Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
John P. Kotter
CHANGE
Wie Sie Ihr Unter-
nehmen in acht
Schritten erfolgreich VAHLEN
verändern
https://doi.org/10.15358/9783800646159-1
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:19.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Zum Inhalt:
„Leading Change is simply the best single work I have seen on strategy
implementation.“
William C. Finnie, Editor-in-Chief Strategy & Leadership
„Leading Change ist ein weltweiter, zeitloser Bestseller.“
Zum Autor:
John P. Kotter
Im Sommer 1994 schrieb ich einen Artikel für den Harvard Business Re-
view (HBR) mit dem Titel „Leading Change: Why Transformation Efforts
Fail“ (dt.: Den Wandel führen: Warum Transformationsbemühungen scheitern).
Dieser Artikel basierte auf meiner Analyse Dutzender Initiativen, die in
den vergangenen fünfzehn Jahren durch Restrukturierung, Reengineering,
neue Strategien, Akquisitionen, Verschlankung, Qualitätsprogramme und
kulturelle Erneuerung signifikante und sinnvolle Veränderungen in den
Unternehmen bewirkten.
Als ich den Artikel beendet hatte, wusste ich, dass ich mehr zu dem Thema
schreiben wollte. Und so begann ich kurz darauf mit der Arbeit an diesem
Buch. Der Artikel „Leading Change“ wurde in der März-/April-Ausgabe
1995 des HBR veröffentlicht. Kurz nach dem Erscheinen kletterte der Bei-
trag auf Platz eins unter den Tausenden von Nachdrucken dieser Zeit-
schrift. Dies ist erstaunlich im Hinblick auf die hohe Qualität der insgesamt
verfügbaren Nachdrucke und auf die normalerweise lange Zeitspanne, die
nötig ist, um ausreichend Volumen für Nachdrucke zu bekommen.
Außergewöhnliche Ereignisse wie diese sind immer schwer zu erklären,
aber Gespräche und Korrespondenzen mit HBR-Lesern legten nahe, dass
der Artikel in zwei Punkten den Nerv der Zeit getroffen hatte. Einerseits la-
sen die Manager die Liste der Fehler, die Organisationen oft machen, wenn
sie versuchen, wirkliche Veränderung zu schaffen, und sagten: „Ja! Aus die-
sen Gründen haben wir weniger erreicht, als wir erhofften.“ Zum anderen über-
zeugte die Leser das „Acht-Stufen-Rahmenkonzept für den Wandel“. Es
war ein sinnvoller Wegweiser und half den Menschen, über Wandel, Pro-
bleme mit Veränderungen und über Veränderungsstrategien zu sprechen.
Beim Schreiben dieses Buches habe ich versucht, auf diese beiden Eigen-
schaften aufzubauen und noch einige weitere hinzuzufügen. Im Gegensatz
zum Artikel beinhaltet dieses Buch nun zahlreiche Beispiele, die aufzeigen,
was zu funktionieren scheint und was nicht.
Diesbezüglich ist es pragmatischer und praxistauglicher angelegt. Weiter-
hin ist es mir ein Anliegen, den Faktor „Leadership“ (also das Führen) als
Motor des Wandels explizit aufzugreifen und seine Verknüpfung mit der
klassischen „reinen Managementdenke“ (also dem Managen), unabhängig
von der Qualität der involvierten Personen, herauszuarbeiten, da ohne
Leadership jeder fundamentale und nachhaltige Wandel unweigerlich zum
Scheitern verurteilt ist. Schließlich habe ich den untersuchten Zeitraum er-
weitert und zeige, wie Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts uns zu die-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-1
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:19.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
VI ¢ Vorwort
sem Punkt brachten und untersuche Auswirkungen auf das 21. Jahrhun-
dert.
Wer mit meiner Arbeit vertraut ist, wird feststellen, dass dieses Werk einige
Ansätze meiner Veröffentlichungen „A Force For Change: How Leadership
Differs from Management“ (dt.: Abschied vom Erbsenzähler, Econ-Verlag,
1991), „Corporate Culture and Performance“ (dt.: Die ungeschriebenen Ge-
setze der Sieger. Erfolgsfaktor Firmenkultur, Econ-Verlag, 1993) und „The New
Rules: How to Succeed in Today’s Post-Corporate World“ (dt.: Die neuen
Spielregeln für die Karrieren. Erfolg in der Zeit nach den Großkonzernen, Ueber-
reuter Verlag, 1995) integriert und vertieft.
Obwohl dieses Buch eine logische Erweiterung meiner vorangegangenen
Arbeiten ist, weicht es unter formalen Aspekten von diesen ab. Im Gegen-
satz zu meinen früheren Büchern beinhaltet „Leading Change“ keine Fuß-
noten und kein umfangreiches Glossar. Ich habe weder auf Beispiele noch
auf vorhandene Ansätze aus anderen Quellen – außer meinen eigenen – zu-
rückgegriffen. Ich habe auch keine Zitate aus anderen Quellen verwendet,
um meine Schlussfolgerungen zu stützen. In diesem Sinne ist diese Arbeit
persönlicher, als die von mir bereits veröffentlichten. Ich kommuniziere
hier, was ich gesehen, gehört und aufgrund einer Reihe von verknüpften
und immer wichtiger werdenden Themen geschlussfolgert habe.
Mehrere Personen haben den Entwurf dieses Buches gelesen und mir hilf-
reiche Anregungen gegeben. Zu ihnen gehören Darrell Beck, Mike Beer, Ri-
chard Boyatzis, Julie Bradford, Linda Burgess, Gerald Czarnecki, Nancy
Dearman, Carol Franco, Alan Frohman, Steve Guengerich, Robert Johnson,
Jr., Carl Neu, Jr., Charlie Newton, Barbara Roth, Len Schlesinger, Sam
Schwab, Scott Snook, Pat Tod, Gayle Treadwell, Marjorie Williams und Da-
vid Windom. Einige andere haben mich sehr bei den Vorarbeiten zum Ma-
nuskript inspiriert, insbesondere Ed Schein und Paul Lawrence. Mein Dank
geht an alle.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-1
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:19.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Vorwort des Übersetzers
„Leading Change“ von John Kotter ist ein weltweiter, zeitloser Bestseller.
John Kotter ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Wer ihn selbst erlebt
hat, wird dies bestätigen. 2001 war ich nach San Diego zu einem Vortrag
auf einer Veranstaltung mit 700 Teilnehmern eingeladen. Kurz bevor der
Moderator auf dem Kongress mich dem Plenum vorstellte, gab er in einer
Vorankündigung bekannt, dass John Kotter persönlich nicht anwesend
sein würde. Ich war etwas enttäuscht. Bis zu seinem Beitrag. Er wurde
über Video eingeblendet, hielt aber nicht nur einen Vortrag, sondern entwi-
ckelte seinen Beitrag „aus der Ferne“ nach und nach als Gruppenarbeit
zum Veränderungsmanagement. Das erlebt man in dieser Art und Weise
nicht alle Tage ...
Zu dieser Zeit hatte ich gerade meine eigene Habilitation zum Thema Ver-
änderungsmanagement fertig gestellt und war tief in die facettenreiche Ma-
terie des Change Management eingetaucht. Da war es besonders faszinie-
rend zu sehen, wie einfach und interaktiv dieser Mann die komplexen
Botschaften systematischen Veränderungsmanagements auch in große
Gruppen hinein transportieren konnte.
Als deshalb der Verlag Vahlen anfragte, ob ich dieses Buch von John Kotter
ins Deutsche übersetzen möchte, habe ich keinen Moment gezögert, diese
Aufgabe zu übernehmen, mit tatkräftiger Unterstützung meiner beiden
Kollegen Dominik Veit und Sacha Rezzadori von Seidenschwarz & Comp.
Wir haben nicht versucht, das Buch von seinem amerikanischen Grundcha-
rakter zu befreien und sprechen deshalb beispielsweise nicht von Wolfs-
burg, wenn John Kotter ein Beispiel aus Detroit aufgreift. Auf wenigen Sei-
ten merkt man auch, dass das Buch viel „Erfahrung“ ausstrahlt, wenn es an
einer Stelle zum Beispiel auf den weltweiten Zusammenbruch des Kommu-
nismus zu sprechen kommt. Da haben wir uns nah an die Vorlage gehalten,
um dem Wunsch des Autors zu entsprechen und keine Veränderungen vor-
zunehmen. Das mag, gerade dem deutschen Leser, punktuell ins Auge ste-
chen. Es nimmt dem Werk jedoch nichts von der Faszination seiner strin-
genten Logik.
Manchmal könnte man sich zu der Annahme verleiten lassen, dass John
Kotter dem Leser, bspw. einer Führungskraft in der Unternehmenspraxis,
den Eindruck vermitteln möchte, man könne Veränderungen in den Unter-
nehmen einfach so steuern. Bei genauerem Hinsehen erkennt man aber,
dass man nicht in diese Versuchung geraten sollte. Kotters Erklärungsan-
satz betont zwar wiederkehrend die Bedeutung des Leadership. Und mit
https://doi.org/10.15358/9783800646159-1
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:19.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
VIII ¢ Vorwort des Übersetzers
diesem Konzept des Leadership verdeutlicht er dann auch sehr wohl, wie
man im Rahmen seines weltberühmten Acht-Stufen-Prozesses einen Wan-
del führen kann. Aber es sollte einem immer bewusst bleiben, dass sich
nicht alles im Unternehmen omnipotent steuern lässt.
Mit diesem Ansatz des Buches und aufbauend auf diesem Verständnis
haben wir in der täglichen Projektarbeit unseres Unternehmens und in Füh-
rungsseminaren für die obersten Führungsebenen internationaler Konzerne
außergewöhnlich positive Erfahrungen gemacht. Diese positiven Erfahrun-
gen wünschen wir auch allen Lesern dieses Werkes.
Starnberg, im Juli 2011 Werner Seidenschwarz
https://doi.org/10.15358/9783800646159-1
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:19.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Inhaltsübersicht
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
Vorwort des Übersetzers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
https://doi.org/10.15358/9783800646159-1
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:19.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Teil I:
Leading Change – Den Wandel führen
https://doi.org/10.15358/9783800646159-9
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:29.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 1: Unternehmenswandel: Warum
Unternehmen scheitern
Der bei weitem größte Fehler, der beim Versuch der Organisationsverände-
rung gemacht wird, ist, sich in die Veränderung zu stürzen, ohne genügend
Dringlichkeit unter Führungskräften und Mitarbeitern zu schaffen. Dieser
Fehler ist fatal, weil Transformationen niemals ihr Ziel erreichen können,
wenn der Grad der Selbstgefälligkeit hoch ist.
Als Adrien zum Leiter der Abteilung für Spezialchemikalien eines gro-
ßen Unternehmens wurde, sah er viele Probleme und Chancen am Hori-
zont, die meisten davon waren das Ergebnis der Globalisierung seiner In-
dustrie. Als erfahrener und selbstbewusster Abteilungsleiter arbeitete er
https://doi.org/10.15358/9783800646159-9
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:29.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
4 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
Tag und Nacht an Dutzenden neuen Initiativen, um das Geschäft und die
Marge in einem zunehmend umkämpften Markt auszubauen. Er reali-
sierte, dass nur wenige in seiner Organisation die Gefahren und Mög-
lichkeiten so klar sahen wie er selbst, aber er sah dies nicht als unüber-
windbares Problem an. Schließlich konnte man sie anspornen, sie
zwingen oder durch andere ersetzen. Zwei Jahre nach seiner Beförde-
rung musste er mit ansehen, wie eine Initiative nach der anderen in
einem Meer von Überheblichkeit unterging. Trotz seiner Anreize und
Drohungen brauchte die erste Phase seiner neuen Produktstrategie so
viel Zeit, dass die Reaktionen der Wettbewerber jeden essenziellen Vor-
teil zunichte machten. Er konnte für sein Reengineeringprojekt keine
ausreichenden Unternehmensmittel sicherstellen. Eine Reorganisation
wurde durch begabte Verzögerungstaktiker aus seiner Belegschaft zu
Tode geredet. Frustriert gab Adrien seine eigenen Leute auf und kaufte
ein viel kleineres Unternehmen, das bereits viele seiner Ideen erfolg-
reich ausführte. Danach wurde über zwei Jahre ein subtiler Kampf aus-
gefochten, bei dem er mit Staunen und Entsetzen beobachten musste,
wie Leute mit geringem Dringlichkeitsgefühl aus seiner Abteilung nicht
nur alle wichtigen Lektionen des letzten Zukaufs ignorierten, sondern
auch die guten und bewährten Fähigkeiten der neuen Abteilung unter-
drückten.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-9
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:29.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 1: Warum Unternehmen scheitern
klammern sie sich an den Status quo und verweigern sich neuen Initiativen.
Dies führt dazu, dass sich Reengineeringmaßnahmen festfahren, neue Strate-
gien nicht richtig implementiert werden, Akquisitionen nicht richtig assimi-
¢ 5
Man sagt, dass tief greifender Wandel unmöglich ist, wenn der Chef des Un-
ternehmens ihn nicht aktiv unterstützt. Was ich hier anspreche, geht weit da-
rüber hinaus. Bei erfolgreichen Unternehmensumwandlungen ziehen der
CEO, der Geschäftsführer oder die Abteilungsleiter und weitere fünf, fünf-
zehn oder fünfzig Leute mit der Verpflichtung zur Leistungsverbesserung
gemeinsam als Team an einem Strang. Diese Gruppe beinhaltet jedoch in
den seltensten Fällen die gesamte oberste Führungsmannschaft, da manche
von ihnen, zumindest am Anfang, nicht voll hinter der Sache stehen. In den
erfolgreichsten Fällen allerdings ist diese Koalition immer schlagkräftig – in
Bezug auf formelle Titel, Information und Expertise, Reputation und Be-
ziehungen – und fähig, zu führen. Individuen alleine, egal wie kompetent
oder charismatisch sie auch sein mögen, verfügen nie über alle notwendigen
Attribute, um Traditionen und Trägheit zu überwinden – außer vielleicht in
sehr kleinen Organisationen. Schwache Komitees sind üblicherweise noch
uneffektiver. Bestrebungen, die ohne eine ausreichend starke Führungs-
koalition durchgeführt werden, können eine Weile für erkennbaren Fort-
schritt sorgen. Die Organisationsstruktur kann geändert werden oder eine
Reengineeringmaßnahme kann gestartet werden. Früher oder später wer-
den jedoch gegensteuernde Kräfte diese Maßnahmen untergraben. In der
Auseinandersetzung hinter den Kulissen, zwischen einer einzelnen Füh-
rungskraft oder einem schwachen Komitee und der Tradition, kurzfristigen
Eigeninteressen und dergleichen, gewinnen fast immer letztere. Sie verhin-
dern, dass der Strukturwandel die notwendigen Verhaltensänderungen her-
vorbringt. Sie blockieren Reengineering durch passiven Widerstand. Sie ver-
wandeln Qualitätsprogramme in Quellen weiterer Bürokratie anstatt in
Kundenzufriedenheit.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-9
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:29.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
6 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
als nur mit Entlassungen zu reagieren, akzeptierte sie die Aufgabe, die Ar-
beitsgruppe „Qualitätsverbesserung“ als Vorsitzende zu leiten. Die da-
rauf folgenden zwei Jahre wurden die schlimmsten in ihrer gesamten Kar-
riere. An dieser Arbeitsgruppe nahm kein einziger der drei Top-Manager
des Unternehmens teil. Nachdem bereits die Terminierung des ersten
Meetings außergewöhnlich schwerfällig wurde – einige Gruppenmitglie-
der beschwerten sich über ihre hohe Auslastung – wusste sie, dass sie in
Schwierigkeiten war. Es wurde danach nicht besser. Die Arbeitsgruppe
wurde eine Karikatur aller schlechten Komitees: langsam, politisch, unan-
genehm. Die meiste Arbeit wurde durch eine kleine und engagierte Un-
tergruppe erledigt. Andere Mitglieder und Vorgesetzte hingegen entwi-
ckelten wenig Interesse und Verständnis für die Bemühungen der
Gruppe. So wurde so gut wie keine der abgegebenen Empfehlungen um-
gesetzt. Die Arbeitsgruppe dümpelte weitere achtzehn Monate vor sich
hin und geriet dann in Vergessenheit.
Auch wenn der Grad der Selbstgefälligkeit niedrig ist, unterschätzen Unter-
nehmen mit wenig Erfahrung in den Bereichen Transformation oder Team-
arbeit die Notwendigkeit eines dedizierten Teams oder sie setzen voraus,
dass dieses Team durch Abteilungsleiter aus den Bereichen Personal, Quali-
tät oder Strategische Planung, und nicht durch einen Top-Manager, geführt
werden kann. Egal wie fähig oder motiviert der Teamleiter auch ist, Füh-
rungskoalitionen ohne das Top-Management haben nicht die Durchset-
zungskraft, um die oftmals existierende, massive Trägheit zu überwinden.
Weil sie die Schwierigkeiten des Wandels sehen, versuchen manche Men-
schen, die Ereignisse still und heimlich hinter den Kulissen zu manipulie-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-9
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:29.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 1: Warum Unternehmen scheitern
ren, um dadurch öffentliche Diskussionen über die zukünftige Richtung zu
vermeiden. Aber ohne eine Vision, durch die eine Entscheidungsfindung
geleitet wird, kann sich jeder Beschluss in einer endlosen Diskussion auflö-
¢ 7
Tief greifender Wandel ist normalerweise unmöglich, wenn nicht alle Mitar-
beiter gewillt sind, zu unterstützen, oftmals auch durch kurzfristige Opfer.
Auch wenn Menschen mit dem Status quo unzufrieden sind, werden sie
keine Opfer bringen, solange sie nicht davon überzeugt sind, dass die Vor-
teile des Wandels überwiegen und die Transformation auch tatsächlich
https://doi.org/10.15358/9783800646159-9
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:29.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
8 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
durchführbar ist. Ohne eine intensive und glaubwürdige Kommunikation
werden Herz und Verstand der Mitarbeiter nicht für die Sache gewonnen.
Es existieren drei ineffiziente Kommunikationsmuster, die durch die Ge-
wohnheit während stabiler Zeiten entstehen:
Im ersten Muster entwickelt eine Gruppe eine gute Vision für die Transfor-
mation und versucht, diese dann nur durch ein paar Meetings oder durch
Versendung einiger weniger Protokolle „zu verkaufen“. Die Mitglieder die-
ser Gruppe, obwohl sie nur einen kleinen Teil der jährlichen unternehmens-
internen Kommunikation zur Vermittlung genutzt haben, reagieren über-
rascht, wenn Mitarbeiter den neuen Ansatz nicht sofort zu verstehen
scheinen.
Beim zweiten Muster investiert der Kopf der Organisation viel Zeit in Vor-
träge an Mitarbeitergruppen, in denen die meisten Manager bemerkens-
wert ruhig sind. In diesem Fall erhält die Vision zwar bedeutend mehr
Kommunikationszeit als im ersten Fall, aber der Umfang ist immer noch
nicht ausreichend.
Beim dritten Muster wird viel Zeit und Aufwand für Newsletter und Reden
aufgewandt, aber einige, für alle deutlich, sichtbare Persönlichkeiten ver-
halten sich nach wie vor im Widerspruch zur angekündigten Vision, sodass
der Zynismus unter den Beschäftigten wächst und der Glaube an die neue
Botschaft verblasst.
Einer der besten CEOs, die ich kenne, gibt zu, dass er hierbei in den frühen
Achtzigern versagt hat. „Zu der Zeit“, sagte er mir, „sah es so aus als würden
wir sehr viel Aufwand in die Kommunikation der Ideen stecken. Aber einige Jahre
später erkannten wir, dass wir meilenweit davon entfernt waren. Schlimmer noch,
wir trafen hin und wieder Entscheidungen, die andere als inkonsistent zu unserer
Kommunikation ansahen. Ich bin sicher, dass einige Mitarbeiter dachten, wir
wären ein Haufen heuchlerischer Trottel.“
Kommunikation äußert sich sowohl in Worten als auch in Taten. Letztere
sind generell die wirkungsvollere Form. Nichts untergräbt den Wandel
mehr als ein im Widerspruch zu den Inhalten der verbalen Kommunikation
stehendes Verhalten der Schlüsselspieler.
Und doch geschieht genau dies immer wieder, auch in den renommiertes-
ten Unternehmen.
Die Durchführung jeder Art bedeutenden Wandels setzt das Handeln einer
großen Anzahl von Menschen voraus. Neue Initiativen versagen nur zu oft,
https://doi.org/10.15358/9783800646159-9
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:29.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 1: Warum Unternehmen scheitern
wenn sich Mitarbeiter, obwohl sie die neue Vision begrüßen, durch große
Hindernisse auf ihrem Weg entmachtet fühlen.
Oftmals existieren diese Hürden nur in den Köpfen der Menschen, und die
¢ 9
https://doi.org/10.15358/9783800646159-9
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:29.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
10 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
Fehler Nr. 6: Die Unfähigkeit, schnelle Erfolge zu erzielen
https://doi.org/10.15358/9783800646159-9
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:29.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 1: Warum Unternehmen scheitern
üblicherweise ab. Engagement für schnelle Erfolge kann helfen, Selbstgefäl-
ligkeiten zu reduzieren und detailliertes analytisches Denken zu fördern,
um so transformierende Visionen zu klären oder zu revidieren.
¢ 11
Nach einigen Jahren harter Arbeit können Menschen dazu neigen, den Sieg
in einer umfangreichen Wandelbestrebung bereits nach der ersten größeren
Leistungsverbesserung zu feiern.
Das Feiern eines Sieges ist in Ordnung, jedoch zu suggerieren, dass die Ar-
beit beinahe komplett wäre, ist üblicherweise ein fürchterlicher Fehler. Bis
der Wandel sich tief in einer Kultur verankert hat, was für ein gesamtes Un-
ternehmen durchaus drei bis zehn Jahre dauern kann, sind neue Ansätze
fragil und können sich jederzeit zurückentwickeln.
In der jüngsten Vergangenheit konnte ich Dutzende Wandelbestrebungen
unter dem Motto Reengineering beobachten. In fast allen Fällen wurde der
Sieg sofort nach der Durchführung des ersten größeren Projektes ausgeru-
fen, und die teuren Consultants wurden bezahlt und nach Hause geschickt.
Dies geschah, obwohl nur wenige, oder sogar keine Beweise für die Errei-
chung der gesetzten Ziele oder die Akzeptanz der neuen Ansätze durch
die Mitarbeiter vorlagen.
Innerhalb weniger Jahre verschwanden die nützlichen Veränderungen
langsam, aber stetig. In zwei der zehn Fälle ist es heute schwierig, über-
haupt eine Spur der Reengineeringarbeit zu finden. Ich fragte kürzlich die
Chefin einer Unternehmensberatung mit Schwerpunkt Reengineering, ob
diese Fälle ungewöhnlich seien. Sie antwortete: „Leider nein. Für uns ist es
enorm frustrierend, einige Jahre für etwas zu arbeiten, etwas zu schaffen, und
dann zu sehen, wie die Bestrebungen frühzeitig beendet werden. In vielen Unter-
nehmen ist der vorgegebene Zeitrahmen nicht ausreichend, diese Art der Arbeit
zu Ende zu führen und zu verankern.“
In den letzten Jahrzehnten habe ich genau dies auch bei Qualitätsprojekten,
bei Unternehmensentwicklungsbestrebungen und bei vielen anderen The-
men gesehen.
Die Probleme beginnen üblicherweise früh im Prozess: Das Dringlichkeits-
gefühl ist nicht intensiv genug, die Führungskoalition ist nicht stark genug,
die Vision ist nicht klar genug. Die frühzeitige Siegesfeier stoppt jedes Mo-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-9
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:29.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
12 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
mentum. Am Ende übernehmen wieder die der Tradition verhafteten Kräfte
das Ruder.
Den Sieg zu früh zu erklären, ist, wie auf dem Weg zu einem sinnvollen
Wandel in ein Schlagloch zu stolpern. Und aus unterschiedlichen Gründen
stolpern sogar kluge Menschen nicht nur einfach in dieses Loch, sondern
springen sogar mit beiden Füßen hinein.
Final gilt es anzumerken, dass Wandel nur dann von Dauer sein kann,
wenn er ganzheitlich die Art und Weise bestimmt, „wie wir die Dinge um
uns herum machen“, wenn er den gesamten Kreislauf unserer Arbeits- und
Unternehmenseinheit durchfließt.
Zwei Faktoren sind hier besonders wichtig, wenn neue Ansätze in einem
Unternehmen verankert werden sollen. Der erste Faktor ist der bewusste
Versuch, Menschen aufzuzeigen, wie spezifische Verhaltensweisen und Ein-
stellungen zu einer Leistungsverbesserung beigetragen haben. Wenn Men-
schen diesen Bezug alleine herstellen müssen, wie es oftmals der Fall ist,
ziehen sie häufig falsche Schlüsse.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-9
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:29.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 1: Warum Unternehmen scheitern
Einen Wandel erfolgreich zu verankern setzt voraus, dass man sich genü-
gend Zeit nimmt, sicherzustellen, dass die nächste Managementgeneration
den neuen Ansatz auch tatsächlich verkörpert. Ein weit verbreiteter Fehler
¢ 13
In drei von mir kürzlich gesehenen Fällen waren ausscheidende CEOs die
Wegbereiter des Wandels. Obwohl sich ihre Nachfolger nicht gegen die Ver-
änderungen stellten, waren sie trotzdem keine echten Leader des Wandels.
Weil die Vorstände die Transformationen einfach nicht im Detail genau ver-
standen, konnten sie auch nicht das aus ihrer Nachfolgeentscheidung ent-
standene Problem erkennen. In einem Fall versuchte der ausscheidende Ge-
schäftsführer erfolglos, seinen Vorstand von einem geeigneteren Kandidaten
zu überzeugen, der den neuen Arbeitsstil des Unternehmens besser personi-
fizierte. In den anderen Fällen widersetzten sich die CEOs den Wünschen
ihrer Vorstände nicht, weil sie glaubten, dass man ihre eingeführten Verän-
derungen nicht mehr ungeschehen machen konnte. Aber sie irrten sich. In-
nerhalb weniger Jahre verschwanden bei allen drei Unternehmen die An-
sätze neuer und starker Organisationen. Intelligente Menschen verpassen
hier den Anschluss, wenn sie sich kulturellen Belangen gegenüber unsensi-
bel verhalten. Ökonomisch orientierte Finanzleute und analytisch orien-
tierte Ingenieure finden das Thema „Soziale Normen und Werte“ oftmals
zu „weich“. Infolgedessen ignorieren sie die Kultur – auf eigene Gefahr.
Keiner der Fehler, die bei einem Wandel auftreten können, würde in einer
langsameren und weniger wettbewerbsintensiven Welt derart kostspielig
sein. Die Fähigkeit, neue Initiativen schnell umzusetzen, ist in einem relativ
stabilen oder kartellähnlichen Umfeld keine essenzielle Erfolgskompo-
nente. Heute liegt das Problem für uns darin, dass Stabilität nicht länger
die Norm ist. Die meisten Experten sind sich darin einig, dass die Wirt-
schaftswelt zukünftig volatiler werden wird.
Insofern kann jeder der acht weit verbreiteten Fehler ernsthafte Konsequen-
zen nach sich ziehen (siehe Abbildung 1). Neue Initiativen zu verlangsa-
men, unnötigen Widerstand herauf zu beschwören, Mitarbeiter endlos zu
frustrieren und dringend benötigten Wandel manchmal im Keim zu ersti-
cken – jeder dieser Fehler könnte ein Unternehmen entscheidend daran hin-
dern, seine Produkte oder Dienstleistungen kundengerecht anzubieten.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-9
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:29.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
14 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
Budgets werden gekürzt, Menschen entlassen und die Mitarbeiter, die blei-
ben, unterliegen zwangsläufig starkem Stress. Die Auswirkungen auf Fa-
milien und Gemeinschaften können verheerend sein. Während ich dies
schreibe, findet der durch diese verstörenden Aktivitäten erzeugte Angst-
faktor seinen Weg in die Präsidentschaftspolitik.
Diese Fehler sind nicht unvermeidbar. Mit Bewusstsein und Fähigkeiten
können sie vermieden oder zumindest stark minimiert werden. Der Schlüs-
sel liegt im Verständnis darüber, warum sich Unternehmen notwendigem
Wandel widersetzen, wie genau sich der mehrstufige Prozess, der die zer-
störerische Trägheit überwindet, zusammensetzt und insbesondere, wie
die Führung, die notwendig ist, um diesen Prozess sozial vertretbar durch-
zuführen, wesentlich mehr bedeutet als nur „gutes Management“.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-9
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:29.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel und die Kraft,
die ihn antreibt
Meine Generation sowie die Generationen davor sind in einer Zeit aufge-
wachsen, in der Transformation nicht alltäglich war. In einem weniger glo-
balen Wettbewerb und einem eher langsamen Wirtschaftsumfeld, wo Stabi-
lität die Norm war, herrschte das Motto: „Wenn es nicht kaputt ist, dann
kümmere Dich auch nicht darum.“ Wechsel fand inkrementell und selten statt.
Wenn Sie 1960 einem typischen Kreis von Managern gesagt hätten, dass Ge-
schäftsleute heutzutage über einen Zeitraum von 18 bis 36 Monaten versu-
chen, die Produktivität um 20 bis 50% zu erhöhen, die Qualität um 30 bis
100% zu verbessern und die Entwicklungszeit für neue Produkte um 30
bis 80% zu reduzieren, dann hätte man Sie ausgelacht. Das Ausmaß an
Wandel in einer so kurzen Zeit hätte schlicht deren persönliche Vorstel-
lungskraft gesprengt.
Die Herausforderungen, denen wir uns heute stellen, sind anders. Eine glo-
balisierte Wirtschaft schafft sowohl neue Risiken als auch neue Chancen für
alle. Dies zwingt Unternehmen, dramatische Verbesserungen durchzufüh-
ren, nicht nur um zu konkurrieren und zu prosperieren, sondern um ein-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-22
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:37.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
16 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
fach nur zu überleben. Die Globalisierung wiederum wird von breiten und
starken Kräften angetrieben, die mit technologischem Wandel, internationa-
ler Wirtschaftsintegration, gesättigten Inlandsmärkten in den Industriena-
tionen und dem weltweiten Zusammenbruch des Kommunismus zusam-
menhängen (siehe Abbildung 2).
Niemand ist gegen diese Kräfte immun. Selbst Unternehmen, die nur in
kleinen geografischen Regionen agieren, spüren die Auswirkungen der
Globalisierung. Der Einfluss nimmt manchmal einen indirekten Weg:
Toyota schlägt General Motors, General Motors entlässt daraufhin Perso-
nal, die Mitarbeiter müssen ihre Gürtel enger schnallen und verlangen
einen günstigeren Service bei der chemischen Reinigung um die Ecke. In
ähnlicher Weise werden auch Schulsysteme, Krankenhäuser, karitative
und staatliche Einrichtungen gezwungen, sich zu verbessern. Das Problem
hierbei ist, dass die meisten Manager mit solchen Situationen keine Erfah-
rungswerte gesammelt haben, auf die sie zurückgreifen können.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-22
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:37.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel – die Kraft, die ihn antreibt
Aufgrund der Erfahrungen vieler Unternehmen während der letzten bei-
den Jahrzehnte haben manche die Schlussfolgerung gezogen, dass Organi-
sationen nicht in der Lage sind, sich sehr stark zu verändern, und dass wir
¢ 17
https://doi.org/10.15358/9783800646159-22
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:37.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
18 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
lition, Entwicklung von Vision und Strategien, Kommunikation der Vision
des Wandels, Verantwortung auf eine breite Basis stellen, schnelle Erfolge
erzielen, diese Erfolge konsolidieren und neuen Wandel generieren sowie
die neuen Ansätze in der Kultur verankern.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-22
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:37.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel – die Kraft, die ihn antreibt
Die ersten vier Schritte im Transformationsprozess helfen, den verhärteten
Status quo aufzutauen. Wäre Wandel leicht zu verwirklichen, dann wären
diese ganzen Anstrengungen nicht nötig. Die Phasen 5 bis 7 führen darauf-
¢ 19
hin neue Verhaltensweisen ein. Der letzte Schritt verankert den Wandel in-
nerhalb der Unternehmenskultur. Menschen, die unter dem Druck stehen,
Ergebnisse zu liefern, neigen in einem tief greifenden Wandel dazu, einige
Phasen auszulassen.
Eine intelligente und fähige Führungskraft erzählte mir, dass ihre Reorgani-
sationsbestrebungen von den meisten Mitgliedern ihres Managementteams
abgeblockt wurden. Unser Gespräch verlief in verkürzter Form wie folgt:
„Glauben Deine Leute, dass der Status quo nicht akzeptabel ist?“, fragte
ich. „Empfinden sie wirklich eine Dringlichkeit?“
„Einige ja. Aber viele wahrscheinlich nicht.“
„Wer treibt diesen Wandel?“
„Ich vermute, dass ich der Haupttreiber bin“, gab er zu.
„Hast Du eine fesselnde Vision der Zukunft und Strategien, die auch er-
klären, warum diese Reorganisation notwendig ist und aufzeigen, wie
die Vision erreicht werden kann?“
„Ich denke schon,“ sagte er, „aber ich bin mir nicht sicher, wie überzeu-
gend sie ist.“
„Hast Du jemals versucht, die Vision und die Strategien in kurzer Form
zu Papier zu bringen?“
„Nicht wirklich.“
„Verstehen und glauben Deine Manager an die Vision?“
„Ich denke, dass drei oder vier Schlüsselspieler dabei sind“ sagte er,
räumte jedoch ein, „aber ich wäre nicht überrascht, wenn viele andere
das Konzept nicht verstehen oder nicht ganz daran glauben.“
Nach dem Sprachgebrauch der Abbildung 3 war diese Führungskraft mit
ihrer Reorganisationsidee sofort zu Phase 5 des Transformationsprozesses
gesprungen. Da sie die anderen Schritte größtenteils ignoriert hatte, lief sie
zwangsläufig gegen eine Mauer des Widerstandes. Hätte die Führungskraft
ihren Mitarbeitern die neue Struktur eingepaukt – was sie hätte tun können –,
dann hätten die Mitarbeiter wahrscheinlich unzählige kreative Möglichkei-
ten gefunden, um die erwünschten Verhaltensänderungen zu untergraben.
Weil das die Führungskraft genau wusste, saß sie frustriert in einer Sack-
gasse. Die Geschichte ist jedoch nicht ungewöhnlich.
Menschen versuchen oft, eine Organisation zu verändern, indem sie nur die
Schritte 5, 6 und 7 durchführen, insbesondere wenn es scheint, dass eine ein-
zige Entscheidung – Reorganisation, Akquisition, Kündigung – den Groß-
teil des notwendigen Wandels bewirkt. Oder sie durchlaufen die Stufen,
ohne die Aufgabe jemals zu beenden. Oder es gelingt ihnen nicht, die voran-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-22
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:37.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
20 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
gegangenen Schritte zu festigen, sodass das Gefühl für die Dringlichkeit
wieder verschwindet oder die Führungskoalition auseinanderbricht. Die
Wahrheit ist, dass ohne die Aufwärm- oder Auftauaktivitäten (Schritte 1
bis 4) keine ausreichend fundierte Basis für das weitere Vorgehen geschaffen
werden kann. Und ohne die Durchführung der Phase 8 wird man nie das
Ziel erreichen und den Wandel dauerhaft verankern.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-22
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:37.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel – die Kraft, die ihn antreibt
ten gut. Der Handlungsverlauf entwickelt sich nicht natürlich. Er wirkt ge-
stellt, gezwungen oder mechanistisch und erzeugt nicht das notwendige
Momentum, um die enorm starken Trägheitsquellen zu überwinden.
¢ 21
https://doi.org/10.15358/9783800646159-22
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:37.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
22 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
Frage: Warum würde dann ein intelligenter Mensch trotzdem so stark
auf einfache, lineare und analytische Prozesse vertrauen?
Antwort: Weil er oder sie gelernt hat, zu managen, aber nicht zu führen.
Management ist eine Reihe von Prozessen, die ein kompliziertes System
von Menschen und Technologien reibungslos laufen lässt. Zu den wichtigs-
ten Managementaspekten gehören Planung, Budgetierung, Organisation,
Personalbesetzung, Controlling und Problemlösung. Führung besteht aus
einer Reihe von Prozessen, die Unternehmen in erster Linie gestalten oder
sie bedeutenden Veränderungen anpassen. Leadership definiert, wie die
Zukunft aussehen sollte, bringt Menschen hinter diese Vision und inspiriert
sie zur Umsetzung trotz aller Hindernisse (siehe Abbildung 4). Diese Unter-
scheidung ist für unseren Zweck absolut notwendig: Ein genauer Blick auf
die Abbildungen 3 und 4 zeigt, dass erfolgreiche Transformation zu 70 bis
90% auf Führung und nur zu 10 bis 30% auf Management basiert. Aller-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-22
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:37.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel – die Kraft, die ihn antreibt
dings haben aus historischen Gründen viele Organisationen heutzutage so
gut wie kein Leadership. Und trotzdem denkt jeder, dass es sich bei diesem
Problem um ein Management des Wandels handelt.
¢ 23
In großen Teilen des 20. Jahrhunderts, als zum ersten Mal in der Geschichte
der Menschheit unzählige Unternehmen gegründet wurden, verfügten wir
nicht über genügend kompetente Manager, um all diese Bürokratien am
Laufen zu halten. Also entwickelten viele Unternehmen und Universitäten
Managementprogramme und Hunderttausende von Menschen wurden er-
muntert, Management „on the job“ zu erlernen. Es wurde ihnen jedoch we-
nig über Leadership beigebracht. Bis zu einem bestimmten Grad wurde der
Fokus auf Management gelegt, da es einfacher zu lehren ist als Leadership.
Ausschlaggebender jedoch war, dass das Thema „Management“ Priorität
auf der Agenda des 20. Jahrhunderts hatte – denn es wurde gebraucht. Je-
der Unternehmer oder Firmengründer, der eine Führungspersönlichkeit
war, brauchte Hunderte von Managern, um sein ständig wachsendes Impe-
rium zu leiten.
Aus heutiger Sicht ist es bedauerlich, dass dieser Fokus häufig in Unterneh-
menskulturen institutionalisiert worden ist, was dazu führte, dass Beschäf-
tigte entmutigt werden, Leadership zu erlernen. Ironischerweise ist der ver-
gangene Erfolg für gewöhnlich die Ursache für dieses Verhalten. Das
Syndrom, so wie ich es oft beobachten konnte, äußert sich folgendermaßen:
Erfolg schafft eine gewisse Marktdominanz, die wiederum für weiteres
Wachstum sorgt. Nach einer Weile wird es zur größten Herausforderung,
das wachsende Unternehmen unter Kontrolle zu behalten. Die Aufmerk-
samkeit wendet sich nach innen und Managementkompetenzen werden
gehegt. Mit der starken Betonung auf Management und nicht auf Leader-
ship nehmen Bürokratie und Innensicht überhand. Aber wegen des fort-
schreitenden, meist auf Marktdominanz basierenden Erfolgs wird das Prob-
lem oft nicht adressiert und eine ungesunde Arroganz entsteht. Alle diese
Aspekte erschweren schließlich jede Transformationsbestrebung (siehe Ab-
bildung 5).
Arrogante Manager tendieren dazu, ihre eigene Leistung und ihre Wettbe-
werbsposition zu überschätzen, sie hören schlecht zu und lernen nur lang-
sam. Mitarbeiter, die in erster Linie nach innen sehen, können Schwierigkei-
ten haben, die eigentlichen Bedrohungen und Chancen zu erkennen.
Bürokratische Kulturen unterdrücken diejenigen, die auf verändernde Be-
dingungen reagieren wollen. Das Fehlen von Führung sorgt dafür, dass
keine Kraft innerhalb dieser Organisationen übrig bleibt, um sie aus dem
Morast zu ziehen. Die Kombination von Kulturen, die sich dem Wandel wi-
dersetzen, und Managern, die nicht gelernt haben zu führen, ist verheerend.
Die in Kapitel 1 beschriebenen Fehler sind unter diesen Umständen beinahe
unvermeidlich. Die Quellen der Selbstgefälligkeit werden in den seltensten
Fällen adäquat adressiert, weil Menschen, die ihr ganzes Leben lang nur
https://doi.org/10.15358/9783800646159-22
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:37.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
24 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
https://doi.org/10.15358/9783800646159-22
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:37.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel – die Kraft, die ihn antreibt
dazu angehalten wurden, das vorhandene System wie ein reibungslos funk-
tionierendes Uhrwerk in Gang zu halten, darin keine Dringlichkeit sehen.
Eine starke Führungskoalition mit ausreichenden Führungskompetenzen
¢ 25
https://doi.org/10.15358/9783800646159-22
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:37.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
26 ¢ Teil I: Leading Change – Den Wandel führen
meisten Organisationen ist die Führung des Wandels die größere Herausfor-
derung. Nur Leadership kann die vielen Quellen unternehmerischer Träg-
heit durchdringen. Nur Leadership kann die Handlungen motivieren, die
notwendig sind, um wesentliche Verhaltensänderungen herbeizuführen.
Nur Leadership kann den Wandel in der Organisationskultur verankern.
Wie in den folgenden Kapiteln verdeutlicht wird, beginnt diese Führung
meist mit ein oder zwei Personen. Aber selbst in den kleinsten Organisatio-
nen muss sich diese Anzahl mit der Zeit erhöhen. Die Lösung der Probleme
des Wandels ist nicht ein übermenschliches Individuum, das Tausende Mit-
arbeiter in gehorsame Anhänger verwandelt. Moderne Organisationen sind
viel zu komplex, um durch einen einzelnen Giganten transformiert zu wer-
den. Viele Menschen müssen bei dieser Führungsaufgabe mitwirken, nicht
durch die Imitation von Persönlichkeiten wie Winston Churchill oder
Martin Luther King, Jr., sondern indem sie die Führungsaufgabe in ihrem
Bereich sinnvoll unterstützen.
Die Zukunft
Das Problem des Wandels innerhalb der Organisationen wäre weniger be-
sorgniserregend, wenn die Wirtschaftswelt sich in Kürze stabilisieren oder
wenigstens beruhigen würde. Zuverlässige Quellen jedoch belegen das Ge-
genteil: Die Geschwindigkeit der Veränderung wird sich beschleunigen
und der Druck auf die Organisationen, sich zu verändern, wird in den
nächsten Jahrzehnten deutlich größer werden. Wenn das der Fall ist, so ist
die einzige rationale Lösung darauf, mehr über erfolgreichen Wandel zu ler-
nen und dieses Wissen an eine ständig wachsende Gruppe von Menschen
weiterzugeben.
Meiner Erfahrung nach besteht die Hilfe für Individuen, um die Transforma-
tion besser zu verstehen, aus zwei Komponenten. Beide werden im weiteren
Verlauf dieses Buches detaillierter behandelt werden. Die erste Komponente
bezieht sich auf die verschiedenen Schritte innerhalb des mehrstufigen Pro-
zesses. Die meisten von uns müssen noch viel darüber lernen, was funktio-
niert und was nicht, was die natürliche Reihenfolge von Ereignissen ist und
wo selbst sehr kompetente Menschen Schwierigkeiten haben. Die zweite
Komponente bezieht sich auf die treibende Kraft hinter dem Prozess:
Leadership, Leadership und noch mehr Leadership.
Wenn Sie ernsthaft glauben, dass Sie und andere relevante Mitarbeiter in
Ihrer Organisation bereits fast alles wissen, was notwendig ist, um eine not-
wendigen Wandel einzuleiten, und Sie sich deshalb ganz logisch wundern,
warum Sie sich die Zeit nehmen sollten, auch den Rest dieses Buches zu
lesen, schlage ich Ihnen vor, einmal Folgendes zu überdenken: Was würden
wir finden, wenn wir alle Dokumente, die in Ihrer Organisation in den letz-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-22
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:37.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 2: Erfolgreicher Wandel – die Kraft, die ihn antreibt
ten zwölf Monaten produziert wurden, nach zwei Phrasen durchsuchen
würden: „den Wandel managen“ und „den Wandel führen“? Wir würden
uns Memos, Protokolle, Newsletter, Jahresberichte, Projektberichte, Pläne
¢ 27
https://doi.org/10.15358/9783800646159-22
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:37.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Teil II:
Der Acht-Stufen-Prozess
https://doi.org/10.15358/9783800646159-35
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:46.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen
Wenn man einen über 30-Jährigen nach der Schwierigkeit fragt, einen tief
greifenden Wandel in einem Unternehmen herbeizuführen, dann wird die
Antwort wahrscheinlich Ähnlichkeit mit folgender Aussage haben: „Es ist
sehr, sehr schwer.“ Die meisten von uns verstehen es noch immer nicht. Wir
nutzen die richtigen Wörter, aber tief in unserem Inneren unterschätzen wir
die Größe der Aufgabe, insbesondere den ersten Schritt: ein Dringlichkeits-
gefühl erzeugen.
Ob ein Unternehmen, das am Boden liegt, wieder aufgebaut wird, ein
Durchschnittsunternehmen zum Marktführer wird oder ein führendes Un-
ternehmen den Abstand zum Wettbewerb vergrößert: Diese Arbeit erfor-
dert von allen Beteiligten ein großes Maß an Kooperation, Initiative und
die Bereitschaft, Opfer zu bringen. In einer Organisation mit 100 Mitarbei-
tern müssen wenigstens zwei Dutzend von ihnen mehr als ihre normale
Pflicht erfüllen, um signifikanten Wandel zu erzeugen. In einer Organisa-
tion mit 100 000 Mitarbeitern müssten über 15 000 mehr leisten.
Die Erzeugung eines Dringlichkeitsgefühls ist ausschlaggebend, um die
notwendige Kooperationsbereitschaft zu erhalten. Ist das Maß an Selbstge-
fälligkeit hoch, enden Transformationen in der Regel in einer Sackgasse, da
nur wenige Mitarbeiter überhaupt Interesse an einer Auseinandersetzung
mit dem Problem des Wandels haben. Bei geringer Dringlichkeit wird es
schwierig, eine Gruppe mit genügend Kraft und Glaubwürdigkeit zusam-
menzustellen, die in der Lage ist, den Prozess zu leiten oder Schlüsselspie-
ler davon zu überzeugen, die notwendige Zeit in die Erstellung und Kom-
munikation einer Vision des Wandels zu investieren. In den seltenen Fällen,
in denen eine motivierte Gruppe inmitten einer Umgebung existiert, die vor
Überheblichkeit nur so strotzt, können ihre Mitglieder vielleicht die grund-
sätzliche Richtung für den Wandel erkennen, reorganisieren und Personal-
einsparungen vornehmen. Sollten sie ein Unternehmen führen, so könnten
sie sogar Akquisitionen durchführen und neue Anreizsysteme installieren.
Aber früher oder später, egal wie viel Druck sie ausüben, egal wie sehr sie
auch drohen, wird die Veränderung wahrscheinlich weit vor der Ziellinie
zum Stillstand kommen, wenn nicht auch viele andere Mitarbeiter die glei-
che Dringlichkeit empfinden. Menschen werden zahllose ausgeklügelte
Wege finden, um ihre Kooperation an einem Prozess zu verweigern, den
sie für entbehrlich und nicht durchdacht halten.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-35
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:46.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
32 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Selbstgefälligkeit: Ein Beispiel
https://doi.org/10.15358/9783800646159-35
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:46.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen
streitig zu machen, oder jemand die Schuld auf einen anderen abwälzen
möchte. Am unglaublichsten ist jedoch, dass ständig jemand ernsthaft Vor-
träge über die gute Lage hält. Nach zwei Tagen in diesem Unternehmen fra-
¢ 33
https://doi.org/10.15358/9783800646159-35
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:46.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
34 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
https://doi.org/10.15358/9783800646159-35
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:46.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen
Geld. Niemand hatte Massenentlassungen angekündigt. Ein Bankrott war
kein Thema. Die Gläubiger standen nicht vor der Tür. Die Presse brachte
nicht ständig negative Schlagzeilen über das Unternehmen. Als rationaler
¢ 35
https://doi.org/10.15358/9783800646159-35
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:46.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
36 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
einem unzufriedenen Kunden, einem wütenden Aktionär oder einem frust-
rierten Lieferanten konfrontiert zu werden. Manche Menschen konnten ver-
mutlich vom Tag ihrer Einstellung bis zu ihrer Rente arbeiten, ohne jemals
mit einem unzufriedenen externen Stakeholder in Kontakt treten zu müssen.
Siebentens: Wenn unternehmerisch denkende junge Mitarbeiter externes
Leistungsfeedback suchten, wurden sie oft wie Leprakranke behandelt. In
dieser Unternehmenskultur wurde solch ein Verhalten als unangemessen
betrachtet, weil es jemanden verletzen, die Moral verringern oder zu Ausei-
nandersetzungen (soll heißen: zu ehrlichen Diskussionen) führen könnte.
Achtens wird die Selbstgefälligkeit von der menschlichen Tendenz unter-
stützt, die Dinge, die wir nicht wahrhaben wollen, zu verleugnen. Das Le-
ben ist normalerweise angenehmer ohne Probleme und schwieriger mit
ihnen. Viele von uns denken die meiste Zeit, dass wir genügend Herausfor-
derungen haben, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Wir suchen nicht
nach weiterer Arbeit. Wenn also ein großes Problem sichtbar wird, werden
wir nach Möglichkeit versuchen, es zu ignorieren.
Neuntens ließen sich alle diejenigen, die relativ unberührt von den Selbstge-
fälligkeitskriterien 1 bis 8 waren und sich daher Sorgen um die Zukunft des
Unternehmens machten, von dem „positiven Geschwätz“ des Seniormana-
gements oft in falscher Sicherheit wiegen. „Sicherlich haben wir Probleme, aber
wir haben auch schon so viel erreicht.“ Menschen, die die 1960er Jahre mitbe-
kamen, werden sich an ein schreckliches Beispiel dieser Art erinnern: die
vielen Berichte darüber, wie die Vereinigten Staaten kurz davor waren, den
Vietnamkrieg zu gewinnen. Auch wenn „positives Geschwätz“ manchmal
unehrlich ist, ist es doch oft das Produkt einer arroganten Kultur, die wiede-
rum das Ergebnis vergangener Erfolge ist.
Ein Großteil dieses Problems hat seine Ursache in den Erfolgen des Gesamt-
unternehmens, der einzelnen Abteilungen und einzelner Individuen in der
Vergangenheit. Früherer Erfolg liefert zu viele Ressourcen, reduziert das
Dringlichkeitsgefühl und ermutigt uns zum Rückzug nach innen. Bei Men-
schen führt dies oftmals zu einem Egoproblem; bei Firmen zu einem Kultur-
problem. Über-Egos und arrogante Kulturen begünstigen die neun Gründe
für Selbstgefälligkeit. In der Summe können sie dann das Dringlichkeitsver-
ständnis in einem Unternehmen niedrig halten, selbst dann, wenn dieses
mit tief greifenden Problemen kämpft und von überaus intelligenten und
vernünftigen Leuten geführt wird.
Ich glaube, wir nehmen oft an, dass Selbstgefälligkeit kein Problem dar-
stellen würde, wenn nur mehr Menschen so starke und mutige Kämpfer-
naturen wären wie wir. Oder aber wir denken, dass die Menschen im Allge-
meinen recht intelligent sind und dass wir ihnen deshalb lediglich die
Fakten über schlechte Produktqualität, nachgebende Finanzergebnisse
oder das Fehlen von Produktivitätszuwächsen vermitteln müssen. In bei-
den Fällen unterschätzen wir die Macht subtiler und systemischer Kräfte,
https://doi.org/10.15358/9783800646159-35
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:46.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen
die in nahezu jeder Organisation existieren. Eine gute Faustregel für einen
tief greifenden Veränderungsprozess lautet daher: Unterschätzen Sie nie-
mals das Ausmaß der Kräfte, die Selbstgefälligkeit fördern und damit den
¢ 37
https://doi.org/10.15358/9783800646159-35
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:46.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
38 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Wir sehen diese Art des Mutes nicht mehr sehr häufig, weil Menschen, die
in Kulturen mit zu wenig Führung und zu viel Management leben, lernen,
dass diese Aktionen nicht vernünftig sind. Wenn couragierte Führungs-
kräfte lange Zeit mit einem Unternehmen verbunden waren, fürchten sie
vielleicht auch, für die Probleme, auf die sie aufmerksam gemacht haben,
als die eigentlichen Verursacher herangezogen zu werden. Daher ist es kein
Zufall, dass Transformationen oft erst begonnen werden, wenn eine Person
eine Schlüsselrolle besetzt, die ihre Handlungen aus der Vergangenheit
nicht rechtfertigen muss.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-35
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:46.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen
größere Transformationsbemühungen erfolgreich durchzuführen. In sol-
chen Fällen hat der Aufsichtsrat die Verantwortung, Führungspersönlich-
keiten zu finden und sie auf Schlüsselpositionen zu platzieren.
¢ 39
https://doi.org/10.15358/9783800646159-35
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:46.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
40 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
lichkeiten schaffen diese Art künstlicher Krisen und warten nicht darauf,
dass etwas passiert.
Harry zum Beispiel entschied sich dafür, seiner Meinung nach unrealisti-
sche Umsatz- und Kostenplanungen zu akzeptieren, anstatt wie üblich,
mit seinem Manager darüber zu streiten. Der resultierende Einbruch
der Einnahmen um 30% machte alle darauf aufmerksam. Auf ähnliche
Weise akzeptierte Helen die Versprechungen einer neuen Produktein-
führung, die ihrer Meinung nach unrealistisch waren, und ließ zu, dass
ihr das Ganze um die Ohren flog – nichts für schwache Nerven. Das Re-
sultat: Business as usual konnte so einfach nicht weitergehen.
Einige künstliche Krisen setzen auf große finanzielle Verluste, um Men-
schen wachzurütteln. Ein bekannter CEO eines renommierten Konzerns be-
reinigte die Bilanzen, rief eine Reihe von neuen Initiativen ins Leben und er-
zeugte durch sein Vorgehen einen Verlust von beinahe 1 Milliarde $. Aber es
handelte sich um eine außergewöhnliche Situation. Der CEO hatte einen
langfristigen Vertrag und das Unternehmen schwamm im Geld.
Das Problem bei großen finanziellen Krisen, ob sie nun natürlich oder
künstlich herbeigeführt sind, besteht darin, dass sie oft die knappen Res-
sourcen eines Unternehmens aufzehren und daher wenig Spielraum für zu-
künftige Manöver zulassen. Nachdem eine oder sogar zwei Milliarden ver-
loren sind, hat man zwar die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter, aber wenig
finanzielle Mittel, um neue Initiativen zu unterstützen. Auch wenn Trans-
formationen im Zuge einer natürlichen Finanzkrise einfacher zu beginnen
sind, ist es eindeutig die bessere Alternative, nicht auf eine zu warten. Es
ist besser, wenn man dieses Problem selbst erschafft. Sofern möglich, ist es
noch besser, den Mitarbeitern dabei zu helfen, die Probleme oder den kriti-
schen Charakter der Situation zu erkennen, ohne empfindliche Verluste hin-
nehmen zu müssen.
Wenn das Ziel des Wandels eine Fertigungsanlage, ein Vertriebsbüro oder
eine Arbeitseinheit einer größeren Organisation ist, dann finden sich die
Schlüsselspieler in der mittleren und unteren Führungsebene. Die Manager
dieser Ebenen müssen die Selbstgefälligkeit reduzieren und die Dringlich-
keit verstärken. Sie müssen eine Koalition für den Wandel zusammenstel-
len, eine Vision für den Wandel entwickeln und diese Vision anderen ver-
kaufen. Sollten sie über genügend Autonomie verfügen, dann können sie
dies losgelöst von der Gesamtorganisation für ihre Teilbereiche durchfüh-
ren. Sollten sie über genügend Autonomie verfügen.
Ohne ausreichende Autonomie können innerhalb eines Unternehmens, in
der ein hohes Maß an Selbstgefälligkeit herrscht, Wandelbestrebungen einer
https://doi.org/10.15358/9783800646159-35
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:46.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen
einzelnen Einheit von Anfang an zum Scheitern verurteilt sein. Früher oder
später werden die Trägheitskräfte greifen, egal, was die unteren Change
Agents auch machen. Unter diesen Umständen kann es ein fataler Fehler
¢ 41
Weil sie die Autorität besitzen, sind Top-Manager in der Regel die Schlüs-
selfiguren, wenn es um die Verminderung der Trägheitskräfte geht – aller-
dings nicht immer. Gelegentlich ist eine mutige und kompetente Seele aus
der mittleren oder unteren Führungsebene maßgeblich daran beteiligt, den
Weg für eine Transformation zu bahnen.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-35
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:46.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
42 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Für diejenigen im mittleren Management, die keinen Weg finden, das
Bewusstsein im Unternehmen für die Dringlichkeit eines Wandels zu erhö-
hen – da beispielsweise das Top-Management nicht die notwendige Füh-
rung leistet –, könnte der Wechsel in ein anderes Unternehmen eine kluge
Karriereentscheidung sein. In unserer heutigen Wirtschaftswelt klammern
sich die Menschen oft an ihren Arbeitsplatz, auch wenn ihr Unternehmen
ins Nichts steuert. Sie reden sich selbst ein, dass sie ja im Grunde Glück
haben, bei all den Personalkürzungen noch Gehalt und übertarifliche So-
zialleistungen zu beziehen. Dieses Verhalten ist verständlich. Aber in der
Welt des 21. Jahrhundert werden wir während unserer gesamten Berufs-
laufbahn ständig lernen und wachsen müssen. Eines der vielen Probleme
in selbstherrlichen Unternehmen ist, dass Unbeweglichkeit und Konservati-
vismus das Lernen maßgeblich erschweren.
Unabhängig davon, wie oder durch wen der Prozess angeregt wird, finden
es die meisten Unternehmen äußerst schwierig, in den Phasen 2 bis 4 des
Acht-Stufen-Prozesses große Fortschritte zu machen, solange nicht die Mehr-
heit der Manager wirklich davon überzeugt ist, dass der Status quo nicht
haltbar ist. Eine Transformation in den Phasen 7 bis 8 aufrechtzuerhalten, er-
fordert noch stärkeres Engagement. Die Mehrheit der Mitarbeiter, vielleicht
75% des gesamten Managements und praktisch alle Führungskräfte, müssen
daran glauben, dass tief greifender Wandel absolut notwendig ist.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-35
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:46.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 3: Ein Gefühl für Dringlichkeit erzeugen
leicht stoßen sie Wachstum und Aktivitäten durch Akquisitionen an – bis
schließlich klar wird, dass viele Initiativen im Sande verlaufen.
Aber auch wenn Menschen groß angelegte Veränderungsbestrebungen mit
¢ 43
dem Abbau von Selbstgefälligkeit beginnen, reden sie sich manchmal ein,
dass die Aufgabe damit erledigt ist, obwohl in Wahrheit noch wesentlich
mehr Arbeit erforderlich ist. Ich habe beobachtet, wie außerordentlich fä-
hige Manager in diese Falle gelaufen sind. Sie tauschen sich mit Kollegen
aus, die ihre Rationalisierungsversuche nur bestätigen. „Wir sind alle hierfür
bereit. Jeder versteht, dass die gegenwärtige Situation geändert werden muss. Wir
haben ein geringes Niveau an Selbstgefälligkeit. Richtig, Phil? Richtig, Carol?“
Und so bewegen sie sich auf wackeligem Boden, was sie früher oder später
bereuen werden.
Hier können Außenstehende behilflich sein. Fragen Sie gut informierte
Kunden, Lieferanten oder Aktionäre, was sie denken. Ist das Bewusstsein
für die Dringlichkeit hoch genug? Ist die Selbstgefälligkeit niedrig ausge-
prägt? Sprechen Sie nicht nur mit Kollegen, die die gleichen Motive haben,
die Realität herunterzuspielen. Und fragen Sie nicht nur ein paar Freunde
außerhalb des Unternehmens. Sprechen Sie mit anderen, die Ihr Unterneh-
men kennen oder auch mit Leuten, die mit Ihrem Unternehmen unzufrie-
den sind. Und was am wichtigsten ist: Hören Sie sorgfältig zu!
Wenn Sie so vorgehen, werden Sie herausfinden, dass manche Menschen
nicht ausreichend genug informiert sind, um ein verlässliches Urteil abzu-
liefern. Andere wiederum verfolgen nur eigennützige Ziele. Sie können all-
dem vorbeugen, indem Sie sich mit möglichst vielen Menschen austau-
schen. Der ausschlaggebende Punkt ist, der Kurzsichtigkeit des Insiders
mit externen Daten entgegenzuwirken. In einer schnelllebigen Welt kann
die Kurzsichtigkeit des Insiders verheerende Folgen haben.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-35
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:46.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen
https://doi.org/10.15358/9783800646159-49
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
46 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
„König“ Henry hatte ein Führungs-Komitee, aber es war eine Informa-
tionssammel- und -verteilstelle, kein Entscheidungsorgan. Die tatsächli-
che Arbeit wurde außerhalb des Gremiums gemacht. Henry würde über
eine Angelegenheit alleine in seinem Büro nachdenken. Dann würde er
eine Idee mit Charlotte besprechen und sich ihre Kommentare anhören.
Er würde mit Frank zu Mittag essen und ihm ein paar Fragen stellen. Er
würde mit Ari eine Runde Golf spielen und sich seine Reaktion zu einer
bestimmten Idee anhören. Schließlich würde der CEO alleine eine Ent-
scheidung treffen. Je nach Art der Entscheidung würde er seine Entschei-
dung dann in der Vorstandssitzung verkünden oder, wenn die Entschei-
dung besonders sensibel war, seine Mitarbeitern darüber einzeln in
seinem Büro unterrichten. Diese würden die Information dann wiede-
rum – soweit notwendig – an andere weiterleiten.
Dieser Prozess funktionierte zwischen 1975 und 1990 aus vier Gründen be-
merkenswert gut: (1) Die Veränderungsgeschwindigkeit der Märkte war
nicht hoch. (2) Er kannte seine Branche exzellent. (3) Sein Unternehmen
hatte eine starke Position im Markt, sodass eine späte oder falsche oder
auch eine nicht getroffene Entscheidung kein großes Risiko in sich barg.
(4) Henry war ein richtig smarter Bursche.
Über vier Jahre, bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1994, versuchte Henry,
einen Transformationsprozess anzuführen, der sich nicht von seinem Vorge-
hen in stabilen Zeiten unterschied. Aber dieses Mal funktionierte der An-
satz nicht, weil die Anzahl und die Natur der Entscheidungen, die getroffen
werden mussten, sich deutlich vom bisherigen Vorgehen unterschieden.
Nach zwei Jahren wurde offensichtlich, dass Henrys Ansatz nicht funktio-
nierte. Anstatt den Wandel zu führen, wurde er mehr und mehr isoliert,
machte dafür aber umso mehr Druck. Nach einer fragwürdigen Akquisi-
tion mit bitterem Nachgeschmack setzte er sich widerwillig zur Ruhe
(nach mehr als nur einem sanften Anstoß aus dem Aufsichtsrat).
https://doi.org/10.15358/9783800646159-49
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen
Leerlauf: Das wenig glaubwürdige Gremium
¢ 47
Dieses zweite Szenario habe ich wahrscheinlich zwei Dutzend Male gese-
hen. Der größte Champion des Wandels ist der HR-Manager, der Qualitäts-
manager oder der Chef der strategischen Planung. Einen davon setzt der
Chef als Vorsitzenden einer Task Force ein, die sich aus Mitarbeitern ver-
schiedener Abteilungen und einem oder zwei Beratern von außen rekru-
tiert. In dieser Gruppe mag eine der zukünftigen Führungspersönlichkeiten
des Unternehmens sein, aber es ist niemand von den drei oder vier wich-
tigsten Vorständen dabei, die in der Hierarchie des Unternehmens ganz
oben stehen. Und von den 15 wichtigsten Vertretern des Unternehmens
sind wiederum maximal zwei bis vier vertreten.
Da die Task Force einen begeisterungsfähigen Leiter hat, macht die Arbeit
für eine bestimmte Zeit große Fortschritte. Aber all die einflussreichen Men-
schen innerhalb und außerhalb dieser Gruppe merken sehr schnell, dass die
Wahrscheinlichkeit eines nachhaltigen Erfolges nur sehr gering erscheint, li-
mitieren infolge ihre Mitarbeit sowie ihr Engagement und sehen sich zuneh-
mend weniger in der Verpflichtung für die Aufgabe. Weil jeder in der Task
Force voll beschäftigt ist und einige davon überzeugt sind, dass sie ihre Ar-
beitskraft anderweitig besser einsetzen können, werden die Terminverein-
barungen für die Sitzungen schwieriger. Die gemeinsame Diagnose des Sta-
tus quo des Unternehmens wird unmöglich, infolgedessen baut das Team
untereinander auch kein Vertrauen zueinander auf. Nichtsdestotrotz wei-
gert sich der Vorsitzende der Task Force aufzugeben und kämpft darum,
sichtbare Fortschritte zu erzielen, auch weil er sich dem Unternehmen oder
dessen Mitarbeitern sehr stark verpflichtet fühlt.
Nach drei, vier Teilprojekten wird die Arbeit der Task Force beendet – vor
allem durch den Vorsitzenden, einen Berater und einen „Indianer“. Der
Rest der Gruppe winkt die Entscheidungen der Gruppe durch, trägt aber
darüber hinaus wenig dazu bei und fühlt sich auch dem Prozess gegenüber
immer weniger verpflichtet. Früher oder später wird das Problem offen-
sichtlich: wenn die Gruppe keinen Konsens mehr über ausgearbeitete Emp-
fehlungen erzielt, wenn die Empfehlungen der Gruppe auf taube Ohren
beim Management stoßen oder wenn die Gruppe versucht, Ideen zu imple-
mentieren und gegen eine Wand passiven Widerstands rennt. Mit viel har-
ter Arbeit erreicht das Unternehmen einige Fortschritte, aber die Beiträge
zum Wandel kommen nur langsam und schrittweise.
Eine Nachbetrachtung des gescheiterten Vorgehens verdeutlicht, dass die
Task Force nie eine Chance hatte, ein funktionierendes Team von durchset-
zungsstarken Leuten zu werden, die ein gemeinsames Verständnis des
Problems, der Chancen und der Verpflichtung zum Wandel hatte. Mit dem
neutralen Blick von außen kann man feststellen, dass die Gruppe nie die
Glaubwürdigkeit besaß, die notwendig gewesen wäre, um für starkes
https://doi.org/10.15358/9783800646159-49
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
48 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Leadership zu sorgen. Ohne diese Glaubwürdigkeit hat man das Äquiva-
lent eines 18-rädrigen Lastwagens, der von einem Rasenmähermotor ange-
trieben wird.
Und während zwischenzeitlich die Veränderungsbemühen scheitern,
weicht die Wettbewerbsposition des Unternehmens auf und der Wettbe-
werber, der den Markt anführt, setzt sich weiter vom Unternehmen ab.
Die zentrale Erkenntnis der beiden vorgenannten Szenarien ist, dass es kei-
nem der beiden Unternehmen gelingt, dem Tempo des Marktes und des
technologischen Wandels zu folgen. In einem weniger wettbewerbsintensi-
ven und sich langsamer bewegenden Markt können schwache Komitees
dazu beitragen, dass sich die Organisation in einem noch akzeptablen Grad
dem Markt anpasst. Ein Komitee gibt Empfehlungen. Die Manager aus der
Linie lehnen diese Empfehlungen ab. Das Komitee gibt zusätzliche Empfeh-
lungen ab. Die Linie bewegt sich ein paar Zentimeter. Das Komitee versucht
es wieder. Soweit der Wettbewerb und der technologische Wandel begrenzt
sind, funktioniert dieser Ansatz. Aber in einer schnelllebigeren Welt schei-
tert das schwache Komitee immer.
In einer sich langsam bewegenden Welt kann ein Chef, der wie ein einsa-
mer Cowboy agiert, Veränderungen herbeiführen, indem er mit Charlotte,
dann Frank, dann Ari spricht und reflektiert, was sie sagen. Nachdem er
eine Entscheidung getroffen hat, kann er sie an Charlotte, Frank und Ari
kommunizieren. Solange der Chef dazu in der Lage ist und auch genügend
Zeit hat, wird der Prozess gut funktionieren. In einer sich schneller drehen-
den Welt bricht dieser schwerfällige sequenzielle Prozess zusammen. Er ist
einfach zu langsam, wird zu wenig mit Echtzeitinformationen untermauert
und macht die Implementierung schwerer.
Das heutige Geschäftsumfeld verlangt nach neuen Prozessen der Entschei-
dungsfindung (siehe Abbildung 8). Heute besitzen Individuen und schwa-
che Komitees kaum alle Informationen, die notwendig sind, um gute Routi-
neentscheidungen zu treffen, noch besitzen sie die Glaubwürdigkeit oder die
Zeit, die notwendig ist, um andere davon zu überzeugen, Opfer zu erbrin-
gen, die notwendig sind, um einen Wandlungsprozess zu implementieren.
Nur Teams in der richtigen Zusammensetzung und mit genügend Vertrauen
unter den Teammitgliedern können unter diesen Bedingungen hocheffektiv
arbeiten. Diese Binsenweisheit gilt für eine Führungskoalition in der Fabrik
oder bei Neuproduktentwicklungsprozessen ebenso wie an der Spitze eines
Unternehmens während einer umfassenden Transformation. Eine Führungs-
koalition, die als ein effektives Team agiert, kann mehr und schneller Infor-
mationen verarbeiten. Sie kann auch die Implementierung von neuen Ansät-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-49
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen ¢ 49
Warum nutzen dann Manager nicht oft genug Teams, um Wandel herbeizu-
führen? Aus einem bestimmten Maß deshalb, weil ein gewisser Interessens-
konflikt vorherrscht. Teams werden nicht gefördert, Individuen schon, und
Individuen brauchen eindeutige Erfolgsgeschichten, um ihre Karriere vo-
ranzutreiben. Das Argument „ich war in einem Team ...“ verkauft sich in
vielen Unternehmen heute noch nicht so gut.
Doch in einem noch größeren Ausmaß ist das Problem üblicherweise mit
der Geschichte eines Unternehmens verbunden. Die meisten der etablierten
oberen Führungskräfte sind in einem Managementumfeld aufgewachsen,
in dem Teamwork noch keine so große Rolle gespielt hatte. Sie haben viel-
leicht den Begriff „Team“ benutzt und Metaphern aus dem Sport verwen-
det, lebten und agierten aber in der Hierarchie – typischerweise ein Chef
und seine acht ihm direkt berichterstattenden Mitarbeiter. Sie haben eine
ganze Reihe von kaum funktionierenden Komitees erlebt, in denen alles
langsamer statt schneller ging, und sie haben sich damit im alten Format
der Hierarchie besser aufgehoben gefühlt, auch wenn es über die Jahre hin-
weg immer schlechter funktionierte.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-49
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
50 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Die Führungskoalition nominieren
Der erste Schritt, eine solche Art von Team zusammenzusetzen, das in der
Lage ist, einen fundamentalen Veränderungsprozess zu führen, ist, die rich-
tigen Mitglieder zu finden. Vier wesentliche Charakteristika scheinen für
eine effektive Führungskoalition dabei von zentraler Bedeutung zu sein:
1. Hierarchische Bedeutung: Sind genügend Schlüsselspieler an Bord, spe-
ziell die Linienmanager, sodass diejenigen, die ausgespart bleiben, den
Fortschritt nicht einfach blockieren können?
2. Expertise: Sind die verschiedenen Ansichten – fachlicher Natur, Erfah-
rung, Nationalität u. Ä. –, die für die anstehende Aufgabe von Bedeu-
tung sind, angemessen vertreten, sodass fundierte und intelligente Ent-
scheidungen getroffen werden können?
3. Glaubwürdigkeit: Sind in der Gruppe genügend Leute mit guter Repu-
tation, sodass die Vorankündigungen von den Mitarbeitern ernst ge-
nommen werden?
4. Leadership: Sind in der Gruppe genügend Leader vertreten, die bewie-
sen haben, dass sie in der Lage sind, einen solchen Veränderungsprozess
zu treiben?
Der letztgenannte Punkt zum Leadership ist besonders wichtig. Man
braucht beides in der Führungskoalition – Management- und Leadershipfä-
higkeiten –, und sie müssen im Tandem arbeiten. Erstere halten den gesam-
ten Prozess unter Kontrolle, während letztere den Wandel vorantreiben.
(Die Kreuze in Abbildung 9 bilden verschiedene Kombinationen aus Lea-
dership und Management ab, die funktionieren oder nicht funktionieren
können.)
https://doi.org/10.15358/9783800646159-49
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen ¢ 51
ship erfordern, die aber kaum führen, werden ermutigt, diese Herausforde-
rung anzunehmen. Welche Methode auch immer gewählt wird, am Ende
wird immer ein Team stehen, in dem auch Leadershipfähigkeiten vertreten
sind. Man sollte nie vergessen: Eine Führungskoalition, die nur aus Mana-
gern besteht – sogar außergewöhnlichen Managern, die wunderbare Perso-
nen sind –, wird im Bemühen um fundamentalen Wandel letztendlich
scheitern.
Die Größe einer effektiven Führungskoalition scheint mit der Größe der Or-
ganisation zu korrespondieren. Die Veränderung startet meist mit zwei
oder drei Personen. Bei erfolgreichen Transformationsprozessen wächst die
Gruppe auf ein halbes Dutzend in relativ kleinen Unternehmen oder in klei-
nen Einheiten großer Unternehmen an. In größeren Unternehmen können
es auch zwischen 20 und 50 sein, die man nominieren sollte.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-49
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
52 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Bestimmte Qualitäten ausblenden – oder vorsichtig managen
https://doi.org/10.15358/9783800646159-49
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen
Wandel notwendig ist und dass Jerrys aktive Beteiligung dafür essenziell
ist. Auf halbem Wege des Umwerbens redet sich der CFO immer noch
mit Hinweisen auf Zeitmangel und fehlende Qualifikation heraus. Aber
¢ 53
die Beharrlichkeit zahlt sich aus und Jerry erklärt sich schließlich bereit,
mitzumachen.
Es kann verführerisch sein, Leute wie Jerry abzuschreiben und zu versu-
chen, um sie herumzuarbeiten. Aber wenn solche Individuen zentrale Spie-
ler mit großer Autorität oder Glaubwürdigkeit sind, funktioniert diese Tak-
tik selten gut. Und besonders oft geht ein solches Problem des Überredens
von Jerry zurück auf das Dringlichkeitsthema. Er sieht die Probleme und
die Chancen nicht klar, und das Gleiche gilt für die Leute, mit denen er
jeden Tag zusammenarbeitet. Bei hoher Selbstgefälligkeit wird man ihn nie
davon überzeugen, seine Zeit und seinen Einsatz in die Führungskoalition
einzubringen.
Wenn Leute wie Jerry die Qualitäten einer Schlange oder eines Über-Egos
besitzen, ist ein Aufhebungsvertrag oder eine Frühpensionierung oft die
einzige sinnvolle Option. Man will sie nicht in der Führungskoalition, aber
man kann sich auch nicht erlauben, sie außerhalb des Besprechungszim-
mers Probleme verursachen zu lassen. Organisationen sträuben sich oft da-
gegen, dieses Thema anzugehen, weil diese Personen entweder besondere
Fähigkeiten oder politischen Rückhalt besitzen. Aber die Alternative ist üb-
licherweise schlecht – sie in der Position zu haben, dass sie eine neue Strate-
gie oder eine kulturelle Erneuerung unterlaufen können.
Aus Angst davor, dieses Problem anzugehen, machen wir uns selbst vor,
dass Jerry gar nicht so schlecht ist oder dass wir um ihn herummanövrieren
können. So machen wir weiter, nur um uns dann zu verfluchen, dass wir
die Angelegenheit nicht angegangen sind.
In so einer Situation sollten wir uns an Folgendes erinnern: Personelle Pro-
bleme, die in guten Zeiten ignoriert werden, können in einer harten, schnell-
lebigen, globalen Wirtschaftswelt zu größten Schwierigkeiten werden.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-49
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
54 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
trauen den Motiven anderer, sogar wenn sie im gleichen Unternehmen
sind. Das Fehlen von Kommunikation und viele andere Faktoren steigern
diese nicht angebrachte Rivalität noch. Die Ingenieure beäugen die Ver-
triebsleute misstrauisch, die deutsche Niederlassung betrachtet die ameri-
kanische Muttergesellschaft mit Geringschätzung usw.
Wenn Mitarbeiter aus solchen Gruppen für eine Führungskoalition nomi-
niert werden und dann darin zusammen für die Veränderung arbeiten sol-
len, wird Teamarbeit wegen des Fehlens von Vertrauen selten einfach so zu-
stande kommen. Das daraus entstehende engstirnige „Spielchenspielen“
kann dazu führen, dass die notwendige Transformation nicht stattfindet.
Diese Einsicht über Vertrauen kann allein schon sehr hilfreich sein, um zu be-
urteilen, ob ein bestimmtes Maßnahmenset die Art von Team schaffen kann,
die benötigt wird. Wenn diese Maßnahmen das gegenseitige Verständnis,
den Respekt und die Fürsorge schaffen, die mit Vertrauen zusammenhän-
gen, ist man auf dem richtigen Weg.
Vor 40 Jahren nutzten Unternehmen, die Teams aufbauen wollten, meist in-
formelle soziale Aktivitäten. Alle Führungskräfte trafen sich mit ihren Fami-
lien. Beim Golfen, bei Weihnachtsfeiern und Abendessen entwickelten sie
Beziehungen, die auf gegenseitigem Verständnis und Vertrauen basierten.
Familienorientierte soziale Aktivitäten werden immer noch genutzt, um
Teams aufzubauen, aber es gibt heute eine Menge von ernsthaften Nachtei-
len. Erstens ist es ein langsamer Prozess. Gelegentliche Aktivitäten, die nicht
in erster Linie auf Teambildung abzielen, können sich über Jahrzehnte hin-
ziehen. Zweitens funktioniert der Ansatz am besten bei Familien, in denen
nur einer der Ehepartner arbeitet. In einer Welt, in der beide Ehepartner an
ihren Karrieren arbeiten, haben nur wenige von uns genügend Zeit für häu-
fige soziale Verpflichtungen in zwei unterschiedlichen Organisationen. Drit-
tens führt diese Art von Gruppenprozess dazu, dass sich viel Druck zu kon-
formem Verhalten aufbaut. Politische Meinungen, Lebensstile und Hobbies
werden alle in Richtung Durchschnitt gedrängt. Jemand, der unterschied-
lich ist, muss sich anschließen oder hat die Gruppe zu verlassen. Gruppen-
denken kann – im negativen Sinne des Wortes – eine Folge sein.
Teambildung muss heute schneller vonstattengehen, mehr Diversität erlau-
ben und ohne Ehepartner möglich sein. Sich dieser Realität zu stellen, führt
dazu, dass die heute am häufigsten angewandte Form der Teambildung
eine Art von gut vorbereitetem Off-Site-Meeting ist. Eine Gruppe von 8, 12
oder 24 Leuten geht für zwei bis fünf Tage irgendwo hin mit dem explizi-
tem Ziel, mehr zu einem Team zu werden als vorher. Sie sprechen, analysie-
ren, besteigen Berge und spielen Spiele, alles zum Zweck eines verbesserten
gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens.
Die ersten Versuche dieser Art, ungefähr vor 30 Jahren, waren so sehr in der
Art einer Quick-and-Dirty-Gruppentherapie, dass sie oft nicht funktionier-
ten. In jüngerer Zeit hat sich der Schwerpunkt in zwei Richtungen verla-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-49
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen
gert: Zunahme intellektueller Aufgaben, die auf den Verstand abzielen, und
mehr Aktivitäten, die Bindungen schaffen sollen und auf die emotionale
Ebene abzielen. Die Teilnehmer schauen sich lange und intensiv Daten der
¢ 55
Eine typische Off-Site-Veranstaltung bringt 10 bis 50 Leute für drei bis sechs
Tage zusammen. Interne Stabsleute oder externe Berater helfen dabei, sol-
che Treffen durchzuplanen. Ein Großteil der Zeit wird darauf verwendet,
ehrliche Diskussionen darüber zu führen, was die Individuen über die Or-
ganisation denken und fühlen und wie es sich mit Problemen und Chancen
verhält. Zwischen den Leuten werden Kommunikationskanäle geöffnet
oder gestärkt. Gegenseitiges Verständnis wird erweitert. Intellektuelle und
soziale Aktivitäten werden entwickelt, um zu wachsendem Vertrauen zu
ermutigen.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-49
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
56 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Sam erkennt, dass diese erfolgreiche einwöchige Aktivität erst der Be-
ginn eines Prozesses ist und veranstaltet einige Monate später ein weite-
res, dreitägiges Event für die Gruppe. Zwei Jahre danach, als das Team
durch Neubesetzungen und Beförderungen sein Gesicht verändert hat,
setzt er noch ein sorgfältig geplantes Event an, bei dem sich das Team
gemeinsam zurückzieht. Genauso wichtig wie all die sehr gut sichtbaren
Maßnahmen ist es, dass er Dutzende von Maßnahmen zur weiteren Un-
terstützung des für die Teamarbeit notwendigen Vertrauens ergreift.
Gerüchte, die den guten Willen der Teamarbeit unterminieren können,
werden blitzschnell und mit präziser Information angegangen. Leute,
die sich weniger gut kennen, werden zu weiteren Task Forces zusam-
mengeschlossen. Alle zehn werden so oft wie möglich in soziale Aktivitä-
ten eingebunden.
Antwort: Kaum.
In diesem Fall waren zwei der zehn sehr unabhängige Individuen, die nicht
verstehen konnten, warum sie alle zusammen Berge besteigen sollten. Einer
war so beschäftigt, dass die Zeitplanung für die Gruppenaktivitäten teil-
weise nahezu unmöglich erschien. Einer hatte ein grenzwertiges Über-Ego-
Problem. Wegen vergangener Events kamen zwei nicht gut miteinander
aus. Dennoch schaffte es Sam, das alles zu überwinden und eine effektive
Führungskoalition zu entwickeln.
Ich denke, er war erfolgreich, weil er das Beste für die Division wollte, weil
er überzeugt war, dass fundamentaler Wandel nötig war, um das Geschäfts-
gebiet zum Sieger werden zu lassen, und weil er felsenfest davon überzeugt
war, dass dieser Wandel ohne eine effektive Führungskoalition nicht eintre-
ten würde. Sam war bewusst, dass er keine andere Wahl hatte. Er musste
Vertrauen und Teamarbeit aufbauen, und er tat es.
Wenn Leute es nicht schaffen, eine Führungskoalition zu entwickeln, liegt
die Ursache meistens darin, dass sie in ihrem tiefsten Inneren nicht an die
Notwendigkeit eines Transformationsprozesses glauben oder dass sie nicht
davon überzeugt sind, dass ein starkes Team diesen Wandel führen sollte.
Fehlende Fähigkeiten der Teambildung an sich sind selten das Problem.
Wenn Führungskräfte wirklich glauben, dass sie eine teamorientierte Füh-
rungskoalition aufbauen müssen, scheinen sie immer kompetente Berater
zu finden, die die notwendigen Fähigkeiten besitzen. Aber ohne diesen Glau-
ben werden sie die notwendigen Maßnahmen nicht ergreifen, auch wenn sie
die Fähigkeiten oder gute Berater haben.
Über das Vertrauen hinaus ist das Vorhandensein gemeinsamer Ziele der
zweite elementare Bereich. Nur wenn alle Teammitglieder einer Führungs-
koalition in ihrem tiefsten Inneren die gleichen Ziele verfolgen, wird wirk-
liche Teamarbeit machbar.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-49
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 4: Eine Führungskoalition aufbauen
Das typische Ziel, das Individuen zu Führungskoalitionen zusammenbin-
det, ist die Selbstverpflichtung zu Exzellenz, der wirkliche Wunsch, ihre Or-
ganisationen zum höchstmöglichen Leistungslevel zu führen. Reenginee-
¢ 57
Die Kombination von Vertrauen und einem gemeinsamen Ziel von Leuten
mit den richtigen Eigenschaften kann ein schlagkräftiges Team schaffen
(siehe Abbildung 10). Die daraus hervorgehende Führungskoalition wird
die Fähigkeit haben, Wandel trotz des Beharrungsvermögens vorhandener
Kräfte herbeizuführen. Sie wird das Potenzial haben, die harte Arbeit zu
leisten, die die nötige Vision entwickelt, diese Vision weitreichend kommu-
niziert, Mitarbeiter in der Breite befähigt, Initiative zu ergreifen, Glaubwür-
digkeit sicherstellt, kurzfristige Umsetzungserfolge erzielt, Dutzende von
Abbildung 10: Aufbau einer Führungskoalition, die den Wandel zum Leben
erwecken kann
https://doi.org/10.15358/9783800646159-49
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
58 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
verschiedenen Veränderungsprojekten führt und managt und die neuen
Ansätze in der Kultur verankert.
Um es zusammenfassend zu sagen: In einer sich langsamer entwickelnden,
oligopolistischen, weniger globalisierten wirtschaftlichen Umgebung ist
diese ganze Anstrengung üblicherweise nicht notwendig. Aber die Trends
sind eindeutig. Heute, und noch mehr in der näheren Zukunft, werden wir
viele weitere Versuche erleben, Organisationen fundamental zu verändern.
Ohne eine schlagkräftige Führungskoalition wird jedoch der Wandel abrei-
ßen und im Gemetzel enden.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-49
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:51:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln
Stellen Sie sich Folgendes vor: Drei Gruppen von je zehn Personen sitzen
zur Mittagszeit in einem Park, und es droht heftiger Regen. In der ersten
Gruppe sagt jemand: „Steht auf und folgt mir.“ Als er losmarschiert und nur
wenige nachkommen, schreit er die noch Sitzenden an: „Aufstehen, habe ich
gesagt, und zwar JETZT!“ In der zweiten Gruppe sagt jemand: „Wir werden
wohl woanders hingehen müssen. Hier ist der Plan: Jeder von uns steht auf und
geht nach dort drüben in Richtung Apfelbaum. Bitte haltet mindestens einen hal-
ben Meter Abstand von den anderen und rennt nicht. Lasst keine persönlichen Ge-
genstände hier liegen und bleibt am Fuße des Baumes stehen. Wenn wir alle dort
sind ...“ In der dritten Gruppe wendet sich jemand an die anderen: „In ein
paar Minuten wird es regnen. Warum gehen wir nicht zu dem riesigen Apfelbaum
hinüber und setzen uns dort. So bleiben wir trocken und können auch noch frische
Äpfel zu Mittag essen.“
Ich bin manchmal erstaunt darüber, wie viele Menschen Unternehmen mit
Methoden wie in den beiden erstgenannten Gruppen transformieren wollen:
mit autoritärer Führung und Mikromanagement. Beide Ansätze wurden im
letzten Jahrhundert in großer Breite in vielen Unternehmen angewendet,
hauptsächlich jedoch, um bestehende Systeme zu erhalten und nicht, um
diese Systeme zu verbessern. Autoritäre Weisung funktioniert häufig auch
in so einfachen Situationen wie im Fall mit dem Apfelbaum schlecht, um
Verhaltensänderungen durchzusetzen – es sei denn, der Chef übt eine sehr
starke Macht aus. In komplexen Organisationen funktioniert dieser Ansatz
zunehmend überhaupt nicht mehr. Ohne die Allmacht von Königen und Kö-
niginnen als Fundament kann autoritäre Führung kaum alle Widerstände
brechen. Die Menschen werden Sie einfach ignorieren oder Kooperation vor-
täuschen, während sie gleichzeitig alles nur Mögliche tun, um Ihre Anstren-
gungen zu torpedieren. Mikromanagement versucht, dieses Problem zu um-
gehen, indem es im Detail definiert, was jeder Mitarbeiter tun soll, und dann
die Einhaltung kontrolliert. Diese Taktik kann zwar einige Veränderungsbar-
rieren durchbrechen, ist vom Zeitaufwand her jedoch nicht akzeptabel. Das
Aufstellen und Kommunizieren detaillierter Pläne dauert unendlich lange –
der so erzeugte Wandel ist dadurch meist nur sehr inkrementell. Nur der in
der dritten Gruppe oben verwendete Ansatz besitzt das Potenzial, alle läh-
menden Kräfte zu überwinden, die den Status quo konservieren wollen,
und damit jene Art von dramatischen Veränderungen zu unterstützen, die
man in erfolgreichen Wandelprozessen beobachten kann (vgl. Abbildung 11).
Dieser Ansatz basiert auf einer Vision – einem zentralen Bestandteil jeder
exzellenten Führung.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-63
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:20.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
60 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Eine Vision entwirft ein Bild von der Zukunft und vermittelt auf implizite
oder explizite Art und Weise, warum es für die Menschen erstrebenswert
ist, diese Zukunft zu erschaffen. Eine gute Vision dient im Wandelprozess
drei wichtigen Zwecken. Zunächst vereinfacht sie Hunderte oder Tausende
einzelner Entscheidungen, indem sie die allgemeine Richtung des Wandels
klarstellt und unternehmensspezifisch so etwas formuliert wie „In ein paar
Jahren müssen wir uns südlich von dem Punkt befinden, an dem wir heute
stehen.“. Zweitens motiviert sie Menschen dazu, Schritte in die richtige
Richtung zu tun, auch wenn die ersten Schritte für den einzelnen schmerz-
haft sind. Drittens hilft sie dabei, das Handeln unterschiedlicher – auch
Abertausender – Menschen auf eine außergewöhnlich schnelle und effizi-
ente Art und Weise zu koordinieren.
Es ist wichtig, die Richtung des Wandels klar zu definieren, weil Mitarbeiter
sich über die Richtung erstaunlich oft uneinig sind, verwirrt sind oder sich
fragen, ob tief greifender Wandel überhaupt notwendig ist. Eine effektive
Vision und unterstützende Strategien tragen zur Lösung dieser Probleme
bei. Sie drücken Folgendes aus: So verändert sich unsere Welt, und dies
sind überzeugende Gründe dafür, dass wir diese Ziele setzen und jene
neuen Produkte (oder Akquisitionen oder Qualitätsprogramme) anstreben
sollten, um die Ziele zu erreichen. Wenn die Richtung klar ist, kann auch
die Unfähigkeit verschwinden, die erforderlichen Entscheidungen zu fällen.
Endlose Debatten darüber, ob man ein Unternehmen kaufen oder das Geld
lieber nutzen soll, um zusätzliche Vertriebsleute einzustellen, oder darüber,
ob die internationale Expansion schnell genug läuft, erledigen sich dann
häufig von selbst. Eine einfache Frage – „Steht das im Einklang mit der Vi-
sion?“ – kann dabei helfen, Stunden, Tage oder sogar Monate quälender Dis-
kussionen überflüssig zu machen.
Auf ähnliche Weise kann eine Vision dazu beitragen, kosten- und zeitinten-
siven Ballast über Bord zu werfen. Wenn die Richtung klar definiert ist,
können unpassende Projekte leichter identifiziert und gestoppt werden,
https://doi.org/10.15358/9783800646159-63
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:20.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln
selbst wenn sie politisch unterstützt werden. Die dadurch freigespülten
Ressourcen können dann im Transformationsprozess nutzenstiftend einge-
setzt werden.
¢ 61
Eine zweite wichtige Funktion einer Vision besteht darin, dass sie größere
Veränderungen erleichtert, indem sie zu Handlungen motiviert, die nicht
unbedingt im kurzfristigen Eigeninteresse der Mitarbeiter liegen. Die Verän-
derungen, die in einer vernünftigen Vision gefordert werden, sind fast im-
mer mit Schmerzen verbunden. Manchmal ist der Preis einer besseren Zu-
kunft aber auch niedrig: In dem Apfelbaum-Beispiel mussten die Leute
lediglich für die eine Minute ihre Bequemlichkeit opfern, in der sie zum
Baum hinübergingen. In vielen Organisationen werden die Mitarbeiter je-
doch immer stärker dazu gezwungen, ihre Komfortzonen zu verlassen; sie
müssen mit weniger Ressourcen auskommen, sollen neue Fähigkeiten und
neues Verhalten erlernen und sehen sich durch einen möglichen Jobverlust
bedroht. Unter diesen Umständen sollte niemand überrascht darüber sein,
dass ein rational denkender Mensch all das möglicherweise mit wenig Be-
geisterung verfolgt. Eine gute Vision hilft dabei, diesen natürlichen Wider-
willen zu überwinden und das zu tun, was (oft schmerzlich) notwendig ist,
indem sie Hoffnung vermittelt und motivierend wirkt. Eine gute Vision
macht deutlich, dass Opfer erbracht werden müssen, stellt aber auch klar,
dass diese Opfer andererseits zu einem besonderen Nutzen und zu persön-
licher Zufriedenheit führen werden, die weit über das hinausgehen, was
heute – oder morgen – ohne den Versuch des Wandels überhaupt erreichbar
wäre.
Sogar in Situationen, die beträchtliche Verschlankungsmaßnahmen erfor-
dern und in denen einen natürliche Abneigung gegenüber einer bedrü-
ckend und demoralisierend wirkenden Zukunft besteht, kann die richtige
Vision den Mitarbeitern einen einleuchtenden Grund zum Kämpfen auf-
zeigen. Sprich: Unser derzeitiger Kurs führt in den Bankrott, aber wenn wir
den anderen Weg gehen, können wir einige Arbeitsplätze retten oder Pro-
bleme von unseren vielen Kunden und Lieferanten abwenden oder den Tau-
senden von Familien aus der Mittelschicht helfen, die über ihre Pensions-
fonds oder andere Ersparnisse in das Unternehmen investiert haben.
Drittens hilft eine Vision dabei, Menschen auf eine Richtung auszurichten
und so die Handlungen motivierter Personen auf bemerkenswert effiziente
Weise zu koordinieren. Die Alternativen – etwa Zigtausend detaillierte An-
weisungen oder endlose Besprechungen – sind weitaus langsamer und teu-
rer. Mit einer klaren Vision können Führungskräfte und Mitarbeiter selbst
herausfinden, was zu tun ist, ohne sich andauernd mit Vorgesetzten oder
Kollegen abstimmen zu müssen.
Diese dritte Eigenschaft von Visionen ist oft von enormer Bedeutung. Die
Koordinationskosten in einem Wandelprozess, vor allem wenn viele Leute
daran beteiligt sind, können gigantisch sein. Ohne ein gemeinsames Ver-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-63
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:20.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
62 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Der Ausdruck Vision klingt nach etwas Großem oder Mystischem, wohin-
gegen die Richtung erfolgreicher Wandelprozesse oft einfach und nüchtern
ist, wie in: „Es wird gleich schütten, lasst uns unter dem Apfelbaum Unterschlupf
suchen und ein paar Äpfel zu Mittag essen.“
Eine Vision kann nüchtern und einfach sein, zumindest teilweise, weil sie in
erfolgreichen Transformationen nur ein Element in einem größeren System
ist, das zusätzlich Strategien, Pläne und Budgets umfasst (vgl. Abbildung 12).
Aber auch wenn sie nur ein Faktor in einem großen System ist, so ist sie doch
ein besonders wichtiger Faktor. Ohne Vision kann die Strategieentwicklung
eine weitaus strittigere Angelegenheit sein, und die Budgetierung kann zu
einer sinnfreien Übung verkommen, bei der einfach die Zahlen des Vorjahres
um 5% herauf- oder heruntergesetzt werden. Hinzu kommt, dass eine cle-
vere Strategie oder ein logischer Plan alleine ohne eine vernünftige Vision sel-
ten für solche Handlungen begeistern können, wie sie für einen tief greifen-
den Wandel erforderlich sind.
Ob sie nun nüchtern klingen oder nicht, effektive Visionen scheinen mindes-
tens sechs zentrale Charakteristika aufzuweisen (wie in Abbildung 13 zu-
sammengefasst). Erstens beschreiben sie ein bestimmtes Geschäft oder eine
Organisation, wie es oder sie in der – oftmals weit entfernten – Zukunft sein
https://doi.org/10.15358/9783800646159-63
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:20.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln ¢ 63
wird. Zweitens artikulieren sie verschiedene Chancen, die die Interessen der
meisten Stakeholder berühren: Kunden, Anteilseigner, Mitarbeiter. Bei
schlechten Visionen werden dagegen die berechtigten Ansprüche einiger
Stakeholder ignoriert. Drittens sind effektive Visionen realistisch. Sie sind
keine Wunschbilder ohne eine Chance auf Realisierung. Wirkungslose Vi-
sionen sind oft wie Luftschlösser. Auch sind gute Visionen deutlich genug,
um zum Handeln zu motivieren, aber auch ausreichend flexibel, um Eigen-
initiative zuzulassen. Schlechte Visionen sind manchmal zu vage und
manchmal zu spezifisch. Und schließlich sind effektive Visionen einfach zu
kommunizieren – schwache können hingegen unergründlich bleiben.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-63
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:20.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
64 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
eines charismatischen Anführers, demoralisieren sie doch am Ende diejeni-
gen, die ihr folgen, und sie motivieren immer zum Gegenangriff. Im heuti-
gen Geschäftsumfeld kommen diese Gegenangriffe von großen institutio-
nellen Anlegern, die die Geschäftsführung auf verschiedene Arten unter
Druck setzen, von Kunden, die nicht mehr kaufen oder rechtliche Schritte
einleiten, und von Mitarbeitern, die den Wandel durch passiven Wider-
stand im Keim ersticken.
Warum sollte eine intelligente Gruppe von Menschen eine Vision verfolgen,
die die Bedürfnisse von Kunden, Mitarbeitern oder Investoren übergeht?
Nach meinen Beobachtungen passiert das normalerweise dann, wenn das
Management Druck von einer Anspruchsgruppe verspürt und gleichzeitig
eine Quasi-Monopol-Stellung gegenüber einer anderen Gruppe hat. Zum
Beispiel: Wenn eine starke Gewerkschaft hohe Löhne und Sozialleistungen
fordert, behilft sich ein abgekämpftes Management möglicherweise damit,
alle Kosten auf seine Kunden abzuwälzen, die wenige oder keine Alternati-
ven haben. Oder umgekehrt: Wenn Kunden angesichts vermehrter Alterna-
tiven aus aller Welt bessere und billigere Produkte verlangen, geht ein ge-
plagtes Management damit um, indem es die Löhne und Zusatzleistungen
schwacher Mitarbeitergruppen kürzt. Kurzfristiger Druck und die mensch-
liche Fähigkeit, unkluge und negative Handlungen mit rationalen Zwän-
gen zu begründen, können in der Kombination dazu führen, dass vernünf-
tige Menschen unvernünftig handeln.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-63
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:20.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln
reich umsetzen, werden wir dann höhere Gewinne ausschütten können
als ohne die Transformation?
3. Wie wird sich diese Vision auf die Mitarbeiter auswirken? Wenn sie
¢ 65
Strategische Machbarkeit
https://doi.org/10.15358/9783800646159-63
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:20.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
66 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
wirken, sind sie nicht glaubwürdig und können genauso wenig zum Han-
deln motivieren. Wie viele Belastungen machbar erscheinen, hängt in ho-
hem Maße vom Kommunikationsprozess ab. Große Führungspersönlich-
keiten wissen, wie sie ehrgeizige Ziele so darstellen, dass sie erreichbar
wirken – im nächsten Kapitel werde ich darauf ausführlicher eingehen.
Machbarkeit heißt auch, dass eine Vision auf einem klaren und rationalen
Verständnis der Organisation, ihres Marktumfeldes und der relevanten
Wettbewerbstrends aufbaut. Hier spielt Strategie eine wichtige Rolle. Eine
Strategie liefert sowohl eine Logik als auch eine erste Detailebene dafür,
wie sich eine Vision umsetzen lässt. Da heute zum Beispiel der dominante
Trend hin zu immer schnelllebigeren und wettbewerbsintensiveren Markt-
bedingungen geht, müssen viele Firmen weniger nach innen orientiert, zent-
ralisiert, hierarchisch, langsam beim Entscheiden und politisch werden,
wenn sie im Markt Erfolg haben und überdurchschnittliche finanzielle Er-
gebnisse erbringen wollen. Eine effektive Vision und die dahinterliegenden
Strategien müssen sich mit diesen Realitäten rational befassen.
Eine ganze Industrie ist vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten erblüht,
die Unternehmen bei diesen Fragen unterstützt. Strategieberater sammeln
alle möglichen Daten, vor allem über Märkte und Wettbewerber, und unter-
stützen Firmen dabei, fundamentale Entscheidungen darüber zu treffen,
welche Produkte wie hergestellt werden sollen. Das enorme Wachstum die-
ses Beratungsspektrums ist äußerst bezeichnend für die Schwierigkeiten,
die Unternehmen dabei haben, ihre historisch gewachsene Ausrichtung
aufzugeben, neue Strategien zu entwickeln und deren Machbarkeit zu be-
urteilen.
Effektive Visionen sind immer so fokussiert, dass sie Mitarbeiter leiten kön-
nen – und ihnen vermitteln, welche Maßnahmen wichtig und welche tabu
sind. Richtungsangaben, die so vage sind, dass Mitarbeiter sich damit nicht
identifizieren können, sind nutzlos. Folglich stellt „ein großartiges Unter-
nehmen sein“ keine sehr gute Vision dar, ebenso wenig wie das unwesent-
lich präzisere „das beste Unternehmen in der Telekommunikationsindust-
rie werden“. In beiden Fällen bleibt die Frage unbeantwortet: „Am besten
worin?“ Beim besten Kantinenessen? Bei den besten Parkplätzen?
Natürlich gehen einige manchmal zu weit, wenn sie sich besonders klar
ausdrücken wollen. Effektive Visionen sind offen genug, um Raum für Ei-
geninitiative und veränderte Bedingungen zu bieten. Lange und detaillierte
Verkündigungen können sich nicht nur wie Zwangsjacken anfühlen, son-
dern können in einer sich rasant verändernden Welt auch sehr schnell veral-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-63
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:20.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln
tet sein. Zugleich büßen Visionen ihre Glaubwürdigkeit ein, wenn sie dau-
ernd angepasst werden müssen.
¢ 67
Zwischen den beiden Extremen „unausführbar vage“ und „akribisch bis ins
letzte Detail“ existiert eine große Bandbreite. Bei der Entscheidung, wo sie
ansetzen, wählen Führungskräfte in erfolgreichen Wandelprozessen oftmals
die Kommunizierbarkeit als Schlüsselkriterium. Auch eine wünschenswerte,
fokussierte und realistische Beschreibung der Zukunft ist nutzlos, wenn sie
so komplex ist, dass sie einer großen Zahl an Menschen gar nicht mehr zu
vermitteln ist. Es geht hier keineswegs darum, eine gute Idee zu „versim-
peln“. Aber wir werden im nächsten Kapitel sehen, dass selbst die Kommuni-
kation einer einfachen Vision an eine große Zahl von Menschen enorm
schwierig sein kann. Einfachheit ist daher essenziell.
Es ist unser Ziel, innerhalb von zehn Jahren der weltweite Branchenfüh-
rer zu werden. „Branchenführerschaft“ bedeutet für uns mehr Umsatz,
mehr Gewinn, mehr Innovation, die die Bedürfnisse unserer Kunden
bedient, und eine höhere Attraktivität als Arbeitsgeber als jeder andere
Wettbewerber. Um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, werden wir vo-
raussichtlich jedes Jahr bei Umsatz und Gewinn zweistellig wachsen müs-
sen. Das erfordert sicherlich auch, dass wir weniger US-orientiert, mehr
nach außen fokussiert, deutlich weniger bürokratisch und mehr ein Ser-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-63
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:20.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
68 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
vice- als eine Produktunternehmen werden. Wir glauben aufrichtig, dass
wir diesen Wandel erreichen können, wenn wir zusammenarbeiten, und
dass wir im Laufe dieses Prozesses ein Unternehmen schaffen werden,
das von unseren Anteilseignern, Kunden, Mitarbeitern und in den loka-
len Kommunen bewundert wird.
Ausführungen, die so kurz sind wie diese, sind manchmal nichts weiter als
bedeutungsloses Gewäsch. Aber lesen Sie das Statement der Versicherungs-
gesellschaft oben noch einmal, und Sie werden sehen, dass es eine Menge
von Informationen enthält. Die Erklärung enthält keinerlei detaillierte An-
weisungen, liefert aber einen klaren Fokus durch (1) Ausschluss vieler alter-
nativer Optionen (z. B.: ein Konglomerat werden, ein klar US-basiertes Un-
ternehmen bleiben, aus dem Personal Kapital schlagen), (2) Herausstellen
speziell der Bereiche, die sich verändern müssen (z. B.: von der Produkt-
orientierung hin zu einer Servicekultur) und (3) Nennung eines klaren Ziels
(Nummer 1 in der Branche innerhalb von zehn Jahren). Sie gibt eine expli-
zite Aussage über die Erwünschtheit („bewundert von Anteilseignern ...“).
Und sie ist verhältnismäßig einfach zu kommunizieren (nur etwa hundert
Wörter).
Eine erweiterte Fassung dieser kurzen Ausführung füllt drei Seiten und be-
handelt mittels einer Strategiediskussion auf direktere Weise das Thema
der Machbarkeit. Doch sogar der Inhalt des dreiseitigen Dokuments kann
innerhalb von fünf Minuten vermittelt werden. Erinnern Sie sich an meine
Faustregel: Wenn Sie Ihre Vision nicht innerhalb von fünf Minuten jemandem er-
klären und sein Interesse wecken können, dann haben Sie noch Arbeit in dieser
Phase des Transformationsprozesses.
Hier ist ein weiteres Beispiel, diesmal enger auf ein einzelnes Projekt bezo-
gen:
Die Vision, die die Restrukturierungarbeiten unserer Abteilung antreibt,
ist einfach. Wir wollen unsere Kosten um mindestens 30% senken und
die Geschwindigkeit, mit der wir auf Kundenanforderungen reagieren
können, um mindestens 40% steigern. Das sind sehr ambitionierte Ziele,
aber wir wissen aus unserem Pilotprojekt in Austin, dass sie erreichbar
sind, wenn wir alle zusammenarbeiten. Wenn das in etwa drei Jahren
geschafft ist, werden wir unsere stärksten Konkurrenten überholt und
alle damit verbundenen Vorteile realisiert haben: zufriedenere Kunden,
stärkeres Umsatzwachstum, höhere Jobsicherheit und den enormen
Stolz, der aus großen Leistungen rührt.
Wie diese beiden Beispiele, scheinen die effektivsten Visionen für den Wan-
del, die ich in den letzten Jahren gesehen habe, alle die folgenden gemeinsa-
men Merkmale aufzuweisen:
1. Sie sind so ehrgeizig, dass sie die Mitarbeiter aus ihren bequemen Routi-
nen herausholen. 5% besser zu werden kann nicht das Ziel sein, sondern
auf einem bestimmten Feld der Beste zu werden.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-63
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:20.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln
2. Sie zielen generell darauf ab, immer bessere Produkte und Dienstleistun-
gen zu immer niedrigeren Kosten anzubieten und sprechen daher so-
wohl Kunden als auch Anteilseigner an.
¢ 69
3. Sie machen sich fundamentale Trends zunutze, vor allem im Bereich der
Globalisierung und der neuen Technologien.
4. Sie versuchen nicht, jemanden auszunutzen, und haben daher eine ge-
wisse moralische Kraft.
In den letzten zehn Jahren habe ich ein Dutzend Unternehmen näher bei
dem Versuch beobachtet, effektive Visionen für den Wandel zu erarbeiten.
Aus dieser Erfahrung heraus kann ich folgenden Schluss ziehen: Eine gute
Vision zu entwickeln, beruht auf einem Zusammenspiel von Herz und Ver-
stand; der Prozess dauert eine gewisse Zeit, bezieht immer eine Gruppe
von Menschen mit ein und ist mühsam, wenn man es gut machen will.
Der erste Entwurf kommt oft von einer einzelnen Person. Diese stützt sich
auf ihre Erfahrungen und Werte, um Ideen zu generieren, die sinnstiftend
und persönlich motivierend sind. In erfolgreichen Wandelprozessen wer-
den diese Ideen dann ausführlich mit der Führungskoalition diskutiert.
Die Diskussion modifiziert fast immer die ursprüngliche Idee, indem etwas
weggelassen, hinzugefügt und/oder klarer formuliert wird. Ich habe einige
Menschen gesehen, die versucht haben, dies in einem Prozess zu erreichen,
der so diszipliniert abläuft wie eine formale Planung, aber das scheint nie
zu funktionieren. Die Erarbeitung einer Vision ist fast immer eine etwas
chaotische, schwierige und manchmal emotional aufgeladene Übung.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-63
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:20.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
70 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
der anschließenden Diskussionen bestätigen. Damals war die Sitzung aber
alles andere als lustig.
Anstatt sich zurückzuziehen, als die Konflikte aufkamen, drängte der Chef
behutsam und doch mit Nachdruck weiter voran. Er nutzte seine ausge-
prägten sozialen Fähigkeiten, um den Druck auf einem erträglichen Niveau
zu halten. Wenn er die ersten beiden Stufen des Transformationsprozesses
übersprungen hätte, wäre das Meeting vielleicht eskaliert. Aber dadurch,
dass die Gruppe ein Dringlichkeitsgefühl entwickelt, ein gesundes Maß an
Vertrauen und eine gemeinsame Verpflichtung zu Spitzenleistungen etab-
liert hatte, konnte sie sich durch einen schwierigen Themenkomplex arbei-
ten und sich vorläufig auf eine modifizierte Version des Dokuments eini-
gen.
Auf Basis der Sitzungsprotokolle und einiger zusätzlicher Vorarbeiten skiz-
zierte der Chef einen zweiten Visionsentwurf, den er mit seiner Führungs-
koalition über einen Zeitraum von sechs Monaten diskutierte. Danach ging
er mit einem überarbeiteten Dokument an die Öffentlichkeit, das er in den
vergangenen vier Jahren nur zu zwei Anlässen ergänzt oder leicht verän-
dert hat.
Die Erarbeitung einer Vision kann aus mindestens fünf Gründen schwierig
sein (siehe die Zusammenfassung in Abbildung 14). Erstens haben wir Ge-
nerationen äußerst talentierter Menschen zu Managern und nicht zu Lea-
dern oder zumindest einer Mischung aus beidem ausgebildet; und eine Vi-
sion gehört eben nicht zu den Bausteinen eines effektiven Managements.
Das Managementäquivalent zur Visionserarbeitung ist die Planung. Fragen
Sie einen guten Manager, was seine Vision ist, und Sie werden wahrschein-
lich die operative Planung zu hören bekommen – zum Beispiel, dieses Pro-
dukt im Juni einzuführen, bis September so und so viele neue Leute einzu-
stellen oder dieses Jahr einen Gewinn nach Steuern von XY $ zu erzielen.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-63
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:20.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 5: Vision und Strategie entwickeln
Ein Plan kann aber nie auf eine Weise Handlungen leiten, koordinieren und
inspirieren wie eine Vision; er ist daher während einer Transformation nicht
ausreichend. In der Vergangenheit, als sich alles noch langsamer drehte,
¢ 71
mussten wir den Leuten nicht viel über solcherlei Dinge beibringen, also
haben wir es gelassen. Und wieder arbeitet die Geschichte gegen uns.
Zweitens: Obwohl eine gute Vision von einer gewissen eleganten Einfach-
heit ist, sind die zu ihrer Erarbeitung erforderlichen Daten und Auswertun-
gen üblicherweise alles andere als trivial. Ein riesiger Stapel von Unterla-
gen, Berichten, Finanzdaten und Statistiken ist manchmal notwendig, um
eine einseitige Erklärung zur zukünftigen Ausrichtung erarbeiten zu kön-
nen. Und die Analyse all dieser Informationen ist keine Aufgabe, die an
einen Super-Computer delegiert werden könnte.
Drittens sind bei dieser Aufgabe Herz und Verstand gefordert. Nach 17
oder mehr Jahren formaler Ausbildung wissen die meisten von uns zwar
einiges darüber, wie man den Kopf einsetzt, aber nur wenig darüber, wie
man sein Herz benutzt. Alle effektiven Visionen scheinen jedoch auf gefühl-
ten Werten und analytischem Denken aufzubauen, und diese Werte müssen
tief bei den Mitgliedern der Führungskoalition verankert sein. Demzufolge
ist das Schaffen einer Vision nicht nur eine Strategieübung zum Bewerten
von Umweltpotenzialen und organisatorischen Fähigkeiten. Der Prozess
schließt in hohem Maße ein, mit sich selbst in Kontakt zu kommen – wer
sind wir und was ist uns wichtig? Persönlich kann diese Übung durchaus
lohnend sein. Allerdings kann diese Aktivität für Leute, die nicht introspek-
tiv oder Ich-bewusst sind, mitunter schwierig und beängstigend sein.
Viertens: Wenn in der Führungskoalition kein Teamwork herrscht, kann
übermäßiges Kirchturmdenken die Erarbeitung einer Vision zu einer endlo-
sen Verhandlung machen. Ich beobachtete einmal eine frustrierte Gruppe
von Managern eines Computerunternehmens zwei Jahre lang dabei, wie
sie sich auf die Grundelemente einer Vision für den Wandel einigen woll-
ten. Die Zeit, die für offizielle Sitzungen und informelle Vier-Augen-Ge-
spräche aufgewendet wurde, summierte sich zu einer atemberaubenden
Stundenzahl. Dennoch erreichten diese Manager nie ihr Ziel: die Erarbei-
tung einer sinnhaften Vision, der sie sich verpflichtet fühlen konnten. Das
größte Problem lag darin, dass zu wenige Leute tatsächlich dieses Ziel errei-
chen wollten. Stattdessen schützten die meisten die eng definierten Interes-
sen ihrer jeweiligen untergeordneten Gruppe.
Schließlich werden Sie, wenn das Dringlichkeitsgefühl nicht stark genug ist,
niemals genug Zeit finden, den Prozess vollständig zu durchlaufen. Es wird
immer schwerer, Termine zu vereinbaren. Die Arbeit zwischen den Sitzun-
gen zieht sich hin. Bevor man sich versieht, ist ein Jahr vorbei und nur we-
nig wurde erreicht. Der Druck wächst, irgendetwas zu erarbeiten; also wird
ein weit vom Ideal entferntes Produkt akzeptiert, und man macht damit
weiter. Unter diesen Umständen ist die sich ergebende Vision für gewöhn-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-63
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:20.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
72 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
lich eine leichte Abwandlung des Status quo oder eine mutige Aussage, an
die die meisten Mitglieder der Führungskoalition aber nicht glauben. Wenn
die Vision nicht ganz passt, nicht ehrgeizig genug ist oder nur begrenzte
Unterstützung findet, untergräbt dies alle Veränderungsbemühungen.
Oftmals beobachte ich, wie Menschen aufgrund der Ängste und Konflikte,
die mit der Visionserarbeitung einhergehen, den Prozess vorzeitig abbre-
chen. Lange bevor die Mitglieder der Führungskoalition ausreichend Ge-
legenheit hatten nachzudenken, zu fühlen, zu streiten und zu überlegen,
ist die Vision auch schon auf Plakate gedruckt oder in Plastik einge-
schweißt. Wenn das passiert, wird der Transformationsprozess immer be-
schädigt.
Denken Sie daran: Eine ineffektive Vision kann schlechter sein als gar keine
Vision. Eine nicht ausreichend entwickelte Vision zu verfolgen, kann Men-
schen an den Abgrund bringen. Und Lippenbekenntnisse ohne Commit-
ment erzeugen gefährliche Illusionen. Die Mitarbeiter werden glauben,
dass sie auf ein solides Fundament aufbauen, nur um dann festzustellen,
dass das ganze Gebilde am Ende zusammenbricht und all ihre Arbeit mit
sich reißt. In jedem Fall können Mitarbeiter, sobald sie die Probleme erken-
nen, die durch das verfrühte Abbrechen der Visionserarbeitung entstanden
sind, der Transformation gegenüber zutiefst zynisch werden. Und mit zu-
tiefst zynischen Leuten wird man kaum erfolgreichen Wandel schaffen.
Ich hatte es vorher bereits erwähnt, aber der Gedanke verdient es, wieder-
holt zu werden: Wenn Sie einen der Schritte im achtstufigen Wandelprozess
verlassen, ohne die erforderlichen Arbeiten abgeschlossen zu haben, zahlen
Sie später meist einen hohen Preis. Ohne ein ausreichend starkes Funda-
ment bricht die Neuausrichtung an einem bestimmten Punkt zusammen
und zwingt Sie, zurückzugehen und alles neu aufzubauen. Im Falle der
Stufe 3, „Vision und Strategien entwickeln“, bedeutet dies, sich die Zeit zu
nehmen, den Prozess korrekt zu durchlaufen. Betrachten Sie dies als eine
Investition, eine wichtige Investition, in die Schaffung einer besseren Zu-
kunft.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-63
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:20.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren
Eine großartige Vision kann einem guten Zweck dienen, auch wenn sie nur
von wenigen Schlüsselpersonen verstanden wird. Aber die wahre Kraft ent-
faltet eine Vision dann, wenn die meisten der in dem Veränderungsprozess
beteiligten Personen ein gemeinsames Verständnis ihrer Ziele und ihrer
Richtungsvorgaben haben. Das motiviert die Beteiligten, die gemeinsamen
Initiativen, die für die Transformation sorgen, entsprechend der Vision zu
koordinieren.
Verständnis und Commitment für eine neue Richtung zu gewinnen, ist nie
eine leichte Aufgabe, vor allem in Großunternehmen. Auch intelligente
Menschen machen hier wiederkehrend Fehler, und große Fehler sind nicht
unüblich, auch in bekannten Unternehmen. Führungskräfte kommunizie-
ren in der Regel viel zu wenig. Oder sie senden umgekehrt Botschaften, die
in sich nicht stimmig sind. In beiden Fällen ist das Ergebnis das gleiche:
Dass die Transformation abbricht.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-77
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:26.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
74 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
die Vision angekündigt hatten, beförderten sie so einen Trottel, der überhaupt nicht
für diese Botschaft stand.“
Ein anderes katastrophales, aber nicht seltenes Szenario: Die Vision wird oft
kommuniziert, aber mit wenig Inhalt. „Unser Ziel ist das erste wirklich trans-
nationale Unternehmen für die Verknüpfung der konvergierenden Kommunika-
tions-/Informationsindustrie zu werden, das sowohl eine grenzenlose Organisation
als auch einen Paradigmenwechsel in der Strategie realisiert.“ So lächerlich das
klingen mag, es verstecken sich doch einige interessante Ideen dahinter.
Aber zur Kommunikation taugt das Statement kaum, auch wenn es oft wie-
derholt wird.
Warum passiert so etwas? Fehler, die in den ersten drei Stufen eines Trans-
formationsprozesses passiert sind, führen hier oft zu Problemen. Wenn das
Dringlichkeitsgefühl nicht hoch genug ist, hören die Leute nicht aufmerk-
sam zu, wenn über die neue Vision gesprochen wird. Wenn die Führungs-
koalition nicht aus den richtigen Personen besteht, wird sie Schwierigkeiten
haben, passende Botschaften zu erzeugen und zu senden. Wenn die Vision
an sich zu verschwommen oder einfach schlecht ist, wird das Verkaufen der
Nachricht ein harter Job. Aber sogar wenn die ersten drei Schritte gut absol-
viert wurden, haben die Führungskräfte wegen der schieren Größe der Auf-
gabe oft Schwierigkeiten damit. 100, 1 000 oder 10 000 Leute dazu zu be-
kommen, eine bestimmte Vision zu verstehen und zu akzeptieren, ist
üblicherweise ein enorm herausforderndes Unterfangen.
Für Menschen, die nur darauf trainiert sind, Manager zu sein, kann die
Kommunikation einer Vision manchmal sehr schwierig sein. Manager ten-
dieren dazu, in erster Linie in den Aufgabenwelten ihrer direkt zugeordne-
ten Mitarbeiter oder ihres Chefs zu denken und weniger in größeren Zu-
sammenhängen, die in eine Vision einzubringen sind. Sie fühlen sich wohl
mit faktenbasierter Routinekommunikation, weniger mit zukunftsorientier-
tem strategischem Denken und Träumen. Natürlich kann jeder lernen. Aber
das braucht Zeit, Bemühen und vor allem eine klare Vorstellung davon,
was das Problem ist und wie es gelöst werden kann.
Fehler bei der Kommunikation von Visionen werden oft der begrenzten in-
tellektuellen Fähigkeit von Mitarbeitern auf der Arbeitsebene oder der ge-
nerellen Abneigung von Menschen, sich zu verändern und dazugehörige
Informationen hören zu wollen, zugeschrieben. Auch wenn beide Faktoren
relevant sein können, greift beides zu kurz.
Die Entwicklung einer Vision zur Transformation belastet die einzelnen
Mitglieder der Führungskoalition oft damit, einige hundert Stunden damit
zu verbringen, Informationen zu sammeln, zu verdauen, Alternativen zu
https://doi.org/10.15358/9783800646159-77
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:26.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren
berücksichtigen und daraus schließlich eine Auswahl zu treffen. Ich habe in
einer ganzen Reihe von Fällen Führungskräfte erlebt, die nach Monaten der
Arbeit große Schwierigkeiten hatten, die letzte Version ihrer Vision auszu-
¢ 75
https://doi.org/10.15358/9783800646159-77
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:26.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
76 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Abbildung 15: Versagen der Kommunikation: Wie eine Vision des Wandels
im ganzen Trubel verloren geht
Einfach kommunizieren
Die Zeit und der Aufwand, den man in eine effektive Kommunikation der
Vision stecken muss, hängen direkt mit der Klarheit und Einfachheit der
Botschaft zusammen. Fokussierte Information ohne Fachjargon kann mit
weitaus weniger Aufwand an große Gruppen weitergegeben werden als
schwerfällige, komplizierte Informationen. Mit Fachtermini überfrachtete
und hochakademische Sprache führt nur dazu, Konfusion, Misstrauen und
Befremden zu erzeugen. Kommunikation scheint dann am besten zu funk-
tionieren, wenn sie so direkt und so einfach ist, dass sie eine gewisse Ele-
ganz ausstrahlt.
Die Herausforderung einfacher und direkter Kommunikation liegt darin,
dass sie einer großen Klarheit der Gedanken und eines gewissen Mutes be-
darf. Erinnern Sie sich an die alte Weisheit: Hätte ich mehr Zeit, würde ich
einen kürzeren Brief schreiben. Es ist viel schwerer, klar und präzise zu sein
als überkompliziert und wortreich. Einfach bedeutet auch, niemanden zu
https://doi.org/10.15358/9783800646159-77
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:26.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren ¢ 77
verwirren. Auch das übermäßige Verwenden von Fachtermini ist nichts an-
deres als ein Schutzschild. Wenn die Ideen dumm sind, werden das andere
auch erkennen. Den Schutzschild zur Seite zu legen, macht uns kurzfristig
scheinbar angreifbarer. Deshalb schrecken wir oft davor zurück. Aber es
lohnt sich.
Einige Beispiele:
Version 1: Unser Ziel ist die Reduktion der Zeit, um Parameter in der Art
und Weise zu reparieren, dass sie wahrnehmbar niedriger sind als bei
Hauptwettbewerbern innerhalb der Vereinigten Staaten und darüber hi-
naus. Ebenso zielen wir auf Neuproduktentwicklungszeiten, Auftragspro-
zesszeiten und andere kundenrelevante Prozesse der Veränderung.
Version 2: Wir werden schneller als irgendjemand in unserer Branche die
Kundenbedürfnisse befriedigen.
Alle Berufssparten entwickeln ein spezialisiertes Fachvokabular, teilweise
weil die notwendige Sprache nicht existiert, teilweise, um sich selbst zu dif-
ferenzieren. Das Fachvokabular zu nutzen hilft, wenn man mit jemandem
aus der gleichen Branche und der gleichen Berufssparte spricht. Die gleiche
Sprache führt zu Konfusion, wenn man mit anderen spricht. Weil die meis-
ten Organisationen mit Mitarbeitern, Kunden und Zulieferern arbeiten, die
aus den verschiedensten Berufssparten kommen (Ingenieure, Buchhalter,
Marktforscher, Manager u. a.), werden sich manche angesprochen und
manche ausgeschlossen fühlen. Als Konsequenz daraus sollte jede breit an-
gelegte Kommunikation, die auf Veränderung abzielt, frei von Fachjargon
sein. Wenn Controller mit Controllern sprechen, ist das eine andere Sache.
Zwei weitere Beispiele:
Version 1: Durch einen Prozess der Entbürokratisierung werden wir unsere
Vor-Ort-Spezialisten dazu befähigen, besser auf die spezifischen Wünsche
unserer Kunden einzugehen.
Version 2: Wir werden einige Regelwerke ausmisten und unseren Mitarbei-
tern mehr Ermessenspielraum geben, Dinge vor Ort beim Kunden selbst zu
entscheiden.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-77
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:26.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
78 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Bilder, Analogien und Beispiele benutzen
Ich habe Leute oft sagen hören: „Wir können keine vernünftige Vision in kurzer
Zeit und mit einer einfachen Sprachen kommunizieren, weil unser Unternehmen
groß und komplex ist.“ Was diese Personen nicht verstehen, ist die Kraft von
Bildern, Vergleichen, Beispielen oder einfach klarer, farbiger Sprache, um
komplexe Ideen schnell und wirkungsvoll kommunizieren zu können.
Version 1: Wir müssen die Vorteile der großen Stückzahlen beibehalten und
dennoch weniger bürokratisch und weniger langsam bei der Entschei-
dungsfindung sein, um Kunden in einem sehr wettbewerbsintensiven und
harten Umfeld binden und gewinnen zu können. (33 Worte)
Version 2: Wir sollten weniger wie ein Elefant und mehr wie ein kunden-
freundlicher Tyrannosaurus Rex sein. (14 Worte)
Das Bild eines bösartigen Dinosauriers mag merkwürdig erscheinen, aber
für das Elektronikunternehmen, das dieses Bild wählte, war diese Idee ge-
nau die richtige. Die Branche hatte gerade eine Explosion neuen Wettbe-
werbs erfahren. Jeden Monat verschwanden kleinere Firmen und die gro-
ßen Firmen verloren Geld. Das T-Rex-Unternehmen entschied für sich,
dass es viel aggressiver werden müsste, um überleben zu können. Zuerst
kam die Idee zu einem Tiger als Vergleich auf, aber das Unternehmen war
zu groß dafür. Darüber hinaus hatte die Größe Vorteile für das Unterneh-
men, wenn es nur schneller und schlagkräftiger im Kundenservice würde.
So entstand die Idee eines kundenfreundlichen Tyrannosaurus Rex.
Wenn der größte Teil des Managements und der Mitarbeiter dieses Unter-
nehmens das Bild eines Elefanten nicht gemocht hätte oder über den Ver-
gleich mit einem T-Rex empört gewesen wäre, hätte diese Kommunikation
nicht funktioniert. Aber das Gegenteil war der Fall. Aus irgendeinem
schwer erklärbaren Bauchgefühl heraus mochten die meisten Leute die
Idee des Königs der Dinosaurier. Es half ihnen, ihre Bedenken gegenüber
dem Wandel zu überwinden.
Ein anderes Beispiel:
Version 1: Wir wollen damit beginnen, mehr Produkte zu entwickeln
und zu produzieren, die von der Kundenbasis als einzig-
artig, besonders wahrnehmbar und repräsentativ wahrge-
nommen werden. Solche Produkte haben signifikant höhere
Preise und Gewinnspannen. (31 Wörter)
Version 2: Wir machen jetzt weniger Fiats und mehr Mercedes. (8 Wör-
ter)
Würden die Mitarbeiter Fiat mehr als Mercedes schätzen, würde diese
Kommunikation nicht funktionieren. Oder wenn sie in einem isolierten
Bergland in Asien leben und kaum Erfahrung mit diesen Autos haben wür-
den, käme die Botschaft nicht an. Aber keines von beidem war hier der Fall.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-77
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:26.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren
Dieser einfache, aus acht Wörtern bestehende Satz sorgte auf emotional an-
sprechende Art und Weise für jede Menge an Information.
Sorgfältig ausgewählte Wörter können eine Botschaft unvergesslich ma-
¢ 79
chen, sogar wenn diese mit hundert anderen Nachrichten um die Aufmerk-
samkeit jedes einzelnen kämpfen muss. Gute Werbefachleute sind darin
ausgebildet, solche Arten von Bildern und Texten auszuwählen. Diejenigen
unter uns mit Abschlüssen im Ingenieurswesen, in Wirtschaft, Physik oder
Finanzen sind das nicht. Nichtsdestotrotz kann jeder die Expertise von an-
deren aufsaugen. Und viele Leute, nicht zuletzt aus meinem Fach, können
in ihrer täglichen Praxis besser werden, wenn sie über den Tellerrand hi-
naus schauen und von dort Ideen aufgreifen.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-77
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:26.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
80 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
wenn sie einmal wiederholt wurden. Unser Gehirn wird überhäuft mit In-
formationen und jede Kommunikation streitet mit Hunderten von anderen
Ideen um Aufmerksamkeit. Darüber hinaus ist ein einmaliges Kommuni-
zieren nicht in der Lage, alle offenen Fragen zu adressieren. Als Ergebnis
bleibt festzuhalten, dass effektiver Informationstransfer fast immer auf Wie-
derholung basiert.
Vergleichen Sie zwei Szenarien:
Im Fall A wird eine neue Vision als ein Teil von drei Vorträgen auf dem
jährlichen Führungskräftetreffen eingeführt und ist Thema von drei Ar-
tikeln in der Mitarbeiterzeitung. Das ergibt sechs Wiederholungen über
einen Zeitraum von sechs Monaten. Im Fall B verspricht jeder der 25 Füh-
rungskräfte, vier Gelegenheiten pro Tag zu finden, um Konversationen
mit dem „Großen und Ganzen“ zu verknüpfen. Wenn sich also Hiro mit
seinen Top 20 zum monatlichen Plan-Ist-Vergleich trifft, dann bittet er
darum, dass alle Entscheidungen im Lichte der neuen Vision bewertet
werden, die er dann noch einmal erläutert. Wenn Gloria Performance-
durchsprachen mit ihren Mitarbeitern durchgeht, verknüpft sie ihre Be-
urteilungen mit den wichtigsten Veränderungsinitiativen. Wenn Jan
eine Fragen-und-Antworten-Runde auf dem Werksgelände durchführt,
beantwortet er die erste Frage in der Art und Weise: „Ich glaube, ja,
aber lassen Sie mich erklären, warum. Die Vision, die unsere Veränder-
ungsbemühungen ausrichtet, ist ...“ Das Ergebnis: 25 Führungskräfte,
vier Mal am Tag, über sechs Monate ergibt mehr als 12 000 Wiederholun-
gen. Sechs versus 12 000.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-77
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:26.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren
Sie, dass die Zahl der hier beschäftigten Mitarbeiter jemals nach oben
gehen wird?“ Seine Antwort: „Wenn wir erfolgreich unsere Vision imple-
mentieren, wird die Antwort sicher ja sein. Ist Euch die Vision klar? Ist sie
¢ 81
glaubwürdig?“
Ein Satz hier, ein Absatz dort, zwei Minuten in der Mitte einer Besprechung,
fünf Minuten am Ende eines Gesprächs, drei kurze Hinweise in einer
Rede – das alles zusammen, diese kurzen Erwähnungen können sich zu
einer massiven Menge an hilfreicher Kommunikation anhäufen, die gene-
rell dafür benötigt wird, die Herzen und den Verstand der Mitarbeiter zu
erreichen.
Oft ist der mächtigste Weg, eine neue Richtung zu kommunizieren, das Ver-
halten. Wenn die wichtigsten 5 oder 50 Personen alle die Vision der Verän-
derung leben, werden die Mitarbeiter es besser verstehen, als wenn man
hundert Geschichten darüber im Firmen-Newsletter lesen würde. Wenn sie
sehen, wie das Top-Management die Vision im Alltag umsetzt, werden sich
eine ganz Reihe von lästigen Fragen in Bezug auf die Glaubwürdigkeit und
mögliche Rollenspiele ganz von alleine in Luft auflösen.
Schauen Sie auf folgendes Beispiel: Das zentrale Element in einem neuen
Transformationsprozess bei einer großen Fluglinie betrifft den Kundenser-
vice. Wann immer der CEO einen Brief oder eine Beschwerde von einem
Fluggast erhält, schickt er persönlich eine Antwort innerhalb von 48 Stunden
zurück. Nach kurzer Zeit kursieren Geschichten von diesen Antwortbriefen
im Unternehmen. Das Ergebnis: Ein unabhängiges Marktforschungsunter-
nehmen stellt fest, dass 90% der Mitarbeiter die Vision des Wandels beschrei-
ben können, wenn sie gefragt werden, und fast 80% sagen, dass sie glauben,
dass der obere Führungskreis sich dazu verpflichtet fühlt, die Vision zur Rea-
lität werden zu lassen.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-77
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:26.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
82 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Ein anderes Beispiel: Ein General versucht, in eine gigantische Organisation
hinein zu kommunizieren, dass die Verteidigungsbudgets schrumpfen und
dass jeder sparsamer werden muss. Wenn er nun reist, benutzt er nicht
mehr wie bisher einen U.S. Army Blackhawk Helikopter von der Andrews
Air Force Base, sondern er steigt so oft wie möglich am Pentagon ab, nimmt
die U-Bahn für 80 Cent zum Washington National Airport, nimmt ein Shut-
tle zum Terminal und benutzt den Linienflug einer normalen Fluggesell-
schaft. Die Geschichten über sein Reiseverhalten multiplizieren sich schnell.
Ähnlich ist es, wenn Leute „Wasser predigen und Wein trinken“, was ein
großartiger Weg ist, um die Kommunikation einer Vision zu untergraben.
In aller Kürze: Nichts unterminiert die Kommunikation einer Vision des Wandels
mehr als das Verhalten von Schlüsselspielern, das inkonsistent mit der Vision zu
sein scheint. Die Implikationen sind mächtig: (1) Eine Vision zu verkaufen,
bevor sie durch ein Top-Management verkörpert werden kann, ist schwie-
rig. Und (2), sogar unter den besten Umständen ist es angeraten, sehr genau
das Verhalten der obersten Führungskräfte unter die Lupe zu nehmen, so-
dass man zeitnah Unterschiede zwischen Reden und Handeln identifizie-
ren und abstellen kann.
Vor Kurzem habe ich eine Bank besucht, die im Rahmen eines umfassen-
den Transformationsprozesses gerade große Kostensenkungsmaßnahmen
durchlebte. Für die Arbeitnehmer waren die Maßnahmen täglich spürbar
und deshalb reagierten sie verständlicherweise sensibel auf jedes Signal,
das darauf hindeutete, dass das Management möglicherweise nicht seinen
https://doi.org/10.15358/9783800646159-77
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:26.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren
Beitrag dazu leisten würde. Unglücklicherweise leuchteten diese Signale an
jeder Ecke auf.
Während es schien, dass die Task Forces rund um die Uhr am Kostensenken
¢ 83
arbeiteten, leaste das Unternehmen weiterhin sechs Jets für die Vorstands-
ebene. Während mehrere Hundert Arbeitnehmer freigesetzt wurden, präsi-
dierte das Top-Management in königlichen Quartieren. Während Weih-
nachtsfeiern an bestimmten Standorten abgesagt wurden, um Kosten zu
sparen, flog der CEO mit allen seinen Vorstandskollegen für eine ihrer Sit-
zungen erster Klasse nach London.
Wenn ich solche Unstimmigkeiten herausstelle, rollen typischerweise einige
Vorstände mit ihren Augen oder werden extrem defensiv. „Was wollen Sie
uns sagen? Sie wollen, dass wir das Holz von den Wänden reißen und dass dieser
Platz (die Zentrale) schäbig aussieht?“ „Wir haben die Analyse sechs Mal wieder-
holt und die Jets rechnen sich. Ohne sie erreichen wir keine abgeschieden liegenden
Standorte. Und glauben Sie wirklich, dass es eine gute Idee für einen viel beschäf-
tigten Manager ist, zum Flughafen zu fahren, dort auf einen Linienflug zu warten,
dann auf einen Anschlussflug umzusteigen und am Ende noch zwei Stunden mit
dem Auto zu fahren?“ „Ein Teil unserer Vision ist unser Geschäft zu internationa-
lisieren, deshalb müssen wir auch den Vorstand globalisieren. Das ist der Grund,
warum wir uns in London treffen. Wollen Sie einen Vorstand, der nur in US-ame-
rikanischen Kategorien denkt?“
Vorstände sind frustriert, wenn man sie dazu auffordert, ihre Firmenjets zu
verteidigen, das Mahagoni und die Überseereisen, weil es für sie nicht ein-
fach ist, mit diesen Dingen umzugehen. Sie wollen nicht die Zyniker unter
den Arbeitnehmern ermuntern, aber Zentralen zu schließen, Leasingver-
träge aufzulösen und London zu vergessen macht für sie keinen Sinn. „Wir
haben uns wirklich darum gekümmert, das Gebäude zu verkaufen, aber die Be-
triebsstörung und die Umzugskosten sind signifikant. Was sollen wir tun?“ In ei-
nigen Fällen ist die Antwort, die Büros, Jets und Reisen abzuschaffen. Aber
in einigen Fällen wird das wahrlich nicht praktikabel oder sinnvoll sein.
Dann ist die Antwort, diese Themen explizit und ehrlich zu adressieren.
Zum Beispiel:
Mit all den Kostensenkungsmaßnahmen im Unternehmen, die zurzeit
notwendig sind, gibt es keine Entschuldigung für uns alle, Geld zu ver-
schwenden, schon gar nicht für Luxusthemen. Vor diesem Hintergrund
haben wir uns entschieden, dass die Büros und Einrichtungen für unsere
Vorstände in unserer Zentrale so nicht vertretbar sind. Zurzeit würde es
aber mehr kosten, die Zentrale zu verkaufen und in ein weniger luxuriö-
ses Umfeld umzuziehen, als wir einsparen. Wir lassen aber nicht davon
ab, uns weiter nach einem kostengünstigeren und praktikablen Weg
umzuschauen, dieses Übermaß abzubauen.
Geradlinige und ehrliche Botschaften werden von Zynikern oft belächelt.
Wenn die Mehrheit der Mitarbeiter argwöhnisch auf das Management
https://doi.org/10.15358/9783800646159-77
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:26.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
84 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
schaut, dann helfen solche Botschaften nicht. Aber von den Mitarbeitern,
die an ihr Unternehmen glauben, wird so eine Art der Kommunikation üb-
licherweise sehr geschätzt. Glaubwürdigkeit und Vertrauen wachsen, was
wiederum dazu beiträgt, die Kommunikation der Vision des Wandels zu
stärken.
Frage: Warum machen das die Leute nicht öfter so?
Antwort: Sie machen das mehr und mehr.
Majestätische „Dünge die Trüffel“-Managementstile sterben aus. In einer
sich schnell drehenden Welt, in der es darauf ankommt, die Herzen und
den Verstand der Mitarbeiter zu erreichen, werden nicht kommunikations-
freudige Führungskräfte nicht in der Lage sein, ihre Firmen wettbewerbsfä-
hig zu entwickeln und aufzustellen. In erfolgreichen Transformationsproz-
essen werden bedeutende Inkonsistenzen in den Botschaften fast immer
explizit adressiert. Wenn solche Inkonsistenzen in einem Veränderungspro-
zess bestehen und nicht eliminiert werden können, dann werden sie üb-
licherweise erklärt, einfach und ehrlich.
Weil die Kommunikation einer Vision oft eine schwierige Aufgabe ist, kann
es passieren, dass sie sich in ein in das Unternehmen ausstrahlendes, rau-
schendes Radioprogramm verwandelt, ohne dass wertvolles Feedback von
den Zuhörern aufgenommen werden kann, und sich Mitarbeiter unbeab-
sichtigt ausgeschlossen oder unwichtig fühlen. In erfolgreichen Transforma-
tionsprozessen passiert das eher selten, weil die Kommunikation nie eine
Einbahnstraße ist, sondern immer ein Miteinander-Sprechen.
Ich habe mehr als einen Fall gesehen, in dem Führungskoalitionen die Vi-
sion nicht richtig hinbekommen hatten und einige Mitarbeiter das auch
schnell herausfanden und die Probleme hätten lösen können, wenn sie rich-
tig informiert gewesen wären. Weil Feedback nicht angefordert wurde,
wurden die Fehler nicht schnell genug behoben, oft erst sehr spät im Pro-
zess. In einem speziellen Fall verursachte ein solcher Fehler sogar enorme
Kosten im Sinne unnötiger IT-Ausgaben. Ein halbes Dutzend junger Ver-
triebsmitarbeiter mit IT-Basiswissen hätte gleich erkannt, dass das beschlos-
sene Konzept zur Anschaffung der neuen IT-Unterstützung für die Ver-
triebsmannschaft mangelhaft war. Aber sie wurden nicht gebrieft, bis die
neue IT-Ausstattung mit Software und Hardware ankam. Ab diesem Zeit-
punkt, nachdem ein weniger IT-affines mittleres Management eine fehler-
hafte Vision akzeptiert und implementiert hatte, wurden die Kurskorrektu-
ren sehr kostspielig.
Sogar noch weitreichender ist die Tatsache, dass eine Zwei-Wege-Kommu-
nikation eine wesentliche Methode ist, den Mitarbeitern alle Fragen zu be-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-77
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:26.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 6: Die Vision des Wandels kommunizieren
antworten, die im Laufe des Veränderungsprozesses aufkommen. Klare,
einfache, erinnerungswürdige, oft wiederholte, stimmige Kommunikation
über verschiedene Kanäle, verkörpert durch das Verhalten der Führungs-
¢ 85
kräfte, hilft enorm. Aber die meisten Menschen, speziell die gebildeteren
unter uns, schließen sich etwas nur an, wenn sie eine Chance hatten, sich
damit auseinanderzusetzen. Auseinandersetzen heißt Fragen stellen, reflek-
tieren und argumentieren. Das passiert natürlich genau, wenn die Füh-
rungskoalition zum ersten Mal die Vision erarbeitet.
Für den Wandel Verantwortliche vermeiden manchmal die Zwei-Wege-
Kommunikation aufgrund von Bedenken über dafür anfallende Kosten.
Ihre Logik ist geradlinig; egal wie: Die Kosten für einen Ein-Wege-Kommu-
nikationsfluss werden sich für eine Zwei-Wege-Kommunikation mindes-
tens verdoppeln. Sie stellen zu Recht fest, dass nicht jeder den gleichen Pro-
zess wie die Führungskoalition durchlaufen kann. Aber auch hier
übersehen sie wieder die Zweckmäßigkeit, dass so viele Manager wie mög-
lich ihre einstündigen Besprechungen durch die Brille der neuen Vision be-
trachten und nutzen können. Wenn die Leute das tun, dann finden sie be-
ständig Dutzende von neuen kostengünstigen Wegen, einen Dialog um die
Vision herum anzustoßen. Fünf Minuten in einer Besprechung für einen
Produktanlauf, zwei Minuten im Rahmen einer Großveranstaltung, zehn
Minuten am Ende einer Rede – die Minuten können sich zu Tausenden von
Stunden aufsummieren.
Als für den Wandel Verantwortliche scheuen wir uns auch manchmal, diese
Art von Kommunikation anzustoßen, weil wir Angst haben, dass unsere Vi-
sion keine zwei Runden in einem solchen Boxring überstehen würde. Ein
solches Verhalten ist verständlich, aber bedauerlich.
Wenn die Leute eine Vision nicht akzeptieren, werden die nächsten zwei
Schritte im Veränderungsprozess – Individuen zu befähigen, den Wandel
in der Breite voranzutreiben und kurzfristige Erfolge zu erzielen – ohnehin
scheitern. Mitarbeiter werden es weder nutzen, dass sie befähigt wurden
noch den Kampf mit dem Willen in und der Einsatzbereitschaft annehmen,
die das Siegen der neuen Vision über das bisher Dagewesene erst ermög-
lichen. Das Ganze würde sich sogar noch verschlechtern, wenn sie diesen
Zustand akzeptieren und dann versuchen würden, die schlecht formulierte
Vision zu implementieren, denn dann würden wertvolle Zeit und wertvolle
Ressourcen verschwendet, und viele Mitarbeiter würden die Konsequen-
zen ausbaden müssen.
Die Kehrseite einer Zwei-Wege-Kommunikation ist, dass sich aus dem
Feedback vielleicht schließen lässt, dass wir den falschen Kurs eingeschla-
gen haben und dass die Vision überarbeitet werden müsste. Aber auf lange
Sicht ist es weitaus produktiver, in den saueren Apfel zu beißen und die Vi-
sion zu überarbeiten, als in die falsche Richtung zu starten – oder in eine
Richtung, in die andere nicht folgen werden.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-77
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:26.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 7: Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen
„Wenn ich das Wort Empowerment noch einmal höre“, sagte mir kürzlich je-
mand, „wird mir übel.“ Er drückte damit seine Verärgerung darüber aus,
dass dieser Begriff zwar zunehmend populärer wurde, aber gleichzeitig
seine eigentliche Bedeutung verloren hatte. „Das Wort ist ein politisch korrek-
tes Mantra geworden“, sagte er. „Empower, empower, empower. Wenn ich Leute
frage, was sie darunter verstehen, drücken sie sich entweder unklar aus oder
schauen mich an, als sei ich ein Idiot.“
Vor ein paar Jahren hätte ich seinen Vorbehalten vielleicht noch zuge-
stimmt. Heute aber nicht mehr. Ich bin auch nicht davon begeistert, Mode-
wörter zu benutzen. Aber in dieser sich immer schneller drehenden Welt
halte ich die Idee für wichtig, mehr Leuten zu mehr Entscheidungsspielräu-
men zu verhelfen. Wandel in der Umwelt muss organisatorischen Wandel
nach sich ziehen.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-90
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:35.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
88 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Implementierung der Wandelvision beseitigt werden, wie in dieser Phase
des Prozesses möglich ist.
Welches sind die größten Hindernisse, die zumeist angegangen werden
müssen? Vier von ihnen können besonders bedeutend sein: Strukturen, Fä-
higkeiten, Systeme und Vorgesetzte (vgl. Abbildung 17).
Zwei Jahre später versucht eine frustrierte und verärgerte Gruppe von
Top-Managern herauszufinden, was schiefgegangen ist. Sie waren da-
von überzeugt, ihren Teil getan zu haben. Sie hatten Kunden in der gan-
zen Region besucht, beim Aufsetzen neuer Systeme zur Messung der
Kundenzufriedenheit geholfen, hatten im Unternehmen die Botschaft
zum Kundenservice verbreitet und mithilfe von Beratern Produkte und
Dienstleistungen neu gestaltet, um die Marktanforderungen besser zu
erfüllen. Aber aus irgendeinem Grund kommen die einst enthusiasti-
schen Truppen einfach nicht mehr voran.
Eine genauere Betrachtung zeigt: Viele Mitarbeiter wollten wirklich bessere
Produkte und Dienstleistungen anbieten und versuchten es auch. Aber in
der Organisationsstruktur waren Ressourcen und Verantwortlichkeiten der-
art fragmentiert, dass es fast unmöglich war, irgendeines der neuen Finanz-
produkte qualifiziert anzubieten. Ein typisches Produkt erforderte eine
enge Zusammenarbeit von Mitarbeitern aus vier verschiedenen Funktio-
nen. Als die Mitarbeiter aber versuchten, funktionsübergreifende, produkt-
und kundenzentrierte Teams aufzubauen, war dieser Prozess für sie äu-
ßerst frustrierend. Starke strukturelle Silos behinderten die Teams auf un-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-90
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:35.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 7: Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen
zählige subtile Arten und machten so die zeitgerechte Bereitstellung neuer
Dienstleistungen für ihre Kunden praktisch unmöglich. Als die Mitarbeiter
sich bei ihren Vorgesetzten beschwerten, sagte man ihnen, sie sollten bes-
¢ 89
https://doi.org/10.15358/9783800646159-90
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:35.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
90 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Mitarbeiter demotivierte (vgl. Abbildung 18). Der Fall des australischen Fi-
nanzdienstleisters ist nicht untypisch. Kundenzentrierte Visionen scheitern
oft, wenn kundenunzentrierte Organisationsstrukturen nicht geändert wer-
den. Ein weiteres typisches Beispiel ist ein Stromversorger, dessen Vision
von einer wesentlich stärkeren Verantwortungsübernahme durch kunden-
nahe Mitarbeiter an einer Struktur mit zu vielen Ebenen und zu viel Ent-
scheidungskompetenz auf der mittleren Ebene scheitert. Als Mitarbeiter
versuchen, die neue Vision in die Tat umzusetzen, werden ihre Entschei-
dungen durch einer Horde von Managern auf der mittleren Ebene schlecht
gemacht und unterminiert. „Hast Du das mit berücksichtigt?“ „Du hättest das
erst mit Jones abklären sollen.“ „Ist Dir bewusst, welchen Präzedenzfall Du damit
vielleicht schaffst?“ Wie vorherzusehen war, geben die meisten kundenna-
hen Mitarbeiter nach einer Weile auf und fallen in den alten Trott zurück.
Warum passiert so etwas? Manchmal gewöhnen wir uns so sehr an eine organisa-
torische Grundaufstellung – vielleicht auch, weil sie seit Jahrzehnten in Kraft war –
dass wir blind werden für mögliche Alternativen. Manchmal haben Leute so
viel persönliche Loyalität und funktionale Expertise in eine Struktur inves-
tiert, dass sie bei Veränderungen negative Auswirkungen auf ihre Karriere
befürchten. Manchmal wissen Manager, dass eine Umgestaltung notwen-
dig ist, wollen sich aber nicht in einen Konflikt mit dem mittleren Manage-
ment oder mit ihren Kollegen verstricken. Oft wurde allerdings auch das
Fundament für Veränderungen nicht stabil genug gebaut. Das mittlere Ma-
nagement kann strukturellen Veränderungen leicht Widerstand leisten,
wenn es kein Dringlichkeitsgefühl hat, kein engagiertes Team an der Spitze
https://doi.org/10.15358/9783800646159-90
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:35.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 7: Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen
und keine vernünftige Vision für den Wandel erkennt oder nicht das Gefühl
hat, dass andere an diese Vision glauben.
¢ 91
https://doi.org/10.15358/9783800646159-90
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:35.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
92 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
higen. Der Trainingsumfang, mit dem wir diese neue Situation meistern
sollten, wirkt im Nachhinein lächerlich. Da die meisten von uns dem
neuen Werk wirklich zum Erfolg verhelfen wollten, arbeiteten wir wäh-
rend des Hochlaufs außerordentlich hart. In gewisser Hinsicht versuch-
ten wir, den Mangel an Fähigkeiten mit schierem Arbeitseinsatz auszu-
gleichen. Aber das ist auf Dauer keine Lösung. Am Ende waren wir
müde und frustriert.
Ich glaube, es gibt zwei häufige Gründe dafür, warum wir in diese Falle
tappen. Erstens durchdenken wir oft nicht sorgfältig genug, welche neuen
Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Einstellungen notwendig sein werden,
wenn eine größere Veränderung eingeleitet wird. In der Folge verkennen
wir Arten und Umfang der erforderlichen Trainings, die den Leuten dabei
helfen sollen, sich die neuen Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Einstellun-
gen anzueignen. Zweitens erkennen wir zwar manchmal in richtiger Weise,
was gebraucht wird. Aber wenn wir das in Zeit und Geld übersetzen, er-
schlägt uns das Ergebnis. Wie kann es irgendjemand rechtfertigen, 10 000
Leute in einen zweitägigen Weiterbildungskurs zu schicken? Oder 3 Millio-
nen $ für eine spezielle Trainingsmaßnahme auszugeben?
https://doi.org/10.15358/9783800646159-90
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:35.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 7: Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen
Visionen zum Leben zu erwecken. Und beide Fluglinien gingen aus dem
Prozess als viel stärkere und erfolgreichere Wettbewerber hervor.
¢ 93
„Wir haben alles getan“, erzählt mir ein Manager, „aber sie leisten wei-
ter Widerstand.“
„Wir haben sehr hart dafür gearbeitet, eine zündende Idee von dem zu
entwickeln, was wir in Zukunft sein wollen. Wir haben diese Idee ohne
Unterlass über alle Kanäle kommuniziert, die uns einfielen. Wir haben
letztes Jahr reorganisiert, um die Struktur mit dem neuen Konzept in
Einklang zu bringen. Wo notwendig, haben wir die Leute weiterquali-
fiziert. All das hat viel Zeit und Energie gekostet, aber wir haben es
getan.“
https://doi.org/10.15358/9783800646159-90
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:35.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
94 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
„Wo liegt dann das Problem?“
„Viel zu viele Leute betreiben das Geschäft immer noch auf die alte
Weise“, klagt er.
„Warum ist das Ihrer Meinung nach so?“
„So langsam habe ich die Vermutung, dass es einfach in der mensch-
lichen Natur liegt, sich gegen Veränderungen zu wehren.“
„Wenn Sie 10 Millionen $ im Lotto gewinnen würden“, frage ich, „wür-
den Sie sich weigern, das Geld anzunehmen?“
„Machen Sie Witze?“
„Aber es gibt viele Belege, dass sich das Leben von Menschen auf ziem-
lich tief greifende Weise ändert, wenn sie viel Geld gewinnen.“
„Also?“
„Sie sagen mir also, dass Sie sich solch einem Wandel nicht widersetzen
würden.“
„Okay, okay“, sagt er. „vielleicht widersetzen sich Menschen ja nicht je-
der Art von Veränderung.“
„Wann tun sie das nicht?“
„Wenn sie sehen, dass es in ihrem ureigensten Interesse liegt, nehme ich
an.“
„Und sorgen Ihre Personalmanagementsysteme dafür, dass es im Eigen-
interesse der Mitarbeiter liegt, Ihre neue Vision umzusetzen?“
„Personalmanagementsysteme?“
„Leistungsbeurteilung. Entlohnung. Beförderungen. Nachfolgeplanung.
Wurden sie bereits mit Ihrer neuen Vision in Einklang gebracht?“
„Nun, vielleicht nicht vollumfänglich.“
Eine Untersuchung der Personalmanagementsysteme dieses Unterneh-
mens ergibt:
– Das Leistungsbewertungsformular enthält praktisch nichts Kundenrele-
vantes, obwohl Kunden im Kern der neuen Vision stehen.
– Das Entlohnungssystem belohnt fehlerfreies Arbeiten viel stärker als
das Herbeiführen sinnvoller Veränderungen.
– Entscheidungen über Beförderungen werden sehr subjektiv getroffen
und haben bestenfalls einen eingeschränkten Bezug zu Wandelbemü-
hungen.
– Die Rekrutierungs- und Einstellungssysteme sind zehn Jahre alt und un-
terstützen die Transformation nur marginal.
Weitere Untersuchungen zeigen auch, dass sich die Managementinforma-
tionssysteme hinsichtlich einer besseren Unterstützung der Transformation
kaum verändert haben; gleiches gilt für den strategischen Planungsprozess,
https://doi.org/10.15358/9783800646159-90
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:35.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 7: Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen
der sich immer noch viel zu sehr auf kurzfristige Finanzinformationen und
viel zu wenig auf Markt- und Wettbewerbsinformationen konzentriert.
In der ersten Hälfte eines fundamentalen Wandelprozesses können Sie auf-
¢ 95
grund der Beschränkungen bei Zeit, Energie und/oder Geld nicht alles auf
einmal verändern. So lassen sich zum Beispiel Hindernisse, die mit der Un-
ternehmenskultur in Verbindung stehen, bis zum Ende eines jeden Wandel-
projektes, wenn die Leistungssteigerungen ersichtlich sind, nur sehr schwer
komplett beseitigen. Systeme sind leichter zu verändern, aber wenn Sie jede
kleine Inkonsistenz zwischen der neuen Vision und den aktuellen Systemen
bereinigen wollten, würden Sie schlichtweg scheitern. Bevor nicht ein paar
zählbare kurzfristige Erfolge erzielt werden, besitzt die Führungskoalition
selten den Schwung oder die Kraft, große Veränderungen herbeizuführen.
Wenn umgekehrt wesentliche, immanente und fest verdrahtete Anreize
oder Prozesse in echtem Widerspruch zur neuen Vision stehen, müssen Sie
dies direkt angehen. Der Angelegenheit aus dem Weg zu gehen, demotiviert
die Mitarbeiter und steigert die Gefahr, dass Wandel verhindert wird.
Frage: Wie oft kommen die Systeme, vor allem die Personalmanagement-
systeme, dem Wandel in die Quere?
Antwort: Viel zu oft.
Historisch bedingt befinden sich Personalmitarbeiter oft in hoch bürokrati-
schen Personalfunktionen, die Führungsverhalten verhindern und eine Ver-
änderung der operativen Personalarbeit sehr herausfordernd machen. Aus
diesem Muster auszubrechen, ist nicht einfach. Dennoch beobachte ich in er-
folgreichen Transformationen zunehmend couragierte Personalleute, die die
notwendige Führungsstärke zeigen, um die Systeme mit der neuen Vision in
Einklang zu bringen. In manchen Fällen tun sie das trotz geringer Unterstüt-
zung durch Linienmanager oder Kollegen im Personalbereich. Sie tun das,
weil sie sich aufrichtig um die Mitarbeiter kümmern und die möglichen Fol-
gen unzureichend durchgeführter Veränderungsmaßnahmen äußerst ab-
schreckend finden.
Frank scheint es nicht zu verstehen. Man hat ihm unzählige Male gesagt,
dass das Unternehmen innovativer werden will, weil sich Kreativität in
der Branche massiv auszahlt. Aber er weigert sich, seinen autoritären
Führungsstil zu ändern, der jegliche Eigeninitiative und Kreativität so
schnell erstickt wie Kohlendioxid ein Feuer. Wenn man sein Verhalten
beobachtet, fragt man sich, ob er nicht ein Diplom als „Demotivator“
abgelegt hat. „Das haben wir schon einmal versucht“, sagt er immer
wieder. „Ihr müsst die möglichen Nachteile genauer analysieren“, for-
dert er seine Leute auf. „Dafür haben wir keine Zeit, bitte mach dies.“
https://doi.org/10.15358/9783800646159-90
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:35.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
96 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
„Ja, ja, das ist sehr interessant, aber ...“ „Nein, nein, versende den Be-
richt nicht; die Leute brauchen diese Informationen nicht.“ „Martha,
bitte stimmen Sie sich beim nächsten Mal zuerst mit mir ab, bevor Sie ir-
gendetwas unternehmen.“
Frank leitet eine Abteilung mit etwa hundert Mitarbeitern. Wellen des
Wandels spülen bis zu seiner Tür, brechen sich dort und fließen dann ins
Meer zurück. Ein paar seiner Leute wollen trotz aller Anstrengungen
von Frank das Erneuerungsprogramm des Unternehmens unterstützen.
Die meisten allerdings nicht. Einige haben es anfangs versucht und
dann aufgegeben. Einige verstehen es wie Frank einfach nicht. Andere
sind vorsichtig und politisch und richten sich nach ihrem Chef aus.
Wandelfanatiker würden Frank wahrscheinlich verteufeln, aber in Wirk-
lichkeit ist er kein schlechter Mensch. Zum großen Teil ist er, wie wir alle,
ein Produkt seiner Vorgeschichte. Er hat früh einen autoritären Führungs-
stil angenommen, und weil das zu funktionieren schien und ihn im Unter-
nehmen voranbrachte, hat sich daraus eine Reihe tief verwurzelter Ange-
wohnheiten entwickelt.
Könnte man Franks Problem nur auf eine einzige Ursache zurückführen,
wäre ein Wandel viel leichter möglich. Das ist aber nicht der Fall. Er hat
Dutzende eingebrannter Gewohnheiten, die insgesamt seinen Führungsstil
prägen. Würde er nur einen Aspekt seines Verhaltens ändern, würden all
die anderen Gewohnheiten ihn massiv unter Druck setzen, sein Verhalten
beim Alten zu lassen. Er muss all diese Gewohnheiten in Summe verän-
dern, aber das kann genauso anstrengend sein wie mit Rauchen, Trinken
und fettigem Essen gleichzeitig aufzuhören.
Die Tatsache, dass Frank nicht wirklich an die neue „Innovations“-Vision
glaubt, macht all dies noch schwieriger, genauso wie die Tatsache, dass er
nicht ganz sicher ist, was er für eine Umsetzung dieser Vision tun müsste.
Und wie wir alle, versteht er sich darauf, die Situation so zu darzustellen,
dass er in seinen Augen als guter „Corporate Citizen“ dasteht, während an-
dere politisch, eigennützig oder inkompetent erscheinen.
Menschen wie Frank scheint es bei allen Fällen von Reengineering, Restruk-
turierung oder strategischer Neuausrichtung zu geben. Wenn sie zahlreich
sind oder große Personalverantwortung haben, können sie ein gewaltiges
Problem darstellen. Wenn man so mächtigen Leuten wie Frank nicht früh
im Wandelprozess entgegentritt, können sie sämtliche Bemühungen unter-
graben.
Ich habe mindestens ein Dutzend Fälle beobachtet, in denen es drei oder
vier Schlüsselspieler wie Frank gab. Anstatt dem Problem die Stirn zu bie-
ten, schleppten ein enthusiastischer Change Agent und ein paar seiner Kol-
legen diese Leute durch die Stufen 1 bis 4 einer Transformation. Aber in
Stufe 5 brachte die Weigerung der Manager, Verantwortung abzugeben
und Mitarbeiter zu befähigen, die Bemühungen schließlich zum Stillstand.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-90
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:35.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 7: Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen
Einer der Hauptgründe, warum man sich den Franks dieser Welt nicht ent-
gegenstellt, ist die Sorge, dass sich diese Leute ohnehin nicht verändern
können – aber trotzdem ist man nicht bereit, sie zu degradieren oder zu ent-
¢ 97
https://doi.org/10.15358/9783800646159-90
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:35.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
98 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
davon entmutigen. Entmutigte Mitarbeiter sind nicht hilfreich dabei, die
große Zahl an Wandelprojekten zu bewerkstelligen, die typischerweise in
einer Transformation notwendig sind. Stattdessen geben sie auf – schon
lange, bevor die Ziellinie erreicht ist und neue Ansätze in der Unterneh-
menskultur verankert sind.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-90
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:35.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 8: Schnelle Erfolge erzielen
Als einer der meiner Meinung nach charismatischsten Visionäre, die ich
kenne, zum Vorsitzenden eines 1,7 Milliarden $ schweren Bereichs eines gro-
ßen US-Unternehmens wurde, nahm die Aufregung in der Branche dramati-
sche Züge an. Vielen Mitarbeitern kam sein erstes Jahr wie eine wundervolle
und notwendige frische Brise vor. Plötzlich wurden in den Meetings mutige
Ideen anstatt Trivialitäten diskutiert. Heilige Kühe wurden geschlachtet und
jedem, der valide Informationen zu Problemen oder Chancen hatte, wurde
zugehört. Als sich eine Koalition um die neue Führungsperson bildete, be-
gann das Team über fundamentale Änderungen der strategischen Richtung
des Unternehmens zu diskutieren.
Es entstand die Vision eines globalen Hochtechnologieunternehmens, das
verschiedene Grundbaustoffe in höchster Qualität und zu bemerkenswert
niedrigen Preisen anbieten sollte. Gegen Mitte des zweiten Jahres drang die
Kommunikation dieser Vision bis in den letzten Winkel des Unternehmens
durch. Zu Beginn des dritten Jahres wurden mehr und mehr Veränderun-
gen durchgeführt, um die Vision in die Realität umzusetzen. Neue Produkte
wurden eingeführt. Neue Trainingsprogramme wurden implementiert. Ab-
teilungen wurden neu organisiert. Eine große Reengineeringmaßnahme
wurde in der Finanzabteilung durchgeführt. Eine Schlüsselfigur aus dem
Top-Management ging in den vorzeitigen Ruhestand. Fast 500 Millionen $
wurden für eine große Akquisition ausgegeben. Alle Aktivitäten wirkten be-
rauschend. Sogar die Wirtschaftspresse fand Gefallen daran; in der Mitte
des dritten Jahres wurden von vier verschiedenen Zeitschriften schmei-
chelhafte Artikel über die Veränderungen in dem Unternehmen herausgege-
ben.
Diese Geschichte beeindruckte mich sehr. Es war nicht so, dass ich nicht
auch Warnsignale erkannte. Die Führungskoalition unseres Helden war nie
sehr stark mit der Firmenzentrale verbunden. Aber vieles von dem, was er
tat, war so sehr auf Zielkurs, dass ich diesem Unternehmen im dritten Jahr
bestätigt hätte, die Marktführerschaft innerhalb der nächsten 48 Monate zu
erreichen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Transformationsprozess
entgleisen könnte.
Ich lag mit meiner Einschätzung falsch.
Um es kurz zu machen: Mitte des vierten Jahres wurde der charismatische
Anführer gefeuert. In den nachfolgenden zwölf Monaten kollabierten und
verschwanden viele seiner angestoßenen Initiativen. Während dieser Zeit
wurden ungefähr zwei oder drei weitere Manager aus dem Unternehmen
https://doi.org/10.15358/9783800646159-102
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:47.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
100 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
gedrängt und mindestens ein halbes Dutzend weitere verließen das Unter-
nehmen auf eigenen Wunsch. Die Mitarbeitermoral brach zusammen. Die
finanziellen Ergebnisse verbesserten sich für einige Quartale, bevor sie in
einen anhaltenden Abwärtstrend übergingen. Während ich dies schreibe,
befindet sich der Bereich immer noch in einem chaotischen Zustand.
Im Nachhinein betrachtet, liegen die Fehler klar auf der Hand. Nur ein ein-
ziger, nicht sehr einflussreicher Top-Manager aus der Firmenzentrale war
Teil der Führungskoalition. Gegen Mitte des zweiten Jahres wurden diejeni-
gen, die nicht der Meinung dieser Koalition waren, ignoriert, auch wenn sie
nur hilfreich sein wollten. Der größte Fehler war jedoch, dass schnelle Er-
folge nicht im Fokus waren. Die Menschen waren so sehr mit großartigen
Träumen beschäftigt, dass sie die gegenwärtige Realität nicht mehr wirk-
sam steuerten. Als kritische Stimmen fragten, ob denn der eingeschlagene
Weg das Unternehmen auch in die richtige Richtung führen würde, konnte
nichts Überzeugendes vorgezeigt werden. Als die Koalition daraufhin die
Verärgerten als visionslose Trottel beschimpfte, wurde die Firmenzentrale
wachsam. Als der Bereich schließlich im dritten Jahr beinahe alle finanziel-
len Prognosen um einen kleinen Betrag verfehlte, ohne jedoch die Zentrale
vorher zu warnen, wurde der CEO misstrauisch. Da der Bereich im zweiten
Quartal des vierten Jahres, abermals ohne große Vorwarnung, wieder Ver-
luste schrieb, wurde der charismatische Bereichsleiter gefeuert.
Einige Leute, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens,
glauben noch immer, dass der CEO einen schrecklichen Fehler gemacht
hat. Sie könnten Recht haben. Aber der charismatische Bereichsleiter hat
zweifellos einen viel größeren Fehler gemacht. Weil er schnellen Erfolgen
keine Aufmerksamkeit geschenkt hat, erzeugte er nicht die notwendige
Glaubwürdigkeit, um seine Bemühungen langfristig aufrechtzuerhalten.
Tief greifender Wandel braucht seine Zeit, manchmal sehr viel Zeit. Enthu-
siastische Befürworter halten häufig durch, egal, was auch passiert. Die
meisten anderen wollen allerdings überzeugende Beweise dafür sehen,
dass sich die ganzen Bemühungen auch auszahlen. Nicht überzeugte Men-
schen haben eine noch höhere Messlatte. Sie wollen klare Daten sehen, die
beweisen, dass die Veränderungen funktionieren und der Wandelprozess
nicht zu viele Ressourcen bindet und damit die gesamte Organisation in
Gefahr bringt.
Einen Transformationsprozess durchzuführen, ohne schnelle Erfolge zu be-
rücksichtigen, ist extrem riskant (siehe Abbildung 20). Manchmal haben Sie
Glück und sichtbare Erfolge sind ganz einfach da. Aber manchmal verlässt
einen das Glück, wie im Fall des visionären Bereichsleiters.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-102
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:47.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 8: Schnelle Erfolge erzielen ¢ 101
https://doi.org/10.15358/9783800646159-102
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:47.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
102 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
zessverbesserung verlangsamen. Zu allem Überfluss sind die Informations-
systeme des Unternehmens nicht immer in der Lage, die Verbesserungen
darzustellen. Hätte niemand aktiv diese Probleme überwacht, dann hätte
das Unternehmen nie drei eindeutige schnelle Erfolge erzielt. Verschiedene
Einflüsse hätten Verzögerungen oder Planabweichungen verursacht. Die
existierenden Systeme hätten Verbesserungen nicht klar aufgezeigt.
Trotz dieser Erfolge fanden Skeptiker Beweise dafür, dass das Reenginee-
ring zu teuer, zu langsam oder schlicht falsch war. Die Leistungsverbesse-
rungen nahmen ihnen jedoch den Wind aus den Segeln. Die Erreichung
der Ziele gab der Führungskoalition ein klares Feedback über die Umsetz-
barkeit ihrer Vision. Und für diejenigen, die aktiv für einen Wandel kämpf-
ten, waren die schnellen Siege Meilensteine, die ihnen Grund gaben, sich
auf ihrem langen Weg auf die Schulter zu klopfen.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-102
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:47.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 8: Schnelle Erfolge erzielen
noch nicht abgeschlossen sind, während Phase 6 bereits etwas Produktives
hervorbringen muss.
Frage: Aber ist es nicht komplex, in mehreren Phasen gleichzeitig zu operie-
¢ 103
ren?
Antwort: Ja. Aber das ist genau das, was während eines erfolgreichen Wan-
dels passiert.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-102
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:47.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
104 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
aber sie nehmen den Gegnern teilweise ihre Munition und machen es somit
schwieriger, die Unterstützer des Wandels zu torpedieren. Generell gilt: Je
mehr Zyniker und Verweigerer existieren, desto wichtiger sind schnelle Er-
folge.
Fünftens sorgen sichtbare Erfolge für die notwendige Unterstützung durch
die Unternehmensführung. Wenn die höheren Hierarchiestufen den Glau-
ben an die Sache verlieren, dann sind sämtliche Transformationsbemühun-
gen in großen Schwierigkeiten.
Schließlich helfen schnelle Erfolge, das notwendige Momentum aufzu-
bauen. Abwartende Beobachter werden zu Unterstützern, zurückhaltende
Unterstützer zu aktiven Teilnehmern usw. Diese Dynamik ist entscheidend,
weil, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, die notwendige Energie
für die Durchführung der Phase 7 oftmals enorm ist.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-102
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:47.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 8: Schnelle Erfolge erzielen
und beten nicht einfach für Leistungsverbesserungen. Sie planen schnelle
Erfolge, organisieren dementsprechend und implementieren den Umset-
zungsplan, um die Ziele zu erreichen. Es gilt auch nicht, kurzfristige Ergeb-
¢ 105
nisse auf Kosten der Zukunft zu maximieren. Der Punkt ist, dass sichtbare
Ergebnisse der Transformationsbestrebung hinreichend Glaubwürdigkeit
vermitteln müssen.
Frage: Klingt offensichtlich. Warum wird es dann nicht von allen so ge-
macht?
Antwort: Aus mindestens drei Gründen.
Leute planen diese Erfolge nicht ausreichend, weil sie von der Aufgabe
überwältigt sind. Oftmals ist das Dringlichkeitsgefühl nicht ausreichend
ausgeprägt oder die Vision ist unklar. Dies führt dazu, dass die Transforma-
tion nicht reibungslos vonstattengeht und die Leute dazu übergehen, sich
abzumühen, um noch irgendwie die Kurve zu kriegen. Aufgrund der
dann allgegenwärtigen Panik erfährt die Planung schneller Erfolge zu we-
nig Zeit oder zu wenig Aufmerksamkeit.
In anderen Fällen versuchen die Leute gar nicht großartig, diese Erfolge zu
erreichen, weil sie glauben, dass man nicht tief greifenden Wandel und exzel-
lente, schnelle Erfolge erreichen kann. Abertausende von Managern haben
gelernt, dass das Leben in einer Organisation ein Trade-Off zwischen Kurz-
und Langfristigkeit ist. In diesem Glaubenssystem kann man entweder auf
lange Sicht planen und kurzfristig kleine Brötchen backen oder kurzfristig
sehr gute Leistung bringen und dafür die Zukunft auf das Spiel setzen.
Nach diesem Denkschema bedeutet die Durchführung eines umfassenden
Transformationsprogramms eine langfristige Angelegenheit, was wiederum
im Umkehrschluss bedeutet, dass schnelle Erfolge problematisch sind. Si-
cherlich darf man die nahe Zukunft nicht außer Acht lassen, aber große Re-
sultate können so nicht erreicht werden. Das ist einfach unmöglich.
Vor zehn Jahren hätte ich solch einer Sichtweise gewiss zugestimmt. Ich
habe jedoch zu viele gegenteilige Beweise gesehen. Um es mit den Worten
eines renommierten Top-Managers auszudrücken: „Management besteht da-
rin, schnelle Erfolge zu realisieren und gleichzeitig sicherzustellen, zukünftig in
einer noch besseren Position zu sein, um noch erfolgreicher zu werden.“ In den
letzten zehn Jahren habe ich Dutzende Unternehmen beobachtet, denen bei-
des gelang. Sie haben sich selbst in bessere Unternehmen transformiert und
dabei in jedem Quartal gute Resultate erreicht.
Ein drittes Element, das die Planung notwendiger Erfolge untergräbt, ist
das Fehlen von ausreichendem Management, insbesondere in der Füh-
rungskoalition, oder fehlendes Commitment der Schlüsselspieler. Im Gro-
ßen und Ganzen bedeutet Leadership das langfristige Handeln, während
Management für das kurzfristige Handeln zuständig ist. Ohne ausreichen-
des gutes Management sind Planung, Organisation und Überwachung der
Resultate nicht möglich.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-102
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:47.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
106 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Ohne kompetentes Management wird den Bewertungssystemen nur unzu-
reichend Aufmerksamkeit geschenkt. Bestehende Informationssysteme ver-
sagen entweder bei der Dokumentation wichtiger Leistungsverbesserungen
oder sie bewerten deren Ausmaß nicht hoch genug. Ohne kompetentes Ma-
nagement werden taktische Entscheidungen beschönigt oder schlecht umge-
setzt. Akquisitionen werden eher impulsiv vorgenommen und nicht, weil sie
rational die Vision unterstützen. Die Sequenzierung der Ereignisse – führen
wir die Restrukturierung dieses Jahr durch oder erst, nachdem die Qualitäts-
maßnahme weiter fortgeschritten ist – wird zu wenig berücksichtigt.
Da im 20. Jahrhundert die Betonung auf dem Management lag – mit der Aus-
nahme von kleinen und jungen Firmen – fehlt es den meisten Unternehmen
nur selten an dieser Perspektive. Bis zu einem bestimmten Punkt kommen
kleine Firmen ohne viel Planung und Kontrolle aus. Wenn der Firmengrün-
der ein Visionär ist, der Strukturen ablehnt (keine ungewöhnliche Situation),
dann wird er oder sie sich vielleicht dem Managementdenken widersetzen,
was aber in dieser Phase des Transformationsprozesses zu einem Problem
werden kann.
In älteren und größeren Firmen liegt das Problem unzureichenden Manage-
ments typischerweise an einem neuen starken Leader, der seine Manager
ignoriert, oder an einem fehlenden Commitment der Manager für die Trans-
formation. Ersteres traf im Falle des charismatischen Bereichsleiters zu, der
schließlich seinen Job verlor. Tief in seinem Herzen dachte er, dass die Leute,
die das gegenwärtige System in Gang hielten, von geringer Bedeutung
waren. Obwohl er es nie direkt sagte, konnte man es zwischen den Zeilen
lesen. Wenn also einige dieser Leute versuchten, ihn über die kurzfristige
wirtschaftliche Situation zu informieren, ignorierte er sie häufig.
Man findet bei den Managern in großen, alteingesessenen Unternehmen oft
einen Mangel an Selbstverpflichtung für den Wandel, wenn die frühen Pha-
sen der Transformation nicht vernünftig durchgeführt wurden. Das Fehlen
des Dringlichkeitsgefühls, der Mangel an Schlüsselspielern in der Füh-
rungskoalition, das Scheitern der Kommunikation einer effektiven Vision
und das Fehlen eines Mitarbeiter-Empowerments auf breiter Basis führen
dazu, dass Menschen in Organisationen mit zu viel Management und zu
wenig Leadership oftmals während des Wandels an der Seitenlinie stehen.
Insbesondere betrifft dies auch Manager, die wesentlich zur Erreichung not-
wendiger, schneller Erfolge beitragen könnten.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-102
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:47.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 8: Schnelle Erfolge erzielen
schon genug zu tun“, sagen die Leute, „auch ohne noch mehr Belastungen.
Geben Sie uns eine Pause.“
Diese Denkweise ist nicht von der Hand zu weisen. Trotzdem konnte ich
¢ 107
https://doi.org/10.15358/9783800646159-102
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:47.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
108 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
die wiederum nur mit weiterer Augenwischerei vertuscht werden können.
Zweitens kann das dazu führen, dass unter den Schlüsselspielern immer
mehr zu Zynikern und Widersachern werden, die intelligent genug sind,
um dieses Spiel zu durchschauen. Mächtige Zyniker können sehr störend
sein. Und drittens ist es möglich, dass sich diejenigen abwenden, die diese
Vorgehensweise als unethisch empfinden.
Einige dieser Risiken können eliminiert werden, wenn die gesamte Füh-
rungskoalition die Anwendung dieser Methoden diskutiert und verabschie-
det. Doch selbst dann liefern die geschönten Ergebnisse keine solide Basis,
auf der die Transformationsphasen 7 und 8 aufbauen können. Schnelle Er-
folge, die eine Transformation unterstützen, sind normalerweise echt. Sie
sind nicht nur Schall und Rauch.
Das systematische Setzen von Zielen und deren Budgetierung, Planung, Or-
ganisation und Durchführung sowie das Prozesscontrolling – das ist die Es-
senz von Management. Wenn man dies im Hinterkopf behält, kann man
leicht erkennen, dass die Notwendigkeit schneller Erfolge in einem erfolg-
reichen Veränderungsprozess ein wichtiges Prinzip verdeutlicht: Transfor-
mation ist kein Prozess, bei dem es nur auf Leadership ankommt; gutes Ma-
nagement ist auch wesentlich. Wie Abbildung 22 zeigt, ist eine Balance der
beiden Elemente erforderlich.
Charismatische Leader sind oft schlechte Manager, aber sie überzeugen uns
davon, dass wir nichts anderes tun müssen, als ihnen zu folgen. „Mach Dir
keine Sorgen um die Details, denke nur an die Vision.“ „Sorge dich nicht um die
Finanzen; auf lange Sicht wird alles gut werden.“ Unser Intellekt reagiert ei-
gentlich skeptisch auf diesen Ansatz, aber unsere Herzen können trotzdem
gewonnen werden.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-102
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:47.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 8: Schnelle Erfolge erzielen ¢ 109
Ich möchte nicht suggerieren, dass Charisma etwas Schlechtes ist. Es ist be-
wiesen, dass persönliche Ausstrahlung in einem Wandel äußerst hilfreich
sein kann. Wenn jedoch ein charismatischer Leader kein guter Manager ist
und zugleich die Managementfähigkeiten der anderen nicht schätzt, dann
ist das Erzielen von schnellen Erfolgen sehr problematisch. Glaubwürdig-
keit und Momentum, beides Voraussetzungen für die erfolgreiche Durch-
führung der Phase 7, sind dann selten vorhanden. Wie wir im nächsten Ka-
pitel sehen werden, ist das Ausmaß des Wandels in Phase 7 oft enorm.
Veränderungen in dieser Größe werden niemals ohne eine solide Basis von
Glaubwürdigkeit und starkem Momentum vorangebracht.
Das vorrangige Ziel der ersten sechs Phasen des Transformationsprozesses
ist es, genügend Momentum aufzubauen, um so die in vielen großen Orga-
nisationen vorhandenen dysfunktionalen Granitmauern zu durchbrechen.
Wenn eine dieser Phasen ignoriert wird, riskieren wir das Ergebnis der ge-
samten Bemühungen.
In etablierten, seit Jahrzehnten existierenden Unternehmen können diese
Granitwände dick sein – manchmal extrem dick.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-102
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:52:47.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 9: Erfolge konsolidieren und weitere
Veränderungen einleiten
Natürlich sagte keiner explizit „entspannt Euch“, und der CEO war sich
sehr wohl dessen bewusst, dass noch viel mehr zu tun war, um den einige
Jahre zuvor begonnenen Transformationsprozess abschließen zu können.
Alles, was er tun wollte, war, seinen Führungskräften zu danken und sie
mit aufrichtigem Lob zu motivieren. Aber die Botschaft, die beim Plenum
ankam, lautete, dass sie die schwierige Arbeit des Veränderns bereits hinter
sich hatten.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-113
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:11.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
112 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Management endlich realisierten, was passierte, war schon viel von dem in
drei Jahren harter Arbeit aufgebauten Momentum verpufft.
Fundamentaler Wandel benötigt besonders in Großunternehmen oft eine
lange Zeit. Viele Kräfte können den Prozess auch noch kurz vor der Zielli-
nie abreißen lassen: Weggang von zentralen Change Agents, schiere Er-
schöpfung aufseiten der Führungskräfte, Pech. Unter diesen Umständen
sind kurzfristige Erfolge essenziell, um das Momentum zu erhalten, aber
das Feiern solcher Siege kann tödlich sein, wenn die Dringlichkeit verloren
geht. Mit Selbstgefälligkeit können die beharrenden traditionellen Kräfte in-
nerhalb kürzester Zeit und mit bemerkenswerter Energie schnell wieder die
Oberhand gewinnen.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-113
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:11.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 9: Erfolge konsolidieren/Veränderungen einleiten
und die Zurückentwicklung setzt ein. Bis veränderte Praktiken Einzug in die
neue Kultur finden und für ein neues Gleichgewicht sorgen, können sie
sehr zerbrechlich sein. Drei Jahre intensiver Arbeit können innerhalb kür-
¢ 113
https://doi.org/10.15358/9783800646159-113
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:11.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
114 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
großen Bestände und keine langatmigen Produktentwicklungen mehr leis-
ten, ebenso wenig wie eine ausländische Niederlassung, die ihren eigenen
Weg verfolgt. Heute und in absehbarer Zukunft müssen die meisten Unter-
nehmen schneller, kosteneffizienter und kundenorientierter werden. Folg-
lich werden interne Abhängigkeiten wachsen. Unternehmen erkennen,
dass ohne größere Bestände die verschiedenen Teile einer Fertigung viel prä-
ziser aufeinander abgestimmt sein müssen; dass durch den Druck zu immer
schnellerer Produktentwicklung die Teile dieses Prozesses stärker integriert
werden müssen usw. Da unabhängige Teilsysteme viel leichter geändert
werden könnten, verkomplizieren diese neuen Abhängigkeiten Transforma-
tionsbemühungen immens.
Stellen Sie sich vor, Sie betreten ein Büro und stellen fest, dass Ihnen die
Anordnung und Möblierung nicht gefällt. Also schieben Sie einen Stuhl
weiter nach links. Sie stellen ein paar Bücher auf das Sideboard. Sie neh-
men sich einen Hammer und hängen ein Bild um. All dies stellt eine
überschaubare Aufgabe dar, die vielleicht höchstens eine Stunde dauern
wird. Und tatsächlich sind Veränderungen unabhängiger Elemente nor-
malerweise nicht sehr schwierig.
Stellen Sie sich nun vor, Sie betreten ein anderes Büro, in dem die Gegen-
stände durch Stricke, Gummibänder und Stahlseile miteinander verbun-
den sind. Das Zimmer wäre allein schon schwer zu betreten, ohne dass
man sich verheddert. Nachdem Sie sich langsam zum Stuhl vorgearbeitet
haben und versuchen, ihn zu verschieben, bemerken Sie, dass sich dieses
an sich leichte Möbelstück keinen Millimeter bewegt. Als Sie stärker
schieben, bewegt sich der Stuhl tatsächlich um ein paar Zentimeter,
aber dann stellen Sie fest, dass ein Dutzend Bücher vom Regal gerissen
wurden und dass sich das Sofa leicht in eine Richtung verschoben hat, in
der Sie es nicht haben wollen. Sie kämpfen sich langsam zum Sofa durch
und versuchen, es wieder auf den alten Platz zurückzuschieben, was sich
aber als sehr schwierig erweist. Nach einer halben Stunde gelingt es
Ihnen zwar, dabei ist aber eine Lampe vom Tisch gerutscht und hängt
nun gefährlich auf halber Höhe fest, gehalten von einem Strick auf der
einen Seite und einem Seil auf der anderen.
Unternehmen ähneln immer mehr diesem seltsamen Büro. Nur wenige
Dinge lassen sich einfach bewegen, weil fast jedes Element mit anderen
verbunden ist. Sie bitten Mary, etwas auf eine neue Art und Weise zu er-
ledigen. Nichts passiert. Sie bitten sie erneut. Mary bewegt sich ein paar
Zentimeter. Sie erhöhen den Druck auf sie. Vielleicht bekommen Sie
noch ein paar Zentimeter. Sie werden wütend und ziehen alle mög-
lichen unfreundlichen Rückschlüsse auf ihren Charakter und ihre Moti-
vation. Aber das Hauptproblem ist, dass Marys Verhalten – genau wie
der Stuhl und das Sofa – von vielen unterschiedlichen Kräften an Ort
und Stelle gehalten wird. Anstelle von Stricken und Seilen finden Sie in
ihrem Fall Vorgesetzte, Organisationsstrukturen, Leistungsbewertungs-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-113
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:11.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 9: Erfolge konsolidieren/Veränderungen einleiten
systeme, persönliche Angewohnheiten, Kulturen, Beziehungen zu den
Kollegen und (als wichtigstes) einen nicht abreißenden Strom von Anfor-
derungen von unterschiedlichen Gruppen, Abteilungen und Leuten.
¢ 115
Unter solchen Umständen kann es sehr schwierig sein, Mary von einem
neuen Verhalten zu überzeugen. Tausende Angestellte wie sie dazu zu
bewegen, ihre Arbeit anders anzugehen, kann eine monumentale Auf-
gabe sein.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-113
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:11.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
116 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
leicht seine freiwillige Unterstützung anbieten. Aber die meisten Leute wer-
den in Deckung gehen, wenn sie Sie den Gang herunterkommen sehen.
Falls Sie bereits Erfahrungen mit dieser Form von Wandel aufgebaut haben,
werden Sie wissen, dass Sie zunächst das Tempo drosseln müssen, um die
notwendige Kompetenz für einen erfolgreichen Umgang mit der Situation
aufzubauen. Ihre zentrale Frage wird lauten: Ist das Dringlichkeitsgefühl,
speziell was die Kundenorientierung angeht, hier hoch genug? Sollte die
ehrliche Antwort „Ja“ lauten und durch externe Quellen bestätigt werden,
gehen Sie die nächsten Schritte. Lautet die Antwort „Nein“, stellt sich statt-
dessen die Frage: Wie kann ich das Niveau der Selbstgefälligkeit reduzieren
und das der Dringlichkeit erhöhen?
Falls Sie erst wenig Erfahrung mit der Veränderung interdependenter Sys-
teme haben, werden Sie höchstwahrscheinlich schnell ungeduldig werden.
„Das ist doch lächerlich“, werden Sie sagen. „Ich könnte Tage oder Wochen da-
mit verbringen, diesem Haufen die Dringlichkeit zu vermitteln. Die Zeit habe ich
aber nicht.“ Also nehmen Sie sich zwei Leute und beauftragen Sie damit ...
https://doi.org/10.15358/9783800646159-113
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:11.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 9: Erfolge konsolidieren/Veränderungen einleiten
Erfahrene Change Agents wissen, wie sie ihre Ungeduld im Zaum halten.
In der obigen Situation würden sie, kurz nachdem sie die Selbstgefälligkeit
Kunden gegenüber in Angriff genommen haben, die ersten Schritte einlei-
¢ 117
ten und ein Team für die Leitung des Projektes zusammenstellen. Befände
sich das Dringlichkeitsniveau auf dem Tiefpunkt, wäre selbst dies nicht
möglich, weil sich niemand bereit erklären würde, zu helfen. Daher wür-
den sie versuchen, die Vision der neuen Büroeinrichtung näher zu erläutern
und dabei stets oberste Priorität auf den Abbau der Selbstgefälligkeit legen.
In diesem einfachen Fall brauchen Sie nur ein bis zwei andere für die Füh-
rungskoalition. Sie drei werden die übergeordnete Vision für den Wandel
verdeutlichen und Strategien ausarbeiten, um sie zum Leben zu erwecken.
Sie werden Wege finden, um diese Informationen an die 20, 50 oder 100 an-
deren Leute zu kommunizieren, die an der Situation und ihrem Ausgang
interessiert oder beteiligt sind. Sie werden Faktoren identifizieren, welche
eine Umsetzung der Vision behindern könnten und die gravierenderen da-
von direkt angehen. Dann, und erst dann, werden Sie einen Plan für das
Umarrangieren der Möbel aufstellen, um Unterstützung werben und mit
der Arbeit in den Büros beginnen können.
Sobald Sie einmal mit den Räumlichkeiten anfangen, werden Sie in mehre-
ren Teilprojekten vorgehen und nicht in einem einzigen großen Umzug. Sie
werden zeitliche Abhängigkeiten erkennen: Sie können den Schreibtisch-
stuhl erst verschieben, wenn Sie davor etwas anderes getan haben. Wenn
Sie klug sind, planen Sie einige kurzfristige Erfolge ein, um die Moral in der
Gruppe hochzuhalten. Aber auch mit diesen Kurzfristerfolgen werden sich
einige Leute auf halber Strecke fragen, ob die Veränderungen wirklich not-
wendig sind. Die Kunden können doch bestimmt auch ohne die zusätzliche
Beleuchtung auskommen. Der Besucherstuhl neben dem Sofa ist gar nicht so
schlecht. Die Kunden können auch laufen; lasst sie doch selbst zum Bücher-
regal gehen und sich dort die Broschüren holen.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-113
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:11.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
118 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
des gesamten Projekts zu erklären, und damit verhindern, dass die Kom-
munikation der Vision sich irgendwann totläuft.
Wenn Sie nicht aufgeben, werden Sie später im Prozess zusätzliche Projekte
einplanen. Je mehr Sie sich an all die Seile und Stricke gewöhnen, desto kla-
rer wird es Ihnen, dass davon etliche eigentlich keinen Sinn ergeben, und
sie werden versuchen, sie loszuwerden. Die meisten der Stricke und Gum-
mibänder lassen sich wahrscheinlich einfach entfernen. Bei den Stahlseilen
wird es schon schwieriger. Sie werden auch zusätzliche Einfälle haben, wie
Sie Ihren Kunden das Leben noch angenehmer machen können. Warum
nicht die Jalousien etwas herunterlassen, damit sie nicht geblendet werden?
Aber anstatt aus jeder solcher Idee gleich ein neues Projekt zu machen, wer-
den Sie pragmatisch vorgehen und sie direkt in die bereits eingeplanten Ak-
tivitäten integrieren. Manches davon wird Ihnen gelingen, manches nicht.
Unterm Strich: Sie werden am Ende mehr verändert haben, als Sie sich ein-
gangs vorstellen konnten. Die gesamten Bemühungen werden mehr Zeit
und Energie verschlingen, als Sie zu Beginn erwarteten. Die gute Nachricht
dabei lautet, dass es Ihnen wahrscheinlich leichter fallen wird, in Zukunft
etwas Ähnliches zu wiederholen, weil Sie nützliche Fähigkeiten erworben
und einige der nutzlosen Seile und Kabel durchtrennt haben. Und am
Ende wird das Büro natürlich auch viel kundenfreundlicher sein.
Unternehmenstransformationen
https://doi.org/10.15358/9783800646159-113
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:11.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 9: Erfolge konsolidieren/Veränderungen einleiten
durchführen zu können, werden Sie auch Trainingsprogramme ändern, In-
formationssysteme modifizieren, Personal ein- oder ausstellen und neue
Leistungsbewertungssysteme einführen müssen. Ehe man sich versieht,
¢ 119
https://doi.org/10.15358/9783800646159-113
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:11.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
120 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
ternehmensvision besagt oder wie ihre Projekte in diese Vision eingebettet
sind. Sie wissen nur, dass sie die indirekten Kosten in der Konstruktionsab-
teilung um 20% senken, die Eingangslogistik für Zulieferteile optimieren
oder den Nachfolgeplanungsprozess neu gestalten sollen. Während der
Projektarbeit geraten sie andauernd mit unzähligen anderen Initiativen in
Konflikt. „Nein, sagt man ihnen, so könnt Ihr es nicht machen, das würde die Sa-
che für uns verkomplizieren. Nein, diese Ressourcen brauche ich heute; warum
hast Du mich nicht vor zwei Wochen von Deinen Plänen informiert?“ Leitende
Manager versuchen, in diesen Konflikten zu vermitteln und sachliche Prio-
ritäten zu setzen, aber die Zeit reicht ihnen einfach nicht. All das führt zu
Frustration, noch mehr Abstimmungsmeetings, politischem Tauziehen
und schließlich zu einem gewissen Grad an Chaos.
In der zweiten Situation hilft gute Führung von oben den Mitarbeitern, das
große Ganze, die übergeordnete Vision, die Strategien und die Rolle eines
jeden Projekts darin zu verstehen. Hier streben die Leute in verschiedenen
Projekten alle dasselbe langfristige Ziel an, ohne sich permanent abstimmen
zu müssen. Auch können sie bereits im Voraus abschätzen, wo Konflikte mit
anderen Projekten drohen, wo die Prioritäten angesichts der übergeordneten
Vision liegen sollten und was zu tun ist, um das Unternehmen nach vorne zu
bringen. Innerhalb eines solchen Rahmens werden Konflikte auf den unteren
Unternehmensebenen von Leuten bewältigt, die über die Zeit und die rele-
vanten Informationen verfügen. Kompetente Führung von oben wird auch
dazu führen, dass sich diese Manager auf den unteren Ebenen der Trans-
formation insgesamt verpflichtet fühlen und dadurch das Richtige tun wer-
den – mit einem Minimum an überflüssiger Kirchturmpolitik.
Mit ausreichender Führung von oben und umfassender Delegation von Ma-
nagement- und Führungsaufgaben können 20 Veränderungsprojekte gleich-
zeitig bewältigt werden. Wenn auch nur eines der beiden Elemente fehlt,
werden die 20 Projekte im Chaos münden, und Stufe 7 des Transformations-
prozesses wird fehlschlagen.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-113
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:11.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 9: Erfolge konsolidieren/Veränderungen einleiten
es dafür berechtigte Gründe gibt, sind 50 000 US-$ dann eigentlich der rich-
tige Schwellenwert?
Der Prozess des Hinterfragens, wie er oben geschildert wurde, eskaliert re-
¢ 121
https://doi.org/10.15358/9783800646159-113
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:11.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
122 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
oder sogar Jahrhunderte können sinnvolle Zeiträume werden. Angetrieben
von mitreißenden Visionen, die ihnen für sich selbst wichtig sind, haben sie
den festen Willen, Kurs zu halten und Ziele zu erreichen, die ihnen häufig
auch psychologisch bedeutend erscheinen. Während andere alle zwei Jahre
den Job wechseln, sitzen Leader oft doppelt so lange auf einer Position als
Nachwuchsmanager oder bleiben gar für mehr als zehn Jahre in einer Füh-
rungsposition. Anstatt verfrüht den Sieg zu verkünden und die Weiterent-
wicklung einzustellen, lancieren sie die zahlreichen Veränderungsprojekte,
wie sie auf Stufe 7 einer Transformation häufig benötigt werden. Sie wer-
den sich auch die erforderliche Zeit dafür nehmen, alle neuen Arbeitswei-
sen fest in der Unternehmenskultur zu verankern.
Die natürliche Beschaffenheit von Managementprozessen lässt Manager
häufig in viel kürzeren Zeiträumen denken. Für sie bedeutet kurzfristig
eine Woche, mittelfristig ein paar Monate und langfristig ein Jahr. Ange-
sichts eines solchen Zeithorizonts wirkt es nachvollziehbar, wenn nach
zwei oder drei Jahren der Sieg verkündet und der Wandelprozess beendet
wird. Wem über Jahrzehnte eine Manager-Denkhaltung eingehämmert
wurde, für den können drei Jahre eine sehr, sehr lange Zeit sein.
Noch einmal: Ohne ausreichende Führung kommt der Wandel zum Still-
stand und es wird problematisch, in einer sich schnell verändernden Welt
Spitzenleistungen zu erbringen.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-113
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:11.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 10: Neue Ansätze in der Kultur verankern
Die Resultate nach Jahren harter Arbeit waren beeindruckend. Ein einst-
mals nach innen gerichtetes und schwerfälliges Luft- und Raumfahrtunter-
nehmen stellte nun mit hoher Geschwindigkeit innovative neue Produkte
her. Nicht alle kamen im Markt gut an, aber es waren doch viele so erfolg-
reich, dass der Umsatz der Division innerhalb von fünf Jahren um 62% und
das Ergebnis sogar um 76% gewachsen war; die Vergleichszahlen für die
vorausgegangenen fünf Jahre hatten bei 21% respektive 15% gelegen. Der
Divisionsleiter ging in den Ruhestand; er war stolz darauf, dass er einen
wichtigen Beitrag zum Geschäftserfolg geleistet hatte. Er hätte noch einige
Jahre bleiben können, entschied sich aber dagegen: Die Veränderungen
waren vollbracht und die Resultate waren beeindruckend – die Arbeit war
getan.
Ich glaube, dass zum Zeitpunkt des Abschieds des Geschäftsführers nie-
mand wirklich realisierte, dass der neue Arbeitsstil nie wirklich fest in der
Unternehmenskultur der Division verankert worden war. Und selbst wenn
manche diesen Eindruck hatten, hielten sie es eher für ein marginales Prob-
lem. Trotz alledem, würden sie sagen, sehen Sie sich die Veränderungen an,
und schauen Sie auf die Resultate.
Innerhalb von zwei Jahren nach dem Ausscheiden des Divisionsleiters gin-
gen die Einführungsquote neuer Produkte und deren Markterfolg mehr
und mehr zurück. Es passierte nicht abrupt; der Rückfall verlief eher schlei-
chend. Zunächst schien es niemand zu bemerken. Der einzige Top-Mana-
ger, der sich nach einem Jahr alarmiert zeigte, war kurz zuvor von außen
in das Unternehmen eingestiegen. Von seinen Führungskollegen wurde er
meist ignoriert.
Meine Analyse dazu zeigt, dass einige zentrale Verhaltensregeln in der Kul-
tur der Division nicht zu all den umgesetzten Veränderungen passten.
Diese Inkonsistenz wurde jedoch nie genauer in Augenschein genommen.
Solange der Divisionsleiter und das Transformationsprogramm Tag und
Nacht arbeiteten, um die neuen Arbeitsweisen durchzusetzen, überwog
die Wucht dieser Anstrengungen alle kulturellen Einflüsse. Als aber der Di-
visionsleiter das Unternehmen verließ und das Transformationsprogramm
endete, setzte sich die ursprüngliche Kultur wieder durch.
Der oberste gemeinsame Wert, der sich in den ersten Jahren nach der Grün-
dung fest in dem Unternehmen etabliert hatte, lautete: „Die Weiterentwick-
lung unserer Technologie wird alle Probleme lösen“. Wie so vieles in Unterneh-
menskulturen war diese Idee nie offiziell verkündet oder schriftlich fixiert
https://doi.org/10.15358/9783800646159-125
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:39.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
124 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
worden. Wenn man sie mit dieser Aussage konfrontierte, würden die meis-
ten Mitarbeiter offen zugeben, dass sie nicht ganz stimmte. Aber geben Sie
einer Gruppe von Managern drei oder vier Bier aus, und sie würden eine
Menge hören in dem Sinne, dass „eine Weiterentwicklung unserer Technologie
alle Probleme lösen wird“.
Da dieser Kernwert den Veränderungsbemühungen nicht diametral wider-
sprach, existierten beide nebeneinander, wenn auch mit einigen Reibungen.
Die neuen Arbeitsweisen rückten zuallererst die Kunden in den Mittel-
punkt der Aufmerksamkeit. Der ursprüngliche Kernwert stellte die Techno-
logie in das Zentrum. Die neuen Arbeitsweisen zielten darauf ab, das Un-
ternehmen im Vergleich zu den Wettbewerbern schneller zu machen. Der
ursprüngliche Kernwert gab dagegen ein Tempo vor, das durch die Ge-
schwindigkeit der internen Technologieentwicklung bestimmt wurde.
Jemand mit guten Antennen für die Kultur hätte diese Spannungen im Un-
ternehmen erkannt. Da der Konflikt aber so subtil war, bemerkten die meis-
ten Leute überhaupt nichts. Die Kommunikation der Vision, die Umset-
zung durch das Management, die geänderten Leistungsmaßstäbe und
andere Einflüsse unterstützten die neuen Arbeitsweisen mit Nachdruck.
Man hätte schon sehr genau hinhören müssen, um zu verstehen, wie die
alte Kultur sich wieder durchsetzen wollte: „Ja, aber bla bla bla, Technologie,
bla bla bla.“
Da niemand dieses Problem anging, wurde wenig bis nichts unternommen,
um die neuen Arbeitsweisen so tiefe Wurzeln schlagen zu lassen, dass sie
bis in den Kern der alten Kultur reichten oder sogar so stark waren, sie zu
ersetzen. Oberflächliche Wurzeln müssen ständig gegossen werden. So-
lange der Divisionsleiter und andere Change Agents täglich mit dem Gar-
tenschlauch dastanden, war alles in Ordnung. Ohne diese Aufmerksamkeit
trockneten die neuen Methoden aus, verkümmerten und starben schließ-
lich. Andere Pflanzen, die man zurückgeschnitten hatte, die aber tiefer ver-
wurzelt waren, begannen, alles wieder zu überwuchern.
Eine halbes Jahr nach dem Ausscheiden des Divisionsleiters hinterfragten
die Manager Geschäftsprioritäten und Managementpraktiken immer häufi-
ger. Es bestand eigentlich kein Anlass zur Sorge, man sei technologisch ins
Hintertreffen geraten, und doch sagten die Leute: „Ich fürchte, wir haben un-
sere Technologie vernachlässigt. Wenn wir so weitermachen, werden wir ernsthafte
Probleme bekommen.“ Die Besprechungen mit Ingenieuren, Marketingleuten
und Kunden wurden immer kritischer gesehen. „Die Ingenieure verbringen
so viel Zeit in Sitzungen außerhalb ihrer Arbeitsgruppen, dass sie ihren eigent-
lichen Fokus aus den Augen verlieren.“ Ein Wettbewerber, der bei den meisten
Leistungsdaten nur siebenter in einem Ranking der besten zehn Unterneh-
men war, wurde unversehens zum Vergleichsmaßstab. „Ich habe neulich ge-
hört, dass sie pro Mitarbeiter fast 20% mehr in F&E investieren. Da müssen wir
aktiv werden.“
https://doi.org/10.15358/9783800646159-125
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:39.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 10: Neue Ansätze in der Kultur verankern
Innerhalb eines Jahres nach dem Ausscheiden des Divisionsleiters waren an
den Arbeitsweisen bereits viele kleine Anpassungen vorgenommen wor-
den. Nur die wenigsten dieser Veränderungen waren explizit diskutiert
¢ 125
Für große Unternehmen ist es typisch, dass einige dieser sozialen Kräfte –
die sogenannte Unternehmenskultur – jeden betreffen und andere wiede-
rum spezifisch für bestimmte Einheiten sind (z. B. die Marketingkultur, die
Kultur im Büro Detroit). Ungeachtet der Hierarchieebene oder des Stand-
orts ist Kultur so wichtig, weil sie das menschliche Verhalten stark beein-
flussen kann, weil sie oft schwer zu verändern ist und weil ihre Unsichtbar-
keit es sehr schwierig macht, sie direkt zu adressieren. Die gemeinsamen
Werte sind in der Regel weniger offensichtlich, dafür aber tiefer eingebettet
in die Kultur – dadurch sind Veränderungen hier noch schwieriger als bei
den Verhaltensnormen (vgl. Abbildung 25).
https://doi.org/10.15358/9783800646159-125
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:39.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
126 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Die wenigsten Leute, werden, als sie Sie einstellten, ausdrücklich gesagt
haben: „Einer der Hauptgründe, warum wir Sie einstellen ist, weil wir glauben,
dass Sie zu uns passen, dass Sie unsere impliziten Werte und Ansichten teilen
und dass es Ihnen leicht fallen wird, sich unseren Normen anzupassen.“ Sie er-
wähnten dies in dieser Form wahrscheinlich deshalb nicht, weil ihnen
selbst nicht klar ist, in welch hohem Maße sie bei Personaleinstellungen kul-
turelle Maßstäbe ansetzen. Als Sie das Angebot annahmen, war Ihnen mög-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-125
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:39.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 10: Neue Ansätze in der Kultur verankern
licherweise die Bedeutung, die Sie auf einen „Fit bei den Werten“ legten,
ebenso wenig bewusst. Im Ergebnis sind Sie und vermutlich all Ihre kürz-
lich eingestellten Kollegen einfache Kandidaten für die sogenannte „Soziali-
¢ 127
https://doi.org/10.15358/9783800646159-125
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:39.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
128 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
sich die Kultur außerhalb der Wahrnehmung der Mitarbeiter abspielt,
selbst solche Aspekte, die offensichtlich eher unüblich sind. Ich kann mich
noch daran erinnern, wie ich vor etwa 20 Jahren ein größeres Verlagshaus
besuchte und dort sah, dass acht der elf männlichen Topleute kleiner als
1,70 m waren (Der Firmengründer war 1,65 m groß). Als ich dies in einem
Nebensatz bemerkte, ohne es im Geringsten abwertend zu meinen, sahen
mich die Anwesenden an wie einen Außerirdischen. In einem anderen
Großunternehmen, das mit Sprengstoffen angefangen hatte und in dem
Sicherheit in mehr als einem Jahrhundert fast zu einer Obsession geworden
war, bemerkte ich, dass fast alle Manager sich beim Treppensteigen am
Handlauf festhielten, als wären sie 99 Jahre alt.
Weil Unternehmenskulturen einen derartigen Einfluss ausüben, müssen
neue Arbeitsweisen, die in einem Reengineering, einer Restrukturierung
oder einer Akquisition entstehen, in der Kultur verankert werden; andern-
falls können sie sehr zerbrechlich sein und sich leicht wieder zurückbilden.
In vielen Transformationen ist der Kern der alten Kultur nicht von vornhe-
rein unvereinbar mit der neuen Vision; einige spezifische Normen werden
es gleichwohl sein. In einem solchen Fall besteht die Herausforderung da-
rin, die neuen Praktiken auf alte Wurzeln zu übertragen und unpassende
Teile abzuschneiden.
Bei einem führenden Hersteller von Industrieausrüstungen hatte absolute
Kundenorientierung immer den Kern der Unternehmenskultur gebildet. In
den frühen Jahren waren die Arbeitsweisen des Unternehmens vom Grün-
der um diesen Kern herum geprägt und von allen anderen nachgeahmt
worden. In der Mitte des 20. Jahrhunderts – der Gründer war schon lange
tot und das Unternehmen hatte in punkto Kundenbedienung eine 100-jäh-
rige Historie aufgebaut – entschloss sich das obere Management, dieses
Wissen als Prozeduren niederzuschreiben, die einer ständig wachsenden
Mitarbeiterschaft einfacher vermittelt werden konnten. Im Jahr 1980 füllten
diese Regeln sechs Handbücher, jedes mehr als fünf Zentimeter dick. An
diesem Punkt war „streng nach dem Handbuch zu verfahren“ eine feste
Gewohnheit und kulturelle Norm geworden.
1983 führte ein neuer CEO das Unternehmen durch einen größeren und er-
folgreichen Transformationsprozess. Um 1988 herum wurden die alten Ver-
fahrenshandbücher schließlich abgeschafft und durch bedeutend weniger
Regeln und eine Reihe von kundenorientierten Verhaltensweisen ersetzt
worden, die besser in die Zeit passten. Der CEO erkannte jedoch, dass die
alten Handbücher zwar nicht mehr auf den Schreibtischen lagen, in der Un-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-125
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:39.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 10: Neue Ansätze in der Kultur verankern
ternehmenskultur aber weiterhin sehr stark präsent waren. Er tat daraufhin
Folgendes.
Als er während der jährlichen Managementkonferenz die Bühne für seine
¢ 129
https://doi.org/10.15358/9783800646159-125
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:39.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
130 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
men gekommen sind und die die Bücher dort drüben für eine Lachnum-
mer halten, für Bürokratie reinsten Wassers. Nun, ich möchte, dass Ihr
wisst, dass sie dem Unternehmen für viele Jahre wertvolle Dienste erwie-
sen haben. Ich weiß auch, dass es Leute in diesem Raum gibt, die es has-
sen, diese Bücher verschwinden zu sehen. Ihr würdet es vielleicht nicht
zugeben – die Logik hinter unserem Vorgehen ist viel zu zwingend –
aber irgendwo tief drinnen empfindet Ihr das so. Ich möchte, dass auch
Ihr heute mit mir gemeinsam Lebewohl sagt. Die Handbücher sind wie
ein guter Freund, der nach einem erfüllten Leben verstorben ist. Wir
müssen seinen Beitrag für unser Leben anerkennen und dann in die Zu-
kunft schauen.“
Die Rede dauerte insgesamt etwa eine halbe Stunde. Der Ton war der einer
Laudatio. Hier hören wir einen Mann, der mit allem Respekt versucht, eine
Ansammlung alter Gepflogenheiten zu beerdigen und dabei sicherzustel-
len, dass das, wodurch sie ersetzt werden, fest mit den Kernwerten der
Gruppe verbunden ist. Für unsere analytische Gehirnhälfte ist es schwer
zu verstehen, warum dies erforderlich sein soll. Wären wir rein analytisch
veranlagt, wäre solch eine Rede nicht notwendig. Aber Menschen sind
auch emotionale Wesen, und wenn wir diese Tatsache ignorieren, geschieht
das auf unser eigenes Risiko.
Nachdem, was ich gesehen habe, waren diese Rede und die damit verbun-
denen Folgemaßnahmen sehr erfolgreich. Ein vor allem unter den älteren
Mitarbeiter fast schon zum Automatismus gewordenes Verhalten, „streng
nach dem Handbuch zu verfahren“, wurde durch vernünftigere Verhaltens-
regeln ersetzt. Das ist ein großes Verdienst.
Ich glaube, dass wir in den kommenden Jahrzehnten viel öfter diese Art von
begrenzter kultureller Veränderung werden vornehmen müssen. Die zuneh-
mende Globalisierung von Unternehmen wird zig Spielarten dieses Prob-
lems hervorbringen. Die neue koreanische (oder russische) Tochtergesell-
schaft hat nicht die Kundenorientierung (oder den Kostenfokus), wie sie in
der Unternehmensvision gefordert wird. Das Problem besteht nicht darin,
dass die neue Tochtergesellschaft kundenfeindlich (oder einsparungsfeind-
lich) ist, und die Lösung lautet auch nicht, New York in Seoul nachbauen
zu wollen. Die Herausforderung wird darin bestehen, einige neue Schlüssel-
werte in bereits stark ausgeprägte Kulturen zu integrieren.
Heute gibt es in meinen Augen nicht viele Unternehmen, die mit einer sol-
chen Situation souverän umgehen können. Wir ignorieren entweder Nor-
men und Werte oder werden zu Kulturimperialisten, die anderen Men-
schen die eigenen Praktiken bis ins kleinste Detail aufoktroyieren wollen.
In einer sich globalisierenden Wirtschaft werden sich die meisten in nicht
allzu ferner Zukunft mit solchen Themen auseinandersetzen müssen.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-125
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:39.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 10: Neue Ansätze in der Kultur verankern
Wenn neue Arbeitsweisen die alte Kultur ersetzen
¢ 131
Stellen Sie sich ein 1928 gegründetes Unternehmen vor. Die Schlüsselerfah-
rung, die seine Kultur prägte, war die „Große Depression“, und so durchzo-
gen in der Folge konservative – wenn nicht sogar risikoaverse – Normen
und Werte das Unternehmen. Als das Unternehmen in den späten 80er Jah-
ren schwer ins Taumeln geriet und ein neues Top-Management-Team grö-
ßere Veränderungen vornehmen wollte, waren die Spannungen zwischen
den risikoaffineren Praktiken und der alten Kultur gewaltig. Selbst nach-
dem das Top-Management seine hundertprozentige Rückendeckung für
die neuen Methoden kundtat und sich die Anzeichen mehrten, dass diese
wirklich funktionierten, weigerte sich die alte Kultur zu sterben, insbeson-
dere in einem Bereich des Unternehmens.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-125
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:39.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
132 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
einen Wandel zu erzeugen, wenn die ursprünglichen gemeinsamen Werte
das Produkt langjähriger Erfahrungen in einem Unternehmen waren.
Das ist auch der Grund, warum die Veränderungen der Kultur am Ende
einer Transformation stehen und nicht am Anfang.
Eine der Theorien über den Wandel, die sich in den letzten 15 Jahren weit
verbreitet hat, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das größte Hindernis
für Wandel in einer Gruppe ist die Kultur. Daher ist in einer größeren Trans-
formation die Veränderung von Normen und Werten der erste Schritt.
Nachdem man die Kultur verändert hat, wird der Rest des Transforma-
tionsprozesses realistischer und einfacher umzusetzen sein.
Früher habe ich an dieses Modell geglaubt. Aber alles, was ich in den letz-
ten zehn Jahren gesehen habe, sagt mir, dass es falsch ist.
Kultur lässt sich nicht einfach umgestalten. Alle Versuche, sie zu packen
und in eine neue Form zu pressen, sind zum Scheitern verurteilt, weil man
sie eben nicht packen kann. Eine Kultur lässt sich nur dann verändern,
wenn man zuvor die Handlungsweisen der Menschen erfolgreich geändert
hat, wenn das neue Verhalten der Gruppe über einen längeren Zeitraum po-
sitive Ergebnisse gebracht hat und die Menschen die Verbindung zwischen
neuem Handeln und verbesserten Leistungen wahrnehmen. Folglich ge-
schieht kultureller Wandel überwiegend in Stufe 8 und nicht in Stufe 1.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-125
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:39.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 10: Neue Ansätze in der Kultur verankern
Eine dazugehörende Faustregel lautet: Immer wenn Sie von einer größeren
Restrukturierung, einem Reengineering oder einer strategischen Neuausrichtung
hören, die mit dem „Wandel der Kultur“ als ersten Schritt starten, sollten Sie
¢ 133
sich ernsthaft die Frage stellen, ob nicht vielleicht der falsche Kurs eingeschlagen
wird.
Ich habe in den letzten zehn Jahren Dutzende Fälle verfolgt, in denen Perso-
nalleiter den Auftrag erhielten, in Unternehmen „die Kultur zu wandeln“,
in denen gar kein übergeordneter Wandelprozess ablief oder ein Projekt un-
abhängig oder im Vorfeld von größeren Wandelbemühungen durchgeführt
wurde. Üblicherweise kämpften sich diese Personalmanager ein paar Jahre
durch und versuchten, irgendwie etwas Sinnvolles zuwege zu bringen. Sie
produzierten typischerweise Statements mit anzustrebenden Werten oder
Gruppennormen. Sie hielten meist Meetings ab, um diese Informationen
zu kommunizieren. Manchmal setzten sie Trainingsprogramme auf, um
die neuen Werte zu „lehren“. Aber als Stabsleute waren sie in einer viel zu
schwachen Position, als dass sie einen Wandel der gesamten Organisation
hätten umsetzen können. Und die verfehlte Grundannahme hinter einem
solchen Vorgehen – anpacken und die Kultur „zurechthämmern“ – machte
einen Erfolg von Beginn an praktisch unmöglich.
Manche Beobachter beurteilen diese Fälle und die darin verwickelten Perso-
nen eher abschätzig. Aber nach meinen Erfahrungen waren diese Manager
fast immer intelligente, engagierte und fleißige Menschen. Ihr Scheitern
sagt weniger über sie selbst aus als über die außerordentlichen Schwierig-
keiten, eine Unternehmenskultur zu verändern (vgl. Abbildung 26 mit
einer Zusammenfassung der Schlüsselelemente für das Verankern des kul-
turellen Wandels).
https://doi.org/10.15358/9783800646159-125
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:39.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
134 ¢ Teil II: Der Acht-Stufen-Prozess
Eben weil ein solcher Wandel so schwer herbeizuführen ist, umfasst der
Wandelprozess acht Stufen anstatt zwei oder drei, beansprucht oft so viel
Zeit und erfordert so viel Führung von so vielen Menschen.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-125
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:39.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Teil III:
Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
https://doi.org/10.15358/9783800646159-137
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:55.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 11: Das Unternehmen der Zukunft
Solange der Grad der Selbstgefälligkeit hoch ist, wird tief greifender Wan-
del niemals erfolgreich sein. Ein hohes Dringlichkeitsniveau hilft enorm bei
der Bewältigung aller Phasen des Transformationsprozesses. Sollten die ex-
ternen Veränderungen weiter zunehmen, dann muss sich das Dringlich-
keitsniveau einer erfolgreichen Organisation im 21. Jahrhundert dauerhaft
auf mittlerem bis hohem Niveau einpendeln. Das Modell des 20. Jahrhun-
derts, bei dem sich lange, ruhige Perioden mit kurzen, hektischen abwech-
selten, wird nicht mehr funktionieren.
Ein höheres Dringlichkeitsniveau bedeutet nicht, dass Panik, Stress oder
Angst ständige Begleiter werden. Es bedeutet einen Zustand, in dem Selbst-
gefälligkeit nicht vorhanden sein wird und Menschen konstant nach Proble-
men und Chancen Ausschau halten müssen und somit die Einstellung, „et-
was sofort zu tun“, zur Norm wird.
Ständig ein hohes Dringlichkeitsniveau zu halten, erfordert in erster Linie
Steuerungssysteme, die weitaus fortgeschrittener sind als die heute ge-
bräuchlichen. Die Tradition, Finanzbuchhaltungsdaten jeden Monat oder je-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-137
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:55.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
138 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
des Quartal an einen kleinen Kreis von Leuten zu verteilen, muss der Ver-
gangenheit angehören. Immer häufiger werden immer mehr Leute Daten
über Kunden, Wettbewerber, Mitarbeiter, Lieferanten, Aktionäre, technolo-
gische Entwicklungen und finanzielle Ergebnisse benötigen. Systeme, die
diese Informationen bereitstellen, können nicht so ausgelegt sein, dass sie
das Unternehmen oder einige Unternehmensbereiche einfach in günstigem
Licht präsentieren. Sie müssen insbesondere im Hinblick auf die Leistung
ehrliche und unbeschönigte Informationen liefern.
Im letzten Jahrzehnt haben viele Unternehmen wichtige Schritte unternom-
men, um diese neuen Leistungsfeedbacksysteme zu installieren. Insbeson-
dere Informationen zur Kundenzufriedenheit werden akkurater sowie öfter
gesammelt und einem größeren Personenkreis zur Verfügung gestellt.
Ebenso sehen Manager ihre Kunden, besonders die unzufriedenen, sehr
viel häufiger. Obwohl dies die richtigen Ansätze sind, liegt noch ein weiter
Weg vor uns. Typische Mitarbeiter erhalten heute in normalen Unterneh-
men noch immer zu wenige Informationen über ihre eigenen Leistungen,
die Leistung ihrer Gruppe oder Abteilung und die ihres Unternehmens.
Um sowohl effektivere Systeme zu gestalten als auch die Produktivität bes-
ser zu nutzen, müssen Unternehmenskulturen im 21. Jahrhundert ehrlichen
Diskussionen einen weitaus höheren Stellenwert beimessen, als sie es heute
tun. Normen, die sich auf politische Höflichkeit, mehrdeutige Diplomatie
oder ein „Tötet-den-Überbringer-schlechter-Nachrichten“-Syndrom stüt-
zen, müssen geändert werden. Der Lautstärkeregler des „unehrlichen Dia-
logkanals“ muss ganz weit nach unten gedreht werden.
Für all die Leser, die die meiste Zeit ihre Karriere in hoffnungslos politi-
schen Unternehmen gearbeitet haben und dieses Ziel daher als nicht reali-
sierbar einschätzen, kann ich nur betonen, dass diese transparenten und
ehrlichen Kulturen bereits heute existieren. Ich konnte dies selbst beobach-
ten. Die Schaffung dieser Normen kann sicherlich sehr schwierig sein, aber
die Aufgabe ist nicht unmöglich. Typischerweise beginnt der Wandel mit
einer einzigen kompetenten Person, überträgt sich durch ihren Beispielcha-
rakter auf einige andere, schafft Nutzen für die Gruppe und setzt sich dann
immer weiter fort.
Die Kombination valider Daten aus mehreren externen Quellen, intensiver
Kommunikation dieser Informationen innerhalb der Organisation und der
Bereitschaft zu ehrlichem Feedback ist bereits ein großer Schritt, um die
Selbstgefälligkeit zu eliminieren. Ein zunehmendes Dringlichkeitsgefühl
unterstützt Unternehmen dabei, Wandel schneller umzusetzen und sich
der sich rasant verändernden Geschäftswelt anzupassen.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-137
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:55.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Teamwork in der Führung
Kapitel 11: Das Unternehmen der Zukunft ¢ 139
https://doi.org/10.15358/9783800646159-137
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:55.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
140 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
„Wie kannst du nur behaupten, dass er sich nicht um das Unternehmen
kümmert? Okay, er ist ein wenig egozentrisch, aber das trifft auf die
meisten talentierten Menschen zu.“
„Wie kommt es dann, dass ihn so viele Leute nicht mögen?“
„Eifersucht. Alle großen Talente leiden darunter ...“
Ich glaube, dass die Entscheidung für die Nachfolge angesichts dieses
neuen Anspruchs leichter fallen wird, weil wir nicht mehr länger auf der
Jagd nach dem Einzelwesen sind, das jedes Problem aus dem Weg räumen
kann. Weiterhin denke ich, dass manche Trends (wie die ganzheitliche 360°-
Evaluierung) von den vielen Über-Egos und falschen Schlangen bereits
ihren Tribut fordern. Dennoch sind diese Veränderungen kontrovers und
sie werden sicherlich nicht leicht einzuführen sein.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-137
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:55.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 11: Das Unternehmen der Zukunft
Großteil unserer Lebenszeit bei der Arbeit verbringen, findet der Großteil
unserer Entwicklung am Arbeitsplatz statt. Diese einfache Tatsache hat
enorme Auswirkungen. Wenn wir während unserer Arbeitszeit ermutigt
¢ 141
Allein in den letzten zehn Jahren sind wir ein gutes Stück vorangekommen,
diese Art von Unternehmen zu schaffen. Alle Pessimisten sollten sich sorg-
fältig anschauen, was bereits geschehen ist. Trotzdem haben wir noch einen
langen Weg vor uns. Eng definierte Jobs, risikoscheue Kulturen und Chefs,
die Mikromanagement betreiben, sind noch immer zu oft die Norm – insbe-
sondere in großen Unternehmen und in vielen Regierungsorganisationen.
Das Herz und der Verstand aller Mitarbeiter werden benötigt, um mit dem
sich schnell verändernden wirtschaftlichen Klima Schritt halten zu können.
Ohne ausreichendes Empowerment liegen wichtige Qualitätsinformatio-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-137
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:55.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
142 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
nen ungenutzt in den Köpfen der Mitarbeiter und das Energiepotenzial zur
Umsetzung des Wandels bleibt ungenutzt.
Viele der organisatorischen Eigenschaften, die für die Entwicklung von
Leadership notwendig sind, werden auch für das Empowerment von Mitar-
beitern benötigt. Zu diesen begünstigenden Faktoren gehören flache Hierar-
chien, weniger Bürokratie und eine hohe Risikobereitschaft. Zusätzlich
funktioniert konstantes Empowerment am besten in Organisationen, in de-
nen die Vorgesetzten sich auf Leadership fokussieren und einen Großteil der
Managementaufgaben an niedrigere Hierarchiestufen delegieren.
Schon heute haben erfolgreiche, mir bekannte Unternehmen, die in sehr
wettbewerbsorientierten Branchen tätig sind, ein Top-Management, das
sich hauptsächlich auf Leadership und nicht auf Management konzentriert.
Ihre Mitarbeiter sind mit der Autorität ausgestattet, ihre Teams selbstständig
zu managen. Obwohl es unter Managern und Beschäftigten, die an dem al-
ten Rollenmodell hängen, noch einigen Widerstand gibt, kann ich mir nicht
vorstellen, dass sich dieser Trend in den nächsten Jahrzehnten nicht weiter
fortsetzen wird.
All den Lesern, denen es Schwierigkeiten bereitet, sich tatsächlich diese Ent-
wicklung des Empowerment vorzustellen, schlage ich vor, sich die Unter-
nehmen anzuschauen, die bereits heute unter sich ständig verändernden
Bedingungen operieren: Hightech- und Dienstleistungsunternehmen, die
sich in stark wettbewerbsorientierten Märkten durchsetzen müssen. Man
findet hier ungewöhnlich flache Hierarchien, wenig Bürokratie, eine Nei-
gung zur Risikobereitschaft, Arbeitskräfte die sich zum größten Teil selbst
managen und eine Führungsriege, die Kundenprojekte, technologische Ent-
wicklungen oder den Kundenservice führt. Das Modell hat sich also bereits
bewährt. Mit kompetenter Führung an der Spitze funktioniert es extrem
gut.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-137
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:55.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 11: Das Unternehmen der Zukunft
Da die Art der Unternehmen, die hier beschrieben wird, einen Großteil der
Verantwortung an untergeordnete Hierarchiestufen delegiert, bedeutet ex-
zellentes Management, dass die autorisierten Mitarbeiter mit der Verant-
¢ 143
https://doi.org/10.15358/9783800646159-137
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:55.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
144 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
ohne sich zuvor mit dem Stammhaus abzustimmen. Die zentrale Control-
lingabteilung schickt jede Woche kiloweise Berichte an die Produktions-
werke, von denen die Unterlagen aber weitestgehend ignoriert werden.
Wegen irgendeines Problems im Jahr 1965 wurde eine Standardprozedur
etabliert, in der die Ingenieure den Marketing- und Produktionsleuten ge-
wisse Dinge präsentieren; Meetings, die noch immer stattfinden, obwohl
dieselben Informationen mit den heute verfügbaren IT-Systemen schneller
und einfacher kommuniziert werden könnten. In einigen Unternehmen
nehmen diese sinnlosen Interdependenzen geradezu überwältigende Aus-
maße an und machen umfassenden Wandel zu einer hoffnungslos kompli-
zierten Angelegenheit. Obwohl solche Zustände auf Außenstehende albern
wirken, können sie intern, wenn vielleicht auch nur widerwillig, durchaus
akzeptiert und äußerst schwer zu korrigieren sein.
Im 21. Jahrhundert wird ein volatiles Geschäftsumfeld die Unternehmen
verstärkt dazu zwingen, ihre Untereinheiten zeit- und kostengünstig zu ko-
ordinieren. Historisch gewachsene Interdependenzen, die nicht wertschöp-
fend sind, wird man nicht mehr tolerieren können. In dieser Hinsicht wer-
den die Unternehmen des 21. Jahrhunderts wohl viel aufgeräumter sein als
die heutigen. Weniger strukturelle Spinnweben und weniger prozessualer
Staub werden die Abläufe reibungsärmer und effizienter machen.
Darüber hinaus wird in einer sich schneller drehenden Umwelt ein dauer-
hafter Reinigungsprozess notwendig sein. Anstatt darauf zu warten, dass
die Interdependenzen nicht mehr handhabbare Dimensionen erreichen,
wird die effektive Organisation im 21. Jahrhundert die Verbindungen in
kleineren Abständen überprüfen und die nicht mehr relevanten konsequent
beseitigen.
Allen, die sich ein solches Szenario nicht recht vorstellen können, versichere
ich nochmals, dass so etwas, wenn auch selten, bereits heute existiert. Etli-
che mir bekannte Firmen, die noch von ihren Gründern oder anderen Un-
ternehmern geleitet werden, reduzieren Interdependenzen fast wie beses-
sen auf das absolute Minimalniveau, wie es die jeweiligen Märkte fordern.
So etwas ordentlich durchzuführen, ist nicht einfach. Abhängigkeiten ver-
leihen einigen Leuten Macht, die sie meist nur sehr ungern aufgeben. Ab-
hängigkeiten werden zu Gewohnheiten. Die Entscheidung darüber, welche
Wechselbeziehung nützlich ist und welche ein historisches Relikt, kann ge-
legentlich schwierig sein, insbesondere in Fällen, in denen breit angelegte
Visionen und Strategien zur Leitung des Unternehmens fehlen. Nichtsdes-
totrotz sind einige Menschen, die sich diesem Problem offensiv widmen,
dabei schon heute sehr erfolgreich.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-137
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:55.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 11: Das Unternehmen der Zukunft
Eine anpassungsfähige Unternehmenskultur
¢ 145
https://doi.org/10.15358/9783800646159-137
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:55.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
146 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
hat. Aber nach einer gewissen Eingewöhnungsphase schätzen die meisten
Leute die Dynamik dieses Umfelds. Es ist fordernd. Es wird niemals lang-
weilig. Siegen macht Spaß. Und für die meisten von uns ist es eine Wohltat
für die Seele, einen echten Beitrag zu leisten.
Abbildung 27: Die Organisation des 20. und des 21. Jahrhunderts im Vergleich
https://doi.org/10.15358/9783800646159-137
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:55.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 11: Das Unternehmen der Zukunft
Sie sich nochmals die Abbildung an. Wie lange wird es in Ihren Augen dau-
ern, sich inkrementell vom Modell des 20. Jahrhunderts zu dem des 21. zu
entwickeln?
¢ 147
Und was glauben Sie, werden die Folgen sein, wenn Sie nicht schnell genug
dort ankommen?
https://doi.org/10.15358/9783800646159-137
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:53:55.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 12: Leadership und lebenslanges Lernen
Der Mitarbeiter des 21. Jahrhunderts wird viel mehr über Leadership und
Management wissen müssen als sein Pendant im 20. Jahrhundert. Der Ma-
nager des 21. Jahrhunderts wird sogar sehr viel über Leadership wissen
müssen. Mithilfe dieser Fähigkeiten ist es möglich, eine – wie in Kapitel 11
beschriebene – effektive, erfolgreiche und anpassungsfähige Organisation
aufzubauen und zu erhalten. Ohne diese Fähigkeiten sind dynamische, an-
passungsfähige Unternehmen nicht vorstellbar.
Der allergrößte Fehler im traditionellen Modell hängt jedoch mit seinen An-
nahmen über die Herkunft von Leadership zusammen. Einfach ausge-
drückt sieht das historisch dominierende Konzept Führungsqualitäten als
angeborene Gottesgabe, die nur wenigen Menschen zuteilwird. Obwohl
ich dies einst auch glaubte, bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass diese tra-
ditionelle Idee schlichtweg nicht mit dem übereinstimmt, was ich in den
knapp 30 Jahren meiner Beobachtungen von Unternehmen und den Men-
schen, die sie leiten, erfahren habe. Insbesondere lässt das ältere Modell die
Kraft und das Potenzial des lebenslangen Lernens nahezu völlig unberück-
sichtigt.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-149
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:54:00.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
150 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
Der Prototyp des Managers für das 21. Jahrhundert
Zum ersten Mal begegnete ich Manny im Jahre 1986. Zu dieser Zeit war er
ein aufgeweckter, freundlicher und ehrgeiziger Manager von etwa 40 Jah-
ren. Er hatte in seiner beruflichen Laufbahn schon einiges erreicht, aber
nichts an ihm wirkte außergewöhnlich. Zumindest soweit ich das beurtei-
len konnte, hätte ihn keiner in seinem Unternehmen einen Leader genannt.
Ich fand ihn, so wie viele Leute, die in den Bürokratien des 20. Jahrhunderts
aufgewachsen sind, eher vorsichtig und auch etwas politisch. Ich hätte er-
wartet, dass er einige Jahre in einer gehobenen Position verbringen und
einen nützlichen, aber alles andere als herausragenden Beitrag für sein Un-
ternehmen leisten würde.
1995 traf ich Manny zum zweiten Mal. Schon in einer kurzen Unterhaltung
bemerkte ich eine Tiefe und Differenziertheit, die zuvor nicht ersichtlich ge-
wesen war. Als ich mit anderen in seinem Unternehmen sprach, hörte ich
immer wieder eine ähnliche Einschätzung: „Ist es nicht erstaunlich, wie sehr
Manny gewachsen ist“, sagten sie mir. „Ja“, sagte ich, „es ist erstaunlich.“
Heute führt Manny eine Einheit, die etwa 600 Millionen US-$ Nachsteuer-
gewinn erzielt. Der Geschäftszweig globalisiert sich rasant – mit allen dazu-
gehörigen Risiken und Chancen. Während ich dies schreibe, führt er seine
Gruppe mit dem Ziel durch eine umfassende Transformation, das Unter-
nehmen für eine erfolgversprechende Zukunft zu positionieren. Und all
das vollbringt ein Mann, der mit 40 nicht wie eine Führungspersönlichkeit
wirkte, geschweige denn wie eine große Führungspersönlichkeit.
Menschen wie Manny hat es schon immer gegeben. Anstatt langsamer zu
werden und mit 35 oder 45 den Zenit zu überschreiten, lernen sie mit einer
Geschwindigkeit weiter, die wir normalerweise nur Kindern und Jugendli-
chen attestieren. Diese Ausnahmen von der Regel lassen uns erkennen, dass
uns unser Erbgut nicht daran hindert, uns auch in den späteren Lebensab-
schnitten weiterzuentwickeln. Die Biografie von Konosuke Matsushita, einem
der bemerkenswertesten Unternehmensführer des 20. Jahrhunderts, an der
ich gerade arbeite, zeigt dies in extremer Form. Frühe Berichte über Matsu-
shita beschreiben einen fleißigen, aber kränklichen jungen Mann. Nir-
gendwo finden sich in den Beschreibungen jener Zeit Begriffe wie brillant, dy-
namisch, visionär oder charismatisch, ganz zu schweigen von Leader. Dennoch
reifte er in seinen Zwanzigern zum Unternehmer, in seinen Dreißigern und
Vierzigern zum Unternehmensführer und in seinen Fünfzigern zu einem Un-
ternehmenstransformierer der Spitzenklasse. Er half seinem Unternehmen,
nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges wieder auf die Füße zu kom-
men, neue Technologien einzuführen, global zu expandieren und sich immer
wieder so zu erneuern, dass es die kühnsten Träume überstieg. Danach be-
gann er zusätzliche erfolgreiche Karrierepfade; in seinen Sechzigern als Au-
tor, in seinen Siebzigern als Philanthrop und in seinen Achtzigern als Lehrer.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-149
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:54:00.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 12: Leadership und lebenslanges Lernen
Ich glaube, dass wir im 21. Jahrhundert noch mehr dieser bemerkenswerten
Führungspersönlichkeiten sehen werden, die ihre Fähigkeiten durch lebens-
langes Lernen weiterentwickeln, weil ein solcher Reifungsprozess in einem
¢ 151
sich rasant ändernden Umfeld belohnt wird. In einer statischen Welt können
wir mit 15 Jahren schon fast alles erlernt haben, was wir im Leben wissen
müssen, und nur sehr wenige werden Führung ausüben müssen. In einer
unsteten Welt können wir niemals alles lernen, selbst wenn wir uns bis zum
Alter von 90 Jahren immer weiterentwickeln. Die Entwicklung von Füh-
rungsfähigkeiten wird dadurch für immer mehr Menschen immer wichtiger.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-149
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:54:00.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
152 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
1994 war Marcel Chef seines eigenen Unternehmens, hatte Hunderte von
Angestellten und war überaus wohlhabend. Er hatte ein Produkt er- und
einen Markt dafür gefunden und ein Unternehmen aufgebaut, um aus bei-
dem Kapital zu schlagen. In seiner Welt galt er als „Visionär“. Einer der Mit-
arbeiter sprach in unserem Gespräch immer wieder über Marcels „Cha-
risma“. Und das war der Mann, der mich 1982 nicht sehr beeindruckt hatte.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-149
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:54:00.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 12: Leadership und lebenslanges Lernen
darf aber auch das schwierige Geschäftsumfeld nicht vergessen, das viel
Pech und prekäre Umstände mit sich brachte. Was bei Marcel so verblüfft,
ist, dass ihn die schlechten Zeiten nicht aufgerieben, sondern ihm sogar als
¢ 153
Wenn man Menschen wie Marcel, Manny und Matsushita studiert, bemerkt
man, dass das Geheimnis ihres Vermögens, Leadership- und andere Fähig-
keiten zu entwickeln, eng mit der Kraft des potenzierten Wachstums ver-
bunden ist.
Betrachten Sie dieses einfache Beispiel: Im Alter zwischen 30 und 50 „wächst“
Fran mit einer Geschwindigkeit von 6% – das heißt, jedes Jahr erweitert sie ihre
karriererelevanten Fähigkeiten und Kenntnisse um 6%. Ihre Zwillingsschwester
Janice besitzt im Alter von 30 exakt dieselbe Intelligenz, dieselben Fähigkeiten und
Kenntnisse, wächst aber in den nächsten 20 Jahren nur um 1% jährlich. Vielleicht
wird Janice nach frühen Erfolgen eingebildet und selbstgefällig. Oder vielleicht
macht Fran Erfahrungen, die das Feuer in ihr entzünden. Die Frage lautet: Zu
welchem Unterschied wird diese verhältnismäßig kleine Abweichung bei der Lern-
geschwindigkeit im Alter von 50 Jahren geführt haben?
Bei Betrachtung dieser Fakten über Fran und Janice ist es offensichtlich,
dass erstere im Alter von 50 Jahren kompetenter sein wird als letztere.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-149
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:54:00.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
154 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
Aber die meisten von uns unterschätzen, um wie viel stärker Fran sein
wird. Die Verwirrung entsteht aufgrund des Zinseszinseffekts. Genauso
wie wir häufig den Unterschied nicht wahrnehmen, der über 20 Jahre zwi-
schen einem Bankkonto mit 7% gegenüber einem mit 4% Verzinsung ent-
steht, unterschätzen wir regelmäßig die Effekte unterschiedlicher Lernge-
schwindigkeiten.
Bei Fran und Janice macht sich der Unterschied zwischen einer sechspro-
zentigen und einer einprozentigen Wachstumsrate über 20 Jahre hinweg ge-
waltig bemerkbar. Wenn beide im Alter von 30 Jahren jeweils 100 Einheiten
karriererelevanter Fähigkeiten besitzen, wird Janice 20 Jahre später 122 Ein-
heiten erreicht haben, während Fran auf 321 kommt. Mit 30 rangieren die
beiden noch auf derselben Stufe; im Alter von 50 Jahren werden sie in ganz
unterschiedlichen Ligen spielen.
Wäre die Welt des 21. Jahrhunderts so stabil, reguliert und prosperierend
wie die der 1950er und 1960er Jahre in den USA, wären abweichende
Wachstumsraten nur von untergeordneter Bedeutung. Obwohl man Fran
wahrscheinlich auch dort als die Versiertere erachtet hätte, würden sich in
jener Welt beide gut schlagen. Stabilität, Regulierung und Prosperität wür-
den den Wettbewerb ebenso limitieren wie das Streben nach Wachstum,
Leadershipfähigkeiten und Wandel. Aber das ist nicht das, was uns in der
Zukunft erwartet.
Genauso wie Unternehmen werden auch immer mehr Menschen im 21. Jahr-
hundert gezwungen sein, zu lernen, sich zu verändern und sich ständig neu
zu erfinden. Bis vor Kurzem waren lebenslanges Lernen und die Führungs-
fähigkeiten, die dadurch entwickelt werden können, nur für einen kleinen
Prozentsatz der Bevölkerung relevant. Dieser Prozentsatz wird über die
nächsten Jahrzehnte zweifellos steigen.
Wie stellen Leute wie Fran und Manny das also an? Es ist sicherlich keine
Wissenschaft. Die Eigenschaften, die sie entwickeln, sind sogar relativ leicht
verständlich (wie in Abbildung 29 zusammengefasst).
Lebenslange Lerner gehen Risiken ein. Weitaus mehr als andere verlassen
sie ihre Komfortzonen und testen neue Ideen. Während die meisten von
uns in ihrem Fahrwasser bleiben, hören die lebenslangen Lerner nicht auf,
zu experimentieren.
Risikobereitschaft führt unvermeidlich zu größeren Erfolgen – und zu größe-
ren Misserfolgen. Weit mehr als die meisten von uns reflektieren lebenslange
Lerner bescheiden und ehrlich ihre Erfahrungen, um daraus zu lernen. Sie
kehren Misserfolge nicht unter den Teppich oder betrachten sie aus einer
https://doi.org/10.15358/9783800646159-149
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:54:00.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 12: Leadership und lebenslanges Lernen ¢ 155
https://doi.org/10.15358/9783800646159-149
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:54:00.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
156 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
sion zu haben, schon in der Jugend, manchmal erst später im Erwachsenen-
alter, oft ist es eine Kombination aus beidem. Was auch immer der Fall ist,
ihre Ansprüche an sich selbst helfen ihnen dabei, nicht in eine bequeme, si-
chere Routine abzudriften und damit keine Risiken mehr einzugehen, ver-
schlossen und selbstzufrieden zu werden und nicht mehr sorgfältig zuzu-
hören.
Ebenso wie eine ehrgeizige Vision einem Unternehmen helfen kann, sich an
veränderliche Bedingungen anzupassen, scheint nichts das persönliche
Wachstum so zu fördern wie ehrgeizige, humanistische Ziele.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-149
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:54:00.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kapitel 12: Leadership und lebenslanges Lernen
eher unbequem. Aber die meisten von uns scheinen sich daran zu gewöh-
nen. Und der Nutzen daraus kann in der Tat erheblich sein.
¢ 157
Aus vielerlei Gründen klammern sich viele Menschen immer noch am Kar-
riere- und Wachstumsmodell des 20. Jahrhunderts fest. Manchmal ist Selbst-
gefälligkeit das Problem. Sie hatten Erfolg, warum sollten sie sich also än-
dern? Manchmal haben sie keine klare Vorstellung vom 21. Jahrhundert
und wissen daher nicht, wie sie sich verändern sollen. Aber oft ist Angst
das Hauptproblem. Sie sehen, wie rings um sie Stellen gestrichen werden.
Sie hören Horrorgeschichten über Leute, die durch eine Restrukturierung
oder ein Reengineering ihre Arbeit verloren haben. Sie sorgen sich um ihre
Krankenversicherung und die Studiengebühren für ihre Kinder. Und des-
halb denken sie nicht über Wachstum nach. Sie denken nicht über ihre per-
sönliche Erneuerung nach. Sie denken nicht daran, ihr Leadershippotenzial,
welches auch immer sie haben, zu erschließen. Stattdessen krallen sie sich in
Verteidigungshaltung an das, was sie momentan haben. Damit klammern
sie sich faktisch an die Vergangenheit und machen sich die Zukunft nicht
zu eigen.
Ein Festhalten an der Vergangenheit wird als Strategie in den nächsten Jahr-
zehnten wahrscheinlich immer ineffektiver werden. Für die meisten von
uns ist es besser, jetzt zu lernen, wie man den Wandel bewältigen kann,
sein persönliches Leadershippotenzial entwickelt und seinem Unterneh-
men im Transformationsprozess hilft. Für die meisten von uns ist es trotz
aller Risiken besser, den Sprung in die Zukunft zu wagen. Und zwar besser
früher als später.
Als Beobachter des Lebens in Organisationen glaube ich mit Recht sagen zu
können, dass Menschen, die sich bemühen, die Zukunft mit offenen Armen
zu empfangen, glücklicher sind als die, die sich an die Vergangenheit klam-
mern. Das soll nicht heißen, dass es einfach zu lernen wäre, wie man Teil
des Unternehmens im 21. Jahrhunderts wird. Aber diejenigen, die versu-
chen, zu wachsen, sich mit dem Wandel anzufreunden und Führungsfähig-
https://doi.org/10.15358/9783800646159-149
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:54:00.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
158 ¢ Teil III: Konsequenzen für das 21. Jahrhundert
keiten zu entwickeln – diese Männer und Frauen werden typischerweise
von der Überzeugung geleitet, für sich selbst, ihre Familien und ihre Unter-
nehmen das Richtige zu tun. Dieses Gefühl für einen Sinn spornt sie an und
inspiriert sie selbst in harten Zeiten.
Und die Menschen, die heute an der Spitze von Unternehmen stehen und
andere ermutigen, den Sprung in die Zukunft zu wagen, ihnen helfen, na-
türliche Ängste zu überwinden und dadurch die Kraft ihrer Führung im
Unternehmen breit wirken lassen – diese Menschen erweisen der gesamten
menschlichen Gemeinschaft einen eminent wichtigen Dienst.
Wir brauchen mehr von solchen Menschen. Und wir werden sie bekom-
men.
https://doi.org/10.15358/9783800646159-149
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:54:00.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
www.vahlen.de
ISBN 978-3-8006-4615-9
https://doi.org/10.15358/9783800646159-159
Generiert durch Hochschule Düsseldorf, am 10.09.2021, 09:54:16.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.