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Joseph A.

Schumpeter

Kapitalismus, Sozialismus
und Demokratie
Einführung von Eberhard K. Seifert

Bibliothek до r \ rt rhúfts-
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8. Auflage
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Sетгпаг!lnsatut 5gnatur

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8,ßt_

A. Francke Verlag Tübingen und Basel


Das Рогtгtphotо Schumрeters (1932, heim Abschiedsfest in Bonn) stellte
Wolfgang F. Stolper (Ann Arbor) zur Verftigung.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen


Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über <http://dnb.ddb.de > abrufbar. '

8., unveränderte Auflage 2005 '


7., eгwéiteгte Auflage 1993
1. Auflage 1947

© 2005 • Nan Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG


Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
ISBN 3-7720-8147-9
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E-Mail: Info@francke.de
Einbandgestaltung: Atelier Reichen, Stuttgart
Gesamtherstellung: Pustet, Regensburg
Printed in Germany

ISBN 3-8252-0172-4 (UTB-Bestellnummer)


INHALT

Editorischer Hinweis тΡ
Einführung
Joseph Alois Schumpeter: Zu Person und Werk 3
(E. K. Sеifeп)
Erster Teil: Die iarxsche Lehre 15

Prolog 17
*. Kapitel: Marx der Prophet тΡ9
a. Kapitel: Marx der Soziologe 24
. Кaрitel: Marx der Nationalökonom 43
4. Kapitel: Marx der Lehrer 80

Zweiter Teil: Kann der Kapitalismus weiterleben? 10 3


Prolog 105
5. Kapitel: Die 'Wachstumsrate der Gesamterzeugung 107
6. Kapitel: Plausibler Kapitalismus iao
7. Kapitel: Der Prozeß der schöpferischen Zerstörung 134
s. Kapitel: Monopolistische Praktiken 143
q. Kapitel: Schonzeit 176
to. Kapitel: Das Schwinden der Investitionschance 182
u. Kapitel: Die kapitalistische Zivilisation 598
u. Kapitel: Bröckelnde Mauern 213
I. Das Veralten der Unternehmerfunktion 253
II. Die Zerstörung der schützenden Schichten 219
III. Die Zerstörung des institutionellen Rahmens der
kapitalistischen Gesellschaft 226
Wachsende Feindseligkeit 231
t3. Kapitel:
I. Die soziale Atmosphi.re des Kapitalismus 235
II. Die Soziologie der Intellektuellen 235
14. Kapitel: Zersetzung 252

Dritter Teil: Kann der Sozialismus funktionieren? 265

1$. Kapitel: Gefechtsvorbereitungen 267


,6 . Kapitel: Der sozialistische Grundplan 275
17. Kapitel: Ein Vergleich der Grundpläne 299
I. Eine Vorbemerkung 299

VII
II. Eine Eröгterung der komparativen Lеistungsfä ig- Vorworte, Nachworte, spätere Kommentare
keit
301 I. Vorwort Schumpеters zur I. amerikanischen
III. Die Überlegenheit des sozialistischen Grundplans . 3 то
il. Kapitel: Das menschliche Element
Auflage (5942) 481
319
Eine Warnung II. Vorwort Edgar Salins zur 1. deutschen Auflage
319
I. Die historische Relativität des Argumentes 320 (1946) 484
II. )ьег Halbgötter und Erzengel III. Der Zweire Weltkrieg und die Zukunft der sozia-
322
III. Das Problem der bürokratischen Leitung listischen Parteien
327
IV. 5рaren und Disziplin (Von E. Salm als .Nachwогtt Schumрeгers zur
334
V. Autoritäre Disziplin im Sozialismus; die russische 1. deutschen Auflage deklariert) 488
Lehre
338 IV. Vorwort Schumpeteгs zur z. amerikanischen
19. Kapitel: Ubergang
349 Auflage (1946):
I. Unterscheidung gesonderter Probleme
349 Gegen мißverständпisse — Zur Klärung
II. Sozialisierung im Zustand der Reife
352 (Mit einem Vorbericht von E. Salin) 493
III. Sozialisierung im Zustand der Unreife
356 V. Vorwort Schumpeters zur 3. amerikanischen
IV. Sozialistische Politik vor dem Akt; das englische
Beispiel Auflage (5950) 500
364
Vierter Teil: VI. Der Marsch in den Sozialismus 509
Sozialйmus und Demokratie
371
ai. Kaphel: Die Problemstellung Kommentierte Auswahlbibliographie:
373
I.Die Diktatur des Proletariats Arbeiten von und über Schumpeter, Aspekte seiner
373
II. Die Erfahrungen mit den sozialistischen Parteien Wirkungsgeschichte (E. K. Seifert) 527
376
III. Ein Denkexperiment 3 81 Namen- und Sachverzeichnis S38
IV. Auf der Suche nach einer Definition
386
ai. Kapitel: Die klassische Lehre der Demokratie
397
I. Das Gemeinwohl und der Wille des Volkes ...
397
II. Der Volkswille und das individuelle Wollen
405
III. Die menschliche Natur in der Politik
407
IV. Gründe für das Weiterbestehen der klassischen
Lehre 425
Kapitel: Eine andere Theorie der Demokratie
427
I. Der Konkurrenzkampf um die politische Führung
427
XI. II. Die Anwendung des Prinzips
433
capitel: Die Schlußfolgerung
451
I.Einige Folgerungen aus der vorangehenden
AHI Ana-
lyse
451
II. Bedingungen für den Erfolg der demokratischen
Methode
460
III. Demokratie in der sozialistischen Ordnung ...
471

VIII
IX
die allen Realitäten von Gruppenaktionen und der öffentlichеп EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Meinung Rechnung trägt. Diese Theorie wird in Kapitel i
vorgelegt werden, und dann werden wir endlich zu sagen in- DIE KLASSISCHE LEHRE DER DEMOKRATIE
stand sein, wie es voraussichtlich der Demokratie in einer
sozialistischen Ordnung ergehen wird.

I. Dat Gtmeiпп'ob! und dir Wille dir Volker


Die Philosophie der Demokratie im achtzehnten Jahrhundert
mag i folgende Definition gefaßt werden: die demokratische
Methode ist jene institutionelle Ordnung zur Erzielung poli-
tischer Entscheide, die das Gemeinwohl dadurch verwirklicht,
daB sie das Volk selbst die Streitfragen entscheiden IйBt und
zwar durch die Wahl von Personen, die zusammenzutreten
haben, um seinen Willen auszuführen. Wir wollen nun ent-
wickeln, was darin impliziert ist.
Es besteht also die Auffassung, daß es ein Gemeinwohl als
sichtbaren Leitstern der Politik gibt, das stets einfach zu defi-
nieren ist und das jedem normalen Menschen mittels rationaler
Argumente sichtbar gemacht werden kann. Folglich gibt es
auch keine Entschuldigung dafür, daß man es nicht sieht, ja
nicht einmal eine Erklärung für das Vorhandensein von Men-
schen, die es nicht sehen, es sei denn Unwissenheit — die beho-
ben werden kann —, Dummheit und antisoziales Interesse. Zu
dem impliziert dieses Gemeinwohl ganz bestimmte Antworten
auf alle Fragen, so daB jeder soziale Sachverhalt und jede er-
griffene oder noch zu ergreifende Maßnahme unzweideutig als
((gut» oder «schlecht» klassiert werden können. Da deshalb das
ganze Volk, wenigstens im Prinzip, gleicher Meinung sein
muß, gibt es auch einen «allgemeinen Willen» des Volkes (=
Willen aller vernünftigen Individuen), der mit dem Gemein-
wohl oder dem Gemeininteresse oder der allgemeinen Wohl-
fahrt oder der Glückseligkeit gleichbedeutend ist. Das einzige,
was — abgesehen von Dummheit oder dunklen Interessen —
mёgliсhегwејѕе zu einer abweichenden Auffassung führen und
das Vorhandensein einer Opposition егkläгcn kann, sind Mei-
nungsverschiedenheiten in bezug auf die Geschwindigkeit, mit

396 397
der man sich dem Ziel nähern soll, über welches sich im Prin- Sobald wir alle Voraussetzungen akzeptieren, die von dieser
zip alle nahezu einig sind. So ist jedes Glied des Gemeinwesens Verfassungstheorie gemacht werden oder in ihr enthalten sind,
sich dieses Zieles und dessen, was er oder sie will, bewußt, erhält die Demokratie in der Tat eine völlig unzweideutige Be-
erkennt klar, was gut und was schlecht ist und nimmt aktiv deutung: es gibt im Zusammenhang mit ihr kein Problem mehr,
und verantwortungsbewußt an der Förderung des ersteren und abgesehen von der Frage ihrer Errichtung. Auch brauchen wir
Bekämpfung des letzteren teil, und alle Glieder zusammen kon- uns nur über ein paar logische Bedenken hinwegzusetzen, um
trollieren ihre öffentlichen Angelegenheiten. hinzufügen zu kóпnen, daß in diesem Falle die demokratische
Zwar verlangt die Führung eines Teils dieser Geschäfte be- Ordnung nicht nur die beste aller denkbaren wäre, sondern
sondere Fähigkeiten und Techniken und muß daher Speziali- daB auch wenige Leute Lust nach einer anderen hätten. Es ist
sten, die diese besitzen, anvertraut werden. Das berührt jedoch jedoch nicht weniger klar, daB diese Voraussetzungen ebenso
nicht das Prinzip, weil diese Spezialisten einfach handeln, um viele Behauptungen von Tatsachen sind, die alle erst noch be-
den Willen des Volkes auszuführen, genau wie ein Arzt han- wiesen werden müßten, wenn wir zu diesem Schluß gelangen
delt, um den Genesungswillen des Patienten auszuführen. Zwar sollen. Und es ist viel leichter sie zu widerlegen.
wäre es ferner in einem Gemeinwesen von einer gewissen Erstens gibt es kein solches Ding ‚vie ein eindeutig bestimm-
Größe, namentlich wenn es das Phänomen der Arbeitsteilung tes Gemeinwohl, über das sich das ganze Volk kraft rationaler
aufweist, höchst unpraktisch, wenn jeder einzelne Bürger sich Argumente einig wäre oder zur Einigkeit gebracht werden
mit allen andern Biirgern wegen jeder Frage in Verbindung könnte. Das ist in erster Linie nicht auf die Tatsache zurückzu..
setzen müßte, um seinen Teil zur Herrschen oder Regieren führen, daß einige Leute vielleicht etwas anderes als das Ge-
beizutragen. Es ist bequemer, nur die wichtigsten Entscheidun- meinwohl wünschen, sondern auf die viel wesentlichere Tat-
gen den einzelnen Bürgern vorzulegen, damit sie sich dazu sache, daB verschiedenen Individuen und Gruppen das Gemein-
äuвегn können — zum Beispiel durch ein Referendum —, und wohl mit Notwendigkeit etwas Verschiedenes bedeuten muß.
im übrigen durch ein von ihnen bestelltes Komitee zu handeln, Diese Tatsache, die dem Utilitaristen wegen der Enge seines
— durch eine Versammlung oder ein Parlament, dessen Mitglie- Ausblicks auf die Welt menschlicher Wertungen verborgen
der durch öfгentliche Wahl gewählt werden. Dieses Komitee bleibt, wird zu Spaltungen über prinzipielle Fragen führen,
oder diese Körperschaft von Delegierten wird, wie wir gesehen die nicht durch rationale Argumente geschlossen werden kön-
haben, das Volk nicht in einem juristischen, doch wenigstens nen, weil die letzten Werte — unsere Auffassung von dem, was
in einem technischen Sinn гepräsеntieren, — es wird dem 'X'illen das Leben und was die Gesellschaft sein sollte — jenseits nes
der Wählerschaft Stimme verleihen, ihn widerspiegeln oder Bereiches reiner Logik liegen. Sie mögen in gewissen Fällen
ihn vertreten. Wiederum mag sich aus Bequemlichkeitsgründen durch Kompromisse übегbriickt werden, in anderen Fällen
dieses sonst zu große Komitee in kleinere Komitees für die ver- aber nicht. Amerikaner, die sagen: «Wir wünschen, daB unser
schiedenen Abteilungen der öffentlichen Geschäfte auflösen. Land sich bis zu den Zähnen bewaffnet, um für das, was wir
Endlich wird es unter diesen kleineren Komitees ein allgemei- als recht ansehen, in der ganzen Welt zu kämpfen», und
nes Komitee hauptsächlich zur Erledigung der laufenden Ver- Amerikaner, die sagen: «Wir wünschen, daB unser Land seine
1
waltungsgeschäfte geben, genannt Kabinett oder Regierung, eigenen Probleme löst, was der einzige Weg ist, auf dem es der
möglicherweise mit einem Generalsekretär oder Sündenbock, Menschheit dienen kann», sehen sich unreduzierbaren Diffe-
einem sogenannten Ministerpräsidenten, an seiner Spitzet.
ьdie Auffassung, daB dieser ernannt wird, um in seinem Depar-
tats3сыk
1 Die offizielle Theorie der Funktionen eines Kabinettsministers vertritt tement darauf zu achten, daB der Wille nes Volkes sich durchsetzt.

398 399
reizen letzter Werte gegenüber, die durch Kompromisse nur batten die Utilitarier keine Vorstellung dieses halb-mystischen,
verstümmelt und degradiert werden. mit einem eigenen Willen begabten Wesens, — dieser «Volks-
Selbst wenn aber zweitens ein hinreichend bestimmtes seele», von der die historische Schule der Jurisprudenz so viel
Gemeinwohl — so wie zum Beispiel das Utilitaristen-Maximum Wesens machte. Sie leiteten ihren Volkswillen ganz einfach
wirtschaftlicher Bedürfnisbefriedigungs — sich als für alle an- vom Willen der Individuen ab. Sofern es keinen Mittelpunkt —
nehmbar erwiese, würde dies nicht ebenso bestimmte Antwor- das Gemeinwohl — gibt, nach dem wenigstens auf die Dauer
ten auf einzelne Probleme implizieren. Die Ansichten darüber alle individuellen Willen gravitieren, werden wir nicht jenen
können in einem solch bedeutenden Ausmaß auseinandergehen, besonderen Typ der «natürlichen» volonté génйrale erhalten. Das
daß gгёвtenteils : die gleichen Wirkungen entstehen wie bei
utilitaristische Gravitationszentrum vereinheitlicht einerseits
«fundamentaler» Uneinigkeit über die Ziele selbst. Beispiels- die individuellen Willen und tendiert darnach, sie vermittels
weise ständen Probleme, die mit der Schätzung gеgеnwäгtiger rationaler Diskussion in den Willen des Volkes einzuschmel-
gegenüber zukünftiger Bedürfnisbefriedigung im Zusammen- zen; anderseits verleiht es dem letzteren diese exklusive sitt-
hang stehen, ja sogar der Fall Sozialismus contra Kapitalismus, liche Würde, wie sie vom klassischen demokratischen Glau-.
auch nach der Bekehrung eines jeden einzelnen Bürgers zum bensbekenntnis gefordert wird. Dieses Glaubensbekenntnis be-
Utilitarismus immer noch offen. «Gesundheit» kann von allen steht nicht einfach darin, den Wällen des Volkes als solchen а ver-
gewünscht werden, und doch können die Menschen immer ehren, sondern beruht auf gewissen Annahmen über das «na-
noch verschiedener Ansicht über Impfung und Vasektomie türliche» Ziel dieses WiLlens —, ein Ziel, das durch die uti l-
sein. Und dergleichen gibt es viel. taristische Vernunft sanktioniert ist. Sowohl die Existenz wie
Die utilitaristischen Väter der demokratischen Lehre sahen auch die Würde dieser Art von volonté géпéralе verschwinden,
nicht die volle Bedeutung dieses Problems, einfach weil keiner sobald uns die Vorstellung eines Gemeinwohles fehlt. Und
von ihnen irgendwelche wesentliche Veränderungen im wirt- beide Stützen der klassischen Lehren zerbröckeln unweigerlich
schaftlichen Rahmen und in den Gewohnheiten der bürger- zu Staub.
lichen Gesellschaft ernsthaft in Betracht zog. Sie sahen wenig
über die Welt eines Eisenhändlers des achtzehnten Jahrhun-
derts hinaus. II. Der Volkswälle and das individuelle Wollen
Drittens aber verflüchtigt sich als Folge der beiden voraus- So beweiskräftig diese. Argumente auch gegen diesen be-
gegangenen Feststellungen immer mehr der besondere Begriff sonderen Begriff des Volkswillens sprechen, so wenig enthebt
nes Volkswillens oder der volo,té génйrale, den sich die Utilita-
uns dies natürlich eines Versuches, einen andern, wirklich-
rier zu eigen machten. Denn dieser Begriff setzt die Existenz keitsnäheren Begriff aufzubauen. Ich habe nicht die Absicht,
eines eindeutig bestimmten Gemeinwohles voraus, das von die Realität oder die sozialpsychologischen Tatsachen in Frage
allen erkannt werden kann. Im Gegensatz zu den Romantikern zu stellen, an die wir denken, wenn wir vom Willen einer Na-
Die Bedeutung der «höchsten Glückseligkeit » ist an sich schon ernstem tion sprechen. Ihre Analyse ist sicherlich die Vorbedingung,
Zweifel ausgesetzt. Selbst wenn jedoch dieser Zweifel behoben und der wenn man mit den Problemen der Demokratie vorwärts kom-
Gesamtsumme der ökonomischen Bedürfnisbefriedigung einer Gruppe von men will. Es wärt trotzdem besser, diesen Begriff nicht beizu-
Menschen eine bestimmte Bedeutung beigelegt werden könnte, dann würde behalten, weil dadurch leicht die Tatsache verdeckt wird, naß
dieses Maximum immer noch durch gegebene Situationen und Wertungen sobald wir den Volkswillen von seiner utihtaristischen Neben-
bedingt sein, die vielleicht unmöglich auf demokratischem Wege geändert bedeutung trennen, wir nicht nur eine verschiedene Theorie
oder durch Kompromiß verbunden werden können. der gleichen Sache, sondern eine Theorie einer völlig verschie-
400
40X
denen Sache aufbauen. Wir haben guten Grund auf der Hut Eindrücke lose herumspielen. Jedermann müßte eindeutig
zu sein vor den Fallgruben, die auf dem Wege jener Verteidiger wissen, wofür er sich einsetzen will. Dieser bestimmte Wille
der Demokratie liegen, die zwar unter dem Druck des sich miiBte mit der Fähigkeit ausgerüstet sein, die Tatsachen, die
anhäufenden Beweismaterials mehr und mehr die Tatsachen jedermann direkt zugänglich sind, richtig zu beobachten und
des demokratischen Prozesses anerkennen, aber dennoch ver- zu interpretieren und die Informationen über Tatsachen, die
suchen, die Resultate, zu denen dieser ProzeB führt, mit öl nicht direkt zugänglich sind, kritisch zu sichten. Endlich müßte
aus Krügen des achtzehnten Jahrhunderts zu salben. aus diesem bestimmten Willen und aus diesen gesicherten Tat-
Doch obschon man immer noch behaupten kann, daB eine sachen, gemäß den Regeln der logischen Folgerung, ein klarer
Art von gemeinsamem Willen oder öffentlicher Meinung aus und rascher Schluß in bezug auf besondere Probleme gezogen
dem unendlich komplexen Wirrwarr von individuellen und werden — und zwar rit einem so hohen Grade allgemeiner
Gruppen-Situation», -Willen, -Einflüssen, -Handlungen und Effizienz, daß die Ansicht nes einen als ebenso gut wie die
-Gegenhandlungen des «demokratischen Prozesses» hervor- Meinung irgend eines andern gelten könnte, ohne daß dies
geht, mangelt es dennoch dem Resultat nicht nur an rationaler ein offensichtlicher Unsinn wären. Und alles dies müßte der
Einheit, sondern auch an rationaler Sanktion: ersteres bedeu- ideale Bürger aus sich selbst heraus und unabhängig vom Druck
tet, daB obschon vom Standpunkt der Analyse aus der demo- einzelner Gruppen und von irgendwelcher Propaganda* leisten;
kratische ProzeB nicht einfach chaotisch ist — für den Analy-
tiker ist nichts chaotisch, das in den Bereich erklärender Prin- s Dies erklärt den stark egalitären Charakter sowohl der klassischen Lehre
zipien gebracht werden kann —, dennoch die Resultate — außer der Demokratie wie auch der populären demokratischen Glaubenssätze.
durch Zufall — nicht an sich sinnvoll sind, im Gegensatz zum Wir werden später noch zeigen, wie die Gleichheit den Status eines ethi-
Beispiel zur Verwirklichung jeden bestimmten Zieles oder schen Postulats erringen kann. Als tatsächliche Aussage über die mensch-
Ideales. Letzteres bedeutet, daß weil sich dieser Wille nun nicht liche Natur kann sie in keinem denkbaren Sinne richtig sein. In Anbetracht
dessen ist das Postulat selbst oft neu gefaßt worden, so daß es den Sinn
mehr mit «dem Guten» deckt, man notwendigerweise, um
'Gleichheit der Möglichkeiten■ erhielt. Aber, auch abgesehen von den
eine sittliche Würde für das Resultat beanspruchen zu können,
dem Worte «Möglichkeit ■ inhärenten Schwierigkeiten, hilft uns diese Neu-
auf ein unbedingtes Vertrauen auf die demokratischen Regie-
formulienutg nicht viel, weil eine tatsächliche und nicht eine potentielle
rungsformen als solche zurückgreifen muß — auf einen Glau- Gleichheit der Leistung in Fragen nes politischen Verhaltens erforderlich
ben, der im Prinzip von der Wünschbarkeit der Resultate un- ist, wenn die Stimme eines jeden das gleiche Gewicht bei der Entscheidung
abhängig sein müßte. Wie wir gesehen haben, ist es nicht leicht, strittiger Punkte haben soll.
sich auf diesen Standpunkt zu stellen. Aber selbst wenn wir es Es sollte im Vorbeigehen beachtet werden, naß die demokratische Aus-
tun, bleiben uns auch nach dem Ausscheiden des utilitaristischen drucksweise dazu gedient hat, die Association von Ungleichheit jeglicher
Gemeinwohles noch eine Menge von Schwierigkeiten übrig. Art mit «Ungeтсchtigkeitв zu fördern, die ein so wichtiges Element im
Insbesondere stehen wir immer noch unter der praktischen psychischen Schema des Erfolglosen ist und im Arsenal des Politikers, der
Notwendigkeit, dem Willen des Individuums eine Unabhängig- ihn benutzt. Eines der mеrkwüгdigstеn Symptome war in dieser Beziehung
die athenische Einrichtung nes Ostrazismus oder vielmehr der Gebrauch,
keit und eine rationale Qualität beizulegen, die völlig wirklich-
der manchmal davon gemacht wurde. Der Ostrazismus bestand in der
keitsfremd sind. Wenn wir argumentieren, daB der Wille .des Verbannung eines Einzelnen durch öffentliche Abstimmung — nicht
Bürgers per se ein politischer Faktor ist, der Anspruch auf Ach- unbedingt aus irgend einer besonderen Grund: er diente manchmal als
tung hat, so muB er erst einmal existieren. Das heißt, daB er Methode, einen unbequem hervorragenden Bürger zu entfernen, bei nem
etwas mehr sein muß als nur eine unbestimmte Handvoll vager man das Gefühl hatte, daß er .fiir mehr als einen zählte..
Triebe, die um vorhandene Schlagworte und falsch verstandene Dieser Ausdruck wird hier in seinem ursprünglichen Sinn verwendet

402 403
denn Willensäußerungen und Schlußfolgerungen, die der Wä - Das kann so sein. Die Aussichten, daB es sich so verhält, sind bei
lerschaft aufgezwungen werden, können nicht als letzte Gege- jenen Fragen am größten, die ihrem Wesen nach quantitativ sind
benheiten des demokratischen Prozesses gelten. Die Frage, ob oder eine Abstufung erlauben, — so zum Beispiel der Frage, wie
diese Bedingungen in dem AusmaB erfüllt sind, das erforderlich viel für Arbeitslosenunterstützungen ausgegeben werden soll,
ist, um die Demokratie funktionieren zu lassen, sollte nicht vorausgesetzt, daB jedermann für einige Ausgaben zu diesem
leichtsinnig bejaht oder ebenso leichtsinnig verneint werden. Zwecke eintritt. Bei qualitativen Fragen jedoch, wie zum Beispiel
Sie kann nur beantwortet werden durch eine mühselige Bewer- bei der Frage, ob man Ketzer verfolgen oder in einen Krieg ein-
tung eines ganzen Irrgartens von sich widersprechender Be- treten soll, kann das erreichte Ergebnis — obschon aus verschie-
weismaterial. denen Gründen — dem ganzen Volk gleich zuwider sein, wo-
Bevor wir uns jedoch an diese Aufgabe machen, möchte ich gegen die durch eine nichtdemokratische Stelle gefällte Ent-
ganz sicherstellen, daß der Leser die Bedeutung eines andern scheidung sich als für alle viel annehmbarer erweisen könnte.
Punktes, den ich bereits hervorgehoben habe, völlig erkennt. Ein Beispiel mag dies illustrieren. Ich nehme an, daB die
Ich will daher wiederholen, daB selbst, wenn die Ansichten Herrschaft Napoleons zur Zeit, als er erster Konsul war, als
und Wünsche der einzelnen Bürger völlig bestimmte und eine militärische Diktatur bezeichnet werden darf. Eines der
unabhängige Daten für das Funktionieren des demokratischen dringendsten politischen Bediirfnisse jenes Augenblickes war
Prozesses wären und wenn jedermann mit idealer Rationalität ein Religionsabkommen, das mit dem von der Revolution und
und Raschheit seine Handlungen darnach richtete, doch nicht dem Direktorium hinterlassenen Chaos aufräumte und Millio-
unbedingt daraus folgen würde, daß die politischen Entschei- nen von Herzen den Frieden brächte. Dies erreichte er durch
dungen, die durch diesen ProzeB aus dem Rohmaterial dieser eine Anzahl von meisterhaften Zügen, gipfelnd im Konkordat
einzelnen Willen entstehen, irgend etwas darstellen, was in einem mit dem Papst (180r) und den «Organischen Artikeln» (r8oz),
überzeugenden Sinn «der Wille des Volkes» genannt werden die das Unversöhnliche versöhnten, gerade das rechte Ausmaß
könnte. Es ist nicht nur denkbar, sondern, zumal wenn die ein- von Freiheit für den Gottesdienst gеwährtеn und gleichzeitig
zelnen Willen stark auseinandergehen, sogar sehr wahrschein- die Autorität des Staates stark untermauerten. Er reorgani-
lich, daB die entstehenden politischen Entscheide nicht mit dem sierte auch die französische katholische Kirche, stattete sie mit
übereinstimmen, «was das Volk wirklich wünscht». Auch kann neuen Geldrnitteln aus, löste das heikle Problem des «kon-
nicht entgegnet werden, daß wenn dies auch nicht genau das ist, stitutionellen» Klerus und brachte die neue Einrichtung höchst
was es wünscht, das Volk doch ein «faires Kompromiß» erhält. erfolgreich mit einem Minimum an Reibungen in Gang. Wenn
es überhaupt je eine Berechtigung für die Ansicht gab, daß
und nicht in dem Sinn, den er zur Zeit immer mehr annimmt unд der zur das Volk tatsächlich etwas Bestimmtes will, so bildet diese
Deiinition führ: Propaganda ist jegliche Aussage, die aus einer.Quelle Ordnung eines der besten geschichtlichen Beispiele. Das muB
stammt, die wir n cьt lieben. Ich nehme an, daß sich der Ausdruck vom jedermann klar werden, der den französischen Klassenaufbau
Namen nes Kardinalskomitees herleitet, das sich mit den die Verbreitung jener Zeit betrachtet, und es wird völlig bestätigt durch die
nes katholischen Glaubens berührenden Angelegenheiten befaßt, der mп- Tatsache, daB diese Kirchenpolitik stark zu der beinahe all-
gregatio de propaganda fide. An und fur sich besitzt er daher keine herab-
gemeinen Popularität beitrug, die das Konsulat genoß. Doch
setzende Bedeutung und impliziert namentlich auch keine Verdrehung von es ist schwer zu sehen, wie dieses Resultat auf demokratischem
Tatsachen. Man kann zum Beispiel Propaganda Für eine wissenschaftliche
Methode machen. Propaganda bedeutet einfach die Darstellung von Tat-
Wege hätte erreicht werden könпеn. Kirchenfeindliche Re-
gungen waren nicht ausgestorben und beschränkten sich kei-
sachen und Argumenten im Hinblick auf eine Beeiп9ussung der Hand-
lungen und Ansichten der Menschen in einer bestimmten Richtung. neswegs auf die besiegten Jakobiner. Menschen mit solchen

4°4 4°S
tУberzeugungen oder deren Führer hätten unmöglich einen so III. Die menschliche Natur in der Politik
weit gehenden Kompromiß abschließen könnens. Am andern
Ende der Leiter gewann dagegen eine starke Woge grimmiger Wir haben noch unsere Frage zu beantworten über die Be-
katholischer Empfindungen immer mehr an Kraft. Menschen, stimmtheit und Unabhängigkeit des Willens des Wählers, über
die diese Empfindung teilten, oder ihre Führer, die von ihrem seine Fähigkeit, Fakten zu beobachten und zu interpretieren
guten Willen abhängig waren, hätten unmöglich an der napo- und rasch und klar rationale Schlußfolgerungen aus beidem zu
leonischen Grenze Halt machen können; namentlich hatten ziehen. Dieses Thema gеhöгt in ein Kapitel der Sozialpsycho-
sie keine so starke Stellung gegenüber dem Heiligen Stuhl logie, das wir «Die menschliche Natur in der Politik » nennen
gehabt, für den zudem kein Grund bestanden hätte nachzu- können°.
geben, da er sah, in welcher Richtung sich die Verhiltnisse Während der zweiten Hälfte nes letzten Jahrhunderts ist die
entwickelten. Und der Wille der Bauern, die vor allem wieder Vorstellung der menschlichen Persönlichkeit als homogener
ihre Priester, ihre Kirchen und Prozessionen haben wollten, Einheit und die Vorstellung eines bestimmten Willens als
wire durch die sehr natürliche Furcht gelähmt gewesen, daß Hauptantriebskraft des Handelns immer mehr verblaßt — sogar
die revolutionäre Regelung der Bodenfrage gefihrdet werde, schon vor den Zeiten von Théodule Ribot und Sigmund
sobald der Klerus — besonders die Bischöfe — wieder im Sattel Freud. Namentlich auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften,
sei. Verfahrene Situationen oder endlose Kimpfe, die zu stei- wo die Bedeutung nes auBerrationalen und irrationalen Ele-
gender Erbitterung geführt hätten, wizen sehr wahrscheinlich ments in unserem Verhalten mehr und mehr Aufmerksamkeit
das Ergebnis eines jeden Versuchs gewesen, die Frage demo- auf sich gezogen hat — man denke an Paretos Traité de Sociologie —
kratisch zu regeln. Napoleon hingegen war imstande, sie ver- haben diese Vorstellungen mehr und mehr an Bedeutung ver-
nünftig zu regeln, gerade weil alle jene Gruppen, die ihren loren. Aus dem großen Beweismaterial, das gegen die Hypo-
Standpunkt aus eigenem Willen nicht aufgeben konnten, gleich- these der Rationalität zusammengetragen wurde, will ich nur
zeitig fihig und willens waren, eine Ordnung anzunehmen, zwei Beispiele erwähnen.
wenn sie ihnen auferlegt wurde.
Dieses Beispiel steht sеlbstverstindlich nicht vereinzelt dа". ' Dies ist der Titel cines aufrichtigen und entzückenden Buches von
Wenn man aus den Resultaten, die sich auf die Dauer gesehen einem der liebenswürdigsten englischen Radikalen, der je gelebt hat,
Graham Wallas. Trotz allem, was bisher üьeг diesen Gegenstand geschrie-
für das Volk im ganzen als zufriedenstellend erweisen, den ben worden ist, und namentlich trotz aller Detailstudien, die nun eine viel
Prüfstein einer Regierung für das Volk macht, dann würde die klarere Einsicht ermöglichen, kann dieses Buch immer noch als beste Ein-
Regierung durch das Volk, wie sie von der klassischen Lehre führung in die politische Psychologie empfohlen werden. Und doch zieht
der Demokratie aufgefaßt wurde, oft ihr nicht entsprechen. auch dieser Autor, nachdem er mit bewunderungswürdiger Offenheit den
Prozeß gegen die unkritische Annahme der klassischen Lehre geführt hat,
' Die gesetzgebenden Körperschaften verweigerten Napoleon in der nicht den naheliegenden Schluß. Dies ist um so bemerkenswerter, als er mir
Tat jegliche Untersturzung dieser Politik, trotz aller Einschüchterungen; Recht auf der Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Haltung besteht und
und einige seiner vertrautesten Paladine leisteten ihm Widerstand. Lord Bryce zur Rede stellt, weil dieser in seinem Buche über aDas ameri-
Eб könnten andere Beispiele aus Napoleons Handlungsweise angeführt kanische Gemeinwesen » sich als «grimmig » entschlossen erklärte, inmitten
werden. Er war ein Autokrat, der da, wo seine dynastischen Interessen der Wolken еnttäuschеndеr Tatsachen ein Stück blauen Himmels zu sehen.
oder seine Auвeп Was, so scheint Graham Wallas auszurufen, wйгdеn wir von einem Meteoro-
politik nicht im Spiele standen, einfach das zu tun trach-
tete, was er als Wunsch oder Bedürfnis des Volkes erkannte. Das ist auch logen sagen, der von Anbeginn an darauf bestünde, ein Stück blauen Him-
der Sinn des Ratschlages, den er mels zu sehen ? Trotzdem vertritt er im konstruktiven Teil seines Buches
Eugène Beauharnais für seine Verwaltung
Norditaliens gab. ungefähr den gleichen Standpunkt.

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Das eine mag — trotz späterer, sehr viel sorgfáltigеret Ar- Zeitungsleser, Radiohörer, Parteimitglieder können, selbst
beiten — noch mit dem Namen von Gustave Le Bon verknüpft wenn sie physisch nicht auf einem Punkt versammelt sind,
werden, dem Begründer oder jedenfalls dem ersten wirksamen schrecklich leicht in eine psychologische Menge verwandelt
Exponenten der Psychologie der Mengen (prychologie desfoв'leѕ)". und in einen Zustand der Raserei versetzt werden, in dem jeder
Indem er, allerdings übertreibend, die Tatsachen des mensch- Versuch eines rationalen Arguments die animalischen Geister
lichen Verhaltens unter dem Einfluß der Agglomeration nur noch mehr reizt.
zeigt — namentlich das plötzliche Verschwinden sittlicher Die andere Quelle desillusionierenden Beweismaterials, die ich
Hemmungen und zivilisierter Denk- und Empfindungsweisen, erwähnen möchte, ist viel bescheidener, — ihr entfließt kein Blut,
den plötzlichen Ausbruch von primitiven Trieben, von Infan- sondern nur Unsinn. Ökonomen, die die Tatsachen genauer
tilismen und verbrecherischen Neigungen im Zustand der Auf- zu beobachten lernen, entdecken nun allmählich, daß sogar
regung —, hat er uns grauenhaften Fakten gegenübergestellt, im gewöhnlichsten Verlauf des täglichen Lebens ihre Konsu-
von denen jedermann wußte, die aber niemand sehen wollte, menten nicht ganz nach der Vorstellung leben, die die Lehr-
und er hat hierdurch dem Bпd der menschlichen Natur, das hu cher meistens vermitteln. Einerseits sind ihre Bedürfnisse
der klassischen Lehre der Demokratie und der demokratischen durchaus nicht so bestimmt und ihre Handlungen auf Grund
Sage von den Revolutionen zugrunde liegt, einen gefähгlicheй dieser Bedürfnisse bei weitem nicht so rational und rasch.
Schlag versetzt. Zweifellos ist viel auszusagen über die Schmal- Andrerseits sind sie dem EinB.uB der Reklame und anderer
heit der Tatsachenbasis von Le Bon's Schiul3folgerungen, die Überredungsmethoden so leicht zugänglich, daB oft die Pro-
zum Beispiel ganz und gar nicht auf das normale Verhalten duzenten ihnen zu diktieren scheinen, anstatt von ihnen diri-
einer englischen oder anglo-amerikanischen Menge passen. giert zu werden. Die Technik der erfolgreichen Reklame ist
Die Kritiker, zumal jene, denen die Folgerungen dieses Zwei- besonders instruktiv. Sie entьält zwar beinahe immer einen
ges der Sozialpsychologie unangenehm waren, bauschten Appell an die Vernunft. Aber mehr als das rationale Argument
natürlich diese Schwächen auf. Aber andrerseits darf nicht ver- zählt die bloße, oft wiederholte Behauptung und ebenso der
gessen werden, daß die Phänomene der Mengenpsychologie direkte Angriff auf das Unterbewußtsein, der in der Form von
sich keineswegs auf einen Mob beschränken, der in den engen Versuchen auftritt, angenehme Assoziationen völlig auBer-
Straßen einer romanischen Stadt herumschwärmt. Jedes Par- rationalen, sehr oft sexuellen Charakters hervorzurufen und
lament, jedes Komitee, jeder Kriegsrat, der aus einem Dutzend zu kristallisieren.
sechzigjähriger Generäle besteht, zeigt, wenn auch in milderen Die Folgerung daraus muB, obschon sie naheliegend ist,
Formen, einige dieser Züge, die im Falle des Pöbels so auf- vorsichtig gezogen werden. Im gewöhnlichen Verlauf oft
fällig zutage treten, — namentlich ein vermindertes Verant- sich wiederholender Entscheidungen ist das Individuum dem
woгtlichkeitsgefühl, ein tieferes Niveau der Denkenergie und heilsamen und rationalisierenden EinIUB günstiger und un-
eine größere Empfänglichkeit für nicht-logische Einflüsse. günstiger Erfahrungen unterworfen. Es steht auch unter dem
Diese Phänomene sind überdies nicht auf eine Menge im Siппе Einfluß relativ einfacher und unproblematischer Motive und
einer physischen Agglomeration vieler Menschen beschränkt. Interessen, die nur gelegentlich durch irgendwelche Erregun-
' Der deutsche Ausdruck ,Massenpsychologic» ruft einer Warnung: gen gestört werden. Historisch mag des Konsumenten Begeh-
die Psychologie der Mengen darf nicht mit der Psychologie der Massen ren nach Schuhen wenigstens teilweise durch die Aktion eines
verwechselt werden. Erstere enthilt nichtunbedingt eine Klassenbedeutung Produzenten gesteigert sein, der hübsches Schuhwerk anbot
und hat an sich nichts mit der Erforschung der Art des Denkens und FüЬ- und dafür Reklame machte; und doch ist es jederzeit ein echtes
lens zum Beispiel der arbeitenden Klasse zu tun. Bedürfnis, dessen Bestimmtheit über «Schuhe im allgemeinen»
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hinausreicht und das cin langes Experimentieren von vielen Und so verhält es sich mit den meisten Entscheidungen des
der Irrаtioпаlitätеn befreit, die ihm ursprünglich vielleicht täglichen Lebens, die innerhalb des engen Gebietes liegen, das
angehaftet haben'. Unter dem Stimulus dieser einfachen Mo- das Denken des einzelnen Bürgers mit vollem Empfinden für
tive lernen überdies die Konsumenten, bei gewissen Dingen seine Realität umschließt. Grob gesprochen besteht es aus den
(Häusern, Autos) nach den Ratschlägen unparteiischer Exper- Dingen, die ihn unmittelbar beriihren, — ihn selbst und seine
ten zu handeln und werden in andern Dingen selbst zu Fach- Familie, seine Geschäfte, seine Liebhabereien, seine Freunde
männerп. Es ist ganz einfach nicht wahr, daß die Hausfrauen und Feinde, seine Stadtgemeinde oder sein Quartier, seine
in bezug auf Nahrungsmittel, bekannte Haushaltartikel und Be- Klasse, Kirche, Gewerkschaft oder irgend eine andere soziale
kleidungsgegenstände so leicht zum Narren gehalten werden Gruppe, deren aktives Mitglied er ist, — den Dingen seiner
können. Wie jeder Geschäftsmапп, durch eigenen Schaden klug persönlichen Beobachtung, den Dingen, die ihr vertraut sind,
geworden, weiß, beharren die meisten von ihnen unerbittlich unabhängig davon, was ihr seine Zeitung sagt, den Dingen,
auf dem Artikel, den sie im Kopf haben. die er unmittelbar beeinflussen oder arrangieren kann und denen
Dies trifft natürlich noch offenkundiger für die Produzenten- gegenüber er jenes Veгantwortlichkeitsgеfühl entwickelt, das
seite zu. Zweifellos kann ein Fabrikant träge, ein schlechter durch eine direkte Beziehung zum giinstigen oder ungf.instigen
Beurteiler der geschäftlichen Möglichkeiten oder sonst unfähig Ausgang einer Handlungsweise veranlaßt wird.
sein; es besteht jedoch ein wirksamer Mechanismus, der ihn Noch einmal: Bestimmtheit und Rationalität im Denken und
entweder umformen oder ausschalten wird. Der Taylorismus im Handeln11, sind durch diese Vertrautheit mit Menschen und
beruht zwar auf der Tatsache, daB der Mensch einfache Hand- Dingen oder durch dieses Gefühl für Wirklichkeit und Verant-
griffe während Jahrtausenden ausführen und sie trotzdem un- wortlichkeit nicht garantiert. Eine ganze Reihe anderer Bedin-
wirtschaftlich ausführen kann. Dennoch können weder die gungen, die sehr oft nicht erfüllt sind, wären dazu notwendig.
Absicht, so rationell als möglich zu arbeiten, noch ein stetiger Zum Beispiel können Generationen unter irgendeinem irra-
Druck in Richtung der Ratioпаlität ernsthaft in Frage gestellt tionalen Verhalten in Fragen der Hygiene leiden, ohne darum
werden, gleichgültig welches Niveau der industriellen oder ihre Leiden mit ihren schädlichen Gewohnheiten in Verbindung
kommerziellen Akйvität wir gerade im Auge habenhI. zu bringen, solange dies nicht geschieht, führen natürlich ob-
• An der obigen Stelle bedeutet .Irrationalität. die Unfähigkeit, auf jektive Konsequenzen, auch wenn sie noch so regelmäßig ein-
Grund eines gegebenen Wunsches rational zu handeln. Sie bezieht sich treten, nicht zu subjektiver Erfahrung. So erwies es sich als un-
nicht auf die Vernünftigkeit des Wunsches selber nach der Ansicht des glaublich schwierig, daB sich die Menschheit des Zusammen-
Beobachters. Das ist wichtig zu beachten: denn Ökonomen, die das Aus- hangs zwischen Infekйon und Epidemien bewußt wurig: с jс
maß der Irrationalität des Konsumenten würdigen,übertreiben dies manch- Tatsachen wiesen mit einer, wie uns scheint, unmißvе0шсгз-
ruai, weil sie die beiden Dinge verwechseln. so mag der Putz eines Fabrik-
s12
rnädchens einer Professor als Zeichen eines irrationalen Verhaltens erschei- 11 Rationalität d es Denkens und Rationalität des Handelns sir _
nen, für das es keine andere Erklärung als dic Künste der Reklame gibt. verschiedene Dinge. Rationalität des Denkens garantiert nicht<1
In Wirklichkeit ist er vielleicht das höсьstе Ziel ihrer Wünsche. In diesem Rationalität des Handelns. Und die letztere kann vorhanden se g
Fall kёnneгi ihre Ausgaben dafür von idealer Rationalität im obigen sinne klare Uberlegung und unabhängig von jeglicher Fähigkeit, das R11g qct
sein. des eigenen Handelns richtig zu formulieren. Dec Beobachter, zur ц
1• Dieses Niveau ist natürlich nicht nur in bezug auf Epochen und Orte er Interview- und Fragebogen-Methoden anwendet, übersieht dies an und
verschieden, sondern auch — bei gegebenem Ort und gegebener Zeit — in erhält infolgedessen eine ülсгггiebone Vorstellung von der Bedeutung der
bezug auf verschiedene industrielle Sektoren und Klassen. So etwas wie Irraйonalität im Verhalten. Dies ist eine andere Ursache jener ßbersteige-
ein allgemeines Schema der Rºйonalität gibt es nicht. rangen, denen wir so oft begegnen.

410 41!
lichen Deutlichkeit darauf hin; dennoch taten bis
Ende des Nun verschwinden aber diese verhältnismäßige Bestimmt-
achtzehnten Jahrhunderts die Arzte nahezu nichts, um Men- heit der Entschlüsse und diese Rаtioпalität des Verhaltens nicht
schen, die von infektiösen Krankheiten, wie Masern oder Pik- plötzlich, sobald wir uns von diesen Belangen des täglichen
ken, befallen waren, von der Beriihrung mit andern Menschen
Lebens in Haus und Geschäft entfernen, die uns erziehen und
fern zu halten. Und es ist zu erwarten, daB die Verhältnisse noch
discipnieren. Im Gebiet der öffentlichen Angelegenheiten gibt
viel schlimmer liegen, wenn nicht nur Unfähigkeit, sondern es Sektoren, die mehr innerhalb der Vorstellungskraft des Bür-
auch eine Abneigung gegen die Erkenntnis kausaler Zusam- gers liegen als andere. Das gilt erstens für die lokalen Ange-
menhänge vorhanden ist oder wenn irgendwelche Interessen legenheiten. Aber selbst dort stoßen wir auf eine beschränkte
gegen ihre Erkenntnis ankämpfen. Fähigkeit, die Tatsachen zu erkennen, eine beschränkte Bereit-
Trotz alledem und trotz aller Einschränkungen, die sich auf- schaft, danach zu handeln, ein beschränktes Verantwortungs-
drängen, gibt es, innerhalb eines viel weiteren Horizontes, für gefühl. Wir alle kennen den Mann — häufig ist er in seiner Art ein
jedermann ein engeres Gebiet — von sehr verschiedenem Aus- Musterexemplar —, der erklärt, daB die lokale Verwaltung nicht
maß, je nach den verschiedenen Gruppen und Individuen, und seine Sache ist, und der nur die Achseln zuckt über Praktiken,
eher durch eine breite Zone als durch eine scharfe Linie um-
derentwegen er auf seinem eigenen Bureau lieber sterben als daB
grenzt —, das sich durch ein Gefühl der Wirklichkeit oder Ver- er sie dulden würde. Hochgesinnte Bürger, die gerne Mahnreden
trautheit oder Verantwortlichkeit heraushebt. Und dieses Ge- halten und über die Verantwortlichkeit des einzelnen Wählers
bietbeherbergtreladv bestimmte individuelle Entschlüsse. Diese oder Steuerzahlers predigen, entdecken immer wieder die Tat-
mögen uns oft unintelligent, eng, egoistisch vorkommen; und sache, daB sich dieser Wähler durchaus nicht verantwortlich da-
es mag nicht für jedermann klar sein, warum wir, wenn es zu für fühlt, was die Lokalpolitiker tun. Dennoch kann der Lokal-
politischen Entscheidungen kommt, an ihrem Schreine nieder-
patriotismus, namentlich in Gemeinwesen, die nicht zu groß für
knien, geschweige denn, warum wir uns verpflichtet fühlen persönlichen Kontakt sind, ein sehr wichtiger Faktor für das
sollen, jeden einzelnen von ihnen als einen — und keinen für «Funktionieren der Demokratie» sein. Auch sinn die Probleme
mehr als einen — zu zählen. Wenn wir uns jedoch dazu ent- einer Stadt in mancher Beziehung den Problemen eines Indu-
schließen niederzuknien, werden wir wenigstens den Sсhrеin striekonzerns verwandt. Der Mann, der diesen versteht, versteht
nicht leer findеn1я.
bis zu einem gewissen Grad auch jene. Der Fabrikant, der Händ-
1ег und der Arbeiter braucht nicht aus seiner Welt herauszutre-
u Es sollte beachtet werden, daß wenn ich von bestimmten und ursprüng-
ten, um eine rational vertretbare Auffassung (die natürlich richtig
lichen Willensäußerungen spreche, ich damit nicht beabsichtige, sie zu oder falsch sein kann) über Straßenreinigung oder Rathäuser zu
letzten Gegebenheiten für alle Arten der sozialen Analyse zu erheben. Na- gewinnen.
türlich sind sie selbst das Produkt des sozialen Prozesses und
des sozialen Zweitens gibt es viele nationale Streitfragen, welche Indivi-
Milieus. Ich meine nur, daß sie als Gegebenheiten für die
Art von zweck-
bestimmter Analyse dienen können, die der duen und Gruppen so unmittelbar und unmißverständlich an-
бkonom vornimmt, wenn er
zum Beispiel die Preise aus Neigungen oder Bedürfnissen ableitet, die gehen, daß sie Willensäußerungen hervorrufen, die durchaus
jederzeit « echt und bestimmt sind. Das wichtigste Beispiel bieten jene
gegeben, sind und nicht jedesmal weiter analysiert zu werden
brauchen. Gleicherweise kбпп
en wir für unsern Zweck von utaprûnglichen gandistischer Einflüsse. Diese Unterscheidung zwischen ursprünglichem
und bestimmten Willensäußerungen reden, die jederzeit unabhängig von (oder echtem) und fabriziertem Willen (siehe unten) ist schwierig und kann
irgendwelchen Versuchen, sie zu fabrizieren,
gegeben sind, obschon wir nicht in allen Fällen und fir alle Zwecke angewandt werden. Für unsern
anerkennen, daß diese ursprünglichen Willensäu
веrungеп selbst das Ergeb- Zweck genügt es jedoch, auf den im Bereich nes gesunden Menschen-
nis von Umweltseinflüssen der Vergangenheit sind, einschließlich propa- verstandes liegenden Fall hinzuweisen, der vertreten werden kann.
412
413
Fragen, die einen unmittelbaren und persönlichen pekuпiäгen schen Fragen im Seelenhaushalt des typischen Burgers den
Vorteil fur einzelne Wähler und Wählergruppen bedeuten, wie Platz mit jenen Mußestunden-Interessen, die nicht den Rang von
direkte Zahlungen, Schutzzölle, die Silberpolitik und derglei- Liebhabereien erreicht haben, und mit den Gegenständen der
chen mehr. Eine Erfahrung, die bis auf das Altertum zurück- verantwortungslosen «Konversation». Diese Dinge scheinen
geht, zeigt, daB im großen ganzen die Wähler rasch und ra- so weit weg zu sein; sie haben so gar nichts von einem Ge-
tional auf jede solche Chance reagieren. Aber die klassische schäftsunternehmen an sich; die Gefahren verwirklichen sich
Lehre von der Demokratie hat offenkundig nur weg aus der vielleicht überhaupt nicht, und wenn sie es doch tun sollten, so
Entfaltung einer derartigen Rationalität zu gewinnen. Die Wäh- können sie sich immer noch als nicht so ernst erweisen; man
ler erweisen sich durch sie als schlechte und sogar korrumpierte hat das Gefühl, sich in einer fiktiven Welt zu bewegen.
Richter über solche Fгаgenls — ja, sie erweisen sich oft sogar Dieser reduzierte Wirklichkeitssinn erklärt nun nicht nur ein
als schlechte Kenner ihrer eigenen langfristigen Interessen; reduziertes Verantwortungsgefühl, sondern auch den Mangel
denn es ist nur das kurzfristige Versprechen, das politisch an wirksamer Willensäußerung. Jedermann hat natürlich seine
zählt, und nur die kurzfristige Rationalität, die sich wirksam eigenen Phrasen, seine Begehren, seine Wunschträume und
durchsetzt. seine Beschwerden; namentlich besitzt jedermann seine Vor-
Wenn wir uns jedoch noch weiter von den privaten Belan- lieben und seine Abneigungen. Aber gewöhnlich entspricht
gen der Familie und des Bureaus entfernen und uns in jene dies nicht dem, was wir einen Willen nennen — das psychische
Regionen nationaler und internationaler Angelegenheiten be- Gegenstück zu ziel- und verantwortungsbewußtem Handeln.
geben, denen eine unmittelbare und unmißverständliche Ver- De facto gibt es fur den privaten Burger, der über nationale
bindung mit jenen privaten Belangen fehlt, so entsprechen die Angelegenheiten nachsinnt, keinen Spielraum für einen solchen
private Willensäußerung, die Beherrschung der Tatsachen und Willen und keine Aufgabe, an der er sich entwickeln könnte.
die Methode der Schlußfolgerung sehr bald nicht mehr den Er ist Mitglied eines handlungsunfähigen Komitees, des Komi-
Erfordernissen der klassischen Lehre. Was mir am meisten auf- tees der ganzen Nation, und darum verwendet er auf die Mei-
fällt und mir der eigentliche Kern aller Schwierigkeiten zu sein sterung eines politischen Problems weniger disziplinierte An-
scheint, ist die Tatsache, daB der Sinn für die Wirklichkeit1' so strengung als auf ein Bridgespiells.
völlig verloren geht. Normalerweise teilen die großen politi- Das reduzierte Verantwortungsgefühl und das Fehlen wirk-
samer Willensäußerung erklären ihrerseits den Mangel an Ur-
ta Der Grund, warum die Anhänger Bcnthams dies so vollständig übeг-
sahen, ist der, daB sie die Möglichkeiten der Massenkorruption im moder- Es duгfte eine Hilfe zur Klärung dieses Punktes sein, wenn wir uns
nen Kapitalismus nicht in Betracht zogen. Da sie in ihrerpolitischen Theorie fragen, warum an einem Bridgetisch so viel mehr Intelligenz und klares
den gleichen Fehler begingen wie in ihrer Wirtschaftstheorie, empfanden Denken als beispielsweise in einer politischen Diskussion zwischen Nicht-
sie keine Reue über ihr Postulat, daB «das Volk» der beste Kenner seiner politikern sichtbar wird. Am Bridgetisch ist eine bestimmte Aufgabe ge-
eigenen individuellen Interessen sei und daB diese notwendig mit den stellt; wir unterstehen der Disziplin von SрiеlregeИ; Erfolg und Mißerfolg
Interessen aller Volksangehörigen zusammenfallen mußten. Natürlich Бel sind klar bestimmt, und wir sind an verantwortungslosem Verhalten gehin-
ihnen dies deshalb leichter, weil sie tatsächlich, wenn auch nicht absicht- dert dadurch, daB nicht nur jeder Fehler, den wir machen, sofort zählt,
lich, in den Begriffen der Bourgeois-Interessen philosophierten, die mehr sondern er uns auch unmittelbar zugeschrieben wird. Diese Bedingungen
von einem sparsamer' Staate als von irgendwelchen direkten Bestechungen zeigen gerade dadurch, daß sie für das politische Verhalten des gеwöhп-
zu gewinnen hatten. lichen Burgers nicht erfüllt sind, warum diesem in der Politik all die
1* William James
' .prickelnder Wirklichkeitssinn». Die Bedeutung die- Umsicht und Urteilskraft fehlen, die er in seinem Beruf vielleicht an den
ses Punktes ist besonders von Graham Wallas betont worden. Tag legt.

414 41S
tеilsverгnögen und die Unwissenheit des gewöhnlichen Bür- Sein Denken wird assoziativ und affеktmäBig16. Dies zieht nun
gers in Fragen der innern und äußern Politik, die im Fall gebil- zwei weitere Folgen von omиΡöser Bedeutung nach sich.
deter Leute und solcher Leute, die mit Erfolg in nichtpoliti- Erstens würde der typische Bürger — selbst wenn es keine
schen Lebensstellungen tätig sind, womöglich noch anstößiger politischen Gruppen gäbe, die ihn zu beeinflussen suchten —
sind als bei ungebildeten Leuten auf bescheidenen Posten. In- in politischen Fragen leicht den auBerrationalen oder irrationa-
fоrmatiоnsmöglichkeitеn sind reichlich vorhanden und leicht len Vorurteilen oder Trieben nachgeben. Die Schwäche der ra-
zugänglich. Aber dies scheint überhaupt keinen Unterschied tionalen Verfahrensweisen, die er auf die Politik anwendet, und
auszumachen. Und wir sollten uns drib nicht weiter verwun- das Fehlen einer wirksamen logischen Kontrolle der Resultate,
dern. Wir brauchen nur die Haltung eines Advokaten gegen- zu denen er gelangt, würden an sich schon zur Erklärung genü-
über seinen Instruktionen und die Haltung des gleichen Advo- gen. Überdies wird er, einfach weil er nicht «ganz dabei» ist, in
katen gegenüber den Darstellungen politischer Tatsachen in seinen gewöhnlichen moralischen Anforderungen nachlassen
seiner Zeitung zu vergleichen, um zu sehen, was los ist. Im und gelegentlich dunkeln Impulsen nachgeben, die die Ver-
einen Fall hat der Advokat durch jahrelange zielbewuBte hältnisse seines privaten Lebens ihm gewöhnlich zu unter-
Arbeit, die unter dem eindeutigen Stimulus des Interesses an drücken helfen. Wenn er aber einem Ausbruch edler Ent il-
seiner beruflichen Tüchtigkeit stand, sich dazu befähigt, die stung nachgibt, kann es in bezug auf die Weisheit oder Rationali-
Relevanz seiner Fakten richtig zu wtirdigen; und unter einem tät seiner Folgerungen und Schlüsse gerade so schlecht heraus-
nicht weniger starken Stimulus richtet er nun seine Fertigkeiten, kommen. Dadurch wird es für ihn noch schwieriger, die Dinge
seinen Verstand, seinen Willen auf den Inhalt der Instruktionen. in ihren richtigen Proportionen zu sehen oder gar gleichzeitig
Im andern Fall hat er sich nicht die Mühe genommen, sich aus- mehr als nur eine Seite einer Sache zu sehen. Wenn er einmal
zubilden; er gibt sich auch keine Mühe, die Informationen zu aus seiner gewöhnlichen Unbestimmtheit heraustritt und den
verarbeiten, oder die Regelnder Kritik, die er sonst so gut zu bestimmten Willen entfaltet, den die klassischeLehrederDemo-
gebrauchen weiß, darauf anzuwenden; und lange oder kompli- kratie postuliert, ist es infolgedessen sehr wohl möglich, daB
zierte Argumentationen machen ihn ungeduldig. Dies läuft alles er noch unintelligenter und verantwortungsloser wird, als er
darauf hinaus, zu zeigen, daB ohne die Initiative, die aus unmit- gewöhnlich schon ist. An gewissen Wendepunkten kann sich
telbarer Verantwortlichkeit hervorgeht, die Unwissenheit an- das für seine Nation als verhängnisvoll erweisenl'.
gesichts zahlreicher und noch so vollständiger und richtiger Zweitens: je schwächer jedoch das logische Element in der
Informationen weiterbesteht. Sie besteht weiter auch ange- öffentlichen Meinung ist und je vollständiger die rationale Kri-
sichts der verdienstvollen Bemühungen, die über das boße tik und der rationalisierende Einfluß persönlicher Erfahrung
Präsentieren von Informationen hinauszugelangen und ihre und Verantwortlichkeit fehlt, desto gruBer sinn die Chancen
Verwendung mittels Vorträgen, Kursen und Diskussionsgrup-
l'
pen zu lehren suchen. Die Resultate sind nicht gleich Null. Siehe Kapitel rz.
"
Aber sie sinn gering. Man kann die Menschen nicht die Leiter Über die Bedeutung solcher Ausbrüche kann kein Zweifel bestehen.
hinauftragen. Aber es ist möglich, ihre Echtheit zu bezweifeln. Die Analyse wird in vielen
Sо fällt der typischё Bürger auf eine tiefere Stufe der gedank- Fällen zeigen, daß sie durch die Aktion einer Gruppe veranlaßt wurden
und nicht spontan aus nem Volk entstanden. In diesem Fall gehören sie
lichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt. Er argu- zu einer (zweiten) Klasse von Erscheinungen, mit der wir uns gleich noch
mentiert und analysiert auf eine Art und Weise, die er inner- befassen werden. Persönhch glaube ich, daß es echte Fälle gibt. Aber ich
halb der Spьäгe seiner wirklichen Interessen bereitwillig als bin nicht sicher, ob nicht eine sorgfäldgeге Analyse auch auf ihrem Grund
infantil anerkennen würde. Er wird wieder zum Primitiven. gewisse psychotechnische Anstrengungen entdecken würde.

416 417
für Gruppen, die Privatinteressen verfolgen. Diese Gruppen tieren. Selbst wenn dies jedoch möglich ist, ist das Urteil in der
können aus berufsmäßigen Politikern bestehen oder aus Expo- Regel nicht so leicht zu fällen wie im Fall der Zigarette, weil
nenten wirtschaftlicher Interessen oder aus Idealisten der einen die Wirkungen weniger leicht zu interpretieren sind.
oder andern Art oder aus Menschen, die einfach an der In- Aber solche Künste verderben auch, und zwar in einem Aus-
szenierung und Leitung politischer Schaustellungen ein Inter- maB, das auf dem Gebiet der kommerziellen Reklame völlig
esse finden. Die Soziologie solcher Gruppen ist für das vor- unbekannt ist, jene Formen der politischen Reklame, die sich
liegende Argument unwesentlich. Hier ist einzig wichtig, naß an die Vernunft zu richten vorgeben. Für den Beobachter tritt
sie angesichts der «Menschlichen Natur in der Politik», wie sie der antirationale oder jedenfalls auBerrationale Appell, wenn
nun einmal ist, fähig sind, den Volkswillen zu formen und in- er in Tatsachen und Argumente gehüllt wird, und die Schutz-
nerhalb sehr weiter Grenzen sogar zu schaffen. Wir sehen uns losigkeit des Opfers nicht weniger klar, sondern im Gegenteil
bei der Analyse politischer Prozesse weithin nicht einem ur- klarer zu Tage. Wir haben oben gesehen, warum es so schwie-
spriinglichen, sondern einem fabrizierten Willen gegenüber. rig ist, dem Publikum unparteiische Informationen über poli-
Und oft ist es einzig dieses Artefakt, das in Wirklichkeit der tische Probleme und logisch richtige Schlußfolgerungen dar-
vi/onU ,g'n'гйје der klassischen Lehre entspricht. Soweit dies so aus zu vermitteln, und woher es kommt, daß Informationen
ist, ist der «Wille des Volks» das Erzeugnis und nicht die Trieb- und Argumente in politischen Fragen nur «vermerkt» werden,
kraft des politischen Prozesses. wenn sie an schon vorhandene Vorstellungen des Bürgers an-
Die Art und Weise, in der Probleme und der Volkswille in knüpfen können. In der Regel sind jedoch diese Vorstellungen
bezug auf diese Probleme fabriziert werden, ist völlig analog nicht bestimmt genug, um besondere Schlußfolgerungen zu
zur Art und Weise der kommerziellen Reklametechnik. Wir determinieren. Da sie ihrerseits fabriziert werden können, ist
finden die gleichen Versuche, an das Unterbewußtsein heran- ein wirksames polirisches Argument fast unvermeidlich gleich-
zukommen. Wir finden die gleiche Technik der Schaffung gün- bedeutend mit dem Versuch, vorhandene willensmäßige Pгä-
Í stigeт oder ungünstiger Assoziationen, die um so wirksamer risseп in eine besondere Form zu gießen, und nicht nur mit
sind, je weniger rational sie sind. Wir sehen, daB das gleiche dem Versuch, sie zu ergänzen oder dem Bürger zu helfen, seine
vermieden, das gleiche verschwiegen wird, und wir finden den Entschlüsse zu fassen.
gleichen Trick, durch wiederholte Behauptung eine Meinung So sind denn Informationen und Argumente, für die schla-
zu schaffen — und dieser Trick ist genau so lange erfolgreich, gende Beweise vorgebracht werden, zumeist die Diener poli-
als er rationale Argumente vermeidet und so auch die Gefahr, tischer Absichten. Da der Mensch immer als erstes für seine
die kritischen Fähigkeiten des Volkes zu wecken. In diesem Ideale und Interessen zu lügen bereit sein wird, dürfen wir er-
Stile gehen die Analogien weiter. Nur haben alle diese Künste warten und finden wir auch tatsächlich, daB eine wirksame
unendlich mehr Spielraum in der Sphäre der öffentlichen Ange- Information beinahe immer verfälscht oder ausgеwählt18 ist
legenheiteri als in der Sphäre nes privaten und beruflichen Le- und daB eine wirksame Argumentation in der Politik haupt-
bens. Das Bild des hübschesten Mädchens, das je gelebt hat, sächlich darin besteht, gewisse Behauptungen zu Axiomen zu
wird sich auf die Dauer als machtlos erweisen, um den Absatz erheben und andere von der Traktandenliste zu streichen; so
einer schlechten Zigarette aufrechtzuerhalten. Eine entspre- kommt sie auf die oben erwähnte Psychotechnik heraus. Der
chend wirksame Sicherung im Fall politischer Entscheidungen Leser, der mich für ungebührlich pessimistisch hält, braucht
gibt es nicht. Viele Entscheidungen von verhängnisvoller Be-
deutung sind so beschaffen, daß es dem Publikum unmöglich u Eine ausgewählte Infoппation, selbst wenn sie an sich richtig ist, ist
ist, in Muße und zu тi3igen Kosten mit ihnen zu experimen- ein Versuch zu lügen, indem ran die Wahrheit spricht.

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sich nur selbst zu fragen, ob er niemals gehört — oder selber IV. Gründe für das Weiterbestehen der klassische,, Lehr,
gesagt — hat, daß von dieser oder jener unbequemen Tatsache
nicht öffentlich gesprochen werden darf oder daß eine gewisse Wie ist es jedoch möglich, daß eine Lehre, die in so offen-
Richtung der Argumentation trotz ihгегGültigkeitunerwüпscht kundigem Gegensatz zu der Tatsachen steht, bis heute weiter-
ist. Wenn Menschen, die nach den üblichen Maßstäben höchst gelebt und weiter ihren Platz in den Herzen des Volkes und in
ehrenwert, ja sogar hochgesinnt sind, sich den Implikationen der offiziellen Sprache der Regierungen behauptet hat? Die
daraus fügen — zeigen sie nicht dadurch, was sie über die Ver- widersprechenden Fakten sind jedermann bekannt — jedermann
dienste oder sogar die Existenz des Volkswillens denken? gibt sie mit vollkommener, häufig mit zynischer Offenheit zu.
Dies alles hat natürlich seine Greпzen19. Es liegt viel Wahr- Die theoretische Grundlage, der utilitaristische Rationalismus,
heit in Jeffersors Ausspruch, daB letzten Endes die Leute klü- ist tot — niemand anerkennt ihn noch als eine richtige Theorie
ger sind, als jedes einzelne Individuum sein kann, oder in L n- der Politik. Trotzdem ist unsere Frage nicht schwierig zu be-
colns Ausspruch über die Unmöglichkeit, «ѕг ndig das ganze antworten.
Volk zum Narren zu halten». Aber beide Aussprüche betonen Erstens einmal findet die klassische Lehre vom kollektiven
in höchst bezeichnender Weise den langfristigen Aspekt. Ohne Handeln, obschon sie durch die Resultate der empirischen Ana-
Zweifel ist es möglich zu argumentieren, daß nach einer gewis- lyse nicht gestützt wird, in jener Assoziation mit der Religion,
sen Zeit die kollektive Psyche Ansichten entwickeln wird, die auf die ich bereits aufmerksam gemacht habe, eine sehr kräftige
uns nicht selten als höchst vernünftig und sogar scharfsinnig Unterstützung. Das mag auf den ersten Blick nicht sehr ein-
vorkommen. Die Geschichte besteht indessen aus einer Folge leuchtend sein. Die fi.ihrenden Utilitaristen waren alles andere
von kurzfristigen Situationen, die den Lauf der Dinge endgül- als regiös im gewöhnlichen Sinne des Wortes. De facto glaub-
tig verändern können. Wenn das ganze Volk kurzfristig Saum ten sie sich antireligiös und wurden auch fast allgemein daftir
Narren gehalten» und schrittweise zu etwas verführt werden gehalten. Sie waren stolz auf ihre Haltung, die sie gerade als
kann, was es nicht eigentlich will, und wenn das kein Ausnahme- urmetaphysisch ansahen, und sie hatten keinerlei Sympathie
fall ist, den wir übersehen dürfen, so wird noch so viel gesunder für die religiösen Einrichtungen und die religiösen Bewegungen
Menschenverstand rückschauend nichts an der Tatsache än- ihrer Zeit. Wir brauchen jedoch nur noch einen Blick auf das
dern können, daß in Wirklichkeit das Volk die Streitfragen Bild zu werfen, das sie vom sozialen ProzeB entwarfen, um zu
weder stellt noch entscheidet, sondern daß diese Fragen, die entdecken, daß es wesentliche Züge des Glaubens nes prote-
sein Schicksal bestimmen, normalerweise für das Volk gestellt stantischen Christentums enthielt und de facto aus diesem
und entschieden werden. Gerade wer die Demokratie liebt, hat Glauben abgeleitet war. Den Intellektuellen, die ihre Religion
mehr Grund als irgend jemand sonst, diese Tatsache anzuerken- abgeworfen hatten, bot das utilitaristische Bekenntnis einen
nen und sein Glaubensbekenntnis von dem Vorwurf zu befreien, Ersatz dafür. Den Vielen, die ihren religiösen Glauben behalten
daß es auf Spiegelfechterei beruht. hatten, wurde die klassische Lehre zu einer politischen Er-
gänzungeo.
Indem diese Lehre — und in der Folge auch jene Art
demokratischer Überzeugung, die auf ihr basiert — in die Kate-
I' Wahrscheinlich würden diese Grenzen deutlicher sichtbar, Wean
20 Man beachte die Analogie zum sozialistischen Glauben; auch dieser
Streitfragen häufiger durch ein Referendum entschieden würden. Vermut-
lich wissen die Politiker, weshalb sie gegeneber dieser Einrichtung eine ist fi г einige Menschen ein Ersatz nes christlichen Glaubens, für andere eis
fast immer feindliche Haltung einnehmen. Ergänzung.

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gorien der Religion transponiert wird, verändert sie ihr Wesen. Wir können unser Problem auch anders stellen und sagen,
Man braucht sich nun nicht mehr irgendwelche logische Skru- daß die Demokratie, wenn sie auf diese Weise motiviert wird,
peln über das «Allgemeinwohl» und «Die letzten Werte» zu aufhört, eine ьl oße Methode zu sein, über die man rational wie
machen. All das ist für uns bereits entschieden durch den Plan über eine Dampfmaschine oder ein Desinfektionsmittel dis-
des Schöpfers, durch dessen Absicht alles bestimmt und sank- kutieren kann. Sie wird nun tatsächlich zu etwas, wozu ich sie
diniert wird. Was friiher unbestimmt und unmotiviert schien, von einem andern Standpunkt aus für unfähig hielt, nämlich
ist plötzlich völlig bestimmt und überzeugend. Beispielsweise zu einem idealen oder richtiger zum Teil eines idealen Schemas
ist die Stimme des Volkes nun Gottes Stimme. Oder nehmen der Dinge. Allein schon das Wort kann zu einer Fahne, zu
wir die Gleichheit: ihre wirkliche Bedeutung ist ungewiß, und einem Symbol all dessen werden, was dem Menschen teuer ist,
es besteht kaum irgendwelche rationale Berechtigung, sie zu was er an seinem Lande liebt, ob es nun rational dazu gehör
einem Postulat zu erheben, solange wir uns in der Sphäre empi- oder nicht. Auf der einen Seite wird ihm dann die Frage, in
rischer Analyse bewegen. Das Christentum birgt jedoch ein welchem Verhältnis die verschiedenen, im demokratischen
stark egalitäres Element. Der Erlöser ist für alle gestorben: er Glaubensbekenntnis enthaltenen Behauptungen zu den Tat-
hat keinen Unterschied gemacht zwischen Individuen verschie- sachen der Politik stehen, ebenso irrelevant werden, wie es
denen sozialen Standes. Dadurch hat er Zeugnis abgelegt für für den gläubigen Katholiken die Frage ist, wie das Verhalten
den inneren Wert der individuellen Seеlе, einen Wert, der keine Alexanders VI. zu dem übernatürlichen Glorienschein paßt,
Abstufungen zuläßt. Ist nicht dies eine Saпktiоniеrung — und der das Amt des Papstes umgibt. Auf der andern Seite wird
wie mir scheint, die einzig möglichеаl —, um «jeden als einen, ein Demokrat dieses Typs zwar Forderungen, die weitreichende
niemanden für mehr als einen zu zählen» — eine Sanktioпiеrung, Implikationen in bezug auf Gleichheit und Brüderlichkeit ent-
die Artikeln des demokratischen Glaubensbekenntnisses einen halten, akzeptieren, trotzdem aber in der Lage sein, in aller Auf-
überirdischen Sinn einflößt, für die es nicht leicht ist, einen richtigkeit auch fast jegliche Abweichung zu akzeptieren, die
anderen zu finden? Diese Deutung überdeckt nicht alles, be- seine eigene Haltung oder Stellung mit sich bringen mag. Das ist
stimmt nicht. Trotzdem scheint sie, soweit als sie reicht, man- nicht einmal unlogisch. Bloße Distanz vom Faktum ist kein Argu-
ches zu erklären, das sonst unerklärlich, ja sinnlos wäre. Na- ment gegen eine ethische Maxime oder eine mystische Hoffnung.
mentlich erklärt sie die Haltung des Gläubigen gegenüber der Zweitens besteht die Tatsache, daß die Formen und Phrasen
Kritik: wie im Falle des Sozialismus wird die grundsätzlich der klassischen Demokratie für viele Nationen mit Ereignissen
andere Meinung nicht bl oB als Irrtum, sondern als Sünde be- und Entwicklungen in ihrer Geschichte verbunden sind, von
trachtet; sie ist AnlaB nicht bloB zu logischem Gegenargument, der die große Mehrheit begeistert ist und die sie billigt. Jede
sondern auch zu moralischer Entrüstung. Opposition gegen ein bestehendes Regime wird wahrschein-
lich diese Formen und Phrasen benützen, uпabhäаgig von ihrer
f1 Es könnte eingewendet werden, daß so schwierig es sein mag, dem
Bedeutung und ihren sozialen Wurzeln'=. Wenn sie sich durch-
Wog QGleichheit, eine allgemeine Bedeutung beizulegen, doch in den mei-
sten,wenn nicht in allen Fällen eine solche Bedeutung aus dem Zusammen- wir aber fragen,warum diese Behauptung moralisch und politisch bindend
hang herausgelesen werden kann. Man könnte zur Beispiel aua den Um- sein soll, und wenn wir nicht antworten wollen, «weil jeder Mensch von
ständen, unter denen die Ansprache von Gettysburg gehalten wurde, wohl Natur aus genau gleich wie jeder andere ist', dann können wir nur auf die
ableiten, daß mit der .Behauptung, daß alle Menschen frei und gleich durch den christlichen Glauben gegebene Sanktioniеrung zurückgreifen
geschaffen sind Lincoln einfach die Gleichheit de» gesetzlichen Status Diese Lösung ist möglicherweise im Wort «geschaffen» enthalten.
meinte, im Gegensatz zur Ungleichheit,die in der Anerkennung der Skla- *a Es könnte scheinen,als ob eine Ausnahme für Oppositionen zu mácheп
verei enthalten ist. Diese Bedeutung wäre hinreichend bestimmt. Wenn wäre, die sich zu offenkundig autokratischen Regimes entwickeln.lAber

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setzt und wenn die darauf folgende Entwicklung sich als zu- weise gereichte auch dies jenem Glauben zur Ehre, der sich
friedenstellend erweist, dann werden diese Formen in der na- überdies vorteilhaft abhob gegen den dunklen Aberglauben,
tionalen Ideologie Wurzel schlagen. den diese Regierungen unterstützten. Unter diesen Umständen
Die Vereinigten Staaten sind in dieser Hinsicht das hervor- bedeutete die demokratische Revolution den Anbruch der Frei-
ragendste Beispiel. Ihre Existenz als souveräner Staat ist mit heit und Anständigkeit und der demokratische Glauben ein
dem Kampf gegen ein monarchisches und aristokratisches Eng- Evangelium der Vernunft und Verbesserung. Natürlich war es
land verknüpft. Mit Ausnahme einer Minderheit von Loyalisten nicht anders möglich, als daß mit der Zeit dieser Vorteil ver-
erblickten wahrscheinlich die Amerikaner zur Zeit der Gren- lorenging und der Abstand zwischen Lehre und Praxis der
ville'schen Verwaltung im englischen Monarchen schon nicht Demokratie entdeckt wurde. Aber der Glanz des Tagesan-
mehr ihren König und in der englischen Aristokratie nicht mehr bruchs verblich nur langsam.
ihre Aristokratie. Im Unabhängigkeitskrieg fochten sie gegen Drittens darf nicht vergessen werden, daB es soziale Systeme
einen Monarchen und eine Aristokratie, die ihnen sowohl tat- gibt, in denen die klassische Lehre tatsächlich den Fakten mit
sächlich wie ihrem Empfinden nach Fremde geworden waren, einem genügenden Nähеrungsgrad entspricht. Wie erwähnt, ist
die sich in ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen ein- dies der Fall bei vielen kleinen und primitiven Gesellschaften,
mischten. Schon von einem frühen Stadium der Unruhen an die denn auch den Urhebern dieser Lehre als Prototyp dienten.
stellten sie jedoch ihre Sache, die in Wirklichkeit eine natio- Es kann dies auch der Fall sein bei Gesellschaften, die nicht
nale war, als einen Kampf des «Volkes» gegen seine «Herrschers primitiv sind, vorausgesetzt, daB sie nicht allzu differeдziегt
dar, in der Form von unveräußerlichen «Menschenrechten» und sind und keine allzu schwierigen Probleme aufweisen. Die
im Licht der allgemeinen Prinzipien der klassischen Demokra- Schweiz ist das beste Beispiel dafür. Es gibt so wenig AnlaB
tie. Der Wortlaut der Unabhängigkeitserklärung und der Ver- zum Streit in einer Welt von Bauern, die, mit Ausnahme von
fassung übernahm diese Prinzipien. Es folgte eine erstaunliche Hotels und Banken, keine große kapitalistische Industrie ent-
Entwicklung, die die meisten Amerikaner vollauf beschäftigte hält, und die Probleme der öffentlichen Politik sind so einfach
und befriedigte und dadurch die in den geheiligten Dokumen- und stetig, daß von einer überwältigenden Mehrheit ej0
ten der Nation aufbewahrte Lehre zu verifizieren schien. Хgl*
stäпdnis für sie und eine Einigung über sie erwartet
Oppositionen erringen selten den Sieg, solange die herr- kann. Aber wenn wir zum Schluß kommen, daB sich
schenden Gruppen auf der Höhe ihrer Macht und ihres Er- chen Fällen die klassische Lehre der Wirklichkeit näheјцs Лoг3
folges stehen. In der ersten Hälfte nes neunzehnten Jahrhun- sen wir sofort hinzufügen, daB sie es nicht darum tut,
derts haben die Oppositionen, die sich zum klassischen Glau- einen wirksamen Mechanismus politischer Entscheidp1• D!c
ben der Demokratie bekannten, sich erhoben und sich letzten schreibt, sondern nur weil hier keine großen EntscheirÇ»c*
Endes durchgesetzt gegen Regierungen, von denen einige — zu treffen sind. Endlich kann auch hier wieder an d
namentlich in Italien — offenkundig im Zustande des Verfalls der Vereinigten Staaten erinnert werden, um zu zeige
und sprichwörtlich für ihre Unfähigkeit, Brutalität und Kor- die klassische Lehre manchmal mit den tatsächlichen
ruption waren. Natürlicher-, wenn auch nicht ganz logischer- hissen übereinzustimmen scheint auch in einer Gеsеlрs пgt°
selbst diese entstanden historisch gesehen meistens auf demokratischem die groß und stark differenziert ist, und in der große Prmзz qг
Wege und gründeten ihre Herrschaft auf die Zustimmung des Volkes. entschieden werden müssen, vorausgesetzt daB ihnenцз nѕ-
Cásar wurde nicht von Plebejern umgebracht. Doch die aristokratischen günstige Umstände der Stachel genommen ist. Bis zum Ein-
Oligarchen, die ihn ermordeten, gebrauchten ebenfalls demokratische tritt der Vereinigten Staaten in den ersten Weltkrieg war die
Phrasen. öffentliche Meinung hauptsächlich mit der Aufgabe beschäftigt,
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425
г

die wirtschaftlichen Möglichkeiten der eigenen Umwelt aus- 1 ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

zunützen. Solange diese Beschäftigung nicht ernstlich gestört


EINE ANDERE THEORIE DER DEMOKRATIE
wurde, war dem Durchschnittsbürger, der auf die Possen der
Politiker mit gutmütiger Verachtung herabsah, alles andere
grundsätzlichglеichgültig. Einzelne Gruppen mochten sich über
die Zölle, über die Silberpolitik, über lokale Mißwirtschaft oder
über einen gelegentlichen Zank mit England aufregen. Das
Volk im großen und ganzen kümmerte sich nicht viel darum, L Der KoпkиrreпZkampf xm die politische Fübruпg
außer in dem einem Fall ernster Meinungsverschiedenheit, die
denn auch zu einem nationalen Unheil, dem Bürgerkrieg, führte. Ich glaube, daB die meisten politisch Interessierten bereits
Und viertens wird natürlich von den Politikern eine Aus- so weit sind, daß sie die Kritik akzeptieren, die im vorange-
drucksweise hoch geschátzt, die den Massen schmeichelt und gangenen Kapitel gegen die klassische Lehre der Demokratie
eine ausgezeichnete Gelegenheit bietet, um nicht nur der Ver- gerichtet wurde. Ich glaube auch, daß die meisten schon jetzt
antwortung auszuweichen, sondern auch die Gegner zu zer- bereit sind oder es bald sein werden, eine andere Theorie zu
schmettern — im Namen nes Volkes. akzeptieren, die viel lebenswahrer ist und gleichzeitig viel von
dem vor dem Untergang bewahrt, was die Paten der demo-
kratischen Methode mit diesem Ausdruck wirklich meinen.
Sie sei wie die klassische Theorie in aller Kürze hier definiert.
Es sei daran erinnert, naß unsere Hauptschwierigkeiten bei
der klassischen Theorie sich um die Behauptung gruppierten,
daB «das Volk» eine feststehende und rationale Ansicht über
jede einzelne Frage besitzt und daB és — in einer Demokratie —¡
dieser Ansicht dadurch Wirkungskraft verleiht, daB es «Ver-
treter» wählt, die dafür sorgen, daB diese Ansicht ausgeführt
wird. So wird die Wahl der Repräsentanten dem Hauptzweck
der demokratischen Ordnung nachgeordnet, der darin besteh*j
der Wihlerschaft die Macht des politischen Entscheides zu ve
leihen. Angenommen nun, wir vertauschen die Rollen diesa—
beiden Elemente und stellen den Entscheid von Fragen durc-L1
die Wählerschaft der Wahl jener Männer nach, die die Eni
Scheidung zu treffen haben. Oder um es anders auszudrücken
wir nehmen nun den Standpunkt ein, daB die Rolle des Volkev
darin besteht, eine Regierung hervorzubringen oder sonst ein
dazwischengeschobene Körperschaft, die ihrerseits eine natic
aale Exekutiver oder Regierung hervorbringt. Und wir deft

1 Das unaufrichtige Wort aExekutive» weist zwar in Wirklichkeit in


eine falsche Richtung. Aber es verliert diese, wenn wir es in dem Sinn
426 427
i
nieren: die emоkгatische MеthodeÎist diejenige Ordnung der werden. Solch eine Ordnung kann das Volk durchaus befriedi-
Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei gen. Die Wählerschaft kann diese Tatsache bestätigen dadurch,
welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines daB sie gegen jeden Vorschlag einer Abänderung stimmt. Der
l Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben. Monarch kann so populär sein, daB er jeden Mitbewerber um
Die Verteidigung und Erklärung dieser Idee wird sehr bald das höchste Amt zu schlagen vermag. Aber da kein Mechanis-
zeigen, daB sie hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit ihrer Prä- mus vorhanden ist, um diese Konkurrenz wirksam zu gestalten,
missen und der Haltbarkeit ihrer Behauptungen die Theorie fällt diesr Fall nicht unter unsere Definition.
nes demokratischen Prozesses beträchtlich verbessert. (Zweitens' läßt uns die in dieser Definition verkörperte Theorie
Еrsten gelangen wir in den Besitz eines leidlich brauchbaren аli wünschbaren Raum für eine angemessene Anerkennung
Kriteriums, mit welchem demokratische Regierungen von_an der lebenswichtigen Tatsache der Führung. Die klassische
dein unterschieden werden können. Wir haben gesehen, daB Theorie hat das nicht getan, sondern hat, wie wir gesehen ha-
die klassische Theorie deswegen in Schwierigkeiten gerät, weil ben, der Wählerschaft ein völlig wirklichkeitsfremdes Ausmaß
durch Regierungen, die nach keinem anerkannten Gebrauch von Initiative beigelegt, was praktisch auf ein Ignorieren der
des Begriffes «demokratisch» genannt werden können, sowohl Führung herauskam. Kollektive handeln jedoch beinahe aus-
dem Willen wie auch dem Wohl des Volkes gerade so gut oder schließlich dadurch, daB sie eine Führung akzeptieren — es ist
sogar besser gedient werden kann und in vielen historischen dies der beherrschende Mechanismus praktisch jedes kollek-
Fällen auch gedient worden ist. Jetzt befinden wir uns aber in tiven Handelns, das mehr ist als boßer Reflex. Behauptungen
einer etwas besseren Lage, zur Teil darum, weil wir die Bedeu- über das Funktionieren und die Resultate der demokratischen
tung nes modi'r procedendi hervorzuheben entschlossen sind, des- Methode, die dem Rechnung tragen, sinn daher notwendig
sen Vorhandensein oder Fehlen in den meisten Fällen leicht zu sehr viel wirklichkeitsnäher als Behauptungen, die es nicht tun.
verifizieren ist'. Sie werden nicht schon bei der Ausführung einer uoloitégénérak
Zum Beispiel erfüllt eine parlamentarische Monarchie wie die Halt machen, sondern werden weitgehend zeigen, wie sie ent-
englische die Anforderungen der demokratischen Methode, steht oder wie sie substituiert oder verfälscht wird. Was wir
weil der Monarch praktisch dazu gezwungen ist, die gleichen den «fabrizierten Willen» genannt haben, steht nun nicht mehr
Männer in das Kabinett zu berufen, die das Parlament wählen außerhalb der Theorie, ist keine Verirrung mehr, um deren
würde. Eine «konstitutionelle» Monarchie besitzt nicht die Nichtvorhandensein wir den Himmel bitten; er gehört, wie es
Eigenschaften, um sie demokratisch nennen zu können, weil sein muß, in die Mitte unseres Gebäudes.
den Wählerschaften und Parlamenten — während sie alle andern .Drittens jedoch, soweit es überhaupt echte Willensäußerun-
gen vón Gruppen gibt — zum Beispiel nen Willen der Arbeits-
Rechte mit den Wählerschaften und Parlamenten der parla-
mentarischen Monarchie gemein haben — doch die Befugnis losen, Arbeitslosenunterstiitzung zu bekommen, oder den Wil-
fehlt, ihre Wünsche in bezug auf das regierende Komitee durch- len anderer Gruppen, zu helfen — werden auch diese von unserer
zusetzen: die Kabinettsminister sinn in diesem Falle Diener Theorie nicht vernachlässigt. Im Gegenteil vеrmógеn wir ihnen
nun gerade die Rolle zuzuweisen, die sie tatsächlich spielen.
nes Monarchen, dem Wesen wie auch dem Namen nach, und Regel 'ht un-
Solche Willensäußerungen setzen sich h 'inder R 1 nicht
können im Prinzip von ihm ebenso gut entlassen wie ernannt
mittelbar durch. Selbst wenn sie krafug und bestimmt sind,,
mittelbar
brauchen, in dem wir von nen aausführenden Organen» einer Gesellschafts- eiben sie '-'ft während Jahrzehnten latent, bis sie von irgend
unternehmung sprechen, die ebenfalls beträchtlich mehr tun, als nur den einem politischen Führer, der sie in politische Faktoren ver-
Willen der Aktieninhaber «auszufubren'.
wandelt, zum Leben erweckt werden. Dies tut er — oder sonst
'Man vergleiche immerhin weiter unten den vierten Punkt.
429
428
tun es seine Agenten für ihn—, indem erdiese Willensäußerungen als «unfaire» oder «betrügerische» Konkurrenz oder als Kon-
organisiert, indem er sie aufstachelt und indem er zuletzt geeig- kurrenzbeschränkung bezeichnen. Und wir können sie richt
nete Punkte in seine Werbeschriften aufnimmt. Die Wechsel- ausschließen, da uns, wenn wir es täten, nur ein völlig wirk-
beziehung zwischen Sonderinteressen und öffeпtliсher Meinung lichkeitsfremdes Idealbild übrig bliebe'. Zwischen diesem Ideal-
und die Art, in der sie die Form hervorbringen, die wir die po1.. fall, der nicht existiert, und den Fällen, in welchen jegliche Kon-
tische Situation nennen, erscheinen von diesem Standpunkt aus kurrenz mit dem regierenden Führer mit Gewalt verhindert
in еiпeriеиеп und viel klareren Licht. wird, liegt eine fortlaufende Reihe von Variationen, innerhalb
Viertens t natürlich unsere Theorie ebenso wenig genau be- derer die demokratische Regierungsmethode mit unendlich klei-
stimmt, a s es der Begriff des Konkurrenzkampfes um die Fiih- nen Schritten allmählich in die autokratische übergeht. Aber
rung ist. Dieser Begriff bietet ähnliche Schwierigkeiten wie der wenn wir nicht philosophieren, sondern verstehen wollen, so
Begriff der Konkurrenz in der wirtschaftlichen Sphäre, mit dem ist dies durchaus in Ordnung. Der Wert unseres Kriteriums
er nutzbringend verglichen werden kann. Im Wirtschaftsleben wird dadurch nicht ernsthaft geschädigt.
fehlt die Konkurrenz nie völlig, aber sie ist kaum je vollkom- Fiiriftens scheint unsere Theorie die Beziehung zu klären, die
men'. Ahnlich besteht im politischen Leben immer einige Kon- V zwischen der Demokratie und der individuellen Freiheit be-
kurrenz, wenn auch vielleicht nur potentiell, um die Gefolg- steht. Wenn wir mit letzterer das Vorhandensein einer Sphäre
schaft des Volkes. Zur Vereinfachung haben wir jene Art von individueller Selbstregierung meinen, deren Grenzen histo-
Konkurrenz um die Führung, die die Demokratie definieren risch veränderlich sind — kerne Gesellschaft duldet absolute
soll, auf freie Konkurrenz um freie Stimmen beschränkt. Be- Freiheit, nicht einmal eine absolute Gewissens- und Redefrei-
rechtigt ist dies deshalb, weil «Demokratie» eine anerkannte heit, kerne Gesellschaft reduziert diese Sphäre auf Null —, dann
Methode zu implizieren scheint, nach welcher der Konkurrenz- wird diese Frage offenkundig zu einer Sache des Grades. Wir
kampf zu fuhren ist, und weil die Methode der Wahl praktisch haben gesehen, daB die demokratische Methodenichtunbedingt
die einzig mögliche fur Gemeinwesen aller Größen ist. Doch eine größere Summe individueller Freiheit garantiert, als irgend
obschon dadurch viele Arten der Gewinnung der Führung aus- eine andere politische Methode unter gleichen Umständen ge-
geschlossen werden, die ausgeschlossen werden sollten', wie statten würde. Es kann sehr wohl umgekehrt sein) Aber es be-
zum Beispiel die Konkurrenz durch einen militärischen Auf- steht noch eine Beziehung zwischen den beiden. Wenn, wenig-
stand, werden doch nicht die Fälle ausgeschlossen, die auffal- stens im Prinzip, jedermann die Freiheit hat, sich dadurch um
lend analog zu jenen wirtschaftlichen Phänomenen sind, die wir die politische Führung zu bewerben, daB er sich der Wähler-
schaft vorstellt', dann wird dies in den meisten, wenn auch nicht
' In Teil II hatten wir Beispiele der Probleme, die daraus entstehen. in allen Fällen, ein beträchtliches Quantum Diskussionsfreiheit
Es werden auch Methoden ausgeschlossen, die nicht ausgeschlossen
' fur alle bedeuten. Namentlich wird es normalerweise ein be-
werden sollten, zum Beispiel der Erwerb politischer Führung durch die trächtliches Quantum Pressefreiheit bedeuten. Diese Beziehung
stillschweigende Hinnahme des Volkes oder durch die Wahl quasi per in-
zwischen Demokratie und Freiheit ist nicht absolut bündig und
tpiratioлΡеm. Letztere unterscheidet sich von einer Wahl durch Stimmabgabe
kann verfälscht werden. Aber vom Standpunkt nes Intellek-
nur durch einen technischen Unterschied. Aber die erstere ist nicht ganz
ohne Bedeutung, sogar in der modernen Politik; der Einfluß, den ein Par-
teiführer iлΡлΡerbalb seiner Partei hat, beruht oft auf nichts anderem als auf ' Wie auf wirtschaftlichem Gebiet sind eizig' Einschr*nkungea in den
der stillschweigenden Hinnahme seiner Führung. Vergleichsweise sind gesetzlichen und moralischen Prinzipien des Gemeinwesens enthalten
dies jedoch Details, die meines Erachtens in einer Skizze wie der vorliegen- t ' Das heißt Freiheit im gleichen Sinne, wie jedermann die Freiheit hat,
den vernachlässigt werden dürfen. eine weitere Textilfabrik aufzutun.

43° 431
tuellen aus ist sie nichtsdestoweniger sehr wichtig. Gleich-
ser» der verschiedenen Pläne für eine «proportionale Vertre-
zeitig ist dies aber auch alles, was über diese Beziehung gesagt
werden kann. tung» unternommen worden.
Diese Pläne sind aus praktischen Gründen auf ablehnende
Sechstens sollte beachtet werden, daß indem ich es zur Haupt-
Kritik gestoßen. Es liegt in der Tat offen zu Tage, daB der Pro-
funktion der Wählerschaft machte, (direkt oder durch eine da-
porz nicht nur allen möglichen Idiosynkrasien Gelegenheit bie-
zwischengeschobene Körperschaft) eine Regierung hervorzu-
tet, sich breit zu machen, sondern daB er auch die Demokratie
bringen, ich in diese Formulierung auch die Funktion ihrer
hindern mag, arbeitsfähige Regierungen hervorzubringen, und
Absetzung einschließen wollte. Das eine bedeutet einfach die
sich so als Gefahr in Zeiten der Bedrängnis erweisen kann°.
Akzeptierung eines Führers oder einer Gruppe von Führern, Bevor wir jedoch daraus den Schluß ziehen, daB die Demokra-
das andere einfach die Rücknahme dieser Akzeptierung. Da- tie funktionsunfähig wird, sobald man ihr Prinzip folgerichtig
durch wird ein Element berücksichtigt, das der Leser bisher durchfühгt, sollten wir uns lieber fragen, ob dieses Prinzip wirk-
vermißt haben dürfte. Er mag daran gedacht haben, daß die lich die proportionale Vertretung impliziert. In Tat und Wahr-
Wählerschaft nicht nur installiert, sondern auch kontrolliert. heit tut es dies nicht. Wenn die Anerkennung der Führung die
Aber da die Wählerschaft normalerweise ihre politischen Fah- eigentliche Funktion der Stimmabgabe der Wählerschaft ist,
rer nur insofern kontrolliert, als sie es ablehnt, sie selbst oder bricht die Verteidigung des Proporzes zusammen, weil ihre
die sie stützenden parlamentarischen Mehrheiten wiederzu- Pгämissen nicht mehr bindend sind. Das Prinzip der Demokra-
i
wählen, scheint es angebracht zu sein, unsere Vorstellungen tie bedeutet dann einfach, daB die Zügel der Regierung jenen
einer KontгΡfllle in der durch unsere Definition angedeuteten
übergeben werden sollten, die über mehr Unterstützung ver-
Weise zu reduzieren. Gelegentlich ereignet sich ein spontaner fügen als die andern, in Konkurrenz stehenden Individuen oder
Umschwung, der unmittelbar eine Regierung oder einen einzel- Teams. Und dies wiederum scheint die Geltung nes Majoritäts-
nen Minister stürzt oder einen bestimmten Kurs aufzwingt. systems innerhalb der Logik der demokratischen Methode zu
Aber dies sind nicht nur Ausnahmefälle — sie stehen auch, wie sichern, obschon wir es auf andern Gebieten, die außerhalb die-
wir noch sehen werden, im Gegensatz zum Geist der demokra- ser Logik liegen, immer noch verurteilen mögen.
tischen Methode.
Siebentens erhellt unsere Methode, was sehr wünschenswert IL Die Anwendung der Priмјpr
ist, einen alten Streitpunkt. Wer immer die klassische Lehre der
Demokratie akzeptiert und folglich glaubt, daß die demokrati- Die im vorausgehenden Abschnitt skizzierte Theorie wollen
sche Methode die Entscheidung der strittigen Fragen und die wir nun an einigen der wichtigeren Struktur- und Funktiºns-
Gestaltung der Politik nach dem Willen des Volkes gewähr- I Merkmale-der - politischen Maschine in den demokratischen
leistet, muß sich an der Tatsache stoßen, daB selbst wenn dieser Ländern ausprobieren.
Wille unbestreitbar wirklich und bestimmt wäre, dann die Ent- r. In einer Demokratie besteht, wie gesagt, die Hauptfunk-
scheidung durch einfache Mehrheiten ihn in vielen Fällen mehr tion der Stimmabgabe des Wählers darin, eine Regierung her-
verdrehen als wirksam werden lassen würde. Der Wille der vorzubringen. Das kann die Wahl einer vollzähligen Beamten-
Mehrheit ist augenscheinlich der Wille der Mehrheit und nicht Garnitur für alle unter bedeuten. Diese Praxis ist jedoch im
der Wille «des Volkes a.
Letzterer ist ein Mosaik, das durchaus
nicht vom ersteren «repräsentiert» wird. Die beiden durch eine ° Die Argumente gegen den Proporz sind von Prof. F. A. Herren» in
DeВnition gleichzusetzen, heißt nicht das Problem lösen. Ver-
«The Trojan Horse of Democracy', Socia/ RsroaгG, November 1938, treff-
suche zu einer wirklichen Lösung sind jedoch von den Verfas- lich zusammengefaßt worden.

432 433
wesentlichen bei Gemeinderegierungen zu finden und wird des- Wählerschaft nicht unmittelbar die Regierung hervor, sondern
halb ш der Folge nicht berücksichtigt'. Wenn wir nur die ein Zwischenorgan, im folgenden Parlament gепannt11, auf das
Staatsregierung betrachten, könпeп wir sagen, daß das Hervor- die Funktion der Hervorbringung der Regierung übergeht. Es
bringen einer Regierung praktisch darauf herauskommt zu ent- durfte leicht sein, die Akzeptierung oder vielmehr die Entwick-
scheiden, wer der führende Mann sein soll'. Wie oben werden lung dieser Ordnung sowohl aus historischen wie aus Gründes
wir ihn «Miпisterpräsideпt» nennen. der Zweckmäßigkeit zu eгkläгen, und ebenso auch die verschie-
Es gibt nur eine Demokratie, wo dies unmittelbar durch die denartigen Formen, die sie in verschiedenen sozialen Systemen
Abstimmung der Wählerschaft geschieht, nämlich die Vereinig- angenommen hat. Aber sie ist keine logische Konstruktion; sie
ten Staatenl'. In allen andern Fällen bringt die Abstimmung der ist ein natürliches Gewächs, und ihre subtilen Bedeutungen und
Resultate sind den offiziellen Theorien — gar nicht zu reden von
' Wir tun dies nur um der Einfachheit willen. Das Phänomen paßt den juristischen — völlig entgangen.
vollkommen in unser Schema.
Wie bringt ein Parlament eine Regierung hervor? Die nahe-
' Das ist nur annähегnd richtig. Zwar verhilft tatsächlich die Stimme
des Wählen einer Gruppe zur Macht, die in allen normalen Fällen einen liegendste Methode ist die, sie zu wählen oder, realstischer, den
individuellen Führer anerkennt ; es gibt aber in der Regel auch noch Füh-
rer zweiten und dritten Ranges, die politische Waffen aus eigenem Recht Kongreß nicht auflösen kann — aber auch der französische Ministегpräsi-
tragen und die der Führer, ohne daB ihm eine andere Wahl bleibt, in dent könnte dies nicht. Andrerseits ist seine Stellung stärker als die des
entsprechende Amter setzen muß. Die Bedeutung dieser Tatsache wird englischen Premierministers, vermöge der Tatsache, daB seine Fühгung
gleich noch ersichtlich werden. unabhängig von einer Mehrheit im KongreB ist, wenigstens gesetzlich;
Auch ein anderer Punkt ist zu beachten. Obschon begründеtе Erwar- denn in Tat und Wahrheit ist er kaltgestellt, wenn er keine besitzt. Ferner
tung besteht, daB ein Mann, der zu höchster Befehlsgewalt aufrückt, im kann er Kabinettsmitglieder (beinahe) nach Belieben ernennen und ent-
allgemeinen ein Mann von betrachdicher persönlicher Kraft ist, einerlei lassen. Letztere können kaum Minister im englischen Sinn des Wortes
was er sonst sein mag — wir werden später noch näher darauf zurückkom- genannt werden und sind in Wirklichkeit nichts anderes, als was das Wort
men —, folgt nicht daraus, daß dies immer der Fall sein wird. Deshalb soll «Staatssekretärs im üblichen Sprachgebrauch besagt. Wir können deshalb
der Ausdruck .Führer. oder .führender Manni nicht implizieren, daß die sagen, daß in gewissem Sinn der Prásidеnt nicht nur Ministerpräsident,
solchermaßen bezeichneten Individuen notwendig mit Führerqualitäten sondem einziger Minister ist, es sei denn, wir sehen eine Analogie zwi-
begabt sind oder daß sie tatsächlich immer persönlich anfйhгеп. Es gibt schen den Funktionen eines englischen Kabinettsministers und den
politische Situationen, die dem Aufstieg von Männern ohne Führerquali- Funktionen der Leiter der Verwaltungskräfte im Kongreß.
täten (und ohne andere Qualitäten) günstig sind und ungünstig fur die Er- Diese und viele andere Eigentümlichkeiten in den Vereinigten Staaten
richtung starker individueller Positionen. Eine Partei oder eine Kombina- oder einem andern Lande, das demokratische Methoden verwendet, zu
tion von Parteien kann daher gelegentlich ohne Haupt sein. Aber jeder- diskutieren und zu interpretieren, bietet keine Schwiеrigkйtеn. Aber um
mann anerkennt, daß dies ein pathologischer Zustand und eine typische Platz zu sparen, werden wir uns hauptsächlich an das englische Modell
Ursache der Niederlage ist. halten und alle andern Fälle als mehr oder weniger wichtige « Abweichun-
10 Wir dürfen meines Erachtens das Wahlkollegium außer acht lassen. gen. betrachten, — auf Grund der Theorie, daB bis jetzt die Logik der demo-
Wenn ich dci Präsidenten der Vereinigten Staaten einen Ministerpräsiden- kratischen Regierung in der englischen Praxis, wenn auch nicht in ihren
ten nenne, will ich damit die grundsätzliche Ahnlichkeit seiner Stellung gesetzlichen Formen, sich am vollstándigsten ausgewirkt hat.
mit der des Ministerpräsidenten in andern Demokratien hervorheben. Aber 11 Man wird sich daran erinnern, daB ich das Parlament als ein Organ
ich möchte nicht die Unterschiede verwischen, obschon sie zur Teil mehr des Staates definiert habe. Obschon dies einfach aus Gründen der for-
formal als wirklich sind. Der wenigst wichtige Unterschied ist der, daB malen ( juristischen) Logik geschah, fugt sich diese Definition doch be-
der Pг3sident auch die weithin nur zeremoniellen Funktionen zum Bei- sonders gut in unsern Begriff der demokratischen Methode ein. Die Mit-
spiel de. franzásischеn Präѕidcnteп аивuЬt. Viel wichtiger ist, daß er den gliedschaft im Parlament ist folglich ein Amt.

434 435
Ministerpräsidenten zu wählen und dann über die von ihm vor- zubringen, wie es eine Wahl durch das Parlament täte. Der Leser
gelegte Ministerliste abzustimmen. Diese Methode wird selten wird auch sehen, daß wo — wie in England— der Premierminister
verwendetl°. Aber sie verdeutlicht besser als alle andern die die tatsächliche Macht hat, das Parlament aufzulösen («sich an
Natur des Vorganges. Zudem können alle andern auf sie redu- das Land zu wenden»), das Resultat bis zu einem gewissen Grad
ziert werden, weil der Mann, der Ministerpräsident wird, in sich dem Resultat nähern wird, das wir von einer direkten Wahl
allen normalen Fällen derjenige ist, den das Parlament wählen des Kabinettes durch die WёЫегschaft erwarten würden, so-
würde. Die Art und Weise, in der er tatsächlich zu seinem Amt lange die letztere ihm ihre Unterstützung gewährtlf. Das mag
berufen wird, — durch einen Monarchen wie in England, durch an einem berühmten Beispiel gezeigt werden.
einen Präsidenten wie in Frankreich oder durch eine besondere 2. Die Regierung Beaconsfield (Disraeli) durfte im Jahre i 879
Stelle oder ein besonderes Komitee wie im Preußischen Frei- nach beinahe sechs Jahren erfolgreicher Machtausübung, die im
staat der Weimarer Periode —, ist eine boße Formsache. augenfälligen Erfolg des Berliner Kongresses gipfеltеl5, nach
Die klassische englische Praxis ist folgende. Nach einer all- l' Wenn, wie es der Fall in Frankreich war, der Ministеrpräsidсnt keine
gemeinen Wahl verfügt die siegreiche Partei normalerweise
solche Macht hat, erlangen die parlamentarischen Koterien eine solche
über eine Mehrheit der Sitze im Parlament und ist so in der Unabhängigkeit, daß dieser Parallelismus zwischen der Akzeptierung eines
Lage, gegen jedermann außer ihrem eigenen Führer ein MiB- Mannes durch das Parlament und der Akzeptierung des gleichen Mannes
trauensvotum auszusprechen — dieser wird auf diese negative durch die Wählerschaft abgeschwächt oder zerstört wird. Das ist die
Weise «durch das Parlament» für die Führung der Nation desi- Situation, in der das Gesellschaftsspiel der parlamentarischen Politik aus-
gniert. Er empfängt seinen Auftrag vom Monarchen — «findet artet. Von unserem Standpunkt aus ist dies eine Abweichung vom Grund-
sich zum HandkuB ein» — und legt ihr seine Ministerliste vor, plan der Maschinerie. Raymond Poincaгé war der gleichen Ansicht.
von der die Liste der Kabinettsminister einen Tel bildet. In Natürlich kommen solche Situationen auch in England vor. Denn die
diese nimmt er erstens ein paar Parteiveteranen auf, die das er- Macht des Premierministers, das Parlament aufzulösen — genau gesagt
halten, was man Ehrenamt nennen könnte, zweitens die Fiih- seine Macht, dem Monarchen «den Rat zu geben«, das Unterhaus aufzu-
lösen —, ist unwirksam, wenn entweder der innere Krams seiner Partei sich
rer des zweiten Glieds, diejenigen, auf die er für die laufenden
dagegen zur Wehr setzt oder wenn keine Aussicht besteht, daß die Wah-
Parlamentskämpfe zählt und die ihre Bevorzugung zum Teil len seinen Einfluß auf das Parlament verstärken werden. Das heißt er
ihrem positiven politischen Wert, zum Teil ihrem Wert als kann stärker (obschon vielleicht immer noch schwach) im Parlament sein,
potentielle Störungsfaktoren verdanken; drittens die kommen- als er es im Land ist. Ein solcher Zustand entwickelt sich tendenzmàßig
den Männer, die er in den Zauberkreis des Amts einführt, um mit einer gewissen Regelmäßigkeit, nachdem eine Regierung wahrend
die «hellen Köpfe der Wilden heranzuziehen»; und manchmal einiger Jahre an der Macht gewesen ist. Unter dem englischen Sуstеm
viertens einige Männer, die er zur Besetzung gewisser Xmter für kann jedoch diese Abweichung vom Grundplan nicht sehr lange dauern.
16 Ich will damit nicht sagen, daß die zeitweilige Regelung der durch den
besonders befähigt hältl9. Aber wiederum hat diese Praxis in
Russisch-Türkischen Krieg aufgeworfenen Fragen und der Erwerb der
allen Normalfällen die Tendenz, die gleichen Resultate hervor-
völlig nutzlosen Insel Cypern an sich solche Meisterstücke der Staatskunst
lt Sie wurde zum Beispiel in Osterreich nach dem Zusammenbruch waren. Ich meine damit vielmehr, daß vom Standpunkt der heimischen
von r 9 c 8 angewendet. Politik aus sie gerade jene Art von augenfälligem Erfolg waren, die der
r3 Wenn man, wie manche es tun, darüber klagt, wie wenig die Befähi- Eitelkeit des Durchschnittsbürgers normalerweise schmeicheln und die
gung für ein Amt bei diesen Methoden zählt, so liegt dies außerhalb dessen, Chancen der Regierung in einer Atmosphire von Jingo-Patriotismus
womit sich cine Beschreibung zu befassen hat; es gehört zum Wesen der stark fördern. In der Tat war es die allgemeine Ansicht, daß Disraeli gesiegt
demokratischen Regierung, daß in erster Linie die politischen Werte zäh- hätte, wenn er das Parlament gleich nach seiner Rückkehr aus Berlin auf-
len und die Fähigkeiten nur nebenbei. gelöst hätte.

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allen üblichen Rechnungen mit Fug einen Wahlerfolg erwarten. Elementen besteht, die nicht verwechselt werden dürfen und
Da erregte plötzlich Gladstone das Land durch eine Reihe von sich von Fall zu Fall in verschiedenem Verhältnis mischen, wo-
Ansprachen von unvergleichlicher Gewalt (Midlothian Cam- bei dann die Mischung den Charakter der Herrschaft jedes ein-
pagne), in denen die türkischen Greuel mit solchem Erfolg aus- zelnen Ministerpräsidenten bestimmt. Äußerlich gesehen ge-
gespielt wurden, daß er persönlich auf einer Woge der populären langt er zu seinem Amt als der führende Mann seiner Partei im
Begeisterung hochgetragen wurde. Die offizielle Partei hatte Parlament. Sobald er jedoch eingesetzt ist, wird er in gewissem
nichts damit zu tun. lvfehrere ihrer Führer drückten sogar ihre Sinn zum Führer des Parlamentes — zum Fühгеr unmittelbar des
Mißbilligung aus. Gladstone hatte die Fiihгung Jahre zuvor Hauses, dessen Mitglied er ist, mittelbar aber auch nes andern.
aufgegeben und eroberte nun das Land ohne fremde Hilfe. Als Das ist mehr als ein offizieller Euphemismus, mehr auch, als was
aber die liberale Partei unter diesem Ansporn einen üЬеrwälti- in seiner Gewalt über seine eigene Partei enthalten ist. Er gelangt
genden sieg davongetragen hatte, war es jedermann klar, daB
er wiederum als Parteiführer akzeptiert werden mußte — nein, einerseits der embryonale Fall von Danby sich unter Karl Il. ereignet
daß er vermöge seiner nationalen Führerschaft der Führer der hatte, und daß andrerseits Wilhelm III. sich nie mit dieser Ordnung aus-
Partei geworden und daB einfach kein Raum für einen andern söhnte und mit Erfolg gewisse Angelegenheiten selbst in der Hand behielt.
Wir dürfen natürlich Ministerpгásideпcen nicht mit bl ollen Ratgebern ver-
da war. Er gelangte zur Macht im Glanz des Ruhms.
wechseln, so einRuBreich diese bei ihrem Herrscher und so fest verankert
Dieses Beispiel lehrt uns nun eine Menge über das Funktio-
sie auch im eigentlichen Zentrum nes offiziellen Machtgebäudes gewesen
nieren der demokratischen Methode. Zunáchst einmal muß man sein mögen, — Männer wie zum Beispiel Richelieu, Mazarin oder Strafford.
sich klar werden, daß es zwar in seiner Dramatik einzigartig ist, Godolphin und Harley unter Königin Anna waren deutliche Übergangs-
aber in sonst nichts. Es ist das übergroße Exemplar einer nor- fälle. Der erste Mann, der schon zu seiner Zeit und auch allgemein von
malen Gattung. Die Felle der beiden Pitt, von Peel, Palmerston, den politischen Historikern anerkannt wurde, war Sir Robert Walpole.
Disraeli, Campbell Bannermann und andern unterscheiden sich Aber sowohl ihm wie auch dem Herzog von Newcastle (oder seinem Bru-
nur dem Grad nach. der, Henry Pelham, oder beiden zusammen) und tatsächlich allen fuhren-
Erstens zur Frage der politischen Führerschaft des Premier- den Männern bis hinunter zu Lord Shelburne (einschließlich nes älteren
miпisteгs1б. Unser Beispiel zeigt, daB sie aus drei verschiedenen Pitt, der sogar als Staatssekretär des AuBern unsere Forderungen für lY'езеп
nahezu erfüllt) fehlt das eine oder andere Charakteristikum. Das erste voll
ausgewachsene Exemplar war der jüngere Pitt.
t' Es ist charakteristisch für die englische Art, daB die offizielle Aner- Es ist interessant zu sehen, daß das, was im Fall von Siг Robert Walpole
kennung der Existenz des Amtes eines Premierministers erst t907 erfolgte, (und später auch int Fall von Lord Carteret [Earl of Granville)) die
als dieses Amt in der offiziellen Rangordnung am Hofe erscheinen durfte. eigene Zeit erkannte, nicht die Existenz eines für eine demokratische
Aber es ist so alt wie die demokratische Regierung. Da jedoch die demo- Regierung wesentlichen Organes war, das durch verkünumerte Gewebe
kratische Regierung nie durch einen besondern Akt eingeführt wurde, durchbrach. Im Gegenteil, die öffentliche Meinung empfand es als äußerst
sondem sich langsam als Teil eines umfassenden sozialen Prozesses ent- schadliche Wucherung, deren Wachstum eine Bedrohung der nationalen
wickelte, ist es nicht leicht, einen ungefähren Geburtstag oder eine unge. Wohlfahrt und der Demokratie bilde. « Einziger Ministers oder «Erster
fhге Geburtsperiode anzugeben. Es gibt einen langen Zeitabschnitt, der Minister » war ein Schmähruf, den Walpoles Feinde ihm entgegenschleu-
embryonale Falle aufweist. Es ist verführerisch, dic Einrichtung seit der derten. Diese Tatsache ist bedeutsam. Sie zeigt nicht nur den Widerstand,
Regierungszeit Wilhelms III. zu datieren, dessen so viel schwächere Stй- auf den neue Einrichtungen gewöhnlich stoßen. Sie zeigt auch, daß diese
lung als die der einheimischen Herrscher diese Auffassung stützen könnte. Einrichtung als mit der klassischen Lehre der Demokratie unvereinbar
Der Einwand dagegen lautet weniger, daB England damals keine «Demo- empfunden wurde; diese hat tatsächlich keinen Platz für politische Führer-
kratie ■ war — der Leser wird sich erinnern, daB wir die Demokratie nicht schaft in unserem Sinтхс und folglich such keinen Platz für die Realitäten
durch das Ausmaß des Wahlrechtes definieren —, sondern vielmehr, daß der Stellung eines Premierministers.

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zu Einfluß auf die andern Parteien und auf einzelne ihrer Mit- demokratischen Methode. Gladstones pеrsóпlicher Sieg im
glieder (oder erregt ihre Antipathie); und das ist bedeutsam für Jahre r88o ist die Antwort auf die offizielle Theorie, daß das
seine Erfolgsaussichten. Im Grenzfall, am besten dargestellt am Parlament die Regierung einsetzt und abdankt17.
Beispiel von Sir Robert Peel, kann er sogar seine eigene Partei ;. Alsdann zur Frage des Charakters und der Rolle des Kabi-
vermittels einer andern zu etwas zwingen. Endlich hat das gut ent- nettsas. Es trägt ein merkwürdiges Doppelgesicht, dieses ge-
wickelte Exemplar der Ministerpräsidenten-Gattung, obschon meinsame Produkt von Parlament und Premierminister. Letz-
er in allen Normalfallen das Haupt seiner Partei auch im Lande terer bezeichnet, wie wir gesehen haben, die zu ernennenden
ist, eine Stellung im Lande, die sehr verschieden ist von jener, Mitglieder, und ersteres akzeptiert die Wahl, beeinflußt sie aber
die er in seiner Eigenschaft als Parteihaupt automatisch erwirbt.
Er führt die Parteimeinung schöpferisch — er formt sie — und 17 Gladstone selbst hat an dieser Theorie festgehalten. Im Jahre 5874,
erhebt sich zuletzt zu einer gestaltenden Führung der ёffеnt- als er in den Wahlen unterlegen war, wollte er immer noch sich dem Par-
lichen Meinung über die Grenzen der Partei hinaus — hin zu lament stellen, weil es Sасhс des Parlamentes sei, den Demissionsbeschlull
nationaler Führerschaft, die bis zu gewissem Grad von bloßer zu fassen. Das hat natйrlich gar nichts zu bedeuten. In der gleichen Weise
Parteimeinung unabhängig werden kann. Es braucht nicht ge- bekannte er sich eifrig zu unbegrenzter Ehrerbietung gеgenйЬer der
Krone. Ein Biograph nach dem andern bat sich йber diese höfische Hal-
sagt zu werden, wie stark persönlich eine solche Leistung und
tung nes großen demokratischen Fйhгеzs gewundert. Sichегlich hat jedoch
wie groß die Bedeutung eines solchen Haltes außerhalb von
Königin Viktoria die bessere Urteilskraft besessen als jene Biographen,
Partei und Parlament ist. In die Hand des Führers ist eine Peit- wenn wir aus der starken Abneigung urteilen dйrfen, die sie von х879 an
sche gelegt, deren Knall widerspenstige und konspirierende fйr Gladstone zeigte und die die Biographen einfach dem vеrdeгbliсЬеn
Anhänger wieder zum Gehorchen bringt, wogegen ihr Riemen EinfluB Disraelis zuschreiben. MuB wirklich darauf hingewiesen werden,
die Hand, die sie erfolglos braucht, scharf schlagen wird. daB ein Bekenntnis der Ehrerbietung zwei Bedeutungen haben kann?
Unsere Behauptung, naß in einem parlamentarischen System Der Mann, der seine Frau mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt, ist in
die Funktion, eine Regierung hervorzubringen, auf das Parla- der Regel nicht der Mann, der eine Kameradschaft zwischen den Ge-
ment übergeht, wir dadurch wesentlich eingeschränkt. Das Par- schlechtern auf nem FuBe der Gleichheit akzeptiert. In Tat und Wahrheit
lament entscheidet tatsächlich normalerweise, wer Minister- ist die höfliche Haltung gerade eine Methode, um dies zu vermeiden.
u Mehr noch als die Entwicklung des Amtes des Premierministers ist
präsident werden soll; doch es ist dabei nicht völlig frei. Es
die nes Kabinetts durch die historische Kontinuitát verwischt, welche
entscheidet mehr durch Hinnahme als durch Initiative. Ausge-
Veränderungen im Charakter einer Instituйon verdeckt. Bis auf nen heu-
nommen pathologische Fälle wie die französische Kammer, tigen Tag ist das englische Kabinett juristisch der handelnde Tel des
sind die Wunsche der Abgeordneten in der Regel nicht die letz- Privy Council, nes Geheimen Rats, der riattirlich in ausgesprochen vor-
ten Daten des Prozesses, aus dem die Regierung hervorgeht. demokratischen Zeiten ein Instrument der Regierung war. Aber unter
Die Abgeordneten sind nicht nur durch Parteibindungen gefes- dieser Oberfláche hat sich ein völlig anderes Organ entwickelt. Sobald wir
selt; sie werden auch vom Mann, den sie «wählen», getrieben — uns daгübeг klar werden, ist die Aufgabe, seine Entstehung zu datieren,
zur Handlung der «Wahl» selbst getrieben, genau gleich wie sie etwas leichter, als es die analoge Aufgabe im Fall nes Premierministers
von ihm getrieben werden, wenn sie ihn einmal «gewählt» ha- war. Obschon embryonale Kabinette zur Zeit Karls II. existierten (das
«Kabаle*-Ministerium war eines, und das Komitee der Vier, das im Zusam-
ben. Jedes Pferd hat natürlich die Freiheit, ober die Stränge zu
menhang mit Temple's Experiment gebildet wurde), dürfte die Whig-
schlagen, und kann nicht immer an der Kandarre gehalten wer-
.Junto» unter Wilhelm III. wohl mit Recht an erster Stelle genannt wer-
den. Auflehnung und passiver Widerstand gegen die Führung den. Von der Regierungszeit der Königin Anna an sind es nur unbedeu-
des Führers zeigen aber nur um so deutlicher die normale Be-
tendere Fragen der Zugеhörigkcit oder des Funktionierens, йber die eine
ziehung. Und diese normale Beziehung gehört zum Wesen der Meinungsverschiedenheit möglich ist.

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auch. Vom Standpunkt der Partei aus gesehen ist es eine Ver- die als Verwaltungsmaßnahmen angesehen werden müssen. Das
sammlung von Unterfiihrern, die mehr oder weniger ihre eigene Budget ist das wichtigste Beispiel. Seine Aufstellung ist eine
Struktur widerspiegelt. Vom Standpunkt des Miпistеrpräsiden- Verwaltungsfunktion. Und doch wird es in den Vereinigten
ten aus gesehen ist es eine Versammlung nicht nur von Waffen- Staaten vom KongreB aufgestellt. Selbst da, wo es vom Finanz-
kameraden, sondern auch von Parteileuten, die ihre eigenen minister mit der Billigung des Kabinetts aufgestellt wird wie
Interessen und Aussichten zu berücksichtigen haben — ein Mi- in England, muß das Parlament dariiber abstimmen, und durch
niaturparlament. Damit die Kombination zustande kommt und diese Abstimmung wird es zu einem Parlamentsakt. Wird nicht
funktioniert, ist es notwendig, daB die künftigen Kabinetts- dadurch unsere Theorie widerlegt?
minister sich dazu entschließen — nicht unbedingt aus begeister- Wenn zwei Armeen gegeneinander operieren, konzentrieren
ter Liebe —, unter Herrn X zu dienen, und daB Herr X sein Pro- sich ihre einzelnen Bewegungen immer auf besondere Objekte,
gramm so aufstellt, daß seine Kabinettskollegen sich nicht zu die durch ihre strategische oder taktische Lage bestimmt sind.
oft versucht fühlen, «ihre Stellung in Wiedererwägung zu zie- Sie mögen um einen besonderen Landstrich oder einen beson-
hen», wie man sich offiziell ausdrückt, oder in einen Sitzstreik deren Hügel kämpfen. Aber die Wünschbarkeit der Eroberung
zu treten. So hat das Kabinett — und das gleiche gilt auch für das dieses Striches oder Hügels ruß aus dem strategischen oder
weitere Ministerium, welches auch die nicht dem Kabinett zu- taktischen Ziel abgeleitet werden, das in der Besiegung nes
gehörenden politischen Beamten umfaßt — eine Funktion im Feindes besteht. Es wäre offensichtlich absurd, sie aus irgend-
demokratischen Prozeß, die sich sowohl von der des Premier- welchen außermilitärischeп Eigenschaften, die dieser Hügel
ministers, wie auch von der der Partei, des Parlamentes und der oder Streifen besitzen mag, ableiten zu wollen. In ähnlicher
Wählerschaft unterscheidet. Diese Funktion der mittelbaren Weise ist das erste und höchste Ziel jeder politischen Partei,
Führung ist verknüpft mit den laufenden Geschäften (wenn sie über die andern den Sieg davonzutragen, um zur Macht zu
auch keineswegs darauf basiert), die von den einzelnen Kabi- gelangen oder an der Macht zu bleiben. Wie die Eroberung
nettsmitgliedern in den verschiedenen Departementen erledigt des Landstriches oder Hügels ist die Entscheidung über die
werden, an deren Spitze sie gestellt sind, um die Hand der füh- politischen Streitpunkte vom Standpunkt des Politikers aus
renden Gruppe auf den Mechanismus der Bürokratie zu legen. nicht das Ziel, sondern nur das Material der parlamentarischen
Und dies hat, wenn überhaupt eine, dann nur eine sehr lockere Tätigkeit. Da die Politiker mit Worten statt nut Kugeln feuern,
Beziehung zur «Wacht darüber, daß der Wille des Volkes in je- und da diese Worte notwendigerweise von den zur Debatte
dem Departement ausgeführt wird». Gerade in den besten Fällen stehenden Problemen geliefert werden, mag dies nicht immer
werden dem Volk Resultate vorgelegt, an die es niemals gedacht so klar sein wie im militärischen Falle. Aber trotzdem bildet
und die es nicht im voraus gebilligt hätte. der Sieg über den Gegner den Kern beider Sрiеlеt•.
4. Wieder zur Frage des Parlaments. Ich habe sowohl defi- Grundsätzlich bildet also die laufende Produktion parlamen-
niert, was mir seine Hauptfunktion zu sein scheint, als auch tarischer Entscheidungen über nationale Fragen die Methode,
diese Definition näher umschrieben. Doch man könnte einwen-
den, daB meine Definition seinen andern Funktionen nicht ge- " Manchmal rauchen Politiker aus dem Phrazennebcl auf. Um ein Bei-
recht wird. Das Parlament tut offensichtlich eine Menge anderer spiel anzuführen, gegen das nicht der Einwand der Frivolität erhoben
werden kann : kein geringerer Politiker als Sir Robert Peel hat das Wesen
Drage und setzt nicht nur Regierungen ein und ab. Es erläßt seines Handwerkes trefflich charakterisiert, als er nach seinem parlamen-
Gesetze. Und esverwaltet sogar. Denn obschon jeder Parlaments- tarischen Sieg über die Whig-Regierung wegen der Jamaica-Politik der
akt, ausgenommen Resolutionen und politische Erklärungen, letzteren sagte: • Jamaica ließ sich als gutes Pferd starten'. Der Leser sollte
in einem formalen Siлпe «Recht» setzt, gibt es manche Akte, darüber nachdenken.

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mit welcher das Parlament die Regierung an der Macht hält politische Frage zu erlassen, die er selbst aufgeworfen hat. In
oder dies zu tun ablehnt, oder mit der das Parlament die Fiihrer- jedem Fall bildet jedoch die Auswahl oder die Führung der
schaft des Ministerpräsidenten annimmt oder aьl ehnt90. Mit den Regierung, ob frei oder nicht, den Faktor, der die Tätigkeit
gleich noch zu beriicksichtigenden Ausnahmen ist jede Abstim- des Parlaments beherrscht. Wenn ein Gesetzesentwurf von der
mung ein Vertrauens- oder Mißtrauensvotum, und die Ab- Opposition eingebracht wird, bedeutet dies, daß sie eine
stimmungen, die technisch so genannt werden, heben nur in Schlacht anbietet: solch ein Vorgehen ist ein Angriff, den die
abstracto das wesentliche Element hervor, das allen gemeinsam Regierung entweder durch Aneignung des strittigen Punktes
ist. Davon können wir uns überzeugen, wenn wir beobachten, durchkreuzen oder sonst zurückschlagen muн. Wenn eine wich-
daB die Initiative, um Fragen zur parlamentarischen Entschei- tige Vorlage, die nicht auf dem Speisezettel der Regierung
dung zu bringen, in der Regel bei der Regierung liegt oder steht, durch eine Gruppe der Regierungspartei eingebracht
beim Schattenkabnett der Opposition, aber nicht bei privaten wird, bedeutet dies Empörung und wird von den Ministern
Parlamentsmitgliedern. von diesem Standpunkt und nicht von den außer-taktischen
Es ist der Ministerpräsident, der aus dem unaufhörlichen Vorzügen des Falles aus betrachtet. Dies gilt sogar für das In-
Strom laufender Probleme jene auswählt, die er zu parlamen- gangbringen einer Debatte. Sofern sie nicht von der Regierung
tarischen Fragen machen will, das heißt jene, zu denen seine angeregt oder sanktioniert wurde, ist dies ein symptom, daß
Regierung beabsichtigt, Gesetzesvorschliige einzubringen, oder der Regierung die Gewalt aus der Hand gleitet. Schließlich —
zum mindesten Resolutionen, wenn er seiner Sache nicht sicher wenn eine Maßnahme durch ein zwischenparteiliches Ober-
ist. Natiirlich übernimmt jede Regierung von ihrer Vorgängerin einkommen beschlossen wird, so bedeutet dies eine unentschie-
eine Hinterlassenschaft von offenen Fragen, die sie vielleicht dene oder eine aus strategischen Griindenvermiedene Schlachtl1.
nicht beiseitelegen kann; andere werden aus politischer Rou-
ºt In diesem Zusammenhang mag ein anderes hächst bedeutsames Bei-
tine aufgegriffen; nur im Falle einer besonders brillanten Lei-
stung ist ein Premierminister in der Lage, Gesetze über eine spiel der englischen Technik erwähnt werden. Es wird oder wurde ge-
wöhnlich auf einer wichtigen Gesetzesvorlage nicht bestanden, wenn bei
S0 Dies gilt selbstverständlich ebenso sehr für die Praxis Frankreichs der zweiten Lesung die Mehrheit sehr gering wurde. In erster Linie wurde
vor Vichy und Italiens vor dem Fastismus wie für die Praxis Englands. durch diese Praxis eine wichtige Beschränkung des Mehrheitsprinzips
Es kann jedoch im Falle der Vereinigten Staaten bezweifelt werden, wo anerkannt, wie es in einer gutgеfiihrtеn Demokratie tatsächlich angewen-
die Niederlage der Administration in einer wichtigen Frage nicht den Rück- det wird: es wäre nicht richtig zu behaupten, daB in einer Demokratie die
tritt des Präsidenten nach sich zieht. Dies ist jedoch einfach der Tatsache Minderheit immer zum Nachgeben gezwungen wird. Es gibt jedoch noch
zuzuschreiben, daB die amerikanische Verfassung, die eine andere poli- einen zweiten Punkt. Während die Minderheit nicht immer gezwungen
tische Theorie verkörpert, keine Entwicklung der paгlamеntaгischcп ist, der Mehrheit in der besonderen, zur Debatte stehenden Stкeitfгage
Praxis gemäß ihrer Logik gestattete. In Tat und Wahrheit ist es dieser nachzugeben, ist sie praktisch immer gezwungen, — obschon es auch hier
Logik zum Teil doch gelungen sich durchzusetzen. Niederlagen bei wich- Ausnahmen gibt —, ihr in der Frage nachzugeben, ob das Kabinett am Ru-
tigen Fragen können zwar den Präsidenten nicht absetzen, werden aber der bleiben soll. Eine derartige Abstimmung bei der zweiten Lesung eines
sein Ansehen int allgemeinen so schwächen, daB sie ihn aus einer fuhren- wichtigen Regierungsgesetzes kann als Vereinigung eines Vertrauens-
den Stellung verdrängen. Für den Augenblick schafft dies eine abnorme votums mit einer Votum für das Fallenlassen einer Vorlage aufgefaßt
Situation. Aber ob er dann die nächste Präsidentenwahl gewinnt oder ver- werden. Wenn einzig der Inhalt der Vorlage wichtig wäre, hätte es kaum
liert, so wird jedenfalls der Konflikt dann in einer Weise entschieden, die einen sinn, darüber abzustimmen, es sei denn, um ihr dadurch Gesetzes-
sich nicht wesentlich unterscheidet von der Weise, in der ein englischer kraft zu geben. Aber wenn das Parlament in erster Linie daran interessiert
Premierminister eine ähnlicho 5ituatiоп behandelt, indem er das Parlament ist, das Kabinett am Ruder zu halten, wird eine solche Taktik sofort ver-
auflöst. stäпdliсь.

44S
S. Die Ausnahmen von diesem Prinzip der Führung der Re- kämpfеr und deren Programme in die Regierungspläne mit-
gierung in «reрräsentаtiveгiu Versammlungen dienen nur dazu, einzubeziehen, werden im allgemeinen ihren Willen in klei-
zu zeigen, wie nahe das Prinzip der Wirklichkeit kommt. Sie neren Fragen durchsetzen dürfen — jedenfalls in Fragen, bei
sinn zweifacher Art. welchen der Ministегрräsident veranlaßt werden kann, sie als
Erstens ist keine Führung absolut. Die politische Führung, kleinere Fragen oder als Fragen von partieller Bedeutung zu
die gemäß der demokratischen Methode ausgeübt wird, ist betrachten. So mögen Gruppen von Anhängern oder gar ein-
wegen des Konkurrenzelementes, das das Wesen der Demo- zelne Mitglieder gelegentlich die Möglichkeit haben, eigene
kratie ausmacht, noch weniger absolut, als es andere sind. Da Gesetze einzubringen; und noch mehr Nachsicht hat natürlich
theoretisch jeder Parteianhänger das Recht hat, seinen Fiihreг bl oBe Kritik zu gewärtigen oder die Weigerung, mechanisch
abzusetzen, und da es fast immerArihänger gibt, die tatsächlich für jede Regierungsvorlage zu stimmen. Aber wir brauchen uns
die Mógliсhkeit dazu haben, so steuern der private Abgeord- dies nur von einem praktischen Gesichtspunkt aus anzusehen,
nete und der Minister — wenn er das Gefühl hat, er könne es um aus den Grenzen, die dem Gebrauch dieser Freiheit gesetzt
zu einem noch höheren Posten bringen — innerhalb und auBer- sinn, zu erkennen, daB darin nicht das Prinzip der Arbeit eines
halb des inneren Zirkels auf einer mittleren Lime zwischen Parlaments verkörpert ist, sondern Abweichungen von ihr.
einer bedingungslosen Nachfolge hinter der Fahne des Führers Zweitens gibt es Fälle, in denen die politische Maschine
und dem bedingungslosen Entrollen einer eigenen Fahne; da- nicht imstande ist, gewisse Probleme aufzugreifen, entweder
bei werden Risiken und Chancen mit einer Geschicklichkeit weil die Oberbefehls-Stellen der Regierungs- und der Oppo-
gegeneinander abgewogen, die manchmal wirklich bewunde- sitionstruppen ihren politischen Wert nicht erkennen oder weil
rungswürdig ist". Der Führer antwortet seinerseits damit, daB dieser Wert tatsächlich zweifelhaft ist's. Sоlchе Probleme kön-
er auf einer mittleren Linie zwischen dem Bestehen auf Diszi- nef dann von Außenseitern aufgegriffen werden, die lieber auf
plin und der Nachsicht gegеniiber Widersetzlichkeiten durch- eigene Faust zur Macht gelangen als in den Reihen der be-
steuert. Er mäßigt den Druck durch mehr oder weniger kluge stehenden Parteien dienen wollen. Das gehört natürlich durch-
Konzessionen, teilt abwechselnd Tadel aus und Komplimente, aus zur normalen Politik. Aber es gibt noch eine andere Мбg-
abwechselnd Strafen und Vergünstigungen. Dieses Spiel er- lichkeit. Es kann jemandem so viel an einer besonderen Frage
gibt, je nach der relativen Stärke der Individuen und ihrer liegen, daB er die politische Arena betritt, nur um diese in sei-
Stellung, eine sehr unbeständige, doch in den meisten Fällen ner Art gelöst zu sehen, ohne dabei den Wunsch zu hegen, eine
beachtliche Summe von Freiheit. Namentlich jene Gruppen, normale politische Laufbahn zu beginnen. Das ist jedoch so
die stark genug sind, um ihren Groll zur Geltung zu bringen, ungewöhnlich, daß es schwierig ist, dafür Beispiele erstrangiger
und doch nicht stark genug, als daß es sich lohnt, ihre Vor- Bedeutung zu finden. Vielleicht war Richard Cobden eines. Bei-
spiele zweitrangiger Bedeutung sind zwar häufiger, namentlich
aa Eines der lehrreichsten Beispiele zur lllustrierung der obigen Aus-
Beispiele vom Kreuzfahrertyp. Aber niemand wird behaupten,
führuagеn bietet der Kurs, den Joseph Chamberlain in bezug auf die
irische Frage in den achtziger Jahren eingeschlagen hat. letzten Endes 98 Ein Problem, das me in Angriff genommen wurde, stellt ein typisches
hat er Gladstone ausmanövriert ; aber er begann seinen Feldzug, während Beispiel der ersten Art daß. Die typischen Gründe, aus denen eine Regie-
er offiziell sein eifriger Anhänger war. Und der Fall ist außergewöhnlich rung und das Schattenkabinett der Opposition stillschweigend übеrеin-
nur in der Kraft und Brillanz dieses Mannes. Wie jeder politische Kapitän kommen können, ein Problem auf sich beruhen zu lassen, obschon sie sich
weiß, kann man nur bei MittelmiBigkeiten auf Loyalität rechnen. Das ist über seine Möglichkeiten klar sind, sind die technischen Schwierigkeiten
der Grund, warum einige der größten Kapitäne, zum Beispiel Disraeli, seiner Behandlung und die Furcht, es werde partielle Schwierigkeiten ver-
sich mit durchaus zweitklassigen Mäпйeгn umgaben. ursachen.

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daB sie etwas anderes als Abweichungen von der normalen chef. Ihre Entscheidung — die ideologisch zur «Berufung
Praxis sind. durch das Volk» verklärt wird — fließt nicht aus ihrer eigenen
Wir können folgendermaßen zusammenfassen. Bei der Be- Initiative, sondern wird geformt, und diese Formung ist ein
trachtung menschlicher Gesellschaften macht es uns in der Re- wesentlicher Teil des demokratischen Prozesses. Wähler ent-
gel keine Schwierigkeit, wenigstens in der rohen Art des ge- scheiden keine Streitfragen. Aber ebensowenig lesen sie völlig
sunden Menschenverstandes die verschiedenen Ziele zu spezi- unbefangen ihre Parlamentsmitglieder aus der wählbaren Be-
fizieren, die die hier untersuchten Gesellschaften zu erreichen völkerung aus. In allen normalen Fällen liegt die Initiative
streben. Von diesen Zielen kann gesagt werden, daß sie den beim Kandidaten, der sich um das Amt als Parlamentsmitglied
Grund oder Sinn der entsprechenden individuellen Tätigkeiten und die damit jeweils verbundene lokale Führung bewirbt. Die
erklären. Aber es folgt nicht daraus, daB der soziale Sinn eines Wähler beschränken sich darauf, sein Angebot entweder an-
Tätigkeits-Typs notwendig auch das treibende Motiv und folg- deren vorzuziehen und es anzunehmen oder es abzulehnen.
lich die Erklärung des letzteren darstellt. Wenn dies nicht Selbst die meisten jener Ausnahmefälle, in denen jemand ur-
der Fall ist, dann kann eine Theorie, die sich mit einer Analyse sprünglich durch die Wähler aufgestellt wird, fallen in die
des sozialen Zieles oder des zu befriedigenden sozialen Bediiгf- gleiche Kategorie aus einem der folgenden Gründe: natürlich
nisses begnügt, nicht als hinreichende Begründung für die в - braucht sich ein Mann nicht um die Führerschaft zu bewerben,
tigkeit, die diesem Ziel dient, akzeptiert werden. Zum Beispiel wenn er sie bereits besitzt; oder es kann geschehen, daß ein
ist der Grund,warum es so etwas wie eine ökonomische Btig- lokaler Führer, der die Abstimmung kontrollieren oder beeir'-
keit gibt,natürlich der, daß die Menschen sich nähren und klei- fiussen kann, jedoch nicht imstande oder nicht willens ist, sich
den usw. wollen. Die Mittel zur Befriedigung dieser Wünsche selbst um ein Mandat zu bewerben, einen andern designiert,
zu liefern, ist das soziale Ziel oder der soziale Sinn der Pro- der dann anscheinend durch die Wähler auf deren eigene Ini-
duktion. Trotzdem sind wir uns alle einig, daB diese These tiative ausgesucht worden ist.
ein sehr wirklichkeitsfremder Ausgangspunkt fär eine Theorie Aber auch das MaB von Initiative der Wählerschaft, das in
der wirtschaftlichen Tätigkeit in der kommerziellen Gesellschaft der Annahme eines der konkurrierenden Kandidaten liegt, wird
i
wäre und daß wir besser vorwärtskommen,wenn wir von The- durch das Vorhandensein von Parteien noch weiter beschränkt.
sen über Profite ausgehen. In ähnlicher Weise ist der soziale Eine Partei ist nicht, wie uns die klassische Lehre (oder Ed-
Sinn oder die soziale Funktion der parlamentarischen Tätigkeit mund Burke) glauben machen möchte, eine Gruppe von Men-
ohne Zweifel die, Gesetze und teilweise auch VerwaltungsmaB- schen, die das allgemeine Wohl «auf Grund eines Prinzips, über
nahmen hervorzubringen. Aber um zu verstehen,wie die demo- das sie sich alle einig sind», zu fördern beabsichtigen. Diese
kratische Politik diesem sozialen Ziele dient, müssen wir vom Rationalisierung ist darum so gefährlich,weil sie so verlockend
Konkurrenzkampf um Macht und Amt ausgehen und uns klar ist. Denn alle Parteien werden sich natürlich jederzeit mit
werden,daß die soziale Funktion,so wie die Dinge nun einmal einem Vorrat von Prinzipien oder Rettungsplanken versehen,
liegen, nur nebenher erfüllt wird — im gleichen Sinne wie die Pro- und diese Prinzipien oder Planken können ebenso charakteri-
duktion eine Nebenerscheinung beim Erzielen von Profiten ist. stisch für die Partei, die sie annimmt, und ebenso wichtig für
6. Schließlich zur Rolle der Wählerschaft. Hier bedarf nur ihren Erfolg sein, wie die Warenzeichen der Artikel, die ein
ein Punkt noch besonderer Erwähnung. Wir haben gesehen, Warenhaus verkauft,für dieses charakteristisch und für seinen
daß die Wunsche der Pаrlamentsmitgliedег nicht die letzten Erfolg wichtig sind. Aber das Warenhaus kann nicht durch
Daten des Prozesses sind, der die Regierung hervorbringt. Eine seine Warenzeichen und eine Partei nicht durch ihre Prinzipien
ähnliche Feststellung ist in bezug auf die Wählerschaft zu ma- definiert werden. Eine Partei ist eine Gruppe, deren Mitglieder

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willens sind, im Konkurrenzkampf um die politische Macht in DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Übereinstimmung miteinander zu handeln. Wenn das nicht so
wäre, wäre es unmöglich, daß verschiedene Parteien genau das DIE SCHLUSSFOLGERUNG
gleiche oder doch beinahe das gleiche Programm aufstellten.
Und doch geschieht dies, wie jedermann weiß. Parteipolitiker
und Parteimaschinen sind nur die Antwort auf die Tatsache, daB
die Wählermasse keiner andern Handlung als der Panik fähig
ist, und sie bilden einen Versuch, den politischen Konkurrenz-
kampf genau gleich wie die entsprechenden Praktiken eines
Ј. Бгпгуе Falgeruпgeп aus der vorangehenden Analyse
Wirtschaftsverbands zu regulieren. Die Psychotechnik der Die Theorie der Konkurrenz um die Führerschaft hat sich
Parteileitung und der Parteireklame, der Schlag'vortе und der als befriedigende Interpretation der Tatbestände des demokra-
Marschmusik ist kein bloBes Beiwerk. Sie gehören zum Wesen tischen Prozesses erwiesen. Wir werden sie daher bei unserm
der Politik. So auch der politische «boß*. Versuch, das Verhältnis zwischen der Demokratie und einer
sozialistischen Ordnung der Dinge aufzudecken, natürlich be-
nützen. Wie oben festgestellt wurde, behaupten die Sozialisten
nicht nur ihre Vereinbarkeit; sie behaupten vielmehr, daB die
Demokratie den Sozialismus impliziert und daB es außer im
Sozialismus keine wahre Demokratie geben kann. Der Leser
wird andrerseits sicher wenigstens die eine oder andere der zahl-
reichen Schriften kennen, die während der letzten paar Jahre
in den Vereinigten Staaten veröffentlicht wurden und die be-
weisen sollen, daß eine Planwirtschaft, um nicht zu reden vom
voll entfalteten Sozialismus, mit der Demokratie unvereinbar
ist. Beide Standpunkte sind natürlich leicht verständlich vom
psychologischen Hintergrund dieses Streites und vom natür-
lichen Wunsch beider Streitparteien aus, sich die Unterstützung
eines Volkes zu sichern, dessen große Mehrheit leidenschaftlich
an die Demokratie glaubt. Aber wie, wenn wir die Frage stellen:
wo liegt die Wahrheit?
Unsere Analyse in diesem und den vorangehenden Teilen
dieses Buches gibt uns ohne weiteres eine Antwort. Zwischen
dem Sozialismus nach unserer Definition und der Demokratie
nach unserer Definition besteht keine notwendige Beziehung:
sie können ohne einander existieren. Gleichzeitig besteht keine
Unvereinbarkeit; bei entsprechendem Stand der sozialen Um-
welt kann die sozialistische Maschine nach demokratischen
Prinzipien laufen.
Man beachte jedoch, daß diese einfachen Feststellungen von

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