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Katharina Völker

Das humanistische Erbe Muhammad Arkouns

Adab und (‫ )أدب‬Paideia (παιδεία) für die Menschheit

Muhammad Arkoun (1928-2010), Professor an der Pariser Universität, war ein weit reisender
Verkünder zeitgenössischen Denkens im Islam. Am Herzen lag ihm eine umfassende
Neuorientierung geistiger Erziehung, ein neuer humanistischer Ansatz. In der folgenden
Betrachtung hoffe ich manche seiner Kernideen und kritischen Denkansätze zu illustrieren.

Der Gesellschaftskritiker Muhammad Arkoun war stets skeptisch gegenüber einer


Ideologisierung des Islams. Während manche islamische Vertreter den Islam als Lösung vieler
Probleme islamischer Gesellschaften sehen, setzt Arkoun auf einen emanzipierten Säkularismus. 1
Dies vor allem, wenn es um die Etablierung stabiler Werte geht, auf deren Grundlage gegen
„Unterentwicklung, Unwissenheit, Gewaltausbrüche, Korruption und Intoleranz“2 angegangen
werden kann. In diesem Zuge richtet sich Arkoun’s Interesse an die Macht einer geduldigen
Pädagogie und seine Hoffnung auf eine Bewusstseinserweiterung auf beiden Seiten – der
islamischen sowie der nicht-islamischen.

Quelle der Inspiration: Adab (‫)أدب‬

Eine wichtige Inspirationsquelle für Arkoun ist der auf Ganzheitlichkeit bauende Bildungsansatz
adab. Das griechische Äquivalent für adab ist paideia (παιδεία), ein System breiter kultureller
Bildung. Paideia kann sogar die Kultur einer Gesellschaft an sich bezeichnen. Ähnlich auch der
adab, welcher

Wissen über Poesie, Rhetorik, Redekunst, Grammatik und Geschichte umfasst, sowie die Vertrautheit
mit den literarischen und philosophischen Errungenschaften, der praktisch-ethischen Weisheit und
den beispielhaften Persönlichkeiten der vorislamischen Araber, Inder, Perser und Griechen. Man kann
sagen, es umfasst ebenso die Naturwissenschaften, wobei sein primärer Fokus immer auf dem
Menschen ruht. [...] an ihrem Höhepunkt, gab die adab Tradition - zumindest in ihrer Interpretation
von islamischen Humanisten wie Abu Muhammad al-Suleyman Sijistani, al-Tawhidi und Miskawayh –
Aufwind für ein kosmopolitisches Ideal, nämlich dass Weisheit und moralische Vorbilder aus vielen
Kulturen herangezogen werden könnten, und dass ihre Erkenntnisse das kollektive Geburtsrecht der
Menschheit darstellten.3

1 Ein emanzipierter Säkularismus definiert sich laut Arkoun nicht durch seine Ausgrenzung von allem Religiösen,
sondern durch seine stete Reflexion über die Rolle von Religion in Gesellschaften.
2 Arkoun, Rethinking Islam: Common Questions, Uncommon Answers. Boulder: Westview Press, 1994, 86. In diesem Essay

verweise ich vor allem auf dieses Buch. (Zitate in meiner Übersetzung)
3 Groff, Peter S. and Oliver Leaman. Islamic Philosophy. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2007, 6.

1
Von adab erhofft Arkoun, die Grundlagen zu erarbeiten für ein ganzheitliches humanistisches
Projekt, welches zu einem neuen Ethos und ultimativ zu einer Solidarität zwischen Kulturen und
Völkern führt. Adab gehört zum Inventar islamischen Wissens, wurde jedoch, laut Arkoun, von
dominierenden Orthodoxien und hegemonischem Denken unterdrückt. Daher gilt es heute, die
adab-Tradition wieder ans Licht zu holen, in Arkouns Worten: Archäologie zu betreiben. Adab,
als eine Tradition vom Schreiben über Ethik, Bildung und Lebensweise, wird auch als islamischer
Humanismus oder islamisch-humanistische Kultur an sich definiert.4 Diese Kultur, so meint
Arkoun, trug wesentlich zum menschlichen Wissen über unser ‚Sein in der Welt‘ bei.5 Ein
berühmter Vertreter des islamischen adab war der persische Neoplatonist Ibn Miskawayh (932-
1030 AD), zu dessen Denkansatz Arkouns Vorstellungen einige Parallelen aufweisen: Offenheit
gegenüber verschiedenen, auch nicht-islamischen Wissensquellen; der Glaube an die
Notwendigkeit des Überwindens religiöser Doktrinen; die generelle Befreiung des Denkens,
welche zur „Erneuerung und Kreativität“ und zur „Intellektualisierung der wissenschaftlichen
Disziplinen (al-ulum) [...]“ führt.6
Eine weitere Parallele zwischen Adab und Arkouns Ansatz ist die Hoffnung, dass durch
Stärkung der Geisteswissenschaften eine Definition von Ethik erreicht wird, welche die
praktische Anleitung der Menschen hin zu moralischen Denken und Handeln beinhaltet.
Goodman schreibt über Miskawayhs Verständnis von Menschlichkeit: “Gesellschaft, so
argumentiert Miskawayh, ist unsere Mittel zu folgendem Zweck: Jeder von uns ist notwendig, für
die Perfektion eines anderen, und wir alle müssen zusammenarbeiten, für die Darbringung der
substantiellen Grundlage, die die Vermenschlichung unseres Daseins benötigt.“ Miskawayh
schloss, dass es zur Verwirklichung des Individuums sowie der Spezies Mensch einer inneren
geistigen Klarheit bedarf, welche nur unter der Führung von Rationalität, „nicht durch die sunna
des Propheten sondern durch paideia, den adab der Menschheit“ erlangt werden kann.7 Arkoun
nimmt diesen Gedankengang auf in seiner Forderung nach Philosophie und Wissenschaft,
anstatt der Rückbesinnung allein auf den Koran oder den Propheten.8 In dieser Weltsicht
erscheint Philosophie als die „einzige ‚wahre Bildung‘ (adab haqiqa/alethine paideia), und der Weg

4
Der Begriff adab existierte ähnlich schon in vorislamischer Zeit. Adab in seiner ältesten Bedeutung “impliziert eine
Gewohnheit, eine praktische Norm des Verhaltens, mit der doppelten Konnotation des lobenswert-Seins und des von
seinen Vorfahren ererbt-Seins.“ (Gabrieli, “Adab,” Encyclopaedia of Islam) (meine Übersetzung)
5 Arkoun, Rethinking Islam, 76. Obwohl Arkoun gelegentlich über Heideggers Metaphysik und Seinsphilosophie

reflektiert, scheint es eher wahrscheinlich, dass er zu dem Begriff “Das Sein in der Welt” über die Rezeption
Heideggers durch Dilthey oder Foucault gelangte.
6 Arkoun, Rethinking Islam, 77, und Arkoun, „Auf den Spuren humanistischer Traditionen im Islam“, in:

Interkultureller Humanismus, 145-175. Schwalbach am Taunus: Wochenschau Verlag, 2009, 148.


7 Goodman, Lenn Evan. Islamic Humanism. New York: Oxford University Press, 2006, 109.
8 Arkoun, Rethinking Islam, 74.

2
zur Erlösung (najah/soteria)“.9 Arkoun fordert eine Revision des marginalisierten griechischen
Erbes innerhalb der islamischen Mentalitätsgeschichte. Am Ende steht das Ziel eines
eigenständigen, genuin-islamischen Diskurses über Werte in heutigen Gesellschaften.

Ethos, Islamstudien und Philosophie

Arkouns Philosophieprojekt möchte einen Ethos entwickeln, der dann doch über den adab sowie
Prinzipien der westlichen Aufklärung und Renaissance hinausgeht. Interessanterweise ist Arkoun
einer der Repräsentanten religiöser Gemeinschaften, in diesem Falle des Islam, welche Hans
Küngs Weltethos-Projekt unterstützen. Arkoun setzte seine Signatur demnach unter die von vielen
Gelehrten unterzeichnete „Universalerklärung des Weltethos“, welche 1993 auf dem Parlament
der Weltreligionen präsentiert wurde.10 Die Erklärung bekennt sich zu: ‚Der Verpflichtung für
eine Kultur der Gewaltlosigkeit und Achtung vor dem Leben, dem Engagement für eine Kultur
der Solidarität und einer gerechten Wirtschaftsordnung, der Verpflichtung gegenüber Kultur der
Toleranz und dem Leben in Wahrhaftigkeit, der Verpflichtung zu einer Kultur der
Gleichberechtigung und der (gleichberechtigten) Partnerschaft zwischen Männern und Frauen.’
Es kann hier ohne Weiteres angenommen werden, dass Arkoun mit seiner Unterschrift die
Etablierung dieser Werte vollständig unterstützte.
Laut Arkouns Reformprojekt, sollten sich die muslimischen Islamstudien für
sozialwissenschaftliche Disziplinen öffnen, so dass sie schließlich über den Tellerrand ihrer
eigenen Orthodoxie zu blicken vermögen. Auf der anderen Seite legt er westlichen
Islamwissenschaften nahe, ihre übertriebene Neutralität aufzugeben und sich stattdessen aktiv
im Diskurs über zeitgenössische Herausforderungen der islamischen Welt zu engagieren. Am
Ende ist zu wünschen, dass sich beide, die westliche, wie die orientalische Wissenschaft auf
einem Metalevel wiederfinden. Auf diesem Metalevel, so wünscht Arkoun, droht demnach kein
Dominieren des Diskurses durch kulturelle oder religiöse Hintergründe der Gelehrten.11
Viele seiner Reformideen adressiert Arkoun an die islamische Welt im weitesten Sinne,
demnach auch an die muslimische Diaspora in nicht-muslimischen Ländern. Für die inner-
islamische Debatte fordert er eine gründliche Kritik des eigenen Erbes (turāth). Besonders
kritisch ist er gegenüber der konfessionellen Geschichtsschreibung. Beim Lesen islamischer
Historiographie sollte man sich laut Arkoun bewusst machen, dass diese verschiedenste
Mechanismen anwendet: Selektion, Abänderung, und Verzerrung, wie z.B. die Apotheose

9 Kraemer, Joel L. Humanism in the Renaissance of Islam: the Cultural Revival during the Buyid Age. Leiden: Brill, 1992, 231.
10 Küng, Hans. A Global Ethic, 47. Cf. Declaration Toward a Global Ethic (http://www.urbandharma.org/pdf/ethic.pdf)
11 Günther, Ursula. Mohammed Arkoun: ein moderner Kritiker der islamischen Vernunft. Würzburg: Ergon, 2003, 107.

3
heroischer Taten und Mythologisierung religiöser Autoritäten.12 Eine Mythologisierung ist zum
Beispiel im Konzept des ‚präexistenten Muhammads’ ausgedrückt. Felix Körner, der sich mit
neuen Ansätzen in der Koraninterpretation beschäftigt,13 erklärt (mit Bezug auf Ömer Özsoys
Ausführungen) dieses Konzept sei: “die Vorstellung, dass Muhammad vor Adam erschaffen
wurde. Bereits einige frühe Hadîthe zeigen Muhammad als präexistent: Der Glanz seiner
Existenz durchstrahlt die Schöpfung von Anbeginn. [...].‘”14 Neben dem kritischen Blick auf
solche Vorstellungen, nimmt Arkoun auch den inner-islamischen Religionsdiskurs ins Auge. Er
bemerkt ein niedriges intellektuelles Niveau und ‘skandalöse Versäumnisse des islamischen
Diskurses.’15 Dazu kommt noch, dass der religiöse Diskurs muslimische Intellektuelle, die von
außerhalb religiöser Institutionen in den Diskurs eintreten, oft ausschließt und diskreditiert.16
Arkoun schreibt auch den ‚westlichen Orientalisten’ einige Verfehlungen zu. Die
Orientalisten würden den Islam oft nur in seiner orthodoxen Form darstellen. Dadurch nähme
auch der westliche Diskurs über den Islam eine Marginalisierung von differenzierteren
Islamvorstellungen vor.17 Stattdessen sollte eine angewandte Islamologie, wie von Arkoun
anvisiert, die verschiedenen Strömungen und Denkrichtungen im Islam wahrnehmen und zum
Gegenstand von Studium und Lehre machen.
Des weiteren insistiert Muhammad Arkoun, Islamstudien sollten philosophisches Lernen
und Lehren praktizieren, denn die ‘philosophische Haltung ist Grundlage für geistige Flexibilität
und Offenheit.’18 Philosophische Studien gehören zur ganzheitlichen Bildung, die Arkoun als
Voraussetzung für die Formulierung eines neuen Ethos sieht. Ein sich entwickelnder
Humanismus ist laut Arkoun eng mit einer solchen ganzheitlichen Bildung (vgl. adab)
verbunden.
Arkouns Philosophieverständnis ist nachhaltig geprägt von der rationalen Schule des
Averroes. Averroismus sollte laut Arkoun auch heute vom modernen islamischen Denken in
Betracht gezogen werden. Er schreibt: „bezüglich des Schicksals der Philosophie im Land des
Islam nach Averroes, müssen wir eine doppelte historische Untersuchung beginnen und die
soziologischen Bedingungen vergleichen“ solche die „für das Versagen auf muslimischer Seite“
verantwortlich sind, mit solchen, „die Erfolg auf der westlichen, christlichen Seite fördern“. Der
Erfolg der christlichen Seite, geht laut Arkoun eben auch auf diese im islamischen Lande fast

12 Günther, Mohammed Arkoun, 112.


13 Interpretationen wie sie in der ‘Ankaraner Schule’ entwickelt werden.
14 Körner, Alter Text Neuer Kontext, 80. Felix Körner, SJ. Alter Text - neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute.

Ausgewählte Texte übersetzt und kommentiert. Freiburg: Herder, 2006, 80.


15 Günther, Mohammed Arkoun, 108.
16 Günther, Mohammed Arkoun, 109.
17 Mit Bezug auf den Orientalisten van Ess bemerkt Arkoun: “bestimmte renommierten Orientalisten haben dazu

beigetragen, die apologetische Literatur über den Islam zu bereichern.” (Arkoun, Rethinking Islam, 102.)
18 Günther, Mohammed Arkoun, 108.

4
vollständige Verkümmerung des Averroismus zurück. Im Westen hingegen währte der Einfluss19
des lateinischen Averroismus länger,20 wohl vor allem in Gestalt der Aristoteles-Rezeption, die
durch Averroes' Werke initiiert wurde. Muhammad Arkoun glaubt zu erkennen, dass seit dem
10. Jahrhundert und aufgrund der Dominanz eines bestimmten theologischen Denkens (nämlich
dem al-Ghazalis) ein Niedergang der islamischen Wissenskultur stattfand.21 Demnach
schlussfolgert Arkoun, dass solange rationales Denken (wie es z.B. in seiner Fassung des
Averroes zum Ausdruck kam) auch im heutigen islamischen Diskurs unterdrückt wird, sich
religiöses Denken nicht fortentwickeln kann und somit die Kulturentwicklung gleichsam
aufgehalten wird.22 Philosophie als Teil islamischen Erbes gilt es wiederzuentdecken und neu zu
denken.
Neben der Vernachlässigung philosophischen Denkens, sieht Arkoun ein weiteres Hindernis
für religiöses Neudenken im Monopol islamischer Schriftgelehrten über die Interpretation des
Koran. Dieses Monopol muss aufgehoben werden. Es scheint jedoch, so stellt Arkoun fest, dass
die drängende Suche nach einer authentischen islamischen Identität (innerhalb der verschiedenen
islamischen Kulturen) oft keinen Raum für differenzierte Koraninterpretationen lässt. Ganz im
Gegenteil, die Identitätssuche fördert einen “hoch ritualisierten politischen Islam”, 23 den es
jedoch unbedingt zu überwinden gilt.
Arkoun selbst nimmt die Herausforderung der 'Identitätsdebatte', einer Definition von
‚Muslim-Sein‘ gar nicht erst an. In seinen Werken stellt er sich nicht so sehr die Frage nach
muslimischer Authentizität, sondern vor allem die Frage, wie dem hegemonischen islamische
Denken, mit seinen verkrusteten Vorstellungen von Geschichte und Inhalt des Koran endlich
Abhilfe geschaffen werden kann.24 Dass die 'Religionsmanager' oft enge Verbindungen zum
politischen Establishment haben, zeigt sich unter anderem daran, dass die Politik oft als
Verlängerungsarm der religiösen Führer fungiert. So mischt sich die Politik zum Beispiel in den
Lehrplan von Bildungsstätten ein. Arkoun schreibt, dass der politische Griff auf Bildung das

19 Der 'Einfluss' kann sich wohl auch als die lange Kontroverse über den Averroismus ausgedrückt haben.
20 Arkoun, Rethinking Islam, 75.
21 Auch Joachim Valentin erwähnt die Theorie, dass nach Ghazali eine Stagnation innerhalb sunnitischer
Theologie stattfand. Siehe Valentin, Joachim. "Rationalität im Islam? Theologische Hintergründe aktueller Konflikte."
Stimmen der Zeit, no. 2 (2005). 75-89, Seite 84. Obschon Arkoun auch eine Version dieser Theorie vertritt und nicht
wenige seiner Mitstreiter ebenso, wird sie von manchen Gelehrten herausgefordert.
22 Günther, Mohammed Arkoun, 113. Für Arkoun ist Philosophie das Werkzeug von Bildung und kreativem
Denken. Jedoch steht dem philosophischen Ansatz stets die Hegemonie der Machtinhaber gegenüber. Hendrich
formuliert mit Bezug auf Arkouns Philosophieverständnis: “Angesichts der ‚faktischen Priorität’” dem ‚Primat der
Gewalt als Antrieb der Geschichte’ bleibt der Philosophie nur der vorsichtige Versuch eines pädagogischen Wirkens
[…].“ (Hendrich, Geert. Islam und Aufklärung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (2004), 307.
23 Ich zitiere hier Arkoun von dem, meinem Wissen nach im Englischen unveröffentlichten Essay “A Return
to the Question of Humanism in Islamic Contexts,” 2. Im Großen und Ganzen wurde dieser Artikel in der deutschen
Fassung als “Auf den Spuren humanistischer Traditionen im Islam” in: Interkultureller Humanismus (145-175)
publiziert. Die zitierte Stelle kann in der deutschen Version auf Seite 149 nachvollzogen werden.
24 Arkoun, Rethinking Islam, 94.
5
Aufkommen eines wissenschaftlichen Geistes oft im Keime erstickt. Für die Befreiung von
Lehreinrichtungen muss noch viel getan werden.25

Säkulare Toleranzgesellschaft

Freie wissenschaftliche Tätigkeit ist für Arkoun ein wichtiger Bestandteil des Hervorbringens
einer Gesellschaft, die gestemmt wird von verantwortlichen, selbst-reflektierenden und kritischen
Bürgern. Für dieses Unternehmen muss eine Solidarität der Wissenschaften Hand in Hand gehen
mit einer Solidarität der Ethiken. Alle gesellschaftlichen Kräfte müssen am Bau einer zivilen
Toleranzgesellschaft mitwirken. In diesem Projekt ist Demokratie die „Voraussetzung einer
neuen Kultur der Kreativität und des moralischen Konsensus“.26
Mit Blick auf islamische Länder bemerkt Arkoun besonders kritisch, das freies Denken,
Gleichberechtigung, Bildung und allgemeines Wahlrecht unterbunden seien. Generell zeigt sich
Arkoun eher skeptisch gegenüber dem Erfolg von Demokratisierungsbestrebungen in
islamischen Ländern27 Gleichzeitig findet er auch Kritikpunkte an säkularen Demokratien. Laut
Arkoun praktiziert Frankreich zum Beispiel einen „militanten Säkularismus“ bei gleichzeitiger
Vorgabe, ein wahrhaft aufgeklärter Staat zu sein.28 Tatsächlich jedoch, sei der französische
Säkularismus (ähnlich wie der Nationalismus) eine Ideologie die blind gegenüber einer
wichtigsten gesellschaftlichen Komponenten ist, in diesem Fall gegenüber Religion.29 Seine
Blindheit ist so ausgeprägt, dass Frankreich nicht bemerkt, den Säkularismus selbst fast schon
wie eine Religion zu praktizieren.
Arkoun warnt, dass solange der fait religieux (das Religiöse) verdrängt wird, können sich
religiöse Strukturen und Mechanismen in die augenscheinlich nicht-religiösen Systeme
einschleichen.30 Daher bedarf es (paradoxer-weise) einer genauen Beobachtung des Religiösen,
einer stetigen Bewusstmachung der religiösen Dimension in der Gesellschaft. Nur ein solch
reflektierender Staat kann sich wahrhaftig von Religion emanzipiert nennen, kann sich als säkular
verstehen. Diese beinhaltet aber nicht das ‚Ausschalten‘ von Religion im öffentlichen Raum.
Arkouns Perspektive liegt die Idee zugrunde, dass historische Realität nicht in die Dimensionen
von Glaube oder nicht-Glaube aufgeteilt werden kann. Beide Dimensionen penetrieren sich
gegenseitig und sind Bestandteil der menschlichen Geschichte. Solange diese

25 Arkoun, Rethinking Islam, 26.


26 Hendrich, Islam und Aufklärung, 306.
27 Ibid.
28 Arkoun, Rethinking Islam, 77.
29 Arkoun, Rethinking Islam, 94.
30 Arkoun, Mohammed. “The State, the Individual, and Human Rights: A Contemporary View of Muslims in a

Global Context,” in: The Muslim Almanac: The Reference Work on History, Faith and Culture, and Peoples of Islam,
453-457. Detroit: Gale Research Inc., 1995.
6
Geschichtsentwicklung negiert wird, oder sogar politisch niedergeschlagen wird, können sich
keine autonomen Zivilgesellschaften bilden. Jedoch nur wenn sich tatsächlich aufgeklärte
Gesellschaften zu einer ethischen Solidarität zusammenschließen, kann „die gemeinsame
Zukunft aller Völker“ angestrebt werden.31 Allerdings ein Gesellschaftsentwurf, fern von
blindem Säkularismus und religiöser Staatsführung, kann eine Toleranzgesellschaft beabsichtigen.

Ein Muslimisches Zivilbürgertum?


Trotz der Arkounschen Skepsis gegenüber religiösen und politischen Strukturen muslimischer
Gesellschaften, findet er einige positive Impulse in der islamischen Geschichte. Zum Beispiel,
glaubt er, dass die ursprüngliche Umma (muslimische Gemeinde) während der Lebzeit des
Propheten, aufgrund ihrer „spirituelle Qualität“,32 die Vorzüge einer idealen Gemeinschaft hatte.
Diese Qualität zeichnete sich durch die unmittelbare Verbindung zwischen Gott und den Herzen
der Menschen aus. Arkoun erwartet nicht, dass es heute Ziel sein kann und soll, diesen
ursprünglichen Zustand zu kopieren. Auch wenn manche islamische Erweckungsbewegungen
versuchen, ihr Bild der ursprünglichen Umma heute zu realisieren, sieht Arkoun in diesen
Wiederbelebungsversuchen keine Lösung für zeitgenössische Probleme. Vielmehr ist die
dringendste Aufgabe für islamische und generell religiöse Gesellschaften das Überdenken der
jeweils eigenen Wahrheitsansprüche, ein durchweg kritischer Ansatz. Arkoun bezieht sich
vornehmlich auf die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, die
mit ihren Exklusivitätsansprüchen auf Wahrheit, zuweilen gegenseitigen Ausschluss praktizieren.
Laut Arkoun jedoch kann ein in Absoluten operierendes Denken keinen ganzheitlichen Ansatz
haben und damit wenig zur kritischen Untersuchung menschlicher Zustände und Situationen
beitragen. Hier plädiert er für einen Paradigmenwechsel: „Eine Reziprozität des Bewusstseins, als
Basis für einen Austausch von Rechten und Pflichten, auf einem Niveau rechtlicher
Gleichstellung würde nur erfolgen, nachdem ein erkenntnistheoretischer, also mentaler Bruch
stattfindet – ein Bruch mit dem Konzept theologischer Wahrheit, das die drei
Offenbarungsreligionen entwickelten.“33 Allein durch einen solchen mentalen Bruch kann das
oben erwähnte Metalevel erreicht und in gemeinsamer Solidarität gesellschaftliche Werte
formuliert werden. Diese Entwicklung findet laut Arkoun nur außerhalb exklusivitischem
Religionsdenken statt.34

31 Cf. Arkoun, “Auf den Spuren,” 145.


32 Arkoun, Rethinking Islam, 53.
33 Arkoun, Rethinking Islam, 54.
34 Natürlich geht Arkouns Verständnis dieser theologischen Wahrheit auch über Religion an sich hinaus.
Wahrheiten werden fast schon theologisch (im Sinne von „absolut“) auch von nicht-religiösen Institutionen
formuliert: von Wissenschaftlern und Politikern zum Beispiel. Deshalb gilt es auch diese 'Wahrheiten' stets kritisch zu
prüfen.
7
Es möchte wohl sein, dass Religionsdenken einige Hürden liefert, trotzdem vermag Arkoun
in der muslimischen Urgemeinschaft eine Quelle zur Inspiration moderner Gesellschaften zu
entdecken. Arkoun sieht in den Anfangsmomenten des Islam sogenannte „Perspektiven der
Befreiung“ („vistas of liberation“).35 Er glaubt, dass Offenbarung und religiöse Texte durchaus
positive Kräfte in sich bergen. Diese Dynamiken können zur Befreiung und Entwicklung einer
Person hin zu einer Verantwortlichkeit führen, welche auch das Bewusstsein für Rechte und
Pflichten innerhalb der Gesellschaft beinhaltet. Arkoun gibt jedoch zu, dass der Begriff „Bürger“
noch keine unmittelbare Grundlage in der Schrift hat.

Offenbarung wie sie in den heiligen Schriften festgehalten ist, enthält Ansatzpunkte, starke Wurzeln
und Trägerkonzepte für die Entstehung des Menschen als ein Subjekt mit Rechten und als ein
Agent, verantwortlich für die Einhaltung der Pflichten gegenüber Gott und Mitmenschen in der
politischen Gemeinschaft. Die Idee des Mitmenschen stimmt [jedoch] nicht mit der modernen Idee
des Bürgers überein.36

Des weiteren bemerkt er: „Muslimisches theologisches Denken verpflichtet sich [noch] nicht zu
der Art moderner Interpretation,“ welche die ‚Probleme‘ „im zeitgenössischen Diskurs über
Menschenrechte hervorheben möchte.“37 Obschon dieser pessimistischen Einschätzung, glaubt
Arkoun, dass der Koran eine Dynamik beinhaltet, welche zur Formung verantwortlicher,
autonomer und freier Individuen führen kann.38 Er bezieht sich explizit auf Sure 9: „die
grundsätzliche Aussage von Sure 9 ist nicht veraltet“ und eine Effektivität des Koranischen
Diskurses sei die ‚Implementierung der freien Person.‘39 An dieser Stelle ist eine Darstellung von
der Interpretation der Sure 9 durch Arkoun nicht möglich, jedoch soll hier ein Auszug aus seinen
Erläuterungen zitiert sein:

Der Diskurs der Transzendenz und der Absolutheit öffnet einen unendlichen Raum für die
Förderung des Individuums, jenseits der Zwänge durch Väter und Brüder, Clans und
Stämme, Reichtum und Ehrungen; das Individuum wird ein autonomer und freier Mensch,
genießt eine Freiheit, garantiert durch Gehorsam und Liebe, die innerhalb der Allianz [mit
Gott] gelebt wird. Das Bewusstsein des Menschen, dann befreit, erfordert nicht einmal die
Vermittlung eines anderen menschlichen Bewusstseins, wie im Christentum, das auf die

35 Arkoun, Rethinking Islam, 34.


36
“Revelation as collected in the sacred writings contains starting points, strong roots, and carrier concepts for the
emergence of the person as a subject equipped with rights and as an agent responsible for the observance of
obligations toward God and peers in the political community. The idea of peers does not coincide, of course, with the
modern idea of citizen [...].” (Arkoun, Rethinking Islam, 55.)
37 Arkoun, Rethinking Islam, 56.
38 Arkoun, Rethinking Islam, 57.
39 Arkoun, Rethinking Islam, 56. In Englisch: “deployment of the free person.” Siehe zu Arkouns
Interpretation der Sure 9 das Kapitel 5 in Völker, Quran and Reform, 154-156 (2.3 Emergence of the Responsible
Person). (Thesis submitted for the degree of Doctor of Philosophy, University of Otago, New Zealand. Online
Publication: http://otago.summon.serialssolutions.com/search?s.q=Katharina+V%C3%B6lker)
8
Vermittlung von Jesus angewiesen ist; der ontologische Zugang eines Muslims ist direkt,
total, und irreversibel. [...] Der koranischen Diskurs demonstrierte im Großen und Ganzen
seine Wirksamkeit als ein Raum für die Entstehung, Ausbildung und Implementierung des
freien Menschen, welcher die Garantien auf Leben, Eigentum, Familie und Wohnung, nicht
als „Bürger“ einer Zivilgesellschaft – die geführt und gewählt wird von Repräsentanten, oder
durch allgemeines Wahlrecht (der Sovereign einer Nation wurde gegründet 1789 durch die
Französische Revolution) – sondern als Gottes Partner in einem ewigen Pakt [genießt].40

Arkoun meint hier, dass die koranische Offenbarung zur Befreiung der Person vom
Stammeskodex beigetragen hat. Er erwähnt auch, dass die neue Gefolgschaftstreue auf des
Einzelnen Gehorsams gegenüber Gott beruht. Sicherlich gibt es hier eine Spannung zwischen
einem solchen ‚Modell von Person‘ und dem westlichen Ideal von moralischer Autonomie. Aber
in diesem Zusammenhang spricht Arkoun ausdrücklich von der „muslimischen Person“41 oder
der „Person des Islam“, die zuerst auftrat, als die Menschen der vormaligen Jahiliyya 42 sich
verpflichteten „zum Glauben und zum Kampf (Jihad) für des Propheten Sache, eine kleine
Gruppe der frühen Gläubigen (mu’minūn) [...].“43
Hier besteht offensichtlich eine Reibung zwischen Arkouns Erahnen eines befreienden
Potentials von Offenbarungen (inklusive derer soziologischen Implikationen) und den von
Arkoun genannten Schwierigkeiten heutiger islamischer Gesellschaften, die der Entwicklung
eines freien Individuums und Staatsbürgers oft entgegenstehen. Arkoun bemängelt vor allem die
vielen Hindernisse und Fehlentwicklungen innerhalb muslimischer Länder. Mit Bezug auf die
nationalistische Bewegung Ägyptens in 1952 zählt Arkoun auf:

[...] die Zerstörung von Freiheiten, die Negation der Menschenrechte, die imperialistischen
Gelüste, die ungeordnete Entwicklung, die Unwirksamkeit und oft Destruktivität von
traditionellen Werten, Arbeitslosigkeit, urbane Übervölkerung, ungleiche Verteilung von
Ressourcen, Abfall und Korruption. Die Errungenschaften im öffentlichen
Gesundheitswesen, kostenloser Unterricht (aber nicht Bildung), Sicherheit, Transport und
Wohnkomfort können nicht die Schäden kompensieren, die für die Person [an sich]
entstehen, durch die [zerstörerischen?] ökologischen, soziologischen und agrarischen
Strukturen, in denen die [durch den Islam sakralisierten] Werte der Vorfahren wurzeln.44

Auch heute noch gilt es diese traditionellen Gesellschaftsstrukturen zu hinterfragen und durch
Bildung und kritische Reflexion mit modernen Ansätzen zu ersetzen.45

40 Arkoun, Rethinking Islam, 57.


41 Über 'Basispersönlichkeit' (Abram Kardiner) in der Interpretation Arkouns, bezüglich der muslimischen
Person, siehe Völker, Quran and Reform, 112.
42 Vorislamische Zeit, Zeit des Unglaubens.
43 Arkoun, Rethinking Islam, 89.
44 Arkoun, Rethinking Islam, 91.
45 In meinem Interview mit Muhammad Arkoun stellte sich heraus, dass er Begriffe wie „Struktur“ oder
„Programm“ zu vermeiden sucht, und stattdessen von „Ansatz“, „Versuch“ und „Projekt“ spricht.
9
Reflexion

Bei den genannten gesellschaftlichen Herausforderungen sind laut Arkoun sowohl engagierte
Religionsvertreter als auch die Intellektuellen der Länder gefragt. Beide Gruppen spielen eine
wichtige Rolle für die Begleitung einer Gesellschaft hin zur politischen, gesellschaftlichen und
öffentlichen Anerkennung von Personenrechten. Auf diesem Weg müssen noch viele
Hindernisse überwunden werden, Blockaden die auch innerhalb der beiden Gruppen an sich
entstehen: “Die traditionelle Funktion der Ulema Kritik zu üben und theologischen sowie
moralischen Tadel aufzubringen, wurde komplett aufgegeben. Die Intellektuellen, von der
Unabhängigkeit ihrer westlichen Kollegen verführt, wählen das Exil oder Selbst-Zensur.”46
Arkouns Ruf nach einer kritischen Ulama (Gemeinschaft der Religionsgelehrten) geht aber
noch weiter. Die Religionsvertreter sollten aktiv an der Dekonstruktion der Sprachmechanismen
des religiösen Diskurses teilnehmen. Das bedeutet, auch Religionsgelehrte müssen in kritischem
Denken geschult und in der Lage sein die menschliche Psychologie, wie sie sich in Sprache und
Symbolen widerspiegelt, zu beleuchten. Arkoun meint, dass das Bewusstsein von der
menschlichen Psychologie und den manipulativen Mechanismen öffentlicher Diskurse, dabei
helfe, einen höheren Grad von geistiger Freiheit zu erreichen. An dieser Stelle mag man fragen
wollen: An welchem Punkt größerer gedanklicher Freiheit, droht das Ausschütten des Kindes
mit dem Bade, der Verlust von Religion durch Rationalisierung?
Arkouns Entwurf wirft sicherlich viele Fragen auf und zeigt beständig eine Hassliebe zu den
Entwicklungen der ‚westlichen Aufklärung’, sowie dem islamischen Erbe und seinen
Modernisierungs-blockierenden sowie Modernisierungs-verstärkenden Aspekten. Aber vielleicht
sind es genau diese Reibungen innerhalb zeitgenössischen muslimischen Denkens, oder auch
innerhalb religiösen Denkens generell, welche das Neudenken der Rolle von Religion
garantieren. Vielleicht erhält Religion nur auf diesem Wege auch heute noch Bedeutung.
Schließlich möchte man Arkoun doch zustimmen: das 'Projekt Humanismus' fordert das
Mitwirken aller Parteien, der Lehrenden an Schulen und Universitäten, der Intellektuellen und
Religionsvertreter. Dabei mag man sehr wohl vom eigenen Erbe inspiriert werden. Gleichzeitig
jedoch sollte der kritische Blick auf unsere Geschichte sowie die sozialen Herausforderungen
unserer Zeit bewahrt sein.
46 Arkoun, Rethinking Islam, 92. Hier muss natürlich bemerkt werden, dass wie bereits erwähnt, muslimische
Intellektuelle oft von den bestehenden politischen und religiösen Strukturen zum Verstummen gebracht werden.
Siehe Günther, Mohammed Arkoun, 109. Günther schreibt: „In den meisten Ländern des Nahen und Mittleren Ostens
sind die sozio-politischen Bedingungen nicht gegeben, die notwendig sind, damit sich innovative Strömungen
entfalten und etablieren können. Der Rahmen, innerhalb dessen Diskurse stattfinden können, ist weitgehend
vorgegeben. Darum kritisieren Intellektuelle, die sich weigern, sich den herrschenden Konventionen anzupassen, d.h.
der öffentlichen Meinung und der offiziellen Ideologie zu folgen, eine Isolierung der jeweiligen wissenschaftlichen
Gemeinschaft, schlimmstenfalls müssen sie ein vergleichbares Schicksal wie Nasr Hamid Abu Zaid in Kauf nehmen
[...].“
10

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