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LEADING

John P. Kotter

CHANGE
Wie Sie Ihr Unter-
nehmen in acht
Schritten erfolgreich VAHLEN
verändern
https://doi.org/10.15358/9783800646159-1
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:19.
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Zum Inhalt:

Der Druck auf Unternehmen, sich den permanent wandelnden internen


und externen Einflüssen zu stellen, wird weiter zunehmen. Dabei gehört
ein offener, aber professionell geführter Umgang mit Change-Prozessen
zu den Wesensmerkmalen erfolgreicher Unternehmen im 21. Jahrhundert
und zu den größten Herausforderungen in der Arbeit von Führungskräf-
ten.
Einer der weltweit renommiertesten Experten auf diesem Gebiet hat ba-
sierend auf seinen Erfahrungen aus Forschung und Praxis einen visionä-
ren Text geschrieben, der zugleich inspirierend und gefüllt ist mit bedeu-
tenden Implikationen für das Change-Management.
„Leading Change“ zeigt Ihnen, wie Sie Wandlungsprozesse in Unter-
nehmen konsequent führen. Beginnend mit den Gründen, warum viele
Unternehmen an Change-Prozessen scheitern, wird im Anschluss ein
Acht-Stufen-Plan entwickelt, der Ihnen hilft, pragmatisch einen erfolgrei-
chen Wandel zu gestalten.
„Wenn Sie wissen möchten, warum Ihre letzte Change-Initiative scheiter-
te, dann lesen Sie dieses Buch – am besten gleich, sodass Ihr nächstes Pro-
jekt von Erfolg gekrönt wird.“ Ralf Dobelli, getabstract.com

„Leading Change is simply the best single work I have seen on strategy
implementation.“
William C. Finnie, Editor-in-Chief Strategy & Leadership
„Leading Change ist ein weltweiter, zeitloser Bestseller.“

Werner Seidenschwarz, Seidenschwarz & Comp.

Zum Autor:

John P. Kotter ist Absolvent des MIT und der Harvard


University. Im Jahr 1972 wurde er Mitglied der Fakultät
der Harvard Business School und erhielt dort bereits im
Alter von 33 Jahren eine lebenslange Professur. Seine
Bücher wurden in über 70 Sprachen übersetzt und milli-
onenfach verkauft. John P. Kotter gilt als Doyen des
Change-Managements.
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Leading Change
Wie Sie Ihr Unternehmen
in acht Schritten erfolgreich verändern

John P. Kotter

Aus dem Amerikanischen übersetzt


von Werner Seidenschwarz

Verlag Franz Vahlen München


https://doi.org/10.15358/9783800646159-1
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Vorwort

Im Sommer 1994 schrieb ich einen Artikel für den Harvard Business Re-
view (HBR) mit dem Titel „Leading Change: Why Transformation Efforts
Fail“ (dt.: Den Wandel führen: Warum Transformationsbemühungen scheitern).
Dieser Artikel basierte auf meiner Analyse Dutzender Initiativen, die in
den vergangenen fünfzehn Jahren durch Restrukturierung, Reengineering,
neue Strategien, Akquisitionen, Verschlankung, Qualitätsprogramme und
kulturelle Erneuerung signifikante und sinnvolle Veränderungen in den
Unternehmen bewirkten.
Als ich den Artikel beendet hatte, wusste ich, dass ich mehr zu dem Thema
schreiben wollte. Und so begann ich kurz darauf mit der Arbeit an diesem
Buch. Der Artikel „Leading Change“ wurde in der März-/April-Ausgabe
1995 des HBR veröffentlicht. Kurz nach dem Erscheinen kletterte der Bei-
trag auf Platz eins unter den Tausenden von Nachdrucken dieser Zeit-
schrift. Dies ist erstaunlich im Hinblick auf die hohe Qualität der insgesamt
verfügbaren Nachdrucke und auf die normalerweise lange Zeitspanne, die
nötig ist, um ausreichend Volumen für Nachdrucke zu bekommen.
Außergewöhnliche Ereignisse wie diese sind immer schwer zu erklären,
aber Gespräche und Korrespondenzen mit HBR-Lesern legten nahe, dass
der Artikel in zwei Punkten den Nerv der Zeit getroffen hatte. Einerseits la-
sen die Manager die Liste der Fehler, die Organisationen oft machen, wenn
sie versuchen, wirkliche Veränderung zu schaffen, und sagten: „Ja! Aus die-
sen Gründen haben wir weniger erreicht, als wir erhofften.“ Zum anderen über-
zeugte die Leser das „Acht-Stufen-Rahmenkonzept für den Wandel“. Es
war ein sinnvoller Wegweiser und half den Menschen, über Wandel, Pro-
bleme mit Veränderungen und über Veränderungsstrategien zu sprechen.
Beim Schreiben dieses Buches habe ich versucht, auf diese beiden Eigen-
schaften aufzubauen und noch einige weitere hinzuzufügen. Im Gegensatz
zum Artikel beinhaltet dieses Buch nun zahlreiche Beispiele, die aufzeigen,
was zu funktionieren scheint und was nicht.
Diesbezüglich ist es pragmatischer und praxistauglicher angelegt. Weiter-
hin ist es mir ein Anliegen, den Faktor „Leadership“ (also das Führen) als
Motor des Wandels explizit aufzugreifen und seine Verknüpfung mit der
klassischen „reinen Managementdenke“ (also dem Managen), unabhängig
von der Qualität der involvierten Personen, herauszuarbeiten, da ohne
Leadership jeder fundamentale und nachhaltige Wandel unweigerlich zum
Scheitern verurteilt ist. Schließlich habe ich den untersuchten Zeitraum er-
weitert und zeige, wie Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts uns zu die-

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VI ¢ Vorwort
sem Punkt brachten und untersuche Auswirkungen auf das 21. Jahrhun-
dert.
Wer mit meiner Arbeit vertraut ist, wird feststellen, dass dieses Werk einige
Ansätze meiner Veröffentlichungen „A Force For Change: How Leadership
Differs from Management“ (dt.: Abschied vom Erbsenzähler, Econ-Verlag,
1991), „Corporate Culture and Performance“ (dt.: Die ungeschriebenen Ge-
setze der Sieger. Erfolgsfaktor Firmenkultur, Econ-Verlag, 1993) und „The New
Rules: How to Succeed in Today’s Post-Corporate World“ (dt.: Die neuen
Spielregeln für die Karrieren. Erfolg in der Zeit nach den Großkonzernen, Ueber-
reuter Verlag, 1995) integriert und vertieft.
Obwohl dieses Buch eine logische Erweiterung meiner vorangegangenen
Arbeiten ist, weicht es unter formalen Aspekten von diesen ab. Im Gegen-
satz zu meinen früheren Büchern beinhaltet „Leading Change“ keine Fuß-
noten und kein umfangreiches Glossar. Ich habe weder auf Beispiele noch
auf vorhandene Ansätze aus anderen Quellen – außer meinen eigenen – zu-
rückgegriffen. Ich habe auch keine Zitate aus anderen Quellen verwendet,
um meine Schlussfolgerungen zu stützen. In diesem Sinne ist diese Arbeit
persönlicher, als die von mir bereits veröffentlichten. Ich kommuniziere
hier, was ich gesehen, gehört und aufgrund einer Reihe von verknüpften
und immer wichtiger werdenden Themen geschlussfolgert habe.
Mehrere Personen haben den Entwurf dieses Buches gelesen und mir hilf-
reiche Anregungen gegeben. Zu ihnen gehören Darrell Beck, Mike Beer, Ri-
chard Boyatzis, Julie Bradford, Linda Burgess, Gerald Czarnecki, Nancy
Dearman, Carol Franco, Alan Frohman, Steve Guengerich, Robert Johnson,
Jr., Carl Neu, Jr., Charlie Newton, Barbara Roth, Len Schlesinger, Sam
Schwab, Scott Snook, Pat Tod, Gayle Treadwell, Marjorie Williams und Da-
vid Windom. Einige andere haben mich sehr bei den Vorarbeiten zum Ma-
nuskript inspiriert, insbesondere Ed Schein und Paul Lawrence. Mein Dank
geht an alle.

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Vorwort des Übersetzers

„Leading Change“ von John Kotter ist ein weltweiter, zeitloser Bestseller.
John Kotter ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Wer ihn selbst erlebt
hat, wird dies bestätigen. 2001 war ich nach San Diego zu einem Vortrag
auf einer Veranstaltung mit 700 Teilnehmern eingeladen. Kurz bevor der
Moderator auf dem Kongress mich dem Plenum vorstellte, gab er in einer
Vorankündigung bekannt, dass John Kotter persönlich nicht anwesend
sein würde. Ich war etwas enttäuscht. Bis zu seinem Beitrag. Er wurde
über Video eingeblendet, hielt aber nicht nur einen Vortrag, sondern entwi-
ckelte seinen Beitrag „aus der Ferne“ nach und nach als Gruppenarbeit
zum Veränderungsmanagement. Das erlebt man in dieser Art und Weise
nicht alle Tage ...
Zu dieser Zeit hatte ich gerade meine eigene Habilitation zum Thema Ver-
änderungsmanagement fertig gestellt und war tief in die facettenreiche Ma-
terie des Change Management eingetaucht. Da war es besonders faszinie-
rend zu sehen, wie einfach und interaktiv dieser Mann die komplexen
Botschaften systematischen Veränderungsmanagements auch in große
Gruppen hinein transportieren konnte.
Als deshalb der Verlag Vahlen anfragte, ob ich dieses Buch von John Kotter
ins Deutsche übersetzen möchte, habe ich keinen Moment gezögert, diese
Aufgabe zu übernehmen, mit tatkräftiger Unterstützung meiner beiden
Kollegen Dominik Veit und Sacha Rezzadori von Seidenschwarz & Comp.
Wir haben nicht versucht, das Buch von seinem amerikanischen Grundcha-
rakter zu befreien und sprechen deshalb beispielsweise nicht von Wolfs-
burg, wenn John Kotter ein Beispiel aus Detroit aufgreift. Auf wenigen Sei-
ten merkt man auch, dass das Buch viel „Erfahrung“ ausstrahlt, wenn es an
einer Stelle zum Beispiel auf den weltweiten Zusammenbruch des Kommu-
nismus zu sprechen kommt. Da haben wir uns nah an die Vorlage gehalten,
um dem Wunsch des Autors zu entsprechen und keine Veränderungen vor-
zunehmen. Das mag, gerade dem deutschen Leser, punktuell ins Auge ste-
chen. Es nimmt dem Werk jedoch nichts von der Faszination seiner strin-
genten Logik.
Manchmal könnte man sich zu der Annahme verleiten lassen, dass John
Kotter dem Leser, bspw. einer Führungskraft in der Unternehmenspraxis,
den Eindruck vermitteln möchte, man könne Veränderungen in den Unter-
nehmen einfach so steuern. Bei genauerem Hinsehen erkennt man aber,
dass man nicht in diese Versuchung geraten sollte. Kotters Erklärungsan-
satz betont zwar wiederkehrend die Bedeutung des Leadership. Und mit

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VIII ¢ Vorwort des Übersetzers
diesem Konzept des Leadership verdeutlicht er dann auch sehr wohl, wie
man im Rahmen seines weltberühmten Acht-Stufen-Prozesses einen Wan-
del führen kann. Aber es sollte einem immer bewusst bleiben, dass sich
nicht alles im Unternehmen omnipotent steuern lässt.
Mit diesem Ansatz des Buches und aufbauend auf diesem Verständnis
haben wir in der täglichen Projektarbeit unseres Unternehmens und in Füh-
rungsseminaren für die obersten Führungsebenen internationaler Konzerne
außergewöhnlich positive Erfahrungen gemacht. Diese positiven Erfahrun-
gen wünschen wir auch allen Lesern dieses Werkes.
Starnberg, im Juli 2011 Werner Seidenschwarz

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Inhaltsübersicht

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
Vorwort des Übersetzers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

Teil I: Leading Change – Den Wandel führen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1


Kapitel 1: Unternehmenswandel: Warum Unternehmen scheitern . . 3
Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel und die Kraft, die ihn antreibt . . . . 15

Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29


Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen . . . . . . . . . . . . . . . 31
Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren . . . . . . . . . . . . . 73
Kapitel 7: Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen . . . . . . . . . . . . . . 87
Kapitel 8: Schnelle Erfolge erzielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Kapitel 9: Erfolge konsolidieren und weitere Veränderungen
einleiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..... 111
Kapitel 10: Neue Ansätze in der Kultur verankern . . . . . . . . . ..... 123

Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 135


Kapitel 11: Das Unternehmen der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Kapitel 12: Leadership und lebenslanges Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . 149

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Teil I:
Leading Change – Den Wandel führen

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Kapitel 1: Unternehmenswandel: Warum
Unternehmen scheitern

Objektiv betrachtet, hat die Menge an bedeutenden, oft traumatischen Verän-


derungen in Organisationen besonders in den vergangenen zwei Jahrzehn-
ten enorm zugenommen. Auch wenn einige Leute prophezeien, dass Reengi-
neering, neue Strategien, Fusionen, Downsizing, Qualitätsaufwendungen
und kulturelle Neuausrichtungen bald verschwinden werden, denke ich,
dass dies sehr unwahrscheinlich sein wird. Starke makroökonomische
Kräfte sind hier am Werk und diese können sich in den nächsten Jahrzehnten
noch verstärken. Als Resultat werden immer mehr Unternehmen dazu ge-
zwungen, Kosten zu reduzieren, die Qualität der Produkte und Dienstleis-
tungen zu steigern, neue Wachstumschancen ausfindig zu machen und die
Produktivität zu steigern. Sicherlich gab es Fälle, in denen große Verände-
rungsbemühungen einigen Unternehmen geholfen haben, sich signifikant
den veränderten Bedingungen anzupassen, die Wettbewerbsposition zu ver-
bessern und sich für eine wesentlich bessere Zukunft auszurichten. In zu vie-
len Situationen allerdings waren die Verbesserungen enttäuschend und führ-
ten zu einem unheimlichen Gemetzel, mit verschwendeten Ressourcen und
ausgebrannten, verängstigten oder frustrierten Mitarbeitern. Bis zu einem
gewissen Grad ist die Kehrseite des Wandels unabwendbar. Wann immer
von Menschen gebildete Gemeinschaften gezwungen sind, sich den verän-
derten Gegebenheiten anzupassen, ist Schmerz allgegenwärtig. Doch ein
Großteil der Verschwendung und der Ängste, die wir im letzten Jahrzehnt
beobachten konnten, ist vermeidbar. Wir haben viele Fehler gemacht, die
häufigsten davon sind die folgenden.

Fehler Nr. 1: Zu viel Selbstgefälligkeit zulassen

Der bei weitem größte Fehler, der beim Versuch der Organisationsverände-
rung gemacht wird, ist, sich in die Veränderung zu stürzen, ohne genügend
Dringlichkeit unter Führungskräften und Mitarbeitern zu schaffen. Dieser
Fehler ist fatal, weil Transformationen niemals ihr Ziel erreichen können,
wenn der Grad der Selbstgefälligkeit hoch ist.

Als Adrien zum Leiter der Abteilung für Spezialchemikalien eines gro-
ßen Unternehmens wurde, sah er viele Probleme und Chancen am Hori-
zont, die meisten davon waren das Ergebnis der Globalisierung seiner In-
dustrie. Als erfahrener und selbstbewusster Abteilungsleiter arbeitete er

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4 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
Tag und Nacht an Dutzenden neuen Initiativen, um das Geschäft und die
Marge in einem zunehmend umkämpften Markt auszubauen. Er reali-
sierte, dass nur wenige in seiner Organisation die Gefahren und Mög-
lichkeiten so klar sahen wie er selbst, aber er sah dies nicht als unüber-
windbares Problem an. Schließlich konnte man sie anspornen, sie
zwingen oder durch andere ersetzen. Zwei Jahre nach seiner Beförde-
rung musste er mit ansehen, wie eine Initiative nach der anderen in
einem Meer von Überheblichkeit unterging. Trotz seiner Anreize und
Drohungen brauchte die erste Phase seiner neuen Produktstrategie so
viel Zeit, dass die Reaktionen der Wettbewerber jeden essenziellen Vor-
teil zunichte machten. Er konnte für sein Reengineeringprojekt keine
ausreichenden Unternehmensmittel sicherstellen. Eine Reorganisation
wurde durch begabte Verzögerungstaktiker aus seiner Belegschaft zu
Tode geredet. Frustriert gab Adrien seine eigenen Leute auf und kaufte
ein viel kleineres Unternehmen, das bereits viele seiner Ideen erfolg-
reich ausführte. Danach wurde über zwei Jahre ein subtiler Kampf aus-
gefochten, bei dem er mit Staunen und Entsetzen beobachten musste,
wie Leute mit geringem Dringlichkeitsgefühl aus seiner Abteilung nicht
nur alle wichtigen Lektionen des letzten Zukaufs ignorierten, sondern
auch die guten und bewährten Fähigkeiten der neuen Abteilung unter-
drückten.

Intelligenten Menschen wie Adrien gelingt es aus unterschiedlichen, jedoch


zusammenhängenden Gründen nicht, zu Beginn einer Geschäftstransforma-
tion erfolgreich Dringlichkeit zu erzeugen. Sie überschätzen die Möglichkei-
ten, große Veränderungen bei einem Unternehmen zu erzwingen. Dabei un-
terschätzen sie die Schwierigkeit, Menschen aus ihrer Bequemlichkeit zu
holen. Sie erkennen nicht, wie das eigene Handeln unbeabsichtigt den Status
quo verstärken kann. Es fehlt ihnen an Geduld: „Genug mit den Trockenübun-
gen, lasst uns endlich anfangen.“ Die negativen Auswirkungen, die bei der Ab-
schaffung der Selbstgefälligkeit entstehen können, wirken paralysierend auf
sie: Menschen werden defensiv, Moral und kurzfristige Resultate lassen
nach. Oder noch schlimmer, sie verwechseln Dringlichkeit mit Ängstlichkeit
und indem sie letzteres verstärken, drängen sie Menschen immer tiefer in
ihren Unterstand und schaffen so noch mehr Widerstand gegen die Verände-
rungen. Dieses Problem hätte heute keine große Bedeutung, wenn Selbstge-
fälligkeit in den meisten Organisationen weniger ausgeprägt wäre. Aber das
Gegenteil ist der Fall. Zu viel Erfolg in der Vergangenheit, ein Mangel an
sichtbaren Krisen, niedrige Leistungsstandards, unzureichende Rückmel-
dungen von externen Kundenkreisen und weitere Faktoren summieren sich
zu folgenden Erklärungen: „Ja, wir haben unsere Probleme, aber die sind nicht so
schlimm und ich mache meinen Job ganz gut“, oder: „Sicherlich haben wir große
Probleme, aber die Ursachen liegen nicht bei uns.“ Ohne ein Gefühl der Dring-
lichkeit werden Menschen nicht den erforderlichen zusätzlichen Aufwand
betreiben. Sie werden die notwendigen Opfer nicht erbringen. Stattdessen

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Kapitel 1: Warum Unternehmen scheitern
klammern sie sich an den Status quo und verweigern sich neuen Initiativen.
Dies führt dazu, dass sich Reengineeringmaßnahmen festfahren, neue Strate-
gien nicht richtig implementiert werden, Akquisitionen nicht richtig assimi-
¢ 5

liert werden, Verschlankungen sich nicht auf die größten Verschwendungen


auswirken und Qualitätsprogramme zu oberflächlichem bürokratischem
Gerede statt zu wirklicher Unternehmenssubstanz werden.

Fehler Nr. 2: Die Schaffung einer ausreichend starken


Führungskoalition scheitert

Man sagt, dass tief greifender Wandel unmöglich ist, wenn der Chef des Un-
ternehmens ihn nicht aktiv unterstützt. Was ich hier anspreche, geht weit da-
rüber hinaus. Bei erfolgreichen Unternehmensumwandlungen ziehen der
CEO, der Geschäftsführer oder die Abteilungsleiter und weitere fünf, fünf-
zehn oder fünfzig Leute mit der Verpflichtung zur Leistungsverbesserung
gemeinsam als Team an einem Strang. Diese Gruppe beinhaltet jedoch in
den seltensten Fällen die gesamte oberste Führungsmannschaft, da manche
von ihnen, zumindest am Anfang, nicht voll hinter der Sache stehen. In den
erfolgreichsten Fällen allerdings ist diese Koalition immer schlagkräftig – in
Bezug auf formelle Titel, Information und Expertise, Reputation und Be-
ziehungen – und fähig, zu führen. Individuen alleine, egal wie kompetent
oder charismatisch sie auch sein mögen, verfügen nie über alle notwendigen
Attribute, um Traditionen und Trägheit zu überwinden – außer vielleicht in
sehr kleinen Organisationen. Schwache Komitees sind üblicherweise noch
uneffektiver. Bestrebungen, die ohne eine ausreichend starke Führungs-
koalition durchgeführt werden, können eine Weile für erkennbaren Fort-
schritt sorgen. Die Organisationsstruktur kann geändert werden oder eine
Reengineeringmaßnahme kann gestartet werden. Früher oder später wer-
den jedoch gegensteuernde Kräfte diese Maßnahmen untergraben. In der
Auseinandersetzung hinter den Kulissen, zwischen einer einzelnen Füh-
rungskraft oder einem schwachen Komitee und der Tradition, kurzfristigen
Eigeninteressen und dergleichen, gewinnen fast immer letztere. Sie verhin-
dern, dass der Strukturwandel die notwendigen Verhaltensänderungen her-
vorbringt. Sie blockieren Reengineering durch passiven Widerstand. Sie ver-
wandeln Qualitätsprogramme in Quellen weiterer Bürokratie anstatt in
Kundenzufriedenheit.

Als Leiterin der Personalabteilung einer großen US-amerikanischen


Bank war Claire sich ihrer eingeschränkten Autorität bewusst und ihr
war klar, dass sie nicht in einer guten Position war, um Initiativen außer-
halb des Personalbereichs zu leiten.

Dennoch, mit wachsender Frustration über die Unfähigkeit ihres Unter-


nehmens, auf neuen und stetig wachsenden Wettbewerbsdruck anders

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6 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
als nur mit Entlassungen zu reagieren, akzeptierte sie die Aufgabe, die Ar-
beitsgruppe „Qualitätsverbesserung“ als Vorsitzende zu leiten. Die da-
rauf folgenden zwei Jahre wurden die schlimmsten in ihrer gesamten Kar-
riere. An dieser Arbeitsgruppe nahm kein einziger der drei Top-Manager
des Unternehmens teil. Nachdem bereits die Terminierung des ersten
Meetings außergewöhnlich schwerfällig wurde – einige Gruppenmitglie-
der beschwerten sich über ihre hohe Auslastung – wusste sie, dass sie in
Schwierigkeiten war. Es wurde danach nicht besser. Die Arbeitsgruppe
wurde eine Karikatur aller schlechten Komitees: langsam, politisch, unan-
genehm. Die meiste Arbeit wurde durch eine kleine und engagierte Un-
tergruppe erledigt. Andere Mitglieder und Vorgesetzte hingegen entwi-
ckelten wenig Interesse und Verständnis für die Bemühungen der
Gruppe. So wurde so gut wie keine der abgegebenen Empfehlungen um-
gesetzt. Die Arbeitsgruppe dümpelte weitere achtzehn Monate vor sich
hin und geriet dann in Vergessenheit.

Auch wenn der Grad der Selbstgefälligkeit niedrig ist, unterschätzen Unter-
nehmen mit wenig Erfahrung in den Bereichen Transformation oder Team-
arbeit die Notwendigkeit eines dedizierten Teams oder sie setzen voraus,
dass dieses Team durch Abteilungsleiter aus den Bereichen Personal, Quali-
tät oder Strategische Planung, und nicht durch einen Top-Manager, geführt
werden kann. Egal wie fähig oder motiviert der Teamleiter auch ist, Füh-
rungskoalitionen ohne das Top-Management haben nicht die Durchset-
zungskraft, um die oftmals existierende, massive Trägheit zu überwinden.

Fehler Nr. 3: Die Kraft der Vision unterschätzen

Dringlichkeit und ein starkes Führungsteam sind notwendige, aber nicht


ausreichende Voraussetzungen für tief greifenden Wandel. Von den weite-
ren Elementen, die zu einer erfolgreichen Transformation gehören, ist kei-
nes wichtiger als eine sinnvolle Vision. Die Vision spielt eine Schlüsselrolle
bei der Durchführung sinnvollen Wandels, indem sie hilft, die Aktionen
vieler Menschen zu lenken, anzupassen und zu inspirieren. Ohne angemes-
sene Vision kann sich eine Transformationsbestrebung schnell in eine Liste
von verwirrenden, inkompatiblen und zeitaufwändigen Projekten auflösen,
die in die falsche oder sogar in keine Richtung gehen. Ohne eine vernünf-
tige Vision würden das Reengineeringprojekt in der Buchhaltung, die neue
360-Grad-Leistungsbeurteilung in der Personalabteilung, das Qualitätspro-
gramm in der Fabrik und die kulturellen Änderungen im Vertrieb nicht
sinnvoll zusammenpassen, oder es würde nicht genug Energie freigesetzt,
um irgendeine der Initiativen ordnungsgemäß umzusetzen.

Weil sie die Schwierigkeiten des Wandels sehen, versuchen manche Men-
schen, die Ereignisse still und heimlich hinter den Kulissen zu manipulie-

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Kapitel 1: Warum Unternehmen scheitern
ren, um dadurch öffentliche Diskussionen über die zukünftige Richtung zu
vermeiden. Aber ohne eine Vision, durch die eine Entscheidungsfindung
geleitet wird, kann sich jeder Beschluss in einer endlosen Diskussion auflö-
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sen. Die kleinste Entscheidung kann einen erbitterten Streit herbeiführen,


der Energie raubt und die Moral zerstört. Bedeutungslose taktische Schritte
können Diskussionen dominieren und wertvolle Stunden vergeuden.
Bei vielen gescheiterten Transformationen finden Sie Pläne und Programme,
die als Vision dienen sollen.
Als sogenannter „Qualitäts-Zar“ für ein Kommunikationsunternehmen
investierte Conrad viel Zeit und Geld in die Produktion von dicken Hand-
büchern, die seine Wandelbestrebungen bis ins kleinste Detail beschrie-
ben. Die Bücher enthielten Prozeduren, Ziele, Methoden und Deadlines.
Aber nirgendwo fand sich eine klare und fesselnde Aussage darüber,
wohin dies alles führen sollte. Kein Wunder, dass die meisten seiner Mit-
arbeiter, nachdem er Hunderte dieser Handbücher verteilte, mit Verwir-
rung oder Entfremdung reagierten. Die großen dicken Bücher brachten
sie weder zusammen noch inspirierten sie den Wandel. Wahrscheinlich
erreichten sie nur das Gegenteil.
Bei erfolglosen Transformationsbestrebungen hat das Management manch-
mal durchaus Gespür für die Richtung, allerdings ist diese zu kompliziert
oder unscharf. Letztens fragte ich den Manager einer mittelständischen Fer-
tigung, mir seine Vision zu beschreiben, und ich erhielt von ihm einen kaum
verständlichen 30-minütigen Vortrag. Er sprach über Akquisitionen, die er
hoffte, durchführen zu können, eine neue Marketingstrategie für eines der
Produkte, seine Definition von „Customer First“, seine Pläne über die Ein-
stellung einer neuen Führungskraft von außen, Gründe für die Schließung
des Büros in Dallas und vieles mehr. Begraben unter all diesen Informatio-
nen waren die grundlegenden Aussagen über die zukünftige Richtung.
Aber sie waren sehr tief verschüttet.
Eine nützliche Faustregel: Wenn man die Vision einer Veränderungsmaß-
nahme nicht in fünf Minuten (oder weniger) beschreiben kann und darauf
eine Reaktion bekommt, die Verständnis und Interesse signalisiert, dann
wird man mit Sicherheit Schwierigkeiten bekommen.

Fehler Nr. 4: Mangelnde Kommunikation der Vision um einen


Faktor 10 (oder 100 oder sogar 1 000)

Tief greifender Wandel ist normalerweise unmöglich, wenn nicht alle Mitar-
beiter gewillt sind, zu unterstützen, oftmals auch durch kurzfristige Opfer.
Auch wenn Menschen mit dem Status quo unzufrieden sind, werden sie
keine Opfer bringen, solange sie nicht davon überzeugt sind, dass die Vor-
teile des Wandels überwiegen und die Transformation auch tatsächlich

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8 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
durchführbar ist. Ohne eine intensive und glaubwürdige Kommunikation
werden Herz und Verstand der Mitarbeiter nicht für die Sache gewonnen.
Es existieren drei ineffiziente Kommunikationsmuster, die durch die Ge-
wohnheit während stabiler Zeiten entstehen:
Im ersten Muster entwickelt eine Gruppe eine gute Vision für die Transfor-
mation und versucht, diese dann nur durch ein paar Meetings oder durch
Versendung einiger weniger Protokolle „zu verkaufen“. Die Mitglieder die-
ser Gruppe, obwohl sie nur einen kleinen Teil der jährlichen unternehmens-
internen Kommunikation zur Vermittlung genutzt haben, reagieren über-
rascht, wenn Mitarbeiter den neuen Ansatz nicht sofort zu verstehen
scheinen.
Beim zweiten Muster investiert der Kopf der Organisation viel Zeit in Vor-
träge an Mitarbeitergruppen, in denen die meisten Manager bemerkens-
wert ruhig sind. In diesem Fall erhält die Vision zwar bedeutend mehr
Kommunikationszeit als im ersten Fall, aber der Umfang ist immer noch
nicht ausreichend.
Beim dritten Muster wird viel Zeit und Aufwand für Newsletter und Reden
aufgewandt, aber einige, für alle deutlich, sichtbare Persönlichkeiten ver-
halten sich nach wie vor im Widerspruch zur angekündigten Vision, sodass
der Zynismus unter den Beschäftigten wächst und der Glaube an die neue
Botschaft verblasst.
Einer der besten CEOs, die ich kenne, gibt zu, dass er hierbei in den frühen
Achtzigern versagt hat. „Zu der Zeit“, sagte er mir, „sah es so aus als würden
wir sehr viel Aufwand in die Kommunikation der Ideen stecken. Aber einige Jahre
später erkannten wir, dass wir meilenweit davon entfernt waren. Schlimmer noch,
wir trafen hin und wieder Entscheidungen, die andere als inkonsistent zu unserer
Kommunikation ansahen. Ich bin sicher, dass einige Mitarbeiter dachten, wir
wären ein Haufen heuchlerischer Trottel.“
Kommunikation äußert sich sowohl in Worten als auch in Taten. Letztere
sind generell die wirkungsvollere Form. Nichts untergräbt den Wandel
mehr als ein im Widerspruch zu den Inhalten der verbalen Kommunikation
stehendes Verhalten der Schlüsselspieler.
Und doch geschieht genau dies immer wieder, auch in den renommiertes-
ten Unternehmen.

Fehler Nr. 5: Zulassen, dass Hindernisse die neue Vision


blockieren

Die Durchführung jeder Art bedeutenden Wandels setzt das Handeln einer
großen Anzahl von Menschen voraus. Neue Initiativen versagen nur zu oft,

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Kapitel 1: Warum Unternehmen scheitern
wenn sich Mitarbeiter, obwohl sie die neue Vision begrüßen, durch große
Hindernisse auf ihrem Weg entmachtet fühlen.
Oftmals existieren diese Hürden nur in den Köpfen der Menschen, und die
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Herausforderung besteht darin, sie davon zu überzeugen, dass keine exter-


nen Barrieren existieren. In vielen Fällen sind diese Hürden jedoch sehr real.
Manchmal liegen die Hürden in der Organisationsstruktur. Zu eng gefasste
Stellenbeschreibungen können die Bemühungen, die Produktivität zu erhö-
hen oder den Kundenservice zu verbessern, verhindern. Vergütungen oder
Systeme zur Leistungsbewertung können einen Menschen dazu zwingen,
zwischen der neuen Vision und den Eigeninteressen entscheiden zu müs-
sen. Am schlimmstem von allem sind aber die Vorgesetzten, die sich den
neuen Umständen nicht anpassen wollen und Forderungen an Mitarbeiter
stellen, die mit der Transformation inkonsistent sind.
Ein gut platzierter Blockierer kann so eine ganze Wandelbestrebung
stoppen. Ralph tat genau dies. Seine Mitarbeiter bei einem großen Fi-
nanzdienstleister nannten ihn „den Fels“, ein Spitzname, den er als posi-
tiv empfand.
Ralph legte zwar sein Lippenbekenntnis zu den umfangreichen Verän-
derungsmaßnahmen seiner Organisation ab, aber er schaffte es nicht,
sein Verhalten zu ändern oder seine Mitarbeiter für den Wandel zu ge-
winnen. Für ihn schienen die in der Vision des Wandels angesprochenen
Ideen nicht lohnenswert. Er ließ das Personalgefüge unangetastet, ob-
wohl es offensichtlich inkonsistent mit den neuen Idealen war. Mit die-
sen Aktionen wäre Ralph in jeder anderen Managementposition ge-
scheitert.
Aber er hatte nicht irgendeine Managementposition. Er stand in seinem
Unternehmen an dritter Stelle im Top-Management. Ralph handelte so,
weil er nicht daran glaubte, dass seine Organisation großen Wandel
brauchte, und weil er besorgt war, nicht gleichzeitig den Wandel und
die erwarteten operativen Resultate erreichen zu können. Er kam mit
diesem Verhalten durch, weil das Unternehmen keinerlei Erfahrungen
im Umgang mit Personalproblemen im Top-Management besaß, weil ei-
nige Leute Angst vor ihm hatten und weil sein CEO keinen talentierten
Kollegen verlieren wollte.
Das Resultat war desaströs. Manager der unteren Ebenen schlussfolger-
ten, dass das Top-Management sie mit ihrer Verpflichtung zur Transfor-
mation in die Irre geführt hatte, Zynismus wuchs und der ganze Aufwand
verlief im Sande. Wann immer kluge und wohlmeinende Menschen den
Abbau von Hürden vermeiden oder glauben, das nicht angehen zu müs-
sen, demotivieren sie Mitarbeiter und verhindern den Wandel.

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10 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
Fehler Nr. 6: Die Unfähigkeit, schnelle Erfolge zu erzielen

Echte Transformation braucht Zeit. Komplexe Bemühungen, wie die Verän-


derung der Strategien oder die Restrukturierung des Geschäftes, sind dem
Risiko ausgesetzt, an Momentum zu verlieren, wenn keine kurzfristigen
Ziele erreicht werden und das dann auch nicht gewürdigt wird.
Die meisten Menschen wollen den langen Marsch nicht antreten, wenn sie
nicht überzeugende Beweise innerhalb der ersten 6 bis 18 Monate dafür be-
kommen, dass am Ende der Reise die erwarteten Resultate stehen können.
Ohne kurzfristige Erfolge geben zu viele Mitarbeiter auf oder treten in den
aktiven Widerstand.
Kurzfristige Erfolge zu schaffen ist allerdings etwas anderes, als kurzfris-
tige Erfolge zu erhoffen. Letzteres ist passiv, ersteres eine aktive Handlung.
In einer erfolgreichen Transformation suchen Manager aktiv nach Wegen,
eindeutige Leistungsverbesserungen zu erzielen, die Ziele im jährlichen
Planungssystem zu verankern, diese Ziele dann zu erreichen und die invol-
vierten Personen mit Anerkennungen, Beförderungen oder monetär auszu-
zeichnen.
Bei Veränderungsinitiativen, die scheitern, fehlt es meist an systematischen
Bestrebungen, eindeutige Erfolge innerhalb von 6 bis 18 Monaten zu garan-
tieren. Entweder das Management nimmt an, dass positive Dinge passieren
werden, oder es verzettelt sich so sehr in einer großen Vision, dass es sich
nicht so sehr um kurzfristige Erfolge bemüht.
Nelson war von Natur aus eine Person der „großen Ideen“. Mithilfe
zweier Kollegen entwickelte er ein Konzept, mit dem seine Lagerverwal-
tung neue Technologien nutzen konnte, um die Lagerkosten zu senken,
ohne Bestandsausfälle zu riskieren. Die drei Manager schufteten erst ein
Jahr und dann zwei weitere Jahre an dieser Vision.
Nach ihren eigenen Maßstäben erreichten sie Großartiges: Neue Be-
standsüberwachungsmodelle wurden entwickelt, neue Hardware wurde
gekauft, neue Software wurde geschrieben. Den Maßstäben von Skepti-
kern zufolge, besonders denen des Bereichscontrollers, der die Lagerbe-
stände schnell sinken sehen wollte oder zumindest einen anderen finan-
ziellen Vorteil erwartete, um die entstandenen Kosten auszugleichen,
produzierten die Manager nichts. Als sie gefragt wurden, erklärten sie,
dass große Veränderungen Zeit bräuchten. Der Controller akzeptierte
dieses Argument zwei Jahre lang, bevor er das Projekt stoppte.
Menschen beschweren sich zwar oft darüber, dass sie gezwungen sind,
kurzfristige Erfolge zu schaffen, aber unter den richtigen Umständen kann
diese Art von Druck ein nützliches Element in einem Wandelprozess sein.
Sobald deutlich wird, dass Qualitätsprogramme oder kulturelle Verände-
rungsbestrebungen lange dauern werden, nimmt das Dringlichkeitsgefühl

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Kapitel 1: Warum Unternehmen scheitern
üblicherweise ab. Engagement für schnelle Erfolge kann helfen, Selbstgefäl-
ligkeiten zu reduzieren und detailliertes analytisches Denken zu fördern,
um so transformierende Visionen zu klären oder zu revidieren.
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In Nelsons Fall hätte dieser Druck einige kostensparende Kurskorrekturen


und eine teilweise beschleunigte Umsetzung der neuen Bestandsüberwa-
chungsmethode forcieren können. Mit ein paar kurzfristigen Erfolgen hätte
dieses sehr sinnvolle Projekt überlebt und dem Unternehmen langfristig
geholfen.

Fehler Nr. 7: Zu früh den Sieg erklären

Nach einigen Jahren harter Arbeit können Menschen dazu neigen, den Sieg
in einer umfangreichen Wandelbestrebung bereits nach der ersten größeren
Leistungsverbesserung zu feiern.
Das Feiern eines Sieges ist in Ordnung, jedoch zu suggerieren, dass die Ar-
beit beinahe komplett wäre, ist üblicherweise ein fürchterlicher Fehler. Bis
der Wandel sich tief in einer Kultur verankert hat, was für ein gesamtes Un-
ternehmen durchaus drei bis zehn Jahre dauern kann, sind neue Ansätze
fragil und können sich jederzeit zurückentwickeln.
In der jüngsten Vergangenheit konnte ich Dutzende Wandelbestrebungen
unter dem Motto Reengineering beobachten. In fast allen Fällen wurde der
Sieg sofort nach der Durchführung des ersten größeren Projektes ausgeru-
fen, und die teuren Consultants wurden bezahlt und nach Hause geschickt.
Dies geschah, obwohl nur wenige, oder sogar keine Beweise für die Errei-
chung der gesetzten Ziele oder die Akzeptanz der neuen Ansätze durch
die Mitarbeiter vorlagen.
Innerhalb weniger Jahre verschwanden die nützlichen Veränderungen
langsam, aber stetig. In zwei der zehn Fälle ist es heute schwierig, über-
haupt eine Spur der Reengineeringarbeit zu finden. Ich fragte kürzlich die
Chefin einer Unternehmensberatung mit Schwerpunkt Reengineering, ob
diese Fälle ungewöhnlich seien. Sie antwortete: „Leider nein. Für uns ist es
enorm frustrierend, einige Jahre für etwas zu arbeiten, etwas zu schaffen, und
dann zu sehen, wie die Bestrebungen frühzeitig beendet werden. In vielen Unter-
nehmen ist der vorgegebene Zeitrahmen nicht ausreichend, diese Art der Arbeit
zu Ende zu führen und zu verankern.“
In den letzten Jahrzehnten habe ich genau dies auch bei Qualitätsprojekten,
bei Unternehmensentwicklungsbestrebungen und bei vielen anderen The-
men gesehen.
Die Probleme beginnen üblicherweise früh im Prozess: Das Dringlichkeits-
gefühl ist nicht intensiv genug, die Führungskoalition ist nicht stark genug,
die Vision ist nicht klar genug. Die frühzeitige Siegesfeier stoppt jedes Mo-

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12 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
mentum. Am Ende übernehmen wieder die der Tradition verhafteten Kräfte
das Ruder.

Ironischerweise resultiert dieses Problem oftmals aus der Kombination von


idealistischen Visionären und sich selbst bedienenden Bewahrern. Bei ihrer
Begeisterung über das erste klare Zeichen des Fortschritts gehen die Initiato-
ren von Bord. Dann folgen die Widerständler, die schnell eine Gelegenheit
finden, die Bemühungen zu torpedieren. Nach der Siegesfeier interpretieren
die Widerständler den Sieg als Zeichen dafür, dass der Krieg vorbei ist und
die Truppen nach Hause geschickt werden können. Erschöpfte Truppen las-
sen sich vom Sieg überzeugen. Sobald sie zu Hause sind, wollen sie nicht
mehr an die Front zurück. Schon kurz darauf kommt der Wandel zum Still-
stand und irrelevante Traditionen kehren wieder ein.

Den Sieg zu früh zu erklären, ist, wie auf dem Weg zu einem sinnvollen
Wandel in ein Schlagloch zu stolpern. Und aus unterschiedlichen Gründen
stolpern sogar kluge Menschen nicht nur einfach in dieses Loch, sondern
springen sogar mit beiden Füßen hinein.

Fehler Nr. 8: Das Versäumnis, Veränderungen fest in der


Unternehmenskultur zu verankern

Final gilt es anzumerken, dass Wandel nur dann von Dauer sein kann,
wenn er ganzheitlich die Art und Weise bestimmt, „wie wir die Dinge um
uns herum machen“, wenn er den gesamten Kreislauf unserer Arbeits- und
Unternehmenseinheit durchfließt.

Bis neue Verhaltensweisen in sozialen Normen und gemeinsamen Werten


verankert sind, werden sie immer hinterfragt, sobald der Druck der Verän-
derungsbestrebungen nachlässt.

Zwei Faktoren sind hier besonders wichtig, wenn neue Ansätze in einem
Unternehmen verankert werden sollen. Der erste Faktor ist der bewusste
Versuch, Menschen aufzuzeigen, wie spezifische Verhaltensweisen und Ein-
stellungen zu einer Leistungsverbesserung beigetragen haben. Wenn Men-
schen diesen Bezug alleine herstellen müssen, wie es oftmals der Fall ist,
ziehen sie häufig falsche Schlüsse.

Zu der Zeit, als die charismatische Coleen Abteilungsleiterin war, fand im


Unternehmen gerade ein Wandel statt. Viele Mitarbeiter verknüpften
die Leistungsverbesserungen mit ihrem extravaganten Führungsstil an-
statt mit der neu eingeführten Customer-First-Strategie, obwohl gerade
diese Strategie die Ursache der Erfolge war. Im Ergebnis verankerte sich
die Lektion als „Schätze extravagante Manager“ und nicht als „Schätze
Deine Kunden“ in der Unternehmenskultur.

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Kapitel 1: Warum Unternehmen scheitern
Einen Wandel erfolgreich zu verankern setzt voraus, dass man sich genü-
gend Zeit nimmt, sicherzustellen, dass die nächste Managementgeneration
den neuen Ansatz auch tatsächlich verkörpert. Ein weit verbreiteter Fehler
¢ 13

ist, dass Beförderungskriterien nicht angepasst werden und so Transforma-


tionsbemühungen niemals nachhaltig sein können. Eine einzige falsche
Nachfolgeentscheidung im Top-Management kann ein ganzes Jahrzehnt
harter Arbeit zunichte machen. Schlechte Nachfolgeentscheidungen an der
Unternehmensspitze resultieren oftmals daraus, dass der Vorstand nicht in-
tegrierter Teil des Wandels war.

In drei von mir kürzlich gesehenen Fällen waren ausscheidende CEOs die
Wegbereiter des Wandels. Obwohl sich ihre Nachfolger nicht gegen die Ver-
änderungen stellten, waren sie trotzdem keine echten Leader des Wandels.
Weil die Vorstände die Transformationen einfach nicht im Detail genau ver-
standen, konnten sie auch nicht das aus ihrer Nachfolgeentscheidung ent-
standene Problem erkennen. In einem Fall versuchte der ausscheidende Ge-
schäftsführer erfolglos, seinen Vorstand von einem geeigneteren Kandidaten
zu überzeugen, der den neuen Arbeitsstil des Unternehmens besser personi-
fizierte. In den anderen Fällen widersetzten sich die CEOs den Wünschen
ihrer Vorstände nicht, weil sie glaubten, dass man ihre eingeführten Verän-
derungen nicht mehr ungeschehen machen konnte. Aber sie irrten sich. In-
nerhalb weniger Jahre verschwanden bei allen drei Unternehmen die An-
sätze neuer und starker Organisationen. Intelligente Menschen verpassen
hier den Anschluss, wenn sie sich kulturellen Belangen gegenüber unsensi-
bel verhalten. Ökonomisch orientierte Finanzleute und analytisch orien-
tierte Ingenieure finden das Thema „Soziale Normen und Werte“ oftmals
zu „weich“. Infolgedessen ignorieren sie die Kultur – auf eigene Gefahr.

Die acht Fehler

Keiner der Fehler, die bei einem Wandel auftreten können, würde in einer
langsameren und weniger wettbewerbsintensiven Welt derart kostspielig
sein. Die Fähigkeit, neue Initiativen schnell umzusetzen, ist in einem relativ
stabilen oder kartellähnlichen Umfeld keine essenzielle Erfolgskompo-
nente. Heute liegt das Problem für uns darin, dass Stabilität nicht länger
die Norm ist. Die meisten Experten sind sich darin einig, dass die Wirt-
schaftswelt zukünftig volatiler werden wird.

Insofern kann jeder der acht weit verbreiteten Fehler ernsthafte Konsequen-
zen nach sich ziehen (siehe Abbildung 1). Neue Initiativen zu verlangsa-
men, unnötigen Widerstand herauf zu beschwören, Mitarbeiter endlos zu
frustrieren und dringend benötigten Wandel manchmal im Keim zu ersti-
cken – jeder dieser Fehler könnte ein Unternehmen entscheidend daran hin-
dern, seine Produkte oder Dienstleistungen kundengerecht anzubieten.

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14 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen

Abbildung 1: Acht typische Fehler beim Wandel und deren Konsequenzen

Budgets werden gekürzt, Menschen entlassen und die Mitarbeiter, die blei-
ben, unterliegen zwangsläufig starkem Stress. Die Auswirkungen auf Fa-
milien und Gemeinschaften können verheerend sein. Während ich dies
schreibe, findet der durch diese verstörenden Aktivitäten erzeugte Angst-
faktor seinen Weg in die Präsidentschaftspolitik.
Diese Fehler sind nicht unvermeidbar. Mit Bewusstsein und Fähigkeiten
können sie vermieden oder zumindest stark minimiert werden. Der Schlüs-
sel liegt im Verständnis darüber, warum sich Unternehmen notwendigem
Wandel widersetzen, wie genau sich der mehrstufige Prozess, der die zer-
störerische Trägheit überwindet, zusammensetzt und insbesondere, wie
die Führung, die notwendig ist, um diesen Prozess sozial vertretbar durch-
zuführen, wesentlich mehr bedeutet als nur „gutes Management“.

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Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel und die Kraft,
die ihn antreibt

Menschen, die einen schwierigen, schmerzhaften und nicht sehr erfolgrei-


chen Wandel durchlaufen haben, leiten daraus oft pessimistische und wü-
tende Schlussfolgerungen ab. Sie halten die Motive derjenigen, die die
Transformation antreiben, für verdächtig; sie befürchten, dass großer Wan-
del nicht ohne Blutvergießen möglich ist; sie fürchten, dass der Chef ein
Monster oder der größte Teil des Managements inkompetent ist.
Nachdem ich zahlreiche Bemühungen beobachtet habe, bei denen die Un-
ternehmensleistung durch Restrukturierung, Reengineering, Qualitätspro-
gramme, Fusionen und Akquisitionen, kulturelle Erneuerung, Verschlan-
kung und strategische Neuausrichtung verbessert werden sollte, komme
ich jedoch zu einem anderen Schluss.
Es gibt Belege dafür, dass die meisten öffentlichen und privaten Organisa-
tionen zu akzeptablen Kosten signifikant verbessert werden können, aber
dass wir bei dem Versuch oft schreckliche Fehler machen, weil die Vergan-
genheit uns nicht ausreichend auf die Herausforderungen von Transforma-
tionen vorbereitet hat.

Die Globalisierung von Märkten und Wettbewerb

Meine Generation sowie die Generationen davor sind in einer Zeit aufge-
wachsen, in der Transformation nicht alltäglich war. In einem weniger glo-
balen Wettbewerb und einem eher langsamen Wirtschaftsumfeld, wo Stabi-
lität die Norm war, herrschte das Motto: „Wenn es nicht kaputt ist, dann
kümmere Dich auch nicht darum.“ Wechsel fand inkrementell und selten statt.
Wenn Sie 1960 einem typischen Kreis von Managern gesagt hätten, dass Ge-
schäftsleute heutzutage über einen Zeitraum von 18 bis 36 Monaten versu-
chen, die Produktivität um 20 bis 50% zu erhöhen, die Qualität um 30 bis
100% zu verbessern und die Entwicklungszeit für neue Produkte um 30
bis 80% zu reduzieren, dann hätte man Sie ausgelacht. Das Ausmaß an
Wandel in einer so kurzen Zeit hätte schlicht deren persönliche Vorstel-
lungskraft gesprengt.
Die Herausforderungen, denen wir uns heute stellen, sind anders. Eine glo-
balisierte Wirtschaft schafft sowohl neue Risiken als auch neue Chancen für
alle. Dies zwingt Unternehmen, dramatische Verbesserungen durchzufüh-
ren, nicht nur um zu konkurrieren und zu prosperieren, sondern um ein-

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16 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
fach nur zu überleben. Die Globalisierung wiederum wird von breiten und
starken Kräften angetrieben, die mit technologischem Wandel, internationa-
ler Wirtschaftsintegration, gesättigten Inlandsmärkten in den Industriena-
tionen und dem weltweiten Zusammenbruch des Kommunismus zusam-
menhängen (siehe Abbildung 2).
Niemand ist gegen diese Kräfte immun. Selbst Unternehmen, die nur in
kleinen geografischen Regionen agieren, spüren die Auswirkungen der
Globalisierung. Der Einfluss nimmt manchmal einen indirekten Weg:
Toyota schlägt General Motors, General Motors entlässt daraufhin Perso-
nal, die Mitarbeiter müssen ihre Gürtel enger schnallen und verlangen
einen günstigeren Service bei der chemischen Reinigung um die Ecke. In
ähnlicher Weise werden auch Schulsysteme, Krankenhäuser, karitative
und staatliche Einrichtungen gezwungen, sich zu verbessern. Das Problem
hierbei ist, dass die meisten Manager mit solchen Situationen keine Erfah-
rungswerte gesammelt haben, auf die sie zurückgreifen können.

Abbildung 2: Wirtschaftliche und soziale Kräfte, die einen


tief greifenden Unternehmenswandel hervorrufen

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Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel – die Kraft, die ihn antreibt
Aufgrund der Erfahrungen vieler Unternehmen während der letzten bei-
den Jahrzehnte haben manche die Schlussfolgerung gezogen, dass Organi-
sationen nicht in der Lage sind, sich sehr stark zu verändern, und dass wir
¢ 17

diese Tatsache einfach akzeptieren müssen. Diese Einschätzung wird je-


doch von mehreren Erfolgsgeschichten der letzten Jahre widerlegt. Einige
Organisationen haben herausgefunden, wie neue Strategien, Akquisitio-
nen, Reengineering, Qualitätsprogramme und Restrukturierung hervorra-
gend genutzt werden können. Sie haben die in Kapitel 1 beschriebenen Feh-
ler des Wandels minimiert. Dabei konnten sie den Konkurs abwenden, sich
von einem Spieler im Mittelfeld zum Industrieführer entwickeln oder den
Vorsprung gegenüber ihren stärksten Konkurrenten weiter ausbauen.

Eine nähere Betrachtung dieser Erfolgsgeschichten zeigt zwei wichtige


Muster. Zum einen scheint sinnvoller Wandel mit einem mehrstufigen Pro-
zess zusammenzuhängen, der genügend Kraft und Motivation freisetzt,
um sämtliche Trägheit zu überwinden. Zum anderen kann dieser Prozess
nicht effektiv eingesetzt werden, solange er nicht durch erstklassige Füh-
rung gesteuert wird, nicht nur durch exzellentes Management – ein wichti-
ger Unterschied, den wir im Rahmen der Institutionalisierung tief greifen-
den Wandels wiederholt aufgreifen werden.

Der Acht-Stufen-Prozess des Wandels

Die Methoden, die in erfolgreichen Transformationen genutzt werden, ba-


sieren alle auf einer grundlegenden Einsicht: Tief greifender Wandel kann
aufgrund einer langen Liste von Gründen leicht scheitern. Auch wenn ein
objektiver Beobachter klar erkennen kann, dass die Kosten zu hoch oder
Produkte nicht gut genug sind oder die Veränderung der Kundenanforde-
rungen nicht adäquat adressiert wird, kann notwendiger Wandel durch
nach innen gewandte Kulturen, lähmende Bürokratie, engstirnige Politik,
ein niedriges Vertrauensniveau, einen Mangel an Zusammenarbeit, arro-
gante Einstellungen, Führungsdefizite im mittleren Management und die
grundsätzliche menschliche Angst vor dem Unbekannten stagnieren. Um
effektiv zu sein, muss eine Methode, die darauf abzielt, Strategien zu verän-
dern, Prozesse zu reorganisieren oder Qualität zu optimieren, diese Hinder-
nisse angemessen adressieren.

Alle schematischen Darstellungen tendieren dazu, die Realität zu stark zu


vereinfachen. Ich biete trotzdem mit einiger Vorsicht Abbildung 3 an. Die
Abbildung fasst die für einen erfolgreichen Wandel notwendigen Schritte
zusammen. Der Prozess besteht aus acht Stufen, von denen jede mit einem
der acht grundsätzlichen Fehler, durch die Transformationsbemühungen
verhindert werden können, im Zusammenhang steht. Die einzelnen Schritte
lauten: Erzeugung eines Dringlichkeitsgefühls, Aufbau einer Führungskoa-

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18 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
lition, Entwicklung von Vision und Strategien, Kommunikation der Vision
des Wandels, Verantwortung auf eine breite Basis stellen, schnelle Erfolge
erzielen, diese Erfolge konsolidieren und neuen Wandel generieren sowie
die neuen Ansätze in der Kultur verankern.

Abbildung 3: Der Acht-Stufen-Prozess für die Umsetzung


tief greifenden Wandels

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Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel – die Kraft, die ihn antreibt
Die ersten vier Schritte im Transformationsprozess helfen, den verhärteten
Status quo aufzutauen. Wäre Wandel leicht zu verwirklichen, dann wären
diese ganzen Anstrengungen nicht nötig. Die Phasen 5 bis 7 führen darauf-
¢ 19

hin neue Verhaltensweisen ein. Der letzte Schritt verankert den Wandel in-
nerhalb der Unternehmenskultur. Menschen, die unter dem Druck stehen,
Ergebnisse zu liefern, neigen in einem tief greifenden Wandel dazu, einige
Phasen auszulassen.
Eine intelligente und fähige Führungskraft erzählte mir, dass ihre Reorgani-
sationsbestrebungen von den meisten Mitgliedern ihres Managementteams
abgeblockt wurden. Unser Gespräch verlief in verkürzter Form wie folgt:
„Glauben Deine Leute, dass der Status quo nicht akzeptabel ist?“, fragte
ich. „Empfinden sie wirklich eine Dringlichkeit?“
„Einige ja. Aber viele wahrscheinlich nicht.“
„Wer treibt diesen Wandel?“
„Ich vermute, dass ich der Haupttreiber bin“, gab er zu.
„Hast Du eine fesselnde Vision der Zukunft und Strategien, die auch er-
klären, warum diese Reorganisation notwendig ist und aufzeigen, wie
die Vision erreicht werden kann?“
„Ich denke schon,“ sagte er, „aber ich bin mir nicht sicher, wie überzeu-
gend sie ist.“
„Hast Du jemals versucht, die Vision und die Strategien in kurzer Form
zu Papier zu bringen?“
„Nicht wirklich.“
„Verstehen und glauben Deine Manager an die Vision?“
„Ich denke, dass drei oder vier Schlüsselspieler dabei sind“ sagte er,
räumte jedoch ein, „aber ich wäre nicht überrascht, wenn viele andere
das Konzept nicht verstehen oder nicht ganz daran glauben.“
Nach dem Sprachgebrauch der Abbildung 3 war diese Führungskraft mit
ihrer Reorganisationsidee sofort zu Phase 5 des Transformationsprozesses
gesprungen. Da sie die anderen Schritte größtenteils ignoriert hatte, lief sie
zwangsläufig gegen eine Mauer des Widerstandes. Hätte die Führungskraft
ihren Mitarbeitern die neue Struktur eingepaukt – was sie hätte tun können –,
dann hätten die Mitarbeiter wahrscheinlich unzählige kreative Möglichkei-
ten gefunden, um die erwünschten Verhaltensänderungen zu untergraben.
Weil das die Führungskraft genau wusste, saß sie frustriert in einer Sack-
gasse. Die Geschichte ist jedoch nicht ungewöhnlich.
Menschen versuchen oft, eine Organisation zu verändern, indem sie nur die
Schritte 5, 6 und 7 durchführen, insbesondere wenn es scheint, dass eine ein-
zige Entscheidung – Reorganisation, Akquisition, Kündigung – den Groß-
teil des notwendigen Wandels bewirkt. Oder sie durchlaufen die Stufen,
ohne die Aufgabe jemals zu beenden. Oder es gelingt ihnen nicht, die voran-

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20 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
gegangenen Schritte zu festigen, sodass das Gefühl für die Dringlichkeit
wieder verschwindet oder die Führungskoalition auseinanderbricht. Die
Wahrheit ist, dass ohne die Aufwärm- oder Auftauaktivitäten (Schritte 1
bis 4) keine ausreichend fundierte Basis für das weitere Vorgehen geschaffen
werden kann. Und ohne die Durchführung der Phase 8 wird man nie das
Ziel erreichen und den Wandel dauerhaft verankern.

Die Bedeutung der Reihenfolge

Erfolgreicher Wandel jeden Ausmaßes durchläuft alle acht Phasen, in der


Regel in der in Abbildung 3 gezeigten Reihenfolge. Obwohl normalerweise
in verschiedenen Phasen gleichzeitig gearbeitet wird, schafft das Auslassen
eines einzigen Schrittes oder das Vorpreschen ohne solide Basis fast immer
Probleme.
Kürzlich fragte ich die zwölf Top-Manager der Niederlassung eines großen
Industrieunternehmens nach der Beurteilung ihres Fortschritts in ihrem Ver-
änderungsprozess. Sie schätzten, dass sie zu 80% mit Phase 1 abgeschlossen
hatten, zu 40% mit Phase 2, zu 70% mit Phase 3, zu 60% mit Phase 4, zu 40%
mit Phase 5, zu 10% mit Phase 6 und zu 5% mit Phase 7 und 8. Sie sagten
auch, dass der gute Fortschritt der letzten 18 Monate sich verlangsamte, was
sie zunehmend frustrierte. Ich fragte, was ihrer Meinung nach das Problem
sei. Nach langen Diskussionen kamen sie immer wieder auf die „Unterneh-
menszentrale“ zurück. Schlüsselspieler der Unternehmenszentrale, ein-
schließlich des CEO, waren nicht in ausreichendem Maße Teil der Führungs-
koalition. Daher schätzten die Top-Manager, dass nur 40% der Arbeit in
Phase 2 durchgeführt worden war. Weil übergeordnete Prinzipien nicht ent-
schieden wurden, war es für sie beinahe unmöglich, sich auf die detaillierten
Strategien in Phase 3 zu fokussieren.
Ihre Kommunikation der Vision (Phase 4) wurde ihrer Meinung nach durch
Nachrichten aus der Unternehmenszentrale, die von den Mitarbeitern als in-
konsistent mit der neuen Richtung interpretiert wurden, unterhöhlt. Auf
ähnliche Weise wurden Versuche, die Verantwortung auf eine breite Basis
zu stellen (Phase 5), sabotiert. Ohne eine klare Vision war es schwierig,
schnelle Erfolge zu erzielen (Phase 6). Indem sie weitermachten, ohne er-
folgreich die Probleme der Phase 2 aus dem Weg zu räumen, hatten sie eine
Zeit lang die Illusion von Fortschritt. Aber ohne solide Basis begann das
ganze Vorhaben schließlich zu wanken.
Normalerweise überspringen Menschen aufgrund von Leistungsdruck ein-
zelne Phasen. Sie erfinden auch neue Reihenfolgen, weil diesen scheinbar
eine vernünftige Logik zugrunde liegt. Nach einem guten Start in die Dring-
lichkeitsphase laufen alle Wandelbestrebungen parallel in mehreren Phasen.
Eine von Abbildung 3 abweichende Reihenfolge funktioniert jedoch nur sel-

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Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel – die Kraft, die ihn antreibt
ten gut. Der Handlungsverlauf entwickelt sich nicht natürlich. Er wirkt ge-
stellt, gezwungen oder mechanistisch und erzeugt nicht das notwendige
Momentum, um die enorm starken Trägheitsquellen zu überwinden.
¢ 21

Projekte innerhalb der Projekte

Die meisten großen Veränderungsinitiativen bestehen aus vielen kleineren


Projekten, die ebenfalls den Mehrstufenprozess durchlaufen. Daher kann
es vorkommen, dass der gesamte Prozess bereits zur Hälfte durchlaufen
ist, einige kleine Teile also bereits zu Ende geführt wurden, jedoch neue Pro-
jekte erst begonnen werden. Diese komplexe Beziehung gilt es zu beachten.
Ein typisches Beispiel für ein mittelständisches bis großes Telekommunika-
tionsunternehmen: Das Gesamtprojekt, das darauf abzielte, die Wettbe-
werbssituation des Unternehmens entscheidend zu verbessern, dauerte
sechs Jahre. Im dritten Jahr konzentrierte sich die Transformation auf die
Schritte 5, 6 und 7. Ein relativ kleines Reengineering-Projekt näherte sich
zu diesem Zeitpunkt bereits dem Abschluss der Phase 8. Eine Restrukturie-
rung der Personalgruppen begann gerade und befand sich hauptsächlich in
den Phasen 1 und 2. Ein Qualitätsprogramm lief parallel ab, lag aber hinter
Plan, während einige kleine Schlussinitiativen noch nicht gestartet wurden.
Frühe Ergebnisse waren bereits nach sechs bis zwölf Monaten sichtbar,
doch das entscheidende Resultat zeigte sich erst gegen Ende des Gesamt-
projektes.
Wenn sich eine Organisation in einer Krise befindet, ist das erste Veränder-
ungsprojekt innerhalb des großen Wandelprozesses oft das „Retten des
Schiffs“ oder der Versuch eines Turnaround. Über einen Zeitraum von 6
bis 24 Monaten handeln Menschen ganz gezielt, um den negativen Cash-
flow zu stoppen und die Organisation am Leben zu erhalten. Das darauf
folgende Veränderungsprojekt kann mit einer neuen Strategie oder einem
Reengineering verbunden sein. Darauf könnten größere strukturelle und
kulturelle Veränderungen folgen. Jede dieser Maßnahmen durchläuft alle
acht Stufen des Wandlungsprozesses und jede spielt in der übergeordneten
Transformation eine Rolle.
Da wir hier über viele unterschiedliche Schritte und Projekte sprechen, ist
das Resultat oft komplex, dynamisch, durcheinander und beängstigend.
Am Anfang scheitern fast immer diejenigen, die versuchen, tief greifenden
Wandel mit einfachen, linearen und analytischen Prozessen herbeizufüh-
ren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine Analyse nicht hilfreich ist. Sorgfäl-
tiges Abwägen ist essenziell, aber es gehört wesentlich mehr dazu, als (a)
Daten zu sammeln, (b) Optionen zu identifizieren, (c) zu analysieren und
(d) auszuwählen.

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22 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
Frage: Warum würde dann ein intelligenter Mensch trotzdem so stark
auf einfache, lineare und analytische Prozesse vertrauen?
Antwort: Weil er oder sie gelernt hat, zu managen, aber nicht zu führen.

Management versus Führung

Management ist eine Reihe von Prozessen, die ein kompliziertes System
von Menschen und Technologien reibungslos laufen lässt. Zu den wichtigs-
ten Managementaspekten gehören Planung, Budgetierung, Organisation,
Personalbesetzung, Controlling und Problemlösung. Führung besteht aus
einer Reihe von Prozessen, die Unternehmen in erster Linie gestalten oder
sie bedeutenden Veränderungen anpassen. Leadership definiert, wie die
Zukunft aussehen sollte, bringt Menschen hinter diese Vision und inspiriert
sie zur Umsetzung trotz aller Hindernisse (siehe Abbildung 4). Diese Unter-
scheidung ist für unseren Zweck absolut notwendig: Ein genauer Blick auf
die Abbildungen 3 und 4 zeigt, dass erfolgreiche Transformation zu 70 bis
90% auf Führung und nur zu 10 bis 30% auf Management basiert. Aller-

Abbildung 4: Management versus Leadership

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Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel – die Kraft, die ihn antreibt
dings haben aus historischen Gründen viele Organisationen heutzutage so
gut wie kein Leadership. Und trotzdem denkt jeder, dass es sich bei diesem
Problem um ein Management des Wandels handelt.
¢ 23

In großen Teilen des 20. Jahrhunderts, als zum ersten Mal in der Geschichte
der Menschheit unzählige Unternehmen gegründet wurden, verfügten wir
nicht über genügend kompetente Manager, um all diese Bürokratien am
Laufen zu halten. Also entwickelten viele Unternehmen und Universitäten
Managementprogramme und Hunderttausende von Menschen wurden er-
muntert, Management „on the job“ zu erlernen. Es wurde ihnen jedoch we-
nig über Leadership beigebracht. Bis zu einem bestimmten Grad wurde der
Fokus auf Management gelegt, da es einfacher zu lehren ist als Leadership.
Ausschlaggebender jedoch war, dass das Thema „Management“ Priorität
auf der Agenda des 20. Jahrhunderts hatte – denn es wurde gebraucht. Je-
der Unternehmer oder Firmengründer, der eine Führungspersönlichkeit
war, brauchte Hunderte von Managern, um sein ständig wachsendes Impe-
rium zu leiten.
Aus heutiger Sicht ist es bedauerlich, dass dieser Fokus häufig in Unterneh-
menskulturen institutionalisiert worden ist, was dazu führte, dass Beschäf-
tigte entmutigt werden, Leadership zu erlernen. Ironischerweise ist der ver-
gangene Erfolg für gewöhnlich die Ursache für dieses Verhalten. Das
Syndrom, so wie ich es oft beobachten konnte, äußert sich folgendermaßen:
Erfolg schafft eine gewisse Marktdominanz, die wiederum für weiteres
Wachstum sorgt. Nach einer Weile wird es zur größten Herausforderung,
das wachsende Unternehmen unter Kontrolle zu behalten. Die Aufmerk-
samkeit wendet sich nach innen und Managementkompetenzen werden
gehegt. Mit der starken Betonung auf Management und nicht auf Leader-
ship nehmen Bürokratie und Innensicht überhand. Aber wegen des fort-
schreitenden, meist auf Marktdominanz basierenden Erfolgs wird das Prob-
lem oft nicht adressiert und eine ungesunde Arroganz entsteht. Alle diese
Aspekte erschweren schließlich jede Transformationsbestrebung (siehe Ab-
bildung 5).
Arrogante Manager tendieren dazu, ihre eigene Leistung und ihre Wettbe-
werbsposition zu überschätzen, sie hören schlecht zu und lernen nur lang-
sam. Mitarbeiter, die in erster Linie nach innen sehen, können Schwierigkei-
ten haben, die eigentlichen Bedrohungen und Chancen zu erkennen.
Bürokratische Kulturen unterdrücken diejenigen, die auf verändernde Be-
dingungen reagieren wollen. Das Fehlen von Führung sorgt dafür, dass
keine Kraft innerhalb dieser Organisationen übrig bleibt, um sie aus dem
Morast zu ziehen. Die Kombination von Kulturen, die sich dem Wandel wi-
dersetzen, und Managern, die nicht gelernt haben zu führen, ist verheerend.
Die in Kapitel 1 beschriebenen Fehler sind unter diesen Umständen beinahe
unvermeidlich. Die Quellen der Selbstgefälligkeit werden in den seltensten
Fällen adäquat adressiert, weil Menschen, die ihr ganzes Leben lang nur

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24 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen

Abbildung 5: Die Entstehung einer durch zu viel Management und zu wenig


Leadership geprägten Unternehmenskultur

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Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel – die Kraft, die ihn antreibt
dazu angehalten wurden, das vorhandene System wie ein reibungslos funk-
tionierendes Uhrwerk in Gang zu halten, darin keine Dringlichkeit sehen.
Eine starke Führungskoalition mit ausreichenden Führungskompetenzen
¢ 25

wird nicht durch Menschen geschaffen, die gelernt haben, in Hierarchien


und Managementkategorien zu denken. Visionen und Strategien werden
nicht durch Individuen formuliert, die nur gelernt haben, mit Plänen und
Budgets umzugehen. Sie investieren nie genügend Zeit und Energie in die
Kommunikation der neuen Richtung an eine ausreichende Anzahl von
Menschen – was im Hinblick auf eine Arbeitsweise, bei der die mündliche
Anordnung das letzte Kommunikationsmittel darstellt, nicht überrascht. Es
wird zugelassen, dass Strukturen, Systeme, fehlende Ausbildung oder Vor-
gesetzte Mitarbeiter demotivieren, die helfen wollen, die Vision zu imple-
mentieren – dies ist voraussehbar, wenn man bedenkt, wie wenig die meis-
ten Manager gelernt haben, Verantwortung zu übertragen. Leute, die
gelernt haben, in kurzen Zeitzyklen, in Stunden, Tagen oder Wochen, aber
nicht in Jahren zu denken, rufen viel zu schnell den Sieg aus. Neue Ansätze
werden selten von Menschen in der Unternehmenskultur verankert, die ge-
lernt haben, in formellen Strukturen zu denken und nicht in Kulturen. Dies
resultiert darin, dass teure Akquisitionen keine der erhofften Synergien
schaffen, dramatische Verschlankungen die Kosten nicht unter Kontrolle
bringen, große Reengineeringprojekte zu lange brauchen und zu wenig Vor-
teile bringen und gewagte neue Strategien nie gründlich implementiert
werden.
Mitarbeiter großer Traditionsunternehmen haben aufgrund mangelnder
Führung, gepaart mit Arroganz, Engstirnigkeit und Bürokratie, oftmals
Schwierigkeiten, einen Transformationsprozess zu starten. In solchen Orga-
nisationen, in denen ein Veränderungsprogramm von zu viel Management
und zu wenig Führung dominiert wird, existiert mehr Druck als Motivation.
Jemand entwickelt einen Plan, übergibt ihn seinen Mitarbeitern und zieht
sie dann bei Fehlern zur Verantwortung. Oder jemand trifft alleine eine Ent-
scheidung und erwartet, dass andere sie akzeptieren. Das Problem bei die-
sem Vorgehen besteht darin, dass es sehr schwierig ist, die großen Verände-
rungen, die heutzutage notwendig sind, um die Unternehmensleistung zu
verbessern, mit nackter Gewalt durchzusetzen. Transformation setzt Opfer-
bereitschaft, Hingabe und Kreativität voraus und nichts davon lässt sich mit
Gewalt erzwingen. Veränderungsmaßnahmen, bei denen zu viel Manage-
ment und zu wenig Führung angewendet wird, tendieren dazu, die ge-
sunde Unordnung von Transformationen zu eliminieren. Acht Stufen wer-
den auf drei reduziert. Sieben Projekte werden in zwei konsolidiert. Anstatt
Hunderte oder Tausende Menschen einzubeziehen, wird die Initiative
von einer kleinen Gruppe durchgeführt. Das Ergebnis ist fast immer sehr
enttäuschend.
Es ist wichtig, den Wandel zu managen. Ohne kompetentes Management
kann der Transformationsprozess außer Kontrolle geraten. Aber für die

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26 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
meisten Organisationen ist die Führung des Wandels die größere Herausfor-
derung. Nur Leadership kann die vielen Quellen unternehmerischer Träg-
heit durchdringen. Nur Leadership kann die Handlungen motivieren, die
notwendig sind, um wesentliche Verhaltensänderungen herbeizuführen.
Nur Leadership kann den Wandel in der Organisationskultur verankern.
Wie in den folgenden Kapiteln verdeutlicht wird, beginnt diese Führung
meist mit ein oder zwei Personen. Aber selbst in den kleinsten Organisatio-
nen muss sich diese Anzahl mit der Zeit erhöhen. Die Lösung der Probleme
des Wandels ist nicht ein übermenschliches Individuum, das Tausende Mit-
arbeiter in gehorsame Anhänger verwandelt. Moderne Organisationen sind
viel zu komplex, um durch einen einzelnen Giganten transformiert zu wer-
den. Viele Menschen müssen bei dieser Führungsaufgabe mitwirken, nicht
durch die Imitation von Persönlichkeiten wie Winston Churchill oder
Martin Luther King, Jr., sondern indem sie die Führungsaufgabe in ihrem
Bereich sinnvoll unterstützen.

Die Zukunft

Das Problem des Wandels innerhalb der Organisationen wäre weniger be-
sorgniserregend, wenn die Wirtschaftswelt sich in Kürze stabilisieren oder
wenigstens beruhigen würde. Zuverlässige Quellen jedoch belegen das Ge-
genteil: Die Geschwindigkeit der Veränderung wird sich beschleunigen
und der Druck auf die Organisationen, sich zu verändern, wird in den
nächsten Jahrzehnten deutlich größer werden. Wenn das der Fall ist, so ist
die einzige rationale Lösung darauf, mehr über erfolgreichen Wandel zu ler-
nen und dieses Wissen an eine ständig wachsende Gruppe von Menschen
weiterzugeben.
Meiner Erfahrung nach besteht die Hilfe für Individuen, um die Transforma-
tion besser zu verstehen, aus zwei Komponenten. Beide werden im weiteren
Verlauf dieses Buches detaillierter behandelt werden. Die erste Komponente
bezieht sich auf die verschiedenen Schritte innerhalb des mehrstufigen Pro-
zesses. Die meisten von uns müssen noch viel darüber lernen, was funktio-
niert und was nicht, was die natürliche Reihenfolge von Ereignissen ist und
wo selbst sehr kompetente Menschen Schwierigkeiten haben. Die zweite
Komponente bezieht sich auf die treibende Kraft hinter dem Prozess:
Leadership, Leadership und noch mehr Leadership.
Wenn Sie ernsthaft glauben, dass Sie und andere relevante Mitarbeiter in
Ihrer Organisation bereits fast alles wissen, was notwendig ist, um eine not-
wendigen Wandel einzuleiten, und Sie sich deshalb ganz logisch wundern,
warum Sie sich die Zeit nehmen sollten, auch den Rest dieses Buches zu
lesen, schlage ich Ihnen vor, einmal Folgendes zu überdenken: Was würden
wir finden, wenn wir alle Dokumente, die in Ihrer Organisation in den letz-

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Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel – die Kraft, die ihn antreibt
ten zwölf Monaten produziert wurden, nach zwei Phrasen durchsuchen
würden: „den Wandel managen“ und „den Wandel führen“? Wir würden
uns Memos, Protokolle, Newsletter, Jahresberichte, Projektberichte, Pläne
¢ 27

usw. anschauen. Dann würden wir die Ergebnisse in Prozent umsetzen –


X% der Hinweise beziehen sich auf „den Wandel managen“ und Y% bezie-
hen sich auf „den Wandel führen“. Natürlich wären die Ergebnisse dieser
Analyse nichts weiter als bedeutungslose Semantik. Und doch würden sie
vielleicht die Art und Weise reflektieren, wie Ihre Organisation Wandel be-
greift. Und vielleicht hat dies etwas damit zu tun, wie schnell Sie die Qua-
lität Ihrer Produkte oder Dienstleistungen verbessern, die Produktivität er-
höhen, Kosten verringern und Innovationen vorantreiben.

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Teil II:
Der Acht-Stufen-Prozess

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Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen

Wenn man einen über 30-Jährigen nach der Schwierigkeit fragt, einen tief
greifenden Wandel in einem Unternehmen herbeizuführen, dann wird die
Antwort wahrscheinlich Ähnlichkeit mit folgender Aussage haben: „Es ist
sehr, sehr schwer.“ Die meisten von uns verstehen es noch immer nicht. Wir
nutzen die richtigen Wörter, aber tief in unserem Inneren unterschätzen wir
die Größe der Aufgabe, insbesondere den ersten Schritt: ein Dringlichkeits-
gefühl erzeugen.
Ob ein Unternehmen, das am Boden liegt, wieder aufgebaut wird, ein
Durchschnittsunternehmen zum Marktführer wird oder ein führendes Un-
ternehmen den Abstand zum Wettbewerb vergrößert: Diese Arbeit erfor-
dert von allen Beteiligten ein großes Maß an Kooperation, Initiative und
die Bereitschaft, Opfer zu bringen. In einer Organisation mit 100 Mitarbei-
tern müssen wenigstens zwei Dutzend von ihnen mehr als ihre normale
Pflicht erfüllen, um signifikanten Wandel zu erzeugen. In einer Organisa-
tion mit 100 000 Mitarbeitern müssten über 15 000 mehr leisten.
Die Erzeugung eines Dringlichkeitsgefühls ist ausschlaggebend, um die
notwendige Kooperationsbereitschaft zu erhalten. Ist das Maß an Selbstge-
fälligkeit hoch, enden Transformationen in der Regel in einer Sackgasse, da
nur wenige Mitarbeiter überhaupt Interesse an einer Auseinandersetzung
mit dem Problem des Wandels haben. Bei geringer Dringlichkeit wird es
schwierig, eine Gruppe mit genügend Kraft und Glaubwürdigkeit zusam-
menzustellen, die in der Lage ist, den Prozess zu leiten oder Schlüsselspie-
ler davon zu überzeugen, die notwendige Zeit in die Erstellung und Kom-
munikation einer Vision des Wandels zu investieren. In den seltenen Fällen,
in denen eine motivierte Gruppe inmitten einer Umgebung existiert, die vor
Überheblichkeit nur so strotzt, können ihre Mitglieder vielleicht die grund-
sätzliche Richtung für den Wandel erkennen, reorganisieren und Personal-
einsparungen vornehmen. Sollten sie ein Unternehmen führen, so könnten
sie sogar Akquisitionen durchführen und neue Anreizsysteme installieren.
Aber früher oder später, egal wie viel Druck sie ausüben, egal wie sehr sie
auch drohen, wird die Veränderung wahrscheinlich weit vor der Ziellinie
zum Stillstand kommen, wenn nicht auch viele andere Mitarbeiter die glei-
che Dringlichkeit empfinden. Menschen werden zahllose ausgeklügelte
Wege finden, um ihre Kooperation an einem Prozess zu verweigern, den
sie für entbehrlich und nicht durchdacht halten.

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32 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Selbstgefälligkeit: Ein Beispiel

Ein großes globales Pharma-Unternehmen war in den letzten Jahren mit


mehr Herausforderungen als üblich konfrontiert. Weder die Verkaufszah-
len noch die Gewinnsteigerungen entsprachen den Hoffnungen und Erwar-
tungen. Das Unternehmen bekam eine schlechte Presse, insbesondere,
nachdem eine kostenintensive Entlassungswelle die Moral der Mitarbeiter
weiter erschütterte. Der Aktienkurs steht heute nicht viel höher als vor
sechs Jahren. Reklamationen über die Produkte sind seit Mitte der 80er
Jahre gestiegen, und ein wichtiger Kunde reagiert zunehmend negativ auf
das Unternehmen. Einige institutionelle Investoren haben damit gedroht,
beträchtliche Anteile abzustoßen, was den Aktienkurs um weitere 5 oder
sogar 10% reduzieren könnte. Das Unternehmen hat eine stolze Geschichte
und fuhr in der Vergangenheit beträchtliche Gewinne ein, was die derzei-
tige Situation umso deprimierender erscheinen lässt.
Aufgrund des heftigen Wettbewerbs würde man in der Firmenzentrale viel-
leicht Szenen wie in einem Kriegsfilm erwarten, mit War Rooms, Generälen,
die alle zwei Minuten Befehle brüllen, Tausenden von Truppen, die Tag und
Nacht in Alarmbereitschaft stehen und heftige Attacken gegen den Feind
planen. Aber ein Besuch bei dem Unternehmen zeigt, dass nichts von alle-
dem der Fall ist. Sichtbare War Rooms existieren nicht. Generäle geben mit
einer Geschwindigkeit Befehle, die Baseball als einen schnellen Sport er-
scheinen lässt. Viele Leute zeigen keinerlei Anzeichen, dass sie acht Stunden
lang in Alarmbereitschaft sind, geschweige denn 24 Stunden. Es herrscht
wenig Bewusstsein für den Feind oder gar für die Tatsache, dass ihnen die
Konkurrenz bereits im Nacken sitzt. Es gibt keinen Fokus auf eine drin-
gende Mission. Angriffe auf den Rivalen werden oft mit Platzpatronen
durchgeführt. Die kräftigen Attacken mit tödlicheren Waffen sind nach in-
nen gerichtet: Arbeiter gegen Manager, Manager gegen Arbeiter, Vertrieb
gegen Produktion ... bis zum Erbrechen.
Unter vier Augen gibt jeder Mitarbeiter bereitwillig zu, dass es Probleme
gibt. Doch dann kommt das „aber“. Aber die ganze Industrie hat diese Pro-
bleme. Aber es geht doch voran. Aber das Problem liegt doch nicht an uns, sondern
an der anderen Abteilung. Aber es gibt nichts, was ich noch tun könnte, mein Chef
ist doch so dickköpfig.
Besuchen Sie ein typisches Managementmeeting in diesem Unternehmen,
so werden Sie sich fragen, ob all die Fakten, die Sie über Umsätze, Ge-
winne, Aktienpreise, Kundenbeschwerden, Wettbewerbssituation und Mo-
ral dieses Unternehmens gesammelt haben, nicht falsch sind. In diesen
Meetings wird selten auf negative Kennzahlen eingegangen. Das Tempo ist
meistens gemächlich. Die diskutierten Punkte sind oft von marginaler
Wichtigkeit. Das Energieniveau ist selten hoch. Hitzige Diskussionen ent-
stehen nur, wenn ein Manager versucht, einem anderen die Ressourcen

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Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen
streitig zu machen, oder jemand die Schuld auf einen anderen abwälzen
möchte. Am unglaublichsten ist jedoch, dass ständig jemand ernsthaft Vor-
träge über die gute Lage hält. Nach zwei Tagen in diesem Unternehmen fra-
¢ 33

gen Sie sich, ob Sie verrückt sind.


In dieser vor Selbstgefälligkeit strotzenden Organisation sind Veränderungs-
initiativen Totgeburten. In einer Besprechung schlug jemand vor, die Ent-
wicklungszeiten zu verkürzen, da die gegenwärtigen zu lang seien und
dem Unternehmen zunehmend schaden würden. Nach nur 20 Minuten
driftete die Diskussion völlig ab und es wurde nicht weiter über diesbezüg-
liche Maßnahmen gesprochen. Jemand anderes schlug einen neuen Ansatz
für die IT vor, aber nach nur kurzer Zeit wurden das IT-Team und sein anti-
quiertes System bereits wieder hoch gelobt. Selbst wenn der CEO eine Idee
für den Wandel vorbringt, so scheint dieser Vorschlag schnell im Treibsand
der Selbstgefälligkeit zu versinken.
Wenn Sie glauben, dass diese Geschichte nur ein Extremfall ist, die mit der
Situation in Ihrem Unternehmen nicht vergleichbar ist, schlage ich Ihnen
dringend vor, etwas genauer hinzusehen. Diese Umstände findet man fast
überall. Die Finanzabteilung ist ein Desaster, aber niemand gibt auch nur
das kleinste Problem zu. Die französische Niederlassung ist offensichtlich
ein Fall für einen Turnaround, aber das Management dort scheint absolut
zufrieden mit der gegenwärtigen Situation zu sein. Ich kann nicht mehr
zählen, wie oft mir gegenüber Führungspersönlichkeiten behauptet haben,
dass das gesamte Managementteam die Notwendigkeit für tief greifenden
Wandel erkannt hat, ich dann aber feststellen musste, dass die Hälfte des
„Teams“ den Status quo für gar nicht so schlecht hält. In der Öffentlichkeit
vertreten sie die Meinung des Chefs, aber privat höre ich häufig andere
Meinungen.
„Wenn die Rezession vorbei ist, werden wir wieder gut in Form sein.“
„Sobald die Einsparungsmaßnahmen des letzten Jahres Wirkung zei-
gen, werden die Zahlen wieder nach oben gehen.“ Und, natürlich, „die
größeren Probleme liegen dort drüben; meine Abteilung ist in Ord-
nung.“
Frage: „Wie schwerwiegend ist diese Art der Selbstgefälligkeit?“
Antwort: „Sehr.“
Frage: Warum verhalten sich Menschen dann so?
Antwort: Aus sehr, sehr, sehr vielen Gründen.
Wenn ich 25-jährigen MBA-Studenten ein Unternehmen zeige, das Pro-
bleme hat und bei dem ein hohes Maß an Selbstgefälligkeit herrscht, dann
sprechen sie über diesen Fall oft so, als würde das Unternehmen von einer
Gruppe Menschen geführt, die einen durchschnittlichen IQ von 40 besitzen.
Ihre implizite Diagnose: Wenn das Unternehmen in Schwierigkeiten ist und
trotzdem ein niedriges Bewusstsein für die Dringlichkeit herrscht, dann muss das

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34 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess

Abbildung 6: Ursachen der Selbstgefälligkeit

Management aus Trotteln bestehen. Ihre Handlungsempfehlung: Feuert sie und


stellt uns dafür ein.
Die Diagnose der Studenten, Selbstgefälligkeit mit Ungeeignetheit in Verbin-
dung zu setzen, entspricht nicht meinen Erfahrungen. Gelegentlich habe ich
ein unangemessen niedriges Dringlichkeitsniveau bei hoch intelligenten,
gut qualifizierten Leuten wahrgenommen. Ich kann mich noch gut an ein
Meeting erinnern, bei dem ich zwischen einem Dutzend Seniormanagern
eines europäischen Konzerns saß und einer intellektuellen Debatte zuhörte,
die genauso gut nach Harvard gepasst hätte. Warum auch nicht? Viele der
an jenem Tag Anwesenden besaßen Abschlüsse der weltweit besten Hoch-
schulen. Leider verhinderte die Analyse der angeblichen Fehler der Konkur-
renz sowie die sehr abstrakte „Strategie“-Diskussion die eigentlich notwen-
dige Auseinandersetzung mit den Schlüsselproblemen des Unternehmens.
Wie abzusehen, wurde am Ende dieses Meetings keine einzige konsequente
Entscheidung getroffen, denn man kann keine wichtigen Entscheidungen
treffen, ohne über die eigentlichen Probleme zu sprechen. Ich bin mir sicher,
dass die Mehrheit der Teilnehmer an jenem Tag nicht sehr glücklich mit dem
Verlauf des Meetings war. Sie waren keine Dummköpfe. Sie hielten das Mee-
ting für akzeptabel, weil unter diesen Managern die durchschnittliche Ein-
stufung auf einer Dringlichkeitsskala von 0 bis 100 bestimmt geringer war
als 50.
Mindestens neun Gründe können diese Art der Selbstgefälligkeit erklären.
Erstens gab es keine offensichtliche Krise. Das Unternehmen verlor kein

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Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen
Geld. Niemand hatte Massenentlassungen angekündigt. Ein Bankrott war
kein Thema. Die Gläubiger standen nicht vor der Tür. Die Presse brachte
nicht ständig negative Schlagzeilen über das Unternehmen. Als rationaler
¢ 35

Analyst könnten sie argumentieren, dass sich das Unternehmen aufgrund


ständig sinkender Marktanteile und Margen in einer Krise befand. Aber
das ist ein anderes Problem. Der Punkt hier war: Die Beschäftigten sahen
keine tornadoähnliche Bedrohung auf sich zukommen, deswegen war das
Gefühl der Dringlichkeit gering.
Zweitens fand das Meeting in einem Raum statt, der den „Erfolg“ geradezu
heraufbeschwor. Der lange Mahagonitisch hätte locker gegen drei Audis
eingetauscht werden können. Die Tapeten, der Teppich und die Dekoration
waren ebenso schön wie teuer. Die gesamte Unternehmenszentrale, insbe-
sondere der Bereich der Geschäftsführung, war ähnlich ausgestattet: Mar-
mor, edle Hölzer, wertvolle Teppiche und Ölgemälde in Hülle und Fülle.
Die unterschwellige Botschaft war eindeutig: Wir sind reich, wir sind die
Gewinner, wir müssen etwas richtig machen. Also entspann dich. Gehe
doch erst einmal etwas essen.
Drittens waren die Leistungsmaßstäbe, an denen sich diese Manager orien-
tierten, alles andere als hoch. Wenn ich in diesem Unternehmen unterwegs
war, hörte ich nicht nur einmal, sondern zehnmal: „Die Gewinne sind im letz-
ten Jahr um 10% gestiegen.“ Was nicht erwähnt wurde, war, dass die Ge-
winne vor fünf Jahren 30% höher lagen, und die Gewinne im gesamten In-
dustriezweig in den letzten zwölf Monaten um beinahe 20% gestiegen sind.
Viertens verengte die Organisationsstruktur die Aufmerksamkeit der meis-
ten Mitarbeiter auf funktionsbezogene Ziele, anstatt auf die umfassende
Unternehmensleistung. Das Marketing hatte seine eigenen Kennzahlen, ge-
nauso die Produktion, und die Personalabteilung hatte wiederum andere.
Nur der CEO war verantwortlich für die gesamten Absatzzahlen, den Net-
togewinn und die Eigenkapitalrendite. Als nun die Basiskennzahlen des
Unternehmens nach unten gingen, fühlte sich so gut wie niemand dafür
verantwortlich.
Fünftens waren die verschiedenen internen Planungs- und Kontrollsysteme
so angelegt, dass es jedem leicht gemacht wurde, die funktionsbezogenen
Ziele zu erreichen. Die Mitarbeiter der zentralen Marketingabteilung er-
zählten mir, dass sie im vergangenen Jahr ohne größere Anstrengungen
90% ihrer Zielvorgaben erreicht hatten. Ein typisches Ziel war zum Bei-
spiel: „Starten Sie eine neue Werbekampagne bis zum 15. Juni.“ Die Erhöhung
der Marktanteile für eine der Produktlinien des Unternehmens schien kein
adäquates Ziel zu sein.
Sechstens kam sämtliches Leistungsfeedback für die Mitarbeiter fast aus-
schließlich aus fehlerhaften internen Systemen. Informationen externer
Stakeholder erreichten praktisch niemanden. Der Durchschnittsmanager
oder -mitarbeiter konnte für Monate arbeiten, ohne auch nur einmal mit

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36 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
einem unzufriedenen Kunden, einem wütenden Aktionär oder einem frust-
rierten Lieferanten konfrontiert zu werden. Manche Menschen konnten ver-
mutlich vom Tag ihrer Einstellung bis zu ihrer Rente arbeiten, ohne jemals
mit einem unzufriedenen externen Stakeholder in Kontakt treten zu müssen.
Siebentens: Wenn unternehmerisch denkende junge Mitarbeiter externes
Leistungsfeedback suchten, wurden sie oft wie Leprakranke behandelt. In
dieser Unternehmenskultur wurde solch ein Verhalten als unangemessen
betrachtet, weil es jemanden verletzen, die Moral verringern oder zu Ausei-
nandersetzungen (soll heißen: zu ehrlichen Diskussionen) führen könnte.
Achtens wird die Selbstgefälligkeit von der menschlichen Tendenz unter-
stützt, die Dinge, die wir nicht wahrhaben wollen, zu verleugnen. Das Le-
ben ist normalerweise angenehmer ohne Probleme und schwieriger mit
ihnen. Viele von uns denken die meiste Zeit, dass wir genügend Herausfor-
derungen haben, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Wir suchen nicht
nach weiterer Arbeit. Wenn also ein großes Problem sichtbar wird, werden
wir nach Möglichkeit versuchen, es zu ignorieren.
Neuntens ließen sich alle diejenigen, die relativ unberührt von den Selbstge-
fälligkeitskriterien 1 bis 8 waren und sich daher Sorgen um die Zukunft des
Unternehmens machten, von dem „positiven Geschwätz“ des Seniormana-
gements oft in falscher Sicherheit wiegen. „Sicherlich haben wir Probleme, aber
wir haben auch schon so viel erreicht.“ Menschen, die die 1960er Jahre mitbe-
kamen, werden sich an ein schreckliches Beispiel dieser Art erinnern: die
vielen Berichte darüber, wie die Vereinigten Staaten kurz davor waren, den
Vietnamkrieg zu gewinnen. Auch wenn „positives Geschwätz“ manchmal
unehrlich ist, ist es doch oft das Produkt einer arroganten Kultur, die wiede-
rum das Ergebnis vergangener Erfolge ist.
Ein Großteil dieses Problems hat seine Ursache in den Erfolgen des Gesamt-
unternehmens, der einzelnen Abteilungen und einzelner Individuen in der
Vergangenheit. Früherer Erfolg liefert zu viele Ressourcen, reduziert das
Dringlichkeitsgefühl und ermutigt uns zum Rückzug nach innen. Bei Men-
schen führt dies oftmals zu einem Egoproblem; bei Firmen zu einem Kultur-
problem. Über-Egos und arrogante Kulturen begünstigen die neun Gründe
für Selbstgefälligkeit. In der Summe können sie dann das Dringlichkeitsver-
ständnis in einem Unternehmen niedrig halten, selbst dann, wenn dieses
mit tief greifenden Problemen kämpft und von überaus intelligenten und
vernünftigen Leuten geführt wird.
Ich glaube, wir nehmen oft an, dass Selbstgefälligkeit kein Problem dar-
stellen würde, wenn nur mehr Menschen so starke und mutige Kämpfer-
naturen wären wie wir. Oder aber wir denken, dass die Menschen im Allge-
meinen recht intelligent sind und dass wir ihnen deshalb lediglich die
Fakten über schlechte Produktqualität, nachgebende Finanzergebnisse
oder das Fehlen von Produktivitätszuwächsen vermitteln müssen. In bei-
den Fällen unterschätzen wir die Macht subtiler und systemischer Kräfte,

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Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen
die in nahezu jeder Organisation existieren. Eine gute Faustregel für einen
tief greifenden Veränderungsprozess lautet daher: Unterschätzen Sie nie-
mals das Ausmaß der Kräfte, die Selbstgefälligkeit fördern und damit den
¢ 37

Status quo aufrechterhalten.

Wie die Dringlichkeitsstufe erhöht wird

Um die Dringlichkeitsstufe zu erhöhen, müssen die Ursprünge der Selbst-


gefälligkeit eliminiert oder zumindest deren Einfluss minimiert werden:
die Abschaffung der Symbole des Exzesses, zum Beispiel einer firmeneige-
nen Luftflotte; das Setzen höherer Standards sowohl im formellen Pla-
nungsprozess als auch in der täglichen informellen Interaktion; Anpassung
der internen Kennzahlensysteme, die auf falschen Indizes beruhen; drasti-
scher Anstieg des externen Leistungsfeedbacks für jeden Mitarbeiter; Beloh-
nung von Mitarbeitern, die in Meetings ehrlich ihre Meinung vertreten und
Probleme offen angehen und das Stoppen grundlosen Happy Talks durch
die Führung.

Wenn kompetente Manager mit einem erneuerungsbedürftigen Unterneh-


men konfrontiert werden, nehmen alle einige dieser Maßnahmen in Angriff.
Aber sie gehen meistens nicht weit genug. Ein Kundenpanel wird auf das
jährliche Managementmeeting gebracht, aber es wird kein Weg gefunden,
die Kundenbeschwerden wöchentlich oder sogar täglich den Mitarbeitern
mitzuteilen. Das jährliche Managementmeeting mag an einem nicht so edlen
Ort abgehalten werden, aber dann gehen die Führungskräfte in Büros zu-
rück, die nicht einmal Ludwig XIV. als zu schäbig zurückgewiesen hätte.
Eine oder zwei Problemdiskussionen werden offen auf der Führungsebene
initiiert, aber die interne Firmenzeitung darf weiter Happy Talk verbreiten.

Die Schaffung eines starken Dringlichkeitsgefühls setzt üblicherweise Mut


und Risikobereitschaft voraus, die wir normalerweise mit guten Führungs-
eigenschaften assoziieren. Wenige bescheidene Aktionen, wie zum Beispiel
ein Kundenpanel auf dem jährlichen Managementmeeting, scheitern für
gewöhnlich an den überwältigenden Kräften der Selbstgefälligkeit. Mut
bedeutet in diesem Zusammenhang die Bereinigung der Bilanz und das
Hinnehmen eines bedeutenden Quartalsverlustes oder den Verkauf der Un-
ternehmenszentrale bzw. den Umzug in ein Gebäude, das eher einer Kom-
mandozentrale gleicht. Es kann auch bedeuten, allen Geschäftseinheiten
mit Veräußerung oder Schließung zu drohen, wenn sie nicht innerhalb von
24 Monaten Marktführer oder Nummer zwei in ihren Märkten werden. Es
können auch 50% der Vergütung für leitende Angestellte von strengen Ziel-
vorgaben für die Produktqualität abhängig gemacht werden (Abbildung 7
zeigt neun Wege auf, mit deren Hilfe die Dringlichkeitsstufe erhöht werden
kann).

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38 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess

Abbildung 7: Wege, um die Dringlichkeitsstufe zu erhöhen

Wir sehen diese Art des Mutes nicht mehr sehr häufig, weil Menschen, die
in Kulturen mit zu wenig Führung und zu viel Management leben, lernen,
dass diese Aktionen nicht vernünftig sind. Wenn couragierte Führungs-
kräfte lange Zeit mit einem Unternehmen verbunden waren, fürchten sie
vielleicht auch, für die Probleme, auf die sie aufmerksam gemacht haben,
als die eigentlichen Verursacher herangezogen zu werden. Daher ist es kein
Zufall, dass Transformationen oft erst begonnen werden, wenn eine Person
eine Schlüsselrolle besetzt, die ihre Handlungen aus der Vergangenheit
nicht rechtfertigen muss.

Insbesondere für Menschen, die in einer von Kontrolle dominierten, manage-


mentorientierten Kultur aufgewachsen sind, ist es schwierig, die Dringlich-
keitsstufe zu erhöhen. Mutige Schritte, die darauf abzielen, Selbstgefälligkeit
abzubauen, tendieren zumindest am Anfang dazu, Konflikte und Beunruhi-
gung zu schüren. Echte Führungspersönlichkeiten ergreifen Maßnahmen,
weil sie daran glauben, dass die entfesselten Kräfte zu wichtigen Ergebnissen
führen können. Für jemanden, der 30 oder 40 Jahre lang dafür belohnt wurde,
vorsichtig zu agieren, erscheint die Durchführung von Initiativen, die auf
eine Erhöhung der Dringlichkeitsstufe abzielen, zu riskant oder einfach nur
dumm.

Sollte das Top-Management nur aus vorsichtigen Managern bestehen, dann


wird niemand ein Dringlichkeitsgefühl erzeugen, das stark genug ist, um

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Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen
größere Transformationsbemühungen erfolgreich durchzuführen. In sol-
chen Fällen hat der Aufsichtsrat die Verantwortung, Führungspersönlich-
keiten zu finden und sie auf Schlüsselpositionen zu platzieren.
¢ 39

Die Rolle der Krise

Sichtbare Krisen können enorm hilfreich sein, um die Aufmerksamkeit der


Menschen zu gewinnen und die Dringlichkeitsstufe zu erhöhen. Wenn das
Gebäude zu brennen scheint, ist es sehr schwierig, weiterzumachen wie bis-
her. Allerdings ist es in einer sich immer schneller verändernden Welt eine
zweifelhafte Strategie, auf den Ausbruch eines solchen Feuers zu warten.
Ein plötzlich auftretendes Feuer gewinnt nicht nur Aufmerksamkeit, son-
dern kann sehr viel Schaden anrichten.

Weil wirtschaftliche Krisen so deutlich spürbar sind, wird oft behauptet,


dass tief greifender Wandel so lange nicht möglich ist, bis die Probleme
einer Organisation signifikante Verluste generieren. Obwohl diese Schluss-
folgerung auf die Fälle zutreffen mag, in denen eine große und schwierige
Transformation erforderlich ist, denke ich, dass sie auf die meisten Verände-
rungen nicht zutrifft.

Ich habe erlebt, wie Menschen in Zeiten, in denen Rekordgewinne erzielt


wurden, bereits erfolgreiche Restrukturierungen initiiert haben. Sie schaff-
ten dies, indem sie ihre Mitarbeiter unablässig mit Informationen über Pro-
bleme (Gewinne steigen, aber Marktanteile sinken), potenzielle Probleme
(ein neuer Wettbewerber wird zunehmend aggressiver) oder potenzielle
Chancen (durch neue Technologien oder neue Märkte) versorgten. Es ge-
lang ihnen, indem sie sehr ambitionierte Ziele setzten, die den Status quo
erschütterten. Sie schafften es, indem sie die Zeichen von Exzessen, Happy
Talk und irreführenden Informationssystemen aggressiv beseitigten. Die
Aufmerksamkeit der Menschen in guten Zeiten zu gewinnen ist zwar
schwieriger, aber nicht unmöglich.

Ein berühmter japanischer Unternehmer hielt sein Management durch un-


verschämt hohe Fünfjahresziele davon ab, überheblich zu werden. Sobald
die Menschen anfingen, aufgrund ihrer Erfolge selbstgefällig zu werden,
sagte er zum Beispiel: „Wir sollten unseren Umsatz in den nächsten vier Jahren
verdoppeln.“ Aufgrund seiner Glaubwürdigkeit konnten seine Mitarbeiter
diese Äußerungen nicht ignorieren. Da er die Ziele nie aus der Luft griff,
sondern vorsichtig und sorgfältig auf ihre Durchführbarkeit durchdachte,
konnte er sie immer verteidigen. Und indem er sie verteidigte, verband er
die Ziele mit Grundwerten, mit denen sich sein Management identifizierte.
Das Ergebnis: Seine Fünfjahresziele wurden kleine Bomben, die regelmäßig
die Selbstgefälligkeit seiner Mitarbeiter zerstörten. Echte Führungspersön-

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40 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
lichkeiten schaffen diese Art künstlicher Krisen und warten nicht darauf,
dass etwas passiert.
Harry zum Beispiel entschied sich dafür, seiner Meinung nach unrealisti-
sche Umsatz- und Kostenplanungen zu akzeptieren, anstatt wie üblich,
mit seinem Manager darüber zu streiten. Der resultierende Einbruch
der Einnahmen um 30% machte alle darauf aufmerksam. Auf ähnliche
Weise akzeptierte Helen die Versprechungen einer neuen Produktein-
führung, die ihrer Meinung nach unrealistisch waren, und ließ zu, dass
ihr das Ganze um die Ohren flog – nichts für schwache Nerven. Das Re-
sultat: Business as usual konnte so einfach nicht weitergehen.
Einige künstliche Krisen setzen auf große finanzielle Verluste, um Men-
schen wachzurütteln. Ein bekannter CEO eines renommierten Konzerns be-
reinigte die Bilanzen, rief eine Reihe von neuen Initiativen ins Leben und er-
zeugte durch sein Vorgehen einen Verlust von beinahe 1 Milliarde $. Aber es
handelte sich um eine außergewöhnliche Situation. Der CEO hatte einen
langfristigen Vertrag und das Unternehmen schwamm im Geld.
Das Problem bei großen finanziellen Krisen, ob sie nun natürlich oder
künstlich herbeigeführt sind, besteht darin, dass sie oft die knappen Res-
sourcen eines Unternehmens aufzehren und daher wenig Spielraum für zu-
künftige Manöver zulassen. Nachdem eine oder sogar zwei Milliarden ver-
loren sind, hat man zwar die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter, aber wenig
finanzielle Mittel, um neue Initiativen zu unterstützen. Auch wenn Trans-
formationen im Zuge einer natürlichen Finanzkrise einfacher zu beginnen
sind, ist es eindeutig die bessere Alternative, nicht auf eine zu warten. Es
ist besser, wenn man dieses Problem selbst erschafft. Sofern möglich, ist es
noch besser, den Mitarbeitern dabei zu helfen, die Probleme oder den kriti-
schen Charakter der Situation zu erkennen, ohne empfindliche Verluste hin-
nehmen zu müssen.

Die Rolle der mittleren und unteren Führungsebene

Wenn das Ziel des Wandels eine Fertigungsanlage, ein Vertriebsbüro oder
eine Arbeitseinheit einer größeren Organisation ist, dann finden sich die
Schlüsselspieler in der mittleren und unteren Führungsebene. Die Manager
dieser Ebenen müssen die Selbstgefälligkeit reduzieren und die Dringlich-
keit verstärken. Sie müssen eine Koalition für den Wandel zusammenstel-
len, eine Vision für den Wandel entwickeln und diese Vision anderen ver-
kaufen. Sollten sie über genügend Autonomie verfügen, dann können sie
dies losgelöst von der Gesamtorganisation für ihre Teilbereiche durchfüh-
ren. Sollten sie über genügend Autonomie verfügen.
Ohne ausreichende Autonomie können innerhalb eines Unternehmens, in
der ein hohes Maß an Selbstgefälligkeit herrscht, Wandelbestrebungen einer

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Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen
einzelnen Einheit von Anfang an zum Scheitern verurteilt sein. Früher oder
später werden die Trägheitskräfte greifen, egal, was die unteren Change
Agents auch machen. Unter diesen Umständen kann es ein fataler Fehler
¢ 41

sein, mit den Transformationsbemühungen fortzufahren. Wenn Menschen


diese Tatsache realisieren, denken sie oft, dass nur eine Alternative bleibt:
Zurücklehnen und darauf warten, dass jemand aus dem Top-Management
eine starke Führungsrolle einnimmt. Also tun sie nichts und erhöhen somit
die ohnehin schon starken Trägheitskräfte, über die sie sich so ärgern.

Weil sie die Autorität besitzen, sind Top-Manager in der Regel die Schlüs-
selfiguren, wenn es um die Verminderung der Trägheitskräfte geht – aller-
dings nicht immer. Gelegentlich ist eine mutige und kompetente Seele aus
der mittleren oder unteren Führungsebene maßgeblich daran beteiligt, den
Weg für eine Transformation zu bahnen.

Mein Lieblingsbeispiel ist eine Managerin aus der mittleren Führungs-


ebene eines großen Dienstleistungsunternehmens aus der Reisebran-
che, die beinahe im Alleingang das Top-Management mit Daten über
die zunehmend schwächere Wettbewerbsposition ihres Unternehmens
konfrontierte. Sie nutzte einen Auftrag außerhalb der Routine – ein Pro-
dukt über einen neuen Vertriebsweg platzieren –, um Berater einzustel-
len. Aufgrund ihrer Anregung, doch auch „hinter den Vorhang“ zu
schauen, kamen die Berater zu dem Ergebnis, dass das Unternehmen
niemals erfolgreich den neuen Vertriebsweg nutzen könnte, wenn es
nicht erst ein halbes Dutzend fundamentaler Probleme löste. Ihre Kolle-
gen hielten sich zurück, als sie die Ergebnisse sahen, aber die Managerin
wagte trotzdem einen Sprung nach vorn. Da sie politisches Geschick be-
saß, zerschlug sie die meisten der aus Ärger und Ablehnung resultieren-
den, gegen die Berater gerichteten Kritikpunkte. Sie hatte die begna-
dete Fähigkeit, mit Sätzen wie den folgenden zu reagieren: „Das hat
mich wirklich überrascht. Haben die Berater versagt oder haben wir
hier ein wirkliches Problem?“; „Ich kann nicht fassen, dass die Berater
den Bericht an all die Leute schickten. Wir haben das nicht autorisiert.“,
„Glauben Sie das? Gerry und Alice auch. Haben Sie jemals über diese
Probleme gesprochen?“

Wenn jeder im Top-Management ein vorsichtiger, dem Status quo verpflich-


teter Manager ist, dann wird ein mutiger Revolutionär aus den unteren Rei-
hen immer scheitern. Ich habe allerdings noch nie eine Organisation gese-
hen, in der das gesamte Top-Management gegen den Wandel ist. Selbst in
den schlimmsten Fällen wissen 20 bis 30%, dass das Unternehmen nicht
sein volles Potenzial ausschöpft und etwas unternommen werden muss;
sie fühlen sich jedoch meistens blockiert. Initiativen des mittleren Manage-
ments geben diesen Menschen die Chance, gegen die Selbstgefälligkeit vor-
zugehen, ohne dabei als schlechte Teamplayer oder Demagogen angesehen
zu werden.

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42 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Für diejenigen im mittleren Management, die keinen Weg finden, das
Bewusstsein im Unternehmen für die Dringlichkeit eines Wandels zu erhö-
hen – da beispielsweise das Top-Management nicht die notwendige Füh-
rung leistet –, könnte der Wechsel in ein anderes Unternehmen eine kluge
Karriereentscheidung sein. In unserer heutigen Wirtschaftswelt klammern
sich die Menschen oft an ihren Arbeitsplatz, auch wenn ihr Unternehmen
ins Nichts steuert. Sie reden sich selbst ein, dass sie ja im Grunde Glück
haben, bei all den Personalkürzungen noch Gehalt und übertarifliche So-
zialleistungen zu beziehen. Dieses Verhalten ist verständlich. Aber in der
Welt des 21. Jahrhundert werden wir während unserer gesamten Berufs-
laufbahn ständig lernen und wachsen müssen. Eines der vielen Probleme
in selbstherrlichen Unternehmen ist, dass Unbeweglichkeit und Konservati-
vismus das Lernen maßgeblich erschweren.

Eine Stechuhr zu drücken, eine Gehaltsabrechnung zu bekommen, wenig zu


lernen und dafür zu sorgen, dass die Dringlichkeitsstufe niedrig bleibt, ist
bestenfalls eine engstirnige und kurzfristige Strategie. Engstirnige und kurz-
fristige Strategien führen nur noch in den seltensten Fällen zum Erfolg – so-
wohl für die Unternehmen als auch für die Mitarbeiter.

Wie viel Dringlichkeit ist notwendig?

Unabhängig davon, wie oder durch wen der Prozess angeregt wird, finden
es die meisten Unternehmen äußerst schwierig, in den Phasen 2 bis 4 des
Acht-Stufen-Prozesses große Fortschritte zu machen, solange nicht die Mehr-
heit der Manager wirklich davon überzeugt ist, dass der Status quo nicht
haltbar ist. Eine Transformation in den Phasen 7 bis 8 aufrechtzuerhalten, er-
fordert noch stärkeres Engagement. Die Mehrheit der Mitarbeiter, vielleicht
75% des gesamten Managements und praktisch alle Führungskräfte, müssen
daran glauben, dass tief greifender Wandel absolut notwendig ist.

Weil es zu Beginn möglich ist, bereits mit einem geringen Dringlichkeits-


niveau anzufangen, und weil der Abbau von Selbstgefälligkeit Unruhe her-
vorrufen kann, ist es durchaus verlockend, die Phase 1 auszulassen und den
Transformationsprozess mit einem späteren Schritt zu beginnen. Ich habe
beobachtet, wie Leute damit anfingen, eine Führungskoalition zu bilden,
eine Vision für den Wandel zu entwickeln oder einfach damit anfingen, Ver-
änderungen durchzuführen (Reorganisation, Entlassung von Mitarbeitern,
Durchführung von Akquisitionen). Aber die Probleme der Trägheit und
Selbstgefälligkeit holen sie immer wieder ein. Manchmal stoßen sie schnell
an ihre Grenzen, wenn zum Beispiel das Fehlen der Dringlichkeit es unmög-
lich macht, ein ausreichend schlagkräftiges Führungsteam für den Wandel
zusammenzustellen. Manchmal machen die Leute jahrelang weiter – viel-

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Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen
leicht stoßen sie Wachstum und Aktivitäten durch Akquisitionen an – bis
schließlich klar wird, dass viele Initiativen im Sande verlaufen.
Aber auch wenn Menschen groß angelegte Veränderungsbestrebungen mit
¢ 43

dem Abbau von Selbstgefälligkeit beginnen, reden sie sich manchmal ein,
dass die Aufgabe damit erledigt ist, obwohl in Wahrheit noch wesentlich
mehr Arbeit erforderlich ist. Ich habe beobachtet, wie außerordentlich fä-
hige Manager in diese Falle gelaufen sind. Sie tauschen sich mit Kollegen
aus, die ihre Rationalisierungsversuche nur bestätigen. „Wir sind alle hierfür
bereit. Jeder versteht, dass die gegenwärtige Situation geändert werden muss. Wir
haben ein geringes Niveau an Selbstgefälligkeit. Richtig, Phil? Richtig, Carol?“
Und so bewegen sie sich auf wackeligem Boden, was sie früher oder später
bereuen werden.
Hier können Außenstehende behilflich sein. Fragen Sie gut informierte
Kunden, Lieferanten oder Aktionäre, was sie denken. Ist das Bewusstsein
für die Dringlichkeit hoch genug? Ist die Selbstgefälligkeit niedrig ausge-
prägt? Sprechen Sie nicht nur mit Kollegen, die die gleichen Motive haben,
die Realität herunterzuspielen. Und fragen Sie nicht nur ein paar Freunde
außerhalb des Unternehmens. Sprechen Sie mit anderen, die Ihr Unterneh-
men kennen oder auch mit Leuten, die mit Ihrem Unternehmen unzufrie-
den sind. Und was am wichtigsten ist: Hören Sie sorgfältig zu!
Wenn Sie so vorgehen, werden Sie herausfinden, dass manche Menschen
nicht ausreichend genug informiert sind, um ein verlässliches Urteil abzu-
liefern. Andere wiederum verfolgen nur eigennützige Ziele. Sie können all-
dem vorbeugen, indem Sie sich mit möglichst vielen Menschen austau-
schen. Der ausschlaggebende Punkt ist, der Kurzsichtigkeit des Insiders
mit externen Daten entgegenzuwirken. In einer schnelllebigen Welt kann
die Kurzsichtigkeit des Insiders verheerende Folgen haben.

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Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen

Große Unternehmensveränderungen werden oft mit einer alles überstrah-


lenden Person in Verbindung gebracht. Erinnert man sich an Chryslers
Comeback nach dem nahen Bankrott in den frühen 80er Jahren, so denkt
man an Lee Iacocca. Spricht man bei Wal-Marts Aufstieg vom kleinen Fisch
zum Branchenführer, denkt man sofort an Sam Walton. Liest man von IBMs
Leistung sich zu erneuern, konzentriert sich die Geschichte schnell auf Lou
Gerstner. Man könnte daraus schnell schließen, dass die Art des Leadership,
die so kritisch für jeden Wandel ist, nur von einer überlebensgroßen Person
ausgehen kann.
Das ist ein sehr gefährlicher Glaube. Denn fundamentaler Wandel ist so
schwierig zu bewältigen, dass es schon eines schlagkräftigen Teams bedarf.
Kein Individuum, auch kein Vorstandsvorsitzender, wird jemals in der Lage
sein, allein die passende Vision zu entwickeln, diese einer Vielzahl von Mit-
arbeitern zu kommunizieren, alle großen Hindernisse zu beseitigen, kurz-
fristige Erfolge zu generieren, Dutzende von Veränderungsprojekten zu füh-
ren und zu managen und die neuen Ansätze tief in der Organisationskultur
zu verankern. Noch schlechter als der Versuch, das Ganze auf eine Person
zu kaprizieren, sind im Übrigen schwache Komitees. Was man immer
braucht, ist eine schlagkräftige Führungskoalition – eine mit der richtigen
Zusammensetzung, mit dem notwendigen Maß an Vertrauen und gemein-
samen Zielen. Ein solches Team aufzubauen, ist immer essenzieller Bestand-
teil der frühen Phasen jedes Restrukturierungs-, Reengineerings- oder Stra-
tegieüberarbeitungsprozesses.

Allein marschieren: Der isolierte CEO

Ein Nahrungsmittelkonzern hatte zwischen 1975 und 1990 außergewöhn-


liche Geschäftszahlen vorzuweisen. Dann veränderte sich die Branche,
und das Unternehmen geriet in schwere Turbulenzen.
Der CEO war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Er war zu 20% Leader,
zu 40% Manager und zu 40% ein Finanzgenie. Er hatte sein Unternehmen
erfolgreich mit gewitzten Akquisitionen entwickelt und das Schiff fest in
der Hand. Als sich die Branche Ende der 1980er Jahre veränderte, versuchte
er auch, das Unternehmen dem neuen Kontext anzupassen – natürlich der-
art, wie er es auch 15 Jahre vorher gemacht hatte, wie ein Monarch und mit
Beratern.

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46 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
„König“ Henry hatte ein Führungs-Komitee, aber es war eine Informa-
tionssammel- und -verteilstelle, kein Entscheidungsorgan. Die tatsächli-
che Arbeit wurde außerhalb des Gremiums gemacht. Henry würde über
eine Angelegenheit alleine in seinem Büro nachdenken. Dann würde er
eine Idee mit Charlotte besprechen und sich ihre Kommentare anhören.
Er würde mit Frank zu Mittag essen und ihm ein paar Fragen stellen. Er
würde mit Ari eine Runde Golf spielen und sich seine Reaktion zu einer
bestimmten Idee anhören. Schließlich würde der CEO alleine eine Ent-
scheidung treffen. Je nach Art der Entscheidung würde er seine Entschei-
dung dann in der Vorstandssitzung verkünden oder, wenn die Entschei-
dung besonders sensibel war, seine Mitarbeitern darüber einzeln in
seinem Büro unterrichten. Diese würden die Information dann wiede-
rum – soweit notwendig – an andere weiterleiten.

Dieser Prozess funktionierte zwischen 1975 und 1990 aus vier Gründen be-
merkenswert gut: (1) Die Veränderungsgeschwindigkeit der Märkte war
nicht hoch. (2) Er kannte seine Branche exzellent. (3) Sein Unternehmen
hatte eine starke Position im Markt, sodass eine späte oder falsche oder
auch eine nicht getroffene Entscheidung kein großes Risiko in sich barg.
(4) Henry war ein richtig smarter Bursche.

Und dann veränderte sich die Branche.

Über vier Jahre, bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1994, versuchte Henry,
einen Transformationsprozess anzuführen, der sich nicht von seinem Vorge-
hen in stabilen Zeiten unterschied. Aber dieses Mal funktionierte der An-
satz nicht, weil die Anzahl und die Natur der Entscheidungen, die getroffen
werden mussten, sich deutlich vom bisherigen Vorgehen unterschieden.

Vor 1990 waren die Sachverhalte überschaubar, weniger komplex, weniger


emotional und weniger zahlreich. Ein smarter Manager, der das Eins-zu-
Eins-Format der Kommunikation bevorzugte, konnte gute Entscheidungen
treffen und auch dafür sorgen, dass sie implementiert wurden. Nachdem
sich die Branche aber in Bewegung gesetzt hatte und der Bedarf an Wandel
im Unternehmen zunahm, wurden die Sachverhalte plötzlich größer und
mussten schneller entschieden werden. Eine Person, auch eine außerge-
wöhnlich fähige Persönlichkeit, konnte diesen Entscheidungsstrom nicht
mehr allein bewältigen. Zudem dauerten sie zu lange und wurden zu lang-
sam kommuniziert. Entscheidungen wurden ohne volles Verständnis für
die Sachverhalte getroffen. Die Mitarbeiter wurden gebeten, Opfer zu brin-
gen, ohne klar zu wissen warum.

Nach zwei Jahren wurde offensichtlich, dass Henrys Ansatz nicht funktio-
nierte. Anstatt den Wandel zu führen, wurde er mehr und mehr isoliert,
machte dafür aber umso mehr Druck. Nach einer fragwürdigen Akquisi-
tion mit bitterem Nachgeschmack setzte er sich widerwillig zur Ruhe
(nach mehr als nur einem sanften Anstoß aus dem Aufsichtsrat).

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Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen
Leerlauf: Das wenig glaubwürdige Gremium
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Dieses zweite Szenario habe ich wahrscheinlich zwei Dutzend Male gese-
hen. Der größte Champion des Wandels ist der HR-Manager, der Qualitäts-
manager oder der Chef der strategischen Planung. Einen davon setzt der
Chef als Vorsitzenden einer Task Force ein, die sich aus Mitarbeitern ver-
schiedener Abteilungen und einem oder zwei Beratern von außen rekru-
tiert. In dieser Gruppe mag eine der zukünftigen Führungspersönlichkeiten
des Unternehmens sein, aber es ist niemand von den drei oder vier wich-
tigsten Vorständen dabei, die in der Hierarchie des Unternehmens ganz
oben stehen. Und von den 15 wichtigsten Vertretern des Unternehmens
sind wiederum maximal zwei bis vier vertreten.
Da die Task Force einen begeisterungsfähigen Leiter hat, macht die Arbeit
für eine bestimmte Zeit große Fortschritte. Aber all die einflussreichen Men-
schen innerhalb und außerhalb dieser Gruppe merken sehr schnell, dass die
Wahrscheinlichkeit eines nachhaltigen Erfolges nur sehr gering erscheint, li-
mitieren infolge ihre Mitarbeit sowie ihr Engagement und sehen sich zuneh-
mend weniger in der Verpflichtung für die Aufgabe. Weil jeder in der Task
Force voll beschäftigt ist und einige davon überzeugt sind, dass sie ihre Ar-
beitskraft anderweitig besser einsetzen können, werden die Terminverein-
barungen für die Sitzungen schwieriger. Die gemeinsame Diagnose des Sta-
tus quo des Unternehmens wird unmöglich, infolgedessen baut das Team
untereinander auch kein Vertrauen zueinander auf. Nichtsdestotrotz wei-
gert sich der Vorsitzende der Task Force aufzugeben und kämpft darum,
sichtbare Fortschritte zu erzielen, auch weil er sich dem Unternehmen oder
dessen Mitarbeitern sehr stark verpflichtet fühlt.
Nach drei, vier Teilprojekten wird die Arbeit der Task Force beendet – vor
allem durch den Vorsitzenden, einen Berater und einen „Indianer“. Der
Rest der Gruppe winkt die Entscheidungen der Gruppe durch, trägt aber
darüber hinaus wenig dazu bei und fühlt sich auch dem Prozess gegenüber
immer weniger verpflichtet. Früher oder später wird das Problem offen-
sichtlich: wenn die Gruppe keinen Konsens mehr über ausgearbeitete Emp-
fehlungen erzielt, wenn die Empfehlungen der Gruppe auf taube Ohren
beim Management stoßen oder wenn die Gruppe versucht, Ideen zu imple-
mentieren und gegen eine Wand passiven Widerstands rennt. Mit viel har-
ter Arbeit erreicht das Unternehmen einige Fortschritte, aber die Beiträge
zum Wandel kommen nur langsam und schrittweise.
Eine Nachbetrachtung des gescheiterten Vorgehens verdeutlicht, dass die
Task Force nie eine Chance hatte, ein funktionierendes Team von durchset-
zungsstarken Leuten zu werden, die ein gemeinsames Verständnis des
Problems, der Chancen und der Verpflichtung zum Wandel hatte. Mit dem
neutralen Blick von außen kann man feststellen, dass die Gruppe nie die
Glaubwürdigkeit besaß, die notwendig gewesen wäre, um für starkes

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48 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Leadership zu sorgen. Ohne diese Glaubwürdigkeit hat man das Äquiva-
lent eines 18-rädrigen Lastwagens, der von einem Rasenmähermotor ange-
trieben wird.
Und während zwischenzeitlich die Veränderungsbemühen scheitern,
weicht die Wettbewerbsposition des Unternehmens auf und der Wettbe-
werber, der den Markt anführt, setzt sich weiter vom Unternehmen ab.

Mit dem Wandel Schritt halten: Das Team

Die zentrale Erkenntnis der beiden vorgenannten Szenarien ist, dass es kei-
nem der beiden Unternehmen gelingt, dem Tempo des Marktes und des
technologischen Wandels zu folgen. In einem weniger wettbewerbsintensi-
ven und sich langsamer bewegenden Markt können schwache Komitees
dazu beitragen, dass sich die Organisation in einem noch akzeptablen Grad
dem Markt anpasst. Ein Komitee gibt Empfehlungen. Die Manager aus der
Linie lehnen diese Empfehlungen ab. Das Komitee gibt zusätzliche Empfeh-
lungen ab. Die Linie bewegt sich ein paar Zentimeter. Das Komitee versucht
es wieder. Soweit der Wettbewerb und der technologische Wandel begrenzt
sind, funktioniert dieser Ansatz. Aber in einer schnelllebigeren Welt schei-
tert das schwache Komitee immer.
In einer sich langsam bewegenden Welt kann ein Chef, der wie ein einsa-
mer Cowboy agiert, Veränderungen herbeiführen, indem er mit Charlotte,
dann Frank, dann Ari spricht und reflektiert, was sie sagen. Nachdem er
eine Entscheidung getroffen hat, kann er sie an Charlotte, Frank und Ari
kommunizieren. Solange der Chef dazu in der Lage ist und auch genügend
Zeit hat, wird der Prozess gut funktionieren. In einer sich schneller drehen-
den Welt bricht dieser schwerfällige sequenzielle Prozess zusammen. Er ist
einfach zu langsam, wird zu wenig mit Echtzeitinformationen untermauert
und macht die Implementierung schwerer.
Das heutige Geschäftsumfeld verlangt nach neuen Prozessen der Entschei-
dungsfindung (siehe Abbildung 8). Heute besitzen Individuen und schwa-
che Komitees kaum alle Informationen, die notwendig sind, um gute Routi-
neentscheidungen zu treffen, noch besitzen sie die Glaubwürdigkeit oder die
Zeit, die notwendig ist, um andere davon zu überzeugen, Opfer zu erbrin-
gen, die notwendig sind, um einen Wandlungsprozess zu implementieren.
Nur Teams in der richtigen Zusammensetzung und mit genügend Vertrauen
unter den Teammitgliedern können unter diesen Bedingungen hocheffektiv
arbeiten. Diese Binsenweisheit gilt für eine Führungskoalition in der Fabrik
oder bei Neuproduktentwicklungsprozessen ebenso wie an der Spitze eines
Unternehmens während einer umfassenden Transformation. Eine Führungs-
koalition, die als ein effektives Team agiert, kann mehr und schneller Infor-
mationen verarbeiten. Sie kann auch die Implementierung von neuen Ansät-

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Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen ¢ 49

Abbildung 8: Entscheiden im heutigen Geschäftsumfeld

zen beschleunigen, weil schlagkräftige Leute wirklich informiert sind und


sich Schlüsselentscheidungen verpflichtet fühlen.

Warum nutzen dann Manager nicht oft genug Teams, um Wandel herbeizu-
führen? Aus einem bestimmten Maß deshalb, weil ein gewisser Interessens-
konflikt vorherrscht. Teams werden nicht gefördert, Individuen schon, und
Individuen brauchen eindeutige Erfolgsgeschichten, um ihre Karriere vo-
ranzutreiben. Das Argument „ich war in einem Team ...“ verkauft sich in
vielen Unternehmen heute noch nicht so gut.

Doch in einem noch größeren Ausmaß ist das Problem üblicherweise mit
der Geschichte eines Unternehmens verbunden. Die meisten der etablierten
oberen Führungskräfte sind in einem Managementumfeld aufgewachsen,
in dem Teamwork noch keine so große Rolle gespielt hatte. Sie haben viel-
leicht den Begriff „Team“ benutzt und Metaphern aus dem Sport verwen-
det, lebten und agierten aber in der Hierarchie – typischerweise ein Chef
und seine acht ihm direkt berichterstattenden Mitarbeiter. Sie haben eine
ganze Reihe von kaum funktionierenden Komitees erlebt, in denen alles
langsamer statt schneller ging, und sie haben sich damit im alten Format
der Hierarchie besser aufgehoben gefühlt, auch wenn es über die Jahre hin-
weg immer schlechter funktionierte.

Das Ergebnis: In einer Vielzahl von Reengineeringaktivitäten und beim


Überarbeiten von Strategien sparen die Leute diesen Schritt gerne aus oder
schreiben ihm wenig Bedeutung zu. Sie hetzen weiter, um eine Vision zu
entwickeln oder um die Organisation zurechtzuschneiden oder was auch
immer. Aber früher oder später erweist sich das Fehlen eines starken Teams
für das Führen des Veränderungsprozesses als fatal.

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50 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Die Führungskoalition nominieren

Der erste Schritt, eine solche Art von Team zusammenzusetzen, das in der
Lage ist, einen fundamentalen Veränderungsprozess zu führen, ist, die rich-
tigen Mitglieder zu finden. Vier wesentliche Charakteristika scheinen für
eine effektive Führungskoalition dabei von zentraler Bedeutung zu sein:
1. Hierarchische Bedeutung: Sind genügend Schlüsselspieler an Bord, spe-
ziell die Linienmanager, sodass diejenigen, die ausgespart bleiben, den
Fortschritt nicht einfach blockieren können?
2. Expertise: Sind die verschiedenen Ansichten – fachlicher Natur, Erfah-
rung, Nationalität u. Ä. –, die für die anstehende Aufgabe von Bedeu-
tung sind, angemessen vertreten, sodass fundierte und intelligente Ent-
scheidungen getroffen werden können?
3. Glaubwürdigkeit: Sind in der Gruppe genügend Leute mit guter Repu-
tation, sodass die Vorankündigungen von den Mitarbeitern ernst ge-
nommen werden?
4. Leadership: Sind in der Gruppe genügend Leader vertreten, die bewie-
sen haben, dass sie in der Lage sind, einen solchen Veränderungsprozess
zu treiben?
Der letztgenannte Punkt zum Leadership ist besonders wichtig. Man
braucht beides in der Führungskoalition – Management- und Leadershipfä-
higkeiten –, und sie müssen im Tandem arbeiten. Erstere halten den gesam-
ten Prozess unter Kontrolle, während letztere den Wandel vorantreiben.
(Die Kreuze in Abbildung 9 bilden verschiedene Kombinationen aus Lea-
dership und Management ab, die funktionieren oder nicht funktionieren
können.)

Eine Führungskoalition mit guten Managern und schlechten Leadern wird


nicht erfolgreich sein. Eine Managementdenkweise wird Pläne entwickeln,
nicht Visionen; sie wird die Notwendigkeit zum und die Richtung des Wan-
dels sehr stark „unterkommunizieren“; und sie wird mehr kontrollieren, als
Leute zu befähigen. Gerade jedoch Unternehmen, die in der Vergangenheit
sehr erfolgreich waren, enden oft mit Kulturen, die genau die Denkweise
schaffen, die sowohl Leader als auch Leadership ablehnt. Ironischerweise
schafft großer Erfolg eher ein Momentum, das nach mehr und mehr Mana-
gern verlangt, um das wachsende Unternehmen unter Kontrolle zu halten.
Er fragt nicht nach Leadership. In solchen Firmen gilt es, die „Sorgfalts-
pflicht“ zu wahren, damit der Führungskoalition dieses kritische Element
der systematischen Entwicklung nicht entgleitet.

Fehlendes Leadership lässt sich im Allgemeinen auf drei unterschiedlichen


Wegen angehen: (1) Leader werden von außerhalb ins Unternehmen ge-
bracht, (2) Mitarbeiter, die wissen, wie man den Lead übernimmt, werden
intern gefördert oder (3) Mitarbeiter, die Positionen innehaben, die Leader-

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Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen ¢ 51

Abbildung 9: Profile von vier verschiedenen Führungskoalitionen

ship erfordern, die aber kaum führen, werden ermutigt, diese Herausforde-
rung anzunehmen. Welche Methode auch immer gewählt wird, am Ende
wird immer ein Team stehen, in dem auch Leadershipfähigkeiten vertreten
sind. Man sollte nie vergessen: Eine Führungskoalition, die nur aus Mana-
gern besteht – sogar außergewöhnlichen Managern, die wunderbare Perso-
nen sind –, wird im Bemühen um fundamentalen Wandel letztendlich
scheitern.
Die Größe einer effektiven Führungskoalition scheint mit der Größe der Or-
ganisation zu korrespondieren. Die Veränderung startet meist mit zwei
oder drei Personen. Bei erfolgreichen Transformationsprozessen wächst die
Gruppe auf ein halbes Dutzend in relativ kleinen Unternehmen oder in klei-
nen Einheiten großer Unternehmen an. In größeren Unternehmen können
es auch zwischen 20 und 50 sein, die man nominieren sollte.

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52 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Bestimmte Qualitäten ausblenden – oder vorsichtig managen

Zwei Typen von Individuen sollten in jedem Falle vermieden werden,


wenn man eine Führungskoalition zusammenstellt. Erstere besitzen Egos,
die einen Raum ausfüllen und keinen Platz für irgendjemand anderen frei
lassen. Letztere nenne ich die Schlangen: Leute, die genügend Misstrauen
säen können, um jede Art von Teamarbeit zu töten.
In den oberen Hierarchieebenen vieler Unternehmen haben die handelnden
Personen üblicherweise große Egos. Aber wenn sie nicht ein realistisches
Gefühl in Bezug auf ihre Schwächen und Begrenzungen haben, wenn sie
nicht ergänzende Stärken bei anderen schätzen können und wenn sie ihre
unmittelbaren Interessen nicht einem größeren Ziel unterordnen können,
werden sie wahrscheinlich zu einer Führungskoalition genau so viel beitra-
gen wie nuklearer Müll. Wenn so eine Person der zentrale Spieler in der
Koalition ist, dann können Sie sich gleich von Teamarbeit und Transforma-
tion verabschieden.
Schlangen sind genauso desaströs, wenn auch auf andere Art und Weise.
Sie zerstören das Vertrauen, das immer eine essenzielle Zutat der Teamar-
beit ist. Eine Schlange ist ein Experte darin, Sally etwas von Fred und Fred
etwas von Sally zu erzählen, das die Beziehung zwischen Sally und Fred
unterminiert.
Schlangen und Über-Egos können extrem intelligent, motiviert und in be-
stimmter Art und Weise produktiv sein. Ist dem so, können sie bis in
höchste Managementebenen hinein gefördert und damit automatisch Kan-
didaten für eine Führungskoalition werden. Smarte Change Agents schei-
nen in der Lage zu sein, diese Kandidaten ausfindig zu machen und sie
vom Team fernzuhalten. Wenn das nicht möglich ist, werden fähige Leader
genau auf sie aufpassen und sie sehr sorgfältig managen.
Ein anderer Typ von Individuum, vor dem man sich in Acht nehmen sollte,
ist schließlich der widerwillige Spieler. In Organisationen mit einem extrem
hohen Dringlichkeitsgefühl ist es leicht, Leute für die Führungskoalition zu
gewinnen. Aber weil hohe Dringlichkeiten rar sind, sind oft größere An-
strengungen notwendig, insbesondere in Bezug auf einige Schlüsselperso-
nen, die kein Interesse haben, sich der Sache anzuschließen.
Jerry ist ein überarbeiteter Bereichs-CFO in einem großen Ölunterneh-
men. Von Natur aus konservativ, ist er mehr Manager als Leader und ist
natürlich argwöhnisch gegenüber allen Rufen nach signifikantem Wan-
del, vor allem wegen der damit üblicherweise einhergehenden Umbrü-
che und Risiken. Aber nachdem er über 35 Jahre hinweg einen außerge-
wöhnlichen Job im Unternehmen gemacht hat, ist Jerry sehr mächtig
und zu respektiert, um ignoriert zu werden. Konsequenterweise hat
sein Bereichsleiter über einen Zeitraum von zwei Monaten hinweg Stun-
den damit verbracht, ihn davon zu überzeugen, dass fundamentaler

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Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen
Wandel notwendig ist und dass Jerrys aktive Beteiligung dafür essenziell
ist. Auf halbem Wege des Umwerbens redet sich der CFO immer noch
mit Hinweisen auf Zeitmangel und fehlende Qualifikation heraus. Aber
¢ 53

die Beharrlichkeit zahlt sich aus und Jerry erklärt sich schließlich bereit,
mitzumachen.
Es kann verführerisch sein, Leute wie Jerry abzuschreiben und zu versu-
chen, um sie herumzuarbeiten. Aber wenn solche Individuen zentrale Spie-
ler mit großer Autorität oder Glaubwürdigkeit sind, funktioniert diese Tak-
tik selten gut. Und besonders oft geht ein solches Problem des Überredens
von Jerry zurück auf das Dringlichkeitsthema. Er sieht die Probleme und
die Chancen nicht klar, und das Gleiche gilt für die Leute, mit denen er
jeden Tag zusammenarbeitet. Bei hoher Selbstgefälligkeit wird man ihn nie
davon überzeugen, seine Zeit und seinen Einsatz in die Führungskoalition
einzubringen.
Wenn Leute wie Jerry die Qualitäten einer Schlange oder eines Über-Egos
besitzen, ist ein Aufhebungsvertrag oder eine Frühpensionierung oft die
einzige sinnvolle Option. Man will sie nicht in der Führungskoalition, aber
man kann sich auch nicht erlauben, sie außerhalb des Besprechungszim-
mers Probleme verursachen zu lassen. Organisationen sträuben sich oft da-
gegen, dieses Thema anzugehen, weil diese Personen entweder besondere
Fähigkeiten oder politischen Rückhalt besitzen. Aber die Alternative ist üb-
licherweise schlecht – sie in der Position zu haben, dass sie eine neue Strate-
gie oder eine kulturelle Erneuerung unterlaufen können.
Aus Angst davor, dieses Problem anzugehen, machen wir uns selbst vor,
dass Jerry gar nicht so schlecht ist oder dass wir um ihn herummanövrieren
können. So machen wir weiter, nur um uns dann zu verfluchen, dass wir
die Angelegenheit nicht angegangen sind.
In so einer Situation sollten wir uns an Folgendes erinnern: Personelle Pro-
bleme, die in guten Zeiten ignoriert werden, können in einer harten, schnell-
lebigen, globalen Wirtschaftswelt zu größten Schwierigkeiten werden.

Ein effektives Team aufbauen, das auf Vertrauen und


gemeinsamen Zielen basiert

Teamwork kann in einer Führungskoalition auf verschiedene Art und


Weise aufgebaut werden. Aber unabhängig vom eingeschlagenen Weg ist
eine Komponente zwingend nötig: Vertrauen. Ist Vertrauen vorhanden,
dann ist man üblicherweise in der Lage, Teamarbeit herbeizuführen. Ist es
nicht vorhanden, dann wird man es nicht schaffen.
Vertrauen fehlt in vielen Organisationen. Leute, die die meiste Zeit ihrer
Karriere in einer einzigen Abteilung oder Division verbracht haben, sind
oft zur Loyalität zu ihrer unmittelbaren Gruppe erzogen worden und miss-

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54 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
trauen den Motiven anderer, sogar wenn sie im gleichen Unternehmen
sind. Das Fehlen von Kommunikation und viele andere Faktoren steigern
diese nicht angebrachte Rivalität noch. Die Ingenieure beäugen die Ver-
triebsleute misstrauisch, die deutsche Niederlassung betrachtet die ameri-
kanische Muttergesellschaft mit Geringschätzung usw.
Wenn Mitarbeiter aus solchen Gruppen für eine Führungskoalition nomi-
niert werden und dann darin zusammen für die Veränderung arbeiten sol-
len, wird Teamarbeit wegen des Fehlens von Vertrauen selten einfach so zu-
stande kommen. Das daraus entstehende engstirnige „Spielchenspielen“
kann dazu führen, dass die notwendige Transformation nicht stattfindet.
Diese Einsicht über Vertrauen kann allein schon sehr hilfreich sein, um zu be-
urteilen, ob ein bestimmtes Maßnahmenset die Art von Team schaffen kann,
die benötigt wird. Wenn diese Maßnahmen das gegenseitige Verständnis,
den Respekt und die Fürsorge schaffen, die mit Vertrauen zusammenhän-
gen, ist man auf dem richtigen Weg.
Vor 40 Jahren nutzten Unternehmen, die Teams aufbauen wollten, meist in-
formelle soziale Aktivitäten. Alle Führungskräfte trafen sich mit ihren Fami-
lien. Beim Golfen, bei Weihnachtsfeiern und Abendessen entwickelten sie
Beziehungen, die auf gegenseitigem Verständnis und Vertrauen basierten.
Familienorientierte soziale Aktivitäten werden immer noch genutzt, um
Teams aufzubauen, aber es gibt heute eine Menge von ernsthaften Nachtei-
len. Erstens ist es ein langsamer Prozess. Gelegentliche Aktivitäten, die nicht
in erster Linie auf Teambildung abzielen, können sich über Jahrzehnte hin-
ziehen. Zweitens funktioniert der Ansatz am besten bei Familien, in denen
nur einer der Ehepartner arbeitet. In einer Welt, in der beide Ehepartner an
ihren Karrieren arbeiten, haben nur wenige von uns genügend Zeit für häu-
fige soziale Verpflichtungen in zwei unterschiedlichen Organisationen. Drit-
tens führt diese Art von Gruppenprozess dazu, dass sich viel Druck zu kon-
formem Verhalten aufbaut. Politische Meinungen, Lebensstile und Hobbies
werden alle in Richtung Durchschnitt gedrängt. Jemand, der unterschied-
lich ist, muss sich anschließen oder hat die Gruppe zu verlassen. Gruppen-
denken kann – im negativen Sinne des Wortes – eine Folge sein.
Teambildung muss heute schneller vonstattengehen, mehr Diversität erlau-
ben und ohne Ehepartner möglich sein. Sich dieser Realität zu stellen, führt
dazu, dass die heute am häufigsten angewandte Form der Teambildung
eine Art von gut vorbereitetem Off-Site-Meeting ist. Eine Gruppe von 8, 12
oder 24 Leuten geht für zwei bis fünf Tage irgendwo hin mit dem explizi-
tem Ziel, mehr zu einem Team zu werden als vorher. Sie sprechen, analysie-
ren, besteigen Berge und spielen Spiele, alles zum Zweck eines verbesserten
gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens.
Die ersten Versuche dieser Art, ungefähr vor 30 Jahren, waren so sehr in der
Art einer Quick-and-Dirty-Gruppentherapie, dass sie oft nicht funktionier-
ten. In jüngerer Zeit hat sich der Schwerpunkt in zwei Richtungen verla-

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Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen
gert: Zunahme intellektueller Aufgaben, die auf den Verstand abzielen, und
mehr Aktivitäten, die Bindungen schaffen sollen und auf die emotionale
Ebene abzielen. Die Teilnehmer schauen sich lange und intensiv Daten der
¢ 55

Branche an und gehen dann zusammen segeln.

Eine typische Off-Site-Veranstaltung bringt 10 bis 50 Leute für drei bis sechs
Tage zusammen. Interne Stabsleute oder externe Berater helfen dabei, sol-
che Treffen durchzuplanen. Ein Großteil der Zeit wird darauf verwendet,
ehrliche Diskussionen darüber zu führen, was die Individuen über die Or-
ganisation denken und fühlen und wie es sich mit Problemen und Chancen
verhält. Zwischen den Leuten werden Kommunikationskanäle geöffnet
oder gestärkt. Gegenseitiges Verständnis wird erweitert. Intellektuelle und
soziale Aktivitäten werden entwickelt, um zu wachsendem Vertrauen zu
ermutigen.

Solche Teambildungsaktivitäten schaffen es viel zu oft nicht, Resultate zu


erzielen. Die Erwartungen werden oftmals zu hoch angesetzt, obwohl es
sich nur um ein Drei-Tages-Event handelt. Oder das Treffen wird nicht mit
ausreichend Gründlichkeit oder Sachverstand vorbereitet. Aber der Trend
ist klar. Wir werden besser bei dieser Art von Aktivität.

Zum Beispiel: Divisionsleiter Sam Johnson versucht, eine Gruppe von


zehn Leuten zu einer effektiven Führungskoalition für sein Haushalts-
elektronik-Geschäft zusammenzuschmieden. Dazu gehören die sieben
direkt an ihn Berichtenden sowie der Leiter derjenigen Abteilung in der
Division, die wahrscheinlich im Zentrum der Veränderungsbemühungen
stehen wird. Dazu kommen noch der stellvertretende Leiter des Stamm-
hauses und er selbst. Unter großen Schwierigkeiten setzt er ein einwö-
chiges Treffen zwischen den zehn beteiligten Personen an. Sie starten
mit einem zweitägigen „Auslaufen“, bei dem die Gruppe 48 Stunden
lang im Freien lebt und dabei anstrengende körperliche Aktivitäten wie
Segeln oder Bergsteigen auf dem Programm hat. Während dieser zwei
Tage lernen sie sich besser kennen und werden daran erinnert, warum
Teamarbeit so wichtig ist. An den Tagen drei bis fünf ist das Team in
einem Hotel untergebracht. Sie bekommen eine große Menge an Wett-
bewerber- und Kundendaten und werden gebeten, eine Reihe von Dis-
kussionspapieren innerhalb eines engen Zeitrahmens zu produzieren.
Sie arbeiten von 7:30 Uhr bis 19:00 Uhr, meistens in wechselnden, aber
nicht zufällig gewählten Untergruppen. Von 19:00 bis 21:30 Uhr ist im-
mer das gemeinsame Abendessen angesetzt, und die Gespräche drehen
sich um ihre Karrieren, ihre Sehnsüchte und andere, eher persönliche
Themen. In diesem Prozess lernt man sich besser kennen und beginnt,
gemeinsame Perspektiven in Bezug auf die Branche zu entwickeln. Das
verbesserte Verständnis, das Beziehungsgefüge, das auf der tatsächli-
chen Erfüllung von Aufgaben aufbaut, und die gemeinsame Perspektive
fördern das gegenseitige Vertrauen.

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56 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Sam erkennt, dass diese erfolgreiche einwöchige Aktivität erst der Be-
ginn eines Prozesses ist und veranstaltet einige Monate später ein weite-
res, dreitägiges Event für die Gruppe. Zwei Jahre danach, als das Team
durch Neubesetzungen und Beförderungen sein Gesicht verändert hat,
setzt er noch ein sorgfältig geplantes Event an, bei dem sich das Team
gemeinsam zurückzieht. Genauso wichtig wie all die sehr gut sichtbaren
Maßnahmen ist es, dass er Dutzende von Maßnahmen zur weiteren Un-
terstützung des für die Teamarbeit notwendigen Vertrauens ergreift.
Gerüchte, die den guten Willen der Teamarbeit unterminieren können,
werden blitzschnell und mit präziser Information angegangen. Leute,
die sich weniger gut kennen, werden zu weiteren Task Forces zusam-
mengeschlossen. Alle zehn werden so oft wie möglich in soziale Aktivitä-
ten eingebunden.

Frage: War das leicht zu tun?

Antwort: Kaum.

In diesem Fall waren zwei der zehn sehr unabhängige Individuen, die nicht
verstehen konnten, warum sie alle zusammen Berge besteigen sollten. Einer
war so beschäftigt, dass die Zeitplanung für die Gruppenaktivitäten teil-
weise nahezu unmöglich erschien. Einer hatte ein grenzwertiges Über-Ego-
Problem. Wegen vergangener Events kamen zwei nicht gut miteinander
aus. Dennoch schaffte es Sam, das alles zu überwinden und eine effektive
Führungskoalition zu entwickeln.
Ich denke, er war erfolgreich, weil er das Beste für die Division wollte, weil
er überzeugt war, dass fundamentaler Wandel nötig war, um das Geschäfts-
gebiet zum Sieger werden zu lassen, und weil er felsenfest davon überzeugt
war, dass dieser Wandel ohne eine effektive Führungskoalition nicht eintre-
ten würde. Sam war bewusst, dass er keine andere Wahl hatte. Er musste
Vertrauen und Teamarbeit aufbauen, und er tat es.
Wenn Leute es nicht schaffen, eine Führungskoalition zu entwickeln, liegt
die Ursache meistens darin, dass sie in ihrem tiefsten Inneren nicht an die
Notwendigkeit eines Transformationsprozesses glauben oder dass sie nicht
davon überzeugt sind, dass ein starkes Team diesen Wandel führen sollte.
Fehlende Fähigkeiten der Teambildung an sich sind selten das Problem.
Wenn Führungskräfte wirklich glauben, dass sie eine teamorientierte Füh-
rungskoalition aufbauen müssen, scheinen sie immer kompetente Berater
zu finden, die die notwendigen Fähigkeiten besitzen. Aber ohne diesen Glau-
ben werden sie die notwendigen Maßnahmen nicht ergreifen, auch wenn sie
die Fähigkeiten oder gute Berater haben.
Über das Vertrauen hinaus ist das Vorhandensein gemeinsamer Ziele der
zweite elementare Bereich. Nur wenn alle Teammitglieder einer Führungs-
koalition in ihrem tiefsten Inneren die gleichen Ziele verfolgen, wird wirk-
liche Teamarbeit machbar.

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Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen
Das typische Ziel, das Individuen zu Führungskoalitionen zusammenbin-
det, ist die Selbstverpflichtung zu Exzellenz, der wirkliche Wunsch, ihre Or-
ganisationen zum höchstmöglichen Leistungslevel zu führen. Reenginee-
¢ 57

ring, Akquisitionen und kulturelle Wandelanstrengungen verfehlen oft ihr


Ziel, weil dieser Wunsch nicht besteht. Stattdessen findet man Leute, die
sich ihren eigenen Abteilungen, Divisionen, Freunden oder Karrieren ver-
pflichtet fühlen.

Vertrauen hilft enorm beim Schaffen gemeinsamer Zielsetzungen. Einer der


Gründe, warum sich Mitarbeiter nicht zur übergeordneten Exzellenz ver-
pflichten, liegt darin, dass sie anderen Abteilungen, Divisionen oder sogar
Kollegen nicht wirklich vertrauen. Sie fürchten, manchmal aus sehr rationa-
len Gründen, dass andere Abteilungen nicht ihren angemessenen Anteil
leisten und ihre persönlichen Kosten durch die Decke gehen, wenn sie be-
sessen ihre Initiativen auf verbesserte Kundenzufriedenheit oder Kostenre-
duzierung konzentrieren. Wenn das Vertrauen steigt, wird es viel leichter,
gemeinsame Ziele zu entwickeln. Leadership hilft auch. Leader wissen,
wie man Leute dazu ermutigt, kurzfristige, engstirnige Interessen zu über-
winden.

Den Wandel zum Leben erwecken

Die Kombination von Vertrauen und einem gemeinsamen Ziel von Leuten
mit den richtigen Eigenschaften kann ein schlagkräftiges Team schaffen
(siehe Abbildung 10). Die daraus hervorgehende Führungskoalition wird
die Fähigkeit haben, Wandel trotz des Beharrungsvermögens vorhandener
Kräfte herbeizuführen. Sie wird das Potenzial haben, die harte Arbeit zu
leisten, die die nötige Vision entwickelt, diese Vision weitreichend kommu-
niziert, Mitarbeiter in der Breite befähigt, Initiative zu ergreifen, Glaubwür-
digkeit sicherstellt, kurzfristige Umsetzungserfolge erzielt, Dutzende von

Abbildung 10: Aufbau einer Führungskoalition, die den Wandel zum Leben
erwecken kann

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58 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
verschiedenen Veränderungsprojekten führt und managt und die neuen
Ansätze in der Kultur verankert.
Um es zusammenfassend zu sagen: In einer sich langsamer entwickelnden,
oligopolistischen, weniger globalisierten wirtschaftlichen Umgebung ist
diese ganze Anstrengung üblicherweise nicht notwendig. Aber die Trends
sind eindeutig. Heute, und noch mehr in der näheren Zukunft, werden wir
viele weitere Versuche erleben, Organisationen fundamental zu verändern.
Ohne eine schlagkräftige Führungskoalition wird jedoch der Wandel abrei-
ßen und im Gemetzel enden.

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Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln

Stellen Sie sich Folgendes vor: Drei Gruppen von je zehn Personen sitzen
zur Mittagszeit in einem Park, und es droht heftiger Regen. In der ersten
Gruppe sagt jemand: „Steht auf und folgt mir.“ Als er losmarschiert und nur
wenige nachkommen, schreit er die noch Sitzenden an: „Aufstehen, habe ich
gesagt, und zwar JETZT!“ In der zweiten Gruppe sagt jemand: „Wir werden
wohl woanders hingehen müssen. Hier ist der Plan: Jeder von uns steht auf und
geht nach dort drüben in Richtung Apfelbaum. Bitte haltet mindestens einen hal-
ben Meter Abstand von den anderen und rennt nicht. Lasst keine persönlichen Ge-
genstände hier liegen und bleibt am Fuße des Baumes stehen. Wenn wir alle dort
sind ...“ In der dritten Gruppe wendet sich jemand an die anderen: „In ein
paar Minuten wird es regnen. Warum gehen wir nicht zu dem riesigen Apfelbaum
hinüber und setzen uns dort. So bleiben wir trocken und können auch noch frische
Äpfel zu Mittag essen.“

Ich bin manchmal erstaunt darüber, wie viele Menschen Unternehmen mit
Methoden wie in den beiden erstgenannten Gruppen transformieren wollen:
mit autoritärer Führung und Mikromanagement. Beide Ansätze wurden im
letzten Jahrhundert in großer Breite in vielen Unternehmen angewendet,
hauptsächlich jedoch, um bestehende Systeme zu erhalten und nicht, um
diese Systeme zu verbessern. Autoritäre Weisung funktioniert häufig auch
in so einfachen Situationen wie im Fall mit dem Apfelbaum schlecht, um
Verhaltensänderungen durchzusetzen – es sei denn, der Chef übt eine sehr
starke Macht aus. In komplexen Organisationen funktioniert dieser Ansatz
zunehmend überhaupt nicht mehr. Ohne die Allmacht von Königen und Kö-
niginnen als Fundament kann autoritäre Führung kaum alle Widerstände
brechen. Die Menschen werden Sie einfach ignorieren oder Kooperation vor-
täuschen, während sie gleichzeitig alles nur Mögliche tun, um Ihre Anstren-
gungen zu torpedieren. Mikromanagement versucht, dieses Problem zu um-
gehen, indem es im Detail definiert, was jeder Mitarbeiter tun soll, und dann
die Einhaltung kontrolliert. Diese Taktik kann zwar einige Veränderungsbar-
rieren durchbrechen, ist vom Zeitaufwand her jedoch nicht akzeptabel. Das
Aufstellen und Kommunizieren detaillierter Pläne dauert unendlich lange –
der so erzeugte Wandel ist dadurch meist nur sehr inkrementell. Nur der in
der dritten Gruppe oben verwendete Ansatz besitzt das Potenzial, alle läh-
menden Kräfte zu überwinden, die den Status quo konservieren wollen,
und damit jene Art von dramatischen Veränderungen zu unterstützen, die
man in erfolgreichen Wandelprozessen beobachten kann (vgl. Abbildung 11).
Dieser Ansatz basiert auf einer Vision – einem zentralen Bestandteil jeder
exzellenten Führung.

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60 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess

Abbildung 11: Mit Visionen Widerstände durchbrechen

Warum eine Vision essenziell ist

Eine Vision entwirft ein Bild von der Zukunft und vermittelt auf implizite
oder explizite Art und Weise, warum es für die Menschen erstrebenswert
ist, diese Zukunft zu erschaffen. Eine gute Vision dient im Wandelprozess
drei wichtigen Zwecken. Zunächst vereinfacht sie Hunderte oder Tausende
einzelner Entscheidungen, indem sie die allgemeine Richtung des Wandels
klarstellt und unternehmensspezifisch so etwas formuliert wie „In ein paar
Jahren müssen wir uns südlich von dem Punkt befinden, an dem wir heute
stehen.“. Zweitens motiviert sie Menschen dazu, Schritte in die richtige
Richtung zu tun, auch wenn die ersten Schritte für den einzelnen schmerz-
haft sind. Drittens hilft sie dabei, das Handeln unterschiedlicher – auch
Abertausender – Menschen auf eine außergewöhnlich schnelle und effizi-
ente Art und Weise zu koordinieren.
Es ist wichtig, die Richtung des Wandels klar zu definieren, weil Mitarbeiter
sich über die Richtung erstaunlich oft uneinig sind, verwirrt sind oder sich
fragen, ob tief greifender Wandel überhaupt notwendig ist. Eine effektive
Vision und unterstützende Strategien tragen zur Lösung dieser Probleme
bei. Sie drücken Folgendes aus: So verändert sich unsere Welt, und dies
sind überzeugende Gründe dafür, dass wir diese Ziele setzen und jene
neuen Produkte (oder Akquisitionen oder Qualitätsprogramme) anstreben
sollten, um die Ziele zu erreichen. Wenn die Richtung klar ist, kann auch
die Unfähigkeit verschwinden, die erforderlichen Entscheidungen zu fällen.
Endlose Debatten darüber, ob man ein Unternehmen kaufen oder das Geld
lieber nutzen soll, um zusätzliche Vertriebsleute einzustellen, oder darüber,
ob die internationale Expansion schnell genug läuft, erledigen sich dann
häufig von selbst. Eine einfache Frage – „Steht das im Einklang mit der Vi-
sion?“ – kann dabei helfen, Stunden, Tage oder sogar Monate quälender Dis-
kussionen überflüssig zu machen.
Auf ähnliche Weise kann eine Vision dazu beitragen, kosten- und zeitinten-
siven Ballast über Bord zu werfen. Wenn die Richtung klar definiert ist,
können unpassende Projekte leichter identifiziert und gestoppt werden,

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Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln
selbst wenn sie politisch unterstützt werden. Die dadurch freigespülten
Ressourcen können dann im Transformationsprozess nutzenstiftend einge-
setzt werden.
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Eine zweite wichtige Funktion einer Vision besteht darin, dass sie größere
Veränderungen erleichtert, indem sie zu Handlungen motiviert, die nicht
unbedingt im kurzfristigen Eigeninteresse der Mitarbeiter liegen. Die Verän-
derungen, die in einer vernünftigen Vision gefordert werden, sind fast im-
mer mit Schmerzen verbunden. Manchmal ist der Preis einer besseren Zu-
kunft aber auch niedrig: In dem Apfelbaum-Beispiel mussten die Leute
lediglich für die eine Minute ihre Bequemlichkeit opfern, in der sie zum
Baum hinübergingen. In vielen Organisationen werden die Mitarbeiter je-
doch immer stärker dazu gezwungen, ihre Komfortzonen zu verlassen; sie
müssen mit weniger Ressourcen auskommen, sollen neue Fähigkeiten und
neues Verhalten erlernen und sehen sich durch einen möglichen Jobverlust
bedroht. Unter diesen Umständen sollte niemand überrascht darüber sein,
dass ein rational denkender Mensch all das möglicherweise mit wenig Be-
geisterung verfolgt. Eine gute Vision hilft dabei, diesen natürlichen Wider-
willen zu überwinden und das zu tun, was (oft schmerzlich) notwendig ist,
indem sie Hoffnung vermittelt und motivierend wirkt. Eine gute Vision
macht deutlich, dass Opfer erbracht werden müssen, stellt aber auch klar,
dass diese Opfer andererseits zu einem besonderen Nutzen und zu persön-
licher Zufriedenheit führen werden, die weit über das hinausgehen, was
heute – oder morgen – ohne den Versuch des Wandels überhaupt erreichbar
wäre.
Sogar in Situationen, die beträchtliche Verschlankungsmaßnahmen erfor-
dern und in denen einen natürliche Abneigung gegenüber einer bedrü-
ckend und demoralisierend wirkenden Zukunft besteht, kann die richtige
Vision den Mitarbeitern einen einleuchtenden Grund zum Kämpfen auf-
zeigen. Sprich: Unser derzeitiger Kurs führt in den Bankrott, aber wenn wir
den anderen Weg gehen, können wir einige Arbeitsplätze retten oder Pro-
bleme von unseren vielen Kunden und Lieferanten abwenden oder den Tau-
senden von Familien aus der Mittelschicht helfen, die über ihre Pensions-
fonds oder andere Ersparnisse in das Unternehmen investiert haben.
Drittens hilft eine Vision dabei, Menschen auf eine Richtung auszurichten
und so die Handlungen motivierter Personen auf bemerkenswert effiziente
Weise zu koordinieren. Die Alternativen – etwa Zigtausend detaillierte An-
weisungen oder endlose Besprechungen – sind weitaus langsamer und teu-
rer. Mit einer klaren Vision können Führungskräfte und Mitarbeiter selbst
herausfinden, was zu tun ist, ohne sich andauernd mit Vorgesetzten oder
Kollegen abstimmen zu müssen.
Diese dritte Eigenschaft von Visionen ist oft von enormer Bedeutung. Die
Koordinationskosten in einem Wandelprozess, vor allem wenn viele Leute
daran beteiligt sind, können gigantisch sein. Ohne ein gemeinsames Ver-

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62 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess

Abbildung 12: Die Wechselbeziehungen von Vision, Strategien,


Plänen und Budgets

ständnis über die Richtung vergeuden voneinander abhängige Mitarbeiter


ihre Zeit oftmals in Dauerkonflikten und Dauermeetings. Mit einer gemein-
samen Vision können sie mit einer gewissen Autonomie arbeiten, ohne sich
gegenseitig auf die Füße zu treten.

Das Wesen einer effektiven Vision

Der Ausdruck Vision klingt nach etwas Großem oder Mystischem, wohin-
gegen die Richtung erfolgreicher Wandelprozesse oft einfach und nüchtern
ist, wie in: „Es wird gleich schütten, lasst uns unter dem Apfelbaum Unterschlupf
suchen und ein paar Äpfel zu Mittag essen.“

Eine Vision kann nüchtern und einfach sein, zumindest teilweise, weil sie in
erfolgreichen Transformationen nur ein Element in einem größeren System
ist, das zusätzlich Strategien, Pläne und Budgets umfasst (vgl. Abbildung 12).
Aber auch wenn sie nur ein Faktor in einem großen System ist, so ist sie doch
ein besonders wichtiger Faktor. Ohne Vision kann die Strategieentwicklung
eine weitaus strittigere Angelegenheit sein, und die Budgetierung kann zu
einer sinnfreien Übung verkommen, bei der einfach die Zahlen des Vorjahres
um 5% herauf- oder heruntergesetzt werden. Hinzu kommt, dass eine cle-
vere Strategie oder ein logischer Plan alleine ohne eine vernünftige Vision sel-
ten für solche Handlungen begeistern können, wie sie für einen tief greifen-
den Wandel erforderlich sind.

Ob sie nun nüchtern klingen oder nicht, effektive Visionen scheinen mindes-
tens sechs zentrale Charakteristika aufzuweisen (wie in Abbildung 13 zu-
sammengefasst). Erstens beschreiben sie ein bestimmtes Geschäft oder eine
Organisation, wie es oder sie in der – oftmals weit entfernten – Zukunft sein

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Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln ¢ 63

Abbildung 13: Charakteristika einer effektiven Vision

wird. Zweitens artikulieren sie verschiedene Chancen, die die Interessen der
meisten Stakeholder berühren: Kunden, Anteilseigner, Mitarbeiter. Bei
schlechten Visionen werden dagegen die berechtigten Ansprüche einiger
Stakeholder ignoriert. Drittens sind effektive Visionen realistisch. Sie sind
keine Wunschbilder ohne eine Chance auf Realisierung. Wirkungslose Vi-
sionen sind oft wie Luftschlösser. Auch sind gute Visionen deutlich genug,
um zum Handeln zu motivieren, aber auch ausreichend flexibel, um Eigen-
initiative zuzulassen. Schlechte Visionen sind manchmal zu vage und
manchmal zu spezifisch. Und schließlich sind effektive Visionen einfach zu
kommunizieren – schwache können hingegen unergründlich bleiben.

Ein vorstellbares Bild von der Zukunft

Was würden Sie denken, wenn Sie Folgendes in einer Firmenzeitschrift


lesen: „Unsere Vision ist es, ein Unternehmen zu werden, das möglichst niedrige
Löhne und Gehälter zahlt, die höchsten Preise verlangt, die der Markt verkraften
kann, und das die erwirtschaftete Ausbeute auf Aktionäre und obere Führungs-
kräfte verteilt, hauptsächlich aber auf letztere.“ So unverblümt formuliert klingt
die Botschaft geradezu unverschämt, ist aber nicht weit von der Vision für
den Wandel entfernt, die manche Unternehmen heute leitet. Obwohl der
Zyniker in uns allen uns gerne weismachen würde, dass diese Unterneh-
men das Richtige tun, ist die Wahrheit, dass sie selten Erfolg haben werden,
und wenn doch, dann nur für kurze Zeit.
Reengineering, Restrukturierung und andere Wandelprogramme funktio-
nieren langfristig niemals wirklich gut, wenn sie sich nicht an einer Vision
orientieren, die von einem Großteil der Stakeholder des Unternehmens ge-
teilt wird: Mitarbeiter, Kunden, Anteilseigner, Lieferanten, lokale Kommu-
nen. Eine gute Vision fordert mitunter Opfer von einigen oder allen diesen
Gruppen, um eine bessere Zukunft zu schaffen, lässt aber nie die berechtig-
ten, langfristigen Interessen von jemandem außer Acht. Visionen, mit de-
nen versucht wird, ausgewählten Kreisen auf Kosten der Rechte anderer
Vorteile zu verschaffen, sind meist zum Scheitern verurteilt. Auch wenn sol-
che Visionen für eine Zeitlang erfolgreich sind, vor allem unter der Ägide

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64 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
eines charismatischen Anführers, demoralisieren sie doch am Ende diejeni-
gen, die ihr folgen, und sie motivieren immer zum Gegenangriff. Im heuti-
gen Geschäftsumfeld kommen diese Gegenangriffe von großen institutio-
nellen Anlegern, die die Geschäftsführung auf verschiedene Arten unter
Druck setzen, von Kunden, die nicht mehr kaufen oder rechtliche Schritte
einleiten, und von Mitarbeitern, die den Wandel durch passiven Wider-
stand im Keim ersticken.

Unternehmensvisionen, die nicht in der Realität der Güter- und Dienstleis-


tungsmärkte verankert sind, führen mit Sicherheit in die Katastrophe. Wer
wählen kann – und in den meisten Branchen haben die Käufer heute Wahl-
möglichkeiten – toleriert als Kunde schwerlich einen Produzenten, der sich
nicht auf seine Interessen konzentriert. Dasselbe gilt für den Finanzmarkt
oder den Arbeitsmarkt. Wenn Arbeitnehmer oder Investoren Alternativen
haben, befindet sich ein Unternehmen, das ihre Interessen ignoriert, auf
einem selbstzerstörerischen Kurs.

Warum sollte eine intelligente Gruppe von Menschen eine Vision verfolgen,
die die Bedürfnisse von Kunden, Mitarbeitern oder Investoren übergeht?
Nach meinen Beobachtungen passiert das normalerweise dann, wenn das
Management Druck von einer Anspruchsgruppe verspürt und gleichzeitig
eine Quasi-Monopol-Stellung gegenüber einer anderen Gruppe hat. Zum
Beispiel: Wenn eine starke Gewerkschaft hohe Löhne und Sozialleistungen
fordert, behilft sich ein abgekämpftes Management möglicherweise damit,
alle Kosten auf seine Kunden abzuwälzen, die wenige oder keine Alternati-
ven haben. Oder umgekehrt: Wenn Kunden angesichts vermehrter Alterna-
tiven aus aller Welt bessere und billigere Produkte verlangen, geht ein ge-
plagtes Management damit um, indem es die Löhne und Zusatzleistungen
schwacher Mitarbeitergruppen kürzt. Kurzfristiger Druck und die mensch-
liche Fähigkeit, unkluge und negative Handlungen mit rationalen Zwän-
gen zu begründen, können in der Kombination dazu führen, dass vernünf-
tige Menschen unvernünftig handeln.

Die folgenden, einfachen Fragen können dazu beitragen, die Akzeptanz


einer Vision für den Wandel zu hinterfragen:
1. Wie wird sich eine Realisierung der Vision auf die Kunden auswirken?
Werden diejenigen, die heute zufrieden sind, es auch weiterhin bleiben?
Werden diejenigen, die heute nicht ganz glücklich sind, dadurch zufrie-
dener? Werden Menschen, die heute noch nicht bei uns kaufen, richtig
angesprochen? Werden wir in einigen Jahren besser als der Wettbewerb
darin sein, überragende Produkte und Dienstleistungen anzubieten,
welche die Kundenbedürfnisse wirklich bedienen?
2. Wie wird sich diese Vision auf die Anteilseigner auswirken? Werden sie
weiterhin zufrieden sein? Wenn sie heute nicht ganz glücklich sind, wer-
den sich die Dinge verbessern? Wenn wir den Wandelprozess erfolg-

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Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln
reich umsetzen, werden wir dann höhere Gewinne ausschütten können
als ohne die Transformation?
3. Wie wird sich diese Vision auf die Mitarbeiter auswirken? Wenn sie
¢ 65

heute zufrieden sind, wird die Vision sie weiterhin zufriedenstellen?


Wenn sie bereits verärgert sind, wird sie helfen, ihre Herzen und ihren
Verstand zu erobern? Wenn wir erfolgreich sind, werden wir dann bes-
sere Arbeitsbedingungen bieten können als die Unternehmen, mit de-
nen wir auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren?
In den letzten zehn Jahren ist viel über das „Ausbalancieren“ der Interessen
verschiedener Anspruchsgruppen geschrieben worden. Das ist es aber
nicht, worüber ich hier sprechen möchte. Eine Vision, die Interessen perfekt
ausbalanciert, indem sie Kunden, Mitarbeitern und Anteilseignern nur
durchschnittliche Vorteile verspricht, wird nicht die notwendige Unterstüt-
zung für einen umfassenden Wandel erzeugen. Angesichts wettbewerbsin-
tensiver Kunden-, Finanz- und Arbeitsmärkte ist mehr erforderlich. Jeder
muss exzellent bedient werden. Die relevante Frage lautet deshalb zuneh-
mend nicht mehr „Sollen wir Kosten senken oder das Produkt verbessern?“, son-
dern „Wie reduzieren wir unsere Ausgaben und steigern gleichzeitig die Qualität
unserer Produkte?“. Ebenso wenig „Sollen wir hoch qualifiziertes und gut be-
zahltes Personal aufbauen oder Low-Cost-Anbieter werden?“, sondern „Wie
schaffen wir ein exzellentes Mitarbeiterpotenzial, das uns zum Low-Cost-Anbieter
macht?“
Einwurf: Das ist aber äußerst schwierig!
Erwiderung: Und ob! Und es ist die Fähigkeit zum Umgang mit dieser He-
rausforderung, durch die sich die Gewinner zukünftig mehr und mehr von
den Verlierern unterscheiden werden.

Strategische Machbarkeit

Man sieht heute manchmal Unternehmensvisionen, die das Blaue vom


Himmel versprechen, aber keine Hinweise darauf geben, inwieweit oder
warum eine Transformation überhaupt machbar ist. Wir werden vom letz-
ten Platz im Produktivitätsranking der Branche zum Branchenführer auf-
steigen. Hervorragend, aber wie? Wir werden uns von einem mittelprächti-
gen Unternehmen zur ersten Wahl des Kunden entwickeln. Wunderbar,
aber wie?
Eine machbare Vision ist mehr als ein Hirngespinst. Eine wirkungsvolle Be-
schreibung der Zukunft geht mit einer äußerst starken Beanspruchung von
Ressourcen und Fähigkeiten einher. Eine Vision, die bloß eine dreiprozen-
tige Verbesserung pro Jahr vorsieht, wird niemals das fundamentale Um-
denken und den Wandel forcieren, die in sich schnell verändernden Umfel-
dern oft unabdingbar sind. Wenn andererseits Wandelziele unerreichbar

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66 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
wirken, sind sie nicht glaubwürdig und können genauso wenig zum Han-
deln motivieren. Wie viele Belastungen machbar erscheinen, hängt in ho-
hem Maße vom Kommunikationsprozess ab. Große Führungspersönlich-
keiten wissen, wie sie ehrgeizige Ziele so darstellen, dass sie erreichbar
wirken – im nächsten Kapitel werde ich darauf ausführlicher eingehen.

Machbarkeit heißt auch, dass eine Vision auf einem klaren und rationalen
Verständnis der Organisation, ihres Marktumfeldes und der relevanten
Wettbewerbstrends aufbaut. Hier spielt Strategie eine wichtige Rolle. Eine
Strategie liefert sowohl eine Logik als auch eine erste Detailebene dafür,
wie sich eine Vision umsetzen lässt. Da heute zum Beispiel der dominante
Trend hin zu immer schnelllebigeren und wettbewerbsintensiveren Markt-
bedingungen geht, müssen viele Firmen weniger nach innen orientiert, zent-
ralisiert, hierarchisch, langsam beim Entscheiden und politisch werden,
wenn sie im Markt Erfolg haben und überdurchschnittliche finanzielle Er-
gebnisse erbringen wollen. Eine effektive Vision und die dahinterliegenden
Strategien müssen sich mit diesen Realitäten rational befassen.

Eine ganze Industrie ist vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten erblüht,
die Unternehmen bei diesen Fragen unterstützt. Strategieberater sammeln
alle möglichen Daten, vor allem über Märkte und Wettbewerber, und unter-
stützen Firmen dabei, fundamentale Entscheidungen darüber zu treffen,
welche Produkte wie hergestellt werden sollen. Das enorme Wachstum die-
ses Beratungsspektrums ist äußerst bezeichnend für die Schwierigkeiten,
die Unternehmen dabei haben, ihre historisch gewachsene Ausrichtung
aufzugeben, neue Strategien zu entwickeln und deren Machbarkeit zu be-
urteilen.

Fokus, Flexibilität und einfache Kommunizierbarkeit

Effektive Visionen sind immer so fokussiert, dass sie Mitarbeiter leiten kön-
nen – und ihnen vermitteln, welche Maßnahmen wichtig und welche tabu
sind. Richtungsangaben, die so vage sind, dass Mitarbeiter sich damit nicht
identifizieren können, sind nutzlos. Folglich stellt „ein großartiges Unter-
nehmen sein“ keine sehr gute Vision dar, ebenso wenig wie das unwesent-
lich präzisere „das beste Unternehmen in der Telekommunikationsindust-
rie werden“. In beiden Fällen bleibt die Frage unbeantwortet: „Am besten
worin?“ Beim besten Kantinenessen? Bei den besten Parkplätzen?

Natürlich gehen einige manchmal zu weit, wenn sie sich besonders klar
ausdrücken wollen. Effektive Visionen sind offen genug, um Raum für Ei-
geninitiative und veränderte Bedingungen zu bieten. Lange und detaillierte
Verkündigungen können sich nicht nur wie Zwangsjacken anfühlen, son-
dern können in einer sich rasant verändernden Welt auch sehr schnell veral-

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Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln
tet sein. Zugleich büßen Visionen ihre Glaubwürdigkeit ein, wenn sie dau-
ernd angepasst werden müssen.
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Zwischen den beiden Extremen „unausführbar vage“ und „akribisch bis ins
letzte Detail“ existiert eine große Bandbreite. Bei der Entscheidung, wo sie
ansetzen, wählen Führungskräfte in erfolgreichen Wandelprozessen oftmals
die Kommunizierbarkeit als Schlüsselkriterium. Auch eine wünschenswerte,
fokussierte und realistische Beschreibung der Zukunft ist nutzlos, wenn sie
so komplex ist, dass sie einer großen Zahl an Menschen gar nicht mehr zu
vermitteln ist. Es geht hier keineswegs darum, eine gute Idee zu „versim-
peln“. Aber wir werden im nächsten Kapitel sehen, dass selbst die Kommuni-
kation einer einfachen Vision an eine große Zahl von Menschen enorm
schwierig sein kann. Einfachheit ist daher essenziell.

Effektive und wirkungslose Visionen: Einige Beispiele

In mancherlei Hinsicht ist es einfacher, Visionen zu beschreiben, die nicht


den erforderlichen Wandel herbeiführen, als solche, die das tun. Zum Bei-
spiel:
1. „15% Wachstum des Gewinns je Aktie“ ist keine effektive Vision. Wie ich
in etlichen Unternehmen gesehen habe, wird ein solches Finanzziel von
einigen nicht als erstrebenswert eingeschätzt, anderen erscheint es viel-
leicht nicht machbar zu sein und liefert insgesamt wenige Hinweise,
was für die Zielerreichung zu tun ist.
2. Eine effektive Vision ist keine zehn Zentimeter dicke Kladde, die ein
„Qualitätsprogramm“ beschreibt. Nach einer Lektüre von 800 Seiten
sind die meisten Leute eher niedergeschlagen als motiviert.
3. Eine effektive Vision ist auch keine hoffnungslos vage Auflistung positi-
ver Werte („Wir stehen für Integrität, sichere Produkte, eine saubere Umwelt,
gute Mitarbeiterbeziehungen etc.“). Derartige Listen zeigen niemals eine
klare Richtung auf und schrecken bis auf totale Idealisten jeden ab.
Was ist dann eine effektive Vision? Das Management einer US-Versiche-
rungsgesellschaft glaubt, dass Folgendes bei der Transformation ihres Un-
ternehmens hilfreich ist:

Es ist unser Ziel, innerhalb von zehn Jahren der weltweite Branchenfüh-
rer zu werden. „Branchenführerschaft“ bedeutet für uns mehr Umsatz,
mehr Gewinn, mehr Innovation, die die Bedürfnisse unserer Kunden
bedient, und eine höhere Attraktivität als Arbeitsgeber als jeder andere
Wettbewerber. Um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, werden wir vo-
raussichtlich jedes Jahr bei Umsatz und Gewinn zweistellig wachsen müs-
sen. Das erfordert sicherlich auch, dass wir weniger US-orientiert, mehr
nach außen fokussiert, deutlich weniger bürokratisch und mehr ein Ser-

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68 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
vice- als eine Produktunternehmen werden. Wir glauben aufrichtig, dass
wir diesen Wandel erreichen können, wenn wir zusammenarbeiten, und
dass wir im Laufe dieses Prozesses ein Unternehmen schaffen werden,
das von unseren Anteilseignern, Kunden, Mitarbeitern und in den loka-
len Kommunen bewundert wird.
Ausführungen, die so kurz sind wie diese, sind manchmal nichts weiter als
bedeutungsloses Gewäsch. Aber lesen Sie das Statement der Versicherungs-
gesellschaft oben noch einmal, und Sie werden sehen, dass es eine Menge
von Informationen enthält. Die Erklärung enthält keinerlei detaillierte An-
weisungen, liefert aber einen klaren Fokus durch (1) Ausschluss vieler alter-
nativer Optionen (z. B.: ein Konglomerat werden, ein klar US-basiertes Un-
ternehmen bleiben, aus dem Personal Kapital schlagen), (2) Herausstellen
speziell der Bereiche, die sich verändern müssen (z. B.: von der Produkt-
orientierung hin zu einer Servicekultur) und (3) Nennung eines klaren Ziels
(Nummer 1 in der Branche innerhalb von zehn Jahren). Sie gibt eine expli-
zite Aussage über die Erwünschtheit („bewundert von Anteilseignern ...“).
Und sie ist verhältnismäßig einfach zu kommunizieren (nur etwa hundert
Wörter).
Eine erweiterte Fassung dieser kurzen Ausführung füllt drei Seiten und be-
handelt mittels einer Strategiediskussion auf direktere Weise das Thema
der Machbarkeit. Doch sogar der Inhalt des dreiseitigen Dokuments kann
innerhalb von fünf Minuten vermittelt werden. Erinnern Sie sich an meine
Faustregel: Wenn Sie Ihre Vision nicht innerhalb von fünf Minuten jemandem er-
klären und sein Interesse wecken können, dann haben Sie noch Arbeit in dieser
Phase des Transformationsprozesses.
Hier ist ein weiteres Beispiel, diesmal enger auf ein einzelnes Projekt bezo-
gen:
Die Vision, die die Restrukturierungarbeiten unserer Abteilung antreibt,
ist einfach. Wir wollen unsere Kosten um mindestens 30% senken und
die Geschwindigkeit, mit der wir auf Kundenanforderungen reagieren
können, um mindestens 40% steigern. Das sind sehr ambitionierte Ziele,
aber wir wissen aus unserem Pilotprojekt in Austin, dass sie erreichbar
sind, wenn wir alle zusammenarbeiten. Wenn das in etwa drei Jahren
geschafft ist, werden wir unsere stärksten Konkurrenten überholt und
alle damit verbundenen Vorteile realisiert haben: zufriedenere Kunden,
stärkeres Umsatzwachstum, höhere Jobsicherheit und den enormen
Stolz, der aus großen Leistungen rührt.
Wie diese beiden Beispiele, scheinen die effektivsten Visionen für den Wan-
del, die ich in den letzten Jahren gesehen habe, alle die folgenden gemeinsa-
men Merkmale aufzuweisen:
1. Sie sind so ehrgeizig, dass sie die Mitarbeiter aus ihren bequemen Routi-
nen herausholen. 5% besser zu werden kann nicht das Ziel sein, sondern
auf einem bestimmten Feld der Beste zu werden.

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Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln
2. Sie zielen generell darauf ab, immer bessere Produkte und Dienstleistun-
gen zu immer niedrigeren Kosten anzubieten und sprechen daher so-
wohl Kunden als auch Anteilseigner an.
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3. Sie machen sich fundamentale Trends zunutze, vor allem im Bereich der
Globalisierung und der neuen Technologien.
4. Sie versuchen nicht, jemanden auszunutzen, und haben daher eine ge-
wisse moralische Kraft.

Eine Vision erarbeiten

In den letzten zehn Jahren habe ich ein Dutzend Unternehmen näher bei
dem Versuch beobachtet, effektive Visionen für den Wandel zu erarbeiten.
Aus dieser Erfahrung heraus kann ich folgenden Schluss ziehen: Eine gute
Vision zu entwickeln, beruht auf einem Zusammenspiel von Herz und Ver-
stand; der Prozess dauert eine gewisse Zeit, bezieht immer eine Gruppe
von Menschen mit ein und ist mühsam, wenn man es gut machen will.

Der erste Entwurf kommt oft von einer einzelnen Person. Diese stützt sich
auf ihre Erfahrungen und Werte, um Ideen zu generieren, die sinnstiftend
und persönlich motivierend sind. In erfolgreichen Wandelprozessen wer-
den diese Ideen dann ausführlich mit der Führungskoalition diskutiert.
Die Diskussion modifiziert fast immer die ursprüngliche Idee, indem etwas
weggelassen, hinzugefügt und/oder klarer formuliert wird. Ich habe einige
Menschen gesehen, die versucht haben, dies in einem Prozess zu erreichen,
der so diszipliniert abläuft wie eine formale Planung, aber das scheint nie
zu funktionieren. Die Erarbeitung einer Vision ist fast immer eine etwas
chaotische, schwierige und manchmal emotional aufgeladene Übung.

In einem typischen Fall ließ der Leiter eines mittelgroßen Handelsunterneh-


mens seinen Personalleiter und seinen strategischen Planungschef eine Vi-
sion auf Basis seiner Ideen aufsetzen. Dieses Dokument wurde zum Mittel-
punkt einer anstrengenden, außerhalb des Unternehmens abgehaltenen
zweitägigen Managementsitzung. Trotz der schönen und sonnigen Kulisse
des Ferienorts, an dem die Sitzung stattfand, wünschten sich wahrschein-
lich die meisten Teilnehmer zur Hälfte der Sitzung, sie wären zu Hause bei
einem halben Meter Schnee. Sogar der Chef dachte vielleicht so. Das Prob-
lem lag darin, dass der Visionsentwurf eine Reihe von widersprüchlichen
Weltanschauungen bei den Teilnehmern der Managementrunde zutage för-
derte. Eine Person verängstigte er über die Maßen, weil er eine Zukunft be-
schrieb, in der die Abteilung dieser Person an Bedeutung verlieren würde.
Und für mindestens zwei oder sogar mehr Teilnehmer war das Vorgehen
zu schwammig und zu „soft“. Heute, glaube ich, würden fast alle oberen
Führungskräfte dieses Unternehmens den Wert der damaligen Sitzung und

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70 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
der anschließenden Diskussionen bestätigen. Damals war die Sitzung aber
alles andere als lustig.
Anstatt sich zurückzuziehen, als die Konflikte aufkamen, drängte der Chef
behutsam und doch mit Nachdruck weiter voran. Er nutzte seine ausge-
prägten sozialen Fähigkeiten, um den Druck auf einem erträglichen Niveau
zu halten. Wenn er die ersten beiden Stufen des Transformationsprozesses
übersprungen hätte, wäre das Meeting vielleicht eskaliert. Aber dadurch,
dass die Gruppe ein Dringlichkeitsgefühl entwickelt, ein gesundes Maß an
Vertrauen und eine gemeinsame Verpflichtung zu Spitzenleistungen etab-
liert hatte, konnte sie sich durch einen schwierigen Themenkomplex arbei-
ten und sich vorläufig auf eine modifizierte Version des Dokuments eini-
gen.
Auf Basis der Sitzungsprotokolle und einiger zusätzlicher Vorarbeiten skiz-
zierte der Chef einen zweiten Visionsentwurf, den er mit seiner Führungs-
koalition über einen Zeitraum von sechs Monaten diskutierte. Danach ging
er mit einem überarbeiteten Dokument an die Öffentlichkeit, das er in den
vergangenen vier Jahren nur zu zwei Anlässen ergänzt oder leicht verän-
dert hat.
Die Erarbeitung einer Vision kann aus mindestens fünf Gründen schwierig
sein (siehe die Zusammenfassung in Abbildung 14). Erstens haben wir Ge-
nerationen äußerst talentierter Menschen zu Managern und nicht zu Lea-
dern oder zumindest einer Mischung aus beidem ausgebildet; und eine Vi-
sion gehört eben nicht zu den Bausteinen eines effektiven Managements.
Das Managementäquivalent zur Visionserarbeitung ist die Planung. Fragen
Sie einen guten Manager, was seine Vision ist, und Sie werden wahrschein-
lich die operative Planung zu hören bekommen – zum Beispiel, dieses Pro-
dukt im Juni einzuführen, bis September so und so viele neue Leute einzu-
stellen oder dieses Jahr einen Gewinn nach Steuern von XY $ zu erzielen.

Abbildung 14: Eine effektive Vision erarbeiten

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Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln
Ein Plan kann aber nie auf eine Weise Handlungen leiten, koordinieren und
inspirieren wie eine Vision; er ist daher während einer Transformation nicht
ausreichend. In der Vergangenheit, als sich alles noch langsamer drehte,
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mussten wir den Leuten nicht viel über solcherlei Dinge beibringen, also
haben wir es gelassen. Und wieder arbeitet die Geschichte gegen uns.
Zweitens: Obwohl eine gute Vision von einer gewissen eleganten Einfach-
heit ist, sind die zu ihrer Erarbeitung erforderlichen Daten und Auswertun-
gen üblicherweise alles andere als trivial. Ein riesiger Stapel von Unterla-
gen, Berichten, Finanzdaten und Statistiken ist manchmal notwendig, um
eine einseitige Erklärung zur zukünftigen Ausrichtung erarbeiten zu kön-
nen. Und die Analyse all dieser Informationen ist keine Aufgabe, die an
einen Super-Computer delegiert werden könnte.
Drittens sind bei dieser Aufgabe Herz und Verstand gefordert. Nach 17
oder mehr Jahren formaler Ausbildung wissen die meisten von uns zwar
einiges darüber, wie man den Kopf einsetzt, aber nur wenig darüber, wie
man sein Herz benutzt. Alle effektiven Visionen scheinen jedoch auf gefühl-
ten Werten und analytischem Denken aufzubauen, und diese Werte müssen
tief bei den Mitgliedern der Führungskoalition verankert sein. Demzufolge
ist das Schaffen einer Vision nicht nur eine Strategieübung zum Bewerten
von Umweltpotenzialen und organisatorischen Fähigkeiten. Der Prozess
schließt in hohem Maße ein, mit sich selbst in Kontakt zu kommen – wer
sind wir und was ist uns wichtig? Persönlich kann diese Übung durchaus
lohnend sein. Allerdings kann diese Aktivität für Leute, die nicht introspek-
tiv oder Ich-bewusst sind, mitunter schwierig und beängstigend sein.
Viertens: Wenn in der Führungskoalition kein Teamwork herrscht, kann
übermäßiges Kirchturmdenken die Erarbeitung einer Vision zu einer endlo-
sen Verhandlung machen. Ich beobachtete einmal eine frustrierte Gruppe
von Managern eines Computerunternehmens zwei Jahre lang dabei, wie
sie sich auf die Grundelemente einer Vision für den Wandel einigen woll-
ten. Die Zeit, die für offizielle Sitzungen und informelle Vier-Augen-Ge-
spräche aufgewendet wurde, summierte sich zu einer atemberaubenden
Stundenzahl. Dennoch erreichten diese Manager nie ihr Ziel: die Erarbei-
tung einer sinnhaften Vision, der sie sich verpflichtet fühlen konnten. Das
größte Problem lag darin, dass zu wenige Leute tatsächlich dieses Ziel errei-
chen wollten. Stattdessen schützten die meisten die eng definierten Interes-
sen ihrer jeweiligen untergeordneten Gruppe.
Schließlich werden Sie, wenn das Dringlichkeitsgefühl nicht stark genug ist,
niemals genug Zeit finden, den Prozess vollständig zu durchlaufen. Es wird
immer schwerer, Termine zu vereinbaren. Die Arbeit zwischen den Sitzun-
gen zieht sich hin. Bevor man sich versieht, ist ein Jahr vorbei und nur we-
nig wurde erreicht. Der Druck wächst, irgendetwas zu erarbeiten; also wird
ein weit vom Ideal entferntes Produkt akzeptiert, und man macht damit
weiter. Unter diesen Umständen ist die sich ergebende Vision für gewöhn-

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72 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
lich eine leichte Abwandlung des Status quo oder eine mutige Aussage, an
die die meisten Mitglieder der Führungskoalition aber nicht glauben. Wenn
die Vision nicht ganz passt, nicht ehrgeizig genug ist oder nur begrenzte
Unterstützung findet, untergräbt dies alle Veränderungsbemühungen.
Oftmals beobachte ich, wie Menschen aufgrund der Ängste und Konflikte,
die mit der Visionserarbeitung einhergehen, den Prozess vorzeitig abbre-
chen. Lange bevor die Mitglieder der Führungskoalition ausreichend Ge-
legenheit hatten nachzudenken, zu fühlen, zu streiten und zu überlegen,
ist die Vision auch schon auf Plakate gedruckt oder in Plastik einge-
schweißt. Wenn das passiert, wird der Transformationsprozess immer be-
schädigt.
Denken Sie daran: Eine ineffektive Vision kann schlechter sein als gar keine
Vision. Eine nicht ausreichend entwickelte Vision zu verfolgen, kann Men-
schen an den Abgrund bringen. Und Lippenbekenntnisse ohne Commit-
ment erzeugen gefährliche Illusionen. Die Mitarbeiter werden glauben,
dass sie auf ein solides Fundament aufbauen, nur um dann festzustellen,
dass das ganze Gebilde am Ende zusammenbricht und all ihre Arbeit mit
sich reißt. In jedem Fall können Mitarbeiter, sobald sie die Probleme erken-
nen, die durch das verfrühte Abbrechen der Visionserarbeitung entstanden
sind, der Transformation gegenüber zutiefst zynisch werden. Und mit zu-
tiefst zynischen Leuten wird man kaum erfolgreichen Wandel schaffen.
Ich hatte es vorher bereits erwähnt, aber der Gedanke verdient es, wieder-
holt zu werden: Wenn Sie einen der Schritte im achtstufigen Wandelprozess
verlassen, ohne die erforderlichen Arbeiten abgeschlossen zu haben, zahlen
Sie später meist einen hohen Preis. Ohne ein ausreichend starkes Funda-
ment bricht die Neuausrichtung an einem bestimmten Punkt zusammen
und zwingt Sie, zurückzugehen und alles neu aufzubauen. Im Falle der
Stufe 3, „Vision und Strategien entwickeln“, bedeutet dies, sich die Zeit zu
nehmen, den Prozess korrekt zu durchlaufen. Betrachten Sie dies als eine
Investition, eine wichtige Investition, in die Schaffung einer besseren Zu-
kunft.

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Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren

Eine großartige Vision kann einem guten Zweck dienen, auch wenn sie nur
von wenigen Schlüsselpersonen verstanden wird. Aber die wahre Kraft ent-
faltet eine Vision dann, wenn die meisten der in dem Veränderungsprozess
beteiligten Personen ein gemeinsames Verständnis ihrer Ziele und ihrer
Richtungsvorgaben haben. Das motiviert die Beteiligten, die gemeinsamen
Initiativen, die für die Transformation sorgen, entsprechend der Vision zu
koordinieren.

Verständnis und Commitment für eine neue Richtung zu gewinnen, ist nie
eine leichte Aufgabe, vor allem in Großunternehmen. Auch intelligente
Menschen machen hier wiederkehrend Fehler, und große Fehler sind nicht
unüblich, auch in bekannten Unternehmen. Führungskräfte kommunizie-
ren in der Regel viel zu wenig. Oder sie senden umgekehrt Botschaften, die
in sich nicht stimmig sind. In beiden Fällen ist das Ergebnis das gleiche:
Dass die Transformation abbricht.

Zwei Fälle fehlerhafter Kommunikation

Ein Divisionsleiter eines Telekommunikationsunternehmens erzählt davon,


dass sein Team im letzten Jahr eine Vision des Wandels entwickelt hatte
und einen guten Job dabei machte, diese Vision breit im Unternehmen zu
kommunizieren. Fragt man ein paar Ebenen tiefer in der Hierarchie die Mit-
arbeiter heute danach, hört man: „Vision? Welche Vision?“ Fragt man weiter,
erkennt man, dass die scheinbare Inkonsistenz gut erklärbar ist. Die verant-
wortlichen Manager hatten das Gefühl, dass sie eine ganze Menge unter-
nahmen, die Vision zu kommunizieren. Auf der jährlich stattfindenden
Strategiesitzung widmeten sie wertvolle Zeit dafür. Sie schalteten drei oder
vier Artikel in der Firmenzeitschrift. Eine der Führungskräfte befasste sich
Stunden damit, ein Video für Mitarbeiter zu produzieren. Und das Thema
stand auf der Agenda von mindestens einem Dutzend der Leitkreissitzun-
gen. Und wenn man die obersten Führungskräfte der Divisionen mit Nach-
druck danach fragt, geben sie zu, dass sie schon mal was davon gehört
haben. Aber sie können sich ehrlich nicht an viel erinnern, vor allem des-
halb, weil sie sich mit Informationen überflutet fühlen, von denen wiede-
rum nur ein kleiner Anteil mit der neuen Vision zu tun hat. „Es ging irgend-
wie um Kunden und Partnerschaften, oder?“ Und die etwas Härteren unter
ihnen sagen: „Es war einfach ein Haufen Müll. Und zwei Wochen, nachdem sie

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die Vision angekündigt hatten, beförderten sie so einen Trottel, der überhaupt nicht
für diese Botschaft stand.“
Ein anderes katastrophales, aber nicht seltenes Szenario: Die Vision wird oft
kommuniziert, aber mit wenig Inhalt. „Unser Ziel ist das erste wirklich trans-
nationale Unternehmen für die Verknüpfung der konvergierenden Kommunika-
tions-/Informationsindustrie zu werden, das sowohl eine grenzenlose Organisation
als auch einen Paradigmenwechsel in der Strategie realisiert.“ So lächerlich das
klingen mag, es verstecken sich doch einige interessante Ideen dahinter.
Aber zur Kommunikation taugt das Statement kaum, auch wenn es oft wie-
derholt wird.
Warum passiert so etwas? Fehler, die in den ersten drei Stufen eines Trans-
formationsprozesses passiert sind, führen hier oft zu Problemen. Wenn das
Dringlichkeitsgefühl nicht hoch genug ist, hören die Leute nicht aufmerk-
sam zu, wenn über die neue Vision gesprochen wird. Wenn die Führungs-
koalition nicht aus den richtigen Personen besteht, wird sie Schwierigkeiten
haben, passende Botschaften zu erzeugen und zu senden. Wenn die Vision
an sich zu verschwommen oder einfach schlecht ist, wird das Verkaufen der
Nachricht ein harter Job. Aber sogar wenn die ersten drei Schritte gut absol-
viert wurden, haben die Führungskräfte wegen der schieren Größe der Auf-
gabe oft Schwierigkeiten damit. 100, 1 000 oder 10 000 Leute dazu zu be-
kommen, eine bestimmte Vision zu verstehen und zu akzeptieren, ist
üblicherweise ein enorm herausforderndes Unterfangen.
Für Menschen, die nur darauf trainiert sind, Manager zu sein, kann die
Kommunikation einer Vision manchmal sehr schwierig sein. Manager ten-
dieren dazu, in erster Linie in den Aufgabenwelten ihrer direkt zugeordne-
ten Mitarbeiter oder ihres Chefs zu denken und weniger in größeren Zu-
sammenhängen, die in eine Vision einzubringen sind. Sie fühlen sich wohl
mit faktenbasierter Routinekommunikation, weniger mit zukunftsorientier-
tem strategischem Denken und Träumen. Natürlich kann jeder lernen. Aber
das braucht Zeit, Bemühen und vor allem eine klare Vorstellung davon,
was das Problem ist und wie es gelöst werden kann.

Die Größe der Aufgabe

Fehler bei der Kommunikation von Visionen werden oft der begrenzten in-
tellektuellen Fähigkeit von Mitarbeitern auf der Arbeitsebene oder der ge-
nerellen Abneigung von Menschen, sich zu verändern und dazugehörige
Informationen hören zu wollen, zugeschrieben. Auch wenn beide Faktoren
relevant sein können, greift beides zu kurz.
Die Entwicklung einer Vision zur Transformation belastet die einzelnen
Mitglieder der Führungskoalition oft damit, einige hundert Stunden damit
zu verbringen, Informationen zu sammeln, zu verdauen, Alternativen zu

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Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren
berücksichtigen und daraus schließlich eine Auswahl zu treffen. Ich habe in
einer ganzen Reihe von Fällen Führungskräfte erlebt, die nach Monaten der
Arbeit große Schwierigkeiten hatten, die letzte Version ihrer Vision auszu-
¢ 75

drücken. Nicht intelligent genug? Kaum. Gegen die Veränderung? In einem


bestimmten Ausmaß, ja. Ich glaube, dass dieses Problem weitaus funda-
mentaler die Schwierigkeiten des Prozesses an sich reflektiert.
Eine Vision für die Zukunft zu akzeptieren, kann eine herausfordernde und
emotionale Aufgabe sein. Unsere Gehirne produzieren natürlicherweise
Dutzende von Fragen. Was wird das für mich bedeuten, für meine Freunde,
für die Organisation? Was für andere Alternativen gibt es? Sind irgendwel-
che der anderen Optionen besser? Wenn ich anders handeln muss, kann ich
das schaffen? Werden im Laufe des Prozesses des Erreichens der Vision von
mir Opfer verlangt? Was halte ich davon, diese Opfer zu bringen? Glaube
ich wirklich daran, was ich von dieser Richtungsänderung für die Zukunft
höre? Oder spielen andere ein Spiel, vielleicht um ihre Position zu meinen
Lasten zu verbessern?
Einer der Gründe, warum das Entwickeln einer Vision so eine Herausforde-
rung ist, liegt darin, dass die Mitglieder der Führungskoalition diese Fragen
für sich selbst beantworten müssen. Und das braucht Zeit und jede Menge
an Kommunikation. Die rein intellektuelle Aufgabe, der Teil, der von einem
Strategieberater getan werden könnte, ist schwierig genug, aber das ist oft
der einfachere Teil der ganzen Übung. Noch härter ist der emotionale Teil
der Aufgabe: den Status quo loszulassen, Optionen für die Zukunft auszu-
schließen, die notwendigen Opfer akzeptieren, anderen zu vertrauen u. Ä.
Wenn jedoch diese schwierigsten Aufgaben erledigt sind, agieren die Mit-
glieder der Führungskoalition oft so, als ob jeder andere in der Organisa-
tion mit der entwickelten Vision klarkommen und sich innerhalb eines
Bruchteils der Zeit arrangieren müsste. Eine Gallone von Informationen
wird in einen Fluss von alltäglich ablaufender Routine-Kommunikation ge-
schüttet, in dem sich diese Informationen unmittelbar auflösen, verschwim-
men und vergessen werden (siehe Abbildung 15).
Warum verhalten sich intelligente Menschen so? Teilweise ist dies auf einen
althergebrachten, herablassenden Managementstil zurückzuführen. „Ich bin
das Management. Du bist der Arbeiter. Ich erwarte nicht, dass Du das verstehst.“
Aber noch wichtiger: Wir kommunizieren viel zu wenig, weil wir keine
praktikable Alternative erkennen können. Alle 10 000 Mitarbeiter durch
den gleichen Entwicklungsprozess wie die Führungskoalition laufen las-
sen? Unwahrscheinlich.
Die Dimension der Aufgabe schreckt ab. Wenn die Führungskoalition 150
Stunden an der Vision arbeitet und wir davon nur 20% jedem anderen Mit-
arbeiter für die Kommunikation zugestehen würden, wären das immer
noch 30 Stunden pro Person, multipliziert mit (sagen wir mal) 10 000 Mitar-
beitern. Bei 14 US-$ Lohnkosten und in den USA 6 US-$ zusätzlich für

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76 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess

Abbildung 15: Versagen der Kommunikation: Wie eine Vision des Wandels
im ganzen Trubel verloren geht

Lohnnebenkosten wären das 6 Millionen US-$. Nur wenige Unternehmen


haben dafür den Spielraum in ihren Budgets.
Wie gehen wir mit diesem Problem um? Sieben Prinzipien können in dieser
Phase des Transformationsprozesses zur Lösung dieser Herausforderungen
herangezogen werden.

Einfach kommunizieren

Die Zeit und der Aufwand, den man in eine effektive Kommunikation der
Vision stecken muss, hängen direkt mit der Klarheit und Einfachheit der
Botschaft zusammen. Fokussierte Information ohne Fachjargon kann mit
weitaus weniger Aufwand an große Gruppen weitergegeben werden als
schwerfällige, komplizierte Informationen. Mit Fachtermini überfrachtete
und hochakademische Sprache führt nur dazu, Konfusion, Misstrauen und
Befremden zu erzeugen. Kommunikation scheint dann am besten zu funk-
tionieren, wenn sie so direkt und so einfach ist, dass sie eine gewisse Ele-
ganz ausstrahlt.
Die Herausforderung einfacher und direkter Kommunikation liegt darin,
dass sie einer großen Klarheit der Gedanken und eines gewissen Mutes be-
darf. Erinnern Sie sich an die alte Weisheit: Hätte ich mehr Zeit, würde ich
einen kürzeren Brief schreiben. Es ist viel schwerer, klar und präzise zu sein
als überkompliziert und wortreich. Einfach bedeutet auch, niemanden zu

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Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren ¢ 77

Abbildung 16: Schlüsselelemente für die effektive Kommunikation einer Vision

verwirren. Auch das übermäßige Verwenden von Fachtermini ist nichts an-
deres als ein Schutzschild. Wenn die Ideen dumm sind, werden das andere
auch erkennen. Den Schutzschild zur Seite zu legen, macht uns kurzfristig
scheinbar angreifbarer. Deshalb schrecken wir oft davor zurück. Aber es
lohnt sich.
Einige Beispiele:
Version 1: Unser Ziel ist die Reduktion der Zeit, um Parameter in der Art
und Weise zu reparieren, dass sie wahrnehmbar niedriger sind als bei
Hauptwettbewerbern innerhalb der Vereinigten Staaten und darüber hi-
naus. Ebenso zielen wir auf Neuproduktentwicklungszeiten, Auftragspro-
zesszeiten und andere kundenrelevante Prozesse der Veränderung.
Version 2: Wir werden schneller als irgendjemand in unserer Branche die
Kundenbedürfnisse befriedigen.
Alle Berufssparten entwickeln ein spezialisiertes Fachvokabular, teilweise
weil die notwendige Sprache nicht existiert, teilweise, um sich selbst zu dif-
ferenzieren. Das Fachvokabular zu nutzen hilft, wenn man mit jemandem
aus der gleichen Branche und der gleichen Berufssparte spricht. Die gleiche
Sprache führt zu Konfusion, wenn man mit anderen spricht. Weil die meis-
ten Organisationen mit Mitarbeitern, Kunden und Zulieferern arbeiten, die
aus den verschiedensten Berufssparten kommen (Ingenieure, Buchhalter,
Marktforscher, Manager u. a.), werden sich manche angesprochen und
manche ausgeschlossen fühlen. Als Konsequenz daraus sollte jede breit an-
gelegte Kommunikation, die auf Veränderung abzielt, frei von Fachjargon
sein. Wenn Controller mit Controllern sprechen, ist das eine andere Sache.
Zwei weitere Beispiele:
Version 1: Durch einen Prozess der Entbürokratisierung werden wir unsere
Vor-Ort-Spezialisten dazu befähigen, besser auf die spezifischen Wünsche
unserer Kunden einzugehen.
Version 2: Wir werden einige Regelwerke ausmisten und unseren Mitarbei-
tern mehr Ermessenspielraum geben, Dinge vor Ort beim Kunden selbst zu
entscheiden.

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78 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Bilder, Analogien und Beispiele benutzen

Ich habe Leute oft sagen hören: „Wir können keine vernünftige Vision in kurzer
Zeit und mit einer einfachen Sprachen kommunizieren, weil unser Unternehmen
groß und komplex ist.“ Was diese Personen nicht verstehen, ist die Kraft von
Bildern, Vergleichen, Beispielen oder einfach klarer, farbiger Sprache, um
komplexe Ideen schnell und wirkungsvoll kommunizieren zu können.
Version 1: Wir müssen die Vorteile der großen Stückzahlen beibehalten und
dennoch weniger bürokratisch und weniger langsam bei der Entschei-
dungsfindung sein, um Kunden in einem sehr wettbewerbsintensiven und
harten Umfeld binden und gewinnen zu können. (33 Worte)
Version 2: Wir sollten weniger wie ein Elefant und mehr wie ein kunden-
freundlicher Tyrannosaurus Rex sein. (14 Worte)
Das Bild eines bösartigen Dinosauriers mag merkwürdig erscheinen, aber
für das Elektronikunternehmen, das dieses Bild wählte, war diese Idee ge-
nau die richtige. Die Branche hatte gerade eine Explosion neuen Wettbe-
werbs erfahren. Jeden Monat verschwanden kleinere Firmen und die gro-
ßen Firmen verloren Geld. Das T-Rex-Unternehmen entschied für sich,
dass es viel aggressiver werden müsste, um überleben zu können. Zuerst
kam die Idee zu einem Tiger als Vergleich auf, aber das Unternehmen war
zu groß dafür. Darüber hinaus hatte die Größe Vorteile für das Unterneh-
men, wenn es nur schneller und schlagkräftiger im Kundenservice würde.
So entstand die Idee eines kundenfreundlichen Tyrannosaurus Rex.
Wenn der größte Teil des Managements und der Mitarbeiter dieses Unter-
nehmens das Bild eines Elefanten nicht gemocht hätte oder über den Ver-
gleich mit einem T-Rex empört gewesen wäre, hätte diese Kommunikation
nicht funktioniert. Aber das Gegenteil war der Fall. Aus irgendeinem
schwer erklärbaren Bauchgefühl heraus mochten die meisten Leute die
Idee des Königs der Dinosaurier. Es half ihnen, ihre Bedenken gegenüber
dem Wandel zu überwinden.
Ein anderes Beispiel:
Version 1: Wir wollen damit beginnen, mehr Produkte zu entwickeln
und zu produzieren, die von der Kundenbasis als einzig-
artig, besonders wahrnehmbar und repräsentativ wahrge-
nommen werden. Solche Produkte haben signifikant höhere
Preise und Gewinnspannen. (31 Wörter)
Version 2: Wir machen jetzt weniger Fiats und mehr Mercedes. (8 Wör-
ter)
Würden die Mitarbeiter Fiat mehr als Mercedes schätzen, würde diese
Kommunikation nicht funktionieren. Oder wenn sie in einem isolierten
Bergland in Asien leben und kaum Erfahrung mit diesen Autos haben wür-
den, käme die Botschaft nicht an. Aber keines von beidem war hier der Fall.

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Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren
Dieser einfache, aus acht Wörtern bestehende Satz sorgte auf emotional an-
sprechende Art und Weise für jede Menge an Information.
Sorgfältig ausgewählte Wörter können eine Botschaft unvergesslich ma-
¢ 79

chen, sogar wenn diese mit hundert anderen Nachrichten um die Aufmerk-
samkeit jedes einzelnen kämpfen muss. Gute Werbefachleute sind darin
ausgebildet, solche Arten von Bildern und Texten auszuwählen. Diejenigen
unter uns mit Abschlüssen im Ingenieurswesen, in Wirtschaft, Physik oder
Finanzen sind das nicht. Nichtsdestotrotz kann jeder die Expertise von an-
deren aufsaugen. Und viele Leute, nicht zuletzt aus meinem Fach, können
in ihrer täglichen Praxis besser werden, wenn sie über den Tellerrand hi-
naus schauen und von dort Ideen aufgreifen.

Mehrere unterschiedliche Foren nutzen

Eine Vision wird üblicherweise dann am effektivsten kommuniziert, wenn


viele unterschiedliche Vehikel benutzt werden: große Versammlungen, Zeit-
schriften, Poster, informelle Face-to-Face-Gespräche. Wenn die gleiche
Nachricht die Mitarbeiter aus sechs unterschiedlichen Richtungen erreicht,
steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie gehört wird und in Erinnerung bleibt,
sowohl auf der intellektuellen als auch auf der emotionalen Ebene. So hilft
Kanal A vielleicht dabei, die Fragen der einen Gruppe zu beantworten, wäh-
rend es im anderen Fall vielleicht Kanal B ist usw.
Die Kostenbewussten unter uns werden korrekterweise feststellen, dass
Kommunikation nicht umsonst ist. Obgleich Firmen gelegentlich eine ganze
Menge in die Kommunikation einer Vision stecken, musste ich in den meis-
ten Fällen feststellen, dass typischerweise viel nutzlose Information durch
teure Kommunikationskanäle geflossen ist. Ein Drittel oder mehr der
Agenda eines Managementmeetings ist oft durch bereits Geschehenes be-
stimmt oder ist dazu da, das Ego von irgendjemandem zu bedienen, oder
ist in irgendeiner Art und Weise einfach Zeitverschwendung. Vieles in der
Firmenzeitschrift ist Füllmasse, Egoverstärker oder so schamlose Propa-
ganda, dass der frühere Herausgeber der Prawda erröten würde. Schließlich
sind 10% der Eins-zu-Eins-Konversation eines jeden Tages der NBA, einem
neuen Film oder dem Golfen gewidmet. Allein schon das Ausräumen von
einigen dieser Themen schafft Raum für wichtige Informationsvermittlung
ohne zusätzliche Kosten.

Wiederholen, Wiederholen, Wiederholen

Auch die unter Berücksichtigung aller Prinzipien am besten formulierten


Botschaften sinken erst dann in das Bewusstsein eines Empfängers ein,

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80 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
wenn sie einmal wiederholt wurden. Unser Gehirn wird überhäuft mit In-
formationen und jede Kommunikation streitet mit Hunderten von anderen
Ideen um Aufmerksamkeit. Darüber hinaus ist ein einmaliges Kommuni-
zieren nicht in der Lage, alle offenen Fragen zu adressieren. Als Ergebnis
bleibt festzuhalten, dass effektiver Informationstransfer fast immer auf Wie-
derholung basiert.
Vergleichen Sie zwei Szenarien:
Im Fall A wird eine neue Vision als ein Teil von drei Vorträgen auf dem
jährlichen Führungskräftetreffen eingeführt und ist Thema von drei Ar-
tikeln in der Mitarbeiterzeitung. Das ergibt sechs Wiederholungen über
einen Zeitraum von sechs Monaten. Im Fall B verspricht jeder der 25 Füh-
rungskräfte, vier Gelegenheiten pro Tag zu finden, um Konversationen
mit dem „Großen und Ganzen“ zu verknüpfen. Wenn sich also Hiro mit
seinen Top 20 zum monatlichen Plan-Ist-Vergleich trifft, dann bittet er
darum, dass alle Entscheidungen im Lichte der neuen Vision bewertet
werden, die er dann noch einmal erläutert. Wenn Gloria Performance-
durchsprachen mit ihren Mitarbeitern durchgeht, verknüpft sie ihre Be-
urteilungen mit den wichtigsten Veränderungsinitiativen. Wenn Jan
eine Fragen-und-Antworten-Runde auf dem Werksgelände durchführt,
beantwortet er die erste Frage in der Art und Weise: „Ich glaube, ja,
aber lassen Sie mich erklären, warum. Die Vision, die unsere Veränder-
ungsbemühungen ausrichtet, ist ...“ Das Ergebnis: 25 Führungskräfte,
vier Mal am Tag, über sechs Monate ergibt mehr als 12 000 Wiederholun-
gen. Sechs versus 12 000.

Alle erfolgreichen Fälle fundamentalen Wandels scheinen Zehntausende


von Kommunikationen zu beinhalten, die Mitarbeitern helfen, sich an
schwierige intellektuelle und emotionale Sachverhalte dieses Wandels he-
ranzutasten. Das passiert nicht, weil die PR-Abteilung eine „Visions-Vertei-
lung“ als Projekt aufsetzt. Sondern das passiert, weil Dutzende von Vorstän-
den, Managern und Abteilungsleitern durch die Brille der neuen Vision auf
ihr Tagesgeschäft schauen. Wenn die Leute das machen, dann können sie
leicht viele bedeutende Wege finden, um über die Richtung des Wandels zu
sprechen. Kommunikationen können immer maßgeschneidert auf den spe-
zifischen Mitarbeiter oder die spezifische Gruppe erfolgen, mit dem oder
mit der man gerade spricht.
Willi und drei von seinen Mitarbeitern gehen zu einem Besprechungszim-
mer, als sie gerade ein neues Poster zum Qualitätsprogramm passieren.
Willi zeigt darauf und fragt sie: „Was meint Ihr? Trifft das den Punkt?
Was sagt Euch das?“ Francis und 15 ihrer Leute sind im Konferenzraum
und hören sich eine Investitionsanfrage an? Als der formale Teil der Prä-
sentation vorbei ist, fragt sie: „Wie passt das zu unserer ganzen Inge-
nieursarbeit? Wie ich es verstehe, fordert unsere Vision, dass ...?“ Todd
spricht in der Cafeteria zu 200 Mitarbeitern. Er wird gefragt: „Glauben

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Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren
Sie, dass die Zahl der hier beschäftigten Mitarbeiter jemals nach oben
gehen wird?“ Seine Antwort: „Wenn wir erfolgreich unsere Vision imple-
mentieren, wird die Antwort sicher ja sein. Ist Euch die Vision klar? Ist sie
¢ 81

glaubwürdig?“

Ein Satz hier, ein Absatz dort, zwei Minuten in der Mitte einer Besprechung,
fünf Minuten am Ende eines Gesprächs, drei kurze Hinweise in einer
Rede – das alles zusammen, diese kurzen Erwähnungen können sich zu
einer massiven Menge an hilfreicher Kommunikation anhäufen, die gene-
rell dafür benötigt wird, die Herzen und den Verstand der Mitarbeiter zu
erreichen.

Tun, was man sagt, oder mit gutem Beispiel vorangehen

Oft ist der mächtigste Weg, eine neue Richtung zu kommunizieren, das Ver-
halten. Wenn die wichtigsten 5 oder 50 Personen alle die Vision der Verän-
derung leben, werden die Mitarbeiter es besser verstehen, als wenn man
hundert Geschichten darüber im Firmen-Newsletter lesen würde. Wenn sie
sehen, wie das Top-Management die Vision im Alltag umsetzt, werden sich
eine ganz Reihe von lästigen Fragen in Bezug auf die Glaubwürdigkeit und
mögliche Rollenspiele ganz von alleine in Luft auflösen.

Schauen Sie auf folgendes Beispiel: Das zentrale Element in einem neuen
Transformationsprozess bei einer großen Fluglinie betrifft den Kundenser-
vice. Wann immer der CEO einen Brief oder eine Beschwerde von einem
Fluggast erhält, schickt er persönlich eine Antwort innerhalb von 48 Stunden
zurück. Nach kurzer Zeit kursieren Geschichten von diesen Antwortbriefen
im Unternehmen. Das Ergebnis: Ein unabhängiges Marktforschungsunter-
nehmen stellt fest, dass 90% der Mitarbeiter die Vision des Wandels beschrei-
ben können, wenn sie gefragt werden, und fast 80% sagen, dass sie glauben,
dass der obere Führungskreis sich dazu verpflichtet fühlt, die Vision zur Rea-
lität werden zu lassen.

Ein anderes Beispiel: Die Veränderungsbemühungen bei einem großen eu-


ropäischen Fertigungsunternehmen fokussieren sich darauf, ein schlankes
Unternehmen mit flachen Hierarchien zu werden. In etwa zur selben Zeit,
wie die neue Richtungsvorgabe erstmals an die Mitarbeiter kommuniziert
wird, eliminiert der oberste Führungskreis eine Hierarchieebene – die stell-
vertretenden Vorsitzenden – und kündigt an, dass die Anzahl der Mitarbei-
ter in der Zentrale über einen Zeitraum von 18 Monaten um 50% reduziert
werden wird, durch Nichtbesetzen neuer Stellen, Vorruhestand und Stellen-
abbau. Kurz danach stellt ein Beratungsunternehmen fest, dass ein hoher
Prozentsatz der Arbeiter und Angestellten korrekt die Richtung des Wan-
dels im Unternehmen beschreiben kann.

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82 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Ein anderes Beispiel: Ein General versucht, in eine gigantische Organisation
hinein zu kommunizieren, dass die Verteidigungsbudgets schrumpfen und
dass jeder sparsamer werden muss. Wenn er nun reist, benutzt er nicht
mehr wie bisher einen U.S. Army Blackhawk Helikopter von der Andrews
Air Force Base, sondern er steigt so oft wie möglich am Pentagon ab, nimmt
die U-Bahn für 80 Cent zum Washington National Airport, nimmt ein Shut-
tle zum Terminal und benutzt den Linienflug einer normalen Fluggesell-
schaft. Die Geschichten über sein Reiseverhalten multiplizieren sich schnell.

Wir nennen ein solches Verhalten oft „Leadership durch Vorbildverhalten“.


Das Konzept ist einfach. Worte sind Schall und Rauch. Die Zyniker unter
uns glauben deshalb in der Regel nicht an Worte, werden dafür aber umso
beeindruckter sein, wenn etwas tatsächlich vorgelebt wird.

Ähnlich ist es, wenn Leute „Wasser predigen und Wein trinken“, was ein
großartiger Weg ist, um die Kommunikation einer Vision zu untergraben.

Divisionsleiter Sally O’Rourke erzählt ihren 1.200 Mitarbeitern, Tempo,


Tempo, Tempo sollte das Gütesiegel ihrer Organisation sein. Dann
braucht sie neun Monate, einen Investitionsantrag von einem ihrer Pro-
duktmanager genehmigen zu lassen, und erlaubt damit dem Wettbe-
werb, den Löwenanteil in einem neuen und wachsenden Markt an sich
zu reißen. CEO John Jones predigt, Kosten senken, Kosten senken, Kos-
ten senken. Dann renoviert er sein Büro für 150 000 $. Der stellvertre-
tende Vorstandsvorsitzende Harold Rose spricht ohne Ende von Kunden-
service, aber wenn Beschwerden über ein Neuprodukt eintreffen und
ein nachforschender Reporter vom Wall Street Journal anruft, verteidigt
er sein Produkt, anstatt seine Kunden.

In aller Kürze: Nichts unterminiert die Kommunikation einer Vision des Wandels
mehr als das Verhalten von Schlüsselspielern, das inkonsistent mit der Vision zu
sein scheint. Die Implikationen sind mächtig: (1) Eine Vision zu verkaufen,
bevor sie durch ein Top-Management verkörpert werden kann, ist schwie-
rig. Und (2), sogar unter den besten Umständen ist es angeraten, sehr genau
das Verhalten der obersten Führungskräfte unter die Lupe zu nehmen, so-
dass man zeitnah Unterschiede zwischen Reden und Handeln identifizie-
ren und abstellen kann.

Scheinbare Unstimmigkeiten explizit adressieren

Vor Kurzem habe ich eine Bank besucht, die im Rahmen eines umfassen-
den Transformationsprozesses gerade große Kostensenkungsmaßnahmen
durchlebte. Für die Arbeitnehmer waren die Maßnahmen täglich spürbar
und deshalb reagierten sie verständlicherweise sensibel auf jedes Signal,
das darauf hindeutete, dass das Management möglicherweise nicht seinen

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Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren
Beitrag dazu leisten würde. Unglücklicherweise leuchteten diese Signale an
jeder Ecke auf.
Während es schien, dass die Task Forces rund um die Uhr am Kostensenken
¢ 83

arbeiteten, leaste das Unternehmen weiterhin sechs Jets für die Vorstands-
ebene. Während mehrere Hundert Arbeitnehmer freigesetzt wurden, präsi-
dierte das Top-Management in königlichen Quartieren. Während Weih-
nachtsfeiern an bestimmten Standorten abgesagt wurden, um Kosten zu
sparen, flog der CEO mit allen seinen Vorstandskollegen für eine ihrer Sit-
zungen erster Klasse nach London.
Wenn ich solche Unstimmigkeiten herausstelle, rollen typischerweise einige
Vorstände mit ihren Augen oder werden extrem defensiv. „Was wollen Sie
uns sagen? Sie wollen, dass wir das Holz von den Wänden reißen und dass dieser
Platz (die Zentrale) schäbig aussieht?“ „Wir haben die Analyse sechs Mal wieder-
holt und die Jets rechnen sich. Ohne sie erreichen wir keine abgeschieden liegenden
Standorte. Und glauben Sie wirklich, dass es eine gute Idee für einen viel beschäf-
tigten Manager ist, zum Flughafen zu fahren, dort auf einen Linienflug zu warten,
dann auf einen Anschlussflug umzusteigen und am Ende noch zwei Stunden mit
dem Auto zu fahren?“ „Ein Teil unserer Vision ist unser Geschäft zu internationa-
lisieren, deshalb müssen wir auch den Vorstand globalisieren. Das ist der Grund,
warum wir uns in London treffen. Wollen Sie einen Vorstand, der nur in US-ame-
rikanischen Kategorien denkt?“
Vorstände sind frustriert, wenn man sie dazu auffordert, ihre Firmenjets zu
verteidigen, das Mahagoni und die Überseereisen, weil es für sie nicht ein-
fach ist, mit diesen Dingen umzugehen. Sie wollen nicht die Zyniker unter
den Arbeitnehmern ermuntern, aber Zentralen zu schließen, Leasingver-
träge aufzulösen und London zu vergessen macht für sie keinen Sinn. „Wir
haben uns wirklich darum gekümmert, das Gebäude zu verkaufen, aber die Be-
triebsstörung und die Umzugskosten sind signifikant. Was sollen wir tun?“ In ei-
nigen Fällen ist die Antwort, die Büros, Jets und Reisen abzuschaffen. Aber
in einigen Fällen wird das wahrlich nicht praktikabel oder sinnvoll sein.
Dann ist die Antwort, diese Themen explizit und ehrlich zu adressieren.
Zum Beispiel:
Mit all den Kostensenkungsmaßnahmen im Unternehmen, die zurzeit
notwendig sind, gibt es keine Entschuldigung für uns alle, Geld zu ver-
schwenden, schon gar nicht für Luxusthemen. Vor diesem Hintergrund
haben wir uns entschieden, dass die Büros und Einrichtungen für unsere
Vorstände in unserer Zentrale so nicht vertretbar sind. Zurzeit würde es
aber mehr kosten, die Zentrale zu verkaufen und in ein weniger luxuriö-
ses Umfeld umzuziehen, als wir einsparen. Wir lassen aber nicht davon
ab, uns weiter nach einem kostengünstigeren und praktikablen Weg
umzuschauen, dieses Übermaß abzubauen.
Geradlinige und ehrliche Botschaften werden von Zynikern oft belächelt.
Wenn die Mehrheit der Mitarbeiter argwöhnisch auf das Management

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84 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
schaut, dann helfen solche Botschaften nicht. Aber von den Mitarbeitern,
die an ihr Unternehmen glauben, wird so eine Art der Kommunikation üb-
licherweise sehr geschätzt. Glaubwürdigkeit und Vertrauen wachsen, was
wiederum dazu beiträgt, die Kommunikation der Vision des Wandels zu
stärken.
Frage: Warum machen das die Leute nicht öfter so?
Antwort: Sie machen das mehr und mehr.
Majestätische „Dünge die Trüffel“-Managementstile sterben aus. In einer
sich schnell drehenden Welt, in der es darauf ankommt, die Herzen und
den Verstand der Mitarbeiter zu erreichen, werden nicht kommunikations-
freudige Führungskräfte nicht in der Lage sein, ihre Firmen wettbewerbsfä-
hig zu entwickeln und aufzustellen. In erfolgreichen Transformationsproz-
essen werden bedeutende Inkonsistenzen in den Botschaften fast immer
explizit adressiert. Wenn solche Inkonsistenzen in einem Veränderungspro-
zess bestehen und nicht eliminiert werden können, dann werden sie üb-
licherweise erklärt, einfach und ehrlich.

Hören und Zuhören

Weil die Kommunikation einer Vision oft eine schwierige Aufgabe ist, kann
es passieren, dass sie sich in ein in das Unternehmen ausstrahlendes, rau-
schendes Radioprogramm verwandelt, ohne dass wertvolles Feedback von
den Zuhörern aufgenommen werden kann, und sich Mitarbeiter unbeab-
sichtigt ausgeschlossen oder unwichtig fühlen. In erfolgreichen Transforma-
tionsprozessen passiert das eher selten, weil die Kommunikation nie eine
Einbahnstraße ist, sondern immer ein Miteinander-Sprechen.
Ich habe mehr als einen Fall gesehen, in dem Führungskoalitionen die Vi-
sion nicht richtig hinbekommen hatten und einige Mitarbeiter das auch
schnell herausfanden und die Probleme hätten lösen können, wenn sie rich-
tig informiert gewesen wären. Weil Feedback nicht angefordert wurde,
wurden die Fehler nicht schnell genug behoben, oft erst sehr spät im Pro-
zess. In einem speziellen Fall verursachte ein solcher Fehler sogar enorme
Kosten im Sinne unnötiger IT-Ausgaben. Ein halbes Dutzend junger Ver-
triebsmitarbeiter mit IT-Basiswissen hätte gleich erkannt, dass das beschlos-
sene Konzept zur Anschaffung der neuen IT-Unterstützung für die Ver-
triebsmannschaft mangelhaft war. Aber sie wurden nicht gebrieft, bis die
neue IT-Ausstattung mit Software und Hardware ankam. Ab diesem Zeit-
punkt, nachdem ein weniger IT-affines mittleres Management eine fehler-
hafte Vision akzeptiert und implementiert hatte, wurden die Kurskorrektu-
ren sehr kostspielig.
Sogar noch weitreichender ist die Tatsache, dass eine Zwei-Wege-Kommu-
nikation eine wesentliche Methode ist, den Mitarbeitern alle Fragen zu be-

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Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren
antworten, die im Laufe des Veränderungsprozesses aufkommen. Klare,
einfache, erinnerungswürdige, oft wiederholte, stimmige Kommunikation
über verschiedene Kanäle, verkörpert durch das Verhalten der Führungs-
¢ 85

kräfte, hilft enorm. Aber die meisten Menschen, speziell die gebildeteren
unter uns, schließen sich etwas nur an, wenn sie eine Chance hatten, sich
damit auseinanderzusetzen. Auseinandersetzen heißt Fragen stellen, reflek-
tieren und argumentieren. Das passiert natürlich genau, wenn die Füh-
rungskoalition zum ersten Mal die Vision erarbeitet.
Für den Wandel Verantwortliche vermeiden manchmal die Zwei-Wege-
Kommunikation aufgrund von Bedenken über dafür anfallende Kosten.
Ihre Logik ist geradlinig; egal wie: Die Kosten für einen Ein-Wege-Kommu-
nikationsfluss werden sich für eine Zwei-Wege-Kommunikation mindes-
tens verdoppeln. Sie stellen zu Recht fest, dass nicht jeder den gleichen Pro-
zess wie die Führungskoalition durchlaufen kann. Aber auch hier
übersehen sie wieder die Zweckmäßigkeit, dass so viele Manager wie mög-
lich ihre einstündigen Besprechungen durch die Brille der neuen Vision be-
trachten und nutzen können. Wenn die Leute das tun, dann finden sie be-
ständig Dutzende von neuen kostengünstigen Wegen, einen Dialog um die
Vision herum anzustoßen. Fünf Minuten in einer Besprechung für einen
Produktanlauf, zwei Minuten im Rahmen einer Großveranstaltung, zehn
Minuten am Ende einer Rede – die Minuten können sich zu Tausenden von
Stunden aufsummieren.
Als für den Wandel Verantwortliche scheuen wir uns auch manchmal, diese
Art von Kommunikation anzustoßen, weil wir Angst haben, dass unsere Vi-
sion keine zwei Runden in einem solchen Boxring überstehen würde. Ein
solches Verhalten ist verständlich, aber bedauerlich.
Wenn die Leute eine Vision nicht akzeptieren, werden die nächsten zwei
Schritte im Veränderungsprozess – Individuen zu befähigen, den Wandel
in der Breite voranzutreiben und kurzfristige Erfolge zu erzielen – ohnehin
scheitern. Mitarbeiter werden es weder nutzen, dass sie befähigt wurden
noch den Kampf mit dem Willen in und der Einsatzbereitschaft annehmen,
die das Siegen der neuen Vision über das bisher Dagewesene erst ermög-
lichen. Das Ganze würde sich sogar noch verschlechtern, wenn sie diesen
Zustand akzeptieren und dann versuchen würden, die schlecht formulierte
Vision zu implementieren, denn dann würden wertvolle Zeit und wertvolle
Ressourcen verschwendet, und viele Mitarbeiter würden die Konsequen-
zen ausbaden müssen.
Die Kehrseite einer Zwei-Wege-Kommunikation ist, dass sich aus dem
Feedback vielleicht schließen lässt, dass wir den falschen Kurs eingeschla-
gen haben und dass die Vision überarbeitet werden müsste. Aber auf lange
Sicht ist es weitaus produktiver, in den saueren Apfel zu beißen und die Vi-
sion zu überarbeiten, als in die falsche Richtung zu starten – oder in eine
Richtung, in die andere nicht folgen werden.

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Kapitel 7: Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen

„Wenn ich das Wort Empowerment noch einmal höre“, sagte mir kürzlich je-
mand, „wird mir übel.“ Er drückte damit seine Verärgerung darüber aus,
dass dieser Begriff zwar zunehmend populärer wurde, aber gleichzeitig
seine eigentliche Bedeutung verloren hatte. „Das Wort ist ein politisch korrek-
tes Mantra geworden“, sagte er. „Empower, empower, empower. Wenn ich Leute
frage, was sie darunter verstehen, drücken sie sich entweder unklar aus oder
schauen mich an, als sei ich ein Idiot.“

Vor ein paar Jahren hätte ich seinen Vorbehalten vielleicht noch zuge-
stimmt. Heute aber nicht mehr. Ich bin auch nicht davon begeistert, Mode-
wörter zu benutzen. Aber in dieser sich immer schneller drehenden Welt
halte ich die Idee für wichtig, mehr Leuten zu mehr Entscheidungsspielräu-
men zu verhelfen. Wandel in der Umwelt muss organisatorischen Wandel
nach sich ziehen.

Größere Transformationen von Unternehmen lassen sich kaum durchset-


zen, wenn nicht viele Menschen dabei mithelfen. Jedoch werden Mitarbei-
ter in der Regel nicht helfen wollen oder können, wenn sie sich machtlos
fühlen. Hier setzt das Empowerment an.

Die Stufen 1 bis 4 des Wandelprozesses zu durchlaufen, trägt bereits eine


Menge zum Empowerment der Menschen bei. Aber selbst wenn ein starkes
Dringlichkeitsgefühl herrscht, die Führungskoalition eine geeignete Vision
entwickelt hat und die Vision exzellent kommuniziert worden ist, können
zahlreiche Hindernisse die Mitarbeiter noch immer davon abhalten, den
notwendigen Wandeln zu erzeugen. Ziel von Stufe 5 ist es, eine breite Basis
von Leuten zum Handeln zu befähigen, indem so viele Hindernisse für die

Abbildung 17: Hindernisse beim Empowerment

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88 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Implementierung der Wandelvision beseitigt werden, wie in dieser Phase
des Prozesses möglich ist.
Welches sind die größten Hindernisse, die zumeist angegangen werden
müssen? Vier von ihnen können besonders bedeutend sein: Strukturen, Fä-
higkeiten, Systeme und Vorgesetzte (vgl. Abbildung 17).

Strukturelle Hindernisse beseitigen

Das Unternehmen im folgenden Beispielfall ist ein australischer Finanz-


dienstleister. Ein neuer Geschäftsführer erzeugt ein starkes Dringlich-
keitsgefühl, stellt eine Führungskoalition an der Spitze zusammen und
hilft ihr dabei, eine neue Ausrichtung für das Unternehmen zu entwi-
ckeln, die um überragenden Kundenservice herum aufgebaut ist. Das
Grundkonzept ist einfach: eine Fähigkeit aufzubauen, mit der nicht nur
in Australien Marktanteile gewonnen werden sollen, sondern die das
Unternehmen auch in die Lage versetzt, ein starker Spieler in den asiati-
schen Wachstumsmärkten zu werden. Der Erfolg der Führungskoalition
bei der Kommunikation der neuen Vision überzeugt viele Mitarbeiter
davon, dass das Unternehmen auf dem richtigen Weg ist. Als das Top-
Management die begeisterten Reaktionen auf seine Initiativen sieht,
schließen die Mitglieder daraus, dass der schwierigste Teil des Transfor-
mationsprozesses geschafft sein könnte – was wahrscheinlich der Grund
dafür ist, dass sie ihre kollektive Aufmerksamkeit woandershin verla-
gern.

Zwei Jahre später versucht eine frustrierte und verärgerte Gruppe von
Top-Managern herauszufinden, was schiefgegangen ist. Sie waren da-
von überzeugt, ihren Teil getan zu haben. Sie hatten Kunden in der gan-
zen Region besucht, beim Aufsetzen neuer Systeme zur Messung der
Kundenzufriedenheit geholfen, hatten im Unternehmen die Botschaft
zum Kundenservice verbreitet und mithilfe von Beratern Produkte und
Dienstleistungen neu gestaltet, um die Marktanforderungen besser zu
erfüllen. Aber aus irgendeinem Grund kommen die einst enthusiasti-
schen Truppen einfach nicht mehr voran.
Eine genauere Betrachtung zeigt: Viele Mitarbeiter wollten wirklich bessere
Produkte und Dienstleistungen anbieten und versuchten es auch. Aber in
der Organisationsstruktur waren Ressourcen und Verantwortlichkeiten der-
art fragmentiert, dass es fast unmöglich war, irgendeines der neuen Finanz-
produkte qualifiziert anzubieten. Ein typisches Produkt erforderte eine
enge Zusammenarbeit von Mitarbeitern aus vier verschiedenen Funktio-
nen. Als die Mitarbeiter aber versuchten, funktionsübergreifende, produkt-
und kundenzentrierte Teams aufzubauen, war dieser Prozess für sie äu-
ßerst frustrierend. Starke strukturelle Silos behinderten die Teams auf un-

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Kapitel 7: Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen
zählige subtile Arten und machten so die zeitgerechte Bereitstellung neuer
Dienstleistungen für ihre Kunden praktisch unmöglich. Als die Mitarbeiter
sich bei ihren Vorgesetzten beschwerten, sagte man ihnen, sie sollten bes-
¢ 89

sere Teamspieler sein. Als sie darauf hinwiesen, die Organisationsstruktur


sei möglicherweise das Problem, bekamen sie viele Ausreden zu hören, wa-
rum eine Änderung der Strukturen nicht möglich oder nicht zielführend
wäre oder sehr lange dauern würde. Ihrer Motivation beraubt, gaben sie
danach ihre Versuche auf, die neue Vision zu realisieren.
Als der CEO in diesem Fall seine Manager mit dem strukturellen Problem
konfrontierte und sie um ihren Rat fragte, sagten sie ihm,
1. die Umsetzung der neuen Vision sei eine schwierige Angelegenheit;
2. sie hätten vielleicht die falschen Mitarbeiter, was man nur innerhalb
eines langen Zeitraums korrigieren könnte;
3. das mittlere Management sei erschöpft, nachdem sie viele Überstunden
geleistet hatten, um die richtigen Dinge zu versuchen, und
4. es gäbe keine nahe liegende Lösung für diese Probleme.
In gewisser Hinsicht war das alles richtig. Zum Beispiel waren lange Ar-
beitswochen zwar tatsächlich an der Tagesordnung, aber die Schlüsselper-
sonen im mittleren Management waren auch deshalb gestresst, weil sie ver-
suchten, ihre funktionalen Machtbereiche zu erhalten – und das trotz
wachsender Anzeichen, dass eine Reorganisation nötig sein würde, um die
neuen Produkte und Dienstleistungen liefern zu können. Wie so oft in Wan-
delprozessen kam der Widerstand aber nicht von überall. Nur wenige Ma-
nager spielten wirklich auf Zeit. Aber sie waren schwer zu beeinflussen,
zum Teil auch, weil sie selbst fest davon überzeugt waren, dass sie das Rich-
tige für das Unternehmen taten.
Colin war typisch für solche Bremser. Nach 25 Jahren Erfahrung kannte
er die Eigenarten der funktionalen Organisation, in die er so viel Zeit
und Energie investiert hatte, im Detail. Die zahlreichen Reorganisations-
maßnahmen brachen nicht nur seine Gruppe auseinander und schränk-
ten seinen Verantwortungsbereich stark ein, sondern eliminierten auch
einige der ökonomischen Vorteile der traditionellen Struktur. Hätte Co-
lin die neue Vision vollständig erfasst, hätte er trotzdem widerwillig zu-
geben müssen, dass die Einbußen durch eine Restrukturierung nicht so
erheblich waren. Für ihn war die Vision jedoch nur ein schöner Traum
mit einer 25%-Chance auf Realisierung. Angesichts klarer und sicherer
Einbußen und diffuser, unwahrscheinlicher potenzieller Vorteile, ver-
legte er sich aufs Verzögern. Im Endergebnis konservierte die Organisa-
tion eine Struktur, die systematisch die Bemühungen von Mitarbeitern
blockierte, die neue Vision umzusetzen.
Die Struktur ist nicht immer ein großes Hindernis in Transformationen, zu-
mindest in den frühen Phasen, aber ich habe auch viele Fälle gesehen, in de-
nen die organisatorische Aufstellung eine Vision untergrub, indem sie die

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90 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess

Abbildung 18: Wie Strukturen eine Vision unterminieren können

Mitarbeiter demotivierte (vgl. Abbildung 18). Der Fall des australischen Fi-
nanzdienstleisters ist nicht untypisch. Kundenzentrierte Visionen scheitern
oft, wenn kundenunzentrierte Organisationsstrukturen nicht geändert wer-
den. Ein weiteres typisches Beispiel ist ein Stromversorger, dessen Vision
von einer wesentlich stärkeren Verantwortungsübernahme durch kunden-
nahe Mitarbeiter an einer Struktur mit zu vielen Ebenen und zu viel Ent-
scheidungskompetenz auf der mittleren Ebene scheitert. Als Mitarbeiter
versuchen, die neue Vision in die Tat umzusetzen, werden ihre Entschei-
dungen durch einer Horde von Managern auf der mittleren Ebene schlecht
gemacht und unterminiert. „Hast Du das mit berücksichtigt?“ „Du hättest das
erst mit Jones abklären sollen.“ „Ist Dir bewusst, welchen Präzedenzfall Du damit
vielleicht schaffst?“ Wie vorherzusehen war, geben die meisten kundenna-
hen Mitarbeiter nach einer Weile auf und fallen in den alten Trott zurück.

Wenn strukturelle Barrieren nicht frühzeitig beseitigt werden, besteht stets


die Gefahr, dass die Mitarbeiter so viele Frustrationserlebnisse aufbauen,
dass ihnen dies sämtliche Transformationsbemühungen vergällt. Wenn das
passiert, haben Sie die Energie verpuffen lassen, mit der Sie eine neue Struk-
tur zur Umsetzung der Vision nutzen können – selbst wenn Sie am Ende
korrekt reorganisieren.

Warum passiert so etwas? Manchmal gewöhnen wir uns so sehr an eine organisa-
torische Grundaufstellung – vielleicht auch, weil sie seit Jahrzehnten in Kraft war –
dass wir blind werden für mögliche Alternativen. Manchmal haben Leute so
viel persönliche Loyalität und funktionale Expertise in eine Struktur inves-
tiert, dass sie bei Veränderungen negative Auswirkungen auf ihre Karriere
befürchten. Manchmal wissen Manager, dass eine Umgestaltung notwen-
dig ist, wollen sich aber nicht in einen Konflikt mit dem mittleren Manage-
ment oder mit ihren Kollegen verstricken. Oft wurde allerdings auch das
Fundament für Veränderungen nicht stabil genug gebaut. Das mittlere Ma-
nagement kann strukturellen Veränderungen leicht Widerstand leisten,
wenn es kein Dringlichkeitsgefühl hat, kein engagiertes Team an der Spitze

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Kapitel 7: Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen
und keine vernünftige Vision für den Wandel erkennt oder nicht das Gefühl
hat, dass andere an diese Vision glauben.
¢ 91

Notwendige Trainings sicherstellen

Vor fast 20 Jahren beobachtete ich einen progressiv denkenden Automobilzu-


lieferer bei dem Versuch, größere Veränderungen seiner Produktionsstruktu-
ren vorzunehmen, um Wettbewerber zu überholen. Lange bevor andere ihr
mittleres Management verschlankten und mehr Entscheidungskompeten-
zen auf die unteren Ebenen verlagerten, hatte dieses Unternehmen eine Vi-
sion, wie ein solcher Ansatz Qualitätsverbesserungen und Kostensenkungen
bewirken könnte. Die Führungskoalition beging, wie immer bei Pionieren,
viele Fehler, errichtete jedoch erfolgreich ein Produktionswerk im ländlichen
Südosten der USA, das ein schlankes mittleres Management aufwies, wei-
testgehend durch Arbeitsgruppen der Werker betrieben wurde und seiner
Zeit weit voraus war. Das Werk zum Laufen zu bringen war nicht leicht,
aber das überraschte niemanden. Nachdem etwa 70% der geplanten Produk-
tionsleitstung erreicht waren, nahm die Werksleitung an, dass die harte Ar-
beit getan war. Das war jedoch ein Irrtum.
Die Produktionsleistung stagnierte bei 75% der Zielvorgabe – ein wirt-
schaftlich inakzeptables Ergebnis. Die Belegschaft wurde immer mürri-
scher. In einem der Produktionsteams brachen handfeste Streitigkeiten aus.
Manager, die dem Experiment von Anfang an skeptisch gegenübergestan-
den hatten, begannen, sich lautstark zu fragen, ob „Arbeiter“ wirklich „Ma-
nagement“-Verantwortung schultern könnten. Ein paar verärgerte Mitar-
beiter begannen, mit Gewerkschaften anzubändeln. Jemand in der
Firmenzentrale schlug vor, diesem neuen Verfahren „den Stecker zu zie-
hen“, bevor die Ereignisse außer Kontrolle gerieten.
Wie so oft hatten einige Leute im Werk das Problem richtig identifiziert,
aber andere hörten nicht auf sie. Der Werkleiter sprach am Ende fast mit je-
dem und entschied dann, dass ein junger Personalmanager die beste Erklä-
rung dafür hatte, warum sie bei 75% feststeckten. Im Wesentlichen sagte
dieser junge Mann Folgendes:
Wir haben 200 Leute, Manager und Arbeiter, in eine Situation gebracht,
die sich von allem unterscheidet, was sie kannten. Sie alle, und vor allem
die älteren unter ihnen, haben über Jahre Gewohnheiten entwickelt,
die nicht mehr relevant und manchmal sogar kontraproduktiv sind.
Viele unserer Arbeiter haben relativ ausgefeilte Fähigkeiten entwickelt,
wie man sich vor Verantwortung drückt. Keiner von ihnen weiß viel über
effektive Teamarbeit in einem Fertigungsumfeld. Den meisten unserer
Manager wurde in fünf bis 35 Jahren Erfahrung beigebracht, dass es
ihre Aufgabe ist, Entscheidungen zu treffen, und nicht, andere zu befä-

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92 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
higen. Der Trainingsumfang, mit dem wir diese neue Situation meistern
sollten, wirkt im Nachhinein lächerlich. Da die meisten von uns dem
neuen Werk wirklich zum Erfolg verhelfen wollten, arbeiteten wir wäh-
rend des Hochlaufs außerordentlich hart. In gewisser Hinsicht versuch-
ten wir, den Mangel an Fähigkeiten mit schierem Arbeitseinsatz auszu-
gleichen. Aber das ist auf Dauer keine Lösung. Am Ende waren wir
müde und frustriert.

Dieses Problem sieht man heute oft bei größeren Reengineeringprogram-


men. Es werden Trainings angeboten, aber nicht genug oder nicht die rich-
tige Art oder nicht zum richtigen Zeitpunkt. Man erwartet von den Leuten,
dass sie ihre über Jahre oder Jahrzehnte eingeübten Verhaltensweisen nach
nur fünf Tagen Weiterbildung ändern. Man bringt den Leuten technische
Kenntnisse bei, aber nicht die notwendigen sozialen Fähigkeiten oder Ein-
stellungen, um neue Strukturen ins Laufen zu bringen. Die Leute bekom-
men einen Kurs, bevor sie ihren neuen Job antreten, erhalten danach aber
keine weitere Hilfestellung bei den Problemen, denen sie in der täglichen
Arbeit begegnen.

Ich glaube, es gibt zwei häufige Gründe dafür, warum wir in diese Falle
tappen. Erstens durchdenken wir oft nicht sorgfältig genug, welche neuen
Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Einstellungen notwendig sein werden,
wenn eine größere Veränderung eingeleitet wird. In der Folge verkennen
wir Arten und Umfang der erforderlichen Trainings, die den Leuten dabei
helfen sollen, sich die neuen Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Einstellun-
gen anzueignen. Zweitens erkennen wir zwar manchmal in richtiger Weise,
was gebraucht wird. Aber wenn wir das in Zeit und Geld übersetzen, er-
schlägt uns das Ergebnis. Wie kann es irgendjemand rechtfertigen, 10 000
Leute in einen zweitägigen Weiterbildungskurs zu schicken? Oder 3 Millio-
nen $ für eine spezielle Trainingsmaßnahme auszugeben?

Zwei der weltweit erfolgreichsten Transformationen Mitte der 1980er Jahre


fanden bei europäischen Fluggesellschaften statt, die Zehntausende Leute
zu zweitägigen Trainingseinheiten schickten und dafür mehrere Millionen $
ausgaben. In beiden Fällen verfolgten die Unternehmen neue Visionen mit
dem Kunden im Mittelpunkt. In beiden Fällen kamen die Führungskoalitio-
nen zu dem Schluss, dass tief greifende Änderungen bei den Einstellungen
der Mitarbeiter notwendig sein würden, um die Visionen und Strategien
umzusetzen. Der zweitägige Kurs, der von einem dänischen Beratungsun-
ternehmen ausgesprochen gut konzipiert war, sollte kein einmalig verab-
reichtes Wundermittel gegen alle Probleme bei Verhalten, Fähigkeiten und
Einstellungen sein. Stattdessen veranschaulichte eine Abfolge von Vorträ-
gen und Übungen auf einfache Weise, wie ein Verhalten, das „den Menschen
in den Mittelpunkt rückt“, sich sowohl im als auch außerhalb des Berufsle-
bens auszahlte. Nach all dem, was ich gesehen habe, war dieses Training ein
erfolgskritisches Element für das Empowerment der Mitarbeiter, die neuen

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Kapitel 7: Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen
Visionen zum Leben zu erwecken. Und beide Fluglinien gingen aus dem
Prozess als viel stärkere und erfolgreichere Wettbewerber hervor.
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Wie im Fall der Fluggesellschaften sind bei den Einstellungen ansetzende


Trainings oftmals genauso wichtig wie die Vermittlung von Wissen und Fä-
higkeiten. Im letzten Jahrhundert wurde Millionen von Mitarbeitern von
ihren Unternehmen und Gewerkschaften beigebracht, keine große Verant-
wortung zu übernehmen. Vielen dieser Menschen kann man nicht einfach
sagen, „Okay, jetzt bist Du befähigt, leg‘ los!“ Einige werden Ihnen schlicht-
weg nicht glauben; andere werden denken, es sei ein Trick, um sie auszu-
beuten; und wieder andere werden sich Sorgen machen, dass sie dazu viel-
leicht nicht in der Lage sind. Neue Erfahrungen werden gebraucht, um
überholte Ansichten vergessen zu machen, und einige Erfahrungen können
durch Trainings auf effiziente Art und Weise erworben werden.
Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass alle Unternehmen bei größeren Verän-
derungsbemühungen Millionen für Weiterbildung ausgeben sollten. In eini-
gen Fällen sind große Trainingsbudgets überflüssig, weil eine große Anzahl
an Leuten keine grundsätzlich neuen Fähigkeiten, Verhaltensweisen oder
Einstellungen erlernen muss. In vielen Fällen kann eine clevere Gestaltung
der Lernerfahrungen größere Wirkungen erbringen, und das zur Hälfte
oder weniger der Kosten konventioneller Ansätze. Ich glaube auch, dass
Training leicht eine demotivierende Erfahrung werden kann, wenn die im-
plizite Botschaft lautet „Sei still und mach‘ es so“ anstatt „Wir werden mehr dele-
gieren, deswegen stellen wir diesen Kurs zur Verfügung, um Dir bei Deinen neuen
Aufgaben zu helfen.“
Der springende Punkt ist: Einige Trainingsmaßnahmen können auf dieser
Stufe einer Transformation erforderlich sein, aber sie müssen die richtige
Art von Erfahrungen bieten. Einem Problem nur mit Geld zu begegnen, ist
eine ebenso schlechte Idee, wie jemanden kleinzureden.

Systeme an die Vision anpassen

„Wir haben alles getan“, erzählt mir ein Manager, „aber sie leisten wei-
ter Widerstand.“

„Okay“, sage ich, „erzähl mir mehr.“

„Wir haben sehr hart dafür gearbeitet, eine zündende Idee von dem zu
entwickeln, was wir in Zukunft sein wollen. Wir haben diese Idee ohne
Unterlass über alle Kanäle kommuniziert, die uns einfielen. Wir haben
letztes Jahr reorganisiert, um die Struktur mit dem neuen Konzept in
Einklang zu bringen. Wo notwendig, haben wir die Leute weiterquali-
fiziert. All das hat viel Zeit und Energie gekostet, aber wir haben es
getan.“

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94 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
„Wo liegt dann das Problem?“
„Viel zu viele Leute betreiben das Geschäft immer noch auf die alte
Weise“, klagt er.
„Warum ist das Ihrer Meinung nach so?“
„So langsam habe ich die Vermutung, dass es einfach in der mensch-
lichen Natur liegt, sich gegen Veränderungen zu wehren.“
„Wenn Sie 10 Millionen $ im Lotto gewinnen würden“, frage ich, „wür-
den Sie sich weigern, das Geld anzunehmen?“
„Machen Sie Witze?“
„Aber es gibt viele Belege, dass sich das Leben von Menschen auf ziem-
lich tief greifende Weise ändert, wenn sie viel Geld gewinnen.“
„Also?“
„Sie sagen mir also, dass Sie sich solch einem Wandel nicht widersetzen
würden.“
„Okay, okay“, sagt er. „vielleicht widersetzen sich Menschen ja nicht je-
der Art von Veränderung.“
„Wann tun sie das nicht?“
„Wenn sie sehen, dass es in ihrem ureigensten Interesse liegt, nehme ich
an.“
„Und sorgen Ihre Personalmanagementsysteme dafür, dass es im Eigen-
interesse der Mitarbeiter liegt, Ihre neue Vision umzusetzen?“
„Personalmanagementsysteme?“
„Leistungsbeurteilung. Entlohnung. Beförderungen. Nachfolgeplanung.
Wurden sie bereits mit Ihrer neuen Vision in Einklang gebracht?“
„Nun, vielleicht nicht vollumfänglich.“
Eine Untersuchung der Personalmanagementsysteme dieses Unterneh-
mens ergibt:
– Das Leistungsbewertungsformular enthält praktisch nichts Kundenrele-
vantes, obwohl Kunden im Kern der neuen Vision stehen.
– Das Entlohnungssystem belohnt fehlerfreies Arbeiten viel stärker als
das Herbeiführen sinnvoller Veränderungen.
– Entscheidungen über Beförderungen werden sehr subjektiv getroffen
und haben bestenfalls einen eingeschränkten Bezug zu Wandelbemü-
hungen.
– Die Rekrutierungs- und Einstellungssysteme sind zehn Jahre alt und un-
terstützen die Transformation nur marginal.
Weitere Untersuchungen zeigen auch, dass sich die Managementinforma-
tionssysteme hinsichtlich einer besseren Unterstützung der Transformation
kaum verändert haben; gleiches gilt für den strategischen Planungsprozess,

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Kapitel 7: Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen
der sich immer noch viel zu sehr auf kurzfristige Finanzinformationen und
viel zu wenig auf Markt- und Wettbewerbsinformationen konzentriert.
In der ersten Hälfte eines fundamentalen Wandelprozesses können Sie auf-
¢ 95

grund der Beschränkungen bei Zeit, Energie und/oder Geld nicht alles auf
einmal verändern. So lassen sich zum Beispiel Hindernisse, die mit der Un-
ternehmenskultur in Verbindung stehen, bis zum Ende eines jeden Wandel-
projektes, wenn die Leistungssteigerungen ersichtlich sind, nur sehr schwer
komplett beseitigen. Systeme sind leichter zu verändern, aber wenn Sie jede
kleine Inkonsistenz zwischen der neuen Vision und den aktuellen Systemen
bereinigen wollten, würden Sie schlichtweg scheitern. Bevor nicht ein paar
zählbare kurzfristige Erfolge erzielt werden, besitzt die Führungskoalition
selten den Schwung oder die Kraft, große Veränderungen herbeizuführen.
Wenn umgekehrt wesentliche, immanente und fest verdrahtete Anreize
oder Prozesse in echtem Widerspruch zur neuen Vision stehen, müssen Sie
dies direkt angehen. Der Angelegenheit aus dem Weg zu gehen, demotiviert
die Mitarbeiter und steigert die Gefahr, dass Wandel verhindert wird.
Frage: Wie oft kommen die Systeme, vor allem die Personalmanagement-
systeme, dem Wandel in die Quere?
Antwort: Viel zu oft.
Historisch bedingt befinden sich Personalmitarbeiter oft in hoch bürokrati-
schen Personalfunktionen, die Führungsverhalten verhindern und eine Ver-
änderung der operativen Personalarbeit sehr herausfordernd machen. Aus
diesem Muster auszubrechen, ist nicht einfach. Dennoch beobachte ich in er-
folgreichen Transformationen zunehmend couragierte Personalleute, die die
notwendige Führungsstärke zeigen, um die Systeme mit der neuen Vision in
Einklang zu bringen. In manchen Fällen tun sie das trotz geringer Unterstüt-
zung durch Linienmanager oder Kollegen im Personalbereich. Sie tun das,
weil sie sich aufrichtig um die Mitarbeiter kümmern und die möglichen Fol-
gen unzureichend durchgeführter Veränderungsmaßnahmen äußerst ab-
schreckend finden.

Mit unangenehmen Vorgesetzten umgehen

Frank scheint es nicht zu verstehen. Man hat ihm unzählige Male gesagt,
dass das Unternehmen innovativer werden will, weil sich Kreativität in
der Branche massiv auszahlt. Aber er weigert sich, seinen autoritären
Führungsstil zu ändern, der jegliche Eigeninitiative und Kreativität so
schnell erstickt wie Kohlendioxid ein Feuer. Wenn man sein Verhalten
beobachtet, fragt man sich, ob er nicht ein Diplom als „Demotivator“
abgelegt hat. „Das haben wir schon einmal versucht“, sagt er immer
wieder. „Ihr müsst die möglichen Nachteile genauer analysieren“, for-
dert er seine Leute auf. „Dafür haben wir keine Zeit, bitte mach dies.“

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96 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
„Ja, ja, das ist sehr interessant, aber ...“ „Nein, nein, versende den Be-
richt nicht; die Leute brauchen diese Informationen nicht.“ „Martha,
bitte stimmen Sie sich beim nächsten Mal zuerst mit mir ab, bevor Sie ir-
gendetwas unternehmen.“
Frank leitet eine Abteilung mit etwa hundert Mitarbeitern. Wellen des
Wandels spülen bis zu seiner Tür, brechen sich dort und fließen dann ins
Meer zurück. Ein paar seiner Leute wollen trotz aller Anstrengungen
von Frank das Erneuerungsprogramm des Unternehmens unterstützen.
Die meisten allerdings nicht. Einige haben es anfangs versucht und
dann aufgegeben. Einige verstehen es wie Frank einfach nicht. Andere
sind vorsichtig und politisch und richten sich nach ihrem Chef aus.
Wandelfanatiker würden Frank wahrscheinlich verteufeln, aber in Wirk-
lichkeit ist er kein schlechter Mensch. Zum großen Teil ist er, wie wir alle,
ein Produkt seiner Vorgeschichte. Er hat früh einen autoritären Führungs-
stil angenommen, und weil das zu funktionieren schien und ihn im Unter-
nehmen voranbrachte, hat sich daraus eine Reihe tief verwurzelter Ange-
wohnheiten entwickelt.
Könnte man Franks Problem nur auf eine einzige Ursache zurückführen,
wäre ein Wandel viel leichter möglich. Das ist aber nicht der Fall. Er hat
Dutzende eingebrannter Gewohnheiten, die insgesamt seinen Führungsstil
prägen. Würde er nur einen Aspekt seines Verhaltens ändern, würden all
die anderen Gewohnheiten ihn massiv unter Druck setzen, sein Verhalten
beim Alten zu lassen. Er muss all diese Gewohnheiten in Summe verän-
dern, aber das kann genauso anstrengend sein wie mit Rauchen, Trinken
und fettigem Essen gleichzeitig aufzuhören.
Die Tatsache, dass Frank nicht wirklich an die neue „Innovations“-Vision
glaubt, macht all dies noch schwieriger, genauso wie die Tatsache, dass er
nicht ganz sicher ist, was er für eine Umsetzung dieser Vision tun müsste.
Und wie wir alle, versteht er sich darauf, die Situation so zu darzustellen,
dass er in seinen Augen als guter „Corporate Citizen“ dasteht, während an-
dere politisch, eigennützig oder inkompetent erscheinen.
Menschen wie Frank scheint es bei allen Fällen von Reengineering, Restruk-
turierung oder strategischer Neuausrichtung zu geben. Wenn sie zahlreich
sind oder große Personalverantwortung haben, können sie ein gewaltiges
Problem darstellen. Wenn man so mächtigen Leuten wie Frank nicht früh
im Wandelprozess entgegentritt, können sie sämtliche Bemühungen unter-
graben.
Ich habe mindestens ein Dutzend Fälle beobachtet, in denen es drei oder
vier Schlüsselspieler wie Frank gab. Anstatt dem Problem die Stirn zu bie-
ten, schleppten ein enthusiastischer Change Agent und ein paar seiner Kol-
legen diese Leute durch die Stufen 1 bis 4 einer Transformation. Aber in
Stufe 5 brachte die Weigerung der Manager, Verantwortung abzugeben
und Mitarbeiter zu befähigen, die Bemühungen schließlich zum Stillstand.

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Kapitel 7: Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen
Einer der Hauptgründe, warum man sich den Franks dieser Welt nicht ent-
gegenstellt, ist die Sorge, dass sich diese Leute ohnehin nicht verändern
können – aber trotzdem ist man nicht bereit, sie zu degradieren oder zu ent-
¢ 97

lassen. Manchmal wird die Weigerung, solche Maßnahmen zu ergreifen,


von Schuldgefühlen getrieben, besonders dann, wenn die Bremser Freunde
oder frühere Mentoren sind. Politische Überlegungen spielen in diesen Fäl-
len ebenfalls eine wichtige Rolle. Man befürchtet, dass Menschen wie Frank
so mächtig sind, dass sie eine Auseinandersetzung gewinnen und vielleicht
sogar die Change Agents hinausdrängen würden. In vielen anderen Situa-
tionen ist die Abneigung zu handeln damit verbunden, dass Leute wie
Frank gute Kurzfristergebnisse erzielen.
Oft gibt es keine einfachen Lösungen für diese Probleme. Angesichts dessen
brüten Manager manchmal unglaublich komplizierte politische Strategien
aus. Sie versuchen, Leute wie Frank in eine Ecke zu manövrieren, wo sie ru-
hig gestellt werden oder man sich ihrer entledigen kann. Das Problem bei
einem solchen Vorgehen ist, dass es oftmals sehr lange dauert und, wenn
es ans Tageslicht kommt, schrecklich aussehen kann – schäbig, grausam,
unfair.
Nach meinen Beobachtungen ist die beste Lösung für ein solches Problem
üblicherweise ein ehrlicher Dialog. „Hier sind die Fakten über unsere Branche,
das Unternehmen, unsere Vision, die Unterstützung, die wir von Dir benötigen,
und den Zeitrahmen, in dem wir das alles brauchen. Wie können wir Dir helfen,
uns zu helfen?“ Wenn die Situation wirklich hoffnungslos ist und die Person
ausgetauscht werden muss, wird dies in einem solchen Gespräch oft früh
deutlich. Wenn die Person helfen will, sich aber blockiert fühlt, kann die
Diskussion Lösungen hervorbringen. Wenn die Person helfen will, aber
dazu nicht in der Lage ist, werden klare Erwartungen und Zeitpläne mög-
liche Konflikte bei einer Absetzung letztlich reduzieren. Die grundlegende
Fairness dieses Ansatzes vermindert Schuldgefühle und Schuldzuweisun-
gen. Das rationale und wohlüberlegte Gespräch hilft aber auch dabei, die
Gefahr einzudämmen, dass gute kurzfristige Ergebnisse plötzlich ins Nega-
tive umschlagen oder dass Frank und seinesgleichen einen erfolgreichen
politischen Gegenangriff starten können.
Schuld, politische Erwägungen und die Sorge um kurzfristige Ergebnisse
verhindern es sehr häufig, dass diese ehrlichen Diskussionen geführt wer-
den. Im Nachhinein bereuen Top-Manager es dann oft, sich nicht schon frü-
her im Prozess mit den problematischen Managern auseinandergesetzt zu
haben. Ich habe schon so oft gehört: „Ich hätte mich viel früher um Hal/
George/Irene kümmern sollen.“
Die Abneigung, Managern wie Frank die Stirn zu bieten, kommt in Wandel-
bemühungen häufig vor. Sie hilft aber nur selten. Diese Blockierer verhin-
dern notwendige Maßnahmen. Und was vielleicht noch wichtiger ist: An-
dere sehen, dass diese Leute nicht aufgehalten werden, und lassen sich

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98 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
davon entmutigen. Entmutigte Mitarbeiter sind nicht hilfreich dabei, die
große Zahl an Wandelprojekten zu bewerkstelligen, die typischerweise in
einer Transformation notwendig sind. Stattdessen geben sie auf – schon
lange, bevor die Ziellinie erreicht ist und neue Ansätze in der Unterneh-
menskultur verankert sind.

Eine gigantische Kraftquelle erschließen

Entmutigte und entmachtete Mitarbeiter werden ein Unternehmen nie zum


Gewinner in einer globalisierten Geschäftswelt machen. Aber mit der richti-
gen Struktur, dem richtigen Training, den richtigen Systemen und Füh-
rungskräften, die auf einer gut kommunizierten Vision aufbauen können
(vgl. Abbildung 19, erster Punkt), erkennt eine wachsende Zahl an Unter-
nehmen, dass sie eine gigantische Kraftquelle erschließen können, um die
Leistung der Organisation zu steigern. Sie können Hunderte oder Tausende
Menschen so mobilisieren, dass sie die Führungsstärke ausüben, die für
den notwendigen Wandel gebraucht wird.

Abbildung 19: Mitarbeiter befähigen, um Wandel herbeizuführen

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Kapitel 8: Schnelle Erfolge erzielen

Als einer der meiner Meinung nach charismatischsten Visionäre, die ich
kenne, zum Vorsitzenden eines 1,7 Milliarden $ schweren Bereichs eines gro-
ßen US-Unternehmens wurde, nahm die Aufregung in der Branche dramati-
sche Züge an. Vielen Mitarbeitern kam sein erstes Jahr wie eine wundervolle
und notwendige frische Brise vor. Plötzlich wurden in den Meetings mutige
Ideen anstatt Trivialitäten diskutiert. Heilige Kühe wurden geschlachtet und
jedem, der valide Informationen zu Problemen oder Chancen hatte, wurde
zugehört. Als sich eine Koalition um die neue Führungsperson bildete, be-
gann das Team über fundamentale Änderungen der strategischen Richtung
des Unternehmens zu diskutieren.
Es entstand die Vision eines globalen Hochtechnologieunternehmens, das
verschiedene Grundbaustoffe in höchster Qualität und zu bemerkenswert
niedrigen Preisen anbieten sollte. Gegen Mitte des zweiten Jahres drang die
Kommunikation dieser Vision bis in den letzten Winkel des Unternehmens
durch. Zu Beginn des dritten Jahres wurden mehr und mehr Veränderun-
gen durchgeführt, um die Vision in die Realität umzusetzen. Neue Produkte
wurden eingeführt. Neue Trainingsprogramme wurden implementiert. Ab-
teilungen wurden neu organisiert. Eine große Reengineeringmaßnahme
wurde in der Finanzabteilung durchgeführt. Eine Schlüsselfigur aus dem
Top-Management ging in den vorzeitigen Ruhestand. Fast 500 Millionen $
wurden für eine große Akquisition ausgegeben. Alle Aktivitäten wirkten be-
rauschend. Sogar die Wirtschaftspresse fand Gefallen daran; in der Mitte
des dritten Jahres wurden von vier verschiedenen Zeitschriften schmei-
chelhafte Artikel über die Veränderungen in dem Unternehmen herausgege-
ben.
Diese Geschichte beeindruckte mich sehr. Es war nicht so, dass ich nicht
auch Warnsignale erkannte. Die Führungskoalition unseres Helden war nie
sehr stark mit der Firmenzentrale verbunden. Aber vieles von dem, was er
tat, war so sehr auf Zielkurs, dass ich diesem Unternehmen im dritten Jahr
bestätigt hätte, die Marktführerschaft innerhalb der nächsten 48 Monate zu
erreichen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Transformationsprozess
entgleisen könnte.
Ich lag mit meiner Einschätzung falsch.
Um es kurz zu machen: Mitte des vierten Jahres wurde der charismatische
Anführer gefeuert. In den nachfolgenden zwölf Monaten kollabierten und
verschwanden viele seiner angestoßenen Initiativen. Während dieser Zeit
wurden ungefähr zwei oder drei weitere Manager aus dem Unternehmen

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100 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
gedrängt und mindestens ein halbes Dutzend weitere verließen das Unter-
nehmen auf eigenen Wunsch. Die Mitarbeitermoral brach zusammen. Die
finanziellen Ergebnisse verbesserten sich für einige Quartale, bevor sie in
einen anhaltenden Abwärtstrend übergingen. Während ich dies schreibe,
befindet sich der Bereich immer noch in einem chaotischen Zustand.
Im Nachhinein betrachtet, liegen die Fehler klar auf der Hand. Nur ein ein-
ziger, nicht sehr einflussreicher Top-Manager aus der Firmenzentrale war
Teil der Führungskoalition. Gegen Mitte des zweiten Jahres wurden diejeni-
gen, die nicht der Meinung dieser Koalition waren, ignoriert, auch wenn sie
nur hilfreich sein wollten. Der größte Fehler war jedoch, dass schnelle Er-
folge nicht im Fokus waren. Die Menschen waren so sehr mit großartigen
Träumen beschäftigt, dass sie die gegenwärtige Realität nicht mehr wirk-
sam steuerten. Als kritische Stimmen fragten, ob denn der eingeschlagene
Weg das Unternehmen auch in die richtige Richtung führen würde, konnte
nichts Überzeugendes vorgezeigt werden. Als die Koalition daraufhin die
Verärgerten als visionslose Trottel beschimpfte, wurde die Firmenzentrale
wachsam. Als der Bereich schließlich im dritten Jahr beinahe alle finanziel-
len Prognosen um einen kleinen Betrag verfehlte, ohne jedoch die Zentrale
vorher zu warnen, wurde der CEO misstrauisch. Da der Bereich im zweiten
Quartal des vierten Jahres, abermals ohne große Vorwarnung, wieder Ver-
luste schrieb, wurde der charismatische Bereichsleiter gefeuert.
Einige Leute, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens,
glauben noch immer, dass der CEO einen schrecklichen Fehler gemacht
hat. Sie könnten Recht haben. Aber der charismatische Bereichsleiter hat
zweifellos einen viel größeren Fehler gemacht. Weil er schnellen Erfolgen
keine Aufmerksamkeit geschenkt hat, erzeugte er nicht die notwendige
Glaubwürdigkeit, um seine Bemühungen langfristig aufrechtzuerhalten.
Tief greifender Wandel braucht seine Zeit, manchmal sehr viel Zeit. Enthu-
siastische Befürworter halten häufig durch, egal, was auch passiert. Die
meisten anderen wollen allerdings überzeugende Beweise dafür sehen,
dass sich die ganzen Bemühungen auch auszahlen. Nicht überzeugte Men-
schen haben eine noch höhere Messlatte. Sie wollen klare Daten sehen, die
beweisen, dass die Veränderungen funktionieren und der Wandelprozess
nicht zu viele Ressourcen bindet und damit die gesamte Organisation in
Gefahr bringt.
Einen Transformationsprozess durchzuführen, ohne schnelle Erfolge zu be-
rücksichtigen, ist extrem riskant (siehe Abbildung 20). Manchmal haben Sie
Glück und sichtbare Erfolge sind ganz einfach da. Aber manchmal verlässt
einen das Glück, wie im Fall des visionären Bereichsleiters.

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Kapitel 8: Schnelle Erfolge erzielen ¢ 101

Abbildung 20: Der Einfluss schneller Erfolge auf die Geschäftstransformation

Die Nützlichkeit schneller Erfolge: Ein Beispiel

Eine Versicherungsgesellschaft führt eine groß angelegte Reengeneering-


maßnahme durch. Die Führungskoalition ist sich bewusst, dass die Durch-
führung vier Jahre dauern wird und fragt sich Folgendes: Wie können wir
innerhalb von 6 bis 18 Monaten diverse eindeutige Leistungsverbesserun-
gen planen und umsetzen? Nach sorgfältiger Überlegung identifizieren sie
drei Gebiete: eine Abteilung, in der die Kosten innerhalb eines Jahres signi-
fikant verringert werden können, eine Prozessverbesserung, die sichtbar
und nützlich für den Kunden ist, und eine kleine Reorganisation, die einen
positiven Effekt auf die Moral der Mitarbeiter einer Gruppe haben sollte.
Für jeden dieser drei Bereiche werden spezifische Ziele und Pläne im opera-
tiven Budget des Unternehmens zugeordnet. Eine Person innerhalb der
Koalition bekommt die Verantwortung, diese drei Bereiche zu überwachen.
In Vorstandssitzungen, die im Turnus mindestens alle zwei Monate stattfin-
den, werden alle drei Miniprojekte überprüft.
Die Implementierung der drei Leistungsverbesserungen innerhalb des en-
gen Zeitplans erweist sich als Herausforderung. Das mittlere Management
versucht, die Reorganisation zu verzögern. Selbst die begeisterten Verfech-
ter der Reengineeringmaßnahme wollen die für den Kunden sichtbare Pro-

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102 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
zessverbesserung verlangsamen. Zu allem Überfluss sind die Informations-
systeme des Unternehmens nicht immer in der Lage, die Verbesserungen
darzustellen. Hätte niemand aktiv diese Probleme überwacht, dann hätte
das Unternehmen nie drei eindeutige schnelle Erfolge erzielt. Verschiedene
Einflüsse hätten Verzögerungen oder Planabweichungen verursacht. Die
existierenden Systeme hätten Verbesserungen nicht klar aufgezeigt.
Trotz dieser Erfolge fanden Skeptiker Beweise dafür, dass das Reenginee-
ring zu teuer, zu langsam oder schlicht falsch war. Die Leistungsverbesse-
rungen nahmen ihnen jedoch den Wind aus den Segeln. Die Erreichung
der Ziele gab der Führungskoalition ein klares Feedback über die Umsetz-
barkeit ihrer Vision. Und für diejenigen, die aktiv für einen Wandel kämpf-
ten, waren die schnellen Siege Meilensteine, die ihnen Grund gaben, sich
auf ihrem langen Weg auf die Schulter zu klopfen.

Art und Zeitpunkt für schnelle Erfolge

Die aus Phase 6 des Transformationsprozesses benötigten Resultate müssen


sowohl sichtbar als auch eindeutig sein. Subtilität wird nicht helfen. Ge-
nauso wenig hilft es, am Thema vorbeizureden.
Ein gutes Meeting durchzuführen reicht ebenso wenig aus wie das Schlich-
ten eines Streites, die Erstellung eines neuen Designs, an dem sich die Ent-
wicklung erfreut, oder das Versenden von 5.000 Kopien der neuen Vision
an alle Mitarbeiter. Jede dieser Aktionen ist wichtig, aber keine ist ein Bei-
spiel für einen schnellen Erfolg.
Ein schneller Erfolg zeichnet sich durch die folgenden drei Charakteristika
aus:
1. Er ist sichtbar, viele Menschen können sich so selbst davon überzeugen,
ob es sich um ein echtes Resultat handelt oder ob es nur ein Hype ist.
2. Er ist eindeutig. Es gibt keine Kritikpunkte.
3. Er bezieht sich klar auf den Wandelprozess.
Wenn eine Reengineeringmaßnahme innerhalb von zwölf Monaten eine
Kostenreduktion verspricht und diese dann wie erwartet eintrifft, dann ist
dies ein Erfolg. Wenn eine Reorganisation zu Beginn einer Transformation
die erste Phase einer Produktentwicklung von zehn auf drei Monate ver-
kürzt, dann ist dies ein Erfolg. Wenn eine Akquisition früh assimiliert wird
und so gut verläuft, dass die Business Week darüber einen lobenden Artikel
publiziert, dann ist das ein Erfolg.
In kleinen Unternehmen oder Unternehmenseinheiten sollten die ersten Re-
sultate bereits nach einem halben Jahr vorliegen. In großen Konzernen sind
eindeutige Erfolge innerhalb von 18 Monaten notwendig. Unabhängig von
der Unternehmensgröße bedeutet dies, dass vermutlich die ersten Phasen

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Kapitel 8: Schnelle Erfolge erzielen
noch nicht abgeschlossen sind, während Phase 6 bereits etwas Produktives
hervorbringen muss.
Frage: Aber ist es nicht komplex, in mehreren Phasen gleichzeitig zu operie-
¢ 103

ren?
Antwort: Ja. Aber das ist genau das, was während eines erfolgreichen Wan-
dels passiert.

Die Rolle der schnellen Erfolge

Schnelle Erfolge unterstützen Transformationen in mindestens sechserlei


Hinsicht (siehe Zusammenfassung in Abbildung 21). Erstens erhalten die
Maßnahmen dadurch die notwendige Unterstützung. Außerdem wird den
Mitarbeitern gezeigt, dass sich die Opfer lohnen und sie insgesamt stärker
machen.
Zweitens bekommen die Unterstützer des Wandels die Gelegenheit, sich
einen Moment zurückzulehnen und die kleinen Erfolge zu feiern. Kon-
stante Anspannung über einen längeren Zeitraum ist für Menschen nicht
gesund. Eine kleine Feier nach einem Erfolg kann für Körper und Geist er-
frischend wirken.
Drittens unterstützt der Prozess, der zur Generierung schneller Erfolge not-
wendig ist, die Führungskoalition darin, die Vision einem Realitätstest zu
unterziehen. Was in diesen Tests gelernt wird, ist extrem wertvoll. Manch-
mal ist die Vision nicht komplett fehlerlos. Es kommt in der Regel vor, dass
die Strategien angepasst werden müssen. Ohne einen konzentrierten Ein-
satz zur Schaffung schneller Erfolge kann es vorkommen, dass diese Pro-
bleme zu spät erkannt werden.
Viertens verhindern schnelle Leistungsverbesserungen, dass Zyniker und
Widersacher den Wandel blockieren können. Erfolge lassen zwar nicht alle
Kritiker verstummen (was wahrscheinlich auch gut ist, denn Meinungsviel-
falt kann ein Unternehmen davon abhalten, sich ins Unglück zu stürzen),

Abbildung 21: Die Rolle der schnellen Erfolge

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104 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
aber sie nehmen den Gegnern teilweise ihre Munition und machen es somit
schwieriger, die Unterstützer des Wandels zu torpedieren. Generell gilt: Je
mehr Zyniker und Verweigerer existieren, desto wichtiger sind schnelle Er-
folge.
Fünftens sorgen sichtbare Erfolge für die notwendige Unterstützung durch
die Unternehmensführung. Wenn die höheren Hierarchiestufen den Glau-
ben an die Sache verlieren, dann sind sämtliche Transformationsbemühun-
gen in großen Schwierigkeiten.
Schließlich helfen schnelle Erfolge, das notwendige Momentum aufzu-
bauen. Abwartende Beobachter werden zu Unterstützern, zurückhaltende
Unterstützer zu aktiven Teilnehmern usw. Diese Dynamik ist entscheidend,
weil, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, die notwendige Energie
für die Durchführung der Phase 7 oftmals enorm ist.

Planen von versus Hoffen auf Ergebnisse

Transformationen entgleisen manchmal, weil Menschen den schnellen Leis-


tungsverbesserungen innerhalb des Veränderungsprozesses einfach zu we-
nig Bedeutung beimessen. Es liegt allerdings noch häufiger daran, dass Ma-
nager schnelle Erfolge einfach nicht systematisch planen.
„Welche Beweise für Fortschritte werden wir innerhalb der nächsten
24 Monate sehen?“, fragte ich.
„Da gibt es vier oder fünf Möglichkeiten“, antwortete ein Mitglied der
Führungskoalition.
„Möglichkeiten?“, sagte ich.
„Ja. Mit ein wenig Glück werden die Kosten im Bereich Auftragsabwick-
lung oder in der Auftragsausführungsgruppe gesenkt.“
„Mit ein wenig Glück“, sagte ich.
„Wenn das Marketing sich zusammenreißt, könnten wir bis dahin auf-
grund unserer Nischenstrategie echte Umsatzzuwächse verbuchen.“
„Könntet Ihr?“
„Ja. Und es ist möglich, nehme ich zumindest an, dass die neue Werbe-
agentur – wir wählen gerade eine aus – die Fernsehstrategie bereits im-
plementiert hat, um so eine messbare Verbesserung der Marktanteile
aufzuzeigen.“
„Es ist möglich?“
„Ja, das könnte alles passieren.“
In wirklich erfolgreichen Transformationsprozessen kommen solche Dia-
loge nicht vor. Schnelle Erfolge sind nicht das Resultat von „ein wenig
Glück“. Es handelt sich auch nicht nur um Möglichkeiten. Menschen hoffen

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Kapitel 8: Schnelle Erfolge erzielen
und beten nicht einfach für Leistungsverbesserungen. Sie planen schnelle
Erfolge, organisieren dementsprechend und implementieren den Umset-
zungsplan, um die Ziele zu erreichen. Es gilt auch nicht, kurzfristige Ergeb-
¢ 105

nisse auf Kosten der Zukunft zu maximieren. Der Punkt ist, dass sichtbare
Ergebnisse der Transformationsbestrebung hinreichend Glaubwürdigkeit
vermitteln müssen.
Frage: Klingt offensichtlich. Warum wird es dann nicht von allen so ge-
macht?
Antwort: Aus mindestens drei Gründen.
Leute planen diese Erfolge nicht ausreichend, weil sie von der Aufgabe
überwältigt sind. Oftmals ist das Dringlichkeitsgefühl nicht ausreichend
ausgeprägt oder die Vision ist unklar. Dies führt dazu, dass die Transforma-
tion nicht reibungslos vonstattengeht und die Leute dazu übergehen, sich
abzumühen, um noch irgendwie die Kurve zu kriegen. Aufgrund der
dann allgegenwärtigen Panik erfährt die Planung schneller Erfolge zu we-
nig Zeit oder zu wenig Aufmerksamkeit.
In anderen Fällen versuchen die Leute gar nicht großartig, diese Erfolge zu
erreichen, weil sie glauben, dass man nicht tief greifenden Wandel und exzel-
lente, schnelle Erfolge erreichen kann. Abertausende von Managern haben
gelernt, dass das Leben in einer Organisation ein Trade-Off zwischen Kurz-
und Langfristigkeit ist. In diesem Glaubenssystem kann man entweder auf
lange Sicht planen und kurzfristig kleine Brötchen backen oder kurzfristig
sehr gute Leistung bringen und dafür die Zukunft auf das Spiel setzen.
Nach diesem Denkschema bedeutet die Durchführung eines umfassenden
Transformationsprogramms eine langfristige Angelegenheit, was wiederum
im Umkehrschluss bedeutet, dass schnelle Erfolge problematisch sind. Si-
cherlich darf man die nahe Zukunft nicht außer Acht lassen, aber große Re-
sultate können so nicht erreicht werden. Das ist einfach unmöglich.
Vor zehn Jahren hätte ich solch einer Sichtweise gewiss zugestimmt. Ich
habe jedoch zu viele gegenteilige Beweise gesehen. Um es mit den Worten
eines renommierten Top-Managers auszudrücken: „Management besteht da-
rin, schnelle Erfolge zu realisieren und gleichzeitig sicherzustellen, zukünftig in
einer noch besseren Position zu sein, um noch erfolgreicher zu werden.“ In den
letzten zehn Jahren habe ich Dutzende Unternehmen beobachtet, denen bei-
des gelang. Sie haben sich selbst in bessere Unternehmen transformiert und
dabei in jedem Quartal gute Resultate erreicht.
Ein drittes Element, das die Planung notwendiger Erfolge untergräbt, ist
das Fehlen von ausreichendem Management, insbesondere in der Füh-
rungskoalition, oder fehlendes Commitment der Schlüsselspieler. Im Gro-
ßen und Ganzen bedeutet Leadership das langfristige Handeln, während
Management für das kurzfristige Handeln zuständig ist. Ohne ausreichen-
des gutes Management sind Planung, Organisation und Überwachung der
Resultate nicht möglich.

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106 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Ohne kompetentes Management wird den Bewertungssystemen nur unzu-
reichend Aufmerksamkeit geschenkt. Bestehende Informationssysteme ver-
sagen entweder bei der Dokumentation wichtiger Leistungsverbesserungen
oder sie bewerten deren Ausmaß nicht hoch genug. Ohne kompetentes Ma-
nagement werden taktische Entscheidungen beschönigt oder schlecht umge-
setzt. Akquisitionen werden eher impulsiv vorgenommen und nicht, weil sie
rational die Vision unterstützen. Die Sequenzierung der Ereignisse – führen
wir die Restrukturierung dieses Jahr durch oder erst, nachdem die Qualitäts-
maßnahme weiter fortgeschritten ist – wird zu wenig berücksichtigt.
Da im 20. Jahrhundert die Betonung auf dem Management lag – mit der Aus-
nahme von kleinen und jungen Firmen – fehlt es den meisten Unternehmen
nur selten an dieser Perspektive. Bis zu einem bestimmten Punkt kommen
kleine Firmen ohne viel Planung und Kontrolle aus. Wenn der Firmengrün-
der ein Visionär ist, der Strukturen ablehnt (keine ungewöhnliche Situation),
dann wird er oder sie sich vielleicht dem Managementdenken widersetzen,
was aber in dieser Phase des Transformationsprozesses zu einem Problem
werden kann.
In älteren und größeren Firmen liegt das Problem unzureichenden Manage-
ments typischerweise an einem neuen starken Leader, der seine Manager
ignoriert, oder an einem fehlenden Commitment der Manager für die Trans-
formation. Ersteres traf im Falle des charismatischen Bereichsleiters zu, der
schließlich seinen Job verlor. Tief in seinem Herzen dachte er, dass die Leute,
die das gegenwärtige System in Gang hielten, von geringer Bedeutung
waren. Obwohl er es nie direkt sagte, konnte man es zwischen den Zeilen
lesen. Wenn also einige dieser Leute versuchten, ihn über die kurzfristige
wirtschaftliche Situation zu informieren, ignorierte er sie häufig.
Man findet bei den Managern in großen, alteingesessenen Unternehmen oft
einen Mangel an Selbstverpflichtung für den Wandel, wenn die frühen Pha-
sen der Transformation nicht vernünftig durchgeführt wurden. Das Fehlen
des Dringlichkeitsgefühls, der Mangel an Schlüsselspielern in der Füh-
rungskoalition, das Scheitern der Kommunikation einer effektiven Vision
und das Fehlen eines Mitarbeiter-Empowerments auf breiter Basis führen
dazu, dass Menschen in Organisationen mit zu viel Management und zu
wenig Leadership oftmals während des Wandels an der Seitenlinie stehen.
Insbesondere betrifft dies auch Manager, die wesentlich zur Erreichung not-
wendiger, schneller Erfolge beitragen könnten.

Mehr Druck ist nicht immer schlecht

Die Planung schneller Erfolge während eines Transformationsprozesses er-


höht den Druck auf die Mitarbeiter. Manchmal wird daher argumentiert,
dass diese zusätzlichen Anforderungen nicht angemessen sind. „Wir haben

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Kapitel 8: Schnelle Erfolge erzielen
schon genug zu tun“, sagen die Leute, „auch ohne noch mehr Belastungen.
Geben Sie uns eine Pause.“
Diese Denkweise ist nicht von der Hand zu weisen. Trotzdem konnte ich
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sehr oft beobachten, dass kurzfristiger Druck ein sinnvolles Instrument


sein kann, um das Dringlichkeitsbewusstsein aufrechtzuerhalten. Wenn
das Veränderungsprogramm bereits ein oder zwei Jahre läuft und ein Ende
noch immer nicht in Sicht ist, dann tendieren die Mitarbeiter dazu, es locke-
rer zu sehen. Sie fangen an zu denken: „Wenn das noch viele Jahre dauern
wird, dann bringt uns ein weiteres Vierteljahr auch nicht um.“ Sobald aber das
Gefühl für die Dringlichkeit nachlässt, wird alles viel schwieriger durchzu-
führen. Kleine Aufgaben, die vorher innerhalb eines Monats erledigt wur-
den, dauern plötzlich dreimal so lange.
Selbstverständlich führt ein erhöhter Druck nicht immer zu einer Erhöhung
des Dringlichkeitsgefühls. Die Belastung durch das Erreichen schneller Er-
folge kann natürlich zu Stress und Erschöpfung führen. In erfolgreichen
Wandelbestrebungen verknüpfen Vorgesetzte Druck mit Dringlichkeit, in-
dem sie ständig die Vision und die Strategien artikulieren. „Dies haben wir
vor und aus folgenden Gründen ist es so wichtig. Ohne diese schnellen Erfolge
könnten wir alles verlieren. Alles, was wir für unsere Kunden, Aktionäre, Mitar-
beiter und die Gemeinschaft erreichen wollen, wird sehr problematisch in der Um-
setzung. Daher müssen wir diese Resultate erbringen.“ Diese Art der Kommuni-
kation verdeutlicht den Ernst der Lage und treibt die Leute an. Nach 12
oder 36 Monaten in einem Transformationsprozess brauchen erschöpfte
Mitarbeiter oftmals neue Motivation.

Schnelle Erfolge müssen echt sein

Bis zu einem gewissen Grad bedeutet jedes Management Manipulation –


dies beinhaltet auch die Schaffung kurzfristiger Leistungsverbesserungen.
In einigen Fällen konnte ich jedoch beobachten, wie diese Manipulationen
neue – im negativen wie im positiven Sinne – Formen angenommen haben.
Um in einem massiven Veränderungsprozess an Momentum zu gewinnen, wird
Phil zum wahren Zauberkünstler der Finanzabteilung. Er amortisiert dies,
schreibt jenes ab, fordert von einigen Gruppen harte Einsparungen und verkauft
Vermögensanteile. Das Ergebnis ist eine langsam, aber stetig nach oben steigende
Erfolgskurve. Wenn Kollegen sein Transformationsprogramm kritisieren, wirft er
ihnen jedes Mal die Daten vor die Füße, so wie ein furchtloser Vampirkiller das
Kreuz benutzt. Und diese Strategie funktioniert, zumindest eine Weile.
Diese Art von Zahlenspielerei kann in bestimmten, schwierigen Situationen
hilfreich sein. Die hiermit verbundenen Risiken sind jedoch erheblich. Ers-
tens macht sie abhängig. Einmal mit diesem Spiel angefangen, wird das
Aufhören schwierig. Augenwischerei beschwört Probleme für die Zukunft,

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108 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
die wiederum nur mit weiterer Augenwischerei vertuscht werden können.
Zweitens kann das dazu führen, dass unter den Schlüsselspielern immer
mehr zu Zynikern und Widersachern werden, die intelligent genug sind,
um dieses Spiel zu durchschauen. Mächtige Zyniker können sehr störend
sein. Und drittens ist es möglich, dass sich diejenigen abwenden, die diese
Vorgehensweise als unethisch empfinden.

Einige dieser Risiken können eliminiert werden, wenn die gesamte Füh-
rungskoalition die Anwendung dieser Methoden diskutiert und verabschie-
det. Doch selbst dann liefern die geschönten Ergebnisse keine solide Basis,
auf der die Transformationsphasen 7 und 8 aufbauen können. Schnelle Er-
folge, die eine Transformation unterstützen, sind normalerweise echt. Sie
sind nicht nur Schall und Rauch.

Die Rolle des Managements

Das systematische Setzen von Zielen und deren Budgetierung, Planung, Or-
ganisation und Durchführung sowie das Prozesscontrolling – das ist die Es-
senz von Management. Wenn man dies im Hinterkopf behält, kann man
leicht erkennen, dass die Notwendigkeit schneller Erfolge in einem erfolg-
reichen Veränderungsprozess ein wichtiges Prinzip verdeutlicht: Transfor-
mation ist kein Prozess, bei dem es nur auf Leadership ankommt; gutes Ma-
nagement ist auch wesentlich. Wie Abbildung 22 zeigt, ist eine Balance der
beiden Elemente erforderlich.

Weil Leader bei jedem umfassenden Wandel eine so zentrale Bedeutung


haben, setzen wir gelegentlich Transformation mit Leadership gleich. Re-
strukturierungen, Turnarounds und kulturelle Veränderungen ohne starke
Führung durch viele Beteiligte werden sicherlich nicht gut oder sogar gar
nicht implementiert. Es gehört jedoch noch mehr dazu. Restrukturierung
setzt finanzielle Expertise, Reengineering technisches Wissen und Akquisi-
tionen einen strategischen Überblick voraus. Alle diese Prozesse innerhalb
großer Veränderungsprojekte müssen geführt werden, damit sie nicht au-
ßer Kontrolle oder sogar ins Wanken geraten.

Frage: Aber ist die Notwendigkeit von Management nicht offensichtlich?

Antwort: Grundsätzlich ja, aber nicht unbedingt für charismatische Leader.

Charismatische Leader sind oft schlechte Manager, aber sie überzeugen uns
davon, dass wir nichts anderes tun müssen, als ihnen zu folgen. „Mach Dir
keine Sorgen um die Details, denke nur an die Vision.“ „Sorge dich nicht um die
Finanzen; auf lange Sicht wird alles gut werden.“ Unser Intellekt reagiert ei-
gentlich skeptisch auf diesen Ansatz, aber unsere Herzen können trotzdem
gewonnen werden.

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Abbildung 22: Die Wechselbeziehungen von Leadership, Management,


schnellen Erfolgen und erfolgreicher Transformation

Ich möchte nicht suggerieren, dass Charisma etwas Schlechtes ist. Es ist be-
wiesen, dass persönliche Ausstrahlung in einem Wandel äußerst hilfreich
sein kann. Wenn jedoch ein charismatischer Leader kein guter Manager ist
und zugleich die Managementfähigkeiten der anderen nicht schätzt, dann
ist das Erzielen von schnellen Erfolgen sehr problematisch. Glaubwürdig-
keit und Momentum, beides Voraussetzungen für die erfolgreiche Durch-
führung der Phase 7, sind dann selten vorhanden. Wie wir im nächsten Ka-
pitel sehen werden, ist das Ausmaß des Wandels in Phase 7 oft enorm.
Veränderungen in dieser Größe werden niemals ohne eine solide Basis von
Glaubwürdigkeit und starkem Momentum vorangebracht.
Das vorrangige Ziel der ersten sechs Phasen des Transformationsprozesses
ist es, genügend Momentum aufzubauen, um so die in vielen großen Orga-
nisationen vorhandenen dysfunktionalen Granitmauern zu durchbrechen.
Wenn eine dieser Phasen ignoriert wird, riskieren wir das Ergebnis der ge-
samten Bemühungen.
In etablierten, seit Jahrzehnten existierenden Unternehmen können diese
Granitwände dick sein – manchmal extrem dick.

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Kapitel 9: Erfolge konsolidieren und weitere
Veränderungen einleiten

Als sich die Leute für das jährliche Führungskräftetreffen anmeldeten,


erhielten sie ein Paket von Unterlagen, die eine Zusammenstellung ge-
fälliger Zeitungsausschnitte der letzten zwölf Monate enthielten. Beim
Eröffnungsbankett am Vorabend pries der CEO die 110 Führungskräfte
für alles, was sie erreicht hatten, und beendete den Abend mit vier Trink-
sprüchen. Am ersten Tag des Treffens hoben nicht weniger als sechs Red-
ner die jüngsten Erfolge hervor und erwiesen den Zuhörern ihren Res-
pekt. Im Rahmen des Abendbanketts wurden später 15 Mitarbeitern
Auszeichnungen verliehen. Am nächsten Morgen gab es eine Reihe von
Best-Practice-Präsentationen, die sich in noch mehr Schulterklopfen ver-
wandelten. Am Abend unterhielt ein berühmter Sänger die Anwesen-
den. Wenn das alles noch nicht gereicht hatte, um die Egos tief zu berüh-
ren, dann tat die abschließende Gratulationsrunde des CEO ihr Übriges.

Welches Dringlichkeitsgefühl die Führungskräfte auch immer verspürt hat-


ten, es starb bei diesem Treffen ab. Die implizite Botschaft war laut und
deutlich: Wir kommen mit diesem harten Marktumfeld zurecht. Das ist ein
Kinderspiel. Schaut doch, was wir alles erreicht haben. Wir sind gut in
Form. Also entspannt Euch und genießt die Musik.

Natürlich sagte keiner explizit „entspannt Euch“, und der CEO war sich
sehr wohl dessen bewusst, dass noch viel mehr zu tun war, um den einige
Jahre zuvor begonnenen Transformationsprozess abschließen zu können.
Alles, was er tun wollte, war, seinen Führungskräften zu danken und sie
mit aufrichtigem Lob zu motivieren. Aber die Botschaft, die beim Plenum
ankam, lautete, dass sie die schwierige Arbeit des Veränderns bereits hinter
sich hatten.

Im Verlauf des nächsten Jahres wurden zahlreiche Wandelinitiativen im Un-


ternehmen gestoppt oder verlangsamt. Die Empfehlung eines Beraters zur
umfassenden Reorganisation einer Division wurde auf die lange Bank ge-
schoben. In einer anderen Division wurde die dritte Phase eines Reenginee-
ringprojektes vorübergehend ausgesetzt. Plötzlich begannen Mitarbeiter,
die bereits vereinbarten Änderungen im Personalbereich in Zweifel zu zie-
hen. Die Investmentbanker, die versuchten, einen Geschäftsbereich zu ver-
kaufen, wurden angewiesen, eine Pause einzulegen. Schon früher identifi-
zierte Themen, die in diesem Jahr in Initiativen umgesetzt werden sollten,
wurden größtenteils ignoriert. Als die wichtigsten Change Agents im Top-

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Management endlich realisierten, was passierte, war schon viel von dem in
drei Jahren harter Arbeit aufgebauten Momentum verpufft.
Fundamentaler Wandel benötigt besonders in Großunternehmen oft eine
lange Zeit. Viele Kräfte können den Prozess auch noch kurz vor der Zielli-
nie abreißen lassen: Weggang von zentralen Change Agents, schiere Er-
schöpfung aufseiten der Führungskräfte, Pech. Unter diesen Umständen
sind kurzfristige Erfolge essenziell, um das Momentum zu erhalten, aber
das Feiern solcher Siege kann tödlich sein, wenn die Dringlichkeit verloren
geht. Mit Selbstgefälligkeit können die beharrenden traditionellen Kräfte in-
nerhalb kürzester Zeit und mit bemerkenswerter Energie schnell wieder die
Oberhand gewinnen.

Widerstand: Abwarten, bis der Sturm vorüber ist

Irrationaler und politischer Widerstand gegenüber einer Veränderung lässt


sich nie vollständig auflösen. Selbst wenn man in den frühen Phasen der
Transformation erfolgreich ist, kann man nicht den egozentrischen Mana-
ger, der erschrickt, wenn eine Reorganisation auf sein Revier übergreift,
oder den engstirnig fokussierten Ingenieur, dem es nicht in den Kopf will,
warum man so viel Zeit damit verbringt, sich über Kunden Gedanken zu
machen, oder den beinharten Finanzchef, der das Empowerment von Mit-
arbeitern für lächerlich hält, für sich gewinnen. Man kann solche Leute ig-
norieren oder in die Wüste schicken. Aber anstatt sich zu verändern oder
zu kündigen, werden sie versuchen, diese Zeit auszusitzen und auf die Ge-
legenheit für ein Comeback warten. Bei Feierlichkeiten wie den eingangs er-
wähnten kann es passieren, dass die Change Agents der Opposition genau
so eine Möglichkeit bieten, wieder ins Spiel zurückzukommen.
Manchmal nehmen ausgerechnet die Widerständler Würdigungen vor, be-
sonders wenn sie gewitzt und zynisch veranlagt sind. Nach einer solchen
Art von Feierlichkeit nutzen sie ihre Stimme für hintergründige Botschaf-
ten. „Ich vermute, das beweist, dass wir gewonnen haben“, sagen sie. „Die Opfer
waren erheblich, aber wir haben etwas erreicht. Lasst uns jetzt alle mal durchat-
men.“ Wenn die Leute wirklich erschöpft sind, werden sie das gerne hören,
auch wenn sie wissen, dass es noch viel zu tun gibt. Sie überlegen sich, dass
eine kurze Pause und die Einkehr einer gewissen Stabilität nicht schaden
würden. Und vielleicht ist man nach einem kleinen Urlaub auch wieder
mit neuer Energie ausgestattet, um die nächste Phase der Veränderung mit
voller Kraft angehen zu können.
Die Konsequenzen eines solchen Fehlers, wie hier beschrieben, sind gravie-
rend. Nach der Betrachtung Dutzender von Transformationsvorhaben im
vergangenen Jahrzehnt bin ich von einer Kardinalregel überzeugt: Wenn
Du loslässt, bevor die Arbeit gemacht ist, verlierst Du das kritische Momentum

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Kapitel 9: Erfolge konsolidieren/Veränderungen einleiten
und die Zurückentwicklung setzt ein. Bis veränderte Praktiken Einzug in die
neue Kultur finden und für ein neues Gleichgewicht sorgen, können sie
sehr zerbrechlich sein. Drei Jahre intensiver Arbeit können innerhalb kür-
¢ 113

zester Zeit zunichte gemacht werden. Wenn die rückläufige Entwicklung


einsetzt, kann das Wiederherstellen von Momentum eine gewaltige Auf-
gabe sein, nicht unähnlich der Bitte an einen Mitarbeiter, seinen Körper vor
einen Felsblock zu werfen, der gerade begonnen hat, den Berg hinunter zu
rollen. Alle, außer Veränderungsfanatiker, werden davor zurückschrecken.
Unter diesen Umständen ist das menschliche Vermögen, rationale Argu-
mente zu finden, beeindruckend: „Ich habe meinen Anteil geleistet, jetzt ist es
Juans Sache.“ „Vielleicht sind wir zu weit gesprungen; vielleicht ist ein kleiner
Schritt zurück gar nicht schlecht.“
Der Fortschritt kann einem aus zwei Gründen schnell entgleiten. Einer hat
mit der Unternehmenskultur zu tun, darauf werde ich im nächsten Kapitel
intensiver eingehen. Ein anderer Grund ist direkt verknüpft mit den stän-
dig zunehmenden gegenseitigen Abhängigkeiten in einer schnell drehen-
den Geschäftswelt: Querverbindungen, die es schwierig machen, punktuell
etwas zu ändern, ohne das Ganze anpacken zu müssen.

Das Problem der gegenseitigen Abhängigkeiten

Alle Organisationen bestehen aus voneinander abhängigen Einheiten. Was


in der Vertriebseinheit passiert, hat Auswirkungen auf die Produktionsein-
heit. Die F&E-Performance beeinflusst die Produktentwicklung. Die Anzahl
der Abhängigkeiten kann in unterschiedlichen Unternehmen jedoch stark
variieren, hängt sie doch von einer ganzen Reihe von Faktoren ab, von de-
nen wiederum keiner wichtiger ist als die Wettbewerbsintensität des Ge-
schäftsumfeldes.
Zu Zeiten einer freundlichen, oligopolistisch geprägten Geschäftswelt, die
man in vielen Branchen im 20. Jahrhundert vorfand, erlaubten es die relativ
stabilen und florierenden Marktumfelder den Unternehmen, ihre internen
Abhängigkeiten zu reduzieren. Hohe Bestände sorgten für Puffer innerhalb
der Werke und über die Werke hinweg und verliehen jedem Werk eine ge-
wisse Eigenständigkeit. Hohe Fertigproduktbestände schützten das Werk
vor Übergriffen aus dem Vertrieb. Ein gemächlicher und sequenziell organi-
sierter Produktentwicklungsprozess erlaubte F&E, Vertrieb, Marketing und
Produktion ein gewisses Maß an Autonomie. Der Mangel an besseren Trans-
port- und Kommunikationsmöglichkeiten eröffnete der malaysischen Lan-
desgesellschaft großzügige Freiräume gegenüber ihrer New Yorker Zentrale.
Diese Art, ein Geschäft zu führen, ist aus einer Vielzahl von Gründen am
Verschwinden, im Wesentlichen wegen des zunehmenden Wettbewerbs.
Mit Ausnahme einiger weniger Monopole können sich Unternehmen keine

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114 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
großen Bestände und keine langatmigen Produktentwicklungen mehr leis-
ten, ebenso wenig wie eine ausländische Niederlassung, die ihren eigenen
Weg verfolgt. Heute und in absehbarer Zukunft müssen die meisten Unter-
nehmen schneller, kosteneffizienter und kundenorientierter werden. Folg-
lich werden interne Abhängigkeiten wachsen. Unternehmen erkennen,
dass ohne größere Bestände die verschiedenen Teile einer Fertigung viel prä-
ziser aufeinander abgestimmt sein müssen; dass durch den Druck zu immer
schnellerer Produktentwicklung die Teile dieses Prozesses stärker integriert
werden müssen usw. Da unabhängige Teilsysteme viel leichter geändert
werden könnten, verkomplizieren diese neuen Abhängigkeiten Transforma-
tionsbemühungen immens.
Stellen Sie sich vor, Sie betreten ein Büro und stellen fest, dass Ihnen die
Anordnung und Möblierung nicht gefällt. Also schieben Sie einen Stuhl
weiter nach links. Sie stellen ein paar Bücher auf das Sideboard. Sie neh-
men sich einen Hammer und hängen ein Bild um. All dies stellt eine
überschaubare Aufgabe dar, die vielleicht höchstens eine Stunde dauern
wird. Und tatsächlich sind Veränderungen unabhängiger Elemente nor-
malerweise nicht sehr schwierig.
Stellen Sie sich nun vor, Sie betreten ein anderes Büro, in dem die Gegen-
stände durch Stricke, Gummibänder und Stahlseile miteinander verbun-
den sind. Das Zimmer wäre allein schon schwer zu betreten, ohne dass
man sich verheddert. Nachdem Sie sich langsam zum Stuhl vorgearbeitet
haben und versuchen, ihn zu verschieben, bemerken Sie, dass sich dieses
an sich leichte Möbelstück keinen Millimeter bewegt. Als Sie stärker
schieben, bewegt sich der Stuhl tatsächlich um ein paar Zentimeter,
aber dann stellen Sie fest, dass ein Dutzend Bücher vom Regal gerissen
wurden und dass sich das Sofa leicht in eine Richtung verschoben hat, in
der Sie es nicht haben wollen. Sie kämpfen sich langsam zum Sofa durch
und versuchen, es wieder auf den alten Platz zurückzuschieben, was sich
aber als sehr schwierig erweist. Nach einer halben Stunde gelingt es
Ihnen zwar, dabei ist aber eine Lampe vom Tisch gerutscht und hängt
nun gefährlich auf halber Höhe fest, gehalten von einem Strick auf der
einen Seite und einem Seil auf der anderen.
Unternehmen ähneln immer mehr diesem seltsamen Büro. Nur wenige
Dinge lassen sich einfach bewegen, weil fast jedes Element mit anderen
verbunden ist. Sie bitten Mary, etwas auf eine neue Art und Weise zu er-
ledigen. Nichts passiert. Sie bitten sie erneut. Mary bewegt sich ein paar
Zentimeter. Sie erhöhen den Druck auf sie. Vielleicht bekommen Sie
noch ein paar Zentimeter. Sie werden wütend und ziehen alle mög-
lichen unfreundlichen Rückschlüsse auf ihren Charakter und ihre Moti-
vation. Aber das Hauptproblem ist, dass Marys Verhalten – genau wie
der Stuhl und das Sofa – von vielen unterschiedlichen Kräften an Ort
und Stelle gehalten wird. Anstelle von Stricken und Seilen finden Sie in
ihrem Fall Vorgesetzte, Organisationsstrukturen, Leistungsbewertungs-

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Kapitel 9: Erfolge konsolidieren/Veränderungen einleiten
systeme, persönliche Angewohnheiten, Kulturen, Beziehungen zu den
Kollegen und (als wichtigstes) einen nicht abreißenden Strom von Anfor-
derungen von unterschiedlichen Gruppen, Abteilungen und Leuten.
¢ 115

Unter solchen Umständen kann es sehr schwierig sein, Mary von einem
neuen Verhalten zu überzeugen. Tausende Angestellte wie sie dazu zu
bewegen, ihre Arbeit anders anzugehen, kann eine monumentale Auf-
gabe sein.

Die Beschaffenheit des Wandels in stark interdependenten


Systemen

Die meisten unserer persönlichen Erfahrungen mit erfolgreichem Wandel


entsprechen eher dem erstgenannten Büro-Beispiel. Der Stuhl steht nicht
richtig, also verschieben wir ihn. Kaum einer von uns hat gelernt, wie man
größere Veränderungen in Systemen mit starken Wechselwirkungen vor-
nimmt. Und das verstärkt wiederum die Herausforderungen in den heuti-
gen Unternehmen.
Ohne große Erfahrung berücksichtigen wir oftmals eine entscheidende Tat-
sache nicht adäquat: Dass eine Veränderung stark interdependenter Sys-
teme extrem schwierig ist, weil man im Grunde fast alles verändern muss
(vgl. Abbildung 23). Wegen all der Querverbindungen können Sie fast nie
nur ein einzelnes Element bewegen. Sie müssen Dutzende, Hunderte oder
Tausende von Elementen bewegen, was schwierig und langwierig ist und
von lediglich ein paar Leuten kaum bewältigt werden kann.
Selbst im relativ einfachen Fallbeispiel des Büros mit all den Seilen und Stri-
cken können Wechselwirkungen den Wandel ernsthaft verkomplizieren.
Zum Beispiel: Nehmen wir an, wir möchten einige Veränderungen in einem Dut-
zend solcher Büros vornehmen, um sie für besuchende Kunden angenehmer zu ge-
stalten. Wir rücken die Lampen näher an die Sofas, damit die Kunden unsere Bro-
schüren einfacher lesen können. Wir tauschen den unbequemeren Stuhl neben dem
Sofa gegen den Schreibtischstuhl aus. Wir legen einige der Unterlagen, für die sich
die Kunden normalerweise interessieren, auf dem Beistelltisch beim Sofa aus. In
einem Dutzend realer Büros könnte eine einzelne Person solche Veränderungen in
ein bis zwei Stunden vornehmen. In Büros mit Stricken, Stahlseilen und Gummi-
bändern würden die Veränderungen viel mehr Zeit und Energie benötigen.
Was also tun? Falls Sie noch nicht viel Erfahrung mit derartigen Situationen
gesammelt haben, holen Sie sich ein oder zwei andere, bitten sie um Hilfe
oder ordnen diese an und gehen dann an die Arbeit. Aber nach ein paar
frustrierenden Stunden, in denen wenig erreicht wurde, werden ihre Helfer
nach allen erdenklichen Ausflüchten suchen, um das Schiff zu verlassen.
Ihr kleines Veränderungsprojekt wird sich danach schnell herumsprechen.
Jemand mit einem ausgeprägten Faible dafür, Kunden zu helfen, wird viel-

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116 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess

Abbildung 23: Wandel in Systemen unterschiedlicher Interdependenz erzeugen

leicht seine freiwillige Unterstützung anbieten. Aber die meisten Leute wer-
den in Deckung gehen, wenn sie Sie den Gang herunterkommen sehen.

Falls Sie bereits Erfahrungen mit dieser Form von Wandel aufgebaut haben,
werden Sie wissen, dass Sie zunächst das Tempo drosseln müssen, um die
notwendige Kompetenz für einen erfolgreichen Umgang mit der Situation
aufzubauen. Ihre zentrale Frage wird lauten: Ist das Dringlichkeitsgefühl,
speziell was die Kundenorientierung angeht, hier hoch genug? Sollte die
ehrliche Antwort „Ja“ lauten und durch externe Quellen bestätigt werden,
gehen Sie die nächsten Schritte. Lautet die Antwort „Nein“, stellt sich statt-
dessen die Frage: Wie kann ich das Niveau der Selbstgefälligkeit reduzieren
und das der Dringlichkeit erhöhen?

Falls Sie erst wenig Erfahrung mit der Veränderung interdependenter Sys-
teme haben, werden Sie höchstwahrscheinlich schnell ungeduldig werden.
„Das ist doch lächerlich“, werden Sie sagen. „Ich könnte Tage oder Wochen da-
mit verbringen, diesem Haufen die Dringlichkeit zu vermitteln. Die Zeit habe ich
aber nicht.“ Also nehmen Sie sich zwei Leute und beauftragen Sie damit ...

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Kapitel 9: Erfolge konsolidieren/Veränderungen einleiten
Erfahrene Change Agents wissen, wie sie ihre Ungeduld im Zaum halten.
In der obigen Situation würden sie, kurz nachdem sie die Selbstgefälligkeit
Kunden gegenüber in Angriff genommen haben, die ersten Schritte einlei-
¢ 117

ten und ein Team für die Leitung des Projektes zusammenstellen. Befände
sich das Dringlichkeitsniveau auf dem Tiefpunkt, wäre selbst dies nicht
möglich, weil sich niemand bereit erklären würde, zu helfen. Daher wür-
den sie versuchen, die Vision der neuen Büroeinrichtung näher zu erläutern
und dabei stets oberste Priorität auf den Abbau der Selbstgefälligkeit legen.

In diesem einfachen Fall brauchen Sie nur ein bis zwei andere für die Füh-
rungskoalition. Sie drei werden die übergeordnete Vision für den Wandel
verdeutlichen und Strategien ausarbeiten, um sie zum Leben zu erwecken.
Sie werden Wege finden, um diese Informationen an die 20, 50 oder 100 an-
deren Leute zu kommunizieren, die an der Situation und ihrem Ausgang
interessiert oder beteiligt sind. Sie werden Faktoren identifizieren, welche
eine Umsetzung der Vision behindern könnten und die gravierenderen da-
von direkt angehen. Dann, und erst dann, werden Sie einen Plan für das
Umarrangieren der Möbel aufstellen, um Unterstützung werben und mit
der Arbeit in den Büros beginnen können.

Da dieses Wandelprojekt recht übersichtlich ist, im Vergleich zur Transfor-


mation eines Großunternehmens ja sogar trivial, werden die Maßnahmen
insgesamt nur ein paar Wochen dauern (es sei denn, die Selbstgefälligkeit
ist außerordentlich hoch). Aber denjenigen Ihrer Kollegen, die wenig Erfah-
rung mit umfassenden Veränderungen in interdependenten Systemen
haben und die sich am liebsten einfach zwei Leute packen und die Arbeit in
einem Nachmittag erledigen würden, werden die wenigen Wochen wie eine
Ewigkeit vorkommen.

Sobald Sie einmal mit den Räumlichkeiten anfangen, werden Sie in mehre-
ren Teilprojekten vorgehen und nicht in einem einzigen großen Umzug. Sie
werden zeitliche Abhängigkeiten erkennen: Sie können den Schreibtisch-
stuhl erst verschieben, wenn Sie davor etwas anderes getan haben. Wenn
Sie klug sind, planen Sie einige kurzfristige Erfolge ein, um die Moral in der
Gruppe hochzuhalten. Aber auch mit diesen Kurzfristerfolgen werden sich
einige Leute auf halber Strecke fragen, ob die Veränderungen wirklich not-
wendig sind. Die Kunden können doch bestimmt auch ohne die zusätzliche
Beleuchtung auskommen. Der Besucherstuhl neben dem Sofa ist gar nicht so
schlecht. Die Kunden können auch laufen; lasst sie doch selbst zum Bücher-
regal gehen und sich dort die Broschüren holen.

Wenn Sie sich wirklich ernsthaft vorgenommen haben, die Räumlichkeiten


umzugestalten, werden Sie etliche Methoden ausfindig machen, um den
Prozess am Laufen zu halten. Sie werden einige Leute finden, die beim Um-
gestalten von Büros besonders versiert sind, und sie an Bord holen. Sie wer-
den neue, erfrischende Möglichkeiten finden, den übergeordneten Zweck

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118 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
des gesamten Projekts zu erklären, und damit verhindern, dass die Kom-
munikation der Vision sich irgendwann totläuft.
Wenn Sie nicht aufgeben, werden Sie später im Prozess zusätzliche Projekte
einplanen. Je mehr Sie sich an all die Seile und Stricke gewöhnen, desto kla-
rer wird es Ihnen, dass davon etliche eigentlich keinen Sinn ergeben, und
sie werden versuchen, sie loszuwerden. Die meisten der Stricke und Gum-
mibänder lassen sich wahrscheinlich einfach entfernen. Bei den Stahlseilen
wird es schon schwieriger. Sie werden auch zusätzliche Einfälle haben, wie
Sie Ihren Kunden das Leben noch angenehmer machen können. Warum
nicht die Jalousien etwas herunterlassen, damit sie nicht geblendet werden?
Aber anstatt aus jeder solcher Idee gleich ein neues Projekt zu machen, wer-
den Sie pragmatisch vorgehen und sie direkt in die bereits eingeplanten Ak-
tivitäten integrieren. Manches davon wird Ihnen gelingen, manches nicht.
Unterm Strich: Sie werden am Ende mehr verändert haben, als Sie sich ein-
gangs vorstellen konnten. Die gesamten Bemühungen werden mehr Zeit
und Energie verschlingen, als Sie zu Beginn erwarteten. Die gute Nachricht
dabei lautet, dass es Ihnen wahrscheinlich leichter fallen wird, in Zukunft
etwas Ähnliches zu wiederholen, weil Sie nützliche Fähigkeiten erworben
und einige der nutzlosen Seile und Kabel durchtrennt haben. Und am
Ende wird das Büro natürlich auch viel kundenfreundlicher sein.

Unternehmenstransformationen

Der Transformationsprozess unterscheidet sich nur unwesentlich von der


Neugestaltung solcher Büros. Viele Menschen müssen mithelfen. Sie haben
zu Beginn niemals den totalen Überblick über alle Veränderungen. Die An-
laufphase benötigt überraschend viel Zeit und Energie. Die Veränderung
selbst läuft dann in einer Reihe von Teilprojekten ab. Als Ihnen das ganze
Ausmaß des Prozesses bewusst wird, sind Sie versucht, aufzugeben. Wenn
Sie die Sache durchziehen, wird sie sehr viel Zeit kosten.
Die erste größere Leistungssteigerung wird sich wahrscheinlich schon weit
vor der Halbzeit des Projektes einstellen. Auch wenn einige Leute dann
schon die Arbeit beenden wollen, wird in erfolgreichen Transformations-
prozessen die Führungskoalition die durch die kurzfristigen Erfolge ent-
standene Glaubwürdigkeit dazu nutzen, noch schneller voranzukommen
und noch mehr oder größere Projekte anzugehen. Schließlich wird auch
die Restrukturierung durchgeführt, die in der Frühphase des Projektes an-
gesichts des Widerstands vermieden wurde. Zwei neue Reengineeringpro-
jekte, die beide bereits zu Beginn des Transformationsprozesses konzipiert
wurden, werden gestartet. Eine umfassende Überarbeitung des strategi-
schen Planungsprozesses wird beschlossen. Um aber eine Restrukturie-
rung, ein Reengineering und eine Überarbeitung der strategischen Planung

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Kapitel 9: Erfolge konsolidieren/Veränderungen einleiten
durchführen zu können, werden Sie auch Trainingsprogramme ändern, In-
formationssysteme modifizieren, Personal ein- oder ausstellen und neue
Leistungsbewertungssysteme einführen müssen. Ehe man sich versieht,
¢ 119

werden unzählige Elemente im interdependenten Ganzen Gegenstand von


Veränderungsmaßnahmen.
Wer in den 50er und 60er Jahren in Managementpositionen aufstieg, kann
sich oft gar nicht vorstellen, wie 10 oder 20 Veränderungsprojekte parallel
ablaufen können. Aber das ist genau das, was in Stufe 7 einer größeren
Transformation geschieht.
Frage: Wie können Top-Manager 20 Projekte auf einmal bewältigen?
Antwort: Gar nicht. In erfolgreichen Transformationen verantworten Top-
Manager das Gesamtprogramm und überlassen ihren Mitarbeitern das
meiste an Managementarbeit und an Führungsaufgaben in bestimmten Teil-
projekten.
Unternehmen, die heute 20 Veränderungsprojekte mit einem Instrumenta-
rium managen wollen, wie es erfolgreiche Unternehmen vor 30 Jahren ein-
setzten, sind zum Scheitern verurteilt. Wie kompetent die beteiligten Perso-
nen auch sein mögen, der Prozess funktioniert einfach nicht. Die Top-
Manager landen bei 16-Stunden-Tagen mit endlosen Besprechungen und
versuchen, Konflikte und Koordinationsprobleme zu lösen, aber selbst da-
mit kann man die permanenten Verzögerungen nicht verhindern.
Der Prozess scheitert aufgrund zweier miteinander verknüpfter Gründe.
Zum einen war der damalige Managementansatz üblicherweise viel zu
zentralisiert, als dass man damit 20 komplexe Veränderungsprojekte hätte
abwickeln können. Wenn sich, so wie damals üblich, einige wenige Top-Ma-
nager auch noch mit dem kleinsten Detail befassen, geht fast alles nur noch
schleichend voran. Zum anderen verbringen die Teilprojektleiter ohne eine
richtungsgebende Vision und ohne die nur durch Leadership zu gewährleis-
tende Koordination schließlich endlose Stunden damit, ihre Aktivitäten mit
den anderen abzustimmen, damit sie sich nicht dauernd gegenseitig auf die
Füße zu treten.
20 Veränderungsprojekte simultan durchzuführen ist möglich, wenn die Top
Manager (a) sich hauptsächlich auf übergeordnete Führungsaufgaben kon-
zentrieren und (b) die Verantwortung für Managementaufgaben und die
Führung im Detail soweit wie möglich in die Organisation delegieren. In die-
sem Ansatz stehen nicht zehn (oder hundert), sondern Hunderte (oder Tau-
sende) Leute für eine Unterstützung der 20 Projekte zur Verfügung. Und
noch wichtiger ist, dass die durch das Top-Management geleistete Führungs-
arbeit den Mitarbeitern ohne endlose Planungen und Meetings die Informa-
tionen vermittelt, die sie für eine Koordination ihrer Aktivitäten benötigen.
Stellen Sie sich diese zwei Situationen vor: In der ersten fehlt kompetente
Führung an der Spitze, weshalb die Verantwortlichen für die einzelnen
Wandelprojekte keine Vorstellung davon haben, was die übergeordnete Un-

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120 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
ternehmensvision besagt oder wie ihre Projekte in diese Vision eingebettet
sind. Sie wissen nur, dass sie die indirekten Kosten in der Konstruktionsab-
teilung um 20% senken, die Eingangslogistik für Zulieferteile optimieren
oder den Nachfolgeplanungsprozess neu gestalten sollen. Während der
Projektarbeit geraten sie andauernd mit unzähligen anderen Initiativen in
Konflikt. „Nein, sagt man ihnen, so könnt Ihr es nicht machen, das würde die Sa-
che für uns verkomplizieren. Nein, diese Ressourcen brauche ich heute; warum
hast Du mich nicht vor zwei Wochen von Deinen Plänen informiert?“ Leitende
Manager versuchen, in diesen Konflikten zu vermitteln und sachliche Prio-
ritäten zu setzen, aber die Zeit reicht ihnen einfach nicht. All das führt zu
Frustration, noch mehr Abstimmungsmeetings, politischem Tauziehen
und schließlich zu einem gewissen Grad an Chaos.

In der zweiten Situation hilft gute Führung von oben den Mitarbeitern, das
große Ganze, die übergeordnete Vision, die Strategien und die Rolle eines
jeden Projekts darin zu verstehen. Hier streben die Leute in verschiedenen
Projekten alle dasselbe langfristige Ziel an, ohne sich permanent abstimmen
zu müssen. Auch können sie bereits im Voraus abschätzen, wo Konflikte mit
anderen Projekten drohen, wo die Prioritäten angesichts der übergeordneten
Vision liegen sollten und was zu tun ist, um das Unternehmen nach vorne zu
bringen. Innerhalb eines solchen Rahmens werden Konflikte auf den unteren
Unternehmensebenen von Leuten bewältigt, die über die Zeit und die rele-
vanten Informationen verfügen. Kompetente Führung von oben wird auch
dazu führen, dass sich diese Manager auf den unteren Ebenen der Trans-
formation insgesamt verpflichtet fühlen und dadurch das Richtige tun wer-
den – mit einem Minimum an überflüssiger Kirchturmpolitik.

Mit ausreichender Führung von oben und umfassender Delegation von Ma-
nagement- und Führungsaufgaben können 20 Veränderungsprojekte gleich-
zeitig bewältigt werden. Wenn auch nur eines der beiden Elemente fehlt,
werden die 20 Projekte im Chaos münden, und Stufe 7 des Transformations-
prozesses wird fehlschlagen.

Unnötige Wechselbeziehungen beseitigen

Weil interne Wechselwirkungen Veränderungen so schwierig machen, be-


ginnen die Leute irgendwann in dieser Phase einer Transformation zu hin-
terfragen, ob all diese gegenseitigen Abhängigkeiten wirklich notwendig
sind. Sie fragen: Warum muss der Werkleiter Bericht K2A monatlich an die
zentrale Finanzabteilung senden? Braucht das Finanzwesen diese Daten
wirklich? Braucht es sie monatlich? Muss die Fabrik diesen Bericht erstel-
len? Warum müssen sich die Divisionen bei Stellenangeboten mit mehr als
50 000 US-$ Jahresgehalt immer mit dem zentralen Personalwesen abstim-
men? Muss das zentrale Personalwesen tatsächlich involviert sein? Wenn

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Kapitel 9: Erfolge konsolidieren/Veränderungen einleiten
es dafür berechtigte Gründe gibt, sind 50 000 US-$ dann eigentlich der rich-
tige Schwellenwert?
Der Prozess des Hinterfragens, wie er oben geschildert wurde, eskaliert re-
¢ 121

gelmäßig, wenn die Leute angesichts der Schwierigkeiten von Veränderun-


gen in interdependenten Systemen in Rage geraten. Andererseits können
diese Fragen enorm hilfreich sein, wenn sie richtig kanalisiert werden. In al-
len Unternehmen gibt es unnötige Abhängigkeiten, die ein Relikt aus alten
Zeiten darstellen und nichts mit der aktuellen Realität zu tun haben. Der
Vertrieb kann beispielsweise nichts ohne die Zustimmung durch die Pro-
duktionsabteilung unternehmen – wegen einer Krise im Jahr 1954, die zu
genau dieser Vorschrift geführt hatte. Überkommene Strukturen zu bereini-
gen führt aber zu einer weiteren Verlängerung der Agenda für die Verände-
rung, was erschöpfte Unternehmen nicht begrüßen werden. Dennoch kann
das frühe Beseitigen unnötiger Wechselwirkungen die Transformation am
Ende stark vereinfachen. Und in einer Welt, in der Wandel zunehmend die
Regel und nicht die Ausnahme darstellt, kann das „Aufräumen“ auch alle
zukünftigen Reorganisationsbemühungen oder Strategieänderungen einfa-
cher machen.

Ein langer Weg

Weil tief greifende Veränderungen in stark interdependenten Systemen


häufig dazu führen, dass man fast alles ändern muss, kann sich die Trans-
formation von Unternehmen zu einer gewaltigen Aufgabe entwickeln, die
eher einige Jahre als nur ein paar Monate dauert. Im Extremfall kann Stufe 7
ein zehnjähriger Prozess werden, in dem Hunderte oder Tausende Men-
schen unzählige Veränderungsprojekte durch Führung und Management
unterstützen. Die Charakteristika von Stufe 7 werden in Abbildung 24 zu-
sammengefasst.
Auch hier ist Leadership wieder von unschätzbarem Wert. Herausragende
Führungspersönlichkeiten sind bereit, langfristig zu denken. Jahrzehnte

Abbildung 24: Wie Stufe 7 in einer erfolgreichen, umfassenden Transformation


aussieht

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122 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
oder sogar Jahrhunderte können sinnvolle Zeiträume werden. Angetrieben
von mitreißenden Visionen, die ihnen für sich selbst wichtig sind, haben sie
den festen Willen, Kurs zu halten und Ziele zu erreichen, die ihnen häufig
auch psychologisch bedeutend erscheinen. Während andere alle zwei Jahre
den Job wechseln, sitzen Leader oft doppelt so lange auf einer Position als
Nachwuchsmanager oder bleiben gar für mehr als zehn Jahre in einer Füh-
rungsposition. Anstatt verfrüht den Sieg zu verkünden und die Weiterent-
wicklung einzustellen, lancieren sie die zahlreichen Veränderungsprojekte,
wie sie auf Stufe 7 einer Transformation häufig benötigt werden. Sie wer-
den sich auch die erforderliche Zeit dafür nehmen, alle neuen Arbeitswei-
sen fest in der Unternehmenskultur zu verankern.
Die natürliche Beschaffenheit von Managementprozessen lässt Manager
häufig in viel kürzeren Zeiträumen denken. Für sie bedeutet kurzfristig
eine Woche, mittelfristig ein paar Monate und langfristig ein Jahr. Ange-
sichts eines solchen Zeithorizonts wirkt es nachvollziehbar, wenn nach
zwei oder drei Jahren der Sieg verkündet und der Wandelprozess beendet
wird. Wem über Jahrzehnte eine Manager-Denkhaltung eingehämmert
wurde, für den können drei Jahre eine sehr, sehr lange Zeit sein.
Noch einmal: Ohne ausreichende Führung kommt der Wandel zum Still-
stand und es wird problematisch, in einer sich schnell verändernden Welt
Spitzenleistungen zu erbringen.

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Kapitel 10: Neue Ansätze in der Kultur verankern

Die Resultate nach Jahren harter Arbeit waren beeindruckend. Ein einst-
mals nach innen gerichtetes und schwerfälliges Luft- und Raumfahrtunter-
nehmen stellte nun mit hoher Geschwindigkeit innovative neue Produkte
her. Nicht alle kamen im Markt gut an, aber es waren doch viele so erfolg-
reich, dass der Umsatz der Division innerhalb von fünf Jahren um 62% und
das Ergebnis sogar um 76% gewachsen war; die Vergleichszahlen für die
vorausgegangenen fünf Jahre hatten bei 21% respektive 15% gelegen. Der
Divisionsleiter ging in den Ruhestand; er war stolz darauf, dass er einen
wichtigen Beitrag zum Geschäftserfolg geleistet hatte. Er hätte noch einige
Jahre bleiben können, entschied sich aber dagegen: Die Veränderungen
waren vollbracht und die Resultate waren beeindruckend – die Arbeit war
getan.
Ich glaube, dass zum Zeitpunkt des Abschieds des Geschäftsführers nie-
mand wirklich realisierte, dass der neue Arbeitsstil nie wirklich fest in der
Unternehmenskultur der Division verankert worden war. Und selbst wenn
manche diesen Eindruck hatten, hielten sie es eher für ein marginales Prob-
lem. Trotz alledem, würden sie sagen, sehen Sie sich die Veränderungen an,
und schauen Sie auf die Resultate.
Innerhalb von zwei Jahren nach dem Ausscheiden des Divisionsleiters gin-
gen die Einführungsquote neuer Produkte und deren Markterfolg mehr
und mehr zurück. Es passierte nicht abrupt; der Rückfall verlief eher schlei-
chend. Zunächst schien es niemand zu bemerken. Der einzige Top-Mana-
ger, der sich nach einem Jahr alarmiert zeigte, war kurz zuvor von außen
in das Unternehmen eingestiegen. Von seinen Führungskollegen wurde er
meist ignoriert.
Meine Analyse dazu zeigt, dass einige zentrale Verhaltensregeln in der Kul-
tur der Division nicht zu all den umgesetzten Veränderungen passten.
Diese Inkonsistenz wurde jedoch nie genauer in Augenschein genommen.
Solange der Divisionsleiter und das Transformationsprogramm Tag und
Nacht arbeiteten, um die neuen Arbeitsweisen durchzusetzen, überwog
die Wucht dieser Anstrengungen alle kulturellen Einflüsse. Als aber der Di-
visionsleiter das Unternehmen verließ und das Transformationsprogramm
endete, setzte sich die ursprüngliche Kultur wieder durch.
Der oberste gemeinsame Wert, der sich in den ersten Jahren nach der Grün-
dung fest in dem Unternehmen etabliert hatte, lautete: „Die Weiterentwick-
lung unserer Technologie wird alle Probleme lösen“. Wie so vieles in Unterneh-
menskulturen war diese Idee nie offiziell verkündet oder schriftlich fixiert

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124 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
worden. Wenn man sie mit dieser Aussage konfrontierte, würden die meis-
ten Mitarbeiter offen zugeben, dass sie nicht ganz stimmte. Aber geben Sie
einer Gruppe von Managern drei oder vier Bier aus, und sie würden eine
Menge hören in dem Sinne, dass „eine Weiterentwicklung unserer Technologie
alle Probleme lösen wird“.
Da dieser Kernwert den Veränderungsbemühungen nicht diametral wider-
sprach, existierten beide nebeneinander, wenn auch mit einigen Reibungen.
Die neuen Arbeitsweisen rückten zuallererst die Kunden in den Mittel-
punkt der Aufmerksamkeit. Der ursprüngliche Kernwert stellte die Techno-
logie in das Zentrum. Die neuen Arbeitsweisen zielten darauf ab, das Un-
ternehmen im Vergleich zu den Wettbewerbern schneller zu machen. Der
ursprüngliche Kernwert gab dagegen ein Tempo vor, das durch die Ge-
schwindigkeit der internen Technologieentwicklung bestimmt wurde.
Jemand mit guten Antennen für die Kultur hätte diese Spannungen im Un-
ternehmen erkannt. Da der Konflikt aber so subtil war, bemerkten die meis-
ten Leute überhaupt nichts. Die Kommunikation der Vision, die Umset-
zung durch das Management, die geänderten Leistungsmaßstäbe und
andere Einflüsse unterstützten die neuen Arbeitsweisen mit Nachdruck.
Man hätte schon sehr genau hinhören müssen, um zu verstehen, wie die
alte Kultur sich wieder durchsetzen wollte: „Ja, aber bla bla bla, Technologie,
bla bla bla.“
Da niemand dieses Problem anging, wurde wenig bis nichts unternommen,
um die neuen Arbeitsweisen so tiefe Wurzeln schlagen zu lassen, dass sie
bis in den Kern der alten Kultur reichten oder sogar so stark waren, sie zu
ersetzen. Oberflächliche Wurzeln müssen ständig gegossen werden. So-
lange der Divisionsleiter und andere Change Agents täglich mit dem Gar-
tenschlauch dastanden, war alles in Ordnung. Ohne diese Aufmerksamkeit
trockneten die neuen Methoden aus, verkümmerten und starben schließ-
lich. Andere Pflanzen, die man zurückgeschnitten hatte, die aber tiefer ver-
wurzelt waren, begannen, alles wieder zu überwuchern.
Eine halbes Jahr nach dem Ausscheiden des Divisionsleiters hinterfragten
die Manager Geschäftsprioritäten und Managementpraktiken immer häufi-
ger. Es bestand eigentlich kein Anlass zur Sorge, man sei technologisch ins
Hintertreffen geraten, und doch sagten die Leute: „Ich fürchte, wir haben un-
sere Technologie vernachlässigt. Wenn wir so weitermachen, werden wir ernsthafte
Probleme bekommen.“ Die Besprechungen mit Ingenieuren, Marketingleuten
und Kunden wurden immer kritischer gesehen. „Die Ingenieure verbringen
so viel Zeit in Sitzungen außerhalb ihrer Arbeitsgruppen, dass sie ihren eigent-
lichen Fokus aus den Augen verlieren.“ Ein Wettbewerber, der bei den meisten
Leistungsdaten nur siebenter in einem Ranking der besten zehn Unterneh-
men war, wurde unversehens zum Vergleichsmaßstab. „Ich habe neulich ge-
hört, dass sie pro Mitarbeiter fast 20% mehr in F&E investieren. Da müssen wir
aktiv werden.“

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Kapitel 10: Neue Ansätze in der Kultur verankern
Innerhalb eines Jahres nach dem Ausscheiden des Divisionsleiters waren an
den Arbeitsweisen bereits viele kleine Anpassungen vorgenommen wor-
den. Nur die wenigsten dieser Veränderungen waren explizit diskutiert
¢ 125

und vom Top-Management abgesegnet worden. Aber mit Ausnahme der


neu eingestellten Führungskraft gaben alle schweigend ihre Zustimmung.
Innerhalb von zwei Jahren fielen einige Arbeitsweisen wieder zurück auf
den Zustand von vor vier Jahren. Kurz darauf traten die ersten größeren
Leistungsprobleme auf.

Warum die Kultur so großen Einfluss hat

Frage: Wie konnte eine Gruppe von intelligenten Top-Managern es zulassen,


dass so etwas passiert?

Antwort: Weil ihre Elektroingenieur-Ausbildung, ihre MBA-Programme


und ihre Mentoren im Unternehmen ihnen nicht viel über Unternehmens-
kulturen beigebracht haben und vor allem nicht über deren machtvollen
Einfluss auf das Verhalten. Dass sie den Großteil ihrer Karrieren in einem
Unternehmen mit zu viel Management und zu wenig Leadership zuge-
bracht haben, verstärkt diesen blinden Fleck nur noch mehr, da Kultur
(und Vision) eher ein Element des Leadership ist und umgekehrt Struktu-
ren (und Systeme) eher Managementwerkzeuge darstellen.

Kultur bezeichnet Verhaltensnormen und gemeinsame Werte einer Gruppe


von Menschen. Verhaltensnormen sind geteilte oder vorherrschende Hand-
lungsweisen, die sich in einer Gruppe etabliert haben. Sie bleiben bestehen,
weil Gruppenmitglieder sich so zu verhalten pflegen, dass sie diese Hand-
lungsweisen neuen Mitgliedern weitervermitteln; dies geschieht dadurch,
dass diejenigen, die sich konform verhalten, belohnt und die anderen be-
straft werden. Gemeinsame Werte sind von der Mehrheit der Gruppenmitglie-
der geteilte, wichtige Überlegungen und Ziele, die das Gruppenverhalten
prägen und oft selbst dann Bestand haben, wenn sich die Zusammenset-
zung der Gruppe ändert.

Für große Unternehmen ist es typisch, dass einige dieser sozialen Kräfte –
die sogenannte Unternehmenskultur – jeden betreffen und andere wiede-
rum spezifisch für bestimmte Einheiten sind (z. B. die Marketingkultur, die
Kultur im Büro Detroit). Ungeachtet der Hierarchieebene oder des Stand-
orts ist Kultur so wichtig, weil sie das menschliche Verhalten stark beein-
flussen kann, weil sie oft schwer zu verändern ist und weil ihre Unsichtbar-
keit es sehr schwierig macht, sie direkt zu adressieren. Die gemeinsamen
Werte sind in der Regel weniger offensichtlich, dafür aber tiefer eingebettet
in die Kultur – dadurch sind Veränderungen hier noch schwieriger als bei
den Verhaltensnormen (vgl. Abbildung 25).

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126 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess

Abbildung 25: Elemente der Unternehmenskultur: einige Beispiele

Wenn die neuen Arbeitsweisen, die in einem Transformationsprozess ent-


stehen, nicht mit den zentralen Aspekten der vorhandenen Kultur kompati-
bel sind, werden sie sich immer wieder zurückbilden. Veränderungen in
einer Arbeitsgruppe, einer Division oder einem Unternehmen insgesamt
können sich selbst nach jahrelangen Wandelbemühungen wieder verflüch-
tigen, wenn die neuen Ansätze nicht fest in Gruppenormen und -werten
verankert wurden.

Um zu verstehen, warum die Kultur so wichtig ist, betrachten Sie folgendes


Szenario. Sie machen Ihren Hochschulabschluss, bewerben sich und be-
kommen drei Jobangebote. Eines der drei Unternehmen ist so begeistert
von Ihnen und Sie verstehen sich Ihrerseits so gut mit den Mitarbeitern,
dass Sie dieses Angebot annehmen. Als naiver Mittzwanziger nehmen Sie
an, dass Sie wegen Ihrer Zeugnisse, Ihrer Fähigkeiten, Ihrer tollen Persön-
lichkeit und Ihrer Zukunftsaussichten ausgewählt wurden. Des Weiteren
gehen Sie davon aus, dass Sie dieses Angebot angenommen haben, weil es
sich nach objektiven Maßstäben um ein exzellentes Unternehmen handelt.
Ein weiteres, wichtiges Auswahlkriterium ist Ihnen jedoch weitestgehend
nicht bewusst: die Kultur.

Die wenigsten Leute, werden, als sie Sie einstellten, ausdrücklich gesagt
haben: „Einer der Hauptgründe, warum wir Sie einstellen ist, weil wir glauben,
dass Sie zu uns passen, dass Sie unsere impliziten Werte und Ansichten teilen
und dass es Ihnen leicht fallen wird, sich unseren Normen anzupassen.“ Sie er-
wähnten dies in dieser Form wahrscheinlich deshalb nicht, weil ihnen
selbst nicht klar ist, in welch hohem Maße sie bei Personaleinstellungen kul-
turelle Maßstäbe ansetzen. Als Sie das Angebot annahmen, war Ihnen mög-

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Kapitel 10: Neue Ansätze in der Kultur verankern
licherweise die Bedeutung, die Sie auf einen „Fit bei den Werten“ legten,
ebenso wenig bewusst. Im Ergebnis sind Sie und vermutlich all Ihre kürz-
lich eingestellten Kollegen einfache Kandidaten für die sogenannte „Soziali-
¢ 127

sierung“ – das Einimpfen der Unternehmensnormen und -werte.


In Ihrem ersten Jahr im neuen Job bemühen Sie sich, Ihre Sache gut zu ma-
chen, und beobachten sehr aufmerksam, auf welcher Grundlage Mitarbei-
ter anerkannt und befördert werden. Solange diese Praktiken nicht unklug
oder unethisch sind, versuchen Sie, sie zu übernehmen. Die stärksten Lek-
tionen bekommt man oft nicht in irgendeinem Seminar oder aus dem
Handbuch für neue Mitarbeiter. Der Tag, an dem Ihr Chef wegen etwas ex-
plodiert, das Sie verantwortet haben, wird einen weit nachhaltigeren Ein-
druck hinterlassen. Unterm Strich werden Sie dadurch die Kultur verstehen
und sich zu eigen machen.
Während der nächsten 20 Jahre werden Sie alle zweieinhalb bis vier Jahre
befördert. In dieser Zeit wird die Kultur immer mehr zu einem selbstver-
ständlichen Teil von Ihnen. Einer der Gründe, warum Sie befördert werden,
ist in der Tat, dass Sie sich einfügen und sich gut mit den Leuten verstehen,
die über Ihre Beförderung entscheiden. Nach einer Weile werden Sie selbst
neu eingestellten Mitarbeitern diese Kultur vermitteln – vielleicht sogar,
ohne es zu bemerken. Mit fünfzig Jahren, im gehobenen Management ange-
kommen, sind Sie sich der Kultur sogar vielleicht überhaupt nicht mehr be-
wusst. Sie haben so lange in ihr gelebt und sie von Anfang an als so kompa-
tibel empfunden, dass Sie sich darin fühlen wie ein Fisch im Wasser. Da die
Kultur überall und doch unsichtbar ist, denken Sie darüber einfach nicht
nach – trotz des großen Einflusses, den sie auf Sie hat. Fische atmen und er-
nähren sich im Wasser. Sie erhalten durch die Unternehmenskultur ein ho-
hes Maß an Vorhersehbarkeit, eine Menge an positivem Feedback und eine
starke emotionale Bindung zum Unternehmen.
Die meisten Angehörigen Ihrer Generation werden ähnliche Erfahrungen
im Unternehmen gemacht haben. Der Großteil dieser Frauen und Männer
wurden aufgrund ihrer kulturellen Kompatibilität ausgewählt. Die meisten
haben Hunderte oder Tausende Stunden Erfahrung angesammelt, in denen
sie die Normen und Werte erlernt und angenommen haben. Die meisten
geben dies nun an jüngere Mitarbeiter weiter.
Die Macht der Kultur ist aus drei wesentlichen Gründen so groß:
1. Weil Menschen passend ausgewählt und geschult werden.
2. Weil die Kultur durch das Handeln von Hunderten oder Tausenden
Menschen ausgeübt wird.
3. Weil all dies zum großen Teil unbewusst geschieht und die Kultur daher
schwer in Frage gestellt oder auch nur diskutiert werden kann.
Berater, Außendienstmitarbeiter und andere, die regelmäßig fremde Unter-
nehmen aus der Nähe beobachten können, wissen sehr genau, wie stark

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128 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
sich die Kultur außerhalb der Wahrnehmung der Mitarbeiter abspielt,
selbst solche Aspekte, die offensichtlich eher unüblich sind. Ich kann mich
noch daran erinnern, wie ich vor etwa 20 Jahren ein größeres Verlagshaus
besuchte und dort sah, dass acht der elf männlichen Topleute kleiner als
1,70 m waren (Der Firmengründer war 1,65 m groß). Als ich dies in einem
Nebensatz bemerkte, ohne es im Geringsten abwertend zu meinen, sahen
mich die Anwesenden an wie einen Außerirdischen. In einem anderen
Großunternehmen, das mit Sprengstoffen angefangen hatte und in dem
Sicherheit in mehr als einem Jahrhundert fast zu einer Obsession geworden
war, bemerkte ich, dass fast alle Manager sich beim Treppensteigen am
Handlauf festhielten, als wären sie 99 Jahre alt.
Weil Unternehmenskulturen einen derartigen Einfluss ausüben, müssen
neue Arbeitsweisen, die in einem Reengineering, einer Restrukturierung
oder einer Akquisition entstehen, in der Kultur verankert werden; andern-
falls können sie sehr zerbrechlich sein und sich leicht wieder zurückbilden.

Wenn neue Arbeitsweisen auf eine bestehende Kultur


übertragen werden

In vielen Transformationen ist der Kern der alten Kultur nicht von vornhe-
rein unvereinbar mit der neuen Vision; einige spezifische Normen werden
es gleichwohl sein. In einem solchen Fall besteht die Herausforderung da-
rin, die neuen Praktiken auf alte Wurzeln zu übertragen und unpassende
Teile abzuschneiden.
Bei einem führenden Hersteller von Industrieausrüstungen hatte absolute
Kundenorientierung immer den Kern der Unternehmenskultur gebildet. In
den frühen Jahren waren die Arbeitsweisen des Unternehmens vom Grün-
der um diesen Kern herum geprägt und von allen anderen nachgeahmt
worden. In der Mitte des 20. Jahrhunderts – der Gründer war schon lange
tot und das Unternehmen hatte in punkto Kundenbedienung eine 100-jäh-
rige Historie aufgebaut – entschloss sich das obere Management, dieses
Wissen als Prozeduren niederzuschreiben, die einer ständig wachsenden
Mitarbeiterschaft einfacher vermittelt werden konnten. Im Jahr 1980 füllten
diese Regeln sechs Handbücher, jedes mehr als fünf Zentimeter dick. An
diesem Punkt war „streng nach dem Handbuch zu verfahren“ eine feste
Gewohnheit und kulturelle Norm geworden.
1983 führte ein neuer CEO das Unternehmen durch einen größeren und er-
folgreichen Transformationsprozess. Um 1988 herum wurden die alten Ver-
fahrenshandbücher schließlich abgeschafft und durch bedeutend weniger
Regeln und eine Reihe von kundenorientierten Verhaltensweisen ersetzt
worden, die besser in die Zeit passten. Der CEO erkannte jedoch, dass die
alten Handbücher zwar nicht mehr auf den Schreibtischen lagen, in der Un-

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Kapitel 10: Neue Ansätze in der Kultur verankern
ternehmenskultur aber weiterhin sehr stark präsent waren. Er tat daraufhin
Folgendes.
Als er während der jährlichen Managementkonferenz die Bühne für seine
¢ 129

Eröffnungsrede betrat, ließ er drei seiner leitenden Angestellten die alten


Handbücher auf einen Tisch neben dem Rednerpult platzieren. In seiner
Ansprache sagte er etwa:
„Diese Bücher haben uns über viele Jahre hinweg gute Dienste geleistet.
Sie dokumentieren über Jahrzehnte gesammelte Weisheiten und Erfah-
rungen und haben sie uns allen zugänglich gemacht. Ich bin davon über-
zeugt, dass Tausende unserer Kunden enorm von diesen Prozeduren
profitiert haben.
In den letzten Jahrzehnten hat sich unsere Branche in einigen wichtigen
Aspekten verändert. Wo es früher nur zwei große Wettbewerber gab,
sind es heute sechs. Wo früher alle zwanzig Jahre eine neue Produktge-
neration in den Markt gebracht wurde, hat sich diese Zeitspanne inzwi-
schen auf knapp fünf Jahre verkürzt. Wo die Kunden früher überglück-
lich waren, wenn sie innerhalb von 48 Stunden Hilfe von uns bekamen,
erwarten sie mittlerweile Service innerhalb einer Acht-Stunden-Schicht.
In diesem neuen Kontext konnten unsere wunderbaren alten Bücher ihr
Alter nicht mehr verbergen – sie dienten unseren Kunden nicht mehr so
gut wie früher. Sie halfen uns nicht dabei, uns gut an die veränderten
Bedingungen anzupassen. Sie bremsten uns. Die ersten Anzeichen dafür
sahen wir gegen Ende der 70er Jahre. Obwohl wir weiterhin immer das
Richtige tun wollten, nahmen die Käufer unserer Produkte das nicht so
wahr, und das schlug sich in unseren Zahlen nieder.
1983 entschieden wir, dass wir etwas dagegen unternehmen mussten –
nicht nur, weil die finanziellen Ergebnisse so schlecht waren, sondern
vor allem, weil wir nicht mehr das taten, was wir eigentlich tun wollten
und so lange so exzellent praktiziert hatten: die Bedürfnisse unserer
Kunden auf wahrlich herausragende Weise zu bedienen. Wir analysier-
ten ihre veränderten Anforderungen und haben in den letzten Jahren
Dutzende Arbeitsweisen geändert, um diesen Anforderungen gerecht
zu werden. Und in diesem Prozess haben wir uns auch von den Burschen
dort drüben [auf die Handbücher zeigend] verabschiedet.
Ich glaube, dass wir alle uns zuweilen Sorgen machten, ob wir das Rich-
tige taten. Nun, die Beweise dafür sind mittlerweile sehr deutlich gewor-
den.“ An dieser Stelle fuhr er damit fort, sowohl die verbesserten Kun-
denzufriedenheitswerte als auch eine klare Verbindung zwischen
diesen Werten und den neuen Arbeitsweisen aufzuzeigen.
„Ich glaube also, dass wir trotz einer schwierigen Wettbewerbssituation
unserem Erbe gerecht werden. Ich nehme mir aus verschiedenen Grün-
den heute die Zeit, Euch all dies mitzuteilen. Ich weiß, dass es ein paar
von Euch in diesem Saal gibt, die in den letzten Jahren in das Unterneh-

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130 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
men gekommen sind und die die Bücher dort drüben für eine Lachnum-
mer halten, für Bürokratie reinsten Wassers. Nun, ich möchte, dass Ihr
wisst, dass sie dem Unternehmen für viele Jahre wertvolle Dienste erwie-
sen haben. Ich weiß auch, dass es Leute in diesem Raum gibt, die es has-
sen, diese Bücher verschwinden zu sehen. Ihr würdet es vielleicht nicht
zugeben – die Logik hinter unserem Vorgehen ist viel zu zwingend –
aber irgendwo tief drinnen empfindet Ihr das so. Ich möchte, dass auch
Ihr heute mit mir gemeinsam Lebewohl sagt. Die Handbücher sind wie
ein guter Freund, der nach einem erfüllten Leben verstorben ist. Wir
müssen seinen Beitrag für unser Leben anerkennen und dann in die Zu-
kunft schauen.“
Die Rede dauerte insgesamt etwa eine halbe Stunde. Der Ton war der einer
Laudatio. Hier hören wir einen Mann, der mit allem Respekt versucht, eine
Ansammlung alter Gepflogenheiten zu beerdigen und dabei sicherzustel-
len, dass das, wodurch sie ersetzt werden, fest mit den Kernwerten der
Gruppe verbunden ist. Für unsere analytische Gehirnhälfte ist es schwer
zu verstehen, warum dies erforderlich sein soll. Wären wir rein analytisch
veranlagt, wäre solch eine Rede nicht notwendig. Aber Menschen sind
auch emotionale Wesen, und wenn wir diese Tatsache ignorieren, geschieht
das auf unser eigenes Risiko.
Nachdem, was ich gesehen habe, waren diese Rede und die damit verbun-
denen Folgemaßnahmen sehr erfolgreich. Ein vor allem unter den älteren
Mitarbeiter fast schon zum Automatismus gewordenes Verhalten, „streng
nach dem Handbuch zu verfahren“, wurde durch vernünftigere Verhaltens-
regeln ersetzt. Das ist ein großes Verdienst.
Ich glaube, dass wir in den kommenden Jahrzehnten viel öfter diese Art von
begrenzter kultureller Veränderung werden vornehmen müssen. Die zuneh-
mende Globalisierung von Unternehmen wird zig Spielarten dieses Prob-
lems hervorbringen. Die neue koreanische (oder russische) Tochtergesell-
schaft hat nicht die Kundenorientierung (oder den Kostenfokus), wie sie in
der Unternehmensvision gefordert wird. Das Problem besteht nicht darin,
dass die neue Tochtergesellschaft kundenfeindlich (oder einsparungsfeind-
lich) ist, und die Lösung lautet auch nicht, New York in Seoul nachbauen
zu wollen. Die Herausforderung wird darin bestehen, einige neue Schlüssel-
werte in bereits stark ausgeprägte Kulturen zu integrieren.
Heute gibt es in meinen Augen nicht viele Unternehmen, die mit einer sol-
chen Situation souverän umgehen können. Wir ignorieren entweder Nor-
men und Werte oder werden zu Kulturimperialisten, die anderen Men-
schen die eigenen Praktiken bis ins kleinste Detail aufoktroyieren wollen.
In einer sich globalisierenden Wirtschaft werden sich die meisten in nicht
allzu ferner Zukunft mit solchen Themen auseinandersetzen müssen.

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Kapitel 10: Neue Ansätze in der Kultur verankern
Wenn neue Arbeitsweisen die alte Kultur ersetzen
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Es ist schon schwer genug, neue Praktiken in einer Kultur zu verankern,


wenn sie mit den Werten der Kultur grundsätzlich vereinbar sind. Wenn
dies nicht der Fall ist, wird es noch herausfordernder.

Stellen Sie sich ein 1928 gegründetes Unternehmen vor. Die Schlüsselerfah-
rung, die seine Kultur prägte, war die „Große Depression“, und so durchzo-
gen in der Folge konservative – wenn nicht sogar risikoaverse – Normen
und Werte das Unternehmen. Als das Unternehmen in den späten 80er Jah-
ren schwer ins Taumeln geriet und ein neues Top-Management-Team grö-
ßere Veränderungen vornehmen wollte, waren die Spannungen zwischen
den risikoaffineren Praktiken und der alten Kultur gewaltig. Selbst nach-
dem das Top-Management seine hundertprozentige Rückendeckung für
die neuen Methoden kundtat und sich die Anzeichen mehrten, dass diese
wirklich funktionierten, weigerte sich die alte Kultur zu sterben, insbeson-
dere in einem Bereich des Unternehmens.

Was unternahmen diese Manager in der Folge? Kurz zusammengefasst:


1. Sie sprachen ausführlich über die Indizien, die belegten, dass die erziel-
ten Leistungsverbesserungen mit den neuen Praktiken zusammenhin-
gen.
2. Sie sprachen ausführlich darüber, wie die alte Kultur entstanden war
und dem Unternehmen geholfen hatte, warum sie jetzt aber nicht mehr
zielführend war.
3. Sie boten den über 55-jährigen Mitarbeitern ein attraktives Vorruhe-
standsmodell an und arbeiteten dann hart daran, alle zum Bleiben zu
überreden, die die neue Kultur positiv aufnahmen.
4. Sie stellten doppelt und dreifach sicher, dass Neueinstellungen nicht un-
terschwellig auf Basis der alten Normen und Werte vorgenommen wur-
den.
5. Sie gaben sich große Mühe, niemanden zu befördern, der sich nicht die
neuen Praktiken zu Herzen genommen hatte.
6. Sie stellten sicher, dass keiner der drei Kandidaten, die für die Nachfolge
des CEO gehandelt wurden, die Kultur aus der Zeit der Depression in
sich trug.
Selbst mit all diesen Bemühungen war es schwierig, die alte Kultur abzu-
schneiden und die neue zu etablieren. Gemeinsame Werte und Gruppennor-
men behaupten sich hartnäckig, insbesondere erstere (vgl. Abbildung 26).
Wenn gemeinsame Werte durch das Einstellen ähnlicher Personen unter-
stützt werden, erfordert ein Wandel der Kultur möglicherweise auch das
Auswechseln von Personen. Und selbst wenn es keine Inkompatibilitäten
mit einer neuen Vision gibt, die auf persönliche Einstellungen zurückgehen,
sind oftmals jahrelange neue Erfahrungen notwendig, um überhaupt irgend-

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132 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
einen Wandel zu erzeugen, wenn die ursprünglichen gemeinsamen Werte
das Produkt langjähriger Erfahrungen in einem Unternehmen waren.

Das ist auch der Grund, warum die Veränderungen der Kultur am Ende
einer Transformation stehen und nicht am Anfang.

Der Wandel der Kultur geschieht zuletzt, nicht als erstes

Eine der Theorien über den Wandel, die sich in den letzten 15 Jahren weit
verbreitet hat, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das größte Hindernis
für Wandel in einer Gruppe ist die Kultur. Daher ist in einer größeren Trans-
formation die Veränderung von Normen und Werten der erste Schritt.
Nachdem man die Kultur verändert hat, wird der Rest des Transforma-
tionsprozesses realistischer und einfacher umzusetzen sein.

Früher habe ich an dieses Modell geglaubt. Aber alles, was ich in den letz-
ten zehn Jahren gesehen habe, sagt mir, dass es falsch ist.

Kultur lässt sich nicht einfach umgestalten. Alle Versuche, sie zu packen
und in eine neue Form zu pressen, sind zum Scheitern verurteilt, weil man
sie eben nicht packen kann. Eine Kultur lässt sich nur dann verändern,
wenn man zuvor die Handlungsweisen der Menschen erfolgreich geändert
hat, wenn das neue Verhalten der Gruppe über einen längeren Zeitraum po-
sitive Ergebnisse gebracht hat und die Menschen die Verbindung zwischen
neuem Handeln und verbesserten Leistungen wahrnehmen. Folglich ge-
schieht kultureller Wandel überwiegend in Stufe 8 und nicht in Stufe 1.

Das bedeutet aber nicht, dass Sensibilität gegenüber kulturellen Fragestel-


lungen nicht auch schon in den ersten Stufen einer Transformation von we-
sentlicher Bedeutung wäre. Je besser Sie die existierende Kultur verstehen,
desto leichter können Sie sich ein Bild davon machen, wie man ein Dringlich-
keitsgefühl schafft, wie man eine Führungskoalition aufbaut, wie man eine
Vision gestaltet usw. Es bedeutet ebenso wenig, dass Verhaltensänderungen
nicht ein Schlüsselelement der frühen Transformationsphasen wären. Zum
Beispiel versucht man in Stufe 2 typischerweise, Gewohnheiten zu verän-
dern und die Teamarbeit innerhalb der Führungskoalition zu stärken. Und
es heißt auch nicht, dass nicht gewisse Veränderungen in den persönlichen
Einstellungen Teil von Stufe 1 wären, in welcher selbstgefällige Weltan-
schauungen ins Visier genommen werden. Aber der echte Wandel mächtiger
Normen und Werte vollzieht sich vorwiegend in der allerletzten Stufe des
Prozesses oder zumindest in der letzten Stufe jedes Prozesszyklus. Wenn
also etwa in einem größeren Transformationsprojekt einer dieser Prozess-
zyklen ein Reengineeringprojekt in Abteilung X zum Gegenstand hat, wird
dieses Projekt mit den Bemühungen enden, die Arbeitsweisen in der Kultur
der Abteilung zu verankern.

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Kapitel 10: Neue Ansätze in der Kultur verankern
Eine dazugehörende Faustregel lautet: Immer wenn Sie von einer größeren
Restrukturierung, einem Reengineering oder einer strategischen Neuausrichtung
hören, die mit dem „Wandel der Kultur“ als ersten Schritt starten, sollten Sie
¢ 133

sich ernsthaft die Frage stellen, ob nicht vielleicht der falsche Kurs eingeschlagen
wird.

Veränderungen der persönlichen Einstellungen und Verhaltensweisen be-


ginnen üblicherweise schon früh in einem Transformationsprozess. Diese
Veränderungen befördern einen Wandel in den Arbeitsweisen, die dem Un-
ternehmen helfen, bessere Produkte oder Dienstleistungen zu niedrigeren
Kosten anzubieten. Aber erst am Ende des Wandelzyklus wird das meiste
davon in der Kultur verankert.

Ich habe in den letzten zehn Jahren Dutzende Fälle verfolgt, in denen Perso-
nalleiter den Auftrag erhielten, in Unternehmen „die Kultur zu wandeln“,
in denen gar kein übergeordneter Wandelprozess ablief oder ein Projekt un-
abhängig oder im Vorfeld von größeren Wandelbemühungen durchgeführt
wurde. Üblicherweise kämpften sich diese Personalmanager ein paar Jahre
durch und versuchten, irgendwie etwas Sinnvolles zuwege zu bringen. Sie
produzierten typischerweise Statements mit anzustrebenden Werten oder
Gruppennormen. Sie hielten meist Meetings ab, um diese Informationen
zu kommunizieren. Manchmal setzten sie Trainingsprogramme auf, um
die neuen Werte zu „lehren“. Aber als Stabsleute waren sie in einer viel zu
schwachen Position, als dass sie einen Wandel der gesamten Organisation
hätten umsetzen können. Und die verfehlte Grundannahme hinter einem
solchen Vorgehen – anpacken und die Kultur „zurechthämmern“ – machte
einen Erfolg von Beginn an praktisch unmöglich.
Manche Beobachter beurteilen diese Fälle und die darin verwickelten Perso-
nen eher abschätzig. Aber nach meinen Erfahrungen waren diese Manager
fast immer intelligente, engagierte und fleißige Menschen. Ihr Scheitern
sagt weniger über sie selbst aus als über die außerordentlichen Schwierig-
keiten, eine Unternehmenskultur zu verändern (vgl. Abbildung 26 mit
einer Zusammenfassung der Schlüsselelemente für das Verankern des kul-
turellen Wandels).

Abbildung 26: Den Wandel in der Kultur verankern

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134 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Eben weil ein solcher Wandel so schwer herbeizuführen ist, umfasst der
Wandelprozess acht Stufen anstatt zwei oder drei, beansprucht oft so viel
Zeit und erfordert so viel Führung von so vielen Menschen.

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Teil III:
Konsequenzen für das 21. Jahrhundert

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Kapitel 11: Das Unternehmen der Zukunft

Die Geschwindigkeit des Wandels in der Geschäftswelt wird sich in abseh-


barer Zeit nicht verlangsamen. Es ist eher wahrscheinlich, dass sich der
Wettbewerb in den meisten Branchen über die kommenden Jahrzehnte
noch weiter verschärfen wird. Getrieben durch die Globalisierung und ge-
paart mit technologischen und gesellschaftlichen Trends werden sich Unter-
nehmen in der ganzen Welt mit noch größeren Gefahren und noch wunder-
volleren Chancen konfrontiert sehen.
Das typische Unternehmen des 20. Jahrhunderts hat in einem sich rapide
verändernden wirtschaftlichen Umfeld nicht gut funktioniert. Existierende
Strukturen, Systeme, Praktiken und die Unternehmenskultur waren in der
Vergangenheit oftmals eher hemmend als unterstützend für den Wandel.
Wenn die Volatilität des wirtschaftlichen Umfeldes weiter zunimmt, was
viele heute vorhersagen, dann wird die Standardorganisation des 20. Jahr-
hunderts wahrscheinlich zum Dinosaurier werden.
Wie wird also das erfolgreiche Unternehmen des 21. Jahrhunderts ausse-
hen? Auf die Zukunft spekulieren ist immer gefährlich, aber die Diskus-
sion, die in diesem Buch geführt wird, birgt logische Konsequenzen.

Ein anhaltendes Gefühl der Dringlichkeit

Solange der Grad der Selbstgefälligkeit hoch ist, wird tief greifender Wan-
del niemals erfolgreich sein. Ein hohes Dringlichkeitsniveau hilft enorm bei
der Bewältigung aller Phasen des Transformationsprozesses. Sollten die ex-
ternen Veränderungen weiter zunehmen, dann muss sich das Dringlich-
keitsniveau einer erfolgreichen Organisation im 21. Jahrhundert dauerhaft
auf mittlerem bis hohem Niveau einpendeln. Das Modell des 20. Jahrhun-
derts, bei dem sich lange, ruhige Perioden mit kurzen, hektischen abwech-
selten, wird nicht mehr funktionieren.
Ein höheres Dringlichkeitsniveau bedeutet nicht, dass Panik, Stress oder
Angst ständige Begleiter werden. Es bedeutet einen Zustand, in dem Selbst-
gefälligkeit nicht vorhanden sein wird und Menschen konstant nach Proble-
men und Chancen Ausschau halten müssen und somit die Einstellung, „et-
was sofort zu tun“, zur Norm wird.
Ständig ein hohes Dringlichkeitsniveau zu halten, erfordert in erster Linie
Steuerungssysteme, die weitaus fortgeschrittener sind als die heute ge-
bräuchlichen. Die Tradition, Finanzbuchhaltungsdaten jeden Monat oder je-

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138 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
des Quartal an einen kleinen Kreis von Leuten zu verteilen, muss der Ver-
gangenheit angehören. Immer häufiger werden immer mehr Leute Daten
über Kunden, Wettbewerber, Mitarbeiter, Lieferanten, Aktionäre, technolo-
gische Entwicklungen und finanzielle Ergebnisse benötigen. Systeme, die
diese Informationen bereitstellen, können nicht so ausgelegt sein, dass sie
das Unternehmen oder einige Unternehmensbereiche einfach in günstigem
Licht präsentieren. Sie müssen insbesondere im Hinblick auf die Leistung
ehrliche und unbeschönigte Informationen liefern.
Im letzten Jahrzehnt haben viele Unternehmen wichtige Schritte unternom-
men, um diese neuen Leistungsfeedbacksysteme zu installieren. Insbeson-
dere Informationen zur Kundenzufriedenheit werden akkurater sowie öfter
gesammelt und einem größeren Personenkreis zur Verfügung gestellt.
Ebenso sehen Manager ihre Kunden, besonders die unzufriedenen, sehr
viel häufiger. Obwohl dies die richtigen Ansätze sind, liegt noch ein weiter
Weg vor uns. Typische Mitarbeiter erhalten heute in normalen Unterneh-
men noch immer zu wenige Informationen über ihre eigenen Leistungen,
die Leistung ihrer Gruppe oder Abteilung und die ihres Unternehmens.
Um sowohl effektivere Systeme zu gestalten als auch die Produktivität bes-
ser zu nutzen, müssen Unternehmenskulturen im 21. Jahrhundert ehrlichen
Diskussionen einen weitaus höheren Stellenwert beimessen, als sie es heute
tun. Normen, die sich auf politische Höflichkeit, mehrdeutige Diplomatie
oder ein „Tötet-den-Überbringer-schlechter-Nachrichten“-Syndrom stüt-
zen, müssen geändert werden. Der Lautstärkeregler des „unehrlichen Dia-
logkanals“ muss ganz weit nach unten gedreht werden.
Für all die Leser, die die meiste Zeit ihre Karriere in hoffnungslos politi-
schen Unternehmen gearbeitet haben und dieses Ziel daher als nicht reali-
sierbar einschätzen, kann ich nur betonen, dass diese transparenten und
ehrlichen Kulturen bereits heute existieren. Ich konnte dies selbst beobach-
ten. Die Schaffung dieser Normen kann sicherlich sehr schwierig sein, aber
die Aufgabe ist nicht unmöglich. Typischerweise beginnt der Wandel mit
einer einzigen kompetenten Person, überträgt sich durch ihren Beispielcha-
rakter auf einige andere, schafft Nutzen für die Gruppe und setzt sich dann
immer weiter fort.
Die Kombination valider Daten aus mehreren externen Quellen, intensiver
Kommunikation dieser Informationen innerhalb der Organisation und der
Bereitschaft zu ehrlichem Feedback ist bereits ein großer Schritt, um die
Selbstgefälligkeit zu eliminieren. Ein zunehmendes Dringlichkeitsgefühl
unterstützt Unternehmen dabei, Wandel schneller umzusetzen und sich
der sich rasant verändernden Geschäftswelt anzupassen.

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Teamwork in der Führung
Kapitel 11: Das Unternehmen der Zukunft ¢ 139

In einem sich langsam verändernden Umfeld braucht eine Organisation


nur eine kompetente Führungsperson. Teamwork in der Führung ist nicht
essenziell. In einem sich moderat verändernden Umfeld ist Teamwork not-
wendig, um mit periodischen Transformationen umzugehen, aber die
meiste Zeit funktioniert das alte Modell. In einer sich schnell verändernden
Welt allerdings ist Teamwork zu jeder Zeit notwendig.
In einem Umfeld konstanten Wandels haben selbst sehr kompetente Men-
schen nicht genug Zeit oder Expertise, um die sich schnell verändernden
Konkurrenten, Kunden oder Informationen vollumfänglich zu reflektieren.
Ihnen fehlt schlicht die Zeit, um alle notwendigen Entscheidungen an Hun-
derte oder Tausende Mitarbeiter zu kommunizieren. Weiterhin haben sie
wohl selten das Charisma oder die Fähigkeiten, um im Alleingang eine
große Anzahl von Menschen für den Wandel zu begeistern.
Ich kann mir bereits heute einen Tag in nicht allzu ferner Zukunft vorstel-
len, an dem die Nachfolgeplanung wahrscheinlich nicht mehr nur daraus
besteht, einfach eine Person auszuwählen und damit lediglich eine andere
zu ersetzen. Nachfolgeplanung könnte ein Prozess werden, bei dem die
Kernbeteiligten eines Teams ausgewählt werden. Und wenn eines Tages
die Grundelemente für ein sinnvolles Team festgelegt sind, würde dies die
Position eines neuen CEO stärken, um die erforderliche Führungskoalition
aufzubauen. So könnte der Aufbau eines Teams, der manchmal Monate,
wenn nicht sogar Jahre dauert, durch einen weitaus schnelleren Prozess er-
setzt werden.
Ich kann mir auch einen Tag vorstellen, an dem Über-Egos und „falsche
Schlangen“ von den Beförderungslisten verschwinden, egal wie intelligent,
klug, fleißig oder gebildet sie auch sein mögen. Solche Menschen zerstören
Teamwork. Sie schaffen bereits heute Probleme, und in einer sich noch
schneller verändernden Welt werden ihre Taten komplett inakzeptabel.
Keine dieser Ideen – Beförderung von Teams anstatt von Individuen, Ein-
grenzung von Über-Egos und „falschen Schlangen“ – wird ohne kontro-
verse Diskussion akzeptiert werden. Nachfolgeplanung in Form von Team-
bildung ist ein radikaler Gedanke, insbesondere in den USA mit ihrer
Lonesome-Cowboy-Tradition. Es ist weniger radikal, intelligente und be-
gabte Leute nicht zu befördern; aber die Schlangen werden sich nicht
kampflos ergeben. Man stelle sich nur folgenden Dialog vor:
„Das ist lächerlich. Nick ist brillant und dynamisch. Was für ein Signal
würden wir an die jungen Leute senden, wenn wir ihn nicht befördern?“
„Wir versuchen so ein Zeichen zu setzen, um zu verdeutlichen dass es un-
annehmbar ist, wenn sich jemand mehr um sich selbst als um das Unter-
nehmen kümmert.“

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140 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
„Wie kannst du nur behaupten, dass er sich nicht um das Unternehmen
kümmert? Okay, er ist ein wenig egozentrisch, aber das trifft auf die
meisten talentierten Menschen zu.“
„Wie kommt es dann, dass ihn so viele Leute nicht mögen?“
„Eifersucht. Alle großen Talente leiden darunter ...“
Ich glaube, dass die Entscheidung für die Nachfolge angesichts dieses
neuen Anspruchs leichter fallen wird, weil wir nicht mehr länger auf der
Jagd nach dem Einzelwesen sind, das jedes Problem aus dem Weg räumen
kann. Weiterhin denke ich, dass manche Trends (wie die ganzheitliche 360°-
Evaluierung) von den vielen Über-Egos und falschen Schlangen bereits
ihren Tribut fordern. Dennoch sind diese Veränderungen kontrovers und
sie werden sicherlich nicht leicht einzuführen sein.

Menschen, die Visionen schaffen und kommunizieren können

Im 20. Jahrhundert war die Ausbildung von Geschäftsleuten in Theorie und


Praxis ganz auf das Management konzentriert – Menschen wurde beige-
bracht, wie man plant, budgetiert, organisiert, Personal einsetzt, kontrolliert
und Probleme löst. Erst im letzten Jahrzehnt wurde vermehrt an die Ausbil-
dung von Führungspersönlichkeiten gedacht. Da Management sich haupt-
sächlich mit dem Status quo und Leadership sich hauptsächlich mit Wandel
beschäftigt, müssen wir uns für das nächste Jahrtausend darauf einstellen,
mehr Führungspersönlichkeiten auszubilden. Ohne ausreichende Führungs-
persönlichkeiten werden Vision, Kommunikation und Empowerment – die
Kernelemente des Transformationsprozesses – einfach nicht kompetent
oder schnell genug implementiert, um unseren Bedürfnissen und Erwartun-
gen zu entsprechen.
Manche Menschen glauben, dass die Ausbildung vieler Leader ein hoff-
nungsloses Unterfangen ist. Viele behaupten, dass man entweder zum Lea-
der geboren wird oder nicht. Und die meisten Leute sind eben nicht dazu
geboren. Selbst wenn wir diese pessimistische Einschätzung teilen und da-
von ausgehen würden, dass nur eine von 100 Personen das Potenzial dazu
hätte, würde das bei einer Weltbevölkerung von ungefähr 6 Milliarden Men-
schen dazu führen, dass immer noch 60 Millionen Menschen die Möglich-
keit dazu hätten. Das ist ein großes Potenzial! Wenn wir dieses vorhandene
Potenzial bei seiner Entwicklung gezielt unterstützen, würden wir über ge-
nügend Führungskräfte verfügen, um die Unternehmen in einem sich noch
schneller verändernden 21. Jahrhundert zu lenken.
Die Entwicklung von Leadershippotenzial erreicht man nicht in einem
Zwei-Wochen-Kurs oder in einem Vier-Jahres-Studium. Die meisten der
komplexen Fähigkeiten entwickeln sich über Jahrzehnte, deswegen spre-
chen wir auch immer öfter über das „lebenslange Lernen“. Da wir einen

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Kapitel 11: Das Unternehmen der Zukunft
Großteil unserer Lebenszeit bei der Arbeit verbringen, findet der Großteil
unserer Entwicklung am Arbeitsplatz statt. Diese einfache Tatsache hat
enorme Auswirkungen. Wenn wir während unserer Arbeitszeit ermutigt
¢ 141

werden und uns dabei geholfen wird, unsere Führungsqualitäten zu entwi-


ckeln, dann werden wir schließlich unser jeweiliges Potenzial realisieren
können. Wenn unsere Zeit am Arbeitsplatz hingegen wenig oder gar nichts
zur Entwicklung dieser Fähigkeiten beiträgt, werden wir vermutlich nie un-
ser wahres Potenzial erschließen können.

Stark kontrollorientierte Organisationen zerstören Leadership oftmals, in-


dem sie es Menschen nicht erlauben, sich zu entfalten, sich zu testen und
zu wachsen. In steifen Bürokratien können junge Männer und Frauen mit
Leadershippotenzial kaum gutes Rollenverhalten lernen, sie werden nicht
zu Leadership motiviert, sondern eher noch dafür bestraft, wenn sie sich
außerhalb ihrer Grenzen bewegen, den Status quo hinterfragen oder sogar
Risiken eingehen. Diese Art von Unternehmen tendiert dazu, Menschen
mit Führungspotenzial abzustoßen oder diesen Individuen nur bürokrati-
sches Management beizubringen.

Erfolgreiche Organisationen des 21. Jahrhunderts werden Inkubatoren von


Leadership sein müssen. In einer sich schnell verändernden Welt wird die
Verschwendung von Talent zunehmend kostspielig. Im Umkehrschluss
wird die Entwicklung von Leadershipqualitäten flachere und schlankere
Strukturen mit weniger Kontrolle und mehr Risiko voraussetzen. Die nega-
tiven Konsequenzen daraus, dass man Menschen mit Potenzial in kleine
Boxen steckt und sie mit Mikromanagement überzieht, werden nur noch
weiter zunehmen. Menschen müssen, zunächst im kleinen Maßstab, ermu-
tigt werden, zu führen, sowohl um der Organisation zu helfen, sich an die
verändernden Umstände anzupassen, als auch um selbst zu wachsen. Auf
diese Weise, durch Tausende von Stunden mit „Trial and Error“, Coaching
und Ermutigung, werden sie ihr Potenzial voll ausschöpfen können.

Allein in den letzten zehn Jahren sind wir ein gutes Stück vorangekommen,
diese Art von Unternehmen zu schaffen. Alle Pessimisten sollten sich sorg-
fältig anschauen, was bereits geschehen ist. Trotzdem haben wir noch einen
langen Weg vor uns. Eng definierte Jobs, risikoscheue Kulturen und Chefs,
die Mikromanagement betreiben, sind noch immer zu oft die Norm – insbe-
sondere in großen Unternehmen und in vielen Regierungsorganisationen.

Empowerment auf breiter Basis

Das Herz und der Verstand aller Mitarbeiter werden benötigt, um mit dem
sich schnell verändernden wirtschaftlichen Klima Schritt halten zu können.
Ohne ausreichendes Empowerment liegen wichtige Qualitätsinformatio-

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142 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
nen ungenutzt in den Köpfen der Mitarbeiter und das Energiepotenzial zur
Umsetzung des Wandels bleibt ungenutzt.
Viele der organisatorischen Eigenschaften, die für die Entwicklung von
Leadership notwendig sind, werden auch für das Empowerment von Mitar-
beitern benötigt. Zu diesen begünstigenden Faktoren gehören flache Hierar-
chien, weniger Bürokratie und eine hohe Risikobereitschaft. Zusätzlich
funktioniert konstantes Empowerment am besten in Organisationen, in de-
nen die Vorgesetzten sich auf Leadership fokussieren und einen Großteil der
Managementaufgaben an niedrigere Hierarchiestufen delegieren.
Schon heute haben erfolgreiche, mir bekannte Unternehmen, die in sehr
wettbewerbsorientierten Branchen tätig sind, ein Top-Management, das
sich hauptsächlich auf Leadership und nicht auf Management konzentriert.
Ihre Mitarbeiter sind mit der Autorität ausgestattet, ihre Teams selbstständig
zu managen. Obwohl es unter Managern und Beschäftigten, die an dem al-
ten Rollenmodell hängen, noch einigen Widerstand gibt, kann ich mir nicht
vorstellen, dass sich dieser Trend in den nächsten Jahrzehnten nicht weiter
fortsetzen wird.
All den Lesern, denen es Schwierigkeiten bereitet, sich tatsächlich diese Ent-
wicklung des Empowerment vorzustellen, schlage ich vor, sich die Unter-
nehmen anzuschauen, die bereits heute unter sich ständig verändernden
Bedingungen operieren: Hightech- und Dienstleistungsunternehmen, die
sich in stark wettbewerbsorientierten Märkten durchsetzen müssen. Man
findet hier ungewöhnlich flache Hierarchien, wenig Bürokratie, eine Nei-
gung zur Risikobereitschaft, Arbeitskräfte die sich zum größten Teil selbst
managen und eine Führungsriege, die Kundenprojekte, technologische Ent-
wicklungen oder den Kundenservice führt. Das Modell hat sich also bereits
bewährt. Mit kompetenter Führung an der Spitze funktioniert es extrem
gut.

Delegation von Management für exzellente und schnelle


Leistungen

Einige Wirtschaftsfuturisten schreiben so, als würde Management, wie wir


es heute kennen, im 21. Jahrhundert von der Bildfläche verschwunden sein.
Jeder Mensch von Bedeutung wird zum Visionär und Inspirator. Die lang-
weiligen Leute, die sich nur darum kümmern, ob die Planziele erreicht wer-
den, braucht man nicht länger. Dies ist jedoch unrealistisch. Auch in einer
sich schnell verändernden Welt muss es jemanden geben, der die bestehen-
den Systeme am Laufen hält. Das Abzielen auf eine bessere Zukunft ist
wunderbar; wenn aber schnelle und kurzfristige Erfolge nicht zeigen, dass
man sich auf dem richtigen Pfad befindet, dann wird man selten die
Chance bekommen, die Vision vollständig zu implementieren.

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Kapitel 11: Das Unternehmen der Zukunft
Da die Art der Unternehmen, die hier beschrieben wird, einen Großteil der
Verantwortung an untergeordnete Hierarchiestufen delegiert, bedeutet ex-
zellentes Management, dass die autorisierten Mitarbeiter mit der Verant-
¢ 143

wortung kompetent umgehen können. Dies wiederum bedeutet, dass die


Mitarbeiter ausreichendes Managementtraining bekommen haben und
durch entsprechende Systeme unterstützt werden. Selbst wenn man heut-
zutage Mitarbeiter antrifft, die von ihrem Management empowert wurden,
haben diese häufig nicht die entsprechende Aus- und Weiterbildung oder
eine andere Art der Unterstützung. Stattdessen sind sowohl Trainings als
auch Systeme auf ein aufgeblähtes mittleres Management zugeschnitten.
Die Änderung dieses Umstandes ist normalerweise eher ein Problem der
Einstellung und nicht der technischen oder wirtschaftlichen Begebenheiten.
„Nein, dieses Training ist nur für Manager“, sagt jemand und meint damit,
dass man einen bestimmten Status in der Hierarchie haben muss, um in
den Genuss dieses Trainings zu kommen. „Wir können diese Informationen
nicht an jeden weitergeben“, sagt ein anderer als Reaktion auf einen Vorschlag
zur Veränderung die Kontrollsysteme. „Und warum nicht?“ Hier sind die
Antworten:
1. „Wegen der Sicherheit.“ Die eigentliche Frage lautet: Wessen Sicherheit?
Würde es dem Unternehmen schaden, wenn Informationen über
schlechte Leistungen einer Abteilung oder eines Produktes vielen Leu-
ten im Unternehmen bekannt wären? Oder wird es für einige Vorge-
setzte peinlich, sodass sie unter Druck gesetzt werden, etwas zu tun?
2. „Weil sie nicht wissen, was sie mit dieser Information anfangen sollen.“ Sie
wüssten es, wenn sie entsprechend geschult wären.
3. „Wegen der Kosten.“ Seltsame Logik. Durch die Delegation von Manage-
mentverantwortung werden Leute mit einem relativ niedrigen Jahres-
einkommen zu Tätigkeiten befähigt, die vorher von Leuten ausgeführt
wurden, die wesentlich bessere oder sogar Spitzengehälter bezogen.
Die Einsparungen im Personalbereich werden jede neue Weiterbildung
und Systeminvestition überkompensieren, es sei denn, die unnötigen
Jobs im mittleren Management werden nicht gestrichen.
Eine Organisation mit erhöhter Delegation bedeutet eine schlanke und fla-
che Hierarchie und führt zu verbesserten Handlungsspielräumen im Ver-
gleich zu einem Unternehmen mit einem großen, trägen und veränderungs-
unwilligen Mittelbau. Trotz aller Ausflüchte wird allein diese Tatsache in
den nächsten Jahrzehnten dazu führen, dass mehr delegiert wird.

Keine unnötigen Interdependenzen

Jedes Unternehmen besitzt überflüssige Verbindungen zwischen Menschen


und Gruppen. Die deutsche Niederlassung kann keiner Sache zustimmen,

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144 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
ohne sich zuvor mit dem Stammhaus abzustimmen. Die zentrale Control-
lingabteilung schickt jede Woche kiloweise Berichte an die Produktions-
werke, von denen die Unterlagen aber weitestgehend ignoriert werden.
Wegen irgendeines Problems im Jahr 1965 wurde eine Standardprozedur
etabliert, in der die Ingenieure den Marketing- und Produktionsleuten ge-
wisse Dinge präsentieren; Meetings, die noch immer stattfinden, obwohl
dieselben Informationen mit den heute verfügbaren IT-Systemen schneller
und einfacher kommuniziert werden könnten. In einigen Unternehmen
nehmen diese sinnlosen Interdependenzen geradezu überwältigende Aus-
maße an und machen umfassenden Wandel zu einer hoffnungslos kompli-
zierten Angelegenheit. Obwohl solche Zustände auf Außenstehende albern
wirken, können sie intern, wenn vielleicht auch nur widerwillig, durchaus
akzeptiert und äußerst schwer zu korrigieren sein.
Im 21. Jahrhundert wird ein volatiles Geschäftsumfeld die Unternehmen
verstärkt dazu zwingen, ihre Untereinheiten zeit- und kostengünstig zu ko-
ordinieren. Historisch gewachsene Interdependenzen, die nicht wertschöp-
fend sind, wird man nicht mehr tolerieren können. In dieser Hinsicht wer-
den die Unternehmen des 21. Jahrhunderts wohl viel aufgeräumter sein als
die heutigen. Weniger strukturelle Spinnweben und weniger prozessualer
Staub werden die Abläufe reibungsärmer und effizienter machen.
Darüber hinaus wird in einer sich schneller drehenden Umwelt ein dauer-
hafter Reinigungsprozess notwendig sein. Anstatt darauf zu warten, dass
die Interdependenzen nicht mehr handhabbare Dimensionen erreichen,
wird die effektive Organisation im 21. Jahrhundert die Verbindungen in
kleineren Abständen überprüfen und die nicht mehr relevanten konsequent
beseitigen.
Allen, die sich ein solches Szenario nicht recht vorstellen können, versichere
ich nochmals, dass so etwas, wenn auch selten, bereits heute existiert. Etli-
che mir bekannte Firmen, die noch von ihren Gründern oder anderen Un-
ternehmern geleitet werden, reduzieren Interdependenzen fast wie beses-
sen auf das absolute Minimalniveau, wie es die jeweiligen Märkte fordern.
So etwas ordentlich durchzuführen, ist nicht einfach. Abhängigkeiten ver-
leihen einigen Leuten Macht, die sie meist nur sehr ungern aufgeben. Ab-
hängigkeiten werden zu Gewohnheiten. Die Entscheidung darüber, welche
Wechselbeziehung nützlich ist und welche ein historisches Relikt, kann ge-
legentlich schwierig sein, insbesondere in Fällen, in denen breit angelegte
Visionen und Strategien zur Leitung des Unternehmens fehlen. Nichtsdes-
totrotz sind einige Menschen, die sich diesem Problem offensiv widmen,
dabei schon heute sehr erfolgreich.

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Kapitel 11: Das Unternehmen der Zukunft
Eine anpassungsfähige Unternehmenskultur
¢ 145

Alle von mir beschriebenen Methoden werden Unternehmen dabei unter-


stützen können, sich einer schnell verändernden Umwelt anzupassen.
Diese Methoden so zu etablieren, dass sie dauerhaft wirken, ist eine gute
Übung für die Entwicklung von anpassungsfähigen Unternehmenskultu-
ren.
Im 20. Jahrhundert haben sich die in Unternehmen vorhandenen Gruppen-
normen und geteilten Werte hauptsächlich als Barrieren für den Wandel er-
wiesen. Das muss aber nicht sein. Unternehmenskulturen können Anpas-
sungen erleichtern, wenn sie starke Leistungen entsprechend honorieren,
wenn sie kompetente Führung und Management wirklich unterstützen,
wenn sie zu Teamwork an der Unternehmensspitze animieren und wenn
sie ein Minimum an Ebenen, Bürokratie und Interdependenzen erfordern.
Solche Kulturen zu schaffen, ist wie ein Transformationsprozess: das Dring-
lichkeitsniveau steigern, eine Führungskoalition etablieren usw. In den
meisten Branchen ist heute der Druck zur Änderung von Kulturen nicht
sehr intensiv, wodurch es leicht fällt, alles auf die lange Bank zu schieben.
„Das soll lieber die nächste Manager-Generation erledigen.“ „Es ist doch alles gar
nicht so schlecht; schauen Sie sich nur das letzte Quartalsergebnis an.“
Behalten Sie aber eines im Hinterkopf: Mindestens ein Spieler in Ihrer Bran-
che denkt wahrscheinlich nicht so.
Wahrhaft anpassungsfähige Unternehmen mit anpassungsfähigen Kultu-
ren sind furchterregende Wettbewerbsmaschinen. Sie erzeugen erstklassige
Produkte und Dienstleistungen schneller und besser. Sie führen die aufge-
blähten Bürokratien im Wettbewerb regelrecht vor. Selbst wenn sie über
weniger Ressourcen und Patente oder geringere Marktanteile verfügen,
stellen sie sich dem Wettbewerb und gehen immer wieder als Sieger vom
Platz.
Viele Menschen, die in ineffektiven Restrukturierungen, Qualitätsprogram-
men u. Ä. hin- und hergestoßen wurden, befürchten, dass eine sich dauernd
verändernde, anpassungsfähige Organisation die Hölle auf Erden sein
wird. Das ist sie aber nicht. Nach meinen Beobachtungen kann es weitaus
erfüllender sein, für solch ein Unternehmen zu arbeiten, als es heute die
Norm ist. Denken Sie daran, dass in diesen Unternehmen Wandel nicht zur
Befriedigung irgendwelcher Egos oder als Reflex auf die Ereignisse von ges-
tern erfolgt. Veränderungen geschehen, um immer bessere Produkte und
Dienstleistungen zu erzeugen und damit die tatsächlichen Bedürfnisse der
Menschen zu immer niedrigeren Preisen zu bedienen. In solch einem Um-
feld zu leben und Siege einzufahren, kann Spaß machen, weil man das Ge-
fühl hat, etwas Lohnenswertes zu tun. An die Geschwindigkeit des Wan-
dels muss man sich durchaus erst gewöhnen, vor allem, wenn man die
meiste Zeit seines Berufslebens in altmodischen Bürokratien zugebracht

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146 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
hat. Aber nach einer gewissen Eingewöhnungsphase schätzen die meisten
Leute die Dynamik dieses Umfelds. Es ist fordernd. Es wird niemals lang-
weilig. Siegen macht Spaß. Und für die meisten von uns ist es eine Wohltat
für die Seele, einen echten Beitrag zu leisten.

Von hier nach dort gelangen

Ich habe die Diskussion in diesem Kapitel in Abbildung 27 zusammenge-


fasst. Schon ein kurzer Blick auf diese Informationen zeigt, dass wir über
eine ganze Menge ziemlich fundamentaler Veränderungen sprechen. So
viel Wandel wird sich nicht so einfach einstellen.
Das wohl schlagkräftigste Argument gegen die Notwendigkeit einer tief
greifenden Transformation lautet, dass Unternehmen auch mit inkrementel-
lem Wandel erfolgreich sein können. Eine zweiprozentige Verbesserung
hier, eine fünfprozentige Kostenreduktion dort, und man ist der Gewinner.
Auf kurze Sicht und für einzelne Branchen mag das zutreffen. Aber sehen

Abbildung 27: Die Organisation des 20. und des 21. Jahrhunderts im Vergleich

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Kapitel 11: Das Unternehmen der Zukunft
Sie sich nochmals die Abbildung an. Wie lange wird es in Ihren Augen dau-
ern, sich inkrementell vom Modell des 20. Jahrhunderts zu dem des 21. zu
entwickeln?
¢ 147

Und was glauben Sie, werden die Folgen sein, wenn Sie nicht schnell genug
dort ankommen?

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Kapitel 12: Leadership und lebenslanges Lernen

Der Schlüssel zum Aufbau und zur Weiterentwicklung eines erfolgreichen


Unternehmens im 21. Jahrhundert ist Leadership – nicht nur an der Spitze
der Hierarchie, sondern in abgewandelter Form auch im gesamten Unter-
nehmen. Das bedeutet, dass wir in den nächsten Jahrzehnten einerseits die
Entstehung einer neuen Art von Unternehmen werden beobachten können,
die in schnelllebigeren und wettbewerbsintensiveren Umfeldern besser zu-
rechtkommen. Andererseits werden wir – zumindest in erfolgreichen Un-
ternehmen – auch eine neue Art von Mitarbeitern sehen.

Der Mitarbeiter des 21. Jahrhunderts wird viel mehr über Leadership und
Management wissen müssen als sein Pendant im 20. Jahrhundert. Der Ma-
nager des 21. Jahrhunderts wird sogar sehr viel über Leadership wissen
müssen. Mithilfe dieser Fähigkeiten ist es möglich, eine – wie in Kapitel 11
beschriebene – effektive, erfolgreiche und anpassungsfähige Organisation
aufzubauen und zu erhalten. Ohne diese Fähigkeiten sind dynamische, an-
passungsfähige Unternehmen nicht vorstellbar.

Für Menschen, die mit dem traditionellen Führungsbegriff groß geworden


sind, ergibt eine solche Idee keinen Sinn. In dem seit jeher bekanntesten Füh-
rungsmodell ist Leadership die Domäne nur weniger Auserwählter. In einer
solchen Denkwelt erscheint ein Konzept, bei dem Massen von Menschen
Führungsaufgaben übernehmen, um den Acht-Stufen-Prozess des Wandels
voranzutreiben, bestenfalls vermessen. Selbst wenn Sie glauben, dass Sie
das alte Modell ablehnen, ist dieser elitäre Führungsbegriff – wenn Sie das
20. Jahrhundert auf diesem Planeten verbracht haben – höchstwahrschein-
lich irgendwo in Ihrem Kopf verankert und beeinflusst Ihre Handlungen,
ohne dass es Ihnen selbst bewusst ist.

Der allergrößte Fehler im traditionellen Modell hängt jedoch mit seinen An-
nahmen über die Herkunft von Leadership zusammen. Einfach ausge-
drückt sieht das historisch dominierende Konzept Führungsqualitäten als
angeborene Gottesgabe, die nur wenigen Menschen zuteilwird. Obwohl
ich dies einst auch glaubte, bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass diese tra-
ditionelle Idee schlichtweg nicht mit dem übereinstimmt, was ich in den
knapp 30 Jahren meiner Beobachtungen von Unternehmen und den Men-
schen, die sie leiten, erfahren habe. Insbesondere lässt das ältere Modell die
Kraft und das Potenzial des lebenslangen Lernens nahezu völlig unberück-
sichtigt.

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150 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
Der Prototyp des Managers für das 21. Jahrhundert

Zum ersten Mal begegnete ich Manny im Jahre 1986. Zu dieser Zeit war er
ein aufgeweckter, freundlicher und ehrgeiziger Manager von etwa 40 Jah-
ren. Er hatte in seiner beruflichen Laufbahn schon einiges erreicht, aber
nichts an ihm wirkte außergewöhnlich. Zumindest soweit ich das beurtei-
len konnte, hätte ihn keiner in seinem Unternehmen einen Leader genannt.
Ich fand ihn, so wie viele Leute, die in den Bürokratien des 20. Jahrhunderts
aufgewachsen sind, eher vorsichtig und auch etwas politisch. Ich hätte er-
wartet, dass er einige Jahre in einer gehobenen Position verbringen und
einen nützlichen, aber alles andere als herausragenden Beitrag für sein Un-
ternehmen leisten würde.
1995 traf ich Manny zum zweiten Mal. Schon in einer kurzen Unterhaltung
bemerkte ich eine Tiefe und Differenziertheit, die zuvor nicht ersichtlich ge-
wesen war. Als ich mit anderen in seinem Unternehmen sprach, hörte ich
immer wieder eine ähnliche Einschätzung: „Ist es nicht erstaunlich, wie sehr
Manny gewachsen ist“, sagten sie mir. „Ja“, sagte ich, „es ist erstaunlich.“
Heute führt Manny eine Einheit, die etwa 600 Millionen US-$ Nachsteuer-
gewinn erzielt. Der Geschäftszweig globalisiert sich rasant – mit allen dazu-
gehörigen Risiken und Chancen. Während ich dies schreibe, führt er seine
Gruppe mit dem Ziel durch eine umfassende Transformation, das Unter-
nehmen für eine erfolgversprechende Zukunft zu positionieren. Und all
das vollbringt ein Mann, der mit 40 nicht wie eine Führungspersönlichkeit
wirkte, geschweige denn wie eine große Führungspersönlichkeit.
Menschen wie Manny hat es schon immer gegeben. Anstatt langsamer zu
werden und mit 35 oder 45 den Zenit zu überschreiten, lernen sie mit einer
Geschwindigkeit weiter, die wir normalerweise nur Kindern und Jugendli-
chen attestieren. Diese Ausnahmen von der Regel lassen uns erkennen, dass
uns unser Erbgut nicht daran hindert, uns auch in den späteren Lebensab-
schnitten weiterzuentwickeln. Die Biografie von Konosuke Matsushita, einem
der bemerkenswertesten Unternehmensführer des 20. Jahrhunderts, an der
ich gerade arbeite, zeigt dies in extremer Form. Frühe Berichte über Matsu-
shita beschreiben einen fleißigen, aber kränklichen jungen Mann. Nir-
gendwo finden sich in den Beschreibungen jener Zeit Begriffe wie brillant, dy-
namisch, visionär oder charismatisch, ganz zu schweigen von Leader. Dennoch
reifte er in seinen Zwanzigern zum Unternehmer, in seinen Dreißigern und
Vierzigern zum Unternehmensführer und in seinen Fünfzigern zu einem Un-
ternehmenstransformierer der Spitzenklasse. Er half seinem Unternehmen,
nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges wieder auf die Füße zu kom-
men, neue Technologien einzuführen, global zu expandieren und sich immer
wieder so zu erneuern, dass es die kühnsten Träume überstieg. Danach be-
gann er zusätzliche erfolgreiche Karrierepfade; in seinen Sechzigern als Au-
tor, in seinen Siebzigern als Philanthrop und in seinen Achtzigern als Lehrer.

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Kapitel 12: Leadership und lebenslanges Lernen
Ich glaube, dass wir im 21. Jahrhundert noch mehr dieser bemerkenswerten
Führungspersönlichkeiten sehen werden, die ihre Fähigkeiten durch lebens-
langes Lernen weiterentwickeln, weil ein solcher Reifungsprozess in einem
¢ 151

sich rasant ändernden Umfeld belohnt wird. In einer statischen Welt können
wir mit 15 Jahren schon fast alles erlernt haben, was wir im Leben wissen
müssen, und nur sehr wenige werden Führung ausüben müssen. In einer
unsteten Welt können wir niemals alles lernen, selbst wenn wir uns bis zum
Alter von 90 Jahren immer weiterentwickeln. Die Entwicklung von Füh-
rungsfähigkeiten wird dadurch für immer mehr Menschen immer wichtiger.

Je mehr die Geschwindigkeit der Veränderungen zunimmt, desto entschei-


dender werden der Wille und die Fähigkeit, sich weiterzuentwickeln – so-
wohl für den Karriereerfolg des Einzelnen als auch für den wirtschaftlichen
Erfolg ganzer Unternehmen. Menschen wie Manny oder Matsushita gehen
oft nicht als Reichste oder Intelligenteste ins Rennen, gewinnen aber trotz-
dem, weil sie sich schneller weiterentwickeln als ihre Rivalen. Sie entwickeln
die Fähigkeit, mit einem komplexen und veränderlichen Geschäftsumfeld
zurechtzukommen. Sie wachsen, um beim Vorantreiben von Unternehmens-
transformationen außerordentlich kompetent zu werden. Sie lernen, Leader
zu sein.

Der Wert der Wettbewerbsfähigkeit

Die Bedeutung lebenslangen Lernens in einem zunehmend veränderlichen


Geschäftsumfeld und sein Einfluss auf die Führungsfähigkeiten wurde in
einer auf 20 Jahre angelegten Studie mit 115 Studenten des 1974er-Jahrgangs
der Harvard Business School ziemlich dramatisch demonstriert. Bei dem
Versuch, zu erklären, warum die meisten von ihnen trotz des rauen wirt-
schaftlichen Klimas, das zu der Zeit ihres Universitätsabschlusses herrschte,
erfolgreiche Karrieren durchliefen, erkannte ich zwei besonders hervorste-
chende Elemente: Wettbewerbsdenken und lebenslanges Lernen. Diese Fak-
toren schienen diesen Menschen einen Vorteil zu verschaffen, indem sie
ihnen eine ungewöhnlich hohe Wettbewerbsfähigkeit verlieh (vgl. Abbil-
dung 28). Das Wettbewerbsdenken unterstützte lebenslanges Lernen, das
eine ständige Zunahme von Fähigkeiten – und besonders von Führungsfä-
higkeiten – zur Folge hatte. Damit wurde wiederum die Fähigkeit gefördert,
mit einer immer schwierigeren und schneller drehenden globalen Wirt-
schaft umzugehen. Menschen, die wie Manny hohe Ansprüche und einen
starken Willen zum Lernen hatten, wurden mit fünfzig messbar stärkere
und fähigere Leader, als sie es mit vierzig gewesen waren.

Marcel Depaul war ein typischer Vertreter seiner Generation. Er wuchs in


einer Mittelschichtfamilie auf und besuchte eine gute, aber keineswegs he-
rausragende Universität in Michigan. Für das MBA-Programm wurde er

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152 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert

Abbildung 28: Der Zusammenhang zwischen lebenslangem Lernen,


Leadershipfähigkeiten und der Fähigkeit, in der Zukunft Erfolg zu haben

weniger aufgrund seiner Testergebnisse als vielmehr wegen seines beein-


druckenden Lebenslaufs und der Erfolge in und außerhalb der Highschool
angenommen. Mit 35 machte er eine solide Karriere, aber niemand sagte
ihm große Leistungen voraus. Als Manager in einem großen europäischen
Produktionsunternehmen besaß er eine gute, aber keineswegs großartige
Reputation. Als ich ihn 1982 interviewte, kam mir das Wort „Leader“ nicht
eine Sekunde lang in den Sinn. Zwölf Jahre später sah die Sache allerdings
fundamental anders aus.

1994 war Marcel Chef seines eigenen Unternehmens, hatte Hunderte von
Angestellten und war überaus wohlhabend. Er hatte ein Produkt er- und
einen Markt dafür gefunden und ein Unternehmen aufgebaut, um aus bei-
dem Kapital zu schlagen. In seiner Welt galt er als „Visionär“. Einer der Mit-
arbeiter sprach in unserem Gespräch immer wieder über Marcels „Cha-
risma“. Und das war der Mann, der mich 1982 nicht sehr beeindruckt hatte.

Beim Versuch, Marcels Erfolg zu erklären, suchen wir alle wahrscheinlich


nach glücklichen Zufällen, die man in seinem Fall gewiss auch findet. Man

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Kapitel 12: Leadership und lebenslanges Lernen
darf aber auch das schwierige Geschäftsumfeld nicht vergessen, das viel
Pech und prekäre Umstände mit sich brachte. Was bei Marcel so verblüfft,
ist, dass ihn die schlechten Zeiten nicht aufgerieben, sondern ihm sogar als
¢ 153

Quell für Lernen und Wachstum gedient haben.


Wenn ihn ein Abschwung unerwartet traf, wurde er oft wütend oder mür-
risch, gab aber nie auf und ließ sich nie in eine lähmende defensive Haltung
bringen. Er reflektierte gute und schlechte Zeiten und versuchte, aus beiden
zu lernen. Der offensive Umgang mit seinen Fehlern ließ eine arrogante Ein-
stellung, die oft eine Begleiterscheinung des Erfolgs ist, gar nicht erst auf-
kommen. Mit relativ bescheidenem Selbstbild beobachtete er genauer und
hörte vorsichtiger zu als die meisten anderen. Er lernte und probierte unab-
lässig neue Ideen aus, selbst wenn das bedeutete, dass er sich aus seiner
Komfortzone bewegen oder persönliche Risiken eingehen musste.
Unvoreingenommen zuzuhören, neue Dinge auszuprobieren, Erfolge und
Misserfolge ehrlich zu reflektieren – nichts davon erfordert einen hohen IQ,
einen MBA-Abschluss oder eine privilegierte Herkunft. Und doch verhal-
ten sich heute nur bemerkenswert wenige Menschen so, insbesondere im
Alter über 35 und vor allem dann, wenn sie bereits etwas in ihrer Karriere
erreicht haben. Durch diese relativ einfachen Techniken wachsen Menschen
wie Marcel, Manny und Matsushita beständig weiter, wohingegen viele an-
dere stagnieren oder sich sogar zurückentwickeln. Im Ergebnis freunden
sie sich immer mehr mit dem Wandel an, aktivieren ihr gesamtes Führungs-
potenzial und helfen ihren Unternehmen, sich an eine rasant verändernde,
globale Wirtschaft anzupassen.

Die Kraft des potenzierten Wachstums

Wenn man Menschen wie Marcel, Manny und Matsushita studiert, bemerkt
man, dass das Geheimnis ihres Vermögens, Leadership- und andere Fähig-
keiten zu entwickeln, eng mit der Kraft des potenzierten Wachstums ver-
bunden ist.
Betrachten Sie dieses einfache Beispiel: Im Alter zwischen 30 und 50 „wächst“
Fran mit einer Geschwindigkeit von 6% – das heißt, jedes Jahr erweitert sie ihre
karriererelevanten Fähigkeiten und Kenntnisse um 6%. Ihre Zwillingsschwester
Janice besitzt im Alter von 30 exakt dieselbe Intelligenz, dieselben Fähigkeiten und
Kenntnisse, wächst aber in den nächsten 20 Jahren nur um 1% jährlich. Vielleicht
wird Janice nach frühen Erfolgen eingebildet und selbstgefällig. Oder vielleicht
macht Fran Erfahrungen, die das Feuer in ihr entzünden. Die Frage lautet: Zu
welchem Unterschied wird diese verhältnismäßig kleine Abweichung bei der Lern-
geschwindigkeit im Alter von 50 Jahren geführt haben?
Bei Betrachtung dieser Fakten über Fran und Janice ist es offensichtlich,
dass erstere im Alter von 50 Jahren kompetenter sein wird als letztere.

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154 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
Aber die meisten von uns unterschätzen, um wie viel stärker Fran sein
wird. Die Verwirrung entsteht aufgrund des Zinseszinseffekts. Genauso
wie wir häufig den Unterschied nicht wahrnehmen, der über 20 Jahre zwi-
schen einem Bankkonto mit 7% gegenüber einem mit 4% Verzinsung ent-
steht, unterschätzen wir regelmäßig die Effekte unterschiedlicher Lernge-
schwindigkeiten.
Bei Fran und Janice macht sich der Unterschied zwischen einer sechspro-
zentigen und einer einprozentigen Wachstumsrate über 20 Jahre hinweg ge-
waltig bemerkbar. Wenn beide im Alter von 30 Jahren jeweils 100 Einheiten
karriererelevanter Fähigkeiten besitzen, wird Janice 20 Jahre später 122 Ein-
heiten erreicht haben, während Fran auf 321 kommt. Mit 30 rangieren die
beiden noch auf derselben Stufe; im Alter von 50 Jahren werden sie in ganz
unterschiedlichen Ligen spielen.
Wäre die Welt des 21. Jahrhunderts so stabil, reguliert und prosperierend
wie die der 1950er und 1960er Jahre in den USA, wären abweichende
Wachstumsraten nur von untergeordneter Bedeutung. Obwohl man Fran
wahrscheinlich auch dort als die Versiertere erachtet hätte, würden sich in
jener Welt beide gut schlagen. Stabilität, Regulierung und Prosperität wür-
den den Wettbewerb ebenso limitieren wie das Streben nach Wachstum,
Leadershipfähigkeiten und Wandel. Aber das ist nicht das, was uns in der
Zukunft erwartet.
Genauso wie Unternehmen werden auch immer mehr Menschen im 21. Jahr-
hundert gezwungen sein, zu lernen, sich zu verändern und sich ständig neu
zu erfinden. Bis vor Kurzem waren lebenslanges Lernen und die Führungs-
fähigkeiten, die dadurch entwickelt werden können, nur für einen kleinen
Prozentsatz der Bevölkerung relevant. Dieser Prozentsatz wird über die
nächsten Jahrzehnte zweifellos steigen.

Eigenschaften des lebenslangen Lerners

Wie stellen Leute wie Fran und Manny das also an? Es ist sicherlich keine
Wissenschaft. Die Eigenschaften, die sie entwickeln, sind sogar relativ leicht
verständlich (wie in Abbildung 29 zusammengefasst).
Lebenslange Lerner gehen Risiken ein. Weitaus mehr als andere verlassen
sie ihre Komfortzonen und testen neue Ideen. Während die meisten von
uns in ihrem Fahrwasser bleiben, hören die lebenslangen Lerner nicht auf,
zu experimentieren.
Risikobereitschaft führt unvermeidlich zu größeren Erfolgen – und zu größe-
ren Misserfolgen. Weit mehr als die meisten von uns reflektieren lebenslange
Lerner bescheiden und ehrlich ihre Erfahrungen, um daraus zu lernen. Sie
kehren Misserfolge nicht unter den Teppich oder betrachten sie aus einer

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Kapitel 12: Leadership und lebenslanges Lernen ¢ 155

Abbildung 29: Mentale Eigenschaften, die lebenslanges Lernen unterstützen

defensiven Position heraus, die ihre Fähigkeit zu rationalen Entscheidungen


untergraben würde.
Lebenslange Lerner erfragen aktiv die Meinungen und Ideen ihrer Mitmen-
schen. Sie gehen nicht von der Annahme aus, selbst alles zu wissen oder da-
von, dass die meisten anderen Leute nur wenig beizutragen hätten. Das Ge-
genteil ist der Fall: Sie glauben, dass man mit der richtigen Einstellung von
jedem und in fast jeder Hinsicht lernen kann.
Lebenslange Lerner hören auch weitaus sorgfältiger zu, und zwar unvorein-
genommen und mit großer Aufgeschlossenheit. Sie gehen nicht davon aus,
dass Zuhören oft die ganz großen Ideen oder wichtige Informationen her-
vorbringt. Ganz im Gegenteil. Aber sie wissen, dass genaues Zuhören ihnen
ein genaues Feedback zu den Auswirkungen ihrer Handlungen verschaffen
kann. Und ohne ehrliches Feedback wird Lernen nahezu unmöglich.
Frage: Aber diese Eigenschaften sind so einfach. Warum gibt es nicht mehr
Menschen, die sie entwickeln?
Antwort: Weil das kurzfristig zu Schmerzen führen kann.
Risikobereitschaft führt zu Scheitern genauso wie zu Erfolg. Ehrliches
Nachdenken, Zuhören, Einfordern von Meinungen und Offenheit bringen
schlechte Nachrichten und negatives Feedback genauso wie interessante
Ideen. Kurzfristig betrachtet ist das Leben aber natürlich angenehmer ohne
Misserfolg und negatives Feedback.
Lebenslange Lerner überwinden die natürliche menschliche Tendenz, Ver-
halten zu vermeiden oder aufzugeben, das kurzfristig zu Schmerzen führt.
Beim Durchleben schwieriger Situationen entwickeln sie eine gewisse Im-
munität gegenüber Rückschlägen. Letztlich erkennen sie mit klarem Kopf
die Wichtigkeit dieser Eigenschaften und des lebenslangen Lernens. Vor al-
lem aber fördern ihre Ziele und Erwartungen die Entwicklung von Demut,
Offenheit, Risikowillen und der Fähigkeit zuzuhören.
Die allerbesten unter den lebenslangen Lernern und Leadern, die ich ken-
nenlernen durfte, scheinen hohe Ansprüche, ehrgeizige Ziele und das Ge-
fühl zu haben, in ihrem Leben eine Mission zu erfüllen. Solche Ziele und Er-
wartungen treiben sie an, rücken ihre Leistung in ein bescheidenes Licht
und helfen ihnen dabei, die kurzfristigen Qualen zu ertragen, die mit
Wachstum einhergehen. Manchmal entwickelt sich das Gefühl, eine Mis-

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156 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
sion zu haben, schon in der Jugend, manchmal erst später im Erwachsenen-
alter, oft ist es eine Kombination aus beidem. Was auch immer der Fall ist,
ihre Ansprüche an sich selbst helfen ihnen dabei, nicht in eine bequeme, si-
chere Routine abzudriften und damit keine Risiken mehr einzugehen, ver-
schlossen und selbstzufrieden zu werden und nicht mehr sorgfältig zuzu-
hören.
Ebenso wie eine ehrgeizige Vision einem Unternehmen helfen kann, sich an
veränderliche Bedingungen anzupassen, scheint nichts das persönliche
Wachstum so zu fördern wie ehrgeizige, humanistische Ziele.

Karrieren im 21. Jahrhundert

Das Zusammenwirken von volatilerem wirtschaftlichem Umfeld und stei-


gendem Bedarf an Leadership und lebenslangem Lernen führt auch zu Kar-
rierepfaden, die sich fundamental von denjenigen unterscheiden, die im
20. Jahrhundert typisch waren.
Die meisten erfolgreichen Angestellten des letzten Jahrhunderts fanden
früh ihn ihrem Leben angesehene Unternehmen und stiegen dann in engen
funktionalen Hierarchien auf, indem sie die Kunst des Managements erlern-
ten. Die meisten erfolgreichen Arbeiter fanden Unternehmen, in denen gute
Gewerkschaften Einfluss hatten, lernten, eine bestimmte Arbeit zu verrich-
ten und blieben dann über Jahrzehnte in dieser Position. Im 21. Jahrhundert
wird keiner dieser beiden Karrierepfade zu einem guten Leben verhelfen,
weil sie nicht ausreichend zu lebenslangem Lernen motivieren, geschweige
denn zum Erwerb von Führungsfähigkeiten.
Das Problem der Arbeiter ist dabei noch offensichtlicher. Gewerkschaftsre-
geln haben das persönliche Wachstum oft verhindert. Enge Tätigkeitsbe-
schreibungen etwa sollten zwar die Lernmöglichkeiten nicht einschränken,
taten es in Wirklichkeit aber doch. In einem stabilen Umfeld könnten wir
mit solchen Rahmenbedingungen leben. In einem sich schnell verändern-
den globalisierten Markt können wir das aber nicht.
Die traditionelle Angestelltenkarriere motivierte Mitarbeiter zwar zum Ler-
nen, jedoch nur in engen funktionalen Schubladen. Man musste sich zwar
immer mehr Wissen im Bereich Rechnungswesen (oder Engineering oder
Marketing) aneignen, ansonsten aber eher wenig. Um sich über eine be-
stimmte Stufe hinaus zu entwickeln, musste man zwar Managementwis-
sen, aber kaum Leadershipfähigkeiten erwerben.
Die erfolgreichen Karrieren des 21. Jahrhunderts werden dynamischer sein.
Bereits heute beobachten wir seltener die klassischen linearen Aufstiege in-
nerhalb einer Hierarchie. Wir sehen bereits jetzt immer weniger Menschen
monoton über einen langen Zeitraum hinweg ein- und denselben Job aus-
üben. Größere Unsicherheit und Volatilität wirken auf die Menschen zuerst

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Kapitel 12: Leadership und lebenslanges Lernen
eher unbequem. Aber die meisten von uns scheinen sich daran zu gewöh-
nen. Und der Nutzen daraus kann in der Tat erheblich sein.
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Wer lernt, volatilere Karrierepfade zu meistern, kommt üblicherweise auch


besser mit dem Wandel an sich zurecht und kann dadurch eine gewich-
tigere Rolle in Unternehmenstransformationen spielen. Solche Menschen
erschließen leichter ihr persönliches Leadershippotenzial, wie groß es auch
sein mag. Und mit gewachsenen Führungsfähigkeiten sind sie besser dazu
in der Lage, ihren Mitarbeitern beim Vorantreiben des Transformations-
prozesses zu helfen und die Ergebnisse deutlich zu verbessern, während
gleichzeitig die schmerzhaften Auswirkungen des Wandels minimiert
werden.

Der notwendige Sprung in die Zukunft

Aus vielerlei Gründen klammern sich viele Menschen immer noch am Kar-
riere- und Wachstumsmodell des 20. Jahrhunderts fest. Manchmal ist Selbst-
gefälligkeit das Problem. Sie hatten Erfolg, warum sollten sie sich also än-
dern? Manchmal haben sie keine klare Vorstellung vom 21. Jahrhundert
und wissen daher nicht, wie sie sich verändern sollen. Aber oft ist Angst
das Hauptproblem. Sie sehen, wie rings um sie Stellen gestrichen werden.
Sie hören Horrorgeschichten über Leute, die durch eine Restrukturierung
oder ein Reengineering ihre Arbeit verloren haben. Sie sorgen sich um ihre
Krankenversicherung und die Studiengebühren für ihre Kinder. Und des-
halb denken sie nicht über Wachstum nach. Sie denken nicht über ihre per-
sönliche Erneuerung nach. Sie denken nicht daran, ihr Leadershippotenzial,
welches auch immer sie haben, zu erschließen. Stattdessen krallen sie sich in
Verteidigungshaltung an das, was sie momentan haben. Damit klammern
sie sich faktisch an die Vergangenheit und machen sich die Zukunft nicht
zu eigen.
Ein Festhalten an der Vergangenheit wird als Strategie in den nächsten Jahr-
zehnten wahrscheinlich immer ineffektiver werden. Für die meisten von
uns ist es besser, jetzt zu lernen, wie man den Wandel bewältigen kann,
sein persönliches Leadershippotenzial entwickelt und seinem Unterneh-
men im Transformationsprozess hilft. Für die meisten von uns ist es trotz
aller Risiken besser, den Sprung in die Zukunft zu wagen. Und zwar besser
früher als später.
Als Beobachter des Lebens in Organisationen glaube ich mit Recht sagen zu
können, dass Menschen, die sich bemühen, die Zukunft mit offenen Armen
zu empfangen, glücklicher sind als die, die sich an die Vergangenheit klam-
mern. Das soll nicht heißen, dass es einfach zu lernen wäre, wie man Teil
des Unternehmens im 21. Jahrhunderts wird. Aber diejenigen, die versu-
chen, zu wachsen, sich mit dem Wandel anzufreunden und Führungsfähig-

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158 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
keiten zu entwickeln – diese Männer und Frauen werden typischerweise
von der Überzeugung geleitet, für sich selbst, ihre Familien und ihre Unter-
nehmen das Richtige zu tun. Dieses Gefühl für einen Sinn spornt sie an und
inspiriert sie selbst in harten Zeiten.
Und die Menschen, die heute an der Spitze von Unternehmen stehen und
andere ermutigen, den Sprung in die Zukunft zu wagen, ihnen helfen, na-
türliche Ängste zu überwinden und dadurch die Kraft ihrer Führung im
Unternehmen breit wirken lassen – diese Menschen erweisen der gesamten
menschlichen Gemeinschaft einen eminent wichtigen Dienst.
Wir brauchen mehr von solchen Menschen. Und wir werden sie bekom-
men.

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