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Abschlussarbeit zur Erlangung des

Bachelor of Arts

am Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam


Fachbereich Sprach- und Kulturwissenschaften
Goethe-Universität Frankfurt

‫خلق أفعال العباد‬

Die Schöpfung menschlicher Taten

kalām-theologische Ansichten zum Entstehungsprozess


einer Handlung - ḫalq afʿāl al-ʿibād

von:
Tuncay Erol
Matrikelnummer: 646 5555

Erstprüferin: Dr. Mira Sievers


Zweitprüfer: Dr. Hureyre Kam

Frankfurt am Main, 23.07.2019


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung............................................................................................ 1
2. Themenspezifizierung und Definition einiger Termini .................... 4
2.1 qudrah ........................................................................................................ 4
2.2 istiṭāʿah ...................................................................................................... 5
2.3 kasb ........................................................................................................... 6
3. Koranverse zu „ḫalq afʿāl al-ʿibād“ .................................................. 6
3.1 Sure ar-Raʿd (13) – Vers 16 ....................................................................... 6
3.2 Sure al-Muʾminūn (23) – Vers 14................................................................ 7
3.3 Sure al-ʿAnkabūt (29) – Vers 17 ................................................................. 7
3.4 Sure as-Saǧdah (32) – Vers 7 .................................................................... 7
3.5 Sure al-Fāṭir (35) – Vers 3 .......................................................................... 7
3.6 Sure aṣ-Ṣāffāt (37) – Vers 96 ..................................................................... 7
3.7 Sure al-Mulk (67) – Vers 13-14................................................................... 7
4. Die muʿtazilītische Schule und Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār ..................... 8
4.1 Die Muʿtazilah und die Entstehung des kalām ............................................ 8
4.2 Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār – ʿAbd al-Ǧabbār ibn Aḥmad .................................. 10
5. Die ašʿarītische Schule und al-Ǧuwaynī ........................................ 11
5.1 Die Ašʿariyyah – Anfänge des „traditionalistischen“ kalām ....................... 11
5.2 Al-Ǧuwaynī – Imām al-Ḥaramayn ............................................................. 13
6. Die māturīdītische Schule und al-Bazdawī .................................... 14
6.1 Die Māturīdiyyah – Die zweite sunnitisch-orthodoxe Schule ..................... 14
6.2 Al-Bazdawī – Imām Abū l-Yusr al-Bazdawī .............................................. 16
7. Werk- und Textanalyse – ḫalq afʿāl al-ʿibād................................... 18
7.1 Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār – Al-Muḫtaṣar fī uṣūl ad-dīn .................................... 18
7.2 Al-Ǧuwaynī – Kitāb al-Iršād ...................................................................... 21
7.3 Al-Bazdawī – Uṣūl ad-dīn ......................................................................... 27
8. Schluss – Vergleich und Illustration der Ansichten ..................... 32
Literaturverzeichnis ............................................................................... 34
1. EINLEITUNG
In der folgenden Bachelorarbeit handelt es sich um ein spekulativ-theologisches
Streitgespräch, dessen Beginn bis in die frühe Entstehungshistorie der kalām-Wis-
senschaft verwurzelt ist. Resultierend aus den Disputen mehrerer mutakallimūn,
die größtenteils bis in die heutige Zeit hinreichen, haben sich sukzessiv Theologie-
schulen – damit sind in vorsystematischer Entstehungszeit weniger feste instituti-
onelle Einrichtungen gemeint, sondern eher ideologische Schienen oder Denk-
schulen, die sich durch Meinungskonsense mehrerer Theologen, die meistenteils
auf den Thesen eines anführenden Lehrers basieren, herauskristallisierten – mit
verschiedener Methodologie gebildet. Der anfängliche Dissens und Interpreta-
tionsunterschied über verschiedene Glaubensgrundsätze führte zu langanhalten-
den Kontroversen, die aktuell zwischen diversen muslimischen Strömungen auf-
zufinden sind. In diesen Streitgesprächen können je nach Thema sowohl zwei, als
auch mehrere Ansichten auftauchen. Diese Variation ist thematisch bedingt, denn
es gibt Diskussionsthemen – als Beispiel kann man die Sichtbarkeit Gottes (visio
beatifica / ruʾyat Allāh) nennen –, bei denen man hauptsächlich nur von zwei Mei-
nungslagern sprechen kann. In dieser Arbeit wird jedoch eine etwas komplexere
Thematik abgehandelt, nämlich „die Schöpfung menschlicher Taten“. Die Frage
nach der Schöpfung menschlicher Taten lässt sich logischerweise nicht auf zwei
Antwortmöglichkeiten reduzieren. Bei diesem Streitgespräch kommen grundsätz-
lich folgende vier Theologieschulen, die sich in ihren deterministischen Lehren un-
terscheiden, zum Vorschein: die Muʿtazilah, Ašʿariyyah, Māturīdiyyah und
Ǧabriyyah. Grundsätzlich sind die Muʿtazilah, Ašʿariyyah und Māturīdiyyah die
größten und etabliertesten maḏāhib der spekulativen Theologie und zugleich
Hauptdiskursakteure in fast jeder Thematik. Durch eine gesonderte Ansicht, die
keine dieser drei Schulen vertritt, konnte sich die Ǧabriyyah, in der für sie namens-
gebenden Diskussion um die Schöpfung menschlicher Taten eine entsprechende
Stellung erkämpfen und erhielt mit ihr im kalām-theologischen Raum Prominenz.
In der folgenden Arbeit wird neben einer intensiven textanalytischen Untersuchung
der muʿtazilītischen, ašʿarītischen und māturidītischen Ansicht zum Entstehungs-
prozess menschlicher Handlungen, ebenfalls diese vierte Meinung mitberücksich-
tigt. Die detaillierte Struktur und der chronologische Verlauf der Arbeit sieht wie
folgt aus: Zu Beginn wird mit dieser allgemeinen Einleitung in die Thematik einge-
führt. Auf diese Einleitung folgt das Kapitel der Themenspezifizierung, welches

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aufgrund der Komplexität des breitgefächerten Themas vonnöten ist. Hierbei wird
explizit beschrieben, auf welches Gebiet sich die Untersuchung begrenzt. An-
schließend wird noch im selben Kapitel in die wichtigen Fachtermini des zu unter-
suchenden Gegenstandes eingegangen. Hierbei wird eine linguistische Analyse
der Hauptbegrifflichkeiten, bei der unter anderem das „Kitāb at-Taʿrīfāt“ vom
Sprachwissenschaftler al-Ǧurǧānī benutzt wird, durchgeführt. Die Begriffserklä-
rungen sollen als Vorwissen hinsichtlich der zu untersuchenden Textpassagen die-
nen und für ein einfacheres Verständnis sorgen. Dieses Vorwissen wird im an-
schließenden Kapitel mit Koranversen, die durch die Theologieschulen später ver-
schieden interpretiert zur Argumentation vorgeführt werden, untermauert. Um die
Objektivität vor der Diskussion beizubehalten, wird in diesem Kapitel keine ausge-
legte Version der Verse, sondern lediglich eine deutsche Übersetzung von Rudi
Paret vorgestellt. Nach dem in die Fachtermini und Koranverse der Diskussion
eingeführt wurde, werden nach und nach die verschiedenen Akteure des Disputs
vorgestellt. Hierbei wird jeweils vorerst die Schule, ihre Entstehung und ihre Me-
thodologie behandelt. Daraufhin wird jeweils auf einen Vertreter, dessen Werk im
Streitgespräch benutzt wird, biographisch eingegangen, um unter anderem seine
Zugehörigkeit zur Schule besser nachzuvollziehen. Der entstehungschronologi-
schen Reihenfolge nach wird erst die Muʿtazilah mit ihrem prominentem Vertreter
Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār vorgestellt. Anschließend wird auf die Ašʿariyyah und dem
Vertreter al-Ǧuwaynī eingegangen. Schließlich wird die Māturīdiyyah mit dem Ver-
treter al-Bazdawī analysiert. Nachdem alle Diskursakteure, die zugleich die Haupt-
theologieschulen der islamischen Welt ausmachen, vorgestellt wurden, beginnt die
eigentliche Thematik der Arbeit: das Streitgespräch und die kalām-theologischen
Ansichten zur Schöpfung menschlicher Handlungen. Wie zuvor erwähnt findet
hierbei eine Werkanalyse von je einem Vertreter pro Theologieschule statt. Die
entsprechenden Passagen aus den Werken von Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār, al-Ǧuwaynī
und al-Bazdawī zum Thema ḫalq afʿāl al-ʿibād werden nacheinander zur Diskus-
sion herangezogen. Hierbei wird das „al-Muḫtaṣar fī uṣūl ad-dīn“ von Qāḍī ʿAbd al-
Ǧabbār, das „Kitāb al-Iršād“ von al-Ǧuwaynī und das „Uṣūl ad-dīn“ von al-Bazdawī
untersucht. Durch die Analyse und Übersetzung der jeweiligen Passagen soll sich
die Ansicht der jeweiligen Partei herausidentifizieren. Bei dieser Textanalyse kon-
zentriert sich die Arbeit zwar hauptsächlich auf das Werk des Vertreters, jedoch
werden auch andere sowohl Primär- als auch Sekundärliteraturen zur Thematik
mitberücksichtigt. Nachdem die Textpassagen analysiert wurden, findet letztlich im

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Schlusskapitel ein resümierender Vergleich der Ansichten statt. Hierbei werden die
jeweilig untersuchten Ansichten präzise vorgestellt und zum besseren Überblick in
einer Grafik veranschaulicht. Diese Grafik soll auf einem Blick die verschiedenen
kalām-theologischen Meinungen zur Erschaffung menschlicher Handlungen posi-
tionierend illustrieren. Die Arbeit bietet als Ganzes einen historischen Einblick in
die Entstehung der kalām-Wissenschaft und den prinzipiell wichtigsten Denkschu-
len der Disziplin. Sie schildert die Methodologie und dialektische Argumentations-
weise der Schulen anhand einer ausführlichen Textanalyse zur Diskussion um die
Schöpfung menschlicher Taten. Zusätzlich zur Vorstellung verschiedener kalām-
theologischer Ansichten zur Thematik, gibt sie zudem nähere biographische Aus-
kunft über jeweils einen bestimmten Vertreter pro Theologieschule und definiert zu
Beginn einige wichtige Fachtermini der spekulativen Theologie. Während der Ar-
beit werden Lebe- und Sterbedaten gemäß dem gregorianischen Kalender ange-
geben. Die Übersetzung aller benutzten und zitierten Quellen sind – falls keine An-
oder Bemerkungen vorhanden sind – auf meine Person zurückzuführen.

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2. THEMENSPEZIFIZIERUNG UND DEFINITION EINIGER TERMINI
Wie zuvor erwähnt wird in dieser Arbeit die Schöpfung menschlicher Taten (in
transkribiertem Arabisch: das „ḫalq afʿāl al-ʿibād“) thematisiert. Diese Thematik
wurde von vielen Scholastikern sowohl unter der genannten Bezeichnung als auch
unter den Kapitelüberschriften „ḫalq al-afʿāl“ oder „ḫalq al-aʿmāl“ abgehandelt. Das
Thema ist facettenreich und gehört zu den Komplexeren der Disziplin, woraus re-
sultiert, dass der komplette Inhalt den Rahmen einer Bachelorarbeit sprengen
würde. Dem Kapitel der Erschaffung menschlicher Handlungen kann man viele
zusammenhängende Kapitel zuordnen. Zu diesen zählen unter anderem: göttliche
Attribute (ṣifah), die Theodizee-Frage, die Prädestination (qadar), der freie Wille
(irādah), die Auferlegung unerfüllbarer Taten (at-taklīfu bi-mā lā yuṭāq), die Schöp-
fung von angetrieben, beziehungsweise erzeugten Taten (at-tawallud) und Weite-
rem. Am Beispiel des zuletzt aufgezählten Themas, dem „at-tawallud“, kann man
die Themenspezifizierung dieser Arbeit veranschaulichen. Das Augenmerk der Ar-
beit richtet sich hauptsächlich darauf, wie eine allgemeine Tat des Menschen zu-
stande kommt. Dieser schöpferische Akt wird hinsichtlich der Einflüsse, Kräfte und
Mitwirkenden analysiert. Auch geht es darum, inwiefern der Mensch somit für seine
Taten verantwortlich ist. Beim tawallud-Kapitel geht es darum, dass man den ei-
gentlichen Urheber und Verantwortlichen einer angetriebenen Tat bestimmt.1 Bei-
spielsweise kann man sich einen Menschen vorstellen, der einen Stein durch seine
Berührung in Bewegung bringt.2 Diese Arbeit würde sich darauf begrenzen, wie
überhaupt die Kraft des Menschen zustande kommt, mit welcher er sich bewegt
und den Stein berührt. Einfacher gesagt geht es darum, wie ein Mensch überhaupt
etwas tätigt. Dazu werden in dieser Arbeit die verschiedenen Ansichten und The-
orien der Theologieschulen analysiert. Nun wird allmählich in die Thematik einge-
führt und einige Begriffe, die für die Diskussion wichtig sind, definiert.

2.1 QUDRAH

Der Begriff qudrah (arabisch: ‫ )قدرة‬bildet sich aus der Wortwurzel „q-d-r“. Die ver-
breitete Bedeutung des Wortes ist „ausreichende Kraft (über etwas), oder „die Kraft
besitzen, mit der man eine Tat kontrolliert und geplant durchführt.3 Die deutsche

1 Die erste Diskussion über den „tawallud“ leitete erstmals Bišr ibn al-Muʾtamir, einer der frühen
Muʿtazilīten aus Baṣrah, ein. Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 191.
2 Beispiel unter anderem von al-Ǧuwaynī. Vgl. al-Ǧuwaynī: Kitāb al-Iršād (2009), S.189.
3 Vgl. Topaloğlu: Kudret. In: Türkiye Diyanet Vakfı Islâm Ansiklopedisi (2002), Bd. 26, S.316.

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Übersetzung im Hans Wehr-Wörterbuch für den Begriff lautet „Fähigkeit, Kraft,
Macht“.4 Al-Ǧurǧānī,5 der unter anderem prominenter Sprach-, Rechts- und
kalām-Wissenschaftler war,6 beschreibt in seinem „Werk der Definitionen“ den Be-
griff „qudrah“ als eine Eigenschaft, mit der man nach eigenem Willen eine Tat zu-
stande bringen oder abbrechen kann.7 Diese Definitionen sind hauptsächlich men-
schenbezogen. Der Begriff wird jedoch auch gottbezogen benutzt. So erhält der
Begriff die Bedeutung Allmacht.8 Die Bezeichnung „al-Qādir“ ist unter anderem ei-
nes der Namen Gottes (asmāʾ al-ḥusnā) und bedeutet „der Allmächtige“. Auch wird
beispielsweise die regierende Macht (bzw. die Regierung) eines Staates als iqtidār
betitelt. Der Begriff qudrah wird in der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh) etwas
detaillierter gehandhabt und in al-qudrah al-mumakkinah (die ermöglichende Kraft)
und al-qudrah al-muyassirah (die vereinfachende Kraft) geteilt.9 In der kalām-Wis-
senschaft wird der Begriff mit den zuvor erwähnten Bedeutungen gebraucht und
teilweise mit dem Begriff istiṭāʿah, der nun definiert wird, ersetzt.

2.2 ISTIṬĀʿAH

Der Begriff istiṭāʿah (‫ )استطاعة‬wird wie erwähnt synonymisch zu qudrah benutzt, je-
doch ohne gottbezogene Bedeutung. Der Begriff bedeutet „Können, Fähigkeit“ und
in manchen Fällen „Möglichkeit“.10 Al-Ǧurǧānī schreibt zu diesem Begriff folgen-
des: „hiya ʿaraḍun yaḫluquhu Allāhu taʿālā fī l-ḥaywān“.11 Übersetzt bedeutet dies:
„Es ist ein Akzidens (eine nicht-wesentliche, vorübergehende Eigenschaft), das
Gott in einem Lebewesen (bzw. für einen) erschafft“. Im weiteren Verlauf schreibt
er, dass freiwillige Taten mit dieser Kraft oder Eigenschaft durchgeführt werden.
Auch betont er, dass die Begriffe qudrah, quwwah, wusʿ und ṭāqah sprachlich iden-
tische Bedeutung haben.12 Istiṭāʿah ist die Kraft, die es dem Menschen ermöglicht,
mit seinen ihm zustehenden Mitteln eine Tat nach seinem Willen zustande zu brin-
gen.13 Menschenbezogen bezeichnen die Begriffe qudrah und istiṭāʿah die Hand-
lungskraft, wobei ersteres eher als bestehende und letzteres als akzidentelle Kraft
zur Vollbringung von Taten nach eigenem Willen (iḫtiyārī) benutzt wird.

4 Vgl. Wehr: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart (1985), S. 1005.
5 Für nähere Biographie: Vgl. Al-Ǧurǧānī: Kitāb at-Taʿrīfāt (2007), S.6 f.
6 Vgl. Gümüş: Cürcânî, Seyyid. In: Türkiye Diyanet Vakfı Islâm Ansiklopedisi (1993), Bd. 8, S.134.
7 Vgl. Al-Ǧurǧānī: Kitāb at-Taʿrīfāt (2007), S.221.
8 Vgl. Wehr: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart (1985), S. 1005.
9 Vgl. Al-Ǧurǧānī: Kitāb at-Taʿrīfāt (2007), S.221 f.
10 Vgl. Wehr: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart (1985), S. 791.
11 Al-Ǧurǧānī: Kitāb at-Taʿrīfāt (2007), S. 35.
12 Vgl. ebenda.
13 Vgl. Yavuz: Istitâat. In: Türkiye Diyanet Vakfı Islâm Ansiklopedisi (2001), Bd. 23, S.399.

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2.3 KASB

Der Begriff kasb (‫ )كسب‬setzt sich aus den Buchstaben „k-s-b“ zusammen. Als Verb
(kasaba) trägt es die Bedeutung „(etwas) erwerben, gewinnen“.14 Auch kann es als
Substantiv verwendet werden und bedeutet somit ungefähr „Erworbenes, Errun-
gene, Gewonnenes“.15 Auch kann man es als Kraftmittel beschrieben, mit dem
man einen Vorteil aus einer Sache gewinnt, in dem man eine Tat mit positivem
anstatt negativem Resultat durchführt.16 Wörter mit dieser Wurzel kommen an vie-
len Stellen des Koran vor. Der Begriff wurde und wird in der kalām-Wissenschaft
dafür benutzt, um die menschliche Wirkung (das menschliche, selbstverantwortli-
che Eingreifen) bei Taten, die nach eigenem Willen getätigt worden sind, zu be-
schreiben. Das erste kalām-Werk, in dem dieser Begriff mit dieser Intention benutzt
wurde, ist auf den großen Gelehrten Abū Ḥanīfah zurückzuführen.17 Der Begriff
wurde eher von Traditionalisten verwendet und von muʿtazilītischen (sowie schiiti-
schen) Gelehrten nicht gebraucht.18 Einen Definitionskonsens für diesen Begriff
gibt es nicht, da manche Gelehrte kasb sowohl als „die zeitlich entstandene (be-
grenzte) Kraft, die bei einer Tat zur Austragung dient“, als auch als „der freie Wille,
mit dem absolut die Durchführung einer Tat beschlossen wird“ übersetzt haben.19

3. KORANVERSE ZU „ḪALQ AFʿĀL AL-ʿIBĀD“


Nun werden einige ausgewählte Koranstellen, die in der Diskussion wichtig sind,
objektiv in koranchronologischer Reihenfolge vorgestellt.

3.1 SURE AR-RAʿD (13) – VERS 16


ُ ‫ش َك َاء َخ َل ُقوا َك َخ ْلقه َف َت َش َاب َه ْال َخ ْل ُق َع َل ْيه ْم ۞ ُقل ه‬
ْ َ ‫اَّلل َخ ِال ُق ُك ِّل‬ ‫َْ َ َُ ه‬
َ ُ ‫َّلل‬
20
﴾ ‫شء‬‫ي‬ ِ ِ ِ ِ ِ ‫﴿ أم جعلوا‬
«Oder haben sie Allah Teilhaber (an die Seite) gesetzt, die so wie er als Schöpfer
tätig waren, so dass ihnen die Schöpfung mehrdeutig vorkommt (und sie nicht
wissen, wieweit sie das Werk Allahs und wieweit sie das seiner Teilhaber ist)?
Sag: Allah ist der Schöpfer von allem (was in der Welt ist).»21

14 Vgl. Yavuz: Kesb. In: Türkiye Diyanet Vakfı Islâm Ansiklopedisi (2002), Bd. 25, S.304.
15 Vgl. Wehr: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart (1985), S. 1101.
16 Vgl. Al-Ǧurǧānī: Kitāb at-Taʿrīfāt (2007), S.234.
17 Vgl. Yavuz: Kesb. In: Türkiye Diyanet Vakfı Islâm Ansiklopedisi (2002), Bd. 25, S.304 f.
18 Vgl. ebenda.
19 Vgl. ebenda.
20 Koran 13:16.
21 Übersetzung: Rudi Paret.

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3.2 SURE AL-MUʾMINŪN (23) – VERS 14
22 َ ‫اَّلل َأ ْح َس ُن ْال َخالق‬
﴾‫ي‬
ُ‫َََ َ َ ه‬
‫﴿ فتبارك‬
ِِ
«So ist Allah voller Segen. Er kann am schönsten erschaffen.»23

3.3 SURE AL-ʿANKABŪT (29) – VERS 17


ً ْ َ ُُ ْ َ
24
﴾ ‫﴿ َوتخلقون ِإفكا‬
«[…] und setzt (damit) eine Lüge in die Welt.»25

3.4 SURE AS-SAǦDAH (32) – VERS 7


ُ َ َ َ ْ َ َّ ُ َ َ ْ َ ‫ه‬
26
﴾ ‫شء خلقه‬ ‫﴿ ال ِذي أحسن كل ي‬
«(Er) der alles, was er geschaffen, gut gemacht hat […].»27

3.5 SURE AL-FĀṬIR (35) – VERS 3


‫ه‬ َ َ ْ َ
28
﴾ ‫﴿ ه ْل ِمن خ ِالق غ ْ ُي اَّلل‬
«Gibt es außer Allah einen Schöpfer […]?»29

3.6 SURE AṢ-ṢĀFFĀT (37) – VERS 96


َ ُ َ ُ ََ َ ُ‫َ ه‬
30
﴾ ‫اَّلل خلقك ْم َو َما ت ْع َملون‬‫﴿و‬
«wo doch Allah euch, und was ihr macht, geschaffen hat?»31

3.7 SURE AL-MULK (67) – VERS 13-14


َ ْ ُ ‫ْ َ َ َ ُ ه‬ َ َ ََ ُ ُّ َ ٌ َ ُ
32
﴾ ‫يف الخ ِب ُي‬ ‫الصدور۞أَل ي ْعل ُم َمن خلق َوه َو الل ِط‬ ‫ات‬
ِ ‫﴿ أنه ع ِليم ِبذ‬
«Er weiß Bescheid über das, was die Menschen in ihrem Innern (an Gedanken
und Gesinnungen) hegen. Sollte er sich nicht in denen auskennen, die er
geschaffen hat, wo er doch (bei jeder Schwierigkeit) Mittel und Wege findet und
(über alles) wohl unterrichtet ist?»33

22 Koran 23:14.
23 Übersetzung: Rudi Paret.
24 Koran 29:17.
25 Übersetzung: Rudi Paret.
26 Koran 32:7.
27 Übersetzung: Rudi Paret.
28 Koran 35:3.
29 Übersetzung: Rudi Paret.
30 Koran 37:96.
31 Übersetzung: Rudi Paret.
32 Koran 67:13-14.
33 Übersetzung: Rudi Paret.

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4. DIE MUʿTAZILĪTISCHE SCHULE UND QĀḌĪ ʿABD AL-ǦABBĀR
Nachdem einige wichtige Begrifflichkeiten definiert und anschließend dazu Koran-
stellen zur Thematik genannt wurden, richtet sich das Augenmerk der Arbeit nun
auf die Diskursakteure des Streitgesprächs: die Muʿtazilah, Ašʿariyyah, und
Māturīdiyyah. Diese Theologieschulen werden hinsichtlich ihrer Entstehungsge-
schichte, Methodologie und einem wichtigen Vertreter analysiert. Zudem werden
somit die Entstehung und Entwicklung der kalām-Theologie deutlich.

4.1 DIE MUʿTAZILAH UND DIE ENTSTEHUNG DES KALĀM

Der Ursprung der kalām-Wissenschaft geht auf die kontextuelle Entstehung der
Theologieschulen zurück. Lapidar formuliert, kann man die Entstehung der Diszip-
lin mit der Entstehung der Muʿtazilah gleichsetzen.34 Daraus lässt sich erkennen,
dass diese Schule per se die erste islamische Theologieschule ist.35 Einige ʿulamāʾ
(Gelehrte) waren sich uneinig darin, wann die Muʿtazilah tatsächlich entstand.36 Es
soll eine politische Gruppierung (ʿAlī-Anhängerschaft) zu Zeiten des Ḥasan ibn ʿAlī
ibn Abī Ṭālib – dem Sohn des vierten Kalifen ʿAlī ibn Abī Ṭālib – existiert haben,
die nach der Kalifatsübergabe Ḥasans an den ersten Umayyaden-Führer
Muʿāwiyah ibn Abī Sufyān, sich von der Gesellschaft distanziert und sich ihren
Gebetsplätzen und Häusern gewandt haben sollen.37 Die meistverbreitete Ansicht
geht aber tatsächlich auf die Absonderung38 Wāṣil bin ʿAṭāʾs (gest. 748) von sei-
nem ehemaligen Lehrer Ḥasan al-Baṣrī (gest. 728) zurück.39 Von daher wird meis-
tens Wāṣil bin ʿAṭāʾ als Gründer, der im 8. Jahrhundert in Baṣrah entstandenen
Muʿtazilah, betitelt.40 Dieser soll al-Baṣrī während einer Unterrichtseinheit über die
Stellung des fāṣiq (Großsünders) widersprochen und seine eigene Theorie, das
spätere muʿtazilītische Dogma des „al-manzila bayna l-manzilatayn“ (die [Zwi-
schen] Stufe zwischen zwei Stufen, beziehungsweise eine Zwischenortschaft zwi-
schen Hölle und Paradies), vorgeführt haben.41 Auch wenn die ersten Uneinigkei-
ten (iḫtilāf) der muslimischen Gemeinschaft auf die Zeit kurz vor dem Ableben des

34 Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 183.


35 Vgl. ebenda, S. 188.
36 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 143.
37 Vgl. ebenda; Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 189.
38 Die Absonderung ist somit namensgebend für die Muʿtazilah. Der Name bedeutet „Die [Sich]Ab-

sondernden“. Die Wortwurzel „ʿ-z-l“ wird im VIII. Stamm des Partizip Aktiv verwendet. Ḥasan al-
Baṣrī soll den bekannten Spruch „qad iʿtazala ʿannā Wāṣil“ oder „iʿtazalanā Wāṣil“ getätigt haben.
39 Vgl. Gimaret: Muʿtazila. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012).
40 Vgl. ebenda.
41 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 143.

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Propheten Muḥammad (Friede und Segen auf ihm ‫ )ﷺ‬zurückzuführen sind, kann
man behaupten, dass diese Uneinigkeit zwischen Wāṣil und Ḥasan al-Baṣrī das
Fundament der kalām-Mentalität gelegt haben.42 Auch wird ʿAmr ibn ʿUbayd (gest.
761) als Mitbegründer neben Wāṣil ibn ʿAṭāʾ genannt,43 der nach dem Tot Wāṣils
die Führungsposition der Muʿtazilah übernahm.44 Da die Gedanken und Lehren
des Ḥasan al-Baṣrī jedoch als Ausgangspunkt (bzw. Ausgangsquelle), aus dem
sich die Muʿtazilah herausentwickelte, zu betrachten sind, wäre es passender,
dass man den Anfang der kalām-Wissenschaft auf ihn zurückführt.45 Nach Wāṣil
ibn ʿAṭāʾ und ʿAmr ibn ʿUbayd haben folgende Personen bei der Etablierung und
Entwicklung der spekulativen Theologie eine wichtige Rolle gespielt: Hišām ibn al-
Ḥakam (gest. 795), Ḍirār ibn ʿAmr (gest. 815), Bišr al-Marīsī (gest. 833) und des-
sen Schüler Ḥusayn an-Naǧǧār (gest. 835).46 Später entstanden zwei muʿtazilīti-
sche Lager: die Lager in Baṣrah (baṣrī) und Bagdad (baġdādī). Der Führer der
Muʿtazilīten in Baṣrah war Abū ʿAlī al-Ǧubbāʾī (gest. 916), wobei in Bagdad Abū l-
Qāsim al-Kaʿbī al-Balḫī (gest. 931) die Führungsposition übernahm.47 Wie an den
Daten erkennbar, erfolgte die Entstehung der Muʿtazilah während der Umayyaden-
Dynastie. Die Umayyaden verhielten sich recht neutral und passiv gegenüber die-
ser Denkschule, da diese keine Kontraproduktivität aufwiesen und auch keine krie-
gerische Haltung hatten.48 Die fehlende Unterstützung durch die Regierung erhiel-
ten die Muʿtazilīten doch zu Zeiten der Abbasiden, da al-Maʾmūn, der siebte ab-
basidische Kalif, sich zur Muʿtazilah bekannte und durch das Knüpfen von engen
Beziehungen die muʿtazilītische Blütezeit in die Wege leitete.49 Auch ist von ihm
bekannt, dass er die muʿtazilītische Lehre der Erschaffenheit des Koran (ḫalq al-
Qurʾān) zur Staatsdoktrin erklärte und mit der miḥna jegliche Personen, die dieser
Meinung widersprachen, verfolgen ließ.50 Unter den abbasidischen Kalifen al-
Muʿtaṣim und al-Wāṯiq führte die Unterstützung der Muʿtazilah fort. Die zwei Jahr-
hunderte dauernde Blütezeit der Muʿtazilah (zwischen dem 9. und 11. Jahrhun-
dert) genügte, um große Prominenz in der islamischen Welt bis dato zu erlangen.

42 Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 183.


43 Vgl. ebenda.
44 Vgl. Gimaret: Muʿtazila. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012).
45 Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 183. An dieser Stelle ist die nach einigen Quellen

erste kalām-thematische Briefkonversation zwischen Ḥasan al-Baṣrī und dem Umayyaden-Kalif ʿAbd
al-Malik ibn Marwān, welche im gleichen Werk auf der Seite 166 angesprochen wird, nennenswert.
46 Vgl. ebenda, S. 184.
47 Vgl. ebenda, S. 193.
48 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 151.
49 Vgl. ebenda, S.152.
50 Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 192.

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Nun ist es wichtig, sich anschließend zur Entstehung und Verbreitung mit der Me-
thodologie dieser Theologieschule auseinanderzusetzen. Die Muʿtazilīten sind für
ihre rationale Dialektik und Thesenderivation berühmt. Die zweitwichtigste Wis-
sensquelle nach der šarīʿah – darunter fallen alle islamischen Rechtsgrundsätze,
Ge- und Verbote, die sich auf die göttliche Offenbarung stützen und ohne Massen-
überlieferungen für das Gehirn unmöglich zu erdenken wären – ist die Vernunft,
beziehungswiese der Verstand.51 Jede Thematik, die sie abgehandelt und unter-
such haben, verlief durch ihren Verstandesfilter, sodass sie wirklich nur jene An-
sichten akzeptiert haben, die auch rational Sinn ergaben. Die rationale Methodik
war und ist das Hauptcharakteristikum der Muʿtazilīten. Der Grund für die Entste-
hung dieser rationalen Methodik war unter anderem, dass die Muʿtazilīten im Irak
und Iran, wo verschiedene ältere Kulturen und Zivilisationsstrukturen aufeinander-
trafen, ansässig waren. Sie waren größtenteils nichtarabischen Ursprungs – viele
nichtarabische Muslime konnten sogar Griechisch - und wurden von altphilosophi-
schen Gedanken beeinflusst.52 Die Muʿtazilīten hatten sich mit der griechischen
Philosophie auseinandergesetzt und teilweise Gedanken zum Füllen von rationa-
len Gedächtnislücken übernommen. Da sie auch teilweise in Dispute mit einigen
islamkritischen Philosophen gerieten, eigneten sich die Muʿtazilīten einige Diskus-
sions- und Argumentationsmethoden an und wurden teilweise sogar als die „mus-
limischen Philosophen“ betitelt.53 Zudem waren sie die ersten, die griechische Be-
griffe in den islamisch-theologischen Diskussionen verwendeten.54 Allmählich
etablierten sich ihre fünf innerislamischen Grundprinzipien, für welche sie bis heute
bekannt sind: die absolute Einheit Gottes (at-tawḥīd), die Gerechtigkeit Gottes (al-
ʿadl), das Versprechen und die Drohung (al-waʿd wa-l-waʿīd), die Stufe zwischen
zwei Stufen für den Großsünder (al-manzila bayna l-manzilatayn) und das Gebie-
ten des Guten und Verbieten des Verwerflichen (al-amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿani
l-munkar).55

4.2 QĀḌĪ ʿABD AL-ǦABBĀR – ʿABD AL-ǦABBĀR IBN AḤMAD

Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār, der mit komplettem Namen Abū l-Ḥasan Qāḍī l-Quḍāh ʿAbd
al-Ǧabbār bin Aḥmad bin ʿAbd al-Ǧabbār al-Hamaḏānī heißt56, war zu seiner Zeit

51 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 151.


52 Vgl. ebenda, S. 149.
53 Vgl. ebenda, S. 150.
54 Vgl. Radtke: Der sunnitische Islam. In: Ende (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart (2005), S. 60.
55 Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 196 f.
56 Vgl. Yurdagür: Kādî Abdülcebbâr. In: TDV Islâm Ansiklopedisi (2001), Bd. 24, S. 103.

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einer, oder gar der größte muʿtazilītische Theologe. Er zählt zu den berühmtesten
und renommiertesten kalām-Wissenschaftlern und gehörte zu den Muʿtazilīten aus
Baṣrah. Er ist im Jahre 1025 verstorben, jedoch wird ihm kein eindeutiges Geburts-
datum zugeschrieben. Wenn man davon ausgeht, dass er 90 Jahre alt wurde,
dann müsste er in den Jahren von 932-937 geboren worden sein.57 Zu Jugendzei-
ten lernte er von Ḥadīṯgelehrten aus der Umgebung im iranischen Hamaḏān. Er
verfolgte bis zu seiner Auswanderung nach Baṣrah die ašʿarītischen Glaubens-
grundsätze und bekannte sich im Bereich der islamischen Rechtswissenschaft zu
der šāfiʿītischen Rechtschule. Als er ungefähr im Jahr 958 nach Baṣrah auswan-
dert und den Unterricht des muʿtazilītischen Gelerhten Abū Isḥāq Ibrāhīm bin
Ayyāš besucht, wird er von der muʿtazilītischen Denkweise überzeugt. Nach seiner
Beeinflussung schließt er sich der muʿtazilītischen Rechtschule an. In Iṣfahān be-
kommt Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār später den Amt des Qāḍī al-Quḍāh (Oberster Richter)
und kann seine muʿtazilītische Denkweise in den regierenden Gebieten verbreiten.
Die Ausbildung eines der stärksten und renommiertesten Muʿtazilīten wie Qāḍī
ʿAbd al-Ǧabbār geht sowohl auf die starke und schnelle Verbreitung der Muʿta-
zilīten in ihrer Blütezeit, aber auch auf den Wesir Ṣāhib ibn ʿAbbād zurück, der
durch sein pro-muʿtazilītsches Engagement in Ḫurāsān, wo ʿAbd al-Ǧabbār auch
teilweise belehrt wurde, eine optimale Grundlage erschuf.58 Zu den ausgebildeten
Schülern ʿAbd al-Ǧabbārs gehören unter anderem Ibn al-Murtaḍā und Ḥākim al-
Ǧušamī.59

5. DIE AŠʿARĪTISCHE SCHULE UND AL-ǦUWAYNĪ


Nun wird die zweite Theologieschule, die Ašʿariyyah, vorgestellt und hinsichtlich
ihrer Entstehungsgeschichte und Methodologie untersucht.

5.1 DIE AŠʿARIYYAH – ANFÄNGE DES „TRADITIONALISTISCHEN“ KALĀM

Der Name dieser Denkschule geht auf Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī (gest. 935) zurück.
Teilweise wird neben der Betitelung Ašʿariyyah, auch der Name Ašāʿirah verwen-
det.60 Der in Baṣrah geborene al-Ašʿarī soll ungefähr von 873 bis 935 gelebt ha-
ben.61 In der Stadt Baṣrah war zu seiner Geburtszeit die muʿtazilītische Ideologie

57 Vgl. Yurdagür: Kādî Abdülcebbâr. In: TDV Islâm Ansiklopedisi (2001), Bd. 24, S. 103.
58 Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 195.
59 Vgl. Yurdagür: Kādî Abdülcebbâr. In: TDV Islâm Ansiklopedisi (2001), Bd. 24, S. 103.
60 Vgl. Watt: As̲h̲ʿariyya. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012).
61 Vgl. Gölcük: Kelâm Tarihi (2016), S. 95.

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verbreitet. Nach und nach wurde die Muʿtazilah geschwächt. Einerseits distan-
zierte sich der zehnte abbasidische Kalif al-Mutawakkil von ihnen und andererseits
gab es Proteste gegen ihre Denkweise, vor allem von den fiqh- und ḥadīṯ-Gelehr-
ten, die von der Gesellschaft unterstützt wurden.62 Der berühmte Rechtsgelehrte
Aḥmad ibn Ḥanbal galt in der Gesellschaft als Führer der Gruppe der ahl al-ḥadīṯ,63
die später vom Kalifen unterstützt wurden.64 Diese konnten aber auf methodologi-
scher Ebene mit der Muʿtazilah nicht mithalten, denn sie waren unerfahren darin,
Thesen, die rational durchdacht und argumentativ effizient sind, zu formulieren.
Ibn Kullāb (gest.854) und Ḥāriṯ al-Muḥāsibī (gest. 858) waren die ersten Gelehrten,
die erstmals die traditionalistische Meinung mit den muʿtazilītischen Methoden ver-
knüpften.65 Die Schule, beziehungsweise Bewegung Ibn Kullābs (auch Kullābiyyah
genannt) erschuf die Grundlage für den ašʿarītischen kalām, der circa ab dem Jahr
922, nachdem sich der 40-jährige Muʿtazilīt al-Ašʿarī von dieser Theologieschule
distanzierte und sich gegen sie wandte, entstand.66 Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī erlernte
die kalām-Wissenschaft von den Muʿtazilīten, wobei er Schüler des Abū ʿAlī al-
Ǧubbāʾī67 gewesen war und ihn sogar manchmal bei Abwesenheit vertrat.68 Ob-
wohl al-Ašʿarī mit der Methodologie und Denkweise der Muʿtazilīten aufwuchs,
distanzierte er sich allmählich von ihnen und näherte sich der Ansichten der fiqh-
und ḥadīṯ-Gelehrten. Nachdem er eine Entfernung zur Muʿtazilah verspürte, zog
er sich in sein Haus zurück und verglich die Ansichten beider Parteien. Er ent-
schied sich für die Ansichten der Traditionalisten und gab seinen Austritt aus der
Muʿtazilah an einem Freitag in der großen Moschee Baṣrahs bekannt. Auch wird
von ihm gesagt, dass er vom Propheten Muḥammad (‫ )ﷺ‬träumte, welcher ihm
empfiehl, für den Sieg seiner sunnah zu kämpfen.69 Er betrieb von dem Zeitpunkt
an spekulative Theologie mit traditionalistischer Apologetik, wobei er betont, dem
iʿtiqād des Aḥmad ibn Ḥanbal zu folgen.70 Es ist anhand seinem Werk „Maqālāt al-
islāmiyyīn wa-iḫtilāf al-muṣallīn“ deutlich zu erkennen, dass sich al-Ašʿarī in dieser
Disziplin gut auskannte, da er Wissen über die Ansichten fast aller (kleinen und

62 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 182.


63 Mit „ahl al-ḥadīṯ“ sind die muḥaddiṯūn (ḥadīṯ-Wissenschaftler), bzw. (allgemeiner formuliert) die
Traditionalisten gemeint, die ausschließlich Überlieferungen (aḥādīṯ / naṣṣ) zur Urteilsfindung und
Thesenformulierung benutzen.
64 Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 199.
65 Vgl. ebenda.
66 Vgl. ebenda, S. 194-199.
67 Nach einer Quelle war al-Ašʿarī sogar dessen Stiefsohn. Vgl. Gölcük: Kelâm Tarihi (2016), S. 95.
68 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 182.
69 Vgl. Gölcük: Kelâm Tarihi (2016), S. 95.
70 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 189.

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großen) Denkschulen hatte. Zu den allgemeinen und methodologischen Charak-
teristika von al-Ašʿarī und der Ašʿariyyah gehören folgende Punkte: Die Ansichten
von Ašʿarī stimmten mit denen der fiqh- und ḥadīṯ-Gelehrten, die sich gegen die
Muʿtazilah stellten, überein. Zudem legte er mehr Wert auf Überlieferungen und
Texte – unter anderem unterschied er nicht zwischen mutawātir und āḥād Überlie-
ferungen und akzeptierte beide Arten71 – der traditionalistischen salaf (Vorgänger),
wobei er die rationale Urteilsfindung und Dialektik nicht ganz verwarf.72 Zudem ist
noch bekannt, dass er fast immer zwischen den Anichten der Muʿtazilah und
Ǧabriyyah stand und meistens einen Mittelweg ging. Nach al-Ašʿarī waren viele
prominente Gelehrte wie al-Bāqillānī, al-Baġdādī, al-Ǧuwaynī und al-Ġazzālī Ver-
treter der Ašʿariyyah und haben zur Entwicklung, Verbreitung und Systematisie-
rung beigetragen.

5.2 AL-ǦUWAYNĪ – IMĀM AL-ḤARAMAYN

Der renommierte al-Ǧuwaynī heißt mit vollem Namen Abū l-Maʿālī ʿAbd al-Malik
ibn ʿAbd Allāh ibn Yūsuf al-Ǧuwaynī aṭ-Ṭāʾī an-Nīšābūrī. Meistens wird die Nisba
al-Ǧuwaynī oder an-Nīšābūrī für ihn verwendet.73. Er war sowohl šāfiʿītischer
Rechtsgelehrter als auch ašʿarītischer kalām-Theologe.74 Er wurde am 17. (oder
9.) Februar im Jahre 1028 in der Nähe von der iranischen Stadt Nīšābūr geboren,
die auch namensgebend für ihn war. In dieser Stadt lernte er zuerst von seinem
Vater und daraufhin von seinem regionalberühmten Onkel ʿAlī bin Yūsuf, dem so-
genannten Šayḫ al-Ḥiǧāz. In diesen Regionen verteidigte er bei vielen Diskussio-
nen die Glaubensideologien der Ašʿariyyah. Er galt als eifriger Leser verschiede-
ner, insbesondere auch philosophischer Texte und Bücher.75 Von ihm ist bekannt,
dass er schon vor seinem 20. Lebensalter den Studienkreis (maǧlis) seines Vaters,
da dieser im Jahre 1047 verstarb, übernahm.76 Im Jahre 1058 zog er, nach dem
die Repressalien gegen die Ašʿarīten in Nīšābūr stiegen, in die Ḥiǧāz-Region und
blieb für vier Jahre in Mekka und Medina, wo er Prominenz erhielt. Aufgrund dieser
örtlichen Aktivität wurde ihm der Beiname „Imām al-Ḥaramayn“ (Imam der beiden
heiligen Stätten [Mekka und Medina]) gegeben.77 Nach seiner Rückkehr aus den

71 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 189.


72 Vgl. ebenda.
73 Vgl. Dziri: Al-Ǧuwaynīs Position im Disput (2011), S. 20.
74 Vgl. ed-Dîb: Cüveynî, Imâmüʾl-Haremeyn. In: TDV Islâm Ansiklopedisi (1993), Bd. 8, S.141.
75 Vgl. Dziri: Al-Ǧuwaynīs Position im Disput (2011), S. 24.
76 Vgl. ebenda, S. 21 f.
77 Vgl. ebenda, S. 20.

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heiligen Stätten leitete er die Niẓāmiyyah-Schule78 in der Stadt Nīšābūr. Dadurch
gelang es ihm, überregional Bekanntheit zu erhalten und seine Zuhörerschaft zu
vervielfachen, wobei einige Quellen die Zahl seiner Schüler während seines Able-
bens auf 400 einschätzen.79 Zu den Schülern, die er in seinem Leben unterrichtete,
gehören Berühmtheiten wie al-Ġazzālī und aṭ-Ṭabarī.80 In dem Bereich der kalām-
Wissenschaft befolgte er – bis auf kleinere Ausnahmen – die ašʿarītische
Schiene.81 Er verstarb am 20. August im Jahr 1085.82

6. DIE MĀTURĪDĪTISCHE SCHULE UND AL-BAZDAWĪ


Nun wird auf die Entstehung und Methodologie der Māturīdiyyah eingegangen. Der
im Anschluss zu untersuchende Vertreter ist al-Bazdawī.

6.1 DIE MĀTURĪDIYYAH – DIE ZWEITE SUNNITISCH-ORTHODOXE SCHULE

Durch die Unterstützung mehrerer traditionalistisch-orientierter Gruppen im Streit


gegen die Muʿtazilīten kamen zwei traditionalistische kalām-Wissenschaftler zum
Vorschein: in der irakischen Region Ḫurāsān (Baṣrah) Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī und
in Transoxanien (Samarqand) Abū Manṣūr al-Māturīdī.83 Neben der Ašʿariyyah ist
somit die zweite orthodox-sunnitische kalām-Schule, die Māturīdiyyah, die nach
Abū Manṣūr al-Māturīdī (gest. 944) benannt wurde, entstanden.84 Al-Māturīdī, der
mit vollem Namen Muḥammad ibn Muḥammad ibn Maḥmūd Abū Manṣūr as-Sa-
marqandī al-Māturīdī heißt, ist in Mātūrid, einem kleinen Ort nähe der Stadt Sa-
marqand im heutigen Usbekistan, geboren. Sein Geburtsdatum ist nicht eindeutig
klar, jedoch liegt dieses nach Schätzungen ungefähr in der Mitte des 9. Jahrhun-
derts. Anders als al-Ašʿarī befand er sich nicht an einem Ort wie Baṣrah, wo sich
die Konflikte zwischen den Muʿtazilīten und Traditionalisten intensiv verschärft hat-
ten. Trotz der Entfernung zu diesen Konfliktstädten wurden die dortigen Streitge-
spräche in der Umgebung al-Māturīdīs rumgesprochen. Tatsächlich waren einige

78 Niẓāmiyyah ist der Name für die in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts vom seldschukischen
Wesir Niẓām al-Mulk gegründeten religiösen Schulen, in denen die ašʿarītischen und šāfiʿītischen
Gelehrten vorbehalten waren. Siehe: Bosworth C.E.: Niẓāmiyya. In: Encyclopaedia of Islam, Second
Edition (2012).
79 Vgl. Dziri: Al-Ǧuwaynīs Position im Disput (2011), S. 24.
80 Vgl. ed-Dîb: Cüveynî, Imâmüʾl-Haremeyn. In: TDV Islâm Ansiklopedisi (1993), Bd. 8, S.141.
81 Vgl. ebenda, S. 142.
82 Vgl. ebenda, S. 141.
83 Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 200; Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi, S. 182.
84 Vgl. Madelung: Māturīdiyya. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012).

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Muʿtazilīten aufzufinden, mit denen sich al-Māturīdī in seiner Ortschaft dispu-
tierte.85 Al-Māturīdī folgte von Geburt an der glaubensideologischen Lehren der
Ḥanafīten und gilt als repräsentativer Theologe des traditionellen transoxanischen
„Ḥanafismus“.86 Naṣr ibn Yaḥyā al-Balḫī soll al-Māturīdī den ḥanafītischen fiqh und
die kalām-Wissenschaft gelehrt haben.87 Fast alle ḥanafītischen Gelehrten aus der
transoxanischen Umgebung waren der Meinung, dass alle formulierten Thesen
des Imām Māturīdī sich mit denen des Abū Ḥanīfah deckungsgleich vereinten.88
Man kann sagen, dass sich die Lehren des al-Māturīdī auf Abū Ḥanīfah stützen
und eine detaillierte Form seiner Ansichten sind.89 Die Māturīdiyyah bezeichnet
man teilweise auch als sunnitisch-ḥanafītische Theologieschule,90 wobei man die
Ašʿariyyah nur als sunnitisch oder sunnitisch-ḥanbalītisch betiteln würde. Die Ge-
ographie spielt bei der Entstehung und Verbreitung dieser zwei Theologieschulen
eine entsprechende Rolle. Die irakischen ʿulamāʾ (teilweise auch Gelehrte aus Da-
maskus) folgten der Glaubensgrundsätze der fiqh- und ḥadīṯ-Wissenschaftlern und
später der ḥanbalītisch-geprägten Ašʿariyyah. Die Regionen um Ḫurāsān und Mā
warāʾ an-nahr (Transoxanien) waren ḥanafītisch orientiert und hatten eine Zunei-
gung zu den Lehren Abū Ḥanīfahs. Durch die ins Detail gehende Auseinanderset-
zung und Befassung mit den Lehren Abū Ḥanīfahs konnte al-Māturīdī großes An-
sehen von den örtlichen Gelehrten erlangen.91 Somit konnten sich allmählich die
Ansichten der Māturīdiyyah in den Regionen festsetzen und nach und nach wei-
terverbreiten. Durch die regionale Machtübernahme und Expansion der türkischen
Seldschuken konnte sich somit der Ḥanafismus und mit ihm die Lehre der
Māturīdiyyah in die westiranischen, irakischen, anatolischen, syrischen und ägyp-
tischen Ortschaften verbreiten.92 Al-Ašʿarī und al-Māturīdī gelten beide als fidei
defensor93 der sunnitischen Theologie im 9. Jahrhundert und beide bemühten sich,
die traditionalistische Glaubensideologie unter anderem mit rationalen Methoden
und Argumenten in der spekulativen Theologie apologetisch zu vertreten.94 Jedoch

85 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 200.


86 Vgl. Madelung: Māturīdiyya. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012); Der Begriff Ḥan-
afismus bezeichnet die Lehre der Glaubensideologien des Abū Ḥanīfah. Das Wort wird im Englischen
als „Hanafism“ wiedergegeben, jedoch im Deutschen eher nicht benutzt.
87 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 197.
88 Vgl. ebenda.
89 Vgl. ebenda, S. 199.
90 Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 219.
91 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 198.
92 Vgl. Madelung: Māturīdiyya. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012).
93 Hier: „Vertreter des Glaubens“. Allgemein: Lateinische Ursprungsbezeichnung für den englischen

Titel „Defender of the faith“ aus dem 16. Jahrhundert.


94 Vgl. Radtke: Der sunnitische Islam. In: Ende (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart (2005), S. 61 f.

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gab es neben unterschiedlichen regionalen Prägungen und rechtschulischen An-
sichten zwischen der Ašʿariyyah und der Māturīdiyyah, auch methodologische Ver-
schiedenheiten. Eins der wichtigsten und ausschlaggebendsten Unterschiede ist,
dass al-Māturīdī dem Verstand eine viel höhere Stellung und mehr Verantwortung
zuordnet.95 Zum Beispiel ist die Gotteserkenntnis für die Ašʿarīten durch die šarīʿah
(den vorgewiesenen Weg, der Offenbarung und Überlieferung) möglich, wobei die
Māturīdīten der Meinung sind, dass dies auch durch rationale Erschließung mög-
lich ist.96 Es gibt mehrere solcher Beispiele, die man ähnlich aufzählen könnte. Um
die Methodologie al-Māturīdīs97 kurz zusammenzufassen: Nach den Offenbarun-
gen und Überlieferungen, hat die Vernunft eine hohe Priorität, sie kann aber
manchmal „versagen“. Diese Versage-Möglichkeit sorgt aber nicht dafür, dass er
sich wie die fiqh- und ḥadīṯ-Gelehrten nur auf die Offenbarungs- und Textebene
begrenzt. Er ist der Meinung, dass rational erschlossene Thesen und Normen, die
der šarīʿah (Offenbarung) nicht widersprechen, möglich und akzeptabel sind.98 Um
die Positionierung der jeweiligen Parteien und Schulen illustrativ zusammenzufas-
sen, kann man sagen, dass sich die Muʿtazilah an einem Ende und die fiqh- und
ḥadīṯ-Gelehrten am anderen Ende einer Schnur befinden. Die Ašʿariyyah befindet
sich zwischen diesen Parteien, jedoch mit einer kleinen Neigung zu den fuqahāʾ
und muḥaddiṯūn. Die Māturīdiyyah hingegen positioniert sich zwischen der Muʿta-
zilah und Ašʿariyyah.99

6.2 AL-BAZDAWĪ – IMĀM ABŪ L-YUSR AL-BAZDAWĪ

Der im Folgenden zu untersuchende māturīdītische Vertreter ist der Gelehrte al-


Bazdawī. Er heißt mit vollem Namen Ṣadr al-Islām Abū l-Yusr Muḥammad ibn
Muḥammad ibn al-Ḥusayn ibn ʿAbd al-Karīm al-Bazdawī. Seine nisba „‫“اليدوي‬
bringt einige Variationen mit sich, die transkriptionsabhängig sind. In der osmani-
schen, beziehungsweise türkischen Literatur wird die Bezeichnung „‫“ليدوي‬
(transkribiert: al-Pazdawī, türkische Schreibweise: el-Pezdevî) verwendet.100 Da
im Arabischen der Buchstabe „P“ nicht vorhanden ist, sind solche kleinen Abwei-
chungen aufzufinden. In der arabischen, englischen und deutschen Literatur und

95 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 201.


96 Die Muʿtazilīten sprechen der Vernunft bei der Gotteserkenntnis eine pflichtige (wāǧib) Rolle zu.
Die Māturīdīten hingegen erklären die rationale Erschließung als möglich (ǧāʾiz) und akzeptabel.
97 Näheres zur Rationalität bei al-Māturīdī, siehe: Kam: Die duale Epistemologie al-Māturīdīs. In: El

Kaisy-Friemuth (Hrsg.): Rationalität in der islamischen Theologie: Band I (2019), S. 293 f.


98 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 202.
99 Vgl. ebenda, S. 201. Reihenfolge: Muʿtazilah – Māturīdiyyah – Ašʿariyyah – muḥaddiṯūn.
100 Vgl. Aruçi: Pezdevî, Ebü´l-Yüsr. In: TDV Islâm Ansiklopedisi (2007), Bd. 34, S.266.

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Schreibweise ist er unter dem Namen al-Bazdawī bekannt.101 Dieser kleine Unter-
schied ist wiederum auf den geographischen Herkunftsort des Gelehrten zurück-
zuführen. Er soll im Jahr 1030 in der Ortschaft „Bazda“ / „Pezde“, welches in der
Nähe von Nasaf (Türkistan, bzw. Kasachstan) liegt, auf die Welt gekommen
sein.102 Da diese kleine Ortschaft schwer zu finden ist und keinen internationalof-
fiziellen Namen besitzt, ist eine eindeutige Kennzeichnung offen. In dieser Arbeit
wird der Name nach der korrekten Transkription der Deutschen Morgenländischen
Gesellschaft (DMG) aus dem Arabischen verwendet. Al-Bazdawī entstammte ei-
ner wichtigen Gelehrtenfamilie aus Transoxanien und wuchs ḥanafītisch-
māturīdītisch auf.103 Um ihn von seinem zwanzig Jahre älteren Bruder, der eben-
falls unter dem Namen al-Bazdawī bekannt und eher im islamrechtlichen Bereich
(fiqh und uṣūl al-fiqh) aktiv war, zu unterscheiden, verwendete man die Begriffe
Abū l-Yusr und Abū l-ʿUsr. Das Wort „yusr“ bezeichnet eine Leichtigkeit wobei
„ʿusr“ für etwas Schweres oder Komplexes verwendet wird. Laut dem osmani-
schen Gelehrten Taşköprizâde Ahmed Efendi wurden die Begriffe deswegen ver-
wendet, um den jüngeren kalām-Theologen Abū l-Yusr, der leichter verständli-
chere Texte schrieb von seinem älteren Bruder Abū l-ʿUsr, der sich schwerver-
ständlicher ausdrückte, zu unterschieden.104 Als Jugendlicher lernte Abū l-Yusr al
Bazdawī unter anderem von seinem Vater und weiteren ḥanafītisch-māturīdīti-
schen ʿulamāʾ aus der Umgebung. Zu diesen sollen Autoritäten wie Imām Abū l-
Ḫaṭṭāb oder Yaʿqūb ibn Yūsuf ibn Muḥammad an-Nīšābūrī gehören. Laut anderen
Angaben soll al-Bazdawīs Urgroßvater direkter Schüler al-Māturīdīs gewesen
sein.105 Al-Bazdawī war regional aktiv und begab sich 1085 von der Stadt Buḫārā
nach Samarqand, wo er 1088 zum Qāḍī l-Quḍāh autorisiert wurde.106 Von ihm ist
bekannt, dass er bei zahlreichen Streitgesprächen māturīdītisch-apologetisch teil-
nahm, mit einigen Philosophen in der usbekischen Provinz Andijon disputierte und
durch seinen Einfluss zur Verbreitung und Etablierung der māturīdītischen (ḥanaf-
ītischen) Denkschule diente.107 Zu seinen Schülern zählen unter anderem Naǧm
ad-Dīn an-Nasafī, ʿAbdullāh ibn Muḥammad al-Ḫulamī und sein Sohn Abū l-Maʿālī
Aḥmad. Er verstarb circa um 1099 und 1100 in der Stadt Buḫārā.108

101 Vgl. al-Bazdawī: Uṣūl ad-dīn (2003), S. 9 f; Brodersen: Der unbekannte kalām (2014), S. 26.
102 Vgl. Aruçi: Pezdevî, Ebü´l-Yüsr. In: TDV Islâm Ansiklopedisi (2007), Bd. 34, S.266.
103 Vgl. Brodersen: Der unbekannte kalām (2014), S. 26.
104 Vgl. Aruçi: Pezdevî, Ebü´l-Yüsr. In: TDV Islâm Ansiklopedisi (2007), Bd. 34, S.266.
105 Vgl. ebenda, S. 266 f; Vgl. Brodersen: Der unbekannte kalām (2014), S. 26.
106 Vgl. Aruçi: Pezdevî, Ebü´l-Yüsr. In: TDV Islâm Ansiklopedisi (2007), Bd. 34, S.266.
107 Vgl. ebenda, S.267.
108 Vgl. Brodersen: Der unbekannte kalām (2014), S. 26.

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7. WERK- UND TEXTANALYSE – ḪALQ AFʿĀL AL-ʿIBĀD
Nun findet in diesem Kapitel die Werk- und Textanalyse statt. Nachdem die jewei-
lige Passage zur Schöpfung menschlicher Taten aus dem Werk „al-Muḫtaṣar fī
uṣūl ad-dīn“ von Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār untersucht wird, findet eine Analyse zum
entsprechenden Kapitel aus dem „Kitāb al-Iršād“ von al-Ǧuwaynī statt. Anschlie-
ßend dazu wird das dritte Werk, das „Uṣūl ad-dīn“ von al-Bazdawī, unter die Lupe
genommen. Aus dieser Textanalyse soll sich chronologisch die muʿtazilītische,
ašʿarītische, māturīdītische und ǧabriyyītische Ansicht zur Schöpfung und Erschaf-
fung menschlicher Handlungen herauskristallisieren. Da die Passagen sehr aus-
führlich sind, richtet sich das Augenmerk der Analyse auf die wichtigsten Argu-
mente in chronologischer Reihenfolge.

7.1 QĀḌĪ ʿABD AL-ǦABBĀR – AL-MUḪTAṢAR FĪ UṢŪL AD-DĪN

Die erste Ansicht, die untersucht wird, ist die der muʿtazilītischen Denkschule.
Hierbei wird hauptsächlich das „bāb halq al-afʿāl“ (das Kapitel über die Schöpfung
der Taten) aus dem Werk „al-Muḫtaṣar fī uṣūl ad-dīn“ (das Handbuch über die
Religionsgrundlagen109) vom muʿtazilītischen Vertreter Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār ana-
lysiert. Die Thematik über die Erschaffung menschlicher Handlungen handelt er ab
der Seite 238 ab. Er beginnt direkt mit einer pointierten Passage in das Kapitel.
Auf die Frage, ob Gott die menschlichen Handlungen nicht erschaffe, antwortet er
mit einem klaren „naʿam“, einem „Ja“.110 Seine Begründung ist, dass der Fehler
der Gegner dabei liege, dass sie die Taten als einen (einmalig) zeitlich entstande-
nen Vorfall (wāqiʿah ḥādiṯah) betrachten. Solchen Taten müssen vor der Tat eine
Absicht, ein spezifisches Wissen und eine gewisse Kraft vorausgesetzt werden. Er
veranschaulicht zunächst sein Argument mit folgendem Beispiel: Ohne einen Plan
(bzw. Strukturplan) kann keiner ein Gebilde (al-bināʾ) errichten. Wenn die Anlei-
tung fehlt, so ist es unmöglich etwas zu bauen. Wenn jemand die Berge tragen
will, so wird dies ebenfalls nicht passieren.111 Wenn ein Mitbeteiligter (Gott) in der
Handlung mitwirken würde, so würden Unwissen und Wissen, Kraft und man-
gelnde Kraft und vieles mehr, an einem „Ort“ aufeinandertreffen, welches rational
wenig Sinn macht. Deswegen müssen die Taten, beziehungsweise die Kräfte für

109 Man kann das Werk auch als „das Handbuch über die Grundsätze des Glaubens“ übersetzen.
Hinsichtlich des Forschungsstandes ist zu bemerken, dass keine öffentliche und zugängliche Über-
setzung zu diesem Werk in deutscher Sprache vorzufinden ist.
110 Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Al-Muḫtaṣar fī Uṣūl ad-Dīn. In: Rasāʾil al-ʿAdl (1988), S. 238.
111 Vgl. ebenda.

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die Taten, vor der Tat zeitlich entstanden sein.112 Im weiteren Verlauf betont ʿAbd
al-Ǧabbār die menschlichen Fähigkeiten und stellt in Frage, wieso Gott, der erha-
ben ist von solchen Kleinigkeiten (taʿālā -llāhu min ḏālik), es nötig haben soll, dem
bei menschlichen Handeln einzugreifen. Er betont, dass der Mensch kräftig und
schlau (von Gott erschaffen) ist und diese Fähigkeiten für sich ohne Gottes Ein-
greifen benutzen kann. Als Beispiel nennt er das Schießen mit einem Bogen über
ein Hindernis. Der Mensch sei schlau genug erschaffen worden, um von Grund auf
zu erkennen, dass vor einer Barriere einen gebogenen Wurf ausführen muss, um
diese zu umgehen (irtifāʿu l-ḥawāǧiz).113 Sein nächstes wichtiges Argument ist,
dass Menschen sowohl gute als auch schlechte Handlungen vollbringen. Also
müsste man Gott, falls er wirklich der Erschaffer der Handlungen ist, bei der Voll-
bringung einer schlechten Handlung eine Ungerechtigkeit (aẓ-ẓulm) zusprechen.
Somit entsteht das Theodizee-Problem und ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit
(al-ʿadl) Gottes. Diese Ansicht stempelt ʿAbd al-Ǧabbār eindeutig mit dem Unglau-
ben ab: „hāḏā kufrun min qāʾilihi“.114 Die Gerechtigkeit Gottes ist eins der fünf Dog-
men der Muʿtazilah und von daher enorm wichtig. Anschließend zu dem Punkt
führt ʿAbd al-Ǧabbār ein ähnliches Argument vor, welches thematisch mit einem
weiteren Grundsatz, dem al-amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿani l-munkar (das Gebie-
ten des Guten und das Verbieten des Verwerflichen), zu tun hat. Wenn Gott das
Schlechte erschafft, dann würde man aus rationaler Sicht dazu aufrufen müssen,
Gotteshandlungen zu verbieten und verwerfen. Die Hauptbedeutung dieses Argu-
ments ist, dass die menschlichen Handlungen von den Menschen selbst geschaf-
fen werden müssen, damit man Gott keine Ungerechtigkeit und Widersprüchlich-
keit zurückführen kann.115 In einem anderen Werk von ihm schreibt ʿAbd al-
Ǧabbār, dass ein Mensch für eine Tat, wofür seine Kraft nicht ausreicht, nicht be-
straft wird und dass Gott die Ungerechtigkeit für seine Instanz versperrt hat.116 Ei-
nige Passagen ähneln sich sehr und wiederholen sein Argument, dass Gott den
Menschen (z.B. beim Aufstehen, „al-qiyām“) einmalig die Kraft gegeben hat und
dieser diese Kraft in unbegrenzter Anzahl während seinem Leben benutzen
kann.117 Im weiteren Verlauf antwortet Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār auf den Vorwurf, dass
wenn der Mensch genauso erschafft (Taten ausübt) wie Gott es tat, er sich somit

112 Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Al-Muḫtaṣar fī Uṣūl ad-Dīn. In: Rasāʾil al-ʿAdl (1988), S. 238.
113 Vgl. ebenda.
114 Vgl. ebenda.
115 Vgl. ebenda, S. 239.
116 Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Šarḫ al-Uṣūl al-ḫamsah (1996), S. 346 f.
117 Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Al-Muḫtaṣar fī Uṣūl ad-Dīn. In: Rasāʾil al-ʿAdl (1988), S. 239.

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gottbeigesellend sehen muss. Er erklärt, dass im Ursprung (also vor seiner Exis-
tenz) der Mensch kraftlos, wissenslos und nicht lebendig war. Zudem dreht er den
Spieß um und sagt, dass die Ansicht der Kontrahenten eher das ist, was sie be-
haupten, da sie einer Tat ohne Unterscheidung (min ġayri tamayyazin) zwei Ak-
teure, beziehungsweise Handelnde, also Gott und Mensch zuordnen.118 Die ratio-
nalen Argumente ʿAbd al-Ǧabbārs deuten fest daraufhin, dass der Mensch die al-
leinig aktive Rolle bei den Handlungen spielt. Auch hat er eine ähnliche Argumen-
tationsweise in seinem Werk „Šarḫ al-Uṣūl al-ḫamsah“.119 Nun beginnt ʿAbd al-
Ǧabbār im weiteren Verlauf des Kapitels damit, Verse zu nennen. Zudem benutzt
er vorerst Verse, um die Kontrahenten aufgrund der Anschuldigungen zu erniedri-
gen. So führt er unter anderem Vers 78 aus Sure Āl ʿImrān: „Und einige von ihnen
verdrehen den Wortlaut der Schrift, damit ihr meint, es stamme aus der Schrift,
während es (in Wirklichkeit) nicht daraus stammt, und sagen, es stamme von Allah,
während es (in Wirklichkeit) nicht von ihm stammt. Damit sagen sie gegen Allah
wissentlich eine Lüge aus.“120 Zudem verstärkt er diesen Vers mit weiteren und
wirft den Gegnern vor, damit teuflische Handlungen zu vollziehen (ʿamalu š-
Šayṭān).121 Nach dem er in den kommenden Passagen erneut erklärt, dass Gott
keineswegs die Ursache und Erschaffer des Hässlichen (al-qubūḥ / al-qabāʾiḥ) und
Ungerechten (aẓ-ẓulm) ist und diese einzig Menschentaten sind (bal huwa min fiʿli
l-ʿibād),122 beginnt er gegen Ende des Kapitels mit seiner versorientierten Argu-
mentation. Hierbei zählt er vorerst mehrere Verse auf, die die Gegner zur Argu-
mentation vorführen: Vers 13:16 (Kapitel 3.1), Vers 37:96 (Kapitel 3.6) und Vers
35:3 (Kapitel 3.5). Während dem ersten Vers (13:16) konzentriert er sich auf den
letzten Teil „ḫāliqu kulli šayʾin“ und erklärt, dass mit dem „šayʾ“ nicht die mensch-
lichen Handlungen, sondern die Lebewesen (maḫlūqāt) gemeint sind.123 Er betont,
dass die menschlichen Handlungen nicht in der Form (also nicht als „šayʾ“) be-
schrieben werden: „afʿālu l-ʿibād lā tūṣafu bi-ḏālik“.124 Zudem nennt er anschlie-
ßend einen weiteren Vers: „Er sagte: Wollt ihr (denn) etwas verehren, was ihr (sel-
ber zurecht) meißelt […]“125 und erklärt, dass Gott sowohl die Menschen als auch
deren (Götzen)Idole (al-aṣnām) erschuf. Im Anschluss kommentiert er den Vers

118 Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Al-Muḫtaṣar fī Uṣūl ad-Dīn. In: Rasāʾil al-ʿAdl (1988), S 240.
119 Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Šarḫ al-Uṣūl al-ḫamsah (1996), S. 323 f.
120 Koran 3:78. Übersetzung: Rudi Paret.
121 Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Al-Muḫtaṣar fī Uṣūl ad-Dīn. In: Rasāʾil al-ʿAdl (1988), S. 240.
122 Vgl. ebenda, S. 242.
123 Vgl. ebenda, S. 243 f.
124 Vgl. ebenda, S. 244.
125 Koran: 37:95. Übersetzung: Rudi Paret.

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13:16 (Kapitel 3.1) und sagt, dass dieser die Götzendiener thematisiert und es
natürlich nur einen Gott gibt, der al-Ḫāliq, al-Mụhyī, al-Mumīt und ar-Rāziq ist.126
Zu den wichtigsten Versen, die er wiederum als Beweis vorführt gehören unter
anderem: Vers 23:14 (Kapitel 3.2) und 29:17 (Kapitel 3.3). Der erste Vers (23:14)
gilt für ihn als klarer Beweis (iṯbāt) dafür, dass es auch andere „Schöpfer“ geben
kann, außer Gott, da in dem Vers wörtlich (ḏāhirī) gesagt wird, dass Gott am
schönsten erschafft, was nicht ausschließt, dass auch Menschen schöpferisch
agieren können.127 Mit dem zweiten oben genannten Vers (29:17) unterstützt er
seine Aussage und erklärt, dass mit dem Akt des „Lüge in die Welt Setzens“ die
schöpferische Handlung impliziert wird, da wörtlich von „eine Lüge erschaffen
(taḫluqūna ifkan)“ die Rede ist.128 Im Großen und Ganzen waren dies die wichtigs-
ten Argumente ʿAbd al-Ǧabbārs, welche man in dem Kapitel „ḫalq al-afʿāl“ fand.
Die Ansicht und Meinung, die der Gelehrte hier vertritt, überdecken sich komplett
mit der allgemeinen muʿtazilītischen Meinung.129

7.2 AL-ǦUWAYNĪ – KITĀB AL-IRŠĀD

Nun wird die ašʿarītische Ansicht analysiert. Hierbei wird im Folgenden das „bāb
al-qawl fī ḫalq al-aʿmāl“ (das Kapitel der Rede über die Entstehung der Taten)
aus dem Werk „al-Iršād ilā qawāṭiʿal-adillah fī uṣūl al-iʿtiqād“ (ein Leitfaden für
schlüssige (überzeugende) Beweise in den Glaubensgrundsätzen) von al-Ǧu-
waynī untersucht. Das Werk wurde von Dr. ʿAbd ar-Raḥīm as-Sāyah (u.a.) im
Kairoer Verlag130 „Maktabah aṯ-Ṯiqāfah ad-Dīniyyah“ im Jahr 2009 herausgege-
ben. Das Kapitel über die Schöpfung menschlicher Taten fängt auf der Seite 158
an und streckt sich bis zur Seite 178. Das anschließende Kapitel des „istiṭāʿah“ hat
weitere knapp zehn Seiten. Der Text wird nun chronologisch abgehandelt und die
wichtigsten Stellen werden hervorgehoben. Al-Ǧuwaynī beginnt das Kapitel mit ei-
nem historischen Rückblick. Er erklärt, dass die Vorgänger der Ummah (salaf al-
ʾummah) bis zum Erscheinen von den ketzerischen (bidaʿ), widerstandslosen

126 Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Al-Muḫtaṣar fī Uṣūl ad-Dīn. In: Rasāʾil al-ʿAdl (1988), S. 244.
127 Vgl. ebenda.
128 Vgl. ebenda.
129 Vgl. Radtke: Der sunnitische Islam. In: Ende (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart (2005), S. 60 f;

Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 151; Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 252.
130 Eine deutschsprachige Übersetzung des Werkes ist nicht vorhanden, wobei eine Übersetzung ins

Englische von Dr. Paul E. Walker und eine in die türkische Sprache von Prof. Dr. Adnan Bülent
Baloğlu (u.a.) aufzufinden und erreichbar ist. Diese sind in der Literaturliste aufgeführt und werden
bei der Analyse mitberücksichtigt. Eine weitere Übersetzung, die etwas älter und schwer zu erreichen
ist, gibt es ins Französische von Jean Dominique Luciani: Vgl. Dziri: Al-Ǧuwaynīs Position im Disput
(2011), S. 12.

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(ahwāʾ) Lehren und Ideenkollisionen sich darüber einig waren, dass es keinen Er-
schaffer und einzigartigen Schöpfer außer Gott, dem Herr der Welten gibt. Dies
sei die Sicht der Schule der ahl al-ḥaqq131, den Leuten der Wahrheit.132 Daraufhin
knüpft er die Aussage „fa l-ḥawādiṯu kulluhā ḥadaṯat bi-qudrat Allahi taʿālā“, welche
man als „alles zeitlich Entstandene ist durch die Allmacht Gottes erzeugt worden“
übersetzen kann, an. Darauf basierend kommt er zu folgendem Entschluss: Alles
„Gemachte“ besitzt einen Machthaber (bzw. Mächtigen, einen qādir) und Gott ist
der Machthaber von diesem Machthaber, also der Erstschöpfer und Erschaffer
(muḫtariʿuhu wa munšiʾuhu) jedem Machthabers.133 Im folgenden Abschnitt nennt
er die Ansicht der Muʿtazilah und derjenigen der ahl al-ahwāʾ134, die sich ihr an-
schließen und meint, dass sie die Ansicht vertreten, dass die Menschen die Erzeu-
ger (mūǧidūn) und Ersterschaffer (muḫtariʿūn) ihrer Handlungen durch ihre eigene
qudrah135 sind. Nach ihnen sollen die Menschen auch nicht so charakterisiert und
dargestellt werden, dass sie eine regierende Macht in Gottes Allmacht ausüben
und andersrum. Die Linien der Mächteverteilung zwischen menschlicher Kraft und
Allmacht Gottes sollen nach deren Ansicht klar voneinander getrennt werden, so-
dass kein Berührungspunkt zwischen menschlicher und göttlicher Kraft vorhanden
ist und beides nicht verglichen wird.136 Im nächsten Abschnitt beschreibt al-Ǧu-
waynī, dass die ersten Muʿtazilīten es vermieden, den Menschen offenkundig und
wortwörtlich (ʿalā l-ḥaqīqah) als Erschaffer (ḫāliq) zu betiteln. Spätere Muʿtazilīten
sollen diese Grenze überschreitend und den Menschen wortwörtlich zum Schöpfer
krönend, folgende Aussage getätigt haben: „Der Mensch ist der Erschaffer und
Gott kann nicht wirklich als Erschaffer [der menschlichen Taten] betitelt werden. Er
kommentiert diese Aussage mit „Gott soll euch rechtleitend vor solchen Ketzereien
und Irrtümern beschützen“. 137 Im folgenden Absatz erklärt al-Ǧuwaynī seine me-
thodische Vorgehensweise. Er sagt, dass er den Gegnern mit drei verschiedenen
Angriffsmethoden Gegenstand leisten wird: Zuerst sollen rationale Argumente ge-
nannt werden, die beweisen, dass der Mensch kein Schöpfer sein kann. Mit der

131 Paul E. Walker, der in der vorherigen Fußnote erwähnt ist, übersetzt „ahl al-ḥaqq“ in diesem Kon-
text als „the orthodox“, welches porös ausgedrückt ist, da sich die zwei sunnitisch-orthodoxen Schu-
len zwar in diesem Grundsatz einig sind, jedoch ins Detail gehend voneinander divergieren, woraus
resultiert, dass der Begriff „ahl al-ḥaqq“ per se aufgrund der begrenzten Subjektivität nicht als „die
Orthodoxen“ wiedergegeben werden sollte. Vgl. al-Ǧuwaynī: Kitāb al-irshād (2000), S. 103.
132 Vgl. al-Ǧuwaynī: Kitāb al-Iršād (2009), S. 158.
133 Vgl. ebenda.
134 Übers.: „Leute der luftigen (widerstandslosen, abweichenden) Ansichten“.
135 Siehe Kapitel 2.1.
136 Vgl. al-Ǧuwaynī: Kitāb al-Iršād (2009), S. 158.
137 Vgl. ebenda, S. 159.

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zweiten Methode soll man unter anderem die Muʿtazilah rational so widerlegen, in
dem man die Widersprüchlichkeit ihrer Meinungen vorzeigt. Als dritte Methode sol-
len die Offenbarungsbeweise (Koranverse) geschildert werden, die auf die Rich-
tigkeit der ahl al-ḥaqq hindeuten.138 Im Anschluss dazu beginnt das erste Unterka-
pitel (faṣl) mit dem Titel „laysa al-ʿabdu muḫtariʿan“ (der Mensch ist kein Schöpfer).
Hierbei führt al-Ǧuwaynī zwei Argumente vor. Beginnend nennt er die Meinung der
Muʿtazilīten, die behaupten das etwas „Gemachtes“ (maqdūrah) nur von einem
Macher stammen kann und nicht von zwei. So wäre das Gemachte eines Men-
schen nicht gleichzeitig das Gemachte von Gott. Nun ergibt sich die Gedächtnis-
lücke, die al-Ǧuwaynī ausnutzt, in dem er die Frage stellt, ob Gott für sie nicht als
Machthaber über das menschliche Gemachte galt, bevor er den Menschen erschuf
und ihm die Kraft gab, mit welcher Gott wusste, dass der Mensch jenes „erschaf-
fen“ wird. „Wenn sie somit sagen, dass Gott nicht mit der Kraft charakterisiert wer-
den kann (lam yakun mawṣūfan), die der Mensch nach seiner Erschaffung und
Ermächtigung durch Gott ausübt, so ist das offensichtlich ungültig.“139 Die von dem
Menschen „gemachte (maqdūr, maqdūrah)“ Sache wird also mit dem „Gemachten“
Gottes gleichgestellt. Das zweite ähnliche Argument im Anschluss ist, dass Gott ja
somit der Urheber der Machtkapazität des Menschen vor seiner Existenz war, so-
mit also die Kraft über die menschliche Kraft (und die Kraft seiner Taten) in seiner
Allmacht besaß und es ist unmöglich (bzw. unfruchtbar: maḥl, muḥal), dass das in
der Urheberschaft Gottes Gewesene, die Eigenschaft der Gotteszugehörigkeit im
Nachhinein verliert.140 Danach versucht al-Ǧuwaynī die Meinung der Kontrahenten
zu erniedrigen und sagt, da nach eurer Meinung die ausgeübte Kraft des Men-
schen für seine Tat sich ständig erneuert und somit nicht als Gottesaktivität, die
endlos mit ihm besteht (baqāʾuhu), gilt, würde sogar die Meinung besser (als eure)
sein, die besagt dass dies der Fall ist. Die bisherigen Passagen resümiert er mit
der Aussage: „Nun ist endgültig klargeworden, dass die ermächtigte Kraft (Tat) des
Menschen mit der Kraft (Tat) Gottes in Verbindung steht.“141 Alles Gemachte ist
letztendlich durch Gottes „erlaubte“ Kraft zustande gekommen, woraus resultiert,
dass ein Mensch von sich aus keine Tat zustande bringen kann, da sie durch Gott
ermächtigt wird (iḏ min al-mustaḥyilu an yanfarida l-ʿabdu bi-ḫtirāʿin mā huwa
maqdūrun li-l-rabbi taʿālā).142 Daraufhin erklärt er eine weitere Argumentation der

138 Vgl. al-Ǧuwaynī: Kitāb al-Iršād (2009), S. 159.


139 Vgl. ebenda.
140 Vgl. ebenda, S. 159-160.
141 Vgl. ebenda, S. 160.
142 Vgl. ebenda, S. 160.

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Vorgänger (aʾimmatunā), die besagt, dass alle Taten – selbst im benebelten Zu-
stand, in dem der Mensch ungewollt agiert – mit einer perfekten Ordnung und
Struktur (al-afʿāl al-muḥkamah) passieren. Da der Mensch in diesen benebelten
Zuständen (afʿāl fī ġaflatihi) nicht durch Eigenkontrolle tätigt, deutet dies auf Gottes
Wissen und Kontrolle bei jeder Tat hin. Da der Mensch ohne Kontrolle und unwis-
send über seine nichtgewollten Taten ist, spricht es dem Verstandesbeweis (ad-
dalālah al-ʿaqliyyah) wider, diesen keinen Kontrolleur und Macher zuzuordnen.
Würde man bei solchen Taten verleugnen, dass es einen Kontrolleur und Macher
gibt, so würde man auch sagen können, dass man keine Kraft (qudrah) bei einer
Tat brauchen müsste und sowas würde dem widersprechen, dass eine Tat einen
Tätigenden und Machthaber braucht (dalālah al-fiʿl ʿalā l-fāʿil).143 Später spricht al-
Ǧuwaynī erstmals über den „kasb“ und setzt voraus, dass diese unter anderem
von Schuloberhaupt al-Ašʿarī verwendete Theorie,144 die besagt, dass Gott Schöp-
fer aller Taten (ḫāliq) und der Mensch (kāsib oder muktasib) „Erwerber“ dieser Tat
ist, unter den Gelehrten bekannt ist. Er argumentiert im Namen seiner Schule145,
und sagt, dass der muktasib aus rationaler Sicht – im Nachhinein begrenzt er diese
Meinung auch tatsächlich nur auf die rationale Ebene, da in der Praxis sowas un-
möglich wäre – nicht immer Wissen über das Erworbene haben müsste, da ihm im
benebelten Zustand das Wissen über die erworbene Tat fehlt. Zudem müsste der
Mensch, der meistens Wissen über seine Taten hat, auch Wissen über die selten
vorkommenden Taten haben. Dies ist sein Gegenargument gegen die Ansicht der
Muʿtazilīten, die der Meinung sind, dass der Mensch (der als Erschaffer der Taten
gilt) Wissen über all seine Taten haben muss, jedoch in Blackout-Momenten trotz-
dem handeln kann.146 Al-Ǧuwaynī betont im weiteren Verlauf, dass Gott die Kraft
des unbegrenzten Wiedererschaffens hat und somit immer wieder neue Kräfte er-
schafft. Dies ist seine Antwort darauf, dass Gott einmal die zeitlich entstandene
(ḥādiṯ) Kraft erschaffen haben solle.147 Im weiteren Verlauf führt al-Ǧuwaynī an-
dere Argumente vor und schließt die rationalen Argumente grob ab. Er erklärt, dass
die komplette ummah Bittgebete zu Gott machte und Stärkung im Glauben in Form
von īmān und īqān forderte. Wenn die Erfüllung dieser Forderungen nicht von Gott

143 Vgl. al-Ǧuwaynī: Kitāb al-Iršād (2009), S. 160.


144 Vgl. al-Ašʿarī: Maqālāt al-islāmiyyīn wa-iḫtilāf al-muṣallīn (1980), Bd. 1, S.76-85; al-Ašʿarī: Kitāb
al- Lumaʿ fī r-radd ʿalā ahl az-zayġ wa-l-bidaʿ (1955), S. 72-80.
145 Al-Ǧuwaynī spricht hierbei in der 1. Person Plural (mā ḏakarnāhu fī l-kasb). Vgl. al-Ǧuwaynī: Kitāb

al-Iršād (2009), S. 161.


146 Vgl. al-Ǧuwaynī: Kitāb al-Iršād (2009), S. 160 f.
147 Vgl. ebenda, S. 160 f.

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kämen und der Mensch selbsterschaffend handeln könnte, dann wäre es nicht lo-
gisch, dass die gesamten Muslime in Konsens sowas forderten.148 Auf die These,
Gott hat diese Forderung einmalig dafür erschaffen, damit der Mensch sich wäh-
rend seinem Leben zum īmān wenden soll, antwortet al-Ǧuwaynī folgendermaßen:
„Dies entspricht nicht euren Grundsätzen. Wenn jeder verpflichtete Mensch (mu-
kallaf) [nach eurer Meinung] die Kraft zum īmān (hier im Sinne der selbstständigen
Rechtleitung) hat, so nimmt ihm Gott diese Kraft nicht weg. Somit müsste man so
etwas nicht fordern. Man fordert etwas, was noch nicht da ist und etwas, auf des-
sen Erfüllung man hofft.“149 Hierbei führt er ein Bittgebet des Propheten Ibrāhīm
vor. Zudem erläutert er, dass es bis zur Entstehung der Qadariyya150 einen ge-
meinsamen Konsens zwischen den Muslimen dazu gab, dass Gott Erschaffer aller
Lebewesen und zeitlich entstandenen Sachen ist.151 Mit seinem nächsten wichti-
gen Argument beginnt er seine koranversorientierte Argumentation. Gott könne
nicht Gott und Besitzer von denjenigen sein, in deren Bereich seine Allmacht nicht
hinreicht. Wenn der Mensch also Schöpfer seiner eigenen Handlungen ist, so ist
er in einer göttlichen Position hinsichtlich seiner Handlungen und dies führt zum
Beigesellen Gottes. Als Stärkung führt er den Vers 91 aus Sure al-Muʾminūn vor:
„Sonst würde jeder (einzelne) Gott das, was er (seinerseits) geschaffen hat, (für
sich) beiseite nehmen, und sie würden gegeneinander überheblich (und aufsäs-
sig)“.152 Im weiteren Verlauf benutzt er die Stelle „(Er ist) der Schöpfer von allem
(was in der Welt ist).“ aus Vers 6:102. Somit argumentiert er eindeutig, dass es
keinen Schöpfer in jeglichem Sinne außer Gott gibt.153 Der nächste Vers, den al-
Ǧuwaynī zur Argumentation verwendet ist der Vers 13:16, der im Kapitel 3.1 vor-
gestellt wurde. In diesem Vers wird über die negative Stellung derer, die sich als
Schöpfer ausgeben und derer, die dieser „vorgetäuschte“ Schöpfung Ähnlichkei-
ten zur Gottes Schöpfung zusprechen, gesprochen. Zur Bekräftigung dessen, dass
Gott der einzige Erschaffer der menschlichen Taten ist, führt er im Weiteren den
Vers 96 aus Sure aṣ-Ṣāffāt, der im Kapitel 3.6 abgehandelt wurde, vor. Mit diesem

148 Vgl. al-Ǧuwaynī: Kitāb al-Iršād (2009), S. 164.


149 Ebenda.
150 Eine kleine Theologieschule, die meistens als Teilschule der Muʿtazilah, aber auch als eigene

autoritäre kalām-Schule angesehen wird. Vgl. Üzüm: Kaderiyye. In: TDV Islâm Ansiklopedisi (2001),
Bd. 24, S.64-65; Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 182; Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler
Tarihi (2016), S. 128.
151 Vgl. al-Ǧuwaynī: Kitāb al-Iršād (2009), S. 165. Zudem ist hier zu bemerken, dass wahrscheinlich

fälschlicherweise der Buchstabe „yā“ fehlt und an Stelle „al-Qadariyyah“ nur „al-Qadrah“, bzw. „al-
Qudrah“ steht, welches textsemantisch auszuschließen wäre (qabla an tanbuġa al-Qadariyyah).
152 Koran: 23:91. Übersetzung: Rudi Paret.
153 Vgl. al-Ǧuwaynī: Kitāb al-Iršād (2009), S. 165.

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Vers betont al-Ǧuwaynī, dass Gott sowohl die Menschen als auch ihre Taten, die
sie vollbringen erschafft.154 Nach diesen Versargumentationen führt er ein weiteres
rationales Argument vor und thematisiert die muʿtazilītische Ansicht, die besagt,
dass der Mensch (meistenteils) mit seiner Kraft Handlungen beabsichtigt und vor-
nimmt (yaqaʿu ʿalā hasbi d-dāʿiyah wa-l-qasṭ) und diese wie gewollt durchführt. Al-
Ǧuwaynī erklärt, dass diese Ansicht aus mehreren Gründen nichtig ist. Zum einen
inkludiert diese Ansicht nicht alle Taten des Menschen ein und zum anderen gibt
es Taten, wie beispielsweise das Essen, in denen man isst, jedoch nicht gesättigt
wird, obwohl es einen Drang oder eine Absicht dafür gibt. Dies deutet hin, dass
der Mensch bei Taten, die er nach seiner Planung wie gewollt ausführt, letztendlich
trotzdem nicht allein beteiligt ist.155 Den „provokativsten“ Angriff tätigt al-Ǧuwaynī
gegen Ende des Kapitels, indem er sagt, dass wenn jemand an den einzigen Er-
schaffer (Gott) glaubt, es keinen Grund und Anreiz dafür gibt, sich als „Schöpfer“
betiteln zu wollen.156 Al-Ǧuwaynī ist zu dem der Ansicht, dass die handlungsspe-
zifische Kraft des Menschen (istiṭāʿah) ihm mit der Handlung (maʿa l-fiʿl) gegeben
wird und diese weder vor als auch nach der Tat nicht mehr existiert (al-qudratu l-
ḥādiṯatu lā tabqā).157 Zudem spricht er in diesem Kapitel erstmals über die
Ǧabriyyah und erklärt, dass diese eine Kraft wie die istiṭāʿah verleugnen und zu-
dem behaupten, dass ein Mensch keinerlei Eigenanteil bei seinen Taten hat. Zu-
dem zählen die Ǧabriyyīten die selbstgewählten (al-ḥarakatu l-iḫtiyāriyyah) und
selbstgewollten (al-ḥarakatu l-irādiyyah) Taten zu den gezwungenen Taten wie
dem Zittern und Wackeln (ar-raʿdah wa-r-raʿšah).158 Wenn man al-Ǧuwaynīs
Passagen zur Schöpfung menschlicher Handlungen mit den Kapiteln des Schulo-
berhaupts al-Ašʿarī zur gleichen Thematik159 vergleicht, erkennt man im Großen
und Ganzen zwei sich überlappende Meinungen, die der Ansicht sind, dass Gott
Erschaffer und Mensch Erwerber jeder menschlichen Handlung ist. Während al-
Ašʿarī eher seine Intention darauflegt, dass Gott als Schöpfer im Vordergrund einer
Handlung steht, richtet sich das Augenmerk von al-Ǧuwaynī etwa gleichverteilt so-
wohl auf die menschliche Erschaffung als auch dem menschlichen Krafterwerb.
Beide sprechen in den Passen wenig über den Willen (al-irādah) des Menschen,

154 Vgl. al-Ǧuwaynī: Kitāb al-Iršād (2009), S. 167.


155 Vgl. ebenda, S. 168.
156 Vgl. ebenda, S. 168.
157 Vgl. ebenda, S. 178 ff.
158 Vgl. ebenda.
159 Vgl. al-Ašʿarī: Maqālāt al-islāmiyyīn wa-iḫtilāf al-muṣallīn (1980), Bd. 1, S.76-85; al-Ašʿarī: Kitāb

al- Lumaʿ fī r-radd ʿalā ahl az-zayġ wa-l-bidaʿ (1955), S. 72-80.

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jedoch kann man bei al-Ǧuwaynī erkennen, dass er versucht dem Menschen bei
seinen Handlungen etwas mehr Verantwortung und Freiraum zu geben, da er zum
Beispiel nicht wie al-Ašʿarī behauptet, dass Gott die sowohl die menschliche Hand-
lung als auch den Erwerbprozess (kasb) des Menschen erschuf.160 Bei al-Ašʿarīs
Aussagen erkennt man, dass er dem Menschen die Kraft zum Erwerb (kasb)161
zuspricht, jedoch nicht wirklich eigene Willensfreiheit. So eine Meinung würde teil-
weise der ǧabrītischen Meinung sehr nahekommen, jedoch hat sie dennoch eine
große Entfernung zu ihr, da der Mensch laut diesen keine Rolle spielt. Eine ein-
deutige Abgrenzung von al-Ǧuwaynī gibt es zu dieser Meinung nicht, jedoch er-
kennt man eine Tendenz, dass er dem Menschen bei seinen Handlungen eine
etwas aktivere Rolle zuschreiben möchte als al-Ašʿarī. Al-Ašʿarī ist der Meinung,
dass die menschliche qudrah bei der Entstehung der Tat keine Wirkung auf die
Schöpfung (īǧād) hat, da manche Taten zuwider dem Willen passieren. Von al-
Ǧuwaynī ist aber bekannt, dass er der Ansicht ist, dass Gott Kraft und Willen
(irādah) für den Menschen erschafft und dieser mit diesen Fähigkeiten diese Taten
ausführt.162 Bei seiner Untersuchung hinsichtlich dieser Akquisitionsthematik
kommt ein deutschsprachiger Wissenschaftler Amir Dziri zum Entschluss, dass al-
Ǧuwaynī einen theologischen Spagat zwischen der deterministischen und „liberta-
ristischen“ Meinung macht.163 Außer dieser kleinen Abweichung, sind sich die
Ašʿarīten allesamt einig, dass Gott Erschaffer (ḫāliq) und der Mensch Erwerber
dieser Kraft (kāsib) ist.164

7.3 AL-BAZDAWĪ – UṢŪL AD-DĪN

Mit der dritten und letzten Werkanalyse wird die māturīdītische Meinung unter-
sucht. Hierbei wird das 26. Kapitel „afʿāl al-ʿibād maḫlūqatu Allāh taʿālā, wa-r-
radd ʿalā l-munkarīn“ aus dem Werk „Uṣūl ad-dīn“ von al-Bazdawī analysiert.165
Das Thema wird ab der Seite 104 des Werkes abgehandelt und streckt sich auf-
grund der Ausführlichkeit knapp über zehn Seiten. Al-Bazdawī beginnt das Kapitel
etwas verschiedener als al-Ǧuwaynī und Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār. Er zählt auf der
Einstiegsseite vorerst alle Ansichten zur Thematik auf. Er beginnt mit der Meinung

160 Vgl. al-Ašʿarī: Kitāb al- Lumaʿ fī r-radd ʿalā ahl az-zayġ wa-l-bidaʿ (1955), S. 76-77.
161 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 190.
162 Vgl. Gölcük: Bâkıllânî ve Insanin Fiilleri (1997), S.172.
163 Vgl. Dziri: Al-Ǧuwaynīs Position im Disput (2011), S. 66.
164 Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 252 f.
165 Von diesem Werk ist nur eine Übersetzung ins Türkische von Prof. Dr. Şerafeddin Gölcük be-

kannt. Siehe Şerafeddin Gölcük: Ehl-i Sünnet Akâidi. 6. Aufl. Istanbul: Kayıhan Yayınlari, 2017.

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der „ahlu s-sunnah wa-l-ǧamāʿah“. Da die Meinung des al-Ašʿarī später separat
erwähnt wird, kann man erkennen, dass al-Bazdawī ihn nicht direkt zur „ahlu s-
sunnah“ zählt. Auch hat al-Bazdawī ein separates Kapitel dazu geschrieben mit
dem Titel „Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī ʿāmatun ahlu s-sunnah wa-l-ǧamāʿah“ (al-Ašʿarī
gehört meistens zur ahlu s-sunnah wa-l-ǧamāʿah).166 Diese subjektive Betitelung
begrenzt sich also höchstwahrscheinlich nur auf die Ḥanafīten und Māturīdīten. Er
erklärt, dass die ahlu s-sunnah der Ansicht ist, dass alle menschlichen Handlungen
Gottesschöpfungen (maḫlūqatun) und Gottgemachtes (mafʿūluhu) sind. Zudem
sagt er, dass Gott der schöpferische Erfinder (mūǧidun), erzeugende Hervorbrin-
ger (muḥdiṯun) und Ersterschaffer (munšiʾun) der Handlungen und der Mensch die
austragende Instanz (fāʿilun ʿalā l-ḥaqīqah), beziehungsweise der Tätigende und
Umsetzende ist.167 Die zweite Meinung, die er aufzählt, ist die Ansicht der Qadar-
iyyah, einigen schiitischen (baʿḍu š-Šiʿah) und den meisten ḫariǧītischen Gelehr-
ten (ʿāmmatu l-ḫawāriǧ). Diese sind der Meinung, dass der Mensch Erschaffer sei-
ner Taten ist und nicht Gott.168 Im weiteren Verlauf nennt er die Meinung der
Ǧabriyyah (al-Muǧbirah), die die menschlichen Taten nur auf Gott zurückführen
und die Menschen mit einem Strauch, der bewegt wird, gleichsetzen (ka-taḥarruka
š-šaǧarah). Auch nennt er im Anschluss die Meinung der Ǧahmiyyah, die ebenfalls
die menschlichen Handlungen als allein Gottgemachtes sehen (fiʿlu -llāhi taʿālā
ʿalā l-ḫaqīqah).169 Anschließend nennt er die Meinung des al-Ašʿarī und sagt, dass
bei ihm die Gottestat nichts anderes ist als die Menschentat ist, jedoch der Mensch
die Tat erwirbt (al-fiʿlu kasbu l-ʿabd) und diese mit einer zeitlich entstandenen Kraft
(bi-qudratin ḫādiṯah) ausübt. Im weiteren Verlauf nennt er die einzelnen Argumente
der Kontrahenten, die er in zwei Lager „al-Qadariyyah“ und „al-Muǧbirah“ einteilt.
Er beginnt mit den Versen der Qadariyyah, die sie als Beweis dafür vorführen, dass
der Mensch Schöpfer seiner Handlungen sei. Dabei nennt er zuerst den Vers 14
aus der Sure al-Muʾminūn (Kapitel 3.2). Anschließend erklärt er, dass die Gegner
den Vers folgendermaßen interpretieren: „aḫbara annahu aḫsanu l-ḫāliqīn, fa-
dallatanā hāḏihi l-āyah anna ġayra -llāhi taʿālā ḫāliqun, wa-ʾanna -llāha taʿālā
aḫsanu l-ḫāliqīn […]“170 Die Interpretation zeigt, dass der Vers Gott in der Elativ-
form als besten Schöpfer erklärt, jedoch andere (kleinere) Schöpfer nicht aus-
schließt. Zudem nennt al-Bazdawī den zweiten Vers, den die Gegner vorführen:

166 Vgl. al-Bazdawī: Uṣūl ad-dīn (2003), S 252 f.


167 Vgl. ebenda, S. 104.
168 Vgl. ebenda, S. 104.
169 Vgl. ebenda, S. 104.
170 Ebenda, S. 105.

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Vers 29:17. Wie im vorigen Vers wird hier auch die wortwörtliche Interpretation von
den Kontrahenten anerkannt. Mit dem Vers „[…] und ihr erschafft eine Lüge“171 soll
gezeigt werden, dass Menschen erstens etwas erschaffen können und zweitens
soll dies ein eindeutiger Beweis dafür sein, dass das Schlechte von den Menschen
kommt (geschöpft wird) und Gott sich davon distanziert.172 Auch nennt er Vers 7
aus der Sure as-Saǧdah (Kapitel 3.4) und erklärt, dass die Gegner diesen erneut
als Beweis dafür sehen, dass kein Ursprung des Schlechten auf Gott zurückführ-
bar ist.173 Zudem beschreibt al-Bazdawī die Ansicht der Qadariyyah (bzw. Muʿta-
zilah) weiter und erklärt, dass der einzige Handelnde und Verantwortliche einer Tat
ausschließlich der Mensch selbst ist. In der folgenden Passage geht er dann auf
die Ansicht der Ǧabriyyah ein und erklärt, dass diese dem Menschen eine zu den
Taten verpflichtete Rolle zusprechen und alle sowohl guten und schlechten Hand-
lungen auf Gott zurückführen. Ihre Beweise sind unter anderem „Gott ist der
Schöpfer von allem“ (vergleichbar mit dem letzten Abschnitt aus Kapitel 3.1) und
„wo Allah euch, und was ihr macht, geschaffen hat?“ (Kapitel 3.6).174 Kurz danach
kommt al-Bazdawī zur subjektiven Auflösung der richtigen Ansicht und nennt die
Argumente der „ahlu s-sunnah wa-l-ǧamāʿah“. Er beginnt mit dem Vers 13:16 (Ka-
pitel 3.1) und sagt, dass Gott Schöpfer aller Sachen (šayʾ) und eine Tat eine Sa-
che ist. Da die Tat eine Sache ist, wird sie von Gott erschaffen (wa-l-fiʿlu šayʾun
fa-yakūnu -llāhu taʿālā ḫāliquhu).175 Er betont, dass Gottes Eingreifen keine er-
schaffene Sache, sondern eine Eigenschaft, die bei jeder Tat vorhanden ist und
nicht in den Bereich des Erschaffenen gelangen kann. Im Weiteren interpretiert er
den Vers aus Kapitel 3.6 und führt eine Syntaxanalyse durch. Bei der Stelle
„ḫalaqakum wa-mā taʿmalūn“ erklärt er, dass hier nicht „das, was ihr geschaffen
habt“ im Sinne der Idole und Götzen gemeint ist, sondern der Satz so zu verstehen
ist: „wa-llāhu ḫalaqakum wa-ḫalaqa aʿmālakum“, also Gott hat euch und eure Ta-
ten erschaffen.176 Als Argument führt er den Vers aus Kapitel 3.7 vor und betont,
dass Gott den Menschen erschuf und wohl über all seine Taten Wissen haben
muss, da im Vers eindeutig die Frage gestellt wird, ob Gott sich nicht mit denen
auskennen muss, die er selbst erschuf. Da al-Bazdawī sehr viele Verse verwendet,

171 Koran 29:17. Wörtliche Eigenübersetzung.


172 Vgl. al-Bazdawī: Uṣūl ad-dīn (2003), S. 105.
173 Vgl. ebenda.
174 Vgl. ebenda.
175 Vgl. ebenda, S. 106.
176 Vgl. ebenda, S. 106.

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wird nach der Analyse eines letzten Verses auf seine rationalen Argumente einge-
gangen. Dazu ist es sinnvoll, seine Interpretation zu dem Vers aus Kapitel 3.3
anzuschauen, da alle Kontrahenten diesen verschieden interpretiert verwendet ha-
ben. Al-Bazdawī erklärt, dass mit dem „Lüge erschaffen“ die Tat gemeint ist, dass
man lügt. Er erklärt, dass man den Vers also wörtlich folgendermaßen verstehen
muss: „wa-tafʿalūna ifkan“.177 Nachdem al-Bazdawī viele weiteren Verse nennt, um
seine Position und Ansicht zu stärken – zwei weiterer Māturīdīten an-Nasafī und
aṭ-Ṭahawī argumentieren ähnlich und haben eine identische Position178 –, folgen
gegen Ende seines Kapitels die rationalen Argumente. Einige von diesen werden
nun näher untersucht: Sein wichtigstes rationales Gegenargument richtet sich ge-
gen die Aussage, dass sich bei einer Tat keine zwei Machthaber (qādirayn) oder
Tätigenden (fāʿilayn) befinden können. Er sagt, dass es möglich ist, dass Men-
schen ausgehend von der Kraft Gottes (qudrat Allāh) Kräfte während den Taten
ausüben können. Als Beispiel nennt er das Wissen (maʿlūmāt), welches ursprüng-
lich dem Menschen ebenfalls durch Gott gegeben worden ist.179 Man handelt mit
einer zeitlich entstandenen Kraft, die von Gott gegeben wurde (qudratu l-ʿabd dūni
qudrati -llāh), also ist es rational zweifellos (bi-lā šakka) möglich, dass zwei Instan-
zen durch die Erlaubnis Gottes in Besitz dieser Sachen (Kräfte, Wissen usw.) sein
können. Zudem erklärt er im weiteren Verlauf, dass man sozusagen Gott die Er-
findung / Erschaffung und dem Menschen das Ausüben der Tat zuspricht (al-īǧādu
ilā -llāhi taʿālā wa-l-fiʿlu ilā l-ʿabd).180 Somit hat meine keine zwei Machthaber und
zwei Tätigenden bei einer Tat. Zudem spezifiziert er den Begriff qādir: „Allāhu qādi-
run ʿalā īǧāduhu wa-l-ʿabdu qādirun ʿalā fiʿluhu“ (Gott ist mächtig über die Schöp-
fung und der Mensch ist mächtig über die Ausführung der Handlung).181 Im weite-
ren Verlauf erklärt al-Bazdawī, dass man zwischen gezwungenen (iḍṭirārī: z.B. At-
men) und freiwilligen (iḫtiyārī) unterscheidet.182 Zudem erklärt er in einem separa-
ten Kapitel, dass die spezifische Kraft für jede einzelne Tat (istiṭāʿah) mit der spe-
zifischen Tat beginnt und mit ihr endet. Sie ist weder vor der Tat noch nach der Tat
vorhanden, da bei ersterem der Mensch somit unabhängig von Gott handeln
könnte und bei letzterem die Kraft ewig sein würde, welches unmöglich ist.183 Im

177 Vgl. al-Bazdawī: Uṣūl ad-dīn (2003), S. 108.


178 Vgl. an-Nasafī: Kitāb at-Tamhīd (1986), S. 257 ff; Vgl. Sifil: Ehl-i Sünnet Akâidi (2018), S. 241 f.
179 Vgl. al-Bazdawī: Uṣūl ad-dīn (2003), S. 109.
180 Vgl. ebenda, S. 110.
181 Vgl. ebenda, S. 111.
182 Vgl. ebenda, S. 115.
183 Vgl. al-Bazdawī: Uṣūl ad-dīn (2003), S. 120 f.

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Großen und Ganzen hat al-Bazdawī eine ähnliche Sicht wie al-Ǧuwaynī, da beide
jeweils Gott und Mensch einer Handlung zuordnen und der Ansicht sind, dass Gott
die Taten erschafft und der Mensch diese ausführt. Beide gehen einen Mittelweg
zwischen der Muʿtazilah und der Ǧabriyyah, jedoch unterscheidet sich die Sicht
der Schulen etwas hinsichtlich der irādah, wie frei der Mensch in seinen Taten
ist.184 Während die Māturīdīten dem Menschen mehr Willensfreiraum geben und
der Meinung sind, dass der Mensch nach seinem tarǧīḥ (seinem eigenen Willen
zu guten oder schlechten Taten) handelt (Gott ihm also nach seinem Wollen seine
gewollten Taten erschafft), sind die Ašʿarīten eher der Meinung, dass der Mensch
eine Art Austragungsort des Geschehens ist. Er erwirbt also die Kraft um die Tat
auszuüben. Wie in dem Kapitel von al-Ǧuwaynī erwähnt, hat dieser eine Tendenz
zu den Māturīdīten, die den Menschen eine breitere Willensfreiheit zuordnen. Die
Ašʿarīten kann man dennoch nicht der ǧabrītischen Seite zuordnen, da diese den
Erwerb, also eine jegliche Rolle und Aktivität des Menschen bei einer Tat komplett
ausschließen.185 Von daher befinden sich die Ašʿarīten zwischen den Māturīdīten
und den Ǧabrīten,186 jedoch näher zu ersteren, da beide den menschlichen Hand-
lungen zwei Akteure zuordnen, wobei Gott erschafft und der Mensch erwirbt und
ausübt.

184 Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama Giriş (2017), S. 252 f.


185 Vgl. Watt: D̲j̲abriyya. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012).
186 Vgl. Ebû Zehra: Mezhepler Tarihi (2016), S. 190 f; S. 206-207; Vgl. Karadaş: Akait ve Kelama

Giriş (2017), S. 252 f.

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8. SCHLUSS – VERGLEICH UND ILLUSTRATION DER ANSICHTEN
Nun werden die Ansichten der Theologieschulen zusammengefasst und anschlie-
ßend in einer Ansicht (bzw. Grafik) illustriert. Man kann bei diesem Streitgespräch
von zwei konträren und zwei jeweils sich zwischen diesen Extremen befindenden
Ansichten sprechen. Auf der einen Seite befindet sich die Meinung der Muʿtazilah
und als konträrer Gegenpunkt ist die Ansicht der Ǧabriyyah zuzuordnen. Die
Muʿtazilah ist der Ansicht, dass der Mensch Schöpfer (ḫāliq) seiner Handlungen
sei, wobei die Ǧabriyyah die Meinung vertritt, dass eigentlich nicht der Mensch
handelt, sondern Gott und der Mensch sozusagen gezwungenermaßen (ǧabr) mit
dem Wind weht. Zwischen diesen Ansichten befinden sich die Meinungen der
Māturīdiyyah und Ašʿariyyah. Diese beiden kalām-Schulen führen vor, dass Gott
Erschaffer und Mensch Erwerber (kāsib) oder Austragender (fāʿil) der Tat ist.
Beide Theologieschulen vertreten die Ansicht, dass sowohl Gott als auch Mensch
bei einer Tat handeln, wobei die Māturīdiyyah dem Menschen mehr Willensfreiheit
zuspricht als die Ašʿariyyah. Somit rückt die Māturīdiyyah etwas in die Richtung
der Muʿtazilah, da sie der Ansicht ist, dass Gott nach Willen (irādah) des Menschen
die Kraft seiner gewollten Handlungen erschafft. Die Ašʿariyyah ist hingegen zwar
der Ansicht, dass der Mensch die Kraft erwirbt um seine Taten auszuüben, jedoch
sein Wille eher im Hintergrund steht. Somit kann man die Ašʿariyyah etwas zur
Ǧabriyyah versetzt positionieren, aber man muss sie dennoch deutlich von ihnen
unterscheiden, da diese dem Menschen keine wirklich aktive Rolle zuordnen.
Wenn der menschliche Wille nicht betrachtet wird, so sind sich die māturīdītische
und ašʿarītische Ansicht sehr ähnlich. Die Meinungen der untersuchten Vertreter
Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār, al-Ǧuwaynī und al-Bazdawī sind fast deckungsgleich mit
deren schulinternen Meinungen, wobei man bei al-Ǧuwaynī nach einer kurzen Re-
cherche eine kleine Abweichung zur Māturīdiyyah feststellt, da er dem Menschen
eine aktivere Rolle bei seiner Handlungswahl zuordnen will. Die Ansichten zur
Schöpfung menschlicher Handlungen werden nun als Schluss in einer Grafik illus-
triert. Ausgehend von der Mitte rückt bei einer Linksorientierung der Mensch und
sein alleiniges Handeln in der Vordergrund, wobei in die rechte Richtung das Ein-
greifen Gottes in die menschlichen Taten verstärkt wird.187

187 Die Grafik ist eine Eigenkonzipierung und ausschließlich auf meine Person zurückzuführen.

Seite | 32
‫ﷲ‬ ‫ﷲ‬
Muʿtazilah Māturīdiyyah Ašʿariyyah Ǧabriyyah

Vertreter Vertreter Vertreter


Qāḍī ʿAbd al- al-Bazdawī al-Ǧuwaynī
Ǧabbār

Seite | 33
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Seite | 37
EIGENSTÄNDIGKEITSERKLÄRUNG
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne Benut-
zung von anderer als der angegebenen Hilfsmittel angefertigt habe. Alle Stellen,
die wörtlich oder sinngemäß aus veröffentlichten und nicht veröffentlichten Schrif-
ten entnommen wurden, sind als solche kenntlich gemacht. Die Arbeit ist in glei-
cher oder ähnlicher Form in Rahmen einer Prüfung noch nicht vorgelegt worden.

Frankfurt, 23.07.2019
____________________________
Ort, Datum Unterschrift

Seite | 38

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