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SCHWERPUNKT AGILES MANAGEMENT | CHANGE

LOST IN
TRANSFORMATION
Agiles Arbeiten gilt als neues heißes Thema im Management.
Doch in manchen Unternehmen knallt es beim Wandel
gewaltig. Weil die Mitarbeiter nicht gut genug vorbereitet waren.
Und das Modell nicht zu jeder Organisation passt.

VON MICHAEL LEITL

2 HARVARD BUSINESS MANAGER MAI 2016


I
n den britischen Kohleminen ging es nach dem Entsprechend wird bereits in vielen, vor allem klei-
Zweiten Weltkrieg zu wie am Fließband. Ein neren Unternehmen mit allen möglichen Formen agi-
Mann, ein immer gleicher Handgriff – alles streng len Arbeitens experimentiert: Wo Menschen Computer
überwacht vom Management. Diese Folgen der programmieren, heißt die Methode Scrum; werden
Industrialisierung waren verheerend. Wer konn- Geschäftsmodelle oder Produkte entwickelt, sind Lean
te, suchte sich einen besseren Job in den neuen Fabri- Start-up und Design Thinking populär; und Unterneh-
ken über Tage. Bei denen, die blieben, pendelte sich mer, die ihren ganzen Betrieb umkrempeln, finden ge-
der Absentismus bei 20 Prozent ein. Zwar entwickelte fallen an Modellen wie Holokratie oder der sogenann-
sich die Technik des Bergbaus immer weiter – allein ten Teal Organisation.
die Produktivität stieg nicht wie erhofft. Anders in Sie alle werden jedoch zuweilen mit Widerstand
Haighmoor, einer neuen Lagerstätte in South York- konfrontiert, wie es die Forscher des Tavistock-Insti-
shire. Dort organisierten autonome Gruppen Aufgaben tuts beschrieben. So musste Hermann Arnold 2015 auf
und Schichten so, dass sie optimal zu den Bedingungen der Arbeitgeberbewertungsplattform Kununu lesen, in
vor Ort passten. Ein Team aus Psychologen und Sozio- seinem Unternehmen Haufe-Umantis herrsche „Mana-
logen des britischen Tavistock-Instituts untersuchte gement by Fear“. Ausgerechnet bei ihm, der nach allen
das Phänomen. Die Wissenschaftler stellten fest, dass Regeln der Kunst die Selbstorganisation fördert, bei
Kompetenz, Verantwortung und Aufgabenverteilung dem die Mitarbeiter den Chef wählen dürfen, eigen-
in der Hand der einzelnen Arbeiter lagen. Und sie no- verantwortlich arbeiten und sich eigentlich wie Könige
tierten überrascht, dass dies die Kosten, Unfallzahlen fühlen müssten. Ähnliches wiederfuhr dem Chef des
und Fluktuation senkte, während es die Qualität und amerikanischen Online-Schuhversenders Zappos, Tony
Motivation steigerte. Hsieh. Um den Übergang zur Holokratie zu forcieren,
Noch überraschender als diese spontane Entwick- einem auf autonomen Gruppen basierenden Organisa-
lung zu autonomer Arbeitsorganisation, die es immer tionsmodell, stellte er seine Mitarbeiter vor die Wahl:
wieder in Europa und auch den USA gab, war jedoch Holokratie oder ein Kündigungsbonus von ein paar
deren ebenso plötzlicher Zusammenbruch, den die Monatsgehältern. 14 Prozent der Mitarbeiter verließen
Forscher untersuchen konnten. Einflüsse von außen, das Unternehmen. Das Medien-Start-up Medium.com
etwa ein Disput wegen unterschiedlicher Gehälter, und verabschiedete sich im März 2016 sogar vom Konzept
Neid auf die vermeintlichen Privilegien der autonomen Holokratie und entwickelt seine Organisation weiter.
Gruppen – die sich bemerkenswerterweise auch noch Offenbar ist nicht jeder Mensch bereit für die Freiheit
auf gleiche Gehälter verständigt hatten – führten im- im Job. Zwar begreifen viele die Notwendigkeit für
[M] FOTO: GETTY IMAGES, ILLUSTRATIONEN: DARIUS JAN WAKILZADEH FÜR HARVARD BUSINESS MANAGER

mer wieder zum Rückfall in das konventionelle System Veränderungen. Doch agiles Arbeiten auch gut zu
aus Befehl und Gehorsam. Der Philosoph Donald praktizieren erfordert mehr als nur Verständnis. Es
Alan Schön prägte für diesen Organisationseffekt den verlangt persönliche Reife. Das betrifft sowohl die
Begriff „dynamischer Konservatismus“. Die Mitbestim- Führungskräfte als auch die Mitarbeiter. Warum fällt es
mung der Belegschaft gehörte damals nicht zu den so vielen schwer, eigenverantwortlich zu arbeiten?
wichtigsten Aspekten von Führung. Warum kommt es immer wieder zu Missverständnis-
Das ist heute, im 21. Jahrhundert, nicht viel anders. sen, Streit und schlechten Ergebnissen? Die Gründe
Studie um Studie belegt, dass sich die nachwachsende liegen oft in Faktoren, die aus Untersuchungen zur Un-
Generation einen neuen Führungsstil wünscht und ternehmenskultur und zum Change-Management be-
dass sich das Management auf diesen einlassen will. kannt sind. Sie machen sich beim Übergang zu agilem
Etwa ein Drittel der Führungskräfte in Deutschland Arbeiten nur besonders bemerkbar.
empfiehlt solche Methoden, zu denen selbst organi- Die Umstellung vom Angestellten mit Chef zu einer
sierte Netzwerke ebenso gehören wie das schrittweise Existenz als Gleicher unter Gleichen ist geprägt von
Vortasten zur Lösung eines Problems. Die klassische Emotionen. Diese Widersprüchlichkeit ist typisch für
Linienhierarchie lehnen sie ab; Kooperationsfähigkeit die neue Welt. Sie gibt die Freiheit, nach eigenen Vor-
ist ihnen wichtig, und Coaching sehen sie als unver- stellungen zu arbeiten. Gleichzeitig fordert sie jeden
zichtbares Werkzeug an. Einzelnen, verlangt in hohem Maß Engagement, Ver-

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antwortlichkeit, Kritikfähigkeit und Reflexionsvermö- Die Sorgen betreffen allerdings bei Weitem nicht nur
gen. Dass das nicht jedem liegt, der in einer bürokrati- Mitarbeiter, die mit neuen Organisationsformen kon-
schen Kultur groß geworden ist, liegt auf der Hand. frontiert werden. „Management ist ein Auslaufmodell“,
So wünschen sich auf dem Papier viele Mitarbeiter behauptet Lutz Becker, Studiendekan für nachhaltiges
diese Freiheit. In der Praxis verfallen sie jedoch schnellMarketing und Führung an der Hochschule Fresenius.
wieder in das hierarchische Muster – das ist die Schizo- Er begründet seine These mit immer leistungsfähigeren
phrenie des Wandels. Computerprogrammen, die mithilfe von intelligenten,
selbst lernenden Systemen zunehmend autonom wür-
URSACHEN DER VERWEIGERUNG den. „Klassische Managementfunktionen wie Planung,
Die große Herausforderung für Arbeitnehmer, vor allem Maschinen- und vielleicht noch Personaleinsatz sowie
in wissensbasierten Berufen, ist, zu denken und zu han- Kontrolle werden derzeit vom menschlichen Entschei-
deln wie ein Unternehmer. Das hat fundamentale Kon- der unabhängig.“ Die Fliehkräfte durch die technische
sequenzen in zwei Richtungen: Manager geben Macht Entwicklung treiben das mittlere Management aus-
und Verantwortung ab; Mitarbeiter müssen lernen, einander. Das spüren die Manager schon heute, wie der
Verantwortung zu übernehmen. Kienbaum-Coach Achim Mollbach es in seiner Bera-
Rational ist dieser Trend ein Selbstläufer. Emotional tungspraxis erlebt. Dort klagen die Manager über den
eher eine Bergetappe. Eine Untersuchung des Roman- Verlust von Bedeutung und Gestaltungsspielraum (sie-
Herzog-Instituts kommt zu dem Ergebnis, dass zwar he Servicekasten Seite 8).
die Führungsliteratur, die Gesellschaft und explizit die Werden Organisationen umgebaut, müssen sich auch
Mitarbeiter selbst ein kontinuierliches Anpassen der Führungskräfte unter Umständen neue Jobs suchen.
Führung an sich wandelnde externe Rahmenbedin- Wie sich das anfühlt, hat Haufe-Umantis-Mitgründer
gungen fordern. Doch weniger als die Hälfte der euro- Hermann Arnold selbst erlebt. Nachdem er seinen Ge-
päischen Beschäftigten gaben 2010 an, dass in ihrem schäftsführerposten abgegeben hatte, ignorierten ihn
Unternehmen innerhalb der vergangenen drei Jahre Kunden in Verkaufsgesprächen – trotz jahrelanger
tatsächlich ein Wandel stattgefunden habe. „Obwohl guter Zusammenarbeit. Ein hässliches Erwachen, will-
die Mitarbeiter viele Erwartungen aussprechen, sind sie kommen im Team. Ein anderer Manager, der von den
es oftmals selbst, die bei der Umsetzung Widerstand Mitarbeitern bei Haufe-Umantis abgewählt wurde, trat
leisten“, schreiben die Autoren. Sie gehen davon aus, unter Tränen in die zweite Reihe zurück. Dieser Wech-
dass mehr als die Hälfte der Wandelinitiativen am sel sei oft der größte Hemmschuh für Manager, sagt Ar-
Widerstand der Mitarbeiter scheitert. Neuere Unter- nold, „weil ihre Rollen neu definiert werden müssen“.
suchungen bestätigen dieses Muster. Das gilt nicht nur für Managementfunktionen. Schon
Die Gründe sind gut erforscht: die Übernahme einer anderen Aufgabe empfinden Mit-
UNSICHERHEIT. Neuem und Unbekanntem begegnen arbeiter nicht zwingend als Aufbruch. Für einen Pro-
Menschen zögerlich, weil sie die Entwicklung nicht grammierer in einem mittelständischen Betrieb war
vorhersehen können; seine Umwidmung zum Mitglied im Scrum-Team ein
ANGST, ETWAS ZU VERLIEREN. Die Mitarbeiter können Karriererückschritt. Statt wie bisher koordinierend und
neue Prozesse anfangs nicht einschätzen und ihre eige- perspektivisch zu arbeiten, sollte er nach Aufgabenlage
nen Lebensverhältnisse nicht mehr kontrollieren. Des- Programmbausteine schreiben.
halb reagieren sie mit Hilflosigkeit und letztlich auch In solchen Fällen ziehen sich Menschen gern auf
mit Widerstand; ihre gewohnten Verhaltensmuster zurück, erklärt der
ANGST, ZU VERSAGEN. Wer etwas Neues lernen muss, Hamburger Psychotherapeut und Ökonom Thorsten
hat zunächst mehr Arbeit und auch nicht die Garantie - Kienast, der sich auf die Arbeit mit Topmanagern spe-
auf gutes Gelingen. Das kann zu Frustration und zialisiert hat. Es gelte die Daumenregel, dass das Aus-
existenziellen Sorgen führen. maß an Neuem, mit dem Mitarbeiter konfrontiert wer-
Der Soziologe und Organisationsberater Stefan Kühl den, 40 Prozent nicht übersteigen dürfe. Ansonsten
verweist außerdem auf einen ganzen Strauß an Parado- könnten Überforderung und beruflicher Identitäts-
xien, der beim Übergang von hierarchischer zu selbst- verlust bis zur Depression folgen. Droht dazu noch der
bestimmter Organisation zu erwarten ist – etwa wenn soziale Status zu schwinden, reagieren die Betroffenen
ein Manager die Belegschaft auffordert, jetzt selbstorga- mit Verweigerungshaltung oder Frustration.
nisiert zu handeln. Das führt zu ähnlicher Irritation wie Aus all dem folgt: Stabilität ist wichtig bei der Ein-
die unmöglich zu erfüllende Aufforderung: „Sei spon- führung agilen Arbeitens. Wie sehr, illustrieren wissen-
tan!“ Aus diesem Dilemma können sich die organisie- schaftliche Aufzeichnungen des Berliner Arztes Ernst
renden Manager nur schwer befreien. Horn aus dem Jahr 1818 an der Berliner Charité. Vor

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seiner Zeit dort wurden psychisch Kranke lediglich ver- KOMPAKT
wahrt. Als die Ärzte ihnen eine strikte Tagesstruktur nach
preußischem Modell verordneten, mit Vorlesestunden, WUNSCH
Exerzierübungen und praktischen Arbeiten, gesundete Die Theorie von selbstorganisierten Teams und
ein großer Teil der psychisch Erkrankten. Das Prinzip hierarchielosen Organisationen klingt zunächst
der Tagesstruktur wird heute noch angewandt. verlockend. Zumal zahlreiche Untersuchungen
So wird verständlich, warum ein Scrum-Team, bei belegen: Wenn Menschen in Organisationen
dem die neuen Rollen und Aufgaben nicht klar vermit- autonom handeln dürfen, können sich ihre
telt wurden, „agiles Arbeiten wie eine Behörde organi- Talente und Stärken bestmöglich entfalten, was
siert“, wie es ein Vorgesetzter formuliert. sich auch im Unternehmensergebnis nieder-
schlagen kann. Nicht wenige Organisationen
SÄULEN DER FREIHEIT berichten, dass mehr Freiheit für schlankere
Menschliche Sorgen und Ängste treten beim Übergang Prozesse, mehr Innovation und zufriedenere
zu einer neuen Organisationsform regelmäßig auf – Mitarbeiter sorgen kann.
aber natürlich nicht immer und auch nicht bei allen. Es
hängt nach Einschätzung der Praktiker und Wissen- WIRKLICHKEIT
schaftler vor allem davon ab, aus welcher Unterneh- Nicht selten sind Teams mit der Umstellung auf
menskultur die Mitarbeiter kommen. Um einschätzen agile Managementsysteme jedoch überfordert.
zu können, was auf Unternehmen beim agilen Arbeiten Denn mehr Freiheit bedeutet eben auch, offen
zukommt, lohnt sich ein Blick auf die neun persön- zu sagen, wenn etwas schlecht läuft – und
lichen Fähigkeiten, die agile Teams benötigen. Zusam- Kritik auszuhalten, wenn Ergebnisse hinter
mengetragen haben sie die Wissenschaftler Isabel Rei- den Erwartungen zurückbleiben. Wer unnötige
chel und Lutz Becker von der Hochschule Fresenius, Reibungsverluste vermeiden will, sollte
indem sie 2014 die vorhandene Literatur auswerteten deshalb vor der Transformation klare Regeln für
und eine quantitative Umfrage bei Mitarbeitern in agi- die Zusammenarbeit definieren – auch was
len Unternehmen durchführten. Urlaub, Gehälter und Arbeitszeiten angeht.

1. DEN KOLLEGEN VERTRAUEN


Eine wichtige Basis für eine gut funktionierende agile
Organisation ist Vertrauen. Wie schwierig das im Be-
rufsleben sein kann, zeigen Legionen von Coaches,
Bestsellerautoren, die über die Hölle Arbeitsplatz
schreiben, und Berichte auf Arbeitgeberbewertungs-
portalen. Sie belegen: Vertraute Zusammenarbeit ist
nicht die Regel. Die Organisationspsychologin Sonja
Sackmann, die seit Jahrzehnten die Mechanismen der
Unternehmenskultur erforscht, unterstreicht dies mit
folgendem Beispiel: Ein Manager kehrte von seinem
Auslandsaufenthalt in Asien zurück. Er war es ge-
wohnt, abends lange zu arbeiten. Die Mitarbeiter taten
nun alles, um zu kaschieren, wenn sie bereits früher ge-
gangen waren. Scheinbar zufällig blieb in ihren Büros
das Licht an – oder eine Jacke hing noch über dem
Stuhl. Auf dieses Verhalten angesprochen, reagierte der
Manager überrascht. Ihm war es nicht aufgefallen.
In agilen Teams, in denen schnell sozialer Druck ent-
stehen kann, kann so ein Verhalten zum Sprengstoff
werden. Das Vertrauen, dass die Kollegen ihren Teil der
Arbeit leisten werden, ist die Basis für eine gute Zusam-
menarbeit. Dazu gehört auch, so die Fresenius-Forscher
Reichel und Becker in ihrer Analyse, dass sie sich ihrer
gegenseitigen Schwächen bewusst sind, sie akzeptieren
und die Aufgabenverteilung entsprechend anpassen.

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Wie fragil das Vertrauensgefüge ist, zeigt das Beispiel dürfen sich in solchen Gruppen nicht nur am eigenen
Haufe-Umantis. Das Unternehmen stellte Mitarbeiter Leistungs- und Qualitätsanspruch orientieren – son-
vor die Wahl, sich entsprechend der neuen Organisa- dern müssen sich an dem des Gesamtprodukts aus-
tion weiterzuentwickeln oder zu gehen. Das führte richten. Da sei unternehmerisches Denken gefragt.
zu einem Schock im Unternehmen, obwohl Mitarbeiter Da dieses Zusammenspiel nicht selbstverständlich
diesem Vorgehen demokratisch zugestimmt hatten. ist, werden in vielen der Unternehmen, die mit selbst-
Manch einer glaubte, er könnte jetzt gefeuert werden, organisierten Teams arbeiten, bevorzugt Hochschul-
nur weil er etwas kritisiert hatte. Das Misstrauen kehrte absolventen eingestellt. Denn ihnen fehlt die Vorge-
zurück. „Wir haben daraufhin unter anderem anony- schichte der klassischen Hierarchie. Nicht nur beim
mes Feedback eingeführt, um das Vertrauen wiederzu- Softwarehersteller Adobe in Hamburg achten die Per-
erlangen“, sagt Mitgründer Arnold. sonaler bei Einstellungen nur noch zum Teil auf die
fachlichen Fähigkeiten. Vor allem sollen die neuen Mit-
2. IN SELBSTORGANISIERTEN TEAMS KLARKOMMEN arbeiter in der Lage sein, zu kooperieren, Verantwor-
Aufgaben so zu lösen, wie man selbst es für richtig hält, tung zu übernehmen und die Ziele der Gruppe in den
klingt zunächst verlockend. Viele Untersuchungen Vordergrund zu stellen.
belegen: Wenn jedes einzelne Teammitglied die
nötige Freiheit für autonomes Handeln be- 4. DAS EIGENE HANDELN REFLEKTIEREN
kommt, ergänzen sich die Stärken aller, Ähnlich wie beim Design Thinking Produkte in immer
um das gemeinsame Ziel zu erreichen. neuen Überarbeitungsrunden reifen, entwickeln sich
Die Arbeit wird effizienter. auch agile Unternehmen immer weiter. Dafür brauchen
Allerdings passiert es am Anfang Mitarbeiter die Fähigkeit, die eigenen Vorstellungen
häufig, dass Teams überfordert sind. und Vorgehensweisen immer wieder zu hinterfragen
Freiheit zum Handeln bedeutet eben auch, und im Zweifel zu verändern. Feedback von außen ist
den Kollegen zu sagen, wenn etwas schlecht dafür unverzichtbar, weil Schwächen den Einzelnen
läuft – und selbst Kritik anzunehmen, wenn die eige- nur selten bewusst sind.
nen Lösungsvorschläge hinter den Erwartungen In einem mittelständischen Unternehmen reagierte
zurückbleiben. Klare Regeln für die Zusammenarbeit ein Geschäftsführer zum Beispiel höchst überrascht, als
sind in diesem Zusammenhang unabdingbar. Das be- die Mitarbeiter ihm ihren Wunsch nach einem anony-
trifft Urlaub und Gehälter genauso wie Arbeitszeiten. men Meckerkasten mitteilten. In der Diskussion stellte
Sonst steigert sich das ganze Team schnell in einen sich heraus: Ihm war gar nicht klar, dass im Unter-
vermeintlichen Arbeitsrausch – der nur aus sozialem nehmen Kritik von Untergebenen unterdrückt wurde.
Druck entsteht. Sonja Sackmann kennt diese Reaktion: Vielen Mana-
Hinzu kommt noch ein weitverbreiteter Fehler beim gern sei die Wirkung ihres nonverbalen Verhaltens auf
Aufbau selbstorganisierter Teams, so Coach Jutta Eck- ihre Umgebung überhaupt nicht bewusst.
stein. Sie müssen fachlich in der Lage sein, ein Produkt Der Mechanismus gilt auch für Mitarbeiter, die plötz-
selbstständig und komplett abzuschließen. Deshalb lich mehr Verantwortung bekommen und auf Koope-
dürfen nicht, wie normalerweise üblich, alle Daten- ration angewiesen sind. Sobald sie in Stress geraten,
bankexperten in ein Team, sondern dieses sollte aus verfallen Menschen in alte Routinen. Um sich zu ver-
möglichst unterschiedlichen Fachleuten bestehen. bessern und das Arbeiten in der Gruppe zu lernen,
müssen sie überlegen, wodurch ihr Verhalten ausgelöst
3. DIE GEMEINSAME ARBEIT TEILEN wurde, sagt Sackmann.
Zusammenarbeiten heißt, Verantwortung, Ressourcen Die Rückmeldung aus dem Team kann hart werden.
und Belohnungen auf alle Schultern zu verteilen. Denn in solchen Teams entstehe hoher sozialer Druck,
Außerdem gehören dazu Beziehungen auf Gegenseitig- weiß Psychotherapeut Kienast. Zwar fühle sich so ein
keit, gemeinsame Ziele, persönliche Autorität und Team zu Beginn schnell an wie eine Familie. Aber genau
Verantwortungsbewusstsein. Das haben Wissenschaft- das Durchmischen einer privat-vertraulich anmuten-
ler um Paul W. Mattessich vom Wilder Research Center den mit einer professionellen Ebene führe bei offenen
herausgefunden. Ist dieses Set an Eigenschaften vor- Worten und Kritik untereinander oft zu größeren
handen, wird daraus eine Quelle der Innovation. Zerwürfnissen, als wenn diese von einer Führungskraft
Das ist nötig, weil die einzelnen Teammitglieder be- stammten. Denn diese sei von Amts wegen weisungs-
reit sein müssen, ihr Wissen zu teilen – und vor allem und kritikbefugt. Dazu kommt, so der Psychothera-
das Know-how der Kollegen auf anderen Fachgebieten peut, dass die Kollegen die Last der Verantwortung
ernst zu nehmen. Die Mitarbeiter, so Coach Eckstein, spüren und deshalb empfindlicher auf Schwächen an-

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derer reagieren. Der Ton wird nach vielleicht anfäng- arbeiter merkt, dass sie es verstanden haben. Diese
licher Offenheit entweder rauer, die Mitarbeiter ver- Form der Kommunikation ist essenziell und besteht
stummen aus Resignation oder beginnen Einzelne so- aus zuhören, verstehen und reden.
zial auszugrenzen. Moderne Technik kann das unterstützen – muss es
aber nicht. Dass zeigt eine Untersuchung des Instituts
5. SICH AUF EIN GEMEINSAMES ZIEL VERSTÄNDIGEN für Sozialwissenschaftliche Forschung in München. In
Der Brandschutzspezialist HHP Berlin zum Beispiel hat 14 Fallstudien in Unternehmen haben die Wissen-
seine Experten zu Gruppen aus diversen Fachkräften schaftler mehr als 150 Tiefeninterviews auf allen Hier-
zusammengestellt. Diese nehmen sich eigenständig archieebenen geführt. Dabei stellten sie fest, dass viele
ihre nächsten Aufgaben. Damit sie wissen, was wichtig Unternehmen mit den technischen Möglichkeiten der
ist, müssen sie jedoch eine gemeinsame Vorstellung Datenauswertung rigide auf das Prinzip „Steuern nach
von den Zielen des Unternehmens haben. In agilen Zahlen“ setzen – was selbst bei einer flacheren Hierar-
Organisationen gibt es deshalb Personen, die als Bot- chie zu mehr Entscheidungsmacht an der Spitze führt.
schafter den tiefer liegenden Sinn eines Projekts er- Von echter Kommunikation keine Spur.
klären und den Zusammenhang für das Unternehmen Sogar Führungskräfte auf der mittleren Ebene geben
verdeutlichen. Andere Kollegen übernehmen als Coa- an, sich als zahlengetriebene Exekutoren von Sach-
ches die Aufgabe, dem Team zu eigenverantwortlichem zwängen zu sehen, so die Wissenschaftler. Von mehr
Handeln zu verhelfen. Eine Beraterin für agiles Ma- Kontrolle seien auch Arbeitsfelder nicht ausgenom-
nagement in der Softwarebranche, Jutta Eckstein, sieht men, die eigentlich als prädestiniert für kollaboratives
die Selbstverpflichtung auf eine gemeinsame Vision als und eigenverantwortliches Arbeiten gelten wie etwa
Weg, um sicherzustellen, dass sich die einzelnen Team- die Wissensarbeit.
mitglieder in der Pflicht fühlen. In hierarchischen
Strukturen ist das anders. Da trägt der Vorgesetzte die 7. BEREITSCHAFT ZUR VERÄNDERUNG
Verantwortung. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für agiles Arbei-
ten ist die Bereitschaft, sich spontan und schnell auf
6. MIT ANDEREN KOMMUNIZIEREN neue Situationen einzustellen. Das können neue Auf-
Damit agile Gruppen effektiv arbeiten können, ist es träge sein, die besonders dringend sind, eine Ver-
zwingend notwendig, effektiv miteinander zu kommu- änderung der Märkte oder auch Erkenntnisse aus dem
nizieren. Alle Kollegen müssen wissen, welche Auf- Feedback der Kollegen: So geht es mit unserer Arbeit
gaben anstehen, woran andere arbeiten, welcher Wis- nicht weiter, wir müssen etwas verän-
sensstand zu einem aktuellen Problem existiert und dern. Agile Unternehmen bleiben
welche übergeordneten Ziele die Gruppe verfolgt. nur dann funktionsfähig,
Zur Kommunikation gehört also auch Transparenz. wenn sie die eigene Orga-
Für agile Teams, die sich in hierarchischen Unterneh- nisation kontinuierlich
men bilden, ist das jedoch eine beträchtliche Hürde. weiterentwickeln und
Denn die zahlreichen Studien, in denen nach dem anpassen.
Führungsverhalten in deutschen Unternehmen gefragt Die menschliche Psy-
wird, zeigen eindrucksvoll: Es gibt ein riesiges Kom- che ist zur Veränderung
munikationsdefizit. Zum Beispiel ergab eine von Haufe jedoch nur bedingt bereit.
bei TNS Infratest in Auftrag gegebene Studie: 70 Pro- Agil können Menschen le-
zent der Führungskräfte glauben, dass die Strukturen diglich in Teilbereichen ihres
und Führungsmodelle im Unternehmen bereits ausrei- Schaffens sein, sagt Psychothera-
chend agil sind. Das sieht aber nur ein Drittel der Mit- peut Thorsten Kienast. Nämlich dort, wo ihre
arbeiter so. Talente, Interessen und Fähigkeiten liegen. Außerdem
Eine mögliche Erklärung liefert die Arbeit des Sozio- hänge die Bereitschaft stark von der persönlichen Le-
logen Niklas Luhmann. Aus dem Austausch von Infor- bensphase ab: Vor allem in jüngeren Jahren sind Tempo
mationen wird in seinen Augen erst dann echte Kom- und Wandel reizvoll; später lässt das nach, wenn die
munikation, wenn der Sprecher nicht nur die Botschaft Verantwortung für die eigene Familie das Leben mitbe-
übermittelt, sondern von den Adressaten auch die In- stimmt. Die Initiatoren in modernen Unternehmen er-
formation zurückbekommt, dass sie verstanden wurde. leben folglich häufig eine besonders hohes Tempo zu
Wenn zum Beispiel der CIO seinem Team sein Konzept Beginn der Veränderung. „50 Prozent unserer Beleg-
erklärt, dann ist das noch keine Kommunikation. Diese schaft waren aufgrund unseres starken Wachstums und
entsteht erst, wenn er durch die Antworten seiner Mit- einer gewissen Fluktuation vor eineinhalb Jahren noch

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nicht in unserem Haus“, sagt Hermann Arnold von SERVICE


Haufe-Umantis. Dort haben Mitarbeiter etwa auch be-
wusst entschieden, sich nicht weiterentwickeln zu wol- LITERATUR
len. JUTTA ECKSTEIN: Retrospektives for
Organizational Change, e-Book 2015:
8. SICH AUF DAS WESENTLICHE KONZENTRIEREN leanpub.com/retrospectivesfororganizational
Zu wissen, was gerade wichtig ist, gehört zur großen change
Kunst des eigenverantwortlichen Arbeitens. Nach Auf-
fassung der Fresenius-Forscher Reichel und Becker HESS, VOLKER: Die Alte Charité, die moderne
geht es darum, zu tun, was absolut notwendig ist. Das Irrenabteilung und die Klinik, 1790 – 1820.
ist wichtig, weil von agilen Teams auch erwartet wird, In: Johanna Bleker, Volker Hess (Hrsg.): Die
neuen Aufgaben und Veränderungen positiv zu begeg- Charité. Geschichte(n) eines Krankenhauses,
nen. Dieser Anspruch lässt sich umso schwerer auf- Akademie Verlag, Berlin 2010.
rechterhalten, je mehr Arbeit auf einer Gruppe lastet.
Ein Mittel, um dem hohen Tempo gerecht zu werden, HBM ONLINE
sind einfache Lösungen, die sich schnell umsetzen ACHIM MOLLBACH: Die Entmachtung der
lassen. Dann können Mitarbeiter immer noch nach- Manager, in: Harvard Business Manager,
bessern, wenn eine komplexere Lösung gefragt ist. Um Sonderheft 2016, Seite 110,
der drohenden Überforderung zu begegnen, begrenzen Nachdrucknummer 201650110.
agile Teams auch die Anzahl der Aufgaben, die sie
parallel abarbeiten dürfen. KEITH FERRAZZI: Schritt für Schritt zum Ziel,
Für hoch spezialisierte Experten, die gern fundierte, in: Harvard Business Manager,
tief durchdachte Konzepte erarbeiten, ist dieser Ansatz November 2014, Seite 12,
problematisch. Das zeigt auch die Kritik in der Ent- Nachdrucknummer 201411012.
wicklerszene vor allem am Softwareentwicklungspro-
zess Scrum. INTERNET
Studie des Roman Herzog Instituts:
9. DEN KUNDEN IM BLICK BEHALTEN Führungsstile und gesellschaftliche
Dies ist die wohl einfachste Voraussetzung. Es ist eines Megatrends im 21. Jahrhundert:
der Kernprinzipien agiler Teams, Kunden genau zu be- bit.ly/1WCJeTa
obachten, um diesen qualitativ hochwertige und funk-
tionierende Produkte bieten zu können. Diskussion über Sinn und Unsinn von Scrum:
bit.ly/1XHwlrc
FAZIT
Eines der größten Missverständnisse beim Wandel zum Über Zappos und die Schwierigkeiten der Mit-
agilen Unternehmen ist die Annahme, dass Führung arbeiter mit Holacracy: read.bi/1UfDNML
und Regeln verschwinden werden. Was tatsächlich
verschwindet, sind Posten und starre Positionen. Doch NACHDRUCK
gerade weil sich die Struktur und Sicherheit gebende Nummer 201605030, siehe Seite 110
Organisation auflöst, sind klare Regeln der Zusammen- oder www.harvardbusinessmanager.de
arbeit essenziell. Egal, ob Scrum, Design Thinking oder © 2016 Harvard Business Manager
Holokratie – keines der Modelle funktioniert, wenn
Unternehmen nur Teile davon umsetzen.
Weil sich die vielen Elemente der Führung auf so
viele Schultern verteilen, muss letztlich jeder Einzelne MICHAEL LEITL
in seiner persönlichen Entwicklung Führungseigen- ist Redakteur des Harvard Business Managers.
schaften übernehmen. Das geht nicht ohne Training,
lohnt sich aber langfristig. Untersuchungen zufolge
wollen diejenigen, die sich im agilen Prozess zurecht-
gefunden haben, nicht mehr zurück. Richard Straub,
ehemaliger IBM-Topmanager und Präsident der Peter-
Drucker-Society Europe, bezeichnet diese Reifung als
Übergang zur unternehmerischen Gesellschaft.

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