auch als Themen für Masterarbeiten (vgl. Atkinson 4 interdisziplinäre Zusammenarbeit (z. B.
u. Nixon-Cave 2011, Missoni 2013, Nienhusmeier im Zusammenhang mit ambulanter
2015). Versorgung)
4 Interventionsstudien (z. B. Auswirkungen
Beispiele bestimmter therapeutischer Interventionen
Mögliche Themenstellungen und Forschungsansät- auf Körperfunktionen oder personenbezogene
ze in Verbindung mit der ICF sind: Kontextfaktoren oder Partizipation)
4 Studien zu Befunderhebung/Assessment in 4 Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung
Verbindung mit der ICF, zum Beispiel mit der (Prozess-, Ergebnisqualität), zum Beispiel
Fragestellung, welche Körperstrukturen und Entwicklung und Evaluation von technischen
Körperfunktionen bei rheumatoider Arthritis Hilfsmitteln bzw. Medizinprodukten aus
geschädigt sind und wie aus Sicht der Betroffenen Nutzer- und Professionistensicht (z. B. Cochlea-
Partizipation im Alltag unter welchen Umweltfak- implantat und seine Auswirkungen auf
toren und personenbezogenen Faktoren gelingt Selbständigkeit, Partizipation und Wohlbefinden
(7 Kap. 11) im Lebensalltag)
4 Studien zu Zielsetzung und Zielformulierung, 4 Umsetzung von Gesundheitszielen (z. B.
zum Beispiel partizipative Forschung zu Zielen Wirkung lebensbereichsbezogener Faktoren
von Kindern und ihren Bezugspersonen, deduktiv auf Partizipation oder personenbezogene
analysiert nach den Komponenten der ICF-CY (z. B. Kontextfaktoren)
Costa 2014) 4 interdisziplinäre Projekte (vgl. z. B. „health in all
4 Wirksamkeitsforschung: Effektivität therapeu- policies“)
tischer Interventionen (auch im Sinne evidenz- 4 Weiterentwicklung der ICF (z. B. im Zusam-
basierter Praxis; Kohler et al. 2013) menhang mit Core-Sets)
4 ökonomische Fragestellungen im Gesundheits- 4 Leitlinien zur optimalen Versorgung
kontext (z. B. zur Effektivität von Interventionen,
Vergleichsstudien)
4 Einfluss der Umwelt auf die Partizipation/Behin- 10.3 Stärken und Schwächen
derung, zum Beispiel gesellschaftliche Ursachen
für Behinderung, Lösungen für barrierefreie z z Stärken
Mobilität (z. B. Aussermaier et al. 2014), städtebau- 4 Interdisziplinäre Sprache
liche Faktoren zur Unterstützung der Partizipation 4 unterstützt qualitative, quantitative und
von älteren Menschen Mixed-methods-Designs
4 Aufbereitung und Kommunikation von Gesund- 4 Herausforderung und Chance der Bezugnahme
heitsdaten, Gesundheitsinformationssysteme der berufsbezogenen Themenstellungen zu
4 Setting-Forschung (z. B. stationäres Konzept, einem interdisziplinären Modell
domizilorientiertes Konzept, Implikationen für 4 Möglichkeit, Wechselbeziehungen im
die Formulierung von Therapiezielen, vgl. Rentsch Zusammenhang mit der Gesundheits- und
2004) Lebenssituation von Menschen systematisch zu
4 Einfluss der Umwelt auf die Gesundheitssituation untersuchen
(z. B. Wirkung digitaler Medien auf das Betäti- 4 Möglichkeit, in einem weltweiten Netzwerk
gungsverhalten von Kindern) Fragen und Antworten zur Erweiterung des
4 Einfluss von Körperfunktionen auf die Verständnisses von menschlicher Gesundheit
Partizipation (z. B. Auswirkungen visueller und ihren Bedingungen einzubringen – als
246 Kapitel 10 · ICF-basierte Forschungsmethoden
10
249 11
Assessments
Erna Schönthaler
Literatur – 266
die Werte überprüft werden, und bei Abweichun- ist, haben Assessments, welche die Aktivität und Par-
gen ist eine neue Normierung für diesen Kulturkreis tizipation erheben, in der Evaluierung an Bedeutung
erforderlich. gewonnen (MacDermid et al. 2014). . Tab. 11.1 listet
die Komponenten der ICF auf und gibt Beispiele
für erhobene Parameter. Auch wenn die ICF sehr
11.1.3 Kriterienreferenzierte umfassend ist, kann sie nicht alle Parameter, die im
Assessments Gesundheitswesen relevant sind, abdecken. So sind
zum Beispiel die Konzepte der Lebensqualität und
Assessments zur Erhebung der Alltagsfertigkeiten der gesundheitsbezogenen Lebensqualität sehr weit
sind meist nicht normiert, sondern kriterienrefe- gefasst (WHO 1997) und nicht in der ICF abgebildet.
renziert. Es gibt kein „durchschnittlich gutes“ und
„überdurchschnittlich gutes“ Anziehen oder Essen
mit Besteck. Der Bedarf an Hilfestellung oder das 11.2 Methoden der Datenerhebung
Bewältigen/Nichtbewältigen der beschriebenen
Aktivitäten wird anhand der im Manual beschrie- Für die Erhebung von Daten stehen unterschiedliche
benen Kriterien erfasst. Das Ergebnis ist ein Maß für Methoden zur Verfügung. Neben der Beobachtung
die Selbstständigkeit in den Alltagsfertigkeiten. Auch und Bewertung durch Professionistinnen („clinician
Muskelfunktionstests sind meist kriterienreferen- based assessment“) gibt es immer mehr Verfahren, die
ziert: Die Art und das Ausmaß an Widerstand, das auf den Bericht und die Einschätzung der Klientin-
mit Muskelkraft überwunden werden kann, ist das nen selbst abzielen („patient-reported“ oder „self-re-
Kriterium. Entwicklungstests sind häufig kriterien- ported assessment“). In manchen Aufgabenbereichen,
referenziert und normiert: Das heißt, für die Bewer- wie zum Beispiel bei der Behandlung von Kindern
tung wird herangezogen, welche Aufgabenstellungen oder dementen Personen, ist oft die Einschätzung
bewältigt wurden. Zusätzlich liegen Normwerte vor, von Angehörigen („proxy-reported“) erforderlich.
11 die eine Einstufung der Fertigkeiten im Vergleich zur
Altersgruppe ermöglichen.
Wenn es um die Pflege oder Betreuung von chronisch
kranken Personen geht, können auch die pflegenden
Angehörigen und ihre Belastung im Zentrum des
Interesses stehen. Bei der Auswahl eines Assessments
11.1.4 Inhaltliche Kriterien für die muss überlegt werden, wer als Informationsquelle her-
Wahl des Assessment angezogen wird und wie die Daten erhoben werden.
. Tab. 11.1 Komponenten der ICF mit Definitionen und Beispielen für erhobene Parameter
Änderungssensitivität zentral, sie wird als Teil der COSMIN. Für die Mindestanforderungen an die
Validität beschrieben. Hinsichtlich der Gütekrite- Gütekriterien werden die Angaben von Mitgliedern
rien ist zu beachten, dass sie jeweils die Eigenschaft der COSMIN-Gruppe (De Vet et al. 2011) und auch
des Assessments für die untersuchte Klientengruppe die Werte der Rehabilitation Measures Database her-
widerspiegeln. Für andere Klientengruppen müssen angezogen (Rehabmeasures 2010). Die unterschiedli-
die Werte neuerlich überprüft werden. Die Angaben, chen Aspekte der Gütekriterien zeigen, wie ein Assess-
ab wann ein Kriterium sehr gut, gut oder ausreichend ment kritisch bewertet und erforscht werden kann.
erfüllt ist, differieren je nach Quelle stark. Einerseits Grundlegende Eigenschaften muss jedes Assessment
legen unterschiedliche Autoren verschieden „strenge“ erfüllen. Bei der Bewertung eines Assessments darf
Maßstäbe an, andererseits hängt es von den erhobenen man jedoch nicht erwarten, dass alle irgendwie mög-
Konstrukten ab, wie sehr „gemessen“ werden kann lichen und denkbaren Studien zu dem jeweiligen
oder eine Einschätzung der Wertung zugrunde liegt. Assessment durchgeführt wurden. Entscheidend ist,
dass jene Punkte untersucht wurden, die kritisch sein
Beispiel könnten. Auch wenn es wünschenswert wäre, dass ein
Kurze Tests, wie der Box-and-block-Test (Mathio- Assessment in allen Bereichen bestens abschneidet,
wetz 1985a) oder der 9-hole-peg-Test (Mathiowetz so trifft dies nicht immer zu. Teilweise konkurrieren
1985b), bei dem die Zeit für eine einfache Aufga- die einzelnen Gütekriterien miteinander oder mit der
benstellung gestoppt wird, erreichen „leichter“ gute Praktikabilität des Assessments.
Reliabilitätswerte als ein komplexer Handfunktions-
test, bei dem der Testleiter die Qualität der Bewe- > Bei manchen Assessments zeigen Studien,
gung bei Alltagsaktivitäten bewertet. Der Box- dass eine kleinere Skala zu einer besseren
and-block-Test und der 9-hole-peg-Test erheben Reliabilität, jedoch auch gleichzeitig zu
motorische Funktionen sehr gut und genau, geben geringerer Responsivität (Veränderungs-
aber keine Information über die Handfunktion im sensitivität) führt, weil kleine Veränderungen
120
110
100
90
80
70
Testleiter 1
60
50
40
30
20
10
0
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120
Testleiter 2
. Abb. 11.1 Intrarater-Reliabilität – perfekte Übereinstimmung der Werte: beide Testleiter vergeben exakt die gleichen Werte
11 Berechnungsverfahren gewählt: Pearsons Korrelati- et al. 2011, S. 120). Rehabmeasures (2010) gibt für
onskoeffizient (r) oder Intra-Class-Correlation Coeffi- die erforderliche Test-Retest-Reliabilität für klini-
zient (ICC) für kontinuierliche Variablen, gewichtetes sche Entscheidungen ICC-Werte von >0,9 und für
Kappa für ordinale Variablen und Cohens Kappa für Studien >0,7 an. Als Begründung führen die Autoren
nominale Variablen. Wenn der Pearsons Korrelations- an, dass die beschriebenen Reliabilitätswerte meist
koeffizient zur Berechnung herangezogen wird, muss unter sehr guten Bedingungen erhoben wurden
die grafische Darstellung der Werte geprüft werden, (gute Einschulung der Testleiter, möglichst gleiche
um systematische Fehler zu erkennen. Untersuchungsbedingungen etc.). Da in der Praxis
viel mehr Störvariablen auftreten, muss man davon
Beispiel ausgehen, dass die Zuverlässigkeit von Testungen in
Ein systematischer Fehler in der Interrater-Reliabi- der Praxis unter den in Studien erhobenen Werten
lität liegt zum Beispiel vor, wenn ein Testleiter „mil- liegt. In Studien werden große Klientengruppen
der beurteilt“ und alle Patienten etwas besser ein- untersucht, und daher gleichen sich Messfehler eher
schätzt. Der Pearsons Korrelationskoeffizient zeigt aus. Auch für Kappa-Werte gibt es unterschiedliche
eine optimale Korrelation an, weil die Werte in der Angaben. Oft zitiert werden die Werte von Landis
grafischen Darstellung auf einer Linie liegen und so- und Koch (1977) mit >0,4 als moderat, >0,6 als subs-
mit ein linearer Zusammenhang vorliegt. Die Linie tanziell und >0,8 als fast perfekt.
stellt aber nicht die erforderliche Diagonale, die im
Winkel von 45°durch den Achsenschnittpunkt geht,
dar (. Abb. 11.1 u. . Abb. 11.2). Standardmessfehler und „minimal
detectable change“
Ein allgemein akzeptiertes Mindestmaß für Mit Standardmessfehler („standard error of measu-
die Reliabilität ist ein Korrelationskoeffizient >0,7. rement“, SEM) wird der zufällige Fehler eines Wertes
Werte >0,8 oder >0,9 sind natürlich besser (De Vet angegeben. Er ist definiert als „the systematic and
11.3 · Gütekriterien, psychometrische Eigenschaften, Messeigenschaften
257 11
120
110
100
90
80
70
Testleiter 1
60
50
40
30
20
10
0
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120
Testleiter 2
. Abb. 11.2 Intrarater-Reliabilität – systematischer Fehler: Testleiter 2 vergibt den Probanden jeweils 10 Punkte mehr als
Testleiter 1
random error of a patient's score that is not attribu- ein. Je größer (besser) die Reliabilität eines Tests ist,
ted to true changes in the construct to be measured“ desto kleiner ist der Standardmessfehler.
(Mokkink et al. 2010a, S. 743). Der Standard Für eine andere Formel des SEM werden die
messfehler wird in der Einheit des Assessments Differenzen der Werte von 2 Testleitern herange-
angeben. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 68 % liegt zogen und Mittelwert und Standardabweichung der
der wahre Wert einer Klientin im Intervall gemes- Differenzen berechnet. Die Standardabweichung
sener Wert ±1 SEM. Wird zum gemessenen Werte der Differenzwerte geht in die Formel ein (De Vet
±2 SEM berechnet, so erhält man das 95 % Vertrau- et al. 2011).
ensintervall. Eine oft verwendete Formel für den
Standardmessfehler lautet: SDdifference
SEM =
SEM = SD 1 − ICC 2
eindeutiger als in anderen Beschreibungen der Güte- Korrelationskoeffizient berechnet werden. Handelt
kriterien definiert als „the degree to which the scores es sich um 2 dichotome Verfahren, so wie es für dia-
of a measurement instrument are an adequate reflec- gnostische Verfahren oft zutrifft, werden Sensitivi-
tion of a 'gold standard'“ (Mokkink et al. 2010a, S. 743). tät und Spezifität berechnet (De Vet et al. 2011). Sen-
Das heißt, die Kriteriumsvalidität kann nur untersucht sitivität ist die richtig-positive Klassifizierung und
werden, wenn es einen „Goldstandard“ gibt. Ein Gold- beschreibt den Anteil der Personen, die mit dem
standard gibt den „wahren“ Status wieder und ist das Test richtig als krank erkannt wurden, im Verhält-
perfekt valide Instrument. In der Regel wird von Exper- nis zu allen tatsächlich kranken Personen. Spezifi-
tinnen jenes Assessments als Goldstandard bezeichnet, tät ist die richtig-negativ Klassifizierung der gesun-
das als ideales Assessment für dieses Konstrukt gesehen den Personen. Ein weiterer wichtiger Wert für diese
wird (De Vet et al. 2011). Kool et al. (2014) beschreiben, dichotomen Verfahren ist der positiv-prädiktive und
dass der Begriff „Referenztest“ den Begriff „Goldstan- der negativ-prädiktive Wert. Der positiv-prädiktive
dard“ ablöst, weil es den perfekten Test nur selten gibt. Wert sagt aus, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine
Die konkurrente Validität wird für Assessments Person krank ist, wenn der Test positiv ist, und der
in der Diagnostik, Befundung und Evaluation über- negativ-prädiktive Wert mit welcher Wahrschein-
prüft. Zum selben Zeitpunkt werden die Werte mit lichkeit eine Person gesund ist, wenn der Test negativ
dem neuen Assessment und mit dem Goldstandard ist (. Tab. 11.2).
erhoben, und die Übereinstimmung der Ergebnisse Wenn ein neues Assessment ordinalskaliert ist
wird berechnet. Für Assessments, die Prognosen oder kontinuierliche Werte hat und der Goldstan-
über spätere Situationen treffen, werden die Werte dard ein dichochtomes Assessment ist, kann eine
des Assessments mit einer späteren Erhebung des ROC-Kurve („receiver-operating-charcteristic
Kriteriums/des Goldstandards verglichen. Diese prä- curve“) gezeichnet und der AUC Wert („area under
diktive oder prognostische Validität ist für Assess- the curve“) berechnet werden. Die Sensitivität und
ments, die Vorhersagen treffen, relevant, zum Bei- Spezifität für unterschiedliche Wertbereiche des
spiel für Assessments, die das Sturzrisiko erheben. neuen Assessments können dargestellt werden, und
Für die Kriteriumsvalidität werden Korrela- somit kann dieses Verfahren zur Bestimmung von
tionen bzw. Übereinstimmungen berechnet. Die Cut-off-Werten herangezogen werden.
Berechnungsverfahren sind abhängig vom Skalen- Für die Kriteriumsvalidität werden von manchen
level beider Assessments. Wenn beide Assessments Autoren Korrelationswerte >0,7 als akzeptabel
kontinuierliche Variablen haben, werden meist ICC, beschrieben. De Vet et al. (2011) betonen jedoch,
Spearmans oder Pearsons Korrelationskoeffizient dass die Anforderungen sehr situationsabhängig
berechnet. Wenn beide Assessments ordinalskaliert sind. Gute Werte für Sensitivität und Spezifität lassen
sind, können ein gewichtetes Kappa oder Spearmans sich nicht allgemein definieren. Die optimalen Werte
260 Kapitel 11 · Assessments
von 100 % Sensitivität und 100 % Spezifität werden divergente Validität bezeichnet. Testen von bekann-
selten erreicht. Es hängt sehr davon ab, welche Kon- ten Gruppen („known groups“) beschreibt die diskri-
sequenzen falsch-positive bzw. falsch-negative minative Validität. Wenn zum Beispiel ein Verfahren
Werte für Klientinnen haben. Falsch-positive Werte das Ausmaß von Depressionen erhebt, sollten sich die
in einem Screening auf Mangelernährung haben Werte von Personen, die eine leichte Depression haben,
keine negativen Folgen für Klientinnen. In der wei- von den Werten der Personen mit schweren Depres-
teren Betreuung wird die Ernährungssituation genau sionen und den Werten der Personen ohne Depression
festgestellt und falls erforderlich eine Ernährungsbe- unterscheiden.
ratung durchgeführt. Ein falsch-positiver Wert, der
eine Behandlung mit vielen Nebenwirkungen oder > Zur Berechnung werden die bei der
eine Operation indiziert, kann schwerwiegende Kriteriumsvalidität beschriebenen Verfahren
negative Konsequenzen haben. herangezogen. Werte über 0,6 werden als
hohe Korrelation, Werte zwischen 0,3 und
0,6 als moderate und Werte unter 0,3 als
Konstruktvalidität schwache Korrelation interpretiert (DeVet
In der Konstruktvalidität wird überprüft, ob Annah- et al. 2011, Rehabmeasures 2010).
men (Hypothesen), auf denen das Assessment
beruht, bestätigt werden. COSMIN definiert Kons- Andere Hypothesen können sich auf Altersgrup-
tuktvalidität als „the degree to which the scores of an pen, Geschlecht oder die Region beziehen. Für ein
instrument are consistent with hypotheses based on Assessment, das gemeinsame Normwerte für männ-
the assumption that the instrument validly measures liche und weibliche Probanden hat, sollte unter-
the construct to be measured“ (Mokkink et al. 2010a, sucht werden, ob die Hypothese, dass es keinen
S. 743). Zur Konstruktvalidität wird die strukturelle Unterschied zwischen den Werten von Männern
Validität, das Testen der Hypothesen und die kul- und Frauen gibt, hält. Stellt sich heraus, dass sich
11 turelle Validität („cross-cultural validity“) gezählt.
Für die strukturelle Validität wird überprüft, ob
die Werte signifikant voneinander unterscheiden,
müssen getrennte Normwerte für männliche und
die (Teil-)Bereiche und (Teil-)Ergebnisse eines Assess- weibliche Probanden erstellt werden.
ments durch die Werte bestätigt werden. Sie ist defi- Die kulturelle Validität („cross-cultural validity“)
niert als „the degree to which the scores of an instru- überprüft die Gleichwertigkeit eines kulturell adap-
ment are an adequate reflection of the dimensionality tierten Assessments mit dem Originalinstrument und
of the construct to be measured“ (Mokkink et al. 2010a, ist von COSMIN definiert als „the degree to which the
S. 743). Werden zum Beispiel in einem Assessment für performance of the items on a translated or culturally
motorische Koordination 3 Teilbereiche/Dimensio- adapted instrument are an adequate reflection of the
nen der Koordination mit jeweils mehreren Aufgaben- performance of the items of the original version of the
stellungen erhoben, so sollten diese Dimensionen mit instrument“ (Mokkink et al. 2010a, S. 743).
einer konfirmatorischen Faktorenanalyse überprüft Im deutschen Sprachraum haben standardisierte
und bestätigt werden. Die Ergebnisse (Fit-Parameter) Assessments im Gesundheitswesen noch keine lange
der Faktorenanalyse geben an, ob die Daten die ange- Tradition, es gibt jedoch vor allem aus englischspra-
nommene Faktorenstruktur widerspiegeln. chigen Ländern viele Assessments. Da die Entwick-
Das Testen der Hypothesen ist der Kern der Konst- lung eines Assessments sehr aufwendig ist, ist es
ruktvalidität und kann unterschiedliche Überprüfungs- manchmal sinnvoller, ein bereits bestehendes Ver-
verfahren beinhalten. Gemeinsam ist allen Verfahren, fahren kulturell zu adaptieren. Die Adaptierung vor-
dass Hypothesen zum Assessment aufgestellt und über- handener Assessments ermöglicht auch das Poolen
prüft werden. Konvergente Validität hat ein Assess- (Zusammenfassen) von Daten oder einen direkten
ment, wenn die Werte des überprüften Assessments Vergleich von Daten aus unterschiedlichen Ländern.
mit Werten anderer Assessments, die gleiche oder ähn- Werden in jedem Land andere Verfahren verwendet,
liche Konstrukte erheben, hoch korrelieren. Die geringe so ist ein Vergleich der Daten nur bedingt möglich.
Korrelation zu den Werten eines Assessments, das ein Ziel jeder kulturellen Adaptierung ist eine größt-
anderes Konstrukt erhebt, wird als diskriminante oder mögliche Gleichwertigkeit zwischen der originalen
11.3 · Gütekriterien, psychometrische Eigenschaften, Messeigenschaften
261 11
Version und der neuen Version. Dies betrifft die 11.3.3 Responsivität
Gleichwertigkeit der Konzepte, der Items, der
Sprache, des Layouts und der Gütekriterien (Rei- Responsivität oder Veränderungssensitivität ist „the
chenheim u. Moraes 2007). Es gibt keine einheit- ability of an instrument to detect change over time in
liche Richtlinie für diesen Adaptierungsprozess, the construct to be measured“ (Mokkink et al. 2010a,
aber die Übereinstimmung, dass eine rein sprach- S. 743). Assessments, die für die Evaluierung von
liche Übersetzung nicht ausreichend ist. In einem Interventionen eingesetzt werden (Outcome-Assess-
Review zu Übersetzungsmethoden für Fragebögen ments), müssen dahingehend überprüft werden, ob
zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität wurden 17 sie Veränderungen valide abbilden können. Manche
unterschiedliche Richtlinien identifiziert (Acquadro Assessments sind für die Befundung oder die Einstu-
et al. 2008). Die Gemeinsamkeit aller Empfehlungen fung der erforderlichen Hilfestellungen gut geeignet,
ist ein gut dokumentiertes mehrstufiges Verfahren jedoch nicht sensibel genug, Veränderungen abzu-
in Zusammenarbeit mit den Autoren des origina- bilden, daher sind sie für Interventionsstudien oder
len Assessments. Die meisten Verfahren beinhal- für die Evaluierung in der Praxis nicht geeignet. So ist
ten mehrere Hin- und Rückübersetzungen und ein zum Beispiel ein globales Assessment des Bewusst-
Expertenkomitee. Manche Autoren kritisieren, dass seinszustands, das für viele Situationen sinnvoll ist,
eine gute Rückübersetzung ein Hinweis auf eine sehr nicht sensibel genug, um kleine Veränderungen des
wörtliche Übersetzung sein kann und nicht sicher- Bewusstseins bei Personen im „minimally conscious
stellt, dass eine inhaltliche Gleichwertigkeit und state“ zu erkennen.
gute sprachliche Formulierungen gefunden wurden Studien zur Überprüfung der Responsivität
(Swaine-Verdier et al. 2004). Für Fragebögen, die von erfordern ein longitudinales Studiendesign mit
Klienten ausgefüllt werden, ist besonders wichtig, Messungen an 2 Zeitpunkten. Zwischen diesen
dass die Fragen in Alltagssprache formuliert sind. Zeitpunkten bekommen die Klienten eine effektive
Intervention, sodass man davon ausgehen kann,
> Für deutsche Übersetzungen ist es immer dass sich ihr Zustand hinsichtlich des gemessenen
wieder eine Herausforderung, passende Parameters verändert. Mit der Studie zur Respon-
(alltagssprachliche) Formulierungen für sivität wird überprüft, ob sich die Werte vom ersten
Deutschland, Österreich, die Schweiz und und zweiten Messzeitpunkt unterscheiden. Als Ver-
Südtirol zu finden. Das Einbeziehen von gleich werden ein Referenzassessments (Goldstan-
Übersetzerinnen und Expertinnen aus allen dard), ein vergleichbares, responsives Assessment
deutschsprachigen Ländern ist vor allem für oder eine globale Einschätzung der Klienten her-
Anleitungen und Fragebögen besonders wichtig. angezogen. Die Unterschiede in den Werten des
untersuchten Assessments sollten mit den Unter-
Die Gleichwertigkeit der Items muss von Experten schieden des Vergleichsinstruments korrelieren.
beurteilt werden. So hat zum Beispiel die Frage nach Veränderungen sollen weder über- noch unter-
dem Essen mit Besteck in westlichen Kulturen eine schätzt werden und tatsächliche Veränderungen im
andere Bedeutung als in östlichen Kulturen. In einem Konstrukt anzeigen. De Vet et al. (2011) betonen,
Fragebogen, der das Ausmaß von Armverletzung dass die Effektgröße nicht geeignet ist, die Respon-
anhand von Beeinträchtigungen bei Alltagsaktivitä- sivität zu erheben.
ten erhebt, haben diese Items unterschiedliche Item- Weitere Kriterien zur Beurteilung der Respon-
schwierigkeit, da das Essen mit Stäbchen mehr feinmo- sivität sind der „smallest detectable change“ (SDC)
torisches Geschick erfordert als das Essen mit Messer und der „minimal important change“ (MIC), die
und Gabel. . Tab. 11.3 gibt einen Überblick über 4 bereits bei der Reliabilität beschrieben wurden.
unterschiedliche Verfahren zur kulturellen Adaptie- Wenn Veränderungen gemessen werden, ist es auch
rung. Der Übersetzungsprozess schließt bei allen Ver- wichtig, Boden- und Deckeneffekte von Assess-
fahren ein Testen der vorläufigen, präfinalen Version in ments zu berücksichtigen. Liegen die Werte von
der Zielpopulation ein. Die Überprüfung der Validität, Patientinnen ganz an einem Ende der Skala, so
Reliabilität und eine evtl. erforderliche neue Normie- können Veränderungen nur in eine Richtung dar-
rung muss anschließend durchgeführt werden. gestellt werden.
262 Kapitel 11 · Assessments
11.4.2 Checklisten für die Auswahl und Englisch. Die Checkliste im Anschluss (. Tab. 11.4)
Bewertung von Assessments bietet eine kurze Übersicht über die Kriterien.
4 The COSMIN Checklist: Manual und Check-
Für die kritische Bewertung von Assessments und liste mit 12 Subskalen, publiziert in Mokkink
von Studien zur Überprüfung der Gütekriterien gibt et al. 2010b und Terwee et al. 2012. Download:
es einige Formulare mit ausführlicher Anleitung auf www.cosmin.nl/
266 Kapitel 11 · Assessments
4 Quality Appraisal for Clinical Measurment Law MC, Baum CM, Dunn W (eds) (2005) Measuring occupatio-
nal performance: Supporting best practice in occupatio-
Studies: Leitfaden und Formular mit 12 Items
nal therapy, 2nd ed. Slack, Thorofare
sowie ein Datenextraktionsformular entwickelt MacDermid JC, Law M, Michlovitz S (2014) Outcome measu-
von MacDermid, publiziert in MacDermid rement in evidence-based rehabilitation. In: Law M, Mac-
et al. 2014 Dermid JC (eds) Evidence-based rehabilitation: A guide to
4 Outcome Measures Rating Form and practice. Slack, Thorofare, pp 65–104
Mathiowetz V, Volland G, Kashman N, Weber K (1985a) Adult
Guidelines: Formular und Leitfaden entwickelt
norms for the box and block test of manual dexteri-
von Law et al., publiziert in Law et al. 2005 und ty. American Journal of Occupational Therapy 39 (6):
in MacDermid et al. 2014. Download: www. 386–391
canchild.ca/en/canchildresources/resources/ Mathiowetz V, Weber K, Kashman N, Volland G (1985b) Adult
measrate.pdf Norms for the nine hole peg test of finger dexterity. OTJR:
Occupation, Participation and Health 5 (1): 24–38
Mokkink LB, Terwee CB, Patrick DL, Alonso J, Stratford PW,
Literatur Knol DL, Bouter LM, De Vet HCW (2010a) The COSMIN
study reached international consensus on taxonomy,
Acquadro C, Conway K, Hareendran A, Aaronson N (2008) Lite- terminology, and definitions of measurement properties
rature review of methods to translate health-related qua- for health-related patient-reported outcomes. Journal of
lity of life questionnaires for use in multinational clinical Clinical Epidemiology 63 (7): 737–45
trials. Value in Health 11 (3): 509–521 Mokkink LB, Terwee CB, Patrick DL, Alonso J, Stratford PW, Knol
Atler K, Malcolm M, Greife C (2015) A follow-up study on the DL, Bouter LM, De Vet HCW (2010b) The COSMIN che-
relationship among participation, activity and motor ckslist for assessing the methodological quality of studies
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ced therapy. Disability & Rehabilitation 37 (2): 121–128 an international Delphi Study. Quality of Life Research 19
Beaton DE, Bombardier C, Guillemin F, Ferraz MB (2000) Guid- (4): 539–549
lines for the process of cross-cultural Adaptation of self- Morfeld M, Kirchberger I, Bullinger M (2011) Fragebogen zum
report measures. Spine (24): 3186–3191 Gesundheitszustand. Hogrefe, Göttingen
Bortz J, Döring N (2006) Forschungsmethoden und Evaluation: Rehabmeasures (2010) Rehabilitation Measures Database:
Anwendung in der
Praxis
Kapitel 12 Themenfindung und Recherche –201
Valentin Ritschl, Erika Mosor, Ulrike Ritschl, Tanja Stamm,
Heidrun Becker, Agnes Sturma
Themenfindung
und Recherche
Valentin Ritschl, Erika Mosor, Ulrike Ritschl, Tanja Stamm, Heidrun Becker,
Agnes Sturma
Literatur – 278
12.1 Den richtigen Forschungsansatz gesehen. Methodologisch nähert man sich Fragestel-
finden lungen im Positivismus, indem Variablen quantitativ
gemessen werden. Hypothesen werden dadurch fal-
Valentin Ritschl, Erika Mosor, Ulrike Ritschl, sifiziert (widerlegt) oder verifiziert (bestätigt). Durch
Tanja Stamm die Verifizierung oder Falsifizierung der Hypothese
soll in der Folge eine begreifbare Realität abgebildet
In jedem Forschungsprojekt stellt sich üblicher- werden.
weise die Frage nach dem passenden Forschungs- Aus ontologischer Sicht1 spricht man in diesem
ansatz. Dabei ist es wichtig, die Philosophie, auf die Zusammenhang vom naiven Realismus. Es exis-
sich die Forschungstätigkeit stützt, zu verstehen, sich tiert nur eine Wahrheit, diese Realität ist messbar,
dieser von Anfang an bewusst zu sein und darüber im begreifbar und beobachtbar. Alles andere existiert
Verlauf der Arbeit zu reflektieren. Was ist der Hin- nicht. Durch die Existenz einer einzigen Realität sind
tergrund meiner Fragestellung? Wen will ich mit Messungen, Beobachtungen und Forschungsergeb-
meinen Forschungsergebnissen erreichen? Welches nisse auf andere Menschen in ähnlichen Gruppen
Paradigma liegt der Forschungsidee zugrunde? übertragbar.
Welche Theorien leiten mich in meinem Forschungs- Aus epistemologischer Sicht 2 kann man sich
projekt? All diese grundsätzlichen Überlegungen dieser Realität nur annähern, sie wird aber durch
haben Auswirkungen auf die Forschungsergebnisse. Forschung und Statistik konstruiert. Teilnehmende
Dieses Kapitel orientiert sich an den Werken von Forschende und Thema sind voneinander unabhän-
Creswell (2012), Huff (2009) und Ponterotto (2005), gig – die Interaktion mit Beforschten wird auf ein
die Forschungsparadigmen kritisch analysiert und Minimum reduziert, um die Ergebnisse zu objek-
für die Gesundheitsberufe adaptiert haben. tivieren. Diese Trennung von Forschenden und
„Beforschten“ wird als Dualismus bezeichnet. Es
muss eine Art „Fremdheit“ bestehen, die als Objek-
12.1.1 Forschungsparadigmen tivismus bezeichnet wird. Die Person des Wissen-
schaftlers beeinflusst die Studienergebnisse nicht.
Unter Forschungsparadigma versteht man eine Viel- Zur Datenerhebung werden standardisierte Metho-
12 zahl von Annahmen, Wertvorstellungen, Haltungen, den verwendet.
Lehrmeinungen und Arbeitsweisen, die die wissen-
schaftliche Praxis bestimmen. In diesem Kapitel > Aus wertetheoretischer Sicht haben die
werden exemplarisch 3 unterschiedliche Forschungs- Werte und Einstellungen der Forschenden im
paradigmen mit ihren ganz speziellen Herangehens- Forschungsprozess keine Bedeutung.
weisen beschrieben. Jedes dieser Paradigmen gene-
riert Wissen auf unterschiedliche Art und Weise. Die Der Positivismus ist das in der Naturwissenschaft
3 genauer beschriebenen Paradigmen sind Beispiele weitgehend übliche Forschungsparadigma. Im Post-
ohne Anspruch auf Vollständigkeit. positivismus wurden bereits Teile der Annahmen des
Positivismus kritisch hinterfragt, zum Beispiel die
Frage nach eine allgemeingültigen Wahrheit oder
Positivismus als Beispiel für Wirklichkeit. Positivismus betont die Theorieverifi-
naturwissenschaftliche quantitative kation, Postpositivismus hingegen die Theoriefalsi-
Forschungsparadigmen fikation. Beide gehen allerdings von einer objektiven
Hat man eine Theorie, die überprüft, und Ergebnisse, Rolle der Forschenden aus.
die generalisiert werden sollen, dann begründet sich
die Arbeit auf dem Paradigma des Positivismus. Kau-
1 Die Ontologie, die Lehre vom Sein, geht der Frage nach,
salzusammenhänge mit Ursache-Wirkungs-Mo-
wie die Realität, beschaffen ist.
dellen können aufgrund von quantitativ messbaren 2 Epistemologie ist die Erkenntnislehre und geht der Frage
Variablen etabliert werden. Menschliches Verhalten nach, wie neues Wissen zustande kommt und geschaffen
wird dabei als vorhersagbar und verallgemeinerbar werden kann.
12.1 · Den richtigen Forschungsansatz finden
271 12
> Bedeutung für das eigene Forschungs- der Person begreifen zu können, ist die dynamische
vorhaben: Entspricht das Grundverständnis Interaktion zwischen Teilnehmerinnen und For-
von Wissen und Erkenntnisgewinnung schern zentral.
des Forschers dem Positivismus, ist es Aus wertetheoretischer Sicht können die Werte
sinnvoll, einen deduktiven Ansatz für das und Einstellungen der Forscher nicht vom For-
Forschungsprojekt zu wählen. Dies schließt schungsprozess getrennt werden. Ein hohes Maß an
vor allem quantitative Ansätze ein, aber Reflexivität ist daher von Bedeutung. Eine Möglich-
dennoch qualitative nicht aus. Beispielsweise keit, sich die eigenen Werte bewusst zu machen, sie
kann die „grounded theory“ (7 Abschn. 6.3.3) zu beschreiben und anzuerkennen, ist das Führen
nach Glaser, Strauss und Beer (2012) als eines Forschungstagebuchs und das Offenlegen der
postpositivistisch gesehen werden. Eine jeweiligen Grundansichten der Forschenden im
Generalisierung ist hier ebenfalls von Rahmen der Arbeit.
Bedeutung.
> Bedeutung für das eigene Forschungs-
vorhaben: Entspricht das Grundverständnis
Konstruktivismus als Beispiel für von Wissen und Erkenntnisgewinnung der
qualitative Forschungsparadigmen Forscherin dem Konstruktivismus, ist es
Gehen die Forscherinnen davon aus, dass mensch- sinnvoll, einen induktiven Ansatz für das
liches Verhalten, Erfahrungen oder Phänomene Forschungsprojekt zu wählen. Dies schließt
durch Interaktion zwischen Teilnehmenden und vor allem qualitative Ansätze ein, um ein
Forschenden besser verstanden und Phänomene vertieftes Verständnis zu erreichen.
durch Interpretation erklärt werden können, dann
begründet sich die Arbeit auf dem Paradigma des
Konstruktivismus. Kritisches Paradigma
Methodologisch nähert man sich Fragestel- Ist das Ziel der Forscherin oder des Forschers, Men-
lungen im Konstruktivismus durch Interaktion. schen zu bewegen, Machtverhältnisse aufzuzeigen,
Dadurch sollen unbekannte Phänomene oder bestehendes Wissen kritisch zu hinterfragen oder
Bedeutungen an die Oberfläche gebracht und sicht- gemeinsam mit den Teilnehmern einer Studie neues
bar gemacht werden. Der Konstruktivismus schließt Wissen zu generieren, weil bestehende Theorien
dabei bereits bestehende theoretische Bezugsrah- nicht ausreichen, dann begründet sich die Arbeit
men und vorhandenes Wissen mit ein. Ausgehend auf dem kritischen Paradigma.
davon, dass diese jedoch nicht alles Wissen abdecken Methodologisch wird im Dialog zwischen Teil-
und das vorhandene Wissen nicht ausreicht, um die nehmern und Forschern gemeinsam neues Wissen
Forschungsfrage zu beantworten, machen sich For- generiert, man spricht von einem kollaborativen
schende auf die Suche nach neuen Erkenntnissen. Ansatz. Durch neues Wissen sollen Veränderungen
Aus ontologischer Sicht werden durch gelebte für Menschen in einem gewissen Kontext ermöglicht
Erfahrungen und Interaktionen mit anderen Men- werden. Die Menschen werden ermächtigt und befä-
schen viele Realitäten konstruiert, die gleichwer- higt, mit ihrem Wissen zu arbeiten und Lösungen zu
tig nebeneinander existieren. Die Realität ist somit finden, beispielsweise durch den Ansatz der partizi-
beeinflusst von den Erfahrungen, Wahrnehmungen, pativen Gesundheitsforschung. Dabei entscheiden
der sozialen Umwelt einer Person sowie der Inter- die Studienteilnehmenden mit über die Forschungs-
aktion zwischen Teilnehmenden und Forschenden. frage, die Methodenwahl und die Art der Präsenta-
Dies bedeutet, dass die Wirklichkeit konstruiert wird. tion der Resultate.
Aus epistemologischer Sicht wird die Realität Aus ontologischer Sicht gibt es eine Realität,
zwischen Forschern und Beforschten gemeinsam die begrenzt verstehbar ist. Sie wird durch Macht,
konstruiert (kokonstruiert) und ist von individuel- Sprache und Politik unterschiedlich geprägt und im
len Erfahrungen geprägt. Durch Subjektivität soll ein soziohistorischen Kontext konstruiert. Da heißt, dass
tieferes Verständnis erlangt werden. Um das Erleben die Wirklichkeit auf Macht und Identitätskämpfen
272 Kapitel 12 · Themenfindung und Recherche
basiert, wobei persönlicher Hintergrund, Kultur, 4 Ein Projekt oder eine Abschlussarbeit wird für
Geschlecht, soziale und politische Werte sowie das Studium oder eine akademische Weiter-
Machtverhältnisse eine entscheidende Rolle spielen. bildung gefordert.
Aus epistemologischer Sicht ist die Reali- 4 Eine forschender Praktikerin plant ein Projekt
tät bereits durch Studien von sozialen Strukturen, in seiner Institution.
Freiheit und Unterdrückung, Macht und Kontrolle 4 Eine Promotion oder Habilitation wird
bekannt. Durch Forschung kann diese bekannte Rea- angestrebt.
lität verändert bzw. erweitert werden. Dieser Sub- 4 Das Forschen gehört zum Arbeitsauftrag, zum
jektivismus, also Wissen, das bereits in einer Person Beispiel bei wissenschaftlichen Mitarbeitenden
vorhanden ist, wird durch Interaktion zwischen den und Professoren an Hochschulen.
Forschenden und den Teilnehmenden an die Ober-
fläche gebracht und in einer neuen Perspektive ver- Voraussetzungen und Zielsetzungen sind dabei
standen. Durch einen kollaborativen Ansatz kann jeweils verschieden. Dennoch gibt es einige grund-
somit ein tiefes Verständnis einer Situation entstehen. sätzliche Fragen und Regeln, die dabei helfen, Ziele
Aus wertetheoretischer Sicht können die Werte und Fragestellungen eines Forschungsprojekts zu
und Erwartungen der Teilnehmenden und die der entwickeln.
Forschenden nicht vom Forschungsprozess getrennt
werden. Somit ist auch hier die Reflexivität der For-
scherin und des Forschers wichtig. 12.2.1 Was interessiert mich? – Das
Thema
> Bedeutung für das eigene Forschungs-
vorhaben: Entspricht das Grundverständnis Zu einem Forschungsthema führen meist 3 Wege:
von Wissen und Erkenntnisgewinnung des Man stößt selbst auf ein Phänomen oder Problem aus
Forschenden dem kritischen Paradigma, so der Praxis, wird durch Literatur oder andere Perso-
ist es sinnvoll, einen kollaborativen Ansatz nen darauf hingewiesen oder durch eine Ausschrei-
für das Forschungsprojekt zu wählen. bung aufmerksam gemacht. Meist steht am Anfang
eine wage Idee (7 Kap. 2), und es kann einige Zeit
12 und Energie kosten, bis diese zu einer realisierba-
Zusammenfassung ren Fragestellung wird. Für Forschungsnovizen ist es
Am Anfang jedes Forschungsprojekts müssen sich manchmal schwer zu verstehen, warum aufwendige
Forschende bewusst mit den eigenen grundlegenden Vorarbeiten notwendig sind. Förderinstitutionen
Sichtweisen zur Forschungsarbeit auseinandersetzen. hingegen setzen diese Vorarbeiten voraus und ver-
Gedanken zu den eigenen philosophischen Einstel- langen in den Forschungsanträgen, dass diese nach-
lungen und Forschungsparadigmen unterstützen bei vollziehbar dargelegt werden.
der Formulierung der Forschungsfrage, bei Überle-
gungen zum passenden Studiendesign, bei der Date- > Von der Fragestellung und dem passenden
nerhebung und Analyse und bei der Ergebnispräsen- Studiendesign hängt das weitere Vorgehen
tation. Zudem hilft dies anderen, die Gedankengänge ab, somit auch, ob das Projekt scheitert oder
der Forschenden besser nachvollziehen zu können. gelingt. Man kann dies mit dem Fundament
eines Hauses vergleichen. Sorgfalt und
Zeitaufwand sind deshalb gut investiert.
12.2 Forschungsstand
und Forschungslücke Formulieren Sie zunächst Ihre Idee in einem Satz.
Sammeln Sie alles, was Ihnen spontan zum Thema
Heidrun Becker einfällt: Bilder, Gedanken, persönlicher Bezug,
was macht neugierig, ist unklar, widersprüchlich,
Es gibt verschiedene Anlässe, ein Forschungsprojekt erstaunlich? Sie können dazu auch ein Mindmap
zu entwickeln: anlegen. Nehmen Sie dann den Aspekt aus der
12.2 · Forschungsstand und Forschungslücke
273 12
Sammlung heraus, der Sie am meisten anspricht. Mit einer gestuften Suche lässt sich dies schnell
Grenzen Sie nun das Thema etwas enger ein, zum herausfinden:
Beispiel auf eine bestimmte Intervention, eine Ziel- 4 Suche in der Cochrane Library nach syste-
gruppe, ein bestimmtes Outcome etc. matischen Reviews mit den Begriffen „fall
Beispiele: elderly“ (14 Treffer, 2 direkt zum Thema am
4 Wirksamkeit einer Intervention: Für welche 6.06.15), „fall prevention“ (36 Treffer, 4 direkt
Klientel und welches Problem? Wie heißt die zum Thema). Beim Lesen der Trefferliste wird
Intervention genau? Gibt es dafür verschiedene bereits klar, dass eingegrenzt werden muss:
Bezeichnungen? Die Orientierung am PICO Geht es um selbständig lebende Senioren,
Modell ist hier hilfreich. PICO steht für: Personen in Langzeitpflege oder um den
4 P = Population, Patient oder Problem Übergang vom Spital nach Hause? Sollen
4 I = Intervention, diagnostisches/therapeuti- medikamentöse Therapien, medizinisch-thera-
sches Verfahren peutische Interventionen der Ergotherapie und
4 C = „comparison“ oder „control“, Physiotherapie oder pflegerische Maßnahmen
Vergleichsintervention untersucht werden? Geht es um Umweltge-
4 O = Outcome: Was soll erreicht bzw. staltung und Hilfsmittel? Aktuelle Cochra-
gemessen werden? ne-Reviews geben nicht nur einen Überblick
4 Geht es um ein Assessment und seine Güte? über den Forschungsstand, sondern zeigen
Kennen Sie das Assessment bereits oder wissen auch konkret den Forschungsbedarf auf.
Sie, was erhoben werden soll, aber noch nicht 4 Ist kein Cochrane-Review vorhanden,
mit welchem Instrument? empfiehlt es sich, bei Themen zu Inter-
4 Wollen Sie ein Phänomen näher untersuchen? ventionen oder Diagnostik zunächst nach
4 Soll ein neues Programm, Hilfsmittel etc. evidenzbasierten Leitlinien zu suchen,
entwickelt werden? Welches Problem soll damit zum Beispiel in der AWMF-Datenbank. Sie
gelöst werden? enthalten ebenfalls systematische Reviews
und eine Zusammenfassung über offene
Das Formulieren der ersten Idee hilft dabei, kon- Forschungsfragen. (Zum Thema Sturzprä-
kreter zu werden. Es ist dann empfehlenswert, sich vention gibt es eine evidenzbasierte Leitlinie
mit anderen auszutauschen. In diesen Gesprächen über Osteoporose und Sturzprävention.)
wird nicht nur Wissen ausgetauscht, und praktische Evidenzbasierte Leitlinien von internationalen
Tipps werden gegeben, sie zwingen auch dazu, die Organisationen können ebenfalls genutzt
Idee immer genauer zu entwickeln. An den Reaktio- werden, in der Sturzprävention wäre dies die
nen und dem Feedback merkt man sehr schnell, ob Leitlinie der amerikanischen und britischen
die Idee originell und interessant für die Berufskol- Geriatrics Societies (http://geriatricscareonline.
leginnen und -kollegen ist. org/ProductAbstract/updated-american-
Sammeln Sie nun deutsche und englische geriatrics-societybritish-geriatrics-society-clinical-
Begriffe, die zu Ihrem Thema und Ihrer Idee passen. practice-guideline-for-prevention-of-falls-in-older-
Mit diesen Begriffen beginnen Sie anschließend eine persons-and-recommendations/CL014). Es gibt
Literaturrecherche in Datenbanken und im Internet auch Leitlinien für bestimmte Berufsgruppen,
(7 Abschn. 14.2.1). zum Beispiel zur Ergotherapie, Physiotherapie
oder Pflege, die ebenfalls herangezogen
Beispiel werden können3. Es sollten vor allem die
Stürze zu vermeiden oder die Folgen von Stürzen zu aktuellsten Reviews genau gelesen werden. Sie
mindern ist ein wichtiges Thema in der Versorgung enthalten Hinweise darüber, was bereits wie
älterer Menschen. Viele Berufsgruppen tragen zur untersucht wurde, sie nennen Mängel dieser
Sturzprävention bei und beschäftigen sich in der
Forschung damit. Sie finden das Thema spannend, 3 www.csp.org.uk/news/2012/08/16/physios-pu-
aber gibt es überhaupt noch Forschungsbedarf? blish-new-guidance-falls-prevention
274 Kapitel 12 · Themenfindung und Recherche
Studien und liefern Angaben zum weiteren liefern, methodisch sorgfältig und nachvollziehbar
Forschungsbedarf. erarbeitet und ethisch korrekt durchgeführt werden.
4 Sind keine Reviews zum Thema zu finden, Reines Eigeninteresse oder Neugierde reichen auch
erweitert man die Suche auf die Datenbanken bei Abschlussarbeiten nicht zur Begründung eines
Medline, Pubmed, CINAHL, PEDro, OTSeeker, Themas aus. Besonders in Berufen, die sich noch im
OTDBASE, Ovid Nursing Full-Text Plus und Akademisierungsprozess befinden, ist es wichtig,
ggf. andere themenspezifische Datenbanken. Ressourcen effektiv und effizient einzusetzen. Auch
eine Bachelorarbeit kann dazu beitragen, der Berufs-
Es lohnt sich, die Ergebnisse der Literaturana- gruppe neues Wissen zu vermitteln oder vorhan-
lyse in Stichworten oder einer Tabelle festzuhalten denes Wissen besser zugänglich zu machen. Sind
( 7 Abschn. 14.2.1). Für einen Forschungsantrag Patientinnen oder Klientinnen involviert, ist der
oder eine Abschlussarbeit kann dann wieder darauf Aspekt noch wichtiger (7 Abschn. 3.2 und 7 Abschn.
zurückgegriffen werden, ohne dass man die Aus- 3.3): Menschen dürfen weder instrumentalisiert noch
wertung noch mal wiederholen muss. Wichtig ist es unnötig durch Forschung belastet werden. Es muss
dabei, die Suchhistorie („search history“) zu spei- sichergestellt sein, dass eine Forschungslücke besteht,
chern und Artikel direkt in ein Literaturverwal- die nicht anders gefüllt werden kann. Wenn die For-
tungssystem wie RefWorks, Mendeley, Citavi oder schungslücke gefunden und in einer ersten Skizze
EndNote zu exportieren (7 Abschn. 13.4). Die kon- formuliert worden ist, gilt es deshalb, die Originali-
krete Suche ist in 7 Abschn. 14.2.1 beschrieben. tät oder Innovation eines Forschungsvorhabens zu
überprüfen. Dazu sucht man in Forschungsdaten-
banken nach laufenden Projekten:
12.2.2 Welche Anforderungen sollen 4 International: https://clinicaltrials.gov, wenn es
Forschungsarbeiten erfüllen? sich um ein „clinical trail“ handelt
4 Schweiz: FORSbase Datenbank
Der Kontext, in dem ein Forschungsprojekt stattfin- (https://forsbase.unil.ch/) oder die Datenbank
den soll, gibt verschiedene Anforderungen vor. Am über Projekte des Schweizer Bundes ARAMIS
konkretesten werden diese in Ausschreibungen dar- (http://www.aramis.admin.ch/)
12 gelegt. Dort findet man meist Thema, Ziel, Fragestel- 4 Deutschland: Seite des Bundesministeriums für
lungen, Zeit- und Finanzrahmen. Abschlussarbei- Bildung und Forschung (http://www.bmbf.de/
ten erfüllen eine andere Funktion: Sie belegen, ob de/2762.php)
die Verfasserin oder der Verfasser dazu in der Lage 4 Datenbanken von Förderstellen wie EU,
ist, eigenständig wissenschaftlich zu arbeiten, je nach Stiftungen etc.
Abschluss auf unterschiedlichem Niveau und mit
unterschiedlichem Umfang. Dennoch gilt der fol- Sind ähnliche Projekte in Bearbeitung, lohnt es sich
gende Merksatz für alle Arbeiten. evtl., diese näher zu analysieren: Was sind die Stärken
und Schwächen bereits vorhandener Projekte? Worauf
> Forschungsarbeiten sollen sowohl könnte man aufbauen? Wo besteht Konkurrenz? Wo
gesellschaftlich als auch wissenschaftlich könnte man ergänzende Fragen oder Methoden ein-
relevant sein. bringen und eine Zusammenarbeit anstreben?
Wenn die Entscheidung für das Projekt positiv aus- sinnvoll, in einem Konzept niederzuschreiben,
fällt, folgt als nächster Schritt das Schreiben einer Pro- welche Inhalte behandelt werden sollen und in
jektskizze oder eines Exposés, indem auch das Stu- welchem Zeitraum dies stattfinden soll. Dies erleich-
diendesign, der zeitliche Umfang und idealerweise tert später das strukturierte Arbeiten, kann frühzeitig
der ungefähre finanzielle Aufwand enthalten sind. Hinweise auf Fehler im geplanten Konzept geben und
wird außerdem von den meisten Bildungseinrichtun-
gen zur Genehmigung des Themas von Abschluss-
12.4 Vorbereitungen für die arbeiten verlangt. Ebenso sind solche Konzepte (auch
wissenschaftliche Arbeit als Exposé, Disposition oder Outline bezeichnet) die
Grundlage für Anträge für Forschungsförderungen
Agnes Sturma, Valentin Ritschl (Esselborn-Krumbiegel 2010).
Jede Universität oder Hochschule hat unter-
Einer jeden wissenschaftlichen Arbeit gehen viele schiedliche Vorgaben, wie ein Exposé zu gestal-
Überlegungen und Arbeitsschritte voran. Zu aller- ten ist. Inhaltlich sollte das Exposé jedenfalls den
erst ist die Themenfindung erforderlich. Sollte noch Arbeitstitel, eine Einführung in die Thematik mit
keine genaue Vorstellung vorhanden sein, welcher einer Beschreibung des „gap of knowledge“, die For-
Bereich gewählt werden kann, empfehlen sich schungsfrage, die gewählte Methode inklusive einer
offene Methoden zur Ideenfindung, wie etwa Clus- Begründung, weshalb es sich dabei um eine geeignete
tering oder Mindmap (Esselborn-Krumbiegel 2004, Methode handelt, das Ziel der Arbeit und ein Lite-
Rossig u. Prätsch 2008). Beim Clustering werden von raturverzeichnis beinhalten. Oftmals werden zusätz-
einem Zentralwort ausgehend immer weiter Asso- lich noch Hypothesen für die Forschungsfrage, ethi-
ziationsketten notiert. In ähnlicher Art und Weise sche Überlegungen, eine Grobgliederung und ein
wird auch beim Mindmaping von einem Wort aus- Zeitplan für die Erstellung der wissenschaftlichen
gegangen. Hier soll aber ein Baumdiagramm ent- Arbeit angeführt (Huemer et al. 2012).
stehen, und es kann auch mit Grafiken und Farben
gearbeitet werden. Auch Diskussionen mit Kollegen z Arbeitstitel
und anderen Forschenden können zu Themenideen Der Titel der geplanten Arbeit sollte kurz und präg-
12 führen. nant den Inhalt wiedergeben (ca. 12 Worte). Wichtig
Es bieten sich für die Erstellung von wissenschaft- ist, dass er selbsterklärend ist. Ebenso sollte die
lichen Arbeiten Themen an, die das eigene Interesse gewählte Methode aus dem Titel hervorgehen. Es ist
geweckt haben, sich in der Praxis als relevant erwie- möglich, den Titel als Satzteil (z. B. „Die Bedeutung
sen haben, für das zukünftige Berufsumfeld relevant der interdisziplinären Zusammenarbeit in der Neu-
sein könnten und/oder bei denen bereits ein Vorwis- rorehabilitation von Kindern – ein systematischer
sen besteht. Wenn sich eine grobe Richtung heraus- Review“) oder als Frage (z. B. „Bringt die interdis-
kristallisiert hat, dient eine Literaturrecherche dazu ziplinäre Zusammenarbeit in der Neurorehabilita-
herauszufinden, was der aktuelle Forschungsstand tion einen Mehrwert für minderjährige Patienten?
in diesem Bereich ist und wo es noch offene Fragen Ein systematischer Review“) zu formulieren (Essel-
gibt. Ebenso können auch Experten und Expertin- born-Krumbiegel 2010).
nen aus dem Forschungsbereich Feedback zu Ideen
geben und eigene Vorschläge einbringen (Huemer z Einführung in die Thematik/Hintergrund
et al. 2012, Trimmel 1997). Zu empfehlen ist auch, Der Hintergrund beschreibt den bereits bekannten
sich an einem größeren bereits bestehenden For- Stand der Forschung, aus dem die Fragestellung für
schungsprojekt zu beteiligen. Oft können Teile die Arbeit hervorgeht. Daher ist es unbedingt not-
solcher Projekte als abgegrenzte Arbeitspakete eigen- wendig, vor dem Verfassen der Einleitung eine aus-
ständig für eine Bachelor- oder Masterthese von Stu- führliche Literaturrecherche zu betreiben. Im Opti-
dierenden bearbeitet werden. malfall ist die Einführung so aufgebaut, dass zuerst
Ehe man nach der Ideenfindung mit der eigent- das Forschungsumfeld und seine Bedeutung kurz
lichen wissenschaftlichen Arbeit beginnt, ist es umrissen werden. Dann wird angeführt, wo es noch
12.4 · Vorbereitungen für die wissenschaftliche Arbeit
277 12
offene Fragen gibt bzw. welche Teilaspekte noch nicht im Exposé erwähnt werden. Das Formulieren von
ausreichend erforscht sind („gap of knowledge“ oder Hypothesen ist wichtig, damit Vorannahmen expli-
„research gap“), um anschließend überzuleiten, dass zit gemacht werden und später in der Diskussion
daher in der geplanten Arbeit genau dieser noch feh- der Arbeit darauf Bezug genommen werden kann.
lende Teilaspekt bearbeitet werden soll. Wichtig ist, Besonders in der quantitativen Forschung kommt
dass sich bei der Überleitung vom Stand der For- der Hypothesenbildung eine wichtige Rolle zu. Bei
schung zur eigenen Fragestellung ein roter Faden qualitativen Ansätzen kann das Bilden von Hypo-
durchzieht. Für die Leser muss durch den Bezug auf thesen durchaus das Ergebnis der Arbeit darstellen.
vorhergegangene Argumente ohne eigenständiges Dennoch ist es sinnvoll, auch hier vorab persön-
Nachdenken klar sein, wie es zum Inhalt und zur Fra- liche Annahmen niederzuschreiben (Esselborn-
gestellung der Arbeit kommt und weshalb diese für Krumbiegel 2010). Im genannten Bespiel könnte
das Fachgebiet relevant ist (Esselborn-Krumbiegel eine mögliche Hypothese sein: „Die interdiszipli-
2004, 2010). näre Zusammenarbeit von Logopädie, Ergothe-
rapie, Physiotherapie und Krankenpflege führt in
z Forschungsfrage der pädiatrischen Neurorehabilitation zu besseren
Sie geht direkt aus dem „research gap“ der Einlei- Therapieergebnissen.“
tung hervor und fasst zusammen, was genau der
Inhalt der Arbeit sein soll. Je konkreter die For- z Methodik
schungsfrage formuliert wird, desto besser lässt Die Wahl der Methodik erschließt sich direkt aus
sich das gewählte Thema von verwandten Gebie- der Einleitung und der gewählten Fragestellung.
ten abgrenzen. Zumeist ergibt sich bei weit gefass- In diesem Teil der Disposition wird nun mit Ver-
ten Fragestellungen während des Verfassens der weisen auf die vorangegangenen Teile die Wahl
Arbeit das Problem, dass der Inhalt und der ent- der Methode genau begründet. Es muss klar aus
sprechende Aufwand den zeitlichen Rahmen für der Argumentation herauskommen, weshalb genau
das Erstellen sprengen würden (Bensberg 2013, der gewählte Forschungsansatz notwendig ist, um
Esselborn- Krumbiegel 2010). Neben des Abste- die Fragestellung zu beantworten. Um dies zu
ckens des Themengebiets geht aus der Fragestellung ermöglichen, müssen die Methode und ihre Vor-
auch schon hervor, welche Methodik zum Bearbei- teile für die gewählte Fragestellung beschrieben
ten gewählt werden sollte. Während Fragestellungen werden. Hierzu werden Arbeiten/Artikel zitiert,
nach Meinungen oder dem Erleben von Personen die sich mit der Beschreibung der gewählten For-
nach qualitativen Ansätzen verlangen, wird bei schungsmethode befassen (Huemer et al. 2012).
Fragen nach Messergebnissen ein quantitativer Welche Methodik sich für welche Fragestellun-
Ansatz verfolgt. Soll die Evidenz eines bestimmten gen eignet, kann in den vorangegangenen Kapi-
Vorgehens anhand von bereits vorhandenen Studien teln nachgelesen werden.
geklärt werden, verlangt dies nach Methoden zum
Zusammentragen und Zusammenfassen von Lite- z Ziel der Arbeit
ratur. Für die vorab beschriebenen Titel wäre ein In diesem Abschnitt wird das Ergebnis der fertigen
mögliche Forschungsfrage etwa: „Gibt es durch die Arbeit beschrieben. Dies kann etwa der Überblick
interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Neuroreha- über ein Thema oder die Darstellung bzw. Genera-
bilitation von Kindern ein besseres Therapieoutcome tion von Evidenzen sein. Inhaltlich beschreibt das
bzw. eine höhere Patientenzufriedenheit?“ Ziel der Arbeit, das auch als Forschungsziel bezeich-
net werden kann, stets die Beantwortung der For-
z Hypothesen schungsfrage (Esselborn-Krumbiegel 2010). Bei-
Wie 7 Abschn. 2.3 über Hypothesen beschrieben, spielsweise könnte beschrieben werden: „Ziel der
ergibt sich beim Zusammentragen der Literatur und geplanten Arbeit ist es, die Evidenzen zum Nutzen
beim Erstellen einer Forschungsfrage meist schon der interdisziplinären Zusammenarbeit in der
eine Annahme, zu welchem Ergebnis die geplante Neurorehabilitation von Kindern aufzuzeigen und
Arbeit kommen könnte. Diese Annahmen sollten ihre Bedeutung für die Praxis zu diskutieren.“
278 Kapitel 12 · Themenfindung und Recherche
z Literaturverzeichnis
Bereits im Exposé der Arbeit darf ein Verzeich- 5 Interpretation und Diskussion der Daten in
nis der zitierten Quellen nicht fehlen. Klassischer- Bezug auf die bekannte Literatur
weise werden in den Abschnitten „Einführung/ 5 parallel dazu Niederschreiben der
Hintergrund“ und „Methodik“ Werke zitiert. Wie Forschungsschritte als Abschlussarbeit
im Detail zitiert werden soll, hängt von den Vor- 5 Formatieren und Korrigieren der Arbeit
gaben der Bildungseinrichtung bzw. des Empfän- 5 Korrekturlesen durch Bekannte/
gers des Förderantrags ab. Gibt es keine genauen Studienkollegen
Vorgaben, ist jedenfalls darauf zu achten, dass 5 falls vorgesehen, Zeitfenster für Korrektur-
sich ein Zitierstil durch das ganze Dokument hin- vorschläge von Betreuer (Rossig u. Prätsch
durchzieht (Esselborn-Krumbiegel 2004). Wenn 2008, S. 10 und S. 52f )
geplant wird, für die Abschlussarbeit ein Litera-
turverwaltungsprogramm zu nutzen, ist es sinn-
voll, die Quellen im Exposé auch bereits mit dessen
Hilfe anzugeben. So kann bei erstmaliger Verwen- z Sonderfall Förderantrag
dung in einem überschaubaren Dokument die Ver- Wie bereits erwähnt, müssen bei nahezu allen För-
wendung von Literaturverwaltungsprogrammen deranträgen ebenfalls Projekt-Outlines vorgelegt
ausprobiert werden. Sollten im Exposé Abbildun- werden. Neben den hier beschriebenen Punkten
gen enthalten sein, muss auch für diese eine Quelle werden oftmals noch nähere Angaben zu den betei-
angegeben werden. ligten Personen (meist mit Lebensläufen) und
Kooperationspartnern, Kostenpläne für den Einsatz
z Zeitplan der Fördersumme sowie bei empirischer Forschung
Selbst wenn es von der Bildungseinrichtung nicht genaue Studienprotokolle verlangt (Trimmel 1997).
verlangt werden sollte, ist die Erstellung eines Zeit- Besonders wichtig ist es bei Förderanträgen, den
plans für die Abschlussarbeit auf jeden Fall emp- Nutzen für den Fördergeber bzw. die Gesellschaft
fehlenswert. Dieser hilft einerseits, sich bewusst hervorzuheben. Wenn es sich um Ausschreibun-
zu werden, welche Arbeitsschritte notwendig sind, gen zu bestimmten Themen handelt, muss aus der
12 und er kann andererseits während der Erstellung der Projektbeschreibung eindeutig hervorgehen, dass
Arbeit als Kontrollwerkzeug dienen, um den vorge- die Thematik im Projekt abgedeckt wird. Gene-
gebenen Zeitrahmen einzuhalten (Blanckenburg rell erfordert ein Förderantrag das genaue Durch-
2005). Die Zeitplanung der Arbeit unterscheidet sich lesen aller vom Fördergeber zur Verfügung gestell-
je nach Forschungsmethode und -umfang stark. In ten Informationen und die Erstellung des Antrags
jedem Fall sollten aber folgende Meilensteine beach- genau nach den vorgegeben Richtlinien (Huemer
tet werden: et al. 2012). Einige Fördergeber bieten vor der Einrei-
chung zusätzlich telefonische Beratung an, mithilfe
derer Unklarheiten ausgeräumt und Feinheiten im
Zeitplanung einer Forschungsarbeit Antrag diskutiert werden können.
5 Themenfindung, Beratung mit Experten
bzw. Betreuerin, initiale Literaturrecherche
(bereits vor Erstellung des Exposés) Literatur
5 Tiefgehende Literaturrecherche zum
Hintergrund Bensberg G (2013) Survivalguide Schreiben. Ein Schreibcoa-
5 falls erforderlich, Vorbereitung und ching fürs Studium. Springer, Heidelberg
Blanckenburg C von, Böhm B, Dienel H-L, Legewie H (2005)
Durchführung von quantitativen oder
Leitfaden für interdisziplinäre Forschergruppen: Projekte
qualitativen Studien initiieren – Zusammenarbeit gestalten. Steiner, München
5 Aufbereiten der erhobenen Daten (gilt Creswell JW (2012) Qualitative inquiry and research design:
auch für Literaturarbeiten) Choosing among five approaches, 3rd ed. Sage, Thou-
sand Oaks
Literatur
279 12
Esselborn-Krumbiegel H (2004) Von der Idee zum Text – Eine
Anleitung zum wissenschaftlichen Schreiben, 2. Aufl.
Schöningh, Paderborn
Esselborn-Krumbiegel H (2010) Richtig wissenschaftlich
schreiben. Schöningh, Paderborn
Glaser BG, Strauss AL, Beer S (2012) The discovery of grounded
theory. Transaction, Aldine
Huemer B, Rheindorf M, Gruber H (2012) Abstract, Exposé und
Förderantrag. Böhlau, Wien,
Huff AS (2009) Designing research for publication. Sage, Los
Angeles
Page J, Becker H (2014) Projektleitung und Projektentwick-
lung. Internes Arbeitspapier der Zürcher Hochschule für
angewandte Wissenschaften
Ponterotto JG (2005) Qualitative research in counseling psy-
chology: A primer on research paradigms and philosophy
of science. Journal of Counseling Psychology 52 (2):
126–136
Rossig W, Prätsch J (2008) Wissenschaftliche Arbeiten – Leit-
faden für Haus- und Seminararbeiten, Bachelor- und Mas-
terthesis, Diplom- und Magisterarbeiten, Dissertationen,
7. Aufl. Eigenverlag
Trimmel M (1997) Wissenschaftliches Arbeiten. Ein Leitfaden
für Diplomarbeiten und Dissertationen in den Sozial- und
Humanwissenschaften mit besonderer Berücksichtigung
der Psychologie, 2. Aufl. WUV-Universitätsverlag, Wien
281 13
Literatur – 290
Beim Aufbau von wissenschaftlichen Arbeiten ist 4 Selbsterklärend: Der Leser oder die Leserin
meist ein vorgegebener Rahmen einzuhalten. Wie sollte aufgrund des Titels über den Inhalt des
dieser im Detail auszusehen hat, ist an jeder Hoch- Textes Bescheid wissen.
schule und bei jedem Journal grundsätzlich unter- 4 Die Methode oder ein ganz besonderes
schiedlich. Allerdings gibt es gewisse Grundsätze, die Ergebnis können erwähnt werden.
fast immer gelten. Angelehnt an die American Psy-
chological Association [APA] (2009), die Deutsche Beispiel
Gesellschaft für Psychologie [DGP] (2007) und das Ein Titel nach diesen Kriterien könnte lauten: Evi-
PRISMA-Statement (Liberati et al. 2009) werden im denzbasierte Praxis: Einstellungen, Kompetenzen,
folgenden Abschnitt Vorschläge für den Aufbau einer Barrieren und Arbeitszufriedenheit österreichi-
wissenschaftlichen Arbeit gegeben. scher Ergotherapeuten – eine Umfrage (Ritschl
et al. 2015).
> Unbedingt bei der eigenen Hochschule
die Vorgaben zum formalen Aufbau von
wissenschaftlichen Arbeiten erfragen! Meist 13.1.3 Autorinnen und Autoren
existiert dazu ein eigenes Handbuch.
Falls mehrere Personen eine Publikation verfassen,
ist die Reihenfolge der Autorinnen und Autoren von
13.1 Formaler Aufbau, Bedeutung. Prinzipiell gilt, dass die erstgenannte Person
Grobgliederung der Erstautor ist, und die letztgenannte der Seniorautor
(Betreuer). Falls 2 Personen denselben Beitrag an einem
13.1.1 Deckblatt Werk leisten, dann können diese als „equal contribu-
tors“, also als gleichwertige Autoren, gesehen werden,
Jede Arbeit hat als erste Seite ein Deckblatt. Wie dennoch müssen sich diese auf eine Reihenfolge einigen
dieses Deckblatt zu gestalten ist, ist sehr unter- und sollten nicht aus der gleichen Institution kommen.
schiedlich und abhängig von der Hochschule.
Prinzipiell muss ein Deckblatt folgende Inhalte
aufweisen: 13.1.4 Andere formale Vorgaben
4 Titel
13 4 Name der Universität Es existiert noch eine Reihe weiterer Vorgaben, die
4 angestrebter akademischer Grad Beachtung finden müssen, wie zum Beispiel: Schrift-
4 Name des Studenten/der Studentin größe, Schriftart, Zeilenabstand, Inhaltsverzeichnis.
4 Matrikelnummer Aufgrund großer Diversität der Vorgaben an den
4 Datum der Einreichung unterschiedlichen Hochschulen sollen diese hier
4 Name des Erst- und Zweitbetreuers nicht weiter beschrieben werden.
Der Titel ist das Erste, was von einer wissenschaftli- Nach dem Titel ist der Abstract der meist gelesene
chen Arbeit gelesen wird. Umso wichtiger ist es, dass Teil einer wissenschaftlichen Arbeit. Der Abstract
er gut formuliert ist. Der Titel sollte folgende Krite- stellt per Definition eine kurze Zusammenfassung
rien erfüllen: der Inhalte der Arbeit dar (Landes 1966, Pitkin
4 Länge: Die Formulierung sollte ca. 12 Worte u. Branagan 1998). Allgemein werden 2 Arten von
umfassen. Abstracts unterschieden:
4 Interessant: Der Titel soll zum Weiterlesen 4 unstrukturiert, narrativ verfasste Abstracts
anregen. 4 strukturierte Abstracts mit Inhaltsüberschriften
13.3 · Der rote Faden – die Gliederung
283 13
Letztere wurden 1987 von Ad Hoc Working Group vermeiden, sollte ein Abstract auf jeden Fall
for Critical Appraisal of the Medical Literature ein- dahingehend überprüft werden.
geführt. Es gibt allerdings bis heute keine eindeuti- 4 Informationen/Daten werden im Abstract
gen Argumente, die nur für die eine oder die andere präsentiert, die im Artikel fehlen.
Art sprechen (Scherer u. Crawley 1998, Taddio et al. 4 Die Conclusio ist aufgrund der Ergebnisse im
1994). Manche Journale oder Hochschulen schreiben Abstract nicht nachvollziehbar. Dies bedeutet,
jedoch eine gewisse Form vor. dass die einzelnen Abschnitte in einem
Unabhängig von der Art des Abstracts sollten fol- Abstract aufeinander aufbauen müssen.
gende Punkte beim Verfassen eingehalten werden:
4 Sprachlich: Der Abstract sollte an die Sprache > Der Abstract sollte als letzter Schritt beim
der Zielgruppen angepasst sein. Verfassen der wissenschaftlichen Arbeit
4 Länge: 150–250 Worte geschrieben werden, damit die Stringenz zu
4 Einleitung (ca. 3 Sätze): der restlichen Arbeit gegeben ist. Obwohl
4 In einem Satz: Was ist das Thema? (Eventuell er als letzter Teil verfasst wird, sollte sich
weglassen, wenn der Abstract zu lange der Autor oder die Autorin genügend
geworden ist) Zeit nehmen, um einen korrekten und
4 Darauf aufbauend in einem zweiten Satz: ansprechenden Abstract zu verfassen.
Was ist das Forschungsproblem?
4 Aufbauend auf den ersten beiden
Sätzen folgt der dritte Satz: Was ist die 13.3 Der rote Faden – die Gliederung
Forschungsfrage?
4 Methode: in ein bis maximal 2 Sätzen: Wie Generell sollte bei einer wissenschaftlichen Arbeit ein
wurde vorgegangen, um die Forschungsfrage roter Faden gespannt werden – die Inhalte müssen auf-
zu beantworten? einander aufbauen und in einer logischen Abfolge prä-
4 Ergebnis: in ein bis max. 3 Sätzen: Was sind die sentiert werden. Der Leser oder die Leserin soll durch
Hauptergebnisse der Studie? den Text geführt werden und möglichst keine Zusam-
4 Conclusio: in ein bis max. 2 Sätzen: Was menhänge selbst herstellen müssen. Dies geschieht
bedeuten die Ergebnisse? Was sind die Implika- einerseits über die Gliederung der Arbeit per se. Eine
tionen der Studie (für Forschung und Praxis)? wissenschaftliche Arbeit oder auch Publikation setzt
sich immer aus Einleitung/Hintergrund, Methoden-
Häufige Fehler beim Verfassen von Abstracts (Pitkin teil, Ergebnisteil und Diskussionsteil zusammen.
u. Branagan 1998): Dieser Aufbau sollte unbedingt eingehalten werden,
4 Im Abstract finden sich nur Hinweise, aber da er einen roten Faden über die Arbeit hinweg bietet.
keine Informationen. Beispielsweise wird Andererseits können Zusammenhänge trans-
im Methodenteil nicht die Vorgehensweise parent und logisch dargestellt werden, indem dieser
beschrieben, sondern es wird nur auf das rote Faden auch innerhalb jedes Kapitels zu finden
Methodenkapitel verwiesen: „Im Teil der ist. Die Grobgliederung der Arbeit wird im Folgen-
Methodik wird auf die Vorgehensweise zur den dargestellt. Tipps zum Verfassen von Kapiteln,
Beantwortung der Fragestellung eingegangen.“ um eine Struktur innerhalb von Kapiteln aufzu-
Ein weiteres Beispiel bezogen auf den Ergebni- bauen, werden in 7 Abschn. 13.5 beschrieben.
steil: „Im Teil der Ergebnisse werden die Daten
dargestellt.“ Solche Formulierungen sind in
einem Abstract unbedingt zu vermeiden! 13.3.1 Gliederung und Inhalte einer
4 Inkonsistenzen bei den Daten zwischen wissenschaftlichen Arbeit
Artikel und Abstract. Die Schlüsselbegriffe
und die Fragestellung sollen im Abstract und Auch beim generellen Aufbau einer wissen-
in der Arbeit gleich sein. Um solche Fehler zu schaftlichen Arbeit existieren unterschiedliche
284 Kapitel 13 · Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit
Möglichkeiten. Prinzipiell gibt es einen allgemein 4 Warum ist das gewählte Forschungsdesign
anerkannten Aufbau, auf den auch in wissenschaft- geeignet, um die Fragestellung zu beantworten?
lichen Artikeln zurückgegriffen wird: 4 Warum ist die gewählte Form der Daten-
erhebung geeignet?
z z Kapitel 1: Einleitung und/oder Hintergrund 4 Wie werden die erhobenen Daten analysiert?
Führt in das Thema ein und sollte nach folgenden 4 Bei empirischen Arbeiten zusätzlich:
Punkten aufgebaut sein: Beschreibung der Probanden und Durch-
4 Was ist das Thema? Beispiel: Autismus bei führung der Studie mit Ein- und Ausschluss-
Kindern. Es folgt dann eine kurze Einführung kriterien, Stichprobenverfahren, Rekru-
in das Thema. tierung, Durchführung (Manipulationen,
4 Was ist die Bedeutung des Themas? Warum Interventionen).
ist das Thema wichtig? Beispiel: Es folgt 4 Bei Literaturarbeiten zusätzlich:
eine kurze Beschreibung, dass die Prävalenz Beschreibung der Literaturrecherche,
von Autismus steigt und somit in der thera- -selektion und –synthese mit Keywords,
peutischen Betreuung mehr an Bedeutung Ein- und Ausschlusskriterien, Durchführung
gewinnt. und Ergebnissen der Literaturrecherche,
4 Was sind Probleme? Beispiel: kurze Prozess der Literaturselektion, Methode der
Einführung, welchen Problemen Kinder mit Literatursynthese.
Autismus im Alltag ausgesetzt sind.
4 Was wird in aktueller Literatur zur Lösung > Ein Methodenteil sollte so transparent verfasst
des Problems beschrieben? Beispiel: kurze werden, dass der Leser theoretisch dieselbe
Einführung in Studien, die sich bisher mit der Studie ohne weitere Informationen auf
therapeutischer Betreuung von Kindern mit dieselbe Art und Weise durchführen könnte.
Autismus beschäftig haben.
4 Was wird in aktueller Literatur noch nicht z z Kapitel 3: Ergebnisse
beschrieben? Was ist die Wissenslücke („gap Zusammenfassung aller erhobenen Daten. Nach
of knowledge“)? Beispiel: Hier wird aufgezeigt, den Grundsätzen der guten wissenschaftlichen
dass etwa die Angehörigenarbeit in Bezug auf Praxis sollten alle Ergebnisse, auch unerwünschte
die Auswirkungen der Erkrankung auf den und unerwartete oder negative (keine Wirkung)
13 Alltag noch nicht untersucht wurde. Ergebnisse dargestellt und synthetisiert werden.
4 Welche Fragestellung ergibt sich aus der In diesem Teil werden die Ergebnisse noch nicht
Wissenslücke? Die Fragestellung und/oder interpretiert!
Hypothese ist der letzte Teil der Einleitung 4 Empirische Arbeiten:
und ergibt sich direkt aus der zuvor genannten 4 Darstellung und Beschreibung der
Wissenslücke. Stichprobe
4 Wie steht die Hypothese/Fragestellung mit 4 Beschreibung der Analyse (Statistik oder
dem Forschungsdesign in Verbindung? Am qualitative Analysemethoden)
Ende der Einleitung soll kurz erklärt werden, 4 Beschreibung des Settings, der Inter-
mit welchem Ansatz (Design) das Problem ventionen oder anderer durchgeführter
gelöst werden soll, die Forschungsfrage gut Maßnahmen
beantwortet werden kann. 4 Literaturarbeiten:
4 Darstellung der Qualität der Studien
z z Kapitel 2: Methode 4 Darstellung der einzelnen Studien
Erklärt die Vorgehensweise, wie eine Antwort auf 4 Synthese der Studien
die Fragestellung gefunden werden soll. Folgende 4 Tabellen und Abbildungen erhöhen die
Inhalte werden im Methodenteil möglichst transpa- Übersichtlichkeit der Darstellung der
rent dargestellt: Ergebnisse.
13.4 · „Cite them right“ – Zitation und Literaturverwaltungsprogramme
285 13
z z Kapitel 4: Diskussion 13.4 „Cite them right“ – Zitation und
Hier sollen die Ergebnisse interpretiert, die Metho- Literaturverwaltungsprogramme
dik reflektiert und weiterführende Ideen, Implikatio-
nen für Praxis und Forschung beschrieben werden. Es muss jedes Wissen, jede Idee oder Theorie, die
4 Die Diskussion beginnt meist mit einem einen direkten Einfluss auf die eigene Arbeit hat,
Statement zur Beantwortung der Fragestel- zitiert werden. Wird das nicht eingehalten, spricht
lung(en) und/oder der Hypothese(n). man von einem Plagiat, was den Verlust des akade-
4 Interpretation der Ergebnisse: Vergleiche, mischen Grads zur Folge haben kann.
Übereinstimmungen und Gegensätze
mit bestehender Literatur; Diskussion ! Auch Eigen- oder Selbstplagiate, also das Ver-
der internen Validität (Gültigkeit der wenden von Ideen, Theorien oder Wissen aus
Datenerhebung und der Datenerhebungs- vorausgegangenen eigenen Arbeiten ohne
instrumente, Effekte und deren Bezug auf die korrekte Zitatangabe, kann zur Aberkennung
Ergebnisse). Zusätzlich bei Interventionen: eines akademischen Grads führen.
Darstellung, wie sich die Durchführung bzw.
das Sample auf die Ergebnisse ausgewirkt
haben könnte. Hier kann auf die Literatur aus
der Einleitung Bezug genommen werden. 13.4.1 Wie wird nun korrekt zitiert?
4 Die Diskussion soll sowohl einen inhaltlichen
Teil als auch einen methodischen Diskus- Es existiert eine große Anzahl verschiedenster Zita-
sionsteil enthalten: Was war besonders gut, was tionsstile, auf die in diesem Buch nicht eingegan-
könnte an der Methode verbessert werden? gen werden kann. Es besteht aber die Möglichkeit
4 Limitationen und alternative Erklärungen das Zitieren über Literaturverwaltungsprogramme
für die Ergebnisse: Diskussion der externen durchzuführen. Die Verwendung von Literaturver-
Validität (Sind die Ergebnisse generalisierbar?), waltungsprogrammen erspart dem Autor und der
Unterscheidungen zwischen der Population und Autorin Zeit, vor allem dann, wenn ein Artikel zum
der Stichprobe, Diskussion der intervenierenden Beispiel bei unterschiedlichen Journalen eingereicht
Variablen (Umstände, die zu Verzerrungen in werden soll, die unterschiedlichen Zitationsrichtli-
den Ergebnissen geführt haben könnten), die nien folgen. Vorteile von Literaturverwaltungspro-
nicht kontrolliert wurden bzw. nicht kontrol- gramme sind:
lierbar waren, Diskussion des Einflusses der 4 Sie erleichtern das Speichern und Verwalten
Durchführung von Interventionen auf mögliche der Literatur aus dem Internet.
Unregelmäßigkeiten in den Ergebnissen. 4 Sie erstellen automatisch das Literaturver-
4 Implikationen: Beschreibung und Begründung zeichnis und aktualisieren dies auch, falls
der Wichtigkeit der Ergebnisse und Auswir- Quellen hinzugefügt oder entfernt werden.
kungen, Empfehlungen für klinische und 4 Sie ändern das ganze Dokument mit „einem
praktische Tätigkeiten sowie für die Forschung, Klick“, wenn ein anderer Zitationsstil
Empfehlungen für weitere Studien und verwendet werden muss.
Forschungsarbeiten.
Es steht eine große Anzahl an Literaturverwaltungs-
z z Kapitel 5: Conclusio programmen zur Verfügung, wie zum Beispiel Men-
Im letzten Teil einer wissenschaftlichen Arbeit deley, Citavi, RefWorks oder EndNote. Prinzipiell
kann eine ergebnisorientierte Quintessenz verfasst sind diese Programme sehr ähnlich aufgebaut und
werden. Dies wird bei den Vorgaben von Hoch- strukturiert. Sie unterscheiden sich vor allem bei der
schulen sehr unterschiedlich gehandhabt, und auch Kompatibilität, den Kosten und kleinen Details in
wissenschaftliche Artikeln werden nicht immer mit der Nutzung. Das Programm Mendeley hat zum Bei-
einer Conclusio abgeschlossen. spiel folgende Vorteile:
286 Kapitel 13 · Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit
4 Es ist bis zu einer Nutzung von 2 Gigabyte Dann kann mit dem Importieren und Verwalten der
kostenlos. Literatur begonnen werden.
4 Es ist desktop- und webbasiert. Das heißt,
die Ressource kann sowohl offline als auch
über jeden Computer (per Internet) genutzt Vorbereitungen für das Importieren von
werden. Artikeln oder Büchern
4 Es existiert eine App für Tablets und
Smartphones. 1. Ordner erstellen
4 Es existieren ausführliche Tutorials für ein Als erster Schritt sollte ein neuer Ordner erstellt
einfaches Einsteigen. werden – so können Artikel nach Projekten oder
4 Es läuft problemlos unter Microsoft, Apple und Themen sortiert werden. Dieser kann entweder
Linux. über den Menüpunkt „Edit“ und „New Folder“
4 Es kann jederzeit auf alle gespeicherten oder über das Fenster „Mendeley“ und „My Library“
Literaturen zugegriffen werden. erstellt werden.
4 Mit dem Web-Importer können Studien und
Bücher schnell und einfach aus dem Internet in 2. Importieren von Zeitschriftenartikeln
das Programm geladen werden. Manuelles Importieren von Literatur Über den
4 Ist ein frei verfügbares PDF im Internet Menüpunkt „File“ kann der Befehl „Add Entry
vorhanden, wird beim Importieren der Quelle Manually“ gegeben werden. Auf diesen Befehl öffnet
das PDF automatisch in das Programm sich das Fenster „New Document“. Es kann nun aus-
heruntergeladen. gewählt werden, um welche Art der Publikation es
4 Es können Duplikate einfach gesucht und sich handelt (in diesem Fall „Journal Article“), und
entfernt werden. alle notwendigen Informationen können händisch
4 Mithilfe des bestehenden Word-Plugins eingegeben werden. Dies ist vor allem dann not-
lässt sich in Worddokumenten sehr einfach wendig, wenn unveröffentlichte Literatur in das Pro-
zitieren. gramm importiert werden soll.
4. Überprüfen und Entfernen von Duplikaten ändert sich dieser Verweis nicht automatisch,
Wurden viel Literatur importiert, können Dupli- sondern es müsste erst zurückgesetzt werden
kate über den Menüpunkt „Tools“ und „Check for (auf den umgeschriebenen Quellenverweis
Duplicates“ angezeigt werden. Die Einträge sollten klicken, dann wird der Befehl „Insert Citation“
nun überprüft werden, ob es sich tatsächlich um zu „Undo Edit“, und der Verweis kann somit
Duplikate handelt. Mendeley zeigt im Fenster auf der zurückgesetzt werden).
rechten Seite, in dem die Details des Artikels ange- 4 Möglichkeit 2: Klickt man auf „Insert Citation“
zeigt werden, durch ein Häkchen an, welche Infor- und sucht eine Literatur, wird durch das
mationen identisch sind. Stimmen diese überein, Klicken (nachdem eine Literatur gewählt
und man möchte gerne die Duplikate entfernen, wurde) in die Zeile, in der die ausgewählte
muss dieser Vorgang durch einen Klick auf „Confim Literatur vermerkt ist, ein Editionsmenü
Merge“ abgeschlossen werden. geöffnet. Hier können alle notwendigen
Informationen eingefügt werden.
5. Zitieren im Text
Wurden nun die benötigten Quellen in das Pro- > Ist die Quelle schon im Text, muss der Cursor
gramm importiert, kann mit dem Erstellen des nur auf den Quellenverweis gelegt werden.
Textes begonnen werden. Wurde das Word-Plugin Wird nun auf „Insert Citation“ geklickt, öffnet
installiert, finden sich im Programm Word unter sich die entsprechende Quelle und kann
dem Reiter „Verweise“ nun die notwendigen Tools, bearbeitet werden.
um mithilfe des Literaturverwaltungsprogramms zu
zitieren. Alle folgenden Schritte werden direkt im
6. Erstellen eines Literaturverzeichnisses
Programm Word durchgeführt (Ausnahmen werden
gesondert gekennzeichnet). Im letzten Schritt kann noch ein Literaturverzeich-
Im ersten Schritt muss der Zitationsstil gewählt nis hinzugefügt werden. Dafür muss erst der Cursor
werden. Muss dieser später geändert werden, ist dies an die Stelle im Word-Dokument gesetzt werden, an
jederzeit möglich. Dies kann unter dem Reiter „Ver- der das Literaturverzeichnis erscheinen soll. Wird
weise“ und „Style“ eingestellt werden. nun unter dem Reiter „Verweise“ auf „Insert Biblio-
Im zweiten Schritt wird der Text verfasst. Immer graphy“ geklickt, erscheint ein Literaturverzeichnis.
wenn ein Quellenverweis eingefügt werden soll, Sollten im Weiteren noch Änderungen im Text und/
13 muss auf den Button „Insert Citation“ unter dem oder an Quellenverweisen durchgeführt werden (z.
Reiter „Verweise“ geklickt werden. In dem sich öff- B. wenn noch Quellenverweise eingefügt werden),
nenden Fenster kann nun durch Eingabe des Titels kann durch das Klicken auf „Refresh“ unter dem
der betreffenden Publikation, des Autors oder der Reiter „Verweise“ das Literaturverzeichnis aktuali-
Autorin die entsprechende Quelle gewählt werden. siert werden.
Nach dem Auswählen der Publikation (durch
Klicken auf die entsprechende Quelle) können noch > Das Literaturverzeichnis kann jederzeit,
beliebig viele weitere Quellen gesucht werden. Durch sobald eine Quelle in das Dokument
das Klicken auf dem Button „Ok“ wird die Zitati- eingefügt wurde, erstellt oder aktualisiert
onseingabe bestätigt. Es erscheint der Quellenver- werden.
weis im Word an der Stelle, an der sich der Cursor
befindet. Das Literaturverzeichnis sollte immer auf Fehler
Muss das Zitat noch bearbeitet werden, wenn kontrolliert werden – falls hier Fehler ersichtlich
man beispielsweise eine Seitenzahl hinzufügen sind, sollte nicht direkt im Literaturverzeichnis,
möchte, stehen 2 Möglichkeiten zur Verfügung: sondern in das Programm Mendeley gewechselt
4 Möglichkeit 1: Die Quellenangabe im Text werden, um dort die inkorrekten Daten zu korrigie-
kann direkt verändert werden. Allerdings ren. Wechselt man dann wieder in das Word-Doku-
bleibt diese Veränderung bestehen – wird ment zurück, werden die Daten im Dokument aktu-
beispielsweise der Zitationsstil gewechselt, alisiert, indem man auf „Refresh“ klickt.
13.6 · Veröffentlichen
289 13
13.5 Verständlich und 4 Es sollte im Vorhinein auch überlegt werden,
wissenschaftlich – der ideale an welche Zielpersonen ein Text gerichtet
Schreibstil ist. Richtet sich ein Text beispielsweise an
eine interdisziplinäre Gruppe, muss darauf
Wissenschaftliche Texte sollen wissenschaftlich geachtet werden, dass nur allgemein bekanntes
geschrieben sein. Aber was bedeutet das? Wichtig zu Fachvokabular benutzt wird. Wird der Text
wissen ist, dass es zwar Empfehlungen gibt, aber sehr für ein Laienpublikum verfasst, müssen die
starke unterschiedliche Vorlieben. Beispielsweise Passagen allgemein verständlich formuliert und
wird ein „Ich“ im Text von manchen Autoren und Fachwörter umschrieben werden. Umgangs-
Autorinnen kategorisch abgelehnt, andere sind der sprachliche Formulierungen oder unpräzise
Meinung, dass dies ein wichtiger Schritt ist, um wis- Äußerungen sind generell zu vermeiden.
senschaftliche Texte leichter lesbar und somit viel- 4 Das Gendern wird in unterschiedlichen
leicht auch Laien einfacher zugänglich zu machen. Ländern unterschiedlichen gehandhabt. Hier
Es ist an dieser Stelle klar zu empfehlen, sich seine sollte unbedingt im Vorhinein beim Betreuer
eigenen Vorlieben, aber auch die Vorlieben eines oder bei der Betreuerin geklärt werden, wie in
etwaigen Betreuers bewusst zu machen und die Vor- Texten gegendert werden muss.
gaben der Hochschule oder des Journals einzuhalten.
Zusätzlich existieren Vorgaben, die immer eingehal- > Oft ist es hilfreich, in bereits publizierten
ten werden sollten: wissenschaftlichen Texten zu schauen,
4 Der rote Faden sollte innerhalb eines Kapitels wie gewisse Probleme/Fragestellungen
unbedingt vorhanden sein. Dazu müssen beschrieben wurden. Dies kann ein guter
verbindende Wörter benutzt werden, die Ideengeber für erste Formulierungen
zeigen, wie Inhalte miteinander in Zusam- darstellen.
menhang stehen.
4 2.4 Diskussion und Logik sowohl innerhalb der Kapitel als auch
4 2.5 Conclusio übergreifend über das Dokument einzuhalten. Li-
4 3. Verlängerte Diskussion teraturverwaltungsprogramme können eine gute
Unterstützung im Erstellen von wissenschaftlichen
Sinn der „verlängerten“ Teile ist, dass der Studierende Arbeiten darstellen.
zeigen kann, dass er sich in der Tiefe mit der Materie
auseinandergesetzt hat. Doch durch diesen Aufbau
kann mit einem ersten Konzept eines Artikels in eine Literatur
mögliche Publikation gestartet werden, und es muss
Ad Hoc Working Group for Critical Appraisal of the Medical
nicht die gesamte Arbeit umgeschrieben werden. Literature (1987) A proposal for more informative abs-
Prinzipiell scheint ein Artikel „weniger“ Arbeit, tracts of clinical articles. Annals of Internal Medicine 106:
da er kürzer ist. Allerdings muss für das Verfas- 598–604
sen eines Artikels meist viel mehr Zeit aufgewandt American Psychological Association (2009) Publication Manu-
werden, denn das kurze und präzise Formulieren al of the American Psychological Association, 6th ed.
American Psychological Association, Washington
ist eine weitere Herausforderung. Eine gute Unter- Deutsche Gesellschaft für Psychologie (2007) Richtlinien zur
stützungsmöglichkeit bieten hierfür bereits ver- Manuskriptgestaltung, 2. Aufl. Hogrefe, Göttingen
öffentlichte Artikel. Der beste Einstieg ist, sich in Landes KK (1966) The scrutiny of the abstract. II. Bulletin of
dem Journal, in dem man veröffentlichen will, einen the American Association of Petroleum Geologists 50:
1992–1999
Artikel zu suchen, der ein ähnliches Thema behan-
Liberati A, Altman DG, Tetzlaff J, Mulrow C, Gotzsche PC,
delt. So kann die Struktur mehr oder weniger über- Ioannidis JPA et al. (2009) The PRISMA statement for
nommen werden: Werden beispielsweise in dem reporting systematic reviews and meta-analyses of stu-
Artikel 5 Sätze zur Beschreibung des Themas in der dies that evaluate health care interventions: Explanation
Einleitung verwendet, sollte versucht werden, die and elaboration. Annals of Internal Medicine 6 (4): W
Pitkin RM, Branagan MA (1998) Can the accuracy of abstracts
Beschreibung des Themas ebenfalls auf 5 Sätze zu
be improved by providing specific instructions? Journal
beschränken. of the American Medical Association 280: 267–269
Es sei noch darauf hingewiesen, dass das Ver- Ritschl V, Schönthaler E, Schwab P, Strohmer K, Wilfing N,
öffentlichen ein zum Teil kostspieliges und mit Zettel-Tomenendal M (2015) Evidenzbasierte Praxis:
Sicherheit langwieriges Projekt darstellt. In sehr Einstellungen, Kompetenzen, Barrieren und Arbeits-
zufriedenheit österreichischer Ergotherapeuten – eine
guten Journalen kann eine Veröffentlichung bis
Umfrage. Ergoscience 10 (3): 97–107
13 zu 3000 Euro kosten. Diese Kosten werden meist Scherer RW, Crawley B (1998) Reporting of randomized clinical
von der Institution, an der der Autor angestellt ist, trial descriptors and use of structured abstracts. Journal
getragen. Dies sollte allerdings im Vorhinein abge- of the American Medical Association 280: 269–272
klärt werden. Wird der Artikel durch ein Peer-Re- Taddio A, Pain T, Fassos FF, Boon H, Ilersich AL, Einarson TR
(1994) Quality of unstructured and structured abstracts
view-Verfahren für eine eventuelle Veröffentli-
of original research articles in the British Medical Jour-
chung auf seine Qualität hin geprüft, ist es möglich, nal, the Canadian Medical Association Journal, and the
dass vom ersten Einreichen bei einem Journal bis Journal of the American Medical Association. Canadian
zur tatsächlichen Veröffentlichung ein Jahr oder Medical Association Journal 150: 1611–1615
mehr vergeht.
Wichtig ist auch, dass die Seniorautoren einen
wesentlichen Beitrag zur Veröffentlichung beitragen,
vor allem wenn eine Autorin noch nicht so viel Pub-
likationserfahrung hat.
Zusammenfassung
Der Aufbau von wissenschaftlichen Arbeiten ist in
der Struktur sehr ähnlich, in den Details unterschei-
den sich die Vorgaben der Hochschulen. Neben
dem korrekten Aufbau der Arbeit sind Schlüssigkeit
291 14
Wissenschaft praktisch –
evidenzbasierte Praxis
Valentin Ritschl, Tanja Stamm, Gerold Unterhumer
Literatur – 306
z
en
Evidenzbasierte Praxis (EBP) ist das Treffen von
Kl
ie
id
nt
Ev
therapeutischen oder diagnostischen Entscheidun-
EBP
gen unter Einbezug der jeweils besten verfügbaren
Evidenz. Der Begriff „Evidenz“ bedeutet wissen-
schaftlicher Beweis aus entsprechenden qualitativ Expertise
hochwertigen Studien.
Um evidenzbasierte Entscheidungen treffen
zu können, müssen somit 4 Faktoren (Kielhofner Umwelt
2006a, Sheldon 2007, Taylor 2007, Sackett et al. 1996)
berücksichtigt werden (nur die Ergebnisse aus den
Studien zu betrachten reicht nicht aus, . Abb. 14.1):
. Abb. 14.1 Die 4 Säulen der evidenzbasierten Praxis
4 Werte/Ziele/Vorstellungen der Patientin
4 (Erfahrungs-)Wissen der Therapeutin
4 aktuelle wissenschaftliche 4 Die gesteigerte Arbeitszufriedenheit der
Forschungsergebnisse Professionalisten durch die Maximierung
4 institutionelle und politische Kontextfaktoren der therapeutischen oder diagnostischen
Wirksamkeit (Moore et al. 2006).
Aktuelle Studien zu diesen Faktoren zeigen, dass 4 Evidenzbasiertes Arbeiten steigert die profes-
das Heranziehen von Werten, Zielen oder Vorstel- sionelle Glaubwürdigkeit und fördert damit das
lungen der Patientin, das (Erfahrungs-)Wissen der Ansehen einer Berufsgruppe (Bailey et al. 2007,
Therapeutin sowie die institutionellen und politi- Curtin u. Jaramazovic 2001, Moore et al. 2006,
schen Kontextfaktoren bereits täglich als Quellen Sheldon 2007).
genutzt werden, um klinische Entscheidungen zu 4 Der Schutz vor rechtlichen Folgen, zum
treffen. Evidenzen werden allerdings derzeit von Beispiel Klagen, durch die Vermeidung von
allen Quellen am wenigsten für klinische Entschei- Behandlungsfehlern: Um diese zu vermeiden
dungsfindungen herangezogen (Döpp et al. 2012, muss „nach dem jeweiligen Stand der Wissen-
Ritschl et al. 2015). Somit fokussiert dieses Kapitel schaft“ behandelt werden (Bundesministerium
vor allem auf die Nutzung von wissenschaftlichen Gesundheit 2015).
14 Studien (externe Evidenz).
z C – Comparison
14.2 Ablauf eines evidenzbasierten Vergleichsgruppen werden in klinischen Fragestel-
Prozesses lungen nicht immer miteingebunden. Sie dienen zur
Abgrenzung, wenn ein Vergleich zwischen 2 unter-
Der Prozess der EBP verläuft in 5 Schritten und wird schiedlichen Vorgehensweisen im Zentrum des Inte-
manchmal durch einen 6. Schritt erweitert (Law et al. resses steht. Beispiele: eine andere (neue) Therapie-
2007, zitiert in Lin et al. 2010, S. 165): form im Vergleich zu einer konventionellen oder im
1. Formulieren einer klinischen Fragestellung Vergleich zu keiner Behandlung (Placebogruppe),
2. Literaturrecherche der Vergleich der diagnostischen Aussagekraft einer
3. Lesen und bewerten der Literatur neuen Untersuchungsmethode mit einem Refe-
4. Implementierung des Wissens in die Praxis renzverfahren. Ein Referenzverfahren wird auch als
5. Evaluation der Implementierung „Goldstandard“ bezeichnet.
6. Berichten des neu erworbenen Wissens
z O – Outcome
Diese Komponente sollte klar spezifizieren, welches
14.2.1 Schritt 1: Formulieren einer Ergebnis der Intervention von Interesse ist. Dies
klinischen Fragestellung sollte in direkter Verbindung mit dem Ziel des Pati-
enten stehen. Beispiele: Verminderung von Schmerz,
Der erste Schritt im EBP-Prozess, das Formulieren Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit, diagnosti-
einer relevanten Fragestellung, ist für den weiteren sche Aussagekraft und Nützlichkeit einer Untersu-
Ablauf wichtig. Je konkreter die Fragestellung formu- chungsmethode oder Partizipation an Alltagshand-
liert wird, desto klarer und fokussierter können die lungen wie der Schule.
Ergebnisse für die Praxis genutzt werden (Onady u.
Raslich 2003, zitiert in Lin et al. 2010, S. 165). Eine z T – Time
klar formulierte Fragestellung richtet sich typischer- Gemeint ist der Zeitrahmen, in dem die Intervention
weise nach den PICOT-Kriterien (Del Mar et al. das Outcome erreichen soll, ob beispielsweise eine
2013, Melnyk u. Fineout-Overholt 2010). Intervention nicht nur effektiv, sondern auch effizient
ist. Beispiele: die Anzahl von Kontrolluntersuchun-
z P – Patient/Problem/Population gen innerhalb von 5 Jahren, die Auswirkungen von
Dieser Teil der Frage macht klar, um wen es sich Strahlenanwendungen nach 20 Jahren.
handelt. In der Praxis ist es der Klient, dessen Situa- Es wird zwischen Hintergrund- und Vorder-
tion oder Zustand der Anlass für eine EBP-Recherche grundfragen unterschieden. Hintergrundfragen
ist. Beispiele: Kinder mit Asperger-Syndrom, adipöse sind Fragen, die allgemeines Wissen über Interven-
Frauen im mittleren Alter, Frauen im gebärfähigen tionen erfragen, wie zum Beispiel „Welche Thera-
Alter bei Röntgenuntersuchungen, Kinder in der pieformen existieren für Kinder mit Asperger-Syn-
Computertomographie. drom?“. Hintergrundfragen bestehen somit meist
294 Kapitel 14 · Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis
nur aus 2 der vorher besprochenen Elemente (Person Artikeln pro Jahr in den Gesundheitsberufen sehr
und Intervention). Vordergrundfragen wollen spe- aufwendig wäre. In Datenbanken wird mit Schlüs-
zifisches Wissen über Interventionen erfragen, wie selbegriffen („keywords“) systematisch nach Arti-
zum Beispiel „Zeigen regelmäßige Massagen oder keln gesucht, die für die Beantwortung der Fragestel-
eine Behandlung nach sensorischer Integrationsthe- lung potenziell interessant sind. Ein weiterer Vorteil
rapie (Jean Ayres) bessere Ergebnisse bei Kindern von Datenbanken ist die Vorselektion von Zeitschrif-
mit Asperger-Syndrom in Bezug auf eine Verbesse- ten – es werden hauptsächlich Journale mit Peer-Re-
rung der Aufmerksamkeit im Schulalltag?“. Vorder- view-Verfahren geführt (Taylor 2007).
grundfragen bestehen meist aus den 5 beschriebenen
PICO-Elementen (Straus et al. 2011). z Internet
Das Internet bietet freien Zugang zu einer Unzahl
an Informationen. Es ist allerdings schwierig, inner-
14.2.2 Schritt 2: Literaturrecherche halb dieser Informationen zwischen richtigen,
wertvollen und falschen zu unterscheiden. Deswe-
Der zugleich anfangs herausfordernde wie auch gen sollte es eher vermieden werden, Literatur nur
wichtige zweite Schritt besteht in der Suche nach zum Beispiel in Google zu suchen (Hoffmann et al.
Literatur, mit der die zuvor gestellte Frage beantwor- 2013).
tet werden soll. Hier stellen sich die Fragen: Wonach
suche ich und was will ich finden? Prinzipiell stehen z Bücher
unterschiedliche Ressourcen (Bücher, Zeitschriften, Bücher stellen eine weitere Quelle zur Literatur-
Datenbanken, Internet) für die Suche in/nach Lite- recherche dar. Das Problem bei Büchern ist, dass
ratur zur Verfügung. sie meist kein aktuelles Wissen bezüglich Inter-
ventionen beinhalten. Außerdem kann nicht klar
z Zeitschriften/Journale gesagt werden, ob das Wissen in Büchern auf wis-
Zeitschriften bieten die aktuellsten und besten wis- senschaftlichen Erkenntnissen beruht oder einfach
senschaftlichen Ergebnisse. Bei Journalen muss zwi- Expertenmeinungen darstellt. Bücher bieten auf
schen solchen mit und ohne Peer-Review-Verfah- der anderen Seite einen guten Überblick über
ren unterschieden werden. Peer-Review Verfahren Grundlagen. Wenn sich die Frage auf Grundla-
bedeutet in diesem Zusammenhang eine (zumeist genwissen bezieht (z. B. „Welche Symptome zeigen
anonymisierte) Prüfung der Studie/des Artikels Menschen, die an Morbus Parkinson erkrankt
durch mindestens 2 unabhängige Forscher oder sind?“), bieten Fachbücher eine gute Möglich-
Personen mit ähnlicher Expertise. Diese entschei- keit, sich dieses Wissen anzueignen. Bezieht sich
14 den, ob der Artikel den Anforderungen in Bezug auf die Frage allerdings auf aktuelles wissenschaftli-
wissenschaftlichen Gehalt, Aktualität und andere ches Wissen, sind Bücher eine ungenügende Quelle
Gütekriterien entspricht. Nur wenn diese Perso- und Journale sind ihnen vorzuziehen (Straus et al.
nen den Artikel als wertvoll befinden, wird er auch 2011, Taylor 2007).
veröffentlicht. Um qualitätsvolle Evidenzen für die
Beantwortung der Fragestellung zu finden, sollten
demnach nur Artikel aus Zeitschriften mit Peer- Datenbanken
Review-Verfahren gesucht werden (Hoffmann et Um EBP anzuwenden, wird empfohlen aktuelle
al. 2013). Artikel (aus den letzten 3–5 Jahren) in Datenban-
ken zu suchen. Folgende Datenbanken können emp-
z Datenbanken fohlen werden:
Datenbanken bieten eine Struktur, um die Viel-
zahl an veröffentlichten Studien in den Journalen z PubMed und Medline
„beherrschen“ zu können und verfügbar zu haben. Sie sind die wichtigsten Datenbanken für medizini-
Sonst müssten „per Hand“ alle möglichen Journale sche, therapeutische bzw. diagnostische Literatur.
durchgeblättert werden, was bei über 3 Millionen Alle Berufsgruppen können hier wichtige Literatur
14.2 · Ablauf eines evidenzbasierten Prozesses
295 14
finden. Die Recherche in der Datenbank PubMed Schlüsselwörter
ist von jedem Internetanschluss kostenlos möglich. Um in den Datenbanken zielgerichtet suchen zu
Medline ist eine kostenpflichtige Datenbank, die können, müssen aus der Fragestellung heraus die
PubMed sehr ähnlich ist. Verfügbar im Internet unter Schlüsselwörter („keywords“) definiert werden.
www.pubmed.com oder unter www.ncbi.nlm.nih.gov/ Beispiel: „Zeigen regelmäßige Massagen oder eine
pubmed. Behandlung nach sensorischer Integrationsthera-
pie (Jean Ayres) bessere Ergebnisse bei Kindern mit
z Cochrane Library Asperger-Syndrom in Bezug auf eine Verbesserung
Hier findet man nur Literaturevaluationen und der Aufmerksamkeit im Schulalltag?“ Keywords:
Metaanalysen (Reviews) zu bestimmten Themen- „massage, sensory integration, children, autism,
gebieten in der Medizin und den nicht ärztlichen attention“. Wie hier zu sehen ist, müssen diese ins
Gesundheitswissenschaften. Die Suchergebnisse Englische übersetzt werden, da in den Datenbanken
sind meist geringer in der Anzahl, die verfügbaren mit den englischen Begriffen gesucht wird.
Artikel sind jedoch von hoher Qualität. Die Recher-
che in der Datenbank ist kostenlos verfügbar unter > Die Übersetzung der eigenen Fachsprache
www.cochrane.org. ins Englische kann anfänglich eine
Herausforderung darstellen. Nicht immer ist
z OT-Seeker die erste Übersetzung auch diejenige, die
Diese Datenbank ist eine rein ergotherapeutische in den Datenbanken zu den gewünschten
Datenbank. Zugänglich ist sie ebenfalls kostenlos Ergebnissen führt. Beispielsweis führt
unter www.otseeker.com. die Suche nach dem deutschen Begriff
„Arbeitszufriedenheit“ in seinen englischen
z PEDro Übersetzungen „work satisfaction“ und
Die Datenbank PEDro ist das physiotherapeuti- „job satisfaction“ zu (möglicherweise)
sche Pendant zu OT-Seeker. Sie schließt verwandte anderen Ergebnissen. Gute Anregungen
Bereiche und physikalische Methoden mit ein und für Übersetzungen bieten vor allem die
ist ebenfalls kostenlos zugänglich: www.pedro.org. Referenzlisten von bereits gefundenen oder
au/german. bekannten Studien.
z CINAHL
z z Verknüpfung von Schlüsselwörtern
Diese Datenbank bietet vor allem Literatur für thera-
peutischen Berufe wie Ergotherapie, Physiotherapie Für die Suche müssen die Suchwörter korrekt ver-
und Pflegewissenschaft. Sie ist kostenpflichtig und knüpft sein. Dazu dienen sogenannte „logische Ver-
meist nur über Bibliotheken verfügbar. knüpfungen“ (Boole-Operatoren):
tomography“, „image quality“. Die Datenbank zeigt gesucht werden. Hierfür wird nach dem Wortstamm
alle Publikationen an, in denen der Begriff genau in entweder ein * oder ein $ als Zeichen (je nach Daten-
dieser Konstellation vorkommt, und liefert daher bank) hinzugefügt. Beispiel: occupation* inkludiert
andere Ergebnisse als die AND-Verknüpfung. auch occupational oder occupations.
Beispielsweise wird bei Studien zum Wer noch nicht viel Erfahrung mit dem Lesen von
Mamakarzinom in der Einleitung mehr oder wissenschaftlicher Literatur hat, wird viele Vokabeln,
weniger immer über die Inzidenz/Prävalenz, vor allem im Methoden- und Ergebnisteil, nicht ver-
die Auswirkungen der Erkrankung auf Person stehen und nicht in einem üblichen Sprachwörter-
und Gesellschaft schreiben sowie auf die buch finden. Diese Begriffe sind dann methodische
„Lücke“ in der wissenschaftlichen Literatur oder statistische Begriffe, die zum Beispiel in diesem
hingewiesen. Dieser Teil liefert für erfahrene Buch nachgeschaut werden können oder im Internet
Praktiker nicht immer neues Wissen bezogen recherchiert werden können.
auf wissenschaftliche Erkenntnisse in der
Anwendung der EBP.
4 Im Teil der Methodik wird das Vorgehen für Bewerten der Studien
diese Studie beschrieben. Dieser Teil ist vor Sind nun Studien gefunden, werden müssen sie auf
allem für die Beurteilung der Qualität der ihre Qualität hin gesichtet werden. Nicht jede Studie
Studie wichtig. hat denselben Wert. Aufgrund bestimmter Kriterien
4 Ergebnisse: Dieser Teil liefert die neu gewon- werden Studien nach Forschungsansatz, Design und
nenen Erkenntnisse dieser Studie. Er ist der Güte unterschieden (Level der Evidenz). Diese Ein-
wichtigste, weil hier die Ergebnisse möglichst stufungen sind vor allem wichtig, um die Studien
neutral, also ohne Interpretationen, dargestellt vergleichen zu können. Beispiel: Falls eine Studie
werden. mit einem geringen Evidenzlevel zu dem Ergebnis
4 Die Diskussion versucht, die Ergebnisse kommt, dass eine Intervention sinnvoll erscheint,
zu interpretieren und zu einem vertieften aber eine Studie mit einem hohen Evidenzlevel das
Verständnis zu führen. Dieser Teil ist Gegenteil als Resultat erhält, dann ist Letztere als
vermutlich der interessanteste für eine „gewichtiger“ zu werten.
Anwendung der EBP. Hier wird neben der
Bedeutung der Ergebnisse auch auf mögliche z z Evidenzpyramide
Implikationen für die Praxis und noch In der Literatur finden sich dazu unzählige Einstu-
ungeklärte Aspekte eingegangen. fungen für Evidenzen, die sich aber nur in Details
unterscheiden, abhängig davon, ob sie sich mit Inter-
Werden beim Lesen die wichtigsten Erkenntnisse ventionen, diagnostischen Tests, prognostischen
gleich in das CAT-Formular übertragen, dann ist Faktor oder anderen Problemstellungen beschäf-
eine Bewertung der Artikel später einfacher und tigen. Für die alltägliche Praxis werden die Inter-
schneller durchführbar (Download der Vorlage über ventionsstudien am häufigsten gesucht. Deswegen
14 http://extras.springer.com). Das CAT-Formular bietet beschäftigt sich dieses Kapitel vor allem mit dem
dem Nutzer im Weiteren auch eine gute Möglich- Analysieren von Interventionsstudien. Im Kapitel
keit, die Studien vergleichend gegenüberzustellen über Assessments (7 Kap. 11) wird auf die Möglich-
und systematisch zu vergleichen. keit der Analyse von Assessmentstudien mit den
COSMIN-Kriterien eingegangen. Dieses System
> Es ist wichtig, dass der Artikel im Ganzen eignet sich auch für eine EBP-Anwendung.
verstanden wird. Es wird deswegen Um eine Studie dem korrektem Level zuordnen
empfohlen, eher schneller zu lesen und zu können, muss in einem ersten Schritt festgestellt
weniger einzelne Wörter, die nicht bekannt werden, ob diese eine qualitative Studie, eine quan-
sind, zu recherchieren. Zu viele Wörter titative Studie oder ein Review darstellt. In gut ver-
nachzuschlagen ist sehr anstrengen, fassten Artikeln wird dies meist schon im Abstract
stört den Lesefluss und wirkt schnell erwähnt, oder es wird im Methodenteil des Volltex-
demotivierend. Im Gegensatz dazu ist tes ersichtlich. Da leider nicht immer alle Studien gut
es motivierend, wenn man schnell einen beschrieben sind, hier ein paar Tipps, um auch ohne
Überblick bekommt und den Artikel im eine klare Nennung diese Unterscheidung treffen zu
Zusammenhang versteht. können:
14.2 · Ablauf eines evidenzbasierten Prozesses
299 14
4 Wenn es sich um eine quantitative Studie randomisierten kontrollierten Studien. Diese
handelt, dann finden sich im Text meist Zusammenführung von vielen Studien hat
statistische Begriffe, es wurden Tests für die die meiste Aussagekraft bezogen auf die
Datensammlung verwendet und/oder Frage- Wirksamkeit von Interventionen.
bögen in großer Zahl verschickt.
4 Wenn es sich um eine qualitative Studie > Nicht jedes Review fällt unter diese
handelt, wurden für die Datenerhebung meist Einstufung. Scoping Reviews sind zum
Interviews, Fokusgruppen oder Beobach- Beispiel meist nicht gut geeignet für eine
tungen durchgeführt. Die Teilnehmerzahl Anwendung in der EBP.
ist meist eher kleiner. In der bildgebenden
Diagnostik wird unter qualitative Studie 4 Level 2: An zweiter Stelle finden sich die rando-
auch jener methodische Zugang verstanden, misierten kontrollierten Studien. Diese sind
bei dem beispielsweise die Bildqualität von somit auch die wertvollsten, empirisch-quanti-
Röntgenbildern von Betrachtern mittels einer tativen Studien.
mehrstufigen Skala (Likert-Skala) beurteilt 4 Level 3: An dritter Stelle stehen nicht rando-
wird. Die Ausprägungen können sein: „ausge- misierte experimentelle Studien, bei denen auf
zeichnet – eingeschränkt – ausreichend – nicht eine Randomisierung verzichtet wird – dies
beurteilbar“. sollte gut beschrieben und begründet sein.
4 Finden sich sowohl Dinge aus dem ersten 4 Level 4: Nicht experimentelle Studien,
und zweiten hier beschriebenen Punkt, dann wie zum Beispiel bestimmte klinische
kann es sich um eine Mixed-methods-Studie Beobachtungen, bilden den vierten Level.
handeln. Dies bedeutet, dass die Studie Es existieren bei diesen Designs üblicher-
sowohl qualitative als auch quantitative Teile weise keine Kontrollgruppen. Somit kann
beinhaltet. ein gemessener Effekt nicht eindeutig einer
4 Wird im Methodenteil nur das Recherchieren Intervention zugeordnet werden. Studien ab
von Literatur beschrieben, handelt es sich um diesem Level eigenen sich nicht mehr gut für
ein Review (7 Kap. 8). eine EBP. Diese Studien sollten für eine EBP
4 Immer wieder werden auch Artikel gefunden, nur eingesetzt werden, wenn höhere Studien
bei denen eine Beschreibung der Methodik noch fehlen.
mehr oder weniger fehlt. Dies wird dann 4 Level 5: Expertenmeinungen und Experten-
üblicherweise als Expertenmeinung eingestuft. diskussionen bilden die unterste Ebene. Diese
Studien sind für die EBP nicht anwendbar,
Um Interventionsstudien einzustufen, eignet sich die da keinerlei Effekte ableitbar sind, sondern
klassische Einteilung von Sackett, Rosenberg, Gray, die subjektive Meinung oder Einstellung von
Haynes und Richardson (1996), die sich allerdings Personen widergespiegelt wird.
nur auf quantitative Studien bezieht. Als Erweiterung
dient die Einteilung von Tomlin und Borgetto (2011), Wie schon erwähnt, entwickelten Tomlin und
da diese Einteilung im Gegensatz dazu auch die qua- Borgetto (2011) eine „Evidenzpyramide“, die
litativen Daten berücksichtigt (s. unten). Gerade für neben den quantitativen Studien auch qualitative
nicht ärztliche Gesundheitsberufe sind auch quali- berücksichtigt. Die „Evidenzpyramide“ hat 3
tativen Studien von Bedeutung. Für eine genauere Seiten (klinisch-experimentelle Forschung, Ver-
Beschreibung der Forschungsdesigns sei auf die ent- sorgungsforschung, qualitative Forschung) und
sprechenden Kapiteln dieses Buches verwiesen. einen Boden (deskriptive Forschung). Die 3 Seiten
Die Level der Evidenz werden bei Sackett et al. (1996) teilen sich in jeweils 4 Level, gleiche Level werden
wie folgt beschrieben. auch als gleichwertig gesehen. Die deskriptive For-
4 Level 1: An erster Stelle stehen die syste- schung bietet keine Evidenzen im eigentlichen Sinn
matische Reviews und Metaanalysen von (. Tab. 14.1).
300 Kapitel 14 · Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis
Klinisch-experimentel- Versorgungsforschung
le Forschung
Klinisch-experimentelle Forschung Dieser Teil der Beispielsweise können die Interventionen einer
Pyramide ähnelt sehr stark der Einteilung von Sacket. Stroke-Unit eines Spitals und mit denen eines
Als klinisch-experimentelle Forschung werden in anderen Spitals verglichen werden. Es werden
diesem Fall Interventionsstudien im experimentel- dazu keine Patientinnen zusätzlich an die Klinik
len Setting verstanden, die verschiedene Interventio- geholt, sondern es wird nur der normale Betrieb
nen vergleichen. Die Levels: für die Studie herangezogen. Es werden aber
4 Metaanalysen von klinisch-experimentellen auf diesem Level mögliche Störfaktoren bei
Studien der Durchführung ausgeschlossen oder bei der
4 randomisierte kontrollierte Studien Analyse berücksichtigt.
4 klinische kontrollierte, nicht randomisierte 4 Forschung/Vergleich an bereits bestehenden
Studien Gruppen ohne Kovarianzanlyse oder Fall-
4 Einzelfallstudien (Patientinnen sind sich selber Kontroll-Studien: Entspricht dem oberen Level,
die Kontrollgruppe – vergleiche dazu beispiels- allerdings wird kein zusätzliches Augenmerk
weise das ABA-Design, 7 Abschn. 7.2.2) auf mögliche Störfaktoren gelegt.
14 4 Vorher-Nachher-Studien ohne Kontrollgruppe.
Versorgungsforschung Ebenfalls wie die klinisch-
experimentelle Forschung besteht diese Seite der Qualitative Forschung Im Unterschied zu den
Pyramide aus quantitativen Designs. Versorgungs- bisher beschriebenen Seiten wird bei der qualitativen
forschung meint die wissenschaftliche Untersuchung Forschung nicht anhand des verwendeten Designs
von Menschen in Verbindung mit Dienstleistungen gereiht, sondern anhand der Güte, die bei der Studie
und Produkten unter Alltagsbedingungen (also im angewandt wurde. Das bedeutet, dass eine Reihung
klinischen „Alltag“ und nicht im experimentellen rein anhand des Designs nicht möglich ist:
Setting). 4 Metaanalyse von qualitativen Studien
4 Metaanalysen von Studien aus dem Bereich der 4 qualitative Studien, durchgeführt an einer
Versorgungsforschung. Personengruppe mit strenger Güte (Güte im
4 Forschung/Vergleich an bereits bestehenden qualitativen Bereich, 7 Abschn. 6.5)
Gruppen mit Kovarianzanalyse (Ausschluss von 4 qualitative Studien, durchgeführt an einer
Störfaktoren): Gemeint ist, dass hier Gruppen Personengruppe mit wenig Güte
von Patientinnen verwendet werden, die zum 4 qualitative Studien mit nur einer Person
Beispiel innerhalb eines Spitals bereits bestehen. (Datenquelle)
14.2 · Ablauf eines evidenzbasierten Prozesses
301 14
Deskriptive Forschung Dieser Bereich ist nicht ephpp.ca/tools.html ), GRADE ( www.bmj.com/
mehr gut geeignet für eine Anwendung in der EBP: content/bmj/336/7650/924.full.pdf ), CONSORT-
4 systematischer Literaturüberblick über Statement für RCT ( www.consort-statement.org/
deskriptive Studien Media/Default/Downloads/Translations/German_de/
4 Vergleichs- und Korrelationsstudien CONSORT%20Statement%20German%202011.pdf )
4 multiple Fallstudien ohne Kontrollgruppe: oder Risk of Bias von Cochrane (www.riskofbias.info).
bedeutet in diesem Fall, dass auch Patienten
selbst nicht als Kontrolle fungieren – im z Qualitative Studien
Gegensatz zu Einzelfallstudien (vgl. Auch hier bietet die McMaster-Universität Unter-
klinisch-experimentelle Forschung), deskrip- stützung für Einsteiger: Formular zur kritischen
tiven Umfragen, normativen Studien Besprechung qualitativer Studien (selber Link wie
4 Einzelfallstudie ohne Kontrollgruppe oben). Auch in der qualitativen Forschung bieten
sich weitere Tools an, wie zum Beispiel CASP (Critical
> Die gefundenen Studien werden nun Appraisal Skills Programme): http://media.wix.com/
den jeweiligen Levels zugeordnet. Je ugd/dded87_29c5b002d99342f788c6ac670e49f274.pdf.
höherwertiger eine Studie ist, desto mehr
Bedeutung hat auch ihr Ergebnis. z Reviews
Für systematische Übersichtsarbeiten und Metaana-
lysen wird PRISMA empfohlen, das kostenlos her-
Beurteilung der Qualität der Studien untergeladen werden kann: www.prisma-statement.
Im nächsten Schritt wird nun die Studie selbst org . Auch hier existiert eine deutsche Version:
beurteilt. Für die Beurteilung von Studien ist einer- www.thieme-connect.de/products/ejournals/pdf/
seits interessant und wichtig, wie die Studie selbst 10.1055/s-0031-1272978.pdf.
durchgeführt wurde, andererseits wie die Ergeb-
nisse dargestellt wurden. Die Durchführung der z Assessments
Studie ist für die „interne Validität“ (Gültigkeit der COSMIN (Consensus-based Standards for the Selec-
Studie bezogen auf die Korrektheit der Durchfüh- tion of Health Measurement Instruments) steht unter
rung) und die Ergebnisdarstellung für die Umset- www.cosmin.nl kostenlos zur Verfügung, ist allerdings
zung durch den Praktiker mit den jeweiligen Klien- recht komplex in der Durchführung. Abgewandelt
ten (externe Validität) von Bedeutung. Um diese kann auch das McMaster-Formular für quantitative
Beurteilung durchführen zu können, existieren Studien bei der Bewertung von Assessmentstudien
unterschiedlichste Formulare, die den Praktiker herangezogen werden.
unterstützen:
z Bildgebende Diagnostik
z Quantitative Studien Insbesondere zur kritischen Beurteilung von dia-
Für Einsteiger in die Beurteilung wird das Formular gnostischen Studien wurde das QUADAS-Tool
zur kritischen Besprechung quantitativer Studien (Quality Assessment of Studies of Diagnostic Accu-
der McMaster-Universität empfohlen: http://srs- racy included in Systematic Reviews) konzipiert und
mcmaster.ca/research/evidence-based-practice- weiterentwickelt, es steht unter www.biomedcentral.
research-group. Es bietet auch Beschreibungen von com/1471-2288/3/25 kostenlos zum Download zur
Designs und statistischen Begriffen. Außerdem ist Verfügung (Whiting et al. 2011).
es eines der wenigen Formulare, das in deutscher
Sprache zur Verfügung steht. Einziges Manko: Die
englischen Begriffe aus den Studien müssen in die 14.2.4 Schritt 4: Implementierung des
deutsche Sprache übersetzt werden. Es existieren Wissens in die Praxis
noch detailliertere und auch komplexere Formulare,
wie zum Beispiel EPHPP, welches auch einen guten Der vierte Schritt der EBP stellt die Implementierung
Start in die Bewertung von Studien erlaubt (www. des neu erworbenen Wissens in die Praxis dar. Dafür
302 Kapitel 14 · Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis
muss, wie Eingangs besprochen, auf alle Säulen der hier politische Faktoren wie fehlende gesetzliche
EBP eingegangen werden (Schell u. Schell 2008). Grundlagen (z. B. „dry needling“ ist für Therapeuten
Das neu erworbene Wissen aus der wissenschaft- in Österreich verboten, in der Schweiz erlaubt) oder
lichen Evidenz stellt eine Entscheidungsgrundlage ungünstige institutionelle Rahmenbedingungen (z.
dar („scientific reasoning“). Interventionen mit B. fehlende örtliche Verfügbarkeit von Magnetreso-
sehr guten Studienergebnissen können natürlich nanztomographen erfordert alternative Bildgebungs-
implementiert werden. Interventionen mit unkla- verfahren) maßgeblich die Entscheidung über eine
ren Ergebnisse bzw. Interventionen, die bisher nicht mögliche Intervention oder Diagnostik beeinflussen.
untersucht wurden, können implementiert werden,
falls die Klientin entsprechend darüber aufgeklärt > Entscheidend für ein erfolgreiches
wurde, sie das Risiko verstanden hat und einver- Zusammenspiel dieser 4 Säulen ist eine
standen ist. Voraussetzung dafür ist, dass die wei- bewusst geführte Aufklärung der Patientin.
teren Faktoren alle positiv sind. Das heißt, die Kli- Es muss dafür auch ausreichend Zeit zur
entin ist dafür, die Expertin hat gute Erfahrungen Verfügung stehen.
damit gemacht, und von den Kontextfaktoren her
ist es durchführbar. Im Gegensatz zur häufig gehörten Kritik, dass EBP
nur eine Entscheidung bezüglich der wissenschaft-
! Falls es Studien gibt, die von einer lichen Evidenz ist, soll hier noch einmal klar gesagt
Intervention oder einem diagnostischen Test werden, dass EBP immer die Integration dieser 4
aufgrund der Patientensicherheit abraten, Faktoren darstellt und somit mehr ist als nur das
dann darf dieser nicht angewandt werden „scientific reasoning“.
(das würde einem Behandlungsfehler
entsprechen).
14.2.5 Schritt 5: Evaluation der
Die Werte, Ziele, Wünsche des Klienten sind ent- Implementierung
scheidend, ob und welche Intervention oder Diag-
nostik durchgeführt wird („narrative reasoning“). Es Wurde nun neues Wissen in die Praxis implementiert,
ist wichtig, sich die Zeit für den Patienten zu nehmen, dann muss dies öfter als „normale Routinetätigkeiten“
um einerseits die Entscheidungen und Wünsche zu evaluiert werden. Für diese Evaluation stehen unter-
verstehen und andererseits auf diese Erfahrungen schiedliche Möglichkeiten zu Verfügung. Entsprechend
aufbauen zu können. Der Patient muss (möglichst) der Problemstellung muss eine passende Evaluierung
neutral über unterschiedliche Behandlungs- und gewählt werden. Beispiel: Wird eine neue Intervention
14 Testmöglichkeiten aufgeklärt werden, um in weite- genutzt, um Gelenke zu mobilisieren, dann bietet sich
rer Folge eine eigenverantwortliche und selbststän- ein Goniometer an, um den Therapiefortschritt zu eva-
dige Entscheidung treffen zu können. luieren. Kommt es zu keiner Verbesserung oder gar zu
Die Erfahrungen des Experten/der Professio- einer Verschlechterung des Zustands des Patienten,
nalisten hat einen ebenso wichtigen Stellenwert wie dann muss die Implementierung der neuen Interven-
die anderen Säulen der EBP („narrative reasoning). tion überdacht und ggf. beendet werden.
Eigene Erfahrungen bezogen auf Outcome und Pro-
gnose werden mit dem Patienten besprochen, um
aufbauend auf den anderen Säulen gemeinsam einen 14.2.6 Schritt 6: Berichten des neu
Therapie- oder Diagnoseplan zu entwickeln. erworbenen Wissens
Die Institutionellen und politischen Kontext-
faktoren wirken sich förderlich oder hinderlich auf Aus ethischen und wirtschaftlichen Gründen wird
mögliche Interventionsmöglichkeiten aus („prag- empfohlen das neu erworbene Wissen nach einer
matic reasoning“). Nicht jede Intervention, auch Implementierung auch den Kolleginnen zu berich-
wenn sie zum Beispiel sehr gute Evidenzen hat, kann ten. So kann der Handlungsspielraum an Abteilun-
in jeder Situation durchgeführt werden. Es können gen erweitert werden und Diagnostikerinnen und
14.2 · Ablauf eines evidenzbasierten Prozesses
303 14
Therapeutinnen Zeit und Aufwand für gleiche oder 4 P = Patient mit Verdacht auf KHK und
ähnliche EBP-Recherchen erspart bleiben. erhöhtem Ruhepuls >65 bpm
4 I = Verabreichung von oralen β-Blockern
4 C = Patient mit Ruhepuls <65 bpm (keine
14.2.7 EBP-Beispiel aus der β-Blocker)
Radiologietechnologie 4 O = diagnostische Aussagekraft der Herz-CTA
ident mit Patient <65 bpm
Gerold Unterhumer
2. Literaturrecherche
Ausgangssituation 4 Schlagwörter („keywords“): heart CT, heart
An einem Institut für Computertomographie (64-Zei- rate, image quality
len-Multislice-CT) werden routinemäßig alle Stan- 4 Datenbanken: PubMed, ScienceDirect,
darduntersuchungen durchgeführt. Das durch- CINAHL, Cochrane
schnittliche Alter der Patienten beträgt 55±20 Jahre. 4 Ergebnisse: (ohne Jahreseinschränkung) 398,
Die Untersuchungsprotokolle für die computertomo- 22.773, 26, 58
graphischen Untersuchungen sind auf diese Patien-
tengruppe hinsichtlich indikationsspezifischer Bild- Die Filterung der Rechercheergebnisse nach Jahren
qualität und geringstmöglicher Strahlendosis (nach reduziert die Anzahl auf 331 für die letzten 10 Jahre,
dem ALARA-Prinzip1) optimiert. Vor kurzer Zeit hat 185 für die letzten 5 Jahre. An diesem Verlauf ist die
in unmittelbarer Umgebung eine Kardiologin eine Aktualität der Fragestellung bereits an der Anzahl
Ordination eröffnet und überweist seitdem regelmä- der Publikationen der letzten 10 Jahre zu erkennen.
ßig Patienten zum Ausschluss einer koronaren Herz-
erkrankung (KHK) zur Herz-CT-Untersuchungen in 3. Lesen und bewerten der Literatur
dieses Institut. Bei der Durchführung der Computerto- Die Lesestrategie erfolgt in Reihenfolge:
mographien stellt sich für die durchführenden Radio- 1. Abstract lesen, Art der Studie und ihren
logietechnologen das Problem dar, dass die angefertig- Evidenzlevel (siehe Pyramide) bestimmen.
ten CT-Bilder der Koronararterien, insbesondere bei Wenn hohe Evidenz zugeschrieben (Guideline,
Patienten mit erhöhtem Ruhepuls, eine eingeschränkte RCT, CT), dann
diagnostische Aussagekraft haben. Dies zeigt sich vor 2. Methodenteil und
allem an Bewegungsartefakten, die die Koronararte- 3. Ergebnisse lesen und
rien unscharf darstellen und somit eine eingeschränkte 4. mittels einer Checkliste (QUADAS-Checkliste
diagnostische Aussagekraft zur Folge haben. oder eigene erstellen) die Studien beurteilen.
1. Formulieren einer klinischen Fragestellung Beim Lesen der gefundenen Studien, zeigt sich,
Die Frage wird anhand des PICO-Formats formu- dass in den klinischen Studien wiederholt auf eine
liert: „Kann die Verabreichung von oralen β-Blo- Leitlinie der American Heart Association (AHA)
ckern bei Patienten mit einem Ruhepuls höher als Bezug genommen wird. Daraufhin wird direkt
65 Schläge pro Minute (>65 bpm) die Herzfrequenz nach dieser Leitlinie recherchiert, und in der
(HF) für die Herz-CTA an einem 64-Zeilen-MSCT aktualisierten Version von 2014 werden konkrete
soweit senken, dass die diagnostische Aussagekraft Hinweise auf die State-of-the-art-Durchführung
der Untersuchung im Vergleich zu Patienten mit einer Herzgefäßcomputertomographie gefunden,
einem Puls <65 bpm ident ist?“ die mit den im Institut vorhandenen Ressourcen
und technischen Möglichkeiten kompatibel und
umsetzbar sind.
1 ALARA steht für „as low as reasonably achievable“ und
4. Implementierung des Wissens in die Praxis
beschreibt das Prinzip, die für eine indikationsspezifische
Bildqualität notwendige Strahlendosis „so gering wie ver- Es wird in Rücksprache mit den befundenden Radio-
nünftiger Weise erreichbar“ zu halten. logen eine aktualisierte SOP („standard operating
304 Kapitel 14 · Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis
4 Zeitmangel: Dem Praktiker steht in der 4 Strategien, die jeder einzelne Praktiker
Arbeitszeit kaum Zeit für eine Literatur- umsetzten kann: Jeder Praktiker muss sich
recherche oder das Lesen von Studien zu der Bedeutung und der Verpflichtung von
Verfügung. EBP bewusst sein. Bezüglich der fehlenden
4 Fehlender Internetzugang: In der Arbeitsstelle Fertigkeiten sollten Fortbildungen besucht
wird kein/nicht ausreichend Zugang zum werden. Dieses Buch kann eine Unterstützung
Internet bereitgestellt. beim Einstieg in die Arbeit mit Evidenzen
4 Zu geringe personelle Ressourcen: Die erleichtern.
Arbeitszeit muss für die Behandlung 4 Strategien, die den Arbeitgeber betreffen: Der
der Patientinnen eingeteilt werden – es Arbeitgeber sollte bezogen auf die Bedeutung
bleiben keine Ressourcen, um Studien zu und Verpflichtung zur EBP aufgeklärt werden,
recherchieren. damit finanzielle, zeitliche sowie personelle
4 Fehlende Fertigkeiten: Praktikerinnen haben Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. EBP
das Gefühl, für das Suchen und Beurteilen ist ein Teil der alltäglichen Praxis und muss
von Studien zu wenig Wissen/Erfahrung zu ebenso wie Dokumentation oder Patientenbe-
haben. handlung innerhalb der Arbeitszeit ermöglich
4 Hohe Kosten: Die Kosten für Schulungen in werden.
Fertigkeiten bezüglich EBP sind zu hoch. 4 Strategien, die eine Leitung betreffen:
4 Fehlende Relevanz für die Praxis: Praktike- Leitungen könnten die Recherchen für das
rinnen erleben die Problemstellungen in den Team übernehmen. Somit stünde die Leitung
Studien als nicht relevant für die alltägliche als Bindeglied zwischen Forschung und Praxis.
Berufspraxis. Diese Strategie kann eine kostengünstigere
4 Negative Einstellungen bezogen auf Forschung und effizientere Methode darstellen, als im
und Forschungsergebnisse: Personen oder Gegensatz dazu das gesamte Team in die
Institutionen erleben Forschung als nicht Technik der Recherche usw. auszubilden.
notwendig, da nach den Vorgaben der Insti- 4 Strategien, die die Ausbildung betreffen:
tution/der Verordnungen gearbeitet werden Ausbildungsstätten bilden eine gute
muss. Möglichkeit, um die Praktikerin bei der
4 Unzureichende Motivation: nach EBP zu Anwendung der EBP zu unterstützen.
arbeiten bedeutet vor allem am Anfang eine 4 Ausbildungsstätten können regelmäßige
Auseinandersetzung mit einer neuen Materie EBP-Recherchen im Praktikum als
und ein hoher zeitlicher Aufwand – dies kann Praktikumsaufgaben verlangen. Dadurch
schnell zu Frustration oder Ablehnung führen. können Studierende EBP in der Ausbildung
4 Sprachliche Barrieren: Die meist englische vertiefen und regelmäßig anwenden, wenn
Sprache und auch die „wissenschaftliche“ diese in der Praxis zu arbeiten beginnen.
Sprache können das Lesen und Verstehen von 4 Praktikerinnen können als Praktikumsan-
Artikeln erschweren. leiterin Studierende im Praktikum bitten,
EBP-Projekte durchzuführen. So kann
Um nun eine Implementierung der EBP zu gewähr- auch eine unerfahrene Praktikerin aktuelle
leisten, muss sich jede Praktikerin und jeder Prak- Evidenzen zu ihrer Arbeit bekommen, und
tiker Strategien überlegen, um diesen Barrieren in Studierende erleben den Nutzen der EBP.
der eigenen Praxis begegnen zu können. Im Folgen- 4 Praktiker könnten sich mit EBP-Fragestel-
den werden mögliche Strategien diskutiert (Ritschl lungen an Ausbildungsstätten wenden, die
et al. 2015). Prinzipiell wird empfohlen, möglichst diese im Weiteren innerhalb von Bachelor-
„global“ anzusetzen, also möglichst viele Strategien oder Seminararbeiten bearbeiten und somit
gleichzeitig umzusetzen. die Praktiker servicieren können.
306 Kapitel 14 · Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis
4 Strategien, die die Forscherin betreffen: Kielhofner G (2006a) Research in occupational therapy.
Methods of inquiry for enhancing practice. Davis, Phila-
Forschungsergebnisse sollten in der eigenen
delphia
Landessprache und auch in leicht verständ- Kielhofner G (2006b) The necessity of research in a Profession.
licher „wissenschaftlicher“ Sprache verfasst In: Kielhofner G (ed) Research in occupational therapy.
werden. Davis, Philadelphia, pp 2–9
4 Strategien, die Berufsgruppen/Politik betreffen: Melnyk B M, Fineout-Overholt E (2010) Evidence-based prac-
tice in nursing & healthcare: A guide to best practice, 2nd
Das Erstellen von Leitlinien, leserfreundlicher
ed. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia
Kurzfassungen sowie der kostenlose Zugang zu Moore K, Cruickshank M, Haas M (2006) Job satisfaction in
Datenbanken und Literatur könnten Aufgaben occupational therapy: a qualitative investigation in urban
von Berufsverbänden/Politik sein. Australia. Australian Occupational Therapy Journal 53
(1):18–26
Novak I, McIntyre S (2010) The effect of education with work-
Zusammenfassung
place supports on practitioners' evidence-based practice
Die Implementierung von Evidenzen in die Praxis, knowledge and implementation behaviours. Australian
also die evidenzbasierte Praxis, ist vom Gesetzge- Occupational Therapy Journal 57 (6): 386–93
ber vorgeschrieben und bringt einen Nutzen für die Ritschl V, Schönthaler E, Schwab P, Strohmer K, Wilfing N, Zet-
eigene Praxis mit sich. Bei der Umsetzung existieren tel-Tomenendal M (2015) Evidenzbasierte Praxis: Einstel-
lungen, Kompetenzen, Barrieren und Arbeitszufrieden-
jedoch viele Barrieren, für die jede einzelne Praktike-
heit österreichischer Ergotherapeuten – eine Umfrage.
rin Strategien erarbeiten muss. Eine große Ressour- Ergoscience 10 (3): 97–107
ce hierbei stellen die Ausbildungsstätten dar. Roberts A, Barber G (2001) Applying research evidence to
practice. British Journal of Occupational Therapy 64 (5):
223–27
Literatur Sackett DL, Rosenberg WMC, Gray JAM, Haynes RB, Richardson
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Journal of Occupational Therapy 61 (1): 85–91 soning in occupational therapy. Lippincott Williams &
Bundesministerium Gesundheit (2015) Wann liegt ein Wilkins, Philadelphia
Behandlungsfehler vor? Patientenrecht bei Schadensfälle. Sheldon M (2007) Evidence-based practice in occupational
www.gesundheit.gv.at/Portal.Node/ghp/public/content/ health: description and application of an implementation
Patientenrecht_beiSchadensfaellen.html, letzter Zugriff effectiveness model. Work 29 (2): 137–43
3.8.2015 Straus SE, Richardson WS, Glasziou P, Haynes RB (2011) Eviden-
Cameron K, Ballantyne S, Kulbitsky A, Margolis-Gal M, Daug- ce-based medicine: How to practice and teach it, 4th ed.
herty T, Ludwig F (2005) Utilization of EBP by registered Elsevier, Oxford, p 293
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14 Curtin M, Jaramazovic, E (2001) Occupational therapists' views therapists. Blackwell, Oxford
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tating evidence-based practice: Process, strategies, and
resources. American Journal of Occupational Therapy 64:
164–171
307
Serviceteil
Stichwortverzeichnis – 308
Stichwortverzeichnis
F
227 – Inhaltsanalyse 95
Behinderung 241 – Literatur 188
– ICF-basierte Forschung 243 – Medien 189
Fallbericht Siehe case study
Behörde 28 – natürliche Daten 188
Fall-Kontroll-Studie 158
Beobachtungen 119, 125, 149, 190 – neurowissenschaftliche 187
Fallzahl 143
– Analyse 126 – Organisationsdaten 192
Fehler
beta-Fehler 198 – qualitative 119, 122–127
– Signifikanztests 198
Bewegungsanalyse 182–186 – user generated content 189
Feldnotiz 87
Bildgebung 150–151, 153–154, 156 Datensammlungsinstrumente 122
Filme und Fernsehen 191
Biomarker 187 Datenschutz 33–36
Fisher-Test 200
biomedizinische Forschung – Qualitätssicherung 37
Fokusgruppe 122
157–160 Datenschutzbehörde 32
Förderantrag 278
Blindung 141 Datenschutzgesetz 30
Forschung
Blutsicherheitsgesetz 30 Datenschutzmeldung 28
– angewandte 5, 27
Bundesamt für Sicherheit im Debriefing 44, 124
– anwendungsbezogene 4
Gesundheitswesen 32 Delphi-Studien 232–233, 235
Stichwortverzeichnis
309 A– O
P Schreibstil 289
schriftliche Dokumente 105 V
Paradigma, kritisches 271 ScienceDirect 295 Validität 138, 258–259
Partizipation 241 Scoping Review 209 – kulturelle 260
Partizipative – Datenanalyse 217 – strukturelle 260
Gesundheitsforschung 112–116 Selbstberichte 119 Variablen 202
PEDro 295 Signifikanztests 198 Varianzanalyse für
Perzentile 196 Skalierungsverfahren 164 Messwiederholungen 201
Pflege 4 Software Varianzhomogenität 200
Phänomenologie 69–77 – Datenauswertung 193 Veränderungssensitivität 261
PICO 273, 293 – grounded theory 86 Veröffentlichen 289
PICOT 293 SPSS 176 Verschwiegenheit 35
Pilotstudien 148 – Datenauswertung 193 Versorgungsforschung 5, 300
Pilottestung 174 Standardabweichung 197 Vertrauenswürdigkeit 109–110
Placeboeffekt 140 Standardmessfehler 256 Verwaltungsdaten 191
Positivismus 270 Statistik, induktive 197–198 Videoanalyse 190
Praktikabilität 262 Stichprobengröße Visuelle Analogskala 166
Prävalenzstudie 159 – qualitative Studien 63 Volltexte 296
Pretesting 174 – quantitative Studien 64 Vorlagepflichten 32
Proposal 28 Stichprobenverfahren Vortestung 174
Pseudonymisierung 33–34 – nicht probabilistische 63
PubMed 294 – probabilistische 62
Strahlenschutzgesetz 30
Streuungsmaße 195
W
Q Studiendesigns 54
– qualitative 59
Wilcoxon-Test 201
Wirksamkeitsstudien 243
Q-Test von Cochran 200 – quantitative 54, 145–146, 148, 150 Wissenschaft
Qualitätssicherung, Datenschutz 37 Studienprotokoll 28 – anwendungsbezogene 5, 27
Querschnittstudie 159 Studienqualität 301 – grundlagenbezogene 5, 27
Quotenstichprobe 63 Survey 159 – Kriterien 27
SWOT-Analyse 275
R T Z
Randomisierte kontrollierte klinische Zeitplan 278
Studien (RCT) 138–144 Täuschungsexperimente 45 Zirkel, hermeneutischer 100
Randomisierung 140 Test-Retest 255 Zitation Siehe Literaturverzeichnis
Range 196 Tests Zufallsstichprobe 62
Rasch-Analyse 167 – diagnostische 150–151, 153,
Rating-Skala 165 155–156
Realist Review 210 – nicht parametrische 200
– Datenanalyse 217 – parametrische 198
Regressionsanalyse 202 Themenbildung, qualitative 116–119
Reliabilität 138, 254, 256 theoretical sampling 68
Responsivität 261 Transkription, Interview 104, 117
Reviews 54, 208–209, 219 Triangulation 129, 231
– Durchführung 212, 215–219 t-Test 198
– integrative 211 Typ-I-Fehler 198
– metaempirische 211 Typ-II-Fehler 198
– metanarrative 211
– systematische 139, 209, 216
Rücklaufquote, Fragebögen 175–176 U
Umcodierung
S – Excel 179
– SPSS 178
Sampling 83 Umfragen 149
Schlüsselwörter 295 Universitätsgesetz 31
Schneeballverfahren 63 user generated content 189