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Studium Pflege, Therapie, Gesundheit

Die Reihe „Studium: Pflege, Therapie, Gesundheit“ richtet sich an Studierende von pflege-
und gesundheitsbezogenen Studiengängen. Das Angebot ist vielfältig und reicht von Pflege,
Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie über Gesundheitsmanagement/ -Ökonomie,
Pflegepädagogik, Gesundheitsförderung und Gesundheitspsychologie bis hin zu Gesundheits-
tourismus, Fitnessökonomie und Neurorehabilitation. Hier finden Sie die relevanten Themen
mit interdisziplinärer Ausrichtung für Ihr Studium und konkrete Unterstützung beim wissen-
schaftlichen Arbeiten.

Mehr Informationen zu dieser Reihe auf http://www.springer.com/series/15210


Valentin Ritschl
Roman Weigl
Tanja Stamm
Hrsg.

Wissenschaftliches
Arbeiten und
Schreiben
Verstehen, Anwenden, Nutzen für die Praxis

Mit 52 Abbildungen
Herausgeber
Valentin Ritschl Roman Weigl
Medizinische Universität Wien Universitätsklinikum St. Pölten
Institut für Outcomes Research Karl Landsteiner Privatuniversität für
Wien Gesundheitswissenschaften
Österreich St. Pölten
Österreich
Tanja Stamm
Medizinische Universität Wien
Institut für Outcomes Research
Wien
Österreich

Die Darstellung von manchen Formeln und Strukturelementen war in einigen elektronischen
Ausgaben nicht korrekt, dies ist nun korrigiert. Wir bitten damit verbundene Unannehmlich-
keiten zu entschuldigen und danken den Lesern für Hinweise.
Ergänzendes Material finden Sie unter http://extras.springer.com/ Bitte im entsprechenden
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ISBN 978-3-662-49907-8 ISBN 978-3-662-49908-5 (ebook)


DOI 10.1007/978-3-662-49908-5
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V

Geleitwort

Grundlagen und anwendungsbezogene Wissenschaft in den Gesundheitsberufen sind vielfach


gekennzeichnet von Anforderungen und Problemstellungen, die sich aus dem Zusammenwir-
ken von natur-, sozial-, human- und geisteswissenschaftlichen Einflussfaktoren in konkreten
gesundheitswissenschaftlichen Forschungskontexten ergeben. Die vorliegende Publikation
skizziert ihre Spezifika, thematisiert rechtliche und ethische Rahmenbedingungen und gibt
Hinweise zur Auswahl und Durchführung zielführender Forschungsmethoden.

Hervorzuheben ist auch der Blick auf die forschenden Praktikerinnen und Praktiker, die sich der
Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen aus dem unmittelbaren beruflichen Handlungs-
feld und außerhalb etablierter Forschungseinrichtungen zuwenden und damit anwendungs-
bezogene Forschung als ein Element wissenschaftsbasierter Praxis leben. Thematisiert werden
die spezifische Situation und die Besonderheiten von Forschung im niedergelassenen Bereich.

Die umfassende Auswahl und Beschreibung relevanter methodischer Zugänge für spezifisch
gesundheitswissenschaftliche Themenbearbeitungen sowohl qualitativer wie quantitativer Art
und ihre für den Forschenden klar nachvollziehbare Erläuterung zeichnet die vorliegende Pu-
blikation aus – es gelingt den Autoren, eine Brücke zwischen theoretischem Forschungswissen
und der Umsetzung in die Forschungspraxis von Gesundheitsberufen zu schaffen.

Ich danke den Autorinnen und Autoren sowie allen weiteren beitragenden Expertinnen und
Experten für das vorliegende Werk ganz herzlich und wünsche allen Lesern eine erkenntnis-
reiche und Forschungsfreude entwickelnde Lektüre.

Silvia Mèriaux-Kratochvila
Wien, April 2016
VII

Vorwort

Dieses Buch entstand gemäß den Wünschen von Studierenden. Es basiert auf zahlreichen me-
thodischen Diskussionen, vielen Vorlesungsunterlagen und Skripten sowie auf zusätzlichen
methodischen Textbausteinen. Die Leserinnen und Leser dieses Buchs sind Studierende in den
Gesundheitswissenschaften im Bachelor- oder Masterstudium sowie forschungsinteressierte
Praktiker, die einen Überblick über verschiedene Forschungsmethoden erhalten möchten. Die
Autorinnen und Autoren dieses Buches kommen aus den unterschiedlichen Gesundheitsberu-
fen und Gesundheitswissenschaften und haben daher Beispiele aus eben diesen unterschied-
lichen Fachgebieten ausgewählt. Wenn aber spezielles und fortgeschrittenes Wissen in bestimm-
ten methodischen Bereichen erworben werden soll, reicht dieses Buch nicht aus, sondern wir
verweisen auf weiterführende, vertiefende Literatur sowie auf Unterricht und Vorlesungen.

Die Gesundheitsberufe finden in den deutschsprachigen Ländern Deutschland, Österreich


und Schweiz sehr unterschiedliche Situationen hinsichtlich wissenschaftlicher Entwicklung
vor. Gemeinsam haben wir alle aber das Bestreben nach einer weiterführenden wissenschaft-
lichen Ausrichtung, die oft mithilfe und durch angrenzende und benachbarte wissenschaftliche
Disziplinen möglich wurde und wird. Ohne diese Förderer aus anderen Disziplinen wäre unsere
wissenschaftliche Entwicklung nicht auf einem so guten Weg. Wir sind aber selbst aufgerufen,
Methoden anzupassen und weiterzuentwickeln, damit diese sich eignen, um unsere Frage-
stellung zu beantworten. Dieses Buch soll einen Überblick über die verschiedenen Methoden
geben und zu einer vertieften Auseinandersetzung damit einladen. Bei einer solchen vertieften
Auseinandersetzung mit einer bestimmten Methode kann dieses Buch als Überblick über ver-
schiedene andere Methoden dienen, aber keinesfalls weiterführende Literatur ersetzen. Dieses
Buch dient der Orientierung Bachelor- und Masterstudierender sowie forschungsinteressierter
Praktiker in den Gesundheitsberufen. Methodische Vertiefung ist notwendig und kann anhand
einschlägiger spezialisierter Literatur erfolgen. Ergänzendes Material (Checklisten) finden Sie
unter http://extras.springer.com. Auf dieser Seite geben Sie im Suchfeld die ISBN ein und können
dann die Dokumente herunterladen.

Valentin Ritschl, Roman Weigl, Tanja Stamm


Wien, April 2016
IX

Inhaltsverzeichnis

I Grundlagen der Forschung

1 Grundlagen und anwendungsbezogene Wissenschaft in den


Gesundheitsberufen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Susanne Perkhofer
1.1 Grundlagenbezogene Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.2 Anwendungsbezogene Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.2.1 Von den Grundlagen zur angewandten Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.3 Translationale Forschung – „from bench to bedside“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

2 Forschungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Roman Weigl
2.1 Ablauf des Forschungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.2 Theoriebildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.2.1 Notwendigkeit von Theorie im Forschungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.2.2 Sichtweisen auf die Welt: Deduktion und Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.2.3 Theoriebildung und wissenschaftsmethodischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.3 Forschungsfragen und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.3.1 Wie komme ich zu einer geeigneten Forschungsfrage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.3.2 Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.3.3 Variablen bzw. Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.4 Messtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.4.1 Skalenniveaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.4.2 Konzeptionalisierung und Operationalisierung von Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.4.3 Kappa-Koeffizient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
2.4.4 Goldstandard versus klinischer Standard. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
2.5 Datensammlung und -analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.6 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.6.1 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.6.2 Dissemination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.6.3 Verknüpfung der Ergebnisse im Sinne der Weiterentwicklung der
Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

3 Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25


Tanja Stamm, Gabriele Karner, Jutta Möseneder, Valentin Ritschl,
Susanne Perkhofer, Gerhard Tucek, Roman Weigl
3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
3.2 Forschungsethik im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
3.2.1 Ethik im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
3.2.2 Ethikkommissionen und Ethikanträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
3.2.3 Ethikanträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
3.2.4 Weitere Vorlagepflichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
X Inhaltsverzeichnis

3.2.5 Forschung am Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32


3.2.6 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
3.3 Datenschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
3.3.1 Identifikationsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
3.3.2 Datenflüsse und Speicherorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
3.3.3 Möglichkeiten der Anonymisierung und Pseudonymisierung im Forschungsprozess . . . . . . . 34
3.3.4 Verschwiegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
3.3.5 Anonymität und Verschwiegenheit als Bestandteil des Forschungsvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . 35
3.3.6 Aufbewahrung und Löschung von Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
3.3.7 Anonymisierung in Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
3.3.8 Qualitätssicherung im Rahmen des Datenschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.4 Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.4.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.4.2 Historischer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
3.4.3 Forschungsprojekte an Krankenanstalten und vergleichbaren Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . 39
3.4.4 Gesundheitsbezogene Forschung abseits klinischer Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
3.4.5 Entscheidungsprozess über die Notwendigkeit eines Ethikkommissionsantrag . . . . . . . . . . . . 40
3.4.6 Umsetzung der Grundsätze des „informed consent“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
3.4.7 Leitlinien für die Entwicklung einer Einverständniserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
3.5 Der forschende Praktiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

II Forschungsmethoden

4 Die richtige Methode wählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51


Valentin Ritschl, Barbara Prinz-Buchberger, Tanja Stamm
4.1 Erster Schritt: Forschungsansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
4.1.1 Gibt es zu dieser Thematik bereits Studien? Wenn ja, welche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
4.1.2 Reviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
4.1.3 Quantitative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
4.1.4 Qualitative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
4.1.5 Forschungsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
4.2 Zweiter Schritt: Forschungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
4.2.1 Reviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
4.2.2 Quantitative Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
4.2.3 Qualitative Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
4.2.4 Andere Forschungsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

5 Stichprobenverfahren und Stichprobengröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61


Valentin Ritschl, Tanja Stamm
5.1 Probabilistische Stichprobenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
5.2 Nicht probabilistische Stichprobenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
5.3 Stichprobengröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
5.3.1 Qualitative Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
5.3.2 Quantitative Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
XI
Inhaltsverzeichnis

6 Qualitative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Susanne Perkhofer, Verena Gebhart, Gerhard Tucek, Frederick J. Wertz,
Roman Weigl, Valentin Ritschl, Helmut Ritschl, Barbara Höhsl,
Barbara Prinz-Buchberger, Tanja Stamm, Julie S. Mewes, Martin Maasz,
Christine Chapparo, Verena C. Tatzer, Petra Plunger, Elisabeth Reitinger,
Katharina Heimerl
6.1 Was ist qualitative Forschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
6.2 Qualitative Forschung in den Gesundheitsberufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
6.3 Qualitative Forschungsdesigns und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
6.3.1 Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
6.3.2 Interpretative phänomenologische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
6.3.3 „Grounded theory“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
6.3.4 Ethnographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
6.3.5 „Case study“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
6.3.6 Inhaltsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
6.3.7 Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
6.3.8 Partizipative Gesundheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .112
6.3.9 Qualitative Themenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
6.4 Qualitative Datensammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
6.4.1 Wann werden Daten qualitativ gesammelt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
6.4.2 Methoden der qualitativen Datensammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
6.4.3 Erstellung der Datensammlungsinstrumente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
6.4.4 Analyse der gesammelten Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
6.5 Gütekriterien für qualitative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
6.5.1 Einteilung der Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
6.5.2 Strategien zum Erreichen der Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

7 Quantitative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137


Susanne Perkhofer, Tanja Stamm, Valentin Ritschl, Elisabeth Hirmann,
Andreas Huber, Gerold Unterhumer, Heidi Oberhauser, Roman Weigl,
Andreas Jocham, David Moser, Lisa Ameshofer, Sabrina Neururer
7.1 Was ist quantitative Forschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
7.1.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
7.1.2 Quantitativ Forschen in den Gesundheitsberufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
7.2 Quantitative Forschungsdesigns und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
7.2.1 Randomisierte kontrollierte klinische Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
7.2.2 Klinisch kontrollierte Studien und andere quantitative Designs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
7.2.3 Studien in der bildgebenden Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
7.2.4 Studien in der biomedizinischen Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
7.3 Quantitative Messverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
7.3.1 Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
7.3.2 Untersuchungen im Bewegungslabor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
7.3.3 Andere Verfahren zur Datensammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
7.4 Auswertung quantitativer Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
7.4.1 Deskriptive Datenauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
7.4.2 Induktive Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
XII Inhaltsverzeichnis

8 Reviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
Agnes Sturma, Valentin Ritschl, Silke Dennhardt, Tanja Stamm
8.1 Wann werden Literaturreviews durchgeführt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
8.2 Themenstellungen für Literaturreviews als eigene Forschungsprojekte. . . . . . . . . . . . . . . 208
8.3 Arten von Literaturreviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
8.3.1 Systematische Literaturreviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
8.3.2 Metaanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
8.3.3 Scoping Review . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
8.3.4 Realist Review . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
8.3.5 Metasynthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
8.3.6 Metasummary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
8.3.7 Metaethnographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
8.3.8 Integrative Reviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
8.3.9 Metanarrative Reviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
8.3.10 Metaempirische Reviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
8.4 Welche Schritte müssen bei einem Literaturreview eingehalten werden? . . . . . . . . . . . . . 212
8.4.1 Schritt 1: Identifizierung und Formulierung einer geeigneten
Problem- und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
8.4.2 Schritt 2: Identifizierung relevanter Literatur durch eine umfassende
Literaturrecherche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
8.4.3 Schritt 3: Selektion relevanter Literatur und kritische Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
8.4.4 Schritt 4: Darstellung, Analyse und Zusammenfassung der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
8.4.5 Schritt 5: Interpretation und Präsentation der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
8.5 Stärken und Schwächen von Literaturreviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

9 Weitere Forschungsmethoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223


Kathrin Malfertheiner, Helmut Ritschl, Valentin Ritschl, Michaela Stoffer,
Anna Bösendorfer, Stefanie Höchtl
9.1 Klinischer Behandlungspfad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
9.1.1 Wann soll die Methode angewendet werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
9.1.2 Themenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
9.1.3 Welche Schritte müssen eingehalten werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
9.2 Methodenmix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
9.2.1 Anwendungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
9.2.2 Unterscheidungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
9.2.3 Stärken und Schwächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
9.3 Delphi-Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
9.3.1 Wann soll die Methode angewendet werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
9.3.2 Themenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
9.3.3 Welche Schritte müssen eingehalten werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
9.3.4 Stärken und Schwächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

10 ICF-basierte Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239


Ursula Costa
10.1 Internationale Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung
und Gesundheit (ICF) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
10.1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
XIII
Inhaltsverzeichnis

10.1.2 Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240


10.2 ICF als Bezugsrahmen für Forschungsvorhaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
10.2.1 Überlegungen zu Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
10.2.2 Themenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
10.2.3 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
10.3 Stärken und Schwächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

11 Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Erna Schönthaler
11.1 Wahl des Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
11.1.1 Standardisierte Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
11.1.2 Normierte Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
11.1.3 Kriterienreferenzierte Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
11.1.4 Inhaltliche Kriterien für die Wahl des Assessment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
11.2 Methoden der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
11.3 Gütekriterien, psychometrische Eigenschaften, Messeigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
11.3.1 Reliabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
11.3.2 Validität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
11.3.3 Responsivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
11.3.4 Praktikabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
11.4 Suche und Checklisten für die Bewertung von Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
11.4.1 Wie und wo suche ich nach geeigneten Assessments? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
11.4.2 Checklisten für die Auswahl und Bewertung von Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

III Anwendung in der Praxis

12 Themenfindung und Recherche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269


Valentin Ritschl, Erika Mosor, Ulrike Ritschl, Tanja Stamm,
Heidrun Becker, Agnes Sturma
12.1 Den richtigen Forschungsansatz finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
12.1.1 Forschungsparadigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
12.2.1 Was interessiert mich? – Das Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
12.2 Forschungsstand und Forschungslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
12.2.2 Welche Anforderungen sollen Forschungsarbeiten erfüllen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
12.3 Was will ich wissen? – Die Forschungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
12.3.1 Soll ich das Projekt weiterverfolgen? – Kriterien zur Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
12.4 Vorbereitungen für die wissenschaftliche Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

13 Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281


Valentin Ritschl, Larisa Baciu, Tanja Stamm
13.1 Formaler Aufbau, Grobgliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
13.1.1 Deckblatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
13.1.2 Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
13.1.3 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
XIV Inhaltsverzeichnis

13.1.4 Andere formale Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282


13.2 Abstract richtig schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
13.3 Der rote Faden – die Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
13.3.1 Gliederung und Inhalte einer wissenschaftlichen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
13.4 „Cite them right“ – Zitation und Literaturverwaltungsprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
13.4.1 Wie wird nun korrekt zitiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
13.4.2 Kurze Einführung in Mendeley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
13.5 Verständlich und wissenschaftlich – der ideale Schreibstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
13.6 Veröffentlichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

14 Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291


Valentin Ritschl, Tanja Stamm, Gerold Unterhumer
14.1 Evidenzbasierte Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
14.1.1 Was ist evidenzbasierte Praxis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
14.1.2 Warum soll ich evidenzbasiert arbeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
14.1.3 Was muss ich bedenken wenn ich evidenzbasierte Praxis in meinen
beruflichen Alltag integrieren will? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
14.2 Ablauf eines evidenzbasierten Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
14.2.1 Schritt 1: Formulieren einer klinischen Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
14.2.2 Schritt 2: Literaturrecherche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
14.2.3 Schritt 3: Lesen und bewerten der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
14.2.4 Schritt 4: Implementierung des Wissens in die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
14.2.5 Schritt 5: Evaluation der Implementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
14.2.6 Schritt 6: Berichten des neu erworbenen Wissens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
14.2.7 EBP-Beispiel aus der Radiologietechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
14.3 Diskussion über die Implementierung evidenzbasierter Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
14.3.1 Barrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
14.3.2 Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
XV

Autoren

Lisa Maria Ameshofer, M.Sc. Verena Gebhart, MA (Soziologin)


(Sportwissenschaftlerin) AZW Ausbildungszentrum West für
Klinikum Theresienhof Gesundheitsberufe der Tirol Kliniken GmbH
Flurgasse 1/15 Innrain 98
A-8010 Graz A-6020 Innsbruck

Larisa Baciu, M.Sc. (Ergotherapeutin) Assoz. Prof. Dr. Katharina


IMC Fachhochschule Krems Heimerl (Medizinerin und
Piaristengasse 1 Gesundheitswissenschaftlerin)
A-3500 Krems Alpen Adria Universität Klagenfurt Wien Graz
Fakultät für interdisziplinäre Forschung und
Prof. Dr. Heidrun Becker Fortbildung
(Ergotherapeutin) Institut für Palliative Care und OrganisationsEthik
Zürcher Hochschule für angewandte Schottenfeldgasse 29
Wissenschaften A-1070 Wien
Gesundheit
Technikumstr. 81 Elisabeth Hirmann, MBA (Orthoptik)
CH-8401 Winterthur FH Campus Wien
Orthoptik
Anna Bösendorfer, B.Sc. (Ergotherapeutin) Favoritenstraße 226
FH Campus Wien A-1100 Wien
Health Assisting Engineering
Favoritenstraße 226 Stefanie Höchtl, B.Sc. (Ergotherapeutin)
A-1100 Wien Universitätsklinikum Tulln
Neurologie
Dr. Christine Chapparo Alter Ziegelweg 10
(Ergotherapeutin, Senior Lecturer) A-3430 Tulln
University of Sydney
Faculty of Health Sciences Mag. Barbara Höhsl, B.Sc.
Discipline of Occupational Therapy (Ergotherapeutin und Biologin)
1825 Lidcombe NSW Emmausgemeinschaft Sankt Pölten
Australia Herzogenburgerstr. 48–50
A-3100 St. Pölten
Mag. Dr. Ursula Costa
(Ergotherapeutin) Andreas Huber, M.Sc. (Orthoptik)
fh gesundheit – Zentrum für Gesundheitsberufe FH Campus Wien
Tirol GmbH Orthoptik
Innrain 98 Favoritenstraße 226
A-6020 Innsbruck A-1100 Wien

Prof. Dr. Silke Dennhardt Andreas Jocham, M.Sc. (Physiotherapeut)


(Ergotherapeutin) Sportunion Steiermark
Alice Salomon Hochschule Berlin Physiotherapie
Alice-Salomon-Platz 5 Gaußgasse 3
D-12627 Berlin A-8010 Graz
XVI Autoren

FH-Prof. Mag. Gabriele Karner, MBA Dipl.-Ing. Sabrina Neururer


(Diätologin und Psychologin) (Biostatisitikerin)
Fachhochschule St. Pölten GmbH Department für Medizinische Statistik,
Studiengang Diätologie – Institut für Informatik und Gesundheitsökonomie
Gesundheitswissenschaften Medizinische Universität Innsbruck
Matthias-Corvinus-Straße 15 Schöpfstraße 41/1
A-3100 St. Pölten A-6020 Innsbruck

Martin Maasz, MBA (Logopäde) Mag. Heidi Oberhauser


FH Campus Wien (Biomedizinische Analytikerin)
Bachelorstudiengang Logopädie – Phoniatrie – fh gesundheit – Zentrum für Gesundheitsberufe
Audiologie Tirol GmbH
Favoritenstraße 226 Innrain 98
A-1100 Wien A-6020 Innsbruck

Kathrin Malfertheiner, M.Sc. Priv. Doz. Dr. Susanne Perkhofer


(Ergotherapeutin) (Biomedizinische Analytikerin)
Krankenhaus Sterzing fh gesundheit – Zentrum für Gesundheitsberufe
Abteilung für Neurorehabilitation Tirol GmbH
Margarethen-Straße 24 Innrain 98
I-39049 Sterzing A-6020 Innsbruck

Julie S. Mewes, MA, BA Mag. pharm. Dr. phil. Petra Plunger,


(Sozialanthropologin) MPH (Gesundheitswissenschaftlerin und
Humboldt-Universität zu Berlin Pharmazeutin)
Institut für Europäische Ethnologie Alpen Adria Universität Klagenfurt Wien Graz
Boxhagener Str. 57 Fakultät für interdisziplinäre Forschung und
D-10245 Berlin Fortbildung
Institut für Palliative Care und
FH-Prof. Mag. Dr. Jutta M. Möseneder OrganisationsEthik
(Ernährungswissenschaftlerin) Schottenfeldgasse 29
Fachhochschule St. Pölten GmbH A-1070 Wien
Studiengang Diätologie – Institut für
Gesundheitswissenschaften Barbara Prinz-Buchberger
Matthias-Corvinus-Straße 15 (Ergotherapeutin)
A-3100 St. Pölten IMC Fachhochschule Krems
Piaristengasse 1
David Moser, B.Sc. (Sportwissenschaftler) A-3500 Krems
Klinikum Theresienhof
Am Grünanger 67 Assoz. Prof. Dr. Elisabeth Reitinger
A-8130 Frohnleiten (Psychologin, Sozial- und
Wirtschaftswissenschaftlerin)
Erika Mosor, M.Sc. (Ergotherapeutin) Fakultät Alpen Adria Universität Klagenfurt Wien
Medizinische Universität Wien Graz interdisziplinäre Forschung und Fortbildung
Institut für Outcomes Research Institut für Palliative Care und
Zentrum für Medizinische Statistik, Informatik OrganisationsEthik
und Intelligente Systeme Schottenfeldgasse 29
Spitalgasse 23 A-1070 Wien
A-1090 Wien
XVII
Autoren

Dr. phil. Helmut Ritschl, M.Sc., MA Agnes Sturma, M.Sc., B.Sc.


(Gesundheitswissenschaftler und (Physiotherapeutin)
Radiologietechnologe) Medizinische Universität Wien
FH Joanneum Graz Christian Doppler Labor zur Wiederherstellung
Radiologietechnologie von Extremitätenfunktion
Eggenberger Allee 9–13 Spitalgasse 23
A-8020 Graz A-1090 Wien

Ulrike Ritschl, M.Sc. (Ergotherapeutin) FH Campus Wien


Glockengasse 28/6 Health Assisting Engineering
A-1020 Wien Favoritenstraße 226
A-1100 Wien
Valentin Ritschl, M.Sc., M.Sc.
(Ergotherapeut und Datenanalytiker) Verena C. Tatzer, M.Sc. (Ergotherapeutin)
Medizinische Universität Wien Fachhochschule Wiener Neustadt
Institut für Outcomes Research Johannes-Gutenberg-Straße 3
Zentrum für Medizinische Statistik, Informatik A-2700 Wiener Neustadt
und Intelligente Systeme
Spitalgasse 23 FH-Prof. Priv. Doz. Mag. Dr. Gerhard Tucek
A-1090 Wien (Musiktherapeut und Anthropologe)
IMC Fachhochschule Krems
FH Campus Wien Department of Health
Ergotherapie Piaristengasse 1
Favoritenstraße 226 A-3500 Krems
A-1100 Wien
FH-Prof. Mag. Gerold Unterhumer
Mag. Erna Schönthaler (Ergotherapeutin) (Radiologietechnologe)
FH Campus Wien Fachhochschule Campus Wien
Ergotherapie Radiologietechnologie
Favoritenstraße 226 Favoritenstraße 226
A-1100 Wien A-1100 Wien

Univ.-Prof. Dr. Tanja Stamm, Ph.D., Roman Weigl, M.Hlth.Sc.


M.Sc., MBA (Ergotherapeutin und (Ergotherapeut und Health Scientist)
Gesundheitswissenschaftlerin) Klinische Abteilung für Kinder- und
Medizinische Universität Wien Jugendheilkunde,
Institut für Outcomes Research Universitätsklinikum St. Pölten
Zentrum für Medizinische Statistik, Informatik Karl Landsteiner Privatuniversität für
und Intelligente Systeme Gesundheitswissenschaften
Spitalgasse 23 Propst-Führer-Straße 4
A-1090 Wien A-3100 St. Pölten

Michaela Stoffer, M.Sc. (Ergotherapeutin) Frederick J. Wertz, Ph.D., MA, BA


Medizinische Universität Wien (Psychologe)
Institut für Outcomes Research Fordham University
Zentrum für Medizinische Statistik, Informatik Department of Psychology
und Intelligente Systeme 226 Dealy Hall
Spitalgasse 23 Bronx, New York 10458
A-1090 Wien USA
Reviewer

Carmen Mietz, M.Sc. (Ergotherapeutin) Valentin Schmolik, B.Sc. (Studentin


Zentrum für Ergotherapie Luzern GmbH Bachelorstudium Ergotherapie)
Obergrundstrasse 42 FH Campus Wien
CH-6003 Luzern Ergotherapie
Favoritenstraße 226
Markus Schimpfössl (Student A-1100 Wien
Masterstudium Health Assisting
Engineering)
FH Campus Wien
Health Assisting Engineering
Favoritenstraße 226
A-1100 Wien
1 I

Grundlagen der
Forschung
Kapitel 1 Grundlagen und anwendungsbezogene Wissenschaft
in den Gesundheitsberufen – 3
Susanne Perkhofer

Kapitel 2 Forschungsprozess – 9
Roman Weigl

Kapitel 3 Besonderheiten der Forschung im


Gesundheitswesen – 25
Tanja Stamm, Gabriele Karner, Jutta Möseneder, Valentin
Ritschl, Susanne Perkhofer, Gerhard Tucek, Roman Weigl
Ziele
Die Lesenden sind nach dem Studieren dieses Abschnittes in der Lage,
4 Wissenschaft und Forschung als zentrale Aufgaben akademischer
Professionen zu beschreiben,
4 die grundlagenbezogene und anwendungsbezogene Wissenschaft zu
definieren und zu differenzieren,
4 den Ablauf des Forschungsprozesses und dessen Kernelemente zu
benennen und zu präzisieren,
4 die wichtigsten Begriffe in Bezug auf wissenschaftliches Arbeiten zu
unterscheiden und zu definieren,
4 die wissenschaftshistorischen Hintergründe der wichtigsten
forschungsphilosophischen Strömungen zu erläutern,
4 die Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen zu kennzeichnen,
4 über die wichtigsten Grundzüge der Ethik, des Datenschutzes und der
rechtlichen Rahmenbedingungen in Bezug auf Forschungsprojekte im
Gesundheitsbereich Bescheid zu wissen.
3 1

Grundlagen und
anwendungsbezogene
Wissenschaft in den
Gesundheitsberufen
Susanne Perkhofer

1.1 Grundlagenbezogene Wissenschaft – 5

1.2 Anwendungsbezogene Wissenschaft – 5


1.2.1 Von den Grundlagen zur angewandten Forschung – 5

1.3 Translationale Forschung – „from bench to bedside“ – 5

1.4 Ausblick – 6

Literatur – 6

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5_1
4 Kapitel 1 · Grundlagen und anwendungsbezogene Wissenschaft in den Gesundheitsberufen

Wissenschaft und Forschung sind der Motor von und geschlechtsspezifische Aufteilung der Heilkunde
42
1 Innovationen und Weiterentwicklung. Wissen- in einen männlich-herrschenden Anteil der Medizin
schaftler und Wissenschaftlerinnen hinterfragen und einen weiblich-dienenden Anteil der Pflege statt
Annahmen, arbeiten an neuem Wissen und entwi- (Bischoff 1992, Mischo-Kelling 1995). Dem Pflege-
ckeln neue Theorien, Modelle und Einsichten. Neben personal wurde die Fähigkeit, Wissenschaft zu betrei-
einer Spezialisierung in einem bestimmten Bereich ben, schlichtweg nicht zugestanden, sie „müssen sich
ist oft speziell eine methodische Diskussion an den den Anordnungen der Ärzte ohne Kritik fügen und
Schnittstellen zu anderen Fachbereichen besonders ihnen gehorchen […]. Aufgrund ihrer Berufsausbil-
bereichernd. dung müssen besonders die Schwestern die Hoheit
Entwicklungsgeschichtlich gesehen sind Wissen- der Wissenschaft begreifen und einsehen, dass sie
schaft und Forschung eng mit der Akademisierung selbst zu wissenschaftlichem Urteil nicht fähig sind“
einer Profession verbunden. Wissenschaft und For- (Bischoff u. Wanner 1993).
schung zu betreiben und zu lehren sind die zentralen Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelang es
Aufgaben von Universitäten und Fachhochschulen. beispielsweise der Frauenbewegung in Deutschland,
Kennzeichnend sind das Betreiben von Forschung, Zugang für Frauen zu den Universitäten zu errei-
das Generieren von Theorien, die Verbreitung von chen. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis es zu den
gewonnenen Erkenntnissen in Form von wissen- ersten Gründungen von universitären Ausbildungen
schaftlichen Publikationen oder Vorträgen sowie im Pflegebereich kam. 1907 bzw. 1910 wurde in New
das Heranführen zukünftiger Berufsangehöriger an York der erste Lehrstuhl für Pflege an einer Universi-
das dem jeweiligen Akademisierungsgrad entspre- tät errichtet, in Europa war Großbritannien 1956 der
chende wissenschaftliche Arbeiten. Die Medizin ist Vorreiter. Im deutschsprachigen Raum wurde erst
als Profession schon seit Jahrhunderten an Univer- 1987 die erste Professur für Pflege und Sozialwissen-
sitäten verortet und betreibt sowohl Grundlagenfor- schaften etabliert (Bartholomeyczik u. Müller 1997).
schung als auch anwendungsbezogene Forschung. In Österreich mussten Pflegepersonen, die einen aka-
Im Vergleich dazu ist das bei den nicht ärztlichen demischen Abschluss anstrebten, lange Zeit entwe-
Gesundheitsberufen eine vergleichsweise neuere der in andere Länder mit akademischer Pflegeausbil-
Entwicklung. Gerade deshalb waren aber die Medi- dung oder auf andere Studienrichtungen im Inland
zinuniversitäten oftmals ein fördernder Faktor für ausweichen. Die Einrichtung der ersten Institutsab-
die wissenschaftliche Entwicklung der Gesundheits- teilung für Pflegforschung war der Startschuss für
berufe. So sind an Medizinuniversitäten im deutsch- die Akademisierung der Pflege in Österreich. Im
sprachigen Raum die ersten meist interdisziplinären Laufe der nächsten 25 Jahre folgten weitere univer-
Forschungsgruppen der Gesundheitsberufe entstan- sitäre Studiengänge in Wien, Klagenfurt, Graz und
den. Beispiele dafür sind Halle (Deutschland) und Hall (Mayer 2007).
Wien (Österreich). Interdisziplinarität ist damit Neben der Pflegeausbildung an Gesundheits-
ebenfalls ein wichtiger Faktor, um Forschung vor- und Krankenpflegeschulen werden in Öster-
anzutreiben. Eine Vernetzung der Gesundheitspro- reich Studierende in den anderen nicht ärztlichen
fessionen mit anderen Professionen und Disziplinen Gesundheitsberufen an Fachhochschulen auf Bache-
ist essenziell, um Forschungsmethoden in diesen ver- lorniveau ausgebildet. Der Fokus liegt hierbei auf
gleichsweise jungen Bereichen zu entwickeln. der Ausbildung der Studierenden für die Berufsaus-
Auch die Pflege weist eine relativ junge Tradi- übung in der Praxis. Jedoch gewinnt die Forschung
tion im Bereich Wissenschaft und Forschung auf. und Wissenschaft immer mehr an Bedeutung. Dies
Heilen und Pflegen haben seit dem Altertum eine zeigt sich auch im Rahmen von Masterausbildun-
gemeinsame Geschichte, die Aufgaben wurden von gen, die derzeit etabliert werden. Die Grundvoraus-
demselben Personenkreis wahrgenommen. Die setzung für das selbstständige Betreiben von Wissen-
endgültige Aufspaltung der beiden Bereiche vollzog schaft und Forschung auf hohem Niveau ist jedoch
sich im 19. Jahrhundert durch die Verwissenschaft- meist das Doktorat. Doktoratsmöglichkeiten in den
lichung der Medizin und die Errungenschaften in nicht ärztlichen Gesundheitsberufen bestehen in
Naturwissenschaften und Technik (Bartholomeyczik Österreich erst seit ca. 10–15 Jahren. Die nicht ärzt-
u. Müller 1997). Es fand eine streng hierarchische lichen Gesundheitsberufe sind also vergleichsweise
1.3 · Translationale Forschung – „from bench to bedside“
5 1
junge Professionen, die sich ihren Platz in der „scien- die Praxis eine hohe Bedeutung. Die anwendungs-
tific community“ erst erarbeiten müssen. bezogene Wissenschaft schafft praktisch nützliches
Wissen zur Gestaltung, Lenkung und Entwicklung
von Strukturen und Prozessen (Fricke 2010).
1.1 Grundlagenbezogene
Wissenschaft
1.2.1 Von den Grundlagen zur
Die grundlagenbezogene Wissenschaft beinhaltet angewandten Forschung
Forschung, die wie folgt definiert ist: „Basic rese-
arch is experimental or theoretical work under- Der Hauptunterschied zwischen den grundlagen-
taken primarily to acquire new knowledge of the und den anwendungsorientierten Wissenschaften
underlying foundations of phenomena and obser- besteht darin, dass Letztere dezidiert auf die Stiftung
vable facts without any particular application or use eines unmittelbaren Nutzens für die Praxis abzielen.
in view.“ (Organisation for Economic Co-Operation Die Frage des Nutzens kann sich dabei sowohl auf die
and Development 2002) Mikro- (z. B. involvierte Praxispartner) als auch auf
Sie ist demnach eine reine erkenntnisgetriebene die Meso- (z. B. Gemeinde) oder Makroebene (z. B.
Forschung. Hierbei werden Fragestellungen und Pro- Gesellschaft, Nationalökonomie) beziehen.
bleme in einer spezifischen Disziplin mit dem letzten Die „Versorgungsforschung“ befasst sich mit der
Stand des Wissens geklärt. Die Grundlagenforschung „letzten Meile“ der Gesundheitsversorgung hinsicht-
beschäftigt sich also in einem hohen Maße mit fun- lich der Wirkung auf Qualität und Effizienz aus indi-
damentalen neuen Erkenntnissen bzw. Durch- vidueller und sozioökonomischer Perspektive. Eine
brüchen, ohne den Anspruch zu haben, ob diese ihrer vielfältigen Herausforderungen ist das Auffin-
in die Praxis umsetzbar bzw. anwendbar sind. Mit den effektiver Wege, um das in klinischen Studien
anderen Worten dient die Grundlagenwissenschaft generierte Wissen an die jeweiligen Professionen
dem Erkenntnisgewinn und nicht der Anwendung im Gesundheitswesen (einschließlich Patienten) zu
dieser Erkenntnisse. Zu derartigen Erkenntnissen vermitteln.
der Grundlagenwissenschaft gehören zum Beispiel Ein sehr bekanntes Beispiel für den Erfolg der
in der Physik die Quantenmechanik und die Laser- angewandten Forschung auf Basis der Grundlagen-
physik, in der Biologie die Entdeckung der Struktur wissenschaft ist die Entwicklung des mp3-Verfahrens.
der DNA (Doppelhelix; Watson u. Crick 1953, Wolf Im Jahr 1987 bildete die Universität Erlangen-Nürn-
2003). Allerdings gibt es auch in den gesundheitswis- berg und das Fraunhofer-Institut für Integrierte
senschaftlichen Fächern grundlagenwissenschaftli- Schaltungen eine Forschungsallianz im Rahmen des
che Forschungsthemen, zum Beispiel physiologische EU-geförderten Projekts „EUREKA EU147: Digital
Zusammenhänge zwischen Betätigung und Gesund- Audio Broadcasting (DAB)“. Dabei gelang der erste
heit in der Ergotherapiewissenschaft und der soge- Meilenstein in der Geschichte der Audiocodierung:
nannten „occupational science“. Mit dem „low complexity adaptive transform coding“
(LC-ATC-Algorithmus) war es erstmals möglich,
Stereomusik in Echtzeit zu codieren. 1995 bekam
1.2 Anwendungsbezogene mp3 seinen heutigen Namen (Fraunhofer-Institut
Wissenschaft für integrierte Schaltungen 2012).

Während der explizite Praxisbezug für die Grund-


lagenwissenschaften oft von geringer Bedeutung ist, 1.3 Translationale Forschung –
da sie sich auf die theoretische Erklärung von beste- „from bench to bedside“
henden Wirklichkeiten beschränken und aus dieser
Sicht Aspekte der Anwendung dieses Wissens als ein Die nicht ärztlichen Gesundheitsberufe haben in
Thema der Praxis betrachtet werden, besitzt der Pra- den Grundlagen wie in der anwendungsbezogenen
xisbezug für anwendungsorientierte Wissenschaft Wissenschaft interessante Forschungsgebiete. Ein
aufgrund ihrer konzeptionellen Ausrichtung auf wesentlicher Aspekt dabei ist, selbst ein Teil dieser
6 Kapitel 1 · Grundlagen und anwendungsbezogene Wissenschaft in den Gesundheitsberufen

wissenschaftlichen Tätigkeiten zu sein, sodass die Zusammenwirkens bei Forschungsprojekten im


42
1 ärztlichen Gesundheitsberufe aktiv an der For- Setting der Grundlagen sowie der anwendungs-
schung, also mit eigenen Expertisen, Ideen und For- orientierten Wissenschaft. Es gilt, die gesundheits-
schungsfragen teilnehmen. bezogene Wissenschaft im Rahmen von interdiszi-
Gerade die translationale Forschung in Bereich plinären und interprofessionellen Kooperationen zu
Gesundheit bzw. Medizin bietet viele Ideen und betreiben, um somit ein Forschungsthema ganzheit-
Möglichkeiten, interdisziplinär sowie interprofes- lich zu erforschen. Die Kooperation wird allgemein
sionell biomedizinische Grundlagenforschung in als eine enge und harmonische Interaktion zwischen
eine anwendungsorientierte Richtung zu bringen gleichberechtigten Partnern bzw. Organisationsein-
und damit schneller für Therapien oder diagnos- heiten mit gemeinsamen Zielvorstellungen definiert
tischen Anwendungen zugänglich zu machen und (Zelewski 1994). Während die Kooperation sowohl
somit in klinische, therapeutische Vorgehenswei- auf der mono- als auch auf der multiprofessionellen
sen zu integrieren. Diese sogenannten Projekte Ebene stattfinden kann, setzt Interdisziplinarität und
„from bench to bedside“ („von der Laborbank an Interprofessionalität immer die Zusammenarbeit
das Patientenbett“) versuchen, diese Lücke zwi- verschiedener Gesundheitsberufe voraus. Wich-
schen der grundlagenorientierten und der anwen- tige Voraussetzungen für erfolgreiche Forschung in
dungsorientierten Wissenschaft zu schließen und solchen Teams sind die klare Abgrenzung der (For-
so Grundlagenwissenschaftler und anwendungsbe- schungs-)Aufgaben sowie die hohe (wissenschaftli-
zogene Wissenschaftlerinnen aller Disziplinen im che) Professionalisierung und Expertise aller betei-
intramuralen und extramuralen Bereich zu verei- ligten Berufsgruppen. Die Forschungsförderer sind
nen und inhaltsgetriebene Lösungen und Wege zu dazu angehalten, diese Entwicklung zu berücksich-
finden (Albani et al. 2010, Zwarenstein u. Bryant tigen und der Forderung nachzukommen, multipro-
2000, Ledford 2008). Darüber hinaus spricht sich der fessionelle Forschung zu fördern und eigene Förder-
Nobelpreisgewinner Sydney Brenner für die andere schienen in der Gesundheitsversorgung anzubieten.
Richtung, nämlich „from bedside to bench“ aus. Hier Die Zukunft der Forschung liegt in der Kooperation,
können unerwartete Nebenwirkungen, Beschwer- den Grundlagen und der anwendungsorientierten
den und negative klinische Studien, die abgebrochen Wissenschaft, die als intendierte Zielsetzungen The-
werden, zu neuen Richtungen im Bereich der Grund- mengebiete haben, die interdisziplinären, interpro-
lagenforschung führen (Ledford 2008). fessionellen Lösungen und Entwicklungen bedürfen.
Gerade bei Forschungsprojekten „from bench
to beside and vice versa“ im Bereich der Medizin/
Versorgung/Gesundheitswesen ist das gemeinsame Literatur
forschen aller Disziplinen von Vorteil. Je nachdem,
Albani S, Colomb J, Prakken B (2010) Translational medicine
wo sich die forschenden Personen, egal welcher Fach- 2.0: From clinical diagnosis-based to molecular-targeted
richtung, selbst wiederfinden, tragen solche Koope- therapies in the era of globalization. Clinical Pharmacolo-
rationen zwischen den Disziplinen, wie zum Beispiel gy and Therapeutics 87 (6): 642–645
medizinisch technische Dienste und Hebammenbe- Bartholomeyczik S, Müller E (1997) Pflegeforschung verste-
reich, Pflege, Ärzte, aber auch Versicherungen und hen. Urban & Schwarzenberg, München
Bischoff C (1992) Frauen in der Krankenpflege – Zur Entwick-
Klinikanstalten, zu einer ganzheitlichen und facet- lung der Frauenrolle und Frauenberufstätigkeit im 19.
tenreichen Forschung und Entwicklung bei. und 20. Jahrhundert. Campus, Frankfurt/Main
Bischoff C, Wanner B (1993) Wer gut pflegt, der gut lehrt? In:
Bischoff C, Botschafter P (Hrsg) Neue Wege in der Lehrer-
1.4 Ausblick ausbildung für Pflegeberufe. Bibliomed, Melsungen, S.
13–31
Fraunhofer-Institut für integrierte Schaltungen (IIS) (2012)
Durch den Professionalisierungs- und Akademi- MP3 – Forschung, Entwicklung und Vermarktung in
sierungsschub in den nicht ärztlichen Gesundheits- Deutschland.www.mp3-geschichte.de/content/dam/
berufen und damit durch deren wissenschaftliche mp3geschichte/de/documents/mp3_Broschuere_
A4_16S_Low.pdf, Letzter Zugriff am 27.11.2015
Entwicklung kommt es zu einer Neugestaltung des
Literatur
7 1
Fricke W (2010) Wissenschaft und Praxis in gemeinsamen
Prozessen. Methodische und forschungspraktische Erfah-
rungen. Vortrag bei der Tagung des Förderschwerpunkts
des BMBF. „Innovationsstrategien jenseits traditionellen
Managements“. Dortmund
Ledford H (2008) Translational Research: The full cycle. Nature
453: 843–845
Mischo-Kelling M (1995) Pflegebildung und Pflegetheorien.
Urban & Schwarzenberg, München
Mayer H (2007) Pflegeforschung kennenlernen. Elemente und
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9 2

Forschungsprozess
Roman Weigl

2.1 Ablauf des Forschungsprozesses – 10

2.2 Theoriebildung – 10
2.2.1 Notwendigkeit von Theorie im Forschungsprozess – 10
2.2.2 Sichtweisen auf die Welt: Deduktion und Induktion – 11
2.2.3 Theoriebildung und wissenschaftsmethodischer Hintergrund – 12

2.3 Forschungsfragen und Hypothesen – 13


2.3.1 Wie komme ich zu einer geeigneten Forschungsfrage? – 13
2.3.2 Hypothesen – 14
2.3.3 Variablen bzw. Merkmale – 16

2.4 Messtheorie – 17
2.4.1 Skalenniveaus – 17
2.4.2 Konzeptionalisierung und Operationalisierung von Variablen – 20
2.4.3 Kappa-Koeffizient – 21
2.4.4 Goldstandard versus klinischer Standard – 21

2.5 Datensammlung und -analyse – 22

2.6 Ergebnisse – 22
2.6.1 Interpretation – 22
2.6.2 Dissemination – 22
2.6.3 Verknüpfung der Ergebnisse im Sinne der Weiterentwicklung der
Theorie und Praxis – 22

Literatur – 23

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5_2
10 Kapitel 2 · Forschungsprozess

2.1 Ablauf des Forschungsprozesses Stufen dieses Prozesses müssen folgende Punkte
im Rahmen der Planung eines Forschungsprojekts
Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt in der Dar- beantwortet werden können (vgl. die „10 essentials
2 legung der Grundzüge des Forschungsprozesses of research“ von DePoy u. Gitlin 2011 und die „basic
aus dem Blickwinkel der Gesundheitswissenschaf- research steps“ von Mayring 2014, S. 15):
ten und Gesundheitsprofessionen. Bezugnehmend 4 Konkretisierung und Ausformulierung einer
auf das Thema muss im Vorfeld geklärt werden, was Forschungsfrage (bis hin zu einer möglichen
unter dem Begriff der Forschung verstanden wird. Hypothese)
Nach DePoy und Gitlin (2011) handelt es sich bei 4 Verbindung der Fragestellung mit der bishe-
Forschung in diesem Bereich um „multiple, systema- rigen Theorie
tische Strategien, die angewandt werden, um Wissen 4 Auswahl des für die Beantwortung der
über das menschliche Verhalten, menschliche Erfah- Fragestellung am besten geeigneten
rungen und über menschliche Umgebungen zu gene- Forschungsdesigns
rieren. Die Prozesse des Denkens und Handelns der 4 Definition des Samples bzw. Darlegung der
Forscher und Forscherinnen sind klar spezifiziert, Sampling-Strategie
sodass sie logisch, verständlich, beweisbar/überprüf- 4 Datensammlung
bar und nützlich sind.“1 4 Datenanalyse
Nachdem sich über viele Jahre in der Forschungs- 4 Interpretation der Ergebnisse (inkl. Frage nach
kultur zwei parallele sich oft misstrauisch beäugende der Güte der Ergebnisse im Sinne von Reliabi-
Lager gebildet haben, die quantitative und die quali- lität und Validität)
tative Forschungskultur (7 Abschn. 2.2), erscheint es 4 Dissemination der Ergebnisse
an der Zeit, den Versuch zu unternehmen, die Stufen 4 Verknüpfung der Ergebnisse im Sinne der
des wissenschaftlichen Forschungsprozesses in ihrer Weiterentwicklung der Theorie
Gemeinsamkeit darzulegen. Wie Babbie (2010) argu-
mentiert, bedarf es oft beider Zugänge, um Phäno- Es werden im Folgenden die einzelnen Stufen des
mene adäquat beschreiben zu können. Es wird in Forschungsprozesses unabhängig von der jewei-
diesem Kapitel der Versuch gemacht, die Grundzüge ligen Forschungsmethode beschrieben. Über die
des wissenschaftlichen Arbeitens und Denkens im Besonderheiten der einzelnen Forschungsmetho-
Rahmen des Forschungsprozesses darzulegen, und den erfährt der Leser in den methodenspezifischen
dies soweit möglich unabhängig davon, ob es sich Kapiteln im zweiten Teil des Buches.
um ein qualitatives oder quantitatives Forschungs-
projekt handelt, ohne dabei die jeweiligen Besonder-
heiten der beiden Ansätze zu vernachlässigen. Versu- 2.2 Theoriebildung
che in diese Richtung wurden bereits von mehreren
Autoren unternommen, beispielhaft seien Sullivan 2.2.1 Notwendigkeit von Theorie im
(2003), DePoy und Gitlin (2011), Babbie (2010) oder Forschungsprozess
Mayring (2012, 2014) genannt.
Im Sinne eines Stufenmodells muss in jedem Was macht nun Theorie notwendig, warum brauchen
Forschungsprojekt, egal welcher Methode es sich wir sie überhaupt? Mit anderen Worten ausgedrückt:
bedient, die Auseinandersetzung mit bestimm- „Tere is no good research without theory.“
ten Fragen erfolgen. Reduziert auf die wichtigsten Eine wissenschaftliche Theorie beschäftigt sich
immer mit dem Versuch, Zusammenhänge zu klären,
Erklärungen zu bieten und diese logisch und nachvoll-
1 „Research is multiple, systematic strategies to generate ziehbar darzulegen (Babbie 2010, S. 10). Hier zeigen sich
knowledge about human behavior, human experience,
die beiden Grundsäulen wissenschaftlichen Denkens:
and human environments in which the thinking and
action processes of the researcher are clearly specified so
Es muss Sinn machen (Logik), und es ist (empirisch)
that they are logical, understandable, confirmable, and beobachtbar. Beide Elemente werden in diesem Kapitel
useful.“ immer wieder auftauchen, sei es bei der Formulierung
2.2 · Theoriebildung
11 2
von Hypothesen oder bei der Operationalisierung von
Variablen. Und hier zeigt sich der Hauptnutzen einer Theorien
guten Theorie: Passt das Beobachtbare zu dem, was in

DEDUKTION
INDUKTION
der aufgestellten Theorie behauptet wurde?
Empirische
Was wird nun genau unter einer Theorie ver- Generalisierung
Hypothesen
standen? Eine der weit verbreiteten Definitio-
nen stammt von Kerlinger (1973), der unter einer
Theorie eine Reihe von miteinander in Beziehung ABDUKTION
Beobachtungen
stehenden Konstrukten (Konzepten), Definitio-
nen und Behauptungssätzen versteht, die einen
systematischen Blick auf Phänomene ermöglicht, . Abb. 2.1 Zusammenhang zwischen Induktion und
indem Beziehungen zwischen Variablen spezifiziert Deduktion in den Gesundheitswissenschaften. (Adaptiert
nach Wallace 1971)
werden, um Phänomene erklären und vorhersagen
zu können.2 (Kerlinger 1973, S. 9).
Eine Theorie ist nach Suddaby (2014) notwen- Hier kann wie eingangs erwähnt zwischen 2
dig, da die empirisch erfahrbare Welt sich ansons- großen Strömungen innerhalb der forschungs-
ten zu komplex gestaltet. Und schlussendlich bildet theoretischen Ansätze unterschieden werden: der
sich in Theorien die Wissensbasis von Professio- Deduktion und der Induktion. Vereinfacht leitet
nen und Disziplinen auf einer abstrakten Ebene ab die Deduktion aus allgemeinen (theoretischen)
(Bacharach 1989). Wenn eine Theorie zu haben nun Überlegungen Forschungsfragen bzw. noch spe-
so hilfreich ist, wie gelange ich dann zu einer? Darauf zieller Hypothesen ab und überprüft diese dann
wird im folgenden Absatz eingegangen. auf ihre Richtigkeit. Die Induktion geht den umge-
kehrten Weg: Beobachtungen werden gemacht und
aus diesen Rückschlüsse gezogen, ob sie nicht auch
2.2.2 Sichtweisen auf die Welt: für die Erklärung allgemeiner Phänomene gelten
Deduktion und Induktion können (. Abb. 2.1).
Eine der größten Veränderungen in der Wis-
Im Rahmen der Gesundheitswissenschaften und senschaftsgeschichte war die langsame Etablie-
der darin tätigen Gesundheitsprofessionen stellt rung des positivistischen Denkens im 17. Jahr-
sich die Frage: Ist die Gesundheitswissenschaft nun hundert durch die ersten naturwissenschaftlich
eine Naturwissenschaft oder eine Sozialwissenschaft? Arbeitenden. Als Beispiele seien Leonardo da Vinci,
Kurz gesagt, um die relevanten Fragen in ihrem Galileo Galilei und Johannes Kepler genannt. Die
Bereich beantworten zu können, müssen die Gesund- Veränderung lag hier im bewussten Einsatz von
heitsprofessionen Wissen und Forschungsansätze aus logisch-rationalem Denken zur Begründung und
beiden großen Wissenschaftsströmungen entneh- Erforschung von Zusammenhängen und in der
men. So bedarf es, beispielsweise um die Effektivität Abkehr von jeder Form von Metaphysik, wie zum
einer bestimmten Behandlungsmethode nachzuwei- Beispiel der bis dahin vorherrschenden Aristote-
sen, klar naturwissenschaftlich-deduktiver Metho- lischen Metaphysik. Das Formulieren von allge-
den. Hingegen ist es notwendig, auf die induktiven meingültigen Naturgesetzen, das Kategorisieren,
Methoden der Sozialwissenschaften zurückzugrei- die Abbildung der einen Realität lag daraufhin im
fen, um Menschen und deren Handeln, Bedürfnisse Fokus der Forschung.
und Motivationen in den unterschiedlichsten Berei- Wissenschaftshistorisch gesehen trat der Kri-
chen des täglichen Lebens verstehen zu können. tische Rationalismus durch Popper in den 1950er-
Jahren an, um den naiven Wahrheitsanspruch des
bis dahin vorherrschenden Denkens im Positivis-
2 "A set of interrelated constructs (concepts), definitions,
and propositions that present a systematic view of spe-
mus nach der einen Wahrheit/Realität in der For-
cifying relations among variables, with the purpose of schung zu erschüttern und damit in der (Natur-)
explaining and predicting the phenomena." Wissenschaft das Konzept der Annäherung an die
12 Kapitel 2 · Forschungsprozess

Wirklichkeit und damit das Arbeiten mit Wahr- stehen. Man könnte dies bereits als „lockere“ Theorie
scheinlichkeiten zu etablieren. bezeichnen. Ebenso ist die rein deduktiv abgeleitete
Es gibt in der Formulierung einer Theorie keinen Theorie der quantitativen Forschung oftmals nicht
2 endgültigen Beweis durch die empirische Forschung. gegeben, da auch hier oftmals erst durch Beobach-
Im Sinne Poppers Kritischen Rationalismus bzw. tungen „im Feld“ Fragen überhaupt gestellt werden
Postpositivismus (vgl. Popper 1935, Lincoln et al. und sich mögliche Zusammenhänge zwischen Fakto-
2011) können Theorien nur als vorläufig bestätigt ren/Dingen als zu überprüfend präsentieren.
angesehen werden. Dem Prinzip der Falsifikation
folgend (Popper 1935) genügt eine abweichende Zusammenfassung
Beobachtung, die der Theorie widerspricht, um eine Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine
Widerlegung bzw. Falsifikation der Theorie zu bewir- Annäherung beider Lager über eine gemeinsame
ken oder auch zu einer Adaptierung und Erweite- Metadefinition, was gute Forschung ist, nur positi-
rung dieser Theorie zu gelangen3. Diese Sichtweise ve Folgen nach sich ziehen kann. Ein Zunahme der
auf die Welt prägte die moderne deduktive Wissen- Auseinandersetzung mit Mixed-method-Ansätzen
schaft und zeigt sich in allen Forschungsschritten, (Kuckartz 2014) und eine Definition der Cochrane
zum Beispiel in der Hypothesenbildung, die noch Library über „qualitative research“ (CerQUAL 2015)
später in diesem Kapitel beschrieben werden. weisen hier bereits die Richtung einer möglichen
Dem Ansatz des Messens und Quantifizierens tritt Versöhnung der beiden Lager.
die qualitative Position, zum Beispiel verankert im
Konstruktivismus, entgegen. Beispielsweise geht die
Sichtweise des Konstruktivismus nicht von der einen 2.2.3 Theoriebildung
Realität aus, sondern er gesteht ein, dass jeder Mensch und wissenschaftsmethodischer
sich seine Welt selbst „konstruiert“. Das heißt, dass Hintergrund
aufgrund der subjektiven Wahrnehmung der Mensch
vor allem von dem beeinflusst wird, was er sieht, wahr- Wie von DePoy und Gitlin (2011, S. 67) beschrieben
nimmt und für wichtig erachtet. Als konsequente Wei- kann dem deduktiven Denken eher ein theorietes-
terentwicklung geht der Konstruktivismus davon aus, tender Ansatz zugeordnet werden. Im Rahmen der
dass jeder Mensch in seiner für sich konstruierten Theorietestung steht oftmals das Ziel der Reduktion
Welt lebt und daher von „außen“ nur begrenzt darauf des Abstraktionsniveaus im Vordergrund, d. h. die
zugegriffen werden kann bzw. dass der Mensch seiner Zusammenhänge auf so wenig Variablen wie möglich
eigenen Wahrnehmung nur begrenzt, sich dieser sub- zu reduzieren. Dies steht im direkten Zusammen-
jektiven Vorgänge bewusstmachend, vertrauen kann. hang mit dem Wunsch nach möglichst guter Relia-
Es muss betont werden, dass davon ausgegan- bilität. Je weniger Variablen verwendet werden, desto
gen werden kann, dass beide Radikalpositionen der leichter ist es, die Messgenauigkeit zu kontrollieren.
quantitativen und der qualitativen Forschung in ihrer Im Gegensatz dazu steht induktives bzw. abduk-
Reinform Gültigkeit behalten. So ist festzustellen, tives4 Denken, dieses eignet sich eher, eine Theorie
dass die vollkommene Unvoreingenommenheit der die aus Beobachtungen entstanden ist, zu validieren.
qualitativen Forscherin ihrem Untersuchungsgegen- Dadurch kommt es oftmals zu einer Zunahme des
stand gegenüber nicht gegeben ist, da gewisse Über- Abstraktionsniveaus, so wie sich Konzepte und Konst-
legungen und Erwartungen fast immer schon mit rukte im Rahmen des Forschungsprozesses erst entwi-
der Wahl des Forschungsgebietes in Zusammenhang ckeln können bzw. verfeinern können oder erweitert

3 Hier hält Kuhn (1970) entgegen, dass auch wissenschaft- 4 Abduktion: ein auf den Philosophen Charles S. Peirce
lich-experimentelle Entwicklung nicht immer dem Prin- zurückgehende Schlussweise. Erkenntnistheoretisch
zip der Falsifikation und dem Rationellen folgt, sondern wird mittels Abduktion eine Hypothese generiert, aus der
oft mit Etablierung und Ansehen derer die eine Theorie Hypothese werden Vorhersagen gebildet (Deduktion),
prägten, verbunden ist. Er prägte hier den Begriff des und die Gültigkeit dieser Vorhersagen wird überprüft
Paradigmas. (Induktion) (vgl. Meidl 2009).
2.3 · Forschungsfragen und Hypothesen
13 2

. Tab. 2.1 Zielsetzungen von Forschung und dazugehörige Fragestellungen

Art Zielsetzung Fragestellung

Exploration Erstmaliges Vertrautmachen mit dem Phänomen, Allgemein: Wie


Generierung von Ideen
Deskription Genaue Beschreibung des Phänomens, Idee über Spezifischer: Was, Wo, Wann und Wie
mögliche Zusammenhänge
Erklärung Überprüfung von Annahmen Zusammenhang: Warum

werden – gewissermaßen das „no go“ der quantita- DePoy und Gitlin (2011) unterscheiden zwischen
tiven Forschung. Hier steht der Wunsch nach hoher verschiedenen Zugängen, um zu Forschungsfragen
Validität im Vordergrund, d. h. möglichst nahe an der zu gelangen. Neben dem persönlichen Interesse, der
Komplexität des Alltags des Geschehens zu sein. Relevanz des Themas, können auch zur Verfügung
Nach langer Zeit einer deutlichen Trennung zwi- stehende Ressourcen stark auf das Thema einwirken.
schen deduktiven (oftmals quantitativen) und induk- So gestalten die zur Verfügung stehenden zeitlichen
tiven (oftmals qualitativen) erkenntnistheoretischen und finanziellen Ressourcen die Fragestellungen von
Zugängen zeigt sich immer mehr eine Annäherung Master-Studierenden deutlich anders, als die einer
zwischen den Vertretern beider Lager. So ist eine in eine Institution eingebettete Forschungsgruppe
deutliche Zunahme an sogenannten Mixed-met- (7 Abschn. 12.3).
hod-Designs (7 Abschn. 9.2), die die Vorzüge beider Im Rahmen der Identifikation eines Themas
Forschungsansätze nutzen, in Projekten zu beobach- spielen neben dem eigenen professionellen Hin-
ten (Kuckartz 2014). Kuckartz spricht hier sogar vom tergrund natürlich auch allgemeine gesellschaftli-
dritten methodologischen Paradigma. che Trends oder Trends innerhalb der eigenen Pro-
fession eine große Rolle (vgl. DePoy u. Gitlin 2011,
S. 38). Als Beispiel sei hier die demographische Ent-
2.3 Forschungsfragen und wicklung mit der zunehmenden Alterung der Gesell-
Hypothesen schaft in der westlichen Welt genannt, die es deutlich
leichter macht, an Forschungsgelder für Projekte zur
2.3.1 Wie komme ich zu einer Unterstützung des alten Menschen durch technische
geeigneten Forschungsfrage? Hilfsmittel („ambient assisted living“) zu gelangen.
Im Gegenzug ist es nach Jäger (2015) aber wesent-
lich schwieriger, an Forschungsgelder für Projekte
Woher kommen Forschungsfragen? mit Kindern oder Jugendlichen zu gelangen.
Forschungsfragen werden entwickelt, um Babbie (2010) unterscheidet zwischen 3 ver-
5 Beobachtungen im Alltag (im Feld) zu schiedenen Zielsetzungen von Forschung: Explo-
untersuchen, ration, Deskription und Erklärung. . Tab. 2.1 gibt
5 Beobachtungen im klinischen Alltag zu einen Überblick über die Zielsetzungen der einzel-
untersuchen, nen Bereiche und welche Fragestellungen üblicher-
5 ein Assessment zu entwickeln, weise verwendet werden.
5 die Wirksamkeit einer Die Formulierung einer Forschungsfrage kann
Behandlungsmethode zu erforschen, unterschiedliche Komplexitätsniveaus bzw. Kon-
5 eine Theorie über Gesundheitszusam- kretisierungsniveaus aufweisen. Dieses Konkretisie-
menhänge zu erforschen, rungsniveau ist oftmals mit dem Umfang der zum
5 die Gültigkeit vergangener Forschungs- Thema vorhandenen Theorie verbunden. Salopp aus-
tätigkeit zu evaluieren. gedrückt: Je mehr ich schon über ein Thema weiß,
desto genauer kann ich meine Frage formulieren.
14 Kapitel 2 · Forschungsprozess

Hough (2003, S. 39–40) unterscheidet hier zwischen klaren Formulierung eines Zusammenhangs und
3 Ebenen von Forschungsfragen, die auch den Ziel- der Möglichkeit, diesen durch die Daten zu bestäti-
setzung aus . Tab. 2.1 zugeordnet werden können: gen oder falsifizieren zu können. Forschungsansätze
2 4 allgemeine Forschungsfragen (der Zusam- werden hier oftmals relational („corrational“) oder
menhang ist erstmalig aufgefallen) kausal ausgewählt. Hypothesen sind klar Teil des
4 spezifischere Forschungsfragen deduktiven erkenntnistheoretischen Ansatzes inner-
4 Hypothesen (erwarteter Zusammenhang wird halb der beiden großen Grundströmungen wissen-
formuliert, kann falsifiziert werden) schaftlicher Erkenntnisgewinnung.
Eine mögliche Formulierung einer Hypothese
für die Forschungsgruppe, die sich mit dem kind-
Allgemeine Forschungsfrage lichen Asthma beschäftigt, wäre: Im Gegensatz zum
Auf Ebene 1 ist noch wenig Vorwissen über das Wohnumfeld (kein signifikanter Zusammenhang)
Thema vorhanden, es kann sein, dass der Zusam- besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen
menhang zum ersten Mal aufgefallen ist. Daher der Menge von Zigaretten, die Eltern im Wohnraum
kann auch die Forschungsfrage nur allgemein for- rauchen, und dem Risiko für Kinder, an Asthma
muliert werden. Forschungsansätze die auf diesem bronchiale zu erkranken.
Frageniveau angewandt werden, haben oft explora-
tiven oder deskriptiven Charakter. Forschungsfragen
auf dieser Ebene entspringen oft mehreren Einzel- 2.3.2 Hypothesen
beobachtungen, d. h. der induktiven Zugangsweise
wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung. So könnte Der in der heutigen Wissenschaft gebräuchliche
aus einer Häufung von Berichten in den Medien Umgang mit Hypothesen stammt aus dem bereits
über kranke Kinder in stark befahrenen Städten beschriebenen postpositivistischen Denken Karl
eine Kollegengruppe aus dem Public-Health-Be- Poppers. Direkt mit dem ebenfalls bereits erwähn-
reich folgende allgemeine Frage formulieren: Gibt ten Denkmodell der Falsifikation (siehe oben) ver-
es einen Zusammenhang zwischen der Lokalisation bunden, entstammt auch die Arbeitsweise des
des Wohnorts (Stadt/Land) von Kindern und dem Formulierens einer Arbeitshypothese und einer
Risiko, an Asthma bronchiale zu erkranken? Nullhypothese. Im Wort Hypothese (Duden: von
Widersprüchen freie, aber zunächst unbewiesene
Aussage, Annahme von Gesetzlichkeiten oder Tat-
Spezifische Forschungsfrage sachen) steckt bereits die Möglichkeit eines Irrtums,
(„aim or objektives“) d. h. dass sie sich als falsch herausstellt.
Nach erfolgter Studie zeigt sich, dass das Thema, an Es wird gewissermaßen eine Richtigkeit unterstellt,
Asthma bronchiale zu erkranken, doch komplexer die erst bewiesen werden muss. Nachdem der Zusam-
ist, als anfangs gedacht. Verschiedene Einflussfak- menhang zwischen Gegebenheiten im Sinne einer
toren sind im Rahmen der explorativen Erhebung Hypothese sehr schwierig und oftmals unklar zu for-
aufgetaucht. Die Public-Health-Forschungsgruppe mulieren ist (sonst würde es ja keines Forschungspro-
möchte nun aus diesen Faktoren heraus eine spezifi- jekts bedürfen), ist es wesentlich einfacher, einen nicht
schere Fragestellung formulieren: Hat der Lebensstil vorhandenen Unterschied zu definieren. Zum Bei-
und/oder der Wohnort (mehr) Einfluss auf das Risiko spiel könnte eine Forschungsgruppe am Zusammen-
von Kindern, an Asthma bronchiale zu erkranken? hang zwischen der Dauer sitzender Tätigkeiten und
Beschwerden im Wirbelsäulenbereich interessiert sein.

Hypothesen
Nach mehreren Untersuchungen bzw. spezifische- Nullhypothese und Alternativhypothese
ren Fragestellung ist es oftmals (aber nicht immer) Die Theorie der Falsifikation geht davon aus, dass
möglich, Hypothesen zu formulieren. Der Unter- es kaum möglich ist, alle Aspekte eines möglichen
schied zu den beiden ersten Ebenen liegt hier in der Zusammenhangs im Rahmen einer Hypothese zu
2.3 · Forschungsfragen und Hypothesen
15 2

ENTSCHEIDUNG DER FORSCHENDEN


im Rücken bestehen, trotzdem würden die Studien-
BASIEREND AUF STATISTIK ergebnisse dies behaupten.
Im Gegensatz der Fehler zweiter Art: Die Null-
Akzeptiere H0 Verwerfe H0
hypothese wird angenommen, obwohl sie falsch ist.
Angewendet auf unser Hörtestbeispiel wäre hier ein
Richtige Typ-I-Fehler sogenannter falsch-negativer Wert: Ein hörauffälli-
H0 stimmt
Entscheidung (α-Fehler)
“REALITÄT”

ges Kind würde beim Hörtest nicht erkannt werden.


Im Rahmen unserer Untersuchung der Rückenpro-
Typ-II-Fehler Richtige bleme bestünde in der Realität wirklich ein Zusam-
H0 falsch
(β-Fehler) Entscheidung
menhang zwischen langem Sitzen und Schmerzen,
aber dieser Zusammenhang konnte statistisch nicht
. Abb. 2.2 Test der Hypothese. (Adaptiert nach Hossain nachgewiesen werden (z. B. weil das Sample zu klein,
u. Herd 2003) der Messfehler zu groß war etc.).
Bei den verbleibenden Möglichkeit liege ich mit
meiner Entscheidung richtig: Aufgrund der schwachen
formulieren. Zum Beispiel wäre es wünschenswert, statistischen Ergebnisse entscheide ich mich korrekter-
genau zu definieren, wie groß und, wenn möglich, weise für H0 (kein Zusammenhang), oder ich verwerfe
in welche Richtung der Effekt der geschilderten wegen eines signifikanten Zusammenhangs korrekter-
Zusammenhänge wäre. Umgekehrt ist das Gegenteil weise H0 und gebe H1 recht, dass Rückenschmerzen
wesentlich einfacher und eindeutiger zu formulieren: mit langem Sitzen in Zusammenhang stehen.
Es besteht kein Zusammenhang zwischen der Dauer
der sitzenden Tätigkeiten und den Beschwerden im
Wirbelsäulenbereich (Nullhypothese oder H0). Gerichtete versus ungerichtete
Falls unser statistischer Test positiv wäre, könnte Hypothese
unsere Nullhypothese falsifiziert werden, implizit Die gerichtete Hypothese geht nicht nur vom
könnte man dadurch der Alternativhypothese (H1) Bestehen eines Unterschieds aus, sondern defi-
recht geben: Menschen, die bei der Arbeit mehr niert auch die Richtung des Zusammenhangs. In
sitzen, haben anscheinend doch mehr Rücken- unserem Beispiel würde eine mögliche gerichtete
schmerzen. Im Denken Poppers verweilend würde Hypothese lauten: Je länger Menschen sitzen, desto
dies aber nur heißen: Die Theorie würde als vorläu- mehr Rückenschmerzen haben sie (. Tab. 2.2). Wis-
fig bestätigt betrachtet werden. In unserem Beispiel senschaftlich gesehen kann natürlich das Gegenteil
würden wir aber noch keinerlei Klarheit über die sta- auch möglich sein – mehr Sitzen verursacht weniger
tistische Stärke des Zusammenhangs erlangen. Für Rückenprobleme. Dies könnte beispielsweise auf
diesen Zweck müsste wesentlich mehr über die ver- ein Sample mit Waldarbeitern zutreffen, die im
mutete Effektgröße bekannt sein (Testpower oder unwegsamen Gelände arbeiten müssen. Obwohl
Teststärke). sie kaum sitzen, könnten diese Menschen aufgrund
Bezüglich der Entscheidung, die aufgrund eines ihrer beschwerlichen Arbeit oft über körperliche
statistischen Ergebnisses über einen möglichen Beschwerden klagen. Wie dieses Beispiel zeigt, ist
Zusammenhang getroffen wird, kann ähnlich wie bei oftmalig die genaue Analyse vieler Merkmale für die
der Sensitivität von Assessments (7 Kap. 11) zwischen Formulierung einer Hypothese notwendig.
zwei Fehlerarten unterschieden werden (. Abb. 2.2).
Beim Fehler erster Art wird die Nullhypothese
verworfen, obwohl sie richtig ist. Vergleichbar ist Unterschied zwischen
dies mit einem falsch-positiven Wert einer (medi- spezifischer und unspezifischer
zinischen) Untersuchung. Ein Kind ist beim Hörtest Hypothese
auffällig, obwohl es gut hört. Auf unser Forschungs- Im Rahmen einer spezifischen Hypothese ist es
beispiel angewandt würde wirklich kein Zusammen- sogar möglich, die erwartete Größe eines Effektzu-
hang zwischen langem Sitzen und den Schmerzen sammenhangs zwischen den untersuchten Variablen
16 Kapitel 2 · Forschungsprozess

immer eine empirische Basis besitzt, und wird mit


. Tab. 2.2 Hypothesenarten
Merkmalswerten gefüllt. Die Werte von Variablen
Hypothese Beispiel sollen immer reale Bedeutung für das beschriebene
2 Ungerichtet Es besteht ein Zusammenhang
Merkmal haben. So macht es keinen Sinn, in der
Variable Körpertemperatur die Prozentwerte der
zwischen sitzenden Tätigkeiten und
Luftfeuchtigkeit im Raum zu notieren. Wie am Bei-
Rückenschmerzen
spiel Körpertemperatur noch einfacher nachzuvoll-
Gerichtet Je länger Menschen sitzen, desto
ziehen, wird mit Zunahme der Komplexität des zu
mehr Rückenschmerzen haben sie
erfassenden Themas die Zuordnung der Merkmale
Spezifisch Wenn Menschen mehr als 6 h am Tag
auch immer komplexer (7 Kap. 11).
sitzen, kommt es zu einer Zunahme
von mind. 3 Punkten auf der visuellen Hier muss zwischen manifesten und latenten
Analogskala für Schmerzen Variablen unterschieden werden. Manifeste Variab-
Unspezifisch Wenn Menschen mehr als 6 h sitzen,
len sind immer direkt beobachtbar, so ist die Variable
haben sie auch mehr Schmerzen Körpergröße leicht ersichtlich. Im Gegensatz dazu
entzieht sich eine latente Variable dem direkten
Zugriff der Beobachtung. Auf die latente Variable
kann nur durch die Beobachtung sogenannter Indi-
bzw. Merkmalen anzugeben (. Tab. 2.2). Eine spezi- katoren rückgeschlossen werden. Im Rahmen der
fischere Hypothesenformulierung könnte für unser Konzeptualisierung und Operationalisierung der
Beispiel lauten, dass Personen mit mehr als 6 h sitzen- quantitativen Forschung muss dieser Zusammen-
der Tätigkeit im Gegensatz zu wenig sitzenden Men- hang ersichtlich gemacht werden. Qualitative For-
schen eine Zunahme von mindestens 3 Punkten auf schungsprojekte bewegen sich oftmals direkt im
der visuellen Analogskala für Schmerzen aufweisen, Gebiet der „latenten Variablen“. So ist es klar, dass
wenn sie bezüglich ihrer Rückenschmerzen befragt bei einer qualitativen teilnehmenden Beobachtung
werden. zur Ausländerfeindlichkeit im Gesundheitswesen
eine schriftliche Befragung zum Thema aufgrund der
> Im Sinne einer wissenschaftlichen sozialen Erwünschtheit wenig Sinn machen würde.
Hypothesenbildung besteht ein direkter Viel eher könnte sich das Thema über Verhaltensbe-
statistischer Zusammenhang zwischen obachtungen, zum Beispiel längere Wartezeiten im
der mathematischen Genauigkeit und der Wartesaal, oder freie Gespräch etc. zeigen. Oftmals
Formulierung der Hypothese: Je spezifischer ergibt sich auch die Möglichkeit, aus vorhergehenden
und gerichteter eine Hypothese formuliert qualitativen Forschungsprojekten zum Thema erst-
werden kann, umso aussagekräftiger mals konkrete Indikatoren aus den latenten Variab-
sind auch die statistischen Verfahren, die len ableiten zu können.
verwendet werden können.

Abhängige und unabhängige Variablen


2.3.3 Variablen bzw. Merkmale Im Rahmen von Forschungsprojekten nehmen
Variablen unterschiedliche Rolle ein. Als Parade-
Eine Variable ist eine Eigenschaft, die sich von beispiel steht hier die experimentelle Forschung.
Person zu Person verändert, typische personen- Der Forscher hat hier nur direkten Zugriff auf die
bezogene Variablen bei Menschen sind das Alter, sogenannte unabhängige Variable, das ist gewisser-
Geschlecht, Größe, Gewicht, Blutdruck, allge- maßen der Faden, an dem gezogen werden kann,
meiner Gesundheitszustand oder der Angstlevel. der verändert wird. Patientin A erhält das Medika-
Zum Beispiel steht die Variable „Geschlecht“ für ment XY, das den Blutdruck senken soll (unabhän-
die Merkmalsausprägungen männlich und weib- gige Variable), und es wird gemessen, ob dadurch die
lich. Diese Variable besitzt mathematisch definiert unabhängige Variable Blutdruck wirklich gesenkt
ein bestimmtes Skalenniveau (7 Abschn. 2.4), das wird.
2.4 · Messtheorie
17 2
Forschungsmethodisch wird die Veränderung Nachhinein konnten durch die qualitative Auswer-
der einen Variablen (abhängige, engl. „dependent“, tung der Daten geklärt werden, dass durch die vor-
abgekürzt DV) durch die Veränderung der anderen gegebene Struktur mancher Freizeittätigkeiten, etwa
(unabhängigen, engl. „independent“, abgekürzt: IV) beim Singen im Chor, die Empfindung von spiele-
Variablen erklärt. Auf die abhängige Variable besteht rischer Betätigung für die teilnehmenden Erwach-
kein direkter Einfluss der Forscherin, nur indirekt senen verändert wurde. In einem Nachfolgeprojekt
über die unabhängige Variable. Diese kann gezielt würde man bereits im Forschungsdesign Rücksicht
selektioniert oder verändert werden. Zum Beispiel auf diese Störvariable nehmen, zum Beispiel durch
kann durch gezieltes Einwirken auf die unabhän- das Stellen von Zusatzfragen.
gige Variable „Stress“ durch das Durchführen von
Entspannungstechniken untersucht werden, ob
sich die abhängige Variable „Schlafzeit“ der Unter- 2.4 Messtheorie
suchungsteilnehmer positiv im Sinne von längeren
Schlafzeiten verändert. 2.4.1 Skalenniveaus

Die in 7 Abschn. 2.3.3 beschriebenen Variablen


Latente und manifeste Variablen können im Rahmen quantitativer Projekte unter-
Im Zusammenhang mit Variablen muss noch zwi- schiedliche Skalenniveaus aufweisen. Eine grund-
schen manifest und latent unterschieden werden. legende Möglichkeit, Variablen zu klassifizieren,
Eine manifeste Variable ist direkt beobachtbar, zum ist die traditionelle Unterscheidung in qualitative
Beispiel kann die motorische Komponente des Ein- oder kategoriale Variablen (Nominal und Ordinal)
steckens von Stiften in ein Brett direkt beobachtet und quantitative Variablen(Intervall und Ratio) dar.
werden. Hingegen kann die an dieser Tätigkeit betei- Die Art des Skalenniveaus gibt vor, welche mathe-
ligte Variable Handlungsplanung oder Motivation matischen Operationen angewandt werden dürfen
nur indirekt über die Art und Weise des Einsteckens (7 Abschn. 7.4). Erst quantitative Variablen erlau-
der Stifte beobachtet werden. Logischerweise gestal- ben das Bilden von Rangfolgen und Differenzen
tet sich daher auch die Konzeptionalisierung und (. Abb. 2.3). Die Grundregel lautet: Je höher das Ska-
Operationalisierung von latenten Variablen schwie- lenniveau ist, desto mehr und komplexere mathema-
riger, als die von manifesten. tische Operationen sind erlaubt. Mit dem höheren
Neben der tatsächlich zu erhebenden unab- Niveau der Skala nimmt auch indirekt die Aussage-
hängigen und abhängigen Variablen kann es zum kraft der Ergebnisse zu. Eine Übersicht über die mög-
zusätzlichen Erheben von Moderator- bzw. Kontroll- lichen bzw. sinnvollen mathematischen Verfahren
variablen kommen. Zum Beispiel kann das Lesever- bietet . Tab. 2.3.
ständnis von Menschen indirekt über die Modera-
torvariable „Straßenlärm“ (als störende Ablenkung)
negativ verändert werden. Ist dieser Einflussfaktor Nominalskala
im Rahmen einer Erhebung bereits vorab bekannt, Der Wert der Variablen stellt nur eine Bezeichnung,
spricht man hier von der Erhebung sogenannter ein Label bzw. ein Symbol dar. Es können Zahlen ver-
Kontrollvariablen. wendet werden, diese haben dann aber trotzdem nur
Es kann aber auch passieren, dass Einflüsse erst Symbolcharakter. Eine klassische nominale Varia-
nach Fertigstellung des Forschungsprojekts erkannt ble ist zum Beispiel das Geschlecht. Hier kann die
werden. Es wird hier von Störvariablen gesprochen. Variable nur mit den Werten männlich oder weib-
Zum Beispiel kam es im Rahmen der Erhebung der lich belegt werden, es besteht keinerlei Wertigkeit
„playfulness“ (Verspieltheit) von Erwachsenen bei zwischen den beiden Belegungen. Beide Variablen-
Freizeittätigkeiten in Teilbereichen zu unerklärlichen werte sind klar unterscheidbar/erkennbar, es ist für
Abweichungen in den Daten, die den Wahrschein- das Individuum nicht möglich, 20 % weiblich und
lichkeitsvorhersagen des verwendeten Rasch-Mo- 80 % weiblich zu sein. Im Rahmen der Datener-
dells widersprachen (Weigl u. Bundy 2013). Im hebung ist es aber sehr wohl möglich, den Werten
18 Kapitel 2 · Forschungsprozess

höchstes

2
Ratio
Wie Intervall, zusätzlich
gibt es absoluten Nullpunkt

Interval
Abstände sind gleich und haben Bedeutung

Ordinal
Attribute können nur sortiert werden

Nominal
Attribute sind Namen ohne mathematische Bedeutung,
auch wenn Zahlen verwendet werden
niedrigstes

. Abb. 2.3 Skalenniveaus

. Tab. 2.3 Mögliche Parameter in Abhängigkeit vom jeweiligen Messniveau. (Adaptiert nach Janssen u. Laatz 2013, S. 211)

Messniveau Lageparameter Streuungsparameter

Nominal Modalwert Häufigkeitsverteilung


Ordinal Median (Perzentile) Quartilsabstand
Intervall Arithmetisches Mittel Varianz
Standardabweichung
Spannweite
Verhältnis/Ratio Geometrisches Mittel Variationskoeffizient

Nummern zuzuordnen, zum Beispiel männlich = 1 Ordinalskala


und weiblich = 2. Damit können die Werte leichter Im Fall der Ordinalskala sind die Werte immer
in eine Datenbank eigetragen werden5. Diese Zahlen noch Bezeichnung, aber sie können im Gegensatz
sind aber reine Labels und stellen keine hierarchische zur Nominalskala in eine sinnvolle Reihenfolge
Ordnung her (das Fehlen einer Ordnungsrelation). gesetzt werden. Ein Beispiel: Ein Forscher möchte
Rechenoperationen, etwa „weiblich ist doppelt so gut die Häufigkeit von Fieberkrämpfen untersuchen.
wie männlich“, sind daher nicht zulässig. Die Variable Fieberkrampfhäufigkeit enthält 3 Kate-
gorien: nie, selten Krampfanfälle, häufige Krampf-
anfälle. Hier stellt die Belegung der Kategorien eine
5 Rasch und Kubinger (2006) erwähnen hier, dass Forscher
trotzdem dazu neigen, die Zahl 1 dem Geschlecht männ-
Zunahme der Frequenz von nie bis sehr häufig dar,
lich zuzuordnen, und Forscherinnen die Zahl 1 bevorzugt eine Belegung der Kategorien mit Nummern wäre
dem weiblichen Geschlecht zuweisen. zum Beispiel 1 für nie, 2 für selten und 3 für häufig.
2.4 · Messtheorie
19 2
Die Zahlen 1–3 stellen hier eine logische Rangord- Zustimmung 5 Punkte erhalten, Unentschlossen-
nung dar, 3 ist häufiger als 1. Es sagt aber nichts über heit 3 Punkte und starke Ablehnung nur einen
den Abstand zwischen 1 und 2 oder zwischen 2 und Punkt. Mathematisch ist es möglich zu zeigen, dass
3 aus. 5 Punkte mehr als ein Punkt sind, und im Gegen-
satz zu Nominalskalen ist es auch logisch begründ-
> Es ist hier von größter Bedeutung bar, d. h. es macht Sinn. Mehr Punkte sprechen für
statistische Rechenoperationen immer dem mehr Zustimmung zum abgefragten Thema.
Skalenniveau entsprechend zu verwenden. Wenn eine Person einen Depressionsfrage-
bogen ausfüllt, können mehr Punkte auf stärkere
Um einen Zusammenhang zwischen der Fieber- depressive Stimmung hindeuten, ein Beispiel wäre
krampfhäufigkeit und zu messen, d. h. eine Kor- hier der Depressionstest für Kinder (DTK) von
relation zu überprüfen, müsste ich ein dem Ska- Rossmann (1993). Es ist aber mathematisch nicht
lenniveau passendes statistisches Verfahren zulässig, im obigen Beispiel zu behaupten, dass der
auswählen. Es könnte zum Beispiel der Rangkor- Abstand zwischen Zustimmung und Unentschlos-
relationskoeffizient nach Spearman berechnet senheit gleich ist (2 Punkte) wie der Abstand zwi-
werden. Der Pearson-Korrelationskoeffizient wäre schen Unentschlossenheit und starker Ablehnung
in diesem Fall nicht zulässig, da er neben anderen (ebenfalls 2 Punkte). Dies ist erst zulässig, wenn der
Grundbedingungen6 nur für Intervallskalen ver- Abstand zwischen den Werten sachlich begründ-
wendet werden darf. bar und gleich ist, wie dies bei der Intervallskala
der Fall ist.
> Variablen immer am höchstmöglichen Level
messen!
Intervallskala
Eine typische Anwendung der Ordinalvariablen Die Intervallvariable stellt den nächsten Komplexi-
ist die Likert-Skala, benannt nach dem amerika- tätsschritt nach den Ordinalvariablen dar. Die Kate-
nischen Psychologen Rensis Likert (1932). Diese gorien bilden eine Reihenfolge ab, und zusätzlich ist
Skala wird typischerweise eingesetzt, um die Ein- der Abstand zwischen den Werten gleichbleibend
stellung eines Individuums zu einem Thema zu und lässt sich begründen. Zum Beispiel sind die Tage
überprüfen. Oftmals wird ein Statement präsentiert einer Woche eine Intervallvariable. Der Abstand zwi-
und entsprechend die Zustimmung oder Nichtzu- schen den Wochentagen beträgt jeweils 24 h. Daher
stimmung abgefragt. Etwa die Frage: „Finden Sie, ist es auch möglich, mathematisch damit zu ope-
dass Jugendliche ab 16 Jahren Alkohol konsumie- rieren, zum Beispiel liegt der Freitag immer 3 Tage
ren sollen?“ Antwortmöglichkeiten wären: Stimme nach dem Dienstag. Dieser Ebene von Skalengüte
stark zu – Stimme zu – Unentschlossen – Lehne steht nun eine Fülle von statistischen Verfahren offen
ab – Lehne stark ab. Näheres zur praktischen Anwen- (7 Kap. 11 und 7 Abschn. 7.4).
dung in Forschungsprojekten findet sich zum Bei-
spiel in 7 Abschn. 7.3.1.
Im Gegensatz zu den reinen Bezeichnungen von Ratioskala oder Verhältnisskala
kategorialen Variablen beschreiben die Werte quan- Das höchste Komplexitätsniveau aller Skalentypen
titativer Variablen wirkliche Quantitäten. Daher stellt dasjenige der Ratioskala oder auch Verhältnis-
können diese Kategorien mathematisch mitein- skala dar. Charakteristikum dieser Skala ist neben
ander in Beziehung gebracht werden. Typischer- allen vorhergehenden Eigenschaften der Intervall-
weise werden hinter den Antwortmöglichkeiten skala das zusätzliche Vorhandensein eines absolu-
Zahlen hinterlegt. So könnte zum Beispiel starke ten Nullpunktes. Zum Beispiel stellen die Werte 0, 1,
2, 3, 4 der Variablen Anzahl_Kinder die Anzahl der
Kinder, die in einer Familie leben, dar. Der Wert 0
6 Der Pearson-Korrelationskoeffizient setzt Normalvertei- bedeutet wirklich, dass kein Kind in der Familie lebt,
lung in den Daten voraus. und weniger als 0 Kinder können auch nicht in einer
20 Kapitel 2 · Forschungsprozess

Wahrscheinlichkeit des Erreichens/Beantwortens hin


. Tab. 2.4 Transformierung in unterschiedliche
Skalenniveaus am Beispiel Alter sortiert. Dadurch erhält jedes Item und jede Antwort-
kategorie, basierend auf der jeweiligen Beantwor-
2 Messniveau Alter tungswahrscheinlichkeit, einen definierten Platz in
der Messhierarchie, d. h. die Intervalle sind dadurch
Ratio Alter in Jahren
mathematisch festgesetzt. Siehe auch ab Seite 167
Intervall Altersband (1–10, 11–20, …) (Absatz Intervallstruktur durch Rasch-Analyse).
Ordinal Jung – mittleres Alter – alt
Nominal Jung/alt
2.4.2 Konzeptionalisierung
und Operationalisierung von
Familie leben. Im Gegensatz dazu könnte im Rahmen Variablen
einer Intervallskala zwar der erste Wert der Skala mit
0 belegt werden, zum Beispiel Montag = 0, dies würde Einen der wichtigsten Schritte im Rahmen des For-
aber nicht bedeuten, dass es den Montag nicht gibt (ein schungsprozesses stellt die Konzeptionalisierung von
weiteres Beispiel für eine Zahl als reine Bezeichnung). Variablen dar. Sie macht nichts anderes als die Ein-
zelbausteine der verwendeten Konzepte und Kons-
trukte auch empirisch messbar zu machen. Möchte
Transformierung zwischen den ich das Phänomen Angst erforschen, muss ich mich
Skalenniveaus auf die Suche nach einer passenden Definition des
Es ist möglich, Werte von einem Skalenniveau in ein Phänomens machen. Als Nächstes ist es erforderlich
anderes zu transformieren. Die Grundregel lautet zu klären, wie ich die in der Definition identifizier-
hier aber: ten Indikatoren messen kann, das heißt, wie ich zu
einer Quantifizierung kommen kann. Hier kann ich
> Transformierungen sind bis auf wenige entweder auf bereits etablierte Assessments im jewei-
Ausnahmen (siehe unten) nur von einem ligen Bereich zurückgreifen (Prozess der Auswahl
höherwertigen Skalenniveau in ein des geeigneten Assessments 7 Kap. 11). Oder es ist
niedrigeres möglich! für die Forscher notwendig, die Operationalisierung
im Rahmen der Studie selbstständig durchzuführen.
Ein Beispiel: Im Rahmen eines Fragebogens wurde So könnte eine Forschungsgruppe an der Erhe-
das Alter der Teilnehmerinnen in Jahren erhoben. bung der Angst interessiert sein, die mit einer erhöh-
. Tab. 2.4 zeigt nun die Transformierung in die unter- ten Sturzhäufigkeit in Verbindung steht. Nach längerer
schiedlichen Skalenniveaus. Grundvoraussetzung ist Recherche wird klar, dass die Dimensionen der Angst
die Schaffung von Exklusivität der Zugehörigkeit der vor Stürzen nur teilweise durch etablierte Assessments
Werte. So müsste zum Beispiel bei der Zuordnung abgedeckt werden. Es könnte daher notwendig sein,
in das Altersband geklärt werden, ab wann Perso- eine eigenständige Operationalisierung des Konst-
nen an den Altersgrenzen in das nächste Band über- rukts anstreben. So könnte ein spezifischer Fragebogen
wechseln. So wäre es notwendig zu definieren, dass erstellt werden, oder es könnten zum Beispiel zusätzli-
Personen zwischen einen Jahr und 10 Jahren und che Verhaltensbeobachtungen als Indikator für ängst-
11 Monaten in die erste Kategorie fallen, usw. liches Verhalten eingeführt werden (vgl. Ritschl 2015).
Eine Sonderform der Transformierung stellt die
Rasch-Analyse dar. Sie ermöglicht es, unter Verwen- Beispiel
dung eines probabilistischen (wahrscheinlichkeits- Mögliche Operationalisierung des Konstrukts„Angst“
theoretischen) Modells die Transformierung einer 4 Dimensionen:
Ordinalskala in eine Intervallskala vorzunehmen. – nachlassende motorische Geschicklichkeit/
Durch eine logarithmische Transformation basie- Gangunsicherheit
rend auf dem Antwortverhalten des Samples werden – vegetative Reaktionen (Schwitzen etc.)
die Items im Rahmen einer Messhierarchie auf ihre – mangelnde Konzentrationsfähigkeit etc.
2.4 · Messtheorie
21 2
4 Indikatoren:
. Tab. 2.5 Richtlinien für die Interpretation von
– Verhaltensbeobachtung Kappa-Werten. (Adaptiert nach Altman 1991)
– GPS-Sender
– Herzschlag etc. Kappa-Werte Stärke der Übereinstimmung
– Konzentrationstest, Einzelfrage etc.
<0,20 Schwach

Eine Sammlung von verschiedensten Konzepten und 0,21–0,40 Leicht


Konstrukten und ihrer Beziehung zueinander stellt 0,41–0,60 Moderat/mittelmäßig
nach DePoy und Gitlin (2011) bezugnehmend auf 0,61–0,80 Gut/stark
Kerlinger (1973) eine Theorie dar. Die Forschungs- 0,81–1,00 Sehr stark
gegenstände können natürlich sehr unterschiedliche
Komplexitätsniveaus aufweisen. Ein Konzept stellt
gewissermaßen den Prototyp einer oder mehrerer
Variablen dar. Während ein Konzept oder Konstrukt 2.4.4 Goldstandard versus klinischer
eine möglichst genaue verbale Beschreibung braucht, Standard
verlangt eine Variable in jedem Fall nach einer (num-
merischen) Wertbelegung. Unter Goldstandard wird das bestmögliche Ver-
Beispiele für komplexere Konzepte bzw. Kons- fahren, um eine Fragestellung mit höchster Aussa-
trukte wäre die Erhebung der Patientenzufrie- gekraft zu beantworten, verstanden. Der Goldstan-
denheit oder – noch umfassender und dadurch dard in der medizinischen Forschung ist (nach wie
mehrdimensionaler – der Gesundheit oder der vor) die klinische Studie, die sich durch 3 Punkte aus-
Lebensqualität. zeichnet: Es handelt sich nach Friedmann, Furberg
und DeMets (2010) um eine prospektive, vorzugs-
weise doppelblinde und randomisierte (und damit
2.4.3 Kappa-Koeffizient kontrollierte) klinische Prüfung („randomized con-
trolled trial“, RCT). Ausführliches darüber ist im
Nach Grouven, Bender, Ziegler und Lange (2007, 7 Kap. 14 zu lesen.
S. e65) ist der Cohens-Kappa-Koeffizient „das Es zeigt sich oftmals das Problem, dass die
meistverwendete Maß zur Bewertung der Über- Ergebnisse von RCT nicht auf den klinischen Alltag
einstimmungsgüte bei Vorliegen von kategoriel- übertragbar sind. Kabisch et al. (2011) sprechen im
len Merkmalen“. Der Cohens-Kappa-Koeffizient Sinne der mangelnden externen Validität davon,
misst den zufallskorrigierten Anteil übereinstim- dass „standardisierte und kontrollierte Studien-
mender Bewertungen und überprüft dadurch die bedingungen unzureichend die klinische Versor-
Zuverlässigkeit von Beobachtungen und Bewer- gungsrealität reflektieren“. Zum Beispiel können
tung: einerseits zwischen unterschiedlichen die Ergebnisse, die mit bestimmten Altersgruppen
Bewertern (Interrater) und anderseits zwischen durchgeführt wurden, einfach auf andere Alters-
mehrere Bewertungen eines Bewerters (Intrara- gruppen übertragen werden (Mayer, neuro24.de),
ter) (Grouven et al. 2007). Eine starke Überein- oder Geschlechtsverteilung sind anders, als im kli-
stimmung zeigt sich in hohen Kappa-Werten von nischen Alltag repräsentiert. Oftmals sind kom-
0,87–1,00, wohingegen unzuverlässige Überein- plexe Einnahmebedingungen bei Medikamenten
stimmungsstärke durch niedrige Kappa-Werte oder bestimmte Therapiebedingungen in der Praxis
<0,20 erkennbar ist. Eine Interpretation der Kap- viel schwieriger einzuhalten, als das in Studien der
pa-Werte ist immer situationsabhängig, daher Fall ist. Hier zeigt sich die Wichtigkeit von weiteren
müssen Empfehlung immer im jeweiligen Kontext Studien, um auf die genannten Gegebenheiten Rück-
der Untersuchung betrachtet werden. Richtlinien sicht zu nehmen und zum Beispiel die Wirkungen
über die Interpretation von Kappa-Werten wurden von Behandlungsverfahren oder Medikamenten in
zum Beispiel von Altman (1991, S. 404) vorgestellt größeren oder auch spezielleren Patientengruppen
(. Tab. 2.5). zu untersuchen.
22 Kapitel 2 · Forschungsprozess

2.5 Datensammlung und -analyse 2.6.2 Dissemination

Die Möglichkeiten der Datensammlung stellen ein Jede Forschung sollte das Ziel verfolgen, zugäng-
2 weites Feld in der Forschung dar. Hier reicht der lich gemacht zu werden. Nur so kann das gewon-
Bogen von offenen Beobachtungsverfahren und nene Wissen wieder in die Forschungsgemeinschaft
Interviews bis hin zur strukturierten Anwendung zurückfließen. Neben etablierten Journalen und
standardisierter normierter Tests. Die Auswahl der Konferenzpräsentationen stehen heute viele unter-
jeweiligen geeigneten Datensammlungsverfahren schiedliche Möglichkeiten wie Online-Journals,
erfolgt immer abhängig von der Fragestellung und Open-Access-Publikationen etc. zur Verfügung,
den Genauigkeitsforderungen an die zu treffenden um die Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit
Aussagen. Mehr darüber ist in einzelnen Kapiteln zu zugänglich zu machen. Hier erscheint es wichtig zu
den jeweiligen Forschungsmethoden in der Sektion erwähnen, dass auch unklare oder negative Ergeb-
II zu erfahren. nisse publikationswert sind. Oftmals stellen solche
Je nach Forschungstradition differiert der Publikationen erst die Basis für verfeinerte Fragestel-
Prozess der Datenanalyse. Während es im Rahmen lungen und damit für erfolgreichere Projekte dar. Als
der Analyse bei quantitativen Projekten vereinfacht oberstes Ziel sollte immer eines stehen: der Aufbau
ausgedrückt darum geht, statistisch-mathematische des Informationstands zum Thema und die Weiter-
Verfahren (7 Abschn. 7.4) anzuwenden, um die For- entwicklung einer Theorie.
schungsfrage beantworten zu können, umfasst die
qualitative Analyse die Anwendung methodenspe-
zifischer Techniken. Auch hierzu sind die Details 2.6.3 Verknüpfung der Ergebnisse im
in Sektion II in den jeweiligen Methodenkapiteln Sinne der Weiterentwicklung der
beschrieben. Theorie und Praxis

Im Rahmen der Gesundheitswissenschaften


2.6 Ergebnisse zeigt sich hier ein weites Feld der unterschiedli-
chen Anknüpfungspunkte an Theorie und Praxis
2.6.1 Interpretation (. Tab. 2.6). So können Forschungsergebnisse zum
Beispiel Theorien zu Themen begründen. Als Beispiel
Vollkommen unabhängig von der verwendeten sei hier die Forschungsarbeit von Primeau (1996) im
Methode ist eine der wichtigsten Regeln im Rahmen Rahmen der „occupational science“ (Betätigungswis-
der Interpretation von Ergebnissen die klare Tren- senschaft) zur Bedeutung von Betätigungen genannt.
nung zwischen Analyse und Interpretation. Nur Primeau beschäftigte sich mit der Fragestellung,
diese klare Trennung ermöglicht es, Außenstehen- warum Menschen bestimmte Betätigungen wählen,
den die Gedankengänge die zu Interpretationen im und entwickelte basierend auf ihrer Forschungs-
Rahmen des Forschungsprojektes geführt haben, arbeit ihre Theorien über die Bedeutung von Betä-
transparent nachzuvollziehen. Die Trennung ermög- tigungen (Primeau 1996). Auch in anderen Diszipli-
licht es auch, etwaige andere Interpretationen des nen wie der Physiotherapie wird der Ruf nach eigener
Datenmaterials zuzulassen, egal ob es sich um eine Grundlagenforschung lauter (Mayer u. van Hilten
interpretative Phänomenologie handelt oder um 2007). So fordert zum Beispiel Wolf (interviewt von
eine statistische Faktorenanalyse. Die Qualität der Milatz 2014) die deutlichere Auseinandersetzung
durchgeführten Forschung ist immer Thema, wenn mit physiotherapeutischen Themen, zum Beispiel
unterschiedliche Überprüfungsverfahren je nach die Erforschung der Mechanismen, wie Muskeln
Methodologie verwendet werden müssen (Näheres sich entspannen können. Die Forderung, neben der
dazu in Sektion II). Die Gütekriterien folgen hier Anwendungsforschung auch Grundlagenforschung
den klassischen Kriterien von Reliabilität und Vali- in der Logopädie durchzuführen, findet sich bei-
dität (7 Kap. 11). spielsweise bei Rausch und Schrey-Dern (2007).
Literatur
23 2
Literatur
. Tab. 2.6 Mögliche Verknüpfungen von
Forschungsergebnissen mit Theorie und
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Praxis der Gesundheitswissenschaften und
Chapman and Hall, London
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Ebenso können bestehende Theorien weiter- tematic reviews of interventions version 5.1.0. Cochrane
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March 2011
spiel mit bestimmten Personengruppen wie älteren Hossain Z, Heard R (2003) Module Y. In: Brock K, Harris L, Heard
Menschen überprüft wird (Iwarsson u. Isacsson R, Hossian Z, Hough M, O'Loughlin K et al. (eds) Develo-
1997). Forschungsergebnisse können in die Ent- ping a research project module material. University of
wicklung spezieller Therapieverfahren münden Sydney
Hough M (2003) Module 5. Research questions, variables
oder die professionelle Tätigkeit in der berufli-
and hypotheses. In: Brock K, Harris L, Heard R, Hossian Z,
chen Praxis beeinflussen (Beispiel: Behandlungs- Hough M, O'Loughlin K et al. (eds) Developing a research
oder Befundungsleitlinien). Zu guter Letzt können project module material. University of Sydney, pp 36–43
Forschungsergebnisse im Bereich der Gesund- Iwarsson S, Isacsson Å (1997) Quality of life in the elderly popu-
heitswissenschaften die Finanzierung von Thera- lation: An example exploring interrelationships among
subjective well-being, ADL dependence, and housing acces-
pieverfahren durch die öffentlichen Sozial- und
sibility. Archives of Gerontology and Geriatrics 26 (1): 71–83
Gesundheitsträger durch das Liefern von Eviden- Jäger L (2015) Ambient Assisted Living (AAL) für Kinder und
zen absichern. Jugendliche mit motorischen Dysfunktionen in Öster-
reich. Unveröffentlichte Masterarbeit. Fachhochschule
Zusammenfassung Campus Wien
Janssen J, Laatz W (2013) Statistische Datenanalyse mit SPSS:
In diesem Kapitel wurden die Grundzüge des For-
Eine anwendungsorientierte Einführung in das Basis-
schungsprozesses aus dem Blickwinkel der Gesund- system und das Modul Exakte Tests, 8. Aufl. Springer,
heitswissenschaften und Gesundheitsprofessionen Heidelberg
präsentiert. Das Ablaufmodel des Forschungsprozes- Kabisch M, Ruckes C, Seibert-Grafe M, Blettner M (2011) Ran-
ses, unabhängig von der verwendeten Methode, wurde domisierte kontrollierte Studien. Dtsch Arztebl Int 108
(39): 663–8
in seinen Schritten dargelegt. Im Detail wurden im Rah-
Kerlinger FN (1973) Foundations of behavioral research (2nd
men der gesundheitswissenschaftlichen Forschung ed). Holt, London
die Notwendigkeit der Theoriebildung, das Erstellen Kuckartz U (2014) Mixed Methods: Methodologie, Forschungs-
einer Forschungsfrage oder Hypothese, Grundzüge designs und Analyseverfahren. Springer VS, Wiesbaden
der Messtheorie und die Schritte der Datensammlung Kuhn TS (1970) The Structure of scientific revolutions. Chicago
University Press, IL, Chicago
und Datenanalyse erörtert. Abschließend wurden
Likert R (1932) A technique for the measurement of attitudes.
die Dissemination der Forschungsergebnisse und Archives of Psychology 22 (140): 55
die Verknüpfung der Erkenntnisse mit bestehendem Lincoln YS, Lynham SA, Guba EG (2011) Paradigmatic contro-
Wissen im Sinne der Erweiterung des Wissensstands versis, contradictions, and emerging confluences, revisi-
veranschaulicht. ted. In: Denzin NK, Lincoln YS (eds) The Sage handbook
24 Kapitel 2 · Forschungsprozess

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25 3

Besonderheiten der Forschung


im Gesundheitswesen
Tanja Stamm, Gabriele Karner, Jutta Möseneder, Valentin Ritschl,
Susanne Perkhofer, Gerhard Tucek, Roman Weigl

3.1 Einleitung – 27

3.2 Forschungsethik im Gesundheitswesen – 27


3.2.1 Ethik im Gesundheitswesen – 28
3.2.2 Ethikkommissionen und Ethikanträge – 29
3.2.3 Ethikanträge – 31
3.2.4 Weitere Vorlagepflichten – 32
3.2.5 Forschung am Menschen – 32
3.2.6 Ausblick – 32

3.3 Datenschutz – 33
3.3.1 Identifikationsmerkmale – 33
3.3.2 Datenflüsse und Speicherorte – 34
3.3.3 Möglichkeiten der Anonymisierung und Pseudonymisierung
im Forschungsprozess – 34
3.3.4 Verschwiegenheit – 35
3.3.5 Anonymität und Verschwiegenheit als Bestandteil des
Forschungsvertrags – 35
3.3.6 Aufbewahrung und Löschung von Daten – 35
3.3.7 Anonymisierung in Publikationen – 36
3.3.8 Qualitätssicherung im Rahmen des Datenschutzes – 37

3.4 Rechtliche Rahmenbedingungen – 37


3.4.1 Einführung – 37
3.4.2 Historischer Kontext – 38
3.4.3 Forschungsprojekte an Krankenanstalten und vergleichbaren
Einrichtungen – 39

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5_3
3.4.4 Gesundheitsbezogene Forschung abseits klinischer
Einrichtungen – 40
3.4.5 Entscheidungsprozess über die Notwendigkeit eines
Ethikkommissionsantrag – 40
3.4.6 Umsetzung der Grundsätze des „informed consent“ – 42
3.4.7 Leitlinien für die Entwicklung einer Einverständniserklärung – 43

3.5 Der forschende Praktiker – 45

Literatur – 46
3.2 · Forschungsethik im Gesundheitswesen
27 3
3.1 Einleitung Unabhängig vom Vorliegen einer Disziplin und
der Zuordnung zur Grundlagenwissenschaft oder
Tanja Stamm, Gabriele Karner, Jutta Möseneder, angewandten Forschung kann Wissenschaft und For-
Valentin Ritschl schung auf jedem Niveau (Bachelor, Master, PhD)
erfolgen: Es wird immer dann geforscht, wenn ein
Forschung in den nicht ärztlichen Gesundheitsbe- Forschungsprozess nach bestimmten, anerkannten
rufen ist in vielen Ländern außerhalb des deutsch- Kriterien (7 Kap. 2) durchgeführt wird. Es ist also
sprachigen Raums bereits selbstverständlich. Auch nicht zulässig zu sagen, dass Berufsangehörige in den
in diesen Ländern unterscheidet sich aber der For- Gesundheitsberufen nicht forschen können/dürfen,
schungsbereich der nicht ärztlichen Gesundheits- wenn (noch) keine anerkannte wissenschaftliche Dis-
berufe von vielen anderen Forschungsbereichen ziplin vorliegt oder sie „nur“ angewandte Forschung
dadurch, dass es keine lange Forschungstradition gibt machen „dürfen“. In der Wissenschaft und Forschung
und es sich daher meist um „junge“ Forschungsfächer müssen bestimmte Anforderungen erfüllt werden.
handelt. Unter Wissenschaftlern und Experten wird Diese werden im folgenden Abschnitt mit speziellem
eine Diskussion darüber geführt, ob es sich bei den Bezug zu den nicht ärztlichen Gesundheitsberufen
nicht ärztlichen Gesundheitsberufen um eine eigene beschrieben. Wichtig ist, dass es in den verschiede-
wissenschaftliche Disziplin handelt oder die Profes- nen Ländern, aber auch in verschiedenen Regionen
sion mit „angewandter“ Forschung. Angewandte innerhalb eines Landes unterschiedliche Vorschrif-
Forschung versteht sich in Abgrenzung zur Grund- ten geben kann. Es gelten grundsätzlich immer die-
lagenwissenschaft oft als die (klinische) Anwendung selben Anforderungen bezüglich der Einreichung bei
von bestimmtem neuem Wissen, neuen Prinzipien, der Ethikkommission und der Einreichung bei den
Theorien und/oder Methoden im praktischen Feld. Behörden des Ortes, an dem die Studienteilnehmer
Welche Kriterien eine wissenschaftliche Diszi- und -teilnehmerinnern rekrutiert werden.
plin ausmachen, wird allerdings sehr unterschiedlich Für die Forschung in den nicht ärztlichen
definiert. So charakterisiert sich eine wissenschaft- Gesundheitsberufen sind bestimmte formelle Anfor-
liche Disziplin zum Beispiel durch einen kritischen derungen und Dokumente erforderlich (. Tab. 3.1).
Diskurs zwischen diversen Schulen und Denkrich- Unumgänglich bei der Durchführung eines For-
tungen und die Etablierung von Personen, die sich schungsprojekts ist es, sich an die gesetzlichen Vor-
ausschließlich mit dieser wissenschaftlichen und gaben und Regeln zu halten. Meist werden von den
akademischen Disziplin in der Forschung auseinan- zuständigen Institutionen, zum Beispiel Ethikkom-
dersetzten (z. B. Universitätsprofessoren und Post- missionen, Fachhochschulen etc., Hilfestellungen
Docs); weiter durch den Austausch von akademi- und Fortbildungen angeboten.
schem Wissen auf demselben Niveau, zum Beispiel
durch die Vernetzung mit anderen Fächern auf dem-
selben Niveau, sowie durch internationale Publika- 3.2 Forschungsethik im
tionen und Repräsentationen (Prodinger et al. 2008, Gesundheitswesen
Ottenbacher 1996, Carlson u. Clark 1991, Clark et al.
1991, Yerxa et al. 1989). Diese Charakteristika werden Susanne Perkhofer, Gerhard Tucek
zunehmend von den Gesundheitsberufen im Ausland
erfüllt, allerdings vielleicht nicht im deutschsprachi- Die Ethik ist ein Teilgebiet der Philosophie. Sie hat
gen Raum. Zudem werden neben der angewandten das sittliche Verhalten des Menschen zum Gegen-
Forschung immer mehr Grundlagenforschungspro- stand und setzt sich mit der Moral auseinander
jekte in den Gesundheitsberufen/-fächern durchge- (Kerres u. Seeberger 2001). Die Ethik stellt Richt-
führt. Ein Grundlagenforschungsprojekt in der Ergo- linien auf, an denen sich menschliches Verhal-
therapie, das sich mit immunologischen Parametern ten ausrichten soll. Sie beruft sich dabei auf „ein
als Biomarker für Betätigungsbalance beschäftigt durch Vernunft erkennbares und somit für jeden
hat, wurde zum Beispiel vom Austrian Science Fund Vernunftbegabten einsehbares, oberstes Prinzip“
bezahlt (Dur et al. 2014a, b). (Wolf 2004).
28 Kapitel 3 · Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen

. Tab. 3.1 Anforderungen an die Forschung in den nicht ärztlichen Gesundheitsberufen

Dokument Anmerkungen

Exposé, Proposal Wird meist zur Genehmigung des Themas einer Diplomarbeit,
Bachelorarbeit oder Masterthese verlangt
3 Studienprotokoll, Forschungsplan Deutlich ausführlicher als ein Exposé/Proposal; ist für die
Einreichung bei der Ethikkommission erforderlich; muss für eine
klinische Studie vor Beginn öffentlich registriert werden
Einverständniserklärungen („informed consent“) Einzuholen von Studienteilnehmern (bei Kindern muss zusätzlich
das Einverständnis der Eltern eingeholt werden), auch von
gesunden Probanden, Professionisten und Experten
Genehmigungen Von der zuständigen Ethikkommission (oder Ethikkommission für
Tierversuche), von der zuständigen Behörde, von teilnehmenden
Institutionen (diese verlangen oft eine zusätzliche
Genehmigung!), von Vorgesetzten; Genehmigungen sollten
schriftlich vorliegen
Eventuell Genehmigungen für die Verwendung Im akademischen Bereich ist es üblich, Instrumente ohne
Instrumenten/Erhebungsmethoden Bezahlung zugänglich zu machen. Instrumente, die mit
öffentlichen Forschungsgeldern entwickelt wurden, sind in vielen
Ländern kostenlos im akademischen Bereich zur Verfügung zu
stellen.
Genehmigung für das Abdrucken von Texten Achtung bezüglich Plagiaten: am besten selbst eine Abbildung
oder Abbildungen, die einem Copyright erstellen und den Text selbst schreiben; wenn Fremdmaterial
unterliegen unbedingt erforderlich, dann immer Genehmigung einholen
(Ausnahme: Zitate als Unterfall der urheberrechtlichen
Schranken, siehe dazu Urheberrechtsgesetz für Deutschland,
Österreich, Schweiz)
„Case report form“ (CRF) und Zur Aufzeichnung von Daten für jedes Interview, für jede
Dokumentationsbögen klinische Visite, jede Untersuchung und jede Intervention
Datenschutzmeldung und Meldung bei bzw. Wenn erforderlich, z. B. für ein Register, eine Datenbank und die
Genehmigung durch zuständige Behörde, wenn Befragung von Experten in manchen Institutionen; z. B. muss eine
erforderlich klinische Studie mit einem Medizinprodukt in Österreich unter
bestimmten Bedingungen bei dem Bundesamt für Sicherheit im
Gesundheitswesen (BASG) und der Medizinmarktaufsicht (AGES)
gemeldet werden
Statement zum „conflict of interest“ Zur Offenlegung von möglichen Vorteilen, die auf eine Studie
Einfluss haben könnten

3.2.1 Ethik im Gesundheitswesen UN) veröffentlichten und die weltweit allgemeine


Gültigkeit besitzen, nimmt diesen Anspruch in
Das erste internationale Instrument der Ethik in der Artikel 7 wie folgt auf: „No one shall be subjected to
medizinischen Wissenschaft stellt der Nürnberger torture or to cruel, inhuman or degrading treatment
Ärztekodex von 1947 dar. Er entstand aufgrund der im or punishment. In particular, no one shall be subjec-
Rahmen der Nürnberger Prozesse (Fall I, Ärzteprozess) ted without his free consent to medical or scientific
aufgedeckten menschenverachtenden Versuche der experimentation.“ (United Nations)
Nationalsozialisten am Menschen (Dörner et al. 1999). Der Weltärztebund (World Medical Associa-
Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, tion, WMA) entwickelte 1964 die Deklaration von
die 1948 die vereinten Nationen (United Nations, Helsinki (Declaration of Helsinki) als eine konkrete
3.2 · Forschungsethik im Gesundheitswesen
29 3
Stellungnahme der ethischen Prinzipien in der medi- Gesetzliche Vorlagepflicht
zinischen Forschung, welche auch die Forschung Grundsätzlich müssen alle Arzneimittel- und Medi-
am Menschen sowie identifizierbares Material und zinproduktstudien sowie Studien an Krankenanstal-
Daten von Menschen inkludiert. In der Revision von ten oder Universitäten einer Ethikkommission vor-
1975 (Tokio) wurde die Helsinki-Deklaration um das gelegt werden, wenn im Rahmen der Studie eine
Verschriftlichen des Forschungsvorhabens durch die Intervention an Patienten erfolgt, Körpersubstan-
Forschenden und die Beurteilung desselben durch zen oder Patientendaten verwendet werden.
eine unabhängige Kommission erweitert, und damit
wurde die Basis für die Errichtung von Ethikkom-
missionen geschaffen. Zudem ist die Einhaltung ethi- 3.2.2 Ethikkommissionen
scher Richtlinien auf Basis der Helsinki-Deklaration und Ethikanträge
bei der Einreichung von Publikationen in medizini-
schen (gesundheitsassoziierten) Journalen zu bestä- Ethikkommissionen
tigen und bei Bedarf nachzuweisen. Das Original- Auf Basis der Regeln für den Schutz von Patien-
dokument der Deklaration ist im Internet abrufbar tenrechten durch die Food and Drug Administra-
unter www.wma.net/en/30publications/10policies/b3/. tion (FDA) – bezeichnet als Good Clinical Practise
Ganz allgemein gibt es in der (Bio-)Ethik 4 (GCP) – wurde 1996 im Rahmen der internationa-
Säulen bzw. Grundprinzipien, die als Basis eines ein- len Harmonisierung eine modifizierte Form dieser
heitlichen Standards zu sehen sind (Druml 2010): Richtlinie als Leitlinie der Europäischen Arzneimit-
4 Autonomie: Aufklärung (mit verständlicher telagentur (EMA) verabschiedet.
Information) und Einwilligung der Proban- Es gibt derzeit 26 Ethikkommissionen in Öster-
dinnen bzw. Patientinnen. reich. Auf Initiative der Ethikkommission der
4 Wohltun: Hiermit verpflichten sich die Medizinischen Fakultät Wien und des Allgemei-
Forschenden, für das Wohl der in der Studie nen Krankenhauses der Stadt (AKH) Wien wurde
aufgenommenen Patienten bzw. Probanden im Oktober 1997 das „Forum“ gegründet. Alle
Sorge zu tragen. Österreichischen Ethikkommissionen waren ein-
4 Nicht-Schaden: Die Basis dieser Grundlage geladen, Delegierte in das Forum zu entsenden.
ist die Vermeidung von Schäden durch eine Neben dem regelmäßigen Erfahrungsaustausch soll
Nutzen-Risiko-Abwägung. das Forum vor allem dazu dienen, die Arbeitswei-
4 Gerechtigkeit: Hier ist die Verantwortung für sen der Österreichischen Ethikkommissionen zu
eine gerechte Lasten-Risiko-Verteilung von harmonisieren. Dies hat bisher u. a. zu österreich-
Studien gemeint sowie die Möglichkeit, dass weit einheitlichen Formularen für Anträge, Mel-
alle Personen einer Gesellschaft gleichermaßen dungen etc. geführt, die für Österreich beispiels-
von einem medizinischen Fortschritt profi- weise unter http://ethikkommissionen.at/ abgerufen
tieren (Druml 2010). werden können.
Auf Basis des Krankenanstalten- und Kuranstal-
Darüber hinaus dient die Ethik dem Schutz der tengesetzes (KaKuG) ist die Einrichtung von Ethik-
Persönlichkeitsrechte und der Daten von Teilneh- kommissionen in Krankenanstalten obligatorisch.
merinnen und dem Erhalt und Ausbau des Vertrau- Zudem dienen das Medizinproduktegesetz (MPG),
ens der Öffentlichkeit in die Forschung und in die das Arzneimittelgesetz (AMG) und das Universi-
Forschungsprojekte. Wie bereits erwähnt verlan- tätsgesetz (UG) sowie weiterführende Gesetze als
gen Zeitschriften und Verlage für das Publizieren Grundlagen (. Tab. 3.2).
von Daten ein Ethikkommissionsvotum, ohne das Die Ethikkommission setzte sich aus Frauen und
es nicht möglich ist, die Daten der internationalen Männern zusammen und besteht mindestens aus
wissenschaftlichen Gemeinschaft durch das Publi- (Bundesamt für Gesundheit 2014):
zieren zugänglich zu machen. Darüber hinaus ist ein 4 einem Arzt, der im Inland zur selbständigen
positives Ethikkommissionsvotum Voraussetzung Berufsausübung berechtigt ist und weder
für die Gewährung von Forschungsförderungen, v. a. ärztlicher Leiter der Krankenanstalt noch
im Rahmen internationaler Kooperationen. Prüfer bzw. klinischer Prüfer ist,
30 Kapitel 3 · Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen

. Tab. 3.2 Gesetze als Grundlagen für die Einhaltung der Ethik

Gesetz Inhalt Quelle

Arzneimittelgesetz AMG Bundesgesetz vom 2. März 1983 www.medunigraz.at/


über die Herstellung und das ethikkommission/Forum/
3 Inverkehrbringen von Arzneimitteln Download/Files/AMG.pdf
in der aktuellen Fassung
Leit-Ethik-kommissions- LeitEKV Verordnung der Bundesministerin www.medunigraz.at/
Verordnung für Gesundheit und Frauen ethikkommission/Forum/
betreffend die besonderen Download/Files/LeitEKV.
Anforderungen an pdf
Ethikkommissionen im Rahmen
von multizentrischen klinischen
Prüfungen, Stammfassung BGBl. II
Nr. 214/2004
Medizinproduktegesetz MPG Bundesgesetz betreffend www.medunigraz.at/
Medizinprodukte in der aktuellen ethikkommission/Forum/
Fassung Download/Files/MPG.pdf
Krankenanstalten- und KAKuG Bundesgesetz über www.medunigraz.at/
Kuranstaltengesetz Krankenanstalten und Kuranstalten ethikkommission/Forum/
in der aktuellen Fassung Download/Files/KAKuG.pdf
Gentechnikgesetz GTG Bundesgesetz, mit dem Arbeiten www.medunigraz.at/
mit gentechnisch veränderten ethikkommission/Forum/
Organismen, das Freisetzen Download/Files/GTG.pdf
und Inverkehrbringen von
gentechnisch veränderten
Organismen und die Anwendung
von Genanalyse und Gentherapie
am Menschen geregelt werden, in
der aktuellen Fassung
Datenschutzgesetz DSG Bundesgesetz über den Schutz www.medunigraz.at/
personenbezogener Daten in der ethikkommission/Forum/
aktuellen Fassung Download/Files/DSG.pdf
Strahlenschutzgesetz StrSchG Bundesgesetz über Maßnahmen www.medunigraz.at/
zum Schutz des Lebens ethikkommission/Forum/
oder der Gesundheit von Download/Files/StrSchG.
Menschen einschließlich ihrer pdf
Nachkommenschaft vor Schäden
durch ionisierende Strahlen in der
aktuellen Fassung
Medizinische MedStrSchV Verordnung des Bundesministers www.medunigraz.
Strahlenschutzverordnung für Gesundheit und Frauen über at/ethikkommission/
Maßnahmen zum Schutz von Forum/Download/Files/
Personen vor Schäden durch MedStrSchV.pdf
Anwendung ionisierender
Strahlung im Bereich der Medizin,
Stammfassung BGBl. II Nr. 409/2004
Blutsicherheitsgesetz BSG Bundesgesetz über die www.medunigraz.at/
Gewinnung von Blut ethikkommission/Forum/
und Blutbestandteilen in Download/Files/BSG.pdf
Blutspendeeinrichtungen in der
aktuellen Fassung
3.2 · Forschungsethik im Gesundheitswesen
31 3

. Tab. 3.2 Fortsetzung

Gesetz Inhalt Quelle

Fortpflanzungsmedizingesetz FMedG Bundesgesetz, mit dem www.medunigraz.at/


Regelungen über die medizinisch ethikkommission/Forum/
unterstützte Fortpflanzung Download/Files/FMedG.
getroffen werden, in der aktuellen pdf
Fassung
Gesundheitstelematikgesetz GTelG Bundesgesetz betreffend www.medunigraz.at/
Datensicherheitsmaßnahmen ethikkommission/Forum/
beim elektronischen Verkehr Download/Files/GTelG.
mit Gesundheitsdaten pdf
und Einrichtung eines
Informationsmanagements,
Stammfassung BGBl. I Nr. 23/2008
Universitätsgesetz UG Bundesgesetz über die www.medunigraz.at/
Organisation der Universitäten ethikkommission/Forum/
und ihre Studien in der aktuellen Download/Files/UG.pdf
Fassung

4 einer Fachärztin, in deren Sonderfach die > Ein wichtiges Augenmerk ist der Einwilligungs-
jeweilige klinische Prüfung fällt, oder ggf. erklärung zu widmen. Diese Patienten- bzw.
einem Zahnarzt, und der nicht Prüfer ist, Probandeninformation ist ein wichtiges
4 einem Angehörigen des gehobenen Dienstes und fundamentales Patientenrecht und die
für Gesundheits- und Krankenpflege, Voraussetzung für die Durchführung einer
4 einem Juristen, Forschung am/über den Menschen. Die
4 einer Pharmazeutin, Aufklärung über den Inhalt der Studie enthält
4 einer Patientenvertreterin, den Titel sowie den Zweck der Studie und muss
4 einer Person, die über biometrische Expertise eine laienverständliche Erklärung zu allen
verfügt. Punkten beinhalten, zum Beispiel Behandlungen,
Maßnahmen, Nebenwirkungen und Risiken.

3.2.3 Ethikanträge Es gilt zudem zu klären, ob es sich um besonders schüt-


zenswerte Personenkreise (vulnerable Personen) handelt,
Auf Basis der oben erwähnten Gesetze ist ein Ethik- da sich diese unter besonderem Schutz der Ethikkom-
antrag einzureichen mit folgenden Inhalten: missionen befinden. Sie werden wie folgt definiert:
4 Prüfplan 4 freiwillige Probanden im Abhängigkeitsver-
4 Prüferinformation hältnis zur Prüfärztin
4 Kurzfassung 4 chronisch Kranke
4 Teilnehmerinformation(en) 4 nicht einwilligungsfähige Personen
4 Einwilligungserklärung(en) 4 minderjährige Personen
4 Rekrutierungsunterlagen 4 temporär nicht einwilligungsfähige Personen
4 Vereinbarung zwischen Ärztin und Prüfstelle
4 Versicherungsbestätigung Generell ist hinzuzufügen, dass Einwilligungserklärun-
4 Unterlagen über die Qualifikation des Prüfarztes gen ohne Zeitdruck zu erfolgen haben und die Perso-
nen die Möglichkeit erhalten sollen, von einer Person
Detaillierte Anforderungen zu den einzelnen Punkten ihres Vertrauens beraten zu werden. Die Einwilligung
finden Sie unter http://ethikkommissionen.at/. erfolgt selbstständig datiert und mit Unterschrift der
32 Kapitel 3 · Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen

Probandin bzw. Patientin. In der Einwilligungserklä- Methoden im niedergelassenen Bereich, etwa im


rung wird festgehalten, dass die Teilnahme freiwillig Rahmen von Pflegeheimen oder angewandten For-
erfolgt und die Person ohne Angabe von Gründen aus schungsprojekten an Schulen (Minderjährige und
der Studie ausscheiden kann, wenn sie das möchte. damit vulnerable Personengruppe). Auch hier sind
Die Ablehnung der Teilnahme oder ein vorzeitiges die Kriterien der Ethik schlagend (Einwilligungserklä-
Ausscheiden aus einer Studie darf keine nachteiligen rung, Versicherung, Qualität des Forschungsvorha-
3 Folgen für die medizinische Betreuung haben. bens), jedoch gesetzlich (noch) nicht verbindend.
Die Schweiz hat dies als Vorreiterin einheitlich
geregelt und am 30. September 2011 ein Bundesge-
3.2.4 Weitere Vorlagepflichten setz über die Forschung am Menschen (Humanfor-
schungsgesetz, HFG) erlassen. Dieses Gesetz gilt für
Neben einer möglichen Vorlagepflicht an eine die Forschung zu Krankheiten des Menschen sowie
Ethikkommission. entsprechend der oben genann- zu Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers,
ten Gesetze gilt es weiter zu klären, ob aufgrund des die durchgeführt wird
Inhaltes oder Ziels des Forschungsprojektes weitere 4 mit Personen,
Vorlagepflichten bestehen. Dies können sein: 4 an verstorbenen Personen,
4 Datenschutzbehörde: § 46 (2) Z 3 DSG regelt die 4 an Embryonen und Föten,
Verwendung bestimmter Daten für wissenschaft- 4 mit biologischem Material,
liche Zwecke und Statistik. Die Verwendung ist 4 mit gesundheitsbezogenen Personendaten.
demnach nur mit Zustimmung der Datenschutz-
behörde zulässig (z. B. ohne spezielle Einwil- Es ist nicht anwendbar auf Forschung
ligung erhobene personenbezogene Daten). 4 an Embryonen in vitro nach dem Stammzellen-
4 Bundesamt für Sicherheit im Gesundheits- forschungsgesetz vom 19. Dezember 2003,
wesen (BSG): Die Verordnung des BMG über 4 mit anonymisiertem biologischem Material,
die Meldepflicht für nicht interventionelle 4 mit anonym erhobenen und anonymisierten
Studien schreibt die verbindliche Eintragungs- gesundheitsbezogenen Daten (Bundesamt für
pflicht in ein elektronisches Register beim BSG Gesundheit 2014).
vor. Es besteht zudem Genehmigungspflicht
nach AMG und MPG.
4 Sonstige behördliche Genehmigungen, 3.2.6 Ausblick
zum Beispiel Forschung mit oder an Tieren
(TierversuchsG, TVG 2012) Die Einhaltung der ethischen und gesetzlichen
4 Zusätzliche Anforderungen seitens Daten- Aspekte von Forschungsprojekten im Gesundheits-
schutzbehörde oder BSG etc. wesen ist ein wichtiger Bestandteil der Wissenschaft
und Forschung (World Health Organisation 2002).
Ohne Zweifel sind die Einreichungen von Ethikanträ-
3.2.5 Forschung am Menschen gen mit einem hohen Aufwand verbunden, denn sie
bedürfen einer großzügigen zeitlichen Planung sowie
Angewandte medizinische Forschung in Österreich einer inhaltlich hohen Qualität von Forschungspro-
bedarf eines Ethikantrags und einer positiven Begut- jekten (schlechte Forschung ist unethisch).
achtung einer Ethikkommission und ist im Rahmen Der Anspruch auf Ethik ist jedoch außerhalb der
von AMG (LMSVG), MPG, KuKG und UG gere- gesetzlichen Regelung in Österreich im Rahmen von
gelt. Mit anderen Worten ist die Forschungsethik Forschungsprojekten gleichermaßen durch die For-
auch an die Institution, an der Forschungsvorhaben schenden einzuhalten (Helsinki-Deklaration). Gerade
durchgeführt bzw. an der die Personen rekrutiert und die nicht ärztlichen Gesundheitsberufe, die auch im
beforscht werden, gebunden. Gerade in den nicht ärzt- niedergelassenen/extramuralen Bereich forschen, sind
lichen Gesundheitsberufen kommt es immer wieder dazu angehalten, diese Kriterien zu erfüllen. Tatsäch-
zu Forschungsprojekten im extramuralen Bereich, lich ergeben sich daraus auch im Rahmen des Pub-
wie zum Beispiel Anwendung neuer medizinischer lizierens der Daten manchmal Schwierigkeiten, da
3.3 · Datenschutz
33 3
internationale Journale häufig ein Ethikkommissions- Strukturell und historisch ist der Datenschutz inner-
votum verlangen, welches in Österreich (zum jetzigen halb der Ethik in der Forschung angesiedelt. Einfa-
Zeitpunkt) nicht notwendig ist bzw. bei dem die Ethik- cher formuliert: Ethisches Forschen im Gesund-
kommissionen ihre Unzuständigkeit erklären (z. B. heitsbereich ist ohne Datenschutz nicht vorstellbar.
weil die Studie im extramuralen Bereich stattfindet). In Bezug auf das ethische Vorgehen in der Gesund-
In Tirol wurde hierfür das Research Committee heitsforschung (7 Abschn. 3.2) stellt der Datenschutz
for Scientific and Ethical Questions (RCSEQ) einge- eine besondere Herausforderung dar. So steht der
richtet. Es handelt sich hierbei um ein entscheidungs- Forscher beim Thema des Datenschutzes immer
befugtes Kollegialorgan der Privaten Universität für im Spannungsfeld zwischen der eigentlichen For-
Gesundheitswissenschaften, Medizinische Infor- schungsarbeit, der geplanten Publikation und dem
matik und Technik Tirol (UMIT), Hall in Tirol, und Schutz der Personen, die am Forschungsprojekt
der Fachhochschule Gesundheit Tirol, um geplante beteiligt waren.
Studien (nicht interventionell, extramural) auf wis- In einer vernetzten Welt nimmt das Thema
senschaftlich-ethische Kriterien bzw. Qualität zu des Datenschutzes allgemein einen immer wichti-
überprüfen und zu beurteilen (Fraunhofer-Institut geren Stellenwert ein. Nicht nur in der Forschung,
für integrierte Schaltungen IIS 2012). Diese Kom- sondern allgemein nimmt parallel mit der zuneh-
mission dient somit als Ergänzung zur Ethikkom- menden Erfassung von Daten in einer Gesellschaft
mission, die bei der Beurteilung von „interventionel- auch die Schutzwürdigkeit der Informationen, die
len“ Studien bei Patienten in Krankenanstalten den gesammelt werden, zu. Derzeit besteht der Schutz-
einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen (AMG, bedarf hinsichtlich der gesammelten Daten an sich
MPG, TirKAG oder KaKuG usw.) unterworfen sind. wie auch hinsichtlich möglicher Verknüpfungen
In der Forschung kommt ethischen Fragen eine unterschiedlicher Datensätze, zum Beispiel in den
zunehmende Bedeutung zu. Ethikkommissionen garan- Big-data-Initiativen.
tieren eine unabhängige Überprüfung der Qualität und
Integrität und stellen den Schutz der untersuchenden
Personen (oder deren Material bzw. Daten) sicher. Unter 3.3.1 Identifikationsmerkmale
diesem Aspekt betrachtet sind diese Kommissionen kei-
nesfalls forschungsbehindernde oder bürokratische Ein- Die 2 Grundpfeiler des Datenschutzes sind die
richtungen, sondern sie dienen vielmehr der Einhaltung Anonymität und die Verschwiegenheit. Hier muss
transparenter, akzeptierter wissenschaftlicher, rechtlicher noch zwischen der Verwendung der Daten inner-
und ethischer Kriterien der modernen Forschung. halb des Forschungsprojektes und der Verwen-
dung für eine Publikation (z. B. einer Thesis oder
in einem Journal) unterschieden werden. Gewis-
3.3 Datenschutz sermaßen geht es um den internen und exter-
nen Umgang mit den gesammelten Daten. Unter
Roman Weigl Anonymisierung wird die Veränderung der per-
sonenbezogenen Daten verstanden, sodass die
Daten nicht mehr einer Person zugeordnet werden
Unter dem Begriff Daten werden in diesem können. Ziel ist es, die eindeutige Identifikation
Kapitel gesammelte personenbezogene einer Person zu verhindern. Im Gegensatz dazu
Informationen verstanden, die im Rahmen kommt es bei der Pseudonymisierung zu keiner
eines Gesundheitsforschungsprojekts erhoben Trennung zwischen Identifikation und Datensatz,
werden und einer Person zugeordnet werden sondern nur zu einem Ersatz der primären Identi-
können. Der Datenschutz beschäftigt sich fikationsmerkmale (7 Abschn. 3.3.3). Es kann allge-
im Rahmen der (gesundheitsbezogenen) mein zwischen 2 unterschiedlichen Identifikations-
Forschung daher mit dem Schutz der Daten merkmalen unterschieden werden, den primären
von Teilnehmenden an Forschungsprojekten. und den sekundären Identifikationsmerkmalen
(. Tab. 3.3).
34 Kapitel 3 · Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen

. Tab. 3.3 Primäre und sekundäre Identifikationsmerkmalen

Identifikationsmerkmale Attributsbeispiele Bedeutung für Identifikation

Primäre Name, Sozialversicherungsnummer (Nahezu) eindeutige Identifikation einer Person


möglich
3 Sekundäre Beruf, Wohnort, Geschlecht Verknüpfung mit externen Daten könnte
Identifikation ermöglichen

Primäre Identifikationsmerkmale lassen in jedem bereits im Rahmen des Ethikantrags durchzufüh-


Fall die eindeutige Identifikation einer Person bzw. ren (7 Abschn. 3.2). Hier muss bereits ein Überblick
die sehr klare Eingrenzung auf eine Personengruppe gegeben werden, an welchen Stellen im Forschungs-
zu. Diese Merkmale müssen in jedem Fall gelöscht prozess welche Daten erhoben und gespeichert
bzw. verschlüsselt werden. Sekundäre Identifikations- werden, wie lange diese gespeichert werden und
merkmale präsentieren sich im Gegensatz zu den pri- wohin Daten übermittelt werden. Dabei kann es
mären Merkmalen vordergründig neutral, wie zum sich als hilfreich erweisen, diesen Ablauf mittels
Beispiel der Beruf. Bei genauerem Betrachten lassen eines Flussdiagramms auch grafisch darzustellen.
aber sekundäre Identifikationsmerkmale oftmals Es gilt im Rahmen der Offenlegung der Speich-
sehr wohl eine Identifikation einer Person über die erorte auch zu klären, welche Personen zu welchem
Kombination verschiedener Merkmale zu. So könnte Zeitpunkt Zugriff auf die Daten haben. Der relevante
zum Beispiel ein bei Männern selten gewählter Beruf Zugriff erstreckt sich sowohl auf die Erhebungsda-
wie Kleinkindpädagogik in Kombination mit dem ten (hier ist meistens noch ein direkter Bezug zur
Geschlecht männlich in einem kleineren Ort die Person vorhanden, z. B. handschriftliche Intervie-
Zuordnung zu einer bestimmten Person ermöglichen. wnotizen, Audioaufzeichnungen von Gesprächen)
Den bisher genannten Identifikationsmerkmalen als auch auf die Forschungsdaten (die oft in pseud-
stehen Attribute gegenüber, deren Eigenschaften sich onymisierter oder anonymisierter Form vorliegen,
öfter ändern und die daher eine Zuordnung kaum z. B. Transkripte der Interviews).
ermöglichen. So ist es kaum möglich, eine Serie von Die Vorgehensweisen sollten für einen Ethik-
Blutdruckwerten einer bestimmten Person zuzuord- kommissionsantrag in erster Linie auf logischer
nen1. Allerdings gibt Jautz (2006) hier zu bedenken, Ebene dargelegt werden, die Einzelheiten der tech-
dass das Bestehen von atypischen Extremwerten hier nischen Realisierung müssen manchmal erst später
doch eine Identifizierung einer Person ermöglichen definiert werden. Zum Beispiel vermerkt dies
kann. Zum Beispiel könnte aus der Kombination von explizit das Datenschutzmerkblatt des Bayrischen
starkem Übergewicht und dem Wohnort eine Stu- Datenschutzbeauftragten im Rahmen des Patien-
dienteilnehmerin identifizierbar sein. tenschutzes bei medizinischen Studien (Datenschutz
Bayern 2007).

3.3.2 Datenflüsse und Speicherorte


3.3.3 Möglichkeiten der
Eine Darlegung der Datenflüsse und Speicher- Anonymisierung und
orte innerhalb des Forschungsprojekts ist vielfach Pseudonymisierung im
Forschungsprozess

1 Ob sich aus einem vollkommen neuen Trend, dem freiwil-


Die Anonymisierung stellt die vollständige Trennung
ligen Erheben von Gesundheitsdaten wie Schlafgewohn-
heiten, Herzfrequenz etc. mittels Gesundheits-Apps hier
personenbezogener Daten vom Datensatz dar, sodass
vermehrte Datenschutzprobleme durch die Verknüpfung die spätere Wiederzuordnung nicht mehr möglich
ergeben, bleibt abzuwarten. ist. Die effektivste Möglichkeit, Anonymität primärer
3.3 · Datenschutz
35 3
Identifikationsmerkmale herzustellen, ist, diese zu 3.3.4 Verschwiegenheit
löschen. Sobald eine Liste oder Tabelle vorliegt, aus
der eine Verknüpfung der primären Identifikations- Im Gegensatz zur Anonymität handelt es sich bei der
merkmale mit den neu vergebenen Identifikations- Verschwiegenheit um das Versprechen der Forschen-
daten vorgenommen werden kann, wird korrekter- den, obwohl sie über personenbezogene Informatio-
weise von einer Pseudonymisierung gesprochen. So nen im Rahmen einer Studie erfahren, nichts darüber
kommt es bei der Pseudonymisierung bei begründe- der Öffentlichkeit mitzuteilen (Babbie 2010). So
tem Bedarf zu keiner Anonymisierung, sondern nur könnte eine Forscherin das Einkommen einer Teil-
zu einem Ersatz der primären Identifikationsmerk- nehmerin, das sie im Rahmen einer Befragung erfah-
male. Beispielsweise wird der Zugang zu Namen ren hat, zwar weitergeben, würde aber zusichern,
durch eine Identifikationsnummer oder ein Buchsta- dass dies nicht zu tun. Üblicherweise wird die Ver-
benkürzel erschwert, eine spätere Wiederzuordnung schwiegenheit im Rahmen der Einverständniserklä-
ist aber nicht ausgeschlossen. Im Sinne der Ethik rung zur Teilnahme an einer Studie den Teilnehmen-
kann die mögliche spätere (Re-)Identifikation auch den zugesichert.
im Sinne der Teilnehmenden erwünscht sein. Zum
Beispiel kann aus der Kombination unterschiedli-
cher Studien ein neues Behandlungsverfahren resul- 3.3.5 Anonymität und
tieren, das es zum Zeitpunkt der Untersuchung noch Verschwiegenheit
nicht gab. Durch die Wiederverknüpfung mit den als Bestandteil des
Originaldaten könnten infrage kommende ehema- Forschungsvertrags
lige Studienteilnehmende kontaktiert werden.
Ein Standard im Rahmen klinischer Studien ist Prinzipiell ist davon auszugehen, dass jede Studien-
die Verwendung von „subject identification codes“ teilnehmerin und jeder Studienteilnehmer ein For-
(European Medicines Agency 2002: ICH Topic E6 mular zur Zustimmung an der Teilnahme der Studie
Guideline for Good Clinical Practice), einer einma- erhalten und diese Zustimmung auch erteilt hat. In
ligen Identifikationsnummer, die den Teilnehmen- diesem „informed consent“ werden Ziele, Metho-
den zugeordnet wird, um deren Identität zu schützen. den, Verlauf und die Publikationsabsicht der Studie
(inhaltlich vergleichbar mit dem Antrag für die
> Um eine entsprechende Datensicherheit Ethikkommission) den Studienteilnehmern in kurzer
bei der Verlinkung zwischen den Subjekten und prägnanter Form mitgeteilt und ggf. per Unter-
und den neu vergebenen Identifika- schrift bestätigt (siehe Sonderfall Online-Befragung,
tionsnummern zu gewährleisten, ist eine 7 Abschn. 7.3.1). Der Umgang mit den Informationen,
Verschlüsselung des Verlinkungsdokuments die im Rahmen dieses Projektes erlangt werden, muss
dringend indiziert. ebenfalls den Teilnehmenden erklärt werden, d. h.
die entsprechende Wahrung der Anonymität und
Zum Abschluss sei ein berühmter Fall der Pseu- Verschwiegenheit ist Teil dieses Forschungsvertrags
donymisierung durch Josef Breuer und Sigmund (Depoy u. Gitlin 2011; 7 Abschn. 3.3.4).
Freud (2007) erwähnt – und wie sie nicht passieren
sollte: Anna O., alias Bertha Pappenheim, die spätere
berühmte Feministin und Gründerin des jüdischen 3.3.6 Aufbewahrung und Löschung
Frauenbunds, inspirierte als junge Patientin zur von Daten
Entwicklung der Psychoanalyse, als sie in ärztlicher
Behandlung bei Breuer war. Die von Breuer und Als Faustregel gilt, dass die Aufbewahrung von Daten
Freud angewandte Anonymisierungsmethode war einer Forschungsarbeit nur so lange aufzubewah-
die der simplen Verschiebung der Anfangsbuchsta- ren sind, wie die Durchführung und Auswertung
ben: Sie setzten die Anfangsbuchstaben jeweils im der Studie es erfordern. Danach soll eine Löschung
Alphabet um eine Position zurück (von B.P. zu A.O.) bzw. Vernichtung der Daten erfolgen. Gegebenen-
und kreierten aus den Buchstaben neue Namen. falls müssen besondere Vorgaben vonseiten der
36 Kapitel 3 · Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen

Institutionen eingehalten werden. So sind Daten 3.3.7 Anonymisierung in


von klinischen Studien gemäß für die Dauer der von Publikationen
den zuständigen Behörden vorgeschriebenen Fristen
aufzubewahren. So beträgt beispielsweise die Aufbe-
wahrungsfrist in Österreich nach dem Arzneimittel- > Sowohl für quantitative als auch für
gesetz (AMG) und Medizinproduktegesetz (MPG) qualitative Publikationen gelten die gleichen
3 beträgt die 15 Jahre. Ebenso betrifft dies den Rückzug Grundregeln: So viel Anonymisierung
des Einverständnisses zur Teilnahme durch Studien- gewährleisten, wie für den Schutz der
teilnehmende – hier muss gewährleistet werden, dass Teilnehmenden notwendig ist, die darüber
eine entsprechende Vorgehensweise zur Datenlö- hinausgehende Verfremdung so gering wie
schung existiert und auch eingehalten wird. möglich halten.
Alle diese Punkte sollten sowohl im Ethikkom-
missionsantrag als auch in verkürzter Form in der Der quantitative Forschungszugang hat aufgrund
Einverständniserklärung für die Teilnehmenden seiner umfangreicheren Daten und vielen Fälle
beantwortet sein. Die folgende Übersicht gibt den häufig Vorteile bei der Anonymisierung. Gerade
entsprechenden Ausschnitt des Antragsformulars im Bereich der Präsentation qualitativer For-
an die Ethikkommission der Fakultät für Health schungsergebnisse reicht es allerdings oftmals
Sciences der Universität von Sydney wieder. nicht aus, einfach den Namen zu verändern, da
die Illustration von Kernaussagen von Personen
für die Verdeutlichung von Konstrukten etc. sehr
Abschnitt 7: Datenschutz und die Veröf- viel persönliche Informationen enthalten können.
fentlichung der Ergebnisse Pätzold (2005) spricht hier zum Beispiel bei nar-
7.2 Beinhaltet ein Teil der Studie Aufnahmen rativen Interviews vom erheblichen biographi-
mit Tonband, Film/Video oder ein anderes schen Anteil der Daten. Die Aussagen können
elektronisches Medium? daher wesentlich einfacher zum Beispiel einem
7.3 Gibt es eine Möglichkeit, dass Informationen bestimmten geographischen Kontext zugeordnet
persönlicher Natur zu Personen, die nicht werden.
direkt mit dieser Forschung verbunden sind, Jeder Schritt der Anonymisierung im qualitati-
enthüllt werden könnte? ven Kontext ist zwangsläufig mit einem Informati-
7.4 onsverlust verbunden, die Qualität der Daten wird
(A) Wie werden die Ergebnisse der Studie beeinträchtigt (vgl. Pätzold 2005). Ziel der Forschen-
verbreitet? den ist der Balanceakt, einerseits den Informations-
(B) Wie wird die Vertraulichkeit der erhobenen gehalt so unverändert wie möglich zu halten und
Daten, einschließlich der Identität anderseits den Rückschluss auf die Teilnehmenden
der Teilnehmer, bei der Verbreitung zu verhindern.
gewährleistet? Der wissenschaftlich Tätige steht hier vor der
(C) Was sind die vorgeschlagene Speicherung, Herausforderung, im Rahmen der Publikation einen
der Standort und der Zugang zu den ähnlichen Kontext zu entwickeln, der es den Lesern
gesammelten Materialien (einschließlich und Leserinnen ermöglicht, die Erkenntnisse nach-
Dateien, Tonbänder, Fragebögen, zuvollziehen, ohne einen Rückschluss auf die Identi-
Videobänder, Fotos) während der Studie? tät der Studienteilnehmer zuzulassen. Es gilt, so wenig
(D) Geben Sie an, wie lang Materialien originalen Kontext wie möglich einfließen zu lassen.
(einschließlich Dateien, Tonbänder, Wenn es für das Verständnis notwendig ist, so gilt es
Fragebögen, Videobänder, Fotos), die zu prüfen, inwieweit inhaltliche Veränderungen am
während der Studie gesammelt werden, Gesagten notwendig sind, um die Anonymität der
nach der Studie behalten werden und wie Studienteilnehmer und -teilnehmerinnen zu erhal-
sie letztlich entsorgt werden. ten. Diese Veränderungen sind im Sinne eines wissen-
schaftlich korrekten Arbeitens im Text zu vermerken.
3.4 · Rechtliche Rahmenbedingungen
37 3
Beispiel Forschersicherheit ist. Nur ein verantwortungsvol-
4 Geographische Angaben: Ersetzen von ler Umgang mit den Daten der Studienteilnehmer
Ortsnamen durch „deutsche Kleinstadt“, sichert auch für nachfolgende Generationen von
konkrete Regionen durch „rurale Gegend“ Forschenden in den Gesundheitsprofessionen die
4 Geschlecht: nur dort wo es für den Inhalt Möglichkeit, Forschung durchführen zu können
tatsächlich notwendig und die Bereitschaft von Teilnehmenden und Klien-
4 Beruf: globaleres Formulieren der Tätigkeit (z. B. ten, an zukünftigen Forschungsprojekten mitzuwir-
therapeutischer Gesundheitsberuf statt Physio- ken, zu generieren.
therapeut) oder Veränderung des Tätigkeitsbe-
reichs, falls dieser für das Thema nicht relevant ist
z z Weiterführende Dokumente und
Hier erweist es sich für Studierende oftmals als Informationen
sinnvoll, im Zweifel auch Zweitmeinungen einzu- 4 http://ethikkommission.meduniwien.ac.at/service/
holen, beispielsweise durch die Betreuerin. Wis- patienteninformation
senschaftliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen 4 Datenschutzgesetz Österreich: www.ris.bka.
haben oft die Möglichkeit, mit den zuständigen gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=bundesnor-
Datenschutzbeauftragten Kontakt aufzunehmen men&Gesetzesnummer=10001597
und deren Meinung einzuholen. Häufig zeigt es sich 4 Bundesdatenschutzgesetz Deutschland: www.
als sehr zielführend, Formulierungen mit Kollegen gesetze-im-internet.de/bundesrecht/bdsg_1990/
zu besprechen, die nicht am Projekt beteiligt sind, gesamt.pdf
um verstärkt die Außenwirkung einzubringen. 4 Bundesgesetz über den Datenschutz Schweiz:
www.admin.ch/opc/de/classified-compila-
> Dies gilt auch für qualitative Studien mit tion/19920153/201401010000/235.1.pdf
Experten! Auch Experten und Expertinnen
sollten durch eine Veränderung der
personenbezogenen Daten nicht Zusammenfassung
identifizierbar sein. Datenschutz in der Forschung durch Gesundheits-
professionisten ist ein Thema, das sich nicht nur mit
den technisch-logistischen Aspekten beschäftigt,
3.3.8 Qualitätssicherung im Rahmen sondern auch viele ethische Fragen aufwirft. In die-
des Datenschutzes sem Kapitel wurde auf beide Aspekte im Rahmen
von Gesundheitsforschungsprojekten eingegan-
Oftmals ist es mit einem einmaligen Antrag für gen, um den Datenschutz der Teilnehmende an
ein Forschungsprojekt bei einer Ethikkommis- Forschungsprojekten zu gewährleisten.
sion noch nicht getan. Manche Ethikkommissio-
nen verlangen entweder nach Abschluss des For-
schungsprojekts oder nach einem bestimmten 3.4 Rechtliche Rahmenbedingungen
Zeitraum eine Stellungnahme, um Feedback im
Sinne der Qualitätssicherung zu erhalten, wie die Roman Weigl
geplante Vorgehensweise tatsächlich umgesetzt
wurde.
Um mit einer Analogie aus dem Klinikbe- 3.4.1 Einführung
reich abzuschließen: Im Rahmen der klinischen
Tätigkeit wird oft davon gesprochen, dass Patien- Häufig ist es für Studierende der nicht ärztlichen
tensicherheit auch Mitarbeitersicherheit ist (Rit- Gesundheitsberufe, die erstmals ein Forschungs-
ter-Börner 2015). Übertragen auf den Daten- projekt durchführen wollen, unklar, ob sie sich an
schutz kann auch davon gesprochen werden, dass die eigene Ausbildungsstätte, an die Institution, an
Sicherheit im Umgang mit Teilnehmerdaten auch der die Studie durchgeführt werden soll, oder an eine
38 Kapitel 3 · Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen

Ethikkommission wenden sollen. In diesem Kapitel > Der Ort, an dem das Forschungsprojekt
sollen die wichtigsten Fragen in Bezug auf die recht- durchgeführt wird, bestimmt, welche
lichen Rahmenbedingungen bei den Vorbereitun- Gesetze zur Anwendung kommen, welche
gen zur Durchführung eines Forschungsprojekts im institutionellen Prozesse eingehalten werden
nicht ärztlichen Gesundheitsbereich geklärt werden. müssen und welche Ethikkommission
Die Begutachtung von nicht ärztlichen For- zuständig ist.
3 schungsvorhaben durch Ethikkommissionen ist wie
von Stühlinger und Schwamberger (2013) ausgeführt
derzeit noch unzureichend geregelt (7 Abschn. 3.5). 3.4.2 Historischer Kontext
Daher erscheint das Bewilligen von Forschungs-
projekten für Studierende oft wie ein Hindernis- Die heute geltenden rechtlichen Rahmenbedingun-
lauf zwischen verschiedensten Zuständigkeiten und gen müssen immer in ihrem historischen Kontext
Kompetenzen. gesehen werden. Die Etablierung von Ethikkommis-
sionen und die Einführung von Einverständniserklä-
Beispiel rungen für Teilnehmende an Forschungsvorhaben
Eine Masterstudentin studiert an einer Wiener stehen in engem Zusammenhang mit vielen ethisch
Hochschule. Für ihre Masterthese möchte sie ein fragwürdigen Forschungsprojekten, die schlussend-
empirisches Forschungsprojekt mit Patienten lich in einem Überdenken und einer Neustrukturie-
durchführen. Sie hat allerdings vor, ihr Forschungs- rung der Forschungspraxis mündeten. In den folgen-
projekt an einer Institution durchzuführen, die wie den Absätzen werden nun beispielhafte Experimente
ihr Wohnort in einem anderen Bundesland loka- und deren Zusammenhang mit Veränderungen der
lisiert ist. Sie steht nun vor der Frage, ob sie sich rechtlichen Grundlagen von Forschungsprojekten
für die Freigabe bzw. die positive Beurteilung ihres dargelegt.
Projekts an ihre Ausbildungsstätte, an die Institu- In den USA wurde als Konsequenz von unethi-
tion oder an die Ethikkommission der geographisch schen Forschungsprojekten 1978 die National
nächstgelegenen Universitätsklinik für Medizin Commission for the Protection of Human Sub-
wenden soll.2 jects of Biomedical and Behavioral Research 3
gegründet. Anlass war das Bekanntwerden der
Grundsätzlich kann von einer Gebietszuständig- Tuskegee-Syphilis-Studie (Centers for Disease Control
keit der Ethikkommission, abhängig vom Durch- and Prevention 2013) durch das US Public Health
führungsort der Studie, ausgegangen werden. Das Service von 1932 bis 1972. In dieser Studie wurden
heißt, hier gelten die gesetzlichen Rahmenbedingun- einkommensschwache afroamerikanische Männer in
gen des jeweiligen Bundeslandes in Deutschland und Tuskegee, Alabama, die an Syphilis erkrankt waren,
Österreich bzw. des Kantons in der Schweiz, basie- rekrutiert, um den natürlichen Verlauf der Krank-
rend auf den jeweiligen Bundesgesetzen. Die wich- heit studieren zu können. Um diesen Verlauf unge-
tigsten Gesetze, die bei der Durchführung von For- stört zu beobachten, erhielten die Studienteilnehmer
schungsprojekten von Relevanz sind, finden sich in keine Diagnoseaufklärung und keine (zum damaligen
7 Abschn. 3.2. Zeitpunkt bereits vorhandene) Behandlung.
Bezüglich der europäischen Geschichte sei hier
auf Experimente in den 1940er-Jahren an Menschen
durch medizinische Wissenschaftler in Österreich
2 Lösung: In diesem Fall muss die Studentin die Projekt- und Deutschland verwiesen. Beispielhaft sind hier
bewilligung durch die Ausbildungsstätte (Masterthese) die Wirksamkeitstest für Impfstoffe durch absicht-
und die Institution, an der das Projekt durchgeführt wird, liche Tuberkuloseinfektion an „bildungsunfähigen“
einholen. Nachdem gesundheitsbezogene Daten von
Patienten erhoben werden, ist zusätzlich eine Freigabe
durch die institutionseigene Ethikkommission oder die 3 Nationale Kommission zum Schutz von Versuchsperso-
Ethikkommission des Bundeslandes, in dem dieInstitution nen in der biomedizinischen Forschung und der Verhal-
ist, erforderlich. tensforschung
3.4 · Rechtliche Rahmenbedingungen
39 3
Heimkindern der städtische Fürsorgeanstalt „Am Einrichtungen, nicht nur, da aufgrund des jeweiligen
Spiegelgrund“ in Österreich oder die Antibiotikaex- Projekts Ressourcen gebunden werden, sondern weil
perimente durch künstlich herbeigeführte Wund- zusätzlich auch Haftungsverpflichtungen durch die
infektionen an polnischen Frauen im Konzentra- Studie entstehen können.
tionslager Ravensbrück in Deutschland erwähnt. Die Etablierung von Ethikkommissionen für
Als Ergebnis der Nürnberger Ärzteprozesse wurde den nicht medizinischen Forschungsbereich ist im
1947 der Nürnberger Kodex über die Zulässigkeit Gegensatz zur angloamerikanischen und skandi-
medizinischer Versuche verfasst. navischen Universitätskultur, wo oftmals jedes For-
Diese und viele andere Vorkommnisse führten schungsprojekt (auch Studierendenprojekte!) vorab
schrittweise zum Überdenken der Forschungspra- zur Bewilligung bei der zuständigen universitären
xis. Im Rahmen der Deklaration von Helsinki konnte Ethikkommission eingereicht werden muss, im
sich die World Medical Association (1964, 1975) auf deutschsprachigen Raum noch sehr unzureichend
gemeinsame ethische Standards in der medizini- bzw. heterogen geregelt. Beispielsweise ist es möglich
schen Forschung einigen. Als Meilenstein der ethi- und üblich, klinische Forschungsprojekte in nicht
schen Richtlinie in der Forschung mit Menschen ärztlichen Gesundheitsberufen an der Ethikkom-
hatte und hat diese Deklaration einen starken Ein- mission der Medizinischen Universität Wien oder
fluss auf nationale Gesetzgebungen. Zum Beispiel der Ethikkommission des jeweiligen Bundeslandes
wurden in vielen Ländern Ethikkommissionen ein- einzureichen. Anderenorts kann es aber sein, dass
geführt und die Einverständniserklärungen etab- ein Antrag für ein Forschungsprojekt durch einen
liert, um Studienteilnehmer transparent über Sinn Angehörigen der nicht ärztlichen Gesundheitsbe-
und Zweck der Forschung und über möglich Risiken rufe oftmals der erste Antrag aus dieser Berufsgruppe
oder Behandlungserkenntnisse zu informieren. Mitt- überhaupt ist, der dadurch entsprechend viele recht-
lerweile gibt es mehrfache Überarbeitung der Helsin- liche und methodische Fragen aufwirft. Hier zeigt
ki-Deklaration, die aktuelle Fassung stammt aus dem sich ein inhomogenes Bild, das vergleichbar mit den
Jahr 2013. Die Deklaration bezieht sich aber nach wie uneinheitlichen ethischen Standards für Forschungs-
vor alleine auf den Berufsstand der Medizin. projekte in den Gesundheitsberufen ist, wie Reichel,
Marotzki und Schiller (2009) am Beispiel der Ergo-
> Studienteilnahme nur nach erfolgter therapie dargelegt haben.
Aufklärung durch Information und freiwilliger Stühlinger und Schwamberger (2013) weisen
Einwilligung („informed consent“). auf eine umfassende Problematik im Hinblick auf
Vorlagepflichten und Prüfmöglichkeiten für Pro-
Als Konsequenz des „informed consent“, der jekte in nicht ärztlichen Gesundheitsberufen hin.
informierten Einwilligung, hat sich die Wissen- Als Grundsatz kann von einer flächendeckenden
schaftsgemeinschaft darauf verständigt, dass die Vorlagepflicht für Arzneimittel- und Medizinpro-
Schutzbedürftigkeit des Menschen mehr wiegt als duktestudien ausgegangen werden. Hingegen ist
die Forschungsergebnisse, die durch manche For- die Vorlagepflicht für Forschungsprojekte, die der
schungsprojekte erhalten wurden (7 Abschn. 3.4.7, Erprobung neuer Behandlungsmethoden dienen,
„Verdeckte Experimente“). österreichweit gesetzlich nur im Rahmen der Kran-
kenanstaltengesetze und des Universitätsgesetzes
2002 geregelt. Daher kann es sein, dass die Schutz-
3.4.3 Forschungsprojekte an würdigkeit der Studienteilnehmerinnen je nach Ort,
Krankenanstalten und an dem Forschung stattfindet, variiert. Die Autoren
vergleichbaren Einrichtungen argumentieren, dass Forschungsprojekte, die nicht
in Krankenhäusern, sondern an vergleichbaren Ins-
Die Durchführung von Forschungsprojekten an titutionen wie Heimen oder Rehabilitationszentren
klinischen Einrichtungen ist durch entsprechende durchgeführt werden, keine gesetzlich zwingenden
Bewilligungsprozesse geregelt. Das Bewilligen von Ethikkommissionsanträge erfordern, da sie in Öster-
Forschungsprojekten liegt im Interesse der klinischen reich nicht unter das Krankenanstaltenrecht fallen.
40 Kapitel 3 · Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen

Dass in diesen Institutionen trotzdem ethisch Sind Forschungsprojekte außerhalb von klini-
basierte Forschung stattfindet, ist weniger auf gesetz- schen Einrichtungen geplant, bietet es sich für Stu-
liche Regelungen als auf das Engagement der jeweili- dierende an, zuerst mit der Ethikkommission der
gen Institutionen und Forschenden zurückzuführen. eigenen Ausbildungsinstitution Kontakt aufzu-
Ergänzend machen Stühlinger und Schwamberger nehmen. Sofern die Ausbildungsstätte keine eigene
(2013) darauf aufmerksam, dass die aktuelle öster- Ethikkommission hat, empfiehlt es sich, sich mit
3 reichische Rechtslage nicht mehr mit der dynami- der gebietszuständigen Ethikkommission in Ver-
schen Forschungsrealität in den Gesundheitsberufen bindung zu setzen. Standesrechtliche Ethikkom-
übereinstimmt und eine Anpassung der bestehen- missionen, wie es sie für Ärzte gibt, existieren für
den Rechtslage wünschenswert ist. Als Beispiel für die nicht ärztlichen Gesundheitsberufe nicht. For-
eine umfassende Regelung erscheint das Schweizer schenden Kolleginnen in der freien Praxis wird
Bundesgesetz über die Forschung am Menschen daher empfohlen, mit der jeweiligen Ethikkom-
zukunftsorientierter. Das Humanforschungsgesetz mission des Bundeslands, in dem das Forschungs-
(HFG) geht von einer allgemeinen Ethikkommis- projekt stattfinden soll, Kontakt aufzunehmen.
sionspflicht für alle Forschungsprojekte mit Men- Des Weiteren gilt es abzuklären, ob zusätzlich eine
schen4 aus. Dies erfolgt unabhängig davon, durch etwaige behördliche Bewilligung notwendig ist (z. B.
welche Berufsgruppen diese Forschung durchführt Datenschutzbehörde).
wird, und ist nicht auf medizinische Forschung ein-
gegrenzt. Dadurch passt sich das Gesetz leichter auf
die sich verändernde Forschungslandschaft an. 3.4.5 Entscheidungsprozess über
die Notwendigkeit eines
Ethikkommissionsantrag
3.4.4 Gesundheitsbezogene
Forschung abseits klinischer Allgemein zeigen die aktuellen Erfahrungen mit
Einrichtungen Studierendenprojekten, dass eine erste informelle
Kontaktaufnahme mit den infrage kommenden
Im Rahmen gesundheitsbezogener Forschungspro- Institutionen, Behörden oder Ethikkommissio-
jekte durch die Angehörigen der nicht ärztlichen nen sinnvoll ist, bevor ein umfangreicher Bewilli-
Gesundheitsberufe kommt es zunehmend auch zu gungsantrag gestellt wird. Im Vorfeld kann oftmals
Forschung, die nicht mehr im klassisch-medizini- bereits telefonisch oder schriftlich abgeklärt werden,
schen Patientenkontext zu sehen und daher nicht ob für das jeweilige Forschungsprojekt überhaupt
mehr in klinischen Institutionen angesiedelt ist. In ein formeller Antrag gestellt werden muss. Als erste
7 Kap. 1 wird in diesem Zusammenhang von der grund- Orientierungshilfe empfiehlt es sich, den Entschei-
lagenbezogenen Wissenschaft der nicht ärztlichen dungsbaum in . Abb. 3.1 zu konsultieren. Der Ent-
Gesundheitsberufe gesprochen (vgl. auch Weigl 2002). scheidungsbaum ermöglicht es, anhand von Fragen
zum Forschungsprojekt einen Ersteindruck zu
Beispiel bekommen, ob für das Forschungsvorhaben vor-
Ein grundlagenbezogenes Forschungsprojekt der Er- aussichtlich ein Antrag bei einer Ethikkommission
gotherapie/„occupational science“ ist beispielsweise benötigt wird.
die Pensionierung – ein Betätigungsübergang („oc-
cupational transition“) mit Auswirkungen auf die zeit- > Sobald gesundheitsrelevante Daten von
lichen Aspekte, die Balance und die Bedeutung von Menschen5 direkt oder indirekt im Rahmen
menschlichen Betätigungen (Jonsson et al. 2000). des Forschungsprojekts erhoben werden,
ist eine Vorlage bei der Ethikkommission
notwendig.
4 Der Begriff „Menschen“ in diesem Gesetz umfasst Perso-
nen, verstorbene Personen, Embryonen und Föten sowie
biologisches Material und gesundheitsbezogene Perso-
nendaten. 5 Personenbezogene Gesundheitsdaten
3.4 · Rechtliche Rahmenbedingungen
41 3

Entscheidungsbaum Ethikkomitee und


Ethikkommission

1. Frage: Handelt es sich um eine empirische


(inkl. retrospektiver Arbeiten) oder eine theoretische
Forschungsarbeit?

Es handelt sich um eine theoretische Es handelt sich um ein empirisches


Arbeit (eine reine Literaturarbeit aus Forschungsprojekt (inkl.
bereits veröffentlichter Literatur). retrospektiver Arbeiten).

2. Frange: Handelt es sich um


Keine Einreichung bei
eine Fragestellung mit
einer EK notwendig.
gesunheitsrelevanten Daten?

Die erhobenen Daten beziehen sich auf Es werden gesundheitsrelevante


Marktforschung, Ausbildungsentwicklung, Daten durch Befragungen (z.B. Interviews),
Meinungsumfragen o.ä. Beobachtungen oder Messungen erhoben.

3. Frage: Quellen
Keine Einreichung bei einer EK notwendig.
gesundheitsrelevanter Fragestellungen?

Expertlnnenbefragung (Professionalistln),
die NUR zu ihrer Andere Quellen außer Expertlnnen
Fachexpertise befragt wird.

Keine Einreichung bei einer EK notwending. Eine Einreichung bei der EK ist notwending.

. Abb. 3.1 Entscheidungsbaum. EK Ethikkommission

Forschungsprojekte bedürfen nicht in jedem Fall („informed consent“) und an die Datenschutzricht-
einer Freigabe durch eine Ethikkommission. Keine linien (7 Abschn. 3.3) zu halten.
Freigabe ist beispielsweise bei Meinungsumfra-
gen, Marktforschungsprojekten oder Experten- > Auch wenn für das Forschungsprojekt keine
interviews zu Fachthemen erforderlich. Unabhän- Ethikkommissonsfreigabe erforderlich ist
gig davon, ob ein Forschungsprojekt eine Freigabe (Beispiel: Marktforschung), ist es notwendig,
durch eine Ethikkommission benötigt oder nicht, ist sich an die Datenschutzrichtlinien zu halten.
es aus forschungsethischen Gesichtspunkten trotz- Zusätzlich sollte auch bei nicht ethikkommissi-
dem immer notwendig, sich an die Prinzipien des onspflichtigen Forschungsprojekten immer eine
freiwilligen und informierten Einverständnisses Einverständniserklärung eingeholt werden.
42 Kapitel 3 · Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen

3.4.6 Umsetzung der Grundsätze des Helmchen, Stock und Hank (2014) verdeutli-
„informed consent“ chen in diesem Zusammenhang, dass vulnerable
Patientengruppen das Recht auf Forschung haben,
Wie bereits im 7 Abschn. 3.4.2 ausgeführt hat sich aber nicht die Verpflichtung, daran teilzunehmen
die Wissenschaftsgemeinschaft darauf geeinigt, zu müssen. In ihrer Publikation, herausgegeben
dass die Schutzbedürftigkeit der Studienteilnehme- von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der
3 rinnen höchste Priorität bei der Durchführung von Wissenschaften, empfehlen die Autoren auch, sich
Forschungsprojekten hat. Um diese Schutzbedürf- vertiefend mit der Problematik der vulnerablen Per-
tigkeit zu gewährleisten, ist vor dem Stattfinden des sonengruppen in der Forschung auseinanderzuset-
Projektes dafür Sorge zu tragen, dass die potenziellen zen. Beispielsweise beschäftigen sich Helmchen et al.
Studienteilnehmerinnen (2014) mit den rechtlichen und ethischen Aspekten
4 den Sinn und Zweck der Studie verstehen der Teilnahme von Kindern, Personen mit kogniti-
(Grundsatz der Aufklärung durch Information) ven oder psychischen Einschränkungen oder inten-
und sivstationspflichtigen schwersterkrankten Patienten
4 zustimmen, dass sie an dieser Studie aus an klinischen Forschungsprojekten.
freiem Entschluss teilnehmen6 (Grundsatz der Abhängig von der Komplexität des zu erklä-
freiwilligen Einwilligung). renden Studieninhalts und den potenziellen
Studienteilnehmern gestaltet sich die Erstellung des
Es muss hier zwischen dem praktischen Umsetzen Informationsmaterials zeitlich mehr oder weniger
des „informed consent“ und der Dokumentation, aufwendig. Ebenso kann die Informationsbereit-
dass der „informed consent“ erfolgt ist, differenziert stellung beim Informationsgespräch unterschied-
werden. liche zeitliche Ressourcen in Anspruch nehmen.
Bei manchen Forschungsprojekten kann ein kurzes
> Der Fokus des „informed consent“ Informationsgespräch als ausreichend erachtet
liegt auf dem Informieren über das werden, um ein Verständnis über den Studienin-
Forschungsprojekt, nicht auf dem halt zu erlangen. Bei komplexeren Zusammen-
Dokumentieren, dass informiert wurde! hängen und Patientengruppen, bei denen ver-
mehrter Aufklärungsbedarf zu vermuten ist, kann
Das Hauptaugenmerk sollte selbstverständlich auf es dagegen notwendig sein, mehr Zeit oder einen
dem Bereitstellen der Information über die Studie zweiten Termin nach einer Nachdenkpause zu Ver-
für die potenzielle Teilnehmer liegen. Im Ideal- fügung zu stellen.
fall sind dem Studienteilnehmer im Rahmen eines
Gespräches die Studieninhalte zu erklären. Als > Ziel der Informationsbereitstellung im
Mindeststandard sollte es den Teilnehmern ermög- Rahmen des „informed consent“ ist es, das
licht werden, offene Fragen zu den vorab erhaltenen die potenziellen Studienteilnehmerinnen
Informationsmaterialien zu stellen (7 Abschn. 3.4.7, wissen, was das Ziel und der Inhalt des
„Einverständniserklärung bei Online-Befragungen“). Forschungsprojekts ist. Sie sollen ebenso
Die Möglichkeit, eine Person zu diesem Gespräch wissen, welche Rolle ihnen dabei zukommt
mitzunehmen, kann bei potenziellen Studienteilneh- und welche zeitlichen Anforderungen an sie
mern vertrauensbildend wirken. Vor allem bei vul- gestellt werden. Basierend auf dem erlangten
nerablen Personengruppen (7 Abschn. 3.2) erscheint Informationsstand kann die Studienteil-
dieses Angebot aus ethischen Gesichtspunkten, nehmerin letztlich entscheiden, ob sie bereit
beispielsweise aufgrund etwaiger kognitiver oder ist, an diesem Projekt teilzunehmen, oder
sprachlicher Verständnisprobleme, als besonders nicht. Im Englischen spricht man hier von der
zu empfehlen. „informed choice“.

Erst wenn die grundlegenden Prozesse für die


6 Auch sollten keine Konsequenzen zu befürchten sein, geplante Informationsweitergabe an die poten-
wenn die Studie vorzeitig verlassen wird. ziellen Studienteilnehmerinnen definiert und die
3.4 · Rechtliche Rahmenbedingungen
43 3
Informationsmaterialien für den „informed consent“
erstellt sind, gilt es in einem nächsten Schritt, eine vorhanden sein. Weitere Kontaktmöglichkeiten
Einverständniserklärung7 zu formulieren. können je nach Verfügbarkeit genannt werden.
Um die Seriosität des Forschungsprojekts zu
unterstreichen, empfiehlt es sich, auch den
3.4.7 Leitlinien für die Entwicklung Namen und die Adresse der Ausbildungsstätte
einer Einverständniserklärung oder der involvierten Institution anzuführen.
Für Online-Befragungen gilt es im besonderen
Die Ethikkommissionen sowie auch viele Hoch- Maße, die Datenschutzrichtlinien zu beachten,
schulen und Universitäten verwenden eigene Tem- wenn es zu einer elektronischen Speicherung
plates, um Studierende und Studienverantwortliche sensibler Daten kommt.
bei der Entwicklung von Einverständniserklärungen Da eine Unterschrift der elektronischen
zu unterstützen. Hier wird die Verwendung der ent- Einverständniserklärung bei Online-Umfragen
sprechenden institutionseigenen Vorlagen eingefor- nicht möglich ist, empfiehlt der Deutsche
dert. In diesem Zusammenhang sei nochmals betont, Arbeitskreis der Markt- und Sozialforschungs-
dass die Einverständniserklärung nicht die einzige institute, die elektronische Einwilligung
Aufklärung über den Inhalt des Forschungsprojekts in die Teilnahme an Online-Umfragen als
sein soll. Vielmehr sollten die Studienteilnehmenden bewusste und eindeutige Handlung durch
immer die Möglichkeit einer umfassenden mündli- die teilnehmende Person einzuholen. Dies
chen Information über den Zweck der Studie haben. kann beispielsweise durch Klick auf einen
Button auf der Website erfolgen, auf der das
> Die umfassende Aufklärung der Forschungsprojekt beschrieben wird.
Probandinnen über den Inhalt des
Forschungsprojekts sollte immer, wenn es
das Forschungsdesign ermöglicht, mündlich Bei Forschungsprojekten, die nicht an die Freigabe
erfolgen. Die unterfertigte Einverständnis- durch eine Ethikkommission gebunden sind, oder
erklärung ist nur der Nachweis über die falls die Ethikkommission keine Vorlagen zur Verfü-
erfolgte Information bzw. das Gespräch. gung stellt, stehen Forscher vor der Herausforderung,
eine eigene Einverständniserklärung entwickeln zu
müssen. Als Unterstützung besteht die Möglichkeit,
Einverständniserklärung bei Online- ein Muster für die Einverständniserklärung über die
Befragungen Ethikkommissionen herunterzuladen.
Bei Online-Umfragen ist die Einverständnis- Typische Elemente einer Einverständniserklä-
erklärung in mündlicher Form nicht möglich. rung sind:
Daher ist es notwendig, das Forschungsprojekt 4 Name der Institution, Kontaktnummer, E-Mail
(Inhalt, Ziele, Methode etc.) schriftlich und 4 Titel des Forschungsprojekts
grafisch so gut wie möglich darzustellen, bevor 4 Ziel und Zweck der Studie in einfacher
die Befragung beginnt. Es kommen dieselben Formulierung
Vorgaben zur Anwendung, die auch eine 4 Ablauf der Studie (Beispiel: wie viele Inter-
herkömmliche Einverständniserklärung betreffen. views, Zeitaufwand etc.)
Neben einer genauen Beschreibung des 4 mögliche Risiken und Unannehmlichkeiten/
Forschungsprojekts sollte bei Online-Befragungen Beschwerden durch die Studienteilnahme
die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit dem 4 Erklärung über die Vertraulichkeit und
namentlich angeführten Projektverantwortlichen Anonymität (und wie diese erreicht werden)
(z. B. per E-Mail oder Telefon) in jedem Fall 4 Teilnahme erfolgt freiwillig und es besteht
Möglichkeit des Widerrufs (ohne nachteilige
Folgen)
7 Die Begriffe Einwilligungserklärung und Einverständnis- 4 Hinweis auf mögliche Vorteile der Teilnahme
erklärung werden hier synonym verwendet. an der Studie
44 Kapitel 3 · Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen

4 Hinweis, ob Studienergebnisse den vermieden werden, sie könnten nicht bekannt


Teilnehmern nach Ende mitgeteilt werden oder ihre Bedeutung könnte sogar mehrfach belegt
4 wenn möglich Unterschrift der teilnehmenden sein. Wenn sie verwendet werden müssen, sollten
und der forschenden Person die Abkürzungen oder Akronyme bei der ersten
Verwendung ausgeschrieben und erklärt werden.
Die Zustimmung sollte so formuliert sein, dass Per- Zum Beispiel: Das Canadian Occupation Perfor-
3 sonen mit unterschiedlichem Grad der Alphabetisie- mance Measure (COPM) ermöglicht es … Oder:
rung die Möglichkeit haben, den Forschungsprozess, The Experience of Leisure Scale (TELS) ist ein Ver-
an dem sie teilnehmen sollen, vollständig verstehen fahren, um …
(Laiensprache, engl. „layperson's terms“). In der Entscheidend ist, dass allen Menschen die
gesamten Einverständniserklärung sollten daher Gelegenheit gegeben wird, am Forschungsprozess
möglichst einfache Worte und Satzkonstruktionen teilzunehmen. Neben den hier geschilderten ethi-
gewählt werden. Es gilt, wissenschaftlichen Jargon zu schen Aspekten stellt das Fehlen von Menschen
vermeiden. Unter wissenschaftlichem Jargon werden aus der Grundpopulation auch ein forschungs-
im speziellen medizinische, rechtliche oder fachthe- methodisches Problem im Sinne des Sampling-
rapeutische Begriffe verstanden, von denen ausge- Bias dar (ähnlich dem geschilderten Rücklaufbias
gangen werden muss, dass deren Bedeutung den Stu- in 7 Abschn. 7.3.1). Daher sollten unterschiedli-
dienteilnehmenden nicht bekannt ist. che Strategien geplant werden, um zum Beispiel
auch Personen mit geringer Alphabetisierung
Beispiel oder solchen mit weniger ausgeprägten kogniti-
4 Statt von Randomisierung zu sprechen, ist es ven Fähigkeiten die Teilnahme an einer Studie zu
verständlicher, den Begriff zufällig zu verwenden. ermöglichen.
4 Unter dem Begriff Versuchsreihe können sich Mehrere unterschiedliche Ansätze können
Studienteilnehmer mehr vorstellen, als unter notwendig sein, um verschiedene Studienpopu-
der Bezeichnung Clinical Trial. lationen miteinzubeziehen. So kann es beispiels-
4 Der Begriff Cholesterin ist allgemein bekannter, weise erforderlich sein, in einem ersten Schritt
als die Bezeichnung Blutfette. eine grundlegende Erklärung mit allen Risiken,
4 Verschriftlichungen der Gespräche statt Vorteilen und Vertraulichkeitsvereinbarungen
Transkripte. für das Forschungsprojekt zu entwickeln. Erwei-
4 Essstörung statt Anorexia nervosa oder Bulimie ternd kann diese Erklärung zum Beispiel dann
nervosa. mittels Bildern und Piktogrammen angereichert
4 Theoretische Modelle statt konzeptionelle oder vielleicht auch in andere Sprachen übersetzt
Modelle. werden.
4 Den Mensch in den Mittelpunkt stellend statt
Klientenzentrierung. > Grundregel: Die Merkmale der angepeilten
4 Miteinbeziehen in wichtige Entscheidungen statt Studienpopulation (Zielgruppe) müssen
Partizipation. berücksichtigt werden, und es gilt zu
überlegen, wie man am besten deren
Wenn einzelne wissenschaftliche oder fachspezi- informierte Einwilligung gewährleisten kann.
fische Begriffe verwendet werden müssen, sollte
darauf Wert gelegt werden, dass diese definiert
und beschrieben werden. Ebenfalls sollte die Sonderfall verdeckte Experimente: das
Verwendung von Abkürzungen und Akronyme8 Debriefing
Bei manchen Fragestellungen kann es notwen-
dig sein, den Studienteilnehmerinnen die wahre
8 Akronyme stellen einen Sonderfall der Abkürzung dar,
bei dem die Anfangsbuchstaben der Wortgruppe die
Intention hinter der Studie vorab nicht mitzutei-
Abkürzung bilden. Beispiele: IT (Informationstechnolo- len, um das Ergebnis nicht zu verfälschen. Zum Bei-
gie), TCM (Traditionelle Chinesische Medizin). spiel kann die Befürchtung bestehen, dass sozial
3.5 · Der forschende Praktiker
45 3
angepasstes Verhalten (7 Abschn. 7.3.1, „Antwort- Zusammenfassung
tendenzen“) die Ergebnisse zu sehr verzerren. Hier Die rechtlichen Rahmenbedingungen von For-
muss im Anschluss an das Experiment ein sogenann- schung, die durch nicht ärztliche Gesundheitspro-
tes Debriefing erfolgen, d. h. den Studienteilnehme- fessionisten durchgeführt wird, sind im Gegensatz
rinnen muss im Anschluss die wahre Intention der zur medizinischen Forschung in vielen Bereichen
Studie erklärt werden (Aronson et al. 2010). Sollte im deutschsprachigen Raum noch nicht klar genug
aufgrund der Fragestellung ein verdecktes Experi- geregelt. Es erscheint daher als vorrangiges Ziel,
ment (Täuschungsexperimente) als zwingend not- sowohl einheitliche rechtliche als auch ethische
wendig erachtet werden, sollte unbedingt vorher Standards für Forschungsprojekte, die durch nicht
mit der zuständigen Ethikkommission Rückspra- ärztliche Gesundheitsberufe in klinischen wie nicht
che gehalten werden. klinischen Bereichen durchgeführt werden, in den
Der Umgang mit verdeckten Forschungsprojek- deutschsprachigen Ländern zu etablieren. Darü-
ten ist nach den nicht unumstrittenen klassischen ber hinaus muss bei Studierenden bereits früh ein
Experimenten der Psychologie wie den Gehorsam- Empfinden für die Wichtigkeit ethischen Handelns
keitsexperimenten von Milgram (1963) oder dem in der Forschung geweckt werden. Bei jedem For-
Experiment am Gefängnis von Standford (Haney et schungsprojekt müssen die Datenschutzrichtlinien
al. 1973) deutlich strenger geworden. Beispielsweise zur Anwendung kommen, und es muss immer eine
muss im Rahmen der Bewilligung eines Forschungs- Einverständniserklärung, basierend auf einem „in-
projekts an der Universität von Sydney genauestens formed consent“, für die Mitwirkung eingeholt wer-
dargelegt werden, warum keine andere Form des For- den. Die Information über das Forschungsprojekt
schungsdesigns als das des verdeckten Experiments orientiert sich an der Komplexität der Studie und
möglich ist, um zu validen Ergebnissen zu gelangen. den zu erwartenden Studienteilnehmern. Ziel der
Oftmals werden diese klassischen Experimente Information ist es, es den Studienteilnehmern zu er-
in ethisch angepassten Varianten wiederholt, deren möglichen, sich basierend auf der erhaltenen und
Ergebnisse allerdings schwer mit den Originalergeb- verstandenen Information frei für oder gegen eine
nissen vergleichbar sind. Zum Beispiel wiederholte Teilnahme am Forschungsprojekt zu entscheiden.
Burger im Jahr 2009 Stanley Milgrams Gehorsam-
keitsexperiment9. Um die Studienteilnehmer nicht
dem Stress des Originalexperiments auszusetz- 3.5 Der forschende Praktiker
ten („durch mich wurde eine Person gequält und
womöglich dauerhaft geschädigt“), wurden zum Tanja Stamm, Gabriele Karner, Jutta Möseneder,
Beispiel die Höhe der möglichen virtuellen Strom- Valentin Ritschl
stöße auf 150 Volt reduziert. Außerdem schieden im
Vorfeld durch psychologische Tests Personen aus, bei Viele klinisch tätige Praktiker und Praktikerinnen
denen zu erwarten war, dass ihnen die Stresssitua- werden an der Evidenz zu klinischen Fragestel-
tion des Experiments Schaden zugefügt hätte (Burger lungen interessiert sein. Dies erfordert meist nicht
2009). Die Adaptierungen gegenüber dem Origi- die Durchführung eines eigenen Forschungspro-
nalexperiment gingen so weit, dass von manchen jekts, sondern die Bearbeitung dieser klinischen
Autoren kritisch von übertriebenen ethischen Bemü- Fragestellungen aus der Literatur (7 Kap. 14). Hier
hungen gesprochen wurde (Miller 2009). Alan Elms, können auch Kooperationen mit Ausbildungsstätten
Milgrams früherer Forschungsassistent beim Origi- es ermöglichen, dass Studierende im Rahmen von
nalexperiment, nennt die Arbeit von Burger pointiert Bachelor- oder Masterarbeiten solche Fragestellun-
„obedience light“ (Elms 2009, S. 32). gen für die Praxis aufarbeiten und ein gutes Funda-
ment zum „Weitersuchen“ für vielbeschäftigte klini-
9 Der Aufbau des originalen Milgram-Experiments ist
sche Praktiker und Praktikerinnen liefern. Allerdings
unter folgendem Link nachzulesen:www.aerzteblatt.de/ sollten nicht ärztliche Gesundheitsberufe genauso
archiv/61140/Stanley-Milgram-Gehorsam-gegenueber- wie andere Berufe im Gesundheitsbereich, die kli-
Autoritaet nisch tätig sind, die Möglichkeit haben, Forschung
46 Kapitel 3 · Besonderheiten der Forschung im Gesundheitswesen

zu betreiben. Für die Ausbildung und Lehre, aber weiterzuentwickeln und zu erforschen hat sich zum
auch für eine qualitativ hochwertige Forschung, ist Beispiel das „International Journal of Health Profes-
es nötig, klinische Praxis, Lehre und Forschung eng sions“ (IJHP), eine neue Fachzeitschrift für die nicht
zu verknüpfen. ärztlichen Gesundheitsberufe im deutschsprachi-
Der Forschungsprozess unterscheidet sich gen Raum, zum Auftrag gemacht (www.ijhp.info). In
grundsätzlich nicht und ist somit unabhängig von dieser Fachzeitschrift werden neben interdiszipli-
3 der durchführenden Person – egal ob Forscherin, nären Fachartikeln auch fachlich spezialisierte For-
Studierende oder Praktiker. Die Schritte im For- schungsthemen publiziert, die interdisziplinär rele-
schungsprozess, die erforderlichen Dokumente und vant sind.
Genehmigungen bleiben gleich. Kliniker und Kli- Die wissenschaftliche und professionelle Ent-
nikerinnen bringen allerdings zusätzlich wertvolle wicklung der Gesundheitsberufe im deutschsprachi-
Praxiserfahrung sowie Erfahrungen im Umgang gen Raum hat enormes Potenzial. Allerdings wird es
mit Patienten mit. Vor allem im deutschsprachigen am besten gelingen, dieses Potenzial zu entwickeln,
Raum werden derzeit viele Forschungsprojekte nicht wenn die Gesundheitsberufe zusammenarbeiten und
an Ausbildungsstätten, sondern in der klinischen darauf achten, dass Forschung und Projekte im allge-
Praxis durchgeführt. Dies kommt unter Umstän- mein anerkannten Diskurs anschlussfähig sind. Die
den auch daher, dass Praxis, Lehre und Forschung beschriebenen geltenden Richtlinien für Forschung
in den nicht ärztlichen Gesundheitsberufen oft an an Menschen und Tieren müssen dabei eingehalten
getrennten Institutionen angesiedelt sind – im Unter- werden.
schied zu medizinischen Universitäten und Universi-
tätskliniken, an denen Praxis, Forschung und Lehre Literatur
an einem Ort stattfinden und von denselben Perso-
nen durchgeführt werden. Vielfach werden daher Aronson E, Wilson, TD, Akert RM (2010) Sozialpsychologie, 6.
„Hochschulen für Gesundheit“ für die nicht ärzt- Aufl. Pearson Studium – Psychologie. Pearson, München
lichen Gesundheitsberufe gefordert, die zusätzlich Babbie ER (2010) The practice of social research. Wadsworth
Inc Fulfillment, Belmont
zur Lehre auch einen Versorgungsauftrag erfüllen. Breuer J, Freud S (2007) Studien über Hysterie, 6. Aufl. Fischer
Kooperationen mit Kliniken in Form von Lehrkran- Taschenbuch, Frankfurt am Main
kenhäusern, Lehrambulanzen oder -praxen können Bundesamt für Gesundheit (BAG) (2014) Bundesgesetz über
ideale Modelle darstellen, um Praxis mit Lehre und die Forschung am Menschen. www.bag.admin.ch/
Forschung zu verbinden. Wichtig ist zu bedenken, themen/medizin/00701/00702/07558/, letzter Zugriff
30.11.2015
dass Forschung, genauso wie andere Tätigkeiten, Burger JM (2009) Replicating Milgram: Would people still obey
bestimmte Kenntnisse und das Wissen über Rege- today? American Psychologist 64 (1): 1–11
lungen erfordert, die man entweder selbst lernt oder Carlson ME, Clark FA (1991) The search for useful methodo-
zukauft. logies in occupational science. Am J Occup Ther 45 (3):
Die Forschung in den nicht ärztlichen Gesund- 235–241
Clark FA, Parham D, Carlson ME, Frank G, Jackson J, Pierce D,
heitsberufen hat häufig – neben der Spezialisierung Zemke R (1991) Occupational science: academic innova-
im eigenen Fach – Interdisziplinarität zum Thema. tion in the service of occupational therapy's future. Am J
Interdisziplinarität ergibt sich, wenn nötig, aus der Occup Ther 45 (4): 300–310
Primärversorgung und der nachfolgenden Versor- Centers for Disease Control and Prevention (CDC) (2013) Tus-
gung durch Spezialisten. Eine hochspezialisierte kegee Study and Health Benefit Program. www.cdc.gov/
Tuskegee, letzter Zugriff 23.9.2015
Gesundheitsversorgung erfordert ebensolche hoch- Datenschutz Bayern (2007) Merkblatt zum Datenschutz bei
spezialisierte Expertinnen aus verschiedenen Fach- medizinischen Studien mit Patientendaten. www.daten-
bereichen für die klinische Praxis, die dann von schutz-bayern.de/technik/orient/merkblatt_med_stu-
spezialisierten Forschern unterstützt und ergänzt dien.html, letzter Zugriff 23.9.2015
werden. Neben der Entwicklung und dem Erwerb DePoy E, Gitlin LN (2011) Introduction to research: understan-
ding and applying multiple strategies, 4th ed. Elsevier
von Wissen im eigenen Fach muss auch Wissen Mosby, St. Louis
über die eigenen Grenzen hinaus erworben werden. Dörner K, Ebbinghaus A, Linne K (Hrsg) (1999) Der Nürnberger
Interdisziplinäres Wissen an den Schnittstellen Ärzteprozeß 1946/47. Wortprotokolle, Anklage- und
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47 3
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49 II

Forschungsmethoden
Kapitel 4 Die richtige Methode wählen – 51
Valentin Ritschl, Barbara Prinz-Buchberger, Tanja Stamm

Kapitel 5 Stichprobenverfahren und Stichprobengröße – 61


Valentin Ritschl, Tanja Stamm

Kapitel 6 Qualitative Forschung – 67


Susanne Perkhofer, Verena Gebhart, Gerhard Tucek, Frede-
rick J. Wertz, Roman Weigl, Valentin Ritschl, Helmut Ritschl,
Barbara Höhsl, Barbara Prinz-Buchberger, Tanja Stamm,
Julie S. Mewes, Martin Maasz, Christine Chapparo, Verena C.
Tatzer, Petra Plunger, Elisabeth Reitinger, Katharina Heimerl

Kapitel 7 Quantitative Forschung – 137


Susanne Perkhofer, Tanja Stamm, Valentin Ritschl, Elisabeth
Hirmann, Andreas Huber, Gerold Unterhumer, Heidi Ober-
hauser, Roman Weigl, Andreas Jocham, David Moser, Lisa
Ameshofer, Sabrina Neururer

Kapitel 8 Reviews – 207


Agnes Sturma, Valentin Ritschl, Silke Dennhardt, Tanja
Stamm

Kapitel 9 Weitere Forschungsmethoden – 223


Kathrin Malfertheiner, Helmut Ritschl, Valentin Ritschl,
Michaela Stoffer, Anna Bösendorfer, Stefanie Höchtl

Kapitel 10 ICF-basierte Forschungsmethoden – 239


Ursula Costa

Kapitel 11 Assessments – 249


Erna Schönthaler
Ziele
Die Lesenden sind nach dem Studieren dieses Abschnittes in der Lage,
4 differenziert entscheiden zu können, welche gesundheitsbezogene
Fragestellungen sich mit qualitativer und quantitativer Forschung
beantworten lassen,
4 die Grundzüge des qualitativen und quantitativen Forschungszuganges
benennen und herausarbeiten zu können,
4 die jeweils für die Fragestellung am besten geeignete quantitative,
qualitative bzw. gemischte Methode auszuwählen,
4 einen Überblick über die Struktur, die Voraussetzungen; den Ablauf; und die
Stärken und Schwächen einzelner Forschungsmethoden geben zu können
4 über die Grundzügen von Assessments zu berichten und Wissen über die
Kriterien für die Auswahl und die Bewertung eines Assessments Bescheid.
51 4

Die richtige Methode wählen


Valentin Ritschl, Barbara Prinz-Buchberger, Tanja Stamm

4.1 Erster Schritt: Forschungsansatz – 52


4.1.1 Gibt es zu dieser Thematik bereits Studien? Wenn ja, welche? – 52
4.1.2 Reviews – 52
4.1.3 Quantitative Forschung – 52
4.1.4 Qualitative Forschung – 54
4.1.5 Forschungsdesigns – 54

4.2 Zweiter Schritt: Forschungsdesign – 54


4.2.1 Reviews – 54
4.2.2 Quantitative Studien – 54
4.2.3 Qualitative Studien – 59
4.2.4 Andere Forschungsdesigns – 59

Literatur – 59

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5_4
52 Kapitel 4 · Die richtige Methode wählen

Die richtige Methode zu wählen, damit eine Fra- spezifische Fragestellung über das Vorgehen
gestellung bestmöglich beantworten werden kann, entscheidet.
stellt häufig eine große Herausforderung dar. Ein
Entscheidungsbaum kann diese Entscheidungsfin-
dung unterstützen. Ähnliche Prozesse wurden von 4.1.2 Reviews
folgenden Autoren beschrieben: Bortz u. Döring
2006, Creswell 2012, DePoy u. Gitlin 2005, Kielhof- Sie werden gewählt um den Stand der Literatur
ner 2006, Lamnek u. Krell 2005, LoBiondo-Wood u. darzustellen. Es kann sowohl qualitative und/oder
4 Haber 2001. quantitative Literatur für ein Review herangezogen
werden (7 Kap. 8).

4.1 Erster Schritt: Forschungsansatz


4.1.3 Quantitative Forschung
Der erste Schritt in der Entscheidungsfindung ist
die Frage, ob die Forschungsfrage aus der Literatur Sie beschäftigt sich meist mit folgenden Aspekten:
heraus beantwortet werden kann oder empirisch 4 Hypothesentestungen: wenn ein vorher
(z. B. quantitative oder qualitative Bezugsrahmen) generiertes Wissen, eine Theorie oder eine
bearbeitet werden muss. Prinzipiell kann hier Fol- Annahme überprüft werden soll
gendes überlegt werden: 4 Analyse von klinischen Studien
4 Wirksamkeitsbelege: wenn eine Methode,
Intervention auf Wirksamkeit hin überprüft
4.1.1 Gibt es zu dieser Thematik werden soll
bereits Studien? Wenn ja, 4 Abschätzung von Effekten: wenn erste
welche? Zusammenhänge zwischen Konstrukten oder
Konzepten erforscht werden sollen, auf denen
4 Antwort 1: Nein, genau zu meiner Frage- später größere Studien aufbauen
stellung gibt es noch keine Studien. Es gibt 4 Modelle, um Kausalzusammenhänge, ökono-
Studien zu verwandten Themenstellungen. mische Zusammenhänge, minimale Datensets
Dann sollte ein empirischer Ansatz gewählt und Einflussfaktoren zu bestimmen und zu
werden. charakterisieren
4 Antwort 2: Ja, es gibt bereits einzelne Studien 4 Entwicklung, Adaptation und Bestimmung der
zu meiner Fragestellung. Es existiert aber keine psychometrischen Eigenschaften von Instru-
aktuelle Übersicht/Zusammenfassung dieser menten und Assessmentverfahren
Studienergebnisse. Dann sollte ein Literatur- 4 Charakteristika einer Population: wenn
review durchgeführt werden. zum Beispiel Inzidenzen, Prävalenzen,
4 Antwort 3: Ja, es gibt genau zu meiner Frage- Funktionsfähigkeiten oder andere Parameter
stellung bereits aktuelle Studien und auch einer Personengruppe erhoben werden
aktuelle Reviews. Dann sollte die Fragestellung sollen
verändert/angepasst werden, da keine 4 retrospektive Betrachtungen: wenn beispiels-
Wissenslücke („gap of knowledge“) besteht. weise bereits vorliegende Patientendoku-
Sind die Studien aus einem ähnlichen und mentationen aufgearbeitet werden sollen, um
vergleichbaren kulturellen/sozialen Kontext? Zusammenhänge zwischen Konstrukten oder
Unter Umständen besteht somit kein Bedarf Konzepten zu beschreiben
nach einer neuen Studie (. Abb. 4.1). 4 passiven Beobachtungen: wenn
beispielsweise Interventionen passiv
Ein Thema kann prinzipiell immer verschie- beobachtet werden, um Zusammenhänge zu
den betrachtet werden. Dies bedeutet, dass die beschreiben.
zu der Fragestellung existieren
bereits einige Studien.

Ja, es exisiteren Studien zu Ja, es existieren Studien


4.1 · Erster Schritt: Forschungsansatz

Nein, es gibt ähnliche Studien, aber


diesem Thema, es existiert aber keine zu diesem Thema, und es gibt
nicht direkt zu diesem Thema.
aktuelle Zusammenfassug der Literatur auch ein aktuelles Review dazu.

Eine empirische Arbeit erscheint Ein Review erscheint als Eine Anpassung der Fragestellung
notwendig um das Thema aufzuarbeiten nächster Schritt sinnvoll, um einen ist nötig, da meine Frage bereits
bzw. die Fragestellung zu beantworten. systematischen Überblick zu geben. mit der Literatur beantwortet wurde.

Die Fragestellung handelt von einer


Die Fragestellung ist weder eindeutig
Hypothesen-testung oder dem Quantifizieren
qualitativ noch quantitativ zu beantworten.
von Variablen. Dann muss ein quantitativer
Andere Designs finden Anwendung.
Ansatz gewählt werden.

Die Fragestellung handelt von dem Erleben,


53

den Erfahrungen von Menschen. Dann muss


ein quantitativer Ansatz gewählt werden.

. Abb. 4.1 Entscheidungsbaum Empirie, Theorie, neue Fragestellung


4
54 Kapitel 4 · Die richtige Methode wählen

4.1.4 Qualitative Forschung 4 Inhalte von Instrumenten entwickelt werden


4 ein Konsensus zwischen Expertinnen erfor-
Sie beschäftigt sich meist mit dem Erleben, Erfah- derlich ist: wenn beispielsweise eine einheit-
ren, Wissen: liche Terminologie gefunden werden soll
4 Interventionen: wenn die Forscherin Motive, 4 Interdisziplinär geforscht werden soll
Erfahrungen und Wahrnehmungen von
Patienten und/oder deren Angehörigen
bezüglich Interventionen, Beratungen 4.2 Zweiter Schritt:
4 erforschen möchte Forschungsdesign
4 Umwelt: wenn beispielsweise erhoben werden
soll, warum Asylbewerber nach Europa Der zweite Schritt in der Entscheidungsfindung ist
kommen die Frage nach dem Forschungsdesign. Prinzipiell
4 Verhalten: wie und warum ein Mensch ein kann hier folgendes überlegt werden:
gewisses Verhalten zeigt, wie zum Beispiel
warum Menschen schulmedizinische
Versorgung ablehnen 4.2.1 Reviews
4 Entscheidungen: warum Menschen welche
Entscheidungen treffen, zum Beispiel warum 4 Metaanalyse von RCT: falls mehrere RCT in
Medikamente in der Versorgung rheumatischer der Literatur existieren, die zusammengetragen
Erkrankung abgelehnt werden werden sollen
4 Kultur: wenn erforscht werden soll, wie kultu- 4 systematische/narrative Reviews: falls mehrere
relle Bedeutungen, Überzeugungen und Muster quantitative Studien mit unterschiedlichen
das Verhalten beeinflussen, beispielsweise den Designs zusammengefasst werden sollen
Einfluss der Kultur auf gesundheitsschädliches 4 integrative Reviews: falls qualitative und
Verhalten (Rauchen) quantitative Studien zusammengetragen
4 Entwicklungen, Muster, Trends: wenn unter- werden sollen
sucht werden soll, welche Entwicklungen in der 4 metaempirische Reviews: falls Hintergründe
Praxis der gehobenen medizinisch-technischen zu Studiengebieten zusammengetragen
Dienste stattfinden, wie beispielsweise das werden sollen, beispielsweise wenn der
Nutzen von Fortbildungen, Evidenzen Forscher wissen will, welche Krankheits-
4 Phänomene: wenn Phänomene beschrieben bilder in der Ergotherapie bisher erforscht
oder interpretiert werden sollen, beispielsweise wurden, welche Universitäten bisher am
wie Spielverhalten von „seriösem“ Verhalten meisten zu Mammakarzinomen veröffent-
abgegrenzt werden kann licht haben
4 Symptome: wenn Symptome von Krankheits- 4 Metasynthese: falls qualitative Studien
zuständen beschrieben werden sollen zusammengetragen werden sollen
4 Scoping Reviews: falls die Breite eines
Themas abgedeckt werden soll, beispielsweise
4.1.5 Forschungsdesigns wie Angst in der Literatur definiert wird
(. Abb. 4.2)
Andere Forschungsdesigns werden gewählt, wenn:
4 Forschungsdesigns kombiniert werden müssen,
wie zum Beispiel qualitative und quantitative 4.2.2 Quantitative Studien
Methoden
4 diagnostische Tools standardisiert werden: 4 Randomisierte kontrollierte Studien: falls
wenn ein Test oder Assessment auf seine Studien zu Wirksamkeitsbelegen von
Validität, Reliabilität und Sensitivität hin Interventionen oder zur Hypothesentestung
überprüft werden sollen durchgeführt werden
zu der Fragestellung existieren bereits einige Studien.

Ja, es existieren Studien zu


Nein, es gibt ähnliche Studien, aber
diesem Thema, es existiert aber keine
nicht direktzu diesem Thema.
aktuelle Zusammenfassung der Literatur.
4.2 · Zweiter Schritt: Forschungsdesign

Ein Review erscheint als


Empirische Studiendesigns nächster Schritt sinnvoll, um einen
systematischen Überblick zu geben.

Metaanalysen von RCT werden durchgeführt,


Scoping-Reviews werden durchgeführt, um die
wenn RCT vorhanden sind.
Breite eines Themas darzustellen.
Höchstes Level der Evidenz.

Systematische/metanarrative Reviews werden durch-


geführt, falls quantitative Studien unterschiedlicher
Designs zusammengefasst werden.

Metasynthesen werden durchgeführt, wenn


Integrative Reviews werden durchgeführt, wenn qualitaive Studien zusammengefasst werden.
quantitative und qualitative Studien zusammen-
geführt werden.
55

Metaempirische Reviews werden durchgeführt, wenn


Hintergründe zu Studiengebieten erforscht werden.

. Abb. 4.2 Entscheidungsbaum Review


4
4
56

zu der Fragestellung existieren


bereits einige Studien.

Nein, es gibt ähnliche Studien, aber


nicht direkt zu diesem Thema. Reviews
Kapitel 4 · Die richtige Methode wählen

Eine empirische Arbeit ersche int notwendig, um das


Thema aufzuarbeiten bzw. die Fragestellung
zu beantworten.

Andere empirische Designs Die Fragestellung handelt von einer Hypothesen- Qualitative Studien
testung oder dem Quantifizieren von Variablen.
Dann muss ein quantitativer Ansatz gewählt werden.

Nicht experimentelle Studien, um Parameter


Randomisierte kontrollierte Studien für
beschreiben und erste Korrelationen abschätzen
Wirksamkeitsbelege und Hypothesentestung
zu können.

Kontrollierte klinische Studien und quasiexperimentelle


Studien auch für Wirksamkeitsbelege/Hypothesen- Pilotstudien als Vorarbeiten für RCT
testung, falls ein RCT nicht durchgeführt werden kann.

. Abb. 4.3 Entscheidungsbaum quantitative Studiendesigns


zu der Fragestellung existieren bereits einige Studien.

Nein, es gibt ähnliche Studien, aber nicht direkt


Reviews
zu diesem Thema.

Eine empirische Arbeit erscheint notwendig, um das


Qualitative Themenbildung zur Beschreibung und
Thema aufzuarbeiten bzw. die Fragestellung
Themenbildung von Interviews und Texten.
zu beantworten.
4.2 · Zweiter Schritt: Forschungsdesign

Partizipative Gesundheitsforschung, um Probleme


im Alltag zu erforschen und zu verändern.

Die Fragestellung handelt von dem Erleben, den


Hermeneutik für das
Quantitative Studien Andere empirische Designs Erfahrungen von Menschen. Dann muss ein
Interpretieren von Texten.
qualitativer Ansatz gewählt werden.

Phänomenologie, um das Phänomen Case Study zum Beschreiben von


einer gelebten Erfahrung zu verstehen. einzelnen Fällen.

Interpretative phänomenologische Analyse, um Inhaltsanalyse zum Beschreiben


persönliche Bedeutung und Sinnhaftigkeit, z.B. von Inhalten aus Interviews
von Entscheidungsprozessen, zu verstehen. und Texten.

Ethograpie zur Erforschung von Bedeutungen,


57

wie z.B von Gesundheit und Krankheit.

Grounded Theory zum Identifizieren und Beschreiben Biographieforschung zur Sinnkonstruktion aus der
von Prozessen innerhalb einer gegebenen Situation. Rekonstruktion von Lebensverläufen.

. Abb. 4.4 Entscheidungsbaum quanlitative Studiendesigns


4
4
58

zu der Fragestellung existieren


bereits einige Studien.

Nein, es gibt ähnliche Studien, aber nicht direkt


zu diesem Thema. Reviews

Eine empirische Arbeit erscheint notwendig, um das


Thema aufzuarbeiten bzw. die Fragestellung
zu beantworten.
Kapitel 4 · Die richtige Methode wählen

Die Fragestellung ist weder eindeutig qualitativ


Quantitative Studien Quantitative Studien noch quantitativ zu beantworten. Andere
Designs finden Anwendung.

Klinischer Behandlungspfad („pathway”), um Evaluierung und Standardisierung


interdisziplinäre Behandlungspfade zu erstellen. von Assessments.

ICF -basierte Forchungsmethoden, um Krankheiten,


Methodenmix („mixed methods”), um qualitative und Assessments und Therapiemethoden in eine
quantitative Designs gemeinsam zu nutzen. interdisziplinäre Sprache zu übersetzen.

Delphi-Studien, um einen Expertenkonsens


zu erlangen.

. Abb. 4.5 Entscheidungsbaum andere empirische Studiendesigns


Literatur
59 4
4 kontrollierte klinische Studien: falls Studien zu 4 Hermeneutik: wenn Texte interpretiert werden
Wirksamkeitsbelegen von Interventionen oder sollen
zur Hypothesentestung durchgeführt werden, 4 partizipative Gesundheitsforschung: wenn
ein RCT aber begründet nicht durchgeführt Probleme im Alltag erforscht und neu entwi-
werden kann ckelte Strategien umgesetzt werden sollen
4 Pilotstudien: falls Studien durchgeführt 4 qualitative Themenbildung: wenn Interviews
werden, um erste Effekte abschätzen zu oder bestehende Texte beschrieben und
können, um in weiterer Folge mit größeren Themen gebildet werden sollen (. Abb. 4.4)
Studien wie RCT auf den Ergebnissen aufbauen
zu können
4 nicht experimentelle Studien: falls Parameter 4.2.4 Andere Forschungsdesigns
beschrieben und erste Korrelationen
abgeschätzt werden sollen, wie beispiels- 4 Klinische Behandlungspfade („pathways“):
weise ob das Auftreten gewisser Krankheiten wenn interdisziplinäre Behandlungswege
mit einem Lebensstil wie dem Rauchen in entwickelt werden sollen
Verbindung steht (. Abb. 4.3) 4 Methodenmix („mixed methods“): wenn quali-
tative und quantitative Aspekte eines Themas in
einer Studie berücksichtigt werden sollen
4.2.3 Qualitative Studien 4 Delphi-Studien: wenn ein Konsensus zwischen
Experten über ein Thema entstehen soll, wie
4 Phänomenologie: wenn das Phänomen von zum Beispiel eine international einheitliche
gelebten Erfahrungen beschrieben werden soll, Terminologie
wie zum Beispiel die Erfahrungen beim Eintritt 4 ICF-basierte Forschungsmethoden:
in die Pensionierung wenn Krankheiten, diagnostische Tools
4 interpretative phänomenologische Analyse: oder Interventionen in eine gemeinsame,
wenn persönliche Bedeutung, also das „Warum“ interdisziplinäre Sprache übersetzt
beforscht werden soll, wie zum Beispiel warum werden sollen (ICF = International
eine Entscheidung getroffen wurde Classification of Functioning, Disability
4 „grounded theory“: wenn (soziale) Prozesse and Health)
in (sozialen) Situationen identifiziert und 4 Evaluierung und Standardisierung von Assess-
beschrieben werden sollen, wie zum Beispiel ments: wenn Assessments neu entwickelt,
die grundlegenden Prozesse von Sprachent- standardisiert, kulturell adaptiert werden sollen
wicklung zu beforschen (. Abb. 4.5)
4 Ethnographie: wenn die individuelle
Bedeutung und Werte beforscht werden sollen,
wie zum Beispiel die persönliche Bedeutung Literatur
von Gesundheit und Krankheit in einer
Bortz J, Döring N (2006) Forschungsmethoden und Evaluation,
bestimmten Kultur 4. Aufl. Springer, Heidelberg
4 Biographieforschung: wenn Lebensverläufe von Creswell JW (2012) Qualitative inquiry and research design:
Menschen rekonstruiert werden sollen, um die choosing among five approaches, 3rd ed. Sage, Los Angeles
Komplexität des Einzelfalls zu verstehen DePoy E, Gitlin LN (2005) Introduction to research: understan-
4 Inhaltsanalyse: wenn Inhalte von Texten, meist ding and applying multiple strategies, 3rd ed. Elsevier
Mosby, St. Louis
Interviews, beschrieben und kategorisiert Kielhofner G (2006) Research in occupational therapy met-
werden sollen, um Inhalte aus großen Daten- hods of inquiry for enhancing practice. Davis, Philadel-
mengen zu reduzieren phia
4 „case study“: wenn ein einzelner Fall Lamnek S, Krell C (2005) Qualitative Sozialforschung, 4. Aufl.
beschrieben werden soll, um zum Beispiel eine Beltz, München
LoBiondo-Wood G, Haber J (2001) Pflegeforschung: Methoden
neue Methode oder Intervention erstmals zu – Bewertung – Anwendung, 2. Aufl. Elsevier, München
beschreiben
61 5

Stichprobenverfahren und
Stichprobengröße
Valentin Ritschl, Tanja Stamm

5.1 Probabilistische Stichprobenverfahren – 62

5.2 Nicht probabilistische Stichprobenverfahren – 63

5.3 Stichprobengröße – 63
5.3.1 Qualitative Studien – 63
5.3.2 Quantitative Studien – 64

Literatur – 64

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5_5
62 Kapitel 5 · Stichprobenverfahren und Stichprobengröße

Die gut überlegte Auswahl von Teilnehmern und 2005, Krippendorff 2012, LoBiondo-Wood u. Haber
Teilnehmerinnen, die in eine Studie eingeschlossen 2001). Es sei angemerkt, dass in der Literatur eine
werden sollen, stellt einen sehr wichtigen Punkt im sehr große Zahl an Stichprobenverfahren beschrie-
Forschungsprozess dar (Judd 1972). Will der For- ben wird und diese zusätzlich sehr unterschiedlich
scher beispielsweise eine generalisierbare Aussage charakterisiert und eingeteilt werden. Nachfolgende
über eine Population anstellen, dann muss die Stich- Aufzählung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
probe repräsentativ für die Population sein. Ist dies
nicht der Fall, ist eine generalisierbare Aussage nur
bedingt oder nicht möglich. 5.1 Probabilistische
4 Zuerst muss sich die Forscherin Gedanken Stichprobenverfahren
5 über die Zusammensetzung der Stichprobe,
z Einfache Zufallsstichprobe
also über die ideale Auswahl an Probanden,
machen. Der Forscher oder die Forscherin definiert eine
4 Im zweiten Schritt muss sie die Größe der Population (z. B. alle Physiotherapeutinnen, die im
Stichprobe definieren. Physiotherapieverband gemeldet sind) und stellt
4 Im letzten Schritt wird ein Plan für die konkrete einen Stichprobenrahmen auf. Diese Personen
Rekrutierung erstellt und durchgeführt. werden fortlaufend gelistet. Im zweiten Schritt wird
am Computer eine Tabelle mit Zufallszahlen gene-
Diese Schritte werden beispielhaft im folgenden riert. Diese Zahlen entsprechen der Zahl der Person
Abschnitt beschrieben. aus der Liste der Physiotherapeutinnen. Werden
Es können im Groben 2 unterschiedliche Formen beispielsweise die Zahlen 50, 28, 7 ausgewählt, wird
des Stichprobenauswahlverfahrens unterschieden in der Liste mit den Therapeutinnen die 50., 28., 7.
werden: probabilistische und nicht probabilistische Person in die Stichprobe eingeschlossen. Dies wird so
Auswahlverfahren. Probabilistisch bedeutet in diesem lange wiederholt, bis die Stichprobe die gewünschte
Zusammenhang, dass jede Person in der Population Größe erreicht hat.
mit der gleichen Wahrscheinlichkeit für die Stich-
probe herangezogen werden kann. Im Gegensatz z Geschichtete Zufallsstichprobe
dazu ist bei nicht probabilistischen Stichproben die Bei diesem Verfahren, auch Stratifizierung nach
Wahrscheinlichkeit für die Auswahl nicht bei allen bestimmten Kriterien genannt, wird die Population
Personen einer Population gleich hoch. Der Vorteil in homogene Untergruppen aufgeteilt. Dann wird
des probabilistischen Stichprobenverfahrens ist die analog zum Vorgehen bei einfachen Zufallsstichpro-
gute Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Popula- ben aus jeder Untergruppe die entsprechende Anzahl
tion, jedoch sind diese Verfahren meist aufwendiger an Probanden gezogen. Beispielsweise werden die
und kostenintensiver. Physiotherapeuten nach ihrem Geschlecht aufge-
Sowohl probabilistische als auch nicht probabi- teilt, und erst dann wird das Stichprobenverfahren
listische Erhebungen der Stichproben können für durchgeführt. Dadurch kann beispielsweise gewähr-
qualitative und quantitative Verfahren angewandt leistet werden, dass in Bezug auf die Population in der
werden, abhängig vom gewünschten Ergebnis: Pro- Stichprobe die gleiche Verteilung von männlichen
babilistische Stichprobenverfahren werden ange- und weiblichen Physiotherapeuten besteht.
wandt, wenn Generalisierung erreicht werden soll.
Nicht probabilistische Stichprobenverfahren können z Mehrstufige Zufallsstichprobe
eine Generalisierung nicht erreichen, dafür ein Ver- Die mehrstufige Zufallsstichprobe setzt sich aus meh-
ständnis von komplexen Phänomenen bei einzelnen reren, aufeinander aufbauenden einfachen Zufalls-
Individuen ermöglichen. stichproben zusammen. Soll beispielsweise eine
Im Folgenden werden beispielhaft unterschied- Stichprobe aus Pädagogen gezogen werden, kann
liche Formen des probabilistischen und nicht pro- folgendermaßen vorgegangen werden: In einem
babilistischen Stichprobenverfahrens beschrieben ersten Schritt können alle Schulen in Deutschland
(Bortz u. Döring 2006, Creswell 2012, DePoy u. Gitlin auf einer Liste erfasst werden, und es werden analog
5.3 · Stichprobengröße
63 5
zur einfachen Zufallsstichprobe Schulen gezogen. häufig durchgeführt, da sie mit wenig Aufwand
Die Direktoren dieser gezogenen Schulen werden verbunden ist. Allerdings ist das Ergebnis hier nur
gebeten, eine Liste mit den vor Ort tätigen Pädagogen bedingt auf die Population übertragbar.
zu erstellen. In einem zweiten Schritt wird anhand
dieser Liste analog zur einfachen Zufallsstichprobe z Quotenstichprobe
ein Pädagoge für die Stichprobe gezogen. Hierbei wird versucht, in der Stichprobe einen reprä-
sentativen Charakter der Population zu erreichen,
z Systematische Stichprobe indem Merkmalsverteilungen innerhalb einer Popu-
Bei einer systematischen Stichprobe wird eine Auswahl lation bewusst berücksichtig werden. Will der Forscher
an Probandinnen in ganz bestimmten Intervallen aus beispielsweise eine Studie durchführen, in der der Bil-
der Auflistung einer Population getroffen. Beispiels- dungsstand der Probanden von Bedeutung ist, muss
weise könnte anhand der Mitgliedsnummern eines der Bildungsstand der Population mit dem in der Stich-
Verbandes jede 15. Person für eine Stichprobe heran- probe übereinstimmen.
gezogen werden.
z Gezielte Stichprobe
Kenntnisse über die Population werden genutzt,
Vor- und Nachteile um Teilnehmer zu rekrutieren, die „typisch“ für die
Allgemein sind probabilistische Stichproben- Population sind. Dies wird vor allem dann verwen-
verfahren gut, um generalisierbare Aussagen det, wenn eine eher ungewöhnliche Gruppe unter-
zu treffen, andererseits zeigen sich in der sucht werden soll, wie zum Beispiel erstgebärende
praktischen Durchführung Schwierigkeiten: Mütter mit einer bestimmten Erkrankung.
5 Probabilistische Stichproben können nur
gezogen werden, wenn alle Individuen z Schneeballverfahren
einer Grundgesamtheit bekannt sind. Das Stichprobenverfahren nach dem Schneeball-
5 Probanden und Probandinnen können prinzip bedeutet, dass Personen, die dem Forscher
jederzeit die Teilnahme an einer Studie oder der Forscherin bekannt sind, direkt für die Teil-
zurückweisen. Das heißt, selbst wenn nahme an der Studie angefragt werden. Zusätzlich
eine Stichprobe probabilistisch gezogen werden sie gebeten, die Einladung zur Studie an alle
wurde, besteht immer noch das Recht, eine ihnen bekannten Personen weiterzuleiten. Auch
Teilnahme abzulehnen. Dadurch kann eine diese werden wieder gebeten, die Einladung weiter-
Verzerrung des Ergebnisses entstehen. zuversenden. Diese Strategie eignet sich vor allem
für Populationen, die für den Forscher nicht bekannt
Trotz der beschriebenen Schwierigkeiten oder greifbar sind. Ein Beispiel hierfür ist die Rekru-
muss eine Stichprobe probabilistisch tierung von Expertinnen, die jeweils weitere Exper-
gezogen werden, wenn eine Aussage für eine tinnen nennen können.
Population getroffen werden soll. Zusätzlich zu den Auswahl- und Rekrutierungs-
verfahren muss die Anzahl der Teilnehmer und Teil-
nehmerinnen an einer Studie bestimmt werden.

5.2 Nicht probabilistische


Stichprobenverfahren 5.3 Stichprobengröße

z Gelegenheitsstichprobe 5.3.1 Qualitative Studien


Darunter wird die Auswahl der am leichtesten ver-
fügbaren Personen verstanden. Beispielsweise Fallzahlen für qualitative Studien können meist nicht
könnte eine Ergotherapeutin eine Stichprobe aus berechnet werden; sie richten sich nach bestimm-
ihren eigenen Patientinnen ziehen, um eine Studie ten Kriterien. Manche Methoden verlangen größere
durchzuführen. Die Gelegenheitsstichprobe wird Stichproben als anderen, wie beispielsweise eine
64 Kapitel 5 · Stichprobenverfahren und Stichprobengröße

„grounded theory“, in der meist eine allgemein benötigt, um signifikante Unterschiede aufzeigen zu
gültige Aussage getroffen werden soll. Andere können. Für klinische Studien gibt es derzeit zahlrei-
Methoden wiederum fokussieren auf einzelne Erleb- che Online-Tools zur Berechnung der Fallzahl, wobei
nisse und Erfahrungen, wie beispielsweise eine IPA meist zwischen stetigen Zielgrößen (bei den Funk-
(„interpretative phenomenological analysis“), welche tionswerten treten keine Sprünge auf, die Funktion
eine ideale Größe von 3 Probandinnen empfiehlt weist keine Sprungstellen auf und kann „mit einem
(7 Abschn. 6.3). Strich“ gezeichnet werden, zum Beispiel Größe und
Für die praktische Anwendung empfiehlt es sich, Gewicht) und Häufigkeiten (Anzahl der Teilnehmer,
sich entweder an den Empfehlungen der gewählten die ein bestimmtes Ergebnis erreichen, oder Anteil
qualitativen Methoden oder an bereits durchgeführ- von Neuerkrankungen) unterschieden wird. Ein
5 ten Studien zu dieser Thematik zu orientieren. Eine Beispiel für ein Online-Tool ist der folgende Online-
dritte Möglichkeit stellt die theoretische Sättigung Rechner: www.clinical-trials.de/de/Werkzeuge/Online_
dar. Die Rekrutierung der Probandinnen und somit Hilfsmittel/online_hilfsmittel.html
die Erhebung der Daten wird so lange weitergeführt, Die für eine Regressionsanalyse (7 Abschn. 7.4.2)
bis keine Erweiterung der Ergebnisse durch neue erforderliche Fallzahl hängt unter anderem von der
Datenerhebungen erreicht wird. Es kann davon aus- Anzahl der Einflussfaktoren ab. Ist die Stichprobe zu
gegangen werden, dass eine Repräsentativität erfüllt klein, lassen sich nur sehr starke Zusammenhänge
ist und somit die Daten „gesättigt“ sind. Das Argu- nachweisen. Für multivariate Regressionsmodelle
ment der Datensättigung wird von einigen qualitati- empfehlen Tabachnick und Fidell (2014) N>50+8×m
ven Methodenexperten vertreten. Es kann allerdings Teilnehmer zu rekrutieren, wobei m die Anzahl der
davon ausgegangen werden, dass bei jedem weiteren unabhängigen Variablen und N die Anzahl der Teil-
Interview oder jeder weiteren Fokusgruppe irgend- nehmer und Teilnehmerinnen an einer Studie sind.
etwas Neues entdeckt werden kann, da jeder Mensch Wenn beispielsweise 10 Variablen in das Regres-
individuell und unterschiedlich ist. Allerdings wird sionsmodell eingeschlossen werden, ergibt das
der Zugewinn an neuer Information mit der Anzahl 10×8+50=130. Andere Experten schlagen mindes-
an weiteren Interviews immer geringer. Wenn dieser tens das 20-Fache der Anzahl der Variablen vor. In
Zugewinn unter eine bestimmte Schwelle fällt, wird diesem Beispiel ergibt das 20×10=200. Für Regres-
bei bestimmten Methoden eben von einer theore- sionsmodelle gilt generell, dass größere Fallzahlen
tischen Sättigung gesprochen, während man dies besser sind.
bei anderen Methoden aus den genannten Gründen
ablehnt (jeder Menschen und damit jedes Interview Zusammenfassung
ist individuell). Die Auswahl der Teilnehmer und Teilnehmerinnen
für eine Studie stellt einen entscheidenden Faktor
in der Planung einer Studie dar. Dabei spielt sowohl
5.3.2 Quantitative Studien die konkrete Auswahl als auch die Anzahl der Teil-
nehmer eine Rolle. Verschiedene Methoden erfor-
In den meisten quantitativen Studien wird die Fall- dern unterschiedliche Auswahlverfahren.
zahl berechnet. Die Fallzahl ist die Anzahl der Teil-
nehmer und Teilnehmerinnen an einer Studie. Die
Literatur
Fallzahlberechnung für eine quantitative Studie
richtet sich nach dem zu erwartenden Unterschied Bortz J, Döring N (2006) Forschungsmethoden und Evaluation,
zwischen den Gruppen bzw. der Effektgröße (wenn 4. Aufl. Springer, Heidelberg
es sich um eine Studie mit einem möglichen Unter- Creswell JW (2012) Qualitative inquiry and research design:
schied zwischen Gruppen handelt), dem in der Stu- choosing among five approaches, 3rd ed. Sage, Los
dienplanung vorgesehenen statistischen Test, der Angeles
Daudt HML, van Mossel C, Scott SJ (2013) Enhancing the
Power (Treffsicherheit des Ergebnisses) und dem scoping study methodology: a large, inter-professional
statistischen Signifikanzniveau. Grundsätzlich team's experience with Arksey and O'Malley's frame-
wird bei kleinen Effektgrößen eine größere Fallzahl work. BMC Medical Research Methodology 13 (48): 1–9
Literatur
65 5
DePoy E, Gitlin LN (2005) Introduction to research: understan-
ding and applying multiple strategies, 3rd ed. Elsevier
Mosby, St. Louis
Dixon L, Duncan D, Johnson P, Kirkby L, O'Connell H, Taylor H,
Deane KHO (2007) Occupational therapy for patients
with Parkinson's disease. The Cochrane Database of Sys-
tematic Reviews (3), CD002813. doi:10.1002/14651858.
CD002813.pub2
Judd RC (1972) Use of Delphi methods in higher education.
Technological Forecasting and Social Change 4 (2):
173–186
Krippendorff K (2012) Content analysis: an introduction to its
methodology. Sage, Los Angeles
Liberati A, Altman DG, Tetzlaff J, Mulrow C, Gotzsche PC,
Ioannidis JPA, Moher D (2009) The PRISMA statement for
reporting systematic reviews and meta-analyses of stu-
dies that evaluate health care interventions: explanation
and elaboration. Annals of Internal Medicine 6 (4): W.
doi:10.7326/0003-4819-151-4-200908180-00136
LoBiondo-Wood G, Haber J (2001) Pflegeforschung: Methoden
– Bewertung – Anwendung, 2. Aufl. Elsevier, München
Smith JA (2004) Reflecting on the development of interpreta-
tive phenomenological analysis and its contribution to
qualitative research in psychology. Qualitative Research
in Psychology 1 (1): 39–54
TabachnickBG, FidellLS (2014) Using multivariate statistics,
6thed. Pearson, Harlow
67 6

Qualitative Forschung
Susanne Perkhofer, Verena Gebhart, Gerhard Tucek, Frederick J. Wertz,
Roman Weigl, Valentin Ritschl, Helmut Ritschl, Barbara Höhsl,
Barbara Prinz-Buchberger, Tanja Stamm, Julie S. Mewes, Martin Maasz,
Christine Chapparo, Verena C. Tatzer, Petra Plunger, Elisabeth Reitinger,
Katharina Heimerl

6.1 Was ist qualitative Forschung? – 68

6.2 Qualitative Forschung in den Gesundheitsberufen – 69

6.3 Qualitative Forschungsdesigns und Methoden – 69


6.3.1 Phänomenologie – 69
6.3.2 Interpretative phänomenologische Analyse – 78
6.3.3 „Grounded theory“ – 81
6.3.4 Ethnographie – 86
6.3.5 „Case study“ – 88
6.3.6 Inhaltsanalyse – 93
6.3.7 Hermeneutik – 98
6.3.8 Partizipative Gesundheitsforschung – 112
6.3.9 Qualitative Themenbildung – 116

6.4 Qualitative Datensammlung – 119


6.4.1 Wann werden Daten qualitativ gesammelt? – 119
6.4.2 Methoden der qualitativen Datensammlung – 119
6.4.3 Erstellung der Datensammlungsinstrumente – 122
6.4.4 Analyse der gesammelten Daten – 126

6.5 Gütekriterien für qualitative Forschung – 127


6.5.1 Einteilung der Gütekriterien – 128
6.5.2 Strategien zum Erreichen der Gütekriterien – 128

Literatur – 130

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5_6
68 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

6.1 Was ist qualitative Forschung? Interview keine Antwortkategorien vorgegeben,


sondern offene Fragen gestellt, die von der Untersu-
Susanne Perkhofer, Verena Gebhart, Gerhard Tucek chungsperson völlig frei beantwortet werden können
(Mayring 2002). Charakteristisch für die qualitative
Im Zentrum der qualitativen Forschung steht die Forschung ist die direkte Interaktion der Forschen-
Untersuchung des menschlichen Erlebens. Ihr den mit den Beforschten. Wechselwirkungen, die
Anspruch ist es, lebensweltliche Erfahrungen aus sich daraus möglicherweise ergeben, müssen daher
der Perspektive der Betroffenen zu verstehen, um bei der Planung und Durchführung einer Studie mit-
daraus auf allgemeine Abläufe, Struktur- und Deu- berücksichtigt werden. Dies verlangt von den For-
tungsmuster zu schließen (Flick 2011). Eine qualita- schenden entsprechende Erfahrungen und Fähig-
tive Untersuchung zu einer chronischen Erkrankung keiten wie kommunikative Kompetenz, analytisches
würde beispielsweise danach fragen, wie die Patien- Verständnis und reflexives Denken.
tinnen mit ihrer Erkrankung umgehen und welche
6 Bedeutung sie für ihr Leben hat, um daraus typische z Explorativer Charakter und induktive
Bewältigungsstrategien oder Abläufe chronischer Theorienbildung
Erkrankung abzuleiten (Corbin u. Strauss 2004). Das Ziel qualitativer Forschung liegt darin, neue
Qualitative Forschung stellt das subjektive Erkenntnisse zu gewinnen und daraus Theorien
Erleben der Betroffenen in den Vordergrund, um zu entwickeln. Daher spricht man auch von einem
herauszufinden, wie und warum die Menschen ihren explorativen Charakter der qualitativen Forschung.
Lebenssituationen Bedeutung verleihen. Es geht folg- Sie testet keine Hypothesen, sondern bringt diese
lich nicht darum, was „objektiv wahr“ ist, sondern gerade erst durch den Forschungsprozess hervor
um das, was die Menschen für „wahr“ halten und (Lamnek 2010). In ihrem Anspruch, neue Theo-
wie sie ihr Denken und Handeln entlang dieser Deu- rien zu generieren, eignet sie sich besonders für den
tungen ausrichten (Blumer 1973). Dieser erkenntnis- Einsatz in noch wenig untersuchten Gegenstands-
theoretische Hintergrund markiert die maßgebliche bereichen (Morse et al. 1998). Die Theorienbildung
Differenz zur quantitativen Forschung (7 Kap. 7). Aus erfolgt induktiv, d. h. aus den erhobenen Einzelfällen
dieser Grundorientierung ergeben sich für die quali- werden allgemeine Aussagen abgeleitet.
tative Forschung folgende Charakteristika:
z Stichprobenauswahl: „theoretical sampling“
z Subjektbezogenheit und Alltagsorientierung Die Untersuchungspersonen werden den theoreti-
Das Erkenntnisinteresse liegt in den Alltagserfahrun- schen Annahmen entsprechend gezielt ausgewählt.
gen der Menschen und ihrem subjektiven Erleben. Die Im Rahmen eines „theoretical samplings“ werden
qualitative Forschung findet daher in der „natürlichen“, besonders typische oder außergewöhnliche, mut-
alltäglichen Umgebung der Untersuchungspersonen maßlich abweichende Fälle gesucht. (Lamnek 2010).
statt (Mayring 2002). Daten werden nicht in einem Aufgrund der aufwendigen Verfahren und Metho-
Labor unter kontrollierten Bedingungen erhoben, den lassen sich zumeist nur relativ kleine Stichpro-
sondern es werden zum Beispiel Beobachtungen in ben realisieren. Für Gewöhnlich wird die Unter-
gewöhnlichen Alltagssituationen oder Interviews mit suchung so lange fortgesetzt, bis eine „theoretische
Untersuchungspersonen durchgeführt (7 Abschn. 6.3). Sättigung“ erreicht ist. Das heißt, es werden so lange
Daten gesammelt, bis zu erkennen ist, dass zusätzli-
z Offenheit und Reflexivität che Erhebungen keine neuen Aspekte mehr liefern
Eine systematische, nachvollziehbare, kontrollierte (Glaser et al. 2010).
und theoriegeleitete Vorgehensweise zeichnet gute
qualitative Forschung aus. Dabei werden nicht stan- z Interpretative Auswertungsverfahren
dardisierte Methoden verwendet, die eine offene Verfahren, die es sich zur Aufgabe machen, subjek-
und flexible Vorgehensweise ermöglichen. Bei- tive Sinnbildungsprozesse zu rekonstruieren, haben
spielsweise werden in einem nicht standardisierten einen interpretativen Charakter. Subjektiver Sinn
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
69 6
kann nicht gemessen, berechnet oder in Tabellen dar- an den Sichtweisen und Bedürfnissen der Betroffe-
gestellt werden, sondern er bedarf eines kontrollier- nen vorbeizielen. Der reflexive und explorative Cha-
ten Verstehens- und Interpretationsprozesses. Dafür rakter der qualitativen Forschung erlaubt es, hinter
haben sich in der Praxis unterschiedliche Verfahren bestehendes Wissen und vorgefertigte Annahmen
etabliert (7 Abschn. 6.3). zu blicken und neue Erkenntnisse zu generieren. Die
Herausforderung liegt darin, diese Potenziale für die
Gesundheits- und Pflegeforschung nutzbar und den
6.2 Qualitative Forschung in den Erkenntnisgewinn qualitativer Forschungen für die
Gesundheitsberufen Praxis anschlussfähig zu machen (Müller-Mundt u.
Schaeffer).
Susanne Perkhofer, Verena Gebhart, Gerhard Tucek

Insbesondere der Gesundheits- und Pflegebereich, 6.3 Qualitative Forschungsdesigns


der sich vielfältigen Herausforderungen und komple- und Methoden
xen Fragen der Gesundheitsversorgung gegenüber-
sieht, kann von qualitativ ausgerichteten Forschungs- 6.3.1 Phänomenologie
vorhaben profitieren. Diese haben das Potenzial,
gesundheits- und pflegerelevante Themen aus Sicht Frederick J. Wertz, übersetzt von Roman Weigl
der Betroffenen zu explorieren und damit die Sicht-
weisen, Erfahrungen und Handlungsmuster der
untersuchten Zielgruppen verstehbar und nachvoll- Definition
ziehbar zu machen. Ein auf diese Weise generiertes, Unter der Phänomenologie wird eine
vertiefendes Verständnis für die Situation der Betrof- wissenschaftliche Methode verstanden,
fenen ist Grundvoraussetzung für eine bedürfnisori- die das menschliche Erleben erforscht.
entierte Gesundheits- und Pflegeversorgung. Die Phänomenologie beginnt mit der
Qualitative Forschung betrachtet dabei die Untersuchung von konkreten Beispielen,
Untersuchungspersonen bzw. die Untersuchungs- die für die gelebten Erfahrungen, die
gegenstände nicht isoliert, sondern ganzheitlich untersucht werden, repräsentativ sind. Die
und im Kontext ihrer Umwelt. Subjektive Sinnbil- Analyse konzentriert sich auf die Bedeutung,
dungsprozesse sind nicht unabhängig von „äußeren wie Situationen erlebt werden. Die
Bedingungen“: Zwischenmenschliche Interaktion, phänomenologische Analyse ermöglicht ein
strukturelle Faktoren (z. B. ökonomische Ausstat- deskriptives Verständnis der essenziellen und
tung, Herkunft, Bildungsstand, Wohnort, Alter), unveränderlichen Strukturen des Erlebten, dazu
kulturelle Muster und Einflussfaktoren (Kultur- zählen die körperliche Präsenz, die Zeitlichkeit,
kreis, Erziehung, Normen und Werte, Diskurse etc.) das Selbst, die Umgebung und die Sozialität.
gehen ebenso in die Analyse mit ein wie institutio-
nelle Bedingungslagen (z. B. Krankenversicherung,
Rentensysteme) oder die Einbindung in Organisatio- Der Ansatz der Phänomenologie hat sich im letzten
nen (Beruf, Krankenhaus, Altersheim etc.). Jahrhundert in vielen Ländern und Disziplinen
Mittels offener und flexibler Methoden und einer weiterentwickelt, unter anderem in Philosophie,
systematischen Vorgehensweise kann die qualita- Theologie, Psychologie, Soziologie, Linguistik,
tive Forschung diese komplexen Wechselwirkun- Neurowissenschaften, Gesundheits- und Geschichts-
gen und Zusammenhänge einfangen und analysie- wissenschaften (Embree 2010). Sie wurde in inter-
ren. Diese multidimensionale Sichtweise bewahrt disziplinären Wissenschaften und in Praxisberufen
davor, vorschnelle Schlüsse zu ziehen, vereinfachte angewandt und unterstützt dabei mit ihren Metho-
Wirkungs- und Kausalzusammenhänge anzuneh- den menschliche Erfahrungen in der klinischen
men oder Versorgungskonzepte zu entwerfen, die Praxis wirklichkeitsgetreu zu verstehen.
70 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

Wann soll die Methode angewendet selbst verflochten in eine komplexe soziale Welt, die
werden? Erfahrungsbedeutungen begründet und darstellt.
Die Phänomenologie ist eine qualitative Forschungs- Phänomenologen haben reiche und grundlegende
methode, die sich mit gelebter Erfahrung beschäftigt. Kenntnisse über das menschliche Leben beigetragen,
Sie ergänzt deshalb die Naturwissenschaften und das einschließlich Wahrnehmung, Verhalten, Emotio-
biomedizinische Modell, die sich ausschließlich auf nen, Vorstellungskraft, Gedächtnis, Sprache, Persön-
die materielle Natur (engl. „material nature“) kon- lichkeit, soziale Beziehungen, menschliche Entwick-
zentrieren. Die Bedeutung der Phänomenologie lung und Psychopathologien (vgl. Spiegelberg 1972,
wächst mit dem Anstieg des personenzentrierten Bogard u. Wertz 2006).
Ansatzes in der Gesundheit stetig, dies spiegelt sich Die Haltung des phänomenologischen Forschers
seit 2008 in der jährlichen Konferenz über personen- (Husserl 1913, 1954), unabhängig davon, ob eine phi-
zentrierte Medizin in Genf wider, an der bisher 33 losophische, psychologische, soziale oder spirituelle
Weltorganisationen teilgenommen haben (Mezzich Thematik adressiert wird, ist offen, frisch und frei
6 et al. 2010). von Vorurteilen. Die Früchte vorhergehender Theo-
Die Phänomenologie als ganzheitlicher und rien und Forschungsergebnisse werden, mit allem
kontextuell sensitiver Zugang zu den menschlichen Respekt, in der phänomenologische Forschung bei-
Zielen, Bedeutungen und Werten leistet einen ent- seitegelegt. Die phänomenologische Forschung
scheidenden Beitrag zu unserem Verständnis vom orientiert sich nicht an Hypothesen, sondern wendet
In-der-Welt-sein (engl. „being in the world“) einer sich konkreten Beispielen des Forschungsgegen-
Person, mit allen physischen, sozialen, wirtschaft- stands zu und geht dabei „von der Wurzeln“ („from
lichen und historisch wechselnden Herausforde- the grassroots“) aus (Spiegelberg 1965, S. XLV).
rungen und Komplexitäten, von denen Gesundheit Neben dem bewussten Ausblenden des Vor-
abhängt. wissens bricht die phänomenologische Forsche-
Aufbauend und antizipierend auf die Philoso- rin auch mit dem Glauben an eine objektive Exis-
phen Brentano und Dilthey im 19. Jahrhundert, die tenz von Gegenständen und Situationserfahrungen
darauf bestanden, dass der Mensch nicht auf seine („Epoche“) und wendet sich ihren Bedeutungen und
Körperlichkeit reduzierbar ist, begründete Edmund den subjektiven Prozessen, durch die diese Bedeu-
Husserl die Phänomenologie als eine Disziplin, deren tungen entstehen, zu. Diese phänomenologische
grundsätzliche Motivation angesichts unserer Bemü- Reduktion der Welt als eine Erfahrung zweifelt nicht
hungen, die Bedeutung unsere Existenz zu verste- an der Existenz dessen, was erlebt wird, sondern wird
hen, und angesichts unserer Versuche, uns, unserer streng aus methodischen Zwecken vorgenommen,
Welt und unser Schicksal frei und verantwortungs- sodass die teleologischen, zeitlichen, verkörper-
voll zu gestalten, ethisch und zielgerichtet ist (Husserl ten, sozialen, praktischen und Werteeigenschaften
1954). Husserls Philosophie hat vielen tragfähigen von Situationen beachtet und beschrieben werden
und weitreichenden philosophischen Entwicklun- können.
gen des 20. Jahrhunderts zum Wachstum verhol- Obwohl die Phänomenologie mit konkreten
fen, darunter befinden sich die Arbeiten von Martin Erfahrungsbeispielen beginnt und durch konkrete
Heidegger, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Erfahrungsbeispiele im Rahmen der Forschung
Maurice Merleau-Ponty, Edith Stein, Max Scheler, arbeitet, ist es das Ziel der phänomenologischen
Emmanuel Levinas, Gabriel Marcel, Alfred Schütz, Untersuchung, Gemeinsamkeiten, unveränderli-
Gaston Bachelard, Paul Ricoeur und Jacques Derrida. che („invariant“) Bestandteile und ganzheitliche
Genauso hat sie die sozialkritischen Gedanken der Organisationen oder Strukturen zu finden, die in
Philosophen, wie beispielsweise Jürgen Habermas allen Variationen innerhalb der Beispiele ersicht-
und Michel Foucault, beeinflusst. lich werden. Phänomenologische Erkenntnisse
Die Phänomenologie versteht sich als umfassend werfen ein Licht auf die Variationen als Variatio-
humanistisch und betrachtet die Person als Zentrum nen, liefern Beispiele für das Wesen der betrachte-
der Erfahrung wie auch der Wirkung, wenngleich ten Einheit, wie sie ursprünglich empirisch durch die
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
71 6
Forscher erfasst wurden oder wie sie der Forscherin gemacht zu werden (Wertz 1983a), gestaltet sich
konkret zugänglich sind, einschließlich frei imagi- diese Methode als sehr flexibel und ermöglicht viele
nierter Variationen. Diese Analyse der Essenz, der Variationen, abhängig vom Thema, den Zielen der
qualitativen Invarianz, wird „eidetische Reduktion“ Forschung und den jeweiligen Forscherstilen. Die
genannt, sie vermittelt ein Verständnis von dem, was einzelnen Schritte bauen logisch aufeinander auf.
die Erfahrung ist (seine essenzielle Struktur), und
von allen vorstellbaren und denkbaren beispielhaf-
ten Variationen. Welche Schritte müssen eingehalten
Die grundlegendste, allgemeinste Erfahrungs- werden?
konzeption, die durch die phänomenologische Der erste Schritt der empirischen phänomenologi-
Analyse erzielbar ist, ist die der „Intentionalität“, schen Forschung nach Giorgi umfasst konkrete Bei-
die darauf Bezug nimmt, dass alles Bewusstsein spiele des Forschungsgegenstands. Diese Beschrei-
auf ein Objekt über es hinaus gerichtet ist. Erfah- bungen können auf verschiedene Weise gesammelt
rung transzendiert über sich hinaus; die erlebende werden, zum Beispiel in schriftlicher oder mündli-
Person ist ein „In-der-Welt-seiendes-Wesen“, kör- cher Form, mittels Interviews oder Gruppenunter-
perlich und zeitlich mit anderen verbunden in einer haltungen. Es kann ein Beispiel für das Forschungs-
holistischen existenziellen Struktur des Selbst, phänomen aus der Ichperspektive der Person
der Umgebung, der Anderen, eingebettet in die beschrieben werden, d. h. aus der eigenen Erfah-
Geschichte („self-surroundings-others-history“). rung, oder aus dem Leben einer anderen Person.
Bei ihren Untersuchungen der menschlichen Erfah- Sobald der phänomenologische Forscher im Besitz
rung beschreiben Phänomenologen, basierend auf von Beschreibungen konkreter Beispiele ist, führt er
den jeweiligen Perspektiven der eigenen Disziplin 4 analytische Schritte aus:
und den aktuellen Interessen ihrer Forschung, die 1. Zuerst liest die Forscherin die Beschreibung
Strukturen der Lebenswelt („lifeworld“) und der vollständig und offen, mit der Absicht,
Existenz. das Erfahrene zu verstehen, noch gänzlich
Die Grundhaltung und die Methoden des phä- ohne spezifischen Bezug auf die
nomenologischen Forschers umfassen die Ausset- Forschung.
zung mit den Vorkenntnissen, die strikte Fokussie- 2. Die Forscherin unterscheidet und grenzt
rung auf situative Beispiele, die erfahren wurden, und Bedeutungseinheiten („meaning units“) in der
die Aufmerksamkeit auf das Wesen des Forschungs- Beschreibung voneinander ab. Dies ist eine
gegenstandes mit empirischen und bildhaft prä- flexible und individuelle Operation, durch die
senten („imaginal“) Variationen. Das phänomeno- sie Bestandteile der Beschreibung identifiziert.
logische Forschen wird umfassend, aber informell Dies dient als Vorbereitung für die sorgfältigen
durchgeführt, dabei wird versucht, eine Starre zu ver- Überlegungen über das Einzelne im Rahmen
meiden, die durch die Kenntnis unserer Erfahrung des Ganzen.
bedingt ist. 3. Die Forscherin reflektiert über jede
Husserl identifizierte und codierte diese Verfah- Bedeutungseinheit und beschreibt
ren, verwurzelte sie erkenntnistheoretisch und arti- unter besonderer Berücksichtigung des
kulierte ihre Methodologie, um sie für die Human- Forschungsinteresses seine Relevanz für das
wissenschaften verwendbar zu machen. Die klarste Forschungsphänomen, in Abhängigkeit vom
und zugänglichste Anpassung dieser Verfahren für disziplinären Anliegen der Forscherin, ob
die empirisch fundierte Humanwissenschaftsfor- es psychologisch, soziologisch, linguistisch
schung wurde vom Psychologen Amedeo Giorgi und/oder interdisziplinär ist.
(1970, 1985, 2009) entwickelt. Basierend auf der 4. Danach synthetisiert die Forscherin diese
Grundlage ihrer Anwendung in Dutzenden von Reflexionen, um die wesentlichen Bestandteile
Dissertationen und in einer hochreflexiven Studie und die Struktur des Forschungsphänomens
über die Erfahrungen, durch eine Straftat zum Opfer umfassend zu beschreiben.
72 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

„Individuelle Strukturbeschreibungen“ für jedes Bei- Bedeutung dessen, was in jeder Einheit für den
spiel eines Phänomens werden durchgeführt. Noch Erlebnisprozess als Ganzes beschrieben wird,
wichtiger ist es aber, dass der Forscher die allgemeine zu offenbaren.
Struktur, die in vielen Beispielen durch viele empi- 4 Strukturelle Beschreibung: Die Forscherin
rische und bildhaft präsente Variationen des Phäno- synthetisiert Reflexionen über alle Bedeutungs-
mens vorhanden sind, identifiziert. einheiten und stellt ganzheitliche Beschrei-
bungen, einschließlich der wesentlichen
> Es ist wichtig, dass der Forscher die Bestandteile der Erfahrung(en), her.
allgemeine Struktur des Forschungs-
phänomens auf Basis der unterschiedlichen Diese Bestandteile der deskriptiven Analyse wurde
identifizierten Variationen beschreibt. auch implizit in einer breiten Vielfalt von psycho-
logischen Studien über die 100-jährige Geschichte
Beispielsweise fand Giorgi nur eine sehr allgemein der phänomenologischen Forschung, einschließ-
6 gehaltene Struktur in seinen Beispielen für Eifersucht lich der bahnbrechenden Studien von Sartre,
(2009), aber er konnte zahlreiche typische Struktu- Bachelard, Straus, Minkowski, Boss, van der
ren in seinen Beispielen für Lernen (1985) beschrei- Berg und Laing, über eine Vielzahl von Themen,
ben. Allgemeine Strukturen können sich ebenfalls inklusive der grundlegenden Prozesse der Wahr-
als komplex herausstellen und beinhalten eine zeit- nehmung, Emotion, Leib („embodiment“) und
liche oder Entwicklungsreihe von substrukturellen vielen Formen der Psychopathologie, als wirksam
Phasen, wie der Autor dieses Kapitels (Wertz 1985) erkannt (Wertz 1983b). Indikatoren für die frucht-
in den Untersuchungen zu Viktimisierungserfahrun- bare Verwendung dieser Bestandteile der psycho-
gen1 von Personen fand, die einen kriminellen Über- logischen Reflexion konnten während der gesam-
griff erlebt hatten. ten Geschichte psychoanalytischer Forschung
Die Schritte der phänomenologisch-psychologi- gefunden werden, beispielhaft sind hier die Analy-
schen Analyse beinhalten nach Giorgi (2009): sen der Pioniere wie Freud, Jung, Erikson, Sullivan,
4 Sicherung der Beschreibungen der Beispiele: Winnicott, Guntrip, Kohut und Stolorow genannt
Die Forscherin sichert Beschreibungen (Wertz 1987).
verschiedener Beispiele des untersuchten Phänomenologische Forschung hat ein Nahe-
Phänomens. verhältnis und weist Überschneidungen mit anderen
4 Offenes Lesen: Der Forscher liest sich jede qualitativen Methoden auf. Dabei handelt es sich um
Beschreibung mit einer empathischen, historische Methoden, wie sie von William James,
verständnisvollen Haltung durch. James Flanagan, Abraham Maslow und Lawrence
4 Abgrenzung von Bedeutungseinheiten: Die Kohlberg praktiziert wurden, und um qualita-
Forscherin notiert sich Bedeutungsver- tive Methoden, die erst in jüngere Zeit entwickelt
schiebungen und differenziert die Teile jeder wurden. Trotz des Naheverhältnisses weißt die phä-
Beschreibung, die der Reihe nach analysiert nomenologische Forschung einzigartige Verfahren
werden können. und Ziele auf (Wertz et al. 2011). Die Phänomeno-
4 Fachspezifische (z. B. psychologische) logie teilt sich mit anderen Ansätzen die Sammlung
Überlegungen: Der Forscher analysiert jede konkreter Erfahrungsbeispiele, die Verwendung von
Bedeutungseinheit mittels des Forschungs- Beschreibungen und die Aufmerksamkeit auf Bedeu-
themas und der Fragestellung(en), um die tungen und Erfahrungsprozesse und die Reflexion
darüber
Im Gegensatz zu anderen Methoden zeigt sich
1 Bemerkung des Übersetzers, Roman Weigl: Der Begriff
der Viktimisierung stammt aus der Kriminologie: jeman-
die Einzigartigkeit phänomenologischer Forschung
den zum Opfer machen, d. h. eine Person durch eine in ihrer „reinen“ Aufmerksamkeit auf die Bedeu-
Straftat zu schädigen. tung (im Gegensatz zu den unabhängigen, objektiven
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
73 6
Bedingungen), der strikten Orientierung (engl. Beispiel für die phänomenologische
„adherence“, Anhaftung) an der Beschreibung (im psychologische Analyse
Gegensatz zur Theorie), ihrer umfassenden Ausrich- Das folgende Beispiel wurde aus dem oben genannten
tung auf ganzheitliche Strukturen der Erfahrung (im Methodenvergleichsprojekt über die Psychologie von
Gegensatz zu partiellen Themen) und ihrer Achtsam- Trauma und Resilienz entnommen (Wertz et al. 2011).
keit auf die Essenz oder die Invarianz (im Gegensatz Es werden 2 Bedeutungseinheiten („meaning units“)
zu Berichten über faktische Trends um ihrer selbst aus den Rohdaten, 2 beispielhafte Reflexionen und
willen). eine thematische Reflexion, die auf die psychologische
Wertz et al. (2011) verglichen 5 moderne Struktur des Individuums Bezug nimmt, präsentiert.
Methoden der qualitativen Analyse: die Phänome- Des Weiteren werden einige allgemeine Bestandteile
nologie, die „grounded theory“, die Diskursanalyse, des Phänomens anhand der vergleichenden Analysen
die narrative Forschung und die „intuitive inquiry“ mittels imaginativer Variation vorgestellt.
im Rahmen des Themas Resilienz und Trauma, Die Teilnehmerin, die im Rahmen des For-
jeweils unter der Verwendung der gleichen Inter- schungsprojekts Teresa genannt wurde, nahm an
viewdaten. Diese Studie ist für die Gesundheits- einem einstündigen Interview teil. Dieses Interview
wissenschaften und die Gesundheitsprofessionis- wurde vom Autor in ein wortwörtliches, zeitliches
ten nicht nur durch ihre Abgrenzung der Praktiken Narrativ umgewandelt und in 55 Bedeutungseinhei-
der verschiedenen qualitativen analytischen Metho- ten unterteilt, von denen jedes zwischen 1–15 Sätze
den und die detaillierten Vergleichsmethoden von umfasste. Im Folgenden werden 2 Bedeutungsein-
Interesse, sondern auch aufgrund des Inhalts der heiten dargelegt, in denen Teresa, eine aufstrebende
Interviews, die von allen 5 Forschern analysiert Opernsängerin, ihre Situation nach dem Erhalt der
wurden. Eine Teilnehmerin, eine junge Frau an Diagnose Schilddrüsenkrebs beschreibt.
der Schwelle zu einer vielversprechenden chirur-
gischen Karriere, stellte ein Interview zur Verfü- z z Transkript „Meaning unit“ 16
gung, in dem sie über ihren lebensbedrohenden und Ich erstarrte. Ich konnte nicht atmen, konnte mich
wiederkehrenden Schilddrüsenkrebs, ihre Strah- nicht bewegen, konnte nicht einmal blinzeln. Ich
lentherapie und den erfolgreichen Kampf, zu über- fühlte mich, als wäre ich gerade erschossen worden.
leben und sich zu transformieren, berichtete. Eine Mein Bauch hatte sich versperrt, als wäre ich gerade
andere Teilnehmerin beschrieb eine schwere Ver- in ihn geschlagen worden. Mein Mund wurde trocken
letzung, einen gebrochenen Arm, die sie in einem und meine Finger, die gerade mit einem Stift gespielt
akademischen Gymnastikwettbewerb erlitten hatte, hatten, waren plötzlich kalt und taub. Anscheinend
und berichtete über den Prozess ihrer Wiederher- meinen Schock wahrnehmend, lächelte der Chirurg
stellung, der in einer höheren Ebene des Wettbe- ein wenig. „Wir werden Ihr Leben retten, dennoch.
werbserfolgs gipfelte. Das ist, was zählt. Und wissen Sie was? Der andere
Die Verfahren dieser 5 Methoden der quali- Chirurg, der mit mir arbeitet, ist ein „voice guy“. Wir
tativen Analyse überlappten und ergänzten sich werden alles daran zu setzen, damit wir so wenig wie
ebenso wie die sehr reichen und fruchtbaren Ana- möglich intrusiv arbeiten.“ Ich begann zu atmen, ein
lyseergebnisse. Die phänomenologische Analyse wenig, sehr wenig, und ich fühlte, wie ich zitterte.
wurde als die Analyseform ausgewiesen, die aus- Ich habe versucht, etwas zu sagen, etwas Sinnvolles,
drücklich für Verfahren steht, die in einigen Fällen etwas Expressives. Alles, was ich heraus brachte, war:
explizit, in anderen implizit mit den 4 anderen Ver- „Mann.“ Ich war eigentlich ziemlich gut.
fahren der Analyse kompatibel waren. Sie stellte
sich als der umfassendste, ganzheitlichste und z z Transkript „Meaning unit“ 17
beschreibenste Ansatz heraus, um Erfahrungen, Dann ließ alles in mir los. Ich schluchzte, aber es war
unabhängig von der zugrunde liegenden Theorie, nichts zu hören; nur eine Flut von Tränen und das
zu erfassen. Zischen des Weinens aus meinem offenen Mund,
74 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

das sich durch den Druck dieser verfluchten Masse2 rationalen, praktischen und kompetenten medizini-
durchdrücken musste. Der Chirurg eilte zu meiner schen Praxis einzugehen. Der Arzt erscheint Teresa
Seite, mit einem Taschentuch bewaffnet und einer nicht nur als technischer Experte, sondern als derje-
festen, beruhigenden Hand auf der Schulter. Ich nige, der sie als eine Person (eine Sängerin) versteht;
hörte ihn leise sprechen, neben mir, wie ich in mein als verbündeter Helfer, der eine besondere Fähig-
stilles Klagen versunken war. „Sie werden gewinnen. keiten bei der Pflege der menschlichen Stimme hat.
Sie sind jung, und Sie werden dieses Ding schlagen. Dadurch werden Teresas zentrale und höchste Werte
Und Sie werden Ihre Stimme wiederbekommen, als Person bekräftigt, ihr Potenzial als Opernsänge-
und Sie werden an der Met singen. Und ich möchte rin. Dies ist ein wunderbarer, bewegender, kraftvoller
Tickets, also vergessen Sie mich nicht.“ und dialektischer Austausch.
Es folgen die Überlegungen zu diesen Bedeu- Als Reaktion auf den Arzt beginnt Teresa wieder
tungseinheiten, gefolgt von der Reflexion über zum Leben zu erwachen, zu atmen, zuerst noch
soziale Unterstützung, die für diese Kapitel etwas zaghaft und zitternd vor Angst. Die Situation ist
6 gekürzt und überarbeitet wurden (Wertz et al. 2011, so primär, dass Teresa nicht in der Lage ist, deren
pp. 137–141). Bedeutung durch Sprache zum Ausdruck zu bringen,
obwohl sie es in einem mikroheroischen Anstren-
z z Reflexion über die „meaning unit“ 16 gungsakt versucht. Sie ist nach einem Abstieg in den
Als sie aufhört zu atmen, kommt Teresas Leben Tod ein Bündnis mit einer Person eingegangen, die
zu einem Stillstand, das Leben stellt sich ein, eine wenige Augenblicke zuvor noch ein Fremder war, die
Art von Tod. Sie ist gelähmt und sie wird kalt und sie aber zu einer intimen und effektiven, lebensret-
taub. Ihr starker Sinn für Bewegung und Transzen- tenden Beziehung eingeladen hat. Teresa „war gut“3,
denz – die hohe Geschwindigkeit der Engagements die Wahrheit und Tatsache ihrer schweren Erkran-
ihrer Gesangskarriere und ihre neueren praktischen kungen sehend (wie in der Arztdiagnose mitgeteilt),
Bemühungen, um ihre medizinischen Problem zu absorbierte die lähmende emotionale Wirkung der
beheben, kommen alle zur Ruhe. Sie fühlt sich ange- Diagnose, öffnete sich für die volle und unerschütter-
griffen und die grundlegenden Qualitäten ihres liche Realisierung der Bedeutung und für die Mög-
Lebens, ihre Feuchtigkeit (im Sinne der Mundtro- lichkeiten der Situation.
ckenheit), ihre Bewegung, ihr Empfindungsver-
mögen, kommen zum Stillstand. In dieser Tod-im- z z Reflexion über die „meaning unit“ 17
Leben-Situation erfährt Teresa die Reaktion ihres In Reaktion auf Teresas Ausdruck einer überwälti-
Arztes auf ihre Lebenseinstellung mit einer Gegen- genden Verletzlichkeit geht der Arzt ein Bündnis mit
versicherung, der hoffnungsvollen Erwartung, dass ihr ein, er „joint“4 Teresa mit seinem mitfühlenden
Teresa nicht sterben wird, er ihr Leben retten wird. Engagement für ihr Wohlbefinden. Im Weinen lässt
In einem dramatischen und tiefgründigen State- Teresa ihren Emotionen in einem globalen Rhyth-
ment geht ihr Arzt auf die Hauptsorge der Mög- mus des Lebens freien Lauf, dessen Bedeutung sehr
lichkeit ihres Todes und der sekundären Besorg- schwer zu artikulieren ist. Es beinhaltet eine starke
nis über die mögliche Zerstörung ihrer Stimme Lebenskraft, eine Bejahung des Lebens und doch
ein und kündet sein Engagement für die Erhaltung eine Art von Reduktion des Lebens auf einen rich-
ihres Lebens und den Schutz ihrer Stimme an. Seine tungslosen, pulsierenden Schrei. Teresas Schrei des
Aussage ist ein Appell an Teresa, er lädt sie ein und Schmerzes und der Verzweiflung ist ein einsamer
drängt sie, mit ihm an diesem grundlegenden und Schrei im Angesicht des Todes und doch ein Schrei,
lebensrettenden Projekt teilzunehmen. Er versichert
ihr seine technischen Kompetenzen und die Erfolgs-
aussichten und lädt sie damit ein, aus ihrer Lähmung
3 Anmerkung des Übersetzers: „was good“ (Anführungszei-
zu steigen und wieder ihre frühere Allianz mit der
chen im Original ebenfalls vorhanden)
4 Anmerkung des Übersetzers: Der Begriff „joining“ stammt
aus der systemischen Therapie und bezeichnet ein Bünd-
2 Teresa leidet an Schilddrüsenkrebs. nis zwischen Therapeutin und Klientin.
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
75 6
der auch ihre expressive Bewegung der Rückkehr Eine der Forschungsfragen in diesem Projekt war
zum Leben verkörpert. Dieser Schrei hat auch zwei- die Rolle von sozialer Unterstützung im Prozess, resi-
fellos eine soziale Dimension, die fordernde Qualität, lient ein Trauma zu durchleben. Die Phänomenolo-
als ein Ruf zu ihrem Chirurg. Es ist eine unverfrorene gie beginnt die Kultivierung potenzieller allgemeiner
Antwort auf die Person, die sich bereit erklärt hat, Erkenntnisse bereits in der Reflexion der Bedeutung
alles daran zu setzen, um ihr Leben zu retten. Teresa in den Einzelanalysen, die in den folgenden Über-
ist vertrauensvoll offen ihm gegenüber und teilt die legungen zu sozialer Unterstützung zum Vorschein
grundlegendsten Lebensimpulse und -bedürfnisse kommen.
mit ihm.
Teresas Lebenskraft, sich ausdrückend als Schrei, z z Thematische Reflexion über soziale
drückt diametral gegen den Schilddrüsenkrebs und Unterstützung
befindet sich im Gegensatz zu dieser „verfluchten Wir erfahren hier etwas über die Rolle des anderen
Masse“, die ihr Leben und ihre Stimme bedroht. im Angesicht des Traumas. Das Verhalten des Arztes
Dieser kraftvolle Schrei wird vom Chirurgen zuerst zeigt sich als außerordentlich vorteilhaft und affir-
verstanden und dann moduliert, indem er an ihre mativ in der hochpersönlichen Situation seiner
Seite eilt. Er ist mit der Melodie von Teresas Lebens- Patientin. Eine Situation, in der Teresas Ausdruck
kraft im Einklang, die zunächst so in ihrem Inneren von Emotionen über den bisherigen pragmati-
gefangen ist, dass sie kaum von ihren Lippen ent- schen, rationalen Problemlösungsmodus hinaus-
kommen kann. Wie diese Wellen durch ihren Körper geht, in dem er und Teresa sich bisher gewohn-
fließen, „joint“ ihr Arzt sie, indem er sich dicht neben heitsmäßig befunden haben (und den Teresa von
sie in ihren körperlichen Raum begibt und dabei ihrer Mutter erlernt hatte). Gemeinsam in diesem
durch die affirmative Schulterberührung eine Art Moment öffnet sich das Arzt-Patientin-Paar einem
Wiederbelebung („resuscitation“) bereitstellt. viel umfassenderen und tieferen emotional-per-
Er ist mit einem Taschentuch „bewaffnet“ – sönlichen Austausch und angestrebten Leben. Der
eine Stärke und nötiges Mittel, um ihre Tränen, ihr Autor zeigt sich beeindruckt von den Fähigkeiten
Leiden, ihre Qualen zu entfernen. Er berührt sie mit des Chirurgen, zwischen den verschiedenen Modi
der Hand, mit seinen Fähigkeiten, und sie fühlt seine zu wechseln – von dem authentischen persönlichen
feste, spürbare Beruhigung auf ihre Schulter (er hilft Ausdruck seiner eigenen Emotionen, dem professio-
ihr, die Belastung durch Krebs zu „schultern“), diese nellen Übermitteln der Wahrheit und dem Tragen
Beruhigung ist ein Teil von ihm, sie verkörpert, dass der Verantwortung bis hin zu der technischen Pro-
der verfluchte Tumor zu entfernen ist. Seine Berüh- blemlösungsrationalität, dem persönlichen Dialog,
rung hat eine Festigkeit und Entschlossenheit (engl. der emotionalen Verfügbarkeit, einer Integration der
„firmness“), die verspricht, dass der lebensbedroh- Wärme und praktischen Kompetenz, dem Ausdruck
liche Tumor entfernt wird. Der Arzt spricht da, wo einer lebensbejahenden und kreativen ethische Rede
Teresa still ist, fast spricht er für sie, und doch vor einer bescheidenen Anerkennung der relationalen
ihr als Verbündeter, der nicht nur ihr vitales Leben (Arzt-Patientin-)Interdependenz – all dies passiert
retten wird, sondern sie auch befreien wird, damit synchron mit und in Reaktion auf die dynamisch flie-
ihre höchsten persönlichen Wünsche erfüllt werden ßende Präsenz und die Bedürfnisse von Teresa, seine
können. In diesem Ausdruck des Engagements, ihr Patientin. Hier erlebt sie, in guten Händen zu sein –
dabei zu helfen, den Erfolg in ihrer Opernkarriere die Antinomie5 des Traumas und die Vorboten der
zu erreichen, teilt er auch seine Abhängigkeit von Wiederherstellung.
Teresa mit, ihr bei seinem Wunsch, ihren persön- Teresas individuelle Struktur und die allgemeine
lichen Triumph erfüllen zu können. Dies ist eine Struktur des resilienten Durchlebens des Traumas
Begegnung der am im höchsten Maße lebensbeja- sind zu lang, um hier ausgeführt zu werden. Das
henden und persönlich unterstützenden Art, ein
tiefes Zeugnis und ein Engagement der menschli-
chen Interdependenz: „Ich möchte Tickets, also ver- 5 Anmerkung des Übersetzers: griech. für (scheinbare) logi-
gessen Sie mich nicht.“ sche Widersprüchlichkeit
76 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

Verfahren der analytischen Verallgemeinerung 4 Der Leidende führt eine Schlacht gegen das
beinhaltet zuerst das Verständnis der allgemeinen Trauma in einem Versuch, ein relativ freies,
Möglichkeiten im Einzelfall von Teresa, dann einen selbstbestimmtes Leben wieder aufzunehmen,
Vergleich der individuellen Struktur mit der einer das einem traumatisch reduzierten oder
zweiten Teilnehmerin, Gail, und dann weitere Ver- verlorenen Leben vorgezogen wird.
gleiche mit anderen realen und imaginierten Erfah- 4 Die Bedeutung von Trauma ist nicht in
rungen. Um die Demonstration einer phänomeno- einem isolierten Ereignis enthalten, sondern
logischen Analyse abzuschließen, sind im Anschluss beinhaltet die Verkürzung der geschichtlichen
26 „knowledge claims“6 angeführt, die sowohl bei der Bewegung des Lebens einer Person; Trauma
Analyse von Teresas Erfahrung, die sich in Bezug auf untergräbt die laufenden Bemühungen in
die Erfahrung, resilient ein Trauma zu durchleben, Richtung Zielerfüllung und negiert die eigene
stark verallgemeinern lassen, als auch in den Bei- Zukunft.
spielen von Gail und durch die imaginativen Varia- 4 Die vorliegende, tatsächliche Erfahrung von
6 tionen der Forscher entstanden (Wertz et al. 2011, pp. Trauma zieht die persönliche Bedeutung
154–156). zum Teil aus der eigenen Geschichte etwaiger
4 Zunächst wird das Trauma passiv erlitten. Es traumatischer Ereignisse, deren Bedeutung, im
passiert einer Person, war nicht beabsichtigt aktuellen Trauma, gleichsam wiederholt und
und führt zu kognitiven Schock und weitergeführt wird.
Unglauben, durch unheimliche Gefühle wie 4 Die eigene Haltung gegenüber Trauma
Terror, Horror, Furcht und Angst, durch die ein und die eigenen Strategien, ein Traum zu
zuvor aktiver Mensch ein Leidender wird. durchleben und zu bewältigen, sind auch
4 Das traumatische Ereignis ist negativ-feindlich, Fortsetzungen der üblichen Art und Weise, mit
zerstörerisch, reduktiv, wie es den Kern und der eine Person mit bisherigen Widrigkeiten,
zentrale Intentionalität des psychischen Lebens Schädigungen oder Zerstörung im Leben
einer Person inaktiviert und nivelliert. umgegangen ist.
4 Das Traumatische ist ein „Anderes“, fremd 4 Die Person macht eine konzertierte
und antithetisch, grundlegend dem Selbst Anstrengung, um die Opferrolle zu
entgegengesetzt. überwinden und sich die Zukunft wieder zu
4 Das, was zerstört oder reduziert wird, ist nicht eröffnen, wobei manchmal neue Formen des
nur eine Person, die tatsächliche Existenz, der Empowerments entstehen.
„way of life“, sondern es sind die Möglichkeiten 4 Im Prozess der Wiederherstellung ändert sich
des Weltbezugs des Menschen; das Trauma das Leben der Person.
de-potenziert die Person. 4 Eine typische, aber nicht immer vorhandene
4 Der Leib („lived body“) im Trauma ist taub, Art, mit einem Trauma umzugehen, beinhaltet,
gelähmt, vermindert, zusammengezogen, Wissen über die feindselige Situation zu
geschrumpft und in Bezug auf die Welt sammeln und sie als ein praktisches Problem
zurückgezogen. aufzufassen, das es zu analysieren und zu
4 Im Vernichten zentraler Intentionalitäten lösen gilt.
und den Beziehungen zur Welt sind trauma- 4 Trauma individualisiert, isoliert, macht einsam
tische Erfahrungen anwesend und tragen – das Individuum wird ausgesondert und von
zu Untergang und Tod bei. Auch wenn das den anderen getrennt.
eigene Leben nicht wortwörtlich bedroht 4 Andere Menschen werden als potenzielle
oder in Gefahr ist, beinhaltet Trauma einen Schädiger und Helfer gefürchtet bzw. es wird
existenziellen Tod, eine Verneinung des Lebens ihnen vertraut, sie werden hinsichtlich ihrer
in der-Welt. Tendenzen geprüft und bewertet, ob sie weiter
traumatisieren oder helfen, die gefährdete,
verringerte Weltbeziehung der betroffenen
6 Anmerkung des Übersetzers: Wissensbehauptungen Person wiederherzustellen.
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
77 6
4 Stigma und Scham (Selbstabwertung) sind 4 Die spirituelle Dimension des Traumas liegt in
intrinsische Möglichkeiten, insofern beinhaltet der Akzeptanz des Leidens und der Fehlbarkeit
Trauma die Verminderung und das Versagen und einer vertieften, lebensbejahenden
der persönlichen Existenz. Trauma birgt die Intentionalität, die als Glauben bezeichnet
Möglichkeit, sich abzuwerten, abzulehnen werden könnten.
und zu verlassen – ein Verlust von Sozial- und
Selbstwertgefühl.
4 Das Offenlegen, das Teilen von Traumata mit Stärken und Schwächen
anderen Menschen ist wichtig, aber riskant. Die Phänomenologie bietet Gesundheitswissen-
Typische Schwankungen reichen von die schaftlerinnen und Gesundheitsprofessionistin-
Wahrheit zu sagen bis hin zu schützend alles zu nen Kerngrundsätze, Verfahren und beschreibende
verbergen und zu täuschen. Begriffe für die Untersuchung der menschlichen
4 Angst und Vertrauen prägen zwischenmensch- Erfahrung, indem sie persönliche Ziele, Bedeutun-
liche Beziehungen, die in der Regel verbessert gen, Werte und Wirkungen im Rahmen ihrer multip-
oder aufgelöst werden, wenn man in anderen len Kontexte, in denen sie stattfinden, reflektiert. Sie
wahre Freunde, Feinde und/oder Gleichgültige eignet sich daher für die interdisziplinäre Forschung
entdeckt. unterschiedlichster Ausrichtungen, einschließlich
4 Bewunderte Qualitäten in unterstützenden der medizinischen, gesundheitswissenschaftlichen,
Anderen sind Miterleben, Wahrhaftigkeit, soziologischen, historischen Forschung und Theo-
Teilen, praktische Hilfe, Weichheit, riebildung. Ihre Flexibilität und die Einsatzmöglich-
Anerkennung und Verständnis von persönlichen keiten sind nahezu unbegrenzt.
Zielen und Ressourcen, Allianz, Sich-Kümmern, Die Erfahrungen von Individuen mit körperli-
Ermutigung und Begleitung in die Zukunft. chen Erkrankungen, Krankheiten, Behinderungen
4 Weinen ist eine Möglichkeit, die Qual und die und Herausforderungen aller Art können aus der
unheimliche Emotionalität auszudrücken, eine Ichperspektive untersucht werden. Dies umfasst
Trauer über die verlorenen Wirklichkeiten und nicht nur die zeitliche (Weiter-)Entwicklung des
Möglichkeiten. Weinen ist gleichzeitig auch leiblichen Lebens, sondern auch die Erfahrungen
ein Ausdruck der Vitalität des Lebens und ein von medizinischen Interventionen und zwischen-
Aufruf an andere um Beachtung und Hilfe. menschlichen Interaktionen mit Gesundheitsdienst-
4 Der Zusammenbruch und das Sich-Ergeben leistern und Gesundheitsprofessionisten. Ebenfalls
sind nicht nur Zeugnisse der Verminderung, von Bedeutung sind Untersuchungen über die Erfah-
sondern sie sind auch notwendige Momente rungen und Einstellungen von Familien, Communi-
der resilienten Erholung, die die Annahme der ty-Mitgliedern und Bezugspersonen im Zusammen-
Zerstörung und des Verlusts erfordern. hang mit Personen, die Gesundheitsdienstleistungen
4 Trauma und Wiederherstellung haben die nutzen.
Bedeutung von Tod und Wiedergeburt. Die Erfahrungen von Fachleuten, Führungskräf-
4 Trauma beinhaltet eine übernatürliche ten und Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen im
Bedeutung in seinen ungewohnten, unheim- Hinblick auf die Patienten und Familien sowie inner-
lichen, numinosen (lat. gestaltlos-göttlich) und halb von Teams und ihren Institutionen bieten eben-
un- oder außerweltlichen Qualitäten. falls eine Vielzahl von Forschungsgegenständen, die
4 Bei einem Trauma steht die Existenz als Ganzes phänomenologisch untersucht werden können. Und
auf dem Spiel, was den traumatischen Horizont schließlich bietet sich die Erweiterung des Radius
weit macht und sich letztlich in der traumati- der phänomenologischen Forschung auf das weite
schen Bedeutung niederschlägt. Gebet, Demut, Feld der Stakeholder innerhalb der Gesundheitsver-
Dankbarkeit, Bitte um Gnade, Heilung und sorgung, einschließlich der Forschenden, der Leh-
Vollendung des Lebens sind Versuche, diesem renden, der Industrie- und Wirtschaftstätigen, der
extremen Geltungsbereich und der Tragweite Versicherer und der Entscheidungsträger an. Diese
gerecht zu werden. Stakeholder können als Schlüsselakteure durch ihre
78 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

Erfahrung und ihr Engagement der phänomenolo- Wann soll die Methode angewendet
gischen Forschung ein ergiebiges Aufforderungs- werden?
feld mit einem reichen Angebotscharakter („fruitful Eine solche Analyse ist immer dann passend, wenn
affordances“) bieten, das im Speziellen dafür geeig- individuelle Entscheidungen und Entscheidungspro-
net ist, deskriptives Wissen mit hoher Wiedergabe- zesse von Menschen erforscht werden sollen. Ob eine
treue über die menschliche Dimension der Existenz Analyse der Daten nach IPA angebracht ist, hängt von
zu generieren. der Fragestellung ab. Die IPA geht davon aus, dass die
Daten etwas über das Eingebundensein einer Person
Zusammenfassung in ihre Umwelt und/oder über die Bedeutung, die
Die Phänomenologie ermöglicht es Gesundheits- die Personen dem Erlebten beimessen, sagen. Das
wissenschaftern und Gesundheitsprofessionisten, bedeutet, dass die persönliche Bedeutung und das
menschliche Erfahrung in Bezug auf die persönli- Verständnis dieser in einer für den Menschen indi-
chen Ziele, Bedeutungen, Werte in multiplen Kon- viduellen Umwelt im Zentrum des Interesses der IPA
6 texten zu reflektieren. Sie ist in ihrer Flexibilität und stehen. Die IPA gibt die Möglichkeit, in einzelnen
ihren Einsatzmöglichkeiten nahezu unbegrenzt Fällen die Komplexität von Erfahrungen darzustellen.
und eignet sich für interdisziplinäre Forschung mit
unterschiedlichsten Fragestellungen, dazu gehören
medizinische, gesundheitswissenschaftliche, sozio- Themenstellungen
logische, wirtschaftliche, historische Forschung und 4 Entscheidungsfindung für oder gegen
die entsprechende Theoriebildung in Bezug auf die bestimmte medizinische und/oder therapeu-
menschliche Gesundheit. tische Behandlungen (Borg Xuereb et al. 2015)
4 Entscheidungsfindung für oder gegen Aktivi-
täten im täglichen Leben, unter Berücksich-
6.3.2 Interpretative tigung von gesundheitlichen Beschwerden, wie
phänomenologische Analyse zum Beispiel chronischen Schmerzen (Schmidt
et al. 2015)
Valentin Ritschl, Tanja Stamm 4 Einfluss auf Entscheidungsfindungen
durch Veränderungen im Alltag/Leben von
Menschen, wie zum Beispiel die veränderte
Definition Sichtweise von Patientinnen ihre Essstörung
betreffend durch den Eintritt einer Schwanger-
Die interpretative phänomenologische schaft (Taborelli et al. 2015)
Analyse (IPA) wurde vom Psychologen 4 Entscheidungsfindungen verstehen und unter-
Jonathan A. Smith (1996) entwickelt. Die IPA stützen, beispielsweise wenn Entscheidungen von
ist ein qualitativer Forschungsansatz mit einer Eltern in Bezug auf das Ende des Lebens ihres
ideographischen Ausrichtung (Fokussierung Kindes getroffen werden müssen (Popejoy 2015)
auf einzigartige/einzelne Personen). Der
Ursprung der Methode findet sich in der Wie unterscheidet sich der Ansatz der IPA nun von
psychologischen, phänomenologischen anderen qualitativen Ansätzen?
Forschung. Es werden phänomenologische
und hermeneutische Ansätze kombiniert. Beispiel
Ziel der IPA ist es, die Bedeutung einzelner Unterschied zwischen IPA, Phänomenologie und
Erfahrungen im Leben einzelner Personen zu „grounded theory“ am Beispielthema „Krankheit“
beschreiben und zu verstehen. Wichtig hierbei (Smith et al. 2013):
ist, dass die Erfahrung für die Person von 4 IPA: Wie erleben Menschen Krankheit? Welchen
Bedeutung sein muss. Dieser Ansatz findet vor Sinn verbinden Menschen mit Krankheit und
allem in den Sozial- und Gesundheitswissen- Gesundheit? Wie können Wertvorstellungen
schaften Anwendung (Smith et al. 2013). genutzt werden, um das Selbstmanagement
bei Krankheiten anzuregen? – Fokussierung auf
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
79 6
Entscheidungen, persönliche Bedeutung und weiterzuversenden – häufig über Probanden und
Sinnhaftigkeit in einer einzigartigen Situation. Probandinnen; DePoy u. Gitlin 2005) kontaktiert.
4 Phänomenologie: Was sind die wichtigsten Das Ziel ist hier eine bezüglich des zu beforschen-
Merkmale des Krankheitsbegriffs in den Parameters (Merkmal einer Gruppe) sehr homo-
verschiedenen Kulturen? – Fokussierung auf eine gene Gruppe zu erreichen.
allgemeine Struktur des Krankheitsbegriffs. Bezogen auf die Größe der Stichprobe gibt es
4 „Grounded theory“: Welche Faktoren in der IPA keine klaren Vorgaben. Die Größe dif-
beeinflussen die Art und Weise eines Menschen, feriert aufgrund der Reichhaltigkeit der Erfahrung
mit Krankheit umzugehen? – Fokussierung sowie der organisatorischen Grenzen der Durchfüh-
liegt hier auf der Entwicklung einer erklärenden rung. Prinzipiell sind kleine Stichproben für die IPA
Theorie. günstig (Smith et al. 2013). Smith (2004) empfiehlt
für Masterarbeiten beispielsweise maximal 3 Perso-
nen. Dies erscheint eine günstige Größe, um sowohl
Welche Schritte müssen eingehalten einzelne Fälle in der Detailliertheit zu bearbeiten als
werden? auch um Vergleiche zwischen den Probandinnen
und Probanden zu erheben.
z z Fragestellungen
In der IPA werden Antworten auf Fragestellungen z z Datensammlung
gesucht, die auf persönlich bedeutende Erfahrun- Bei der Datensammlung sollen die Personen einge-
gen von Menschen und/oder das Verständnis dieses laden werden, viel und detailreich über ihre Erfah-
speziellen Phänomens abzielen. Die Orientierung rungen zu berichten. Um dies zu erreichen, eignen
der Forschung bezogen auf das Untersuchungsinte- sich vor allem Tiefeninterviews (7 Abschn. 6.3.8).
resse sollte daher sehr offen und prozessorientiert Auch Tagebücher können eine mögliche Ressource
sein (Smith et al. 2013). Beispiele von Fragestellun- sein. Dies schließt Fokusgruppen oder auch teilneh-
gen aus anderen Studien sind: mende Beobachtungen nicht aus, sie werden aber in
4 Wie erlebt ein Mensch mit einer komplexen der Regel nur unter besonderen Umständen gewählt.
psychischen Erkrankung beim Malen und bei
anderen selbstgewählten kreativen Tätigkeiten z z Datenanalyse
den „flow“ und welche Bedeutung hat dieser Die IPA sieht vor, dass zuerst ein Fall im Detail ana-
für ihn in seinem Alltag? (Mietz 2011) lysiert werden soll, bevor zu einem nächsten über-
4 Warum entscheiden sich Menschen mit einem gegangen wird. Smith et al. (2013) gibt Schritte
schmerzhaften Gelenkhypermobilitätssyndrom der Analyse vor, die unterstützend sein können –
für oder gegen Tätigkeiten im Alltag, von denen der Prozess der Analyse soll als flexibel verstanden
erwartet wird, dass dadurch die Schmerzen werden und kann, wenn es in der Analyse erscheint
und/oder das Luxationsrisiko erhöht werden? sinnvoll, abgewandelt werden. Der Datenanalysepro-
(Schmidt et al. 2015) zess wird in folgende 6 Schritte unterteilt:
4 Welche Erfahrungen machen Eltern während
des Entscheidungsprozesses bezogen auf die 1. Schritt
Sterbebegleitung ihrer Kinder? (Popejoy 2015) Lesen und wiederholtes Lesen: Um den Prozess der
Analyse zu starten sollte das Transkript wiederholt
z z Teilnehmer gelesen werden (eventuell auch parallel zum Hören
Da sich der Forscher und die Forscherin im Sinne der Aufnahme). Dies ermöglicht eine aktive Ausein-
der IPA für spezielle Erfahrungen von einzelnen andersetzung mit den Daten und ein Eintreten in die
Menschen interessiert, muss die Stichprobe gezielt Lebenswelt des Teilnehmers oder der Teilnehmerin.
ausgesucht werden. Meist werden Menschen auf-
grund von Empfehlungen durch andere Personen, 2. Schritt
durch persönliche Kontakte oder den Schneeball- Anfängliches Notieren: Während des Lesens des
effekt (durch das Versenden einer Einladung mit Transkriptes wird alles, was interessant erscheint,
der Bitte, diese an potenzielle andere Menschen notiert. Dieser Schritt garantiert ein immer größeres
80 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

sich die IPA unter anderem der Abstraktion (Grup-


. Tab. 6.1 Möglicher Aufbau einer Analysetabelle
pieren von Ähnlichem unter einer übergeordneten
Transkript Inhaltliche Sprach- Interpre- Bezeichnung), der Subsumption (Zusammenbringen
Notizen bezogene tierende von verwandten Themen), der Polarisation (Unter-
Notizen Notizen schiede/Gegensätzlichkeiten herausarbeiten), der
Kontextualisierung (zeitliche und kulturelle Zusam-
menhänge zwischen Themen), der Nummerierung
(Häufigkeit auftauchender Themen) und der Funk-
tion (Themen werden aufgrund ihrer spezifischen
Funktion innerhalb des Transkripts untersucht). Bei-
Vertrautwerden mit dem Material. Notizen werden spielsweise kann das Thema „öfter Kontakt mit den
gleich beim ersten Lesen des Transkripts gemacht, Nachbarn“ aus unserem Beispiel mit dem Thema „in
und bei jedem weiteren Durchgang können sie erwei- der Gemeinschaft integriert sein“ verknüpft werden.
6 tert werden. Es werden dabei zwischen deskripti-
ven (den Inhalt beschreibenden), sprachlichen (die 5. Schritt
Sprache im Verlauf beschreibenden) und konzep- Nach der Analyse des ersten Interviews wird (sofern
tionellen (den Inhalt bezogen auf die Fragestellung Daten von mehreren Personen vorliegen) der bisher
hinterfragenden/interpretierenden) Kommentaren beschriebene Prozess ein weiteres Mal für die wei-
unterschieden. teren Personen durchgeführt. Wichtig ist hier, dass
jedes Interview für sich selbst analysiert wird, damit
> Günstig ist es, wenn das Transkript in eine der Idiographie Rechnung getragen wird.
Tabelle kopiert wird und Spalten für die
Notizen erstellt werden (. Tab. 6.1). 6. Schritt
Nachdem alle Fälle analysiert worden sind, werden
3. Schritt die Fälle miteinander verglichen. Es wird nach
Entwicklung auftauchender Themen: Nachdem nun Verbindungen zwischen den Fällen gesucht, und
der oder die Forschende mit den Daten vertraut ist Themen werden nach ihrer Wichtigkeit gereiht
und bereits Informationen notiert hat, soll nun durch (Smith et al. 2013).
das Reduzieren von Details (z. B. Wiederholungen)
Themen herausentwickelt werden. Hierzu sollen Beispiel
Wechselbeziehungen, Verbindungen und Muster Das Ziel der Studie von Popejoy (2015) war es, die
anhand der zuvor gemachten Notizen herausgearbei- Entscheidungen zu verstehen, die Eltern zur Ster-
tet werden. Ein Beispiel für redundante Themen sind: bebegleitung ihres Kindes treffen müssen. Hierfür
„Die Nachbarn kommen immer wieder auf Besuch“ wurden halbstrukturierte Interviews mit 3 Müttern
und „Die Nachbarn schauen öfter über den Garten- durchgeführt und mithilfe der IPA analysiert. Zwei
zaun und dann entwickeln sich schöne Gespräche“. übergreifende Themen konnten identifiziert wer-
Diese Themen können reduziert werden auf „öfter den – einerseits die Entscheidungsfindung selbst,
Kontakt mit den Nachbarn“. andererseits deren Umsetzung. Insgesamt war den
Müttern die Bedeutung der Sterbebegleitung für
4. Schritt ihre Kinder klar, doch Entscheidungsfindungen
Nach Verbindungen zwischen den auftauchenden stellten einen herausfordernden Prozess dar. Als
Themen suchen: Die entstandenen Themen sind Barriere konnten beispielsweise Schwierigkeiten
chronologisch im Interview gereiht, also in der Rei- beim Verbalisieren der Entscheidungen, als förder-
henfolge, wie sie im Interview vorgekommen sind. licher Faktor die Abnahme von Teilentscheidungen
Die Themen sollen nun so umgeordnet und in Ver- durch Angehörige von Gesundheitsberufen gefun-
bindung gebracht werden, dass es für die Forschen- den werden. Die Wertvorstellungen der Eltern müs-
den entsprechend der Forschungsfrage als sinnvoll sen in der Anfangsphase des Entscheidungsprozes-
und zusammenhängend erscheint. Hierfür bedient ses aufgezeigt und berücksichtig werden.
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
81 6
Stärken und Schwächen
bezieht sich auf die Herkunft der Theorie,
z z Stärken sie wurzelt gewissermaßen direkt in den
4 Studienteilnehmende haben die Möglichkeit, Daten. Theoretische Konzepte, Konstrukte
ihre individuellen Erfahrungen zu beschreiben und Hypothesen entstehen im Rahmen der
(Cronin-Davis et al. 2009, Pringle et al. Erhebung und werden einer Prüfung auf
2011), und diese werden in der Analyse Richtigkeit unterzogen (vgl. Mayring 2002).
berücksichtigt. Erhebung und Auswertung werden nicht als
4 Es gibt ein „Manual“ mit einer genauen streng getrennt betrachtet, sondern können
Beschreibung zur Durchführung der IPA einander überschneiden.
(Smith u. Dunworth 2003, Smith 1999).

z z Schwächen Wann soll die Methode angewendet


4 Die Interviewdurchführung braucht eine werden?
ausführliche Vorbereitung, damit das Interview Obwohl die „grounded theory“ traditionell aus der
dann auch die nötige Tiefe erreicht. Soziologie und damit verbunden aus der Feldfor-
4 Eine tiefgründige Analyse benötigt viel Zeit, schung und teilnehmenden Beobachtung kommt,
was gegen die Nutzung für eine Bachelorarbeit gibt es mittlerweile eine große Bandbreite unter-
sprechen kann. schiedlicher Anwendungsgebiete und (Gesund-
4 Eine „Sättigung der Daten“ kann nicht erreicht heits-)Disziplinen, die sich ihrer bedienen. Unter
werden, da jeder Mensch individuelle und Daten kann in der „grounded theory“ vieles verstan-
andere Erfahrungen einbringt, somit kann kein den werden, neben der traditionellen Feldforschung
Endpunkt definiert werden (Smith et al. 2013). können dies auch Interviews, Beobachtungen,
schriftliche Quellen oder jede Form von menschli-
Zusammenfassung cher Kommunikation bzw. Kulturproduktion (Bilder,
Die IPA stellt eine wertvolle Methode dar, um per- Texte, Videos, geographisches Material/Google Earth
sönliche Bedeutung und das Verständnis von Erfah- etc.) sein (Glaser u. Strauss 1967/1999, Friese 2014).
rungen zu erfassen. Die tiefe Auseinandersetzung
mit den Probanden und Probandinnen erfordert
Erfahrung in der Interviewdurchführung und der Themenstellungen
Interviewanalyse. Nur so sind gute Daten zu erhalten. Das Ziel von „grounded theory“ ist es, über die Induk-
tion eine Theorie zu entwickeln, die Beobachtungen
erklären kann (Depoy u. Gitlin 2011). Die Groun-
6.3.3 „Grounded theory“ ded-theory-Methode kann sowohl genutzt werden,
um eine Theorie zu generieren als auch bestehende
Roman Weigl Theorien zu modifizieren. Mayring (2002) sieht die
„grounded theory“ eher für explorative Untersu-
chungen geeignet, Glaser und Strauss (1967) jedoch
Definition
betonen dass sie auch geeignet ist, bestehende Theo-
Die „grounded theory“ (Glaser u. Strauss rien zu testen, aus denen die Codes vorab abgeleitet
1967, 1999) und deren unterschiedliche werden. Um die Unterschiede zwischen „grounded
Weiterentwicklungen durch Glaser (1978), theory“ und der Inhaltsanalyse (7 Abschn. 6.3.6) zu
Strauss und Corbin (1990) und Charmaz (2006) vertiefen, ist hier auf Cho und Lee (2014) verwiesen.
stellt eine induktive Forschungsmethode Im Gegensatz zu Glaser und Strauss widersprach
dar, deren Ziel es ist, eine (formale) Theorie Charmaz (2006) mit ihrer „constructivistic grounded
aus den im Forschungsprozess gewonnen theory“ dem Konzept der Entdeckung von zugrunde
Daten heraus zu generieren. „Grounded" liegenden Daten und Theorien: „Neither the data
nor the theories are discovered.“ (S. 10) Vielmehr
82 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

argumentierte Charmaz, dass es sich bei den gewon- > Das zentrale Element der „grounded theory“
nenen „grounded theories“ um eine Interpretation im ist das Memo, der Merkzettel.
Sinne des Konstruktivismus handelt, basierend auf den
individuellen Vorerfahrungen von Studienteilneh- Als Memo wird die Verschriftlichung von interessan-
mern und Forschenden entsteht eine „shared reality“. ten Ideen, Beobachtungen und Gedanken in Bezug
auf das Forschungsprojekt verstanden (Strauss u.
Corbin 1991, S. 197). Neben den Ideen und Beobach-
Welche Schritte müssen eingehalten tungen werden in Memos auch immer der Kontext
werden? und der Zeitpunkt des Entstehens festgehalten.
Glaser und Strauss (1967/1999) argumentierten Memos können entweder direkten Bezug zum Daten-
stets, dass in der soziologischen Feldforschung das material haben oder für sich stehende Gedanken und
von Popper formulierte Ideal des Kritischen Ratio- Ideen beinhalten. Wichtig ist, immer klar zwischen
nalismus (7 Kap. 2) der Überprüfung vorher aus der Datenmaterial und Analyse zu trennen (Friese 2009).
6 Deduktion generierten Hypothesen als einzig wahre Memos können zu einem späteren Zeitpunkt auch
Wissenschaft nicht zu halten ist. Forscher machen als Puzzlestücke dienen, um die Theoriebildung zu
sich bereits während der Datensammlung Gedan- komplettieren (Friese 2014, S. 251).
ken über die zugrunde liegenden Mechanismen Im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung
und lassen diese auch einfließen. Ziel von Glaser dienten Memos immer der spontanen Niederschrift
und Strauss war es daher, diesen Prozess des wissen- von Ideen (Glaser 1978: „stop and memo“) im Sinne
schaftlichen Arbeitens nicht zu verhindern, sondern eines Forschungstagebuchs (7 Abschn. 6.5.2). Im
möglichst transparent abzubilden und nachverfolg- Rahmen von Interviews oder Ähnlichem muss aber
bar zu machen. im Gegensatz zur teilnehmenden Beobachtung, bei
Im Detail umfasst das Forschen im Rahmen der der das Memo im Moment erfolgen kann, dazu über-
„grounded theory“ folgende Arbeitsschritte: gegangen werden, diese Notizen zum Beispiel im
4 Datenerhebung und etwaige Transkription Anschluss eines Gesprächs zu machen. Ein Beispiel-
4 Schreiben von Memos, d. h. das Festhalten von memo, dass mithilfe der Software ATLAS.ti erstellt
Ideen, Notizen, Kommentaren, insbesondere wurde, ist in . Abb. 6.1 zu sehen.
zum jeweiligen Stand der Codierung – anhand Prägendes Merkmal der „grounded theory“
der Memos soll im Verlauf der Forschung ist das permanente Vergleichen bzw. das paral-
letztlich die Theorie entwickelt werden lele Durchführen des Sammelns, Codierens und
4 Codieren, d. h. die Bildung von Kategorien und Analysierens der Daten. Im Englischen „constant
die Zuordnung von Daten (Indikatoren) zu comparison“ genannt, wird in einem abwechselnd
diesen („rooted within the data“) bzw. gleichzeitig durchgeführten Prozess immer
4 Kontrastieren („constant comparison“, perma- wieder zwischen Datenanalyse und Datensamm-
nenter, wiederkehrender Vergleich) von Fällen lung gewechselt, die sich durch diesen Prozess auch
zum Zweck der Überprüfung der Reichweite der gegenseitig beeinflussen. Das Ziel des Prozesses liegt
bislang entwickelten Kategorien, d. h. ein itera- im Erfassen von verborgenen Bedeutungen inner-
tiver Prozess, der die generierte Theorie und halb der Daten.
Analyse (Codierung) miteinander vergleicht Mit dem Grounded-theory-Ansatz sind vor-
4 „theoretical sampling“, d. h. die Fallauswahl wiegend 3 verschiedene Arten von Codierungen7
gemäß dem jeweiligen Stand der Datenaus- (Strauss u. Corbin 1990) verbunden:
wertung und der daraus entstandenen Ideen,
Konzepte und Fragen, auch mit dem Ziel, 7 Sowohl Glaser (2004) als auch Charmaz (2006) haben zum
neue Vergleichsfälle zu generieren, bei Bedarf axialen und selektiven Codieren eine eher ablehnende
neuerliche Datenerhebung bis zum Erreichen Haltung, da diese als zu strukturierend oder nicht ziel-
führend empfunden werden. Beispielsweise überspringt
von Sättigung
Glaser (1978) den Schritt des axialen Codierens und
4 Schlussendlich ist nach erreichter Sättigung definiert gleich „theoretical codes“, die die Beziehung zwi-
die Bildung einer „grounded theory“ schen den Codes für die Bildung einer Theoriehypothese
abgeschlossen. beschreiben.
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
83 6

. Abb. 6.1 Screenshot eines Memos aus der Software ATLAS.ti

4 Offenes Codieren („open coding“) wie von Bestätigung suchen“ als zentraler Code heraus-
Strauss und Corbin (1990) beschrieben: stellen, der mit dem Code „Persönlichkeitsfak-
Initiale Grundbestandteile des Codes ist eine toren“ in Beziehung steht. Diese Zusammen-
Benennung und eine Definition des Codes. hänge lassen sich grafisch gut mittels „concept
Um die Bedeutung eines Codes zu verdeut- maps“ darstellen (s. unten).
lichen, hat es sich bewährt, die besten Beispiele
aus dem Datenmaterial zur Verdeutlichung In der „grounded theory“ ist das Sampling eng mit
anzuführen. Um die Nähe zum Forschungs- der Datenanalyse verknüpft, Glaser und Strauss
gegenstand zu bewahren, werden, sofern (1967/1999) prägten hier den Begriff des theoreti-
es möglich ist, sogenannte In-vivo-Codes schen Samplings („theoretical sampling“). Kriterium
verwendet (Glaser 1978, Strauss 1987), d. h. die für die Sample-Auswahl ist nicht wie in der quantita-
Codenamen werden direkt aus dem Datenma- tiven Forschung die Repräsentativität (7 Abschn. 7.4),
terial in der Sprache der Studienteilnehmenden sondern Fälle werden bezüglich ihres Erkenntnisge-
entnommen. Strauss (1987, S. 30) versteht winns ausgewählt. Ziel der theoretischen Stichpro-
darunter „terms used by the people who are benbildung ist immer die Sättigung („saturation“),
being studied“. d. h. es ist ab einem Punkt nicht mehr davon auszu-
4 Axiales Codieren: Ziel des axialen Codierens gehen, noch an neue Erkenntnisse zu gelangen.
ist die Identifikation von Kernkonzepten
innerhalb der Studie. Zum Beispiel können > In der „grounded theory“ werden Sampling
verschiedene offene Codes wie „sofortiges und Datenanalyse nicht getrennt, sondern
Feedback einfordern“ oder „möchte motiviert bilden einen iterativen Prozess. Die
werden“ zu einem gemeinsamen Code Forscherin nutzt beispielsweise Erkenntnisse
„externale Bestätigung suchen“ zusammen- aus der Analyse (z. B. die ersten „open
gefasst werden. codes“), um ein neues Sample (Personen,
4 Selektives Codieren sucht nach den zentralen Orte etc.) aufzusuchen und seine bisherige
Codes innerhalb der Studie, die Codes mit Theorie auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.
denen andere Codes in Beziehung stehen. Dieser Prozess wird auch „purposeful
Zum Beispiel kann sich der Code „externale sampling“ genannt (Emmel 2013).
84 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

ti (http://atlasti.com), um Beziehungen zwischen


. Tab. 6.2 Gegenüberstellung von Codieren und
Sampling Codes grafisch aufzubereiten, die Beziehung durch
Symbole genauer zu definieren (z. B. Schmerz ver-
Coding Sampling-Pro- Ziel ringert Bewegungsausmaß) und eine hyperlinkar-
zedur tige Verankerung der Codes in den Transkripten und
Materialien zu ermöglichen.
„Open Sampling in Aufdecken
coding“ „Open Coding“ von so vielen
Kategorien wie
möglich Beispiel für die Theoriebildung anhand
Axiales Relationales und Weitere Ver- von „concept mapping“
Codieren variierendes tiefung und Das Forschungsprojekt „The work and leisure defini-
Sampling Suchen nach tion of male freelancers working from home“ (Weigl
Abweichungen
2005) beschäftigte sich mit dem Erforschen von Frei-
6 Selektives Diskriminieren- „Testen“: Über- zeit und Arbeitsdefinitionen von Menschen, die nicht
Codieren des Sampling prüfung der mehr den traditionellen räumlichen Wechsel zwi-
Theoriebildung
(Kategorien und
schen Arbeitsplatz und Wohnungsbereich erleben.
deren Bezie- Als zentrales Thema wurde die Exploration der in
hung mitein- vielen ergotherapeutischen Modellen verwende-
ander) ten Begriffe von Produktivität/Arbeit und Freizeit
gewählt (z. B. Chapparo u. Ranka 1997, Townsend
u. Polatajko 2013), basierend auf einer kritischen
Strauss und Corbin (1990) schlagen 3 Stufen des Auseinandersetzung mit dem Begriff der „occupa-
theoretischen Samplings für qualitative Forschung tional balance“ innerhalb der „occupational science“
vor, die sich auch entsprechenden Stufen des Codie- (Backman 2010). Die Studie untersuchte mithilfe der
rungsprozesses zuordnen lassen. Ziel der ersten Grounded-theory-Methode, welchen Einfluss das
Stufe ist es, eine Vielzahl von Informationen ver- Verschwinden von räumlichen Veränderungen auf
schiedener Menschen zu sammeln – entsprechend diese Begriffe und das Verständnis der Teilnehme-
dem „open coding“. Die zweite Stufe konzentriert rin im Alltag hat. Im Folgenden soll eine beispiel-
sich oft mehr auf bestimmte Gruppen von Men- hafte Theoriebildung für die Beziehung zwischen
schen, die gemeinsame Merkmale verbinden, ent- den beiden Handlungs-/Betätigungsperformanzen
sprechend dem axialen Codieren. Die dritte Stufe Arbeit und Freizeit beschrieben werden (. Abb. 6.2).
der theoretischen Stichprobenbildung beinhaltet das Die Teilnehmer der Studie berichteten von einer
Testen der vorher getätigten Annahmen, dies kann Möglichkeit der Beziehung zwischen Arbeit und
dem selektiven Codieren zugeordnet werden. Eine Freizeit, indem sie den Wechsel von einer Tätigkeit
Gegenüberstellung von Codieren und Sampling ist zur anderen beschrieben. Dies wurde meistens durch
in . Tab. 6.2 zu sehen. eine externe Anforderung ausgelöst. Als Code wurde
Ziel der „grounded theory“ ist eine Theoriebil- die Bezeichnung „separating“ (trennen) gewählt,
dung, die aus den Daten entsteht und in diesen veran- dies bezeichnete einen eindeutigen Wechsel zwi-
kert ist. Als Bestandteile der Konzepte dienen die im schen Arbeits- und Freizeitbetätigungen. Hier ein
Forschungsprozess formulierten Codes. Im Rahmen repräsentatives Beispiele aus einem Interview mit
des „concept mapping“ werden die Codes in Kate- einem Teilnehmer8:
gorien gruppiert und die Konzepte miteinander in
Beziehung gesetzt. „Concept mapping“ nimmt Bezug Beispiel
auf die grafische Darstellung einer Theorie, in der „Ich schalte vom Fleck weg um, wenn mich jemand
Konzepte miteinander in Beziehung gesetzt werden, von einer anderen Betriebswelt anruft (…) das ist
um durch die Visualisierung beim Formulieren einer halt meine Stärke. Da fühle ich mich wohl damit.
Theorie zu unterstützen (vgl. Babbie 2010, S. 405)
Für die Theoriebildung eignen sich spezielle
Softwareprogramme, wie zum Beispiel ATLAS. 8 Wortwörtliche Transkription
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
85 6
man in seiner Freizeit angefangen hat und tut, das
Separating_ zwischen Arbeits- und Freizeittätigkeiten ist zwischen drinnen auch Arbeit. Aber wenn man
wechseln
dann zum Schluss dann draufschaut, und es passt
Freizeittätigkeit Freizeittätigkeit dann wieder, dann ist das dazwischen verklärt. Da
sind dann die Freizeittätigkeiten Arbeiten … die
man mit einer gewissen Erwartungen angeht, dann
Produktivitätstätigkeit
Externe Faktoren diese Erwartung zwischen drinnen nicht ganz so er-
füllt sind.“

Blurring_ zwischen Arbeit und Freizeitempfindung


innerhalb derselben Tätigkeiten wechseln
Stärken und Schwächen
Freizeit wird zu Arbeit und wieder zu Freizeit Die „grounded theory“ ermöglicht es, innerhalb des
Forschungsprojekts sehr offen und unvoreingenom-
men auf einen Themenbereich zuzugehen und trotz-
Externe Faktoren dem im Verlauf des Forschungsprozesses immer
Interne Faktoren spezifischer im Sinne einer Theoriebildung vorzu-
gehen. Für diese Vorgehensweise bedarf es allerdings
. Abb. 6.2 Beispiel einer Theoriebildung mithilfe der erheblicher zeitlicher Ressourcen, um den gesamten
„grounded theory“ Prozess der theoretischen Samplings zu absolvieren
und damit das Ziel der Datensättigung zu erlangen.
Eine Möglichkeit stellt die Reduktion auf spezifi-
(…) dann macht es auch einen Spaß. Ich bin auch sche Subgruppen/-populationen im Rahmen von
nach wie vor 1–2 Tage in der Woche für den Haus- zeitlich stark limitierten Projekten wie Masterthe-
halt zuständig, für das Kochen und so [Tätigkei- sen oder Ähnliches dar. Zur Methode der „groun-
ten]. Es gibt auch oft schnelle Küche, aber auch die ded theory“ gibt es im Vergleich zu anderen qualita-
schnelle Küche braucht a bissl eine Zeit. Ich habe tiven Ansätzen eine Vielzahl von Publikationen aus
da kein Problem, wenn mich da einer anruft dabei den unterschiedlichsten Anwendungsbereichen, die
[ein Geschäftspartner], dann wird halt geschwind den erstmalig wissenschaftlich tätigen Studierenden
unterbrochen. Die Kinder, für die ist das auch kein den Einstieg in die Materie erleichtern. Als nach-
Problem mehr, die sind auch schon groß. Das fließt teilig sei erwähnt, dass die später unterschiedlichen
so ineinander über, diese Tätigkeiten.” Auffassungen von Glaser und Strauss über die Aus-
richtung der Methode (Kelle 2005) und zusätzli-
Eine zweite Variante der Beziehung zwischen Arbeit che Spezialisierung anderer Autoren, wie beispiels-
und Freizeit stellt das nächste Beispiel dar. Aufgrund weise die konstruktivistische „grounded theory“
externaler Faktoren (im Beispiel die Hitze) und inter- nach Charmaz (2014), oftmals auch zu Verwirrung
naler Faktoren (Beispiel Schmerzen) kommt es zu führen können. Evans (2013) spricht hier pointiert
einer Veränderung der Klassifikation der gleichen vom „maze of grounded theory“.
Tätigkeit, für die Art von Beziehung wurde der In-
vivo-Code „blurring“ im Sinne von Verschwimmen Zusammenfassung
der Definition verwendet. Die „grounded theory“ eignet durch ihren offe-
nen und unvoreingenommenen Zugang zum For-
Beispiel schungsgegenstand vor allem dazu, Themen zu ex-
„Wo es ja auch umschlagen kann (…) was gibt es plorieren, zu denen noch wenig Wissen vorhanden
Netteres, als ein Gemüsebeet anlegen und das al- ist. Obwohl aus der Feldforschung entstanden, wer-
les machen. Aber wenn man dann erst die Hälfte den die „grounded theory“ und ihre Methoden der
umgestochen hat, und die Sonne brennt herunter, Datensammlung und -analyse mittlerweile in vielen
und der Rücken sticht ein bisschen, da ist das, was unterschiedlichen Forschungssettings angewandt.
86 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

Software zur Unterstützung der und für eine weitergehende Analyse fruchtbar zu
Grounded-theory-Analyse – Computer- machen.
Assisted Qualitative Data Analysis
Software (CAQDAS)
4 ATLAS.ti: http://atlasti.com/free-trial-version/ Themenstellungen
4 Coding Analysis Toolkit (CAT): http://cat.ucsur. Das Wort Ethnographie setzt sich aus den grie-
pitt.edu chischen Wörtern éthnos für Volk oder Gruppe
4 HyperRESEARCH: www.researchware.com und graphein für Beschreibung zusammen. Die
4 MAXQDA: www.maxqda.com Ethnographie definierte sich lange Zeit über ihre
4 NVIVO: www.qsrinternational.com geographisch oder sozial möglichst „exotischen“
4 QDA Miner Lite: http://provalisresearch.com/ Forschungsfelder von fernen Dorfgemeinschaften
products/qualitative-data-analysis-software/ Papua-Neuguineas und anderen Enden der Welt
freeware oder über Bewohner von Armenhäusern nord-
6 4 Qualrus: www.qualrus.com amerikanischer Städte (Schmidt-Lauber 2007). Das
4 Transana: www.transana.org Soziale und Kulturelle ist überall, weshalb das eth-
nographische Selbstverständnis mittlerweile stärker
auf den Forschungsmethoden als auf dem jeweiligen
6.3.4 Ethnographie Forschungsfeld basiert. Diese könnten in der Zwi-
schenzeit vielgestaltiger nicht sein. Ethnographien
Julie S. Mewes medizinisch-therapeutischer Praktiken untersuchen
beispielsweise die Bedeutung von Gesundheit und
Definition Krankheit, subjektive Erfahrungen von und Bedeu-
Die Ethnographie ist mit der teilnehmenden tungszuschreibungen zu Krankheit und Leiden und
Beobachtung und weiteren Methoden kulturelle, institutionelle sowie soziale Beziehungs-
der Feldforschung eine zentrale Sammlung verflechtungen innerhalb pluraler medizinisch-
qualitativ-empirischer Datenerhebungs- therapeutischer Behandlungssysteme (vgl. Bruna
methoden zur Erforschung sozialer 2009). Als Beispielethnographien über medizinisch-
Lebenswelten. Zugleich wird das Ergebnis der therapeutische Versorgungsysteme seien die Mono-
Forschung, der im Anschluss entstehende graphien von Goffman (1973), Estroff (1981), Mat-
Text, als Ethnographie bezeichnet tingly (1998), Townsend (1998), Mol (2008) sowie
(Schmidt-Lauber 2007). der Sammelband von Mol, Moser und Pols (2010)
genannt.

Wann soll die Methode angewendet Welche Schritte müssen eingehalten


werden? werden?
Die Ethnographie dient der „empirische[n] Erfor- Grob vereinfacht lässt sich die ethnographische
schung sozialer Lebenswelten, sozialer Praktiken und Feldforschung in 5 Phasen unterteilen(vgl. z. B.
institutioneller Verfahren. Sie richtet ihr Augenmerk Schmidt-Lauber 2007, S. 227–238, Emerson et al.
auf die Welt, die man in einem Feld antrifft: ihre sozia- 1995, Hammersley u. Atkinson 1995):
len Praktiken, Artefakte, Mythen und andere Formen 1. Die Konzeptions- und Planungsphase dient
des Glaubens. Im Zentrum dieser Forschung steht der Formulierung der Fragestellungen, des
die teilnehmende Beobachtung.“ (Breidenstein et al. Erkenntnisziels sowie Überlegungen zum
2013) Die Anwendungsgebiete ethnographischer geeigneten Ort, Zeitraum und zur Methoden-
Methoden sind heute inter- und multidisziplinär, auswahl im Rahmen eines Forschungsplans.
da sie besonders gut dafür geeignet sind, neue Pers- 2. Die Phase der Feldforschung wird zur Daten-
pektiven auf die (eigenen) Arbeitsalltage zu erhalten erhebung genutzt, zum Beispiel für Feldnotizen
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
87 6
und Beobachtungsprotokolle sowie ethnogra- was als Alltagsfähigkeit gilt und wie diese (wieder-)
phische Interviews. erlernt werden soll. Im Folgenden handelt es sich
3. Die Dokumentation erfolgt meist durch um einen Auszug einer verdichteten Feldnotiz in der
das Führen eines Feldtagebuchs sowie der Ergotherapie einer allgemeinpsychiatrischen Station
Transkription von Interviewdaten. Hierbei eines Kreiskrankenhauses.
wird auf eine möglichst deskriptive, nicht
deutende Beschreibungsart geachtet. Beispiel
4. Erst im nächsten Schritt folgt die Analyse Herr Mommsen und Herr Schubert haben sich in
der erhobenen Daten. Dabei werden unter- der einleitenden Besprechung darüber, was die
schiedliche Verfahren wie die systematische einzelnen Patienten während der eineinhalbstün-
Verschlagwortung, die Netzwerkanalyse oder digen Therapieeinheit tun wollen, auf ein gemein-
die Inhalts- oder Diskursanalyse bei Inter- sames Kartenspiel geeinigt. Herr Schubert greift
viewdaten verwendet. nach dem noch originalverpackten Kartenspiel,
5. Zum Abschluss werden die Ergebnisse entfernt vorsichtig die Folie und zieht die Spielan-
verschriftlicht. leitung aus der Packung. In den nächsten Minuten
beschäftigt er sich eingehend mit der Anleitung.
Die Ethnographie ist eine prozessuale Methoden- Ich wundere mich, da ich bisher davon ausgegan-
sammlung, d. h. die ersten 4 Phasen folgen nicht gen bin, dass das Kartenspiel so weit verbreitet ist,
linear aufeinander, sondern werden zirkulär immer dass der Spielablauf allgemein bekannt ist. Sein
wieder durchgeführt, um ein immer komplexe- Blick ist dabei starr und ohne erkennbare Lese-
res Verständnis und eine vielschichtige Beschrei- bewegungen der Augen auf die Gebrauchsanwei-
bung des Forschungsgegenstands zu erzielen (vgl. sung gerichtet.
Spradley 1980, S. 29). Als wesentliches Erkennt- Der Ergotherapeut, Herr Wörther, geht währenddes-
niswerkzeug wird hierbei der Schreibprozess sen im Raum herum und spricht mit anderen Patien-
selbst betrachtet. Anhand detaillierter, „dichter“ ten über ihre jeweiligen Tätigkeiten. Dann bemerkt
Beschreibungen soll der Forschungsgegenstand er Herrn Schuberts Erstarrung und fragt ihn über
in der ihm angemessenen Komplexität dargestellt den großen gemeinsamen Arbeitstisch hinweg:
werden (Geertz 1973). „Was macht die Anleitung gerade mit Ihnen?“ Herr
Schubert schaut auf und entgegnet: „Sie lenkt mich
vom Spiel ab.“ Er klingt dabei, als würde er den Satz
Beispiel für Analyseansätze einer mit einem Fragezeichen beenden. Herr Wörther
Feldnotiz nickt, woraufhin der junge Mann die Anleitung bei-
Die Studie „Alltag, Arbeit, Objekte - Ethnogra- seitelegt und in nun entschiedenem Ton sagt: „Die
phie der Arbeits- und Alltagspraktiken in der psy- Regeldetails werden im Anschluss besprochen“,
chiatrischen Ergotherapie“ (Mewes, unveröffent- während er die Karten mischt und verteilt. […] [Die
licht) beschäftigt sich im Rahmen einer insgesamt beiden Patienten spielen bis zur Abschlussrunde,
12-monatigen teilnehmenden Beobachtung in 2 zeitweise gemeinsam mit dem Ergotherapeuten.]
deutschen Kliniken unter anderem mit dem zent- Nacheinander berichten alle Patienten von ihren
ralen ergotherapeutischen Begriff der „Handlungs- Tätigkeiten innerhalb der Ergotherapie, wie sie sich
fähigkeit im Alltag“ (DVE 2007). Alltagshandeln dabei fühlten und was sie glauben, damit erreicht
wird hier als erlernte bzw. erlernbare Fähigkeit kon- zu haben. Herr Schubert merkt an, dass er immer
zipiert, die durch unterschiedliche Tätigkeiten von alles richtig machen wolle, alle Regeln befolgen
den Patientinnen (wieder-)erworben werden soll, wolle. Dies habe auch etwas Zwanghaftes, fügt er
da diese durch ihre Erkrankung als nicht oder nur hinzu und schaut in die Richtung des Ergothera-
noch eingeschränkt alltagsfähig gelten. Die Studie peuten. Dieser schaut ihn lächelnd an und nickt er-
zielt darauf ab zu erheben, wie Patienten und Ergo- neut. […] (Feldnotiz Klinik I, Personen anonymisiert,
therapeuten in der Praxis handeln und „verhandeln“, 10.10.2012)
88 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

z z Auszug aus der Analyse theoretischen Untermauerung ergotherapeutischen


Die Sequenz verdeutlicht, wie alltägliche Frei- Handelns beitragen.
zeitbeschäftigungen durch die Einführungs- und
Abschlussrunde und kontinuierliche verbale und
non-verbale Interventionen eine ergotherapeuti- Stärken und Schwächen
sche Rahmung erhalten, so wie in diesem Beispiel Ethnographisches Arbeiten kostet vergleichsweise
das Kartenspiel vom Hobby zum Aushandlungsort viel Zeit und ist zudem weniger vorhersehbar und
über die Bedeutung von Alltagsfähigkeit transfor- planbar als andere Methoden (vgl. Schmidt-Lauber
miert wird. 2007, S. 227). Sie basiert auf der subjektiven Wahr-
Bereits durch die Vorbesprechung wird eine nehmung des Forschers. Eine stetige, objektivierende
Anzahl von Menschen in einem Raum in eine The- Reflexion über die eigene Rolle im Feld ist daher
rapiegruppe verwandelt. Das Kartenspiel hat nun unabdingbar (vgl. Schmidt-Lauber 2007, S. 233f.).
die Rolle des Wegbegleiters in Richtung des indivi- Die durch ethnographische Forschung produ-
6 duellen therapeutischen Ziels der Patienten. Sobald zierten Daten werden der Komplexität sozialer und
Herr Wörther die Vertiefung des Patienten in die kultureller Praktiken in den Gesundheitsberufen
Anleitung als zu intensiv wahrzunehmen scheint, gerecht und stellen daher eine geeignete Grundlage
greift er mittels einer Frage ein. Anstatt jedoch zu für die Analyse und Diskussion der theoretischen
fragen, wie es ihm in diesem Moment gehe oder Implikationen und praktischen Auswirkungen ihres
Unterstützung beim Regelverständnis anzubie- Handelns dar (vgl. u. a. Jones et al. 1998).
ten, legt die ungewöhnliche Formulierung, „was
die Anleitung mit ihm mache“ (und nicht er mit Zusammenfassung
der Anleitung), eine schädliche Macht der Spiel- Die Ethnographie kann für Forscherinnen und Prak-
anleitung über Herrn Schubert nahe. Zugleich ver- tikerinnen der nicht ärztlichen Gesundheitsberufe
deutlicht sie eine Definition von Alltagsfähigkeit eine Methodensammlung darstellen, welche sie da-
als spezifischen Umgang mit Objekten: Von gesun- rin unterstützt, (ihre) Arbeitsalltage aus einer neuen
den Akteuren wird erwartet, etwas mit Dingen zu Perspektive heraus zu betrachten. Auf dieser Grund-
machen, nicht andersherum. Herr Schubert reagiert, lage lassen sich neue theoretische und praktische
indem er mit einer Suggestivfrage die Deutungs- Konzepte zur Evaluation und Professionalisierung
hoheit über die Situation an den Ergotherapeuten der Arbeit entwickeln.
übergibt. Das Nicken des Ergotherapeuten verstärkt
diese Deutungsmöglichkeit. Auch sein anschlie-
ßender Befund, dass es besser sei, die Spielregeln 6.3.5 „Case study“
während des Spielens zu verhandeln, wird von
Herrn Wörther im wahrsten Sinne des Wortes abge- Martin Maasz
nickt. Als der Patient dem Therapeuten während
der Abschlussrunde eine Sicht auf die Situation als Im Gegensatz zu den bereits beschriebenen und dis-
von etwas Zwanghaftem beeinflusst anbietet, wird er kutierten Forschungsmethoden steht der Begriff
(für seine „Krankheitseinsicht“?) mit einem Nicken „case study“ nicht für ein Studiendesign (wie z. B.
und Lächeln belohnt. „Kohortenstudie“) oder eine bestimmte metho-
Alltagsfähigkeit wird in diesem Beispiel von dische Vorgangsweise, sondern für einen komple-
Herrn Wörther als Kompetenz der Herstellung eines xen, hinsichtlich der Erhebungsmethodik offenen
Gleichgewichts zwischen Vorbereitungs- und Hand- Forschungsansatz. Dementsprechend stellt sich die
lungszeit und dem „gesunden“ Umgang mit Dingen Definition von „case study research“, je nach wissen-
gedeutet. Eine breite Diskussion über die ergothe- schaftlich-disziplinärem Zugang, mit uneinheitli-
rapeutische Zielvorgabe „Handlungsfähigkeit im chen Sichtweisen dar. Eine häufig zitierte Definition
Alltag“ steht bisher noch aus. Ethnographische Daten für Fallstudienuntersuchungen nach Yin hat sich
können eine geeignete Grundlage hierfür bilden über die letzten Jahrzehnte zu einer 2-fachen Defi-
und dadurch zur Professionalisierung und besseren nition entwickelt.
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
89 6
Eine spezielle Form des Case-study-Designs
Definition
stellen Fallstudien dar. Entsprechend der Fallaus-
5 „A case study is an empirical inquiry that wahl und der Anzahl der ausgewählten Probanden
investigates a contemporary phenomenon können Fallstudien im Single-case-Design oder ver-
(the ‚case‘) in depth and within its real-world gleichend im Multiple-case-Design durchgeführt
context, especially when the boundaries werden, wobei Letzteres vorsieht, mehrere Fälle zu
between phenomenon and context may analysieren und miteinander zu vergleichen. Scherfer
not be clearly evident.“ (Yin 2014, S. 16). und Bossmann (2011) unterteilen den Oberbegriff
5 „A case study inquiry copes with the Fallstudie in Einzelfallanalysen und Fallberichte.
technically distinctive situation in which Da Einzelfallanalysen Ursache-Folge-Beziehungen
there will be many more variables of untersuchen und einem vorgegebenen experimen-
interest than data points, and as one tell-quantitativen Design (A-B-A-Design) folgen,
result relies in multiple sources of sind sie aus der Systematik der „case studies“ her-
evidence, with data needing to converge auszuhalten (7 Abschn. 7.3.2).
in a triangulating fashion, and as another Anders hingegen dienen Fallberichte oder Kasu-
result benefits from the prior development istiken im Sinne von Fallstudien dazu, einzelne
of theoretical propositions to guide data Patientinnen hinsichtlich interessierender Sym-
collection and analysis.“ (Yin 2014, S. 17). ptome ausführlich zu analysieren und darzustel-
len (Beushausen u. Grötzbach 2011). Kasuistiken
können in explorierende und deskriptive Fallberichte
Vereinfacht gesagt ist durch die gesundheitswissen- unterteilt werden. Bei explorierenden Fallberichten
schaftliche Brille nach Beushausen und Grötzbach stehen seltene Erkrankungsfälle, kombinierte Symp-
(2011, S. 20) unter einer Fallstudie die Betrachtung tomstellungen oder einfach auch seltene Erkrankun-
eines Gegenstands oder der Entwicklung eines Falls gen mit geringerer Population im Fokus der Betrach-
zu verstehen, wobei „Fall“ sehr allgemein gehalten ist. tung. Im Gegensatz dazu analysieren deskriptive
So kann eine Fallstudie sowohl die Beschreibung von Fallberichte eher Patienten, welche in intensiver
Krankheits-, Genesungs- oder Rehabilitationsverläu- regelmäßiger Therapie sind und meist multifakto-
fen sein als auch zum Beispiel die Beschreibung und riell betreut werden.
Analyse der Einführung von Abrechnungssystemen im
Krankenhaus (z. B. DRG [„diagnosis related groups“]).
Da „case study research“ den zu untersuchenden Wann soll die Methode angewendet
Fall in seiner Komplexität und all seinen Facetten werden?
inklusive der ein- und wechselwirkenden System- Nach Eisenhardt (1989) sind Fallstudien weitrei-
und Kontextfaktoren analysiert, kann eine Vielzahl chend und universell einsetzbar. Einzelfallstudien
an Methoden zum Einsatz kommen. Die Untersu- werden in der Praxis meist umgesetzt, um Erkennt-
chung kann mittels qualitativer, quantitativer oder nisse über einen ausgewählten Fall zu gewinnen. Bei
gemischter Datenerhebungsmethoden geführt bereits vorhandenen größeren quantitativen Erhe-
werden, wobei die angelegten „case studies“ sehr bungen dienen Fallstudien im Sinne von kleinen
intensiv und langfristig angelegt sein können, zum Stichproben zur vertiefenden qualitativen Untersu-
Beispiel um alle Parameter eines sprachtherapeuti- chung dazu, die statistischen Ergebnisse zu veran-
schen Therapieoutcomes durch Einbezug von Ange- schaulichen, um so zu einer besseren Interpretier-
hörigeninterviews oder durch Einschätzungsabfra- barkeit beizutragen. Vorrangig geeignet erscheinen
gen bezüglich der Sprachkompetenz im Alltag zu hierfür Fragestellungen, die mit einem „Wie“ oder
analysieren. Andererseits eignet sich dieses Design „Warum“ gestellt werden, wobei hier die Wahl der
auch, um organisationale Änderungen hinsichtlich „case study research“ hinsichtlich der Vorteile im
ihrer Auswirkung auf Einzelne zu untersuchen (z. B. Vergleich zur Methode der Umfrage und des Experi-
bei Einführung eines interdisziplinären Zielmanage- ments genau überlegt werden muss. Im diagnostisch-
ments in der Rehabilitation). therapeutischen Prozess untersuchen Fallstudien
90 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

häufig Erkrankungsbilder mit geringer Population, analytisch) herangezogen, um daraus Hypothesen


komplexe Symptomkonstellationen, multifaktorielle und sensibilisierende Konzepte bzw. pragmatische
Ereignisse und Wirkungsweisen, bei denen der Fokus Aussagesysteme zu generieren, die es im Verlauf der
der Studie auf dem diagnostisch-therapeutischen Studie zu untersuchen gilt (Yin 2003). Unabhängig
Handeln liegt. davon, ob eine quantitative oder qualitative Unter-
suchung geplant ist, muss im Vorfeld eine Auseinan-
dersetzung mit der aktuellen Fachliteratur und dem
Themenstellungen Stand der Forschung zu dem Untersuchungsgegen-
Fallstudien können beispielsweise eine Einzelper- stand stattfinden.
son, eine Familie oder eine Therapiegruppe unter-
suchen. Die Auswahl des Falls muss entsprechend z Datenerhebung
begründet werden (typischer Fall, neuer, interessan- Hier ist entsprechend der angedachten Metho-
ter Fall, diagnostisch oder therapeutisch spezieller dik der Aufbau einer Datenbank anzudenken, um
6 schwieriger Fall), ebenso müssen die Fragestellung bei Nutzung von Datenquellen wie Fragebogener-
und die Zielsetzung klar formuliert sein. Ein Bei- hebungen, teilnehmender Beobachtung, (offenen)
spiel wäre die Untersuchung der Frage, wie der logo- Interviews, Gruppendiskussion und/oder retros-
pädische Diagnostikprozess für eine Patientin mit pektiven Analysen, Protokollanalysen, Dokumen-
akuter Aphasie und begleitender komplexer Wahr- tenanalysen, Bandaufzeichnungen sowie Inhaltsana-
nehmungsstörung bei Nichteinsetzbarkeit standar- lysen die Daten für eine Analyse zu archivieren und
disierter Testverfahren optimal gestaltet werden aufzubereiten.
kann („single case study” im Sinne eines Fallbe-
richts). Eine andere Möglichkeit wäre zu analysie- z Auswertung
ren, wie sich die Einführung eines interdisziplinären Dieser Baustein dient dazu, die Daten zu struktu-
Zielmanagements in der postakuten Neurorehabili- rieren, eine Paraphrasierung nach thematischen
tation auf den logopädischen Behandlungsverlauf Einheiten sowie eine Kategorisierung der Daten
neurogener Dysphagien auswirkt („multiple case vorzunehmen, um im Anschluss Fallstudienre-
study” im Sinne vergleichender Fallberichte). porte zu erstellen. Hierbei wird grob zwischen
beschreibender Einzelfallanalyse und fallübergrei-
fender Datenanalyse unterschieden, wofür jeweils
Welche Schritte müssen eingehalten mehrere Analysetechniken existieren (Miles u.
werden? Huberman 1994).
In Anlehnung an Borchard und Göthlich (2009)
umfasst der Erstellungsprozess für „case studies“ im z Kommunikative Validierung
Allgemeinen 7 Bausteine: Sie dient der Überprüfung der wissenschaftli-
chen Erkenntnisse und ist ebenso Kernbestandteil
z Planung des Forschungsprozesses der Rekonstruktion subjektiver Theorien. Hierfür
Im ersten Schritt, dem Planungsprozess, wird das werden die Fallstudienreporte den Probandinnen
Fallstudiendesign überlegt und beschrieben. Das und Probanden zur Bestätigung der inhaltlichen
Forschungsprotokoll, welches durch die anstehende Richtigkeit übermittelt.
Studie leiten wird, wird entwickelt und aufgesetzt.
Es enthält die reflektierten Fragestellungen sowie die z Interpretation
Zielsetzung des Projekts. Des Weiteren werden die Hierbei gilt es, Muster aufzuzeigen, Erklärungsmo-
heranzuziehenden Fälle (oder der Einzelfall) defi- delle sowie Ursache-Wirkungs-Ketten zu beschrei-
niert und ausgewählt, aber auch der Zugang zum Fall ben sowie chronologische Entwicklungen zu ana-
bzw. zum Feld wird organisiert. Entsprechend der lysieren und festzuhalten. Nach dem „pattern
Fall- und Feldauswahl sind Überlegungen hinsicht- matching“ (Untersuchung auf Muster und deren
lich der anzuwendenden Datenerhebungsmethoden Vergleich) erfolgt schließlich die Interpretation der
anzustellen und festzulegen. Zur Entwicklung des Dateninhalte. Hierbei sollen beeinflussende Kontext-
Planungsprozesses wird Vorwissen (persönlich oder felder mitberücksichtigt werden. Ein Kernstück der
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
91 6
Interpretation bildet die Erklärung der untersuchten Stärken und Schwächen von „case study
Phänomene sowie ein Aufdecken möglicher Ursa- research” im Allgemeinen
che-Wirkungs-Mechanismen. In weiterer Folge
können daraus neue Modelle und Fragestellungen z z Stärken
abgeleitet werden. 4 Der Einsatz von Fallstudien in neuen bzw.
komplexen Forschungsfeldern hilft, die
z Fallvergleichende Analyse Ist-Situation besser einzuschätzen, trennt
und Interpretation Wesentliches von Unwesentlichem und
Wenn mehrere Fälle untersucht werden, sind diese ermöglicht, bekannte Aspekte aus scheinbar
vergleichend nach Gemeinsamkeiten und Unter- Neuem herauszuarbeiten (Stickel-Wolf
schiedlichkeiten zu analysieren und im Anschluss u. Wolf 2005).
zu interpretieren („cross-case analysis“ bei „mul- 4 Fallstudien verhelfen dem quantitativ
tiple case studies“). orientierten Forschen dabei, Hypothesen zu
entwickeln sowie Konstrukte zu validieren
z Bericht (Borchard u. Göthlich 2009).
Schließlich ist der Bericht über die erhobenen Daten 4 Es besteht das Potenzial zu neuen theoretischen
des Falls (der Fälle), deren Analyse sowie die Inter- Einsichten und die Möglichkeit, das wissen-
pretation der Ergebnisse zu verfassen. Eine Verknüp- schaftliche Denken in Bewegung zu bringen,
fung und Reflexion der erhobenen Daten hinsicht- bei geringerem Bias (im Sinne von Verzer-
lich des aktuellen Stands der Wissenschaften sowie rungen) im Vergleich zu anderen Methoden
des eingangs eingearbeiteten Vorwissens sind ebenso (Eisenhardt 1989).
Bestandteil. Zum Bericht gehören auch die Sicher- 4 Vertiefende qualitative Untersuchungen an
stellung von Rückkopplungsschleifen zwischen fall- kleinen Stichproben im Rahmen/oder im
vergleichender Analyse und Interpretation des Ein- Anschluss von quantitativen Erhebungen
zelfalls sowie zwischen den Interpretationen der ermöglichen durch die Veranschaulichung der
einzelnen Fälle, inklusive Validierung und Auswer- Fallstudien eine bessere Interpretierbarkeit der
tung der Einzelergebnisse. statistischen Ergebnisse.
Fallberichte (Kasuistiken) im Speziellen bestehen 4 Da keine bestimmten Methoden vorgegeben
zumindest aus: sind, können beliebige Beurteilungsinst-
4 Einleitung inklusive Beschreibung der rumente (Tests, Angehörigenfragebogen,
Ausgangslage Interview etc.) eingesetzt werden, die
4 Zielsetzung und Fragestellung den uns anvertrauten Menschen und den
4 Strukturierte, verdichtete Beschreibung der entsprechenden Ressourcen (personell,
Datenquellen und Datenarten organisational, finanziell etc.) innerhalb des
4 Darstellung der eigenen Untersuchungen bzw. diagnostisch-therapeutischen Prozesses
therapeutischen Interventionen gerecht werden.
4 Synthese in Form einer Beurteilung, welche
auch Schwierigkeiten, ungelöste Probleme und z z Schwächen
offene Fragen diskutiert 4 Die Komplexität der Datenlage birgt die
Gefahr, zu einer detailhaltigen Theoriebildung
Hierfür empfehlen Ophey et al. (2007, S. 3), Aspekte zu führen, um möglichst alle untersuchungsre-
der Qualitätssicherung, der „evidence-based prac- levanten Aspekte mit einzubeziehen. Aufgrund
tice“ und des „clinical reasoning“ ins Studiendesign dessen mangelt es an Einfachheit und entspre-
mit einzubeziehen, um einerseits das diagnostisch- chend an Überblick.
therapeutische Handeln der Gesundheitsberufe zu 4 Bei Untersuchung eines Einzelfalls besteht die
untersuchen und andererseits die Entscheidungsfin- Gefahr, dass die Theorie ein „idiosyncratic
dung im klinischen Alltag transparent darzustellen. phenomenon“ beschreibt und dadurch die
Dementsprechend sind die in . Tab. 6.3 dargestellten theoretische Spezifität und ihre Generalisier-
3 Ebenen zu berücksichtigen. barkeit schwächt (Eisenhardt 1989).
92 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

. Tab. 6.3 Case-study-Struktur. (Adaptiert nach Ophey et al. 2007)

Ebene Beschreibung

1: „plan-do-study-act“ Oberflächenstruktur: thera- – Problemanalyse


peutischer Qualitätszyklus – Problemdefinition
– Verbesserungsvorschlag
– Durchführung des Vorschlags
– Evaluierung des durchgeführten
Verbesserungsvorschlags
Beschreibung der 8 Schritte im zyklischen therapeu-
tischen Prozess und der impliziten und expliziten
Entscheidungen in diesem Prozess:
– Erstkontakt
6 – Anamnese
– logopädische Untersuchung
– Analyse
– logopädische Diagnose
– Behandlungsplanerstellung
– Behandlung und Evaluation
– Abschluss
2: Inventarisierung der Empirische Evidenzquelle Erfahrungswissen der Therapeuten
5 Evidenzquellen experimentelle Evidenzquelle Resultate aus wissenschaftlichen Untersuchungen
physiologische Evidenzquelle Basiswissen aus Anatomie, Physiologie, Pathologie,
Überzeugungen (Patient, Neurologopädie etc.
Therapeut) Überzeugungen von Patient und Therapeut: „illness beliefs“
Rahmenbedingungen des Möglichkeiten, die das System in Bezug auf Behand-
Systems lungsanzahl und Therapieformen bietet
3: klinische Prozedurales Denken Problemlösungsdenken, Erkennen klinischer Muster,
Argumentation interaktives Denken Erfassen der kommunikativen Gesundheitsprobleme
und Abwägen der nicht nur körperliche Dimension der Gesundheitsproble-
konditionelles Denken
Evidenzquellen me erklären, sondern betroffene Person verstehen
alle individuellen Aspekte der Person in zeitlichem
Zusammenhang in die Therapie mit einfließen lassen

4 Den Einzelfallstudien wird nachgesagt, 4 Deskriptive Fallberichte beschreiben systematisch


sie seien für verallgemeinerbare das diagnostisch-therapeutische Handeln bei
wissenschaftliche Erkenntnisse zu häufig vorkommenden Gesundheitsproblemen
unergiebig, laut manchen Literaturquellen und leisten so einen Beitrag, neue Fragestellungen
zu Unrecht. zu quantitativen Untersuchungen aufzuwerfen
oder Daten anhand von (komplexen, seltenen,
multifaktoriellen) Einzelfallberichten zur wissen-
Stärken und Schwächen von Kasuistiken schaftlichen Diskussion zu stellen.
(Fallberichten) 4 Explorierende und deskriptive Fallberichte
z z Stärken stellen in der Darstellung klinischer Entschei-
4 Explorative Fallstudien können aufgrund ihrer dungen im Praxisalltag eine Bereicherung für
explorativen und deskriptiven Dimension die die Sprachtherapie dar.
Theorieentwicklung und Professionalisierung
medizinisch-therapeutisch-diagnostischer z z Schwächen
Berufsgruppen stark beeinflussen 4 Einzelfallberichte haben einen niedrigen
(Ophey et al. 2007). Evidenzlevel.
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
93 6
4 Häufig werden Fallstudien durch experi- 6.3.6 Inhaltsanalyse
mentelle Untersuchungsdesigns unter
Einbindung moderner Abbildungsmethoden Valentin Ritschl, Tanja Stamm
(z. B. Positronenemissionstomographie)
ersetzt. Definition
4 Limitierend für die Durchführung einer Das Ziel der qualitativen Inhaltsanalyse
umfassenden „case study“ im Rahmen besteht in der systematischen, regelgeleiteten
von Bachelorarbeiten ist die Sicherstellung und theoriegeleiteten Analyse von
eines häufig notwendigen längerfristigen Datenmaterial und Texten, die vorwiegend
Zugangs zum Untersuchungsfall bzw. Unter- durch Kommunikation erstellt wurden.
suchungsfeld, da die Curricula in den Gesund- Dabei wird meist eine sequenzielle, d. h.
heitsstudiengängen sehr dicht geplant sind. (Zu eine streng dem Ablauf der Kommunikation
berücksichtigen sind bei Erhebungen perso- folgende Analyse der Daten vorgenommen.
nenbezogener und organisationaler Faktoren Kommunikation umfasst hierbei Texte,
auch die Einholung diverser Durchführungs- Interviews, Reden, Kunstwerke, Zeichen,
genehmigungen sowie die Einreichung eines Symbole etc., die von jemanden, dem Sender,
Ethikantrags.) produziert wurden und für jemand anderen,
den Empfänger, eine Bedeutung haben
> Um „case studies” und Fallberichte (Krippendorff 2013, Mayring 2010).
hinsichtlich der statistischen Aussagekraft
aufzuwerten, besteht laut Unicomb
et al. (2015, S. 728ff) bei quantifizierbaren Wann soll die Methode angewendet
Ergebnissen die Möglichkeit, sich des werden?
„reliable change index” (RC) zu bedienen, Mittels der qualitativen Inhaltsanalyse können
durch den man sowohl dem Anspruch auf Inhalte aus unterschiedlichen Kommunikationsfor-
statistische als auch klinische Signifikanz men analysiert und interpretiert werden (Krippen-
gerecht wird. dorff 2013). Das bedeutet, dass sich diese Methode
für Bachelorstudierende gut eignet, da sich fast alle
Zusammenfassung Texte, zum Beispiel aus Einzelinterviews oder Fokus-
Die forschende Vorgangsweise nach Case-study- gruppeninterviews, durch eine qualitative Inhalts-
research-Design bietet die Möglichkeit, Tiefenboh- analyse bearbeiten lassen. Krippendorff (2013) gibt
rungen qualitativer Natur zu bereits vorhandenen zu bedenken, dass die Inhaltsanalyse trotz ihrer
quantitativen Ergebnissen durchzuführen, um vielen generischen Anwendungsmöglichkeiten nicht
Daten besser zu interpretieren, seltene, komplexe für alle Fragestellungen die am besten geeignete Ana-
und multifaktorielle Einzelfälle zu analysieren und lysemethode darstellt. So eignet sich die qualitative
zur Diskussion zu stellen. Die Anwendung dieses Inhaltsanalyse beispielsweise, um die Bedeutung von
Designs trägt zum Aufwerfen neuer Fragestellun- Texten, Interviews oder Verhalten zu verstehen, nicht
gen und zur Anregung weiterer quantitativer Stu- aber, um die Hintergründe eines bestimmten Verhal-
dien im Rahmen der medizinisch-therapeutischen tens zu erklären. Die generische Einsetzbarkeit der
Forschung bei. Ebenso ist diese Vorgangsweise ge- Inhaltsanalyse ist somit auf Masterniveau unzuläng-
eignet, um bestehende Theorien in Leitlinien oder lich. Hier muss eine bezogen auf die Fragestellung
effektivitätsgeprüften Konzepten zu analysieren. passende Analysemethode gewählt werden.
Anhand von Fallstudien im Sinne von Kasuistiken
wird neben der ausführlichen Analyse des therapeu-
tischen Handelns im Rahmen eines speziellen Falls Themenstellungen
unter anderem der Frage nachgegangen, was die Die Inhaltsanalyse erlaubt den Forschern und For-
einzelne Patientin mit einer Durchschnittspatientin scherinnen, relativ unstrukturierte Daten auf ihre
großer klinischer Studien gemeinsam hat (Ophey Bedeutung, Symbolik, expressiven Inhalte sowie
et al. 2007). die kommunikative Rolle, die sie in einem Kontext
94 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

haben, zu erforschen. Im Gegensatz zu anderen Ana- dass die Schritte im Großen und Ganzen sehr ähnlich
lysemethoden ist an der qualitativen Inhaltsanalyse verlaufen. Unterschiede sind vor allem in der Detail-
besonders das starke Einbeziehen des Kontextes bei liertheit der Differenzierung der einzelnen Schritte
der Interpretation von Texten/Kommunikation her- erkennbar. Doch trotz der Ähnlichkeiten beinhalten
vorzuheben. Die Inhaltsanalyse findet in folgenden die unterschiedlichen Vorgehensweisen auch unter-
Bereichen Anwendung: schiedliche Vor- und Nachteile.
4 Darstellung von Entwicklungen, Mustern, Wie eingangs erwähnt, ist das bewusste Einbe-
Trends oder Unterschieden, zum Beispiel ziehen des Kontextes, d. h. der Zusammenhang des
zwischen Behandlungsmustern oder Behand- Textes mit seiner Entstehungszeit, dem Verfasser,
lungsparadigmen verschiedener Institutionen den soziokulturellen Zusammenhängen etc., in die
4 Identifikation, Beschreibung und Evaluation, Analyse der Inhalte das Besondere an dieser qualita-
Beurteilung von Phänomenen, zum Beispiel tiven Methode. Diese Einbeziehung findet sich aller-
Beschreibung von Phänomenen wie Langeweile dings im Vorgehen nach Mayring und Krippendorff,
6 oder Spiel; für inhaltlich tiefgehende Interpre- während andere Autoren die Reduktion und Zusam-
tationen sollten phänomenologische Verfahren menfassung von Inhalten als Aufgabe der Inhaltsana-
(7 Abschn. 6.3.1) berücksichtigt werden lyse beschreiben. Hier muss bereits in der Planung
4 Beschreibung von Symptomen und Symptom- eines Projekts und anhand der Forschungsfrage
komplexen, zum Beispiel Darstellung und überlegt und entschieden werden, ob das Einbezie-
Beschreibung von Störungsbildern wie der hen des Kontextes für valide Ergebnisse notwendig
„occupational imbalance“ ist oder nicht. Diese Entscheidung beeinflusst dann
4 Analyse schriftlicher Materialien und auch die Vorgehensweise. Die Vorgehensweise nach
Beratungsgesprächen, zum Beispiel Krippendorff bietet darüber hinaus die Möglichkeit,
Beschreibung fördernder und hemmender sich einem Text ohne Fragestellung und ohne theore-
Faktoren bei der Umsetzung von Heimübungs- tische Vorüberlegung zu nähern und sich dem Text
programmen, Dokumentationen oder Texte für somit unvoreingenommen zu widmen.
Patienteninformationen
4 Analyse von institutionellen Prozessen, zum Beispiel
Beispiel Darstellung des für die Erfüllung einer Das folgende Beispiel entstammt einer Inhaltsana-
Arbeit notwendigen impliziten und expliziten lyse nach Kvale und Brinkmann (2009)
Wissens
Auszug aus transkribierten Interviewtexten
Mein Name ist (…), ich hab die Psoriasisarthritis9
Welche Schritte müssen eingehalten eigentlich relativ früh bekommen, mit 38  Jahren,
werden? und bei mir hat es eigentlich keiner erkannt, außer
Es existieren sehr unterschiedliche „Anleitungen“ das Allgemeine Krankenhaus. Weil ich habs eigent-
zur Durchführung von qualitativen Inhaltsana- lich nicht von der Psoriasis10 her, so richtig kommt
lysen (Gläser u. Laudel 2010, Mayring 2010, Krip- es bei mir nicht zum Vorschein, sondern eher die Ar-
pendorff 2013) und von Techniken, die der Inhalts- thritis11. Die Diagnose konnte erst im Allgemeinen
analyse ähneln, wie die „meaning condensation“ Krankenhaus gestellt werden.
und „meaning interpretation“ (Kvale u. Brinkmann Ich muss ganz ehrlich gestehen, ich hab das frü-
2009). . Tab. 6.4 zeigt eine Zusammenfassung der her nicht so beachtet, die Psoriasis, und ich hab sie
Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Vorge-
hensweisen. Das gemeinsame Ziel der qualitativen
Inhaltsanalyse ist es, „die wesentlichen Inhalte (zu) 9 Anmerkung der Autoren: Eine Psoriasisarthritis ist eine
erhalten (…), durch Abstraktion einen überschauba- chronisch rheumatische Autoimmunerkrankung, die
sowohl die Gelenke als auch die Haut betreffen kann
ren Korpus zu schaffen, das immer noch ein Abbild
10 Anmerkung der Autoren: Symptome im Sinne einer
des Grundmaterials ist“ (Mayring 2010). Schuppenflechte
Bei den unterschiedlichen Vorgehensweisen für 11 Anmerkung der Autoren: Symptome einer Gelenkentzün-
eine qualitative Inhaltsanalyse kann man erkennen, dung
. Tab. 6.4 Vorgehen bei der qualitativen Inhaltsanalyse: Gegenüberstellung verschiedener Ansätze

Schritte Krippendorf (2013) Mayring (2010) Gläser u. Laudel (2010) Kvale u. Brinkmann (2009)

Startpunkt und Entweder Textgetriebene In- Forschungsfrage formulieren,


Vorbereitung der Analyse haltsanalyse: ohne Fragestellung durch die Literaturrecherche
werden bestehende Texte (Briefe, werden im Vorfeld bereits Kate-
Interviews etc.) gelesen gorien erstellt
oder Problemgetriebene Inhalts-
analyse: Forschungsfrage als
Ausgangspunkt formulieren
Datensammlung Auswahl der Texte oder Teilneh- Festlegung des „Materials“: Texte Die Datensammlung wird bei diesen Autoren nicht als eigenständiger
mer, die für die Analyse heran- oder Teilnehmer als repräsentati- Teil der qualitativen Inhaltsanalyse verstanden
gezogen werden, inkl. Ein- und ve Stichprobe
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden

Ausschlusskriterien Analyse der Entstehungssituati-


Auswahl einer repräsentativen on: Die Bedingungen, unter de-
Stichprobe. Repräsentativ heißt, nen die Daten entstanden sind,
dass die Stichprobe ein Abbild werden mit aufgenommen (Be-
der Grundgesamtheit darstellt. schreibung von Interviewer, sog.
Achtung: Hier gibt es inhaltliche Vorverständnis des Verfassers,
Unterschiede zu anderen qualita- soziokulturelle Hintergründe)
tiven Theorien, die argumentie-
ren, dass qualitative Forschung
nicht repräsentativ ist, sondern
verschiedene Möglichkeiten,
Sichtweisen etc. aufzeigt
Datensammlung lt. Plan (Interview, Fokusgruppe, teilnehmende
Beobachtung). Für die Analyse müssen die Daten in verwertbare,
beständige und analysierbare Aufzeichnungen (z. B. Transkripte)
gewandelt werden.
95

Datenanalyse Grundsätzliche Richtung der Durchlesen der Daten/Texte: Durchlesen der Daten, bis man
Analyse: Inhalt des Textes selbst Sind die erstellten Kategorien sich mit dem Text vertraut
analysieren, Rückschlüsse zum passend oder müssen sie erwei- gemacht hat
Textverfasser ziehen oder die tert oder angepasst werden?
Wirkung des Textes das Umfeld Technische Vorbereitungen, falls
darstellen die Texte computerunterstützt
ausgewertet werden
6
6
96

. Tab. 6.4 Fortsetzung

Schritte Krippendorf (2013) Mayring (2010) Gläser u. Laudel (2010) Kvale u. Brinkmann (2009)

Formulieren einer konkreten Fra-


gestellung, die auf bisherige For-
schungen/Erkenntnisse aufbaut
(Ziel: Anknüpfen an bestehendes
Wissen)
Zusammenfassen und/oder
explizieren (d. h. fragliche Texte
werden aufgrund zusätzlichen
Kapitel 6 · Qualitative Forschung

Materials erläutert) und/oder


strukturieren anhand von Kate-
gorien (vorbestehend oder neu
erstellt oder angepasst)
Einteilen des Textes in Analyse- Einteilen des Textes in Absätze Einteilen des Textes in die natürli-
einheiten, z. B. Zeile oder Absatz, mit zusammenhängender Be- chen Bedeutungseinheiten (Text-
mit zusammenhängender Be- deutung und Zuordnung zu den stelle mit zusammenhängender
deutung Kategorien Bedeutung)
Datenreduktion, indem Wieder- Analyse der Daten bis die Kate- Datenreduktion, indem Wieder- Datenreduktion durch zusam-
holungen entfernt werden gorien stabil sind holungen/Duplikate entfernt menfassen der Bedeutungen
werden und Erstellung von Kategorien/
Themen/Konzepten
Interpretieren (bisher wurden die Zusammenfassung der Ergebnis- Beantwortung der Forschungs- „Meaning condensation“ ist nur
Daten nur beschrieben) durch se, evtl. kann nach Hermeneutik frage ohne „allgemeinen Regeln“ beschreibend, „meaning inter-
Einbeziehung des Kontexts, z. B.: interpretiert werden (7 Abschn. pretation“ geht über eine Struk-
Wann/in welcher Kultur/ist der 6.3.7) turierung der Daten/über das
Text entstanden? Wer hat (mit Gesprochene hinaus: evtl. kann
welchem Hintergrund) den Text nach Hermeneutik interpretiert
verfasst? werden (7 Abschn. 6.3.7)
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
97 6

. Tab. 6.5 Auszug aus der Analyse

Text MU I # C

Ich hab die Psoriasisarthritis eigentlich relativ früh Symptome „relativ früh“, mit 2 131 0
bekommen, mit 38 Jahren 38 Jahren aufgetreten
Und bei mir hat es eigentlich keiner erkannt Diagnose konnte erst in einem 2 132 8
außer das Allgemeine Krankenhaus. Weil ich habs bestimmten Krankenhaus
eigentlich nicht von der Psoriasis her, so richtig gestellt werden; Arthritis >
kommt es bei mir nicht zum Vorschein, sondern Hautbeschwerden
eher die Arthritis.
Ich muss ganz ehrlich gestehen, ich hab das früher Geschlechtsverkehr = unange- 2 147 38, 109
nicht so beachtet, die Psoriasis, und ich hab sie nehm, Schmerzen
eigentlich auf den Geschlechtsteilen, und das ist,
muss ich sagen, beim Geschlechtsverkehr sehr
unangenehm. Es tut sehr weh.
Und der Hausarzt verschreibt mir gar nichts mehr, Ärztliches Spezialwissen ist 2 148 110
auch nicht der Frauenarzt, als ich bei ihm war. erforderlich
Jetzt muss ich mir einen Spezialisten suchen, denn Ärztliches Spezialwissen ist 2 149 110
da gibt es angeblich ein Präparat, dass das Problem erforderlich
mit den Geschlechtsteilen weggeht, weil es beim
Verkehr sehr schmerzt und unangenehm ist.

MU Thema der Bedeutungseinheit, I Nummer der Fokusgruppe, # Nummer der Bedeutungseinheit, C Nummer
des Konzepts

eigentlich auf den Geschlechtsteilen, und das ist, Interviewpartner klar ist. Außerdem sollte die
muss ich sagen, beim Geschlechtsverkehr sehr un- Nummer der Bedeutungs- bzw. Analyseeinheit
angenehm. Es tut sehr weh, und der Hausarzt ver- (#) genannt werden, um eine einfachere
schreibt mir gar nichts mehr, auch nicht der Frauen- Zuordnung zu Kategorien bzw. den Unter- oder
arzt, als ich bei ihm war. Jetzt muss ich mir einen Subkategorien zu ermöglichen, und die Nummer
Spezialisten suchen, denn da gibt es angeblich ein des Konzepts bzw. der Kategorie (C), dem es
Präparat, dass das Problem mit den Geschlechtstei- zugeordnet wird, mitgeführt werden (. Tab. 6.5).
len weggeht, weil es beim Verkehr sehr schmerzt
und unangenehm ist. Diese Überkategorien können nun genutzt werden,
um eine neue Theorie darzustellen oder um schon
Auszug aus der Analyse bestehende Theorien/Assessments (z.  B. Fragebö-
4 Der Text wird in eine Tabelle kopiert und in gen) zu bestätigen bzw. zu ergänzen. Um bestehen-
Bedeutungseinheiten bzw. Analyseeinheiten de Theorien/Assessments zu überprüfen, werden
unterteilt. Eine Einheit bedeutet hier ein die gewonnen Kategorien den Konzepten aus den
Textabschnitt innerhalb einer Zeile. bestehenden Theorien/Assessments gegenüber-
4 Im nächsten Schritt wird das Thema der gestellt. Somit kann dargestellt werden, ob die be-
Einheit in der nächste Spalte (MU = Thema der stehenden Theorien/Assessments notwendige Inhal-
Bedeutungseinheit) zusammengefasst. In der te ausreichend abdecken oder ob diese an die neuen
Auswertung sollte die Interviewnummer Erkenntnisse angepasst werden müssen (sich also
(I = Nummer der Fokusgruppe bzw. des neue, noch nicht bekannte Kategorien ausbilden,
Interviewten) genannt werden, damit in die dann z.  B. in einen Fragebogen aufgenommen
der Auswertung immer der Bezug zu dem werden müssten, . Abb. 6.3).
98 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

Unterkonzept C Überkonzept
Beginn der Hautsymptome war im Wechsel 1 Krankheitsverlauf
Die richtige Diagnose wurde erst von Spezia- Institutionen im Gesundheitssystem
listen gestellt 8
Haut im Genitalbereich 38 Funktionen der Haut
Probleme beim Geschlechtsverkehr 109 Sexualfunktionen
Spezialwissen für Probleme mit Sexualfunk-
tionen und dem Genitalbereich ist erforder-
lich 110

. Abb. 6.3 Auszug aus dem Schema der Unter- und Überkonzepte

Stärken und Schwächen Einfluss- oder Störfaktoren in der Daten-


6 z z Stärken erhebung nicht erkannt oder beeinflusst
4 Die qualitative Inhaltsanalyse ermöglicht werden können.
eine „einfache“ Auswertung von Daten, die 4 Sie kann nicht Intentionen oder Hintergründe
anschließend von anderen, Verfahren, wie für die Schaffung der zu analysierenden Texte
zum Beispiel der Hermeneutik ergänzt werden erklären (Krippendorff 2013), da sie eher dazu
kann. dient, die Bedeutung von Texten, Symbolen
4 Sie ermöglicht semiquantitative Auswertungen, oder Verhalten zu verstehen.
zum Beispiel wie viele Teilnehmerinnen etwas
Bestimmtes gesagt haben. Zusammenfassung
4 Sie erlaubt mit „unstrukturiertem“ Datenma- Die Inhaltsanalyse ist eine sehr vielfältige, aber auch
terial zu arbeiten. eine komplexe Methode, um kleine und große Daten-
4 Sie erlaubt mit bereits bestehendem Material zu mengen bezüglich der Bedeutung zu verstehen.
arbeiten, welches unzusammenhängend erstellt
wurde.
4 Die originalen Kontextfaktoren werden 6.3.7 Hermeneutik
berücksichtigt, d. h. die Faktoren, die sich
auf die Entstehung des Textes beziehen, und Christine Chapparo, übersetzt von Roman Weigl
der Forscher kann Daten produzieren, die
bedeutend, informativ und repräsentativ für
Definition
andere Menschen sind.
4 Die qualitative Inhaltsanalyse kann für große Die Hermeneutik beschäftigt sich mit
und kleine Mengen an Daten eingesetzt werden dem Verstehen und dem Entdecken von
(Krippendorff 2013, Mayring 2010, Gläser menschlichen Lebenserfahrungen durch die
u. Laudel 2010). Analyse der in menschlichen Schöpfungen
(oftmals Sprache und Text, aber auch
> Die sehr ausführliche Beschreibung der Kunstgegenstände etc.) enthaltenen
einzelnen Schritte (mit zusätzlichem Bedeutungen.
„practical guide”) bei Krippendorff (2013)
erlaubt ein gutes Einarbeiten in die Methodik
auch für wissenschaftliche Einsteiger.
» Psychometricians try to measure it.
z z Schwächen Experimentalists try to control it.
4 Die qualitative Inhaltsanalyse wird oft Interviewers ask questions about it.
angewandt, wenn die Daten bereits existieren. Observers watch it.
Dies bedeutet, dass möglicherweise Participant observers do it.
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
99 6
Statisticians count it. qualitative Forschungsmethode. Im Gegensatz dazu
Evaluators value it. gibt es in der zeitgenössischen Hermeneutik vielfäl-
Qualitative [hermeneutic] inquirers find tige und verschiedene Ansichten und philosophi-
meaning in it. sche Theorien (z. B. Gadamer 1996, Habermas 1990,
(Aus Halcolm's Inquiry Parables, zitiert nach Harman 2007, Heidegger 1996, Ricoeur 1981). Zur
Patton 2002) Vertiefung des Wissens über Hermeneutik sei expli-
zit auf diese Autoren verwiesen. In diesem Kapitel
Hermeneutik, vom Griechischen hermeneutikos wird hingegen gezeigt, wie die hermeneutische Phi-
abgeleitet, konzentriert sich auf die Entdeckung von losophie als qualitative Forschungsmethode ange-
Bedeutungen, die in den Beschreibungen menschli- wandt werden kann. Der erste Abschnitt enthält eine
cher Lebenserfahrungen enthalten sind (van Manen kurze Beschreibung der Charakteristika der Herme-
1997). Die Praxis der Hermeneutik hat eine lange neutik. Der zweite Abschnitt erläutert eine Reihe von
Geschichte (Ferraris 1996). Ursprünglich als Ansatz Grundsätzen, die als Rahmen für die Verwendung
für die Interpretation der antiken Texte genutzt, der hermeneutischen Forschungsmethoden fungie-
wurde die Hermeneutik in jüngster Zeit vermehrt in ren. Ergänzend wird in diesem Kapitel ein Beispiel
den Geisteswissenschaften als Methode angewandt, präsentiert, wie die hermeneutische Methode im
um Bedeutungen, die mit den Lebenswelten der Men- Rahmen einer Studie angewandt wird.
schen verbunden sind, zu entdecken (Grondin 1994,
Rorty 1991). Der Begriff wird heute als die „theory and
practice of interpretation and understanding in diffe- Einführung
rent kinds of human contexts“ (Odman 1988, S. 63)12 Grundlegend für den hermeneutischen Ansatz ist die
definiert. Moderne Hermeneutik ist eine breite Diszi- Überzeugung, dass die menschliche Erfahrung durch
plin, die nicht nur geschriebene, sondern auch verbale Text geformt, transformiert und verstanden werden
und nonverbale Kommunikation, Bilder und Musik kann. Hermeneutische Theoretiker schlagen vor, dass
beinhaltet. Sie ist eine der von Gesundheitsprofessio- unser Leben erst durch das erfahrene Erleben lebendig
nistinnen verwendeten qualitativen Forschungsme- wird und nicht durch das Wissen (Thompson 1990).
thoden und zielt darauf ab, reiche Sprach- und Text- Es wird davon ausgegangen, dass die subjektiven Ein-
beschreibungen zu erhalten, zu produzieren und zu drücke, die kognitiv unstrukturierte Lebenserfah-
analysieren, die es ermöglichen, die Bedeutungen zu rungen charakterisieren, Sinn und Ordnung anneh-
interpretieren, die Menschen ihren Lebenserfahrun- men, wenn Menschen versuchen, sie zu artikulieren
gen zuweisen. Diese Art der Forschung trägt zu einem (Patton 2002). Erfahrung in Worte zu fassen, sei es
kollektiven Verständnis zwischen Gesundheitsdienst- mündlich, schriftlich oder in Gedanken, transformiert
leistern und ihren Klientinnen bei (Kinsella 2006, die tatsächliche Erfahrung in eine kommunizierbare
Fleming et al. 2003, Smith 1997). Repräsentation ihrer selbst; dies bietet einen sozial
Die Hermeneutik stellt einen Oberbegriff dar, und kulturell konstruierten Weg, um ein gemeinsa-
der sowohl eine Philosophie (die Überzeugung, dass mes Verständnis darüber zu erlangen. Erfahrungen
Bedeutung, Verständnis und Sprache miteinander in aus der Ichperspektive sind nicht nur auf Handlungen
Beziehung stehen), eine Theorie (Konzepte, wie das („actions“) beschränkt, sondern sie umfassen auch
Verständnis durch die Interpretation der Worte einer Wahrnehmungen, Fantasien, Gedanken, Gefühle,
anderen Person passiert) als auch eine qualitative Wünsche und Absichten (Woodruff Smith 2007).
Forschungsmethode (ein Ansatz, der das Denken Narrative, in Form von Text und anderen Bildern,
von Menschen durch die Interpretation von Sprache sind eine Strategie, die das Ausmaß erkennen lassen,
und Textstellen, die auf Lebenserfahrungen basieren, wie weit Geschichten, die Menschen erzählen, Ein-
entdecken möchte) umfasst (Grondin 1994). Dieses blicke in ihre erlebten Erfahrungen bieten. Spätere
Kapitel beschränkt sich auf die Hermeneutik als interpretative Prozesse versetzen Forscherinnen in
die Lage, Themen in den Erzählungen von Menschen
zu erkennen und zu entdecken, wie Menschen ihr
12 Theorie und Praxis der Interpretation und des Verstehens
in verschiedenen Arten von menschlichen Zusammen- Leben verstehen und wie sie Sinn aus ihrem Leben
hängen erschaffen (Landridge 2007).
100 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

Wann soll die Methode angewendet Perspektive einer Person, die auf ihren vergangenen
werden? und gegenwärtigen Lebenserfahrungen basiert. Der
Bei der Verwendung eines hermeneutischen Ansat- Horizont von Personen ist nicht festgelegt, sondern
zes in der Forschung fungieren die Wissenschaft- erweitert sich, so wie sich auch das Verständnis der
ler als Dolmetscher, die ein komplexes Bild erleb- eigenen Erfahrung und der Erfahrungen mit anderen
ter Erfahrungen des Menschen durch die Analyse vertieft. In der hermeneutischen Forschung ver-
von Texten, Worten, Notizen, E-Mails, Medienma- schmelzen die eigenen Überzeugungen und die
terialien, Berichten, medizinischen Diagrammen Interpretationen des Forschers (dessen Horizont)
oder Geschichten, die detaillierte Ansichten von mit denen des Narrativs. Die endgültige Interpreta-
anderen enthalten, aufbauen (Joubish et al. 2011). tion ist ein Verständnis, das weder den eigene Vor-
Dieser Ansatz umfasst mehrere Charakteristika, konzeptionen des Interpretierenden noch denen des
die betonen, wie das Verstehen, im Gegensatz zum Textes zuzuschreiben ist, sondern es stellt eine Fusion
Erklären, in der hermeneutischen Untersuchung beider Sichtweisen dar (Weinsheimer 1985).
6 gesucht wird.
Zum einen ist Verstehen eine „Fusion“ der Per- z z Die Interpretation der Teile und des Ganzen
spektiven, die sowohl die Perspektive des Forschers durch die Verwendung des hermeneutischen
wie auch die der anderen umfasst. Zum anderen Zirkels
wird Interpretation durch ein Verständnis von Teilen Hermeneutisches Verständnis tritt nur dann auf,
der Erfahrung und ihre Beziehungen zum Gesam- wenn der Interpretierende die Bedeutung verschie-
ten durch einen zirkulären Interpretationsprozess dener Teile des Textes und die Art, wie die Teile mit-
konstruiert. Zudem erkennt die Hermeneutik an, einander als Ganzes in Beziehung stehen, erkennt.
dass jede Interpretation der menschlichen Erfahrung Gadamer (1996) schlägt vor, dass Interpretationen
nur partiell ist. Erfahrungen sind in Zeit, Ort und eine „zirkuläre Bewegung des Verständnisses, die
Umständen situiert13, und dieser Kontext wird bei rückwärts und vorwärts entlang des Textes verläuft
der Interpretation des Textes durch die Forscherin und endet, wenn der Text perfekt verstanden ist“14
berücksichtigt. Daten werden immer als Gespräch (S. 293) beinhalten. Dies ist als hermeneutischer
angesehen, unabhängig ob diese in verbaler, nicht Zirkel bekannt, es ist von zentraler Bedeutung für
verbaler oder geschriebener Form vorliegen. Und als das hermeneutische Verstehen und von grundlegen-
letzter Punkt lässt der hermeneutische Ansatz Ambi- der Bedeutung für 2 voneinander abhängige metho-
guität (Mehrdeutigkeit) zu (Kinsella 2006). dologische Prozesse: das Verständnis der Bedeutung
des gesamten Textes und das Verständnis seiner Teile
z z Die Interpretation wird aus der Fusion (Schwandt 2001).
der Perspektiven abgeleitet
Der Schwerpunkt in der hermeneutischen Forschung z z Die Interpretation ist partial
ist auf das Verständnis und die Interpretation, im Jede menschliche Perspektive ist einzigartig und
Gegensatz zur Erklärung und Verifizierung, gerichtet reflektiert immer die eigene Sichtweise, was die
(Kinsella 2006). Die hermeneutische Untersuchung Frage aufwirft, inwieweit eine einzelne Interpreta-
geht über bloße Beschreibungen von Erfahrung tion jemals in der Lage ist, Vollständigkeit zu erlan-
hinaus und ermöglicht es, Bedeutungen, die nicht gen. Eine vollständige Erklärung von Textdaten, die
sofort sichtbar werden, zu verstehen. Das Erlangen die Erfahrungen anderer beschreibt, ist unmöglich,
von Verständnis ist ein dynamischer, evolutionärer und alle Forschungsinterpretationen, auch wenn sie
Prozess, der als Synthese oder Fusion einer Reihe auf noch so rigorose Art und Weise erzielt wurden
von Elementen konzipiert ist und als „Horizontver- und die Ansichten vieler beinhalten, können immer
schmelzung“ („fusion of horizons“, Gadamer 1996) nur teilweise erfolgen.
bezeichnet wird. Ein „Horizont“ ist die einzigartige

14 „Circular movement of understanding [which] runs back-


13 Anmerkung des Übersetzers: Situiert wird hier im Sinne ward and forward along the text and ceases when the
von verankert verwendet. text is perfectly understood“
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
101 6
z z Die Interpretation ist situativ abgibt. Gadamer (1996, S. 396) stellt fest: „Um in der
Die Hermeneutik erkennt an, dass alle Interpretatio- Lage zu sein, die Bedeutung eines Textes und Gegen-
nen situativ sind und dass der Mensch nicht zur abso- stands zum Ausdruck zu bringen, müssen wir sie in
luten Objektivität fähig ist, weil Menschen in einer unsere eigene Sprache übersetzen.“15
Realität situiert sind, die sich aus subjektiven Erfah-
rungen aufbaut. Persönlichen Erfahrungen sind für z z Akzeptanz von Mehrdeutigkeit
jeden Einzelnen zu einem bestimmten Zeitpunkt, Die Mehrdeutigkeit wird von der Hermeneutik nicht
an einem bestimmten Ort, im Kontext mit einem nur akzeptiert, sondern begrüßt (Kinsella 2006).
bestimmten Ereignis einzigartig. Diese Ansicht Die geschriebene Erzählung über eine Erfahrung
unterstreicht den Einfluss von sozialen Gruppen, ist keine genaue Darstellung der Erfahrung selbst,
Praktiken und historischen Ereignissen darauf, wie sondern eine individuelle Wahrnehmung des Ereig-
Menschen ihren Erfahrungen Bedeutung beimessen. nisses. Ein hermeneutischer Blick widersteht der
Das Wissen über die soziale, kulturelle und histo- Idee, dass es eine einzige authentische Interpreta-
rische Situation, in der die in Texten beschriebene tion des Textes gibt, und erkennt die Komplexität
menschliche Erfahrung entstanden ist, steht in der des Unterfangens einer Interpretation. Das Ziel der
Betrachtung im Rahmen der Interpretation des For- Textanalyse ist es nicht, einen festen Standpunkt zu
schers. Die Forscher führen die Interpretationen entdecken, sondern zu verstehen, wie die darin ent-
von Textdaten basierend auf dem Hintergrund ihrer haltenen Bedeutungen auf unterschiedliche Weise
eigenen Lebenserfahrungen und ihrer eigenen Vor- verstanden werden können. Die Implikation für die
einschätzung durch, die sich von denen der Perso- hermeneutische Forschung und die hermeneutische
nen, die den Text erzeugt haben, unterscheiden. Berichterstattung lautet, dass die Daten keiner reduk-
Gadamer (1996) betonte die Bedeutung von Vor- tiven Analyse unterzogen werden können. Der her-
konzeptionen („prejudgments“) im Interpretations- meneutische Rigor widersteht geordneten sachlichen
prozess. Er schlägt vor, dass die Welt zunächst mit- Überlegungen und verhindert formelhafte Verfah-
hilfe der Projektionen von Vorkonzeptionen erfahren ren. Das Ziel der hermeneutischen Forschung liegt
und verstehen werden kann. Daher sind Verstehen nicht im Generieren unmissverständlicher und ein-
und Erfahren untrennbar miteinander verbunden. deutiger Aussagen, die in einer logischen Reihenfolge
Das Erkennen der Einflüsse, die die Vorkonzeptio- gelten, sondern es gilt, einen reichen Datenschatz für
nen der Forscherin auf die Texte, die gelesen werden, multiple Interpretationen zu eröffnen. Die Subjekti-
haben, hat wichtige Auswirkungen auf die interpre- vität wird daher wertgeschätzt.
tative Arbeit.

z z Daten als Gespräch sehen Welche Schritte müssen eingehalten


Gadamer (1996) schlägt vor, dass die Analyse her- werden?
meneutischer Daten durch den Akt des Gesprächs Obwohl hermeneutische Philosophen Einblick
oder Dialogs zwischen dem Forscher und den gelese- gegeben haben, was ein tiefes Verständnis von
nen Texten erfolgen soll. Er behauptet weiter, dass Texten beinhaltet, gibt es keine einzelne, wohldefi-
die Form jeder Interpretation immer die sprachli- nierte Methode für Forscher und Forscherinnen, um
che bzw. verbale Interpretation ist, auch wenn das dieses Verständnis zu erreichen. Die einzigen Vor-
zu Interpretierende nicht sprachlicher Natur ist. Das gaben sind die Empfehlungen für ein dynamisches
Ziel ist es nicht, den einzelnen Menschen zu verste- Wechselspiel zwischen 6 Forschungsaktivitäten:
hen, sondern zu verstehen, worüber er spricht. Die 4 sich zu einem Thema von Belang bekennen
Forschungsaufgabe ist es, eine gemeinsame Sprache 4 eine gerichtete Haltung auf die Frage
zu finden, durch die verschiedene Texte (z. B. Erzäh- einnehmen
lungen von Patienten über ihre Krankheitserfahrun- 4 Erfahrung verstehen, wie sie gelebt wird
gen) miteinander sprechen können. Die Rolle des
Interpretierenden ist ähnlich der eines Übersetzers,
der relevante Merkmale der Texte hervorhebt und 15 „In order to be able to express a text's meaning and sub-
Intonationen zu den im Gespräch beteiligten Texten ject matter, we must translate it into our own language.“
102 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

4 Erfahrung durch Schreiben und Umschreiben und die Konsequenzen der subjektiven Erfahrung
beschreiben der Mutterschaft. Das interpretative hermeneuti-
4 die Teile und das Ganze berücksichtigen sche Paradigma wurde daher aufgrund des Poten-
zials, ein individuelles und gemeinsames Verständnis
Im Folgenden werden die Schritte, die von grundle- von einer komplexen multidimensionalen menschli-
gender Bedeutung für die Erstellung strenger qualita- chen Reaktion (Mutter eines kleinen Kind mit einer
tiver Forschung sind, dargestellt und erläutert, wie sie Behinderung zu sein) zu erzeugen, als die am besten
in einem hermeneutischen Ansatz verwendet werden geeignete Methode für diese Forschung erachtet.
können. Jeder Schritt des Forschungsprozesses wird
von einem Beispiel, wie der Schritt im Rahmen eine z z Verständnis durch den Dialog mit den
Studie verwendet wurde, begleitet. Diese Studie ver- Teilnehmern gewinnen
wendete einen hermeneutischen Ansatz, um die In der hermeneutischen Forschung geht es nicht um
Reaktionen von Müttern auf Kinder mit Behinde- die Entdeckung einer verallgemeinerbaren Wahrheit,
6 rungen („reactions to mothering children with disa- daher ist ein gezieltes Sampling die Auswahlmethode
bilities“) zu explorieren (Ferris 2013). der Wahl (Gadamer 1996, Guba u. Lincoln 2005).
Ziel ist es, begründet Textdaten oder ein Sample
z z Auswahl der Fragestellung und der Methode von Menschen auszuwählen, die eine reiche und
Ein wesentliches Kriterium für die Wiedergabe- dichte textuelle Beschreibung des Themas anbieten
treue im Rahmen des hermeneutischen Ansat- können, um die Interpretation und das Verständnis
zes ist die Angemessenheit des Interessensbereichs zu erleichtern (Patton 2002, van Manen 1997). Alle
und wie dies durch eine Forschungsfrage zum Aus- Mütter in unterem Forschungsbeispiel konnten indi-
druck gebracht wird. Forschung in der hermeneu- viduelle Erfahrungen und Reaktionen darauf, Mutter
tischen Tradition wird vom Ziel getragen, ein tiefes eines kleinen Kindes mit einer Behinderung zu sein,
Verständnis für eine bestimmte Erfahrung zu errei- aus einer „Insider-Perspektive“ anbieten. Sie wurden
chen. Der Aufbau der „richtigen“ Frage beeinflusst daher als „keyinformants“, d. h. als Schlüsselperso-
den gesamten Forschungsprozess. nen, für das Thema erachtet. Health-service-delive-
ry-Forschungen haben gezeigt, dass es mehrere Rea-
Beispiel litäten der Erfahrung mit Behinderung gibt, deren
Die Forschungsfrage der Studie über die Reaktio- Komplexität die Überzeugungen und die Perspekti-
nen von Müttern auf Kinder mit Behinderungen ven der Gesundheitsprofessionisten übersteigt (Hol-
(Ferris 2013) lautete: Was sind die Reaktionen einer loway u. Freshwater 2007).
Gruppe von Müttern, die in einer ländlichen und
abgelegenen Region Australiens leben, darauf, ein Beispiel
kleines Kind mit einer Behinderung zu haben, das Die Studienteilnehmerinnen waren 19 Mütter, die ein
eine spezialisierte Therapie für das frühe Kindesalter Kind mit einer Behinderung im Alter von 2–5 Jahren
(„specialist early childhood therapy“) erhielt? hatten. Alle Mütter lebten in einer ländlichen Region
im Süden Australiens, die Kinder erhielten eine spe-
„Mothering“ (Muttersein) umfasst mehrere Absich- zialisierte Therapie für das frühe Kindesalter („spe-
ten, Reaktionen und interaktive Prozesse, die häufig cialist early childhood therapy“), die auf verschie-
stillschweigend, unterbewusst und im Kontext auf- denste Aspekte der Behinderung fokussiert war.
treten. Der Schwerpunkt der Forschung lag auf
den subjektiven Beziehungserfahrungen zwischen z z Identifikation des Vorverständnisses der
Müttern und ihren Kindern und den Auswirkun- Forscherin und Orientierung zum Thema
gen, die die Behinderung auf sie hat. Der Versuch, Hermeneutik ist nicht nur einfach eine For-
Reaktionen darauf, Mutter eines Kindes mit Behin- schungsmethode, sondern expliziert eine Haltung:
derungen zu sein, in einer abgelegenen geographi- eine Weise des Seins in der Welt. Hermeneutische
schen Region mit einem spezifischen akontextuel- Wissenschaftlerinnen bringen ihre Befangenhei-
len quantitativen Verfahren (z. B. Fragebogen) zu ten, Vorurteile und Annahmen in die Forschung
beschreiben, ignoriert die Komplexität der Realität ein, die Färbungen ihrer Interpretationen bewirken.
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
103 6
Gadamer (1996) bezieht sich auf die Elemente mit Müttern von Kindern mit Behinderungen be-
solcher Vorbedeutungen als die Mittel, mit denen schäftigt. (…) Mir war bewusst, dass die Tatsache,
sich die Forscher zum Thema hin orientieren, und dass ich eigene Kindern habe, dazu beiträgt, eigene
stellt fest: „Das Wichtigste ist, sich seiner eigenen Überzeugungen und Werte zum Muttersein zu ha-
Voreingenommenheit bewusst zu sein.“16 (Gadamer ben, viele von diesen Erfahrungen waren anders, als
1996, S. 269) die der Teilnehmerinnen. (…) Als ich die Geschich-
Als ersten Schritt der hermeneutischen Untersu- ten der Teilnehmer las, musste ich einen Schritt zu-
chung wird von Forschern erwartet, dass sie unter- rück machen, um meine eigenen Reaktionen auf die
suchen, was sie selbst zu dem Thema bringt und Wörter wahrzunehmen und zu bemerken und die
was ihre Haltung beeinflusst. Dies kann beispiels- Auswirkung der Signifikanz dieser Wörter und ihre
weise durch das Lesen von Texten in Bezug auf das Bedeutung auf meine Haltung zu bewerten.
Forschungsthema und durch das Schreiben und
Umschreiben von Texten, die die eigenen Lebens- Diese Forscherin hat zu halten versucht, was van
erfahrungen der Forscherin beschreiben, durchge- Manen (1997) als hermeneutische Wachheit („her-
führt werden. Gespräche mit Kolleginnen und das meneutic alertness“) bezeichnet. Hermeneutische
Führen eines Forschungsjournals unterstützen die Wachheit bezieht sich auf Situationen, in denen
Forscherin dabei, sich aktiv auf Veränderungen ihres Forscher einen Schritt zurück machen, um über die
Vorverständnisses zu konzentrieren, wenn der For- Bedeutung von Texten in Bezug auf ihre eigenen
schungsprozess voranschreitet. Das folgende Beispiel Ansichten zu reflektieren, anstatt die scheinba-
legt dar, wie die Forscherin zu ihrem Forschungs- ren Annahmen ihrer Präkonzeptionen und Inter-
thema kam. Im zweiten Beispiel wird das For- pretationen einfach zu übernehmen. Achtsame
schungsvorverständnis der Forscherin identifiziert. Untersuchungen der Beziehung zwischen den For-
schern, den teilnehmenden Menschen und der For-
Beispiel schung wurden in den Forschungsprozess eingebaut
Ich sprach eines Tages mit einer Mutter in der Klinik und sind im schriftlichen Bericht der Forschung
über die Schwierigkeiten, die sie erlebte, während expliziert.
sie sich um ihr Kind kümmerte. Ich erwartete Ant-
worten in Bezug auf die Schwierigkeiten bezüglich z z Durch den Dialog mit dem Text Verständnis
der Hilfsmittel oder den täglichen Aktivitäten. Statt- gewinnen
dessen begann sie zu schluchzen und erzählte mir, Diese Phase des hermeneutischen Forschungspro-
wie betrübt sie war. Ich war von dem, was wie Trauer zesses umfasst eine Reihe von Schritten, die nicht
klang, gerührt. Trauer über das Kind, das sie sich ge- notwendigerweise in einer linearen Abfolge zu absol-
wünscht hatte. Ich recherchierte in der Literatur vieren sind, sondern eher zirkulär erfolgen. Dies
nach Informationen über solche Trauerreaktionen beinhaltet Methoden, um die Textdaten zu erhalten
und fand Bezüge zum Konzept des „chronischen und das Geschriebene zu interpretieren. Es gibt viele
Kummers und Leids „17, die von Eltern von Kindern Wege, um Textdaten zu erhalten, und der hermeneu-
mit einer Behinderung erlebt werden. Ich stellte mir tische Ansatz kann mehr als einen dieser Wege in
die Frage, ob andere Mütter von Kindern mit einer einer Studie nutzen. In der Forschung im Gesund-
Behinderung ähnliche Reaktionen erlebten. heitsbereich können Daten Krankengeschichten,
Therapienotizen, Bilder, E-Mails, Patientenversor-
Beispiel gungsleitlinien und vieles mehr enthalten. Es über-
Ich habe chronische Gesundheitsprobleme in mei- steigt den Umfang dieses Kapitels, alle Möglichkeiten
ner eigenen Familie erlebt, die tiefe Reaktionen aus- zu skizzieren. Dieser Abschnitt wird sich daher auf
gelöst haben. (…) Ich habe mich als Ergotherapeutin 2 übliche Textquellen konzentrieren: geschriebener
im Bereich der frühen Förderung seit über 20 Jahren Text, der aus Interviews erzielt wurde, und Textdaten,
die aus den reflektierenden schriftlichen Aufzeich-
16 „The important thing is to be aware of one's own bias.“ nungen wie Feldnotizen und Geschichten gewon-
17 „Chronic sorrow“ nen wurden.
104 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

z z Hermeneutisches Interview
Eine der häufigsten Quellen von Textdaten sind Wichtige Punkte für die Gestaltung eines
Interviews zwischen Forschern und Teilnehmern hermeneutischen Interviews
des hermeneutischen Gesprächs. In der Hermeneu- 5 Wählen Sie ein Setting, das Privatsphäre
tik dient das Interview ganz bestimmten Zwecken. bietet.
Zum einen dient es als Mittel für die Erforschung 5 Wählen Sie einen Ort, an dem es keine
und Sammlung von Narrativen (oder Geschichten) Ablenkungen gibt und an dem es leicht ist
über Erlebnisse und Erfahrungen. Zum anderen ist zu hören, was die Personen berichten.
das Interview eine Möglichkeit, eine Gesprächsbe- 5 Wählen Sie einen angenehmen,
ziehung mit Menschen über ihre Erfahrungen zu komfortablen Ort.
entwickeln, während mit der Person über das vor- 5 Wählen Sie eine nicht bedrohliche
liegende Thema reflektiert wird (van Manen 1997). Umgebung.
Interviews ermöglichen es auch, Geschichten in den 5 Wählen Sie einen Ort, der leicht zugänglich
6 eigenen Worten mitzuteilen. ist.
Der Interviewprozess arbeitet in einem Umfeld 5 Wählen Sie einen Standort, der mit Audio-
von Sicherheit und Vertrauen, die zu Beginn festge- oder Videoaufzeichnung ausgestattet ist,
legt werden und während des gesamten Kontaktes falls dies erforderlich ist.
der Forscherin mit den Teilnehmerinnen eingehalten 5 Stellen Sie sicher, dass es keine
werden müssen. Ein hermeneutisches Interview wird Unterbrechungen durch Telefon oder
nach dem Vorbild eines Dialogs oder einer Konver- Besucher gibt.
sation durchgeführt. Ein Interviewleitfaden ist nütz- 5 Stellen Sie Sitzgelegenheiten zur
lich, soll aber nicht starr eingehalten werden. Die Verfügung, die die Mitwirkung und
erste Frage ist von entscheidender Bedeutung, da sie Interaktion fördern.
den Schauplatz vorgibt und in das Thema einführt.
Einleitende Fragen, die am besten funktionieren,
sind allgemein gehalten Fragen und Sachfragen, die
z z Aufnehmen und Transkribieren von
sich auf das Thema beziehen. Direkte Fragen sollten
Interviewdaten
hier vermieden werden, weil diese bedrohlich oder
störend wirken können. Ebenso sollten dichotome Das detaillierte Aufnehmen ist ein notwendiger
Fragen (ja/nein) vermieden werden, da sie die Kon- Bestandteil der Interviews, da die Aufnahmen die
versation „einfrieren“. Grundlage für die Analyse bilden. Drei Verfahren
Der Sprachfluss sollte sich den alltäglichen können zum Aufzeichnen der Daten verwendet
Gesprächen in der Lebenswelt der Person anglei- werden. Erstens, die Forscherin (oder der Transkri-
chen. Zur gleichen Zeit sollte ein bloßes Geplauder bierende bzw. die Schreibkraft) hört den Interview-
vermieden werden, hier gilt es, das Gespräch wieder aufnahmen zu und schreibt ein ausführliches wort-
sanft auf das Thema zurückzubringen. Der Forscher wörtliches Protokoll von allem, was gesagt und getan
nimmt die zentrale Rolle in Bezug auf die Person ein, wurde. Dieses Protokoll wird durch die Beschreibun-
alles, was die befragte Person sagt, beachtet er mit gen der Charakteristika, der Körpersprache und der
Aufmerksamkeit, Interesse und Geduld. Der For- allgemeinen Stimmung der Teilnehmenden während
scher formuliert keine autoritären Meinungen (und des Interviews durch die Forscher ergänzt (Schilling
Vorbeurteilungen) und verwendet keine Mahnun- 2006). Dieser Ansatz wird von einigen hermeneu-
gen. Anstatt zu versuchen, ein Interview zu verlän- tischen Forscherinnen befürwortet, die die Über-
gern, ist es besser, das Gespräch in 2 oder mehrere legenheit des Zuhörens während des Lesens von
Sitzungen zu unterteilen. Eine Zusammenfassung Text im Rahmen der Analyse bekräftigen (Fleming
der wichtigsten, zusätzlichen Punkte für die Durch- et al. 2003). Wenn hierfür die notwendigen finan-
führung eines hermeneutischen Interviews gibt die ziellen und personellen Ressourcen zur Verfü-
Übersicht. gung stehen, die Transkriptionen von Interviews in
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
105 6
einer angemessenen Zeitspanne hergestellt werden Dialogs zu sein. Dieses Verfahren wird daher am
können und die Worte und Formulierungen der besten in Folgeinterviews benutzt, bei denen die Ver-
Person für das Verständnis notwendig sind, stellt tiefung bestehender Texte im Fokus steht.
dies die Methode der Wahl dar.
Die wichtigsten Vorteile dieses Transkriptions- z z Verwendung schriftlicher Dokumente
verfahrens sind die Vollständigkeit und die Möglich- Eine Methode, die manchmal in Verbindung mit
keit, die es den Forschern bietet, während des Inter- Interviews verwendet wird, um die Sichtweise der
views aufmerksam und konzentriert zu bleiben. Menschen zu verstehen, ist es, geschriebene Daten
Die Transkriptionen können der befragten Person in Form von Dokumenten zu verwenden. Die Doku-
zu einem späteren Zeitpunkt vorgelegt werden, um mente sind vorhandene Datensätze und bieten oft
weitere Kommentare und ein erweitertes Verständ- die Möglichkeit, mehr über den Kontext oder über
nis in späteren Stadien des hermeneutischen Zirkels die Menschen zu erfahren und zu verstehen, wie
zu erhalten. Die Hauptnachteile liegen im Zeit- und dies auf andere Weise nicht beobachtbar oder fest-
Ressourcenaufwand, um vollständige Transkrip- stellbar ist. Dokumente können nach Guba und
tionen zu produzieren, und in der hemmenden Lincoln (2005) in 2 Hauptkategorien unterteilt
Wirkung, die Aufzeichnungen auf manche Men- werden: öffentlichen Aufzeichnungen und persön-
schen haben. Wenn diese Technik gewählt wird, ist liche Dokumente.
es wichtig, dass den Interviewpartnern Vertraulich-
keit gewährleistet wird und dass ihre Berechtigung Öffentlichen Aufzeichnungen („public records“) Diese
hierfür erhalten wird. Materialien werden erstellt, um ein Ereignis zu attes-
Ein zweites mögliches Verfahren für die Auf- tieren oder zu dokumentieren („attesting an event“
zeichnung der Interviews zielt weniger auf die Wort- (Guba u. Lincoln 2005). Öffentliche Datensätze, die
für-Wort-Transkription des Interviews ab, sondern in der gesundheitswissenschaftlichen Forschung ver-
basiert mehr auf den von der Forscherin während der wendet werden, sind beispielsweise Patientendaten und
Aufnahmen getätigten Notizen. Nach Beendigung Behandlungsrichtlinien, aber auch Dokumente wie his-
des Interviews hört sich die Interviewerin sobald wie torische Berichte, institutionelle Leitbilder, Jahresbe-
möglich nochmals das aufgezeichnete Interview an, richte, standardisierte Testberichte, Besprechungspro-
um bestimmte Fragen zu klären und um zu bestäti- tokolle, interne Vermerke, strategische Handbücher,
gen, dass alle wichtigen Punkte in die Notizen aufge- institutionelle Geschichtsbücher, offizielle Korres-
nommen wurden. Diese Vorgehensweise empfiehlt pondenzen, demographische Materialien, Medienbe-
sich, wenn die Ressourcen knapp sind und wenn die richte und Beschreibungen von Therapien und thera-
Ergebnisse in einer kurzen Zeit vorliegen müssen. peutischen Programmen. Diese Materialien können
Ein offensichtlicher Nachteil dieser Vorgehensweise sowohl für das Verständnis des Kontextes als auch für
ist, dass die Forscher selektiver oder voreingenom- die Erfahrungen von Menschen, die in der hermeneu-
mener sein könnten. Dies beeinflusst die Auswahl tischen Forschung involviert sind, hilfreich sein.
dessen, was sie berichten bzw. schreiben, und es wird
ein Verständnis gefördert, das näher bei den bereits Persönliche Dokumente Darunter werden Schilde-
bekannten Vorannahmen und Ideen liegt. rungen von Ereignissen und Erfahrungen aus erster
Im dritten Ansatz verwenden die Forscher Hand durch die Personen selber verstanden. Diese
keine Aufzeichnungen, sondern fertigen detaillierte können als „documents of life“ verstanden werden
Notizen während des Interviews an. Die Notizen und beinhalten Tagebücher, Fotografien, Kunst-
werden aus dem Gedächtnis direkt nach dem Inter- werke, Terminplaner, Scrapbooks18, Gedichte, Briefe
view schriftlich erweitert und erklärt. Dieser Ansatz
ist zwar sinnvoll, wenn die zeitlichen Ressourcen
18 Anmerkung des Übersetzers: Unter Scrapbooks werden
knapp sind. Allerdings ist es nahezu unmöglich, im angloamerikanischen Raum leere Bücher verstanden,
gleichzeitig ein Gespräch zu dokumentieren und die mit Fotos, persönlichen Notizen, Zeitungsartikeln, Ein-
selber Teilnehmer eines komplexen menschlichen trittskarten etc. angereichert werden.
106 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

und Geschichten. Persönliche Dokumente können Selbst jetzt, wie ich zurückdenke, muss ich meine
der Forscherin helfen, vertiefend zu verstehen, wie Tränen zurückdrängen, wenn ich mich erinnere, wie
ein Mensch die Welt sieht und was er kommunizieren ich in einem Zimmer sitze und ein paar einfache Wör-
möchte. Informationen aus persönlichen Dokumen- ter höre, die mein Leben für immer verändert haben.
ten können auch verwendet werden, um Interview- Zweite Mutter:
fragen zu erzeugen, und sie können der Forscherin Von mir wird erwartet, dass ich die Starke bin. Die
eingangs helfen, sich in der Lebenswelt einer Person Mutter und Anwältin, die die Zügel der Behandlung
zu orientieren, bevor ein intensiver Dialog darüber meines Sohnes in die Hand nimmt, und die ihm al-
aufgenommen wird. les, was er nur jemals brauchen wird, zur Verfügung
Im Forschungsbeispiel, dass in diesem Kapitel stellt, damit er seine Herausforderungen meistern
beschrieben wird, verwendete die Forscherin 2 Nar- kann. Meine Rolle hat sich verändert, von einer trau-
rative, um Text für die Interpretation zu erhalten: ernden Mutter zu einem Fels in der Brandung, als ich
sowohl Lebensgeschichten, die eingangs im Privaten begann seine Behinderung der erweiterten Familie
6 von den Müttern geschrieben wurden, als auch Fol- zu erklären. Plötzlich wurde ich gelobt, wie gut ich
low-up-Interviews. In der ersten Instanz wurden die das alles „bewältige” und was für einen „tollen Job”
teilnehmenden Mütter gebeten, „einfach darüber zu ich leiste. Da hatte ich das Gefühl, dass ich mich so
schreiben, wie es ist, Mutter ihres Kindes zu sein“. Sie verhielt, wie eine Mutter eines behinderten Kindes
konnten über beliebiger Aspekte des Themas schrei- sich verhalten soll. Ich darf mich nicht bedauern.
ben und beliebige Texterzeugungsverfahren ver- Bis zum jetzigen Tag verbreite ich das für jeden um
wenden: Computertext, handschriftlicher Text oder mich herum. Die Realität ist freilich eine andere.
Audioaufzeichnungen, die dann zu Text transkribiert
wurden. Alle Mütter wählten die schriftliche Form z z Interpretation des Textes
der Textverfassung, die Länge der Texte lag zwischen Sobald die Daten vorliegen, sind mehrere Schritte
einer und 20 Seiten. Sie berichteten, wie sehr sie die an der Interpretation der Textdaten beteiligt. In der
Möglichkeit wertschätzten, ihre Gefühle im priva- hermeneutischen Forschung beginnt die Analyse,
ten Setting aufzuschreiben. Viele entdeckten, dass sie sobald das erste Interview oder der erste Text vor-
zum ersten Mal die Möglichkeit hatten, zusammen- liegt. Später gewonnene Interviewdaten werden dann
hängend über ihre Gefühle und Gedanken reflektie- zum jeweiligen Zeitpunkt der Erstellung analysiert.
ren zu können. Die folgenden Textbeispiele enthal- Bei der Analyse orientiert man sich an nachfolgen-
ten kurze Ausschnitte aus den Texten zweier Mütter. den Verfahren.

Beispiel Definieren der Analyseeinheit Die Analyseein-


Erste Mutter: heit bezieht sich auf die Menge des Textes, der zur
Ich kann mich nicht an einen Tag in den letzten Auslegung verwendet wird. In der hermeneuti-
15  Monaten erinnern, an dem die Worte Autismus schen Analyse wird sowohl der gesamte Text als
oder autistisch nicht in meine Gedanken gekom- auch Textteile für die zirkuläre Analyse (herme-
men sind. An manchen Tagen ist es nichts anderes, neutischer Zirkel) verwendet. Der Forscher liest
als eine Erinnerung an einen Termin, an anderen ist den ganzen Text, um eine übergreifende Bedeutung
es ein Gespräch mit meinem Mann, manchmal eine (thematische Interpretation) zu suchen, und sucht
aufgezwungene Erklärung für einen unwissenden dann nach „Unterbedeutungen“, die Teile des Ganzen
Fremden. An manchen Tagen ist es noch immer aus- bilden. Die Themen oder Bedeutungen, die im Text
reichend genug, um mich zum Weinen zu bringen. gefunden werden, sind die eigentliche Analyseein-
An diesen Tagen kann es beginnen mit einer Beob- heit und nicht vorbestimmte sprachliche Ausgestal-
achtung, einer unsensiblen Bemerkung über einen tungen oder linguistische Einheiten (z. B. Wort, Satz
heftigen Vorfall, die mich zum Schluchzen bringt, oder Absatz). Die Bedeutung kann sich in einem ein-
als ob mein Sohn erst gestern diagnostiziert worden zigen Wort, einer Phrase, einem Satz, einem Absatz
wäre. Wenn bei dem eigenen Kind eine Behinderung oder einem ganzes Dokument darstellen und ist der
diagnostiziert wird, ist das buchstäblich verheerend! Ausdruck einer Idee.
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
107 6
Interpretationen fusionieren, um Themen zu erwei-
tern Die Textinterpretation ist „vielstimmig“. Die 5 Machen Sie sich einen Eindruck
Daten werden gelesen und wieder lesen, mit dem vom Gesamten durch das Lesen aller
Ziel, Auslegungen anzufertigen, die sich aus einer transkribierten Texte.
Reihe von Standpunkten („fusions of horizons“) 5 Wählen Sie ein Dokument (oder das erste)
zusammensetzen. Um den Überblick über die Inter- und lesen Sie es im Detail. Fragen Sie sich:
pretationen, die in vielen Quellen des Textes gemacht – Um was geht es hier überhaupt?
wurden, zu behalten (z. B. Daten, Dokumente, Litera- – Schreiben Sie Ihre Gedanken an die
tur), kann ein Codierungsschema erarbeitet werden. Seitenränder.
Codierungsschemata sind eine Möglichkeit, um die 5 Erstellen Sie nach der Lektüre mehrerer
Interpretationen der Teile, aus denen sich das Ganze Transkripte (Texte) eine Liste der
zusammensetzt, darzustellen. Codierungsschemata wichtigsten Themen, die aus den Worten
können Wörter oder Zahlen sein, die sowohl induk- der Teilnehmerinnen „auftauchen“ (Teile
tiv (aus dem Erzähltext gesammelt) als auch deduk- des Ganzen).
tiv (aus einer vorhandenen Auslegung oder einem 5 Clustern Sie ähnliche Themen.
Konzept aus der Literatur) entwickelt wurden. Die 5 Finden Sie am besten beschreibende
Essenz der Entwicklung thematischer Interpretatio- Wordings für Ihre Themen und
nen ist die Fähigkeit der Forscherin, multiple Infor- transformieren Sie diese in thematische
mationsquellen zu „fusionieren“ oder zu integrie- Kategorien (Bedeutungen).
ren, die sich mit den Themen (Gefühle, Handlun- 5 Gehen Sie zurück zu den Daten, die Sie
gen, Situationen) beschäftigen und die in irgendeiner bereits gelesen haben, und kürzen Sie die
Weise kategorisiert werden können. Themen zu Codes, indem Sie die Codes
Eine Einheit der Texte (z. B. Wort oder Satz) neben den entsprechenden Segmenten
kann mehr als einem Thema gleichzeitig zugeord- des Textes einfügen.
net werden (Tesch 1990). Der Forscher definiert die 5 Gruppieren Sie Themen, die zueinander in
Kategorien in den Codierungsschemata in einer Beziehung stehen.
Weise, die Interpretationen des Forschers deutlich 5 Verbinden Sie Themen oder Bedeutungen
macht. Im Rahmen der während des Forschungspro- zu einer Handlung („story line“).
zesses fortschreitenden Interpretationen helfen inter- 5 Entwickeln Sie eine „Zitatebank“, die
pretative Memos und Notizen, die der Forscher beim narrative Ausschnitte enthält, die die
Analyseprozess anfertigt, bei der Pflege oder Ände- Essenz der Themen vermitteln.
rung der Codes und deren Definitionen (Schilling 5 Entwickeln Sie ein reformiertes
2006). Während die Daten erhoben werden, entste- konzeptionelles Verständnis des Ganzen
hen neue Interpretationsthemen. Die Schritte einer und seiner Teile.
manuellen systematischen Interpretation und Codie- 5 Verwenden Sie Grafiken, Abbildungen
rung von Daten sind in der folgenden Übersicht und Tabellen, um die Erörterung zu
aufgeführt. Diese Schritte stellen dar, wie die Inter- unterstützen.
pretation der Teile und des Ganzen bei einer Unter-
suchung erreicht werden kann.

Obwohl es durchaus umstrittenen ist, berichten For-


scher (z. B. Jones 2007 oder Welsh 2002), dass die
Zuordnung von Codes Analyse der hermeneutischen Daten durch Compu-
Folgende Schritte werden bei der Zuordnung terprogramme wie NVivo unterstützt werden kann.
von Codes durchgeführt, um sie als Interpre- Die Computerprogramme variieren in ihrer Komple-
tationen der Teile und der gesamten Daten xität und ihrem Entwicklungsstand, aber ihr gemein-
kenntlich zu machen: sames Ziel ist es, Forscherinnen bei der Organisa-
tion, Verwaltung und Codierung qualitativer Daten
108 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

Thema 2:
“Ich kann mich nicht an einen Tag in den letz ten 15 Monaten Sorge ist eine allge-
erinnern, wo nicht die Wor te Autismus oder autistisch in genwärtige Reaktion
meinen Gedanken vorgekommen sind. An manchen Tagen ist und dauert an, so
es nichts anderes, kein Komma nach als die Erinnerung an einen Termin, lange das Kind
an ande-ren ist es ein Gespräch mit meinem Mann, manchmal eine auf- lebt.
gez wungene Erklärung fur einen unwissenden Fremden und an Thema 4:
manchen Tagen ist es noch immer genug, um mich zum Die Intensität der
Weinen zu bringen. Sorgenreaktion kann
variieren, nimmt aber
nicht ab.

6
. Abb. 6.4 Codierung und Interpretation im Rahmen der Hermeneutik

effizient zu unterstützen. Zu den Grundfunktionen, oder Gruppen wesentlicher Themen geclustert. Das
die von diesen Programmen unterstützt werden, Beispiel in . Abb. 6.4 stammt aus den Codierungs-
gehören die Textverarbeitung, die Notizen und notizen der Forscherin und ist ein Beispiel dafür, wie
Memoanfertigung, das Codieren und die Textre- ein Abschnitt des Narrativs einer Mutter durch die
cherche (Lewins u. Silver 2007). Aktuelle qualitative Forscherin interpretiert wurde. Das Beispiel zeigt 2
Datenanalysesoftware beinhaltet üblicherweise ein Themen, die gefunden wurden und die sich in den
visuelles Präsentationsmodul, dass es den Forschern Narrativen aller Mütter wiederholt haben.
ermöglicht, die Beziehungen zwischen den Katego-
rien darstellbar zu machen. Einige Programme erlau- Finalisieren der Interpretationen Die Interpreta-
ben es darüber hinaus, die Codierungshistorie auf- tion ist ein fortlaufender, konzeptioneller Prozess.
zuzeichnen, um den Überblick über die Entwicklung Jedoch erreicht sie irgendwann einen Punkt, an dem
der Interpretationen halten zu können. Sobald mit sie beendet wird und der Forscher sich für die bis zu
vielen Interviews zu arbeiten ist oder ein ganzes For- diesem Zeitpunkt aus den Daten abgeleiteten Bedeu-
scherteam im Projekt tätig ist, erweist sich Daten- tungen entscheiden muss. Forschungsaktivitäten in
analysesoftware zur Unterstützung des Prozesses als dieser Phase bestehen beispielweise aus der weiteren
vorteilhaft. Kleinere Studien, wie jene, die in diesem Erforschung der Eigenschaften und Dimensionen
Kapitel veranschaulicht wird, werden am besten „von der Kategorien, dem Identifizieren von Beziehun-
Hand“ gemacht, sodass die Forscherinnen einen gen zwischen den Kategorien, dem Aufdecken von
engen Dialog mit den Daten eingehen können. Mustern und der Überprüfung thematischer Kate-
Im Forschungsbeispiel, das in diesem Kapitel gorien gegen die vollständige Bandbreite der Daten
präsentiert wird, hat die Forscherin die Daten mehr- (Bradley 1993).
fach auf ihre Vollständigkeit und die Richtigkeit der Dies ist ein entscheidender Schritt im begriffli-
Transkriptionen mit den aufgezeichneten Inter- chen Interpretationsprozess, und der Erfolg beruht
views überprüft. Die geschriebenen Lebensgeschich- fast ausschließlich auf den Schlussfolgerungsfähig-
ten und die anschließenden Interviewtranskripte keiten („reasoning“) des Forschers. Das folgende
wurden dann untersucht und in Statements gliedert, Beispiel stellt dar, wie die Forscherin Unterthe-
ein Prozess, den Creswell (2007, S. 55) als „Horizon- men innerhalb einer thematischen Kategorie grup-
talisierung“ bezeichnet. Diese Aussagen wurden piert hat. Diese thematische Kategorie stellt dar,
dann unter Verwendung eines Cut-and-Paste-Ver- wie Eltern eine Erschütterung („shock“) bei der
fahrens zu Gruppen mit ähnlichen Bedeutungen initialen Entdeckung erfahren, dass ihr Kind eine
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
109 6
Entwicklungsstörung hat. Für die Unterthemen interpretativ, und die Interpretation stellt immer das
dieser Kategorie verwendete die Autorin Ausdrü- persönliche und konzeptionelle Verständnis der For-
cke, die direkt in den schriftlichen Narrativen der scherin zum Gegenstand der Untersuchung dar. Ein
Eltern auftauchten. akzeptabler hermeneutischer Bericht sollte daher
den zirkulären Prozess der Forschung selbst reflek-
Beispiel tieren: Ausreichende Beschreibungen erlauben es
Thema 3: Eltern empfinden einen Schock bei der anderen, die textliche und inhaltliche Basis der Inter-
ersten Entdeckung pretationen des Forschers zu verstehen, und ausrei-
Unterthemen: chende Interpretationen ermöglichen es anderen
4 Schock wiederum, ein tieferes Verständnis der Beschreibung
4 Du weißt nicht, wie du es herausfinden wirst des Forschungsthemas zu erlangen.
4 Komplikationen
4 Nichts bereitet dich darauf vor Vertrauenswürdigkeit Wie bei anderen Methoden
4 Bist du sicher? der qualitativen Forschung üblich, sind hermeneu-
4 Das muss ein Irrtum sein tische Forscher dafür verantwortlich, die Vertrau-
4 Bitte nicht. Nicht ich. enswürdigkeit des Forschungsprozesses und den
4 Der Traum geht verloren Wahrheitsgehalt der Analyse zu etablieren. Die hier
4 Was dir die Diagnose nicht sagt von Guba und Lincoln (2005) beschriebenen Kri-
4 Verzögerungen bei der Diagnose terien eignen sich besser für qualitative Studien als
die quantitativen Begriffe der Reliabilität und Vali-
z z Über die Ergebnisse berichten dität und können im Rahmen hermeneutischer For-
Um die Studie replizierbar zu machen und die Ver- schung zur Anwendung kommen. In Forschungsta-
fahren transparent zu halten, ist es notwendig, die gebüchern („write-ups“) werden sowohl die Schritte
Interpretationsverfahren und -prozesse so vollstän- der Forschung als auch die verschiedenen Entschei-
dig und wahrheitsgemäß wie möglich wiederzuge- dungen, die während der laufenden Analysephase
ben (Patton 2002). Die hermeneutische Forschung (wie bereits oben erwähnt) ablaufen, transparent
hat den Anspruch, dass die Forscher ihre Ent- dokumentiert. Dieser Vorgang wurde als „auditabi-
scheidungen und Verhaltensweisen bezüglich der lity“19 (Guba u. Lincoln 2005) bezeichnet und ist eine
Codierung ebenso wie die Methoden, die verwen- Grundkomponente der Vertrauenswürdigkeit qua-
det worden sind, ausweisen, um die Vertrauenswür- litativer Forschung.
digkeit der Ergebnisse darzulegen. Die Präsentation Glaubwürdigkeit und Bestätigbarkeit werden
von Forschungsergebnissen einer hermeneutischen ebenfalls als wesentliche Bestandteile der Vertrauens-
Analyse stellt eine Herausforderung dar. Obwohl es würdigkeit erachtet (Clayton u. Thorne 2000). Glaub-
eine übliche Praxis ist, typische Zitate zu verwenden, würdigkeit bezieht sich auf eine „angemessene Ver-
um Schlussfolgerungen zu rechtfertigen (Schilling tretung der Konstruktionen der sozialen Welt, die
2006), können auch andere Informationen, etwa beforscht wird“20 (Bradley 1993, S. 436). Diese Ange-
Matrizen, Grafiken, Diagramme und konzeptionelle messenheit wird dann hergestellt, wenn die Perspekti-
Netzwerke, eingearbeitet werden. ven der Teilnehmer sowohl umfassend und so kohärent
Die Form und der Umfang des Abschlussbe- wie möglich als auch im Kontext dargestellt werden.
richts hängen von den spezifischen Forschungszie- Die Verwendung direkter Zitate aus den Texten ermög-
len der Fragestellung ab, und die Verbindung zu den licht es den Lesern, eigene Urteile über die Größe der
Forschungsfragen muss klar werden (Patton 2002). Übereinstimmung zwischen der Interpretation und
Bei der Vorstellung der Ergebnisse der hermeneu- dem zitierten Text zu fällen. Bestätigbarkeit bezieht
tischen Forschung sollte immer ein Gleichgewicht
zwischen Beschreibung und Interpretation bestehen.
Reiche, dichte Beschreibungen schaffen den kontex- 19 Prüfsicherheit, Revisionssicherheit
tuellen Hintergrund für die Auslegung. Allerdings 20 „Adequate representation of the constructions of the
ist hermeneutische Forschung in ihrem Grundsatz social world under study“
110 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

. Tab. 6.6 Elemente der Glaubwürdigkeit und der Aufrichtigkeit bei der Bewertung hermeneutischer Forschung

Kohärenz Die Interpretation eines Textes stellt ein klares, einheitliches Bild des Ganzen und seiner Teile
ohne Widersprüche dar.

Umfang Das Interpretieren des Textes nimmt Kenntnis von den „Gedanken“ der Teilnehmer.
Durchdringung Die Interpretation ist durchdringend, sie bringt unsere zugrunde liegenden Gedanken und
Absichten in Aussagen zutage, liest zwischen den Zeilen und achtet sowohl darauf, was weg-
gelassen wurde, als auch auf die Stille.
Gründlichkeit Die Interpretation versucht, alle Forschungsfragen zu beantworten, die an die Textdaten
gestellt wurden.
Kontext Der Text wird weder aus dem Zusammenhang herausgerissen gelesen, noch wird über ihn
aus dem Zusammenhang herausgerissen berichtet.
6 Einigkeit Eine Auslegung stimmt dem eindeutig zu, was der Text zu sagen hat.
Fragen aufwerfen Eine endgültige Interpretation wirft weitere Fragen auf, die beim Leser weitere Interpretatio-
nen stimulieren.

sich auf „das Ausmaß, in dem die vom Forscher pos- wurden, darzulegen. . Tab. 6.6 fasst die methodischen
tulierten Charakteristika der Daten durch andere, Grundprinzipien zusammen, die verwendet werden,
die die Forschungsergebnisse lesen, bestätigt werden um Zuverlässigkeit und Aufrichtigkeit22 im Rahmen
können“21 (Bradley 1993, S. 437). Bestätigbarkeit kann des hermeneutischen Ansatzes zu etablieren.
durch mehrere Möglichkeiten erreicht werden, etwa
durch Bestimmung des Niveaus der Textdurchdrin- Mitteilen der Ergebnisse Mit dem Schreiben über
gung, Überprüfung der Interpretationen gegen die die Daten kommt das „making sense“, d. h. es entsteht
Rohdaten, „peer debriefing“ und Überprüfung der das Verständnis der Daten. Der letzte Akt einer Inter-
Interpretationen mit den Teilnehmern. pretation tritt zu einem beliebigen Zeitpunkt auf,
Die Ansichten über die Wahrhaftigkeit der wenn der Forscher über das schreibt, was im Dialog
Analyse können in der hermeneutischen Tradi- mit der Gesamtheit der Daten und deren Teile ent-
tion von anderen qualitativen Ansätzen abwei- deckt worden ist. Das Schreiben über die Erkennt-
chen. Gadamer (1996) zum Beispiel nimmt an, dass nisse bringt die Entscheidungen mit sich, festzulegen,
es kein universell „wahres“ Statement gibt, weil es was in die Beschreibung aufgenommen werden soll
weder möglich ist, Erklärungen aus dem Kontext, in und was nicht, welche Interpretationsaspekte betont
dem sie gemacht wurden, noch von der Komplexi- werden und in welcher Form der Bericht erfolgt. Die
tät der Interpretation, die ihr durch die Forscherin Ergebnisbeschreibung in der hermeneutischen For-
auferlegt wurde, loszulösen. In der hermeneutischen schung unterscheidet sich von anderen Formen der
Forschung wird das Verständnis durch die Kohärenz Forschungsberichterstattung, da die Dokumentation
des Ganzen und seiner Textteile erreicht. Vertrauens- der Bedeutungen, die im Text gefunden wurden, mit
würdigkeit wird daher durch den in der Forschung einer Diskussion über sie verschmilzt. Das zirkuläre
verwendeten Forschungsprozess erzielt und nicht Denken, das Teil der hermeneutischen Methodologie
durch die Schlussfolgerungen des Forschers. Es liegt ist, kann zu Schwierigkeiten und Redundanz beim
in der Verantwortung der Forscherin, genügend Ein- Schreiben führen. Daher ist es empfehlenswert, vor
zelheiten der verwendeten Prozesse zu schildern und dem Beginn des Verfassens einer endgültigen Inter-
die Ergebnisse, die durch die Interpretationen erzeugt pretation über die Interpretationen nachzuden-
ken und sich eine Liste möglicher Interpretationen
21 „The extent to which the characteristics of the data, as
posited by the researcher, can be confirmed by others
who read the research results“ 22 „Trustworthiness and truthfulness“
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
111 6

Ein wortwörtliches Zitat


erleichtert es dem Leser,
... ich blieb mit einer Unzahl von Behandlungen, Etikettierungen die Herkunft des Themas

(’labels’) und ewigen Anstrengungen über, die sich für den Rest zu verstehen In allen 4
meines und seines Lebens (Carly) fortsetzen würden.“ Kästen Satz mit Punkt enden

Alle Mütter waren sich bewusst, dass ihre Kinder lebenslange


zusätzliche Betreuung in irgendeiner Form aufgrund ihrer Dem interpretativen
Behinderungen und ihrer speziellen Bedürfnissen benötigen Statement folgt eine
würden. Dein Verstand läuft in die Zukunft“ (Julie). Einigne Beschreibung der Inter-
” pretation, die eine
Mütter Zogen in Betracht, dass sie die beste Betreuungsperson
für ihr Kind waren und Bridget, die die ganze Versorgung fur Fusion der Wörter des
ihren frühgeborenen Sohn übernahm ((statt bereitstellte)), beschrieb, Forschers und der
wie T’s Bedürfnisse genauso meine Bedürfnisse wurden“. Obwohl Teilnhmer verwendet

Bridget ihr Leben zu diesem Zeitpunkt als ein wenig eindi-

mensional“ beschrleb, äußerte sie,dass wenn es mir gut geht mit dem,

was ich beitrage, dann vermute ich, hilft mir das, mich gut zu fühlen.“

Die Mütter stellten ihre eigenen persönlichen Bedürfnisse und Dem interpretativen
Ziele zurück, um zusätzliche Aufgaben durchführen zu können, Statement folgt eine
die die Behinderung ihres Kindes erfordert, ebenso wie auch Beschreibung der Inter-
die mütterlichen Aufgaben, denen sich alle Mütter verpflichtet pretation, die eine
fühlen. Sally berichtete über die Erfahrung in der Betreuung Fusion der Wörter des
ihres Kind als ... es ist den ganzen Tag, jeden Tag. Es gibt keine Forschers und der

Pause. Er braucht dich, um sein Gehim zu sein und um ihm bei Teilnhmer verwendet
seinen Entscheidungen und Denkprozessen zu helfen.“
Die Mütter wollten, dass ihre Kinder betreut werden, qualitäts-
volle Erfahrungen in ihrem täglichen Leben haben und class sie Dem interpretativen
sich sicher fühlen. Sie waren sich aber nicht immer uber die Art Statement folgt eine
der Betreuung, die ihre Kinder brauchten, sicher oder wer sie Beschreibung der Inter-
anbleten könnte, wenn sie es nlcht selber taten. Als lhr Kind pretation, die eine
mehr Unabhängigkeit, vor allem in den Selbsterhaltungs- Fusion der Wörter des
fähigkeiten, entwickelte, fühlte Patricia ein Erfolgserlebnis zu Forschers und der

wissen, dass er funktiosfähig war, ohne dass ich immer 24 Teilnhmer verwendet
Stunden am Tag um ihn herum sein muss, das ermöglichte es
mir zu“ ahhhhh Atmen.“

. Abb. 6.5 Beispiel eines hermeneutischen Berichts (für die Mütter und die Kinder wurden Pseudonyme verwendet)

anzulegen. Eine Reihe von Strategien kann verwen- Interpretationen werden ebenfalls beschrieben, um
det werden, um die Punkte in diesem Forschungsab- die Interpretationen der Forscherin dazulegen. Im
schnitt zu sortieren und zu organisieren. Beispiel in . Abb. 6.5 wird dargelegt, dass hermeneu-
In der hermeneutische Forschung ist es tisches Schreiben eine Fusion aus der Beschreibung
die Aufgabe des Schreibers, die Gedanken und und der Interpretation des Dialogs des Forschers und
Gefühle des Lesers in einer Weise zu stimulieren des Teilnehmers darstellt. Das Beispiel stammt aus
und zu halten, das weitere Interpretationen fazili- dem Write-up23 der Studie, die als Beispiel in diesem
tiert werden (Gadamer 1996, S. 393). Die Forsche-
rin gestaltet das Schreiben klar, aber eindrucksvoll.
23 Anmerkung des Übersetzers: Unter Write-up wird im ang-
Direkte Zitate von Teilnehmerinnen (oder andere loamerikanischen Raum üblicherweise eine Niederschrift
Texte) werden verwendet, um die Interpretationen im Sinne einer schriftlichen Notiz oder eines schriftlichen
zu veranschaulichen. Die Quelle und der Kontext der Berichts verstanden.
112 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

Kapitel verwendet wird, und beschreibt das Vorhan- nicht nur für eine Forscherin, sondern auch für ein
densein von chronischem Kummer von Müttern, ganzes Team. Er erfordert vor allem auf Seiten der
die Kinder mit Behinderungen haben (Ferris 2013, Forschungsleiter und der Studenten viel Zeit und
S. 106–107). Das Unterthema „Ein Leben lang die Energie. Forschungsstudenten, die diesen Ansatz
Last sich zu kümmern“24 enthielt die folgenden 3 erwägen, wird daher empfohlen, eine kleine, über-
Aspekte, die ein Teil jedes Themas sein sollte, von schaubare Samplegröße zu verwenden. Schließlich
dem berichtet wird: konzentriert sich die Hermeneutik auf Erfahrungen,
4 Verwendung von Wörtern, die direkt aus dem die einzigartig für den Menschen und ihr jeweiliges
Text stammen Setting sind. Daher können die Erkenntnisse weder
4 Kontextualisieren des Textes auf eine größere Population verallgemeinert, noch
4 Interpretation der Textteile innerhalb des als alleinige Grundlage für (gesundheits-)politische
Ganzen Entscheidungen verwendet werden.

6 Das Primäre des hermeneutischen Berichts ist der Zusammenfassung


Text. Grafiken, falls sie verwendet werden, unter- In diesem Kapitel wurde beschrieben, wie der
stützen nur den Text. Unkomplizierte Forschungs- hermeneutische Forschungsansatz darauf abzielt,
funde benötigen in der Regel keine visuelle Hilfe, gelebte Erfahrung von Menschen zu erklären. Es
ebenso wenig ist eine visuelle Hilfe für jede Feststel- wurde gezeigt, wie die Bedeutung durch einen
lung erforderlich. Visuelle Darstellungen können Prozess des Generierens, des Verstehens und
erstellt werden, um Interpretationen mehr Gewicht Interpretierens von Text aufgedeckt wird. Durch
zu geben. die Verwendung eines hermeneutischen Ansatzes
können Erfahrungen von Menschen in einer di-
rekten und eindrucksvollen Art und Weise geteilt
Stärken und Schwächen werden, um es dem Leser zu ermöglichen, in der
Der hermeneutische Ansatz ist aus mehreren Pers- Vorstellung in die Lebenswelt von anderen einzu-
pektiven heraus kritisiert worden. In erster Linie des- tauchen. Dabei liefert das Verfahren der Herme-
wegen, weil er offen für die Mehrdeutigkeit der Text- neutik ein Medium, um das Verständnis von Men-
analyse bleibt, sein Ziel liegt nicht auf der autoritären schen mit gesundheitsbezogenen Störungen zu
und objektiven Schlussfolgerung (Kinsella 2006), vertiefen. Das Verfahren erlaubt es der Forscherin,
sondern vielmehr darauf, es den Lesern zu ermög- über die Bedeutung der Erfahrungen zu reflektie-
lichen, mit dem vorgelegten Text in einen Dialog zu ren, und es bietet ihm eine zusätzliche Dimension
treten, um ihre eigenen Interpretationen zu bilden. des Verstehens. Die Schritte des hermeneutischen
Zudem gibt es keine „methodische Formeln“ oder Forschungsprozesses wurden dargelegt und in
„Regeln“, die auf die hermeneutische Forschungs- einem Beispiel angewendet, um das Vorgehen zu
methode angewendet werden können. Es ist daher veranschaulichen.
erforderlich, dass der Forscher die Philosophie der
Hermeneutik vor der Aufnahme des Forschungspro-
zesses versteht und in der Lage ist, diesen auch zu 6.3.8 Partizipative
artikulieren. Auch gibt es mehrere philosophische Gesundheitsforschung
Ansichten der Hermeneutik, und dem Forscher ist
es nicht möglich, die Methode innerhalb eines Kon- Verena C. Tatzer, Petra Plunger, Elisabeth Reitinger,
senses zu benutzen. Katharina Heimerl
Der Prozess der hermeneutischen Forschung
ist, wie andere qualitative Forschungsmethoden Aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen erfor-
auch, sehr zeitaufwendig und mühsam, dies gilt dern partizipative und interdisziplinäre Strategien in
Praxis und Forschung, insbesondere bei Themen im
Gesundheits- und Sozialbereich. Gesundheitsberuf-
24 „The burden of caring for a lifetime“ ler haben durch das praxisnahe Grundstudium oder
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
113 6
durch disziplinspezifische Betonung (z. B. person- Zeitschriften, sondern auch Broschüren, Presseaus-
zentrierte Strategien) potenziell gute Voraussetzun- sendungen, Vorträge, Bilder oder Videos.
gen, um partizipative Forschungsansätze zu nutzen.
Die Rolle als Experten müssen Gesundheitsprofis
kritisch hinterfragen, verlassen und zu einem ver- Themenstellungen
änderten Rollenverständnis kommen (Cockburn u. Zahlreiche Fragestellungen und Themen können
Barry 2003, Taylor et al. 2004). Im folgenden Kapitel mit partizipativer Gesundheitsforschung gemein-
wird in die partizipative Forschung eingeführt und sam erforscht werden. Wenn es in der Forschung um
anhand des Projekts „Demenzfreundliche Apotheke“ Randgruppen und/oder um verletzliche Personen
vorgestellt. geht und um die Frage, wie diesen soziale Teilhabe
ermöglicht werden kann, hat das Design eine große
Stärke. Beispiele, für Gruppen die an partizipativer
Definition Gesundheitsforschung beteiligt sein können, sind
Ziel der partizipativen Forschung ist es, Migranten mit HIV/AIDS, Jugendliche mit lebensbe-
soziale Wirklichkeit zu erforschen und zu drohlichen Erkrankungen, Menschen mit Demenz,
verändern (von Unger 2012). Wesentlich für Menschen mit Behinderung, pflegende Angehö-
diesen Forschungsansatz ist die gleichbe- rige, Eltern, die ein Kind rund um die Geburt verlo-
rechtigte Zusammenarbeit zwischen ren haben, Mitarbeiter und Leitung im Pflegeheim,
Wissenschaft und Praxis und die Partizipation Krankenpflegeschülerinnen oder die Bürger einer
(Teilhabe) der Beteiligten an den Prozessen Kleinstadt (z. B. Wegleitner et al. 2015)
und an der Wissensgenerierung (Minkler u.
Wallerstein 2008).
Welche Schritte müssen eingehalten
werden?
1. Partnerfindung und Aufbau von Koopera-
Wann soll die Methode angewendet tionsbeziehungen und Kommunikations-
werden? strukturen – noch vor der Formulierung von
Bei der Durchführung der Forschung sind Schlei- Forschungsfragen!
fen von Aktion, Reflexion und Evaluation wichtig 2. Klärung der Ressourcen, um am gemeinsamen
(Hockley et al. 2013). Partizipative Forschung eignet Vorhaben zu arbeiten
sich für Fragestellungen, die aus der Praxis an die 3. Diskussion über die Ziele des Vorhabens
Wissenschaft herangetragen werden. Passend ist (Was wollen wir wissen, und was wollen wir
das Design dann, wenn es sowohl bei den Wissen- verändern?)
schaftlern als auch bei den Praxispartnern ein Inte- 4. Formulierung der Forschungsfrage(n)
resse daran gibt, mithilfe der Forschung eine Situa- 5. Entwicklung des Designs: Dieses ergibt sich
tion zu verändern, ein Problem zu lösen oder eine aus den Zielsetzungen. Hervorzuheben ist
Organisation (weiter) zu entwickeln. Das gemein- bei partizipativen Forschungsvorhaben die
sam erarbeitete Wissen bleibt in solchen Projek- Bedeutung von Flexibilität innerhalb des
ten nicht der „scientific community“ vorbehalten, (Zeit-)Rahmens, was Methoden und Ablauf-
sondern es entfaltet erwünschterweise Wirkungen pläne anbelangt. Es ist wichtig, auf auftau-
in der Praxis. Eine Voraussetzung dafür ist Zeit, chende Fragestellungen reagieren zu können.
denn das Design ist aufwendig: Die Verständigung 6. Datenerhebung, Intervention und Auswer-
zwischen Praxispartnern und Wissenschaft braucht tungsschritte inklusive Reflexionsschleifen
den Aufbau von geeigneten Besprechungsstrukturen sind in Zyklen angelegt, die sich aufeinander
und Zeit, um miteinander zu diskutieren und sich auf beziehen und jeweils Wissen für die nächsten
eine Vorgehensweise zu einigen. Als Produkte am Projektschritte liefern.
Ende des Forschungsprojekts stehen nicht nur For- 7. Evaluation und Dissemination: Bei der
schungsberichte und Artikel in wissenschaftlichen Publikation bzw. dem Nutzung von
114 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

ProjektpartnerInnen
und -strukturen

Bindestrich Bindestrich
an die richtige an die richtige
Stelle setzen Stelle setzen

Organisationen
A A in der
A
A Kommune
Steuergruppe: A
AA, ÖAK, A A
A A
Wissenschaftler A
18 Apotheken Menschen
A
A mit
6 Projektteam: A A
A Demenz
Wissenschaftler A
A A
Betreuende
Angehörige
Beirat:
Angehörige
Palliative Care
Gesundheitsförderung Fördergeber
Apothekenmitarbeiter

. Abb. 6.6 Projektstruktur „Demenzfreundliche Apotheke“. AA Selbsthilfegruppe Alzheimer Austria, Apothekenmitarbeitende,


ÖAK Österreichische Apothekerkammer

Ergebnissen ist zu bedenken, dass neben der 3 genannten Organisationen, trifft gemeinsame Ent-
wissenschaftlichen Community (Zwischen-) scheidungen. Beratend steht der Steuergruppe ein
Ergebnisse des Forschungsvorhabens auch Beirat zur Seite, der Fachexpertinnen und betreuen-
an die Praxispartner in geeigneter Form de Angehörige einschließt. 18 Apotheken aus Wien
kommuniziert werden. Aus einer forschungs- und Niederösterreich beteiligen sich am Projekt
ethischen Perspektive lässt sich argumentieren, (. Abb. 6.6). Als gemeinsame Ziele wurden definiert:
dass diejenigen, die an der Forschung und Die Beteiligung von Apotheken an der Beratung und
Entwicklung von Maßnahmen beteiligt sind, Betreuung von Menschen mit Demenz und von be-
auch über zentrale Ergebnisse informiert treuenden Angehörigen in der Kommune zu erhö-
werden sollen, um diese aus ihrer Perspektive hen und die Lebensqualität bei diesen beiden Ziel-
zu kommentieren (von Unger 2014). gruppen zu fördern, aber auch im Apothekensetting
umsetzbare Maßnahmen zu entwickeln.
Beispiel In der ersten Phase des Projekts wurde aufbauend
Das Projekt „Demenzfreundliche Apotheke” illust- auf einer Bedürfniserhebung mit betreuenden An-
riert die oben beschriebenen Prozesse. In diesem gehörigen und einer Bedarfserhebung mit Mit-
Projekt kooperieren Wissenschaftler des Instituts für arbeiterinnen in den teilnehmenden Apotheken
Palliative Care und Organisationsethik mit der Selbst- eine Workshop-Reihe konzipiert, um Wissen und
hilfegruppe Alzheimer Austria (AA) und der Öster- Kompetenzen der Mitarbeiterinnen zu fördern und
reichischen Apothekerkammer (ÖAK). Eine Projekt- um Räume zur Reflexion über die professionelle
steuergruppe, bestehend aus Teilnehmern aus den Praxis und die Anliegen der betreuenden Angehö-
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
115 6
rigen und Menschen mit Demenz zu eröffnen. Die
Teilnehmenden reflektierten bereits in dieser Pha-
se die Umsetzbarkeit möglicher Interventionen in
der Apotheke unter den ökonomischen Vorzeichen
eines Kleinbetriebs, zum Beispiel: Wie lassen sich län-
gere Beratungsgespräche in einem Apothekenalltag
realisieren, der von kürzeren Kontakten und einem
. Abb. 6.7 Logo des Projekts „Demenzfreundliche
produktbezogenen Fokus der Beratung geprägt ist? Apotheke“
Anschließend hatten die Apothekenmitarbeiter die
Möglichkeit, begleitet und beraten durch die Wis-
senschaftlerin und im Austausch mit Kolleginnen Problemstellungen. Über die Zusammenarbeit in oft
aus den Partnerapotheken, Maßnahmen in „ihrer” interdisziplinären Forschungsteams mit Praxispart-
Apotheke bzw. im lokalen/regionalen Umfeld zu ner kann sichergestellt werden, dass Fragestellungen
entwickeln. Diese Praxisprojekte reichten von einer und die Bearbeitung der Themen für die Beteiligten
demenzsensiblen Arzneimittelberatung über die relevante Erkenntnisse bringen. Damit in Zusam-
Wissensvermittlung zu Beratungs- und Unterstüt- menhang stehen das prozesshafte Vorgehen und die
zungseinrichtungen bis zu in der Kommune ange- während des Projekts gesammelten Erfahrungen, die
siedelten Projekten mit lokalen Partnern (z.  B. Pfle- ein Lernen während des Tuns ermöglichen.
gedienste, Gemeinde, Kino, Buchhandlung).
Im Verlauf des Projekts ist es gelungen, dass sich z z Schwächen
in einem partizipativen Prozess alle am Projekt be- Diese Offenheit im Vorgehen birgt umgekehrt das
teiligten Akteure auf ein Logo verständigten, das Risiko in sich, dass die Erkenntnisse, die im Kontext
eine doppelte Zielsetzung erfüllt: Das Angebot des Anwendungsgebiets neu und innovativ sind, in
der Apotheken wird sichtbar gemacht und gleich- den entsprechenden „scientific communities“ mögli-
zeitig wird zur Entstigmatisierung beigetragen cherweise schon ähnlich veröffentlicht wurden. Auch
(. Abb. 6.7). Eine im Verlauf des Projekts entwi- die Veränderung von Fragestellungen im Laufe des
ckelte Toolbox soll die Projektergebnisse nachhal- Forschungsprozesses durch Partizipation kann pro-
tig sichern: Sie enthält erfolgreiche Maßnahmen, blematisch werden. Darüber hinaus bewegen sich
Handreichungen und Informationsbroschüren, die Projekte der partizipativen Gesundheitsforschung
im Projekt erprobt wurden. Darüber hinaus wird am prinzipiell an der Grenze von Wissenschaft und
Aufbau eines Netzwerks „Demenzfreundliche Apo- Praxis. Dadurch werden sie innerhalb von wissen-
theken“ gearbeitet. schaftlichen Paradigmen, die Objektivität und Kon-
In diesem Forschungsprojekt wurden auch „klas- textunabhängigkeit fordern, kritisch betrachtet. Es
sische“ Erhebungsmethoden verwendet, wie zum geht auch um die Frage, wodurch sich spezifisch
Beispiel Fragebogenerhebungen durch das Evalua- wissenschaftliches Wissen auszeichnet (Felt et al.
tionsteam (Plunger et al. 2014), eine Fokusgruppe 1995). Eine Herausforderung für partizipative For-
und Tiefeninterviews mit betreuenden Angehörigen schungsvorhaben ist die Sicherung der Nachhaltig-
(Tatzer et al. 2014) sowie Beobachtungen und Feld- keit sowohl von Projekterkenntnissen als auch von
notizen. Der Beteiligungsgrad der Praxispartner am Partnerschaften, die entstanden sind. Hier lohnt es
Forschungsprozess (Bergold u. Thomas 2012, von Un- sich, bereits frühzeitig im Projektverlauf darüber
ger 2012) war im Laufe des Projektes unterschiedlich. nachzudenken, wie auch nach Projektende Ergeb-
nisse nachhaltig gesichert werden können.

Stärken und Schwächen > Für die Durchführung eines partizipativen


z z Stärken Gesundheitsforschungsprojekts ist es
Eine wesentliche Stärke von partizipativer Gesund- günstig, Fragen und Themen, die Gegenstand
heitsforschung ist die Orientierung an kon- des Projekts sein sollen, möglichst frühzeitig
kreten lebensweltlichen und gesellschaftlichen abzustimmen.
116 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

Wenn Personen bereits bekannt sind und Vertrau- Zusammenfassung


ensbeziehungen schon bestehen, erleichtert dies die Partizipative Designs sind für systematische Ver-
Zusammenarbeit. Langwieriger ist es, wenn For- änderungs- und Entwicklungsprozesse besonders
schungspartner erst im Lauf des Projekts zu einer sinnvoll, aber an bestimmte Voraussetzungen ge-
Mitarbeit eingeladen werden. Phasen des Kennen- bunden, insbesondere in Bezug auf Zeitressourcen.
lernens sind dann einzuplanen, und ein entspre-
chender Umgang mit Unsicherheit wird erforder-
lich. Zumeist ist während der Projektarbeit auch 6.3.9 Qualitative Themenbildung
mit Konflikten zu rechnen. Diese werden aus Sicht
der Forschung als produktive Differenzen beschrie- Tanja Stamm, Valentin Ritschl
ben und können dem Erkenntnisgewinn dienen.
Gleichzeitig sind angemessene soziale Aushand- Definition
lungsprozesse und Räume zu gewährleisten, um Die Methode der qualitativen Themenbildung
6 eine weitere Zusammenarbeit sicherzustellen (Rei- ist ein selektives Verfahren mit sequenziellen
tinger et al. 2014). Elementen zur Analyse von qualitativen
Bei der Zusammenarbeit mit marginalisier- textbasierten Daten. Diese Methode wurde
ten Gruppen oder vulnerablen Personen sind for- gemeinsam mit Studierenden basierend
schungsethische Überlegungen essenziell (Hopf auf Vorarbeiten entwickelt, wobei in diesen
2002). Freiwillige und informierte Zustimmung ist Vorarbeiten die Methode der qualitativen
hier ebenso wichtig wie Überlegungen darüber, ob Themenbildung bisher nur in Teilen verwendet
Forschungspartnern durch das gemeinsame Vorha- wurde. Die Methode der qualitativen
ben ein Schaden entstehen kann. Aus ethischer Per- Themenbildung soll auch ermöglichen,
spektive ist zu berücksichtigen, dass wir immer in qualitative und quantitative Daten zu
Beziehungen leben und damit in unserem Verhal- verbinden.
ten voneinander abhängig sind. In durch Hierarchien
und Machtrelationen charakterisierten Forschungs-
verhältnissen, wie sie typischerweise in Institutionen Wann soll die Methode angewendet
und Organisationen vorherrschen, sind daher die werden?
Bestrebungen, einander „auf Augenhöhe“ zu begeg- Die qualitative Themenbildung eignet sich vor allem
nen, immer kritisch zu reflektieren. beim Kategorisieren und Organisieren von quali-
tativen Daten ohne interpretative Analyse. Diese
z z Anwendungslevel Methode stellt daher eine beschreibende Analyse dar.
Partizipative Anteile können auf verschiedenen Wenn eine Interpretation im Zuge der Datenanalyse
Niveaus in Forschung oder Praxisprojekte mit For- erfolgen soll, sollte eine hermeneutische Methode
schungsanteilen integriert werden. Je nach Kom- gewählt werden, die Methode der qualitativen The-
petenzebene verlangt dies mehr oder weniger For- menbildung ist dann nicht sinnvoll. Bei der qualita-
schungserfahrung, Unterstützung durch betreuende tiven Themenbildung können alle Arten von Texten
Personen („supervisors/senior researchers“) und/ integriert werden: Texte aus Selbstberichten (Einzel-
oder curriculare Voraussetzungen. Projekte auf interviews oder Fokusgruppen), Texte aus Beobach-
Bachelorlevel können mehrjährig aufbauend erfol- tungen und bereits bestehende Texte, wie zum Bei-
gen (Bauer 2014) oder in Zusammenarbeit mit spiel Briefe, Dokumentationen oder Literatur. Zuerst
bereits etabliert Forschenden (Heitink u. Satink werden die Themen gebildet und jedem Interview,
2014). Auch Doktoratsprojekte sind möglich, wie Fall oder Teilnehmer bzw. jeder Fokusgruppe zuge-
zum Beispiel die Evaluation einer Ergotherapie- ordnet. Danach werden sie in ein Schema mit über-
intervention mit Jugendlichen in der Palliative Care und untergeordneten Themen gebracht und schließ-
(Heinzelmann 2014). lich detailliert beschrieben.
6.3 · Qualitative Forschungsdesigns und Methoden
117 6
Themenstellungen dokumentiert werden muss, außer es wird bei dieser
Mithilfe dieser Methode können qualitative Daten, speziellen Fragestellung vom Forscher als unbedingt
die miteinander in irgendeiner Verbindung stehen, erforderlich erachtet. Wichtig ist, dass die Transkrip-
organisiert und kategorisiert werden. Folgende The- tion wortwörtlich und in der exakten Länge erfolgen
menstellungen sind für diese Methode geeignet: soll und nicht sinngemäß andere Worte verwendet
4 Identifikation und Beschreibung von Verhalten oder Texte sinngemäß verkürzt werden.
und Phänomenen, zum Beispiel Identifikation Danach sollten die Forscherin oder der Forscher
von fördernden und hemmenden Faktoren einen Überblick über die Daten bekommen und sich
bezüglich Adhärenz mit ihnen vertraut machen. Dies wird erreicht, indem
4 Identifikation und Beschreibung von Gemein- die Daten nochmals genau durchgelesen werden.
samkeiten und Unterschieden von Mustern, Hierbei wird jeweils ein Interview, eine Person bzw.
Modellen, Rollen, Verhaltensweisen, zum ein Text als eine Einheit betrachtet (und hinterein-
Beispiel Identifikation von Gemeinsamkeiten ander gelesen = sequenzielles Element). Erst wenn
und Unterschieden in verschiedenen Sozialsys- die Analyse einer Einheit abgeschlossen ist, wird die
temen in verschiedenen Kulturen oder Ländern Analyse der nächsten Einheit gestartet.
(Stamm et al. 2011)
4 Extrahierung von zugrunde liegenden 2. Themen aus den Daten bilden
Elementen, die ein Phänomen oder Verhal- Der zweite Schritt ist das Bilden von Themen – der
tensweisen charakterisieren und definieren, Start der Analyse. Die Kategorien sollten vorwiegend
zum Beispiel Zusammenführung von Exper- aus den Daten entstehen, mit der Ausnahme, dass
tenmeinungen (im Sinne einer Delphi-Studie; man auch Kategorien hinzufügen kann, die aus dem
Bauernfeind et al. 2008) oder Definition von eigenen Vorverständnis kommen. Als Vorverständ-
Spiel oder Adhärenz nis werden das Wissen, die Vorstellungen, Einstel-
4 Organisation und Kategorisierung von lungen, Meinungen etc. des Forschers bezeichnet, die
Texten, zum Beispiel Erstellung von narra- bereits vor Beginn des Forschungsprojekts bestehen.
tiven oder Scoping Reviews, um die Inhalte Reflexivität der Forscherin erfordert, dass er sich das
zusammenzufassen Vorverständnis am Beginn der Forschungsarbeit
bewusst macht und dies zum Beispiel im Forschungs-
tagebuch aufschreibt.
Welche Schritte müssen eingehalten In der qualitativen Themenbildung werden nun
werden? aus den vorliegenden Texten Bedeutungseinheiten
Entsprechend der Quelle, aus der die Daten stammen, („meaning units“) gebildet. Bedeutungseinheiten
wird eine unterschiedliche Anzahl an Schritten durch- sind inhaltliche Einheiten, die nicht mit dem nor-
geführt. Die vorbereitenden Schritte für die qualitative malen Satzbau oder bestimmten Grammatikregeln
Themenbildung gleichen denen anderer qualitativer zu tun haben müssen, sondern immer dem Sinn nach
Methoden. Somit wird auf diese hier nicht im Detail gebildet werden – d. h. pro inhaltliche Einheit wird
eingegangen. Ein wichtiger Unterschied besteht darin, eine Bedeutungseinheit gebildet. Danach wird das
dass bei der Methode der qualitativen Themenbildung Thema (= „Hauptthema“) einer jeden Bedeutungs-
sowohl Interviewdaten als auch bereits bestehende einheit festgelegt.
Texte für die Analyse herangezogen werden.
3. Schema mit über- und untergeordneten
1. Daten lesen und sich mit ihnen vertraut Themen bilden
machen Aus den Themen wird dann ein Schema mit über-
Die Interviewdaten müssen zunächst transkribiert und untergeordneten Themen erstellt, wobei über-
werden. Dies erfolgt wortwörtlich, auch Pausen geordnete Themen die Eigenschaften der jeweils
während des Interviews werden in irgendeiner untergeordneten Themen umfassen müssen. Ein
Weise markiert, wobei die Länge der Pausen nicht Beispiel ist das übergeordnete Thema emotionale
118 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

. Tab. 6.7 Matrix zur Strukturierung der Inhalte

Person/Interview Thema 1 Thema 2 Thema 3 Thema 4

1
2
3
4
X

6 Funktionen, das zum Beispiel folgende untergeord- Danach wird in der Tabelle in jedem Kästchen
nete Themen umfassen kann: emotionale Stabilität, eingetragen, was die Person zum jeweiligen Thema
Ängstlichkeit, depressive Verstimmungen, positive gesagt hat, als wortwörtliches Zitat aus dem Inter-
Gefühle etc. view oder in den Worten der Forscherin (selektives
Element). Es muss nicht das ganze Interview berück-
> Um eine gute Qualität der Analyse zu sichtigt werden, die Bedeutung der Inhalte darf aber
gewährleisten, ist es hier sinnvoll, dass keinesfalls verändert werden.
mindestens 2 Forscher einen Teil der Daten Diese Matrix gibt der Forscherin die Möglich-
(z. B. 10 %) getrennt voneinander analysieren keit, die Daten aus unterschiedlichen Sichtweisen zu
und dann die Ergebnisse vergleichen. Bei betrachten. So können die Ergebnisse aus der The-
unterschiedlichen Ergebnissen kann dann menbildung mit den Ergebnissen des Rasters vergli-
eine weitere Expertin zurate gezogen chen und dadurch auch quantifiziert werden. Zum
werden, um eine Entscheidung zu treffen. Beispiel besteht dann die Möglichkeit, das Thema
Wenn die Themen sehr strukturiert durch Zahlen zu ergänzen, zum Beispiel für wie viele
formuliert werden, zum Beispiel einem Probanden ein Thema eine Bedeutung hat. Des Wei-
bestimmten Schema folgen, können auch teren können durch dieses Raster auch qualitative
Kappa-Koeffizienten zur Übereinstimmung Daten mit quantitativen Daten verknüpft werden,
der beiden Forscher berechnet werden zum Beispiel durch eine Berechnung von Häufig-
(Stamm et al. 2005). keiten. Dies ergibt allerdings nur dann Sinn, wenn
eine große Fallzahl vorliegt.
4. Inhalte strukturieren und den Themen Wenn eine Interpretation der Daten erfolgen soll,
zuordnen sollte eine hermeneutische oder phänomenologische
Die Inhalte werden in diesem Schritt nun zusam- Methode gewählt werden, die Methode der qualitati-
mengefasst und strukturiert. Dies geschieht mit- ven Themenbildung ist dann nicht sinnvoll.
hilfe einer Matrix (Spreadsheet): In die erste Zeile
kommen Themen, die in den Daten genannt werden, 5. Themen im Detail beschreiben
und/oder Themen, die die Forscherin vorher festge- Die letzte Phase ist die Phase der Dissemination,
legt hat. In der ersten Spalte werden die Personen, also das Verfassen einer Bachelor-, Master- oder
Interviews bzw. Texte aufgezählt. Für Interviewdaten PhD-Arbeit, einer These und/oder Publikation:
gilt: Die Personen werden dann aufgezählt, wenn Die Daten werden nun anhand ihrer Eigenschaf-
eine Person mehrmals interviewt wurde und die ten, Unterschiede und Beziehungen zwischen den
Person als Einheit betrachtet werden soll. Kommen Kategorien beschrieben und dargestellt. Wörtliche
die Themen aus den Daten, kann mit einem Thema Zitate aus den Interviews dienen als Belege für die
begonnen werden, wobei dann im Zuge der Analyse Datenanalyse. Grundsätzlich ist es gut, an einem Bei-
weitere Themen ergänzt werden können (. Tab. 6.7). spiel zu verdeutlichen, wie der Forscher von einem
6.4 · Qualitative Datensammlung
119 6
Textabschnitt zu übergeordneten und untergeordne- 6.4 Qualitative Datensammlung
ten Themen gekommen ist.
Valentin Ritschl, Helmut Ritschl, Barbara Höhsl,
Stärken und Schwächen Barbara Prinz-Buchberger, Tanja Stamm
z z Stärken
4 Die Methode der qualitativen Themenbildung
ermöglicht eine breite und gut erlernbare 6.4.1 Wann werden Daten qualitativ
Auswertung von Daten, bei der durch andere gesammelt?
Verfahren die Ergebnisse noch vertieft werden
können (z. B. durch eine weitere hermeneu- Ein wichtiger Schritt im Forschungsprozess ist der
tische interpretative Analyse). Weg zu den Daten, also die Datensammlung. Dabei
4 Die Datenauswertung kann durch mehr oder wird prinzipiell zwischen „qualitativen“ und „quan-
weniger Strukturierung und durch eine kleine titativen“ Daten unterschieden. Quantitative Daten
oder große Fallzahl mehr in eine qualitative beziehen sich (fast) immer auf Messdaten von Tests,
oder quantitative Richtung gelenkt werden. Untersuchungen oder Assessments, d. h. beispiels-
4 Die Methode erlaubt, mit „unstrukturiertem“ weise nominale, ordinal skalierte oder metrische
und bereits bestehendem Datenmaterial zu Daten aus physiologischen, psychologischen oder
arbeiten. anatomischen Messungen. Qualitative Forschung
will Daten über die Auswirkungen der Umwelt, Ver-
z z Schwächen halten, Emotionen, Entscheidungen und Erfah-
4 Die Methode der qualitativen Themenbildung rungen erfassen. Dazu können meist keine phy-
liefert keine Interpretationen der Daten im siologischen oder psychologischen Messverfahren
Sinne einer hermeneutischen Analyse. herangezogen werden, sondern es muss der Mensch
4 Der Anwender muss reflexiv sein, um klar befragt oder beobachtet werden. . Abb. 6.8 zeigt
zwischen möglichst „objektiven“ Beobachtungen einen Entscheidungsbaum für die Wahl der Daten-
und „subjektiven“ Interpretationen unter- sammlung (erstellt nach Bortz u. Döring 2006, DePoy
scheiden zu können. Gerade einem unerfah- u. Gitlin 2005, LoBiondo-Wood u. Haber 2001).
renen Forscher kann beim Versuch, die Daten zu
kondensieren, eine Interpretation entstehen.
4 Um zu tiefgehenden Beschreibungen der 6.4.2 Methoden der qualitativen
Themen zu kommen, muss der Anwender bei Datensammlung
einem Interview nachfragen. Menschen neigen
beim Sprechen eher zu Interpretationen als zu Für die Sammlung qualitativer Daten stehen unter-
nachvollziehbaren Beobachtungen. Beispiel: schiedliche Methoden zur Verfügung. Diese müssen
„Und dann ist er gekommen und hat mich entsprechend des Ziels der Forschung gut ausgewählt
wieder mal geärgert!“ Wenn nun auf Nachfrage werden. In einem ersten Schritt muss unterschieden
der Forscher erfährt, dass „ärgern“ in dem Fall werden, ob die Daten neu erhoben werden müssen
bedeutet, dass der andere Mensch „zu spät oder ob es sich um bereits bestehende Texte handelt.
gekommen ist“, können Faktoren gesammelt Für bestehende Texte muss beachtet werden, dass die
werden. Ist jedoch lediglich bekannt, dass sich Recherche sauber und vollständig (z. B. systematisch
der Interviewpartner geärgert hat, kann der nach PRISMA) durchgeführt wird. Für neu zu erhe-
Forscher daraus keine klare Information ableiten. bende Daten muss zwischen Daten aus Beobach-
tungen und Selbstberichten unterschieden werden.
Zusammenfassung . Tab. 6.8 zeigt die Funktion, Stärken und Schwächen
Die Methode der qualitativen Themenbildung bie- der unterschiedlichen Möglichkeiten der qualitati-
tet eine gute Möglichkeit, in die beschreibende qua- ven Datensammlung (Bortz u. Döring 2006, DePoy
litative Forschung einzusteigen. Für interpretative u. Gitlin 2005, LoBiondo-Wood u. Haber 2001, Petty
Analyse eignet sich diese Methode nicht. et al. 2012).
6
120

Um das gewunschte Thema zu untersuchen, werden Daten


benötigt, die (nur) aus ...

...physiologischen, psychologischen oder ... Beobachtungen gewonnen werden können, ... bereits bestehenden Texten gewonnen werden ... Selbstberichten gewonnen werden können,
können, weil es sich zum Beispiel um eine
Kapitel 6 · Qualitative Forschung

anatomischen Messungen gewonnen werden können. weil diesem dem Teilnehmer nicht bewußt sind. weil diese nicht beobachtbar sind.
Literaturarbeit handelt.

Komplexe Umweltdaten, unbewußtes Emotionen, Entscheidungen, Erfahrungen,


wissen oder Verhalten soll untersucht werden Wissen soll untersucht werden

Vernwendung von Messinstrumenten, Assessments, Bereits bekannte/beforschte Noch unbekannte Themen Bereits bekannte/beforschte Noch unbekannte Themen
Untersuchungen, Screenings. Themen und lnhalte und lnhalte Themen und inhalte und Inhalte

Führt zu einer (meist) quantitativen Auswertung. Fertige/standardisierte Feldforschung/freie Dokumenationen, Studien, Strukurierte Interviews/ Unstrukturierte Inteviews/
Verweis quantitative Datensammlung. Beobachtungsbögen Beobachungen Artikel, Briefe usw. Fokusgruppen, Fragebögen Fokusgruppen

Meist größere Anzahl an Teilnehmer Meist größere Anzahl an Meist kleinere Anzahl an Meist größere Anzahl an Meist größere Anzahl an Meist kleinere Anzahl an
Teilnehmer Teilnehmer Datensätzen / Personen Probandinnen Probandinnen

Wenn auf mehreren Ebenen Daten erhoben werden (siehe z.B. Mixed Methods oder Methodentriangulation), dann werden werden diese auch zusammengefuhrt, wobel wieder neue Daten entstehen.

. Abb. 6.8 Entscheidungsbaum für die Wahl der Datensammlung


. Tab. 6.8 Vergleich der unterschiedlichen Datensammlungsmöglichkeiten

Beobachtungen Bestehende Texte Selbstberichte

Wann wird diese Beobachtungen werden immer dann ein- Gibt es bestehende Texte, aus denen Inhalte Selbstberichte werden immer eingesetzt,
Methode eingesetzt? gesetzt, wenn Umwelteinflüsse oder dem synthetisiert oder interpretiert werden sollen, wenn die zu erhebenden Daten nicht beob-
Probanden unbewusste Vorgänge beforscht können diese für eine qualitative Datenanalyse achtet werden können. Wenn es das Ziel der
werden sollen (z. B. ein Verhalten), Mimik oder eingesetzt werden. Dafür bieten sich Doku- Arbeit ist, Emotionen, Erleben, Erfahrungen,
Gestik kann nicht aktiv erfragt werden mentationen von Patienten an (retrospektive Entscheidungen oder Ähnliches zu beschrei-
6.4 · Qualitative Datensammlung

Datenanalyse), Artikel, Briefe oder Ähnliches ben, zu interpretieren oder zu verstehen, dann
ist die Forscherin auf Berichte der Probanden
angewiesen
Stärken der Methode Wenn verdeckte Beobachtung, dann so gut Retrospektive Analyse, dadurch keine Beein- Einblicke in das Erleben der Menschen
wie keine Beeinflussung der Datenerhebung flussung der Datenerhebung
Schwächen der Menschen fühlen sich beobachtet, Einfluss auf Retrospektive Datenanalyse, dadurch kein Ein- Wenig objektiv, da die Lebenswelt des Pro-
Methode Datenerhebung fluss auf Störfaktoren banden mit derjenigen des Forschers ver-
Bei unstrukturierten Beobachtungen können Manchmal ist das vorhandene Textmaterial schwimmt. Interpretationen sind oft subjektiv
entscheidende Prozesse aufgrund der Menge unvollständig, Fragen können nicht geklärt durch die Forscherin gekennzeichnet
an Beobachtungen übersehen werden werden
Unterstützung zur Videos können hilfreich sein, um mehr Zeit Es ist günstig, eine zweite Person in die Recher- Tonbandaufnahmen unterstützen die Auswer-
Durchführung bei der Beobachtung zu haben, allerdings che und Aufarbeitung einzuschließen und de- tung des Interviews. Zusätzlich sollten Fragen
stellen sie immer nur einen Ausschnitt der ren Resultate mit den eigenen zu vergleichen, notiert werden, damit der Redefluss der Pro-
Situation dar um möglichst objektiv in der Analyse zu sein banden nicht gestört wird
Vorgehen bei bereits (Standardisierte) Beobachtungsbögen, eng Strukturierte Interviews/Fokusgruppen, Frage-
bekannten Inhalten definierte Beobachtungsinhalte bögen mit offenen/geschlossenen Fragen
Vorteile/Nachteile Eventuell gehen „neue“ Erkenntnisse verloren, da nur auf Bekanntes fokussiert wird. Der Vorteil liegt in der Möglichkeit, größere Gruppen und damit
breitere Daten zu bekommen. Dadurch wird die Auswertung aber auch quantitativer (Dicicco-Bloom u. Crabtree 2006)
Vorgehen bei neuen Feldbeobachtungen, freie/unstrukturierte Be- Unstrukturierte Interviews/Fokusgruppen
Inhalten obachtungen
121

Vorteile/Nachteile Datenerhebung ist aufwendiger, allerdings können die Daten mehr in der Tiefe beschrieben werden
Sinnvolle Anzahl an Je unstrukturierter ein Vorgehen ist, desto kleiner ist die Probandenanzahl (<30). Je strukturierter vorgegangen wird, desto größer sollte die
Probanden Probandenanzahl sein (≤100). Bei Fragebögen sind es idealerweise über 100 Probanden, auch wegen der Tiefe/Breite des zu untersuchenden
Forschungsgebiets
6
122 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

> Die Wahl der Datensammlung wird – Dadurch können nicht ideal formulierte Fragen
ausgehend von der Fragestellung – von der geändert werden. Leitfäden können auch nach dem
gewählten Analysemethode vorgegeben. ersten „tatsächlichen“ Interview geändert werden.
Eine Ethnographie zum Beispiel benötigt Dies sollte aber nur eine Notlösung sein und aus-
meist eine teilnehmende Beobachtung in reichend dokumentiert werden.
Kombination mit Interviews (7 Abschn. 6.3.4). Insgesamt wird in der Literatur eine Spann-
weite von narrativen/unstrukturierten Interviews
Das Vorgehen bei der Datensammlung (Zeitpunkt bis zu sehr stark strukturierten Interviews beschrie-
der Erstellung von Leitfäden, Ethikkommission, Rek- ben. Ziel von unstrukturierten Interviews ist es, die
rutierung der Probandinnen usw.) entspricht dem Lebenswelt von Probandinnen zu erfahren. Pro-
des quantitativen Vorgehens (7 Kap. 7). bandinnen werden zum Erzählen aufgefordert –
ein Leitfaden gibt Initialfragen/Themen vor, die zum
Erzählen anregen sollen. Im weiteren Verlauf folgt
6 6.4.3 Erstellung der der Interviewer der Probandin. Beim halbstruktu-
Datensammlungsinstrumente rierten Interview gibt es einen etwas strukturier-
ten Leitfaden mit Fragen, die auf jeden Fall inhalt-
Bestehende Texte und lich vorkommen sollen. Der Leitfaden fungiert
Dokumentationen dann als Richtschnur für das Gespräch, wobei der
Es wird in der Literatur kein standardisiertes Proze- Proband freier erzählen soll als beim strukturierten
dere für die Datensammlung empfohlen. Bei Arti- Fragebogen. Strukturierte Fragebögen ähneln vom
keln für Literaturrecherchen sollte bei der Recherche Aufbau her einem Fragebogen wie in 7 Abschn. 7.3.1
wie in 7 Kap. 14 beschrieben vorgegangen werden. beschrieben. Der Proband antwortet auf die Fragen,
Abhängig von der Art des Reviews unterscheidet er soll inhaltlich nicht oder nur wenig von diesen
sich das Vorgehen. Handelt es sich um Patientendo- abweichen (Petty et al. 2012). Für Bachelor- oder
kumentationen oder Ähnliches, dann müssen diese Masterarbeiten werden häufig semistrukturierte
Daten aus entsprechenden Datenbanken herunter- Leitfadeninterviews geführt, unabhängig von Ein-
geladen werden. Unabhängig von der Art der Daten- zelinterviews oder Fokusgruppen.
sammlung sollte der Prozess transparent dargestellt Grundsätzlich gilt für die Fragen, den Aufbau
und genau beschrieben werden. bzw. die Kommunikation in einem Interview (Flick
2007, Krueger u. Casey 2014, Krueger 1997):
> Auch wenn „alte“ Patientendokumen- 4 Aufbau der Fragen: Von der Literatur oder
tationen verwendet werden, muss eine dem eigenen Vorwissen werden Themen-
Ethikkommission hinzugezogen werden felder abgeleitet. Die Themenfelder werden
(retrospektive Studie). im Leitfaden zusammengesetzt. Dabei wird
empfohlen, den Aufbau so zu gestalten, dass
ein einfaches Einsteigen des Interviewpartners
Erstellung eines Interviewleitfadens für möglich ist. Dies bedeutet, dass man:
Einzelinterviews oder Fokusgruppen 4 vom einfachen zum komplexen Inhalt/
Werden Interviews zur Datensammlung gewählt, Thema überführt,
so ist es wichtig, einen guten Interviewleitfaden 4 vom unpersönlichen zum persönlichen
zusammenzustellen. Das Interview bezieht sich in Inhalt/Thema überleitet,
diesem Zusammenhang sowohl auf Einzelinter- 4 von Beschreibungen zu persönlichen
views als auch auf Gruppeninterviews (Fokus- Stellungnahmen übergeht.
gruppe, . Tab. 6.9). Die Durchführung des Inter- 4 Der Interviewpartner sollte möglichst viel
views sollte vor dem ersten Interview mit einer sprechen, der Interviewer möglichst wenig.
Person, die nicht mit dem Thema vertraut ist, Dies bedeutet, aktiv zuzuhören statt zu reden:
geübt werden, zum Beispiel mit einer Freundin/ Benennen der Emotionen/Situationen und
einem Freund oder einem Familienangehörigen. Gesagtes umschreibend wiederholen, um zu
6.4 · Qualitative Datensammlung
123 6

. Tab. 6.9 Unterschiede zwischen Einzelinterview und Fokusgruppe

Einzelinterview Fokusgruppe

Inhalte der Themen gehen … die Tiefe. … die Breite.


mehr in …
Sie sind in der … aufwendiger, da jedes Interview … weniger aufwendig, da gleich mehrere
Durchführung … einen eigenen Termin benötigt. Personen zusammen interviewt werden.
Positiv ist, dass … … heiklere Themen angesprochen … die Gruppenteilnehmer sich gegenseitig
werden können, die in der Gruppe triggern und somit die Themen breiter
unangenehm wären. betrachtet werden können.
… die Durchführung des Interviews
zeitlich und örtlich individuell an
den Probanden angepasst werden
kann.
Ungünstig ist, dass … … die Breite der Themen nur mit … soziale Gruppendynamiken entstehen, die
großem Aufwand abgedeckt wer- das Ergebnis beeinflussen können.
den kann. … ein gemeinsamer Termin und Ort gefunden
werden muss.
Anzahl der Teilnehmer: Eine Person pro Termin. 6–10 Personen pro Termin.
Tipps zur Durchführung: Auf Tonband aufnehmen, damit Zu zweit führen – einer leitet das Gespräch,
eine Transkription durchgeführt einer schreibt Fragen und Ideen mit
werden kann Vorher jeden vorsprechen lassen, damit die
Fragen im Gespräch aufschreiben Personen auf dem
und Proband nicht unterbrechen Tonband leichter unterschieden werden
„Für Atmosphäre sorgen“: Getränke können
oder Ähnliches bereitstellen Die Personen bitten, sich nicht zu unterbrechen
– das Gesagte ist sonst auf dem Tonband nicht
verständlich
„Für Atmosphäre sorgen“: Getränke oder Ähnli-
ches bereitstellen

signalisieren, dass man dem Gesagten folgt, 4 Wertende Fragen, Fragen, die etwas als positiv
und um zu versichern, dass man es korrekt oder negativ bezeichnen, sowie Suggestiv-
verstanden hat. (Beispiel: „Habe ich das jetzt fragen (Fragen, die eine bestimmte Antwort
richtig verstanden, Sie meinten … “) Vor jeder vorschlagen) sollten vermieden werden.
neuen Frage könnte der Interviewer auch 4 Grundsätzlich eignen sich Fragen, die mit
fragen: „Möchten Sie zu der vorherigen Frage „Wie“ beginnen („Wie haben Sie … erlebt?“
noch etwas sagen?“ oder „Wie war Ihre Erfahrung mit … ?“) oder
4 Die Fragen sollen zum Erzählen anregen. Fragen nach bestimmten Dingen im Rahmen
Dichotome Fragen (Antwortmöglichkeiten der Forschungsfrage (z. B. „Welche Probleme
nur Ja/Nein) sollten in einem Interview haben Sie bei Ihren alltäglichen Tätigkeiten?“).
vermieden werden. Achtung: Hier bestehen 4 „Nachhaken“ des Interviewers im Gesprächs-
große Unterschiede zu einem Fragebogen! verlauf („probing“) sollte immer nach Erlebnissen
(Beispiel „Wunderfrage“: Wenn Sie die oder Beispielen erfolgen (Etwa: „Können Sie dazu
Möglichkeit bekämen, wie würden Sie das noch ein Beispiel aus Ihrem Leben nennen?“ oder
Problem lösen?) „Wie war Ihre Erfahrung mit … ?“).
124 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

4 „Aktives empathisches Zuhören“: Wird eine Einstieg: „Herzlichen Dank, dass Sie sich dazu bereit
Frage beantwortet, sollte der Interviewer die erklärt habt, an dem heutigen Interview teilzuneh-
Antwort nicht werten, sondern er sollte „aktiv men. Das Thema dieses Gesprächs wird die Sicht-
empathisch zuhören“. Das bedeutet, dass er weise von Patienten zu fehlender Adhärenz bezüg-
am besten wertfrei die Antwort des Inter- lich Behandlungsempfehlungen bei rheumatoider
viewpartners zusammenfasst und danach erst Arthritis sein.“
eine neue Frage stellt. Kurze Gesprächs- oder Rahmenbedingungen werden festgelegt:
Redepausen sollten ausgehalten werden und „Das gesamte Gespräch wird auf Tonband aufge-
nicht sofort durch den Interviewer unter- zeichnet. Mit diesen Tonaufzeichnungen kann ich
brochen werden („Zeit haben und Stille mich später bei der Datenanalyse besser auf das
bewusst aushalten“). Wenn längere Pausen Gespräch beziehen. Alle persönlichen Daten wer-
eintreten, sollte der Interviewer dem Inter- den anonymisiert. Falls Sie sich mit einer Situation
viewpartner „zu Hilfe kommen“ und selbst nicht wohlfühlen, sprechen Sie es bitte an, und ich
6 etwas sagen (z. B. eine Zusammenfassung des werde versuchen, etwas an der Situation zu ändern.
bereits Gesagten). Solche Pausen können bei Es steht Ihnen frei, jederzeit die Zusage zur Teilnah-
der Auswertung der Daten sehr aufschlussreich me zurückzuziehen und das Interview zu beenden.
sein. Bitte sprechen Sie laut und deutlich. Ich werde hier
und da Aussagen in meinen Worten wiederholen
Nach dem Interview sollte ein „Debriefing“ erfol- und nachfragen, um Missverständnisse zu vermei-
gen, d. h. der Interviewer reflektiert kurz (am besten den. Ich werde ein paar Notizen machen, sodass ich
schriftlich im Forschungstagebuch) über den Verlauf später den Gesprächsverlauf so gut wie möglich
des Interviews, über die Kommunikation, wie er sich nachvollziehen kann. Ich schätze, dass das gesam-
selbst gefühlt hat etc. te Gespräch ungefähr 20 Minuten bis maximal eine
Stunde dauern wird. Wenn Sie eine Gesprächspause
Beispiel benötigen, dann sagen Sie es bitte. Bitte versuchen
Das folgende Beispiel für einen Interviewleitfaden Sie, bei Ihrer Meinungsäußerung so ehrlich wie
ist nach Flick (2007), Krueger u. Casey (2014) und möglich zu sein.“
Krueger (1997) aufgebaut (. Tab. 6.9). Opening (Teilnehmer fühlen sich vertraut): „Ich
Fragestellung: Welche Faktoren fördern und/oder würde Sie bitten, zu Ihrer Person folgende Daten zu
hemmen Adhärenz bei Patientinnen mit rheumato- nennen: … “ (Geschlecht, Alter, Familienstand, Aus-
ider Arthritis. bildungsstand, Beruf, Wohnort).
Aus der Fragestellung und der Hypothese wurden Introductory (Einführungsfrage in das Thema):
folgende Themenfelder abgleitet: 4 „Wenn Sie an Ihren letzten Besuch bei uns an der
4 Auslöser für fehlende Adhärenz können personen- Ambulanz denken, welche Gedanken kommen
bezogene Faktoren darstellen: Geschlecht, Alter, Ihnen da in den Sinn?“
Familienstand, Ausbildungsstand, Beruf, Wohnort, 4 „Welche Medikamente/welche Behandlungs-
Krankheitsaktivität, Schmerz, persönliche Werte empfehlungen haben Sie verordnet bekommen?
und Einstellungen, Nebenwirkungen und Wechsel- Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?“
wirkungen von Medikamenten.
4 Auslöser für fehlende Adhärenz können alltags- Transition (Übergang zu Hauptfrage): „Wie gut ha-
bezogene Faktoren darstellen: Funktionsniveau ben Sie die Behandlungsempfehlungen umsetzten
der Gelenke bei Alltagsaktivitäten, erfolgreiches können? Was haben Sie umgesetzt? Was nicht?“
Bewältigen von Alltagsaktivitäten. Nach Zweidritteln der Zeit:
4 Auslöser für fehlende Adhärenz können umwelt- Key (zentrales Thema der Studie): „Aus welchen
bezogene Faktoren darstellen: Einstellungen der Gründen haben Sie die Besuche an unserer Ambu-
Gesundheitsprofessionistinnen, Einstellungen lanz abgebrochen? Aus welchen Gründen haben Sie
von Familie und Freunden bezüglich Krankheit, die eben erwähnten Behandlungsempfehlungen
Medikamenten oder Schulmedizin. nicht umgesetzt?“
6.4 · Qualitative Datensammlung
125 6
5 Personenbezogene Faktoren: noch nicht gesprochen haben, das aber für Sie
– „Wie aktiv ist Ihre Erkrankung im Moment? Wie noch erwähnenswert wäre?“
stark sind Ihre Schmerzen? Welche Nebenwir- – „Gibt es von Ihrer Seite noch Fragen, Wünsche,
kungen/Wechselwirkungen der Medikamente Anmerkungen?“
haben Sie erlebt?“
– „Wie haben Sie andere Behandlungsempfeh- Verabschiedung: „Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihr
lungen/Alltagsempfehlungen erlebt?“ aktives Mitarbeiten. Wenn Sie an den Ergebnissen
– „Wie stehe Sie im Allgemeinen zu Medika- unserer Studie interessiert sind, können Sie diese
menten/zur Schulmedizin?“ gerne nach Abschluss der Studie einsehen.“
5 Alltagsbezogene Faktoren:
– „Haben Sie das Gefühl, dass Sie durch Ihre
Erkrankung im Alltag eingeschränkt sind? In Vorbereitung auf eine Beobachtung
welcher Weise ist Ihr alltägliches Leben durch Die teilnehmende Beobachtung wurde besonders in der
die Erkrankungen betroffen? Bitte nenne Sie Völkerkunde (Ethnologie und Kulturanthropologie) als
Beispiele von Einschränkungen im Alltag.“ wissenschaftliche Methode etabliert (Lamnek u. Krell
– „Hatten Sie das Gefühl, dass sich die Behand- 2005). Die wissenschaftliche Beobachtung erfolgt syste-
lungsempfehlungen in Ihren Alltag gut eingefügt matisch und geplant, mit einer Prüfung auf Zuverlässig-
haben? Wie müssten Behandlungsempfehlungen keit und Wiederholbarkeit. Es werden unterschiedliche
gestaltet sein, damit sich diese für Sie gut in den Arten der Beobachtung unterschieden (Girtler 2001,
Alltag einfügen lassen?“ Lamnek u. Krell 2005, LoBiondo-Wood u. Haber 2001):
Umweltbezogene Faktoren: 4 Strukturierte Beobachtung: Hier werden
im Vorhinein die Art der Beobachtung, die
5 „Wie wurden Sie über die Medikamente/Behand- Beobachtungskategorien und -ziele festgelegt
lungsempfehlungen von unserer Seite aufgeklärt? (im Extremfall ein standardisierter Beobach-
Wie haben Sie diese Aufklärung erlebt?“ tungsbogen). Das Gegenteil ist die unstruktu-
5 „Werden Sie zu Hause bei der Einhaltung der rierte Beobachtung.
Behandlungsempfehlungen unterstützt? Wenn ja, 4 Bei der offenen Beobachtung ist die Tatsache
wer unterstützt Sie? Wie sieht diese Unterstützung der Beobachtung der Probandin bekannt, bei
aus?“ der verdeckten Beobachtung nicht.
5 „Wie ist die Einstellung Ihrer Familie/Freunde 4 Bei der teilnehmenden Beobachtung führt der
bezüglich Ihrer Erkrankung/Medikamente/ Beobachter eine Rolle aus. Das Gegenteil ist die
Schulmedizin? Haben Sie das Gefühl, dass nicht teilnehmende Beobachtung.
Sie die Einstellung Ihrer Familie/Freunde 4 Als Feldbeobachtungen werden Alltagsbeob-
beeinflusst bezüglich der Einhaltung der achtungen bezeichnet. Das Gegenteil ist eine
Behandlungsempfehlungen?“ Beobachtung im Labor, d. h. in einem künst-
lichen Umfeld.
Ending (Interview beenden): 4 Beobachtungen können direkt durchgeführt
5 All-Things-Considered Questions: „Von alldem, werden (Live-Beobachtung, „face to face“) oder
was im Rahmen dieses Gesprächs besprochen indirekt erfolgen, beispielsweise über Videoauf-
wurde: Wie würde ein idealer Besuch bei uns in der nahmen (Datenmaterial).
Ambulanz aussehen? Wenn Sie etwas verbessern
könnten an unserer Rheuma-Ambulanz, was Generelle Empfehlungen für eine teilnehmende
würden Sie verändern? Was bräuchten Sie, um Beobachtung (Lamnek u. Krell 2005):
Behandlungsempfehlungen leichter einhalten zu 4 Die Beobachtung soll überschaubar sein,
können?“ beschränkt auf wenige Situationen,
5 Final Question: beschränkt auf wenige Personen und klar
– „Wir kommen langsam zum Ende unseres von anderen sozialen Situationen
Gesprächs. Gibt es noch ein Thema, über das wir abzugrenzen.
126 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

4 Eine Beobachtung soll durch Offenheit geprägt 6.4.4 Analyse der gesammelten Daten
sein, damit beispielsweise unvorhergesehenes
Verhalten und unvorhergesehene Haltungen Analyse der Interviews
beobachtet werden können. Die Interviews müssen erst transkribiert werden.
4 Wichtig ist die Aufgeschlossenheit gegenüber Transkription meint eine Wort-für-Wort-
anderen Werten. Toleranz und Akzeptanz sind Verschriftlichung des Gesagten. Wie exakt transkri-
sehr wichtig. biert wird, hängt vom Analyseverfahren ab (Bortz
4 Die Rolle des Beobachters soll im Rahmen u. Döring 2006, DePoy u. Gitlin 2005, Kielhofner
der Methodenbeschreibung klar formuliert 2006, Lamnek u. Krell 2005). Es wird empfohlen, den
werden, da die Rolle bewusst und unbewusst Dialekt zu bereinigen, aber die Alltagssprache und
Einfluss auf das soziale Umfeld nimmt und die Grammatik zu belassen, Pausen werden mar-
somit auf das Forschungsergebnis. kiert. Auffällige Betonungen oder Besonderheiten
4 Vertrauenspersonen sind wichtig, um (wie z. B. Störungen durch andere Personen) werden
6 feststellen zu können, ob die beobachtete direkt im Transkript beschrieben. Die Analyse der
Situation wirklich dem Alltag entspricht oder Daten erfolgt nach der gewählten Analyseme-
ob die bloße Anwesenheit eines Beobachters thode. Die notwendigen Schritte hierfür werden in
die Situation verändert hat. den Kapiteln für die jeweiligen Forschungsdesigns
4 Interpretation: Wesentlich bei der teilneh- beschrieben.
menden Beobachtung ist die Bildung von
Vertrauen, das Hineinversetzenkönnen
in jemand anderen (Empathie), was Analyse der Beobachtungen
schließlich den Prozess der Interpretation Es existiert wenig Literatur zur Analyse von Beob-
ermöglicht. achtungen. Prinzipiell kann zwischen strukturierten
und unstrukturierten sowie qualitativen und quan-
Einschränkungen bei der teilnehmenden Beobach- titativen Analysen unterschieden werden (Bortz u.
tung (Lamnek u. Krell 2005): Döring 2006, Merkens 2010).
4 Eine teilnehmende Beobachtung ist lokal 4 Strukturiert/quantitativ: Je strukturierter/
begrenzt. Der Forscher kann nicht überall standardisierter oder quantitativer die
gleichzeitig sein. Beobachtung durchgeführt wurde, umso
4 Die Beobachtung ist zeitlich limitiert. Was mehr wurden auch die zu beobachtenden
passiert vorher und nachher? Inhalte objektiviert (operationalisiert).
4 Sie ist durch die Zugangsmöglichkeiten des Eine Analyse ergibt sich dadurch an den
Forschers limitiert. operationalisierten Kriterien. Wird beispiels-
4 Es kann nur etwas beobachtet werden, was weise „Interaktion“ eines autistischen Kindes
explizit beobachtbar ist und sich nicht der definiert über „Blickkontakt“ und „Präsen-
Beobachtung entzieht. tieren von Gegenständen“, dann könnten zum
4 Es besteht das Problem der selektiven und Beispiel nur diese definierten und beobacht-
verzerrten Wahrnehmung, d. h. es erfolgt baren Handlungen beobachtet und notiert
eine Verzerrung der Beobachtung durch die werden.
Ziele, Vorstellungen, Werte, Haltungen oder 4 Unstrukturiert/qualitativ: Je unstrukturierter
kulturelle Prägung des Beobachters. oder qualitativer eine Beobachtung durchge-
4 Es besteht das Problem der Vertrautheit: Je führt wird, desto weniger klar wird die Analyse.
vertrauter eine Situation ist, desto eher besteht Es können auch hier Kriterien definiert werden,
die Möglichkeit der schwindenden Aufmerk- es kann aber auch eine Analysemethode, wie
samkeit und damit die Gefahr, Wesentliches zu zum Beispiel eine Inhaltsanalyse (Krippendorff
übersehen. 2012), gewählt werden.
6.5 · Gütekriterien für qualitative Forschung
127 6
4 Für eine Interpretative Analyse wird eine 4 Teilnehmerinnen
objektive Hermeneutik empfohlen 4 Interaktion:
(7 Abschn. 6.3.7). 4 Ursache/Auslöser der Interaktion
4 Motive der Teilnehmerinnen
z z Protokollierung von Beobachtungen 4 Art der Interaktion
Wann wird protokolliert: Der Zeitpunkt des Proto- 4 Ablauf der Interaktion
kollierens erfolgt möglichst zeitnah nach der Beob- 4 Folgen/Auswirkungen der Interaktion
achtung. Das Erinnerungsvermögen ist begrenzt, die 4 Häufigkeit
Wahrnehmung selektiv. Es besteht die Tendenz, dass 4 Zeitrahmen
sich Beobachtungen nur auf Vertrautes konzentrie- 4 Interaktionskontext
ren. Nicht Vertrautes wird weniger intensiv wahrge- 4 Unterschiede zu anderen vergleichbaren
nommen. Eine unmittelbare Aufzeichnung kann den Interaktionen
sozialen Alltag stören. Es ist auch ratsam, nach der
ersten Protokollierung das Protokoll einen Tag lang > Lehrvideo auf Youtube zum Thema
liegen zu lassen und erst danach erneut zu überarbei- teilnehmende Beobachtung: www.youtube.
tet (Lamnek u. Krell 2005). com/watch?v=V8doV3P0us4 (abgerufen am
Wie wird protokolliert: Ein stark strukturier- 04.02.2016).
tes Beobachtungsschema ist wesentlich, wenn man
Daten quantifizieren will. Ein offenes Beobachtungs-
schema ist sinnvoll, wenn es darum geht, etwas qua- Zusammenfassung
litativ zu entdecken. Aufnahmegeräte genauso wie Zur Sammlung qualitativer Daten stehen dem For-
Videogeräte sind zwar sehr hilfreich, sie stören aber scher oder der Forscherin vor allem Beobachtun-
in der Regel den sozialen Alltag. Gedächtnispro- gen, Interviews und bereits bestehende Texte zur
tokolle werden als optimal bewertet, da hier keine Verfügung. Entscheidend für ein gutes Ergebnis
Störung des sozialen Alltags stattfindet (Girtler stellt die korrekte Wahl der Datensammlungsme-
2001). Diese Gedächtnisprotokolle erfolgen in Form thode in Bezug auf die Fragestellung dar.
von kurzen Notizen oder Stichwortsammlungen. Sie
können auch in einem Tagebuch mit den Gedanken
des Beobachters verbunden werden. Handschriftli- 6.5 Gütekriterien für qualitative
che Protokolle bergen das Problem der Lesbarkeit. Es Forschung
ist zu beachten, dass die Anonymität der beobachte-
ten Personen gewährleistet ist. Ein Verstoß dagegen Barbara Höhsl
ist einem Bruch des Vertrauens gleichzusetzen. Für
Protokolle gilt: Je ausführlicher die Beobachtungen
beschrieben werden, desto besser sind sie! Die Beob- Definition
achtungsprotokolle sollen stets in einem sozialen Unter Gütekriterien werden Kriterien
Kontext gebracht werden und nicht für sich alleine zusammengefasst, die die Güte, d. h. die
stehen bleiben (Lamnek u. Krell 2005). wissenschaftliche Exaktheit von Studien
Was wird protokolliert: Protokolliert werden beschreiben. Gütekriterien dienen einerseits
soziale Interaktionen, die im Erkenntnisinteresse Forschern und Forscherinnen als Richtlinien,
sind. Es werden das Alltagswissen und die All- um wissenschaftliche Exaktheit in ihren
tagsinteraktionen von sozialen Feldern beschrie- Forschungsstudien zu gewährleisten.
ben. Es werden allgemeine Handlungsfiguren Andererseits können sie auch zur kritischen
und allgemeine Handlungsmuster herausgearbei- Beurteilung von Studien herangezogen
tet. Konkret wird Folgendes beschrieben (Lamnek werden.
u. Krell 2005):
128 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

. Tab. 6.10 Gütekriterien für qualitative Forschung: Definitionen und Strategien

Gütekriteriena Definition Strategien

Authentizität Authentische Beschreibung der Genaue Beschreibung des Vorgehens bei


(„authenticity“) Wahrnehmung und Gefühle der der Studie
Studienteilnehmenden Reflexion
Glaubwürdigkeit Korrektheit der Ergebnisse aus Sicht der Besprechung mit Kollegen und Kolleginnen
(„credibility“) Studienteilnehmenden längerfristige Beschäftigung
beständige Beobachtung
Triangulation
referenzielle Angemessenheit
Negativfallanalyse
6 Überprüfung durch Studienteilnehmende
Sättigung
Nachvollziehbarkeit Gewissheit, dass die Daten den Antworten Forschungstagebuch
(„confirmability“) der Studienteilnehmenden entsprechen Triangulation
Übertragbarkeit Möglichkeit, die Ergebnisse in anderen Genaue Beschreibung des Vorgehens
(„transferability“) Situationen oder mit anderen Menschen bei der Studie
anzuwenden Reflexion
Zuverlässlichkeit Konstanz der Daten bei ähnlichen Untersuchungsrevision
(„dependability“) Bedingungen

a Die Auflistung der Gütekriterien erfolgt in dieser Tabelle in alphabetischer Reihenfolge, die Strategien sind nach der

Verortung im Forschungsprozess gereiht.

In der quantitativen Forschung werden die Validi- Je mehr Strategien definiert und je genauer diese
tät und Reliabilität des Erhebungsinstrumentariums umgesetzt werden, desto höher ist die Güte einer
und Kriterien der inneren und äußeren Überprüfung Studie (LoBiondo-Wood u. Haber 2005, Cope
(Validität) als Gütekriterien herangezogen. Ziel der 2014).
quantitativen Forschung ist vor allem die Genera-
lisierbarkeit oder externe Validität der Ergebnisse.
Ziel der qualitativen Forschung hingegen ist die ver- 6.5.2 Strategien zum Erreichen
ständliche und wahrheitsgemäße Darstellung von der Gütekriterien
Zusammenhängen. Daher werden andere Gütekri-
terien angewendet (LoBiondo-Wood u. Haber 2005, Im Folgenden werden die in . Tab. 6.10 gelisteten
Cope 2014). Strategien zur Erreichung einer bestmöglichen Güte
von qualitativen Studien, nach deren Verortung im
Forschungsprozess gereiht, beschrieben.
6.5.1 Einteilung der Gütekriterien
z Forschungstagebuch („audit trail“)
In der qualitativen Forschung werden mehrere Das Führen eines Forschungstagebuchs während des
Definitionen und Systeme von Gütekriterien gesamten Forschungsprozesses ermöglicht die Nach-
beschrieben. . Tab. 6.10 zeigt die Einteilung nach vollziehbarkeit der Überlegungen und der gesetz-
Cope (2014) und Lincoln und Guba (1985) sowie ten Handlungsschritte (z. B. bei Entscheidungen im
Strategien, um diese Gütekriterien zu erreichen. Codierungsprozess). Die Aufzeichnungen sollten
6.5 · Gütekriterien für qualitative Forschung
129 6
so ausführlich sein, dass getroffene Entscheidungen Erhebungszeiten (z. B. Tage, Wochen, Monate),
im Nachhinein begründet und diskutiert werden unterschiedliche Erhebungsorte (z. B. in verschie-
können (DePoy u. Gitlin 2005). denen Krankenhäusern) und unterschiedliche Orga-
nisationsformen von Studienteilnehmenden (z. B.
z Besprechung mit Kollegen („peer review/ einzelne Personen, eine Gruppe oder Gesellschaft)
debriefing“) erreicht werden.
Diese Strategie beinhaltet die fachliche Diskussion Die Forschertriangulation kann durch die par-
der Hypothesen, der Methodik, der Analyse, der allele Datenanalyse von mehr als einer Forscherin
Ergebnisse und Schlussfolgerungen mit fachlichen umgesetzt werden. Nach der Analyse erfolgt die Dis-
Kollegen und Kolleginnen (Lincoln u. Guba 1985, kussion der Datenanalyse und der Ergebnisse. Die
Creswell 2013). Methodentriangulation wird durch den Einsatz
unterschiedlicher Methoden (entweder nur quali-
z Längerfristige Beschäftigung („prolonged tativ oder qualitativ und quantitativ) erreicht. Die
engagement“) Theorientriangulation wird durch einen Vergleich
Hierzu zählt der Vertrauensaufbau und Rapport zwi- der erhobenen Daten mit schon vorhandener Lite-
schen Forscher und Forscherin und den Studien- ratur (z. B. mit Studien zum Thema) umgesetzt
teilnehmern und Studienteilnehmerinnen, um eine (Lincoln u. Guba 1985, Curtin u. Fossey 2007, DePoy
detaillierte und ausführliche Informationsweiter- u. Gitlin 2005).
gabe zu fördern. Ausreichende zeitliche Ressourcen
während der Datenerhebung stellen eine wichtige z Referenzielle Angemessenheit („referential
Voraussetzung dafür dar. Die Erfassung des Unter- adequacy“)
suchungsgegenstands in seiner Bandbreite und ein Nach der Datensammlung wird ein Teil der Daten
grundlegendes Verständnis der Studienteilneh- nicht analysiert und archiviert. Dieser wird nach der
mer und Studienteilnehmerinnen werden dadurch Datenanalyse (die mit dem anderen Teil der Daten
ermöglicht (Cope 2014, Lincoln u. Guba 1985). durchgeführt wurde) ebenfalls analysiert und dient der
Überprüfung der Ergebnisse (Lincoln u. Guba 1985).
z Beständige Beobachtung („persistent
observation“) z Negativfallanalyse („negative case analysis“)
Diese Strategie beinhaltet die andauernde Aufmerk- Im Lauf des Forschungsprozesses wird die Arbeits-
samkeit des Forschers für die Wahrnehmungen und hypothese durch eventuell auftretende Evidenzen,
Gefühle der Studienteilnehmer während des For- die diese widerlegen, verfeinert. Die Erwähnung und
schungsprozesses (Cope 2014, Lincoln u. Guba 1985). Beschreibung solcher negativer Evidenzen ermög-
licht eine realistische Erfassung des Untersuchungs-
z Triangulation („triangulation, gegenstands (Creswell 2013).
crystallization“)
Die Strategie der Triangulation wird bezogen auf die z Überprüfung durch Studienteilnehmende
Daten (Datentriangulation), auf die Einbeziehung („member-checking“)
mehrerer Forscher (Forschertriangulation), den Nach der Datenanalyse werden die Ergebnisse
Einsatz unterschiedlicher Methoden (Methoden- von den Studienteilnehmerinnen und -teilneh-
triangulation) und unterschiedlicher Theorien und mern gelesen, kontrolliert und eventuell korrigiert.
Perspektiven (Theorientriangulation) umgesetzt. Dadurch wird überprüft, ob diese die Erfahrungen
Bei der Datentriangulation werden unterschiedli- der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer korrekt
che Datenerhebungsstrategien und Datenquellen im wiedergeben (Curtin u. Fossey 2007, Creswell 2013).
Erhebungsprozess eingesetzt, um einen möglichst
vielfältigen Blick auf den Untersuchungsgegenstand z Sättigung („saturation“)
zu ermöglichen (es wird also ein Dreieck zwischen Die Datenerhebung (durch Interviews, Fokusgrup-
Untersuchungsgegenstand und Forscher gebildet). pen, Beobachtungen usw.) wird so lange durchge-
Datentriangulation kann durch unterschiedliche führt, bis die erhobenen Daten zu keinem besseren
130 Kapitel 6 · Qualitative Forschung

oder erweiterten Verständnis des Forschungsthemas Literatur


beitragen (DePoy u. Gitlin 2005).
Literatur zu Abschn. 6.1

z Genaue Beschreibung („thick description“) Blumer H (1973) Der methodologische Standort des Symbo-
lischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder
Dies beinhaltet die genaue Beschreibung und Soziologen (Hrsg) Alltagswissen, Interaktionen und
Begründung der Wahl der Methodik, eine ausführ- gesellschaftliche Wirklichkeit. Rohwolt, Reinbek, S 80–146
liche Darstellung des Datenerhebungsprozesses Corbin J, Strauss A (2004) Weiterleben lernen. Verlauf
(Beschreibung der Studienteilnehmer, des Settings und Bewältigung chronischer Krankheit, 2. Aufl.
der Datenerhebung, der Störfaktoren im Prozess Huber, Bern
Flick U (2011) Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung.
usw.), die genaue Beschreibung des Rohdatenma- Rohwolt, Reinbek
terials und eine nachvollziehbare Darstellung der Glaser B, Strauss A, Paul A (2010) Grounded Theory. Strategien
Analyseschritte. qualitativer Forschung, 3. Aufl. Huber, Bern
Lamnek S (2010) Qualitative Sozialforschung, 5. Aufl. Beltz,
6 z Reflexion („reflexivity“) Weinheim
Mayring P (2002) Einführung in die qualitative Sozialfor-
Der Forscher erläutert eine mögliche Einflussnahme schung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken, 5. Aufl.
der eigenen Person auf den Forschungsprozess und Beltz, Weinheim
stellt so seine Position dar. Dies beinhaltet die Dar- Morse J et al. (1998) Qualitative Pflegeforschung. Anwendung
stellung eigener Annahmen und die Reflexion über qualitativer Ansätze in der Pflege. Ullstein Medical,
eine mögliche eigene Befangenheit bezüglich des Wiesbaden

Forschungsthemas, zum Beispiel durch die Dar- Literatur zu Abschn. 6.2


stellung der eignen Beweggründe bei der Wahl des Müller-Mundt G, Schaeffer D (2002) Qualitative Gesundheits-
Forschungsthemas (DePoy u. Gitlin 2005, Curtin u. und Pflegeforschung. Huber, Bern
Fossey 2007).
Literatur zu Abschn. 6.3
z Untersuchungsrevision („external/inquiry Bogard K, Wertz FJ (2006) The introduction of a qualitative
audit“) perspective in advanced psychological research training:
narrative of a mixed methods. Doctoral Dissertation. The
Ein externer Begutachter, der keinerlei Bezug zu der Humanistic Psychologist 34 (4): 369–398
Studie hat und nicht in den Forschungsprozess invol- Embree L (2010) Interdisciplinarity within phenomenology.
viert ist, beurteilt, ob die Ergebnisse, Interpretatio- The Indo-Pacific Journal of Phenomenology 10: 1–7
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und der Forscherin eine Vielzahl von Strategien zur
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137 7

Quantitative Forschung
Susanne Perkhofer, Tanja Stamm, Valentin Ritschl, Elisabeth Hirmann,
Andreas Huber, Gerold Unterhumer, Heidi Oberhauser, Roman Weigl,
Andreas Jocham, David Moser, Lisa Ameshofer, Sabrina Neururer

7.1 Was ist quantitative Forschung? – 138


7.1.1 Einleitung – 138
7.1.2 Quantitativ Forschen in den Gesundheitsberufen – 138

7.2 Quantitative Forschungsdesigns und Methoden – 138


7.2.1 Randomisierte kontrollierte klinische Studien – 138
7.2.2 Klinisch kontrollierte Studien und andere quantitative Designs – 145
7.2.3 Studien in der bildgebenden Diagnostik – 150
7.2.4 Studien in der biomedizinischen Forschung – 157

7.3 Quantitative Messverfahren – 160


7.3.1 Fragebogen – 160
7.3.2 Untersuchungen im Bewegungslabor – 182
7.3.3 Andere Verfahren zur Datensammlung – 186

7.4 Auswertung quantitativer Daten – 193


7.4.1 Deskriptive Datenauswertung – 193
7.4.2 Induktive Statistik – 197

Literatur – 202

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5_7
138 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

7.1 Was ist quantitative Forschung? einer Substanz oder eines Vorgangs mit einem Mess-
instrument immer dieselben Werte liefern. Wenn
Susanne Perkhofer man dasselbe Instrument mehr als einmal zur
Messung eines bestimmten, normalerweise gleich
7.1.1 Einleitung bleibenden Verhaltens verwendet, dann müssen diese
Ergebnisse ähnlich sein, wenn es reliabel ist.
Die quantitative empirische Forschung hat ihren
Ursprung im naturwissenschaftlichen Bereich und z Validität
ist deduktiv, d. h. sie prüft Theorie bzw. Hypothesen. Dieses Kriterium, auch Gültigkeit genannt, gibt an,
Ihr Anspruch ist es, (am besten) über standardisierte ob das verwendete Messinstrument tatsächlich das
Methoden eine Fragestellung mittels „harter Daten“ misst, was es messen soll (so ist z. B. ein Instrument,
(Zahlen) zu klären. Die daraus resultierende wissen- das Angst messen soll, aber eigentlich Stress misst,
schaftliche Aussage zielt darauf ab, eine allgemein- nicht valide) (Bartholomeyczik u. Müller 1997,
gültige Aussage zu tätigen, die auch nomothetisch Lienert 1989, Mayer 2002, 2007, Wilke 1998).
genannt wird (Windelband 1904). In der quantitati-
7 ven Forschung geht es folglich darum, was „objektiv
wahr“ ist und damit eine allgemeine Aussagekraft 7.1.2 Quantitativ Forschen in den
hat. Damit weist die quantitative Forschung eine Gesundheitsberufen
hohe Differenz zur qualitativen Forschung (7 Kap. 6).
Maßgeblich für die empirischen Untersuchungen Gerade in den Gesundheitsberufen bieten sich quan-
sind die Haupt- und Nebengütekriterien. Hauptkri- titative Methoden sehr gut an, um Forschungsfra-
terien sind die Objektivität, die Reliabilität und die gen zu klären. Darüber hinaus können auch quan-
Validität, Nebengütekriterien sind die Ökonomie titative Verfahren in Kombination mit qualitativen
(Wirtschaftlichkeit), Nützlichkeit, Normierung und Methoden („mixed methods“, 7 Abschn. 9.2) nütz-
Vergleichbarkeit von empirischen Untersuchungen. lich sein, um komplexe Fragen der Gesundheit bzw.
Weist eine Untersuchung diese Gütekriterien nicht der Gesundheitsversorgung ganzheitlich zu beant-
auf, fehlen die wissenschaftlich überprüften Grund- worten und zu klären. Im Bereich Gesundheit/
lagen und notwendigen Kontrolluntersuchungen Gesundheitsversorgung nehmen das Wissen und
(Bartholomeyczik u. Müller 1997, Lienert 1989, der Anspruch, neues Wissen zu generieren, sehr
Mayer 2002, 2007, Wilke 1998). stark zu. Der Beitrag der Forscher liegt in der Iden-
tifizierung der relevanten Probleme durch struk-
z Objektivität turiertes Systemdenken, in einer experimentellen
Sie zeigt an, wie unabhängig die Testergebnisse vom Haltung, der Fähigkeit und Bereitschaft zur koope-
Interviewer oder Auswerter sind. Diese Objektivität rativen Zusammenarbeit sowie der Fähigkeit, Fach-
einer Untersuchung ist sehr stark vom Standardisie- wissen und Forschungsgeist kreativ und effektiv in
rungsgrad der Mess- oder Erhebungsmethoden abhän- Forschungsvorhaben anzuwenden.
gig. Ein Beispiel hierfür ist eine standardisierte Labor-
messmethode. Ein solches standardisiertes Instrument
garantiert ein höheres Ausmaß an Objektivität bei der 7.2 Quantitative Forschungsdesigns
Datenerhebung. Diese Objektivität ist auch bei den Aus- und Methoden
wertungsverfahren wichtig und notwendig. Um ein
hohes Maß an Objektivität bei der Datenauswertung 7.2.1 Randomisierte kontrollierte
zu erreichen, sind standardisierte Auswertungsverfah- klinische Studien
ren (z. B. mathematische Operationen) anzuwenden.
Tanja Stamm
z Reliabilität
Die Reliabilität ist ein Synonym für die Zuverlässigkeit Die randomisierte kontrollierte Studie („ran-
bzw. Beständigkeit eines Messinstruments. Sie zeigt domized controlled trial“, RCT) ist eine metho-
an, ob wiederholte Messungen eines Gegenstands, disch angelegte Untersuchung zur empirischen
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
139 7
Gewinnung von Information und damit ein spe- einzelne klinische Studien. Diese werden wiederum
zieller Typ von Experiment, bei dem eine Perso- je nach Design eingeteilt. Studien mit höherer Qua-
nengruppe, die Versuchsgruppe, eine Behandlung lität werden eher als Beweis für die Wirksamkeit
oder ein Medikament erhält, während eine andere einer Therapiemethode betrachtet (und „zählen“
vergleichbare Personengruppe, die Kontrollgruppe, daher mehr) als solche mit einem qualitativ niedri-
dies nicht bekommt oder ein Placebo erhält. Ein geren Design. Diese kommen dann zur Anwendung,
weiterer wichtiger Begriff in diesem Zusammen- wenn keine anderen Studien höherer Güte existie-
hang ist die klinische Studie. Eine klinische Studie ren. Das Studiendesign der randomisierten kontrol-
wird mit Patientinnen oder gesunden Probandin- lierten Studien wird üblicherweise als das Design
nen, den Versuchspersonen, durchgeführt, um der höchsten Qualität bezeichnet. RCT-Studien
Medikamente, Medizinprodukte oder medizinische sind daher ein wesentlicher Teil der evidenzbasier-
Behandlungen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen, ten Praxis (7 Kap. 14).
sobald ausreichend Daten zur Sicherheit vorhan- Als erste historische RCT-Studie gilt die Studie
den sind. In den Gesundheitsberufen fassen wir den über Streptomycin zur Behandlung von Lungen-
Begriff der klinischen Studie aber weiter: tuberkulose aus dem Jahr 1948 (Medical Research
Council 1948). Eine historische Suche in Pubmed mit
dem Suchwort „randomised controlled trial“ im Titel
Definition liefert die erste Studie aus dem Jahr 1969: „Selective
Als klinische Studie wird jede Art von Studie or truncal vagotomy? A double-blind randomised
bezeichnet, die am Menschen durchgeführt wird. controlled trial“ (Kennedy u. Connell 1969). Verwen-
Qualitative Studien, Fragebogenerhebungen, det man „randomised controlled trial“ als generel-
Beobachtungsstudien, Auswertungen les Suchwort und beschränkt dies nicht auf den
von klinischen Daten oder auch Studien Studientitel, stammt der erste Treffer aus dem Jahr
zur Entwicklung von Assessments zur 1960: „Interactions between pharmacodynamic and
Funktionsfähigkeit sind daher ebenfalls Beispiele placebo effects in drug evaluations in man“ (Modell
für klinische Studien in den Gesundheitsberufen. u. Garrett 1960). Interessanterweise veröffentlichte
Jede Studie an Menschen oder an menschlichen auch das American Journal of Occupation Therapy
Materialien erfordert nach der Deklaration 1968 bereits eine Studie mit dem Keyword „rando-
von Helsinki, der sich die meisten Länder mised controlled trial“ mit dem Titel „Industrial
angeschlossen haben, ein positives Votum der therapy and changes in self-esteem“ (Pile u. Swanson
zuständigen Ethikkommission (7 Abschn. 3.2). 1968). In dieser Studie wurden Patienten eines Kran-
Auch bei RCT-Studien ist die Freiwilligkeit der kenhauses zufällig 3 verschiedenen arbeitstherapeu-
Teilnahme obligat, und die Teilnehmer müssen tischen Vorgehensweisen zugeordnet. Selbstwertge-
über den Ablauf der Studie vollständig fühl wurde vor diese Zuordnung und nach 4 Wochen
aufgeklärt werden. gemessen, wobei kein Unterschied zwischen den 3
verschiedenen Vorgehensweisen festgestellt wurde.

Hintergrund Wann soll die Methode angewendet


Klinische Studien werden nach bestimmten Krite- werden?
rien eingeteilt, zum Beispiel nach dem Design. Je Grundsätzlich dienen RCT-Studien dazu, Daten
nach Güte und Design werden die Studien einer über die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode,
höheren oder niedrigeren Ebene der wissenschaftli- eines Medikaments oder eines Medizinprodukts
chen Evidenz zugeordnet. Die höchste Ebene stellen zu sammeln. Für RCT-Studien existieren interna-
Metaanalysen und systematische Reviews dar. Meta- tionale Standards, wie der CONSORT-Standard
analysen und systematische Reviews sind Zusam- (www.consort.statement.org), die eingehalten werden
menfassungen und weiterführende Analysen von sollten. Das heißt, man sollte bei der Planung einer
Studien mit hochwertigem Design und hoher Aus- RCT-Studie keine Abstriche beim Design machen
sagekraft. Die nächste darunterliegende Ebene sind und nicht auf Qualitätskriterien verzichten. Sonst
140 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

wird die Publikationsmöglichkeit stark einge- auch, auf Basis des ersten Assessments der primä-
schränkt, und auch bei einem Review oder einer ren Zielgröße in Blöcken zu randomisieren. Effekt-
Bewertung würde die Studie einen „unnötig“ nied- größen beschreiben die Größe des Unterschieds
rigen Wert erhalten. Eine RCT-Studie erfordert eine zwischen den Messungen vor und nach der Inter-
sinnvolle Planung, sie wird sich über einen längeren vention. Die primäre Zielgröße ist ein von der Pla-
Zeitraum erstrecken und erfordert meist finanzielle nerin einer Studie ausgewählte Messgröße, die als
Ressourcen, damit die Qualitätskriterien eingehalten vorrangiges Ergebnis der Studie betrachtet wird.
werden können und die investierte Arbeit entspre- In einer unserer RCT-Studien, in der Patientinnen
chende Ergebnisse bringen kann. Daher eigenen sich mit Fingerpolyarthrose, einer degenerativen rheu-
RCT-Studie meistens nicht als Bachelorarbeit oder matischen Erkrankung der kleinen Fingergelenke,
Masterthese in den Gesundheitsberufen. eine Übungsbehandlung und eine Gelenkschutz-
unterweise erhielten, unterschieden sich die beiden
Gruppen durch Zufall bereits zu Beginn der Studie in
Themenstellungen der Handkraft und damit in der primären Zielgröße
RCT-Studien dienen vor allem dazu, die Wirkungen (Stamm et al. 2002).
7 von Therapiemethoden zu untersuchen. Besteht bereits zu Beginn einer Studie ein sig-
nifikanter Unterschied in der primären Zielgröße,
können die Daten fast nicht sinnvoll ausgewertet und
Welche Schritte müssen eingehalten interpretiert werden. Daher raten wir üblicherweise,
werden? zuerst die primäre Zielgröße bei allen Teilnehmerin-
Die beiden wichtigsten Merkmale einer RCT-Studie, nen zu messen und danach Gruppen von Teilneh-
nämlich eine Randomisierung und das Vorhanden- merinnen mit ähnlichen Werten zu bilden, was oft
sein einer Kontrollgruppe, geben auch die ersten als Stratifizierung nach einem bestimmten Merkmal
Schritte der Durchführung vor. Weitere Qualitäts- bezeichnet wird. Diese werden dann mittels Zufalls-
merkmale, wie zum Beispiel geblindete Untersucher zahlenliste möglichst gleichmäßig auf beide Gruppen
oder eine ausreichende Fallzahl, sollten allerdings verteilt. Immer abwechselnd einen Teilnehmer der
ebenfalls gegeben sein. einen und den nächsten Teilnehmer der anderen
Gruppe zuzuordnen ist keine Randomisierung, da
immer eine Zufallskomponente enthalten sein muss.
Definition
Zusätzlich sind Merkmale, die einen Einfluss auf das
Randomisierung ist die Zuteilung der Ergebnis haben können, zu bedenken. Auch danach
Studienteilnehmenden zu der Versuchs- und kann bei der Randomisierung eine Stratifizierung
Kontrollgruppe durch den Zufall, zum Beispiel erfolgen, damit zu Beginn der Studie zwischen beiden
durch Zuweisen einer Zufallszahl oder das Gruppen keine signifikanten Unterschiede bestehen.
Ziehen eines vorbereiteten verschlossenen Die Randomisierung sollte außerdem durch eine
Kuverts mit Zuordnung. unabhängige Person erfolgen, die sonst keinen Ein-
fluss auf die Behandlung der Teilnehmenden, die
Dateneingabe oder die Datenauswertung hat.
Das zweite besonders wichtige Merkmal einer
Listen mit Zufallszahlen können zum Beispiel im RCT-Studie ist das Vorhandensein einer Kontroll-
Excel erstellt werden. Verschlossene Kuverts mit gruppe. Dies ist eine Gruppe von Teilnehmenden,
entsprechender Zuordnung müssen vor Beginn der die keine Behandlung oder ein Placebo, also eine
Studie vorbereitet werden. Die Randomisierung unwirksame Scheinbehandlung oder ein Schein-
dient dazu, dass die Studienleiterin nicht absichtlich medikament, erhält. Der Sinn einer Kontrollgruppe
Personen, bei denen eine deutlichere Verbesserung besteht darin, den Placeboeffekt einzubeziehen: Ein
zu erwarten ist, in die Versuchsgruppe einteilt. Patient verbessert sich aufgrund der Einnahme eines
Aufgrund der meist eher geringen Effektgrö- unwirksamen Medikaments, das er für ein wirksa-
ßen in den Gesundheitsberufen empfiehlt es sich mes Medikament hält, oder eine Patientin verbessert
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
141 7
sich allein aufgrund der erhaltenen Aufmerksam- RCT-Studie der Kontrollgruppe angeboten werden,
keit durch Angehörige von Gesundheitsberufen im oder die Kontrollgruppe wird danach als Versuchs-
Rahmen einer Studienteilnahme. Die Behandlung gruppe geführt und umgekehrt – damit kommt es
oder das Studienmedikament muss in der Studie allerdings zu einem Cross-over-Design, das nicht
besser als der Placeboeffekt sein, damit eine Wirk- mehr unbedingt einem reinen RCT-Design ent-
samkeit zugeschrieben werden kann. Ein statistisch spricht. Die Planerin einer RCT-Studie muss immer
signifikanter Unterschied zwischen den beiden diese ethischen Überlegungen anstellen und im Stu-
Gruppen am Studienende ist der Beweis für das dienprotokoll (Prüfplan, genauer Umsetzungsplan
Vorliegen einer Wirksamkeit über den Placeboeffekt der Studie) schriftlich festhalten.
hinaus. Grundsätzlich gilt, dass ein Placebo besser ist Das Assessment beinhaltet die primäre Ziel-
als keine Behandlung, da allein die erhaltene Auf- größe, welche vor Studienbeginn festgelegt werden
merksamkeit durch Angehörige von Gesundheits- muss, weitere Messungen und soziodemographische
berufen im Rahmen einer Studienteilnahme bereits Daten, damit die Stichprobe beschrieben werden
zu einer Verbesserung führt. Placebos für gesund- kann. Die Randomisierung erfolgt im Idealfall auf
heitsberufliche Interventionen zu entwickeln kann Basis der ersten Assessments der primären Ziel-
allerdings eine Herausforderung darstellen und ist größe, damit nicht bereits zu Beginn der RCT-Stu-
natürlich in einer Medikamentenstudie deutlich ein- die signifikante Unterschiede zwischen den beiden
facher zu bewältigen. Gruppen bestehen. Die primäre Zielgröße wird von
der Person, die die Studie plant, ausgewählt und
> Wichtig ist, dass sich die Kontrollgruppe zu als solche im Studienprotokoll angegeben. Zusätz-
Beginn der Studie in der primären Zielgröße lich können weitere Messungen gemacht werden,
nicht signifikant von der Versuchsgruppe aber die Wirksamkeit der Behandlung wird in erster
unterscheidet. Die Kontrollgruppe wird Linie an der primären Zielgröße gemessen. Um
zufällig ausgewählt (Randomisierung). die primäre Zielgröße zu messen, muss ein Unter-
suchungsverfahren oder Instrument (Assessment)
Grundsätzlich müssen auch immer ethische Aspekte ausgewählt werden. Dieses sollte die üblichen Güte-
überlegt werden, wenn eine Studie mit einer Kont- kriterien erfüllen (7 Kap. 11) und den zu erwarten-
rollgruppe erfolgt. Gibt es eine nachgewiesen wirk- den Effekt messen können (Achtung: oft sind kleine
same Behandlung für eine bestimmte Erkrankung, Effektgrößen bei Behandlungen der Gesundheitsbe-
dann müssen Patienten diese Behandlung erhalten rufe zu erwarten!). Zusätzlich können dann weitere
(die Behandlung darf nicht vorenthalten werden); Messungen erfolgen.
eine neue Behandlung könnte nur als zusätzli- Idealerweise werden alle Messungen durch eine
che Behandlung („add-on“) in einer RCT-Studie geblindete Untersucherin durchgeführt, das heißt,
gemacht werden. Dasselbe gilt auch für Erkran- diese Person weiß nicht, in welche Gruppe die jewei-
kungen, die fortschreiten oder bei denen in einem lige Studienteilnehmerin eingeteilt wurde. Doppel-
bestimmten Zeitraum Verbesserungen aufgrund blinde RCT-Studien mit vollständiger Blindung von
einer Behandlung zu erwarten sind. Bei Kindern, vor Teilnehmenden/Patientinnen und Behandlerinnen
allem in Bezug auf Fähigkeiten, die sich im Rahmen sind in den Gesundheitsberufen oft schlecht möglich,
einer normalen kindlichen Entwicklung ergeben, ist da oft ersichtlich ist, was die Behandlung und was das
besondere Vorsicht geboten. Wenn keine Daten über Placebo darstellt. Dennoch stellt das Vorhandensein
die Wirksamkeit einer bestimmten Behandlung exis- einer geblindeten Untersucherin eine sehr sinnvolle
tieren, können auch keine Aussagen über die Wirk- Methode dar, um den Einfluss von Personen auf die
samkeit oder Nichtwirksamkeit dieser Behandlung Messung zu reduzieren. Messungen sind in der übli-
getroffen werden (außer Expertenmeinungen), eine chen Form nach Standardassessment vorzunehmen.
RCT-Studie mit einer Kontrollgruppe könnte damit . Abb. 7.1 zeigt den Ablauf einer RCT-Studie. Das
sogar wünschenswert sein. Besteht eine Erkrankung, folgende Fallbeispiel einer interdisziplinären RCT-
die im Behandlungszeitraum kaum fortschreiten Studie soll die beschriebenen theoretischen Inhalte
wird, kann die Behandlung auch nach Abschluss der verdeutlichen.
142 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

X (Behandlung, Medikament,
Medizinprodukt)

A1 R A2

0 (Placebo, keine Behandlung)

. Abb. 7.1 Ablauf einer Studie. A1/A2 erstes/zweites Assessment, R Randomisierung, X Behandlung, 0 keine Behandlung oder
Placebo

Beispiel Gruppe berechnet (primäre Zielgröße Handkraft-


Das Fallbeispiel entstammt der randomisierten messung, geschätzter Unterschied am Ende 0,09,
7 kontrollierten interdisziplinären Studie „Ergothera- Standardabweichung 0,19, statistische Power 80 %
peutische und physiotherapeutische Maßnahmen und Signifikanzniveau 0,05). Patientinnen mit gesi-
bei Patientinnen mit Fingerpolyarthrose“ an der cherter Diagnose einer Fingerpolyarthrose konnten
Medizinischen Universität Wien. an der Studie teilnehmen. Die Patientinnen wurden
Fingerpolyarthrose ist eine der häufigsten rheuma- über die Studie aufgeklärt und unterschrieben eine
tischen Erkrankungen. Der nicht medikamentösen schriftliche Einverständniserklärung.
Behandlung kommt bei der Fingerpolyarthrose ein Zu Beginn der Studie erfolgten ein Anamnesege-
besonderer Stellenwert zu. Da mithilfe der medi- spräch sowie die Durchsicht der Befunde. Danach
kamentösen Behandlung oft nur Symptome, wie wurden die Handkraft (primäre Zielgröße) und die
zum Beispiel Schmerzen, gelindert werden können, Handfunktion gemessen. Aufgrund dieser Mes-
werden Patientinnen mit Fingerpolyarthrose oft an sungen erfolgte die zufällige Zuteilung in eine der
Ergotherapeutinnen und Physiotherapeutinnen beiden Behandlungsgruppen auf Basis einer Block-
überwiesen. Auch die europäischen Behandlungs- randomisierung (Patientinnen mit ähnlichen Wer-
standards für Arthrose und rheumatoide Arthritis ten werden zufällig, aber gleichmäßig auf beide
(Stoffer et al. 2014), die in einem EU-Projekt mit Gruppen verteilt).
internationaler Beteiligung bei uns entwickelt wur- Die Interventionsgruppe erhielt ein evidenzbasier-
den, sehen vor, dass Patientinnen mit Arthrose von tes Behandlungsprogramm, das interdisziplinär ent-
einem interdisziplinären Team betreut werden und wickelt wurde und die europäischen Behandlungs-
dabei medikamentöse sowie nicht medikamentöse standards für Arthrose umsetzt. Für die einzelnen
Therapien erhalten sollen. Größtmögliche Schmerz- Maßnahmen wurden in einer Literatursuche wis-
kontrolle und größtmögliche Funktion sollen ange- senschaftliche Studien als Beweise für die Wirkung
strebt werden. Zusätzlich spielen Lebensstil und gesucht und analysiert. Die Behandlung erfolgte
Selbstmanagement eine wichtige Rolle. an einem Termin und wurde von einer Ergothera-
An der Klinik für Innere Medizin III, Abteilung für peutin und einer Physiotherapeutin gemeinsam
Rheumatologie, der Medizinischen Universität Wien durchgeführt, zum Teil in Zusammenarbeit mit einer
und dem Allgemeinen Krankenhaus Wien wurde Rheumatologin und/oder einer Fachärztin für Phy-
eine klinische RCT-Studie zur interdisziplinären Be- sikalische Medizin sowie einer Diätologin und einer
handlung bei Fingerpolyarthrose durchgeführt. Die Gesundheits- und Krankenpflegeperson. . Abb. 7.2
Studie wurde von der Ethikkommission der Medizi- zeigt schematisch den Ablauf der RCT-Studie.
nischen Universität Wien positiv bewertet, sie wurde Patientinnen der Kontrollgruppe erhielten die zwi-
auf www.controlled-trials.com öffentlich registriert schen ihnen und der Rheumatologin vereinbarte
(ISRCTN # 62513257) und startete im Herbst 2011. Routinebehandlung und einen Massage-Igelball
Die Teilnehmerzahl wurde mit 70 Patientinnen pro als „Placebointervention“. Die Patientinnn wurden
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
143 7

Follow-up am
Telefon und 2.
A1: Assessment Interdisziplinäre A2: Assessment
Behandlung, wenn
zu Beginn der Behandlung am Ende der
nötig, nach einem
Studie Studie
Monat

durch eine durch eine


geblindete geblindete
Untersucherin Untersucherin

Routinebehandlung + Massage-Igelball

. Abb. 7.2 Ablauf eines Beispiel-RCT

instruiert, mit dem Massage-Igelball den Handrü- Gesundheitsberufe ist das eher möglich (z. B. funk-
cken zu massieren. Beim Follow-up-Termin nach tionelle Fingerübungen in der Rheumatologie) als
2 Monaten wurde das Angebot unterbreitet, zusätz- in anderen Bereichen (individuelle Therapie zu
lich die multidisziplinäre Intervention zu erhalten. Hause). Trotzdem können zum Beispiel Prinzipien,
Alle Patientinnen dieser Gruppe machten vom An- die in der individuell abgestimmten Behandlung
gebot Gebrauch. Es wurde allerdings erwartet, dass immer enthalten sein müssen, standarisiert werden.
diese Intervention vor allem für Patientinnen, die In einem unserer Projekte zu einer gesundheitsför-
gerne aktiv an der Behandlung mitwirken möch- derlichen Intervention bei älteren Menschen haben
ten, besonders effektiv sein wird. Die Behandlung wir das Prinzip der Wiederholung, der Herausfor-
wird möglicherweise nicht alle Patientinnen glei- derung beim Training von Alltagstätigkeiten, sowie
chermaßen ansprechen, da eine aktive Teilnahme das Vorhandensein von „dual tasks“ definiert, ohne
erforderlich ist. dabei aber jede einzelne Therapieeinheit standardi-
Diese Studie wurde von der Österreichischen siert durchzuplanen.
Gesellschaft für Rheumatologie und Rehabilitation Die Fallzahl einer RCT-Studie richtet sich nach
(ÖGR Projektförderpreis 2012), den Berufsverbän- der zu erwartenden Effektgröße. Effektgrößen in den
den Ergotherapie Austria und Physio Austria, der Gesundheitsberufen sind oft eher mittelgroß oder
Fachhochschule Campus Wien, der Medizinischen klein. Effektgrößen können aus Pilotstudien oder
Universität Wien und der Fachhochschule Gesund- ähnlichen Studien (Literatursuche und -analyse)
heitsberufe Oberösterreich finanziell unterstützt. abgeleitet werden. Kleinere oder mittelgroße Effekt-
Populärwissenschaftliche Artikel über die Studie größen benötigen größere Fallzahlen, um die Effekte
wurden in den Zeitschriften Fakten der Rheumat- überhaupt messbar machen zu können. Um die
ologie sowie Jatros Orthopädie im Jahr 2014 ver- Effektgröße zu ermitteln, schätzt man zum Beispiel
öffentlicht. . Abb. 7.3 zeigt ein Beispiel für eine den Mittelwert und die Standardabweichung der pri-
Übung mit Therapieknetmasse. mären Zielgröße der beiden Gruppen zu Beginn und
am Ende der Studie. Nachdem das Signifikanzniveau
Generell sollte die Behandlung oder Interven- und die statistische Power festgelegt wurden, kann
tion in einer RCT-Studie möglichst weitgehend die Fallzahl mittels Fallzahlrechner im Internet oder
standardisiert werden. In manchen Bereichen der mit einem Statistikprogramm berechnet werden.
144 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

sowie die Berichterstattung darüber ist ebenfalls dem


ÜBUNG 6 CONSORT-Statement zu entnehmen.
FAUST MIT KNETMASSE
Die Knetmasse zu einer Kugel
formen.
Stärken und Schwächen
Es ist schwierig, etwas über die Schwächen einer
ROLLE MIT KNETMASSE FORMEN
RCT-Studie zu erläutern, da eine RCT-Studie nach
Die Knetmasse mit eine Hand zu
einer Rolle formen. derzeitigem Wissensstand den qualitativ höchsten
Standard einer Studie zur Wirksamkeit darstellt.
PINZETTENGRIFF Aber nicht alles, was in einer Medikamentenstu-
Die geformte Rolle mit Daumen die mit Placebo machbar ist, lässt sich auch in den
und Zeigefinger
zusammendrücken. Gesundheitsberufen umsetzen. So ist zum Beispiel
(Versuchen Sie eine Überstreckung
des Daumens zu vermeiden). eine Verblindung der Teilnehmenden hinsichtlich
gesundheitsberuflicher Placebobehandlungen oft
. Abb. 7.3a–c Beispiel für eine Übungen mit schwierig oder nur teilweise umsetzbar. Im Sinne
7 Therapieknetmasse. a Die Knetmasse wird zu einer
Kugel geformt. b Mit einer Hand wird eine Rolle geformt.
der zahlreichen Reviews, die derzeit durchgeführ-
c Pinzettengriff: Mit Daumen und Zeigefinger wird die ten werden, um zu ermitteln, welche Interventionen
geformte Rolle zusammengedrückt evidenzbasiert sind und welche nicht, ist es aller-
dings unverzichtbar, sich in den Gesundheitsberufen
nach dem RCT-Design zu richten. In den Reviews
Ein Beispiel für einen Fallzahlrechner findet sich von Steultjens et al. (2002, 2004) über Ergothera-
auf www.clinical-trials.de/de/Werkzeuge/Online_Hilfs- pie bei rheumatoider Arthritis wurden zum Beispiel
mittel/online_hilfsmittel.html. Zu große Fallzahlen alle anderen Designs außer RCT-Studien und soge-
sind unethisch (Aufwand für zu viele Teilnehmer), nannte „controlled clincial trials“ bereits als „other
zu kleine Fallzahlen führen dazu, dass ein möglicher design“ mit geringerer Qualität eingestuft. Bei vielen
Unterschied nicht gemessen wird. Reviews werden solche Designs gar nicht berück-
Grundsätzlich sollen RCT-Studien nach inter- sichtigt. Alternative Designs sind allerdings nötig,
nationalen Standards durchgeführt und berichtet wenn eine Kontrollgruppe unethisch ist oder nur
werden. Dazu gibt es derzeit das CONSORT-Sta- geringe Fallzahlen möglich sind (Achtung: Hier
tement (www.consort-statement.org). Auf der Web- aber eventuell vorher eine Multicenter-RCT-Stu-
seite kann die jeweils letztgültige Version abgerufen die als Alternative zur Erhöhung der Fallzahl über-
werden. Das CONSORT-Statement ist ein Mini- legen! Eine Multicenter-Studie ist eine Studie, die
mumstandard für das Berichten von RCT-Studien. an mehreren Zentren durchgeführt wird. Dadurch
Zu den internationalen Standards zählt auch die kann eine geographische Streuung entstehen, aber
öffentliche Registrierung der Studie im Internet. es können auch höhere Teilnehmerzahlen erreicht
Dies kann zum Beispiel auf www.controlled-trials.com werden).
erfolgen und ist kostenpflichtig. Es gibt auch Fach-
journale, die Studienprotokolle publizieren. > RCT-Studien liefern Daten über die
Die Auswertung muss bereits zu Beginn der Wirksamkeit von Behandlungen unter
Studie im Studienprotokoll festgelegt werden. Dazu Studienbedingungen. Danach sind Studien
werden statistische Tests herangezogen, die je nach im realen klinischen Alltag nötig, um zu
Assessment, Teilnehmerzahl und Effektgröße aus- zeigen, ob sich die Wirksamkeit auch in
gewählt werden. Vielfach werden die Werte derzeit diesem Setting bestätigen lässt.
nicht nur hinsichtlich signifikanter Unterschiede ver-
glichen (Vergleich zu Beginn und am Ende der Studie
oder Vergleich der Differenzen der Messwerte von Weiterentwicklungen des Designs
Beginn und Ende), sondern in einem statistischen Für das Berichten einer RCT-Studie gibt es das
Modell für die Messwerte zu Beginn der Studie kont- CONSORT-Statement ( www.consort-statement.
rolliert. Die derzeit übliche Art der Datenauswertung org). Auf der Webseite kann die jeweils letztgültige
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
145 7
Version abgerufen werden. Solche Standards meist auch die Kontrollgruppe. Wie in 7 Abschn. 7.2.1
werden kontinuierlich weiterentwickelt, daher ist erwähnt, stellt dies einen Verlust der Qualität dar,
es wichtig, sich immer über den neuesten Stand zu daher wird eine entsprechende Studie auch meist
informieren. Viele Fachjournale verlangen bei der bei einem systematischen Review nicht oder nur als
Einreichung eines Manuskripts, dass dieses nach Studie von geringer Qualität berücksichtigt. Somit
den gängigen Standards erstellt wurde, so muss man muss die Durchführung von diesen quantitativen
bei einer RCT-Studie angeben, ob nach CONSORT Designs gut begründet sein (DePoy u. Gitlin 2005,
berichtet wird. Es empfiehlt sich daher, bereits bei LoBiondo-Wood u. Haber 2001).
der Planung der Studie diese Standards zu beachten. Gründe, um auf ein RCT zu verzichten:
4 Bestehende Gruppen werden verglichen,
Zusammenfassung zum Beispiel könnten 2 Patientengruppen
RCT-Studien sind essenziell in den Gesundheitsbe- von unterschiedlichen Abteilungen/Spitälern
rufen, sie ermöglichen es, Daten über Wirksamkeit verglichen werden.
von Behandlungs- und Diagnosemethoden zu sam- 4 Effekte sollen erst abgeschätzt werden (Pilot-
meln. Daher sollten möglichst keine (oder zumin- studie), um mithilfe der Ergebnisse ein RCT
dest wenige) Abstriche beim Design gemacht wer- sinnvoll zu planen.
den, um qualitativ hochwertige Studie zu produ- 4 Die zu untersuchende Patientengruppe
zieren. Für eine RCT-Studie sind Wissen, aber auch (Population) ist so klein, dass keine Gruppen
Zeit und finanzielle Mittel, die über den normalen gebildet werden können (z. B. Babys mit einem
Routinealltag hinausgehen, erforderlich. akuten Schlaganfall).
4 Aus zeitlichen und oder finanziellen Gründen ist
das Durchführen eines RCT nicht möglich (bei
7.2.2 Klinisch kontrollierte Studien Bachelor- oder Masterarbeiten). Hier ist aller-
und andere quantitative Designs dings anzuraten, Vorarbeiten (z. B. Pilotstudien)
für ein RCT vorzunehmen, anstatt Abstriche bei
Valentin Ritschl, Elisabeth Hirmann, Andreas der Qualität der Studie zu machen.
Huber, Tanja Stamm
Ethische Gründe, um auf eine Kontrollgruppe zu
Neben den klassischen randomisierten kontrollier- verzichten:
ten Studien (RCT) existiert eine große Zahl an unter- 4 Es ist zu erwarten, dass eine Nichtbehandlung
schiedlichen quantitativen Designs. Kontrollierte oder eine Scheinbehandlung (Placebogruppe)
klinische Studien und andere quantitative Designs zu irreversiblen gesundheitlichen Nachteilen
unterscheiden sich von RCT vor allem durch das des Patienten führt. In so einem Fall kann
Fehlen der Randomisierung und meist auch der Kon- zum Beispiel eine neue Intervention mit der
trollgruppe. Kontrollierte klinische Studien zeichnen Standardbehandlung verglichen werden
sich durch das Vorhandensein von Kontrollgrup- (7 Abschn. 3.2).
pen aus, während viele andere quantitative Designs
auch nicht kontrolliert sind (Bortz u. Döring 2006, Zusätzlich können diese Studiendesigns für Pilotstu-
DePoy u. Gitlin 2005, LoBiondo-Wood u. Haber dien von RCT oder als Möglichkeit zur Beschreibung
2001, Nelson 2006). von Populationen dienen.

Wann soll die Methode angewendet Themenstellungen


werden? Folgende Themenstellungen für klinisch kontrol-
Grundsätzlich dienen diese Studiendesigns der lierte Studien oder andere quantitative Designs
Wirksamkeitsüberprüfung von pharmakologi- bieten sich an:
schen und nicht pharmakologischen Interventio- 4 Wirksamkeitsüberprüfung von pharmakologi-
nen – ähnlich den RCT. Im Unterschied zur RCT schen und nicht pharmakologischen Interven-
fehlen bei diesen Designs die Randomisierung und tionen – ähnlich den RCT, zum Beispiel um die
146 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

VG

Auswahl
Population Stichprobe Random
Random

KG

. Abb. 7.4 Ablauf einer randomisierten kontrollierten Studie. KG Kontrollgruppe, Random Randomisierung, VG
Versuchsgruppe

7 Effekte von Widerstandstraining auf multiple


z z Quasiexperimentelle Studie
Sklerose zu messen (Pérez et al. 2007) Kontrollierte klinische Studie ohne Randomisie-
4 Pilotstudien, um in weiterer Folge RCT rung Eine kontrollierte klinische Studie ist grund-
entwickeln zu können (Pfeiffer et al. 2011) sätzlich gleich aufgebaut wie ein RCT, mit dem
4 Erfassen von Merkmale von Populationen und Unterschied, dass auf eine Randomisierung aus ethi-
Abschätzung erster Korrelationen zwischen schen oder praktischen Gründen und somit auf eine
diesen, zum Beispiel um fördernde und Verblindung verzichtet wird (. Abb. 7.5). Dadurch
hinderliche Faktoren für die Implementierung sinkt auch die Aussagekraft der Studie bezogen auf
von EBP (evidenzbasierte Praxis) zu erheben die Population.
(Ritschl et al. 2015)
Langzeitdesign mit Testserien oder ABA-Einzelfall-
studien Langzeitdesignstudien mit Testserien
Welche Schritte müssen eingehalten oder AB-, ABA-, ABAB-Design sind eine weitere
werden? Möglichkeit, eine experimentelle Studie durchzu-
Kontrollierte klinische Studien und andere quanti- führen. Dieses Design wird hauptsächlich dann
tative Designs sind meist abgewandelte Formen der angewendet, wenn eine Population und somit eine
RCT. Um zu vergleichen wird an dieser Stelle das Stichprobe für Gruppenvergleiche zu klein ist.
Design RCT kurz wiederholt (Bortz u. Döring 2006, Außerdem eignet sich dieses Design, um relativ kos-
DePoy u. Gitlin 2005, LoBiondo-Wood u. Haber tengünstig experimentelle Einzelfallstudien durch-
2001, Nelson 2006). Da eine große Anzahl an Varie- zuführen. Das ABA-Design (. Abb. 7.6) besteht aus
täten existiert, können nicht alle Designs vorgestellt einer Baseline zu Beginn der Studie mit multip-
werden. len Testungen der Patientin (A-Phase), dann einer
Interventionsphase (B-Phase) und wieder einer Test-
z z Klinisch experimentelle Studien phase (A-Phase). Diese Variante kann durch Hinzu-
RCT Ein RCT zeichnet sich durch eine randomi- fügen oder Entfernen von weiteren Phasen verändert
sierte Verteilung der Personen in eine Versuchs- werden (AB- und ABAB-Design). Der große Vorteil
und eine Kontrollgruppe aus (. Abb. 7.4). Es folgt dieses Vorgehens gegenüber einer Einzelfallstudie
ein Anfangstest (abhängige Variable), eine Interven- ohne Testserien ist, dass so die Patientin zu seiner
tionsphase, wobei die Versuchsgruppe die zu unter- eigenen Kontrollgruppe wird:
suchende Intervention (unabhängige Variable) erhält 4 Phase A: Die Patientin wird in einem sinnvollen
und die Kontrollgruppe entweder nichts, ein Placebo Zeitabstand (abhängig vom Messinstrument)
oder eine konventionelle Therapie, gefolgt von einem öfters hintereinander gemessen, ohne dass
Endtest. Im Idealfall sind die Patienten, der Assessor eine Intervention durchgeführt wird. In
und der Behandler geblindet (7 Abschn. 7.2.1). der Literatur schwankt die Mindestanzahl
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
147 7

VG

Population Auswahl Stichprobe

KG

. Abb. 7.5 Ablauf einer kontrollierten klinischen Studie ohne Randomisierung

Population Auswahl Stichprobe VG

. Abb. 7.6 Langzeitdesign mit Testserien oder ABA-Einzelfallstudien

zwischen 3 und 8 Messungen. Durch die Folgende Interpretationen sind möglich (. Abb. 7.7).
multiplen Messungen wird der krankheitsbe- 4 Beispiel 1: Der Patient zeigt vor der Inter-
dingte Zustand der Patientin festgehalten. Um vention einen stabilen Wert bei 1 (Y-Achse).
eine Veränderung möglichst gut abbilden zu Nach der Intervention zeigt sich ein deutlich
können, sollten die Testergebnisse nicht signi- besserer, stabiler Wert bei 5. Es kann ein
fikant unterschiedlich sein (SEM [„standard Zusammenhang zwischen der Verbesserung
error of measurement“], 7 Kap. 11). und der Intervention vermutet werden.
4 Phase B: Die Patientin erhält nun eine Inter- 4 Beispiel 2: Der Patient zeigt vor der Inter-
vention. Während der Interventionsphase vention einen stabilen Wert bei 1. Nach der
können auch Testungen stattfinden, um Intervention ist eine kurzfristige Verbesserung
den Verlauf einer möglichen Veränderung ersichtlich, die aber keinen nachhaltigen Effekt
darzustellen. hat.
4 Phase A: Die Patientin wird wieder getestet 4 Beispiel 3: Der Patient zeigt vor der Inter-
(entsprechend der ersten A-Phase). Diese vention einen wechselnden, instabilen Wert.
zweiten Messungen sollten sich nun signifikant Nach der Intervention zeigt sich ein
von der ersten A-Phase unterscheiden. stabiler Wert.
4 Beispiel 4: Der Patient zeigt vor der Inter-
> Patienten sollten andere Interventionen wie vention einen wechselnden, instabilen
Therapien oder Medikamente während der Wert. Nach der Intervention zeigt sich keine
Studie möglichst nicht verändern, da sonst Veränderung in den Werten – es muss davon
etwaige Veränderungen nicht mehr auf eine ausgegangen werden, dass die Intervention
einzelne Intervention zurückgeführt werden keinerlei Effekte auf den Gesundheitszustand
können. des Patienten zeigt.
148 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

Beispiel 1 Beispiel 2 Beispiel 3 Beispiel 4


6 6 6 6
5 5 5 5
4 4 4 4
3 3 3 3
2 2 2 2
1 1 1 1
0 0 0 0
0 1 2 3 4 5 6 0 1 2 3 4 5 6 0 1 2 3 4 5 6 0 1 2 3 4 5 6

. Abb. 7.7 Interpretation der Ergebnisse: Die ersten 3 Punkte stellen die Testungen vor der Interventionsphase dar, die
Interventionsphase findet immer bei Zeitpunkt „3“ statt (X-Achse) und die letzten 3 Punkte stellen die Testungen nach der
Interventionsphase dar. Weitere Erläuterungen siehe Fließtext

7
Population Stichprobe

. Abb. 7.8 Pretest-Posttest-Design

Entscheidend für eine gute Studie sind hier Assess- Verbesserung im Krankheitsbild kommen. Das
ments und Instrumente, die Veränderungen verläss- ist im ABA-Design sofort ersichtlich. Beim Ver-
lich abbilden können und eine ausreichende Verän- zicht der multiplen Messungen aber nicht mehr –
derungssensitivität aufweisen. hier bestimmt dann der Zeitpunkt der Messung das
Messergebnis. Beispiel: Findet der Pretest zum Zeit-
z z Pilotstudien punkt 0 statt und der Posttest zum Zeitpunkt 6, wäre
Pretest-Posttest-Design oder Vorher-Nachher- keine Veränderung das Ergebnis der Messung. Wäre
Design Bei diesem Design gibt es weder eine Ran- aber der Posttest zum Zeitpunkt 5, würde ein signi-
domisierung noch eine Kotrollgruppe (. Abb. 7.8). fikanter Unterschied gemessen werden. Fände der
Es wird vor und nach der Intervention jeweils eine Pretest zum Zeitpunkt 1 statt und der Posttest zum
Testung durchgeführt. Dieses Design ist sehr anfällig Zeitpunkt 6, würde eine signifikante Verschlechte-
für intervenierende oder störende Variablen, da weder rung als Ergebnis der Messung entstehen.
multiple Testungen noch eine Kontrollgruppe einge- Das Vorher-Nachher-Design eignet sich, um
setzt werden, um eventuelle Störfaktoren zu erken- erste Effekte abzuschätzen, es dient dadurch als Pilot-
nen oder zu kompensieren. Somit kann das Ergebnis studie, auf deren Ergebnisse zum Beispiel ein RCT
einer solchen Studie nicht mehr nur auf die Interven- aufgebaut werden kann.
tion zurückgeführt werden. Beispiel: Wird eine Studie
zum Thema Depression durchgeführt, dann hat unter „One -shot case study “ oder Schrotschussde -
anderem das Wetter einen Einfluss auf die Stimmung sign Diese Studien eignen sich vor allem für Hypo-
der Probanden (Sommer versus Winter). thesenfindungen im Sinne von Pilotstudien. Da
Ein Beispiel zeigt . Abb. 7.9. Wie schon beim weder eine Vortestung, eine Randomisierung noch
ABA-Design erwähnt (Beispiel 4), würde es bei eine Kontrollgruppe zum Einsatz kommt, kann
diesem Patienten durch die Intervention zu keiner dieses Design nicht zur Hypothesentestung eingesetzt
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
149 7

Beispiel

6
5
4
3
2
1
0
0 1 2 3 4 5 6

. Abb. 7.9 Beispiel für die Problematik eines Pretest-Posttest-Designs ohne multiple Messungen und Kontrollgruppe. Die
ersten 3 Punkte (X-Achse) stellen mögliche Zeitpunkte für einen Pretest und die hinteren 3 Punkte unterschiedliche Zeitpunkte
für einen möglichen Posttest dar

Population Stichprobe

. Abb. 7.10 „One-shot case study“

z z Nicht experimentelle Designs


werden (. Abb.  7.10). Es kann nur die Frage „Wie
geht es der Patientin nach der Intervention?“ beant- Umfragen, Surveys Diese werden genutzt, um Cha-
wortet werden, also zum Beispiel im Sinne einer Ent- rakteristika einer Population zu erheben. Die erho-
lassungsbefragung zur Evaluation des medizinisch- benen Parameter können so beschrieben und erste
therapeutischen Angebots in einem Spital. Korrelationen (Beziehungen) zwischen ihnen abge-
schätzt werden. Umfragen werden meist mithilfe von
„Case-control study“, „static group comparison“ oder Fragebögen durchgeführt (7 Abschn. 7.3.1).
statistischer Gruppenvergleich Das Design des sta-
tischen Gruppenvergleichs entspricht dem Vorgehen Passive Beobachtungen Passive Beobachtungs-
der „one-shot case study“. Der Unterschied besteht designs werden genutzt, um Phänomene möglichst
in bereits bestehenden Gruppen, die als Vergleich passiv (also ohne auf sie zu wirken und sie damit zu
herangezogen werden ( . Abb. 7.11). Die Ergeb- beeinflussen) zu beobachten und zu beschreiben. Ein
nisse dieses Designs sind als stärker anzusehen als Beispiel sind nicht interventionelle Studien (NIS).
die anderer Pilotstudien, doch sollte auch hier kein Variablen werden hier nicht manipuliert, aber gemes-
kausaler Zusammenhang hergestellt werden, da zu sen, und es wird wie auch bei Umfragen versucht, erste
wenig Kontrolle über Störfaktoren besteht. Beziehungen zwischen den Variablen abzuschätzen.
150 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

Population Stichprobe

Vergleichs-
gruppe

7
. Abb. 7.11 „Case-control study“

z z Schwächen
Retrospektive Designs Diese Designs dienen der
nachträglichen Datenauswertung. Es können 4 Das größte Problem an diesen Designs ist,
zum Beispiel Dokumentationen von Patienten dass im Vergleich zu RCT immer Abstriche
herangezogen werden, um Interventionen und in der Aussagekraft gemacht werden
ihren Einfluss auf den Verlauf von Erkrankungen müssen. Soweit dies die Ressourcen zulassen,
zu beschreiben. Das Problem bei retrospektiven sollten RCT diesen Designs vorgezogen werden.
Designs ist, dass Störvariablen nur bedingt oder
nicht kontrolliert werden können. Zusammenfassung
Klinische kontrollierte Studien und andere quantita-
Ex-post-facto-Design Dies ist ein Forschungsde- tive Designs können gut als Pilotstudien eingesetzt
sign, das immer nach dem zu messenden Ereignis werden. Nach Möglichkeit sollte aber ein RCT an-
durchgeführt wird. Sollen zum Beispiel die Auswir- gestrebt werden, außer es liegen besondere Gründe
kungen von Autounfällen oder Naturkatastrophen oder spezielle Fragestellungen vor.
gemessen werden, dann muss gewartet werden,
bis das Ereignis stattgefunden hat, und erst dann
können die Teilnehmerinnen in die Studie einge- 7.2.3 Studien in der bildgebenden
schlossen werden. Das Problem ist hier, ebenso wie Diagnostik
bei allen retrospektiven Designs, das Störvariablen
nur noch bedingt kontrolliert werden können. Gerold Unterhumer

In der bildgebenden Diagnostik steht eine Reihe


Stärken und Schwächen von diagnostischen Tests zur Verfügung. Ein bild-
z z Stärken gebender diagnostischer Test wird eingesetzt, um
4 Kontrollierte klinische Studien und körperliche Zustände abzubilden und anhand
andere quantitative Designs eignen dieser Bilddaten zu beschreiben. Ein Test ist in
sich als Pilotstudien, um RCT effizienter diesem Sinne eine Untersuchung, die an Patien-
zu planen. ten durchgeführt wird, mit dem Ziel der Dar-
4 Sie eignen sich, um Tendenzen abzubilden. stellung eines aktuellen morphologischen und
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
151 7
funktionellen Zustands, um die Ärztin bei der 4 zu prüfen,
medizinischen Entscheidungsfindung zu unter- 4 zu standardisieren,
stützen. Ein bildgebender klinischer Test erhöht 4 zu evaluieren (Testentwicklung) und
die Sicherheit der Diagnose und dient der prog- 4 um ihren Einsatz am Menschen zu rechtfer-
nostischen Abschätzung von Krankheitsverläufen tigen (Nutzen-Risiko-Abschätzungen).
(Felder-Puig et al. 2009).
Häufig durchgeführte Untersuchungen in der Klinische Studien, also die Anwendung von diag-
bildgebenden Diagnostik sind Röntgenuntersu- nostischen Tests (Untersuchungen) an Menschen,
chungen, Computertomographien (CT), Mag- werden durchführt
netresonanztomographien (MR), Sonographien 4 zum Nachweis einer bestimmten, vermuteten
(Ultraschall), Angiographien, Szintigraphien, Posi- Erkrankung bei Symptomen (Suche),
tronenemissionstomographien (PET) und Kombi- 4 zum Screening von gesunden, asympto-
nationsverfahren, wie zum Beispiel PET/CT und matischen Patientinnen (nach bestimmten
PET/MR. Bei der Entwicklung und Einführung Erkrankungen),
neuer Verfahren sowie zur Evaluation, Rechtfer- 4 zum Ausschluss einer vermuteten
tigung und Optimierung von Untersuchungsme- Erkrankung,
thoden müssen im Rahmen von Studien die Nach- 4 zur Differenzierung von verschiedenen
weise erhoben und dargestellt werden, die deren Erkrankungen und ihren Schweregraden
Einsatz begründen oder ablehnen. Diese Studien (Differenzialdiagnose),
können mit Phantomen, Simulationen (am Com- 4 zum Staging (Beurteilung von Schwere,
puter) und an Tieren und Menschen durchgeführt Ausdehnung, Streuung) einer bekannten
werden. Ergebnisse dieser Studien in der bildge- tumorösen Erkrankung und
benden Diagnostik sind typischerweise Kenn- 4 zum Monitoring des Behandlungsverlaufs.
zahlen, die eine objektvierte, intersubjektiv über-
prüfbare Einschätzung der klinischen Wertigkeit
und Aussagekraft einer diagnostischen Methode Themenstellungen
ermöglichen sollen. Die angeführten Themenstellungen sind nicht
Neben den bildgebenden diagnostischen Tests taxativ (umfassend und vollständig), sondern als
in den Gesundheitswissenschaften und der Medizin Beispiele und Impulse für Fragestellungen zu ver-
kommen Tests auch in der Psychologie, anderen stehen, die im Rahmen von Studien bearbeitet
Gesundheitsberufen und der Pädagogik zum Einsatz. werden können. Themenstellungen bei der Test-
entwicklung und Überprüfung von diagnostischen
Definition Tests können sein:
4 technische Entwicklung und Prüfung von
Als bildgebender diagnostischer Test wird eine neuen Verfahren
Untersuchungsmethode mit bildgebender 4 präklinische Studien, d. h. Tests, die an
Modalität verstanden. An ihrem Endpunkt Versuchstieren durchgeführt werden
steht ein Ergebnis in Form von Mess- und 4 Phantomstudien mit künstlichen Prüfkörpern;
Bilddaten, das die Grundlage für eine diese können menschenähnlich (anthropo-
Befunderstellung liefert. morph) oder artifiziell (künstlich, technisch)
sein
4 Vergleichsstudien von bildgebenden Verfahren:
neues Verfahren wird mit einem Referenzver-
Wann werden klinische Studien in der fahren („Goldstandard“) verglichen
bildgebenden Diagnostik angewandt? 4 Entwicklung und Prüfung von technischen
Studien in der bildgebenden Diagnostik kommen Eigenschaften der Modalitäten, wie zum
zum Einsatz, um diagnostische Tests Beispiel Bildgütekriterien, Bildqualität,
4 zu entwickeln, Auflösungsvermögen, Detailerkennbarkeit
152 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

Informations-
Medizintechnik
technologie

Human-
Physik
wissenschaften

Radiologie-
7 Medizin Fragestellungen technologie

. Abb. 7.12 Fragestellungen in der bildgebenden Diagnostik

4 technisch experimentelle Überprüfung von 4 Prüfung von Sicherheitsaspekten für Patienten


Gerätschaften zur bildgebenden Diagnostik: und Personal bei der Anwendung von Strah-
Stabilität, Sicherheit, Konstanz lungen und Energien
4 Evaluierung und Optimierung von Unter- 4 Prüfung alternativer Bilddatenauswerteme-
suchungsmethoden, Untersuchungsabläufen thoden und Protokolle („postprocessing“)
und Prozessen 4 Möglichkeitsprüfung („feasibility“) des
Einsatzes etablierter Verfahren bei anderen
Mögliche Themenstellungen bei der Testanwen- Patientengruppen und neuen Indikationen
dung am Menschen (klinischer Einsatz) können 4 Entwicklung und Implementierung von
sein: Untersuchungsabläufen (Protokollen)
4 Prüfung neuer Kontrastmittel und Radio- 4 Parameterwahl bei neuen Kombinations- oder
pharmaka (nach Arzneimittelgesetz) Hybridverfahren
4 Prüfung neuer Materialien (z. B. Prothesen, 4 Überprüfung der diagnostischen Genauigkeit
Stents, Katheter) („accuracy“) eines Verfahrens bei einer
4 Prüfung anderer Patientenvorbereitungen bestimmten Erkrankung (Sensitivität, Spezi-
4 Prüfung von Untersuchungsabläufen fität, Voraussagewerte, Wahrscheinlichkeiten,
(Workflow und Prozesse) Bias)
4 Prüfung neuer Aufnahmemethoden und
Patientenlagerungen (Akquisition): andere Insbesondere in der Radiologietechnologie gene-
Parameter, Sequenzen, Schnittebenen, rieren sich zusätzlich zu den disziplininhärenten
Strahlenqualitäten und Strahlendosis Themen weitere forschungsrelevante Fragestellun-
4 Prüfung der Auswirkung von Strahlung und gen aus den Bezugswissenschaften Medizin, Physik,
Energie auf den Menschen und dessen Schutz Medizintechnik, Informationstechnologie und den
(Strahlenschutz und Strahlenhygiene) Humanwissenschaften (. Abb. 7.12).
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
153 7

. Tab. 7.1 Übersicht über den Ablauf und die jeweils zu klärenden Fragen

Schritt Frage

1 Formulierung einer Ist die Fragestellung im PICOT-Format (7 Abschn. 14.2.1)


Forschungsfrage formuliert?
2 Recherche Wie ist der aktuelle Stand der Wissenschaft zu dieser
Fragestellung, Methode oder zu dem Verfahren?
3 Festlegung des Ziels der Studie Was ist das konkrete Ziel der Studie? Erkenntnisinteresse?
4 Festlegung des Referenzverfahrens Gibt es einen Goldstandard/ein standardisiertes Verfahren?
5 Fallzahlen bestimmen Wie groß sind die erwarteten Unterschiede? Ab welcher
Stichprobengröße bzw. ab welcher Anzahl von Messwerten wird
das Ergebnis aussagekräftig?
6 Bei klinischen Studien: Einschluss- Welche Patienten sollen in die Studie eingeschlossen werden? Wie
und Ausschlusskriterien definieren werden diese rekrutiert?
7 Materialien bestimmen und ggf. Gibt es Zugang zu Modalität, Gerätschaft, Medizinprodukt?
Ethikkommissionsantrag stellen (Röntgen, PC, Software, Dosimeter, Medizinprodukt, Phantom etc.)
Welche Kosten werden anfallen?
8 Art der Daten festlegen Welche (Mess-)Daten sollen erhoben werden? Wie sollen die
Daten akquiriert und dokumentiert werden?
9 Auswahl einer Forschungsmethode Welches Studiendesign entspricht der Forschungsfrage?
und Definition des Studiendesigns Empirisch-qualitativ – empirisch-quantitativ?
Präklinisch (am Tier) – klinisch (am Menschen)?
Simulation – Phantom?
Retrospektiv – prospektiv?
Randomisierung?
Verblindung?
10 Festlegung des Welches Protokoll (am CT, MR, USCH, PET etc.) mit welchen
Untersuchungsprotokolls an der Aufnahmeparametern, Sequenzen, Kontrastmitteln,
Modalität Radiopharmazeutika, Medizinprodukten etc. wird durchgeführt?
11 Prüfung der Datenqualität Sind die Daten vollständig? Wie sind sie verteilt? Sind die
Ergebnisse plausibel?
12 Auswertung Wie werden die erhobenen Daten ausgewertet?
13 Analyse, Interpretation und Welche Bedeutung haben die Erkenntnisse für die berufliche
Diskussion der Ergebnisse Praxis, die Untersuchungsdurchführung bzw. die diagnostische
Genauigkeit?
14 Ergebnisdarstellung In welcher Form? Schriftlicher Abschlussarbeit, Fachartikel, Poster,
Kongressbeitrag etc.

Welche Schritte müssen eingehalten konzipiert wird, hängt im Wesentlichen von der Fra-
werden? gestellung und den vorhandenen Ressourcen ab.
Zur Durchführung von bildgebenden diagnostischen
Studien empfiehlt es sich, die in . Tab. 7.1 dargestell-
ten Schritte zu planen, in denen jeweils phasenspe- Stärken und Schwächen
zifische Fragen zu beantworten sind. Diese Phasen z z Stärken
laufen nicht linear, sondern im Forschungsalltag Stärken von Studien in der bildgebenden Diagnostik
zumeist zirkulär und zum Teil parallel ab. Die Ent- sind ihre Gütekriterien und Maßzahlen, die ein Aus-
scheidung, welche Art von Studie (Studiendesign) druck der Leistungsfähigkeit eines Tests sind. Diese
154 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

. Tab. 7.2 Mögliche Testergebnisse einer untersuchten Patientengruppe

Testergebnis Patienten mit Erkrankung Patienten ohne Erkrankung Summen

Positiv Richtig-positiv [RP] (a) Falsch positiv [FP] (b) a+b


Negativ Falsch-negativ (c) Richtig negativ [RN] (d) c+d
Summen a+c b+d n=a+b+c+d
RP+FN FP+RN RP+FN+FP+RN

Quantifizierung ermöglicht die Vergleichbarkeit von 4 Dokumentation der Daten (Bilddaten und
Tests mit einem Referenzverfahren (Goldstandard). Messwerte)
. Tab. 7.2 zeigt die möglichen Testergebnisse einer
untersuchten Patientengruppe (Stichprobe einer Als entscheidende Kennzahl (. Tab. 7.3) für den
7 Population) mit einem bildgebenden Verfahren. klinischen Einsatz eines diagnostischen Verfah-
In der Stichprobe finden sich Patientinnen, die an rens wird die Likelihood-Ratio (LR) berechnet.
einer gesuchten Erkrankung leiden, und weitere Sie gilt als Indikator für die Nützlichkeit eines dia-
Patientinnen, die nicht daran erkrankt sind. Der gnostischen Tests und hat ähnliche Bedeutung wie
durchgeführte Test (Untersuchung) kann 4 mög- „number needed to treat“ bei therapeutischen Ver-
liche Ergebnisse zeigen: Wenn eine Erkrankung fahren. Sie drückt aus, wie viel häufiger ein Erkrank-
vorliegt, und der Test zeigt diese an, spricht man ter gegenüber einem Gesunden ein positives Test-
von einem „richtig-positiven“ Ergebnis. Wenn der ergebnis zeigt. Wenn das Verhältnis LR+ (positive
Test jedoch kein Ergebnis liefert, obwohl die Patien- Likelihood-Ratio) bei 1 liegt, dann ist das Verfahren
tin krank ist, spricht man von einem „falsch-ne- zur Diagnostik nicht geeignet, weil es wenig an der
gativen“ Ergebnis. Bei Patientinnen ohne Erkran- Vortestwahrscheinlichkeit ändert. Nach der Unter-
kung sollte der Test dies ebenso eindeutig anzeigen. suchung ist keine zusätzliche Sicherheit in der Dia-
Wenn er das tatsächlich tut, liegt ein „richtig-nega- gnose einer Erkrankung erreicht worden, welche
tives“ Ergebnis vor. Sollte das Testergebnis jedoch vor der Untersuchung bereits vermutet wurde. Ab
Hinweise auf eine Erkrankung zeigen, obwohl die einem Wert >10 ist die Nützlichkeit des Verfahrens
Patientin diese nicht hat, spricht man von einem sehr hoch und damit eindeutig. Werte zwischen 5
„falsch-positiven“ Ergebnis. Jeder diagnostische und 10 deuten auf eine hohe Nützlichkeit hin (Fel-
Test (Untersuchung) kann diese 4 Ergebnisausprä- der-Puig et al. 2009).
gungen annehmen (Felder-Puig et al. 2009, Thomas
et al. 2015, Zidan et al. 2015). Beispiel
Zu den Stärken von diagnostischen Tests zählen An einem fiktiven Beispiel sollen diese Kennzahlen
(Benesch u. Raab-Steiner 2013, Felder-Puig et al. veranschaulicht werden: Die Themenstellung lau-
2009, Thomas et al. 2015): tet: Ist der Ultraschall der Rippen (Usch) geeignet,
4 Beiträge zur Verbesserung der Diagnostik bei Patienten mit Schmerzen im Thorax nach einem
durch die Unterstützung bei der Sturztrauma eine Fraktur der Rippen zu diagnosti-
Entscheidungsfindung zieren? Referenzverfahren für diese Indikation ist
4 schnelle Durchführbarkeit (in Abhängigkeit das Rippenröntgen (Rö). Es wurden 348 Patienten
von der Modalität) in die Studie eingeschlossen, alle Patienten erhiel-
4 Reproduzierbarkeit und intersubjektive ten beide Untersuchungen. Die Untersuchungs-
Überprüfbarkeit ergebnisse (Befunde) wurden in die . Tab. 7.4
4 Objektivität, ausgedrückt in quantifizierten eingetragen. 72 Patienten waren richtig-positiv, 23
Kennzahlen und Wahrscheinlichkeiten falsch-positiv, 12 falsch-negativ, 325 richtig-negativ.
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
155 7

. Tab. 7.3 Kennzahlen und Maßzahlen, die aus diagnostischen Tests errechnet werden

Maßzahl Definition Berechnung

a
Sensitivität Anzahl der Erkrankten, die von einem Test als krank
erkannt werden (a + c )
Spezifität Anzahl der Gesunden, die von einem Test als gesund d
erkannt werden (b + d )
Positiver Voraussagewert (PPV) Wahrscheinlichkeit, dass ein Erkrankter mit einem a
positiven Testergebnis, tatsächlich krank ist (a + b )
Negativer Voraussagewert (NPV) Wahrscheinlichkeit, dass ein Gesunder mit einem d
negativen Testergebnis, tatsächlich gesund ist (c + d )
Positive Likelihood-Ratio (LR+) Wahrscheinlichkeitsverhältnis; verbindet die Sensitivität
Sensitivität und Spezifität zum Verhältnis der 1– Spezifität
Häufigkeit mit der ein Erkrankter und ein Gesunder
jeweils ein positives Testergebnis zeigt.
Negative Likelihood-Ratio (LR−) Gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der ein negatives (1– S ät)
Testergebnis bei Gesunden im Verhältnis zu Spezifität
Erkrankten eintritt
Vortestwahrscheinlichkeit Wahrscheinlichkeit, dass eine Erkrankung in einer
(a + c )
(Prävalenz) Patientengruppe vorliegt
n

Vortest-Odds Beschreibt die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen Prävalenza


der Erkrankung vor Durchführung des Tests (1 – Prävalenz )
Nachtest-Odds (+) Gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der Patienten mit Vortest – Odds × LR +
positivem Testergebnis auch tatsächlich krank ist
Nachtestwahrscheinlichkeit Drückt die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der Nachtest − Odds
Krankheit nach Durchführung des Tests aus Nachtest − Odds +1

. Tab. 7.4 Vierfeldertafel zu einem fiktiven Beispiel

Ergebnis der Ultraschalluntersuchung Patient mit Verletzung Patient ohne Verletzung Summen

Positiv 72 (a) 23 (b) 95


Negativ 12 (c) 325 (d) 337
Summen 84 348 432

Aus diesem Testergebnis lassen sich die wesentli- dass alle Erkrankten mit dieser Untersuchung diag-
chen Kennzahlen mit den Formeln aus . Tab. 7.3 nostiziert werden. Im angeführten Beispiel beträgt
berechnen. die berechnete Sensitivität 86%, d.  h. von allen
Für die Berechnung der Sensitivität a/(a+b) wer- Rippenfrakturen werden 86% mit der Ultraschall-
den die Ergebnisse aus . Tab. 7.4 in die Formel untersuchung gefunden. Die Spezifität d/(b+d)
eingetragen: 72/(72+12)=0,86. Ein Test mit einer drückt den Anteil der Nicht-Verletzten (Gesunden)
maximalen Sensitivität von 1 (= 100  %) bedeutet, aus, die vom Test als nicht verletzt (gesund) erkannt
156 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

. Tab. 7.5 Ergebnisse aus einem fiktiven Beispiel

Sensitivität Spezifität PPV NPV LR+ LR- Prävalenz Vortest- Nachtest- Nachtest-
Odds Odds (+) wahrsch.
(+)

Wert 0,86 0,93 0,76 0,96 12,3 0,15 0,19 0,24 3,08 0,75
[%] 86 93 76 96 19 75

werden. Dieser Anteil beträgt im Beispiel 93,3  % Der negative Voraussagewert (NPV) wurde mit 96 %
[325/(23+325)=0,93]. Ein hoch spezifischer Test wie berechnet. Die Ultraschalluntersuchung der Rippen
dieser eignet sich sehr gut, um die Gesunden in die- hat in dieser Patientengruppe eine sehr hohe diag-
ser Patientengruppe zu identifizieren. Der positive nostische Aussagekraft gezeigt.“ (Fiktives Beispiel)
7 Voraussagewert [PPV=a/(a+b)] beträgt 76% und der
negative Voraussagewert [NPV=d/(d+c)] 96 %. z z Schwächen
Die positive Likelihood-Ratio [LR+ = Sensitivität/(1− Zu den Schwächen von bildgebenden klinischen
Spezifität)] ist 12,3 und besagt, dass ein positives Studien zählen die Anfälligkeit für Zufallsergeb-
Ergebnis im Ultraschall 12,3-mal öfter bei Patienten nisse („random error“), Störfaktoren („confoun-
mit einer Rippenfraktur vorkommt, als bei Nicht-Ver- ding“) und Verzerrungen („bias“) (Sardanelli u.
letzten (Gesunden). Likelihood-Werte über 10 deu- Di Leo 2009). Diese Faktoren können niemals zur
ten auf eine sehr hohe Nützlichkeit eines Verfahrens Gänze ausgeschlossen werden, müssen jedoch bei
hin. Die negative Likelihood-Ratio [(1−Sensitivität)/ der Beurteilung von diagnostischen Studien mit-
Spezifität] beträgt 0,15. Ein Wert <0,1 schließt das berücksichtigt werden. Um die Studienergeb-
Vorhandensein einer Verletzung (Erkrankung) nahe- nisse möglichst nahe an der Realität zu generieren,
zu aus. Die Vortestwahrscheinlichkeit (Prävalenz) in bestehen Möglichkeiten, insbesondere die Verzer-
dieser Patientengruppe beträgt 19 %, die Nachtest- rungen zu limitieren. Dazu zählen ein geplantes, sys-
wahrscheinlichkeit 75 %. Die Wahrscheinlichkeit für tematisches und korrekt durchgeführtes Studiende-
das Vorliegen einer Rippenfraktur nach Durchfüh- sign und die sorgfältige Analyse und Interpretation
rung einer Ultraschalluntersuchung der Rippen ist der erhobenen Daten. Für statistische Methoden
in diesem Beispiel bei tatsächlich Verletzten 3-mal zur Berücksichtigung dieser Verzerrungen sei auf
(Wert = 3,08) höher als bei Gesunden. Eine Über- die einschlägige Fachliteratur verwiesen (Sardanelli
sicht über alle berechneten Werte zeigt . Tab. 7.5. u. Di Leo 2009).
In einem Fachartikel könnten diese Ergebnisse fol- Bildgebende Modalitäten (Untersuchungsme-
gendermaßen beschrieben sein: thoden mit Schnittbildverfahren wie z. B. MRT)
„Patienten (n=432) nach einem Sturztrauma zeichnen sich durch hohe Sensitivitäten aus,
mit Schmerzen im Thoraxbereich und Verdacht auf wodurch das Risiko der Überdiagnose steigt. Auch
Rippenfraktur wurden mittels Ultraschall unter- die Zahl der Zufalls- und Nebenbefunde kann anstei-
sucht und mit den Ergebnissen einer anschließend gen. Methoden mit geringer Spezifität können bei
durchgeführten Röntgenaufnahme der Rippen fehlenden Vorinformationen über die untersuchte
(Rö) verglichen. Die Prävalenz in dieser Patienten- Patientin (mangelhafte oder fehlende Anamnese)
gruppe betrug 19 %. Die Sensitivität und Spezifität zu gering aussagekräftigen Ergebnissen führen,
der Ultraschalluntersuchung verglichen mit dem da verschiedene Erkrankungen ähnliche Muster
Röntgen erreichten 86  % und 93  %. Die positive zeigen können. Untersuchungsverfahren mit ioni-
Likelihood-Ratio beträgt 12,3. Ein positives Untersu- sierender Strahlung (Röntgenstrahlung) gehen
chungsergebnis in der Ultraschalluntersuchung bei immer mit einer Strahlenbelastung für die Patien-
einer Fraktur der Rippen nach einem Sturztrauma tinnen einher. Der Einsatz dieser Verfahren muss
ist somit 12,8-mal häufiger als bei Nicht-Verletzten. daher immer durch eine korrekte Indikation und
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
157 7
eine strahlenhygienische Durchführung gerechtfer- Je nach Fragestellung handelt es sich bei biomedi-
tigt sein (Nutzen-Risiko-Abschätzung). Insbeson- zinischer Forschung um Grundlagenforschung oder
dere Computertomographien (z. B. des Abdomens) um angewandte Forschung – die Schnittmenge ist
sind oft mit einer erhöhten Strahlenbelastung der ein medizinischer Aspekt, der eine medizinische
Patientin verbunden. Die rasche technologische Ent- Anwendung oder Intervention untersucht und die
wicklung in der bildgebenden Diagnostik kann dazu Voraussetzung für eine evidenzbasierte Medizin
führen, dass die Evidenz in der Fachliteratur bereits bildet. Die biomedizinische Forschung wird von
von aktuellen Entwicklungen überholt wurde (Puig einem interdisziplinären und multiprofessionellen
u. Felder-Puig 2006). Team vorangetrieben, an der vor allem Mediziner,
Biologen, aber auch andere Naturwissenschaftler wie
Zusammenfassung Physiker, (Bio-)Chemiker und Biotechnologen sowie
Die Methoden in der bildgebenden Diagnostik zie- biomedizinische Analytiker beteiligt sind. Auch
len auf die Erhöhung der diagnostischen Sicherheit weitere Personen wie Statistikerinnen oder Epide-
und Prognose von Erkrankungen. Der Einsatz dieser miologinnen tragen ihren Teil zur Kooperation und
Untersuchungsmethoden muss durch Studien ge- zum Dialog bei.
rechtfertigt werden. Erst wenn die diagnostische In der biomedizinischen Forschung werden
Genauigkeit und Nützlichkeit nachgewiesen wurde, sowohl qualitative als auch quantitative Forschungs-
dürfen Untersuchungen an Menschen in die Routi- methoden angewendet, im Sinne einer Triangulation
nediagnostik übernommen werden. finden idealerweise verschiedene Forschungsmetho-
Studien in der bildgebenden Diagnostik kommen den („mixed methods“ oder Methodenmix) ihren
zum Einsatz, um diagnostische Tests zu entwickeln, Einsatz (Mertens u. Hesse-Biber 2012).
zu prüfen, zu standardisieren und zu evaluieren
(Testentwicklung) sowie deren Einsatz am Men-
schen zu rechtfertigen (Nutzen-Risiko-Abschät- Quantitative Methoden
zungen). Ergebnisse aus klinischen Studien sind Allgemein betrachtet, geht es in der quantitativen
Kennzahlen. Dazu zählen die Sensitivität, die Spezi- Forschung um die systematische und standardi-
fität, der positive und negative Voraussagewert, die sierte Messung und Darstellung der zahlenmäßigen
Likelihood-Ratio (Wahrscheinlichkeitsverhältnis), Ausprägung eines Phänomens (Hug u. Poschesch-
Vortest- und die Nachtest-Odds und die Nachtest- nik 2010). Im Gegensatz zur qualitativen Forschung
wahrscheinlichkeit. Die klinisch aussagekräftigste bestehen bereits zu Beginn des Forschungsprozesses
Kennzahl für die Nützlichkeit einer diagnostisch Theorien und Modelle über den Forschungsgegen-
bildgebenden Untersuchungsmethode ist die stand, aus denen deduktiv Hypothesen abgeleitet
Likelihood-Ratio. werden, die mithilfe geeigneter Methoden aufgrund
von messbaren Indikatoren überprüft werden sollen.
Das Verfahren zur Datenerhebung, die zu messenden
7.2.4 Studien in der biomedizinischen Größen (Indikatoren), geeignete Untersuchungs-
Forschung objekte (Probanden, Zelllinien, Proben etc.) sowie
passende Kontrollen werden im Studienprotokoll
Susanne Perkhofer, Heidi Oberhauser definiert. Die Datenauswertung erfolgt über statis-
tische Verfahren, die Ergebnisse werden über Signi-
Der in der Literatur nicht einheitlich definierte fikanzprüfungen abgesichert und die gewonnenen
Begriff „biomedizinisch“ kann als gemeinsame Erkenntnisse wieder vor dem Hintergrund des theo-
Sprache verstanden werden, „die sowohl auf der retischen Modells interpretiert (Hug u. Poschesch-
Verwissenschaftlichung der Medizin als auch der nik 2010).
Medikalisierung der Wissenschaften […] beruht Wie alle Forschungsmethoden unterliegen auch
und darauf abzielt, die Bedingungen der Möglich- quantitative Methoden den Hauptgütekriterien
keit eines fruchtbaren Dialogs zwischen Grundla- Objektivität/Intersubjektivität, Reliabilität und Vali-
genforschern und klinischen Forschern zu verbes- dität. Im Rahmen einer quantitativen Studie muss
sern“ (Benninghof et al. 2014). man sich somit folgende Fragen stellen:
158 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

4 Ist die Messung objektiv, d. h. führt sie Ist die randomisierte Zuteilung zu den Unter-
unabhängig von äußeren Rahmenbedingungen suchungsgruppen nicht möglich, spricht man von
wie Zeit, Ort oder Untersucher zu denselben einer kontrollierten klinischen Studien (7 Abschn.
Ergebnissen? 7.2.2), die zu den quasi-experimentellen Studien
4 Ist die Messung reliabel/zuverlässig, d. h. sind zählt. Die randomisierte Zuteilung kann entwe-
die gewonnenen Messergebnisse stabil, sind die der aus ethischen Gründen nicht erfolgen oder
verwendeten Messinstrumente zuverlässig? auch aufgrund vorhandener/nicht vorhande-
4 Ist die Methode valide/gültig, d. h. misst ner Eigenschaften bei den Versuchsobjekten, d. h.
die Methode tatsächlich das, was gemessen die Gruppenzugehörigkeit erfolgt aufgrund des
werden soll, ist die Stichprobe groß genug und bestehenden Merkmals, das untersucht werden
repräsentativ? soll (Behrens u. Langer 2010). Wenn beispielsweise
untersucht werden soll, ob sich die Genexpression
von antimykotikumresistenten Pilzstämmen von
Welche Studiendesigns soll gewählt antimykotikumsensiblen Stämmen unterscheidet,
werden? dann kann die Zuteilung zu den Stämmen nicht
7 Ausgehend von der Fragestellung werden die bisheri- randomisiert erfolgen, sie ist gegeben. Ein Nachteil
gen Erkenntnisse zum Gegenstand in der vorhande- des Nichtrandomisierens ist, dass unbekannte Stör-
nen Literatur systematisch gesichtet, die Forschungs- größen zu einer systematischen Verzerrung führen
frage geschärft und das Studiendesign festgelegt. können, d. h. dass die Effekte nicht ausschließlich
Quantitative Studiendesigns können grob in expe- auf das zu untersuchende Merkmal zurückzufüh-
rimentelle, quasi-experimentelle und nicht experi- ren sind.
mentelle Studien eingeteilt werden. Zu den nicht experimentellen Studien zählen
Zu den experimentellen Studien gehört die ran- die Kohortenstudien (Längsschnittstudien), die
domisierte kontrollierte Studie („randomized con- Fall-Kontroll-Studien und die Querschnittstudien
trolled trial“, RCT), die als Goldstandard für den (Surveys). Kohortenstudien oder Längsschnitt-
Nachweis des Effekts einer medizinischen Interven- studien sind Beobachtungsstudien, bei denen über
tion angesehen wird. Die Probanden (oder Proben) einen längeren Zeitraum an einer Stichprobe von
werden nach einem Zufallsprinzip in mehrere exponierten und nicht exponierten Probandinnen
Gruppen aufgeteilt (randomisiert), wobei mindes- (sog. Kohorten) zu unterschiedlichen Zeitpunk-
tens eine Gruppe die Kontrollgruppe darstellt, bei ten Daten erhoben werden. Diese Daten sollen den
der keine Intervention gesetzt wird. Die Gruppen Zusammenhang zwischen verschiedenen Expositio-
können auch verblindet werden, d. h. die Proban- nen und der Entstehung einer Krankheit feststellen.
den wissen nicht, welcher Gruppe sie zugeteilt sind. Kohortenstudien können sowohl prospektiv als auch
Wissen auch die Forscherinnen nicht, welche Pro- retrospektiv angelegt sein. Eine bekannte prospek-
banden welcher Gruppe zugeteilt sind, dann nennt tive Kohortenstudie ist die Framingham-Studie, die
man die Studie doppelverblindet. Die Effekte, die in den USA seit 1948 systematisch in einem 2-Jah-
in der/den Versuchsgruppe/n beobachtet werden, res-Rhythmus an ausgewählten Personen (mittler-
werden mit der Kontrollgruppe verglichen, die somit weile in der 2. Generation) den Einfluss kardiovasku-
einen Referenzwert darstellen (7 Abschn. 7.2.1). lärer Risikofaktoren untersucht; Expositionsfaktoren
Klinische Arzneimittelstudien werden oft als sind u. a. Nikotin- und Alkoholgenuss (Herkner u.
RCT durchgeführt. Randomisierte Probandengrup- Müllner 2011). Bei einer retrospektiven Kohorten-
pen erhalten das Medikament, dessen Effekt man studie könnte zum Beispiel rückblickend überprüft
messen möchte. Je nach Studienprotokoll erhalten werden, ob sich eine Kaliumjodidgabe nach dem
andere Gruppen alternative Medikamente, Placebo, Tschernobyl-Unfall positiv bezüglich Karzinom-
andere Behandlungen oder keine Interventionen. neubildungen ausgewirkt hat.
Die Effekte der verschiedenen Gruppen werden Bei einer Fall-Kontroll-Studie müssen zunächst
miteinander verglichen und bewertet, ebenso ist Probandinnen gefunden werden, die das zu unter-
eine Vorher-nachher-Bewertung möglich (Herkner suchende Merkmal (z. B. eine Erkrankung) bereits
u. Müllner 2011). aufweisen. Dazu sucht man sich eine Kontrollgruppe,
7.2 · Quantitative Forschungsdesigns und Methoden
159 7
die der Fallgruppe möglichst ähnelt (z. B. in Alter, und auch mit Schmerzen verbunden ist, ist die
Geschlecht, sozioökonomischem Status), aber genau Methode der Wahl die Messung mittels der Druck-
das Merkmal nicht aufweist. Retrospektiv werden manschette am Oberarm nach Riva Rocci (Herkner
Expositionsfaktoren untersucht, die einerseits eine u. Müller 2011).
pathogene und andererseits eine protektive Wirkung Bei der Auswahl einer in der biomedizini-
auf die Erkrankung haben. Dieses Studiendesign schen Forschung anzuwendenden Methode fließen
eignet sich vor allem für seltenere Erkrankungen also Genauigkeit und Limitationen, aber auch die
oder auch, wenn es länger dauert, bis ein Effekt aus- Anwendbarkeit und die Kosten in die Entscheidung
geprägt ist (Behrens u. Langer 2010). mit ein. Die Validität der Methode ist nicht immer
Da Längsschnittuntersuchungen langwierig und nachgewiesen, vor allem nicht in der Grundlagenfor-
teuer sind, kann eine Gruppe von Probandinnen schung, da nicht für alle Untersuchungen standardi-
ausgewählt werden, an der zu einem einzigen Zeit- sierte Methoden vorhanden sind. Deshalb ist es von
punkt verschiedene Merkmale gemessen werden – in enormer Wichtigkeit, das Testverfahren mit geeigne-
diesem Fall spricht man von einer Querschnittstudie ten Kontrollen abzusichern, die Reproduzierbarkeit
bzw. einem Survey oder auch von einer Prävalenz- der Ergebnisse festzustellen, indem Untersuchun-
studie, da mit diesem Design die Prävalenz (Häufig- gen (evtl. von verschiedenen Forschern) wiederholt
keit) von Krankheiten untersucht werden kann. Die werden, und nicht standardisierte Methoden durch
Vorteile dieses Studiendesigns liegen in der raschen andere Methoden zu bestätigen.
Realisierung und den relativ niedrigen Kosten, Es genügt nicht, ein Experiment einmal durch-
jedoch ist das Design nicht geeignet, um Ursachen zuführen. Die Anzahl an Wiederholungen, aber auch
und Wirkungen von Interventionen/Expositionen die Anzahl an Probanden (egal ob Patienten, Proben
zu begründen (Behrens u. Langer 2010). oder Versuchstiere) ist statistisch mit einer Fallzahl-
Ein weiteres Anwendungsgebiet von Quer- schätzung zu berechnen (Herkner u. Müllner 2011).
schnittstudien stellt die Überprüfung von diag- Es ist also von großem Vorteil, (Bio-)Statistiker schon
nostischen Tests dar (Behrens u. Langer 2010) – in in die Planung der Studien mit einzubeziehen, für
diesem Fall spricht man von Diagnosestudien bzw. die Formulierung der Hypothese (Null- und Alter-
diagnostischen Studien. Medizinische diagnostische nativhypothese), die Festlegung der Ein- und Aus-
Verfahren – von der Anamnese über die körperliche schlusskriterien, die Fallzahlberechnung (diese gibt
Untersuchung bis hin zu labordiagnostischen und Auskunft darüber, wie viele Probanden/Proben zu
bildgebenden Verfahren – können untersucht, eva- untersuchen sind, damit der gewünschte Effekt nach-
luiert und bewertet werden. Diagnostische Studien gewiesen werden kann) und schlussendlich für die
untersuchen, ob ein Verfahren dazu geeignet ist, statistische Auswertung der Daten.
eine Krankheit zu bestätigen bzw. auszuschließen. Für die Beurteilung der Aussagekraft eines Ver-
Es kann aber auch untersucht werden, ob ein Ver- fahrens bei diagnostischen Studien müssen verschie-
fahren besser geeignet ist als ein anderes oder ob ein dene diagnostische Gütekriterien beachtet werden.
neues billigeres/weniger aufwendiges Verfahren zum Die Gültigkeit des Verfahrens wird durch die Sensi-
selben Ergebnis kommt wie das derzeit eingesetzte. tivität (Wahrscheinlichkeit eines richtig-positiven
Gemessen werden Indikatoren (Parameter), die Ergebnisses bei Krankheit) und die Spezifität (Wahr-
entweder kontinuierliche (theoretisch sind unend- scheinlichkeit eines richtig-negativen Ergebnisses
lich viele Werte möglich) oder kategorische (vor- bei Fehlen der Krankheit) beschrieben. Oft handelt
handen/nicht vorhanden) Werte ergeben. Für die es sich um kategorische Werte (vorhanden/nicht
Messung des Parameters ist die genaueste Methode vorhanden), und der Grenzwert zwischen positi-
(Goldstandard) vorzuziehen. In der Praxis ist die vem und negativem Ergebnis muss gesetzt werden.
Methode der Wahl oft aber eine andere, da Risiken, Aufgrund dieser Tatsache, gibt es auch falsch-posi-
Nebenwirkungen, Kosten oder andere Rahmen- tive (positives Ergebnis bei Fehlen der Krankheit)
bedingungen in die Entscheidung miteinbezogen und falsch-negative (negatives Ergebnis bei Krank-
werden müssen. So ist beispielweise für die Messung heit) Werte. Wird der Grenzwert herabgesetzt, so
des Blutdrucks der Goldstandard die intraarterielle resultiert daraus eine höhere Sensitivität auf Kosten
Messung – da diese aber mit einem gewissen Risiko einer niedrigeren Spezifität – man erhält mehr
160 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

falsch-positive Ergebnisse. Diese Strategie wird systematische (Bias) und grobe Fehler sind durch
bei Screeninguntersuchungen eingesetzt, wenn entsprechende Qualitätssicherung zu vermeiden.
man Kranke nicht übersehen möchte, zum Beispiel Es ist unerlässlich, Forschungsergebnisse zu publi-
beim HIV-Screening von Blutspendern. Umgekehrt zieren. Leider werden oft nicht signifikante oder nega-
wird man den Grenzwert erhöhen, wenn es darum tive Daten nicht publiziert bzw. von den Journalen nicht
geht, wenig falsch-positive Ergebnisse zu erhalten angenommen und deshalb von der „scientific commu-
– um zum Beispiel gesunde Probandinnen einer nity“ nicht gelesen. Dies führt teilweise zu unnötigen
Reihenuntersuchung nicht durch ein falsch-positi- weiteren Studien, die einerseits Geld kosten, aber auch
ves Ergebnis zu verunsichern bzw. einer Reihe von schwerwiegende Folgen für Patientinnen nach sich
(invasiven und damit risikoreicheren) Folgeunter- ziehen können (Chan et al. 2014). Denn Ziel biomedi-
suchungen auszusetzen, wie zum Beispiel beim zinischer Forschung ist es, Testverfahren zu entwickeln,
Mammographiescreening. die der Bestätigung und/oder dem Ausschluss von
Für die behandelnde Medizinerin sind vor allem Krankheiten dienen, die das Screening von symptom-
der positive prädiktive Wert (Wahrscheinlichkeit für losen Patientinnen ermöglichen, die eine Aussage über
das Vorliegen der Krankheit bei positivem Ergebnis) den prognostischen Verlauf von Krankheiten erlauben
7 und der negative prädiktive Wert (Wahrscheinlich- und die zu Therapieentscheidung und -monitoring bei-
keit für den Ausschluss der Krankheit bei negativem tragen (Thompson und van den Bruel 2012).
Ergebnis) von besonderem Interesse, die beide vor
dem Hintergrund der Prävalenz (die Wahrschein-
lichkeit für das Vorliegen der Krankheit in der reprä- 7.3 Quantitative Messverfahren
sentativen Stichprobe)interpretiert werden. Tritt eine
Krankheit selten auf, nimmt der positive prädiktive 7.3.1 Fragebogen
Wert drastisch ab und der negative prädiktive Wert
steigt (Hofmann et al. 2014) Roman Weigl

Stärken und Schwächen Definition


Quantitative biomedizinische Methoden erlauben Unter einem wissenschaftlichen Fragebogen
eine Ermittlung von quantifizierbaren Ergebnis- wird eine Zusammenstellung von Fragen
sen und statistischen Zusammenhängen in großen verstanden, die auf Hypothese bzw. Variablen
Stichproben, die auf die Grundgesamtheit schließen basieren und Personen zur Beantwortung
lassen. Die Ergebnisse sind so objektiv als möglich vorgelegt werden (Porst 2014). Das
und vergleichbar, vorausgesetzt die Studie ist gut Kernelement eines Fragebogens ist die den
geplant. Dazu gehören, wie oben erwähnt, eine Fragen zugrunde liegende Theorie (und deren
begründete Auswahl der Stichprobe sowie die richtig Konstrukte). Durch die Verknüpfung der
gewählten Verfahren zur Erhebung, Auswertung und Fragen mit den theoretischen Konstrukten
Interpretation der Daten. können aufgrund des Beantwortungs-
Die neu gewonnenen Daten werden anhand verhaltens und der dadurch gewonnenen
der vorhandenen bewertet, entweder bestätigt oder Daten Rückschlüsse auf die zugrunde liegende
widerlegt, wobei eventuelle Unterschiede wieder dis- Annahmen gezogen werden.
kutiert werden müssen. Bei der Interpretation der
Ergebnisse ist die statistische Signifikanz nicht in
jedem Fall der klinischen Relevanz gleichzusetzen. In der Arbeit mit Fragebögen muss zwischen 2
Weiters muss beachtet werden, dass durch die Ver- grundlegenden Ansätzen unterschieden werden:
wendung einer Stichprobe beim Einsatz quantitati- der Verwendung des Fragebogens im Rahmen einer
ver Verfahren mit zufälligen Messfehlern (Abwei- Umfrage („survey research“) und dem Erstellen
chungen von wiederholten Messergebnissen von eines Fragebogens mit dem Ziel der Entwicklung
der realen Gegebenheit) gerechnet werden muss, eines Tests bzw. eines Assessments. Dieses Kapitel
7.3 · Quantitative Messverfahren
161 7

. Tab. 7.6 Geeignete Fragestellungen für ein Fragebogendesign

Kategorie Mögliche Fragestellungen

Prognose Wie entwickelt sich ein Zustand, Phänomen oder eine Erkrankung?
Diagnose Was passiert mit der Person, dem Klienten, wenn … ?
Frequenzen Wie üblich ist dieses Phänomen oder Outcome (Risikofaktor,
(z. B. Prävalenz oder Inzidenz) Krankheit etc.)?
Ätiologie Welche Risikofaktoren sind mit diesem Phänomen oder Outcome assoziiert?
Faktoren und Risikofaktoren Welche Faktoren stehen mit einem Phänomen in Zusammenhang?
Welche Risikofaktoren stehen mit dem Ausbruch einer Erkrankung in
Zusammenhang?

beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Frage- Einsatz der Mittel kann durch ein Fragebogendesign
bogenanwendung im Rahmen von Umfragen. Im eine größere Stichprobe realisiert werden, als dies mit
Gegensatz dazu liegt die grundlegende Intention anderen Erhebungsmethoden möglich ist. Zusätz-
eines Assessments immer im Versuch, Eigenschaf- lich ermöglichen es Fragebögen den Probandinnen,
ten oder Fähigkeiten einer Person abbildbar bzw. sich Zeit zu nehmen und Antworten in Ruhe (oft
messbar zu machen. Meistens geht mit dem Assess- sogar im eigenen Lebensumfeld) zu überdenken.
ment auch der Versuch einher, diese Eigenschaften Heikle Fragestellungen, für deren ehrliche Beantwor-
oder Fähigkeiten mit der typischen Leistung oder der tung die Zusicherung von Anonymität einen wich-
üblichen Eigenschaftsausprägung vergleichbar zu tigen Aspekt darstellt, sprechen für die Durchfüh-
machen, die sogenannte Normierung oder Eichung rung einer schriftlichen Befragung. Jedoch gilt es zu
(7 Kap. 11). bedenken, dass sogar im anonymen Setting soziale
Um einen Fragebogen für ein Assessment zu ent- Wirkmechanismen zum Tragen kommen (s. unten,
werfen, um zum Beispiel die graphomotorischen Abschn. „Antworttendenzen“).
Fähigkeiten oder die depressive Stimmungslage einer Wie von Hoffmann, Bennett und Del Mar (2013)
Person erheben zu können, muss eine Vielzahl test- bemerkt, eignen sich Umfragen oder Surveys nicht,
theoretischer Überlegungen bei der Entwicklung um Fragen nach der Wirksamkeit einer Intervention
berücksichtigt werden, etwa die Normierungsstich- zu überprüfen. Hier ist der RCT das geeignetste Ver-
probe, Trennschärfeanalyse, Cut-off-Punkte und fahren. Hingegen eignet sich das Umfragedesign, um
einiges mehr. Diese Aspekte werden im 7  Kap. 11 Beobachtungen („observational design“) im Rahmen
beschrieben. Im Folgenden wird speziell auf die Ent- von Kohorten oder Fallstudien zu überprüfen, im
wicklung von Fragebogenassessments im Rahmen des Speziellen nennen Hoffmann et. al (2013) Fragen
Rasch-Modells eingegangen. Weiterführende Litera- nach der Prognose, der Diagnose, den Frequenzen
tur zur Entwicklung von Fragebögen im Rahmen von und der Ätiologie (. Tab. 7.6). Im Folgenden werden
Assessments findet sich am Ende des Kapitels. die Unterschiede zwischen Paper-pencil-Fragebögen
und Online-Fragebögen beschrieben und diskutiert.

Wann soll die Methode angewendet z z Online- oder Paper-pencil-Befragung?


werden? Hat sich im Rahmen des Forschungsprozesses ein
Fragebögen stellen innerhalb der quantitativen For- Fragebogen als bestes Mittel zur Beantwortung der
schung eine nützliche Möglichkeit dar, mit ver- Fragestellung gezeigt, muss nun die Art des Befra-
gleichsweise geringem Aufwand viele Menschen zu gungsmodus festgelegt werden. Online-Befragungen
einem Thema zu befragen und an eine große Menge nehmen im Vergleich zu den traditionellen schrift-
von Datensätzen zu gelangen. Das heißt, bei gleichem lichen Befragungen („paper-pencil survey“) immer
162 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

mehr zu. Die Vorteile von Online-Medien liegen in gewählt wird, sollte in jedem Fall zusätzlich
der zeitlichen und räumlichen Unabhängigkeit der eine Papierversion des Online-Fragebogens
Befragung, der wesentlich höheren Interaktivität1 an ältere Studienteilnehmer ausgegeben
mit den Beantwortenden gegenüber traditionellen oder eine Ausfüllhilfe zur Verfügung gestellt
Befragungen und der Möglichkeit der Anreiche- werden. Dies kann zum Beispiel die Möglichkeit
rung mit multimedialen Inhalten (Wagner u. Hering sein, den Fragebogen mit entsprechender
2014). Bortz und Döring (2007) weisen darauf hin, Hilfe im Rahmen eines Ambulanzbesuchs am
dass entgegen vieler Mutmaßungen aufgrund der Studienzentrum auszufüllen.
unverbindlicheren Settings in Vergleichsstudien
keine erhöhten Falschangaben in Online-Befragun-
gen nachgewiesen werden konnten. Themenstellungen
Diese Vorteile können sich aber je nach Ziel- Grundsätzlich ist das Fragebogendesign inhaltlich
gruppe der Befragung auch als Nachteile herausstel- für Themenstellungen, die Beobachtungen überprü-
len. So kann beispielsweise die mediale Präsentation fen, am besten geeignet. Im Gegensatz zu anderen
schnell zur Überforderung von Menschen führen, Methoden ist der Fragebogen aber immer den sub-
7 die mit neuen Medien weniger Erfahrung haben. jektiven Bewertungen der Person, die den Fragebo-
Tendenziell werden mit Online-Umfragen bevor- gen ausfüllt, unterworfen. Es kann davon ausgegan-
zugt Viel-Netz-User erreicht. Zusätzlich ist zu beden- gen werden, dass je heikler ein Themenbereich ist,
ken, dass nach wie vor nur zwischen 80 und 87 % umso mehr Effekte wie soziale Erwünschtheit oder
der Personen in den deutschsprachigen Ländern bewusstes Täuschen bei der Beantwortung zutage
das Internet benutzen. Österreich liegt basierend treten. Dies muss in Relation zur Themenstellung
auf Daten der Broadband Commission for Digital immer beachtet werden. Je größer diese Effekte im
Development2 (2014) bei 80,6 %, Deutschland und Vorfeld von den Forschern eingeschätzt werden,
die Schweiz liegen mit 84 und 86,7 % über diesem desto eher sollte ein Interviewdesign bzw. ein quali-
Wert. Vor allem ältere Menschen nutzen das Internet tatives Setting in Betracht gezogen werden.
seltener als jüngere Vergleichsgruppen. Als oberste
Prämisse gilt, dass die Zielpopulation möglichst gut
abgedeckt werden soll. Bortz und Döring (2006) Welche Schritte müssen eingehalten
geben zu bedenken, dass es derzeit bei Online-Befra- werden?
gungen immer zu einer Unterabdeckung der älteren Die folgenden Schritte sind in der quantitativen
Menschen kommt. Daher eignen sich Online-Be- Forschung mit Fragebögen einzuhalten:
fragungen zum derzeitigen Zeitpunkt weniger, um 4 theoriebasierende Konstruktion des
ältere Menschen zu befragen. Ebenso ist dieser Fragebogens
Zusammenhang zu beachten, wenn der Anspruch 4 Aufbau einer Dramaturgie
besteht, ein repräsentatives Sample älterer Menschen 4 Pilottestung/Vortestung („pretesting“) und
als Teil der Gesamtstichprobe zu erzielen. Überarbeitung des Fragebogenentwurfs
4 Durchführung der Befragung
> Zum derzeitigen Zeitpunkt kann keine 4 Sichtung der Daten
Online-Befragung empfohlen werden, wenn 4 Analyse der Daten
die Befragungszielgruppe ältere Menschen
sind. Falls trotzdem ein Online-Design
Theoriebasierende Konstruktion des
Fragebogens
1 Zum Beispiel adaptive Fragenpräsentation, abhängig Unabhängig davon, ob es sich um einen Papier-
vom Beantwortungsmuster (TELS, s. unten)
oder Online-Fragebogen handelt, gilt es immer als
2 Die Broadband Commission wurde 2010 von der Tele-
communication Union (ITU) and the United Nations Edu-
ersten Schritt bei der Konstruktion von Fragebögen,
cational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) die dem Fragebogen zugrunde liegende Theorie
gegründet. des Phänomens (7 Kap. 2) zu beachten. Erst nach
7.3 · Quantitative Messverfahren
163 7

. Tab. 7.7 Konstrukte der Playfulness-Theorie und ihre Beziehung zu den Fragebogen-Items

Konstrukte/Elemente der Playfulness-Theorie Anzahl der Items Itemnummern

Quelle der Motivation („source of motivation“) 5 1, 4, 5, 9, 16


Wahrnehmung von Kontrolle („perception of control“) 10 2, 3, 6, 14, 15, 17, 18, 19, 20, 23
Freiheit von Einschränkungen der Realität 8 7, 8, 10, 11, 12, 13, 21, 22
(„freedom from some constraints of reality“)
Sozialer Rahmen („framing“) 2 24, 25

z z Offene und geschlossen Fragestruktur


der Darlegung, welche Theorie und welche Konst-
rukte für die Fragestellung von Bedeutung sind, kann Fragen können im Rahmen von Fragebögen auf
begonnen werden, diese entsprechend durch Fragen zweierlei Arten präsentiert werden, nämlich
abzubilden. geschlossen oder offen. Geschlossene Antwortka-
tegorien geben die Antwortmöglichkeiten vor und
> Nur wenn eine ausreichende Verbindung stellen die am häufigsten verwendete und emp-
zwischen den Fragen und der zugrunde fohlene Fragenstruktur dar. Voraussetzung für die
liegenden Theorie besteht, können bei einem Erstellung einer geschlossenen Fragebogenstruktur
quantitativen Forschungsprojekt anhand ist immer ein bereits umfassendes Wissen über die
des Antwortverhaltens Rückschlüsse auf die Theorie hinter den erfragten Konstrukten. Erschei-
Fragestellung gezogen werden. nen offene Fragen für die Beantwortung der Frage-
stellung sinnvoll, dann sollte überlegt werden, ob
Der Fragebogen bildet gewissermaßen die Theorie nicht eine qualitative Studie (7 Kap. 6) besser geeig-
über das zu erforschende Phänomen in schriftlichen net ist, um die Fragestellung zu beantworten.
Fragen ab. . Tab. 7.7 zeigt am Beispiel der The Expe-
rience of Leisure Scale (TELS, Meakins et al. 2005; Beispiel
deutschsprachige TELS: Weigl u. Bundy 2013) die Können Sie im Freien auf ebenem Gelände gehen?
theoretische Fundierung des zu erfassenden Phäno- 4 Ohne jede Schwierigkeit
mens der „playfulness“ in ihren 4 Konstrukten nach 4 mit einigen Schwierigkeiten
Bundy (1991) und deren Repräsentanz in den Fragen 4 mit großen Schwierigkeiten
des TELS-Fragebogens. 4 nicht dazu in der Lage
Nachdem ein Grundkonzept über die zu ent-
haltenden Fragen im Fragebogen erstellt ist, gilt es, Aus dem Health Assessment Questionaire (HAQ)
diese Fragen zu formulieren und zu konstruieren. nach Kuipers et al. (2006).
Hier ist nicht nur jede einzelne Frage von Bedeutung, Im Gegensatz zu geschlossenen Fragen ermög-
sondern auch der Aufbau und die Wirkung des Fra- licht es die offene Frage den Teilnehmern und Teil-
gebogens in seiner Gesamtheit. nehmerinnen, frei formulierte Antworten in den
dafür vorgesehenen Feldern zu notieren. Die offene
> Es empfiehlt sich, eine gute Recherche Frage stellt im Rahmen des quantitativen Fragebo-
(7 Kap. 14) durchzuführen, um festzustellen, gens eher die Ausnahme dar, da es eines komplexen
ob es bereits Fragebögen zum gewählten Verfahrens bedarf, um die offen vorliegenden Ant-
Thema gibt. Selbst wenn die entsprechenden worten quantifizierbar zu machen. Dafür bedarf
Fragebögen sich als nicht geeignet es einer genauen Kategorienbildung, die eine ein-
herausstellen, können sie doch wichtige deutige Zuordnung zur jeweiligen Antwortkatego-
Anregungen bezüglich Aufbau etc. für die rie ermöglicht und alle Bedeutungsdimensionen
Konstruktion des eigenen Fragebogens abdeckt. Zusätzlich erleichtern Codierungsbeispiele
bieten. die Codierung der Antworten (vgl. Mayer 2009).
164 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

. Abb. 7.13 Verwendung eines offenen Kommentarfelds am Beispiel der TELS

> Erweisen sich mehrere offene Fragen als In jedem Fall muss mit einer händischen Auswertung
notwendig, gilt es zu überdenken, ob nicht der Antworten gerechnet werden, da automatisierte
gleich ein qualitatives Forschungsdesign Codierungsprozesse durch Textanalyse-Software
ausgewählt werden soll. zum gegenwärtigen Stand der Technik zu fehleran-
fällig sind (Mayer 2009). . Tab. 7.8 fasst nochmals die
Eine weitere Anwendungsmöglichkeit ist das zusätz- Vor- und Nachteile der offenen und geschlossenen
liche Anbieten eines offenen Antwortfeldes, um Fragestruktur zusammen.
weitere Informationen erhalten zu können, die durch
die geschlossenen Antwortkategorien nicht abge- > Achtung bei offenen Fragen: sinnvoll
bildet werden. Dies kann vor allem in der Entwick- einsetzen lassen sich offene Fragen
lungsphase oder der Pretest-Phase von Fragebögen nur bei geringeren Fallzahlen bzw. als
wichtige Hinweise der Teilnehmenden liefern. Zusatzinformation zu einer quantitativen
Fragebogenstruktur. Je höher die
Beispiel Fallzahl ist, desto aufwendiger gestaltet sich
In der deutschsprachigen Version der The Expe- die Analyse der offenen Antworten. Es wird
rience of Leisure Scale (TELS) verwendeten Weigl daher geraten, offene Fragen, wenn unbedingt
und Bundy (2013) ein zusätzliches offenes Kom- notwendig, auf das Minimum zu reduzieren.
mentarfeld, um es den Teilnehmern zu ermög-
lichen, Erklärungen und Begründungen zu den
einzelnen Items abzugeben (. Abb. 7.13). Die Skalierungsverfahren
Auswertung erfolgte im Rahmen der Rasch-Ana- Bei der Verwendung geschlossener Antwortmöglich-
lyse rein statistisch. Die Kommentare konnten keiten bieten sich verschiedene Skalierungsverfahren
allerdings im Rahmen der Auswertung genutzt für die Gestaltung der Antwortkategorien an. Basie-
werden, um mögliche Ursachen für Abweichun- rend auf den im 7 Abschn. 2.4.1 erwähnten Skalen-
gen des wahrscheinlichkeitstheoretischen Rasch- niveaus von Variablen können auch Antwortkatego-
Modells zu explorieren. rien nach diesem System eingeteilt werden.
7.3 · Quantitative Messverfahren
165 7

. Tab. 7.8 Vor- und Nachteile offener und geschlossener Antwortstrukturen

Antwortmöglichkeiten Vorteile Nachteile

Geschlossen Schnell, einfach in der Auswertung, Antwortkategorien repräsentieren


größere Uniformität der möglicherweise nicht die eigene Wahl
Stellungnahmen/Antworten bzw. des
Antwortverhaltens
Offen Formulieren, so wie empfunden wird, Eigenständiges Formulieren ist schwieriger;
ist möglich Auswertung oft unmöglich. Oft ist eine
weitere qualitative Methode nötig, um
überhaupt zu einer sinnvollen Auswertung
zu kommen

. Tab. 7.9 Patientenzufriedenheit in der ambulanten Versorgung. (Adaptiert nach Bitzer et al. 2002)

Sehr geehrte Patientin, sehr geehrter Patient, wie Sehr Eher Eher Sehr
zufrieden sind Sie im Allgemeinen (d. h. nicht nur zufrieden zufrieden unzufrieden unzufrieden
auf den letzten Arztbesuch bezogen) mit Ihrem
Arzt in Bezug auf
… die Informationen über die geplante Therapie?
… die Verständlichkeit der Informationen?

z z Nominale Skalen
Fragebögen verwendet wird3 (Likert 1932). Die im
Hier stellen Antwortkategorien reine Bezeichnun- Rahmen der Skala verwendeten Antwortmöglich-
gen dar, sogenannte Labels, deren Eigenschaften keiten sollten so konstruiert sein, dass der Abstand
keinerlei Rangordnung ergeben. Dies kann demo- zwischen den Antwortmöglichkeiten möglichst
graphische Daten betreffen, wie die Frage nach dem gleich empfunden wird (auch wenn er mathematisch
Geschlecht (männlich oder weiblich). Es kann aber gesehen nicht gleich ist). Es wird hier von der Äqui-
ebenso eine Frage nach dem Krankenhaus sein, in distanz gesprochen. . Tab. 7.9 zeigt ein Beispiel für die
dem der Fragebogen ausgefüllt wurde. Somit ist Anwendung dieses Skalentyps, es ist ein Ausschnitt
zwar keine Rangordnung gegeben, aber es ist der aus der Patientenzufriedenheitsbefragung der Medi-
Forscherin möglich, Kategorien zu bilden. Zum zinischen Hochschule Hannover (Bitzer et al. 2002).
Beispiel könnten die Umfrageergebnisse bezüglich Im mathematischen Sinne handelt es sich aber
der Patientinnenzufriedenheit innerhalb mehre- bei den Abständen zwischen den Antwortkategorien
rer Krankenhäuser miteinander verglichen werden. nur um eine Pseudoäquidistanz, da die Wahrneh-
Ebenso könnte erhoben werden, ob bestimmte Aus- mung der Abstände durch die ausfüllenden Perso-
prägungsmerkmale in bestimmten Krankenhäusern nen unterschiedlich sein kann. Es herrschen in der
gehäuft auftreten (korrelieren, nicht mehr nur durch Fachwelt daher unterschiedliche Auffassungen, ob
Zufall erklärbar sind).

z z Ordinale Skalen 3 Streng genommen bezieht sich die Verwendung nur auf
das von Rensis Likert verwendete Antwortformat und
Likert-Skala oder nummerische Rating-Skala Benannt
nicht auf den gesamten von Likert entwickelten wesent-
nach seinem Entwickler, dem amerikanischen Psy- lich komplexeren Frage-Antwort-Skalentyp, der ähnlich
chologen Rensis Likert, stellt die Likert-Skala den wie die Guttman-Skala ein Composite-Format hat
am meisten verwendeten Skalentyp dar, der in (Carifio u. Perla 2007).
166 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

7
. Abb. 7.14 Patientenbefragung im therapeutischen Bereich der Niederösterreichischen Landeskliniken-Holding

Likert-Skalen nun mathematisch korrekt als Ordi- Stärkste


Keine
nalskalen verwendet werden sollen oder empirisch- Schmerzen
vorstellbare
Schmerzen
praktisch als Intervallskalen verwendet werden
können (bezüglich zulässiger mathematischer Ver-
fahren siehe 7 Abschn. 2.4 und 7 Abschn. 7.4). Die . Abb. 7.15 Visuelle Analogskala Schmerz (im Original
Antwortmöglichkeiten können auch non-verbal üblicherweise 100 mm lang)
erfolgen, zum Beispiel mit zustimmenden und ableh-
nenden Smileys. . Abb. 7.14 zeigt einen Ausschnitt
aus der Patientenbefragung im therapeutischen Eine Transformierung in Zahlenwerte wird
Bereich, die 2014 in den Kliniken der Niederösterrei- üblicherweise durch das Ausmessen der Distanz
chischen Landeskliniken-Holding stattgefunden hat. vom niedrigsten Ankerpunkt (Nullpunkt, auf der
Schmerzskala: keine Schmerzen) zur Markierung
Visuelle Analogskala Als weitere Möglichkeit bieten vorgenommen (Ohnesorge 2012). Die Distanz wird
sich die visuellen Analogskalen oder graphischen in Millimetern angegeben. Hier zeigt sich vor allem
Skalen an. Eine Linie zwischen 2 Polen symbolisiert bei Online-Befragungen der große Vorteil, dass die
ein Kontinuum zwischen 2 extremen Merkmalsaus- Position der Markierung durch die jeweilige Software
prägungen. An den Endpunkten werden die extremen oder Skriptsprache sofort in nummerische Werte
Merkmalsausprägungen verbal beschrieben. Entlang umgerechnet werden kann.
dieser Linie nehmen Befragte eine Einschätzung ihres
Empfindens vor, die Gesamtlänge der Achse beträgt > Im Sinne der nummerischen Werte handelt es
üblicherweise genau 100 mm. . Abb. 7.15 demonstriert sich hier um 101 Wertpunkte, da 0 auch einen
die praktische Anwendung im Rahmen einer visuell- möglichen Wert darstellt!
analogen Schmerzskala. Die Probanden werden aufge-
fordert, an der entsprechenden Position eine Markie- Sonderfall: Guttman-Skala Dieser Skalentyp,
rung zu setzen, die ihrem subjektiven Schmerzempfin- benannt nach dem Erfinder Louis Guttman, einem
den am ehesten entspricht. Weitere Vorlagen zur Erhe- amerikanischen Soziologen, geht von der Prämisse
bung des Schmerzempfindens können auf der Webpage aus, dass manche Aussagen stärkere Indikatoren für
des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin die zugrunde liegende Variable sind als andere. Die
heruntergeladen werden (siehe Webreferenzen). Grundidee der Guttman-Skala liegt in der Annahme,
7.3 · Quantitative Messverfahren
167 7

. Tab. 7.10 Guttman-Skala zur Evaluierung der Einstellung gegenüber psychisch kranken Menschen, basierend auf
der Social Distance Scale nach Bogardus (1933), beginnend mit dem am wenigsten extremen Item

Trifft zu Trifft nicht zu

Mich würde nicht stören, wenn Menschen mit einer psychischen


Erkrankung in meiner Gemeinde leben.
Mich stört es nicht, wenn Menschen mit einer psychischen
Erkrankung in meiner Nachbarschaft leben würden.
Ich würde einen Menschen mit einer psychischen
Erkrankung für eine offene Stelle vorschlagen.
Ich hätte kein Problem damit, wenn ein Mensch mit psychischer
Erkrankung in meine Familie einheiraten würde.
Es würde mich nicht stören, wenn ein Mensch mit psychischer
Erkrankung auf meine Kinder aufpassen würde.

dass Personen, die eine starke Ausprägung einer haben. In der Praxis erfüllt sich diese klare Trennli-
zugrunde liegenden Variablen wählen, automatisch nie der aufbauenden Skala allerdings oft nicht so wie
auch die schwächeren bejahen. Man spricht hier von gewünscht, daher spricht die Rasch-Analyse kritisch
einer Composite-Skala (. Tab. 7.10). von einer „Guttman-like reponse“, wenn die Ergeb-
Die Guttman-Skala sollte so konstruiert sein, nisse „zu schön sind, um wahr zu sein“4 (Bond u.
dass sie möglichst unidimensional ist. Im Gegen- Fox 2015, S. 272).
satz zur Rasch-Analyse wird die Unidimensionali-
tät einer Guttman-Skala allerdings nicht mathema- z z Intervallskala
tisch überprüft, sondern theoretisch gebildet. Des Intervallantwortkategorien stellen entweder eine
Weiteren sollen die einzelnen Aussagen aufeinan- natürliche Intervallkategorie dar (Frage nach dem
der aufbauen. Im Sinne der Unidimensionalität des Gewicht, der Körpertemperatur, Anzahl der Kinder
zugrunde liegenden Konstruktes wäre beim Beispiel etc.), oder die Werte müssen in Relation zu den
in . Tab. 7.10 zu überprüfen, ob alle 4 Fragen dieselbe Werten einer Normierungsstichprobe stehen. Eine
Dimension erfassen. Es könnte eventuell von Vorteil weitere Methode der Erzeugung von mathemati-
sein, Aspekte noch mehr zu differenzieren, zum Bei- schen bedeutsamen Abständen zwischen Antwortka-
spiel Untergruppen zu bilden: allgemeine Einstellung tegorien stellt die Rasch-Analyse dar. Am Beispiel der
zu psychischen Erkrankungen und die Einstellung zu Erhebung des Konstruktes Phobie soll dieser Prozess
bestimmten psychischen Krankheiten. Des Weiteren dargelegt werden.
kann es sinnvoll sein, den Begriff psychische Erkran-
kung für die Befragten noch zu erläutern, indem Fall- Intervallstruktur durch Rasch-Analyse
vignetten geschildert werden oder Ähnliches (vgl. Primär muss eingangs davon ausgegangen
Angermeyer et al. 2013). werden, dass die Items des Fragebogens wirk-
Das Aufbauen der Aussagen wird im obigen Bei- lich adäquat die latente Variable Phobie in ihrer
spiel ersichtlich: Personen, die es nicht stört, einen gesamten Bandbreite von leichter bis schwerer
Menschen mit psychischer Erkrankung für eine ängstlicher Befindlichkeit abbilden. Für seine
offene Stelle vorzuschlagen (Frage 3), werden mit Antwort stehen dem Probanden die Skalenkate-
hoher Wahrscheinlichkeit auch den ersten beiden gorien gar nicht (0  Punkte), manchmal (1 Punkt)
„schwächeren“ Aussagen 1 und 2 zustimmen. Den und oft (2 Punkte) zur Verfügung. Die Rasch-Ana-
Aussagen 4 und 5 würden nur Menschen zustim-
men, die eine deutlich positivere Einstellung gegen-
über Menschen mit psychischen Erkrankungen 4 „Too good to be true“
168 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

lyse prüft nun, inwieweit unterschiedliche Fra-


Stark ausgeprägtes Merkmal Phobie
gen, welche jeweils mit 2 Punkten (oft) bewertet
wurden, miteinander vergleichbar sind und die
gleiche „Wertigkeit“ im Sinne der Merkmalsaus-
prägung haben.
Basierend auf einem ordinalen Skalensystem
würde das Statement „Ich habe Angst, dass die
Mutter stirbt“ gleich viele Punkte erzielen wie das Item „Angst davor,
Statement „Ich habe Angst, dass nach der Schu- dass niemand nach der Schule wartet”
Kategorie „oft”
le zu Hause niemand auf mich wartet“, nämlich 2
Punkte5. Eine Wahrscheinlichkeitsanalyse würde
ergeben, dass die kindliche Angst, die Mutter zu
verlieren, eine sehr weit verbreitete und übliche
Angst im Kindesalter ist, auch bei Kindern, die ins-
gesamt wenig ängstlich sind. Über 60 % der 8- bis
7 13-jährigen Kinder haben diese Trennungsangst Item „Angst davor,
(Döpfner et al. 2006). Im Gegensatz zeigt sich die dass die Mutter stirbt”
Kategorie „oft”
Angst, von niemanden zu Hause erwartet zu wer-
den, bei Kindern als sehr unüblich (unter 3 % bei
den 8- bis 13-Jährigen). Die Rasch-Analyse würde
nun, basierend auf den beiden eingangs erwähn-
ten Grundannahmen, das Item „dass die Mutter
stirbt“ mathematisch geringer gewichten, zum
Beispiel wäre die Kategorie „oft“ nur mehr mit
1,4 Punkten belegt. Hier bildet die Rasch-Analy-
se mathematisch ab, dass es sehr wahrscheinlich
ist, dass diese Angst jedes Kind hat, egal ob es ein
Schwach ausgeprägtes Merkmal Phobie
gering oder stark ausgeprägtes latentes Merkmal
Phobie hat. In der probabilistischen Theorie wür-
de dies als leichtes Item (das wenig Phobiegehalt . Abb. 7.16 Fiktives Itemchart zur Erhebung des
aufzeigt) bezeichnet werden. Es würde im Rah- Merkmals kindliche Angst (Phobie). Die Größe der Kreise
men eines Itemcharts unten angesiedelt werden nimmt Bezug auf die Messgenauigkeit des Items, die
Entfernung zur Y-Achse liefert Informationen darüber,
(. Abb. 7.16).
inwieweit das Item den Erwartungen des Rasch-Modells
Das Item „dass nach der Schule niemand auf mich entspricht
wartet“ würde hingegen beispielsweise mit 1,9
Punkten für die Antwortkategorie „oft“ belegt
werden, da es ungewöhnlicher ist, diese Angst Fragebogen als eine Einheit
zu haben. Die Kategorie „oft“ bei diesem Item
würde daher eher von Kindern gewählt werden, > Neben dem Schaffen einer guten
die eine hohe phobische Merkmalsausprägung theoretischen Fundierung und der darauf
zeigen. Es würde im Itemchart oben angesiedelt beruhenden Gestaltung der Fragen und
werden. Antwortskalen stellt der Fragebogen als
Ganzes eine Einheit dar. Die Art und Weise, wie
der Fragebogen in seiner Gesamtheit wirkt,
5 Beispiel-Items sind dem PHOKI (Phobiefragebogen für
ist entscheidend dafür, ob Teilnehmende sich
Kinder und Jugendliche) von Döpfner et al. (2006) ent- die Zeit nehmen, ihn auszufüllen, oder sie die
nommen. Befragung vorzeitig verlassen.
7.3 · Quantitative Messverfahren
169 7
Porst (2014) spricht im Zusammenhang mit der grundlegenden Fragen zu ihrer Person. Welche
Gestaltung des Fragebogens von der Wichtigkeit einer höchsten Schulabschluss haben Sie?“
gelungenen Dramaturgie. Ziel der Dramaturgie eines Hier ist die Einstiegsfrage weder spannend, noch
Fragebogens ist es, vergleichbar mit jedem anderen hat sie für den Befragten in irgendeiner Weise mit
gelungenen Text oder jeder erfolgreichen Rede, einen dem Thema zu tun, und sie betrifft die Person nicht
Spannungsaufbau herzustellen und den Fragenablauf persönlich. Besser wäre es hingegen mit folgender
einer nachvollziehbaren Struktur folgen zu lassen. Um Frage zu beginnen:
diese Form einer zielgerichteten und damit erfolgrei- „Im Rahmen unserer Befragung möchten wir uns
chen Kommunikation zu realisieren, gilt es, bestimmte mit den Sportaktivitäten von Menschen auseinan-
Grundregeln bei der Gestaltung zu beachten. Folgende dersetzen. Wir sind an ihrer Einstellung zu diesem
Punkte sind nach Porst (2014) für einen guten drama- Thema interessiert. Beginnen wir allgemein mit
turgischen Aufbau bei der Erstellung eines Fragebo- ihrer Beurteilung, wie Sie die räumlichen Bedingun-
gens besondere Beachtung zu schenken: gen einschätzen, in ihrem Lebensumfeld Sport zu
4 die Einstiegsfragen betreiben.“
4 das Beachten der Fragensukzession Diese Einstiegsfrage bezieht sich auf das Thema und
motiviert die Teilnehmenden, den Forscherinnen
z z Einstiegsfrage mehr über ihre eigenen Erfahrungen zu berichten.
Eine gute Fragebogendramaturgie lässt sich, ähnlich Die Frage ist aber allgemein gehalten, sodass jeder
wie bei einem erfolgreichen Interview, mit einer etwas zu dem Thema zu sagen hat.
gelungenen Einstiegsfrage aufbauen. Meistens ent-
scheidet die erste Gruppe von Fragen, ob der Frage- z z Fragensukzession
bogen zu Ende ausgefüllt wird oder der Teilnehmer Unter Fragensukzession wird die Fragenreihen-
die Befragung abbricht. Es ist daher wichtig, in den folge in Fragebögen verstanden. Diese hat großen
ersten Fragen den sogenannten Rapport (aus dem Einfluss auf das Antwortverhalten. Je logischer der
Französischen für Beziehung) zu etablieren. Unter Aufbau der Befragung für die Teilnehmenden nach-
dem Herstellen des Rapports wird eine unausge- zuvollziehen ist, desto konzentrierter und engagier-
sprochene und für die Dauer der Befragung tragfä- ter erfolgt die Beantwortung der Fragen. Fragen-
hige Beziehung zwischen dem Befragten und dem blöcke, die ähnliche Fragen zusammenfassen und
Interviewer (real präsent oder in Form des Frage- durch eine Überschrift erkennbar machen, erleich-
bogens) verstanden. Der hergestellte Rapport führt tern den Studienteilnehmenden die Orientierung.
dazu, dass der Studienteilnehmer im Einklang mit . Abb. 7.14 zeigt exemplarisch einen Ausschnitt
dem Forscher das Interesse hat, den Fragebogen bis aus der Patientenbefragung der Niederösterreichi-
zum Ende auszufüllen, d. h. die gemeinsame Sache schen Landeskliniken-Holding für den therapeuti-
zu einem guten Abschluss zu bringen. Porst (2014) schen Bereich. In diesem Beispiel wurden unter der
nennt für gelungene Einstiegsfragen 5 Kriterien, Überschrift „Team, Information und Kommunika-
wobei die Fragen vorzugsweise so viele Kriterien wie tion“ alle Fragen, die die Kommunikation der the-
möglich kombinieren sollten. rapeutischen Berufe mit den Patientinnen betrafen,
4 spannend zusammengefasst.
4 inhaltlich und themenbezogen
4 die Person persönlich betreffend Verbesserung der Fragensukzession durch Verzwei-
4 technisch einfach gungsfragen Ein Mittel des Umgehens mit nicht rele-
4 von allen Befragten zu beantworten vanten Fragen stellt die Verzweigung dar. Diese Mög-
lichkeit ist vor allem im Bereich der Online-Befragung
Negativbeispiel sehr gut umsetzbar. Am Beispiel eines Diabetesfrage-
Im Rahmen eines Fragebogens über die Sportak- bogens könnte folgende Eingangsfrage gestellt werden
tivitäten von Menschen wird folgende Einstiegs- (. Tab. 7.11): Wie lange liegt das erstmalige Auftreten
frage gestellt: „Beginnen wir zuerst mit einigen der Erkrankung an Diabetes mellitus Typ 1 zurück?
170 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

. Tab. 7.11 Fragensukzession durch Verzweigungsfragen

Wie lange liegt das erstmalige Auftreten der Erkrankung an Diabetes mellitus Typ 1 zurück?
⃞ Vor Kurzem (1–2 Monate) ⃞ 3–6 Monatea ⃞ Schon länger (länger als ½ Jahr)a

a Nur die Beantwortung der Kategorien 2 und 3 (≥3 Monate) würde nun im Fragebogenablauf zur Frage nach den

Problemen mit der Erkrankung im schulischen Kontext führen, da hier schon erste Erfahrungen zu erwarten sind.

Fragen 15 bis 25

mit
7 anderen

e
Ang grafisch
Fragen 1 bis 14

aben
alleine

o
Dem
gleich Weiterleitung
zu demografischen Angaben

. Abb. 7.17 Ablaufdiagramm der Experience of Leisure Scale

Der Vorteil von Online-Fragebögen liegt in ist es wahrscheinlicher, dass Menschen die Frage
der Möglichkeit von sehr komplexen Fragebogen- nach ihrem Gesundheitszustand kritischer beant-
strukturen, die interaktiv den Teilnehmenden prä- worten, wenn sie vorher mehrere Fragen über
sentiert werden können. Die komplexe Struktur bestimmte Krankheiten zu beantworten hatten
verwirrt die Teilnehmer nicht, da immer nur die (Sullivan 2003). Umgekehrt würde die Antwort
jeweils relevanten Fragen durch die Software bzw. auf die Frage nach dem Gesundheitszustand an
Skriptsprache angezeigt werden. So konnte in der einer Position vor den Krankheitsfragen positiver
Befragung von Erwachsenen zur ihrer Verspieltheit ausfallen.
in Freizeitaktivitäten durch die serverseitige PHP-
Skript-Programmierung nur die jeweils relevante
TELS-Version für Freizeittätigkeiten mit anderen Formulierung von Fragebogen-Items
oder die TELS-Variante für Freizeittätigkeiten, die Unabhängig von der gewählten Skalen- und Ant-
alleine durchgeführt werden, den Teilnehmern prä- wortstruktur gibt es einige Punkte die im Rahmen
sentiert werden (The Experience of Leisure Scales der Erstellung von Fragebogen-Items zu beachten
von Weigl u. Bundy (2013), ausgehend vom sozialen sind.
Kontext der Tätigkeit, d. h. alleine oder mit anderen;
. Abb. 7.17). z z Klarheit von Items
Die Fragensukzession hat nicht nur Folgen für Die Klarheit von Items hängt oftmals mit der Nähe
die Orientierung der Teilnehmenden einer Befra- des Forschungsteams zum jeweiligen Themenbereich
gung, sondern sie nimmt auch direkten Einfluss zusammen. So ist eine Frage aus der Sicht der For-
auf die inhaltliche Beantwortung der Fragen, es scher oftmals klar und deutlich formuliert, wogegen
wird hier vom Reihenfolgeeffekt gesprochen. So diese für Personen, die sich mit der Materie nicht so
7.3 · Quantitative Messverfahren
171 7
intensiv auseinandergesetzt haben, als sehr unklar z z Negativ formulierte Fragen und Statements
erscheint. Ebenso kann es auch umgekehrt sein, dass Probandinnen stimmen mehrheitlich lieber positi-
ein Fragebogen-Item als sehr oberflächlich von den ven Statements als negativ formulierten zu (Moos-
Teilnehmenden empfunden wird, die sich dadurch brugger u. Kelava 2012). Zusätzlich kommt es durch
in ihrer Kompetenz nicht ernst genommen fühlen. Negationen zu einer deutlich höheren Anzahl von
Um die Klarheit von Items zu gewährleisten, hat sich Missinterpretationen der durch den Fragebogen prä-
eine Pretest und eine Pilotphase (s. unten) als sehr sentierten Fragen oder Statements.
sinnvoll erwiesen.
Negativbeispiel
z z „Double-barreled questions“ Ärztinnen sollten Jugendlichen keine Schlaftablet-
Unter diesem Begriff wird eine Frage verstanden, die ten verordnen.
mehrere Themen umfasst, aber deren Beantwortung ⃞ Stimme zu ⃞ Stimme nicht zu
nur eine Antwort zulässt (Babbie 2010). Meine Eltern interessierten sich nicht für meine
Probleme.
Beispiel ⃞ Ja ⃞ Nein
Wie zufrieden sind sie mit Ihrem Gesundheitszu-
stand und der erhaltenen Behandlung? Obwohl voraussichtlich die Mehrzahl der Bevölke-
⃞ Zufrieden ⃞ Unzufrieden rung die Gabe von Schlafmedikamente an Jugendli-
che ablehnen würde, kann es durch die komplizierte
Aufgrund der Fragenkonstellation ist keine zufrie- negative Fragestellung im obigen Beispiel passieren,
denstellende Beantwortung möglich, da nur beide dass Teilnehmerinnen fälschlich „Stimme nicht zu“
Themen gemeinsam beantwortet werden können. ankreuzen. Besser ist es hier, einfach formulierte
In diesem Beispiel fehlt in der Beantwortung der Statements zu verwenden:
Frage die Möglichkeit, zwischen der Zufriedenheit
mit der Behandlung und der Zufriedenheit mit dem Beispiel
Gesundheitszustand differenzieren zu können, es Sollen Ärzte Jugendlichen Schlaftabletten verordnen?
bedarf daher zweier Fragen. ⃞ Stimme zu ⃞ Stimme nicht zu
Meine Eltern haben ein offenes Ohr für meine Probleme.
z z Anordnung der Skalen ⃞ Ja ⃞ Nein
Keller (2013) empfiehlt, Skalen von links nach
rechts verlaufen zu lassen. Das heißt die Skala geht z z Kompetenz und Motivation der Befragten
vom niedrigsten Wert (für keine Zustimmung) aus Babbie (2010) führt 2 Grundanforderungen an die
und verläuft nach rechts zum höchsten Wert im Teilnehmenden von Befragungen an: Die Befragten
Sinne der vollen Zustimmung. Diese Vorgehens- sollten einerseits kompetent sein, um die Fragen
weise kommt dem Befragten entgegen, der intui- auch wirklich beantworten zu können. Und die
tiv diese Ordnung analog zur lateinischen Schrift Befragten sollten anderseits auch motiviert sein,
erwartet. die Fragen zu beantworten. Hier gilt es im Rahmen
des Fragebogenentwurfs, immer die Situation der
z z Optische Verstärkungen Befragten, ihren Wissens- und Entwicklungsstand
Ebenso sollten keine optischen Verstärkungen der zu berücksichtigen. So macht es zum Beispiel wenig
Skala erfolgen. Laut Keller (2013) hat sich in Experi- Sinn, jugendliche Patienten mit frisch manifestier-
menten gezeigt, dass die Verwendung beispielweise tem Diabetes mellitus Typ 1 über ihre Probleme
von Keilen oder größer werdenden Kästchen die mit der Erkrankung im schulischen Alltag zu befra-
Ergebnisse verändert. Laut Keller (2013) kann auch gen, da sie meistens erst den Umgang mit ihrer
die Verwendung von Minuszeichen, zum Beispiel Erkrankungen im Rahmen eines stationären Auf-
bei einer Codierung von −2 bis 2 (im Gegensatz zu 1 enthalts in der Klinik erlernen müssen. Hingegen
bis 5), die Ergebnisse beeinflussen, für diese Behaup- macht es sehr wohl Sinn, diese Frage zu stellen,
tung werden allerdings keine Quellen genannt. wenn die Erkrankung bereits länger besteht. Die
172 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

Frage könnte zum Beispiel ein Bestandteil eines „mit Drogenabhängigkeit umzugehen“ als auf „Dro-
Fragebogens sein, der im Rahmen einer stationä- genrehabilitation“. Es ist daher immer notwendig, die
ren (Nach-)Schulungswoche in derselben Klinik Sichtweise der Befragten im Rahmen des Fragebo-
ausgegeben wird. gendesigns zu berücksichtigen, um etwaige Beein-
Die Bereitschaft, Fragen möglichst wahrheits- flussungen möglichst zu vermeiden. Dies führt direkt
getreu zu beantworten, hängt mit vielen Faktoren zur Auseinandersetzung mit dem Thema der Ant-
zusammen. Eine der wichtigsten Maßnahmen, um worttendenzen im nächsten Abschnitt.
negative Konsequenzen für Teilnehmende zu ver-
meiden, ist das Ermöglichen der Anonymität im z z Überspringen von Fragen
Rahmen der Befragung (s. unten, Abschn. „Antwort- Im Gegensatz zu Paper-pencil-Designs lässt sich bei
tendenzen“). Dies erleichtert es den Teilnehmenden, Online-Designs zumindest vordergründig festle-
Antworten zu geben, von denen sie denken, dass sie gen, ob das Überspringen von Antworten von den
nicht Mehrheitskonform sind. Eine weitere Mög- Forscherinnen erlaubt wird oder nicht. Die For-
lichkeit, die Motivation der Teilnehmenden an einer mulierung „vordergründig“ nimmt darauf Bezug,
Befragung zu erhalten, ist, alle relevanten Fragen in dass die Teilnehmenden dadurch indirekt gezwun-
7 kurzer und kompakter Form zu präsentieren. Dies gen werden, entweder Antworten zu geben, auf die
ist durch das Verwenden von Verzweigungsfragen sie keine Antwort wissen, oder im schlimmsten Fall
gut erreichbar. einfach die Umfrage abbrechen. Es stellt sich dabei
die Frage, ob fehlende oder „fälschlich“ valide Daten
z z Vermeidung von beeinflussenden Fragen in Kauf genommen werden. Aus forschungstheore-
(Itembias) tischer Sicht im Sinne der mangelnden Datenquali-
„Stimmen sie dem Bundespräsidenten mit seiner tät ist eindeutig der ersten Variante, den fehlenden
Aussage zu, dass … “ Mit dieser wenig subtilen For- Daten, der Vorzug zu geben.
mulierung wird klar, dass die Autorität des Bun-
despräsidenten benutzt wird, um es Personen zu > Fehlende Daten sind gegenüber „fälschlich“
erschweren, eine abweichende Antwort zu geben. validen Daten durch erzwungene Antworten
Wer widerspricht schon leichtfertig dem Bundes- zu bevorzugen. Aus diesem Grund empfiehlt
präsidenten … Obwohl diese Form der Beeinflus- Couper (2008), das Überspringen von Fragen
sung eher in politischen Umfragen zu beobachten zu ermöglichen.
ist, muss auch bei wissenschaftlichen Kontext ein
mögliches Itembias kritisch reflektiert werden. Nicht Als innovatives Design erprobten De Leeuw, Boevee
immer erfolgt eine Beeinflussung leicht erkennbar. und Hox (2013) eine Fragebogenvariante, die die
Die US-Amerikanische General Social Survey Kategorie „Weiß nicht“ anbot. Nach dem Wählen
(GSS) erhebt alle 2 Jahre neben allgemeinen demo- dieser Kategorie erhielten die Teilnehmenden einen
graphischen Angaben wie Geschlecht, Alter etc. die Hinweis, dass die Antwort gespeichert wurde. Sie
Einstellung und Einstellungsveränderung der ame- wurden aber nochmals gebeten, ob sie nicht doch
rikanischen Bürger zu verschiedensten Themen. noch eine Präferenz zu einem Ja oder Nein hätten
Im Rahmen der GSS konnte Rasinski (1989) Aus- oder beim „Weiß nicht“ bleiben wollten. Dieser neu-
wirkungen der Formulierungen der Frage-Items erliche Hinweis reduzierte die Antworten mit „Weiß
auf die Befragungsergebnisse nachweisen. Als Bei- nicht“ um 16 %.
spiel bewegte die Formulierung „die Armen unter-
stützen“6 deutlich mehr Menschen zur Zustimmung
als die Formulierung „Sozialhilfe“. Ebenso reagier- Antworttendenzen
ten die Befragten eher positiv auf die Formulierung z z Soziale Erwünschtheit („socially desirable
responding“)
Menschen haben ein intuitives Verlangen, sich
6 „Assistance to the poor“ versus „welfare“, „dealing with möglichst positiv zu präsentieren. Dies führt
drug addiction“ versus „drug rehabilitation“ oftmals dazu, dass Antworten in Relation zum
7.3 · Quantitative Messverfahren
173 7
sozialen Umfeld gewählt werden. Moosbrug- hingewiesen werden, Extrempositionen innerhalb
ger und Kelava (2012) unterscheiden zwischen 2 einer Skala zu vermeiden, außer es gibt diese wirk-
Formen der sozialen Erwünschtheit: Selbsttäu- lich. „Nie“ sollte daher nur als Endpunkt einer Ant-
schung und Fremdtäuschung. Unter Fremdtäu- wortskala verwenden werden, wenn es wirklich eine
schung wird die Tendenz verstanden, über sich „Nie-Ausprägung“ des Verhaltens gibt. Ansonsten
selber überwiegend positive Beschreibungen 7 ist eine weichere Formulierung wie „so gut wie nie“
(Paulhus 1991, S. 17) oder Antworten zu geben, empfohlen. Am anderen Pol der Antwortskala gilt
die eher als gesellschaftlich anerkannt empfunden es, beispielsweise „immer“ durch „fast immer“ zu
werden (z. B. Vermeiden von Radikalpositionen). ersetzen.
Bei der Selbsttäuschung erfolgt die verzerrte vor-
teilhafte Selbsteinschätzung hingegen auf einer für z z Akquieszenz
die Person nicht bewussten Ebene, die Probanden Unter Akquieszenz wird die Tendenz verstanden,
empfinden sich selber als ehrlich (Moosbrugger u. einer Aussage unabhängig von ihrem Inhalt zuzu-
Kelava 2012, S. 59). stimmen (Moosbrugger u. Kevala 2012). Verein-
Um dem Problem der sozialen Erwünscht- facht kann das Phänomen der Akquieszenz so erklärt
heit zu begegnen, zeigt sich als wichtigste Maß- werden, dass Befragte Statements lieber zustimmen
nahme, den Teilnehmern die Anonymität zuzu- als diese ablehnen. Dieses Phänomen ist auch zu
sichern und auch entsprechend zu erklären. So ist beobachten, wenn Fragen inhaltlich gegensätzlich
es von größter Wichtigkeit für den Arbeitgeber, formuliert sind. So würde die Frage „Sollen Men-
die Befragung über die Arbeitszufriedenheit der schen mit psychiatrischen Erkrankungen offener mit
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen anonym durch- ihrer Erkrankung umgehen?“ von einer Mehrheit der
zuführen. Die Sorge um negative Konsequenzen Befragten mit Ja beantwortet werden, aber ebenso
am Arbeitsplatz würde ansonsten das Antwort- die gegenteilig formulierte Frage „Sollen Menschen
verhalten deutlich beeinflussen und dadurch das mit psychischen Problemen lieber nicht zu öffent-
Zustandekommen von verwertbaren Ergebnisse lich ihrer Erkrankung ansprechen, um Nachteile im
verhindern. Berufsleben zu verhindern?“.
Eine weitere Möglichkeit stellt das Einfüh- Um den Akquieszenzgehalt in Datensätzen
ren sogenannter Kontrollfragen dar. Dazu werden abschätzen zu können, werden auch absichtliche
Fragen verwendet, die negative Eigenschaften mit Invertierungen derselben Frage eingefügt (Moos-
sehr weiter Verbreitung in der Bevölkerung umfas- brugger u. Kevala 2012). Gleichzeitige Zustim-
sen. Ein Verneinen dieser „üblichen“ negativen mung und Ablehnung desselben Themas deutet auf
Eigenschaften würde auf erhöhte soziale Erwünscht- Akquieszenz in den Antworten hin (Raab-Steiner u.
heit im Antwortverhalten hindeuten, als Konse- Benesch 2010).
quenz müssen die Ergebnisse vorsichtiger interpre-
tiert werden. z z Verwendung einer Mittelkategorie in den
Antwortstufen
z z Tendenz zur Mitte Die Forschungsgemeinschaft teilt sich bezüglich
Unter Tendenz zur Mitte wird die unbewusste (oder der Verwendungen einer Mittelkategorie (ungerade
bewusste) Bevorzugung von mittleren Antwortka- versus gerade Stufenanzahl) in den Antwortstufen
tegorien verstanden (Moosbrugger u. Kevala 2012). in 2 Lager. Eine Gruppe von Wissenschaftlern geht
So wird empirisch davon ausgegangen, dass eine davon aus, dass eine Mittelkategorie im Sinne der
gerade Anzahl von Fragekategorien Befragte dazu Messgenauigkeit notwendig sei. Die andere Gruppe
zwingt, sich eher für eine Richtung zu entschei- geht davon aus, dass dadurch zu viele Antworten
den. In diesem Zusammenhang muss auch darauf der Mitte gewählt werden. Um die Frage, ob die Ver-
wendung einer Mittelkategorie wünschenswert ist,
beantworten zu können, müssen die vorher erwähn-
7 „The tendency to give answers that make the repondent ten Antworttendenzphänomene, Tendenz zur Mitte
look good.“ und Akquieszenz, kritisch beleuchtet werden.
174 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

Der Nachteil der ungeraden Stufenanzahl ist die Beispiel: Sind die Fragen verständlich? Ist der Ablauf
missbräuchliche Verwendung der Mittenkategorie des Fragebogens für die Teilnehmenden nachvoll-
als „Fluchtkategorie“, d. h. bei Zweifeln die Mittel- ziehbar? Sind Begriffe erklärt?
kategorie zu wählen. Dadurch können Fehlmes- Neben den inhaltlichen Rückmeldungen können
sungen verursachen werden. Im Gegensatz dazu gerade Online-Befragungen so auch wichtiges tech-
tritt bei geraden Stufenkategorien das Phänomen nisches Feedback bekommen, zum Beispiel ob
der Akquieszenz stärker zutage. Bedingt durch die bestimmte Betriebssysteme Probleme bereiten, all-
Akquieszenz treten daher häufiger Zustimmungen gemein übliche Browser-Einstellungen Schwierig-
als Ablehnungen auf („Im Zweifel lieber Ja“). keiten bei interaktiven Elementen machen, ob Mobil-
Im Sinne einer empirischen Überprüfung der geräte Zugriff auf alle für die Befragung notwendige
Frage nach der Verwendung einer Mittelkategorie Elemente haben usw.
konnte Moors (2008) in einer Untersuchung keine Ein Pretest des Fragebogens mit einer Gruppe
wesentlichen Unterschiede zwischen 5-stufigen und von Kommilitonen bzw. Studienkollegen ist gar
6-stufigen Antwortkategorien entdecken. Von einer keinem Pretest vorzuziehen. Wenn es möglich ist,
verbesserten Reliabilität bei Skalen mit Mittelkate- ist allerdings der Fragebogen-Pretest mit Repräsen-
7 gorie berichten hingegen O'Muircheartaigh, Krosnik tanten der zukünftigen Studienteilnehmern immer
und Helic (2000). Moors (2008) gibt in seiner zu bevorzugen.
Analyse abschließend zu bedenken, dass es noch zu
wenige Empfehlungen gibt, welches Antwortformat > Als Personenanzahl für den Pretest nennt
abhängig vom Forschungsgegenstand verwendet Babbie (2010) 10 Personen, Forsyth und Kviz
werden soll. Als Lösung empfiehlt Moors die Wei- (2006) empfehlen 15–30 Personen.
terentwicklung sogenannter Split-Ballot-MTMM-
Designs (Saris et al. 2004), die als geeignet erachtet Nur so können Verständnisprobleme etc. bereits
werden, die Empfehlungen bezüglich des am besten vor Beginn der Befragung aufgedeckt werden und
geeigneten Antwortformats zu liefern. die Fragen überarbeitet werden. Die Revidierung
des Fragebogens ist nach erfolgter postalischer
Aussendung bzw. Online-Freischaltung entwe-
Pilottestung, Vortestung, der aus finanziellen oder forschungsmethodischen
Pretesting Gründen nicht mehr durchführbar. Sind umfang-
Selbst bei einer noch so sorgfältigen Erstellung eines reiche Änderungen am Fragebogen notwendig,
Fragebogens kann die Wirkung der Fragen und des empfiehlt Mayer (2009) eine neuerliche Wieder-
Bogens auf die Probandinnen oftmals nicht vor- holung des Pretest.
hergesehen werden. Jedes Fragebogendesign sollte
daher idealweise eine Pretesting-Phase beinhalten. > Wenn irgendwie möglich, sollten typische
Bradburn, Sudman und Wansink (2004, S. 317) Vertreter aller geplanten Zielgruppen
bringen es auf den Punkt: „If you do not have the am Pretest teilnehmen, um Probleme
resources to pilottest your questionnaire, don't do vor Beginn der Fragebogenausgabe zu
the study.“ erkennen. Ob diese Personen dann später
an der eigentlichen Befragung teilnehmen
> Ein Pretesting des Fragebogens ist in jedem können, ist davon abhängig zu machen, ob
Fall dringend empfohlen. der Pretest zu einer Verhaltensänderung,
zum Beispiel durch vermehrte Reflexion
Unter Pretest wird die Präsentation des Fragebo- über das Thema, führen könnte. Wenn ja,
gens an Personen, die nicht in den Planungsprozess ist es wissenschaftlich korrekter, dass die
des Fragebogens involviert waren, verstanden. Dies Personen, die am Pretest beteiligt waren,
ermöglicht es, Feedback über die wichtigsten Punkte nicht mehr an der eigentlichen Befragung
des Fragebogenablaufs und -designs zu erhalten, zum teilnehmen.
7.3 · Quantitative Messverfahren
175 7
Durchführung der Befragung Binder, Sieber und Angst (1979, zitiert in Bortz
Im Falle einer postalischen Befragung ist die u. Döring 2006) beschreiben, dass Antwortende ten-
Rücksendung möglichst einfach zu gestalten. denziell andere Grundcharakteristika als Nichtant-
Üblicherweise wird ein vorfrankiertes und beschrif- wortende haben: Der Bildungsstand und die Aus-
tetes Rückkuvert beigelegt, was auch meistens von bildung der Antwortenden ist allgemein höher, das
den Ethikkommissionen verlangt wird. Meistens Interesse am Befragungsthema stärker und die Ver-
enthält das Anschreiben eine Rücksendefrist. Um bindung zum Befrager ist deutlicher ausgeprägt.
die Rücklaufquote zu erhöhen, werden nach einer Daher empfehlen Bortz und Döring (2006) immer
definierten Zeitspanne auch sogenannte Erinne- eine sorgfältige quantitative und qualitative Analyse
rungsschreiben an die Studienteilnehmerinnen der Rückläufe. Hier ist es sehr hilfreich, mehr über die
versandt (s. unten). Werden die Fragbögen durch Parameter der Grundpopulation zu wissen. Dadurch
andere Personen an die Studienteilnehmerinnen ist es möglich, die demographische Zusammenset-
ausgeteilt, empfiehlt es sich, Handanweisungen zu zung des Teilnehmersamples statistisch mit denen
formulieren, die die wichtigsten Punkte zusam- der Grundpopulation zu vergleichen. Gröbere Abwei-
menfassen, die von der austeilenden Person ange- chungen bezüglich Bildungsstand, Geschlecht, Alters-
sprochen werden sollen. verteilung oder Ähnlichem fallen sofort ins Auge.
Folgende Maßnahmen sind bei Verzerrungen von
z z Rücklaufquote und Rücklaufbias Binder et. al. (1979, zitiert in Bortz u. Döring 2006)
Die Rücklaufquote ist der Anteil der wieder eingegan- empfohlen:
genen ausgefüllten Fragebögen im Vergleich zu den
verschickten oder ausgeteilten Fragebögen. Dieser Gewichtungsprozeduren Die demographischen
Anteil kann nur bestimmt werden, wenn es sich um Merkmale des Teilnehmersamples können bei
geschlossene Befragungen handelt, d. h. wenn die genauer Kenntnis der Grundpopulation mit dieser
Anzahl der ausgegebenen Fragebögen bekannt ist. verglichen werden. Sollten hier signifikante Abwei-
Um bei Online-Befragungen die Zahl zu ermitteln, chungen bestehen, man spricht von einer mangeln-
bedarf es einer geschlossenen Gruppe, die per Ein- den Stichprobenrepräsentativität, ist es möglich,
ladesystems, zum Beispiel mittels Tokens, E-Mail, diese mittels Gewichtungsprozeduren auszugleichen.
IP-Range etc., identifiziert wurde. Viele Befragun- Ein Quotient, der aus der demographischen Soll-
gen beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Vermei- Ist-Situation gebildet wird, gewichtet eine Gruppe
den einer niedrigen Rücklaufquote (Orientierungs- höher und die andere Gruppe niedriger. Bortz und
werte s. unten). Statistisch wesentlich wichtiger bzw. Döring (2006) weisen darauf hin, dass diese Verfah-
zumindest genauso wichtig wie eine niedrige Rück- ren nur sinnvoll sind, wenn genug Teilnehmerinnen
laufquote ist das oft damit verbundene Thema des der Subgruppe geantwortet haben. Ansonsten ist auf
Rücklaufbias. die von Kauermann und Küchenhof (2011) beschrie-
benen statistischen Korrekturverfahren und auf den
> Nicht der geringe Rücklauf stellt ein Problem Umgang mit fehlenden Werten und nicht erreichba-
dar, sondern das damit oft verbundene ren Individuen verwiesen, die in der entsprechen-
Rücklaufbias („nonreponse bias“). den Fachliteratur zu finden sind. Berechnungsver-
fahren zur Gewichtung können ebenfalls dem Buch
Rücklaufbias nimmt auf die Tatsache Bezug, dass von Kauermann und Küchenhof (2011) entnommen
Personen mit bestimmten Charakteristika gehäuft werden.
an einer Befragung teilnehmen und dadurch die
Umfrageergebnisse entsprechend in eine Richtung > Gewichtungsquotienten dürfen nur reale
beeinflussen. Dies kann selbst dann passieren, wenn Differenzen in der Stichprobenrepresen-
mit aller Sorgfalt eine Zufallsstichprobe unter guten tativität mathematisch abbilden, da sie
Bedingungen (definierte Grundgesamtheit, qualita- ansonsten künstlich verzerrend
tiv hochwertige Teilnehmerlisten etc.) für die Befra- wirken und einen manipulativen
gung gezogen wurde (Gusy u. Marcus 2012). Charakter annehmen.
176 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

Gezielte Befragung von Nichtbeantwortern Eine Wie von Brent (2001) exploriert, verbringen Stu-
weitere, wenn auch sehr aufwendige Methode stellt dienteilnehmer bei längeren Befragungen nicht
die gezielte Nachbefragung fehlender Subpopulatio- mehr Zeit mit jeder Einzelfrage, sondern Teilen
nen bzw. Teilpopulationen dar. So kann sichergestellt die gesamte Beantwortungszeit auf die Fragen auf.
werden, dass die Ergebnisse nicht durch das Fehlen Das heißt, es kommt zum oberflächlicheren Beant-
dieser Teilnehmerinnen verzerrt wird. worten und zum „speeding“ durch den Fragebo-
gen. Wann dieser Effekt auftritt, ist immer abhän-
Vergleich von Sofort- und Spätbeantwortern Der gig von der Art der Erhebung, dem Sample und
Vergleich der Sofort- und Spätbeantworter folgt der der Beziehung des Befragten zu den Teilnehmern
Hypothese, dass bei relativ geringem Unterschied (Brent 2011).
zwischen diesen beiden Gruppen anzunehmen ist,
dass das Ergebnis durch die Nichtbeantworter kaum > Als Faustregel können 15–25 Fragen
verändert werden würde. Umgekehrt bedeutet ein und max. 10 min Zeitaufwand
Auffinden von signifikanten Unterschieden, dass eine genannt werden.
weitere Befragung der Nichtbeantworter notwendig
7 ist (Bortz u. Döring 2006). In der Literatur finden sich verschiedenste Metho-
den, um die Rücklaufquote zu verbessern, es sei hier
> Allgemein nennt Babbie (2010) zum Beispiel auf Babbie (2010) oder Anseel et al.
Rücklaufquoten von 50 % als vertretbar, (2010) verwiesen.
wohin gehend 60 % bereits als gut bzw.
70 % als sehr gut gelten. Tendenziell zeigen
Online-Umfragen allerdings eine geringere Sichtung der Daten, Datenbereinigung
Rücklaufquote als Papierbefragungen und Umcodierung
(Anseel et al. 2010). Sollten die Befragung online durchgeführt worden
sein, muss aus der eigenen Webapplikation (z. B.
z z Steigerung der Rücklaufquote LimeSurvey) oder des jeweiligen Umfrageanbie-
Welche Maßnahmen wirken sich positiv auf die ters (z. B. SoSci, www.soscisurvey.de) ein Datenfile
Rücklaufquote aus? Meistens handelt es sich um ein exportiert werden. Zu empfehlen sind gebräuch-
Gesamtpaket verschiedener Maßnahmen. In erster liche Formate wie Excel (*.xls bzw. *.xlsx), ein
Linie wirken sich allerdings 3 Maßnahmen als beson- tabellenkalkulationsunabhängiges Format wie
ders effektiv aus, die bereits bei der Erstellung des Comma Separated Values (*.csv) oder das SPSS-
Fragebogens beachtet werden können. Format (*.sps). Bei Paper-pencil-Surveys werden
4 Die Niederschwelligkeit der Itemformulierung die Daten üblicherweise per Hand in ein Daten-
wirkt sich deutlich auf den Rücklauf aus, d. h. file eingegeben.
die Fragen und die Antwortkategorien sind so
einfach wie möglich zu formulieren. > Bei SPSS ist es für den Import des Datenfiles
4 Ebenso erhöht eine gute Fragebogendrama- notwendig, im Syntax-Editor entweder
turgie die Wahrscheinlichkeit, den Fragebogen mittels Ausführen → Alle die Daten zu
ausgefüllt zurückzuerhalten. importieren oder die gesamte Syntax per
4 Des Weiteren ist die Länge des Fragebogens Strg-T + A zu markieren und dann auf den
zu beachten: nicht kurz (Studie könnte als grünen Pfeil (Auswahl ausführen) zu klicken
unbedeutend erachtet werden), aber auch (. Abb. 7.18).
nicht zu lang (da sonst die Abbruchquote
ansteigt), Danach kann zur Fehlerkontrolle der Daten überge-
gangen werden.
Die meisten Autoren nennen keine konkreten Folgende typische Fehler gilt es zu beachten:
Zeitangaben, meistens wird empfohlen, den Fra- 4 Liegen Werte außerhalb der vorgesehenen
gebogen „kurz“ zu halten (vgl. Welker et al. 2005). Codierung?
7.3 · Quantitative Messverfahren
177 7

. Abb. 7.18 SPSS Syntax Editor

4 Sind Werte nicht plausibel (z. B. ein > Fehlende Werte stellen dann eine Bedrohung
123-Jähriger)? für die Integrität der Daten dar, wenn das
4 Bestehen Widersprüche zwischen Auslassen von Fragen nicht zufällig erfolgt,
Datenfeldern (Beruf „Wissenschaftler“, sondern mit dem untersuchten Thema oder
höchster Ausbildungsabschluss einem anderen zugrunde liegenden Faktor in
„Volksschule“)? Zusammenhang stehen.
4 Gibt es leere Felder (online: vorausgesetzt,
es wurde das Überspringen von Fragen Beispiel
erlaubt)? Menschen mit niedrigem Einkommen scheuen sich
aufgrund von Schamgefühlen, ihr Einkommen bei
Die sauberste Methode, mit kompromittierten einer Befragung preiszugeben. Dadurch kommt es
Datensätzen umzugehen, ist der vollständige Aus- zu einer deutlichen Verzerrung des Durchschnitts-
schluss aus der Befragung. Dadurch kann es aber einkommens nach oben (http://marktforschung.
zu einem erheblichen Verlust von Datensätzen wikia.com/wiki/Fehlende_Werte).
kommen. Für den Umgang mit fehlenden Werten
gibt es erweiterte Methoden, die im Folgenden Es gibt 3 mögliche Umgangsformen mit fehlenden
beschrieben werden. Daten:

z z Umgang mit fehlenden Werten Fallausschluss


Als ersten Schritt gilt es zu klären, ob das Nicht- 4 Unvollständige Datensätze komplett aus der
beantworten dem Zufallsprinzip folgt oder ob ein Analyse ausschließen (listenweiser Ausschluss).
systematisches Bias damit verbunden ist. Feh- Nachteil: Bei kleineren Fallzahlen ist die
lende Werte bei Fragebögen gehen häufiger darauf Reduktion der Stichprobengröße bis zur
zurück, dass die betreffende Person die Frage Unbrauchbarkeit möglich.
entweder als zu persönlich empfunden hat oder 4 Fall- bzw. paarweiser Ausschluss
sich nicht in der Lage gefühlt hat, sie adäquat zu („pairwise deletion“): die Fälle werden nicht
beantworten. prinzipiell ausgeschlossen, sondern jeweils
178 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

nur die Fälle, die für die aktuellen Berech- z z Arbeiten mit dem Datensatz
nungen keine Werte aufweisen. Nachteil: Wenn schließlich der Datensatz bereinigt ist, ist es
Die Statistiken können auf unterschiedlichen oftmals notwendig, entweder neue Variablen zu
Stichproben von Beobachtungen bilden, Variablenwerte umzucodieren oder Variab-
basieren. len zusammenzufassen.

Ersatzwertverfahren Beim Ersatzwertverfahren Löschen von Variablen Es ist wichtig, das Datenfile
werden die fehlenden Werte Beispielsweise durch die nach dem Import in SPSS oder Excel zu überprüfen.
Mittelwerte der jeweiligen Variablen ersetzt. Dieses Gerade wenn die Umfragesoftware nicht selbst pro-
Verfahren ist einfach durchzuführen, aber hat den grammiert wurde, kommt es oft vor, dass die Umfra-
Nachteil, dass es zu Verzerrung der wahren Vertei- geanbieter Variablen in das Datenfile exportieren,
lung kommen kann bzw. dass es durch die Mittel- die nicht von den Studierenden angelegt wurden. Als
werte zur Unterschätzung von Zusammenhängen Beispiel ist in . Abb. 7.19 zu sehen, dass ein Export
und Varianz kommen kann. aus dem Programm SoSciSurvey nicht nur die essen-
ziellen Variablen wie „case number“ oder die Fra-
7 Algorithmische Modelle Statistisch korrekter ist die gebogenantworten exportiert hat, sondern auch
Anwendung von algorithmischen Modellen, um eine Variablen wie „mode“ belegt mit dem Wert Inter-
Schätzung der fehlenden Werte anhand der vorhan- view, „serial“ und „ref “ ohne Belegung etc. Sofern
denen Werte vorzunehmen (vgl. Schafer u. Graham diese Daten nicht gebraucht werden, können sie
2002). Diese Modelle sind allerdings deutlich komple- problemlos gelöscht werden (. Abb. 7.19).
xer in der Anwendung. Eine weitere Möglichkeit des
Umgangs mit fehlenden Werten ist die Verwendung > Immer das Datenfile unter neuem Namen
des Rasch-Modells, das fehlende Werte in seinen speichern, wenn Variablen gelöscht
Modellaufbau miteinbezieht. oder ersetzt werden. So kann im Notfall
bei Fehleingaben immer noch auf das
> Software-Tipp: NORM („software for Ursprungsfile zurückgegriffen werden.
multiple imputation“): simulations-
basierender Ansatz, fehlende Werte zu Umcodierung in neue Variable mit SPSS SPSS bietet
berechnen (http://sites.stat.psu.edu/~jls/ die Funktion Umcodieren in andere Variable.
misoftwa.html)
Beispiel
z z Erkennen von Item- oder Antwortbias Die bestehende Variable Alter, die in Jahren im Daten-
Bühner (2006, S. 71) stellt fest, dass selbst eine sorg- satz vorliegt, soll in Altersklassen überführt werden:
fältige Itemkonstruktion nicht vor dem Auftreten 4 Transformieren → Umcodieren in andere Variab-
eines Antwort- oder Itembias schützt. Unter Bias le (nicht die Option Umcodieren in dieselbe Va-
wird laut Osterlind (1983, S. 10) der „systemati- riable nehmen!)
sche Fehler im Prozess des Messens“8 verstanden. 4 Auswahl der Variable Alter mit blauen Pfeil
Im vorhergehenden Abschnitt wurde bereits eine auswählen
Ursache des Bias beschrieben, das Antwortbias, das 4 neuen Variablennamen vergeben (die alte
aus dem Bedürfnis der Teilnehmenden nach sozia- Variable wird dann nicht überschrieben)
ler Erwünschtheit (Paulhus 1991) oder Akquieszenz 4 Ausgabevariable Altersklasse
entsteht. Die am weitesten entwickelte Technik, um 4 Alter → Altersklasse
mit Antwort- oder Itembias statistisch umzugehen, 4 Klick auf Button Ändern
stellt die Rasch-Analyse dar.
Wie umcodiert wird, bestimmt der Button Alte und
neue Werte
8 „Bias is defined as a systematic error in the measurement 4 Rubrik Alte Werte, Bereich, kleinster bis Wert: in
process.“ der Box den Wert19 eintragen
7.3 · Quantitative Messverfahren
179 7

. Abb. 7.19 Bereinigung eines Datenfiles vor dem Import in SPSS oder Excel

4 Rubrik Neuer Wert: in der Box Wert 1 eintragen passende SPSS-Syntax. In SPSS-Syntax schaut das
4 Dadurch werden alle Werte, die kleiner als 19 obige Beispiel so aus:
sind, in die Kategorie 1 überführt 4 lowest thru 19 → 1
4 Rubrik Alte Werte,Bereich 20 bis 65 4 20 thru 65 → 2
4 Rubrik Neuer Wert: in der Box Wert 2eintragen 4 66 thru highest → 3
Alle Werte, die zwischen 20 und 65 liegen, werden
in die Kategorie 2 zusammengefasst Umcodierung von Zahlenwerten mit Excel Auch
4 Rubrik Alte Werte,Bereich,Wert bis größter: hier in Excel ermöglicht es, Werte umzuwandeln, hierfür
der Box den Wert 66 eintragen bietet sich die Wenn-Funktion an.
4 Rubrik Neuer Wert: in der Box den Wert 3 eintragen
4 So werden alle Werte, die größer als 65 sind, der Beispiel
Kategorie 3 zugeordnet Umwandlung des Wertes 2 in 4 und 5 in 1
4 Abschließend mit Button Weiter bestätigen =WENN(A2=2;“4“;WENN(A2=5;“1“))
4 Danach Button Einfügen anklicken, um die neue
Variable zu erstellen Die einfachste Möglichkeit, in Excel Variablen in
Kategorien umzucodieren, stellt die Transformie-
Es empfiehlt sich, gleichzeitig den neuen nummeri- rung mittels der WENN.Funktion dar. So ist es
schen Kategorien auch Wertelabels9 vergeben. ebenfalls möglich, eine Wertereihe in Kategorien zu
Beispiel: 1 = unter 19, 2 = zwischen 20 und 65, unterteilen.10
3 = älter als 65

Immer wenn in die Datenmasken von SPSS Werte


eingegeben werden, erstellt SPSS automatisch die
10 Komplexere Umcodierungen lassen sich mittels der
Excel-Funktion SVERWEIS gestalten, für die aber das Anle-
gen einer eigenen Datenmatrix an einer anderen Stelle
9 SPSS-Syntax: value labels des Datenblattes erforderlich ist.
180 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

Beispiel verwenden. Es empfiehlt sich, pro Kategorie eine


Das Alter (in Jahren) in der Spalte A wird in Gruppen neue Spalte zur Berechnungen zu wählen und mittels
mit einer 10-Jahres-Range transformiert: Wenn-Funktion die Werte in diese zu überführen.
=WENN(A3>=50; „Über 50“;WENN(A3>40; „ Am Beispiel des Excel-Files in . Abb. 7.20 sind in
40–49“;WENN(A3>30; „30–39“;WENN(A3> Spalte A das Alter und in Spalte B das Geschlecht der
20; „20–29“;WENN(A3>10; „10–19“; „KEINE Studienteilnehmer vermerkt (als Werte m und w).
Zuordnung“))))) Eine Transformierung schreibt mittels Wenn-Funk-
tion das Alter der männlichen Teilnehmer in Spalte
Sollten Zahlenwert auftauchen, die nicht definiert C [=WENN(B2=„m“;A2;““)] und das der weiblichen
wurden, sollte eine Kategorie, wie zum Beispiel in Spalte D [=WENN(B2=„w“;A2;““)].
„keine Zuordnung“, vergeben werden. Diese Kate-
gorie wird dann vergeben, wenn keine der vorherigen > Excel verlangt, dass Text in Feldern im
Kategorien zutrifft. Im Beispiel oben sollte beispiels- Gegensatz zu Zahlen für Vergleiche immer
weise kein Alter unter 10 Jahren liegen, hier würde zwischen Anführungsstriche gesetzt wird.
automatisch der Wert „keine Zuordnung“ eingefügt B2=w ohne Anführungszeichen würde eine
7 werden. Fehlermeldung (# NAME) bewirken. Daher:
B2=„w“.
SPSS-Auswertungen von Teilgruppen Zusätzlich
bietet SPSS auch die Möglichkeit, Auswertungen auf Nach erfolgter Transformation steht nun in Spalte C
Teilgruppen zu beschränken. Beispielsweise ist oft nur mehr das Alter der männlichen Probanden und
das Antwortverhalten abhängig vom Geschlecht von in Spalte D das Alter der weiblichen. Wie am Beispiel
Interesse. SPSS bietet folgende Möglichkeit: des Mittelwerts zu sehen ist, können basierend auf
4 Daten → Datei aufteilen → Ausgabe nach diesen Werten nun weitere teilgruppenspezifische
Gruppen aufteilen Berechnungen erfolgen (7 Abschn. 7.4).
4 Gruppen basierend auf: in die Box die Variable
Geschlecht einfügen
4 Syntax mit Klick auf grünen Pfeil ausführen Auswertung der Daten
Wie bereits im vorherigen Absatz erkennbar, folgt die
Ab diesem Zeitpunkt werden alle Berechnungen in Auswertung der Daten von Fragebogenstudien den
SPSS nach den vorher definierten Kriterien getrennt gebräuchlichen Auswertungsverfahren der Statistik
durchgeführt. Um zum Beispiel den Mittelwerte zu (7 Abschn. 7.4). Die Auswertungen umfassen übli-
berechnen: Diese werden ab nun automatisch jeweils cherweise deskriptive Statistiken der Gesamtstich-
für Frauen und für Männer des Datenfiles berechnet. probe und der Teilgruppen. Doch auch alle anderen
Zusätzlich bietet der Pfad Daten → Fälle aus- Methoden der induktiven Statistik können abhän-
wählen → Falls Bedingung zutrifft die Möglichkeit, gig vom Skalenniveau durchgeführt werden. Einen
die Auswertung auf bestimmte Bedingungen einzu- Sonderfall stellt die Fragebogenauswertung mit dem
schränken, d. h. zu filtern: Rasch-Modell dar.
4 Falls Bedingung zutrifft → Button Falls …
anklicken
4 Als Variable Bundesland angeben und das Stärken und Schwächen
gewünschte Wertelabel wählen Fragebögen ermöglichen es, mit vergleichsweise
geringem finanziellem und zeitlichem Aufwand viele
SPSS bezieht nun nur Datensätze aus dem ausge- Menschen zu einem Thema zu befragen. Wie bereits
wählten Bundesland in die Auswertung ein, wieder erwähnt, ist bei gleichem Einsatz der Mittel durch
getrennt nach Frauen und Männern. ein Fragebogendesign eine größere Stichprobe zu
realisieren, als dies mit anderen Erhebungsmetho-
Excel-Auswertungen von Teilgruppen In Excel den möglich ist. Umfragedesigns eigenen sich, um
bietet sich abermals an, die Funktion „Wenn“ zu Beobachtungen zu überprüfen, im Speziellen im
7.3 · Quantitative Messverfahren
181 7

. Abb. 7.20 Datentransformation mithilfe von Excel

Zusammenhang mit der Prognose, der Diagnose, Die Nachteile der Methode des Fragebo-
den Frequenzen und der Ätiologie von Phänome- gens liegen in der Reduktion auf die rein schrift-
nen und Outcomes. liche Fragenpräsentation. Hier hat die Lesekom-
Der Fragebogen hat den Vorteil, dass er die Teil- petenz der Probanden einen starken Einfluss auf
nehmenden zeitlich nicht unter Druck setzt und das Verständnis der gestellten Fragen. Das Ant-
diese ihre Antworten in Ruhe überlegen können. wortverhalten wird ebenso rein auf den schriftli-
Sowohl Online- als auch Paper-pencil-Befragun- chen Ausdruck reduziert. Menschen mit niedrige-
gen können meistens in der gewohnten Umgebung rem Bildungsstand neigen hier eher zum Drop-out,
durchgeführt werden und stellen dadurch weniger dadurch kommt es oftmals zu einer systematischen
Stress für die Probanden dar. Zusätzlich ist bei Fra- Verschiebung, die durch die stärkere Präsenz von
gebögen die im Rahmen des Forschungsprojekts Menschen mit hohem Bildungsstand bedingt ist
zugesicherte Anonymität den Teilnehmenden (Rücklaufbias).
leichter verständlich zu machen als beispielsweise Ein weiterer Nachteil des Fragebogens liegt in
bei einem Experiment, das physische Anwesenheit der hohen Beeinflussbarkeit der Ergebnisse durch
erfordert. die Probandinnen begründet, egal ob diese bewusst
182 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

oder unbewusst erfolgt (Antworttendenzen). Es wird z z Webresourcen


daher allgemein empfohlen, anspruchsvolle Ent- 4 Designing a successful questionnaire: Webinars
scheidungen nicht alleine von Fragebogenergeb- from Cochrane Training: http://community.
nissen abhängig zu machen, sondern durch andere cochrane.org/news/news-events/current-news/
Methoden abzusichern. designing-successful-questionnaire-webinars-
cochrane-training
Zusammenfassung 4 Rating-Skalen zur Erhebung des subjektiven
Der Fragebogen stellt eine kostengünstige und ef- Schmerzes – Leitlinien des Ärztlichen
fektive Möglichkeit dar, hohe Fallzahlen im Rahmen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ):
eines Forschungsprojekts zu erlangen. Die Entschei- www.leitlinien.de/mdb/downloads/nvl/kreuz-
dung, ob die Methode die geeignetste zur Beant- schmerz/ph/kreuzschmerz-se1.pdf
wortung der jeweiligen Fragestellung ist, muss aber 4 AMDA – the Society of Post-Acute and
genau reflektiert werden und darf in keinem Fall nur Long-Term Care Medicine: www.amda.com/
unter dem Gesichtspunkt der Kosten gesehen wer- tools/library/whitepapers/hospiceinltc/appen-
den. Bei der Erstellung eines Fragebogens müssen dix-a.pdf
7 unterschiedlichste Gesichtspunkte beachtet wer-
den, um nicht aufgrund von Item- und Antwortbi- z z Praxisorientierte Literaturempfehlungen
as die Ergebnisgüte zu gefährden. Zusammenfas- 4 Rolf Porst: Fragebogen – ein Arbeitsbuch,
send gilt es für eine gelungene Dramaturgie eines 4. Aufl. VS Verlag für Sozialwissenschaften,
Fragebogens: Wiesbaden 2014
4 gute Einstiegsfragen zu formulieren und 4 Horst Otto Mayer: Interview und schriftliche
4 die Fragensukzession zu beachten. Befragung, 5. Aufl. Oldenburg Verlag,
München 2009
Und im Speziellen:
4 Fragen in Themengruppen zusammenzufassen,
4 Überschriften zu verwenden, 7.3.2 Untersuchungen im
4 Verzweigungsfragen zu nutzen und Bewegungslabor
4 Die Position der demographischen Fragen zu
reflektieren. Andreas Jocham, David Moser, Lisa Ameshofer

Ausgehend von der Reihenfolge der Fragen sind In Bewegungsanalyselaboren werden menschliche
immer auch mögliche beeinflussende Reihen- Bewegungen in biomechanischer Betrachtungsweise
folgeeffekte auf die Antworten der Befragten zu hinsichtlich der Qualität und Quantität der Bewe-
reflektieren. gungsabläufe untersucht. In solchen Einrichtungen
kann, abhängig von der technischen Ausstattung,
erhoben werden, wie eine Bewegung ausgeführt
Zusätzliches Material wird (Kinematik), welche externen und internen
Auf http://extras.springer.com findet sich eine all- Kräfte dabei wirken (Kinetik) und ob die Kräfte
gemeine Checkliste, die eine grundsätzliche Über- durch Muskulatur erzeugt werden (Muskelaktivität).
prüfung der wichtigsten Punkte im Rahmen des Um diese Daten zu erheben, werden verschiedene
Fragebogendesigns abdeckt. Ergänzend zu diesem biomechanische Messverfahren eingesetzt, welche
Dokument kann die Online-Checkliste mit rele- je nach Bedarf einzeln oder in Kombination ange-
vanten Fragen bei Online-Befragungen verwendet wendet werden können (Baker 2013). Im Folgenden
werden. Beide Dokumente können auch als Word- werden die gängigsten Methoden der Bewegungs-
bzw. PDF-Dokument über http://extras.springer.com analyse sowie die damit zu erhebenden Parameter
heruntergeladen werden. kurz vorgestellt.
7.3 · Quantitative Messverfahren
183 7
Da sich eine große Anzahl der klinischen Bewe- Instrumentelle Bewegungsanalyse
gungsanalyselabore mehrheitlich mit dem mensch- Bei der instrumentellen Bewegungsanalyse werden
lichen Gang befassen, wird besonders auf die dabei mittels mechanischer, elektronischer oder optischer
angewendeten Messverfahren eingegangen. Um die Messverfahren objektive Messwerte erhoben. Bei den
Möglichkeiten der einzelnen Messmethoden ver- meisten Messmethoden ist, abhängig von der Frage-
ständlicher darzustellen, werden mögliche Frage- stellung, eine Aufbereitung der Rohdaten mittels spe-
stellungen, die mit den verschiedenen Systemen zieller Software erforderlich.
beurteilt werden können, am Beispiel einer Person
mit Problemen im Bereich des Sprunggelenks beim z z Kinematische Messverfahren
Gehen erläutert. Die Kinematik beschreibt die Art wie sich der Körper
im räumlichen und zeitlichen Ablauf bewegt. Um
diese Bewegungen darzustellen, werden folgende
Beobachtende Bewegungsanalyse Messgrößen verwendet:
Die beobachtende Bewegungsanalyse stellt die 4 Ortskoordinaten, Längen, Wege (in Meter)
technisch einfachste Methode der Bewegungsana- 4 Zeit, Zeitdauer (in Sekunden)
lyse dar. Hierbei wird mit freiem Auge oder unter- 4 Frequenz (in Hertz)
stützt durch Videoaufnahmen der zu analysierende 4 Winkel (in Grad)
Bewegungsablauf hinsichtlich der Bewegungsqua- 4 Geschwindigkeiten (in Meter pro Sekunde)
lität bzw. relevanten Merkmalen der Bewegung 4 Beschleunigungen (in Meter pro Sekunde zum
beurteilt. Bei der Durchführung von beobachten- Quadrat)
den Bewegungsanalysen ist darauf zu achten, dass
ausreichend Platz vorhanden ist, damit sich die zu Da menschliche Anatomie zu komplex ist, um
beobachtende Person ungehindert bewegen kann Bewegung in ihrer Gesamtheit darzustellen, werden
und die beobachtende Person bzw. die Kamera in abhängig von der Fragestellung nur Teilaspekte
ausreichender Entfernung in allen relevanten Beob- erhoben. Wenn es notwendig, ist komplexere Bewe-
achtungsebenen positioniert werden kann. Dabei gungszusammenhänge zu erheben, werden verein-
ist zu beachten, dass der Bewegungsablauf aus stan- fachte Modelle des Körpers für die Bewegungsana-
dardisierten Perspektiven (meist Sagittal- und/oder lyse verwendet. Der menschliche Körper wird dazu
Frontalebene) beurteilt wird, um optische Verzer- in starre Segmente unterteilt, um die Bewegungen
rungen zu vermeiden. Die Aussagekraft der beob- der Segmente zueinander bzw. der Segmente in Rela-
achtenden Bewegungsanalyse ist stark von der tion zum Koordinatensystem des Raumes zu analy-
Erfahrung der durchführenden Person mit dieser sieren (Baker 2013, . Abb. 7.21).
Methode abhängig (Götz-Neumann 2011). Der
Übergang von der beobachtenden Bewegungsana- 2D-Bewegungsanalyse Bei der zweidimensiona-
lyse zur 2D-Bewegungsanalyse ist fließend und len Bewegungsanalyse werden Bewegungsabläufe
davon abhängig, welche Parameter beurteilt werden in einer Bewegungsebene mit Videokameras, aber
sollen. Um die Analyseergebnisse einer Person (z. B. auch mit anderen Sensoren, wie zum Beispiel Elek-
vorher/nachher), aber auch von verschiedenen Per- trogoniometern oder Beschleunigungssensoren,
sonen untereinander vergleichbar zu machen, ist erhoben. Eine häufig verwendete Methode, um
es notwendig, die Vorgaben an die Probandinnen kinematische Zusammenhänge darzustellen, ist die
(Bekleidung, Tageszeit, Platzangebot usw.) sowie die zweidimensionale Bewegungsanalyse mithilfe von
Instruktionen zu standardisieren. Videoaufnahmen. Dazu können je Anforderungen
und technischen Möglichkeiten eine oder mehrere
Beispiel Kameras verwendet werden. Bei der Bewegungs-
Beurteilung, ob es beim Gehen zu einer Fersenabhe- analyse mit Videokameras ist die Positionierung der
bung während der terminalen Standphase kommt. Kameras für das Analyseergebnis ausschlaggebend.
184 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

Bio-
Relevante
Segmente Drehachsen mechanisches
Bewegung
Modell

. Abb. 7.21 Biomechanisches Modell

Die Kamera sollte genau vertikal auf die zu analy- 3D-Bewegungsanalyse Mit dreidimensionalen
sierende Bewegungsebene ausgerichtet sein. Abwei- Bewegungsanalysesystemen können Bewegungs-
chungen davon führen zu einer optischen Verzer- abläufe in allen Raumebenen gemessen werden.
rung des Bildes, welche das Analyseergebnis ver- Dazu werden unterschiedliche technische Metho-
7 fälschen kann. Das Aufnahmezentrum der Kamera den verwendet, die auf Ultraschall, Magnetfeld
sollte auf Höhe des primär analysierten Gelenks oder Infrarot basieren. Bei optoelektronischen Sys-
positioniert werden, bei Ganzkörperaufnahmen, temen werden die Probanden an definierten Kör-
wie zum Beispiel bei der Ganganalyse, auf Höhe perstellen mit Markern versehen, die vom Ana-
des Beckens. lysesystem erfasst werden. Es gibt Systeme mit
Bei der Wahl der Kamera sind folgende Para- passiven (der Marker reflektiert das Signal) und
meter zu beachten: die Auflösung, die Aufnahme- aktiven Markern (der Marker sendet das Signal).
frequenz und die Belichtungszeit. Die Auflösung Des Weiteren gibt es Systeme, die auf Ultraschall,
(Anzahl der Bildpunkte bei Digitalkameras) der Magnetfeld oder Infrarot basieren und ohne Mar-
Kamera ist abhängig von der Größe des Bewegungs- kierung der Probanden funktionieren (Alt 2009,
details, das beurteilt werden soll, zu wählen. Kleine . Abb. 7.22).
Bewegungen und Details können bei zu geringer
Bildschärfe nicht erkannt bzw. beurteilt werden. Beispiel
Abhängig von der Geschwindigkeit der Bewegung Messung des Winkelverlaufs im oberen Sprungge-
sollte eine Aufnahmefrequenz (Anzahl der Ein- lenk in 3 Raumebenen.
zelbilder pro Sekunde) gewählt werden, die genü-
gend Einzelbilder eines Bewegungsablaufs liefert. z z Kinetische Messverfahren
Ebenso sollte die Belichtungszeit (Zeit, in der Licht Kinetik beschreibt die Kräfte, die auf den Körper
auf den Sensor der Kamera trifft) je nach Bewe- wirken. Um die bei Bewegung entstehenden Kräfte
gungsgeschwindigkeit kurz gehalten werden, um zu erheben, kommen Kraft- und Druckmesssenso-
Bewegungsunschärfe zu minimieren. Dabei ist zu ren zum Einsatz, die je nach Fragestellung unter-
beachten, dass bei vielen Kameras mit Erhöhung schiedlich eingesetzt werden können (Gollhofer u.
der Aufnahmefrequenz die Auflösung abnimmt. Bei Alt 2009).
Reduzierung der Belichtungszeit sollten zusätzliche
Lichtquellen verwendet werden, da die Aufnahmen Kraftmessung In der Ganganalyse wird die
durch die kurze Belichtungszeit, in der das Licht während der Standphase auftretende Bodenreak-
auf den Sensor trifft, dunkler erscheinen (Gollho- tionskraft mittels Kraftmessplatten erfasst. Die
fer u. Alt 2009). Sensoren der Kraftmessplatte können sowohl auf
dem piezoelektrischen Prinzip als auch auf dem
Beispiel Dehnmessstreifenprinzip basieren. Es werden die
Messung des Winkelverlaufs im oberen Sprung- vertikale, die anterior-posteriore und die medial-
gelenk in der Sagittalebene während des laterale Kraftkomponente sowie der Kraftangriffs-
Gangzyklus. punkt („center of pressure“) gemessen. Wenn
7.3 · Quantitative Messverfahren
185 7

. Abb. 7.22a–d 3D-Bewegungsanalyse. a, b Markerposition beim Cleveland Clinic Marker-Set, c Prozess-Labelingmit- Vicon
Nexus (mit freundlicher Genehmigung von Vicon Motion Systems Ltd), d 3D-Modell im Gehen (mit freundlicher Genehmigung
von C-Motion Inc.)

zusätzlich zur Bodenreaktionskraft synchron kine- Schrittlänge, Spurbreite, Schrittdauer usw., zu


matische Daten (Segmentposition, Gelenkwinkel) messen. Bei der Messung mit Druckmesssohlen
erhoben werden, können die in den Gelenken auf- ist es möglich, die Fußdruckmessungen räumlich
tretenden Drehmomente, die verrichtete Leistung unabhängig vom Labor (Feldmessungen) durch-
und die entstehende Energie berechnet werden zuführen und Informationen über Schuheinlagen
(Perry u. Burnfield 2010). oder Schuhanpassungen zu erhalten (. Abb. 7.23).
Die Genauigkeit der Messung ist abhängig von der
Beispiel Größe und Anzahl der Sensoren sowie der Höhe der
Seitenvergleich des Verlaufs der Bodenreaktions- Messfrequenz (Gollhofer u. Alt 2009).
kraft während der Standphase.
Beispiel
Druckverteilungsmessung Die Druckverteilungs- Erhebung des maximalen Drucks unter dem Vorfuß
messung wird unter anderem zur Bestimmung des während der terminalen Standphase.
Druckverlaufs unter der Fußsohle beim Gehen
eingesetzt. Dazu werden Druckmesssysteme ver- z z Messverfahren zu Erhebung der
wendet, die auf kapazitiven oder resistiven Senso- Muskelaktivität
ren basieren. Diese können als Druckmessplatten, Elektromyographie (EMG) ist eine Untersuchungs-
die im Boden eingebaut sind, aber auch als Druck- methode, die sich mit der Entstehung, der Aufzeich-
messsohlen, die in die Schuhe der Probandinnen nung und der Analyse von myoelektrischen Signalen
gelegt werden, Anwendung finden. Druckmessplat- befasst. Myoelektrische Signale werden durch physio-
ten sind für die Messung mit Schuhen ungeeignet logische Zustandsänderungen an Muskelfasermem-
und können nur barfuß verwendet werden. Mittels branen erzeugt. Sie können nicht invasiv mit Ober-
Druckmessplatten können neben der Druckver- flächen-EMG oder invasiv mit Dünndraht-EMG
teilung auch der Kraftangriffspunkt und die ver- gemessen werden. Mit EMG-Messungen können
tikale Kraftkomponente gemessen werden. Wenn Aussagen über den Aktivitätsverlauf, die Symmetrie,
die Messplatte groß genug ist, dass beim Gehen die Muskelermüdung, die Muskelfaserzusammenset-
mindestens 2 Fußabdrücke hintereinander erfasst zung und die Rekrutierungsreihenfolge bzw. Koordi-
werden können, ist es auch möglich, Raum-Zeit- nation verschiedener Muskeln gemacht werden. Eine
Parameter, wie zum Beispiel Gehgeschwindigkeit, Aussage über die Muskelkraft ist nur bedingt möglich
186 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

7 . Abb. 7.23 Zwei- und dreidimensionale Darstellung einer Druckverteilungsmessung, die mit einer Druckmessplatte
durchgeführt wurde. (Mit freundlicher Genehmigung der Zebris Medical GmbH)

und erfordert zusätzliche Erhebungen, wie zum Bei- Bei Bewegungsanalysen hat das Messumfeld bzw.
spiel die vorherige Bestimmung der maximalen will- die Laborsituation einen nicht zu vernachlässi-
kürlichen isometrischen Kraft („maximum voluntary genden Einfluss auf das Bewegungsverhalten der
contraction“) oder der funktionellen Potenzialent- Probanden. Bei vielen Analysen sind die Proban-
wicklung des Muskels bei einer bestimmten Aktivität. den bis auf die Unterwäsche unbekleidet, tragen
Bei Messungen mittels Oberflächen-EMG werden Messinstrumente am Körper und wissen, dass sie
Klebeelektroden an definierten Stellen auf die zu bei der Durchführung des Bewegungsauftrags
messende Muskulatur aufgebracht. Mit dieser nicht genau beobachtet werden. Ob der gemessene Bewe-
invasiven Methode können nur relativ große, ober- gungsablauf dem natürlichen Bewegungsverhal-
flächlich liegende Muskeln abgeleitet werden. Für die ten entspricht, sollte demnach kritisch hinterfragt
EMG-Messung kleinerer tiefliegender Muskeln ist werden. Des Weiteren können Ungenauigkeiten
die Verwendung von Dünndraht-Elektroden not- durch die Anwender (z. B. ungenau positionierte
wendig, die direkt in den Muskel eingebracht werden. Marker oder Elektroden), die Probanden (z. B.
Da es sich um eine invasive Methode handelt, ist diese Haut- und Weichteilverschiebung), das Mess-
nur unter ärztlicher Aufsicht gestattet. Um die Aus- system (z. B. zu geringe Aufnahmefrequenz oder
sagen über die verschiedenen Messparameter treffen Auflösung) sowie die Nachbearbeitung der Daten
zu können, ist die Signalverarbeitung der EMG-Roh- (z. B. Filterung, mathematische Rekonstruktion
daten mittels verschiedener Filter und zusätzlicher fehlender Informationen) entstehen.
Verarbeitungsschritte, je nach Fragestellung, erfor-
derlich (Gollhofer u. Alt 2009).
7.3.3 Andere Verfahren zur
Beispiel Datensammlung
Erfassung des Aktivitätsverlaufs des Musculus so-
leus während der Standphase beim Gehen. Roman Weigl

Es stellt sich die Frage, was neben Fragebögen, Unter-


Limitationen der Bewegungsanalyse suchungen im Bewegungslabor und der Verwen-
Ziel der Bewegungsanalyse ist es, natürliches dung von Assessments noch zur Datensammlung
Bewegungsverhalten zu messen und zu beurteilen. für und in den Gesundheitswissenschaften Relevanz
7.3 · Quantitative Messverfahren
187 7
hat. Kurz gesagt: vieles, im Speziellen kann nahezu auf allen Organisationsstufen der Lebewesen zu
jede Form von Quelle auf ihre Relevanz im Sinne der erforschen und zu beschreiben (Rassow 2012).
Health Science Professions analysiert werden. Um
auf die eingangs gestellte Fragen mit den Worten z z Forschungsansätze in den
von Babbie (2010, S. 125) zu antworten: „measu- Gesundheitswissenschaften
ring anything that exists.“ Neben den traditionel- Biochemische Messungen, sogenannte Biomarker,
len Methoden der Datenerhebung im Gesundheits- haben das Potenzial, sowohl die Auswirkungen von
bereich und den klinischen Fragestellungen zeigt Interventionen durch Gesundheitsprofessionen
sich mit Erweiterung des Fokus auf die Grundlagen überprüfbar zu machen als auch gesundheitswissen-
der Gesundheit und ihrer Erhaltung ein weites Feld schaftliche Theorien der Gesundheitsprofessionen
möglicher Datenquellen. Die folgende Übersicht soll zu verifizieren. So können zum Beispiel die Messun-
als erster Schritt eine Aufzählung möglicher Daten- gen von Kortisol, eines menschlichen Stresshormons,
quellen sein, die bei Weitem keinen Vollständigkeits- das von der Nebennierenrinde ausgeschüttet wird,
anspruch hat. In weiterer Folge werden dann exem- wenn die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennie-
plarische Beispiele aus den ausgewählten Bereichen renrinden-Achse aktiviert wird (Kandel et al. 2000),
präsentiert. überprüfen, wie Menschen auf Veränderungen in
ihren Betätigungen reagieren. So untersuchten zum
Beispiel Prudhomme, White und Mulligan (2005)
Mögliche Datenquellen für gesundheits- anhand von Kortisolmessungen die Stressreaktionen
wissenschaftliche Projekte von Kindern mit und ohne Aufmerksamkeitsstörung
5 Biochemische Daten während und nach der Ausführung einer bekannten
5 Neurowissenschaftliche Daten Handlungsaufgabe.
5 Natürliche entstandene Daten:
Dokumente
5 Literarische Quellen und persönliche Neurowissenschaftliche Daten
Dokumente z z Hintergrund
5 Medien (Zeitungsartikel, Obwohl die Neurowissenschaft eine vergleichs-
Fernsehbeiträge, …) weise junge Disziplin ist, liefern neurowissenschaft-
5 User Generated Content (Blogs, liche Studien nahezu tagtäglich neue Erkenntnisse,
Videoblogs, Social Media Sites, die einen immer genaueren Blick auf menschliches
Wikis etc.) Handeln und menschliche Beweggründe werfen.
5 Beobachtung und Videoanalyse Oftmals brechen diese Ergebnisse mit bisher gelten-
5 Filme und TV-Serien den Annahmen über menschliches Denken und Ver-
5 Verwaltungsdaten und Daten der halten, beispielsweise die Fähigkeit des Gehirns, bis
amtlichen Statistik ins hohe Alter plastisch zu bleiben, oder die Erkennt-
5 Organisationsdaten nis, dass das Erlernen neuer Fähigkeit (und die damit
5 Räumliche Daten bzw. Geodaten verbundenen Verhaltensanpassungen) auch im Alter
sichtbare anatomische Veränderungen im Gehirn
hinterlässt (Jäncke 2013).

Biochemische Daten z z Forschungsansätze in den


z z Hintergrund Gesundheitswissenschaften
Biochemische Messungen haben eine lange Tradi- Neue Erkenntnisse, die zum Beispiel aus den Daten
tion in der Humanmedizin. Die Biochemie verbindet der MEG (Magnetenzephalographie) oder der
übergreifend die Disziplinen der Medizin, Chemie funktionellen MRT (Magnetresonanztomographie)
und Biologie. Als klassische naturwissenschaftliche gewonnen werden, stellen alle Gesundheitsprofessio-
Disziplin verfolgt die Biochemie das Ziel, die mole- nen vor die Herausforderung, die Veränderung des
kularen Strukturen und die chemischen Vorgänge Wissensstands in ihre etablierten Therapiemethoden
188 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

zu integrieren, diese ggf. zu adaptieren oder sogar Nähens und Stickens) erwähnt. Ebenso steht die
Annahmen zu verwerfen. Im Umkehrschluss bietet Sichtweise auf menschliche Betätigungen aus his-
sich aber auch die Gelegenheit, dass sich die Gesund- torisch-politischer Perspektive im Fokus des Inter-
heitsprofessionen mit ihren Expertisen aus den esses der „occupational science“ (z. B. Kantartzis u.
jeweiligen Fachbereichen in den Diskurs mit den Molineux 2012).
Neurowissenschaften einbringen – sei es beispiels-
weise das Wissen um das komplexe Zusammenspiel
menschlicher Bewegung, um Sprache, Sprechen und Literarische Quellen und persönliche
Kommunikation oder das Wissen um die menschli- Dokumente
che Betätigung und das Verständnis von Handlungen z z Hintergrund
und Funktionen. Oftmals bestätigen neurowissen- Die (vergleichenden) Sprach- und Literaturwissen-
schaftliche Untersuchungen Erkenntnisse, die Kolle- schaften spielen aus naheliegenden Gründen seit
gen vor Ort mit ihren Klientinnen bereits beobachten jeher die Hauptrolle bei der Analyse literarischer
konnten. Hier könnten die Gesundheitsberufe nicht Quellen. Neben der Analyse von geschichtlichen
nur bloße Rezipienten von Forschungsergebnissen Hintergründen liegt das Hauptaugenmerk auf der
7 sein, sondern aktiv an der Weiterentwicklung dieses Interpretation literarischer und nicht literarischer
faszinierenden Forschungsgebiets durch interdiszi- Werke und der Entwicklung von Untersuchungs-
plinäre Forschungsprojekte teilhaben methoden und theoretischen Grundlagen.
Im Gegensatz zum literarischen Werk stellt
das Tagebuch ein zutiefst persönliches Dokument
Natürlich entstandene Daten/ dar. Tagebücher wurden vor allem durch die Lite-
Dokumente ratur- und Geschichtswissenschaften eingehend
z z Hintergrund erforscht, in letzter Zeit auch zunehmend durch
Unter natürlichen Daten werden nach Salheiser die Sprachwissenschaften (Linguistik). Tagebü-
(2014) Dokumente verstanden, die nicht für For- cher werden von Dusini (2005) folgendermaßen
schungszwecke bzw. nicht durch die Beteiligung beschrieben: „Tagebücher sind wie Autobiogra-
von Forschenden entstanden sind. Darunter können phien und Briefe, materialisierte Zeit. Wer ein Tage-
sowohl offizielle Dokumente fallen (z. B. Handbü- buch liest, hält Zeit in Händen, […].“ (S. 9–10). Im
cher, Jahrbücher) als auch interne Dokumente von Sinne der „occupational science“ und Ergotherapie
Institutionen, Behörden oder Unternehmen. Eine sieht Dusini Tagebücher im Schnittpunkt zwischen
traditionelle Wissenschaftsdisziplin für die Analyse Handlung und Text.
solcher Dokumente stellt die Geschichtsforschung
dar. So kann anhand von Quellen neues Wissen über z z Forschungsansätze in den
die Vergangenheit generiert werden. Gesundheitswissenschaften
Auch literarische Daten können von Relevanz für
z z Forschungsansätze in den Gesundheitsprofessionisten sein. Ein Beispiel ist
Gesundheitswissenschaften die eigene Untersuchung des Romans „The world
Als bereits bestehende Forschung im Bereich der according to Garp“ von John Irving (Weigl 2002)
Gesundheitswissenschaften können Arbeiten aus mit der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse
dem Bereich der Betätigungswissenschaft („occu- (Mayring 2010, 2014) anhand des „Occupational
pational science“) genannt werden. So liegt es in Performance Model“ (Australien) nach Chapparo
der Natur der „occupational science“, nicht nur und Ranka (1997). Eine der Erkenntnisse der Arbeit
über Betätigungen an sich, sondern auch mehr war die Schwierigkeit, den in Irvings Roman geschil-
über die Geschichte menschlicher Betätigungen derten Einfluss von einmaligen Lebensereignissen
zu erfahren. Beispielhaft sei hier die Forschungs- auf die Handlungsperformanz/Betätigungsperfor-
arbeit von McHugh Pendleton (1996) über die manz innerhalb des theoretischen Frameworks des
Geschichte des Handarbeitens (im Speziellen des Modells zu beschreiben. Hier erscheint es sinnvoll,
7.3 · Quantitative Messverfahren
189 7
ein entsprechendes Konstrukt im Occupational „User generated content“
Performance Model (Chapparo u. Ranka 1997) zu z z Hintergrund
ergänzen, um den Einfluss von Life Events auch im Die Forschung in Bezug auf „user generated
Leben der Klienten der Ergotherapie entsprechend content“ (Blogs, Videoblogs, Social Media, Wikis
abbilden zu können (Weigl 2002). etc.) ist aus naheliegenden Gründen stark auf das
Als Beispiel für die Analyse anhand persönli- Marketing, die wirtschaftlichen und die soziologi-
cher Dokumente sei exemplarisch die Forschungs- schen Aspekte fokussiert. Im Gegensatz zur Erfor-
arbeit von White (1996) genannt, in der der Autor schung traditioneller Medien wie Zeitungen oder
anhand der Autobiographie des Jazzmusikers Miles Fernsehen steht bei „user generated content“ der
Davis eine Analyse der Betätigungen des Musikers interaktionelle Aspekt zwischen Mediengestaltern
(z. B. über die „occupational balance“/Betätigungs- und Lesern viel stärker im Vordergrund. Durch
balance) und ein Betätigungsnarrativ des Lebens von Kommentare, Posts etc. besteht die Möglichkeit
Davis anfertigt. der direkten Kontaktaufnahme mit dem Content-
Gestalter, der seinerseits wiederum auf die Postings
durch Antworten oder neuen Content reagiert. Die
Medien Grenze zwischen Gestalter und Leser ist fließend,
z z Hintergrund der Leser und Kommentator eines fremden Blogs
Zeitungsartikel, Fernsehbeiträge, Nachrichtensen- unterhält möglicherweise ein eigenes Blog, wo er
dungen etc. präsentieren das Bild der Medien zu wieder Inhalte einfließen lassen bzw. zu dem er ver-
bestimmten Themenbereichen, ein Bereich in dem linken kann.
die Soziologie und die Publizistik seit Langem tätig
sind. So kann zum Beispiel die Rolle der Medien bei z z Forschungsansätze in den
der Integration von Migranten untersucht werden, Gesundheitswissenschaften
indem die Darstellung von Migranten und deren Auch hier können Gesundheitsprofessionisten wich-
Wirkung in den Medien analysiert wird (Weber- tige Aspekte ihrer Profession und ihre Sichtweise(n)
Menges 2008). in den wissenschaftlichen Diskurs einbringen. So
wäre es durchaus interessant, Blogs (Internettagebü-
z z Forschungsansätze in den cher oder Videotagebücher) für und von Menschen
Gesundheitswissenschaften mit psychischen Erkrankungen (z. B. Depression)
Auch die wissenschaftlich tätigen Gesundheits- aus der Sicht der „health professions“ zu untersu-
professionistinnen können an der Abbildung ihrer chen. Als neuen Aspekt betonen beispielsweise
Tätigkeitsbereiche in den Medien interessiert sein. Meshi, Tamir und Heekeren (2015), dass Menschen
So könnte zum Beispiel in der Diätologie das Bild in Online-Situation durch die Ungebundenheit
des Diabetes mellitus in den Medien von Interesse bezüglich sozialer Normen deutlich mehr ichbezo-
sein. Eine genaue Analyse kann helfen, ein besseres gene Gesprächsinhalte teilen, als dies in Offline-Ge-
Verständnis des Informationsstands von Klientinnen sprächen passiert.
einer Diabetesschulung zu erhalten und dieses Ver- Ebenso wäre beispielsweise eine Analyse der
ständnis in die Entwicklung von Schulungskonzep- am häufigsten genutzten Blogs über Fitness- und
ten einfließen zu lassen. Dehnungsübungen oder Rückenproblemen für
In der Logopädie könnte beispielsweise die Physiotherapeuten interessant. Zum Beispiel ließe
Häufigkeit der Besetzung von sprach- und sprech- sich analysieren, wie viele Übungen davon nicht der
auffälligen Kindern in Werbespots („das süße lis- aktuellen Lehrmeinung entsprechen, wo falsche
pelnde Kind“) Aufschluss geben, inwieweit in Theorien über die Muskelphysiologie verbrei-
Bezug auf das Problembewusstsein der Eltern und tet werden etc. Diese Erkenntnisse könnten wie-
im Kinderbereich tätigen Berufsgruppen außer- derum in die Beratungspraxis der Physiotherapie
halb des Gesundheitsbereichs Informationsarbeit einfließen oder zu neuen eigenen Internetangebo-
notwendig ist. ten führen.
190 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

. Tab. 7.12 Grundtypen der Beobachtung

Typ Definition

Offene/verdeckte Beobachtung Die beobachteten Personen wissen, dass sie beobachtet werden,
oder wissen es nicht.
Teilnehmende/nicht teilnehmende Der Beobachter nimmt am beobachtenden Geschehen aktiv teil
Beobachtung oder nicht.
Beobachtung in natürlich/künstlicher Die beobachtenden Personen befinden sich in ihrem natürlichen
Situation Umfeld oder in einem gestalteten Umfeld („Labor“)
Systematische/unsystematische Ein ausformuliertes Kategoriensystem zur Beobachtung liegt vor
Beobachtung oder nicht.

7 Beobachtung und Videoanalyse Aspekte in den Vordergrund. Diese Möglichkeit


z z Hintergrund nutzen seit jeher die Gesundheitsprofessionen im
Die Beobachtung kann keiner einzelnen Wissen- Rahmen ihrer Befundung, sei es durch standardi-
schaftsdisziplin zugeordnet werden, sie stellt für sierte Beobachtungen (z. B. „test of playfulness“,
viele Wissenschaftsdisziplinen eine der fundamenta- Bundy 1991, Skard u. Bundy 2008), strukturierte
len Möglichkeiten dar, Informationen über das Ver- Videoanalysen oder durch die Analyse freier Spiel-,
halten von Menschen zu erhalten. Döring und Bortz Interaktions-, Kommunikations- und anderer
(2015) unterscheiden zwischen 4 Grundtypen der Sequenzen.
Beobachtung (. Tab. 7.12). Darüber hinaus bietet die Videoanalyse auch
die Möglichkeit, audiovisuelles Datenmaterial zu
z z Forschungsansätze in den analysieren, das nicht durch die Beteiligung von
Gesundheitswissenschaften Forschenden entstanden ist, ähnlich den natürli-
Neben der normiert-standardisierten Beobachtung chen schriftlichen Datenquellen. Dadurch kommt
im Rahmen etablierter Assessments stellt die Beob- es zu einer Verringerung der „Künstlichkeit“ des
achtung eine wichtige Quelle der gesundheitswissen- Datenmaterials, und die Auswirkungen verschie-
schaftlichen Forschung dar. So zeigt ein Fragebogen, denster verzerrender Effekte durch die Beobach-
den Kollegen für ein physiotherapeutisches Projekt tung der Forschenden können verringert werden
über das Bewegungsverhalten im Alltag von Men- (Hawthorne-Effekt, Rosenthal-Effekt etc.). Einen
schen erstellt haben, nur einen kleinen (und durch Spezialfall der Videoanalyse stellt die Videogra-
soziale Erwünschtheit gefärbten, 7 Abschn. 7.3.1) phie (Tuma et al. 2013) dar, in der es zu einer Kom-
Ausschnitt menschlicher Verhaltensweisen auf. bination der Videoanalyse mit der Ethnographie
Hingegen kann eine Beobachtungsreihe in einer (7 Abschn. 6.3.4) kommt.
U-Bahn-Station, wie viele Menschen die Rolltreppe, Durch die Zunahme von „smart devices“ im
den Aufzug oder die Stufen verwenden, oftmals Alltag der Menschen kommt es aktuell zu einer
wichtige zusätzliche Daten liefern. deutlichen Zunahme von selbsterstellten Alltags-
Im Vergleich zur Beobachtung bietet die Video- videodokumenten durch jüngere Menschen, zum
analyse den großen Vorteil der Wiederholung. Beispiel in Video-Communities (Weber 2015). Hier
Videoaufzeichnungen können beliebig oft abgespielt wird sich zeigen, inwieweit diese Dokumente inner-
und einzelne Sequenzen isoliert betrachtet werden, halb der rechtlich erlaubten und ethisch vertretbaren
sogar die Betrachtungsgeschwindigkeit kann vari- Grenzen auch in der Forschung der Gesundheitspro-
iert werden („slow motion“ bzw. „fast forward“). fessionistinnen verwendet werden bzw. verwendet
Dadurch treten immer wieder unterschiedliche werden können.
7.3 · Quantitative Messverfahren
191 7
Filme und TV-Serien statistischen Daten veröffentlicht, wie zum Bei-
z z Hintergrund spiel die Sterblichkeit, der Gesundheitszustand
In der Filmanalyse zeigt sich aufgrund der unter- und die Beschwerden der Bevölkerung, Daten zu
schiedlichen Fragestellungen, die die forschenden Behinderungen, Krankheitsfolgen und Behand-
Wissenschaftsbereiche wie Soziologie, Filmwissen- lungsfolgen, Kosten etc. Meistens werden diese
schaften, Publizistik oder Genderforschung an das Daten aus unterschiedlichen Quellen gebündelt
Datenmaterial haben, dass sehr unterschiedliche aufbereitet.
Werkzeuge und Methoden zur Analyse entwickelt
wurden. Im Gegensatz zum eigenen Erleben eines z z Forschungsansätze in den
Films handelt es sich bei der Filmanalyse um eine Gesundheitswissenschaften
systematische wissenschaftliche Analyse, die daher Nach Wallner (2006) umfassen die Methoden der
auch klar von einer Filmkritik abzugrenzen ist (Korte Gesundheitsförderung und Prävention wären bei-
u. Drexler 2010). spielsweise Aufklärung & Beratung, Erziehung &
Bildung und vieles mehr. Hier zeigt sich ein weites
z z Forschungsansätze in den Feld für Gesundheitsprofessionisten, um die einzig-
Gesundheitswissenschaften artigen Sichtweisen ihrer Profession in den gesell-
Ähnlich wie bereits in den literarischen Quellen schaftlichen Diskurs über die Ausrichtung des
erwähnt (s. oben), können auch Filme aus der Sicht Gesundheitssystems und die Ansätze zukünftiger
der Gesundheitswissenschaften analysiert werden. Gesundheitsförderungen einzubringen.
Dabei ergeben sich unterschiedlichste gesundheits-
relevante Fragestellungen, wie zum Beispiel die z z Quellen
Analyse der Darstellung des alkoholkranken Men- Deutschland Sterblichkeit, Gesundheitszustand
schen (Abhängigkeitssyndrom) im modernen Film. und Beschwerden (Gesamtpopulation und Sub-
Ebenso ist es möglich, Filme auf relevante Themen zu gruppen), Behinderung, Krankheitsfolgen und
untersuchen, zum Beispiel könnte ein Forschungs- Behandlungsfolgen: Informationssystem der
projekt aus der Logopädie sich mit stotternden Men- Gesundheitsberichterstattung des Bundes mit
schen im Filmen und TV-Serien beschäftigen und gesundheitsstatistisch relevanten Daten aus über
untersuchen, welche Pathogenese für das Stottern als 100 verschiedenen Quellen
verantwortlich gezeigt wird und welche Heilungs- 4 www.gbe-bund.de.
prozesse in den Drehbüchern als wirksam präsen-
tiert werden. Österreich Gesundheitsstatistik des Bundesmi-
Daneben wäre es durchaus auch interessant, nisteriums für Gesundheit (erstellt von Statistik
Filme oder TV-Serien, die im medizinischen Kontext Austria): Gesundheit und Gesundheitsverhalten,
angesiedelt sind, zu daraufhin zu analysieren, ob und Gesundheitsversorgung, Gesundheitsausgaben
wie oft hier nicht ärztliche Gesundheitsberufe vor- 4 www.bmg.gv.at/home/Schwerpunkte/
kommen und welche Charakterisierung die Filmfi- Krankheiten/Gesundheitsstatistik/
guren erfahren haben. 4 www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_
und_gesellschaft/gesundheit/index.html

Verwaltungsdaten und Daten der Schweiz Schweizer Bundesamt für Statistik:


amtlichen Statistik Gesundheitszustand der Bevölkerung, Gesund-
z z Hintergrund heitsdienste und Personal, Leistung und Inanspruch-
In der wissenschaftlichen Arbeit mit Verwaltungs- nahme, Kosten, Finanzierung
daten und Daten der amtlichen Statistik zeigt sich 4 www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/
einer der größten Ansatzpunkte im Sinne der themen/14.html
„public health“ und Gesundheitsförderung. Durch
die Informationssysteme der Staaten werden regel- Internationale Daten WHO: jährliche statistische
mäßig wichtige gesundheitswissenschaftliche „health reports“ in englischer Sprache („world
192 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

health statistics“) mit globalen Gesundheitsindi- in der Umweltsituation in Lebensbereichen darge-


katoren wie Lebenserwartung, Morbidität, Morta- stellt werden. Basierend auf diesen Analysen können
litätsrate etc. zum Beispiel Stadtplaner frühzeitig auf Entwicklun-
4 www.who.int/gho/publications/ gen reagieren.
world_health_statistics/en/
z z Forschungsansätze in den
Gesundheitswissenschaften
Organisationsdaten Durch die Verknüpfung von Geodaten mit demo-
z z Hintergrund graphischen Daten wie dem Alter ist es möglich, geo-
Hier zeigt sich ein noch wenig genutzter Bereich graphische Gebiete zu erkennen, die vor besonderen
in den Gesundheitsprofessionen, der aber in den Herausforderungen stehen. So wirkt sich zum Bei-
Wirtschaftswissenschaften sehr oft verwendet spiel die Überalterung der Bevölkerung im ländli-
wird. Bei der Erhebung von Organisationsdaten chen Raum deutlich dramatischer aus, weil oftmals
handelt es sich üblicherweise um Erhebungsver- wenige öffentliche Transportmittel vorhanden sind
fahren mittels Expertenbefragung, Fokusgrup- und daher Versorgungseinrichtungen kaum zu errei-
7 peninterviews, schriftlichen oder mündlichen chen sind (Schipfer 2005). Die deutsche Kommis-
Befragungen und Dokumentenanalyse innerhalb sion für Geoinformationswirtschaft und der Verein
der untersuchten Organisation (Meyermann et al. zur Förderung der Geoinformatik in Norddeutsch-
2014). Im klinischen Bereich kommt zum Beispiel land (2015) sehen daher in den Geodaten eine Hilfe,
oftmals die Dokumentenanalyse der Leistungs- sich den gesellschaftlichen Herausforderungen von
daten, der Dokumentation oder des Stellenplan morgen zu stellen.
zur Anwendung. Als erfolgreiche Illustration der Forschungs-
arbeit basierend auf Geodaten sei die Forschungs-
z z Forschungsansätze in den arbeit von Loree Primeau (1996) genannt, die in ver-
Gesundheitswissenschaften schiedenen Studien die Auswirkungen der Zunahme
Hier können Daten zum Beispiel aus den elektroni- der täglichen räumlichen Distanz zum Arbeitsplatz
schen Dokumentationssystemen von Kliniken ent- und das entsprechende Pendeln auf die Betätigun-
nommen werden, um diese auf bestimmte Fragestel- gen untersuchte.
lungen hin zu untersuchen. Zum Beispiel könnte eine
Behandlungsfrequenzanalyse zu einem bestimmten Zusammenfassung
Krankheitsbild in Kombination mit Experteninter- In diesem Kapitel wurden alternative Methoden
views vor Ort Aufschlüsse über Betreuungsstandards vorgestellt, die abseits von bekannten Verfahren
geben. Das zunehmende Engagement von Gesund- wie Assessments, Fragebögen und Interviews
heitsprofessionisten in solchen oftmals multidiszipli- oder die Untersuchung im Bewegungslabor für
nären Projekten erscheint extrem wichtig, da diese die Datensammlung in den Gesundheitswissen-
Projekte häufig als Basis für zukünftige Behandlungs- schaften und für die Gesundheitsprofessionistin-
standards dienen oder zum Beispiel für die Erstellung nen infrage kommen. Eine Vielzahl von Daten-
von Modellen zur Bedarfsplanungen herangezogen sammlungsquellen wie natürliche Daten, literari-
werden (Wabro et al. 2010). sche Quellen und persönliche Dokumente, „user
generated content“, Beobachtungen und Video-
analysen, Filme, Verwaltungsdaten und Daten der
Räumliche Daten oder Geodaten amtlichen Statistik, Organisationsdaten, räumli-
z z Hintergrund che Daten und Geodaten und nicht zuletzt auch
Räumliche Daten stellen eine wichtige Quelle für neurowissenschaftliche und biochemische Daten
die Forschung in vielen Wissenschaftsgebieten dar. wurden vorgestellt und deren Verwendung für ge-
Anhand der Verknüpfung mit Metadaten (wie dem sundheitswissenschaftliche Fragestellungen an-
Zeitbezug) können zum Beispiel Veränderungen hand von Beispielen präsentiert.
7.4 · Auswertung quantitativer Daten
193 7
7.4 Auswertung quantitativer Häufigkeiten von
Daten Merkmalsausprägungen
Die Häufigkeit gibt an, wie oft eine gewisse Merk-
Valentin Ritschl, Sabrina Neururer, malsaufprägung in den Daten vorkommt, also bei-
Roman Weigl, Tanja Stamm spielsweise wie viele der Personen einer Stichprobe
Frauen sind. Es wird unterschieden in:
Die quantitative Datenauswertung orientiert sich 4 Absolute Häufigkeit: Dies ist die tatsächliche
grundsätzlich an der Fragestellung. Dieses Kapitel Anzahl der Fälle einer Merkmalsausprägung.
vermittelt ausschließlich Grundlagen in praktischer Sie entspricht dem Zählen der einzelnen Fälle.
Form. Zu allen beschriebenen Verfahren existieren Absolute Häufigkeiten eigenen sich nicht für
weiterführende Literatur, Lehrangebote, zum Bei- Vergleiche.
spiel im Rahmen von weiterführenden Studien und 4 Relative Häufigkeit: Dies ist der
Fortbildungen, sowie ausgewiesene Experten und prozentuale Anteil der Fälle einer
Expertinnen, die an Hochschulen oftmals Beratung, Merkmalsausprägung.
Unterstützung und Kooperationen anbieten. Für 4 Kumulierte Häufigkeit: Dies ist der
hochqualitative Forschungsprojekte ist die Zusam- prozentuale Anteil von der niedrigsten
menarbeit der einzelnen Disziplinen essenziell. bis zu einer gewissen Schranke der
Meist erfolgt zu Beginn einer quantitativen Daten- Fälle einer Merkmalsausprägung
analyse eine deskriptive (beschreibende) Analyse. (Summenhäufigkeit).
Dies wird manchmal auch in qualitativen Studien
angewandt, um die Teilnehmenden zu beschreiben.
Aufgebaut ist das Kapitel nach Bortz und Döring Eingabe in Excel
(2006), Bortz und Schuster (2010) sowie LoBion- Rohdaten eintragen → die Intervallgrenzen
do-Wood und Haber (2001). Da in diesem Kapitel eintragen, also die Werte, die ich in einem
lediglich eine Auswahl an Auswertungsverfah- Intervall messen möchte
ren beschrieben wird, besteht kein Anspruch auf Beispiel: 0, 8, 6, 14, 0, −4, 0, 12, −7, 0, −10. Wenn
Vollständigkeit. nun als Intervallgrenzen folgendes eingegeben
wird: −10, −9, −8, −7, …, 12, 13, 14 usw.,
dann werden die Häufigkeiten für jeden Wert
7.4.1 Deskriptive Datenauswertung gezählt. Werden als Intervallgrenzen −10, 0, 10,
20 eingegeben, dann werden die Werte
Bei der deskriptiven Statistik handelt es sich um bis zu dieser Schranke gezählt. Das Ergebnis
unterschiedliche Methoden zur Beschreibung des wäre dann: 1, 6, 2, 2
Datensatzes. Zur Analyse können sowohl Tabellen- Nun mehrere Felder markieren (Anzahl der
kalkulationsprogramme, wie zum Beispiel Micro- gewählten Intervalle); Funktion „Häufigkeit“; bei
soft Excel oder LibreOfficeCalc, als auch Statistik- „Daten“ den Bereich der Rohdaten markieren,
programme, wie zum Beispiel SPSS, genutzt werden. bei „Klassen“, den Bereich der Intervallgrenzen
Die Berechnungen werden im Folgenden beispielhaft markieren, dann vor dem „normalen“ Beenden
an SPSS und/oder Excel erläutert. Falls die SPSS-Be- den Cursor in die Befehlszeile ganz ans Ende
rechnung fehlt, findet sich die Beschreibung gemein- setzen und Strg+Umschalt+Enter drücken
sam mit ergänzenden Hinweisen am Ende dieses (für Matrixfunktion).
Abschnittes.
Eingabe in SPSS
> Die deskriptive Statistik steht häufig am Die Eingabe in SPSS wird am Ende dieses
Beginn jeder quantitativen Datenanalyse, Abschnitts erläutert, da in SPSS fast alle
um die Stichprobe zu beschreiben und/ Berechnungen in einem Schritt durchgeführt
oder einen Überblick über die Daten zu werden können.
bekommen.
194 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

Mittelwert
Model
Median
0,1 % 2,1 % 13,6 % 34,1 % 34,1 % 13,6 % 2,1 % 0,1 %

_
x −x
zv = v
SD(x)
~68,3 %
~95,4 %
~99,6 %

z-Skala
−3 −2 −1 0 +1 +2 +3
7

. Abb. 7.24 Lagemaße: Mittelwert, Median, Modalwert. Bei symmetrischer Verteilung sind Mittelwert, Median und
Modalwert identisch

Lagemaße wieder Mittelwerte bei ordinalskalierten Daten


Die Lagemaße geben an, wo das Zentrum des Daten- berechnet (z. B. bei der Berechnung von Mittelwer-
satzes liegt. Eine gute Aussagekraft dieses Lagemaßes ten bei Schulnoten). Dies dient in diesem Fall aber
ergibt sich nur, wenn die Verteilung einen eindeuti- nicht dem Lagemaß, sondern um Antworttendenzen
gen Schwerpunkt besitzt. Die wichtigsten Lagemaße der Teilnehmer in der Studie darzustellen.
sind der Mittelwert, der Median und der Modalwert
(. Abb. 7.24).
Berechnung mit Excel
z z Mittelwert = arithmetisches Mittel Rohdaten eintragen → in einem leeren Feld
Zur Berechnung des Mittelwerts (Durchschnitt) Funktion „Mittelwert“ einfügen → gültigen
werden alle Werte addiert und durch die Anzahl der Bereich markieren.
Werte dividiert.

Beispiel Excel bietet sogenannte Funktionen (fx) an. Damit


Datensatz: 0, 8, 6, 14, 0, −4, 0, 12, −7, 0, −10 lassen sich die gebräuchlichsten statistischen Berech-
Summe des Datensatzes: 19 nungen durchführen, ohne eine Formel eingeben zu
Anzahl der Werte: 11 müssen. Funktionen werden immer mit einem Ist-
Mittelwert ist: 19/11=1,72 gleich-Zeichen aktiviert. Die Funktion Mittelwert
wird in Excel daher als =MITTELWERT dargestellt.
Der Mittelwert reagiert empfindlich auf Ausreißer Genauso wäre der Mittelwert über einen Formel
in den Daten. Siehe dazu Beispiel bei „Median“. Der in Excel zu realisieren: =SUMME (Datenbereich)/
Mittelwert (arithmetisches Mittel) kann sinnvoll Anzahl Datenfelder. Mit dem Setzen eines Ist-gleich-
erst ab intervallskalierten Daten berechnet werden Zeichen schlägt Excel immer von sofort die am häu-
(7 Abschn. 2.4.1)! Trotzdem werden in Studien immer figsten verwendeten Funktionen vor.
7.4 · Auswertung quantitativer Daten
195 7

. Tab. 7.13 Arten des Modalwertes

Art Beschreibung

Unimodal Eingipfelig, 1 Wert kommt alleine am häufigsten vor


Bimodal Zweigipfelig, 2 Werte kommen gemeinsam am häufigsten vor
Multimodal Mehrgipfelig, 3 oder mehr Werte kommen gemeinsam am häufigsten vor

z z Median = 50. Perzentile


Der Median (Prozentrang oder 50. Quartile) ist der Berechnung mit Excel
Wert, der genau in der Mitte der Daten liegt. Er ist Rohdaten Eintragen → einem leeren Feld
dadurch unempfindlicher gegenüber Extremwer- Funktion einfügen „Median“ → gültigen
ten als der Mittelwert. Aus diesem Grund wird der Bereich markieren
Median vor allem dann angegeben, wenn die Daten
nicht normalverteilt sind. Der Median kann bereits
bei Skalierungen auf Ordinalniveau angegeben z z Modalwert = am häufigsten vorkommender Wert
werden. Der Modalwert ist der am häufigsten vorkommende
Wert innerhalb eines Datensatzes. Es wird zwischen
Beispiel unimodalen, bimodalen und multimodalen Werten
Datensatz: 0, 8, 6, 14, 0, −4, 0, 12, −7, 0, −10. Für die unterschieden (. Tab. 7.13).
Berechnung des Medians müssen die Daten zuerst
in die sortierte Reihenfolge gebracht werden: −10, Beispiel
−7, −4, 0, 0, 0, 0, 6, 8, 12, 14. Der Median ist nun der Datensatz: 0, 8, 6, 14, 0, −4, 0, 12, −7, 0, −10. Der Wert
Wert genau in der Mitte: 0. 0 kommt 4-mal vor. Die anderen Werte jeweils nur
1-mal. Der Modalwert (auch Modus) ist in unserem
Warum ist der Median robuster gegen Extremwerte? Beispiel dadurch der Wert 0.
Angenommen, es gäbe bei unserem Datensatz
einen Extremwert, der in unserem Beispiel mit
100 angegeben wird. Der Datensatz würde dann Berechnung mit Excel
so aussehen: −10, −7, −4, 0, 0, 0, 0, 6, 8, 12, 14, Bei unimodalen Werten: Rohdaten eintragen →
100. Der Mittelwert würde sich dann von dem einem leeren Feld Funktion einfügen: „Modus.
vorigen Datensatz deutlicher unterscheiden als Einf“ → gültigen Bereich markieren.
der Median: Wenn zwei- oder mehrgipfelig: Rohdaten →
4 Mittelwert: 119/12=9,92 (statt vorher 1,72) mehrere Felder markieren (Anzahl der zu
4 Median: 0 (gleicher Wert wie vorher) erwartenden Gipfel) → Funktion „Modus.
Vielf“ → gültigen Bereich markieren → in
Daher ist der Median robuster gegenüber diesem Befehlszeile Cursor ganz ans Ende setzen
Extremwert. und Strg+Umschalt+Enter drücken (für
Falls der Median eines Datensatzes mit Matrixfunktion).
einer geraden Anzahl an Fällen berechnet werden
soll, dann liegen 2 Fälle „genau“ in der Mitte.
In diesem Fall ist der Median der Mittelwert Streuungsmaße
dieser beiden Fälle. In dem Fall mit den Extrem- Das Streuungsmaß beschreibt die Streubreite von
werten wäre die Berechnung: (0+0)/2=0 für den Werten um einen Lageparameter herum, d. h. er sagt
Median. aus, wie weit die Daten auseinanderliegen (. Tab. 7.14).
196 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

. Tab. 7.14 Streuungsmaße

Perzentil Spannweite (Range) Interquartilsabstand Standardabweichung (SD)


(Interquartilrange, IQR)

Prozentsatz der Fälle, über Schwankungsbreite Ausmaß der Durchschnittliche


den ein gegebener Wert der Werte Schwankungsbreite der Abweichung der Werte
hinausgeht mittleren 50 % der Werte vom Mittelwert

z z Perzentile
Die Perzentile ist der Prozentsatz der Fälle, über den Berechnung mit Excel
ein gegebener Wert hinausgeht. In Befehlszeile Eingeben: = MAX(Werte mar-
kieren) − MIN(Werte markieren)
7 Beispiel
Datensatz: 0, 8, 6, 14, 0, −4, 0, 12, −7, 0, −10. Die 50.
Perzentile wäre in diesem Beispiel der Median, also
der Wert genau in der Mitte = 0. z z Interquartilsabstand
(Interquartilsrange, IQR)
Die Berechnung mit Excel erfolgt wie bei IQR (mit Die IQR ist das Ausmaß der Schwankungsbreite der
Angabe der gewünschten Perzentile, s. unten. mittleren 50 % der Werte. Die IQR wird in Kombina-
tion mit dem Median angegeben. Berechnung: IQR
= Quartile 0,75 (= 75. Prozentrang) – Quartile 0,25
(= 25. Prozentrang). Die IQR ist stabiler als die Range
Berechnung mit SPSS gegenüber Extremwerten.
„Analysieren“, „Deskriptive Statistiken“,
„Explorative Datenanalyse“, Variabel einspielen, Beispiel
„Statistiken“, „Perzentile“ Datensatz: 0, 8, 6, 14, 0, −4, 0, 12, −7, 0, −10
Wenn für jede eine einzelne: „Analysieren“, 75. Prozentrang = 8; 25. Prozentrang = −4; IQR:
„Deskriptive Statistiken“, „Häufigkeiten“, 8–(−4)=12
„Häufigkeitstabelle“, die kumulierten Prozent
geben die Perzentile an.
Berechnung mit Excel
=QUARTILE(Werte;0,75) − QUARTILE(Werte;0,25)
z z Spannweite (Range) Cave: Excel zieht immer den oberen
Wert hinzu, d. h. die IQR ist nicht korrekt!
Die Range ist das Ausmaß der Schwankungsbreite Empfehlung: entweder händisch
der Werte. Berechnet wird der Wert, indem der (Daten müssen gereiht sein!) oder
geringste Wert vom höchsten Wert abgezogen wird. mittels SPSS.
Wie auch der Mittelwert ist dieser Wert sehr instabil
gegenüber Extremwerten. Berechnung mit SPSS
„Analysieren“, „Deskriptive Statistiken“,
Beispiel „Explorative Datenanalyse“, Variabel
Datensatz: 0, 8, 6, 14, 0, −4, 0, 12, −7, 0, −10 einspielen, „Optionen“, „Paarweiser
Höchster Wert 14, niedrigster Wert −10, Range: Fallausschluss“
14–(−10)=24
7.4 · Auswertung quantitativer Daten
197 7
Warum ist die IQR robuster gegen Extremwerte?
Angenommen, es gibt in unserem Datensatz Bestimmung der Normalverteilung
einen Extremwert, der in unserem Beispiel mit mit Excel
100 angegeben wird. Der Datensatz würde fol- Die Normalverteilung wird in Excel durch das
gende Werte beinhalten: −10, −7, −4, 0, 0, 0, 0, visuelle Inspizieren der Kurve bestimmt: Daten
6, 8, 12, 14, 100. Die Range würde sich dann eintragen, Klassen (nach denen die Häufigkeit
vom vorigen Beispiel deutlicher unterscheiden gereiht wird) eingeben; „=Häufigkeiten“,
als die IQR. Matrixfunktion (siehe Modalwert), dann
4 Range: 100–(−10)=110 (statt vorher 24) Diagramm zeichnen.
4 IQR: 12 (gleicher Wert wie vorher)
Bestimmung der Normalverteilung
Daher ist die IQR robuster gegenüber dieses mit SPSS
Extremwerts. „Analysieren“, „Nicht parametrische Tests“,
„Alte Dialogfelder“ (alternativ „Eine
z z Standardabweichung (SD, „standard Stichprobe“), „K-S bei einer Stichprobe“. Wenn
deviation“) der Kolmogorow-Smirnow-Test signifikant
Die Standardabweichung ist die durchschnittlich ist, sind die Daten nicht normalverteilt. Wenn
Abweichung der Werte vom Mittelwert. Eine Darstel- der Test nicht signifikant ist, sind die Daten
lung der Standardabweichung muss immer gemein- normalverteilt. Alternativ bzw. zusätzlich kann
sam mit dem Mittelwert erfolgen. Die SD basiert auf auch eine Sichtung der Normalverteilung
dem Konzept der Normalverteilung. 1 SD=68 % aller anhand von Histogrammen durchgeführt
Fälle um den Mittelwert, 2 SD = 95 %, 3 SD = 99,7 %. werden.
Individuelle Messwerte können daher bezogen auf
die SD interpretiert werden.

Beispiel SPSS-Berechnung verschiedener


Datensatz: 0, 8, 6, 14, 0, −4, 0, 12, −7, 0, −10 statistischer Werte
Mittelwert 1,72; SD 7,56 Median, Mittelwert, Modalwert, Standardabwei-
Angegeben wird die SD meist in dieser Form: chung, Varianz, Range (Spannweite), Standardfeh-
1,72±7,56 ler des Mittelwerts, Minimum und Maximum sowie
die Perzentile können wie folgt in SPSS berechnet
werden:
Berechnung mit Excel Variable definieren (Variablenansicht), Roh-
=STABWA(Werte) werte eingeben (Datenansicht), „Analysieren“
(Menüleiste), „Deskriptive Statistik“ wählen, „Häu-
figkeiten“ wählen, Variablen hinzufügen, „Statistik“
z z Normalverteilung wählen (dort gewünschte Berechnungen anklicken),
Unter dem Begriff Normalverteilung wird eine uni- auf „Weiter“ und dann auf „Ok“ klicken.
modale, symmetrische Kurve bezeichnet, die der
Gaußschen Glockenkurve entspricht. Dies bedeutet,
dass der Mittelwert, der Median und der Modalwert 7.4.2 Induktive Statistik
ident sind. Normalverteilungen haben verschiedene
typische Erscheinungsformen: Sie können schief sein Nachdem die Daten beschrieben wurden, bietet die
(positiv schief – z. B. Einkommen; negativ schief – induktive oder Interferenzstatistik die Möglichkeit,
z. B. Sterbealter), die Krümmung (Kurtosis) kann die Daten bezogen auf die Grundgesamtheit zu schät-
spitz (z. B. Schuhgrößen) oder flach (z. B. Körper- zen, signifikante Unterschiede oder Zusammen-
größen) sein. hänge zu suchen.
198 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

. Tab. 7.15 Fehlermöglichkeiten bei Signifikanztests

In Wirklichkeit ist H0 korrekt In Wirklichkeit ist H0 nicht korrekt

Der Signifikanztest ergibt, dass Die Annahme entspricht der Typ-II-Fehler


H0 korrekt ist Wirklichkeit
Der Signifikanztest ergibt, dass Typ-I-Fehler Die Annahme entspricht der
H0 nicht korrekt ist Wirklichkeit

H0 = Nullhypothese, d. h. es existiert kein signifikanter Unterschied

Tests zur Berechnung von 4 Ein Typ-I-Fehler (α-Fehler) ist die Verwerfung
Unterschieden der eigentlich zutreffenden Nullhypothese.
Sollen Unterschiede dargestellt werden, soll also Um einen Typ-I-Fehler zu vermeiden, müssen
7 beschrieben werden, wie sich 2 oder mehr Gruppen zur die Messinstrumente eine gute Güte haben,
Baseline (am Beginn einer Studie) und/oder nach einer und es müssen alle notwendigen Aspekte, die
Intervention voneinander unterscheiden, dann müssen Hypothese betreffend, erhoben werden.
Tests zur Berechnung von Unterschieden durchgeführt 4 Ein Typ-II-Fehler (β-Fehler) ist die Annahme
werden. Hierbei unterscheidet man parametrische und der falschen Nullhypothese. Um einen Typ-II-
nicht parametrische Tests. Voraussetzungen für das Fehler zu verhindern, muss die Stichprobe groß
Anwenden von parametrischen Tests: genug sein.
4 intervall- oder rational-skalierte Daten
4 Daten müssen normalerteilt sein Direkt kann nur der Typ-I-Fehler kontrolliert werden.
4 ausreichende Teilnehmeranzahl Der Typ-II-Fehler ist abhängig vom Typ-I-Fehler (je
kleiner der Typ-I-Fehler, desto größer der Typ-II-Feh-
Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, müssen ler), von der Stichprobengröße (je größer die Stichprobe,
nicht parametrische Tests durchgeführt werden. desto geringer der Typ-II-Fehler) und von der Größe der
Werden Tests zur Berechnung von Unterschie- Differenz der Parameter, die getestet werden (je größer
den durchgeführt, wird als Ergebnis ein p-Wert die Differenz, desto kleiner der Typ-II-Fehler).
(„probability“) ausgegeben. Dieser gibt den Signi-
fikanzwert an. Liegt der p-Wert eines statistischen z z Welcher Test soll angewendet werden?
Tests unter dem angegebenen Signifikanzniveau, Dies ist, wie in . Abb. 7.25 dargestellt, abhängig von
spricht man von einem signifikanten Unterschied. der Art der Stichprobe (verbundene oder unverbun-
Befindet sich dieser Wert über dem Signifikanz- dene Stichprobe), von der Anzahl der zu vergleichen-
niveau, spricht man davon, dass der Unterschied zwi- den Gruppen, vom Skalentyp und von der Verteilung
schen den beiden Gruppen auf den Zufall zurück- der Daten. Der dargestellte Entscheidungsbaum soll
zuführen ist und nicht beispielsweise durch eine bei der Suche nach den richtigen Tests und deren
Intervention herbeigeführt wurde. Das Ergebnis ist Bedingungen eine Hilfestellung darstellen.
somit nicht signifikant. Üblicherweise wird das Sig-
nifikanzniveau mit 5 % angegeben. Der p-Wert muss Parametrische Tests
also kleiner oder gleich 0,05 sein, damit von einem z t-Test für unabhängige Stichproben
signifikanten Unterschied gesprochen werden kann. Dies ist ein parametrischer Test, der Mittelwerte
unabhängiger Gruppen auf signifikante Unter-
z z Fehlermöglichkeiten bei der Durchführung schiede testet.
von Signifikanztests
Beim Testen von Hypothesen können Fehler auftre- z t-Test für verbundene Stichproben
ten. Die Fehler werden eingeteilt in Typ-I- und Typ- Dies ist ein parametrischer Test, der Mittelwerte abhän-
II-Fehler (. Tab. 7.15). giger Gruppen auf signifikante Unterschiede testet.
7.4 · Auswertung quantitativer Daten
199 7
nein
Kruskal-Wallis-Test

Noralverteilt?
nein
Einfache Varianzanalyse
ja
Verbundene
Stichprobe?
nein
Friedman-Test
ja
Normalverteilt?
nein
Varianzanalyse für Messwiederholungen
ja

2 Gruppen?
nein
Mann-Whitney-U-Test
ja
Normalverteilt?
nein
t-Test für unverbundene Stichproben
ja
Verbundene
nein Stichprobe?
nein
Wilcoxon-Test
Daten nominal (oder ja
ordinal)?
Normalverteilt?

t-Test für verbundene Stichproben


ja ja

nein
Chi-Quadrat-Test

Verbundene
Stichprobe?
nein
Q-Test von Cochran
ja
2 Gruppen?

nein
Chi-Quadrat-Test / Exakter Fisher-Test
ja
Verbundene
Stichprobe?

McNemar-Test
ja

. Abb. 7.25 Entscheidungsbaum für die Auswahl eines statistischen Tests

z ANOVA
Die ANOVA ist ein parametrischer Test für mehr als „t-Test bei unabhängigen
2 Stichproben. Stichproben“, abhängige Variable
hinzufügen, Gruppenvariable
hinzufügen und Gruppen
Berechnungen für t-Test/ANOVA definieren
SPSS 5 bei abhängigen Stichproben
5 Bei unabhängigen Stichproben: (korrelierter T-Test): „Analysieren“,
Gruppenvariable muss definiert sein, „Mittelwerte vergleichen“, „t-Test
„Analysieren“, „Mittelwerte vergleichen“, bei verbundenen Stichproben“.
200 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

Nicht parametrische Tests


5 ANOVA: „Analysieren“, „Mittelwerte z Exakter Fisher-Test
vergleichen“, „ANOVA“, Variablen und Alternativ zum Chi-Quadrat-Test können Grup-
Gruppen hinzufügen, „Optionen“, penunterschiede bei Daten mit Nominalskalierung
„Varianzhomogenität“ aktivieren auch mittels exaktem Fisher-Test berechnet werden.
(Levene-Test darf nicht signifikant Voraussetzung hierfür ist das Vorliegen einer 2×2-
sein), „ok“ Tabelle. Der exakte Test nach Fisher ist vor allem bei
kleineren Stichproben dem Chi-Quadrat-Test vor-
Excel zuziehen. SPSS berechnet zusätzlich zu den Unter-
5 =T.TEST(Werte1;Werte2;Seite;Typ) schieden auf Basis des Chi-Quadrat-Tests auch den
5 Werte: sind die Werte der Gruppen exakten Fisher-Test bei Vorliegen einer 2×2-Tabelle.
5 Seite: Vermute ich eine Tendenz, Es ist keine zusätzliche Eingabe zu jener des Chi-
also eine direktionale Hypothese, Quadrat-Test ist nötig.
dann muss hier einseitig (also eine 1)
eingetippt werden. Ist dies nicht klar, z McNemar-Test
7 wird zweiseitig geprüft, und es muss Zur Berechnung von Gruppenunterschieden zwi-
ein 2 eingegeben werden schen 2 verbundenen Gruppen für nominale Daten
5 Typ: Welche Art der Analyse soll wird der McNemar-Test verwendet.
durchgeführt werden?
– 1 = gepaarte/verbundene Stichprobe
– 2 = 2 Stichproben mit gleicher Varianz Berechnung in SPSS
– 3 = 2 Stichproben mit unterschiedlicher „Analysieren“, „Deskriptive Statistik“,
Varianz (d. h. es muss im Vorfeld eine „Kreuztabellen“, Variablen eingeben, „Statistiken“,
Varianzanalyse stattfinden.) „McNemar“ anklicken. Es werden die Kreuztabelle
Testen auf Varianzhomogenität in Excel sowie die Signifikanzwerte ausgegeben.
Dies ist die Bedingung für eine ANOVA bzw.
für „Typ 2“ bei einem t-Test)
5 =FTEST(Werte1;Werte2); Ergebnis muss z Q-Test von Cochran
dann noch durch 2 dividiert werden Zur Berechnung von Gruppenunterschieden
(da ein gerichteter Wert). Wenn ein zwischen mehr als 2 verbundenen Gruppen für
signifikanter Unterschied, dann besteht nominale Daten findet der Q-Test von Cochran
eine Varianzheterogenität, wenn kein Verwendung.
signifikanter Unterschied, besteht eine
Varianzhomogenität.
5 ANOVA: „Extras“ (alte Versionen) oder Berechnung in SPSS
„Entwicklertools“ (neue Versionen) auf „Analysieren“, „Nichtparametrische Tests“, „Alte
„Add ins“ drücken; „Analysefunktion“ Dialogfelder“, „K verbundene Stichproben“,
aktivieren. Dann auf „Daten“ wechseln, Testvariablen einfügen, „Cochran-Q“ anhaken.
„Datenanalyse“ Es werden die Häufigkeiten sowie der
5 dann „Einfaktorielle Varianzanalyse“ Signifikanzwert ausgegeben.
für eine unabhängige Variable (z. B.
Auswirkungen des Rauchens auf
Nervosität) z Kruskal-Wallis-Test
5 oder „Zweifaktorielle Varianzanalyse“ Zur Berechnung von Gruppenunterschieden zwi-
für 2 unabhängige Variablen (z. B. schen mehr als 2 unverbundenen Gruppen mit met-
Auswirkungen des Rauchens und rischen (oder ordinalen) Daten, die eine beliebige
Kaffeetrinkens auf die Nervosität) Verteilung aufweisen, wird der Kruskal-Wallis-Test
verwendet.
7.4 · Auswertung quantitativer Daten
201 7

Berechnung in SPSS Berechnung mit Excel


„Analysieren“, „Nichtparametrische Tests“, „Alte Es müssen in der Kreuztabelle „Summen“
Dialogfelder“, „K unabhängige Stichproben“, vertikal und horizontal erstellt werden
eine oder mehrere Testvariablen einfügen, =SUMME(Werte) (= beobachtete
Gruppenvariable einfügen, Bereich der Messwerte). Es müssen nun für jede Zeile die
Gruppenvariable definieren, „Kruskal-Wallis-H“ Prozentzahlen errechnet werden =
anhaken. Es werden die Ränge der Testvariablen Teil-/Gesamtsumme (wie viele haben
sowie die Signifikanzwerte ausgegeben. insgesamt diese Antwort [relativ] gegeben?).
Aus diesen Werten muss die „zu erwartende
Anzahl“ errechnet werden, d. h, es
z Friedman-Test werden die eben errechneten Werte
Zur Berechnung von Gruppenunterschieden zwi- mit der jeweiligen Gesamtanzahl pro
schen mehr als 2 verbundenen Gruppen mit metri- Geschlecht multipliziert (die dabei
schen (oder ordinalen) Daten, die eine beliebige Ver- entstehende Matrix muss genauso
teilung aufweisen, wird der Friedman-Test verwendet. aufgebaut sein wie die obere Matrix).
Zum Schluss =CHITEST(beobachtete
Werte;erwartete Werte) eingeben.
Berechnung in SPSS
„Analysieren“, „Nichtparametrische Tests“,
„Alte Dialogfelder“, „K verbundene z Mann-Whitney-U-Test
Stichproben“, Testvariablen einfügen, Wenn Gruppenunterschiede für 2 unabhängige
„Friedman“ anhaken. Es werden die Ränge Stichproben mit Daten auf Intervallniveau (nicht
sowie der Signifikanzwert ausgegeben. normalverteilt) oder Ordinalniveau (bei 2 abhängi-
gen wäre der Wilcoxon-Test vorzuziehen) berechnet
werden sollen.
z Varianzanalyse für Messwiederholungen
Zur Berechnung von Gruppenunterschieden zwischen
mehr als 2 verbundenen Gruppen mit metrischen (oder Berechnung mit SPSS
ordinalen) Daten (mit vielen Ausprägungen), die eine „Analysieren“, „Nichtparametrische Tests“,
Normalverteilung aufweisen, wird die Varianzanalyse „Alte Dialogfelder“, „2 unabhängige
für Messwiederholungen verwendet. Diese Auswertung Stichproben“, in Testvariable die
ist jedoch diffizil. Bei wenigen Merkmalsausprägungen abhängige Variable, in Gruppenvariable die
kann ein Chi-Quadrat-, McNemar- oder Q-Test von unabhängige Variable einfügen (werden
Cochran empfehlenswert sein. mehrere Testvariablen eingegeben,
dann werden auch mehrere Mann-Whit-
z Chi-Quadrat-Test ney-U-Tests durchgeführt), den
Wenn Gruppenunterschiede bei nominalen oder Test anklicken.
ordinalen skalierten Daten berechnet werden sollen.
Berechnung mit Excel
Sehr aufwendig. Es wird empfohlen, diesen
Berechnung mit SPSS Test über SPSS durchzuführen.
„Analysieren“, „Deskriptive Statistiken“,
„Kreuztabellen“, Werte eingeben,
„Statistiken“, „Chi-Quadrat“ anklicken. z Wilcoxon-Test
Es werden Kreuztabelle und Signifikanzwert Wenn Gruppenunterschiede für 2 abhängige Stich-
ausgegeben. proben mit ordinalskalierten Daten berechnet
werden sollen.
202 Kapitel 7 · Quantitative Forschung

Berechnung mit SPSS SPSS


„Analysieren“, „Nichtparametrische Tests“, „Alte „Analysieren“, „Korrelation“, „Bivariat“, Variablen
Dialogfelder“, „2 verbundene Stichproben“, die hinzufügen, entsprechendes Analyseverfahren
Variablen einfügen, „Wilcoxon-Test“ mit einem wählen:
Häkchen markieren, „ok“. 5 Pearson: häufigster Test, allerdings nur
möglich für Intervall- oder Ratioskalen
5 Kendall-Tau-b: bei Nominal- und
Beziehungen zwischen Variablen Ordinalskalen, wenn die Anzahl der Werte
Eine Korrelationsanalyse beschreibt einen Zusam- sehr gering ist
menhang zwischen 2 oder mehreren Variablen. 5 Spearman: wie Kendall-Tau-b, aber bei
Unter einem Korrelationskoeffizienten wird jene kleinen Stichproben empfindlicher auf
Kennzahl verstanden, die ein Maß für diese Bezie- Extremwerte als der Kendall-Tau-b
hung darstellt. Wichtig ist, dass eine Korrelation
keinen kausalen Zusammenhang bedingt. Auch aus
7 einem hohen Korrelationskoeffizienten (= starker Regressionsanalysen berechnen den Einfluss einer
Zusammenhang in entweder positiver oder negati- oder mehrerer unabhängiger Variablen auf eine
ver Richtung) folgt nicht, dass es auch eine eindeutige abhängige. Dabei können Zusammenhänge darge-
Ursache-Wirkungs-Beziehung gibt. Der Zusammen- stellt oder Werte der abhängigen Variablen voraus-
hang kann auch durch Zufall bedingt sein. Als Bei- bestimmt werden.
spiel wird oft ein höheres Auftreten von Störchen und
eine höhere Geburtenrate verwendet (Sies 1988). Da
aber Störche nicht die Kinder bringen, besteht keine Regressionsanalyse mit SPSSS
Ursache-Wirkungs-Beziehung. „Analysieren“, „Regression“, „Linear“, abhängige
Es wird zwischen positiven und negativen Kor- Variable einfügen und die Variablen, die ich
relationen unterschieden: dazu korrelieren will, einfügen. In Statistiken
4 Übereinstimmung = positive Korrelation: „Deskriptive Statistik“ aktivieren, in Diagramme
Je mehr Merkmal A, desto mehr Merkmal B. „Histogramm“ aktivieren.
4 Gegensatz = negative Korrelation: Beispiel:
Je mehr Merkmal A, desto weniger
Merkmal B.
Literatur
4 Unabhängig = keine Korrelation: Beispiel:
Merkmal A verändert sich unabhängig von Literatur zu Abschn. 7.1
Merkmal B.
Bartholomeyczik S, Müller E (1997) Pflegeforschung verste-
hen. Urban & Schwarzenberg, München
Korrelationen nehmen immer Werte zwischen Lienert G (1989) Testaufbau und Testanalyse. Psychologie,
0 und 1 für positive Korrelationen und 0 und −1 für München
negative Korrelationen an. 0 Steht in diesem Fall für Mayer H (2002) Einführung in die Pflegeforschung. Facultas,
Wien, S 78–79
0 % und 1 für 100 % Korrelation. Prinzipiell wird ab
Mayer H (2007) Pflegeforschung kennenlernen. Elemente und
einem Wert von 0,3 bzw. −0,3 von einer Korrelation Basiswissen für die Grundausbildung. Facultas, Wien
gesprochen. Werte zwischen −0,3 und 0,3 werden Wilke H (1998) Systemisches Wissensmanagement. UTB/
im Normalfall als keine Korrelation beschrieben. Lucius & Lucius, Stuttgart
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Berechnung von Korrelationen bei 2 Literatur zu Abschn. 7.2


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207 8

Reviews
Agnes Sturma, Valentin Ritschl, Silke Dennhardt, Tanja Stamm

8.1 Wann werden Literaturreviews durchgeführt? – 208

8.2 Themenstellungen für Literaturreviews als eigene


Forschungsprojekte – 208

8.3 Arten von Literaturreviews – 209


8.3.1 Systematische Literaturreviews – 209
8.3.2 Metaanalysen – 209
8.3.3 Scoping Review – 209
8.3.4 Realist Review – 210
8.3.5 Metasynthese – 210
8.3.6 Metasummary – 210
8.3.7 Metaethnographie – 211
8.3.8 Integrative Reviews – 211
8.3.9 Metanarrative Reviews – 211
8.3.10 Metaempirische Reviews – 211

8.4 Welche Schritte müssen bei einem Literaturreview


eingehalten werden? – 212
8.4.1 Schritt 1: Identifizierung und Formulierung einer geeigneten
Problem- und Fragestellung – 212
8.4.2 Schritt 2: Identifizierung relevanter Literatur durch
eine umfassende Literaturrecherche – 212
8.4.3 Schritt 3: Selektion relevanter Literatur und kritische
Bewertung – 215
8.4.4 Schritt 4: Darstellung, Analyse und Zusammenfassung
der Literatur – 216
8.4.5 Schritt 5: Interpretation und Präsentation der Ergebnisse – 219

8.5 Stärken und Schwächen von Literaturreviews – 219

Literatur – 220

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5_8
208 Kapitel 8 · Reviews

Definition Standards. Dieses Kapitel bezieht sich auf Reviews


Literaturreviews stellen eine kritische als eigene Forschungsprojekte.
Auseinandersetzung mit bereits bestehendem In einigen Quellen wird als Zwischenform
Material dar. Material bedeutet in diesem von kontextualisierenden Reviews und eigenstän-
Zusammenhang bereits publizierte, mit digen systematischen Literaturarbeiten noch das
Ausnahmen auch nicht im klassischen sog. traditionelle Review genannt. Hierbei handelt
Sinne publizierte Studien wie etwa es sich um eine gezielte Auswahl und Zusammen-
Forschungsberichte oder Konferenzartikel führung von Studien ohne eine explizite Methodik.
(sog. graue Literatur). Literaturreviews können Im Gegensatz zum kontextualisierenden Review
somit eine weitere Forschungsmethode sind traditionelle Reviews aber eigene Studien
darstellen, mit der bestimmte Fragestellungen und nicht nur die Einleitung einer Arbeit. Da hier
in einer Studie beantwortet und neue eine sehr subjektive Darstellung von Ergebnissen
wissenschaftliche Erkenntnisse generiert geschieht, die meist dazu dient, Positionen zu ver-
werden können (Daudt et al. 2013, Higgins deutlichen oder Debatten anzuregen, kann diese Art
u. Green 2008, Rumrill et al. 2010, Rumrill u. der Reviews auch als Expertenmeinung gerechnet
Fitzgerald 2001). werden.

8 8.2 Themenstellungen für


8.1 Wann werden Literaturreviews Literaturreviews als eigene
durchgeführt? Forschungsprojekte

Literaturreviews werden immer dann verfasst, wenn Mithilfe von Literaturreviews können Übersichts-
sich die Forscherin oder der Forscher einen Über- arbeiten zu unterschiedlichsten Themen erstellt
blick über die bisherige Literatur verschaffen will. werden. Einige Beispiele sind:
Dabei wird zwischen kontextualisierenden Reviews 4 Zusammentragen und Synthetisieren von
und Literaturreviews als eigenständige Forschungs- Definitionen, wie beispielsweise die Studie von
projekte unterschieden. Laulan et al. (2011), um einen Überblick über
Kontextualisierende Reviews stehen am Anfang Definitionen des Schultergürtelkompressions-
eines jeden Forschungsprojekts und bilden meist die syndroms zu erstellen
Einleitung von empirischen Arbeiten. Durch sie wird 4 Darstellen von Kosteneffizienz, wie beispiels-
der Kontext der eigenen Forschung dargelegt und weise in der Studie von Angell et al. (2014),
die Studie so im Forschungsfeld positioniert. Das in der die Kosteneffizienz von Interventionen
beinhaltet die Auseinandersetzung mit der bereits innerhalb einer indigenen Bevölkerung
vorhandenen Literatur und damit den vorhande- beforscht wurde
nen Forschungslücken, aus denen sich die Relevanz 4 Zusammentragen von Anwendungsbereichen
der Fragestellung der eigenen Studie ableitet. Dabei und Gütekriterien von Assessments (7 Kap. 11)
handelt es sich in der Regel nicht um ein Review mit 4 Erstellen von Anforderungskatalogen
einem spezifischen methodischen Vorgehen, aber bezüglich technischer Entwicklungen, wie
um eines, indem systematisch, d. h. wissenschaft- beispielsweise die Studie von Ritschl (2015), in
lich gearbeitet wird. der ein Anforderungskatalog für einen Pflege-
Im Gegensatz hierzu stehen Reviews als eigene roboter erstellt wurde
Forschungsprojekte. Diese Reviews sind geleitet 4 Zusammentragen früherer Forschungs-
durch eine vorher festgelegte Methode und zielen arbeiten, um dem Leser und der Leserin den
darauf ab, eine bestimmte Fragestellung zu beant- Stand der aktuellen Forschung zu präsentieren,
worten. Sie stellen eigene Studien dar, produzieren wie beispielsweise in den Studien von Yu und
neue Erkenntnisse und unterliegen ebenso wie empi- Mathiowetz (2014a, b), in denen der aktuelle
rische Studien (Originalarbeiten) methodischen Forschungsstand von ergotherapeutischen
8.3 · Arten von Literaturreviews
209 8
Interventionen bezüglich multipler Sklerose durch die Zusammenführung aller vorhandenen
zusammengetragen wurde Evidenzen zu treffen. Damit lässt sich zusätzlich
4 Aufzeigen von Zusammenhängen, Wider- auch eine Aussage über eventuell vorhandene For-
sprüchen, Lücken oder Inkonsistenzen, wie schungslücken treffen. Um eine hohe Qualität der
beispielsweise in der Studie von Bagayoko und eingeschlossenen Studien zu gewährleisten, werden
Brockmeier (2012), in der der Umgang mit in die Analyse zumeist nur randomisierte, kontrol-
Epikondylitis diskutiert wird lierte Studien (RCT) eingeschlossen.

8.3 Arten von Literaturreviews 8.3.2 Metaanalysen

Abhängig von der Themenstellung und der vorhan- Während traditionelle systematische Reviews quan-
denen Literatur werden unterschiedliche Arten von titative Studien beschreibend zusammenfassen,
systematischen Literaturarbeiten unterschieden. bilden Metaanalysen eine mathematische Möglich-
Dies kann abhängig sein vom Zweck des Reviews, keit, die Ergebnisse von vielen einzelnen Studien zu
von der Art der eingeschlossenen Studien, von der einem Gesamtergebnis zu vereinen. Die Metaanalyse
Fragestellung, vom untersuchten Phänomen sowie erschafft so eine Gesamtevidenz, die alle Einzelstu-
von der zugrunde liegenden Intention (Booth et al. dien umfasst (Borenstein et al. 2009, Gough 2007,
2012). Allen ist gemeinsam, dass sie auf einer klaren Khan et al. 2013). Im Idealfall können die Autoren
und expliziten Forschungsmethodologie beruhen und Autorinnen für die Berechnung die Original-
und von dieser geleitet werden (Gough 2007, Jesson daten der einzelnen Studien nutzen. In der Praxis
et al. 2011). Eine weitere zentrale Charakteristik stehen allerdings vielfach nur die Daten in der Form,
besteht in der konkreten Forschungsfrage, die mit- in der sie publiziert wurden, zur Verfügung. Durch
hilfe der Literatur beantwortet werden soll. Die Ziel- die nun wesentlich größere Anzahl an Probanden
setzung umfasst dabei nicht nur die bloße Auflistung und Ergebnissen, mit denen die statistischen Tests
von gefundenem Wissen, sondern auch das Gene- neu gerechnet werden können, kann es auch vor-
rieren von zusätzlichen Erkenntnissen (Al-Nawas kommen, dass sich bei der Metaanalyse neue sig-
et al. 2010). nifikante Ergebnisse zeigen, die aufgrund der klei-
Die wichtigsten Formen werden im Folgenden neren Fallzahlen in keiner Einzelstudie beobachtet
erläutert. Dabei muss allerdings beachtet werden, werden konnten. Inhaltlich steht auch bei der Meta-
dass in der Literatur bei vielen Formen von Reviews analyse das Aufzeigen der Evidenzlage bzw. die Effek-
keine oder mehrere gültige Definitionen und Vor- tivitätsbewertung im Mittelpunkt. Oftmals werden
gehensweisen bestehen. Daher ist eine allgemein daher in der wissenschaftlichen Praxis systematische
gültige Beschreibung nicht möglich. Reviews mit Metaanalysen kombiniert. Allerdings ist
dennoch nicht jedes systematische Review auch eine
Metaanalyse (Al-Nawas et al. 2010).
8.3.1 Systematische Literaturreviews

Im deutschen Sprachraum wird der Terminus „sys- 8.3.3 Scoping Review


tematisches Literaturreview“ sowohl als Überbe-
griff für alle Formen von strukturierter und einer Scoping Reviews erlauben einen schnellen Überblick
bestimmten Methodologie folgenden Literaturarbei- über die existierende Literatur (Arksey u. O'Malley
ten verwendet als auch als eine eigenständige Unter- 2005). Der große Unterschied zu den anderen hier
form. In weiterer Folge wird hier unter den systema- beschriebenen Reviewarten ist, dass Scoping Reviews
tischen Literaturreview („systematic review“) eine nicht nur auf Peer-Review-Journale beschränkt sind.
spezielle Unterform zur Literatursynthese betrach- Es ist üblich, bei Scoping Reviews auch graue bzw.
tet. Sie fasst quantitative Studien zusammen, um eine unveröffentlichte Literatur einzuarbeiten. Während
Aussage bezüglich der Effektivität einer Maßnahme bei systematischen Reviews eine größere Anzahl von
210 Kapitel 8 · Reviews

Publikationen, im Idealfall RCT, vorhanden sein Bewertung der Evidenzlage erweitern realistische
muss, eignet sich der Scoping Review daher auch für Reviews also die Frage, ob eine Maßnahme effektiv ist
Themengebiete, bei denen es kaum „wissenschaft- oder nicht, um einige Aspekte, die für das therapeu-
liche“ Literatur gibt. Für Scoping Reviews ergeben tische Setting sehr relevant sind (Pawson et al. 2005):
sich daher 4 Haupteinsatzgebiete (Daudt et al. 2013): Was von dieser Intervention funktioniert? Für wen?
4 um das Ausmaß und die Bandbreite von Unter welchen Umständen? Und warum (nicht)?
Forschungstätigkeit zu erheben,
4 als Vorstudie, ob ein vollständiger systematischer
Review bzw. eine Metaanalyse angebracht ist, 8.3.5 Metasynthese
4 um Forschungsergebnisse zusammenzufassen
und zu veröffentlichen und Da in den Gesundheitsberufen die qualitative For-
4 um Wissenslücken in der bestehenden schung ebenfalls einen hohen Stellenwert hat, wurde
Literatur zu identifizieren. mit der Emanzipation der nicht ärztlichen Gesund-
heitswissenschaften die Forderung laut, auch nicht
experimentelle Ansätze als Evidenzen aufzuneh-
8.3.4 Realist Review men (Dixon-Woods et al. 2006). Es entwickelten
sich neue Formen von systematischer Zusammen-
8 Das Realist Review (oder auch „realist synthesis“) ist
eine relative neue und innovative Reviewform, die
fassung qualitativer Forschungsergebnisse. Auch
hier ist das Ziel der Übersichtsarbeiten, Ergebnisse
auch im Gesundheitsbereich, wie zum Beispiel Pfle- besser nutzen und verwerten zu können, indem sie
gewissenschaften, Public Health und Gesundheits- kombiniert und kritisch eingeschätzt werden. Da die
förderung, Verwendung findet (Mühlhauser et al. Essenz der qualitativen Forschung die Diversität an
2011). Seine Besonderheit besteht in der Evaluation Fällen und Sichtweisen ist, gehen die Expertenmei-
von komplexen Interventionen. Das Realist Review nungen über die Machbarkeit, das geeignete metho-
versucht dabei, Evidenzen zu den Bedingungen der dische Vorgehen und die Inhalte von Zusammen-
Effektivität einer Maßnahme zu bestimmen, d. h. fassungen von Studien weit auseinander. Genereller
die zugrunde liegenden Prozesse, die Maßnahmen Konsens ist dabei jedenfalls, dass eine reine Genera-
funktionieren lassen, Kontexte, die diese Mechanis- lisierung der Ergebnisse nie das Ziel sein kann und
men auslösen, und deren Outcomes zu identifizie- stattdessen auf die Vertiefung oder Erweiterung von
ren. Deshalb eignet sich diese Reviewform besonders Perspektiven gesetzt werden sollte. Ebenso soll das
für die Evaluation komplexer sozialer Interventionen Verständnis von Theorien, Kontexten, Lebenswel-
und Behandlungsprogramme, wie zum Beispiel bei ten, Erfahrungen und Bedeutungen erweitert werden
Interventionen durch ein interprofessionellen Team (Saini u. Shlonsky 2012). Daher wird widersprüch-
(Hewitt et al. 2014). lichen Ergebnissen von unterschiedlichen Studien
Dies können beispielsweise Maßnahmenpakete auch viel Aufmerksamkeit gewidmet.
sein, wie beispielsweise zur Sturzprävention, wenn Die Bezeichnung „Metasynthese“ ist dabei ähnlich
Schulungen, Informationen, Training, Medikamente wie beim systematischen Literaturreview nicht ganz
u.v.m. im Sinne einer multifaktoriellen Intervention eindeutig: Sie wird sowohl als übergreifender Begriff
verordnet werden. Dabei liegt bei unterschiedlichen für die Zusammenfassung qualitativer Studien genutzt
Outcomes von Studien mit ähnlichen Fragestellungen als auch für bestimmte eigenständige Form von quali-
(etwa, ob ein interdisziplinäres Programm zur Sturz- tativer Übersichtsarbeit (Barroso et al. 2003).
prävention tatsächlich die Sturzanzahl reduziert) der
Fokus darauf, warum manche Studien positive und
andere negative Ergebnisse berichten. Es wird also 8.3.6 Metasummary
identifiziert, welche Kontextfaktoren Wirkmechanis-
men beeinflussen und wie sie das tun. Dies ermöglicht Wie schon der Name Metasummary (Zusammenfas-
eine praxisnahe Analyse der Wirksamkeit von Inter- sung) aufzeigt, nutzt die Metasummary einen quan-
ventionen und der begleitenden Faktoren. In ihrer titativ-orientierten, summativen Ansatz, um die
8.3 · Arten von Literaturreviews
211 8
Ergebnisse qualitativer Studien zu einer spezifischen Dies schließt theoretische und empirische, qualita-
Fragestellung systematisch zusammenzufassen. Dazu tive und quantitative Methoden ein. Durch dieses
werden die Ergebnisse einzelner Studien extrahiert, holistische Vorgehen haben gut durchgeführte integ-
in Gruppen zusammengefasst und geordnet. Wie rative Reviews das Potenzial, den aktuellen Stand der
beim systematischen Review liegt der Schwerpunkt Forschung abzubilden, Theorien zu entwickeln und
in der Metasummary darauf, die Ergebnisse einzel- direkte Anwendungsbereiche in Praxis und Politik
ner Studien zu „gewichten“ (d. h. die Qualität in Bezug aufzuzeigen. Diese Art des Reviews stand lange in
auf die Bedeutung für die Gesamtaussage einzuschät- großer Kritik, da die Synthese von derart unter-
zen), die Häufigkeit von bestimmten Ergebnissen zu schiedlichen Methoden als große Herausforderung
bestimmen und so Evidenz zur Bedeutung dieser gilt (Whittemore u. Knafl 2005).
Ergebnisse über einzelne qualitative Studien hinaus
aufzuzeigen (Saini u. Shlonsky 2012). Durch diese
Gesamtbetrachtung soll eine größere Aussagekraft der 8.3.9 Metanarrative Reviews
qualitativen Evidenz erreicht werden. Die Metasum-
mary ist unter qualitativen Forschern nicht unumstrit- Metanarrative Reviews (auch metanarrative Synthe-
ten, da ihr quantitativer Ansatz in der Zusammenfas- sis) fassen Literatur zusammen, indem sie histori-
sung die unterschiedlichen Forschungsmethodologien sche und philosophische Perspektiven, zum Beispiel
der eingeschlossenen Studien nicht berücksichtigt. in der Entwicklung eines bestimmten Konzepts, auf-
spüren. Dadurch verdeutlichen sie, wie bestimmte
Evidenzlagen entstehen und entstanden sind. Im
8.3.7 Metaethnographie Unterschied zum traditionellen Review, bei dem zum
Beispiel eine Expertin Literatur zu einem Thema im
Ein besonderer Ansatz zur Synthese qualitativer beliebiger Vorgehensweise zusammenträgt, stellt das
Daten ist die Metaethnographie. Im Gegensatz zur metanarrative Review eine systematische Übersichts-
Metasummary bedient sie sich bei der Datenzusam- arbeit dar, da es protokollgeleitet einer bestimmten
menfassung eines sehr qualitativen, interpretativen festgelegten Reviewmethodologie folgt (Green-
Ansatzes und versucht, soziale und theoretische Kon- halgh et al. 2005). Metanarrative Reviews untersu-
texte, in denen die Ergebnisse einzelner Studien ent- chen eine weite, offene Fragestellung in Bezug auf
standen sind, zu erhalten (Noblit u. Hare 1988). Es die wesentlichen Forschungstraditionen und Denk-
geht hier also nicht um das klassische Zusammenfüh- schulen, die untersucht werden, um die Fragestellung
ren von Evidenzen, sondern um die Vergrößerung zu beantworten.
des Verständnisses zu einem Thema. Es sollen Ana- Metanarrative Reviews beschäftigen sich mit Fra-
logien zwischen den einzelnen Studien aufgezeigt gestellungen wie (Wong et al. 2013): Welche theore-
werden. Es wird Wissen so verbunden, das tiefere tischen Ansätze und Methoden wurden angewandt,
Bedeutungen eines Phänomens und Interpretationen um ein bestimmtes Konzept zu erforschen? Was sind
sichtbar werden, es geht darum, Wissen in Beziehung die wesentlichen empirischen Ergebnisse? Welche
zu setzen, Vielfältigkeit, Widersprüche und Kontexte Erkenntnisse/Einsichten können aus der Kombina-
abzubilden, Perspektiven zu erweitern und reich- tion und dem Vergleich verschiedener Traditionen
haltiger zu machen (Noblit u. Hare 1988, Saini u. gewonnen werden?
Shlonsky 2012). Es ist eine sehr häufig gebrauchte
Form der qualitativen Synthese.
8.3.10 Metaempirische Reviews

8.3.8 Integrative Reviews Metaempirische Reviews versuchen, Zusammen-


hänge außerhalb der eigentlichen Inhalte von
Ein integratives Review stellt eine spezifische Revie- Studien zu verstehen und zu synthetisieren. Es
wmethode dar, die die Möglichkeit bietet, Studien werden empirische Studien gesammelt, um Häufig-
unterschiedlichster Methoden zusammenzuführen. keiten von Themen, Autoren und/oder Methoden
212 Kapitel 8 · Reviews

in der aktuellen Literatur zu finden. Dies ermög- 4 Selektion relevanter Literatur anhand von
licht zum Beispiel, Einblicke in Häufigkeiten von Ausschlusskriterien, kritische Bewertung der
gewissen Forschungsfeldern zu bekommen (Bellini gewählten Evidenz
u. Rumrill 2009, Rumrill et al. 2010). Will der For- 4 Darstellung, Analyse und Zusammenfassung
scher oder die Forscherin beispielsweise Informa- der Evidenz
tionen sammeln, mit welchen Themenfeldern die 4 Interpretation und Präsentation der Ergebnisse
pädiatrische Ergotherapie sich beschäftigt, um bei-
spielsweise einen Indikationskatalog zu erstellen,
bietet sich die Form eines metaempirischen Reviews 8.4.1 Schritt 1: Identifizierung und
an. Das heißt, es wird aus den wissenschaftlichen Formulierung einer geeigneten
Themenfeldern der pädiatrischen Ergotherapie auf Problem- und Fragestellung
die praktische Tätigkeit rückgeschlossen. Themen,
die in der Ergotherapie wissenschaftlich bearbeitet Am Beginn eines jeden Forschungsprozesses, so auch
wurden, werden somit in einen Indikationskatalog in der Durchführung eines Reviews, steht immer die
für die Praxis übernommen (vergleiche z. B. Breuer Identifizierung und Formulierung der Forschungs-
u. Piso 2013). frage. Die Fragestellung ist zentral – sie bestimmt das
. Tab. 8.1 gibt einen Überblick darüber, wann Design des Reviews und alle weiteren Schritte. Um
8 welche Form des Reviews sinnvoll sein kann. von einer offenen zu einer fokussierten Fragestel-
lung zu kommen, schlagen Khan, Kunz, Kleijnen und
Antes (2013) vor, diese mithilfe der 4 Komponenten
8.4 Welche Schritte müssen nach PICO (7 Abschn. 12.2.1) zu präzisieren. Die Fra-
bei einem Literaturreview gestellungen, die ein Review leiten, können unter-
eingehalten werden? schiedliche Schwerpunkte aufweisen und bestimmen
somit auch die methodische Aufarbeitung:
Da systematische Reviews als Sekundäranalysen 4 Schwerpunkt bezogen auf die Methode: Hierbei
„Forschung von Forschung“ sind, unterliegen sie bezieht sich die Fragestellung auf methodolo-
den gleichen generellen Standards und Vorgehen gische Parameter wie Design, Methoden, Setting.
wie primäre Forschung in Bezug auf methodischen 4 Schwerpunkt bezogen auf Theorien: Hierbei
Aufbau und Logik. Jede Reviewmethode beinhaltet bezieht sich die Fragestellung auf eine oder
die Grundschritte: Problemformulierung, Literatur- mehrere Theorien in Bezug auf ein bestimmtes
suche bzw. Datenerhebung, Bewertung der Qualität Thema.
der Daten, Datenanalyse, Interpretation der Ergeb- 4 Schwerpunkt bezogen auf Outcomes: Hierbei
nisse und Präsentation (Whittmore 2005). bezieht sich die Fragestellung auf empirische
Da sich die Schritte der beschriebenen Review- Studien zu einem bestimmten Thema, das
formen ähneln, werden sie im Folgenden gemein- Outcomes und Beziehungen zwischen
sam beschrieben. In der konkreten Ausführung der Variablen untersucht (Hedges u. Cooper 2009).
einzelnen Schritte, in der spezifischen Zielsetzung 4 Schwerpunkt bezogen auf Scopes: Hierbei
und in den zugrunde liegenden Annahmen zur bezieht sich die Fragestellung auf den Umfang
Wissenssynthese gibt es allerdings Unterschiede bzw. Rahmen eines Themas (Daudt et al. 2013).
zwischen den verschiedenen Reviewformen.
Auf diese wird bei der Beschreibung der Analyse
genauer eingegangen. Für die Erstellung eines 8.4.2 Schritt 2: Identifizierung
Reviews werden meist 5 Schritte beschrieben. Diese relevanter Literatur durch eine
sind (. Abb. 8.1): umfassende Literaturrecherche
4 Identifizierung und Formulierung einer
geeigneten Problem- und Fragestellung Nachdem die Forschungsfrage identifiziert und for-
4 Identifizierung relevanter Literatur durch eine muliert wurde, muss die relevante Literatur gesucht
umfassende Literaturrecherche und selektiert werden. Es wird empfohlen, den
8.4 · Welche Schritte müssen bei einem Literaturreview eingehalten werden?
213 8

. Tab. 8.1 Überblick über Reviewformen

Art des Reviews Für qualitative Für quantitative Typische Fragestellung Besonderheit
Studien Studien

Systematisches X Wirkt Behandlung A oder Goldstandard bei


Review Behandlung B besser? quantitativer Forschung
Metaanalyse X Wirkt Behandlung A Goldstandard
oder Behandlung B bei quantitativer
besser? Gibt es bei einer Forschung, zusätzlich
Behandlung seltene mathematisches
oder sehr seltene Zusammenführen von
Nebenwirkungen? Ergebnissen
Scoping Review X X Wie wird ein Thema in der Inkludiert auch grauer
Literatur wahrgenommen Literatur
und beschrieben?
Inwieweit wurde ein
Thema in der Literatur
schon beschrieben?
Realist Review X Warum wirkt bei der Analyse von komplexen
einen Zielgruppe Interventionen möglich
Behandlung A besser
und bei der anderen
Behandlung B?
Metasynthese X Wieso wird ein Widersprüchlichen
Krankenhausaufenthalt Ergebnissen wird bei
von Menschen dieser interpretativen
unterschiedlich Forschungsmethode
empfunden? viel Aufmerksamkeit
gewidmet
Metasummary X Welche Faktoren können Sehr quantitativer Ansatz
den psychischen zur Analyse qualitativer
Stress bei einem Studien
Krankenhausaufenthalt
reduzieren?
Metaethnographie X Welche sozialen, Sehr qualitativer,
kulturellen und/oder interpretativer Ansatz, der
kontextualen Gründe versucht, die sozialen und
werden von Frauen in der theoretischen Kontexte
Literatur beschrieben, aller Studien zu erhalten
sich für oder gegen
schulmedizinische
Behandlungen zu
entscheiden?
Integratives X X Wie beschreiben Fasst theoretische und
Review pflegende Angehörige empirische, qualitative
ihre Situation und und quantitative Studien
wo kann diese durch zusammen
sozialmedizinische
Dienstleistungen
verbessert werden?
214 Kapitel 8 · Reviews

. Tab. 8.1 Fortsetzung

Art des Reviews Für qualitative Für quantitative Typische Fragestellung Besonderheit
Studien Studien

Metanarratives X Wie kam es zur Zeigt historische


Review Entwicklung des und philosophische
biopsychosozialen Perspektiven von
Modells in der Medizin? Konzepten, Modellen und
Vorgehensweisen auf
Metaempirisches X X Wie viele Studien analysiert die Studienlage
Review wurden in den an sich, nicht die
vergangenen Jahren zur Studieninhalte
physiotherapeutischen
Behandlung von
Rückenschmerz
publiziert?

8
kritische Bewertung Darstellung, Analyse
Identifizierung der
Literaturrecherche und Ausschluss und Ergebnispräsentation
Fragestellung
unpassender Studien Zusammenfassung

. Abb. 8.1 Schritte zur Erstellung eines Reviews

Rechercheprozess unsystematisch, explorativ zu gute Dokumentation des Rechercheprozesses emp-


beginnen, um einen ersten Eindruck über die vorhan- fohlen. Hierfür kann die Vorlage „CAT“ („critically
dene Literatur zu erhalten. Dieser Schritt kann auch appraised topic“, Download über http://extras.sprin-
hilfreich sein, um Entscheidungen über die konkrete ger.com) verwendet werden.
Fragestellung oder angemessene Form des Reviews zu Reviews unterscheiden sich von anderen For-
treffen. Die eigentliche Literaturrecherche (bezüglich schungsmethoden auch durch die Größe des
Keywords, Datenbanken, logische Verknüpfungen) Samples. Während in empirischen Studien meist
findet analog zu der im 7 Abschn. 14.2.1 beschriebe- mit Stichproben gearbeitet wird, werden in Reviews
nen Recherche statt. meist alle Studien berücksichtigt, die zur Beantwor-
tung der Fragestellung gefunden werden können.
> Ausnahme in Bezug auf die beschriebene Die Anzahl der Studien wird durch die mehr oder
Recherche im 7 Abschn. 14.2.1 stellen Scoping weniger ausgeprägte Spezifität der Fragestellung
Reviews dar. Ein Scoping Review zieht als erreicht. Allgemein gilt: Je spezifischer die Frage-
Quellen nicht nur Artikel aus Zeitschriften stellung, desto weniger Literatur wird zu einer The-
mit Peer-Review-Verfahren, sondern auch matik gefunden. Je allgemeiner eine Forschungsfrage
andere Quellen sowie graue Literatur formuliert wird, desto mehr Studien werden in den
(nicht veröffentlichte Arbeiten, wie z. B. Datenbanken angezeigt. Einschränkungen können
Masterarbeiten oder Dissertationen) heran. bezogen auf Aktualität der Studien, Studiendesign,
Diagnose usw. getroffen werden.
Eine ausführliche Recherche braucht viel Zeit. Um Die Anzahl der Studien kann hierbei massiv
einen guten Überblick zu bewahren und Transpa- variieren. Man findet beispielsweise Cochrane-Re-
renz des Rechercheprozesses zu erhalten, wird eine views als Sonderform der systematischen Reviews
8.4 · Welche Schritte müssen bei einem Literaturreview eingehalten werden?
215 8
wie das von Dixon et al. (2007), welches insgesamt 4 Ausgeschlossen wurden Studien, wenn zwar
nur 2 Artikel inkludiert hat. Andere Reviews, wie sensorische Integrationstherapie angeboten
beispielweise das von Case-Smith und Arbesman wurde, die Ergebnisse dieser Intervention
(2008), enthält mit 49 inkludierten Studien wesent- aber nicht in der Evaluierung berücksichtigt
lich mehr. Eine allgemeingültige Aussage bezüg- wurden.
lich der Fallzahl kann somit nicht getroffen werden.
Grundsätzlich sollte jede Studie, die für die Beant- Wie in diesem Beispiel ersichtlich sollten die Aus-
wortung einer Fragestellung einbezogen werden schlusskriterien die Einschlusskriterien ergän-
kann, berücksichtigt werden. zen, also präzisieren. Der Einschluss einer Studie
in das Review ist also nicht möglich, wenn diese
entweder eines der Einschlusskriterien nicht erfüllt
8.4.3 Schritt 3: Selektion relevanter oder ein Ausschlusskriterium zutrifft. Somit sollte
Literatur und kritische auf Redundanzen verzichtet werden. Ein Beispiel
Bewertung für ein redundantes Ausschlusskriterium zu den
zuvor beschriebenen Einschlusskriterien wäre bei-
Wurde in den Datenbanken nach Literatur gesucht, spielsweise: „Ausgeschlossen werden Studien mit
muss im nächsten Schritt die relevante Literatur Teilnehmern ohne die Diagnose Autismus-Spek-
selektiert und kritisch bewertet werden. trum-Störung.“ Dieses Ausschlusskriterium ist
irrelevant, da bei den Einschlusskriterien bereits
festgelegt wurde, dass nur Studien mit dieser Dia-
Selektion gnose als Thematik akzeptiert werden. Somit
Die Selektion wird anhand der zuvor festgelegten würden Studien, die keinen Bezug zu dieser The-
Ein- und Ausschlusskriterien durchgeführt. Die Ein- matik haben, sowieso ausgeschlossen, und das Aus-
schlusskriterien beschreiben in diesem Fall, welche schlusskriterium ist unnötig.
Inhalte/Eigenschaften eine Studie haben muss, Anhand der Ein- und Ausschlusskriterien wird
um in das Review aufgenommen zu werden. Dies nun aus der Gesamtmenge der gefundenen Studien
können etwa bestimmte Krankheitsbilder, Assess- die relevante Literatur selektiert. Folgendes Vorgehen
mentmethoden oder Therapieansätze sein. Ergän- für die Selektion wird empfohlen:
zend werden im Normalfall noch Ausschlusskrite- 4 Selektion der Artikel anhand der Titel: Nach
rien definiert, die nicht vorliegen dürfen, um in den Eingabe der Keywords in eine Datenbank
Review eingeschlossen zu werden. werden die Titel aller Treffer gelesen. In vielen
Fällen kann hier schon klar entschieden
Beispiel werden, welche Studien ausgeschlossen werden
Für das Review von Lang et al. (2012) galten folgen- können. Alle Studien, die nicht eindeutig
de Ein- und Ausschlusskriterien: ausgeschlossen werden können, werden
Einschlusskriterien: aus den Datenbanken heruntergeladen. Die
4 Die Studie muss mindestens eine Teilnehmerin Datenbanken bieten hierfür unterschiedliche
mit der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung Funktionen an. Meist können die Suchergeb-
enthalten. nisse per E-Mail empfangen, als Textdatei
4 Die Intervention der Studie muss eine Form heruntergeladen oder in ein Literaturverwal-
der sensorischen Integrationstherapie tungsprogramm
enthalten. (7 Abschn. 13.4) importiert werden.
4 Selektion der Artikel durch entfernen von
Ausschlusskriterien: Duplikaten: Im zweiten Schritt sollten nun
4 Ausgeschlossen wurden Studien, in denen nur etwaige Duplikate entfernt werden. Da bei
sensorischer Reiz angeboten, in denen aber nicht unterschiedlichen Eingaben in eine Datenbank
von sensorischer Integrationstherapie geschrieben oder bei Recherchen in mehreren Datenbanken
wurde. Treffer mehrmals angezeigt werden, müssen
216 Kapitel 8 · Reviews

diese Duplikate nun entfernt werden. Hierfür bedeutet nicht, dass hier keine kritische
eigenen sich Literaturverwaltungsprogramme Bewertung der Studienqualität durchgeführt
besonders gut (7 Abschn. 13.4). werden sollte (Daudt et al. 2013).
4 Selektion der Artikel anhand der Abstracts:
Nach der Entfernung der Duplikate müssen die So soll in der Interpretation der Ergebnisse später
verbleibenden Studien anhand der Abstracts im Reviewprozess sehr wohl hinterfragt werden,
selektiert werden. Hierfür wird der Abstract wie groß die Gefahr ist, dass die Daten der einzel-
den Ein- und Ausschlusskriterien gegenüberge- nen Studien durch ein Bias verzehrt sind. Die Bewer-
stellt. Alle Studien, die nicht eindeutig anhand tung von Studien wird im Detail im 7 Abschn. 14.2.1
des Abstracts ausgeschlossen werden können, beschrieben.
müssen im Volltext besorgt werden. Möglich-
keiten, um Volltexte zu bekommen, werden im > Werden mehrere Personen in den Recherche-,
7 Abschn. 14.2.1 beschrieben. Selektions- und Bewertungsprozess
4 Selektion der Artikel anhand der Volltexte: Im eingebunden (7 Abschn. 6.5), wird die
letzten Schritt werden die Volltexte gelesen und Objektivität und somit die Qualität der
den Ein- und Ausschlusskriterien gegenüber- Reviews deutlich gehoben.
gestellt. Alle Artikel, die in dieser Phase nicht
8 ausgeschlossen werden können, werden für das
Review herangezogen. 8.4.4 Schritt 4: Darstellung, Analyse
und Zusammenfassung der
Literatur
Bewertung
Die selektierte Literatur muss nun anhand ihrer Im vierten Schritt werden die selektierten und
Qualität bewertet werden. Dies ist ein zentraler bewerteten Studien nun aufbereitet und analysiert.
Schritt in einem Review, da die Aussagekraft der Dieser Schritt unterscheidet sich von Reviewform zu
Ergebnisse stark von der Qualität der einzelnen Reviewform.
Studien abhängt. Allerdings müssen Unterschiede
in Bezug auf die einzelnen Reviewmethodologien
berücksichtigt werden. Während für systemati- Systematische Literaturreviews
sche Reviews die kritische Bewertung der Qualität Die Analyse von klassischen systematischen Reviews
und Gewichtung der gefundenen Studien von zen- kann in Kombination mit einer Metaanalyse stattfin-
traler Bedeutung für die Stärke der Aussagekraft den (Rumrill et al. 2010) oder rein narrativ durch-
ist, spielt dies in interpretativen Reviews keine so geführt werden (Liberati et al. 2009). Ziel des sys-
große Rolle. Das macht Sinn, denn wenn beispiels- tematischen Literaturreviews ist es dabei, immer
weise konzeptuelle Annahmen in einem bestimm- quantitative Studien zusammenzufassen, um durch
ten Feld und in Forschungsstudien dominant sind, die Zusammenführung aller vorhandenen Evidenzen
spielt hierfür die Qualität (eine objektive, isolierte eine Aussage bezüglich der Effektivität einer Maß-
Qualität) der einzelnen Studien keine Rolle, wohl nahme zu treffen. Werden diese Studien narrativ
aber die Qualität der Daten/Studien in Bezug auf zusammengefasst, kann dies mit mehreren Metho-
die Forschungsfrage. Zusätzlich wird bei der Bewer- den durchgeführt werden. Eine gute Möglichkeit
tung qualitativer Studien oft auch die Frage disku- stellen hier beispielsweise inhaltsanalytische Ver-
tiert, ob Studien unterschiedlicher Methodologien fahren (7 Abschn. 6.3.6.) dar.
überhaupt sinnvoll verglichen und zusammengefasst
werden können (Dixon-Woods et al. 2006).
Metaanalysen
> Dass bei Scoping Reviews die Qualität der Metaanalysen bieten eine mathematische Möglich-
eingeschlossenen Studien nicht bestimmt, keit, die Ergebnisse von vielen einzelnen Studien zu
ob sie in die Analyse eingeschlossen werden, einem Gesamtergebnis zu vereinen. Die statistischen
8.4 · Welche Schritte müssen bei einem Literaturreview eingehalten werden?
217 8
Methoden der Metaanalyse stellen Erweiterungen Realist Reviews
der Methoden der primären Forschung dar. Meta- Realist Reviews haben die Evaluation von komple-
analysen errechnen, ebenso wie die primäre For- xen Interventionen zum Ziel. Die Datenanalyse kann
schung, einen Mittelwert und eine Standartabwei- somit keiner vorgegebenen, allgemeinen Strategie
chung für den Behandlungseffekt. Es können weitere folgen. Allgemein werden die Dokumente in einem
Prozeduren, Methoden oder Techniken, die ähnlich ersten Schritt gelesen. Dabei werden Anmerkun-
der Varianzanalyse oder Multiregressionsanalyse gen gemacht, um Ideen, wie Interventionen wirken,
sind, genutzt werden, um Beziehungen zwischen zu entwickeln. Dieser Prozess ähnelt der Auswer-
dem Effekt und den studienbezogenen Kovarianzen tung qualitativer Texte. Wie auch in der qualitati-
zu messen (Borenstein et al. 2009). ven Datenanalyse werden Gemeinsamkeiten und
Gegensätze notiert. Es werden dabei Hinweise darauf
> Voraussetzungen für Metaanalysen ist gesucht, welcher Teil der Intervention für welche
eine grundsätzliche Vergleichbarkeit der Zielgruppe unter welchen Umständen wirkt. Außer-
Studien, der eingesetzten Verfahren und der dem wird untersucht, welche Outcome-Parameter
Ergebnisse (Al-Nawas et al. 2010, Higgins u. sich verbessern, und es werden Erklärungsmodelle
Green 2008). erstellt. Die Analyse für ein Realist Review erfolgt nie
linear, sondern stellt immer einen iterativen Prozess
Ein sehr einfaches Beispiel einer Metaanalyse ist die dar (Pawson et al. 2005, Wong et al. 2013).
Studie über die Reliabilität und der Standardmess-
fehler bei Goniometern von Zänger und Ritschl
(2014). In dieser Studie wurden Reliabilitätsstu- Metasynthesen
dien zu Universalgoniometern gesucht und aus dem Wie bereits erwähnt steht der Begriff Metasynthese
Reliabilitätswert und der Standardabweichung der oft allgemein für die Synthese qualitativer Studien.
einzelnen Studien ein neuer Reliabilitätswert und Zum Teil wird die Metasynthese aber auch als eine
Standardmessfehler berechnet. Dasselbe Verfahren eigenständige Form beschrieben (Barroso et al. 2003,
zur Standardmessfehlerbemessung der einzelnen Walsh u. Downe 2005). In diesem Fall haben auch
Studien wurde für die neue Berechnung des Stan- Metasynthesen das Ziel, Studienergebnisse besser
dardmessfehlers übernommen. nutzen und verwerten zu können, indem sie kombi-
niert und kritisch eingeschätzt werden. Auch wider-
sprüchlichen Ergebnissen wird Aufmerksamkeit
Scoping Reviews gewidmet (Saini u. Shlonsky 2012). Wurden rele-
Scoping Reviews bieten eine Möglichkeit, große und vante Studien identifiziert, müssen sie im Zuge der
zum Teil auch sehr unterschiedliche Literaturbei- Metasynthese verglichen und in Zusammenhang
träge zu einem Thema zu bearbeiten. Hierfür müssen gebracht werden. In einem ersten Schritt ist es not-
in einem ersten Schritt die Daten organisiert und wendig, die Schlussfolgerungen, Ideen und Ergeb-
sortiert werden. Dieses „charting“, also das Erfassen nisse, die der Studienautor angibt, zusammenzufas-
der Daten in einer Tabelle, erfolgt in 2 Schritten: Der sen, um Themen und Konzepte ableiten zu können.
erste Schritt ist, dass Kategorien gebildet werden. In Die Studien sollten hierbei in ihrem Kontext verstan-
einem zweiten Schritt werden die Studien gelesen den und interpretiert werden. Ist dies in der Ergeb-
und alle Informationen diesen Kategorien zuge- nisdarstellung des Artikels nicht möglich, müssen
ordnet. Es werden generell 2 Arten von Kategorien die originalen Arbeiten oder Daten herangezogen
unterschieden: 1. generelle Kategorien, die Infor- werden. Im Weiteren werden die Ergebnisse nach
mationen enthalten wie Forschungsmethode, Ziel, hermeneutischen Kriterien (7 Abschn. 6.3.7) analy-
Assessment, Intervention, Population, Ergebnis; 2. siert (Walsh u. Downe 2005).
spezifisch Kategorien zur Beantwortung der Frage-
stellung (Daudt et al. 2013). Dieses „charting“ der
Informationen bzw. das Bilden der Kategorien kann Metasummarys
durch Techniken aus inhaltsanalytischen Verfahren Die Metasummary nutzt einen quantitativ-orien-
(7 Abschn. 6.3.6.) unterstützt werden. tierten, summativen Ansatz, um die Ergebnisse
218 Kapitel 8 · Reviews

qualitativer Studien zu einer spezifischen Frage- unterschiedlichster Methoden zusammenzuführen.


stellung systematisch zu erfassen. Dazu werden die Dies schließt theoretische und empirische, qualitative
Ergebnisse einzelner Studien extrahiert, in Gruppen und quantitative Methoden ein (Whittemore u. Knafl
zusammengefasst und geordnet. Die Metasummary 2005). Um nun Daten aus diesen sehr unterschied-
nutzt die Interpretationen und Konzepte der Primär- lichen Studien generieren zu können, sollte im Vor-
studien. Es werden keine Analysen von Gesprächs- hinein gut überlegt werden, welche Daten benötigt
ausschnitten vorgenommen. Die Studien werden werden. Diese Überlegungen sollten niedergeschrie-
ähnlich der Metaanalyse gewichtet und somit die ben werden, und jede Studie sollte nach diesen Über-
Häufigkeit und die Bedeutung der Ergebnisse auf- legungen (= Datenerhebungsinstrument) gelesen und
gezeigt. Die Herausforderung besteht darin, nicht analysiert werden. Die Nutzung dieses Instruments
nur die Ergebnisse der Studien zusammenzuführen, unterstützt bei der Sammlung relevanter Daten und
sondern auch die verschiedenen Philosophien und reduziert eventuelle Fehler. Folgende Daten sollten
Forschungsparadigmen zu berücksichtigen (Saini u. erhoben werden: Teilnehmerinnen, Methoden, Stich-
Shlonsky 2012). probengröße und Zusammensetzung, Variablen,
Analysemethoden sowie Konzepte und Konstrukte.
Die Idee des integrativen Reviews besteht in einer
Metaethnographien Zusammenführung der Studien anhand der Evidenz-
8 Die Metaethnographie bedient sich bei der Daten-
zusammenfassung eines sehr qualitativen, interpre-
pyramide (De Souza u. Da Silva 2010). Hierfür muss
allerdings eine Pyramide benutzt werden, die sowohl
tativen Ansatzes und versucht, soziale und theore- qualitative als auch quantitative Studien berücksich-
tische Kontexte, in denen die Ergebnisse einzelner tigt (7 Abschn. 14.2.1).
Studien entstanden sind, zu erhalten (Noblit u. Hare
1988). Im ersten Schritt wird eine Liste an Themen
kreiert (Noblit u. Hare 1988), oder die Daten werden Metanarrative Reviews
in Tabellen aufgearbeitet, um Konzepte und Themen Metanarrative Reviews haben den Fokus, historische
über alle Studien hinweg zu bilden (Atkins et al. und philosophische Perspektiven aufzuspüren, zum
2008). Im zweiten Schritt müssen die Ergebnisse Beispiel in der Entwicklung eines bestimmten Kon-
der einzelnen Studien ineinander übersetzt werden zepts (Greenhalgh et al. 2005). Die Anfertigung eines
(Noblit u. Hare 1988). Wie dieses „Übersetzen“ metanarrativen Reviews wird von 6 Hauptprinzipien
durchzuführen ist, wird in der Literatur nicht klar geleitet (Greenhalgh et al. 2005):
beschrieben. Atkins et al. (2008) empfehlen, stufen- 4 Prinzip des Pragmatismus: Durch die oft
weise vorzugehen und beispielsweise erst 2 Studien unklare und große Menge an Literatur in der
zu synthetisieren und dann diese Synthese mit einer Anfangsphase der Synthese ist es oft nicht klar,
dritten Studien zusammenzuführen. Wichtig ist, welche Publikationen eingeschlossen werden.
immer offen für neue Kategorien zu sein und den Somit müssen die Recherche und Selektion gut
Prozess auch als iterativ zu betrachten. dokumentiert werden, bzw. es muss ein Team
Im letzten Schritt müssen die beschreibenden für die Entscheidungsfindung herangezogen
Kategorien interpretiert werden. Auch hierfür exis- werden.
tieren keine klaren Anweisungen, da qualitative, 4 Prinzip des Pluralismus: Da die Beweislage/
interpretative Forschung nicht auf mechanisches Evidenzlage komplex ist, muss das Thema des
Vorgehen reduziert werden kann. Die Interpreta- Reviews von verschiedenen Standpunkten und
tion kann ähnlich wie bei primären, ethnographi- Perspektiven betrachtet werden.
schen Studien (7 Abschn. 6.3.4) durchgeführt werden. 4 Prinzip der Geschichtlichkeit: Forschungstra-
ditionen können am besten in ihrer zeitlichen
Verortung und Reihenfolge beschrieben
Integrative Reviews werden. Einzelne Wissenschaftlerinnen, Ereig-
Ein integratives Review stellt eine spezifische Review- nisse und Entdeckungen, die große Bedeutung
methode dar und bietet die Möglichkeit, Studien haben, werden herausgearbeitet.
8.5 · Stärken und Schwächen von Literaturreviews
219 8
4 Prinzip der Auseinandersetzung: Gerade Metaanalysen 7 Abschn. 14.2.1. Diese Struktur kann
widersprüchliche Ergebnisse sollte untersucht in abgewandelter Form auch für andere Review-
werden, um neue Einsichten höherer Ordnung formen genutzt werden und liefert eine praktische
zu gewinnen. Ein Beispiel ist die Frage, Checkliste, um keine wichtigen Punkte zu vergessen.
wie unterschiedliche Forschungsteams das
Forschungsthema verschieden konzeptualisiert
und theoretisch gerahmt haben. 8.5 Stärken und Schwächen von
4 Prinzip der Reflexivität: Während der Anfer- Literaturreviews
tigung des Reviews müssen Forscherinnen
und Forscher die entstehenden Ergebnisse
kontinuierlich reflektieren, einzeln und im z z Stärken
Forschungsteam. 4 Reviews sind die einzige Möglichkeit, einen
4 Prinzip des Peer-Reviews: Auch Zwischen- guten Überblick über aktuelles Wissen zu
ergebnisse müssen in regelmäßigen Abständen erhalten.
einem kritischen, externen Publikum 4 Durch die Zusammenfassung vieler Studien
präsentiert werden, um Feedback zu weiterer können Signifikanzen oder Effekte deutlich
Reflexion und Analyse zu ermöglichen. werden, die in einzelnen Studien nicht
ersichtlich sind (Pawson et al. 2005).
4 Reviews können Wiedersprüche aufdecken
Metaempirische Reviews und somit Innovationen, neue Entwicklungen
Metaempirische Reviews versuchen, Zusammen- und Debatten stimulieren und vorantreiben.
hänge außerhalb der eigentlichen Inhalte von Studien
zu verstehen und zu synthetisieren. Die Datenextrak- z z Schwächen
tion hängt in diesem Fall sehr stark mit der Frage- 4 Durch starke Einschränkungen, beispiels-
stellung zusammen (Bellini u. Rumrill 2009, Rumrill weise wenn nur RCT in ein Review inkludiert
et al. 2010). Muss beispielsweise ein Indikationskata- werden, kann eine Übertragbarkeit in die
log für Ergotherapie in der Pädiatrie erstellt werden, klinische Praxis schwierig werden (Al-Nawas
kann ein metaempirisches Review die Frage beant- et al. 2010).
worten, indem alle Studien zu „Ergotherapie“ und 4 Reviews sind immer nur so gut wie die Daten/
„Pädiatrie“ gesucht und nach Diagnose ausgewertet Studien, aus denen sie gemacht werden. Wenn
werden. So erhält die Forscherin oder der Forscher also zu einer Themenstellung nur Studien mit
schnell einen Überblick über viele Themen, die in der geringer Qualität zur Verfügung stehen, kann
pädiatrischen Ergotherapie beforscht werden. Die auch ein methodisch exaktes Review zu keiner
Daten werden in einem metaempirischen Review, guten Beschreibung der Evidenzlage kommen.
ähnlich wie in Scoping Reviews, in Tabellenform 4 In der Wissenschaft werden problematischer-
gesammelt und in weiterer Folge beschreibend weise wesentlich mehr Studien mit einem
dargestellt. positiven Ergebnis („Behandlung wirkt“)
veröffentlicht. Dieses „publication bias“ kann
natürlich auch das Ergebnis des Reviews
8.4.5 Schritt 5: Interpretation und beeinflussen und zum Beispiel eine wesentlich
Präsentation der Ergebnisse größere Wirksamkeit von Interventionen sugge-
rieren, da nicht veröffentliche Negativergebnisse
Wichtig für die Interpretation und Präsentation der nicht eingeschlossen werden konnten.
Ergebnisse ist eine möglichst große Transparenz. 4 Da die Ergebnisse von Reviews sehr stark
Der Leser muss die Interpretationen, Darstellun- durch die Ein- und Ausschlusskriterien für die
gen und die Präsentation nachvollziehen können. integrierten Studien beeinflusst werden, besteht
Das PRISMA-Statement (Liberati et al. 2009) bietet die Gefahr, dass hier geringfügige Unterschiede
hier eine gute Struktur für systematisch Reviews und zu massiv anderen Ergebnissen führen.
220 Kapitel 8 · Reviews

Zusammenfassung Dixon L, Duncan D, Johnson P, Kirkby L, O'Connell H, Taylor H,


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223 9

Weitere Forschungsmethoden
Kathrin Malfertheiner, Helmut Ritschl, Valentin Ritschl, Michaela Stoffer,
Anna Bösendorfer, Stefanie Höchtl

9.1 Klinischer Behandlungspfad – 224


9.1.1 Wann soll die Methode angewendet werden? – 224
9.1.2 Themenstellungen – 224
9.1.3 Welche Schritte müssen eingehalten werden? – 224
9.1.4 Stärken und Schwächen – 226

9.2 Methodenmix – 228


9.2.1 Anwendungsfelder – 228
9.2.2 Unterscheidungskriterien – 229
9.2.3 Stärken und Schwächen – 229

9.3 Delphi-Studien – 232


9.3.1 Wann soll die Methode angewendet werden? – 232
9.3.2 Themenstellungen – 233
9.3.3 Welche Schritte müssen eingehalten werden? – 233
9.3.4 Stärken und Schwächen – 235

Literatur – 236

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5_9
224 Kapitel 9 · Weitere Forschungsmethoden

9.1 Klinischer Behandlungspfad privaten Einrichtungen und Praxen, in der stati-


onären und ambulanten Versorgung sowie in der
Kathrin Malfertheiner Versorgung/Therapie zu Hause eingesetzt werden.
Ein klinischer Behandlungspfad kann sich je nach
Patientengruppe über einen Zeitraum von Stunden,
Definition
Wochen, Monaten oder Jahren erstrecken oder vom
Klinische Behandlungspfade („clinical, Erreichen bestimmter Ergebnisse (z. B. Gewicht des
critical or integrated care pathways“) Babys in einer Neugeborenenabteilung) abhängig
werden zur Verbesserung der Organisation, sein. Mögliche Inhalte klinischer Behandlungspfade
Dokumentation, Evaluation und Qualität sind (de Luc et al. 2001a):
klinischer Prozesse eingesetzt. Sie stellen einen 4 Behandlungsprogramme (z. B. Programme zur
auf Leitlinien oder evidenzbasierter Literatur Sturzprävention, Rehabilitationsprogramme)
gestützten, interdisziplinär erarbeiteten und 4 Symptome (z. B. Rückenschmerzen,
lokal konsentierten Standard der Behandlung Halbseitenlähmungen)
einer definierten Patientengruppe dar (de Luc 4 Bedürfnisse (z. B. mit dem Rauchen oder der
2001a, Roeder et al. 2003). Spielsucht aufhören)
4 Diagnosen

9.1.1 Wann soll die Methode 9.1.3 Welche Schritte müssen


9 angewendet werden? eingehalten werden?

Die Methode des klinischen Behandlungspfads In der Literatur werden verschiedene Methoden zur
eignet sich vor allem bei folgenden Inhalten einer Erstellung klinischer Behandlungspfade beschrie-
Bachelor- oder Masterarbeit: ben, die Grundprinzipien sind aber bei allen gemein-
4 Gewährleistung einer auf Leitlinien und sam (Vanhaecht et al. 2010). Die folgende Auflis-
Evidenzen basierten Versorgung tung orientiert sich an der Methodik von de Luc
4 Verbesserung eines klinischen Prozesses (2001a, b). Die einzelnen Schritte können teilweise
bzw. der Behandlung einer bestimmten auch parallel erfolgen, sich überschneiden oder für
Patientengruppe verschiedene Behandlungspfade in einer etwas abge-
4 Verkürzung der Aufenthaltsdauer (z. B. durch änderten Reihenfolge verlaufen.
Entlassungsmanagement) Die Entwicklung eines klinischen Behand-
4 Reduzierung von Behandlungsvariablen lungspfades ist in 3 Hauptschritte eingeteilt (de Luc
mit daraus resultierender Zeit- und 2001a):
Risikoreduktion 4 Entwicklung
4 Darstellung und Berechnung von 4 Umsetzung
Behandlungskosten 4 laufende Überprüfung (entspricht der Behand-
4 Verbesserung des interdisziplinären Informati- lungspfad den Zielen oder muss er abgeändert
onsflusses und der Dokumentation werden?)
4 Verbesserung der Kommunikation zwischen
Klinikern und Patienten/Nutzern (de Luc
2001a, Roeder u. Küttner 2007) Entwicklung
z Problemidentifizierung
Bevor ein Behandlungspfad erstellt wird, muss ein
9.1.2 Themenstellungen Problem identifiziert werden. Beispiel: Einsparungs-
maßnahmen im Gesundheitssystem durch Bettenab-
Klinische Behandlungspfade können in Kranken- bau sowie die Zunahme an chronischen Krankheiten
häusern und Pflegeheimen, in öffentlichen und führen zur Notwendigkeit eines interdisziplinären
9.1 · Klinischer Behandlungspfad
225 9
Behandlungspfades über eine frühe unterstützte Ent- Hause anwesend, aktive Teilnahme an einfachen
lassung von Patientinnen nach Insult mit Ergothera- Alltagstätigkeiten möglich
pie oder interdisziplinärer Therapie zu Hause. 5 Ausschlusskriterien: andere Diagnosen, Patienten
zu weit vom Krankenhaus entfernt, keine
z Zieldefinition betreuenden Angehörigen anwesend usw.
Zu den Zielen eines klinischen Behandlungspfads
gehören u. a. die Verbesserung der Qualität der z Festlegen der Dauer des Behandlungspfads
Patientenbetreuung sowie eine effiziente Ressourcen- Behandlungspfade erstrecken sich auf eine
nutzung. Beispiel: Kostenreduktion für das Gesund- bestimmte Periode, beispielsweise vom Zeitpunkt
heitssystem durch eine frühe unterstützte Entlassung der Vorbereitung für eine frühe unterstützte Entlas-
von Patientinnen nach Insult mit Ergotherapie oder sung von Patienten nach Insult bis zur Beendigung
interdisziplinärer Therapie zu Hause. der Therapie zu Hause bzw. bis zum Übergang zur
ambulanten Therapie.
z Festlegen der Patientengruppe
Behandlungspfade werden für genau definierte Patien- z Analyse des lokalen Kontextes
tengruppen erstellt. Beispiel: Patientinnen nach Insult, Es wird der Ist-Zustand analysiert, um feststellen zu
welche in einer bestimmten Rehabilitationsabteilung können, wie Leitlinien oder Evidenzen aus der Lite-
stationär behandelt werden und die Einschlusskrite- ratur im lokalen Kontext umgesetzt werden können.
rien für eine frühe unterstützte Entlassung erfüllen. Relevante Informationen können in institutions-
internen Dokumenten und Daten, in Dokumen-
z Ernennen der Arbeitsgruppe ten über das lokale Gesundheits- und Sozialsystem
Ein klinischer Behandlungspfad wird von einer inter- sowie durch Gespräche/Interviews mit Vertre-
disziplinären Arbeitsgruppe erarbeitet, um die Kom- tern der verschiedenen Berufsgruppen gesammelt
munikation sowie die Rollen- und Aufgabenvertei- werden.
lung von interdisziplinärem Team, Patienten und
Angehörigen zu regeln. Beispiel: Ärztinnen, Ergo- z Erstellen eines interdisziplinären
therapeutinnen, Physiotherapeutinnen, Logopädin- Dokumentationsbogens
nen, Krankenpfleger, Sozialassistentinnen, Patien- Behandlungspfade können die gesamte klinische
tenvertreter und Angehörigenvertreter. Kartei oder einen Teil davon ersetzen und erleich-
tern eine einheitliche interdisziplinäre Dokumen-
z Recherche von evidenzbasierter Literatur tation. Als Bezugsrahmen für interdisziplinären
Klinische Behandlungspfade sind die praktische Informationsaustausch und Dokumentation eignet
Anwendung der Empfehlungen aus Leitlinien in sich beispielsweise die ICF (International Classifica-
einem lokalen Kontext. Daher ist eine ausführliche tion of Functioning, Disability and Health) (DIMDI
Literaturrecherche der aktuellen Leitlinien und Evi- 2005).
denzen erforderlich.
Beispiel
z Definition der Ein- und Ausschlusskriterien Erstellung eines an die ICF angelehnten, interdis-
Behandlungspfade werden für eine genau definierte ziplinären Dokumentationsbogens, in dem jede
Patientengruppe erstellt, entsprechend der Ein- und Berufsgruppe den aktuellen Stand, Behandlungs-
Ausschlusskriterien. maßnahmen sowie Ziele in einer interdisziplinär
verständlichen Sprache dokumentieren kann.
Beispiel
5 Einschlusskriterien: Patienten nach Insult,
medizinisch stabil oder vom Hausarzt/ Umsetzung
Krankenpflegedienst zu Hause behandelbar, z Mitarbeiterschulung
wohnhaft maximal 30–45 min vom Krankenhaus Nach der Entwicklung des Behandlungspfads sollte
entfernt, barrierefreie Wohnung, Angehörige zu eine Mitarbeiterschulung durchgeführt werden.
226 Kapitel 9 · Weitere Forschungsmethoden

. Tab. 9.1  Ausschnitte aus einem interdisziplinären Behandlungspfad für eine frühe unterstützte Entlassung von
Patienten nach Insult

Aktivität Verantwortliche Zeitraum Instrumente, Dokumen-


Berufsgruppen tation

Vorbereitung
Zieldefinition bis zur Ärzte, Krankenpfleger, 1–2 Wochen vor Entlassung Protokoll der
Entlassung gemeinsam mit Ergotherapeuten, in der Teambesprechung interdisziplinären
Patienten und Angehörigen Physiotherapeuten, Teambesprechung
Beurteilung des Bedarfs Logopäden,
an Betreuung und Sozialassistenten
Rehabilitation zu Hause
Entlassungsplanung
Definieren des Ärzte, Krankenpfleger, Eine Woche vor Entlassung Protokoll über
Behandlungsplans für zu Ergotherapeuten, bis zum Entlassungsdatum Hilfsmittelverschreibung,
Hause durch Aktivierung Physiotherapeuten, Protokoll der
des Rehabilitationsteams im Logopäden, Teambesprechungen
Territorium, Verschreibung Sozialassistenten
von Hilfsmitteln, Information
und Anleitung der Patienten
und Angehörigen
9 Übergang in die Therapie zu Hause
Alltagsorientierte Therapie, Ergotherapeuten, Während der gesamten ICF-basierter,
Training im Umgang Physiotherapeuten, Therapie zu Hause interdisziplinärer
mit den Hilfsmitteln, Logopäden Dokumentationsbogen
Umweltadaptierung,
Angehörigenberatung

z Pilotbehandlungspfad sollte eine erneute Analyse mit Outcome-Messungen


Sind alle Mitarbeiter über den Behandlungspfad des interdisziplinären Behandlungspfads durchge-
informiert und entsprechend geschult, ist die Umset- führt werden, um beurteilen zu können, ob er beibe-
zung eines Pilotbehandlungspfads möglich. Sollten halten oder bei Bedarf weiter abgeändert und even-
die Ziele nicht erreicht worden sein, können entspre- tuell neuen Gegebenheiten angepasst werden sollte.
chende Veränderungen bzw. Verbesserungen inter- Ausschnitte aus einem interdisziplinären
disziplinär geplant und anschließend umgesetzt Behandlungspfad für eine frühe unterstützte Ent-
werden. Durch eine erneute Analyse des veränderten lassung von Patientinnen nach Insult mit Ergothe-
Pilotbehandlungspfads kann festgestellt werden, ob rapie oder interdisziplinärer Therapie zu Hause zeigt
es weiterer Veränderungen bedarf oder ob die Ziele . Tab. 9.1. Anhand von Flussdiagrammen können
erreicht wurden und der definitive interdisziplinäre Behandlungspfade übersichtlich dargestellt werden
Behandlungspfad umgesetzt werden kann. (. Abb. 9.1).

Laufende Überprüfung 9.1.4 Stärken und Schwächen


z Erneute Mitarbeiterschulung
Für den definitiven Behandlungspfad muss noch- z z Schwächen
mals eine detaillierte und an die eventuellen Verän- Aus zeitlichen, organisatorischen und auch finan-
derungen angepasste Mitarbeiterschulung durch- ziellen Gründen ist es im Rahmen einer Bachelor-
geführt werden. Nach einem wiederum vorher oder Masterarbeit nicht oder kaum möglich, einen
definierten Zeitraum, wie zum Beispiel einem Jahr, Behandlungspfad in seinen 3 Phasen zu erstellen
9.1 · Klinischer Behandlungspfad
227 9

Aufnahme Beginn
Insultpatient in Therapie
Rehabilitations- zu Hause
abteilung

Kontrolle Organisation
Einschluss in ja Checkliste nein Checkliste Stundenplan ET, PT,
Behandlungspfad erfüllt? 1-mal LP, bei Bedarf HKP
Woche und HPD
ja

Zielformulierung für Checkliste


Entlassung, erfüllt? Organi- Berufsspezifische
Beurteilung des sation der Tests,
Bedarfs an RA, ET, Fahrten Beobachten der
PT, LP, HPD, HKP Alltagsfähigkeiten,
für zu Hause Beurteilen von
Ressourcen und
Barrieren, gemeinsame
Zieldefinition mit Pat. und
Definieren und KP, SA, ET, PT, LP Angeh.
Vorbereiten des geben Festlegen
Behandlungsplans Informationen an der
für zu Hause CM des KH weiter Therapie-
intensität Alltagsorientierte Therapie
mit berufsspezifischen
Methoden, Techniken und
CM des ambulanten CM des KH gibt Konzepten,
Teams stellt sich Pat. Informationen an Hilfsmitteltraining,
und Angeh. vor, CM des ambulanten Angehörigenberatung,
macht Hausbesuch Teams weiter Wöchentliche Umweltadaptierung,
interdisziplinäre Heimübungsprogramm
Teamsitzungen,
Austausch mit
RA im KH kontaktiert RA HKP und HPD,
CM des ambulanten
des ambulanten Teams, wenn vorhanden Interdisziplinäre
Teams leitet die
verschreibt Hilfsmittel, Dokumentation
Informationen an ET, PT,
stellt Rezepte aus,
LP weiter, kontaktiert bei
bestätigt
Bedarf HPD und HKP
Entlassungstermin
Reduktion der
Therapieintensität je
nach Prognose und
KP verfasst Bei Bedarf telefonischer Zieldefinition
Entlassungs- Kontakt des ambulanten
bericht Teams mit dem KH-Team Bei Bedarf
Bei Bedarf
Fortsetzung
Fortsetzung
der Therapie
nein nein der Therapie
zuc Hause Ziele
zu Hause
oder erreicht?
oder parallel
Übergang in
Gemeinsamer Entlassung aus ambulante
ambulante
Entlassungsbericht KH, Übergabe an ja Therapie
Therapie
von ET, PT, LP, das ambulante
Entlassungsbericht SA Team Therapieende

. Abb. 9.1 Flussdiagramm des interdisziplinären Behandlungspfads für eine frühe unterstützte Entlassung von Patienten
nach Insult mit Ergotherapie oder interdisziplinärer Therapie zu Hause. A Ärzte, CM Case-Manager, ET Ergotherapeut,
Fagenstraße Zentrum für Physische Rehabilitation in der Fagenstraße, HA Hausarzt, HKP Hauskrankenpflegedienst, HPD
Hauspflegedienst, KH Krankenhaus, KP Krankenpflege, LP Logopäde, PT Physiotherapeut, RA Rehabilitationsarzt, SA
Sozialassistent
228 Kapitel 9 · Weitere Forschungsmethoden

bzw. umzusetzen. Die Phase der Entwicklung eines et al. 2010). Hier ist eine methodische Offenheit und
Behandlungspfads könnte aber Inhalt einer Bache- Diversität erforderlich. Neben der qualitativen und
lor- oder Masterarbeit sein, während die Umset- der quantitativen Forschung (Monomethoden) stellt
zungs- und Überprüfungsphase nur theoretisch der Methodenmix (multiple Methoden) den dritten
beschrieben werden könnten. großen Untersuchungszugang dar (Johnson et al.
2007).
z z Stärken
Die Einführung von klinischen Behandlungspfa- Definition
den bietet viele Vorteile für die Klinik, die Mitar- „Mixed methods research is […] an approach to
beiterinnen und die Patienten (Roeder und Küttner knowledge (theory and practice) that attempts
2007): to consider multiple viewpoints, perspectives,
4 Verbesserung von Behandlungsqualität und positions, and standpoints (always including
Behandlungsergebnissen the standpoints of qualitative and quantitative
4 Reduzierung der Verweildauer research).“ (Johnson et al. 2007)
4 Senkung der Behandlungskosten durch
verbesserte Ablauforganisation und Reflexion
bezüglich der Notwendigkeit bestimmter Beispiel
Leistungen Sie wollen eine neue Form der Gesundheitseduka-
4 Verbesserung der Teamarbeit tion zum Thema Ernährung entwickeln. Hier wäre
4 verbesserte Schulung neuer Mitarbeiterinnen es in einem ersten Schritt sinnvoll, im Rahmen einer
9 4 vermindertes Risiko von Behandlungsfehlern Fokusgruppe zu erheben, welche Bedürfnisse und
4 verbesserte Planung von Dienstleistungen und Interessen betroffene Personen haben (Methode
Einrichtungen 1). Die Ergebnisse aus der Fokusgruppe werden in
ein didaktisches Rahmenkonzept gegossen und mit
Zusammenfassung Probandinnen getestet. Der Mehrwert könnte im
Ein klinischer Behandlungspfad bietet eine gute ersten Schritt durch biometrische Daten (z. B. Blutzu-
Möglichkeit, um klinische Prozesse zu verbessern cker, Gewicht etc.) festgestellt werden (Methode 2).
und Ressourcen effektiv einzusetzen. Leitlinien In einem ergänzenden Verfahren werden die Patien-
definieren dabei, was durchgeführt werden soll, tinnen mittels Fragebogens (Inventar) zu ihrer Zu-
während klinische Behandlungspfade definieren, friedenheit befragt, bezogen auf den Wissenstrans-
wer etwas wie, wann und wo durchführen soll. Auf- fer zum Thema Ernährung (Methode 3) (. Abb. 9.2).
grund seiner Komplexität ist für eine Bachelor- oder
Masterarbeit aber nur die Entwicklungsphase eines
klinischen Behandlungspfads realistisch. 9.2.1 Anwendungsfelder

Der Methodenmix wird in den Gesundheitswissen-


9.2 Methodenmix schaften häufig verwendet, wenn der Forschungs-
gegenstand mehrere Forschungsrichtungen betrifft,
Helmut Ritschl wie zum Beispiel Technik und Gesundheit, Informa-
tik und Gesundheit oder Bildung und Gesundheit.
Der Methodenmix (Methodenmischung), also die Innerhalb der Gesundheitswissenschaften kommt es
Verwendung von qualitativen und quantitativen ebenfalls häufig vor, dass zu einem Untersuchungs-
Methoden zur Betrachtung eines Forschungsgegen- gegenstand neben medizinischen Parametern auch
stands, gewinnt in den Gesundheitswissenschaften psychometrische Daten oder Daten aus Interviews
immer mehr an Bedeutung (Meissner et al. 2010). herangezogen werden. Letztendlich lassen sich
Ein möglicher Grund dafür sind die komplexen die Anwendungsfelder nicht klar abgrenzen, da
Untersuchungsfelder, die oftmals von interdisziplinä- viele Möglichkeiten an Methodenkombinationen
ren Forschungsgruppen betrachtet werden (Meissner bestehen.
9.2 · Methodenmix
229 9

Methode 2

Methode 1 Forschungs-
gegenstand

Methode 3

. Abb. 9.2 Methodenmix in Bezug auf den Forschungsgegenstand. Jede Methode (hier in unterschiedlichen Farben und
Formen dargestellt) beleuchtet den Forschungsgegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlicher Tiefe

9.2.2 Unterscheidungskriterien Beispiel


Eine parallele qualitative und quantitative Datenerhe-
Es wird bei der Anwendung von Methodenkombi- bung kann im Rahmen eines Fragebogens stattfinden,
nationen grob darin unterschieden, indem einerseits Fragen mit vorgegebenen Skalen
4 ob in der Phase der Entwicklungdes Studien- gestellt werden (quantitative Daten) und andererseits
designs eine Kombination aus qualitativen und offene Fragen zu einem Forschungsgegenstand be-
quantitativen Methoden zur Hypothesenent- antwortet werden müssen, die von der Probandin mit
wicklung oder der Hypothesentestung geplant eigenen Worten formuliert werden (qualitative Daten).
wird, Ein Beispiel für die Kombination einer qualitativen
4 ob in der Phase der Datenerhebung und einer quantitativen Analysemethode ist die Ana-
4 eine unterschiedliche Aneinanderreihung lyse eines Experteninterviews. Hier kann neben der
von qualitativen und quantitativen strukturierten Betrachtung von Inhalten und deren
Erhebungsmethoden stattfindet (parallel möglichen Valenzen (Qualitäten) auch die Frequenz
oder hintereinander), von Formulierungen einzelner Probandinnen im Ver-
4 eine unterschiedliche Gewichtung der gleich zu anderen (Quantitäten) untersucht werden.
qualitativen und quantitativen Erhebungs-
methoden durchgeführt wird (gleich
gewichtet oder unterschiedlich gewichtet) 9.2.3 Stärken und Schwächen
oder
4 ob in der Phase der Datenanalyse eine z z Stärken
qualitative und quantitative Analysemethode Der Methodenmix kann die Abgrenzung einzelner
verwendet werden (Hussy et al. 2010, Teilbereiche eines Forschungsgegenstands ermög-
Tashakkori u. Teddlie 1998). lichen (Eingrenzung). Eine wesentliche Stärke des
230 Kapitel 9 · Weitere Forschungsmethoden

Quantitative Erste Qualitativer Zweite


Untersuchung Analyse Follow-up Analyse

Gesamt-
analyse

. Abb. 9.3 Methodenmix in der „health technology“ – Evaluationsforschung

Methodenmix ist ersichtlich, wenn die qualitative dass dies mit einem entsprechenden Zeitauswand
und die quantitative Methode die gleichen Erkennt- verbunden ist.
nisse zulassen. Hier spricht man von Komplemen-
tarität. Wenn die qualitative und die quantitative Fallbeispiele zum Methodenmix
Methode zu unterschiedlichen Erkenntnissen führen, Möglichkeiten zur Anwendung eines Methodenmix
können dadurch neue Aspekte eines Forschungsfelds sind sehr vielfältig. Vier Beispiele sollen die häufigs-
identifiziert werden (Initiation). Der Einsatz einer ten Anwendungen in der Praxis vorstellen:
9 qualitativen bzw. quantitativen Methode zum Zeit-
punkt X führt möglicherweise zu Erkenntnissen, die z z Methodenmix in der „health technology“ –
es erforderlich machen, eine weitere Untersuchung Evaluationsforschung
mit einer qualitativen bzw. quantitativen Methode Im Bereich der Evaluationsforschung ist ein Metho-
zum Zeitpunkt Y durchzuführen. Eines führt zum denmix oftmals hilfreich. Ob beispielsweise eine Tech-
anderen (Fortschritt). Die Anwendung einer qua- nologie in einem konkreten Problemfeld der Gesund-
litativen und einer quantitativen Methode ermög- heit einen Mehrwert darstellt oder nicht, kann in der
licht unterschiedliche Breite, Tiefe und Perspektive ersten Phase der Untersuchung durch den Einsatz
in Bezug auf einen Forschungsgegenstand (Erweite- eines Fragebogens herausgearbeitet werden (quanti-
rung) (Tashakkori u. Teddlie 1998, Johnson u. Onwu- tative Methode). Ergebnis dieser Untersuchung kann
egbuzie 2004). die Identifikation konkreter Problemfelder sein. In
der zweiten Phase der Untersuchung erfolgt beispiels-
z z Schwächen weise ein Leitfadeninterview mit dem Ziel, genauere
Eine Gefahr besteht möglicherweise bei der Anwen- Erklärungsmodelle für die einzelnen Problemfelder
dung mehrerer Methoden darin, dass eine gewisse zu erarbeiten (qualitative Methode, . Abb. 9.3).
Unerfahrenheit bei jungen Forschern zu Fehlern im 4 Eine Erläuterung zu den Ergebnissen aus
Rahmen der einzelnen Methoden führt. Dadurch der Untersuchung zu Phase 1 wird in der
wird das Ergebnis (Eingrenzung, Komplementari- Fachsprache erklärendes/begründendes Design
tät, Initiation, Fortschritt oder Erweiterung) bzw. die („explanatory design“) genannt.
Validität (Aussagekraft) gestört (Johnson u. Onwueg- 4 Die Nachbearbeitung der Evaluation aus Phase
buzie 2004). Da sich der Methodenmix nicht klar sys- 1 wird unter „qualitative follow up“ subsumiert.
tematisieren lässt, entsteht eine besonders große Ver- 4 Der Einsatz der Methoden erfolgt hinterein-
antwortung für den Forscher, die einzelnen Schritte ander (sequenziell).
seiner Untersuchung genau und nachvollziehbar zu
beschreiben. Darunter kann unter Umständen die z z Methodenmix in der „health education“
Reliabilität (Wiederholbarkeit) der Untersuchung Die Forschung im Bereich der „health education“
leiden. Ein nicht zu unterschätzendes Problem bei bedient sich oftmals eines Methodenmixes. Um
der Anwendung mehrerer Methoden ist die Tatsache, einen Wissenstransfer im Bereich der Gesundheit
9.2 · Methodenmix
231 9

Qualitative Erste Quantitativer Zweite


Untersuchung Analyse Follow-up Analyse

Gesamt-
analyse

. Abb. 9.4 Methodenmix in der „health education“

erfolgreich zu gestalten, erscheint es sinnvoll, am der Gesundheits-App werden qualitative Daten


Beginn der Untersuchung eine Fokusgruppe (qua- (Methode 1) betreffend der Art der Bewegung, der
litative Methode), beispielsweise mit pflegenden Bewegungsintensität sowie Parameter einer aus-
Angehörigen, durchzuführen (Phase 1). Aus der gewogenen Ernährung dokumentiert. Möglicher-
inhaltlichen Analyse der Fokusgruppe werden die weise werden Blutwerte, Gewicht, Body-Mass-
ersten Rahmenbedingungen (Wünsche, Bedürf- Index etc. in definierten Intervallen gemessen
nisse, Themenfelder usw.) eruiert. Es wird ein (. Abb. 9.5).
didaktisches Konzept entwickelt und im Rahmen 4 Die quantitative Untersuchungsphase wird von
einer Lehrveranstaltung an einer Gruppe von 2 qualitativen Untersuchungen zu Beginn und
Probanden getestet. Nach der Lehrveranstaltung am Ende umrahmt/eingebettet (eingebettetes
erfolgt eine Überprüfung, inwieweit der Wissens- Design).
transfer stattgefunden hat und wie die Zufrieden- 4 Im angeführten Beispiel haben wir wieder eine
heit der Probanden war (quantitative Methode, sequenzielle Reihung der Methoden. Es besteht
. Abb. 9.4). auch die Möglichkeit, parallel zur quantitativen
4 In der Phase 1 der Untersuchung steht die Untersuchung ein Interview zu machen
Entdeckung von Rahmenbedingungen im (paralleles Setting).
Vordergrund. Es wird daher von einem
entdeckenden Design („exploratory design“) z z Methodenmix zur Identifikation von
gesprochen.
Bedürfnissen pflegender Angehöriger
4 In diesem Fall erfolgt die Nachbearbeitung der
Untersuchung aus Phase 1 mit einer quantita- Geht es beispielsweise um die Identifizierung von
tiven Methode („quantitative follow up“). konkreten Bedürfnissen pflegender Angehöriger,
4 Hier erfolgt die Anwendung zweier Methoden so muss dieser Forschungsgegenstand kontinu-
ebenfalls wie im Beispiel oben hintereinander ierlich eingegrenzt werden. Um dieses eine Ziel
(sequenziell). zu verfolgen, werden qualitative und quantita-
tive Analysemethoden verwendet. In der ersten
z z Methodenmix in der „health technology“ – Phase werden Fokusgruppen betrachtet (Phase 1).
Akzeptanzforschung Anhand der Ergebnisse wird ein Fragebogen ent-
Nehmen wir an, es geht um eine eigens entwickelte wickelt, um im nächsten Schritt weitere Abgren-
Gesundheits-App, die dazu dienen soll, besonders zungen zu identifizieren. In einer dritten Phase
Personen anzusprechen, die keinen Wert auf Bewe- können Experteninterviews durchgeführt werden
gung und gesunde Ernährung legen. Vor und nach usw. (. Abb. 9.6).
der Intervention (Verwendung der Verhaltens- 4 Der Begriff der Triangulation und der
App) erfolgen Interviews, um die Zufriedenheit Methodenmix werden häufig synonymhaft
bzw. das Wohlbefinden der einzelnen Probandin- verwendet. Betrachtet man den Begriff der
nen zu dokumentieren. Während der Anwendung Triangulation aus der Sicht der Geodäsie
232 Kapitel 9 · Weitere Forschungsmethoden

Qualitative Qualitative
Quantitative
Untersuchung Untersuchung
Untersuchung
(Interview) (Interview)

Analyse Analyse Analyse

Gesamt-
analyse

. Abb. 9.5 Methodenmix in der „health technology“ – Akzeptanzforschung

im Sinne von Eingrenzung/Abgrenzung, Definition


so hat die wissenschaftliche Methode der Die Delphi-Studie, auch Delphi-Methode oder
Triangulation nur ein Ziel, Forschungsgegen-
9 stände abzugrenzen. Dies wird durch die
Delphi-Technik, stellt eine systematische,
mehrstufige und anonymisierte Befragung
Kombination qualitativer und quantitativer von internationalen und/oder nationalen
Methoden in Bezug auf dieses eine Ziel Expertinnen und Experten dar. Mehrstufig
(Eingrenzung/Abgrenzung) erreicht (Jick bedeutet in diesem Zusammenhang, dass
1979, . Abb. 9.6) die Zwischenergebnisse der einzelnen
Befragungsrunden in die nächste
Zusammenfassung
eingeflochten werden. Ziel ist, einen
Die Aufarbeitung eines Forschungsgegenstands Konsensus von Experten zu erlangen über
mithilfe der Kombination von qualitativen und Phänomene, Ereignisse oder Entwicklungen,
quantitativen Untersuchungsmethoden (Me- welche nicht eindeutig aus der Literatur
thodenmix) stellt eine Bereicherung dar, um die beantwortet werden können. Die Bezeichnung
Validität von Untersuchungen zu erhöhen. Der Delphi leitet sich vom Orakel von Delphi ab,
Methodenmix hilft, Forschungsfelder besser ein- das als Experte Ratschläge erteilte (Couper
zugrenzen, aber auch Widersprüche oder Lücken 1984, Häder 2013, Hasson et al. 2000, Hsu u.
zu entdecken. Mit der Komplexität bzw. der Vielfalt Sandford 2007, McKenna 1994).
der Untersuchungsmethoden steigen die Anforde-
rungen an die Untersucherin. Damit verbunden ist
auch ein erhöhter Zeitaufwand. Der Methodenmix
findet in den Gesundheitswissenschaften mit ihren 9.3.1 Wann soll die Methode
unterschiedlichen Forschungstraditionen breite angewendet werden?
Anwendungsmöglichkeiten.
Delphi-Studien werden immer dann durchgeführt,
wenn eine große Menge an Expertinnen und Exper-
9.3 Delphi-Studien ten zu einer Problemstellung befragt werden sollen
(Hsu u. Sandford 2007). Hier eignen sich Delphi-
Valentin Ritschl, Michaela Stoffer, Anna Studien besser als andere Verfahren zur Daten-
Bösendorfer, Stefanie Höchtl sammlung, da sie im Gegensatz zum Beispiel zu
9.3 · Delphi-Studien
233 9

Quantitative
Untersuchung
(Fragebogen)

Forschungs-
gegenstand

Qualitative Qualitative
Untersuchung Untersuchung
(Forkusgruppe) (Experteninterview)

. Abb. 9.6 Methodenmix zur Identifikation von Bedürfnissen pflegender Angehöriger

Fokusgruppen- oder Interviewstudien unabhängig 4 Entwicklung von Definitionen, zum Beispiel


von Wohnort und Zeitzone mit geringem finanziel- um Phänomene wie „Was ist Spiel?“ (Bösen-
lem Aufwand durchgeführt werden können. dorfer u. Höchtl 2015) oder Diagnosekriterien
für Osteoarthritis zu definieren (Hunter et al.
2011)
9.3.2 Themenstellungen 4 Entwicklung von Standards, Empfehlungen
und Leitlinien, zum Beispiel in der Versorgung
Mithilfe der Delphi-Studien können Expertinnen zu von Patienten mit rheumatoider Arthritis
nahezu allen Themen befragt werden: (Stoffer et al. 2013)
4 Übereinstimmung von Terminologien erreichen,
zum Beispiel um dadurch Studienergebnisse
vergleichbar zu machen (Stanton et al. 2011) 9.3.3 Welche Schritte müssen
4 Entwicklung von Qualitätsindikatoren bezogen eingehalten werden?
auf Gesundheitsversorgung, zum Beispiel
Indikatoren für die Versorgung von schwan- Für die Durchführung von Delphi-Studien gibt
geren Frauen mit einer HIV-Erkrankung es keine international anerkannte Grundstruktur
(Hermanides et al. 2011) (Hasson et al. 2000). Boulkedid et al. (2011) führten
4 Entwicklung von Assessments und ein Review durch, um eine mögliche Grundstruk-
Screeninginstrumenten, zum Beispiel um tur zu entwickeln. Diese kann aufgrund von gewis-
einen Konsens bezüglich der Inhalte von sen Gegebenheiten, zum Beispiel wenn es zu keinem
Assessments (7 Abschn. 11.3.2) zu erreichen Konsens kommt, verändert werden. Die folgende
(Eberman u. Cleary 2011) oder um Checklisten Schritte werden empfohlen (Boulkedid et al. 2011,
zu kreieren (Pijls et al. 2011) Hasson et al. 2000).
234 Kapitel 9 · Weitere Forschungsmethoden

Vorbereitung des ersten Fragebogens Je mehr Teilnehmende, desto mehr Daten können
Als erster Schritt müssen das Ziel und auch das erfasst werden, was jedoch auch die Analyse der
Ergebnis der Studie definiert werden. Je genauer Daten erschwert. Heterogen bedeutet, möglichst alle
definiert wird, was von den Expertinnen und Exper- Menschen, die ein Interesse an der untersuchten The-
ten erwartet wird, desto einfacher kann ein Konsens matik haben, zu erfassen. Dies sind zum Beispiel die
erreicht werden. Wichtig ist es auch zu definieren, Professionalisten und Patienten. Nur dann wird das
wann ein Konsens erreicht ist. Wird eine 100 %ige Ergebnis auch interprofessionell anerkannt werden.
Übereinstimmung erwartet, wird dies schwerer zu Um potenzielle Expertinnen zu rekrutieren, können
erreichen sein als bei einer 75 % Übereinstimmung. Autoren von Fachliteratur, Expertinnen aus Wissen-
Die Literatur beschreibt einen Konsens zwischen 51 schaft und Praxis und persönlich bekannte Experten
und 80 % (Hasson et al. 2000). Wenn das Ziel fest- eingeladen werden.
steht, muss im nächsten Schritt die Umfrage, der Die Auswahl der Experten stellt einen sehr
erste Fragebogen erstellt werden. Dies wird aufbau- wichtigen Punkt im Prozess dar, da alle Ergebnisse
end auf einer Literaturrecherche durchgeführt, zum der Diskussion auf genau diesen Experten basie-
Beispiel bieten sich Scoping Reviews an (Davis et al. ren (Judd 1972). Es wird daher empfohlen, diesen
2009). Schritt gut zu planen und aufmerksam durchzu-
führen. Problematisch ist, dass „Expertinnen und
> Je besser und genauer diese Recherche Experten“ nicht klar definierbar sind – d. h. die Ent-
durchgeführt wird, desto besser kann auch scheidung, ob eine Person dazu zählt, ist sehr sub-
ein Konsens gefunden werden. jektiv. Anschließend werden die potenziellen Teil-
9 nehmerinnen angeschrieben und zu der Studie
Aus den Ergebnissen dieser Recherche erstellt der eingeladen.
Projektleiter die erste Definition/Beschreibung
eines Themas. Der erste Fragebogen ist durch
offene Fragen meist qualitativ aufgebaut. Alterna- Aussenden des ersten Fragebogens
tiv können die qualitativen Daten auch durch eine Der fertige Fragebogen wird nun an alle Teilnehme-
Fokusgruppe oder durch Interviews eingeholt rinnen ausgesendet, die einer Teilnahme zugestimmt
werden. Wie bei allen Befragungen sollten auch die haben. Es wird empfohlen, für diese Aussendung ein
Fragebögen einer Delphi-Studie an einer kleine- (für Studierende) kostenloses Online-Tool, wie zum
ren Gruppe vorgetestet werden. Es wird empfohlen, Beispiel SoSci Survey (www.soscisurvey.de), zu ver-
der Umfrage auch eine Skala zum Bewerten dieser wenden. Dieses Tool bietet eine nutzerfreundliche
Definition zuzufügen. Dies kann zum Beispiel eine Anwendung zum Erstellen, Verwalten und Auswer-
visuelle Analogskala sein. Außerdem wird empfoh- ten von Fragebögen. Die Expertinnen beantworten
len, Möglichkeiten zum Kommentieren in den Fra- die Fragen anonym und unabhängig voneinander.
gebogen einzubauen, damit die Expertinnen und Meist reagieren nicht alle Expertinnen auf den ersten
Experten auch Feedback und Ideen hinzufügen Aufruf, sodass hier einerseits Erinnerungs-E-Mails
können. versandt werden müssen und andererseits genügend
Zeit eingeplant werden muss, um die Studie erfolg-
reich durchzuführen.
Rekrutierung der Teilnehmerinnen
Um einen möglichst breiten Konsens zu erreichen, > Es wird empfohlen, im Fragebogen einen
wird empfohlen, eine maximal heterogene, inter- Code von den Teilnehmern eingeben zu
nationale und große Gruppe an Expertinnen und lassen. So kann identifiziert werden, wer
Experten zusammenzustellen. Dies sind Menschen, schon an der Umfrage teilgenommen hat und
die bereits über umfangreiches Wissen über das wer noch erinnert werden muss. Zusätzlich
Thema der Studie verfügen (McKenna 1994). Die können so die Antworten von der ersten bis
in der Literatur beschriebene Anzahl der Teilneh- zur letzten Runde verfolgt werden, auch wie
menden variiert sehr stark zwischen 15 und über 60. sich diese verändert haben.
9.3 · Delphi-Studien
235 9
Durchführung weiterer Umfragen Beispiel
Die Ergebnisse jeder Runde werden zusammenge- Ein Beispiel für eine Delphi-Studie ist die Studie von
fasst und anonymisiert an die Experten weiterge- Stoffer (et al. 2013) zur Entwicklung von Standards,
leitet. Basierend auf den Ergebnissen wird für jede Empfehlungen und Leitlinien in der Versorgung
Runde ein neuer Fragebogen erarbeitet. Themen von Patienten mit rheumatoider Arthritis. In dieser
oder Teile von Definitionen, die als nicht bedeutend Studie wurden von einer internationalen und inter-
eingeschätzt wurden, werden entfernt. Die Kom- disziplinären Expertengruppe Behandlungsstan-
mentare, Ideen und Anmerkungen der Teilneh- dards für Experten und für Patienten entwickelt.
menden werden in die nächste Version der Umfrage Ziel dieser Arbeit war es, evidenzbasiertes Wissen
eingebaut. Große Diskrepanzen werden entweder in einfacher Sprache einer großen Personengruppe
eingearbeitet oder in der Gruppe diskutiert. Dieser zugänglich zu machen. Die Grundlage dieser Arbeit
Prozess wird fortgesetzt, bis ein Konsens erreicht bildete eine umfangreiche Literaturrecherche, um
ist oder kaum mehr Antworten zurückkommen. nationale und internationale Leitlinien zu identifi-
Meist benötigt eine Delphi-Studie zwischen 2 und zieren. Alle Empfehlungen/Interventionen aus den
4 Runden. Um einen Konsens zu erreichen, wird Leitlinien wurden extrahiert und zusammengefasst
meist in der letzten Runde ein Fragebogen erstellt, und stellten die Basis für die erste Runde im Delphi-
in dem die Expertinnen sowohl ihre eigene, letzte Prozess dar. Die Bewertungen und Rückmeldungen
Einschätzung (z. B. visuelle Analogskala) als auch der Expertengruppe wurden eingearbeitet und
einen Durchschnitt aller Expertenschätzungen stellten die Grundlage für die nächste Befragungs-
sehen können. Aufgrund dieses Wissens sollen runde dar. Der Konsensus konnte in 3 Runden er-
sie eine letzte, finale Schätzung abgeben. In dieser reicht werden und resultierte in 16 Behandlungs-
Runde werden dann keine Anmerkungen oder standards. Diese wurden in 23 Sprachen übersetzt.
Formulierungsvorschläge an die Forscherinnen
gerichtet.
9.3.4 Stärken und Schwächen
> Es ist wichtig, auch alle Zwischenergebnisse
gut zu dokumentieren. z z Stärken
4 Da es sich um Expertenbefragungen handelt,
ist das Einreichen bei der Ethikkommission
Varianz in der Durchführung von nicht nötig.
Delphi-Studien 4 Die Delphi-Studie stellt die einzige Möglichkeit
Kann kein Konsens erreicht werden, wird ein dar, um kostengünstig zu einer breiten
Treffen der Expertinnen oder eine Telefonkon- Expertenmeinung zu kommen.
ferenz empfohlen. Die Expertinnen bekommen 4 Sie bietet die Möglichkeit, eine Basis zu kreieren,
dadurch die Möglichkeit, sich im direkten Kontakt auf der weitere Studien zu Assessments, Inter-
auszutauschen, Unklarheiten zu besprechen und ventionen oder Pathways aufbauen können.
Missverständnisse auszuräumen. Diese Treffen 4 Die Teilnehmenden müssen sich nicht
fördern meist den Prozess, und ein Konsens kann gemeinsam an einem Ort zusammenfinden.
schneller erreicht werden. Jedoch kommen an
diesem Punkt gruppendynamische Prozesse in z z Schwächen
Gang, die das Ergebnis des Konsenses beeinflus- 4 Delphi-Studien sind meist sowohl für die
sen können. Forscherinnen und Forscher als auch für die
Expertinnen und Experten sehr zeitaufwändig
> Auch ein Konsensus über Dissens ist ein (Hsu u. Standford 2007).
möglicher Konsensus (Ergebnis) einer 4 Zeitplanung: Man weiß im Vorhinein nicht, wie
Delphi-Studie, der somit zu einer Beendigung viele Runden nötig sind, um einen Konsens zu
führen kann. erlangen.
236 Kapitel 9 · Weitere Forschungsmethoden

4 Meinungen von Expertinnen haben keinen Roeder N, Hensen P, Hindle D, Loskamp N, Lakomek H-J (2003)
Instrumente zur Behandlungsoptimierung. Klinische
Anspruch auf Richtigkeit und können sich
Behandlungspfade. Chirurg 74 (12): 1149–1155
als falsch herausstellen. Ein Beispiel für eine Roeder N, Küttner T (Hrsg.) (2007) Klinische Behandlungspfa-
berühmte Fehleinschätzung stammt von Darryl de. Mit Standards erfolgreicher arbeiten. Deutscher Ärzte
Zanuck, Leiter von 20th Century-Fox (1902– Verlag, Köln
1979): „Das Fernsehen wird nach den ersten Vanhaecht K, Panella M, van Zelm R, Sermeus W (2010) An
overview on the history and concept of care pathways
6 Monaten am Markt scheitern. Die Menschen
as complex interventions. International Journal of Care
werden es bald satt haben, jeden Abend in eine Pathways 14 (3):117–123
Sperrholzkiste zu starren.“
4 Es gibt kein objektives Merkmal von Experten. Literatur zu Abschn. 9.2
Das heißt, die Auswahl ist subjektiv und muss Hussy W, Schreier M, Echterhoff G (2010) Forschungsmetho-
gut bedacht werden, um nicht von Anfang an den in Psychologie und Sozialwissenschaften für Bache-
lor. Springer, Heidelberg
einen negativen Einfluss auf das Ergebnis zu
Jick T (1979) Mixing qualitative and quantitative methods:
haben. Triangulation in action. Administrative Science Quarter
4 Um das Thema gut für die Expertenbefragung 24: 602–611
aufzubereiten, muss im Vorfeld eine Literatur- Johnson RB, Onwuegbuzie AJ (2004) Mixed methods research:
recherche durchgeführt werden. Das heißt, A research paradigm whose time has come. Educational
Researcher 33 (7): 14–26
eine Delphi-Studie hat immer im Vorfeld eine
Johnson RB, Onwuegbuzie AJ, Turner LA (2007) Toward a
andere Methodik, die den Aufwand für die definition of mixed methods research. Journal of Mixed
Forscher erhöht. Methods Research 1 (2): 112–133
9 4 Bei offenen und nicht anonymen Befragungen Meissner H, Creswell J, Klassen A, Clark V, Smith K (2010)
können gruppendynamische Prozesse Best practices for mixed methods research in the health
sciences. https://tigger.uic.edu/jaddams/college/busi-
entstehen, die die Ergebnisse der Studie stören.
ness_office/Research/Best_Practices_for_Mixed_Met-
hods_Research.pdf, letzter Zugriff 25.8.2015
Zusammenfassung Tashakkori A, Teddlie C (1998) Mixed methodology: Combi-
Die Delphi-Methode eignet sich schon auf Bachelo- ning qualitative and quantitative approaches applied
rebene, um einen internationalen Expertenkonsens social research, Vol. 46. Sage, London
zu schaffen. Da jedoch ein Review der Delphi-Me- Literatur zu Abschn. 9.3
thode vorausgehen muss, ist mit einem erhöhten
Bösendorfer A, Höchtl S (2015) A generally accepted definition
Zeitaufwand zu rechnen. of „Play“ – a Delphi study based on a scoping review. IMC,
Krems
Boulkedid R, Abdoul H, Loustau M, Sibony OO, Alberti C (2011)
Literatur Using and reporting the Delphi method for selecting
healthcare quality indicators: a systematic review. PloS
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239 10

ICF-basierte
Forschungsmethoden
Ursula Costa

10.1 Internationale Klassifikation von Funktionsfähigkeit,


Behinderung und Gesundheit (ICF) – 240
10.1.1 Einführung – 240
10.1.2 Terminologie – 240

10.2 ICF als Bezugsrahmen für Forschungsvorhaben – 241


10.2.1 Überlegungen zu Forschungsmethoden – 241
10.2.2 Themenstellungen – 243
10.2.3 Beispiele – 244

10.3 Stärken und Schwächen – 245

Literatur – 246

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5_10
240 Kapitel 10 · ICF-basierte Forschungsmethoden

In der Auseinandersetzung mit Forschungsmetho- Als biopsychosoziales Gesundheitsmodell und


den und Studiendesigns im Gesundheitsbereich ist als internationale Klassifikation bietet die ICF eine
eine Bezugnahme auf die ICF als internationale Klas- gemeinsame internationale und interdisziplinäre
sifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Sprache und trägt zu einem gemeinsamen Verständ-
Gesundheit im Sinne internationaler und interdis- nis der Dynamik von Gesundheit und mit Gesund-
ziplinärer sprachlicher und konzeptioneller Anbin- heit zusammenhängenden Lebenssituationen bei
dung empfehlenswert. Im Folgenden dazu eine Ein- und ebenso zur Verständigung von Betroffenen und
führung mit Impulsen für Studierende und (ihre) deren Angehörigen mit den unterschiedlichen Pro-
Forschungsarbeiten. fessionen im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwe-
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sen weltweit. So unterstützt sie auch internationale
bietet mit der Internationalen Klassifikation von Zusammenarbeit in der Gesundheitsversorgung, im
Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesund- Kommunizieren, Nutzen und Vergleichen gesund-
heit (ICF) sowohl als Gesundheitsmodell als auch heitsrelevanter Daten und Forschungsergebnisse
als Klassifikation von Gesundheitszuständen und zwischen Ländern, Disziplinen und im Zeitverlauf
-komponenten einen interdisziplinären Rahmen (Schuntermann 2013).
für die Grundlagenforschung wie auch für die Die ICF basiert auf dem Wissen zahlreicher
angewandte Forschung. Die ICF integriert medi- Professionen und Disziplinen und kann diesen im
zinische, therapeutische, pflegerische, psycholo- Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen in Praxis,
gische und soziale Ansätze im Verständnis von Lehre und Forschung als Bezugsrahmen dienen. Als
Gesundheit, Krankheit und Behinderung in einem Rahmenmodell unterstützt sie in der Planung, Imple-
biopsychosozialen Modell (WHO 2001). So können mentierung, Dokumentation, Evaluation und Weiter-
sämtliche Disziplinen, die sich mit menschlicher entwicklung von Maßnahmen. Im Forschungsbereich
10 Gesundheit und Wohlbefinden beschäftigen, For- sind in Bezugnahme auf die ICF sämtliche in den
schungsthemen mithilfe der ICF verorten, entwi- genannten Disziplinen üblichen Forschungsmetho-
ckeln und diskutieren. Dabei sind zahlreiche für den und die damit verbundenen Zugänge aus Natur-,
den Gesundheits- und Sozialbereich sinnvolle For- Sozial- und Geisteswissenschaften anwendbar.
schungsmethoden anwendbar (vgl. Hollenweger u. Im medizinischen Kontext trägt die ICF neben
Rentsch 2013). der Beschreibung von Gesundheitszuständen zur
Auswahl, Abstimmung und Evaluation entsprechen-
der Maßnahmen, Versorgungsketten und Daten-
10.1 Internationale Klassifikation organisation bei (Wendel u. Schenk zu Schweinsberg
von Funktionsfähigkeit, 2012). Hinsichtlich der Ätiologie von Gesundheits-
Behinderung und Gesundheit zuständen bzw. Schädigungen, Einschränkungen
(ICF) oder Behinderungen nimmt die ICF eine unabhän-
gige Position ein.
10.1.1 Einführung

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröf- 10.1.2 Terminologie


fentlichte die ICF zur Beschreibung von Gesundheit
und mit Gesundheit und Wohlbefinden zusammen- Die in der ICF beschriebenen Komponenten der
hängenden Zuständen 2001 für den internationalen Gesundheit (Körperstrukturen, Körperfunktionen,
Gebrauch (WHO 2001). Darauf folgend wurde eine Aktivitäten, Partizipation und Kontextfaktoren)
speziell für Kinder, Jugendliche und deren Umwelten bieten sämtlichen Disziplinen im Gesundheitsbe-
adaptierte Version erarbeitet, die International Clas- reich die Möglichkeit, ihre Forschungsvorhaben zu
sification of Functioning, Disability, and Health – verorten und aufeinander zu beziehen. Im Folgen-
Children & Youth Version (ICF-CY) (WHO 2007, den werden ausgewählte Begrifflichkeiten der ICF
2011b). erläutert.
10.2 · ICF als Bezugsrahmen für Forschungsvorhaben
241 10
Im Modell der ICF sind die Komponenten der und psychologischen Funktionen, anatomischen
Gesundheit einerseits der Funktionsfähigkeit, ande- Strukturen, Handlungen, Aufgaben oder Lebensbe-
rerseits dem Kontext zugeordnet. Funktionsfähig- reichen“ (WHO 2001, S. 29). Diese Domänen sind:
keit bezieht sich auf Körperstrukturen und Körper- Lernen und Wissensanwendung, allgemeine Aufga-
funktionen sowie auf Aktivitäten und Partizipation, ben und Anforderungen, Kommunikation, Mobili-
Umwelt wird mittels Kontextfaktoren (Umweltfak- tät, Selbstversorgung, häusliches Leben, interperso-
toren und personenbezogene Faktoren) beschrieben nelle Interaktionen und Beziehungen, bedeutende
(WHO 2001, 2011b). Partizipation meint Teilhabe Lebensbereiche, Gemeinschafts-, soziales und staats-
einer Person in ihrer Lebens(um)welt und bezieht bürgerliches Leben.
sich dabei auf den konkreten Alltag eines Menschen.
Probleme, die ein Mensch im Einbezogensein in eine
Lebenssituation erlebt, werden als Einschränkungen 10.2 ICF als Bezugsrahmen für
der Partizipation bezeichnet. Forschungsvorhaben
Aktivitäten in der ICF beschreiben, was ein
Mensch tun kann. In der Klassifikation von Aktivi- 10.2.1 Überlegungen zu
täten und Partizipation werden Leistungsfähigkeit Forschungsmethoden
(„capacity“) und Leistung („performance“) unter-
schieden: Leistungsfähigkeit bedeutet die Fähig- Die ICF kann sowohl für Grundlagenforschung
keit, eine Aufgabe zu erfüllen, etwas tun zu können. als auch für angewandte Forschung (einschließlich
Leistung beschreibt, wie die jeweilige Aufgabe im Praxisforschung) verwendet werden. Grundlagen-
Alltag gelöst werden kann, und inkludiert dabei forschung ermöglicht Erkenntnisse, die zur Theo-
den Kontext. Leistung ist im jeweiligen Lebensalltag riebildung und -überprüfung beitragen, und kann
erlebbar bzw. beschreibbar. generalisierbares Wissen hervorbringen. Ange-
Behinderung umfasst in der Sprache der ICF alle wandte Forschung mithilfe der ICF kann zur Lösung
Schädigungen und Beeinträchtigungen der Aktivi- von Problemstellungen im Kontext der Gesundheit,
täten und der Partizipation. Behinderung entsteht des Bildungs- und Sozialwesens beitragen. Praxisfor-
aus einer komplexen Wechselwirkung zwischen den schung zielt auf Beantwortung von Fragen aus dem
Komponenten des Körpers, den Komponenten von unmittelbaren Praxisfeld und soll der Optimierung
Aktivitäten und Partizipation sowie den Kontext- von Handlungsansätzen, die für die Praxis relevant
faktoren. Somit wird Behinderung nicht als Defizit sind, und der weiteren Konzeptentwicklung dienen,
eines Individuums, sondern als ganzheitliche und zum Beispiel im Sinne der Verbesserung von Pro-
damit besonders auch aus der Umwelt einwirkende zessen bzw. Maßnahmen in der Patientenversorgung
Situation verstanden (Rentsch u. Bucher 2005, (vgl. van der Donk et al. 2014). Hier können mithilfe
S. 25). Schädigungen bezeichnen „Beeinträchti- der ICF auch Themenstellungen, die während eines
gungen von Körperstrukturen oder Körperfunktio- Berufspraktikums bzw. des beruflichen Alltags auf-
nen“ (WHO 2011b, S. 36). Kontextfaktoren einer tauchen, aufgegriffen und im Rahmen von Bachelor-
Gesundheitssituation werden in personenbezo- und Masterarbeiten bearbeitet werden.
gene Faktoren und Umweltfaktoren klassifiziert. Sie Je nach Evidenzlage, Forschungsfrage und For-
beschreiben den Lebenshintergrund von Menschen. schungsziel sind unterschiedlichste Forschungsme-
Kontextfaktoren können als Barrieren oder Förder- thoden zur systematischen Recherche und Analyse
faktoren auf die Gesundheitssituation, auf Aktivitä- von Literatur bzw. zur Generierung von neuem
ten und Partizipation eines Menschen wirken und Wissen wählbar. Die Daten können in qualitativen,
werden aus der Sicht der Betroffenen codiert (WHO quantitativen oder Mixed-methods-Studiendesigns
2011b, S. 31). erhoben und analysiert werden. Dabei sind sämtli-
Die ICF unterteilt systematisch 9 der Gesundheit che für den jeweiligen Forschungskontext passende
zugeordnete Domänen. Eine Domäne bezeichnet Forschungsmethoden, wie Literaturarbeiten, Fall-
eine „praktikable und sinnvolle Menge von miteinan- studien, Kohortenstudien, Delphi-Studien, rando-
der im Zusammenhang stehenden physiologischen misierte kontrollierte Studien usw. denkbar. Die
242 Kapitel 10 · ICF-basierte Forschungsmethoden

ICF kann als Bezugsrahmen für Querschnitts- wie ICF-Komponente dafür, nach dem angemessensten
für Längsschnittstudien zum Beispiel zur Untersu- Kapitel daraus und der präzisesten Kategorie im aus-
chung der Beziehungen von Gesundheitskomponen- gewählten Kapitel. Diese Zuordnungen werden unter
ten eingesetzt werden (Rouquette et al. 2015). den Forscherinnen verglichen und bis zum Konsens
In der ICF findet der Kontext als Wirkgröße abgestimmt. Der ICF nicht zuordenbare Informa-
auf die Gesundheit (Funktionsfähigkeit, Krankheit tionen werden mit „nc“ („not covered“) bezeichnet.
oder Behinderung) besondere Beachtung. Insofern Die 2005 aktualisierten 8 Regeln zum Linken von
eignet sich die ICF auch zur Systematisierung von ICF-Kategorien (vgl. Cieza et al. 2005, S. 215) sind:
Forschungszielen, Fragestellungen und Ergebnis- 4 Es gilt, eine gute Wissensgrundlage über
sen, die sich mit Einflüssen von materieller, sozia- Konzept und Taxonomie der ICF zu haben,
ler und einstellungsbezogener Umwelt auf Gesund- einschließlich der Kapitel, Domänen und
heitssituationen auswirken. Umgekehrt kann sich Kategorien.
die Gesundheitssituation eines Menschen auch auf 4 Jede Bedeutungseinheit wird mit der präzi-
dessen Umwelt auswirken. Auch solche Fragestellun- sesten ICF-Kategorie „gelinkt“.
gen und Ergebnisse können mithilfe der ICF näher 4 „Nicht spezifiziert“ (Code 8) sollte beim Linken
untersucht und diskutiert werden. als Kategorie nicht verwendet werden; statt-
Durch das Anerkennen und Beschreiben der dessen wird dokumentiert, dass die entspre-
Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt chende Zusatzinformation in der ausgewählten
auf die jeweilige Gesundheitssituation können Kategorie nicht explizit benannt ist.
sowohl für die Praxis als auch für die Forschung 4 Ebenso soll die Kategorie „nicht anwendbar“
„nützliche Profile der Funktionsfähigkeit, Behin- (Code 9) beim Linken nicht verwendet werden.
derung und Gesundheit eines Menschen für unter- 4 Wenn die Zuordnung der Information einer
10 schiedliche Domänen“ dargestellt und wissenschaft- Bedeutungseinheit nicht eindeutig zu einer
lich untersucht werden (WHO 2011a, S. 29). Gerade bestimmten ICF-Kategorie vorgenommen
die Untersuchung der Auswirkungen von Interven- werden kann, soll sie mit „nd“ („not definable“)
tionen auf die Partizipation von Klienten unterstützt bezeichnet werden.
das Einholen der Perspektive der Betroffenen und 4 Wenn die Bedeutungseinheit in der ICF nicht
ihres unmittelbaren sozialen Kontexts. Hier können enthalten ist, sie aber eindeutig den personen-
u. a. Zugänge aus der partizipativen Sozialforschung bezogenen Kontextfaktoren zuordenbar ist, soll
dem Erkenntnisgewinn dienen. sie als „pf “ („personal factor“) gekennzeichnet
Auch theoretische Arbeiten, wie zum Beispiel die werden.
Verbindung von berufsspezifischen Modellen mit 4 Wenn die Bedeutungseinheit in der ICF
der ICF (vgl. Stamm et al. 2006), sind unverzichtbare nicht enthalten und kein personenbezogener
Beiträge, die die Berufsentwicklung in Theorie und Kontextfaktor ist, wird sie „nc“ („not covered“)
Praxis wesentlich unterstützen können. Eine ICF- zugeordnet.
basierte Forschungsmethode, die in dieser Studie 4 Wenn sich die Bedeutungseinheit auf eine
angewandt wurde, ist das systematische Zuordnen bestimmte Diagnose bzw. Gesundheitssituation
(Linken) von Konzepten und/oder den Items von bezieht, wird sie „hc“ („health condition“)
Instrumenten und berufsspezifischen Modellen zu zugeordnet.
den ICF-Kategorien, die jeweils am genauesten den
Inhalt eben dieser Items abbilden (Cieza et al. 2002, ICF-Core-Sets erleichtern die Beschreibung der
2005). Dadurch können Instrumente und Modelle in Funktionsfähigkeit bzw. Behinderung eines Men-
die ICF-Sprache übersetzt und anhand dieses Klassi- schen, indem sie eine für die spezifische Gesund-
fikationsrahmens inhaltlich verglichen werden. heitsproblematik und den jeweiligen Gesund-
Beim Linken setzen sich die Forscher unabhän- heitskontext relevante Liste von Kategorien, die
gig mit dem vorhandenen Datenmaterial auseinan- auf wissenschaftlicher Basis erarbeitet wurden,
der und identifizieren sog. Bedeutungseinheiten. zur Verfügung stellen (Bickenbach et al. 2012, Selb
Im nächsten Schritt suchen sie nach der passenden et al. 2015). Für die praktische und wissenschaftliche
10.2 · ICF als Bezugsrahmen für Forschungsvorhaben
243 10
Arbeit gibt es sowohl kurze als auch umfassende Fas- solchen Forschungsarbeiten ist der direkte Kontakt
sungen der Core-Sets für Akut- und Postakutphase zur entsprechenden Berufsvertretung und zum
sowie für chronische Erkrankungen. Die Erarbeitung jeweiligen ICF Research-Branch (dem damit befass-
von Core-Sets folgt einem klar beschriebenen evi- ten Studienzentrum) wichtig. Andere ICF-basierte
denzbasierten und internationalen Konsensuspro- Studien können sowohl zum Entlassungsmanage-
zess, in den auch Beiträge von Studierenden einflie- ment als auch zum Übergang von der Akutstation
ßen können. zur stationären und weiter zur ambulanten Rehabi-
In der ersten Phase werden in empirischen und litation auch von Masterstudierenden konzipiert und
qualitativen Studien Patientendaten erhoben, Exper- evaluiert werden.
tenmeinungen weltweit eingeholt, und die Literatur
wird im Hinblick auf eine bestimmte Gesundheitssi-
tuation systematisch recherchiert (z. B. Scheuringer 10.2.2 Themenstellungen
et al. 2010). In Phase 2 werden in internationalen
interdisziplinären Konsensuskonferenzen in den Die ICF unterstützt interdisziplinäre Forschung zu
WHO-Regionen darauf aufbauend Erstversionen Behinderung und Gesundheit im Alltagskontext von
der Core-Sets entwickelt. In Phase 3 folgen, in inter- Menschen, indem sie ein Rahmenmodell und eine
nationaler Zusammenarbeit, interdisziplinäre und Struktur bietet, die die Forschungsergebnisse ver-
berufsspezifische Validierungs- und Implementie- gleichbar macht (WHO 2002, S. 7). Dabei ermög-
rungsstudien (z. B. Core-Sets für Patientinnen nach licht sie, nicht nur auf Körperstrukturen und Körper-
Schlaganfall aus Sicht der Ergotherapie/Physiothe- funktionen, sondern ebenso auf soziale Rollen und
rapie/Pflege). Diese wurden für einige Krankheits- Bedingungen von Menschen systematisch einzuge-
bilder (z. B. Depression oder Querschnittssyndrom) hen. So wird dem Menschen als handelndes Wesen in
bereits durchgeführt (Ballert et al. 2014), für andere seiner Lebensumwelt Beachtung geschenkt, was auch
(z. B. Schizophrenie) liegen sie zum gegebenen Zeit- wesentlicher Forschungsgegenstand der Handlungs-
punkt noch nicht vor. wissenschaften („occupational science“) ist. Für die
Validierungsstudien, die zusätzlich zur Pers- Vergleichbarkeit und die Bezugnahme von Daten auf
pektive der Gesundheitsberufsangehörigen auch die ICF ist die Berücksichtigung der oben genann-
die Patientenperspektive erheben, können zum Bei- ten Regeln für das Linken notwendig (vgl. Cieza
spiel im Rahmen von Fokusgruppen oder Einzel- et al. 2002, 2005).
interviews untersuchen, ob die ICF-Core-Sets die Das Wechselwirkungsmodell der ICF ermög-
Aspekte der Funktionsfähigkeit, die aus der Sicht der licht es zum Beispiel bei Interventions- und Wirk-
Patientinnen relevant sind, beinhalten (vgl. Stamm samkeitsstudien (z. B. Sabariego et al. 2013), die
et al. 2005). In Implementierungsstudien, die den Auswirkung von Maßnahmen auf die Teilnahme
Gebrauch des Core-Sets für eine bestimmte Erkran- in geprüften Lebensbereichen zu erfassen. Manche
kung/Funktionsstörung untersuchen, wird u. a. ana- Interventionen wirken auf Körperfunktionsebene,
lysiert, ob die Core-Sets den Problemen der betref- andere im Bereich der Aktivitäten und der Partizi-
fenden Patientin im klinischen Alltag entsprechen. pation, bzw. sie verändern die Umwelt durch mehr
Weitere Forschungsarbeiten können die Entwicklung Förderfaktoren oder eine Reduzierung von Barrie-
von ICF-basierten Dokumentationsformularen hin- ren. All diese Ergebnisse können die Funktionsfä-
sichtlich Praktikabilität überprüfen. Empfehlenswert higkeit beeinflussen (WHO 2002, S. 8).
ist dabei die Kooperation mit den jeweiligen natio- Die Bezugnahme auf das Modell der ICF erlaubt
nalen und internationalen Berufsverbänden, um bei- ein Zuordnen und Konkretisieren von Forschungs-
spielsweise via E-Mail-Survey Angehörige der jewei- vorhaben und Forschungsfragen. Diese können sich
ligen Berufsgruppe im entsprechenden Arbeitsfeld zum Beispiel mit Körperstrukturen, Körperfunk-
zu erreichen. tionen, Aktivitäten, Partizipation, personenbezo-
Auch im lokalen interdisziplinären Team kann genen, umweltbezogenen Kontextfaktoren und mit
Rückmeldung mittels wissenschaftlichen Vorgehens der Gesundheitssituation selbst befassen. Auch ein
eingeholt werden (vgl. van der Donk et al. 2014). Bei Erforschen der Beziehung(en) zwischen diesen und
244 Kapitel 10 · ICF-basierte Forschungsmethoden

innerhalb dieser Gesundheitsfaktoren kann mithilfe werden; die Spezifität eines Assessments kann
des Übersichtsmodells der ICF konkretisiert werden auf ICF-Kategorien und -Codes bezogen werden
(Ptyushkin et al. 2015). Dabei stellen sich zum Bei- (vgl. Stamm et al. 2004). Ebenso können Empfeh-
spiel Fragen nach den Wirkungen bestimmter Kör- lungen für den Gebrauch spezifischer Assessments
perfunktionen (oder deren Schädigungen) auf eine mithilfe der ICF abgeleitet werden (Silva et al. 2015;
Gesundheitssituation, bzw. nach der Wirkung eines vgl. 7 Kap. 11).
bestimmten umweltbezogenen Kontextfaktors auf Auch die Entwicklung von Rehabilitationsver-
eine Gesundheitssituation. Auch Fragen zu Wech- läufen und die jeweils dominierenden Gesundheits-
selwirkungen zwischen Partizipation und Gesund- komponenten können in den verschiedenen Phasen
heitssituation bzw. zwischen Partizipation, Körper- einer Erkrankung bzw. Funktionseinschränkung –
funktionen und Gesundheitssituation können neue zum Beispiel nach Schlaganfall – mithilfe der ICF
Erkenntnisse erschließen. systematisch mit Einbeziehung interdisziplinärer
Gesundheitsberufe können durch Forschungs- und internationaler Perspektiven untersucht werden
arbeiten derzeit vorhandenes Gesundheitswissen auf (vgl. Scheuringer et al. 2010).
dessen Gültigkeit hin überprüfen und neues generie- Angehörige von Gesundheitsberufen können
ren. Sie tragen u. a. zur Weiterentwicklung der ICF forschungsbasiert an der Entwicklung und Evalua-
bei, wenn sie Fragen aus ihrer disziplinären Perspek- tion von ICF-Core-Sets und an Empfehlungen
tive in Verbindung mit der ICF nachgehen und Ant- für die klinische Versorgung mitwirken (vgl. z. B.
worten auf diese Fragen in Bezug auf die ICF disku- Ballert et al. 2014 zu ICF-Core-Sets für Querschnitt-
tieren (Ptyushkin et al. 2015). syndrom; Ptyushkin et al. 2015 zur Untersuchung
häufigster Gesundheitsprobleme bzw. Funktions-
einschränkungen in Verbindung mit 21 ICF-Co-
10 10.2.3 Beispiele re-Sets zur Generierung übergreifender ICF-Ka-
tegorien; www.icf-research-branch.org/download/
Biomedizinische Analytiker untersuchen zum Bei- category/4-icf-core-sets).
spiel Fragen zum Zusammenhang zwischen perso- Eigene Forschungsthemen erschließen sich aus
nenbezogenen Kontextfaktoren (z. B. Geschlecht, der Bezugnahme professionsspezifischer Begriff-
Alter, genetische Prägung, Lebensstil) und Blutwer- lichkeiten mit jener der ICF. Solche Arbeit regt für
ten (Körperfunktionen). Für Ergotherapeutinnen die Weiterentwicklung notwendige Diskurse und
sind u. a. Fragen nach Auswirkungen von Partizipa- damit das Überdenken und (neu) Definieren von
tion in den Lebensumwelten auf die Gesundheitssi- Fachsprache und damit ausgedrückten Inhalten,
tuation eines Menschen (und umgekehrt) wesent- Vorstellungen und Ideen zur Gesundheit, Krank-
lich. Diätologen können sich mit umweltbezogenen heit, Behinderung von Menschen an (vgl. Prodinger
Kontextfaktoren (z. B. Zugänglichkeit zu gesunden et al. 2015, Ptyushkin et al. 2015, Schönwiese 2009).
Nahrungsmitteln) und deren Auswirkungen auf Kör- Mithilfe der ICF als Bezugsrahmen in der Forschung
perstrukturen (z. B. Strukturen von Haut, Knochen, können u. a. Fragen untersucht werden hinsichtlich
Organen) und Partizipation (gemeinschaftliches der optimalen Abläufe in interdisziplinärer Gesund-
Zubereiten und Einnehmen von Mahlzeiten) befas- heitsversorgung, des Schnittstellenmanagements,
sen. Solche und andere Forschungsthemen sind nicht der Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen auf
nur für die jeweilige Berufsgruppe und deren Klien- unterschiedliche Gesundheitsfaktoren sowie der
tinnen relevant, sondern können und sollten auch Dokumentation und Übermittlung von Gesund-
interdisziplinär diskutiert und bearbeitet werden. heitsdaten (vgl. Rentsch 2004, Schuntermann 2005,
Die Orientierung von Forschungsfragen am Willeit et al. 2015).
berufsbezogenen Prozess (z. B. am ergothera- Entscheidungen in der beruflichen Praxis und
peutischen, physiotherapeutischen Prozess) kann das damit verbundene klinische/professionelle Rea-
ebenfalls von Querverbindungen zur ICF profi- soning können mithilfe der ICF strukturiert unter-
tieren. In den beruflichen Assessments verwen- sucht und in Bezug auf aktuelle Gesundheitsthe-
dete Terminologie kann mit jener der ICF gelinkt men und Qualität in der Gesundheitsversorgung
10.3 · Stärken und Schwächen
245 10
weiterentwickelt werden (Atkinson u. Nixon-Cave Wahrnehmungsverarbeitung auf die
2011, Tempest u. McIntyre 2006). Solche For- Fahrtüchtigkeit)
schungsergebnisse zu klinischem Reasoning in Ver- 4 Einfluss von Partizipation auf die Körperfunktionen
bindung mit der ICF dienen der Reflexion und Wei- (z. B. Auswirkungen von Singen im Chor auf
terentwicklung beruflicher Praxis und eignen sich Funktionen der Lunge)
auch als Themen für Masterarbeiten (vgl. Atkinson 4 interdisziplinäre Zusammenarbeit (z. B.
u. Nixon-Cave 2011, Missoni 2013, Nienhusmeier im Zusammenhang mit ambulanter
2015). Versorgung)
4 Interventionsstudien (z. B. Auswirkungen
Beispiele bestimmter therapeutischer Interventionen
Mögliche Themenstellungen und Forschungsansät- auf Körperfunktionen oder personenbezogene
ze in Verbindung mit der ICF sind: Kontextfaktoren oder Partizipation)
4 Studien zu Befunderhebung/Assessment in 4 Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung
Verbindung mit der ICF, zum Beispiel mit der (Prozess-, Ergebnisqualität), zum Beispiel
Fragestellung, welche Körperstrukturen und Entwicklung und Evaluation von technischen
Körperfunktionen bei rheumatoider Arthritis Hilfsmitteln bzw. Medizinprodukten aus
geschädigt sind und wie aus Sicht der Betroffenen Nutzer- und Professionistensicht (z. B. Cochlea-
Partizipation im Alltag unter welchen Umweltfak- implantat und seine Auswirkungen auf
toren und personenbezogenen Faktoren gelingt Selbständigkeit, Partizipation und Wohlbefinden
(7 Kap. 11) im Lebensalltag)
4 Studien zu Zielsetzung und Zielformulierung, 4 Umsetzung von Gesundheitszielen (z. B.
zum Beispiel partizipative Forschung zu Zielen Wirkung lebensbereichsbezogener Faktoren
von Kindern und ihren Bezugspersonen, deduktiv auf Partizipation oder personenbezogene
analysiert nach den Komponenten der ICF-CY (z. B. Kontextfaktoren)
Costa 2014) 4 interdisziplinäre Projekte (vgl. z. B. „health in all
4 Wirksamkeitsforschung: Effektivität therapeu- policies“)
tischer Interventionen (auch im Sinne evidenz- 4 Weiterentwicklung der ICF (z. B. im Zusam-
basierter Praxis; Kohler et al. 2013) menhang mit Core-Sets)
4 ökonomische Fragestellungen im Gesundheits- 4 Leitlinien zur optimalen Versorgung
kontext (z. B. zur Effektivität von Interventionen,
Vergleichsstudien)
4 Einfluss der Umwelt auf die Partizipation/Behin- 10.3 Stärken und Schwächen
derung, zum Beispiel gesellschaftliche Ursachen
für Behinderung, Lösungen für barrierefreie z z Stärken
Mobilität (z. B. Aussermaier et al. 2014), städtebau- 4 Interdisziplinäre Sprache
liche Faktoren zur Unterstützung der Partizipation 4 unterstützt qualitative, quantitative und
von älteren Menschen Mixed-methods-Designs
4 Aufbereitung und Kommunikation von Gesund- 4 Herausforderung und Chance der Bezugnahme
heitsdaten, Gesundheitsinformationssysteme der berufsbezogenen Themenstellungen zu
4 Setting-Forschung (z. B. stationäres Konzept, einem interdisziplinären Modell
domizilorientiertes Konzept, Implikationen für 4 Möglichkeit, Wechselbeziehungen im
die Formulierung von Therapiezielen, vgl. Rentsch Zusammenhang mit der Gesundheits- und
2004) Lebenssituation von Menschen systematisch zu
4 Einfluss der Umwelt auf die Gesundheitssituation untersuchen
(z. B. Wirkung digitaler Medien auf das Betäti- 4 Möglichkeit, in einem weltweiten Netzwerk
gungsverhalten von Kindern) Fragen und Antworten zur Erweiterung des
4 Einfluss von Körperfunktionen auf die Verständnisses von menschlicher Gesundheit
Partizipation (z. B. Auswirkungen visueller und ihren Bedingungen einzubringen – als
246 Kapitel 10 · ICF-basierte Forschungsmethoden

Studierende in der Grundausbildung, in nach Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen auf


Master- und Doktoratsstudien und in weiteren unterschiedliche Gesundheitsfaktoren usw. nach-
Forschungstätigkeiten, die darauf aufbauen gegangen werden.
4 Nutzen von digitalen Vorlagen, wie zum
Beispiel ICF-basierten Dokumentationsbögen z z Weiterführende Links
und Erstellen/Nutzen von ICF-Core-Sets 4 http://apps.who.int/classifications/icfbrowser/
möglich (z. B. www.icf-core-sets.org/de/page0. 4 www.dimdi.de
php oder http://apps.who.int/classifications/ 4 www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/projekte/
icfbrowser/) 4 www.forschung-patientenorientierung.de
4 geeignetes Modell zur Planung von 4 www.paraplegie.ch/de/pub/spf/forschungspro-
Versorgungsstrukturen gramme-projekte/icf_teaching.htm
4 geeignetes Modell zur Konzeptionalisierung 4 www.icf-casestudies.org/en/
von rehabilitativen und therapeutischen 4 www.icf-research-branch.org/
Konzepten 4 www.deutsche-rentenversicherung.de/Allgemein/
de/Inhalt/3_Infos_fuer_Experten/01_sozial-
z z Schwächen medizin_forschung/downloads/sozmed/
4 Codierung komplex klassifikationen/dateianhaenge/icf/2015_13_icf_
4 Interpretation von qualitativen Daten awk_7_ewert.html
und deren Zuordnung zu Codes kann im 4 www.rehadat-icf.de/de/
Forschungsprozess herausfordernd sein 4 www.who.int/classifications/icf/en.
4 personenbezogene Kontextfaktoren werden 4 www.who.int/classifications/icf/icfchecklist.
aktuell noch weiter beschrieben (noch nicht pdf?ua=1
10 vollständig)
4 Beurteilungsmerkmale: Herausforderung, die
Literatur
jeweiligen Prozentangaben zu definieren, zum
Beispiel bei der Angabe des Schweregrades Atkinson HL, Nixon-Cave K (2011) A tool for clinical reasoning
eines Problems (erstes Beurteilungsmerkmal) and reflection using the International Classification of
Functioning, Disability and Health (ICF) framework and
Zusammenfassung patient management model. PhysTher 91: 416–430
Aussermaier H, Costa U, Essmeister M, Diermayr G (2014) Bar-
Die ICF als Bezugsrahmen bietet zahlreiche Ansätze
rieren aus der Sicht von RollstuhlnutzerInnen im öffentli-
zur Definition und Zuordnung von Forschungsfra- chen Raum in Wien – Implikationen für ein Barriere-Infor-
gen, auch für Bachelor- und Masterarbeiten. An- mationssystem. Poster & Tagungsband – 8. Forschungsfo-
gehörige von Gesundheitsberufen können die ICF rum der österreichischen Fachhochschulen, Kufstein
auf vielfältige Weise in Forschungsarbeiten nutzen Ballert CS, Stucki G, Biering-Sørensen F, Cieza A (2014)
Determining the most robust dimensional structure of
und damit zur Weiterentwicklung von beruflicher
categories from the international classification of functio-
Praxis und gesundheitsbezogenem Wissen beitra- ning, disability and health across subgroups of persons
gen: Erkenntnisse zu Faktoren der Gesundheit, zu with spinal cord injury to build the basis for future clinical
Wechselwirkungen zwischen Gesundheitsfaktoren measures. Arch Phys Med Rehabil 95 (11): 2111–2119.e12
und Gesundheitssituationen, zu Wirksamkeitsstu- Bickenbach J, Cieza A, Rauch A, Stucki G (2012) ICF core sets:
Manual for clinical practice for the ICF research branch,
dien, zu interdisziplinärer Gesundheitsversorgung
in cooperation with the WHO Collaborating Centre for
u.a.m. Die Untersuchung von Gesundheitsfaktoren the Family of International Classifications in Germany
und deren Subkategorien unterstützt die Weiterent- (DIMDI). Hogrefe, Göttingen
wicklung der ICF als internationales, interdisziplinä- Cieza A, Brockow T, Ewert T, Amann E, Kollerits B, Chatterji S,
res Klassifikationsmodell. Üstün TB, Stucki G (2002) Linking health-status measure-
ments to the International Classification of Functioning
Mithilfe der ICF als Bezugsrahmen in der Forschung
Disability and Health. J Rehabil Med 34: 1–6
kann Fragen nach optimalen Abläufen in interdis- Cieza A, Geyh S, Chatterji S, Kostanjsek N, Üstün B, Stucki G
ziplinärer Gesundheitsversorgung (vgl. Rentsch, (2005) ICF linking rules: an update based on lessons lear-
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248 Kapitel 10 · ICF-basierte Forschungsmethoden

Klingler N, Praxmarer S, Baubin M, Beck G, Berek K, Dengg C,


Engelhardt K, Erlacher T, Fluckinger T, Grander W, Gross-
mann J, Kathrein H, Kaiser N, Matosevic B, Matzak H,
Mayr M, Perfler R, Poewe W, Rauter A, Schoenherr G,
Schoenherr HR, Schinnerl A, Spiss H, Thurner T, Vergeiner G,
Werner P, Wöll E, Willeit P, Kiechl S (2015) Thrombolysis and
clinical outcome in patients with stroke after implementa-
tion of the Tyrol Stroke Pathway: a retrospective observatio-
nal study. Lancet 14 (1): 48–56

10
249 11

Assessments
Erna Schönthaler

11.1 Wahl des Assessments – 250


11.1.1 Standardisierte Assessments – 251
11.1.2 Normierte Assessments – 251
11.1.3 Kriterienreferenzierte Assessments – 252
11.1.4 Inhaltliche Kriterien für die Wahl des Assessment – 252

11.2 Methoden der Datenerhebung – 252

11.3 Gütekriterien, psychometrische Eigenschaften,


Messeigenschaften – 253
11.3.1 Reliabilität – 254
11.3.2 Validität – 258
11.3.3 Responsivität – 261
11.3.4 Praktikabilität – 262

11.4 Suche und Checklisten für die Bewertung von


Assessments – 263
11.4.1 Wie und wo suche ich nach geeigneten Assessments? – 263
11.4.2 Checklisten für die Auswahl und Bewertung von
Assessments – 265

Literatur – 266

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5_11
250 Kapitel 11 · Assessments

Inhaltliche Überlegungen, Methoden der Erhe-


bung und die Gütekriterien sind wichtige Entschei- 5 Prognose: Vorhersage über künftige
dungsparameter für die Wahl eines Assessments. Funktionen (z. B. Sturzrisiko,
Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf der Dar- Arbeitsfähigkeit)
stellung der Reliabilität, Validität und Praktikabili- 5 Evaluation: Darstellung von
tät. Zusätzlich werden die kulturelle Validität und Veränderungen nach einer Intervention
die Responsivität von Assessments behandelt. Das (z. B. Partizipation im Schulalltag oder
Kapitel vermittelt Grundlagen für die kritische Arbeitsleben) oder von Veränderungen
Bewertung von Assessments und erleichtert damit durch Entwicklung oder degenerative
den Entscheidungsprozess in der Praxis und in der Prozesse
Forschung. Quellen für die Suche nach Assessments
und eine Checkliste am Ende des Kapitels erleich-
tern das Auffinden und Bewerten. Die dargestell-
ten Kriterien können als Leitfaden für einen Review 11.1 Wahl des Assessments
über ein Assessment verwendet werden und geben
Hinweise für den weiteren Forschungsbedarf von Sowohl in der klinischen Praxis als auch in der For-
Assessments. schung müssen Assessments überlegt und begründet
Assessment, Untersuchungsinstrument, Befun- ausgewählt werden. In der Praxis werden aufgrund
dungsverfahren, Test, Inventar – unterschiedliche der Ergebnisse Entscheidungen für einzelne Klienten
Bezeichnungen und Namen werden verwendet, um gefällt: Es wird eine Diagnose gestellt, Therapiebedarf
jene Verfahren zu beschreiben, mit denen Daten für begründet, Prognosen werden erstellt, und der Effekt
die Diagnostik, Befundung, Prognose und Evalua- von Interventionen wird evaluiert. Die eingesetzten
tion in den Gesundheitsberufen erhoben werden. Assessments müssen valide und reliabel sein, und der
Sowohl im englischen, als auch im deutschen Sprach- Aufwand an Zeit, Material und Kosten muss in einem
11 raum wird der Begriff Assessment zunehmend als
Überbegriff für die vielfältigen und unterschiedli-
sinnvollen Verhältnis zum Nutzen stehen. In der (kli-
nischen) Forschung bilden die erhobenen Daten die
chen Instrumente verwendet. Auch in diesem Kapitel Grundlage für die Ergebnisse und die Interpretation
werden alle Verfahren zur Datenerhebung unter dem der Studie. Stellt sich nach der Durchführung einer
Begriff Assessment zusammengefasst, aber auch die Studie heraus, dass das Assessment für die Fragestel-
Begriffe Test, Verfahren und Instrument verwen- lung nicht gut (genug) geeignet war, wurden Zeit,
det. Die Bezeichnungen Test, Testbatterie, Inven- Material und Kosten verschwendet. Inhaltliche Über-
tar oder englische Begriffe wie „measure“, „profile“ legungen, Methoden der Erhebung und die Güte des
oder „scale“ geben Hinweise auf Struktur, Komple- Assessments sind wichtige Entscheidungsparameter.
xität oder Methode der Erhebung und Auswertung. Ein Assessment sollte nicht gewählt werden, weil es
Als Screening werden Verfahren bezeichnet, die „üblich“, bekannt oder leicht verfügbar ist. Evidenz-
mit geringem Aufwand eine (grobe) Einschätzung basierte Praxis bedeutet, dass aktuelle Studien, die
ermöglichen. Erfahrungen aus der Praxis, die Werte und Anliegen
der Klienten sowie der aktuelle Kontext in den Ent-
scheidungsprozess einbezogen werden.
Funktionen von Assessments Forscher und Forscherinnen in den Gesund-
5 Diagnostik und Befundung: Erstellen heitsberufen benötigen ein solides Wissen, um
einer Diagnose (z. B. Feststellen, ob Assessments kritisch bewerten und ein geeignetes
eine Koordinationsstörung oder ein Assessment für ihre Studie auswählen zu können.
Sprachfehler vorliegt), Beschreibung Zusätzlich ist das Beforschen von Assessments und
der Funktionsfähigkeit (z. B. Erheben das Erstellen von systematischen Reviews über
der Gelenkbeweglichkeit oder der Assessments eine wichtige Aufgabenstellung. In
Alltagsfertigkeiten) der Entwicklungsphase eines Assessments müssen
viele Studien durchgeführt werden, um die für die
11.1 · Wahl des Assessments
251 11
Publikation erforderliche Qualität zu erreichen. Informationen vom und über den Patienten
Bereits entwickelte Assessments werden weiter und seine Situation einbezogen werden.
auf Validität und Reliabilität für unterschiedli-
che Anwendungsbereiche überprüft. Bevor ein
Assessment in einem anderen Kulturraum einge- 11.1.2 Normierte Assessments
setzt werden kann, müssen kulturelle Adaptierun-
gen systematisch durchgeführt, neue Normdaten Für die Normierung wurden mit einem Assessment
erhoben und die Gütekriterien im neuen Umfeld Daten von einer möglichst repräsentativen Gruppe
überprüft werden. (Normierungsstichprobe) erhoben. Diese Daten
(Normwerte) dienen als Vergleich und ermögli-
chen die Interpretation, dass ein Proband durch-
Assessments in der Forschung schnittliche, über- oder unterdurchschnittliche
5 Erhebungsinstrument in einer (klinischen) Werte im Vergleich zur Normierungsstichprobe
Studie erreicht hat. Standardwerte und Prozentränge
5 Beforschen von Assessments (Studien zu ermöglichen eine rasche bzw. anschauliche Inter-
den Gütekriterien) pretation der Daten.
5 Review über ein Assessment oder
über Assessments für eine spezifische > Nicht jedes standardisierte Assessment
Aufgabenstellung ist auch normiert, aber jedes normierte
5 kulturelle Adaptierung von Assessments Assessment ist standardisiert. Nur wenn
Durchführung und Auswertung genau
festgelegt sind (Standardisierung), können
Normdaten erhoben werden.
11.1.1 Standardisierte Assessments
Normiert sind Assessments, die Eigenschaf-
Ein standardisiertes Assessment ist ein Verfahren, ten erheben, die unterschiedlich ausgeprägt sein
dessen Durchführung, Bewertung und Interpreta- können und bei denen es ein durchschnittliches
tion genau festgelegt sind. Im Manual (Handbuch) Maß an Fertigkeit, aber auch über- und unterdurch-
wird beschrieben, für welche Einsatzbereiche, Set- schnittliche Werte gibt. Tests zur Überprüfung der
tings, Klientinnen, Fragestellungen, Altersgruppen motorischen Koordination, kognitiver Leistun-
etc. das Assessment geeignet ist (Fawcett 2007). Die gen und auch Sprachentwicklungstests sind meist
Anordnung, Instruktion, Durchführung, Auswer- normiert.
tung etc. müssen so genau beschrieben sein, dass Für welche Subgruppen, ob getrennt nach weib-
jeder, der das Assessment durchführt, dieses (mög- lich und männlich, für welche Altersgruppen, für
lichst) gleich durchführt, gleich auswertet und inter- welche Region etc. eigene Normdaten erforder-
pretiert. Erforderliche Materialien sind im Testkof- lich sind und vorliegen, muss in Studien überprüft
fer enthalten oder so genau beschrieben, dass idente und im Manual schlüssig argumentiert werden.
Materialien verwendet werden. Da die Ergebnisse Die Normierungsstichprobe soll hinsichtlich Alter,
standardisierter Assessments für Klientinnen, Mit- Geschlecht, geographischem Raum, sozioökonomi-
glieder des Behandlungsteams, aber auch für Ver- scher Stellung und Bildungsstand möglichst reprä-
sicherungsträger transparent sind, wird der Einsatz sentativ für die spätere Zielgruppe sein. Es gibt keine
von standardisierten Verfahren immer mehr gefor- allgemein gültige Festlegung, wann Normdaten ver-
dert. Eine systematische Datenerhebung in Studien altet sind. Wichtig ist zu überlegen, ob sich die Refe-
ist nur mit standardisierten Verfahren möglich. renzwerte (Daten in der Population) mit der Zeit
verändert haben und daher eine neue „Messlatte“
> In individuelle Entscheidungen für einen erforderlich ist. Eine regelmäßige Überprüfung der
Patienten müssen neben den standardisiert Normdaten ist sinnvoll. Bevor Normen in einen
erhobenen Daten auch alle anderen anderen Kulturkreis übernommen werden, müssen
252 Kapitel 11 · Assessments

die Werte überprüft werden, und bei Abweichun- ist, haben Assessments, welche die Aktivität und Par-
gen ist eine neue Normierung für diesen Kulturkreis tizipation erheben, in der Evaluierung an Bedeutung
erforderlich. gewonnen (MacDermid et al. 2014). . Tab. 11.1 listet
die Komponenten der ICF auf und gibt Beispiele
für erhobene Parameter. Auch wenn die ICF sehr
11.1.3 Kriterienreferenzierte umfassend ist, kann sie nicht alle Parameter, die im
Assessments Gesundheitswesen relevant sind, abdecken. So sind
zum Beispiel die Konzepte der Lebensqualität und
Assessments zur Erhebung der Alltagsfertigkeiten der gesundheitsbezogenen Lebensqualität sehr weit
sind meist nicht normiert, sondern kriterienrefe- gefasst (WHO 1997) und nicht in der ICF abgebildet.
renziert. Es gibt kein „durchschnittlich gutes“ und
„überdurchschnittlich gutes“ Anziehen oder Essen
mit Besteck. Der Bedarf an Hilfestellung oder das 11.2 Methoden der Datenerhebung
Bewältigen/Nichtbewältigen der beschriebenen
Aktivitäten wird anhand der im Manual beschrie- Für die Erhebung von Daten stehen unterschiedliche
benen Kriterien erfasst. Das Ergebnis ist ein Maß für Methoden zur Verfügung. Neben der Beobachtung
die Selbstständigkeit in den Alltagsfertigkeiten. Auch und Bewertung durch Professionistinnen („clinician
Muskelfunktionstests sind meist kriterienreferen- based assessment“) gibt es immer mehr Verfahren, die
ziert: Die Art und das Ausmaß an Widerstand, das auf den Bericht und die Einschätzung der Klientin-
mit Muskelkraft überwunden werden kann, ist das nen selbst abzielen („patient-reported“ oder „self-re-
Kriterium. Entwicklungstests sind häufig kriterien- ported assessment“). In manchen Aufgabenbereichen,
referenziert und normiert: Das heißt, für die Bewer- wie zum Beispiel bei der Behandlung von Kindern
tung wird herangezogen, welche Aufgabenstellungen oder dementen Personen, ist oft die Einschätzung
bewältigt wurden. Zusätzlich liegen Normwerte vor, von Angehörigen („proxy-reported“) erforderlich.
11 die eine Einstufung der Fertigkeiten im Vergleich zur
Altersgruppe ermöglichen.
Wenn es um die Pflege oder Betreuung von chronisch
kranken Personen geht, können auch die pflegenden
Angehörigen und ihre Belastung im Zentrum des
Interesses stehen. Bei der Auswahl eines Assessments
11.1.4 Inhaltliche Kriterien für die muss überlegt werden, wer als Informationsquelle her-
Wahl des Assessment angezogen wird und wie die Daten erhoben werden.

Die Internationale Klassifikation der Funktions-


fähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)
der World Health Organization (WHO) (DIMDI Methoden zur Datenerhebung:
2005) bietet eine gute interprofessionelle Struktur 5 Strukturiertes oder teilstrukturiertes
für die inhaltliche Einordnung von Assessments Interview: zum Beispiel Canadian
(7 Kap. 10). Sowohl in der Praxis als auch in der For- Occupational Performance Measure
schung ist zu überlegen, ob Körperfunktionen und (COPM) (Law et al. 2015)
-strukturen, Aktivitäten, Partizipation und/oder 5 Fragebogen: zum Beispiel SF-36
Umweltfaktoren erhoben werden sollen. Die für die Fragebogen zum Gesundheitzustand
jeweilige Fragestellung relevanten Komponenten der (Morfeld et al. 2011)
ICF müssen ausgewählt werden. Ging man früher 5 Beobachtung der Durchführung: zum
davon aus, dass eine Verbesserung auf Ebene der Beispiel Berg Balance Scale (Scherfer et al.
Körperfunktion sich automatisch auf Aktivität und 2006)
Partizipation auswirkt, so weiß man heute, dass die 5 Messen: zum Beispiel Körpergewicht,
Korrelationen nicht so hoch sind, wie angenommen Gelenkbeweglichkeit oder Umfang eines
wurde (Atler et al. 2015). Da das Ziel jeder Rehabili- Körperteils
tation die größtmögliche Partizipation der Klienten
11.3 · Gütekriterien, psychometrische Eigenschaften, Messeigenschaften
253 11

. Tab. 11.1 Komponenten der ICF mit Definitionen und Beispielen für erhobene Parameter

Komponente Definition Beispiele für Funktionen

Körperfunktion Körperfunktionen sind die Gedächtnis


und physiologischen Funktionen von Sehen
Körperstrukturen Körpersystemen (inkl. psychologische
Hören
Funktionen)
Schmerz
Körperstrukturen sind anatomische
Teile des Körpers wie Organe, Artikulation
Gliedmaßen und ihre Bestandteile Atemmuskulatur
(DIMDI 2005, S. 16) Nahrungsaufnahme
Gelenkbeweglichkeit
Kontrolle von Willkürbewegungen
Struktur der oberen Extremitäten
Struktur der Hautregionen
Aktivität und Eine Aktivität bezeichnet die Mit Stress und anderen psychischen Anforderungen
Partizipation Durchführung einer Aufgabe oder umgehen
Handlung (Aktion) durch einen Kommunikationsgeräte und -techniken benutzen
Menschen
eine elementare Körperposition wechseln
Partizipation (Teilhabe) ist
feinmotorischer Handgebrauch
das Einbezogensein in eine
Lebenssituation (DIMDI 2005, S. 16) Gehen
die Toilette benutzen
Hausarbeiten erledigen
elementare interpersonelle Aktivitäten
Erziehung/Bildung
Arbeit und Beschäftigung
wirtschaftliches Leben
Erholung und Freizeit
Umweltfaktoren Umweltfaktoren bilden die materielle, Produkte und Technologien zur Kommunikation
soziale und einstellungsbezogene Produkte und Technologien für die Erwerbstätigkeit
Umwelt ab, in der Menschen leben
engster Familienkreis
und ihr Dasein entfalten (DIMDI 2005,
S. 16) individuelle Einstellungen von Freunden
Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des
Architektur- und Bauwesens

11.3 Gütekriterien, psychometrische Hauptgütekriterien beschrieben: Reliabilität, Objek-


Eigenschaften, tivität und Validität. Die Reliabilität beschreibt die
Messeigenschaften Zuverlässigkeit, die Objektivität die Anwenderun-
abhängigkeit und die Validität die Gültigkeit eines
Die Begriffe Gütekriterien, psychometrische Eigen- Assessments. In der englischen Literatur wird die
schaften („psychometric properties“) und Mess- Objektivität als ein Teil der Reliabilität betrachtet. Um
eigenschaften („measurement properties“) sind syn- die internationale Kommunikation zu unterstützen,
onyme Bezeichnungen und Überbegriff für jene folgt auch dieses Kapitel der Einteilung in Reliabili-
Kriterien, die für die Beurteilung der Qualität eines tät und Validität.
Assessments herangezogen werden. Im deutschen Für die Evaluierung von Interventionen im
Sprachraum werden in der klassischen Testtheorie 3 Gesundheitswesen ist die Responsivität oder
254 Kapitel 11 · Assessments

Änderungssensitivität zentral, sie wird als Teil der COSMIN. Für die Mindestanforderungen an die
Validität beschrieben. Hinsichtlich der Gütekrite- Gütekriterien werden die Angaben von Mitgliedern
rien ist zu beachten, dass sie jeweils die Eigenschaft der COSMIN-Gruppe (De Vet et al. 2011) und auch
des Assessments für die untersuchte Klientengruppe die Werte der Rehabilitation Measures Database her-
widerspiegeln. Für andere Klientengruppen müssen angezogen (Rehabmeasures 2010). Die unterschiedli-
die Werte neuerlich überprüft werden. Die Angaben, chen Aspekte der Gütekriterien zeigen, wie ein Assess-
ab wann ein Kriterium sehr gut, gut oder ausreichend ment kritisch bewertet und erforscht werden kann.
erfüllt ist, differieren je nach Quelle stark. Einerseits Grundlegende Eigenschaften muss jedes Assessment
legen unterschiedliche Autoren verschieden „strenge“ erfüllen. Bei der Bewertung eines Assessments darf
Maßstäbe an, andererseits hängt es von den erhobenen man jedoch nicht erwarten, dass alle irgendwie mög-
Konstrukten ab, wie sehr „gemessen“ werden kann lichen und denkbaren Studien zu dem jeweiligen
oder eine Einschätzung der Wertung zugrunde liegt. Assessment durchgeführt wurden. Entscheidend ist,
dass jene Punkte untersucht wurden, die kritisch sein
Beispiel könnten. Auch wenn es wünschenswert wäre, dass ein
Kurze Tests, wie der Box-and-block-Test (Mathio- Assessment in allen Bereichen bestens abschneidet,
wetz 1985a) oder der 9-hole-peg-Test (Mathiowetz so trifft dies nicht immer zu. Teilweise konkurrieren
1985b), bei dem die Zeit für eine einfache Aufga- die einzelnen Gütekriterien miteinander oder mit der
benstellung gestoppt wird, erreichen „leichter“ gute Praktikabilität des Assessments.
Reliabilitätswerte als ein komplexer Handfunktions-
test, bei dem der Testleiter die Qualität der Bewe- > Bei manchen Assessments zeigen Studien,
gung bei Alltagsaktivitäten bewertet. Der Box- dass eine kleinere Skala zu einer besseren
and-block-Test und der 9-hole-peg-Test erheben Reliabilität, jedoch auch gleichzeitig zu
motorische Funktionen sehr gut und genau, geben geringerer Responsivität (Veränderungs-
aber keine Information über die Handfunktion im sensitivität) führt, weil kleine Veränderungen

11 Alltag (Kraxner 2011, 2014). Das heißt, neben den


Gütekriterien dürfen inhaltliche Überlegungen und
nicht abgebildet werden können. Es hängt
von der Intention des Assessments ab, welche
Kriterien nicht vernachlässigt werden. Ziel ist es, Aspekte wichtig sind. Sind in einem Manual
das beste Assessment für die jeweilige Aufgaben- alle nur irgendwie denkbaren Situationen
stellung zu verwenden. beschrieben, dann ist es vielleicht so
umfangreich, dass sich die Testleiter die
Die COSMIN-Gruppe hat in einer internationalen Kriterien nicht ausreichend merken können
multidisziplinären Delphi-Studie Definitionen und und damit die Reliabilität sinkt. Das perfekte
eine Taxonomie der Gütekriterien für Messverfah- Assessment, das in kurzer Zeit, mit geringem
ren im Gesundheitsbereich erstellt. COSMIN steht Aufwand und minimaler Einarbeitungszeit
für Consensus-based Standards for the Selection of sehr differenzierte Ergebnisse liefert, gibt es
Health Measurement Instruments (Mokkink et al. leider nicht. Vielmehr müssen Praktiker und
2010a). Zusätzlich wurde die COSMIN-Checkliste Forscher wohlüberlegt entscheiden, welches
entwickelt, die Kriterien für die kritische Bewertung Assessment für die jeweilige Aufgaben-
Studien zu Gütekriterien enthält (www.cosmin.nl; stellung am besten geeignet ist.
Mokkink et al. 2010b, Terwee et al. 2012). Die COS-
MIN-Kriterien wurden ursprünglich für Health-Re-
lated Patient-Reported Outcomes (HR-PRO) entwi- 11.3.1 Reliabilität
ckelt, jedoch sind dieselben Kriterien auch für andere
gesundheitsbezogene Assessments relevant (Terwee Die Reliabilität ist „der Grad der Genauigkeit, mit
et al. 2012). In den Definitionen, die in diesem Kapitel dem das geprüfte Merkmal gemessen wird“ (Bortz
wörtlich von COSMIN übernommen wurden, wird u. Döring 2006, S. 196). COSMIN definiert Relia-
daher der Zusatz HR-PRO oder PRO weggelassen. bilität als „the degree to which the measurement
Die vorliegende Darstellung der Gütekriterien is free from measurement error“ (Mokkink et al.
orientiert sich weitestgehend an der Taxonomie von 2010a, S. 743) und zählt die interne Konsistenz, die
11.3 · Gütekriterien, psychometrische Eigenschaften, Messeigenschaften
255 11
unterschiedlichen Formen der Reliabilität (Test-Re- Die Werte der Interitem- und Item-Total-Korrelation
test-Reliabilität, Interrater-Reliabilität und Intra- zeigen ebenfalls an, ob einzelne Items Teil der Skala
rater-Reliabilität) und den Messfehler dazu. Die sind und dasselbe Konstrukt messen. Die Item-To-
meisten Assessments basieren auf der klassischen tal-Korrelationen sollten zwischen 0,2 und 0,5 liegen,
Testtheorie, die davon ausgeht, dass ein erhobener und Werte für die Item-Total-Korrelation sollten 0,3
Messwert nicht exakt ist, sondern den „wahren Wert“ nicht unterschreiten (De Vet et al. 2011).
plus Messfehler darstellt. Messfehler ergeben sich u.
a. durch geringe Schwankungen in den gemessenen
Merkmalen, minimale Unterschiede in der Anlei- Test-Retest-, Interrater- und Intrarater-
tung und Durchführung, Lerneffekte und fehlender Reliabilität
Genauigkeit des Assessments. Die Reliabilitätswerte Die Reliabilität im engeren Sinn ist definiert als „the
sind ein Wert für die Zuverlässigkeit eines Assess- proportion of the total variance in the measure-
ments. Manche Assessments basieren nicht auf der ments which is because of 'true' differences among
klassischen Testtheorie, sondern auf einer Item- patients“ (Mokkink et al. 2010a, S. 743). Alle Formen
Response-Theorie, wie zum Beispiel dem Rasch- der Reliabilität untersuchen, wie groß die Überein-
Modell (7Abschn. 7.3.1) stimmungen von (mindestens) 2 Bewertungen der-
selben Patientin sind.
Für die Test-Retest-Reliabilität werden Patien-
Interne Konsistenz tinnen nach einem kurzen, definierten Zeitabstand
Die interne Konsistenz ist ein Maß für die Homoge- wiederholt getestet. Der Abstand zwischen den Erhe-
nität eines eindimensionalen Assessments, bei dem bungen muss klein sein, damit es nicht zu einer Ver-
mehrere Items dasselbe Konstrukt erheben. Sie wird besserung oder Verschlechterung in der erhobenen
meist als Cronbachs Alpha angegeben. COSMIN Funktion kommt, er muss jedoch groß genug sein,
definiert interne Konsistenz als „the degree of the dass weder Ermüdung, noch Übung oder Erinne-
interrelatedness among the items“ (Mokkink et al. rung die zweite Erhebung beeinflussen. Eine Gelenk-
2010a, S. 743). Für die Berechnung werden die Werte messung kann bereits nach wenigen Minuten wie-
aus unterschiedlichen Teilen des Assessments mit- derholt werden; ein für Patientinnen anstrengender
einander korreliert (z. B. gerade und ungerade Items Gangtest nach ein paar Stunden und ein Gedächtnis-
oder die erste Hälfte mit der zweiten Hälfte eines Fra- test erst nach einigen Tagen oder wenigen Wochen.
gebogens). Als allgemeine Richtlinie gilt, dass die Studienautoren müssen den gewählten Abstand zwi-
Werte von Cronbachs Alpha zwischen 0,7 und 0,9 schen den Erhebungen begründen.
liegen sollten (De Vet et al. 2011, S. 83). Niedrigere Für die Interrater-Reliabilität werden die Aus-
Werte weisen darauf hin, dass Items enthalten sind, wertungen von 2 Testleitern miteinander korreliert.
die nicht dasselbe Konstrukt erheben, höhere Werte Wird die Durchführungsreliabilität überprüft, so
können ein Hinweis auf redundante Items sein. In werden die Probandinnen einmal von Testleiter A
der Entwicklungsphase eines Assessments werden und einmal von Testleiter B getestet. Liegt der Fokus
die Werte von Cronbachs Alpha herangezogen um auf der Auswertung der Ergebnisse (Auswertungsre-
die Itemzusammenstellung zu optimieren. Items, die liabilität), können 2 Beobachter gleichzeitig werten,
nicht das Konstrukt erheben, und redundante Items oder Videosequenzen werden den Beobachtern
werden herausgenommen. Je mehr Items in einem unabhängig voneinander zur Bewertung vorgelegt.
eindimensionalen Assessment enthalten sind, umso Bei anderen Verfahren werden die von den Proban-
eher wird ein größeres Cronbachs Alpha erreicht. dinnen ausgefüllten Testbögen von 2 Personen unab-
hängig voneinander ausgewertet.
! Cronbachs Alpha ist kein Nachweis für die Die Intrarater-Reliabilität unterscheidet sich von
Eindimensionalität eines Assessments oder der Test-Retest- und Interrater-Reliabilität darin,
eines Teilbereichs und wird nicht berechnet, dass beide Male derselbe Testleiter bewertet.
wenn das Assessment mehrdimensional Für die Berechnung der Reliabilität wird die Kor-
ist, d. h. die Items eines Assessments relation zwischen den beiden Testungen berechnet. Je
unterschiedliche Konstrukte erheben. nach Skalenlevel (7 Kap. 2) wird ein entsprechendes
256 Kapitel 11 · Assessments

120

110

100

90

80

70
Testleiter 1

60

50

40

30

20

10

0
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120
Testleiter 2

. Abb. 11.1 Intrarater-Reliabilität – perfekte Übereinstimmung der Werte: beide Testleiter vergeben exakt die gleichen Werte

11 Berechnungsverfahren gewählt: Pearsons Korrelati- et al. 2011, S. 120). Rehabmeasures (2010) gibt für
onskoeffizient (r) oder Intra-Class-Correlation Coeffi- die erforderliche Test-Retest-Reliabilität für klini-
zient (ICC) für kontinuierliche Variablen, gewichtetes sche Entscheidungen ICC-Werte von >0,9 und für
Kappa für ordinale Variablen und Cohens Kappa für Studien >0,7 an. Als Begründung führen die Autoren
nominale Variablen. Wenn der Pearsons Korrelations- an, dass die beschriebenen Reliabilitätswerte meist
koeffizient zur Berechnung herangezogen wird, muss unter sehr guten Bedingungen erhoben wurden
die grafische Darstellung der Werte geprüft werden, (gute Einschulung der Testleiter, möglichst gleiche
um systematische Fehler zu erkennen. Untersuchungsbedingungen etc.). Da in der Praxis
viel mehr Störvariablen auftreten, muss man davon
Beispiel ausgehen, dass die Zuverlässigkeit von Testungen in
Ein systematischer Fehler in der Interrater-Reliabi- der Praxis unter den in Studien erhobenen Werten
lität liegt zum Beispiel vor, wenn ein Testleiter „mil- liegt. In Studien werden große Klientengruppen
der beurteilt“ und alle Patienten etwas besser ein- untersucht, und daher gleichen sich Messfehler eher
schätzt. Der Pearsons Korrelationskoeffizient zeigt aus. Auch für Kappa-Werte gibt es unterschiedliche
eine optimale Korrelation an, weil die Werte in der Angaben. Oft zitiert werden die Werte von Landis
grafischen Darstellung auf einer Linie liegen und so- und Koch (1977) mit >0,4 als moderat, >0,6 als subs-
mit ein linearer Zusammenhang vorliegt. Die Linie tanziell und >0,8 als fast perfekt.
stellt aber nicht die erforderliche Diagonale, die im
Winkel von 45°durch den Achsenschnittpunkt geht,
dar (. Abb. 11.1 u. . Abb. 11.2). Standardmessfehler und „minimal
detectable change“
Ein allgemein akzeptiertes Mindestmaß für Mit Standardmessfehler („standard error of measu-
die Reliabilität ist ein Korrelationskoeffizient >0,7. rement“, SEM) wird der zufällige Fehler eines Wertes
Werte >0,8 oder >0,9 sind natürlich besser (De Vet angegeben. Er ist definiert als „the systematic and
11.3 · Gütekriterien, psychometrische Eigenschaften, Messeigenschaften
257 11

120

110

100

90

80

70
Testleiter 1

60

50

40

30

20

10

0
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120
Testleiter 2

. Abb. 11.2 Intrarater-Reliabilität – systematischer Fehler: Testleiter 2 vergibt den Probanden jeweils 10 Punkte mehr als
Testleiter 1

random error of a patient's score that is not attribu- ein. Je größer (besser) die Reliabilität eines Tests ist,
ted to true changes in the construct to be measured“ desto kleiner ist der Standardmessfehler.
(Mokkink et al. 2010a, S. 743). Der Standard Für eine andere Formel des SEM werden die
messfehler wird in der Einheit des Assessments Differenzen der Werte von 2 Testleitern herange-
angeben. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 68 % liegt zogen und Mittelwert und Standardabweichung der
der wahre Wert einer Klientin im Intervall gemes- Differenzen berechnet. Die Standardabweichung
sener Wert ±1 SEM. Wird zum gemessenen Werte der Differenzwerte geht in die Formel ein (De Vet
±2 SEM berechnet, so erhält man das 95 % Vertrau- et al. 2011).
ensintervall. Eine oft verwendete Formel für den
Standardmessfehler lautet: SDdifference
SEM =
SEM = SD 1 − ICC 2

bzw. Für die Evaluierung einer Intervention ist entschei-


dend, wie groß der Unterschied zwischen 2 Mes-
SEM = SD 1 − r sungen sein muss, sodass man sicher sein kann,
dass der Unterschied ein realer Unterschied ist
Der Messfehler ist nur für Populationen mit ähnli- und nicht durch einen Messfehler entstanden ist.
cher Heterogenität wie die Population, aus der die Dieser Wert wird als „smallest detectable change“
einfließenden Werte stammen, gültig. In die Berech- (SDC) oder auch „minimal detectable change“
nung gehen die Standardabweichung und der Korre- (MDC) beschrieben. SDC95 basiert auf einem 95 %
lationskoeffizient (r) für die Test-Retest-Reliabilität Vertrauensintervall.
258 Kapitel 11 · Assessments

SDC95 = 1, 96 × SDdifference zur Lebensqualität enthalten sein sollen, muss gut


überlegt, argumentiert und untersucht werden. Wie
Oder das Beispiel der Waage gezeigt hat, ist auch die Vali-
dität nicht allgemein die Eigenschaft eines Assess-
SDC95 = 1, 96 × 2 × SEM ments, sondern die Eigenschaft eines Assessments
für die jeweilige Aufgabenstellung (Personengruppe,
Region, Zweck etc.). Die Überprüfung der Validität
Die Berechnung entspricht der Berechnung des „limits ist daher ein kontinuierlicher Prozess.
of agreement“ nach der Bland-Altman-Methode und
der Darstellung im Bland-Altman-Diagramm.
Die Größe des SDC (oder MDC) hängt vom Inhaltsvalidität
Messfehler ab: Je größer der Messfehler ist, umso Die Inhaltsvalidität ist „the degree to which the
größer ist der SDC. Der SDC darf jedoch nicht mit content of an instrument is an adequate reflection of
dem „minimal important change“ (MIC) verwech- the construct to be measured“ (Mokkink et al. 2010a,
selt werden. MIC, auch „clinically important diffe- S. 743). Bei der Inhaltsvalidität werden zugrunde lie-
rence“ (CID) genannt, ist die kleinste Veränderung gende Definitionen und Taxonomien dargelegt, die
der Werte, die von Klienten, Angehörigen oder Prak- Auswahl der Aufgabenstellungen/Items wird argu-
tikern als relevante Veränderung angesehen wird (De mentiert und ihre Bedeutung für das Konstrukt
Vet et al. 2011). Auch in Studien kann es vorkommen, beschrieben. So wird zum Beispiel im Manual eines
dass ein statistisch signifikanter Unterschied klinisch Koordinationstests genau dargelegt, wie Koordina-
nicht relevant und daher nicht bedeutsam ist. tion für dieses Assessments definiert wird, welche
Teilbereiche im vorliegenden Test erhoben und
welche nicht erfasst werden. Eine weitere Beurtei-
11.3.2 Validität lung der Inhaltsvalidität ist die Einschätzung durch
11 „Die Validität eines Tests gibt an, wie gut der Test in
ein möglichst unabhängiges Expertenkomitee.
Die Augenscheinvalidität („face validity“) ist Teil
der Lage ist, genau das zu messen, was er zu messen der Inhaltsvalidität und eine subjektive Einschätzung
vorgibt.“ (Bortz u. Döring 2006, S. 196). COSMIN der Items und Aufgabenstellungen. Die Unterlagen
definiert Validität als „the degree to which an ins- und Materialien werden durchgesehen, und es wird
trument measures the construct(s) it purports to kritisch geprüft, ob die Inhalte für das Konstrukt, die
measure“ (Mokkink et al. 2010a, S. 743) und unter- Zielgruppe und die Aufgabenstellung relevant sind.
scheidet die Inhaltsvalidität, Konstruktvalidität Ein Fragebogen für Alltagsaktivitäten älterer Men-
und die Kriteriumsvalidität. Responsivität ist bei schen, der Aufgabenstellungen enthält, die diese Per-
COSMIN als eigenes Gütekriterium definiert. De sonengruppe typischerweise nicht durchführt, oder
Vet et al. (2011) argumentieren, dass die Responsi- aktuelle Aktivitäten, wie zum Beispiel das Telefonie-
vität beschreibt, ob ein Assessment Veränderungen ren mit einem Mobiltelefon, nicht enthält, schneidet
valide abbildet, und dass sie daher auch der Validi- in der Augenscheinvalidität nicht gut ab und wird für
tät zugeordnet werden kann. In diesem Beitrag wird eine geplante Studie daher nicht weiter in Betracht
die Responsivität als Teil der Validität beschrieben. gezogen werden. Forscherinnen dürfen sich jedoch
Dass mit einer Waage das Gewicht gemessen nicht auf die Augenscheinvalidität verlassen. Nur
werde kann, muss nicht extra überprüft werden, weil ein Assessment auf den ersten Blick „gut und
aber nicht jede Waage ist für jeden Zweck ein valides sinnvoll“ aussieht, bedeutet es noch nicht, dass es ein
Assessment. Eine Personenwaage ist nicht valide für valides Assessment ist.
das Messen von Speisezutaten für die Diätplanung
oder das Wiegen kleinster Einheiten in der Medika-
mentenherstellung. Besonders wichtig ist die Über- Kriteriumsvalidität
prüfung der Validität bei nicht direkt beobachtba- Die Kriteriumsvalidität beschreibt die Übereinstimmung
ren Konstrukten. Welche Items in einem Assessment der Werte eines (neuen) Assessments mit dem Gold-
für motorische Koordination oder einem Fragebogen standard und ist somit bei COSMIN etwas enger, aber
11.3 · Gütekriterien, psychometrische Eigenschaften, Messeigenschaften
259 11

. Tab. 11.2 Sensitivität, Spezifität, positiv-prädiktiver und negativ-prädiktiver Wert

Goldstandard positiv Goldstandard negativ

Neues Assessment Richtig-positiv (RP) Falsch-positiv (FP) Positiv-prädiktiver Wert


positiv RP
RP + FP
Neues Assessment Falsch-negativ (FN) Richtig-negativ (RN) Negativ-prädiktiver Wert
negativ
RN
FN + RN
Sensitivität Spezifität
RP RN
RP + FN FP + RN

eindeutiger als in anderen Beschreibungen der Güte- Korrelationskoeffizient berechnet werden. Handelt
kriterien definiert als „the degree to which the scores es sich um 2 dichotome Verfahren, so wie es für dia-
of a measurement instrument are an adequate reflec- gnostische Verfahren oft zutrifft, werden Sensitivi-
tion of a 'gold standard'“ (Mokkink et al. 2010a, S. 743). tät und Spezifität berechnet (De Vet et al. 2011). Sen-
Das heißt, die Kriteriumsvalidität kann nur untersucht sitivität ist die richtig-positive Klassifizierung und
werden, wenn es einen „Goldstandard“ gibt. Ein Gold- beschreibt den Anteil der Personen, die mit dem
standard gibt den „wahren“ Status wieder und ist das Test richtig als krank erkannt wurden, im Verhält-
perfekt valide Instrument. In der Regel wird von Exper- nis zu allen tatsächlich kranken Personen. Spezifi-
tinnen jenes Assessments als Goldstandard bezeichnet, tät ist die richtig-negativ Klassifizierung der gesun-
das als ideales Assessment für dieses Konstrukt gesehen den Personen. Ein weiterer wichtiger Wert für diese
wird (De Vet et al. 2011). Kool et al. (2014) beschreiben, dichotomen Verfahren ist der positiv-prädiktive und
dass der Begriff „Referenztest“ den Begriff „Goldstan- der negativ-prädiktive Wert. Der positiv-prädiktive
dard“ ablöst, weil es den perfekten Test nur selten gibt. Wert sagt aus, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine
Die konkurrente Validität wird für Assessments Person krank ist, wenn der Test positiv ist, und der
in der Diagnostik, Befundung und Evaluation über- negativ-prädiktive Wert mit welcher Wahrschein-
prüft. Zum selben Zeitpunkt werden die Werte mit lichkeit eine Person gesund ist, wenn der Test negativ
dem neuen Assessment und mit dem Goldstandard ist (. Tab. 11.2).
erhoben, und die Übereinstimmung der Ergebnisse Wenn ein neues Assessment ordinalskaliert ist
wird berechnet. Für Assessments, die Prognosen oder kontinuierliche Werte hat und der Goldstan-
über spätere Situationen treffen, werden die Werte dard ein dichochtomes Assessment ist, kann eine
des Assessments mit einer späteren Erhebung des ROC-Kurve („receiver-operating-charcteristic
Kriteriums/des Goldstandards verglichen. Diese prä- curve“) gezeichnet und der AUC Wert („area under
diktive oder prognostische Validität ist für Assess- the curve“) berechnet werden. Die Sensitivität und
ments, die Vorhersagen treffen, relevant, zum Bei- Spezifität für unterschiedliche Wertbereiche des
spiel für Assessments, die das Sturzrisiko erheben. neuen Assessments können dargestellt werden, und
Für die Kriteriumsvalidität werden Korrela- somit kann dieses Verfahren zur Bestimmung von
tionen bzw. Übereinstimmungen berechnet. Die Cut-off-Werten herangezogen werden.
Berechnungsverfahren sind abhängig vom Skalen- Für die Kriteriumsvalidität werden von manchen
level beider Assessments. Wenn beide Assessments Autoren Korrelationswerte >0,7 als akzeptabel
kontinuierliche Variablen haben, werden meist ICC, beschrieben. De Vet et al. (2011) betonen jedoch,
Spearmans oder Pearsons Korrelationskoeffizient dass die Anforderungen sehr situationsabhängig
berechnet. Wenn beide Assessments ordinalskaliert sind. Gute Werte für Sensitivität und Spezifität lassen
sind, können ein gewichtetes Kappa oder Spearmans sich nicht allgemein definieren. Die optimalen Werte
260 Kapitel 11 · Assessments

von 100 % Sensitivität und 100 % Spezifität werden divergente Validität bezeichnet. Testen von bekann-
selten erreicht. Es hängt sehr davon ab, welche Kon- ten Gruppen („known groups“) beschreibt die diskri-
sequenzen falsch-positive bzw. falsch-negative minative Validität. Wenn zum Beispiel ein Verfahren
Werte für Klientinnen haben. Falsch-positive Werte das Ausmaß von Depressionen erhebt, sollten sich die
in einem Screening auf Mangelernährung haben Werte von Personen, die eine leichte Depression haben,
keine negativen Folgen für Klientinnen. In der wei- von den Werten der Personen mit schweren Depres-
teren Betreuung wird die Ernährungssituation genau sionen und den Werten der Personen ohne Depression
festgestellt und falls erforderlich eine Ernährungsbe- unterscheiden.
ratung durchgeführt. Ein falsch-positiver Wert, der
eine Behandlung mit vielen Nebenwirkungen oder > Zur Berechnung werden die bei der
eine Operation indiziert, kann schwerwiegende Kriteriumsvalidität beschriebenen Verfahren
negative Konsequenzen haben. herangezogen. Werte über 0,6 werden als
hohe Korrelation, Werte zwischen 0,3 und
0,6 als moderate und Werte unter 0,3 als
Konstruktvalidität schwache Korrelation interpretiert (DeVet
In der Konstruktvalidität wird überprüft, ob Annah- et al. 2011, Rehabmeasures 2010).
men (Hypothesen), auf denen das Assessment
beruht, bestätigt werden. COSMIN definiert Kons- Andere Hypothesen können sich auf Altersgrup-
tuktvalidität als „the degree to which the scores of an pen, Geschlecht oder die Region beziehen. Für ein
instrument are consistent with hypotheses based on Assessment, das gemeinsame Normwerte für männ-
the assumption that the instrument validly measures liche und weibliche Probanden hat, sollte unter-
the construct to be measured“ (Mokkink et al. 2010a, sucht werden, ob die Hypothese, dass es keinen
S. 743). Zur Konstruktvalidität wird die strukturelle Unterschied zwischen den Werten von Männern
Validität, das Testen der Hypothesen und die kul- und Frauen gibt, hält. Stellt sich heraus, dass sich
11 turelle Validität („cross-cultural validity“) gezählt.
Für die strukturelle Validität wird überprüft, ob
die Werte signifikant voneinander unterscheiden,
müssen getrennte Normwerte für männliche und
die (Teil-)Bereiche und (Teil-)Ergebnisse eines Assess- weibliche Probanden erstellt werden.
ments durch die Werte bestätigt werden. Sie ist defi- Die kulturelle Validität („cross-cultural validity“)
niert als „the degree to which the scores of an instru- überprüft die Gleichwertigkeit eines kulturell adap-
ment are an adequate reflection of the dimensionality tierten Assessments mit dem Originalinstrument und
of the construct to be measured“ (Mokkink et al. 2010a, ist von COSMIN definiert als „the degree to which the
S. 743). Werden zum Beispiel in einem Assessment für performance of the items on a translated or culturally
motorische Koordination 3 Teilbereiche/Dimensio- adapted instrument are an adequate reflection of the
nen der Koordination mit jeweils mehreren Aufgaben- performance of the items of the original version of the
stellungen erhoben, so sollten diese Dimensionen mit instrument“ (Mokkink et al. 2010a, S. 743).
einer konfirmatorischen Faktorenanalyse überprüft Im deutschen Sprachraum haben standardisierte
und bestätigt werden. Die Ergebnisse (Fit-Parameter) Assessments im Gesundheitswesen noch keine lange
der Faktorenanalyse geben an, ob die Daten die ange- Tradition, es gibt jedoch vor allem aus englischspra-
nommene Faktorenstruktur widerspiegeln. chigen Ländern viele Assessments. Da die Entwick-
Das Testen der Hypothesen ist der Kern der Konst- lung eines Assessments sehr aufwendig ist, ist es
ruktvalidität und kann unterschiedliche Überprüfungs- manchmal sinnvoller, ein bereits bestehendes Ver-
verfahren beinhalten. Gemeinsam ist allen Verfahren, fahren kulturell zu adaptieren. Die Adaptierung vor-
dass Hypothesen zum Assessment aufgestellt und über- handener Assessments ermöglicht auch das Poolen
prüft werden. Konvergente Validität hat ein Assess- (Zusammenfassen) von Daten oder einen direkten
ment, wenn die Werte des überprüften Assessments Vergleich von Daten aus unterschiedlichen Ländern.
mit Werten anderer Assessments, die gleiche oder ähn- Werden in jedem Land andere Verfahren verwendet,
liche Konstrukte erheben, hoch korrelieren. Die geringe so ist ein Vergleich der Daten nur bedingt möglich.
Korrelation zu den Werten eines Assessments, das ein Ziel jeder kulturellen Adaptierung ist eine größt-
anderes Konstrukt erhebt, wird als diskriminante oder mögliche Gleichwertigkeit zwischen der originalen
11.3 · Gütekriterien, psychometrische Eigenschaften, Messeigenschaften
261 11
Version und der neuen Version. Dies betrifft die 11.3.3 Responsivität
Gleichwertigkeit der Konzepte, der Items, der
Sprache, des Layouts und der Gütekriterien (Rei- Responsivität oder Veränderungssensitivität ist „the
chenheim u. Moraes 2007). Es gibt keine einheit- ability of an instrument to detect change over time in
liche Richtlinie für diesen Adaptierungsprozess, the construct to be measured“ (Mokkink et al. 2010a,
aber die Übereinstimmung, dass eine rein sprach- S. 743). Assessments, die für die Evaluierung von
liche Übersetzung nicht ausreichend ist. In einem Interventionen eingesetzt werden (Outcome-Assess-
Review zu Übersetzungsmethoden für Fragebögen ments), müssen dahingehend überprüft werden, ob
zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität wurden 17 sie Veränderungen valide abbilden können. Manche
unterschiedliche Richtlinien identifiziert (Acquadro Assessments sind für die Befundung oder die Einstu-
et al. 2008). Die Gemeinsamkeit aller Empfehlungen fung der erforderlichen Hilfestellungen gut geeignet,
ist ein gut dokumentiertes mehrstufiges Verfahren jedoch nicht sensibel genug, Veränderungen abzu-
in Zusammenarbeit mit den Autoren des origina- bilden, daher sind sie für Interventionsstudien oder
len Assessments. Die meisten Verfahren beinhal- für die Evaluierung in der Praxis nicht geeignet. So ist
ten mehrere Hin- und Rückübersetzungen und ein zum Beispiel ein globales Assessment des Bewusst-
Expertenkomitee. Manche Autoren kritisieren, dass seinszustands, das für viele Situationen sinnvoll ist,
eine gute Rückübersetzung ein Hinweis auf eine sehr nicht sensibel genug, um kleine Veränderungen des
wörtliche Übersetzung sein kann und nicht sicher- Bewusstseins bei Personen im „minimally conscious
stellt, dass eine inhaltliche Gleichwertigkeit und state“ zu erkennen.
gute sprachliche Formulierungen gefunden wurden Studien zur Überprüfung der Responsivität
(Swaine-Verdier et al. 2004). Für Fragebögen, die von erfordern ein longitudinales Studiendesign mit
Klienten ausgefüllt werden, ist besonders wichtig, Messungen an 2 Zeitpunkten. Zwischen diesen
dass die Fragen in Alltagssprache formuliert sind. Zeitpunkten bekommen die Klienten eine effektive
Intervention, sodass man davon ausgehen kann,
> Für deutsche Übersetzungen ist es immer dass sich ihr Zustand hinsichtlich des gemessenen
wieder eine Herausforderung, passende Parameters verändert. Mit der Studie zur Respon-
(alltagssprachliche) Formulierungen für sivität wird überprüft, ob sich die Werte vom ersten
Deutschland, Österreich, die Schweiz und und zweiten Messzeitpunkt unterscheiden. Als Ver-
Südtirol zu finden. Das Einbeziehen von gleich werden ein Referenzassessments (Goldstan-
Übersetzerinnen und Expertinnen aus allen dard), ein vergleichbares, responsives Assessment
deutschsprachigen Ländern ist vor allem für oder eine globale Einschätzung der Klienten her-
Anleitungen und Fragebögen besonders wichtig. angezogen. Die Unterschiede in den Werten des
untersuchten Assessments sollten mit den Unter-
Die Gleichwertigkeit der Items muss von Experten schieden des Vergleichsinstruments korrelieren.
beurteilt werden. So hat zum Beispiel die Frage nach Veränderungen sollen weder über- noch unter-
dem Essen mit Besteck in westlichen Kulturen eine schätzt werden und tatsächliche Veränderungen im
andere Bedeutung als in östlichen Kulturen. In einem Konstrukt anzeigen. De Vet et al. (2011) betonen,
Fragebogen, der das Ausmaß von Armverletzung dass die Effektgröße nicht geeignet ist, die Respon-
anhand von Beeinträchtigungen bei Alltagsaktivitä- sivität zu erheben.
ten erhebt, haben diese Items unterschiedliche Item- Weitere Kriterien zur Beurteilung der Respon-
schwierigkeit, da das Essen mit Stäbchen mehr feinmo- sivität sind der „smallest detectable change“ (SDC)
torisches Geschick erfordert als das Essen mit Messer und der „minimal important change“ (MIC), die
und Gabel. . Tab. 11.3 gibt einen Überblick über 4 bereits bei der Reliabilität beschrieben wurden.
unterschiedliche Verfahren zur kulturellen Adaptie- Wenn Veränderungen gemessen werden, ist es auch
rung. Der Übersetzungsprozess schließt bei allen Ver- wichtig, Boden- und Deckeneffekte von Assess-
fahren ein Testen der vorläufigen, präfinalen Version in ments zu berücksichtigen. Liegen die Werte von
der Zielpopulation ein. Die Überprüfung der Validität, Patientinnen ganz an einem Ende der Skala, so
Reliabilität und eine evtl. erforderliche neue Normie- können Veränderungen nur in eine Richtung dar-
rung muss anschließend durchgeführt werden. gestellt werden.
262 Kapitel 11 · Assessments

. Tab. 11.3 Leitlinien für die kulturelle Adaptierung

Guidelines for the Process of Cross- Übersetzung durch 2 unabhängige Übersetzer


Cultural Adaptation of Self-Report Synthese der Übersetzungen durch beide Übersetzer
Measures (Beaton et al. 2000)
Rückübersetzung durch 2 unabhängige Übersetzer
Expertenkomitee (Übersetzer, Methodologe, Kliniker, Sprachexperte) in
Kontakt mit den Entwicklern
Testen der vorläufigen, präfinalen Version
ausführliche Dokumentation aller Schritte und Übersenden der
Dokumentation an die Entwickler oder das Koordinationskomitee für
Übersetzungen
anschließend weitere Testung der adaptierten Version
Cross-Cultural Adaptation of Research Überprüfung der Gleichwertigkeit der Konzepte und Items
Instruments (Gjersing et al. 2010) (Literaturreview und Diskussion mit Experten aus dem Feld und mit
Personen aus der Zielgruppe)
Übersetzung durch 2 unabhängige Übersetzer
Synthese der Übersetzungen durch einen 3. Übersetzer
Rückübersetzung durch 2 unabhängige Übersetzer
Synthese der Übersetzungen durch einen 3. Übersetzer
Expertenkomitee
Testen des vorläufigen Instruments
Überarbeitung des Instruments
Überprüfung der operationalen Gleichwertigkeit (Literaturreview
und Diskussion mit Experten aus dem Feld und mit Personen aus der
11 Zielgruppe)
Hauptstudie
explorative und konfirmatorische Faktorenanalysen
neue Version des Instruments
WHO: Process of Translation and Übersetzung
Adaptation of Instruments (WHO 2015) Expertenkomitee (u. a. Übersetzer und Gesundheitsexperten)
Rückübersetzung
Testen des Instruments in der Zielpopulation und Befragung der
Teilnehmer zu Inhalten, Verständlichkeit und Formulierungen
finale Version
Dokumentation aller Schritte
Adapting Quality of Life Instruments Übersetzung in einem Team von 5–7 Personen mit einer Person, dessen
(Swaine-Verdier et al. 2004) Muttersprache die Sprache des Originalassessments ist
Überprüfung der Verständlichkeit der Items durch ein Laiengremium
Protokoll aller Entscheidungen und Veränderungen
Testen der Übersetzung in der Zielgruppe
Überprüfung der Gütekriterien

11.3.4 Praktikabilität Für die Praktikabilität eines Assessments sollten


folgende Punkte bedacht werden.
Die Praktikabilität zählt nicht zu den Hauptgütekri- 4 Aufwand und Mühe für Klientinnen
terien, sie ist aber ein wichtiger Faktor für die Wahl 4 Dauer der Durchführung
eines Assessments für die Praxis oder für Studien. 4 Zeit für Vorbereitung und Auswertung
11.4 · Suche und Checklisten für die Bewertung von Assessments
263 11
4 Raumbedarf, Handhabbarkeit der Materialien bestimmte Aufgabenstellung oder Klientengruppe
4 Kosten für Anschaffung und Lizenzen gesucht werden. Zusätzlich ist es immer sinnvoll zu
4 Kosten für die einzelne Testung, zum Beispiel recherchieren, welche Assessments andere Forsche-
Formulare und Verbrauchsmaterial rinnen mit ähnlichen Fragestellungen verwendet
4 Zeit und Kosten für die Einschulung in das haben. Wurde ein Assessment vor 10 Jahren oft ver-
Assessment wendet, in den letzten Jahren gar nicht, ist das wahr-
scheinlich ein Hinweis, dass es andere, hoffentlich
Sowohl in der Praxis als auch in Studien können bessere Verfahren gibt. Neben Fachbüchern, die auch
die erforderlichen Informationen meist nicht aus- Assessments enthalten, gibt es immer mehr Lehrbü-
reichend mit einem einzelnen Assessment erhoben cher, die sich ausschließlich mit Assessmentverfah-
werden. Die Summe des Aufwands und auch die ren für eine Berufsgruppe oder für eine Aufgaben-
Belastung für die Klientinnen müssen daher mit dem stellung befassen und meist kritische Bewertungen
Nutzen abgewogen werden. In Abteilungen, in denen beinhalten. Viele Berufs-, Fachverbände oder Gesell-
Klientinnen mit unterschiedlichen Beeinträchtigun- schaften stellen auf ihrer Homepage Assessments vor,
gen behandelt werden, muss entschieden werden, und auch Leitlinien können Empfehlungen für Assess-
ob diagnosespezifische Verfahren, die genau auf die ments beinhalten. Zu manchen Assessments gibt es
Personengruppe zugeschnitten sind, oder generische eine eigene Homepage mit Informationen, Publikatio-
Assessments eingesetzt werden. Diagnoseunabhän- nen und teilweise mit Videos. Kataloge und Internet-
gige, generische Assessments haben den Vorteil, dass seiten von Testverlagen bieten einen Überblick, ver-
nicht so viele unterschiedliche Assessments ange- folgen aber auch eigene kommerzielle Interessen. Die
kauft und erlernt werden müssen, und sie ermög- in den unterschiedlichen Quellen gesammelten Infor-
lichen den Datenvergleich innerhalb der Abteilung. mationen helfen bei der Auswahl eines Assessments
Generische Assessments sind aber nur dann sinnvoll, bzw. zeigen Lücken in der Beforschung des Assess-
wenn sie ihren Zweck für die unterschiedlichen Per- ments auf.
sonengruppen gut erfüllen.

Wo kann ich Assessments finden?


11.4 Suche und Checklisten für die 4 Datenbanken: Studien oder Reviews zu
Bewertung von Assessments Assessments
4 Datenbanken: Studien mit ähnlichen
Wurden vor 20 Jahren in vielen Bereichen des Gesund- Aufgabenstellungen
heitswesens kaum standardisierte Assessments ein- 4 Lehrbücher zu Assessments für diesen Aufga-
gesetzt, so steht in manchen Bereichen mittlerweile benbereich oder zum Forschungsthema
eine Fülle von Verfahren zur Verfügung. Für Prak- 4 Homepage von Berufs-, Fachverbänden,
tikerinnen und Forscherinnen bietet diese Situation Projektgruppen oder Gesellschaften
viele Chancen, sie stellt aber auch neue Herausforde- 4 Leitlinien
rungen im Auswahlprozess dar. Eine überlegte und 4 Homepage spezifischer Assessments
sinnvolle Auswahl der Assessments entspricht den 4 Testverlage (Kataloge, Internet)
Anliegen und Interessen der Klienten, Praktiker, Ver-
sicherungen, Forscher und Fördergeber von Studien.
Quellen für Assessments
z z Bücher
11.4.1 Wie und wo suche ich nach 4 Asher IE (ed) (2007) Occupational therapy
geeigneten Assessments? assessment tools: An annotated index, 3rd ed.
Aota, Bethesda
Es gibt viele Quellen für die Suche nach einem geeig- 4 Bartholomeyczik S, Halek M (eds) (2009)
neten Assessment. In wissenschaftlichen Datenban- Assessmentinstrumente in der Pflege: Möglich-
ken kann spezifisch nach Studien oder Reviews zu keiten und Grenzen, 2. Aufl. Schlütersche,
einzelnen Assessments oder zu Assessments für eine Hannover
264 Kapitel 11 · Assessments

4 Büsching G, Hilfiker R, Mangold F, Messmer 4 Deutscher Verband der Ergotherapeuten


G, van Oort E, Schädler S et al. (eds) (2009) (www.dve.info, nur für Mitglieder zugänglich):
Assessments in der Rehabilitation, Bd 3: Kurzbeschreibung von Assessments aus
Kardiologie und Pneumologie. Huber, Bern der Ergotherapie mit Angaben zu den
4 Gupta A (2012) Assessmentinstrumente Gütekriterien
für alte Menschen: Pflege- und Versorgungs- 4 Entwicklungsdiagnostik (http://entwick-
bedarf systematisch einschätzen. Huber, Bern lungsdiagnostik.de/entwicklungstest.html):
4 Law MC, Baum CM, Dunn W (eds) (2005) Beschreibung und Kritik von
Measuring occupational performance: Entwicklungstests
Supporting best practice in occupational 4 Fachgruppe der American Physical Therapy
therapy, 2nd ed. Slack, Thorofare Association (APTA) (www.neuropt.org/
4 Oesch P, Hilfiker R, Keller S (eds) (2007) professional-resources/neurology-section-out-
Assessments in der muskuloskelettalen come-measures-recommendations): Auflistung
Rehabilitation. Huber, Bern empfohlener Assessments für Patienten mit
4 Projektgruppe Ergotherapeutische Befundin- Schlaganfall, multipler Sklerose, traumatischen
strumente in der Pädiatrie (2010) Befundinst- Hirnschädigungen, Querschnittverletzungen,
rumente in der pädiatrischen Ergotherapie, 3. Parkinson-Krankheit und vestibulären
Aufl. Schulz-Kirchner, Idstein Problemen
4 Reuschenbach B, Mahler C, Ahlsdorf E (eds) 4 Kompetenz-Centrum Geriatrie (KC Geriatrie)
(2011) Programmbereich Pflege. Pflege- (www.kcgeriatrie.de): Kurzbeschreibung von ca.
bezogene Assessmentinstrumente: Inter- 20 geriatrischen Assessments
nationales Handbuch für Pflegeforschung und 4 Pearson Clinical Assessment (www.pearsonas-
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4 Rowe FJ (ed) (2012) Clinical orthoptics, 3rd ed. Entwicklungstests, kognitive Tests, Sprachtests,
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4 Schädler S, Kool J, Lüthi H, Marks D, Oesch P, 4
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Pfeffer A et al. (Hrsg) (2009) Assessments in Measures): Kurzbeschreibung von
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Huber, Bern kurzen Angaben zu den Gütekriterien;
4 Stokes EK (2011) Rehabilitation outcome teilweise Links zu Videos
measures. Churchill Livingstone, Edinburgh 4 Rehabilitation Measures Database (www.
4 Shipley KG, McAfee JG (2015) Assessment rehabmeasures.org): mehr als 300 Assessments
in speech-language pathology: A resource für die Rehabilitation mit guten Beschrei-
manual, 5th ed. Cengage learning, Boston bungen; ausführliche Angaben zu den Gütekri-
terien; Links zu weiteren Informationen und
z z Internet Materialien (Formularen); Tabellen können
4 Canadian Partnership for Stroke Recovery auch nach Bereichen sortiert werden
(http://strokengine.ca/): Assessments für 4 Spinal Cord Injury Research Evidence
Schlaganfallpatienten, alphabetisch oder nach (www.scireproject.com): Assessments für
Testbereichen gegliedert; sehr übersichtliche Patienten mit Querschnittsverletzungen,
Beschreibung und ausführliche Darstellung der alphabetisch und nach Bereichen gelistet;
Gütekriterien; Links zu weiteren Informationen Beschreibung der Assessments und der
des Assessments Gütekriterien
4 Centre for Evidence Based Physiotherapy, 4 Testzentrale der Hogrefe-Verlagsgruppe
Maastricht (www.cebp.nl): Kurzbeschreibung (www.testzentrale.de): Vertrieb von Assess-
sehr vieler Assessments aus der Physiotherapie; ments (u. a. Entwicklungstests, kognitive Tests,
keine Angaben zu den Gütekriterien; teilweise Sprachtests, klinische Verfahren für Kinder,
Links zu Formularen Jugendliche und Erwachse)
11.4 · Suche und Checklisten für die Bewertung von Assessments
265 11

. Tab. 11.4 Checkliste für die Auswahl eines Assessments

Welche Funktion soll das Assessment Diagnostik oder Befundung


erfüllen? Prognose
Evaluation von Interventionen
Was möchte ich erheben? Körperfunktion, -struktur
Aktivität
Partizipation
Umweltfaktoren
Lebensqualität
Wer ist die Quelle für die Von Professionisten erhoben („clinician-based“)
Informationen? Bericht oder Informationen von Patienten („patient-reported“)
Informationen von Angehörigen oder anderen relevanten Personen
(„proxy-reported“)
Mit welcher Methode werden die Daten Strukturiertes oder teilstrukturiertes Interview
erhoben? Fragebogen
Beobachtung der Durchführung
Messung
Ist das Assessment für die geplante Interne Konsistenz
Population und Aufgabenstellung Test-Retest-, Interrater- und Intrarater-Reliabilität
reliabel?
Standardmessfehler und „smallest detectable change“
Ist das Assessment für die geplante Inhaltsvalidität
Population und Aufgabenstellung konkurrente oder prädiktive Kriteriumsvalidität
valide?
Konstruktvalidität:
– strukturelle Validität
– Testen der Hypothesen
– kulturelle Validität
Responsivität: Vergleich mit Referenzassessment, „smallest detectable
change“ (SDC) und „minimal important change“ (MIC), Decken- und
Bodeneffekte
Ist das Assessment praktikabel? Aufwand und Mühe für Klienten
Dauer der Durchführung
Zeit für Vorbereitung und Auswertung
Raumbedarf, Handhabbarkeit der Materialien
Kosten für Anschaffung und Lizenzen
Kosten für die einzelne Testung: z. B. Formulare und Verbrauchsmaterial
Zeit und Kosten für die Einschulung in das Assessment

11.4.2 Checklisten für die Auswahl und Englisch. Die Checkliste im Anschluss (. Tab. 11.4)
Bewertung von Assessments bietet eine kurze Übersicht über die Kriterien.
4 The COSMIN Checklist: Manual und Check-
Für die kritische Bewertung von Assessments und liste mit 12 Subskalen, publiziert in Mokkink
von Studien zur Überprüfung der Gütekriterien gibt et al. 2010b und Terwee et al. 2012. Download:
es einige Formulare mit ausführlicher Anleitung auf www.cosmin.nl/
266 Kapitel 11 · Assessments

4 Quality Appraisal for Clinical Measurment Law MC, Baum CM, Dunn W (eds) (2005) Measuring occupatio-
nal performance: Supporting best practice in occupatio-
Studies: Leitfaden und Formular mit 12 Items
nal therapy, 2nd ed. Slack, Thorofare
sowie ein Datenextraktionsformular entwickelt MacDermid JC, Law M, Michlovitz S (2014) Outcome measu-
von MacDermid, publiziert in MacDermid rement in evidence-based rehabilitation. In: Law M, Mac-
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267 III

Anwendung in der
Praxis
Kapitel 12 Themenfindung und Recherche –201
Valentin Ritschl, Erika Mosor, Ulrike Ritschl, Tanja Stamm,
Heidrun Becker, Agnes Sturma

Kapitel 13 Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit –213


Valentin Ritschl, Larisa Baciu, Tanja Stamm

Kapitel 14 Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis –223


Valentin Ritschl, Tanja Stamm, Gerold Unterhumer
Ziele
Die Lesenden sind nach dem Studieren dieses Abschnitts in der Lage,
4 den geeignetsten Forschungsansatz für die Fragestellung auszuwählen,
4 den jeweiligen Forschungsstand zu einem Thema zu beurteilen,
4 den Bedarf an weiteren Projekten im gewählten Bereich einzuschätzen,
4 die richtige Fragestellung zu präzisieren,
4 die wichtigsten Arbeitsschritte für die Vorbereitungen einer
wissenschaftlichen Arbeit zu benennen und zu erläutern,
4 den korrekten Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit zu definieren,
4 mittels evidenzbasierter Praxis therapeutische/diagnostische
Entscheidungen anhand verfügbarer Evidenzen auszuwählen.
269 12

Themenfindung
und Recherche
Valentin Ritschl, Erika Mosor, Ulrike Ritschl, Tanja Stamm, Heidrun Becker,
Agnes Sturma

12.1 Den richtigen Forschungsansatz finden – 270


12.1.1 Forschungsparadigmen – 270

12.2 Forschungsstand und Forschungslücke– 272


12.2.1 Was interessiert mich? – Das Thema – 272
12.2.2 Welche Anforderungen sollen Forschungsarbeiten
erfüllen? – 274

12.3 Was will ich wissen? – Die Forschungsfrage – 274


12.3.1 Soll ich das Projekt weiterverfolgen? – Kriterien zur
Entscheidung – 275

12.4 Vorbereitungen für die wissenschaftliche Arbeit – 276

Literatur – 278

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5_12
270 Kapitel 12 · Themenfindung und Recherche

12.1 Den richtigen Forschungsansatz gesehen. Methodologisch nähert man sich Fragestel-
finden lungen im Positivismus, indem Variablen quantitativ
gemessen werden. Hypothesen werden dadurch fal-
Valentin Ritschl, Erika Mosor, Ulrike Ritschl, sifiziert (widerlegt) oder verifiziert (bestätigt). Durch
Tanja Stamm die Verifizierung oder Falsifizierung der Hypothese
soll in der Folge eine begreifbare Realität abgebildet
In jedem Forschungsprojekt stellt sich üblicher- werden.
weise die Frage nach dem passenden Forschungs- Aus ontologischer Sicht1 spricht man in diesem
ansatz. Dabei ist es wichtig, die Philosophie, auf die Zusammenhang vom naiven Realismus. Es exis-
sich die Forschungstätigkeit stützt, zu verstehen, sich tiert nur eine Wahrheit, diese Realität ist messbar,
dieser von Anfang an bewusst zu sein und darüber im begreifbar und beobachtbar. Alles andere existiert
Verlauf der Arbeit zu reflektieren. Was ist der Hin- nicht. Durch die Existenz einer einzigen Realität sind
tergrund meiner Fragestellung? Wen will ich mit Messungen, Beobachtungen und Forschungsergeb-
meinen Forschungsergebnissen erreichen? Welches nisse auf andere Menschen in ähnlichen Gruppen
Paradigma liegt der Forschungsidee zugrunde? übertragbar.
Welche Theorien leiten mich in meinem Forschungs- Aus epistemologischer Sicht 2 kann man sich
projekt? All diese grundsätzlichen Überlegungen dieser Realität nur annähern, sie wird aber durch
haben Auswirkungen auf die Forschungsergebnisse. Forschung und Statistik konstruiert. Teilnehmende
Dieses Kapitel orientiert sich an den Werken von Forschende und Thema sind voneinander unabhän-
Creswell (2012), Huff (2009) und Ponterotto (2005), gig – die Interaktion mit Beforschten wird auf ein
die Forschungsparadigmen kritisch analysiert und Minimum reduziert, um die Ergebnisse zu objek-
für die Gesundheitsberufe adaptiert haben. tivieren. Diese Trennung von Forschenden und
„Beforschten“ wird als Dualismus bezeichnet. Es
muss eine Art „Fremdheit“ bestehen, die als Objek-
12.1.1 Forschungsparadigmen tivismus bezeichnet wird. Die Person des Wissen-
schaftlers beeinflusst die Studienergebnisse nicht.
Unter Forschungsparadigma versteht man eine Viel- Zur Datenerhebung werden standardisierte Metho-
12 zahl von Annahmen, Wertvorstellungen, Haltungen, den verwendet.
Lehrmeinungen und Arbeitsweisen, die die wissen-
schaftliche Praxis bestimmen. In diesem Kapitel > Aus wertetheoretischer Sicht haben die
werden exemplarisch 3 unterschiedliche Forschungs- Werte und Einstellungen der Forschenden im
paradigmen mit ihren ganz speziellen Herangehens- Forschungsprozess keine Bedeutung.
weisen beschrieben. Jedes dieser Paradigmen gene-
riert Wissen auf unterschiedliche Art und Weise. Die Der Positivismus ist das in der Naturwissenschaft
3 genauer beschriebenen Paradigmen sind Beispiele weitgehend übliche Forschungsparadigma. Im Post-
ohne Anspruch auf Vollständigkeit. positivismus wurden bereits Teile der Annahmen des
Positivismus kritisch hinterfragt, zum Beispiel die
Frage nach eine allgemeingültigen Wahrheit oder
Positivismus als Beispiel für Wirklichkeit. Positivismus betont die Theorieverifi-
naturwissenschaftliche quantitative kation, Postpositivismus hingegen die Theoriefalsi-
Forschungsparadigmen fikation. Beide gehen allerdings von einer objektiven
Hat man eine Theorie, die überprüft, und Ergebnisse, Rolle der Forschenden aus.
die generalisiert werden sollen, dann begründet sich
die Arbeit auf dem Paradigma des Positivismus. Kau-
1 Die Ontologie, die Lehre vom Sein, geht der Frage nach,
salzusammenhänge mit Ursache-Wirkungs-Mo-
wie die Realität, beschaffen ist.
dellen können aufgrund von quantitativ messbaren 2 Epistemologie ist die Erkenntnislehre und geht der Frage
Variablen etabliert werden. Menschliches Verhalten nach, wie neues Wissen zustande kommt und geschaffen
wird dabei als vorhersagbar und verallgemeinerbar werden kann.
12.1 · Den richtigen Forschungsansatz finden
271 12
> Bedeutung für das eigene Forschungs- der Person begreifen zu können, ist die dynamische
vorhaben: Entspricht das Grundverständnis Interaktion zwischen Teilnehmerinnen und For-
von Wissen und Erkenntnisgewinnung schern zentral.
des Forschers dem Positivismus, ist es Aus wertetheoretischer Sicht können die Werte
sinnvoll, einen deduktiven Ansatz für das und Einstellungen der Forscher nicht vom For-
Forschungsprojekt zu wählen. Dies schließt schungsprozess getrennt werden. Ein hohes Maß an
vor allem quantitative Ansätze ein, aber Reflexivität ist daher von Bedeutung. Eine Möglich-
dennoch qualitative nicht aus. Beispielsweise keit, sich die eigenen Werte bewusst zu machen, sie
kann die „grounded theory“ (7 Abschn. 6.3.3) zu beschreiben und anzuerkennen, ist das Führen
nach Glaser, Strauss und Beer (2012) als eines Forschungstagebuchs und das Offenlegen der
postpositivistisch gesehen werden. Eine jeweiligen Grundansichten der Forschenden im
Generalisierung ist hier ebenfalls von Rahmen der Arbeit.
Bedeutung.
> Bedeutung für das eigene Forschungs-
vorhaben: Entspricht das Grundverständnis
Konstruktivismus als Beispiel für von Wissen und Erkenntnisgewinnung der
qualitative Forschungsparadigmen Forscherin dem Konstruktivismus, ist es
Gehen die Forscherinnen davon aus, dass mensch- sinnvoll, einen induktiven Ansatz für das
liches Verhalten, Erfahrungen oder Phänomene Forschungsprojekt zu wählen. Dies schließt
durch Interaktion zwischen Teilnehmenden und vor allem qualitative Ansätze ein, um ein
Forschenden besser verstanden und Phänomene vertieftes Verständnis zu erreichen.
durch Interpretation erklärt werden können, dann
begründet sich die Arbeit auf dem Paradigma des
Konstruktivismus. Kritisches Paradigma
Methodologisch nähert man sich Fragestel- Ist das Ziel der Forscherin oder des Forschers, Men-
lungen im Konstruktivismus durch Interaktion. schen zu bewegen, Machtverhältnisse aufzuzeigen,
Dadurch sollen unbekannte Phänomene oder bestehendes Wissen kritisch zu hinterfragen oder
Bedeutungen an die Oberfläche gebracht und sicht- gemeinsam mit den Teilnehmern einer Studie neues
bar gemacht werden. Der Konstruktivismus schließt Wissen zu generieren, weil bestehende Theorien
dabei bereits bestehende theoretische Bezugsrah- nicht ausreichen, dann begründet sich die Arbeit
men und vorhandenes Wissen mit ein. Ausgehend auf dem kritischen Paradigma.
davon, dass diese jedoch nicht alles Wissen abdecken Methodologisch wird im Dialog zwischen Teil-
und das vorhandene Wissen nicht ausreicht, um die nehmern und Forschern gemeinsam neues Wissen
Forschungsfrage zu beantworten, machen sich For- generiert, man spricht von einem kollaborativen
schende auf die Suche nach neuen Erkenntnissen. Ansatz. Durch neues Wissen sollen Veränderungen
Aus ontologischer Sicht werden durch gelebte für Menschen in einem gewissen Kontext ermöglicht
Erfahrungen und Interaktionen mit anderen Men- werden. Die Menschen werden ermächtigt und befä-
schen viele Realitäten konstruiert, die gleichwer- higt, mit ihrem Wissen zu arbeiten und Lösungen zu
tig nebeneinander existieren. Die Realität ist somit finden, beispielsweise durch den Ansatz der partizi-
beeinflusst von den Erfahrungen, Wahrnehmungen, pativen Gesundheitsforschung. Dabei entscheiden
der sozialen Umwelt einer Person sowie der Inter- die Studienteilnehmenden mit über die Forschungs-
aktion zwischen Teilnehmenden und Forschenden. frage, die Methodenwahl und die Art der Präsenta-
Dies bedeutet, dass die Wirklichkeit konstruiert wird. tion der Resultate.
Aus epistemologischer Sicht wird die Realität Aus ontologischer Sicht gibt es eine Realität,
zwischen Forschern und Beforschten gemeinsam die begrenzt verstehbar ist. Sie wird durch Macht,
konstruiert (kokonstruiert) und ist von individuel- Sprache und Politik unterschiedlich geprägt und im
len Erfahrungen geprägt. Durch Subjektivität soll ein soziohistorischen Kontext konstruiert. Da heißt, dass
tieferes Verständnis erlangt werden. Um das Erleben die Wirklichkeit auf Macht und Identitätskämpfen
272 Kapitel 12 · Themenfindung und Recherche

basiert, wobei persönlicher Hintergrund, Kultur, 4 Ein Projekt oder eine Abschlussarbeit wird für
Geschlecht, soziale und politische Werte sowie das Studium oder eine akademische Weiter-
Machtverhältnisse eine entscheidende Rolle spielen. bildung gefordert.
Aus epistemologischer Sicht ist die Reali- 4 Eine forschender Praktikerin plant ein Projekt
tät bereits durch Studien von sozialen Strukturen, in seiner Institution.
Freiheit und Unterdrückung, Macht und Kontrolle 4 Eine Promotion oder Habilitation wird
bekannt. Durch Forschung kann diese bekannte Rea- angestrebt.
lität verändert bzw. erweitert werden. Dieser Sub- 4 Das Forschen gehört zum Arbeitsauftrag, zum
jektivismus, also Wissen, das bereits in einer Person Beispiel bei wissenschaftlichen Mitarbeitenden
vorhanden ist, wird durch Interaktion zwischen den und Professoren an Hochschulen.
Forschenden und den Teilnehmenden an die Ober-
fläche gebracht und in einer neuen Perspektive ver- Voraussetzungen und Zielsetzungen sind dabei
standen. Durch einen kollaborativen Ansatz kann jeweils verschieden. Dennoch gibt es einige grund-
somit ein tiefes Verständnis einer Situation entstehen. sätzliche Fragen und Regeln, die dabei helfen, Ziele
Aus wertetheoretischer Sicht können die Werte und Fragestellungen eines Forschungsprojekts zu
und Erwartungen der Teilnehmenden und die der entwickeln.
Forschenden nicht vom Forschungsprozess getrennt
werden. Somit ist auch hier die Reflexivität der For-
scherin und des Forschers wichtig. 12.2.1 Was interessiert mich? – Das
Thema
> Bedeutung für das eigene Forschungs-
vorhaben: Entspricht das Grundverständnis Zu einem Forschungsthema führen meist 3 Wege:
von Wissen und Erkenntnisgewinnung des Man stößt selbst auf ein Phänomen oder Problem aus
Forschenden dem kritischen Paradigma, so der Praxis, wird durch Literatur oder andere Perso-
ist es sinnvoll, einen kollaborativen Ansatz nen darauf hingewiesen oder durch eine Ausschrei-
für das Forschungsprojekt zu wählen. bung aufmerksam gemacht. Meist steht am Anfang
eine wage Idee (7 Kap. 2), und es kann einige Zeit
12 und Energie kosten, bis diese zu einer realisierba-
Zusammenfassung ren Fragestellung wird. Für Forschungsnovizen ist es
Am Anfang jedes Forschungsprojekts müssen sich manchmal schwer zu verstehen, warum aufwendige
Forschende bewusst mit den eigenen grundlegenden Vorarbeiten notwendig sind. Förderinstitutionen
Sichtweisen zur Forschungsarbeit auseinandersetzen. hingegen setzen diese Vorarbeiten voraus und ver-
Gedanken zu den eigenen philosophischen Einstel- langen in den Forschungsanträgen, dass diese nach-
lungen und Forschungsparadigmen unterstützen bei vollziehbar dargelegt werden.
der Formulierung der Forschungsfrage, bei Überle-
gungen zum passenden Studiendesign, bei der Date- > Von der Fragestellung und dem passenden
nerhebung und Analyse und bei der Ergebnispräsen- Studiendesign hängt das weitere Vorgehen
tation. Zudem hilft dies anderen, die Gedankengänge ab, somit auch, ob das Projekt scheitert oder
der Forschenden besser nachvollziehen zu können. gelingt. Man kann dies mit dem Fundament
eines Hauses vergleichen. Sorgfalt und
Zeitaufwand sind deshalb gut investiert.
12.2 Forschungsstand
und Forschungslücke Formulieren Sie zunächst Ihre Idee in einem Satz.
Sammeln Sie alles, was Ihnen spontan zum Thema
Heidrun Becker einfällt: Bilder, Gedanken, persönlicher Bezug,
was macht neugierig, ist unklar, widersprüchlich,
Es gibt verschiedene Anlässe, ein Forschungsprojekt erstaunlich? Sie können dazu auch ein Mindmap
zu entwickeln: anlegen. Nehmen Sie dann den Aspekt aus der
12.2 · Forschungsstand und Forschungslücke
273 12
Sammlung heraus, der Sie am meisten anspricht. Mit einer gestuften Suche lässt sich dies schnell
Grenzen Sie nun das Thema etwas enger ein, zum herausfinden:
Beispiel auf eine bestimmte Intervention, eine Ziel- 4 Suche in der Cochrane Library nach syste-
gruppe, ein bestimmtes Outcome etc. matischen Reviews mit den Begriffen „fall
Beispiele: elderly“ (14 Treffer, 2 direkt zum Thema am
4 Wirksamkeit einer Intervention: Für welche 6.06.15), „fall prevention“ (36 Treffer, 4 direkt
Klientel und welches Problem? Wie heißt die zum Thema). Beim Lesen der Trefferliste wird
Intervention genau? Gibt es dafür verschiedene bereits klar, dass eingegrenzt werden muss:
Bezeichnungen? Die Orientierung am PICO Geht es um selbständig lebende Senioren,
Modell ist hier hilfreich. PICO steht für: Personen in Langzeitpflege oder um den
4 P = Population, Patient oder Problem Übergang vom Spital nach Hause? Sollen
4 I = Intervention, diagnostisches/therapeuti- medikamentöse Therapien, medizinisch-thera-
sches Verfahren peutische Interventionen der Ergotherapie und
4 C = „comparison“ oder „control“, Physiotherapie oder pflegerische Maßnahmen
Vergleichsintervention untersucht werden? Geht es um Umweltge-
4 O = Outcome: Was soll erreicht bzw. staltung und Hilfsmittel? Aktuelle Cochra-
gemessen werden? ne-Reviews geben nicht nur einen Überblick
4 Geht es um ein Assessment und seine Güte? über den Forschungsstand, sondern zeigen
Kennen Sie das Assessment bereits oder wissen auch konkret den Forschungsbedarf auf.
Sie, was erhoben werden soll, aber noch nicht 4 Ist kein Cochrane-Review vorhanden,
mit welchem Instrument? empfiehlt es sich, bei Themen zu Inter-
4 Wollen Sie ein Phänomen näher untersuchen? ventionen oder Diagnostik zunächst nach
4 Soll ein neues Programm, Hilfsmittel etc. evidenzbasierten Leitlinien zu suchen,
entwickelt werden? Welches Problem soll damit zum Beispiel in der AWMF-Datenbank. Sie
gelöst werden? enthalten ebenfalls systematische Reviews
und eine Zusammenfassung über offene
Das Formulieren der ersten Idee hilft dabei, kon- Forschungsfragen. (Zum Thema Sturzprä-
kreter zu werden. Es ist dann empfehlenswert, sich vention gibt es eine evidenzbasierte Leitlinie
mit anderen auszutauschen. In diesen Gesprächen über Osteoporose und Sturzprävention.)
wird nicht nur Wissen ausgetauscht, und praktische Evidenzbasierte Leitlinien von internationalen
Tipps werden gegeben, sie zwingen auch dazu, die Organisationen können ebenfalls genutzt
Idee immer genauer zu entwickeln. An den Reaktio- werden, in der Sturzprävention wäre dies die
nen und dem Feedback merkt man sehr schnell, ob Leitlinie der amerikanischen und britischen
die Idee originell und interessant für die Berufskol- Geriatrics Societies (http://geriatricscareonline.
leginnen und -kollegen ist. org/ProductAbstract/updated-american-
Sammeln Sie nun deutsche und englische geriatrics-societybritish-geriatrics-society-clinical-
Begriffe, die zu Ihrem Thema und Ihrer Idee passen. practice-guideline-for-prevention-of-falls-in-older-
Mit diesen Begriffen beginnen Sie anschließend eine persons-and-recommendations/CL014). Es gibt
Literaturrecherche in Datenbanken und im Internet auch Leitlinien für bestimmte Berufsgruppen,
(7 Abschn. 14.2.1). zum Beispiel zur Ergotherapie, Physiotherapie
oder Pflege, die ebenfalls herangezogen
Beispiel werden können3. Es sollten vor allem die
Stürze zu vermeiden oder die Folgen von Stürzen zu aktuellsten Reviews genau gelesen werden. Sie
mindern ist ein wichtiges Thema in der Versorgung enthalten Hinweise darüber, was bereits wie
älterer Menschen. Viele Berufsgruppen tragen zur untersucht wurde, sie nennen Mängel dieser
Sturzprävention bei und beschäftigen sich in der
Forschung damit. Sie finden das Thema spannend, 3 www.csp.org.uk/news/2012/08/16/physios-pu-
aber gibt es überhaupt noch Forschungsbedarf? blish-new-guidance-falls-prevention
274 Kapitel 12 · Themenfindung und Recherche

Studien und liefern Angaben zum weiteren liefern, methodisch sorgfältig und nachvollziehbar
Forschungsbedarf. erarbeitet und ethisch korrekt durchgeführt werden.
4 Sind keine Reviews zum Thema zu finden, Reines Eigeninteresse oder Neugierde reichen auch
erweitert man die Suche auf die Datenbanken bei Abschlussarbeiten nicht zur Begründung eines
Medline, Pubmed, CINAHL, PEDro, OTSeeker, Themas aus. Besonders in Berufen, die sich noch im
OTDBASE, Ovid Nursing Full-Text Plus und Akademisierungsprozess befinden, ist es wichtig,
ggf. andere themenspezifische Datenbanken. Ressourcen effektiv und effizient einzusetzen. Auch
eine Bachelorarbeit kann dazu beitragen, der Berufs-
Es lohnt sich, die Ergebnisse der Literaturana- gruppe neues Wissen zu vermitteln oder vorhan-
lyse in Stichworten oder einer Tabelle festzuhalten denes Wissen besser zugänglich zu machen. Sind
( 7 Abschn. 14.2.1). Für einen Forschungsantrag Patientinnen oder Klientinnen involviert, ist der
oder eine Abschlussarbeit kann dann wieder darauf Aspekt noch wichtiger (7 Abschn. 3.2 und 7 Abschn.
zurückgegriffen werden, ohne dass man die Aus- 3.3): Menschen dürfen weder instrumentalisiert noch
wertung noch mal wiederholen muss. Wichtig ist es unnötig durch Forschung belastet werden. Es muss
dabei, die Suchhistorie („search history“) zu spei- sichergestellt sein, dass eine Forschungslücke besteht,
chern und Artikel direkt in ein Literaturverwal- die nicht anders gefüllt werden kann. Wenn die For-
tungssystem wie RefWorks, Mendeley, Citavi oder schungslücke gefunden und in einer ersten Skizze
EndNote zu exportieren (7 Abschn. 13.4). Die kon- formuliert worden ist, gilt es deshalb, die Originali-
krete Suche ist in 7 Abschn. 14.2.1 beschrieben. tät oder Innovation eines Forschungsvorhabens zu
überprüfen. Dazu sucht man in Forschungsdaten-
banken nach laufenden Projekten:
12.2.2 Welche Anforderungen sollen 4 International: https://clinicaltrials.gov, wenn es
Forschungsarbeiten erfüllen? sich um ein „clinical trail“ handelt
4 Schweiz: FORSbase Datenbank
Der Kontext, in dem ein Forschungsprojekt stattfin- (https://forsbase.unil.ch/) oder die Datenbank
den soll, gibt verschiedene Anforderungen vor. Am über Projekte des Schweizer Bundes ARAMIS
konkretesten werden diese in Ausschreibungen dar- (http://www.aramis.admin.ch/)
12 gelegt. Dort findet man meist Thema, Ziel, Fragestel- 4 Deutschland: Seite des Bundesministeriums für
lungen, Zeit- und Finanzrahmen. Abschlussarbei- Bildung und Forschung (http://www.bmbf.de/
ten erfüllen eine andere Funktion: Sie belegen, ob de/2762.php)
die Verfasserin oder der Verfasser dazu in der Lage 4 Datenbanken von Förderstellen wie EU,
ist, eigenständig wissenschaftlich zu arbeiten, je nach Stiftungen etc.
Abschluss auf unterschiedlichem Niveau und mit
unterschiedlichem Umfang. Dennoch gilt der fol- Sind ähnliche Projekte in Bearbeitung, lohnt es sich
gende Merksatz für alle Arbeiten. evtl., diese näher zu analysieren: Was sind die Stärken
und Schwächen bereits vorhandener Projekte? Worauf
> Forschungsarbeiten sollen sowohl könnte man aufbauen? Wo besteht Konkurrenz? Wo
gesellschaftlich als auch wissenschaftlich könnte man ergänzende Fragen oder Methoden ein-
relevant sein. bringen und eine Zusammenarbeit anstreben?

Einen gesellschaftlich relevanten Beitrag leisten sie


im Fall der Gesundheitsberufe, wenn sie zur För- 12.3 Was will ich wissen? – Die
derung der Gesundheit, Gesundheitsversorgung, Forschungsfrage
Inklusion oder Partizipation von Individuen, gesell-
schaftlichen Gruppen, Gemeinden oder zu Verbes- Heidrun Becker
serungen im Gesundheitssystem beitragen. For-
schungsarbeiten sind wissenschaftlich relevant, Die Forschungsfrage leitet die Auswahl des Studien-
wenn sie originell sind, d. h. neue Erkenntnisse designs und der Forschungsmethoden. Am Ende
12.3 · Was will ich wissen? – Die Forschungsfrage
275 12
des Projekts soll sie konkret und möglichst präzise 4 Ich beschäftige mich mit/arbeite an … (Thema)
beantwortet werden und neue Erkenntnisse für die 4 Ich untersuche …, weil ich herausfinden
Gesundheitsversorgung bieten. will, wer/was/wann/wo/warum/wie …
(Forschungsfrage)
> Formulieren Sie „W-“Fragen: Wie, Weshalb, 4 Ich untersuche …, um zu verstehen/zu
Wer, Was … rund um Ihr Thema. erklären/nachzuweisen/zu überprüfen …
(Begründung)
Beispiel 4 Mit dem Ergebnis leiste ich einen Beitrag zu …
5 Wie-Fragen führen zu einer Beschreibung einer (gesellschaftlicher Nutzen)
Situation: Wie beschreiben Eltern von Kindern
mit ADHS ihren Alltag?
5 Warum-Fragen suchen nach Erklärungen: Warum 12.3.1 Soll ich das Projekt
werden Gesundheitsberufe überwiegend von weiterverfolgen? – Kriterien zur
Frauen ausgeübt? Entscheidung
5 Was-Fragen oder Welche-Fragen streben nach
Lösungen oder Veränderungen: Was muss Nachdem das Thema eingegrenzt und über die Lite-
verändert werden, damit Therapien im Alltag ratursuche begründet werden kann, sollte das Vorha-
der Klienten stattfinden können? Oder: Welche ben nochmals geprüft werden. Das betrifft vor allem
Rahmenbedingungen ermöglichen eine die Frage: Kann die Forschungsfrage im Rahmen der
vermehrte Behandlung im Alltag der Patienten vorhandenen Bedingungen und Ressourcen bearbei-
mit multipler Sklerose? tet werden? Folgende Leitfragen sind hilfreich:
4 Mit welchen Studiendesigns kann die Frage
Je mehr bereits über ein Phänomen oder eine Inter- beantwortet werden?
vention bekannt ist, umso spezifischer sollte die Fra- 4 Welche Kompetenzen werden dazu benötigt?
gestellung sein: Sind sie vorhanden oder werden Forschungs-
4 Es kann eher offen gefragt, werden, wenn noch partner benötigt? Wenn ja, welche?
wenig zu einem Problem oder einer Inter- 4 Sind Praxispartner nötig, zum Beispiel um
vention bekannt ist, zum Beispiel: Wie erleben Probandinnen zu rekrutieren?
Patientinnen die Umweltanpassungen in ihrer 4 Muss ein Ethikantrag gestellt werden? (Wenn
Wohnung durch Gesundheitsfachpersonen? ja, muss entsprechend Zeit eingeplant werden
Was ist über die Langzeitentwicklung eines bis zur Genehmigung)
Krankheitsbilds bekannt? 4 Wird ein Abschluss mit dem Projekt erzielt
4 Wenn bestimmte Hypothesen geprüft werden (Bachelor, Master, Promotion)? Welche
sollen, sollte dies bereits in den Frage- Voraussetzungen sind damit verbunden (Zeit,
stellungen deutlich werden, zum Beispiel: Vorgaben, Unterstützung etc.)?
Führt eine ergotherapeutische oder physio- 4 Wie passt das Projekt zu einer vorhandenen
therapeutische Behandlung von Erwachsenen Strategie (Forschungsagenda, Hochschulstra-
nach Schlaganfall mit dem Ansatz Cognitive tegie etc.)?
Orientation to daily Occupational Perfor- 4 Wenn Finanzierung nötig ist: mögliche
mance zu besseren Ergebnissen in der Durch- Förderquellen identifizieren und Deadline für
führung von Aktivitäten als herkömmliche Gesucheingabe ausfindig machen.
Vorgehensweisen? 4 Wenn es um aufwendige Projekte geht: Stärken,
Schwächen, Chancen und Herausforderungen
Fassen Sie Ihre Ergebnisse nun zusammen, indem des Projektes beurteilen (engl. „strenghts,
Sie folgende Sätze ergänzen (adaptiert nach „Phasen weaknesses, opportunities and threats“,
des wissenschaftlichen Arbeitens“, Universität Inns- abgekürzt SWOT-Analyse) machen, Bewer-
bruck, http://homepage.uibk.ac.at/~c40414/phasen. tungskriterien von Geldgebern anwenden, Kolle-
htm): ginnen und Kollegen um eine Prüfung bitten.
276 Kapitel 12 · Themenfindung und Recherche

Wenn die Entscheidung für das Projekt positiv aus- sinnvoll, in einem Konzept niederzuschreiben,
fällt, folgt als nächster Schritt das Schreiben einer Pro- welche Inhalte behandelt werden sollen und in
jektskizze oder eines Exposés, indem auch das Stu- welchem Zeitraum dies stattfinden soll. Dies erleich-
diendesign, der zeitliche Umfang und idealerweise tert später das strukturierte Arbeiten, kann frühzeitig
der ungefähre finanzielle Aufwand enthalten sind. Hinweise auf Fehler im geplanten Konzept geben und
wird außerdem von den meisten Bildungseinrichtun-
gen zur Genehmigung des Themas von Abschluss-
12.4 Vorbereitungen für die arbeiten verlangt. Ebenso sind solche Konzepte (auch
wissenschaftliche Arbeit als Exposé, Disposition oder Outline bezeichnet) die
Grundlage für Anträge für Forschungsförderungen
Agnes Sturma, Valentin Ritschl (Esselborn-Krumbiegel 2010).
Jede Universität oder Hochschule hat unter-
Einer jeden wissenschaftlichen Arbeit gehen viele schiedliche Vorgaben, wie ein Exposé zu gestal-
Überlegungen und Arbeitsschritte voran. Zu aller- ten ist. Inhaltlich sollte das Exposé jedenfalls den
erst ist die Themenfindung erforderlich. Sollte noch Arbeitstitel, eine Einführung in die Thematik mit
keine genaue Vorstellung vorhanden sein, welcher einer Beschreibung des „gap of knowledge“, die For-
Bereich gewählt werden kann, empfehlen sich schungsfrage, die gewählte Methode inklusive einer
offene Methoden zur Ideenfindung, wie etwa Clus- Begründung, weshalb es sich dabei um eine geeignete
tering oder Mindmap (Esselborn-Krumbiegel 2004, Methode handelt, das Ziel der Arbeit und ein Lite-
Rossig u. Prätsch 2008). Beim Clustering werden von raturverzeichnis beinhalten. Oftmals werden zusätz-
einem Zentralwort ausgehend immer weiter Asso- lich noch Hypothesen für die Forschungsfrage, ethi-
ziationsketten notiert. In ähnlicher Art und Weise sche Überlegungen, eine Grobgliederung und ein
wird auch beim Mindmaping von einem Wort aus- Zeitplan für die Erstellung der wissenschaftlichen
gegangen. Hier soll aber ein Baumdiagramm ent- Arbeit angeführt (Huemer et al. 2012).
stehen, und es kann auch mit Grafiken und Farben
gearbeitet werden. Auch Diskussionen mit Kollegen z Arbeitstitel
und anderen Forschenden können zu Themenideen Der Titel der geplanten Arbeit sollte kurz und präg-
12 führen. nant den Inhalt wiedergeben (ca. 12 Worte). Wichtig
Es bieten sich für die Erstellung von wissenschaft- ist, dass er selbsterklärend ist. Ebenso sollte die
lichen Arbeiten Themen an, die das eigene Interesse gewählte Methode aus dem Titel hervorgehen. Es ist
geweckt haben, sich in der Praxis als relevant erwie- möglich, den Titel als Satzteil (z. B. „Die Bedeutung
sen haben, für das zukünftige Berufsumfeld relevant der interdisziplinären Zusammenarbeit in der Neu-
sein könnten und/oder bei denen bereits ein Vorwis- rorehabilitation von Kindern – ein systematischer
sen besteht. Wenn sich eine grobe Richtung heraus- Review“) oder als Frage (z. B. „Bringt die interdis-
kristallisiert hat, dient eine Literaturrecherche dazu ziplinäre Zusammenarbeit in der Neurorehabilita-
herauszufinden, was der aktuelle Forschungsstand tion einen Mehrwert für minderjährige Patienten?
in diesem Bereich ist und wo es noch offene Fragen Ein systematischer Review“) zu formulieren (Essel-
gibt. Ebenso können auch Experten und Expertin- born-Krumbiegel 2010).
nen aus dem Forschungsbereich Feedback zu Ideen
geben und eigene Vorschläge einbringen (Huemer z Einführung in die Thematik/Hintergrund
et al. 2012, Trimmel 1997). Zu empfehlen ist auch, Der Hintergrund beschreibt den bereits bekannten
sich an einem größeren bereits bestehenden For- Stand der Forschung, aus dem die Fragestellung für
schungsprojekt zu beteiligen. Oft können Teile die Arbeit hervorgeht. Daher ist es unbedingt not-
solcher Projekte als abgegrenzte Arbeitspakete eigen- wendig, vor dem Verfassen der Einleitung eine aus-
ständig für eine Bachelor- oder Masterthese von Stu- führliche Literaturrecherche zu betreiben. Im Opti-
dierenden bearbeitet werden. malfall ist die Einführung so aufgebaut, dass zuerst
Ehe man nach der Ideenfindung mit der eigent- das Forschungsumfeld und seine Bedeutung kurz
lichen wissenschaftlichen Arbeit beginnt, ist es umrissen werden. Dann wird angeführt, wo es noch
12.4 · Vorbereitungen für die wissenschaftliche Arbeit
277 12
offene Fragen gibt bzw. welche Teilaspekte noch nicht im Exposé erwähnt werden. Das Formulieren von
ausreichend erforscht sind („gap of knowledge“ oder Hypothesen ist wichtig, damit Vorannahmen expli-
„research gap“), um anschließend überzuleiten, dass zit gemacht werden und später in der Diskussion
daher in der geplanten Arbeit genau dieser noch feh- der Arbeit darauf Bezug genommen werden kann.
lende Teilaspekt bearbeitet werden soll. Wichtig ist, Besonders in der quantitativen Forschung kommt
dass sich bei der Überleitung vom Stand der For- der Hypothesenbildung eine wichtige Rolle zu. Bei
schung zur eigenen Fragestellung ein roter Faden qualitativen Ansätzen kann das Bilden von Hypo-
durchzieht. Für die Leser muss durch den Bezug auf thesen durchaus das Ergebnis der Arbeit darstellen.
vorhergegangene Argumente ohne eigenständiges Dennoch ist es sinnvoll, auch hier vorab persön-
Nachdenken klar sein, wie es zum Inhalt und zur Fra- liche Annahmen niederzuschreiben (Esselborn-
gestellung der Arbeit kommt und weshalb diese für Krumbiegel 2010). Im genannten Bespiel könnte
das Fachgebiet relevant ist (Esselborn-Krumbiegel eine mögliche Hypothese sein: „Die interdiszipli-
2004, 2010). näre Zusammenarbeit von Logopädie, Ergothe-
rapie, Physiotherapie und Krankenpflege führt in
z Forschungsfrage der pädiatrischen Neurorehabilitation zu besseren
Sie geht direkt aus dem „research gap“ der Einlei- Therapieergebnissen.“
tung hervor und fasst zusammen, was genau der
Inhalt der Arbeit sein soll. Je konkreter die For- z Methodik
schungsfrage formuliert wird, desto besser lässt Die Wahl der Methodik erschließt sich direkt aus
sich das gewählte Thema von verwandten Gebie- der Einleitung und der gewählten Fragestellung.
ten abgrenzen. Zumeist ergibt sich bei weit gefass- In diesem Teil der Disposition wird nun mit Ver-
ten Fragestellungen während des Verfassens der weisen auf die vorangegangenen Teile die Wahl
Arbeit das Problem, dass der Inhalt und der ent- der Methode genau begründet. Es muss klar aus
sprechende Aufwand den zeitlichen Rahmen für der Argumentation herauskommen, weshalb genau
das Erstellen sprengen würden (Bensberg 2013, der gewählte Forschungsansatz notwendig ist, um
Esselborn- Krumbiegel 2010). Neben des Abste- die Fragestellung zu beantworten. Um dies zu
ckens des Themengebiets geht aus der Fragestellung ermöglichen, müssen die Methode und ihre Vor-
auch schon hervor, welche Methodik zum Bearbei- teile für die gewählte Fragestellung beschrieben
ten gewählt werden sollte. Während Fragestellungen werden. Hierzu werden Arbeiten/Artikel zitiert,
nach Meinungen oder dem Erleben von Personen die sich mit der Beschreibung der gewählten For-
nach qualitativen Ansätzen verlangen, wird bei schungsmethode befassen (Huemer et al. 2012).
Fragen nach Messergebnissen ein quantitativer Welche Methodik sich für welche Fragestellun-
Ansatz verfolgt. Soll die Evidenz eines bestimmten gen eignet, kann in den vorangegangenen Kapi-
Vorgehens anhand von bereits vorhandenen Studien teln nachgelesen werden.
geklärt werden, verlangt dies nach Methoden zum
Zusammentragen und Zusammenfassen von Lite- z Ziel der Arbeit
ratur. Für die vorab beschriebenen Titel wäre ein In diesem Abschnitt wird das Ergebnis der fertigen
mögliche Forschungsfrage etwa: „Gibt es durch die Arbeit beschrieben. Dies kann etwa der Überblick
interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Neuroreha- über ein Thema oder die Darstellung bzw. Genera-
bilitation von Kindern ein besseres Therapieoutcome tion von Evidenzen sein. Inhaltlich beschreibt das
bzw. eine höhere Patientenzufriedenheit?“ Ziel der Arbeit, das auch als Forschungsziel bezeich-
net werden kann, stets die Beantwortung der For-
z Hypothesen schungsfrage (Esselborn-Krumbiegel 2010). Bei-
Wie 7 Abschn. 2.3 über Hypothesen beschrieben, spielsweise könnte beschrieben werden: „Ziel der
ergibt sich beim Zusammentragen der Literatur und geplanten Arbeit ist es, die Evidenzen zum Nutzen
beim Erstellen einer Forschungsfrage meist schon der interdisziplinären Zusammenarbeit in der
eine Annahme, zu welchem Ergebnis die geplante Neurorehabilitation von Kindern aufzuzeigen und
Arbeit kommen könnte. Diese Annahmen sollten ihre Bedeutung für die Praxis zu diskutieren.“
278 Kapitel 12 · Themenfindung und Recherche

z Literaturverzeichnis
Bereits im Exposé der Arbeit darf ein Verzeich- 5 Interpretation und Diskussion der Daten in
nis der zitierten Quellen nicht fehlen. Klassischer- Bezug auf die bekannte Literatur
weise werden in den Abschnitten „Einführung/ 5 parallel dazu Niederschreiben der
Hintergrund“ und „Methodik“ Werke zitiert. Wie Forschungsschritte als Abschlussarbeit
im Detail zitiert werden soll, hängt von den Vor- 5 Formatieren und Korrigieren der Arbeit
gaben der Bildungseinrichtung bzw. des Empfän- 5 Korrekturlesen durch Bekannte/
gers des Förderantrags ab. Gibt es keine genauen Studienkollegen
Vorgaben, ist jedenfalls darauf zu achten, dass 5 falls vorgesehen, Zeitfenster für Korrektur-
sich ein Zitierstil durch das ganze Dokument hin- vorschläge von Betreuer (Rossig u. Prätsch
durchzieht (Esselborn-Krumbiegel 2004). Wenn 2008, S. 10 und S. 52f )
geplant wird, für die Abschlussarbeit ein Litera-
turverwaltungsprogramm zu nutzen, ist es sinn-
voll, die Quellen im Exposé auch bereits mit dessen
Hilfe anzugeben. So kann bei erstmaliger Verwen- z Sonderfall Förderantrag
dung in einem überschaubaren Dokument die Ver- Wie bereits erwähnt, müssen bei nahezu allen För-
wendung von Literaturverwaltungsprogrammen deranträgen ebenfalls Projekt-Outlines vorgelegt
ausprobiert werden. Sollten im Exposé Abbildun- werden. Neben den hier beschriebenen Punkten
gen enthalten sein, muss auch für diese eine Quelle werden oftmals noch nähere Angaben zu den betei-
angegeben werden. ligten Personen (meist mit Lebensläufen) und
Kooperationspartnern, Kostenpläne für den Einsatz
z Zeitplan der Fördersumme sowie bei empirischer Forschung
Selbst wenn es von der Bildungseinrichtung nicht genaue Studienprotokolle verlangt (Trimmel 1997).
verlangt werden sollte, ist die Erstellung eines Zeit- Besonders wichtig ist es bei Förderanträgen, den
plans für die Abschlussarbeit auf jeden Fall emp- Nutzen für den Fördergeber bzw. die Gesellschaft
fehlenswert. Dieser hilft einerseits, sich bewusst hervorzuheben. Wenn es sich um Ausschreibun-
zu werden, welche Arbeitsschritte notwendig sind, gen zu bestimmten Themen handelt, muss aus der
12 und er kann andererseits während der Erstellung der Projektbeschreibung eindeutig hervorgehen, dass
Arbeit als Kontrollwerkzeug dienen, um den vorge- die Thematik im Projekt abgedeckt wird. Gene-
gebenen Zeitrahmen einzuhalten (Blanckenburg rell erfordert ein Förderantrag das genaue Durch-
2005). Die Zeitplanung der Arbeit unterscheidet sich lesen aller vom Fördergeber zur Verfügung gestell-
je nach Forschungsmethode und -umfang stark. In ten Informationen und die Erstellung des Antrags
jedem Fall sollten aber folgende Meilensteine beach- genau nach den vorgegeben Richtlinien (Huemer
tet werden: et al. 2012). Einige Fördergeber bieten vor der Einrei-
chung zusätzlich telefonische Beratung an, mithilfe
derer Unklarheiten ausgeräumt und Feinheiten im
Zeitplanung einer Forschungsarbeit Antrag diskutiert werden können.
5 Themenfindung, Beratung mit Experten
bzw. Betreuerin, initiale Literaturrecherche
(bereits vor Erstellung des Exposés) Literatur
5 Tiefgehende Literaturrecherche zum
Hintergrund Bensberg G (2013) Survivalguide Schreiben. Ein Schreibcoa-
5 falls erforderlich, Vorbereitung und ching fürs Studium. Springer, Heidelberg
Blanckenburg C von, Böhm B, Dienel H-L, Legewie H (2005)
Durchführung von quantitativen oder
Leitfaden für interdisziplinäre Forschergruppen: Projekte
qualitativen Studien initiieren – Zusammenarbeit gestalten. Steiner, München
5 Aufbereiten der erhobenen Daten (gilt Creswell JW (2012) Qualitative inquiry and research design:
auch für Literaturarbeiten) Choosing among five approaches, 3rd ed. Sage, Thou-
sand Oaks
Literatur
279 12
Esselborn-Krumbiegel H (2004) Von der Idee zum Text – Eine
Anleitung zum wissenschaftlichen Schreiben, 2. Aufl.
Schöningh, Paderborn
Esselborn-Krumbiegel H (2010) Richtig wissenschaftlich
schreiben. Schöningh, Paderborn
Glaser BG, Strauss AL, Beer S (2012) The discovery of grounded
theory. Transaction, Aldine
Huemer B, Rheindorf M, Gruber H (2012) Abstract, Exposé und
Förderantrag. Böhlau, Wien,
Huff AS (2009) Designing research for publication. Sage, Los
Angeles
Page J, Becker H (2014) Projektleitung und Projektentwick-
lung. Internes Arbeitspapier der Zürcher Hochschule für
angewandte Wissenschaften
Ponterotto JG (2005) Qualitative research in counseling psy-
chology: A primer on research paradigms and philosophy
of science. Journal of Counseling Psychology 52 (2):
126–136
Rossig W, Prätsch J (2008) Wissenschaftliche Arbeiten – Leit-
faden für Haus- und Seminararbeiten, Bachelor- und Mas-
terthesis, Diplom- und Magisterarbeiten, Dissertationen,
7. Aufl. Eigenverlag
Trimmel M (1997) Wissenschaftliches Arbeiten. Ein Leitfaden
für Diplomarbeiten und Dissertationen in den Sozial- und
Humanwissenschaften mit besonderer Berücksichtigung
der Psychologie, 2. Aufl. WUV-Universitätsverlag, Wien
281 13

Aufbau einer wissenschaft-


lichen Arbeit
Valentin Ritschl, Larisa Baciu, Tanja Stamm

13.1 Formaler Aufbau, Grobgliederung – 282


13.1.1 Deckblatt – 282
13.1.2 Titel – 282
13.1.3 Autorinnen und Autoren – 282
13.1.4 Andere formale Vorgaben – 282

13.2 Abstract richtig schreiben – 282

13.3 Der rote Faden – die Gliederung – 283


13.3.1 Gliederung und Inhalte einer wissenschaftlichen Arbeit – 283

13.4 „Cite them right“ – Zitation und Literaturverwaltungs-


programme – 285
13.4.1 Wie wird nun korrekt zitiert? – 285
13.4.2 Kurze Einführung in Mendeley – 286

13.5 Verständlich und wissenschaftlich – der ideale


Schreibstil – 289

13.6 Veröffentlichen – 289

Literatur – 290

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5_13
282 Kapitel 13 · Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit

Beim Aufbau von wissenschaftlichen Arbeiten ist 4 Selbsterklärend: Der Leser oder die Leserin
meist ein vorgegebener Rahmen einzuhalten. Wie sollte aufgrund des Titels über den Inhalt des
dieser im Detail auszusehen hat, ist an jeder Hoch- Textes Bescheid wissen.
schule und bei jedem Journal grundsätzlich unter- 4 Die Methode oder ein ganz besonderes
schiedlich. Allerdings gibt es gewisse Grundsätze, die Ergebnis können erwähnt werden.
fast immer gelten. Angelehnt an die American Psy-
chological Association [APA] (2009), die Deutsche Beispiel
Gesellschaft für Psychologie [DGP] (2007) und das Ein Titel nach diesen Kriterien könnte lauten: Evi-
PRISMA-Statement (Liberati et al. 2009) werden im denzbasierte Praxis: Einstellungen, Kompetenzen,
folgenden Abschnitt Vorschläge für den Aufbau einer Barrieren und Arbeitszufriedenheit österreichi-
wissenschaftlichen Arbeit gegeben. scher Ergotherapeuten – eine Umfrage (Ritschl
et al. 2015).
> Unbedingt bei der eigenen Hochschule
die Vorgaben zum formalen Aufbau von
wissenschaftlichen Arbeiten erfragen! Meist 13.1.3 Autorinnen und Autoren
existiert dazu ein eigenes Handbuch.
Falls mehrere Personen eine Publikation verfassen,
ist die Reihenfolge der Autorinnen und Autoren von
13.1 Formaler Aufbau, Bedeutung. Prinzipiell gilt, dass die erstgenannte Person
Grobgliederung der Erstautor ist, und die letztgenannte der Seniorautor
(Betreuer). Falls 2 Personen denselben Beitrag an einem
13.1.1 Deckblatt Werk leisten, dann können diese als „equal contribu-
tors“, also als gleichwertige Autoren, gesehen werden,
Jede Arbeit hat als erste Seite ein Deckblatt. Wie dennoch müssen sich diese auf eine Reihenfolge einigen
dieses Deckblatt zu gestalten ist, ist sehr unter- und sollten nicht aus der gleichen Institution kommen.
schiedlich und abhängig von der Hochschule.
Prinzipiell muss ein Deckblatt folgende Inhalte
aufweisen: 13.1.4 Andere formale Vorgaben
4 Titel
13 4 Name der Universität Es existiert noch eine Reihe weiterer Vorgaben, die
4 angestrebter akademischer Grad Beachtung finden müssen, wie zum Beispiel: Schrift-
4 Name des Studenten/der Studentin größe, Schriftart, Zeilenabstand, Inhaltsverzeichnis.
4 Matrikelnummer Aufgrund großer Diversität der Vorgaben an den
4 Datum der Einreichung unterschiedlichen Hochschulen sollen diese hier
4 Name des Erst- und Zweitbetreuers nicht weiter beschrieben werden.

13.1.2 Titel 13.2 Abstract richtig schreiben

Der Titel ist das Erste, was von einer wissenschaftli- Nach dem Titel ist der Abstract der meist gelesene
chen Arbeit gelesen wird. Umso wichtiger ist es, dass Teil einer wissenschaftlichen Arbeit. Der Abstract
er gut formuliert ist. Der Titel sollte folgende Krite- stellt per Definition eine kurze Zusammenfassung
rien erfüllen: der Inhalte der Arbeit dar (Landes 1966, Pitkin
4 Länge: Die Formulierung sollte ca. 12 Worte u. Branagan 1998). Allgemein werden 2 Arten von
umfassen. Abstracts unterschieden:
4 Interessant: Der Titel soll zum Weiterlesen 4 unstrukturiert, narrativ verfasste Abstracts
anregen. 4 strukturierte Abstracts mit Inhaltsüberschriften
13.3 · Der rote Faden – die Gliederung
283 13
Letztere wurden 1987 von Ad Hoc Working Group vermeiden, sollte ein Abstract auf jeden Fall
for Critical Appraisal of the Medical Literature ein- dahingehend überprüft werden.
geführt. Es gibt allerdings bis heute keine eindeuti- 4 Informationen/Daten werden im Abstract
gen Argumente, die nur für die eine oder die andere präsentiert, die im Artikel fehlen.
Art sprechen (Scherer u. Crawley 1998, Taddio et al. 4 Die Conclusio ist aufgrund der Ergebnisse im
1994). Manche Journale oder Hochschulen schreiben Abstract nicht nachvollziehbar. Dies bedeutet,
jedoch eine gewisse Form vor. dass die einzelnen Abschnitte in einem
Unabhängig von der Art des Abstracts sollten fol- Abstract aufeinander aufbauen müssen.
gende Punkte beim Verfassen eingehalten werden:
4 Sprachlich: Der Abstract sollte an die Sprache > Der Abstract sollte als letzter Schritt beim
der Zielgruppen angepasst sein. Verfassen der wissenschaftlichen Arbeit
4 Länge: 150–250 Worte geschrieben werden, damit die Stringenz zu
4 Einleitung (ca. 3 Sätze): der restlichen Arbeit gegeben ist. Obwohl
4 In einem Satz: Was ist das Thema? (Eventuell er als letzter Teil verfasst wird, sollte sich
weglassen, wenn der Abstract zu lange der Autor oder die Autorin genügend
geworden ist) Zeit nehmen, um einen korrekten und
4 Darauf aufbauend in einem zweiten Satz: ansprechenden Abstract zu verfassen.
Was ist das Forschungsproblem?
4 Aufbauend auf den ersten beiden
Sätzen folgt der dritte Satz: Was ist die 13.3 Der rote Faden – die Gliederung
Forschungsfrage?
4 Methode: in ein bis maximal 2 Sätzen: Wie Generell sollte bei einer wissenschaftlichen Arbeit ein
wurde vorgegangen, um die Forschungsfrage roter Faden gespannt werden – die Inhalte müssen auf-
zu beantworten? einander aufbauen und in einer logischen Abfolge prä-
4 Ergebnis: in ein bis max. 3 Sätzen: Was sind die sentiert werden. Der Leser oder die Leserin soll durch
Hauptergebnisse der Studie? den Text geführt werden und möglichst keine Zusam-
4 Conclusio: in ein bis max. 2 Sätzen: Was menhänge selbst herstellen müssen. Dies geschieht
bedeuten die Ergebnisse? Was sind die Implika- einerseits über die Gliederung der Arbeit per se. Eine
tionen der Studie (für Forschung und Praxis)? wissenschaftliche Arbeit oder auch Publikation setzt
sich immer aus Einleitung/Hintergrund, Methoden-
Häufige Fehler beim Verfassen von Abstracts (Pitkin teil, Ergebnisteil und Diskussionsteil zusammen.
u. Branagan 1998): Dieser Aufbau sollte unbedingt eingehalten werden,
4 Im Abstract finden sich nur Hinweise, aber da er einen roten Faden über die Arbeit hinweg bietet.
keine Informationen. Beispielsweise wird Andererseits können Zusammenhänge trans-
im Methodenteil nicht die Vorgehensweise parent und logisch dargestellt werden, indem dieser
beschrieben, sondern es wird nur auf das rote Faden auch innerhalb jedes Kapitels zu finden
Methodenkapitel verwiesen: „Im Teil der ist. Die Grobgliederung der Arbeit wird im Folgen-
Methodik wird auf die Vorgehensweise zur den dargestellt. Tipps zum Verfassen von Kapiteln,
Beantwortung der Fragestellung eingegangen.“ um eine Struktur innerhalb von Kapiteln aufzu-
Ein weiteres Beispiel bezogen auf den Ergebni- bauen, werden in 7 Abschn. 13.5 beschrieben.
steil: „Im Teil der Ergebnisse werden die Daten
dargestellt.“ Solche Formulierungen sind in
einem Abstract unbedingt zu vermeiden! 13.3.1 Gliederung und Inhalte einer
4 Inkonsistenzen bei den Daten zwischen wissenschaftlichen Arbeit
Artikel und Abstract. Die Schlüsselbegriffe
und die Fragestellung sollen im Abstract und Auch beim generellen Aufbau einer wissen-
in der Arbeit gleich sein. Um solche Fehler zu schaftlichen Arbeit existieren unterschiedliche
284 Kapitel 13 · Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit

Möglichkeiten. Prinzipiell gibt es einen allgemein 4 Warum ist das gewählte Forschungsdesign
anerkannten Aufbau, auf den auch in wissenschaft- geeignet, um die Fragestellung zu beantworten?
lichen Artikeln zurückgegriffen wird: 4 Warum ist die gewählte Form der Daten-
erhebung geeignet?
z z Kapitel 1: Einleitung und/oder Hintergrund 4 Wie werden die erhobenen Daten analysiert?
Führt in das Thema ein und sollte nach folgenden 4 Bei empirischen Arbeiten zusätzlich:
Punkten aufgebaut sein: Beschreibung der Probanden und Durch-
4 Was ist das Thema? Beispiel: Autismus bei führung der Studie mit Ein- und Ausschluss-
Kindern. Es folgt dann eine kurze Einführung kriterien, Stichprobenverfahren, Rekru-
in das Thema. tierung, Durchführung (Manipulationen,
4 Was ist die Bedeutung des Themas? Warum Interventionen).
ist das Thema wichtig? Beispiel: Es folgt 4 Bei Literaturarbeiten zusätzlich:
eine kurze Beschreibung, dass die Prävalenz Beschreibung der Literaturrecherche,
von Autismus steigt und somit in der thera- -selektion und –synthese mit Keywords,
peutischen Betreuung mehr an Bedeutung Ein- und Ausschlusskriterien, Durchführung
gewinnt. und Ergebnissen der Literaturrecherche,
4 Was sind Probleme? Beispiel: kurze Prozess der Literaturselektion, Methode der
Einführung, welchen Problemen Kinder mit Literatursynthese.
Autismus im Alltag ausgesetzt sind.
4 Was wird in aktueller Literatur zur Lösung > Ein Methodenteil sollte so transparent verfasst
des Problems beschrieben? Beispiel: kurze werden, dass der Leser theoretisch dieselbe
Einführung in Studien, die sich bisher mit der Studie ohne weitere Informationen auf
therapeutischer Betreuung von Kindern mit dieselbe Art und Weise durchführen könnte.
Autismus beschäftig haben.
4 Was wird in aktueller Literatur noch nicht z z Kapitel 3: Ergebnisse
beschrieben? Was ist die Wissenslücke („gap Zusammenfassung aller erhobenen Daten. Nach
of knowledge“)? Beispiel: Hier wird aufgezeigt, den Grundsätzen der guten wissenschaftlichen
dass etwa die Angehörigenarbeit in Bezug auf Praxis sollten alle Ergebnisse, auch unerwünschte
die Auswirkungen der Erkrankung auf den und unerwartete oder negative (keine Wirkung)
13 Alltag noch nicht untersucht wurde. Ergebnisse dargestellt und synthetisiert werden.
4 Welche Fragestellung ergibt sich aus der In diesem Teil werden die Ergebnisse noch nicht
Wissenslücke? Die Fragestellung und/oder interpretiert!
Hypothese ist der letzte Teil der Einleitung 4 Empirische Arbeiten:
und ergibt sich direkt aus der zuvor genannten 4 Darstellung und Beschreibung der
Wissenslücke. Stichprobe
4 Wie steht die Hypothese/Fragestellung mit 4 Beschreibung der Analyse (Statistik oder
dem Forschungsdesign in Verbindung? Am qualitative Analysemethoden)
Ende der Einleitung soll kurz erklärt werden, 4 Beschreibung des Settings, der Inter-
mit welchem Ansatz (Design) das Problem ventionen oder anderer durchgeführter
gelöst werden soll, die Forschungsfrage gut Maßnahmen
beantwortet werden kann. 4 Literaturarbeiten:
4 Darstellung der Qualität der Studien
z z Kapitel 2: Methode 4 Darstellung der einzelnen Studien
Erklärt die Vorgehensweise, wie eine Antwort auf 4 Synthese der Studien
die Fragestellung gefunden werden soll. Folgende 4 Tabellen und Abbildungen erhöhen die
Inhalte werden im Methodenteil möglichst transpa- Übersichtlichkeit der Darstellung der
rent dargestellt: Ergebnisse.
13.4 · „Cite them right“ – Zitation und Literaturverwaltungsprogramme
285 13
z z Kapitel 4: Diskussion 13.4 „Cite them right“ – Zitation und
Hier sollen die Ergebnisse interpretiert, die Metho- Literaturverwaltungsprogramme
dik reflektiert und weiterführende Ideen, Implikatio-
nen für Praxis und Forschung beschrieben werden. Es muss jedes Wissen, jede Idee oder Theorie, die
4 Die Diskussion beginnt meist mit einem einen direkten Einfluss auf die eigene Arbeit hat,
Statement zur Beantwortung der Fragestel- zitiert werden. Wird das nicht eingehalten, spricht
lung(en) und/oder der Hypothese(n). man von einem Plagiat, was den Verlust des akade-
4 Interpretation der Ergebnisse: Vergleiche, mischen Grads zur Folge haben kann.
Übereinstimmungen und Gegensätze
mit bestehender Literatur; Diskussion ! Auch Eigen- oder Selbstplagiate, also das Ver-
der internen Validität (Gültigkeit der wenden von Ideen, Theorien oder Wissen aus
Datenerhebung und der Datenerhebungs- vorausgegangenen eigenen Arbeiten ohne
instrumente, Effekte und deren Bezug auf die korrekte Zitatangabe, kann zur Aberkennung
Ergebnisse). Zusätzlich bei Interventionen: eines akademischen Grads führen.
Darstellung, wie sich die Durchführung bzw.
das Sample auf die Ergebnisse ausgewirkt
haben könnte. Hier kann auf die Literatur aus
der Einleitung Bezug genommen werden. 13.4.1 Wie wird nun korrekt zitiert?
4 Die Diskussion soll sowohl einen inhaltlichen
Teil als auch einen methodischen Diskus- Es existiert eine große Anzahl verschiedenster Zita-
sionsteil enthalten: Was war besonders gut, was tionsstile, auf die in diesem Buch nicht eingegan-
könnte an der Methode verbessert werden? gen werden kann. Es besteht aber die Möglichkeit
4 Limitationen und alternative Erklärungen das Zitieren über Literaturverwaltungsprogramme
für die Ergebnisse: Diskussion der externen durchzuführen. Die Verwendung von Literaturver-
Validität (Sind die Ergebnisse generalisierbar?), waltungsprogrammen erspart dem Autor und der
Unterscheidungen zwischen der Population und Autorin Zeit, vor allem dann, wenn ein Artikel zum
der Stichprobe, Diskussion der intervenierenden Beispiel bei unterschiedlichen Journalen eingereicht
Variablen (Umstände, die zu Verzerrungen in werden soll, die unterschiedlichen Zitationsrichtli-
den Ergebnissen geführt haben könnten), die nien folgen. Vorteile von Literaturverwaltungspro-
nicht kontrolliert wurden bzw. nicht kontrol- gramme sind:
lierbar waren, Diskussion des Einflusses der 4 Sie erleichtern das Speichern und Verwalten
Durchführung von Interventionen auf mögliche der Literatur aus dem Internet.
Unregelmäßigkeiten in den Ergebnissen. 4 Sie erstellen automatisch das Literaturver-
4 Implikationen: Beschreibung und Begründung zeichnis und aktualisieren dies auch, falls
der Wichtigkeit der Ergebnisse und Auswir- Quellen hinzugefügt oder entfernt werden.
kungen, Empfehlungen für klinische und 4 Sie ändern das ganze Dokument mit „einem
praktische Tätigkeiten sowie für die Forschung, Klick“, wenn ein anderer Zitationsstil
Empfehlungen für weitere Studien und verwendet werden muss.
Forschungsarbeiten.
Es steht eine große Anzahl an Literaturverwaltungs-
z z Kapitel 5: Conclusio programmen zur Verfügung, wie zum Beispiel Men-
Im letzten Teil einer wissenschaftlichen Arbeit deley, Citavi, RefWorks oder EndNote. Prinzipiell
kann eine ergebnisorientierte Quintessenz verfasst sind diese Programme sehr ähnlich aufgebaut und
werden. Dies wird bei den Vorgaben von Hoch- strukturiert. Sie unterscheiden sich vor allem bei der
schulen sehr unterschiedlich gehandhabt, und auch Kompatibilität, den Kosten und kleinen Details in
wissenschaftliche Artikeln werden nicht immer mit der Nutzung. Das Programm Mendeley hat zum Bei-
einer Conclusio abgeschlossen. spiel folgende Vorteile:
286 Kapitel 13 · Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit

4 Es ist bis zu einer Nutzung von 2 Gigabyte Dann kann mit dem Importieren und Verwalten der
kostenlos. Literatur begonnen werden.
4 Es ist desktop- und webbasiert. Das heißt,
die Ressource kann sowohl offline als auch
über jeden Computer (per Internet) genutzt Vorbereitungen für das Importieren von
werden. Artikeln oder Büchern
4 Es existiert eine App für Tablets und
Smartphones. 1. Ordner erstellen
4 Es existieren ausführliche Tutorials für ein Als erster Schritt sollte ein neuer Ordner erstellt
einfaches Einsteigen. werden – so können Artikel nach Projekten oder
4 Es läuft problemlos unter Microsoft, Apple und Themen sortiert werden. Dieser kann entweder
Linux. über den Menüpunkt „Edit“ und „New Folder“
4 Es kann jederzeit auf alle gespeicherten oder über das Fenster „Mendeley“ und „My Library“
Literaturen zugegriffen werden. erstellt werden.
4 Mit dem Web-Importer können Studien und
Bücher schnell und einfach aus dem Internet in 2. Importieren von Zeitschriftenartikeln
das Programm geladen werden. Manuelles Importieren von Literatur Über den
4 Ist ein frei verfügbares PDF im Internet Menüpunkt „File“ kann der Befehl „Add Entry
vorhanden, wird beim Importieren der Quelle Manually“ gegeben werden. Auf diesen Befehl öffnet
das PDF automatisch in das Programm sich das Fenster „New Document“. Es kann nun aus-
heruntergeladen. gewählt werden, um welche Art der Publikation es
4 Es können Duplikate einfach gesucht und sich handelt (in diesem Fall „Journal Article“), und
entfernt werden. alle notwendigen Informationen können händisch
4 Mithilfe des bestehenden Word-Plugins eingegeben werden. Dies ist vor allem dann not-
lässt sich in Worddokumenten sehr einfach wendig, wenn unveröffentlichte Literatur in das Pro-
zitieren. gramm importiert werden soll.

Nachteile von Mendeley: Importieren über das Internet


4 Limitation der Artikel auf 2 Gigabyte. 4 Über das Internet können Artikel automa-
13 4 Das Importieren von Büchern funktioniert tisiert in das Programm importiert werden.
nicht über die ISBN. Dazu stehen 2 Möglichkeiten zur Verfü-
gung:Möglichkeit 1: Importieren über den
Web-Importer. Es muss ein Artikel gesucht
13.4.2 Kurze Einführung in Mendeley werden (z. B. in Google Scholar). Wird nun auf
den vorher installierten Web-Importer geklickt,
Vorbereitungen, um mit Mendeley öffnet sich ein Fenster, und es werden alle
arbeiten zu können erkannten Literaturen angezeigt. Wählt man
4 Herunterladen der Installationsdatei über nun die entsprechende Literatur aus, wird diese
www.mendeley.com direkt in Mendeley gespeichert.
4 Installieren der Datei
4 Öffnen des Programms > Wenn man den Artikel auf der jeweiligen
4 kostenlose Registrierung bei Mendeley Seite des Journals anzeigen lässt,
(notwendig für die Nutzung der Onlinetools) funktioniert die Importierfunktion noch
4 Installieren des Word-Plugins über den besser (fehlerfreier).
Menüpunkt „Tools“
4 Installieren des Web-Importers über den 4 Möglichkeit 2: Importieren direkt aus Daten-
Menüpunkt „Tools“ banken. Am Beispiel von PubMed: Wird in
13.4 · „Cite them right“ – Zitation und Literaturverwaltungsprogramme
287 13
PubMed eine Suche durchgeführt, erscheint 3. Importieren von Büchern
eine Liste mit Artikeln. Für den Import in Bücher können neben der manuellen Eingabe eben-
Mendeley müssen in einem ersten Schritt jene falls über das Internet importiert werden. Die manu-
Artikel markiert werden, die von Interesse sind. elle Vorgehensweise ist gleich wie bei Artikeln, mit
Oberhalb der Ergebnisliste findet sich auf der der Ausnahme, dass im Fenster bei der Dateneingabe
rechten Seite ein Link „Send to“. Dort wählt man „Book“ statt „Journal Article“ ausgewählt werden
die Option „Citation Manager“. Dieser Schritt muss. Für das Importieren aus dem Internet stehen
wird mit der Bestätigung „Creat File“ beendet. ebenfalls 2 Möglichkeiten zur Verfügung:
Die Datei muss nun direkt auf den Desktop 4 Möglichkeit 1: Importieren der Bücher aus dem
gespeichert werden und dann mittels „Drag Gesamtkatalog am Beispiel des Gesamtkatalogs
and Drop“ in das größte Fenster in der Mitte des österreichischen Bibliothekenverbundes
des Programms Mendeley abgelegt werden. Die (www.obvsg.at/kataloge/verbundauswahl/).
Literaturen werden sogleich automatisch vom Hier werden nahezu alle veröffentlichten
Programm übernommen und angezeigt. Bücher gelistet. Auf den Link „Zum Verbund-
katalog / The Austrian Library Network Union
! Unabhängig davon, wie Literatur in das Pro- Catalogue“ klicken. Auf der folgenden Seite
gramm importiert wird, sind die importierten kann der Titel des Buches eingegeben oder
Informationen immer zu überprüfen, denn nach Keywords gesucht werden. Wird das
das Programm funktioniert nur so gut, wie gewünschte Buch angezeigt, dann mit einem
die Daten im Netz zu finden sind. Das heißt, Häkchen markieren. Oberhalb der Ergeb-
fehlerhafte Daten werden auch fehlerhaft nisliste den Link „Downloaden“ anklicken.
importiert und benötigen somit einer Über- Unter der Überschrift „Gewähltes Format“
prüfung und ggf. einer Überarbeitung. auf „RIS-Format“ umstellen. Bei „Gewählte
Codierung“ auf „Unicode/UTF-8 (nicht latein.
Die Überarbeitung der importierten Daten wird Zeichensätze) – für Speichern“ umstellen. Im
durchgeführt, indem der entsprechende Artikel nächsten Schritt auf den Button „Absenden“
angeklickt wird. Durch das Anklicken des Artikels klicken.
öffnet sich auf der linken Seite ein Fenster, in dem Auf der nächsten Seite durch das Klicken
alle Daten des Artikels ersichtlich sind. Es kann nun auf den Button „Downloaden“ bestätigen. Es
einfach in die entsprechenden Zeilen geklickt und öffnet sich ein neuer Tab mit dem Code. Den
korrigiert werden. Die Korrekturen werden automa- gesamten Text (Strg+A) markieren und in den
tisch übernommen. Zwischenspeicher kopieren (Strg+C). Den
Texteditor öffnen und den Text hineinkopieren
Import aus bestehenden PDF-Dateien (Strg+V). Das Dokument auf den Desktop
Existieren bereits PDF-Dateien auf dem eigenen speichern und die Datei per „Drag and Drop“
Computer, können diese entweder einzeln oder in das Programm Mendeley importieren. Eine
gesammelt in einem Ordner in Mendeley impor- Überprüfung der Daten wird empfohlen, da
tiert werden. Dies kann entweder über „Drag and auch über den Gesamtkatalog nicht immer
Drop“ oder durch den Befehl „Add Files“ bzw. „Add fehlerfreie Datenimporte gesichert sind.
Folder“ unter dem Menüpunkt „File“ durchgeführt 4 Möglichkeit 2: Falls ein Import über den
werden. Gesamtkatalog nicht möglich ist, da das
gesuchte Buch nicht auffindbar ist, kann
! Wurden die PDFs nach dem Speichern auf versucht werden, über den Web-Importer ein
dem Computer umbenannt, macht Men- Buch zu importieren. Wird das Buch beispiels-
deley beim Import aus dem PDF häufig weise über books.google.com gesucht und
Fehler. Es müssen somit auch hier eine angeklickt, kann der Web-Importer meist das
Kontrolle und ggf. eine Überarbeitung der Buch erfassen. Eine Überprüfung der Daten ist
importierten Daten stattfinden. hier auf alle Fälle notwendig.
288 Kapitel 13 · Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit

4. Überprüfen und Entfernen von Duplikaten ändert sich dieser Verweis nicht automatisch,
Wurden viel Literatur importiert, können Dupli- sondern es müsste erst zurückgesetzt werden
kate über den Menüpunkt „Tools“ und „Check for (auf den umgeschriebenen Quellenverweis
Duplicates“ angezeigt werden. Die Einträge sollten klicken, dann wird der Befehl „Insert Citation“
nun überprüft werden, ob es sich tatsächlich um zu „Undo Edit“, und der Verweis kann somit
Duplikate handelt. Mendeley zeigt im Fenster auf der zurückgesetzt werden).
rechten Seite, in dem die Details des Artikels ange- 4 Möglichkeit 2: Klickt man auf „Insert Citation“
zeigt werden, durch ein Häkchen an, welche Infor- und sucht eine Literatur, wird durch das
mationen identisch sind. Stimmen diese überein, Klicken (nachdem eine Literatur gewählt
und man möchte gerne die Duplikate entfernen, wurde) in die Zeile, in der die ausgewählte
muss dieser Vorgang durch einen Klick auf „Confim Literatur vermerkt ist, ein Editionsmenü
Merge“ abgeschlossen werden. geöffnet. Hier können alle notwendigen
Informationen eingefügt werden.
5. Zitieren im Text
Wurden nun die benötigten Quellen in das Pro- > Ist die Quelle schon im Text, muss der Cursor
gramm importiert, kann mit dem Erstellen des nur auf den Quellenverweis gelegt werden.
Textes begonnen werden. Wurde das Word-Plugin Wird nun auf „Insert Citation“ geklickt, öffnet
installiert, finden sich im Programm Word unter sich die entsprechende Quelle und kann
dem Reiter „Verweise“ nun die notwendigen Tools, bearbeitet werden.
um mithilfe des Literaturverwaltungsprogramms zu
zitieren. Alle folgenden Schritte werden direkt im
6. Erstellen eines Literaturverzeichnisses
Programm Word durchgeführt (Ausnahmen werden
gesondert gekennzeichnet). Im letzten Schritt kann noch ein Literaturverzeich-
Im ersten Schritt muss der Zitationsstil gewählt nis hinzugefügt werden. Dafür muss erst der Cursor
werden. Muss dieser später geändert werden, ist dies an die Stelle im Word-Dokument gesetzt werden, an
jederzeit möglich. Dies kann unter dem Reiter „Ver- der das Literaturverzeichnis erscheinen soll. Wird
weise“ und „Style“ eingestellt werden. nun unter dem Reiter „Verweise“ auf „Insert Biblio-
Im zweiten Schritt wird der Text verfasst. Immer graphy“ geklickt, erscheint ein Literaturverzeichnis.
wenn ein Quellenverweis eingefügt werden soll, Sollten im Weiteren noch Änderungen im Text und/
13 muss auf den Button „Insert Citation“ unter dem oder an Quellenverweisen durchgeführt werden (z.
Reiter „Verweise“ geklickt werden. In dem sich öff- B. wenn noch Quellenverweise eingefügt werden),
nenden Fenster kann nun durch Eingabe des Titels kann durch das Klicken auf „Refresh“ unter dem
der betreffenden Publikation, des Autors oder der Reiter „Verweise“ das Literaturverzeichnis aktuali-
Autorin die entsprechende Quelle gewählt werden. siert werden.
Nach dem Auswählen der Publikation (durch
Klicken auf die entsprechende Quelle) können noch > Das Literaturverzeichnis kann jederzeit,
beliebig viele weitere Quellen gesucht werden. Durch sobald eine Quelle in das Dokument
das Klicken auf dem Button „Ok“ wird die Zitati- eingefügt wurde, erstellt oder aktualisiert
onseingabe bestätigt. Es erscheint der Quellenver- werden.
weis im Word an der Stelle, an der sich der Cursor
befindet. Das Literaturverzeichnis sollte immer auf Fehler
Muss das Zitat noch bearbeitet werden, wenn kontrolliert werden – falls hier Fehler ersichtlich
man beispielsweise eine Seitenzahl hinzufügen sind, sollte nicht direkt im Literaturverzeichnis,
möchte, stehen 2 Möglichkeiten zur Verfügung: sondern in das Programm Mendeley gewechselt
4 Möglichkeit 1: Die Quellenangabe im Text werden, um dort die inkorrekten Daten zu korrigie-
kann direkt verändert werden. Allerdings ren. Wechselt man dann wieder in das Word-Doku-
bleibt diese Veränderung bestehen – wird ment zurück, werden die Daten im Dokument aktu-
beispielsweise der Zitationsstil gewechselt, alisiert, indem man auf „Refresh“ klickt.
13.6 · Veröffentlichen
289 13
13.5 Verständlich und 4 Es sollte im Vorhinein auch überlegt werden,
wissenschaftlich – der ideale an welche Zielpersonen ein Text gerichtet
Schreibstil ist. Richtet sich ein Text beispielsweise an
eine interdisziplinäre Gruppe, muss darauf
Wissenschaftliche Texte sollen wissenschaftlich geachtet werden, dass nur allgemein bekanntes
geschrieben sein. Aber was bedeutet das? Wichtig zu Fachvokabular benutzt wird. Wird der Text
wissen ist, dass es zwar Empfehlungen gibt, aber sehr für ein Laienpublikum verfasst, müssen die
starke unterschiedliche Vorlieben. Beispielsweise Passagen allgemein verständlich formuliert und
wird ein „Ich“ im Text von manchen Autoren und Fachwörter umschrieben werden. Umgangs-
Autorinnen kategorisch abgelehnt, andere sind der sprachliche Formulierungen oder unpräzise
Meinung, dass dies ein wichtiger Schritt ist, um wis- Äußerungen sind generell zu vermeiden.
senschaftliche Texte leichter lesbar und somit viel- 4 Das Gendern wird in unterschiedlichen
leicht auch Laien einfacher zugänglich zu machen. Ländern unterschiedlichen gehandhabt. Hier
Es ist an dieser Stelle klar zu empfehlen, sich seine sollte unbedingt im Vorhinein beim Betreuer
eigenen Vorlieben, aber auch die Vorlieben eines oder bei der Betreuerin geklärt werden, wie in
etwaigen Betreuers bewusst zu machen und die Vor- Texten gegendert werden muss.
gaben der Hochschule oder des Journals einzuhalten.
Zusätzlich existieren Vorgaben, die immer eingehal- > Oft ist es hilfreich, in bereits publizierten
ten werden sollten: wissenschaftlichen Texten zu schauen,
4 Der rote Faden sollte innerhalb eines Kapitels wie gewisse Probleme/Fragestellungen
unbedingt vorhanden sein. Dazu müssen beschrieben wurden. Dies kann ein guter
verbindende Wörter benutzt werden, die Ideengeber für erste Formulierungen
zeigen, wie Inhalte miteinander in Zusam- darstellen.
menhang stehen.

Beispiel 13.6 Veröffentlichen


Ungünstig ist beispielsweise: „Autor 1 (2002) sieht
einen signifikanten Zusammenhang zwischen The- Wird viel Zeit und Energie in ein Projekt gesteckt,
rapie X und einer Verbesserung der Gelenkbeweg- ist es oft erstrebenswert, diese Arbeit auch öffent-
lichkeit. Autor 2 (2005) sieht eine signifikante Ver- lich zugänglich zu machen. Hierfür eignen sich
besserung der Gelenkbeweglichkeit durch die Ver- besonders Publikationen in wissenschaftlichen
wendung der Therapie Y.“ Es ist nun nicht klar, ob Zeitschriften/Journals. Leider zeigt die Erfahrung,
somit der Autor 2 dem Autor 1 widerspricht oder ob dass aus einer anfänglichen Idee oft keine tatsächli-
es sich um eine Ergänzung handelt. Hier wurden 2 che Umsetzung folgt. Folgende Vorschläge könnten
Inhalte lediglich nacheinander dargestellt, aber nicht hierbei unterstützen:
in Verbindung gebracht. Dies könne beispielsweise Es spart viel Zeit nach Beendigung einer Arbeit,
so gelöst werden: „Autor 1 (2002) sieht einen signi- wenn beispielsweise die Abschlussarbeit bereits als
fikanten Zusammenhang zwischen Therapie X und Artikel verfasst wird. Ob diese Möglichkeit besteht,
einer Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit. Dem ist mit dem Betreuer abzusprechen. Die Vorgaben
widerspricht Autor 2 (2005), der eine signifikante Ver- der Hochschule müssen eingehalten werden. Häufig
besserung der Gelenkbeweglichkeit durch die Ver- wird zusätzlich eine verlängerte Einleitung und Dis-
wendung der Therapie Y festgestellt hat.“ kussion verlangt. Der Aufbau wird dann oft folgen-
dermaßen strukturiert:
4 Es ist ratsam, im Vorhinein eine Struktur zu 4 1. Verlängerte Einleitung
überlegen, wie ein Text aufgebaut werden soll. 4 2. Artikel
Dies hilft, beispielsweise Redundanzen im 4 2.1 Einleitung
Text zu vermeiden und einen roten Faden zu 4 2.2 Methode
entwickeln. 4 2.3 Ergebnisse
290 Kapitel 13 · Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit

4 2.4 Diskussion und Logik sowohl innerhalb der Kapitel als auch
4 2.5 Conclusio übergreifend über das Dokument einzuhalten. Li-
4 3. Verlängerte Diskussion teraturverwaltungsprogramme können eine gute
Unterstützung im Erstellen von wissenschaftlichen
Sinn der „verlängerten“ Teile ist, dass der Studierende Arbeiten darstellen.
zeigen kann, dass er sich in der Tiefe mit der Materie
auseinandergesetzt hat. Doch durch diesen Aufbau
kann mit einem ersten Konzept eines Artikels in eine Literatur
mögliche Publikation gestartet werden, und es muss
Ad Hoc Working Group for Critical Appraisal of the Medical
nicht die gesamte Arbeit umgeschrieben werden. Literature (1987) A proposal for more informative abs-
Prinzipiell scheint ein Artikel „weniger“ Arbeit, tracts of clinical articles. Annals of Internal Medicine 106:
da er kürzer ist. Allerdings muss für das Verfas- 598–604
sen eines Artikels meist viel mehr Zeit aufgewandt American Psychological Association (2009) Publication Manu-
werden, denn das kurze und präzise Formulieren al of the American Psychological Association, 6th ed.
American Psychological Association, Washington
ist eine weitere Herausforderung. Eine gute Unter- Deutsche Gesellschaft für Psychologie (2007) Richtlinien zur
stützungsmöglichkeit bieten hierfür bereits ver- Manuskriptgestaltung, 2. Aufl. Hogrefe, Göttingen
öffentlichte Artikel. Der beste Einstieg ist, sich in Landes KK (1966) The scrutiny of the abstract. II. Bulletin of
dem Journal, in dem man veröffentlichen will, einen the American Association of Petroleum Geologists 50:
1992–1999
Artikel zu suchen, der ein ähnliches Thema behan-
Liberati A, Altman DG, Tetzlaff J, Mulrow C, Gotzsche PC,
delt. So kann die Struktur mehr oder weniger über- Ioannidis JPA et al. (2009) The PRISMA statement for
nommen werden: Werden beispielsweise in dem reporting systematic reviews and meta-analyses of stu-
Artikel 5 Sätze zur Beschreibung des Themas in der dies that evaluate health care interventions: Explanation
Einleitung verwendet, sollte versucht werden, die and elaboration. Annals of Internal Medicine 6 (4): W
Pitkin RM, Branagan MA (1998) Can the accuracy of abstracts
Beschreibung des Themas ebenfalls auf 5 Sätze zu
be improved by providing specific instructions? Journal
beschränken. of the American Medical Association 280: 267–269
Es sei noch darauf hingewiesen, dass das Ver- Ritschl V, Schönthaler E, Schwab P, Strohmer K, Wilfing N,
öffentlichen ein zum Teil kostspieliges und mit Zettel-Tomenendal M (2015) Evidenzbasierte Praxis:
Sicherheit langwieriges Projekt darstellt. In sehr Einstellungen, Kompetenzen, Barrieren und Arbeits-
zufriedenheit österreichischer Ergotherapeuten – eine
guten Journalen kann eine Veröffentlichung bis
Umfrage. Ergoscience 10 (3): 97–107
13 zu 3000 Euro kosten. Diese Kosten werden meist Scherer RW, Crawley B (1998) Reporting of randomized clinical
von der Institution, an der der Autor angestellt ist, trial descriptors and use of structured abstracts. Journal
getragen. Dies sollte allerdings im Vorhinein abge- of the American Medical Association 280: 269–272
klärt werden. Wird der Artikel durch ein Peer-Re- Taddio A, Pain T, Fassos FF, Boon H, Ilersich AL, Einarson TR
(1994) Quality of unstructured and structured abstracts
view-Verfahren für eine eventuelle Veröffentli-
of original research articles in the British Medical Jour-
chung auf seine Qualität hin geprüft, ist es möglich, nal, the Canadian Medical Association Journal, and the
dass vom ersten Einreichen bei einem Journal bis Journal of the American Medical Association. Canadian
zur tatsächlichen Veröffentlichung ein Jahr oder Medical Association Journal 150: 1611–1615
mehr vergeht.
Wichtig ist auch, dass die Seniorautoren einen
wesentlichen Beitrag zur Veröffentlichung beitragen,
vor allem wenn eine Autorin noch nicht so viel Pub-
likationserfahrung hat.

Zusammenfassung
Der Aufbau von wissenschaftlichen Arbeiten ist in
der Struktur sehr ähnlich, in den Details unterschei-
den sich die Vorgaben der Hochschulen. Neben
dem korrekten Aufbau der Arbeit sind Schlüssigkeit
291 14

Wissenschaft praktisch –
evidenzbasierte Praxis
Valentin Ritschl, Tanja Stamm, Gerold Unterhumer

14.1 Evidenzbasierte Praxis – 292


14.1.1 Was ist evidenzbasierte Praxis? – 292
14.1.2 Warum soll ich evidenzbasiert arbeiten? – 292
14.1.3 Was muss ich bedenken wenn ich evidenzbasierte Praxis in meinen
beruflichen Alltag integrieren will? – 292

14.2 Ablauf eines evidenzbasierten Prozesses – 293


14.2.1 Schritt 1: Formulieren einer klinischen Fragestellung – 293
14.2.2 Schritt 2: Literaturrecherche – 294
14.2.3 Schritt 3: Lesen und bewerten der Literatur – 297
14.2.4 Schritt 4: Implementierung des Wissens in die Praxis – 301
14.2.5 Schritt 5: Evaluation der Implementierung – 302
14.2.6 Schritt 6: Berichten des neu erworbenen Wissens – 302
14.2.7 EBP-Beispiel aus der Radiologietechnologie – 303

14.3 Diskussion über die Implementierung evidenzbasierter


Praxis – 304
14.3.1 Barrieren – 305
14.3.2 Strategien – 305

Literatur – 306

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5_14
292 Kapitel 14 · Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis

14.1 Evidenzbasierte Praxis

14.1.1 Was ist evidenzbasierte Praxis?

z
en
Evidenzbasierte Praxis (EBP) ist das Treffen von

Kl
ie
id

nt
Ev
therapeutischen oder diagnostischen Entscheidun-
EBP
gen unter Einbezug der jeweils besten verfügbaren
Evidenz. Der Begriff „Evidenz“ bedeutet wissen-
schaftlicher Beweis aus entsprechenden qualitativ Expertise
hochwertigen Studien.
Um evidenzbasierte Entscheidungen treffen
zu können, müssen somit 4 Faktoren (Kielhofner Umwelt
2006a, Sheldon 2007, Taylor 2007, Sackett et al. 1996)
berücksichtigt werden (nur die Ergebnisse aus den
Studien zu betrachten reicht nicht aus, . Abb. 14.1):
. Abb. 14.1 Die 4 Säulen der evidenzbasierten Praxis
4 Werte/Ziele/Vorstellungen der Patientin
4 (Erfahrungs-)Wissen der Therapeutin
4 aktuelle wissenschaftliche 4 Die gesteigerte Arbeitszufriedenheit der
Forschungsergebnisse Professionalisten durch die Maximierung
4 institutionelle und politische Kontextfaktoren der therapeutischen oder diagnostischen
Wirksamkeit (Moore et al. 2006).
Aktuelle Studien zu diesen Faktoren zeigen, dass 4 Evidenzbasiertes Arbeiten steigert die profes-
das Heranziehen von Werten, Zielen oder Vorstel- sionelle Glaubwürdigkeit und fördert damit das
lungen der Patientin, das (Erfahrungs-)Wissen der Ansehen einer Berufsgruppe (Bailey et al. 2007,
Therapeutin sowie die institutionellen und politi- Curtin u. Jaramazovic 2001, Moore et al. 2006,
schen Kontextfaktoren bereits täglich als Quellen Sheldon 2007).
genutzt werden, um klinische Entscheidungen zu 4 Der Schutz vor rechtlichen Folgen, zum
treffen. Evidenzen werden allerdings derzeit von Beispiel Klagen, durch die Vermeidung von
allen Quellen am wenigsten für klinische Entschei- Behandlungsfehlern: Um diese zu vermeiden
dungsfindungen herangezogen (Döpp et al. 2012, muss „nach dem jeweiligen Stand der Wissen-
Ritschl et al. 2015). Somit fokussiert dieses Kapitel schaft“ behandelt werden (Bundesministerium
vor allem auf die Nutzung von wissenschaftlichen Gesundheit 2015).
14 Studien (externe Evidenz).

14.1.3 Was muss ich bedenken wenn


14.1.2 Warum soll ich evidenzbasiert ich evidenzbasierte Praxis
arbeiten? in meinen beruflichen Alltag
integrieren will?
EBP erlebt seit den späten 1990er-Jahren eine stei-
gende Bedeutung in allen Gesundheitsbereichen, vor Jede Gesundheitsprofessionistin („health professio-
allem auch in den nicht ärztlichen Gesundheitsberu- nal“) kann ohne große Veränderungen EBP im beruf-
fen. Folgende Vorteile werden diskutiert: lichen Alltag integrieren. Wichtig ist allerdings abzu-
4 Die moralische und berufsethische grenzen, was EBP darstellt, bzw. was keine EBP ist.
Verpflichtung, evidenzbasiert zu arbeiten, Häufig wird argumentiert, dass die EBP durch Fort-
um die bestmögliche Versorgung der bildungen, Ausbildungen, die Grundausbildung oder
Patienten zu gewährleisten (Bailey et al. 2007, Fachgespräche mit Kollegen bereits erfüllt würde. Es
Novak u. McIntyre 2010, Roberts u. Barber soll an dieser Stelle klar gesagt werden, dass diese
2001). Quellen ebenfalls wichtig sind, aber noch keine EBP
14.2 · Ablauf eines evidenzbasierten Prozesses
293 14
darstellen. Wissen aus Fortbildungen, Ausbildun- z I – Intervention
gen und von Kollegen sind Expertenmeinung, die Der Begriff „Intervention“ ist hier breit zu sehen. EBP
die subjektive Sichtweise einer Person widerspie- kann sich diesbezüglich auf therapeutische Interven-
gelt. EBP bedeutet die bewusste und neutrale Integ- tionen, Diagnostiken, Tests, Assessments, Prognosen
ration von aktuellen wissenschaftlichen Forschungs- und allgemeine Fragestellungen beziehen. Die EBP
ergebnissen mit der eigenen Erfahrungen (interne kann im gesamten therapeutischen/diagnostischen
Evidenz), den Zielen der Klienten und den institu- Prozess eingesetzt werden. Beispiele: eine Frage nach
tionellen/politischen Rahmenbedingungen. Dies einer speziellen Therapieform bezogen auf die zuvor
bedeutet auch, dass die Anwendung der EBP eine gewählte Patientengruppe, die Frage nach der geeig-
aktive Auseinandersetzung mit der Wissenschaft netsten Therapieform oder die Frage nach dem nütz-
durch die jeweiligen Anwender erfordert. lichsten diagnostischen Test.

z C – Comparison
14.2 Ablauf eines evidenzbasierten Vergleichsgruppen werden in klinischen Fragestel-
Prozesses lungen nicht immer miteingebunden. Sie dienen zur
Abgrenzung, wenn ein Vergleich zwischen 2 unter-
Der Prozess der EBP verläuft in 5 Schritten und wird schiedlichen Vorgehensweisen im Zentrum des Inte-
manchmal durch einen 6. Schritt erweitert (Law et al. resses steht. Beispiele: eine andere (neue) Therapie-
2007, zitiert in Lin et al. 2010, S. 165): form im Vergleich zu einer konventionellen oder im
1. Formulieren einer klinischen Fragestellung Vergleich zu keiner Behandlung (Placebogruppe),
2. Literaturrecherche der Vergleich der diagnostischen Aussagekraft einer
3. Lesen und bewerten der Literatur neuen Untersuchungsmethode mit einem Refe-
4. Implementierung des Wissens in die Praxis renzverfahren. Ein Referenzverfahren wird auch als
5. Evaluation der Implementierung „Goldstandard“ bezeichnet.
6. Berichten des neu erworbenen Wissens
z O – Outcome
Diese Komponente sollte klar spezifizieren, welches
14.2.1 Schritt 1: Formulieren einer Ergebnis der Intervention von Interesse ist. Dies
klinischen Fragestellung sollte in direkter Verbindung mit dem Ziel des Pati-
enten stehen. Beispiele: Verminderung von Schmerz,
Der erste Schritt im EBP-Prozess, das Formulieren Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit, diagnosti-
einer relevanten Fragestellung, ist für den weiteren sche Aussagekraft und Nützlichkeit einer Untersu-
Ablauf wichtig. Je konkreter die Fragestellung formu- chungsmethode oder Partizipation an Alltagshand-
liert wird, desto klarer und fokussierter können die lungen wie der Schule.
Ergebnisse für die Praxis genutzt werden (Onady u.
Raslich 2003, zitiert in Lin et al. 2010, S. 165). Eine z T – Time
klar formulierte Fragestellung richtet sich typischer- Gemeint ist der Zeitrahmen, in dem die Intervention
weise nach den PICOT-Kriterien (Del Mar et al. das Outcome erreichen soll, ob beispielsweise eine
2013, Melnyk u. Fineout-Overholt 2010). Intervention nicht nur effektiv, sondern auch effizient
ist. Beispiele: die Anzahl von Kontrolluntersuchun-
z P – Patient/Problem/Population gen innerhalb von 5 Jahren, die Auswirkungen von
Dieser Teil der Frage macht klar, um wen es sich Strahlenanwendungen nach 20 Jahren.
handelt. In der Praxis ist es der Klient, dessen Situa- Es wird zwischen Hintergrund- und Vorder-
tion oder Zustand der Anlass für eine EBP-Recherche grundfragen unterschieden. Hintergrundfragen
ist. Beispiele: Kinder mit Asperger-Syndrom, adipöse sind Fragen, die allgemeines Wissen über Interven-
Frauen im mittleren Alter, Frauen im gebärfähigen tionen erfragen, wie zum Beispiel „Welche Thera-
Alter bei Röntgenuntersuchungen, Kinder in der pieformen existieren für Kinder mit Asperger-Syn-
Computertomographie. drom?“. Hintergrundfragen bestehen somit meist
294 Kapitel 14 · Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis

nur aus 2 der vorher besprochenen Elemente (Person Artikeln pro Jahr in den Gesundheitsberufen sehr
und Intervention). Vordergrundfragen wollen spe- aufwendig wäre. In Datenbanken wird mit Schlüs-
zifisches Wissen über Interventionen erfragen, wie selbegriffen („keywords“) systematisch nach Arti-
zum Beispiel „Zeigen regelmäßige Massagen oder keln gesucht, die für die Beantwortung der Fragestel-
eine Behandlung nach sensorischer Integrationsthe- lung potenziell interessant sind. Ein weiterer Vorteil
rapie (Jean Ayres) bessere Ergebnisse bei Kindern von Datenbanken ist die Vorselektion von Zeitschrif-
mit Asperger-Syndrom in Bezug auf eine Verbesse- ten – es werden hauptsächlich Journale mit Peer-Re-
rung der Aufmerksamkeit im Schulalltag?“. Vorder- view-Verfahren geführt (Taylor 2007).
grundfragen bestehen meist aus den 5 beschriebenen
PICO-Elementen (Straus et al. 2011). z Internet
Das Internet bietet freien Zugang zu einer Unzahl
an Informationen. Es ist allerdings schwierig, inner-
14.2.2 Schritt 2: Literaturrecherche halb dieser Informationen zwischen richtigen,
wertvollen und falschen zu unterscheiden. Deswe-
Der zugleich anfangs herausfordernde wie auch gen sollte es eher vermieden werden, Literatur nur
wichtige zweite Schritt besteht in der Suche nach zum Beispiel in Google zu suchen (Hoffmann et al.
Literatur, mit der die zuvor gestellte Frage beantwor- 2013).
tet werden soll. Hier stellen sich die Fragen: Wonach
suche ich und was will ich finden? Prinzipiell stehen z Bücher
unterschiedliche Ressourcen (Bücher, Zeitschriften, Bücher stellen eine weitere Quelle zur Literatur-
Datenbanken, Internet) für die Suche in/nach Lite- recherche dar. Das Problem bei Büchern ist, dass
ratur zur Verfügung. sie meist kein aktuelles Wissen bezüglich Inter-
ventionen beinhalten. Außerdem kann nicht klar
z Zeitschriften/Journale gesagt werden, ob das Wissen in Büchern auf wis-
Zeitschriften bieten die aktuellsten und besten wis- senschaftlichen Erkenntnissen beruht oder einfach
senschaftlichen Ergebnisse. Bei Journalen muss zwi- Expertenmeinungen darstellt. Bücher bieten auf
schen solchen mit und ohne Peer-Review-Verfah- der anderen Seite einen guten Überblick über
ren unterschieden werden. Peer-Review Verfahren Grundlagen. Wenn sich die Frage auf Grundla-
bedeutet in diesem Zusammenhang eine (zumeist genwissen bezieht (z. B. „Welche Symptome zeigen
anonymisierte) Prüfung der Studie/des Artikels Menschen, die an Morbus Parkinson erkrankt
durch mindestens 2 unabhängige Forscher oder sind?“), bieten Fachbücher eine gute Möglich-
Personen mit ähnlicher Expertise. Diese entschei- keit, sich dieses Wissen anzueignen. Bezieht sich
14 den, ob der Artikel den Anforderungen in Bezug auf die Frage allerdings auf aktuelles wissenschaftli-
wissenschaftlichen Gehalt, Aktualität und andere ches Wissen, sind Bücher eine ungenügende Quelle
Gütekriterien entspricht. Nur wenn diese Perso- und Journale sind ihnen vorzuziehen (Straus et al.
nen den Artikel als wertvoll befinden, wird er auch 2011, Taylor 2007).
veröffentlicht. Um qualitätsvolle Evidenzen für die
Beantwortung der Fragestellung zu finden, sollten
demnach nur Artikel aus Zeitschriften mit Peer- Datenbanken
Review-Verfahren gesucht werden (Hoffmann et Um EBP anzuwenden, wird empfohlen aktuelle
al. 2013). Artikel (aus den letzten 3–5 Jahren) in Datenban-
ken zu suchen. Folgende Datenbanken können emp-
z Datenbanken fohlen werden:
Datenbanken bieten eine Struktur, um die Viel-
zahl an veröffentlichten Studien in den Journalen z PubMed und Medline
„beherrschen“ zu können und verfügbar zu haben. Sie sind die wichtigsten Datenbanken für medizini-
Sonst müssten „per Hand“ alle möglichen Journale sche, therapeutische bzw. diagnostische Literatur.
durchgeblättert werden, was bei über 3 Millionen Alle Berufsgruppen können hier wichtige Literatur
14.2 · Ablauf eines evidenzbasierten Prozesses
295 14
finden. Die Recherche in der Datenbank PubMed Schlüsselwörter
ist von jedem Internetanschluss kostenlos möglich. Um in den Datenbanken zielgerichtet suchen zu
Medline ist eine kostenpflichtige Datenbank, die können, müssen aus der Fragestellung heraus die
PubMed sehr ähnlich ist. Verfügbar im Internet unter Schlüsselwörter („keywords“) definiert werden.
www.pubmed.com oder unter www.ncbi.nlm.nih.gov/ Beispiel: „Zeigen regelmäßige Massagen oder eine
pubmed. Behandlung nach sensorischer Integrationsthera-
pie (Jean Ayres) bessere Ergebnisse bei Kindern mit
z Cochrane Library Asperger-Syndrom in Bezug auf eine Verbesserung
Hier findet man nur Literaturevaluationen und der Aufmerksamkeit im Schulalltag?“ Keywords:
Metaanalysen (Reviews) zu bestimmten Themen- „massage, sensory integration, children, autism,
gebieten in der Medizin und den nicht ärztlichen attention“. Wie hier zu sehen ist, müssen diese ins
Gesundheitswissenschaften. Die Suchergebnisse Englische übersetzt werden, da in den Datenbanken
sind meist geringer in der Anzahl, die verfügbaren mit den englischen Begriffen gesucht wird.
Artikel sind jedoch von hoher Qualität. Die Recher-
che in der Datenbank ist kostenlos verfügbar unter > Die Übersetzung der eigenen Fachsprache
www.cochrane.org. ins Englische kann anfänglich eine
Herausforderung darstellen. Nicht immer ist
z OT-Seeker die erste Übersetzung auch diejenige, die
Diese Datenbank ist eine rein ergotherapeutische in den Datenbanken zu den gewünschten
Datenbank. Zugänglich ist sie ebenfalls kostenlos Ergebnissen führt. Beispielsweis führt
unter www.otseeker.com. die Suche nach dem deutschen Begriff
„Arbeitszufriedenheit“ in seinen englischen
z PEDro Übersetzungen „work satisfaction“ und
Die Datenbank PEDro ist das physiotherapeuti- „job satisfaction“ zu (möglicherweise)
sche Pendant zu OT-Seeker. Sie schließt verwandte anderen Ergebnissen. Gute Anregungen
Bereiche und physikalische Methoden mit ein und für Übersetzungen bieten vor allem die
ist ebenfalls kostenlos zugänglich: www.pedro.org. Referenzlisten von bereits gefundenen oder
au/german. bekannten Studien.

z CINAHL
z z Verknüpfung von Schlüsselwörtern
Diese Datenbank bietet vor allem Literatur für thera-
peutischen Berufe wie Ergotherapie, Physiotherapie Für die Suche müssen die Suchwörter korrekt ver-
und Pflegewissenschaft. Sie ist kostenpflichtig und knüpft sein. Dazu dienen sogenannte „logische Ver-
meist nur über Bibliotheken verfügbar. knüpfungen“ (Boole-Operatoren):

z ScienceDirect z AND (UND)


Diese kostenlose Datenbank bietet als Ergänzung Werden Suchbegriffe mit AND verknüpft, dann
PubMed aktuelle Studienergebnisse in den diagnos- bedeutet dies, dass alle Studien herausgesucht
tischen Berufen. werden, in denen der eine UND der andere Such-
begriff vorkommen. Alle anderen Studien werden
> Um ein möglichst umfangreiches Bild der nicht angezeigt. Beispiel: autism AND massage
aktuellen wissenschaftlichen Ergebnisse bedeutet, dass die Datenbank alle Studien anzeigen
zu erhalten, wird empfohlen, immer in wird, in denen beide Begriffe vorkommen. Kommt
Kombination zu suchen (Taylor 2007). Wir in einer Studie nur einer der Begriffe vor oder keiner
empfehlen PubMed/Medline, Cochrane der beiden Begriffe, wird diese Studie nicht ange-
Library und eine weitere nach Berufsgruppe zeigt. Bei Begriffen, die aus mehreren Wortteilen
ausgewählte Datenbank (CINAHL, PEDro, bestehen (Phrasen), wird die gesuchte Bezeichnung
OT-Seeker, ScienceDirect). in Anführungszeichen gesetzt. Beispiele: „computed
296 Kapitel 14 · Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis

tomography“, „image quality“. Die Datenbank zeigt gesucht werden. Hierfür wird nach dem Wortstamm
alle Publikationen an, in denen der Begriff genau in entweder ein * oder ein $ als Zeichen (je nach Daten-
dieser Konstellation vorkommt, und liefert daher bank) hinzugefügt. Beispiel: occupation* inkludiert
andere Ergebnisse als die AND-Verknüpfung. auch occupational oder occupations.

z OR (ODER) > Wird bei der Recherche systematisch


Werden Suchbegriffe mit OR verknüpft, dann bedeu- vorgegangen, wird die Wahrschein-
tet dies, dass alle Studien herausgesucht werden, in lichkeit verringert, dass relevante Studien
denen der eine UND/ODER der andere Suchbegriff verloren gehen. Systematisch meint hier,
vorkommen. Beispiel: autism OR massage bedeu- dass die Suchbegriffe in möglichst allen
tet, dass die Datenbank alle Studien anzeigen wird, Kombinationen eingegeben werden und die
in denen entweder autism oder massage oder beide Suche auch dokumentiert wird (siehe dazu
Begriffe vorkommen. Es werden nur Studien ausge- „CAT“ [„critically appraised topic“], Download
schlossen, in denen keiner der beiden Begriffe vor- über http://extras.springer.com).
kommt. Die Datenbank liefert somit mehr Ergeb-
nisse als die AND-Verknüpfung. Wenn nun potenzielle Artikel in den Datenbanken
identifiziert wurden, dann besteht bei den Daten-
z NOT (NICHT) banken die Möglichkeit, diese Ergebnisse her-
Werden Suchbegriffe mit NOT verknüpft, dann unterzuladen. Es muss zwischen Referenz- und
bedeutet dies, dass alle Studien gefiltert werden, in Volltextdatenbanken unterschieden werden. Refe-
denen dieser Begriff vorkommt. Beispiel: autism renzdatenbanken liefern die Details über Artikel
NOT massage bedeutet, dass die Datenbank nach wie Titel und Abstract (Kurzfassung), jedoch nicht
Studien sucht, in denen der Begriff autism vor- die Vollversion, d. h. meist ist nicht der gesamte
kommt, aber alle ausschließt, in denen zusätzlich Artikel über die Datenbank zugänglich; der Artikel
der Begriff massage vorkommt. Diese Verknüp- muss dann über die Fernleihe einer Bibliothek kos-
fung macht vor allem dann Sinn, wenn gewisse tenpflichtig bestellt werden, wenn keine Biblio-
Krankheiten gehäuft mit gewissen Personengrup- thek zugänglich ist, die dieses Journal abonniert
pen vorkommen, die man ausschließen will. Bei- hat (Achtung: Bestellungen im Internet direkt
spiel: Wenn Studien zur Behandlung von ADHS sind meist sehr teuer!). Die Datenbanken bieten
(Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitäts- hier unterschiedliche Funktionen. Meist kann
störung) bei Erwachsenen gesucht werden, dann die Datenbank die Ergebnisse per E-Mail senden,
kann die Suche vereinfacht werden, wenn Studien oder diese können per Textdatei heruntergeladen
14 mit Kindern (NOT children) ausgeschlossen werden.
werden.
> Für das Herunterladen, Speichern und
z z Weitere Präzisierung der Suche Verwalten können auch Literaturverwaltungs-
Zusätzlich zu den Verknüpfungen können über programme genutzt werden (7 Abschn. 13.4).
die Suchbegriffe auch weitere Einstellungen vor-
genommen werden, um die Suche zu präzisieren:
Einschränkungen nach Studiendesign (z. B. nur Volltexte
RCT), nach Erscheinungsdatum (z. B. nicht älter als Wurden potenzielle Artikel aus den Suchergeb-
3 Jahre), Suchbegriffe sollen nur im Titel vorkom- nissen selektiert, müssen diese im Volltext gelesen
men u. a. Je genauer die Suche präzisiert wird, desto werden. Wie bereits erwähnt, werden bei den
erfolgreicher und einfacher werden potenziell wich- Datenbanken meist nicht die Volltexte (also der
tige Artikeln gefunden. gesamte Artikel) angeboten, sondern nur die Abs-
Neben den „normalen Suchbegriffen“ kann auch tracts (Referenzdatenbanken). Es stehen unter-
nach dem Wortstamm, also nach allen Kombinati- schiedliche Möglichkeiten zur Verfügung, um Voll-
onsmöglichkeiten des Wortes, in der Literatursuche texte zu erhalten:
14.2 · Ablauf eines evidenzbasierten Prozesses
297 14
z Volltextdatenbanken Hier bieten sich Fernleihen an, wie zum Beispiel
Die Artikel können über die Datenbanken direkt www.subito-doc.de. Es ist hier mit Kosten von ca.
geladen werden. Das ist dann direkt gekennzeichnet. 7–15 Euro pro Artikel zu rechnen, abhängig von der
Lieferart.
> Bei PubMed ist der Link zum Laden etwas
„versteckt“. Steht in der Ergebnisliste beim > Die Kosten für Studien sind bei Direktbe-
gewünschten Artikel „free PDF“, dann ist der stellung bei den meisten Journalen
Artikel zugänglich. Wenn nun die Überschrift wesentlich höher als über eine Fernleihe.
anklickt wird, öffnet sich der Abstract des Somit ist eine Fernleihe den Bestellungen bei
Artikels. In der rechten oberen Ecke finden den Journalen vorzuziehen.
sich dann Kästchen, über die der Artikel
geladen werden kann.
14.2.3 Schritt 3: Lesen und bewerten
z Homepage der Journale der Literatur
Wenn der Artikel über die Datenbanken nicht
geladen werden kann, dann besteht manchmal die Wurden nun alle potenziell relevanten Studien
Möglichkeit, über die Homepage des Journals den gesammelt, dann müssen diese im nächsten Schritt
Artikel kostenlos zu bekommen. Immer mehr Jour- gelesen und bewertet werden.
nale stellen Artikel, die älter als 1–5 Jahre sind, kos-
tenlos zum Download zur Verfügung.
Lesen der Studien
z Google Scholar Wenn man noch wenig Erfahrung mit dem Lesen
Unter https://scholar.google.at kann der Titel des Artikels von englischsprachigen Studien hat, kann die „wis-
eingegeben werden. Dann erscheint der Artikel. Wenn senschaftliche“ Sprache am Anfang ein Hindernis
zusätzlich rechts davon „pdf “ oder „HTML“ erscheint, darstellen. Dies betrifft aber ebenso Menschen, die
dann kann der Artikel dort heruntergeladen werden. Englisch als ihre Muttersprach haben, wie eine Studie
aus Großbritannien gezeigt hat (Curtin u. Jaramazo-
! Es sei hier nochmals drauf hingewiesen, vic 2001). Wissenschaftliche Studien zu lesen braucht
dass von einer primären Recherche in Übung und kann, wenn strukturiert vorgegangen
Google Scholar dringend abzuraten ist, wird, erleichtert werden. Folgende Ideen können
da der Auswahlmechanismus für eine das Lesen der Texte erleichtern:
Ergebnisanzeige nicht klar und transparent ist. In einem ersten Schritt sollte der Abstract (Kurz-
Daher sollte Google Scholar nur für die Suche fassung) des Artikels gelesen werden. Dies gibt die
nach Volltexten genutzt werden, wenn die Möglichkeit, einen Überblick über die Studie zu
primäre Recherche bereits abgeschlossen ist. bekommen, und versorgt den Leser meist schon mit
den wichtigsten Informationen. Leider sind nicht
z Bibliotheken alle Abstracts reich an Informationen. Im zweiten
Viele Bibliotheken, vor allem von Universitäten oder Schritt werden andere Teile des Artikels, die von
Fachhochschulen, haben Lizenzen von Journalen. Interesse sind, gelesen. Oft ist es nicht notwendig,
Diese Bibliotheken sind öffentlich zugänglich, und die den gesamten Artikel zu lesen. Um beispielsweise
Ressourcen können vor Ort genutzt werden. Somit einen ersten Eindruck von der Qualität der Studie
kann meist in der Bibliothek selbst der gewünschte zu bekommen, sollte beim Methodenteil weiterge-
Artikel kostenlos heruntergeladen werden. lesen werden. Folgende Informationen werden pro
Abschnitt gefunden:
z Fernleihen 4 In der Einleitung findet sich die Bedeutung und
Trotz dieser kostenlosen Möglichkeiten gibt es Begründung des Problems. Eine Einleitung
immer wieder Studien, die nicht kostenlos zur Ver- muss nicht immer im Detail gelesen werden,
fügung stehen. Dann müssen diese gekauft werden. weil sich mehrere Studien hier wiederholen.
298 Kapitel 14 · Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis

Beispielsweise wird bei Studien zum Wer noch nicht viel Erfahrung mit dem Lesen von
Mamakarzinom in der Einleitung mehr oder wissenschaftlicher Literatur hat, wird viele Vokabeln,
weniger immer über die Inzidenz/Prävalenz, vor allem im Methoden- und Ergebnisteil, nicht ver-
die Auswirkungen der Erkrankung auf Person stehen und nicht in einem üblichen Sprachwörter-
und Gesellschaft schreiben sowie auf die buch finden. Diese Begriffe sind dann methodische
„Lücke“ in der wissenschaftlichen Literatur oder statistische Begriffe, die zum Beispiel in diesem
hingewiesen. Dieser Teil liefert für erfahrene Buch nachgeschaut werden können oder im Internet
Praktiker nicht immer neues Wissen bezogen recherchiert werden können.
auf wissenschaftliche Erkenntnisse in der
Anwendung der EBP.
4 Im Teil der Methodik wird das Vorgehen für Bewerten der Studien
diese Studie beschrieben. Dieser Teil ist vor Sind nun Studien gefunden, werden müssen sie auf
allem für die Beurteilung der Qualität der ihre Qualität hin gesichtet werden. Nicht jede Studie
Studie wichtig. hat denselben Wert. Aufgrund bestimmter Kriterien
4 Ergebnisse: Dieser Teil liefert die neu gewon- werden Studien nach Forschungsansatz, Design und
nenen Erkenntnisse dieser Studie. Er ist der Güte unterschieden (Level der Evidenz). Diese Ein-
wichtigste, weil hier die Ergebnisse möglichst stufungen sind vor allem wichtig, um die Studien
neutral, also ohne Interpretationen, dargestellt vergleichen zu können. Beispiel: Falls eine Studie
werden. mit einem geringen Evidenzlevel zu dem Ergebnis
4 Die Diskussion versucht, die Ergebnisse kommt, dass eine Intervention sinnvoll erscheint,
zu interpretieren und zu einem vertieften aber eine Studie mit einem hohen Evidenzlevel das
Verständnis zu führen. Dieser Teil ist Gegenteil als Resultat erhält, dann ist Letztere als
vermutlich der interessanteste für eine „gewichtiger“ zu werten.
Anwendung der EBP. Hier wird neben der
Bedeutung der Ergebnisse auch auf mögliche z z Evidenzpyramide
Implikationen für die Praxis und noch In der Literatur finden sich dazu unzählige Einstu-
ungeklärte Aspekte eingegangen. fungen für Evidenzen, die sich aber nur in Details
unterscheiden, abhängig davon, ob sie sich mit Inter-
Werden beim Lesen die wichtigsten Erkenntnisse ventionen, diagnostischen Tests, prognostischen
gleich in das CAT-Formular übertragen, dann ist Faktor oder anderen Problemstellungen beschäf-
eine Bewertung der Artikel später einfacher und tigen. Für die alltägliche Praxis werden die Inter-
schneller durchführbar (Download der Vorlage über ventionsstudien am häufigsten gesucht. Deswegen
14 http://extras.springer.com). Das CAT-Formular bietet beschäftigt sich dieses Kapitel vor allem mit dem
dem Nutzer im Weiteren auch eine gute Möglich- Analysieren von Interventionsstudien. Im Kapitel
keit, die Studien vergleichend gegenüberzustellen über Assessments (7 Kap. 11) wird auf die Möglich-
und systematisch zu vergleichen. keit der Analyse von Assessmentstudien mit den
COSMIN-Kriterien eingegangen. Dieses System
> Es ist wichtig, dass der Artikel im Ganzen eignet sich auch für eine EBP-Anwendung.
verstanden wird. Es wird deswegen Um eine Studie dem korrektem Level zuordnen
empfohlen, eher schneller zu lesen und zu können, muss in einem ersten Schritt festgestellt
weniger einzelne Wörter, die nicht bekannt werden, ob diese eine qualitative Studie, eine quan-
sind, zu recherchieren. Zu viele Wörter titative Studie oder ein Review darstellt. In gut ver-
nachzuschlagen ist sehr anstrengen, fassten Artikeln wird dies meist schon im Abstract
stört den Lesefluss und wirkt schnell erwähnt, oder es wird im Methodenteil des Volltex-
demotivierend. Im Gegensatz dazu ist tes ersichtlich. Da leider nicht immer alle Studien gut
es motivierend, wenn man schnell einen beschrieben sind, hier ein paar Tipps, um auch ohne
Überblick bekommt und den Artikel im eine klare Nennung diese Unterscheidung treffen zu
Zusammenhang versteht. können:
14.2 · Ablauf eines evidenzbasierten Prozesses
299 14
4 Wenn es sich um eine quantitative Studie randomisierten kontrollierten Studien. Diese
handelt, dann finden sich im Text meist Zusammenführung von vielen Studien hat
statistische Begriffe, es wurden Tests für die die meiste Aussagekraft bezogen auf die
Datensammlung verwendet und/oder Frage- Wirksamkeit von Interventionen.
bögen in großer Zahl verschickt.
4 Wenn es sich um eine qualitative Studie > Nicht jedes Review fällt unter diese
handelt, wurden für die Datenerhebung meist Einstufung. Scoping Reviews sind zum
Interviews, Fokusgruppen oder Beobach- Beispiel meist nicht gut geeignet für eine
tungen durchgeführt. Die Teilnehmerzahl Anwendung in der EBP.
ist meist eher kleiner. In der bildgebenden
Diagnostik wird unter qualitative Studie 4 Level 2: An zweiter Stelle finden sich die rando-
auch jener methodische Zugang verstanden, misierten kontrollierten Studien. Diese sind
bei dem beispielsweise die Bildqualität von somit auch die wertvollsten, empirisch-quanti-
Röntgenbildern von Betrachtern mittels einer tativen Studien.
mehrstufigen Skala (Likert-Skala) beurteilt 4 Level 3: An dritter Stelle stehen nicht rando-
wird. Die Ausprägungen können sein: „ausge- misierte experimentelle Studien, bei denen auf
zeichnet – eingeschränkt – ausreichend – nicht eine Randomisierung verzichtet wird – dies
beurteilbar“. sollte gut beschrieben und begründet sein.
4 Finden sich sowohl Dinge aus dem ersten 4 Level 4: Nicht experimentelle Studien,
und zweiten hier beschriebenen Punkt, dann wie zum Beispiel bestimmte klinische
kann es sich um eine Mixed-methods-Studie Beobachtungen, bilden den vierten Level.
handeln. Dies bedeutet, dass die Studie Es existieren bei diesen Designs üblicher-
sowohl qualitative als auch quantitative Teile weise keine Kontrollgruppen. Somit kann
beinhaltet. ein gemessener Effekt nicht eindeutig einer
4 Wird im Methodenteil nur das Recherchieren Intervention zugeordnet werden. Studien ab
von Literatur beschrieben, handelt es sich um diesem Level eigenen sich nicht mehr gut für
ein Review (7 Kap. 8). eine EBP. Diese Studien sollten für eine EBP
4 Immer wieder werden auch Artikel gefunden, nur eingesetzt werden, wenn höhere Studien
bei denen eine Beschreibung der Methodik noch fehlen.
mehr oder weniger fehlt. Dies wird dann 4 Level 5: Expertenmeinungen und Experten-
üblicherweise als Expertenmeinung eingestuft. diskussionen bilden die unterste Ebene. Diese
Studien sind für die EBP nicht anwendbar,
Um Interventionsstudien einzustufen, eignet sich die da keinerlei Effekte ableitbar sind, sondern
klassische Einteilung von Sackett, Rosenberg, Gray, die subjektive Meinung oder Einstellung von
Haynes und Richardson (1996), die sich allerdings Personen widergespiegelt wird.
nur auf quantitative Studien bezieht. Als Erweiterung
dient die Einteilung von Tomlin und Borgetto (2011), Wie schon erwähnt, entwickelten Tomlin und
da diese Einteilung im Gegensatz dazu auch die qua- Borgetto (2011) eine „Evidenzpyramide“, die
litativen Daten berücksichtigt (s. unten). Gerade für neben den quantitativen Studien auch qualitative
nicht ärztliche Gesundheitsberufe sind auch quali- berücksichtigt. Die „Evidenzpyramide“ hat 3
tativen Studien von Bedeutung. Für eine genauere Seiten (klinisch-experimentelle Forschung, Ver-
Beschreibung der Forschungsdesigns sei auf die ent- sorgungsforschung, qualitative Forschung) und
sprechenden Kapiteln dieses Buches verwiesen. einen Boden (deskriptive Forschung). Die 3 Seiten
Die Level der Evidenz werden bei Sackett et al. (1996) teilen sich in jeweils 4 Level, gleiche Level werden
wie folgt beschrieben. auch als gleichwertig gesehen. Die deskriptive For-
4 Level 1: An erster Stelle stehen die syste- schung bietet keine Evidenzen im eigentlichen Sinn
matische Reviews und Metaanalysen von (. Tab. 14.1).
300 Kapitel 14 · Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis

. Tab. 14.1 Evidenzpyramide nach Tomlin und Borgetto (2011)

Level Quantitative Forschung Qualitative Forschung Deskriptive Forschung

Klinisch-experimentel- Versorgungsforschung
le Forschung

1 Metaanalysen Metaanalysen Metaanalysen Metaanalysen


2 RCT Forschung an Qualitative Studien an Vergleichs- und
bestehenden Gruppen mehreren Personen, Korrelationsstudien
mit Kovarianzanalyse hohe Güte
3 Klinische kontrollierte, Forschung an Qualitative Studien an Multiple Fallstudien
nicht randomisierte bestehenden Gruppen mehreren Personen, ohne Kontrollgruppe,
Studien ohne Kovarianzanalyse, geringe Güte deskriptive Umfragen,
Fall-Kontroll-Studien normative Studien
4 Einzelfallstudien Vorher-nachher-Studien Qualitative Studien mit Einzelfallstudie ohne
ohne Kontrollgruppe nur einer Person Kontrollgruppe

Klinisch-experimentelle Forschung Dieser Teil der Beispielsweise können die Interventionen einer
Pyramide ähnelt sehr stark der Einteilung von Sacket. Stroke-Unit eines Spitals und mit denen eines
Als klinisch-experimentelle Forschung werden in anderen Spitals verglichen werden. Es werden
diesem Fall Interventionsstudien im experimentel- dazu keine Patientinnen zusätzlich an die Klinik
len Setting verstanden, die verschiedene Interventio- geholt, sondern es wird nur der normale Betrieb
nen vergleichen. Die Levels: für die Studie herangezogen. Es werden aber
4 Metaanalysen von klinisch-experimentellen auf diesem Level mögliche Störfaktoren bei
Studien der Durchführung ausgeschlossen oder bei der
4 randomisierte kontrollierte Studien Analyse berücksichtigt.
4 klinische kontrollierte, nicht randomisierte 4 Forschung/Vergleich an bereits bestehenden
Studien Gruppen ohne Kovarianzanlyse oder Fall-
4 Einzelfallstudien (Patientinnen sind sich selber Kontroll-Studien: Entspricht dem oberen Level,
die Kontrollgruppe – vergleiche dazu beispiels- allerdings wird kein zusätzliches Augenmerk
weise das ABA-Design, 7 Abschn. 7.2.2) auf mögliche Störfaktoren gelegt.
14 4 Vorher-Nachher-Studien ohne Kontrollgruppe.
Versorgungsforschung Ebenfalls wie die klinisch-
experimentelle Forschung besteht diese Seite der Qualitative Forschung Im Unterschied zu den
Pyramide aus quantitativen Designs. Versorgungs- bisher beschriebenen Seiten wird bei der qualitativen
forschung meint die wissenschaftliche Untersuchung Forschung nicht anhand des verwendeten Designs
von Menschen in Verbindung mit Dienstleistungen gereiht, sondern anhand der Güte, die bei der Studie
und Produkten unter Alltagsbedingungen (also im angewandt wurde. Das bedeutet, dass eine Reihung
klinischen „Alltag“ und nicht im experimentellen rein anhand des Designs nicht möglich ist:
Setting). 4 Metaanalyse von qualitativen Studien
4 Metaanalysen von Studien aus dem Bereich der 4 qualitative Studien, durchgeführt an einer
Versorgungsforschung. Personengruppe mit strenger Güte (Güte im
4 Forschung/Vergleich an bereits bestehenden qualitativen Bereich, 7 Abschn. 6.5)
Gruppen mit Kovarianzanalyse (Ausschluss von 4 qualitative Studien, durchgeführt an einer
Störfaktoren): Gemeint ist, dass hier Gruppen Personengruppe mit wenig Güte
von Patientinnen verwendet werden, die zum 4 qualitative Studien mit nur einer Person
Beispiel innerhalb eines Spitals bereits bestehen. (Datenquelle)
14.2 · Ablauf eines evidenzbasierten Prozesses
301 14
Deskriptive Forschung Dieser Bereich ist nicht ephpp.ca/tools.html ), GRADE ( www.bmj.com/
mehr gut geeignet für eine Anwendung in der EBP: content/bmj/336/7650/924.full.pdf ), CONSORT-
4 systematischer Literaturüberblick über Statement für RCT ( www.consort-statement.org/
deskriptive Studien Media/Default/Downloads/Translations/German_de/
4 Vergleichs- und Korrelationsstudien CONSORT%20Statement%20German%202011.pdf )
4 multiple Fallstudien ohne Kontrollgruppe: oder Risk of Bias von Cochrane (www.riskofbias.info).
bedeutet in diesem Fall, dass auch Patienten
selbst nicht als Kontrolle fungieren – im z Qualitative Studien
Gegensatz zu Einzelfallstudien (vgl. Auch hier bietet die McMaster-Universität Unter-
klinisch-experimentelle Forschung), deskrip- stützung für Einsteiger: Formular zur kritischen
tiven Umfragen, normativen Studien Besprechung qualitativer Studien (selber Link wie
4 Einzelfallstudie ohne Kontrollgruppe oben). Auch in der qualitativen Forschung bieten
sich weitere Tools an, wie zum Beispiel CASP (Critical
> Die gefundenen Studien werden nun Appraisal Skills Programme): http://media.wix.com/
den jeweiligen Levels zugeordnet. Je ugd/dded87_29c5b002d99342f788c6ac670e49f274.pdf.
höherwertiger eine Studie ist, desto mehr
Bedeutung hat auch ihr Ergebnis. z Reviews
Für systematische Übersichtsarbeiten und Metaana-
lysen wird PRISMA empfohlen, das kostenlos her-
Beurteilung der Qualität der Studien untergeladen werden kann: www.prisma-statement.
Im nächsten Schritt wird nun die Studie selbst org . Auch hier existiert eine deutsche Version:
beurteilt. Für die Beurteilung von Studien ist einer- www.thieme-connect.de/products/ejournals/pdf/
seits interessant und wichtig, wie die Studie selbst 10.1055/s-0031-1272978.pdf.
durchgeführt wurde, andererseits wie die Ergeb-
nisse dargestellt wurden. Die Durchführung der z Assessments
Studie ist für die „interne Validität“ (Gültigkeit der COSMIN (Consensus-based Standards for the Selec-
Studie bezogen auf die Korrektheit der Durchfüh- tion of Health Measurement Instruments) steht unter
rung) und die Ergebnisdarstellung für die Umset- www.cosmin.nl kostenlos zur Verfügung, ist allerdings
zung durch den Praktiker mit den jeweiligen Klien- recht komplex in der Durchführung. Abgewandelt
ten (externe Validität) von Bedeutung. Um diese kann auch das McMaster-Formular für quantitative
Beurteilung durchführen zu können, existieren Studien bei der Bewertung von Assessmentstudien
unterschiedlichste Formulare, die den Praktiker herangezogen werden.
unterstützen:
z Bildgebende Diagnostik
z Quantitative Studien Insbesondere zur kritischen Beurteilung von dia-
Für Einsteiger in die Beurteilung wird das Formular gnostischen Studien wurde das QUADAS-Tool
zur kritischen Besprechung quantitativer Studien (Quality Assessment of Studies of Diagnostic Accu-
der McMaster-Universität empfohlen: http://srs- racy included in Systematic Reviews) konzipiert und
mcmaster.ca/research/evidence-based-practice- weiterentwickelt, es steht unter www.biomedcentral.
research-group. Es bietet auch Beschreibungen von com/1471-2288/3/25 kostenlos zum Download zur
Designs und statistischen Begriffen. Außerdem ist Verfügung (Whiting et al. 2011).
es eines der wenigen Formulare, das in deutscher
Sprache zur Verfügung steht. Einziges Manko: Die
englischen Begriffe aus den Studien müssen in die 14.2.4 Schritt 4: Implementierung des
deutsche Sprache übersetzt werden. Es existieren Wissens in die Praxis
noch detailliertere und auch komplexere Formulare,
wie zum Beispiel EPHPP, welches auch einen guten Der vierte Schritt der EBP stellt die Implementierung
Start in die Bewertung von Studien erlaubt (www. des neu erworbenen Wissens in die Praxis dar. Dafür
302 Kapitel 14 · Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis

muss, wie Eingangs besprochen, auf alle Säulen der hier politische Faktoren wie fehlende gesetzliche
EBP eingegangen werden (Schell u. Schell 2008). Grundlagen (z. B. „dry needling“ ist für Therapeuten
Das neu erworbene Wissen aus der wissenschaft- in Österreich verboten, in der Schweiz erlaubt) oder
lichen Evidenz stellt eine Entscheidungsgrundlage ungünstige institutionelle Rahmenbedingungen (z.
dar („scientific reasoning“). Interventionen mit B. fehlende örtliche Verfügbarkeit von Magnetreso-
sehr guten Studienergebnissen können natürlich nanztomographen erfordert alternative Bildgebungs-
implementiert werden. Interventionen mit unkla- verfahren) maßgeblich die Entscheidung über eine
ren Ergebnisse bzw. Interventionen, die bisher nicht mögliche Intervention oder Diagnostik beeinflussen.
untersucht wurden, können implementiert werden,
falls die Klientin entsprechend darüber aufgeklärt > Entscheidend für ein erfolgreiches
wurde, sie das Risiko verstanden hat und einver- Zusammenspiel dieser 4 Säulen ist eine
standen ist. Voraussetzung dafür ist, dass die wei- bewusst geführte Aufklärung der Patientin.
teren Faktoren alle positiv sind. Das heißt, die Kli- Es muss dafür auch ausreichend Zeit zur
entin ist dafür, die Expertin hat gute Erfahrungen Verfügung stehen.
damit gemacht, und von den Kontextfaktoren her
ist es durchführbar. Im Gegensatz zur häufig gehörten Kritik, dass EBP
nur eine Entscheidung bezüglich der wissenschaft-
! Falls es Studien gibt, die von einer lichen Evidenz ist, soll hier noch einmal klar gesagt
Intervention oder einem diagnostischen Test werden, dass EBP immer die Integration dieser 4
aufgrund der Patientensicherheit abraten, Faktoren darstellt und somit mehr ist als nur das
dann darf dieser nicht angewandt werden „scientific reasoning“.
(das würde einem Behandlungsfehler
entsprechen).
14.2.5 Schritt 5: Evaluation der
Die Werte, Ziele, Wünsche des Klienten sind ent- Implementierung
scheidend, ob und welche Intervention oder Diag-
nostik durchgeführt wird („narrative reasoning“). Es Wurde nun neues Wissen in die Praxis implementiert,
ist wichtig, sich die Zeit für den Patienten zu nehmen, dann muss dies öfter als „normale Routinetätigkeiten“
um einerseits die Entscheidungen und Wünsche zu evaluiert werden. Für diese Evaluation stehen unter-
verstehen und andererseits auf diese Erfahrungen schiedliche Möglichkeiten zu Verfügung. Entsprechend
aufbauen zu können. Der Patient muss (möglichst) der Problemstellung muss eine passende Evaluierung
neutral über unterschiedliche Behandlungs- und gewählt werden. Beispiel: Wird eine neue Intervention
14 Testmöglichkeiten aufgeklärt werden, um in weite- genutzt, um Gelenke zu mobilisieren, dann bietet sich
rer Folge eine eigenverantwortliche und selbststän- ein Goniometer an, um den Therapiefortschritt zu eva-
dige Entscheidung treffen zu können. luieren. Kommt es zu keiner Verbesserung oder gar zu
Die Erfahrungen des Experten/der Professio- einer Verschlechterung des Zustands des Patienten,
nalisten hat einen ebenso wichtigen Stellenwert wie dann muss die Implementierung der neuen Interven-
die anderen Säulen der EBP („narrative reasoning). tion überdacht und ggf. beendet werden.
Eigene Erfahrungen bezogen auf Outcome und Pro-
gnose werden mit dem Patienten besprochen, um
aufbauend auf den anderen Säulen gemeinsam einen 14.2.6 Schritt 6: Berichten des neu
Therapie- oder Diagnoseplan zu entwickeln. erworbenen Wissens
Die Institutionellen und politischen Kontext-
faktoren wirken sich förderlich oder hinderlich auf Aus ethischen und wirtschaftlichen Gründen wird
mögliche Interventionsmöglichkeiten aus („prag- empfohlen das neu erworbene Wissen nach einer
matic reasoning“). Nicht jede Intervention, auch Implementierung auch den Kolleginnen zu berich-
wenn sie zum Beispiel sehr gute Evidenzen hat, kann ten. So kann der Handlungsspielraum an Abteilun-
in jeder Situation durchgeführt werden. Es können gen erweitert werden und Diagnostikerinnen und
14.2 · Ablauf eines evidenzbasierten Prozesses
303 14
Therapeutinnen Zeit und Aufwand für gleiche oder 4 P = Patient mit Verdacht auf KHK und
ähnliche EBP-Recherchen erspart bleiben. erhöhtem Ruhepuls >65 bpm
4 I = Verabreichung von oralen β-Blockern
4 C = Patient mit Ruhepuls <65 bpm (keine
14.2.7 EBP-Beispiel aus der β-Blocker)
Radiologietechnologie 4 O = diagnostische Aussagekraft der Herz-CTA
ident mit Patient <65 bpm
Gerold Unterhumer
2. Literaturrecherche
Ausgangssituation 4 Schlagwörter („keywords“): heart CT, heart
An einem Institut für Computertomographie (64-Zei- rate, image quality
len-Multislice-CT) werden routinemäßig alle Stan- 4 Datenbanken: PubMed, ScienceDirect,
darduntersuchungen durchgeführt. Das durch- CINAHL, Cochrane
schnittliche Alter der Patienten beträgt 55±20 Jahre. 4 Ergebnisse: (ohne Jahreseinschränkung) 398,
Die Untersuchungsprotokolle für die computertomo- 22.773, 26, 58
graphischen Untersuchungen sind auf diese Patien-
tengruppe hinsichtlich indikationsspezifischer Bild- Die Filterung der Rechercheergebnisse nach Jahren
qualität und geringstmöglicher Strahlendosis (nach reduziert die Anzahl auf 331 für die letzten 10 Jahre,
dem ALARA-Prinzip1) optimiert. Vor kurzer Zeit hat 185 für die letzten 5 Jahre. An diesem Verlauf ist die
in unmittelbarer Umgebung eine Kardiologin eine Aktualität der Fragestellung bereits an der Anzahl
Ordination eröffnet und überweist seitdem regelmä- der Publikationen der letzten 10 Jahre zu erkennen.
ßig Patienten zum Ausschluss einer koronaren Herz-
erkrankung (KHK) zur Herz-CT-Untersuchungen in 3. Lesen und bewerten der Literatur
dieses Institut. Bei der Durchführung der Computerto- Die Lesestrategie erfolgt in Reihenfolge:
mographien stellt sich für die durchführenden Radio- 1. Abstract lesen, Art der Studie und ihren
logietechnologen das Problem dar, dass die angefertig- Evidenzlevel (siehe Pyramide) bestimmen.
ten CT-Bilder der Koronararterien, insbesondere bei Wenn hohe Evidenz zugeschrieben (Guideline,
Patienten mit erhöhtem Ruhepuls, eine eingeschränkte RCT, CT), dann
diagnostische Aussagekraft haben. Dies zeigt sich vor 2. Methodenteil und
allem an Bewegungsartefakten, die die Koronararte- 3. Ergebnisse lesen und
rien unscharf darstellen und somit eine eingeschränkte 4. mittels einer Checkliste (QUADAS-Checkliste
diagnostische Aussagekraft zur Folge haben. oder eigene erstellen) die Studien beurteilen.

1. Formulieren einer klinischen Fragestellung Beim Lesen der gefundenen Studien, zeigt sich,
Die Frage wird anhand des PICO-Formats formu- dass in den klinischen Studien wiederholt auf eine
liert: „Kann die Verabreichung von oralen β-Blo- Leitlinie der American Heart Association (AHA)
ckern bei Patienten mit einem Ruhepuls höher als Bezug genommen wird. Daraufhin wird direkt
65 Schläge pro Minute (>65 bpm) die Herzfrequenz nach dieser Leitlinie recherchiert, und in der
(HF) für die Herz-CTA an einem 64-Zeilen-MSCT aktualisierten Version von 2014 werden konkrete
soweit senken, dass die diagnostische Aussagekraft Hinweise auf die State-of-the-art-Durchführung
der Untersuchung im Vergleich zu Patienten mit einer Herzgefäßcomputertomographie gefunden,
einem Puls <65 bpm ident ist?“ die mit den im Institut vorhandenen Ressourcen
und technischen Möglichkeiten kompatibel und
umsetzbar sind.
1 ALARA steht für „as low as reasonably achievable“ und
4. Implementierung des Wissens in die Praxis
beschreibt das Prinzip, die für eine indikationsspezifische
Bildqualität notwendige Strahlendosis „so gering wie ver- Es wird in Rücksprache mit den befundenden Radio-
nünftiger Weise erreichbar“ zu halten. logen eine aktualisierte SOP („standard operating
304 Kapitel 14 · Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis

procedure“) in den Prozessablauf der CT-Unter-


suchungen aufgenommen. Darin wird festgelegt, 5 Wenn der Praktiker sich Gedanken über
dass der zuweisende Kardiologe allen Patienten neue/weitere Fortbildungen macht, kann
mit erhöhtem Ruhepuls (>65 bpm) vor der Herz- eine EBP-Recherche ein guter Ideengeber
CT-Untersuchung orale β-Blocker verschreibt, falls sein. Der Praktiker kann sich so schon im
keine Kontraindikationen bestehen. Der Kardio- Vorhinein über eine Methode informieren,
loge wird über das adaptierte Vorgehen zur Unter- die bereits auch wissenschaftlich
suchungsvorbereitung informiert und um Koope- untersucht ist, und gezielt Fortbildungen
ration ersucht. besuchen.
5 Wenn die Praktikerin ihre Tätigkeiten
5. Evaluation der Implementierung gegenüber Geldgebern, Ärzten, Patienten
Nach 3 Monaten wird die diagnostische Qualität der rechtfertigen muss.
Herz-CT-Untersuchungen der Patienten mit erhöh-
tem Ruhepuls, oraler β-Blocker-Gabe und einer Herz- Heißt das, dass mein bisher erworbenes
frequenz <65 bpm verglichen mit der Qualität jener Wissen nutzlos ist?
Untersuchungen bei Patienten ohne β-Blocker-G- Nein, auf keinen Fall. Bei der klinischen
abe und einer Herzfrequenz >65 bpm. Dies erfolgt Entscheidung über eine Methode zählt
anhand einer Likert-Skala (qualitative Beurteilung) das bisherige Wissen ebenso wie die
durch den befundenden Radiologen. Die Ergebnisse wissenschaftliche Evidenz.
zeigen einen deutlichen (signifikanten) Hinweis auf
die Erhöhung der diagnostischen Aussagekraft der Muss ich mich an die Studienergebnis-
Herz-CT-Untersuchungen bei Patienten mit erhöh- se halten, auch wenn die Patientin es
tem Ruhepuls und oraler β-Blocker-Gabe im Ver- ablehnt?
gleich zu keiner β-Blocker-Gabe (HF>65 bpm). Nein. Die Werte und Wünsche der
Patientinnen sind ebenso von Bedeutung
6. Berichten des neu erworbenen Wissens wie die wissenschaftliche Evidenz. Ein Patient
Die Erfahrung werden auf dem Jahreskongress des hat außerdem das Recht, Behandlungen
Verbands der Radiologietechnologen Österreichs der abzulehnen und andere zu bevorzugen.
facheinschlägigen Öffentlichkeit vorgestellt und zur
Diskussion gestellt.

14.3 Diskussion über die


14 Implementierung
Häufig gestellte Fragen zur EBP evidenzbasierter Praxis
Muss EBP bei jeder Patientin durchgeführt
werden? Wann muss in der Praxis eine Seit ihrer Einführung erlebt die EBP eine steigende
EBP-Recherche durchgeführt werden? Bedeutung in allen Gesundheitsberufen (Kielhof-
Eine EBP-Recherche wird durchgeführt: ner 2006b, Sheldon 2007, Taylor 2007). Wie schon
5 Immer, wenn die Praktikerin mit einer eingangs dieses Kapitels erwähnt ist zusätzlich zu
Diagnose konfrontiert ist, die sie nicht Verpflichtungen, EBP in der alltäglichen Praxis zu
kennt bzw. zu der sie keine eigenen implementieren, auch mit positiven Auswirkun-
Erfahrungen hat. gen auf Patienten, Professionalisten und die eigene
5 Bei Methoden, die die Praktikerin in ihrer Berufsgruppe zu rechnen. Trotzdem zeigen sowohl
alltäglichen Routine verwendet, zu denen die Praxis als auch Studien, dass eine Implemen-
sie aber die aktuelle Studienlage nicht tierung der EBP kaum stattfindet (Cameron et al.
kennt. Hier sollten einmal pro Jahr die 2005). Ritschl et al. (2015) konnten folgende Barrie-
aktuellen Studien recherchiert werden. ren beschreiben, die auch in anderen Studien bestä-
tigt wurden.
14.3 · Diskussion über die Implementierung evidenzbasierter Praxis
305 14
14.3.1 Barrieren 14.3.2 Strategien

4 Zeitmangel: Dem Praktiker steht in der 4 Strategien, die jeder einzelne Praktiker
Arbeitszeit kaum Zeit für eine Literatur- umsetzten kann: Jeder Praktiker muss sich
recherche oder das Lesen von Studien zu der Bedeutung und der Verpflichtung von
Verfügung. EBP bewusst sein. Bezüglich der fehlenden
4 Fehlender Internetzugang: In der Arbeitsstelle Fertigkeiten sollten Fortbildungen besucht
wird kein/nicht ausreichend Zugang zum werden. Dieses Buch kann eine Unterstützung
Internet bereitgestellt. beim Einstieg in die Arbeit mit Evidenzen
4 Zu geringe personelle Ressourcen: Die erleichtern.
Arbeitszeit muss für die Behandlung 4 Strategien, die den Arbeitgeber betreffen: Der
der Patientinnen eingeteilt werden – es Arbeitgeber sollte bezogen auf die Bedeutung
bleiben keine Ressourcen, um Studien zu und Verpflichtung zur EBP aufgeklärt werden,
recherchieren. damit finanzielle, zeitliche sowie personelle
4 Fehlende Fertigkeiten: Praktikerinnen haben Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. EBP
das Gefühl, für das Suchen und Beurteilen ist ein Teil der alltäglichen Praxis und muss
von Studien zu wenig Wissen/Erfahrung zu ebenso wie Dokumentation oder Patientenbe-
haben. handlung innerhalb der Arbeitszeit ermöglich
4 Hohe Kosten: Die Kosten für Schulungen in werden.
Fertigkeiten bezüglich EBP sind zu hoch. 4 Strategien, die eine Leitung betreffen:
4 Fehlende Relevanz für die Praxis: Praktike- Leitungen könnten die Recherchen für das
rinnen erleben die Problemstellungen in den Team übernehmen. Somit stünde die Leitung
Studien als nicht relevant für die alltägliche als Bindeglied zwischen Forschung und Praxis.
Berufspraxis. Diese Strategie kann eine kostengünstigere
4 Negative Einstellungen bezogen auf Forschung und effizientere Methode darstellen, als im
und Forschungsergebnisse: Personen oder Gegensatz dazu das gesamte Team in die
Institutionen erleben Forschung als nicht Technik der Recherche usw. auszubilden.
notwendig, da nach den Vorgaben der Insti- 4 Strategien, die die Ausbildung betreffen:
tution/der Verordnungen gearbeitet werden Ausbildungsstätten bilden eine gute
muss. Möglichkeit, um die Praktikerin bei der
4 Unzureichende Motivation: nach EBP zu Anwendung der EBP zu unterstützen.
arbeiten bedeutet vor allem am Anfang eine 4 Ausbildungsstätten können regelmäßige
Auseinandersetzung mit einer neuen Materie EBP-Recherchen im Praktikum als
und ein hoher zeitlicher Aufwand – dies kann Praktikumsaufgaben verlangen. Dadurch
schnell zu Frustration oder Ablehnung führen. können Studierende EBP in der Ausbildung
4 Sprachliche Barrieren: Die meist englische vertiefen und regelmäßig anwenden, wenn
Sprache und auch die „wissenschaftliche“ diese in der Praxis zu arbeiten beginnen.
Sprache können das Lesen und Verstehen von 4 Praktikerinnen können als Praktikumsan-
Artikeln erschweren. leiterin Studierende im Praktikum bitten,
EBP-Projekte durchzuführen. So kann
Um nun eine Implementierung der EBP zu gewähr- auch eine unerfahrene Praktikerin aktuelle
leisten, muss sich jede Praktikerin und jeder Prak- Evidenzen zu ihrer Arbeit bekommen, und
tiker Strategien überlegen, um diesen Barrieren in Studierende erleben den Nutzen der EBP.
der eigenen Praxis begegnen zu können. Im Folgen- 4 Praktiker könnten sich mit EBP-Fragestel-
den werden mögliche Strategien diskutiert (Ritschl lungen an Ausbildungsstätten wenden, die
et al. 2015). Prinzipiell wird empfohlen, möglichst diese im Weiteren innerhalb von Bachelor-
„global“ anzusetzen, also möglichst viele Strategien oder Seminararbeiten bearbeiten und somit
gleichzeitig umzusetzen. die Praktiker servicieren können.
306 Kapitel 14 · Wissenschaft praktisch – evidenzbasierte Praxis

4 Strategien, die die Forscherin betreffen: Kielhofner G (2006a) Research in occupational therapy.
Methods of inquiry for enhancing practice. Davis, Phila-
Forschungsergebnisse sollten in der eigenen
delphia
Landessprache und auch in leicht verständ- Kielhofner G (2006b) The necessity of research in a Profession.
licher „wissenschaftlicher“ Sprache verfasst In: Kielhofner G (ed) Research in occupational therapy.
werden. Davis, Philadelphia, pp 2–9
4 Strategien, die Berufsgruppen/Politik betreffen: Melnyk B M, Fineout-Overholt E (2010) Evidence-based prac-
tice in nursing & healthcare: A guide to best practice, 2nd
Das Erstellen von Leitlinien, leserfreundlicher
ed. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia
Kurzfassungen sowie der kostenlose Zugang zu Moore K, Cruickshank M, Haas M (2006) Job satisfaction in
Datenbanken und Literatur könnten Aufgaben occupational therapy: a qualitative investigation in urban
von Berufsverbänden/Politik sein. Australia. Australian Occupational Therapy Journal 53
(1):18–26
Novak I, McIntyre S (2010) The effect of education with work-
Zusammenfassung
place supports on practitioners' evidence-based practice
Die Implementierung von Evidenzen in die Praxis, knowledge and implementation behaviours. Australian
also die evidenzbasierte Praxis, ist vom Gesetzge- Occupational Therapy Journal 57 (6): 386–93
ber vorgeschrieben und bringt einen Nutzen für die Ritschl V, Schönthaler E, Schwab P, Strohmer K, Wilfing N, Zet-
eigene Praxis mit sich. Bei der Umsetzung existieren tel-Tomenendal M (2015) Evidenzbasierte Praxis: Einstel-
lungen, Kompetenzen, Barrieren und Arbeitszufrieden-
jedoch viele Barrieren, für die jede einzelne Praktike-
heit österreichischer Ergotherapeuten – eine Umfrage.
rin Strategien erarbeiten muss. Eine große Ressour- Ergoscience 10 (3): 97–107
ce hierbei stellen die Ausbildungsstätten dar. Roberts A, Barber G (2001) Applying research evidence to
practice. British Journal of Occupational Therapy 64 (5):
223–27
Literatur Sackett DL, Rosenberg WMC, Gray JAM, Haynes RB, Richardson
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Journal of Occupational Therapy 61 (1): 85–91 soning in occupational therapy. Lippincott Williams &
Bundesministerium Gesundheit (2015) Wann liegt ein Wilkins, Philadelphia
Behandlungsfehler vor? Patientenrecht bei Schadensfälle. Sheldon M (2007) Evidence-based practice in occupational
www.gesundheit.gv.at/Portal.Node/ghp/public/content/ health: description and application of an implementation
Patientenrecht_beiSchadensfaellen.html, letzter Zugriff effectiveness model. Work 29 (2): 137–43
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Cameron K, Ballantyne S, Kulbitsky A, Margolis-Gal M, Daug- ce-based medicine: How to practice and teach it, 4th ed.
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164–171
307

Serviceteil
Stichwortverzeichnis – 308

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


V. Ritschl, R. Weigl, T. Stamm (Hrsg.), Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben,
Studium Pflege, Therapie, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-662-49908-5
308

Stichwortverzeichnis

A C diagnostische Tests 150–151, 153,


155–156
Abstract 282 case report form (CRF) 28 Diskussion, Forschungsarbeit 285
Adaptierung, kulturelle 262 case study 88–89 Dokumente, schriftliche 105
Akademisierung 4, 6 case-control study 149 Druckverteilungsmessung 185
Akquieszenz 173 Chi-Quadrat-Test 201
Akzeptanzforschung 231
alpha-Fehler 198
CINAHL 295
Cochrane Library 295 E
Analogskala, visuelle 166 Codierung
Effektgrößen 143
Analyse, interpretative – Hermeneutik 107
Einstiegsfrage, Fragebogen 169
phänomenologische 78–79, 81 Codierung, Daten 82, 84
Einverständniserklärungen 28, 42
Anonymisierung 33–34 concept mapping, Theoriebildung 84
– Leitlinien 43–44
– Publikation von Daten 36 conflict of interest 28
Einwilligungserklärung 31
Anonymität 35 CONSORT-Statement 144
Einzelfallstudien 146
ANOVA 199 COSMIN 254
Einzelinterview 122
Antwortbias 178
Ethik 28, 32
Antwortstruktur, Fragebogen 163,
165
Antworttendenzen, Fragebogen 172
D – Forschung am Menschen 32
– historische Entwicklung 38
Daten Ethikantrag 29, 31
Arzneimittelgesetz 30
– Aufbewahrung und Löschung 35 – Entscheidungsprozess 40
Assessments 141, 161
– Speicherung 34 Ethikkommission 29–30
– Checklisten 265
Datenanalyse – Gebietszuständigkeit 38
– Datenerhebung 252
– deskriptive 193 – klinische Forschung 39
– Gütekriterien 253
– Ethnographie 88 – nicht ärztliches
– inhaltliche Kriterien 252
– grounded theory 83 Forschungsvorhaben 38
– kriterienreferenzierte 252
– Hermeneutik 106 Ethnographie 86–88
– normierte 251
– Inhaltsanalyse 95, 97 Evaluationsforschung 230
– Quellen 263
– IPA 79 evidenzbasierte Praxis 292
– standardisierte 251
– quantitative 193 – FAQ 304
Aufbewahrungsfrist, Daten 36
– Review 216 – Literaturrecherche 294
Datenbanken 274, 294–296 Evidenzlevel 299

B Datensammlung 186, 190


– amtliche Statistik 191
Evidenzpyramide 298
Excel, Datenauswertung 193
Bachelorarbeiten 45 – biochemische 187 Exposé 28
Behandlungspfad, klinischer 224–225, – Fernsehen 191

F
227 – Inhaltsanalyse 95
Behinderung 241 – Literatur 188
– ICF-basierte Forschung 243 – Medien 189
Fallbericht Siehe case study
Behörde 28 – natürliche Daten 188
Fall-Kontroll-Studie 158
Beobachtungen 119, 125, 149, 190 – neurowissenschaftliche 187
Fallzahl 143
– Analyse 126 – Organisationsdaten 192
Fehler
beta-Fehler 198 – qualitative 119, 122–127
– Signifikanztests 198
Bewegungsanalyse 182–186 – user generated content 189
Feldnotiz 87
Bildgebung 150–151, 153–154, 156 Datensammlungsinstrumente 122
Filme und Fernsehen 191
Biomarker 187 Datenschutz 33–36
Fisher-Test 200
biomedizinische Forschung – Qualitätssicherung 37
Fokusgruppe 122
157–160 Datenschutzbehörde 32
Förderantrag 278
Blindung 141 Datenschutzgesetz 30
Forschung
Blutsicherheitsgesetz 30 Datenschutzmeldung 28
– angewandte 5, 27
Bundesamt für Sicherheit im Debriefing 44, 124
– anwendungsbezogene 4
Gesundheitswesen 32 Delphi-Studien 232–233, 235
Stichwortverzeichnis
309 A– O

– biomedizinische 157–160 hermeneutisches Interview 104 Leit-Ethik-kommissions-Verordnung 30


– Gütekriterien 127–130 Hypothesen 277 Leitlinien
– klinische 39 – evidenzbasierte 273
– klinisch-experimentelle 300 Likelihood-Ratio 154
– Pflege 4
– qualitative 68–69
I Likert-Skala 165
Literaturrecherche 212, 294
– quantitative 138 ICF-Core-Sets 242 Literaturreviews Siehe Reviews
– translationale 5 Identifikationsmerkmale 33, 35 Literaturverwaltungsprogramme 285–
Forschungsansatz 52, 270 Implementierung 301, 304 288
Forschungsarbeit – Strategien 305 Literaturverzeichnis 278, 285–288
– Anforderungen 274 informed consent 28, 39, 42
– Thema 272 – Leitlinien 43–44
Forschungsdesigns 54
– qualitative 59, 69
– Online-Befragungen 43
Inhaltsanalyse 93–94, 97–98
M
– quantitative 54, 138 Inhaltsvalidität 258 Mann-Whitney-U-Test 201
Forschungsethik Siehe Ethik integrative Reviews 211 Masterarbeiten 45
Forschungsfrage 52, 274–275, 277 Internationale Klassifikation von McNemar-Test 200
– klinische 293 Funktionsfähigkeit, Behinderung meaning units 71, 73
Forschungslücke 272 und Gesundheit (ICF) 240–241, Median 195
Forschungsparadigma 270 243–246 Medien 189
Forschungsplan 28 interpretative phänomenologische Medizinische
Forschungsstand 272 Analyse 78–79, 81 Strahlenschutzverordnung 30
Forschungstagebuch 128 Interquartilsrange 196 Medizinproduktegesetz 30
Fortpflanzungsmedizingesetz 31 Interrater-Reliabilität 255 Medline 294
Fragebögen 160–164, 166–180 Intervallskala 167 Mendeley 286–288
– Delphi-Studien 234 Interventionsstudien 243 Messverfahren, quantitative 160
Fragensukzession 169 Interview Metaanalysen 139, 209
Friedman-Test 201 – Analyse 126 – Datenanalyse 216
– hermeneutisches 104 metaempirische Reviews 211
– Leitfaden 122, 124–125 Metaethnographie 211
G – qualitative Themenbildung 117
Intrarater-Reliabilität 255
– Datenanalyse 218
metanarrative Reviews 211
Gelegenheitsstichprobe 63 Metasummary 210
Genehmigung, Ethikkommission 28 – Datenanalyse 217
Gentechnikgesetz 30
Geodaten 192
K Metasynthese 210
– Datenanalyse 217
Gesundheitsforschung, Kasuistik Siehe case study Methodenmix 228–230
partizipative 112–116 Kinematik 183 minimal detectable change 256
Gesundheitstelematikgesetz 31 Kinetik, Messverfahren 184 Mittelwert 194
Glaubwürdigkeit 109–110 Kohortenstudien 158 mixed methods Siehe
Gliederung 282–283 Konstruktivismus 271 Methodenmix
Google Scholar 297 Konstruktvalidität 260 Modalwert 195
grounded theory 81–85 Kontextfaktoren 241 Muskelaktivitätsmessung 185
– Software 86 Kontrollgruppe 140
Grundlagenforschung 4–5, 27 Konzepterstellung 276
Gütekriterien 127–130
– Assessments 253
Kraftmessung 184
Krankenanstalten- und
N
Guttman-Skala 166 Kuranstaltengesetz 30 Normalverteilung 197
Kriteriumsvalidität 258
Kruskal-Wallis-Test 200
H kulturelle Adaptierung 262 O
Häufigkeiten 193 Objektivität 138
Helsinki-Deklaration 28
Hermeneutik 98–108, 109, 110,
L Online-Befragungen 162
– Einverständniserklärung 43
112 Lagemaße 194 Organisationsdaten 192
hermeneutischer Zirkel 100 Langzeitdesignstudien 146 OT-Seeker 295
310 Stichwortverzeichnis

P Schreibstil 289
schriftliche Dokumente 105 V
Paradigma, kritisches 271 ScienceDirect 295 Validität 138, 258–259
Partizipation 241 Scoping Review 209 – kulturelle 260
Partizipative – Datenanalyse 217 – strukturelle 260
Gesundheitsforschung 112–116 Selbstberichte 119 Variablen 202
PEDro 295 Signifikanztests 198 Varianzanalyse für
Perzentile 196 Skalierungsverfahren 164 Messwiederholungen 201
Pflege 4 Software Varianzhomogenität 200
Phänomenologie 69–77 – Datenauswertung 193 Veränderungssensitivität 261
PICO 273, 293 – grounded theory 86 Veröffentlichen 289
PICOT 293 SPSS 176 Verschwiegenheit 35
Pilotstudien 148 – Datenauswertung 193 Versorgungsforschung 5, 300
Pilottestung 174 Standardabweichung 197 Vertrauenswürdigkeit 109–110
Placeboeffekt 140 Standardmessfehler 256 Verwaltungsdaten 191
Positivismus 270 Statistik, induktive 197–198 Videoanalyse 190
Praktikabilität 262 Stichprobengröße Visuelle Analogskala 166
Prävalenzstudie 159 – qualitative Studien 63 Volltexte 296
Pretesting 174 – quantitative Studien 64 Vorlagepflichten 32
Proposal 28 Stichprobenverfahren Vortestung 174
Pseudonymisierung 33–34 – nicht probabilistische 63
PubMed 294 – probabilistische 62
Strahlenschutzgesetz 30
Streuungsmaße 195
W
Q Studiendesigns 54
– qualitative 59
Wilcoxon-Test 201
Wirksamkeitsstudien 243
Q-Test von Cochran 200 – quantitative 54, 145–146, 148, 150 Wissenschaft
Qualitätssicherung, Datenschutz 37 Studienprotokoll 28 – anwendungsbezogene 5, 27
Querschnittstudie 159 Studienqualität 301 – grundlagenbezogene 5, 27
Quotenstichprobe 63 Survey 159 – Kriterien 27
SWOT-Analyse 275

R T Z
Randomisierte kontrollierte klinische Zeitplan 278
Studien (RCT) 138–144 Täuschungsexperimente 45 Zirkel, hermeneutischer 100
Randomisierung 140 Test-Retest 255 Zitation Siehe Literaturverzeichnis
Range 196 Tests Zufallsstichprobe 62
Rasch-Analyse 167 – diagnostische 150–151, 153,
Rating-Skala 165 155–156
Realist Review 210 – nicht parametrische 200
– Datenanalyse 217 – parametrische 198
Regressionsanalyse 202 Themenbildung, qualitative 116–119
Reliabilität 138, 254, 256 theoretical sampling 68
Responsivität 261 Transkription, Interview 104, 117
Reviews 54, 208–209, 219 Triangulation 129, 231
– Durchführung 212, 215–219 t-Test 198
– integrative 211 Typ-I-Fehler 198
– metaempirische 211 Typ-II-Fehler 198
– metanarrative 211
– systematische 139, 209, 216
Rücklaufquote, Fragebögen 175–176 U
Umcodierung

S – Excel 179
– SPSS 178
Sampling 83 Umfragen 149
Schlüsselwörter 295 Universitätsgesetz 31
Schneeballverfahren 63 user generated content 189

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