Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Fugenelemente diachron
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von
Christa Dürscheid, Andreas Gardt,
Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger
Band 133
Kristin Kopf
Fugenelemente
diachron
www.degruyter.com
Dank+es+worte
Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um eine leicht überarbeitete
Fassung meiner 2016 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eingereich-
ten Dissertation „Von der Syntax in die Wortbildung. Zur Diachronie der verfu-
genden N+N-Komposition“. Entstanden wäre sie nicht ohne meine Doktormut-
ter Damaris Nübling, die mir über die Jahre die ideale Mischung aus Unterstüt-
zung und Freiräumen gewährt hat. Ihr gilt mein größter Dank!
Für zahlreiche inhaltliche und methodische Anregungen und Tipps möchte
ich zudem insbesondere Andreas Klein und Susanne Flach danken, sowie allen
Mitgliedern des Mainzer germanistisch-anglistischen Kolloquiums.
Für Korrekturlesen, Feedback, kluge Ratschläge, Mensabegleitung, Ablen-
kung, Nahrungslieferungen und Gesellschaft danke ich, neben den bereits Ge-
nannten: Mehmet Aydın, Claus Brucher, Antje Dammel, Florian Dolberg, Maike
Edelhoff, Matthias Eitelmann, Stefan Hartmann, Rita Heuser, Julian Jarosch,
Luise Kempf, Veronika, Helmut und Matthias Kopf, Felix Lorenz, Sven Müller,
Laura Neuhaus, Jessica Nowak, Miriam Schmidt-Jüngst, Mirjam Schmuck, Ulri-
ke Schneider, Horst Simon, Renata Szczepaniak, den TeilnehmerInnen und Mit-
organisatorInnen der STaPs, der Statistikselbsthilfegruppe, dem Linguistik-
stammtisch, der Mittwochsspielerunde und der Techniktagebuchredaktion.
Ursula Götz verdanke ich den schnellen und unkomplizierten Zugang zur
Textbasis meines Korpus. Ohne die Unterstützung durch die Hilfskräfte Betty
Richter und Jan Böhm hätte die Korpusdigitalisierung bedeutend länger gedau-
ert. Greta Nußhart war eine große Hilfe bei der Literaturbeschaffung, Philipp
Dondrup hat bei der Beispielformatierung geholfen.
Der Universität Mainz danke ich für die großzügige Übernahme meines
Druckkostenanteils. Daniel Gietz hat die Zusammenarbeit mit dem Verlag so un-
kompliziert wie möglich gemacht. Christopher Bergmann hat schließlich nach
der ersten Überarbeitung die komplette Arbeit genaustens korrekturgelesen –
alle vorhandenen Tipfpehler muss ich später eingebaut haben.
https://doi.org/10.1515/9783110517682-201
Inhalt
1 Einleitung | 1
2 Gegenstandsbereich | 4
2.1 Typen der NN-Komposition | 5
2.1.1 Semantik | 5
2.1.1.1 Endozentrische Komposita | 5
2.1.1.2 Exozentrische Komposita | 7
2.1.2 Form | 8
2.1.2.1 Fugenelemente | 8
2.1.2.2 Scheinkomposita | 9
2.1.3 Kompositum vs. Komposition | 10
2.2 Wortbildungsprodukte und syntaktische Strukturen | 11
2.3 Terminologie | 13
2.4 Entstehung der Kompositionstypen | 14
2.4.1 Indogermanischer Kompositionstyp („eigentliche
Komposition“) | 14
2.4.2 Frühneuhochdeutscher Kompositionstyp („uneigentliche
Komposition“) | 15
4.7 Nichtverfugung | 38
4.8 Variation | 40
4.9 Zusammenfassung | 42
4.10 Exkurs: Die verbale Schwa-Fuge | 44
5 Paradigmatizität | 48
5.1 Unparadigmische Fugen | 49
5.1.1 Unparadigmisch durch Fossilierung | 49
5.1.2 Unparadigmisch durch Innovation | 51
5.1.2.1 s-Fuge bei gemischten Feminina | 51
5.1.2.2 en-Fuge bei entlehnten Maskulina und Neutra | 51
5.2 Paradigmische Fugen | 53
5.2.1 Paradigmische Fugen ohne Semantik (Fugenelemente i.e.S.) | 54
5.2.1.1 Nullfuge | 54
5.2.1.2 s-Fuge | 54
5.2.1.3 (e)n-Fuge bei gemischten Feminina und Neutra | 55
5.2.2 Paradigmische Fugen mit Semantik: Pluralkomposition | 58
5.2.2.1 Bankenkrise: Die pluralische en-Fuge | 60
5.2.2.2 Getränkemarkt: e-, er- und Umlautfuge | 66
5.2.2.3 Gameszeitschrift: s-Fuge und Plural | 70
5.2.2.4 Semantische Fugen: Zusammenfassung | 71
15 Fazit | 393
15.1 Gegenwartssprachliche Komposita und ihre Verfugung | 393
15.2 Genitivkonstruktionen und Komposita im
Frühneuhochdeutschen | 396
15.3 Methodische und terminologische Erkenntnisse | 397
15.4 Entstehung des neuen Kompositionstyps | 398
15.5 Einordnung in Sprachwandeltendenzen und -theorien | 401
16 Anhang | 403
16.1 Mainzer (F)Nhd.-Korpus: Zusammensetzung | 403
XIV | Inhalt
Index | 463
Abkürzungsverzeichnis
A Österreich
Ae. Altenglisch
Ahd. Althochdeutsch (500–1050)
Akk. Akkusativ
CH Schweiz
D/Dtl. Deutschland
Dat. Dativ
Det. Determinierer
Dt. Deutsch
Engl. Englisch
F./Fem. Feminin(um)
Fnhd. Frühneuhochdeutsch (1350–1650)
Fränk. Fränkisch
Frz. Französisch
gem. gemischt
Gen. Genitiv
Germ. Germanisch (1. Jt. v. Chr.–200 n. Chr.)
Hd. Hochdeutsch
Idg. Indogermanisch (5.–1. Jt. v. Chr.)
Lat. Lateinisch
M./Mask. Maskulin(um)
Md. Mitteldeutsch
Mhd. Mittelhochdeutsch (1050–1350)
Mnd. Mittelniederdeutsch (1200–1600)
Mod. Modifikator
N./Neutr. Neutrum/neutral
Nd. Niederdeutsch
Ndl. Niederländisch
Nhd. Neuhochdeutsch
Nom. Nominativ
Pl. Plural
schw./sw. schwach
Schwäb. Schwäbisch
Sg. Singular
skand. skandinavisch
st. stark
stbe. stammbildendes Element
https://doi.org/10.1515/9783110517682-202
1 Einleitung
Die Forschungsliteratur zu Komposita, insbesondere zu Fugenelementen ist so
umfangreich, dass die Befürchtung naheliegt, das Thema sei schon lange „leer-
geforscht“. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wird sich zeigen, dass dem mit-
nichten so ist: Auf diachroner Ebene hat man sich lange Zeit mit Einzelbelegen
oder kleineren Untersuchungen begnügt, die es unmöglich machten, Entwick-
lungslinien zu erkennen. Das Deutsche gilt als „kompositionsfreudig“ (Schlü-
cker 2012) und die Komposition als „springlebendig“ (Meineke 1991: 27). Dass
das zu einem großen Teil dem Kompositionsmuster mit Fugenelementen zu
verdanken ist, das sich im Frühneuhochdeutschen herausbildete, kann im Fol-
genden erstmals systematisch gezeigt werden.
Hauptziel der korpuslinguistischen Untersuchung ist es, die Entstehung des
verfugenden Kompositionsmusters aus pränominalen Genitivkonstruktionen im
Fmhd. zu beschreiben: Ausgangs- und Zielkonstruktionen sind zwar bekannt,
welche Einflussfaktoren die Entwicklung prägen und welche relative Chronolo-
gie sie aufweist, ist bisher allerdings weitgehend ungeklärt. Beschreibungen wie
die folgende von Wegera & Prell (2000: 1597) werden sich als teilweise unzutref-
fend erweisen:
Der Prozeß der ‚Univerbierung‘ verläuft häufig von der bloßen Kontaktstellung usueller,
aber nicht fester Verbindungen (vgl. Okrajek 1966, passim) über lose (durch Doppelbinde-
strich) verbundene Zusammenschreibungen zu echten Komposita. Solange umfassende
Untersuchungen hierzu ausstehen, kann keine Aussage zum jeweiligen Verständnis der
zugrundeliegenden Einheit (Zusammenschreibung, Kompositum) gemacht werden (an-
satzweise Pavlov 1983; Nitta 1987).
https://doi.org/10.1515/9783110517682-001
2 | Einleitung
tiert: Ein verfugendes Muster ist dann paradigmisch, wenn das Fugenelement
formgleich mit einer Genitivform oder dem Nominativ Singular des Erstglieds
ist. Paradigmatizität ist zum Verständnis des verfugenden Kompositionsmusters
unentbehrlich: Zum einen zeigt sie die historischen Verhältnisse auf, denen es
entstammt, zum anderen dient sie als Maß für die Eigenständigkeit und Produk-
tivität der Fugenelemente. Es wird sich zudem zeigen, dass nicht nur die Unter-
scheidung nach paradigmisch/unparadigmisch relevant ist, sondern auch die
nach semantisch gefüllt/semantisch leer: Zur Verankerung der Fugenelemente
in der Wortbildung wird häufig herangezogen, dass sie, selbst wenn sie formal
dem Flexionsparadigma entsprechen, semantisch keine Flexion anzeigen (z.B.
Brille-n-etui *‚Etui für Brillen‘). Dabei muss jedoch nach Form differenziert wer-
den: Obwohl Fugenelemente in den meisten Komposita tatsächlich keine se-
mantische Funktion haben, lassen sich systematische Ausnahmen finden, ab-
grenzen und erklären.
Die nächsten Kapitel lassen sich drei Leitthemen unterordnen: Zunächst
geht es darum, die für die Herausbildung des verfugenden Kompositionsmus-
ters relevanten Phänomene und Konstruktionen zu beschreiben oder – im Falle
der Komposita – überhaupt erst zu definieren und schließlich im Korpus zu ana-
lysieren. Dabei gilt es, die Eigenschaften und Veränderungen der fnhd. Nomin-
alphrase herauszuarbeiten. Hier steht der Stellungswandel des attributiven
Genitivs im Zentrum, dessen fnhd. Eigenschaften auch gegenüber dem Nhd.
abgegrenzt werden müssen (Kap. 6). Kap. 7 widmet sich der Frage, was ein
Kompositum ist. Was für das Nhd. nur an den Rändern strittig ist, erfordert im
Fnhd. sorgfältiges Abwägen zahlreicher Faktoren, primär der Morphosyntax
und Schreibung. Am Ende steht eine Arbeitsdefinition, mittels derer eindeutige
Genitivkonstruktionen, eindeutige Komposita und uneindeutige Brückenkon-
struktionen voneinander getrennt werden können. Kap. 8 schließt daran naht-
los an, hier wird danach gefragt, welche Typen von Genitiv- bzw. Brückenkon-
struktionen sich funktional, d.h. semantisch, dazu eignen, als komplexe Wörter
reanalysiert zu werden. Im Zentrum steht dabei die Referenz des ersten Sub-
stantivs. Die so ermittelten Konstruktionen werden schließlich mit den Daten
des Mainzer Korpus in Bezug zueinander gesetzt. Dem folgt eine Abwägung
weiterer möglicher Einflussfaktoren. Schließlich wird die Frage danach erörtert,
warum der neue Kompositionstyp überhaupt entsteht: Dabei werden drei gän-
gige Theorien (Auflösung von Ambiguitäten, Enstehung einer funktionalen
Kategorie D, Ausbau der Nominalklammer) vergleichend bewertet.
Der zweite große Teil widmet sich der Verbreitung, der Produktivwerdung
und dem Status des neuen Kompositionsmusters im Wortbildungssystem: In
Kap. 9 werden zunächst die Fugenelemente des Fnhd. mit ihren Distributions-
Typen der NN-Komposition | 3
eigenschaften beschrieben, wobei ein direkter Bezug zum nhd. System in Kap. 4
möglich ist. Darauf folgt eine ausführliche Einordnung der Produktivität (Kap.
10): Zunächst werden die Hauptmuster verfugender und nichtverfugender Kom-
posita im Fnhd. quantitativ ausgewertet (realisierte und potenzielle Produktivi-
tät), dann folgt eine datengestützte qualitative Analyse, die Produktivitätszu-
wachs als Verlust morphologischer Restriktionen fasst. Dem schließt sich ein
kurzer Ausblick auf das Nhd. an. In einem Exkurs (Kap. 11) wird die morpholo-
gische Struktur von NA-Komposita und Derivaten beleuchtet, in denen sich teil-
weise ebenfalls Fugenelemente finden, die sich aber gut gegenüber ihrer Haupt-
domäne, den NN-Komposita, abgrenzen lassen. Auch sie verschaffen neue Er-
kenntnisse über die Produktivität. Schließlich wird in Kap. 12 die unparadigmi-
sche s-Fuge herausgegriffen, die als Produktivitätsindikator dient und im Nhd.
sehr verbreitet ist. Details zu ihrer Entstehung und Ausbreitung sind dagegen
bisher nicht bekannt. Insbesondere die Gründe für die Übertragung der s-Fuge
auf Erstglieder, deren Paradigma sie nicht entspricht, sind bisher nicht zufrie-
denstellend geklärt. Hauptanliegen dieses Kapitels ist es, plausiblere von weni-
ger plausiblen Ansätzen zu trennen und schließlich einen eigenen Vorschlag zu
machen. Der Status fnhd. Komposita lässt sich nicht nur mit Produktivität und
Paradigmatizität erfassen, sondern spiegelt sich auch im Schriftsystem: In Kap.
13 zeigt sich, dass mit Getrennt-, Zusammen- und Bindestrichschreibungen im
Fnhd. und frühen Nhd. drei Verfahren der Kompositaschreibung genutzt wer-
den, die zu unterschiedlichen Zeiten für verschiedene Muster unterschiedlich
stark präferiert werden, und dass sie Zeugnis von der jeweiligen morphologi-
schen Markiertheit der entsprechenden Muster ablegen.
Im letzten Teil (Kap. 14) wird mit der möglichen Funktionalisierung von Fu-
genelementen, insbesondere der s-Fuge, ein Aspekt thematisiert, der vor allem
für das Nhd. auf reges Forschungsinteresse stößt, der jedoch von den nun end-
lich vorhandenen historischen Daten stark profitiert. Entsprechend werden auf
Basis der zuvor gewonnenen Erkenntnisse zwei größere Vorschläge diskutiert:
Die Funktionalisierung als Marker schlechter phonologischer Wörter und die
Markierung zunächst generell atypischer, dann morphologisch komplexer Erst-
glieder. Nachdem eine potenzielle Funktion der Fugenelemente identifiziert
wird, wird überprüft, ob der Prozess sich in gängige Modelle morphologischen
Wandels wie Grammatikalisierung, Degrammatikalisierung oder Exaptation
fassen lässt.
Literatur wird i.d.R. an Ort und Stelle referiert, um die einzelnen Kapitel
auch eigenständig lesbar zu machen. Wo erforderlich, wurden getrennte Litera-
turteilkapitel vorgeschaltet, mitunter bot sich auch direkte Einbeziehung in die
Analysen an.
2 Gegenstandsbereich
Die vorliegende Untersuchung widmet sich der Entstehung, Struktur und Pro-
duktivität von Typen der NN-Komposition, d.h. der Komposition zweier frei
auftretender Substantive. Die NN-Komposition ist der weitaus häufigste Kompo-
sitionstyp im Nhd. (77,9% der Typen im Korpus von Ortner et al. 1991: 6) und,
auch vor der Derivation, das am häufigsten angewandte produktive Wortbil-
dungsmuster (vgl. Kap. 10). NN-Komposita stehen damit im Zentrum der Kom-
position, an der auch andere Wortarten Anteile haben – allerdings in wesentlich
geringerem Umfang. Neben NN-Komposita werden nur AN-, NA- und AA-Kom-
posita (Altbestand, handzahm, hellblau) in nennenswerter Menge gebildet und
gebraucht, alle anderen Fälle sind vernachlässigbar – bei ihnen ist oft zweifel-
haft, ob tatsächlich von einem Wortbildungsmuster gesprochen werden kann,
oder ob nicht nur vereinzelte Univerbierungen vorliegen (z.B. A+P: vollauf, vgl.
auch Becker 1992). Da im Folgenden primär das Verfugungsverhalten von Kom-
positumserstgliedern analysiert wird, sind NA-Komposita prinzipiell ebenfalls
relevant (nennen-s-wert, bär-en-stark, art-∅-spezifisch) – für sie muss aber teil-
weise eine andere Genese angenommen werden, was zu Verfugungsbesonder-
heiten führt. Entsprechend ist eine gemeinsame Behandlung mit den NN-Kom-
posita nicht angebracht, NA-Komposita werden in einem gesonderten Exkurs
behandelt (Kap. 11.1), der außerdem auch Fälle von Verfugung vor Derivations-
suffix (versuch-s-weise, frühling-s-haft) berücksichtigt. Neben Substantiven kön-
nen auch Verbstämme verfugen (Les-e-studie), wobei sich nur marginale Berüh-
rungspunkte mit substantivischen Erstgliedern ergeben. VN-Komposita sind
aber untersuchungsrelevant, weil ihre Abgrenzung gegenüber NN-Komposita
nicht immer zweifelsfrei möglich ist (Beichtvater, Erntezeit, Kap. 4.10 zur Verfu-
gung, Kap. 7.2.6 zur Abgrenzung im Fnhd.).
In diesem Kapitel sollen zunächst die NN-Komposita nach Semantik und
Form eingegrenzt werden (Kap. 2.1). So lässt sich später bestimmen, welche
Komposita Untersuchungsgegenstand sein können und für welche Gruppen
getrennte Analysen durchgeführt werden müssen. Im Anschluss wird das Wort-
bildungsverständnis der vorliegenden Untersuchung und ihr Bezug zur Syntax
geklärt (Kap. 2.2), in diesem Zusammenhang erfolgt auch eine kurze Auflistung
und Begründung der gewählten Terminologie (Kap. 2.3). Schließlich wird die
formale Geschichte der NN-Komposition, d.h. der Aufbau „eigentlicher“ und die
Entstehung „uneigentlicher“ Komposita, die später im Detail untersucht wird,
kurz skizziert (Kap. 2.4).
https://doi.org/10.1515/9783110517682-002
Typen der NN-Komposition | 5
2.1.1 Semantik
||
1 Komposita mit umgekehrtem Determinationsverhältnis bilden einen seltenen Ausnahmefall.
Ortner et al. (1991: 112, 285) führen Vierteljahr ‚Viertel eines Jahrs‘ an, eventuell gestärkt vom
AN-Kompositum Halbjahr.
Bei Lammlachs‚ Schweinelachs, Kalbslachs, die ein Fleischstück aus dem Kernmuskel des
Rückens von Lämmern, Schweinen oder Kälbern bezeichnen (s. auch Klos 2011: 163), erscheint
eine metaphorische Interpretation des Zweitglieds, wie unten bei Tischbein, Fleischwolf, ziel-
führender: Das Fleisch ähnelt farblich einem Lachs, das Erstglied spezifiziert seine Herkunft.
Entsprechend wird auch der Simplex Lachs gebraucht, vgl. Duden online:
1. großer, im Meer lebender, räuberischer Fisch mit rötlichem Fleisch, der zum Laichen die Flüsse aufsucht
2. (Kochkunst) Kernmuskel des Rückens von Schlachttieren (besonders Schwein, Rind und Schaf)
Das semantische Verhältnis ist dabei meist sehr vage, kann jedoch zumeist mit
„[Kompositum] ist eine Art von [Grundwort]“ umschreiben werden (Kürschner
1974: 33). Bei unbekannten Komposita wird die Lesart primär durch Kontext
und Zweitgliedsemantik gesteuert. So führt Klos (2011: 288–289) an, dass ein
Zweitglied wie -skandal wahrscheinlich hinsichtlich seines Themas, seiner Be-
teiligten oder seines Auslösers spezifiziert wird (s. auch Flach et al. 2018), da
diese kommunikativ von Interesse sind. Eine noch stärkere Eingrenzung des
Interpretationsspielraums liegt vor, wenn das Zweitglied eine Ergänzung for-
dert. Entspricht das Erstglied seinen Anforderungen, so wird es entsprechend
interpretiert. Hierunter fallen Rektionskomposita (Hausbesichtigung), bei denen
das Erstglied als Subjekt oder Objekt der verbalen Derivationsbasis (besichtig-)
verstanden wird, sowie Komposita mit einem relationalen Zweitglied (Fort-
schrittsfan), bei dem die Semantik eine Präzisierung verlangt (Fan wovon?).
Kann das Erstglied nicht besichtigt werden (Montagsbesichtigung) oder ist es
unwahrscheinlich, dass man Fan davon ist (Problemfan), wird eine nicht-
rektionale Interpretation gewählt (z.B. ‚Besichtigung, die am Montag stattfin-
det‘, ‚Fan, der zum Problem wird‘).
Zu den Determinativkomposita zählen aber auch Bildungen, bei denen eine
Umschreibung als ‚Art von‘ nicht adäquat ist: Ein Fleischwolf, Stiefelknecht,
Seepferdchen, Stubentiger, d.h. ein Kompositum, bei dem das Zweitglied meta-
phorisch verwendet wird, kann kaum als ‚eine Art von Wolf/Knecht/Pferd/Ti-
ger‘ gelten. Derartige Fälle unterscheiden sich von Lexikalisierungen2 insofern,
als kein semantischer Wandel nach Bildung des Kompositums stattgefunden
hat (anders z.B. Klos 2011: 66–68): Schon bei der Erstbenennung bezeichnete
Seepferchen keine ‚Art von kleinem Pferd‘, sondern ein optisch pferdeähnliches
Tier. Dennoch schränkt auch hier das Erstglied das Zweitglied hinsichtlich sei-
nes Anwendungsbereichs ein, es gibt keinen Grund, sie unberücksichtigt zu
lassen (anders Kienpointner 1985: 9–10, die bei analogen VN-Komposita von
„Substitutionsbildungen“ spricht, die sie getrennt ausweist. Zu Kompositums-
metaphern s. auch Skirl 2010.)
||
analog zu Sohn Gottes, Haus Gottes etc. sein. (Für einen frühen Fall von Zusammenschreibung
mit postnominalem Gottes vgl. 71a).
2 Unter Lexikalisierung wird hier nicht das Anlegen eines mentalen Lexikoneintrags verstan-
den (wie z.B. bei Eisenberg 2006: 215), sondern der diachrone Prozess und sein Resultat, bei
dem durch semantischen Wandel Intransparenz/Demotivation vormals transparenter(er)
Strukturen entsteht, d.h. Idiomatisierung (ähnlich Bauer 1983: 48, Huddleston & Pullum 2002:
1692). Die terminologische Festlegung stellt keine Positionierung dazu dar, welche Einheiten
wie im Lexikon gespeichert werden (oder gar ob es sinnvoll ist, ein „Lexikon“ anzunehmen).
Typen der NN-Komposition | 7
(1) Ich hatte eines dieser neuen, angesagten Handys, die irgendwann auch
wieder out sein werden. So einen kleinen, flachen Telefoncomputer, hin-
ter dessen Bildschirm die Verlockungen des Multimedia auf mich warteten:
Spiele, Musik und Internet. (Die Zeit, 25.6.2009)
||
3 Zu den exozentrischen Komposita gehört auch eine große Gruppe, die nicht aus zwei Sub-
stantiven besteht, z.B. AN-Komposita wie Grünschnabel, Rotkehlchen, Langfinger, genauso Uni-
verbierungen wie Stelldichein, Vergissmeinnicht.
8 | Gegenstandsbereich
‚Mensch mit Locken‘). Hierzu zählt auch, was Henzen (1965: 82) „umgekehrte
Bahuvrīhi“ nennt (Rückenauge ‚Wurm mit Auge auf dem Rücken‘, Nashorn ‚Tier
mit Horn auf der Nase‘). Die zweite Quelle stellen bestehende Determinativkom-
posita dar, die insgesamt metonymisch verwendet werden (Pappnase ‚Nase aus
Pappe‘ > ‚alberner Mensch‘, Handball ‚Ball, der mit der Hand gespielt wird‘ >
‚Sportart, die mit einem Ball und den Händen betrieben wird‘).
2.1.2 Form
2.1.2.1 Fugenelemente
Im Gegenwartsdt. gibt es zwei formal unterschiedliche NN-Kompositionsmuster,
eines, bei dem Substantive direkt verbunden werden (Computer+∅+bildschirm)
und eines, bei dem weiteres Material in Form von Fugenelmenten an das Erst-
glied tritt (Aktion+s+theke). Bei beiden kann ein auslautendes Schwa getilgt
werden (Woll__+∅+waschgang, Hilf__+s+sheriff), was auch als „subtraktive Fu-
ge“ bezeichnet wird.
Aus semantischer Perspektive bezeichnet Schlücker (2012: 6) die NN-Kom-
position als „ein einheitliches Wortbildungsmuster […], das durch die Fugenele-
mente ein gewisses Maß an formaler Variation aufweist“, aus formaler Perspek-
tive wird im Folgenden dennoch von zwei „Typen“ die Rede sein, dem verfugen-
den und dem nicht-verfugenden. Um den Unterschied zum verfugenden Typ zu
verdeutlichen, wird die Wortfuge des nichtverfugenden Typs mit ∅ gekenn-
zeichnet und gelegentlich als „Nullfuge“ bezeichnet, dahinter verbirgt sich
jedoch keine Annahme eines irgendwie gearteten leeren Elements analog zu
den in der generativen Literatur oft angenommenen Nullmorphemen. Alle se-
mantischen Typen können unverfugt und verfugt auftreten.4
In der Literatur werden Fugenelemente teilweise auch als „Fugenmorphe-
me“ bezeichnet, so bei Harlass & Vater (1974), Augst (1975), Fanselow (1981)
und Gallmann (1999). Der Terminus ist unpräzise, da Fugenelemente, im Gegen-
satz zu Morphemen, nicht bedeutungstragend sind. Dressler et al. (2001), We-
gener (2003) und Werner (2012, 2016) sprechen von „Interfixen“, womit sie mit
Malkiel (1958) bedeutungslose Affixe meinen – auch diese Bezeichnung ist un-
glücklich gewählt, sind Affixe doch gebundene Morpheme und damit per Defi-
nition bedeutungstragend. Dressler et al. (2001) gehen sogar so weit, das Auftre-
ten von Fugenelementen als Derivation zu bezeichnen, dies scheint aber vor al-
||
4 Vgl. aber Altmann & Kemmerling (2005: 32, 101), die Fugenelemente tendenziell als Indika-
toren für ein Determinativverhältnis betrachten.
Typen der NN-Komposition | 9
lem dadurch bedingt, dass unbedingt eine Zuordnung zu entweder Flexion oder
Derivation erfolgen soll. In der älteren Literatur findet sich „Fugenzeichen“, die
Anbindung an entweder die Graphematik (Schriftzeichen) oder die Bedeutung
(Zeichen als Signifiant) macht das Wort ebenfalls ungeeignet. Der Begriff „Fu-
genelement“ ist dagegen bewusst vage gehalten, er suggeriert keine Funktion
oder Bedeutung und wird in der aktuellen Forschung präferiert (z.B. Neef &
Borgwaldt 2012, Nübling & Szczepaniak 2013, Fuhrhop & Kürschner 2015).
2.1.2.2 Scheinkomposita
Da die vorliegende Arbeit diachron angelegt ist, wird unter Kompositum nur das
gefasst, was durch direkte Reanalyse syntaktischer Strukturen oder Kompo-
sition entstanden ist. Das bedeutet, dass Volksetymologien, bei denen aus in-
transparenten Strukturen (wieder) scheinbar motivierte Komposita werden, un-
berücksichtigt bleiben. Es ist zwar gut möglich, dass die neue Form sich nach
produktiven Wortbildungsprozessen der jeweiligen Sprachstufe richtet (Maul-
wurf wie Maulkorb), genauso kann jedoch bestehendes Lautmaterial einwirken
und atypische Formen schaffen (z.B. Sündflut, alle echten Sünde-Komposita
aber mit der Kompositionsstammform Sünden-). Es ist zwar nicht auszuschlie-
ßen, dass Volksetymologien wiederum Basen für weitere analogisch gebildete
Komposita darstellen, das bleibt aber unüberprüfbar. (Anders Solling 2012: 47,
der nur marginal an der Verfugung interessiert ist und derartige Fälle daher als
normale NN-Komposita bucht.)
Hinzu kommt, dass Bildungen, die (teilweise) intransparent geworden sind,
nicht zum Kompositumsinventar eines bestimmten Untersuchungszeitraums
gezählt werden: Ehemals komplexe Wörter wie Wimper (< mhd. wintbrā(we))
werden als Simplizia behandelt. Teiltransparente Strukturen wie Notdurft, Him-
beere haben im Fnhd. und Nhd. aufgrund des gebundenen Bestandteils höchs-
tens marginalen Kompositumsstatus. Das mhd. nōtdurft war hingegen völlig
transparent, das Substantiv durft ‚Bedürfnis‘ existierte noch – in eine Beschrei-
bung mhd. Komposita würde es also einbezogen.
Bei Formen wie Drogenabhängige, Klavierspielen handelt es sich eigentlich
um Konversionsprodukte adjektivischer Komposita (drogenabhängig) bzw. in-
korporierender Verben (klavierspielen). Wo möglich, wurden sie ausgeschlos-
sen, die Unterscheidung ist jedoch teilweise problematisch. Schließlich gilt es
auch, Präfixoide abzugrenzen (Lieblingsessen, Hauptstadt, dazu Kap. 7.2.6).
10 | Gegenstandsbereich
2. NN-Kompositumsinventar Schein-NN-Komposita
3. Neugebildete NN-Komposita
Nummer-n-schild
1. strukturelle NN-Komposita
Camping-∅-kocher
Will man den potenziellen Input erfassen, aus dem Sprecherinnen und Sprecher
Regeln zur Komposition ableiten, so betrachtet man Gruppe 1 oder 2. (Zu den
Gründen für die Beschränkung auf Gruppe 2 s.o.) Will man dagegen erfassen,
was zu einer bestimmten Zeit tatsächlich gebildet wird, so ist Gruppe 3 relevant.
Dabei spielt es keine Rolle, ob man sich Okkasionalismen oder Neologismen an-
sieht – ob das eine zum anderen werden kann, hängt von Kommunikationsab-
sichten und Bezeichnungsbedarf ab, einen strukturellen Unterschied gibt es
hier nicht.
Wortbildungsprodukte und syntaktische Strukturen | 11
Allerdings kann man beobachten, dass nicht alle Wörter nur aufgrund der Anwendung
einer Regel zustande kommen:
In diesen Fällen scheint die neue Bildung nicht aufgrund einer Regel zustande zu kom-
men, sondern durch Bezug auf eine schon existierende Wortbildung […].
Solche Fälle sind jedoch nur Extreme des allgemeinen Prinzips: Hier ist die Vor-
lage ein konkretes Wort, genauso kann aber eine große Gruppe von Wörtern als
Vorbild dienen. Der Unterschied zu Fällen wie Hausmann ist rein quantitativ.
Dass Komposita mit dem Erstglied Bund- ‚Bündnis; Vereinigung; Gesamtstaat‘
bei aktuellen Neubildungen immer das Fugenelement -es- nehmen (Bund-es-
||
5 Vgl. noch Grimm & Grimm (1854–1961: Lemma „Legung“): „LEGUNG, f. das legen: positio le-
gunge. Dief. 449a; die legung des grundsteins; legung der balken“.
12 | Gegenstandsbereich
||
6 Diese und die folgenden Erstbelege aus dem Jahr 2010 entstammen den von mir erhobenen
Wortwartedaten, einer Sammlung von Okkasionalismen und Neologismen. Zur Korpusbe-
schreibung s. Kap. 3.3.2.
7 Der einzige Unterschied zwischen Syntagma und Kompositum bei AN-Verbindungen besteht
darin, dass das das Syntagma leichter remotiviert werden kann – mit weißer Hai kann prinzipi-
ell auch ein anderer Hai bezeichnet werden, der weiß ist. In der Orthografie können Nennsyn-
tagmen durch Adjektivgroßschreibung gekennzeichnet werden, insbesondere fachsprachlich
wird dies häufig genutzt.
8 Vereinzelt erhält sich die adjektivische Flexion in einer Konstruktion, die sich durch ihre
Prosodie als Kompositum ausweist, z.B. bei Hohepriester, Langeweile. Es handelt sich aber
nicht um ein produktives Muster.
Terminologie | 13
also unangebracht, aus der formalen Grenze zwischen Wort und Syntagma auch
eine funktionale abzuleiten – zwar übt das Kompositum sofort eine Benen-
nungsfunktion aus, die Phrase kann dies aber ebenso (s. auch Ortner & Ortner
1984: 15, Meineke 1991: 32–33, Hüning & Schlücker 2010).
Auch bei Konstruktionen mit zwei Substantiven gibt es im Nhd. benennen-
de Syntagmen, so die metaphorischen Bildungen Keim der Hoffnung, Stein der
Weisen, Stein des Anstoßes, Zahn der Zeit, aber auch nicht-metaphorische Kon-
struktionen wie Haus Gottes ‚Kirche‘, Passion Christi sind als Nennsyntagmen zu
betrachten, hinzu kommen Eigennamen wie Ministerium des Inneren (neben In-
nenministerium), Kap der guten Hoffnung. In manchen Fällen bestehen Syntag-
ma und Kompositum semantisch unterschiedslos nebeneinander (Lauf der Welt,
Weltenlauf).
2.3 Terminologie
Im Verlauf der Untersuchung wird sich zeigen, dass Syntax und Morphologie im
Untersuchungszeitraum Pole eines Kontinuums sind, keine binären Kategorien.
Es gibt Konstruktionen, die über eine große Stellungsfreiheit verfügen, deren
Bestandteile getrennt determiniert und modifiziert werden können und deren
morphologische Form (insbesondere das Flexiv) funktional gesteuert wird – sie
sind prototypisch syntaktisch. Auf der anderen Seite gibt es Konstruktionen, de-
ren interne Struktur invariant ist, die nur als Ganzes determiniert und modifi-
ziert werden können und deren morphologische Form (d.h. deren Verfugung),
weitgehend analogisch gesteuert wird – sie sind prototypisch morphologisch.
Dazwischen gibt es Konstruktionen, die Merkmale beider Pole in sich vereinen.
Für die beiden Pole werden die Termini „Syntax“, „Syntagma“ und „Wortbil-
dung“, „Kompositum“, „komplexes Wort“ verwendet. Ist der Status einer Struk-
tur irrelevant oder nicht bestimmbar, so wird von „Konstruktion“ gesprochen.
Der Terminus wird in einem allgemeinen Sinn für zusammengehörige Elemente
genutzt.
Eine Genitivkonstruktion teilt sich in das Bezugsnomen/Kopfnomen und
das Genitivattribut. In der Literatur ist auch häufig synonym von „adnominalem
Genitiv“ die Rede. Ein „Kompositum“ ist ein komplexes Wort aus zwei freien
Morphemen, ungeachtet seines Zustandekommens, „Komposition“ bezeichnet
das Wirken eines Wortbildungsmusters oder Schemas, das direkt Komposita
hervorbringt (so auch Kienpointner 1985: 20). Beinhaltet ein Kompositum ein
Fugenelement, so bezeichne ich es als „verfugt“ oder „verfugend“, andernfalls
als „unverfugt“, „nichtverfugt“. Ist nicht von einzelnen Komposita die Rede,
sondern von strukturell gleichartigen Gruppen, wird von „Kompositumstyp“ ge-
14 | Gegenstandsbereich
sprochen. Geht es um Gruppen, die durch starke Analogie weiteren Zuwachs er-
fahren, wird der Terminus „Wortbildungsmuster“ oder „Kompositionsmuster“
verwendet.
Der indogermanische Kompositionstyp, mit Grimm (1826: 407) häufig als „ei-
gentliche Komposition“ bezeichnet, verfügt schon im Germ. über zwei Muster,
deren Nutzung abhängig von der Flexionsklassenzugehörigkeit des Erstglieds
ist. Nutzt die entsprechende Flexionsklasse ein stammbildendes Element, so
tritt dies auch in der Komposition auf (vgl. 2a). Nutzt sie es nicht (sog. Wurzel-
nomina), so wird oft der bloße Stamm kombiniert (2b) – es kommt hier jedoch
auch zur Übernahme des Themavokals -o- und zur sonstigen (teilweise systema-
tischen) Nutzung abweichender Elemente (Krahe & Meid 1967: 19, vgl. 2c). Da-
mit bestehen bereits früh zwei Muster für die Komposition: N+X+N und N+∅+N.
||
9 Es handelte sich i.d.R. um die a-, ō- und i-Deklination (Braune 2004: 183). Die u-Deklination
ist schon früh weitgehend zur i-oder a-Deklination übergegangen (Braune 2004: 205), die ver-
bliebenen Mitglieder nutzen den Vokal jedoch im Ahd. teilweise noch.
Entstehung der Kompositionstypen | 15
in germanischen Komposita nicht nachweisbar sind. Sie greifen auf ihren voka-
lisch auslautenden Nominativ Singular zurück (got. guma-kunds ‚Mann + Ge-
schlecht‘, Genitiv gumins) (vgl. Krahe & Meid 1967: 20). Die s-Stämme, im Ahd.
zur a-Deklination übergegangen, weisen als ehemaliges stammbildendes Ele-
ment -ir- (< germ. -iz-) auf. Es wird noch im Ahd. zum Pluralmarker grammatika-
lisiert (Braune 2004: 188), ist jedoch erst in Komposita zu finden, nachdem be-
reits zahlreiche eindeutige Fälle uneigentlicher Komposition belegt sind. Hier
liegt also wahrscheinlich der Genitiv Plural zugrunde (Nübling & Szczepaniak
2013: 70–71, Szczepaniak 2016: 328). In der Fuge eigentlicher Komposita treten
somit nur Vokale aus ehemaligen stammbildenden Elementen auf, eine gleiche
Herkunft konsonantischer Fugenelemente, wie sie Wegener (2008) für -(e)n-
und -er- vorschlägt, ist unplausibel (Details bei Nübling & Szczepaniak 2013 und
Szczepaniak 2016). Das heute noch verbliebene Schwa in der Kompositionsfuge
stimmt fast ausnahmslos mit dem Pluralmarker überein. Geht das verfugende
Erstglied auf einen kurzsilbigen Stamm zurück (wie Tag-e-lohn, ahd. tag), so
kann die Fuge ein ehemaliges stammbildendes Element sein. War der ahd.
Stamm dagegen langsilbig (wie Schwein-e-futter, ahd. swīn; Pferd-e-stall, ahd.
pherit; Hund-e-hütte, ahd. hunt), muss es sich um eine spätere Herkunft aus dem
(Genitiv) Plural handeln, da stammbildende Elemente in dieser Position voll-
ständig getilgt wurden (Szczepaniak 2016: 329).
||
10 Dem gegenüber steht z.B. lat. pater familias mit nachgestelltem Genitiv. Die Flexion (-as
statt -ae) weist darauf hin, dass auch diese Konstruktion als feste Fügung betrachtet wird.
16 | Gegenstandsbereich
In den germ. Sprachen ist got. baurgs-waddjus der älteste Beleg. In den west-
und nordgerm. Sprachen sind häufiger univerbierte Komposita zu finden, so die
lehnübersetzten Wochentagsbezeichnungen (ahd. sunnūn-tag) und eine Reihe
weiterer Bildungen (Krahe & Meid 1967: 18, Nübling & Szczepaniak 2013: 72,
Szczepaniak 2016: 330):
So listet Pavlov (1983: 16) eine Reihe von Bildungen mit starkem (und damit im
Fnhd. endungslosem) Femininum als Erstglied auf (z.B. burgtor, stadtmauer,
tohtermann), denen semantisch eine Genitivreanalyse zugrunde liegen kann,
bei denen es sich aber genauso um Bildungen nach dem älteren Muster handeln
könnte. Eine terminologische Unterscheidung in „eigentliche“ und „uneigentli-
che“ Komposita (häufig auch „altes“ und „neues Muster“) ist daher nur in Be-
zug auf die Genese der Muster relevant. Geht es jedoch um ihre Produktivität
und Ausbreitungsregularitäten, so muss eine rein synchrone Betrachtung der
Bildungsmuster als Ausgangsbasis dienen: Für die SprecherInnen des Fnhd.
war ein altes, „eigentliches“ Kompositum mit dem Muster N+∅+N formal und
semantisch nicht von einem neuen, „uneigentlichen“ unterscheidbar, das kein
Genitivflexiv hatte.
Das Muster N+FE+N ist heterogener. Beim Muster mit alter e-Fuge aus
stammbildendem Element wie beim neuen Muster mit ehemaligem Flexiv tritt
Material zwischen die nominalen Stämme – allerdings unterscheidet es sich
phonologisch. Ob eine alte e-Fuge von den Sprecherinnen und Sprechern kogni-
tiv mit einer neuen s- oder (e)n-Fuge gleichgesetzt wurde, also ein gemeinsames
abstraktes Schema entstand, lässt sich nicht klären. Eine direkte Überlagerung
alter und neuer verfugter Komposita ist maximal für starke Maskulina und
Neutra mit e-Plural und nicht umlautfähigem Stamm anzunehmen; hier hat ei-
ne Reanalyse zu identischen Formen geführt, vgl. altes Tag-e-lohn und neues
Apparat-e-medizin (s. Kap. 5.2.2.2) – letzteres ist aber gerade ein Fall, bei dem
noch zu diskutieren ist, ob er sich wirklich den Fugenelementen zuschlagen
lässt.
Nach der Reanalysephase besteht also eine Durchmischung alten und neu-
en Materials, im Falle nichtverfugter Komposita ist dies für die Sprecherinnen
und Sprecher nicht erkennbar, im Falle verfugter Komposita besteht möglich-
erweise zunächst noch eine gewisse Transparenz, da die e-Fuge das alte Muster
fortsetzt. Spätestens mit der Reanalyse von Genitiv-Plural-Formen auf -e verwi-
schen die Grenzen jedoch zunehmend. Gröger (1911: 42) vermutet zudem, dass
auch bereits etablierte univerbierte Komposita mit Genitivform durch Analogie-
wirkung der e-verfugenden Musters die scheinbar ältere, e-verfugte Form an-
nahmen.
3 Korpora und Belegquellen
Die Präsenz eines Musters in einem Korpus als Abbild der sprachlichen Wirk-
lichkeit festigt seine kognitive Verankerung (Entrenchment) und erhöht so seine
Verfügbarkeit für Analogiebildungen (auch als „‚corpus-as-input‘ view“ be-
zeichnet, vgl. z.B. Stefanowitsch & Flach 2017). Voraussetzung dafür ist, dass es
sich beim verwendeten Korpus um ein realistisches Sample des Inputs handelt,
dem die SprecherInnen ausgesetzt sind. Das ist für historische Sprachstufen
kaum erreichbar, entsprechend können textsortenbedingt häufige Vorkommen
eines Musters aufgrund der hohen Frequenz eines seiner Mitglieder (z.B. Rats-
versammlung, Gottesdienst) verzerrend wirken. Selbst für die dt. Gegenwarts-
sprache ist ein repräsentatives Korpus, inklusive gesprochener Sprache, nach
wie vor ein Desiderat. Die verwendeten historischen Korpora wurden zwar sorg-
fältig zusammengestellt, können jedoch nicht als realitätsgetreues Abbild der
Sprache zur jeweiligen Zeit verstanden werden. Dies ist umso unproblemati-
scher, je abstrakter die Untersuchungsebene wird: Geht es um konkrete Le-
xeme, so lässt sich analogische Ausbreitung bestenfalls erahnen, geht es jedoch
um Kompositionsmuster, so wird die Aussagekraft bedeutend höher. Kor-
pusspezifische Einschränkungen werden im Rahmen der jeweiligen Untersu-
chungen thematisiert.
Die primäre diachrone Datenquelle stellt das Mainzer (Früh-)Neuhoch-
deutschkorpus dar (Kap. 3.1). Ergänzend wurden drei Teilkorpora des GerManC
(Kap. 3.2.1) und historische Zeitschriften des DeReKo herangezogen (Kap. 3.2.2),
Einzelbelege entstammen dem Deutschen Textarchiv (Kap. 3.2.3), eine Recher-
che greift auf das Korpus der mittelhochdeutschen Grammatik zurück (Kap.
3.2.4). Für das Nhd. wurden neben gängigen Korpora (DeReKo und DWDS) auch
Wörterbuchdaten (3.3.1) und eine Neologismensammlung genutzt (3.3.2). Für
eine Kurzübersicht s. Literaturverzeichnis.
https://doi.org/10.1515/9783110517682-003
Mainzer (Früh-)Neuhochdeutschkorpus (1500–1710) | 19
||
11 Die Korpustexte wurden im DFG-Projekt als Papierkopien bearbeitet und wurden mir
freundlicherweise von Ursula Götz (Rostock) zur Digitalisierung zur Verfügung gestellt.
12 Bei Bergmann & Nerius (1998) wurde von Kernjahren ausgegangen, wobei die Texte aus
den umgebenden zehn Jahren stammen sollten, d.h. für 1500 z.B. von 1495 bis 1505. Sieben
Texte weichen davon leicht ab, vier bereits bei Bergmann & Nerius (Nr. 2, 7, 48, 64) und drei
Ersatztexte (Nr. 4, 28, 47).
13 Da das Korpus Großschreibung untersucht, wurde die genaue Varietät als unwichtig erach-
tet, weshalb in der ersten Hälfte des Zeitraums nd. Texte enthalten sind, in der zweiten dann
hd. Für eine Untersuchung wie die vorliegende ist eine derartige Mischung ungeeignet, die
Texte wurden daher ausgeschlossen.
20 | Korpora und Belegquellen
Außerdem erwiesen sich einzelne Texte als ungeeignet: Zitierte Passagen (i.d.R.
aus der Bibel) wurden von der Analyse ausgeschlossen, wodurch einige Texte
zu kurz wurden. Wo möglich, wurden diese Texte ausfindig gemacht und ent-
sprechend zusätzliches Wortmaterial daraus aufgenommen, in vielen Fällen
war eine Beschaffung jedoch nicht realistisch oder der Text war insgesamt zu
kurz, dann wurde er ersetzt. (Einzelne Texte waren auch schon im Originalkor-
pus zu kurz.) Bei einigen Texten handelte es sich um Übersetzungen. Aus der
Befürchtung heraus, die Wortstellung des Originals könne z.B. die Position des
attributiven Genitivs beeinflussen, wurden sie ebenfalls ersetzt.14 Vereinzelte
Texte stellten sich als Neuausgaben älterer Drucke heraus; da hier zu befürch-
ten war, dass sie einen älteren Sprachstand widerspiegeln, wurden auch sie
ersetzt. Die Ersatztexte wurden in VD 16 bis 18 sowie bei den Digitalisaten von
GoogleBooks recherchiert, einige wenige waren bereits digitalisiert. Es handelt
sich bei den Ersatztexten durchweg um Scans der Originaldrucke oder um text-
getreue Abschriften.15 In Abb. 2 sind die ersetzten Texte mit „x“ gekennzeichnet,
es handelt sich um 23 Texte von 80.
||
14 So weist Solling (2012: 9–10) darauf hin, dass in Predigtübersetzungen lateinischer Vorla-
gen insgesamt weniger Komposita auftreten als in originär deutschsprachigen Texten, wahr-
scheinlich, weil im Lateinischen, das kaum Komposita aufweist, adjektivische Konstruktionen
(oder attributive Genitive) dominieren.
15 Zwei Texte entstammen dem Bonner Fnhd.-Korpus (Nr. 17, 27), zwei sind der Textsamm-
lung von Thomas Gloning entnommen (Nr. 14, 28; http://www.staff.uni-giessen.de/gloning).
Weitere historische Korpora | 21
Für das frühe Nhd. wurden drei Subkorpora des GerManC-Korpus von Durrell et
al. (2007) herangezogen (3 Zeitschnitte: 1650–1700, 1701–1750, 1751–1800). Es
handelt sich dabei um wissenschaftliche Texte (SCIE), Predigten (SERM) und
Zeitungstexte (NEWS). Die SCIE- und SERM-Teilkorpora wurden gewählt, um
eine Textsortenkontinuität zum Mainzer Korpus zu gewährleisten. So kann
sichergestellt werden, dass eventuelle Unterschiede nicht durch Textsortenspe-
zifik bedingt sind. Das NEWS-Teilkorpus wurde gewählt, um einen Vergleich
mit späteren und gegenwartssprachlichen Korpora zu ermöglichen, die in den
meisten Fällen auf Zeitungstexten basieren.
||
16 Durch Umbruch getrennte Wörter wurden an der Umbruchstelle mit „#“ markiert und
zusammengefügt, sodass die Wortzählung nicht durch Texte mit besonders vielen Umbrüchen
verfälscht wird. Eventuelle Trennstriche wurden belassen. Waren keine Trennstriche vorhan-
den, so wurde der Umbruch nur zusammengefügt, wenn es sich ganz klar um ein Wort han-
delt, bei Komposita an der Kompositionsgrenze nie, da nicht entschieden werden konnte, ob es
sich um Getrennt- oder Zusammenschreibung handelte.
17 Für ihre Hilfe bei der Texterfassung danke ich den damaligen Mainzer Hilfskräften Betty
Richter und Jan Böhm. Am Korrekturlesen und Aufbereiten der Texte war außerdem Stefan
Hartmann maßgeblich beteiligt, auch ihm herzlichen Dank.
18 Eine der Kategorien (Modifikatoren/Determinierer der NP bei Genitivkonstruktionen) wur-
de von Andreas Klein annotiert, herzlichen Dank.
22 | Korpora und Belegquellen
Die Ausschnitte wurden so gewählt, dass sie im Umfang pro Zeitschnitt der
gleichen Textsorte aus GerManC (NEWS) entsprechen. Das Korpus besitzt kein
POS-Tagging, sodass hier auf Basis der online verfügbaren Volltexte sämtliche
Textwörter in Listenform gebracht wurden. Von der Annahme ausgehend, dass
sich die Substantivgroßschreibung 1843 bereits weitgehend durchgesetzt hat,
blieben kleingeschriebene Wörter unberücksichtigt, ebenso Wörter mit weniger
als 5 Zeichen. Aus den verbleibenden 12.664 Wörtern wurden 2.097 Komposita
Gegenwartssprachliche Korpora | 23
ermittelt. Alle Komposita wurden manuell in Erst- und Zweitglied aufgeteilt und
nach untersuchungsrelevanten Faktoren annotiert.
Für Einzelbelege wurde auch das Material des Deutschen Textarchivs (DTA)
genutzt (ca. 1500–1900). Da sich das Korpus noch im Aufbau befand und wäh-
rend dem Hauptteil der Untersuchung erst 1650 begann, konnten hier zumeist
keine systematischen Auswertungen durchgeführt werden. Es eignet sich aber
aufgrund der umfangreichen Annotation gut für die Suche nach konkreten Bei-
spielen. Für einzelne Kapitel, die erst spät entstanden, konnte auf einen erwei-
terten Textumfang (beginnend ca. 1500) zugegriffen werden, insbesondere für
Kap. 11. Quellenangaben erfolgen in den Endnoten, die mit kleinen, hochge-
stellten Buchstaben angezeigt werden.
3.2.4 MiGraKo
Für die mhd. Verfugungsanteile wurden Daten aus dem Korpus der mhd. Gram-
matik (MiGraKo) herangezogen. Das Korpus unterteilt die mhd. Periode in fünf
Zeitschnitte (1050–1150, 1150–1200, 1200–1250, 1250–1300, 1300–1350) und
enthält 1.268.994 Tokens, die detailliert annotiert sind. Für meine Zwecke war
es ausreichend, das Korpus als Ganzes zu analysieren, wobei auf die Wortart-
und teilweise auch Kasustags zurückgegriffen wurde. Das Korpus ist Teil des
Referenzkorpus Mittelhochdeutsch (ReM) und kann über eine ANNIS-Schnitt-
stelle abgefragt werden.
3.3.1 Canoo.net
War ein schneller Überblick über die Typen eines Verfugungsmusters notwen-
dig, so wurde das Onlinewörterbuch von Canoo.net herangezogen. Es unterliegt
allen Einschränkungen, die für ein Wörterbuch gelten, d.h. insbesondere, dass
es keine neuen oder seltenen Komposita enthält. Das Wörterbuch enthält einen
ausführlichen Grammatikteil, über den konkrete Einträge listenweise abgerufen
werden können – so findet sich beispielsweise im Wortbildungsteil unter Kom-
position die Seite „Nomen+er+Nomen (N+er+N)“ mit dem Link „Alle Komposita
dieser Klasse“. Darüber hinaus stellte mir Stephan Bopp dankenswerterweise
einige nicht direkt abrufbare Listen zusammen, z.B. aller unparadigmisch ver-
fugenden Feminina. Die Listen weisen in geringem Umfang Fehler auf, die da-
rauf beruhen, dass sie nicht manuell erstellt wurden. So ist z.B. in der er-Liste
auch das Erstglied Ausländer- enthalten, vermutlich, weil beim automatischen
Abgleich anderswo im Wörterbuch die Form Ausland festgestellt wurde. Derar-
tige Fehler wurden bei der sowieso immer nötigen Nachbearbeitung (z.B. zur
Trennung in Erst- und Zweitglied) berichtigt – es besteht aber umgekehrt die
Möglichkeit, dass aufgrund ähnlicher technischer Fehler einzelne Erstglieder in
den jeweiligen Listen fehlen (z.B. enthält die N+e+N-Liste das Kompositum
Warmbadetag, das entsprechend in der V+e+N-Liste nicht vorhanden ist). Ins-
gesamt entstand beim Arbeiten mit den Listen aber der Eindruck einer geringen
Fehlerquote.
3.3.2 Wortwarte
Die Wortwarte (Lemnitzer 2000–) ist eine seit 2000 kontinuierlich ergänzte, kor-
pusbasierte Neologismen- und Okkasionalismensammlung: Das Onlineangebot
überregionaler Zeitungen und zweier Onlineportale wird in regelmäßigen Ab-
ständen mit Wortlisten des DeReKo abgeglichen, die darin nicht belegten Wör-
ter werden manuell auf Fehlschreibungen etc. überprüft und aus den tatsäch-
lich neuen Wörtern wird schließlich eine Auswahl interessant scheinender Wör-
ter aufgenommen. Da sich die subjektive Auswahl primär an der Bedeutung ori-
entiert, ist sie für die später daran durchgeführte Produktivitätsanalyse ver-
schiedener Verfugungsmuster unproblematisch.19 Im Rahmen der vorliegenden
||
19 Es werden insgesamt sehr viele Kontaminationen und direkte Analogiebildungen (mit ge-
nau einem Vorbild) in die Sammlung aufgenommen. Da diese jedoch nicht in die untersuchte
Datenbasis einfließen, entsteht hier keine Schieflage.
Gegenwartssprachliche Korpora | 25
Arbeit wurden alle zwischen September 2009 und August 2010 aufgenommenen
Substantive aus den wochenweise gegliederten Listen extrahiert und manuell
auf ihre interne Struktur überprüft, es verblieben 2.415 neugebildete NN-Kom-
posita.20 Für einen größeren Zeitraum (Juli 2006 bis August 2010) wurden die
insgesamt weniger frequenten NA-Komposita in einem Umfang von 398 Typen
erhoben.
||
20 Berücksichtigt wurden ausschließlich NN-Komposita. Ausgeschlossen wurden Komposita
wie in (I), deren Fugenverhalten sich eindeutig auf bereits existierende Komposita bezieht, so
Kontaminationen (a) und dreigliedrige Komposita, deren Konstituenten als AB+C und A+BC
analysierbar sind (b), wobei sowohl AB als auch BC bereits etabliert sind. Hier ist nicht mit
einer produktiven Fugenzuweisung zu rechnen. Des Weiteren ausgeschlossen wurden Fälle
von Infigierung (c), als Ganzes entlehnte Formen (d), Komposita mit ternären Strukturen (e)
und wenige komplexe Komposita, deren interne Struktur nicht zu erhellen war (f).
(I) a. Bundesbildungslückenministerin (Bundesbildungsministerin + Bildungslücke)
Milchmedaillenrechnung (Milchmädchenrechnung + Medaille)
Steuerzangenbowle (Steuer + Feuerzangenbowle)
b. Adventsshoppingwochenende
(Adventsshopping + Wochenende vs. Advents + Shoppingwochenende)
c. Finanzdingsbumssteuer
d. engl. Tabnabbing ‚Kidnapping von Browsertabs‘
e. Einkindsystem, Ganzworterkennung
f. Hotelierwachstumssteuervergünstigungsgesetz
4 Gegenwartssprachliche Distribution der
Fugenelemente
Um die fnhd. Verhältnisse zu erhellen, werden die erhobenen Daten, wo immer
möglich, mit dem nhd. Zustand kontrastiert. Zunächst folgt daher eine steck-
briefartige Abhandlung der gegenwartssprachlichen Fugenelemente. Im Zent-
rum steht ihr Anteil an der Komposition (vgl. Grube 1976, Wellmann et al. 1974,
Kürschner 2003, Krott et al. 2007 und Donalies & Bubenhofer 2011) und Distri-
butionsregularitäten der einzelnen Elemente (vgl. z.B. Žepić 1970, Augst 1975,
Fuhrhop 1996, Kürschner 2010). Die Beschreibung des nhd. Systems erfasst den
bestehenden Wortschatz. Er bildet die Grundlage für die analogische Übertra-
gung eines Musters auf neue Komposita, sollte jedoch nicht selbst als modern
verstanden werden: Die enthaltenen Komposita sind zu unterschiedlichen Zei-
ten entstanden und reflektieren daher auch häufig ältere Sprachzustände. De-
tails zur Entstehung der entsprechenden Muster folgen in Kap. 5, wo es um die
Anbindung der Fugenelemente ans Flexionssystem geht, und bei der Analyse
des Fnhd. (Kap. 9).
Types
Tokens
Tokens Types
Ø 111.557.704 1480
s 26.282.952 593
n 9.489.702 206
en 246.645 69
es 6.144.943 8
Sonstige 2.204.452 59
https://doi.org/10.1515/9783110517682-004
Flexionsklassen | 27
ersichtlich, dass das unverfugte Muster der Normalfall ist. Große Anteile an den
Komposita haben außerdem die s- und n-verfugenden Muster. Unverfugte Kom-
posita haben eine höhere Token- als Typenfrequenz, d.h. sie werden überdurch-
schnittlich häufig gebraucht. Da sie das ältere Muster fortsetzen, dürften hier
viele Komposita des Grundwortschatzes enthalten sein, die bereits früh gebildet
wurden.
4.1 Flexionsklassen
Nhd. Fugenelemente sind keine Flexive – dennoch ist ihr Auftreten teilweise
eng an die Flexionsklassenzugehörigkeit des Erstglieds gebunden. Da sich die
vorgeschlagenen Einteilungen stark unterscheiden (vgl. z. B. Augst 1975, Mug-
dan 1977, Jørgensen 1980, Carstairs 1986, Bornschein & Butt 1987, Durrell 1990,
Pavlov 1995), wird hier eine knappe Übersicht über das verwendete System
gegeben, das sich weitgehend nach Kopf (2010, 2014) richtet. Dabei erfolgt eine
grundlegende Unterscheidung von schwacher, gemischter und starker Flexion,
als deren Leitformen Genitiv Singular und Nominativ Plural dienen.
Die schwache Flexion beinhaltet ausschließlich Maskulina und weist als
Flexiv in allen Formen außer dem Nominativ Singular -(e)n auf. Die Klasse hat
einen Prototyp herausgebildet, der belebte Mehrsilbler bevorzugt (Kunde, Jour-
nalist) (vgl. Köpcke 1993, 1995).
Die gemischte Flexion weist das Flexiv -(e)n nur im Plural auf. Das Genitiv-
Singular-Flexiv ist genusabhängig und stimmt mit dem der starken Flexion
überein: Kein Flexiv haben die Feminina, von denen auch die allermeisten zu
dieser Klasse gehören (Tante), die Maskulina und Neutra nutzen -(e)s (Staat,
Auge). Bei vielen der Maskulina handelt es sich um ehemals schwachflektieren-
de Substantive, die nicht dem Prototyp entsprechen. Sie wechselten während
des Konditionierungsprozesses zur gemischten oder starken Flexion. Entspre-
chend sind sie häufig unbelebt. Zur gemischten Flexion lassen sich auch Sub-
stantive rechnen, die Stammflexion aufweisen, z.B. der Basis – die Basen, des
Mediums – die Medien.
Die starke Flexion umfasst insgesamt vier verschiedene Pluralbildungsver-
fahren, an denen -(e)n nicht beteiligt ist: Eine kleine, geschlossene Gruppe von
Feminina (35, vollständige Liste bei Kopf 2010: xxiii) bildet ihren Plural mit Um-
laut und Schwa (Kraft – Kräfte). Starke Maskulina und Neutra nutzen im Genitiv
28 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente
immer -(e)s, im Plural meist -e/∅21 (57,7% aller Maskulina, 71,2% aller Neutra,
Werte nach Pavlov 1995: 45–48) und in geringerem Maße -er. Den Maskulina
steht zudem -e/∅ mit Umlaut des Stammvokals zur Verfügung. Sämtliche Mit-
glieder dieser Gruppen lauten konsonantisch aus, sie sind einsilbig oder final-
betont oder haben eine finale Reduktionssilbe bzw. ein Derivationssuffix.22 Im
Gegensatz dazu sind die Basen des s-Plurals, der an Feminina (endungsloser
Genitiv Singular) und Maskulina/Neutra (s-Genitiv) tritt, phonologisch wesent-
lich heterogener, hier sind auch Vollvokale und andere Betonungsstrukturen
möglich (die Kiwis).
4.2 s-Fuge
Lässt man die Nichtverfugung unberücksichtigt, so dominiert das Kompositi-
onsmuster mit s-Fuge in allen vorliegenden Erhebungen mit Anteilen zwischen
ca. 14% und 25,1% – trotz unterschiedlicher Materialgrundlagen und Korpus-
größen (Tab. 2). So wurden teils bestehende Wortschatztypen analysiert
(Kürschner 2003, Wellmann et al. 1974, Grube 1976), teils Tokens (Donalies &
Bubenhofer 2011) und teils Neubildungen (Harlass & Vater 1974, eigene Wort-
warte-Daten). Aus diesem Grund wird das Muster gemeinhin als hochproduktiv
gehandelt.
Die s-Fuge ist bei 54,4% der Tokens und sogar 74,5% der Wortwarte-Typen
unparadigmisch, d.h. sie tritt an ein feminines Erstglied, das keinen s-Genitiv in
seinem Paradigma aufweist. (Auf schwachflektierende Maskulina, die einzige
nichtfeminine Gruppe ohne s-Genitiv, greift das s-verfugende Muster nicht zu.)
Hierbei ist es eng an die Suffixe und typischen Wortausgänge -schaft, -heit/keit,
-ung, -ion, -sal, -(i)tät gekoppelt (Augst 1975: 82, Fuhrhop 1996: 537).23 Nichtver-
fugung kommt nur in wenigen, oft fachsprachlich bedingten Ausnahmefällen
vor (z.B. Kommunionkleid), auf die semantisch bedingte Schwankung mit der
en-Fuge (Generation-s-probleme, Generation-en-haus) wird in Kap. 5.2.2 einge-
gangen. Daneben gibt es eine Kerngruppe von ca. 90 weiteren femininen Erst-
gliedern, die stets oder sehr häufig s-verfugen (Daten von Canoo.net, s. Kap.
16.2.8). Fuhrhop (1996: 537) macht bei der unparadigmischen Gruppe den Aus-
||
21 Schwa bei einsilbiger/finalbetonter Basis, endungsloser Plural bei zweisilbiger Basis auf
Reduktionssilbe.
22 Die einzige vokalisch auslautende Ausnahme bildet die Entlehnung Ski.
23 Der Suffixstatus von -(i)tät und -ion ist im Deutschen diskutabel. Im Folgenden werden sie
der Einfachheit halber jedoch meist mit unter den Terminus gefasst. Für eine knappe Einord-
nung s. Kap. 10.7.2.
s-Fuge | 29
laut -t als besonders frequent aus. Das bestätigt sich auch innerhalb der Gruppe
(72 von 93 suffixlosen Erstgliedern mit t-Auslaut im Wörterbuch von Canoo.net
weisen eine s-Fuge auf), was aber noch wenig Aussagekraft besitzt, da es auch
eine generell hohe Frequenz des t-Auslauts widerspiegeln kann.
% Anmerkungen Korpus
Wortwarte (2010) 24,6% Typen (Neubildungen) Wortlisten aus Zeitungen und Online-
medien (Beschreibung s. Kap. 3.3.2)
n=2.415
Bei paradigmischem Auftreten ist die s-Fuge nur bei drei Suffixen obligato-
risch, -tum, -sal und -ling, daneben tritt sie regulär an Substantive aus Infinitiv-
konversion (Schlafen-s-zeit) und häufig an implizite Ableitungen komplexer
Verben (Umbruch-s-phase) bzw. morphologische Konversionen (Anruf-s-vermitt-
lung) (vgl. Augst 1975: 113-120, 129, Fuhrhop 1996: 535–537). Darüber hinaus
verbindet sie sich mit einer Reihe von meist einsilbigen Maskulina und Neutra,
Fuhrhops (1996: 537) Liste mit 25 Fällen ist allerdings noch erweiterbar (z.B.
||
24 Aus der Datenbeschreibung geht nicht zweifelsfrei hervor, dass es sich um Typen handelt,
Lorelies Ortner hat mir das allerdings bestätigt.
30 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente
||
25 -/k/: 21,2%, -/b/: 21%, -/d/: 18%, -/t/: 17,39%, -/g/: 5%, für -/p/ liegt nur ein Erstglied (nicht
verfugendes Sirup) vor. Die Daten zu -/t/ schließen Konsonantencluster mit extrasilbischem
Element (-/st, tst, kst/) aus, hier finden sich 26 nichtverfugende Erstglieder. Würde man sie mit
einberechnen, sänke der Wert für den t-Auslaut auf 12,6% und der Gesamtplosivwert auf 15%.
26 Dabei fehlen Erstglieder mit Frikativauslauten völlig. Für Sibilanten ist dies nachvollzieh-
bar, da hier schon lautlich keine Verfugung möglich ist, aber entsprechende Erstglieder auf -/f/
und -/x, ç/ gibt es durchaus und sie verfugen auch (Schiff-s-arzt, Reich-s-tag).
27 Für Tokens liegen Zahlen von Donalies & Bubenhofer (2011: 39–40) vor, die sich jedoch nur
mit Einschränkungen verwenden lassen: Es wird kein Unterschied bezüglich der Paradigmati-
zität gemacht und sämtliche Erstglieder, auch schwache Maskulina/Neutra, die nicht für die
Verfugung zur Verfügung stehen, fließen ein. Hinzu kommt, dass die Auslautdefinition rein
orthografisch ist, nur bestimmte Auslaute überhaupt Berücksichtigung finden (-t, -g, -r, -n, -d,
-l, -f) und suffigierte Erstglieder voll mit eingehen. Letztere wurden für -heit/keit im Text ange-
geben, sodass der Anteil ohne Suffixe neu berechnet werden konnte, die (wahrscheinlich
selteneren) Erstglieder auf -schaft und -(i)tät sind jedoch weiterhin enthalten. Die Fehlkategori-
sierung von ung-Derivaten konnte nur grob korrigiert werden. (Eine exakte Neuberechnung
war nicht möglich, da nicht angegeben wurde, wie viele ung-Derivate nicht s-verfugen, ich bin
davon ausgegangen, dass es sich nicht um eine nennenswerte Menge handelt, da es bei -heit/
keit nur 0,7% sind.)
Damit weisen 31,8% aller t-auslautenden Erstglieder eine s-Fuge auf, bei den g-Auslauten
sind es 38,2%, bei -d 7,5%. Die n-Auslaute erreichen einen Anteil von 23,6%, dieser dürfte
Erstgliedern auf Reduktionssilbe, darunter die Infinitivkonversionen, geschuldet sein (das ist
insbesondere plausibel, wenn man die Zahl mit den 4,7% bei Wegener 2005: 181 vergleicht, die
derartige Erstglieder nicht berücksichtigt). Der f-Auslaut liegt bei 20,1%, Vergleichsdaten bei
Wegener fehlen hierfür leider.
s-Fuge | 31
100%
80%
60%
40%
20%
0%
Frikative/ Nasale/ Frikative/ Nasale/
Plosive Vokale Sibilanten Plosive Vokale Sibilanten
Affrikaten Liquide Affrikaten Liquide
Auf sibilantischen Auslaut folgt die s-Fuge nie, hier ist keine oder keine hinrei-
chende lautliche Unterscheidbarkeit gegeben. Entsprechende Lexeme (z.B. N:
Maß, Fleisch, M: Kurs, Preis, F: Erkenntnis, Basis) verfugen nicht (Maß-∅-band)
oder folgen, je nach Paradigma, einem anderen Verfugungsmuster (Spatz-en-
futter); gelegentlich kann die es-Fuge genutzt werden (Fleisch-es-lust), es han-
delt sich aber nicht um eine systematische Alternative (s.u.). Ebenso erfolgt kei-
ne Kombination mit vokalischen Auslauten. Dies hängt primär mit der Beschaf-
fenheit der entsprechenden Flexionsklassen zusammen: Traditionell stark flek-
tierende Substantive weisen ausschließlich konsonantische Auslaute auf. Dass
s-Fugen hier aber auch phonologisch nicht erwünscht sind, zeigt sich an Erst-
gliedern anderer Flexionsklassen: Bei der gemischten Flexion führen vokalische
Auslaute (die bei Nichtfeminina nur selten auftreten, vgl. Kopf 2010: xxiv–xxix)
fast immer zu (e)n-Verfugung (Papagei-en-feder, Auge-n-tropfen) und nie28 zu ei-
ner s-Fuge, während konsonantische Auslaute s-Verfugung dem Paradigma ent-
sprechend prinzipiell zulassen (Nachbar-s-hund, Hemd-s-ärmel, Staat-s-ban-
kett).
||
28 Einzige Ausnahme ist Liebes-, hier sind wahrscheinlich bereits mhd. vorhandene Genus-
schwankungen ursächlich (Grimm 1826, Kehrein 1854–1856: 259).
32 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente
Erstglieder mit s-Plural nehmen nur selten eine s-Fuge, vgl. die *Autosbahn
bei Wegener (2003). Ausnahmen finden sich allerdings bei den Eigennamen-
komposita (Evastochter, Evaskostüm, vgl. Fn. 275, S. 320), Wegener (2003: 433–
434) führt außerdem Kuckuck-s-insel, Leutnant-s-uniform an, die Liste lässt sich
noch ergänzen (z.B. Training-s-hose, vgl. Kap. 10.9.2). Sie weist die Annahme,
der s-Plural blockiere die s-Fuge, zurück und erklärt das Phänomen damit, dass
viele Mitglieder der Klasse vokalisch auslauten – diese These wird auch in Kap.
5.2.2 gestützt. Als einziges s-verfugendes Kompositum mit vokalischem Auslaut
macht Wegener Uhu-s-nest aus, wobei die Quelle unklar bleibt, eine entspre-
chende Google-Recherche lässt sich nicht replizieren und in Korpora (DWDS,
DeReKo) sind keine Belege zu finden. Grimm & Grimm (1854–1961) führen aller-
dings Uhusblick ‚wachsamer Blick‘.29
Durch die Präferenz von Plosivauslauten und die Meidung vokalischer Aus-
laute erzielt die s-Fuge beim Erstglied eine Maximierung der Kodakomplexität.
Hieraus leitet sich z.B. der phonologische Funktionalisierungsvorschlag von
Nübling & Szczepaniak (2008) ab (s. Kap. 14.2).
4.3 es-Fuge
Während s- und es-Genitiv, die die flexivische Quelle der s- und es-Fuge darstel-
len, bis heute in einem Überschneidungsbereich Variation aufweisen (zur Dis-
tribution vgl. z.B. Szczepaniak 2014: 38–39), gilt das für die Fugenelemente
nicht mehr (vgl. Nübling & Szczepaniak 2013: 81–82), obwohl in der Literatur
immer wieder ein gemeinsames Fugenelement -(e)s- angenommen wird
(Wellmann et al. 1974, Wegener 2008: 334–335).30 So tritt der s-Genitiv, wie die
s-Fuge, nicht an sibilantische Auslaute – nutzt dann jedoch im nativen Wort-
schatz konsequent das Allomorph -es (des Maßes). Er unterscheidet sich außer-
dem im Umgang mit vokalischen Auslauten: Während derartige Erstglieder nie
s-verfugen (Bau-∅-stopp, See-n-landschaft, Auge-n-tropfen), nehmen sie bei frei-
em Vorkommen sehr wohl den s-Genitiv, gelegentlich auch das -es (des Bau(e)s,
des Sees, des Auges). Ist beim Genitiv starker und gemischter Maskulina und
Neutra also maßgeblich, dass eine der beiden Flexivvarianten vorhanden ist, so
handelt es sich bei s- und es-Fuge um zwei getrennt zu behandelnde Phä-
nomene, die nur selten miteinander konkurrieren. So weisen z.B. nur 1,9% der
||
29 Vgl. auch historisches Echosweiß (DTA; Johann Conrad Dannhauer: Catechismus-Milch. Bd.
9. Straßburg, 1672).
30 Zum diachronen Verhältnis zwischen beiden Fugen vgl. Kap. 9.3.1.2.
es-Fuge | 33
% Anmerkungen
Wellmann et al. (1974: 365) NA Typen; keine Trennung zwischen es- und s-Fuge.
Die Menge der es-verfugenden Erstglieder ist zwar gering, aber doch bedeutend
größer als Fuhrhop (1996: 528) und Nübling & Szczepaniak (2013: 81–82) es mit
ca. 30 annehmen. Grund für die Einschätzung dürfte sein, dass viele ihrer Mit-
glieder so niederfrequent sind, dass sie in Korpora gar nicht nachweisbar sind:
Bei 15 der ermittelten Erstglieder ist die es-Fuge an ein einzelnes Gesamtkompo-
situm gekoppelt, das häufig einer höheren oder literarischen Stilebene angehört
(Armeslänge, Eiseskälte, Haaresbreite, Zinseszins). Lediglich 27 Erstglieder wie-
34 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente
sen mehr als fünf im Wörterbuch verzeichnete Komposita auf, die häufigsten
Erstglieder sind Jahres- (85 Typen), Tages- (83), Bundes- (61), Landes- (58) und
Todes- (52). In der Wortwarte finden sich nur acht Neubildungen (Bundesblöd-
ler, -knöchel, -mama, -pullover, -schwafler, -energiesparlampenverordnung; Geis-
tesprekariat, Zornesekstase).
Verglichen mit der geringen Typenzahl ist die Gebrauchshäufigkeit es-ver-
fugter Komposita dennoch überdurchschnittlich. Hier dürfte es sich um ein text-
sortenbedingtes Phänomen handeln, gerade die Erstglieder Bundes- und Lan-
des- bilden zahlreiche Bezeichnungen für Gesetze, Veranstaltungen und Institu-
tionen, auch Jahres- und Tages- modifizieren oft berichtenswerte Konzepte (Jah-
restagung, Tagesbilanz).
4.4 (e)n-Fuge
Die (e)n-Fuge ist auf Basis der Flexionsklasse fast vollständig vorhersagbar. Sie
erscheint
– regulär bei schwachen Maskulina (Chinese-n-viertel, Fink-en-nest)
– mitunter bei gemischten Maskulina und Neutra (Buchstabe-n-folge, Ohr-en-
krankheit) sowie
– meist bei gemischten Feminina (Dame-n-schuh, Frau-en-schuh).
Tab. 4: Anteil der n- und en-Fuge in der Gegenwartssprache. (Keine Unterscheidung nach
Paradigmatizität.)
%n % en Anmerkungen
Neben der schwachen Flexion der Substantive kann auch die schwache Flexion
der Adjektive Fugenelemente bereitstellen: Alte-n-heim, Angestellte-n-verband,
Kranke-n-haus. Ein Sonderfall der (e)n-Fuge liegt bei Fremdwörtern mit lateini-
schem Wortausgang vor (vgl. für das Flexion Eisenberg 2012: 223–224), die
Stammflexion aufwiesen: Medium/Medien – Medi__-en-skandal, Skala/Skalen –
Skal__-en-niveau. Die Integration fremden Materials in bestehende Substantiv-
klassen über die Stammformflexion ist bereits in fnhd. Zeit zu beobachten, wo-
bei sie sich zunächst nur selten in Komposita niederschlägt (z.B. Evangelien=
Buch, vgl. Kap. 9.3.2.1).
4.5 (e)ns-Fuge
Komposita mit ens- oder ns-Fuge haben nur einen marginalen Anteil am gegen-
wartssprachlichen Verfugungsverhalten (vgl. Tab. 5), weshalb sie in den meis-
ten Untersuchungen unberücksichtigt bleiben. So fassen z.B. Nübling &
Szczepaniak (2013: 82) beide Fugen zusammen und bezeichnen sie als wenig
relevant. Da sich die verfugten Erstglieder jedoch in der Outputstruktur mit der
36 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente
der s-Fuge überschneiden, ist der Typ nicht völlig unwichtig. Historisch, nicht
aber synchron (wie das Wiese 1996: 147 vertritt), handelt es sich bei diesen Fu-
genelementen um zwei kombinierte Genitivsuffixe (vgl. Kap. 5.1.1).
% Anmerkungen
ns: 0,1%
Grube (1976) Typen
ens: 0,02%
ns: 0,3%
Wortwarte (2010) Typen (Neubildungen)
ens: 0,01%
Buchstabe-n-art Friede-ns-/Frieden-s-erklärung
Funke-n-/Funken-∅-schlag Glaube-ns-/Glauben-s-bekenntnis
Gedanke-n-experiment Name-ns-bestandteil
Same-n-/Samen-∅-raub Wille-ns-/Willen-s-erklärung
Vereinzelt dehnt sich die (e)ns-Fuge auch unparadigmisch aus, so bei Interes-
sensgemeinschaft (schwankend mit Interessengemeinschaft), auch bei den dia-
lektalen Formen Arztenswitwe in Österreich, Frauensperson im nd. Raum
(Ortner et al. 1991: 56) entspricht sie nicht dem Paradigma.
e% Anmerkungen
Krott et al. (2007: 29) 1,0% Typen; unklar, ob UL+e auch enthalten
Harlass & Vater (1974) 1,2% Typen (Neubildungen); UL+e auch enthalten.
Die er-Fuge ist, bedingt durch die mitgliederschwache Flexionsklasse, die er-
Plural bildet, noch seltener belegt:
38 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente
er % Anmerkungen31
4.7 Nichtverfugung
Nichtverfugung ist der statistische Normalfall und muss als solcher nicht sys-
tematisch beschrieben werden. Insbesondere entlehnte Erstglieder verfugen so
gut wie nie, wie sich noch im Rahmen der Produktivitätsmessung zeigen wird
(Kap. 10.9.2).
Allerdings gibt es auch klare Bereiche, in denen die Verfugung nie oder nur
unter besonderen Bedingungen unterbleibt. Das betrifft Erstglieder auf Schwa,
die als schwache Maskulina stets, als gemischte Feminina fast immer n-
verfugen – bei letzteren gibt es allerdings einen recht großen Ausnahmebereich
für Abstrakta und Stoffbezeichnungen (Reife-∅-grad, Hirse-∅-brei, vgl. Kap.
5.2.2.1). Gemischte Feminina auf -er verfugen zwar häufig, aber nicht systema-
tisch, z.B. Schwester-∅-knoten (aber Schwester-n-haube), schwankendes Ziffer-
(n)-blatt und nie verfugendes Mauer (Mauer-∅-werk).
||
31 Eine Trennung in Umlaut- und Nichtumlautvarianten, wie sie Augst (1975: 73–74) trifft, ist
für die er-Fuge nicht notwendig, da, wie beim Pluralflexiv, alle umlautfähigen Vokale auch
umgelautet werden (vgl. auch Kopf 2014: 201–202).
Nichtverfugung | 39
% Anmerkungen
Wellmann et al. (1974: 365) 72,8% Typen; unklar, ob subtraktive Fuge enthalten
Krott et al. (2007: 29) 65,0% Typen; unklar, ob subtraktive Fuge enthalten
Harlass & Vater (1974) 65,0% Typen (Neubildungen); inklusive subtraktiver Fuge
(7) a. Asch-, Erd-, Farb-, Himbeer-, Kirsch-, Kontroll-, Kron-, Kutsch-, Palm-,
Papp-, Pfann-, Reb-, Schul-, Sprach-, Stimm-
b. Aug-, Bagatell-, Birn-, Bless-, End-, Grenz-, Kirch-, Lokomotiv-, Minz-,
Sach-, Schand-, Sonn-, Woll-
Nur in wenigen Fällen ist die subtraktive Nichtverfugung das einzige oder auch
nur häufigste Verfahren (z.B. bei Woll-, Grenz-, Schul-), häufig ist sie auf ein
konkretes Kompositum begrenzt (Sonntag, Augapfel). Historisch lässt sie sich in
den Kontext der fnhd. Schwa-Apokope stellen (vgl. auch Kap. 9.3.1.1, 9.3.5,
10.7.7), die die Gruppe der konsonantisch auslautenden Feminina vergrößerte –
so verhält sich apokopiertes Kirsch/Kirschen wie unapokopiertes Schrift/Schrif-
ten.
||
32 Eck- und Quell- lassen sich sowohl auf Feminina als auch auf Maskulina beziehen, bei
letzteren läge eine normale Nullfuge vor.
40 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente
4.8 Variation
Schwankungen im Verfugungsverhalten lassen sich auf zwei Ebenen beobach-
ten: Zum einen auf der Gesamtkompositumsebene (Seminar-∅-arbeit vs. Semi-
nar-s-arbeit), zum anderen bezogen auf die Kompositionsstammform (Kind-er-,
Kind-es-, Kind-s-). Letztere wurden bei der Behandlung der einzelnen Fugen-
elemente mit angesprochen und sind nicht selten: Im DeReKo sind 18,9% der
Erstglieder in mindestens zwei Varianten belegt (Donalies & Bubenhofer 2011:
48–50). Schwankungen beim Gesamtkompositum werden insbesondere von
interessierten Laien stark diskutiert (vgl. Hinweise bei Nübling & Szczepaniak
2011: 46, Donalies & Bubenhofer 2011), stellen aber mit gerade einmal 2% der
Vorkommnisse im DeReKo eine Minderheit unter den Komposita dar (Donalies
& Bubenhofer 2011: 51). Dabei spiegelt die regionale Variation in (8) Unterschie-
de dialektaler Fugengrammatiken wider,33 die standardsprachlichen Schwan-
kungsfälle in (9) hingegen Variation innerhalb eines Systems. Nur bei letzteren
handelt es sich um Zweifelsfälle im Sinne von Klein (2003), beide können je-
doch Aufschluss über widerstrebende Prinzipien der Verfugung geben.
||
33 Beispiele nach Elspaß & Möller (2003–).
34 Die Schwankungsfälle sind Nübling & Szczepaniak (2011) entnommen, die Zahlen wurden
selbst erhoben (W-Archiv des DeReKo via COSMAS II, 28.8.2015, abgefragt wurde das einfache
Kompositum mit allen Flexionsformen.) Weitere Beispiele (ohne Zahlen) siehe Nübling &
Szczepaniak (2011: 47).
Variation | 41
||
35 Hier setzt Meyer (1989: 57) aus synchroner Perspektive eine Kürzung von -en an, da Schat-
ten aber zu den Klassenwechslern der ehemaligen schwachen Maskulina gehört (mhd. schate),
ist die Form über eine einfache Schwa-Apokope erklärbar.
42 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente
4.9 Zusammenfassung
Nhd. Fugenelemente lassen sich auf Basis morphologischer und phonologischer
Eigenschaften des Erstglieds zu einem großen Teil erfassen, wobei nur in weni-
||
36 Zwirner-Korpus via DGD (ZW--_E_00555).
37 Zwirner-Korpus via DGD (ZW--_E_03792).
38 Zwirner-Korpus via DGD (ZW--_E_02555).
39 Zwirner-Korpus via DGD (ZW--_E_01869).
40 Alle Belege aus dem DWDS-Kernkorpus (2.1.2018).
Zusammenfassung | 43
gen Fällen eine ausnahmslose Zuordnung erfolgt: Bei bestimmten Suffixen und
konvertierten Infinitiven wird s-verfugt, bei schwachen Maskulina -(e)n-. Die s-
Fuge weist die ungewöhnlichste Distribution auf, sie erfasst auch unparadigmi-
sche Fälle und ist (wenn auch minimal) sensitiv für den Auslaut. In den übrigen
Fällen wirkt die Flexionsklasse zwar einschränkend – die Fugenelemente kön-
nen nur paradigmisch auftreten –, es stehen jedoch auch die Nullfuge oder in-
nerparadigmatische Alternativen (z.B. -es- vs. -er-) zur Verfügung.
Suffixderivate
-s- auf -schaft, -heit/keit,
(unparadigmisch) -ung, -ion, -tät, -sal nicht möglich für
überdurchschnittlich häufig
implizite Derivate schw. M.,
nach Plosiv,
kaum möglich für
nicht nach Sibilant,
Suffixderivate Erstglieder mit s-
nicht nach Vokal
-s- auf -ling, -tum, -sal Plural
(paradigmisch) Infinitivkonversionen
implizite Derivate
tendenziell einsilbig,
-es- keine nur st./gem. M./N.
konsonantischer Auslaut
reduktionsvokalischer
-n- keine
Auslaut (inkl. -er) alle schw. M.,
vollvokalischer oder konso- viele gem. N./F.
-en- keine
nantischer Auslaut
entsprechen der
-(e)ns- keine gem. M./N.
Flexionsklasse
entsprechen der
(UL)-e- keine st. M./N./F.
Flexionsklasse
entsprechen der
-er- keine st. M./N.
Flexionsklasse
44 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente
||
41 Als Basis können NN-Komposita angenommen werden, deren Erstglieder Verbalabstrakta
waren, die als Verbstämme reanalysiert wurden (Gröger 1911, Henzen 1965: 69–71). Eine Be-
schreibung wie die von Žepić (1970: 68), „eine bestimmte Anzahl von Verben wirft jedoch nur
das -n ab“, erscheint vor diesem Hintergrund selbst aus einer rein synchronen Perspektive
absurd.
42 Von Kienpointner (1985: 22) verworfen wird ein Einfluss des Zweitgliedanlauts und be-
stimmter Lautkombinationen im Stammauslaut. Auch die semantische Differenzierung oder
die strukturelle Oppositionsbildung zum Substantiv scheinen keine motivierenden Faktoren zu
sein.
43 Kienpointner (1985: 22–23) Datenbasis setzt sich aus dem Material der Innsbrucker For-
schungsstelle (Ortner et al. 1991) sowie Wörterbuchdaten und Gelegenheitsfunden zusammen,
insgesamt umfasst es 6.500 „Stichwörter“. Für die sth. Obstruenten, /t/ und den Velarnasal
wertet sie 174 Erstglieder aus (vs. 321 bei meinen unten vorgestellten Wörterbuchdaten), wobei
auch Bildungen mit adjektivischem und verbalem Zweitglied enthalten sind (leuchteblau). Der
zahlenmäßige Unterschied könnte u.a. daran liegen, dass Kienpointner (1985) Erstglieder, die
potenziell auch an Substantive angeschlossen werden können, nicht miteinbezieht und kom-
plexe Erstglieder nur einmal zu berücksichtigen scheint.
Exkurs: Die verbale Schwa-Fuge | 45
Fuhrhop (1996: 539–541) spekuliert zudem, dass die Schwa-Fuge nach Prä-
fix- und Partikelverbstämmen eher unterbleibt. Sie bezeichnet sie als „kategori-
elles Fugenelement“ das der „Kennzeichnung des Verbseins“ diene.
Eisenberg (2006: 238) schließt sich dieser Einschätzung an. Er nennt als
möglichen Steuerungsfaktor neben der Morphemkonstanz die Entstehung tro-
chäischer Strukturen. In diesem Zusammenhang schränkt er Fuhrhops (1996:
539–540) Befund zu komplexen Verben auf Partikelverben ein, dort werde die
Schwa-Fuge „signifikant weniger gesetzt“, was er durch den hier bereits vor-
handenen Trochäus begründet.
Insbesondere um die nicht datenbasierten Aussagen von Fuhrhop (1996:
539–541) und Eisenberg (2006: 238) zu überprüfen, wurden aus Canoo.net alle
verfugten und unverfugten VN-Komposita extrahiert44 und nach Silbenzahl,
Präfix und Verbstammauslaut annotiert. Eine Auswertung der Kompositions-
stammformtypen45 mit einsilbiger Wurzel zeigt tatsächlich eine klare Verfu-
gungsaffinität: Während 59,7% der Stämme auf stimmhafte Obstruenten (b, d,
g, z) verfugen (bei Kienpointner 1985 sind es 70,6%, bei Augst 1975 65,2%), ist
dies nur bei 10% der Stämme auf stimmlose Obstruenten und bei 3,7% sonstiger
Stämme der Fall (Abb. 6; bei Augst 1975 zusammen 4,9%). Der verhältnismäßig
große Verfugungsanteil von Stämmen auf /t/ bleibt erklärungsbedürftig. Erst-
glieder mit zwei- oder mehrsilbiger Wurzel weisen nie eine e-Fuge auf und wur-
den in die Berechnung nicht miteinbezogen.46
||
Žepić (1970) nutzt den Rechtschreibduden von 1954 (Buchstabenstrecke A-K) und ein Wör-
terbuch von Mackensen. Insgesamt erfasst er damit 307 verbale Erstglieder (vs. 931 bei mir).
Augst (1975) wertet Komposita mit 504 Verben ohne charakteristischen Wortausgang (-el, …)
oder Suffix (-ier) aus dem Rechtschreibduden und Wahrigs Wörterbuch aus.
44 Die Entscheidung darüber, welche Stämme als verbal gewertet werden, liegt dabei bei den
Lexikographinnen und Lexikographen, Komposita mit offensichtlich substantivischen Erst-
gliedern (Abteil-∅-tür) oder sonst strukturell abweichende Bildungen (Leb-e-wohl als Univer-
bierung, Skate-∅-board als Gesamtentlehnung) wurden nachträglich ausgeschlossen.
45 Das heißt, jedes Erstglied ging nur einmal in die Zählung ein, auch wenn es zahlreiche
Komposita bildete. Trat es sowohl verfugt als auch unverfugt auf, so wurde es als zwei Typen
erfasst. Zu Erstgliedtypen und dem Umgang damit s. auch Kap. 10.2.2.
46 Fasst man nicht nach Erstgliedern, sondern nach Wurzeln zusammen (d.h. häng- und
vorhäng- bilden z.B. einen Typ), so sinken die Anteile leicht, das Gesamtbild bleibt aber gleich
(54,4%; 8,7%; 4;1%; n=654).
Žepić (1970) und Kienpointner (1985) heben den Velarnasal und /t/ zusätzlich als schwa-
affin hervor. Das lässt sich an meinen Daten auch zeigen, allerdings in wesentlich geringerem
Umfang als bei den sth. Obstruenten (ŋ: 26,1%; t: 20,7%). Dabei scheint die Tendenz für /t/
ernstzunehmender zu sein, hier verteilen sich 19 verfugende Verbstämme auf 11 Wurzeln. Die
verfugenden sechs ŋ-Stämme sind dagegen auf nur zwei Wurzeln begrenzt (düng-e-, häng-e-),
den Auslaut als besonders verfugungsaffin zu bezeichnen, erscheint daher unangebracht.
46 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente
100%
80%
60%
40%
20%
0%
b d g z p t k s
andere
sth. Obstruenten stl. Obstruenten ŋ
Laute
0 27 15 29 12 18 73 81 43 17 451
e 27 34 46 16 19 5 6 12
Kienpointner (1985: 35) und Fuhrhop (1996: 539) weisen auf dialektale Variation
hin, insbesondere im Schweizerdt. und Bairischen unterbleibe die Schwa-Fuge
häufig (Bad-∅-zimmer, Trag-∅-griff). Das ist insofern erwartbar, als derartige
Fälle von der Schwa-Apokope betroffen sind, insgesamt weist das Alemanni-
sche dadurch wesentlich weniger trochäische Strukturen auf als das Stan-
darddt. In den Canoo.net-Belegen gibt es nur 68 Schwankungsfälle, das ent-
spricht einem Anteil von 0,9% (n=7.193). Sie dürften teilweise der Schweizer
Herkunft des Wörterbuchs Rechnung tragen – so sind die Komposita mit Tra-
g-(e)- z.B. besonders stark betroffen (vollständige Liste im Anhang, Kap. 16.2.3).
||
47 Die Verfugung schwankt auch hier wieder in Abhängigkeit vom Stammauslaut, sie liegt
jedoch für komplexe Stämme bei allen drei Auslautgruppen leicht über der der einfachen
Verbstämme (9,6; 5,2; 0,3 Prozentpunkte höher).
48 Da viele der Präfixe/Partikeln nur selten belegt sind, lassen sich hier keine Muster erken-
nen.
Exkurs: Die verbale Schwa-Fuge | 47
||
49 Von der substantivischen e-Fuge ist die verbale insofern besser (aber nicht vollkommen)
unterscheidbar, als diese sich auf Fälle beschränkt, bei denen sie dem Pluralparadigma ent-
spricht (s. Kap. 5.2.2).
5 Paradigmatizität
Als paradigmisch (in der Literatur mitunter auch „organisch“, z.B. Augst 1975:
82) werden im Folgenden mit Wellmann et al. (1974: 359) Kompositionsstamm-
formen betrachtet, die mit einer Form des Nominativs, Akkusativs oder Genitivs
Singular oder Plural übereinstimmen. Das sind alle Formen, die in fnhd. Zeit In-
put für Komposita lieferten: Der Nominativ Singular stellt stets die unflektierte
Grundform dar, ist also identisch mit dem Erstglied unverfugter Komposita. Der
Genitiv ermöglicht eine Univerbierung mit dem folgenden Bezugsnomen (vgl.
auch Grimm 1826: 597), eine mögliche Rolle des Akkusativs in Rektionskompo-
sita ist dagegen nicht so leicht zu klären (s. Kap. 8.2.3.2). Eine Übereinstimmung
von Fuge und Dativflexiv, wie sie z.B. von Dressler et al. (2001: 188) und Wiese
(1996: 147) angenommen wird, spielt hingegen keine Rolle: Es war an der Gene-
se der Fugenelemente nicht beteiligt (explizit z.B. Becker 1992: 11). Auch rein
synchron sind Fälle wie Zwergenhaus, mit ehemals schwach flektierendem
Zwerg, nicht in einen Zusammenhang mit dem Dativ zu bringen – dass es sich
um eine synkretismusbedingt zufällige, keine systematische Übereinstimmung
handelt, wird schon daran sichtbar, dass zweifelsfreie Dative anderer Flexions-
klassen keine Pendants in Komposita aufweisen (*Ballespiel, *Kindernge-
schenk).
Paradigmatizität ist ein grundlegendes Konzept zur Untersuchung von Fu-
genelementen: Zum einen verweisen unparadigmisch verfugte Komposita ge-
genwartssprachlich darauf, dass Fugenelemente keine Flexionselemente sind.
Zum anderen ist die Paradigmatizität relevant für den Wortbildungsstatus eines
verfugenden Kompositionsmusters und die Messung seiner Produktivität im
Fnhd.: Unparadigmische Fugen zeigen die Loslösung von der Morphosyntax
und die Entstehung eines eigenständigen Musters an, während es sich bei para-
digmischen Fugen ebenso um das Resultat einer direkten Reanalyse einer Geni-
tivkonstruktion handeln kann.
Für die beiden Aspekte muss die Paradigmatizität getrennt bestimmt wer-
den: Betrachtet man das Gegenwartsdt., so erfolgt ein Abgleich mit der aktuel-
len Flexion des Erstglieds. Für meine diachrone Untersuchung ist allerdings
eine Übereinstimmung mit den Paradigmen des Fnhd. und frühen Nhd. rele-
vant. Entsprechend kann ein verfugtes Erstglied wie Monden- in Mondenschein
heute unparadigmisch sein, obwohl es früher einmal paradigmisch war (des
Monden). Da auf die Paradigmatizität eines Verfugungsmusters im Folgenden
immer wieder Bezug genommen wird, erfolgt an dieser Stelle eine Begriffsbe-
stimmung und -ausdifferenzierung.
https://doi.org/10.1515/9783110517682-005
Unparadigmische Fugen | 49
Fossilierte unparadigmische Fugen sind in erster Linie für die nhd. en-Fuge bei
nicht-menschlichen starken und gemischten Maskulina (Mondenschein, Hah-
nenfuß) belegt, die früher schwach flektierten (vgl. z.B. Nübling & Szczepaniak
2008: 5). Nur völlig vereinzelt existieren unparadigmische Fugen auf Basis bzw.
durch Einfluss des idg. stammbildenden Elements (Mausefalle,50 Herzeleid) oder
von ehemals stammauslautendem Schwa (Hahnebalken ‚oberster Querbalken
unter dem Dachfirst‘), Bauersmannn ist ein seltener Fall früherer Flexionsklas-
senschwankung, Schmerzenskind ein Zwischenschritt beim Übergang zur star-
ken Flexion, nicht klären lassen sich Sohnemann und eventuell verbales Lause-
kälte. Fälle mit es-Fuge, die Nübling & Szczepaniak (2013: 83) als „kind of non-
paradigmatic“ einordnen, weil sie meist nicht ihrem Paradigma entsprechend
mit -s- variieren, zeugen ebenfalls davon, dass die Fugenelemente einen eigen-
ständigen Status erreicht haben.
Ein Teil der schwachen Maskulina (z.B. Fürst, Junge) behält seine Klassen-
zugehörigkeit auch im Fnhd. bei. Wie Köpcke (1993) zeigt, handelt es sich dabei
primär um belebte, zweisilbige Substantive auf Schwa. Diese Maskulina bilden
auch im Nhd. paradigmische Kompositionsstammformen (Fürstenbrille, Fürs-
tenversammlung). Schwache Maskulina, die dem Schema nicht entsprechen,
gehen häufig zur starken Flexion über, ein Prozess, der bis heute andauert. Da-
bei ergibt sich zunächst eine gemischte Zwischenstufe, hier verbleiben viele
Klassenwechsler (z.B. Name). Sie verfugen heute teilweise nach dem neuen Pa-
radigma (Namenswahl), teilweise nach dem alten bzw. der unveränderten Plu-
ralform (Namenkunde). Das zeigt entweder, dass Univerbierung in dieser Phase
||
50 Becker (1992: 13) schlägt alternativ eine Reanalyse als VN-Kompositum vor, das Erstglied
wäre dann maus(en).
50 | Paradigmatizität
noch möglich war, oder dass das Paradigma noch so eng mit dem Wortbil-
dungsmuster verknüpft war, dass die Fuge sich „aktualisierte“.
Andere Klassenwechsler gehen vollständig zur starken Flexion über (Hahn,
Mond). Dabei erstarrt das alte Flexiv in Komposita häufig (Hahnenfuß, aber des
Hahns/die Hähne). Die ehemals schwachen Maskulina durchlaufen also die
folgenden Übergangsstufen:
(12) es thäte mehr daß wie Glaß zerbrechliche Menschens=Leben ihre Ge-
dancken abmatten (56; 1680)
||
51 Derartige Flexionsklassenschwankungen sind im Korpus sowohl für Fälle belegt, bei denen
heute (wieder) schwach flektiert wird (II temporär gemischt, III temporär stark), als auch bei
Fällen, die mittlerweile völlig stark flektieren (IV übergangsweise gemischt):
(II) a. mit eines jungen Knabens Harm (34; 1592)
b. deß vngenanten Calvinischen Paßquillantens (44; 1620)
c. auff deß Herrn Grafens Begehren (44; 1620)
d. in 24. gr. 30. min deß Löwens (60; 1654)
e. meines hochgeehrten und gegenwertigen Herrn Superintendentens (53; 1651)
f. ein solch unerträglicher humôr eines übelgerathenen Ehegattens (68; 1683)
g. des Königlichen Printzens Geburt (74; 1705)
h. die Gebühr eines treuen Patriotens (76; 1708)
i. Das Thun und Lassen eines Christens (OOBD-1710-KT-neu)
(III) des vermeinten Thumbdechants eygene Bekantnuß (40; 1592)
(IV) gegen des Merzens und Herbstmonats Morgen=Sonne (62; 1678)
Unparadigmische Fugen | 51
1995) Sachbezeichnungen, von denen aber auch viele, genauso wie alle Abs-
trakta, stark flektieren (Klein 2015: 11). Strukturell handelt es sich also um eine
einheitliche Gruppe, dennoch gehören ihre Mitglieder semantisch bedingt ver-
schiedenen Flexionsklassen an. Ursache für die unparadigmische en-Fuge ist
entsprechend, dass (teilweise bereits im Ahd.) stark flektierende Substantive im
Fnhd. aufgrund der hohen strukturellen Ähnlichkeit zur gemischten Flexion
übergingen, wobei der Höhepunkt der Schwankungen im 17. Jh. liegt, um 1750
sind sie weitgehend abgeklungen (Klein 2015: 11–13). Dabei besteht jedoch ma-
ximal eine Übereinstimmung mit dem Pluralflexiv, nie mit dem Singular. Infol-
gedessen ist davon auszugehen, dass das Fugenelement nicht durch Reanalyse
entstanden ist, sondern durch Analogie mit der Kompositionsstammform der
entsprechenden schwachen Maskulina. Diese Analogie wirkt auch heute noch,
wie einzelne Neubelege des Typs Isotopengewicht, Digitalisatenbestellung zeigen
(Klein 2015: 15).
Besonders produktiv ist die unparadigmische en-Fuge im Schweizerdt.
(Meyer 1989). Die Beispiele in (13a) lassen sich direkt auf ehemals schwache Fle-
xion zurückführen, hier ist also lediglich das alte Flexiv erstarrt (vgl. Monden-
schein, Sternenhimmel). Für die Erstglieder in (13b) sind im 17./18. Jh. vereinzelt
schwache Formen belegt. Hier fand eine temporäre Anlehnung an die schwa-
chen Maskulina statt (vgl. auch Ronneberger-Sibold 2016a, 2016b, Klein 2017).
In (13c) liegen dagegen stark flektierende Erstglieder vor, für die in der Literatur
und im DTA (Stand 3.1.2018) keine Flexionsklassenschwankungen belegt sind.
Die Belege weisen die hier behandelten unparadigmischen en-Fugen auf, wobei
es sich durchgehend um Bildungen handelt, die erst in neuerer Zeit entstanden
sind.
100%
80%
60%
40%
20%
0%
Deutschland Österreich Schweiz
e 1
∅ 116 27 6
s 86 37 4
en 2 9
||
52 Luxemburg (nur ein Beleg) und die Wikipedia-Treffer wurden ausgeschlossen. Suchabfra-
ge: &E&Bibliothekar.
53 Hierzu rechne ich auch Ansätze, die Fugenelemente theoriebedingt als Flexive ansehen,
die aber, da sie nicht am morphologischen Kopf erscheinen, keine Funktion haben können,
z.B. Wiese (1996) – für eine funktionale Analyse sind sie damit eben keine Flexive.
54 | Paradigmatizität
tuliert, keine grammatische Funktion, bei der anderen wird gezeigt, dass es in
bestimmten Fällen durchaus gerechtfertigt ist, eine Plurallesart anzunehmen.
5.2.1.1 Nullfuge
Verfugt ein Kompositum nicht, so entspricht sein Erstglied (mindestens) dem
Nominativ Singular seines Paradigmas, es kann also ebenfalls als paradigmisch
bezeichnet werden. Allerdings besteht ein Unterschied darin, mit welchen Ka-
sus eine formale Übereinstimmung besteht: Bei den Feminina sind alle Singu-
larkasus endungslos, ein Kompositum wie Kirchturm könnte also prinzipiell
durch Reanalyse eines Genitiv Singulars entstanden sein (auf Kirch Turm). Bei
den Maskulina und Neutra existiert dagegen immer ein overtes Genitiv-Singu-
lar-Flexiv, hier ist die Übereinstimmung nur im Nominativ (und je nach Klasse
auch Akkusativ) zu beobachten, eine Reanalyse kommt entsprechend nicht in-
frage. Teilweise gibt es jedoch Übereinstimmungen mit Nullpluralformen (in
Handwerker Häusern), die im Fnhd. weiter verbreitet waren als heute. Im Gegen-
satz zu den overten Fugen verweist die Nullfuge also nicht zwingend auf Reana-
lyse, sie lässt sich aber auch nur in wenigen Fällen ausschließen.
5.2.1.2 s-Fuge
Für viele s-verfugende Komposita lässt sich kein Kasusverhältnis herstellen, das
dem gegenwartssprachlichen Gebrauch des Genitivs entspricht, d.h. in weites-
tem Sinne possessiv ist: Umzugskiste, Lebensmittel, Eigentumsdelikt. Auch psy-
cholinguistische Untersuchungen legen nahe, dass keine Bedeutung vorhanden
ist, obwohl sie von Laien oft hergestellt wird, wo sie passt (Königsschloss
‚Schloss des Königs‘). Dressler et al. (2001) führen ein Reaktionszeitexperiment
Paradigmische Fugen | 55
durch, bei dem ein Kompositum eingeblendet wird, woraufhin die Nennform
des Erstglieds produziert werden soll. Dabei ergibt sich kein signifikanter Unter-
schied zwischen unparadigmischer und paradigmischer s-Fuge, die Nennung
von Zukunft aus Zukunftsangst erfolgt so schnell wie die Nennung von Feuer aus
Feuersbrunst. Würde die paradigmische s-Fuge als Genitiv verarbeitet, so rech-
nen Dressler et al. (2001: 203–204) damit, dass die Reaktionszeit für sie entwe-
der länger wäre (falls es leichter ist, das -s- von einer Form wie Zukunfts abzulö-
sen, zu der sie paradigmisch nicht gehört) oder aber kürzer (falls die Verarbei-
tung einer nichtexistierenden Form wie Zukunfts mehr Zeit in Anspruch nimmt).
Sie schließen aus dem Nichtunterschied, dass beide Gruppen gleich verarbeitet
werden und es sich entsprechend nicht einmal um eine Flexionsform und ein-
mal um ein funktionsloses Fugenelement handelt.54 Zu dieser Interpretation ge-
langt man nicht nur, wenn man getrennte Verarbeitung der Kompositumsbe-
standteile annimmt, sie ist auch mit einer holistischen Verarbeitung der Ge-
samtkomposita vereinbar.
||
54 Daneben wäre auch nicht völlig undenkbar, dass die unparadigmischen Fälle ebenso wie
die paradigmischen (irrtümlicherweise) als Genitive verarbeitet werden, wie dies auch immer
wieder in der metasprachlichen Diskussion von Laien passiert.
56 | Paradigmatizität
1. Büchsenlauf ‚Lauf einer Büchse‘: Beim Erstglied erfolgte ein Übergang von
der Büchsen zu der Büchse_ im Genitiv Singular, vgl. Tab. 10. Da sich nicht
festmachen lässt, wann der Übergang stattfand (das müsste einzeltextspe-
zifisch bestimmt werden), ist nicht zu entscheiden, ob Büchsenlauf zum
Entstehungszeitpunkt paradigmisch war, also auf eine Reanalyse zurück-
gehen könnte (der Büchsen Lauf) oder ob das Kompositum erst nach dem
Klassenzusammenfall mit einer nun bedeutungslosen Fuge gebildet wurde.
2. Rosenblatt ‚Blatt einer Rose‘: Ahd. und mhd. Wörterbücher setzen für Rose
die ō-Deklination an, d.h. hier gab es ursprünglich im Genitiv Singular kein
n-Flexiv. Der dann einsetzende Ausgleichsprozess wirkte jedoch in beide
Richtungen (vgl. Belege wie in der Grösse einer Rosen, DTA, 1715a), sodass
eine Bildung während des Klassenwechsels Folge einer Reanalyse auf pa-
radigmischer Basis sein kann.
Abb. 9: „GEHT N' ZYKLOP ZUM AUGEARZT!“ Unterdrückung einer laienlinguistisch resemanti-
sierten n-Fuge als Wortspiel (Foto: Christopher Bergmann, CC BY-NC-ND 4.0).
Abb. 10 zeigt noch einmal die Wandelprozesse, die bewirken, dass unparadig-
misch-fossilierte Fälle entstehen (5a) bzw. dass die Fuge nur noch mit dem Plu-
ralparadigma übereinstimmt (2, 3, 4).
Fürsten – Fürsten Augen – Augen Büchsen – Büchsen Rose – Rosen Gasts – Gäste
Namen – Namen
Hahnen – Hahnen
1 2 3 4a 4b 5b
Fürsten – Fürsten Namens – Namen Auges – Augen Büchse – Büchsen Hahns – Hähne
Rose – Rosen Gast – Gäste
5a
daß semantische Gesichtspunkte für die Auswahl des Fugenelements nicht bestimmend
sind, sondern allenfalls interpretativ ex post factum realisiert werden, wenn die Beziehung
zwischen den Kompositagliedern sinnvollerweise so gedeutet werden kann, daß sie dem
Kasus des mit dem Fugenelement homomorphen Kasusmorphems entspricht.
it depends partially on the pragmatic attitude of the language users, whether they estab-
lish a paradigmatic relationship between interfixes and homophonous inflectional suffi-
xes […]. For example, if one exposes informants to the two variants Sprachwechsel and
Sprach-en-wechsel 'language shift' […], then they often say that several languages should
be involved in Sprach-en-wechsel, but not necessarily in Sprach-wechsel. But they usually
do not find any trace of plurality when they see Sprach-en-wechsel (incidentally the title of
publications on language shift in single languages) without the other variant.
führt (N400),55 ist diese nicht zu beobachten, wenn Zahlwort und Erstglied „in-
kongruent“ sind (einSG OhrenPLzeugeSG). Im Gegensatz dazu führt Genusinkongru-
enz mit dem Erstglied sehr wohl zu erhöhtem Verarbeitungsaufwand (vgl. Kap.
7.1.2.1, dasN PresseFamtN), was eine generelle semantische Unzugänglichkeit des
Erstglieds unwahrscheinlich macht. Das Experiment stützt sich aber auf sehr
schmale Evidenz: Getestet wurden lediglich vier Komposita, von denen zwei
prinzipiell pluralisch lesbar sind (Tierversuch, Liederabend, Feldweg, Ohrenzeu-
ge).
Obwohl die psycholinguistischen Untersuchungen nicht auf Verarbeitungs-
unterschiede hindeuten, möchte ich im Folgenden die Auffassung relativieren,
dass Fugenelemente keine grammatische Funktion haben können. Dabei bezie-
he ich mich, mit der Ausnahme von -er, auf Fugenelemente, die nicht Teil der
Studien waren. Neben den semantisch leeren Fällen aus dem letzten Teilkapitel
wird hier eine zweite Gruppe eingeführt, bei der ein systematischer Pluralaus-
druck (nie jedoch Kasusausdruck) des Erstglieds möglich ist. Hinweise darauf
finden sich in der Literatur zwar immer wieder (z.B. Wegener 2008), eine klare
Einordnung des Phänomens fehlt jedoch. Kasus und Numerus haben für Sub-
stantive unterschiedlichen Status. Gallmann (1999) sieht den Unterschied darin,
dass es sich bei Kasus um eine extern, z.B. durch Rektion motivierte Kategorie
handelt, bei Numerus geht er von interner und externer „Lizenzierung“ aus –
bei Pluraliatanta z.B. intern (Ferien), bei Prädikativen extern (... sind Studen-
ten/... ist Student). Darauf aufbauend argumentiert Gallmann (1999), dass extern
lizenzierte morphosyntaktische Merkmale ausschließlich am morphologischen
Kopf auftreten können, intern lizenzierte jedoch auch am Kompositionserst-
glied: Während bei Sonne-n-schutz, Bild-er-rahmen, Liebe-s-brief keine Kasus-
markierung erfolgen kann (die Fugenelemente sind mit Gallmann „Nicht-Kasus-
Suffixe“)56, sind die Fugenelemente in Staat-en-bund, Chip-s-produktion, Bild-er-
buch numerusmarkiert. Auch wenn die Beispiele teilweise unglücklich gewählt
sind, ist die grundlegende Unterscheidung relevant. Sie lässt sich aus funktio-
naler Perspektive umformulieren: Im Gegensatz zu Kasus, der syntaktische
Abhängigkeiten sichtbar macht, die sich erübrigen, sobald ein Wort vorliegt,
wird Numerus durch die außersprachliche Wirklichkeit gesteuert. Ist der Refe-
||
55 Eine N400 ist ein ereigniskorreliertes Potenzial in Form einer Negativierung ca. 400 ms
nach Stimulusonset, das sich mit semantischen Verletzungen in Verbindung bringen lässt.
56 Die gewählten Beispiele sind insofern problematisch, als Sonne-n-schutz und Liebe-s-brief
Elemente beinhalten, die nicht als Kasusflexive interpretiert werden können, bei Bild-er-
rahmen ist es die Numeruslesart, nicht die Kasuslesart, die Schwierigkeiten bereitet.
60 | Paradigmatizität
||
57 Kasus kann in NN-Komposita bei Rektionskomposita, deren deverbales Zweitglied das Erst-
glied als Akkusativobjekt hat, auftreten, z.B. Zeitung-lesen (neben Zeitung-s-lesen), richtung-
weisend (neben richtung-s-weisend), hier ist der Akkusativ durch die Abwesenheit eines weite-
ren Markers erkennbar. Gallmann (1999) Generalisierung „Nominale Nichtkerne von Komposi-
ta dürfen nicht nach Kasus spezifiziert sein“ ist insofern noch haltbar, als die Formen nicht
kasuseindeutig sind (Genitiv Sg. bleibt ausgeschlossen). Eine Akkusativlesart wird allerdings
gemeinhin angenommen. Bei schwach flektierenden Erstgliedern ist eine Unterscheidung zwi-
schen Rektion und sonstiger Fugenvergabe überhaupt nicht möglich, z.B. Beere-n-sammeln.
Paradigmische Fugen | 61
Untergruppe der gemischten Feminina zeigen, ist die en-Fuge sehr wohl plural-
fähig: Finalbetonte gemischt feminine Erstglieder mit konsonantischem Aus-
laut, z.B. Bank, Geburt, nutzen sie zum Pluralausdruck (Geburt-en-anteil),58
während die alternative Null- oder s-Fuge keine Numerusinformation liefert
(Geburt-s-urkunde – konzeptionell singularisch –, Geburt-s-register – konzeptio-
nell pluralisch). Eine exemplarische Überprüfung für das Erstglied Bank mit
dem DeReKo59 zeigt, dass rund drei Viertel der Komposita, in denen das Erst-
glied für eine Vielzahl von Banken steht, die en-Fuge aufweisen (Bank(en)krise),
gegenüber einer Verfugung von nur 2% bei Referenz auf eine einzige Bank
(Bank(en)filiale).
Wurde die en-Fuge bisher als auslautbedingte Variante der n-Fuge gehan-
delt, so zeigt sich hier, dass die Zusammenfassung für die Feminina nicht adä-
quat ist. Zwar ist die en-Fuge durch den konsonantischen Auslaut bedingt, da
sie aber nur bei den konsonantisch auslautenden Feminina Pluralsemantik hat,
sollten zwei getrennte Fugenelemente angenommen werden: Zum einen die se-
mantisch leere (e)n-Fuge der schwachen Maskulina und gemischten Feminina
(hier nur in der Variante n), zum anderen die pluralische en-Fuge. Klein (2015:
6) erklärt das Phänomen als Resultat der historischen Flexionsklassenverhält-
nisse: Die Feminina ohne semantische Fuge gehörten bis zum Fnhd. der schwa-
chen n-Deklination an, besaßen also ein (e)n-Flexiv in allen Kasus außer dem
Nominativ Singular. Da Singular- wie Pluralformen auf -(e)n gleichermaßen
mögliche Univerbierungsquellen waren, konnte sich keine numerusspezifische
Lesart herausbilden (Beispiele konstruiert):
Für die Subgruppe, die Pluralmarkierung erlaubt, nimmt Klein (2015) historisch
die ō-Deklination an, bei der -en nur im Plural zur Verfügung stand; eine Stich-
probenanalyse von 117 gemischten, konsonantisch auslautenden Feminina mit
Finalbetonung (via Canoo.net) zeigt allerdings vor allem massive Anteile der
ehemaligen starken i-Deklination (Typ Schrift, Geburt, Burg, 24,8%), nur geringe
||
58 Ähnlich wie unterschiedliche Pluralisierungsverfahren bei ehemals numerusuntüchtigen
Substantiven (Lande – Länder) kann die Verfugung vereinzelt polyseme Erstglieder disambigu-
ieren: Geschichtsfan – Geschichtenfan. Hierzu lässt sich auch Schriftgröße – Schriftenverzeichnis
(Nübling & Szczepaniak 2013: 77) stellen, das Beispiel Schrift ist daher ungeeignet zur Demon-
stration einer Plurallesart.
59 W öffentlich, DeReKo-2014-II. Komposita, bei denen beides möglich ist (Bankcheck) oder
bei denen die Referenz generisch ist (Bankgeheimnis) bleiben unberücksichtigt.
62 | Paradigmatizität
||
60 „Auf der thüringischen Veste Heldburg planen Sie nun das, wie Sie es nennen, »erste Bur-
genmuseum Europas«. Ist die Bezeichnung nicht etwas hoch gegriffen? Fast jede Burg hat doch
ein Museum.“ – „Keineswegs! Solche Museen informieren in der Regel ja nur über die Burg, in
der sie sich befinden. Wir aber wollen die Geschichte und Kultur aller Burgen erzählen, vom
Hochmittelalter bis zur Gegenwart.“ http://www.zeit.de/2012/32/Thueringen-Burgenmuseum
61 Das atypische gemischte Femininum Frau flektierte bereits im Ahd. stark und schwach,
entsprechend hat die en-Fuge hier keine Pluralsemantik (Frauenkirche ‚Kirche, die Maria ge-
weiht ist‘), vgl. auch Klein (2015: 6).
Paradigmische Fugen | 63
Bemerkungen
Findet sich unter (ehemaligen) Schwach- Bei gemischter Flexion Komposition auf
flektierern aller Genera. Tritt i.d.R. nicht Pluralbasis. Konkurriert nicht62 mit anderen
neben anderen Fugen auf. Fugen, z.B. Generation+s+frage (Fuge i.e.S.)
neben ikonisch Generation+en+konflikt.
||
62 Damit ist gemeint, dass die Elemente nicht austauschbar sind, da die en-Fuge zusätzliche
Semantik liefert.
63 Oft ist nur AN-Komposition üblich, z.B. Weitwinkel. Eine systematische Ausnahme bilden
Rektionskomposita wie (konstruiertes) Weitemesser oder Komposita mit Erstgliedzitatcharakter
wie (konstruiertes) Weitebegriff, hier können auch Abstrakta auftreten, auf die sonst nicht
zurückgegriffen wird.
64 Die Fälle in (a) und (b) wurden nicht exhaustiv auf Schwankungsfälle überprüft, diese
Gruppe könnte also auch noch etwas größer sein.
64 | Paradigmatizität
||
65 In DWDS-Kernkorpustexten der 1. Hälfte des 20. Jh. gelegentlich auch Breite-∅-grad.
66 Die Erstglieder stammen fast alle aus meinem Facebookfreundeskreis, den ich darum gebe-
ten habe, Feminina mit Schwa-Auslaut zu sammeln, die selten oder nie Plural bilden. (Herzli-
chen Dank vor allem an Mehmet Aydın, Jens Vorbrink, Markus Winninghoff, Julia Gerber,
André Müller und Kathrin Habereder.) Da nicht nach Komposita, sondern nur nach den Femi-
nina selbst gefragt wurde, bestand keine Gefahr, dass nur verfugende oder nur nichtverfugen-
de Fälle genannt würden. Einzelne unverfugte Beispiele sind außerdem Fuhrhop (1996: 542)
entnommen.
67 Bildungen mit Partikel wurden nicht erschöpfend erfasst.
68 Kann auch verbal sein.
69 In der 1. Hälfte des 20. Jh. in den DWDS-Korpora auch Kleie-n-sack, -gerste.
Paradigmische Fugen | 65
Bei den analog strukturierten schwachen Maskulina (z.B. Recke) kann sich
kein Unterschied herausbilden: Das n-Flexiv ist auch im Singular fest vorhan-
den und die Klasse scheidet unbelebte Mitglieder aus (z.B. Schatten), verfügt
also schnell nicht mehr über Erstglieder mit n-blockierender Semantik.
||
70 Anders gelagert sind scheinbar paralleles Kindfrau ‚kindlich wirkende Frau, Lolita‘ – Kin-
derfrau ‚Frau, die beruflich ein oder mehrere Kinder betreut‘ (Wegener 2008: 337), Mutterhaus
‚Sitz einer Muttergesellschaft; Hauptkloster‘ – Mütterhaus ‚Wohneinrichtung für junge Mütter‘,
bei denen zwar ein semantischer Unterschied besteht, die Denotate sich aber sehr deutlich
unterscheiden.
Paradigmische Fugen | 67
In (22b) lässt sich die scheinbare Pluralform durch das stammbildende Element
erklären, vgl. ahd. tagalōn, wegafart. Unter den Komposita, bei denen eine Plu-
rallesart unwahrscheinlich ist, findet sich eine besonders große Anzahl von
Tieren, vgl. (22c),71 darunter einige starke Feminina (Gänse-, Lause/Läuse-, Mau-
se/Mäuse-). Sie weisen bis ins Fnhd. Umlaut auch im Genitiv/Dativ Singular auf
(vgl. Kap. 7.2.2.3), eine Gänsefeder kann demnach eine Univerbierung von
*gense fedara ‚Feder der Gans‘ sein (so auch Fuhrhop 1996: 526). Da die übri-
gen, maskulinen und neutralen Formen im Ahd. langsilbig waren, kann ihre e-
Fuge keine Fortsetzung der stammbildenden Elemente sein. Dass die ahd. For-
men in ihrem Numerus häufig so vage sind, hat somit mehrere mögliche Ursa-
chen: Zum einen liegen neben Plural- auch Genitiv-Singular-Formen vor, die
eventuell als vermeintliche Pluralform eine Analogievorlage für die Maskulina
und Neutra bildeten, hinzu kommt, dass die Reste des stammbildenden Ele-
ments nicht immer klar unterscheidbar sind und ebenfalls Einfluss nehmen
können (vgl. Gröger 1911). Außerdem treten Tiere häufig in Gruppen auf und
werden weniger individuell wahrgenommen, sodass auch die Pluralform eine
generische Lesart haben kann – ein Pferdegebiss ist ein Gebiss, wie es Pferde
eben so haben etc.
Auffällig ist die ungleiche Verteilung von Rektionskomposita: Sie können
durch die Subjekt- oder Objektinterpretation des Erstglieds eine Plurallesart
massiv stärken (Schafehüten, Plänemachen, Ämterhäufung). Die ahd. Gruppe
enthält 23,7% Rektionskomposita (n=398), die Gruppe mit späteren Erstgliedern
||
71 Neben den gleich folgenden Feminina sind das Hahne, Hunde, Pferde, Rosse, Schweine. Zu
unumgelautetem Hahnebalken, Lause-(forke) und Mause-(falle) s. Kap. 5.1.1.
68 | Paradigmatizität
37,8% (n=45). Die Verhältnisse verweisen zusätzlich darauf, dass im Ahd. mehr
Komposita vom Typ Hundeschnauze enthalten sind. Nicht alle alten Erstglieder
können mit und ohne Plurallesart auftreten, manche erzwingen die Plurallesart,
da sie systematisch mit einer nicht oder anders verfugten – semantisch unbe-
stimmten – Variante variieren (Kraftakt – Kräftepaar, Wirtshaus – Wirtesprecher
‚Sprecher der Oktoberfestwirte‘).
Aus gegenwartssprachlicher Perspektive ist damit festzustellen, dass eine
Systematisierung über Einzelfälle hinaus kaum möglich ist – erscheint die Plu-
rallesart im Kompositum und im Kontext sinnvoll, so wird sie von Laien häufig
als solche interpretiert, ist dem dagegen nicht so, wird die Form ignoriert. Aller-
dings bestehen deutliche Unterschiede, was neue Erstglieder betrifft: Sie sind
tatsächlich in allen hier erfassten Fällen pluralisch zu lesen. Zum gleichen
Schluss kommt auch Fuhrhop (1996: 540–541), die die e-Fuge anhand von Ein-
zelbelegen als „bei positiver Mehrzahlbedeutung produktiv“ einordnet. Somit
lassen sich zwei Muster ansetzen: Das eine, ältere, weist eine e-Fuge auf, das
jüngere, das auch neue Erstglieder zulässt, ist sinnvoller als Komposition mit ei-
ner Pluralform zu fassen. Aufgrund der eingangs beschriebenen hohen Rele-
vanz und inhärenten Verknüpfung des Plurals mit dem Substantiv erscheint das
wenig überraschend.
Zu ähnlichen Zahlen gelangt Augst (1975: 150–152). Er macht bei 351 Komposita
mit 60 verschiedenen Erstgliedern nur 33 mit Singularlesart aus (9,1%). Er zeigt
Paradigmische Fugen | 69
außerdem, dass bei Pluralsemantik für Maskulina und Neutra der entsprechen-
den Flexionsklasse die er-Fuge präferiert wird: 75,9% der Komposita mit plu-
ralisch lesbarem Erstglied nutzen sie, in den übrigen Fällen wird nicht verfugt.
Auch hier sind die singularisch zu verstehenden Beispiele stark generisch,
ähnlich wie bei der alten Schicht mit -e: Ein Eierbecher ist ein Gefäß, aus dem
man typischerweise Eier isst, so wie eine Schweineschnauze eine ist, die Schwei-
ne typischerweise haben. Auch hier treten wieder Erstglieder auf, die in den ver-
zeichneten Komposita ausschließlich pluralisch interpretierbar sind (Ämter-,
Bücher-; 24 von 39), wobei das beim insgesamt hohen Pluralanteil weniger Aus-
sagekraft hat als bei der e-Fuge, es zeigt sich auch kein Muster nach Alter (z.B.
ursprüngliche er-Klasse vs. Neuzugänge). Da alle analysierten Erstglieder spä-
testens im Mhd. zur er-Klasse wechseln, und sie heute keine neuen Mitglieder
mehr aufnimmt, ist eine Weiterentwicklung der Semantik, wie sie sich ansatz-
weise bei der e-Fuge zeigt, nicht möglich. Die Mitglieder dieser Gruppe sind alle
diffus pluralisch/generisch. Es überrascht, dass Generizität bei dieser Gruppe so
stark an ein Pluralflexiv geknüpft ist; möglicherweise ist die Kontinuität zum
semantisch leeren stammbildenden Element (vgl. Kap. 2.4.1, Wegener 2008)
doch stärker als z.B. von Szczepaniak (2016) angenommen.
Umlautplural
Für die Umlaut-„Fuge“, d.h. Komposition mit einer umlautenden Pluralform
(Mütterhaus, Vätergeneration, Töchterschule), steht keine geeignete Daten-
grundlage zur Verfügung, entsprechende Fälle werden in Canoo.net als unver-
fugt geführt – sie scheinen aber ebenfalls Pluralausdruck zu haben und sehr
stark eingeschränkt zu sein. Außer bei Verwandtschaftsbezeichnungen und in
Rektionskomposita treten sie nur selten auf, unsystematisch ermittelte Fälle
sind:
(26) a. Er zeichnete, beschäftigte sich mit Sprache, dachte über die linguisti-
schen Fragen von Sender und Empfänger nach und begeisterte sich für
Donald Judds Kästen-Skulpturen.e
b. Unvergeßliche Szene: wie die alte, ausgemergelte Garderobenfrau […]
aus ihrem Mäntelkabuff hervorkommt, […] und auf einmal zu singen
beginnt:f
Kästen-Skulpturen in (26a), bei denen jede einzelne aus mehreren Kästen be-
steht – redundant, der Zweitgliedplural impliziert in (27a,b) bereits, dass das
Erstglieddenotat vielfach auftritt. Der Fall (27c) ist schwieriger einzuschätzen,
hier liegt eine metaphorische Verwendung vor, die sich auf einen Akt der Ko-
operation zwischen zwei Konfessionen bezieht, es scheint aber davon ausge-
gangen zu werden, dass bei jeder entsprechenden Handlung ein anderer Gra-
ben übersprungen wird.
(27) a. Damit können Touristen bis auf zehn Meter an die Vögelschwärme
heranfahren.g
b. In Clint Eastwoods Film Bird über den Saxofonisten Charlie Parker sind
die Mäntelkrägen hochgeschlagen und die Mienen niedergedrückt, es
regnet.h
c. Solche ökumenischen Gräbensprünge sind selten, für Norddeutsch-
land lassen sie sich an einer Hand abzählen.i
In adult German, the plural -s never occurs inside compounds. Joanisse & Haskell say that
I do not present evidence for this claim. The evidence, however, comes from the whole of
the German language, and it would have been enough for them to present one single case
of an -s plural inside a lexical compound to falsify my claim. Such cases, however, do not
seem to exist.
wird durch Belege wie Chipstüte und Shrimpscocktail (Fuhrhop 1996: 534) ad
absurdum geführt. Als mögliche Türöffner dienen Fälle, bei denen ein einzelnes
Element seltener ist als eine Vielzahl davon. Entsprechende Bildungen neueren
Datums sind Gameszeitschrift (‚Zeitschrift, in der es um Computerspiele geht‘)j
oder KitKat-M&Ms-Torte.k Das Fugenelement stimmt hier formal mit der klassi-
schen s-Fuge überein, dient aber der Pluralanzeige – es zeichnet sich ein ähnli-
ches Verhältnis wie bei der en-Fuge ab, möglicherweise sogar eine Verwischung
der Grenzen: Bei Leutnantsuniform (Fuhrhop 1996: 534) oder Bankiersfamilie
würde das Fugenelement wohl noch als klassische s-Fuge interpretieren, bei
Hoteliers-Frechheiten ist eine Entscheidung aber kaum mehr möglich:
Paradigmische Fugen | 71
(28) Wer auf den Gäste-Einträgen der Online-Plattform Tripadvisor fahnde, fin-
det im Nu haarsträubende Geschichten über helvetische Hoteliers-Frech-
heiten. Verbotsschilder in den Zimmern, enge Kammern, Lichtmangel,
schlechte Lärmisolation und Geldforderungen für Dinge, die international
selbstverständlich sind.l
In den uneigentlichen Compositis aber wurde zugleich mit dem Casus auch der Numerus
bezeichnet. An ihnen gewöhnte man sich, den Ausdruck des Numerus in der Composition
zu suchen, und wenn die Sprache auch noch viele Wörter besitzt, die dieser Auffassung
nicht entsprechen, so herrscht doch im Nhd. unverkennbar die Neigung, dem ersten Com-
positionsgliede pluralische Form zu geben, wenn es pluralische Auffassung gestattet.
-es- Bund-es-gesetz –
-(e)ns- Herz-ens-sache –
-er- Bild-er-rahmen –
-n- Blume-n-topf –
||
72 I.d.R. kommt hier nur die n-Fuge infrage, da fast alle entsprechenden gemischten Feminina
auf Schwa auslauten.
72 | Paradigmatizität
Durch die konsequente Voranstellung des attributiven Adjektivs und die Nach-
stellung des Genitivattributs entstehen wortartenspezifische Positionen um das
Bezugsnomen herum. Nach (weitgehendem) Abschluss des Genitivstellungs-
wandels ist in Nhd. eine eindeutige Unterscheidung von Genitivphrase und
Kompositum möglich (z.B. Ronneberger-Sibold 1991, Nitta 1993: 91–92, Demske
2001):
https://doi.org/10.1515/9783110517682-006
74 | Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
6.1 Artikelgebrauch
6.1.1 Artikelgebrauch generell
(31) a. Allso ward der handel zu recht gesetzt und von ___ richter zu recht
erkentt, das […]
b. Wann sy [die von Augspurg] hetten vil volcks dar geschickt […] vnnd
was ___ volck wol 17 wochen auß
In (31a) sieht Pavlov (1983: 36) eine generelle Bestimmung der Art und Weise
(‚richterlich‘), in (31b) wurde vil volcks zwar zuvor eingeführt, es geht jedoch um
eine sehr unbestimmte Menge von Menschen.
Handelt es sich um eine definite Nominalphrase, so ist Artikellosigkeit sel-
tener. Sie tritt teilweise bei Abstrakta auf, selbst wenn sie modifiziert sind (wo
Artikelgebrauch | 75
forcht der schand vnd des schadens sie nit abwendet, Pavlov 1983: 37). Auch in
Präpositionalphrasen hat der Artikelgebrauch bei weitem nicht den heutigen
Stand erreicht (Szczepaniak 2013: 104–105), möglicherweise wird der Artikel
nicht genutzt, weil die Präposition die syntaktischen Beziehungen – im Gegen-
satz zu Nominalphrasen – hinreichend klärt (Pavlov 1983: 36–37). Hier unter-
bleibt der Artikel auch dann oft, wenn er semantisch angebracht wäre, da ein
konkretes, eindeutiges Referenzobjekt vorhanden ist ([sie] giengen in ain kap-
pel; do stund ain priester über altar). Ähnliches gilt, wenn ein Adjektiv vorhan-
den ist, das als Träger der Definitheitsinformation dient oder wenn ein Attribut-
satz für Definitheit sorgt (van der Elst 1988b: 211). Wird ein Artikel genutzt, so
geschieht das oft in geringerem Umfang als heute. Bei der Koordination zweier
Substantive sind häufig beide definit, aber nur eines trägt einen Definitartikel
(Pavlov 1983: 40, s. auch van der Elst 1988b: 211):
(32) a. kamen drey ritter, […] giengen auf den palas für den künig und küni-
gin.
b. zu verderbniß landts vnd der leuth
Singular Plural
120
100
80
60
40
20
0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
Artikel für Genitivattribut 40 33 24 12
Artikel für Bezugsnomen 23 4 7 1
unklarer Artikelbezug 7 15 3 2
kein Artikel 32 16 5 2
Abb. 12: Pränominale Genitiv- und Brückenkonstruktionen mit und ohne Artikel im Mainzer
Korpus (n=226). (Konstruktionen mit dem sehr frequenten Erstbestandteil Gott blieben unbe-
rücksichtigt, da er i.d.R. ein Eigenname ist und entsprechend durchgängig artikellos bleibt.
Koordinierte oder subordinierte Konstruktionen gingen ebenfalls nicht mit ein.)
||
73 Brückenkonstruktionen sind Fälle, bei denen keine Entscheidung zwischen Genitivattribut
und reanalysiertem Kompositum getroffen werden kann (z.B. in Mutter Leib), zu den genauen
Abgrenzungskriterien vgl. Kap. 7.2 und 8.
Artikelgebrauch | 77
Die Artikellosigkeit des Kopfes ist, wie im Ahd., mit 64,4% bei Präposition-
alphrasen häufiger als in Nominalphrasen ohne Präposition (d.h. i.d.R. Subjekt-
oder Objektsfunktion). Allerdings sind nur 22,2% der Präpositionalphrasen
völlig artikellos (in mutter leib), in den übrigen Fällen weist das Genitivattribut
einen Artikel auf (in des reichs rat).
In Genitivkonstruktionen, die Artikel aufweisen, verfügt entweder das Geni-
tivattribut (∅ 63,7%) oder das Bezugsnomen (d.h. die Gesamtkonstruktion) über
einen Artikel (∅ 20,5%), beides gemeinsam tritt nicht auf. Die starke Diskrepanz
zwischen diesen beiden Typen deutet darauf hin, dass die Definitheit des Be-
zugsnomens über sein Genitivattribut ausgedrückt wird, weshalb die Spreche-
rinnen und Sprecher keinen eigenen Artikel für das Bezugsnomen gebrauchen.
Bei postnominalem Genitivattribut steht so gut wie immer ein Artikel, eine
systematische Ausnahme bildet das inhärent definite Gott (Hand Gottes). Ver-
einzelt unterbleibt er auch in anderen Fällen, z.B.:
100%
80%
60%
40%
20%
0%
PP keine PP PP keine PP
1500 1710
[das Schloss][des Königs] 37 36 42 45
Schloss [des Königs] 25 11 19 5
Abb. 13: Postnominale Genitivkonstruktionen mit und ohne Artikel im Mainzer Korpus (n=220),
PP=Präpositionalphrase. (Konstruktionen mit dem sehr frequenten Genitivattribut Gott blieben
unberücksichtigt, ebenso koordinierte oder subordinierte Konstruktionen.)
Für eine Detailanalyse wurden alle 220 postnominalen Belege der Jahre 1500
und 1710 mit oder ohne Definit- oder Indefinitartikel (nicht aber mit anderen
Determinierern/Modifikatoren) klassifiziert; in allen Konstruktionen wies das
78 | Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
Tab. 13: Artikelgebrauch im Vergleich. In Klammern angegeben: Artikel mit unklarem Bezug.
Die pränominalen Werte von 1710 sind zu gering für Prozente (17 Belege), vgl. Abb. 12, setzen
aber einen deutlichen Trend fort, weshalb sie ebenfalls aufgenommen wurden.
pränominal postnominal
Genitivattribut Kopfnomen Genitivattribut Kopfnomen
Artikel mit Bezug auf das Genitivattribut sind bei beiden Stellungstypen wesent-
lich häufiger als mit Bezug auf das Kopfnomen. Dabei zeigen sich postnominal
keine Unterschiede zwischen 1500 und 1710, der Artikel bleibt nie aus.74 Präno-
minal nehmen Genitivattribute mit Artikel deutlich zu – allerdings nur relativ,
nicht absolut. Ihr prozentualer Zuwachs ist demnach wohl weniger der Ausbrei-
tung des Artikels geschuldet, als dem Schwund der übrigen Konstruktionen, die
zunehmend durch Komposita ersetzt werden. Gleiches gilt für das Kopfnomen
mit Artikel in pränominalen Konstruktionen: Die Rahmenkonstruktion das [Kö-
nigs] Schloss ist ein direkter Vorläufer des Kompositums, häufig wird sie sogar
schon als Kompositum betrachtet (vgl. Kap. 7.2). Hier geht also kein Artikel
verloren, wie die prozentualen Werte suggerieren, sondern die Konstruktion
geht in die Wortbildung über. Eine genuine Ausbreitung des Artikels liegt dage-
gen vor, wenn in postnominalen Genitivkonstruktionen vermehrt Artikel für das
Bezugsnomen auftreten. Der Zuwachs betrifft vor allem Nominalphrasen in
Subjekts- und Objektsposition, in Präpositionalphrasen ist der Artikel zwar
ebenfalls dominant, aber seltener, er nimmt hier auch weniger deutlich zu.
||
74 Einzige Ausnahme stellt, ungeachtet der Position, das als Eigenname verwendete Gott dar,
es erscheint fast immer artikellos, wurde hier aber nicht mit einberechnet. Zum Sonderverhal-
ten des Lexems Gott vgl. Kopf (eingereicht,b).
Positionen in der Nominalphrase | 79
Frühneuhochdeutsch Neuhochdeutsch
prä- und postnominal pränominal postnominal
Modifizierung ja nein ja
möglich? [Der Frawen zu vnseren *der Leute aus der die Kinder der Leute aus
zeiten] kunst Theatergruppe Kinder der Theatergruppe75
||
75 Die Präpositionalphrase kann aber auch auf die ganze Phrase die Kinder der Leute bezogen
werden, vgl. Kap. 7.1.2.
76 Im Folgenden wird der Fokus auf univerbierungsrelevante Strukturtypen gelegt. Für eine
generelle Systematik s. z.B. Van der Elst (1988a), der in einem Text des 16. Jh. 11 verschiedene
Konstruktionen ausmacht.
80 | Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
Sowohl ein pränominales Genitivattribut als auch sein Bezugsnomen können al-
so determiniert und modifiziert werden, wobei der Determinierer dem Modifika-
tor vorausgeht. Die Stellung des Genitivattributs ist variabel: Es kann phrasen-
initial stehen, wie I in (34), direkt vor dem Bezugsnomen (II), oder zwischen De-
terminierer und Modifikator des Bezugsnomens (III). In der Maximalfassung
sind damit die folgenden Strukturen denkbar:
Bei Typ II und III verhält sich das Genitivattribut syntaktisch wie das Adjektiv,
entsprechend ist die Reihenfolge der beiden auch vertauschbar. Ebert (1993:
336) ordnet solche Fälle als Kanzleistil ein. Bei Typ II geht das Genitivattribut
dem Bezugsnomen voran:
(36) a. darauf namen [die genanten des künigs diener] das sloß zu Ofen ein.
(Pavlov 1983: 57)
b. wie vor zeiten [ein behender listiger vnd durchtribener eins buren sun]
(Pavlov 1983: 57)
c. sider [der nechsten des paumeisters rechnung] (Ebert 1993: 336)
Positionen in der Nominalphrase | 81
Bei Typ III folgt ein Adjektiv auf das Genitivattribut. In (37) geht zusätzlich noch
ein Adjektiv voraus (obernant), dies ist besonders bei anaphorischem Gebrauch
üblich (Ebert 1993: 336).
(37) [die obernant Ihrer Liebd. und Kayserlichen Majest. angesetzte Zeit]
(Ebert 1993: 336)
Mit diesen Strukturen setzt das Fnhd. syntaktische Muster des Ahd. und Mhd.
fort: Modifikatoren oder Determinierer des Bezugsnomens können dort auch vor
der Genitivkonstruktion auftreten, vgl. (39) (nach Behaghel 1932: 179). Hier steht
das Adjektiv heilego vor dem Bezugsnomen druhtin, das ebenfalls auf druhtin
bezogene Demonstrativpronomen dher dagegen vor dem Genitivattribut allero
heilegono.
Pavlov (1983: 41) ordnet derartige Fälle bereits für das 15. Jh. als marginal und
archaisierend ein, er betrachtet sie als eigentlich mhd. Strukturen. Daraus leitet
er schließlich ab, dass die pränominale Kombination von Gesamtkonstruktions-
artikel und Genitivattribut im Fnhd. unvereinbar sei (Pavlov 1983: 61). Er sieht
in der Ausbreitung des Artikels daher einen Grund für die zunehmende Nach-
stellung des Genitivattributs. Zu diesem Zusammenhang vgl. Kap. 8.6.2.
Auch im Mainzer Korpus tritt dieser Konstruktionstyp nur selten (16 Bele-
ge),77 aber über den ganzen Zeitraum verteilt auf, wobei sich in der zweiten
Hälfte des Untersuchungszeitraums möglicherweise ein Rückgang andeutet:
||
77 Hinzu kommen Belege mit Eigennamen, die nicht systematisch erfasst wurden, z.B.:
(V) Wündschet von Hertzen göttliche Erläuchtung/ vnnd das in der hochlöblichen Chur Pfaltz/
das [hochberümbten Churfürstens/ Ludovici/] Kirchen Regiment/ wider möge ange-
richtet werden. (OMD-1620-ST-084)
82 | Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
der [des X] Y 2 1 4 4 2 0 3 0
(40) a. Der Vndereinnemer Truhe/ sol auch vier guter Schloß/ vnd darzu vier
vnderschiedliche schlüssel haben/ darvon jeder [deß Fürstenthumbs]
Obereinnemer einen Schlüssel haben sol. (38; 1595)
b. […] sintemahlen alles [der Menschen] Absehen/ mit diesem Ring ver-
siegelt wird / außgenommen das Sterben/ […] (56; 1680)
Dennoch gibt die Existenz dieser Konstruktionen Aufschluss darüber, wie zu-
gänglich einzelne Bestandteile der Nominalphrase für syntaktische Prozesse
waren, ein wichtiger Faktor bei der Einordnung von Grenzfällen zwischen Syn-
tax und Wortbildung (vgl. Kap. 7.2.3).
6.2.1.1 Sonderfälle
Diskontinuierliches Genitivattribut
Ist das Genitivattribut selbst modifiziert, wird es vereinzelt von Modifikatoren
des Bezugsnomens unterbrochen (41). Derartige Fälle zeugen zwar von großer
Stellungsfreiheit in der fnhd. Nominalphrase, sind jedoch insgesamt vernach-
lässigbar (anderer Meinung ist Demske 2001: 268). Der Normalfall ist die konti-
nuierliche Abfolge, wie sie auch auf alle Belege des Mainzer Korpus zutrifft.
(41) in kains offen wurtz hus zů zern ‚in keines Wirts offenem Haus zu verzeh-
ren‘ (Pavlov 1983: 58)
(42) und des künigs ret von Ungern waren auch da ‚und die Räte des Königs
von Ungarn waren auch da‘ (Pavlov 1983: 60)
Positionen in der Nominalphrase | 83
Diskontinuierliche Nominalphrase
Das pränominale Genitivattribut wird im Mainzer Korpus vereinzelt auch durch
Phrasen modifiziert. Diese können ihm direkt folgen, wie in (43), können aber
auch ausgeklammert werden wie in (42).
Steht die modifizierende Phrase nach dem Bezugsnomen, so kann der Status
der Gesamtkonstruktion unsicher werden: Denkbar ist in vielen Fällen dann
auch, dass ein Kompositum vorliegt, dessen Erstglied modifiziert wird. Zu die-
sem Sonderfall vgl. für das Nhd. Kap. 7.1.2, für das Fnhd. Kap. 7.2.3.
Dreigliedrige Genitivkonstruktionen
Liegen zwei verschachtelte Genitivkonstruktionen vor, so sind diese i.d.R. so
strukturiert, dass das zweite Attribut der ersten Genitivkonstruktion vorangeht
oder folgt (das Pferd des Boten des Gerichts; des Gerichts Boten Pferd), seltener
sind gemischte Fälle aus prä- und postnominalen Konstruktionen (das Pferd des
Gerichts Boten):
(44) Die tzyrde des ewigen koniges tochter die ist alles von ynnen. (3; 1498)
180
160
140
120
100
80
60
40
20
0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
Abb. 14: Pränominale Strukturtypen im Mainzer Korpus (n=436). (Konstruktionen mit dem
Erstbestandteil Gott blieben unberücksichtigt.)
Im Nhd. ist der Gebrauch eines Artikels oder Adjektivs bei postnominalen Geni-
tivattributen zwingend (das Ergebnis der/fleißiger Arbeit). Die Daten des Main-
zer Korpus zeichnen dasselbe Bild, vgl. Tab. 13 für Artikel. Eine Unterbrechung
der gesamten Nominalphrase durch weitere Elemente ist postnominal zwar
selten, aber üblicher als pränominal:
(45) a. so wird der gebratene Schwan eine Speise seyn des Königs (80; 1711)
b. welche verwechslung zwar der Häuser von den Astrologis eine amica
receptio genant wird (60; 1654)
c. vnd ist mancher Kellner mehr beschäfftiget gewest in Auffzeichnung
nicht der Zech/ sonder der Zecher die er Morgents fruhe hinter oder vor
der Thür Todter gefunden (65; 1680)
d. Das fünfft das da ist der vmbstendigkeit halben der person (1; 1502)
In der Geschichte der dt. Sprache lässt sich ein Stellungswandel des attributiven
Genitivs von Voran- zu Nachstellung beobachten, der von zahlreichen Faktoren
wie z.B. Belebtheit gesteuert wird. Beginnend in der ahd. Zeit fand eine komple-
xe Umschichtung der germ. Strukturen statt. Heute können nur noch Eigenna-
men (Bettinas Computer, Merkels Regierungserklärung, Berlins Sehenswürdigkei-
ten), inklusive Verwandtschaftsnamen (Omas Werkzeugkiste) pränominal
gebraucht werden. Selbst in diesen Fällen sind jedoch unter bestimmten Bedin-
gungen bereits postnominale Varianten gebräuchlich (Zifonun 2001, Kubczak
2011, Peschke 2014).
Die Univerbierung von Genitivattribut und Kopfnomen, die in Komposita
mit Fugenelementen resultiert, ergibt sich aus Konstruktionen, in denen das
Genitivattribut vorangestellt ist. Damit stellt sich auch die Frage, ob es eine
indirekte Abhängigkeit von den Steuerungsfaktoren des Stellungswandels gibt:
Da die Univerbierung erfolgt, während der Stellungswandel schon im Gange ist,
müsste sie Genitivattribute bevorzugen, die erst spät nachgestellt werden. Bil-
den diese univerbierten Komposita die Basis für die spätere Ausweitung der
Fugenelemente auf andere Komposita? Oder erfolgt die Univerbierung selbst
86 | Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
||
78 Für Otfrid (Ende 9. Jh.) macht Lanouette (1996) den geringsten Nachstellungsanteil (18%)
aus. Da es sich dabei jedoch um einen Verstext handelt, der mit seiner artifiziellen Form kaum
einen Einblick in den Alltagssprachgebrauch geben dürfte (dazu auch Prell 2000: 34, der
einige Faktoren nennt, die den Gebrauch pränominaler Genitive in Versen befördern könnten),
bleibt der Wert hier unberücksichtigt.
79 Für mhd. Verstexte ist der Anteil postnominaler Genitive weitaus niedriger, wie Prell (2000:
31) mit Verweis auf Barufke (1995) feststellt, nämlich zwischen 2% und 11%.
Stellung des attributiven Genitivs | 87
100%
80%
60%
40% 140
37
105 145
20% 93
0%
um 1100 1150-1200 1200-1250 1250-1300 1300-1350
Abb. 15: Anteil postnominaler Genitive in mhd. Prosa nach Prell (2000: 32).
Für das Fnhd. und den Beginn des Nhd. zeigen sich bei Fritze (1981: 439–440,
455–456), die sich auf Genitivkonstruktionen mit Zugehörigkeits- und Her-
kunftsrelationen in zwei Zeitschnitten beschränkt, höhere Nachstellungsantei-
le, jedoch in einem Untersuchungsraum von 200 Jahren kaum Zuwachs – bei
Demske (2001) hingegen treten in nur 60 Jahren klare Unterschiede auf.
Das zeigt deutlich, dass eine direkte Vergleichbarkeit der Zahlen, insbeson-
dere aufgrund der unterschiedlichen Korpuszusammenstellung, aber sicher
auch bedingt durch unterschiedliche Klassifizierungsmethoden, nicht sinnvoll
ist. Vor allem bei Prell (2000: 28–29), Lanouette (1998) und Bassola (1985) wird
sichtbar, dass Belege, die nicht eindeutig als Genitive klassifizierbar sind, hin-
zugenommen wurden (z.B. mit der wibis milche, ynner monetz frist), ohne sie
wäre der Nachstellungsanteil jeweils größer. Hinzu kommt, dass die Genitivstel-
lung stark semantisch und syntaktisch gesteuert war (s. Kap. 6.3.3), entspre-
chend können abweichende Anteile auch unterschiedliche Verteilungen der
Genitivattribute auf semantische Gruppen oder ein unterschiedliches Modifika-
tionsverhalten widerspiegeln.
Die in Tab. 15 zusammengetragenen Zahlen können also unter der Prämis-
se, dass im Germ. die Voranstellung dominierte, als Hinweis darauf dienen,
dass der Stellungswandel bereits früh einsetzte, in fnhd. Zeit aber noch nicht
abgeschlossen war. Eine diachrone Entwicklung lässt sich daran jedoch nicht
festmachen.
88 | Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
Tab. 15: Anteil postnominaler Genitivattribute vom Ahd. bis 1730. (*Fritze 1981 berücksichtigt
nur Zugehörigkeits- und Herkunftsrelationen.)
||
80 Das Bestimmtheitsmaß R2 gibt an, wie viel Variation zwischen den Datenpunkten durch die
Zeit erklärbar ist. Bei einem direkten Zusammenhang (d.h. gleichmäßige Zu- oder Abnahme)
läge der Wert bei 1. Die Werte in Abb. 16 liegen aber deutlich niedriger, ein linearer Zusam-
menhang zwischen voranschreitender Zeit und Genitivstellung erklärt für die Nachstellung
21% der Varianz, für die Voranstellung sogar nur 8%.
Stellung des attributiven Genitivs | 89
700
600
500
y = 17,857x + 386,64
400 R² = 0,2146
300
200
y = -3,0238x + 101,36
R² = 0,0812
100
0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
pränominal 102 57 92 124 109 75 95 48
postnominal 419 465 340 476 540 371 637 488
Abb. 16: Genitivstellung im Mainzer Korpus (n=4.438). Koordinierte (der mutter und des vaters
haus) und subordinierte Strukturen (das haus des vaters der frau) wurden nur einmal gezählt.
Bereits Behaghel (1930, 1932: 181) stellt fest, dass der Stellungswandel gestaffelt
verläuft: Unbelebte und komplexe Genitivattribute werden früher nachgestellt
als belebte, einfache. Der Stellungswandel ist damit in zweierlei Hinsicht erklä-
rungsbedürftig: Neben der Frage, warum er überhaupt eingetreten ist, ist auch
unklar, warum es beim Wechsel zu einer Staffelung kam und woran diese sich
orientiert. Für beides liegt bis heute keine befriedigende Erklärung vor. Im Fol-
genden werden zunächst allgemeine Erklärungsansätze diskutiert, im nächsten
Teilkapitel werden mögliche Einflussfaktoren der Staffelung erörtert.
Der Stellungswandel insgesamt wird meist in größere typologische Zusam-
menhänge eingeordnet, die wiederum selbst erklärt werden müssen. So sieht
Braunmüller (1982: 144–147) den Wandel der Grundwortstellung des Hauptsat-
zes von SOV zu SVO, der sich seit dem Germ. vollzieht, in der Nominalphrase
widergespiegelt: SVO ist rechtsmodifizierend, weshalb zu erwarten ist, dass
auch das Genitivattribut rechts vom Bezugsnomen erscheint (Braunmüller 1982:
29). Allerdings hat der typologische Wandel kaum erklärende Kraft: Wie
90 | Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
Braunmüller (1982: 28) selbst einräumt, sind nicht alle Sprachen „typuskonsis-
tent“ und die Grundwortstellung des Dt. ist nicht einheitlich (SVO im Neben-
satz). Der Stellungswandel wäre zudem der einzige Prozess, der entsprechend
motiviert werden könnte:
Tab. 16: Ausschnitt aus Braunmüller (1982: 29), Abb. 3 (links), kontrastiert mit den tatsächli-
chen Verhältnissen (rechts).
Präpositionen + NP √
Tab. 17: Berechnung nach Oubouzar (1997a: 240), Tab. 4. „Artikel für KN“ beinhaltet, ungeach-
tet der Stellung, alle Konstruktionen, in denen (mindestens) das Bezugsnomen einen Artikel
aufweist. „Nachstellung GA“ weist den Anteil postnominaler Genitivattribute an allen Kon-
struktionen aus. Ein falscher Summenwert in der Tabelle wurde auf Basis der Einzelwerte
korrigiert („Notker NGgen in undet. NG“ von 10 zu 108). Aufgrund der Einschränkungen in Fn.
78 (S. 86) blieben die Werte von Otfrid unberücksichtigt.
Tab. 18: Anteil der Nachstellung belebter und unbelebter Genitivattribute an allen belebten
bzw. unbelebten Genitivattributen.81
||
81 Alle Korpusuntersuchungen, die dazu Angaben machen, zeigen, dass belebte Genitivattri-
bute textsortenunabhängig frequenter sind als unbelebte. Ihr Verhalten prägt also gemeinsame
Berechnungen, wie sie in Tab. 15 dargestellt wurden.
82 Oubouzar (1997a) unterscheidet zwischen menschlich und nicht-menschlich, die Gruppe
„unbelebt“ enthält also auch Tiere.
83 Prell (2000) liefert keine Angabe in absoluten Zahlen für die Belebtheit, die Gesamtmenge
der untersuchten Genitivkonstruktionen beträgt 884.
84 Die Prozentsätze weichen leicht von den bei Demske (2001) angegebenen ab, hier wurden
kleine Rundungsfehler beseitigt.
85 Ebenfalls für Tatian ermittelt Oubouzar (1997a: 232) 71,4% (nicht-menschlich) vs. 43,7%
(menschlich) bei 357 Belegen.
86 Hauptkorpus: 1500–1540, Nürnberg, Briefe; Vergleichskorpus: Chroniken, Predigten, Kanz-
leitexte aus demselben Zeitraum.
Stellung des attributiven Genitivs | 95
73
Konkreta
99
424
Abstrakta
470
3
Gott
153
108
Personen
92
12
Titel
11
Vergleichskorpus
9
Namen
16 Hauptkorpus
Lanouette (1998) wertet einen Teil von Eberts (1988) Briefkorpus ebenfalls aus
(n=735), legt jedoch eine leicht abweichende Einteilung zugrunde und erfasst
zusätzliche Gottes-Konstruktionen, die sie im Gegensatz zu Ebert nicht den
Komposita zuschlägt (Lanouette 1998: 76). Es zeigen sich daher Unterschiede im
||
87 Entsprechend sind Auswertungen, die die semantischen Gruppen unberücksichtigt lassen,
wenig aufschlussreich (z.B. Tükör 2008 für Urkundensprache 1350–1650, die sogar Pronomen
miteinbezieht): Treten in einem Zeitschnitt z.B. besonders viele Titel auf, so ist zu vermuten,
dass die Nachstellung insgesamt einen geringeren Anteil ausmacht als dies sonst der Fall wäre.
88 Von der Untersuchung ausgeschlossen wurden Genitive mit lat. Flexion, diskontinuierliche
Genitivphrasen, Heiligentage (an aller seelen tag), Ortsnamen (in Sanct Lorentzen pfarrhof),
Datumsangaben (den 12 dises monats), partitive Genitive und idiomatische Wendungen (um X
willen). Zu Gottes zählt Ebert (1988: 37–38) auch weitere Gottesbezeichnungen wie herr, selig-
macher, allmächtiger.
96 | Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
Detail, insgesamt aber ein sehr ähnliches Bild: Konkreta und Abstrakta sind fast
ausnahmslos nachgestellt (95%), bei Personenbezeichnungen macht die Nach-
stellung etwas mehr als die Hälfte aus (51%), Titel und Namen sind noch kaum
an der Nachstellung beteiligt (16% bzw. 18%). Bei Okrajek (1966) zeigt sich im
Neuen Testament der Lutherbibel (1522/64) ebenfalls ein – allerdings geringerer
– Unterschied: Die Nachstellung belebter Genitivattribute (Personenbezeich-
nungen, Anthroponyme und Nomina sacra) beträgt 69,5%, von unbelebten
Abstrakta und Konkreta dagegen 86% (n=4.171).89 Mit Demske (2001) liegt ein
kleiner, diachron vergleichbarer Datensatz aus der Zeitungssprache des 17. Jh.
vor (n=636). Während Eigennamen und Titel primär pränominal bleiben (von
9,4% zu 13,8%) und unbelebte Genitivattribute schon fast vollständig postno-
minal sind (von 96,9% zu 98,4%), steigt der Anteil nachgestellter menschlicher
Appellative im Untersuchungszeitraum von 24% auf 69,5% deutlich an.
||
89 Leider sind die Daten nicht getrennt angegeben, was insbesondere deshalb problematisch
ist, weil die Nomina sacra bei Ebert (1988) sich tendenziell wie Konkreta und Abstrakta verhal-
ten, nicht wie Personenbezeichnungen oder gar Eigennamen.
Stellung des attributiven Genitivs | 97
100%
vgl.
80%
Ebert
(1988)
60%
vgl. Demske (2001)
40%
20%
0%
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
Nomina sacra 69 69 75 77 85 55 89 93
||
90 Für die Analyse des Stellungswandels im Mainzer Korpus wurde ein sehr strikter Genitiv-
begriff gewählt, d.h. Brückenkonstruktionen, deren Zuordnung zu den pränominalen Geniti-
ven nicht grammatisch oder semantisch eindeutig ist, blieben unberücksichtigt – darunter
auch solche, die in bisherigen Studien häufig miteinbezogen wurden (z.B. mit Gottes Wort).
Berechnet man die unklaren Fälle mit ein, so sinkt der Anteil postnominaler Konstruktionen
98 | Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
Ein Vergleich mit anderen Daten derselben Zeit erweist sich als aufschluss-
reich: Gegenüber Eberts (1988) Briefen fällt insbesondere der höhere Nachstel-
lungsanteil der Personenbezeichnungen im Mainzer Korpus auf, leichte Unter-
schiede gegenüber beiden Korpora zeigen sich auch bei den Nomina sacra und
Konkreta:
Tab. 19: Nachstellungsanteile bei Ebert (1988) und im Mainzer Korpus (Mainzer Daten zur
besseren Vergleichbarkeit aus zwei Zeiträumen gemittelt).
Verglichen mit Demske (2001) weisen die Abstrakta und Konkreta in den Main-
zer Daten um rund 8 Prozentpunkte geringere Nachstellungsanteile auf, beson-
ders auffällig ist aber der bedeutend höhere Nachstellungsanteil von Personen-
bezeichnungen im Mainzer Korpus im ersten Vergleichszeitraum:
Tab. 20: Nachstellungsanteile bei Demske (2001) und im Mainzer Korpus (Mainzer Daten zur
besseren Vergleichbarkeit aus zwei Zeiträumen gemittelt).
||
auf 71,2% – wenig überraschend, da alle Brückenkonstruktionen per Definition pränominal
sind. Zudem gehen die Unterschiede zwischen den semantischen Gruppen zurück. Die Brü-
ckenkonstruktionen enthalten größere Anteile an Konkreta und Nomina sacra als die Genitive,
was die Nachstellung der beiden Gruppen so weit senkt, dass sie sich partiell mit den Perso-
nenbezeichnungen überlappen.
Stellung des attributiven Genitivs | 99
Ein gewisser Anteil der Unterschiede zwischen den Studien ist sicher durch die
unterschiedliche Methodik bedingt. Bei den Personenbezeichnungen sind die
Abweichungen jedoch stärker als bei den anderen Gruppen, was sich nahtlos
ins Bild fügt: Die übrigen Gruppen sind bereits um 1500 weitgehend stabil post-
nominal, die Personenbezeichnungen sind die letzte Nicht-Eigennamengruppe,
die den Stellungswandel vollzieht. Dass dieser Umbruch textsortenbedingt un-
terschiedlich schnell verläuft, liegt nahe: Die Nachstellung von Personenbe-
zeichnungen ist in Eberts (1988) Briefen und Demskes (2001) erstem Zeitungs-
jahrgang jeweils nicht so weit vorangeschritten wie in der Sachprosa des Main-
zer Korpus.
6.3.3.2 Komplexität
Bestehende Untersuchungen
Schon im Ahd. und Mhd. ist zu beobachten, dass attributiv erweiterte (div groz-
ze hohcît dises tages) oder parataktisch gereihte Genitive (der steina und der
worze craft) häufiger postnominal auftreten (Oubouzar 1997a: 241, Prell 2000:
28–29). Auch im Ofener Stadtrecht aus dem 15. Jahrhundert (Bassola 1985: 40–
50) bevorzugt das Genitivattribut in Konstruktionen mit komplexem Geniti-
vattribut oder Bezugsnomen deutlich die Nachstellung:
Anteil Nachstellung
||
91 Unter „komplex“ fasst Bassola (1985) die Erweiterung eines der beiden Substantive mit
Adjektiven, Numeralien, Attributen (inklusive Attributsätzen) sowie Koordination, wobei keine
Differenzierung danach erfolgt, wie umfangreich diese Elemente sind und ob von ihnen weite-
re abhängen. Bassola (1985) differenziert in der ganzen Untersuchung nach drei verschiedenen
Schreibern (1.–3. Hand), die Werte wurden im Folgenden zusammengefasst, da die Zahlen für
die 2. und 3. Hand relativ gering sind. Eine Berechnung „einfacher“ Genitivkonstruktionen
durch Abzug der komplexen von der Gesamtsumme wurde nicht vorgenommen, da davon
auszugehen ist, dass es zwischen den beiden komplexen Typen eine größere Überschneidung
gibt, wenn sowohl Genitivattribut als auch Bezugsnomen modifiziert sind.
100 | Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
Das entspricht Behaghels (1932: 194) Gesetz der wachsenden Glieder, wonach
Genitivattribute, wenn sie komplexer bzw. länger sind, vermehrt nachgestellt
werden. Die Zunahme der Nachstellung begründet Behaghel damit, dass die
Modifikationsmöglichkeiten diachron zugenommen haben; die Belebtheitsun-
terschiede damit, dass Nicht-Personenbezeichnungen häufiger modifiziert wer-
den. Die geringsten Modifikationsmöglichkeiten sieht Behaghel bei den Perso-
nennamen, entsprechend sind sie noch heute weitgehend vorangestellt.92 Dieser
Ansatz würde die semantische Staffelung zu einem Epiphänomen machen. Bei
Bassolas (1985) Daten kommt hinzu, dass Genitivattribute auch dann tenden-
ziell nachgestellt werden, wenn nicht sie selbst komplex sind, sondern die Nom-
inalphrase, in der sie enthalten sind.
Demske (2001: 220, 224) konstatiert, dass nur Genitivphrasen mit zwei oder
mehr Modifikatoren tendenziell postnominal stehen und dass komplexe Geniti-
vattribute auch die alternative Möglichkeit haben, diskontinuierlich zu erschei-
nen, d.h. nur den komplexeren Teil postnominal auszulagern. Daraus zieht sie
den Schluss, dass Komplexität kein wichtiger Faktor bei der Nachstellung des
Genitivs ist. Dass mehrer Modifikatoren notwendig sind, scheint allerdings ganz
im Gegenteil eher für Komplexität zu sprechen, und dass eine (seltene) Formu-
lierungsalternative existiert, bei der nur ein Teil der Phrase postnominal real-
isiert wird (s. Kap. 6.2.1.1), bedeutet selbst bei vermehrter Nutzung nicht, dass
der Umfang des Genitivattributs irrelevant für die Gesamtnachstellung ist. Ihre
Existenz verweist sogar eher darauf, dass zu komplexe pränominale Genitivat-
tribute unerwünscht sind.
||
92 Als weiteren Faktor führt er an, dass der pränominale Genitiv bei Personenbezeichnungen
durch possessive Dativkonstruktionen mit vorangestelltem Possessor (dem Vater sein Hut) ge-
stützt werde, weshalb sie häufiger in der Voranstellung verbleiben.
Stellung des attributiven Genitivs | 101
Bei der semantischen Analyse hat sich bereits gezeigt, dass im Mainzer Korpus
keine relevante Zunahme postnominaler Genitive zugunsten pränominaler
stattfindet. Für den Faktor Komplexität muss dies jedoch neu ermittelt werden:
Möglicherweise verdecken falsch gruppierte Werte eine Entwicklung. Da sich
bereits Belebtheitsunterschiede gezeigt haben, muss Komplexität für alle Kom-
binationen der beiden Faktoren getrennt ermittelt werden. Ist die Komplexität
relevant, so müsste die Nachstellung Genitivattribute in komplexen Nomin-
alphrasen früher oder gründlicher erfassen, d.h. der Anteil komplexer, postno-
minaler Genitivkonstruktionen höher liegen oder schneller steigen als der nicht-
komplexer. 93
Abb. 19 zeigt, dass komplexe Genitivattribute (die durchgezogenen Linien)
zu Beginn des Untersuchungszeitraums tatsächlich bedeutend häufiger nach-
gestellt werden als einfache, und zwar bei beiden Belebtheitstypen. Der Faktor
Belebtheit bleibt bis 1710 hochrelevant: Sowohl einfache als auch komplexe
Genitivattribute bevorzugen Nachstellung insbesondere dann, wenn sie unbe-
lebt sind (graue Linien). Während sich, trotz der Belebtheitsunterschiede, keine
belebtheitsgesteuerte Nachstellung im Untersuchungszeitraum zeigt (Abb. 18),
so wird durch die Trennung nach Komplexität sehr wohl eine Zunahme sicht-
bar, und zwar bei einfachen Genitivattributen (gestrichelte Linien in Abb. 19).
Das deutet darauf hin, dass der Faktor Komplexität zwar zu Beginn des Unter-
suchungszeitraums noch eine größere Rolle spielt – komplexe Genitivattribute
sind deutlich öfter nachgestellt als einfache –, jedoch ab 1650 (bei den belebten)
bzw. 1710 (bei den unbelebten) keinen Einfluss mehr hat: Einfache Genitivattri-
bute haben nun nachgezogen und das Niveau der komplexen erreicht, wobei
belebte und unbelebte Konstruktionen weiter einen großen Abstand (ca. 20
Prozentpunkte) halten. Eine Antwort darauf, welcher der beiden Faktoren zu
Beginn des Stellungswandels ausschlaggebend ist, können die Daten zwar nicht
geben, sie weisen aber nach, dass Belebtheit und Komplexität relevant sind und
sich gegenseitig verstärken: Um 1500 sind die größten Nachstellungsanteile bei
unbelebten komplexen Genitivattributen zu finden, darauf folgen die unbeleb-
ten einfachen, die belebten komplexen und schließlich die belebten einfachen.
||
93 Koordinierte oder verschachtelte Phrasen wurden hier nur einmal gewertet. Auch Kon-
struktionen, die mit einem Wort koordinierten, das nicht ins Korpus aufgenommen wurde
(i.d.R. Eigennamen, lat. flektierendes Material oder Adjektive), wurden als koordiniert erfasst.
102 | Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
100%
80%
60%
40%
20%
0%
1500 1560 1650 1710
▬ ▬ ▬ GA einfach, +hum 65 78 52 56
||
94 +hum sind Personenbezeichnungen, –hum sind Konkreta (inklusive Tieren) und Abstrakta.
Nomina sacra wurden aus der Analyse ausgeschlossen, da sie ein Stellungsverhalten aufwei-
sen, das nichtmenschlichen Substantiven entspricht (Lamm Gottes), semantisch aber eher den
Menschen zugerechnet werden müssten: Während Personenbezeichnungen tendenziell voran-
gestellt bleiben, werden Gottesbezeichnungen im Korpus durchschnittlich zu 62,4% nachge-
stellt (n=584, alle acht Zeitschnitte), im letzten Zeitschnitt sogar zu 85,7% (hier wurden auch
unklare Konstruktionen des Typs in Gottes Haus einberechnet, da Gott als Eigenname so gut
wie nie mit Artikel auftritt – der Nachstellungsanteil für eindeutige Genitivkonstruktionen läge
sogar bei 95,5%). Hier scheint ein weiterer Faktor zu wirken. Reichmann & Wegera (1993: 337)
sehen die Nachstellung durch das lateinische Vorbild bedingt: Lateinische Genitive sind im 16.
Jh. meist nachgestellt, insbesondere gilt dies für Dei ‚Gottes‘ und Domini ‚des Herrn‘. Aufgrund
der großen Wichtigkeit der Religion im Untersuchungszeitraum erscheint darüber hinaus eine
grammatische Differenzierungsstrategie plausibel, die bewirkt, dass die Gottesbezeichnung
nicht mit den Menschenbezeichnungen zusammenfällt. (Formale Differenzierungen zwischen
Substantivgruppen lassen sich ja auch zwischen Eigennamen und Appellativen beobachten.)
Mit den dominant nachgestellten nichtmenschlichen Appellativen, zu denen Gott sich damit
Stellung des attributiven Genitivs | 103
Zumindest in diesem Zeitraum ist also keine steigende Komplexität des Genitiv-
attributs zu beobachten, die Anteile schwanken unsystematisch (Spalte „ge-
samt“). Zudem sind die belebten Genitivattribute in drei von vier Zeiträumen
stärker modifiziert als die unbelebten (Spalte „Differenz“), dennoch werden sie
seltener nachgestellt. Grund für die geringere Modifikation der unbelebten Ge-
nitivattribute dürften die nicht miteinbezogenen Eigennamen sein. Es ist gut
denkbar, dass der Komplexitätsanteil andernfalls unter dem der unbelebten Ge-
nitivattribute läge (auf die kaum vorhandene Modifikation von Eigennamen ver-
weist auch Ronneberger-Sibold 2010). Damit würde aber deutlich, dass Perso-
nennamen sich im Modifikationsverhalten stark (und nicht lediglich graduell)
von appellativischen Personenbezeichnungen unterscheiden und eine gemein-
same Auswertung ohnehin nicht angemessen ist. Komplexität als einziger steu-
ernder Faktor kann somit für den Untersuchungszeitraum ausgeschlossen wer-
den.
Es wäre prinzipiell möglich, dass Behaghels These sich für das Ahd. oder
Mhd. halten lässt, d.h. dass unbelebte Appellative wirklich komplexer waren
||
stellt, hat es so wenig gemeinsam, dass keine „Gleichmacherei“ zu befürchten ist. (Vgl. Kopf
eingereicht,b.)
104 | Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
Tab. 23: Semantische Relationen zwischen Genitivattribut und Bezugsnomen im Ofener Stadt-
recht (Bassola 1985: 40–42). Grau hinterlegt: Die Nachstellung überschreitet 50%, graue
Schrift: Belegzahl unter 50.
5. Genitiv mit Teil-Ganzes- vmmb […] grossen tayl der fruchte 75,0% 20
Relation vnnd deß weynn
Lanouette (1998) überprüft Bassolas These auf einer größeren Datenbasis zu-
mindest in Abhängigkeit vom Faktor Belebtheit, wobei sie vier Relationen un-
terscheidet. Eine vergleichende Neuberechnung ihrer Daten wurde in Tab. 24
durchgeführt. Unbelebte Genitivattribute treten nur beim Objektsgenitiv in
einer Menge auf, die eine Berechnung und damit einen Vergleich mit den beleb-
ten Genitivattributen zulässt. Die Anteile von possessivem, relationalem und
Subjektsgenitiv lassen sich nicht nach Belebtheit differenzieren – was schon für
eine enge Korrelation von Belebtheit und Genitivrelation spricht. Wie nach der
semantischen Analyse des Erstglieds erwartet, werden unbelebte Objektsgeniti-
ve deutlich häufiger nachgestellt als belebte.
Ein Vergleich der vier Genitivtypen mit belebtem Attribut untereinander
(„Nachstellung belebt“ in Tab. 24) ist aber möglich. Dabei zeigen sich zahlreiche
Interaktionen zwischen Erstgliedsemantik und Genitivrelation: Die possessi-
ven Genitive bestehen zu über der Hälfte (55%) aus Gottes-Konstruktionen. Bei
relationalen Genitiven treten zur Hälfte Namen auf (52%) – entsprechend ver-
||
95 Hierunter fasst er auch „Besitzverhältnisse“ mit unbelebtem Possessor, z.B. an dem Egk-
haus der apoteken.
106 | Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
wundert es nicht, dass diese Gruppe mit 21,5% sehr wenig Nachstellung auf-
weist, sie spiegelt damit das Verhalten aller Namen ungeachtet der Relation
(18%). Da possessive und relationale Genitive ausschließlich belebte Geniti-
vattribute aufweisen, ist ihr geringer Nachstellungsanteil insgesamt wenig
überraschend. Der stärkste Zusammenhang ist bei den Objektsgenitiven zu
beobachten, von denen 71% unbelebt sind. Das Verhalten unbelebter Geniti-
vattribute, die bei Lanouette (1998) zu 95% nachgestellt werden, findet sich also
direkt im Verhalten unbelebter Objektsgenitive wieder (98,8% Nachstellung).
Tab. 24: Semantische Relationen zwischen Genitivattribut und Bezugsnomen in Briefen, 16. Jh.
(Lanouette 1998). Grau hinterlegt: Die Nachstellung überschreitet 50%, graue Schrift: Beleg-
zahl unter 50.
n= 469 105
||
96 Hierunter fasst sie Verwandtschafts- und sonstige persönliche Verhältnisse (Lanouette
1998: 78).
97 Bei Pavlov (1983) und Demske (2001) spielen die Genitivrelationen in anderer Hinsicht eine
Rolle: Sie vermuten in ihnen einen bremsenden Faktor. Demske (2001: 247–248) nimmt an,
dass Personennamen meist in einem possessiven Genitivverhältnis stehen oder Subjekts- bzw.
Objektsgenitive sind (aus unklaren Gründen fasst sie allerdings alle drei Verhältnisse als pos-
sessiv), belebte Appellativa dagegen nicht. Daraus leitet sie ab, warum in der vorerst letzten
Stufe der Entwicklung belebte Appellative nachgestellt werden, Personennamen aber nicht.
Implizit folgt ihre Begründung wohl Pavlov (1983: 74), der allerdings eine Stufe früher ansetzt,
d.h. auf das häufige Possessivverhältnis belebter Appellative verweist. Das wird schon dadurch
gestärkt, dass bei unbelebtem Bezugsnomen je nach Definition nur sehr eingeschränkt oder
Stellung des attributiven Genitivs | 107
6.3.3.4 Zusammenfassung
Die meisten Untersuchungen zum Stellungswandel des Genitivattributs unter-
suchen lediglich einen Einflussfaktor. Die Mainzer Daten haben jedoch gezeigt,
dass zwei Faktoren in Kombination wirken, Komplexität und Belebtheit, wobei
Belebtheit so eng mit Genitivrelation korreliert, dass nicht mit endgültiger Si-
cherheit festgestellt werden kann, was von beidem den Ausschlag gibt oder ob
sie dennoch unabhängig voneinander wirken.
Die Regularitäten des Stellungswandels lassen sich gut beschreiben, aber
nur teilweise begründen: Der Einfluss der Komplexität lässt sich als Teil des Ge-
setzes der wachsenden Glieder fassen (Behaghel 1932), das als generelle Ten-
denz auch andere syntaktische Strukturen erfasst (z.B. Rechtsversetzung kom-
plexer Mittelfeldelemente bei der Verbalklammer). Ähnliches findet sich in an-
deren germ. Sprachen, so z.B. bei der Distribution von engl. Possessivphrasen
(Klitikon s vs. of-Phrase, vgl. z.B. Rosenbach 2002, Szmrecsanyi 2013: 70), für
die sich ebenfalls Belebtheits- und Genitivrelationseffekte zeigen. Dass beson-
ders umfangreiche Attribute nachgestellt werden, verträgt sich auch mit Ron-
neberger-Sibold (1991): Genitivattribute tragen aufgrund der fehlenden Kongru-
enz generell nicht zur Kohäsion der Klammer bei. Je umfangreicher sie sind,
desto nachhaltiger unterbrechen sie sie sogar, entsprechend liegt eine schnelle-
re Ausklammerung nahe.
Die Belebtheits- oder Genitivrelationsunterschiede lassen sich dagegen
kaum aus sich selbst heraus erklären, vorgeschlagene Ansätze greifen immer
nur für einzelne Gruppen (z.B. die Nähe von possessiven Genitiven zu Posses-
sivartikeln als Grund für ihre seltenere Nachstellung). Als Epiphänomene der
Komplexität haben sie sich aber zumindest im Untersuchungszeitraum nicht er-
wiesen.
||
gar nicht von Possessivität gesprochen werden kann. Dass possessive Genitive nur zögerlich
nachgestellt werden, begründet Pavlov plausibel mit der semantischen Nähe zu den pränomi-
nal erscheinenden Possessivartikeln (des Nachbarn/seine Tasche).
108 | Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
ters Nase, Russlands Wälder), Appellative sind zwar noch verständlich, aber
weitgehend auf lexikalisierte Phrasen beschränkt (des Pudels Kern, aller Laster
Anfang), die gelegentlich sogar alte Genitivflexive bewahren (der Welten Lohn).
Generell handelt es sich um Archaismen, die einer höheren Stilebene angehören
(dazu auch Pavlov 1983: 20–21, Demske 2001: 252). Die verbleibenden pränomi-
nalen Genitivattribute sind inhärent definit und treten als solche nicht mit De-
terminierern oder Modifikatoren auf (z.B. Demske 2001: 18).98 Soll Indefinitheit
ausgedrückt oder modifiziert werden, so wird nachgestellt wie in (46d):
Aus diesem Grund wird der pränominale Genitiv häufig als Ersatz für einen
Definitartikel (Pavlov 1983: 18) oder direkt als Determinierer (Demske 2001)
betrachtet, Pavlov (1983: 19) stellt fest:
Die absolute Artikellosigkeit des vorangestellten substantivischen Attributs (die eben in-
folge ihres absoluten Charakters mit der Nullform des Artikels nicht gleichzusetzen ist)
bedeutet eine relative Herabsetzung seiner morphologischen Selbständigkeit als Wort.
||
98 Umgangssprachlich ist die Verwendung von Definitartikel mit Eigennamen zwar weit
verbreitet (Bellmann 1990, Schmuck & Szczepaniak 2014, Werth 2014), das findet jedoch bei
pränominalen Genitivattributen keine Anwendung: Wer die Mirjam oder den Amaru anruft,
wird nicht von der Mirjam oder des Amaru(s) Telefonnummer sprechen, sondern von Mirjams
oder Amarus Telefonnummer. Hier scheint also beim Genitivattribut entweder keine reine Über-
tragung des artikellosen Namengebrauchs aus anderen Kontexten vorzuliegen, wie Pavlov
(1983: 18) annimmt, oder der Artikelgebrauch hat darauf (noch) nicht übergegriffen.
Stellung des attributiven Genitivs | 109
||
99 Auch viele der, trotz häufiger Googletreffer, eher marginalen Belege bei Scott stehen in
direktem Widerspruch zu Demskes Analyse (meine Chefins Sohn, bei meiner Tochters Compu-
ter), vgl. Kap. 8.6.1.
7 Was ist ein Kompositum?
Im Gegenwartsdt. lassen sich Komposita leicht durch Schreibung, Betonungs-
struktur und morphosyntaktische Eigenschaften identifizieren, viele Untersu-
chungen definieren ihren Betrachtungsgegenstand daher nicht näher (s. aber
Ortner & Ortner 1984: 12–33, Meineke 1991). Werden sie abgegrenzt, so zumeist
von Derivaten, zumal mit Affixoidbildungen ein Überschneidungsbereich be-
steht (Glaswerk – Uhrwerk – Flickwerk), wie bei Ortner & Ortner (1984: 33). Ihr
Bezug zur Syntax wird insbesondere in transformationsgrammatischen Unter-
suchungen der 1960er/70er (z.B. Heidolph 1961, Harlass & Vater 1974, Kürsch-
ner 1974, Tancré 1975) zwar immer wieder diskutiert, das ist für die vorliegende
Studie allerdings nur von marginalem Interesse: Die syntaktische Paraphrase
(egal ob sie als zugrunde liegende Struktur angenommen wird oder nicht) be-
ruht zum einen massiv auf Introspektion und entzieht sich damit der objektiven
Überprüfbarkeit, zum anderen hat sie zum Ziel, semantische Äquivalenz zwi-
schen Kompositum und Syntagma herzustellen, nicht einen funktionalen Über-
schneidungsbereich herauszuarbeiten, sie befasst sich daher nicht mit der Ab-
grenzung beider Phänomene. Auch Diskussionen darüber, ob Komposition Teil
der Wortbildung oder Teil der Syntax ist, erweisen sich hier nicht als erkennt-
nisfördernd.
Befasst man sich mit der Entstehung von Komposita, so steht die Abgren-
zung von Syntagmen im Vordergrund, da beide Konstruktionstypen in ähnli-
chen oder gleichen Zusammenhängen gebraucht werden können und anhand
der formalen Kriterien für das Nhd. nicht unbedingt unterscheidbar sind: In
älteren Sprachstufen kann die Schreibung nicht zuverlässig herangezogen wer-
den, da morphologisch komplexe Wörter häufig als mehrere graphematische
Wörter wiedergegeben werden. Hinzu kommt, dass auch die Flexionsmorpho-
logie oft keine Unterscheidungshilfe gegenüber Genitivkonstruktionen leistet
und über die Betonungsstruktur keine Informationen vorliegen. Eine zweifels-
freie Identifikation von Komposita ist selbst durch eine Kombination morpholo-
gischer, semantischer und graphematischer Kriterien, wie sie z.B. Pavlov (1983)
und Nitta (1987) ansetzen, in vielen Fällen nicht leistbar. In Kap. 6.3 war daher
bereits wiederholt von „Brückenkonstruktionen“ oder „unklaren Konstruktio-
nen“ die Rede – ihr Status ist im Fnhd. zwar zweifelhaft, es wird sich aber zei-
gen, dass die Zugehörigkeit zur Brückengruppe objektiv bestimmbar ist.
Im Folgenden werde ich zunächst knapp die Eigenschaften nhd. Komposita
bestimmen, die als Vergleichsbasis für das Fnhd. dienen (Kap. 7.1). Es gilt dann
datenbasiert herauszuarbeiten, woran fnhd. NN-Komposita erkennbar sind,
https://doi.org/10.1515/9783110517682-007
Komposita im Neuhochdeutschen | 111
welche Eigenschaften sie haben und wie sie gegenüber Genitivphrasen und VN-
oder AN-Komposita abgegrenzt werden können (Kap. 7.2).
Tab. 25: Formale Unterschiede zwischen Kompositum und pränominalem Genitiv im Nhd.
7.1.1 Phonetik/Phonologie
7.1.2 Morphologie/Syntax
NP
D N'
das A N
N N
schöne
Bären fell
||
100 Zur besseren Vergleichbarkeit wird hier ein pränominaler Genitiv verwendet, auch wenn
die entsprechende Funktion heute veraltet ist.
Komposita im Neuhochdeutschen | 113
NP
N' N
D N' Fell
A N
des
schönen Bären
Unter bestimmten Umständen ist jedoch auch das Erstglied eines Kompositums
syntaktisch zugänglich. Dazu gehören in einem sehr eingeschränkten Rahmen
anaphorische Bezüge (Schmidti-Anhänger waren von ihmi enttäuscht), Zusam-
menrückungen mit Adjektivphrasen ([deutsche Sprach]wissenschaft) und Kom-
posita mit relationalen Erstgliedern (die Absturziursache [des Flugzeugs]i). Die
Unzugänglichkeit des Erstglieds ist zwar ein typisches, aber kein unabdingba-
res Merkmal nhd. NN-Komposita. Das ist besonders wichtig, weil entsprechende
Bezugnahmen im Fnhd. somit nicht als Hinweis auf ein Syntagma gewertet wer-
den können. Für alle drei Phänomene wird daher im Folgenden eingegrenzt,
unter welchen Umständen sie im Nhd. auftreten können.
||
101 Eine LAN ist ein ereigniskorreliertes Potenzial, das 300 bis 500 ms nach der Stimulusprä-
sentation messbar ist, sofern eine bestimmte Verarbeitungsschwierigkeit besteht. So tritt eine
LAN bei morphosyntaktischen Verletzungen (z.B. Kongruenz, Rektion) ebenso wie bei Belas-
tungen des Arbeitsgedächtnisses ein (Höhle 2012: 119).
114 | Was ist ein Kompositum?
Reisfeld – *der Feld) zeigt,102 dass lexemspezifisches Wissen zum Erstglied ab-
rufbar ist – obwohl die Artikulationsdauer bereits prosodisch auf ein Komposi-
tum hinweist. Koester et al. (2004: 1652) spekulieren, dass Inkongruenz zwi-
schen Determinierer und Erstglied möglicherweise als Hinweis auf weitere Kon-
stituenten interpretiert wird, es sich also um eine (nur bei verschiedenem Genus
beider Konstituenten nutzbare) Verarbeitungsstrategie handelt – ein Phäno-
men, das sich im Dt. auch in anderen Zusammenhängen vielfach beobachten
lässt und sich gut in die Struktur der nhd. Nominalklammer fügt (vgl. Ronne-
berger-Sibold 1991, 2010 und Kap. 8.6.3).
Die kognitive Zugänglichkeit des Erstglieds hängt eng mit dem Aufbau ana-
phorischer Referenz zum Erstglied zusammen. Kompositumserstglieder werden
häufig mit Postal (1969) als anaphorische Inseln bezeichnet, die für die Syntax
unzugänglich seien (vgl. 48a aus Schlücker 2012). Bereits seit längerem wird al-
lerdings vertreten (z.B. Ward et al. 1991 für das Englische), dass es (durchaus
systematische) Ausnahmen davon gibt, vgl. (48b-d):
Wäre das Genus des Erstglieds nicht zugänglich, so könnte kein anaphorisches
Pronomen genutzt werden. In (48a) kann jedoch aufgrund des gleichen Genus
beider Kompositionsglieder der Bezug zu Baum hergestellt werden (vgl. auch
Coulmas 1988: 319, Ortner & Ortner 1984: 38–39). Da es sich hierbei um das
weitaus üblichere Bezugsnomen handelt, ist es wenig überraschend, dass ein
Zugriff auf Apfel nicht erfolgt. Die Referenz in (48b) kann hingegen nur aufge-
löst werden, wenn der Bezug zum Erstglied hergestellt wird. In (48c) erlaubt das
Pronomen ihm die reflexive Lesart, die für den Bezug auf Anhänger nötig wäre,
nicht. Es handelt sich also um eine pragmatisch gesteuerte „Notlösung“, von
der aber durchaus Gebrauch gemacht wird und die nicht zwingend als markiert
auffällt. Möglich ist eine anaphorische Referenz jedoch nur, wenn das Erstglied
||
102 Wie Koester et al. (2004: 1656) bemerken, scheint dieses Ergebnis der Feststellung entge-
genzustehen, dass paradigmisch verfugte Komposita mit den entsprechenden Fugenelementen
nicht als Plurale verarbeitet werden (vgl. Kap. 5.2.1) – Genus ist also zugänglich, Numerus je-
doch nicht. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren, möglicherweise spielt die gleich noch
zu thematisierende anaphorische Referenz eine Rolle.
Komposita im Neuhochdeutschen | 115
(49) a. Stefan hat die Gänseieier gesucht. Siei hat/haben drei gelegt.
b. Jessica bringt das Hasenifutter. Im Nu kam/kamen eri/siei angehoppelt.
c. Mirjam hat den Bärenikäfig offen gelassen. Im Nu war/waren eri/siei
abgehauen.
d. Amaru steht unter Entscheidungsidruck, weil siei heute noch getroffen
werden muss/müssen.
Die Akzeptabilität unterscheidet sich außerdem nach der Form der Anapher
(Relativpronomen, Reflexivpronomen, Personalpronomen) und ihrer Nähe zum
Kompositum (vergleichbar mit der Genuskongruenz bei neutralen Frauenbe-
zeichnungen oder der Numeruskongruenz bei Kollektiva).
In dieser Hinsicht unterscheiden sich pränominale Genitivattribute nicht
von Kompositumserstgliedern: Im Normalfall (50a) wird die Gesamtkonstruk-
||
103 Im Gegensatz dazu ist das Genus auch bei lexikalisierten Komposita wie Walross, Luft-
schloss kognitiv zugänglich, Koester et al. (2004) stellen keinen Unterschied zu semantisch
kompositionalen Bildungen fest.
104 Ortner & Ortner (1984: 39) fassen auch Fälle wie Ich trank Flaschenibierj, weil sie [kein an-
deres]j hatten als Gegenbeispiele für anaphorische Inseln. Hier sind die Verhältnisse allerdings
anders gelagert, der Bezug erfolgt auf das Zweitglied und streicht die Semantik des Determin-
ans.
116 | Was ist ein Kompositum?
Damit lässt sich festhalten, dass eine Referenz auf pränominale Genitive und
Kompositumserstglieder im Nhd. gleichermaßen markiert ist und nur dann er-
zwungen werden kann, wenn kein anderer „Landeplatz“ für die Anapher vor-
handen ist. Kompositumserstglieder sind also nicht prinzipiell unzugänglich für
die Syntax – wenn möglich werden jedoch übergeordnete Strukturen präferiert.
Das Adjektiv kongruiert in solchen Fällen mit dem morphologischen Kopf, ob-
wohl es das Erstglied modifiziert. Die genaue Form des Erstglieds ist dabei un-
Komposita im Neuhochdeutschen | 117
erheblich, auch Erstglieder mit Fugenelement (51c) oder subtraktiver Fuge (51b)
können derart modifiziert werden. Bergmann (1980: 248–249) bezeichnet sie als
„Zusammenrückungen“ aus Adjektiv und Bestimmungswort und sieht eine Pa-
rallele in Komposita wie Heißwasserspeicher, Sternefeld (2003) spricht mit der
engl. Literatur (vgl. Spencer 1988) von „Klammerparadoxien“. Eine Abgrenzung
gegenüber Konstruktionen, in denen das Zweitglied modifiziert wird, kann
schwierig zu treffen sein, bei einer morschen Holzverschalung ist z.B. ein Bezug
auf beide Bestandteile möglich (Bergmann 1980: 242).
Bergmann zeigt, dass das Phänomen von Sprachkritikern immer wieder ver-
urteilt wird, bereits Wustmann (1891) bezeichnet entsprechende Strukturen als
„sinnlos“. Dabei werden in vielen Fällen jedoch „absichtliche Scherzbildungen“
wie vierstöckiger Hausbesitzer, reitende Artilleriekaserne kritisiert (Bergmann
1980: 236). Anhand von ca. 1.000 Belegen aus unsystematisch ausgewählten
Zeitungen, wissenschaftlichen und literarischen Texten des 20. Jh. argumentiert
Bergmann, dass es sich – gegenüber Alternativen wie Relativsätzen oder einem
Präpositional- bzw. Genitivattribut (die Sprachwissenschaft des Deutschen) – um
ein ökonomisches Verfahren handelt, das insbesondere dann genutzt wird,
wenn bereits eine komplexe Konstruktion vorhanden ist. Dabei macht er zwei
Gruppen von unterschiedlicher Akzeptanz aus: Ist das Adjektiv prinzipiell auch
auf das Zweitglied beziehbar, wie in (52a), so ist die entsprechende Bildung für
die Sprecherinnen und Sprecher weitgehend unauffällig. Die hierfür genutzten
Adjektive haben eine relationale Semantik (deutsch, kirchlich, kontinental,
Münchner) und sind damit allgemein genug, um einen Bezug auf beide Kompo-
sitionsglieder zu erlauben. Auch Fälle wie (52b), bei denen die Semantik des
Zweitglieds stark abgeschwächt ist, sind häufig belegt. Phrasen wie in (52c) er-
lauben hingegen semantisch keine Modifikation des Zweitglieds, sie werden
häufig zum Ziel der Sprachkritik, treten jedoch in Bergmanns (1980) Beleg-
sammlung nicht auf – falls sie vorkommen, spielen sie also nur eine marginale
Rolle im Deutschen.
7.1.3 Schreibung
||
105 Dieses Unterkapitel stimmt größtenteils mit Kopf (2017: 179–185) überein.
Komposita im Neuhochdeutschen | 119
gen (Dittmann & Zitzke 2000) wird sie häufig gebraucht, 58,5% der Komposita
aus rein engl. Bestandteilen werden getrennt geschrieben. Liegt eine Mischung
aus dt. und engl. Bestandteilen vor, so wird die Getrenntschreibung nur noch zu
4% genutzt.106 Bei der nicht-standardsprachlichen Getrenntschreibung von
Komposita ohne engl. Bestandteile konstatiert Jacobs (2005: 6) auf Basis einer
umfassenden Beispielsammlung einen schon länger andauernden Trend, der
insbesondere bei onymischen Erstgliedern (Volkswagen Partner) und bei mehr-
gliedrigen Komposita (Biergarten Revolution) zu beobachten ist und durch das
Vorhandensein von Fugenelementen gehemmt wird (dennoch: Frauen Buchpa-
ket), quantitative Daten liegen leider nicht vor.
Während das Leerzeichen Trennung markiert und die Zusammenschrei-
bung Zusammengehörigkeit, vermag der Bindestrich zugleich zu trennen und
so Wortgrenzen hervorzuheben, und zu verbinden und so zu zeigen, dass es
sich um ein einziges komplexes Wort handelt. Buchmann (2015: 217–289) analy-
siert anhand von 1.350 zufällig ausgewählten Bindestrichschreibungen aus dem
Mannheimer Morgen (1995–2008) die Schreibpraxis in Zeitungssprache, wobei
die referierten Zahlen keine Gewichtung der Einflussfaktoren zulassen. Sowohl
Buchmann als auch die zusätzlich herangezogene Amtliche Regelung (Rat für
deutsche Rechtschreibung 2011) differenzieren nicht nach Wortbildungstypen,
im Folgenden werden daher aus beiden Quellen nur die für NN-Komposita rele-
vanten Faktoren herausgegriffen.
Bindestrichschreibungen sind entweder durch das Schriftbild oder durch
Eigenschaften des Wortkörpers bedingt (Buchmann 2015). So können zum einen
graphische Besonderheiten in einer der Konstituenten (durchgängige Groß-
oder Kleinschreibung, Binnenmajuskeln, Nicht-Buchstabenzeichen) ausschlag-
gebend sein; sie alle führen zu nicht-prototypischen graphematischen Wörtern.
Bredel (2008: 116) spricht von „heterogenen semiotischen Basen“. Zum anderen
finden sich Bindestrichschreibungen häufig bei anderweitig markierten Struk-
turen (z.B. Buchmann 2015: 236–246): Kurzwörter (Alu-Leiter) und Fremdwörter
(Alumni-Tag) sind phonologisch auffällig, sie weichen z.B. durch Silbenzahl,
Vollvokalzahl und Betonungsstruktur von der lautlichen Struktur prototypi-
scher deutscher Wörter ab. Komplexe Wörter, die Eigennamen beinhalten oder
zur Gänze aus ihnen bestehen, bilden eine semantisch auffällige Sonderklasse
||
106 Analysiert wurden 861 engl.-engl. und 2.674 dt.-engl. gemischte Komposita aus der FAZ
und der Süddeutschen Zeitung, deren Zweitglied ein Substantiv und deren Erstglied kein
Adjektiv ist. Leider liegen keine Angaben dazu vor, wie viele der Komposita sich im Fließtext
befinden und wie viele in der Überschrift, wie viele Berufsbezeichnungen oder sonstige her-
vorgehobene Schlagwörter ausmachen.
120 | Was ist ein Kompositum?
(Nübling et al. 2012). Sofern sie nicht zusätzlich graphisch markiert sind (d.h.
sowieso schon mit Bindestrich geschrieben werden), tritt die Bindestrichschrei-
bung als Alternative zur Zusammenschreibung auf.
Hinzu kommen komplexe Wörter, bei denen aufgrund des nicht verschrifteten
Glottisverschlusslauts eine falsche Silbifizierung möglich ist (Druckerzeugnis)
oder bei denen Häufungen eines Buchstabens an der Wortgrenze auftreten
(Teeernte) (Rat für deutsche Rechtschreibung 2011). Ebenfalls möglich sind Bin-
destriche bei mehrgliedrigen Komposita an der Haupttrennfuge, besonders,
||
107 Das scheint in der Schreibpraxis nur solche Fälle durchgehend zu betreffen, bei denen in-
nerhalb des Kurzworts Großbuchstaben genutzt werden, d.h. eine graphisch markierte Form
vorliegt. Eine Auswertung des ZEIT-Korpus (via DWDS, 9.11.2015) ergab beispielweise für das
Akronym Aids 474 zusammengeschriebene Komposita (Aidserkrankung) gegenüber 3.726 Bin-
destrichschreibungen (Aids-Erkrankung); bei Majuskelschreibweise wurde hingegen in allen 96
Fällen der Bindestrich genutzt (AIDS-Erkrankung). Die Majuskelschreibweise dient natürlich
auch als Hinweis darauf, dass überhaupt ein Akronym (und damit ein auffälliges Wort) vor-
liegt.
108 Diese beiden Phänomene werden in der amtlichen Regelung thematisiert, sind in Korpus-
daten aber – wohl aufgrund des generell seltenen Vorkommens solcher Übergänge – kaum zu
finden (vgl. Fuhrhop 2008: 204, Buchmann 2015: 265).
Komposita im Neuhochdeutschen | 121
||
109 Bei syntaktisch unverbundenen Wortreihen (Mutter-Kind-Kur) und (primär adjektivi-
schen) Kopulativkomposita (blau-grün, aber auch Spieler-Trainer) wird zudem die semantische
Relation zwischen beiden Bestandteilen verdeutlicht. Das ist auch möglich, wenn lexikalisierte
Wortbildungsprodukte remotiviert werden sollen, z.B. Kinder-Garten ‚für Kinder gedachter
Garten‘ vs. bestehendes Kindergarten ‚Betreuungseinrichtung für Vorschulkinder‘ (vgl. auch
Bredel 2008: 116).
110 Das Korpus besteht aus Zeitungen, Zeitschriften, wissenschaftlichen und belletristischen
Werken aus dem Zeitraum von 1966–1973 (Grube 1976: 189–190).
111 In einem zweiten Experiment wurden die Studierenden explizit auf die Möglichkeit zur
Bindestrichschreibung hingewiesen, erwartbarerweise lag der Wert hier erheblich höher
(21,6%, n=597).
122 | Was ist ein Kompositum?
800
600
400
664
200 78
unmarkierte Struktur
195 markierte Struktur
0
normgerecht nicht-normgerecht
||
112 Lässt man Komposita unberücksichtigt, die Eigennamen sind (Baden-Württemberg) oder
enthalten (Bayer-Werke), auf die über die Hälfte der normgerechten Schreibungen entfallen
(350 Belege), so erhöht sich der Anteil nicht-normgerechter Schreibungen auf 45,5%.
Komposita im Frühneuhochdeutschen | 123
7.1.4 Zusammenfassung
||
113 Insbesondere in Wörterbüchern, die z.B. die Datenbasis für Michel (2010) bilden, ist oft
nicht ersichtlich, auf welcher Basis Komposita erfasst wurden, d.h. ob nicht grammatisch
eindeutige Fälle von Komposition aufgrund ihrer Getrenntschreibung als zwei verschiedene
Lemmata erfasst wurden oder umgekehrt adjazent auftretendes Genitivattribut und folgendes
Bezugsnomen als Kompositum.
Komposita im Frühneuhochdeutschen | 125
II. ∅ N1GEN? N2
menschen werck
weibß kleider
Von allen drei Typen werden Fälle ausgeschlossen, bei denen das erste Sub-
stantiv auf eine spezifische Entität referiert, wie im folgenden (konstruierten)
Beispiel: Er hat auch eine jüngere Tochter. Der Tochter Mann ist … Hier han-
delt es sich für Pavlov (1983) um eine eindeutige Genitivkonstruktion (zum Um-
gang mit solchen Fällen s. vor allem Kap. 8.2).
Typ I umfasst Fälle, bei denen ein determinierendes oder modifizierendes
Element sowohl Bezug auf das erste als auch Bezug auf das zweite Substantiv
||
114 Zur Korpuszusammensetzung vgl. Kap. 9.2.
115 Hierunter sind auch Fälle zu rechnen, bei denen die Modifikation durch einen zweiten
Genitiv erfolgt.
126 | Was ist ein Kompositum?
Bei Typ 6 und 7 ist der Determinierer oder Modifikator nur auf das zweite
Substantiv beziehbar, es handelt sich also um Pavlovs (1983) Typ III, wobei Typ
6 Fälle erfasst, bei denen eine Übereinstimmung mit dem Genitiv Singular be-
steht, bei Typ 7 eine Übereinstimmung mit dem Genitiv Plural.
Typ 8 wird leider nur knapp angesprochen, er umfasst die Komposita. Hier-
unter scheint Nitta alle Fälle zu fassen, bei denen das Erstglied ein Genitiv-Sin-
gular-Flexiv aufweisen müsste, das aber nicht tut, ein Faktor, der auch für mei-
ne Kompositumsdefinition noch maßgeblich wird (s. Kap. 7.2.2).
2. Det./Mod.GEN – N1GEN – N2
mit des landes rihters knechten, zu der camer tür
3. Mod.KURZ – N1GEN – N2
ir tohter man, sein herczen lieb
Brückenkonstruktion
4. ∅ – N1-s/n/e – N2 (Status unklar)
knehtes minne, plutes tropfen
5. ∅ – N1GEN-∅ – N2
in mutter leib, swester sun dez küngs
6. Det./Mod. – N1OVERT-GEN.SG – N2
einem mannß gemüt, eine grosse Sonnen Finsternuß
7. Det./Mod. – N1-∅/GEN.PL – N2
auff den Stätt Tag
8. (…) – N1 – N2 Kompositum
by der tag zit, daz hymel prot
128 | Was ist ein Kompositum?
Im Gegensatz zu Pavlov bezieht Nitta keine semantischen Faktoren mit ein (spe-
zifische vs. generische Referenz des Erstglieds). Seine Einteilung ist zwar fein-
gliedriger, bietet aber keine zusätzlichen Vorteile. Er gibt zwar Einschätzungen
zum Status der einzelnen Typen ab, z.B. zu Typ 5 und 6, diese seien „meisten-
falls eher als Zusammensetzung aufzufassen“ (Nitta 1987: 411), dabei bleibt
jedoch leider völlig unklar, auf welche Kriterien er sich stützt. Eine auf Basis der
acht Typen angekündigte Korpusuntersuchung (Nitta 1987: 414) wurde nie
durchgeführt oder publiziert.
||
116 Die Durchsetzung der Substantivgroßschreibung betrifft je nach semantischer Gruppe
75% bis 100% der Substantive, wobei es unklar ist, ob bei Genitivkonstruktionen (und evtl.
auch bei Zweifelsfällen) beide Substantive einberechnet wurden oder ob sie insgesamt unbe-
rücksichtigt blieben.
117 Die auf Basis von Solling (2012: 169–174) ermittelten Anteile der Zweitgliedgroßschrei-
bung an getrennt geschriebenen Komposita sind: 19% (1550), 32% (1570), 81% (1600), 78%
(1620), 100% (1660), 77% (1710).
Komposita im Frühneuhochdeutschen | 129
||
118 Kann die Lesart nicht über den Kontext festgelegt werden, so bezeichnet Solling (2012: 67)
die Fälle als „wahrlich ambivalent“ und schließt sie aus der Analyse aus.
119 Hinzu kommt, dass er angibt, mit einer Teilgruppe, nämlich Konstruktionen mit Gottes,
eigennamenähnlichen Personenbezeichnungen oder Eigennamen, abweichend zu verfahren.
Aus den entsprechenden Beispielen wird jedoch kein Unterschied zur Behandlung der übrigen
Konstruktionen ersichtlich.
130 | Was ist ein Kompositum?
sind, später zu Komposita werden (bzw. deren Funktion durch Komposita über-
nommen wird). Mit der zunehmenden Ausbreitung des Artikels gehen die Brü-
ckenkonstruktionen vielmehr so stark zurück, dass sich seine Daten im Laufe
der Zeit weitgehend auf zweifelsfreie Komposita einengen.
7.2.2 Flexion
Ist ein Substantiv endungslos, obwohl es seinem Paradigma zufolge ein Flexiv
besitzen müsste, so liegt es nahe, die Konstruktion als Komposition nach dem
idg. Muster zu werten: Statt knoblauch safft wäre sonst *(des) knoblauchs safft
oder (unwahrscheinlich) *(der) knobläuch(e) safft zu erwarten. Allerdings wei-
sen fnhd. Substantive sowohl im Genitiv Singular als auch im Plural gelegent-
lich auch dort flexionslose Nebenformen auf, wo ihre Flexionsklassenzugehö-
rigkeit eine Markierung erwarten lässt: des Engel, die Wort. Im Folgenden soll
daher das Ausmaß des Phänomens bestimmt werden, sodass eine Entscheidung
darüber möglich ist, welche Rolle der Flexionslosigkeit für den Kompositions-
status zukommt.
In Tab. 27, den Flexionsklassen des Fnhd., sind die Felder dunkelgrau hin-
terlegt, bei denen in Brückenkonstruktionen eine unterbleibende Kasus- oder
Numerusmarkierung darauf hindeutet, dass es sich um Erstglieder von Kompo-
sita handelt.
Flexionsklasse Genus
||
GEN SG | NOM PL Feminina Maskulina Neutra
möglich.120
1 -(e)n | -(e)n Sonne-n(/∅*) Sonne-n Kunde-n Kunde-n
Nacht-∅ Nächt(-e)
4 -∅ | UL(-e)
Mutter Mütter-∅
Schlag-s Schläg(-e)
6 -(e)s | UL(-e)
Garten-s Gärten-∅
10 -∅ | -s Coniunction-∅ Coniunction-s
120 Nicht aufgeführt wurde die beinahe mitgliedslose „Klasse“ ∅|e (Erlaubnis – Erlaubnisse).
Tab. 27: Substantivklassen des Fnhd. Leer: nicht existierende Klassen-Genus-Kombinationen
Feminina ist in fnhd. Zeit durch den Zusammenfall der Klassen 1 und 3 auch Endungslosigkeit
(Klassen 1–8 nach Wegera 1987: 166–167, Systematik nach Kopf 2014). *Im Fall der schwachen
Komposita im Frühneuhochdeutschen | 131
132 | Was ist ein Kompositum?
Träte z.B. mit lamm fell auf, so könnte die Konstruktion trotz Getrenntschrei-
bung als Kompositum behandelt werden, bei mit lamms fell oder mit lämmer fell
wäre dagegen keine Entscheidung über den Status der Konstruktion möglich. In
den hellgrau hinterlegten Feldern kann dagegen, wie in den weißen, die Abwe-
senheit eines Flexivs nicht als Kompositumsindikator wirken. Die schwachen
Feminina (Klasse 1) sind im Fnhd. von einem Klassenzusammenfall mit den
starken Feminina der ō-Deklination betroffen, infolgedessen setzt sich bei ihnen
endungsloser Genitiv Singular durch (der Sonnen Licht > der Sonne Licht). Bei
den starken Maskulina und Neutra der Klasse 7 liegt im Fnhd. häufig Schwa-
Apokope vor, weshalb die Pluralform endungslos sein kann (die Hund, die Jahr),
dazu gleich mehr.
Die Zuordnung eines Substantivs zu einer Flexionsklasse ist im Fnhd. nicht
immer zweifelsfrei möglich, insbesondere bei den Pluralen der starken Masku-
lina und Neutra herrscht relativ viel Variation, die sich auch bis heute dialektal
gehalten hat (z.B. die Beiner, die Ärme), zahlreiche Formen eignen sich erst
einen Pluralmarker an. Bei Einordnungsproblemen wurde Wegera (1987) für
den entsprechenden Dialektraum und ergänzend Grimm & Grimm (1854–1961)
herangezogen. Im Zweifelsfall muss eine endungslose Form angenommen wer-
den, d.h. unklarer Status statt eindeutigem Kompositum.
Pavlov (1983: 46) bezeichnet das Phänomen als „häufige Erscheinung“, sodass
das Fehlen von -(e)s- nicht als Indikator für Kompositumsstatus herangezogen
werden könne, Konstruktionen wie in Engel gestalt könnten demnach auch
Syntagmen sein. Auch Wegera (1987: 126) spricht davon, dass das Flexiv „häu-
Komposita im Frühneuhochdeutschen | 133
fig getilgt“ werde.121 Diese Behauptung stellt sich jedoch schnell als Irrtum her-
aus: An ausgewählten Texten des Bonner Fnhd.-Korpus wird sichtbar, dass die
s-Flexionslosigkeit bereits zu Beginn der fnhd. Zeit selten ist, im Untersu-
chungszeitraum stark zurückgeht und postnominal stärker verbreitet scheint als
pränominal (Nitta 1993: 94–95):122
Tab. 28: Anteil der Flexionslosigkeit bei erwartetem s-Flexiv im Bonner Fnhd.-Korpus, Zahlen
nach Nitta (1993: 94–95)(n=363).123
Die Zahlen lassen vermuten, dass das s-Flexiv auch in den hier relevanten, prä-
nominalen Mainzer Korpusdaten fast immer vorhanden ist. Da das Korpus erst
hundert Jahre nach dem ersten Bonner Messzeitpunkt einsetzt, könnte der An-
teil nicht-overter Flexive sogar noch weiter gesunken sein. Tatsächlich ergibt
eine systematische Analyse von Genitiven mit den Artikelwörtern keines, eines,
meines, deines, seines einen insgesamt sehr geringen Anteil unflektierter For-
men: Bei den 50 Substantiven der schwachen Flexion, also denen, deren Genitiv
Singular auf -(e)n gebildet wird, sind keine unflektierten Fälle (*eines Poet)
belegt. Von den 390 stark oder gemischt flektierenden Maskulina und Neutra
der Gruppen 2 sowie 5 bis 8 weisen dagegen 4,9% (19) kein Flexiv auf (vgl. Abb.
||
121 Wegera (1987) Daten aus dem Bonner Fnhd.-Korpus belaufen sich auf 217 Tilgungsfälle,
wovon 86 auf einen einzigen mittelbairischen Text entfallen – auf genau den, der auch die
Daten von Nitta (1987) massiv beeinflusst (s. Fn 122).
122 Für die hohen Nachstellungswerte im ersten Zeitraum ist allerdings ein einziger Text
verantwortlich (Durandusʼ Rationale, Mittelbairisch, 1350–1400), in dem 45 von 88 nachge-
stellte Genitive mit erwartetem s-Flexiv flexionslos sind.
123 Untersucht wurden acht kirchlich-theologische oder erbauliche Texte aus verschiedenen
Dialekträumen. Jede dialektale Varietät ist nur einmal vertreten, sodass sich keine diesbezügli-
chen Unterschiede untersuchen lassen. Einer der Texte stammt abweichend aus dem Zeitraum
1551–1600, die Zahlen wurden hier nicht miteinbezogen. Das führt dazu, dass für 1450–1500
vier, für 1651–1700 dagegen nur drei Texte berücksichtigt werden.
Eine Auswertung einsilbiger Simplizia von Szczepaniak (2014: 40) für vier Dialektgebiete
(Obersächsisch, Ostfränkisch, Hessisch, Ripuarisch) im Bonner Fnhd.-Korpus ergibt für alle
vier Zeiträume minimale flexionslose Anteile (1350–1400: 2%, danach 1%).
134 | Was ist ein Kompositum?
21).124 Diese Fälle konzentrieren sich mit zwei Ausnahmen auf die erste Hälfte
des Untersuchungszeitraums, wobei es sich bei den Ausnahmefällen um Sub-
stantive handelt, die auf -s auslauten. Hier unterbleibt das Flexiv wahrschein-
lich aus lautlichen Gründen, auch in den Daten von Wegera (1987: 128–129)
handelt es sich um einen wohl häufigen Tilgungskontext.125
100%
80%
60%
40%
20%
0%
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
overter (e)s-Genitiv 34 31 51 45 58 43 66 43
endungsloser Genitiv - 4 5 1 2
endungsloser Genitv
endungsloser Genitivmit
- s-
1 2 2 1 1
Auslaut
s-Auslaut
||
124 In beiden Gruppen unberücksichtigt blieb das Wort Gulden, das lange Zeit generell unflek-
tiert bleibt (Grimm & Grimm 1854–1961: Lemma „Gulden“), im ersten Untersuchungszeitraum
aber textsortenbedingt so frequent ist (29 Belege), dass es einen viel zu großen generellen
Anteil der Flexionslosigkeit suggeriert. (Es tritt in einer Kleiderordnung auf, bei der für jeden
Verstoß das erforderliche Bußgeld in der Formel bei pein eins reinischen gulden genannt wird.)
125 Leider fehlen Angaben dazu, wie häufig die einzelnen Auslaute überhaupt vorkommen
(d.h. auch mit Flexiv), eine sichere Aussage lässt sich also nicht treffen. Unter den flexionslo-
sen Fällen machen diejenigen auf Sibilant 51 von 217 aus.
126 Systematisch gesucht wurde nach allen Vorkommen der genannten Lexeme, gefolgt von
einem Leerzeichen. Im Fall von eines wurden Fälle ausgeschlossen, bei denen dem Wort weite-
re Buchstaben vorangehen. (Genaue reguläre Ausdrücke: „[ksmd][e|a][i|y]ne?[s|ß|z] “ und „[^a-
z][e|a][i|y]ne?[s|ß|z] “.) Nicht erfasst wurden die vernachlässigbar wenigen Fälle, bei denen die
Lexeme von Worttrennung am Zeilen- oder Seitenende betroffen sind (jm gehorsam ist/ sei||nes
Komposita im Frühneuhochdeutschen | 135
Mit 10 dieser 19 unflektierten Fälle entfällt der größte Anteil auf das Ostoberdt.,
das bereits von Wegera & Solms (2000: 1543) als Kerngebiet des s-Schwunds
ausgemacht wird. (Aufschlüsselung nach Dialekträumen im Anhang, Tab. 70.)
Auch im frühen Nhd. unterbleibt das s-Flexiv gelegentlich. Scott (2014: 228–
232) stellt für GerManC-Daten und ein Briefkorpus flexionslose Anteile von 4%
bis 10,5% aller Genitive fest. Dabei entfallen über zwei Drittel der flexionslosen
Fälle auf die hier nicht berücksichtigten Eigennamen (47 von 68), dies lässt die
verglichen mit dem Mainzer Korpus etwas höheren Werte plausibel erschei-
nen.127
Insgesamt kann also sowohl für das Mainzer Korpus als auch für das frühe
Nhd. davon ausgegangen werden, dass der Genitiv Singular bei starken/ge-
mischten Maskulina und Neutra overt markiert wird. Die Abwesenheit eines Fle-
xivs ist damit ein Indikator für Kompositionsstatus, wobei bis 1590 die Gefahr
besteht, dass vereinzelte nicht-overt markierte Genitive miteinbezogen werden.
||
willēs foret). Fälle, bei denen direkt Satzzeichen folgen, wurden bewusst ausgeschlossen, da
nur mit einer geringen Zahl relevanter Ergebnisse gerechnet werden kann (dafür aber mit
vielen irrelevanten Belegen vom Typ so kan auch derer keines/ ob man das (e) schon wegwürfe/
hienein kommen). Alle Ergebnisse wurden manuell darauf überprüft, ob es sich tatsächlich um
Artikelwörter handelt und wenn ja, ob ein Genitivflexiv am Bezugsnomen vorhanden ist. Dabei
wurden alle Vorkommen von keines wegs und eins mals aufgrund der fortgeschrittenen Uni-
verbierung ausgeschlossen.
127 Scott (2014) liefert leider keine Angaben dazu, wie viele Genitive insgesamt Eigennamen
sind, sodass sich der Anteil flexionsloser Appellative nicht berechnen lässt.
128 Zu einer Gruppe eigentlich starker Maskulina und Neutra, die vereinzelt n-Plurale auf-
weist (die Aposteln), s. Kap. 10.7.7.1.
136 | Was ist ein Kompositum?
einem Leerzeichen), alle 183 relevanten Belege wurden analysiert.129 Sie zeigen,
dass Endungslosigkeit eine ernstzunehmende Rolle spielt (Abb. 22): Bis 1650
dominiert sie, erst dann überwiegen Schwa-haltige Formen leicht.
100%
80%
60%
40%
20%
0%
1500-1530 1560-1590 1620-1650 1680-1710
-e 13 6 7 18
Apokope 62 27 33 17
Abb. 22: Pluralmarkierung starker Maskulina/Neutra der Klasse 7 (e-Plural) nach ausgewählten
Artikelwörtern (n=183).130
Der Befund stimmt mit bisherigen Feststellungen zum Fnhd. überein (Wegera &
Solms 2000: 1544): Für das Mitteldt. erfolgt im 13./14. Jh. zunächst eine Ausbrei-
tung des e-Plurals auf numerusuntüchtige Maskulina und Neutra, sodass die
Kategorie Numerus profiliert wird, während sich im Oberdt. die Apokope durch-
setzt, die den Pluralausdruck zunächst verhindert. Viele der betroffenen Le-
xeme wechseln die Klasse, z.B. zum er-Plural (Stücker) oder Umlautplural (Täg).
Die Apokope hat im 14. Jh. den ostoberdt. Raum bereits vollständig erfasst, bis
||
129 Die Artikelwörter unterliegen selbst auch der Apokope, Konstruktionen wie sein Wort sind
dürften daher wesentlich frequenter sein.
130 Es wurden jeweils zwei aufeinanderfolgende Zeitschnitte zusammengefasst, da insgesamt
nur wenige Daten vorlagen. Der regulären Ausdrücke waren „[ksmd][e|a][i|y]ne “ und „[^a-
z]alle? “. Bei vielen Substantiven der Klasse 8 besteht im Fnhd. daneben noch die Möglichkeit
zum Schwa-Plural, in einigen Fällen hat sich das bis heute gehalten (Worte/Wörter, Lan-
de/Länder). In diesen Fällen wurden die Belege Klasse 7 zugeschlagen, wenn sie, wie in (55),
Schwa- oder Nullplural aufwiesen (deine aptgott, seine jrrthumm, deine Kindes Kind), wenn sie
er-Plural aufwiesen, blieben sie dagegen unberücksichtigt. Historisch gehen die meisten Mit-
glieder der Klasse 8 auf ahd./mhd. Nullplurale zurück. Es ist daher denkbar, dass es sich bei
den hier ausgewerteten endungslosen Fällen auch teilweise um alte Nullplurale handelt, nicht
um Apokopefälle. Für die Frage danach, ob Formen des Genitiv Plural identisch mit denen des
Nominativ Singular sein können, ist eine Unterscheidung allerdings nicht relevant.
Komposita im Frühneuhochdeutschen | 137
zum 16. Jh. hat sie sich auch im Westmitteldt. durchgesetzt. Zu diesem Zeit-
punkt setzt das Mainzer Korpus ein, in dem über 80% der (heutigen) Schwa-
Plurale endungslos auftreten. Ausgehend vom Ostmitteldt. werden jedoch in
der 2. Hälfte des 16. Jh. auch im Westmitteldt. und in Teilen des Oberdt. Schwa-
Plurale restituiert bzw. eingeführt, im letzten Zeitschnitt des Mainzer Korpus
zeigt sich entsprechend ein Rückgang auf 50% Pluralapokope bei den starken
Maskulina und Neutra.131 Zu den apokopierten Pluralen kommen Formen, die
eine finale Reduktionssilbe oder ein unbetontes Suffix besitzen und daher
schon früh apokopiert werden (Richter, Engel, Schäflein).
Um zu zeigen, dass apokopierte Formen tatsächlich Reanalyse- oder Kom-
positionsinput bilden können, wurden alle durch Zusammenschreibung ein-
deutigen Komposita erhoben, deren Erstglied Klasse 4 oder 6 angehören (Um-
laut kombiniert mit Schwa). Bei ihnen ist, im Gegensatz zu den umlautlosen
Fällen, aufgrund des verbliebenen Umlauts offensichtlich, dass apokopiert wur-
de. Das Muster ist erwartbar selten (im Korpus sind maximal 14 Fälle belegt), es
finden sich jedoch 11 apokopierte Formen:132
||
131 Dabei kommt es zu einem Wechselspiel mit den Umlautpluralen: Die Maskulina der ahd.
starken a-Deklination wurden durch die Apokope numerusuntüchtig und wechselten in Folge
häufig zum Umlautplural (die Bäum, Vögel, Ärm). Bei der Restitution des Suffixes legten viele
von ihnen den Umlaut zum Nhd. hin wieder ab (die Arme), allerdings nur in Dialektgebieten
bzw. Varietäten, in denen die Restitution auch stattfand. In Apokope-Dialekten wie dem Alem.
halten sich die Umlautplurale bis heute (d’Ärm). (Wegera 1987: 244–245)
132 Das Erstglied der im Korpus belegten Komposita sprüchleut, Sprüchwort, Sprüchwörteren
ist auf den ersten Blick ebenfalls ein apokopierter Plural, allerdings handelt es sich bei der
Form mit ü um eine erst fnhd. Analogie zu Spruch (Pfeifer 1993). Die mhd. Form lautete sprich-
wort. Der Bezug zu sprechen ist zwar klar, die genauen Verhältnisse sind jedoch ungeklärt.
Pfeifer (1993) zieht das mhd. nur selten auftretende spriche ‚Wort, Rede‘ in Betracht.
Bei Fueßstapffen wird davon ausgegangen, dass die Graphie <ue> einen nicht monophthon-
gierten Diphthong in der Singularform darstellt. Das Wort tritt in dieser Schreibung auch in
eindeutigem Singular in oberdt. Texten auf (mit seinem fueß).
133 Möglicherweise handelt es sich hier auch um eine Singularform, so vermerken Grimm &
Grimm (1854–1961): „vereinzelt erscheint anorganische (oder nur graphische) umlautbezeich-
nung auch im singular: auff ein stül bei Steinhausen privatbr. 1, 157 (1476).“
138 | Was ist ein Kompositum?
Die Daten zur Verbreitung der Apokope des Schwa-Plurals in Abb. 22 und die
Daten zu umgelauteten apokopierten Erstgliedern in (56) zeigen also, dass die
Apokope im Untersuchungszeitraum als Normalfall gelten kann und dass apo-
kopierte Formen entsprechend auch als Kompositionserstglieder möglich sind.
Für starke Maskulina und Neutra der Klasse 7 ist also eine Interpretation als
Genitiv Plural prinzipiell möglich.
d.h. es steht nicht Gansfeder vs. Gänsefedern (vgl. aber Kap. 5.2.2.2). Es erscheint
daher fraglich, wie sinnvoll es ist, mit Krebs Schalen als unklar einzuordnen
(Schalen kann Sg. und Pl. sein), mit Krebs Schale dagegen als Kompositum –
ganz zu schweigen davon, dass eine generische Lesart auch Pluralformen er-
lauben kann (Die Krebse sind Wassertiere, die …). Bei den (wenigen) betroffenen
Belegen wurde in Ermangelung einer besseren Alternative dennoch so verfah-
ren. Vgl. auch zur Reanalyse von Genitiv-Plural-Formen Kap. 10.7.7.1.
||
134 Seit der fnhd. Zeit gibt es eine größere Gruppe von Klassenwechslern von der schwachen
zur gemischten bzw. weiter zur starken Flexion bei (vorrangig unbelebten) Maskulina (Kap.
5.1). Für die betroffenen Substantive müsste eigentlich textspezifisch bestimmt werden, wie sie
zum entsprechenden Zeitpunkt flektieren, dazu ist der jeweilige Textumfang allerdings zu
gering. Beim Übergang zur starken Flexion lassen sich vier Stadien beobachten, wobei nicht
jeder Klassenwechsler sie bis zum Ende durchläuft:
||
Relativ unproblematisch sind Fälle wie durch schadens ersetzung, hier liegt eindeutig eine
Übereinstimmung mit dem Genitiv vor, eine Entscheidung über den Status ist also, wie bei al-
len Konstruktionen mit paradigmischem -(e/n)s, nicht möglich. Findet sich dagegen eine Kon-
struktion wie mit schaden freude, so kann es sich, wenn schade(n) noch schwach flektiert, um
eine Genitivkonstruktion handeln, wenn es bereits stark flektiert, nur um ein Kompositum. Da
nicht zu bestimmen ist, in welchem Wechselstadium sich das entsprechende Substantiv befin-
det, werden hier alle möglichen Formen einbezogen, d.h. es wird davon ausgegangen, dass es
sich bei schaden um einen Genitiv Singular oder Plural handeln kann und damit eine Entschei-
dung über den Status nicht möglich ist.
142 | Was ist ein Kompositum?
schwache
Flexion?
mit rind fleisch
nein nein
auf berg spitze
Singularlesart
Femininum? ja
möglich?
nein ja
e- oder Nullplural?
nein
(Kl. 7)
ja
Plurallesart
nein
möglich?
in muter leib
Status unklar
Abb. 23: Analyse fnhd. adjazenter NN-Konstruktionen, deren erster Bestandteil unflek-
tiert/unverfugt ist: Ausgehend von der Frage nach der schwachen Flexion wird dargestellt,
welche Bedingungen zutreffen müssen, um die Konstruktion als Kompositium zu identifizieren
bzw. unter welchen Voraussetzungen eine Zuordnung nicht möglich ist.
Komposita im Frühneuhochdeutschen | 143
(57) […] der Römischen Kirche/ als der Maisterinne in Religions vnd Glau-
bens sachen […] (39; 1588)
||
135 Von den 14 eindeutig genitivischen Verwendungen des Lexems Religion im Mainzer Kor-
pus sind alle, wie es ihr Femininum erwarten lässt, unflektiert. Formen mit -s werden also den
Komposita zugeordnet.
144 | Was ist ein Kompositum?
(58) a. Der Vndereinnemer Truhe/ sol auch vier guter Schloß/ vnd darzu vier
vnderschiedliche schlüssel haben/ darvon jeder [deß Fürstenthumbs]
Obereinnemer einen Schlüssel haben sol. (38; 1595)
b. […] sintemahlen alles [der Menschen] Absehen/ mit diesem Ring ver-
siegelt wird / außgenommen das Sterben/ […] (56; 1680)
c. Dise [deß Teufels] Macht/ ist auch vmb so vil desto kräfftiger vnnd
mächtiger (49; 1617)
(59) a. jeder Fürstentumbs Obereinnehmer
b. alles Menschen Absehen
c. diese Teufels Macht
Hier nimmt der Determinierer bzw. Modifikator zwar eindeutig Bezug auf Ober-
einnehmer, Absehen und Macht, seine Position vor den beiden Substantiven
allein vermag jedoch – im Gegensatz zu oberflächlich identischen Strukturen im
Gegenwartsdt. – den Status von Fürstenthumbs, Menschen und Teufels nicht an-
zuzeigen. Es ist denkbar, dass hier nur aus pragmatischen Gründen kein Deter-
minierer verwendet wird, ohne dass eine Interpretation als Kompositum erfolgt.
So bemerkt Nitta (1987: 404):
Wenn im Frnhd. der sogenannte Null-Artikel noch im großen Umfang üblich sein sollte,
dann wäre es wohl berechtigt anzunehmen, daß es unter den Belegen, die man aus dem
Sprachgefühl des Nhd. als Zusammensetzung klassifizieren könnte, manche Belege geben
wird, die im Frnhd. wohl noch als Wortgruppe empfunden worden sind.
Damit stellt sich die Frage, wie derartig uneindeutige Strukturen aus (59) zu
behandeln sind: Sind sie eher den Genitivkonstruktionen zuzuschlagen, und
erst die Zusammenschreibung zeigt an, dass sie Kompositionsstatus erreicht
haben? (So z.B. Pavlov 1983.) Oder handelt es sich bereits bei den getrennt ge-
schriebenen Konstruktionen um Komposita? (So bei Reagan 1981, Solling 2012,
Kopf 2018a.)
Für die vorliegende Studie muss zunächst festgestellt werden, ob derartige
Strukturen im Korpus auftreten und wenn ja, bis zu welchem Zeitpunkt. Erst
dann lässt sich entscheiden, ob Determinierer oder Modifikatoren in Konstrukti-
onen wie das Königs Reich zur Entscheidung über den Status herangezogen wer-
den können. Tatsächlich sind im Mainzer Korpus bis 1710 16 Fälle belegt, in de-
nen beide Substantive in pränominalen Konstruktionen näher bestimmt wer-
den. Das Phänomen ist also nicht frequent, es muss aber davon ausgegangen
werden, dass auch Strukturen wie (60b) im Fnhd. und frühen Nhd. möglich wa-
ren.
Komposita im Frühneuhochdeutschen | 145
Genitiv Bezugsnomen/Kompositum
d. jeder Fürstenthumbs=Obereinnemer
Ist ein initialer Determinierer oder Modifikator vorhanden, der sich ausschließ-
lich auf das Zweitglied bezieht, ist die Konstruktion getrennt geschrieben und
weist das Erstglied keine Form auf, die mit seinem Paradigma unvereinbar ist,
so kann keine Entscheidung darüber getroffen werden, ob es sich um eine Geni-
tivkonstruktion oder ein verfugtes Kompositum handelt. Auf der anderen Seite
ist aber klar, dass derartige Konstruktionen heute auch bei Getrenntschreibung
als Komposita gelesen werden, z.B. eine Senioren Residenz, das kinder geld. In
Abb. 25 wird ersichtlich, dass der rahmende Typus (das Königs Schloss) im Un-
tersuchungszeitraum auf niedrigem Niveau schwankt und schließlich deutlich
zurückgeht, 1710 finden sich nur noch sechs derartige Belege. Es erscheint da-
her am zielführendsten, davon auszugehen, dass solche Konstruktionen zu
Beginn der nhd. Zeit durch das Zusammenwirken von sich ausbreitender Zu-
sammenschreibung für Fälle, die als Komposita empfunden wurden (s. Kap. 9),
einerseits, und Nachstellung des Genitivattributs andererseits (s. Kap. 6.3) na-
hezu verschwanden. Die Genitivattribute, die vorangestellt blieben (Eigenna-
men inklusive Verwandtschaftsnamen) sind inhärent definit (s. Kap. 8.2.2) und
daher i.d.R. nicht modifiziert oder determiniert. Der Typus hört also auf zu exis-
tieren.
Pavlov (1983: 56) zieht außerdem die Tatsache, dass in Rahmenkon-
struktionen auch Erstglieder auftreten können, die auf einen konkreten Ver-
treter Bezug nehmen (z.B. deser Salomons tempel, die Bapsts boßheit) heran um
zu zeigen, dass Konstruktionen von Typ III (das Königs Schloss) im Fnhd. nicht
zwingend als Komposita aufzufassen sind. Das ist für einige seiner Beispiele
problematisch, weil sie Eigennamen oder Unika enthalten, die prinzipiell reana-
146 | Was ist ein Kompositum?
lysefähig sind (Salomonstempel). Bei die Bapsts boßheit lässt sich das Argument
aber halten: Es geht hier um den Charakter oder das Verhalten eines spezifi-
schen Papstes, nicht des Amts (wie es z.B. bei die Papstaudienz der Fall wäre),
eine derartige Lesart spricht für den Genitiv (Details zur Semantik s. Kap. 8.2).
160
140
120
100
80
60
40
20
0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
das Königs Schloss 63 54 18 39 45 48 22 6
des Königs Schlosses 13 16 25 16 12 11 9 6
Königs Schloss 79 147 41 74 39 45 32 15
Abb. 25: Anzahl und Verteilung unklarer Konstruktionen im Mainzer Korpus; die drei Typen
sind jeweils mit einer Beispielkonstruktion bezeichnet (n=875). (Der Einordnung als unklare
Konstruktion liegt Kap. 7.2.7 zugrunde.)
Anaphorischer Erstgliedbezug
In Kap. 7.1.2 wurde argumentiert, dass im Nhd. Relativsätze (d.h. Attribute) und
anaphorische Pronomina wie in (48) unter sehr eng gesteckten Bedingungen –
wenn nämlich grammatisch und semantisch kein anderes Antezedens möglich
ist – Erstgliedbezug herstellen können und dass dieselben Bedingungen auch
gelten, wenn ein Bezug zu einem pränominalen Genitivattribut hergestellt wer-
den soll (50).
(61) a. Nun wißt der wirt, das sy zu nacht [ain groß kertzeni liecht] liessen
brynnen, diei sy in sunderhait hetten machen lassen
b. an eynde der stat bij der portzen lijcht [eyn schoyn jonfferi kloister], diei
edel sijnt
c. der Graff von Widenmund, der wolt auch erb sein, wan̅ er [des Hertzogn̅
schwesteri sun] was, syi was aber des hertzogen tochter von Lottringen
||
136 Die Bezugnahme kann verschiedene Strukturen aufweisen, neben Relativsätzen und Pro-
nomen in Folgesätzen sind z.B. auch Präpositionalphrasen und attributive Partizipialgruppen
(der pawern tantz, versammelt aus mancherley dorffern, Pavlov 1983: 60) möglich.
148 | Was ist ein Kompositum?
Relationale Erstglieder
Relationale Erstglieder, die phrasal modifiziert werden, treten bereits im Fnhd.
auf, wobei Behaghel (1932: 1) das Phänomen als selten bezeichnet. Es handelt
sich, ähnlich wie bei den Zusammenrückungen, um ein Verfahren, das im Nhd.
insbesondere in wissenschaftlichen Texten genutzt wird (Behaghel 1932: 1). Die
Komprimierungsvorteile sind vergleichbar und die Konstruktion macht Sub-
stantive zum Kern der NP, deren Wiederaufnahme damit erleichtert oder erst er-
möglicht wird. Bei den Belegen in (62) handelt es sich um einschlägige Fälle,
während in (63) ein eindeutiger pränominaler Genitiv modifiziert wird, in (64)
eine Brückenkonstruktion.
Das Auftreten in fnhd. Brückenkonstruktionen kann also nicht als Indikator für
einen Genitivstatus dienen.
Pavlov (1983: 57–58) führt noch eine zweite Gruppe an, bei der sich das Adjektiv
auf das Erstglied bezieht, die sich aber in eine andere Richtung entwickelt hat:
Im Mainzer Korpus finden sich mit vergleichbarer Struktur z.B. pitter mandel
kern öl, weyß lilgewurcz (16; 1533), weis Brotschnitten (28; 1566), und am Newen
Jahrstag (33; 1590).138 Hier liegen aber, anders als bei den Fällen aus (68), bereits
eindeutige NN-Komposita vor,139 lediglich der Status des Adjektivs ist unklar: Es
kann sich um eine Zusammenrückung handeln (bitter(es) Mandelkernöl, wie
evangelische Religions-Freyheit), diese Konstruktionen sind allerdings auch
direkte Vorläufer dreigliedriger Komposita der Struktur [[AN]N] (Pavlov 1983:
57):
||
137 Bei kyntz handelt es sich nach Pavlov (1983: 57) um einen Plural.
138 Etwas anders verhält es sich mit ein gut armer Leut speis (28; 1566), hier kongruiert das
zweite Adjektiv mit dem Genitivattribut, die Konstruktion ist also eine des Typs der des Fürsten-
tumbs Obereinnehmner (s. Kap. 7.2.3.1). Statt eines dreigliedrigen Kompositums wird hier heute
ein Phrasenkompositum genutzt (Armeleuteessen).
139 Je nach Beispiel erkennbar an flexionslosem Erstglied und/oder der Zusammenschrei-
bung, ich greife hier kurz vor.
150 | Was ist ein Kompositum?
b. Neujahrstag
c. das erst auf Heiligkreuz-Abend – 2. Mai – den Bündnern zukommt
(1884)n
Dieser Typ, den Bergmann (1980: 254) aus synchroner Perspektive mit den Zu-
sammenrückungen vergleicht, ist ihnen also nicht nur strukturell ähnlich, beide
Konstruktionen haben höchstwahrscheinlich einen gemeinsamen Ursprung.
Die formale Fügungsenge hat sich dabei in unterschiedlichem Maß erhöht (Abb.
26).140 Liegt also eine semantisch enge Fügung aus Adjektiv und Substantiv vor
(i.d.R. ein Nennsyntagma), so kann die ganze Phrase Teil eines Kompositums
mit substantivischem Kopf werden. Derartige Zusammenrückungen können
sich zu dreigliedrigen Komposita weiterentwickeln, wenn die Bestandteile ein
gemeinsames Konzept benennen. Dabei entfällt das adjektivische Flexiv (das
auch schon vorher unterbleiben kann: weiß lilien wurzel) und es setzt sich lang-
fristig vollständige Zusammenschreibung durch. Ist die semantische Verbin-
dung zwischen Adjektiv und Genitivattribut nur lose, wie bei anderer Leute
Probleme, so gibt es auch keinen Grund, die formale Enge zu erhöhen, es bleibt
zunächst beim Syntagma bis der Stellungswandel einsetzt. Sowohl die Zusam-
menrückung als auch die dreigliedrigen Komposita stehen heute als direkt zu-
gängliche Wortbildungsmuster zur Verfügung, vgl. entsprechende Neubildun-
gen (embryonaler Zellkern, Kaltschaummatratze).
Abb. 26: Erhöhung der formalen Fügungsenge bei adjektivisch modifizierten Genitivattributen,
Zusammenrückungen und ANN-Komposita.
Für den Umgang mit den fnhd. Daten erzeugt dies einen gewissen Unsicher-
heitsfaktor: Bei adjektivischem Erstgliedbezug würde normalerweise davon aus-
gegangen, dass das Erstglied spezifisch ist und sich damit nicht für eine Reana-
||
140 Die Beispiele sind nach dem Vorbild der tatsächlichen Belege konstruiert.
Komposita im Frühneuhochdeutschen | 151
lyse oder funktionale Ersetzung durch ein Kompositum eignet (z.B. wegen fres-
sender Hunde Gefährlichkeit ↛ wegen fressender Hundegefährlichkeit). Ist das
Zweitglied jedoch hinreichend allgemein und das Adjektiv von relationalem
Charakter, so sind Übergänge denkbar. Dabei lässt sich für das Fnhd. nicht ent-
scheiden, wo die Grenze war. Es ist gut möglich, dass auch Strukturen, die heu-
te nicht in Zusammenrückungen ausgedrückt werden, als kompositumsäquiva-
lent wahrgenommen wurden. Da keine andere Möglichkeit zur Verfügung steht,
wurden schließlich die Konstruktionen, die a) im Mainzer Korpus auch als Zu-
sammenrückungen belegt sind oder b) heute als solche vorstellbar sind, als Brü-
ckenkonstruktionen klassifiziert.
7.2.4 Schreibung
||
141 Darin gleicht das Fnhd. engl. Komposita, allerdings nur solchen mit nicht-nominalem
Erstglied (inklusive Gerundien). Sie können durch Zusammen- oder Bindestrichschreibung ein-
deutig markiert sein (z.B. blackboard ‚Tafel‘), Getrenntschreibung kann jedoch die Unterschei-
dung zwischen Phrase und Kompositum erschweren (black box ‚Flugschreiber‘ vs. ‚schwarze
Schachtel‘). Hier wirkt die Position des Hauptakzents disambiguierend: Finalbetonte Konstruk-
tionen haben phrasalen Status, initialbetonte sind hingegen als Komposita zu betrachten. Zu
engl. Komposita mit nominalem Erstglied s. Kap. 8.3.
142 Anders Reagan (1981: 90) und Okrajek (1966: 41).
152 | Was ist ein Kompositum?
pränominaler Genitiv
Getrenntschreibung 542
Zusammenschreibung 14
davon wahrscheinlich Satzfehler 7
davon wahrscheinlich Analysefehler 4
Fehlertyp unklar 3
Satzfehler liegen nach Kopf (eingereicht,a) vor, wenn das zweite Substantiv
großgeschrieben ist, wie in (72). Hier wurde lediglich ein Leerzeichen vergessen
oder aus Platzgründen bewusst unterdrückt. Um Analysefehler handelt es sich
wahrscheinlich in (70c–g). Ganz eindeutig ist das in (70f–g), wo Bindestrich-
schreibung vorliegt. Plausibel ist es aber auch in den übrigen Fällen: In den
jeweiligen Texten ist die Substantivgroßschreibung so weit durchgesetzt, dass
bei einem Satzfehler mit Großschreibung des zweiten Substantivs gerechnet
werden müsste. Nicht entscheidbar sind Fälle wie (70a–b), da die Substantiv-
großschreibung nicht so weit durchgesetzt ist, dass Großschreibung des zweiten
Substantivs zu erwarten wäre.
Komposita im Frühneuhochdeutschen | 153
(70) a. Des gleichen sollen sie auch keynerley von rauchwerck/ den allein ein
harschlecht gebreme doch nicht vber eyns fingersbreyth/ Auch keine
brustletz noch keyn geteylte farbe ader gewand vorbremen auß wendig.
(4; 1506)
b. Wie viel mehr wird vnd muß er sorgen für das Häuptgut vnnd der See-
lenspeiß/ darinnen er ja seinen Gläubigen allerwenigst mangeln zu
lassen gemeinet ist. (35; 1592)
c. Aber zur geistlichen volligen reynigung der Sünden/ da ist aller Vögel/
aller Ochsen vnd Böckeblut/ auch all andere spreng vnd Weyhwasser
zugering/ Sondern Menschenblut must es sein/ wann die reynigung der
Sünden solte gemachet werden. (45; 1623)
d. Hingegen seynd schädlich alle Sümpff=See=Morast= und stillstehende
Wasser/ welche durch der Sonnenhitze den Jnwohnern der anliegen-
den Gebäu auff vielerley Weise schädlich sind (62; 1678)
e. […] noch auch Prandthwein verkaufft/ oder sonsten Nächtlicher weil das
Zechen vnnd Leuthgeben lang gestattet/ sondern deß Sommerszeit
umb Neun Vhr/ Winterszeit aber vmb Acht Vhr/ alle Keller gespört wer-
den: (56; 1654)
f. und gezeugt einen Sohn/ welcher genennt ward Martinus de la Tour, mit
dem Zunahmen Gigas, der Ries/ wegen seines Gemüths= und
Leibs=Grösse/ welche er in dem gegen die Saracener geführten Krieg
gezeigt hat (77; 1714)
g. wie sonderlich zu der Rede=Schluß beschihet (52; 1653)
||
143 Alle Stellen wurden noch einmal an den Drucken verifiziert. Es scheint fnhd. Texte zu ge-
ben, bei denen eine Zusammenschreibung von Genitivattribut und Bezugsnomen, insbes. mit
Bindestrich, häufiger vorkommt, so führt Kehrein (1854–1856: 129) exemplarisch deines Grim-
mes=Loh, der blöden Augen=Liecht, deß Feindes=Spiel aus Flemings Teütsche Poemata an und
verweist auf zahlreiche weitere Beispiele in dieser Quelle. In Sollings (2012) Korpus finden sich
49 Belege (41 zusammen geschrieben, 8 mit Bindestrich). Pavlov (1983: 111) findet entsprech-
ende Fälle „ziemlich oft“, Reagan (1981: 90) bezeichnet sie dagegen für die Lutherbibel als
„relatively uncommon“. Texte mit einer derartigen Schreibpraxis liegen aber, wie die geringe
Belegzahl in (70) zeigt, im Mainzer Korpus nicht vor.
154 | Was ist ein Kompositum?
(71) a. in der Ruckkehr nach Hauß von der Hand=GOttes berührt worden (65;
1680)
b. gehe zur heissen Sommers=Zeit/ da die Landstrassen aller Safftloß mit
Staub gantz verhült/ vnd folge einer Herd=Ochsen nach/ die man et-
wan in der Menge auß Ungarn treibt/ (65; 1680)
Betrachtet man die Fälle in (70) und (71) eingehender, so zeigt sich, dass die
meisten dieser zusammengeschriebenen Syntagmen auch konzeptuelle Einhei-
ten darstellen, d.h. mit Reagans (1981) Hohepriester vergleichbar sind – es ist
kein Zufall, dass ausgerechnet sie zusammengeschrieben werden. Hier fügt sich
auch würcklicher Geheimder= und Appellation-Rath (73; 1709) ein: Die enge
konzeptuelle Verbindung des Adjektivs mit Rath wird durch seine Koordination
mit dem Erstglied eines NN-Kompositums gestärkt, was so weit geht, dass ein
Bindestrich gesetzt wird.
Die Fälle in (72) unterscheiden sich aufgrund der Großschreibung des zwei-
ten substantivischen Elements von der obigen Gruppe und sie sind durch Pos-
sessiva und Demonstrativa meist nicht als Nennsyntagmen auffassbar, es be-
steht keine begriffliche Einheit. Hier ist sehr wahrscheinlich, dass die Wörter
lediglich aus Platzgründen eng aneinandergerückt wurden.
(72) a. Jtzo hat Jesus Christus ihre und ihres SöhnleinsSeele in seiner Hand in
jenem ewigen Leben. (53; 1651)
b. den nicht die Noth/ sein Beruff/ seiner EltternWill/ Ehr vnd Redligkeit
fort treibt (41; 1617)
c. Christo/ als eines ZimmermansSohn (43; 1621)
d. daß du nichts mehr wünschest und sehnest/ als deines frommen Va-
tersTodt? (63; 1685)
e. daß ihre gantze Lebens=Zeit sich nichts erignen[sic!] möge/ dadurch
dieses EhebandesNatur verletzet/ und also zu einiger Tren̅ ung Ursach
gegeben werden könte. (68; 1683)
f. des H. Röm. ReichsStadt= und Bann Richters (61; 1684)
g. Das ist nun nicht ein schlechtes Menschenblut/ sondern deß ewigen
vnd allerheyligsten SohnsGOttesblut (45; 1623)
Abb. 27: Eindeutige und uneindeutige Fälle von Komposition bei Getrenntschreibung.
Im Mainzer Korpus finden sich 218 getrennt geschriebene Belege, die als Kom-
posita identifizierbar sind, Getrenntschreibung ist also bei Komposita generell
möglich. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass auch die Gruppe, bei
der keine Abweichung zwischen Flexionsparadigma und Erstgliedform besteht,
Komposita beinhaltet, sie lassen sich nur nicht als solche identifizieren. Ent-
sprechend soll bei der Klassifizierung der Mainzer Daten Zusammenschreibung
als Evidenz für Kompositumsstatus herangezogen werden, bei Getrenntschrei-
bung kann jedoch ohne weitere Indikatoren keine sichere Aussage getroffen
werden.
||
144 Die possessive s-Markierung in pränominaler Position bildet sich wohl erst spät heraus: In
GerManC findet Scott (2014: 236–241) 3 (1650–1700), 9 (1701–1750) und 19 Belege (1751–1800),
darunter nur ein einziger Fall mit einem Femininum (Frau Christinen Nunckes todt, 1662). Auch
Brandstetter (1904: 35) unparadigmisch erscheinende s-Belege in Partitivkonstruktionen wie
etwz bütts ‚etwas Beute (F.SG)‘ (um 1600) und öppis wahres ‚etwas von den Waren (F.PL)‘ (1771)
fallen in diese Zeit.
156 | Was ist ein Kompositum?
7.2.5.1 Etymologie
Das Heranziehen ahd. und mhd. Belege erscheint zunächst reizvoll, um ge-
trennt geschriebene Konstruktionen eindeutig als Kompositum zu identifizie-
ren: Wenn ein älteres <gotzhus> belegt ist, so handelt es sich bei fnhd. <in Got-
tes Haus> wahrscheinlich um genau dieses Kompositum, obwohl es getrennt
geschrieben ist und -es sowohl Genitivflexiv als auch Fugenelement sein könn-
te.
Eine solche Annahme bringt allerdings zwei Probleme mit sich: Zum einen
können zwei miteinander auftretende Substantive, die in früheren Sprachstufen
als Kompositum belegt sind, natürlich weiterhin auch in einem Genitivverhält-
nis zueinander stehen. Ein mhd. gotzhus macht ein (unseres) Gottes Haus im
Fnhd. nicht unmöglich. Alle getrennt geschriebenen Vorkommen von <Gottes
Haus> direkt den Komposita zuzuschlagen, erscheint entsprechend nicht ziel-
führend. Mhd. Zusammenschreibungen sind höchstens in den eben erwähnten
(wenigen) Fällen ernstzunehmen, in denen ein erwartbares overtes Genitiv-
oder Pluralflexiv nicht auftritt: Hier zeigt bereits die Tatsache, dass das erste
Element ein bloßer Stamm ist, den Kompositionsstatus an. Die mhd. Zusam-
menschreibung verweist dann auf das Alter des Kompositums. In (73) bis (75)
wird jeweils exemplarisch ein getrennt geschriebener Beleg aus dem Mainzer
Korpus und ein zusammengeschriebener Beleg des gleichen Kompositums aus
mhd. Zeit (oder kurz später) gegenübergestellt, Ausschnitte aus den Handschrif-
ten folgen danach:
(73) b.'
(74) b.'
(75) b.'
Die Komposita wurden hier absichtlich so gewählt, dass (aufgrund der Nicht-
Verfugung) auch an ihrem fnhd. Kompositumsstatus kein Zweifel bestehen
kann. Es ist damit zu rechnen, dass ähnliche Belege für mhd. verfugte Komposi-
ta vorhanden sind, aus diesen lässt sich aber eben nicht ableiten, dass es sich
auch bei den fnhd. Konstruktionen um Komposita handelt.
Hinzu kommt, dass die Quellenlage für das Ahd. und Mhd. denkbar
schlecht ist. Zwar existieren zahlreiche mhd. Wörterbücher, deren Lemmata
speisen sich aber häufig aus Texten, die erst in fnhd. Zeit geschrieben wurden
und Quellengrundlage sind in vielen Fällen unzuverlässige (da z.B. normalisier-
te) Editionen. Wird eine Form im Wörterbuch als Kompositum ausgewiesen, so
kann man sich nicht darauf verlassen, dass sie tatsächlich so und tatsächlich
vor 1350 vorkam. Im Gegenteil entstand bei der stichprobenartigen Überprüfung
von Zusammenschreibungen des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs (Gärtner et
al. 2006–heute) der Eindruck, dass in den zugrunde liegenden Handschriften in
den seltensten Fällen tatsächlich Zusammenschreibung vorliegt. Insgesamt
bleibt festzuhalten, dass mhd. (oder ältere) Schreibungen oder Wörterbuchein-
träge für den fnhd. Kompositumsstatus nicht aufschlussreich sind, sodass sie
im Folgenden nicht als Kriterium für Kompositumsstatus herangezogen werden.
Es ist aber auch möglich, anzunehmen, daß eine zunächst in zwei Teilen aufgefaßte Vor-
stellung, die man in Form einer Wortgruppe wiedergab, später noch einmal als eine be-
kannte ganze Vorstellung angesehen hat und in Form von einer Zusammensetzung wie-
dergibt. (Nitta 1987: 411)
Das Problem ähnelt also dem etymologischen: Ist ein Kompositum belegt, heißt
das nicht, dass die beiden Substantive nur als Kompositum miteinander auftre-
ten können. Hinzu kommt, dass die Textausschnitte im Mainzer Korpus so kurz
sind, dass sich Variation innerhalb eines Einzeltexts höchstens zufällig oder bei
hochfrequenten Konstruktionen beobachten lässt. Auf eine systematische Ana-
lyse auf Einzeltextebene wird daher verzichtet, die Perspektive soll nur in aus-
gewählten Einzelfällen eingenommen werden.
„[D]as sprachliche Massiv der reinen substantivischen Komposita [ist] von einer Über-
gangszone grammatischer Gebilde nicht eindeutiger Natur umgeben.“ (Pavlov 1983: 26)
7.2.6.1 Adjektive
Einige unflektierte Adjektive können zu fnhd. Zeit isoliert, gelegentlich aber
auch im Kontext nicht von Substantiven unterschieden werden, z.B. kain cristen
mensch (Nitta 1987: 411, 405-406). Die größte Gruppe unklarer Konstruktionen
machen Stoff- und Materialbezeichnungen aus (leinen ‚leinern, Leinen‘, eisen
‚eisern, Eisen‘),145 die wegen Haplologievermeidung besonders häufig unflek-
||
145 Das Suffix -rn (eisern), in Analogie zu r-haltigen Basen entstanden (silbern), bildet sich
erst im Verlauf des Fnhd. als eindeutig derivationsmorphologisches Suffix heraus, die älteren
Formen auf -en/-in bleiben jedoch während der ganzen fnhd. Zeit daneben bestehen (Wegera &
Prell 2000: 1598, Moser 1909: 218). Während nhd. SprecherInnen in Komposita wie Eisenstab
Komposita im Frühneuhochdeutschen | 159
tiert auftreten (vgl. Sattler 1992: 234, Reichmann & Wegera 1993: 191).146 Eine
lautliche Abgrenzung der beiden Wortarten, z.B. über den Umlaut bei Adjekti-
ven (Dornen/dörnen), ist aufgrund der hohen Variation, der teilweise erst späten
Verschriftung und parallelen Entwicklungen in vielen Substantivparadigmen
kaum möglich (Pavlov 1983: 68–69). Fälle wie (76), bei denen die Endung die
Form -in hat, können aufgrund der graphischen Variation im Fnhd. zwar nicht
zweifelsfrei den Adjektiven zugeordnet werden, es ist jedoch wahrscheinlicher,
dass es sich bei vollvokalischer Nebensilbe um ein adjektivisches Derivations-
suffix als um ein substantivisches Pluralflexiv handelt (Reichmann & Wegera
1993: 78). Sie wurden in der vorliegenden Untersuchung den Adjektiven zuge-
rechnet.
||
substantivische Erstglieder ausmachen, da das Adjektiv in dieser Form nicht mehr existiert, ist
der Status im Fnhd. häufig unklar.
146 Die flektierten Formen setzen sich im 16./17. Jh. gegenüber der unflektierten durch. Bei
Sattler (1992) steigt ihr Anteil von 59,9% (1570–1630) auf 86,3% (1670–1730), was eine klarere
Wortartendifferenzierung zur Folge hat. Es zeigen sich darüber dialektale und textsortenbe-
dingte Unterschiede (Sattler 1992: 267–268).
160 | Was ist ein Kompositum?
(77) Birken (1), Buchen (1), Christen (14), doernē (1), Eichen (4), Erden (3), erlen
(1), eschen (1), gersten (14), heiden (1), Heimbuchen (1), Corallen (2), Chris-
tallen (1), Leinen (1),148 Linden (1), Perlen (2), rosen (14), schelmen (2),
Schweinen (1), seyden (13), Dännen ‚Tannen‘ (1), Weyden (2), wüllen ‚wollen‘
(2), zinnen (1), cipressen (1)
Die meisten Belege entfallen auf 1500 (30) und 1530 (30), die verbleibenden 25
verteilen sich auf die übrigen Zeiträume. Es steht allerdings zu befürchten, dass
in (77) nicht die ganze Breite potenziell ambiger Fälle erfasst wird: Das Mainzer
Korpus weist 85 weitere Konstruktionen mit (e)n-Flexiv/Fuge auf, die Tier-,
Pflanzen oder Stoffbezeichnungen beinhalten, welche nicht in einem Wörter-
buch als Adjektiv verzeichnet sind (z.B. dinten, oliven, schlangen, schwanen).
Gerade wenn das Muster aber so verbreitet war, wie Pavlov (1983: 70) annimmt,
||
147 Eindeutig adjektivische Konstruktionen wurden nicht erfasst (z.B. das leinene Tuch).
148 Hier überschneiden sich das Adjektiv leinen (< (der) lein) und das Substantiv (das) Leinen.
Im Gegensatz zu den übrigen Fällen wird hier also für das NN-Kompositum eine Nullfuge ange-
nommen. Tatsächlich tritt der Fall im Korpus nur einmal auf, die übrigen Belege sind eindeuti-
ge Komposita (Lein-∅-tuch).
Komposita im Frühneuhochdeutschen | 161
Im 16. Jh. bildet -werk Affixoidstatus aus. Erst im 17. Jh. (Erben 1959: 227),
bildet sich -wesen heraus.149 Die entsprechenden Bildungen unterscheiden sich
im Verfugungsverhalten nicht von den NN-Komposita und wurden im Mainzer
Korpus als Substantive analysiert (Mauerwerk, Orgelwerk; Kriegswesen, Religi-
onswesen, Schulwesen). Anders verhält es sich mit dem Präfixoid Haupt-: Hier
geht mit dem bereits früh erfolgten Übergang zum Affixoid (z.B. Müller 1993:
122–123) auch eine Festlegung auf die Nullfuge einher, die das Gesamtbild für
die Tokens verzerrt, weshalb die entsprechenden Fälle nicht berücksichtigt
wurden (Hauptmann, Hauptstadt) (anders dagegen Solling 2012: 46–47).
7.2.6.3 Verben
Bei zahlreichen Erstgliedern ist die Entscheidung zwischen Verb und Substantiv
schwierig bis unmöglich. Im Mainzer Korpus finden sich z.B. Danklied, Ernte-
zeit, Jammertal, Klagspruch, Strafgedicht, Hagelgeschütz.150
Kienpointner (1985: 3–4) arbeitet für solche Fälle drei semantische Unter-
scheidungskriterien heraus: Ist das Kompositum mit Substantiv und Verb sinn-
voll paraphrasierbar, so liegen sogenannte „Doppelmotivationen“ vor, die sie in
ihrer Untersuchung gesondert ausweist (Abreisetag ‚Tag, an dem x abreist/an
dem die Abreise erfolgt‘). Eine Zuordnung zu den Verben kann dadurch eindeu-
tig erfolgen, dass kein semantischer Bezug auf das Substantiv möglich ist
(Schlachtmesser kann nicht auf Schlacht basieren). Hier sind zusätzlich Fälle zu
ergänzen, bei denen die verbale Semantik zwar nicht allein möglich, aber doch
wesentlich sinnvoller ist als die substantivische. So dürfte Ruhebett zu ruhen,
nicht zu Ruhe gehören, bei Weihwasser liegt ‚geweihtes Wasser‘ näher als ‚Was-
ser, das eine Weihe erfahren hat‘ und bei Raubvogel ist ‚Vogel, der raubt‘ plau-
sibler als ‚Vogel, der Raub begeht/von Raub lebt‘ – die substantivische Para-
phrase ist bei näherer Betrachtung lediglich ein Funktionsverbgefüge.151 Hinzu
kommen Belege, bei denen gar kein entsprechendes Substantiv existierte (Back-
||
149 Das gilt ebenso für -gut und -zeug, für die im Mainzer Korpus aber keine entsprechenden
Abstrakta (Typ Ideengut) bzw. Kollektiva (Typ Sattelzeug) vorkommen.
150 Solche Unsicherheiten können auch in mehrsilbigen Komposita entstehen, die wegen der
vermeintlich größeren formalen Nähe häufig eher als Substantiv wahrgenommen werden: Bei
Fällen wie Regenwetter ist ein Bezug auf Regen ebenso wie auf regn- denkbar (Fleischer & Barz
2012: cxci), als Verb würde es dem Muster von Rechenschieber, Trockenluft, Zeichenkurs folgen.
Bei ihnen ist der Verbstatus durch Abwesenheit eines substantivischen Pendants unstrittig. Im
Mainzer Korpus tritt eine derartige Unsicherheit tatsächlich nur bei Regen-Komposita auf (6x
Regenwasser, 3x Regenwetter, 1x Regenbogen, bei Regenwurm ist ein Bezug auf das Verb se-
mantisch nicht sinnvoll).
151 Anders Kienpointner (1985), die auch solche Fälle als Doppelmotivationen wertet.
Komposita im Frühneuhochdeutschen | 163
∅-ofen, *Back). Kienpointner (1985) geht auf diese nicht ein, wohl weil die Ver-
balität hier selbstverständlich ist. In einer diachronen Studie ist es jedoch wich-
tig, sicherzustellen, dass es sich nicht auch um einen möglicherweise ausge-
storbenen substantivischen Stamm handeln kann. Hierzu wurden für das Main-
zer Korpus entsprechende Wörterbücher herangezogen.
Auch ein formaler Aspekt kann zur Einordnung beitragen: Die verbale
Schwa-Fuge (s. Kap. 4.10) kann, wenn auch nur sehr eingeschränkt, als Indika-
tor für Verbstatus dienen, z.B. bei Bade-, das substantivisch die Kompositions-
stammformen Bäder- oder Bad- nutzen würde.152 Meist ist sie jedoch nicht sicher
vom substantivischen Schwa-Auslaut (Klag-e-lied oder Klage-∅-lied) oder, in
einzelnen Fällen, von der substantivischen Fuge zu unterscheiden (Spiel-e-
abend).
Für die Zuordnung zu den Substantiven überprüft Kienpointner (1985: 4)
die Kompositumssemantik daraufhin, ob sie eine verbale Lesart verbietet, so
z.B. bei Lehrmädchen ‚Mädchen, das sich in der Lehre befindet‘. Das ist nur
dann möglich, wenn die Nominalisierung, wie hier, eine semantische Verschie-
bung oder Einengung gegenüber dem Verb erfahren hat.
Als Substantive qualifizieren sich Erstglieder jedoch auch, wenn sie Teil ei-
nes Rektionskompositums sind, dessen Zweitglied ein Objekt fordert (Rat-∅-ge-
berin, Besitz-∅-nehmung). Liegt eine substantivische Fuge vor (Anfang-s-wort,
Lüge-n-schrift) oder ist das Erstglied ein nominalisierter Infinitiv (Reden-∅-art),
werden die Belege ungeachtet ihrer Semantik als NN-Komposita eingeordnet.153
Für dieses Vorgehen erweisen sich Komposita wie Schnittlauch, Sprüchwör-
ter, Fuhrwerk, Brantwein, Schubkarren (alle im Mainzer Korpus belegt) als prob-
lematisch: Sie weichen formal vom Verbstamm ab und haben eine substantivi-
sche Entsprechung (Schnitt, Spruch, Fuhre, Brand, Schub), weshalb eine Zuord-
||
152 Hier besteht Zirkularitätsgefahr, wenn man einfach alle schwa-verfugenden Erstglieder
als verbal definiert – das Kriterium ist jedoch insofern sinnvoll, als zunächst einmal die ein-
deutig verbalen und die eindeutig substantivischen Fälle identifiziert und auf ihr Verfugungs-
verhalten hin untersucht werden. Zeigt sich hier bei den Substantiven keine Schwa-Fuge, bei
den Verben hingegen schon, so scheint es gerechtfertigt, auch die uneindeutigen Fälle mit
Schwa-Fuge den Verben zuzuweisen.
153 Dabei stellt sich die Frage, inwiefern späteres Verfugungsverhalten die Einordnung frühe-
rer Belege beeinflussen sollte. So sind im Mainzer Korpus alle Komposita mit Kauf- unverfugt,
es finden sich jedoch spätere Belege mit s-Fuge (Kauf-s-mann, DTA, 1717), die darauf hindeu-
ten, dass die Wortart für die Sprecherinnen und Sprecher nicht so eindeutig ist oder aber dass
die s-Fuge auch auf Verben übergreift – vgl. hierzu auch Kap. 11.2.1.2. Da sich im Mainzer
Korpus jedoch noch keine Hinweise hierauf finden, wurden die Stämme bei Kaufleute (9x),
Kaufmann (2x) als verbal eingeordnet.
164 | Was ist ein Kompositum?
7.2.6.4 Sonstiges
Im Untersuchungszeitraum entwickelt sich die komplexe Präposition anstatt
aus der Präpositionalphrase an statt + Genitiv. Pfeifer (1993: Lemma „Statt“) da-
tiert sie auf das 15. Jh. und weist für das 16. Jh. schon Konstruktionen nach, die
nicht mehr lokal lesbar sind (ziecht frische Hembder an, das ist anstatt viel Ba-
dens). Die Weiterentwicklung zur Konjunktion setzt er für das 17. Jh. an. Die
Konstruktionen im Mainzer Korpus (79) schwanken zwischen prä- (79a) und
postnominal (79b,c, 30 Belege) und sind, mit Ausnahme von (79c), immer ge-
trennt geschrieben.
Die Klassifikation der vorliegenden Daten erfolgt also anhand der Stellung (prä-
vs. postnominal und Adjazenz), der Modifikation oder Determination des ersten
Elements sowie seiner semantischen und formalen Übereinstimmung mit einer
Genitivform und der Schreibung. Die zu berücksichtigenden Faktoren werden
hier noch einmal dargestellt.
Für die Konstruktionen mit unklarem Status, d.h. Typen I, II und III aus der
Einteilung nach Pavlov (1983) in Kap. 7.2.1, erscheint zudem eine genauere Ge-
wichtung angebracht. Zwar wurde gezeigt, dass Konstruktionen des Typs ein
des Königs Schloss auftreten können, was es unmöglich macht, ein Königs
Schloss eindeutig zu klassifizieren. Allerdings treten die eindeutig syntaktischen
Konstruktionen nur sehr selten auf, während rahmende Komposita des Typs ein
Königreich sehr häufig sind, also ebenfalls Einfluss ausüben (Abb. 29). Ich gehe
daher im Folgenden davon aus, dass Konstruktionen mit semantischem und
grammatischem Zweitgliedbezug den Komposita näherstehen als Konstruktio-
nen mit ambigem oder gar keinem Bezug (Königs Schloss, eines Königs Schloss).
Königs Schloss
Abb. 29: Einflüsse aus Syntax und Wortbildung auf fnhd. Brückenkonstruktionen.
166 | Was ist ein Kompositum?
ja
ja
Status
nein ja
unklar
ja nein
mit gnadenzeichen
100%
80%
60%
40%
20%
0%
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
Genitiv - post 569 467 477 484 551 401 643 618
Genitiv - prä 131 59 103 115 101 70 95 58
unklar 155 213 89 135 106 94 67 28
Kompositum 254 299 291 550 564 428 696 558
Abb. 31: Verteilung der Konstruktionstypen im Mainzer Korpus nach den Kriterien aus Abb. 30
(n=9.500).
die ganze Zeit verhältnismäßig gering und geht auch weiter zurück (für absolute
Zahlen und eine Einteilung in die drei Typen s. Abb. 25, Kap. 7.2.3.1).
100%
80%
60%
40%
Die relativen Daten werden an dieser Stelle nur genutzt, um zu zeigen, in wel-
chem Umfang das Instrumentarium verschiedene Konstruktionstypen vonei-
nander abzugrenzen vermag. Die absoluten Daten zeigen außerdem eine deutli-
che Zunahme von eindeutigen Komposita gegen Ende des 16. Jh. Interpretatio-
nen zum Verhältnis der einzelnen Gruppen sind hier noch nicht angebracht.
Hierzu muss erst geklärt werden, welche Konstruktionstypen als funktional
verwandt oder gar äquivalent betrachtet werden können, was in Kap. 8.5 ge-
schieht.
(80) a. wir haben in einem iare der lúte vil verlorn, an den man siht den gotes
zorn (604, 35)
b. von ir mvnde ein minneklicher frundes grvos (783, 35)
(81) a. din missetat ist manigvalt; da mit verdienst dv gotes zorn (10, 3)
b. sit ir lachen noch ir ǒgen weder offenlich noch tǒgen mir nie gaben
frúndes gruos (377, 30)
Weidman (1941a) definiert damit als Kompositum, was auch Solling (2012) für
das Fnhd. darunter fasst – hat aber durch den geringeren Verbreitungsgrad des
Artikels wesentlich mehr Brückenkonstruktionen. Die Dunkelziffer der fälschli-
cherweise erfassten Genitivkonstruktionen, d.h. der Konstruktionen, die im
Fnhd. durch Artikelverwendung disambiguiert werden (vgl. Kap. 8.6.2) ist für
das Mhd. viel zu groß um tatsächlich von einer Untersuchung von Komposita
sprechen zu können.
Umgekehrt fasst Behaghel (1932: 180) ahd. rahmende Belege wie then lioh-
tes kindon ‚den [Lichtes] Kindern‘ (Tatian, 108, 4) als Genitive. Hier wird also
klar, dass ein und derselbe Konstruktionstyp in unterschiedlichen Sprachstu-
fen, aber auch bei unterschiedlichen Autorinnen und Autoren völlig gegensätz-
lich eingeordnet werden kann. Behaghel (1932: 180) ist sich der zweifelhaften
Einschätzung prinzipiell auch bewusst, er bemerkt dazu:
Bei einzelnen dieser Beispiele kann man zweifelhaft sein, ob vielleicht bereits Kompositi-
on des Genitivs mit dem regierenden Substantiv vorliegt […]
Von einer systematischen Klassifizierung ahd. und mhd. Belege ist das aber
noch immer sehr weit entfernt, und auch in den seither vergangenen Jahrzehn-
ten gab es für die früheren Sprachstufen keine Ansätze in diese Richtung. Die
fnhd. Verhältnisse lassen sich nicht einfach auf das Ahd. und Mhd. übertragen,
aber die vorherigen Sprachstufen gänzlich anders zu behandeln, indem man
von Unmengen an Komposita (Weidman 1941a) oder Genitivkonstruktionen
(Behaghel 1932) ausgeht, führt zu einem rein methodisch bedingten Bruch, der
eine graduelle Entwicklung wie eine abrupte Veränderung aussehen lässt. Ent-
||
154 „[In (80b)] frunt or frundes does not refer to a particular person, but is general, indefinite,
and is used in an attributive rather than an anaphorical sense. If this is true of frunt or frundes
in [(81b)], and such seems to me to be clearly the case, then [(81b)] must also be a compound“
(Weidman 1941a: 350).
170 | Was ist ein Kompositum?
sprechend sind alle Vergleiche mit älteren Sprachstufen, die hier durchaus
erfolgen, mit Vorsicht zu behandeln.
8 Voraussetzungen und Gründe für die
Entstehung des neuen Kompositionstyps
Für den diachronen Übergang von Genitivkonstruktion zu Kompositum müssen
die Genitivkonstruktionen, die den Reanalyseinput bilden, eine Reihe von Vo-
raussetzungen erfüllen. Aufbauend auf der Kategorienbildung des vorherigen
Kapitels wird nun herausgearbeitet, wie und mit welchen Konstruktionen der
Reanalyseprozess abgelaufen sein muss. Neben den grammatischen Bedingun-
gen, die im vorherigen Kapitel erläutert wurden (s. noch einmal kurz 8.1), gilt es
nun auch semantische Bedingungen zu prüfen und auf die Belege des Mainzer
Korpus anzuwenden, sodass das Verhältnis zwischen Genitivkonstruktionen
und Komposita im Fnhd. sichtbar wird (Kap. 8.2). In einem kurzen Exkurs wird
das Problem thematisiert, dass fnhd. Genitivkonstruktionen und Komposita
möglicherweise phonologische Unterschiede aufweisen (Kap. 8.3). Schließlich
kommen die erarbeiteten Abgrenzungskriterien zur Anwendung, um erstmals
den Übergang von Genitivkonstruktionen zu Komposita im Untersuchungszeit-
raum sichtbar zu machen und zu beschreiben (Kap. 8.4–8.5). Diesem ersten,
korpusbasierten Teil folgt ein Kapitel, das drei prominente Erklärungsansätze
dazu evaluiert, warum der neue Kompositionstyp überhaupt entsteht und pro-
duktiv wird – durch die nun mögliche Rückbindung an Korpusdaten kann dabei
vieles plausibel gemacht oder zurückgewiesen werden (Kap. 8.6). Ein Fazit
bringt die Ergebnisse dieses und des letzten Kapitels zusammen (Kap. 8.7).
Für eine Reanalyse kommt eine Konstruktion nur dann infrage, wenn das Geni-
tivattribut pränominal steht und eventuelle Modifikatoren oder Determinierer
prinzipiell auch auf das Bezugsnomen bezogen werden können, d.h. wenn es
sich um Kategorie 2 bis 7 nach Nitta (1987) bzw. die Typen I bis III nach Pavlov
(1983) handelt (vgl. Kap. 7.2.1.1, 7.2.1.2).
https://doi.org/10.1515/9783110517682-008
172 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
b. ambige Bezugnahme:
[der mutter] leib > der [mutter leib]
wegen [des gottes] sons > wegen des [gottes sons]
das [fürsten] haus > das [fürsten haus]
Es handelt sich hierbei also um die Konstruktionen, die nach dem Vorgehen aus
Kap. 7.2.7 unklaren Status besitzen.
(83) a. Die große Bucht, in der der Seefahrer am 1. Januar 1502 ankerte, hielt er
für die Mündung eines Flusses.o
b. Zwischen dem Lager und dem Rest der Welt liegt eine Flussmündung,
die sich nicht anders überwinden lässt.p
||
155 Lexikalisierte Komposita sind an dieser Stelle insofern uninteressant, als sie bei ihrer
Bildung ebenfalls noch transparent waren, es im Folgenden aber darum gehen soll, welche
syntaktischen Konstruktionen zur Reanalyse geeignet waren.
Semantische Voraussetzungen | 173
Fluss es sich handelt, das spielt aber im Verwendungskontext keine Rolle. Ge-
nauso wird in (83a) kein Bezug auf einen individuellen Fluss genommen, der
Kontext zeigt sogar, dass die Existenz eines Flusses irrtümlicherweise ange-
nommen wurde. Denkbar sind in beiden Kontexten damit jeweils beide Varian-
ten.156 Bei das andere Buch der Autorin wird hingegen eine spezifische Lesart
nahegelegt, es geht um eine konkrete Autorin – im anderen Autorinnenbuch
wäre dies nicht mehr der Fall. Solche Fälle werden im folgenden Teilkapitel
behandelt.
Eine weitere semantische Voraussetzung zeigt sich bei Papierkorb ‚Korb für
Papier‘ und der Tüte Mehls ‚Mehlmenge, die in eine Tüte passt‘: Nicht jede se-
mantische Relation zwischen beiden Bestandteilen lässt sich sowohl in einem
Kompositum als auch in einer Genitivkonstruktion ausdrücken. Daher muss
bestimmt werden, welche semantischen Grundrelationen wir für die beiden
Typen jeweils annehmen können und wie sich dieses Verhältnis historisch ge-
staltete.
||
156 Alternative Ausdrucksverfahren wie von-Phrasen bleiben hier unberücksichtigt, da sie für
die Herausbildung verfugender Komposita keine Rolle spielen.
174 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
(84) a. Früchte einer Sache sind die Erzeugnisse der Sache, z. B. das Ei des
Huhnes, die Wolle des Schafes und die sonstige Ausbeute, die aus der
Sache ihrer Bestimmung gemäß gewonnen wird, z. B. die Kohlen des
Bergwerks.q
b. Die Hypothese wird dadurch gestützt, daß die Wolle der Schafe, die
überschüssige Milch bei Kühen, die große Menge der Eier des Geflü-
gels Folgen der Domestikation sind, also nicht Gründe für sie gewesen
sein können.r
Darüber hinaus können aber auch, wie zuvor in (83a), ein oder mehrere nicht
identifizierte Vertreter vorliegen. Sie müssen dann nur so weit typisch sein, dass
sie als solche erkannt werden können. Aus diesem Grund erscheint der Termi-
nus „nicht-spezifisch“ hier sinnvoller als das z.B. von Ortner et al. (1991: 28–38)
verwendete „generisch“.
Semantische Voraussetzungen | 175
(85) a. „Das war alles?“, dachte ich, während die Bewegungen des Huhns
schwächer wurden.s
b. Dort wurden unter anderem Vergleiche mit den Zauberhüten bei Harry
Potter gezogen und dutzende Bilder des Huts sowie Fotomontagen
gepostet.t
c. Microsoft hat noch eine Reihe weiterer Spiele gezeigt.u
(86) Geld sei dann die Währung der elterlichen Liebe.v
||
157 Adjektive wie typisch, normal oder, für das Frühneuhochdeutsche, gemein, sehen zwar auf
der Oberfläche aus wie spezifizierende Adjektive, stärken aber die nicht-spezifische Lesart. Als
Reanalyseinput kommen ihre Konstruktionen jedoch nur dann infrage, wenn eine potenzielle
Zusammenbildung nach Bergmann (1980) vorliegt.
176 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
text spezifiziert wird. Dies war bereits im Fnhd. so. Entsprechend sind nicht-spe-
zifische Genitivattribute typische Reanalysekandidaten für Kompositumserst-
glieder. Pavlov (1983: 52) geht davon aus, dass nicht-spezifische Referenz durch
eine Singularform (weibß kleider) Brückenkonstruktionen kompositumsähnli-
cher macht als eine (potenzielle) Pluralform (menschen werk), da beim Singular
„systematischer von den Einzelträgern der Eigenschaften der Gegenstandsklas-
se, die das attributive Glied bezeichnet, abstrahiert“ werde, wobei „der Singu-
larform des attributiven Substantivs in der Wirklichkeit eine Vielzahl von Ge-
genständen zugeordnet werden kann, ja oft zugeordnet werden muß“. Mit letz-
terem sind Fälle von „falschem Numerus“ wie mönchs orden gemeint, die bei
mir aufgrund der Form bereits als Komposita eingeordnet werden.
(87) a. Vnnd er schalt jhren vnglauben/ vnd jres hertzen hertigkeyt. (21; 1564)
b. Der Bauersmann siehet auch/ daß aus stinckendem Fleisch Maden
wachsen/ in Menschen/ Roß/ und anderer Thiere Leiber/ […] (80; 1711)
The next question […] is: can the notion got or gotes be non-anaphorical? One might think
not, for there is but one got, and any reference to him is to a definite being, hence must be
anaphorical. Nevertheless, one need only point to gotes kraft and gotes zorn […], and to
the great number of compounds in NHG like Gottesacker, Gotteskinder etc., to demonstrate
that the notion got may as a matter of fact be used in an attributive, non-anaphorical sen-
se, just as any other substantive may be used.
(88) a. Der konynck Ninus buwede die groisse Stat Niniue ind macht sij drijer
dagen reysen wijt […] (8; 1499)
||
158 Eigennamenkomposita wurden dennoch unsystematisch erhoben, einige beispielhafte
Belege: die Marien=Kirche (72; 1710), die Donau=Brücke (74; 1705); für unklaren Status: das
schöne Davids Sprüchlein (53; 1651). In Solling (2012: 197–200) Daten finden sich unter über
6.000 Komposita nur 62 Eigennamenkomposita, verteilt auf 58 Anthroponyme und 4 Topony-
me (die 17 Belege, die Volksgruppenbezeichnungen wie Römer umfassen wurden herausge-
rechnet, hier handelt es sich, anders als Solling annimmt, nicht um Namen, vgl. Nübling et al.
2012: 36).
178 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
b. Diser dreyer gebrüeder eingang gen Reissen/ sol nach jren schrifften
beschehen sein im Jar von anfang der welt 6370. (26; 1557)
In der Literatur wird eine Vielzahl von semantischen Relationen zwischen Erst-
und Zweitglied von nominalen Determinativkomposita postuliert, die sich teil-
weise deutlich unterscheiden. Oft sind sie so feingliedrig, dass sie zwar alle Fäl-
le detailliert erfassen können, damit aber eher von lexikologischem Nutzen
sind, denn als Grundlage empirischer Untersuchungen dienen können. Mit
Ortner et al. (1991) für das Nhd. und Klein et al. (2009) für das Mhd. liegen sehr
umfassende, kleinteilige Systeme auf Korpusbasis vor. Ähnliche Einteilungen
werden auch immer wieder für attributive Genitive unternommen (z.B. Bassola
1985, Ebert 1993: 330–335, Scott 2014: 40–41 für ältere Sprachstufen, Eisenberg
2004: 248–250 für das Nhd.). Die semantische Überschneidung von Genitivkon-
struktionen und Komposita liegt trotz der unterschiedlichen Bezeichnungssys-
teme auf der Hand (vgl. z.B. Schlücker 2018 für nhd. Komposita mit onymi-
schem Erstglied).
8.2.3.1 Genitivrelationen
Für das Fnhd. ist es sinnvoll zu erfassen, welche semantischen Genitivtypen
möglich waren, um bestimmen zu können, welche Komposita auf Genitive zu-
rückgehen können und welche nicht. Wie sich zeigen wird, machen die Genitiv-
konstruktionen, die kein semantisches Äquivalent bei den Komposita haben,
und die Komposita, die kein Äquivalent bei den fnhd. Genitivkonstruktionen
haben, allerdings nur einen sehr kleinen Teil der Daten aus. Durch die weitge-
hende Einschränkung des Genitivs auf possessive Relationen im Nhd. wird ver-
fugten Komposita oft irrtümlicherweise eine mögliche syntaktische Herkunft ab-
gesprochen, so bei Fuhrhop (1996: 538), die den Objektsgenitiv nicht gelten las-
sen will: „Das Genitivverhältnis ist hier auch nicht durchgängig zu finden
(Gottesfurcht ist nicht die Furcht Gottes) – es ist also offenbar keine notwendige
Bedingung“ (ähnlich Werner 2016: 298).
Die semantische Klassifikation von Genitiven inklusive der Beispiele in Tab.
31 entspricht Ebert (1993: 330–335), in der letzten Spalte wurden entsprechende
Komposita aus dem Mainzer Korpus ergänzt, so weit vorhanden. Von diesen
Genitiven lässt sich der partitive Genitiv als Reanalysevorlage ausschließen,
entsprechende Konstruktionen wie viertel Weins, ein Brösemlin weiß Brots, zuͦ
eyner halben maß wassers wurden im Korpus überhaupt nicht erfasst.
Genitivtyp Beschreibung fnhd. Beispiele äquivalente Komposita
Subjektsgenitiv Deverbales Bezugsnomen, Genitiv bis zuͦ des turkischen kaissers zur […] Unterhaltung des Pfaffen-
bezeichnet das Subjekt des Verbs ankunft Gesangs
Objektsgenitiv Deverbales Bezugsnomen, Genitiv AKK: dem waren erkenner aller AKK: die schmertzliche Kindergeburt
bezeichnet ein Objekt des Verbs herzen GEN: Ministeranklage (DTA 1845)
GEN: Mit beger seiner geschriebe- DAT: ein Götzendiener
nen antwort PP: mit der Bauchsorge
aus dem Mainzer Korpus.
Er unterscheidet sich formal durch die frühe Nachstellung (vgl. Kap. 6.3),
die Univerbierungen unwahrscheinlich macht. Nhd. Komposita, die Maßeinhei-
ten beinhalten, die nicht Teil des Gemessenen sind, haben das Maß zum seman-
tischen Kopf, nicht die gemessene Einheit – vgl. Milchflasche ‚Flasche für Milch‘
vs. eine Flasche Milch, Weinfass ‚Fass für Wein‘ vs. ein Fass Wein(s). Anders
verhält es sich, wenn das Bezugsnomen Teilmenge des Genitivattributs ist, wie
bei Brotkrümel, Kuchenstück – hier existieren zwar semantisch äquivalente
Komposita, diese gehen jedoch nicht aus partitiven Genitivkonstruktionen her-
vor, sie sind stets unverfugt.
Der Genitiv der Beschaffenheit ist insofern ein zweifelhafter Reanalysekan-
didat, als er immer ein Adjektiv erfordert – allerdings sind genau das häufig die
Fälle, die zu Zusammenrückungen nach Bergmann (1980) führen können: Per-
sonen Augsburgischer Confession – Augsburgische Confession-Personen. Der-
artige Fälle wurden entsprechend als potenzielle Reanlaysevorlagen einbezo-
gen.
8.2.3.2 Kompositumsrelationen
Umgekehrt gibt es auch Relationen, die sich nur bei den Komposita ausmachen
lassen – bedingt durch das freie Verhältnis des idg. Kompositionstyps, der so-
mit weit über Genitivrelationen hinausgehen kann (vgl. auch Meineke 1991: 81).
Sie sind zum einen nützlich dazu, das Wirken eines eigenständigen Kompositi-
onsmusters zu bezeugen, da sie keine Genitivreanalysen sein können. Zum an-
deren können sie genutzt werden, um eine ältere Kompositumsschicht von ei-
ner neueren zu trennen: Es handelt sich bei ihnen um die Fortsetzung des idg.
Typs, die entsprechenden Relationen sind bereits im Mhd. belegt (Klein et al.
2009: 164–169). Eine strukturelle wie semantische Besonderheit stellen die Rek-
tionskomposita dar: Bei ihnen ist neben Univerbierung und idg. Kompositions-
typ auch eine Genese durch Inkorporation denkbar.
Kopulativkomposita
Relationen, die kompositionsexklusiv sind, betreffen insbesondere Kopulativ-
komposita (Schalcksnarren, SturmWind, essen speis). Problematischerweise
werden hierzu häufig auch Fälle gezählt, bei denen die beiden Bestandteile
zwar nicht gleichrangig sind, aber auf dasselbe Objekt Bezug nehmen (so z.B.
Demske 2001: 311, vgl. Kap. 2.1.1), wie Ahnfrau, Bauersmann, KebßWeiber, Rit-
tersmann, Weibes Person, Mannes Person, Juden Person. Bei Gleichrangigkeit
der beiden Bestandteile ist tatsächlich keine Herkunft aus einer Genitivkon-
struktion, die ja per se unterordnend wirkt, möglich. Die Fälle mit Hyponym-
Semantische Voraussetzungen | 181
Rektionskomposita
Unter den Determinativkomposita findet sich mit den Rektionskomposita eine
semantische Sondergruppe, deren Entstehung sich möglicherweise von der der
ehemals genitivischen NN-Komposita unterscheidet. Die Lesart von Rektions-
komposita wird dadurch bestimmt, dass das Zweitglied eine syntaktische Er-
gänzung fordert, die, wo semantisch und kontextuell sinnvoll, im Erstglied ge-
sehen wird. So kauft ein Hauskäufer ein Haus (aber ein Problemkäufer eher kein
Problem). Substantivische Rektionskomposita transportieren also „ererbte“
Verbvalenzen, sie „kondensieren“ (Eichinger 2000: 128) im Gegensatz zu syn-
taktischen Strukturen. Dabei kann das Erstglied prinzipiell für alle Argumente
des Verbs stehen:159
||
159 Welche Komposita genau als Rektionskomposita gefasst werden, ist umstritten. Eichinger
(2000) vertritt z.B. einen sehr weiten Begriff, bei dem auch gar nicht vom zugrunde liegenden
Verb geforderte adverbiale Bestimmungen (Lautlesen, Sozialverhalten) und Fälle wie Ertrags-
zuwachs, die sich nicht in syntaktische Strukturen überführen lassen (*dass der Ertrag zu-
wächst), miterfasst werden.
182 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
Bei den meisten Rektionskomposita liegt allerdings eine Objektlesart vor. Als
möglichen Grund führt Eichinger (2000: 131) eine Parallele zu rhematischen
Strukturen auf Satzebene an: Häufig wird das Rhema in Nebensätzen mit Verb-
letztstellung ausgedrückt, sodass das Objekt dem Verb direkt vorausgeht und
eine engere semantische Verbindung mit ihm eingeht. Auch die Tatsache, dass
viele Rektionskomposita Nomina Agentis beinhalten, das Subjekt also schon im
Zweitglied enthalten ist, 161 dürfte die hohe Objektdichte beeinflussen. Gaeta &
Zeldes (2012) stellen fest, dass für 86% der Rektionskomposita mit er-Derivaten
im deWaC-Korpus auch Objekt-Verb-Paare belegt sind. Das zeigt, dass von einer
engen Beziehung zwischen Syntagma und Wortbildungsprodukt ausgegangen
werden kann. (Dazu, welcher Art die Beziehung ist, gibt es verschiedene Vor-
schläge, z.B. Lieber 1983, Olsen 1986, Rivet 1999, Scherer 2005: 115–116.) Die
nicht als Objekt-Verb-Paar belegten Fälle sind häufig stark reihenbildend (-ver-
treter, -leiter) oder lexikalisiert (Schriftsteller), beides deutet auf die diachrone
Tiefe des Musters hin.
Auch Rektionskomposita können Fugenelemente aufweisen. Paradigmische
Erstglieder wie Bär-en-jäger, Zähn-e-putzen stimmen u.a. mit dem Akkusativ
Singular und/oder Plural überein. Dabei ist die Fuge, genau wie bei normalen
Determinativkomposita, für den s-Plural nicht zugänglich – auch da nicht, wo
in der Syntax das Objekt eher im Plural erwartbar wäre als im Singular (*CDs-
Verkäufer, *Smartphonesproduktion). Bei der Bildung neuer Rektionskomposita
werden also nur Akkusativformen genutzt, die auch formgleich mit einem No-
minativ oder Genitiv sind.
Einzelne Rektionskomposita verfugen zwar unparadigmisch, hier ist aber
häufiger Schwankung mit unverfugten Formen zu beobachten. So findet sich
neben dem frequenteren Zeitung-s-lesen auch die Form Zeitung-∅-lesen. Die
||
160 Dativobjekte scheinen nur möglich, wenn der Dativ der einzige Objektskasus ist, d.h.
wenn der Dativ auch syntaktisch adjazent zum Verb sein kann.
161 Ist dagegen ein Objekt im Erstglied enthalten ist, muss dies nicht per se zu einer Blockie-
rung für den weiteren Ausdruck des Objekts führen. So führt Fabricius-Hansen (1987: 194)
seltene Belege wie Volker Braun, der Preisträger des »Berliner Preises für deutschsprachige
Literatur« an, die das Objekt sowohl im Rektionskompositum (generisch) als auch im Geniti-
vattribut (spezifisch) realisieren.
Semantische Voraussetzungen | 183
Nullfuge nach eigentlich konsequent s-verfugendem -ung weist darauf hin, dass
eine Interpretation als Akkusativobjekt für die Sprecherinnen und Sprecher
möglich ist.162 Nübling & Szczepaniak (2011: 57–58) führen auch Arbeit-∅-geber
und die Schwankungsfälle Gewicht(-s-)heber, Krieg(-s-)führung und Stellung(-s-)
nahme an. Fuhrhop (2000: 211) sieht die s-Verfugung in solchen Fällen als Indi-
kator der morphologischen Integration, die das komplexe Wort weiter von der
Syntax entfernt.163 Sie argumentiert außerdem anhand von Adjektivkomposita
wie fugenlosem achtunggebietend aber schwankendem richtungweisend/rich-
tungsweisend,164 dass das unparadigmische Fugenelement bei zunehmender Le-
xikalisierung auftritt. Für historische Daten ist das dagegen nicht anzunehmen:
Da NN-Rektionskomposita sich im Fnhd. auch als Konstruktionen mit Objekts-
genitiv ausdrücken lassen, kann eine s-Fuge nicht als Entsyntaktisierungssignal
wirken. Die Kompositionsstammform lässt sich weiterhin syntaktisch motivie-
ren.165
Für die gegenwartssprachlichen Verhältnisse sind zwei Erklärungen denk-
bar: Zum einen kann die Fuge in Analogie zur Syntax unterbleiben, die hier viel
stärker hindernd wirken kann als bei den nicht mehr genutzten pränominalen
Genitivphrasen. Zum anderen können Rektionskomposita nicht nur strukturell
syntaktischen Phrasen ähneln, sondern auch darin ihren Ursprung genommen
haben oder gar weiterhin nehmen. Die fehlenden Fugen würden sich dann aus
einem Reanalyseprozess erklären, der auf Objekt-Verb-Verbindungen zurück-
geht. Vor diesem Hintergrund ist ihr Verfugungsverhalten interessant:
Im Mainzer Korpus finden sich 86 Komposita und Brückenkonstruktionen,
deren Erstglied ein Akkusativobjekt, nicht aber ein Genitivattribut des Zweit-
glieds sein kann (92). Sie s-verfugen zu 16,3% (14 Belege) und damit deutlich
weniger als die Vergleichsgruppe der Nicht-Rektionskomposita (44,3% s-Fu-
||
162 Im ZEIT-Archiv des DWDS finden sich z.B. für die Abfrage Zeitungles* 114 Treffer, für
verfugtes Zeitungsles* dagegen 672, das entspricht einem Verfugungsanteil von nur 85%. Dem
stehen 1.192 verfugte Zeitungsartikel aber keinem einzigen unverfugten Zeitungartikel gegen-
über (19.1.2016).
163 Bei normgerecht unverfugtem Schaden-∅-ersatz, Stellung-∅-nahme wirkt neben dem Rek-
tionsverhältnis auch die fachsprachliche Konservativität fugenhindernd.
164 Das ZEIT-Archiv bestätigt die von Fuhrhop (2000: 211) angenommene Tendenz, das Ver-
hältnis unverfugt:verfugt ist für achtung(s)gebietend 52:2, für richtung(s)weisend 630:787
(20.1.2016).
165 Rektionskomposita sind bereits für das Ahd. belegt, für einen historischen Überblick s.
z.B. Werner (2017).
184 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
(94) Nur ist dieses absonderlich zu mercken/ daß das Eichenholtz wohl hitzet/
und wird gemeiniglich zu dem Bier sieden genommen. (62; 1678)
Das Wort ist endungslos und stimmt damit nicht mit dem Genitiv Singular über-
ein, denkbar wäre lediglich ein apokopierter (Genitiv) Plural, der aber seman-
tisch nicht angezeigt ist. Nach dem vorgeschlagenen Vorgehen aus Kap. 7.2
würde Bier sieden daher als eindeutiges Kompositum eingeordnet. Da es hier je-
doch auch ein (inkorporiertes) Akkusativobjekt sein kann, wird die endungslose
Form trotzdem als potenzieller Teil einer syntaktischen Struktur gewertet. Im
Fall von (94) führt das dazu, dass die Konstruktion unklaren Status erhält, statt
als Kompositum gewertet zu werden.
||
166 Einbezogen wurden bei beiden Gruppen nur Erstglieder, die zweifelsfrei s-Genitive bilden,
potenzielle Klassenwechsler blieben unberücksichtigt. Zu den Rektionskomposita wurden nur
solche mit Infinitivkonversionen, deverbalen er- und ung-Derivaten als Erstglieder gerechnet.
Exkurs: Phonologische Voraussetzungen | 185
Wenn die Literatursprache mit ihrem Mittel der Zusammen- und der Getrenntschreibung
wesentliche Beziehungen in einem grammatischen Bereich, dem der attributiven substan-
tivischen Komplexe, ordnet, so verdankt dieser die Systematisierung der für ihn maßge-
benden Oppositionen und die Normierung des betreffenden Systems in der deutschen
Sprache in einem bedeutenden Maße der geschriebenen literatursprachlichen Existenz-
form.
Ein derartiger Ansatz, der eine Veränderung als durch Eigenschaften der ge-
schriebene Modalität verursacht betrachtet, greift in jedem Fall zu kurz. Um die
Reanalyse phonologisch plausibel zu machen, ist ein kontrastiver Vergleich mit
dem Engl. aufschlussreich. Dort wird die Abgrenzung von Phrase und Komposi-
tum seit langem diskutiert. Besteht eine Konstruktion aus zwei Substantiven, so
wird – wie bei den AN- bzw. VN-Komposita aus Fn. 141 (S. 151) – häufig auf die
Position des Hauptakzents verwiesen: Während sie bei Komposita i.d.R. auf
dem Erstglied liegt („compound stress rule“), weisen Phrasen Finalbetonung167
auf („nuclear stress rule“; Chomsky & Halle 1968: 89–94).
||
167 Unter „finalbetont“ werden hier Konstruktionen verstanden, bei denen beide Bestandteile
einen Hauptakzent erhalten, der zweite Bestandteil jedoch in isolierter Aussprache stärker
186 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
Phrase Kompositum
finalbetont initialbetont
Bereits Lees (1960: 120) macht jedoch auf Problemfälle aufmerksam (illustriert
in Abb. 32 b, c vs. d, e): Während z.B. ápple cake der phonologischen Struktur
eines Kompositums folgt, weicht apple píe davon ab und müsste entsprechend
der Syntax zugewiesen werden, was Lees (1960: 120) als „rather awkward“ be-
zeichnet. Ähnliches konstatieren Chomsky & Halle (1968: 156) und Payne &
Huddleston (2002: 448–451), dennoch tendieren generative Ansätze insgesamt
dazu, den beiden Gruppen einen unterschiedlichen Status zuzusprechen.168 Für
eine einheitliche Analyse als Komposita, wie sie z.B. Bauer (1983) und Plag
(2003: 127–139, 2010) vertreten, spricht dagegen, dass die Akzentposition auch
bei einzelnen Lexemen schwankt, obwohl unabhängig von der Betonung das-
||
betont wird (vgl. Bauer 1983: 104–105). Der Einfachheit halber wird nur dieser Akzent in den
Beispielen markiert.
168 Payne & Huddleston (2002: 448–451) geben syntaktischen Tests zur Unterscheidung von
Phrase und Kompositum den Vorzug, da sie die Akzentposition als unzuverlässig betrachten.
Sie gehen davon aus, dass Koordination (two London colleges → various London and Oxford col-
leges) und Modifikation nur eines der beiden Elemente (two London theological colleges) nur in
Phrasen, nicht aber in Komposita möglich ist (*a swim and sportswear shop). Das würde jedoch
zu einer bis dato nicht in der Literatur postulierten Gruppe führen, die zwar initiale Betonung
aufweist, aber Phrase ist, da sich z.B. Konstruktionen wie die folgenden (die gemeinhin als
Komposita aufgefasst werden) durchaus koordinieren lassen:
(VI) Forget fizzy pop, the list of approved drinks includes diluted apple or orange juice, whole
milk or water. (Daily Mail, http://www.dailymail.co.uk/health/article-2087802/80-page-
guide-feed-toddlers-includes-actual-size-diagram-perfect-PLATE.html#ixzz3uVhopUri,
abgerufen am 16.12.2015)
(VII) Made with FRESH Apples / Apple Pie or Cake – take your choice of these two favorites –
fresh from our ovens, mingling with the flavour of freshly-baked apples is the fragrance of
cinnamon – seven cuts to a pie or cake – EACH ……… 19c (The Pittsburgh Press – 14.3.
1933, Seite 4, https://news.google.com/newspapers?nid=1144&dat=19330314&id=nXAb
AAAAIBAJ&sjid=ZksEAAAAIBAJ&pg=4492,938467)
Exkurs: Phonologische Voraussetzungen | 187
selbe Denotat bezeichnet wird (ice cream) und dass sich beide Betonungstypen
syntaktisch gleich verhalten, d.h. z.B. nur miteinander verschoben werden und
nicht durch beliebiges Material unterbrochen werden können (Bauer 1983: 104–
112, 1978: 103).
Zwar gibt es mit den stets finalbetonten Kopulativkomposita (scholar-
áctivist) und den initialbetonten Rektionskomposita (wátch-maker, fóx-hunting)
zwei Gruppen, deren Akzentposition vorhersagbar ist (vgl. Plag 2003: 138–139,
Giegerich 2004: 2–3), bei Determinativkomposita lassen sich jedoch nur isolier-
te Tendenzen zur Finalbetonung ausmachen, so wenn Stoffbezeichnungen als
Erstglied auftreten (chocolate fróg, cherry brándy) oder bestimmte Zweitglieder
reihenbildend wirken (Finalbetonung bei -avenue, -pie, -administration, -prayer,
-wall; Bauer 1983: 108–109, vgl. auch Plag 2010 für eine korpusbasierte Analyse
verschiedener Einflussfaktoren). Insgesamt handelt es sich hier jedoch um ein
lexikalisch bedingtes Phänomen. Bauer (1983: 109) hält daher fest:
All this suggests that the difference between single and double stressed collocations is not
a distinction between two very different syntactic structures, but an accidental surface
structure division in a unitary group of compounds, and that it makes more sense to talk
of single and double stressed compounds than of compounds as opposed to noun + noun
syntactic phrases.
Die Akzentverhältnisse des Engl. zeigen also, dass Komposita zwei Betonungs-
muster aufweisen können, von denen eines dem von Phrasen gleicht. Zwar
konstatiert auch Bauer (1983: 101): „I know of no other language where preci-
sely this problem is relevant.“ – diese engl. Verhältnisse können aber für das
Verständnis der fnhd. Konstruktionen fruchtbar gemacht werden, die durchaus
Ähnlichkeiten aufweisen.
Es ist nicht undenkbar, dass die Verhältnisse im Fnhd. insofern mit denen
des Engl. vergleichbar waren, als keine scharfe phonologische Grenze zwischen
Syntax und Wortbildung bestand. Dass es im Dt. irgendwann zu einer Akzent-
festlegung gekommen sein muss, zeigt der heutige Zustand. Eine derartige ge-
richtete Verschiebung hätte ebenfalls eine Parallele im Engl.: Das Betonungs-
muster in engl. NN-Komposita kann wechseln, und zwar tendenziell (aber nicht
ausschließlich) von Final- zu Initialbetonung (Bauer 1983: 109).169
||
169 Die hier verglichenen Konstruktionen sind allerdings nicht völlig parallel strukturiert:
Während die engl. Komposita sich auch durch die Abwesenheit zusätzlichen Materials von
Phrasen unterscheiden (dog-ear ‚Eselsohr‘ vs. dog’s ear ‚Ohr eines Hundes‘) und eben das un-
verbundene Auftreten zweier Substantive als Hinweis auf den Kompositumsstatus gewertet
wird, gilt es im Deutschen Fälle zu erklären, bei denen das Erstglied (sofern vom Paradigma
188 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
Die Voraussagen bestätigen sich weitgehend, zeigen jedoch auch äußerst inte-
ressante Ausnahmen (vgl. Abb. 34): Wie erwartet, sinkt die (auch schon zu Be-
ginn des Untersuchungszeitraums kleine) Anzahl nicht-spezifischer pränomina-
ler Genitivattribute, während die Komposita massiv zunehmen. Man könnte
nun einwenden, hier sei lediglich der fnhd. Stellungswandel des Genitivattri-
||
angezeigt) ein Fugenelement aufweist. Das verweist auf die unterschiedliche Diachronie: Die
engl. Komposita folgen weiterhin dem ererbten idg. Kompositionsmuster, bei dem das Erstglied
durch Lautwandel bloßer Stamm ist. Dennoch haben sich zwei verschiedene Betonungsmuster
herausgebildet. Im Fnhd. hat sich dagegen das verfugte Muster aus Phrasen herausgebildet,
entsprechend ist es gut möglich, dass es zunächst noch Phrasenbetonung aufwies.
Über das Betonungsmuster unverfugter Komposita im Fnhd. lässt sich nichts sagen: Es
könnte, wie im Gegenwartsengl., variabel gewesen sein, es könnte jedoch auch bereits dem
einheitlichen Muster des Gegenwartsdt. entsprochen haben. Ab wann sich die heutigen Beto-
nungsverhältnisse beobachten lassen, ist unklar.
Korpusuntersuchung: Reanalyse | 189
600
500
400
300
200
100
0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
Kompositum 257 286 462 554
Brückenkonstruktionen 155 84 103 27
nicht-spezifischer Genitiv -
49 54 40 18
pränominal
nicht-spezifischer Genitiv -
288 286 255 274
postnominal
Abb. 34: Entwicklung von Konstruktionen mit funktionaler Überschneidung im Mainzer Früh-
neuhochdeutschkorpus171 (n=3.192, χ²=240,56, df = 9, p < 0,001, Cramérs V: 0,159). (Die Grafik
orientiert sich an Kopf 2018a, legt aber im Gegensatz dazu die hier vorgestellten Einteilungs-
kriterien zugrunde, nicht bisher in der Literatur gängige. Entsprechend weichen die Zahlen
auch ab.)
||
170 Die geringen Zahlen 1500 verweisen darauf, dass der Stellungswandel bereits zu Beginn
des Untersuchungszeitraums weit vorangeschritten ist.
171 Komposita ohne Fugenelement wurden ausgeschlossen, wenn die erste Konstituente in
freiem Gebrauch ein Genitivflexiv aufweist (z.B. Abend-essen, aber des Abends), weil davon
auszugehen ist, dass es sich in diesem Fall um den alten Kompositionstyp handelt.
190 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
vormaligen Genitivkontexten vorausgeht. Auffällig ist der recht große Anteil der
Brückenkonstruktionen um 1500. Sie leisten möglicherweise der nun einsetzen-
den Reanalyse Vorschub. Eine funktionale Ersetzung hat zu diesem Zeitpunkt
noch nicht stattgefunden: Zwischen 1500 und 1560 nehmen Brückenkonstrukti-
onen ab, während Komposita und postnominalen Genitive im Verhältnis gering-
fügig zunehmen, noch werden pränominale Genitive also nicht durch Komposi-
ta ersetzt. Bis 1650 sind jedoch sowohl prä- als auch postnominale Genitive zu-
gunsten der Komposita deutlich zurückgegangen. Während sich beim Schwund
pränominaler Genitivkonstruktionen zumindest teilweise Reanalyse vermuten
lässt, dürfte es sich beim Rückgang der postnominalen Fälle um funktionale
Ersetzungen durch semantisch äquivalente Komposita handeln.
Eine statistische Überprüfung der Daten mittels Chi-Quadrat-Test zeigt, dass
die beobachteten Unterschiede hochsignifikant sind (p<0,001), allerdings bei
verhältnismäßig geringer Effektstärke (Cramérs V: 0,159).
Komposita Brücken- prän. Gen. mit nicht- postn. Gen. mit nicht-
konstruktionen spezifischem Attribut spezifischem Attribut
Besonders aufschlussreich sind hierbei die Pearson-Residuen (Tab. 32), die die
Abweichung des Erwartungswerts vom beobachteten Wert messen. Sie bestäti-
gen, was sich bereits in Abb. 34 abzeichnet: Im 16. Jh. treten weniger, im 17. Jh.
mehr Komposita als erwartet auf, die Residuen sind in allen vier Zeitstufen sig-
nifikant. Bei den Genitiv- und Brückenkonstruktionen verhält es sich umge-
kehrt, wobei etwas mehr Variation herrscht.172
Die spezifischen prä- und postnominalen Genitive wurden bisher nicht mit-
einbezogen, da sie keine funktionale Überschneidung mit den übrigen Gruppen
||
172 Bei Werten unter –1,96 bzw. über 1,96 kann die Abweichung als statistisch signifikant
betrachtet werden, dazwischenliegende Werte sind jedoch für die Gesamttendenz ebenfalls
aufschlussreich.
Korpusuntersuchung: Reanalyse | 191
aufweisen. Dennoch ist ein Blick auf die Daten wichtig: Die rückläufigen Zahlen
nicht-spezifischer Genitive könnten auch durch eine generelle Tendenz des
Fnhd. zu spezifischeren Nominalphrasen bedingt sein. Das erscheint jedoch in-
sofern wenig plausibel, als Spezifizität durch Kommunikationsabsichten ge-
steuert wird, was spezifische und nicht-spezifische Konstruktionen für einen
Austausch ungeeignet macht. Es ist allerdings nicht von der Hand zu weisen,
dass schriftliche Texte mit wachsendem Adressatenkreis zu mehr Eindeutigkeit
tendieren, insofern erscheint es denkbar, dass einzelne nicht-spezifische Geni-
tivphrasen zusätzliche Determinierer oder Modifikatoren erhalten. Die Daten in
Abb. 35 vermitteln allerdings ein anderes Bild: Die pränominalen spezifischen
Genitivattribute sind bereits zu Beginn des Untersuchungszeitraums selten und
nehmen weiter ab. Dies lässt sich als Teil des Stellungswandels erklären. Die
postnominalen spezifischen Genitivattribute schwanken hingegen, eine Zunah-
me, die ebenso kontinuierlich erfolgt wie die Abnahme der nicht-spezifischen,
ist nicht zu beobachten.
Um weiter zu überprüfen, wie plausibel die angenommene Ersetzung von
nicht-spezifischen Genitivkonstruktionen durch Komposita ist, wurden lineare
Regressionsanalysen unter Berücksichtigung des Faktors Zeit durchgeführt
(Abb. 36). Es zeigt sich dabei, dass die Abnahme nicht-spezifischer Genitiv- und
Brückenkonstruktionen sehr stark mit der Zunahme der Komposita korreliert.
300
250
200
150
100
50
0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
pränominal spezifisch 77 50 53 38
postnominal spezifisch 251 153 169 277
Abb. 35: Anzahl von Genitivkonstruktionen mit spezifischem Attribut im Mainzer Korpus
(n=1.068).
192 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
600
y = 1,2833x - 1695
R² = 0,9615
493
463
500
444
409
400
312
294
300 276
246
y = -0,8471x + 1729,1
R² = 0,97
200
Komposita
Abb. 36: Lineare Regressionen auf Datenbasis von Abb. 34 (Komposita: y = 1,2833x – 1695, R²
= .96; Genitiv- und Brückenkonstruktionen: y = -0,8471x + 1729,1, R² = .97).
Syntax Lexik
Reanalyse
Stellungswandel
Wichtig ist, dass es primär um eine Auswahl aus einem Spektrum funktionaler
(Fast-)Äquivalente geht, nicht um eine direkte Ersetzung konkreter Einzelkon-
194 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
struktionen. Dabei ist davon auszugehen, dass bei stark usualisierten oder so-
gar lexikalisierten Konstruktionen, egal welchen Typs, das volle Spektrum al-
ternativer Konstruktionen nicht ausgeschöpft wird, vgl. z.B. Sattler (1992: 265):
Mit dem Gebrauchsrückgang attributiver Adjektive, deren erstes Glied auf „-en“ auslautet,
läuft ein Rückgang der Komposita mit dem ersten Glied auf „-en“ parallel. Dem Rückgang
der „-en“-Komposita ist jedoch durch die bereits lexikalisierten „-en“-Komposita eine
Schranke gesetzt.
(97) […] deßgleichen muß man sich der fremden Sprache so viel als möglich
enteussern/ und ihre Wörter fliehen/ solche in Verse zu mischen; iedoch
kan ich solche anwenden/ wann sie […] (3) Nomina propria […] die ich
nicht so wohl im Deutschen geben kan/ als in ihrer Lands=Art. […] wobey
aber in acht zu nehmen/ daß man derselben Casus nicht durch declinire,
denn da kan ich nicht sagen: der Veneris ihr Pfeil/ sondern/ der Venus-
Pfeil/ auch sag ich nicht: des Jovis oder Martis sein Geschoß/ sondern
ich kan sagen im Deutschen des Jupiters Geschoß/ welches kein Tadel
ist/ den Mars aber behalt ich im Nominativo. (64; 1689)
||
173 Objektsprachliche Beispiele aus diesem Text wurden im Korpus nicht ausgewertet.
Exkurs: Weitere mögliche Einflussfaktoren | 195
Derartige Ersetzungen treten meist dann ein, wenn Eigennamen betroffen sind
– darauf dürfte auch der höhere Anteil der von-Konstruktion in Briefen zurück-
gehen. Da die Anteile insgesamt gering sind und Eigennamen aus der vorlie-
genden Studie ausgeschlossen wurden, dürfte es sich um ein Phänomen han-
deln, das für die vorliegende Studie nur marginal relevant ist. Die Beobachtung
von van der Elst (1988a: 322), dass „Stoff-, Art-, Maß- und Mengenbezeichnun-
gen“, die im Mhd. genitivisch ausgedrückt werden, heute „in der Regel durch
appositionale oder präpositionale Fügungen wiedergegeben“ werden, gilt pri-
mär für partitive Genitive.
Die Ersetzung von Genitivattributen durch Adjektive ist nur bei einer gerin-
gen Zahl von (meist) Derivaten semantisch plausibel. So verweist Pavlov (1983:
15) darauf, dass Adjektive tendenziell stärker qualifizieren, während Erstglieder
von Komposita primär eine Bezugsfunktion haben. Infrage kommen Adjektive
wie königlich, fürstlich, göttlich, gnädig, bei einer Stichprobenauszählung im
Korpus zeigen sie jedoch keine diachrone Zunahme. Ich gehe daher davon aus,
dass die Menge derart ersetzter Genitivkonstruktionen so gering ist, dass sie
meine Daten kaum beeinflusst.
100%
80%
60%
40%
20%
0%
1570-1630 1670-1730
Adjektiv (zinnenes Geschirr) 526 708
Adjektiv (zinnenegeschirr) 0 9
Adjektiv (zinnen Geschirr) 352 114
Zweifelsfall (Eisen kette) 56 23
Zweifelsfall (Eisenkette) 60 48
NN-Kompositum
208 114
(Zinngeschirr)
Abb. 38: Eigene Zusammenfassungen der Zahlen von Sattler (1992) für den hd. Dialektraum
(n=2.218).174
Solms (1999) zeigt an Teilkorpora des Bochumer Mhd.-Korpus und des Bonner
Fnhd.-Korpus, dass der Anteil von Substantivkomposita an den Substantiven
insgesamt in fnhd. und insbesondere in früher nhd. Zeit (zwischen 1600 und
1700) zunimmt (vgl. Abb. 39). Enthalten sind Komposita mit verbalem, adjekti-
vischem und substantivischem Erstglied, gesonderte Daten für NN-Komposita
||
174 Bei den beiden Zweifelsfallgruppen hat das erste Element eine Form, die sowohl unflek-
tiertes Adjektiv als auch Substantiv sein kann, die beiden Gruppen unterscheiden sich durch
die Schreibung voneinander. Die NN-Kompositumsgruppe erfasst Belege, deren Erstglied
formal kein Adjektiv sein kann. Hierzu zählen auch Fälle mit Getrenntschreibung (Zinn Ge-
schirr).
Exkurs: Weitere mögliche Einflussfaktoren | 197
liegen nicht vor.175 Der Befund zeigt also eine zunehmende Präsenz von Kompo-
sita.176
100%
80%
60%
40%
18,4%
12,1%
20%
6,8% 6,4% 5,7% 10,3% 10,2%
0%
1150-1200
1200-1250
1250-1300
1350-1400
1450-1500
1550-1600
1650-1700
Abb. 39: Visualisierung der Daten von Solms (1999: 234): „Durchschnittlicher Anteil der Sub-
stantivkomposita am Gesamt des Substantivwortschatzes (Lexeme) eines Textes.“
||
175 Solms (1999: Fn. 14) vertritt einen weiten Kompositumsbegriff: Bei nicht-zusammen-
geschriebenen Konstruktionen erfasst er auch Fälle, bei denen ein Determinierer oder Modifi-
kator sich eindeutig auf das zweite Element bezieht (Typ III nach Pavlov 1983, vgl. Kap. 7.2.1).
Solms (1999: 235) berechnet außerdem die Type-Token-Ratio für beide Gruppen, die Daten
scheinen mir allerdings nach stichprobenartiger Überprüfung an einem Originaltext unplausi-
bel, für eine kurze Diskussion s. Anhang, Kap. 16.2.5.
176 Für das Nhd. verweist Solms (1999) vergleichend auf Wellmann et al. (1974: 363), die
einen Kompositumsanteil von 25,2% angeben.
177 Für die Studie von Solms (1999) wurden pro Zeitraum nur fünf von zehn Texten ausgewer-
tet, wobei nicht angegeben wird, welche genau. Ich habe hier daher alle Texte der alten Kor-
pusversion berücksichtigt. Das erscheint gerechtfertigt, da das Verhältnis zwischen den Zeit-
schnitten ausschlaggebend ist. Aus den annotierten XML-Versionen wurde ausgelesen, wie
häufig typ="substantiv" pro Text auftritt (Eigennamen sind nicht darin enthalten), diese Zahl
wurde in Relation zu den Gesamtwörtern gesetzt (ermittelt anhand des Tags <wortform>).
198 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
Tab. 33: Substantivanteile im Bonner Fnhd.-Korpus. (Werte für das Nhd. im Anhang, Kap. 1.1.1.)
||
178 Dass primär eine Ersetzung zulasten der Genitivkonstruktionen stattfindet, vertritt auch
Solms (1999: 237), der im Zusammenhang mit seinen Befunden konstatiert: „Die Selbstver-
ständlichkeit der Komposition bedeutet zugleich die relative Rückdrängung der konkurrenten
attributiven Konstruktionen.“
Erklärungsansätze für die Entstehung des neuen Kompositionstyps | 199
doch kaum möglich ist: Die verknüpften Phänomene sind zwar objektiv be-
obachtbar, die vermuteten Kausalitätsketten lassen sich jedoch nicht nachwei-
sen. Sie sollen im Folgenden auf ihre Plausibilität hin überprüft werden.
Die Entstehung und der Wandel des Artikelsystems kommt dabei bei den
Ansätzen von Pavlov (1983) und Demske (2001) prominent zum Tragen, wobei
sich durch den unterschiedlichen Theorierahmen verschiedene Schwerpunkte
ergeben. Beide werden in der Literatur häufig referenziert, i.d.R. aber nur ober-
flächlich dargestellt – möglicherweise auch, da beide auf ihre spezifische Art
und Weise den Zugang zu ihren Kernthesen erschweren. Aus diesem Grund
beinhalten die beiden nächsten Kapitel recht ausführliche inhaltliche Zusam-
menfassungen. Eine dritte These findet sich in der Literatur nicht am Beispiel
der Komposita ausgearbeitet: Das Konzept der Nominalklammer von Ronneber-
ger-Sibold (1991) umfasst alle morphosyntaktischen Wandelprozesse, die auch
bei Pavlov und Demske zum Tragen kommen, ein Einfluss auf die Entstehung
des neuen Kompositionstyps wird auch konstatiert, aber nicht vertieft.
verfügen also über die Möglichkeit, die Definitheit ihres Bezugsnomens zu mar-
kieren. Die Umbruchphase zum heutigen System verortet Demske (2001: 82) im
Fnhd.: Mitbedingt durch die Schwa-Apokope kommt es zu Synkretismen in den
beiden Adjektivparadigmen, in der Folge bildet sich die morphologische Steue-
rung der Adjektivflexion heraus. Die Flexion ist nun abhängig von der Form des
vorausgehenden Artikelworts, das sich in der Definitheit weiterhin nach dem
Bezugsnomen richtet (Demske 2001: 59–100). Anders als Demske vertreten
Klein (2007, auf Basis von Korpusdaten) und Szczepaniak (2013: 108–109) den
Standpunkt, dass der Steuerungsumbau bereits im Mhd. weitgehend durchge-
führt war, Szczepaniak sieht den Ausschlag dafür in der Nebensilbenabschwä-
chung.
Dem Artikelinventar rechnet Demske außerdem seit dem 14. Jh. auch die
Possessiva zu. Ihre Wortartenzuordnung ist im Ahd. nicht zweifelsfrei möglich.
Für das Mhd. geht Demske von Adjektivstatus aus, da Possessiva die Flexions-
und Stellungseigenschaften von Adjektiven teilen (Demske 2001: 139–145). Ab
dem Fnhd. setzt sie schließlich einen Possessivartikel an, der wie die Indefinit-
artikel (ein, kein) flektiert und in paradigmatischer Beziehung zu den übrigen
Artikelwörtern steht: Er ist nur an ihrer Stelle, nicht aber in Kombination mit
ihnen möglich (*der mein Hut/*mein ein Hut, aber mit Demonstrativartikel sehr
wohl: in diesem unserem Land) (Demske 2001: 147–150, 203-204). Die Kategorie
der Artikelwörter wird damit weiter vergrößert und gestärkt. (Kritik daran äu-
ßert z.B. Gallmann 2003, der eine eindeutige kategoriale Zuordnung für unnötig
hält, wenn Merkmale verschiedener Wortarten auftreten.) Den Übergang von
Adjektiv zu Artikel erklärt Demske als Reanalyse: Bei Verwendung mit inhärent
definitem Bezugswort gleicht das Possessivadjektiv dem expletiven Artikel (un-
sere Sonne/die Sonne) und wird infolgedessen allgemein als solcher aufgefasst
(vgl. auch Gallmann 2003).
Im Nhd. funktional identisch mit Possessivartikeln sind nach Demske
(2001) pränominale Genitivattribute: Auch sie erscheinen in komplementärer
Distribution mit Artikelwörtern (*der Mutters Beruf/*Mutters der Beruf, s. aber
Scott 2014 in Kap. 6.3.4) und markieren Definitheit ihres Bezugsnomens. Wo
prä- und postnominales Genitivattribut im Fnhd. anfangs noch über sehr ähnli-
che Eigenschaften verfügen (z.B. Erweiterbarkeit), erfolgt schließlich eine Rein-
terpretation des belebten, spezifischen pränominalen Genitivs – also des Perso-
nennamens – als Possessivum (Demske 2001: 315), das nur aus einem einzigen
Element bestehen kann (*der freundlichen Mirjam(s) Wohnung): „Nach der Re-
analyse wird der pränominale Genitiv als ein Artikelwort verstanden, das wie
Erklärungsansätze für die Entstehung des neuen Kompositionstyps | 201
||
179 Wie auch Gallmann (2003) anmerkt, ist die Position allerdings nicht auf Personennamen
beschränkt (Russlands Regierung).
180 Ganz ähnlich äußert sich bereits Pavlov (1983: 74), allerdings zu belebten, insbesondere
menschlichen Appellativen allgemein – er bringt den Gedanken ein, dass die funktionalen Pa-
rallelen zu den Possessiva die pränominale Konstruktion stärkt: „Es liegt nahe anzunehmen,
daß das mit besonderer Häufigkeit der bei ihrer attributiven Verwendung eintretenden posses-
siven Beziehung zum Regens zusammenhängt, die bei solchen Gattungsnamen, die stellungs-
mäßige Korrelation mit den Possessivpronomen länger aufrechterhält.“
202 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
Insgesamt baut Demske (2001) eine Entwicklungskette auf, die zwei syste-
matische Schwachpunkte hat: Die historischen Daten basieren (mit Ausnahme
des Stellungswandels) auf Einzelbeispielen aus der Literatur, es erscheint wenig
plausibel, dass so ein repräsentatives Gesamtbild des jeweiligen Sprachge-
brauchs entstehen kann. Tatsächlich zeigen Korpusanalysen wie die von Klein
(2007) zur Adjektivsteuerung, dass die Verhältnisse von deutlichen dialektalen
Unterschieden geprägt sind. Den Stellungswandel setzt Demske (2001: 231)
relativ spät an, sie geht von Voranstellung, auch der pränominaler Partitive,
noch in frühahd. Zeit aus und vermutet, dass die Nachstellung von Konkreta in
spätahd. Zeit einsetzt und für belebte Appellativa Ende des 17. Jh. abgeschlos-
sen ist; zumindest der Beginn sollte aber mit Tab. 15 (Kap. 6.3.1.1) wesentlich
früher datiert werden. Die gegenwartssprachlichen Daten basieren auf Intro-
spektion, fast alle Beispiele sind selbst konstruiert. Das führt dazu, dass Kon-
struktionen als marginal oder inakzeptabel bewertet werden, die nachweislich,
und nicht einmal selten, auftreten. Dazu gehört z.B. die für Demske fragwürdige
enge Koordination pränominaler Genitivattribute (?Lotta sucht Konstantins,
Frederiks und Benedikts Haus, vgl. Kap. 6.3.4.1; s.a. Scott 2014, Ackermann
2018).
Pavlov (1983: 49) sieht ambige Konstruktionen des Typs bei der stadt pforte als
„Übergangserscheinung nur entwicklungsgeschichtlicher Art, als eine Über-
gangserscheinung ohne funktionalen Eigenwert“, die er für inhärent instabil
hält. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass sie „differenzierungsbedürftige seman-
tische Inhalte miteinander vermengen“. Gemeint sind damit wohl die Benen-
nungsfunktion bei nicht-spezifischer Referenz und die Identifizierungsfunktion
bei spezifischer Referenz. Äußert Pavlov (1983: 49) in diesem Zusammenhang,
dass die Beseitigung ambiger Konstruktionen sich
über die Einschränkung der Voranstellung des Genitivs auf die Eigennamen […] und über
eine konsequente Durchführung von Getrennt- und Zusammenschreibung
Hierin steckt auch schon die Entkräftung von Demske (2001: 303), die eine Rolle
der strukturellen Mehrdeutigkeit zurückweist, weil diese bereits im Ahd. be-
stand, der neue Kompositionstyp sich aber erst im Fnhd. herausbildet (obwohl
entsprechende Univerbierungen bereits im Ahd. zu finden sind). Damit ver-
kennt sie allerdings, dass die Herausbildung und Obligatorisierung des Definit-
und Indefinitartikels im Ahd. und Mhd. zu einer „Zwangslage“ im Fnhd. führt:
Seine Verwendung erfordert in den allermeisten Fällen einen eindeutigen Bezug
auf das Erst- oder Zweitglied (99a im Gegensatz zu 98a), zuvor war Derartiges
nur bei adjektivischer Modifikation (inklusive Possessiva) der Fall (98b und
99b):
spezifisch nicht-spezifisch
mit eines guten königs sohn mit eines königs sohn mit einem königs sohn ein königssohn
Rahmenkonstruktion Kompositum
Den Genitivstellungswandel sieht Pavlov (1983: 41) als Mittel zur „Aufhebung
der formalen und semantischen Widersprüche […], welche der substantivischen
Wortgruppe aus der Entfaltung des Artikelgebrauchs erwuchsen.“ Durch die
Univerbierung von Rahmenkonstruktionen sind pränominale Genitivkonstruk-
tionen und Komposita allerdings bereits klar differenziert. Die Begründung der
Nachstellung mit Pavlovs (1983: 49) These, dass eine Trennung differenzie-
rungsbedürftiger semantischer Inhalte angestrebt werde, erscheint daher wenig
plausibel. Die Vermutung ist auch insgesamt gewagt: Ein Sprachsystem kann
verschiedene Funktionen sehr wohl langfristig durch formal gleiche Konstruk-
tionen realisieren – das zeigen z.B. Nennsyntagmen des Typs weißer Hai, Ge-
meiner Delfin (vgl. Kap. 2.2). Auch unser heutiges Sprachsystem hält derartige
Unsicherheiten zwischen Benennung und Beschreibung aus. Insgesamt erfasst
die Erwartung, dass durch Sprachwandel ein 1:1-Verhältnis zwischen Form und
Funktion entsteht, wie sie z.B. die Natürlichkeitstheorie (Mayerthaler 1981)
vertreten hat, weder die frühere noch die aktuelle sprachliche Wirklichkeit des
Dt., ungeachtet des jeweiligen Normierungsstands (Werner 1989).
Auch die Nominalklammer des Dt. ist ein Konzept, das die Ausbreitung des De-
finitartikels und die Nachstellung des Genitivs in einen Zusammenhang bringt,
und somit für die Entstehung des neuen Kompostionstyps fruchtbar gemacht
werden kann (Ronneberger-Sibold 1991). Die nhd. Nominalklammer besteht aus
einem eröffnenden Element, das stark flektiert (Artikelwörter, Adjektive), und
Erklärungsansätze für die Entstehung des neuen Kompositionstyps | 205
||
181 Unflektierte Einleitewörter (z.B. Zahlwörter, Präpositionen) können dennoch klammerar-
tig wirken (Ronneberger-Sibold 2010: 91), sie bilden Nominalklammern i.w.S.
182 Dass die Klammer nicht „aus sich selbst heraus“ entstehen kann, ist eigentlich selbstver-
ständlich, sei hier aber noch einmal betont, da die entsprechende Literatur formulierungsbe-
dingt auch teleologisch gelesen werden könnte. Zunächst muss es Strukturen geben, die aus
anderen Gründen entstehen – z.B. den Definitartikel, der pränominal erscheint und sich konti-
nuierlich ausbreitet. Sobald zufällige erste Ansätze da sind, ist es dagegen plausibel, dass die
Sprecherinnen und Sprecher ein generelles Bauprinzip erkennen, das eine analogische Verän-
derung weiterer Phänomene in Gang setzt.
206 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
Im Sinne des klammernden Verfahrens war diese Lösung doppelt ungünstig: Erstens fehl-
te der übergeordneten Nominalphrase eine Klammer, und zweitens führte zudem das ein-
leitende Determinans in die Irre: Je mehr sich die Klammerkonstruktion bei Nominalphra-
sen ohne vorangestelltes Genitivattribut durchsetzte, umso mehr waren vermutlich die
Hörer und Leser geneigt, jedes Determinans zunächst einmal als Eröffnung einer Klammer
zu betrachten, die durch das Kernsubstantiv der ganzen NP geschlossen wurde.
Alternative Lösungen, die eine Voranstellung des Determinans und sogar zusätzlich ein
klammeröffnendes Artikelwort in Kongruenz mit dem Kernsubstantiv ermöglichen, sind
das so genannte „unechte“ Determinativkompositum, z.B. die Mutterliebe, und das so ge-
nannte relationale Adjektiv, z.B. die mütterliche Liebe statt der/einer Mutter Liebe bzw. die
Liebe der/einer Mutter. Es ist daher kein Wunder, dass auch diese Konstruktionen im
Frühneuhochdeutschen das vorangestellte Genitivattribut ablösen […]
ren werden von morphologischen abgelöst. Dies erklärt den Großteil der Zu-
nahme von Komposita im Untersuchungszeitraum.
Zu den Gründen für die Entstehung des neuen Typs wurden drei Ansätze
vorgestellt. In allen dreien ist die Entstehung der neuen Komposita das Resultat
von Push-Faktoren: Bei Pavlov führt das Aufeinandertreffen von Artikel und
ambigen Strukturen zu einem eindeutigeren System, in dem sich Brückenkon-
struktionen syntaktisch oder morphologisch positionieren müssen, Demske
setzt eine Reanalyse pränominaler Genitivattribute als Artikelwörter an, die
pränominale Genitivattribute entweder verdrängt oder in die Komposition ver-
lagert. Demske (2001: 300–305) hält Pavlovs Ansatz für zu kurz gegriffen, Pa-
vlov (2009: 52) unterstellt Demske Unverständnis seiner Thesen. Ronneberger-
Sibold und Pavlov ergänzen sich dagegen sehr gut: Dass die von Pavlov be-
schriebene erzwungende Eindeutigkeit bei Rahmenkonstruktionen die Substan-
tivlesart befördert, wird von weiteren Entwicklungen in der Nominalklammer
gestützt.
Es kann als gesetzt gelten, dass die Entstehung des neuen Kompositions-
typs in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklung der Nominalphrase,
insbesondere des Artikels, steht. Der Prozess ist damit letztlich ein Glied in einer
langen Kette, die bis zu den germ. Akzentverhältnissen zurückreicht: Durch die
Verlagerung der Akzentposition auf die erste Silbe bzw. auf die Stammsilbe wird
langfristig ein Endungsabbau in Gang gesetzt, der insbesondere das Flexions-
system trifft. Das idg. Acht-Kasus-System wird bis zum Ahd. auf vier (restweise
fünf) Kasus reduziert, die später – gestützt durch die Nebensilbenabschwä-
chung – weiteren Synkretismen unterworfen sind (Sonderegger 1979: 98). Die
Sprecherinnen und Sprecher verlagern relevante Informationen zunehmend auf
bereits vorhandene Demonstrativpronomen, aus denen sich schließlich der
Definitartikel entwickelt. Im Mhd. kommt der Indefinitartikel hinzu (Sondereg-
ger 1979: 243). Die Artikel übernehmen nicht nur bereits vorhandene Kasus- und
Numerusinformationen sowie das zuvor parasitisch an Nominalklasse gekop-
pelte Genus, sondern ermöglichen nun auch die systematische Markierung von
Definitheit.183 Ihr Gebrauch breitet sich im Mittel- und Frühnhd. immer weiter
aus.
An diesem Punkt greifen die drei Ansätze: Nach Demske (2001) wird die neu
entstandene Artikelfunktion radikal ausgebaut, indem ihr auch vormalige Ad-
jektive (die Possessiva) und ihnen sehr ähnliche Substantive (die pränominal
erscheinenden Eigennamen mit possessiver Semantik) zugeschlagen werden.
Die Entstehung von Komposita ist ein Abfallprodukt pränominal verbliebener
||
183 Definitheitsanzeige war zuvor bereits durch die starke Adjektivflexion möglich.
Fazit zur Entstehung des neuen Kompositionstyps | 209
Appellative, die sich durch ihre große Fügungsenge als Nennsyntagmen der
Nachstellung widersetzen. Damit können die Komposita viel für Demske tun,
Demske aber nicht viel für die Komposita: Dass Nennsyntagmen mit großer
Fügungsenge sich dem Stellungswandel widersetzen, ist völlig unabhängig vom
Wandel der Artikelfunktion erwartbar. Erklärungsbedürftig ist nur der Stel-
lungswandel selbst, und dessen Herleitung ist einer der schwächsten Punkte
bei Demske: Die Ausweitung der Artikelfunktion auf die Eigennamen greift erst
an den Punkt des Stellungswandels, an dem belebte Appellativa nachgestellt
werden, Eigennamen aber nicht. Dass zuvor bereits Abstrakta und unbelebte
Konkreta nachgestellt wurden (und somit entsprechende Nennsyntagmen eben-
falls univerbiert werden mussten), fehlt hier völlig und ist auch nicht sinnvoll
an die Ausweitung der Artikelfunktion anzubinden. Demske stellt zwar einen
interessanten Zusammenhang zwischen verschiedenen morphosyntaktischen
Phänomenen her, ihr Ansatz kann aber letztlich nicht erklären, warum der neue
Kompositionstyp entsteht.
Die Ansätze von Pavlov (1983) und Ronneberger-Sibold (1991) gewinnen
durch die gemeinsame Betrachtung. Vieles, was Pavlov formuliert, entspricht
dem Klammerprinzip, seine Analyse bleibt allerdings auf Nominalphrasen mit
Genitivattribut oder Kompositum begrenzt – durch Ronneberger-Sibolds Kom-
bination klammerstärkender Wandelprozesse wird der starke Trend zum Zweit-
gliedbezug bei Brückenkonstruktionen wesentlich überzeugender.
9 Distribution der Kompositionsmuster 1500–
1900
Im Folgenden werden die Muster der ermittelten Komposita des (F)Nhd. be-
schrieben, d.h. die Distribution der Fugenelemente und das nichtverfugende
Muster. Das primär deskriptiv ausgelegte Kapitel ermöglicht einen direkten Ver-
gleich mit dem heutigen System in Kap. 4). Für das Ahd. und Mhd. liegen kaum
Daten zur Verfugung vor, der entsprechende Überblick dazu in Kap. 9.1 muss
deshalb knapp ausfallen. Bestehende Daten zur Verfugung im Fnhd. werden in
Kap. 9.2 vorgestellt, bevor in Kap. 9.3 die Auswertung des Mainzer Korpus folgt,
stellenweise auch unter Einbeziehung von GerManC-Daten.
https://doi.org/10.1515/9783110517682-009
Kompositionsmuster im Alt- und Mittelhochdeutschen | 211
Tab. 34: Verfugungsanteile nach Typen für das Mhd. und für 1500.184
Die korpusbasierte mhd. Grammatik von Klein et al. (2009) und die um Quellen-
angaben erweiterte Monographie von Meineke (2016) klammern Fugenelemente
komplett aus, Komposita werden hier ausschließlich aus semantischer Perspek-
tive betrachtet. Den aufgeführten Beispielen ist zwar zu entnehmen, dass ver-
fugte Komposita enthalten sind (z.B. gotespfenninc, heidenvolc, kelberbūch,
menschensūn, vrouwenkleit, hirtenstap, rindermarket), es wird aber weder eine
Abgrenzung gegenüber syntaktischen Konstruktionen getroffen, noch auf for-
male Aspekte eingegangen. Auch Angaben zur Frequenz der Komposition im
Gesamtkorpus und zum Vorkommen der genannten Typen fehlen.
Zur groben Einschätzung der mhd. Verhältnisse wurde daher eine eigene
Untersuchung mit dem Korpus der mhd. Grammatik (MiGraKo, Zugriff via ReM)
durchgeführt. Dabei wurden alle komplexen Substantive mit mindestens 6 Zei-
chen erhoben und semiautomatisch auf Kompositionsstatus überprüft (Abb.
41).185 Komposita mit dem Erstglied Gott wurden aufgrund ihres Sonderverhal-
tens getrennt ausgewertet (Abb. 42).
||
184 In den Mainzer Daten weisen 1500 nur zwei Komposita/Brückenkonstruktionen über-
haupt beide Muster auf (Bürger(s)tochter, Sommer(s)zeit), alle übrigen verhalten sich eindeu-
tig. Bürger(s)tochter hat zwei Tokens im Verhältnis 1:1, zählt also als „zu gleichen Teilen ver-
fugt/unverfugt“, Sommer(s)zeit hat vier Tokens, davon drei verfugt, zählt also zu „mehrheitlich
verfugt“. (Das Phänomen war mit 37 betroffenen Typen bei Weidman 1941a ebenfalls selten.)
185 Es wurden nur die Belege ausgewertet, die im angesetzten Lemma einen Bindestrich auf-
wiesen. Bindestriche werden in den ReM-Lemmata genutzt, um wortinterne Struktur zu mar-
kieren, z.B. wëg-ge-sèlle. Da auch Präfixe derart abgetrennt werden und die Wortart und Verfu-
gung des Erstglieds überprüft werden mussten, erfolgte die weitere Analyse dann manuell. Als
Kompositumskriterium wurde hier ausschließlich Zusammenschreibung im Original heran-
gezogen, die nicht ganz unproblematisch ist (vgl. Kap. 7.1.3). Es steht zu befürchten, dass ge-
trennt geschriebene Komposita fehlen (ebenso, wie eine Methode zu ihrer Bestimmung fehlt,
da die fnhd. Verhältnisse nicht direkt übertragbar sind), allerdings kann man relativ sicher da-
von ausgehen, dass die zusammengeschriebenen Formen auch tatsächlich Komposita sind.
212 | Distribution der Kompositionsmuster 1500–1900
100%
80%
60%
40%
20%
0%
Gesamt- Kompositions-
Tokens
fugentypes stammformtypes
UL-e 6 5 5
UL 5 5 3
er 9 7 3
er-s 2 1 1
es 15 7 5
s 27 6 6
en 69 24 12
n 296 128 73
e 254 53 32
0 5809 1427 537
Bei den Schwa-Fugen ist nicht immer erkennbar, ob es sich um einen Stamm-
auslaut oder um eine tatsächliche Fuge handelt. Im Korpus treten die folgenden
Kompositionsstammformen für eindeutig neue Fugenelemente auf:
||
186 Die Ergebnisse wurden um einzelne Funde der Suche nach Rahmenkonstruktionen er-
gänzt, bei denen sich heraustellte, dass sie ursprünglich zusammengeschrieben waren, bei der
Korpuserstellung jedoch getrennt tokenisiert wurden. Solche falschen Tokenisierungen kön-
nen auch andere Abfolgen zweier Substantive betreffen, die nicht überprüft wurden.
Kompositionsmuster im Alt- und Mittelhochdeutschen | 213
100%
80%
60%
40%
20%
0%
Gesamt-
Tokens
fugentypes
s 112 1
es 283 37
e 1 1
0 3 2
100%
80%
60%
40% 76,7% 87,6%
66,4%
20%
0%
Pavlov (1983) / Tokens Pavlov (1983) / Types Michel (2010) / Types
e, er NA NA 23
(e)s 531 214 63
(e)n 600 413 252
Ø 3721 1241 2217
Abb. 43: Verteilung der Verfugungsverfahren im Fnhd. Links: Pavlov (1983: 30–31), 1470-1530,
Tokens (n=4.852). Mitte: Typen (n=1.868).188 Rechts: Michel (2010) mit Lemmata aus Baufeld
(1996) (n=2.555).
||
187 Die Textsorten sollen die Textsortenverteilung der Untersuchungszeiträume widerspie-
geln (Pavlov 1983: 23–27). Dabei bleibt unklar, auf welcher Basis die Annahmen zur realen
Textsortenverteilung beruhen, d. h. ob man wirklich von einer für den jeweiligen Zeitraum
repräsentativen schriftsprachlichen Stichprobe ausgehen kann.
Die Daten wurden bereinigt (vgl. Pavlov 1983: 25), Rektionskomposita wurden ausgeschlos-
sen, Komposita mit wortartuneindeutigem Erstglied dagegen miteinbezogen.
188 Die Daten setzen sich aus den folgenden Typen bei Pavlov (1983: 30–31) zusammen: Null-
fuge=1, 2; (e)n-Fuge=6; s-Fuge=3, 4, 9. Weitere Verfugungstypen weist er nicht gesondert aus.
Bisherige Studien zum Frühneuhochdeutschen | 215
Eine Differenzierung nach konkreten Fugenelementen erfolgt bei Pavlov nur für
den ersten Untersuchungszeitraum, vgl.
Abb. 43 im linken Balken für Tokens, im mittleren für Typen. 76,7% der Tokens
bzw. 66,4% der Typen verfugen nicht. Jedes (e)n-verfugende Kompositum wird
im Schnitt 1,5-mal gebraucht wird, jedes (e)s-verfugende 2,5-mal und jedes
nicht verfugende dreimal.189
Verglichen mit heute zeigt sich eine deutliche Verschiebung zugunsten der
s-Fuge – bei den Typen auf Kosten der beiden anderen Verfahren, bei den To-
kens dagegen nur auf Kosten der (e)n-Fuge:190
Tab. 35: Verfugungsanteile für Fnhd. und Nhd. im Vergleich (nur ausgewählte Fugenelemente).
∅ (e)s (e)n
Diese Unterschiede sind zu einem guten Teil der erst später in großem Stil ein-
setzenden Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge geschuldet (vgl. Kap. 12).
Sie macht bei Pavlov (1983) einen Anteil von 0,6% an allen Typen aus, bei
Kürschner (2003) dagegen 17,8%.
Eine kleinere, rein synchrone Untersuchung liegt mit Michel (2010) für den
Zeitraum von 1350 bis 1600 vor, als Basis dient das fnhd. Wörterbuch von Bau-
feld (1996). Michel (2010: 84) fasst unter Komposita diejenigen Wörterbuchein-
träge, die Zusammenschreibung aufweisen oder, bei Getrenntschreibung, eine
||
Typ 5 umfasst verschiedene Verfugungstypen, es handelt sich um alle Erstglieder die, vor oder
nach Antritt der Fuge, auf -er enden. Da eine nachträgliche Trennung in Null- und er-Fuge un-
möglich ist, bleibt er unberücksichtigt. Betroffen sind 226 Tokens und 207 Typen.
189 Die Tokens wurden nur in 18 von 29 Quellen ermittelt, die Typen dagegen in allen. Da die
Zahl verschiedener Typen von der Textgröße abhängt, ist ein direkter Vergleich von Typen und
Tokens auf Lexemebene nicht sinnvoll.
190 Aufgrund der noch nicht lexemgebundenen s/es-Verteilung im Fnhd. wurden diese Werte
bei Pavlov (1983) nicht getrennt. Für Kürschner (2003) Daten (n=488) wurden die sieben Belege
mit es-Fuge daher ebenfalls mit einberechnet, anders als sonst in dieser Arbeit, wo sie der Kate-
gorie „Sonstige“ zugeschlagen werden.
216 | Distribution der Kompositionsmuster 1500–1900
Entität bezeichnen. Die 2.555 nativen NN-Komposita zeigen eine deutliche Do-
minanz der Nullfuge (87%, vgl. Abb. 57). Es treten nur zwei Fälle unparadigmi-
scher s-Verfugung auf (freihartsbube ‚Freiheitsbub, Landstreicher‘, huetsfeuer
‚Hütefeuer‘).191 Michels Materialauswahl ist allerdings aus mehreren Gründen
problematisch: Die erste Entscheidung über den Wortstatus bleibt der Lexiko-
graphin überlassen, die zu ihren Auswahlkriterien keine Angaben macht. Au-
ßerdem wurden in erster Linie Lemmata aufgenommen, „deren Bedeutung
[nicht] auch in älteren Sprachständen verständlich ist“ (Baufeld 1996: IX), Ein-
träge für Majestät, Religion oder Warnung sowie entsprechende Komposita, die
für das Verfugungsverhalten von großem Interesse wären, fehlen daher. Außer-
dem scheinen Komposita, deren Bedeutung nicht lexikalisiert ist, nur vereinzelt
aufgenommen worden zu sein. Dies kann dazu führen, dass typische frühe Kon-
texte für unparadigmische s-Fugen unberücksichtigt bleiben, ihr Status margi-
naler erscheint als er ist. Hinzu kommt, dass eine Wörterbuchuntersuchung
Lemmata untersucht, deren Form lexikografisch festgelegt wurde, d.h. eventu-
elle Schwankungsfälle bleiben unsichtbar. Michels Daten werden zwar der Voll-
ständigkeit halber aufgeführt, sollten aber weitaus weniger ernst genommen
werden als die von Pavlov (1983).192
||
191 Michel (2010) ordnet es wohl Hut ‘Schutz’ zu, hier scheint aber auch eine verbale Grund-
lage (hüten) möglich.
192 Stichprobenartig (Bd. 1, Spalte 1–732) wurde auch das fnhd. Wörterbuch (Reichmann et al.
1989–) auf seine Eignung als Datengrundlage überprüft. Es ergaben sich allerdings zu viele
Probleme für eine systematische Auswertung: Die Lemmata wurden gelegentlich gegenüber
den Belegen normalisiert (z.B. Lemma adamsapfel, Beispiel aber daneben auch Adâmes öpfel;
Lemma akzisebrief, Beispiele aber accisbrief, Accysbriefgen mit subtraktiver Fuge), bei schwan-
kender Verfugung wurden teilweise getrennte Einträge angelegt (z.B. adelman, adelsman; ada-
mantstein, adamantenstein), teilweise ein Eintrag mit geklammertem Fugenelement (abzug(s)-
geld) und teilweise ein Eintrag, bei dem im Lemma keine Fuge auftritt, im Beispiel aber schon
(Lemma: ackerteil, Beleg: auch ackerstheil). Hinzu kommt, dass in den Belegen auch Konstruk-
tionen auftreten, die in dieser Arbeit als Brückenkonstruktionen eingeordnet wurden. Da das
Wörterbuch außerdem keine diachronen Schnitte erlaubt und Okkasionalismen fehlen, wurde
von der Analyse dieser Komposita abgesehen.
Mainzer Korpus | 217
Fugen, die auf das Flexiv der starken und gemischten Maskulina und Neutra zu-
rückgehen, finden sich im Fnhd. bereits in allen drei Formen, die auch heute zu
beobachten sind – als einfache s-Fuge, als „subtraktive“ s-Fuge und als es-Fu-
ge:
1590 14,9% (81) 11,2% (35) 0,2% (1) 0,3% (1) 1,5% (8) 2,2% (7)
1620 11,3% (63) 15,2% (41) 0,2% (1) 0,4% (1) 0,9% (5) 1,5% (4)
1650 14,0% (65) 14,5% (46) 0,6% (3) 0,9% (3) 1,1% (5) 0,9% (3)
Die s- und die es-Fuge treten im Fnhd. noch nicht unter unterschiedlichen Be-
dingungen auf, die heutige Situation bildet sich erst später heraus (s. gleich
Kap. 9.3.1.2). Die es-Fuge ist allerdings – wie in der Flexion auch – von Anfang
an die seltenere Variante, die relativ hohe Tokenfrequenz ihrer Komposita um
1710 geht ausschließlich auf das Erstglied Gottes- (24 Token) zurück.
Bis 1590 erscheint die s-Fuge immer paradigmisch, ihre Erstglieder entspre-
chen also in Struktur und Zusammensetzung den entsprechenden Flexionsklas-
sen – eine Bestimmung z.B. phonologischer Merkmale der Erstglieder erübrigt
sich damit. Zwischen 1590 und 1710 tritt eine wachsende Anzahl unparadig-
misch s-verfugender Komposita auf (80 Tokens, 54 Typen), darunter keine mit -
es-, aber vier subtraktive Fälle. Sie werden in Kap. 12 ausführlich analysiert. Die
subtraktive s-Fuge und die es-Fuge bedürfen einer genaueren Betrachtung: Bei
der subtraktiven s-Fuge stellt sich die Frage nach der Herkunft der Subtraktion,
bei der es-Fuge die Frage danach, wann und wie sie als lautliche Alternative zur
s-Fuge verschwand.
218 | Distribution der Kompositionsmuster 1500–1900
25%
s (Token)
s (Typen)
20% xs (Token)
xs (Typen)
es (Token)
15%
es (Typen)
10%
5%
0%
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
Abb. 44: Visualisierung der Daten aus Tab. 36. Die subtraktive Fuge wird als „xs“ notiert. (Um
einen Vergleich auch mit den selteneren Varianten zu ermöglichen, wurde das Achsenmaxi-
mum auf 25% heruntergesetzt.)
||
193 Bei frids […]zeiten ließe sich auch für einen temporär stark flektierenden Genitiv argumen-
tieren, durch die Koordination mit dem eindeutigen Kompositum Kriegszeiten erscheint das al-
lerdings unwahrscheinlich. Hinzu kommt, dass Fried im Korpus für den Nominativ zwar gele-
gentlich belegt ist, im Genitiv aber stets Frieden(s) erscheint.
Mainzer Korpus | 219
Tab. 37: Vorkommen ausgewählter Erstglieder mit subtraktiver s-Fuge als freie Lexeme mit
(„x“) und ohne Apokope (-e) im Mainzer Korpus.
x -e
Hilf(e) 69 24
Gebirg(e) 3 5
Geschicht(e) 14 7
Lieb(e) 68 108
Fried(e) 16 19
Hier zeigt sich ein Relikt der Apokope (Reichmann & Wegera 1993: 81). Sie wirk-
te auf auslautendes Schwa ein, wurde aber in Abhängigkeit von ihrer Funktion
gehemmt bzw. noch im Verlauf des Fnhd. restituiert (vgl. Kap. 7.2.2.2). Gelegent-
lich ging mit der apokopierten Form auch Genusschwankung einher, so z.B. bei
Hilffe (F) und Hilff (M) (vgl. Grimm & Grimm 1854–1961). Nübling & Szczepaniak
(2013: 71) führen subtraktive Kompositumserstglieder auf ahd. Verlust des Fu-
genvokals zurück (sie führen dabei fugenlose Beispiele wie Erd- an). Das Phäno-
men kann zur subtraktiven Fuge beigetragen haben, es erscheint aber unwahr-
scheinlich, dass es alleine ausschlaggebend war: Erstglieder wie Geschichte
sind für das Ahd. nicht belegt, hier ist eine Entstehung durch Univerbierung
oder das daraus entstandene Muster plausibler. Umgekehrt treten Stämme, für
die ahd. Vokalverlust angesetzt wird (z.B. bluoma), im Untersuchungszeitraum
nicht subtraktiv auf.
Die Formen variieren dabei nicht völlig frei: Die es-Fuge tritt nur bei zehn ein-
silbigen Erstgliedern auf (Geist, Gott, Kind, König, Krieg, Land, Leib, Mann, Tag,
Tod, Weib). Dabei zeigt sich eine Bevorzugung stimmhafter Obstruenten: Hier
wird in 20,3% der Fälle es-verfugt, bei den nicht von der Auslautverhärtung
betroffenen stimmlosen Obstruenten und sonstigen Lauten liegen dagegen nur
drei Belege vor (Geistes-, Gottes-, Mannes-). Es lässt sich also, ähnlich wie bei
der verbalen Schwa-Fuge (Kap. 4.10), ein Trend zur Trochäusbildung beobach-
ten (die es-Fuge tritt nur an Einsilber), wobei solche Fälle präferiert werden, bei
denen der Stammauslaut vor der Auslautverhärtung geschützt wird. Eine Aus-
nahme bildet Gottes-: Hier dominiert trotz t-Auslaut die es-Fuge massiv (91,2%).
Dass eine getrennte Analyse angebracht ist, zeigt der zeitliche Verlauf in Abb.
45 (aufgrund niedriger Belegzahlen in nur zwei Zeiträume zusammengefasst):
Die es-Fuge tritt bei Gott durchgehend dominant auf. Die es-Fuge der stimmhaf-
ten Obstruenten bildet sich dagegen erst heraus. Sie erhöht ihren Anteil bis 1710
deutlich, dominiert jedoch nicht.194
100%
80%
60%
40%
20%
0%
1500- 1620- 1500- 1620- 1500- 1620- 1500- 1620-
1590 1710 1590 1710 1590 1710 1590 1710
sth. Obstruenten stl. Obstruenten Sonstige Gott
s 38 56 22 53 17 35 1 4
es 3 21 1 1 7 45
Abb. 45: Einsilber zwischen es- und s-Fuge im Mainzer Korpus (n=304).
||
194 Für die Genitivflexion von Gott zeigt Kopf (eingereicht,b) im Zeitraum 1500 bis 1899 an
DTA-Daten ebenfalls eine durchgängig massive Präferenz von -es. Die lange Endung bei ver-
gleichbaren Einsilbern mit t-Auslaut nimmt zwar kontinuierlich zu, dominiert aber erst im 19.
Jh. Das Verhalten der d-Auslauter liegt dazwischen, hier ist -es ab der zweiten Hälfte des 16. Jh.
die häufigste Wahl.
Mainzer Korpus | 221
Ein Vergleich mit dem es-Flexiv ist hier leider nicht möglich. Wegera (1987: 63–
64) liefert nur stark zusammengefasste Ergebnisse, die besagen, dass genitivi-
sches -es nicht an mehrsilbige Stämme auf Nasal oder Liquid tritt und diese
auch in einsilbigen Stämmen meidet, während es starke Präferenzen für denta-
len Auslaut hat. Eine Unterscheidung nach Stimmhaftigkeit erfolgt hier nicht
und es bleibt unklar, wie mit dem Lexem Gott verfahren wurde. Damit lässt sich
an dieser Stelle nicht entscheiden, ob die Präferenz für stimmhafte Obstruenten
wortbildungsspezifisch ist oder das Flexionsverhalten spiegelt.
In den GerManC-Daten und im Mannheimer Zeitungskorpus treten 22 Erst-
glieder mit es-Fuge auf, wobei hier nun auch Lexeme stärker vertreten sind, die
nicht auf stimmhafte Obstruenten auslauten (sth. Obstruent: Bund, Hund, Krieg,
Land, Leib, Sang, Stand, Tag, Tod, Verstand, Wald, Weib; andere Auslaute:
Fleisch, Geist, Gesetz, Gott, Jahr, Kreuz, Licht, Mann, Meer, Text). Mit Verstand
und Gesetz sind außerdem erstmals Zweisilber betroffen, allerdings nur solche
mit unbetontem Präfix. Die phonologische Affinität bricht im Gegenwartsdt.
weiter auf: Unter den 54 es-verfugenden Erstgliedern, die Canoo.net verzeichnet
(s. Anhang, Kap. 16.2.15), weisen nur noch 23 einen auslautenden stimmhaften
Obstruenten auf. Die Bevorzugung einsilbiger Basen hält sich dagegen. Zu den
Mehrsilbern Verstand und Gesetz kommen nur komplexe Jahr-Erstglieder (Vor-
jahres-, Vierteljahres-, Halbjahres-). In anderen Fällen bildet sich eine Oppositi-
on heraus, sodass der Einsilber trochäisch wird, während komplexe Basen ihre
bestehende Struktur wahren, sei dies durch die s-Fuge wie in (106) oder durch
Nichtverfugung wie in (107):
Im Fnhd. und insbesondere im frühen Nhd. zeichnet sich also kurzzeitig eine
auslautbedingte Konditionierung der es/s-Verteilung ab, die sich allerdings
nicht weiter ausbildet oder hält – die es-Fuge erscheint im Nhd. regulär auch
mit einsilbigen Stämmen, die nicht auf stimmhaften Obstruenten auslauten. Re-
levanter scheint hier die Schaffung eines trochäischen Betonungsmusters für
Kompositumserstglieder.
222 | Distribution der Kompositionsmuster 1500–1900
9.3.2 (e)n-Fuge
Die Verteilung von n- und en-Fuge entspricht, wie heute noch, dem Auftreten im
Flexionsparadigma, wobei größere Nähe zur Flexion besteht: Da die Reorgani-
sation der femininen Deklinationsklassen in den Untersuchungszeitraum fällt
(vgl. Kap. 5.1.1, 5.2.1.3), stimmt die (e)n-Fuge nach femininem Erstglied auch mit
dem Genitiv Singular überein, nicht nur mit dem Plural (Glockenklang, Kyrchen-
Geschichte). Die Loslösung der Fugenelemente von ihrer flexivischen Basis hat
hier noch nicht begonnen, vergleichbares gilt für maskuline und – in geringem
Umfang – neutrale Klassenwechsler. Besonders auffällig ist, dass die n-Fuge im
gesamten Untersuchungszeitraum das dominierende Kompositionsverfahren
für schwaauslautende Erstglieder ist: Während Erstglieder anderer Flexions-
klassen oder Struktur häufig nicht verfugen, ist Nichtverfugung für diese Grup-
pe nur eine marginale Option (s. auch Kap. 9.3.5). Es handelt sich also um den
systematischsten und konsequentesten Fall der Übernahme des neuen Musters
auch in alte, bereits bestehende Komposita.
-n- -en-
Token Typen Token Typen
seltener auf als die n-Fuge.195 Ihr Anteil erhöht sich im Untersuchungszeitraum
nicht. Bedingt ist das dadurch, dass die entsprechenden Flexionsklassen eben-
falls kaum neue Mitglieder dieser Struktur aufnehmen. Das ändert sich mit der
Übernahme neuer, finalbetonter, konsonantisch auslautender belebter Masku-
lina insbesondere aus dem Frz., aus denen sich ein zweiter Prototyp für die
schwachen Maskulina herausbildet (Köpcke 1995). Erste Vorläufer finden sich
bereits im Mainzer Korpus in den letzten beiden Zeiträumen: Regenten=Tugend,
Soldaten=Excesse.
25%
n (Token) n (Typen) en (Token) en (Typen)
20%
15%
10%
5%
0%
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
Abb. 46: Visualisierung der Daten aus Tab. 38. (Achsenmaximum auf 25% heruntergesetzt.)
||
195 Hier ist allerdings Vorsicht angebracht, die Entscheidung erfolgt auf Basis der nhd. Form
– da im Fnhd. häufig Schwa-Apokope zu beobachten ist (s. Kap. 9.3.1.1), ließe sich wahrschein-
lich bei vielen Formen genauso eine en-Fuge ansetzen.
224 | Distribution der Kompositionsmuster 1500–1900
||
196 Z.B. Tragöd-ia/ien > Tragödie-n, Privileg-ium/ien > Privileg-ien.
197 Z.B. Anglizismenjäger, Themenfabrik, Forenimplikatur, aber Traumahotline, Virusfessel
(alle Belege aus der Wortwarte).
Mainzer Korpus | 225
9.3.3 (e)ns-Fuge
Token Typen
Drache 9:0 n
Mensch 5:1 en
Pfau 1:0 en
Schwan 1:0 en
Glaube 0:12 ns
Name 0:2 ns
Mond 0:3* ∅
Schmerz 0:1 ∅
Sinn 1:0 ∅
Stern 1:0 ∅
Die Daten lassen sich in vier Gruppen einteilen: Die erste Gruppe hat heute ei-
nen n-erweiterten Stamm und weist damit kein Fugenelement auf. Die drei Mit-
glieder weisen im Korpus keine Schwankung mit der ns-Fuge auf. Hier lässt sich
– insbesondere für Brunne(n) – ziemlich sicher sagen, dass die entsprechenden
Komposita bereits vor dem Klassenwechsel gebildet wurden. Der Klassenwech-
sel selbst ist allerdings nicht ohne weiteres datierbar. Im Anhang (Kap. 16.2.1)
wurde der Genitivstand für verschiedene Klassenwechsler erhoben. Für alle drei
Substantive zeigt sich schon Anfang des 17. Jhs. dominierende (n)s-Flexion, ihre
Komposita müssen also schon früher gebildet worden sein. Wünschenswert wä-
Mainzer Korpus | 227
ren aber ältere Daten. (Das Bonner Fnhd.-Korpus hat einen zu geringen Um-
fang, um hierfür sinnvoll ausgewertet zu werden.)
Bei Gruppe 2 verhält es sich wie bei Gruppe 1, nur dass der Stamm nicht n-
erweitert wurde, weshalb -(e)n- noch immer als Fugenelement erkennbar ist.
Gruppe 3 weist dagegen das neue Flexiv auch in der Fuge auf, wobei Friede und
Herz schwanken, Glaube und Name nicht. Außer Herz weisen alle Mitglieder be-
reits im 14./15. Jh. ns-Flexive auf, können also schon früh durch Univerbierung
ns-verfugen. Gruppe 4 verfugt heute in Neubildungen nicht mehr.
Der Unterschied zwischen Gruppe 1/2 und Gruppe 3 kann also durch ver-
schiedene Übertrittszeitpunkte des Erstglieds bedingt sein: Liegt dieser bei der
einen Gruppe noch vor, bei der anderen erst nach der Entstehung des Komposi-
tionstyps, so kann das zum Univerbierungszeitpunkt gebräuchliche Flexiv zur
Fuge werden. Das ist plausibler als die alternative Annahme, dass die neue Fu-
ge erst nach dem Klassenwechsel anstatt einer vorherigen, s-losen auftritt: In
diesem Szenario bliebe unerklärt, warum sich die eine Gruppe mit dem Fugen-
wechsel an die neue Flexion „anpasst“, die andere jedoch nicht. Entsprechend
zeugt die Beibehaltung der alten, s-losen Fuge bei Gruppe 2 wahrscheinlich da-
von, dass bereits im Untersuchungszeitraum fossiliert unparadigmische Fugen
auftreten, die Ablösung vom Flexionssystem also schon begonnen hat.
||
198 Vgl. Fn. 132, auch zum hier unberücksichtigen Erstglied sprüch-, und Fn. 133 zum hier un-
berücksichtigten Erstglied stühl-.
228 | Distribution der Kompositionsmuster 1500–1900
2018). Sie tritt allerdings in einem Reimbeleg auf. An anderer Stelle nutzt Opitz
dagegen den Plural Lüfte.199 Auch die Form des Kompositums selbst kann der
gewünschten Ähnlichkeit mit Löwenzwinger geschuldet sein (108).200
Tokens Typen
e | UL-e | UL e | UL -e | UL
1560 0 0
||
199 „Gleich als auch Etna scheußt auß seinen tieffen klüfften / Ein' vngegründte See der flam-
men in die lüfften“, aber: „Wer will / mag in die Lüffte fliegen / […] Ich lasse mich an dem be-
gnügen […]“ (Opitz, Martin: Teutsche Pöemata und: Aristarchvs Wieder die verachtung Teut-
scher Sprach. Straßburg, 1624. Via DTA.)
200 Die Passage ist übersetzt aus Daniël Heinsius’ Nederduytsche poemata (1616), sie lautet im
Original: „Nachtlooper, heupe-soon, hoochschreeuvver, grooten springer / Goetgever, minne-
vriendt, hooftbreker, leeuvvendvvinger“.
Mainzer Korpus | 229
Tokens Typen
1500 0 0
1530 20 6 kindertauffs (3x), hüner ey, eyer weyß (6x), eier schalen (4x),
eyer klar, eyer dotter (5x)
1590 0 0
1620 0 0
Semantisch entspricht der Befund der in Kap. 5.2.2 dargestellten älteren Schicht.
Abgesehen von den Rektionskomposita – die hier möglicherweise wegbereitend
wirken – zeichnen sich bei der e-Fuge noch keine neuen, pluralisch zu lesenden
Erstglieder ab.
9.3.5 Nichtverfugung
||
201 Die nichtverfugende Gruppe beinhaltet auch Erstglieder, die zwar als substantivisch
gewertet wurden, bei denen aber auch ein Verbalstamm möglich wäre (vgl. Kap. 4.10, Kap.
7.2.6.3). Bei den Komposita mit subtraktivem Erstglied sind 47 Tokens mit 17 Erstgliedern be-
troffen (z.B. Beicht(e), Erb(e), Klag(e), Straf(e)), hier läge bei einer VN-Analyse unverfugter
Verbalstamm vor. Bei den übrigen nichtverfugten Komposita finden sich 33 Erstglieder (z.B.
Ernte, Ruhe; Schlaf, Streit) bei 91 Tokens, als Verben wären sie schwa- oder unverfugt. Die Fälle
machen zusammen 5,9% der nicht-verfugten Tokens aus, die Verhältnisse ändern sich bei
einer Berechnung ohne sie kaum.
230 | Distribution der Kompositionsmuster 1500–1900
Tab. 43: Token- und Typenfrequenzen des nichtverfugenden Musters im Mainzer Korpus.
100%
Ø (Token) Ø (Typen) x (Token) x (Typen)
80%
60%
40%
20%
0%
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
Abb. 47: Visualisierung der Daten aus Tab. 43. Die subtraktive Fuge wird als „x“ notiert.
Tab. 43 führt subtraktive Fugen gesondert auf, das Vorgehen ist, wie bei der s-
Fuge, ahistorisch. Es dient dazu, zu bestimmen, welche und wie viele Substan-
tive das Muster auch nach der Restitution des Schwa-Auslauts bewahrt haben.
Mainzer Korpus | 231
100%
Maskulina/Neutra Feminina
80%
60%
40%
20%
0%
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
9.3.6 Zusammenfassung
https://doi.org/10.1515/9783110517682-010
234 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
in vielen Fällen lässt sich eine Restriktion sowohl input- als auch outputbezo-
gen formulieren. Formale Restriktionen sind allerdings häufig eine Folge se-
mantischer Beschränkungen und damit ein Epiphänomen – so kann eine ver-
meintlich morphologische Beschränkung eines Derivationsmusters auf kom-
plexe verbale Basen in Wirklichkeit dadurch bedingt sein, dass nur Verben ei-
ner bestimmten Semantik genutzt werden und diese häufig durch Derivation ge-
bildet werden (vgl. z.B. Hartmann 2016: 147–148).
Die Komposition ist ein gegenwartssprachlich quantitativ wie qualitativ
hochproduktives Muster. Sie unterliegt kaum Restriktionen: Beide Bestandteile
können hochgradig derivationell oder kompositionell komplex sein (Rind-
fleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz).202 Die Grenze
bildet, ähnlich wie bei der Einbettung in der Syntax, die kognitive Verarbeitbar-
keit. Bei Derivationsmustern gibt es nichts Vergleichbares. Meist ist stark einge-
schränkt, welche Suffixe in welcher Reihenfolge miteinander kombinierbar sind
(Monosuffix Constraint, z.B. Aronoff & Fuhrhop 2002, Eisenberg 2006: 282–
284), ein komplexes Derivat wie Unvereinbarkeit stellt mit vier Derivationspro-
zessen bereits eine Seltenheit dar.
Die Kombination von fremdem und nativem Material ist bei Komposita
problemlos möglich (Faketelefon, Unterhaltungsgag). Munske (2009: 227) be-
zeichnet sie sogar als „das größte Labor der ‚Integration‘ lexikalischer Elemente
verschiedener Herkunft in neuen Wortkonstruktionen.“ Die Lautstruktur der
beiden Bestandteile spielt keine Rolle für ihre Kombinierbarkeit. Die semanti-
sche Relation zwischen Erst- und Zweitglied ist nicht durch das Muster einge-
schränkt (abgesehen von ‚hat nichts zu tun mit‘), das spezifische Zweitglied
macht lediglich bestimmte Erstglieder plausibler (z.B. Stall die darin lebende
Tierart, s. Fn. 216). Meineke (1991: 41) weist darauf hin, dass die Grenzen der
Komposition durch ihre Denotate bestimmt werden (auch „sachlogische[…]
Kompatibilität“, Meineke 1991: 69):
Ein morphologisch und lexikalisch mögliches Kompositum kommt dann nicht zustande,
wenn der Begriff vom Sprachträger als unsinnig empfunden wird. Morphologisch ist die
||
202 Werner (2016: 293) verweist darauf, dass deverbale Zirkumfigierungen vom Typ Geschreie,
Gelache nicht als Erstglieder auftreten. Hier dürfte weitgehend Blockierung durch eine mor-
phologisch einfachere, verbale Alternative bestehen (Schreikrampf, Lachanfall). Ähnliche Fälle
finden sich bei Eisenberg (2006: 227), der in AN-Komposita derivierte adjektivische Erstglieder
vom Typ *Trinkbarwasser ausschließt. Grund dürfte hier nicht die von ihm angenommene
Komplexität oder Adjektivsemantik sein, sondern die einfachere VN-Alternative Trinkwasser.
Korpusdaten zeigen aber dennoch vereinzelte Bildungen (in der schwalosen Variante), z.B.
Geschrei-Dossier (Die Zeit, 06.06.2002), Geschreigeschütz (Brockhaus 1906).
Produktivität von Komposita | 235
Bildung *Küchenziegel nicht weniger ‚korrekt‘ als Dachziegel. Aber die sprachliche Exis-
tenzmöglichkeit des erstgenannten Kompositums ist aufgrund des Nichtvorhandenseins
der Sache nicht gegeben.
Abb. 49: Typenfrequenz von Komposita nach Erst- (1=) und Zweitgliedwortarten (2=) bei Ortner
et al. (1991: 37). Blöcke gleicher Farbe gehören zur gleichen Zweitgliedwortart, die Größe jedes
Blocks zeigt den relativen Anteil der konkreten Erst- und Zweitgliedwortartkombination (z.B.
NN, NA, …). Die unbeschrifteten kleinen weißen Blöcke sind v.l.n.r. die mit den Erstgliedwortar-
ten N/V (217), Rest (168) und V (139).
Unterschiede zeigen sich bei den beteiligten Wortarten, wobei hierzu keine Pro-
duktivitätsdaten vorliegen. Bei den Typenfrequenzen der Innsbrucker For-
schungsstelle (vgl. Abb. 49) hat der Hauptteil der Komposita ein substantivi-
236 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
||
203 Für die Berechnung der Adjektive wurden partizipiale Zweitglieder ebenfalls miteinbezo-
gen (Zahlen bei Pümpel-Mader et al. 1992: 19), anders als bei Ortner et al. (1991: 37).
204 Als Neubildung gilt hier, was in Wörterbüchern nicht belegt ist oder Konzepte bezeichnet,
die es vor 1945 noch nicht gab.
205 Bei den meisten Wortgruppen scheint es sich um Eigennamen wie sowjetische Besatzungs-
zone zu handeln, es sind aber auch andere Nennsyntagmen enthalten. Insgesamt sind 85% da-
von Nominalphrasen (Harlass & Vater 1974: 92).
Produktivität von Komposita | 237
||
206 Solling (2012) schließt sich dem an und argumentiert mit einem großen Einfluss der lu-
therschen Bibelübersetzung – so sind hier rund 30% mehr Komposita vorhanden als in ande-
ren Übersetzungen des 15./16. Jh. und es lassen sich in späteren Auflagen Komposita beobach-
ten, wo in früheren noch Genitivkonstruktionen gebraucht wurden. Diese Zahl muss allerdings
mit Vorsicht betrachtet werden, sie stammt von Reagan (1981: 119) und beinhaltet neben (ver-
fugenden wie unverfugenden) NN-Komposita auch andere Komposita sowie Derivate und
Konversionsprodukte mit (ehemals) verbaler Partikel. Es bleibt außerdem fraglich, ob daraus
ein Vorbildcharakter Luthers abgeleitet werden kann, eventuell spiegelt sich hier auch umge-
238 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
jedoch bisher. Dabei stellt sich die Frage, wann und wie das verfugte Komposi-
tionsmuster produktiv wurde, welche Rolle es für die NN-Komposition spielt
und ob verfugte und unverfugte Muster unterschiedlich produktiv waren oder
sind. Gegenwartssprachlich ist es von großem Interesse zu zeigen, welche ver-
fugten Typen noch neue Mitglieder aufnehmen, in welchem Umfang das pas-
siert und ob Unterschiede in der Produktivität durch den Erstgliedinput voll-
ständig erklärt werden können.207
Die wenigsten Daten liegen zur Frühphase verfugter Komposita vor: In vorahd.
Zeit sind vornehmlich Bildungen nach dem alten Muster belegt, das erste uni-
verbierte Kompositum ist got. báurgs-waddjus ‚Stadtmauer‘ (Carr 1939: 311). Da
der neue Kompositionstyp in mehreren germ. Sprachen bereits früh in Ortsna-
men (Kelbiresbach, Pletirsbach) und Pflanzenbezeichnungen auftritt (Grimm
1826: 409), geht Carr davon aus, dass er bereits vor dem got. Erstbeleg üblich
geworden war, nicht jedoch im Urgerm. (Carr 1939: 268). Im Ahd. treten Brü-
ckenkonstruktionen und Univerbierungen208 von Anfang an auf, wobei sowohl
||
kehrt ein sich sowieso ausbreitendes Muster und Luthers progressiver Umgang mit Sprache
macht dies nur früher sichtbar als andere Texte.
207 Eine Produktivitätsbestimmung nach einzelnen semantischen Grundrelationen könnte
ebenfalls interessante Erkenntnisse erbringen.
208 In den meisten Fällen sind Kontext und Schreibung in der Literatur nicht nachgewiesen
(und es ist unklar, ob Originalhandschriften bzw. originalgetreue Editionen herangezogen wur-
den), sodass zahlreiche der als Komposita bezeichneten Konstruktionen eventuell mit dem
Wissen über spätere Entwicklungen kategorisiert wurden, Angaben dazu finden sich i.d.R.
nicht. Carr (1939: 317) erwähnt für das Engl., dass er eine Reihe getrennt geschriebener Kon-
struktionen „on account of the isolation of meaning“ als Komposita betrachtet, auch unter den
ahd. Belegen finden sich vereinzelt getrennt geschriebene. Gröger (1911: 35) merkt an, dass „die
Grenze zwischen Genitivcompositum und syntaktischem Gefüge oft kaum gezogen werden
kann“.
Produktivität und Fugenelemente | 239
ihre Konstituenten als auch die Denotate bis ins 11. Jh. vornehmlich der unmit-
telbaren Lebenswelt entstammen; typischerweise werden so Bezeichnungen für
Pflanzen, Wohnstätten, Wochentage, Tageszeiten, Körperteile, Verwandt-
schaftsverhältnisse, Kleidung und Gerätschaften gebildet (Grimm 1826: 599–
602, Gröger 1911: 40–41, Szczepaniak 2016: 330). Daneben finden sich für fast
alle belegten Brückenkonstruktionen bzw. univerbierten Komposita auch Kom-
posita des idg. Typs (Szczepaniak 2016: 331). Ab dem 12. Jh. sind wesentlich
mehr Brückenkonstruktionen bzw. Univerbierungen zu finden, die nun auch
semantisch nicht mehr eingeschränkt sind (Gröger 1911: 42).
Szczepaniak (2016: 331) argumentiert dafür, dass das verfugende Muster in
ahd. Zeit bereits wesentlich weiter entwickelt war als gemeinhin angenommen:
In many cases, the inflectional vowels in the first part of improper compounds were influ-
enced by the quality of the corresponding linking vowel in proper compounds (Gröger
1911: 35–37). This also strongly suggests that the reanalysis of the improper compounds
was very advanced and that they were perceived as units of word formation.
Typen betrachtet werden. Das Problem wird in der Literatur jedoch gemeinhin
nicht erwähnt (die einzige Ausnahme bildet Weidman 1941a, vgl. Kap. 9.1),
häufig bleibt daher unklar, wie die gelieferten Zahlen zustandekommen.
Im Folgenden schlage ich ein Kategorisierungssystem vor, das alle unter-
schiedlichen Einteilungen differenziert: Ein Kompositum inklusive seiner spezi-
fischen Fuge wird als „Gesamtfugentyp“ bezeichnet und ein Kompositum, bei
dem das Verfugungsverhalten unberücksichtigt bleibt, als „Gesamt(komposi-
tums)typ“. So machen die fünf in Tab. 44 oben angegebenen Belege vier Ge-
samtfugentypen, aber nur drei Gesamttypen aus. In beiden Fällen ist es heraus-
fordernd, Schwankungsfällen gerecht zu werden: Nutzt man den Gesamttyp, so
lassen sie sich gar nicht erfassen; beim Gesamtfugentyp erhält das entspre-
chende Kompositum dagegen ein größeres Gewicht in den Daten als ein Ge-
samttyp, der nicht schwankt, weil es zweimal gezählt wird.
solche Berechnung allerdings aus zwei Gründen verzichtet: Zum einen treten
insgesamt nicht sehr viele Schwankungsfälle auf, sodass sich die zum anderen
sehr aufwändige Berechnung kaum lohnt. Insbesondere für die Produktivitäts-
maße muss schließlich sowieso mit ganzen Zahlen gerechnet werden.
Ein Typ kann jedoch nicht nur ein Kompositum sein, das zwei gleiche Sub-
stantive beinhaltet: Mitunter ist es sinnvoll, „Erstgliedtypen“ zu ermitteln, d.h.
alle Komposita mit demselben Erstglied zu einem Typ zusammenzufassen, z.B.
um zu ermitteln, ob ein verfugendes Muster noch neue Erstglieder aufnimmt.
Auch hier muss eine Unterscheidung danach getroffen werden, ob die Fuge
miteinbezogen wird oder nicht: Bleibt sie unberücksichtigt, so spreche ich im
Folgenden von „Erstgliedtypen“, geht sie mit ein, so wähle ich „Kompositions-
stammformtyp“ (nach Fuhrhop 1998).
Ein weiteres methodisches Problem stellt die Verschachtelung von Kompo-
sita innerhalb von Wortbildungsprodukten dar (vgl. auch Plag 1999: 29). Fälle,
in denen ein Kompositum als Derivationsbasis dient (landesfürst-lich), werden
ausgeschlossen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass in Derivaten enthaltene
Komposita meist ältere, stark lexikalisierte oder zumindest usualisierte Bildun-
gen enthalten sind (das stellt auch Hartmann 2016: 160 für ung-Derivate als
Kompositionserstglieder fest). Bei Trikomposita (Landesfürsten-hof) werden
dagegen beide Kompositionsebenen getrennt berücksichtigt. (So verfahren z.B.
auch Donalies & Bubenhofer 2011 in ihrer „Schnittstellenanalyse“.)
Zuletzt kommt die Frage hinzu, was als Kompositum analysiert werden
darf. Schränkt man sich auf „echte“ Komposita ein und lässt ihre syntaktischen
Vorformen, insbesondere die Rahmenkonstruktionen, unberücksichtigt, so
besteht die Gefahr, bei der Anwendung von Produktivitätsmaßen letztlich nur
die zunehmende Zusammenschreibung zu messen. Aus diesem Grund wurden
einige Analysen doppelt durchgeführt: Zunächst nur für eindeutige Komposita,
dann für eindeutige Komposita und Rahmenkonstruktionen, als den komposi-
tumsähnlichsten Brückenkonstruktionen, zusammen. Das ermöglicht auch
einen besseren Vergleich mit anderen Studien, die Rahmenkonstruktionen häu-
fig als Komposita betrachten (s. Kap. 7.2.1). Für beide Gruppen mussten also
Typen und Hapaxe getrennt bestimmt werden.
10.3 Tokens
Die Tokenfrequenz liefert nur Informationen darüber, wie häufig existierende
Komposita gebraucht werden. Entsprechend ist hier viel historischer „Ballast“
enthalten und einzelne Lexeme können das Bild stark prägen. (Letzteres scheint
in den vorliegenden Daten allerdings nicht der Fall zu sein, die 28 tokenstärks-
242 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
ten Gesamttypen machen gerade einmal 17,7% aller Tokens aus.) Dennoch ist
sie von Interesse, zeigt sie doch, auf welches Inventar Sprecherinnen und Spre-
cher für analogische Neubildungen zurückgreifen können.
Im Mainzer Korpus sind die Verfugungsanteile nach Tokens zu Beginn äu-
ßerst gering: Alle Fugen zusammen machen 1500 nur 12,1% aus (vgl. Abb. 50,
linke Seite), also nur etwas mehr als die Hälfte des Anteils bei Pavlov (1983) (s.
Kap. 9.2). Um 1590 nehmen verfugte Komposita leicht zu und wahren länger
Anteile um die 20%, 1710 lässt sich ein erneuter Sprung auf 48% Verfugung
beobachten, womit die – schon allein aufgrund der unterschiedlichen Textsor-
ten nur bedingt vergleichbaren – gegenwartssprachlichen Tokenwerte von Do-
nalies & Bubenhofer (2011) weit übertroffen werden.
Die Diskrepanz zu Pavlov erklärt sich aus den hier nicht einbezogenen Brü-
ckenkonstruktionen: Rechts in Abb. 50 ist zu sehen, dass sie sehr häufig ein
Flexiv bzw. Fugenelement aufweisen, denn sie sind ja nicht von Genitivkon-
struktionen unterscheidbar. Dabei zeigen sich lediglich unsystematische
Schwankungen, eine Entwicklung ist nicht erkennbar.209 Eine gemeinsame Be-
rechnung beider Gruppen ergäbe für 1500 einen Verfugungsanteil von 40,6%
(d.h. 7 Prozentpunkte über Pavlovs Werten). Außerdem bleibt der Anteil verfu-
gender Komposita auf ungefähr gleichem Niveau anstatt, wie bei der Berech-
nung für eindeutige Komposita, zuzunehmen. Das spricht dafür, dass es sich
bei der zunächst beschriebenen Entwicklung stark um einen Effekt der zuneh-
menden Zusammenschreibung handelt, die eine Disambiguierung ermöglicht.
Berücksichtigt man statt relativer absolute Werte, so fällt der deutliche Anstieg
aller Typen ab 1590 auf – selbst wenn verfugte Komposita (bei gemeinsamer
Analyse mit den Brückenkonstruktionen) im Verhältnis zu unverfugten nicht
zunehmen sollten, so nimmt doch die Komposition generell zu. Alle Typen er-
höhen ihre Tokenzahlen und damit ihre Präsenz im Sprachgebrauch.
Damit lässt sich festhalten, dass den Sprecherinnen und Sprechern im gan-
zen Untersuchungszeitraum eine verhältnismäßig große Tokenmenge verfugter
Komposita bzw. Brückenkonstruktionen zur Verfügung steht – je nach Berech-
nung hat sie einen unterschiedlichen Anteil, übersteigt aber zumindest 1710 die
eingangs referierten Werte für gegenwartssprachliche Tokens klar. Ob der ver-
fugende Tokenanteil zunimmt, ist zwar nicht bestimmbar, aber schon sein deut-
liches Vorhandensein und die absolute Zunahme der Tokens verankert das
verfugende Muster kognitiv und ermöglicht daraus abgeleitete Generalisierun-
gen.
||
209 Die Brückenkonstruktionen zeigen damit erwartbarerweise weitgehend gleiches Verhal-
ten wie die pränominalen Genitive, vgl. Anhang Kap. 16.2.11.
Realisierte Produktivität | 243
100%
80%
60%
40%
20%
0%
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710 1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
Komposita Brücke
Sonstige 1 24 2 10 7 8 25 22 1 8 2 4 2 12 4
(e)n 16 25 20 57 40 49 63 90 54 74 30 34 26 17 6 7
(e)s 14 1 18 90 69 73 98 153 81 63 26 76 56 51 35 14
Abb. 50: Verfugungsanteile nach Tokens im Mainzer Korpus für Komposita (n=3.645) und
Brückenkonstruktionen (n=874).
10.4.2 Korpusbefund
Für die realisierte Produktivität wurde bei jedem Muster die Anzahl der Typen
pro Zeitraum ermittelt. Komposita, die in einem Zeitraum mehrfach auftreten,
gehen also nur als ein Typ ein; Komposita, die in mehreren Zeiträumen auftre-
ten, gehen in jedem Zeitraum einmal ein. Tritt ein Kompositum mit und ohne
Fugenelement auf, so wird es für beide Gruppen je einmal gezählt (vgl. 10.2.2).
Visuell scheinen die drei Haupttypen, (e)s-, (e)n- und Nullfuge, zuzuneh-
men (Abb. 51, links), die Zunahme ist jedoch nur für die verfugenden Muster
statistisch hochsignifikant (jeweils τ=0,929; T=27; p<0,001), für das nichtverfu-
gende dagegen nicht statistisch signifikant (τ=0,5; T=21; p=0,054).210 Eine zweite
Analyse, die eindeutige Komposita mit Rahmenkonstruktionen kombiniert,
erbringt dagegen für alle Konstruktionen eine signifikante Produktivitätszu-
||
210 Für die Statistik wird Kendalls Tau eingesetzt (vgl. Field et al. 2012: 223–226, spezifisch für
diachrone Daten Hilpert & Gries 2009, Hartmann 2016: 169–170). Dabei werden die Werte
aufeinanderfolgender Jahre mit einem Rang versehen (1500 hat Rang 1 usw.) und dann nach
Wert aufsteigend sortiert (d.h. für die s-Fuge z.B. in der Reihenfolge 1530, 1500, 1560, 1590,
1620, 1650, 1680, 1710). Das Verfahren überprüft, wie stark die sortierten Werte von der Rang-
folge abweichen, d.h. wie stark voranschreitende Zeit und Typenanzahl eines Kompositions-
musters korrelieren (für die s-Fuge z.B. sehr stark, lediglich die ersten beiden Jahre sind bei
aufsteigender Sortierung vertauscht). Beim hier durchgeführten Test wurde zudem angenom-
men, dass die Korrelation positiv ist, d.h. dass die Anzahl mit steigender Jahreszahl ebenfalls
steigt, das bestätigt sich für die beiden verfugenden Verfahren. Bei einer absoluten positiven
Korrelation liegt τ bei 1, dieser Wert wird hier fast erreicht. (Eine perfekte negative Korrelation
– das entspräche einer Produktivitätsabnahme – liegt bei –1, während Werte in der Mitte, wie
der für das nichtverfugende Muster, keine Korrelation zeigen.)
Realisierte Produktivität | 245
nahme:211 Es werden nicht nur mehr (s. Tokens), sondern auch mehr verschie-
dene Komposita gebraucht.
350
300
250
200
150
100
50
0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
(e)n 10 20 15 29 30 31 53 60
(e)s 7 1 11 43 46 52 68 102
Sonstige 1 10 2 10 6 8 21 13
Ø 119 150 119 230 187 227 294 195
350
300
250
200
150
100
50
0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
(e)n 22 36 22 38 41 38 58 61
(e)s 20 13 12 63 62 59 75 104
Sonstige 1 12 2 10 7 13 22 13
Ø 119 159 123 232 190 235 304 197
Abb. 51: Realisierte Produktivität nach Verfugungsmuster für Komposita (oben) bzw. für Kom-
posita und Rahmenkonstruktionen (unten).
||
211 Signifikanter Anstieg für die (e)s-Fuge (τ=0,571; T=22; p<0,05), sehr signifikanter Anstieg
für die (e)n-Fuge (τ=0,815; z=2,764*; p<0,01), signifikanter Anstieg für unverfugte Komposita
(τ=0,643; T=23; p<0,05). *Hier konnte kein T berechnet werden, da mehrfach identische Werte
vorhanden waren.
246 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
200
150
100
50
0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
(e)n 10 18 14 17 23 22 41 29
(e)s 7 1 6 24 28 37 43 48
Sonstige 1 7 2 9 4 8 16 8
Ø 90 118 87 143 121 159 180 133
Die Kurven zeigen, dass die Hauptzunahme für die (e)s-Fuge ins Jahr 1590 fällt,
während die (e)n-verfugenden Komposita gleichmäßiger ansteigen. Bezieht
man Rahmenkonstruktionen (Typ das Königs Schloss, vgl. Kap. 7.2.1.1) mit ein,
so steigen die (e)s-Komposita zunächst stärker an, sie erreichen aber letztlich
dasselbe Niveau. Hier könnte es sich um die Auswirkung der Schreibung han-
deln, d.h. die 20 Rahmenkonstruktionen von 1590 weichen schließlich eindeu-
tigen, weil zusammengeschriebenen Komposita; welchen Status sie genau ha-
ben, lässt sich nicht klären.
Um zu überprüfen, ob die Produktivitätsentwicklung durch das Verfu-
gungsverhalten einzelner, besonders frequenter Erstglieder vorangetrieben
wird, erfolgt eine zweite Analyse für Kompositionsstammformtypen, ein Typ
besteht hier also aus Erstglied plus Fuge. Die drei Hauptmuster zeigen eine
signifikante Zunahme (Abb. 52),212 wobei sich die Kurven kaum von denen der
Gesamtfugentypen unterscheiden. Die wachsende realisierte Produktivität ist
also nicht durch Einzelfälle bedingt, sondern eine generelle Eigenschaft der drei
Muster.
||
212 Hochsignifikanter Anstieg für die (e)s-Fuge (τ=0,857; T=26; p<0,001), sehr signifikanter
Anstieg für die (e)n-Fuge (τ=0,714; T=24; p<0,01), signifikanter Anstieg für unverfugte Kompo-
sita (τ=0,571; T=22; p<0,05).
Potenzielle Produktivität | 247
Hapax legomena, also im Korpus nur einmal belegte Komposita, können als
potenzielle Neubildungen (egal ob Okkasionalismen oder Neologismen) besser
Aufschluss darüber geben als bloße Typen, wie regelmäßig ein Muster zur An-
wendung kommt. Zur Ermittlung der potenziellen Produktivität werden sie mit
den entsprechenden Kompositumstokens ins Verhältnis gesetzt (Baayen 2009:
902–904). Der so ermittelte Wert liegt zwischen 0 und 1. Je höher er ist, desto
höher ist der Anteil der Hapaxe, der wiederum als Indikator für die Fähigkeit
eines Musters, Neubildungen hervorzubringen, herangezogen werden kann.
Insbesondere in einem kleinen Korpus sind Hapaxe allerdings problema-
tisch, da eine große Zahl nur zufällig einmal belegter, aber eigentlich fest etab-
lierter Komposita enthalten sein kann. Das Verhalten der Hapaxe ist stark vom
untersuchten Muster abhängig. So weist z.B. das Suffix -lich bei Kempf (2016:
118) in Korpora bis ca. 1.000 Tokens einen massiven Anstieg der Hapaxe auf, um
dann zu stagnieren, eine weitere Extrapolation liefert eine langsame, aber stetig
abfallende Kurve. Hartmann (2016: 167) zeigt für Hapaxe von ung-Derivaten
beschränktes Wachstum, wobei sich keine Stagnation oder gar ein Absinken der
Hapaxzahl abzeichnet.
1000
Hapax legomena (absolut)
500
0
0 500 1000 1500 2000 2500 3000
Tokens des jeweiligen Kompositumstyps
Hapax legomena (unverfugt)
Hapax legomena (s-Fuge)
Hapax legomena (n-Fuge)
Linear (Hapax legomena (unverfugt))
Linear (Hapax legomena (s-Fuge))
Linear (Hapax legomena (n-Fuge))
200
Hapax legomena (absolut)
100
0
0 100 200 300 400
Tokens des jeweiligen Kompositumstyps
Abb. 54: Hapaxentwicklung bei den drei Hauptkompositionsmustern (Ausschnitt aus Abb. 53).
Ein Vergleich der potenziellen Produktivität der drei Muster für das Gesamtkor-
pus (Abb. 55) zeigt die unterschiedlichen Punkte, an denen sie zu dem Zeit-
punkt angekommen sind, zu dem alle Korpustexte ausgewertet wurden. In der
unteren Linie wird der Anteil falscher Hapax legomena an allen Tokens darge-
stellt. Falsche Hapax legomena sind die Belege, die zunächst bei geringerer
Potenzielle Produktivität | 249
Korpusgröße als Hapax legomena identifiziert wurden, für die sich aber bei
Erweiterung des Korpus weitere Tokens fanden. Es zeigt sich, dass der falsche
Hapaxwert im Bereich der ersten hundert Tokens recht hoch ist, dann aber
schnell sinkt. Die potenzielle Produktivität der beiden verfugenden Muster ist
also grob vergleichbar, da beide Muster sich in ähnlichen Tokenbereichen be-
wegen, die Entwicklung der unverfugten Komposita sollte jedoch nicht direkt
damit verglichen werden.
0,9
0,8
0,7
potenzielle Produktivität
0,6
0,5
0,4
0,3
n-verfugte Komposita s-verfugte Komposita
0,2
unverfugte Komposita
0,1
0
0 500 1000 1500 2000 2500 3000
Tokens des jeweiligen Kompositumsmusters
Abb. 55: Potenzielle Produktivität in Abhängigkeit von der Korpusgröße. Die obere Linie zeigt
die Entwicklung nach Hapaxanteil, die untere Linie zeigt, wie viele „falsche“ Hapaxe im jewei-
ligen Teilkorpus enthalten sind. Der im Mainzer Korpus jeweils maximal erreichte Punkt der
drei Hauptkompositionsmuster ist mit einem Pfeil markiert.
10.5.2 Korpusbefund
||
213 Für das Nhd. sind die Verhältnisse anders, hier haben sich größere Textsortenunterschie-
de herausgebildet (Ortner et al. 1991: 68), die für unterschiedliche Anteile abstrakter, und
damit häufig derivierter Erstglieder sorgen – also Erstglieder, die im Nhd. besonders oft verfu-
gen. Wie sich noch zeigen wird (Kap. 10.7), treten derartige Erstglieder im Untersuchungszeit-
raum zwar auf, erreichen aber bei weitem nicht heutige Anteile.
Potenzielle Produktivität | 251
Die Verlaufskurve legt nahe, dass die Produktivitätszunahme ca. 1620 einsetzt.
Eine zweite Analyse unter Berücksichtigung der Rahmenkonstruktionen (Abb.
56, rechts) zeigt ein sehr ähnliches Bild. Auch hier ergibt Kendalls Tau keinen
signifikanten Produktivitätsanstieg für die drei Muster; bei der (e)s-Fuge wirkt
1530 erneut verzerrend, der Wert wurde aber nicht herausgenommen, da die
zugrunde liegende Belegzahl größer war (7 Hapaxe, 16 Tokens).
1,0
0,8
0,6
0,4
0,2
0,0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
(e)s 0,286 0,278 0,211 0,348 0,425 0,459 0,490
(e)n 0,313 0,538 0,450 0,228 0,475 0,388 0,609 0,407
Ø 0,244 0,324 0,191 0,296 0,225 0,410 0,320 0,382
1,0
0,8
0,6
0,4
0,2
0,0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
(e)s 0,239 0,438 0,227 0,283 0,344 0,391 0,476 0,494
(e)n 0,244 0,543 0,393 0,250 0,482 0,411 0,632 0,402
Ø 0,247 0,333 0,194 0,300 0,230 0,406 0,320 0,377
Abb. 56: Potenzielle Produktivität nach Verfugungsmuster für Komposita (oben) bzw. für Kom-
posita und Rahmenkonstruktionen (unten).
252 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
Die Tokenzahlen, auf denen die Berechnungen beruhen, sind wie folgt:
(e)n 16 25 21 57 40 49 63 90
Es zeigt sich, dass die verfugenden Muster grob vergleichbar sind. Ihr Wert für
die Jahre 1500 bis 1560 dürfte künstlich hoch sein, für 1680/1710 künstlich nied-
rig, es ist also davon auszugehen, dass die Produktivitätskurve bei gleichblei-
bender Tokenzahl stärker ansteigen würde. Bei den nichtverfugenden Komposi-
ta liegen die Jahre 1590–1680 relativ hoch, hier würde sich wahrscheinlich ein
geringerer Anstieg ergeben.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die realisierte Produktivität aller Kom-
positionstypen im Untersuchungszeitraum ansteigt, sofern man Rahmenkon-
struktionen miteinbezieht, andernfalls nur die der verfugten Muster. Die reali-
sierte Produktivität sagt zwar nur etwas darüber aus, wie produktiv die
Komposition in der Vergangenheit war, da sie aber hier für mehrere aufeinan-
derfolgende Zeitschnitte berechnet wurde, ist der Anstieg gegenüber dem je-
weils vorhergehenden Schnitt durchaus aussagekräftig. Das Gesamtinventar an
Komposita steigt an. Die potenzielle Produktivität, d.h. die Wahrscheinlichkeit,
dass ein Muster Neubildungen hervorbringt, wächst dagegen nur für die (e)s-
Fuge signifikant. Die Sonderstellung dieses Musters zeichnet sich zu einem Zeit-
punkt ab, zu dem auch die ersten unparadigmischen s-Fugen auftreten, ein wie-
teres untrügliches Zeichen für seine Produktivität (Kap. 12), aber die Zunahme
ist ihr nicht geschuldet: 1590 liegen unter 19 Hapax legomena nur zwei unpara-
digmische Fälle vor, 1620 sind es fünf von 24. Wahrscheinlich ist eine umge-
kehrte Kausalität: Mit der zunehmenden Produktivität des Musters bei paradig-
mischer Verfugung entsteht eine Sogwirkung, die feminine Erstglieder ermög-
licht.
Variationsbreite der Kompositionsstammformen | 253
Abb. 57: Verfugungsverhalten von Komposita bei Pavlov (1983: 122) (Gesamttypen=4.886,
Erstgliedtypen=1.677).
Ein zuverlässiges Maß ist die Variationsbreite allerdings nur dann, wenn – wie
bei Pavlov (1983) – die Menge der Komposita über die Zeit hinweg ungefähr
||
214 S. aber zu Problemen bei seiner Kompositumsdefinition Kap. 7.3.
254 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
gleich bleibt. Je größer ein Korpus ist, desto mehr Varianten sind natürlich auch
beobachtbar. Das Mainzer Korpus wurde daher nur insgesamt und nur für Erst-
gliedschwankungen ausgewertet. Im Untersuchungszeitraum treten 677 ver-
schiedene Erstglieder in eindeutigen Komposita auf. Bei 10,9% (74) von ihnen
variiert die Verfugung innerhalb eines Zeitraums oder zwischen mindestens
zweien. Dabei variieren bei 9,6% (65) der Erstglieder zwei Kompositionsstamm-
formen miteinander, bei 1,0% (7) drei und bei 0,3% (2) vier. Die Nullfuge ist an
allen schwankenden Erstgliedern außer zweien beteiligt (97% Anteil an
Schwankungsfällen), die (e)s-Fuge an mehr als der Hälfte (59,5%). In über der
Hälfte der Fälle (52,7%) schwankt die Kompositionsstammform zwischen Null-
und (e)s-Fuge, in fast einem Viertel (24,3%) zwischen Null- und (e)n-Fuge. (e)n-
und (e)s-Fuge sind nie gemeinsam an Variation beteiligt, ohne dass die Nicht-
verfugung auch eine Option ist.
Augst (1975: 134) stellt für seine nhd. Daten (4.025 Erstglieder) fest, dass
9,3% zwei Kompositionsstammformen haben, 0,7% drei und lediglich 8 Fälle
vier. Auf den ersten Blick ist die Variation also fast identisch mit der des Main-
zer Korpus – allerdings wurde eine erheblich größere Menge Erstglieder ausge-
wertet. Es ist daher zu vermuten, dass die tatsächliche Variation im Nhd. gerin-
ger ist als im Fnhd.215 Bei einem Vergleich der nhd. mit der fnhd. Situation darf
außerdem nicht außer Acht gelassen werden, dass das Fnhd. nicht normiert
war. Das Mainzer Korpus kombiniert Texte verschiedener regionaler Herkunft,
die zwar zum Ende des Untersuchungszeitraums hin immer einheitlicher wer-
den, allerdings ist es hier wesentlich wahrscheinlicher als im Nhd., dass die ge-
samte Variationsbreite nicht eine Sprechergrammatik abbildet, sondern mehre-
re.
10.7 Restriktionsabbau
Vielsilbige, langschweifige wörter meidet die frühere sprache in composition zu bringen.
(Grimm 1826: 940)
||
215 Bei Donalies & Bubenhofer (2011: 49–50) liegt der Schwankungsanteil, dank des wesent-
lich größeren Korpus (20.895 Erstglieder), mit 18,9% bedeutend höher.
Restriktionsabbau | 255
Darüber, wie häufig und produktiv die Komposition in germ. und ahd. Zeit war,
herrscht in der Forschung keine Einigkeit: Gröger (1911: 1) spricht von einer
„reich entwickelte[n] Nominalkomposition“ schon im Urgerm. Salus (1963: 47)
konstatiert dagegen für das Got., Ahd., As. und Mittelndl., dass es sich bei den
meisten Komposita in frühen Texten um Lehnübersetzungen aus dem Lat. oder
Griech. handelt (vgl. auch Carr 1939) und leitet daraus ab, dass das Muster ins-
gesamt selten sei.
Bereits im Urgerm. stellten NN-Komposita die prototypischen Komposita
dar. Carr (1939: 162) stellt fest, dass die allermeisten Determinativkomposita im
Urgerm. (69,7%) und Germ. (76,1%) aus zwei Substantiven bestanden (Abb. 58,
es scheint sich bei der Zählung um Typen zu handeln, auch wenn es nicht ex-
plizit gemacht wird) – genauso wie heute (vgl. Abb. 49, Kap. 10.1). Unter den
übrigen Bildungen ist besonders auffällig, dass verbale Erstglieder noch fast
gänzlich fehlen, es bestand also eine Wortartrestriktion, die sich später durch
ambige, eigentlich substantivische Erstglieder auflöst (vgl. Gröger 1911 und Kap.
7.2.6.3). Im Fnhd. sind verbale Erstglieder bereits verbreitet, weshalb Wortartbe-
schränkungen im Folgenden nicht weiter thematisiert werden.
Dreigliedrige Komposita wie in (109) sind im Ahd. ebenso wie in den ande-
ren altgerm. Sprachen selten. Im Germ. und Wg. gab es sie wahrscheinlich noch
nicht, für das Got. finden sich keine Belege und in früher ahd. Zeit lassen sich
nur wenige Trikomposita nachweisen (Carr 1939: 197). Ab dem 12. Jh. treten sie
zwar häufiger auf, allerdings fast ausschließlich in Glossen; es handelt sich
demnach wohl zunächst um ein Übersetzungsphänomen. Linksverzweigende
Strukturen sind im Ahd. häufiger belegt als rechtsverzweigende (Wilmanns
1896: 388, Carr 1939: 197–199, Henzen 1965: 47–51, indirekt auch Sonderegger
256 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
NN
450
417
400
350
300
250
200 NN
136
150
NA
100 NA AN 68 AA
AN AA
50 VN 34 VA 35 VN 26 VA
10 15
0 0 2 0
0
Urgerm. Wg.
Abb. 58: Erst- und Zweitgliedwortarten urgerm. und wg. Komposita nach Carr (1939: 162).217
||
216 Ursache hierfür dürften die semantischen Relationen sein, die vom Zweitglied ausgehen,
es handelt sich also nicht um ein Spezifikum des Ahd.: Je nach Substantiv sind bestimmte
Grundrelationen plausibler (vgl. Kap. 2.1.1.1) – bei einem Stall drängt sich z.B. in den meisten
Fällen ein Tier als Determinans auf. Ist diese offensichtliche semantische Leerstelle gefüllt
(Hühnerstall, Kuhstall), kann das Gesamtkompositum nur dann weiter modifiziert werden,
wenn es noch relevante Informationen zum Stall gibt (vllt. wo er sich befindet, Garten-
hühnerstall). Das ist unwahrscheinlicher, da die Hauptinformationsstelle schon gefüllt ist, aber
natürlich nicht undenkbar (z.B. Holz-bonbonkiste oder mit verbalem Erstglied Leih-hausboot).
Je stärker lexikalisiert ein Kompositum, desto wahrscheinlicher wird sein Vorkommen in
rechtsverzweigenden Strukturen (Regen-sonntag). Umgekehrt lassen sich bei Hühnerstall die
Hühner, dann als Kopf des eingebetteten Kompositums, viel leichter modifizieren, da über sie
noch keine Informationen geliefert wurden: Zwerghühner-stall, Schlachthühner-stall. Ähnlich
wie bei Bergmanns (1980) Zusammenrückungen (Kap. 7.1.2.2) treten auch Strukturen auf, bei
denen das erste Substantiv sich sowohl auf das zweite als auch auf die folgenden beiden als
Kompositum beziehen kann, z.B. Wildolivenbaum, oder bei denen ein Zweitgliedbezug zwar
plausibler ist, ein Erstgliedbezug aber keinen starken semantischen Verstoß darstellt.
217 Die vermutlich urgerm. und westgerm. Komposita ermittelt Carr (1939) über einen Ver-
gleich des Kompositumsbestandes überlieferter altgerm. Sprachen.
Restriktionsabbau | 257
(109) a. rechtsverzweigend:
ban-fīertag
betti-umbihang218
hintar-satelboge ‚Hintersattelknauf‘
kar-frītac
wilt-oleboum ‚Wildolivenbaum‘
b. linksverzweigend:
pohstap-zila ‚Buchstabenzeile‘ (Samanunga-Glossar, Wien, Cod. 162)
wīrouh-faz
seitspil-man
abgot-hūs
haselnuze-chernen (Notker: Martianus Capella, St. Gallen, Cod. 872)
widarmez-geba
heriganoz-scaf ‚Schlachtreihe‘ (Monseer Fragmente, München, Clm
14747)219
Carrs (1939: 198) Beobachtung, dass ein komplexes Erstglied oft in der Genitiv-
form auftrete, vgl. (110), ist mit Vorsicht zu behandeln: Einige seiner Belege wei-
sen einen Fugenvokal auf, der auf das stammbildende Element zurückgeht (z.B.
manslaht-i-spil ‚Zweikampf‘). Henzen (1965: 48) verweist darauf, dass beide
Muster zur Verfügung stehen, Wilmanns (1896: 388) geht von einem Zuwachs
dreigliedriger Komposita „erst in der späteren Zeit“ aus, der vor allem durch un-
eigentliche Komposita vorangetrieben werde. Ohne weitergehende Korpusun-
tersuchungen lässt sich das Verhältnis zwischen Univerbierung und Trikompo-
situm im Ahd. jedoch nicht erhellen.
||
218 Henzen (1965) bezeichnet auch Konversionsprodukte wie umbihang als Komposition,
orientiert sich also nur an der Struktur.
219 Die heutigen Suffixe -schaft und -heit sind im Ahd. noch freie Lexeme, werden also als
nominale Kompositumsglieder betrachtet.
258 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
-ida, -unga, -nissi bei Tatian, Otfrid und Notker nicht als Erstglieder auftreten.220
Carr (1939: 219) präzisiert, dass die Einschränkung für nominale Derivate aus
produktiven Suffigierungsmustern gilt, wobei sich nur zwei Ausnahmen finden
(hamalunc-stat ‘Schädelstätte’,221 gesmīde-ziereda). Komposita mit er-Derivaten
finden sich ab dem Mhd. häufig (dörper-diet, jeger-meister, rihter-stuol). Im Ge-
gensatz zu den meisten ahd. und mhd. nominalen Suffixen, die Abstrakta oder
Kollektiva hervorbringen, bezeichnen er-Derivate i.d.R. Personen. Entsprechend
verwundert ihr frühes Auftreten als Kompositumserstglied nicht, sie werden
häufig benötigt, um Zugehörigkeitsrelationen auszudrücken. Hinzu kommt,
dass er-Derivate zwar morphologisch komplex sind, sich aber phonologisch
unauffällig an Simplizia wie kevere ‚Käfer‘, hamer anschließen (vgl. Kopf 2018b:
76–77). Für die übrigen Derivationssuffixe sind auch im Mhd. keine Erstglieder
belegt. Für suffigierte Zweitglieder zeigen sich dagegen schon im Ahd. keine
Beschränkungen (Wilmanns 1896: 388). Präfigierte Erstglieder sind unter den
Komposita des MiGraKo nicht zu finden, sie treten nur in Rahmenkonstruktio-
nen auf (antlaz(e) tag, vor dem auffert. tag).
Erst im Fnhd. öffnet sich das NN-Kompositionsmuster für neue Erstglieder:
Möglich werden nun morphologisch komplexe Erstglieder (d.h. solche aus meh-
reren semantisch gefüllten Morphemen). Gezeigt wird das im Folgenden an
suffigierten Erstgliedern. Dreigliedrige Komposita werden zwar nicht erstmals
möglich, nehmen aber deutlich zu. Außerdem treten nun Konversionsprodukte
– ungeachtet ihrer morphologischen Struktur – in der Erstgliedposition auf.
Dabei sind zwei Einflussfaktoren zu bedenken: Zum einen kann ein Wortbil-
dungsmuster produktiver werden, also mehr potenzielle Erstglieder bereitstel-
len, womit die Wahrscheinlichkeit wächst, dass seine Derivate, Komposita oder
Konversionsprodukte in Komposita auftreten. Damit wäre die Beseitigung mor-
phologischer Restriktionen nur ein Epiphänomen. Zum anderen kann aber die
formale Restriktion fallen, d.h. Beziehungen, die zuvor z.B. in einer Genitivkon-
||
220 Er weist zudem darauf hin, dass Derivate auf -in, -chen und -lein noch zu seiner Zeit unüb-
lich seien, das bestätigt auch Henzen (1965: 48) in der Folge. Hier dürfte es sich allerdings
weniger um eine formale als um eine pragmatische Restriktion handeln: Mit der zunehmenden
Verbreitung von in-Movierungen sind auch entsprechende Komposita heute unauffällig (Leh-
rerinnenberuf, Schriftstellerinnentasche), auch bei den Diminutiven finden sich heute Formen
wie Seilchenspringen, Glöckchengeklingel, während Henzen (1965: 48) noch Glöckleinklang
ablehnt (alle Belege aus Die Zeit, via DWDS).
221 Ahd. hamalung von hamalōn ‚verstümmeln‘. Das Kompositum gelangte wohl durch alt-
engl. Einfluss ins Ahd., wo entsprechende Derivate bereits früh und häufig als Erstglieder
auftreten (Carr 1939: 221).
Restriktionsabbau | 259
40
30
20
10
10
1 1 1
0
1500-1530 1560-1590 1520-1650 1680-1710
die häufigen bildungen mit -ung setzt er [Luther, KK], gleich der früheren sprache, […] nie
zusammen. Er sagt weder nahrung-sorge, versönung-geld noch nahrungs-sorge, versö-
260 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
nungs-geld, sondern sorgen der nahrung Luc. 21, 34, geld der versönung Exod. 30, 16. […]
oder wenn er componieren will, thut ers verbal, z.B. versön-tag Levit. 23, 28.
-age
Abb. 60: Erstbeleg suffigierter Erstglieder in NN-Komposita. (*Diese Suffixe haben nur einen
einzigen Kompositumsbeleg im Korpus.)
Dass -er bereits vor Beginn der Untersuchung kompositionsfähig ist, verwundert
wenig: Das Muster ist bereits stark verbreitet und seine Bildungen gleichen
simplizischem Material (Wasser, Mauer). Die meisten suffigierten Erstglieder
stehen jedoch erst Ende des 16., Beginn des 17. Jh. für die Komposition zur Ver-
fügung. Einige in Genitivattributen belegte Derivate bilden im Mainzer Korpus
bis 1710 keine Kompositumserstglieder (-tum, -heit/keit, -or).
Schließt man die Daten der ausgewerteten GerManC-Teilkorpora an, für die
sich keine früheren Belege im Mainzer Korpus finden, so zeigt sich, dass der
262 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
Abbau morphologischer Restriktionen schon in der zweiten Hälfte des 17. Jh.
weitgehend abgeschlossen ist (Abb. 61): Das im Mainzer Korpus noch fehlen-
de -heit/keit ist zwischen 1650 und 1700 belegt, daneben zeigt sich, zeitgleich
mit dem Mainzer Korpus, -schaft. Im letzten Zeitschnitt folgt schließlich noch
ein Suffix, -rich, dessen Derivate aufgrund seiner eigenen Restriktionen aller-
dings so überschaubar sind, dass sie nur sehr selten in Komposita eingehen
dürften. Alle übrigen aufgeführten Endungen stammen aus Entlehnungen, d.h.
ihr Suffixstatus ist unsicher. Hier könnte neben der Komplexität auch der
Fremdheitsstatus die Nutzung in Komposita verhindern.
-at (Tractaten=Plätze)
-enz/anz (Pestilentz=Gifft)
-erz (Comercien=Tractat)
-heit/keit (Warheits=Grund)
-ium (Evangeliums=Stimme)
-iz (Justitz=Pflegern)
-schaft (Gespanschaffts=Compagnie)
-ett (Cabinets=Ursachen)*
-ik (Music=Verständigen)*
-or (Senatoren=Stube)
-ut (Tribut=Gelder)*
-är (Kommissair=Ordonnateur)
-ör (Mineur=Corps)*
-ol (Vitriolsäure)
-on (Garnisonsplätze)
-rich (Gänserichkraut)*
1650–1700 1700–1750 1750–1800
Abb. 61: Erstbeleg suffigierter Erstglieder in NN-Komposita, GerManC. (*Diese Suffixe haben
nur einen einzigen Kompositumsbeleg im Korpus.)
Auffällig ist, dass die Suffixe, die im Ahd. noch freien Wortstatus haben (-heit/
keit, -schaft und -tum) und bis heute noch eigene phonologische Wörter bilden,
in den beiden Korpora erst spät bzw. gar nicht an Kompositumserstgliedern auf-
Restriktionsabbau | 263
treten, während Suffixe ohne nominale Vergangenheit (-ung, -nis, …) bereits frü-
her erscheinen. Naheliegend wäre damit die Erklärung, dass entsprechende
Erstglieder lange Zeit wie NN-Komposita behandelt und daher blockiert werden
– allerdings treten Trikomposita bereits im Ahd. auf und sind auch in den Kor-
pusdaten von Anfang an zu finden (s. S. 269). Für -heit/keit könnte sich der
späte Restriktionsabbau zusätzlich über die Inputkomplexität erklären lassen.
Das Suffix zeigt eine starke Affinität zu komplexen (insbesondere adjektivi-
schen) Basen: Über zwei Drittel der Typen (44/60) und über die Hälfte der To-
kens (97/184) der entsprechenden im Mainzer Korpus enthaltenen Genitivattri-
bute haben bereits derivierte Adjektive oder Partizipien als Basis (Unbegreiflich-
keit, Beschaffenheit) oder werden mit dem komplexeren -igkeit abgeleitet
(Gerechtigkeit). Sehr häufig ist die Adjektivbasis wiederum komplex (Leichtfer-
tigkeit, Gleichförmigkeit).222 Bei -schaft und -tum greift eine derartige Erklärung
allerdings nicht, beide nehmen vorwiegend einfache Basen – hier fällt die gerin-
gere Frequenz auf: Für -schaft finden sich nur 22 Tokens (17 Typen) als Genitiv-
attribute/Erstglieder, bei -tum sind es sogar nur 14 Tokens (6 Typen). Entspre-
chend ist es wenig überraschend, sie nicht oder nicht früher als Erstglieder be-
legt zu finden. Die Verhältnisse spiegeln damit bei tum-Derivaten den allgemei-
nen Gebrauch wider, im Gesamtkorpus (d.h. auch außerhalb der untersuchten
Konstruktionen) treten sie nur 20 Mal auf. Derivate auf -schaft finden sich dage-
gen über 300 Mal, ihr seltenes Erscheinen als Genitivattribut muss semantische
Gründe haben.
10.7.3 Infinitivkonversionen
||
222 Darin unterscheidet sich das Muster von -ung, das zwar sehr häufig präfigierte Verben als
Basis hat (Verachtung), aber meist bei einer zweisilbigen, nicht weiter strukturierten Basis
bleibt (anders: Auferstehung, Beteiligung).
264 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
||
223 Wie Hartmann (2016: 90–91) zeigt, findet eine Lexikalisierung nominalisierter Infinitive
aber durchaus statt, sodass die Beziehung zum Verb mehr oder weniger durchbrochen werden
kann (vgl. z.B. das Schreiben hat uns gestern erreicht, entsprechend auch pluralfähig: die
Schreiben), und zwar insbesondere dann, wenn das Basisverb an Frequenz verliert.
Restriktionsabbau | 265
18
16
14
12
10
8
6
4
2
0
1500- 1560- 1620- 1680- 1500- 1560- 1620- 1680-
1530 1590 1650 1710 1530 1590 1650 1710
Infinitivkonversionen (außer Leben) Leben
Brücke 2
Kompositum 1 3 11 3 11
Genitiv 15 15 11 8 5 7 13 17
Werner (2016: 298–299) verweist zum Nhd. hin auf einen Rückgang von Infini-
tivkonversionen im Erstglied zugunsten verbaler Stämme (*Trinken-s-halle,
*Turnen-s-schuh), möglich sind nur noch bereits etablierte, ältere Lexeme (z.B.
Leben, Essen).224 Die fnhd. Daten legen allerdings nahe, dass das Muster nie be-
||
224 Werner (2016) stellt das in einen generelleren Zusammenhang, indem sie Parallelen zu
deverbalen Derivaten mit abstrakter Bedeutung in NN-Komposita zieht, die ebenfalls nicht als
Erstglieder genutzt werden (*Hopser-versuch, *Dreherei-prozess, *Gedrehe-prozess). Hier wird
die verbale Basis bevorzugt. Wie die historischen Daten zeigen, war das aber auch im Fnhd.
nicht anders. Es handelt sich also um eine fortbestehende Restriktion, nicht, wie nahegelegt,
um einen Restriktionsaufbau. Werner (2016) schließt in den vermeintlichen Prozess sogar ung-
Derivate ein, führt dafür allerdings inexistente Erstglieder an (*Turnung-s-darbietung), die kein
Argument sind: Was es nicht gibt, kann auch nicht als Erstglied auftreten. Reale neue ung-
266 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
sonders stark verbreitet war: Im 16./17. Jh. zeichnet sich zwar ein diesbezügli-
cher Restriktionsverlust ab, die möglichen Erstglieder bleiben aber stark be-
grenzt: Im Mainzer Korpus sind es 6 Erstgliedtypen, 7 in GerManC, 3 in den
Mannheimer Zeitungen, insgesamt liegen 9 Erstgliedtypen vor. Eine systemati-
sche Erhebung für das Gegenwartsdt. ist nicht möglich, eine Wörterbuchrecher-
che nach präfigierten Formen fördert bei Canoo.net aber nur 12 Erstglieder her-
vor.225 Heute werden selbst lexikalisierte Infinitivkonversionen nicht mehr ge-
nutzt, was in Einzelfällen sogar zu einem Verlust semantischer Information füh-
ren kann, so bei Rennleitung, nicht *Rennensleitung, für ‚Leitung eines Ren-
nens‘.
10.7.4 Verbstammkonversionen
||
Derivate (z.B. Entfreundung-s-prozess ‚Vorgang, bei dem eine Facebookfreundschaft aufgelöst
wird‘, Die Welt, 28.04.2014) finden sich sehr wohl in Komposita. Deverbale Abstrakta können
also durchaus Erstglieder sein (s. auch Konstruktion-s-fehler, Jogging-hose).
225 Gesucht wurde für die Präfixe/Partikeln ab, an, auf, be, ent, er, um, unter, ver, zu und die
Suffixe -ier, -ig mit Anfragen des Typs „ab*ens*“ bzw. „ab*lns*“, „ab*rns*“. Systematisch
anders verhalten sich NA-Komposita des Typs anerkennenswert, hier ist eine Vielzahl von Infi-
nitivkonversionen (stets mit s-Fuge) möglich.
226 Da unklar ist, wann genau die Konversion stattfand, werden hier lediglich nhd. Beispiele
gegeben, die das Prinzip illustrieren.
Restriktionsabbau | 267
Beide Typen greifen auf einfache wie auf komplexe Verben zu.227 Insbesondere
bei den einfachen Basen ist häufig ein fortgeschrittener Lexikalisierungsgrad zu
beobachten, so im Mainzer Korpus bei Fluss, Grab und Rat ‚Ratsversammlung‘.
Das Muster ist bereits vorahd. belegt (Wilmanns 1896: 138, Henzen 1965: 124).
Schon im Ahd. finden sich einzelne präfigierte Bildungen, z.B. bisuoch ‚Versu-
chung‘, virstand ‚Verstand‘, bigin ‚Beginn‘. Sie nehmen im Mhd. zu, wo sich
erstmals auch Verbalpartikeln finden, z.B. ûztrac (Wilmanns 1896: 141). Hinzu
kommen vereinzelte Personenbezeichnungen wie anawalto ‚Anwalt‘, die bei
Bildung als Derivat markiert waren, den Vokal jedoch durch die Nebensilbenab-
schwächung verloren (im Gegensatz zu einfachen Bildungen wie boto > Bote)
(Wilmanns 1896: 149). Wilmanns listet zahlreiche nhd. Fälle, die im Mhd. nicht
nachweisbar sind, was für anhaltende Produktivität bis in fnhd. Zeit spricht. Im
Untersuchungszeitraum scheinen jedoch keine Neubildungen hinzuzukommen.
Im 17./18. Jh. kann sprachpflegerisch motivierte Rückbildung von ung-Derivaten
für einzelne neue Formen, auf jeden Fall aber für eine Zunahme der Gebrauchs-
frequenz sorgen (Hartmann 2016: 172), vgl. hierzu auch Abteil (1886) für älteres
Coupé, aus Abteilung gekürzt, und eine Reihe weitere nhd. Bildungen bei Hen-
zen (1965: 243).
Wilmanns (1896: 139) verweist darauf, dass im Got. und Ahd. „verhältnis-
mäßig wenige [Verbstammkonversionen, KK] als erste Compositionsglieder
vor[kommen]“. Das ist auch zu Beginn des 16. Jh. im Mainzer Korpus noch so
(Abb. 63): In Genitivkonstruktionen treten entsprechende Bildungen häufig als
Attribut auf, als Kompositumserstglied erscheinen sie dagegen zunächst selte-
ner. Hier zeigt sich ein klarer Unterschied zwischen präfigierten (d.h. mit Präfix
oder Partikel) und einfachen Verbstammkonversionen: Während sich bei den
präfigierten Bildungen keine verstärkte Verwendung in Komposita beobachten
lässt, steigt der Anteil der einfachen Anfang des 17. Jh. deutlich an (den 57 To-
kens entsprechen 23 Typen: 3; 4; 7; 9). Eine Bevorzugung eines Kompositions-
musters zeichnet sich hier noch nicht ab: Das Erstglied Rat tritt von Anfang an
auch, aber nicht ausschließlich s-verfugt auf (d.h. es ist auf heutigem Stand,
vgl. Rathaus/Ratsversammlung), bei den präfigierten Bildungen verfugen ledig-
lich Andacht und Anfang (5 Tokens).
||
227 Bei den einfachen Verben der Verbstammkonversion i.e.S. lässt sich die Ableitungsrich-
tung nicht immer zuverlässig bestimmen (vgl. Kap. 7.2.6) – nur manche Verhältnisse lassen
sich etymologisch klären (z.B. Rast → rasten, nicht umgekehrt, vgl. Pfeifer 1993). Generell ist
bei schwachen Verben aufgrund ihrer häufig desubstantivischen Genese eher ein zugrunde
liegendes Substantiv anzunehmen, insbesondere bei den ōn-Verben.
268 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
40
35
30
25
20
15
10
0
1500- 1560- 1620- 1680- 1500- 1560- 1620- 1680-
1530 1590 1650 1710 1530 1590 1650 1710
nicht präfigiert präfigiert
Brücke 1 1 1 3
Kompositum 7 5 25 20 6 4 2 6
Genitiv 22 12 20 34 40 12 36 28
0
1500- 1560- 1620- 1680- 1500- 1560- 1620- 1680-
1530 1590 1650 1710 1530 1590 1650 1710
linksverzweigend rechtsverzweigend
erstarrte Komposita 4 3 4 5 6 2
transparente Komposita 8 6 3 6 3 2 3 3
Abb. 64: Trikomposita im Mainzer Korpus nach Semantik der komplexen Konstituente und
Verzweigungsrichtung (n=58, vier Belege mit unklarer Struktur aus dem letzten Zeitraum
wurden nicht aufgenommen, s. 113c).
||
228 Hier werden auch Bestandteile, die bei den übrigen Analysen nicht als Komposita be-
trachtet wurden, als komplex erfasst – z.B. Buchstabe oder Maulbeere –, da sie sich strukturell
nicht von den übrigen Komposita unterscheiden. Auch Komposita mit nicht-substantivischen
Bestandteilen werden miteinbezogen.
270 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
Damit folgt die Verteilung den Erwartungen auf Basis von Fn. 216: Linksver-
zweigende Strukturen sind semantisch wahrscheinlicher, rechtsverzweigende
Strukturen werden umso wahrscheinlicher, je stärker lexikalisiert ihr komple-
xes Zweitglied ist. Hierzu passt, dass auch die transparenten Strukturen wiede-
rum eine große Gruppe bereits im Ahd. belegter und damit im Untersuchungs-
zeitraum wahrscheinlich bereits stark lexikalisierter, zumindest aber usualisier-
ter zweigliedriger Komposita enthalten:
||
229 Die Komposita mit nicht im Ahd. belegtem Erstglied sind: Bürgermeister(stand), Handwer-
ker(tochter), Kammergerichts(person), Kornblumen(saft), Landgerichts(tag), Buntwerk(futter),
Sauerampfer(wasser), Schönwerk(futter), Süßholz(saft).
230 Die Komposita mit nicht im Ahd. belegtem Letztglied sind: (Amts)holzregister, (Galgen)-
mundstück, (Gold)bergwerk.
Restriktionsabbau | 271
||
231 Hier ist einschränkend zu bemerken, dass die Zahlen von Harlass & Vater (1974) auch
Adjektive (zuckeraufgebessert) und Verben (hinwegdiskutieren) beinhalten und dass Verbalpar-
tikeln als eigenständige Kompositumsglieder gewertet wurden. Da der Anteil von Nicht-
Nominalkomposita aber insgesamt sehr gering ist, ist nicht mit einem großen Einfluss eventu-
ell abweichender Bildungsprinzipien bei anderen Wortarten zu rechnen.
272 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
100%
80%
60%
40%
20%
0%
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
Kompositum - Kompositum 4 4 8 4
Brücke - Kompositum 11 3 4
Genitiv - Brücke 4 3 2
Genitiv - Kompositum 11 15 16 19
Genitiv - Genitiv 14 10 9 15
Abb. 65: Trikomposita des Mainzer Korpus im Vergleich mit funktional äquivalenten Konstruk-
tionen.
ischste, so lässt sich in der Zusammenschau ableiten, dass Sachtexte allen an-
deren Textsorten und das Mitteldt. dem Oberdt. voraus ist.
35
Tokens Gesamttypes
30
32
25
20
21
15 18
10 13
10 11
5 8 4 9 8
0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
konsonantische Reduk-
∅ (22/22)
tionssilbe (-er/-el)
∅ (28/46)
gem. F Konsonant
-s- (17/46)
weitgehend flexions-
Vokal
klassenabhängig (s.u.)
22 von 25 schwachen Maskulina verfugen mit -(e)n-. Alle drei Ausnahmen stel-
len Sonderfälle dar: Beyerland kann auch als Toponym eingeordnet werden,
Cometstern ist ein Kopulativkompositum und daher möglicherweise kognitiv
weiter vom Flexionsparadigma entfernt und Leuthgeb Heusern beinhaltet das
veraltende Erstglied Leitgeb(e) ‚Wirt‘ (mit leit ‚Obstwein, Gewürzwein‘), das
auch ohne Schwa belegt und im Untersuchungszeitraum eng an der Grenze zur
Volksetymologie ist. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass die Zugehörigkeit
zu den schwachen Maskulina automatisch zur (e)n-Verfugung führt. Die 205
gemischten femininen Erstglieder zeigen ein anderes Bild (Abb. 67): Sie vertei-
len sich zu gleichen Teilen auf (e)n-Fuge, Nichtverfugung und Nichtverfugung
bei apokopiertem Stamm (je 62), 19 Erstglieder s-verfugen. Dabei sind Auslaut
und frühere Flexionsklassenzugehörigkeit hochrelevant: Lautet ein Erstglied
auf konsonantische Reduktionssilbe (Kammer, Orgel) aus, so bleibt das Kompo-
situm ungeachtet seiner ahd. Flexionsklasse immer unverfugt. Von 46 konso-
nantisch auslautenden Erstgliedern weist nur eines die n-Fuge auf (Jungfer-n-
schrift) – es ist in dieser Gruppe das einzige, das auch ahd. zur schwachen n-
Klasse gehörte, entsprechend verwundert das nicht. Die übrigen Fälle haben
entweder keine Fuge (28) oder s-Fuge (17), hierher gehören auch suffigierte
Feminina wie Religion.
100%
80%
60%
40%
20%
0%
ahd./mhd. ahd./mhd. ahd./mhd.
ahd./mhd. n
n/ō stark nicht belegt
-s- 1 1
unverfugt - Ø 1 7 2
unverfugt - x 9 15 32 6
-n- 22 22 16 2
Bei vokalischem Auslaut zeigen sich klare Tendenzen in Abhängigkeit von der
früheren Flexionsklassenzugehörigkeit. Zur Einordnung wurde Köblers (2014)
276 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
den Feminina wesentlich höher als heute (Wortwarte 2010: 8 feminine Erstglie-
der von 238, also 3,4%), der alternative, apokopierte Stamm entstammt aber
ebenfalls dem regulären Paradigma. Die Verfugung spiegelt also weitgehend
das, was im Singularparadigma vorhanden ist. Die größeren Anteile der jeweils
anderen Variante sind dem Flexionsklassenwandel zuzuschreiben, es handelt
sich folglich nicht um eine Wortbildungsentwicklung. Das n-verfugende Muster
ist also im Untersuchungszeitraum produktiv, hat aber noch nicht seine spätere
Ausdehnung erreicht. Wahrscheinlich nach der Restitution des auslautenden
Schwas kam es auch hier zur Übertragung der n-Fuge. Dass sie genutzt wurde
und nicht der vollständige Stamm (also das nichtverfugende Muster, Typ
*Tantebesuch), spricht für eine gesteigerte Produktivität des Musters zu diesem
späteren Zeitpunkt.
Für die Erstglieder, die ausschließlich dem Pluralparadigma entsprechen
(Hühnerei) wurde bereits eine sehr niedrige Typen- und Tokenfrequenz nach-
gewiesen (S. 227f), sodass ihre Produktivität ohne weitere Analyse als ver-
schwindend gering angesehen werden kann. Heute verzeichnen die meisten der
Pluralklassen keine Neuzugänge mehr, es besteht also kein Nachschub an Erst-
gliedern.
erfolgt in erster Linie durch Formen, die mit dem Singular übereinstimmen,
Genitivkonstruktionen haben dagegen etwas mehr Spielraum.
Tab. 46: Singular- und Pluralsemantik von N1 bei starken Maskulina/Neutra im Mainzer Korpus
(Sample).
Komposita 47 142 3 2 10
Brückenkonstruktionen 94 74 2 2
Zu sagen, dass gar keine Analogien möglich waren, geht allerdings zu weit –
gerade die er-Fuge ist heute für die (wenigen) Mitglieder der entsprechenden
Pluralklasse oft die dominierende Verfugungsoption (z.B. Eier-, Gespenster-,
Lieder-, Kinder-). Die Verwendung von Erstgliedern, die ihrer Pluralform ent-
sprechen, wird wahrscheinlich durch Rektionskomposita mit pluralischem Erst-
glied (Händeringen, Bilderverehrung) gefördert, ebenso durch den Wandel der
(heute) gemischten Feminina, deren (e)n-Fuge nur mit dem Plural überein-
stimmt (Tantenbesuch, vgl. Kap. 5.2.1) oder die, in der Form -en-, tatsächlich
Pluralsemantik transportiert (Bankenkrise, Generationenkonflikt, vgl. Kap. 5.2.2).
In der obigen Übersicht finden sich auch Beispiele für (e)n-Plurale bei
starken Maskulina und Neutra. Eindeutige Schwankungsfälle wurden bereits
vorher aussortiert (der Prozessen, Elementen, vgl. auch Klein 2015, 2017). Dane-
ben ist aber eine recht große Gruppe von (größtenteils pluraluntüchtigen) zwei-
silbigen Maskulina oder Neutra auf Reduktions- und/oder Derivationssuffix zu
finden: der Aposteln, Engeln, Kaisern, Königen, Priesteren, Selbstlautern, Was-
sern, Begräbnissen. Außerdem treten auf: der Bilden, Freunden, Grabwerken,
Tagen. Hier handelt es sich um eine zeitweise Generalisierung des Genitiv-Plu-
ral-Flexivs der fem. ō-Deklination (Wegera 1987: 168–169, Klein 2017: 24–25).
Keine dieser temporären Genitiv-Plural-Formen wurde zu Univerbierungsinput
(aber vgl. vermehrte Nutzung der en-Fuge in Schweizer Komposita, Kap. 4.8).
Überprüfung weiterer potenzieller Restriktionen | 279
(115) a. nym dan ein andern eyer dotter on dz weyß (18; 1532)
b. Eyn frisch hüner ey nim/ mach an yeder spitzen eyn loch/ blase es aus
(18; 1532)
c. mische darunter Kühe galle (34; 1592)
Hier zeigt sich bei (115a,b) am Numerus des Zweitglieds eindeutig, dass es nur
um den Dotter eines Eis bzw. um das Ei eines Huhns gehen kann, was Singular
erwarten lässt. In den genitivischen Belegen des DTA für Ei(er) des/der Huhns/
Hühner ist der Numerus des Attributs stets an das Bezugsnomen angepasst, eine
generische Pluralverwendung (das Ei der Hühner) zeigt sich nicht. Umgekehrte
Belege (vgl. nhd. Freundeskreis, Bischofskonferenz) treten im Mainzer Korpus
nicht auf, diese Klasse wird im Nhd. besonders durch die im Untersuchungszeit-
raum noch im Singular auftretende (e)n-Fuge befördert (Frauenkirche, Brillen-
etui, Blumenstängel). Kopf (2018b) zeigt jedoch an beispielhaften DTA-Daten,
dass formal singularische Stammformen bei konzeptionellem Erstgliedplural
schon im 17. Jh. belegt sind (116). Hier kann von einem produktiven verfugen-
den Muster ausgegangen werden.
||
232 Nach dem alten Muster sind sie bereits früher nachgewiesen, z.B. mhd. meitmueter ‚Jung-
frau und Mutter zugleich‘ bei Klein et al. (2009: 170), nicht aber im Urgerm. oder Wg. (Carr
1939: 162).
280 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
Weitere Restriktionen für Wortbildungsinput bei der Derivation betreffen oft Se-
mantik und Fremdstruktur. Für NN-Komposita zeigen sich heute keine semanti-
schen Beschränkungen – selbst Eigennamen, die dem allgemeinen Charakter
des Erstglieds zuwiderlaufen, treten auf (bei Ortner et al. 1991: 38 sind es 10%
der substantivischen Erstgliedtypen). Das ist auch im Untersuchungszeitraum
schon möglich (Marien=Kirche, Donau=Brücke, vgl. Fn. 158), auch bei Solling
(2012: 197–200) sind Eigennamenkomposita in beschränktem Umfang vorhan-
den. Eine Frequenzzunahme lässt sich aufgrund der Textsortenunterschiede
nicht feststellen: Die nhd. Daten sind stark zeitungssprachlich geprägt, entspre-
chend wird häufig auf Individuen und durch sie geschaffene oder sie betreffen-
de Objekte oder Konzepte referiert (Merkelregierung, Erdoğangedicht, zu EN-
Komposita im Nhd. s. auch Schlücker 2018).
Erstglieder mit Fremdstruktur treten heute so selbstverständlich in Kompo-
sita auf, dass sie i.d.R. keine gesonderte Betrachtung erfahren (Munske 2009:
223). Bei der Betrachtung der suffigierten Erstglieder wurden bereits komplexe
Fälle untersucht (S. 259ff), sie machen die allermeisten Erstglieder mit Fremd-
struktur aus. Fremde Erstglieder ohne Suffix oder charakteristischen Wortaus-
gang treten insgesamt selten auf und nehmen höchstens minimal zu (Typen
nach Zeitschnitten: 7; 5; 10; 12).233 Insgesamt lässt sich dieser Komplex aber
nicht zufriedenstellend bearbeiten, ohne Details zu Entlehnungszeitpunkt und
simplizischem Gebrauch jedes Lexems bzw. Suffixes zu erheben.
||
233 Berücksichtigt wurden nur Erstglieder mit fremder Herkunft und Struktur, ohne nati-
ves/nativ gewordenes Derivationssuffix.
Gegenwartssprachliche Produktivität verfugender Muster | 281
weisen ein nominales Zweitglied auf (Ortner et al. 1991: 9), und die Komposition
ist bei weitem der häufigste Prozess zur Neubildung (Harlass & Vater 1974).
Gegenüber dem Fnhd. und frühen Nhd. hat sich der reale Input der Kompositi-
on deutlich verändert. Es wurde bereits gezeigt, dass mehrgliedrige Komposita
mit 36% einen bedeutenden Anteil an den Neubildungen ausmachen (Kap.
10.7.5). Hinsichtlich der derivationsmorphologischen Komplexität des Erstglieds
stellen Harlass & Vater (1974: 103–104) einen Simplexanteil von 46% fest, 32%
sind suffigierte substantivische Derivate (d.h. -ung, -heit etc., teilweise zusätz-
lich mit Präfix), 5% präfigierte Derivate. Allgemein ist die NN-Komposition ge-
genwartssprachlich weitgehend restriktionsfrei, sodass im Folgenden der Fokus
auf der Produktivität einzelner Kompositionsmuster liegen soll.
Zahlen zur Distribution der verschiedenen Verfugungsmuster wurden be-
reits in Kap. 4 vorgestellt. Auffällig daran sind insbesondere die hohe Frequenz
unparadigmisch s-verfugender Komposita und die Generalisierung der (e)n-
Fuge, die mittlerweile unabhängig vom konzeptionellen Genus des Erstglieds
auch in Komposita neueren Datums genutzt wird (s.o. Brillenetui). Hier wurden
also zwei Restriktionen beseitigt: Die unparadigmische s-Fuge ist bereits im
Mainzer Korpus sichtbar, hat aber später erheblich hinzugewonnen. Die genera-
lisierte (e)n-Fuge zeigt eine teilweise Loslösung vom Flexionssystem, die sich
jedoch aufgrund des langgezogenen Zusammenfallsprozesses der heute ge-
mischten Feminina nicht genau datieren lässt. Die nhd. Token- und Typenzah-
len erlauben keinen Schluss darauf, ab wann das Produktivitätswachstum zu
beobachten ist, das im heutigen System resultierte – klar ist nur, dass es irgend-
wann zwischen 1700 und ca. 1960 stattgefunden haben muss. Becker (1992: 11)
geht nach einem (nur kurz erwähnten) Wörterbuchabgleich von einer langsa-
men Zunahme verfugender Komposita im Vergleich mit Adelung, also seit Be-
ginn des 19. Jh., aus.
Gegenwartssprachlich werden gemeinhin die s- und die (e)n-Fuge als pro-
duktiv bezeichnet, wobei sich hier die Frage stellt, was man darunter versteht:
Dressler et al. (2001: 190–192) sehen die regelhafte Nutzung nach bestimmten
Derivationssuffixen und nach auslautendem -t in mehrsilbigen komplexen Wör-
tern (z.B. Dirigat-s-erfolg) als Beleg für die Produktivität des s-Musters, für -n-
den regelhaften Gebrauch nach schwaauslautendem Erstglied, insbesondere
bei Feminina. Inwiefern es sich hierbei tatsächlich, wie sie annehmen, um eine
Ausbreitung des Musters auf neue Wörter handelt, wird im Folgenden noch
Thema sein. Nübling & Szczepaniak (2011) gehen nicht nur von einer Produkti-
vität s- und (e)n-verfugender Komposita aus, sie nehmen auch eine wachsende
Produktivität der s-Fuge an, da Gesamttypen oder Erstglieder im 20. Jh. vom un-
verfugten Muster zum s-verfugten übergehen. Im Folgenden soll daher geprüft
282 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
10.9.1 Schwankungsfälle
Nübling & Szczepaniak (2011: 49) vertreten die Ansicht, dass bei zahlreichen
Zweifelsfällen ein Übergang von fugenlosem zu s-verfugendem Muster vorliegt.
Sie argumentieren damit, dass die unverfugten Varianten häufig fachsprachlich
sind (z.B. Namen(s)kunde, Schaden(s)erschatz, Erbschaft(s)steuer) und damit
einen konservativeren Sprachgebrauch widerspiegeln. Hinzu kommt, dass die s-
Fuge sich diachron ausgebreitet haben muss, da sie heute unparadigmisch
auftreten kann, es ist also plausibler, eine Zu- als eine Abnahme anzunehmen.
Tatsächlich zeigen viele, aber bei weitem nicht alle Schwankungsfälle regis-
terabhängige Verfugung. Die gestiegene Verwendung muss nicht zwingend auf
das 20. Jh. datierbar sein, es ist ebenso denkbar, dass aktuell keine größeren
Verschiebungen (mehr) stattfinden, sondern dass die Schwankungen sich z.B.
stabil auf Schriftsprache vs. gesprochene Sprache verteilen – insbesondere bei
erlernten Nullfugen wie Schadenersatz, mit deren Verwendung ein hoher nor-
mativer Druck einhergeht, liegt das nahe. Empirisch problematisch ist aller-
dings die geringe Gebrauchsfrequenz der meisten Schwankungsfälle in dia-
chronen Korpora (Nübling & Szczepaniak 2011: 50). Auf der vorhandenen
Datenbasis lässt sich keine Produktivitätssteigerung im 20. Jh. nachweisen (vgl.
für Einzelbeispiele Anhang, Kap. 16.2.10). Eine systematische Analyse von Ver-
fugungszweifelsfällen in nhd. Zeit steht noch aus, der Ansatz erscheint prinzipi-
ell vielversprechend.
10.9.2 Neologismen
hier allerdings auch viele Formen enthalten sein, die eigentlich älter, aber sel-
ten sind. Detaillierter können die erhobenen Neubildungen aus der Wortwarte
(Kap. 3.3.1) ausgewertet werden. Zwischen den beiden Neologismensammlun-
gen liegen ca. 45 Jahre, sodass ein vorsichtiger diachroner Vergleich angestellt
werden kann.
Das Verfugungsverhalten der Neubildungen ähnelt dem des Bestands stark:
Abb. 69 zeigt Kürschners Analyse von Typen in Tageszeitungen im Vergleich
mit den Daten von Harlass & Vater (1974) und den Wortwarte-Komposita (in den
ersten drei Teilgrafiken). Auf den ersten Blick lässt sich hier also eine Produkti-
vität des s-Musters (ein Fünftel bis ein Viertel aller Neubildungen) und des (e)n-
Musters erkennen, die mit dem Bestandswortschatz mithält.
95%
100%
Ø s (e)n Sonstige
75%
80%
65%
61%
55%
60%
40%
28%
25%
21%
20% 14%
11% 12% 11%
8%
6%
2% 3% 2% 4%
1% 0%
0%
Gesamttypen Gesamttypen Gesamttypen Kompositions- neue
(alt & neu) in Neologismen in Neologismen stammformen in Kompositions-
Neologismen stammformen
(suffixreduziert)
Die Unterschiede in der Verteilung zwischen den Daten der 1960er und denen
von 2010 sind zwar hochsignifikant (χ2= 20,8; p<0,001), allerdings ist die Effekt-
stärke vernachlässigbar gering (Cramérs V: 0,055), somit lässt sich insgesamt
keine linguistisch relevante diachrone Veränderung postulieren. Aufschluss-
reich sind allerdings die Pearson-Residuen, die zeigen, worauf die Signifikanz
zurückzuführen ist:234
1960er 2010
∅ 1,139 –1,545
-s- –1,976 2,681
-(e)n- 0,623 –0,845
Sonstige -1,317 1,787
Hier zeigt sich, dass nur die s-Fuge in einem signifikanten Maß zunimmt – und
das, obwohl die Zahlen von Harlass & Vater (1974) sogar etwas zu hoch liegen,
da die es-Fuge miterfasst wurde. Der prozentual identische Unterschied bei der
Nichtverfugung hat dagegen keine Aussagekraft, genausowenig gibt es bei der
(e)n-Fuge relevante Veränderungen. Bei der Sonstige-Gruppe zeigt sich in ge-
ringem Maß Zunahme, wobei hier Einfluss der in den 1960ern nicht enthaltenen
es-Fuge möglich ist. Insgesamt nimmt das s-verfugende Muster zwischen den
1960er und 2010 also leicht zu. Leider sind die Einzelkomposita von Harlass &
Vater (1974) nicht enthalten, sodass über die Ursache nur spekuliert werden
kann. Es erscheint allerdings, wenn man die Zusammensetzung der Wortwarte-
Gruppe betrachtet, plausibel, dass das Wachstum auf eine Zunahme derivierter
Erstglieder zurückzuführen ist, nicht auf eine Ausbreitung der s-Fuge auf neue
Erstglieder.
Die Rolle der Derivate lässt sich für die Wortwarte-Daten exakt beschreiben.
In allen drei bisher besprochenen Fällen werden Gesamttypen analysiert. Diese
Herangehensweise ist besonders für die Frühphase der Verfugung von Interes-
se, in der man davon ausgehen kann, dass das Verfugungsverhalten stärker
schwankt. Heute sind die meisten Erstglieder jedoch fest an eine Fuge gebun-
||
234 Vgl. Fn. 172, der Wert einer Zelle wird als signifikant betrachtet, sofern er über 1,96 oder
unter –1,96 liegt.
Gegenwartssprachliche Produktivität verfugender Muster | 285
den, d.h. sie weisen nur eine einzige noch gebräuchliche Kompositionsstamm-
form auf.235 Da z.B. ein Erstglied wie Arbeit- immer s-verfugt,236 sagen neue
Komposita, die darauf zurückgreifen, wenig über die Produktivität des s-
verfugenden Kompositionsmusters aus. Dies betrifft ebenso die Derivationsen-
dungen, die in der Gegenwartssprache fast ausnahmslos mit dem Fugen-s ver-
bunden sind. Da es sich bei ihnen um morphologische Köpfe handelt, das Ver-
fugungsverhalten durch sehr starke Analogiewirkung also nicht für jedes
Derivat neu ausgehandelt wird, sind für Produktivitätsüberlegungen ebenso
alle ung-Derivate etc. zu je einem Typ zusammenzufassen. Diesen Typ bezeich-
ne ich als suffixreduzierten Kompositionsstammformtyp. Der Unterschied ist in
Abb. 69 deutlich zu sehen: Während in der Wortwarte 25% der erstbelegten
Gesamtkompositumstypen s-verfugen, sind es nur 8% der Erstgliedtypen, die
Verfugungsrate sinkt unter die der (e)n-Fuge (14%). Berücksichtigt man sogar
nur die Erstglieder, die seit dem 19. Jahrhundert entlehnt wurden, so spielt die
Verfugung gar keine Rolle mehr: -s- sinkt auf 1% ab und bleibt dabei stets para-
digmisch (Castingsevent, Memberspoint, Hoteliersbonus, Prekariatsfernsehn),237
die (e)n-Fuge weist einen Anteil von 4% auf (z.B. Mandarinenautomat, Boxenre-
gie, Sponsorenlink). Casting-s-event ist allerdings ein interessanter Fall: Angli-
zismen auf -ing werden so gut wie nie verfugt. Stabile Ausnahme sind stets ver-
fugendes Training (Training-s-hose, aber Jogging-∅-hose) und Sparring (Spar-
ring-s-partner/in, engl. sparring partner). Augst (1975: 97) listet aus seinen Wör-
terbuchdaten schwankendes Pudding-(s)-pulver, das sich aber in Korpora nicht
findet.238 Vereinzelt werden in Zeitungen auch verfugte Belege für dominant
||
235 Daneben können zwar ältere, lexikalisierte Formen auftreten, z.B. neben Kind-er-kopf
auch Kind-s-kopf, Kind-es-entführung, sie dienen jedoch kaum noch als Analogievorlagen. Das
spiegelt sich auch im Bestandswortschatz: Canoo.net verzeichnet 13 Kinds- und 22 Kindes-
Komposita mit einem größeren Überschneidungsbereich (z.B. Kind-(e)s-mord), dem stehen fast
200 Kinder-Komposita gegenüber.
236 Rektionskomposita mit -geber/geben und -nehmer/nehmen bilden eine Ausnahme, hier
unterbleibt die Fuge aufgrund des transparenten Bezugs auf die Syntax.
237 Bei Memberspoint liegt höchstwahrscheinlich eine Übernahme aus dem Englischen vor.
Hotelier- und Prekariat- sind zwar neu, schließen sich jedoch analogisch an bestehende Erst-
glieder mit derselben internen Struktur an (z.B. Brevier-s-dieb, Mandat-s-gesuch).
238 Training findet sich im DWDS-Kernkorpus erstmals 1902 in einem Kompositum (Training-
∅-momentbilder), dann wieder 1920, nun bereits verfugend (Training-s-liste). Insgesamt treten
bei 447 Komposita nur drei unverfugte Belege auf (1902, 1922, 1928). Sparring tritt im DWDS-
Kernkorpus nur viermal in Komposita auf, erstmal 1978 (verfugt). Der erste der 263 Belege des
ZEIT-Korpus ist verfugt (Sparringspartner, 1951), der zweite nicht (Sparring-Partner, 1960),
insgesamt enthält das Korpus 18 unverfugte Belege, die neusten von 2016. (Alle Recherchen
286 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
10.10 Zusammenfassung
Die quantitativen Produktivitätsmessungen und die qualitativeren korpusge-
stützten Untersuchungen von Restriktionen haben für die historischen Daten
gezeigt, dass Komposita im Untersuchungszeitraum produktiver werden. Dies
gilt insbesondere für verfugende Komposita: Ihre realisierte Produktivität steigt
ab etwa 1590 deutlich an. Komposita mit s-Fuge zeigen außerdem eine steigen-
de potenzielle Produktivität ab etwa 1620. Im ganzen Untersuchungszeitraum
zeigt sich ein gradueller Restriktionsabbau (vgl. Zusammenfassung in Tab. 48).
Der Restriktionsabbau ist häufig mit der Nutzung des verfugenden Musters
verbunden, was Wilmanns (1896: 388) Vermutung stützt, dass der neue Kompo-
sitionstyp Erstglieder erlaubt, die der ererbte nicht akzeptiert – oder aber umge-
kehrt, dass neu auftretende Erstglieder ein zufällig gerade entstandenes Markie-
rungsverfahren wählen. In welche Richtung die Kausalität geht und warum die
s-Verfugung gerade bei diesen Strukturen recht konsequent auftritt, wird in
Kap. 14.3 ausführlicher thematisiert. Dass über ein partiell neues Muster Res-
triktionen verlorengehen, ist auch in anderen Bereichen zu beobachten. So zeigt
z.B. Bücker (2017: 209–210), dass die neue Zirkumposition von X wegen im Ge-
gensatz zu alleinstehendem von in kausaler Bedeutung ab dem 13. Jh. auch
belebte Referenten erlaubt (z.B. von dez priesters wegen).
Für die Gegenwartssprache lässt sich vorsichtig feststellen, dass die Pro-
duktivität verfugender Kompositionsmuster in der zweiten Hälfte des 20. Jh.
nicht steigt. Obwohl zahlreiche verfugte Bildungen produziert werden, ge-
schieht dies in einem sehr engen Rahmen: Die s-Fuge ist auf Erstglieder be-
schränkt, bei denen sie sich schon früher etabliert hat, die (e)n-Fuge verbindet
sich zwar mit neuen Erstgliedern, spiegelt darin aber nur die Neuzugänge der
||
5.5.2016.) Die Verfugung von Sparring könnte durch das semantisch ähnliche und häufig in
gleichen Kontexten verwendete Training befördert worden sein.
Zusammenfassung | 287
Tab. 48: Abbau von Restriktionen für Erstglieder von Komposita vom Ahd. bis zum Nhd. (über-
setzt und ergänzt nach Kopf 2018b).
N1 = Infinitivkonversion
11.1 NA-Komposita
11.1.1 Gegenwartssprache: Neologismen
Vergleicht man die Fugenverteilung der Wortwarte nach Wortart des Zweit-
glieds (Abb. 70), so ergeben sich für NA-Komposita nur geringe Unterschiede zu
den Substantiven, die leicht auf Ungenauigkeiten durch die um ein Vielfaches
geringere Datenmenge zurückgehen können: Die Nichtverfugung liegt bei
66,7% (vs. 61,3% bei NN), die s- und (e)n-Fuge liegen um 3,3 bzw. 1,9 Prozent-
punkte unter den NN-Werten. Obwohl die meisten dieser Komposita nicht aus
Genitivkonstruktionen entstanden sein können (*des Grundrechts sensibel >
grundrechtssensibel), weisen sie Fugenelemente auf. Ähnlich wie das Vorhan-
https://doi.org/10.1515/9783110517682-011
NA-Komposita | 289
Ø
NN 1480 596 275 64
s
AN
NA 265 86 38 9 (e)n
Sonstige
0% 20% 40% 60% 80% 100%
||
239 Die Wortwarte-Daten zeigen, wie bei den NN-Komposita, keine messbare Rolle der Rekti-
on: NA-Komposita mit deverbalen Zweitgliedern (gesichtsinteressiert, automatenbasiert) verfu-
gen zu den gleichen Anteilen wie NA-Komposita mit anderen Zweitgliedern (grundrechtssensi-
bel, heuschreckenkompatibel). Fuhrhops (2000) Beobachtung ist dennoch nicht von der Hand
zu weisen. Korpora mit größerer Belegzahl zeigen durchaus Schwankungen, z.B. *ungsgebie-
tend* || *unggebietend* 2:52 (Fuge:keine Fuge), *ungsweisend* || *ungweisend* 877:709 (ZEIT-
Korpus via DWDS, 1.3.2017). In historischen Texten (DTA, 1.3.2017) treten keine verfugenden
Formen auf.
240 NA-Komposita, die offensichtlich insgesamt Derivate sind (z.B. mitnahmesuizidal ← Mit-
nahmesuizid), wurden ausgenommen, unklare Fälle wurden mitberücksichtigt.
290 | Exkurs: Weitere verfugende Wortbildungsmuster
Die Fugenverteilung bei den NA-Komposita ist also als Indikator für den hohen
Morphologisierungsgrad verfugender Kompositionsmuster zu betrachten. Dar-
aus ergibt sich die Frage, wann und wie dieser Zustand erreicht wurde.
Die NA-Komposita des Mainzer Korpus sind mit denen für das Nhd. nicht direkt
vergleichbar: Während die Wortwarte Neubildungen erfasst, sind für den Zeit-
raum 1500–1710 Tokens, Erstbelege und Hapaxe vorhanden. Zunächst ist fest-
zustellen, dass die Verwendungshäufigkeit der NA-Komposita ab 1650 massiv
zunimmt (Abb. 71). Dieser Anstieg ist ebenso für Erstbelege und Hapax legome-
na zu beobachten (vgl. Anhang, Kap. 16.2.16), was darauf hindeutet, dass das
Wortbildungsmuster an Produktivität gewinnt.
100
80
60
40
20
0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
Sonstige 1
(e)n 4 3 3 3 3 6
(e)s 1 3
Ø 4 21 17 29 16 67 59 89
Überprüft man die Fälle genauer, so reduzieren sich die Zahlen weiter: Bei 15
der 16 Tokens auf -frei, -voll und -reich ist ein syntaktischer Anschluss an ein
genitivisches Erstglied möglich: (des) Zweifels frei > zweifelsfrei, (der) Gnaden
voll > gnadenvoll (vgl. Wilmanns 1896: 392).241 Auch bei Thränenfliessend liegt
ein Syntaxbezug nahe. Diese Fälle können somit nicht als Indikatoren für eine
Nutzung von Fugenelementen in einem produktiven Wortbildungsprozess her-
angezogen werden. Schließt man verfugende NA-Komposita mit möglichem
syntaktischem Ursprung aus, so verbleiben noch 11 Belege mit 4 Erstgliedern
(Sonne, Rose, Ehre, Andacht). Der erste von ihnen tritt 1590 auf, die einzige s-
verfugende Bildung erst Ende des 17. Jhs. Es handelt sich um den unparadigmi-
schen Fall Andachts=voller (61; 1684), der doppeltem analogischem Anpas-
sungsdruck ausgesetzt ist: Zum einen verbindet sich -voll aufgrund des häufi-
gen syntaktischen Auftretens mit Genitiven regelmäßig mit s-verfugenden
Erstgliedern, zum anderen verfugt Andacht auch in NN-Komposita bereits unpa-
radigmisch.
||
241 Im Mainzer Korpus sind als entsprechende syntaktische Konstruktionen z.B. zu finden:
(VIII) a. Personen so in des Reichs Regiment gehörig/ seind aller Tax/ Zöll vnd Vngelts
frey. (38; 1595)
b. Sie wurden alle vol des heylige_ geysts vn_ fienge_ an zu predigen mit andern
zungen (11; 1525)
c. das sie vol geitzs/ hoffart/ vnd zuletzt/ vol aller Teuffel worden sind. (13; 1532)
Daneben treten aber auch unverfugte Komposita auf, sodass bei syntaktischer Herkunft des
Fugenelements immer parallel ein Fortwirken des alten Kompositionsmusters oder eine Uni-
verbierung aus Präpositionalphrasen angenommen werden muss (an Blut reich > blutreich).
292 | Exkurs: Weitere verfugende Wortbildungsmuster
Anders als bei den später folgenden Suffixen wie -haft, -bar, existiert im Fnhd.
noch ein freies Adjektiv los. Heute hat sich dagegen eine formale Differenzie-
rung in -los vs. lose durchgesetzt, weshalb Adjektive auf -los gegenwartssprach-
lich als Derivate gehandelt werden (vgl. Eisenberg & Sayatz 2004: 105, Fleischer
& Barz 2012: 59). Im Fnhd. gehören sie dagegen noch den NA-Komposita an.
Gegenwartssprachlich verfugen von 424 los-Einträgen bei Canoo.net 33,7%,
die meisten paradigmisch (kinder-, anspruchs-, chancen-, tatenlos), es treten
aber auch zahlreiche unparadigmische Fälle auf (hoffnungs-, hilfs-, arbeitslos,
40,2% der s-Fugen). Die tatsächlichen unparadigmischen Anteile dürften noch
höher liegen, wenn man die gebuchten Schwankungsfälle (anmut(s)-, anteil(s)-,
aufsicht(s)los) und einige angeblich unverfugte Basen (aussichtlos) korpuslingu-
istisch untersuchte, die in NN-Komposita stark zur Verfugung tendieren. Für
unsere Zwecke stellt sich aber primär die Frage, ob diese Verhältnisse schon im
Untersuchungszeitraum vorherrschten und wie sie zustande gekommen sind.
Zwar ist für das Suffix -los ist eine syntaktische Vorgängerkonstruktion mit
einem Genitiv denkbar, x los werden/sein. Solche Fälle sind auch belegt:
(120) a. Das Euangelium aber hat vnd führet diß Ampt / das es offenbaret in
Christo die gerechtigkeit / darin vnd dardurch wir für Gott / auß gna-
den / durch den glauben / ohne zuthun vnser werck / der Sunden loss
/ gerecht vnd jm angenehm werden zum ewigem leben (DTA, 1569)bb
b. Als solches der Procurator hörete/ sagt er: Höre Geselt das Schwein ist
dir gegeben/ gehe hin vnd führs weg/ meinet als er wolte des Teuffels
los werden. (DTA, 1605)cc
c. Jch bin loß der blassen Furcht und Noth/ weil ich nun kan leben
hier. (DTA, 1642)dd
Derivate | 293
Allerdings unterscheidet sich die syntaktische Struktur deutlich: Hier ist das
Substantiv Genitivobjekt des Verbs loswerden, d.h. die Konstruktion ist funktio-
nal weit entfernt von einem adjektivischen Gebrauch. Hinzu kommt, dass Ver-
fugung bereits im Mhd. auftritt, vgl. Wilmanns (1896: 392):
11.2 Derivate
Auch vor wortwertigem Derivationssuffix treten im Gegenwartsdeutschen mit-
unter Fugenelemente auf. Im Folgenden werden sie in zwei Gruppen geteilt,
zum einen diejenigen mit starker Verfugung, zum anderen die, bei denen nur
wenige Fugenelemente auftreten.
In ihrer Genese sehr nah an den verfugenden NN-Komposita Adverbien auf -hal-
ber/halben/halb, und -weise, die ebenfalls durch Univerbierung mit Substanti-
ven im Genitiv entstanden sein können oder sind. Hier ist von besonderem Inte-
resse, ab wann unparadigmische Fugen (sicherheitshalber, näherungsweise) auf-
treten und ob sich aus ihrer Ausbreitung Erkenntnisse über für die NN-Komposi-
ta gewinnen lassen.
294 | Exkurs: Weitere verfugende Wortbildungsmuster
(121) a. Allein des Gebets halben ist von den Theologen ein antwort gefod-
dert. (23; 1559)
b. […] dieweil dessenhalben von vnruigen Leuten also ein vngestümer
lermen in diesen Landen erregt worden ist 243 (23; 1559)
c. des halb ich diß ob beschrybe̅ angezeygt (12; 1528)
d. Erstlich/ Das alle Menschen jrer Natur halben Sünder/ vnd derwe-
gen vnter
e. Gottes zorn vnd fluch sein. (33; 1590)
Er hat auch deren halben/ so von Geistlichen vnd Weltlichen Perso-
nen etwas herter wider jn geredt hatten/ aus vorbitt der Theologen
zugesagt/ […] (23; 1559)
f. Derhalbe̅ sicht man wol das die heilige̅ Eua̅gelisten/ nit der halben
werden angenu̅ men/ das sie die Co̅cilia/ bestettigt haben (11; 1525)
||
242 Das Pronomen zeigt in manchen Texten Genus- und Numeruskongruenz, in anderen
scheint es afunktional geworden zu sein.
243 Daneben auch häufig dessenthalben (wie allenthalben, anderthalb etc.).
Derivate | 295
Das Substantiv flektiert in allen Belegen paradigmisch, d.h. das Flexiv unter-
bleibt nie, wo das nicht möglich wäre und ein unparadigmisches -s- tritt im
Mainzer Korpus in keiner Konstruktion auf.244 Das ist insofern erwartbar, als
unparadigmische Fugen schon in den wesentlich frequenteren NN-Komposita
sehr selten sind. Dass es im untersuchten Zeitraum prinzipiell Fälle gibt, zeigen
Belege aus dem DTA:
(123) a. die angeführte Wort (Gemeinschafft der Heiligen) sind dem vorigen
Wort Ecclesia allein interpretandi gratia Außlegungs halben hinzu
gesetzt (DTA, 1657)ee
b. Auff die Floßmeister/ Floß-Schreiber/ Anweiser/ und Kohlwerck zuge-
thane/ fleißiges Auffsehen habe/ damit ein iedweder demjenigen/ was
ihm Pflichtshalber oblieget/ unverbrüchlich nachkomme (DTA, 1693)ff
Im Zeitraum von 1500 bis 1680 verfugen dort 20 von 309 halb(en|er)-Konstruk-
tionen (Brückenkonstruktionen und eindeutige Adverbien) mit femininem Sub-
stantiv unparadigmisch:
100%
80%
60%
40%
20%
0%
1530-1559 1560-1589 1590-1619 1620-1649 1650-1679
Plural 2 4 1
s 6 7 7
n 3 1 7 29
0 3 25 66 80 65
||
244 Bei jhres dabey habenden interesse halben (42; 1618) dürfte das fehlende Flexiv dem
Fremdwortstatus von Interesse geschuldet sein.
Basierend auf dem Verfugungsverhalten der NN-Komposita wäre eine unparadigmische s-
Fuge in 32 Fällen denkbar, davon 5 ohne Determinierer oder Modifikator: arbeyt halb, kranck-
heithalb, schwachait vn̅ zarthait halbe̅, nothalben.
296 | Exkurs: Weitere verfugende Wortbildungsmuster
Auch hier fügt sich das erste Auftreten der unparadigmischen s-Fuge (1603) ins
Gesamtbild. Am Verfugungsverhalten späterer DTA-Belege wird außerdem
sichtbar, wie sehr die Konstruktionen zwischen Syntax und komplexem Wort
stehen: 245
(124) a. (dann alles bißher-gesagtes ist nicht aus Roht / sondern nur mehrer
Erläuterungs halben fürgebracht worden) (DTA, 1670)gg
b. Wenn kein Wasser in deren Graben/ müssen in die Mitten desselben
Pallisaden/ um besserer Defensionshalber/ gesetzet […] werden .
(DTA, 1703)hh
Während das Adjektiv Bezug auf das Substantiv nimmt, verweist das Substantiv
mit der s-Fuge auf seine morphologische Verbindung mit -halber. Die
halb(en|er)-Adverbien schwanken bis ins 18. Jh. hinein zwischen Syntax und
Wortbildung.
11.2.1.2 -weise
Das Suffix -weise bildet gegenwartssprachlich Adverben mit substantivischer
Basis, sein Allomorph -erweise verbindet sich mit Adjektiven. Als Vorgänger-
konstruktion des N+weise-Musters ist eine Präpositionalphrase mit pränomina-
lem Genitivattribut anzusetzen, so mhd. in keisers wîse, aus der sich schließlich
eine präpositionslose Konstruktion wie knechtes wis entwickelt (Wilmanns
1896: 627).246 Konstruktionen mit -weise und einem nominalen Erstbestandteil
||
245 Ausgeschlossen wurden Stämme mit vollvokalischem oder s-Auslaut. „Plural“ beinhaltet
konsonantisch auslautende Feminina mit en-Fuge und ein Femininum mit starkem Plural
(Kräfte). Brückenkonstruktionen sind artikellos (Er thut nichts Armuth halben), eindeutige Ad-
verbien sind nur bei unparadigmischer s-Fuge auszumachen (Armuts halben). Abfragesyntax:
(/^.*.+[sß]?halb(en|er)?$/ || "$p=NN /^halb(en|er)?$/") && !deshalb && !derhalben (Recherche
vom 2.3.2017, via DWDS). Der Untersuchungszeitraum wurde pragmatisch eingegrenzt (Aus-
wertung und manuelle Bereinigung der ersten 8.000 Fundstellen). Da sich das DTA noch im
Aufbau befindet, dienen die absoluten Zahlen nur dazu, die Belastbarkeit der Verhältnisse ein-
zuschätzen, eine Aussage über Zu- oder Abnahme der untersuchten Konstruktionen kann nicht
getroffen werden.
246 Auch bei -erweise liegt eine Renanalyse zugrunde (schöner Weise), hier wurde das Adjek-
tivflexiv als Teil des Suffixallomorphs reanalysiert.
Derivate | 297
sind im Mainzer Korpus nur 19 Mal belegt, wobei die frühen Belege in (125) noch
die syntaktische Vorstufe zeigen:247
Zum Verfugungsverhalten lassen sich auf der geringen Datenbasis nur wenige
Beobachtungen machen: In den beiden potenziellen Kontexten für die unpara-
digmische s-Fuge wird nicht verfugt (Position weiß, befehlungweise), was auf-
grund des generell geringen Verbreitungsgrads unparadigmischer Fugen im
Mainzer Korpus wenig verwundert. Meist wird die paradigmische Fuge realisiert
(126b), sie kann jedoch auch unterbleiben (126c). In Bataillonen= und Regimen-
ter=weiß zeigt sich Übereinstimmung mit Pluralflexiven.248
Während das Mainzer Korpus noch keine unparadigmischen Belege zeigt,
findet sich im DTA der erste Fall (anruffungs weise) schon 1571 – gut zwanzig
Jahre vor den ersten unparadigmischen NN-Belegen des Mainzer Korpus (vgl. S.
311). Unter den 96 weise-Adverbien mit ung-Derivat (Typs anschauung-(s)-weise)
zwischen 1500 und 1710 treten insgesamt nur zwei fugenlose Fälle auf (versöh-
nung Weiß, 1654; abwechslung weise, 1702).249 Auf den ersten Blick unterschei-
den sich die weise-Adverbien damit nicht deutlich von den NN-Komposita: Im
Mainzer Korpus verhalten sie sich weitgehend paradigmisch, Feminina mit
typischem Suffix nehmen aber ab der zweiten Hälfte des 16. Jh. schnell die s-
Fuge an, wie die DTA-Daten zeigen. Betrachtet man die s-verfugenden Fälle im
DTA jedoch systematischer, so fallen zwei Besonderheiten auf: s-Fugen treten
||
247 Fleischer & Barz (2012: 369) postulieren einen Zuwachs des N+weise-Musters ab dem
16./17. Jh., das A+erweise-Muster sei erst seit dem 19. Jh. häufiger – in meinen Daten verhält es
sich dagegen umgekehrt, die Konstruktionen mit Adjektiv sind um ein Vielfaches häufiger.
248 DTA-Belege des späten 17. und des 18. Jh. zeigen neben s-Plural auch en-Plural für das
(temporär auch feminine) Bataillon (z.B. und ligen jedesmal zugleich 6. Battaillonen in der
reserve, in: Theatrum Novum Politico-Historicum. Würzburg, 1686).
249 Recherche vom 1.3.2017, Abfragesyntax: /^.*ung[sß]?-?w[ea][iy][ßs]e?$/i || "/^.*ung[sß]?$
/i /^w[ea][iy][ßs]e?$/i"
298 | Exkurs: Weitere verfugende Wortbildungsmuster
häufig auch bei Lexemen auf, die in NN-Komposita nicht verfugen (127a vs. b),
und als Sonderfall davon tritt die s-Fuge oft an Erstglieder, die sowohl verbal als
auch nominal sein können (128).
Die ungewöhnlichen Verfugungen in (127) erklären sich schnell aus der rein
syntaktischen Herkunft des Musters: Da kein alternatives, nichtverfugendes
Muster wie bei den NN-Komposita zur Verfügung steht, treten Fugenelemente
bei allen Erstgliedern auf, die im Paradigma ein Genitivflexiv aufweisen.250 Heu-
te erscheinen die Bildungen, die noch in Korpora nachweisbar sind, fugenlos
(z.B. schwarmweise, splitterweise, DWDS-Kernkorpus). Auch ein Abgleich der 40
s-verfugenden weise-Bildungen bei Canoo.net zeigt nur Erstglieder, die auch in
NN-Komposita verfugen.251 Die Durchsetzung der nichtverfugten Form dürfte auf
Analogiewirkung der NN-Komposita zurückgehen. Dass das Verfugungsverhal-
ten von den NN-Komposita ausgeht und nicht umgekehrt auf die NN-Komposita
einwirkt, dürfte an den Mengenverhältnissen liegen. Die Nähe zu den NN-
Komposita ist auch deshalb von Anfang an größer als bei -halb(en|er),
weil -weise auf ein Substantiv zurückgeht, hinzu kommt, dass dieses auch wei-
ter besteht und ebenfalls in Wortbildungsprozese eingebunden ist (vgl. nhd.
Erscheinungsweise, Lebensweise).
Die Sondergruppe der weise-Adverbien mit potenziell verbaler Basis in (128)
wirft ganz andere Fragen auf: Verbale Basen sind für weise-Adverbien gegen-
wartssprachlich zwar vereinzelt belegt (borgweise, leihweise) (Fleischer & Barz
2012: 370), allerdings stets unverfugt. Bei klagsweise, bittsweise und fragsweise
ist ein Bezug auf die Feminina Klage, Bitte und Frage denkbar. Die Kompositi-
onsstammform klags- tritt zwar selten auf, ist aber auch gegenwartssprachlich
||
250 Die drei Fälle, bei denen sich der unflektierte Wortstamm im Mainzer Korpus mit -weise
verbindet (126c), könnten auf Analogie mit den unverfugten NN-Komposita verweisen. Die
Fugenlosigkeit wird bei zwei Belegen außerdem durch s-Auslaut bzw. Verbnähe begünstigt.
251 Substantive auf -ion und -ung plus Abschnitt, Anfall, Angriff, Anhang, Ausnahm(e), Aus-
zug, Behelf, Beispiel, Bezirk, Boot, Gebiet, Gespräch, Halbtag, Hilf(e), Jahrgang, Monat, Quartal,
Schwadron, Überblick, Vergleich, Versuch, Vorzug, Zwang. In NN-Komposita nur selten verfugt:
Geschenk.
Derivate | 299
Tab. 49: s-Verfugungsanteile bei potenziell verbalen Wurzeln, die mind. einmal s-verfugend in
weise-Derivaten auftreten (DTA, 4.3.2017). Bei Wechsel wurde nicht danach unterschieden, ob
das lexikalisierte, konkrete Substantiv gemeint ist oder das Abstraktum. Bei Erbe wurden
Wurzeln, die das Nomen agentis bezeichnen, ausgeschlossen.
Kompositum weise-Derivat
Auffällig ist, dass die s-Fuge häufiger bei weise-Basen auftritt, die maskuline
oder neutrale Substantive sein können, seltener bei potenziellen Feminina.
Auch hier ist es somit wahrscheinlich, dass die s-Fuge durch den rein flexivi-
schen Ursprung des Musters motiviert ist. Die nichtverfugten Basen der weise-
Adverbien lassen sich umgekehrt entweder auf den Verbstamm zurückführen
(s.o. Typ leihweise) oder, wie die Fälle aus (127), auf Analogie mit den NN-Kom-
posita des unverfugten Typs.252 Eine verstärkte s-Verfugung vermutlich verbaler
Erstglieder in Komposita lässt sich insgesamt nicht feststellen.253
||
252 Überraschend sind die Belege bürgsweise und würgsweise, für die kein substantivischer
Stamm angenommen werden kann. Sie treten gemeinsam bei Dannhauers mehrbändigem
Katechismus auf (1653–1678), der auch sonst eine hohe s-Affinitiät aufweist: Von 60 Stämmen
in weise-Adverbien verfugen bei ihm 44 ganz oder teilweise mit -s-. Darunter finden sich weite-
re auffällige Formen, so wortblumsweise, Buchstabsweise, außerdem die einzigen Belege von
folgsweise, klagsweise in Tab. 49 und frons-weise aus (127a).
253 Sie tritt aber bis heute sporadisch auf, so z.B. im Chatbeleg einschlafsfördernd (österreichi-
sche Sprecherin, 22.10.2016) oder im Hörbeleg Ausweichstermin (Schweizer Sprecherin, auch
sonst auffindbar).
Derivate | 301
Neben den Fällen, bei denen die Univerbierung mit einem Genitiv im Fnhd.
noch fassbar ist, treten Fugenelemente auch in Konstruktionen mit älteren wort-
wertigen Derivationssuffixen auf. Hier gilt es, das Ausmaß der Verfugung zu be-
stimmen, sodass entschieden werden kann, wie stark Fugenelemente zu wel-
chem Zeitpunkt an bestimmte Wortbildungsmuster gekoppelt sind (Kap. 14.3).
Für Tab. 50 wurden für das Gegenwartsdt. Daten von Canoo.net, für das Fnhd.
DTA-Daten von 1500 bis 1650 erhoben, wobei stets nur Typen gezählt wurden.
In keinem Fall treten unparadigmische s-Fugen auf.254 Während Basen mit
paradigmischer s-Fuge im Fnhd. ebenso wie gegenwartssprachlich kaum auftre-
ten, hat die (e)n-Fuge einen größeren Anteil. Hier liegt insbesondere für die n-
Fuge eine prosodische Motivation nahe. Wo bei Schwa-Auslaut der Basis nicht
n-verfugt wird, tritt i.d.R. Apokope ein (Typ ehrhaft).
||
254 Allerdings findet sich 1797 ein Hapax legomenon im DTA:
(IX) Daß die Universitäten, diese privilegiirten Dünkel-Fabriken, -- wegen ihrer Universi-
tätsheit --, noch immer in derselben Barbarey liegen, worin sie vor 300 Jahren gelegen
sind, beweisen unter andern die Promotionen, die akademische Polizey, und die selt-
same Art, die Wissenschaften zu lehren und den Kursus abzumachen.
Hier zeigt sich, dass das Fehlen unparadigmischer Fugen in den erhobenen Daten möglicher-
weise darauf zurückzuführen ist, dass kaum entsprechender Input zur Verfügung steht
(*Arbeit(s)heit, *Achtung(s)heit, *Hilf(s)heit).
302 | Exkurs: Weitere verfugende Wortbildungsmuster
Tab. 50: Verfugung vor Derivationssuffix bei Canoo.net und DTA (1500–1650). 255
||
255 Traten Komposita als Basis auf, so wurden sie mit ihrem Simplex zusammen als ein Typ
gewertet. Basen von uneindeutigem Wortartstatus (Typ pflegsam) wurden ebenfalls miteinbe-
rechnet. Im DTA wurde auf POS-Tagging zurückgegriffen (NN, ADJ*, ADV), Flexionsformen
wurden berücksichtigt, Komparation jedoch nicht. Für die Suffixe wurden folgende Schreib-
weisen mit regulären Ausdrücken überprüft: tumm?[se]?r?, schaff?te?n?, h[ea][iy][td]e?n?, haf
f?te?n?, samm?e?[rmns]?, b[ae]re?[rmns]?, l[iy]c?he?[rmns]?, l[iy]ng[sz], s[ea][iy]t[sz], w[aeä]rt
[sz]. Recherchezeitraum: 27.2.–12.3.2017. Bei 5 oder weniger Belegen wurden alle Beispiele auf-
geführt, bei mehr nur exemplarische.
256 Aufgrund der Datenmenge wurde hier nur überprüft, ob unter den Substantiven auf -heit
verfugende sind. Ebenso wurde bei den Adjektiven auf -lich verfahren. Die fehlende Gesamt-
menge von Derivaten mit nominaler Basis wird durch „–“ angezeigt.
Zusammenfassung | 303
11.3 Zusammenfassung
Insgesamt lässt sich festhalten, dass Verfugung sich dort, wo sie syntaktischen
Ursprungs ist (einige NA-Komposita, halben- und weise-Adverbien), sogar stär-
ker durchgesetzt hat als bei den NN-Komposita. Das erklärt sich daraus, dass
hier ausschließlich Univerbierungsinput zur Verfügung stand. Auch NA-Kom-
posita, die nicht auf ein Syntagma zurückgehen, verfugen heute stark (zu rund
33%, Typen), sind jedoch in den diachronen Daten nur selten belegt. Dieses
Muster scheint durch die zunehmenden NN-Komposita gestärkt worden zu
sein.257 258 259 260 261262 263
Bei älteren Derivationssuffixen zeigt sich dagegen bedeutend weniger Ver-
fugung, nirgendwo dominiert sie. Die (e)n-Verfugung ist bereits im Mhd. nach-
weisbar und scheint (wenngleich Alternativen zur Verfügung stehen) proso-
disch gesteuert. Die s-Verfugung ist beinahe vernachlässigbar. Das hat wahr-
scheinlich auch damit zu tun, dass viele in NN-Komposita s-verfugende Erstglie-
der aus semantischen Gründen nicht als Input für entsprechende Derivate ge-
nutzt werden: Es würde sich dann meist um Abstraktbildungen von Abstrakta
handeln. Dazu passen auch ältere Nachweise in Wörterbuchbeispielen von
Grimm & Grimm (1854–1961) wie Jünglingsschaft, Landwirtsschaft:264 Hier ist die
Basis eine Personenbezeichnung, von der analog zu Professorenschaft deriviert
werden kann.
Ungeachtet der Gründe bleibt festzustellen, dass die Verfugung in Nicht-
NN-Komposita recht hohe Anteile erreicht, in Derivaten dagegen nicht. Eine ver-
fugende Stammform signalisiert damit recht eindeutig Komposition, nicht Wort-
bildung allgemein.
||
257 Fleischer & Barz (2012: 213) verweisen auf Hexenheit bei Goethe (Faust I), wobei hier das
Versmaß eine Rolle gespielt haben könnte („Und deckt die Heide weit und breit / Mit eurem
Schwarm der Hexenheit“).
258 Außerdem: Mannestum.
259 Datierte Belege aus Grimm & Grimm (1854–1961): kriegsbar (ca. 1565), gerichtsbarkeit
(1793).
260 Datierter Beleg aus Grimm & Grimm (1854–1961): riesenbar (1691).
261 Aber: arbeitssam (1942, Grimm & Grimm 1854–1961)
262 Aber: gotzsam (ca. 1533, Grimm & Grimm 1854–1961).
263 Aber bei Grimm & Grimm (1854–1961): erdenwärts, gassenwärts, höllenwärts, reihenwärts,
seitenwärts, sonnenwärts, straßenwärts.
264 Volltextsuche *sschaft liefert: wirtsschaft (1538), jünglingsschaft (1654/1696), hausknechts-
schaft (1673), landwirtsschaft (1800), günstlingsschaft (1854), unterthansschaft (1898), volks-
schaft (1923).
12 Entstehung und Ausbreitung der
unparadigmischen s-Fuge
Als unparadigmische s-Fuge werden im Folgenden nur s-Fugen gefasst, die an
Erstglieder treten, die im Untersuchungszeitraum (ausschließlich) feminin sind.
Maskuline und neutrale Erstglieder wie in Menschens=Leben werden dagegen
nicht miteinbezogen: Hier handelt es sich um wenig innovative und leicht er-
klärbare Klassenwechselphänomene (vgl. S. 49ff).
Unparadigmische s-Fugen sind aus mehreren Gründen von besonderem In-
teresse: Zum einen ist nach wie vor ungeklärt, ab wann die s-Fuge auch unpa-
radigmisch erscheint. Da solche Belege als Indikator für die Produktivität des
neuen Wortbildungsmusters dienen (vgl. S. 273), ist die zeitliche und quantitati-
ve Verortung von großem Interesse. Aus der Gegenwartssprache wissen wir,
dass die unparadigmische s-Fuge stark an bestimmte Suffixe gekoppelt auftritt
(Kap. 12.1). Hier stellt sich die Frage, ob die Verhältnisse im Untersuchungszeit-
raum vergleichbar sind, oder ob sich diese Regularität erst später herausbildet
(Kap. 12.2). Außerdem gilt es, bestehende Hypothesen zu überprüfen, die die
unparadigmische Verwendung der s-Fuge plausibler machen können (Kap.
12.3).
https://doi.org/10.1515/9783110517682-012
Gegenwartssprachliche Situation | 305
600
Minderheit-en-community,
Finanzaktivität-en-steuer,
Kaufkraftparität-en-ansatz,
Kurzbotschaft-en-dienst,
400
Kurzbotschaft-en-system;
Information-∅-vernetzung,
Finanzaktivität-∅-steuer
200
Arbeit-s-
Armut-s-
Bibliothek-s-
Gegenwart-s-
0 Hilfe-s-
Simplizia und Sehnsucht-s-
s-Suffixgruppe
andere Suffixe Unterkunft-s
Zukunft-s-
paradigmisch 7 546
unparadigmisch (s) 424 19
Abb. 73: Verfugungsverhalten von Komposita mit femininem Erstglied. s-Suffixgruppe: Erst-
glied ist ein Derivat auf -ion, -heit/keit, -sal, -schaft, -ung, -tät; Simplizia und andere Suffixe:
alle sonstigen Feminina (n=996).266
||
265 Neben unverfugtem Finanzaktivität-∅-steuer tritt verfugtes Finanzmarktaktivität-s-steuer
und pluralkomponiertes Finanzaktivität-en-steuer auf. Alle Komposita sind in der gleichen
Woche in zwei verschiedenen Tageszeitungen belegt (http://www.wortwarte.de/Archiv/
Datum/d100518.html#w5). Es ist gut möglich, dass die unverfugte Variante ein Tippfehler ist
(evtl. wegen der beiden aufeinanderfolgenden <s>), da im gleichen Artikel auch die unpara-
digmisch verfugte Variante belegt ist (http://www.rp-online.de/wirtschaft/unternehmen/
finanzmarkttransaktionssteuer-was-ist-das-aid-1.2322216).
266 Die Gruppe „Simplizia und andere Suffixe“ enthält auch Feminina auf Schwa, weil diese
prinzipiell (mit subtraktiver Fuge) auch s-verfugen können. Da dieses Muster aber nur sehr
eingeschränkt verbreitet ist, ließe es sich auch rechtfertigen, schwa-auslautende Feminina aus
der Rechnung herauszunehmen, für sie ist sowieso mit n-Fuge zu rechnen. Am großen Über-
306 | Entstehung und Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge
Bei der kleinen Gruppe der femininen Erstglieder, die s-verfugen, ohne zu den
sechs Derivationstypen zu gehören, scheint die s-Verfugung ähnlich fest wie für
die Suffixe: Nur zwei Hilfe-Komposita (Steuerbetrugshilfeorganisation, Sozialhil-
femutter) und das Rektionskompositum Doktorarbeitschreiber sind unverfugt
belegt. Auffällig ist, dass (mit Ausnahme des subtraktiven Hilfs-) alle unpara-
digmisch verfugenden Fälle auf Plosiv auslauten. Umgekehrt verfugen aber nur
12,2% aller plosivauslautenden Feminina dieser Gruppe unparadigmisch.
Die komplette Distribution der Verfugungsverfahren in Abb. 73 zeigt deut-
lich, dass der Großteil aller s-Fugen auf das Konto der Suffixgruppe geht. Redu-
ziert man alle Komposita auf Erstgliedtypen, wobei alle Derivate mit demselben
Suffix als ein Typ zählen (vgl. Abb. 69, S. 283), so finden sich gerade einmal 13
unparadigmische s-Fugen, das entspricht einem Gesamtanteil von 0,5% an
allen Erstgliedtypen (vs. 8,1% unparadigmischen s-Fugen bei Gesamttypen).
Der Löwenanteil unparadigmisch verfugender Komposita entfällt also auf fünf
Suffixe (90,9% bei Kürschner, 95,7% in den Wortwartedaten). Ihr Anteil ist auch
im Verhältnis zur paradigmischen s-Fuge hoch: Die Gruppe stellt zwei Drittel
aller s-verfugten Komposita.
Unparadigmisch verfugende Erstglieder, die nicht zur Suffixgruppe gehö-
ren, sind dagegen sehr selten. Sie ähneln sich zudem strukturell stark: Eine
möglichst vollständige Sammlung der Feminina, die gegenwartssprachlich s-
verfugen (s. Anhang, S. 417), liefert 47 nicht-suffigierte Belege. Präfigierte oder
komponierte Formen wurden nach ihrem Stamm zusammengefasst, d.h. An-
sicht, Übersicht, Vorsicht etc. zählen als ein gemeinsamer Typ. Diese Stämme
machen 31 von 47 unparadigmisch verfugenden Erstgliedern aus. Vergleicht
man sie mit entsprechenden Simplizia, so zeigt sich, dass diese in 14 Fällen gar
nicht vorhanden sind (Geburt – *Burt, Andacht – *Dacht). In 16 Fällen gibt es
zwar ein Simplex (Abfahrt – Fahrt, Mitternacht – Nacht), dieses kann jedoch
nicht unparadigmisch verfugen (Abfahrt-s-zeit, Fahrt-zeit).267 Nur in einem ein-
zigen Fall verfugen komplexes und einfaches Wort gleichermaßen (Hilf-s-lehrer,
Aushilf-s-lehrer). Die unparadigmische s-Fuge scheint also sensibel für morpho-
logische Komplexität zu sein, wobei kein Unterschied zwischen teilweise opa-
ken Strukturen und transparenten besteht. Auch unter den übrigen, nicht-präfi-
||
gewicht der Nichtverfugung ändert das allerdings nichts: Es verbleiben 340 Feminina, wovon
17 s-verfugen, der Rest nicht. Rechnet man auch alle Feminina mit vollvokalischem Auslaut
heraus, verbleiben 266 Feminina, 17 s-verfugen.
267 Dialektal zeigt sich auch verfugendes Nachts-, so bei der Nachtwächter-Karte von Bell-
mann et al. (1994–1999). Die verfugte Variante erreicht im Untersuchungsgebiet des Mittelrhei-
nischen Sprachatlas 35,9%, wobei sich keine klare räumliche Verteilung ergibt. Denkbar ist
hier eine Stärkung durch das Adverb nachts, s. Kap. 12.3.5.
Gegenwartssprachliche Situation | 307
Die hohe Verbreitung der unparadigmischen s-Fuge (und auch der s-Fuge über-
haupt) ist damit nicht der s-Fuge als solcher zuzuschreiben, sondern der Tatsa-
che, dass die suffigierten Substantive häufig in Komposita genutzt werden. Es
handelt sich also um ein Epiphänomen.
Damit stellt sich die Frage, wie die Verhältnisse in der Frühzeit der unpara-
digmischen Fuge waren: Ist ihre Verbreitung bereits von Anfang an an bestimm-
te Suffixe gekoppelt? Aus synchroner Perspektive erscheint es logisch, dass die
unparadigmische Verfugung bei der Suffixgruppe so konsequent erfolgt: Der
morphologische Kopf bestimmt über das Verfugungsverhalten seiner Basis. Wir
wissen jedoch, dass die Verhältnisse im 15./16. Jh. anders aussahen, damals
schwankte das Verfugungsverhalten derartiger Erstglieder. Im Folgenden soll
daher herausgearbeitet werden, wie frühe unparadigmische Fugen distribuiert
waren und wann das heutige System erreicht war.
||
268 15,3% in Bezug auf alle Komposita sieht auf den ersten Blick nach wenig aus – es wird
jedoch schnell klar, dass es sich hier um die mit Abstand größte Gruppe von Komposita mit
Fugenelement handelt – die paradigmische s-Fuge hat 8,6%, die (e)n-Fuge 11,4%, alle weite-
ren Fugen zusammen 3%.
308 | Entstehung und Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge
12.2 (Früh-)Neuhochdeutsch
12.2.1 Bisherige Forschung
Vieles, was in Laut und Schreibung, allgemein betrachtet, zu den unterschiedlichen Ei-
genheiten des Neuhochdeutschen gehört, findet sich im vierzehnten und fünfzehnten
Jahrhundert schon bei den Obersachsen, so: […] der männliche Genitiv weiblicher Worte
in der uneigentlichen Zusammensetzung9; […]
9) Der Görlitzer Sachsenspiegel von 1387 hat ynnungis meister, ynnungis mann, ynnungis
lute, ynnungis buse, eigenschaftis recht
Leider ist die entsprechende Handschrift verschollen, sodass sich die Komposita
nicht überprüfen lassen. Weitere frühe Belege aus der Literatur sind:
||
269 Grimm & Grimm (1854–1961: Lemma „s“) nennen als frühsten unparadigmischen Beleg
zwar in deme khunftigen suenestaga (alem., 11. Jh.), hier dürfte es sich aber um einen Fall von
Genuswechsel bzw. -variation handeln, Sühne war dialektal nachweislich lange Zeit auch als
Maskulinum belegt, ganz besonders im oberdt. Raum, wo es in mhd. Zeit dominierte (Grimm &
Grimm 1854–1961: Lemma „Sühne“).
270 Die Handschrift (Prag, Nationalmuseum, Cod. X A 12, http://www.handschriftencensus.
de/3722) wurde stichprobenartig überprüft. Auf Blatt 8r findet sich z.B. Wer liebes trostes war-
ten wär, entsprechend wurde davon ausgegangen, dass auch die übrigen Belege der Hand-
schrift entsprechen. Die übrigen Belege wurden ungeprüft aus den angegebenen Quellen
übernommen.
(Früh-)Neuhochdeutsch | 309
Tab. 52: Unparadigmisch s-verfugende Komposita bei Pavlov (1983) und Solling (2012: 217–
218). In eckigen Klammern: nd. Belege; mit * versehene Erstglieder nur in adverbialen Kon-
struktionen mit -weis(e), Durchstreichung wurde irrtümlich als Femininum angenommen.
Tokens 18 [22] 0 19 7 6 14 29
Anteil (ges.) 0,4% 0% 1,2% 0,8% 0,6% 1,3% 2,1%
Erstglieder 12 [14] 0 2 3 2 10
arbeytz- geburts- geburts- geburts- Geburts- [keine Angaben]
beichts-* religi- religions- religions- Religions-
ermanungs-* ons- auffarts- Passions-
forderynghs- Liebes-
jugents- Ergäntzungs-
portz- Ermahnungs-
schantz- Verläugnungs-
scheytz- Vermahnungs-
straffs-* Versuchungs-
vhedts- Warnungs-
vpfartz-
warnungs-*
[antwerdes-]
[holtinges-]
tedings-
Bei Pavlov finden sich neben ung-Derivaten (die aber zeitgleich auch unverfugt
belegt sind) besonders viele apokopierte Erstglieder: Beichte, Pforte, Schande,
Scheide, Strafe und Fehde – kein einziges von ihnen verfugt heute noch. Sämtli-
310 | Entstehung und Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge
che nicht suffigierten Erstglieder lauten auf dentalen Plosiv aus. Für einzelne
Fälle verweist Pavlov (1983: 81) auf Genusschwankungen, z.B. bei Arbeit (he
mach sines arbeydes wol bekant sin), sicher ein Neutrum ist teding (Grimm 1826:
937). Sieben der Belege treten in adverbial gebrauchten Konstruktionen
mit -weise auf, vgl. (129c).
Sollings Belege sind ganz anders strukturiert und ähneln den gleich folgen-
den Befunden des Mainzer Korpus: Hier finden sich zu Beginn nur wenige ver-
schiedene Erstglieder, ung-Derivate sind erst Ende des 17. Jh. verfugt belegt.
Die frühen Belege zeigen, dass unparadigmische Verfugung spätestens in der
zweiten Hälfte des 15. Jh. auftrat, allerdings sehr selten. Das Mainzer Korpus
kann daher den Beginn des Ausdehnungsprozesses nicht erfassen, aber mög-
licherweise Aufschluss über seine relative Chronologie geben.
25
20
15
10
0
1590 1620 1650 1680 1710
Simplex/Präfix 1 7 14 6 1
-ion 6 5 3 1 23
-schaft 0 0 1 0 0
-(i)tät 0 0 0 0 1
-ung 1 1 0 2 7
Abb. 74: Unparadigmische s-Fugen im Mainzer Korpus (n=80). Vor 1590 finden sich keine
Belege.
6
sündes-, andachts-, nachts-
anleitungs-, scheidungs-
appellations-
3
wahls-
vermahnungs-
religions-
pflegs-
geburts-
warnungs-
lieb(e)s-
vormundschafts-
infektions-
0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
Die Daten von Pavlov (1983) und Solling (2012) lassen keine Rückschlüsse auf
die Rolle der morphologischen Struktur des Erstglieds zu: Pavlov hat bereits um
1500 suffigierte, simplizische und präfigierte Feminina, Solling listet außer
Liebes- kein einziges morphologisch einfaches Erstglied. Auch Abb. 75, die er-
fasst, wann welches Erstglied im Mainzer Korpus erstmals unparadigmisch
erscheint, enthält Erstglieder jeglicher morphologischer Struktur. Der Anteil der
Simplizia steigt jedoch nicht im gleichen Maße wie der der suffigierten Erstglie-
der: Von 1590 bis 1680 kommen in jedem Zeitraum ein bis drei Simplizia erst-
mals s-verfugend vor, 1710 sind es nur noch derivierte Erstglieder.
Aussagekräftig werden die Verhältnisse allerdings erst im Vergleich mit den
entsprechenden unverfugten Komposita, der eine Einschätzung des Durchset-
zungsgrads ermöglicht. In Abb. 76 wurden alle Komposita mit den heute unpa-
radigmisch verfugenden Suffixen aufgenommen. Für -ion und -ung dominiert
die unparadigmische s-Fuge bereits beim ersten Auftreten in Komposita.
Bei -(i)tät scheint der Wechsel erst später einzusetzen (verfugend nur Universi-
täts=Stadt), -schaft ist überhaupt nur einmal belegt (Vormundschaffts Zweck),
Erstglieder auf -heit/keit treten überhaupt nicht auf.
24
25
unparadigmisch paradigmisch
20
15
9
10 8
6
5
4
5 3
2
1 1 1 1 1 1
0
1560-1590
1560-1590
1560-1590
1560-1590
1500-1530
1620-1650
1680-1710
1500-1530
1620-1650
1680-1710
1500-1530
1620-1650
1680-1710
1500-1530
1620-1650
1680-1710
Abb. 76: Unparadigmische und paradigmische Derivate auf -ion, -ung, -(i)tät und -schaft, Erst-
glieder mit -sal und -heit/keit sind nicht vorhanden. Aufgrund der niedrigen Belegzahlen wur-
den je zwei Zeiträume zusammengefasst (n=67).
(Früh-)Neuhochdeutsch | 313
Bei den Simplizia bzw. anderweitig komplexen Feminina zeigt sich ein gemisch-
tes Bild. Hier wurden alle Erstglieder, die entweder heute oder in den Mainzer
Korpusdaten unparadigmisch verfugen, ausgewertet. Es ergeben sich drei
Gruppen:
Tab. 53: Simplizia und anderweitig komplexe Erstglieder mit historischer oder gegenwarts-
sprachlicher unparadigmischer Verfugung (Mainzer Korpus).
Gruppe 1: Geschichte 8
heutiger Stand noch nicht
erreicht Heirat 1
Hilfe 1
Gruppe 2: Hoffart 1
heutigen Stand (fast) vollstän-
dig erreicht Andacht 2
Geburt 15
Liebe 1 7
Gruppe 3: Pflege 10 1
temporäre Variation, heutiger
Stand dominierend Nacht 56 1
Sünde 8 1
Wahl 2 1
||
271 Evtl. frz. ausgesprochen und daher nicht an die lateinischstämmigen, konsonantenfinalen
ion-Bildungen angeschlossen.
(Früh-)Neuhochdeutsch | 315
Verfugung fehlt noch bei Weihnacht. Heute nicht mehr vorhandene Verfugung
ist in GerManC bei Gewalt, Luft und Not jeweils einmal belegt.
60
50
40
30
20
10
0
1650-1700 1701-1750 1751-1800 1843 1905
Simplex 6 12 5 4 12
präfigiert 5 1 3 2 13
-ung 11 24 77 22 74
-ion 6 7 20 8 31
-heit/keit 1 4 6 2 17
-schaft 1 1 0 2 15
-ität 0 1 2 0 1
Abb. 77: Unparadigmische s-Fuge in GerManC und Mannheimer Korpus (n=396), Balkendar-
stellung normalisiert auf Vorkommen pro 10.000 Textwörter.272
||
272 Zunächst wurden lediglich die Zeitungstexte aus GerManC und dem Mannheimer Korpus
gemeinsam analysiert. Da sich aber gegenüber den wissenschaftlichen Texten und den Predig-
ten keine Unterschiede zeigten, erfolgt hier eine zusammenfassende Analyse aller Daten. Die
absoluten Werte aus den Jahren 1650–1800, die in den Datentabellen von Abb. 77 und Abb. 78
316 | Entstehung und Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge
90,5% 97,2%
100%
80%
60%
40%
20%
4,1% 7,0%
3,8% 2,1% 3,2%
0%
1650-1700 1701-1750 1751-1800 1843 1905
Simplex/Präfix 11/277 13/333 8/426 6/218 26/339
Suffix 19/21 37/37 105/105 34/34 138/142
Abb. 78: Anteil unparadigmischer s-Fugen an allen Komposita mit femininem Erstglied (ausge-
nommen s-auslautende) in GerManC und dem Mannheimer Korpus (n=1.932).273
||
aufgeführt werden, sind aus diesem Grund nicht mit denen von 1843/1905 vergleichbar. In den
Diagrammen wurden die Zahlen entsprechend normalisiert bzw. prozentual angegeben.
273 Hier wurde also der Anteil der Simplizia mit unparadigmischer s-Fuge an allen Komposita
mit simplizisch femininem Erstglied sowie der Anteil der suffigierten Erstglieder mit unpara-
digmischer Fuge an allen Komposita mit suffigiertem Erstglied berechnet.
(Früh-)Neuhochdeutsch | 317
Hier scheint eine temporäre Ausdehnung vorzuliegen, die darauf hinweist, dass
die unparadigmische s-Fuge im Untersuchungszeitraum produktiv ist.
12.2.5 Zusammenfassung
Unparadigmische Fugen treten spätestens in der zweiten Hälfte des 15. Jh. auf,
allerdings noch in geringem Umfang. Pavlovs (1983) Daten zeigen keine mor-
phologischen Präferenzen, aber eine deutliche Bindung an auslautende Den-
tale. Unparadigmische Verfugung von ung-Derivaten ist bereits früh belegt, falls
Wackernagels (1848) Angaben stimmen, bereits in der zweiten Hälfte des 14. Jh.
In den Mainzer Daten zeigt sie sich erst Ende des 16. Jh., hier setzt auch die Ver-
fugung von ion-Bildungen, insbesondere dem erst kurz zuvor entlehnten Religi-
on, ein (nach Pfeifer 1993 in der ersten Hälfte des 16. Jh. übernommen). Ab Mitte
des 17. Jh. zeichnet sich eine Kopplung der unparadigmischen s-Fuge an suffi-
gierte Feminina ab, die entsprechenden Suffixe verfugen ab dem 18. Jh. schließ-
lich weitgehend ausnahmslos.
Bei den Simplizia und präfigierten Feminina herrscht dagegen noch Varia-
tion, die sich erst in der Mitte des 19. Jh. stabil einpendelt. Die Datenmenge ist
für zuverlässige Aussagen zu gering, es entsteht aber der Eindruck, dass einsil-
bige oder morphologisch einfache Erstglieder schwer Fuß fassen können bzw.
konsequent ausgeschieden werden: Noch bei Pavlov (1983) treten zahlreiche
unparadigmische Fugen an apokopierte Feminina, auch die frühen Belege in
129 beinhalten entsprechende Erstglieder (mechtsbrief, bichtswiß, Nachts trop-
fen). Im Mainzer Korpus sieht das Bild aber ganz anders aus: Hier finden sich
nur noch fünf einsilbige Stämme, von denen vier nur ein einziges Mal unpara-
digmisch belegt sind.274 Bei ihnen kann sich die s-Fuge nicht verfestigen. Bei
Solling (2012) ist kein einziges einsilbiges Femininum belegt, das unparadig-
misch verfugt. Vom 18. zum 19. Jh. werden weitere einsilbige Erstglieder ausge-
schrieden (Luft, Not). Nicht in dieses Bild passt dagegen die Ausscheidung von
Gewalt, die ebenfalls unpassende Aufnahme von Hilfe könnte durch Genus-
schwankung mitbedingt sein. Der Ansatz ist zwar vielversprechend, bedarf aber
zur Klärung umfangreicherer Korpora.
||
274 Das meist zweisilbig realisierte Liebes- wurde hier nicht berücksichtigt.
318 | Entstehung und Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge
Tab. 54: Wichtige Etappen bei der Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge.
Die unparadigmische s-Fuge ist ein wichtiger Faktor bei der Datierung des neu-
en Kompositionsmusters. Die Belege von Wackernagel (1848) deuten darauf
hin, dass es bereits Ende des 14. Jh. existierte, eine zuverlässige Datierung auf
spätestens die zweite Hälfte des 15. Jh. erlauben die Belege aus der Literatur und
von Pavlov (1983). Damit kann für den gesamten Untersuchungszeitraum des
Mainzer Korpus davon ausgegangen werden, dass neue verfugende Komposita
durch ein produktives Muster entstehen – wie in Kap. 8.4. gezeigt wurde, be-
steht aber weiterhin eine komplexe Interaktion zwischen Genitivkonstruktionen
und Komposita. Der Univerbierung stehen zwar nicht mehr so viele pränomina-
le Genitivattribute zur Verfügung wie zu Beginn des Fnhd. (Kap. 6.3), entspre-
chende Fälle scheinen aber dennoch weiterhin vorzukommen, zusätzlich (und
wahrscheinlich in größerem Ausmaß) werden Genitivkonstruktionen funktional
ersetzt, d.h. von den Sprecherinnen und Sprechern zugunsten der Komposita
seltener genutzt.
schwanker sind und damit als paradigmisch betrachtet werden können (132), ob
ein Einfluss aus lat., s-haltigen Genitivflexiven (133) oder dem Nd. (134) möglich
ist, welche Rolle einzelne Sonderentwicklungen wie z.B. das Adverb nachts
(135) und das insgesamt im Wandel begriffene Flexionsklassensystem spielen.
(131) a. daß es sich mit des Vatters oder Mutters Halß anhelt (DTA, 1631)yy
b. liebreiche Brüste des Göttlichen Muttershertzen (DTA, 1653)zz
(132) a. Und da seynd alsbald die Fürsten des Gewalts / der Finsternuß / und
der Geistlichen Schalckheit fürhanden (DTA, 1673)aaa
b. mit Königlichen Schreiben vnd Gewaltsbrieffen (DTA, 1631)yy
(133) a. ein gantz völliges/ freyes/ und ungehindertes Religionis Exercitium
(72; 1710)
b. tägliches Religionsexerzizium (DTA, 1795)bbb
(134) a. nd. arbeydesvolckes (Pavlov 1983: 80)
b. So viel nun die Acker-vnd Arbeitsleute belangen thut (DTA, 1631)yy
(135) a. Nachts vmb 8. oder 9. vhr (50; 1618)
b. bey Tags=Zeit gehemmet/ geblieben/ bey Nachts=Zeit aber jedesmals
wiederkommen (61; 1684)
(131') a. daß es sich mit des Vatters oder Mutters Halß anhelt (DTA, 1631)yy
b. liebreiche Brüste des Göttlichen Muttershertzen (DTA, 1653)zz
endlich könnte die im nhd. entschiedne neigung ursprünglich weiblicher städte namen,
ins neutr. überzugehen […] angeschlagen werden. Wiewohl keine composita vorkommen
und der vorstehende ungebundne gen. (z.B. hamburgs belagerung) ganz etwas anderes
ist.
||
275 Möglicherweise nimmt das stark flektierende Erstglied Mutter- das -s schneller an, da es
kein Genitivflexiv besitzt. Ähnliches dürfte für germ. Rufnamen der ahd. jō-Deklination gelten
(Braune 2004: 199). Hier finden sich im Gegenwartsdt. Fälle wie Gertrudskirche, Adelheids-
kreuz, Mechthildskult, bei denen es sich um ältere Bildungen handeln dürfte. Weiblichen Ruf-
namen nicht-germ. Ursprungs weisen dagegen (wie einige germ. Klassenwechsler auch, Ger-
trudenkirche) lange ein (e)n-Flexiv auf (Maria/e – Marien, Elisa/e – Elisen), später erfolgt ein
Übergang zur gemischten (Mariens, Elisens) und schließlich starken Flexion (Marias, Elisas;
vgl. auch Ackermann 2016). Die starke und gemischte Flexion haben sich nicht in Komposita
niedergeschlagen. So finden sich im DTA zwischen 1600 und 1900 keine Belege für Substantive
mit dem Erstglied Mariens- ($p=NN with Mariens*) oder Marias- ($p=NN with Marias*), dage-
gen einige hundert mit dem schwachen Marien- ($p=NN with Marien*; Recherche am 3.2.2016).
Maria ist der weibliche Rufname, der aufgrund seiner hohen Relevanz in der Alltagswelt am
häufigsten auftreten dürfte und der sich aufgrund der allgemeinen Bekanntheit der Hl. Maria
und der großen Verbreitung entsprechender Kultgegenstände und -praktiken für Komposita
anbietet (Marienbild, Marienstatue, Marienkirche, Marienverehrung, Mariengebet, …). Daher
kann davon ausgegangen werden, dass eine s-Fuge bei weiblichen Rufnamen der ehemals
schwachen Flexion, wäre sie möglich, hier auftreten müsste. Da sie das nicht tut, wird im
Folgenden davon ausgegangen, dass die meisten weiblichen Rufnamen in fnhd. Komposita
nicht s-verfugen.
Erklärungsansätze zur Entstehung | 321
durch dieselben Faktoren befördert wird, die auch die Ausbreitung der unpara-
digmischen s-Fuge vorantreiben.
Nicht alle Fugen, die im heutigen System unparadigmisch sind, müssen das zur
Entstehungszeit ihrer Komposita auch gewesen sein. Die en- und ens-Fuge
(Mondenschein, Menschenskind) wurde in dieser Hinsicht bereits in Kap. 5.1.1
und 7.2.2 behandelt, hier sind Reste einer anderen Flexionsklasse erhalten (s.
zur ihrer Bedeutung für die s-Fuge auch Kap. 12.3.5). Bei der unparadigmischen
s-Fuge der Feminina könnte zu Entstehungszeit der Komposita Ähnliches der
Fall sein. Bei Durchsicht der Korpusdaten fallen schnell Belege wie die folgen-
den (jeweils in a) auf:276
Hier schwankt das Genus der heute femininen Substantive im Korpus. Bereits
Grimm (1826: 939) sieht darin einen möglichen Einfluss auf das Verfugungsver-
halten:
[…] daß manche der hier in betracht stehenden fem. früherhin männlich oder neutral ge-
setzt und flectiert worden sind.
||
276 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Wandersleut (1590): Aus heutiger Perspek-
tive wirkt der erste Bestandteil verbal, hier ist jedoch das noch nhd. gebrauchte Abstraktum
Wander anzusetzen, das in allen drei Genera auftrat (Grimm & Grimm 1854–1961: Lemma
„Wander“), hier dürfte das -s- also dem Paradigma der starken Maskulina oder Neutra ent-
stammen (vgl. auch Briegleb 1935: 19).
322 | Entstehung und Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge
sind viele der Schwankungen aber auch im Fnhd. zu finden. Werner (2012: 200–
202) sieht Genus- und damit Klassenwechsel als erwiesene Ursache für die un-
paradigmische Fuge an:
So kann angenommen werden, dass die ersten Erstelemente, die die heute unparadigma-
tische -s-Fuge zu Feminina bilden, diachron überhaupt kein feminines Genus besaßen,
sondern dass das entsprechende Lexem mehrere Genera besaß.
Da Werner (2012) nur Suffixderivate betrachtet, stützt sich ihre These auf sehr
wenige Fälle, genaue chronologische Einordnungen fehlen zudem. Im Folgen-
den werden zunächst die heute ausnahmslos verfugenden Suffixe betrachtet
und im Anschluss nicht-suffigierte Feminina.
12.3.2.1 Suffixe
Die meisten suffigierten Substantive des Gegenwartsdt. haben ein festes Genus
(und Verfugungsverhalten). Das gilt jedoch nicht ausnahmslos: Das unproduk-
tive Suffix -nis findet sich im Wörterbuch bei Feminina (Finsternis) und Neutra
(Gelöbnis) in einem Verhältnis von 17 zu 31 (drei Substantive schwanken außer-
dem), ebenso -sal (Trübsal, F – Schicksal, N) mit 3 zu 7 (zwei Substantive
schwanken; via Canoo.net, s. Anhang, S. 427). Das Suffix -tum ist fast aus-
schließlich neutral, es kommen jedoch auch zwei Maskulina vor (Irrtum, Reich-
tum; vgl. auch Werner 2012: 3–4). Diese Verhältnisse zeugen davon, dass Genus
in älteren Sprachstufen des Deutschen nicht untrennbar mit dem Suffix verbun-
den war, wie das bei produktiven gegenwartssprachlichen Suffixen der Fall ist.
Von besonderer Relevanz für die Verfugung ist das Genus von -ung, da mit
diesem Suffix die ersten unparadigmischen Fugen auftreten. Es weist zwar im
Germ. eine maskuline Parallelform auf, diese ist aber zunächst durch den En-
dungsvokal klar unterscheidbar, hat eine andere Semantik und verliert schnell
an Produktivität (Henzen 1965: 103, Hartmann 2016: 59–60). Spätere Genus-
schwanker können daher keine direkten Bildungen mit dem maskulinen Suffix
sein. Wegera (1987) weist im Bonner Fnhd.-Korpus neutrales Hinderung (Mittel-
bair.) nach und listet ergänzend aus der Literatur Verharrung und Hoffnung als
Nicht-Feminina. Im Mainzer Korpus sind alle ung-Derivate Feminina, auch
Hartmann (2016) und Müller (1993) berichten keine Genusschwankungen für
das Fnhd. Damit ist eine direkte paradigmische Fugenherkunft bei ung-Deriva-
ten zwar nicht völlig von der Hand zu weisen, aber doch sehr unwahrscheinlich.
Das Suffix -ung tritt im Fnhd. allerdings in verschiedenen Formen auf, so teil-
weise auch als -ing (Müller 1993: 153, s. auch Belege in Tab. 52, S. 309). Hier
besteht eine lautliche Parallele zu den restlichen Bildungen des alten, maskuli-
nen -ing (Messing, Pfenning, …) und darauf basierendem -ling, denen paradigmi-
Erklärungsansätze zur Entstehung | 323
scher s-Genitiv (und im Fall von -ling auch s-Fuge) zur Verfügung steht. In die-
sen Zusammenhang lässt sich wahrscheinlich auch Grimms (1826: 939) Bemer-
kung „selbst an die masc. auf -ung statt -unga […] wäre zu denken“ einordnen.
Da kaum genusschwankende ung-Derivate auftreten, müsste ein potenzieller
Einfluss allerdings direkt auf die Kompositumsfuge wirken. Um hier einen Be-
zug zu postulieren, der über reine Spekulation hinausgeht, müssten die evtl. be-
einflussenden Suffixe systematisch in Texten eines Dialektraums mit dem i-hal-
tigen Allomorph nachgewiesen werden.
Derivate auf -heit/keit treten erst in GerManC überhaupt in Komposita auf.
Frühere Fälle sind zwar nicht auszuschließen, da sie aber dann so selten wären,
dass sie im Korpus nicht belegt sind, ist es auch wenig wahrscheinlich, dass das
Genus dieses Suffixes großen Einfluss genommen hat. Im Ahd. und Mhd. tritt es
noch als freies Substantiv auf, wobei es maskulin wie feminin sein kann – in
Komposita zur Bildung von Abstrakta, der Vorstufe des späteren Suffixes, tritt
es allerdings nur feminin auf (Henzen 1965: 121). Die Situation im Fnhd. ähnelt
der von -ung: Müller (1993: 293) findet bei Dürer ausschließlich Feminina. We-
gera (1987) verweist auf maskulines Gesundheit (Ostschwäb.) und listet Gerech-
tigkeit aus der Literatur.
Das Suffix -schaft tritt im Ahd. als feminines Kompositumszweitglied auf,
während im An., Ae. und As. Maskulina und Neutra belegt sind (Henzen 1965:
122). Es findet sich unter Wackernagels (1848) Belegen einmalig sehr früh, tritt
aber in den hier untersuchten Korpora erst ab 1650 in Komposita auf. Bei Müller
(1993: 343) erscheint es immer feminin, auch Wegera (1987) kann für das Fnhd.
keine Genusschwankungen nachweisen.
Das Suffix -sal tritt im Mainzer Korpus nicht an Kompositumserstgliedern
auf, auch gegenwartssprachlich sind seine Derivate (außer dem neutralen
Schicksal) kaum gebräuchlich. Dass es im Fnhd. und bis heute nachweislich
zwischen Neutrum und Femininum schwankt, dürfte daher keinen Einfluss auf
die unparadigmische s-Fuge gehabt haben, da die Zahl seiner Derivate sehr
klein ist (vgl. Anhang, Kap. 16.2.9).
Substantive auf -ion folgen im Mainzer Korpus dem früh erscheinenden Re-
ligion (s.u. S. 328), sie sind fast immer feminin. Abweichungen finden sich bei
Passion (auch als Maskulinum gebräuchlich) und beim neutralen Evangelion
(als griech. Nebenform zu lat. Evangelium). Formgleiche Maskulina wie Spion
und Skorpion können ebenfalls ein Vorbild liefern, allerdings unterscheiden sie
sich semantisch doch deutlich von den abstrakten ion-Bildungen.
Derivate mit -tät sind bereits vereinzelt in mhd. Zeit belegt (Banholzer
2005), allerdings durchgehend feminin. Sie übernehmen die unparadigmische
324 | Entstehung und Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge
Fuge erst sehr spät (vgl. Grimm & Grimm 1854–1961: Lemma „Universität“),
sodass das Suffix als Übergang sowieso wenig wahrscheinlich ist.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass lediglich -ung und -ion überhaupt
Übergänge bieten könnten: Die übrigen Suffixe bilden selten und spät erst Deri-
vate, die als Erstglieder genutzt werden (vgl. auch Grimm 1826: 937). Beide Suf-
fixe, -ung und -ion, weisen Schwankungsfälle im Fnhd. auf, allerdings in sehr
begrenztem Umfang. Die lautliche Ähnlichkeit zu Maskulina (-ing/ling, Skorpi-
on) könnte das -s- weniger ungewöhnlich erscheinen lassen – ein direkter Ein-
flussnachweis fehlt hier aber und es erscheint auch problematisch, dass nur die
Kompositionsfuge davon betroffen sein soll, nicht die Genitivflexion der Simpli-
zia. Insbesondere bei hochfrequenten und produktiven Wortbildungsmustern
dürfte Genusschwankung einzelner Lexeme keine allzu große Rolle spielen, die
große Masse ist einheitlich feminin.
Liebe
Hilfe
Arbeit
Zukunft
Aufsicht
Liebe
Gewalt
Luft Arbeit
Geschichte
Heirat Liebe Liebe
Liebe Hilfe
Arbeit Garnison
Hilfe Geburt Geburt
Geburt Geburt
Not
Abb. 79: Unparadigmisch s-verfugende Simplizia in GerManC und dem Mannheimer Korpus
(n=63), Größendarstellung anteilig an der Korpusgröße. Weiße Lexeme können auf paradigmi-
sches -s der Maskulina/Neutra zurückgehen, bei Genusschwankung (auch) im Fnhd. ist der
Kasten gestrichelt, bei Genusschwankung nur im Mhd. ist der Kasten von einer durchgehenden
Linie umgeben.
326 | Entstehung und Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge
An den GerManC-Daten aus Kap. 12.2.3 zeigt sich, dass von den Komposita mit
simplizischem Erstglied zwei Drittel der Belege (das sind 25 Komposita) bzw. 5
von 9 Erstgliedtypen im Fnhd. auch als Maskulina oder Neutra belegt sind (Abb.
79; weiße, gestrichelt umrahmte Boxen). Zieht man auch Fälle hinzu, die noch
im Mhd. schwankten, im Fnhd. aber nicht mehr, so erhöht sich der Anteil auf
72% der Tokens (7 von 9 Typen; Abb. 79; weiße, fest umrahmte Boxen). Es blei-
ben nur zwei Erstglieder mit neun Tokens übrig, deren s-Fuge nicht aus einem
früheren Flexionsparadigma stammen kann (Geburt, Garnison; graue Boxen).
Im Zeitraum des Mannheimer Zeitungskorpus finden sich noch zwei weitere nur
feminin belegte Erstglieder (Aufsicht, Zukunft).
Die hier vorgestellten Befunde machen die These etwas plausibler, dass die
Genusschwanker ein Einfallstor für die unparadigmische s-Fuge bilden: Die
Mehrheit der „unparadigmischen“ Belege des Untersuchungszeitraums und
weit mehr als ein Drittel der untersuchten Erstglieder treten als Simplizia im
Mhd. oder Fnhd. auch als Maskulina oder Neutra auf. Allerdings sind viele der
frühen Belege gerade keine Schwankungsfälle, so z.B. die Simplizia bei Pavlov
(1983). Zudem lässt sich der Schwankungsgrad der einzelnen Feminina nicht
zuverlässig bestimmen, es bleibt unsicher, ob die Genusschwankung tatsäch-
lich so ausgeprägt war, wie die einzelnen Belege nahelegen.
(140) a. das es mit des Autoris bewilligung geschehen köndte (31; 1590)
b. so vnderstundt sich eines Senatoris oder Ratsherrn Fraw jhren Herrn
zu fragen (58; 1645)
c. zu den Worten im Religionis Instrumento (72; 1710)
d. ein gantz völliges/ freyes/ und ungehindertes Religionis Exercitium
(72; 1710)
Damit könnten die lat. Formen, insbesondere wenn das zweite Substantiv nativ
ist, für ein Kompositionserstglied gehalten werden, sodass das Kompositions-
muster mit s-Fuge sich auch auf Feminina erweitert. Verfolgt man diese These,
so zeigt sich allerdings, dass Übergangsformen wie *Religionispunct weder im
Mainzer Korpus noch in GerManC belegt sind. Im DTA findet sich nur eine ein-
zige Form, bei der es sich um einen lat. Plural handeln könnte:
(141) Welche aber ihren Lust in der Freyheit/ oder aber ihre Defensiones-
Mittel in der Subjections-Prob mit lauffen bezeigen/ werden nicht die
helffte Muth und Kräfften an sich erfinden lassen/ und also bey der Erden
zu | behalten seyn/ weil sie zu den hohen Actionen zu wenig Muth oder
Stärcke haben. (DTA, 1688)ddd
Eines der frühsten unparadigmisch verfugenden Erstglieder ist Religion, das auf
lat. religio, religiōnis zurückgeht und ab der 1. Hälfte des 16. Jh. gebräuchlich ist
(Pfeifer 1993). Da es im Mainzer Korpus vergleichsweise oft erscheint, kann es
genutzt werden, um abzuschätzen, wie plausibel eine lat. Herkunft ist (vgl. Tab.
55). Das Wort tritt erstmals 1530 in der Form religio auf, im selben Zeitschnitt
finden sich aber auch schon zwei Formen mit erweitertem Stamm (religion).
Unter den 113 Vorkommen befinden sich lediglich fünf lat. flektierende Geniti-
ve, die alle im selben Text von 1710 zu finden sind. s-verfugte Komposita treten
dagegen schon viel früher auf: 1560 findet sich ein Zweifelsfall ohne Fuge (bis
zu erörterung der Religion sach), ab 1590 erscheinen alle Komposita mit dem
Erstglied Religions-. Unter diesen Umständen scheint es sehr unwahrscheinlich,
dass ein lat. is-Genitiv die Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge befördert
hat.
Es erscheint außerdem wenig plausibel, dass das Kompositionsmuster so
massiv durch Einfluss einer Sprache geprägt sein soll, die nur ein geringer Pro-
zentsatz der Bevölkerung schrieb und sprach, die häufige Integration lat. Phra-
sen in die Korpustexte zeigt lediglich den Sprachgebrauch Privilegierter.
328 | Entstehung und Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge
Tab. 55: Vorkommen von Religion als Simplex oder in Komposita, Mainzer Korpus (n=113).
1500
1530 3
1560 1 7
1590 5 13
1620 5 31
1650 1 6
1680 2
1710 19 20
Ähnlich wie in den meisten germ. Sprachen bildet sich auch im Nd. ein Ein-
heitsgenitiv auf -(e)s heraus, der sich ebenfalls in Komposita findet (orvedes-
bref, redesman, scheidungsdag, Henzen 1965: 58). Entsprechend wird in der
Literatur immer wieder nd. Sprachkontakt als Grund für die unparadigmische s-
Fuge vorgeschlagen, so bei Paul (1920a: 5). Grimm & Grimm (1854–1961) postu-
lieren für das Erstglied Liebes-:277
die zusammensetzungen mit diesem unechten genitiv sind hier zufrühest und ganz ver-
einzelt aus dem anfang des 15. jahrh. bei dem Mindener dichter Eberhard von Cersne zu
belegen (unter liebesthat); eindringen von Niederdeutschland her ist hier sichtbar. sie
dringen langsam vor, erst auf der wende des 16. und 17. jahrh. erscheinen sie häufiger
(vgl. liebesbrunst, liebesschmerz, liebessitte u. a.), verbreiten sich dann aber im 17. jahrh.
sehr rasch so, dasz sie die composition mit der alten und echten form liebe-, gekürzt lieb-
[…], am substantiv beinahe ganz verdrängen.
||
277 Grimm (1826) erwähnt dagegen nd. Einfluss nicht, sondern zieht gerade für liebes- einen
Einfluss des mhd. Neutrums liep in Betracht, auch bei Grimm & Grimm (1854–1961) erfolgen
widersprüchliche Angaben, so findet sich beim Lemma „s“ die Bemerkung „das genitive s bei
solchen femininen zusammensetzungen ist nicht niederdeutsche oder mitteldeutsche eigen-
thümlichkeit, sondern ebenso gut oberdeutsch, wie dort entstanden“.
Erklärungsansätze zur Entstehung | 329
Henzen (1965: 58) bezeichnet die Theorie als „vorherrschende Annahme“, bis
heute findet sie sich in der Literatur (z.B. Werner 2012: 201), entsprechende
Untersuchungen fehlen aber. Behaghel (1921) spricht sich entschieden gegen
nd. Einfluss aus.278 Lasch (1914: 380) zeigt, dass starke Feminina im Mnd. das
Genitivflexiv -(e)s haben konnten, hier vermischen sich also die Flexionsklas-
sen ähnlich wie in den skand. Sprachen, was den Eingang in univerbierte kom-
plexe Wörter nachvollziehbar macht. Wie umfangreich das Muster im 16. Jh. war
und entsprechend auch, wie wahrscheinlich seine Einwirkung auf das Hd.,
bleibt unklar. Dass die meisten nd. Belege das Fugenelement in der Form -es
aufweisen, macht eine Übernahme ebenfalls unwahrscheinlich, die hd. Belege
weisen nur selten einen Vokal auf.
Pavlov (1983: 81) sieht die Entstehung der unparadigmischen s-Fuge als
Ausbreitung des Wortbildungsmusters, dem Nd. gesteht er maximal unter-
stützenden Charakter zu:
Pavlov weist darauf hin, dass die 22 unparadigmischen Belege seines ersten Un-
tersuchungszeitraums (1470–1530) „zumeist“ aus dem nd. oder md. Sprach-
raum stammen – eine genaue Zuordnung zeigt allerdings nur 4 nd. Belege (in 2
verschiedenen Quellen) gegenüber 10 md. (in 2 verschiedenen Quellen) und 8
od. (in 5 verschiedenen Quellen). Die Zahlen deuten also nicht auf ein nd. Über-
gewicht hin, sie zeigen nur, dass im nd. Sprachraum, was ja bereits bekannt
war, ebenfalls s-Fugen bei femininen Erstgliedern auftreten. Pavlov (2009: 69)
bezieht noch stärker Position für rein wortbildungsinterne Motivation.
Sprachkontakt als ausschlaggebender oder beeinflussender Faktor er-
scheint außerdem nur dann plausibel, wenn tatsächlich vollständige Komposita
in größerer Menge entlehnt worden wären, aus denen sich übertragbare Regula-
ritäten ableiten ließen. Darstellungen zum Sprachkontakt zwischen hoch- und
niederdt. stützen das nicht – zwar finden sich zahlreiche Entlehnungen, diese
betreffen jedoch fast ausschließlich Simplizia (Peters 2010).
||
278 Der bei ihm angegebene Literaturverweis zu einer genaueren Erläuterung (Behaghel 1911:
322) führt allerdings ins Leere, an der angegebenen Stelle geht es nicht um Wortbildung, auch
der Index hilft nicht weiter.
330 | Entstehung und Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge
Für eine kleine Gruppe von Adverbien (des tags > tags) greift der s-Genitiv ana-
logisch auf wenige feminine Basen (nachts, jen-, dies-, …seits) und Adjektive
über (z.B. bereits, eilends), das adverbiale Suffix -s entwickelt sich. Für die s-Fu-
ge von Fastnacht-, Mitternacht-, Weihnacht- könnte das Adverb nachts also eine
unterstützende Rolle gespielt haben.279
Von größerer Reichweite ist die Entstehung s-haltiger Bestandteile bei den
Maskulina durch temporäre Klassenwechsel: Sie werden bei Rückkehr in die Ur-
sprungsklasse innerhalb von Komposita unparadigmisch (Menschens-, Chris-
tens- etc.). Derartige Entwicklungen könnten dafür sorgen, dass die Verbindung
von s-Fuge und s-Flexiv in den Köpfen der Sprecherinnen und Sprecher ge-
lockert wird, sodass unparadigmische s-Fugen nicht als Fremdkörper wahrge-
nommen werden.
||
279 Das simplizische Erstglied Nacht verfugt im Untersuchungszeitraum nur einmal und weist
auch heute keine s-Fuge auf. Der Beleg bey Nachts=Zeit steht 56 unverfugten Komposita (9 Ty-
pen) gegenüber. Die Ungleichbehandlung von Kompositum und Simplex zeigt sich auch in an-
deren Fällen (z.B. Macht-∅-phantasie vs. Allmacht-s-phantasie), sie schwächt das Argument
nicht, zeigt aber, dass die Ausbreitung der s-Fuge nicht wahllos vonstatten ging, vgl. auch Kap.
12.2.5.
Erklärungsansätze zur Entstehung | 331
50
40
30
20
10
0
komplex einfach
-∅- 5 13
-s-/-∅- 6
-s- 38 6
Abb. 80: Heutiges Verfugungsverhalten femininer Erstglieder/Stämme, die im Fnhd. oder Nhd.
unparadigmisch belegt sind (Daten s. S. 419ff). Die Gruppe „komplex“ beinhaltet Präfigierun-
gen, Suffigierungen (jedes Suffix zählt als ein Type), Komposita (z.B. Mitternacht) und ein
Konfixkompositum (Bibliothek; n=68).
12
einfach - keine Genusschwankung
10
einfach - Genusschwankung
8 komplex - keine Genusschwankung
komplex - Genusschwankung
6
0
1467-1486
1487-1506
1527-1546
1547-1566
1607-1626
1627-1646
1647-1666
1767-1786
1827-1846
1887-1906
1387-1406
1407-1426
1447-1466
1567-1586
1587-1606
1667-1686
1687-1706
1707-1726
1727-1746
1747-1766
1847-1866
1867-1886
1907-1926
1927-1946
Abb. 81: Erstgliederstbelege für unparadigmische Feminina, Daten wie in Abb. 80 (n=68).
||
280 Unter ihnen befinden sich auch zwei adverbiale Konstruktionen mit -weise, die generell
ein abweichendes Verfugungsverhalten aufweisen (vgl. Kap. 11.2.1), hier also unberücksichtigt
bleiben können.
Erklärungsansätze zur Entstehung | 333
Die Schreibung von Komposita ist nicht nur aufschlussreich für ihre Definition
(s. Kap. 7.1.3), sondern liefert auch Hinweise zur Integration des neuen, verfu-
genden Kompositionstyps in das Wortbildungssystem des (F)Nhd. Prinzipiell
stehen mit der Getrennt-, Zusammen- und Bindestrichschreibung drei Schreib-
weisen für Komposita zur Verfügung, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten do-
minieren:
Zum Verhältnis der drei Schreibweisen stellen Wegera & Prell (2000: 1597) fest:
Der Prozeß der ‚Univerbierung‘ verläuft häufig von der bloßen Kontaktstellung usueller,
aber nicht fester Verbindungen (vgl. Okrajek 1966, passim) über lose (durch Doppelbinde-
strich) verbundene Zusammenschreibungen zu echten Komposita.
Vom selben Ablauf geht auch Tschirch (1975: 208) aus. Eine schrittweise graphi-
sche Integration erscheint zwar auf den ersten Blick plausibel, die Korpusdaten
zeigen jedoch einen anderen Ablauf: Die Zusammenschreibung war schon weit-
gehend etabliert, als sich der Bindestrich entwickelte und temporär als Mittel
der Wahl bei verfugten Komposita durchsetzte. Im Folgenden wird gezeigt,
wann und wie die Bindestrich- und Zusammenschreibung bei den beiden Kom-
positionstypen eingesetzt wurde und warum sie gerade bei den verfugten Kom-
posita als nützlicher Anzeiger dafür dienen können, wie fest das neue Muster im
System verankert ist.
13.1 Forschungsstand
13.1.1 Schreibung im Alt- und Mittelhochdeutschen
Die Zusammenschreibung von Komposita wird im Dt. erst spät üblich, noch im
Ahd. und Mhd. dominiert die Getrenntschreibung. Im Ahd. werden NN-Kompo-
||
281 Dieses Unterkapitel stimmt größtenteils mit Kopf (2017) überein.
https://doi.org/10.1515/9783110517682-013
336 | Schreibung als Indikator morphologischer Integration
Bei Komposita, deren Erstglied kein Substantiv ist (halbteil, hohvart), liegt der
Zusammenschreibungsanteil mit 46,5% (229 Typen) noch einmal höher. Es wird
ersichtlich, dass Zusammenschreibung von NN-Komposita im Mhd. noch nicht
prävalent ist und dass unverfugte Komposita eher zusammengeschrieben wer-
den als verfugte. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Weidman (1941b)
Forschungsstand | 337
eine sehr weite Kompositumsdefinition vertritt (s. Kap. 7.3), d.h. auch zahlrei-
che Brückenkonstruktionen enthalten sind. Insofern erscheint Weidmans
(1941b: 98) Ansicht, „the writing together of compounds was already establis-
hed in MHG as the proper way to write them“, weniger übertrieben, als es die
Zahlen zunächst vermuten lassen. Außerdem zeigt sich bei Weidman (1941b:
97–98) ein deutlicher Frequenzeffekt: Bei Komposita, die nur einmal belegt
sind, beträgt die Zusammenschreibung 19,2%, bei mehrfach belegten Komposi-
ta dagegen 46,7% (Tokens, mehrfach belegte Komposita treten im Schnitt 7,5-
mal auf).282 Weidman (1941b: 97) schließt daraus, dass wiederholtes Schreiben
eines Kompositums den Schreibern diesen Status verdeutlichte. Dass Zusam-
menschreibung für frequentere und damit usualisierte Komposita fester ist als
für neuere oder seltenere Bildungen, verwundert nicht.
Pavlov (1958) (zitiert nach Pavlov 2009: 53–55) zeigt an Teilen verschieden-
er mhd. und fnhd. Handschriften, dass die Zusammenschreibung unverfugter
Komposita spätestens im 14. Jh. deutlich dominiert:
Tab. 57: Zusammen- und Getrenntschreibung unverfugter Komposita in mhd. Texten. Angege-
ben sind Typen, in Klammern Tokens. Der Umgang mit Fällen, in denen ein Kompositum in der
Schreibung variiert, ist unklar, eventuell treten sie gar nicht auf. Zahlen nach Pavlov (1958).
getrennt zusammen
||
282 Die Werte sind nicht gesondert nach Kompositumstyp ausgewiesen, hier sind demnach
auch Komposita mit nichtsubstantivischem Erstglied enthalten (14,5% aller Typen).
283 Ein weiteres Lexem mit drei Tokens tritt in beiden Schreibvarianten auf.
284 14 Lexeme treten in beiden Schreibvarianten auf.
338 | Schreibung als Indikator morphologischer Integration
Tab. 58: Unterschiede in Getrennt- und Zusammenschreibung zwischen Manuskript und Druck
bei Luther nach Daten von Haubold (1914).
||
285 Die Datenbasis ist sehr klein, eine genauere Untersuchung der Lufft-Drucke könnte aber
lohnenswert sein – sollte sich die Ungleichbehandlung von en- und s-Fuge bestätigen, so kön-
nte dies ein Hinweis darauf sein, dass er Komposita mit s-Fuge als syntaktischer wahrnimmt
(wobei hier auch der Kontext berücksichtigt werden müsste, möglicherweise sind in den ver-
meintlichen Komposita auch Brückenkonstruktionen enthalten).
Forschungsstand | 339
100%
80%
60%
40%
20%
0%
Tokens Types Tokens Types Tokens Types
unverfugt -s- -(e)n-
getrennt 687 527 270 166 440 346
zusammen 3034 714 261 48 160 67
||
286 In der Darstellung unberücksichtigt blieben die von Pavlov (1983) ebenfalls erhobenen
Komposita mit Erstgliedern auf -er (seine Kategorie differenziert nicht zwischen Pseudosuffix,
Flexionssuffix und Wortbildungssuffix), Komposita mit einem Erstglied, das potenziell adjekti-
visch ist, sowie Wörter mit dem Erstbestandteil Haupt- als Affixoid (zusammen 554 Tokens, 207
Typen). Für die Erhebung der Typen wurden neben den zuvor verwendeten noch weitere Texte
herangezogen (Pavlov 1983: 32–33), die Korpusgröße unterscheidet sich also für die beiden
Angaben.
340 | Schreibung als Indikator morphologischer Integration
jedoch nach wie vor deutlich ab (vgl. Abb. 82, Typen). Den Getrenntschrei-
bungswert der unverfugten Komposita um 1500 schätzt Pavlov (1983: 28) als
hoch ein – insbesondere verglichen mit den 85,5% für 1450 bei Pavlov (1958). Er
begründet ihn mit dem Einfluss des neuen Kompositionstyps, der aufgrund sei-
ner syntaktischen Herkunft noch häufiger getrennt geschrieben wird. Allerdings
erreichen die unverfugten Tokens um 1500 auch über 80%, was den vermeintli-
chen Unterschied zu den älteren Texten, wo ebenfalls Tokens ausgewertet wur-
den, nivelliert.
Für den zweiten Untersuchungszeitraum (1670–1730) legt Pavlov keine
nach Fugenelementen getrennten Zahlen mehr vor. Insgesamt treten nur noch
2,9% der Typen getrennt geschrieben auf, die meisten davon sind verfugende
Komposita (60 von 82, Pavlov 1983: 105–106). Für eine Zufallsstichprobe von
500 Belegen ermittelt Pavlov (1983: 109) außerdem einen Bindestrich- und Bin-
nenmajuskelanteil von 60%, wobei die Bindestrichschreibungen weit überwie-
gen. Die Durchsetzung der Zusammenschreibung (inklusive Bindestrichschrei-
bung) von Komposita setzt Pavlov (1972: 109) für das 17. Jh. an.
Mit Solling (2012) liegt eine Studie mit großer Korpusgrundlage vor (6.408
NN-Komposita in Predigttexten des Zeitraums 1550–1710),287 wobei ein weiter
Kompositumsbegriff angesetzt wird (vgl. S. 129ff). Das Korpus ist nicht nach
Textwörtern und Zeitschnitten ausgeglichen, sodass sich die Daten nicht für
eine Untersuchung des Kompositionsmusters allgemein heranziehen lassen.
Für die Untersuchung der Schreibpraxis ist das Korpus jedoch angemessen, hier
sind relative Zahlen alleine aussagekräftig. Es zeigt sich für die Komposita ins-
gesamt schon 1550 weitgehende Zusammenschreibung, nur 18% der Tokens
sind getrennt geschrieben. Ihr Anteil sinkt kontinuierlich auf schließlich 2% um
1710 (Solling 2012: 121–123). Ähnlich verhält es sich bei einer Analyse von Typen
(Solling 2012: 123), wobei die Getrenntschreibungswerte hier höher liegen (von
27% zu 3%).288 Das spiegelt die Tatsache wider, dass Zusammenschreibung ins-
besondere bei hochfrequenten Komposita dominiert (Solling 2012: 101). Ab 1600
kommt als dritte Option neben Getrennt- und Zusammenschreibung die Binde-
strichschreibung hinzu, jedoch erst ab 1660 mit mehr als einem Beleg, sie hat
dann einen Gesamtanteil von 23,5% (bei unverfugten Komposita) bzw. 63,5%
(bei verfugten) im letzten Zeitraum (Typen: 30%; 71%).
||
287 Darunter befindliche Komposita, die an der Fuge umbrechen, sowie Komposita, deren
Erstglied durch die Koordinationsellipse nicht adjazent zum Zweitglied ist, blieben unberück-
sichtigt (604).
288 Aus dem Text geht nicht hervor, wie die Typen ermittelt wurden, d.h. wie bei identischen
Komposita mit verschiedenen Schreibvarianten verfahren wurde.
Forschungsstand | 341
Herpel (2015) schließt sich mit ihrer korpusbasierten Untersuchung der Ge-
trennt- und Zusammenschreibung in Texten des 18. und 19. Jh. (ca. 128.000
Textwörter) inhaltlich und zeitlich an Solling (2012) an. Die Bindestrichschrei-
bungswerte für NN-Komposita (inklusive Eigennamen im Erstglied) gehen im
Verlauf deutlich zurück:
100%
80%
60%
40%
20%
0%
150 153 156 159 162 165 168 171
0 0 0 0 0 0 0 0
Kompositum - Bindestrich 2 1 18 124 151
Kompositum - zusammen 181 167 232 334 399 280 321 116
Kompositum - getrennt 32 70 9 35 10 7 5
Brücke - getrennt 19 68 23 14 13 23 15 5
Abb. 83: Schreibung unverfugter Komposita (n=2.674). Die dunkelgrauen Flächen („Brücke“)
wurden zur Vergleichbarkeit mit Abb. 84 aufgenommen.
100%
80%
60%
40%
20%
0%
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
Kompositum - Bindestrich 1 25 93 200
Kompositum - zusammen 30 26 38 133 101 89 71 41
Kompositum - getrennt 20 14 5 5 1 2
Brücke - getrennt 130 137 58 108 73 78 43 20
Abb. 84: Schreibung verfugter Komposita (n=895) und potenzieller Komposita (647), Mainzer
Korpus.
344 | Schreibung als Indikator morphologischer Integration
Seit dem 14. Jh. besteht eine weitgehende Kontinuität in der Zusammenschrei-
bung unverfugter Komposita. Es erscheint damit naheliegend, dass diese Grup-
pe auch das direkte Vorbild für die Zusammenschreibung verfugter Komposita
stellte.
Pavlov (1983: 20) führt außerdem weitere Faktoren an, die die Zusam-
menschreibung begünstigt haben könnten: Zum einen sind verbale Komposita
wie zusammenarbeiten, schönmachen, sitzenbleiben ausschließlich auf die
Schreibung angewiesen, um sie von syntaktischen Strukturen zu unterscheiden.
Pavlov spekuliert, dass Verfahren von diesen anderen Wortarten auf die verfu-
genden NN-Komposita eingewirkt haben könnten. Er verweist außerdem da-
rauf, dass unparadigmische Fugenelemente die Loslösung von der Syntax
sichtbar machen, begründet dann allerdings die Zusammenschreibung nicht
damit, dass der morphologische Status für die Schreiberinnen und Schreiber
eindeutig wird, sondern damit, dass andernfalls „das Bild eines nur mangelhaft
geregelten substantivischen Paradigmas” aufkommen könnte. Daran anschlie-
ßend verweist er darauf, dass durch Zusammenschreibung keine Verwechs-
lungsgefahr mit pränominalen Genitivkonstruktionen mehr besteht. Damit
ordnet er die Zusammenschreibung primär als Distanzierung von der Syntax
ein, weniger als Bekenntnis zur Wortbildung, und setzt das Streben nach forma-
ler Differenzierung als steuernde Kraft an – zu den Problemen einer derartigen
Erklärung vgl. auch Kap. 8.6.2.
Im Folgenden wird die zunehmende Zusammenschreibung verfugter Kom-
posita als Indikator für ihren Wortstatus betrachtet. Es erfolgt also nicht nur
grammatisch, sondern auch graphematisch eine Integration ins Wortbildungs-
system. Wie frühe unparadigmische Fugen nahelegen, ist das verfugende Mus-
ter bereits Ende des 14. Jh. zumindest schwach produktiv – dass die entspre-
chend gebildeten Einheiten eine höhere Fügungsenge aufweisen als Genitiv-
konstruktionen und Brückenkonstruktionen, versteht sich entsprechend.
keit von verfugtem Erstglied und Bindestrich. Was heute meist vermieden wird,
war in der frühen nhd. Zeit kurzzeitig die typische Schreibung verfugter Kompo-
sita. Im Folgenden wird zunächst das Hierarchisierungspotenzial des Binde-
strichs in frühen Nhd. untersucht. Im Anschluss wird das Zusammenspiel von
Bindestrich und Fugenelement in den Blick genommen, zunächst für das Nhd.,
dann für das Mainzer Korpus und die Folgekorpora. Schließlich wird für eine
kontinuierliche, einheitliche Funktion des Bindestrichs argumentiert.
Anteil Bindestrichschrei-
bung an der jew. Gruppe n=
Unter den Wörtern, die einen Bindestrich enthalten, finden sich ausschließlich
Komposita oder Derivate: Der Bindestrich dient der Kennzeichnung von inter-
nen Grenzen komplexer Wörter, nicht jedoch der Abtrennung von Flexiven oder
gar der Trennung von Wurzeln. Dabei zeigen sich massive wortartbezogene
Unterschiede: Substantive weisen, verglichen mit anderen Wortarten, in allen
drei Zeitschnitten mit 86% bis 90% den weitaus größten Anteil an Bindestrich-
schreibungen auf. Die Gruppe der Substantive mit Bindestrichschreibungen
besteht wiederum zu rund 80% aus NN-Komposita, andere Erstbestandteile
(Typ Vor-Gebürge) haben nur einen geringen Anteil.289
||
289 Dies ist natürlich auch der Tatsache geschuldet, dass NN-Komposita frequenter sind als
Komposita mit sonstigen Erstgliedern. Die nur in geringem Maße auftretende Bindestrich-
346 | Schreibung als Indikator morphologischer Integration
Wie bei Solling (2012) und Herpel (2015) kristallisiert sich auch in den hier
verwendeten Korpora der Zeitraum 1650–1750 als Hoch-Zeit des Bindestrichs
heraus (Abb. 87). In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind 72% aller NN-
Komposita durch einen Bindestrich segmentiert.
100%
Mainzer Korpus GerManC Mannheim
80%
60%
40%
20%
0%
1500 1550 1600 1650 1700 1750 1800 1850 1900
Abb. 85: Anteil von Bindestrichschreibungen bei NN-Komposita, n=7.960 (Kopf 2017: 185).
||
schreibung bei präfigierten Substantiven zeigt jedoch, dass die Schreibung nicht einfach die
Gesamtfrequenz eines Wortbildungsmusters widerspiegelt.
Mainzer Korpus | 347
Tab. 61: Drei- und mehrgliedrige Komposita in GerManC (SERM, SCIE, NEWS), Komposita ge-
samt: 4.460. (Kopf 2017: 186)
… nur an Hauptkonstituentengrenze 26 19 12
… an beiden Grenzen 1 7 2
… an keiner Grenze 9 2 43
… nur an Nebenkonstituentengrenze 1 1 0
Der Bindestrich zeigt jedoch darüber hinaus zwischen 1650 und 1750 auch zwei-
felsfrei die morphologische Struktur zweigliedriger Komposita an – etwas, das
er heute nur in besonderen Fällen tut.
||
290 Ein generelles Zusammenspiel mit Binnenmajuskeln zeigt sich nicht, es treten insgesamt
nur zwei Fälle auf (VaterlandsVertheidigern, Land-BothenStube).
348 | Schreibung als Indikator morphologischer Integration
Tab. 62: Anteil von Bindestrichschreibungen an allen Komposita mit bzw. ohne Fuge (Kopf
2017: 195).
Borgwaldt (2013: 120) schließt aus ihren Ergebnissen: „Die Interaktion verträgt
sich mit der Annahme, dass Bindestrich und Fugenelement die gleiche Funkti-
on erfüllen (können).“ Sowohl Fugenelemente als auch Bindestriche gliedern
also im Gegenwartsdt., und da Fugenelemente auch schriftlich erkennbar sind,
wird auf die Gliederungsfunktion des Bindestrichs primär bei unverfugten
Komposita zurückgegriffen. Ob dabei die Art des Fugenelements einen Unter-
schied macht, kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden. Eisen-
berg (2007) lehnt nur für s-verfugte Komposita Bindestrichschreibungen weit-
gehend ab, Korpusdaten zeigen jedoch für alle Komposita mit Fugenelementen
sehr niedrige Bindestrichanteile.
Sowohl s- als auch (e)n-Fuge verbessern oder bewahren die lautliche Struk-
tur des Erstglieds, sodass es sich strukturell nicht vom prototypischen nhd.
Wort entfernt. Die s-Fuge, die oft zum extrasilbischen Element, mindestens aber
zu einem Teil eines Konsonantenclusters wird, verstärkt den Wortrand (Nübling
& Szczepaniak 2008: 15–16), eine (e)n-Verfugung resultiert meist in trochäi-
schen Strukturen (Wegener 2003: 446–447). Verfugung gehört zum Kernbereich
der nhd. Komposition. Die Erstglieder sind und bleiben damit, im Gegensatz zu
Namen, Fremdwörtern, Abkürzungen etc., unmarkiert. Eine zusätzliche Deko-
dierungshilfe auf der Schriftebene erachten die meisten Schreibenden daher für
unnötig.
Situation 1500–1900
Nachdem sich Zusammenschreibung weitgehend gegenüber der Getrennt-
schreibung durchgesetzt hat, kommt es im 17. Jh. zu einem erneuten Wechsel
der Schreibstategie: Zusammengeschriebene Komposita treten nun zunehmend
mit Bindestrich auf (Tschirch 1975: 214, Takada 1998: 164–166, Schindler 1999:
321, Wegera & Prell 2000: 1597), insbesondere wenn sie verfugt sind. Da sowohl
Solling (2012) als auch das Mainzer Korpus nur bis zu Beginn des 18. Jh. reichen
und Herpel (2015) nicht nach Verfugung differenziert, werden zusätzlich die
Daten des GerManC und der Mannheimer historischen Zeitschriften herangezo-
gen. Sie ermöglichen nicht nur, die rasante Zunahme der Bindestrichschreibun-
gen zu erfassen, sondern auch den ebenso rasanten Rückgang. Abb. 86 zeigt in
der ersten Hälfte des 18. Jh. ein Maximum von 89% bzw. 92% für (e)n- bzw. s-
Fuge, während unverfugte Komposita höchstens in 64% der Fälle mit Binde-
strich geschrieben werden. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jh. ist die Binde-
strichschreibung jedoch für alle Komposita zur Seltenheit geworden (zwischen
11% und 14%), zu Beginn des 20. Jh. liegt der Höchstwert nur noch bei 2%.
Der hohe Bindestrichanteil und der deutliche Unterschied zwischen verfug-
ten und unverfugten Komposita korreliert im Zeitraum von 1650 bis 1750. Wie in
350 | Schreibung als Indikator morphologischer Integration
Abb. 86 klar zu erkennen, unterscheidet sich die Schreibung für die beiden
untersuchten Fugenelemente -s- und -(e)n- kaum.291 Dies legt nahe, dass verfug-
ten Komposita von den Schreibenden ein ähnlicher Status zugewiesen wurde,
der sich von dem unverfugter Komposita unterschied. Eine Sonderrolle der s-
Fuge ist nicht ersichtlich.
100%
0
80% (e)n
s
60%
40%
20%
0%
1500 1550 1600 1650 1700 1750 1800 1850 1900
||
291 Die Entwicklung ist bei Solling (2012: 144–151) ähnlich: Für beide Gruppen steigt der Zu-
sammenschreibungsanteil von 1550 bis 1620 kontinuierlich an (Zunahme um 30 bzw. 36 Pro-
zentpunkte für (e)s- bzw. (e)n-Fuge auf 88% bzw. 89%), ab 1660 kommt der Bindestrich auf
(34% bzw. 42% der Komposita), 1710 dominiert er (74% bzw. 78%). Auch hier sind die Unter-
schiede zwischen den beiden Verfugungstypen sehr gering. Für Vergleiche mit anderen Fugen-
elementen sind die Zahlen bei Solling (2012) m.E. zu klein, er äußert jedoch einige Vermutun-
gen.
Mainzer Korpus | 351
Ob man die Composita substantiva auch in der Mitte so zeichnen soll? Es scheinet wol fast
ohne Noht; Jst auch wegen der unsäglichen Menge solcher Compositorum unmüglich.
Doch aber in Wörtern/ die etwas dunkel und schwer zusammen gesetzet/ oder wo das ers-
te Nomen im Genitivo stehet/ oder da sonst fremde mercksame Wort zusammen kommen/
ist es fast nöhtig. […] Als: Ein Vergrösserungs=Glas. Ein Erledigungs=Mittel.
Hier werden Bindestriche nicht nur für verfugte Erstglieder, sondern auch für
(wahrscheinlich semantisch) verdunkelte oder sonst auffällige Wörter gefordert
– ganz ähnlich wie im Gegenwartsdt., wo hierunter in erster Linie Fremdwörter,
Kurzwörter und Eigennamen fallen (vgl. S. 118ff). Verfugte Erstglieder waren
||
292 Einen guten Überblick über zeitgenössische Grammatiken bietet Solling (2012: 91–98). Es
zeigt sich, dass zu Beginn des 16. Jh. ausschließlich die Getrennt- und Zusammenschreibung
thematisiert wird, und zwar dahingehend, dass alle zu einem Wort gehörigen Bestandteile
zusammengeschrieben werden sollen. Ab dem 17. Jh. finden sich Äußerungen zur Bindestrich-
schreibung, wobei sie meist vehement abgelehnt wird (prominentester Vertreter ist Schottel
1641, 1676), teilweise jedoch für Neubildungen („Jn den neugemachten Nenn-Wörtern“, Kin-
dermann 1664), poetische Sprache (Titz 1642) oder verfugte Komposita (Bödiker 1701, s.o.)
wertfrei beschrieben wird.
352 | Schreibung als Indikator morphologischer Integration
also, im Gegensatz zu heute, markiert. Der Grund ist jedoch nicht in ihrer Laut-
struktur zu suchen, sondern darin, dass das Kompositionsmuster noch nicht
vollständig in die Wortbildung des Dt. integriert war. Um 1800 verschwinden
schließlich die Bindestriche, die verfugte Erstglieder als auffällige Bestandteile
komplexer Wörter kennzeichnen.
Bei der Interaktion von Fugenelementen und Bindestrich zeigen sich also
im Nhd. und frühen Nhd. entgegengesetzte Muster: Während sie sich in der
heutigen Schreibpraxis gegenseitig weitgehend ausschließen, traten beide Phä-
nomene im frühen Nhd. massiv aneinander gekoppelt auf. Zurückzuführen ist
dies in beiden Fällen auf die Funktion des Bindestrichs als Segmentierungshilfe
markierter Bestandteile: Das noch neue, aus Reanalyse syntaktischer Struktu-
ren entstandene Kompositionsmuster beinhaltete auffällige Erstglieder. Für sie
breitete sich zunächst Zusammenschreibung aus, mit Aufkommen des Binde-
strichs wurden diese Komposita jedoch schnell wieder graphematisch aufge-
brochen und ihre ungewöhnliche Stuktur markiert: Sie bedurften einer sichtba-
ren Segmentierungshilfe in Form des Bindestrichs. Heute sind Erstglieder mit
Fugenelement dagegen völlig unmarkierte Bestandteile von Komposita und
entsprechend auch kaum mehr mit Bindestrich zu finden. Im Zuge der Integra-
tion verfugter Komposita in das Wortbildungssystem des Deutschen wurde er
hier obsolet. Er dient jedoch weiterhin der Markierung und Wortkörperscho-
nung sonstiger atypischer Strukturen.
Wahrscheinlich läßt sich die Verwendung des Strichs als Bindestrich innerhalb eines
Kompositums aus der Funktion des Trennungsstrichs herleiten, und zwar durch eine Art
Umkehrschluß. Der Trennungsstrich trennt die Bestandteile eines Wortes und markiert sie
zugleich als zusammengehörig. Das kann als Anregung dafür genommen werden, zwei
durch einen Leerraum getrennte Wortformen durch einen Strich – einen Bindestrich – als
enger zusammengehörig zu markieren.
vermuten, dass die Drucker und Korrektoren mit der Kennzeichnung der Zweigliedrigkeit
der Komposita auch die besondere Kompositionsfreudigkeit des Deutschen – „ihrer“
Sprache – hervorheben wollen
354 | Schreibung als Indikator morphologischer Integration
13.3 Zusammenfassung
Die Zusammen- und Bindestrichschreibung liefert im Untersuchungszeitraum
wichtige Informationen zum morphologischen Status verfugter Komposita:
Unverfugte Komposita werden schon im Mhd. überwiegend zusammenge-
schrieben und stellen damit eine Analogievorlage für verfugte Komposita dar.
Dass bei ihnen die Zusammenschreibung auch bald überwiegt, weist auf eine
fortschreitende Integration ins Wortbildungssystem hin. Verfugte Komposita
beinhalten besonders oft strukturell auffällige Erstglieder, z.B. durch besondere
morphologische Komplexität. Hinzu kommt, dass sie auch durch das Fugen-
element selbst auffällig sind. Beide Faktoren gemeinsam bewirken wahrschein-
lich, dass verfugende Komposita ab der zweiten Hälfte des 17. Jh. vermehrt mit
Bindestrich geschrieben werden: Das neu aufkommende Zeichen zeigt Zusam-
mengehörigkeit an, ermöglicht aber gleichzeitig Segmentierung. Damit fungiert
es im Untersuchungszeitraum bereits wie heute, wobei sich inzwischen aber
verändert hat, was markiert ist. Der neue Kompositionstyp ist spätestens in der
zweiten Hälfte des 18. Jh. so fest im Wortbildungssystem verankert und so fre-
quent, dass er nicht mehr als markierungsbedürftig empfunden wird.
Der Bindestrichgebrauch überträgt sich zeitverzögert auch auf unverfugte
Komposita, was erneut darauf hindeutet, dass für die Schreiberinnen und
Schreiber ein enger Zusammenhang zwischen beiden Kompositumstypen be-
steht. Unabhängig vom Kompositumstyp zeigt er außerdem eine Affinität zur
Haupttrennfuge von Trikomposita, stellt also erneut unter Beweis, dass er un-
gewöhnliche und damit potenziell problematische Strukturen segmentiert und
somit leichter zugänglich macht.
14 Funktionalisierung der Fugenelemente?
Dass die formal naheliegende Interpretation von Fugenelementen als Kasus-
marker nicht aufrechterhalten werden kann, wurde bereits eingangs gezeigt (S.
54f) – sie als funktionslos und arbiträr zu betrachten, widerstrebt den meisten
Forscherinnnen und Forschern allerdings, vgl. z.B. Gallmann (1999):
Mit bloßer Analogie zu den Lexikalisierungen läßt sich die hohe Produktivität der Kompo-
sition mit Fugenelement kaum erklären (auch wenn Analogie gewiß eine bedeutende Rol-
le spielt). Es ist vielmehr zu vermuten, daß die Fugenelemente eine identifizierbare und
darum auch lernbare grammatische Leistung erbringen. Insofern ist also die weitverbrei-
tete Annahme (zum Beispiel Duden-Grammatik 1995: 480), die Fugenelemente hätten kei-
nerlei grammatische Funktion, in Zweifel zu ziehen.
||
293 Der Ansatz von Werner (2012, 2016) wird hier nicht näher verfolgt, es handelt sich dabei
um weitgehend datenfreie Hypothesenbildung. Fuhrhops (2000) Vorschlag der Morphologisie-
rungsanzeige lässt sich gut auf NA-Komposita (richtungweisend > richtungsweisend) anwenden
(vgl. Kap. 11.1), hat für NN-Komposita aber weniger erklärende Kraft bzw. findet sich indirekt
bei der Besprechung morphologischer Komplexität wieder.
https://doi.org/10.1515/9783110517682-014
356 | Funktionalisierung der Fugenelemente?
d.h. solange Fugenelemente durch Univerbierung entstehen, kann für sie keine
„Funktion“ angenommen werden. Die zweite Phase, in der es direkt zu verfu-
genden Neubildungen kommt, in der diese aber durchweg paradigmisch sind,
ist von der ersten nicht abgrenzbar, da die Fugenelementdistribution der der
Flexive entspricht. Hier lässt sich zwar eine funktionale Steuerung bei der Wahl
zwischen verfugendem und nichtverfugendem Muster nicht ausschließen, eine
Untersuchung wäre aber nur dann möglich, wenn alter und neuer Komposi-
tumsbestand sauber voneinander trennbar wären. Ab dem 16. Jh. sind im Main-
zer Korpus jedoch auch innovativ unparadigmische Fugen belegt. Für sie ist
eine nachträgliche Funktionalisierung denk- und untersuchbar. Das s-
verfugende Muster tritt nun auch bei gemischten Feminina auf (Religion-s-
frieden), später erscheint in sehr eingeschränktem Ausmaß auch eine unpara-
digmische en-Fuge (Isotop-en-gewicht), zu der bisher keine Funktionalisie-
rungsvorschläge vorliegen. Funktionalisierungsvorschläge können sich auf
unparadigmische Fälle beschränken, oder sich aber – und das ist häufiger der
Fall – auf die ganze Gruppe beziehen; die unparadigmischen Fälle dienen dabei
als Hinweis darauf, dass eine eigenständige Ausbreitung erfolgt, werden aber
nicht als prinzipiell anders wahrgenommen.
Neben den unparadigmischen Fugen sind alle verfugenden Muster zu be-
rücksichtigen, die sich zum jeweiligen Untersuchungszeitpunkt noch mit neuen
Erstgliedern verbinden. Für das Nhd. können damit die er-, es- und (e)ns-Fuge
ausgeschlossen werden. Sie treten zwar noch in neuen Komposita auf, verbin-
den sich aber nur mit einem festen Erstgliedinventar. Anders verhält es sich mit
Kompositionsstammformen auf -e (Apparat-e-medizin, Termin-e-wirrwarr, Kon-
zert-e-reigen, DeReKo): Sie treten bei neueren Komposita nur dann auf, wenn
das Erstglied konzeptionell pluralisch ist, wobei ihr Nichterscheinen umgekehrt
keine Numerusinformation liefert (und häufig die gebräuchlichere Variante ist,
z.B. Konzertreigen; vgl. S. 67f). Ihre Ausbreitung ist dadurch begrenzt, dass die
e-Plural-Klasse nur wenige neue Mitglieder gewinnt; der nhd. Standardplural
bei Neuentlehnungen ist das -s. Im Zeitraum zwischen der Entstehung eines
produktiven verfugenden Wortbildungsmusters und dem starken Produktivi-
tätsverlust des e-Plurals finden sich jedoch einige Kandidaten, z.B. Konzept (16.
Jh.), Termin (16. Jh.), Konzert (17. Jh.), Apparat (18. Jh.), Export (18. Jh.). Die
Funktion der e-Fuge ist somit in neuerer Zeit semantisch, sie dient dem (optio-
nalen) Pluralausdruck.294
||
294 Da sich das insbesondere an Komposita zeigt, die aus dem Lat. entlehnt wurden und
Finalbetonung aufweisen, könnte man hier zunächst auch an phonologisch bedingte Ausbrei-
tung denken: Durch die Verfugung entsteht eine zusätzliche Silbe, die eine trochäische Struk-
Phonologie: Silben- und Wortstruktur | 357
Bei der paradigmischen (e)n-Fuge hat nur eine kleine Teilgruppe, die ge-
mischten Feminina mit konsonantischem Auslaut, eindeutig eine Funktionali-
sierung erfahren, ebenfalls zum Pluralausdruck (S. 60f). Gegenwartssprachlich
erfolgt quasi keine Ausdehnung mehr, da Entlehnungen meist Maskulina oder
Neutra sind; neue gemischte Feminina nehmen i.d.R. den s-Plural (die Gangs, E-
Mails), der nur in sehr eingeschränktem Maß zum Pluralausdruck genutzt wird
(s. S. 70). Auch den übrigen (e)n-Fugen stehen kaum mehr neue Erstglieder zur
Verfügung, sie erhielten aber im früheren Nhd. regen Zuwachs (z.B. Kanake,
Egomane, Symbiont), eine ältere Funktionalisierung muss also geprüft werden.
Vorerst lässt sich also zusammenfassen:
1. -er- (Hühn-er-fabrik)
keine inaktiv inaktiv
-es- (Bund-es-gesetz)
3. -(e)n- (Egomane-n-treff,
Endosymbiont-en-hypothese)
→ im Folgenden zu klären
-en- (Isotop-en-gewicht, ST.M/N)
-s- (Aktion-s-theke)
Dabei bezieht sich „aktiv“ und „inaktiv“ auf das Wirken eines Funktionalisie-
rungsprinzips. Ist ein Prinzip aktiv, so findet es für Neuzugänge Anwendung,
bezüglich des Altbestands lassen sich keine Aussagen treffen.
||
tur herstellt. Da das aber nur der Fall ist, wenn eine Plurallesart besteht, kann es sich dabei
nicht um eine phonologisch motivierte Fuge handeln.
358 | Funktionalisierung der Fugenelemente?
nie postuliert. Eine Ausnahme ist evtl. Meineke (1991: 80), der seine Behaup-
tung jedoch nicht weiter ausführt:
Grundsätzlich wird man der Fuge [gemeint sind Fugenelemente generell, inkl. vokalischer
Fugen, KK] wohl am ehesten gerecht, wenn man sagt, dass sie gegenwartssprachlich der
phonetischen Strukturierung komplexer Komposita und der besseren Aussprechbarkeit
dient.
Bei der s-Verfugung liegt auf der Hand, dass keine Artikulationserleichterung
erzielt wird, wird sie doch ausschließlich mit konsonantisch auslautenden Erst-
gliedern, insbesondere Plosiven kombiniert (vgl. S. 31). Das führt zu einem Clus-
ter, in dem sie sogar häufig extrasilbisches Element ist, d.h. gegen die Sonori-
tätshierarchie verstößt – die Silbe wird komplexer, der Artikulationsaufwand
erhöht sich. Hierauf setzen Nübling & Szczepaniak (2008) mit ihrer These von
der Markierung schlechter phonologischer Wörter auf.
Anders verhält es sich mit der (e)n- und en-Fuge: Sie lässt die Wortstruktur
entweder unverändert oder erzeugt ein trochäisches Betonungsmuster. Hierfür
soll zunächst diskutiert werden, ob es sich tatsächlich um eine Art der Funktio-
nalisierung handelt. Im Anschluss folgt die wesentlich komplexere und um-
fangreichere Untersuchung einer möglichen phonologischen Funktionalisie-
rung der s-Fuge.
on lässt sich daher nicht erkennen, das flexivische Allo-Verhältnis zur Bildung
von Trochäen wird lediglich beibehalten.
Anders verhält es sich mit der bisher kaum beschriebenen unparadigmi-
schen en-Fuge des Typs Mèdikamént-en-packung. Auch hier entstehen stets
Trochäen, die en-Fuge wird nur bei finalbetonten, konsonantisch auslautenden
Erstgliedern genutzt (S. 51f). Da dies ohne Rückbezug auf das Flexionsparadig-
ma geschieht, könnte man hier tatsächlich von einer Funktionalisierung spre-
chen, die das Erstglied an im Deutschen präferierte Betonungsstrukturen an-
passt. Dass dazu nicht die paradigmisch zur Verfügung stehende e-Fuge genutzt
wird (Medikament-e-packung), die dieselbe Struktur erzeugen würde, kann zwei
Gründe haben: Zum einen war die en-Fuge bei einem Teil dieser Erstglieder
zumindest temporär einmal paradigmisch und es besteht eine große strukturel-
le Ähnlichkeit zum Prototyp II der schwachen Maskulina. Zum anderen hat sich
die e-Fuge als Pluralmarker herausgebildet (Objekt-e-liste, Dekan-e-gespräch),
würde also zu viel Semantik voraussetzen. (Die genaue Entwicklungsreihenfol-
ge ist dabei allerdings unklar, wäre die Pluralanzeige später anzusetzen als die
Entstehung der unparadigmischen en-Fuge, so könnte sie selbstverständlich
kein blockierender Faktor sein.) Die unparadigmische en-Fuge erscheint aller-
dings weitaus weniger regulär als die paradigmische (e)n-Fuge, entsprechend
strukturierte Maskulina und Neutra nutzen auch die s-Fuge (Respekt-s-person)
oder verfugen nicht (Pigment-∅-fleck). Unter diesen Umständen erscheint es
nicht gerechtfertigt, von einer phonologischen Funktionalisierung der en-Fuge
zu sprechen. Sie richtet zwar keinen „Schaden“ an der Wortstruktur an, greift
aber zu unsystematisch und zu eng an die schwachen Maskulina gekoppelt
über, um eine eigenständige Funktion anzusetzen.
Komplexe Wörter mit betontem Präfix (Án.rùf) bestehen hingegen aus zwei
phonologischen Wörtern, die auch selbständig auftreten können. Sie sind da-
mit, genau wie einfache Komposita (Rát.haùs), strukturell unauffällig.
In diesen Zusammenhang fügt sich die s-Fuge ein: Sie erhöht die Kodakom-
plexität der wortfinalen Silbe (Nübling & Szczepaniak 2008: 16–17) und kann
durch ihre Stimmlosigkeit nicht als Wortanlaut missverstanden werden (Wege-
||
295 So werden bestimmte Laute zu Markern für den Anfang eines phonologischen Wortes (z.B.
der Glottisverschlusslaut, das Phonem /h/, aspirierte stl. Plosive), andere können nur im Wort-
inneren (z.B. ambisilbische Konsonanten) oder nicht im Wortan- (z.B. /s/) oder -auslaut auftre-
ten. Hinzu kommt, dass – u.a. bedingt durch die mhd. Synkope und die fnhd. t-Epenthese –
Konsonantencluster, oft mit extrasilbischen Elementen, an Worträndern entstehen (ge.lüc.ke >
glück, sec > Sekt). (Vgl. z.B. Nübling & Szczepaniak 2008: 13–16.)
296 Produkte von (teilw. impliziten) Konversionsprozessen wie Verbrauch, Anruf etc. werden
hier als präfigiert bezeichnet – selbst wenn es sich bei ihrer Ausgangsbasis um Partikelverben
handelte (anrufen). Ich folge damit in Ermangelung einer präziseren Alternative der Termino-
logie von Nübling & Szczepaniak (2008), dies erscheint insofern gerechtfertigt, als es im Fol-
genden um die Struktur komplexer Wörter geht, nicht um ihre Entstehung.
Phonologie: Silben- und Wortstruktur | 361
ner 2003: 450), kennzeichnet also den Endrand eines phonologischen Wortes.
Besonders genutzt wird dieses Verfahren nach Nübling & Szczepaniak (2008,
2009) im gegenwartssprachlichen Wortschatz bei Erstgliedern von schlechter
phonologischer Wortqualität, also bei solchen Wörtern, deren Struktur nicht
dem phonologischen Normalfall entspricht. Der morphologische Status des
Erstglieds ist dabei nur von untergeordneter Wichtigkeit.
||
297 Erfasst ist der Zeitraum Januar 2000 bis Juni 2014. Das Korpus enthält 92.810.527 Textwör-
ter. Die Entscheidung für ein kleineres Teilkorpus des DeReKo erfolgte bewusst, um die Ergeb-
nisqualität durch Nachkontrolle sichern zu können, sowie um textsorten- oder zeitbedingte
Einflussfaktoren ausschließen zu können.
298 Das hier als „Typen“ bezeichnete Maß erfasst, bedingt durch die Lemmatisierungsqualität
des Korpus, häufig auch Wortformen eines Lemmas als verschiedene Typen, dies war auch bei
Nübling & Szczepaniak (2008: 19) der Fall. Tritt ein Kompositum sowohl mit als auch ohne
Fuge auf, so zählt es als zwei Typen.
Phonologie: Silben- und Wortstruktur | 363
||
299 Vgl. Datentabelle im Anhang, Kap. 16.2.14. Die Auswahl der Präfixe und Basen sowie die
Durchführung der Korpusrecherche erfolgte in Zusammenarbeit mit Andreas Klein (Mainz).
Jede existierende Präfix-Basis-Kombination wurde getestet.
300 Tokenzahlen wurde aufgrund der Datenmenge und den damit verknüpften Exportbe-
schränkungen des DeReKo nicht erhoben. Die Typdefinition wurde, anders als bei der Replika-
tionsstudie, auf Basis des Erstglieds und der ersten sechs Zeichen des Zweitglieds getroffen,
d.h. Komposita wie Abstand-s-halter und Abstand-s-halter|in wurden als ein Typ erfasst, eben-
so wie Anstalt-s-besuch, Anstalt-s-besucher etc. Damit werden wortformbedingte Dopplungen
vermieden, die in der Replikationsstudie als einzelne Typen zählten.
Aufgrund einer fehlerhaften Suchanfrage sind die Daten für Abfall- hier und in der nächs-
ten Abbildung nicht enthalten. Sie wurden zwar später nacherhoben, zu diesem Zeitpunkt war
das Korpus allerdings schon erheblich erweitert worden, sodass das Erstglied hier deutlich
überrepräsentiert wäre. In den relativen Darstellungen, die das Verfugungsverhalten einzelner
Erstglieder vergleichen, ist Abfall- aber enthalten.
364 | Funktionalisierung der Fugenelemente?
Die Feminina verfugen weitaus seltener als die Maskulina und Neutra (54,6%
vs. 81,6%) und die s-Fuge unterbleibt minimal häufiger, wenn das Zweitglied
sibilantisch anlautet (73,5% vs. 78,8%). Beim Anlautunterschied könnte es sich
sowohl um ein Schreibphänomen handeln (absichtliche oder versehentliche
Vermeidung von Doppelgraphemen) als auch um ein gesprochensprachliches,
wonach bei s-Fuge und sibilantischem Anlaut Assimilation und Degeminierung
eintritt – die Ursache lässt sich hier nicht ergründen, da die Daten kaum Zweit-
glieder mit sibilantischem Anlaut enthalten, die nicht mit <s> beginnen (nur 92
Belege mit <ch> wie in Chose).
Der Genusunterschied legt zunächst nahe, dass Formen, die von ihrem Pa-
radigma gestützt werden, konsequenter s-verfugen als unparadigmische For-
men. Analysiert man die Feminina allerdings erstgliedspezifisch (Abb. 90), so
zeigt sich, dass die niedrigen Verfugungsanteile durch ein einziges, hochfre-
quentes Erstglied bedingt sind, Gewalt. (Auch Gestalt verfugt so gut wie nicht,
es hat aber weniger Typen). Damit läuft das Verfugungsverhalten der These von
Nübling & Szczepaniak (2008) direkt entgegen: Feminine Erstglieder mit dem
unbetonten Präfix Ge-, die schlechte phonologische Wörter bilden, verfugen
kaum.301 (Bei den Neutra verfugen Gehalt und Gesicht zu rund 90%, Gewand
dagegen gerade einmal zu 1,3%, es ergibt sich also insgesamt kein einheitliches
Bild für Ge-präfigierte Erstglieder.)
Dass die Verfugung lexemspezifisch gesteuert ist, erweist auch eine Analyse
der Maskulina und Neutra (Abb. 91 und Abb. 92, aufgrund der Darstellungsgrö-
ße getrennt aufgeführt): Während Unrat fast nie verfugt, verfugen Beirat, Vorrat
und Verrat fast immer. Die griff-Gruppe verhält sich ungeachtet des Präfixes
sehr homogen (88–88,3% Verfugung), während sich die auslautidentische ruf-
Gruppe in Beruf (93,2% Verfugung) vs. den Rest (2–17,2% Verfugung) spaltet.302
Die häufig niedrigen Werte bei -ruf und -fall passen ins Bild: Zwar sind ein-
zelne Erstglieder hier so frequent, dass die Durchschnittswerte für f-Auslaut
nicht unter den übrigen liegen (84,1% wegen Beruf), unter den 22 Erstgliedern
||
301 Durch das unbetonte Präfix entsteht die Struktur, die für die pluralische en-Fuge genutzt
wird: Finalbetonte, gemischt feminine Erstglieder mit konsonantischem Auslaut (vgl. Kap.
5.2.2.1). Die pluralische Fuge tritt in 9,1% (Gestalt-en-) bzw. 4,1% (Gewalt-en-) der Typen auf (in
Abb. 90 nicht einbezogen). Die Verwendung der pluralischen Fuge lässt allerdings nicht darauf
schließen, wie andernfalls verfugt wird. Wie bereits gezeigt wurde, können die Erstglieder
auch mit s-Fuge gebildet werden (Geburt-en- vs. Geburt-s-).
302 Hier wurde immer nur das Verhältnis zur unverfugten Variante analysiert. In einem einzi-
gen Fall ist eine andere Kompositionsstammform frequenter: Verstand hat 243 Gesamttypen
mit es-Fuge (83,2%), mit Null- oder s-Fuge finden sich gerade einmal 40 Typen in den Daten.
Bei Bestand- machen die es-Typen nur einen geringen, aber bemerkbaren Anteil aus (13,5%).
Phonologie: Silben- und Wortstruktur | 365
auf -f und -l (ruf, griff, fall) haben aber 12 s-Verfugungswerte unter 50%, unter
den 55 auf Plosiv nur 8. (Die Erstglieder auf -schrei bleiben unberücksichtigt, da
sie nur 6 Typen haben.) Eine gesonderte Untersuchung mit mehr nicht-plosi-
visch auslautenden Erstgliedern wäre hier wünschenswert. Dann ließe sich
auch ermitteln, ob betont präfigierte Erstglieder möglicherweise auslautsensiti-
ver sind als unbetont präfigierte. Allerdings wurde eine Vielzahl von Präfix-
Basis-Kombinationen für die vorliegenden Daten generiert und getestet. In den
meisten Fällen traten derartige Erstglieder nicht in Komposita auf. Das mögliche
Erstgliedinventar zeigt keine gleichmäßige Distribution, betonte Präfixe sind
wesentlich frequenter als unbetonte.
1800
1600
0 s
1400
1200
1000
800
600
400
200
0
stalt walt sicht dacht sicht stalt sicht sicht sicht sicht sicht
unbetont betont
Die eingehende Analyse der replizierten und neu erhobenen Daten deutet nicht
auf eine betonungsbedingte s-Verfugung bei präfigierten Erstgliedern hin.303
Denkbare phonetisch-phonologisch bedingte Einflüsse sind die minimal gerin-
gere Verfugung bei sibilantischem Zweitgliedanlaut und die geringere Verfu-
gung bei sonorerem Erstgliedauslaut (Liquid, Frikativ).
||
303 Sowohl Replikation als auch eigene Studie weisen das Problem auf, dass die Zahl der
untersuchten Basen eingeschränkt ist. Eine derzeit von Renata Szczepaniak (Bamberg) durch-
geführte Untersuchung erhebt im Tagged-C2-Korpus sämtliche Erstglieder mit bestimmten
Präfixen, ohne die Basis zu spezifizieren. Ein Blick auf erste Ergebnisse lässt z.B. für ver- kon-
sequente s-Verfugung ungeachtet des Auslauts vermuten, für auf- dagegen Auslautsensitivität.
Ob es sich dabei um einen Einfluss der phonologischen Wortqualität handelt, bleibt noch zu
überprüfen.
366 | Funktionalisierung der Fugenelemente?
zug
zu stand
griff
fall
zug
trieb
stand
vor
rat
griff
fall
rat
un
fall
zug
um
trieb
stand
mis
miss stand
s
halt
in
zug
wand
ein
stand
griff
fall
stand
bei
rat
fall
zug
stand
aus
ruf
fall
zug
wand
auf
trieb
stand
ruf
zug
walt
trieb
an
stand
ruf
griff
fall
zug
trieb
stand
ab
ruf
fall 2033
Abb. 91: Verfugungsanteile der betont präfigierten Maskulina und Neutra aus Abb. 88 (n=
18.352), Erstglieder mit weniger als 20 Typen blieben unberücksichtigt. (Die hohe Frequenz von
Abfall ist der Nacherhebung geschuldet, s. Fn. 300. Aus Darstellungsgründen wurde der Balken
abgeschnitten.)
Phonologie: Silben- und Wortstruktur | 367
4000
0 s
3500
3000
2500
2000
1500
1000
500
0
zug
zug
zug
stand
trieb
wand
stand
trieb
ruf
fall
fall
halt
sicht
dacht
rat
griff
Letzteres verweist noch einmal darauf, dass die s-Fuge sich präferiert mit Aus-
lauten verbindet, bei denen sie zum extrasilbischen Element wird (vgl. auch
Kap. 4.2). Sie bildet somit einerseits eine phonologisch maximal auffällige
Grenzmarkierung, bleibt aber andererseits wortkörperschonend, da eine Fehl-
analyse als Teil des ersten Substantivs unwahrscheinlich ist. Auffällig ist der
generell sehr hohe s-Verfugungsanteil präfigierter Erstglieder, ungeachtet der
Betonungsstruktur. Er stützt die Vermutung, dass nicht das phonologische
Wort, sondern die morphologische Struktur der ausschlaggebende Faktor bei
der s-Verfugung ist (S. 371ff).
Dass Typenfrequenz in den untersuchten Fällen nicht mit Verfugung korre-
liert, ist aus den Grafiken direkt ersichtlich. Vergleichbare Tokendaten fehlen
aufgrund der Exportbegrenzungen leider.
immer -s- 2 6 0
-ion, -(i)tät phonologische Wörter: -heit/
keit, -ling, -sal, -schaft, -tum
kein phonologisches Wort: -ung
manchmal -s- 12 3 1
-al/il, -an, -ant/ent, -ar, -or, -rich, -(i)um -er/-ler/-ner
-är/ör, -(i)at, -ell, -ett, -ier [iːɐ̯ ],
-ier [jeː], -it, -ment [mɛnt]
verfugt werden, wenn das Zweitglied zur Kernfamilie des Erstglieds gehört. Bei
Dekan-s-gehalt (vs. Roman-∅-figur), Funktionär-s-typ (vs. Militär-∅-maschine),
Portier-s-gehalt (vs. Brevier-∅-gebet) tritt die s-Fuge trotz gleicher Flexion vor
allem bei menschlichem Erstglied auf. Eine phonologische Motivation kann in
diesen Fällen ausgeschlossen werden, denkbar ist dagegen eine Nutzung der s-
Fuge für einen Belebtheitssplit formal identischer Derivate (vergleichbar mit der
dän. e-Fuge, s. Kürschner 2007).304 Eine Tendenz zur s-Verfugung schlechter
phonologischer Wörter lässt sich an der Suffixbetonung nicht ablesen.305
14.2.2.2 Diachronie
Eine diachrone Überprüfung liegt mit Kopf (2017) vor. Im Mainzer Korpus finden
sich zu wenige schlechte phonologische Wörter, um Tendenzen ausmachen zu
können. Das ist bereits ein Aspekt, der dagegen spricht, dass die phonologische
Wortqualität eine Rolle bei der Herausbildung der Fugenelemente spielt. Abb.
93 zeigt für GerManC und die Mannheimer Zeitungstexte, dass schlechte phono-
logische Wörter im Zeitraum 1650–1900 nicht häufiger s-verfugen als gute: Die
jeweils in (a) und (b) untereinanderstehenden, vergleichbaren Säulen zeichnen
ein sehr ähnliches Bild. Die Formen innerhalb eines Diagramms, für die bei
einer Fugensteuerung durch die phonologische Wortqualität weitgehend glei-
che Verhältnisse herrschen müssten, weisen dagegen starke Unterschiede auf.
Kopf (2017: 192) stellt entsprechend fest:
Die s-Fuge zeigt sich bei Erstgliedern mit nicht-betonbarem Suffix (meist -er) oder charak-
teristischem Wortausgang (z.B. -um, -ur) und Simplex nicht sensitiv gegenüber der phono-
logischen Wortqualität, die Verhältnisse sind bei guten wie schlechten phonologischen
Wörtern gleich (p>0,05). Bei betont präfigierten Erstgliedern (z.B. Vórrat-, Ánzug-) wäre zu
erwarten, dass sie sich verhalten wie Erstglieder aus dreigliedrigen Komposita (z.B. Sánd-
stein-, Schúlbuch-), da in beiden Fällen zwei phonologische Wörter vorliegen. Es ist jedoch
||
304 Auffällig ist die geringe Zahl femininer Fremdsuffixe bzw. charakteristischer Endungen –
ausschlaggebend ist hier wohl die massive Anpassung an das schwa-auslautende Schema
typischer gemischter Feminina (z.B. lat. tangens > Tangente aber contigens > Kontingent, vgl.
Klein 2015: 10) bzw. die feminine Genuszuweisung bei Schwa-Auslaut in der Gebersprache
(Diskette, Kontrolle, …).
305 Betrachtet man nur die Fremdsuffixe, so könnte der Eindruck entstehen, dass die s-
Verfugung mit Betonung korreliert: Nur bei betonten Fremdsuffixen gibt es Fälle, die stets
verfugen, bei den nebenbetonten gibt es immerhin zwei Suffixe, die teilweise verfugen, wäh-
rend die unbetonten Suffixe nie verfugen. Allerdings ist die Zahl der neben- und unbetonten
Suffixe viel zu gering um daraus tatsächlich einen Trend abzuleiten; das Verhalten der beton-
ten Gruppe ist außerdem sehr inhomogen.
370 | Funktionalisierung der Fugenelemente?
100%
80%
60%
40%
20%
0%
Unbet.
Betontes
Suffix/char. Simplex Kompositum
Präfix
Wortausgang
0 54 2919 44 1
(e)n 7 78 9
s 4 592 38 37
100%
80%
60%
40%
20%
0%
Unbet.
Unbetontes Betonbares
Suffix/char. Simplex Kompositum
Präfix Suffix
Wortausgang
0 196 171 6 44 10
(e)n 15 17 1
s 21 44 13 101 336
Abb. 93: Verfugungsverhalten guter und schlechter phonologischer Wörter, 1650–1900, Ger-
ManC und Mannheimer Korpus (n=4.758). Eine Aufgliederung in Fünfzigjahresschritte ergibt
keine Unterschiede. Wörter mit s-Auslaut (Typ Beweis) oder vokalischem Auslaut (Typ Umbau)
blieben unberücksichtigt. (Kopf 2017: 193)
Von atypischen zu komplexen Erstgliedern | 371
keine Ähnlichkeit zwischen beiden Gruppen zu erkennen.306 „Schlechte“ Wörter mit unbe-
tontem Präfix (Gesícht-, Verkáuf-) weisen dagegen nicht mehr Verfugung auf als die „gu-
ten“, betont präfigierten Erstglieder (p>0,05). „Gute“ und „schlechte“ mehrgliedrige Kom-
posita lassen sich aufgrund der niedrigen Zahl schlechter Komposita kaum vergleichen,
zeigen jedoch auch keinen signifikanten Unterschied (p>0,05).
14.2.2.3 Gesamtbewertung
Ein Effekt des phonologischen Wortes auf das Verfugungsverhalten lässt sich
nicht zeigen: Im gegenwartssprachlichen Wortschatz sind keine Verfugungsun-
terschiede zwischen guten und schlechten phonologischen Wörtern zu be-
obachten. Bei Präfigierungen zeigt sich im Korpus eine durchgehend hohe Ver-
fugungsrate ungeachtet der Betonungsstruktur, wobei es große lexemspezifi-
sche Variation gibt. Suffigierte Erstglieder tendieren bei (Neben-)Betonung, die
sie zu schlechten phonologischen Wörtern macht, nicht zur Verfugung: In den
meisten Fällen schwanken die Suffixe, entweder erstgliedspezifisch oder sogar
beim gleichen Erstglied, zwischen s- und Nullfuge. Dabei zeichnet sich eine
marginale Nutzung der s-Fuge für einen Belebtheitssplit ab. Auch historische
Daten weisen keine betonungssensible Verfugung auf. Eine phonologische
Funktionalisierung kann also weder für das frühe Nhd. noch für den aktuellen
Sprachgebrauch festgestellt werden.
warum kommt das -s […] gern hinter zusammengesetzten subst. zum vorschein und un-
terbleibt hinter einfachen? vgl. sommernachts-traum, schlittenfahrts-beschreibung, mit
nacht-traum, fahrt-beschreibung. Ja, ein gleiches verhältnis blickt durch bei zus. gesetz-
||
306 Da für betont präfigierte Erstglieder nur 38 Tokens vorliegen (die auf 11 verschiedene
Erstglieder entfallen), ist bei der Interpretation der Daten jedoch etwas Vorsicht geboten.
372 | Funktionalisierung der Fugenelemente?
14.3.1 1500–1900
||
307 Hier sei darauf hingewiesen, dass komplexe Wörter zwar die Hauptgruppe der im Fnhd.
neu möglichen Erstglieder bilden, dass jedoch auch einfach(er) strukturierte Substantive zu-
nächst atypisch waren und sich dann ausbreiteten (nämlich Infinitiv- und Stammkonversionen
von unpräfigierten Verben, vgl. Kap. 10.7). Da erstere zahlenmäßig immer eine kleine Gruppe
blieben (vgl. S. 265–266, Tendenz zum Typ Renn-leitung statt *Rennen-s-leitung) und letztere
keine Verfugungspräferenz entwickelten (*Trieb-s-wagen), bleiben sie hier ausgenommen.
Von atypischen zu komplexen Erstgliedern | 373
Mit diesen Erstgliedern ist heute die s-Verfugung eng verbunden: Viele De-
rivationssuffixe treten immer oder manchmal mit ihr auf (Tab. 64, S. 368), präfi-
gierte Verbstammkonversionen zeigen einen starken Hang zur Verfugung (S.
361ff). Das ist kein Zufall: Mit der Univerbierung gelangen auch Erstglieder in
Komposita, die im restriktiven alten, idg. Muster nicht auftreten können.
Bestimmte Substantivgruppen, darunter prominent die morphologisch
komplexen Erstglieder, haben zuvor keine Möglichkeit, als Bestimmungsglied
in die Wortbildung einzugehen. Die entsprechenden Verhältnisse können nur
durch genitivische Nennsyntagmen ausgedrückt werden. Die Restriktion wurde
durch die Univerbierung unterlaufen: Da hier zunächst syntaktische Strukturen
reanalysiert werden, sind die Struktur und der Wortbildungsstatus des Genitiv-
attributs unproblematisch. Entsprechend etablieren sich maskuline und neutra-
le Erstglieder mit s-Fuge, bei denen es sich um sekundäre Wörter handelt. Die
starken Parallelen der pränominalen Genitivkonstruktionen zu Komposita (De-
terminans geht Determinatum voraus, Benennungsfunktion) befördern den
Übergang in die Morphologie. Die s-Fuge ist also zunächst nur zufällige Beglei-
tung, weil die betroffenen Wortbildungsprodukte stark flektieren und struktu-
rell i.d.R. die kurze Genitivvariante präferieren. Da unter den s-verfugenden
Univerbierungsprodukten ein starkes Übergewicht vormals unmöglicher Erst-
glieder besteht und diese wiederum zu einem erheblichen Anteil aus komplexen
Wörtern bestehen, erkennen die Sprecherinnen und Sprecher schließlich ein
Muster: Was morphologisch komplex ist, weist häufiger eine s-Fuge auf als
Einfaches; bei einfachen Erstgliedern steht auch das alte, unverfugte Muster zur
Verfügung. Das ist aus Abb. 94 ersichtlich: Während rund 33% der komplexen
Maskulina und Neutra im Mainzer Korpus s-verfugen, sind es bei den Simplizia
nur knapp 13%. Lautlich eignet sich die s-Fuge zufällig gut zur Grenzmarkie-
rung, sie kann an jede Art von Konsonantencluster treten und damit Erstglied-
komplexität signalisieren.308
||
308 Darüber, ob Erstglieder fremder Herkunft mit charakteristischem Wortausgang (z.B. (Ka-
pit)ell-, (Kastell)an-) als morphologisch komplex aufzufassen sind, lässt sich streiten (vgl. auch
Kap. 10.7.2, Kap. 14.2.2.1). Da das dt. Wortbildungssystem zweigeteilt ist und Fremdsuffixe sich
i.d.R. mit fremden Basen verbinden, ist ein Nachweis genuin im Deutschen gebildeter Wörter
mitunter schwer zu führen. In einigen Fällen ließen entsprechende Erstglieder sich möglicher-
weise zutreffender als phonologisch komplex oder atypisch beschreiben.
374 | Funktionalisierung der Fugenelemente?
100%
80%
60%
40%
20%
0%
Derivate, Derivate,
Simplizia Simplizia
Komposita Komposita
M/N F
0 59 1774 28 773
andere 2 203 3 251
s 30 296 59 21
Abb. 94: Verfugungsanteile nach Wortbildungsstatus und Genus im Mainzer Korpus (nur bei
eindeutigem Genus; n=3.526; unverfugt vs. s-verfugt: M/N: χ2=23,6; p<0,01; F: χ2=395,5;
p<0,01).
||
309 Ähnlich, aber doch anders Wilmanns (1896: §396): „Besonders sind es Feminina, die selbst
schon zusammengesetzt oder mit schweren Suffixen abgeleitet sind, die sich dem s zugänglich
zeigen. Der Grund liegt augenscheinlich darin, dass es die ältere Sprache überhaupt mied, solche
‚vielsilbige und langschweifige Wörter‘ [Zitat von Grimm (1826: 940), KK] zu componieren, also
ältere, in weit verbreitetem Gebrauch gefestigte Formen hier nicht verdrängt zu werden brauch-
ten.“
Von atypischen zu komplexen Erstgliedern | 375
100%
80%
60%
40%
20%
0%
Infinitive dt. Suffixe Präfixe fremde Trikomposita Restnicht
(Simplizia,
„Suffixeˮ einfache
komplexStamm-
s ∅ s ∅ s ∅ s ∅ s ∅ s ∅
1650-1700 22 16 21 14 6 12 43 11 25 122 549
1700-1750 19 1 31 21 9 11 11 43 14 17 98 628
1843 4 1 30 14 10 4 13 23 7 17 40 412
Für die folgende Analyse im Zeitraum von 1650 bis 1900 wurden sämtliche mor-
phologisch komplexen Formen nach Strukturtyp zusammengefasst. Dabei wur-
de bewusst nicht nach den heute immer, manchmal und nie verfugenden Suffi-
xen getrennt: Sämtliche strukturell nativen Suffixe sind in der Kategorie „dt.
Suffixe“ zusammengefasst, d.h. neben -ung, -heit etc. auch -er, -lein etc., bei den
Fremdsuffixen sind neben -ion und -(i)tät auch -ur, -ell etc. enthalten. Die Tri-
komposita wurden nur dann gesondert gezählt, wenn nicht bereits Zuordnung
zur prä- oder suffigierten Gruppe erfolgt war. Es zeigen sich die folgenden Ent-
wicklungen (Abb. 95):
Komplexe Erstglieder mit Präfix, nativem oder fremdem Suffix nehmen in
der Verfugung zu, besonders deutlich ab der 2. Hälfte des 18. Jh. Das spricht
dafür, dass die s-Fuge in diesem Zeitraum tatsächlich produktiv als Komplexi-
tätsmarker genutzt wird. Dabei liegen die Verfugungsanteile der dt. Derivate
durchgehend wesentlich höher als die fremd suffigierter Erstglieder, letztere
übersteigen aber dennoch deutlich die Verfugung nicht-komplexer Erstglie-
der.310 Auffällig ist, dass ausgerechnet die phonologisch vollkommen unauffäl-
ligen er-Derivate kaum s-verfugen. (Wenn sie das heute tun, dann i.d.R. mit
belebten Erstgliedern (vgl. Kap. 14.2.2.1), nicht generell mit Derivaten.) Das
weist darauf hin, dass die Phonologie nicht irrelevant ist: Die meisten komple-
xen Erstglieder unterscheiden sich auch in Betonungsstruktur oder Vollvokal-
zahl von Simplizia (allerdings ohne dadurch zwingend schlechte phonologische
Wörter zu bilden). Die er-Derivate sind schon so früh phonologisch unauffällig,
dass sie bereits in mhd. Komposita auftreten (dazu und zu weiteren möglichen
Gründen s. Kap. 10.7.1). Im Fnhd. sind sie entsprechend keine ungewöhnlichen
Erstglieder und verfugen i.d.R. nicht.
Die Verfugungsanteile der Trikomposita schwanken zunächst unsystema-
tisch, um dann 1905 auf das Niveau der nativ derivationsmorphologisch kom-
plexen Erstglieder anzusteigen. Eine Detailberechnung zeigt für den Gesamt-
zeitraum bei Trikomposita s-Verfugung von 25% für rechtssverzweigende Kom-
posita, 45% für linksverzweigende; möglicherweise werden also komplexe erste
Konstituenten eher markiert – das entspricht auch den in der Literatur ange-
führten Beispielen des Typs Friedhof-s-mauer. Die nicht-komplexen Erstglieder
zeigen keine steigenden Verfugungsanteile.
||
310 Infinitivkonversionen verfugen bereits zu Beginn so gut wie ausnahmslos (1843 ist die
Datenmenge zu gering für eine Berechnung). Sie werden der Vollständigkeit halber aufgeführt,
lassen sich jedoch nicht über morphologische Komplexität erklären und bilden entsprechend
auch keine Vorlage für den Komplexitätsmarker, s. Fn. 307.
Von atypischen zu komplexen Erstgliedern | 377
14.3.2.1 Bestandswortschatz
Zur Überprüfung einer etwaigen gegenwartssprachlichen Komplexitäts-
markierung lassen sich Trikomposita und präfigierte Derivate heranziehen.
Krott et al. (2004) stellen auf Basis von CELEX-Daten fest, dass Fugenelemente
dreigliedriger Komposita verstärkt an den Grenzen größerer Konstituenten
auftreten. Insgesamt beträgt die Verfugung 26,2% (232 Fugen bei 884 Slots in
442 Komposita; Krott et al. 2004: 88).311 Dabei werden nur in 21 Komposita beide
Slots genutzt, d. h. eine Nutzung zur Markierung der morphologischen Hierar-
chie ist größtenteils möglich. Sie zeigt sich dann, wo sie auftritt, auch klar an
der s-Verfugung: Während 70 s-Fugen die Hauptkonstituentengrenze markie-
ren, tauchen nur 9 zwischen untergeordneten Konstituenten auf (Krott et al.
2004: 91–92). Hinzu kommt, dass existierende zweigliedrige Komposita mit s-
Fuge mit geringerer Wahrscheinlichkeit Konstituenten dreigliedriger Komposita
bilden als solche ohne s-Fuge (Krott et al. 2004: 92). Für die verbleibenden Fu-
genelemente zeigt sich eine solche Tendenz nicht, 60 Fugen an Hauptgrenzen
stehen 50 Fugen an Nebengrenzen gegenüber.312 In einem Experiment wurde im
||
311 Fälle, bei denen die Fuge bereits durch ein Derivationssuffix vorgegeben wird, wurden
aus der Untersuchung ausgeschlossen.
312 Im Gegensatz zu den dreigliedrigen Komposita zeigt sich bei Bergs (2006) viergliedrigen
Komposita keine klare Tendenz für die s-Fuge. Während bei symmetrischen Komposita vom
Typ [Medizin-ethik][enquete-kommission] bevorzugt die untergeordneten Konstituenten ver-
fugt werden, zeigt sich bei asymmetrischen Komposita mit unmittelbaren und mittelbaren Kon-
stituenten vom Typ [[Betriebs][[kinder][tages-stätte]]] eine minimale Bevorzugung der höchsten
378 | Funktionalisierung der Fugenelemente?
||
Ebene. Insgesamt sind die Zahlen bei nur 16,58% Verfugung (91 von 549 Möglichkeiten) jedoch
zu gering, um belastbare Schlüsse zuzulassen.
Von atypischen zu komplexen Erstgliedern | 379
wurde (Details s. Anhang, S. 437). Auch hier lagen die Verfugungswerte recht
hoch (Typen 62,2%, n=814; Tokens 76%, n=2.653), aber auch hier prägt ein ein-
zelnes Element (-recht-), das fast ausschließlich s-verfugt, das Bild. Dass die
Verfugungswerte, insbesondere verglichen mit Krott et al. (2004), so hoch sind,
ist durch die eingeschränkte Erstgliedauswahl bedingt: Ihr zweites Element war
in fast allen Fällen einsilbig, unterlag keinem anderen Verfugungsprinzip (d.h.
z.B. keine schwachen Maskulina) und lautete konsonantisch, oft sogar plosi-
visch aus. Das bedeutet, dass nur ein spezifisches Subset von Trikomposita zu
rund 60% s-verfugt.
In Kap. 14.2.2 wurde gezeigt, dass der nhd. s-Verfugungsanteil präfigierter
Erstglieder im Schnitt wesentlich höher ist als der aller Komposita. Die Replika-
tion von Nübling & Szczepaniak (2008) ergab einen Verfugungsanteil von 91,3%
(Tokens) bzw. 96,6% (Typen), eine eigene Erhebung zeigt s-Verfugung für
77,7% bei Typen. Die unterschiedlichen Anteile verweisen auf die hohe lexem-
spezifische Variation, die bereits erörtert wurde (S. 365ff) und sich auch bei den
Trikomposita bestätigt hat – dennoch kristallisiert sich deutlich heraus, dass s-
Verfugung für präfigierte Erstglieder typisch ist, und zwar typischer als für die
Trikomposita.
Als Baseline wurden auch die simplizischen Stämme, die sowohl in der Präfix-,
als auch in der Kompositionsrecherche enthalten waren, auf ihr Verfugungs-
verhalten überprüft. Sie verfugen so gut wie nicht mehr: Im Schnitt weisen
15,5% der Typen eine s-Fuge auf, lässt man das konsequent verfugende recht
unberücksichtigt,313 so sind es sogar nur 0,8%.314 Für den Bestandswortschatz
ergeben sich damit die Werte in Tab. 65. Die s-Fuge erscheint also im Nhd. bei
präfigierten Erstgliedern am häufigsten (für suffigierte Erstglieder liegen aber
keine Zahlen vor). In Trikomposita tritt sie häufiger an Haupt- als an Nebenkon-
stituenten auf, bereits verfugte Komposita sind hier selten. Linksverzweigende
Trikomposita weisen hohe Verfugungswerte auf, wenn sie generell eine s-
Verfugung zulassen, das Verfugungsverhalten schwankt aber, wie bei den prä-
||
313 Alle Erstglieder, die vom Adjektiv rechts stammen (Typ Rechtsextremismus) wurden aus-
sortiert.
314 Verglichen mit den beiden morphologisch komplexen Erstgliedern zeigt sich eine große
Variationsbreite: In manchen Fällen verfugen Präfix und Kompositum vergleichbar und das
Simplex nicht (fahrt, stand), in manchen verfugt nur das Präfix häufig, während Kompositum
und Simplex kaum verfugen (fall, sicht, gang). Bei bund und recht zeigen sich dagegen hohe
Simplexverfugungsraten. Das dürfte im Fall von bund auf die normal zu erwartende Komposi-
tionsstammform bundes- zurückzuführen sein, eine stichprobenartige Überprüfung der Belege
zeigt, dass in den jeweiligen Artikeln auch diese Formen auftreten.
380 | Funktionalisierung der Fugenelemente?
Suffigierungen (Bindung-) NA
Präfigierungen (Verbund-, Anfall-) 77,7% ~ 96,6%
Trikomposita (Geheimbund-) 58,3% ~ 62,2%
Simplizia (Bund-) 15,5%
14.3.2.2 Produktivität?
Dass die fnhd. s-Fuge Erstgliedkomplexität markiert, bedeutet nicht automa-
tisch, dass das auch heute noch der Fall ist. Die Ergebnisse der Studie von Krott
et al. (2004) sind in dieser Hinsicht wenig aufschlussreich. Die Korpusuntersu-
chung erbringt zwar deutlich erhöhte s-Verfugung bei komplexem gegenüber
einfachem Erstglied, das untersuchte Material zeugt aber nicht von Produktivi-
tät: Alle Erstglieder sind schon seit langem verfugt belegt. Auch die DeReKo-
Daten erlauben nur einen Blick in die Vergangenheit der s-Fuge – und der er-
weist sich als konform mit dem, was die Daten für das 17. bis 19. Jh. gezeigt
haben. Würde die s-Fuge heute noch aktiv genutzt, so müsste sie sich auch mit
neuen komplexen Erstgliedern verbinden. Das ist allerdings nicht in bemerkba-
rem Ausmaß der Fall, weder bei den Maskulina und Neutra, noch bei den Femi-
nina (vgl. Kap. 10.9.2 für die Wortwarte-Daten). Vereinzelten Analogien (Trai-
ningshose) steht ein Gros an neueren komplexen Erstgliedern gegenüber, die nie
s-verfugen.
Teil schon in Kap. 8.6 geschehen. Zum anderen kann sie das spätere Stadium
betrachten, bei dem kein direkter Bezug zu Syntagmen mehr besteht. In diesem
Fall liegt das Augenmerk auf den Fugenelementen. Nachdem bestimmt wurde,
dass die s-Fuge im Fnhd. und frühen Nhd. eine morphologische Funktion als
Marker auffälliger Erstglieder besaß, kann nun überprüft werden, ob diese
Funktion sich einer der Sprachwandeltheorien zuordnen lässt. Dabei gilt es
jedoch stets im Blick zu behalten, dass eine Zuordnung keine Selbstzweck sein
darf, sondern einen Mehrwert für das eingeordnete Phänomen haben sollte.
14.4.1 Grammatikalisierung
Bei der Grammatikalisierung lassen sich grob drei Bereiche unterscheiden: die
Ausgangsbasis, der Prozess selbst (klassisch nach Lehmann 1995 oder Heine
2003) und der Endpunkt. Dass Ausgangsbasis und Endpunkt dabei abhängig
vom Forschungsinteresse sind, versteht sich von selbst: Häufig beginnt die
Betrachtung zu einem Zeitpunkt, zu dem ein Element bereits einen gewissen
Grammatikalisierungsgrad erreicht hat (z.B. ein Hilfsverb geworden ist) und
häufig endet sie in der Gegenwart, wo weitere Entwicklungen noch nicht ab-
sehbar sind.
Grammatikalisierung im engeren Sinne beschreibt die Entstehung von Fle-
xionsmorphologie oder Funktionswörtern aus freien Lexemen. Sie ist also so-
wohl hinsichtlich des Prozesses als auch hinsichtlich ihres Endpunkts, der
Grammatik i.e.S., festgelegt. Häufig und bereits früh wird das Konzept jedoch
um die Entstehung von Wortbildungselementen erweitert (z.B. bei Mroczynski
2013, für eine Übersicht über die Argumente s. Wischer 2011): Hier genügt es,
dass der Prozess den klassischen Parametern folgt. Der Status des Endpunkts
spielt dabei entweder keine Rolle, oder die Unterscheidung wird als irrelevant
betrachtet, oder Wortbildung zählt ebenso zur Grammatik wie Flexionsmorpho-
logie (und ihre weniger grammatikalisierten Vorläufer), wobei von einem gra-
duellen Unterschied ausgegangen wird (Wischer 2011: 359). Flexion wird dabei
jedoch stets als der grammatikalisiertere der beiden Bereiche betrachtet, da die
semantische Ausbleichung hier wesentlich weiter vorangeschritten ist. Die Dis-
kussion ist jedoch nur von marginaler Relevanz: Lehnt man eine Subsumierung
von Prozessen mit dem Endpunkt Wortbildung unter das Grammatikalisie-
rungskonzept ab, heißt das nicht, dass der Prozess keine diachrone Realität
besitzt, sondern nur, dass man ihn anders bezeichnet. Vorschläge hierfür sind
z.B. „grammaticalization of the lexicon“ und „Lexikalisierung“ (Blank 2007:
382 | Funktionalisierung der Fugenelemente?
Ausgangsbasis Zieldomäne
Flexion Wortbildung
||
315 Fugenelemente treten auch vor Suffixen und Affixoiden auf (Kap. 11), allerdings nur vor
solchen, die selbst aus freien Lexemen grammatikalisiert wurden, d.h. das Fugenelement mar-
kiert hier dann einen älteren Kompositionsstatus.
Theoretische Einordnung des neuen Kompositionstyps | 383
Tab. 66: Grammatikalisierungsparameter nach Lehmann (1995) für die s- und (e)n-Fuge. √ =
Entwicklung stimmt mit typischem Grammatikalisierungsprozess überein, ⨯ = stimmt nicht
überein.
paradigmatisch syntagmatisch
Etwas problematischer ist die Kohäsion: Nübling & Szczepaniak (2013: 86)
argumentieren dafür, dass sie paradigmatisch zunimmt, da neue Fugenelemen-
te die ältere Schicht ergänzen. Von einem „Paradigma“ lässt sich bei dieser
Gruppe aber nur schwerlich sprechen, schon gar nicht von einem, das systema-
tischer ist als das vorherige, flexionsmorphologische: Zwar existiert nun ein
relativ großes Inventar an Elementen, die zwischen den beiden Kompositums-
bestandteilen auftreten können, allerdings nicht obligatorisch und in vielen
Fällen auch nicht durch das Erstglied voraussagbar. Da Nübling & Szczepaniak
(2013) Pluralkomposition nicht trennen, wird das Bild noch unklarer. Betrachtet
man lediglich die (e)s- und (e)n-Fuge als einzige im Untersuchungszeitraum
produktive, nicht-pluralische Fugenelemente, so ist die Annahme eines Para-
digmas etwas plausibler. Als Allo-Fugen konkurrieren sie im Fnhd. i.d.R. nicht
um die gleichen Erstglieder, sondern sind weitgehend komplementär distribu-
iert: Während die (e)n-Fuge an Substantive mit Schwa-Auslaut und schwache
Maskulina tritt, ist die s-Fuge nur bei starker und gemischter Flexion mit kon-
sonantischem Auslaut anzutreffen. Dabei bleibt aber stets zu berücksichtigen,
dass für die Kontexte der s-Fuge prinzipiell auch Nichtverfugung möglich ist.
Insgesamt lässt sich also vorsichtig vom Vorhandensein eines Paradigmas aus
Fugenelementen sprechen – vergleicht man diese Verhältnisse nun aber mit der
Spenderkategorie, der Flexionsmorphologie, so wird deutlich, dass von einem
Zuwachs an Paradigmatizität keine Rede sein kann.
Auf syntagmatischer Ebene sprechen Nübling & Szczepaniak (2013: 86) von
größerer Fügungsenge aufgrund der kürzeren Artikulation des Erstglieds ge-
genüber seinem freien Pendant (vgl. Koester et al. 2004). Das Fugenelement ist
hier aber nur „mitbetroffen“, nicht auslösend, denn auch unverfugte Erstglieder
werden kürzer artikuliert. Auch weitere Phänomene in diesem Zusammenhang
lassen sich nicht für die Grammatikalisierung fruchtbar machen: So ist die di-
rekte Abfolge von Fugenelement und Zweitglied eine Eigenschaft von Komposi-
tion generell, keine Eigenschaft des Fugenelements, und die starke Kopplung
zwischen Fugenelement und Erstglied geht auf die flexionsmorphologischen
Verhältnisse zurück.
Was die Variabität anbelangt, so verweisen Nübling & Szczepaniak (2013:
86) paradigmatisch auf die Abnahme der Variation zwischen -es und -s. Auch
die Kopplung der s-Fuge an bestimmte Suffixe und ihre Bevorzugung durch prä-
figierte Erstglieder senkt die Wählbarkeit. Bei der (e)n-Fuge war die Wählbarkeit
Theoretische Einordnung des neuen Kompositionstyps | 385
dagegen schon von Anfang an minimal. Syntagmatisch zeigt sich bei der Stel-
lungsfreiheit kein Unterschied zum Flexionssystem.316
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Fugenelemente im Allgemei-
nen keine grammatische Funktion haben, weshalb von einem übergreifenden
Grammatikalisierungsprozess nicht die Rede sein kann, lediglich bei der s-Fuge
im Fnhd. Beschränkt man die Betrachtung auf den Prozess, ohne den Status von
Ausgangsbasis und Endpunkt zu berücksichtigen, so ergeben sich zwar stel-
lenweise Parallelen zur Grammatikalisierung, ebenso gibt es aber auch gegen-
läufige Entwicklungen und Bereiche, in denen die Veränderungen nicht in die
Grammatikalisierungsparameter gefasst werden können.
Ausgangsbasis Zieldomäne
Syntagma Wortbildung
generische Genitivkonstruktion Kompositum
Dem Fugenelement selbst kann also keine grammatische Funktion und kein
Grammatikalisierungsprozess zugeschrieben werden. Bevor die Grammatikali-
sierung als sprachwandeltheoretischer Unterbau vollständig abgelehnt wird,
sollte jedoch kurz geprüft werden, ob nicht Grammatikalisierung eines Ge-
samtmusters vorliegen könnte (z.B. N+s+N). So wendet Szczepaniak (2013) das
Konzept z.B. auf klammernde Strukturen im Deutschen an. Sie spricht von
„konstruktioneller Grammatikalisierung“ (104), da die Nominalphrase intern
strukturierter wird (vgl. auch Kap. 8.6.3), allerdings erfolgt keine Anwendung
der Parameter. Eine Übertragung für verfugende Komposita sähe folgenderma-
ßen aus:
||
316 Nübling & Szczepaniak (2013: 86) führen die Stellungsvariation des Genitivattributs im
Fnhd. an und schließen daher, dass die Stellungsfreiheit für Fugenelemente gesunken sei. Hier
vermischen sie jedoch zwei Ebenen: Was bisher von der Grammatikalisierung des Fugenele-
ments die Rede, so geht es nun um eine mögliche Grammatikalisierung von Komposita. Bewer-
tet man die Stellungsfreiheit, so muss man hier konsequenterweise die Stellung des Fugenele-
ments mit der des Flexivs vergleichen, und hier ist keine Änderung zu beobachten.
386 | Funktionalisierung der Fugenelemente?
paradigmatisch syntagmatisch
||
317 Ein empirischer Vergleich der folgenden Phänomene zwischen Syntagma und Phrase
existiert allerdings m.W. bisher nicht.
Theoretische Einordnung des neuen Kompositionstyps | 387
ist in 35,5% der experimentellen Items bei Bergmann (2014) der Fall (Vor-
leseaufgabe), insbesondere bei hoher Tokenfrequenz, und sogar in 58% bei
quasi-spontansprachlichen Komposita (Kohler 1994).
‒ Zwischen Erstgliedauslaut und Zweitgliedanlaut können regressive Assimi-
lationsprozesse stattfinden (z.B. [ˈbaːŋ.ɡlaɪ̯s] ‚Bahngleis‘, vgl. Gumnior et al.
2005), wobei hier keine Häufigkeitsdaten vorliegen. Szczepaniak (2007:
314–315) geht davon aus, dass solche Prozesse heute – anders als im Ahd. 318
– kaum mehr über phonologische Wortgrenzen hinweg wirken.
Insgesamt sind diese Phänomene allerdings nicht allzu hoch zu bewerten: Was
häufig miteinander auftritt, zeigt mehr gegenseitige Einflüsse, daher ist Wort-
sandhi allgemein wesentlich häufiger als Satzsandhi (vgl. Ohala 2003: 680).
Insofern erhöht sich die Integrität wohl automatisch bei jedem Grammatikali-
sierungsprozess, der Univerbierung aufweist. Auf syntagmatischer Ebene lässt
sich allerdings keine strukturelle Skopusveränderung beobachten: Sowohl die
generische Genitivkonstruktion als auch das Kompositum kann als NP auftreten
und regiert keine weiteren Strukturen.
Die Kohäsion geht ebenfalls nicht klar in eine Richtung: Die Paradigmatizi-
tät ist auf Wortbildung schwer anzuwenden. Zwar werden Paradigmen in der
Wortbildung zunehmend diskutiert (z.B. Pounder 2000), die dafür notwendige
Analyse sämtlicher potenziell involvierter Wortbildungsprodukte und Simplizia
kann hier aber insbesondere aufgrund der großen Offenheit der beiden haupt-
sächlichen Konstruktionstypen nicht geleistet werden. Es ist auch unklar, wie
eine größere Paradigmatizität hier aussehen könnte. Auf die Übertragung des
Konzepts wird hier daher verzichtet. Die Fügungsenge nimmt dagegen deutlich
zu: Wo zuvor, wenn auch selten, ein Artikel zwischen beide Substantive treten
konnte (Typ des Fürsten ein Haus, vgl. Kap. 6.2.1), ist die direkte Abfolge im
Kompositum nicht mehr unterbrechbar.
Die Variabilität geht paradigmatisch zurück: Generische Genitivkonstruk-
tionen stehen kaum mehr als Alternative zur Verfügung, ihre Funktion wird von
Komposita übernommen (Kap. 8.4). Auch syntagmatisch sinkt die Variabilität,
die Stellungsfreiheit wird eingeschränkt: Wo generische Genitivkonstruktionen
||
318 Für das Ahd. verweist Szczepaniak (2007: 137) auf Assimilationsprozesse wie boumgarto >
boungarto ‚Obstgarten‘, s. auch Gröger (1911). Der Typ ist auch im Mhd. noch vielfach belegt,
vgl. z.B. boungarte, heinsuchungi im Referenzkorpus Mittelhochdeutsch (Uni Bochum).
388 | Funktionalisierung der Fugenelemente?
14.4.2 Degrammatikalisierung
Nachdem die Entstehung der Fugenelemente sich nicht erfolgreich als Gramma-
tikalisierung einordnen ließ, stellt sich die Frage, ob Degrammatikalisierung ein
sinnvolleres Konzept sein könnte. Dass für ein und dasselbe Phänomen sowohl
Grammatikalisierung als auch Degrammatikalisierung in Betracht gezogen
wird, zeigt allerdings, dass es in diesem Bereich möglicherweise generell nicht
gut aufgehoben ist.
Entsteht Derivationsmorphologie aus Flexiven, so wird dies i.d.R. als De-
grammatikalisierung gefasst (z.B. Newmeyer 1998, anders Hopper & Traugott
1993, die von Lexikalisierung sprechen): Die Entwicklung geht vom reguläreren,
„grammatischeren“ Bereich zum irreguläreren, lexikalischeren. Der Prozess ist
vergleichsweise selten, aber belegt. Typische Fälle sind die Entwicklung des
schwed. Adjektivflexivs -er zum Derivationssuffix von (oft derogativen) Nomina
Agentis (Abbau des Flexivs: en blinder > en blind ‚ein Blinder‘; gleichzeitig Ent-
wicklung zum Derivationssuffix -er: en dumm-er ‚ein dummer Mensch‘) und die
Entwicklung des schwed. Pluralmarkers -on zum Wortbildungssuffix für Beeren
und Früchte (ör-on ‚Augen‘ → hall-on ‚Himbeere‘, Basis wörtl. ‚Hang, Halde‘, bei
Persistenz des Pluralflexivs; Norde 2002). Auch Fugenelemente sind flexivi-
schen Ursprungs und gehen in einen weniger regulären Bereich über. Nübling &
||
319 Vereinzelte Zusammenschreibungen vom Typ Muttergottes sind keine echten Univerbie-
rungen und konnten sich entsprechend nie als Wortbildungstyp etablieren (s. Fn. 1, Kap.
2.1.1.1).
320 Zwar sind einzelne Grundrelationen in Genitivkonstruktionen nicht anzunehmen (vgl.
Kap. 8.2.3), das liegt aber daran, dass sie auf dem alten Kompositionstyp basieren, es handelt
sich nicht um eine neue Entwicklung.
Theoretische Einordnung des neuen Kompositionstyps | 389
Szczepaniak (2013: 85) kommen für Fugenelemente aus einem ganz ähnlichen
Grund wie dem, aus dem sie Grammatikalisierung ablehnen, zu dem Schluss:
Nevertheless, this development cannot be put on par with degrammaticalization, nor with
deinflectionalization (as one type of degrammaticalization, see Norde 2009), since the
former inflectional suffix did not aquire a clear derivational function.
14.4.3 Exaptation
14.5 Zusammenfassung
Der heutigen Verteilung der Fugenelemente wohnt noch viel von ihrer ehemali-
gen, flexionsbedingten Zufälligkeit inne. Das gilt auch für die s-Fuge, obwohl
sie sich am weitesten von ihren Ursprungskontexten entfernt hat. Es konnte
jedoch gezeigt werden, dass sie im Fnhd. keine phonologische Funktionalisie-
392 | Funktionalisierung der Fugenelemente?
rung zur Markierung „schlechter“ phonologischer Wörter erfahren hat. Die enge
Verbindung morphologisch auffälliger Erstglieder mit Fugenelementen, insbe-
sondere der s-Fuge, ist als direkte Folge aus ihrer Entstehung erklärbar: Erst-
gliedrestriktionen der idg. NN-Komposita werden nicht direkt gelöst, sondern
der neue Typ, der aufgrund seiner syntaktischen Herkunft keine Kombinations-
restriktionen kennt, erzeugt Komposita mit neuen, oft komplexen Erstbestand-
teilen. Es kommt in der Folge zu einer Funktionalisierung, die an der Übertra-
gung auf komplexe Feminina sichtbar wird. Die Folgen sind noch bei den hohen
Verfugungsraten präfigierter Erstglieder sichtbar. Dieser Prozess lässt sich als
temporäre Exaptation einordnen, das ehemalige Flexiv wird zum Komposi-
tumsmarker. Ausschlaggebend für die Zuordnung zur Exaptation ist, dass Aus-
gangs- und Zielfunktion nicht angrenzend sind und die Zielfunktion keinen
höheren Grammatikalisierungsgrad aufweist als die Ausgangsfunktion. Ab
wann die s-Fuge sich in dieser Funktion nicht mehr ausbreitet, lässt sich nur
schwer entscheiden: Charakteristische Wortausgänge fremder Herkunft mit
schwankendem Verfugungsverhalten legen nahe, dass sie noch im 18. Jh. an
neue Erstglieder trat. Die unparadigmische s-Fuge ist der einzige sichere Indika-
tor für die Produktivität des Musters. Da die meisten neuen Feminina aber voka-
lisch auslauten, bieten sich nach dem Übergang auf -ion und -(i)tät keine weite-
ren Ausbreitungskontexte mehr an.321 Für das Ende der produktiven
Komplexitätsmarkierung ist ein Szenario vorstellbar, das dem Ende des Binde-
strichs ähnelt: Möglicherweise wurde die s-Fuge nur so lange produktiv ge-
nutzt, bis sich komplexe Erstglieder als unmarkierter Fall in Komposita etabliert
haben. Die exaptierte Funktion wird überflüssig, weshalb es in der Folge kaum
mehr zur weiteren Ausbreitung kommt. Heute stellt die s-Fuge ein morphologi-
sches Relikt dar. Die (e)n-Fuge wurde dagegen prosodisch funktionalisiert.
||
321 Denkbar wäre eine s-Fuge an apokopierten Erstgliedern wie im Fall von Hilf_-s-, Ge-
schicht_-s-, hier dürfte allerdings eine starke Tendenz zur Morphemkonstanz hindernd wirken.
15 Fazit
Seit Grimm (1826) gilt die Entstehung des verfugenden Kompositionsmusters als
weitgehend geklärt: Zunächst verbinden sich pränominale Genitivattribute
durch Univerbierung mit ihrem Bezugsnomen. Als sich eine kritische Masse
solcher Univerbierungen gebildet hat, leiten die Sprecherinnen und Sprecher
daraus ein neues Muster ab, dessen Wirken sichtbar wird, sobald unparadigmi-
sche Fugen auftreten. In Anbetracht der frühen und langanhaltenden Aufmerk-
samkeit, die dieser „uneigentlichen Komposition“ und den aus ihr entstande-
nen Fugenelementen in der Forschung zuteil wurde und noch immer wird, ist es
umso erstaunlicher, dass die Komposita bisher von in der diachronen Wortbil-
dungsforschung fest etablierten quantitativen Methoden völlig unbehelligt
geblieben sind: Zwar liegen umfassende Materialsammlungen und auch einzel-
ne korpusbasierte Untersuchungen vor, eine systematische Erhebung des Phä-
nomens in einem diachron ausgewogenen Korpus stand dagegen bisher aus.
Im Folgenden werden die wichtigsten Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit
thematisch zusammengeführt. Dabei werden zunächst die gegenwartssprachli-
chen Komposita und insbesondere ihr Verfugungsverhalten in Bezug auf Distri-
bution und Produktivität beschrieben (Kap. 15.1). Es folgt eine kurze Zusammen-
fassung der fnhd. Voraussetzungen (15.2) und damit einhergehend der methodi-
schen Haupterkenntnisse (Kap. 15.3). Schließlich wird der Wandelprozess chro-
nologisch beschrieben (Kap. 15.4) und in Sprachwandeltendenzen und -theo-
rien eingeordnet (Kap. 15.5).
https://doi.org/10.1515/9783110517682-015
394 | Fazit
verfugende Pluralkomposita
Komposita
es
er e
n s Umlaut
en (m, n) en (F)
(e)ns
Abb. 96: Verfugende Komposita vs. Erstgliedplural nach Fugenelement/Flexiv (vgl. auch Tab.
11, S. 71).
396 | Fazit
tionstyp sein. Dennoch verbleibt am Ende eine Gruppe aus drei verschiedenen
Strukturen, die als Brückenkonstruktionen zwischen Syntagma und komplexem
Wort stehen: 1. Konstruktionen ohne Determinierer oder Modifikator (in königs
schloss), 2. Konstruktionen mit Bezugsnomen im Genitiv (des königs schlosses),
3. Konstruktionen mit Determinierer oder Modifikator, die sich auf das zweite
Substantiv beziehen (das königs schloss, Rahmenkonstruktionen). An den Daten
des Mainzer Korpus ist schließlich ein klarer Wandel zu erkennen: Die Komposi-
ta nehmen zu, während die Brückenkonstruktionen deutlich zurückgehen. Die
Genitivkonstruktionen zeigen ebenfalls einen Rückgang.
weiterhin möglich sind. In der Folge deutet insbesondere die Schreibung darauf
hin, dass die verfugenden Komposita noch kein typischer Bestandteil des Wort-
bildungsinventars sind: 1620 treten erste Bindestriche bei ihnen auf, die um
1710 ihr Maximum erreichen. Die enge Beziehung zwischen verfugtem und un-
verfugtem Muster zeigt sich nun auch darin, dass unverfugte Komposita eben-
falls gehäuft mit Bindestrich erscheinen, aber nie das Niveau der verfugten
erreichen. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. klingt die Bindestrichschreibung
wieder ab, verfugende Erstglieder scheinen nun nicht mehr morphologisch auf-
fällig und damit markierungsbedürftig zu sein.
1710 sind außerdem erstmals weniger Brückenkonstruktionen als pränomi-
nale Genitivkonstruktionen belegt: Durch den Stellungswandel und die Aus-
breitung des Artikels sind vormals unklare Fälle nun eindeutig der Syntax oder
der Wortbildung zuzuordnen.
Syntax Komposition
Komposition:
Input Form
‒ Simplizia, ‒ N+N
‒ vereinzelt Komposita/ (in der Fuge
Ahd./
präfigierte Erstglieder teilweise vokalische
Mhd.
Reste stamm-
bildender Elemente)
vereinzelte Univerbierung
‒ N+x+N
‒ Infinitivkonversionen
Fnhd./ ‒ fremde Erstglieder mit
Nhd. charakteristischem
Wortausgang
‒ N+s+N
(unparadigmisch)
In Kap. 8.4 wird gezeigt, dass der Ausbreitung von Komposita nicht allein eine
Reanalyse pränominaler Strukturen zugrunde liegt, sondern dass mit dem so
entstandenen Wortbildungsmuster auch postnominale Genitivkonstruktionen
funktional ersetzt werden, ein klarer Wechsel ist zwischen dem 16. und 17. Jahr-
hundert erkennbar. Dabei wird jedoch deutlich, dass eine umfassende funktio-
nale Analyse z.B. ebenfalls relationale Adjektive erfassen müsste und dass auch
weitere Faktoren eine Rolle bei der Zunahme von Komposita spielen können.
Aufgrund der großen Menge teiläquivalenter Strukturen und der möglicher-
weise veränderten Kommunikationsbedürfnisse ist eine Korpusuntersuchung,
die alle möglichen Konstruktionen mit gleicher Kommunikationsabsicht einbe-
zieht, nicht leistbar. Es wird aber gezeigt, dass mit den hier erfassten Genitiv-
konstruktionen der größte Teil möglicher Ersetzungskontexte abgedeckt wird.
In Kap. 14.4 wird die Entstehung des neuen Kompositionstyps bzw. der Fu-
genelemente aus Perspektive der Komposita betrachtet. Es wird überprüft, ob
der verfugende Typ als Grammatikalisierung eines Wortbildungsmusters einge-
ordnet werden kann. Dabei zeigt sich im Übergang von der nicht-spezifischen
Genitivkonstruktion zum Kompositum weitgehende Konformität mit Lehmanns
(1995) Parametern – allerdings ist zu bedenken, dass das neue Muster nicht ei-
genständig ist, sondern den bereits bestehenden, alten Kompositionstyp erwei-
tert. Auch für die Fugenelemente an sich, insbesondere die s-Fuge, werden
Grammatikalisierung, aber auch Degrammatikalisierung und Exaptation getes-
tet. Die Anwendung der ersten beiden Konzepte ist problematisch, obwohl die s-
Fuge als fnhd. Kompositumsmarker temporär eine Art grammatische Funktion
hat. Zur Grammatikalisierung passt der Prozess aber nicht, weil die Entwicklung
von der Flexion in die Wortbildung geht. Mit der Degrammatikalisierung würde
diese Richtung konform gehen, allerdings gewinnt die s-Fuge dabei weder pa-
radigmatisch noch syntagmatisch an Gewicht. Sie ist im Wortinneren gefangen,
statt wie das Suffix in typischen Degrammatikalisierungsfällen morphologi-
scher Kopf eines Wortbildungsprodukts zu sein. Am sinnvollsten lässt sich die
Entstehung und temporäre Funktionalisierung der s-Fuge als Exaptation ein-
ordnen: Die Markierung von insbesondere komplexen Kompositumserstgliedern
als ungewöhnliche Bestandteile ist tatsächlich eine neue Funktion, die keinen
Bezug zum früheren Genitiv hat. Der Prozess wird allerdings nicht vollständig
durchgeführt, sondern abgebrochen, als die neuen Erstglieder zum Normalfall
geworden sind.
16 Anhang
16.1 Mainzer (F)Nhd.-Korpus: Zusammensetzung
Die folgende Auflistung der Texte des Mainzer Korpus erfolgt chronologisch auf-
steigend nach Zeitschnitten, innerhalb eines Zeitschnitts alphabetisch nach
Dialektraum und dann Textsorte. Unter „Quelle“ ist entweder die Textnr. des
Großschreibungskorpus als einfache Zahl oder die VD16/17/18-Sigle angegeben.
Die Zahl im Feld „ID“ wird genutzt, um gemeinsam mit der Jahreszahl auf
den entsprechenden Text zu verweisen, z.B. „(1; 1502)“.
1 1502 1500 NOBD Nürnberg KT Das puch der Himlischen offenbarung 9 NOBD-1500-
der heiligen wittiben Birgitte von dem KT-009
künigreich Sweden
3 1498 1500 OMD Leipzig KT Sermon des groß gelarten in gnaden 11 OMD-1500-
erlauchten doctoris Johannis Thauleri KT-011
predigerr ordens
4 1506 1500 OMD Leipzig ST Etliche der Stat lipsigk gesetz über der VD16 L OMD-1500-
Burger, burgerin, auch ander eynwoner 1016 ST-neu
tracht, Cleydung, Wirtschafft, und
anders
5 1505 1500 OOBD Wesso- KT Dis schöne buoch genant der seelen 3 OOBD-1500-
brunn Paradiß KT-003
6 1501 1500 OOBD München ST Das buch des heiligen römischen reichs 1 OOBD-1500-
vnnderhalltung ST-001
7 1508 1500 WMD Köln KT [Die Passie vn]ses heren Jesu christi mit 14 WMD-1500-
der Glosen der heylger Doctoren KT-014
8 1499 1500 WMD Köln ST Die Cronica van der hilliger Stat van 13 WMD-1500-
Coellen ST-013
9 1502 1500 WOBD Straßburg KT Der heiligen leben nüv mit vil me Heili- 5 WOBD-1500-
gen KT-005
10 1497 1500 WOBD Augsburg ST Ein regiment der jungen kinder 7 WOBD-1500-
https://doi.org/10.1515/9783110517682-016
404 | Anhang
ST-007
12 1528 1530 NOBD Nürnberg ST Hierinn sind begriffen vier bücher von 26 NOBD-1530-
menschlicher Proportion durch Albrech- ST-026
ten Dürer von Nürenberg erfunden
13 1532 1530 OMD Wittenberg KT Das fünffte, sechste und siebend Capitel VD16 L OMD-1530-
S. Matthei gepredigt und ausgelegt 4754 KT-neu
14 1530 1530 OMD Leipzig ST Artzney Buchlein/ wider allerlei VD16 A OMD-1530-
kranckeyten vnd gebrechen der tzeen 3876 ST-neu
15 1529 1530 OOBD Wien KT Doctor Johann Fabri Cristenliche ablai- 19 OOBD-1530-
nung KT-019
16 1533 1530 OOBD Regens- ST Ordnung vnd Regiment wider die er- 21 OOBD-1530-
burg schrocklichen kranckhait der Pestilentz ST-021
17 1531 1530 WMD Frankfurt KT Tröstung auß Götlicher Geschrifft An Die VD16 H WMD-1530-
am Main so in leibliche kranckeyt gefallen 5535 KT-neu
19 1527 1530 WOBD Basel KT Underrichtung von dem Widertauff von 24 WOBD-1530-
der Oberkeit vnd von dem Eyd KT-024
20 1528 1530 WOBD Straßburg ST Das kreuter buoch oder Herbarius 23 WOBD-1530-
ST-023
25 1559 1560 OOBD Regens- KT Spiegel. Des leidens vnd sterbens vnsers 40 OOBD-1560-
burg Herrn Jhesu Christi KT-040
Mainzer (F)Nhd.-Korpus: Zusammensetzung | 405
27 1556 1560 WMD Köln KT Vonn warer / wesenlicher / vnd plei- VD16 G WMD-1560-
beder Gegenwertigkeit des Leybs und 3413 KT-neu2
Bluots Christi
28 1566 1560 WMD Frankfurt ST Koch vnd Kellermeisterey/ von allen VD16 K WMD-1560-
am Main Speisen vnd Getrencken/ viel guter 2521 ST-neu
heimlicher Ku:enste
29 1557 1560 WOBD Augsburg KT Kurtzer vnd ein fältiger Bericht von des 43 WOBD-1560-
Herren Nachtmal KT-043
30 1562 1560 WOBD Straßburg ST Gründtliche vnd warhafftige weissagung VD16 S WOBD-1560-
vber das M.D.LXIII. LXIIII. LXV. vnnd LXVI. 6494 ST-neu2
Jar Allen Christen zu trewer warnung buß
vnd besserug
31 1590 1590 NOBD Coburg KT Predigt Darjnnen etliche stücke der 63 NOBD-1590-
falschen abschewlichen Bepstischen KT-063
Lehre
33 1590 1590 OMD Erfurt KT Sieben Christliche Predigten Auff dem 66 OMD-1590-
Reichstage zu Regenspurg gethan KT-066
35 1592 1590 OOBD Regens- KT Ein Christliche Predigt Auß dem Evange- 56 OOBD-1590-
burg lio des Sontags Laetare KT-056
37 1586 1590 WMD Frankfurt KT Gründliche Abfertigung des vnwarhaften VD16 S WMD-1590-
am Main kurzen Gegenberichts M. Cyr. Spangen- 7627 KT-neu
bergii
40 1592 1590 WOBD Straßburg ST Kurtze vnd Einf#[ae]ltige || Jedoch || VD16 T WOBD-1590-
Warhaffte/ Gründtliche || vnnd 2259 ST-neu2
Best#[ae]ndige Widerlegung/ der ||
vngereumpten/ vñ vnbefugt angemasten
erkl#[ae]runge
42 1618 1620 NOBD Würzburg ST Des Hochlöblichen Stiffts wirtz= burgs 82 NOBD-1620-
vnd hertzogthumbs zue Franckhen ST-082
44 1620 1620 OMD Leipzig ST Viel vnd längst gewündschter gründli- 84 OMD-1620-
cher warhafftiger Bericht Ob was woher ST-084
vnnd wiefern der Churfürstliche Sächsi-
sche Oberhofprediger
45 1623 1620 OOBD Regens- KT Leich SERMON Bey dem Begräbnuß Des 75 OOBD-1620-
burg Weyland WolEdlen vnd Gestrengen KT-075
Herren Johann Adambs Von EllrichsHau-
sen
47 1630 1620 WMD Frankfurt KT Leichpredigt Uber der Begräbnuß Wey- VD17 WMD-1620-
am Main land deß ... Hermann von Köteritzen/ 1:0312 KT-neu
gewesenen Fürstlichen Pfalt ..., 80K
48 1627 1620 WMD Frankfurt ST Zwey Rechtliche Bedencken Von der 88 WMD-1620-
am Main Succession vnd Erbfolge deß Königli- ST-088
chen Geschlechts vnd Stamms
51 1646 1650 NOBD Coburg KT ECCE HOMO! Das ist: Christliche 100 NOBD-1650-
Charfreytags= Predigt in welcher KT-100
52 1653 1650 NOBD Nürnberg ST Pro und Lob der Teutschen Wolredenheit 99 NOBD-1650-
ST-099
53 1651 1650 OMD Jena KT Hoch Edler Noth und Todtzucker dadurch VD17 OMD-1650-
All bitteres Schmecken und Grausames 3:6434 KT-neu2
Schrecken In Noth und Todt kan lieblich 28S
...
54 1648 1650 OMD Leipzig ST Der Hochdeutsche Schlüszel Zur 101 OMD-1650-
Schreibrichtigkeit oder Rechtschreibung ST-101
55 1647 1650 OOBD Ingolstadt KT MARIA Mater admirabilis, Das ist: Gründ- VD17 OOBD-1650-
licher Bericht 12:102 KT-neu
381U
57 1653 1650 WMD Köln KT Außführliche Widerhol= vnd Vermehrung 106 WMD-1650-
Der kuortzen Bedencken KT-106
61 1684 1680 NOBD Nürnberg KT Innigliche Christen-Freud, auch in Leid- VD17 NOBD-1680-
und Sterbens-Zeit, aus dem herrlichen 12:123 KT-neu
Lob-lied der hoch-gebenedeyeten Got- 726A
tes-gebärerin Maria
62 1678 1680 NOBD Nürnberg ST Nützliche Hauß- und Feld-Schule: Das VD17 NOBD-1680-
ist: Wie man ein Land-Feld-Guth und 39:127 ST-neu
309F
63 1685 1680 OMD Wittenberg KT Verlorenes und wiedergefundenes Kind VD17 OMD-1680-
Gottes 32:677 KT-neu
381Z
408 | Anhang
65 1680 1680 OOBD Wien KT Mercks Wienn Das ist Deß wütenden 110 OOBD-1680-
Todts ein vmbständige Beschreibung KT-110
66 1680 1680 OOBD Regens- ST Joh. Ludwig Praschens Gründliche 111 OOBD-1680-
burg Anzeige ST-111
67 1677 1680 WMD Frankfurt KT Jm Nahmen Jesu Ahasveri Fritschii 122 WMD-1680-
am Main KT-122
68 1683 1680 WMD Frankfurt ST Unvorgreiffliche Gedancken Von Ohnauf- VD17 WMD-1680-
am Main flößlicher Einigkeit der Ehe 12:644 ST-neu
677G
69 1683 1680 WOBD Straßburg KT BALTHASARIS BEBELII, Der H. Schrifft 113 WOBD-1680-
Dict. und Prof. KT-113
70 1679 1680 WOBD Basel ST ARISTOTELES PROBLEMATA, Oder gründ- 116 WOBD-1680-
liche Erörterung vnd Auflösung mancher- ST-116
ley zweifelhafftiger Fragen
71 1709 1710 NOBD Nürnberg KT Das rein-gestimmte Orgel-Werk unsers VD18 NOBD-1710-
Herzens/ Oder Christliche Einweihungs- 101359 KT-neu
Predigt eines neu-verfertigten Orgel- 36
Werkes
72 1710 1710 NOBD Nürnberg ST Schlesische Kern=Chronicke Oder Kurtze 135 NOBD-1710-
jedoch gründliche Geogra- ST-135
phisch=Historisch= und Politische
Nachricht von dem Hertzogthum Schle-
sien
73 1709 1710 OMD Leipzig KT Die Verklährung derer Christen in das 137 OMD-1710-
Bild Christi KT-137
74 1705 1710 OMD Leipzig ST Die zum Niedergang eilende Frantzösi- VD18 OMD-1710-
sche Sonne/ Jn einer ausführlichen 145482 ST-neu3
Nachricht dessen/ Was … 75-001
75 1715 1710 OOBD München KT Christliche Gedancken Auff Alle Tag des VD18 OOBD-1710-
Monats 122671 KT-neu
63
76 1708 1710 OOBD Regens- ST FRANCO-GERMANIA, Das ist: HIPPOPHILI 130 OOBD-1710-
Mainzer (F)Nhd.-Korpus: Zusammensetzung | 409
77 1714 1710 WMD Frankfurt KT Fürstlichen Lebens Lob als Des recht VD18 WMD-1710-
am Main Christlichen Tugend=Spiegels=Prob 152414 KT-neu2
59-001
79 1706 1710 WOBD Straßburg KT Abgenöthigter Bericht des Evang. Kir- VD18 WOBD-1710-
chen Convents in Straßburg von den 147879 KT-neu
Pietisten daselbst 62-001
80 1711 1710 WOBD Straßburg ST Fr. BASILII VALENTINI Benedictiner 133 WOBD-1710-
Ordens Von dem Grossen Stern der ST-133
Uhralten
410 | Anhang
Tab. 69: Anteil des (n)s-Genitivs an ausgewählten Klassenwechslern (erste Zahl: (n)s, zweite
Zahl: Genitivformen gesamt). Je dunkler die Zelle, desto größer der Anteil des (n)s-Genitivs.
||
322 2 s-Fuge.
323 22 s-Fuge.
324 1 s-Fuge, 1 subtraktive Fuge.
325 1 s-Fuge.
326 1 s-Fuge.
Ergänzende Datensätze | 411
Tab. 70: Vergleich flexionsloser und overt flektierter starker/gemischter Maskulina und Neutra
im Mainzer Korpus nach Dialektgebiet.
1530 7 1 4 4 3 12 5 36
1560 5 7 3 11 21 7 54
1590 1 6 9 2 12 4 1 14 49
1620 13 14 6 18 7 58
1650 6 10 7 11 9 43
1680 1 17 15 7 16 11 67
1710 3 12 13 1 9 6 44
Gesamt 2 61 30 90 10 67 1 92 3 61 390
A+V 6 1 1 2 1 8 19
ab 9 4 2 17 30 62
an 9 2 2 8 1 14 36
auf 4 2 1 3 13 23
aus 8 2 5 2 14 31
be 3 4 4 11
bei 1 1
durch 1 1 3 5
ein 5 3 1 5 1 20 35
ent 1 1 2
er 2 2
ge 2 1 3
gegen 1 1
hin 1 1
mit 1 1 2
nach 2 1 1 2 6
rück 1 2 5 8
über 1 3 4
um 3 3 1 1 6 14
unter 1 2 3
ver 2 2 3 13 20
vor 5 1 3 8 17
weg 1 2 3
zer 1 1 2
zu 1 1 2
1900–09 1990–99
Gebrauchsliteratur 34,6% 27,4%
Belletristik 17,1% 20,6%
Zeitung 23,3% 23,3%
Wissenschaft 23,6% 24,7%
1,0
alle Substantive nur Komposita
0,8
0,6
0,36
0,4 0,30
0,21 0,24
0,2 0,11
0,02 0,04 0,06
0,02
0,01
0,0
Mhd. 1350-1400 1450-1500 1550-1600 1650-1700
Abb. 98: Visualisierung der Daten von Solms (1999: 235): „Durchschnittliche Lexemvariation
(A) und Kompositumvariation (B) je Text (‚Variationsindex‘, max. Variation bei 1,0)“
Die Typ-Token-Ratio (Anzahl der Typen geteilt durch Anzahl der Tokens) steigt
im Untersuchungszeitraum zwar sowohl für alle Substantive zusammenge-
nommen als auch für Komposita an, allerdings bewegen sich die Werte der
Komposita dabei auf sehr niedrigem Niveau (vgl. Abb. 39, rechts). Das bedeutet,
dass eine vermutlich geringe Zahl von Komposita sehr häufig gebraucht wird.
Rechnet man die Werte auf durchschnittliche Vorkommen pro Beleg um, so
wird in Texten gleichen Umfangs ein mhd. Kompositum noch rund neunzigmal
verwendet, im 17. Jh. nur noch siebzehnmal, der Bestand an Komposita hat sich
also stärker ausdifferenziert. Im Gegensatz dazu werden Substantive generell
aber, ungeachtet ihres Wortbildungsstatus, anfangs im Schnitt neunmal ge-
braucht, gegen Ende sogar nur noch 2,75 Mal. Die Zahl verschiedener Substanti-
ve ist bei Solms (1999) also wesentlich höher als die verschiedener Komposita.327
||
327 Sie wäre noch höher, würden die Substantive in diese Gruppe nicht erneut einberechnet.
Leider liegen die Werte von Solms (1999) nur in zusammengefasster Form vor.
Ergänzende Datensätze | 415
Dabei ist zu unterscheiden zwischen Fällen wie 144, wo auch die adjazente
Struktur getrennt geschrieben ist (hauß gesind) und Fällen wie 145, wo sie zu-
sammengeschrieben wird (Kriegszeiten). Mit der Herausbildung der Zusammen-
schreibung wird auch die Markierung eines ausgelassenen Wortbestandteils
plausibler, allerdings sind im Korpus auch drei Fälle belegt, bei denen der Bin-
destrich trotz Getrenntschreibung auftritt:
||
328 Der Doppelpunkt dient darüber hinaus als Satz- sowie als Abkürzungszeichen (N: O:).
416 | Anhang
70
60
34 62 61
50
40
30
20 30
10
9
0
1620 1650 1680 1710
||
329 Es wurden alle Fälle überprüft, bei denen auf ein <=> oder <:> ein Leerzeichen oder ein
Kleinbuchstabe ohne Leerzeichen folgt (in der Annahme, dass koordinierende Elemente als
Funktionswörter i.d.R. kleingeschrieben sind).
Ergänzende Datensätze | 417
Die folgenden Erstglieder sind oder waren einmal mit s-Fuge belegt. Enthalten
sind alle s-verfugenden femininen Erstglieder aus dem Mainzer Korpus, Ger-
ManC, dem Mannheimer Zeitungskorpus, den Wortwartedaten und aus Kürsch-
ner (2003). Außerdem wurden alle einschlägigen Belege aus Canoo.net ausge-
wertet.330
‒ Verfugte Belege: Der Erstbeleg in den Korpora bezieht sich auf das Mainzer
Korpus und GerManC. Die frühsten Belege aus anderen Quellen wurden un-
systematisch ermittelt, sie stammen aus der Literatur (z.B. Kehrein 1854–
1856, Pavlov 1983, s. S. 308ff), dem Bonner Fnhd.-Korpus oder Grimm &
Grimm (1854–1961). Die Jahreszahl ist also nur als terminus a quo zu verste-
hen. Gibt es keine Belege vor den frühsten Korpusbelegen, so bleibt das
Feld frei. Die Angaben der Spalte „im Nhd.“ sind, wenn nicht anders ange-
geben, der Canoo.net-Liste entnommen. Ist hier „nein“ angegeben, so ver-
fugt die Form in keiner Quelle. Ein „ja“ sagt nichts darüber aus, ob immer
oder schwankend verfugt wird. Sind Simplex und komplexe Formen ge-
meinsam angegeben (z.B. Macht, -macht), kann die Verfugungsangabe ge-
trennt erfolgen.
‒ Genus: Für das Fnhd. wurde primär Wegera (1987) verwendet (beinhaltet
sowohl eigene Korpusbelege als auch eine gründliche Auswertung der Lite-
ratur), für das Mhd. Lexer (1872–1878).
||
330 Aus der Liste blieben unberücksichtigt: Längs- (Längsschnitt etc.), weil hier wahrschein-
lich das Adverb zugrunde liegt, und die stark lexikalisierten Einzelfälle Walpurgisnacht (hier
liegt die lat. Kasusendung -is vor), Hardesvogt (von Harde, skandinavischer Verwaltungsbe-
zirk) sowie Pampashase, -gras (neben Pampagras), hier dürfte der spanische s-Plural enthalten
sein (engl. pampas grass, span. hierba de las Pampas), bei Breecheshose und Pommes handelt
es sich ebenfalls um (ehemalige) Fremdplurale.
Ergänzende Datensätze | 419
16.2.8.1 Suffixe
belegt.
in den Korpora anderswo (frühster im Nhd.? Mhd. Fnhd. Quellen für fnhd.
||
(frühster Beleg) Beleg) Genusschwankung
331 Im Fnhd. sind auch die heutigen Maskulina Verdacht, Bedacht als Schwankungsfälle
unparadigmische s-Verfugung Genus
.332
in den Korpora anderswo (frühster im Nhd.? Mhd. Fnhd. Quellen für fnhd.
||
(frühster Beleg) Beleg) Genusschwankung
332 Darauf verweist nur ein einziger Beleg: „alle Kinder/ so vnder sechtzehen/ vnd respective
zwentzig Jahren seind/ Ehrlichen vnd Vnehrlichen Geburts/ vnnd die jhre Elteren noch im
leben haben/ in die diversa Alba verzeichnet“ (DTA: Obrecht, Georg: Fünff Vnderschiedliche
unparadigmische s-Verfugung Genus
in den Korpora anderswo (frühster im Nhd.? Mhd. Fnhd. Quellen für fnhd.
(frühster Beleg) Beleg) Genusschwankung
(Kehrein 1854–
1856: 259)
(Kehrein 1854–1856),
.333334335 336
„Lust“)
275)
f, m/n
Fnhd.
mn335
f, m
f, m
f, n
f,
f
f(, m)336 f
f
Genus
f, n334
Mhd.
f, m
f, m
f333
f
f
Nhd.?
nein,
nein,
nein
nein
nein
im
ja
ja
ja
ja
ja
ja
1682 (DTA, Lustshal-
1775 (DTA, Ankunft)
[keine früheren
1729 (DTA)
unparadigmische s-Verfugung
Belege]
Beleg)
1471
1457
1543
1571
pfeil)
ber)
(frühster Beleg)
in den Korpora
1650–1700
1905
1650
1680
NA
NA
NA
NA
NA
-nacht (fast, mitter, weih
-macht (ohn, voll, wehr)
miet(e)
macht,
lieb(e)
nacht,
nadel
lust,
luft,
||
333 Hier wird in der Literatur häufig ein Bezug zum mhd. Neutrum liep geschaffen, vgl. „Viel-
leicht können diese Beispiele auf das mhd. neutrale liep zurückgeführt werden, wie mhd. liebes
wân, liebes muot“ (Kehrein 1854–1856: 259) und Köbler (2014): „liob* (2) 43, ahd., st. N. (a):
nhd. Liebe, Glück, Heil, Angenehmes, Freude“.
334 Neutrum ist im Mhd. nur für armuot belegt.
335 Anmut ist im Fnhd. nur als Femininum belegt, Armut auch als Neutrum, Demut auch als
Maskulinum.
336 Lexer (1872–1878): „nachweislich ist nur der nom. (?) u. gen.; der letztere scheint nach
analogie von tages (zunächst in der verbind. tages unde nahtes) sich gebildet zu haben u. dann
auch in den nom. vorgedrungen zu sein […]“
unparadigmische s-Verfugung Genus .
in den Korpora anderswo (frühster im Nhd.? Mhd. Fnhd. Quellen für fnhd.
(frühster Beleg) Beleg) Genusschwankung
-nahm(e) (auf, aus) NA 1648 (DTA, Einnahme) ja, f, m f, m (Grimm & Grimm
424 | Anhang
||
.337 338
-sicht (ab, an, auf, aus, 1905 1695 (DTA, Vorsicht) ja f f, n (Grimm & Grimm
über, vor) 1854–1961: Lemma
„Sicht“)
sipp(e) NA Mitte 16. Jh. nein f(, m) f(, m)338 (Grimm & Grimm
1854–1961: Lemma
„Sippe“)
-tracht (ein, zwie) NA 1652 (DTA, Eintracht) ja (DWDS) f f, m (Wegera 1987: 274)
ron unserm zug); er braucht squadron als m., z. b. 13: den ersten squadron oder flügel.“
tung ‚Verwandter‘. Das in Kap. 12.2.1 angeführte Sippsfreund ist leicht hierauf beziehbar.
Ergänzende Datensätze | 425
337 Grimm & Grimm (1854–1961): „A. Troupitzen kriegskunst (1638) theilt die schwedische
338 Grimm & Grimm (1854–1961) führen neben fem. Sippe auch eine mask. Form in der Bedeu-
compagnie (fusztruppen) in drei squadronen ein (zu corporalschafften, also entspricht squad-
unparadigmische s-Verfugung Genus
in den Korpora anderswo (frühster im Nhd.? Mhd. Fnhd. Quellen für fnhd.
(frühster Beleg) Beleg) Genusschwankung
Fett markierte Lexeme sind für zwei Genera verzeichnet. Recherche vom
3.2.2016.
16.2.9.1 -nis
Feminina: Bedrängnis, Befugnis, Beklemmnis, Bekümmernis, Beschwernis,
Besorgnis, Betrübnis, Empfängnis, Erkenntnis, Erlaubnis, Erschwernis, Er-
sparnis, Fahrnis, Gebührnis, Gefrornis, Kenntnis, Kümmernis, Säumnis,
Verdammnis, Verderbnis
Neutra: Ärgernis, Bedürfnis, Begebnis, Begräbnis, Behältnis, Bekenntnis, Be-
säufnis, Beschwernis, Betreffnis, Bildnis, Bündnis, Ereignis, Erfordernis,
Ergebnis, Erkenntnis, Erlebnis, Erträgnis, Erzeugnis, Gelöbnis, Geschehnis,
Gleichnis, Hemmnis, Hindernis, Säumnis, Schrecknis, Verhältnis, Ver-
hängnis, Verkommnis, Verlöbnis, Versäumnis, Verzeichnis, Wagnis, Zer-
würfnis, Zeugnis
16.2.9.2 -sal
Feminina: Drangsal, Mühsal, Saumsal, Trübsal, Wirrsal
Neutra: Irrsal, Labsal, Rinnsal, Saumsal, Scheusal, Schicksal, Wirrsal
16.2.9.3 -tum
Neutra
Adjektivische Basis: Deutschtum, Eigentum, Heiligtum, Siechtum, Weis-
tum
Nominale Basis: Abenteuertum, Abenteurertum, Abweichlertum, Alter-
tum, Anachoretentum, Analphabetentum, Arzttum, Ästhetentum, Auf-
siedlertum, Aussenseitertum, Banausentum, Bauerntum, Beamtentum,
Berufsbeamtentum, Besitzbürgertum, Besitztum, Bonzentum, Brauch-
tum, Brigantentum, Bummelantentum, Bürgertum, Christentum, Dan-
dytum, Denunziantentum, Dichtertum, Dilettantentum, Draufgänger-
tum, Duckmäusertum, Duodezfürstentum, Einzelgängertum, Emigran-
tentum, Epigonentum, Erbtum, Erzherzogtum, Flagellantentum, Frau-
entum, Freidenkertum, Fürstentum, Gammlertum, Gangstertum, Gau-
nertum, Gelehrtentum, Germanentum, Gottesgnadentum, Götzentum,
Griechentum, Grossbürgertum, Grossherzogtum, Heidenchristentum,
Heidentum, Heldentum, Hellenentum, Helotentum, Heroentum, Hero-
stratentum, Herrentum, Herrschertum, Herzogtum, Ignorantentum, Int-
428 | Anhang
100%
7 2 6
2 3 4
80% 3 2
12 11
60%
40% 54 15 33 0
6 10 16
7 4
16 13
20% s
0%
1960-1969
1900-1909
1910-1919
1920-1929
1930-1939
1940-1949
1950-1959
1970-1979
1980-1989
1990-1999
Abb. 100: Miet(s)haus im DWDS-Kernkorpus (31.8.2015).
100%
80% 46 42
11 18 42
60% 36
43 74 55 31
40% 0
87 74
10 18 s
20% 33
12
5 8 7 3
0%
1900-1909
1910-1919
1920-1929
1930-1939
1950-1959
1960-1969
1980-1989
1990-1999
1940-1949
1970-1979
||
339 Die Verfugung könnte eine spätere Angleichung an das Flexionsparadigma darstellen und
damit eine uneigenständige Entwicklung sein (des schade-n > des schaden-s), außerdem könn-
te das Rektionsverhältnis die Ausbreitung der Fuge hindern (den Schaden ersetzen, vgl. Kap.
430 | Anhang
100%
6 1 17
2 7
80% 4 4 13
60%
2 3
30 8 97 0
40%
4 17
7 6 19 s
20%
0%
1790-1799
1800-1809
1820-1829
1830-1839
1840-1849
1850-1859
1860-1869
1870-1879
1880-1889
1890-1899
Bei Arbeit(s)loser treten im 20. Jh. nur sieben unverfugte Fälle auf, die s-Fuge ist
also fest. Dass fünf der Nullfugen in den ersten beiden Jahrzehnten des Jh. lie-
gen, deutet zwar auf einen Übergang hin, allerdings höchstens auf sein Ende.341
||
8.2.3.2). Als repräsentativ für s-verfugende Komposita kann Schaden(s)ersatz damit nicht
gelten.
340 Zimmermann, Hartmut (Hg.), DDR-Handbuch, Köln: Verlag Wissenschaft u. Politik 1985:
13 Nullfugen, 11 s-Fugen.
341 Da es sich um syntaktische Konversion eines Adjektivs handelt (vgl. auch Kap. 11.1.3), ist
das Verfugungsverhalten von Arbeit(s)loser ebenfalls von zusätzlichen Faktoren beeinflusst,
die bei der normalen NN-Komposition keine Rolle spielen.
Ergänzende Datensätze | 431
2 3 1 1
100%
80%
60%
58 61 116 616 74 174 82 113 311 249
40%
20%
0%
1900-1909
1950-1959
1960-1969
1910-1919
1920-1929
1930-1939
1940-1949
1970-1979
1980-1989
1990-1999
Abb. 103: Arbeit(s)loser im DWDS-Kernkorpus (31.8.2015).
100%
19 24 69 10 26 32 14 27 13 12 23 13 16 8 6 4
80%
34 26 21
54 16
31 30 17 6 7
60%
18
21 30 40
73
40% 48
20%
81 57 63 12 26 16 76 39 56 36 51 16 35 39 14 18
0%
Brücke
Brücke
Brücke
Brücke
Brücke
Brücke
Brücke
Brücke
Genitiv
Genitiv
Genitiv
Genitiv
Genitiv
Genitiv
Genitiv
Genitiv
0 (e)n (e)s
Abb. 104: Verfugungs- oder Flexivanteile von Brückenkonstruktionen und Flexivanteile von
eindeutigen pränominalen Genitiven im Mainzer Korpus (n=1.423).
432 | Anhang
100%
80%
60%
40%
20%
0%
1500 1560 1650 1710 1500 1560 1650 1710
OBD MD
Kompositum - Kompositum 2 1 4 4 6 3
Brücke - Kompositum 1 1 11 2 3
Genitiv - Brücke 3 1 1 1 2 1
Genitiv - Genitiv 14 9 9 14 1 1
Genitiv - Kompositum 11 12 9 11 3 7 8
100%
80%
60%
40%
20%
0%
KT ST KT ST
OBD MD
Kompositum - Kompositum 1 2 3 14
Brücke - Kompositum 1 1 16
Genitiv - Brücke 2 3 3 1
Genitiv - Genitiv 36 10 2
Genitiv - Kompositum 16 27 9 9
Tab. 74: Suffigierung und Verfugung bei Haupt-, Neben- und Nichtbetonbarkeit im Nhd. 342
||
342 Werner (2016: 287) verweist auf eine diachrone Abnahme der s-Fuge bei er-Derivaten im
Zwirner-Korpus, allerdings spricht Werner von einer „dialektale[n] bzw. regionale[n] Form“,
was befürchten lässt, dass nicht berücksichtigt wurde, dass das Fugenelement fast nur dann
auftritt, wenn eine verwandtschaftliche Beziehung zum Zweitglied besteht (vgl. z.B. Becker
1992: 11).
434 | Anhang
-är
Funktionär-s-typ/
Militär-∅-maschine
-an
Dekan-s-gehalt/
Veteran-en-kumpel (SW.M)/
Roman-∅-figur
-ör/-eur
Ingenieur-s-kunst/
Friseur-∅-kittel
-ell
Rondell-∅-bogen
Pedell-s-tochter*
-ent [ɛnt]
Advent-s-kranz/
Talent-∅-förderung/
Autor-en-vertrag
-ett
Kabinett-s-tisch/
Kadett-en-schule (SW.M)/
Lazarett-∅-aufenthalt (GEM/ST.MN)
-ier343 [iːɐ̯ ]
Kavalier-(s)-tuch
-ier344 [jeː]
Portier-s-gehalt/
Brevier-∅-gebet
-il
Krokodil-s-tränen/
Reptil-ien-art/
Exil-∅-literatur
-it
Bandit-en-streich (SW.M)/
Appetit-(s)-happen
||
343 Kavalier, Quartier.
344 Bankier, Portier; Brevier.
Ergänzende Datensätze | 435
100%
80%
60%
40%
20%
0%
betont unbetont betont unbetont
Tokens Types
0 207682 74383 7135 3240
s 116821 421504 4190 14759
Abb. 107: Verfugungsanteil von Typen (s-Verfugung betont: 37%, unbetont: 82%, n= 29.324)
und Tokens (s-Verfugung betont: 36%, unbetont: 85%, n= 820.390) bei 40 Erstgliedern im W-
Archiv des DeReKo (Nübling & Szczepaniak 2008: 19).
||
345 Aber: Skorpion-s-weibchen, -fliege, möglicherweise in Analogie zu ion-Derivaten. Die in
der Tabelle angeführten Beispiele entstammen verschiedenen Flexionsparadigmen (Balkone,
aber Prionen), Null- und en-Fuge variieren nicht frei.
346 Einzelne Wörter können auch finalbetont sein, z.B. Physik, Musik, sie verfugen ebenfalls
nicht.
347 Aber: Abonnement-s-konzerte.
436 | Anhang
Für die Replikation wurden alle Komposita mit den folgenden, auch von Nüb-
ling & Szczepaniak abgefragten Erstgliedern ermittelt:348
‒ unbetontes Präfix: Bedarf, Befehl, Bestand, Bezirk, Entscheid, Entwurf, Ent-
zug, Zerfall, Geburt, Geduld, Gelenk, Gesang, Verbund, Verdeck, Verfall,
Verkauf
||
348 Aus verschiedenen Gründen, auf die Klein (2015: 7–8) hinweist, wurden dagegen die fol-
genden Erstglieder der Originalstudie zwar mit abgefragt, aber nicht in die vorgestellten Ergeb-
nisse aufgenommen:
‒ Geflügel – strukturell stark abweichend von den anderen Erstgliedern (zweisilbig auf
Pseudosuffix)
‒ Aufsehen, Entsetzen, Verbrechen, Bedenken – zweisilbig, Infinitivkonversionen
‒ Überleben – zweisilbig, Infinitivkonversion, außerdem wurde es in der Originalstudie als
betontes Präfix betrachtet, der Hauptakzent liegt aber auf leben
‒ Übermaß – lautet auf -s aus und kann daher nie eine s-Fuge nehmen (auch Umtausch
senkt aufgrund des sibilantischen Auslauts die s-Verfugungsrate der präfixbetonten
Gruppe, wurde aber belassen, weil eine s-Fuge zumindest theoretisch möglich wäre)
‒ Entgelt – weist kein eindeutiges Betonungsmuster auf (in der Originalstudie wurde es als
unbetont gewertet)
Typen Tokens
∅ s ∅ s
Aufsehen 0 0 0 0
Bedenken 11 0 191 0
Entgelt 45 0 96 0
Entsetzen 3 0 6 0
Übermaß 0 0 0 0
Verbrechen 1 69 1 169
Ergänzende Datensätze | 437
Typen Tokens
s ∅ s ∅
-bund Geheimbund 3 4
-fang Fischfang 14 26
-gang Gehörgang 1 1
Lehrgang 12 17
Spaziergang 13 22
-land Bergland 3 7
Flachland 13 21
Gastland 3 3
Hochland 3 38 3 53
||
349 Die folgenden Erstglieder waren im ZEIT-Korpus nicht belegt: Aktienkauf, Autokauf, Bil-
dungsgang, Blindenschrift, Fußtritt, Klarsicht, Längenmaß, Maschinenschrift, Menschenleben,
Messestand, Mindestmaß, Reisezug, Speerwurf, Sportbund, Traumwelt, Versmaß, Völkerbund,
Walfang, Weitsicht.
438 | Anhang
Typen Tokens
s ∅ s ∅
-leben Stillleben 1 1
-recht Asylrecht 4 9
Baurecht 3 3
Bürgerrecht 73 446
-schrift Lastschrift 6 26
-sicht Fernsicht 1 1
-tritt Hahntritt 1 3
-welt Finanzwelt 1 1
Halbwelt 6 6
Zauberwelt 1 1
-wurf Maulwurf 18 6 28 6
-zucht Tierzucht 2 2
Viehzucht 6 8
-zug Kreuzzug 25 3 32 3
Nachtzug 1 11 1 17
100%
80%
60%
40%
20%
0%
ab an um ab an um ab an um ab an um ab an um ab an um ab an um ab an um ab an um
bau bruch druck gang lauf schlag stand trieb zug
0 45 68 15 43 5 10 10 36 18 16 29 22 21 12 24 90 83 16 2 1 1 31 29 14 45
s 2 22 3 32 24 15 13 27 2 15 13 10 33 64 21 33 61 22 61 57 21 21 61
Abb. 108: Verfugungsverhalten ausgewählter Basen in DeReKo-Quellen aus dem W-Archiv mit
den Jahreszahlen 2009 bis 2014, Tokens (n=89.012).
Das Korpus wurde auf alle Quellen der Jahre 2009 bis 2014 erweitert, da das
ZEIT-Korpus insgesamt zu geringe Zahlen lieferte. Wie die Verhältnisse zeigen,
verfugt Umbruch- häufiger als Ab- und Anbruch-, dafür Umschlag- seltener.
Zwischen Ab- und An- zeigen sich aber auch Schwankungen (Abzug-/Anzug-).
Vergleicht man mit den Typen, so zeigen sich keine Unterschiede zu den Token-
Tendenzen.
440 | Anhang
dacht fall griff halt rat ruf schrei sicht stalt stand trieb walt wand zug ges.
unbetont
betont
an 289 163 1193 267 141 641 315 689 818 382 4898
in 636 636
miss 0 21 21
um 2 91 21 952 1066
un 1374 72 1446
ges. 635 6152 3228 1513 880 4220 6 2759 924 4022 5212 2473 590 4556 37170
Ergänzende Datensätze | 441
16.2.15 es-Fuge
16.2.16 NA-Komposita
45
40
35
30
25
20
15
10
5
0
1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710
Erstbelege 2 10 9 20 11 41 32 30
Hapax legomena 0 3 3 14 7 30 25 25
Abb. 109: Erstbelege (155) und Hapax legomena (107) von NA-Komposita im Mainzer Korpus.
Literatur- und Quellenverzeichnis
https://doi.org/10.1515/9783110517682-017
444 | Literatur- und Quellenverzeichnis
Kirchen anhangenden sachen und verrichtungen hinfurt ... gehalten werden sol. Wolfen-
büttel, 1569.
cc DTA: Melander, Otto: [Jocoseria] Das ander theil dieses Schimpff vnd Ernsts. Bd. 2. Lich,
1605.
dd DTA: Fleming, Paul: Teütsche Poemata. Lübeck, [1642].
ee DTA: Dannhauer, Johann Conrad: Catechismus-Milch. Bd. 6. Straßburg, 1657.
ff DTA: Schönberg, Abraham von: Ausführliche Berg-Information, Zur dienlichen Nachricht
vor Alle, Die Bey dem Berg- und Schmeltzwesen zu schaffen. Leipzig u. a., 1693.
gg DTA: Sturm, Johann Christoph: Des Unvergleichlichen Archjmedjs Kunst-Bücher. Nürn-
berg, 1670.
hh DTA: Gruber, Johann Sebastian: Examen Fortificatorium oder Gründlicher Unterricht von
der Theoria und Praxi Der heutigen Kriegs-Bau-Kunst. Leipzig, 1703.
ii DTA: Dannhauer, Johann Conrad: Catechismus Milch. Bd. 5. Straßburg, 1654.
jj DTA: Dannhauer, Johann Conrad: Catechismvs-Milch. Bd. 8. Straßburg, 1666.
kk DTA: Zesen, Philipp von: Assenat. Amsterdam, 1670.
ll DTA: Bucholtz, Andreas Heinrich: Des Christlichen Teutschen Groß-Fürsten Herkules Und
der Böhmischen Königlichen Fräulein Valjska Wunder-Geschichte. Bd. 1. Braunschweig,
1659.
mm DTA: Bucholtz, Andreas Heinrich: Des Christlich: Teutschen Königes Herkules und der
Teutschen Königin Valiska Wunder-Geschicht. Bd. 2. Braunschweig, 1660.
nn DTA: Harsdörffer, Georg Philipp: Poetischer Trichter. Bd. 3. Nürnberg, 1653.
oo DTA: Dannhauer, Johann Conrad: Catechismus-Milch. Bd. 9. Straßburg, 1672.
pp DTA: Francisci, Erasmus: Das eröffnete Lust-Haus Der Ober- und Nieder-Welt. Nürnberg,
1676.
qq DTA: Fleming, Hans Friedrich von: Der Vollkommene Teutsche Jäger. Bd. 1. Leipzig, 1719.
rr DTA: Kentz, Paul: Güldener Handwercksboden. Leipzig, 1629.
ss DTA: Micraelius, Johann: Ander Buch Deß Alten Wendischen Pommerlandes. Bd. 2. Stettin,
1639.
tt DTA: Olearius, Adam: Offt begehrte Beschreibung Der Newen Orientalischen Rejse.
Schleswig, 1647.
uu DTA: [N. N.]: Friedens-Schluß/ So von der Römischen Käyserlichen/ Und Aller-Christl.
Königl. May. May. Frankfurt (Main), 1648.
vv DTA: Wartmann, Sigismund Friedrich: Germaniae Pertvrbatae et Restavratae sive
Vnpartheyischer wolmeynender Theologo-Politicorum Discvrsvm Ander vnd dritter Theil.
Frankfurt (Main), 1650.
ww DTA: Olearius, Johann: Drei Predigten vom Unterscheid der wahren Christlichen Lutheri-
schen und falschen Papistischen auch Calvinischen Religion. [s. l.], 1591.
xx DTA: Hammer, Martin: Monumentum Crucis & Salutis. Leipzig, 1615.
yy DTA: Gottfried, Johann Ludwig: Newe Welt Vnd Americanische Historien. Frankfurt (Main),
1631.
zz DTA: Dannhauer, Johann Conrad: Catechismus Milch. Bd. 4. Straßburg, 1653.
aaa DTA: Dannhauer, Johann Conrad: Catechismus Milch. Bd. 10. Straßburg, 1673.
bbb DTA: Paul, Jean: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795.
ccc DTA: Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin,
1810.
ddd DTA: Pinter von der Au, Johann Christoph: Neuer, vollkommener, verbesserter und ergänz-
ter Pferd-Schatz. Frankfurt (Main), 1688.
Literatur- und Quellenverzeichnis | 445
Korpora
Literatur
Bergmann, Rolf. 1980. Verregnete Feriengefahr und Deutsche Sprachwissenschaft. Zum Ver-
hältnis von Substantivkompositum und Adjektivattribut. Sprachwissenschaft 5. 234–265.
Bergmann, Rolf & Dieter Nerius. 1998. Die Entwicklung der Großschreibung im Deutschen von
1500 bis 1700. Heidelberg: Winter.
Blank, Andreas. 2007. Pathways of lexicalization. In Martin Haspelmath et al. (Hgg.), Language
Typology and Language Universals (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswis-
senschaft / Handbooks of Linguistics and Communication Science 20/2), 1596–1608. Ber-
lin: de Gruyter.
Bödiker, Johannes. 1701. Neu vermehrte Grundsätze der deutschen Sprachen im Reden und
Schreiben. Berlin.
Booij, Geert. 2000. Inflection and derivation. In Geert E. Booij et al. (Hgg.), Morphologie
(Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft / Handbooks of Linguistics
and Communication Science 17/1), 360–369. Berlin: de Gruyter.
Borgwaldt, Susanne R. 2013. Fugenelemente und Bindestriche in neugebildeten NN-
Komposita. In Martin Neef & Carmen Scherer (Hgg.), Die Schnittstelle von Morphologie
und geschriebener Sprache (551), 103–134. Berlin: de Gruyter.
Bornschein, Matthias & Matthias Butt. 1987. Zum Status des s-Plurals im gegenwärtigen
Deutsch. In Werner Abraham & Ritva Århammar (Hgg.), Linguistik in Deutschland. Akten
des 21. Linguistischen Kolloquiums in Groningen, 135–153. Tübingen: Niemeyer.
Brandstetter, Renward. 1904. Der Genitiv der Luzerner Mundart in Gegenwart und Vergangen-
heit. Zürich: Zürcher & Furrer.
Braune, Wilhelm. 2004. Althochdeutsche Grammatik I: Laut- und Formenlehre. Bearbeitet von
Ingo Reiffenstein (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte), 15. Aufl. Tübin-
gen: Niemeyer.
Braunmüller, Kurt. 1982. Syntaxtypologische Studien zum Germanischen (Tübinger Beiträge
zur Linguistik 197). Tübingen: Narr.
Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion des Deutschen: Ein kompositionelles System zur Onli-
ne-Steuerung des Lesens (Linguistische Arbeiten 522). Tübingen: Niemeyer.
Briegleb, Otto. 1935. Das verfemte Zwischen-S der Wortzusammensetzung. Leipzig: Brandstet-
ter.
Buchmann, Franziska. 2015. Die Wortzeichen im Deutschen (Germanistische Bibliothek v.56).
Heidelberg: Winter.
Bücker, Jörg. 2017. Komplexität diachron. Zur Entstehung der Zirkumpositionen im Alt- und
Mittelhochdeutschen. In Mathilde Hennig (Hg.), Linguistische Komplexität - ein Phantom?
(Stauffenburg Linguistik Band 94), 197–221. Tübingen: Stauffenburg.
Busch, Albert & Oliver Stenschke. 2007. Germanistische Linguistik: Eine Einführung (bachelor-
wissen). Tübingen: Narr.
Bybee, Joan. 1994. Morphological universals and change. In Ronald E. Asher & J. M. Y. Simpson
(Hgg.), The encyclopedia of language and linguistics, 2557–2562. Oxford: Pergamon
Press.
Carr, Charles T. 1933. The Position of the Genitive in German. The Modern Language Review
28(4). 465–479.
Carr, Charles T. 1939. Nominal compounds in Germanic. London: Oxford University Press.
Carstairs, Andrew. 1986. Macroclasses and paradigm economy in German nouns. Zeitschrift für
Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 39. 3–11.
Chomsky, Noam & Morris Halle. 1968. The sound pattern of English. Cambridge, Mass: MIT
Press.
448 | Literatur- und Quellenverzeichnis
Clahsen, Harald. 1999. Lexical entries and rules of language: A multidisciplinary study of
German inflection. Behavioral and Brain Sciences 22. 991–1060.
Clahsen, Harald, Gary Marcus, Susanne Bartke & Richard Wiese. 1996. Compounding and
inflection in German child language. In Geert Booij & Jaap van Marle (Hgg.), Yearbook of
Morphology 1995, 115–142. Dordrecht: Springer Netherlands.
Coulmas, Florian. 1988. Wörter, Komposita und anaphorische Inseln. Folia Linguistica 22. 315–
336.
Demske, Ulrike. 1996. Bestandsaufnahme zum Untersuchungsbereich "Syntax". In Gerd Fritz &
Erich Straßner (Hgg.), Die Sprache der ersten deutschen Wochenzeitungen im 17. Jahrhun-
dert, 70–125. Tübingen: Niemeyer.
Demske, Ulrike. 1999. Case Compounds in the history of German. In Matthias Butt & Nanna
Fuhrhop (Hgg.), Variation und Stabilität in der Wortstruktur. Untersuchungen zur Entwick-
lung, Erwerb und Varietäten des Deutschen und anderer Sprachen, 150–176. Hildesheim:
Olms.
Demske, Ulrike. 2001. Merkmale und Relationen. Diachrone Studien zur Nominalphrase des
Deutschen. Berlin, New York: de Gruyter.
Diel, Marcel, Bernhard Fisseni, Winfried Lenders & Hans-Christian Schmitz. 2002. XML-
Kodierung des Bonner Frühneuhochdeutschkorpus (IKP Working Papers, New Series 2).
Dittmann, Jürgen & Christine Zitzke. 2000. Zur Schreibung fremdsprachlicher Komposita im
Wirtschaftsdeutsch. Sprachgebrauch und neue Regelung. Zeitschrift für angewandte Lin-
guistik 33. 69–90.
Donalies, Elke. 2012. Fugenelement. In Institut für Deutsche Sprache (Hg.), grammis 2.0. das
grammatische informationssystem des ids. Systematische Grammatik.
Donalies, Elke & Noah Bubenhofer. 2011. Tagtraum, Tageslicht, Tagedieb: Ein korpuslinguisti-
sches Experiment zu variierenden Wortformen und Fugenelementen in zusammengesetz-
ten Substantiven (Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 42). Mannheim:
Institut für Dt. Sprache.
Dressler, Wolfgang U., Gary Libben, Jacqueline Stark, Pons Christiane & Gonia Jarema. 2001.
The Processing of Interfixed German Compounds. In Geert Booij & Jaap van Marle (Hgg.),
Yearbook of Morphology 2000, 185–220. Amsterdam: Springer Netherlands.
Durrell, Martin. 1990. German Noun Inflexions. Synchrony and Diachrony. German Life and
Letters 43. 113–124.
Durrell, Martin, Astrid Ensslin & Paul Bennett. 2007. The GerManC project. Sprache und Daten-
verarbeitung 31. 71–80.
Ebert, Robert P. 1988. Variation in the Position of the Attributive Genitive in Sixteenth Century
German. Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 80(1). 32–
49.
Ebert, Robert P. 1993. Syntax. In Oskar Reichmann & Klaus-Peter Wegera (Hgg.), Frühneuhoch-
deutsche Grammatik, 313–484. Tübingen: Niemeyer.
Eichinger, Ludwig M. 2000. Deutsche Wortbildung: Eine Einführung (Narr-Studienbücher).
Tübingen: Narr.
Eisenberg, Peter. 2002. Struktur und Akzent komplexer Komposita. In David Restle, Dietmar
Zaefferer & Theo Vennemann (Hgg.), Sounds and systems: Studies in structure and chan-
ge. A festschrift for Theo Vennemann (Trends in linguistics. Studies and monographs 141),
349–366. Berlin, New York: de Gruyter.
Eisenberg, Peter. 2004. Grundriss der deutschen Grammatik. Der Satz. Stuttgart, Weimar:
Metzler.
Literatur- und Quellenverzeichnis | 449
Eisenberg, Peter. 2006. Grundriss der deutschen Grammatik. Das Wort, 3. Aufl. Stuttgart,
Weimar: Metzler.
Eisenberg, Peter (Hg.). 2007. Duden - Richtiges und gutes Deutsch: Wörterbuch der sprachli-
chen Zweifelsfälle (Der Duden in zwölf Bänden 9), 6. Aufl. Mannheim [u.a.]: Duden.
Eisenberg, Peter. 2012. Das Fremdwort im Deutschen (de Gruyter Studium), 2. Aufl. Berlin: de
Gruyter.
Eisenberg, Peter. 2013. Anglizismen im Deutschen. In Deutsche Akademie für Sprache und
Dichtung Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften (Hg.), Reichtum und Armut
der deutschen Sprache: Erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache, 57–119. Berlin: de
Gruyter.
Eisenberg, Peter & Ulrike Sayatz. 2004. Left of Number. Animacy and Plurality in German
Nouns. In Gereon Müller, Lutz Gunkel & Gisela Zifonun (Hgg.), Explorations in nominal in-
flection, 97–120. Berlin, New York: de Gruyter.
Elspaß, Stefan & Robert Möller. 2003–. Atlas zur deutschen Alltagssprache. http://www.atlas-
alltagssprache.de/.
Erben, Johannes. 1959. Zur Geschichte der deutschen Kollektiva. In Helmut Gipper (Hg.), Spra-
che, Schlüssel zur Welt: Festschrift für Leo Weisgerber, 221–228. Düsseldorf: Schwann.
Fabricius-Hansen, Catherine. 1987. Über den adnominalen Genitiv im Deutschen und Norwegi-
schen. Deutsch als Fremdsprache. 166–182.
Fabricius-Hansen, Catherine. 1993. Nominalphrasen mit Kompositum als Kern. Beiträge zur
Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 115. 193–243.
Fanselow, Gisbert. 1981. Zur Syntax und Semantik der Nominalkomposition: Ein Versuch prak-
tischer Anwendung der Montague-Grammatik auf die Wortbildung im Deutschen (Linguis-
tische Arbeiten 107). Tübingen: Niemeyer.
Fehringer, Carol. 2009. Nominale Diminutiva bei Komposita im Schwäbischen: Ein "Words and
Rules"-Ansatz. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 76(3). 263–279.
Field, Andy, Jeremy Miles & Zoe Field. 2012. Discovering statistics using R. Los Angeles: SAGE.
Flach, Susanne, Kristin Kopf & Anatol Stefanowitsch. 2018. Skandale und Skandälchen kon-
trastiv: Das Konfix -gate im Deutschen und Englischen. In Rita Heuser & Mirjam Schmuck
(Hgg.), Sonstige Namenarten. Stiefkinder der Onomastik. Berlin, Boston: de Gruyter.
Fleischer, Wolfgang. 1984. Aspekte der sprachlichen Benennung (Sitzungsberichte der Akade-
mie der Wissenschaftender DDR 7/G). Berlin: Akademie-Verlag.
Fleischer, Wolfgang & Irmhild Barz. 2012. Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache (de
Gruyter Studium), 4. Aufl. Tübingen: Niemeyer.
Fritze, Marie-Elisabeth. 1981. Bezeichnungen für den Zugehörigkeits- und Herkunftsbereich. In
Gerhard Kettmann & Jochen Schildt (Hgg.), Der Einfachsatz, 2. Aufl. (Zur Ausbildung der
Norm der deutschen Literatursprache (1470‐1730)), 417–522. Berlin.
Fuhrhop, Nanna. 1996. Fugenelemente. In Ewald Lang & Gisela Zifonun (Hgg.), Deutsch – typo-
logisch, 525–550. Berlin: de Gruyter.
Fuhrhop, Nanna. 1998. Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen: Stauffenburg.
Fuhrhop, Nanna. 2000. Zeigen Fugenelemente die Morphologisierung von Komposita an? In
Rolf Thieroff et al. (Hgg.), Deutsche Grammatik in Theorie und Praxis, 201–213. Tübingen:
Niemeyer.
Fuhrhop, Nanna. 2008. Das graphematische Wort (im Deutschen): Eine erste Annäherung.
Zeitschrift für Sprachwissenschaft 27(2). 189–228.
Fuhrhop, Nanna & Sebastian Kürschner. 2015. Linking elements in Germanic. In Peter O. Müller
et al. (Hgg.), Word-formation: An International Handbook of the Languages of Europe
450 | Literatur- und Quellenverzeichnis
Heine, Bernd. 2003. Grammaticalization. In Brian D. Joseph & Richard D. Janda (Hgg.), The
handbook of historical linguistics (Blackwell handbooks in linguistics), 575–601. Malden,
MA: Blackwell.
Heinle, Eva-Maria & Hans Wellmann. 1984. -halb, -halben, -halber. Aus der Werkstatt der Histo-
rischen Wortbildung. In Hans-Werner Eroms, Bernhard Gajek & Herbert Kolb (Hgg.), Studia
linguistica et philologica: Festschrift für Klaus Matzel zum 60. Geburtstag überreicht von
Schülern, Freunden und Kollegen (Germanische Bibliothek Reihe 3, Untersuchungen),
165–187. Heidelberg: Winter.
Heller, Klaus. 2000. „Binde-Strich“ und „Zergliederungs-Sucht“. Sprachreport 1. 26–27.
Henzen, Walter. 1965. Deutsche Wortbildung, 3. Aufl. Tübingen: Niemeyer.
Herpel, Susan. 2015. Die Getrennt- und Zusammenschreibung im Deutschen von 1700-1900:
Untersuchungen von orthographischen Regelwerken und zeitgenössischem Schreibge-
brauch (Theorie und Vermittlung der Sprache band 58). Frankfurt a.M.: Lang.
Hillenbrandt, Uli. 2010. Interpunktion auf Wort-Ebene. Der Bindestrich. Mainz: Johannes Gu-
tenberg-Universität Magisterarbeit.
Hilpert, Martin. 2011. Was ist Konstruktionswandel? In Lasch, Alexander & Alexander Ziem
(Hgg.), Konstruktionsgrammatik III (Stauffenburg Linguistik 58), 59–75. Tübingen: Stauf-
fenburg.
Hilpert, Martin & Stefan T. Gries. 2009. Assessing frequency changes in multistage diachronic
corpora: Applications for historical corpus linguistics and the study of language acquisiti-
on. Literary and Linguistic Computing 24(4). 385–401.
Höhle, Barbara. 2012. Psycholinguistik (Akademie-Studienbücher), 2. Aufl. Berlin: Akademie-
Verlag.
Hopper, Paul J. & Elizabeth C. Traugott. 1993. Grammaticalization (Cambridge textbooks in
linguistics). Cambridge [England], New York, NY, USA: Cambridge University Press.
Huddleston, Rodney D. & Geoffrey K. Pullum (Hgg.). 2002. The Cambridge grammar of the
English language. Cambridge: Cambridge University Press.
Hüning, Matthias & Barbara Schlücker. 2010. Konvergenz und Divergenz in der Wortbildung -
Komposition im Niederländischen und im Deutschen. In Antje Dammel, Sebastian Kürsch-
ner & Damaris Nübling (Hgg.), Kontrastive Germanistische Linguistik (Germanistische Lin-
guistik), 783–825. Hildesheim: Olms.
Isel, Frédéric, Thomas C. Gunter & Angela D. Friederici. 2003. Prosody-Assisted Head-Driven
Access to Spoken German Compounds. Journal of Experimental Psychology: Learning,
Memory, and Cognition 29(2). 277–288.
Jacobs, Joachim. 2005. Spatien: Zum System der Getrennt- und Zusammenschreibung im
heutigen Deutsch (Linguistik – Impulse & Tendenzen 8). Berlin: de Gruyter.
Jørgensen, Mogens W. 1980. Zur Anzahl der Klassen in der deutschen Substantivdeklination.
In Mogens Dyhr, Karl Hyldgaard-Jensen & Jørgen Olsen (Hgg.), Kopenhagener Beiträge zur
Germanistischen Linguistik. Festschrift für Gunnar Bech, 228–261. Kopenhagen: Institut
for Germansk Filology.
Kehrein, Joseph. 1854–1856. Grammatik der deutschen Sprache des funfzehnten bis sieben-
zehnten Jahrhunderts. Leipzig: Wigand.
Kellermeier-Rehbein, Birte. 2005. Areale Wortbildungsvarianten des Standarddeutschen:
Beiuntersuchung zum Variantenwörterbuch des Deutschen (Duisburger Arbeiten zur
Sprach- und Kulturwissenschaft 61). Frankfurt a.M.: Lang.
452 | Literatur- und Quellenverzeichnis
ten Schmidt (Hgg.), Sichtbare und hörbare Morphologie, 177–204. Berlin, New York: de
Gruyter.
Kopf, Kristin. 2018a. From genitive suffix to linking element. A corpus study on the genesis and
productivity of a new compounding pattern in (Early) New High German. In Tanja Acker-
mann, Horst J. Simon & Christian Zimmer (Hgg.), Germanic Genitives, 91–114. Amsterdam,
Philadelphia: Benjamins.
Kopf, Kristin. 2018b. The role of syntax in the productivity of German N+N compounds. A dia-
chronic corpus study. Zeitschrift für Wortbildung 2(1). 61–91.
Krahe, Hans & Wolfgang Meid. 1967. Germanische Sprachwissenschaft (Sammlung Göschen
1218). Berlin: de Gruyter.
Krott, Andrea, Gary Libben, Gonia Jarema, Wolfgang a. S. R. Dressler & Harald Baayen. 2004.
Probability in the Grammar of German and Dutch: Interfixation in Triconstituent Com-
pounds. Language and Speech 47(1). 83–106.
Krott, Andrea, Robert Schreuder, Harald Baayen & Wolfgang U. Dressler. 2007. Analogical
effects on linking elements in German compounds. Language and Cognitive Processes
22(1). 25–57.
Kubczak, Jacqueline. 2011. Vaters Hut und des Vaters Hut, Mutters Arbeit und der Mutter Ar-
beit. Vorgelagerte (pränominale) Genitive. IDS Sprachreport 27(1). 14–17.
Kuck, Franz W. & Christian Stang. 2013. Das Tüpfelchen auf dem i: Gebrauchsanweisung für
Mikrotypografie. Zeilen- und Wortabstände, Nummmern, Hilfs- und Wortzeichen, Akzente,
Trennregeln, Aufzählungen, Zahlen, Korrekturzeichen etc. Willkommen in der faszinieren-
den Welt zwischen den Wörtern. München: Stiebner.
Kürschner, Sebastian. 2003. Von Volk-s-musik und Sport-Ø-geist im Lemming-Ø-land – af folk-
e-musik og sport-s-ånd i lemming-e-landet: Fugenelemente im Deutschen und Dänischen
– eine kontrastive Studie zu einem Grenzfall der Morphologie. Freiburg: Albert-Ludwigs-
Universität Magisterarbeit.
Kürschner, Sebastian. 2007. Grenzgänger zwischen Flexion und Wortbildung. Zur Geschichte
des dänischen Fugen-s. In Wolfgang Behschnitt & Elisabeth Herrmann (Hgg.), Über Gren-
zen. Grenzgänge der Skandinavistik: Festschrift zum 65. Geburtstag von Heinrich Anz
(Identitäten und Alteritäten 26), 349–367. Würzburg: Ergon.
Kürschner, Sebastian. 2010. Fuge-n-kitt, voeg-en-mes, fuge-masse und fog-e-ord – Fugenele-
mente im Deutschen, Niederländischen, Schwedischen und Dänischen. Ein Grenzfall der
Morphologie im Sprachkontrast. In Antje Dammel, Sebastian Kürschner & Damaris Nüb-
ling (Hgg.), Kontrastive Germanistische Linguistik (Germanistische Linguistik 206-209),
827–862. Hildesheim, Zürich, New York: Olms.
Kürschner, Wilfried. 1974. Zur syntaktischen Beschreibung deutscher Nominalkomposita: Auf
der Grundlage generativer Transformationsgrammatiken (Linguistische Arbeiten 18). Ber-
lin: de Gruyter.
Lanouette, Ruth L. 1996. The Attributive Genitive in the History of German. In Rosina Lippi-
Green & Joe Salmons (Hgg.), Germanic linguistics: Syntactic and diachronic (Amsterdam
studies in the theory and history of linguistic science. Series IV, Current issues in linguis-
tic theory v. 137), 85–102. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins.
Lanouette, Ruth L. 1998. The Attributive Genitive in Early New High German.A Semantic Analy-
sis. American Journal of Germanic Linguistics & Literatures 10(1). 73–90.
Lasch, Agathe. 1914. Mittelniederdeutsche Grammatik. Tübingen: Niemeyer.
Lass, Roger. 1990. How to do things with junk: exaptation in language evolution. Journal of
Linguistics 26. 79–102.
454 | Literatur- und Quellenverzeichnis
Lass, Roger. 1997. Historical Linguistics and Language Change. Cambridge: Cambridge Univer-
sity Press.
Lees, Robert B. 1960. The Grammar of English Nominalizations. Bloomington: Indiana Universi-
ty Press.
Lehmann, Christian. 1995. Thoughts on grammaticalization (LINCOM studies in theoretical
linguistics 01). München: LINCOM Europa.
Lemnitzer, Lothar. 2000–. Wortwarte: Wörter von heute und morgen. Eine Sammlung von
Neologismen. http://www.wortwarte.de/.
Leser, Martin. 1990. Das Problem der "Zusammenbildungen": Eine lexikalische Studie (Fokus
3). Trier: WVT.
Lexer, Matthias. 1872–1878. Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Leipzig.
Lieber, Rochelle. 1983. Argument Linking and Compounds in English. Linguistic inquiry 14.
251–285.
Malkiel, Yakov. 1958. Los interfijos hispánicos. Probleme de linguística histórica y estructural.
In Diego Catalán Menéndez-Pidal (Hg.), Miscelánea homenaje a André Martinet. Estructu-
ralismo e historia, 107–199. Canarias: Universidad de La Laguna.
Mayerthaler, Willi. 1981. Morphologische Natürlichkeit (Linguistische Forschungen 28). Wies-
baden: Akademische Verl.-Ges. Athenaion.
Meibauer, Jörg, Ulrike Demske, Jochen Geilfuß-Wolfgang, Jürgen Pafel, Karl-Heinz Ramers,
Monika Rothweiler & Markus Steinbach. 2015. Einführung in die germanistische Linguis-
tik, 3. Aufl. Stuttgart: Metzler.
Meineke, Eckhard. 1991. Springlebendige Tradition. Kern und Grenzen des Kompositums.
Sprachwissenschaft 16(1). 27–88.
Meineke, Eckhard. 2016. Substantivkomposita des Mittelhochdeutschen: Eine korpuslinguisti-
sche Untersuchung (Deutsche Sprachgeschichte Band 6). Frankfurt a.M.: Lang.
Meyer, Kurt. 1989. Duden "Wie sagt man in der Schweiz?": Wörterbuch der schweizerischen
Besonderheiten (Duden-Taschenbücher 22). Mannheim: Duden.
Michel, Sascha. 2010. Or-en-wurm, tag-s-brief, kelb-er-arzet ‐- Fugenelemente in N+N-
Komposita des Frühneuhochdeutschen. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache
und Literatur (PBB) 132(2). 177–199.
Moser, Virgil. 1909. Historisch-grammatische Einführung in die frühneuhochdeutschen
Schriftdialekte. Halle.
Motsch, Wolfgang. 2004. Deutsche Wortbildung in Grundzügen (Schriften des Instituts für
Deutsche Sprache 8), 2. Aufl. Berlin: de Gruyter.
Mroczynski, Robert. 2013. Zur Herausbildung des Diskursmarker ja. Grammatikalisierung oder
Pragmatikalisierung? Zeitschrift für germanistische Linguistik 41(1). 127–152.
Mugdan, Joachim. 1977. Flexionsmorphologie und Psycholinguistik. Untersuchungen zu
sprachlichen Regeln und ihrer Beherrschung durch Aphatiker, Kinder und Ausländer am
Beispiel der deutschen Substantivdeklination. Tübingen: Narr.
Müller, Peter O. 1993. Wortbildung des Nürnberger Frühneuhochdeutsch. Band 1: Substantiv-
Derivation in den Schriften Albrecht Dürers: Ein Beitrag zur Methodik historisch-
synchroner Wortbildungsanalysen. Berlin: de Gruyter.
Munske, Horst H. 2009. Was sind eigentlich ‚hybride‘ Wortbildungen? In Peter O. Müller (Hg.),
Studien zur Fremdwortbildung (Germanistische Linguistik 197/198), 223–260. Hildes-
heim: Olms.
Neef, Martin & Susanne R. Borgwaldt. 2012. Fugenelemente in neugebildeten Nominalkompo-
sita. In Livio Gaeta & Barbara Schlücker (Hgg.), Das Deutsche als kompositionsfreudige
Literatur- und Quellenverzeichnis | 455
Prell, Heinz-Peter. 2000. Die Stellung des attributiven Genitivs im Mittelhochdeutschen. Zur
Notwendigkeit einer Syntax mittelhochdeutscher Prosa. Beiträge zur Geschichte der deut-
schen Sprache und Literatur (PBB) 122(1). 23–39.
Pümpel-Mader, Maria, Elsbeth Gassner-Koch & Hans Wellmann. 1992. Adjektivkomposita und
Partizipialbildungen: (Komposita and kompositionsähnliche Strukturen 2) (Sprache der
Gegenwart 80). Berlin: de Gruyter.
Raffelsiefen, Renate. 2000. Evidence for word-internal phonological words in German. In Rolf
Thieroff et al. (Hgg.), Deutsche Grammatik in Theorie und Praxis, 43–66. Tübingen: Nie-
meyer.
Rainer, Franz. 2005. Constraints on productivity. In Pavol Štekauer & Rochelle Lieber (Hgg.),
Handbook of word-formation (Studies in natural language and linguistic theory 64), 335–
352. Dordrecht: Springer.
Rat für deutsche Rechtschreibung. 2011. Deutsche Rechtschreibung. Regeln und Wörterver-
zeichnis. Entsprechend den Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung. Über-
arbeitete Fassung des amtlichen Regelwerks 2004 mit den Nachträgen aus dem Bericht
2010.
Reagan, Sherman C. 1981. Compound nouns in the Luther Bible and some of its printed prede-
cessors. Madison: University of Wisconsin Dissertation.
Reichmann, Oskar et al. (Hgg.). 1989–. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Berlin: de Gruyter.
Reichmann, Oskar & Klaus-Peter Wegera (Hgg.). 1993. Frühneuhochdeutsche Grammatik.
Tübingen: Niemeyer.
Reuter, Elvira. 1989. Die Mundart von Horath (Hunsrück) (Forum phoneticum Bd. 45). Hamburg:
Buske.
Rivet, Anne. 1999. Rektionskomposita und Inkorporationstheorie. Linguistische Berichte 179.
307–342.
Ronneberger-Sibold, Elke. 1991. Funktionale Betrachtungen zur Diskontinuität und Klammer-
bildung im Deutschen. In Norbert Boretzky (Hg.), Sprachwandel und seine Prinzipien: Bei-
träge zum 8. Bochum-Essener Kolloquium über "Sprachwandel und seine Prinzipien" vom
19.10.-21.10.1990 an der Ruhruniversität Bochum (Bochum-Essener Beiträge zur Sprach-
wandelforschung 14), 206–236. Bochum: Brockmeyer.
Ronneberger-Sibold, Elke. 2010. Die deutsche Nominalklammer. Geschichte, Funktion, typolo-
gische Bewertung. In Arne Ziegler & Christian Braun (Hgg.), Historische Textgrammatik
und historische Syntax des Deutschen: Traditionen, Innovationen, Perspektiven, 85–120.
Berlin, New York: de Gruyter.
Ronneberger-Sibold, Elke. 2016a. -(en) als das ideale deutsche Pluralsuffix? Widerstreitende
typologische Tendenzen in der frühneuhochdeutschen Entwicklung der gemischten Flexi-
on. In Sarah Kwekkeboom & Sandra Waldenberger (Hgg.), PerspektivWechsel oder: Die
Wiederentdeckung der Philologie. Band 1: Sprachdaten und Grundlagenforschung in der
Historischen Linguistik (1), 251–272. Berlin: Erich-Schmidt-Verlag.
Ronneberger-Sibold, Elke. 2016b. Die Entwicklung der gemischten Maskulina im Frühneu-
hochdeutschen. Aufstieg und Fall eines Flexionstyps. In Andreas Bittner & Constanze
Spieß (Hgg.), Formen und Funktionen. Morphosemantik und grammatische Konstruktion,
21–34. Berlin: de Gruyter.
Rosenbach, Anette. 2002. Genitive variation in English: Conceptual factors in synchronic and
diachronic studies (Topics in English linguistics 42). Berlin: de Gruyter.
Rössler, Stefanie. 2014. Die Sentence Completion Task bei der Komposita-Analyse (5. Sprach-
wissenschaftliche Tagung für Promotionsstudierende). Mainz.
458 | Literatur- und Quellenverzeichnis
Salus, P. H. 1963. Nominal composition in the Indo-European languages. New York Dissertati-
on.
Sattler, Lutz. 1992. Zur Verwendung von Wortgruppen mit adjektivischem Attribut und Kompo-
sita in der deutschen Literatursprache (1570-1730). In Joachim Schildt (Hg.), Aspekte des
Sprachwandels in der deutschen Literatursprache 1570-1730, 227–271. Berlin: Akademie-
Verlag.
Scherer, Carmen. 2005. Wortbildungswandel und Produktivität: Eine empirische Studie zur
nominalen -er-Derivation im Deutschen. Tübingen.
Scherer, Carmen. 2012. Vom Reisezentrum zum Reise Zentrum. Variation in der Schreibung von
N+N-Komposita. In Livio Gaeta & Barbara Schlücker (Hgg.), Das Deutsche als kompositi-
onsfreudige Sprache: Strukturelle Eigenschaften und systembezogene Aspekte (Linguis-
tik, Impulse & Tendenzen 46), 57–82. Berlin, New York: de Gruyter.
Scherer, Carmen. 2013. Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? Strukturmarkierende Schrei-
bungen bei Kontaminationen? In Martin Neef & Carmen Scherer (Hgg.), Die Schnittstelle
von Morphologie und geschriebener Sprache (551), 157–187. Berlin: de Gruyter.
Schindler, Wolfgang. 1999. Bindestrich-Komposita im Frühneuhochdeutschen. In Wolfgang
Schindler & Jürgen Untermann (Hgg.), Grippe, Kamm und Eulenspiegel. Festschrift für El-
mar Seebold zum 65. Geburtstag, 313–329. Berlin, New York.
Schlücker, Barbara. 2012. Die deutsche Kompositionsfreudigkeit. Übersicht und Einführung. In
Livio Gaeta & Barbara Schlücker (Hgg.), Das Deutsche als kompositionsfreudige Sprache:
Strukturelle Eigenschaften und systembezogene Aspekte (Linguistik, Impulse & Tenden-
zen 46), 1–17. Berlin, New York: de Gruyter.
Schlücker, Barbara. 2018. Genitives and proper name compounds. In Tanja Ackermann, Horst J.
Simon & Christian Zimmer (Hgg.), Germanic Genitives, 275–299. Amsterdam, Philadel-
phia: Benjamins.
Schmuck, Mirjam & Renata Szczepaniak. 2014. Der Gebrauch des Definitartikels vor Familien-
und Rufnamen im Frühneuhochdeutschen aus grammatikalisierungstheoretischer Per-
spektive. In Friedhelm Debus, Rita Heuser & Damaris Nübling (Hgg.), Linguistik der Fami-
liennamen (Germanistische Linguistik 225/227), 97–137. Hildesheim: Olms.
Scott, Alan K. 2014. The genitive case in Dutch and German: A study of morphosyntactic change
in codified languages (Brill’s studies in historical linguistics 2). Leiden: Brill.
Shapiro, Sophie. 1941. Genitive Forms without -s in Early New High German. Language 17(1).
53–57.
Shaw, James H. 1979. Motivierte Komposita in der deutschen und englischen Gegenwartsspra-
che (Tübinger Beiträge zur Linguistik 118). Tübingen: Narr.
Simon, Horst J. 2010. ‚Exaptation‘ in der Sprachwandeltheorie. Eine Begrifspräzisierung. In
Rüdiger Harnisch (Hg.), Prozesse sprachlicher Verstärkung: Typen formaler Resegmentie-
rung und semantischer Remotivierung (Linguistik, Impulse & Tendenzen 37), 41–57. Ber-
lin, New York: de Gruyter.
Skirl, Helge. 2010. Kompositummetaphern - semantische Innovation und textpragmatische
Funktion. Metaphorik.de 19. 23–45.
Solling, Daniel. 2012. Zur Getrennt-, Zusammen- und Bindestrichschreibung von Substantiv-
komposita im Deutschen (1550-1710) (Studia Germanistica Upsaliensia 57). Uppsala: Acta
Universitatis Upsaliensis.
Solms, Hans-Joachim. 1999. Der Gebrauch uneigentlicher Substantivkomposita im Mittel- und
Frühneuhochdeutschen als Indikator kultureller Veränderung. In Andreas Gardt et al.
Literatur- und Quellenverzeichnis | 459
Frühneuhochdeutschen: Emil Skála zum 60. Geburtstag am 20. November 1988 (Göppin-
ger Arbeiten zur Germanistik 476), 193–217. Göppingen: Kümmerle.
Wackernagel, Wilhelm. 1848. Geschichte der deutschen Literatur. Basel: Schweighauserische
Verl.-Buchhandlung.
Ward, Gregory, Richard Sproat & Gail McKoon. 1991. A Pragmatic Analysis of So-Called Ana-
phoric Islands. Language and Cognitive Processes 67(3). 439–474.
Wegener, Heide. 2003. Entstehung und Funktion der Fugenelemente im Deutschen, oder:
warum wir keine *Autosbahn haben. Linguistische Berichte 196. 425–457.
Wegener, Heide. 2005. Das Hühnerei vor der Hundehütte: von der Notwendigkeit historischen
Wissens in der Grammatikographie des Deutschen. In Elisabeth Berner, Manuela Böhm &
Anja Voeste (Hgg.), Ein gross und narhafft haffen. Festschrift für Joachim Gessinger, 175–
187. Potsdam: Universitätsverlag Potsdam.
Wegener, Heide. 2008. The regrammaticalization of linking elements in German. In Elena
Seoane & María J. López-Couso (Hgg.), Theoretical and empirical issues in grammaticali-
zation, 333–355. Amsterdam, Philadelphia.
Wegera, Klaus-Peter. 1987. Grammatik des Frühneuhochdeutschen. Beiträge zur Laut- und
Formenlehre: Bd. III: Flexion der Substantive (Germanische Bibliothek. Reihe 1). Heidel-
berg: Winter.
Wegera, Klaus-Peter & Heinz-Peter Prell. 2000. Wortbildung des Frühneuhochdeutschen. In
Werner Besch et al. (Hgg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen
Sprache und ihrer Erforschung, 2. Aufl., 1594–1605. Berlin, New York: de Gruyter.
Wegera, Klaus-Peter & Hans-Joachim Solms. 2000. Morphologie des Frühneuhochdeutschen.
In Werner Besch et al. (Hgg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deut-
schen Sprache und ihrer Erforschung, 2. Aufl., 1542–1554. Berlin, New York: de Gruyter.
Weidman, Robert H. 1941a. Nominal compounds in middle high German: Based on a study of
the Manesse Manuscript. The Journal of English and Germanic Philology. 349–359.
Weidman, Robert H. 1941b. The orthographic conflation of nominal compounds in MHG based
on a study of the Manesse manuscript. In Arno Schirokauer & Wolfgang Paulsen (Hgg.),
Corona. Studies in Celebration of the Eightieth Birthday of Samuel Singer, 89–99. Durham
N.C.: Duke University Press.
Weinhold, Karl. 1863. Alemannische Grammatik. Berlin: Dümmler.
Wellmann, Hans, Ingeburg Kühnhold & Maria Pümpel-Mader. 1975. Das Substantiv (Sprache
der Gegenwart 32). Düsseldorf: Pädagog. Verl. Schwann.
Wellmann, Hans, Nikolaus Reindli & Annemarie Fahrmeier. 1974. Zur morphologischen Rege-
lung der Substantivkomposition im heutigen Deutschen. Zeitschrift für deutsche Philolo-
gie 93. 358–378.
Werner, Martina. 2012. Genus, Derivation und Quantifikation: Zur Funktion der Suffigierung
und verwandter Phänomene im Deutschen (Studia linguistica Germanica 114). Berlin: de
Gruyter.
Werner, Martina. 2016. Genus und Fugenelemente. Zur Herleitung einer motivierten Relation.
In Peter Ernst & Martina Werner (Hgg.), Linguistische Pragmatik in historischen Bezügen
(Lingua Historica Germanica Band 9), 285–312. Berlin, Boston: de Gruyter.
Werner, Martina. 2017. Zur Entwicklung der synthetischen Komposition in der Geschichte des
Deutschen. Zeitschrift für Wortbildung 1(1). 73–92.
Werner, Otmar. 1989. Sprachökonomie und Natürlichkeit im Bereich der Morphologie. Zeit-
schrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 42(1). 34–47.
Literatur- und Quellenverzeichnis | 461
Werth, Alexander. 2014. Die Funktion des Artikels bei Personennamen im norddeutschen
Sprachraum. In Friedhelm Debus, Rita Heuser & Damaris Nübling (Hgg.), Linguistik der
Familiennamen (Germanistische Linguistik 225/227), 139–174. Hildesheim: Olms.
Wiese, Richard. 1996. The Phonology of German. Oxford: Oxford University Press.
Wilmanns, Wilhelm. 1896. Deutsche Grammatik. Gotisch, Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch. Bd.
2: Wortbildung. Straßburg: Trübner.
Wischer, Ilse. 2011. Grammaticalization and word formation. In Heiko Narrog & Bernd Heine
(Hgg.), The Oxford Handbook of Grammaticalization (Oxford handbooks in linguistics),
356–364. Oxford: Oxford University Press.
Wunderlich, Dieter. 1986. Probleme der Wortstruktur. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 5(2).
209–252.
Wustmann, Gustav. 1891. Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des
Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen. Ein Hilfsbuch für alle, die sich öffentlich
der deutschen Sprache bedienen. Leipzig: Grunow.
Žepić, Stanko. 1970. Morphologie und Semantik der deutschen Nominalkomposita. Zagreb:
Philosophische Fakultät der Universität Zagreb.
Zifonun, Gisela. 2001. Eigennamen in der Narrenschlacht. Oder: Wie man Walther von der
Vogelweide in den Genitiv setzt. IDS Sprachreport 17(3). 1–5.
Zirmunskij, Viktor M. 2010. Deutsche Mundartkunde: Vergleichende Laut- und Formenlehre der
deutschen Mundarten. Frankfurt a.M.: Lang.
Index
(e)n-Fuge 17, 28, 31, 34ff., 41f., 49, 51f., 54f., – -ie 261
57f., 60ff., 65, 70f., 214f., 222f., 225, – -ier 45, 261, 266, 368, 433
232, 244ff., 254, 274ff., 281, 283ff., – -ig 266
288f., 296, 301, 303, 305, 307, 314, – -ik 262, 307, 368, 435
338f., 348ff., 356ff., 364, 383f., 391f., – -in 158f., 258, 368, 435
394, 435 – -ing 47, 260, 285, 307, 322, 324
– Distribution n/en 35 – -ion 28, 43, 261, 298, 304f., 310, 312, 315,
(e)ns-Fuge 35ff., 50f., 225, 232 323, 368, 376, 392, 419, 433
(n)s-Genitiv 410 – -ium 224, 261f., 368, 433
– -iz 15, 262
AA-Kompositum 4, 236 – -lein 258, 261, 368, 376, 435
Abstraktum 38, 52, 63, 65, 74, 93f., 96, 98, – -ler 368, 433
102, 162, 174f., 184, 209, 258, 266, 303, – -lich 247, 302, 382
323 – -ling 29, 43, 261, 286, 322f., 368, 433
Adjektivflexion 35 – -los 292
Adjektivflexionswandel 199 – -ment 261, 368, 435
Affixe – -mus 261
– -(i)tät 28, 30, 43, 260f., 304f., 310, 312, – -ner 368, 433
323, 368, 376, 392, 419, 433, 443 – -nis 261, 263, 322, 427
– -age 261 – -nissi 258
– -al 262, 368, 433 – -ol 262
– -anz/enz 261f. – -on 262, 307, 368, 388, 435
– -är 262, 368, 433 – -or 261f., 368, 433
– -āri 257 – -ör 262, 433
– -at 261f. – Präfix 30, 45f., 211, 221, 264, 266f., 281,
– -bar 292, 302 316, 360ff., 371, 376, 379, 411, 436f.
– -chen 258, 261, 368, 435 – -rich 262, 368, 433
– -ei 261, 276 – -sal 28f., 43, 304f., 312, 322f., 368, 427,
– -el 45, 231, 368, 435 433
– -ell 376 – -schaft 28, 30, 43, 161, 257, 261ff., 302,
– -ent/ant 261 304f., 310, 312, 315, 323, 368, 419, 433
– -er 182, 184, 233, 258, 261, 368, 376, 433 – -tum 29, 43, 161, 261ff., 302, 322, 368,
– -erweise 296, 301 427, 433
– -erz 262 – -ung 12, 28, 30, 43, 183f., 247, 259ff.,
– -et 261 263ff., 281, 285f., 293, 297f., 304f.,
– -ett 262, 368, 433 309f., 312, 315, 317f., 322f., 368, 376,
– exogen 260 419, 433
– Fugenelement vor Suffix 293–303 – -unga 258, 323
– -haft 292, 302 – -ur 261, 307, 368f., 376, 435
– -halb(er|en) 294–96, 298 – -ut 262
– -heit/keit 28, 30, 43, 161, 257, 261ff., 281, – -weise 296–301
302, 304f., 312, 315, 323, 368, 376, 382, Affixoid 9, 110, 158, 161, 382
419, 433 Alemannisch 46, 53, 137
– -ida 258
https://doi.org/10.1515/9783110517682-018
464 | Index
Analogie 9, 11ff., 17f., 24, 26, 33, 52, 67, Canoo.net 23f., 28, 33, 45f., 61, 63, 66, 69,
137f., 158, 164, 183, 205, 242, 277f., 285, 221, 266, 285, 292, 298, 301f., 322, 324,
298, 300, 318, 330, 354f., 380, 435 368, 418, 427, 441
Anapher 81, 113ff., 118, 123, 147, 174 Charakterisierung 176
AN-Kompositum 4f., 7, 111, 159, 185, 234
Apostroph 118 Definitartikel 73ff., 80, 90, 92, 108, 113, 199,
Archaismus 81, 108 203ff., 208, 401
Artikelentstehung 74, 205 Definitheit 73ff., 77, 90, 199f., 208
Artikelgebrauch 74ff., 78, 83, 85, 91f., 108, Degrammatikalisierung 3, 109, 380, 388–89,
401 402
Artikellosigkeit 74ff., 108, 144 Demotivation 6
Artikulationserleichterung Siehe DeReKo 18, 23f., 32f., 40, 52f., 61, 356,
Ausspracheerleichterung 361ff., 378, 380, 435, 439f.
attributiver Genitiv Siehe Derivation 3f., 8, 28, 43, 110, 128, 159, 184,
Genitivkonstruktion 195, 197, 233f., 237, 239, 241, 248, 255,
Auslautverhärtung 44, 220, 394 257ff., 265f., 272, 278, 280f., 284, 288f.,
Ausspracheerleichterung 357f. 292f., 301ff., 306, 309, 312, 316, 318,
322ff., 331, 345, 353, 368f., 373, 375ff.,
Bahuvrīhi Siehe exozentrisches Kompositum 382, 388f., 397f., 435, 438
– umgekehrte Bahuvrīhi 8 Determinationsverhältnis, umgekehrtes 5
Bairisch 46, 55 Determinativkompositum 5ff., 178, 181f., 187,
Begriffskonsolidierung 12 255
Belebtheit 27, 49, 51, 85, 89, 93ff., 100f., Determinierer 21, 73, 77, 80f., 90, 108, 111f.,
103ff., 181, 200ff., 209, 286, 368, 376, 114, 124, 126f., 140, 143ff., 171, 191, 197,
396 295, 396
Benennungsbedarf 7, 235, 393 Determiniererphrase Siehe DP-Hypothese
Benennungsfunktion 12f., 202, 373 Deutschen Referenzkorpus Siehe DeReKo
Betonung 110ff., 119, 123, 151, 185f., 205, Deutsches Textarchiv 23, 220, 279, 297, 301
208, 360ff., 365, 367ff., 371, 376, 433, Dialekt 19f., 40f., 46, 96, 109, 132f., 159, 196,
435, 440 272, 324, 403, 432f.
Bezeichnungsbedarf Siehe Diminutiv 42, 258
Benennungsbedarf Disambiguierung 91ff., 146, 202, 242
Bindestrich 3, 111, 118ff., 151ff., 211, 335, – Adjektiv vs. Substantiv 158–61
340ff., 344ff., 371, 392, 399f., 414ff. – Affix(oid) vs. Substantiv 161–62
Binnenflexion 152 – Verb vs. Substantiv 162–64
Binnenmajuskel 111, 118, 128, 347 diskontinuierliche Nominalphrase 83, 85
Bonner Frühneuhochdeutschkorpus 18, 20, diskontinuierliches Genitivattribut 82
133, 196ff., 227, 322, 332, 353, 410, 413, DP-Hypothese 199–202
418f. dreigliedrige Komposita Siehe Trikomposita
Brückenkonstruktion 2, 76, 84, 97f., 110, Dublette 12
126, 130, 138, 140, 146ff., 151, 165, 167, DWDS 18, 23, 32, 42, 64, 120, 183, 258, 285,
169, 176, 183f., 188, 190ff., 206ff., 216, 289, 296, 298, 301, 332, 368, 413, 428f.,
224f., 238f., 241ff., 259f., 271, 274, 431
277f., 295f., 329, 337f., 342, 344, 397,
399f., 431 e-Apokope Siehe Schwa-Apokope
e-Fuge 17, 37, 41, 44ff., 67ff., 163, 220, 227,
229, 237, 338, 356, 359, 369, 411
Index | 465
Eigenname 13, 22, 74, 76, 78f., 81f., 85, 93ff., 222ff., 274ff., 287, 333, 359, 368, 375,
100ff., 111, 115, 119f., 122f., 129, 135, 145, 379, 384, 410
172, 175, 177, 195, 197, 200ff., 207ff., – stark 17, 27, 30f., 37, 42, 49ff., 58, 132,
236, 244, 280, 319f., 333, 341, 347, 349, 135ff., 140f., 205, 225, 231, 253, 277f.,
351 318, 320f., 368
– Eigennamenkompositum 32, 111, 177f., Flexionsklassenwandel 55ff., 62, 132, 231
280, 320 Flexionsklassenwechsel 36, 41, 49ff., 57,
eigentliche Komposition 14ff., 65, 130, 180, 140, 184, 222, 225–27, 274, 304, 320ff.,
188, 231, 239, 274, 334, 373 330, 333, 399, 410
endozentrisches Kompositum 5 Flexionslosigkeit 126, 130f., 133ff., 140, 155,
en-Fuge Siehe (e)n-Fuge 411
ens-Fuge Siehe (e)ns-Fuge – Genitiv Singular 132–35
Entlehnung 25, 38, 47, 51, 118, 224, 234, 255, – Plural 135
260, 262, 329, 333, 357 Fremdwort 119ff., 351
Entrenchment 18 Fugenelement (Terminus) 9
Epiphänomen 100, 234, 258, 307 Fugeninventar
er-Fuge 37f., 68f., 215, 227ff., 278, 391 – des Ahd. und Mhd. 210–13
Erstbeleg 12, 238, 261f., 285, 290, 311, 332, – des Fnhd. und frühen Nhd. 214–32
418, 441 – des Nhd. 26–47
Erstgliedtyp 45f., 240f., 253, 266, 268, 280, Fugenmorphem 8
285, 306, 326, 397, 441 funktionale Ersetzung 151, 188–98
Erstgliedwortart 158–65 Funktionalisierung 3, 92, 255, 330–33, 355–
es-Fuge 31ff., 41, 49, 215, 217, 219ff., 284, 92, 398, 402
364, 390, 394, 441 Funktionsüberschneidung 12, 84, 90, 175,
– Distribution s/es 219–21 178f., 188–98, 271–73, 401
Etymologie 124, 156
Exaptation 3, 380, 389–91, 402 -gate 244
Existenzpräsupposition 235 Gebrauchshäufigkeit Siehe Tokenfrequenz
exozentrisches Kompositum 7 generische Semantik 61, 67ff., 128f., 140,
Expansionsfestigkeit 112 160, 172ff., 177, 182, 188, 190ff., 194,
Experiment 54, 58, 112f., 115, 121, 235, 348, 201f., 277, 279, 385, 387
377 Genitiv der Beschaffenheit 105, 179f., 201
Explizitheit 195 Genitiv von steigender Bedeutung 179
extrasilbisches Element 30, 349, 358, 360, Genitivattribut 13, 73f., 76ff., 85ff., 99ff.,
367 111f., 115ff., 124, 129, 139, 143, 145ff.,
149f., 152ff., 171f., 174ff., 182f., 188f.,
Fachsprache 12, 28, 282 191f., 198, 200ff., 206ff., 224, 259, 261,
Flexionsklasse 14, 27, 31, 34, 36f., 43, 48, 263ff., 268, 271, 277, 296, 301, 318, 373,
52, 69, 92, 130, 132, 140, 161, 217, 222f., 385, 393, 396, 398, 401
275f., 321, 329, 333, 374, 394 – postnominal 5, 73, 77ff., 81ff., 85ff., 90ff.,
– fnhd. System 131 104ff., 111, 116, 133, 145, 153, 164f., 167,
– gemischt 27, 31, 34f., 38f., 49, 51, 54ff., 58, 175, 180, 188ff., 193, 202, 204, 207, 209,
61, 63, 65, 71, 135, 217, 222, 274, 276, 388, 396, 398, 401
278, 281, 287, 318, 320, 333, 356f., 375 – pränominal 1, 65, 73, 76, 78ff., 83ff., 90f.,
– schwach 27f., 30, 34f., 38, 41, 43, 49ff., 93, 96ff., 100f., 107ff., 111f., 115f., 128ff.,
54f., 57f., 61, 66, 71, 131f., 140, 199, 132f., 138, 143f., 147f., 152f., 155, 161,
165, 167f., 171, 175, 183, 188ff., 193f.,
466 | Index
199ff., 242, 277, 296, 318ff., 326, 334, Haupttrennfuge 120, 354
344, 373, 375, 393, 396, 398ff., 431 Herkunftsgenitiv 105
Genitivkonstruktion 1f., 5, 13, 21f., 48, 76ff., Hyponym-Hyperonym-Relation Siehe
81, 83, 87, 94, 99, 101ff., 107, 110ff., verdeutlichende Zusammensetzung
123ff., 128, 130, 138f., 141, 143ff., 148,
151f., 155, 167ff., 171ff., 177f., 180f., 184, i-Deklination 14, 61f., 138, 276
188ff., 198, 204, 206, 210, 224, 237, Idiomatisierung Siehe Lexikalisierung
242, 259, 264, 267, 271ff., 277f., 288, implizite Derivation 29f., 184, 266
318, 326, 344, 373, 375, 380, 385ff., Indefinitartikel 73ff., 80, 126, 200, 203, 208,
396ff. 401
– dreigliedrig 83, 271–73, 432 Indefinitheit 79, 108
Genitivrelation 93, 105ff., 178, 180 Infigierung 25
Genitivstellung 80, 85–109, 111, 203 Inkorporation 9, 180
Genitivstellungswandel 2, 73f., 81, 84ff., Input 10, 48, 138f., 171f., 175, 233, 238, 243,
92f., 95ff., 99, 101, 103, 107f., 150, 168, 280f., 301, 303, 400
188f., 191, 201f., 204f., 207, 209, 396, Interfix 8
400 Intransparenz 6
Genitivus explicativus 105, 179, 181, 201 Introspektion 110, 202
Genusschwankung 319, 321–26, 331, 427 iz/az-Deklination 138
Genusverletzung 113
Genuswechsel 321–26 Junk 389f.
GerManC 18, 21f., 135, 155, 194, 210, 221,
260ff., 264, 266, 268, 270, 314ff., 323, Kanzleistil 80
325ff., 332, 345ff., 349f., 369f., 375, Kendalls Tau 244
417f. Kern, semantischer 5, 7
Gesamtfugentyp 240, 246, 397 Kollektivum 96, 115, 162, 258
Gesamtkompositumstyp Siehe Gesamttyp Komplexität 2f., 5, 9ff., 13, 25, 29, 44ff., 85,
Gesamttyp 240, 242, 253, 273, 281, 284, 89, 93, 99ff., 107, 110, 117, 119f., 164,
289, 306, 310, 364, 397, 413 183, 198, 205, 207, 211, 221, 234, 236,
Gesetz der wachsenden Glieder 100 255ff., 260ff., 267ff., 277, 280f.,
Getrenntschreibung 21f., 118, 121, 123f., 132, 296,304, 306f., 313, 318, 329ff., 345,
140, 143, 145, 151f., 155, 159, 185, 196, 352ff., 358, 360f., 367, 371ff., 382f.,
215, 224, 335, 337, 341ff., 349, 351, 396, 391ff., 396ff., 402, 418, 438
415 Komposita im Englischen 185–87
Glottisverschlusslaut 120 Kompositionsfreudigkeit 1, 260, 353
Gotisch 86, 398 Kompositionsmuster Siehe
Grammatikalisierung 3, 15, 74f., 380, 381– Wortbildungsmuster
89, 402 Kompositionsstammform 9, 33, 36, 40, 45,
Grammatikalisierungsparameter 382f., 385f. 48f., 52, 62, 71, 115, 163, 183f., 212, 246,
Griechisch 255 253f., 274, 285, 289, 298, 348, 353, 356,
Großschreibung 19, 22, 128, 152, 154 364, 379
Großschreibungskorpus 19, 403 Kompositionsstammformtyp 240f., 285, 397
Grundwortschatz 27 Kompositum vs. Syntagma 12, 185f.
Gruppengenitiv Siehe possessives Klitikon – im Fnhd. 123–58
– im Nhd. 111–23
Hapax legomena 239, 241, 247ff., 259, 280, Kompositumsinventar 9f.
290, 336, 398, 441 Kompositumstyp 13, 337, 354
Index | 467
Konfixkompositum 5, 244 Modifikator 21, 73, 77, 80ff., 100, 108, 111f.,
Konkretum 52, 93f., 96, 98, 102, 201f., 209, 124, 126f., 140, 143ff., 148, 171, 177, 191,
260 197, 294f., 396
Konkurrenz 12, 33, 235 Monoreferenz 111
Konsonantencluster 30, 358, 360, 373 Morphemkonstanz 45, 47, 392
Konstituentengrenze 121, 346f., 372, 377ff. morphologische Grenze 121
Konstruktion (Terminus) 13 morphologische Struktur 3, 120, 122, 258,
Kontamination 24f. 312, 347, 353, 359, 367, 372, 383
Konversion 9, 128, 237, 257f., 263, 266, 394, morphologischer Kopf 53, 59, 113, 116, 285
430 morphologischer Rest 47
– Infinitiv 29f., 36, 43, 163, 184, 255, 263– Moselfränkisch 42
66, 268, 376, 399, 436 Movierung 258
– morphologische 29f., 266–68
Koordination 75, 99f., 109, 154, 186, 202, NA-Kompositum 3f., 25, 266, 288ff., 303,
218, 415f. 355, 393, 441
Koordinationsellipse 111, 340, 352, 414ff. n-Deklination 55f., 61, 65, 138, 231, 276
Kopulativkompositum 7, 121, 180f., 187, 279, Nebensilbenabschwächung 200, 208, 267,
399 391
Korpus der mhd. Grammatik Siehe MiGraKo Nennsyntagma 5, 12f., 150, 152, 154, 201,
Kurzwort 119f., 351 204, 209, 236, 373
Neologismus Siehe Neubildung
Latein 15, 20, 51, 85, 95, 101f., 224, 255, 319, Neubildung 10ff., 23f., 28f., 33f., 36ff., 150,
323, 326f., 333, 356, 369, 399, 418 227, 233, 235f., 242ff., 247, 250, 252,
Lautwandel 14, 188 267, 270, 281ff., 286, 288, 290, 305,
Lehnübersetzung 16 351, 356, 393
Lexikalisierung 6, 183, 264, 270, 355, 381, n-Fuge Siehe (e)n-Fuge
388 Niederdeutsch 19, 37, 193, 309, 319, 328f.,
linguistische Laien 40, 54f., 57, 68, 117, 357, 333, 399
395 Nomen Agentis 182, 388
Luther 88, 96, 128, 153, 193, 237f., 259, 309, Nomina sacra 94, 96, 98, 102
338 Nominalklammer 2, 92f., 107, 114, 199, 204f.,
207ff., 401
Mainzer (Früh-)Neuhochdeutschkorpus 18– Nominalphrase 2, 21, 73ff., 77ff., 82ff., 89f.,
21, 403–9 92f., 100f., 112f., 116, 126, 148, 175, 191,
Mannheimer Korpus historischer Zeitungen 194, 199, 206, 208f., 224, 236, 294, 385,
und Zeitschriften 22 387, 396f.
Markiertheit Nominalstil 198
– semantisch 347 Normierung 125, 185, 204, 253, 282, 348
– strukturell 119ff., 260, 280, 342, 347, 351, ns-Fuge Siehe (e)ns-Fuge
391 Nullfuge 8, 13, 27f., 31, 35, 38f., 41, 43, 54,
mentales Lexikon 6 56, 65, 160, 162, 183, 214, 216, 218,
Metapher 5f., 13, 70 221f., 225, 229–31, 244ff., 253f., 268,
Metonymie 7f., 237 275f., 284, 288, 291, 306, 336, 338, 341,
MiGraKo 23, 211ff., 258 349, 354, 371, 384, 390, 400
Minimalpaar 66 Nullplural 54
Mitteldeutsch 136, 272f. Numerusprofilierung 136
Numerusuntüchtigkeit 136, 278
468 | Index
Oberdeutsch 42, 136f., 272f., 308 Präpositionalphrase 73ff., 77ff., 100, 109,
Objektsgenitiv 105f., 178f., 183 147, 164, 194, 291, 296
ō-Deklination 14, 52, 55f., 61, 132, 231, 276, Produktivität 1ff., 9f., 12, 16f., 24f., 28, 41,
278, 333 47ff., 51ff., 68, 111, 171, 228, 233ff., 304,
Okkasionalismus 10, 12, 24, 216, 247, 282 317f., 322, 324, 344, 355f., 376, 380,
Ostfränkisch 41f. 392ff., 397ff.
Ostmitteldeutsch 19, 137 – im Nhd. 233–36, 280–86
Ostoberdeutsch 136 – potenzielle 3, 233, 247–52, 286, 398
Output 35, 60, 233, 243 – realisierte 233, 243–46, 252, 398
Prototyp der schwachen Maskulina 27, 49,
Paradigma 3, 28, 31, 37, 49, 51, 55, 63, 126, 52, 223
130, 145, 187, 273f., 276f., 298, 321, Pseudosuffix 260
333, 364, 384
Paradoxe Klammer Siehe Zusammenrückung Rahmenkonstruktion 78, 126, 128f., 145, 168,
Paraphrase 110, 118, 162, 172 203f., 206, 208, 212f., 239, 241, 244ff.,
Partikelverb 45f., 64, 360 251f., 258, 397
partitiver Genitiv 86, 95, 155, 178f., 195 Reanalyse 9, 17, 48f., 52, 54, 56, 65, 137f.,
Pearson-Residuen 190 140, 151, 171f., 175f., 178, 180, 183, 185,
Personenbezeichnung 93ff., 102ff., 129, 188f., 200f., 207f., 237, 255, 273, 277,
159f., 267, 398 294, 352, 374, 389, 396, 401
Phonetik 111f., 118, 384 Reduktionssilbe 28, 30, 35, 41, 43, 135, 137,
Phonologie 111f., 118, 185–87, 233, 357, 360, 231, 263, 275f., 360
376 Referenzkorpus Mittelhochdeutsch Siehe
phonologischer Fuß 360 MiGraKo
phonologisches Wort 3, 262, 355, 357–71, Refunktionalisierung 47
358ff., 364f., 368ff., 376, 383, 392 Rektionskompositum 6, 16, 48, 60, 63, 67,
Phrasenkompositum 5 69, 163, 180, 181–84, 187, 214, 228f.,
Plural 232, 278, 285, 287, 316
– (e)n-Plural 52, 60 relationales Erstglied 113, 117, 148, 174
– e-Plural 17, 51, 67, 136f., 356, 395 relationales Zweitglied 6
– er-Plural 37, 68, 136 Relevanztheorie 60
– Nullplural 50, 136, 140f. Resilbifizierung 360
– s-Plural 28, 32, 43, 70f., 182, 297, 357, Restriktion 3, 74, 118, 234, 236, 254f., 257ff.,
396, 418 262, 265, 274, 279ff., 286f., 359, 371ff.,
– Umlautplural 50 375, 392, 398
Pluralkomposition 35, 37, 58f., 60–63, 66– Restriktionsabbau 233, 254–78, 287, 391
72, 229, 278, 305, 384, 395 – Germ. bis Mhd. 255–59
Pluralsemantik 53, 56, 61f., 69, 232, 278,
383 Sächsischer Genitiv 109
Possessivartikel 107, 176, 200f. Scheinkompositum 9f.
possessiver Dativ 109, 194 Schreibung von Komposita 118–23, 151–55,
possessiver Genitiv 105f., 178f. 335–54
possessives Klitikon 108 Schwa-Apokope 39, 41f., 46, 132, 135ff., 200,
possessives -s Siehe possessives Klitikon 219, 223, 227, 232, 276, 301, 392
präfigiertes Erstglied 258, 267f., 361–67, Schwäbisch 42
371f., 379, 383f., 392, 394, 435, 439
Präfixverb 45f.
Index | 469
schwankende Verfugung 40f., 46, 63, 183, Tokenfrequenz 121, 198, 267, 282, 290
216, 233, 240f., 253–54, 276, 278, 282, – diachron 241–43
287, 292, 324, 326, 413, 420, 428 Transparenz 6, 9, 17, 257, 260, 270, 285,
Schwa-Tilgung Siehe subtraktive Fuge 287, 306
Schweizerdeutsch 41f., 46, 52, 109 Trikompositum 112, 119ff., 149f., 241, 255,
Semantik-Form-Mismatch 56, 139–40 257f., 263, 269–73, 281, 346f., 354, 369,
semantische Grundrelation 173, 178, 180, 371f., 376ff., 432
234, 238 – linksverzweigend 255, 257, 269ff., 378f.
semantischer Wandel 6, 260 – rechtsverzweigend 255ff., 269f.
s-Fuge 3, 12, 28ff., 36f., 41, 43, 51, 54f., 61, Trochäus 45ff., 221, 349, 356, 358–60
70, 139, 163, 183f., 214ff., 230, 232, 237, Typ (Definition) 239–41
244ff., 250, 252, 254f., 260, 264ff., 268, Typenfrequenz 243
273ff., 279, 281f., 284ff., 289, 291ff.,
295ff., 303, 307, 316, 320, 327ff., 333f., Übersetzung 20, 86, 193, 237, 353
338, 347ff., 355, 357ff., 367ff., 371ff., umgelautetes Erstglied 38, 69–70, 227
390ff., 394, 398f., 402, 410, 418f., 428, Umlaut 27f., 37f., 67, 69, 71, 137f., 159, 227,
430, 433, 435ff. 389, 395, 441
– Distribution s/es 219–21 uneigentliche Komposition 15f.
Silbensprache Siehe phonologisches Wort ung-Derivate Siehe Affixe, -ung
Simplex 9, 133, 192, 195, 197f., 263, 305ff., Unikum 74, 145, 172, 176
312ff., 316f., 324ff., 328f., 379f., 387, Univerbierung 1, 4f., 7, 15ff., 45, 48f., 53, 67,
420 73, 85, 135, 164, 175, 180f., 198, 203f.,
Singularausdruck im Kompositum 63 207, 213, 219, 227, 238f., 257, 277ff.,
Sonoritätshierarchie 358 291, 293f., 301, 303, 318ff., 329, 334f.,
spezifische Referenz 4, 92, 115, 125, 128f., 356, 372f., 387f., 393, 398f., 401
146f., 150, 169, 172ff., 182, 188f., 191, unparadigmischer s-Genitiv 319–21
199, 201, 233f., 237, 278, 394 unparadigmisches Fugenelement 2f., 24, 28,
Sprachpflege 267 33, 35ff., 41ff., 48ff., 55, 57, 143, 149,
stammbildendes Element 14ff., 44, 49, 67, 155, 182f., 213, 215ff., 223, 227, 231f.,
227, 239, 257, 389f., 393ff. 252, 255, 260, 273, 281f., 289, 291ff.,
Stammflexion 27, 35, 224 295ff., 301, 304–34, 344, 356, 358f.,
Stapelsuffix 36 364, 368, 371, 374, 391ff., 398f., 417,
Stilebene 33, 108 418–26
Stoffbezeichnung 38, 63, 65, 158ff., 187, 195 – durch Fossilierung 49, 273, 394f.
Subjektsgenitiv 104ff., 179 – durch Innovation 49, 51
Substitutionsbildung 6 – en-Fuge bei Lehnwörtern 51–53
subtraktive Fuge 8, 39, 41f., 62, 217ff., 230, Usualisierung 174, 194, 241, 270, 337
289, 410
suffigiertes Erstglied 30, 258, 259–63, 310, Variation
314, 361, 367–69, 371f., 379, 399, 433 – regional 40, 46
– systemintern 41
ternäre Struktur Siehe Zusammenbildung Verbstammkonversion 255, 267f., 372f.
Textsorte 18ff., 22, 34, 99, 118, 134, 195, 214, verdeutlichende Zusammensetzung 7, 181
242, 250, 270, 272f., 280, 332, 346, 401, verfugend (Terminus) 13
403 Verfugungsanteile
Themavokal Siehe stammbildendes Element – (f)nhd. 216
Token (Definition) 239–41 – mhd. 212
470 | Index
Westmitteldeutsch 19, 42, 137 ZEIT-Korpus 23, 120, 183, 285, 289, 362, 378,
Wortart 4, 23, 44, 128, 158f., 163, 198ff., 211, 437, 439
233, 235f., 255f., 271, 288, 298, 344f., Zugehörigkeitsgenitiv 105, 179
383, 389, 393, 397, 413 Zusammenbildung 11
Wortbildungsmodell Siehe Zusammenrückung 113, 116ff., 148ff., 174,
Wortbildungsmuster 180, 256
Wortbildungsmuster 1f., 4, 8, 11, 13f., 19, 41, Zusammenschreibung 1, 5f., 21, 111, 118ff.,
48ff., 63, 96, 150, 180, 214, 229, 232f., 123, 128f., 137, 144f., 149ff., 159, 167,
243f., 253f., 258, 260, 267, 273, 285, 185, 193, 197, 202f., 211, 215, 241f., 246,
288, 290f., 301, 304, 316, 318, 329f., 293f., 335ff., 344, 348ff., 354, 396, 399,
340, 346, 351, 355f., 371, 393, 398f., 401, 415
401f. Zweifelsfall 40f., 159, 195, 282, 292
Wortbildungsprozess 10, 214, 233, 291, 390