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MINISTERIUM FÜR KULTUS, JUGEND UND SPORT

BADEN-WÜRTTEMBERG

5 ALLGEMEIN BILDENDES
GYMNASIUM

ABITURPRÜFUNG
10 ab 2014

im Fach

DEUTSCH
15

Aufgabenbeispiele
Vorbemerkung:

20 Die hinsichtlich der Abiturprüfung im Fach Deutsch verstärkte Zusammenarbeit zwischen


den allgemein bildenden und den beruflichen Gymnasien sowie bestimmte didaktische
Entwicklungen führen zu einem veränderten Aufgabenangebot und zu einer Modifizierung
bisheriger Aufgabenarten.

25 Die folgende Übersicht zeigt künftige Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie


Prüfungsmodalitäten:

Aufgabenarten in der Abiturprüfung im Fach Deutsch

Allgemein bildendes Gymnasium Berufliches Gymnasium

I. Interpretationsaufsatz zu I. Interpretationsaufsatz zu literarischen Werken


literarischen Werken im Kontext im Kontext

II. Interpretationsaufsatz zu einem


II. Interpretationsaufsatz zu einem Gedicht oder
Gedicht oder zwei zu vergleichenden
zwei zu vergleichenden Gedichten
Gedichten

III. Interpretationsaufsatz zu einem


III. Interpretationsaufsatz zu einem Kurzprosatext
Kurzprosatext

IV. Essay (auf der Basis eines


IV. Essay (auf der Basis eines Dossiers)*
Dossiers)*

V. Analyse und Erörterung eines V. Analyse und Erörterung eines pragmatischen


pragmatischen Textes* Textes*

* Die Aufgabenarten (IV, V) sind zwar identisch, den Schülerinnen und Schülern an
30 den allgemein bildenden und den beruflichen Gymnasien werden jedoch
unterschiedliche Texte und Materialien mit jeweils eigenen Aufgaben vorgelegt.

Für die Abiturprüfung ab dem Jahr 2014 ergeben sich folgende Prüfungsmodalitäten:

35 Bearbeitungszeit: 300 Minuten + 30 Minuten Einlesezeit


Hilfsmittel: Ausgaben aller Pflichtlektüren,
Nachschlagewerke zur deutschen Rechtschreibung
Die Schülerinnen und Schüler erhalten fünf Aufgaben, von denen eine zu bearbeiten
ist.
40
Aufgabe I: Interpretationsaufsatz zu literarischen Werken im Kontext
Allgemeine Hinweise:

45 Grundlage für die Thematisierung übergreifender Zusammenhänge sind die Pflichtlektüren.


Die Prüfungsaufgabe basiert auf einem Textauszug aus einem der drei Werke.
Der Aufgabenapparat ist in der Regel zweiteilig:
Die erste Teilaufgabe verlangt eine auf das Wesentliche konzentrierte Hinführung zum
vorgelegten Textauszug und dessen Interpretation. Die Standardformulierung -
50 Interpretieren Sie den Textauszug im Kontext der vorangegangenen Handlung - kann
jedoch in einzelnen Fällen auch modifiziert werden. Es wird erwartet, dass die
Schülerinnen und Schüler der Bearbeitung dieser Teilaufgabe einen Einleitungssatz (Autor,
Titel, Gattung, Thema) voranstellen.
Die zweite Teilaufgabe beinhaltet den Vergleich von zwei oder drei Pflichtlektüren unter
55 einem bestimmten thematischen Aspekt. Der Vergleich kann untersuchender oder
erörternder Art sein.
Im Hinblick auf Belege genügt es, auf Kapitel bzw. Akte oder Szenen zu verweisen. Direkte
Zitate aus den Werken können in die Argumentation einbezogen werden, sind jedoch nicht
notwendig. Im Sinne einer kohärenten bzw. strukturierten Darstellung ist auf Überleitungen
60 zwischen den einzelnen Teilen des Aufsatzes (Hinführung zur Textstelle / Interpretation der
Textstelle – Werkvergleich) zu achten.
Die zweite Teilaufgabe macht den Schwerpunkt des Aufsatzes aus und geht
dementsprechend in die Gesamtbewertung ein.

65
Aufgabe I: Interpretationsaufsatz zu literarischen Werken im Kontext

70 Textauszug aus: Friedrich Schiller, Die Räuber: III.2 (Reclam, S. 87, Z. 5-38)
Vergleichswerke: Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas; Franz Kafka, Der Proceß.

MOOR
Meine Unschuld! Meine Unschuld! – Seht! es ist alles hinausgegangen, sich im friedlichen Strahl
des Frühlings zu sonnen – warum ich allein die Hölle saugen aus den Freuden des Himmels? –
75 dass alles so glücklich ist, durch den Geist des Friedens alles so verschwistert! – die ganze Welt
e i n e Familie und ein Vater dort oben – M e i n Vater nicht – Ich allein der Verstoßene, ich allein
ausgemustert aus den Reihen der Reinen – mir nicht der süße Name Kind – nimmer mir der
Geliebten schmachtender Blick – nimmer nimmer des Busenfreundes Umarmung! (Wild
zurückfahrend.) Umlagert von Mördern – von Nattern umzischt – angeschmiedet an das Laster mit
80 eisernen Banden – hinausschwindelnd ins Grab des Verderbens auf des Lasters schwankendem
Rohr – mitten in den Blumen der glücklichen Welt ein heulender Abbadona!

SCHWARZ (zu den Übrigen).


Unbegreiflich! Ich hab ihn nie so gesehen.

MOOR (mit Wehmut).


85 Dass ich wiederkehren dürfte in meiner Mutter Leib! dass ich ein Bettler geboren werden dürfte! –
nein! ich wollte nicht mehr o Himmel – dass ich werden dürfte wie dieser Tagelöhner einer! – O
ich wollte mich abmüden, dass mir das Blut von den Schläfen rollte – mir die Wollust eines
einzigen Mittagschlafs erkaufen – die Seligkeit einer einzigen Träne.

GRIMM (zu den andern).


90 Nur Geduld! Der Paroxysmus ist schon im Fallen.

MOOR
Es war eine Zeit, wo sie mir so gern flossen – o ihr Tage des Friedens! Du Schloss meines Vaters –
ihr grünen, schwärmerischen Täler! O all ihr Elysiumszenen meiner Kindheit! – Werdet ihr
nimmer zurückkehren – nimmer mit köstlichen Säuseln meinen brennenden Busen kühlen? –
Traure mit mir, Natur – Sie werden nimmer zurückkehren, nimmer mit köstlichen Säuseln meinen
brennenden Busen kühlen. – Dahin! dahin! unwiederbringlich!

Aufgabenstellung:

• Interpretieren Sie den Textauszug im Kontext der vorangegangenen Handlung.


95
Friedrich Schiller, ‚Die Räuber’, Heinrich von Kleist, ‚Michael Kohlhaas’ und Franz Kafka,
‚Der Proceß’:

• Untersuchen Sie in einer vergleichenden Betrachtung, inwieweit Karl Moor, Michael


100 Kohlhaas und Josef K. schuldig werden.
Hinweise auf mögliche Ergebnisse:

Teilaufgabe 1

Die Intrige des Franz von Moor führt dazu, dass sein Bruder Karl in einem Akt spontaner
Empörung zum Hauptmann einer Räuberbande wird. Alsbald muss Karl jedoch erkennen,
dass ihm die Räuberwelt nicht zu einer Art Ersatzheimat werden kann. Die Befreiung
105 Rollers (II.3) führt ihm das ganze Ausmaß der kriminellen Energie vor Augen, welche die
Aktionen einiger seiner Kumpane antreibt. Er will fliehen, doch die äußere Bedrohung und
sein Treueeid gegenüber den Räubern binden ihn weiterhin – und gegen seine
Überzeugung – an die Bande. Diese Konfliktsituation kommt in der vorgelegten Textstelle
zum Ausdruck.
110
Karls äußere Situation im Szenenauszug (III.2) ist durch eine Entfremdung zwischen ihm
und den Räubern geprägt. Andererseits scheint ihm die positive Gegenwelt zum
Räuberdasein, welche sich für ihn mit Erinnerungen an Heimat und Kindheit verbindet, für
immer verschlossen zu sein. Dieses Dilemma stellt das zentrale Thema des Monologs dar,
der signifikante sprachliche Merkmale (u.a. Antithesen, Ellipsen, Parallelismen, Nominalstil,
Ausrufe, Bildhaftigkeit: Natur, Religion) aufweist.

Teilaufgabe 2

Karl Moor und Michael Kohlhaas reagieren unangemessen auf das ihnen widerfahrene
Unrecht und entfesseln ein Gewaltpotenzial, das sie nicht mehr zu beherrschen vermögen.
Im Falle Karl Moors kann neben seinen Taten und seiner Verantwortung als
Räuberhauptmann seine Mitschuld an der Zerstörung der Familie berücksichtigt werden.
115 Im Unterschied zu Moor versucht Kohlhaas, der sich als Privatperson und Kaufmann
bedroht sieht, zunächst und im weiteren Verlauf nochmals, auf legalem Wege zu seinem
Recht zu kommen. Angesichts der Auswirkungen seines Rachefeldzugs kann jedoch
Kohlhaas nicht von Schuld freigesprochen werden, zumal er anfangs den Schutz der
Gesetze für sich selbst, sein Gewerbe und die Sicherheit seiner Mitbürger einfordert. Auch
120 Kohlhaas trifft eine Mitschuld an der Zerstörung seiner Familie (Tod Lisbeths, Hinrichtung).
– Die Schuld Josef K.s ist keine juristische oder eindeutig aus moralischem Fehlverhalten
ableitbare, sondern eine die gesamte Lebensführung betreffende, existenzielle Schuld. Hier
sind unterschiedliche Schwerpunktsetzungen (u.a. Egoismus, soziale Defizite,
Instrumentalisierung von ‚Helfern’, blinder Aktivismus und mangelnde Auseinandersetzung
125 mit dem eigenen Ich) möglich.
Aufgabe II: Interpretationsaufsatz zu einem Gedicht oder zwei zu
vergleichenden Gedichten

Allgemeine Hinweise:

130 Diese Aufgabe verlangt wie bisher eine detaillierte Beschreibung inhaltlicher und
gestalterischer Textelemente und ihre Verknüpfung zu einer sinnvollen Deutung. Die
Arbeitsanweisung an die Schülerinnen und Schüler lautet: „Interpretieren Sie das Gedicht.“
oder „Interpretieren und vergleichen Sie die Gedichte.“ Die Auswahl des Gedichts oder der
Gedichte zum Vergleich orientiert sich an einem Leitthema, das im
135 Schwerpunktthemenerlass benannt wird. Das Lyrik-Thema kann Gedichte vom Barock bis
zur Gegenwart enthalten.
Aufgabe II: Interpretationsaufsatz zu einem Gedicht oder zwei zu vergleichenden
Gedichten

Johann Wolfgang von Goethe: Neue Liebe, neues Leben (1775)

Herz, mein Herz, was soll das geben?


Was bedränget dich so sehr?
Welch ein fremdes, neues Leben –
140 Ich erkenne dich nicht mehr.
Weg ist alles, was du liebtest,
Weg, worum du dich betrübtest,
Weg dein Fleiß und deine Ruh –
Ach, wie kamst du nur dazu!

145 Fesselt dich die Jugendblüte,


Diese liebliche Gestalt,
Dieser Blick voll Treu und Güte
Mit unendlicher Gewalt?
Will ich rasch mich ihr entziehen,
150 Mich ermannen, ihr entfliehen,
Führet mich im Augenblick,
Ach, mein Weg zu ihr zurück!

Und an diesem Zauberfädchen,


Das sich nicht zerreißen lässt,
155 Hält das liebe lose Mädchen
Mich so wider Willen fest;
Muss in ihrem Zauberkreise
Leben nun auf ihre Weise.
Die Verändrung, ach, wie groß!
160 Liebe! Liebe! lass mich los!

Joseph von Eichendorff: Neue Liebe (1837)

Herz, mein Herz, warum so fröhlich,


So voll Unruh und zerstreut,
165 Als käm über Berge selig
Schon die schöne Frühlingszeit?
Weil ein liebes Mädchen wieder
Herzlich an dein Herz sich drückt,
Schaust du fröhlich auf und nieder,
170 Erd und Himmel dich erquickt.
Und ich hab die Fenster offen,
Neu zieh in die Welt hinein
Altes Bangen, altes Hoffen!
Frühling, Frühling soll es sein!
175 Still kann ich hier nicht mehr bleiben,
Durch die Brust ein Singen irrt,
Doch zu licht ist's mir zum Schreiben,
Und ich bin so froh verwirrt.
Also schlendr' ich durch die Gassen,
180 Menschen gehen her und hin,
Weiß nicht, was ich tu und lasse,
Nur, dass ich so glücklich bin.

Aufgabenstellung:

Interpretieren und vergleichen Sie die beiden Gedichte.


185
Hinweise auf mögliche Ergebnisse:

Folgende Aspekte können zum ersten Gedicht genannt werden:


Deutlich wird das Dilemma zwischen rationalem Erkennenwollen (vgl. V. 4) und emotionalem
Erleben, personifiziert im emphatisch angesprochenen „Herz“ (s. V. 1), mit dem das lyrische
Subjekt eine Art Zwiesprache hält. Das neue Leben fällt zusammen mit einer neuen Liebe (s. Titel)
und ist für das lyrische Subjekt konnotiert mit dem Gefühl der Fremdbestimmung, daher
Anspielungen auf das Gefesseltsein (vgl. V. 9-12), auf eine Marionette (vgl. V. 17-20) und auf eine
vergebliche Flucht vor der Geliebten (vgl. V. 13-16). In dieser personifiziert sich die Macht des
Irrationalen, ja Zauberhaften (s. dritte Strophe), deren Wesen changiert zwischen äußerer Anmut
(vgl. V. 9-11) und charakterlicher Labilität, denn das lyrische Subjekt bezeichnet sie mit einem
Paradoxon als ein „liebe<s>, lose<s> Mädchen“ (s. V. 19). Die Atmosphäre dieses Gedichts ist
gekennzeichnet vom Bedauern über den Verlust des alten gesicherten Lebens, daher die
dreimalige Anapher „weg“ (s. V. 5-7), andererseits auch vom Gefühl der Orientierungslosigkeit in
der neuen, veränderten Situation, gekennzeichnet durch die Klimax, die sich im jeweils letzten
Vers jeder Strophe abzeichnet (von rhetorischer Frage über bedauernde Feststellung bis hin zur
fast schon verzweifelt anmutenden Interjektion).

Folgende Aspekte können zum zweiten Gedicht genannt werden:


In der ersten Strophe spricht das lyrische Subjekt sein „Herz“ an, fragt nach der Ursache für seine
Unruhe und Zerstreutheit (vgl. V. 2) und erhält darauf eine Antwort (s. 2. Strophe): Schuld ist ein
„liebes Mädchen“ (s. V. 5), in das es sich verliebt hat. In den folgenden Strophen ist die Spaltung
zwischen dem fragenden und dem antwortenden Ich aufgehoben, das lyrische Subjekt gibt sich
ganz dem glücklichen Gefühl der neuen Liebe hin, die sich äußern muss als „Singen“ (s. V. 14)
und als zielloses Umherschlendern unter den Menschen (s. letzte Strophe). Folgerichtig verweigert
das lyrische Subjekt jede analytische Auseinandersetzung mit der neuen Liebe und hat keine Lust
mehr zum Stillsein (s. V. 13) und „zum Schreiben“ (s. V. 15), also zu jeder Form von
Introvertiertheit. Nun wird die Natur zur Projektionsfläche seines sich mitteilenden
Gefühlsüberschwangs, symbolisiert durch das offen stehende Fenster. Die äußere Welt hat sich
der inneren zu fügen, sodass aus der Vermutung, ob denn „Schon die schöne Frühlingszeit“ (s. V.
4) komme, schließlich das Postulat wird: „Frühling, Frühling soll es sein!“ (s. V. 12)

Folgende Aspekte können beim Vergleich der beiden Gedichte genannt werden:
Zwar nimmt das Eichendorff-Gedicht sowohl in der Wortwahl als auch in der Syntax (rhetorische
Frage am Ende der ersten Strophe) Bezug auf Goethes Gedicht, doch in diesen Äußerlichkeiten
erschöpfen sich die Intertextualitäten, denn das lyrische Subjekt im zweiten Gedicht, so
orientierungslos es sich auch darstellt, bezeichnet sich gleichwohl mit einem exaltierten Paradoxon
als „froh verwirrt“ (s. V. 16) und als „so glücklich“ (s. V. 20), eine Gemütszuschreibung, die sich in
Goethes Liebesgedicht nicht findet. Während sich der Liebende im ersten Gedicht noch
„ermannen“ (s. V. 14) will, also einen eigenen Willen bekundet, überlässt sich der Liebende im
zweiten Gedicht ganz seiner Ziellosigkeit und sagt daher über sich: Ich „weiß nicht, was ich tu und
lasse“ (s. V. 19). Die Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Selbstaufklärung und
Gefühlsverwirrung, die konstitutiv ist für das erste Gedicht, wird im zweiten Gedicht überwunden
zugunsten der Totalität des Gefühlslebens. Dadurch lässt sich das Gedicht der romantischen
Liebeslyrik zuordnen, was freilich auch an anderen Versatzstücken aufgezeigt werden kann: den in
der Ferne liegenden Bergen (vgl. V. 3), einem typischen Sehnsuchtsmotiv der Romantik, dem
nahezu personifizierten Frühling (vgl. V. 4) und der Sangeslust des lyrischen Subjekts (vgl. V. 14
f.), die man als Gegensatz zum selbstreflexiven „Schreiben“ (s. V. 15) wird interpretieren müssen,
also auch als Absage an jegliche Form von rationaler Selbstbehauptung, um die das lyrische
Subjekt des Goethe-Gedichtes noch ringt.
Aufgabe III: Interpretationsaufsatz zu einem Kurzprosatext

Allgemeine Hinweise:

190 Verlangt wird bei diesem Aufgabentyp das Erfassen des Textes in seinen wesentlichen
Elementen und Strukturen, die Beschreibung der zentralen inhaltlichen und sprachlichen
Elemente für sich und in ihrer Wechselbeziehung mit Hilfe textanalytischer Verfahren, die
Erklärung der maßgeblichen inhaltlichen und sprachlichen Relationen im Text sowie ihres
Bezuges zur außerliterarischen Welt. Eine Paraphrasierung des Textes oder distanzloser
195 Umgang mit dem Text entsprechen nicht den Anforderungen. Vielmehr geht es um eine
aspektorientierte Organisation der Textdeutung unter Berücksichtigung des
Wechselbezuges von Textstrukturen, Relationen und Funktionen (durch das Erfassen
strukturbildender, syntaktischer, semantischer, stilistisch-rhetorischer Elemente und ihrer
Funktion für das Textganze).
Aufgabe III: Interpretationsaufsatz zu einem Kurzprosatext
200
Christoph Meckel: Eine unangenehme Geschichte

Ich erhielt die telegrafische Nachricht, Verstärkung des Beifalls. Ein riesiger
daß mir soeben ein großer und Saal voll Händeklatschen, Getrampel
205 ehrenvoller Kunstpreis zuerkannt worden und Geschrei, weit aufgerissenen
sei: die Preisverleihung solle in Berlin 255 Mündern und von unsinniger
stattfinden, meine Anwesenheit sei Begeisterung hin und her gerissenen
unbedingt erforderlich, Voraussetzung Köpfen, ein Summen, Schnalzen,
zur Entgegennahme des Preises sei Pfeifen, Knallen, Tosen – ich streckte die
210 ferner, daß ich meinen gesamten Besitz Zunge heraus, machte lange Nase,
mitbrächte und persönlich vorzeigte. 260 zeigte Zähne, spuckte aus, warf Bücher,
Trotz dieser Bedingung sagte ich zu und Farbstifte, Farbtuben in den Saal und
reiste nach Berlin. kehrte der Menge den Rücken; der
Die Preisverleihung fand im Festsaal Beifall steigerte sich weiterhin und nahm
215 eines öffentlichen Gebäudes statt. so haarsträubende Ausmaße an, daß ich
Ungeheurer Beifall setzte ein, als ich die 265 meinen Besitz zusammenlas, Stück für
Bühne betrat und mich verbeugte. Ein Stück hinter den Vorhang schaffte und
mir unbekannter Redner hielt eine unter immer noch zunehmendem Beifall
Laudatio, er sprach eine Stunde oder verschwand.
220 länger, doch konnte niemand verstehn, Während hinter mir immer dröhnender,
was er sagte, da ununterbrochener 270 ungeheurer und fataler ein durch nichts
Beifall seine Rede übertönte. Er mehr begründeter, an nichts mehr
verbeugte sich schließlich, deutete mit orientierter Beifall tobte, lief ich durch die
großer Geste auf mich, trat unter schlecht beleuchteten Gänge hinter der
225 tosendem Beifall ab und ich blieb allein Bühne und suchte einen Ausgang. Ich
auf der Bühne zurück. 275 sah, daß mein Besitz in den Gängen
Mein gesamter Besitz war in einem verstreut herumlag (Arbeiter, die mir
kleinen Lastwagen herbeigeschafft anfangs behilflich gewesen waren,
worden (ich besaß nicht sehr viele zeigten sich jetzt nicht mehr). Bücher
230 Dinge) und wurde Stück für Stück auf die fallengelassen, Werkzeuge hingeworfen,
Bühne getragen. Ich trat vor, hob meine 280 Papiere zertrampelt, zerknüllt, zerrissen,
Besitztümer der Reihe nach in die Höhe Kleider und Bilder auf Haufen
und zeigte sie nach allen Seiten: Bücher, zusammengekehrter Papierdekorationen
Klassikerausgaben, Flaschen voller geworfen, ich bat vorübereilende
235 Terpentin und Salpetersäure, Mäntel, Personen – Redner, Stadträte,
Socken, Blechschere und Teekanne, 285 Jurymitglieder oder dergleichen –, mir
Walzen, Messer, Holzstöcke und beim Zusammensuchen meiner Dinge zu
Kupferdruckpapier, eine Schreibma- helfen, erhielt aber weder Antwort noch
schine, eine Decke, ein paar Flaschen Hilfe. Während ich, so gut ich konnte,
240 alten Wein, auch Briefe, Fotografien und den Rest meines Besitzes zusammenlas
Manuskripte. Der Beifall war so 290 und aus dem Gebäude schaffte, betrat
ungeheuerlich und verstärkte sich mit eine Gruppe von Herren den Ausgang
jedem vorgezeigten Ding, daß ich (oder Eingang), in ihrer Mitte bewegte
abwinkte und durch den Lautsprecher sich eine Gestalt, man stützte sie und
245 bekannt gab, man möge mit Beifall etwas griff ihr unter die Arme, schob sie in
zurückhaltender sein. Diese Äußerung 295 Richtung des Festsaales vorwärts, sie
verstärkte den Beifall noch und jede schien sich nicht aus eigener Kraft
meiner Bewegungen, ein Lächeln, bewegen zu können, ihre Beine
Kopfschütteln, Schulterheben, das baumelten kraftlos über den Boden, es
250 Aufnehmen oder Absetzen eines folgte eine Gruppe von Arbeitern, die
Gegenstandes bewirkte nur eine 300 Kisten und Körbe voller Gegenstände
trugen, Bücher vor allem, Trinkgläser, ein auf das Trottoir und sah mich nach
Spinett, Bilder, Kleider und gebündelte einem Taxi um. Es dauerte eine Weile,
Manuskripte, offenbar der Besitz eines 315 bis eines kam und hielt. Der Chauffeur
neuen Preisträgers. Einen Augenblick half mir, die Reste meines Besitzes im
305 lang sah ich den vornüber gesunkenen Taxi unterzubringen. Es war ein kalter,
Kopf, das von weißem Kragen fast leuchtender Nachmittag im Oktober,
verdeckte, ungewöhnlich bleiche und meine Kleider waren verschmutzt und
abwesende Gesicht eines Mannes und 320 zerrissen, ich kroch in das Taxi und
erkannte in ihm einen befreundeten zündete mir eine Zigarette an, der
310 Dichter, der vor kurzem gestorben war. Chauffeur versprach, mich zum Flugplatz
Ich verließ das Gebäude so schnell ich zu fahren.
konnte, stellte mich neben meinen Besitz

325 aus: Christoph Meckel: Ein roter Faden. Gesammelte Erzählungen. München/Wien 1983, S. 43 f.

330 Aufgabenstellung:

Interpretieren Sie den Text.


335 Hinweise auf mögliche Ergebnisse:

Im Mittelpunkt des Textes steht der Ablauf einer Preisverleihung, von der der Ich-Erzähler
als Preisträger betroffen ist. Wie der Darstellung zu entnehmen ist, wird der Akt der
Preisverleihung zunehmend sinnentleert, da zentrale Elemente der Feier, wie z.B.
340 personaler Bezug des Geschehens, zeitlicher Rahmen, Interaktion zwischen Preisträger
und Publikum pervertiert werden.
Ungewöhnlich ist zunächst, dass an den Preisträger die Bedingung gestellt wird, seinen
gesamten Besitz zur Preisverleihung mitzubringen und vorzuzeigen. Ferner verstößt es
gegen die innere Logik der Preisverleihung, dass die ca. eine Stunde dauernde Laudatio
345 von ununterbrochenem Beifall begleitet wird. Der Beifall ist es auch, der – wie in der
sprachlichen Gestaltung des Textes deutlich wird durch die häufige Wiederholung des
Substantivs „Beifall“ und der Adjektive bzw. Verben „sich steigern“, „tosen“, „sich
verstärken“, „dröhnen“, „zunehmen“, „toben“ – im weiteren Verlauf dem Geschehen einen
völlig atypischen Charakter verleiht.
350 Der Preisträger erntet absurder Weise Beifall für jeden Gegenstand aus seinem Besitz,
den er vorzeigt; sogar seine Grimassen, die er dem Publikum schneidet, als dieses nicht
auf seine Bitte eingeht, sich zu mäßigen, bewirken nur eine weitere Steigerung des
Beifalls. Die Atypik des Publikumsverhaltens wird dadurch noch vorangetrieben, dass sich
der Beifall völlig unbegründet und ohne Bezug zum Preisträger, der die Bühne schon
355 längst verlassen hat, immer weiter steigert. In starker Spannung zur scheinbaren
Beachtung des Preisträgers und seiner Besitztümer steht außerdem deren Missachtung
hinter der Bühne. Vieles liegt verstreut auf dem Boden und keine der dort anwesenden
Personen will dem Preisträger beim Zusammensuchen seines Besitzes helfen. Ganz
außergewöhnlich ist schließlich die Begegnung des Preisträgers beim Verlassen des
360 Gebäudes mit einem kürzlich verstorbenen Dichter, der, obwohl er tot ist, samt seinem
Besitz als neuer Preisträger in den Festsaal geschleppt wird.
Für eine Deutung des Titels der Erzählung ergibt sich hieraus: Das vom Ich-Erzähler
Erfahrene ist für ihn unangenehm, weil er infolge des entpersonalisierten Geschehens als
Adresse der Ehrbezeugung überflüssig geworden ist. Er kann seine Person nur retten,
365 indem er den Ort der Preisverleihung verlässt.
Aufgabe IV: Essay - Verfassen eines Essays auf der Basis eines
370 Dossiers
Allgemeine Hinweise:

Die Aufgabe zum „Essay“ hat eine Arbeitsanweisung.


375 Die Materialien sollen eine Wissensbasis vermitteln. Sie bestehen in erster Linie aus
Sachtexten. Literarische Texte sind ebenso denkbar, des Weiteren auch Statistiken,
Tabellen, Schaubilder, grafische oder bildliche Darstellungen. Die Materialien sind für die
Ausarbeitung des Essay angemessen zu berücksichtigen; sie sind als Anregungen, nicht
als Vorgaben zu verstehen.
380 Der Essay kennt textsortenspezifische Kriterien, einer engen Normierung unterliegt er
allerdings nicht. Er gilt als kreative, pragmatische Schreibform, die dem Subjektiven Raum
lässt und zugleich dem Objektiven verpflichtet ist. Er bedient sich argumentativer
Verfahren und ist dennoch klar von der Erörterung zu unterscheiden.

385
Aufgabe IV: Essay - Verfassen eines Essays auf der Basis eines
Dossiers

390 Material 1

Wozu lesen?
(aus: PISA 2000, S. 69 f.)

395 Eine Vielzahl von Informationen, die wir im Perspektive anderer Personen einzunehmen,
täglichen Leben aufnehmen und verarbeiten, nur angedeutet werden kann. Literatur als
basiert auf Geschriebenem. Über die Schrift 435 Genre bietet die Möglichkeit der Lebensbe-
werden neben Informationen und Fakten aber wältigung, des ästhetischen Erlebens, der Be-
auch Ideen, Wertvorstellungen und kulturelle friedigung von Unterhaltungsbedürfnissen
400 Inhalte vermittelt. Das Lesen eröffnet die sowie der Sinnfindung und der Persönlich-
Möglichkeit, diese aufzunehmen und sich keitsentfaltung (Hurrelmann, 1994; Spinner,
damit im Laufe der Zeit auch ganze Lebens- 440 1989). Wells (1985), der das Abwägen und
bereiche zu erschließen. Planen von Handlungsalternativen beim Le-
Die intensive Teilhabe an der Lesekultur be- sen von fiktiven Geschichten unter anderem
405 zeichnet Saxer (1991) als eine elementare als eine Schulung des Denkens und der In-
Voraussetzung für eine breite Partizipation telligenz bezeichnet hat, stellt die offene
am sozialen Leben und an den kulturellen 445 Frage, ob unser Leben nicht sogar mehr durch
Gütern. Eine bedeutende Rolle kommt dabei Fiktion als durch Fakten bestimmt ist. [...]
dem Informationslesen und dem Lesen zur Nach Schön (1997) ist die Bedeutung des
410 Wissenserweiterung zu. Gezieltes Informa- Lesens heute größer als jemals zuvor in der
tionslesen kann etwa darin bestehen, ein Mö- Kulturgeschichte. Dies hängt nicht nur mit der
belstück gemäß einer schriftlichen Anleitung 450 rapiden Entwicklung im Bereich der Medien
zusammenzubauen oder die politischen zusammen, sondern vor allem auch mit der
Mehrheitsverhältnisse nach einer Wahl aus immer größeren Bedeutung der Schrift in
415 einer Tageszeitung zu entnehmen. Lesen als vielen Berufen und mit dem Bedarf an le-
Mittel zum Aufbau von Wissensstrukturen benslangem Lernen. Besonders im histori-
kennzeichnet einen Leseprozess, bei dem be- 455 schen Vergleich wird das Eindringen der
stehende Vorstellungen durch das Gelesene Schrift in alle Lebensbereiche deutlich. Aus-
erweitert, revidiert oder bestätigt werden. Le- druck dieser Entwicklung ist unter anderem
420 sen hat hier den Charakter des Denkens bzw. ein sich abzeichnender Trend in den Lesege-
Nachdenkens über die im Text vermittelten wohnheiten der Deutschen, der sich – im
Ideen und Inhalte. Gerade dieser Bereich ist 460 Vergleich zu früheren Untersuchungen – in
vor dem Hintergrund der immer wieder be- einem Anstieg an „Informationslesen“ (Sach-
tonten Notwendigkeit zum lebenslangen Ler- und Gebrauchstexte) und dem Lesen zur be-
425 nen von großer Bedeutung. Aber Lesen stellt ruflichen Qualifikation bemerkbar macht
nicht nur ein Mittel zur Wissensanreicherung (Stiftung Lesen, 2001).
dar. Das Lesen von Literatur eröffnet eine 465 Auch in einer sich verändernden Medienland-
Perspektive, die mit der Möglichkeit der schaft ist „Lesen können“ eine zentrale Fä-
Identifikation mit Romanfiguren, des stell- higkeit, die eine notwendige Voraussetzung
430 vertretenden Erlebens, der Planung von Le- für den kompetenten und selbstbestimmten
bensentwürfen, der Fantasieerweiterung und Gebrauch aller Medien darstellt. [...]
der impliziten Schulung der Fähigkeit, die 470
Material 2

475 Christa Wolf


Tabula rasa (Auszug)

Leisten wir uns ein Gedankenexperiment. Phantasie ist verkümmert. Vergleichen, ur-
Eine Kraft, nicht näher zu bezeichnen, teilen fällt mir schwer. Schön und hässlich,
480 lösche durch Zauberschlag jede Spur aus, 520 gut und böse sind schwankende, unsichrere
die sich durch Lesen von Prosabüchern in Begriffe. Es steht schlecht um mich. [...]
meinen Kopf eingegraben hat. Was würde Tabula rasa. Ich bin am Ende. Mit den Wur-
mir fehlen? zeln ausgerissen, ausgelöscht in mir eines
Die Antwort ist nicht nur mörderisch; sie ist der großen Abenteuer, die wir haben kön-
485 auch unmöglich. Wenn sie einer geben 525 nen: vergleichend, prüfend, sich abgrenzend
könnte, wüsste man Genaueres über die allmählich sich selbst sehen lernen. [...] Die
Wirkung von Literatur. Verwilderung wird zunehmen.
Beginne ich in mir abzutöten: das makel- Denn nun muss man weitergehen. Die feine-
lose, unschuldig leidende Schneewittchen ren, schwer beweisbaren Wirkungen gilt es
490 und die böse Stiefmutter, die am Ende in 530 auszutilgen, die dauernder Umgang mit Bü-
den glühenden Pantoffeln tanzt, so vernichte chern hervorbringt: die Übung und Diffe-
ich ein Ur-Muster, die lebenswichtige renzierung des psychischen Apparats; Schär-
Grundüberzeugung vom unvermeidlichen fung der Sinne; Erweckung der Beobach-
Sieg des Guten über das Böse. Ich kenne tungslust, der Fähigkeit, Komik und Tragik
495 auch keine Sagen, habe mir nie gewünscht, 535 von Situationen zu sehen; Heiterkeit aus
an der Seite des hürnenen Siegfried dem Vergleich mit Vergangenem zu ziehen; das
Drachen gegenüberzutreten; niemals bin ich Heroische als Ausnahme zu würdigen, die es
vor einem Rauschen im finsteren Wald er- darstellt; und das Gewöhnliche, das sich
schrocken: Rübezahl! Die Tierfabeln habe immer wiederholt, gelassen zur Kenntnis zu
500 ich nie gelesen, ich verstehe nicht, was das 540 nehmen und womöglich zu lieben. Vor al-
heißen soll: „listig wie ein Fuchs“, „mutig lem aber: zu staunen; unaufhörlich zu stau-
wie ein Löwe“. Eulenspiegel kenne ich nen über seinesgleichen und sich selbst.
nicht, habe nicht gelacht über die Listen der Aber ich habe nicht gelesen.
Schwachen, mit denen sie die Mächtigen Nicht nur meine Vergangenheit ist mit
505 besiegen. [...] 545 einem Schlag geändert: meine Gegen-
Arm, ausgeplündert, entblößt und ungefeit wart ist dieselbe nicht mehr. Nun bleibt
trete ich in mein zehntes Jahr. Berennende nur das Letzte zu tun: auch die Zukunft
Tränen sind ungeweint geblieben; der Hexe zu opfern. Ich werde niemals ein Buch
im Märchenbuch wurden nicht die Augen
lesen. Der Schrecken, der in diesem Satz
510 ausgekratzt; die jubelnde Erleichterung über
die Rettung eines Helden habe ich nicht 550 steckt, berührt mich, den Nichtleser,
kennen gelernt; nie bin ich zu den phantasti- nicht.
schen Träumen angeregt worden, die ich mir
Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich.
im Dunkeln erzähle. Ich weiß nicht, dass
515 Völker verschieden sind und doch einander
ähnlich. Meine Moral ist nicht entwickelt,
ich leide an geistiger Auszehrung, meine
555
Material 3

560 Schenkt Bücher!

Die Meldung in der Zeitung ist kurz, aber Meinung zu bilden und diese auch zu
der Inhalt in meinen Augen umso vertreten. Auch im Blick auf „Pisa“ und
alarmierender: Nur 18% aller Kinder in „Iglu“ ist Lesen enorm wichtig. Lesen ist die
565 Deutschland bekommen von ihren Eltern zu 575 Grundlage des Lernens, denn Wortschatz,
Weihnachten ein oder mehrere Bücher Sprachgebrauch und Konzentrationsfähig-
geschenkt. Wissen die Eltern nicht, was sie keit werden gefördert. Kinder, die viel lesen,
ihren Kindern vorenthalten? Lesen macht sind meistens auch bessere Schüler mit allen
Spaß. Lesen macht schlau. Und Lesen macht damit verbundenen Vorteilen. [...]
570 unabhängig und frei. Denn wer liest, weiß
mehr. Und Wissen hilft, eine eigene
580
(Leserbrief; Rhein-Neckar-Zeitung, Dezember 2007)

585

Material 4
590
Hans Magnus Enzensberger
Ins Lesebuch für die Oberstufe (1957)

Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne:


595 sie sind genauer. Roll die Seekarten auf,
eh es zu spät ist. Sei wachsam, sing nicht.
Der Tag kommt, wo sie wieder Listen ans Tor
schlagen und malen den Neinsagern auf die Brust
Zinken. Lern unerkannt gehen, lern mehr als ich:
600 das Viertel wechseln, den Pass, das Gesicht.
Versteh dich auf den kleinen Verrat,
die tägliche schmutzige Rettung. Nützlich
sind die Enzykliken zum Feueranzünden,
die Manifeste: Butter einzuwickeln und Salz
605 für die Wehrlosen. Wut und Geduld sind nötig,
in die Lungen der Macht zu blasen
den feinen tödlichen Staub, gemahlen
von denen, die viel gelernt haben,
die genau sind, von dir.
610
(Oden. feierliche Gedichte; Zinken: hier Zeichen; Enzykliken: päpstliche Rundschreiben)
615 Material 5

Iris Radisch
Zeichen und Wunder – Gute Bücher bilden nicht nur Herz und Verstand:
620 Sie machen auch glücklich (Auszug)

Das Weltwunder Lesen war immer etwas für vor der Wirklichkeit, sondern eine Gegen-
wenige. Bis die Aufklärung kam und eine wirklichkeit, mancher sagt: die eigentliche
grandiose Idee hatte: Gleichheit, Brüder- Wirklichkeit. Nur in großer Literatur sind
625 lichkeit, Freiheit für alle – auch in der Er- vergangene Zeiten gegenwärtig, nur hier ist
ziehung. Folgt man der Idee, ist ein Verle- 655 das Innere eines anderen für uns erfahrbar,
ger, der lieber Bücher über Steuertricks als nur hier können wir uns selbst als Fremde
Gedichte verlegt, ein kulturloser Geschäfte- begegnen, nur hier sind Anarchie und Sub-
macher und sind Eltern, die ihr Automobil jektivität wirklich zu Hause. Was wüssten
630 zwar vorbildlich parken, ihre Kinder aber wir vom Judentum, was vom Christentum
blindlings vor dem Fernseher absetzen, ge- 660 oder den anderen Religionen ohne Literatur?
wissenlose Kinderverderber. Wie gesagt, Und wo kann man noch immer unendlich
eine großartige Idee. viel mehr über die Liebe erfahren als im
Leider versagt sie in der Praxis. Denn in ihr elenden Nachtprogramm von RTL?
635 kippen Fernseh- und Rundfunkintendanten Gute Bücher erklären und öffnen uns die
ihre Kultursendungen haufenweise auf den 665 Welt, wie es sonst niemand vermag. Sie
Müll, steigt die Produktion von primitiven schärfen unseren Möglichkeitssinn, verfei-
Wegwerfbüchern von Jahr zu Jahr, verbrin- nern unser Gehör, bilden unseren Ge-
gen immer kleinere Kinder immer mehr Zeit schmack. Sie zerreißen den Panzer aus Kon-
640 vor dem Fernseher, sinkt die sogenannte vention und Banalität, der uns umgibt. Gut
Lesekompetenz nicht nur der Kinder. [...] 670 geschrieben ist immer auch gut gedacht:
Sowohl bildungsbürgerliche wie die alltags- Niemand, der heute Tolstoj gelesen hat, wird
psychologische und die medienkompetente sich morgen mit den Phrasen eines sprach-
Aufforderung zum Lesen haben wenig be- debilen Medienkapitalismus abspeisen las-
645 wirkt. In Wirklichkeit gilt: Literatur kann sen. [...] Lesend können wir die Welt erken-
nur durch sich selbst überzeugen. Sie ist 675 nen. Die andere Welt. Die, in der nicht alle
nicht dazu da, Lebenswirklichkeiten nach- Zeiger auf Geld gestellt sind. Und das ist –
zuplappern, zu überhöhen oder Berufskarrie- obwohl die meisten guten Bücher schlecht
ren zu begründen. Sie ist etwas Ernsteres. ausgehen – ein großes Glück
650 Sie ist eine echte Alternative, keine Flucht .
680

(aus: Die Zeit, 11. Dezember 2003)

685 Aufgabenstellung:

Bearbeiten Sie unter Berücksichtigung der vorgelegten Materialien folgende Aufgabe:


„Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich.“ (Christa Wolf; Material 2, Z.75).
690 Schreiben Sie zu diesem Titel einen Essay über die Bedeutung des Lesens.
695 Hinweise auf mögliche Ergebnisse:

Folgende Aspekte sind für den Essay von Bedeutung:

die Lebens- und Welterfahrung mit und ohne Literatur; die Unterscheidung von
700 pragmatischer und fiktionaler Literatur; der Zusammenhang von Lesen und dem Gebrauch
moderner Medien; Literatur und Persönlichkeitsentfaltung bzw. Werteentwicklung; Lesen
und beruflicher Erfolg; Lesen und Kreativität; Lesen und ästhetische sowie soziale
Kompetenz; Literatur und Unterhaltung; die eigene Lesesozialisation usw.
Das pointierte Themen-Zitat aus „Tabula rasa“ (Christa Wolf, Material 2) soll zu einer
705 akzentuierten Darstellung anleiten, wie sie dem Essay grundsätzlich zu eigen ist.
Der Bandbreite essayistischen Schreibens entsprechend, können durchaus
unterschiedliche Ausarbeitungen gleichwertig nebeneinander stehen. Zentrale
Bewertungskriterien sind inhaltliche und sprachliche Originalität, Differenziertheit,
Strukturiertheit und Schlüssigkeit.
710 Aufgabe V: Analyse und Erörterung eines pragmatischen Textes

Allgemeine Hinweise:

715 Analyse eines pragmatischen Textes:

Die Aufgabenformulierung umfasst zwei Teile.


Die erste Arbeitsanweisung bezieht sich ausschließlich auf die Textvorlage und verlangt
eine differenzierte Textuntersuchung, die die inhaltliche und sprachlich-argumentative
720 Ebene einbezieht. Die Schüler und Schülerinnen sollen ein gesichertes Textverständnis
gewinnen. Dies erfordert auch die funktionale Analyse der sprachlichen Gestaltungsmittel.
Die zweite Arbeitsanweisung verlangt eine knappe Auseinandersetzung mit der im Text
dargestellten Position. Hierzu gehören eine Problematisierung vor dem Hintergrund von
Kenntnissen und Erfahrungen sowie die Formulierung eines begründeten eigenen Urteils.

725 Erörterung eines pragmatischen Textes:

Die Aufgabenstellung zielt auf eine kritische Auseinandersetzung mit den im Text
formulierten Positionen zu einem Problem. Als Voraussetzung sind zentrale Thesen und
Leitbegriffe zu untersuchen wie auch die gedankliche Struktur der Argumentation. Erwartet
wird eine differenzierte Stellungnahme, die die Problematisierung der dargestellten
730 Bewertungen und die Formulierung eines begründeten Urteils einschließt.
Aufgabe V: Analyse und Erörterung eines pragmatischen Textes

Schwerpunkt: Analyse
735 Gerhard Matzig
Schneller, höher, weiter, irrer
Wahnsinn Mobilität: Immer mehr Lebenszeit verbringen wir in Autos, Flugzeugen oder U-Bahnen
In: Süddeutsche Zeitung vom 06./07. August 2005, Beilage Nr. 180, S. I

740 Die These, wonach der Allmächtige unsere Situationen wie die Piloten von Kampfjets.
Welt vor allem als göttliche Tragödie Auch deshalb sprechen Mobilitätsforscher
ersonnen habe, lässt sich auch an diesem mittlerweile von einem „Klimawandel“.
Wochenende überprüfen. Es ist Ferienzeit. 785 Manche nennen es: ,,Krieg der Straße“. Der
Ferienzeit ist Autozeit, Flugzeugzeit, Bahn- Krieg der Kulturen ist ganz offensichtlich
745 zeit. Die hohe Zeit also einer absurd mobilen auch einer der Mobilitäten: Autofahrer gegen
Gesellschaft, deren Irrsinn sich nun beson- Fußgänger, Fußgänger gegen Radfahrer,
ders deutlich zu erkennen gibt. Ihre Merk- Bahn gegen Flugzeug, Privatverkehr gegen
male sind: Aggressionen, Beleidigungen und 790 öffentlichen Verkehr, Schiene gegen Straße...
Straftaten. Und: Verletzte und Tote. [...] Die menschliche Population scheint aus-
750 Mit den Ferien haben solche Exzesse nicht schließlich aus Verkehrsteilnehmern zu be-
notwendigerweise etwas zu tun. Aber in stehen. Ein Mensch, der zum Beispiel in
Ferienzeiten schwellen die Archive der Deutschland 70 Jahre alt wird, verbringt fast
allgemeinen Mobilmachung besonders stark 795 vier Jahre seines Lebens ausschließlich im
an. Wer nachliest, was sich im Zuge der Status des Unterwegsseins. Nimmt man die
755 enormen Verkehrsdichte auf unseren Straßen notwendigen Aufenthaltszeiten in transitori-
(egal, ob Stau oder halbwegs freie Fahrt) und schen Zwischenräumen dazu, also das Leben
in unseren Bahnhöfen, in den Terminals oder in Erwartung der U-Bahn oder beim Anstel-
Bushaltehäuschen zuträgt, der begreift 800 len zum Check-in, so ergibt sich mindestens
jedenfalls, dass die mobile Gesellschaft, ein ganzes Jahrzehnt, welches allein der Mo-
760 deren Bewegungsdichte mittlerweile ohne bilität geopfert wird.
jedes historische Beispiel ist, außer Kontrolle Nur wird dies nicht als Wahnsinn beschrie-
gerät. Die Welt, sie rast. ben – sondern als Dynamik, Flexibilität oder
Wobei diese Raserei, etlichen Studien 805 sogar Freiheit gepriesen. In der jüngsten
zufolge, nur zwei Richtungen kennt. Erstens: Aral-Studie ,,Mobilität und Sicherheit“ liest
765 Die Mobilität, die Berufsmobilität wie die sich das so: ,,Das Seelische braucht und
Freizeitmobilität, der Güter- wie der sucht Bewegung.“
Personentransport, all dies nimmt unauf- Dieser immense Bewegungsdrang, der den
hörlich zu. Noch keine Zeit zuvor sah derart 810 globalistisch umtriebigen Manager, den
,,reisefertig“ aus (Benn) – wie unsere. Noch Globetrotter, den fürs Weekend nach Paris
770 1950 betrug zum Beispiel die jährliche eingeladenen Easy-Jet-Bucher oder auch den
Fahrleistung eines deutschen Autofahrers erst neuerdings bekannten „Flugpendler“ an
rund 1000 Kilometer. Mittlerweile sind es 12 die einst kühnen Wallfahrer, Kaufleute oder
000 Kilometer. Zweitens: Die damit ein- 815 Gesandten des Mittelalters anbindet, mag
hergehenden Aggressionen nehmen – unab- natürlich sein. Er ist sogar evolutorisch be-
775 hängig vom jeweiligen Mobil-System – in deutsam. Nur der Mensch, der Distanzen
noch dramatischeren Umfängen zu. Die überwinden kann, ist in der Lage, Nahrung
Menschen sind dem Stress der Mobilität, die und Schutz oder auch nur bessere Lebensbe-
sie mit allen Mitteln verteidigen (,,freie Fahrt 820 dingungen zu finden. Daher dürfte das
für freie Bürger“), nicht gewachsen. Bedürfnis nach nahezu unbegrenzter Mobi-
780 Untersuchungen zufolge erleiden zum lität fast so etwas wie ein gesellschaftlicher
Beispiel Berufspendler ähnliche Stress- Reflex sein – der sich, dank billigster,
vielfach subventionierter Mobilitätspreise Vorort von New York. 100 bis 200 Milliar-
825 Bahn bricht. 860 den Dollar würde das kosten. Raum, Zeit,
Dabei kann die anstehende Mobilisierung der Kosten und Sinn waren noch nie so relativ.
Schwellenländer (und wer sollte es ihnen Was wir erleben, ist nicht mehr die Not, son-
verwehren?) in kürzester Zeit zum Kollaps dern der Luxus des Unbehaustseins.
des Planeten führen. Wobei es – und darauf Wobei diese nur gefühlte Notwendigkeit zu
830 kommt es an – nicht nur ökonomische 865 Aufbruch und Reise, diese abstruse gesamt-
Gründe für diesen ökologischen Wahnsinn gesellschaftliche Nervosität, jedes anders
gibt: In Industrieländern ist nur ein Fünftel geartete Dasein diskreditiert. Zwar ist die
der Maßeinheit ,,Wege“ etwa der Arbeit oder geografische Mobilität in vielen Fällen nichts
Ausbildung geschuldet. Wir haben es mit anderes als der Versuch, das Defizit geistiger
835 einem luxuriösen Reflex zu tun. 870 Mobilität auszugleichen, aber dessen unge-
Ein Indiz dafür ist das Paradoxon, wonach achtet wird alles, was nicht nach Flexibilität
die Mobilität zu einer Zeit ausufert, da sie – und Dynamik aussieht, gnadenlos dominiert
dank Kommunikations-Technologie und oder gar ausgesondert. Wer unbeweglich ist,
Dienstleistungsgesellschaft, dank Pizzaser- und sei es auch aus freien Stücken, passt
840 vice, Telearbeitsplatz und Amazon.de – we- 875 nicht in unsere Zeit. Mobilität ist zum Aus-
niger notwendig als jemals zuvor erscheint. weis und Fetisch eines diffus als qualitätsvoll
Blaise Pascal wäre folglich noch nie so leicht begriffenen Lebens geworden. Den Mobilen
zu beherzigen gewesen. Er fand, im 17. Jahr- und Nomaden gehört die Welt – obwohl sie
hundert, dass ,,alles Unglück der Menschen kaum je wissen, warum sie wann wohin ra-
845 einem entstammt, nämlich dass sie unfähig 880 sen. Die Sehnsucht nach dem ,,anderen Ort“
sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben war einmal eine geistig gemeinte Utopie –
zu können. Kein Mensch, der genug zum jetzt ist es eine Banalität der Geografie. [...]
Leben hat, würde sich, wenn er es nur ver- Womöglich wird uns erst die allerletzte
stünde, zufrieden zu Hause zu bleiben, auf- Ruhestätte wieder zu einer anderen Form von
850 machen, um die Meere zu befahren oder eine 885 Zuhause werden: das Grab oder die Urne.
Festung zu belagern“. [...] Wäre da nicht die aktuelle Geschäftsidee,
Ernsthaft wurde erst kürzlich am ,,Trauerdiamanten aus der Asche
Massachusetts Institute of Technology ein Verstorbener“ zu machen, damit man diese
Transrapid ersonnen, der New York und am Ring immer mit sich führen könne. Im
855 London in einer 100 Meter tief im Meer ver- 890 Spiegel war dazu kürzlich dieser Leserbrief
senkten Vakuumröhre verbinden soll. Mit abgedruckt: ,Ich halte das mobile Grab für
einem Tempo von 7400 km/h wären dort die die langwährende Entsprechung zu unserer
Passagiere unterwegs, London wäre dann ein Mobilität zu Lebzeiten.“

895 Aufgabenstellung:
• Arbeiten Sie heraus, zu welcher Beurteilung von Mobilität der Autor gelangt, und
analysieren Sie die verwendeten sprachlichen Mittel.
• Nehmen Sie zur Auffassung Matzigs kritisch Stellung.
Hinweise auf mögliche Ergebnisse
900
l. Arbeitsanweisung
Ausgehend von einer ironischen Anspielung, formuliert der Autor seine zentrale These von
einer „absurd mobilen Gesellschaft“ (Z. 6 f.), die ,,außer Kontrolle“ geraten sei (Z. 22).
Unter Berufung auf Studien erläutert er die quantitative Zunahme der Fahrleistung sowie
905 qualitative Verhaltensänderungen der Verkehrsteilnehmer als wesentliche Merkmale
unserer in den letzten Jahrzehnten gewandelten Lebensweise. Seine scharfe Kritik an
dieser Entwicklung ist nicht nur an der Aufzählung von Komparativen im Titel seines
Aufsatzes erkennbar, sondern auch am wiederholten Gebrauch stark abwertender Begriffe
(,,absurd, Irrsinn, Exzesse“ (Z. 6 ff.),“Wahnsinn“ (Z. 64)), der mit einem lapidaren,
910 vorwiegend parataktischen Stil korrespondiert. Zudem äußert sich die einseitige
Parteinahme des Verfassers u.a. in einer Klimax, die Fehlverhalten als Folge wachsender
Mobilität beschreibt (,,Aggressionen, Beleidigungen und Straftaten“ (Z. 9 f.)). Erkennbar ist
eine verengte Perspektive des Autors, die z.T. zu Übertreibungen führt (,,Die menschliche
Population scheint ausschließlich aus Verkehrsteilnehmern zu bestehen.“ (Z. 52 ff.)) und
915 jede positive Wertung von Mobilität denunziert. Im Paradox einer zunehmenden Mobilität
trotz abnehmender Notwendigkeit von realen Ortswechseln dank der verbesserten
Kommunikationsmittel sieht er ein Indiz für einen ,,luxuriösen Reflex“ (Z. 96), den er mit
zwei Beispielen untermauert. Als Ursachen hierfür nennt er neben der subjektiven
Befindlichkeit einen Mangel an geistiger Beweglichkeit sowie das Missverständnis der
920 Utopie vom ,,anderen Ort“ als Aufforderung zu möglichst häufigem Ortswechsel (Z. 141
ff.). Die Identifikation von räumlicher Mobilität mit Flexibilität und Dynamik und ihre
Bewertung als „Ausweis [...] eines diffus als qualitätsvoll begriffenen Lebens“ (Z. 136 ff.)
führen nach Meinung des Verfassers zu einer fatalen gesellschaftlichen Konsequenz,
nämlich dem Dominanzanspruch dieses Lebensstils gegenüber alternativen Entwürfen.
925 Das Gewicht dieses Vorwurfs wird u.a. sprachlich erkennbar an der sentenzhaften
Formulierung der Kernaussage ,,Wer unbeweglich ist, [...] passt nicht in unsere Zeit“ (Z.
134 ff.).

2. Arbeitsanweisung
930 Die Schülerinnen und Schüler sollten Erscheinungsformen von Beweglichkeit aus
verschiedenen Bereichen zeigen wie z.B. Sport, Kommunikation, Freizeitgestaltung oder
Arbeitswelt, bevor sie mögliche Ursachen für Einschränkungen dieser Fähigkeit in den
Blick nehmen sowie Konsequenzen bedenken und bewerten. Erwartet wird die
Problematisierung des im Text dargestellten Sachverhalts und die überzeugende
935 Darlegung eines eigenen Standpunktes in Abgrenzung zur Position des Autors.
Für die Qualität entscheidend sind das Problembewusstsein, die Ergiebigkeit der Beispiele
sowie die Schlüssigkeit der Argumentation.
Aufgabe V: Analyse und Erörterung eines pragmatischen Textes
940
Schwerpunkt: Erörterung
Heiko Ernst
Erinnern im Zeitalter der Informationsverarbeitung
945 In: Psychologie heute. 3/2000, S. 3

Das gab uns zu denken, und wir wussten Themen, die unser Leben zunehmend
nicht so recht, ob wir gekränkt oder fasziniert 990 beherrschen. Um ihretwillen sind wir ge-
sein sollten: Ein Computer namens Deep genwarts- und zukunftsfixiert. Vergangenheit
950 Blue setzte das beste menschliche ist Ballast, und wer ihn möglichst schnell
Schachgehirn (Besitzer: Gary Kasparow) abwerfen kann, verbessert seine Chancen. Er
matt. Anscheinend gibt es nur noch wenige kann die Herausforderungen der sich schnell
geistige Fähigkeiten, die ein Elektronenhirn 995 verändernden Welt unbefangen und unbe-
nicht perfekt simuliert und übertrifft. Eine lastet annehmen. Der Schriftsteller Herwig
955 blieb bisher davon verschont – die Fähigkeit, Münkler meint, dass an die Stelle der
Daten und Informationen in eine erzählbare, Biografie die Drift trete, ,,ein Dahin-
unverwechselbare Geschichte zu verarbeiten. getriebensein, in dem es weder Zeit noch
Erst diese besondere menschliche Fertigkeit, 1000 strukturierte Geschichte gibt. Der Augenblick
meint der Kognitionsforscher Roger Schank, – und nur er – bestimmt Selbstwahrnehmung
960 ermögliche es, aus Wissen, Intelligenz und und Selbstbeschreibung des Menschen.“
Gedächtnis das zu destillieren, was wir mehr Symptomatisch für diese Drift ist unser
brauchen als alle drei zusammen: Sinn. Umgang mit ,,privaten“ Erinnerungen. In
Das gilt vor allem für die wichtigste 1005 Fotos und Videos halten wir beispielsweise
Geschichte, die wir überhaupt erzählen Urlaube und Familienfeste fest. Dabei setzt
965 können – die story unseres Lebens. Aber sich immer häufiger der japanische Modus
warum und wem sollten wir diese Geschichte durch: hinfahren, aussteigen, knipsen oder
erzählen? Wer nicht gerade an einen abfilmen, einsteigen, weiter zum nächsten
Psychoanalytiker geraten ist, der mit ihm die 1010 Highlight. Erst in der gelegentlichen
Steine der Vergangenheit umdreht – warum Nachbetrachtung wird das Erlebte wirklich.
970 sollte sich jemand ausführlich mit dem Wir speichern, statt zu erfahren. So verlieren
zurückliegenden Leben befassen? wir allmählich die Fähigkeit, überhaupt noch
Für Bewerbungen reicht meist ein knapper mit Vergangenheit umgehen zu können,
Lebenslauf, eher eine Lern- als eine Le- 1015 werden geschichtslos.
bensgeschichte. Was darüber hinausgeht, ist Um Bilder und Ereignisse zu Erinnerungen
975 doch Nabelschau und Nostalgie – oder? Sind verknüpfen zu können, braucht es nicht nur
Erfahrung, Erinnerung, Tiefe und Bindung die Bildfragmente, die in unseren Schub-
tatsächlich Themen, die buchstäblich abge- laden liegen, es braucht Erfahrungsfähigkeit.
wirtschaftet haben, weil sie als Kreativitäts- 1020 Wenn sie verkümmert, geht jedoch nicht nur
und Innovationsblockade gelten? Der das Gefühl für Identität verloren, sondern
980 Analytiker Martin Dornes meint: auch das für Gemeinschaft: Weil unsere
,,Vergangenheit wird zunehmend als Last Erinnerungen immer nur lückenhaft und
betrachtet, die man abwerfen muss, um die subjektiv sein können, müssen wir sie zu-
Zukunftsbewältigung zu beschleunigen.“ 1025 sammen mit anderen rekonstruieren: mit den
Mit dem Verlust der ,,großen Erzählungen“, Menschen, die ergänzen, korrigieren und
985 den die Philosophen der Postmoderne akzentuieren können. So entsteht erst das
konstatieren, hat offenbar auch die plastische, interessante und wahrhafte Bild
individuelle Lebensgeschichte an Bedeutung unserer selbst. Und erst durch gemeinsames
verloren. Leistung, Erfolg, Kontrolle sind die 1030 Erinnern werden wir Teil voneinander.
Nichts bindet Menschen so stark wie das Georg Gadamer fordert: Wenn uns Wahrheit
Band einer gemeinsamen Vergangenheit. und Wahrhaftigkeit noch etwas bedeuten,
Um unsere persönliche Geschichte erzählen sind wir zum Dialog, zum Gespräch über uns
zu können, brauchen wir also Koautoren. 1040 selbst aufgerufen – nicht zur Rhetorik und
1035 Für unsere Lebensgeschichte gilt deshalb in Selbstdarstellung.
besonderem Maße, was der Philosoph Hans

Aufgabenstellung:
1045
Fassen Sie die Kerngedanken des Autors zusammen und zeigen Sie, wie er sie
entwickelt.

Vergangenheit ist Ballast.“ – ,,Nichts bindet Menschen so stark wie das Band einer
1050 gemeinsamen Vergangenheit.“
Erörtern Sie diese Thesen und formulieren Sie ein begründetes Urteil.
1055 Hinweise auf mögliche Ergebnisse:

1. Arbeitsanweisung
Die Schülerinnen und Schüler könnten bei der Bearbeitung der ersten Aufgabe zunächst
auf das Leben der Menschen in der Leistungsgesellschaft Bezug nehmen, das vom Autor
1060 als zwangsläufig „gegenwarts- und zukunftsfixiert“ (Z. 44 f.) gekennzeichnet wird. Sie
könnten auch von der im Text zitierten heutigen Auffassung ausgehen, Vergangenheit sei
Ballast (Z. 45 f.). Der damit jeweils verbundene Bedeutungsverlust der individuellen
Lebensgeschichte leitet den Weg des modernen Menschen in die Geschichtslosigkeit im
Sinne Ernsts ein (Z. 20 ff.).
1065 „Geschichtslos“ selbst bezeichnet auch für ihn einen Zustand, in dem nach Herwig
Münkler ,,Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung des Menschen“ ausschließlich
vom ,,Augenblick“ bestimmt werden (Z. 54 f.). Da der ,,Augenblick“ isoliert abgespeichert
wird (vgl. Z. 60 ff.), gibt es keine Erfahrungen und Erinnerungen mehr. Der Mensch ist
unfähig geworden, die Daten und Fakten seines Lebens in eine zusammenhängende,
1070 individuelle Lebensgeschichte zu überführen (vgl. Z. 66 ff.). Typisch für den von Ernst so
charakterisierten geschichts-, weil biografielosen Menschen ist deshalb ,,ein
Dahingetriebensein, in dem es weder Zeit noch strukturierte Geschichte“ (Z. 52 ff.), kein
,,Gefühl für Identität“ und ,,Gemeinschaft“ (Z. 75 f.) mehr gibt. Nach Meinung des Autors
bedarf die Suche nach dem ,,wahrhafte(n) Bild unserer selbst“ (Z. 82 f.) auch der
1075 Ergänzung und Korrektur subjektiver Erinnerungen durch die Erinnerungen anderer
Menschen (vgl. Z. 76-81).

2. Arbeitsanweisung

1080 Geeignete Aspekte des Textes sollten in die Erörterung mit einbezogen werden. Für eine
fundierte Auseinandersetzung mit den Thesen sind auch aussagekräftige Beispiele aus
eigener Erfahrung heranzuziehen.
Es bleibt den Schülerinnen und Schülern überlassen, welche Position sie bei der
Erörterung beziehen, sofern diese überzeugend begründet ist.
1085 Für die Qualität entscheidend sind das Problembewusstsein, die Ergiebigkeit der Beispiele
sowie die Schlüssigkeit der Argumentation.

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