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Höhere Mathematik I

für Elektrotechniker und Physiker

Maria G. Westdickenberg und Michael Westdickenberg

1. April 2022
© Maria G. Westdickenberg and Michael Westdickenberg
All Rights Reserved, 2016

Please email comments and corrections to


maria@math1.rwth-aachen.de
Acknowledgements

These notes are based on the rst semester course on mathematics for students from Physics
and Electrical Engineering at the RWTH Aachen University. Many thanks go to Josef
Bemelmans for generously sharing the lecture notes that he had written while teaching
the course for many years at the RWTH. In addition, Till Knoke is gratefully acknowledged
for his help in compiling the original notes and creating the rst gures. We thank Harald
Günzel and Sebastian Noelle for additional comments on the document. We also gratefully
acknowledge Philippe Suchsland for his careful editing, expansion, and enhancement of the
notes during Summer Semester, 2016. Finally, thanks go to all of the students who have
asked and answered questions each term.
Inhaltsverzeichnis

1 Die reellen Zahlen 1


1.1 Mengen und Mengenschreibweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1.2 Eine axiomatische Beschreibung der reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.2.1 Die algebraischen Axiome von R. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.2.2 Die Anordnungsaxiome von R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
1.2.3 Das Vollständigkeitsaxiom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.3 Wohlordnungsprinzip und die vollständige Induktion . . . . . . . . . . . . . 22
1.4 Absolutbetrag und Abstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
1.5 Einige elementare Ungleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

2 Vektorräume 35
2.1 Der Vektorraum Rn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
2.2 Weitere Ungleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

3 Reelle Funktionen 44
3.1 Denition und erste Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
3.2 Die Umkehrfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
3.3 Neue Funktionen aus Alten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
3.4 Polynome und rationale Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
3.5 Trigonometrische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

4 Zahlenfolgen 62
4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
4.2 Allgemeine Konvergenz und Divergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
4.3 Die Exponentialfunktion und der Logarithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
4.4 Bolzano-Weierstraÿ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

5 Grenzwerte und Stetigkeit reeller Funktionen 94


5.1 Grenzwerte von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
5.2 Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
5.3 Eigenschaften stetiger Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
5.4 Gleichmäÿige Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

6 Dierentialrechnung 123
6.1 Lineare Approximation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
6.2 Die Ableitung in einem Punkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
6.3 Die abgeleitete Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
6.4 Rechenregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
6.5 Der Mittelwertsatz der Dierentialrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
6.6 Optimierungsprobleme, Monotonie und Konvexität . . . . . . . . . . . . . . 142
6.7 Randextrema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
6.8 Das Newtonsche Verfahren (reprise) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
6.9 Globale Optimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
6.10 Ableitung der Umkehrfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
6.11 Zusammenfassendes Beispiel mit Kurvendiskussion . . . . . . . . . . . . . . 157

7 Unendliche Reihen 158


7.1 Reihen reeller Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
7.2 Weitere Konvergenzkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
7.3 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
7.4 Taylor-Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
7.5 Eine Reihe von Beispielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

8 Lineare Algebra 182


8.1 Einleitung und erste Denitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
8.2 Lineare Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
8.3 Matrizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
8.4 Lineare Gleichungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
8.5 Matrixinverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
8.6 LU-Zerlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
8.7 Determinanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
8.8 Weitere Aufgaben in LA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

9 Klausur 218
9.1 Struktur der Klausur und Beispielaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
9.2 Weitere Klausurähnlichefragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
9.3 Formelblatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Appendices 224

A Notation 225

B Ausgewählte Lösungen zu den Übungen 226


B.1 Die reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
B.1.1 Eine axiomatische Beschreibung der reellen Zahlen . . . . . . . . . . 226
B.1.2 Einige Elementare Ungleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
B.2 Allgemeine Konvergenz und Divergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
B.3 Grenzwerte und Stetigkeit reeller Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
B.3.1 Grenzwerte von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
B.4 Unendliche Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
B.4.1 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
B.5 Lineare Algebra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
B.5.1 Einleitung und erste Denition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
B.5.2 Lineare Abbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
B.5.3 Lineare Gleichungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Kapitel 1
Die reellen Zahlen

1.1 Mengen und Mengenschreibweise


Wir werden sehr oft mit Mengen arbeiten. Eine Menge A ist eine Zusammenfassung von
Objekten (für uns, oft von Zahlen, aber manchmal auch von Funktionen oder Gleichungen).
Die Objekte, die zu einer Menge A gehören, heiÿen Elemente von A. Wenn x ein Element
von A ist, schreiben wir

x ∈ A.

Wir sagen, dass A das Element x enthält, dass x in A enthalten ist, oder, dass x zu A gehört.
Wenn x nicht zu A gehört, schreiben wir

x∈
/ A.

Für jedes Objekt x gilt entweder x∈A oder x∈


/ A.
Die Menge, die keine Elemente enthält, wird leere Menge genannt und mit ∅ bezeichnet.
Man kann eine Menge denieren, indem man die Elemente in der Menge aufzählt.

Beispiel.

A = {1, 3, 5}, B = {0, 1, 5, −1}.

Die geschweiften Klammern {. . .} zeigen an, dass wir es mit einer Menge zu tun haben.

Alternativ kann man Mengen denieren, indem man eine denierende Eigenschaft angibt.

Beispiel. Die Menge aller natürlichen Zahlen x, die die Gleichung x2 − 3x + 2 = 0 erfüllen.

{x : x ∈ N und x2 − 3x + 2 = 0}.

Der Doppelpunkt : zeigt an, dass danach die denierende Eigenschaft folgt.

Vier Mengen, die Sie schon kennen und mit denen wir oft arbeiten werden, sind

ˆ die natürlichen Zahlen: N = {1, 2, 3, 4, ...},

ˆ die ganzen Zahlen: Z = {0, 1, −1, 2, −2, ...},


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 2

ˆ die rationalen Zahlen:


 
p
Q = x: x = mit p, q ∈ Z und ̸ 0 ,
q=
q

ˆ die reellen Zahlen: (Darstellung als Dezimalbruch)

 
R = x : x = m, α1 α2 α3 . . . mit m∈Z und αi ∈ {0, 1, . . . , 9} .

Beispiel. 0, 5 ist eine rationale Zahl und eine reelle Zahl. 2 gehört zu N, Z, Q und R.

Bemerkung. Die Darstellung einer reellen Zahl als Dezimalbruch ist nicht eindeutig, zum
Beispiel sind 1, 000 . . . und 0, 999 . . . dieselbe Zahl, nämlich 1.

Jede natürliche Zahl ist auch eine ganze (rationale, reelle) Zahl. Das führt uns zu folgender

Denition 1.1.1: Teilmenge


Wenn jedes Element von A auch ein Element von B ist, dann sagen wir, A ist in B
enthalten oder A ist eine Teilmenge von B. Wir schreiben

A ⊆ B.

Bemerkung. Nützlich ist: A ist eine Teilmenge von B, falls gilt

x∈A =⇒ x ∈ B.

Hierbei bedeutet =⇒ impliziert oder zieht nach sich.

Beispiel. Betrachte die beiden Mengen

A = {x : x2 − x − 6 < 0 und x ∈ N}, B = {−1, 0, 1, 2, 3}.

Wir werden zeigen, dass A ⊆ B. Wenn x∈A ist, dann gilt (Nachrechnen)

x2 − x − 6 < 0 und x∈N


⇐⇒ −2 < x < 3 und x ∈ N,

also ist x=1 x = 2. In beiden Fällen gilt


oder auch x ∈ B. Also ist A ⊆ B.
Hierbei bedeutet ⇐⇒ genau dann, wenn oder ist äquivalent zu.

Im Beispiel oben ist A ⊆ B und A ist kleiner als B in dem Sinne, dass A weniger
Elemente enthält. Das Intervall (0, 1) ⊆ [0, 1] ist auch kleiner als [0, 1] in einem gewissen
Sinn, aber beide Mengen enthalten unendlich viele Elemente. Der Begri, den wir hier
formulieren möchten, ist der Begri einer echten Teilmenge.
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Denition 1.1.2: Gleichheit und echte Teilmenge


Wenn A und B genau die gleichen Elemente besitzen, dann sagen wir, dass A und B
gleich sind. Wir schreiben A = B . Wenn A ⊆ B und B ein Element enthält, das nicht
in A ist, dann sagen wir, dass A eine echte Teilmenge von B ist und wir schreiben

A ⊊ B.

Bemerkung (Notation). Manche Mathematiker schreiben A⊂B für A ist eine Teilmenge
von B. Manche Mathematiker schreiben A ⊂ B für A ist eine echte Teilmenge von B.
Wie immer in der Mathematik muss man die Notation präzise denieren und konsequent
benutzen. In diesem Kurs benutzen wir die Notation aus Denition 1.1.1 und 1.1.2.

Beispiel (Gleichheit). Zeigen Sie, dass

C := {x ∈ Z : x2 + y 2 < 2x + 8 und y ∈ Z}

gleich der Menge B ist, die wir im obigen Beispiel deniert haben. Wir bemerken, dass C
die Menge aller Zahlen beschreibt, die die x-Koordinate eines Paares ganzer Zahlen ist, das
in einem oenen Kreis mit dem Radius 3 und dem Ursprung (1, 0) liegt. Tatsächlich gilt

⇔ x2 + y 2 < 2x + 8 und x∈Z und y∈Z


⇔ (x − 1)2 + y 2 < 9 und x∈Z und y ∈ Z.
Hier wählen wir nun y = 0, da wir so den gröÿtmöglichen Bereich für x bekommen:

(x − 1)2 < 9 und x ∈ Z,


⇔ −2 < x < 4 und x ∈ Z.

Also ist C = {−1, 0, 1, 2, 3}, wie zu zeigen war.

Um Gleichheit zweier Mengen zu zeigen, ist die folgende Bemerkung oft sehr nützlich.

Bemerkung (Beweisen). Es gilt A=B genau dann, wenn

A⊆B und B ⊆ A. (1.1.1)

Beweis. Für jedes x bestehen nur die Möglichkeiten

(i) x∈A und x ∈ B,

(ii) x∈A und x∈


/ B,

(iii) x∈
/A und x ∈ B,

(iv) x∈
/A und x∈
/ B.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 4

Wir bemerken, dass

A⊆B ⇔ ∄x, so dass (ii) gilt,

und B⊆A ⇔ ∄x, so dass (iii) gilt.

Also gilt A⊆B und B ⊆ A genau dann, wenn jedes x entweder (i) oder (iv) erfüllt, was
A=B entspricht.

Wenn wir beweisen möchten, dass zwei Mengen gleich sind, ist es oft am einfachsten (1.1.1) in
zwei Schritten zu beweisen. Dies üben wir unten, nachdem wir an die Begrie von Vereinigung
und Schnitt erinnert haben.

Denition 1.1.3: Vereinigung und Schnitt


Die Vereinigung von A und B ist

{x : x ∈ A oder x ∈ B} =: A ∪ B.

Der Schnitt von A und B ist

{x : x ∈ A und x ∈ B} =: A ∩ B.

Bemerkung. In der vorigen Grak entspricht A∪B den Mengen (i), (ii) und (iii). A ∩ B
entspricht (i).

Beispiel. Zeigen Sie, dass

A ∩ (B ∪ C) = (A ∩ B) ∪ (A ∩ C). (1.1.2)

Lösung.

Sei x ∈ A ∩ (B ∪ C).
⇒ x ∈ A und x ∈ B ∪ C
⇒ x ∈ A und (x ∈ B oder x ∈ C)
⇒ (x ∈ A und x ∈ B) oder (x ∈ A und x ∈ C)
⇒ x ∈ A ∩ B oder x ∈ A ∩ C
⇒ x ∈ (A ∩ B) ∪ (A ∩ C).

Also gilt

A ∩ (B ∪ C) ⊆ (A ∩ B) ∪ (A ∩ C). (1.1.3)
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 5

Andersherum gilt

Sei x ∈ (A ∩ B) ∪ (A ∩ C).
⇒ x ∈ A ∩ B oder x ∈ A ∩ C
⇒ (x ∈ A und x ∈ B) oder (x ∈ A und x ∈ C)
⇒ x ∈ A und (x ∈ B oder x ∈ C)
⇒ x ∈ A und x ∈ B ∪ C
⇒ x ∈ A ∩ (B ∪ C).

Also gilt

(A ∩ B) ∪ (A ∩ C) ⊆ A ∩ (B ∪ C). (1.1.4)

Aus (1.1.3) und (1.1.4) schlieÿen wir (1.1.2).

Wir brauchen auch den Begri vom Komplement.

Denition 1.1.4: Komplement


Das Komplement von B in A ist

{x ∈ A : x ∈
/ B} =: A \ B.

Übung 1.1.5
Zeigen Sie, dass
(A \ B) \ C = A \ (B ∪ C).

Übung 1.1.6: DeMorgansche Gesetze


Zeigen Sie, dass

A \ (B ∪ C) = (A \ B) ∩ (A \ C),
A \ (B ∩ C) = (A \ B) ∪ (A \ C),

Bemerkung. Vereinigung und Schnitt können analog für mehr als zwei (beliebig viele)
Mengen deniert werden. Ebenso lassen sich die DeMorgansche Gesetze verallgemeinern.

1.2 Eine axiomatische Beschreibung der reellen Zahlen


In diesem Abschnitt schauen wir uns die reellen Zahlen aus einer axiomatischen Perspektive
an. Insbesondere listen wir die Axiome der reellen Zahlen auf. Diese Axiome sind die Eigenschaften
der reellen Zahlen, die wir als wahr annehmen. Dann fragen wir uns, welche weitere Eigenschaften
von R wir daraus schlieÿen können. Wir trennen die Axiome wie folgt
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 6

(i) algebraische Axiome

(ii) Anordnungsaxiome

(iii) das Vollständigkeitsaxiom.

1.2.1 Die algebraischen Axiome von R


Die Menge der reellen Zahlen ist ein Körper im folgenden Sinn.

Axiom

R zusammen mit Addition (bezeichnet mit +) und Multiplikation (bezeichnet mit ·)


erfüllt die folgenden Eigenschaften:
(G) (Geschlossenheit)
a+b∈R und a·b∈R für alle a, b ∈ R.
(A1) (Kommutativgesetz der Addition)
a+b=b+a für alle a, b ∈ R.
(A2) (Assoziativgesetz der Addition)
a + (b + c) = (a + b) + c für alle a, b, c ∈ R.
(A3) (Existenz eines neutralen Elements der Addition)
Es existiert eine Zahl 0 ∈ R, so dass für jedes a∈R gilt: a + 0 = a.
(A4) (Existenz eines inversen Elements der Addition)
Zu jedem a∈R existiert eine reelle Zahl b, so dass gilt: a + b = 0.
(M1) (Kommutativgesetz der Multiplikation)
a·b=b·a für alle a, b ∈ R.
(M2) (Assoziativgesetz der Multiplikation)
a · (b · c) = (a · b) · c für alle a, b, c ∈ R.
(M3) (Existenz eines neutralen Elements der Multiplikation)
Es existiert eine von 0 verschiedene Zahl 1∈R , so dass für jedes a∈R gilt:
a · 1 = a.
(M4) (Existenz eines inversen Elements der Multiplikation)
Zu jedem a∈R mit a ̸= 0 existiert eine reelle Zahl b, so dass gilt:
a · b = 1.
(D) (Distributivgesetz)
a · (b + c) = (a · b) + (a · c) für alle a, b, c ∈ R.

Bemerkung. Ein Körper ist eine Menge zusammen mit einer Addition + und einer Multipli-
kation ·, so dass (G), (A1)-(A4), (M1)-(M4) und (D) gelten. Welche der Körpereigenschaften
erfüllen N, Z, Q, R \ Q (mit +, · aus R)?

Bemerkung. Oft schreiben wir  ab anstatt  a · b. Wenn a·b+a·c oder ab + ac geschrieben
wird, interpretieren wir den Ausdruck als (a · b) + (a · c). Das heiÿt, wir folgen der Regel,
dass Multiplizieren zuerst ausgeführt wird.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 7

Ein Hauptziel der ersten Vorlesung ist zu verstehen, wie wir aus den 10 oben genannten
Axiomen Folgerungen ziehen. Zum Beispiel haben wir nicht angenommen, dass das neutrale
Element der Addition und das neutrale Element der Multiplikation eindeutig bestimmt sind.
Anstattdessen beweisen wir jetzt, dass Eindeutigkeit aus den algebraischen Axiomen folgt.
Ähnlich folgt, dass das zu a inverse Element der Addition und das zu a inverse Element der
Multiplikation eindeutig sind.

Satz 1.2.1: Eindeutigkeit


Es gilt folgendes.

(i) Das neutrale Element der Addition und das neutrale Element der Multiplikation
sind eindeutig bestimmt.

(ii) Wenn für a, b, c ∈ R gilt a+b=0 und a + c = 0, dann ist b = c.

(iii) Wenn für a, b, c ∈ R mit a ̸= 0 gilt a·b=1 und a · c = 1, dann gilt b = c.

Bemerkung. Angesichts der Eindeutigkeit ergibt es Sinn dem inversen Element einen Namen
zu geben:

ˆ das zu a inverse Element der Addition wird mit −a bezeichnet, und

ˆ das zu a inverse Element der Multiplikation wird mit a−1 1


oder a bezeichnet.

Ab jetzt denieren wir Subtraktion und Division durch

ˆ a − b := a + (−b),
a
ˆ := a · b−1 .
b

Beweis von Satz 1.2.1. zu (i) : Wir nehmen an, dass für 0, x ∈ R gilt

a+0=a und a+x=a

für alle a ∈ R. Dann gilt insbesondere

0 + x = 0.

Aus (A1) und (A3) folgt x = 0. Analog, wenn für 1 ̸= 0, x ̸= 0 gilt

a·1=a und a·x=a

für alle a ∈ R, dann gilt insbesondere

1 · x = 1.

Aus (M1) und (M3) folgt x = 1.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 8

zu (ii) : Angenommen, es gilt für irgendeine b, c ∈ R:

a+b=0 und a + c = 0. (1.2.1)

Also gilt
a+b = a+c
⇒ b + (a + b) = b + (a + c)
(1.2.1),(A2)
⇒ b+0 = (b + a) + c
(A3), (A1)
⇒ b = (a + b) + c
(1.2.1)
= 0+c
(A1)
= c+0
(A3)
= c.
zu (iii) : Übung

Bemerkung. Wir werden Eindeutigkeit sehr oft (wenn nicht immer) durch diese Methode
beweisen. (Man nimmt an, man hat zwei Elemente/Lösungen/... und zeigt, dass sie gleich
sind.)

Aus den algebraischen Axiomen kann man auÿerdem die üblichen algebraischen Regeln
der reellen Zahlen schlieÿen, zum Beispiel:

Satz 1.2.2
Es gilt

(i) a·0 =0 für alle a ∈ R,


(ii) −a = (−1) · a für alle a ∈ R,
(iii) −(−a) =a für alle a ∈ R,
2
(iv) (−1) =1
−1
(v) (a−1 ) =a für alle a ∈ R, a ̸= 0.

Beweis. zu (i) : Es gilt für alle a, b ∈ R


(D)
a · (b + 0) = a · b + a · 0
(A3)
⇒ a·b = a·b+a·0
(A4), (A1), (A2), (A3)
⇒ 0 = a · 0.
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zu (ii) : Für alle a∈R gilt:

a + (−a) = 0
(i)
= (1 − 1) · a
(D)
= 1 · a + (−1) · a
(M3)
= a + (−1) · a.

Daraus folgt insgesamt

−a + a + (−a) = −a + a + (−1) · a
(A1)
⇒ −a = (−1) · a.

zu (iii) : Es gilt a + (−a) = 0 (−a) + a = 0. Auÿerdem gilt (−a) +


und mit (A1) auch
(−(−a)) = 0. Mit Satz 1.2.1 (ii) folgt −(−a) = a.
zu (iv) : Mit (ii) für a = −1 folgt −(−1) = (−1)2 , andererseits folgt aus (iii) für
a = 1, dass −(−1) = 1.
zu (v) : Sei a ̸= 0 gegeben. Angesichts Satz 1.2.1 reicht es aus, wenn wir a−1 · a = 1
zeigen. Dies folgt aus
a · a−1 = 1
und (M1).

Noch praktischer ist die Folgerung, dass wir Gleichungen der Form

a+x=b oder a·x=b

lösen können.

Satz 1.2.3: Existenz von Lösungen


Seien a, b ∈ R gegeben.

(i) Es existiert genau eine reelle Zahl x, so dass

a + x = b.

(ii) Wenn a ̸= 0, dann existiert genau eine reelle Zahl x, so dass

a · x = b. (1.2.2)

Bemerkung. Das genau oben sagt uns, dass wir beweisen müssen, dass die Lösung eindeutig
deniert ist. Wir werden in einem Schritt Existenz einer Lösung zeigen und in einem zweiten
Schritt Eindeutigkeit der Lösung zeigen.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 10

Beweis von Satz 1.2.3. zu (i): Übung.


zu (ii): Schritt 1: Hier zeigen wir, dass es mindestens eine Zahl x gibt, so dass a·x = b.
Der natürliche Kandidat ist x := a−1 · b. Wir rechnen

a·x = a · (a−1 · b)
(M2)
= (a · a−1 ) · b
(M4)
= 1·b
(M1)
= b·1
(M3)
= b.

Also löst x die Gleichung (1.2.2).


Schritt 2: Angenommen, x und x̃ sind zwei Lösungen von (1.2.2). Wir möchten zeigen,
dass x = x̃. Aus a · x = b und a · x̃ = b erhalten wir
a · x = a · x̃
⇒ (a · x) · a−1 = (a · x̃) · a−1
(M1)
⇒ (x · a) · a−1 = (x̃ · a) · a−1
(M2)
⇒ x · (a · a−1 ) = x̃ · (a · a−1 )
(M4)
⇒ x · 1 = x̃ · 1
(M3)
⇒ x = x̃.

Exkurs: Die komplexen Zahlen


In der Elektrotechnik und Physik arbeiten Sie auch oft mit den komplexen Zahlen. Eine
komplexe Zahl kann als ein geordnetes Paar (x, y) reeller Zahlen mit folgender Addition und
Multiplikation dargestellt werden:

ˆ Addition: (x1 , y1 ) ⊕ (x2 , y2 ) := (x1 + x2 , y1 + y2 )

ˆ Multiplikation: (x1 , y1 ) ⊙ (x2 , y2 ) := (x1 · x2 − y1 · y2 , x1 · y2 + x2 · y1 ).

Der Körper der komplexen Zahlen wird mit C bezeichnet.

Bemerkung. Die Verknüpfungszeichen ⊕, ⊙ sind so gewählt um deutlich zu machen, dass


es sich nicht um die aus R bekannte Addition bzw. Multiplikation handelt. Später werden die
Verknüpfungen aber ebenfalls mit +, · bezeichnet werden.

Behauptung: C erfüllt (G), (A1)-(A4), (M1)-(M4) und (D).

Beispiel. Was ist das neutrale Element der Addition? Was ist das neutrale Element der
Multiplikation?
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 11

Lösung. (0, 0) und (1, 0). Man überprüft, dass

(x, y) ⊕ (0, 0) = (x + 0, y + 0)
(A3) für R
= (x, y),

und, dass

(x, y) ⊙ (1, 0) = (x · 1 − y · 0, x · 0 + y · 1)
(M3) für R, Satz 1.2.2 (i)
= (x − 0, 0 + y)
(A3) für R
= (x, y).

Bemerkung. Die algebraischen Axiome der reellen Zahlen werden benutzt um zu zeigen,
dass C (G), (A1)-(A4), (M1)-(M4) und (D) erfüllt. Das heiÿt, wir nehmen die Eigenschaften
für R an, aber wir zeigen, dass C die Eigenschaften erfüllt.
Sie können selber die verschiedenen Aussagen für C testen. Als Beispiel zeigen wir, dass

(x1 , y1 ) ⊙ ((x2 , y2 ) ⊙ (x3 , y3 )) = ((x1 , y1 ) ⊙ (x2 , y2 )) ⊙ (x3 , y3 ).


Es gilt:

(x1 , y1 ) ⊙ ((x2 , y2 ) ⊙ (x3 , y3 )) = (x1 , y1 ) ⊙ (x2 · x3 − y2 · y3 , x2 · y3 + x3 · y2 )


(D) aus R
= (x1 · x2 · x3 − x1 · y2 · y3 − (y1 · x2 · y3 + y1 · x3 · y2 ),
x1 · x2 · y3 + x1 · x3 · y2 + x2 · x3 · y1 − y2 · y3 · y1 )
Satz 1.2.2 (ii)
= (x1 · x2 · x3 − x1 · y2 · y3 − y1 · x2 · y3 − y1 · x3 · y2 ,
x1 · x2 · y3 + x1 · x3 · y2 + x2 · x3 · y1 − y2 · y3 · y1 )
(A1), (M1) aus R
= (x1 · x2 · x3 − y1 · y2 · x3 − x1 · y2 · y3 − x2 · y1 · y3 ,
x1 · x2 · y3 − y1 · y2 · y3 + x3 · x1 · y2 + x3 · x2 · y1 )
Andererseits gilt:

((x1 , y1 ) ⊙ (x2 , y2 )) ⊙ (x3 , y3 ) = (x1 · x2 − y1 · y2 , x1 · y2 + x2 · y1 ) ⊙ (x3 , y3 )


(D) aus R
= (x1 · x2 · x3 − y1 · y2 · x3 − (x1 · y2 · y3 + x2 · y1 · y3 ),
x1 · x2 · y3 − y1 · y2 · y3 + x3 · x1 · y2 + x3 · x2 · y1 )
Satz 1.2.2 (ii)
= (x1 · x2 · x3 − y1 · y2 · x3 − x1 · y2 · y3 − x2 · y1 · y3 ,
x1 · x2 · y3 − y1 · y2 · y3 + x3 · x1 · y2 + x3 · x2 · y1 )
Beide Seiten sind also gleich.
Wenn man

(1, 0) =: 1 reelle Einheit


(0, 1) =: i imaginäre Einheit
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 12

deniert, dann kann man eine komplexe Zahl z = (x, y) als

z = x + iy

schreiben. Da (0, 1) ⊙ (0, 1) = (0 − 1, 0 + 0) = (−1, 0), gilt die Regel

i2 = −1.

Denition 1.2.4
Für eine komplexe Zahl z = x + iy nennen wir x den Realteil und y den Imaginärteil
der Zahl. Wir schreiben dafür

x = ℜ(z), y = ℑ(z).

Die zu z komplex konjugierte Zahl ist x − iy und wird mit

bezeichnet.

Man bemerkt:

z + z̄ = 2 ℜ(z), z − z̄ = 2ℑ(z)i.

Wichtige Bemerkung: Da C (G), (A1)-(A4), (M1)-(M4) und (D) erfüllt, erhalten wir
umsonst, dass die Sätze 1.2.1 - 1.2.3 auch für C gelten. Das gilt allgemein für alle Sätze,
die aus den Axiomen folgen. Darin liegt der Vorteil, eine saubere, elementare Struktur zu
erkennen und zu benutzen.

1.2.2 Die Anordnungsaxiome von R


In diesem Abschnitt geht es darum, dass die reellen Zahlen geordnet sind.

Axiom

Für alle a, b, c ∈ R gilt:


(O1) (Trichotomie)
Eine und nur eine der folgenden Aussagen ist wahr:

a < b, b < a, a = b.
(O2) (Transitivität)
Wenn a<b und b<c ist, so gilt a < c.
(O3) (Monotoniegesetz der Addition)
Wenn a<b ist, so gilt a+c<b+c für alle c∈R
(O4) (Monotoniegesetz der Multiplikation)
Wenn a<b ist, so gilt a·c<b·c für alle c∈R mit c > 0.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 13

Man kann die folgenden Folgerungen beweisen:

Satz 1.2.5
Für reelle Zahlen a, b, c, d gilt:

(i) a+c<b+c ⇒ a < b.

(ii) a<b ⇔ a − b < 0.

(iii) a<0 ⇔ −a > 0.

(iv) a<b ⇔ −a > −b.

(v) a<b und c<d ⇒ a + c < b + d.

(vi) a·b>0 ⇔ entweder a>0 und b>0 oder a<0 und b < 0.

(vii) a·a>0 für alle a∈R mit a ̸= 0. Insbesondere gilt 1 > 0.

Notation 1.2.6
Gilt für eine Zahl a ∈ R, dass a > 0 (bzw. a < 0), dann nennen wir a positiv (bzw.
negativ). Ein a ∈ R mit a ≥ 0 (bzw. a ≤ 0) nennen wir nichtnegativ (bzw. nichtpositiv).

Als Beispiel zeigen wir (vi) . Wenn wir eine genau dann, wenn-Aussage beweisen möchten,
werden wir oft erst eine und danach die andere Richtung zeigen. Dies üben wir jetzt.

Beweis. Schritt 1: (Rückrichtung) Zu zeigen ist: Wenn a, b beide positiv oder beide
negativ sind, dann ist das Produkt a·b positiv.
Fall 1: Wir zeigen: Wenn a>0 und b > 0, dann gilt a · b > 0.
Da b>0 ist, schlieÿen wir aus 0 < a und (O4), dass

0·b < a·b


(M1), Satz 1.2.2 (i)
⇒ 0 < a · b.

Fall 2: Wir zeigen: Wenn a<0 und b < 0, dann gilt

a · b > 0.

Jetzt können wir (O4) nicht direkt anwenden, da b nicht positiv ist. Zuerst zeigen wir,
dass das zu b inverse Element der Addition doch positiv ist (Teil (iii) von Satz 1.2.5).
Nach (O3) gilt
b + (−b) < 0 + (−b)
(A1), (A3)
⇒ b + (−b) < −b
(A4)
⇒ 0 < −b.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 14

Also erhalten wir aus a<0 und (O4), dass

a · (−b) < 0 · (−b) = 0. (1.2.3)

Andererseits bemerken wir, dass a · (−b) das zu a·b inverse Element der Addition ist:

(D)
a · b + a · (−b) = a · (b − b) = 0 (1.2.4)
⇒ a · (−b) = −(a · b).

Aus (1.2.4) und (1.2.3) schlieÿen wir −(a · b) < 0, woraus folgt (wie oben), dass
a · b > 0.
Also impliziert a>0 und b>0 oder a<0 und b < 0, dass a · b > 0.
Schritt 2: (Hinrichtung)
Hier ist zu zeigen, dass a·b>0 impliziert a>0 und b>0 oder a<0 und b < 0.
Nach (O1) gibt es neun Fälle:
entweder a>0 und b>0
oder a>0 und b=0
oder a>0 und b<0
oder a=0 und b>0
oder a=0 und b=0
oder a=0 und b<0
oder a<0 und b>0
oder a<0 und b=0
oder a<0 und b < 0.

Wenn a>0 und b < 0, dann gilt

(O4)
a·b=b·a < 0·a
(M1)
= a·0
Satz 1.2.2 (i)
= 0.

Analog, wenn a<0 und b > 0. Also bleiben nur die einzige Möglichkeiten a, b > 0 oder
a, b < 0.
Prüfen Sie, ob Sie die anderen Aussagen aus Satz 1.2.5 beweisen können.

Bemerkung. Eine Anordnung mit den Eigenschaften (O1)-(O4) kann es für die komplexen
Zahlen nicht geben, denn Satz 1.2.5 (vii) würde implizieren

z2 > 0 für alle z∈C mit z ̸= 0,


insbesondere

1 = 12 > 0 (1.2.5)

−1 = i2 > 0, (1.2.6)

aber nach Satz 1.2.5 (iii) impliziert (1.2.6), dass

1 < 0, (1.2.7)
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und (1.2.5) und (1.2.7) widerspricht (O1).

1.2.3 Das Vollständigkeitsaxiom


Jetzt kommen wir zum tieferen Teil. Die Frage ist, ob die reellen Zahlen oder z.B. die
rationalen Zahlen vollständig sind. Was soll das heiÿen?
Grob gesagt möchte man wissen, ob es Löcher gibt im Zahlenstrahl oder, im Gegenteil,
ob es an jeder Stelle, wo man eine reelle/rationale Zahl erwartet, auch immer eine reelle/rationale
Zahl gibt.
Das Vollständigkeitsaxiom (ein Axiom, also eine Annahme!) sagt, dass die reellen Zahlen
in der Tat vollständig sind. Man würde vielleicht hoen, dass wir dies beweisen könnten.
Aber wir müssen es stattdessen annehmen.
Zuerst bemerken wir, dass die rationalen Zahlen Löcher haben. Besser gesagt: Es gibt
Punkte auf der Zahlengeraden, die keiner rationalen Zahl entsprechen.

Lemma 1.2.7 (Q nicht vollständig). Es gibt kein r ∈ Q, so dass r2 = 2 gilt.

Bemerkung. Wir werden einen indirekten Beweis schreiben. Sobald Sie einen direkten
Beweis schreiben können, machen Sie es. Sie sind oft nützlicher und leichter zu verstehen.
Wenn Sie keinen direkten Weg nden, probieren Sie einen indirekten Beweis.

Beweis. Angenommen, r∈Q erfüllt r2 = 2. Dann existieren p, q ∈ N, so dass

p2
= 2. (Warum?)
q2
Also gilt
p2 = 2q 2 . (1.2.8)

Wir dürfen annehmen (warum?), dass p und q keine gemeinsamen Faktoren haben.
2 2
Nach (1.2.8) ist p gerade. Wenn p ∈ N ist und p gerade ist, dann ist p gerade. (Warum?)
2 2 2 2 2
Aber dann impliziert (1.2.8), dass q gerade ist mit p = 4 · s , s ∈ N ⇒ 2 · s = q . Wir
schlieÿen daraus, dass q gerade ist, was widerspricht, dass p und q keine gemeinsamen
Faktoren haben.

Übung 1.2.8
Gibt es eine rationale Zahl r, so dass

r2 = 3?
r2 = 4?

Um das Vollständigkeitsaxiom von R zu formulieren, brauchen wir ein paar zusätzliche


Begrie.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 16

Denition 1.2.9: Beschränkt


Die nichtleere Menge A ⊆ R heiÿt von oben beschränkt (oder: nach oben beschränkt),
falls es eine Zahl s ∈ R gibt, so dass

x≤s für alle x ∈ A.

Dann nennen wir s eine obere Schranke von A. Falls es keine solche Zahl gibt, dann
sagen wir, dassA nach oben unbeschränkt ist.
Die Menge A heiÿt von unten beschränkt (oder: nach unten beschränkt), falls es eine
Zahl s ∈ R gibt, so dass
x≥s für alle x ∈ A.

Dann nennen wir s eine untere Schranke von A. Falls es keine solche Zahl gibt, dann
sagen wir, dass A nach unten unbeschränkt ist.
Wenn A eine obere und eine untere Schranke besitzt, dann sagen wir, dass A
beschränkt ist.
Wenn A nach oben oder nach unten unbeschränkt ist, dann sagen wir, dass A
unbeschränkt ist.

Bemerkung. Nach der Denition ist jede Menge beschränkt oder unbeschränkt.

Beispiel. Sind die folgenden Mengen nach oben/unten beschränkt? Wenn ja, was ist eine

O
obere/untere Schranke der Menge?

1 {1, 2, 5, 9}
O2 (0, 5]
O3 (−∞, 9) ∪ (8, 10)
O4 Q
O5 x ∈ R : x = 1 + n1 , n ∈ N .


Man merkt, dass die obere Schranke einer (beschränkten) Menge nicht eindeutig deniert
ist. Z.B. ist 6 eine obere Schranke von (0, 5], aber das Gleiche gilt auch für 5 und 7. In der
Tat gilt: wenn s eine obere Schranke von einer Menge A ist, dann gilt das auch für

s+n für jedes n ∈ N.


Trotzdem glaubt man, dass es eine beste obere Schranke einer Menge gibt (z.B. bzgl. (0, 5]
scheint 5 besser als 6 oder 7 zu sein). Diese Intuition führt zu folgender Denition:

Denition 1.2.10: Supremum/Inmum einer Menge


Sei A⊆R nicht leer und nach oben beschränkt. Dann heiÿt s∈R die kleinste obere
Schranke von A oder das Supremum von A, wenn gilt:

(i) x≤s für alle x ∈ A,

(ii) x ≤ s′ für alle x∈A =⇒ s′ ≥ s.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 17

Wir schreiben
s = sup A.
Analog: Sei A⊆R nicht leer und nach unten beschränkt. Dann heiÿt s∈R die gröÿte
untere Schranke von A oder das Inmum von A, wenn gilt:

(i') x≥s für alle x ∈ A,

(ii') x ≥ s′ für alle x∈A =⇒ s′ ≤ s.

Wir schreiben
s = inf A.
Wenn die nichtleere Menge A⊆R nicht nach oben beschränkt bzw. nicht nach unten
beschränkt ist, dann ist

sup A := +∞ bzw. inf A := −∞.

Für die leere Menge denieren wir auÿerdem

sup ∅ := −∞ und inf ∅ := +∞.

Bemerkung. (i) und (ii) besagen, dass s eine obere Schranke von A ist und dass alle anderen
oberen Schranken gröÿer gleich s sind.

Bemerkung (Eindeutigkeit). Seien s1 , s2 A.


s1 Supremum von A ist und
Suprema von Da
s2 eine obere Schranke von A, folgt aus der Denition, dass s2 ≥ s1 . Analog ist s2 Supremum
und s1 obere Schranke, so dass s1 ≥ s2 . Aus der Kombination der Ungleichungen folgt die
Gleichheit s1 = s2 .

Wenn wir mit Suprema arbeiten, hilft es manchmal die folgende alternative Charakterisierung
zu benutzen.

Lemma 1.2.11. Es sei A ⊆ R eine nichtleere Menge. Genau dann ist eine Zahl s∈R das
Supremum von A (also s = sup A), wenn gilt:

(i)' Es existiert kein x ∈ A, so dass s < x, und

(ii)' Wenn für ein s′ ∈ R gilt s′ < s, dann existiert ein x ∈ A, so dass x > s′ .

Beweis. Wie im Beweis zu Satz 1.2.5(vi) beweisen wir beide Richtungen.


 ⇐ Angenommen, s erfüllt (i)' und (ii)' . Nach (i)' ist s eine obere Schranke von
A. Nach (ii)' gilt: wenn s′ < s ist, dann ist s′ keine obere Schranke von A. (Also gilt (ii)
in Denition 1.2.10). Damit ist die Rückrichtung bewiesen.
 ⇒ Angenommen s = sup A. (i)' folgt aus (i) aus Denition 1.2.10. Wir formulieren
(ii) aus Denition 1.2.10 als

wenn s′ erfüllt, dass s′ ≥ x für für alle x ∈ A, dann gilt s′ ≥ s.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 18

Diese Aussage ist äquivalent zu

wenn s′ < s, dann existiert ein x ∈ A, so dass x > s′ .

Also haben wir (ii)' gezeigt.

Wir betrachten jetzt die Mengen

A = (0, 5], B = (0, 5). (1.2.9)

A und B sind nach oben beschränkt und haben beide das Supremum 5. Der Unterschied ist,
dass A sein Supremum enthält.

Denition 1.2.12: Maximum/Minimum einer Menge


Wenn das Supremum einer Menge A zu A gehört (also sup A ∈ A), dann nennen wir es
das Maximum von A. Wenn das Inmum einer Menge A zu A gehört (also inf A ∈ A),
dann nennen wir es das Minimum von A.

Also besitzt in (1.2.9) B kein Maximum. Analog besitzen beide Mengen kein Minimum.
Man könnte enttäuscht sein, dass die nach oben beschränkte Menge (0, 5) kein Maximum
besitzt. Wichtig ist, dass jede nach oben beschränkte (nichtleere) Menge ein Supremum
besitzt. (Glauben Sie, dass das gilt?) Dies ist unser letztes Axiom über R.

Axiom

(V) Vollständigkeitsaxiom: Jede nach oben beschränkte, nichtleere Menge A ⊆ R


besitzt eine kleinste obere Schranke (ein Supremum) s ∈ R.

Bemerkung. Vorsicht!!! Hier bedeutet  A besitzt s nicht, dass s zu A gehört! Das Axiom
sagt nur, dass eine reelle Zahl s existiert, die das Supremum von A ist.
Es reicht aus, dies für das Supremum anzunehmen, weil die analoge Aussage für das
Inmum daraus folgt, wie wir im folgenden Lemma zeigen.

Lemma 1.2.13. Jede nach unten beschränkte nichtleere Menge B ⊆R besitzt eine gröÿte
untere Schranke (ein Inmum) σ ∈ R.

Beweis. Sei B eine nach unten beschränkte nichtleere Menge. Wir denieren A :=
{−x̃ : x̃ ∈ B}. Dann gilt A ̸= ∅ und A ist nach oben beschränkt.

⌈ Da B nach unten beschränkt ist, existiert eine Zahl m ∈ R, so dass x̃ ≥ m


für alle x̃ ∈ B .
Es gilt −x̃ ≤ −m für alle x̃ ∈ B
⇒ x ≤ −m für alle x ∈ A.
⌊ ⇒ A ist nach oben beschränkt.

Nach dem Vollständigkeitsaxiom existiert das Supremum von A. Das heiÿt, es existiert
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 19

ein s ∈ R, so dass

x ≤ s für alle x ∈ A, (1.2.10)

und, wenn x ≤ s̃ für alle x ∈ A, dann gilt s̃ ≥ s. (1.2.11)

Wir zeigen jetzt, dass


σ := −s (1.2.12)

das Inmum von B ist. Als erstes bemerken wir, dass für jedes x̃ ∈ B gilt:

x̃ = −x für ein x∈A


(1.2.10)
≥ −s
(1.2.12)
= σ.

Also ist σ eine untere Schranke von B. Dennoch bemerken wir, dass, wenn x̃ ≥ σ̃ für
alle x̃ ∈ B und ein σ̃ ∈ R, dann gilt

σ̃ ≤ −x für alle x∈A


⇒ −σ̃ ≥ x für alle x∈A
(1.2.12)
⇒ −σ̃ ≥ s = −σ, weil s = sup A
⇒ σ̃ ≤ σ.

Also ist σ in der Tat das Inmum von B.

Obwohl man enttäuscht sein kann, dass B := (0, 5) sein Supremum nicht enthält, ist die
gute Nachricht, dass wir das Supremum mit Elementen der Menge B so gut wie gewünscht
approximieren können. Oft reicht uns eine gute Approximation.

Satz 1.2.14: Approximationseigenschaft des Supremums


Sei A ⊆ R eine nichtleere nach oben beschränkte Menge und s = sup A. Dann gibt es
zu jedem y < s ein x ∈ A, so dass gilt

y < x ≤ s. (1.2.13)

Beweis. Wenn s∈A ist, wählen wir x = s und dann gilt (1.2.13) für jedes y < s.
Jetzt betrachten wir den Fall s ∈
/ A. Wenn (1.2.13) falsch wäre, würde y∗ ∈ R
existieren mit y∗ < s, so dass y∗ ≥ x für alle x ∈ A. Dies widerspricht, dass s die
kleinste obere Schranke von A ist.

Wichtig sind auch die folgenden Folgerungen:

Lemma 1.2.15. Die Menge N besitzt keine obere Schranke.

Lemma 1.2.16 (Satz von Archimedes). Für jedes Paar positiver, reeller Zahlen x, y existiert
ein n ∈ N, so dass
nx > y.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 20

Korollar 1.2.17 (Satz von Eudoxos). Für jede positive reelle Zahl x existiert ein n ∈ N, so
dass
1
< x.
n

Beweis zu Lemma 1.2.15. Wir nehmen an, es gäbe eine obere Schranke s̃ ∈ R. Nach (V)
gibt es dann eine kleinste obere Schranke s ∈ R. Nach Satz 1.2.14 existiert ein n ∈ N,
so dass
s − 1 < n ≤ s.
Dies impliziert n + 1 > s. Auÿerdem gilt n + 1 ∈ N. Dies widerspricht, dass s eine obere
Schranke von N ist.

Wie folgt Lemma 1.2.16 aus Lemma 1.2.15? Wenn die Aussage in Lemma 1.2.16 nicht
y
gelte, gäbe es ein Paar positiver, reeller Zahlen x, y , so dass n ≤ für alle n ∈ N. Also wäre
x
y
eine obere Schranke von N.
x
Wie folgt Korollar 1.2.17 aus Lemma 1.2.16?
Wir werden Korollar 1.2.17 sehr oft benutzen, z.B., wenn wir Folgen konstruieren. Lemma
1.2.16 kann man anwenden, um die folgende wichtige Tatsache zu beweisen.

Satz 1.2.18: Dichtheit von Q in R


Für jedes Paar x, y ∈ R mit x<y existiert ein q ∈ Q, so dass

x < q < y.

Satz 1.2.18 drückt aus, dass auch wenn Q nicht vollständig ist, es genügend rationale
Zahlen gibt, so dass wir jede reelle Zahl beliebig gut approximieren können. (Nehmen Sie
x ∈ R. Es existiert eine rationale Zahl q1 ∈ [x−1/10, x], eine rationale Zahl q2 ∈ [x−1/100, x],
und so weiter. Das beantwortet die Frage, ob es Löcher gibt. Diese Eigenschaft wendet man
jedes Mal an, wenn man π zum Beispiel durch eine rationale Zahl mit gewünschter Präzision
approximiert.
Den Beweis überspringen wir, aber die Werkzeuge dafür sind Lemma 1.2.16, Korollar 1.2.17
und das Wohlordnungsprinzip, das wir im Abschnitt 1.3 einführen.

Jetzt benutzen wir (V) um zu beweisen, dass  2 existiert.

Lemma 1.2.19. Es gibt eine positive reelle Zahl r, so dass

r2 = 2.

Wir schreiben r= 2.
Beweisidee: Wir werden r als Inmum einer geeigneten Menge denieren. Dann werden
wir r2 > 2 und r2 < 2 ausschlieÿen. Aus (O1) wird folgen, dass r2 = 2 gilt. Überlegen Sie
2
sich: Was würde passieren, wenn r echt gröÿer als 2 wäre? Wenn es echt kleiner als 2 wäre?
Im ersten Fall werden wir zeigen, dass es ein x in der Menge gibt, s.d. x<r (widerspricht,
dass r eine untere Schranke der Menge ist). Im zweiten Fall werden wir zeigen, dass es eine
untere Schranke der Menge gibt, die gröÿer als r ist (Widerspruch zum zweiten Teil der
Denition von Inmum).
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 21

Beweis. Sei A := {x ∈ R : x > 0 und x2 > 2}. Da 2 ∈ A gilt, ist A nicht leer. Da 0 eine
untere Schranke von A ist, existiert nach (V) eine gröÿte untere Schranke. Wir nennen
diese Zahl r . Es ist klar, dass r ≥ 0 und auch, dass r > 0 gilt. Jetzt möchten wir zeigen,
dass
r2 = 2.
Fall 1: Angenommen, r2 > 2. Dann existiert ein ε > 0, so dass r2 = 2 + ε. Wir denieren
n εo
ε̃ := min 2r, . (1.2.14)
r
Dann ist ε̃ > 0. Wir denieren
ε̃
x := r − .
2
Man merkt, dass

x > 0, (1.2.15)

x < r. (1.2.16)

Auÿerdem gilt

 2
2 ε̃
x = r−
2
ε̃2
= r2 − ε̃r +
4
> r2 − ε̃r (weil ε̃ > 0)
= 2 + ε − ε̃r (Denition von ε)
(1.2.14) ε
≥ 2+ε−ε (weil ε̃ ≤ )
r
= 2. (1.2.17)

Nach (1.2.15) und (1.2.17) erhalten wir x ∈ A. Dann widerspricht (1.2.16), dass r eine
untere Schranke von A ist.
2
Fall 2: Angenommen, r < 2. Wir denieren

ε := 2 − r2 , (1.2.18)
n ε o
ε̃ := min ε, , 1 , (1.2.19)
2r
ε̃
x := r + .
2
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 22

Dann ist ε̃ > 0 und x > r. Auÿerdem gilt

 2
2 ε̃
x = r+
2
ε̃2
= r2 + rε̃ +
4
(1.2.19) ε ε
≤ r2 + +
2 4
(1.2.18) 3ε
= 2−ε+
4
< 2.

Also ist x<y für alle y ∈ A. Aber dann ist x eine untere Schranke von A, und x>r
widerspricht, dass r die gröÿte untere Schranke von A ist.

Analog zeigt man, dass es für jedes x ∈ [0,√∞) eine nicht negative, reelle Zahl gibt, deren
Quadrat gleich x ist. Diese Zahl nennen wir x.
Lemma 1.2.20. Für jedes x ∈ [0, ∞) gibt es genau ein r ∈ [0, ∞), so dass r die Gleichung
2
r =x löst.

Denition 1.2.21
2
Wenn für x ∈ [0, ∞) die Zahl r ∈ [0, ∞) √
die Gleichung r = x löst, dann nennen wir r
die Wurzel von x und wir schreiben r =: x.

Wir nennen die Abbildung x 7→ x die Wurzelfunktion.

1.3 Wohlordnungsprinzip und die vollständige Induktion


Die vollständige Induktion ist ein sehr nützliches Hilfsmittel für Beweise, und wir werden sie
sehr oft anwenden. (Übrigens ist vollständige Induktion eine gute Klausurfrage.)
Unser letztes Axiom ist:

Axiom

(W) Wohlordnungsprinzip: Jede nichtleere Menge natürlicher Zahlen besitzt ein


Minimum.

Wie schon erwähnt, verwendet man (W), wenn man die Dichtheit von Q in R beweist.
Auÿerdem ist das Axiom die Grundlage des Prinzips der vollständigen Induktion:

Satz 1.3.1: Prinzip der vollständigen Induktion


Es sei A⊆N eine Menge mit den folgenden Eigenschaften:

(i) 1 ∈ A;
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 23

(ii) für alle n∈N gilt


n∈A =⇒ n + 1 ∈ A.

Dann gilt A = N.

Beweis. Angenommen die Aussage ist falsch, dann ist die Menge

E := N \ A = {n ∈ N : n ∈ ̸ ∅.
/ A} =

Dann besitztE nach (W) ein Minimum, das wir m nennen. Nach (i) ist m ̸= 1. Nach
m ∈ E und m > 1 ist nach (ii) m − 1 ∈ E . Aber m − 1 < m und m − 1 ∈ E widerspricht,
dass m das Mimimum von E ist.

Bemerkung. Falls n0 ∈ A und (ii) für n ≥ n0 gilt, dann enthält A alle n∈N mit n ≥ n0 .
Beispiel. Zeigen Sie, dass

N 2 · (N + 1)2
13 + 23 + ... + N 3 = (1.3.1)
4
für jedes N ∈N gilt.

Beweis. Schritt 1: (Base case oder Induktionsanfang.) Für N =1 gilt

12 · (1 + 1)2
13 = 1 = .
4
Also ist (1.3.1) für N =1 wahr.
Schritt 2: (Induktionsschritt.) Wir nehmen an, dass (1.3.1) für eine gegebene natürliche
Zahl n gilt.
Unsere Arbeit: Wir müssen zeigen, dass (1.3.1) auch für n+1 gilt. Wir rechnen:

n2 · (n + 1)2
13 + 23 + ... + n3 + (n + 1)3 = + (n + 1)3 nach Annahme
4 
n2 + 4(n + 1)

2
= (n + 1) ·
4
2
n + 4n + 4
= (n + 1)2 ·
4
(n + 1)2 · (n + 2)2
= ,
4
also erfüllt n+1 die Gleichung (1.3.1). Nach dem Prinzip der vollständigen Induktion
gilt (1.3.1) für jedes N ∈ N.

Bemerkung. Wir haben eben gezeigt, dass die Folge

a1 = 1 3
a2 = 1 3 + 2 3
a3 = 1 3 + 2 3 + 3 3
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 24

entweder durch die rekursive Denition

a1 = 13 , an = an−1 + n3

oder durch die explizite Denition

n2 (n + 1)2
an =
4
deniert werden kann.

Wir wenden das Prinzip der vollständigen Induktion jetzt an, um die binomische Formel
zu beweisen. Zunächst erinnern wir an die Binomialkoezienten.

Denition 1.3.2
Für n ∈ N denieren wir die Fakultät als n! := 1 · 2 · · · · · (n − 1) · n und 0! := 1. Für
n ∈ N und k ∈ {0, 1, . . . , n} sind die Binomialkoezienten deniert durch
 
n n!
:= .
k k!(n − k)!
 
0
Auÿerdem setzen wir := 1.
0

Wir erinnern uns an das Pascalsche Dreieck

1
1 1
1 2 1 (1.3.2)
1 3 3 1
1 4 6 4 1
. . . (usw.)
           
0 1 1 2 2 2
in dem die Binomialkoezienten = 1, = = 1, = 1, = 2, =1
0 0 1 0 1 2
in gleicher Reihenfolge vorkommen. Das folgende Lemma drückt aus, dass das (k + 1)-te
 
n
Element der (n + 1)-ten Reihe des Dreiecks gleich dem Binomialkoezienten ist.
k
Lemma 1.3.3. Für n∈N und k ∈ {1, 2, ..., n} gilt
     
n+1 n n
= + .
k k−1 k

Beweis. Übung.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 25

Notation 1.3.4
Für x∈R denieren wir

x0 := 1, xn := |x · x {z
· ... · x} .
n mal

Für x1 , ..., xn ∈ R schreiben wir

n
X
xk := x1 + x2 + ... + xn .
k=1

Satz 1.3.5: Binomische Formel


Für x, y ∈ R und n∈N gilt

n  
n
X n
(x + y) = xn−k y k .
k
k=0

Beweis. Übung.

1.4 Absolutbetrag und Abstand


Wir schauen uns jetzt die Eigenschaften des Absolutbetrags und des Abstands an, erstens,
weil wir diese Eigenschaften sehr oft benutzen werden und zweitens, weil sie die gleiche
n
Struktur haben wie die, die wir später in R und in allgemeineren Vektorräumen erkennen
werden.

Denition 1.4.1
Der Absolutbetrag |x| einer reellen Zahl x ist durch


|x| := x·x (1.4.1)

deniert.

Bemerkung. Wegen x·x≥0 ist (1.4.1) für alle x∈R wohldeniert.

Bemerkung. Man merkt


√ 
x x≥0
2
x =
−x x < 0.
Bemerkung. Für z∈C gilt analog

|z| := z ⊙ z,
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 26

wobei ⊙ die Multiplikation der komplexen Zahlen darstellt. Man bemerkt, dass für z = x + iy
gilt p
|z| = x2 + y 2 .

Satz 1.4.2
Der Absolutbetrag hat die folgenden Eigenschaften:

ˆ Positive Denitheit:

|x| ≥ 0 für alle x ∈ R, |x| = 0 ⇐⇒ x = 0. (1.4.2)

ˆ Homogenität:
|α · x| = |α| · |x| für alle α∈R und x ∈ R. (1.4.3)

ˆ Dreiecksungleichung:

|x + y| ≤ |x| + |y| für alle x, y ∈ R. (1.4.4)

Abbildung 1.1: Wo der Name Dreiecksungleichung herkommt, merkt man in einer Dimension
2
nicht. Wir werden später zeigen, dass sie auch in R gilt, wo man doch den Sinne des Namens
2
versteht. Das obige Bild stellt die Dreiecksungleichung in R dar.

Übung 1.4.3
Wann ist |x + y| = |x| + |y| für x, y ∈ R?

Bemerkung. Im Allgemeinen denieren die Eigenschaften (1.4.2)-(1.4.4) eine sogenannte


Norm. Später werden wir verschiedene Normen auf Rn anschauen.

Beweis von Satz 1.4.2. zu (1.4.2): Nach Satz 1.2.5 (vii) ist

x·x>0 für alle x ∈ R, x ̸= 0.

Es folgt
|x| > 0 für alle x ̸= 0.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 27

Nach Satz 1.2.2 gilt |x| = 0 für x = 0.


zu (1.4.3): Wir betrachten nacheinander die drei Möglichkeiten

α · x = 0, α · x > 0, α · x < 0.

Wenn α · x = 0, dann gilt


|α · x| = 0. (1.4.5)

Andererseits ist α·x=0 genau dann, wenn

α=0 oder x = 0,

also gilt
(1.4.5)
|α| · |x| = 0 = |α · x|.
Wenn α · x > 0, dann gilt

|α · x| = α · x. (1.4.6)

Auÿerdem haben α und x das gleiche Vorzeichen (Satz 1.2.5). Es folgt, dass

entweder α<0 und x<0 oder α>0 und x>0

gelten muss, so dass

|α| = −α und |x| = −x oder |α| = α und |x| = x,

und damit in beiden Fällen

(1.4.6)
|α| · |x| = α · x = |α · x|.

Der Fall α·x<0 funktioniert genauso.


p p
zu (1.4.4): Aus |x + y| = (x + y)2 = x2 + 2xy + y 2 erhalten wir

|x + y|2 = x2 + 2xy + y 2 . (1.4.7)

Andererseits ist

(|x| + |y|)2 = |x|2 + 2|x| · |y| + |y|2


= x2 + 2|x| · |y| + y 2 . (1.4.8)

Da x · y ≤ |x| · |y| ist, folgt (1.4.4) aus (1.4.7) und (1.4.8).

Die Dreiecksungleichung ist eine sehr wichtige Ungleichung, und Sie werden diese Ungleichung
n
(in R, R , C) sehr oft anwenden.
Ein Fehler, der manchmal vorkommt, ist aus

x<y
und dem Monotoniegesetz der Addition zu behaupten, dass

|x + z| < |y + z|.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 28

Ein Gegenbeispiel ist x = −10, y = 1, z = 2. Allerdings gelten folgende Ungleichungen:

Korollar 1.4.4. Für alle x, y ∈ R gilt

|x − y| ≥ |x| − |y|,

|x| − |y| ≤ |x − y| (umgekehrte Dreiecksungleichung).

Beweis. Die erste Ungleichung folgt aus (1.4.4) angewendet auf

x̃ = y, ỹ = x − y,

so dass
|x̃ + ỹ| ≤ |x̃| + |ỹ| ⇒ |x| ≤ |y| + |x − y|.
Für die zweite Ungleichung kombinieren wir

|x| − |y| ≤ |x − y|

und
|y| − |x| ≤ |x − y| ⇒ |x| − |y| ≥ −|x − y|
um zu schlieÿen
−|x − y| ≤ |x| − |y| ≤ |x − y|,
was der umgekehrten Dreiecksungleichung entspricht.

Wir benutzen den Absolutbetrag um Abstand zu denieren.

Denition 1.4.5
Für x, y ∈ R ist der Abstand d(x, y) zwischen x und y deniert als

d(x, y) = |x − y|.

Bemerkung. Für z, w ∈ C deniert man d(z, w) = |z − w|, wobei |·| der Absolutbetrag in
C ist.

Satz 1.4.6
Es gilt

ˆ Positive Denitheit:

d(x, y) ≥ 0 für alle x, y ∈ R, d(x, y) = 0 ⇐⇒ x = y.

ˆ Symmetrie:
d(x, y) = d(y, x) für alle x, y ∈ R.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 29

ˆ Dreiecksungleichung:

d(x, y) ≤ d(x, z) + d(z, y) für alle x, y ∈ R.

Abbildung 1.2: Wenn man von hier nach da reisen muss und einen schönen
Zwischenaufenthalt in Italien möchte, kann es die Reise nur länger machen.

Beweis. Übung.

1.5 Einige elementare Ungleichungen


Obwohl man es in den ersten Vorlesungen kaum erkennt, können die meisten angewandten
Probleme nicht exakt gelöst werden. Anstatt die genaue Lösung einer algebraischen Gleichung
oder einer Dierentialgleichung in der Hand zu haben, werden wir damit zufrieden sein
müssen, eine Approximation der Lösung zu haben. Sehr oft werden wir auch komplizierte
Probleme durch einfachere Probleme ersetzen. Um zu beurteilen, ob eine Approximation
(einer Lösung oder eines Problems) gut ist oder nicht, werden wir Restterme abschätzen
müssen. In diesem Abschnitt, schauen wir uns die ersten elementaren Ungleichungen an.
Wir werden immer wieder zu diesen Ungleichungen zurückkehren.

Lemma 1.5.1. Für alle x, y ∈ R gilt folgendes:

(i) x<y+ε für alle ε>0 genau dann, wenn x ≤ y.

(ii) |x| < ε für alle ε>0 genau dann, wenn x = 0.

Wir lassen den Beweis als Übung. Wichtig ist auch, dass das Lemma 1.5.1 nicht aussagt,
dass x<y+ε für alle ε>0 impliziert x < y.
Als Nächstes betrachten wir die Bernoullische Ungleichung. Diese Ungleichung ersetzt
(1 + x)n (n Multiplikationen) durch 1 + nx (eine Multiplikation).
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 30

Satz 1.5.2: Bernoullische Ungleichung


Für alle x∈R mit x > −1 und n∈N gilt

(1 + x)n ≥ 1 + nx. (1.5.1)

Falls zusätzlich x ̸= 0, dann ist

(1 + x)n > 1 + nx für alle n > 1. (1.5.2)

Ob (und wann) (1.5.1) oder (1.5.2) eine gute Approximation ist oder nicht, können Sie
sich überlegen.

Beweis. Oensichtlich ist, dass:

ˆ (1.5.1) für x=0 und für alle n ∈ N, sowie

ˆ (1.5.1) für alle x∈R und n=1 gilt.

Da für n > 1 (1.5.2) stärker ist als (1.5.1), reicht es aus zu zeigen, dass (1.5.2) für
x ̸= 0, n > 1 gilt. Wir benutzen vollständige Induktion.
Schritt 1: (Base case oder Induktionsanfang.) (n = 2) Für x > −1, x ̸= 0 ist

(1 + x)2 = 1 + 2x + x2
> 1 + 2x weil x ̸= 0,

also gilt (1.5.2) für n = 2.


Schritt 2: (Induktionsschritt.) ( N ⇒ N +1) Sei x > −1, x ̸= 0 gegeben. Wir nehmen
an, dass (1.5.2) für ein beliebiges N ∈ N, N ≥ 2 gilt. Dann ist

(1 + x)N +1 = (1 + x)(1 + x)N


> (1 + x)(1 + N x) nach Annahme und, weil 1+x>0
= 1 + N x + x + N x2
> 1 + (N + 1)x weil x ̸= 0 (und N ̸= 0).

Also gilt (1.5.2) für N + 1. Nach dem Prinzip der vollständigen Induktion (Satz 1.3.1)
gilt (1.5.2) für alle n ≥ 2.

Übung 1.5.3
1000 e und kaufen dafür Aktien. Sie sind sicher, dass die
Sie leihen sich von Ihren Eltern
Aktien irgendwann steigen werden. Aber in den ersten Jahren verlieren sie 2 % an Wert
pro Jahr. Wenn Sie mehr als 500 e verlieren, kriegen Sie Ärger. Sie fragen sich, wie lange
Sie das noch durchhalten können (aber Sie haben keinen Taschenrechner dabei). Wenden
Sie die Bernoullische Ungleichung an, um eine untere Schranke (ohne Taschenrechner)
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 31

zu nden.

Es wird oft nützlich sein, ein Produkt durch eine Summe zu ersetzen. Das erste Ergebnis in
diese Richtung ist folgendes:

Lemma 1.5.4 (Elementare Youngsche Ungleichung). Für alle x, y ∈ R gilt

1 1
xy ≤ x2 + y 2 . (1.5.3)
2 2
Es folgt

√ 1 1
xy ≤ x + y für alle x, y ≥ 0, (1.5.4)
2 2
ε 2 1
xy ≤ x + y 2 für alle x, y ∈ R und ε > 0. (1.5.5)
2 2ε

Beweis. Die Ungleichung (1.5.3) folgt aus

(x − y)2 ≥ 0. (1.5.6)

√ √
Wenn man (1.5.3) mit x̃ = x, √ ỹ = y1 betrachtet, erhält man (1.5.4). Für (1.5.5)
betrachtet man (1.5.3) mit x̃ = εx, ỹ = √ε y .

Frage: Wir schauen uns (1.5.4) genauer an. Der Ausdruck

x+y
2
auf der rechten Seite ist das arithmetische Mittel von x und y. Auf der linken Seite ist


xy
das sogenannte geometrische Mittel von x und y . Also drückt (1.5.4) aus, dass das geometrische
Mittel zweier reeller Zahlen kleiner dem arithmetischen Mittel der Zahlen ist. (Wann gilt
Gleichheit?) Man kann sich fragen, ob es eine Verallgemeinerung dieser Tatsache gibt. Seien
n positive reelle Zahlen {x1 , x2 , ..., xn } gegeben. Falls es eine reelle Zahl r gibt, so dass

rn = x1 · x2 · ... · xn
gilt, nennen wir r die n-te Wurzel aus x1 · x2 · ... · xn . Wir schreiben

r = n x1 · x2 · ... · xn .
Man erhält:

Satz 1.5.5
Es seien positive reellen Zahlen x1 , ..., xn für n≥2 gegeben. Dann gilt

√ x1 + x2 + ... + xn
n
x1 · x2 · · · · · x n ≤ . (1.5.7)
n
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 32

Auÿerdem gilt in (1.5.7) Gleichheit genau dann, wenn

x1 = x2 = ... = xn . (1.5.8)

Bemerkung. Man kann die zweite Aussage auch als Optimierungsproblem formulieren. Sei
die Summe x1 + x2 + ... + xn gegeben. (Dies ist die Bedingung des Optimierungsproblems.)
Man möchte das gröÿte Produkt

x1 · x2 · ... · xn (die Zielfunktion des Optimierungsproblems)

erhalten. Was sollte man für x1 , x2 , ..., xn wählen? (1.5.8) drückt aus, dass die eindeutige
Lösung des Problems

x1 = x2 = ... = xn

ist.

Beweis von Satz 1.5.5. Wir benutzen vollständige Induktion. Der Fall n=2 wurde in
(1.5.4) bestätigt und (1.5.8) für n=2 folgt aus (1.5.6). Es bleibt zu zeigen, dass, wenn
die Aussage für ein N ∈ N gilt, dann gilt die Aussage auch für N +1. Zunächst bemerken
wir, daÿ aus

x1 = x2 = . . . = xN +1

(1.5.7) mit Gleichheit folgt. Also reicht es aus, wenn wir (1.5.7) mit echter Ungleichheit
für x1 , . . . , xN +1 nicht alle gleich zeigen.
Also seien x1 , . . . , xN +1 nicht alle gleich gegeben. Dann gilt

x1 + . . . + xN +1
min{x1 , . . . , xN +1 } < < max{x1 , . . . , xN +1 }. (1.5.9)
| N +
{z 1 }
=:S

Ohne Beschränkung der Allgemeinheit (o.B.d.A.), nehmen wir an, daÿ

xN = min{x1 , . . . , xN +1 }, xN +1 = max{x1 , . . . , xN +1 },

so daÿ (1.5.9) die Form

xN < S < xN +1 (1.5.10)

annimmt. Jetzt möchten wir die Induktionsannahme anwenden. Dazu bemerken wir, daÿ

N S = (N + 1)S − S = x1 + . . . + xN +1 − S
= x1 + . . . + xN −1 + y, (1.5.11)

wobei y := xN + xN +1 − S deniert ist. Man merkt, dass y>0 aus (1.5.10) folgt. Der
Vorteil in (1.5.11) ist, daÿ wir auf der rechten Seite die Summe von N Zahlen haben.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 33

Des weiteren ist nach (1.5.11) das arithmetische Mittel dieser N Zahlen S, so dass die
Induktionsannahme für diese N Zahlen liefert

x1 · x2 · · · · xN −1 · y ≤ S N . (1.5.12)

Aus (1.5.12) schlieÿen wir, dass

x1 · x2 · · · · xN −1 · y · S ≤ S N +1 . (1.5.13)

Jetzt reicht es aus, wenn wir

y · S > xN · xN +1

zeigen. Wir rechnen

(1.5.10)
y · S = (xN + xN +1 − S)S = (S − xN )(xN +1 − S) + xN xN +1 > xN xN +1 .

Es wurde 2012 im Spiegel über angewandte Probleme in der Schule berichtet. 97 Schul-
kindern wurde folgendes Problem präsentiert:

Auf einem Schi benden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?

76 der 97 befragten Kinder rechneten ein Ergebnis aus. (Was ist die falsche und populäre
Antwort? Jeder erkennt sie: 36 Jahre.)
Unsere Aufgaben sind fortgeschrittener, aber es ist für uns genauso wichtig, nichts auszu-
rechnen, bevor wir uns die Logik überlegt haben.

Beispiel. Die Orte A und D seien 100 km voneinander entfernt. Die Strecke von A nach
D wurde mit einer Geschwindigkeit von v1 = 60 km/h zurückgelegt, die von D nach A mit
v2 = 40 km/h. Was ist die Durchschnittsgeschwindigkeit?

(Was ist die falsche und populäre Antwort? 50 km/h.)

Bemerkung. Hier ist die einzige nichttriviale Frage: Was ist die Denition von Durchschnitts-
geschwindigkeit?

Lösung. 200 km wurden gereist. Für die erste Strecke wurde

100 km 10
T1 = = h
60 km/h 6

gebraucht, und für die zweite Strecke wurde

100 km 10
T2 = = h
40 km/h 4
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 34

gebraucht. Also hat die Reise insgesamt

25
T = T1 + T2 = h
6
gedauert. Die Durchschnittsgeschwindigkeit war also

200 km
25 = 48 km/h.
h
6

Bemerkung. Man kann es auch so formulieren: Aus 60 und 40 erhält man 48, indem man

1
1 1 1
 km/h
2 40
+ 60

ausrechnet. Für n gegebene positive Zahlen x1 , x2 , ..., xn heiÿt

1
 
1 1 1 1
n x1
+ x2
+ ... + xn

das harmonische Mittel. Man kann zeigen, dass

n
1 √ 1X
n ≤ n
x1 · x2 · ... · xn ≤ xi .
1
P 1 n i=1
n xi
i=1

Abbildung 1.3: Welche Mittel spielen eine Rolle in Serien- und Parallelschaltkreisen?

Zwei Artikel, die mit dem Thema arithmetische/geometrische/harmonische Mittel zu tun


haben, sind:

O1 L.F. Henderson, The Theorem of the Arithmetic and Geometric Mean and its Application
to a Problem in Gas Dynamics, ZAMP 25 (1965) betrachtet die Frage: Was ist der
minimale Entropie-Anstieg in einem System von Stoÿwellen?

O2 C.G. Carvalhaes und P. Suppes, Approximations for the period of the simple pendulum
based on the arithmetic-geometric mean, Am.J.Phys 76 (2008) leitet approximative
Lösungen der Pendelgleichung her, die sehr schnell konvergieren.
Kapitel 2
Vektorräume

2.1 Der Vektorraum Rn


Im Zusammenhang mit den komplexen Zahlen C haben wir bereits geordnete Paare reeller
Zahlen kennengelernt. Wir haben gesagt, eine komplexe Zahl besteht aus einem Realteil
x∈R und einem Imaginärteily ∈ R, die wir wir folgt kombinieren
     
x 1 0
=x +y = x1 + yi. (2.1.1)
y 0 1
|{z} |{z}
=:1 =:i

In der Regel werden wir die 1 nicht mehr schreiben. Wir werden auch für jetzt keinen
Unterschied machen zwischen der Spaltenschreibweise (2.1.1) und der Zeilenschreibweise
(x, y). (Wir werden erst später sehen, dass die beiden Objekte nicht dasselbe bedeuten.)
Es ist aber sehr wichtig sich klarzumachen, dass die beiden reellen Zahlen geordnet sind:
   
x y
̸= falls x ̸= y .
y x
Wir können uns eine komplexe Zahl z = x + yi als einen Punkt in der Ebene vorstellen,
wobei x die Koordinate des Punktes in horizontaler Richtung darstellt und y die Koordinate
in vertikaler Richtung. Falls der Imaginärteil y gleich null ist, dann identizieren wir z = x+0i
mit der reellen Zahl x; in diesem Sinne sind die reellen Zahlen R in den komplexen Zahlen
C enthalten. Wir haben gesehen, dass man komplexe Zahlen addieren kann:
     
x1 x2 x1 + x 2
⊕ = , (2.1.2)
y1 y2 y1 + y2
d.h. wir addieren die entsprechenden Komponenten miteinander und erhalten eine komplexe
Zahl (ein geordnetes Paar reeller Zahlen). Wir können auch multiplizieren:
     
x1 x2 x1 · x2 − y1 · y2
⊗ = .
y1 y2 x1 · y2 + y1 · x2
Falls einer der Faktoren eine reelle Zahl ist (d.h. der Imaginärteil ist null), dann gilt
         
x α x α·x−0·y α·x
α· := ⊗ = = . (2.1.3)
y 0 y α·y+0·x α·y
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 36

Es werden also die beiden Komponenten x, y mit α multipliziert.


Wir wollen jetzt diese Konstruktion verallgemeinern auf geordnete n-Tupel reeller Zahlen.
Mit diesen Objekten, die wir Vektoren nennen werden, wollen wir wieder rechnen können.
Wir werden deshalb eine Addition analog zu (2.1.2) denieren. Für die Multiplikation werden
wir uns damit zufrieden geben, Vektoren mit reellen Zahlen multiplizieren zu können. Die
Multiplikation zweier Vektoren ist im allgemeinen nicht sinnvoll. (Wir werden später sehen,
dass wir in speziellen Fällen eine Multiplikation von Vektoren denieren können. Allerdings
hat diese Multiplikation unerwartete Eigenschaften; sie ist z.B. nicht mehr kommutativ:
Wenn wir die Reihenfolge der Faktoren ändern, ändert sich das Ergebnis.)
Wir werden im Folgenden die üblichen Symbole + und · für Addition und Multiplikation
(mit reellen Zahlen) verwenden. Indem Sie Sich klarmachen, mit welchen Objekten Sie
operieren (Zahlen, Vektoren, ...), werden Sie wissen, um welche Multiplikation es sich handelt.
Wir werden in der Regel auch das Symbol · ganz weglassen, wie wir das für die Multiplikation
reeller Zahlen vereinbart haben. Es gilt wieder: Punktrechnung geht vor Strichrechnung
(Multiplikationen zuerst ausführen!). Benutzen Sie im Zweifelsfall Klammern, um die Reihen-
folge der Operationen anzuzeigen.

Denition 2.1.1
Unter dem Vektorraum Rn verstehen wir die Menge

 
 x1 
n  .. 
R := x =  .  : x1 , . . . , xn ∈ R , (2.1.4)

xn

deren Element wir Vektoren nennen, versehen mit der Addition

    

x1 + y 1 x1 y1
.  ..   .. 
x + y :=  . für alle x =  .  , y =  .  ∈ Rn ;
 
. 
xn + y n xn yn

und der skalaren Multiplikation (d.h. einer Multiplikation mit Zahlen)

   
αx1 x1
. . n
αx :=  . für alle x= .  ∈ R , α ∈ R.
   
.  .
αxn xn

Nach Denition ergeben die Addition und die skalare Multiplikation wieder Vektoren in
Rn . Notation: In der Regel hat ein Vektor x die Komponenten x1 , . . . , xn ∈ R etc.

Bemerkung. Zwei Vektoren sind gleich, wenn alle Komponenten übereinstimmen, also
   
x1y1
 ..   .. 
x= . =.=y ⇐⇒ xi = y i für alle i = 1, . . . , n.
xn yn
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 37

Insbesondere erhält man nach Vertauschen zweier Komponenten xi ̸= xj mit i ̸= j einen


Vektor, der von x verschieden ist. Wir werden zunächst nicht zwischen der Spaltenschreibweise
(2.1.4) und der Zeilenschreibweise (x1 , . . . , xn ) unterscheiden.

Die Regeln für das Rechnen mit reellen Zahlen haben wir in den algebraischen Axiomen
n
für R zusammengefasst; siehe Abschnitt 1.2.1. Da R Tupel reeller Zahlen enthält, übertragen
sich einige dieser Rechenregeln auf die Addition und skalare Multiplikation von Vektoren.

Lemma 2.1.2. Es seien x, y, z ∈ Rn und α, β ∈ R. Dann gilt

(A1) x+y =y+x (Kommutativgesetz der Addition);

(A2) x + (y + z) = (x + y) + z (Assoziativgesetz der Addition);


 
0
 .. 
(A3) x + 0 = x mit 0 :=  .  (Neutrales Element der Addition);

(A4) Zu jedem x ∈ Rn existiert genau ein y ∈ Rn mit x + y = 0. Dieses Element ist

 
−x1
..
 =: −x (Inverses Element der Addition);
 
 .
−xn

(S1) α(βx) = (αβ)x (Assoziativgesetz der skalaren Multiplikation);

(S2) 1x = x (Neutrales Element der skalaren Multiplikation);

(D1) (α + β)x = αx + βx (Distributivgesetz 1);

(D2) α(x + y) = αx + αy (Distributivgesetz 2).

Beweis. Übung.

Bemerkung. Wir nennen 0 den Nullvektor in Rn und es gilt −x = (−1)x.

Bemerkung. Wir werden später andere Vektorräume kennenlernen. Allen Vektorräumen


ist gemeinsam, dass auf ihnen eine Addition und skalare Multiplikation deniert sind derart,
dass die Rechenregeln in Lemma 2.1.2 erfüllt sind. Man bezeichnet diese dementsprechend
auch als Vektorraumaxiome, weil sie die Eigenschaften jedes Vektorraums festlegen.

Analog zu unserem Vorgehen bei den komplexen Zahlen, die wir als Kombination von 1
und i dargestellt haben, wollen wir nun auch für den Rn eine solche Zerlegung angeben.

Denition 2.1.3
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 38

Für jedes j = 1, . . . , n nennen wir

 
0
 .. 
.
0
 
ej := 1 (die 1 steht an der j ten Stelle)
 
0
 
.
 .. 
0

den j ten Einheitsvektor des Rn . Für alle x ∈ Rn gilt dann

   
  1 0
x1 0 n
 ..  X
 ..  .
x =  .  = x1  ..  + . . . + xn   = xj e j .
 
. 0 j=1
xn
0 1
| {z } | {z }
e1 en

Bemerkung. Indem wir 1 mit e1 , i mit e2


gleichsetzen, bemerken wir, dass die komplexen
2
Zahlen (siehe Abschnitt (1.2.1)) und der Vektorraum R dieselben Elemente enthält. Beachten
Sie aber, dass wir für C eine Multiplikation deniert haben (dadurch wurde C zu einem
Körper, für den die algebraischen Axiome gelten), während R2 nur ein Vektorraum ist.
Wie bereits erwähnt, können wir komplexe Zahlen (und mithin Vektoren in R2 ) als
Punkte in der Ebene auassen. Wir wollen nun Vektoren eine Länge zuordnen. Anschaulich
entspricht diese Länge dem Abstand des durch den Vektor repräsentierten Punktes zum
Nullpunkt. Diesen Abstand können wir mit dem Satz von Pythagoras berechnen (in einem
rechtwinkligen Dreieck ist das Quadrat der Länge der Hypothenuse gleich der Summe der
Quadrate der beiden Katheten). Die Verallgemeinerung dieser Anschauung auf den Vektor-
n
raum R führt auf den Begri der euklidischen Norm.

Denition 2.1.4
Für zwei Vektoren x, y ∈ Rn denieren wir das Skalarprodukt · als

n
X
x · y := x1 y1 + . . . + xn yn = xi y i
i=1

(wird auch inneres Produkt genannt). Alternativ werden wir die Schreibweise

(x, y) := x · y

für das Skalarprodukt verwenden. Die euklidische Norm eines Vektors ist


q
∥x∥ := x · x = x21 + · · · + x2n .
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 39

Zu zwei Vektoren x, y ∈ Rn denieren wir den Abstand

d(x, y) := ∥x − y∥.

Bemerkung. Beachten Sie, dass wir in der Vergangenheit das Symbol · für die Multiplikation
von reellen Zahlen benutzt haben. Wir haben auÿerdem vereinbart, diese Schreibweise möglichst
nicht mehr zu verwenden. Es ist aus dem Zusammenhang jeweils klar, ob · für die Multiplikation
von reellen Zahlen oder das Skalarprodukt steht. Beachten Sie auch, dass das Skalarprodukt
n
eine Zahl liefert, keinen Vektor. Es deniert keine Multiplikation auf dem Vektorraum R .
Eine solche müsste zwei Vektoren wieder einen Vektor zuordnen.

Satz 2.1.5: Skalarprodukt


Das Skalarprodukt · hat die folgenden Eigenschaften:

ˆ Positive Denitheit:

x·x≥0 für alle x ∈ Rn , x·x=0 ⇐⇒ x = 0.

ˆ Symmetrie:
x·y =y·x für alle x, y ∈ Rn .

ˆ Linearität:

(αx + βy) · z = α(x · z) + β(y · z) für alle α, β ∈ R und x, y, z ∈ Rn .

Wegen der Symmetrie gilt dann auch Linearität im zweiten Faktor.

Beweis. Übung.

Satz 2.1.6: Norm


Die (euklidische) Norm hat die folgenden Eigenschaften:

ˆ Positive Denitheit:

∥x∥ ≥ 0 für alle x ∈ Rn , ∥x∥ = 0 ⇐⇒ x = 0.

ˆ Homogenität:
∥αx∥ = |α|∥x∥ für alle α∈R und x ∈ Rn .

ˆ Dreiecksungleichung:

∥x + y∥ ≤ ∥x∥ + ∥y∥ für alle x, y ∈ Rn .


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 40

Beweis. Die ersten zwei lassen wir als Übung. Die Dreiecksungleichung wird unten in
(2.2.3) gezeigt.

Bemerkung. Vergleichen Sie Satz 2.1.6 mit Satz 1.4.2. Der Begri der Norm verallgmeinert
also den Begri des Absolutbetrags, den wir für reelle Zahlen eingeführt haben. Auÿer der
n
euklidischen Norm gibt es andere Möglichkeiten, einem Vektor x ∈ R eine Zahl zuzuordnen
derart, dass die Eigenschaften positive Denitheit, Homogenität und Dreiecksungleichung wie
in Satz 2.1.6 erfüllt sind. Eine solche Zuordnung nennen wir Norm. Beispiele sind

∥x∥1 := |x1 | + · · · + |xn |, ∥x∥∞ := max{|x1 |, . . . , |xn |}. (2.1.5)

Die Begrie Norm und Abstand lassen sich auf viele andere Vektorräume verallgemeinern,
in manchen Fällen auch der Begri des Skalarprodukts. Die Rechenregeln in Satz 2.1.6
bezeichnet man auch als Normaxiome, weil sie die Eigenschaften jeder Norm festlegen.
Analog sind die Aussagen in Satz 2.1.5 die denierenden Eigenschaften jedes Skalarprodukts.

Übung 2.1.7
Wann ist ∥x + y∥ = ∥x∥ + ∥y∥ für x, y ∈ R2 ?

Übung 2.1.8
Skizzieren Sie die Menge n o
2
x ∈ R : ∥x∥ ≤ 1 .

Was ändert sich, wenn Sie die euklidische Norm durch die Normen in (2.1.5) ersetzen?

2.2 Weitere Ungleichungen


Satz 2.2.1
Für reelle Zahlen x1 , x2 , ..., xn und y1 , y2 , ..., yn gilt

ˆ die Dreiecksungleichung (für n reelle Zahlen)

n n
X X
x ≤ |xi |, (2.2.1)

i

i=1 i=1

ˆ die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung

n v v
X X n u n
X
u n
u uX
2t
xi y i ≤ |xi yi | ≤ xi yi2 , (2.2.2)
t


i=1 i=1 i=1 i=1
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 41

ˆ die Minkowski- oder Dreiecksungleichung

v v v
u n u n u n
uX uX uX
2
t (xi + yi )2 ≤ t xi + t yi2 . (2.2.3)
i=1 i=1 i=1

Bemerkung. Wenn man x = (x1 , x2 , ..., xn ), y = (y1 , y2 , ..., yn ) als Vektoren in Rn zusammen
mit dem Vektorprodukt und der Norm

n
X n
X
2
(x, y) := xi y i , ∥x∥ := x2i
i=1 i=1

betrachtet, dann erhält man aus (2.2.1) und (2.2.2) die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung

|(x, y)| ≤ ∥x∥∥y∥,

und man erkennt (2.2.3) als die Dreiecksungleichung der euklidischen Norm in Rn :

∥x + y∥ ≤ ∥x∥ + ∥y∥.

Beweis von Satz 2.2.1. Die erste Ungleichung (2.2.1) kann man mit vollständiger Induktion
aus der Dreiecksungleichung für den Absolutbetrag reeller Zahlen schlieÿen. (Übung!)
Für die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung (2.2.2), denieren wir

v v
u n u n
uX uX
X := t x2i , Y := t yi2 .
i=1 i=1

n
P
Wenn X = 0, dann ist xi = 0 für alle i = 1, .., n, so dass xi y i = 0
und (2.2.2) dabei

i=1
erfüllt wird. Das Gleiche gilt, wenn Y = 0. Also dürfen wir annehmen, dass X > 0, Y > 0.
Wir denieren

xi yi
x̂i := , ŷi := für alle i = 1, .., n.
X Y
Dann ist (2.2.2) äquivalent zu


Xn X n
x̂i ŷi ≤ |x̂i ŷi | ≤ 1. (2.2.4)



i=1 i=1
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 42

Wir erhalten (2.2.4) direkt aus


Xn X n
x̂i ŷi ≤ |x̂i ŷi | (aus (2.2.1))



i=1 i=1
n
1X 2
≤ (x̂ + ŷi2 ) (Youngsche Ungleichung)
2 i=1 i
n n
!
1 1 X 2 1 X 2
= x + y
2 X 2 i=1 i Y 2 i=1 i
= 1.

zu (2.2.3): Wir rechnen

n
X n
X n
X n
X
2
(xi + yi ) = x2i +2 xi y i + yi2
i=1 i=1 i=1 i=1
n n n
! 12 n
X X X X
≤ x2i +2 x2i yi2 + yi2 (Cauchy-Schwarzsche Ungleichung)
i=1 i=1 i=1 i=1
v v 2
u n u n
uX uX
= t x2 + t y2 .
i i
i=1 i=1

Bemerkung (Geometrische Perspektive). Man kann den Beweis von (2.2.2) auch aus einer
geometrischen Perspektive anschauen. Hier benutzen wir die Notation aus der vorherigen
Bemerkung. Man möchte zeigen, dass

|(x, y)| ≤ ∥x∥∥y∥. (2.2.5)

Diese Ungleichung ist sicherlich richtig, falls x oder y der Nullvektor ist. Wir betrachen also
nur den Fall, dass x ̸= 0 ̸= y . Das impliziert insbesondere, dass ∥x∥ > 0 und ∥y∥ > 0. Man
erhält Informationen über (x, y) durch die Ungleichung

∥x∥2 − 2(x, y) + ∥y∥2 = ∥x − y∥2 ≥ 0.

Es folgt nämlich, dass


2(x, y) ≤ ∥x∥2 + ∥y∥2 .
Diese Ungleichung gilt auch, wenn man y durch ty mit t ∈ R ersetzt hat. Indem wir die
Homogenität des Skalarprodukts und der Norm ausnutzen, erhalten wir

∥x∥2 − 2t(x, y) + t2 ∥y∥2 = ∥x − ty∥2 .

Diese Identität gilt für alle t ∈ R, insbesondere für jenes t, für das die rechte Seite (äquivalent:
die Länge des Vektors x − ty ) so klein wie möglich wird. Das passende Bild ist
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 43

Anschaulich erwarten wir also, dass wir t so wählen, dass der Vektor x − ty senkrecht auf y
steht. Das bedeutet, dass das Skalarprodukt ((x − ty), y) verschwindet. Umformen ergibt das
2 2
optimale t∗ = (x, y)/∥y∥ . Mit dieser Wahl erhalten wir aus 0 ≤ ∥x − t∗ y∥ , dass

2
(x, y) (x, y)

2
∥x∥ − 2 (x, y) + ∥y∥2 ≥ 0 ⇐⇒ (x, y)2 ≤ ∥x∥2 ∥y∥2 .
∥y∥2 ∥y∥2

Das ist äquivalent zur Ungleichung (2.2.5).

Denition 2.2.2
Zwei Vektoren x, y ∈ Rn mit der Eigenschaft (x, y) = 0 nennen wir orthogonal. Orthogonale
Vektoren mit Norm eins nennen wir orthonormal.

Beispiel. Die Einheitsvektoren ei mit i = 1, . . . , n sind orthonormal.


Kapitel 3
Reelle Funktionen
Funktionen sind von zentraler Bedeutung in der höheren Mathematik. Wie immer wird es
wichtig sein

ˆ alle unsere Intuition und grundlegendes Wissen hier anzuwenden, um Verständnis für
die Situation aufzubauen, und

ˆ zwischen heuristischem Argument und rigorosen Aussagen zu unterscheiden.

Sie kennen viele Funktionen aus dem Alltag, z.B.,

g
x(t) = h − t2 h, g ∈ R,
2
f (x) = x + 1,
y(θ) = cos θ.
Was ist eine Funktion?

3.1 Denition und erste Eigenschaften


Denition 3.1.1
Seien A, B Mengen. Das kartesische Produkt A × B ist die Menge aller geordneten Paare
(x, y) mit x ∈ A, y ∈ B .

Beispiel.

A := {1, 3}, B := {2, 4}, A × B = {(1, 2), (1, 4), (3, 2), (3, 4)}

Denition 3.1.2
Eine Teilmenge f ⊆A×B wird Funktion genannt, wenn gilt:

(x, y) ∈ f und (x, y ′ ) ∈ f =⇒ y = y′.

Das heiÿt, zu jedem x∈A gibt es höchstens ein y∈B mit (x, y) ∈ f .
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 45

Wir denieren den Denitionsbereich D(f ) von f als

D(f ) := {x ∈ A : es existiert ein y∈B mit (x, y) ∈ f },

und den Wertebereich W(f ) von f als

W(f ) := {y ∈ B : es existiert ein x∈A mit (x, y) ∈ f }.

Anstelle von (x, y) ∈ f benutzen wir die eingängigere Schreibweise

y = f (x)

und nennen y das Bild von x (unter f) x


ein Urbild von y .
bzw.
−1
Für Teilmengen U ⊆B denieren wir das Urbild f (U ) von U unter f als

f −1 (U ) := x ∈ A : f (x) ∈ U }.


Beachten Sie, dass das Urbild immer deniert ist (kann leer sein). Es ist zu unterscheiden
von der Umkehrfunktion, die wir später denieren werden!!!
Wenn A und B Mengen reeller Zahlen sind, dann heiÿt f eine reelle Funktion oder
eine reellwertige Funktion einer reellen Variablen.

Grob gesagt: f ist eine Regel, die jedem x ∈ D(f ) ein eindeutiges y ∈ W(f ) zuordnet.
Achtung! Obwohl das Bild von x ∈ D(f ) eindeutig bestimmt ist, kann ein Wert y ∈ W(f )
2
mehr als ein Urbild haben. Beispiel: f (x) = x , y = 4.

Abbildung 3.1: Illustration einer Funktion

Beispiele.

O1 f = {(x, x3 ) : x ∈ R} oder f (x) = x3 , x ∈ R,

O √ √
2 f = {(x, x) : x ≥ 0} oder f (x) = x, x ≥ 0,

O3 f (x) = 1
(1−x)2
,

O

−x x < 0
4 f (x) = 5 x=0
 2
x x > 0.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 46

Übung 3.1.3
Was sind der Denitionsbereich und der Wertebereich der oben denierten Funktionen?

1
Oft wird der Denitionsbereich nicht explizit angegeben, z.B. f (x) = x2 , g(x) = (1−x)2,

h(x) = x2 − 4. In diesem Fall nehmen wir an, dass der Denitionsbereich so groÿ wie
möglich ist, z.B. D(f ) = R, D(g) = {x ∈ R : x ̸= 1} , D(h) = {x ∈ R : x ≥ 2 oder x ≤ −2} =
(−∞, −2] ∪ [2, ∞).
Es ist oft nützlich den Graphen einer Funktion anzuschauen.

1+x x<0
Beispiel. f (x) =
−1 − x x > 0.

Vom Graphen erkennt man

D(f ) = R \ {0} , W(f ) = (−∞, 1).


(Achtung! Hier haben wir den Graphen benutzt um zu erkennen, dass W(f ) = (−∞, 1).
Wenn nach einem Beweis oder einer Begründung gefragt wird, reicht es nicht aus, ein Bild
zu malen. Trotzdem hilft das Bild.)

Beispiel. Finden Sie den Denitionsbereich von f (x) := −x3 + 2x − 1.
3
Die Nullstellen von p(x) := −x + 2x − 1 sind

−1 ± 5
x1 = 1, x2,3 = .
2
Wir schreiben das Polynom in faktorisierter Form
√ ! √ !
3 −1 + 5 −1 − 5
−x + 2x − 1 = −(x − 1) x − x−
2 2
um abzulesen, wo das Polynom positiv ist. Da der Denitionsbereich der Wurzel [0, ∞) ist,
ist der Denitionsbereich von f genau die Menge, wo p nicht negativ ist:
√ # " √ #
−1 − 5 −1 + 5
−∞, ∪ ,1 .
2 2
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 47

Bemerkung. (1) Jede vertikale Linie berührt den Graph einer Funktion genau einmal.

(2) Eine horizontale Linie kann den Graph einer Funktion mehr als einmal berühren.

Was bedeutet es, wenn eine waagerechte Linie y=b den Graph einer Funktion f genau
einmal berührt? Dass b nur ein Urbild hat, d. h., dass es nur ein x ∈ D(f ) gibt, so dass
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 48

f (x) = b.
Was bedeutet es, wenn jede waagerechte Linie den Graph einer Funktion f nur einmal
berührt ? Dass für jeden Wert y ∈ W(f ) es nur ein x ∈ D(f ) gibt, so dass f (x) = y .
Was bedeutet es, wenn jede waagerechte Linie den Graph einer Funktion f mindestens einmal
berührt ? Dass der Wertebereich der Funktion ganz R ist.

Denition 3.1.4
Eine Funktion f heiÿt injektiv (oder eins zu eins), wenn gilt:

f (x1 ) = f (x2 ) =⇒ x1 = x2 .

Das heiÿt, bei Gleichheit der Bilder müssen die Urbilder auch gleich sein.

Damit verbunden ist die Eigenschaft der Surjektivität.

Denition 3.1.5
Eine Funktion f :X→Y heiÿt surjektiv von X nach Y, wenn gilt:

für jedes y∈Y existiert x∈X mit f (x) = y .

Wenn f sowohl surjektiv als auch injektiv ist, dann sagen wir, dass f bijektiv ist.

Man merkt: f :X→Y ist surjektiv genau dann, wenn W(f ) = Y .


Eine kurze Zusammenfassung ist: Eine Funktion f : X → Y ist
(1) injektiv, wenn kein y∈Y mehr als ein Urbild in X hat (bspw. x2 , x ≥ 0),

(2) surjektiv, wenn jedes y∈Y mindestens ein Urbild in X hat (bspw. x3 ), und

(3) bijektiv, wenn jedes y∈Y genau ein Urbild in X hat (bspw. x).

Erinnerung: Graphen helfen uns enorm, die Eigenschaften einer Funktion zu bemerken.
Wenn allerdings nach einem Beweis gefragt wird, müssen wir analytisch argumentieren.

1
Beispiel. Finden Sie den Wertebereich W(f ) von f (x) = (x−4)2
.

1
Lösung. Der Wertebereich ist (0, ∞). Dies begründen wir wie folgt. Zunächst bemerken
wir, dass

D(f ) = {x ∈ R : x ̸= 4} .

Für alle x ∈ D(f ) ist (x − 4)2 > 0, und damit auch

1
f (x) = > 0,
(x − 4)2
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 49

so dass W(f ) ⊆ (0, ∞). Andererseits können wir für alle

y0 ∈ (0, ∞)

setzen:

1
x0 := √ + 4.
y0

Dann ist x0 > 4, so dass x ∈ D(f ), und es gilt

1 1
f (x0 ) = 2
=  2 = y 0 .
(x0 − 4) √1
y0

Also gilt W(f ) ⊇ (0, ∞). (Man hätte auch

1
x̃0 = − √ + 4,
y0

das Urbild auf dem erstem Ast von f, wählen können.)

Wir erinnern uns an die Denition 1.1.2, wo wir gesehen haben, wie man die Gleichheit zweier
Mengen zeigt.

Wir betrachten jetzt ein paar andere mögliche Eigenschaften einer Funktion.

Denition 3.1.6
Eine reelle Funktion f heiÿt gerade, wenn gilt

(1) für jedes x ∈ D(f ) ist auch −x ∈ D(f ), und

(2) für jedes x ∈ D(f ) ist f (x) = f (−x).

Analog heiÿt die Funktion heiÿt ungerade, wenn gilt

(1) für jedes x ∈ D(f ) ist auch −x ∈ D(f ), und

(2) für jedes x ∈ D(f ) ist f (x) = −f (−x).

Beispiel. Die Funktion f (x) = x2 ist gerade. Die Funktion f (x) = x ist ungerade. Allgemein
2n
ist f (x) = x , n ∈ N, gerade und f (x) = x2n−1 , n ∈ N, ungerade.

Beispiel. sin(x) ist ungerade. cos(x) ist gerade.

Übung 3.1.7
Geben Sie an, ob folgende Funktionen gerade, ungerade oder keins von beiden sind:
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 50

tan(x), sinh(x), cosh(x), tanh(x), exp(x2 ).

Denition 3.1.8
Wir nennen eine reelle Funktion f monoton wachsend (bzw. monoton fallend), wenn für
alle x, y ∈ D(f ) die folgende Implikation gilt:

x<y =⇒ f (x) ≤ f (y)


( bzw. x<y =⇒ f (x) ≥ f (y) ).

Wenn f monoton wachsend oder monoton fallend ist, dann nennen wir f monoton.
Die Funktion f ist streng monoton wachsend, wenn für alle x, y ∈ D(f ) gilt:

x<y =⇒ f (x) < f (y),

mit einer analogen Aussage für f streng monoton fallend. Wenn f streng monoton
wachsend oder streng monoton fallend ist, dann nennen wir f streng monoton.

Achtung! Nach der Denition ist f (x) ≡ 2 monoton wachsend! Das gleiche gilt für

x + 1 x ≤ −1
g(x) = 0 −1 < x ≤ 1
x−1 x > 1.

Wir kennen den Begri von Beschränktheit einer Menge. Was bedeutet es für eine
Funktion, beschränkt zu sein?

Denition 3.1.9
Eine reelle Funktion f heiÿt nach unten beschränkt, wenn es eine reelle Zahl m gibt, die
eine untere Schranke für W(f ) ist. Das heiÿt, falls gilt:

für alle x ∈ D(f ) haben wir m ≤ f (x).

Analog für nach oben beschränkt. Ist f sowohl nach unten als auch nach oben beschränkt,
so nennen wir f beschränkt.

Diese Eigenschaft ist wichtig, zum Beispiel für Optimierungsprobleme. Für f (x) = x3
besitzt das Problem

inf f (x) = inf {f (x) : x ∈ R}


x∈R

keine Lösung. Ist f nach unten beschränkt, so existiert das Inmum

inf f (x).
x∈R

Aber Vorsicht: Dies bedeutet nicht, dass es ein x0 ∈ R gibt, so dass f (x0 ) = inf f (x).
x∈R
Beispiel. Es gilt
inf tanh(x) = −1
x∈R
aber es gibt kein x∗ ∈ R, so dass tanh(x∗ ) = −1.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 51

3.2 Die Umkehrfunktion


Oft interessieren wir uns für die sogenannte Umkehrfunktion einer Funktion.

Denition 3.2.1
Sei f :X→Y eine Funktion. Gibt es eine Funktion g:Y →X mit

g(f (x)) = x für alle x∈X (3.2.1)

und f (g(y)) = y für alle y ∈Y, (3.2.2)

dann nennen wir g die Umkehrfunktion von f. Wir schreiben

g(y) = f −1 (y)

und sagen, dass f eine Umkehrfunktion besitzt, oder, dass f invertierbar ist.

Bemerkung. Beachten Sie, dass dasselbe Symbol f −1 auch für das Urbild einer Menge
benutzt wird; siehe Denition 3.1.2. Falls f eine reelle Funktion ist, schreiben wir auch
1
(f (y))−1 = .
f (y)
Auf den Kontext achten!!!

Beispiel. Bestimmen Sie, ob die folgenden Funktionen eine Umkehrfunktion besitzen. Wenn
ja, nden Sie die Umkehrfunktion. Wenn nein, nden Sie das gröÿte Intervall I ⊆ D(f ), so

O
dass f auf I eine Umkehrfunktion besitzt und geben Sie diese Funktion an.

1 f (x) = x2 besitzt keine Umkehrfunktion, aber g(x) = x2 , x ∈ [0, ∞) besitzt die Umkehr-
funktion

g −1 (y) =
y, y ∈ [0, ∞).
−1

(Oder g (x) =
√ x, x ∈ [0, ∞).) Analog besitzt g(x) = x2 , x ∈ (−∞, 0] die Umkehrfunk-
−1
tion g (x) = − x, x ∈ [0, ∞).

O
1
(x + 1) −1 ≤ x < 1
2 f (x) = 2 2
−x + 2x + 4 1 ≤ x ≤ 3.

y y
f f −1
5 5

4 4

3 3

2 2

1 1

x x
−1 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5
−1 −1
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 52

Auf [−1, 1) gilt

1
y = (x + 1) ⇔ x = 2y − 1.
2
Auf [1, 3] gilt

y = −(x2 − 2x − 4)
= −[(x − 1)2 − 5]
⇔ (x − 1)2 = −y + 5
p
⇔ x = 5 − y + 1 weil x ≥ 1 ist).

Also ist die Umkehrfunktion



2x − 1 x ∈ [0, 1)
f −1
(x) = √
5 − x + 1 x ∈ [1, 5].

Dieses Beispiel zeigt, dass eine Funktion nicht monoton sein muss, um eine Umkehr-
funktion zu besitzen.

O
1
(x + 1) 0 ≤ x < 1
3 f (x) = 2
−x2 + 2x 1 ≤ x ≤ 3.

y y
3 3
g −1
2 2

1 1
f
x x
−3 −2 −1 1 2 3 −3 −2 −1 1 2 3
−1 −1

−2 −2

−3 −3

f besitzt keine Umkehrfunktion, aber g(x)


√ = −x2 +2x, x ∈ [1, 3] besitzt die Umkehrfunk-
−1
tion g (x) = 1 + 1 − x, x ∈ [−3, 1].

Man stellt sich die allgemeine Frage: Welche Funktionen besitzen eine Umkehrfunktion?

Satz 3.2.2
Eine Funktion f :X→Y besitzt eine Umkehrfunktion g:Y →X genau dann, wenn f
von X nach Y bijektiv ist. Auÿerdem ist die Umkehrfunktion eindeutig bestimmt.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 53

Beweis. Schritt 1: Bijektivität ist hinreichend. Wenn f : X → Y bijektiv ist, dann


wählen wir für jedes y ∈ Y das eindeutig-bestimmte x ∈ X , so dass f (x) = y , und wir
denieren g(y) := x. Die Funktion g : Y → X so deniert ist eine Umkehrfunktion von f ,
da für jedes x ∈ X gilt g(f (x)) = g(y) = x und für jedes y ∈ Y gilt f (g(y)) = f (x) = y .
Schritt 2: Bijektivität ist notwendig. Wir nehmen an, dass f : X → Y eine Umkehrfunk-
tion g : Y → X besitzt und zeigen, dass dann f bijektiv ist. Wenn für x, x̃ ∈ X gilt
f (x) = f (x̃), dann ergibt (3.2.1), dass

x = g(f (x)) = g(f (x̃)) = x̃.

Also ist f injektiv. Jetzt betrachten wir ein beliebiges y ∈ Y. Wir denieren x ∈ X
durch x := g(y). Dann gilt nach (3.2.2)

f (x) = f (g(y)) = y.

Also ist f surjektiv.


Schritt 3: Eindeutigkeit der Umkehrfunktion. Um die Eindeutigkeit zu bestätigen,
nehmen wir an, dass es für f : X → Y zwei Funktionen g, g̃ gibt, die (3.2.1) und (3.2.2)
erfüllen. Wir betrachten y ∈ Y . Nach dem Argument oben ist f surjektiv, also gibt es
ein x ∈ X , so dass y = f (x). Aus (3.2.1) schlieÿen wir

g(y) = g(f (x)) = x = g̃(f (x)) = g̃(y).

Also gilt g = g̃ auf Y.

Bemerkung. Angesichts der Eindeutigkeit reden wir von der Umkehrfunktion einer Funktion.
Da f :X→Y nur eine Umkehrfunktion besitzt, wenn f surjektiv ist, nehmen wir an, wenn
nur die Funktion f und nicht die Menge Y gegeben wird, dass Y = W(f ) gemeint wird. z.B.
ist tanh invertierbar, weil tanh : R → (−1, 1) invertierbar ist. Aber tanh : R → R ist nicht
invertierbar.

Mit der Denition 3.1.2 und nach Satz 3.2.2 wäre eine äquivalente Denition von Umkehrfunktion:

Denition 2.1.2'. Sei f :X→Y eine injektive Funktion. Dann nennt man

g = {(y, x) ∈ Y × X : (x, y) ∈ f }

die Umkehrfunktion von f. Die Funktion g ist injektiv und

D(g) = W(f ), W(g) = D(f ).

Wie das triviale Beispiel f (x) ≡ 2 zeigt, impliziert f ist monoton nicht, dass f −1 existiert.
Strenge Monotonie reicht jedoch aus.

Satz 3.2.3
Eine streng monotone Funktion besitzt eine Umkehrfunktion
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 54

Beweis. Sei f eine streng monotone Funktion. Wie jede Funktion ist f surjektiv auf
W(f ). Wir müssen also nur überprüfen, ob f injektiv ist. Da f streng monoton ist,
impliziert

x1 < x2 oder x1 > x2 ,

dass

f (x1 ) < f (x2 ) oder f (x1 ) > f (x2 ).

Also gilt f (x1 ) = f (x2 ) genau dann, wenn

x1 = x2 .

Nach Satz 3.2.2 besitzt f eine Umkehrfunktion.

3.3 Neue Funktionen aus Alten


Seien f und g reelle Funktionen. Sei A = D(f ) ∩ D(g). Dann ist die Summe deniert als

f + g : A → R, (f + g)(x) := f (x) + g(x) für alle x ∈ A.

Analog deniert man

f − g :A → R, (f − g)(x) := f (x) − g(x)


und f · g : A → R, (f · g)(x) := f (x) · g(x).

Auf A′ = {x ∈ A : g(x) ̸= 0} deniert man

f f f (x)
: A′ → R, (x) := .
g g g(x)

Die Zusammensetzung von f und g ist deniert als

(g ◦ f )(x) = g(f (x)) für alle x ∈ D(f ) mit f (x) ∈ D(g).

Beispiele der Zusammensetzung:

O1 Sei E potentielle Energie als Funktion von h:

E(h) = mgh, m, g ∈ R+ .

Sei h die Höhe eines fallenden Körpers zum Zeitpunkt t:


 s 
g 2h0 
h(t) = h0 − t2 , h0 ∈ R+ , t ∈  0, .
2 g
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 55

Dann ist die potentielle Energie des Körpers als Funktion von t gegeben durch die
Zusammensetzung:

 s 
g 2
 2h0 
(E ◦ h)(t) = mg h0 − t , t ∈  0, .
2 g

O2 Sei d = d(t)die Verschiebung eines Teilchens als Funktion von t, wobei t Zeit in
Minuten ist. Sei t(s) =
s
. Dann ist D(s) = d ◦ t(s) = d
s

die Verschiebung als
60 60
Funktion von s, wobei s Zeit in Sekunden ist.

O3 f (x) =

x2 − 4, g(x) = 1
x
. Dann ist

1
g ◦ f (x) = √ .
x2 −4
Hier ist D(f ) = (−∞, −2] ∪ [2, ∞) und

D(g ◦ f ) = (−∞, −2) ∪ (2, ∞).

Man bemerkt, dass −2 und 2 nicht zu D(g ◦ f ) gehören, weil f (−2) und f (2) nicht zu
D(g) gehören.

3.4 Polynome und rationale Funktionen


Denition 3.4.1
Für n = 0, 1, 2, . . . heiÿt eine Funktion f :R→R (reelles) Polynom vom Grad n, wenn
es reelle Zahlen a0 , ..., an mit an ̸= 0 gibt, so dass

f (x) = an xn + an−1 xn−1 + ... + a1 x + a0 , x ∈ R.

Die Zahlen a0 , ..., an heiÿen Koezienten von f.

Wir schreiben oft pn (x) für ein Polynom, wobei n den Grad des Polynoms bezeichnet.
Wir bemerken, dass konstante Funktionen, die nicht gleich Null sind, Polynome nullten
Grades sind. Das Nullpolynom f ≡ 0 ist auch ein Polynom, aber das Grad des Nullpolynoms
ist nicht Null, da a0 = 0 ausgeschlossen wurde. Es ist (aus technischen Gründen) bequem zu
denieren:

Denition 3.4.2
Wir denieren das Grad des Nullpolynoms als −∞. Wenn wir also für n = 0, 1, . . . von
Polynomen Grad n und weniger reden, ist das Nullpolynom immer mit dabei.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 56

Satz 3.4.3
Zwei Polynome sind genau dann gleich, wenn ihre Koezienten gleich sind. Das heiÿt:
Ein Polynom ist durch seine Koezienten bestimmt.

Beweis. Seien

n
X n
X
k
pn (x) = ak x , qn (x) = bk x k
k=0 k=0

zwei Polynome vom Grad n. Die Tatsache, dass pn (x) = qn (x), wenn ak = b k für alle
k = 0, .., n ist klar. Für die umgekehrte Richtung müssen wir zeigen, dass

pn (x) = qn (x) für alle x∈R (3.4.1)

impliziert, dass

ak = b k für alle k = 0, .., n (3.4.2)

gilt. Zunächst setzen wir x=0 in (3.4.1) und erhalten

a0 = b 0 . (3.4.3)

Wir benutzen (3.4.3) in (3.4.1) um zu schlieÿen, dass

pn (x) − a0 = qn (x) − b0 für alle x ∈ R,

also

an xn + an−1 xn−1 + ... + a1 x = bn xn + bn−1 xn−1 + ... + b1 x für alle x ∈ R.

Für x ∈ R \ {0} dividieren wir durch x und erhalten

an xn−1 + an−1 xn−2 + ... + a1 = bn xn−1 + bn−1 xn−2 + ... + b1 für alle x ∈ R \ {0} .
(3.4.4)

Wir behaupten, dass a1 = b1 aus (3.4.4) folgt. Wir können aber nicht wie mit (3.4.3)
argumentieren, da x = 0 in (3.4.4) nicht erlaubt ist. Stattdessen nden wir eine obere
Schranke für |a1 − b1 | wie folgt:
(3.4.4)
|a1 − b1 | ≤ |a xn−1 + ... + a2 x − bn xn−1 − ... − b2 x|
n 
≤ (|an | + |bn |)xn−2 + ... + |a2 | + |b2 | |x| für alle x ∈ R \ {0}
≤ ||an | + |bn | + ... + |a2 | + |b2 || |x| für alle x ∈ (−1, 1) \ {0}
≤ C|x| für alle x ∈ (−1, 1) \ {0}
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 57

für ein C < ∞. Da wir |x| beliebig klein wählen können, erhalten wir aus Lemma 1.5.1,
dass

|a1 − b1 | = 0, also a1 = b 1 .

Die Gleichheit der übrigen Koezienten zeigt man genauso.

Was macht man mit Polynomen? Übliche Fragen sind z.B. folgende:

(1) Was sind die Nullstellen des Polynoms, d. h., für welche x∈R gilt pn (x) = 0?
(2) Wie kann man das Polynom in Faktoren zerlegen?

(3) Wie kann man eine komplizierte Funktion durch Polynome approximieren? (Polynome
sind glatt und relativ einfach - also gäbe es einen Vorteil daran...)

Wir fangen mit Nullstellen an.

Denition 3.4.4
Eine reelle Zahl x0 ∈ R heiÿt Nullstelle von pn (x), falls gilt

pn (x0 ) = 0.

Einx0 ∈ R heiÿt m-fache Nullstelle des Polynoms pn (x), wenn es ein Polynom qn−m vom
Grad n − m gibt mit der Eigenschaft, dass für alle x ∈ R gilt

pn (x) = (x − x0 )m qn−m (x),

und qn−m (x0 ) ̸= 0. Man nennt m die Vielfachheit oder die Multiplizität der Nullstelle
x0 . Man nennt x − x0 einen Linearfaktor des Polynoms.

Beispiele.

O1 p(x) = x2 − 4 hat zwei einfache Nullstellen x1 = 2 und x2 = −2.


O2 p(x) = x3 − 4x2 + 4x = x(x − 2)2
Nullstelle x2 = 2.
hat eine einfache Nullstelle x1 = 0 und eine zweifache

O3 p(x) = x2 + 1
Nullstellen.
kann nicht in Linearfaktoren zerlegt werden und besitzt keine reellen

Das Problem, das wir im dritten Beispiel entdeckt haben, ist das einzige Problem, das
vorkommt. Diese Tatsache machen wir in der untenstehenden Bemerkung genauer.

Denition 3.4.5
Ein Polynom mit der quadratischen Form

a2 x 2 + a1 x + a0 mit a0 , a1 , a2 ∈ R,

das man nicht in der Form a2 (x − x1 )(x − x2 ) mit reellen Zahlen x1 , x2 schreiben kann,
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 58

wird ein irreduzibles quadratisches Polynom genannt.

Bemerkung (Zerlegung eines Polynoms). Was kann man im Allgemeinen über die Zerlegung
eines Polynoms sagen?

(1) Der Fundamentalsatz der Algebra [Gauÿ] sagt, dass jedes Polynom n-ten Grades mit
reellen Koezienten in n Linearfaktoren mit komplexen Zahlen zerlegt werden kann:

pn (x) = an (x − z1 )(x − z2 ) · ... · (x − zn ), z1 , ..., zn ∈ C.

(2) Wenn z ∈ C eine Nullstelle des reellen Polynoms pn ist, dann ist auch z, die zu z
konjugierte komplexe Zahl, eine Nullstelle von pn . (Aus pn (z) = 0 erhält man pn (z) =
0.)
(3) Es folgt, dass irreduzible Polynome das einzige potenzielle Problem sind im folgenden
Sinn:

Jedes reelle Polynom n-ten Grades pn (x) kann als Produkt von Linearfaktoren
mit reellen Nullstellen und gegebenenfalls irreduziblen quadratischen Polynomen
geschrieben werden.

(Um dies aus den vorherigen Punkten zu schlieÿen, beachten Sie, dass für jedes z∈C

(x − z)(x − z)

ein reelles Polynom in x ist.)

Der Fundamentalsatz der Algebra impliziert nicht, dass es leicht ist, die Nullstellen zu
nden! Sie kennen die Lösungsformel für quadratische Gleichungen: Das Polynom

p(x) = ax2 + bx + c

hat die Nullstellen



−b ± b2 − 4ac
x± = .
2a
Die Formel für kubische Polynome ist viel komplizierter. Für Polynome des Grades 5 und
gröÿer kann es keine geschlossene Formel geben [Abel-Runi, Galois].
Trotzdem schaen wir es, die Nullstellen in nett ausgewählten Beispielen zu nden.

Beispiel. Finden Sie alle komplexen Nullstellen von x3 + 3x2 + x − 5. Man ndet durch
Ausprobieren schnell die Nullstelle x1 = 1, sodass man durch Polynomdivision

(x3 + 3x2 + x − 5) : (x − 1) = x2 + 4x + 5

auf die Faktorisierung (x − 1)(x2 + 4x + 5) kommt. Nun ndet man leicht die zusätzlichen
p
Nullstellen x2 = −2 + (−1) = −2 + i und x3 = −2 − i. Daraus ergibt sich die Zerlegung
in Linearfaktoren:

x3 + 3x2 + x − 5 = (x − 1)(x − (−2 + i))(x − (−2 − i)) = (x − 1)(x + 2 − i)(x + 2 + i).


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 59

Denition 3.4.6
Seien pn (x) und qm (x) Polynome von Grad n bzw. m. Dann heiÿt

pn (x)
R(x) =
qm (x)

eine rationale Funktion. Der Denitionsbereich von R ist {x ∈ R : qm (x) ̸= 0}.

Jetzt suchen wir eine äquivalente Darstellung von R in dem Fall m < n.

Satz 3.4.7
pn (x)
Sei R(x) =qm (x)
, wobei pn und qm Polynome vom Grad n bzw. m sind und n ≥ m.
Dann gibt es Polynome sn−m und tk , so dass für alle x ∈ D(R) gilt

tk (x)
R(x) = sn−m (x) + . (3.4.5)
qm (x)

Die Funktion tk ist entweder identisch Null oder ein Polynom vom Grad k < m.

Beweis. Der übliche Divisions-Algorithmus ergibt

pn (x) an xn + an−1 xn−1 + . . . + a1 x + a0


=
qm (x) bm xm + bm−1 xm−1 + . . . + b1 x + b0
an n−m tn−1 (x)
= x + , (3.4.6)
bm qm (x)

wobei

an n−m
tn−1 (x) = pn (x) − x qm (x)
bm
vom Grad kleiner gleich n − 1 ist, weil der n-te Term verschwindet. Dies wiederholt man,
bis der Grad des Zählerpolynoms in (3.4.6) kleiner gleich dem Grad des Nennerpolynoms
ist (also, maximal n−m+1 mal).

Beispiel. Schreiben Sie

x3 + x
R(x) =
x−1
in der Form (3.4.5). Zeichnen Sie den Graphen der Funktion.

Lösung. Man erhält

2
R(x) = x2 + x + 2 + .
x−1
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 60

Für die Parabel zeichnet man

y
8
7
6
5 x2 + x + 2 = (x + 21 )2 + 7
4
4
3
2
1
x
−3 −2 −1 1 2

Für den Restterm zeichnet man in Schritten:

y y y
4 4 4
3 1 3 1 3 2
x (x−1) (x−1)
2 2 2
1 1 1
x x x
−2 −1 1 2 −1 1 2 3 −1 1 2 3
−1 −1 −1
−2 −2 −2
−3 −3 −3
−4 −4 −4

Die Summe ergibt:

y
10
9
8
R(x)
7
6
5
4
3
2
1
x
−1 1 2 3
−1
−2
−3
−4

Man erkennt D(R) = R \ {1} und W(R) = R.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 61

3.5 Trigonometrische Funktionen


Wir erinnern an die Funktionen

sin(x)
sin(x) = b, cos(x) = a, tan(x) = ,
cos(x)

wobei (a, b) ein Punkt des Einheitskreises ist und x der Winkel gegen den Uhrzeigersinn
zwischen der x-Achse und dem Segment von (0, 0) bis (a, b) ist.

y
(a,b)

x
x
(0,0) (1,0)

Wir werden ab und zu die folgenden Eigenschaften brauchen:

ˆ sin(0) = 0, cos(0) = 1,

ˆ |sin(x)| ≤ 1, |cos(x)| ≤ 1,

ˆ sin ist ungerade, cos ist gerade,

ˆ sin und cos sind periodisch mit Periode 2π ,

ˆ sin2 (x) + cos2 (x) = 1,

ˆ cos(x) = 1 − 2 sin2 x2 ,


ˆ sin(x ± y) = sin(x) cos(y) ± cos(x) sin(y),

ˆ cos(x) = sin π2 − x , sin(x) = cos π2 − x ,


 

ˆ 0 < x cos(x) < sin(x) < x für x ∈ (0, π2 ].

Man deniert Arkussinus und Arkuscosinus,

arcsin : [−1, 1] → [−π/2, π/2] arccos : [−1, 1] → [0, π],

als die Umkehrfunktionen von sin : [−π/2, π/2] → [−1, 1] bzw. cos : [0, π] → [−1, 1].
Kapitel 4
Zahlenfolgen
Wir werden oft mit Zahlenfolgen arbeiten müssen. Auÿerdem werden wir Folgen als Werkzeug
benutzen, z.B. um den Grenzwert einer Funktion zu denieren.

4.1 Einleitung
Was ist eine Folge? Eine Folge ist eine Funktion auf N oder auf einer unendlichen Teilmenge
davon.

Denition 4.1.1
Eine auf N oder auf einer unendlichen Teilmenge von N denierte reellwertige Funktion
heiÿt Zahlenfolge oder Folge. Statt n 7→ f (n)schreiben wir für das Bild f (n) von n

meistens an . Für a1 , a2 , a3 , ... schreiben wir auch {an }n=1 . Die Werte an heiÿen Folgenglieder.

Es ist unerheblich, dass die Nummerierung mit 1 beginnt. a5 , a7 , a12 , ... ist ebenfalls eine
Folge. Wie wir schon bemerkt haben, können Folgen explizit oder rekursiv deniert werden.
Als Beispiel betrachten wir

1
an := (−1)n , n ∈ N (explizit)
2n  
1 2
a1 = 2, an = an−1 + , n = 2, 3, 4, . . . (rekursiv).
2 an−1
Wie andere Funktionen kann eine Folge monoton, beschränkt, usw. sein.

Beispiel. Ein Ball fällt aus der Höhe h auf einen Tisch und springt bis zur Höhe 0, 9h zurück
usw. Bestimme die jeweiligen Sprunghöhen und den Gesamtweg, den der Ball bis zum N -ten
Auftreen zurückgelegt hat. Man erhält

an = (0, 9)n h, n = 1, 2, ...


für die Sprunghöhe nach dem n-ten Auftreen und

b1 = h, bn = bn−1 + 2 · (0, 9)n h, n = 2, 3, 4, ...


für die Länge des Gesamtwegs bis zum n-ten Auftreen. Wir bemerken folgendes:
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 63

ˆ {an }∞
n=1 ist streng monoton fallend, nach oben durch h beschränkt, nach unten durch
0 beschränkt.
ˆ {bn }∞
n=1 ist streng monoton wachsend und nach unten durch h beschränkt. Ist {bn }∞
n=1
auch nach oben beschränkt? Ja, wie wir jetzt zeigen.
n
rk
P
Lemma 4.1.2. Deniere sn := für alle n∈N und r ∈ R. Dann ist die Folge {sn }
k=0

ˆ nach oben unbeschränkt für r ≥ 1,


ˆ beschränkt für r ∈ (0, 1) und es gilt

1 − rn+1
sn = . (4.1.1)
1−r

n n
1k , 1k
P P
Beweis. Für r ≥ 1 ist sn ≥ also reicht es aus, wenn wir zeigen, dass
k=0 k=0
n
k
P
nach oben unbeschränkt ist. Da 1 = |1 + 1 +
{z... + 1} = n + 1, folgt dies aus der
k=0
n+1 mal
Unbeschränktheit von N. Für r ∈ (0, 1) rechnen wir aus

sn = 1+r + ... + rn ,
rsn = r + ... + rn + rn+1 ,

so dass

(1 − r)sn = 1 − rn+1 .

Dies entspricht (4.1.1). Aus den Ungleichungen 1−rn+1 < 1 und 1−r > 0 folgt auÿerdem
1
sn < ,
1−r
sodass sn nach oben beschränkt ist. (Wichtig ist, dass die rechte Seite unabhängig von
n ist.) Aus (4.1.1) und rn+1 ≤ r für r ∈ (0, 1) schlieÿen wir, dass

1−r
sn ≥ = 1,
1−r
so dass sn nach unten durch 1 beschränkt ist. Also ist sn beschränkt.

Frage: Was passiert, wenn r ∈ (−1, 0)?


Die geometrische Reihe taucht in vielen Anwendungen auf. Monotone Folgen sind einfacher
als nicht monotone Folgen, aber

1
an = (−1)n ,
2n
 n
9
gn = (−1)n ·h
10
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 64


sind einfache Beispiele nicht monotoner Folgen. Man merkt sowohl für {an }n=1 als auch für
{gn }∞
n=1 , dass die Folgenglieder sich immer mehr der Zahl x = 0 nähern. Diese Beispiele
sind einfach wegen der Homogenität des Absolutbetrags (siehe Satz 1.4.2) und der Form der
Folgen. Z.B. erhält man

1 1
|an | = |(−1)n | = .
2n 2n

Den Begri sich an 0 zu nähern machen wir explizit in der folgenden Denition.

Denition 4.1.3
Eine Folge {an }∞
n=1 reeller Zahlen heiÿt Nullfolge, wenn es zu jeder Zahl ε > 0 ein
N = N (ε) in N gibt, so dass

|an | ≤ ε für alle n ≥ N (ε).

Wir sagen, die Folge hat den Grenzwert Null (oder: konvergiert gegen Null), und schreiben

an → 0 für n→∞ oder lim an = 0.


n→∞

Notation 4.1.4
Wenn man
an ↑ 0 bzw. an ↓ 0
schreibt, bedeutet es, dass {an }∞
n=1 monoton wachsend bzw. monoton fallend gegen Null
für n→∞ konvergiert. Alternativ ndet man die Notation

an ↗ 0 bzw. an ↘ 0.

Bemerkung. Nach der Denition ist {|an |}∞


n=1 eine Nullfolge genau dann, wenn {an }∞
n=1
eine Nullfolge ist.

Bemerkung. Man denkt an ε > 0 sehr klein und erwartet, dass N im Allgemeinen sehr
groÿ gewählt werden muss. ε > 0 spielt die Rolle einer Fehlertoleranz. Diese ist das Input
und wird gegeben. Zurückgeliefert wird ein passendes Output N , so dass der Fehler für alle
zukünftigen Folgenglieder kleiner gleich der Toleranz ist.

9 n
, ε = 10−4 .

Beispiel. cn = 200 10
Dann ist |cn | ≤ ε0 für alle n ≥ 138. Also gibt man
zurück N = 138.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 65

Beispiel.

a1 = 1,
a2 = 0,
1
a3 = ,
4
a4 = 0,
a5 = 0,
1
a6 = ,
4
a7 = 0 usw.

Wie groÿ auch N ∈N ist, gibt es ein n ≥ N, so dass an = 1


4
ist. Also ist {an }∞
n=1 keine
Nullfolge.

Bemerkung. Ob {bn }∞
n=1 eine Nullfolge ist, hat nur mit dem Verhalten für groÿe n zu tun.

· 5n n = 1, 2, ..., 500

10000
bn = 1
n
5
n ≥ 501

ist eine Nullfolge. Dass {an }∞


n=1 eine Nullfolge ist, bedeutet insbesondere nicht, dass die
Folgenglieder klein sind, sondern dass sie für n groÿ genug klein sind.

Beispiel. Bestimmen Sie, ob die folgenden Folgen gegen Null konvergieren oder nicht

1
(1) an = n
,

(2) bn = b + (−1)n b + n1 , b ∈ R,
√ √
(3) cn = n + 1 − n .

Lösung. Zu (1) : Sei ε>0 (beliebig klein) gegeben. Wir denieren

 
1
N := ,
ε

wobei für x ∈ R ⌈x⌉ die kleinste ganze Zahl gröÿer gleich x bezeichnet. Da ε > 0, ist
N ∈ N. Auÿerdem gilt

1
n≥ für alle n ∈ N mit n ≥ N,
ε
so dass

1
≤ε für alle n ∈ N mit n ≥ N,
n
wie gewünscht.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 66

Zu (2) : Für b=0 haben wir schon in (1) gezeigt, dass {bn } eine Nullfolge ist. Wir
zeigen jetzt für b ̸= 0, dass {bn } keine Nullfolge ist. Für n gerade ist

1
bn = 2b + .
n
Wenn b > 0, dann setzen wir ε := 2b. Dann ist

1
|bn | = bn = 2b + >ε für alle gerade n ∈ N.
n
Wenn b < 0, dann setzen wir ε := |b| Für n ≥ 1/|b| und gerade gilt dann

1
|bn | = 2|b| − ≥ |b| ≥ ε.
n
Zu (3) : Die Idee ist, dass

√ √
n+1≈ n für n groÿ,

√ √
so dass n + 1− n klein ist für n groÿ. Diese Idee müssen wir irgendwie präzise machen.
Der Trick, der hier nützlich ist, ist das Erweitern mit Eins:

√ √
√ √ n+1+ n
0 ≤ cn = ( n + 1 − n) · √ √
n+1+ n
1 1
=√ √ <√ . (4.1.2)
n+1+ n n
1
Sei ε>0 gegeben. Wir wählen N =
ε2
. Dann ist

(4.1.2) 1 1
cn ≤ √ ≤ √ ≤ ε for all n ≥ N.
n N
Also ist {cn }∞
n=1 eine Nullfolge.

Wie im letzten Beispiel gesehen, hilft es oft, mit einer einfacheren Folge zu vergleichen.

Satz 4.1.5: Vergleichskriterium für Nullfolgen


Seien {an }∞ ∞
n=1 , {bn }n=1 Zahlenfolgen mit

|bn | ≤ |an | (4.1.3)

für alle n ∈ N, die gröÿer als eine feste Zahl N0 sind. Wenn an → 0 für n → ∞, dann
gilt auch bn → 0 für n → ∞.

Beweis. Leichte Übung.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 67

Denition 4.1.6

Wenn (4.1.3) gilt, dann nennen wir {an }n=1 eine Majorante von {bn }∞
n=1 . Man sagt, dass
{an }∞ ∞
n=1 die Folge {bn }n=1 majorisiert.

Beispiel. Zeigen Sie, dass {αn }∞


n=1 für 0 < |α| < 1 eine Nullfolge ist.

Lösung. Wir wenden die Bernoullische Ungleichung an. Da |α| ∈ (0, 1), ist

1
=1+h
|α|

für ein geeignetes h > 0. Es folgt

1 1 1
|α|n = n
≤ ≤ .
(1 + h) 1 + nh nh

1
{|α|n }∞ {αn }∞

Da eine Nullfolge ist, ist auch n=1 eine Nullfolge und somit auch n=1 .
nh n=1

Nullfolgen besitzen folgende Eigenschaften:

Satz 4.1.7: Eigenschaften von Nullfolgen


Seien {an }∞ ∞
n=1 , {bn }n=1 Nullfolgen und {cn }∞
n=1 eine beschränkte Folge. Dann gilt

(i) {an }∞
n=1 ist beschränkt,

(ii) {αan + βbn }∞


n=1 , α, β ∈ R ist eine Nullfolge,
np o∞
(iii) |an | ist eine Nullfolge,
n=1

(iv) {an · cn }∞
n=1 ist eine Nullfolge.

Beweis. Zu (i) : Da {an }∞


n=1 eine Nullfolge ist, existiert N ∈ N, so dass

|an | ≤ 1 for all n ≥ N.

Wir setzen

C := max {|an |}∞


n=1 = max {|a1 |, |a2 |, ..., |aN |}
1≤n≤N

und denieren

C̃ := max {C, 1} .

Dann ist |an | ≤ C̃ for all n ∈ N.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 68

Zu (ii) : Nach der Dreiecksungleichung und der Homogenität des Absolutbetrags gilt

|αan + βbn | ≤ |α||an | + |β||bn | für alle n ∈ N. (4.1.4)

Sei ε > 0 gegeben. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit können wir annehmen, dass
α ̸= 0 und β ̸= 0. (Warum?) Da {an }∞ ∞
n=1 , {bn }n=1 Nullfolgen sind, existieren N1 , N2 ∈ N,
so dass

ε ε
|an | < für alle n ≥ N1 , |bn | < für alle n ≥ N2 . (4.1.5)
2|α| 2|β|

Aus (4.1.4) und (4.1.5) folgt

ε ε
|αan + βbn | ≤ + =ε für alle n ≥ max {N1 , N2 } .
2 2
Zu (iii) : Zu ε>0 wählen wir N ∈ N, so dass

|an | < ε2 für alle n ≥ N.

Zu (iv) : Nach Annahme existiert M ∈ R, so dass

|cn | ≤ M für alle n ∈ N.

Nach (ii) ist {M |an |}∞n=1 eine Nullfolge. Da |an · cn | ≤ M |an |, schlieÿen wir mit Satz
4.1.5, dass {an · cn }∞
n=1 eine Nullfolge ist.

Fall (iv) oben ist der einfache Fall. Sehr oft werden wir Folgenglieder der Form

an · c n
betrachten, wobei {an }∞
n=1 {cn }∞
eine Nullfolge ist und n=1 eine unbeschränkte Folge ist. Die
Frage ist die Rate: verschwindet an schneller oder wächst cn schneller? Als Beispiel betrachten
wir die Folge mit Folgengliedern

nαn , |α| < 1.


Die intuitive Antwort ist, dass diese Folge gegen Null konvergiert, weil exponentielles
Abfallen lineares Wachsen schlägt. Jetzt begründen wir diese Behauptung. Die Idee ist

folgende: Als wir oben gezeigt haben, dass {an }n=1 gegen 0 konvergiert, haben wir die
Abschätzung

1
|α|n ≤ für ein h>0
hn
angewendet. Hier reicht diese Abschätzung nicht aus, weil wir daraus nur

1
|nαn | ≤
h
erhalten. Wegen √1 >1 können wir h̃ durch
|α|

1
p = 1 + h̃
|α|
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 69

denieren und erhalten somit eine bessere Rate, wie wir jetzt zeigen.

Beweis. Sei h̃ durch

1
p = 1 + h̃
|α|

deniert. Dann ist h̃ > 0 und es gilt

1 1
|nαn | = n|α|n = n · ·
(1 + h̃)n (1 + h̃)n
1 1
≤n· · (Bernoullische Ungleichung)
1 + nh̃ 1 + nh̃
1
≤n·
(nh̃)2
1
= ,
n(h̃)2

also ist {nαn }∞


n=1 eine Nullfolge.

Frage: Können Sie eine noch bessere Rate des Abfallens von {αn } erhalten? Inwiefern?

xn
Beispiel. Ist an = n!
,x ∈ R, eine Nullfolge?

Lösung. Ja, Abfallen durch Fakultät schlägt exponentielles Wachstum. Wir schreiben

xn x x x x x
= · · ... · · · ... · , (4.1.6)
n! |1 2 {z m} |m + 1{z n}
=:Cm n−m Terme

wobei Cm < ∞ für m groÿ aber fest (endlich) gilt. Wir wählen m∈N groÿ genug, so
dass
x 1
< . (4.1.7)

m 2
Dann ist
n
x (4.1.6) (4.1.7)
≤ Cm · x
n−m
1 n−m

n! ≤ Cm 2
m
1 n

= Cm 2m 2
.
 1 ∞  xn ∞
Für m fest ist Cm · 2m eine feste Zahl. Da
n=1 2n
eine Nullfolge ist, ist auch
n! n=1
eine Nullfolge. (Nach Satz 4.1.7 (ii) und Satz 4.1.5.)

Bemerkung. Die Formulierung  m groÿ aber fest bedeutet, dass wir zwar je nach x m sehr
groÿ wählen müssen. Dieses so gewählte m muss jedoch nicht mehr im Laufe des Beweises
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geändert werden und kann somit im Folgendem auch als etwas Festes, Gegebenes betrachtet
werden. Daher ist oft die Reihenfolge in Beweisen wichtig. In diesem ist x gegeben und dann
wählen wir unser m. Danach ist es nicht mehr möglich x zu ändern, der Beweis müsste dann
wieder von vorne betrachtet werden.

Andere mögliche Fragen sind z.B.

n3 xn n!
, , , usw.
n! n2 np · xn

4.2 Allgemeine Konvergenz und Divergenz


Jetzt, da wir Nullfolgen so gut verstehen, ist es leicht konvergente Folgen im Allgemeinen zu
denieren.

Denition 4.2.1
Die Folge {an }∞
n=1 heiÿt konvergent mit Grenzwert a, oder an konvergiert gegen a, wenn
es ein a ∈ R gibt mit der Eigenschaft, dass die Folge {an − a}∞
n=1 eine Nullfolge ist. Das
heiÿt, zu jedem ε > 0 gibt es ein N ∈ N, so dass

|an − a| < ε für alle n ≥ N.

Dann schreiben wir

lim an = a oder an −→ a für n → ∞.


n→∞

Notation 4.2.2
Analog zur Notation für Nullfolgen schreibt man

an ↑ a oder an ↗ a bzw. an ↓ a oder an ↘ a,

wenn {an }∞
n=1 für n → ∞ monoton wachsend bzw. monoton fallend gegen a konvergiert.

Denition 4.2.3
Die Folge{an }∞
n=1 heiÿt konvergent, wenn es eine Zahl a ∈ R gibt, so dass limn→∞ an = a.

Ansonsten heiÿt die Folge {an }n=1 divergent.

Man betrachte

an = n, bn = (−1)n · n.

Beide sind divergent, aber das Verhalten ist sehr verschieden. Um über den Unterschied
reden zu können, führen wir folgende Denition ein:
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 71

Denition 4.2.4
Wir sagen, dass {an }∞
n=1 gegen Unendlich divergiert, wenn es für jedes M ∈ R ein
N = N (M ) gibt mit der Eigenschaft, dass

an ≥ M für alle n ≥ N.

In diesem Fall schreiben wir

an −→ ∞ oder lim an = ∞.
n→∞

Analog für an −→ −∞. Wenn an −→ ∞ oder an −→ −∞, dann sagen wir, dass die
Folge {an }∞
n=1 bestimmt divergent ist. Wenn {an }∞
n=1 divergent, aber nicht bestimmt
divergent ist, dann sagen wir, dass die Folge unbestimmt divergent ist.

Die Folge an = n von oben ist eine bestimmt divergente Folge. Beispiele unbestimmt
divergenter Folgen:

{(−1)n }∞
n=1 , {(−1)n · n}∞
n=1 , {(1 + (−1)n )n}∞
n=1 .

Das Verhalten ist unterschiedlich. {an }∞ ∞


n=1 ist unbestimmt divergent und beschränkt. {bn }n=1

ist unbestimmt divergent und unbeschränkt. {cn }n=1 ist unbestimmt divergent, nach unten
beschränkt und nach oben unbeschränkt.

Bemerkung. Achtung! Bemerken Sie, dass

lim an = ∞
n→∞

nicht impliziert, dass {an } konvergent ist (weil Unendlich keine reelle Zahl ist; sehen Sie
Denition 4.2.3).

Satz 4.2.5
Der Grenzwert einer konvergenten Folge ist eindeutig bestimmt.

a ã

Beweis. Wir nehmen an, dass {an }∞


n=1 konvergent ist mit den Grenzwerten a und ã,
wobei a ̸= ã gilt. Wir denieren

1
ε := |a − ã|.
2
Da an → a konvergiert, existiert ein N ∈ N, so dass

|an − a| ≤ ε für alle n ≥ N.


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Aus der Dreiecksungleichung erhält man

|an − ã| ≥ |a − ã| − |an − a|


≥ 2ε − ε = ε für alle n ≥ N,

was widerspricht, dass an → ã für n → ∞.

Übung 4.2.6
Schreiben Sie einen direkten Beweis.

Man erhält die folgenden Verallgemeinerungen der Sätze 4.1.5 und 4.1.7.

Satz 4.2.7: Vergleichskriterium


Es seien {an }∞ ∞
n=1 , {bn }n=1 und {cn }∞
n=1 Zahlenfolgen mit

an ≤ b n ≤ c n für alle n ≥ N,

für ein N ∈ N. Dann gilt

(i) Wenn an −→ a, bn −→ b, cn −→ c für n → ∞, dann ist

a ≤ b ≤ c.

(ii) (Sandwichkriterium) Wenn an −→ a und cn −→ a für n → ∞ (gleiche Grenzwerte



für an und cn ), dann ist die Folge {bn }n=1 konvergent und

bn −→ a für n → ∞.

Satz 4.2.8: Eigenschaften konvergenter Folgen


∞ ∞
Es seien {an }n=1 und {bn }n=1 konvergente Zahlenfolgen mit Grenzwerten a bzw. b. Weiter

sei {cn }n=1 eine beschränkte Folge. Dann gilt

(i) Die Folge {an }∞


n=1 ist beschränkt.

(ii) Die Folge {αan + βbn }∞


n=1 mit α, β ∈ R konvergiert gegen αa + βb.
p p
(iii) Die Folge {|an |}∞
n=1 konvergiert gegen |a| und { |an |}∞
n=1 konvergiert gegen |a|.

(iv) Die Folge {an · bn }∞


n=1 konvergiert gegen a · b.

(v) Die Folge {an · cn }∞


n=1 ist beschränkt.
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(vi) Wenn an ̸= 0 für alle n∈N und a ̸= 0, dann gilt

1 1
−→ für n → ∞.
an a

Übung 4.2.9
Beweisen Sie den Satz. (Hinweis: Die Ideen wurden schon im Abschnitt 4.1 eingeführt.)

Bemerkung. Satz 4.2.7 (ii) wird das Sandwich-Kriterium genannt, weil bn zwischen zwei
Folgen eingeschlossen ist, wie der Käse zwischen zwei Brotscheiben.

Bemerkung. Satz 4.2.8 (v) ist scharf in dem Sinne: {an }∞ ∞


n=1 konvergent und {cn }n=1
beschränkt impliziert nicht, dass {an · cn } konvergiert. Beispiel: an = 1 für alle n ∈ N,
cn = (−1)n . Die Ausnahme - wie in Satz 4.1.7 gesehen - ist, wenn an → 0.

Bemerkung. Man sollte Satz 4.2.8 (ii) nicht für selbstverständlich halten. Wir schauen uns
dazu das folgende Beispiele an. Sei {ak }∞
k=1 eine Zahlenfolge. Man deniert die Folge

xn := sup {ak , k ≥ n}
| {z }
eine Menge

und die Zahl

lim sup an := lim xn .


n→∞ n→∞

Es gilt

lim sup(an + bn ) ≤ lim sup an + lim sup bn ,


n→∞ n→∞ n→∞

aber die linke Seite kann echt kleiner sein, zum Beispiel für

an = (−1)n , bn = (−1)n+1 .

Wir schauen uns jetzt an, wie Satz 4.2.8 in den Hausaufgaben vorkommen könnte.

Beispiele. Bestimmen Sie, ob die folgenden Folgen konvergieren. Wenn ja, geben Sie den
Grenzwert an. Begründen Sie Ihre Antwort.

O1

5n3 + 3n − 2
an = ,
2n3 − n
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 74

O2
 n
1 n
an = ,
2 2n + 5

O3
 n
1
an = n2 ,
2

O4

n
an = x, x > 0, (4.2.1)

O5

n
an = n. (4.2.2)

Lösung. zu
Potenz von
O
n
1 : Für solche rationale Funktionen von n dividieren wir durch die gröÿte
um die Folgenglieder in die folgende Form zu bringen:

5n3 + 3n − 2 5 + n32 − 2
n3
lim = lim
n→∞ 2n3 − n n→∞ 2 − n12
3 2
5 + lim 2 − lim3
n→∞ n n→∞ n
= 1
2− lim 2
n→∞ n
5
= ,
2

zu O2
wobei wir Satz 4.2.8 (ii) , (iv) und (vi) angewendet haben.
: Wir wenden Satz 4.2.8 (iv) an.

 n  n
1 n 1 n
lim = lim · lim
n→∞ 2 2n + 5 n→∞ 2 n→∞ 2n + 5
1
= 0 · lim
n→∞ 2 + 5
n
1
=0·
2
= 0.
0
Wenn man in einer ähnlichen Situation einen Ausdruck der Form  0 · ∞ oder   oder
0

O

  erhält, muss man einen anderen Weg nehmen.

zu 3 : Die oben angewendete Methode ergibt  0·∞. Das Abfallen von n ist stärker
1
2
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als das Wachsen von n2 . Wir können dies deutlich machen, wenn wir zeigen, dass

2n > n3 für n groÿ genug, (4.2.3)

also für n≥N für ein N ∈ N. Wenn (4.2.3) gilt, dann ist
 n
1 n2 1
0≤ n2 ≤ 3 = für n ≥ N.
2 n n
1
Aus dem Vergleichskriterium für Nullfolgen und
n
→ 0 für n → ∞ erhalten wir, dass

{an }n=1 eine Nullfolge ist. Um (4.2.3) zu zeigen, benutzen wir vollständige Induktion.
Für n = 10 ist (4.2.3) wahr. Wir nehmen an, dass (4.2.3) für ein N ≥ 10 gilt und müssen
zeigen, dass

2N +1 > (N + 1)3 . (4.2.4)

Wir rechnen

Annahme
2N +1 = 2 · 2N > 2 · N 3.

Also gilt (4.2.4) genau dann, wenn

N 3 > 3N 2 + 3N + 1.

Dies folgt aus den drei Relationen (die leicht nachzuweisen sind)

3N + 1 < 4N für N>1, (4.2.5)

3N + 4N < 4N 2
2
für N>4, (4.2.6)

N 3 > 4N 2 für N>4. (4.2.7)

Man erhält

(4.2.7) (4.2.6) (4.2.5)


N 3 > 4N 2 > 3N 2 + 4N > 3N 2 + 3N + 1.

Nach dem Prinzip der vollständigen Induktion erhalten wir, dass (4.2.3) für alle n∈N
mit
O
n ≥ 10 gilt.
zu 4 : Hier werden wir das Vergleichskriterium anwenden. Wir fangen mit x ≥ 1 an.
Nützlich ist, wenn man

√ √
n
x = (1 + ( n x − 1)) = 1 + yn

mit yn ≥ 0 x ≥ 1 schreibt. Also schreiben wir


für

√ √
x = ( n x)n = (1 + ( n x − 1))n = (1 + yn )n
√ √
≥ 1 + nyn = 1 + n( n x − 1) ≥ n( n x − 1) (Bernoulli).
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 76


Aus x ≥ n( n x − 1) schlieÿen wir

√ x
1≤ n
x≤1+ .
n
Das Vergleichskriterium ergibt


n
x→1 für n→∞ für x > 1.

Für x ∈ (0, 1) schreiben wir


n
1 1
x= q = √
n y
, y > 1,
n 1
x

und wenden Satz 4.2.8 an. (Der Grenzwert des Quotienten ist der Quotient der Grenzwerte.)

Übung 4.2.10
Zeigen Sie O5 .

Die vorherigen Beispiele waren alle schön in dem Sinne, dass wir den Grenzwert identizieren
konnten. Manchmal kann man das nicht tun. Gibt es Kriterien um zu verstehen, ob eine Folge
konvergiert, ohne den Grenzwert zu wissen ? Wir haben gesehen, dass konvergente Folgen
beschränkt sind. Gilt die Umkehrung? Sind beschränkte Folgen konvergent? Das einfache
n
Beispiel an = (−1) zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Monotonie ist anscheinend auch
nicht ausreichend, da an = n nicht konvergiert. Wenn man allerdings Beschränktheit und
Monotonie kombiniert, hat man ein ausreichendes Kriterium gefunden.

Satz 4.2.11
Eine monotone Zahlenfolge, die beschränkt ist, konvergiert.

Anders gesagt, wenn eine Folge divergiert, müssen die Mitglieder beliebig groÿ im Absolutbetrag
werden oder oszillieren.

Bemerkung. Meist wenden wir den Satz direkt in folgender Form an: Eine monoton wachsende
Zahlenfolge, die nach oben beschränkt ist, sowie eine monoton fallende Zahlenfolge, die nach
unten beschränkt ist, konvergiert.

Beweis von Satz 4.2.11. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit (warum?) können wir

annehmen, dass {an }n=1 monoton wachsend ist. Wir denieren

a := sup {an : n ∈ N} .

Da {an }∞
n=1 beschränkt ist, ist a < ∞. Auÿerdem gilt an ≤ a für alle n∈N (weil a
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eine obere Schranke ist) und für jedes ε>0 existiert ein N ∈ N, so dass

aN > a − ε

(Approximations-Eigenschaft des Supremums). Da {an }∞


n=1 monoton wachsend ist, gilt

an ≥ aN > a − ε für alle n ≥ N.

Also haben wir insgesamt: Für jedes ε>0 existiert ein N ∈ N, so dass

a − ε ≤ an ≤ a für alle n ≥ N.

Nach der Denition von Konvergenz haben wir

an → a für n→∞

gezeigt.

Woran scheitert der Beweis, wenn {an }∞


n=1 nicht monoton ist?

A denition or theorem is not just a static statement, it is a weapon for deducing


truth.

Charles Wells, 2016

4.3 Die Exponentialfunktion und der Logarithmus


Wir benutzen Zahlenfolgen um die Exponentialfunktion zu denieren. Wir werden zeigen,
dass für jedes x∈R der Grenzwert

 x n
lim 1+ (4.3.1)
n→∞ n
existiert. Diesen Grenzwert (als Funktion von x) nennen wir die Exponentialfunktion:

 x n
exp(x) := lim 1 + . (4.3.2)
n→∞ n
Auÿerdem nennen wir
 n
1
e := lim 1 + (4.3.3)
n→∞ n

die Eulersche Zahl. Nachdem wir gezeigt haben, dass der Grenzwert (4.3.1) existiert, werden
wir bestätigen, dass die in (4.3.2) denierte Funktion die erwarteten Eigenschaften (z.B.
exp(x + y) = exp(x) · exp(y)) hat. In (4.3.3) ist es wichtig zu bemerken, dass das Kleinwerden
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von1 + n1 im Wettbewerb mit dem Gröÿerwerden der Potenz steht. Obwohl 1+ 1


n
→1 für
n → ∞, ist
 n
1
lim 1+ ̸= 1n = 1.
n→∞ n

Es gilt 1 + n1 ↓ 1 und (1 + α)n ↑ ∞ für alle α > 0. In (4.3.3) muss man zwei konkurrierende
Limiten gleichzeitig betrachten.

Satz 4.3.1
Für alle x∈R existiert  x n
lim 1+ .
n→∞ n

Beweis. Wir denieren


 x n
en := 1 + .
n
Das Ziel ist zu zeigen, dass {en }∞
n=1 monoton wachsend und nach oben beschränkt ist
fürN groÿ genug. Als Erstes zeigen wir, dass en+1
en
≥ 1 für n groÿ genug. Wir bemerken,
dass en > 0 für n > −x. Wir schreiben

x
n+1  x n+1 
en+1 1 + n+1 1 + n+1 x
= n = · 1 +
1 + nx 1 + nx

en n
 x 
= (1 + h)n+1 · 1 + ,
n
wobei wir

x
1 + n+1
h := −1
1 + nx
x
gesetzt haben. Für n > −x gilt 1+ n
> 0, s.d. h > −1. In diesem Fall ergibt die
Bernoulli-Ungleichung

en+1  x
≥ (1 + (n + 1)h) 1 +
en n
n n+x
= ·
n+x n
= 1.


(n+1+x)n n
1 + (n + 1)h = 1 + (n + 1) (n+1)(n+x) −n−1= n+x
.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 79

x n

Wir brauchen noch eine obere Schranke. Da en = 1 + monoton wachsend ist
n
x n

für n > −x, ist 1 − monoton wachsend für n > x und deshalb ist
n

1
bn := n
1 − nx

monoton fallend für n > x. Insbesondere schlieÿen wir daraus:

{bn : n > x} ist nach oben beschränkt. (4.3.4)

Man erhält direkt


n
x2

en  x n  x n
= 1+ 1− = 1− 2 ≤ 1. (4.3.5)
bn n n n

Aus (4.3.4) und(4.3.5) folgt es, dass en für n > x nach oben beschränkt ist. Es folgt nach

Satz 4.2.11, dass {en }n=1 konvergiert.

Frage: Was können Sie über die folgenden Grenzwerte sagen?

1 n
ˆ lim 1 +

n2
,
n→∞
 2
1 n
ˆ lim 1 + n
,
n→∞
 g(n)
ˆ lim 1+ 1
f (n)
.
n→∞

Übung 4.3.2
Als alternativer Beweis, dass en+1 > en für n groÿ genug, kann man die Ungleichung
zwischen dem geometrischen und arithmetischen Mittel, auch AGM-Ungleichung genannt,
verwenden; siehe (1.5.7). Verwenden Sie die AGM-Ungleichung für ein Produkt von
(n + 1) Faktoren, um zu zeigen, dass für x∈R und n∈N mit n ≥ −x, x ̸= 0, gilt:

 n+1
 x n x
1+ < 1+ .
n n+1

Jetzt bemerken wir, dass exp(·) sich wie eine Potenz verhält.

Satz 4.3.3: Eigenschaften von exp(·)


Für exp(x) gilt

(i) exp(0) = 1,

(ii) exp(x + y) = exp(x) · exp(y) für alle x, y ∈ R,

(iii) exp(x) > 0 für alle x ∈ R,


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 80

1
(iv) exp(−x) = exp(x)
für alle x ∈ R.

Als Hilfsmittel für den Beweis benutzen wir:

Lemma 4.3.4. Für alle a, b ∈ R, n ∈ N gilt

n
X
n n
a − b = (a − b) an−k bk−1 .
k=1

Den Beweis des Lemmas lassen wir als Übung.

Beweis von Satz 4.3.3. (i) ist klar. (iv) folgt aus (i) und (ii) . (Wie?)
zu (iii) : Nach (iv) reicht es zu zeigen, dass exp(x) > 0 für x ≥ 0. Nach der Bernoulli-
Ungleichung gilt

 x n
exp(x) = lim 1+ ≥1+x>0 für x ≥ 0.
n→∞ n
zu (ii) : Seien x, y ∈ R gegeben. Nach Satz 4.2.7 gilt

 n 
x+y x n  y n
|exp(x + y) − exp(x) exp(y)| = lim 1 +
− 1+ 1+
n→∞ n n n
 
x+y  x  y
= lim 1 + − 1+ 1+
n→∞ n n n
n

 n−k 
X x+y x  y k−1
1+ 1+ 1+ ,
k=1
n n n
(4.3.6)

wobei wir Lemma 4.3.4 angewendet haben. Der erste Term auf der rechten Seite ist

x y  x y xy  xy
1+ + − 1+ + + 2 = − 2. (4.3.7)
n n n n n n
Andererseits gilt für jeden Term in der Summe
 n−k 
x+y x  y k−1
1+ 1+ 1+

n n n


 n−k  n−k  k−1  k−1
|x| |y| |x| |y|
≤ 1+ 1+ 1+ 1+
n n n n
 n−1  n−1
|x| |y|
= 1+ 1+
n n
1
≤   exp(|x|) exp(|y|)
1 + |x|
n
1 + |y|
n

≤ exp(|x|) exp(|y|), (4.3.8)


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wobei wir uns in der vorletzten Gleichung an die Monotonie der Konvergenz gegen exp(·)
erinnert haben. Die Dreiecksungleichung zusammen mit (4.3.6), (4.3.7) und (4.3.8) ergibt

xy
|exp(x + y) − exp(x) · exp(y)| ≤ lim 2 · n · exp(|x|) exp(|y|) = 0.

n→∞ n

p √
q
Da eq = ep für e = exp(1) schon deniert ist, möchten wir jetzt

exp(x) und ex für x∈Q

miteinander vergleichen.

p
Lemma 4.3.5. Sei x= q
eine rationale Zahl. Dann gilt

exp(x) = ex . (4.3.9)

Da (4.3.9) für alle x∈Q gilt, ergibt die folgende Denition Sinn.

Denition 4.3.6
Wir denieren
ex := exp(x) für alle x ∈ R \ Q.

Angesichts Lemma 4.3.5 gilt

ex = exp(x) für alle x ∈ R.

Beweis von Lemma 4.3.5. Für p∈N gilt

ep = (exp(1))p
= exp(1) · exp(1) · ... · exp(1)
| {z }
p mal

= exp(1| + 1 +
{z... + 1}) (nach Satz 4.3.3 (ii) )

p mal

= exp(p).
p
Für x= q
mit p, q ∈ N reicht es zu zeigen, dass (ex )q = (exp(x))q ist. Da xq ∈ N ist,
folgt aus dem vorherigen Schritt, dass

(ex )q = exq = exp(xq)


= exp(x {z... + x})
| +x+
q Summanden
q
= (exp(x)) , (4.3.10)
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 82

wo wir Satz 4.3.3 (ii) nochmals angewendet haben. Für x = − pq mit p, q ∈ N erhält man

1 (4.3.10) 1 1
ex = p =  =
e q
exp pq exp(−x)

= exp(x) (nach Satz 4.3.3 (iv) ).

Als Nächstes stellen wir einige Wachstumseigenschaften der Exponentialfunktion fest.

Satz 4.3.7
Es gilt:

(i) exp(·) ist streng monoton wachsend:

exp(x) < exp(y) für alle x, y ∈ R mit x < y.

(ii) 1+x ist eine untere Schranke:

exp(x) ≥ 1 + x für alle x ∈ R. (4.3.11)

(iii) exp(·) kann in einer Umgebung von Null durch lineares Wachstum dominiert
werden:
|x|
| exp(x) − 1| ≤ für alle x∈R mit |x| < 1.
1 − |x|

(iv) Für x groÿ wächst exp(x) schneller als jedes Polynom:

exp(x) > xn für alle n∈N und x > 4n2 .

Insbesondere gilt

lim exp(−n) = 0, lim exp(n) = ∞.


n→∞ n→∞

Beweis. zu (ii) : Für x ≤ −1 ist 1 + x ≤ 0. Mit exp(x) > 0 (nach Satz 4.3.3) ist (4.3.11)
erfüllt. Nach dem Beweis vom Satz 4.3.1 ist für x > −1 die Folge mit den Folgengliedern
 x n
1+
n
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 83

monoton wachsend. Es folgt aus der Bernoulliungleichung

x n 
1+x≤ 1+ ≤ exp(x).
n
zu (i) : Seien x<y gegeben. Es gilt

exp(x) 1 (ii) 1
= ≤ < 1.
exp(y) exp(y − x) 1+y−x

zu (iii) : Für x ∈ (−1, 0) müssen wir

−x
1 − ex ≤
1+x
zeigen, was äquivalent zu

x
ex ≥ 1 +
1+x
ist. Dies erhalten wir aus

(ii) 1 + 2x x
ex ≥ 1 + x ≥ =1+ .
1+x 1+x
Für x ∈ [0, 1) müssen wir

x
ex − 1 ≤
1−x
zeigen, also

x 1
ex ≤ 1 + = .
1−x 1−x
Wir erinnern an folgende Tatsache aus dem Beweis von Satz 4.3.1: Für n>x gilt

 x n (4.3.5) 1 1
ex = lim 1+ ≤ lim x
n ≤ , (4.3.12)
n→∞ n n→∞ 1 −
n
1−x
1
wobei wir die Monotonie von n für die letzte Ungleichung benutzt haben.
√ (1− nx )
zu (iv) : Für x > 4n2 ist x > 2n, so dass

x √
> x. (4.3.13)
2n
Es folgt

 x 2n (4.3.13) √ √
ex > 1 + > (1 + x)2n > ( x)2n = xn ,
2n
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 84

womit die Ungleichung in (iv) gezeigt ist. Es bleibt uns zu zeigen, dass die Grenzwerte
x
wie angegeben sind. Aus e ≥ x + 1 > x erhält man

1 1
0 ≤ lim e−n = lim n
≤ lim = 0.
n→∞ n→∞ e n→∞ n

Andererseits gibt es für jedes M ∈R ein N ∈N mit N > M. Man erhält

(i)
en ≥ eN > N > M für alle n ≥ N.

Nach Denition 4.2.4 gilt lim en = ∞.


n→∞

Satz 4.3.3 (iii) sagt, dass

W(exp(·)) ⊆ (0, ∞). (4.3.14)

Satz 4.3.7 (iv) macht es plausibel, dass W(exp(·)) = (0, ∞). Da wir noch nicht Grenzwerte
und Stetigkeit reeller Funktionen deniert haben, brauchen wir einen fundamentaleren Beweis.
Wir wenden uns an das Vollständigkeitsaxiom.

Satz 4.3.8
Der Wertebereich der Exponentialfunktion ist (0, ∞).

Beweis. Angesichts (4.3.14) müssen wir nur zeigen, dass (0, ∞) ⊆ W(exp(·)). Sei y ∈
(0, ∞) beliebig. Wir müssen zeigen, dass es ein x ∈ R gibt, so dass exp(x) = y . Wir
denieren

M := {x ∈ R : ex < y} .

Wegen lim e−n = 0 ist M nicht leer. Ferner ist M nach oben durch y beschränkt, da
n→∞

x < 1 + x ≤ ex ≤ y für alle x ∈ M.

Nach dem Vollständigkeitsaxiom besitzt M ein Supremum s. Wir behaupten, dass

es = y.

Da s das Supremum von M ist, gibt es in der Tat zu jedem n∈N ein Element xn ∈ M ,
so dass

1
s− ≤ xn ≤ s (4.3.15)
n
1
(Approximation des Supremums). Auÿerdem ist
n
∈ s+
/ M , weil s eine obere Schranke
von M ist. Also erhalten wir aus der Monotonie der Exponentialfunktion, dass

1 1 (4.3.15) 1 1
es e− n = es− n ≤ exn < y ≤ es+ n = es e n ,
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 85

wobei die vorletzte Ungleichung aus


√ xn ∈ M und die letzte Ungleichung aus s + n1 ∈/M
folgen. Aus
n
e → 1 (Sehen Sie das Beispiel in (4.2.1)) und dem Sandwichkriterium folgt

y = es .

Die Exponentialfunktion taucht bei vielen Anwendungen auf. Sie ist auch wichtig für gewöhn-
liche Dierentialgleichungen der Form

f ′ (x) − f (x) = 0,
f ′′ (x) − c2 f (x) = 0, c ∈ R,
f ′′ (x) − c2 f (x) = h(x), c ∈ R,
wie wir später sehen werden.
Die Exponentialfunktion erlaubt uns, die Hyperbelfunktionen zu denieren.

Denition 4.3.9
Für alle x∈R denieren wir:

Sinus Hyperbolicus
exp(x) − exp(−x)
sinh(x) := ,
2
Kosinus Hyperbolicus

exp(x) + exp(−x)
cosh(x) := ,
2

Tangens Hyperbolicus
sinh(x)
tanh(x) := .
cosh(x)

Da exp(·) streng monoton wachsend ist, ist sie injektiv. Also besitzt exp(·) auf W(exp(·))
eine Umkehrfunktion. Diese Funktion ist auch wichtig für Anwendungen und wird Logarithmus
genannt.

Denition 4.3.10
Die Umkehrfunktion der Exponentialfunktion heiÿt Logarithmus und wird mit log(·)
bezeichnet.

Aus der Denition folgt:

Satz 4.3.11
Für den Logarithmus gilt

D(log(·)) = (0, ∞) =: R+ , W(log(·)) = R.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 86

Auÿerdem gilt

exp(log(y)) = y für alle y ∈ R+ ,


log(exp(x)) = x für alle x ∈ R,

und darüberhinaus ist

log(x) < log(y) für alle x, y ∈ R+ mit x < y.

Für den Logarithmus erhalten wir die erwarteten Eigenschaften und Abschätzungen, die
wir im nächsten Satz sammeln.

Satz 4.3.12: Eigenschaften


Für log : R+ → R gilt Folgendes:

(i) Für alle x, y ∈ R+ gilt

log(xy) = log(x) + log(y),


 
x
log = log(x) − log(y).
y

(ii) Für alle x ∈ R+ und n∈N gilt

log(xn ) = n log(x).

(iii) Für alle x > −1 ist


log(1 + x) ≤ x.

(iv) Zu jedem c>0 gibt es ein M = M (c), so dass

log(x) < cx für alle x ∈ R+ mit x > M.

Bemerkung. (iv) drückt aus, dass der Logarithmus langsamer als jede lineare Funktion
wächst.

Beweis. Der Beweis basiert auf der Eigenschaft der Exponentialfunktion.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 87

zu ((i) ): Wir denieren u := log(x), v := log(y). Dann ist

log(xy) = log(exp(u) · exp(v))


= log(exp(u + v))
=u+v
= log(x) + log(y).

Analog ist

 
x
log = log(xy −1 )
y
= log(exp(u)(exp(v))−1 )
= log(exp(u) exp(−v))
= log(exp(u − v))
=u−v
= log(x) − log(y).

zu ((ii) ): Man nehme log(xn ) = log(x


| · x {z
· ... · x}) und wende ((i) ) an.
n mal
zu ((iii) ): Dies folgt aus 1 + x ≤ exp(x).
zu ((iv) ): Dies sollte aus dem Wachsen von exp(·) folgen. Aus exp(x) > xn für x > 4n2
schlieÿen wir

x > log(xn ) = n log(x),

so dass

x
log(x) < für x > 4n2 .
n
1
Für c>0 gegeben wählen wir N ∈ N, so dass
N
<c und wir setzen M = 4N 2 .

Mit Hilfe der Exponentialfunktion und des Logarithmus können wir endlich die allgemeine
Potenz denieren:

Denition 4.3.13
Für a>0 und x∈R denieren wir

ax := exp x log(a) .


Die Umkehrfunktion wird der Logarithmus zur Basis a genannt.

Man erhält die erwarteten Eigenschaften:

Satz 4.3.14
Für a, b > 0 und x, y ∈ R gilt
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 88

(i) (ab)x = ax bx ,

(ii) (ax )y = axy ,

(iii) ax ay = ax+y .

Beweis. Übung.

4.4 Bolzano-Weierstraÿ
In diesem Abschnitt entwickeln wir ein tieferes Verständnis für Zahlenfolgen und kommen
insbesondere zum Satz von Bolzano-Weierstraÿ. Dieses Werkzeug benötigen wir später, um
das Verhalten von stetigen Funktionen zu analysieren.
Grob gesagt werden wir jetzt ausdrücken, dass, obwohl eine beschränkte Folge nicht
konvergieren muss, die Folge unendlich oft nah an (mindestens) einen Punkt kommt. Als
motivierendes Beispiel betrachten wir

1
an = (−1)n + ,
n
die viel Zeit in einer Umgebung von −1 und viel Zeit in einer Umgebung von +1 verbringt.
Die Folge konvergiert nicht, aber ±1 sind besondere Punkte. Um über solche Ideen deutlich
reden zu können, brauchen wir ein paar Denitionen.

Denition 4.4.1
Eine Umgebung von x0 ∈ R ist eine Menge U ⊆ R, so dass

U ⊇ (x0 − δ, x0 + δ) für ein δ > 0.

Eine punktierte Umgebung von x0 ∈ R ist eine Menge V ⊆ R, so dass V = U \ {x0 },


wobei U eine Umgebung von x0 ist.

Also ist eine punktierte Umgebung von x0 eine Menge V, so dass gilt

ˆ x0 ∈
/ V, und

ˆ es gibt ein δ > 0, so dass (x0 − δ, x0 ) ∪ (x0 , x0 + δ) in V enthalten ist.

Denition 4.4.2
Es sei {xn }∞
n=1 eine Zahlenfolge. Dann heiÿt x0 ∈ R ein Häufungspunkt der Folge, wenn
jede Umgebung von x0 unendlich viele Folgenglieder enthält.
Es sei M eine Menge reeller Zahlen. Dann heiÿt x0 ∈ R ein Häufungspunkt der Menge,
wenn jede Umgebung von x0 unendlich viele Elemente von M enthält.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 89

Beispiele.

O 1 −1 und +1 sind Häufungspunkte von



(−1)n + 1

.

O
n n=1

2 1 ist ein Häufungspunkt von (0, 2) und von (1, 2).

O 3 N besitzt keine Häufungspunkte.

O 4 Die Menge aller Häufungspunkte von {x ∈ Q : 0 ≤ x ≤ 2} ist [0, 2].

Bemerkung. x0 ist genau dann ein Häufungspunkt von M ⊆ R, wenn jede Umgebung von
x0 mindestens ein x∈M mit x ̸= x0 enthält.

Bemerkung. Eine Menge heiÿt abgeschlossen, wenn sie alle ihre Häufungspunkte enthält.
Wir sprechen ausführlich über oene und abgeschlossene Mengen in HMII (Kapitel 3).
 1

Im Beispiel oben bemerkt man, dass, obwohl (−1)n + n n=1
nicht konvergiert, die Folge
der Folgenglieder mit geradem Index

1
(−1)2n +
2n
doch konvergiert.
Wir möchten jetzt ähnliches Verhalten für allgemeine Folgen bemerken. Wir fangen mit einer
Denition an.

Denition 4.4.3
Es seien {an }∞
n=1 eine Zahlenfolge und {nk }∞
k=1 eine streng monoton wachsende Folge
natürlicher Zahlen. Dann heiÿt

{an1 , an2 , . . . , } = {ank }∞


k=1

eine Teilfolge von {an }∞


n=1 .

Also sind
 ∞  ∞
2n 1 1
(−1) + und (−1)2n+1 +
2n n=1 2n + 1 n=1
 1

konvergente Teilfolgen von (−1)n + n n=1
. Als weiteres Beispiel betrachten wir

∞
(−1)n + 1
 
cos π ,
2 n=1

die die konvergente Teilfolge {−1, −1, −1, . . .} besitzt.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 90

Satz 4.4.4
Die Folge {xn }∞
n=1 hat x0 als Häufungspunkt genau dann, wenn es eine Teilfolge gibt,
die gegen x0 konvergiert.

Beweis. (Hinrichtung): Wir nehmen zunächst an, dass x0 ein Häufungspunkt der Folge
ist. Dann enthält (x0 − 1, x0 + 1) ein Folgenglied xN , N ∈ N. Wir setzen

n1 := N.

Analog existiert für jedes k∈N ein N (k) ∈ N, so dass N (k) > N (k − 1) und

1 1
xN (k) ∈ x0 − , x0 + .
k k
Wir setzen

nk = N (k).

Für die Teilfolge {xnk }∞


k=1 so deniert gilt

1
|xnk − x0 | ≤ ,
k
also konvergiert die Teilfolge gegen x0 .
(Rückrichtung): Wenn eine Teilfolge {xnk }∞
k=1 gegen x0 konvergiert, dann gibt es für
jedes δ>0 ein K ∈ N, so dass

xnk ∈ (x0 − δ, x0 + δ) für alle k ≥ K.

Also enthält jede Umgebung unendlich viele Folgenglieder.

Man kann auch durch Teilfolgen ein neues Konvergenz-Kriterium einführen:

Satz 4.4.5
Die Folge {xn }∞
n=1 konvergiert genau dann, wenn jede Teilfolge konvergiert.

Beweis. Übung.

Bemerkung. Bemerken Sie, dass Konvergenz jeder Teilfolge einer Folge impliziert, dass
jede Teilfolge den gleichen Grenzwert hat.

Die Folge {n}∞


n=1 ,
die keinen Häufungspunkt besitzt, hat einen Mindestabstand von
{an }∞
eins zwischen zwei beliebigen Folgengliedern. Kann eine beschränkte Folge n=1 keinen
Häufungspunkt besitzen? Können Folgenglieder alle voneinander weglaufen? Der Satz von
Bolzano-Weierstraÿ sagt uns, dass die Antwort nein ist.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 91

Satz 4.4.6: Bolzano-Weierstraÿ


Eine beschränkte Folge reeller Zahlen besitzt mindestens einen Häufungspunkt.

Äquivalent ist: Eine beschränkte Folge reeller Zahlen besitzt eine konvergente Teilfolge
(cf., Satz 4.4.4).
Dieser wichtige Satz entspricht der Kompaktheits-Eigenschaft von R, eine sehr wichtige
Eigenschaft, die leider für viele Funktionenräume fehlt (und deren Fehlen Probleme für uns
macht).
Um Satz 4.4.6 zu beweisen, benutzen wir das Prinzip der Intervallschachtelung.

Denition 4.4.7
Eine Folge von abgeschlossenen Intervallen [an , bn ] (mit an , bn reelle Zahlen) heiÿt Intervall-
schachtelung, falls gilt

[a1 , b1 ] ⊇ [a2 , b2 ] ⊇ ... ⊇ [an , bn ] ⊇ ...

Lemma 4.4.8. Für eine Intervallschachtelung {[an , bn ]}∞


n=1 gibt es ein Intervall [a, b] mit
\
[an , bn ] = [a, b]. (4.4.1)
n∈N

Falls bn − an → 0 für n → ∞, dann ist a = b, so dass

[a, b] = [a, a] = {a} .

Beweis. Aus

a1 ≤ a2 ≤ ... ≤ an ≤ ... ≤ bn ≤ ... ≤ b2 ≤ b1

folgt

{an }∞
n=1 ist monoton wachsend und beschränkt,

{bn }n=1 ist monoton fallend und beschränkt.

Nach dem Vollständigkeitsaxiom existieren a, b ∈ R, so dass

a = sup {an , n ∈ N} , b = inf {bn , n ∈ N} .

Einerseits folgt es aus der Denition von a, b und dem Vergleichskriterium, dass

an ≤ a ≤ b ≤ b n für alle n,

woraus folgt

\
[a, b] ⊆ [an , bn ].
n∈N
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 92

Andererseits folgt es aus dem Beweis von Satz 4.2.11, dass

an → a, bn → b für n → ∞,

woraus wir
\
[a, b] ⊇ [an , bn ].
n∈N

schlieÿen. Damit haben wir (4.4.1) bestätigt. Wenn bn − an → 0, dann gilt

b = lim bn = lim (bn − an + an ) = lim (bn − an ) + lim an = a.


n→∞ n→∞ n→∞ n→∞

Bemerkung. Das Lemma gilt nicht, wenn

ˆ die Intervalle nicht abgeschlossen sind. Gegenbeispiel: In = (0, n1 ),


ˆ die Intervalle nicht beschränkt sind. Gegenbeispiel: In = [n, ∞).

Beweis von Satz 4.4.6. Sei {xn }∞


n=1 eine beschränkte Folge. Dann gibt es a, b ∈ R, so
dass

xn ∈ [a, b] für alle n ∈ N.

Wir zerlegen [a, b] in

  
a+b a+b
A := a, , B := ,b .
2 2

Da {xn }∞
n=1 unendlich viele Folgenglieder hat, muss A oder B unendlich viele Folgenglieder
enthalten. Wenn A unendlich viele Folgenglieder enthält, denieren wir a1 , b1 durch

[a1 , b1 ] = A,

sonst setzen wir

[a1 , b1 ] = B.

Analog betrachten wir

   
a1 + b 1 a1 + b 1
a1 , und , b1 ,
2 2

und wie oben denieren wir a2 , b2 so, dass [a2 , b2 ] unendlich viele Folgenglieder enthält.
Die so konstruierte Folge {[an , bn ]}∞
n=1 ist eine Intervallschachtelung mit

b−a
b n − an =
2n
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 93

und für jedes n ∈ N enthält [an , bn ] unendlich viele Folgenglieder von {xn }∞
n=1 . Aus
Lemma 4.4.8 folgt, dass eine reelle Zahl x0 existiert mit

\
{x0 } = [an , bn ].
n∈N

Auÿerdem ist x0 ein Häufungspunkt der Folge, weil jede Umgebung von x0 ein Intervall
[an , bn ] für irgendein n ∈ N enthält (warum?) und deshalb auch unendlich viele Folgenglied-

er von {xn }n=1 enthält.
Kapitel 5
Grenzwerte und Stetigkeit reeller
Funktionen

5.1 Grenzwerte von Funktionen


Bis jetzt haben wir deniert, was der Grenzwert einer Folge für n→∞ ist. In diesem
Abschnitt möchten wir verstehen, was der Grenzwert einer Funktion in einem Punkt
ist. Dies werden wir durch Konvergenz von Folgen erledigen.

y y
3 3
f g
2 2

x x
−2 −1 1 2 −2 −1 1 2
−1 −1

−2 −2

−3 −3

Abbildung 5.1: Beide Funktionen haben den Grenzwert 1 in x = 0.

In Abbildung 5.1 haben beide Funktionen den Grenzwert 1 in x = 0. Dies kann man
sehen, indem man eine beliebige Folge xn → 0 mit xn ̸= 0 betrachtet und sich überlegt,
was mit den Funktionswerten

f (xn ),
g(xn )

passiert. Die relevante Frage ist, grob ausgedrückt:

Wohin gehen die Funktionswerte, wenn x gegen Null geht?


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 95

Wichtig ist, dass wir nicht nur eine Folge betrachten, sondern jede Folge. Zum Beispiel
merkt man in Abbildung 5.2, dass wenn

xn → 0 für n→∞ und xn > 0 für alle n ∈ N,

dann geht h(xn ) gegen 2. Dies bedeutet allerdings nicht, dass h den Grenzwert 2 in Null
hat, da es auch Nullfolgen gibt, so dass h(xn ) nicht gegen 2 geht.

y
3
h

x
−2 −1 1 2
−1

−2

−3

Abbildung 5.2: Einige Nullfolgen {xn }∞ ∞


n=1 haben h(xn ) → 1, andere Nullfolgen {xn }n=1 haben
h(xn ) → 2. Die Funktion h besitzt keinen Grenzwert in 0.

Denition 5.1.1
Sei f auf einer punktierten Umgebung V von x0 ∈ R deniert. Wir sagen, dass f an der
Stelle x0 den Grenzwert y0 ∈ R besitzt, wenn für jede Folge {xn }∞
n=1 mit

xn ̸= x0 , xn ∈ V, lim xn = x0 (5.1.1)
n→∞

gilt
lim f (xn ) = y0 . (5.1.2)
n→∞

Wir schreiben dafür


lim f (x) = y0 .
x→x0

Wir sagen, dass f in x0 den linksseitigen (bzw. rechtsseitigen) Grenzwert y0 ∈ R besitzt,


wenn f auf (x0 − δ, x0 ) (bzw. (x0 , x0 + δ)) für ein δ > 0 deniert ist und für jede Folge
{xn }∞
n=1 mit

xn ∈ (x0 − δ, x0 ) (bzw. xn ∈ (x0 , x0 + δ)) und lim xn = x0


n→∞

(5.1.2) gilt. Wir schreiben dafür

lim f (x) = y0 (bzw. lim f (x) = y0 )


x↑x0 x↓x0
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 96

oder
lim f (x) = y0 (bzw. lim f (x) = y0 ).
x→x−
0 x→x+
0

Bemerkung. Es reicht aus, Folgen {xn }∞


n=1 zu betrachten, bei denen xn nah an x0 liegt.
Deshalb sagt man, dass es eine lokale Eigenschaft ist, den Grenzwert y0 in der Stelle x0 zu
haben.

Bemerkung. Den Grenzwert y0 in x0 zu haben, hat nichts mit dem Funktionswert f (x0 )
zu tun! f muss nicht in x0 deniert sein. Auch wenn f in x0 deniert ist, muss f (x0 ) nicht
gleich y0 sein. Sehen Sie sich g in Abbildung 5.1 oben an.

Bemerkung. Es ist unabdingbar, dass in Denition 5.1.1 punktierte Umgebungen betrachtet


werden! Die Folge x1 = 1, x2 = 0, x3 = 1/3, x4 = 0, x5 = 1/5, x6 = 0, ... ist eine Nullfolge,
aber für die Funktion g aus Abbildung 5.1 konvergiert g(xn ) nicht, obwohl g in Null den
Grenzwert 1 besitzt.

Beispiele.

O1 f (x) = x2 , x0 = 2. Es gilt lim f (x) = 4.


x→2

O
(
2x, x>0
2 g(x) =
x − 1 x ≤ 0.
Es gilt

lim g(x) = −1, lim g(x) = 0,


x↑0 x↓0

und g besitzt in 0 keinen Grenzwert.

O
(
2x, x > 0
3 h(x) =
x2 x < 0.
Es gilt

lim h(x) = 0.
x→0

O
(
0, x = n1 , n ∈ N
4 m(x) =
1 sonst.

Dann besitzt m in 0 keinen Grenzwert, aber m besitzt den linksseitigen Grenzwert 1:

lim m(x) = 1.
x↑0

Der Einfachheit halber haben wir in Denition 5.1.1 vorausgesetzt, dass f auf einer
punktierten Umgebung von x0 deniert ist. Dies wird meist in den Beispielen, die wir uns
anschauen, der Fall sein. Aber betrachten Sie die Folge

3n
xn = , n∈N
1 + 6n
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 97

und die Funktion f, die durch

1
f (xn ) = , n∈N
n
deniert ist. Man möchte schon ausdrücken können, dass f gegen Null geht, wenn x gegen
1 1
geht. Allerdings ist f auf keiner punktierten Umgebung von deniert. Somit ist eine
2 2
Verallgemeinerung von Denition 5.1.1:

Denition 5.1.1'. Wenn es eine Folge x̃n mit

x̃n ∈ D(f ), x̃n ̸= x0 , lim x̃n = x0


n→∞

gibt, dann sagen wir, dass f in x0 den Grenzwert y0 besitzt, wenn für jede Folge xn mit

xn ∈ D(f ), xn ̸= x0 , lim xn = x0
n→∞

gilt

lim f (xn ) = y0 .
n→∞

Analog für linksseitige und rechtsseitige Grenzwerte.

Wie bei Folgen möchte man wissen, ob man neue Grenzwerte aus Alten schlieÿen kann.
Aus Satz 4.2.8 für Folgen erhalten wir:

Satz 5.1.2
Seien f, g auf einer punktierten Umgebung von x0 deniert. Wenn für y0 , z0 ∈ R gilt

lim f (x) = y0 , lim g(x) = z0 ,


x→x0 x→x0

dann gilt

lim (αf (x) + βg(x)) = αy0 + βz0 für alle α, β ∈ R, (5.1.3)


x→x0

lim (f (x) · g(x)) = y0 · z0 , (5.1.4)


x→x0
 
f (x) y0
lim = , sofern z0 ̸= 0 ist. (5.1.5)
x→x0 g(x) z0

Bemerkung. Aus (5.1.3) und (5.1.4) erhalten wir, dass

lim p(x) = p(x0 )


x→x0

für jedes Polynom p gilt.

Wenn lim f (x) = y0 , lim g(x) = 0, und wir


x→x0 x→x0

f (x)
lim (5.1.6)
x→x0 g(x)
betrachten, dann fragen wir uns:
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 98

ˆ Ist y0 = 0? Wenn nicht, dann divergiert der Quotient in (5.1.6).

ˆ Wenn y0 = 0 gilt, dann gibt es eine Methode um den Grenzwert des Quotienten
analysieren zu können. (Wie immer ist die entscheidende Frage, mit welcher Rate f
und g in x0 verschwinden.)

Übung 5.1.3
Berechnen Sie den Grenzwert:
x2 − 4
lim .
x→2 x − 2

Beispiel. Sei

p(x)
R(x) = ,
q(x)

wobei p, q Polynome sind und x0 eine Nullstelle von beiden ist. Sei x0

eine m-fache Nullstelle von q und


eine n-fache Nullstelle von p.

Dann gilt

ˆ lim R(x) = 0, wenn n > m,


x→x0

ˆ lim R(x) existiert und gehört zu R \ {0}, wenn n = m,


x→x0

ˆ lim R(x) existiert nicht (als reelle Zahl), wenn n < m.


x→x0

Dies zeigt man, indem man

p(x) = (x − x0 )n p̃(x), q(x) = (x − x0 )m q̃(x)

mit p̃(x0 ), q̃(x0 ) ̸= 0 schreibt und gemeinsame Faktoren von (x − x0 ) kürzt.

Beispiel. Für x0 = 1 und

xn − 1
h(x) = , n ∈ N,
x−1
benutzen wir Lemma 4.3.4, um h als

n
xn−k
P
(x − 1)
k=1
h(x) =
(x − 1)
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 99

darzustellen. Kürzen durch (x − 1) ergibt

n
X
lim h(x) = lim xn−k
x→1 x→1
k=1
n
X
= lim xn−k (5.1.7)
x→1
k=1
n
X
= 1
k=1
= n,

wobei wir in (5.1.7) Satz 4.2.8 angewendet haben.

Jetzt bearbeiten wir ein Beispiel, das nicht polynomiell ist.

ex −1
Beispiel. Besitzt f (x) =x
einen Grenzwert in x = 0? Nenner und Zähler verschwinden
inx= 0. Wir haben in Satz 4.3.7 gesehen, dass die Exponentialfunktion in einer Umgebung
von 0 linear wächst, also erwarten wir einen von Null verschiedenen Grenzwert. Aus Satz
4.3.7 (iii) erhalten wir
x
e − 1 1
x ≤ 1 − |x| , x ∈ (−1, 1) \ {0} . (5.1.8)

Andererseits haben wir


x
e − 1 ex − 1

(4.3.11)

x = x
≥ 1 x ∈ (0, 1), (5.1.9)

x
e − 1 1 − ex

1
und
x = −x
≥ x ∈ (−1, 0), (5.1.10)
1−x

wobei wir (4.3.12) für die letzte Ungleichung benutzt haben. Zusammen implizieren (5.1.9)
und (5.1.10), dass
x
e − 1 1
x ≥ 1 + |x| . (5.1.11)

Insgesamt ergeben (5.1.8) und (5.1.11)


x
1 e − 1 1
≤ ≤ , x ∈ (−1, 1) \ {0} , (5.1.12)
1 + |x| x 1 − |x|
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 100

y und da für jede Nullfolge {xn }∞


n=1 gilt

1 1
1 lim = lim = 1,
1−|x| n→∞ 1 + |xn | n→∞ 1 − |xn |
2.5
schlieÿen wir aus dem Sandwich-Kriterium für Folgen,
2
dass
1.5 ex −1 xn
x e − 1
1
lim =1
n→∞ xn
1
0.5
1+|x| für jede Nullfolge {xn }∞
n=1 mit xn ̸= 0. Aus Denition
x 5.1.1 und exp(x) > 1 für x > 0, exp(x) < 1 für x < 0
−1 −0.5 0.5 1
schlieÿen wir

ex − 1
Abbildung 5.3: Visuelle Darstellung
lim = 1. (5.1.13)
x→0 x
von Gleichung (5.1.12).

Wir haben eben gesehen, dass das Sandwich-Kriterium für Folgen benutzt werden kann,
um den Grenzwert einer Funktion zu identizieren. Dies formulieren wir in einen Satz um.

Satz 5.1.4: Sandwich-Kriterium für Funktionen


f, g, h in einer punktierten Umgebung von x0 deniert. Wenn in einer punktierten
Es seien
Umgebung von x0 gilt
f (x) ≤ g(x) ≤ h(x),
und ferner
lim f (x) = lim h(x) = y0 ,
x→x0 x→x0

dann ist
lim g(x) = y0 .
x→x0

Übung 5.1.5
Schreiben Sie den Beweis. (Hinweis: Benutzen Sie Denition 5.1.1 und das Sandwich-
Kriterium für Folgen.)

Eine alternative Denition des Grenzwertes einer Funktion ist

Denition 5.1.1 (Epsilon-Delta Denition von Grenzwert). Sei f auf einer punktierten
Umgebung V von x0 deniert. f besitzt an der Stelle x0 den Grenzwert y0 , wenn es für jedes
ε>0 ein δ > 0 gibt, so dass

|f (x) − y0 | < ε für alle x mit 0 < |x − x0 | < δ.

Bemerkung. In Denition 5.1.1′′ wurden keine Folgen benutzt.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 101

Bemerkung. Hier spielt ε > 0 die Rolle einer Fehlertoleranz. δ > 0 ist der Parameter, den
wir anpassen können, damit f (x) ε-nah an y0 liegt. Wenn ε sehr klein ist (der schwierige
Fall), dann muss δ vielleicht auch sehr klein gewählt werden.

y
f (x0 )
y0 + ε
y0
y0 − ε

x
x 0 − δ1 x 0 x 0 + δ2

Abbildung 5.4

Ein Beispiel, das die neue Denition verdeutlicht, ist in Abbildung 5.4 skizziert. Für ε>0
beliebig klein gegeben, wählt man δ := min{δ1 , δ2 }. Für x ∈ (x0 − δ, x0 + δ) mit ̸ x0 ist
x=
f (x) ∈ (y0 − ε, y0 + ε). Der Graph einer Funktion, die das Kriterium in der neuen Denition
nicht erfüllt, ist in Abbildung 5.5 skizziert. Zu ε=1 (und zu jedem positiven ε̃ < 1) gibt es
kein δ > 0, so dass

y0 + 1
y0

x
x0

Abbildung 5.5

x ∈ (x0 − δ, x0 + δ) \ {x0 } ⇒ f (x) ∈ (y0 − ε, y0 + ε).

Sobald x < x0 nah an x0 liegt (und egal wie nah x an x0 liegt), ist f (x) ≥ y0 + 1.

Übung 5.1.6
Finden Sie zu f (x) := 5x + 1 den Grenzwert L in x0 = 2. Bestimmen Sie zu ε = 14
ein δ > 0, so dass 0 < |x − x0 | ≤ δ impliziert, dass |f (x) − L| ≤ ε. Finden Sie eine
quadratische Funktion g mit dem gleichen Grenzwert in x0 = 2. Bestimmen Sie, ob zum
gegebenen ε das geeignete δ gröÿer oder kleiner als das zu f gefundene δ sein müsste.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 102

Übung 5.1.7
Finden Sie zu
(
5x + 1 x ̸= 2
f (x) :=
27 x=2
1
den Grenzwert L in x0 = 2. Bestimmen Sie zu ε= 4
ein δ > 0, so dass 0 < |x − x0 | ≤ δ
impliziert, dass |f (x) − L| ≤ ε.

Satz 5.1.8
′′
Denition 5.1.1 und Denition 5.1.1 sind äquivalent.

Beweis. Übung.

Man redet auch von Konvergenz gegen Unendlich oder vom Verhalten von f für x gegen
Unendlich. Über diese Begrie möchten wir auch reden können. Dafür führen wir die
folgenden Denitionen ein.

Denition 5.1.9: Uneigentliche Grenzwerte für x → x0


Sei f auf einer punktierten Umgebung von x0 deniert. Wir sagen, dass

lim f (x) = ∞ (bzw. lim f (x) = −∞),


x→x0 x→x0

wenn für jede Folge {xn }∞


n=1 mit xn ̸= x0 und lim xn = x0 gilt
n→∞

lim f (xn ) = ∞ (bzw. lim f (xn ) = −∞).


n→∞ n→∞

Analog für einseitige Grenzwerte.

Satz 5.1.10
Denition 5.1.9 ist äquivalent zum folgenden Kriterium: Für jedes M ∈R gibt es ein
δ > 0, so dass 0 < |x − x0 | < δ impliziert f (x) ≥ M .

Beispiel.
1 −1
lim = ∞, lim = −∞,
x→0 x2 x→1 (x − 1)2

1
aber x besitzt in 0 keinen Grenzwert, da

1 1
lim = ∞, aber lim = −∞.
x↓0 x x↑0 x
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 103

Denition 5.1.11: Eigentliche Grenzwerte für x → ±∞


Sei f auf (a, ∞) für ein a∈R deniert. Sei y0 ∈ R. Wir sagen, dass

lim f (x) = y0 ,
x→∞

wenn für jede Folge {xn }∞


n=1 auf (a, ∞) mit lim xn = ∞ gilt
n→∞

lim f (xn ) = y0 .
n→∞

Analog für lim f (x) = y0 .


x→−∞

Beispiel. Man bemerkt

1
lim = 0, lim tanh(x) = 1.
x→∞ x2 x→∞

Satz 5.1.12
Denition 5.1.11 ist äquivalent zu: zu jedem ε>0 gibt es ein M ∈ R, so dass

x>M =⇒ |f (x) − y0 | < ε.

Denition 5.1.13: Uneigentliche Grenzwerte für x → ±∞


Sei f auf (a, ∞) für ein a∈R deniert. Wir sagen, dass

lim f (x) = ∞,
x→∞

wenn für jede Folge {xn }∞


n=1 auf (a, ∞) mit lim xn = ∞ gilt
n→∞

lim f (xn ) = ∞.
n→∞

Analog für

lim f (x) = −∞, lim f (x) = ∞, lim f (x) = −∞.


x→∞ x→−∞ x→−∞

Satz 5.1.14
Denition 5.1.13 ist äquivalent zu: zu jedem K∈R gibt es ein M ∈ R, so dass

x>M =⇒ f (x) > K.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 104

Wie für eigentliche Grenzwerte in x0 ∈ R kann man sich fragen, ob für diese uneigentlichen
Grenzwerte der Grenzwert einer Summe die Summe der Grenzwerten ist, und das Gleiche
für Produkte und Quotienten. Ein Vergleichskriterium kann man sich auch überlegen. Zum
Beispiel impliziert

f (x) ≤ g(x) ≤ h(x) für alle x∈R

und lim f (x) = lim h(x) = y0 , dass


x→∞ x→∞

lim g(x) = y0 .
x→∞

Können Sie ein analoges Kriterium nden, das

lim g(x) = ∞
x→∞

impliziert?

Übung 5.1.15
Formulieren Sie einen Satz wie Satz 5.1.2 für uneigentliche Grenzwerte.

Übung 5.1.16
Berechnen Sie
|2x − 1| − |2x + 1|
lim .
x→0 x

5.2 Stetigkeit
Jetzt können wir Stetigkeit einer Funktion f in einem Punkt x0 ∈ R leicht denieren. Dies
bedeutet nichts Anderes als:

ˆ lim f (x) existiert,


x→x0

ˆ f (x0 ) ist deniert,

ˆ und sie sind gleich:

lim f (x) = f (x0 ).


x→x0

Während die Existenz des Grenzwerts in x0 nichts mit dem Funktionswert zu tun hat, spielt
dieser Wert für Stetigkeit eine wichtige Rolle. Stetige Funktionen sind gut in dem Sinne,
dass sie sich so verhalten, wie man erwartet. Wir werden mehrere wichtige Sätze über stetige
Funktionen beweisen können.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 105

Denition 5.2.1
Sei f auf einer Umgebung von x0 deniert. f ist in x0 stetig, falls der Grenzwert lim f (x)
x→x0
existiert und es gilt
lim f (x) = f (x0 ).
x→x0

Sei f auf (a, b) deniert. f ist auf (a, b) stetig (oder einfach stetig), wenn f in jedem
Punkt von (a, b) stetig ist. Sei f auf [x0 , b) deniert. f ist in x0 rechtsseitig stetig, wenn

lim f (x) = f (x0 ).


x↓x0

Auÿerdem nennen wir f auf [x0 , b) stetig, wenn f auf (x0 , b) stetig ist und f in x0
rechtsseitig stetig ist. Analog für linksseitig stetig. f ist auf (a, ∞) oder (−∞, a) oder
(−∞, ∞) stetig, wenn f in jedem Punkt des Intervalls stetig ist.

Bemerkung. Stetigkeit freut uns, weil wir mehr Rechenwege zur Verfügung haben. Zum
1
Beispiel können wir Stetigkeit von exp(·) limn→∞ 3 n jetzt
verwenden, um den Grenzwert als
   
1 1 1 1
lim 3 = lim exp(log(3 )) = lim exp
n n log(3) = exp lim log(3) = 1
n→∞ n→∞ n→∞ n n→∞ n

zu berechnen. Wo haben wir Stetigkeit verwendet?

Übung 5.2.2
Was passiert, wenn Sie diese Idee mit n1/n anwenden?

Wie für Grenzwerte, können wir auch Stetigkeit durch ein ε- δ Kriterium denieren.

Denition 5.2.1' (Epsilon-Delta Denition von Stetigkeit). Sei f auf einer punktierten
Umgebung V von x0 deniert. f ist in x0 stetig, wenn es für jedes ε > 0 ein δ>0 gibt, so
dass

|f (x) − f (x0 )| < ε für alle x 0


mit H
 <|x
H − x0 | < δ.
Bemerkung. Mit welcher Denition es einfacher ist, zu arbeiten, hängt vom Beispiel ab.

Übung 5.2.3
Bestätigen Sie die folgenden Tatsachen.

ˆ Polynome sind auf R stetig.

p(x)
ˆ Eine rationale Funktion
q(x)
ist auf ihrem Denitionsbereich stetig.

ˆ Sinus und Cosinus sind stetig auf R.

ˆ exp(·) ist stetig auf R. log(·) ist stetig auf (0, ∞).
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 106

ˆ Die Funktion
(
0 x∈R\Q
f (x) =
1 x∈Q

ist nirgendwo stetig.

ˆ Die Funktion
(
0 x∈R\Q
f (x) = 1
q
x = pq ∈ Q (vollständig gekürzt)

ist in jedem x∈Q nicht stetig und in jedem x∈R\Q stetig.

ˆ Die Funktion
(
1 − x2 x ̸= 1
g(x) =
5 x=1

ist in x = 1 nicht stetig. Wir können g aber stetig machen, wenn wir g(1) als 0
statt 5 denieren.

ˆ Die Funktion
1
x2
ist in x=0 nicht stetig, und dies können wir nicht reparieren.

Die letzten Beispiele zeigen, dass es unterschiedliche Weisen gibt, in denen Stetigkeit
fehlen kann. Wir möchten zwischen diesen Typen unterscheiden können.

Denition 5.2.4
Wenn f auf einer punktierten Umgebung U̇ von x0 stetig ist und lim f (x) existiert (als
x→x0
reelle Zahl), dann heiÿt f in x0 stetig ergänzbar. Die Funktion

(
f (x) x ∈ U̇
f˜(x) =
lim f (x) x = x0
x→x0

ist aufU̇ ∪ {x0 } stetig und heiÿt die stetige Ergänzung oder die stetige Fortsetzung von
f. Man sagt,f habe in x0 eine hebbare Unstetigkeit.
Falls es keine solche Fortsetzung f˜ gibt (weil der Grenzwert nicht existiert), dann
sagen wir, dass f eine nicht hebbare Unstetigkeit in x0 hat.

Jetzt möchten wir uns die ersten Eigenschaften stetiger Funktionen anschauen.

Satz 5.2.5
(i) Es seien f, g : (a, b) −→ R in x0 ∈ (a, b) stetig. Dann sind auch f +g und f ·g in
x0 stetig. Falls g(x0 ) ̸= 0, dann ist fg in x0 stetig.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 107

y y y

x x x
x0 x0 x0

(a) hebbare Unstetigkeit (b) nicht hebbare Unstetigkeit (c) nicht hebbare Unstetigkeit

(ii) Sei lim f (x) = y0 ∈ (c, d) und g : (c, d) −→ R in y0 stetig. Dann gilt
x→x0
 
lim (g ◦ f ) (x) = g lim f (x) = g(y0 ).
x→x0 x→x0

(iii) Es seien f : (a, b) −→ R in x0 ∈ (a, b) stetig und y0 := f (x0 ) ∈ (c, d). Auÿerdem
sei g : (c, d) −→ R in y0 stetig. Dann ist g ◦ f in x0 stetig.

(iv) Es sei f : (a, b) −→ R streng monoton und stetig. Dann ist ihre Umkehrfunktion
−1
f : W(f ) −→ R ebenfalls streng monoton und stetig. Ferner ist W(f ) ein Intervall.

Übung 5.2.6
Teil (ii) drückt aus, dass wir den Grenzübergang n → ∞ mit der Auswertung der
Funktion vertauschen können, wenn g stetig ist. Geben Sie ein Gegenbeispiel an in dem
Fall, dass g in y0 nicht stetig ist.

Übung 5.2.7
Verwenden Sie den Satz, um

  
1
lim exp sin
n→∞ n

zu berechnen. (In der Klausur, wäre wahrscheinlich nur nach dem Grenzwert gefragt,
ohne den Hinweis, welchen Satz bzw. welche Eigenschaft zu verwenden. Sie müssten
dann erwähnen, was Sie dabei verwenden.)
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 108

Partieller Beweis von Satz 5.2.5. zu (ii) : Wir betrachten eine beliebige Folge {xn }∞
n=1
mit xn ∈ (a, b) und xn ̸= x0 für alle n ∈ N, und xn → x0 für n → ∞. Nach Annahme
gilt

f (xn ) → y0 . (5.2.1)

Ferner ist f (xn ) ∈ (c, d) für n groÿ genug. (Warum?) Also deniert {f (xn )}∞
n=1 eine
Folge, die gegen y0 konvergiert, und Stetigkeit von g in y0 impliziert

g(f (xn )) → g(y0 ).

Da {xn }∞
n=1 beliebig war, erhalten wir aus der Denition des Grenzwerts, dass

 
lim g(f (x)) = g(y0 ) = g lim f (x) .
x→x0 x→x0

zu (iii) : Folgt aus (ii) und Stetigkeit von f in x0 .

Bemerkung. Wir sollten die Stetigkeit von g zu schätzen wissen. Fehlt sie, dann kann
die Zusammensetzung viel schlimmer sein, als die ursprünglichen Funktionen. Zum Beispiel
kann die Zusammensetzung g◦f nirgendwo stetig sein, obwohl f nur auf Q nicht stetig ist
und g nur in einem Punkt nicht stetig ist. Ein Beispiel ist:
(
1
q
, x = pq ∈ Q (vollständig gekürzt)
f (x) =
0, x∈/ Q,
(
1, x ̸= 0
g(x) =
0, x = 0.

Die Zusammensetzung
(
1, x∈Q
(g ◦ f )(x) =
0, x∈
/Q

ist nirgendwo stetig.

Übung 5.2.8
Finden Sie die Konstante c, so dass g auf R stetig ist:

(
x 2 − c2 x < 4
g(x) =
cx + 20 x ≥ 4.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 109

Übung 5.2.9
Finden Sie Konstanten c und d, so dass h auf R stetig ist:


2x
 x<1
2
h(x) = cx + d 1 ≤ x ≤ 2

4x x > 2.

Übung 5.2.10
Bestimmen Sie ob für den gegebenen Punkt a die Funktion f eine hebbare Unstetigkeit
in a hat. Falls ja, dann nden Sie die stetige Fortsetzung.

O 1 a = 7,
x−7
f (x) = .
|x − 7|
O 2 a = 9, √
3− x
f (x) = .
9−x

5.3 Eigenschaften stetiger Funktionen


Jetzt schauen wir uns ein paar wichtige und relativ tiefe Eigenschaften stetiger Funktionen
an. Die Grundlage für die Sätze ist der Satz von Bolzano-Weierstraÿ.

Satz 5.3.1
Eine auf [a, b] denierte Funktion, die stetig ist, ist beschränkt.

Bemerkung. Ein beschränktes, abgeschlossenes Intervall [a, b] ⊆ R heiÿt kompakt. Im Satz


5.3.1 ist Kompaktheit sehr wichtig.

ˆ Wenn f stetig auf einem unbeschränkten Intervall ist, gilt die Aussage nicht. Gegenbeispiel:
f (x) = x auf [0, ∞).

ˆ Wenn f
stetig auf einem nicht abgeschlossenen Intervall ist, gilt die Aussage nicht.
1
Gegenbeispiel: f (x) = x auf (0, 1].

Bemerkung. Im Satz 5.3.1 ist auch Stetigkeit wichtig.


Erstes Gegenbeispiel:
(
1
x
, x ∈ (0, 1]
f (x) =
0, x ∈ [−1, 0].
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 110

Hier ist f auf [−1, 1] deniert, aber nicht beschränkt.


Zweites Gegenbeispiel:
(
q, x = pq ∈ Q ∩ [0, 1] (vollständig gekürzt)
g(x) =
0, x ∈ [0, 1] \ Q.

Auch hier ist g auf [0, 1] deniert, aber nicht beschränkt.

Beweis von Satz 5.3.1. Sei f : [a, b] → R stetig. Wir werden zeigen, dass f nach oben
beschränkt ist. Analog zeigt man, dass f nach unten beschränkt ist.
Wenn f nicht nach oben beschränkt wäre, würde es für jedes n ∈ N ein xn ∈ [a, b]
geben, so dass

f (xn ) ≥ n. (5.3.1)

Da {xn }∞
n=1beschränkt ist, existiert nach dem Satz von Bolzano-Weierstraÿ eine konver-

gente Teilfolge {xnk }n=1 mit Grenzwert x0 ∈ R. Aus

a ≤ xnk ≤ b für alle k∈N

folgt, dass

a ≤ x0 ≤ b,

also x0 ∈ D(f ). Da f stetig ist, gilt

(5.3.1)
f (x0 ) = lim f (xnk ) = ∞,
k→∞

was widerspricht, dass x0 ∈ D(f ).

Wir haben häug bemerkt, dass eine Funktion sein Supremum und Inmum nicht annehmen
muss (z.B. f (x) = x auf (0, 1) oder tanh(x) auf R). Der nächste Satz sagt uns, dass stetige
Funktionen auf kompakten Mengen doch ihr Supremum und ihr Inmum annehmen. (Dies
ist später z.B. für Optimierungsprobleme und den Mittelwertsatz wichtig.)

Satz 5.3.2: Satz über die Extremwerte


Wenn f auf [a, b] stetig ist, existieren Punkte xm , xM ∈ [a, b], so dass

f (xm ) = inf f, f (xM ) = sup f.


[a,b] [a,b]

Bemerkung. Der Satz ist nicht konstruktiv: Er sagt uns nicht, was xm , x M sind, oder wie
wir die Zahlen nden oder approximieren können.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 111

Beweis von Satz 5.3.2. Seien

m := inf f, M := sup f.
[a,b] [a,b]

Satz 5.3.1 sagt, dass m, M ∈ R. Nach der Approximations-Eigenschaft des Supremums


existiert eine Folge {yn }∞ ∞
n=1 und eine Folge {xn }n=1 , so dass

xn ∈ [a, b] für alle n ∈ N, yn = f (xn ) und lim yn = M. (5.3.2)


n→∞

Angesichts

a ≤ xn ≤ b

existieren nach dem Satz von Bolzano-Weierstraÿ eine Teilfolge {xnk }∞


k=1 und ein Grenzwert
x0 ∈ R , so dass

xn k → x0 für k→∞ und a ≤ x0 ≤ b.

Stetigkeit von f liefert

(5.3.2)
f (x0 ) = f ( lim xnk ) = lim f (xnk ) = M.
k→∞ k→∞

Analog für das Minimum.

Übung 5.3.3
Begründen Sie folgende Behauptung:

Ich baue ein rechteckiges Gehege. Dafür habe ich 100m Zaun zur Verfügung.
Es gibt ein gröÿtmögliches Gehege, das ich einrichten kann.

Der nächste Satz liefert Lösungen der Gleichung

f (x) = y.

Satz 5.3.4: Zwischenwertsatz


Sei f : [a, b] → R stetig. Seien

m := min f, M := max f.
[a,b] [a,b]

Dann gibt es zu jedem y ∈ [m, M ] mindestens ein x ∈ [a, b], so dass

f (x) = y.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 112

Bemerkung. Obwohl die Aussage des Satzes nicht konstruktiv ist, geben wir einen konstrukiven
Beweis an.

Bemerkung. Wissen Sie noch, wieviel Mühe es gekostet hat, zu zeigen, dass W(exp(·)) =
(0, ∞) gilt? Geben Sie eine Abkürzung mithilfe des Zwischenwertsatzes an. Vergessen Sie
nicht, Stetigkeit zu verwenden.

Bemerkung. Eine leichte Folgerung ist, dass, wenn

f (a) · f (b) < 0


ist, f eine Nullstelle auf (a, b) besitzt. Insbesondere besitzt jedes Polynom (2n−1)-ten Grades
mindestens eine (reelle) Nullstelle.

Bemerkung. Wenn f nicht stetig ist, gilt der Satz nicht! Gegenbeispiel:
(
x2 + 1, x ∈ [1, 2]
f (x) =
x2 − 2, x ∈ [0, 1).
Dann ist

min f = −2, max f = 5,


[0,2] [0,2]

aber es gibt z.B. kein x ∈ [0, 2], so dass

f (x) = 1.

Übung 5.3.5
Begründen Sie, dass es kein x ∈ [0, 2] gibt, so dass für die obige Funktion gilt f (x) = 1.

Übung 5.3.6
Betrachten Sie
(
1 − x2 0≤x≤1
f (x) =
1 + x2 1 < x ≤ 2.

O
1 Zeigen Sie, dass f nicht stetig auf [0, 2] ist.

O
2 Zeigen Sie, dass f nicht jeden Wert zwischen f (0) und f (2) annimmt.

Beweis von Satz 5.3.4. Wenn m=M ist, dann ist f konstant:

f (x) = m für alle x ∈ [a, b].

Also nehmen wir an, dass m < M. Dass es xm , x M gibt mit f (xm ) = m, f (xM ) = M ,
folgt aus dem Satz über die Extremwerte. Also nehmen wir o.B.d.A. an, dass

y ∈ (m, M ). (5.3.3)
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 113

Wir denieren

g(x) := f (x) − y.

Nach (5.3.3) gilt

g(xm ) < 0, g(xM ) > 0. (5.3.4)

Es reicht aus zu zeigen, dass es ein x̄ zwischen xm und xM gibt, so dass

g(x̄) = 0.

Wenn xm < xM , denieren wir

a1 = x m , b1 := xM ,

ansonsten umgekehrt. Auf jeden Fall impliziert (5.3.4), dass

g(a1 ) · g(b1 ) < 0.

Jetzt betrachten wir

a1 + b 1
c := .
2
Es gilt entweder

g(c) = 0 oder g(c) · g(b1 ) > 0 oder g(c) · g(b1 ) < 0.

Im ersten Fall setzen wir x̄ := c. Im zweiten Fall denieren wir

a2 := a1 , b2 := c,

und im dritten Fall denieren wir

a2 := c, b2 := b1 .

Falls für ein n∈N gilt g(c) = 0, dann haben wir die gewünschte Nullstelle x̄ gefunden.
Ansonsten haben wir eine Intervallschachtelung {[an , bn ]}∞
n=1 deniert, wobei

g(an ) · g(bn ) < 0 für alle n ∈ N. (5.3.5)

Da bn − an ≤ |b − a|/2n−1 ist, gilt nach Lemma 4.4.8

lim an = lim bn =: x̄
n→∞ n→∞
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 114

für ein x̄ ∈ [a, b]. Da g stetig ist, gilt

lim g(an ) = g(x̄) = lim g(bn ).


n→∞ n→∞

Aus (5.3.5) schlieÿen wir

0 ≥ lim g(an )g(bn ) = g(x̄)2 ,


n→∞

so dass

g(x̄) = 0.

Übung 5.3.7
Begründen Sie die Aussage:

Für jedes Polynom (2n − 1)-ten Grades ist der Wertebereich ganz R.

Übung 5.3.8
Zeigen Sie, dass p(x) = x2 + x − 1 zwei reelle Nullstellen x± hat und bestimmen Sie
ganze Zahlen s± , so dass gilt

x− ∈ (s− , s− + 1), x+ ∈ (s+ , s+ + 1).

Übung 5.3.9
Zeigen Sie, dass eine positive Lösung der Gleichung

cos(x) = exp(x) − 1

existiert.

Übung 5.3.10
Zeigen Sie, dass
sin (x) = exp(−x)
eine Lösung besitzt.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 115

Übung 5.3.11
Zeigen Sie, dass  
1
sin = exp(−x)
x
eine Lösung x∗ ∈ (0, 2π) besitzt.

Übung 5.3.12
Für die Funktion f gegeben durch

1
f (x) = x3 − ,
x
zeigen Sie, dass es einen Punkt x∗ gibt, so dass f (x∗ ) = 10.

Übung 5.3.13
Verwenden Sie den Zwischenwertsatz, um zu zeigen, dass es ein r ∈ R gibt, so dass
r2 = 2.

Übung 5.3.14
Sie gehen am Montag vom Marktplatz zum Hauptgebäude. Sie verlassen den Marktplatz
um 10 Uhr und kommen am Hauptgebäude um 10 : 24 Uhr an. Am Dienstag nehmen
Sie den gleichen Pfad vom Hauptgebäude um 10 Uhr zum Marktplatz und kommen um
10 : 24 Uhr an. Beweisen Sie, dass es einen Punkt entlang des Pfades gibt, wo Sie zum
genau gleichen Zeitpunkt an beiden Tagen waren.

Methode zur Nullstellenbestimmung: Wie erwähnt, enthält der Beweis einen Algorithmus,
durch den man den Punkt x̄ nden kann. Das so genannte Bisektionsverfahren ist eine
zuverlässige Methode, Nullstellen zu nden, aber leider konvergiert es sehr langsam. In dieser
a +b
Methode nimmt man immer den Mittelpunkt c = n n um das neue Intervall zu denieren,
2
egal wie sich f verhält. Eine andere Möglichkeit wäre es, mehr Infomation über die Funktion
f zu benutzen, um ein neues Intervall zu nden.

aα b
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 116

Stellen Sie sich vor: Wir suchen eine Nullstelle x̄ von f . Wir betrachten die Sekante l, die
(a, f (a)) und (b, f (b)) miteinander verbindet. Wenn f fast linear wäre, also f (x) ≈ l(x) (in
irgendeinem Sinne), dann wäre es schlau, x̄ durch die Nullstelle α von l zu approximieren.
Diese Idee führt zur Sekantenmethode.
Die Sekantenmethode
Gegeben seien a, b ∈ R mit

f (a) · f (b) < 0.

Man deniere

b−a
α := a − f (a) · .
f (b) − f (a)
Wenn f (α) ̸= 0 ist, dann fährt man wie folgt fort:
Wenn f (a) · f (α) < 0 ist , dann setze man

a1 = a, b1 = α,

sonst

a1 = α, b1 = b.

Dann iteriert man mit

b n − an
αn+1 = an − f (an ) · .
f (bn ) − f (an )
Die Sekantenmethode ist schneller als das Bisektionsverfahren und ist relativ zuverlässig,
insbesondere wenn man ungefähr weiÿ, wo die Lösung liegt.

Übung 5.3.15
Betrachten Sie die Gleichung f (x) = x2 − 2 = 0 auf [1, 2].

O1 Finden Sie die nächsten zwei Intervalle, die Sie mit dem Bisektionsverfahren erhalten.

O2 Finden Sie die nächsten zwei Werte


Sekantenmethode erhalten.
α1 und α2 und Intervalle, die Sie mit der

O3 Welche Methode liefert eine bessere Approximation nach zwei Schritten?

Noch schneller ist das so gennante Newtonverfahren. Wir können die Methode genauer
besprechen, wenn wir die Ableitung deniert haben. Die grobe Idee ist, dass die Newtonsche

Methode eine Folge {αn }n=1 erzeugt mit

αn = φ(αn−1 ),

für eine stetige Funktion φ. Man hot, dass

αn für n→∞ gegen ᾱ ∈ R konvergiert.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 117

Dann ist ᾱ die gesuchte Nullstelle. Wenn {αn }∞


n=1 konvergiert, dann löst ᾱ die Gleichung

ᾱ = φ(ᾱ).
Also ist ᾱ ein Fixpunkt von φ.
Bemerkung. Man kann an konkreten Beispielen sehen, dass im Allgemeinen die Rate des
Newtonverfahrens besser ist.

Denition 5.3.16
Ein Fixpunkt einer Funktion f ist ein Punkt x ∈ R, so dass

x = f (x).

y=x

ᾱ
φ

ᾱ

Abbildung 5.7: Der Fixpunkt ᾱ ist der Schnittpunkt zweier Graphen: dem von φ und dem
von y(x) = x.

Beispiel. Die Funktion f (x) = x + 1 hat keine Fixpunkte. Die Funktion f (x) = x2 hat zwei
Fixpunkte, x=0 und x = 1. Jedes x ∈ R ist ein Fixpunkt der Funktion f (x) = x.
Der letzte Satz dieses Abschnitts liefert Existenz eines Fixpunkts einer stetigen Funktion.

Satz 5.3.17
Sei f : [a, b] → R stetig mit W(f ) ⊆ [a, b]. Dann besitzt f mindestens einen Fixpunkt.

Beweis. Wenn f (a) = a bzw. f (b) = b, dann ist a bzw. b ein Fixpunkt. Wenn nicht,
dann ist f (a) ∈ (a, b] und f (b) ∈ [a, b). Also gilt für f˜(x) := f (x) − x, dass

f˜(a) > 0, f˜(b) < 0.

Nach dem Zwischenwertsatz gibt es ein x̄ ∈ (a, b) mit f˜(x̄) = 0. Also ist x̄ ein Fixpunkt
von f.

Fixpunkte sind oft wichtig für numerische Verfahren (z.B. für Runge-Kutta Methoden)
und sind auch für die Theorie wichtig (z.B. um zu zeigen, dass Lösungen von gewöhnlichen
Dierentialgleichungen existieren).
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 118

5.4 Gleichmäÿige Stetigkeit


Denition 5.4.1
Eine reelle Funktion heiÿt gleichmäÿig stetig, wenn es zu jedem ε>0 ein δ>0 gibt, so
dass
|x − y| ≤ δ =⇒ |f (x) − f (y)| ≤ ε für alle x, y ∈ D(f ).

War dies nicht die Denition von Stetigkeit ? Was ist der Unterschied?
In der Deniton oben hängt δ von εund nur von εab. Dass f auf D(f ) stetig ist,
bedeutet, dass f in jedem Punkt x0 ∈ D(f ) stetig ist. Die Funktion f ist in x0 stetig, wenn
es zu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt, so dass

|x − x0 | ≤ δ impliziert |f (x) − f (x0 )| ≤ ε für alle x ∈ D(f ).

Hier hängt δ sowohl von ε als auch von x0 ab.

Beispiel. Um den Unterschied besser zu verstehen, schauen wir uns das Beispiel f (x) =
1
x
, x ∈ (0, 1) an. Die Funktion f ist stetig. Aber was passiert mit δ = δ(ε, x) für x nah an 0?

1
x1

1
x2

x1 x2 1

Abbildung 5.8: Für x1 nah an 0 ist δ = δ(ε, x1 ) viel kleiner als δ = δ(ε, x2 ) für x2 nah an 1.

Sei ε>0 gegeben und x0 ∈ (0, 1). Wir suchen ein Kriterium, damit

1 1
− ≤ε
x x0

ist. Es gilt

− 1 = x0 − x ≤ ε,
1
x x0 xx0
wenn

x0 x20 ε
x≥ und |x − x0 | ≤ .
2 2
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 119

x0 x0
Da aus |x − x0 | ≤ 2
die Ungleichung x ≥ x0 − |x − x0 | ≥ 2
folgt, reicht es aus, wenn wir

x0 x20
 
δ = min , ε
2 2
wählen. Man merkt, dass δ von x0 abhängt. Jetzt zeigen wir, dass f in der Tat nicht
gleichmäÿig stetig ist. Sei ε = 1. Wenn f gleichmäÿig stetig wäre, würde es ein δ > 0
geben, so dass

|x − y| ≤ δ ⇒ |f (x) − f (y)| ≤ 1.

Insbesondere würde aus


 
1
|x − y| ≤ min δ, =: δ̃
2
die Ungleichung

|f (x) − f (y)| ≤ 1
δ̃
folgen. Aber für x = δ̃, y = 2
gilt

δ̃
|x − y| = ≤ δ̃
2
und

1 2 1 1
|f (x) − f (y)| = − = ≥ 1 = 2.

δ̃ δ̃ δ̃ 2

1
Im letzten Beispiel haben wir die Struktur der Funktion
x
f (x) =
benutzt, um einen
direkten Beweis zu geben. Jetzt schauen wir uns ein Beispiel an, in dem die Funktion
komplizierter ist.

Beispiel. Die Funktion log(·) : (0, ∞) → R ist nicht gleichmäÿig stetig. Dies zeigen wir mit
einem Beweis durch Widerspruch. Wir nehmen an, dass es für ε=1 ein δ>0 gäbe, so dass

|log(x) − log(y)| ≤ 1 für alle x, y ∈ (0, 1] mit |x − y| ≤ δ. (5.4.1)

(Hier betrachten wir nur |x| ≤ 1, weil das Verhalten in einer Umgebung von Null das Problem
ist.) O.B.d.A. dürfen wir annehmen (warum?), dass

δ < 1. (5.4.2)

Wir wählen x0 > 0 mit

3
x0 < δ, |log(x0 )| > . (5.4.3)
δ
Dies ist möglich, weil

lim|log(x)| = ∞.
x↓0
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 120

Allerdings gilt

|log(x0 )| = |log(x0 ) − log(1)|


≤ |log(x0 ) − log(δ)| + |log(δ) − log(2δ)| + ... + |log(N δ) − log(1)|, (5.4.4)

1 1
wobei N = δ (die gröÿte ganze Zahl kleiner gleich δ ). Aus (5.4.1) und (5.4.4) schlieÿen
wir

1 (5.4.2) 2
|log(x0 )| ≤ N + 1 ≤ +1 < , (5.4.5)
δ δ
da die Vorraussetzung |x − y| ≤ δ aus (5.4.1) für alle Summanden in (5.4.4) erfüllt ist. Die
Ungleichung (5.4.5) widerspricht (5.4.3).

Übung 5.4.2
Zeigen Sie, dass

O1 x2 auf (0, 1) gleichmäÿig stetig ist.

O2 x2 auf R nicht gleichmäÿig stetig ist.

Wir haben eben zwei Beispiele gesehen, bei denen eine nichtbeschränkte, stetige Funktion auf
einem oenen Interval nicht gleichmäÿig stetig ist. Man kann den obigen Beweis anpassen,
um eine allgemeine Tatsache zu zeigen:

Satz 5.4.3
Wenn f : (a, b) −→ R gleichmäÿig stetig ist, dann ist f beschränkt.

Übung 5.4.4
Beweisen Sie den Satz. Andererseits geben Sie ein Beispiel an, in dem eine auf (a, b)
stetige und beschränkte Funktion nicht gleichmäÿig stetig ist.

Übung 5.4.5
Zeigen Sie, dass log(x) auf (1, ∞) gleichmäÿig stetig ist.

Übung 5.4.6
Zeigen Sie, dass x2 auf (0, L) für L∈R gleichmäÿig stetig ist.

Der einfache Fall ist: Wenn f auf [a, b] deniert und stetig ist, dann ist f auf [a, b]
gleichmäÿig stetig. Die Idee ist, dass es in diesem Fall ein schlimmstes δ gibt.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 121

Satz 5.4.7
Eine auf einem beschränkten, abgeschlossenen Intervall denierte und stetige Funktion
ist gleichmäÿig stetig.

Beweis. Sei f : [a, b] → R stetig. Wir nehmen für den Widerspruch an, dass f nicht
gleichmäÿig stetig ist. Dann existiert ε0 > 0 und für jedes n∈N Punkte xn , yn ∈ [a, b],
so dass

1
|xn − yn | ≤ und |f (xn ) − f (yn )| ≥ ε0 .
n
Da {xn }∞
n=1 und {yn }∞
n=1 beschränkt sind, besitzen sie nach dem Satz von Bolzano-
Weierstraÿ konvergente Teilfolgen

xnk → x, ynk → y für k → ∞,


1
wobei x, y ∈ [a, b]. Auÿerdem impliziert |xn − yn | < n
, dass

x = y.

Da f stetig ist, gilt für k→∞

f (xnk ) → f (x), f (ynk ) → f (x).

Aber dann erhalten wir aus dem Vergleichskriterium und dem Satz über den Grenzwert
einer Summe den Widerspruch, dass

ε0 ≤ lim (f (xnk ) − f (ynk )) = f (x) − f (x) = 0.


k→∞


Angesichts Satz 5.4.7 ist f (x) = x auf [0, 1] gleichmäÿig stetig, obwohl der Graph sehr steil

ist für x klein (f (x) → ∞ für x ↓ 0).
Auf beschränkten, abgeschlossenen Intervallen sind alle stetige Funktionen gleichmäÿig
stetig. Wie sieht es auf beschränkten, oenen Intervallen aus? Was ist der Unterschied
zwischen

 
1 1
x, , x, oder sin auf (0, 1)?
x x
Welche sind gleichmäÿig stetig?

Übung 5.4.8
Untersuchen Sie auf gleichmäÿige Stetigkeit auf (0, 1):

O1
x2 log(x),
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 122

O2
1
√ ,
x
O3  
1
x sin ,
x
O4  
1
α
x sin .
x

Übung 5.4.9
Zeigen Sie, dass 1/(x2 + 1) auf R gleichmäÿig stetig ist.
Kapitel 6
Dierentialrechnung
Sei f : [a, b] → R gegeben. Wenn f in x0 ∈ (a, b) stetig ist, dann ist

f (x) ≈ f (x0 ) für x ≈ x0 .

Wir erhalten allerdings keine Rate dafür wie schnell f (x) nach f (x0 ) konvergiert. Diese Rate
ist in x0 = 0 in der Tat für


f (x) = x, g(x) = x und h(x) = x2

verschieden, obwohl alle den gleichen Grenzwert haben. Die grundlegende Frage dieses Abschnitts
ist, obund wiewir f noch besser durch eine geeignete lineare Funktion ℓ(x; x0 ) approximieren
können. Diese Frage führt uns in die Dierentialrechnung.
(Achtung! Die Funktion ℓ(x; x0 ) hat x0 als (fester) Parameter und ist linear als Funktion
von x.)

6.1 Lineare Approximation


Um über die Qualität einer Approximation reden zu können, führen wir die O(·)- und o(·)-
Notation ein.

Notation 6.1.1
Wir schreiben f (h) = o(h) (für h ↓ 0), wenn


f (h)
lim = 0.
h↓0 h

Wir schreiben f (h) = O(h) (für h ↓ 0), wenn es ein C∈R gibt, so dass


f (h)
lim sup ≤ C.
h↓0 h
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 124

Beispiele.

O1 h2 = o(h) und h2 = O(h2 ). (Es gilt auch


schärfste mögliche Rate zu identizieren.)
h2 = O(h) mit C = 0, aber man versucht die

O2 exp(h) − 1 = O(h) und sin(h) = O(h) für h ↓ 0.


Angesichts der Stetigkeit von f gilt f (x) → f (x0 ) für x → x0 ; es bleibt nur die Steigung
α der besten linearen Funktion

ℓ(x; x0 ) = f (x0 ) + α · (x − x0 )
zu bestimmen. Wir werden sagen, dass die lineare Funktion ℓ die beste lineare Approximation
der stetigen Funktion f in einer Umgebung von x0 ist, wenn ℓ und f zu erster Ordnung
miteinander übereinstimmen:

Denition 6.1.2
Eine reelle Funktion f heiÿt in x0 linear approximierbar, wenn es ein α ∈ R gibt, so dass
gilt


f (x) − f (x0 ) + α(x − x0 ) = o(|x − x0 |) für x → x0 .

Wir nennen ℓ(x; x0 ) = f (x0 ) + α(x − x0 ) die beste lineare Approximation von f in x0 .

Bemerkung. Nach der Denition ist jede Funktion, die in x0 linear approximierbar ist, in
x0 stetig.

Bemerkung. Nicht jede stetige Funktion ist linear approximierbar! Zum Beispiel die Funktion
g(x) = |x| ist durch ℓ1 (x) = x für x>0 und durch ℓ2 (x) = −x für x < 0 gut (sehr gut!)
approximiert. Aber es gibt keine lineare Funktion ℓ(x) = α · x, die eine gute Approximation
von g in einer Umgebung von Null ist.

Denition 6.1.3
Für eine reelle Funktion f ist die Dierenzfunktion von f in x0 durch

(∆x0 f )(x) := f (x) − f (x0 )

deniert. Wenn f in x0 linear approximierbar ist, dann ist das Dierential von f in x0
durch

dx0 f (x) := α · (x − x0 )

deniert, wobei α die Konstante aus Denition 6.1.2 ist.

Bemerkung. Wenn f in x0 linear approximierbar ist, dann ist

(∆x0 f )(x) ≈ dx0 f (x)


im Sinne, dass die Dierenzfunktion und das Dierential zu erster Ordnung miteinander
üebereinstimmen.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 125

Wenn f linear approximierbar ist, wie nden wir die beste lineare Approximation? Wir
erhalten eine lineare Approximation für f in einer Umgebung von x0 durch die Sekante,
die (x0 , f (x0 )) und (x1 , f (x1 )) miteinander verbindet. Wie Sie wissen, ist die Steigung der
Sekante

f (x1 ) − f (x0 )
.
x1 − x 0

f (x0 )
f (x3 ) f (x3 ) − f (x0 )
x3 − x0 f (x2 ) − f (x0 )

f (x2 ) f (x1 ) − f (x0 )


x2 − x0

f (x1 )
x1 − x0

x
x1 x2 x3 x0

Abbildung 6.1: Eine Folge {xn }∞


0 mit den ersten drei Folgenglieder und die dazugehörigen
Sekanten. Die Steigung der Sektanten scheint zu konvergieren für xn → x0 .

Achtung! Weder die Sekante noch die Steigung ist für x1 = x 0 deniert. Aber man
bemerkt, dass, je näher x1 an x0 liegt, desto besser wird die Approximation (cf. Maple

Worksheet). Sei {xn }n=1 eine Folge mit xn ̸= x0 , so dass xn gegen x0 konvergiert. Man
könnte die Folge der Steigungen

f (xn ) − f (x0 )
αn :=
xn − x0
denieren und versuchen, α als Grenzwert dieser Folge zu denieren. Wie das Beispiel
g(x) = |x| zeigt, bedeutet die Existenz dieses Grenzwerte für eine Folge nicht, dass die
ursprüngliche Funktion linear approximierbar ist. Aber wenn der Grenzwert für jede Folge
existiert, dann bedeutet es doch, dass f linear approximierbar ist.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 126

Satz 6.1.4
Eine Funktion f : (a, b) → R ist in x0 ∈ (a, b) linear approximierbar genau dann, wenn

f (x) − f (x0 )
lim (6.1.1)
x→x0 x − x0
existiert. Auÿerdem gilt für die Steigung α der besten linearen Approximation

f (x) − f (x0 )
α = lim . (6.1.2)
x→x0 x − x0

Bemerkung. Wenn der Grenzwert α in (6.1.2) existiert, dann wird die Funktion

ℓ(x; x0 ) = f (x0 ) + α(x − x0 )


die Tangente zum Graphen von f in x0 genannt. Ihre Steigung ist der Grenzwert der Steigungen
der Sekanten.

6.2 Die Ableitung in einem Punkt


Angesichts Satz 6.1.4 bekommt der Grenzwert in (6.1.1) einen besonderen Namen.

Denition 6.2.1
Sei f : (a, b) → R eine Funktion und x0 ∈ (a, b). Der Dierenzenquotient von f in x0 ist

f (x) − f (x0 )
Dx0 f (x) := .
x − x0
Wenn der Grenzwert des Dierenzenquotients für x → x0 existiert, dann heiÿt dieser
Grenzwert die Ableitung von f in x0 und wird mit

df
f ′ (x0 ) oder (x0 )
dx
bezeichnet. In diesem Fall sagt man, dass f in x0 dierenzierbar ist.

Bemerkung. Dierenzierbarkeit in einem Punkt ist eine lokale Eigenschaft einer Funktion.

Oben haben wir bemerkt, dass f in x0 stetig ist, wenn f in x0 linear approximierbar
ist. Nach Satz 6.1.4 kann man die Bedingung in Dierenzierbarkeit umformulieren. Die
Verbindung zwischen Stetigkeit und Dierenzierbarkeit ist für uns so wichtig, dass wir
diese Bemerkung als Lemma ausdrücken.

Lemma 6.2.2. Wenn f : (a, b) → R in x0 ∈ (a, b) dierenzierbar ist, dann ist f in x0 stetig.

Bemerkung. Wir wiederholen:


p Die Umkehrung gilt nicht! Das Gegenbeispiel ist |x| in 0.
Ein zweites Gegenbeispiel ist |x|, die in 0 stetig aber nicht dierenzierbar ist. (Überprüfen
Sie dies.)
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 127

Beweis vom Lemma 6.2.2. Wenn f in x0 dierenzierbar ist, dann gilt

f (x) = f (x0 ) + f ′ (x0 )(x − x0 ) + o(|x − x0 |).

Also gilt

|f (x) − f (x0 )| ≤ |f ′ (x0 )| |x − x0 | + o(|x − x0 |),

so dass insbesondere gilt

lim |f (x) − f (x0 )| = 0,


x→x0

was Stetigkeit von f in x0 entspricht.

Beispiele.

O1 Im Abschnitt 5.1 haben wir

xn − 1 ex − 1
lim =n und lim =1 (6.2.1)
x→1 x − 1 x→0 x
gezeigt. Nach Denition 6.2.1 ist

xn − 1 f (x) − f (1)
= = D1 f (x)
x−1 x−1
der Dierenzenquotient von f (x) = xn in x0 = 1. Also impliziert der erste Grenzwert
in (6.2.1), dass

d n
f ′ (1) = n oder x |x=1 = n. (6.2.2)
dx
Analog ist

ex − 1 ex − e0
= = D0 g(x)
x x−0
der Dierenzenquotient von g(x) = ex in x0 = 0. Der zweite Grenzwert in (6.2.1) sagt
uns, dass

d x
g ′ (0) = 1 oder e |x=0 = 1. (6.2.3)
dx
Aus (6.2.2) und (6.2.3) schlieÿen wir:

die Tangente zu xn in 1 ist y = 1 + n(x − 1),


die Tangente zu ex in 0 ist y = x + 1.

(Sehen Sie das Beispiel im Maple-Worksheet.)


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 128

y y y
exp(x) x3 x2
1 + 3(x − 1) 1 + 2(x − 1)
x+1

x x x

(a) (b) (c)

O2 Wir haben bemerkt, dass


6.1.4 ist |x| in 0
g(x) = |x| in 0 nicht linear approximierbar ist. Nach Satz
nicht dierenzierbar. Dies können wir auch direkt sehen, da
(
|x| 1 x>0
=
x −1 x < 0,
so dass

|x|
lim
x→0 x

nicht existiert.

Im zweiten Beispiel oben haben wir eine Funktion, für die der linksseitige Grenzwert und
der rechtsseitige Grenzwert

g(x) − g(x0 ) g(x) − g(x0 )


lim bzw. lim (6.2.4)
x↑x0 x − x0 x↓x0 x − x0
existieren, obwohl die Funktion in x0 nicht dierenzierbar ist. Die Objekte in (6.2.4) bekommen
auch einen Namen.

Denition 6.2.3
Wenn (x, x0 ] ⊆ D(f ) und der Grenzwert

f (x) − f (x0 )
lim
x↑x0 x − x0
existiert, dann nennen wir den Grenzwert die linksseitige Ableitung von f in x0 . Wir
schreiben

df −
f−′ (x0 ) oder (x0 )
dx
dafür und sagen, dass f in x0 linksseitig dierenzierbar ist. Wenn [x0 , x) ⊆ D(f ) und
der Grenzwert

f (x) − f (x0 )
lim
x↓x0 x − x0
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 129

existiert, dann nennen wir den Grenzwert die rechtsseitige Ableitung von f in x0 . Wir
schreiben

df +
f+′ (x0 ) oder (x0 )
dx
dafür und sagen, dass f in x0 rechtsseitig dierenzierbar ist.

Notation 6.2.4
Sei I⊆R ein Intervall, f :I→R eine Funktion, und x0 ein Punkt in I. Wir benutzen
die Notation

lim f (x)
x→x0
x∈I

für den Grenzwert von f (xn ) für alle Folgen {xn }∞


n=1 mit xn ∈ I , die gegen x0 für n→∞
konvergieren. Dies ergibt den linksseitigen Grenzwert, den rechtsseitigen Grenzwert, oder
den (üblichen) Grenzwert (abhängig davon, ob x0 der rechte Endpunkt des Intervalls,
der linke Endpunkt des Intervalls, oder im Inneren des Intervalls ist).

Bemerkung.

ˆ Anscheinend ist g(x) = |x| in 0 linksseitig und rechtsseitig dierenzierbar mit

dg − dg +
(0) = −1, (0) = 1.
dx dx

ˆ Man überprüft, dass eine Funktion f in x0 genau dann dierenzierbar ist, wenn

df − df +
(x0 ) und (x0 )
dx dx
beide existieren und

df − df +
(x0 ) = (x0 )
dx dx
gilt.

df −
ˆ Verwechseln Sie dx (x0 ) mit
lim f ′ (x)
x↑x0

nicht.

Übung 6.2.5
O 1 Lösen Sie die Ungleichung

|x + 1| + |x + 2| < 7.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 130

O2 Skizzieren Sie den Graphen von

f (x) = |x + 1| + |x + 2|.

Wo ist f stetig? Dierenzierbar?

O3 Skizzieren Sie den Graphen von

g(x) = |x| + |x + 1| + |x − 1|.

Wo ist g dierenzierbar?

Übung 6.2.6
Angenommen f ist in a dierenzierbar, berechnen Sie

f (x) − f (a)
lim √ √ .
x→a x− a

6.3 Die abgeleitete Funktion


Nachdem wir Stetigkeit in einem Punkt deniert haben, haben wir uns gefragt, ob eine
Funktion in jedem Punkt im Denitionsbereich stetig war und haben dann von stetigen
Funktionen gesprochen. Jetzt machen wir den gleichen Sprung mit Dierenzierbarkeit.

Denition 6.3.1
Sei I ⊆R ein Intervall. Wenn f : I −→ R in jedem Punkt in I dierenzierbar ist, also
wenn
f (x) − f (x0 )
lim existiert für alle x0 ∈ I ,
x→x0
x∈I
x − x0
so heiÿt f einfach dierenzierbar. Die Funktion

f ′ : I −→ R, x0 7→ f ′ (x0 )

heiÿt die Ableitung (oder die abgeleitete Funktion) von f . Wenn f ′ stetig auf I ist, dann
heiÿt f stetig dierenzierbar und man schreibt

f ∈ C 1 (I).

Wichtig: Die Ableitung in einem Punkt ist eine reelle Zahl. Die Ableitung (oder abgeleitete
Funktion) ist eine Funktion.
Frage: Schauen Sie, ob Sie eine Funktion, die dierenzierbar aber nicht stetig dierenzierbar
ist, nden können.

Beispiel. Finden Sie die Ableitungen.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 131

O1 f (x) = x2 . Dann ist

f (x) − f (x0 ) x2 − x20 0


f ′ (x0 ) = lim = lim  
x→x0 x − x0 x→x0 x − x0 0
(x − x0 )(x + x0 )
= lim
x→x0 (x − x0 )
= 2x0 ,

so dass f ′ (x) = 2x ist.

O2 f (x) = ex . Es gilt

ex − ex0 0
f ′ (x0 ) = lim  . (6.3.1)
x→x0 x − x0 0
Um weiter zu kommen ist es nützlich, x in einer Umgebung von x0 als x = x0 + h zu
schreiben. Dann nimmt (6.3.1) die Form

ex0 +h − ex0 ex0 (eh − 1)


f ′ (x0 ) = lim = lim
h→0 h h→0 h
h
e −1
= ex0 lim
h→0 h
x0
=e ,

wobei wir (5.1.3) und (5.1.13), angewendet haben. Also ist f ′ (x) = ex .

Bemerkung. Also löst ex die gewöhnliche Dierentialgleichung f ′ − f = 0.

O3 f (x) =

x. Dann ist

√ √
′ x0 + h − x0 0
f (x0 ) = lim  .
h→0 h 0
Wir sind blockiert und brauchen eine zusätzliche Idee. Der alte Trick, der uns wieder
hilft, ist Erweitern mit Eins:
√ √ √ √
′ x0 + h − x0 x0 + h + x0
f (x0 ) = lim ·√ √
h→0 h x0 + h + x0
h
= lim √ √
h→0 h · ( x0 + h + x0 )
1
= lim √ √
h→0 x0 + h + x0
1
= √ .
2 x0

Also ist f ′ (x) =


1

2 x
. Man bemerkt, dass D(f ′ ) = (0, ∞) eine echte Teilmenge des
Denitionsbereiches von f ist.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 132

O4 Für f (x) = 1/x ist

1
f ′ (x) = − .
x2
Wie oben hilft Erweitern mit Eins.

O5 Für sin(·) und cos(·) kann man

d d
sin(x) = cos(x), cos(x) = − sin(x) (6.3.2)
dx dx
und verwandte Ergebnisse zeigen.

Bemerkung. Angesichts (6.3.2) lösen sin(·) und cos(·) die (gewöhnliche Dierential-) Gleichung

f ′′ + f = 0.

Wie mit Dierenzierbarkeit in einem Punkt und Stetigkeit in einem Punkt gibt es eine
Verbindung zwischen Dierenzierbarkeit (auf D(f )) und Stetigkeit (auf D(f )).
Lemma 6.3.2. Sei I ⊆R ein Intervall. Wenn f : I −→ R dierenzierbar ist, dann ist f
(auf I) stetig.

Dass f auf dem oenen Intervall stetig ist, folgt aus Lemma 6.2.2. Stetigkeit in einem
Endpunkt zeigt man analog.
p
Die Umkehrung gilt nicht: Man bemerkt, dass |x| und |x| stetig (auf R), aber nicht
dierenzierbar (auf R) sind.

Übung 6.3.3
Skizzieren Sie den Graphen von

f (x) = |x2 − 4| − |x2 − 9|.

Berechnen Sie f ′ (x).

6.4 Rechenregeln
Aus den Eigenschaften des Grenzwerts erhalten wir folgende Eigenschaften der Ableitung.

Satz 6.4.1
Seien f, g : (a, b) −→ R in x0 ∈ (a, b) dierenzierbar. Dann gilt

(i) (Linearität) αf + βg mit α, β ∈ R ist in x0 dierenzierbar und (αf + βg)′ (x0 ) =


αf ′ (x0 ) + βg ′ (x0 ).

(ii) (Produktregel) f ·g ist in x0 dierenzierbar und (f · g)′ (x0 ) = f ′ (x0 ) · g(x0 ) + f (x0 ) ·
g ′ (x0 ).
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 133

f
(iii) (Quotientenregel) Wenn g(x0 ) ̸= 0 ist, dann ist
g
in x0 dierenzierbar und es gilt

 ′
f f ′ (x0 ) · g(x0 ) − f (x0 ) · g ′ (x0 )
(x0 ) = .
g (g(x0 ))2

Insbesondere ist  ′
1 g ′ (x0 )
(x0 ) = − .
g (g(x0 ))2

Die Aussage (i) drückt aus, dass Ableiten eine lineare Abbildung ist. Diese Tatsache ist
sehr wichtig. Alle drei Regeln sind sehr nützlich für uns beim Rechnen.

Beispiele.

O1 f (x) = x2 ex , f ′ (x) = 2xex + x2 ex .

O2 g(x) = x2
ex +x
, g ′ (x) = 2x(ex +x)−(ex +1)x2
(ex +x)2
.

O3 h(x) = x−n , h′ (x) = −nxn−1


x2n
= −nx−n−1 .

Partieller Beweis von Satz 6.4.1. Der Beweis folgt aus den Eigenschaften der Grenzwerte.
Als Beispiel zeigen wir (ii) . Es gilt

(f · g)(x) − (f · g)(x0 ) f (x) · g(x) − f (x0 ) · g(x0 )


lim = lim
x→x0 x − x0 x→x0 x − x0
f (x) · g(x) − f (x0 ) · g(x) + f (x0 ) · g(x) − f (x0 ) · g(x0 )
= lim
x→x0 x − x0
(f (x) − f (x0 )) · g(x) f (x0 )(g(x) − g(x0 ))
= lim + lim
x→x0 x − x0 x→x0 x − x0
f (x) − f (x0 ) g(x) − g(x0 )
= lim lim g(x) + f (x0 ) lim
x→x0 x − x0 x→x0 x→x0 x − x0
′ ′
= f (x0 ) · g(x0 ) + f (x0 ) · g (x0 ).

Oben haben wir sowohl den Satz über den Grenzwert einer Summe als auch die Tatsache,
dass

f (x) − f (x0 ) g(x) − g(x0 )


lim , lim g(x), lim
x→x0 x − x0 x→x0 x→x0 x − x0
existieren, benutzt. (Der erste und der dritte Grenzwert existieren, weil f und g in x0
dierenzierbar sind; der zweite Grenzwert existiert, weil g in x0 stetig ist.)

Auch sehr wichtig ist die Kettenregel. Wir werden diese Regelund später ihre Verallgemeinerung
für Funktionen mehrerer Veränderlicheroft benutzen.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 134

Satz 6.4.2
Seien f : (a, b) −→ R und g : (c, d) −→ R Funktionen, wobei für ein x0 ∈ (a, b) gilt:
y0 := f (x0 ) ∈ (c, d), f ist in x0 dierenzierbar und g ist in y0 dierenzierbar. Dann ist
g ◦ f in x0 dierenzierbar und es gilt

(g ◦ f )′ (x0 ) = g ′ (f (x0 )) · f ′ (x0 ). (6.4.1)

Beweisidee: Nach Denition ist

g(f (x)) − g(f (x0 ))


(g ◦ f )′ (x0 ) = lim .
x→x0 x − x0
f (x)−f (x0 )
Die Idee ist mit
f (x)−f (x0 )
zu multiplizieren. Wenn f (x) ̸= f (x0 ) in einer punktierten Umgebung
von x0 , können wir dies tun, und wir erhalten

g(f (x)) − g(f (x0 )) g(f (x)) − g(f (x0 )) f (x) − f (x0 )
lim = lim ·
x→x0 x − x0 x→x 0 f (x) − f (x0 ) x − x0
g(f (x)) − g(f (x0 )) f (x) − f (x0 )
= lim · lim
x→x0 f (x) − f (x0 ) x→x 0 x − x0
|{z} | {z }
=:y =:y0
′ ′
= g (y0 )f (x0 )
= g ′ (f (x0 ))f ′ (x0 ).

Übung 6.4.3
Benutzen Sie diese Idee um einen sauberen Beweis zu schreiben. Hinweis: Argumentieren
Sie mit Folgen.

Wir schreiben einen alternativen Beweis. Dafür bemerken wir, dass der Dierenzenquotient
stetig ergänzbar ist.

Lemma 6.4.4. Wenn f : (a, b) −→ R in x0 dierenzierbar ist, dann ist


(
f (x)−f (x0 )
x ∈ (a, b) \ {x0 }
f ∗ (x) = ′
x−x0
f (x0 ) x = x0

in x0 stetig.

Beweis. Folgt aus der Denition der Ableitung.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 135

Beweis von Satz 6.4.2. Lemma 6.4.4 angewendet auf f in x0 und g in y0 ergibt

f (x) = f ∗ (x)(x − x0 ) + f (x0 ) x ∈ (a, b) (6.4.2)

g(y) = g ∗ (y)(y − y0 ) + g(y0 ) y ∈ (c, d). (6.4.3)

Ferner können wir annehmen, dass f (x) ∈ (c, d) für alle x ∈ (a, b). (Warum?) Wir
denieren y ∈ (c, d) durch y := f (x) für x ∈ (a, b) und erhalten aus (6.4.3), dass

g(f (x)) = g ∗ (f (x))(f (x) − f (x0 )) + g(f (x0 ))


(6.4.2)
= g ∗ (f (x))(f ∗ (x)(x − x0 )) + g(f (x0 )).

Man erhält

g(f (x)) − g(f (x0 ))


lim = lim g ∗ (f (x)) · f ∗ (x). (6.4.4)
x→x0 x − x0 x→x0

Aus der Stetigkeit von f∗ in x0 folgt

lim f ∗ (x) = f ∗ (x0 ) = f ′ (x0 ).


x→x0

Aus Satz 5.2.5 (ii) , Stetigkeit von f in x0 und Stetigkeit von g∗ in y0 folgt

lim g ∗ (f (x)) = g ∗ (f (x0 )) = g ′ (f (x0 )).


x→x0

Aus (6.4.4) und dem Satz über den Grenzwert eines Produkts erhält man (6.4.1).

Alternativer Beweis von Satz 6.4.2. Nach Satz 6.1.4 reicht es aus, wenn wir

(g ◦ f )(x) − (g ◦ f )(x0 ) − g ′ (f (x0 ))f ′ (x0 )(x − x0 ) = o(|x − x0 |) (6.4.5)

zeigen. Angesichts der Dierenzierbarkeit von g und f in y0 und x0 haben wir

g(y) − g(y0 ) − g ′ (y0 )(y − y0 ) = o(|y − y0 |) (6.4.6)

f (x) − f (x0 ) − f ′ (x0 )(x − x0 ) = o(|x − x0 |). (6.4.7)

Wir setzen y = f (x) und y0 = f (x0 ) in (6.4.6):

g(f (x)) − g(f (x0 )) − g ′ (f (x0 ))(f (x) − f (x0 )) = o(|f (x) − f (x0 )|). (6.4.8)

Ersetzen von (6.4.7) in (6.4.8) ergibt (6.4.5).

Beispiele.

O1 h(x) = ex .
2
Man setzt f (x) = x2 , g(y) = ey . Dann ist h(x) = g ◦ f (x) und

2
h′ (x) = g ′ (f (x))f ′ (x) = ex · 2x.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 136

O2 f (x) = x2 + 5x, g(x) = x1 . Dann ist

1 1
(g ◦ f )(x) = , f ′ (x) = 2x + 5, g ′ (x) = − ,
x2 + 5x x2
und

−1
(g ◦ f )′ (x) = · (2x + 5).
(x2 + 5x)2

O3 h(x) =
erhält
√ 2
ex +5x . Dann ist h(x) = (g ◦ f )(x), wobei g(x) =

x und f (x) = ex
2 +5x
. Man

1
g ′ (x) = √ ,
2 x
2
f ′ (x) = (2x + 5)ex +5x (weitere Anwendung der Kettenregel),
1 2
(g ◦ f )′ (x) = √ 2 · (2x + 5)ex +5x .
2 ex +5x
Wir werden oft höhere Ableitungen betrachten.

Denition 6.4.5
Wenn f auf (a, b) dierenzierbar ist und f ′ : (a, b) −→ R in x0 dierenzierbar ist, dann
heiÿt
f ′ (x) − f ′ (x0 )
lim
x→x0 x − x0
die zweite Ableitung von f in x0 . Wir schreiben dafür

d2 f
(x0 ) oder f ′′ (x0 )
dx2
und sagen, dass f in x0 zweimal dierenzierbar ist. Analog ist die n-te Ableitung von f
in x0
dn f (n) f (n−1) (x) − f (n−1) (x0 )
(x 0 ) = f (x 0 ) = lim .
dxn x→x0 x − x0

Denition 6.4.6
Wenn f ∈ C 1 ((a, b)) und f ′′ : (a, b) → R existiert, dann sagen wir, dass f (auf (a, b))
zweimal dierenzierbar ist. Wenn zusätzlich f ′′ auf (a, b) stetig ist, dann sagen wir, dass
f (auf (a, b)) zweimal stetig dierenzierbar ist und kürzen dies

f ∈ C 2 ((a, b))

ab. Analog für höhere Ableitungen.

Achtung! f (n) (x0 ) ̸= (f (x0 ))n ! Die Klammern sind wichtig.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 137

Bemerkung. Man zeichnet die ersten drei Ableitungen mit Strichen

f ′ (x0 ), f ′′ (x0 ), f ′′′ (x0 )

und ab der 4.ten Ableitung verwendet man

f (4) (x0 ), f (5) (x0 ), . . . .

Die Ableitung f ′ sagt uns, wie sich die Funktion f in einer innitessimalen Umgebung um
′′ ′
einen Punkt verändert. Die zweite Ableitung f sagt uns, wie f sich verändert. Also: Wie
die Steigung der Tangente sich ändert. Dieses Verhalten werden wir auch noch im nächsten
Semester an Kurven im Raum genauer untersuchen.

m>1

m=1

m=0

Abbildung 6.3: Die Steigung der Tangente wächst, also ist f ′′ positiv.

Wir werden später in Denition 6.6.9 die Bedeutung der zweiten Ableitung genauer
untersuchen.

6.5 Der Mittelwertsatz der Dierentialrechnung


Ein wichtiger Satz der Dierentialrechnung ist:

Satz 6.5.1: Mittelwertsatz der Dierentialrechnung


Sei f : [a, b] −→ R stetig und auf (a, b) dierenzierbar. Dann existiert (mindestens) ein
ξ ∈ (a, b), so dass
f (b) − f (a)
f ′ (ξ) = .
b−a

Wie interpretiert man den Satz? Sei f die Verschiebung eines Massepunktes als Funktion
f (b)−f (a) ′
der Zeit. Dann ist die Durchschnittsgeschwindigkeit. Andererseits ist f (x) die
b−a
sogenannte momentane Geschwindigkeit, die beschreibt, wie schnell sich der Massepunkt
zu einem Zeitpunkt bewegt. Der Massepunkt kann sich schneller (oder langsamer) als die
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 138

Durchschnittsgeschwindigkeit bewegen, aber nicht die ganze Zeit über. Der Mittelwertsatz
sagt aus, dass der Massepunkt sich in (mindestens) einem Moment mit genau der Durchschnitts-
geschwindigkeit bewegt.
Also angenommen, Sie fahren in 30 Minuten von Aachen nach Köln. Auch wenn Sie
behaupten, Sie seien immer nur 130 km/h gefahren, so impliziert der Mittelwertsatz doch,
dass Sie mindestens einen Moment lang mit Geschwindigkeit

80 km
= 160 km/h
1/2 Stunde

gefahren sind.
Ein weiteres Beispiel ist: Ich laufe von einer Seite des Raumes (in einer Linie) zur anderen
Seite und zurück. Meine Geschwindigkeit ist in (mindestens) einem Moment gleich Null. Das
Gleiche passiert, wenn ich einen Ball hochwerfe und ihn wieder fange. Irgendwann hat der
Ball die Geschwindigkeit Null. (Vergleichen Sie mit dem Zwischenwertsatz.)

f (b)−f (a)
m= b−a

a x∗ b

f (b)−f (a)
Abbildung 6.4: In einem Punkt x∗ hat die Tangente genau die Steigung
b−a
.

Im Beweis benutzen wir den Satz über die Extremwerte und die Denition der Ableitung.

Beweis von Satz 6.5.1. Es reicht, wenn wir eine Funktion f mit f (a) = f (b) betrachten

und einen Punkt ξ ∈ (a, b) nden mit f (ξ) = 0. Das liegt daran, dass wir, wenn f (b) ̸=
f (a) ist,

f (b) − f (a)
f˜(x) = f (x) − (x − a).
b−a
denieren können. (Wir drehen das Bild in Abbildung 6.4, bis die Sekante waagerecht
ist.) Dann gilt für f˜, dass

f˜(a) = f (a), f˜(b) = f (b) − (f (b) − f (a)) = f (a),


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 139

und, wenn für ξ ∈ (a, b) gilt f˜′ (ξ) = 0, dann ist

f (b) − f (a)
f ′ (ξ) = .
b−a
Also nehmen wir an, dass f (b) = f (a).
Wenn f (x) = f (a) für alle x ∈ [a, b], dann ist die Aussage f ′ (x) = 0 für alle x ∈ (a, b)
erfüllt. Angenommen, f ist nicht identisch f (a), dann gibt es ein x ∈ (a, b) mit f (x) ̸=
f (a). Ohne Beschränkung der Allgemeinheit nehmen wir an, dass

f (x) > f (a). (6.5.1)

Da f auf [a, b] stetig ist, gibt es nach dem Satz über die Extremwerte einen Punkt
x∗ ∈ [a, b] mit

f (x∗ ) = max f (x). (6.5.2)


x∈[a,b]

Nach (6.5.1) gilt

x∗ ∈ (a, b).

Nach (6.5.2) gilt auÿerdem

f (x) − f (x∗ )
≥0 für alle x ∈ [a, x∗ ), (6.5.3)
x − x∗
f (x) − f (x∗ )
≤0 für alle x ∈ (x∗ , b]. (6.5.4)
x − x∗
Da f dierenzierbar ist, erhalten wir aus

f (x) − f (x∗ ) (6.5.3)


f ′ (x∗ ) = lim ≥ 0,
x↑x∗ x − x∗
f (x) − f (x∗ ) (6.5.4)
f ′ (x∗ ) = lim ≤ 0,
x↓x∗ x − x∗

dass f ′ (x∗ ) = 0.

Bemerkung. Wenn f nicht auf (a, b) dierenzierbar ist, gilt der Satz nicht. Gegenbeispiel:
|x| auf [−1, 1]. Wenn f auf (a, b), aber nicht auf [a, b] stetig ist, gilt der Satz nicht. Gegenbeispiel:
(
x x ∈ [0, 1)
f (x) =
0 x = 1.

Anwendungen.

O1 f ′ (x) = 0 für alle x ∈ (a, b)


Details, siehe Lemma 6.6.5 unten.)
impliziert, dass f ≡ c auf (a, b) für ein c ∈ R. (Für
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 140

O2 Zeigen Sie, dass das Polynom

p(x) = 2x3 + 3x2 + 6x + 1

genau eine Nullstelle besitzt.

Es giltp(0) = 1, p(−1) = −2 + 3 − 6 + 1 = −4. Nach dem Zwischenwertsatz existiert


eine Nullstelle x1 . Wenn es eine zweite Nullstelle x2 gibt, dann existiert ein ξ zwischen
x1 und x2 , so dass


p(x2 ) − p(x1 )
|p (ξ)| = = 0.
x2 − x1
Aber

p′ (x) = 6x2 + 6x + 6 = 6(x2 + x + 1)

besitzt keine (reelle) Nullstelle. Also existiert keine zweite Nullstelle x2 von p.

O3 Seif auf (0, 2) dierenzierbar mit f (0) = −3 und f ′ (x) ≤ 5. Was


den f (2) annehmen kann? Antwort: f (2) kann beliebig groÿ sein.
ist der gröÿte Wert,

Sei f auf (0, 2) dierenzierbar und auf [0, 2] f (0) = −3


stetig mit und f ′ (x) ≤ 5. Was
ist der gröÿte Wert, den f (2) annehmen kann? Antwort: 7.

O4 Abschätzungen zeigen, wie zum Beispiel

√ x
1+x<1+ für x>0 oder |sin(x) − sin(y)| ≤ |x − y|.
2

Übung 6.5.2
Sei f (x) = (x + 1)/(x − 1). Zeigen Sie, dass es kein c ∈ (0, 2) gibt, so dass

f (2) − f (0)
f ′ (c) = .
2−0
Wieso ist dies kein Widerspruch zum Mittelwertsatz?

Übung 6.5.3
Zeigen Sie, dass x5 + 10 + 3 = 0 genau eine reelle Lösung hat.

Übung 6.5.4
Angenommen f ist auf [2, 5] stetig und auf (2, 5) dierenzierbar mit 1 ≤ f ′ (x) ≤ 4 für
alle x. Zeigen Sie, dass
3 ≤ f (5) − f (2) ≤ 12.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 141

Übung 6.5.5
Angenommen f ist ungerade und ist überall dierenzierbar. Zeigen Sie, dass es zu jedem
b>0 ein c ∈ (−b, b) gibt, so dass gilt f ′ (c) = f (b)/b.

Übung 6.5.6
Verwenden Sie den Mittelwertsatz um zu zeigen, dass

| sin(a) − sin(b)| ≤ |a − b|

für alle a, b ∈ R.

Übung 6.5.7

Zeigen Sie, dass 1 + x < 1 + 12 x für alle x > 0.

Es gibt auch eine verallgemeinete Version des Mittelwertsatzes.

Satz 6.5.8: Verallgemeinerter Mittelwertsatz


Seien a, b ∈ R mit a < b. Wenn f, g stetig auf [a, b] und dierenzierbar auf (a, b) sind,
dann existiert ein c ∈ (a, b), so dass

f ′ (c)(g(b) − g(a)) = g ′ (c)(f (b) − f (a)).

Beweis. Man deniere

h(x) = f (x)(g(b) − g(a)) − g(x)(f (b) − f (a)).

Es gilt h(a) = h(b). Auÿerdem ist h auf [a, b] stetig und auf (a, b) dierenzierbar. Also
existiert ein c ∈ (a, b), so dass

h′ (c) = 0.

Man kann Satz 6.5.8 benutzen, um die berühmte Regel von l'Hôspital zu beweisen. (Wir
erinnern an die Notation 6.2.4.)

Satz 6.5.9: l'Hôspitalsche Regel


Sei a∈R a = ±∞ und I ein Intervall, das a enthält oder als Endpunkt hat. Seien
oder
f, g dierenzierbar auf I \ {a} und g(x) ̸= 0, g ′ (x) ̸= 0 für alle x ∈ I \ {a}. Angenommen
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 142

• lim
x→a
f (x) = lim
x→a
g(x) = 0 oder
x∈I x∈I

• lim
x→a
f (x) = ±∞ und lim
x→a
g(x) = ±∞ und in allen dieser Fälle
x∈I x∈I
f ′ (x)
• lim
x→a g ′ (x)
= B, wobei B∈R oder B = ±∞,
x∈I

dann gilt
f (x)
lim = B.
x→a
x∈I
g(x)

Seien Sie bitte vorsichtig, dass Sie die l'Hôspitalsche Regel nur anwenden, wenn die
Annahmen erfüllt werden! Betrachten Sie zum Beispiel

5
lim .
x→0 10 + 2x

In diesem Beispiel ist für f (x) := 5, g(x) := 10 + 2x


f (x) f ′ (x)
lim ̸= lim ′ .
x→0 g(x) x→0 g (x)

Beispiele. Berechnen Sie folgende Grenzwerte:

O1
exp(x)
lim

O
x→∞ x2
2
exp(x)
lim
x
O
x↓0

3
lim x log(x).
x↓0

6.6 Optimierungsprobleme, Monotonie und Konvexität


Eine andere (sehr wichtige) Anwendung des Mittelwertsatzes sind Optimierungsprobleme.

Denition 6.6.1
Sei f : (a, b) −→ R eine Funktion und x0 ∈ (a, b). Wenn

f (x0 ) ≥ f (x)

für alle x in einer Umgebung von x0 , dann sagen wir, dass f in x0 ein lokales Maximum
besitzt und dass x0 ein lokales Maximum von f ist. Wir nennen f (x0 ) den lokalen
Maximalwert. Analog für lokales Minimum. Wenn f in x0 ein lokales Maximum oder
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 143

Minimum hat, dann sagen wir, dass x0 ein lokales Extremum von f ist.

Die obige Denition setzt nicht voraus, dass f stetig ist:

Übung 6.6.2
Untersuchen Sie auf lokale Extrema:

O1 (
−x x<0
f (x) :=
−1 + x x ≥ 0

O2 (
−x x<0
g(x) :=
−1 − x x ≥ 0

O3 (
−x x≤0
h(x) :=
−1 + x x > 0

O4 (
−x x<0
ℓ(x) :=
1−x x≥0

Denition 6.6.3
Wenn f in x0 dierenzierbar ist und

f ′ (x0 ) = 0,

dann heiÿt x0 ein stationärer oder kritischer Punkt von f.

Lemma 6.6.4. Sei f : (a, b) −→ R in x0 ∈ (a, b) dierenzierbar. Wenn f in x0 ein lokales


Extremum hat, dann ist
f ′ (x0 ) = 0.

Beweis. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit nehmen wir an, dass x0 ein lokales Maxi-

mum ist. Sei {xn }n=1 eine beliebige Folge mit

xn ̸= x0 , xn → x0 für n → ∞.

Dann ist

f (xn ) − f (x0 )
f ′ (x0 ) = lim . (6.6.1)
n→∞ xn − x0
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 144

Wenn xn > x0 für alle n, dann ist

f (xn ) − f (x0 )
≤0 für alle n groÿ genug,
xn − x0
so dass aus (6.6.1) und dem Vergleichskriterium

f ′ (x0 ) ≤ 0 (6.6.2)

folgt. Wenn xn < x0 für alle n, dann gilt

f (xn ) − f (x0 )
≥0 für alle n groÿ genug,
xn − x0
aus dem folgt

f ′ (x0 ) ≥ 0. (6.6.3)

Aus (6.6.2) und (6.6.3) schlieÿen wir

f ′ (x0 ) = 0.

Bemerkung. Die Umkehrung gilt nicht! Es ist möglich, dass f in x0 dierenzierbar ist und

f ′ (x0 ) = 0,
obwohl f kein Extremum in x0 hat. Beispiel: f (x) = x3 , x0 = 0.
Also ist f ′ (x0 ) = 0 eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dafür, dass die
dierenzierbare Funktion f in x0 ein lokales Extremum hat.

Bemerkung. Wie das Beispiel

f (x) = |x|
zeigt, kann ein Punkt x0 (hier x0 = 0) ein lokales Extremum sein, ohne dass

f ′ (x0 ) = 0.
Wenn wir alle lokalen Extrema einer Funktion suchen, werden wir folgendes Korollar zu
Lemma 6.6.4 anwenden:
Wenn x0 ein lokales Extremum von f ist, dann gilt entweder f ′ (x0 ) = 0 oder f ′ (x0 )
existiert nicht.

Lemma 6.6.5. Sei f : (a, b) −→ R dierenzierbar mit

f ′ (x0 ) = 0 für alle x ∈ (a, b). (6.6.4)

Dann ist f konstant auf (a, b), das heiÿt, es existiert c ∈ R, sodass

f (x) = c für alle x ∈ (a, b).


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 145

Beweis. Wenn f nicht konstant wäre, dann würde es x, y ∈ (a, b) geben mit x<y und
f (x) ̸= f (y). Nach dem Mittelwertsatz gäbe es ein ξ ∈ (x, y), so dass

f (y) − f (x)
f ′ (ξ) = ̸= 0.
y−x

Dies ist ein Widerspruch zu (6.6.4).

Zunächst bemerken wir, dass es eine Verbindung zwischen Monotonie von f und dem
Vorzeichen vonf ′ gibt.
Satz 6.6.6
Sei f : (a, b) −→ R dierenzierbar.

(i) f ist genau dann monoton wachsend bzw. monoton fallend, wenn

f ′ (x) ≥ 0 für alle x ∈ (a, b) bzw. f ′ (x) ≤ 0 für alle x ∈ (a, b).

(ii) Wenn

f ′ (x) > 0 für alle x ∈ (a, b) bzw. f ′ (x) < 0 für alle x ∈ (a, b),

dann ist f streng monoton wachsend bzw. streng monoton fallend.

Bemerkung. Der Satz benötigt Dierenzierbarkeit. Die Funktionen


( (
x 0<x≤1 x 0<x≤1
f (x) = g(x) =
x+1 1<x<2 x−1 1<x<2
erfüllen f ′ (x) = 1 für alle x ∈ (0, 2) \ {1}, g ′ (x) = 1 für alle x ∈ (0, 2) \ {1} und f ist
monoton, während g nicht monoton ist.

Bemerkung. In (ii) gilt die Umkehrung nicht. f (x) = x3 ist streng monoton auf R, aber

f ′ (0) = 0.

Partieller Beweis von Satz 6.6.6. Wir zeigen:

f monoton wachsend impliziert f ′ (x) ≥ 0 für alle x ∈ (a, b).

Sei x0 ∈ (a, b). Da f in x0 dierenzierbar ist, gilt

f (xn ) − f (x0 )
f ′ (x0 ) = lim (6.6.5)
n→∞ xn − x0

für jede Folge {xn }∞


n=1 mit xn ̸= x0 , die gegen x0 konvergiert. Insbesondere können
wir xn monoton fallend wählen; dies hat den Vorteil, dass der Dierenzenquotient ein
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 146

Vorzeichen hat:

f (xn ) − f (x0 )
≥0 für alle n ∈ N. (6.6.6)
xn − x0
Aus (6.6.5) und (6.6.6) folgt

f ′ (x0 ) ≥ 0.

Da x0 beliebig war, ist f ′ (x) ≥ 0 für alle x ∈ (a, b).


Den Beweis zu (ii) und die andere Richtung in (i) lassen wir als Übungen.

x
Beispiel. Zeigen Sie, dass f (x) = √ streng monoton wachsend ist. Dies folgt aus
1 + x2
1
f ′ (x) = 3 >0
(1 + x2 ) 2
und Satz 6.6.6 (ii).

Satz 6.6.7
Sei f : (a, b) −→ R stetig und auf (a, b) \ {x0 } dierenzierbar. Wenn für ein δ>0 gilt

f ′ (x) ≥ 0 auf (x0 − δ, x0 ), f ′ (x) ≤ 0 auf (x0 , x0 + δ), (6.6.7)

dann besitzt f in x0 ein lokales Maximum, analog für Minimum. Umgekehrt, wenn

f ′ (x) > 0 auf (x0 − δ, x0 + δ) \ {x0 }, oder f ′ (x) < 0 auf (x0 − δ, x0 + δ) \ {x0 },

dann ist x0 kein lokales Extremum.

Beweis. Übung. Wie nutzt man Stetigkeit im Beweis?

Bemerkung. Wenn f in x0 dierenzierbar ist und (6.6.7) gilt, dann folgt f ′ (x0 ) = 0. Mit
dem Satz kann man allerdings auch Funktionen wie
p
f (x) = |x| oder g(x) = |x|

betrachten.

Satz 6.6.7 ergibt eine Methode, durch die wir Extrema einer Funktion nden und aussortieren
können.
Algorithmus #1: Um die lokalen Extrema von f : (a, b) → R zu nden, für f stetig und
in allen auÿer endlich vielen Punkten dierenzierbar.

(1) Finde alle Punkte x10 , ..., xn0 , in denen

f ′ (xi0 ) = 0 oder f ′ (xi0 ) nicht existiert.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 147

(2) Untersuche das Vorzeichen von f′ in einer Umgebung von jedem xi0 , i = 1, .., n.
Beispiel.
p
 |x| + 3
 −1 < x ≤ 1
f (x) = x + 1 1<x<2

 2
x − 10x + 19 2 ≤ x < 10.

Dann ist f auf (−1, 10) stetig (Übung!), und f ′ existiert nicht (Übung!) in genau den Punkten

x10 = 0, x20 = 1, x30 = 2.


Auÿerdem ist f ′ (x) = 0 in

x40 = 5.

f′ < 0 0 f′ > 0 1 f′ > 0 2 f′ < 0 5 f′ > 0

Man erhält

x10 =0 ist ein lokales Minimum


x20 =1 ist kein lokales Extremum
x30 =2 ist ein lokales Maximum
x40 =5 ist ein lokales Minimum

Bemerkung. Da wir alle Punkte, wo f′ verschwindet, als Kandidaten haben, ist keine Vor-
zeichenänderung in einem anderen Punkt möglich. Das heiÿt, wir können einen beliebigen
i i+1
Punkt in (x0 , x0 ) als Testpunkt wählen.

Wenn f
so glatt ist, dass zwei Ableitungen von f existieren und stetig sind, dann können
′′
wir kritische Punkte durch das Vorzeichen von f (x0 ) analysierenwenn dies ein Vorzeichen
hat.

Satz 6.6.8
Sei f : (a, b) −→ R zweimal stetig dierenzierbar. Sei x0 ∈ (a, b) ein kritischer Punkt von
f. Es gilt:

(i) Falls f ′′ (x0 ) < 0 ist, dann ist x0 ein Maximum von f.

(ii) Falls f ′′ (x0 ) > 0 ist, dann ist x0 ein Minimum von f.

′′ ′′
Was sagt der Satz, wenn f (x0 ) = 0? Nichts! [KEINE AUSSAGE, WENN f (x0 ) = 0.]
′′ 4 4
Was passiert, wenn f (x0 ) = 0? Alles ist möglich. Betrachten Sie f1 (x) = x , f2 (x) = −x ,
f3 (x) = x3 . (Wir besprechen diese Situation wieder, wenn wir über die Taylorformel sprechen.)
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 148

Beweis von Satz 6.6.8. zu (i) : Da f ′′ stetig ist und f ′′ (x0 ) < 0, gibt es ein ε > 0, so dass

f ′′ (x0 ) < 0 in einer Umgebung (x0 − ε, x0 + ε) von x0 .

Also ist f′ streng monoton fallend auf (x0 − ε, x0 + ε). Aus f ′ (x0 ) = 0 folgt

f ′ (x) > 0 auf (x0 − ε, x0 ), f ′ (x) < 0 auf (x0 , x0 + ε)

− − f ′′
x0
+ − f′
Skizze zu dem Beweis von Satz 6.6.8, die
x0 Umkreisten +, − geben das Vorzeichen der
Funktion in dem Bereich an.
f
x0

Aus Satz 6.6.7 folgt, dass x0 eine lokale Maximalstelle von f ist. Der Beweis von (ii)
erfolgt analog.

Aus Satz 6.6.8 erhält man:


Algorithmus #2: Um die lokalen Extrema von f : (a, b) → R zu nden, für f zweimal
stetig dierenzierbar.

(1) Finde jeden Punkt x0 , in dem

f ′ (x0 ) = 0.

(2) Untersuche das Vorzeichen von

f ′′ (x0 )

für jeden solchen Punkt.

f ′′ (x0 ) > 0 ⇒ x0 lokale Minimalstelle

f ′′ (x0 ) < 0 ⇒ x0 lokale Maximalstelle

f ′′ (x0 ) = 0 ⇒ Weitere Untersuchung nötig (zum Beispiel durch Algorithmus #1).

Das Vorzeichen von f ′′ falls f ′′ existiertliefert Informationen über die sogenannte


Konvexität von f.

Denition 6.6.9: Konvex


Seien I ⊆R ein Intervall und f : I −→ R eine reelle Funktion. Dann heiÿt f konvex,
falls gilt

f ((1 − t)x + ty) ≤ (1 − t)f (x) + tf (y) für alle x, y ∈ I und jedes t ∈ (0, 1). (6.6.8)

Falls (6.6.8) mit echter Ungleichheit gilt, so heiÿt f strikt konvex. Analog heiÿt f konkav,
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 149

falls gilt

f ((1 − t)x + ty) ≥ (1 − t)f (x) + tf (y) für alle x, y ∈ I und jedes t ∈ (0, 1).

Analog deniert man strikt konkav.

Manchmal drückt man es so aus: Wenn f konvex ist, dann sitzt der Graph von f unter
dem der Sekanten. Denition 6.6.9 macht deutlich, was hiermit gemeint wird.

(1 − t)f (x) + tf (y)

x y
f ((1 − t)x + ty)

Satz 6.6.10
Sei f : [a, b] −→ R stetig.

(i) Wenn f auf (a, b) dierenzierbar ist, dann ist f genau dann konvex, wenn f′ auf
(a, b) monoton wachsend ist.

(ii) Wenn f auf (a, b) zweimal dierenzierbar ist, dann ist f genau dann konvex, wenn
′′
f (x) ≥ 0 für alle x ∈ (a, b).

Den Beweis überspringen wir, aber er ist nicht schwer. Man verwendet, dass Konvexität
äquivalent dazu ist, dass die Steigung der Sekanten monoton wachsend ist, also dass für alle
x1 < x̃ < x2 gilt
f (x̃) − f (x1 ) f (x2 ) − f (x̃)
≤ .
x̃ − x1 x2 − x̃
Die Funktion
(
x2 x≤0
f (x) := 1 2
2
x x>0

ist konvex aber nicht zweimal dierenzierbar.


′′
Da das Vorzeichen von f von Bedeutung ist, interessieren wir uns für Punkte, in denen
das Vorzeichen sich ändert.

Denition 6.6.11
Sei f ∈ C 2 ((a, b)). Ein Punkt x0 ∈ (a, b) heiÿt ein Wendepunkt von f , wenn für ein δ > 0
gilt
f ′′ (x) > 0 auf (x0 − δ, x0 ) und f ′′ (x) < 0 auf (x0 , x0 + δ)
oder umgekehrt.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 150

Bemerkung. Da f ∈ C2
angenommen wurde, gilt in einem Wendepunkt x0 nach Stetigkeit
′′
der zweiten Ableitung, dass f (x0 ) = 0. (Achtung! Das ist nicht die Denition von Wendepunkt!
4
Der Punkt x = 0 ist KEIN Wendepunkt der Funktion x !)

Beispiele.

O 1 f (x) = x3 − 3x + 1 besitzt einen Wendepunkt in x = 0.

O 2 Wie schon bemerkt, ist x=0 3


ein kritischer Punkt der Funktion x . Jetzt sehen wir,
′′
dass der Ursprung auch ein Wendepunkt der Funktion ist, da f (x) < 0 auf (−1, 0)
′′
und f (x) > 0 auf (0, 1). (Hierbei haben wir 1 nur ausgesucht, um konkret zu sein.)

Wenn man den Graphen einer Funktion zeichnet, ist es nützlich, alle Extrempunkte und
′ ′′
Wendepunkte zu identizieren und Informationen über das Vorzeichen von f und f zu
2 ′′
benutzen. Wenn f ∈ C , dann kann man Informationen über das Vorzeichen von f auf
einer punktierten Umgebung von einem kritischen x0 benutzen, um den kritischen Punkt
′′
auszusortieren (wenn zum Beispiel f (x0 ) = 0).

6.7 Randextrema
Bis jetzt haben wir lokale Extrema nur für Funktionen auf oenen Intervallen deniert. Für
eine Funktion f mit D(f ) = [a, b] oder D(f ) = [a, b) oder D(f ) = (a, b], kann f auch ein
lokales Extremum in einem Endpunkt des Intervalls haben. Um Randextrema zu denieren,
geben wir diese Verallgemeinerung von Denition 6.6.1 an.

Denition 6.6.1'. Sei I⊆R ein Intervall und f : I −→ R eine Funktion. Ein Punkt x0 ∈ I
heiÿt ein lokales Maximum von f, falls es eine Umgebung U von x0 gibt, so dass

f (x0 ) ≥ f (x) für alle x ∈ U ∩ I.

Wir nennen f (x0 ) einen lokalen Maximalwert von f. Analog für lokales Minimum. Wenn
x0 ein lokales Maximum oder ein lokales Minimum von f ist, dann nennen wir x0 ein
lokales Extremum von f.

Bemerken Sie, dass eine dierenzierbare Funktion f ein lokales Extremum in einem
Endpunkt x0 haben kann, ohne dass f ′ (x0 ) = 0. Für eine dierenzierbare Funktion f :
[a, b] → R erhält man nur

•a ein lokales Minimum ⇒ f ′ (a) ≥ 0,


•a ein lokales Maximum ⇒ f ′ (a) ≤ 0,
•b ein lokales Minimum ⇒ f ′ (b) ≤ 0,
•b ein lokales Maximum ⇒ f ′ (b) ≥ 0.

Andersherum gilt: Wenn f auf [a, b] stetig und dierenzierbar ist, dann gilt:
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 151

• f ′ (a) > 0 ⇒ a ist ein lokales Minimum,

• f ′ (a) < 0 ⇒ a ist ein lokales Maximum,

• f ′ (b) > 0 ⇒ b ist ein lokales Maximum,

• f ′ (b) < 0 ⇒ b ist ein lokales Minimum.

f ′ (a) = 0 oder f ′ (b) = 0 muss man zusätzliche Information verwenden, zum Beispiel
Falls
′ ′′ ′′
das Vorzeichen von f für x > a bzw. x < b oder f (a), f (b), falls die zweite Ableitung
existiert und ein Vorzeichen hat.

Beispiel. Als kleines Beispiel betrachte man x2 auf [1, 2], wobei die Funktion ein lokales
Minimum in x=1 und ein lokales Maximum in x = 2 hat.

Beispiel. Für die Funktion x2 auf [−1, 2] ist sowohl x = −1 als auch x = 2 ein lokales
Maximum. (x =0 ist ein lokales Minimum.)

Übung 6.7.1
Finden und klassizieren Sie alle lokale und Randextrema:
(
1
8
+ x + 21 x ∈ [−1, − 21 )
f (x) =
x3 − 3x2 + 1 x ∈ [− 12 , 4].

Wir bemerken, dass Dierenzierbarkeit auf [a, b] nicht notwendig ist, um die Randpunkte
als lokale Optima zu haben. Wenn f auf [a, b] stetig und auf (a, b) dierenzierbar ist, dann
impliziert

ˆ f ′ (x) > 0 für x ∈ (a, a + δ) (für ein δ > 0), dass a ein lokales Minimum ist.

Betrachten Sie zum Beispiel die stetige Fortsetzung von −x log(x) auf [0, 1/2]. Dann hat die
Funktion ein lokales Minimum in x=0 aber die Ableitung in Null existiert nicht.

6.8 Das Newtonsche Verfahren (reprise)


In den meisten Problemen kann man die lokalen Extrema einer Funktion nicht explizit
ausrechnen. Das Newtonsche Verfahren ist ein Algorithmus, um Lösungen einer Gleichung
zu approximieren. Das Newtonsche Verfahren konvergiert im Allgemeinen schnell gegen
eine Lösungwenn der Anfangswert nah genug an dieser Lösung liegt. (Eine nichttriviale
Bedingung!) Wenn wir die Methode auf die Gleichung

f ′ (x) = 0

anwenden, approximieren wir kritische Punkte von f . Andere Anwendungen sind zum Beispiel

ˆ eine Nullstelle von x3 − 2x − 5 nden,


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 152


ˆ 6
2 mit einer Genauigkeit von sechs Nachkommastellen berechnen

√ 
x6 = 2 x6 − 2 = 0 ,
6
2=x ⇒ ⇒

ˆ eine Lösung von tan x = x nden.

Im Abschnitt 5.3 haben wir Lösungen einer Gleichung der Form

g(x) = 0 (6.8.1)

durch die Sekantenmethode approximiert. Die Idee war, dass wir die Approximation xn−1
durch die Nullstelle einer geeigneten Sekante zu ersetzen. Im Newtonschen Verfahren ersetzen
wir xn−1 durch die Nullstelle der Tangente des Graphen von g in (xn−1 , g(xn−1 )), also durch

g(xn−1 )
xn = xn−1 − .
g ′ (xn−1 )

Also ist

g(x)
φ(x) = x −
g ′ (x)

die Funktion, deren Fixpunkt x wir im Abschnitt 5.3 nden wollten. Diese Funktion ist
′ ′
in einer Umgebung von x stetig, wenn g und g stetig sind und g (x) ̸= 0. Wenn wir die
Gleichung

f ′ (x) = 0

lösen möchten, also g = f in (6.8.1), dann benötigen wir für das Newtonsche Verfahren,
2 ′′
dass f ∈ C in einer Umgebung der gesuchten Nullstelle x und f (x) ̸= 0. Sie können das
Newtonsche Verfahren in Maple oder Matlab (oder ähnlichesoder mit einem einfachen
Taschenrechner) ausprobieren.

Übung 6.8.1
Berechnen Sie zwei Schritte des gegebenen Verfahrens um die Lösung von cos(x) = x zu
nden:

O 1 das Bisektionsverfahren auf [0, 1],

O 2 die Sekantenmethode auf [0, 1],

O 3 das Newtonsche Verfahren mit x0 = 1.

Welche Approximation ist am besten?


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 153

6.9 Globale Optimierung


Das Wissen aus den vorherigen Abschnitten verwenden wir, um globale Optima einer
Funktion zu bestimmen.
In der lokalen Optimierung suchen wir alle kritischen Punkte und bestimmen, ob sie ein
Minimum, ein Maximum oder keins von beiden sind. In der globalen Optimierung fragen
wir: In welchem Punkt ist f am kleinsten (oder am gröÿten)? Welche Perspektive wichtiger
ist, hängt von der Anwendung ab.

Denition 6.9.1
Sei f eine reelle Funktion. Ein Punkt x0 ∈ D(f ) heiÿt globales Minimum von f, wenn

f (x0 ) ≤ f (x) für alle x ∈ D(f ).

Wir nennen f (x0 ) den (globalen) Minimalwert von f. Analog für globales Maximum.

Wenn wir die globalen Minima von f nden möchten, müssen wir nicht nur die kritischen
Punkte von f, sondern auch die Funktionswerte in diesen Punkten betrachten. Wenn D(f )
ein beschränktes, abgeschlossenes Intervall [a, b] ist, dann reicht es aus, die Funktionswerte
in allen kritischen Punkten und die Funktionswerte in a und b zu betrachten.
Algorithmus #3: Um das globale Minimum zu nden, für f : [a, b] → R stetig und auÿer
in endlichen vielen Punkten dierenzierbar.

(1) Alle Punkte xi0 , i = 1, .., n nden, in denen f ′ (xi0 ) = 0 oder f ′ (xi0 ) nicht existiert.

(2) f (x) berechnen für x ∈ {a, b, x10 , x20 , ..., xn0 }.

(3) Alle Punkte aus {a, b, x10 , x20 , ..., xn0 } wählen, in denen f am kleinsten ist.

Alternativ kann man zuerst lokale Maxima und im Allgemeinen Extrema, die nicht
Minima sind, ausschlieÿen.
Algorithmus #4: Um die globalen Minima zu nden, für f : [a, b] → R stetig und auÿer
in endlichen vielen Punkten dierenzierbar.

(1) Alle Punkte xi0 , i = 1, .., n nden, in denen f ′ (xi0 ) = 0 oder f ′ (xi0 ) nicht existiert.

(2) Aus {a, b, x10 , . . . , xn0 } alle Punkte y01 , ..., y0m identizieren, die lokale Minima sind.

(3) f (x) berechnen für x ∈ {y01 , y02 , ..., y0m }.

(4) Alle Punkte aus {y01 , y02 , ..., y0m } wählen, in denen f am kleinsten ist.

Beispiel.

O1 Finden Sie alle lokalen und globalen Minima von


Randpunkte sind als kritische Punkte zu
2
betrachten. Wegen 5 ∈ (0, 1) ist f in x = 1
2
f (x) = x|1 − x| 5 auf [−1, 2]. Die

stetig aber nicht dierenzierbar. Also ist 1 auch ein kritischer Punkt. Um zusätzliche
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 154

kritische Punkte zu nden, suchen wir Lösungen von f ′ (x) = 0. Für x<1 berechnen
wir

2 1 − x − 25 x 1 − 57 x
0 = f ′ (x) = (1 − x)2/5 − x(1 − x)−3/5 = = (6.9.1)
5 (1 − x)3/5 (1 − x)3/5
genau dann, wenn
5
x= .
7
Für x>1 berechnen wir

7
2 x−1
0 = f ′ (x) = (x − 1)2/5 + x(x − 1)−3/5 = 5 , (6.9.2)
5 (x − 1)3/5
so dass wir keine weiteren kritischen Punkte nden. Also sind die kritischen Punkte:
 
5
−1, , 1, 2 .
7

Da wir nach der Aufgabenstellung die lokalen Extrema klassizieren müssen, ist es
sinnvoll, Algorithmus #4 zu verwenden. Wir berechnen:

ˆ Für x < 5/7 ist nach (6.9.1) f ′ (x) > 0.


ˆ Für 5/7 < x < 1 ist f ′ (x) < 0.
ˆ Für 1<x<2 ist nach (6.9.2) f ′ (x) > 0

Aus der obigen Information folgern wir

ˆ x = −1 ist ein lokales Minimum,

ˆ x= 5
7
ist ein lokales Maximum,

ˆ x=1 ist ein lokales Minimum,

ˆ x=2 ist ein lokales Maximum.

Um das globale Maximum zu identizieren vergleichen wir:

  25
5 2
f (5/7) = < 1, f (2) = 2,
7 7

so dass x=2 das globale Maximum ist. Für das globale Minimum vergleichen wir:

2
f (−1) = −1 · 2 5 < 0, f (1) = 0,

so dass x = −1 das globale Minimum ist.

O2 Wir denieren die Entropie


(
−x log(x) x > 0
S(x) :=
0 x = 0.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 155

Finden Sie das x ∈ [0, 1], das die Entropie maximiert.

Die Randpunkte sind kritische Punkte. Ist S auf [0, 1] stetig? Stetigkeit auf (0, 1] ist
klar. In x=0 gilt
lim S(x) = 0,
x↓0

also ist S auf [0, 1] stetig. Um zusätzliche kritische Punkte zu nden, betrachten wir
die Gleichung
0 = S ′ (x) = − log(x) − 1,
die nur in x0 := e−1 erfüllt ist. Auf (0, x0 ) ist S ′ (x) > 0 und auf (x0 , 1] ist S ′ (x) < 0.
Daraus schlieÿen wir, dass x=0 ein lokales Minimum, x0 ein lokales Maximum, und
x=1 ein lokales Minimum ist. Da x0 das einzige Maximum ist und S auf [0, 1] stetig
ist, erhalten wir, dass x0 das globale Maximum ist. Falls nach dem Maximalwert gefragt
wäre, müssten wir zusätlich S in x0 evaluieren.

Übung 6.9.2

O
1 Finden Sie alle lokalen und globalen Maxima von f (x) = x3 (x − 2)2 auf [−1, 2].

O
2 Bestimmen Sie das globale Minimum von f (x) := x2 log(x).

Wenn f für x → ∞ oder x → −∞ oder auf einem oenen oder halb-oenen Intervall
deniert ist (anstatt nur auf einem abgeschlossenen Interval, wie bisher angenommen), dann
muss man auch das Verhalten für x→∞ bzw. x → −∞ bzw. x↓a bzw. x↑b betrachten.

Übung 6.9.3
Finden Sie den globalen Minimalwert und das globale Minimum (bzw. angeben, wenn f
nach unten unbeschränkt ist oder f ein Inmum aber kein Minimum besitzt).

O
1 f (x) = x2 − x.

O
2 f (x) = (x2 − x) log(x).

O
3 f (x) = log(x)/x.

O
4 f (x) = (x2 − x) exp(x).

Frage: Wie muss man den Algorithmus ändern, wenn f in endlich vielen Punkten a1 , ..., aN
nicht stetig ist? Dann muss man die (gegebenenfalls einseitigen) Grenzwerte und Funktionswerte
von f in a1 , ..., aN auch betrachten.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 156

y
y y

x
a 1 b x x
a 1 b a b

(a) kein globales Minimum (b) globales Minimum x = 1 (c) kein globales Minimum auf
auf [a, b], da für x ↑ 1 nach [a, b]; das Inmum wird für
unten unbeschränkt x ↑ 0 erreicht

6.10 Ableitung der Umkehrfunktion


Erinnern Sie sich daran, dass wir zu einer Bijektion f die Umkehrfunktion f −1 assoziiert
haben. Man könnte sich denken, dass es eine Verbindung zwischen der Ableitung von f und
−1
der Ableitung von f gibt.

y
f −1
m=4

y=x
m= 1
4
f

x
a

Abbildung 6.6: Die Tangente in (a, f (a)) hat die Steigung m= 1


4
. Der Graph von f −1 hat
in x = f (a) die Steigung m = 4.

Diese Verbindung wird im folgenden Satz deutlich gemacht.

Satz 6.10.1
Seif : [a, b] −→ R eine stetige Bijektion. Angenommen f ist in x0 ∈ (a, b) dierenzierbar

und f (x0 ) ̸= 0, dann ist die Umkehrfunktion g in y0 := f (x0 ) dierenzierbar, und es gilt

1 1
g ′ (y0 ) = = . (6.10.1)
f ′ (x 0) f ′ (g(y0 ))
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 157

Gleichung (6.10.1) ist oft nützlich, wenn man Ableitungen ausrechnen muss.

Beispiel. Zu f (x) = exp(x) = y ist die Umkehrfunktion g(y) = log(y) = x assoziiert. Nach
(6.10.1) gilt

1 1 1 1
g ′ (y) = = = = .
f ′ (x) exp(x) exp(log(y)) y

Beispiel. Zu f (x) = sin(x) für x ∈ [− π2 , π2 ] ist die Umkehrfunktion g(y) = arcsin(y) = x


(für y ∈ [−1, 1]) assoziiert. Nach (6.10.1) gilt
1 1 1
g ′ (y) = = =
f ′ (x) cos(x) cos(arcsin(y))
1
=p für y ∈ (−1, 1).
1 − y2

1
y

x
p
1 − y2

Abbildung 6.7: Mithilfe des Einheitskreises lassen sich Ausdrücke wie cos(arcsin(y))
vereinfachen.

6.11 Zusammenfassendes Beispiel mit Kurvendiskussion


f (x) = x5 − 5x3
Siehe Vorlesung 21.
Kapitel 7
Unendliche Reihen
Wir kennen die Sigma-Notation
3
X
ak = a1 + a2 + a3 .
k=1

In diesem Abschnitt stellen wir uns die Frage, was mit



X
ak (7.0.1)
k=1

gemeint wird. Natürlich können wir nicht unendlich viele Terme addieren (man hat nicht
genug Zeit dafür). Stattdessen addiert man zunächst n Terme und dann n+1 Terme usw.
und man hot, dass man ungefähr die richtige Zahl erhält, wenn man genügend Terme
addiert hat. Das heiÿt, wenn wir

s1 := a1
s2 := a1 + a2
.
.
.

sn := a1 + ... + an
denieren, möchten wir überprüfen, ob die Folge {sn }∞
n=1 konvergiert. Wenn ja, dann benutzen
wir die Notation (7.0.1) für den Grenzwert. Im Abschnitt 7.1 und 7.2 schauen wir uns solche
sogennante Reihen an und wir sammeln hinreichende Konvergenzkriterien. Im Abschnitt 7.3
schauen wir uns Reihen der Form

X
ak x k
k=1

an, wobei die Terme nicht einfach reelle Zahlen sind, sondern die Monome ak xk . Reihen dieser
Form werden Potenzreihen genannt. Dies führt zum Abschnitt 7.4, wo wir die Taylor-Formel
einer Funktion betrachten. Allgemeinere Reihen der Form

X
fk (x)
k=1

sind komplizierter als Potenzreihen und werden hier nicht betrachtet, aber sehen Sie hierzu
zum Beispiel Wade, An Introduction to Analysis, Chapter 7 an.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 159

7.1 Reihen reeller Zahlen


Denition 7.1.1
Sei {ak }∞
k=1 eine Zahlenfolge. Dann wird

n
X
sn := ak
k=1

die n-te Teilsumme genannt und {sn }∞


n=1 heiÿt die Folge der Teilsummen. Man nennt


X
ak := lim sn
n→∞
k=1

eine (unendliche) Reihe. Wenn {sn }∞


n=1 (gegen s ∈ R) konvergiert, dann sagen wir, dass
die Reihe (gegen s) konvergiert. Wir nennen s den Wert (oder die Summe) der Reihe
und schreiben

X
ak = s.
k=1

Wenn {sn }n=1 divergiert, dann sagen wir, dass die Reihe divergiert. Analog schreibt man


ˆ
P
ak = ∞ (die Reihe divergiert gegen ∞),
k=1


ˆ
P
ak = −∞ (die Reihe divergiert gegen −∞) bzw.
k=1


ˆ
P
ak ist unbestimmt divergent,
k=1

wenn sn → ∞, sn → −∞ bzw. {sn }∞ n=1 unbestimmt


P∞ divergent ist.
Wir nennen ak die Koezienten der Reihe k=1 ak .

Beispiele.

O1 Wir haben in Lemma 4.1.2 gesehen, dass die endliche geometrische Reihe

n
X
sn := rk
k=0

die Gleichung

1 − rn+1
sn = für r ∈ (0, 1) (7.1.1)
1−r
erfüllt. Aus (7.1.1), Denition 7.1.1 und rn+1 → 0 für r ∈ (0, 1) und n→∞ schlieÿen
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 160

wir, dass die (unendliche) geometrische Reihe konvergiert, sowie


X 1
rk = für r ∈ (0, 1)
k=0
1−r

gilt.

O2 Wir betrachten die Reihe


X
(−1)n . (7.1.2)
n=1

Wir bemerken

s1 = −1, s2 = −1 + 1 = 0

und im Allgemeinen

s2k+1 = −1, s2k = 0, k ∈ N.

Also divergiert die Reihe (7.1.2).

Wir werden uns mit verschiedenen Kriterien für Konvergenz einer Reihe und passenden
Beispielen beschäftigen. Da wir sehr oft den Wert einer konvergenten Reihe nicht explizit
berechnen können, ist es nützlich, das sogenannte Cauchysche Kriterium für Konvergenz
einer Folge einzuführen.

Denition 7.1.2
Eine Zahlenfolge {an }∞
n=1 wird Cauchyfolge genannt, wenn es zu jedem ε>0 ein N ∈N
gibt, so dass

|an − am | < ε für alle n, m > N . (7.1.3)

Achtung! Nicht ausreichend ist die Bedingung

|an − an+1 | < ε für alle n > N.



Ein Gegenbeispiel ist {an } = { n}, für die gilt

an → ∞ für n→∞

obwohl
√ √ 1
|an − an+1 | = n+1− n≤ √ .
2 n
Das m in (7.1.3) muss beliebig groÿ gewählt werden können, unabhängig von n.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 161

Satz 7.1.3: Cauchysches Kriterium für Folgen


Eine Zahlenfolge {an }∞
n=1 konvergiert genau dann, wenn sie eine Cauchyfolge ist.

Beweis. (⇒) Sei ε>0 gegeben. Wenn an gegen a∈R konvergiert, dann existiert ein
N ∈ N, so dass

ε
|an − a| < für alle n ≥ N.
2
Es folgt aus der Dreiecksungleichung, dass

|an − am | ≤ |an − a| + |am − a| ≤ ε

n, m ≥ N .
für alle

(⇐) Wenn {an }n=1 eine Cauchyfolge ist, dann ist sie beschränkt. Um dies zu sehen,
setze man ε = 1 und wähle N ∈ N so, dass

|an − am | ≤ 1 für alle n, m ≥ N.

Insbesondere gilt

|am | ≤ |am − aN | + |aN | ≤ 1 + |aN | für alle m ≥ N,

so dass

|an | ≤ max {|a1 |, |a2 |, ..., |aN |, |1 + aN |} für alle n ∈ N.

Nach dem Satz von Bolzano-Weierstraÿ existiert eine Teilfolge {ank }∞


k=1 und ein a ∈ R,
so dass

ank → a für k → ∞.

Sei ε>0 gegeben. Da {an }∞


n=1 eine Cauchyfolge ist, existiert ein N ∈ N, so dass

ε
|am − an | < für alle n, m ≥ N.
2
Man wähle k ∈ N, so dass

ε
nk ≥ N und |ank − a| < .
2
Dann gilt für alle m ≥ N, dass

|am − a| ≤ |ank − a| + |ank − am | ≤ ε.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 162

Satz 7.1.4: Cauchysches Kriterium für Reihen



P
Die Reihe ak konvergiert genau dann, wenn es zu jedem ε>0 ein N ∈N gibt, so
k=1
dass
n+j
X

ak < ε für alle n ≥ N , j ∈ N. (7.1.4)
k=n+1

Dies folgt direkt aus dem Cauchyschen Kriterium für Folgen angewendet auf die Folge
P∞
der Teilsummen von ak .
k=1


P
Korollar 7.1.5. Eine notwendige Bedingung für Konvergenz von ak ist
k=1

lim ak = 0. (7.1.5)
k→∞

Beweis. Dies folgt aus (7.1.4) mit j = 1.

Es ist wichtig zu merken, dass (7.1.5) keine hinreichende Bedingung ist. Die sogenannte
harmonische Reihe


X 1
k=1
k

erfüllt (7.1.5) und divergiert gegen Unendlich. Dies kann man zeigen, indem man

     
1 1 1 1 1 1 1 1 1
1+ + + + + + + +... + + . . . + K+1
2 3 4 5 6 7 8 2K + 1 2
| {z } | {z } | {z }
≥2· 14 ≥4· 81 ≥2K · 1
2K+1

1 K
≥1+ +
2 2
rechnet. Also gilt

K+1
2X
1 3+K
≥ .
k=1
k 2

Da die Folge der Teilsummen monoton wachsend ist und eine Teilfolge besitzt, die gegen
Unendlich divergiert, divergiert die harmonische Reihe gegen Unendlich:


X 1
= ∞. (7.1.6)
k=1
k
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 163

Also ist es für Konvergenz nicht hinreichend, wenn die Terme einer Reihe verschwinden. Wie
Sie vielleicht raten würden, ist es hinreichend, wenn die Terme schnell genug verschwinden.
Wir werden zum Beispiel sehen, dass


X 1
< ∞, (7.1.7)
k=1
k2

und sogar, dass


X 1
für jedes α>0 gilt
1+α
< ∞.
k=1
k

(Dies werden wir später beweisen. Sehen Sie dazu die Beweisidee des Cauchyschen Verdicht-
ungssatzes.)

Übung 7.1.6
P∞
Bestimmen Sie, ob die Reihe k=1 ak mit

1 1
ak = −
3k k
konvergiert oder divergiert.

Aus Satz 4.2.8 folgt:

Satz 7.1.7

P ∞
P
Seien ak , bk konvergente Reihen. Dann gilt
k=1 k=1


X ∞
X
αak = α ak ,
k=1 k=1

X ∞
X ∞
X
(ak + bk ) = ak + bk .
k=1 k=1 k=1

Unsere ersten Kriterien für Konvergenz behandeln Reihen mit positiven Termen.

Satz 7.1.8: Vergleichskriterium


Seien 0 ≤ ak ≤ b k für k groÿ.
P∞ P∞
ˆ Wenn k=1 bk < ∞, dann gilt k=1 ak < ∞.
P∞ P∞
ˆ Wenn k=1 ak = ∞, dann gilt k=1 bk = ∞.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 164

Satz 7.1.9: Limes-Vergleichskriterium


Angenommen ak ≥ 0, bk > 0 für k groÿ und

ak
L := lim existiert,
k→∞ bk

dann gilt:

0 < L < ∞, dann konvergiert ∞


P P∞
(i) Wenn k=1 ak genau dann, wenn k=1 bk konvergiert.
P∞ P∞
(ii) Wenn L = 0 und k=1 bk konvergiert, dann konvergiert k=1 ak .
P∞ P∞
(iii) Wenn L = ∞ und k=1 ak konvergiert, dann konvergiert k=1 bk .

Die Beweise von Satz 7.1.8 und Satz 7.1.9 lassen wir als Übung.
Im Allgemeinen kann das Vorzeichen der Terme einer Reihe eine wichtige Rolle spielen.
Diese Idee entwickeln wir im folgenden Beispiel.

Beispiel. Man betrachte die alternierende harmonische Reihe



X (−1)k+1
.
k=1
k

Um Konvergenz dieser Reihe zu überprüfen, reicht es aus

n+j
(−1)k+1 (−1)j−1
 
X
n+2 1 1 1
= (−1) − + − ... +
k=n+1
k n + 1 n + 2 n + 3 n+j

für n groÿ und j∈N zu betrachten. Sei

1 1 (−1)j−1
f (n, j) := − + ... + .
n+1 n+2 n+j
Wenn j ungerade ist, so gilt

1 1
≤ f (n, j) ≤ . (7.1.8)
n+j n+1
Wenn j gerade ist, so gilt

1
0 ≤ f (n, j) ≤ . (7.1.9)
n+1
Aus (7.1.8) und (7.1.9) folgt

1
|f (n, j)| ≤ für alle j ∈ N,
n+1
so dass für ε>0 beliebig klein und N groÿ genug gilt
n+j
X (−1)k+1
≤ε für alle n ≥ N, j ∈ N.

k


k=n+1
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 165

Wir fassen zusammen:



ˆ 1
P
die harmonische Reihe k
divergiert gegen Unendlich.
k=1

(−1)k+1
ˆ
P
die alternierende harmonische Reihe k
konvergiert.
k=1

Analog beweist man das folgende wichtige Kriterium für alternierende Reihen.

Satz 7.1.10: Leibniz-Kriterium


Sei {ak }∞
k=1 eine monoton fallende Nullfolge. Dann konvergiert die alternierende Reihe


X
(−1)k+1 ak .
k=1

Es ist nützlich zwischen Reihen zu unterscheiden, die nur mit Hilfe des Vorzeichens
konvergieren oder nicht.

Denition 7.1.11
P∞ P∞ P∞
Die Reihe a
k=1 Pk heiÿt absolut konvergent, wenn
P∞ k=1 |a k | konvergiert. Wenn k=1 ak

konvergiert und k=1 |a k | divergiert, so heiÿt a
k=1 k bedingt konvergent.

Wenn eine Reihe absolut konvergent ist, dann erhält man den gleichen Wert, wenn man
die Summanden umordnet. Andererseits, wenn eine Reihe bedingt konvergent ist, dann kann
man jede reelle Zahl als Summe erhalten mit einer geeigneten Umordnung!

7.2 Weitere Konvergenzkriterien


Wir betrachten die Reihe

X
ak .
k=1

ak+1
Falls ak konvergiert, kann man den Grenzwert benutzen um Konvergenz der Reihe zu

ak+1
überprüfen. (Man möchte, dass ak schnell verschwindetalso ist ak klein der gute Fall.)

Satz 7.2.1: Quotientenkriterium


P∞
Sei k=1 ak eine Reihe mit ̸ 0 für k groÿ. Wenn
ak =

ak+1
ak −→ α konvergiert,

dann gilt
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 166

P∞
ˆ α<1 =⇒ k=1 ak ist absolut konvergent.
P∞
ˆ α>1 =⇒ k=1 ak ist divergent.


ak+1
Wenn α = 1, dann liefert der Satz KEINE AUSSAGE. Man merkt, dass ak → 1 für


ˆ 1
P
(divergent),
k
k=1


ˆ 1
P
(konvergent).
k(k+1)
k=1

ak+1
Beweisidee Wenn ak → α und α < 1, dann hat man ein bisschen Spielraum zwischen

α und 1. Insbesondere gilt für jedes ε > 0

|aN +1 | ≤ (α + ε)|aN | für N groÿ genug.

1−α
Wenn wir ε := 2
wählen, erhalten wir

α+1
|aN +1 | ≤ β|aN | für N groÿ (β := < 1).
2
Iteration liefert

|aN +2 | ≤ β 2 |aN |
.
.
.

|am | ≤ β m−N |aN | für m≥N


= β m · β −N |aN | .
| {z }
feste Zahl

Dann benutzt man Konvergenz der geometrischen Reihe


X
βm für β ∈ (0, 1).
m=1

Das Quotientenkriterium ist oft nützlich, wenn die Terme der Reihe ein Produkt oder eine
Fakultät enthalten.

Beispiel. Man betrachte



X 2k
S := .
k=1
k!

Es gilt

ak+1 2k+1

k! 2
ak (k + 1)! · 2k = k + 1 → 0 k → ∞.
= für

Nach dem Quotientenkriterium ist S absolut konvergent.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 167

Bemerkung. Das Quotientenkriterium ist hinreichend, aber nicht notwendig. Zum Beispiel


X 2 + (−1)k
S := (7.2.1)
k=1
2k−1
 ∞

3
P
konvergiert nach Vergleich mit 2k−1
, obwohl
k=1

(3
ak+1
2
für k ungerade
ak = 1

6
für k gerade.

Das nächste Kriterium, das wir uns anschauen, ist das Wurzelkriterium. Dieses Kriterium
ist allgemeiner und man kann es zum Beispiel auch für das Analysieren der Reihe in (7.2.1)
anwenden (siehe unten).

Satz 7.2.2: Wurzelkriterium


P∞
Sei S := k=1 ak eine Reihe und

p
k
α := lim sup |ak |.
k→∞

ˆ Wenn α < 1, dann ist S absolut konvergent.

ˆ Wenn α > 1, dann ist S divergent.

Wie das Quotientenkriterium liefert auch das Wurzelkriterium für α=1 keine Aussage.
Man bemerkt:
r r
k 1 k 1
lim sup = lim sup = 1,
k→∞ k k→∞ k2

aber wir erinnern an (7.1.6) und (7.1.7).


Beweisidee Die Idee istwie für das Quotientenkriteriummit der geometrischen Reihe

β k für geeignetes β zu vergleichen. Wieder bieten die Fälle α < 1 und α > 1 hinreichenden
P
k=1
Spielraum an.

Beispiele.

O1 Für die Reihe in (7.2.1) berechnen wir

p √
k
p
k
k
2 + (−1)k 3 1
|ak | = k−1 ≤ − k1
→ < 1.
2 k 2·2 2
Das Wurzelkriterium impliziert, dass S absolut konvergent ist.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 168

O2 Wir betrachten

∞  k
X k+1
S := .
k=1
2k + 3

Für diese Reihe passt das Wurzelkriterium besonders gut, da die Terme in der Form
einer Potenz von k sind. Man berechnet
s k
k k+1 k+1 1
= → .
2k + 3 2k + 3 2

Das Wurzelkriterium impliziert, dass S absolut konvergiert.

Ein noch stärkeres Werkzeug ist das sogenannte Cauchysche Verdichtungsprinzip, das die
Idee benutzt, mit der wir Divergenz der harmonischen Reihe gezeigt haben. Wir geben das

1
P
Prinzip an und dann stellen wir die Beweisidee durch das Beispiel dar.

k=1

Satz 7.2.3: Cauchyscher Verdichtungssatz


P∞ P∞
Sei k=1 ak eine Reihe mit positiven, monoton fallenden Gliedern. Dann hat k=1 ak
dasselbe Konvergenzverhalten wie die Reihe


X
2k a2k .
k=0

Beweisidee Wir demonstrieren die Beweisidee anhand des Beispiels


X 1
S := , α ∈ R.
k=1

Für α<1 divergiert die Reihe gegen Unendlich nach Vergleich mit der harmonischen Reihe
(siehe (7.1.6)). Für α>1 benutzen wir ein analoges Argument, um Konvergenz von S zu
zeigen. Wir sammeln die Terme der Teilsumme bis 2K+1 − 1 wie folgt:
1 1 1
1+ α
+ α + ... + K+1
2 3 (2 − 1)α
     
1 1 1 1 1 1
=1 + + + + ... + α + ... + + ... + K+1
2α 3α 4α 7 (2K )α (2 − 1)α
1 1 1
≤1 + 2 · α + 4 · α + ... + 2K K α
2 4 (2 )
K K
X 1 X 1
= 2k · kα = α−1 k .
k=0
2 (2 )
k=0 |{z}
>1
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 169

Wir erinnern daran, dass die geometrische Reihe



X 1
k
, q>1
k=0
q
konvergent und insbesondere nach oben beschränkt ist. Da die Folge der Teilsummen monoton
wachsend ist und eine nach oben beschränkte Teilfolge besitzt, ist die Folge selbst nach oben
beschränkt. Nach Satz 4.2.11 konvergiert die Folge der Teilsummen (also konvergiert die
Reihe S ).

P
Wir fassen zusammen: Für eine Reihe ak mit positiven Termen ak ≥ 0 gilt,
k=1
ˆ wenn ak ≥c
k
für ein c > 0, dann divergiert die Reihe. Also reicht das Verschwinden
der Terme nicht für Konvergenz der Reihe aus.

ˆ wenn ak ≤ c
k1+ε
für ein c ∈ R und ein ε > 0, dann konvergiert die Reihe. Also reicht
polynomisches Verschwinden der Terme mit Rate echt gröÿer als Eins für Konvergenz
der Reihe aus.

Beweis von Satz 7.2.3. Die Aussage folgt aus der Monotonie der Teilsummen und der
Bemerkung

a1 + (a2 + a3 ) + ... + a2K+1 −1 ≤ a1 + 2a2 + ... + 2K a2K


1
a1 + (a2 + a3 ) + ... + a2K ≥ a1 + (2a2 + ... + 2K a2K ).
2

Jetzt stellen wir uns die Frage, ob die Rate

1
ak =
k log(k)
hinreichend für Konvergenz der zugehörigen Reihe ist. Bemerken Sie, dass für k groÿ gilt

k < k log(k) < k 1+ε für alle ε > 0.


Also verschwindet ak
schneller als die Terme der (divergenten) harmonischen Reihe, aber

1
P
langsamer als die Terme der konvergenten Reihe für jedes ε > 0. Um Konvergenz
k1+ε
k=1
von

X 1
S :=
k=2
k log(k)
zu überprüfen, wenden wir den Cauchyschen Verdichtungssatz an. Die Terme sind positiv
und monoton fallend. Da
∞ ∞
X X 1
2k a2k = 2k
k=1 k=1
2k log(2k )

X 1
= ,
k=1
k log(2)
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 170

schlieÿen wir aus Satz 7.2.3 und Divergenz der harmonischen Reihe, dass S gegen Unendlich
divergiert. Bemerken Sie, dass weder das Quotientenkriterium noch das Wurzelkriterium eine

1
P
Aussage für liefert.
k log(k)
k=2

7.3 Potenzreihen
In diesem Abschnitt betrachten wir Objekte der Form


X ∞
X
k
ak x oder ak (x − x0 )k ,
k=0 k=0

die Potenzreihen genannt werden. Bemerken Sie, dass die Potenzreihe


X
ak xk =: f (x)
k=0

eine Funktion von x ist, also viel komplizierter als die Reihen reeller Zahlen, die wir bis jetzt
betrachtet haben. Insbesondere stellen sich die Fragen:

ak x k
P
(1) Konvergiert für alle x ∈ R? Für keine x∈R auÿer 0? Oder für welche?
k=0

(2) Ist f für die x, für die f wohldeniert ist, stetig? Dierenzierbar?

(3) Wenn f dierenzierbar ist, gilt


X
f ′ (x) = k · ak xk−1 ?
k=0

Potenzreihen sind ein besonderer Fall von Reihen der Form



X
ak (x). (7.3.1)
k=0

Potenzreihen sind aber viel einfacher zu analysieren als allgemeine Reihen der Form (7.3.1).
Auÿerdem sind Potenzreihen wichtig, weil die sogenannte Taylorreihe einer Funktion eine
Potenzreihe ist (siehe Abschnitt 7.4).

Denition 7.3.1
Eine Reihe der Form

X
ak x k
k=0

heiÿt eine Potenzreihe (in x) (um Null). Die Zahlen ak heiÿen Koezienten. Die Zahl

( ∞
)
X
k
R := sup |x| : ak x konvergiert
k=0
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 171

wird der Konvergenzradius der Potenzreihe genannt.

Bemerkung. Allgemeiner nennen wir eine Reihe der Form


X
ak (x − x0 )k
k=0

für ein x0 ∈ R eine Potenzreihe um den Punkt x0 (mit Spezialfall x0 = 0 oben). Der
Konvergenzradius ist dann analog durch Verschieben um x0 deniert:
( ∞
)
X
R := sup |x − x0 | : ak (x − x0 )k konvergiert
k=0

Satz 7.3.2

ak x k
P
Sei eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R. Es gilt
k=0

(i) Wenn R = 0, so konvergiert die Reihe nur in x = 0.

(ii) Wenn R > 0, so ist die Potenzreihe absolut konvergent für alle x ∈ (−R, R).

(iii) Für alle x mit |x| > R divergiert die Potenzreihe.

Ob die Potenzreihe in x = ±R konvergiert, muss man seperat betrachten. (An der Grenze
muss man immer vorsichtig sein.)

Beweis von Satz 7.3.2. (i) und (iii) folgen aus der Denition von R. Um (ii) zu zeigen,
wählen wir ein x ∈ (−R, R) \ {0}. Nach Denition 7.3.1 existiert ein y mit

|x| < |y| < R, (7.3.2)

so dass


X
ak y k
k=0

konvergiert. Insbesondere ist

|ak y k | ≤ 1 für alle k groÿ genug. (7.3.3)

Um absolute Konvergenz in x zu prüfen, schätzen wir ab:

k xk (7.3.3) x k

k
|ak x | = ak y k ≤

y y
= qk für ein q ∈ (0, 1),
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 172

wobei wir (7.3.2) angewendet haben. Nach Vergleich mit der geometrischen Reihe schlieÿen
P∞ k
wir absolute Konvergenz von k=0 ak x .

Um den Konvergenzradius einer Potenzreihe zu bestimmen, benutzen wir unsere Werkzeuge


für Reihen reeller Zahlen.

Beispiele.

O1 Finden Sie den Konvergenzradius von



X k k xk
.
k=1
k!
Sei x∈R fest. Um das Quotientenkriterium anzuwenden, betrachten wir

(k + 1)k+1 xk+1

ak+1 k!
lim = lim ·
k→∞ ak k→∞ (k + 1)! k k xk
 k
k+1
= lim x

k

k→∞
 k
1
= |x| · lim 1 +
k→∞ k
= |x| · e.
1
Nach dem Quotientenkriterium konvergiert die Reihe für |x| < e
und die Reihe divergiert
1 1
für |x| > e . Also ist R = e .

O2 Finden Sie den Konvergenzradius von



X (−1)k x2k+1
.
k=0
(2k + 1)!
Wir betrachten den Quotienten wieder:
2k+3
ak+1 x (2k + 1)!
lim = lim ·
k→∞ ak k→∞ (2k + 3)! x2k+1

2
1
= |x| · lim
k→∞ (2k + 2)(2k + 3)

= 0.
Nach dem Quotientenkriterium konvergiert die Reihe für alle x ∈ R, also ist R = ∞.
Mit dem Wurzelkriterium erhält man die folgende Formel für den Konvergenzradius einer
Potenzreihe.

Satz 7.3.3
Der Konvergenzradius der Potenzreihe


X
ak x k
k=0
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 173

erfüllt die Gleichung

1
R= p ,
lim sup k
|ak |
k→∞

1 1
mit der Konvention

:= 0, 0
:= ∞.

Beweis. Das Wurzelkriterium liefert Konvergenz für


p
k
p
1 > lim sup |ak ||x|k = |x| lim sup k |ak |
k→∞ k→∞

und Divergenz für


p
k
1 < |x| lim sup |ak |.
k→∞

Also ist

X
f (x) := ak x k
k=0

auf (−R, R) wohldeniert, das heiÿt (−R, R) ⊆ D(f ). Ob f für x = R und x = −R


wohldeniert ist, muss man separat untersuchen.

xk
P
Beispiel. Finden Sie das gröÿte Intervall I, auf dem k
konvergiert. Zunächst berechnen
k=1
wir

1
R= q = 1.
k 1
lim sup k
k→∞
∞ ∞
P 1
P (−1)k
Da k
divergiert und k
konvergiert, ist I = [−1, 1).
k=1 k=1

Satz 7.3.4

ak x k
P
Sei f (x) = eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R > 0. Dann ist f auf
k=0
(−R, R) stetig.

Beweis. Sei x ∈ (−R, R) gegeben. Wir müssen zeigen, dass aus |x − y| klein folgt


X∞ ∞
X
k k
ak x − ak y klein.



k=0 k=0
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 174

Die Idee ist, dass wir N0 ∈ N wählen, so dass


X ∞
X
k
ak x und ak y k (7.3.4)
k=N0 k=N0

klein sind. Dann bleibt nur die Dierenz zweier Polynome.

−R xR

Da x im Inneren des Konvergenzintervalls ist, können wir ein N0 ∈ N nden, so dass


(7.3.4) für alle y hinreichend nah an x gilt. Um dies deutlich zu machen, setzen wir

R − |x|
Y := |x| +
2
und bemerken, dass |x| < Y < R. Wir wählen N0 ∈ N, so dass


X ε
|ak |Y k < .
k=N0
4

Nach dem Vergleichsprinzip ist



∞ ∞
X
k
X ε
ak y ≤ |ak |Y k < (7.3.5)

4


k=N0 k=N 0

für alle y ∈ [−Y, Y ]. Andererseits wählen wir δ > 0, so dass aus |x − y| ≤ δ folgt

N N0

X0 X ε
k k
a x − a y < . (7.3.6)

k k
2


k=0 k=0

Die Dreiecksungleichung zusammen mit (7.3.5) und (7.3.6) ergibt

∞ ∞
N N0
∞ ∞
X X X 0 X X X
ak x k − ak y k ≤ ak x k − ak y k + ak x k + ak y k



k=0 k=0 k=0 k=0 k=N0 k=N0
ε ε ε
≤ + + =ε
2 4 4

für alle y, die |x − y| ≤ δ̃ erfüllen, wobei

 
R − |x|
δ̃ := min δ, .
2

Wir werden auch in der Lage sein müssen, Potenzreihen miteinander zu multiplizieren.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 175

Satz 7.3.5
∞ ∞
ak x k bk x k
P P
Seien und Potenzreihen mit Konvergenzradius R R̃. Dann ist das
bzw.
k=0 k=0 n o
Produkt eine Potenzreihe mit Konvergenzradius gröÿer gleich min R, R̃ und es gilt


! ∞
! ∞
X X X
k k
ak x · bk x = ck x k
k=0 k=0 k=0

k
P
mit ck = am bk−m .
m=0

Man kann zeigen, dass Potenzreihen auf (−R, R) viel besser als stetig sind.

Satz 7.3.6

ak x k
P
Sei f (x) = eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R > 0. Dann ist f auf
k=0
(−R, R) dierenzierbar und es gilt


X

f (x) = k · ak xk−1 für x ∈ (−R, R). (7.3.7)
k=1

Iteration ergibt:


ak x k
P
Korollar 7.3.7. Sei f (x) = eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R > 0. Dann
k=0
ist f ∈ C ∞ ((−R, R)) und es gilt


(n)
X k!
f (x) = ak xk−n für x ∈ (−R, R).
k=n
(k − n)!

Die Formel (7.3.7) soll man nicht für selbstverständlich halten! Hierbei tauscht man zwei
Grenzwerte. Dabei muss man immer vorsichtig sein:

Übung 7.3.8
Zeigen Sie, dass für
xn+1
fn (x) = auf [0, 1]
n+1
gilt
d d
lim fn (x) ̸= lim fn (x).
n→∞ dx dx n→∞
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 176

7.4 Taylor-Formel
Im vorherigen Abschnitt haben wir mit einer Reihe angefangen, und diese Reihe als Funktion
von x betrachtet. Jetzt nehmen wir eine andere Sichtweise: Wir fangen mit einer Funktion
f an, und wollen f ein Polynom zuordnen. Welches Polynom? In Abschnitt 6.1 haben wir
die beste lineare Approximation eingeführt. Jetzt fragen wir uns:

Gibt es Polynome höherer Ordnung, die zu f zugeordnet werden können?

Die Antwort hängt davon ab, wie glatt f ist.


Frage: Wie glatt musste f sein, damit wir eine beste lineare Approximation nden
konnten?
Antwort: f musste dierenzierbar (ein Mal dierenzierbar) sein.
Für eine Funktion, die n-mal dierenzierbar ist, werden wir jetzt das richtige Polynom
n-ter Ordnung denieren. Aber als erstes treten wir einen Schritt zurück: Warum würden
wir ein Polynom höherer Ordnung denieren wollen?? Lineare Funktionen sind doch schön!
Um uns zu motivieren, schauen wir uns ein kleines Beispiel an. Wir nehmen f (x) := sin(x).
Was ist die beste lineare Approximation in x0 = π/2? Richtig, die Funktion ℓ(x) ≡ 1.

(a) f und die beste lineare Approximation in π/2.(b) Die grüne Kurve zeigt das Taylorpolynom
zweiter Ordnung in π/2. Welche Approximation
ist besser?

Also lohnt es sich, das beste Polynom n-ter Ordnung zu denieren:

Denition 7.4.1
Sei f : (a, b) −→ R n-mal dierenzierbar. Das Taylorpolynom n-ter Ordnung um x0 ∈
(a, b) ist
n
X f (k) (x0 )
Tn (x; x0 ) := (x − x0 )k .
k=0
k!
Der Restterm ist
Rn (x; x0 ) := f (x) − Tn (x; x0 ).

Beispiel. Finden Sie das Taylorpolynom dritter Ordnung von f (x) = exp(x) um x0 = 0.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 177

Wir brauchen f und drei Ableitungen von f im Punkt x0 = 0:

f (0) = 1, f ′ (0) = 1, f ′′ (0) = 1, f ′′′ (0) = 1.

Jetzt tun wir sie zusammen wie in Denition 7.4.1:

1 1 1 1 x2 x3
T3 (x; 0) = + x + x2 + x3 = 1 + x + + .
0! 1! 2! 3! 2 6
Beispiel. Finden Sie das Taylorpolynom zweiter Ordnung für das Beispiel in der obigen
Abbildung.
Das Polynom ist das Taylorpolynom zweiter Ordnung von f (x) = sin(x) um x0 = π/2.
Also brauchen wir

f (π/2) = 1, f ′ (π/2) = cos(π/2) = 0, f ′′ (π/2) = − sin(π/2) = −1.

Die Formel aus Denition 7.4.1 ergibt:

−1 1
T2 (x; π/2) = 1 + (x − π/2)2 = 1 − (x − π/2)2 . (7.4.1)
2! 2
Bemerkung. Manche würden die Formel (7.4.1) ausmultiplizieren. Dies ist erlaubt aber
nicht empfohlen.

Natürlich ist f selber im Allgemeinen kein Polynom. Aber solange f n-mal dierenzierbar
ist, können wir f durch ein Polynom n-ter Ordnung approximieren. Gut, aber dann fragen
wir uns natürlich, Wie gut ist diese Approximation?
Wichtig!: Um zu wissen, ob die Approximation gut ist (und für welche x-Werte), müssen
wir den Restterm abschätzen können. Dafür brauchen wir (nur!) noch eine zusätzliche
Ableitung:

Satz 7.4.2: Taylor-Formel, Dierentialform des Restterms


Sei f : (a, b) −→ R (n + 1)-mal dierenzierbar. Für x, x0 ∈ (a, b) existiert ein c zwischen
x und x0 , so dass
f (n+1) (c)
Rn (x; x0 ) = (x − x0 )n+1 .
(n + 1)!
Insbesondere gilt

n
X f (k) (x0 ) f (n+1) (c)
f (x) = (x − x0 )k + (x − x0 )n+1 . (7.4.2)
k=0
k! (n + 1)!

Wichtig zu bemerken ist, dass (7.4.2) nicht sagt, dass jede Funktion ein Polynom ist!
Warum nicht? Weil der Punkt c von x abhängt!
Für n=0 ist (7.4.2) der Mittelwertsatz.
Man kann Satz 7.4.2 anwenden, um die Qualität einer Approximation zu überprüfen.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 178

Beispiel. Sei f ∈ C 3 ((a, b)). Wie gut ist die Approximation für f mit der Taylor-Polynom
zweiter Ordnung, wenn

|f ′′′ (x)| ≤ C für alle x ∈ (a, b)?

Es gilt

C
|f (x) − T2 (x; x0 )| ≤ |x − x0 |3 .
6

Beispiel. Finden Sie das Taylorpolynom zweiter Ordnung von f (x) = 3
x in x0 = 8. Wie
genau ist diese Approximation für 7 ≤ x ≤ 9?
Wir berechnen
1 1
T2 (x) = 2 + (x − 8) − (x − 8)2 .
12 288
Für 7≤x≤9 gilt
√ 1 1
3
x≈2+ (x − 8) − (x − 8)2
12 288
und die Genauigkeit schätzen wir mit dem Satz von Taylor ab:
′′′
5|x − 8|3

f (c) 3
|R2 (x)| =
(x − 8) = , (7.4.3)
3! 81c8/3

für ein c zwischen x und 8. Für 7≤x≤9 gilt

|x − 8|3 ≤ 1 (7.4.4)

und aus c≥7 folgt

c8/3 ≥ 179. (7.4.5)

Einsetzen von (7.4.4) und (7.4.5) in (7.4.3) ergibt

|R2 (x)| ≤ 0, 0004.

Übung 7.4.3
Geben Sie eine Abschätzung für

|ex − (x + 1)|

auf x ∈ (0, 21 ) an.

Man kann Satz 7.4.2 auch anwenden, um zu bestimmen, ob ein kritischer Punkt x0 zum
Beispiel ein lokales Minimum ist.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 179

Übung 7.4.4
Angenommen f ∈ C 4 ((a, b)) und für x0 ∈ (a, b) gilt

f ′ (x0 ) = f ′′ (x0 ) = 0.

Geben Sie ein Kriterium an, so dass

(i) x0 ein lokales Minimum ist,

(ii) x0 ein lokales Maximum ist,

(iii) x0 kein lokales Extremum ist.

Hinweis: Betrachten Sie

f ′′′ (x0 ) f (4) (c)


f (x) = f (x0 ) + (x − x0 )3 + (x − x0 )4 .
3! 4!

Wenn f ∈ C ∞ ((a, b)), dann heiÿt



X f (k) (x0 )
(x − x0 )k
k=0
k!
die Taylorreihe von f um x0 . Wenn für jedes x0 ∈ (a, b) die Taylorreihe um x0 für alle x in
einer Umgebung von x0 gegen f (x) konvergiert, dann heiÿt f auf (a, b) analytisch.

Übung 7.4.5
Benutzen Sie die Funktion
( 1
e − x2 x ̸= 0
f (x) :=
0 x = 0.

um zu zeigen, dass nicht jede C ∞ -Funktion analytisch ist.

Man kann zeigen, dass sin(·), cos(·) und exp(·) auf R analytisch sind und dass gilt

X x2k+1
sin(x) = (−1)k ,
k=0
(2k + 1)!

X x2k
cos(x) = (−1)k ,
k=0
(2k)!

X xk
exp(x) = .
k=0
k!

7.5 Eine Reihe von Beispielen


Bestimmen Sie ob konvergent (absolut oder bedingt) oder divergent.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 180

O1

X n2
n3 + 1

O
n=1

2

X n + n4
n + n2

O
n=1

3

X n + n2
n + n4

O
n=1

4

X n + n2
n4 − n

O
n=2

5

X (−1)n
√4
n

O
n=1

6

X (−1)n
n4

O
n=1

7
∞  n
X n
3n − 1

O
n=1

8
∞ r
X n−1
n

O
n=1

9

X sin(n)
1 + n2

O
n=1

10

X 1
n(log(n))2

O
n=1

11

X 1 · 3 · 5 · · · · · (2n − 1)
n=1
5n n!
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 181

O
12

X log(n)
(−1)n+1 √
n=1
n

Berechnen Sie den Wert.

O1

X 22n+1
5n

O
n=1

2

X
(−1)n−1 n−3

O
n=1

3

X
arctan(n + 1) − arctan(n)

O
n=1

4

X (−1)n xn
n=1
22n n!

Bestimmen Sie den Konvergenzradius und das gröÿtmögliche Intervall, auf dem sie konvergiert.

O1

X (−3)n x2n
n+1

O
n=0

2

X xn
3n n3

O
n=1

3

X (x + 1)n
nn

O
n=1

4

X 2n (x − 3)n

n=0
n+3
Kapitel 8
Lineare Algebra

8.1 Einleitung und erste Denitionen


Denition 8.1.1
Eine nichtleere Menge V heiÿt Vektorraum über R (bzw. über C), wenn auf V eine
Addition + und eine Multiplikation · mit Elementen aus R (bzw. aus C) erklärt sind, so
dass für alle α, β ∈ R (bzw. C) und a, b, c ∈ V gilt:

(G) α·a+β·b∈V (Geschlossenheit)

(A1) a+b=b+a (Kommutativität)

(A2) a + (b + c) = (a + b) + c (Assoziativität Add.)

(A3) Es existiert ein Element 0∈V, so dass a + 0 = a. (Neutrales Element Add.)

(A4) Für jedes a∈V existiert ein ã ∈ V , so dass

a + ã = 0. (Inverses Element Add.)

(M1) (α + β) · a = α · a + β · a (Distributivität)

(M2) α · (a + b) = α · a + α · b (Distributivität)

(M3) α · (β · a) = (αβ) · a (Assoziativität Mult.)

(M4) 1·a=a (Neutrales Element Mult.)

Die Elemente aus V heiÿen Vektoren, die Elemente aus R (bzw. C) Skalare. Man kann
zeigen, dass das Element aus (A3) eindeutig deniert ist. Man nennt es den Nullvektor.
Auch ã aus (A4) ist eindeutig deniert und statt ã schreiben wir −a.

Wenn es nicht anders angegeben wird, werden wir mit Vektoren über R arbeiten.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 183

Beispiele.

O1 Rn
über
mit der üblichen Vektoraddition und Multiplikation mit Skalaren ist ein Vektorraum
R. (Aber nicht über C.)

O2 Die Menge P2 aller Polynome von Ordnung zwei oder weniger mit reellen Koezienten
ist ein Vektorraum über R. (Hierbei erinnern wir an Denition 3.4.2.)

Oft betrachten wir sogenannte Teilräume eines Vektorraums.

Denition 8.1.2
SeiV ein Vektorraum über R. Eine Teilmenge U ⊆V heiÿt Teilraum oder Unterraum
von V , wenn gilt

ˆ 0∈U

ˆ a, b ∈ U =⇒ α·a+β·b∈U für alle α, β ∈ R.

Also ist U ⊆ V ein Teilraum, wenn U den Nullvektor enthält und U abgeschlossen
bezüglich Addition und Multiplikation mit Skalaren ist.

Beispiele.

O
  
x
1 Sei V = R2 . U= ∈ R2 : x ∈ R ist ein Teilraum.
x
O2 Sei V der Vektorraum aller 2 × 2-Matrizen mit reellen Koezienten.

(a) Dann ist


   
0 b
U := A∈V :A= , b, c ∈ R
c 0

ein Teilraum von V.


(b) Die Menge
   
a b
W := A∈V :A= mit a, b, c, d ∈ R und ad = 0, bd = 0
c d

ist kein Teilraum von V, weil


   
1 0 0 0
A1 = und A2 =
0 0 0 1

zu W gehören, aber A1 + A2 ∈
/ W.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 184

Denition 8.1.3
Der Vektor v heiÿt eine Linearkombination der Vektoren v1, . . . , vn, wenn es Skalare
α1 , . . . , α n gibt, so dass
v = α1 v 1 + . . . + αn v n .
Die Menge aller Linearkombinationen von v1, . . . , vn heiÿt lineare Hülle oder Spann von
v1, . . . , vn und wird mit

Sp{v 1 , . . . , v n } oder span{v 1 , . . . , v n }

bezeichnet. Die Vektoren v1, . . . , vn heiÿen Erzeugendensystem für den Teilraum

Sp{v 1 , . . . , v n }.

Wenn V ein Vektorraum ist und v 1 , ..., v n ∈ V , dann ist

Sp {v 1 , ..., v n }

ein Teilraum von V.


  
x 2
Beispiel. Für den Teilraum U= ∈R :x∈R aus dem obigen Beispiel gilt
x
 
1
U = Sp .
1

Übung 8.1.4
Schreiben Sie p(x) = −1 + 2x2 als Linearkombination von p1 (x) = 1 + 2x − 2x2 , p2 (x) =
−1 − x, p3 (x) = −3 − 4x + 4x2 .

Denition 8.1.5
Die Vektoren v 1 , . . . , v n heiÿen linear abhängig, wenn es Skalare α1 , . . . , αn gibt, von
denen mindestens einer von Null verschieden ist, so dass

α1 v 1 + . . . + αn v n = 0.

Dann sagt man, dass die Menge {v 1 , . . . , v n } linear abhängig ist. Wenn v1, . . . , vn nicht
linear abhängig sind, dann heiÿen sie linear unabhängig.

n
P
Also, wenn v 1 , ..., v n linear unabhängig sind, dann impliziert αi v i = 0, dass α1 = α2 =
i=1
... = αn = 0.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 185

Beispiel. Die Vektoren   


1 1
1 −1
sind linear unabhängig. Tatsächlich überprüfen wir, dass aus
   
1 1
α +β =0
1 −1

folgt α=β und 2α = 0, so dass α = β = 0.

Mit den oben genannten Begrien können wir jetzt eine Basis denieren.

Denition 8.1.6: Basis


Sei V B = {b1 , . . . , bn } ⊆ V , n ∈ N, heiÿt Basis des
ein Vektorraum. Eine Menge
Vektorraums, wenn B ein minimales Erzeugendensystem von V ist, d.h. B ist ein Erzeugen-
densystem von V und B ist linear unabhängig.

Lemma 8.1.7. Wenn {v 1 , . . . , v n } ein Erzeugendensystem von V ist, dann besitzt V eine
Basis.

Beweis. Übung.

Lemma 8.1.8 (Koordinaten). Sei V ein Vektorraum und B eine Basis davon. Es gibt genau
eine Möglichkeit, einen Vektor v∈V als Linearkombination

v = α1 b1 + . . . + αn bn

zu schreiben.

Beweis. Übung.

Denition 8.1.9
Die Zahlen α1 , . . . , α n heiÿen Koordinaten von v bezüglich der Basis B. Wir nennen

 
α1
 .. 
v [B] = . 
αn

den Koordinatenvektor bezüglich der Basis B.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 186

Beispiel. Die Vektoren


   
1 1
b1 = 0 und b2 = 1
0 0
sind linear unabhängig, da aus
     
1 1 0
α1 0 + α2 1 = 0
    
0 0 0
folgt, dass α1 = α2 = 0. Der Spann der Vektoren ist
  
 x 
Sp {b1 , b2 } =  y  : x, y ∈ R .
0
 
 
3
Der Vektor v = 2 ∈ Sp {b1 , b2 }
 besitzt bezüglich dieser Basis die Koordinaten α1 = 1 ,
0
α2 = 2:
 
1
v [B] = .
2
Wir werden jetzt sehen, dass es genau eine richtige Anzahl von Vektoren für eine Basis
gibt.

Lemma 8.1.10. Sei B = {b1 , . . . , bn } eine Basis des Vektorraums V. Dann ist für m>n
jede Sammlung von m Vektoren linear abhängig.

n o
Beweis. Angenommen y 1 , y 2 , ..., y m ist linear unabhängig. Dann ist jedes y j ̸= 0 für

j = 1, ..., m. Da B eine Basis ist, kann y1 als

n
X
y1 = α i bi
i=1

dargestellt werden, und, da y 1 ̸= 0, ist ein Koezient von Null verschiedenzum Beispiel
αk ̸= 0. Dann kann man bk als lineare Kombination der Vektoren aus

n o
y 1 , b1 , ..., bk−1 , bk+1 , ..., bn = B2

schreiben. Also wird V von B2 aufgespannt. Jetzt wiederholt man dies mit

n
X
y2 = βi bi + βk y 1
i=1
i̸=k
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 187

usw., bis man y n+1 als lineare Kombination von y 1 , ..., y n schreibt, was linearer Unabhängig-
n o
keit von y 1 , ..., y m widerspricht.

Also besitzt jede Basis eines Vektorraums die gleiche Anzahl von Vektoren. (Warum?) Diese
Zahl bekommt einen besonderen Namen.

Denition 8.1.11
Wenn der nichttriviale Vektorraum V eine Basis {b1 , . . . , bn } besitzt, dann heiÿt n die
Dimension des Vektorraums. Wir schreiben

dim(V ) = n.

Die Dimension des trivialen Vektorraums {0} denieren wir als 0.

Denition 8.1.12
Wenn ein Vektorraum V Dimension n∈N besitzt, dann heiÿt er endlich-dimensional.

Lemma 8.1.13. Sei V ein Vektorraum mit Dimension n. Wenn {v 1 , . . . , v n } ⊆ V linear


unabhängig ist, dann bildet {v 1 , . . . , v n } eine Basis von V.

Beweis. Sei v 1 , ..., v n linear unabhängig. Sei v∈V ein beliebiger Vektor. Nach Lemma
8.1.10 ist

{v, v 1 , ..., v n }

linear abhängig. Also gibt es Konstanten α0 , α1 , ..., αn , wobei nicht alle Null sind und

α0 v + α1 v 1 + ... + αn v n = 0.

Da v 1 , ..., v n linear unabhängig sind, kann α0 nicht gleich Null sein. Also gilt

1
v=− (α1 v 1 + ... + αn v n ).
α0
Da v beliebig ist, haben wir gezeigt, dass {v 1 , ..., v n } ein Erzeugendensystem von V ist.
Da {v 1 , ..., v n } auch linear unabhängig ist, ist {v 1 , ..., v n } eine Basis.

Bemerkung. Es lohnt sich, eine gute/geeignete Basis zu nden. Zum Beispiel nimmt die
lineare Abbildung von R2 → R2 deniert durch

x 7→ Projektion von x auf die Richtung v ∈ R2


eine besonders einfache Form an, wenn x bezüglich einer geeigneten Basis dargestellt wird.
Sei v ein Einheitsvektor. Wir nehmen die Basis

B = {v, w} ,
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 188

wobei w ein Einheitsvektor orthogonal zu v ist. Wenn x auf die Basis bezogen wird,
 
x1
x[B] = ,
x2
 
x1
dann ist die Projektion von x .
0

Übung 8.1.14

O1 Finden Sie einen Vektor v, so dass

  
1
,v
1
 
2 1
eine Basis von R ist. Schreiben Sie bezüglich dieser Basis.
0

O
   
1 3
2 Ergänzen Sie v 1 = 1 und v 2 = 0 zu einer
   Basis von R3 . Wie kann man
1 2
x ∈ R3 bezüglich dieser Basis darstellen?

Jetzt zeigen wir, dass jede linear unabhängige Sammlung von Vektoren eines endlich-
dimensionalen Vektorraums zu einer Basis ergänzt werden kann.

Lemma 8.1.15. Sei V ein Vektorraum mit dim(V ) = n ∈ N und {v 1 , . . . , v m } linear


unabhängig. Dann kann {v 1 , . . . , v m } zu einer Basis ergänzt werden, das heiÿt, es gibt n−m
Vektoren xi , so dass
B = {v 1 , . . . , v m , x1 , . . . , xn−m }
eine Basis von V ist.

Beweis. Nach Lemma 8.1.10 ist m ≤ n. Wenn {v 1 , ..., v m } V aufspannt, dann ist {v 1 , ..., v m }
eine Basis von V . Wenn nicht, dann gibt es ein x1 ∈ V , so dass {v 1 , ..., v m , x1 } linear
unabhängig ist. Entweder gilt Sp {v 1 , ..., v m , x1 } = V oder es existiert ein zusätzliches
Element x2 , so dass {v 1 , ..., v m , x1 , x2 } linear unabhängig ist. Nach Lemma 8.1.10 endet
dieser Prozess in n − m Schritten.

8.2 Lineare Abbildungen


Denition 8.2.1
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 189

Seien V, W Vektorräume über R. Die Abbildung L : V −→ W heiÿt linear, wenn gilt

L(α1 v 1 + α2 v 2 ) = α1 L(v 1 ) + α2 L(v 2 ) für alle α1 , α2 ∈ R und v1, v2 ∈ V .

Beispiele.

O1 V = W = R2 , L =Drehung eines Vektors um θ Grad.

O2 V = W =Polynome in x vom Grad < n, L = d


.

O
dx

3 V = W = Rn , L =skalare Multiplikation mit α ∈ R.

Zu einer linearen Abbildung sind zwei wichtige Teilräume assoziiert.

Denition 8.2.2
Sei L : V −→ W eine lineare Abbildung. Das Bild von L ist

{w ∈ W : w = L(v) für ein v ∈ V };

dies ist ein Teilraum von W. Die Dimension des Bildes heiÿt Rang von L.
Der Kern (oder Nullraum) von L ist

{v ∈ V : L(v) = 0};

dies ist ein Teilraum von V. Die Dimension des Kerns heiÿt Defekt von L.
Für Bild und Kern einer linearen Abbildung L werden wir BL und KL schreiben.

Bemerkung. Eine lineare Abbildung ist injektiv genau dann, wenn Kern(L) = {0}.

Beispiel. In dem obigen Beispiel

d
V = W = Polynome in x vom Grad < n, L = ,
dx
ist der Kern von L die Menge der konstanten Funktionen.

Übung 8.2.3
Sei L : V → W eine lineare Abbildung. Zeigen Sie, dass Bild(L) ein Teilraum von W ist
und Kern(L) ein Teilraum von V ist.

Sehr wichtig für lineare Abbildungen ist die Tatsache:

Satz 8.2.4
Sei L : V −→ W eine lineare Abbildung. Es gilt

dim(BL ) + dim(KL ) = dim(V ).


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 190

Beweisidee. [Ergänzen Sie die Lücken] Zunächst bemerken wir, dass

dim(BL ) ≤ dim(V ).

[Warum?] Wenn dim(BL ) = dim(V ), dann ist dim(KL ) = 0. [Warum?] Wenn dim(BL ) =
0, dann ist dim(KL ) = dim(V ). [Warum?] Also reicht es aus, wenn wir

1 ≤ dim(BL ) < dim(V )

betrachten. Sei {w1 , ..., wr } eine Basis von BL und v 1 , ..., v r zugehörige Urbilder:

L(v i ) = wi , i = 1, ..., r.

Sei {x1 , ..., xk } eine Basis von KL . Wir behaupten, dass B = {v 1 , ..., v r , x1 , ..., xk } eine
Basis von V ist.
Schritt 1: B ist linear unabhängig. Tatsächlich stimmt das, denn wenn

α1 v 1 + ... + αr v r + β1 x1 + ... + βk xk = 0,

dann gilt

r
X r
X
0= αi L(v i ) = αi w i ,
i=1 i=1

so dass α1 = ... = αr = 0 (weil die wi linear unabhängig sind), aber dann ist β1 = ... =
βk = 0 (weil die xj linear unabhängig sind).
Schritt 2: B ist ein Erzeugendensystem von V . Sei v ein beliebiger Vektor aus V .
Man kann L(v) als lineare Kombination der w i schreiben:

r
X
L(v) = αi w i (8.2.1)
i=1

(weil Sp {w1 , ..., wr } = BL ). Wenn wir ṽ durch

r
X
ṽ := αi v i (8.2.2)
i=1

denieren, dann ist v − ṽ ∈ KL , da

r r
(8.2.1),(8.2.2)
X X
L(v − ṽ) = αi wi − αi wi = 0.
i=1 i=1
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 191

Also existieren Konstanten β1 , ..., βk , so dass

k
X
v − ṽ = βj xj
j=1

(weil Sp {x1 , ..., xk } = KL ). Aber dann haben wir die Darstellung

k
X
v = ṽ + βj xj
j=1
r k
(8.2.2)
X X
= αi v i + β j xj .
i=1 j=1

Als Folgerung erhält man zum Beispiel für eine lineare Abbildung L : Rn → Rm , wobei
m < n, dass es ein v ̸= 0 in Rn gibt, so dass

Lv = 0.

Oder für L : Rn → Rn , wobei KL = {0}, dass es für jeden Vektor b ∈ Rn eine Lösung der
Gleichung

Lx = b

gibt. (Übung.)

Denition 8.2.5
Wenn eine lineare Abbildung L : V −→ W bijektiv ist, dann heiÿt sie invertierbar. Man
schreibt
L−1
für die Umkehrfunktion.

Als Folgerung von Satz 8.2.4 merkt man, dass wenn V, W endlich-dimensional sind und
L invertierbar ist, dann gilt

dim(V ) = dim(W ).

Man kann neue Abbildungen aus alten denieren: Seien L1 , L2 lineare Abbildungen von V
nach W. Dann ist

(L1 + L2 ) : V → W

durch

(L1 + L2 )(v) := L1 (v) + L2 (v)


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 192

deniert. Seien L1 : V → W und L2 : W → X lineare Abbildungen. Dann ist

L2 ◦ L1 : V → X

durch

(L2 ◦ L1 )(v) = L2 (L1 (v))

deniert. Verkettung ist assoziativ (L3 ◦ (L2 ◦ L1 ) = (L3 ◦ L2 ) ◦ L1 ) und distributiv


((L3 + L2 ) ◦ L1 = L3 ◦ L1 + L2 ◦ L1 und L3 ◦ (L2 + L1 ) = L3 ◦ L2 + L3 ◦ L1 ), aber im
Allgemeinen nicht kommutativ (L2 ◦ L1 ̸= L1 ◦ L2 )! Weil sie assoziativ und distributiv ist,
wird die Zusammensetzung zweier linearer Abbildungen oft wie Multiplikation geschrieben:

L2 ◦ L1 = L2 L1 .

(Aber nochmals die Warnung, dass L2 L1 ̸= L1 L2 .)


d
Beispiel. V = W = X =Polynome in x, L1 = dx
, L2 =Multiplikation mit x. Dann ist

d
L1 (αp1 + βp2 ) = (αp1 (x) + βp2 (x)) = αp′1 (x) + βp′2 (x) = αL1 (p1 ) + βL1 (p2 ),
dx
L2 (αp1 + βp2 ) = x(αp1 + βp2 ) = αxp1 (x) + βxp2 (x) = αL2 (p1 ) + βL2 (p2 ),
d 2
aber L1 ◦ L2 (x) = dx
x = 2x ̸= x = L2 ◦ L1 (x).
Ein wichtiges Beispiel einer linearen Abbildung ist eine Projektion.

Denition 8.2.6
Eine lineare Abbildung P :V →V heiÿt Projektion, falls gilt

P 2 = P. (8.2.3)

Beispiel. Sei V = Rn und

P (x1 , ..., xn ) = (0, 0, x3 , x4 , ..., xn ).

Dann ist P linear:

P (αx + βy) = (0, 0, αx3 + βy3 , ..., αxn + βyn )


= α(0, 0, x3 , ..., xn ) + β(0, 0, y3 , ..., yn )
= αP (x) + βP (y)

und P erfüllt (8.2.3):

P 2 (x) = P (P x) = P ((0, 0, x3 , ..., xn ))


= (0, 0, x3 , ..., xn )
= P x.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 193

Übung 8.2.7
Sei V = stetige Funktionen auf [−1, 1] und

f (x) + f (−x)
(P f )(x) =
2
(der gerade Teil von f ). Zeigen Sie, dass P eine Projektion auf V ist.

8.3 Matrizen
Wir stellen lineare Abbildungen oft durch Matrizen dar.

Satz 8.3.1
Für {lij }i=1,...,m ist die Abbildung L̃ : Rn −→ Rm , die durch L̃(x) = w mit
j=1,...,n

n
X
wi = lij xj (8.3.1)
j=1

gegeben ist, eine lineare Abbildung. Andererseits kann jede lineare Abbildung L : Rn −→
Rm in der Form (8.3.1) mit geeigneten Zahlen lij dargestellt werden.

Beweis. Sei L̃ durch (8.3.1) deniert. Dann ist

n
X
[L̃(αx + βy)]i = lij (αxj + βyj ) = [αL̃(x) + β L̃(y)]i
j=1

für jedes i = 1, ..., m. Andererseits sei L : Rn → Rm eine gegebene lineare Abbildung.


n
Sei x∈R ein beliebiger Vektor, der

n
X
x= xj e j
j=1

 n
bezüglich der Standardbasis ej j=1 (mit ej = (0, 0, ..., 0, |{z}
1 , 0, ..., 0)) dargestellt
j -te Stelle
ist. Da L linear ist, gilt

n
X
L(x) = xj L(ej ). (8.3.2)
j=1
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 194

Man deniere lij durch die i-te Komponente von Lej :

lij := (Lej )i .

Nach (8.3.2) gilt

n
X n
X
[L(x)]i = xj [L(ej )]i = xj lij . (8.3.3)
j=1 j=1

Da dies für jedes x ∈ Rn gilt, ist L durch die Zahlen {lij }i,j auf ganz Rn festgelegt.

Denition 8.3.2
Sei L : Rn −→ Rm eine lineare Abbildung. Die Matrix L von L ist

 
l11 · · · l1n
. .
L = (lij )i=1,...,m =  . . ,
 
. .
j=1,...,n
lm1 · · · lmn

wobei lij = (Lej )i . Die Zahlen lij heiÿen Koezienten der Matrix. (li1 , . . . , lin ) heiÿt die
i-te Reihe und  
l1j
.
. heiÿt die j -te Spalte.
 
 . 
lmj
Wir nennen L eine m × n-Matrix und schreiben L ∈ Rm×n .

Bemerkung. Der Raum der m × n-Matrizen bildet einen Vektorraum der Dimension m · n.
Beispiel. Wir betrachten jetzt ein paar Abbildungen und ihre Matrixdarstellungen.

O1 V = W = R2 , L sei die Drehung um den Winkel


 
α.

Dann ist

cos α − sin α
L(e1 ) = , L(e2 ) = ,
sin α cos α

1
α
α
1

so dass die Matrix der Abbildung


 
cos α − sin α
L=
sin α cos α
ist.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 195

O
 
v1
2 V =W =R 2
, v ∈R 2
gegeben mit ∥v∥ = 1, v = . L sei die Spiegelung an der
v2
Geraden {tv, t ∈ R}.

L(e1 )
v
(v, e1 ) · v − e1

e1

(v, e1 ) · v

Es gilt

L(e1 ) = 2(v, e1 )v − e1 = 2v1 v − e1 ,


L(e2 ) = 2(v, e2 )v − e2 = 2v2 v − e2 ,

so dass
 
2v12 − 1 2v1 v2
L= . (8.3.4)
2v2 v1 2v22 − 1

O 3 d
Finden Sie eine Matrixdarstellung für dx auf dem Vektorraum aller Polynome Grades
2 und kleiner.

Die Form (8.3.4) ist nicht besonders schön, weil die Standardbasis der Abbildung nicht
gut passt. Wir werden gleich eine schönere Darstellung identizieren. Zuerst schauen wir uns
Matrixaddition und -multiplikation an.
Doch wie stellt man Addition und Multiplikation linearer Abbildungen durch ihre Matrizen
dar? Man merkt Folgendes:
Seien A, B : V → W lineare Abbildungen mit zugehörigen Matrizen (A)ij = aij , (B)ij =
bij , i = 1, ..., m, j = 1, ..., n. Dann ist A + B durch die Matrix

(A + B)ij = aij + bij , i = 1, ..., m, j = 1, ..., n

A : V → W und B : W → X lineare Abbildungen,


dargestellt. Seien wobei dim(V ) = l,
dim(W ) = n, dim(X) = m. Seien die zu A bzw. B gehörigen Matrizen

(A)ij = aij , i = 1, ..., n, j = 1, ..., l,


(B)ki = bki , k = 1, ..., m, i = 1, ..., n.

Dann ist BA durch die Matrix

n
X
(BA)kj = bki aij , k = 1, ..., m, j = 1, ..., l
i=1
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 196

dargestellt. Insbesondere gilt für Matrix-Vektor-Multiplikation für B ∈ Rm×n , v ∈ Rn×1


n
X
(B v)i = bij vj .
j=1

Also ist derm-Vektor B v im Spann der Spalten von B. Wenn wir B als Sammlung von
Spaltenvektoren B j schreiben:

B = B 1 B 2 ... B m ,
dann ist

B v = v1 B 1 + v2 B 2 + ... + vm B m .
Bemerkung. Da im Abschnitt 8.2 gemerkt wurde, dass die Zusammensetzung linearer Abbildungen
im Allgemeinen nicht kommutativ ist, ist Matrixmultiplikation im Allgemeinen nicht kommutativ.
Beispiel:
   
0 1 0 0
A= , B= .
0 0 1 0
Auÿerdem impliziert A2 = 0 nicht, dass A = 0 ist. Beispiel:
 
0 1
A= .
0 0

Denition 8.3.3
SeiL : Rn −→ Rm eine lineare Abbildung und {v j }nj=1 , {wi }m i=1 Basen von R
n
bzw. Rm .
Die Matrix von L bezüglich dieser Basen ist (˜
lij )i=1,...,m , wobei ˜lij durch
j=1,...,n

m
X
L(v j ) = ˜lij w
i
i=1

deniert ist.

Beispiel. Jetzt schauen wir uns die Spiegelung an der Geraden {tv, t ∈ R} nochmals an.
Für die Basis von R2
B = {v, w} , wobei (v, w) = 0,
gilt

L(v) = v, L(w) = −w.


Also ist L bezüglich B durch
 
1 0
L̃ =
0 −1
dargestellt. Da diagonale Matrizen besonders einfach sind, sehen wir wieder, dass eine geeignete
Wahl der Basis hilfreich sein kann.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 197

Bemerkung. Wegen der linearen Unabhängigkeit von {w1 , ..., wm } in Denition 8.3.3 sind
die Koezienten ˜
lij eindeutig bestimmt.

Wie sind die Matrizen L und L̃ von L bezüglich der Basen B V , B W miteinander verbunden?
Wenn wir B und C durch

B : v j 7→ ej , C : wi 7→ ei

denieren, dann gilt

C L̃ B −1 = L.

Denition 8.3.4
Seien L ∈ Rn×n und L̃ ∈ Rn×n Matrizen, die

L = B L̃ B −1

erfüllen für eine invertierbare (n × n)-Matrix B . Dann werden L und L̃ ähnlich genannt.

Wir werden später Eigenschaften ähnlicher Matrizen genauer anschauen. Da (wie oben
gemerkt) sie die gleiche lineare Abbildung darstellen, würde man erwarten, dass ihre grundliegenden
Eigenschaften gleich sind.

8.4 Lineare Gleichungssysteme


Sehr oft möchte man ein System der Form

Ax = b

für gegebene A ∈ Rm×n , b ∈ Rm nach x ∈ Rn lösen.

Denition 8.4.1
Ein System der Form

Ax = b (8.4.1)

heiÿt lineares Gleichungssystem mit m Gleichungen und n Unbekannten x1 , ..., xn . Die


Zahlen aij = (A)ij heiÿen Koezienten. Wenn b = 0 gilt, dann heiÿt das System
homogen. Ansonsten heiÿt es inhomogen. Wenn x ∈ Rn die Gleichung in (8.4.1) löst, so
heiÿt x eine Lösung.

Wichtige Fragen sind

(1) Gibt es eine Lösung zu (8.4.1)? Äquivalent ist: Ist b ∈ Bild(A)?


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 198

(2) Ist die Lösung zu (8.4.1) eindeutig bestimmt? Äquivalent ist: Ist A injektiv?

(3) Was ist die Lösung? Äquivalent ist: Welches x ∈ Rn ist ein Urbild von b ∈ Rm unter
A? Angewandter ausgedrückt: Wie berechnet man die Lösung?

Aktuelle angewandte Frage: Wie approximiert man schnell die Lösung, wenn A sehr groÿ
ist?
Sie wissen aus der Schule, dass es für A ∈ R2×2 , b ∈ R2 drei Möglichkeiten gibt: Das
lineare Gleichungssystem besitzt eine eindeutige Lösung, keine Lösung oder unendlich viele
Lösungen.

l1 l1 l1 = l2
l2
l2

(a) Eine eindeutige Lösung (b) Keine Lösung (c) Unendlich viele Lösungen

Das Gleiche ist im Allgemeinen wahr. Um dies zu besprechen, übersetzen wir Satz 8.2.4
für Matrizen. Zunächst denieren wir:

Denition 8.4.2
Sei A (m × n)-Matrix. Die maximale Anzahl linear unabhängiger Zeilenvektoren
eine
heiÿt Zeilenrang von A. Die maximale Anzahl linear unabhängiger Spaltenvektoren
heiÿt Spaltenrang von A. Bild, Kern, und Defekt einer Matrix werden als Bild, Kern,
und Defekt der durch A bestimmten linearen Abbildung deniert. (Sehen Sie Denition
8.2.2.) Bild und Kern werden mit BA und KA gekürzt. Die Dimension des Bildes wird
Rang von A genannt.

Man kann zeigen, dass diese drei Zahlen gleich sind:

Satz 8.4.3
Sei A ∈ Rm×n . Es gilt

Zeilenrang von A= Spaltenrang von A= Rang von A.

Jetzt kehren wir zum System Ax = b zurück. Aus Satz 8.2.4 erhalten wir:

Rang(A) + dim(KA ) = n.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 199

Satz 8.4.4: Lösungen von A x = b


Seien A ∈ Rm×n , b ∈ Rm . Dann gilt Folgendes:

(i) Wenn Rang(A) = m, dann existiert mindestens eine Lösung von A x = b.

(ii) Wenn Rang(A) = n, dann existiert höchstens eine Lösung von A x = b.

(iii) Eine Lösung x von Ax = b ist eindeutig bestimmt genau dann, wenn

KA = {0}.

Ansonsten gibt es unendlich viele Lösungen

x + αw, wobei w ∈ KA .

Wenn m < n, kann es insbesondere keine eindeutig bestimmte Lösung von A x = b


geben (weil Rang(A) ≤ m und Rang(A) + dim(KA ) = n ⇒ dim(KA ) > 0). Das lineare
m
Gleichungssystem heiÿt unterbestimmt. Wenn m > n, dann existieren Vektoren b ∈ R , für
die es keine Lösung von A x = b gibt (weil Rang(A) ≤ n < m). Das lineare Gleichungssystem
heiÿt überbestimmt.
Der Algorithmus, durch den wir

ˆ Ax = b lösen,

ˆ Rang(A) bestimmen und eine Basis von BA nden,

ˆ Defekt(A) bestimmen und eine Basis von KA nden,

ˆ die Umkehrung einer Matrix berechnen

heiÿt das Gauÿsche Eliminationsverfahren. Wir lernen diese Methode durch Beispiele kennen.

Beispiele.

O1 Lösung(en) von

x1 + x2 = 3,
x1 − x2 = 1.

Wir bauen die erweiterte Matrix


 
1 1 3
.
1 −1 1

Wir nennen die erste Reihe R1 und die zweite Reihe R2 und ersetzen die zweite Reihe
durch die zweite Reihe minus (Eins mal) die erste Reihe:

R2 → R2 − 1 · R1 .
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 200

Durch diese Operation erhalten wir die geänderte (erweiterte) Matrix


 
1 1 3
. (8.4.2)
0 −2 −2

Was uns wichtig ist, ist, dass wir jetzt eine Matrix in oberer Dreiecksform haben, das
heiÿt, die Matrix
 
1 1
0 −2

hat Nullen unter der Diagonalen. Jetzt, da die Matrix (8.4.2) diese Form erreicht
hat, lösen wir durch sogenannte Rückwärtselimination (das heiÿt, wir lösen durch
Einsetzen):

−2x2 = −2 ⇒ x2 = 1,
1 · x1 + 1 · x2 = 3 ⇒ 1 · x1 + 1 = 3 ⇒ x1 = 2.
   
x1 2
Die eindeutige Lösung ist also = .
x2 1

O2 Lösung(en) von

x1 + x2 + 2x3 = 0,
2x1 + x2 + x3 = 1,
x1 + 2x3 = −2.

Hier ist die erweiterte Matrix


 
1 1 2 0
2 1 1 1  .

1 0 2 −2

Zunächst erhalten wir zwei Nullen unter der Eins in Reihe 1, Spalte 1, indem wir

R2 → R2 − 2 · R1 und R3 → R3 − R1

ersetzen:
 
1 1 2 0
0 −1 −3 1  .

0 −1 0 −2

(Hier war uns wichtig, dass a11 ̸= 0 war. Das Element a11 wird hier das  Pivotelement
gennant.) Jetzt brauchen wir nur eine Null in Reihe 3, Spalte 2, also ersetzen wir

R3 → R3 − 1 · R2
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 201

und wir erhalten


 
1 1 2 0
0 −1 −3 1  .

0 0 3 −3
Rückwärtselimination liefert

3x3 = −3 ⇒ x3 = −1,
−1 · x2 − 3x3 = 1 ⇒ −1 · x2 + 3 = 1 ⇒ x2 = 2,
x1 + x2 + 2x3 = 0 ⇒ x1 + 2 + 2 · (−1) = 0 ⇒ x1 = 0.
Die eindeutige Lösung ist
   
x1 0
 x2  =  2  .
x3 −1

O3 Lösung(en) von

 x1 − 2x2 − x3 = −2,

2x1 + x2 + 3x3 = 1, (8.4.3)

−3x1 + x2 − 2x3 = 1.

Die erweiterte Matrix ist


 
1 −2 −1 −2
2 1 3 1 
−3 1 −2 1
R2 → R2 − 2 · R1 , R3 → R3 + 3 · R1
 
1 −2 −1 −2
0 5 5 5 
0 −5 −5 −5
R3 → R3 + R2
 
1 −2 −1 −2
0 5 5 5  .
0 0 0 0

T
Die letzte Gleichung ist trivial (0 x = 0), und die ersten zwei Gleichungen ergeben

5x2 + 5x3 = 5 ⇒ x2 = 1 − x3
x1 − 2x2 − 1 · x3 = −2 ⇒ x1 = 2(1 − x3 ) + x3 − 2 = −x3 .
Hier bleibt x3 als freier Parameter, und Lösungen haben die Form
     
−c 0 −1
x = 1 − c = 1 + c −1 für c ∈ R. (8.4.4)
c 0 1
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 202

Der Kern der Abbildung ist in diesem Beispiel


  
 −1 
Sp −1 .
1
 

In diesem Beispiel ist x in (8.4.4) mit c als Parameter allgemeine Lösung von (8.4.3)
genannt.

O4 Lösung(en) von

x1 − 2x2 − x3 = −2,
2x1 + x2 + 3x3 = 1,
−3x1 + x2 − 2x3 = 1,1.

 
1 −2 −1 −2
2 1 3 1 
−3 1 −2 1,1
R2 → R2 − 2 · R1 , R3 → R3 + 3 · R1
 
1 −2 −1 −2
0 5 5 5 
0 −5 −5 −4,9
R3 → R3 + R2
 
1 −2 −1 −2
0 5 5 5  .
0 0 0 0,1

Die letzte Gleichung

0 · x1 + 0 · x2 + 0 · x3 = 0, 1

kann nicht erfüllt werden. Dieses System besitzt keine Lösung. (Und Rang(A) < 3.)

Denition 8.4.5
Falls x∗ eine partikuläre Lösung des Systems Ax = b ist und w1 , . . . , wj den Kern von
A aufspannen, dann heiÿt

x ∗ + c1 w 1 + · · · + cj w j

allgemeine Lösung des Systems.


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 203

Übung 8.4.6
Berechnen Sie Bild(A) und Kern(A) für die Matrix aus dem letzten Beispiel.

Als wir das Gauÿsche Eliminationsverfahren angewendet haben, haben wir das System

Ax = b (8.4.5)

(durch Addition von Reihen usw.) in ein neues System

à x = b̃ (8.4.6)

verändert und behauptet, dass die Lösungen zu (8.4.5) und (8.4.6) gleich sind. Frage: Welche
Eigenschaften von A und à sind gleich und welche Eigenschaften von A wurden durch das
Verfahren verändert? Der Gauÿsche Algorithmus basiert auf den Operationen

(i) zwei Zeilen vertauschen,

(ii) eine Zeile mit einem reellen α ̸= 0 multiplizieren,

(iii) die i-te Zeile durch die Summe der Zeilen i und j ersetzen.

Wenn à aus A durch den Gauÿalgorithmus konstruiert wird, dann sagen wir, dass à und

A reihenäquivalent sind. Wenn A und à reihenäquivalent sind, dann haben sie den gleichen
Zeilenspann und dadurch den gleichen Zeilenrang. Da Zeilenrang gleich Rang ist, haben sie
auch den gleichen Rang. Wenn die erweiterte Matrix


A b

und die erweiterte Matrix


à b̃

reihenäquivalent sind, dann ist die Lösung oder Lösungsmenge von

Ax = b

gleich der Lösung/Lösungsmenge von

à x = b̃.

8.5 Matrixinverse
Man kann das Gauÿsche Eliminationsverfahren benutzen, um die Inverse einer Matrix zu
berechnen.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 204

Denition 8.5.1
Sei A eine (n × n)-Matrix. A heiÿt invertierbar oder nichtsingulär, wenn es eine (n × n)-
Matrix B gibt, so dass
 
1 0 ... 0
.. .
. .
0 1 .

BA = AB = I :=  . . .
 .. . . . . . 0
0 ... 0 1

Dann heiÿt B die Inverse von A und man schreibt dafür

B = A−1 .

Wenn A nicht invertierbar ist, so heiÿt A singulär.

Was immer A bewirkt, wird von A−1 rückgängig gemacht. Nicht alle Matrizen haben eine
Inverse. A besitzt eine Inverse genau dann, wenn die assoziierte lineare Abbildung bijektiv
ist, also genau dann, wenn

Rang(A) = n und Kern(A) = {0} .


Nach Satz 8.2.4 gilt dies genau dann, wenn

Kern(A) = {0} .
Damit ist bewiesen:

Satz 8.5.2
Eine (n × n)-Matrix A ist nichtsingulär genau dann, wenn Kern(A) = {0}.

Bemerkung. Wenn A invertierbar ist, dann ist

Ax = b
äquivalent zu

x = A−1 A x = A−1 b.
Allerdings löst man ein lineares System so gut wie nie durch diese Vorgehensweise!

Beispiele.

O1 Eine Diagonalmatrix
 
d1 0 ... 0
.. ..
0 d2 . .
 
A=.

.. ..

 .. . . 0
0 ... 0 dn
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 205

ist genau dann invertierbar, wenn keines der Diagonalelemente Null ist. Dann ist
1 
d1
0 ... 0
0 1
d2
... 0
A−1 =  . ..  .
 
.. ..
 .. . . . 
1
0 ... 0 dn

O2 Eine 2 × 2-Matrix
 
a b
A=
c d

ist genau dann invertierbar, wenn ad − bc ̸= 0 ist. Dann ist


 
1 d −b
A−1 = .
ad − bc −c a

O3 Wenn A und B invertierbar sind, so ist AB invertierbar und es gilt

(A B)−1 = B −1 A−1 ,

denn

B −1 A−1 A B = B −1 (A−1 A)B


= B −1 I B
= B −1 B
= I.

(Wenn man zuerst Socken und dann Schuhe anzieht, dann muss man zuerst die Schuhe
wieder ausziehen.)

Es ist fast immer unpraktisch, die Inverse zu berechnen! Allerdings schauen wir uns an,
wie man die Inverse durch das sogenannte Gauÿ-Jordan-Eliminationsverfahren berechnen
kann. Man möchte die Gleichung

A A−1 = I

spaltenweise lösen. Als Beispiel betrachten wir eine 3 × 3-Matrix A und wir bezeichnen die
−1
Spalten der gesuchten Matrix A mit

A−1 = x1 x2 x3 .


Man möchte

A A−1 = A x1 x2 x3 = e1 e2 e3
 

lösen - also muss man drei Gleichungssysteme lösen. Um eine n × n-Matrix zu invertieren,
muss man n Gleichungssysteme lösen!
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 206

Als konkretes Beispiel betrachten wir


 
2 −1 0
A = −1 2 −1 .
0 −1 2
Im Gauÿ-Jordan-Verfahren bearbeitet man die erweiterte Matrix, bis die ursprüngliche Matrix
A in die Einheitsmatrix verändert wird. Aus der erweiterten Matrix

 
2 −1 0 1 0 0
−1 2 −1 0 1 0 

0 −1 2 0 0 1
erhalten wir die obere Dreiecksmatrix
 
2 −1 0 1 0 0
0 32 −1 21 1 0  ,
 

4 1 2
0 0 3 3 3
1

und dann gehen wir weiter:


 
2 −1 0 1 0 0
3 3
R2 → R3 + R2 0 0 34 32 43 
 
4 2
0 0 34 13 23 1
 
2 0 0 32 1 21
2 3
R1 → R2 + R1 0 0 34 32 43 
 
3 2
0 0 34 13 23 1
 
1 0 0 43 12 14
1 2 3
R1 → R1 , R2 → R2 , R3 → R3 0 1 0 21 1 12  .
 
2 3 4 1 1 3
0 0 1 4 2 4
| {z }
A−1

8.6 LU-Zerlegung
Eine praktischere Alternative zur Lösung eines linearen Systems durch Berechnung der
Inversen ist, die LU-Zerlegung anzuwenden. Die LU-Zerlegung einer Matrix ist die Zerlegung
in

A = L U, (8.6.1)

wobei L eine untere Dreiecksmatrix mit Einsen auf der Diagonalen und U eine obere Dreiecks-
matrix ist. Der Vorteil der Zerlegung ist, dass Gleichungssysteme mit Dreiecksmatrizen leicht
zu lösen sind. (Man benutzt Vorwärts- oder Rückwärtselimination.) Sei das Problem

Ax = b (8.6.2)
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 207

gegeben. Angenommen man hat eine LU-Zerlegung von A wie in (8.6.1), dann schreibt man
(8.6.2) als

L( U x ) = b.
|{z}
y

Man löst

Ly = b
nach y und anschlieÿend

Ux=y
nach x auf.
Um die LU-Zerlegung genauer anzuschauen, schreiben wir das Gauÿsche Eliminationsverfahren
m×n
als Matrix-Produkt. Der erste Schritt des Algorithmus für A ∈ R , wenn a11 (das sogenannte
Pivotelement) nicht verschwindet, ist

aj1
Rj → Rj − R1 für j = 2, ..., m.
a11
Das heiÿt, man berechnet

M 1 A x = M 1 b,
wobei
 
1 0 0
 − a21 1 
 a11 
 
M 1 =  − aa31 0 1
 
11

 

 0 

− aam1
11
0 0 1

eine sogenannte Eliminationsmatrix ist. Glücklicherweise ist die Inverse von M 1 leicht abzulesen:
 
1 0 0
a21

 a11
1 

 
a31
M −1 = 0 1 .
 
1 a11
 

 0 

am1
a11
0 0 1

Durch solche Eliminationsmatrizen (wenn das Pivotelement in jedem Schritt von Null verschieden
ist) berechnet man

M n−1 ...M 1 A x = M n−1 ...M 1 b,


| {z } | {z }
=: U =:b̃
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 208

wobei U eine obere Dreiecksmatrix ist. Es folgt

A = (M n−1 ...M 1 )−1 U = M −1


1
...M −1 U,
| {z n−1}
=:L

wobei L eine untere Dreiecksmatrix mit Einsen auf der Diagonalen ist.
Im allgemeinen Fall, wenn a11 oder ein anderes Pivotelement (M j−1 ...M 1 A)jj verschwindet,

muss man Zeilen vertauschen. Dies tut man mittels einer Permutationsmatrix.

Denition 8.6.1
Eine (n×n)-Permutationsmatrix enthält die n Zeilen von I in einer beliebigen Reihenfolge.

Beispiel. Sei
 
0 1
A= .
1 1
   
0 1 1 1
Für P = ist PA= .
1 0 0 1
Im Allgemeinen entfernt man triviale Pivotelemente durch Permutationsmatrizen und
man erhält eine Matrix

M = M n−1 P n−1 ...M 1 P 1 .

Obwohl diese keine Dreiecksmatrix ist, kann man M trotzdem leicht invertieren. Man kann
auch die Permutationen umordnen, so dass man im Allgemeinen eine Zerlegung

P A = LU

nden kann. Dies geben wir ohne Beweis an.

Satz 8.6.2
Jede (n × n)-Matrix A besitzt eine Zerlegung

P A = LU ,

wobei L eine untere Dreiecksmatrix mit Einsen auf der Diagonalen, U eine obere Dreiecks-
matrix, und P eine Permutationsmatrix ist. A ist singulär genau dann, wenn U eine Null
auf der Hauptdiagonalen hat.

8.7 Determinanten
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 209

Denition 8.7.1
Es sei
A = (aij )i=1,...,m
j=1,...,n

eine (m × n)-Matrix. Dann ist die zu A transponierte Matrix AT die (n × m)-Matrix

AT = (aji ) j=1,...,n .
i=1,...,m

Wir werden manchmal verwenden:

Lemma 8.7.2. Es gilt


(AB)T = B T AT .

Denition 8.7.3
Die Determinante det ist eine Funktion von n Rn -Vektoren nach R, die die folgenden
Eigenschaften erfüllt:

(i) det(a1 , ..., an ) = 0, wenn ai = aj für ein Indexpaar i ̸= j .

(ii) det(a1 , ..., an ) ist multilinear im folgenden Sinne: Für jeden Index i und beliebige
Rn -Vektoren aj , j ̸= i, ist die folgende Abbildung linear:

ai 7→ det(a1 , . . . , ai , . . . , an ).

(iii) det(e1 , . . . , en ) = 1, wobei ei der i-te Standardbasisvektor ist.



Für eine n×n Matrix A = a1 , . . . , a n denieren wir die Determinante der Matrix als

det(A) := det(a1 , ..., an ),

d.h., als die Determinante der Spaltenvektoren.

Zusammenfassung (ohne Beweis) von Bedeutungen/Anwendungen:

(1) det(A) ist gleich dem (orientierten) Volumen des Parallelepipeds, das von a1 , ..., an
n
aufgespannt ist. (Wichtig für HM III und Integrale in R !)

(2) A ist singulär ⇔ det(A) = 0. (Diese Eigenschaft benutzt man, um Eigenwerte zu


berechnen.)

(3) det(A) kann benutzt werden, um Lösungen von

Ax = b
zu nden. Dies schauen wir uns unten im Satz 8.7.6 an.

Aus den Eigenschaften (i) -(iii) schlieÿt man Folgendes:


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 210

Satz 8.7.4: Eigenschaften der Determinante


Es gilt:

(iv) Wenn à aus A konstruiert wird, indem ai und aj miteinander vertauscht werden,
dann ist
det(Ã) = − det(A).

(v) n Vektoren a1 , . . . , an ∈ Rn sind linear abhängig genau dann, wenn

det(a1 , . . . , an ) = 0.

(vi) Wenn à aus A konstruiert wird, indem ãi = ai + αaj für j ̸= i, α ∈ R, dann gilt

det(A) = det(Ã).

(vii) Wenn A eine Dreiecksmatrix ist, dann ist det(A) gleich dem Produkt der Diagonal-
elemente.

(viii) Es gilt

det(A) = det(AT ), (8.7.1)

det(AB) = det(A) det(B),


1
det(A−1 ) = , wenn A nichtsingulär ist.
det(A)

(ix) Es gibt höchstens eine Abbildung, die die Eigenschaften aus Denition 8.7.3 erfüllt.

(x) Für A ∈ Rn×n und t∈R gilt

det(tA) = tn det(A).

Beweis. zu (iv) : Sei ak fest für alle k auÿer i und j. Wir setzen b := ai , c := aj und

d(b, c) = det(A), d(c, b) = det(Ã).

Man bemerkt

det(A) = d(b, c) = d(b, c) + d(b, b)


= d(b, b + c) = d(b, b + c) − d(b + c, b + c)
= d(−c, b + c)
= −d(c, b) − d(c, c)
= −d(c, b) = − det(Ã).
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 211

zu (v) : (⇒): Wenn a1 , ..., an linear abhängig sind, dann gibt es einen Vektor aj , der
als Linearkombination der anderen geschrieben werden kann: Ohne Beschränkung der
Allgemeinheit nehmen wir an, dass j = 1, so dass

a1 = c2 a2 + ... + cn an .

Dann ist

det(a1 , ..., an ) = det(c2 a2 + ... + cn an , a2 , ..., an )


= c2 det(a2 , a2 , ..., an ) + ... + cn det(an , a2 , ..., an )
= 0.

(⇐): Folgt aus der LU-Zerlegung (insb. Satz 8.6.2) und (vii) , (viii) weil det(A) = 0 ⇒
T
Kern(A) ̸= {0} ⇒ es existiert x ̸= 0, so dass A x = 0 ⇒ a1 , ..., an sind linear
abhängig.
zu (vi) : folgt aus (i) und (ii) .
zu (vii) :Wenn ein Diagonalelement gleich Null ist, dann ist det(A) = 0. Wenn nicht,
dann benutzt man Elimination, um A in Diagonalform zu bringen. Dann benutzt man
(vi) und

det(D) = d11 · ... · dnn det(I)


| {z }
=1

für jede Diagonalmatrix D.


zu (viii) : Hier benutzt man wieder Gauÿ-Jordansche Elimination und/oder die LU-
Zerlegung. (Übung)
zu (ix) : Angenommen, es gäbe zwei solche Abbildungen D1 und D2 . Wir müssen
zeigen, dass

D1 (A) = D2 (A) für alle nichtsinguläre A ∈ Rn×n .

Man erhält aus der LU-Zerlegung U −1 L−1 P A = I , dass

D1 (U −1 L−1 P A) = D2 (U −1 L−1 P A).

Aus (viii) gilt

D1 (U −1 )D1 (L−1 )D1 (P )D1 (A) = D2 (U −1 )D2 (L−1 )D2 (P )D2 (A).

Aus (viii) , (vii) und (iv) gilt

1
D1 (U −1 ) = D2 (U −1 ) = ,
u11 · ... · unn
D1 (L−1 ) = D2 (L−1 ) = 1,
D1 (P ) = D2 (P ) = ±1.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 212

Also folgt

D1 (A) = D2 (A),

wie gewünscht.
zu (x) : Folgt aus Multilinearität.

Um Determinanten zu berechnen, benutzt man oft die folgende Rekursionsformel.

Satz 8.7.5: Formel zur Berechnung der Determinante


Für n≥2 und jedes i ∈ {1, . . . , n} gilt

n
X
det(A) = aij Cij , (8.7.2)
j=1

wobei die Kofaktoren Cij gegeben sind durch

Cij = (−1)i+j det(A′ij ) (8.7.3)

mit der Matrix A′ij , die wir aus A bekommen, wenn wir die i-te Reihe und j -te Spalte

eliminieren.

Man nennt (8.7.2) die Entwicklung der Determinante nach der i-ten Reihe. Angesichts (8.7.1)
kann man auch die Determinante einer Matrix durch die Entwicklung nach der i-ten Spalte
berechnen:

n
X
det(A) = aji Cji für jedes i ∈ {1, . . . , n}. (8.7.4)
j=1

Beispiel.
 
2 −1 0 0
−1 2 −1 0 
A4 = 
 0 −1 2 −1 .

0 0 −1 2

Wir betrachten eine 4×4-Matrix mit 2 auf der Hauptdiagonalen und −1 auf der Nebendiagonalen.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 213

|A| für det(A)):


Wir entwickeln nach der ersten Zeile (und benutzen die Notation


   
2 −1 0 −1 −1 0


|A4 | = 2 · −1 2 −1 − (−1) ·  0 2 −1 + 0 + 0

0 −1 2 0 −1 2

| {z }
=:A

3


 
2 −1

= 2|A3 | + (−1)
−1 2

| {z }
=:A

2

= 2|A3 | − |A2 |.
Man berechnet det(A3 ) = 4 und det(A2 ) = 3, so dass

det(A4 ) = 2 · 4 − 3 = 5.
Für solche  −1 2 − 1-Matrizen erhält man im Allgemeinen

det(An ) = 2 det(An−1 ) − det(An−2 )


= n + 1.
Beispiel.
 
3 4 5 6
−1 0 1 0
det 
1
 = d.
2 2 2
2 6 8 6
Wir ersetzen Spalte 1 durch Spalte 1+ Spalte 3 und erhalten
 
8 4 5 6
0 0 1 0
d = det 
3

2 2 2
10 6 8 6
 
8 4 6
= (−1)2+3 det  3 2 2 .
10 6 6
Jetzt ersetzen wir R1 → R1 − 3 · R2 und R3 → R3 − 3 · R2 (warum dürfen wir das machen?)
und erhalten
 
−1 −2 0
d = − det  3 2 2
1 0 0
 
3+1 −2 0
= −(−1) det
2 2
= 4.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 214

Man kann die Determinante benutzen, um die Lösung eines linearen Gleichungssystems
zu berechnen.

Satz 8.7.6: Cramersche Regel


Sei A ∈ Rn×n und det(A) ̸= 0. Die Lösung von

Ax = b

ist gegeben durch


det(Bi )
xi = ,
det(A)
wobei Bi die Matrix ist, die man erhält, wenn man die i-te Spalte von A durch b ersetzt:

. . . . . .
 
. . . . . .
. . . . . .
Bi = A1 A2 . . . Ai−1 b Ai+1 . . . An  .
 
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .

Hier bezeichnet Aj die j -te Spalte von A.

Beispiel. Benutzen Sie die Cramersche Regel um das folgende System zu lösen:

x1 − x2 + x 3 = 0
x1 + x2 − 2x3 = 1
x1 + 2x2 + x3 = 6.
In diesem Beispiel ist
       
1 −1 1 0 −1 1 1 0 1 1 −1 0
A = 1 1 −2 , B 1 = 1 1 −2 , B 2 = 1 1 −2 , B 3 = 1 1 1 .
1 2 1 6 2 1 1 6 1 1 2 6
Also erhält man det(A) = 9, det(B 1 ) = 9, det(B 2 ) = 18, det(B 3 ) = 9 und, nach der
Cramerschen Regel, gilt

x1 = 1, x2 = 2, x3 = 1.
Man überprüft, dass dies in der Tat eine (die!) Lösung des Gleichungssystems ist.

Wo kommt die Cramersche Regel her? Zunächst erinnern wir an die Formel der Matrixinverse
einer nicht singulären 2 × 2 Matrix. Für
   
a b −1 1 d −b
A= ist A = ,
c d ad − bc −c a
wenn ad − bc ̸= 0. Also gilt
 
−1 1 d −b
A = , (8.7.5)
det(A) −c a
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 215

und die Matrix auf der rechten Seite ist genau die Matrix der Kofaktoren (cf. (8.7.3)) von
A:

d = C11 , −b = C21 , −c = C12 , a = C22 .

Das heiÿt, wir können (8.7.5) in der Form


 
−1 1 C11 C21 1
A = = CT
det(A) C12 C22 det(A)

schreiben, wobei C die Matrix der Kofaktoren ist:

C = (cij ).

Diese Bemerkung liegt der Cramerschen Regel zugrunde.

Beweis vom Satz 8.7.6. Die Formel

1
A−1 = CT (8.7.6)
det(A)

gilt im Allgemeinen für eine nicht singuläre n×n Matrix A. Dies erkennt man, indem
man das Matrixprodukt

  
a11 . . . a1n C11 . . . Cn1
. .. . . .. .
Y = A CT =  . . . .
  
. . .  . . . 
an1 . . . ann C1n . . . Cnn

betrachtet. Man bemerkt, dass

y11 = a11 C11 + a12 C12 + . . . + a1n C1n = det(A),

gilt, weil es die Entwicklung der Determinanten bzgl. der ersten Reihe ist. Analog ist

yjj = aj1 Cj1 + aj2 Cj2 + . . . + ajn Cjn = det(A),

weil es die Entwicklung der Determinanten bzgl. der j-ten Reihe ist. Auÿerdem bemerkt
man, dass

y12 = a11 C21 + a12 C22 + . . . + a1n C2n = 0

gilt, weil es die Entwicklung der Determinanten von

 
a11 . . . a1n
 a11 . . . a1n 
 
 a31 . . . a3n 
 
 .. . 
. 
 . .
an1 . . . ann
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 216

bzgl. der zweiten Reihe ist, und analog, dass yij = 0 für jedes i ̸= j , so dass (8.7.6)
tatsächlich gilt. Der Satz ist bewiesen, wenn man die Lösung des Gleichungssystems als

(8.7.6) 1
x = A−1 b = CT b
det(A)

schreibt, und (C T b)i als die Determinante der Matrix Bi (die in der Aussage vom Satz
8.7.6 deniert wurde) erkennt.

8.8 Weitere Aufgaben in LA


O1 Finden Sie Bedingungen an a, b ∈ R, so dass
     
1 1 0
v1 = 2
  v 2 = a
 v 3 = 2

1 3 b
linear unabhängig sind.

O2 Sei {v1 , v2 , v3 } eine Menge von nicht trivialen Vektoren


i ̸= j . Zeigen Sie, dass die Menge linear unabhängig ist.
in Rm , so dass vi T vj = 0 für

O3 Wenn
ist
A und B n × n zwei Matrizen sind, wobei A nichtsingulär ist und A B = 0, dann
B = 0.
O4 Finden Sie den Kern von
 
1 2 1 3
A = 2 4 3 1 .
3 6 6 2

O5 Finden Sie die Lösungsmengen:

(a)

x2 + x3 − x4 = 0
x1 − x2 + 3x3 − x4 = −2
x1 + x2 + x3 + x4 = 2.
(b)

x1 − 2x2 + x3 = 2
2x1 + x2 − x3 = 1
−3x1 + x2 − 2x3 = −5.
(c)

x1 − x2 − x3 = 1
x 1 + x3 = 2
x2 + 2x3 = 3.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 217

(d)

x1 + x2 + x3 + 4x4 = 4
2x1 + 3x2 + 4x3 + 9x4 = 16
−2x1 + 3x3 − 7x4 = 11.

O6 Finden Sie ein kubisches Polynom p(x) = a + bx + cx2 + dx3 , so dass

p(1) = 5, p′ (1) = 5, p(2) = 17, p′ (2) = 21.

O7 Finden Sie die Matrixinverse zu

(a)

 
1 0 0
 0 1
 

 

 −2 

A=
 4 0 

0
 
 
 
 0 
0 0 0 0 1

(b)

 
2 1 1
B =  4 −6 0
−2 7 2

O8 Betrachten Sie das System

    
1 2 0 x 3
2 1 0   y  =  b  .
3 1 a z c

Für welche a, b, c ∈ R besitzt das System (i) eine Lösung, (ii) genau eine Lösung, (iii)
eine nicht leere Lösungsmenge, die ein Vektorraum ist?

O9 Betrachten Sie das System

    
a 1 1 x b
1 a 1 y  =  c 
1 1 1 z 2

(a) Für welche a, b, c ∈ R besitzt das System genau eine Lösung?

(b) Für die Werte von a, b, c, für die das System eine nicht eindeutig denierte Lösung
besitzt, beschreiben Sie die Lösungsmenge.
Kapitel 9
Klausur
Am Ende des Semesters schreiben Sie die HM I Klausur. Sie ist anders als eine Klassenarbeit
aus der Schule und anders als die Übungsaufgaben. Wir sammeln hier ein paar übliche Fragen
und Antworten über die Klausur.

1. Sind die Übungsaufgaben auf dem Niveau der Klausur?

Das Niveau der Aufgaben (A-, B- und Z-Teil) ist im Allgemeinen mit dem Niveau
der Klausur vergleichbar. Es gibt aber ein paar Unterschiede. Einige Übungsaufgaben
sind so gewählt, dass Sie gewisse Rechentechniken und Herangehensweisen durch die
Aufgabe gut trainieren. Manchmal sind die Aufgaben vom Umfang länger oder man
braucht für die Lösung eine neue/kreative Idee. Manche sind gewählt, damit wir später
in der Vorlesung auf dem Sto aufbauen können.

Klausuraufgaben unterscheiden sich zu Übungsaufgaben folgendermaÿen. Sie sollen uns


vor allem einen Überblick über Ihre Kenntnisse und Fähigkeiten geben. Oft verbinden
sie Sto aus mehreren Abschnitten miteinander. Klausuraufgaben können auf Grund
der zeitlichen Einschränkung während der Prüfung keinen langen Umfang haben und
in der Regel braucht man keine neuen/kreativen Ideen; viel wahrscheinlicher ist es,
dass Sie einen Trick oder eine Methode aus dem Skript oder aus den Übungsaufgaben
verwenden sollen. In diesem Kapitel geben wir Ihnen ein paar klausurähnliche Aufgaben.
Sie sind Beispiele, die die Art und den Umfang einer Klausuraufgabe andeuten. Eine
SEHR GUTE Methode sich auf die Klausur vorzubereiten ist es, sich selbst klausurähnliche
Aufgaben auszudenken. Falls Sie uns Beispiele zeigen möchten, mit der Frage, ob Sie
ungefähr richtig liegen, können Sie sie uns gerne mitteilen.

2. Reicht es für die Klausur aus, wenn ich die Übungsaufgaben lösen kann?

NEIN. Wenn dies hinreichend wäre, könnten wir Ihnen einfach zu Beginn des Semesters
alle Übungsblätter zur Verfügung stellen. Trotzdem ist das Lösen der Übungsaufgaben
ein wichtiger Bestandteil zur Klausurvorbereitung. Wenn Sie also groÿe Schwierigkeiten
mit den Aufgaben haben, ist dies ein schlechtes Zeichen für die Klausur. Im Abschnitt
(c) und (d) nden Sie ein paar Ratschläge, was Sie in diesem Fall tun können. Wenn
Sie mit den Aufgaben gut klarkommen, ist dies schon mal eine gute Voraussetzung
für die Prüfung. ABER Sie müssen berücksichtigen, dass die Übungsaufgaben nur eine
beliebige Auswahl aller möglichen Aufgaben sind. Wir können vorbereitend nicht eine
Aufgabe zu jedem Teil der Vorlesung stellen. Selbst wenn wir das könnten, wäre dies
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 219

nicht der Punkt: In einer Prüfung zeigt man, dass man den Sto der Veranstaltung
gelernt und verstanden hat, indem man neue Aufgaben (mit bekannten Methoden und
Werkzeugen) bearbeiten kann. Nur die Musterlösungen zu den Übungen durchzugehen
ist keine gute Vorbereitungsmethode; man kann Mathematik nicht durchs Lesen alleine
lernen.

Sie werden den Sto von HMI meistern, in dem Sie aktives Lesen/Zuhören üben.
Dies bedeutet, dass Sie das Skript lesen und die Videos anschauen und dabei aktiv
mitdenken. Jedes Mal, wenn Sie etwas neues lesen/hören, stellen Sie sich Fragen, um
zu klären, ob Sie die Inhalte tatsächlich verstanden haben. Wenn eine Übung/Frage
gestellt wird, dann lösen Sie sie oder stellen Sie mindestens fest, dass Sie wissen, wie Sie
sie lösen würden. Wenn es für Sie NICHT klar ist, dann besprechen Sie den Punkt mit
Ihren Kommiliton:innen, mit den Tutor:innen, im Forum, oder im interaktiven Skript
oder besuchen Sie uns in der contact hour.

Wenn wir die Klausur erstellen, dann gehen wir davon aus, dass Sie sowohl die gestellten
Übungsaufgaben und eTest-Fragen als AUCH den Sto der Vorlesung (bzw. des Skriptes)
gemeistert haben.

3. Wie bereite ich mich auf der Klausur vor? Oder: Wie kann ich mir sicher sein, dass
ich die Klausur bestehen werde?

Lösen Sie die Übungsaufgaben und eTest-Fragen während des gesamten Semesters.
Lesen Sie das Skript und schauen Sie die Videos aktiv. Sprechen Sie mit Ihren Kommil-
iton:innen über die Aufgaben und über den Sto der Vorlesung. Tauschen Sie sich
mit den Tutoren der Kleingruppenübungen aus. Auch wenn Sie denken, Sie kommen
alleine mit dem Sto klar, werden Sie ein viel tieferes Verständnis entwickeln, wenn
Sie regelmäÿig über den Sto reden. Stellen Sie sich selber Fragen zu jedem Thema
der Vorlesung und beantworten Sie sich diese. Holen Sie Feedback zu Ihren Lösungen,
durch die Korrektur, im Austausch mit den Tutoren oder besuchen Sie uns in der
contact hour.

Haben Sie bemerkt, dass wir keine Denitionen oder Theoreme in den Übungsblättern
abfragen (weil das nicht zielführend wäre), aber in der Klausur erwarten, dass Sie die
Denitionen und Resultate kennen und wiedergeben können!? Das bedeutet allerdings
nicht, dass wir in der Klausur fragen, Was war Satz 1.4.2?. Stattdessen wäre eine
mögliche Frage, Geben Sie die Dreiecksungleichung für reelle Zahlen an und geben Sie
einen Beweis dafür.

Mathematik lernt man, in den man übt. Man bearbeitet neue Aufgaben. Manchmal
sitzt man (länger) vor einem leeren Blatt und weiÿ nicht, wie man anfangen soll.
Man macht sich eine Skizze, um eine erste Idee zu entwickeln. Man schreibt sich
auf, was man gegeben hat und was man zeigen möchte. Und dann versucht man
irgendetwas. Es funktioniert nicht. Man fängt neu an. Man freut sich, eine Lösung
gefunden zu haben. Später entdeckt man eine Lücke im Beweis. Man füllt die Lücke.
Versuchen und nochmals versuchen. Wenn Sie während des Semesters viele dieser
Herausforderungen gemeistert haben, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass Sie
in der Klausur erfolgreich sein werden.

Mathematik lernt man wie ein Lied. Erst hört man zu. Dann versucht man selber
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 220

zu singen. Dann wiederholt man den Text, bis man das Lied auswendig gelernt hat.
Gehen Sie zurück zum ersten Kapitel. Kennen Sie das Lied noch? Sehen Sie, wie die
Strophen zusammenhängen? Als wir mit C gearbeitet haben, konnten wir Ergebnisse,
die wir für R gezeigt haben, übertragen. Ähnlich ist es, wenn wir uns die allgemeine
Konvergenz von Folgen anschauen. Wir werden die Beweismethodiken, die wir für
Nullfolgen gemacht haben, übertragen können. Mathematik ist Struktur. Struktur
erkennen, untersuchen und ausnutzen.

4. Ich nde den Sto schwierig; was kann ich tun?

Falls Sie keine Lerngruppe haben, dann nden Sie eine. Falls Sie dabei Hilfe benötigen,
dann können wir Ihnen helfen. Kommunikation über die groÿen Ideen und kleinen
Details der Vorlesung ist essentiell. Falls Sie schon eine Lerngruppe haben, es Ihnen
aber nicht sehr hilft, sich dort auszutauschen, dann schauen Sie, ob eine andere Gruppe
für Sie hilfreicher ist. Besuchen Sie die contact hour und sprechen mit anderen Kommil-
iton:innen oder tauschen Sie sich in den Kleingruppenübungen mit dem Tutor, der
Tutorin oder untereinander aus. Jedes Gespräch bringt etwas.

Versuchen Sie insbesondere Ihre Fragen zu formulieren und bringen Sie diese mit in
die Kleingruppenübungen oder in die contact hour. Falls Sie keine konkreten Fragen
formulieren können, kommen Sie trotzdem und fragen Sie, Können Sie mir helfen,
XYZ besser zu verstehen? Das ganze HöMa Team ist daran interessiert, Ihnen zu
helfen, erfolgreich zu werden.

Manchmal helfen zusätzliche Internet-Videos oder eine private Nachhilfe. Jedoch ist das
HöMa Team genau auf dieser Vorlesung (und auf die zukünftige Klausur) spezialisiert.

Falls Sie Lücken in Ihrem Hintergrundswissen haben oder Schwierigkeiten mit dem
Sto vom Anfang des Semesters haben, werden Sie aktiv! Kommen Sie zu uns oder
suchen Sie sich die Hilfe, die Sie brauchen. Je früher man aktiv wird, desto gröÿer ist die
Wahrscheinlichkeit, dass man Probleme lösen/vermeiden kann. Wenn man Schwierig-
keiten nicht als solche anerkennt, hat man meist später ernste Probleme.

5. Ist in der Klausur ein Formelblatt erlaubt?

Sie dürfen kein eigenes Formelblatt, keinen Taschenrechner und keine sonstigen Hilfsmittel
zur Klausur mitbringen. Es wird ein von uns erstelltes Formelblatt geben; siehe unten
für ein solches Beispiel. Falls Sie während des Semesters Formeln haben, die Sie gerne
auf das Formelblatt aufnehmen möchten, können Sie diese gerne im Forum Feedback
und Ergänzungswünsche melden. Eben WEIL es kein selbst erstelltes Formelblatt
geben wird, ist es sehr wichtig, dass Sie vor allem während des Semesters versuchen
auch die Übungen ohne Hilfsmittel zu lösen.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 221

9.1 Struktur der Klausur und Beispielaufgaben


Es gibt zwei Teile.

Teil I

In diesem Teil sind die Aufgaben 2 Punkte wert. Für die richtig/falsch Fragen ist bei einer
richtigen Aussage keine Begründung verlangt und wird auch nicht bewertet; im Falle einer
falschen Aussage geben Sie ein passendes Gegenbeispiel bzw. eine kurze Begründung an.

Frage Antwort


Richtig oder falsch: Für alle a, b > 0 gilt ab ≤ 21 (a + b).

Zeichnen Sie den Graphen einer Funktion f : [0, 1] → [0, 1], die weder injektiv
noch surjektiv ist.

Richtig oder falsch: Für alle x > −1 und n∈N gilt (1 + x)n ≤ 1 + nx.

Richtig oder falsch: Für jede nichtleere Menge M ⊂R gilt inf M ≤ sup M .

Richtig oder falsch: Jede monotone Funktion besitzt eine Umkehrfunktion auf
ihrem Wertebereich.

Richtig oder falsch: Wenn f eine surjektive Funktion ist, dann ist f injektiv.

TEIL II

Im zweiten Teil bekommen Sie 4 Aufgaben, die ungefähr 20 Punkte wert sind. Sie müssen
ihre Lösungen begründen. Wir geben hier zwei Beispiele an.

1. (a) Geben Sie die Denition des Supremums einer Menge A⊆R an.

(b) Formulieren Sie die Approximationseigenschaft des Supremums.

(c) Beweisen Sie den Satz aus (b).

(d) Finden Sie das Supremum jeder der folgenden Mengen:

(i) A = {x ∈ R : (x − 2)2 − 1 < x − 1},


(ii) B = {x ∈ R : |x − 4| ≥ 6},
(iii) C = {n ∈ N : 2n < 3n + 1}.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 222

2. Es sei die Funktion f :R→R gegeben durch f (x) := x3 − 4x2 + x + 6.

(a) Ist f gerade, ungerade oder keines von beiden?

(b) Zeigen Sie, dass f in x = −1 eine Nullstelle besitzt.

(c) Schreiben Sie f als Produkt von drei reellen Linearfaktoren.

(d) Kann jedes Polynom dritten Grades als Produkt von drei reellen Linearfaktoren
geschrieben werden? Wenn ja, begründen Sie warum. Wenn nicht, dann geben Sie
ein geeignetes Gegenbeispiel an.

(e) Finden Sie das gröÿte Teilintervall von (−∞, 5), auf dem p(x) := x2 − x − 2
invertierbar ist und geben Sie die Umkehrfunktion, ihren Denitionsbereich und
ihren Wertebereich an.

Ein paar Bemerkungen:

1. Bemerken Sie, dass in 1(d) Punkte für die Begründung gegeben werden. Wenn Sie
keine Begründung schreiben, bekommen Sie diese Punkte nicht.

2. Bemerken Sie, dass in 2(a), Sie die Denitionen von gerade und ungerade angeben
müssen, um die Frage zu beantworten, obwohl nicht explizit danach gefragt wurde.

9.2 Weitere Klausurähnlichefragen


HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 223

9.3 Formelblatt
Beispielhafte Formelsammlung.

1. Identitäten:

sin2 (x) + cos2 (x) = 1, tan2 (x) + 1 = sec2 (x), cot2 (x) + 1 = csc2 (x)

2. Additionstheoreme:

sin(a + b) = sin(a) cos(b) + cos(a) sin(b)


cos(a + b) = cos(a) cos(b) − sin(a) sin(b)
tan(a) + tan(b)
tan(a + b) =
1 − tan(a) tan(b)

3. Doppelwinkel:

2 tan(θ)
sin(2θ) = 2 sin(θ) cos(θ), cos(2θ) = 1 − 2 sin2 (θ), tan(2θ) =
1 − tan2 (θ)

4. Halbwinkel:
1 − cos(2θ) 1 + cos(2θ)
sin2 (θ) = , cos2 (θ) =
2 2
5. Sekans und Kosekans:

1 1
sec(θ) := , csc(θ) :=
cos(θ) sin(θ)

6. Euklidische Norm: Für x = (x1 , x2 , . . . , xn ) ist


v
u n
uX
∥x∥ = t x2i
i=1

7. Cauchy-Schwarz'sche Ungleichung:

n v n
v
u n
X u X uX
u 2
xi y i ≤ t xi t yi2



i=1 i=1 i=1

8. Binomische Formeln:

n   n
n
X n n−k k n+1
X
(x + y) = x y , (x − y) = (x − y) ak bn−k
k
k=0 k=0
Appendices
Anhang A
Notation

x∈A x ist ein Element von A


x∈
/A x ist kein Element von A
A⊆B A ist eine Teilmenge von B
Jedes Element von A ist auch in B
A⊊B A ist eine echte Teilmenge von B
wie ⊆ und B enthält Elemente, die A nicht enthält
A oder B muss nicht zwangsläug ausschlieÿend sein,
das heiÿt, es kann beides gleichzeitig gültig sein.
Entweder oder ist immer ausschlieÿend.
x:x<1 x so dass die Bedingung x < 1 nach dem : gilt
statt : kann man auch | verwenden
(a, b) Alle Zahlen zwischen a und b ohne a und b
bspw. (0, 1) enthält Zahlen, die beliebig dicht an 0 oder 1 sind,
aber nicht 0 und 1
[a, b] Alle Zahlen zwischen a und b mit a und b
also ist [0, 1] wie (0, 1) mit 0 und 1.
R+ Alle positiven reellen Zahlen
+
R = {x ∈ R : x > 0}
genau dann, wenn Die Aussage gilt in beide Richtungen
x Bezeichnet den Vektor ⃗x
A Bezeichnet die Matrix A
(x, y) bezeichnet das Skalarprodukt der Vektoren ⃗x und ⃗y
g◦f g verkettet mit f
g(f (·))
⌊x⌋ Abrundungsklammern,
x wird auf eine natürliche Zahl abgerundet (oor)
⌈x⌉ Aufrundungsklammern,
x wird auf eine natürliche Zahl aufgerundet (ceiling)
f :X→Y f bildet X auf eine Teilmenge von Y ab
o.B.d.A. ohne Beschränkung der Allgemeinheit
Anhang B
Ausgewählte Lösungen zu den Übungen

B.1 Die reellen Zahlen


B.1.1 Eine axiomatische Beschreibung der reellen Zahlen
Beweis von Satz 1.2.3 (i). Der Beweis für (i) ist analog zu dem für (ii):
Schritt 1: Hier zeigen wir, dass es mindestens eine Zahl x gibt, so dass

a + x = b. (B.1.1)

Der natürliche Kandidat ist x := −a + b. Wir rechnen

a+x = a + (−a + b)
(A2)
= (a − a) + b
(A4)
= 0+b
(A1)
= b+0
(A3)
= b.

Also löst x die Gleichung (B.1.1).


Schritt 2: Hier zeigen wir, dass es maximal eine solche Zahl gibt. Angenommen, x
und x̃ sind zwei Lösungen von (B.1.1).

a + x = a + x̃
⇒ (a + x) − a = a + x̃ − a
(A1)
⇒ (x + a) − a = (x̃ + a) − a
(A2)
⇒ x + (a − a) = x̃ + (a − a)
(A4)
⇒ x + 0 = x̃ + 0
(A3)
⇒ x = x̃.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 227

B.1.2 Einige Elementare Ungleichungen


Lösung zur Übung 1.5.3. Bei 2% Wertverlust im Jahr hat man nach n Jahren mit einem
Anfangskapital von 1000 e
Satz 1.5.2
1000 · (1 − 0.02)n ≥ 1000 · (1 − n · 0.02) = 1000 − 20 · n

Unser Kapital soll auf jeden Fall nicht weniger als 500 e betragen, also immer gröÿer
gleich 500 e sein.
1000 − 20 · n ≥ 500 ⇔ n ≤ 25
Also halten wir einen jährlichen Werteverlust von 2% mindestens 25 Jahren durch.
Da nun hier das n sehr groÿ ist, können wir uns denken, dass die Approximation
keine besonders gute Approximation ist. Tatsächlich ergibt eine genaue Rechnung n≥
log(0,5)/ log(0,98) ≈ 34.

B.2 Allgemeine Konvergenz und Divergenz


Lösung zur Übung 4.2.9.
Zu (i) : Aus der Denition 4.2.1 folgt sofort, dass {an − a}∞n=1 eine Nullfolge ist, die nach
Satz 4.1.7 beschränkt ist. Das heiÿt, es existiert s und σ , so dass

σ ≤ an − a ≤ s für alle n ∈ N.

Daraus folgt die Beschränktheit:

σ + a ≤ an ≤ s + a für alle n ∈ N.

Zu (ii) : Der Beweis ist ähnlich. Nach Satz 4.1.7 ist

{α (an − a) + β (bn − b)}∞ ∞


n=1 = {αan + βbn − (αa + βb)}n=1

eine Nullfolge. Nach Denition 4.2.1 ist somit {αan + βbn }∞


n=1 konvergent mit Grenzwert
αa + βb.

Zu (iii) : Für den Grenzwert von {|an |}n=1 nutzen wir die umgekehrte Dreiecksungleichung

um zu zeigen, dass {|an | − |a|}n=1 eine Nullfolge ist. Mit der Denition dieser folgt dann
sofort die Aussage. Sei ε > 0 gegeben, so folgt aus der Vorraussetzung, dass es ein N ∈ N
gibt, so dass |an − a| < ε für alle n > N und damit ist

|an | − |a| ≤ |an − a| < ε für alle n > N.

Also ist {|an | − |a|}∞


eine Nullfolge, was zu zeigen war.
n=1
p
Für den Grenzwert von { |an |}∞
n=1 sei a ̸= 0, für a = 0 haben wir die Relation schon in p
4.1.7 gezeigt. Wie eben, sei ε>0 gegben, wir wählen N sodass |an − a| < |a| · ε für
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 228

alle n > N, was nach Vorraussetzung möglich ist. Damit ist

p p  p p 
|a n| − |a| |a n| + |a|

p |a | − |a|
= p n
p
|an | − |a| = p < ϵ.

p p
|an | + |a| |an | + |a|

p
Im letzten Schritt haben wir |an | weggestrichen, da es positiv ist. Somit wird der
Gesamtausdruck gröÿer, wenn wir einen Term aus dem Nenner wegstreichen.
Zu (iv) : Die Folge

{(an − a) · (bn − b)}∞ ∞


n=1 = {an · bn − an · b − bn · a + a · b}n=1
= {an · bn − an · b + a · b − a · b − bn · a + a · b}∞
n=1

= {an · bn + (a − an ) · b + (b − bn ) · a − a · b}n=1

ist nach Satz 4.1.7 eine Nullfolge.


Nach Denition 4.2.1 ist somit {an · bn + (a − an ) · b + (b − bn ) · a}∞
n=1 konvergent mit
Grenzwert a · b.

Da {(a − an ) · b}n=1 und {(b − bn ) · a}∞
n=1 nach Vorraussetzung mit 4.1.7 Nullfolgen sind,
folgt sofort mit (ii) die zu zeigende Eigenschaft (iv) .

Zu (v) : Nach Satz 4.1.7 ist {(an − a) · cn }n=1 eine Nullfolge, somit beschränkt. Da die

Summe zweier beschränkter Folgen beschränkt ist (was wir gleich zeigen) und {a · cn }n=1

oenbar beschränkt ist, folgt, dass {a · cn }n=1 beschränkt ist.

σd < dn < sd für alle n∈N


σe < en < se für alle n∈N

Daraus folgt sofort, dass die Folge der Summanden {dn +en }∞
n=1 durch σd +σe und sd +se
beschränkt ist.
Zu (vi) : Die Konvergenz zeigen wir wie bei den Beweisen zu (iii) . Sei ε>0 gegeben.
a2
Wir wählen N ∈ N, so dass |an − a| < min{
2
· ϵ, |a|
2
} für alle n > N

1 1 a − an a − an 2(a − an )
− =
an a a · an < a · (a − a/2) =
< ϵ.
a2

Lösung zur Übung 4.2.10. Wir setzen


n
xn := n.
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 229

Aus

(xn )n = n

folgt xn > 1 für n > 1. Also können wir xn = 1 + hn für hn > 0 schreiben. Dann ist in
der Gleichung

n = (1 + hn )n

jeder Term in der binomischen Erweiterung der rechten Seite positiv. Insbesondere gilt

 
n 2 n(n − 1) 2
n> hn = hn .
2 2

Aus

2
0 < hn <
n−1
und dem Vergleichskriterium folgt


hn → 0 und somit
n
n = 1 + hn → 1 für n → ∞.

B.3 Grenzwerte und Stetigkeit reeller Funktionen


B.3.1 Grenzwerte von Funktionen
Lösung zur Übung 5.1.5. Nach Denition 5.1.1 konvergiert die auf V denierte Funktion
g(x) genau dann gegen y0 in x0 , wenn für jede Folge {xn }∞
n=1 mit

xn ̸= x0 , xn ∈ V, lim xn = x0 (B.3.1)
n→∞

lim g(xn ) = y0 ist. Sei nun eine beliebige Folge {xn }∞


n=1 gegeben, die diese Vorraussetzung-
n→∞
en (B.3.1) erfüllt. Da f, g, h nach Vorraussetzung auf einer Umgebung V von x0 deniert
sind, f (x) ≤ g(x) ≤ h(x) für alle x aus V ist und jedes Folgenglied xn ∈ V ist, gilt

f (xn ) ≤ g(xn ) ≤ h(xn )

für alle Folgenglieder xn . Nun folgt mit der Vorraussetzung lim f (x) = lim h(x) = y0 ,
x→x0 x→x0
dass

lim f (xn ) = lim h(xn ) = y0 .


n→∞ n→∞
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 230

Nach dem Sandwichkriterium für Folgen 4.2.7 ist auch lim g(xn ) = y0 . Somit konvergiert
n→∞
g(xn ) für die gewählte Folge. Da diese beliebig war, konvergiert g(xn ) für alle Folgen mit
(B.3.1) gegen y0 .

Lösung zur Übung 5.3.11. Wir denieren f (x) := sin(1/x) − exp(−x) und bemerken,
dass sie stetig auf (0, ∞) (aber nicht auf [0, ∞)) ist. Dann suchen wir zwei Punkte,
zwischen denen wir eine Nullstelle einklammern (also, nden) können. In x = 1/π gilt

f (1/π) = sin(π) − exp(−1/π) = − exp(−1/π) < 0. (B.3.2)

Jetzt brauchen wir einen Punkt, wo die Funktion positiv ist. In 4/π berechnen wir

f (4/π) = sin(π/4) − exp(−4/π). (B.3.3)

Wir schätzen nach oben mit

1 1
exp(−4/π) < exp(−1) = <
e 2
ab. Ersetzen in (B.3.3) ergibt

1 1
f (4/π) ≥ √ − > 0. (B.3.4)
2 2
Da f auf [1/π, 4/π] stetig ist und (B.3.2), (B.3.4) erfüllt, liefert der Zwischenwertsatz
Existenz eines Punktes x∗ ∈ [1/π, 4/π] wo f (x∗ ) = 0.

B.4 Unendliche Reihen


B.4.1 Potenzreihen
Lösung zur Übung 7.4.3. Gefordert ist eine Abschätzung für

|ex − (x + 1)|

auf x ∈ (0, 21 ).
Zunächst betrachten wir das Taylorpolynom erster Ordnung von exp(·) in Punkt x0 = 0,
welches mit Denition 7.4.1 wie folgt ist:

T1 (x; 0) = 1 + x

Da die exp(·) Funktion auf R unendlich oft stetig dierenzierbar ist, was aus Beispiel
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 231

O2 aus Kapitel 6.3 sowie Übung 5.2.3 folgt, können wir Satz 7.4.2 anwenden:

ec
 
1
R1 (x; 0) = x2 mit c ∈ [0, x] und x∈ 0,
2 2

Somit ist
c
c √
e e e
|ex − (x + 1)| = 1 + x + x2 − (x + 1) = x2 < .
2 2 8

Dabei haben wir im letzten Schritt benutzt, dass die exp(·) Funktion sowie das Monom
x2 streng monoton steigend auf 0, 12 sind.


B.5 Lineare Algebra


B.5.1 Einleitung und erste Denition
Lösung zur Übung 8.1.14.

O1 Wir stellen fest, dass

   
1 1
und
1 0

nach Denition 8.1.5 linear unabhänging sind. Nach lemma 8.1.13 bilden sie eine
2 T
Basis von R . Da wir in der zu ndenen Basis den Vektor (1, 0) darstellen wollen,
ist es nur sinnvoll, mit diesem die Basis zu bilden, also

 
1
v= .
0
   
1 0
Nun ist die Darstellung von in dieser Basis einfach . Natürlich ist diese
0 1
Lösung nicht eindeutig!

O2 Wir denken wieder an die Denition 8.1.5 und suchen einen weiteren, linear unab-
hängigen Vektor. Da wir an einer möglichst einfachen Lösung interessiert sind,
T
stellen wir fest, dass mit v 3 = (1, 0, 0) die Vektoren v 1 , v 2 und v 3 linear unabhängig
sind.
T
Sei nun x = (x1 , x2 , x3 ) ∈ R gegeben. Wir suchen α1 , α2 und α3 , so dass:

     
1 3 1
x = α1 v 1 + α2 v 2 + α3 v 3 = α1 1 + α2 0 + α3 0
    
1 2 0
HMI ETech/Phys WS 2021-22 Seite 232

Die Lösung lässt sich nun leicht ablesen:


α1 = x2 , α2 = x3 −x
2
2 x −x2
und α3 = x1 − x2 − 3 3
2
= x1 + x2
2
− 23 x3 .

B.5.2 Lineare Abbildung


Lösung zur Übung 8.2.3. Dass BL ⊆ W folgt aus der Denition von Bild. Dass 0 ∈ BL
folgt aus Linearität, da

L(0) = L(0v 1 + 0v 2 ) = 0L(v 1 ) + 0L(v 2 ) = 0 für alle v 1 , v 2 ∈ V. (B.5.1)

Andererseits, wenn a, b ∈ BL , dann gibt es v1, v2 ∈ V so dass

L(v 1 ) = a, L(v 2 ) = b.

Für beliebige α, β ∈ R folgt, dass

L(αv 1 + βv 2 ) = αL(v 1 ) + βL(v 2 ) = αa + βb.

Also ist αa + βb ∈ BL . Somit haben wir gezeigt, dass BL ein Teilraum von W ist.
Jetzt wenden wir und KL zu. Analog folgt aus der Denition von Kern, dass KL ⊆ V .
Dass 0 ∈ KL folgt aus (B.5.1), oben. Schlieÿlich bemerken wir, dass fürc, d ∈ KL gilt

L(c) = 0, L(d) = 0,

und somit gilt für beliebige α, β ∈ R, dass

L(αc + βd) = αL(c) + βL(d) = α0 + β0 = 0.

Also ist αc + βd ∈ KL . Damit haben wir gezeigt, dass KL ein Teilraum von V ist.

Lösung zur Übung 8.2.7. Man prüft leicht nach, dass V ein Vektorraum über R ist.
Als Nächstes müssen wir zeigen, dass P eine lineare Abbildung ist. Dazu sei α1 , α2 ∈
R, v1 , v2 ∈ V .

α1 v1 (x) + α2 v2 (x) + α1 v1 (−x) + α2 v2 (−x)


P (α1 v1 + α2 v2 )(x) =
2
v1 (x) + v1 (−x) v2 (x) + α2 v2 (−x)
= α1 + α2
2 2
= α1 P (v1 )(x) + α2 P (v2 )(x).
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Nun bleibt noch zu zeigen, dass P2 = P ist. Dazu sei v ∈ V . Wir wenden P zweimal an:

  v(x)+v(−x) v(−x)+v(−(−x))
2
 v(x) + v(−x) 2
+ 2
P v (x) = (P (P v)) (x) = P =
2 2
v(x) + v(−x)
= = (P v)(x).
2
Damit ist gezeigt, dass P eine Projektion ist.

B.5.3 Lineare Gleichungssysteme


Teillösung zur Übung 8.4.6. Bild(A) ist

   
 1 0 
Sp  0  ,  1  .
−1 −1
 

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