Sie sind auf Seite 1von 13

Metzler Lexikon Avantgarde

Bearbeitet von
Hubert van den Berg, Walter Fähnders

1. Auflage 2009. Buch. vi, 404 S. Hardcover


ISBN 978 3 476 01866 3
Format (B x L): 15,5 x 23,5 cm
Gewicht: 736 g

Weitere Fachgebiete > Kunst, Architektur, Design > Kunstgeschichte >


Kunstgeschichte: 20./21. Jahrhundert
Zu Inhaltsverzeichnis

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.
Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm
durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr
als 8 Millionen Produkte.
978-3-476-01866-3 van den Berg/Fähnders, Metzler Lexikon Avantgarde
© 2009 Verlag J.B. Metzler (www.metzlerverlag.de)
1

Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert –


Einleitung

Zur Terminologie Phänomens. Was in der deutschen, aber auch


der französischen historiographischen Tradi-
Dieses Lexikon bietet ein Panorama der ästhe- tion als Avantgarde bezeichnet wird, erscheint
tischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts, wie insbesondere in der angelsächsischen eher als
sie sich insbesondere in Europa und Amerika ›modernism‹, als ›Modernismus‹. Auch in
mit Ausläufern nach Asien und dem südlichen Nordeuropa z. B. findet sich ›Avantgarde‹ als
Mittelmeerraum manifestiert hat. Die Avant- Selbstbezeichnung bzw. historiographische Ka-
garde bildete ein Geflecht von Gruppierungen, tegorie nicht oder nur sehr eingeschränkt und
Bewegungen, Ismen, Strömungen, Tendenzen, wird erst in den letzten Jahren geläufiger. In der
von Einzelkünstlern, Galeristen, Verlegern, von Forschung der ehemaligen sozialistischen Län-
Zeitschriften und Zeitungen mit dem Anspruch, der Osteuropas setzt sich der Avantgarde-Be-
nicht nur eine radikale Neuerung künstlerischer griff, der hier von der politischen Avantgarde
Formen und der einzelnen Künste zu bewirken, der Kommunistischen Partei semantisch okku-
sondern zugleich eine gänzlich neue Auffassung piert ist, erst spät durch.
von Kunst und eine neuartige Positionierung Trotz dieser uneinheitlichen Begrifflichkeit
der Kunst in der Gesellschaft durchzusetzen. und der ausgeprägten Heterogenität der Avant-
Die Avantgarde war eine äußerst heterogene garde lässt sich an einem einheitlichen Avant-
und flukturierende Erscheinung. Einzelne ihrer garde-Begriff für diesbezügliche Kunstentwick-
Strömungen wurden europa- und weltweit be- lungen im 20. Jahrhundert festhalten, so um-
kannt, andere verschwanden wieder sehr stritten dieser auch sein mag, insofern sich
schnell, zum Teil konkurrierende Avantgarde- deutlich gemeinsame Charakterzüge (zugleich
Bewegungen und Ismen lösten sich in rascher auch Widersprüche) der Avantgarde fixieren
Folge ab. Dabei zeigt sich aus einer internatio- lassen: Er fasst die Avantgarde als ein letztlich
nalen Perspektive die terminologische und be- einheitliches Projekt und zusammenhängendes
griffliche Schwierigkeit, dass das, was einheit- Netzwerk, bei dem sich die einzelnen Knoten
lich mit dem internationalisierten, in vielen des Netzes aufeinander beziehen; sie sind nicht
Sprachen geläufigen Terminus ›Avantgarde‹ zuletzt ästhetisch, organisatorisch und genealo-
(aus dem Franz. für »Vorhut«; engl. avant- gisch auf vielfältige, zugleich einheitliche Weise
garde, vanguard, ital. avanguardia, span. van- miteinander verknüpft.
guardia, russ. avantgard) genannt wird, in den
einzelnen nationalen Historiographien unter-
schiedlich gefasst wird. Hinzu kommt, dass die ›Ismus‹ oder ›Avantgarde‹?
betreffenden Kunstströmungen, die wir heutzu-
tage als ›avantgardistisch‹ charakterisieren, ter- Wenn der Begriff ›Avantgarde‹ des Öfteren im
minologisch nur selten das Attribut ›Avant- Plural gebraucht wird und von ›Avantgarden‹
garde‹ zu ihrer eigenen Charakterisierung ver- die Rede ist, so in der Regel als Ober- oder
wendet haben – kein Kubist, kein Expressionist, Kollektivbegriff für einzelne Strömungen und
kein Dadaist hätte sich selbst ›Avantgardist‹ Ismen. Das deutet auf die Relevanz einzelner
genannt. Ob er sich als solcher verstanden oder avantgardistischer Formationen für die Konsti-
sich gar als künstlerische ›Vorhut‹ selbst insze- tuierung einer wie einheitlich auch immer ge-
niert hat, steht auf einem ganz anderen Blatt. dachten Avantgarde: Es sind die einzelnen Is-
Derartige Zuordnungen geschehen erst im men, die einen erheblichen Aufwand treiben,
späteren 20. Jahrhundert durch die Kunst- und sich zu etablieren, sich zu definieren und in der
Literaturgeschichtsschreibung. Erst zu dieser Öffentlichkeit – mit welch z. T. spektakulären
Zeit treten dann auch Künstler und Künstler- Maßnahmen auch immer – zu positionieren.
gruppen ausdrücklich unter dem Label ›Avant- Die Proklamation eines ›Ismus‹ ist ein stets de-
garde‹ auf. So begegnen unterschiedliche Be- monstrativer Akt, der die Bedeutung dieses und
griffe bei der Beschreibung ein und desselben nur dieses Ismus hervorstreicht, und häufig ist
Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung 2

er ein performativer Akt, der die Proklamation schen Futurismus markierte. Über den Futuris-
selbst zur avantgardistisch-künstlerischen Pra- mus wissen wir, mit welcher strategischen und
xis erhebt und Verkündung und Vollzug, Theo- taktischen Raffinesse Marinetti dieses erste
rie und Praxis vereinigt. Manifest, dem dann Hunderte weitere folgten,
Jedenfalls ist das Ausrufen der eigenen Bewe- im Figaro lancierte und der französischen Ver-
gung als einer neuen mit entsprechend großem sion eine veränderte italienische Fassung folgen
Differenzpotential gegenüber allem Alten und ließ, die Manifest-Partie darin zudem als Flug-
Anderen der entscheidende Vorgang. Für die blatt separierte, für die umgehende Übersetzung
Heterogenität und den fluktuierenden Charak- in weitere Sprachen sorgte usw. – und vor al-
ter der Avantgarde ist der Katarakt sich schnell lem, dass er genau überlegte, wie er den neuen
ablösender ›Ismen‹ und entsprechender Selbst- Ismus nennen sollte. Dabei stand die Bezeich-
bezeichnungen immer wieder neu verkündeter nung ›Avantgarde‹ jedenfalls nicht zur Wahl,
Kunst-Revolutionen typisch seit der Entstehung obwohl das Wort in einigen Texten der Futuris-
der ersten Avantgarde-Bewegungen um 1910. ten, mit ihrer Vorliebe für Krieg und gewalt-
Zwar finden sich bereits im sog. Stilpluralismus same Auseinandersetzung, Verwendung fand.1
des ausgehenden 19. Jahrhunderts europaweit Ein Ismus der Avantgarde konstituiert sich
›Ismen‹, die, wie Naturalismus, Impressionis- per Manifest – und das bleibt so. Fünfzehn
mus oder Symbolismus und Ästhetizismus, Jahre nach dem futuristischen Manifest in Le
aufeinander reagieren und sich als Dominante Figaro wird ein weiterer großer Ismus der frü-
auf dem künstlerischen Feld ablösen bzw. kon- hen Avantgarde ebenfalls per Manifest ausge-
kurrieren. Auch der Naturalismus war bereits rufen, der Surrealismus mit André Bretons (erst
eine Programmbewegung in dem Sinne, dass er später von ihm zum ersten deklarierten) Mani-
programmatisch und in selbständigen Gruppen fest des Surrealismus (1924). Bis in das späte
sein ästhetisches Konzept zu realisieren suchte. 20. Jahrhundert wird die Avantgarde nicht
Die Avantgarde-Bewegungen folgten diesem müde, ihre Ismen auf diese Weise zu begründen,
Verfahren, forcierten dabei aber noch stärker wie die Manifeste und Proklamationen von u. a.
die Programmatik und vor allem die Selbstin- Cobra, Situationistischer Internationale und
szenierung bei der Ausrufung eines neuen Is- Nouveau Réalisme zeigen.2
mus. Aus dieser Praxis ergeben sich Konsequenzen
Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts für Begriffsgeschichte und Selbstbezeichnung
kamen die frühesten Avantgarde-Bewegungen der Avantgarde. Wenn bereits 1920 in einer
und -Gruppierungen wie der Kubismus und Komödie mit dem Titel Dadakratie ironisch
Fauvismus in Paris und die expressionistische angemerkt wird, »daß allein im letzten Monat
»Brücke« in Dresden anfangs sogar ohne aus- elfhundert neue Kunstrichtungen aufkamen«3,
führliche Programm-Erklärungen oder elabo- so ist damit nicht nur die Ismen-Konjunktur
rierte Eröffnungs-Manifeste aus. Den Reigen angesprochen, sondern eben auch die Ismen-
derartiger Eröffnungs-Manifeste zum Start ei- Konkurrenz und damit die Bedeutung der
ner Avantgarde-Bewegung begann Filippo Selbstbezeichnung als besondere Strömung mit
Tommaso Marinetti mit seinem Manifest »Le ihrem unverwechselbaren Label – vom Adamis-
futurisme«, das am 20. Februar 1909 auf der mus bis zum Zenitismus.
Titelseite der Pariser Tageszeitung Le Figaro Entsprechend wird über das Wort ›Ismus‹
erschien und die Geburtsstunde des italieni- bereits in den 10er Jahren nachgedacht, und es
ist auch öfters von ›Kunst-Ismen‹ oder ›Ismen
der Kunst‹ die Rede, wenn von der Avantgarde
gesprochen wird – parallel zur Ausrufung der
1 Vgl. Walter Fähnders: »›Vielleicht ein Manifest‹.
verschiedenen Bewegungen selbst und als Indiz
Zur Entwicklung des avantgardistischen Manifes-
tes«. In: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.): für ein quasi definitorisches Bewusstsein eines
»Die ganze Welt ist eine Manifestation«. Die euro- umfassenden Zusammenhangs der Einzelbewe-
päische Avantgarde und ihre Manifeste. Darmstadt gungen. »Der ISMUS ist etwas Berechtigtes«,
1997, S. 18–38. heißt es in einem »Aufruf zum Manifestantis-
2 Vgl. Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.): Ma- mus« von Franz Pfemfert, dem Herausgeber
nifeste und Proklamationen der europäischen
Avantgarde (1909–1938). Stuttgart/Weimar 2005. der für die frühe Avantgarde in Deutschland
3 Max Mohr: Die Dadakratie. Komödie in drei Ak- wichtigen Zeitschrift Die Aktion, »denn diese
ten. Berlin 1920, S. 31. Endung bedeutet die panische Besitzergreifung
3 Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung

der Welt durch einen Gedanken«.4 Als der Ver- bia, Kandinskij, Mondrian sowie Schwitters für
leger Wieland Herzfelde 1927 sich zum zehn- den Futurismus beansprucht. Wie diese Na-
jährigen Bestehen des Malik-Verlages äußerte, mensliste zeigt, wollte Marinetti sich gerne als
der an der Durchsetzung avantgardistischer capo di tutti capi der Avantgarde verstanden
Kunst im revolutionären Deutschland um 1920 wissen. Aber das Manifest signalisiert auch:
erheblichen Anteil hatte, kam er auch auf die Marinetti verstand die Avantgarde offenbar als
Frage der avantgardistischen Ismen zu spre- Einheit. Das zeigt nicht nur dieses einzelne Ma-
chen: Er konzedierte dem »Berliner Dada«, sein nifest. Eben in derselben Nummer der betref-
»Ziel« erreicht zu haben, »nämlich: alle Kunst- fenden italienischen Zeitschrift Noi, in der Le
Ismen, folgerichtig auch sich selbst, zu vernich- Futurisme mondial enthalten ist, findet man
ten.«5 So bestätigt gerade die avantgardistische eine Art Werbeseite mit den Namen und Adres-
Ismus-Reflexion – einschließlich der Ismen- sen von europäischen Avantgarde-Zeitschriften
Konkurrenz untereinander – die Bedeutung, die (wie auch von einer japanischen), die eben diese
man den fragmentierten Ismen und ihren ein- Einheit nochmals betont. Bezeichnenderweise
zelnen Labels zugemessen hat. Der program- findet man ähnliche Angaben in anderen
matische Kampf der Beteiligten und der Zeitge- Avantgarde-Zeitschriften aus derselben Periode
nossen ging um diese Etiketten, nicht um den wie Het Overzicht (in Belgien), Manomètre (in
Avantgarde-Begriff, auch wenn man sich durch- Frankreich), Blok (in Polen) und Ma (in Öster-
aus der heterogenen Einheit der Ismen als zu- reich). Um das Bild noch zu erweitern: Der
sammenhängendes Geflecht bewusst war. Untertitel eines von Herwarth Walden zusam-
Dabei hatten manche Ismen anfänglich eher mengestellten Panoramas der frühen Avant-
den Charakter von trade marks. ›Kubismus‹ garde aus dem Jahr 1917, Einblick in Kunst,
war ursprünglich nichts anderes als eine Han- lautet »Expressionismus, Futurismus, Kubis-
delsmarke des Pariser Galeristen und Kunst- mus«.7 Eine Bauchbinde um die erste Dada-
händlers Daniel-Henry Kahnweiler, und Her- Anthologie, Cabaret Voltaire, lautete 1916:
warth Walden beanspruchte mit seinem Sturm, »Futurisme, Cubisme, Expressionisme«.
den wahren Expressionismus zu vertreten – Gegenüber der Selbstbezeichnung der einzel-
nicht zuletzt auch als wahre Ware, wobei Wal- nen Bewegungen als ›Ismus‹ scheint also der
den zugleich versucht hat, die Bezeichnung Begriff ›Avantgarde‹ den Zeitgenossen gar nicht
›Sturm‹ als eigene Handelsmarke durchzuset- unbedingt vonnöten, um die eigene Vorreiter-
zen. Und auch bei Kurt Schwitters ist Merz so rolle zu markieren. Um einem Selbstbewusst-
etwas wie corporate identity – hier in erster sein als ›Vorhut‹ Ausdruck zu verleihen, greifen
Person Singular. die frühen Avantgarde-Bewegungen nicht auf
In diesem Zusammenhang fällt auf, dass
manche Ismen als pars pro toto der ganzen
Avantgarde fungieren, teilweise von der Histo- 4 August Stech [d.i. Franz Pfemfert: »Aufruf zum
riographie, teilweise von Vertretern der Avant- Manifestantismus«. In: Asholt/Fähnders: Mani-
garde selbst so eingeführt, um auf diese Weise feste und Proklamationen der europäischen Avant-
ihrem Ismus noch mehr Gewicht zu geben. So garde (wie Anm. 3), S. 63–65, hier S. 64. Ein früher
wurde die Avantgarde insgesamt in der bürger- französischsprachiger Beleg für die Ismen-Kon-
junktur ist eine freilich anders akzentuierte Bemer-
lichen Presse der Niederlande vor dem Ersten kung von Gino Severini: »Car l’époque des réac-
Weltkrieg und auch noch später ›Futurismus‹ tions en ›isme‹ est finie [....« (Gino Severini: La
genannt, da die Futuristen 1912 eben sehr viel peinture d’Avant-Garde. In: Mercure de France
Aufsehen erregt hatten. Vergleichbar entdiffe- 121 (1917); S. 467; zit. nach: Karlheinz Barck:
renziert der alles andere als uninformierte »Avantgarde«. In: Ästhetische Grundbegriffe. His-
torisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 1.
Kunsthistoriker Richard Hamann in seiner Ge- Stuttgart/Weimar 2000, S. 544–577, hier S. 558).
schichte der Kunst von 1933 mehr oder weniger 5 Wieland Herzfelde: »Zehn Jahre Malik-Verlag«
die gesamte frühe Avantgarde, indem er sie un- (1927). In: Ders.: Zur Sache geschrieben und ge-
ter den Begriff ›Expressionismus‹ fasst.6 sprochen zwischen 18 und 80. Berlin/Weimar
Aus dem Jahr 1924 gibt es ein bemerkens- 1976, S. 128–132, hier S. 131.
6 Richard Hamann: Geschichte der Kunst von der
wertes Manifest von Marinetti unter dem Titel
altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart. Berlin
Le Futurisme mondial, in dem Marinetti eine 1933.
lange Namensliste präsentiert, die nicht nur 7 Herwarth Walden: Einblick in Kunst. Expressio-
Futuristen nennt, sondern auch Picasso, Pica- nismus, Futurismus, Kubismus. Berlin 1917.
Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung 4

den Begriff ›Avantgarde‹ zurück, sondern be- baren ›vorgeschobenen‹ Orten und Räumen,
dienen sich anderer Kategorien. Sie sind zum auf denen die Avantgardisten sich lokalisieren
Teil schon älterer Provenienz wie ›Neue Kunst‹, – auf Berggipfeln, Vorgebirgen oder auf einem
›Neueste Kunst‹, ›Junge Kunst‹, ›Jüngste Kunst‹, Kap am Meer.9 Eine derartige Bildlichkeit be-
›moderne‹ oder auch ›ultramoderne Kunst‹. nennt den avantgardistischen Anspruch, ohne
Zugleich nähert man sich aber dem Avant- das eigene Label aufgeben zu müssen. Gerade
garde-Begriff an, insbesondere in Form einer in beim italienischen Futurismus, der gelegentlich
der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts das Wort ›Avantgarde‹ verwendet, zeigt sich
nicht ungeläufigen Raum-Metaphorik. In der das: Nur wenn auch die politischen Ansprüche
Bildlichkeit der Manifeste aus der Aufbruchs- des Futurismus gezielt gekennzeichnet werden
zeit der Avantgarde in den 10er und 20er Jahren sollen, ändert sich der Duktus. Eben dann
finden sich immer wieder topographische Wen- spricht Marinetti ausdrücklich von ›avanguar-
dungen, die ein Bewusstsein von Avantgarde dia‹10, sonst ist von ›futurismo‹ die Rede. Der
markieren, ohne das Wort zu verwenden. So alles überragenden Bergoptik verpflichtet ist
heißt es 1912 in einem frühen Schlüsseltext des auch Lev Trockij, wenn er über den russischen
russischen Futurismus: »Aus der Höhe von Futuristen Vladimir Majakovskij äußert: »Ma-
Wolkenkratzern blicken wir herab auf ihre jakowskij steht mit einem Bein auf dem Mont-
Nichtigkeit!« – nämlich auf die Nichtigkeit der blanc, mit dem anderen auf dem Elbrus«, und:
alten Kunst und ihrer Vertreter wie Dostoevskij »er schießt immer auf äußerste Reichweite«11.
oder Tolstoj, die man »vom Dampfer der Ge- Im Übrigen wurde im russischen Futurismus
genwart« werfen möchte.8 Die für das Jahr der 10er und 20er Jahre nicht von Avantgarde
1912 in Russland durchaus kühne Wolkenkrat- gesprochen.12
zer-Metaphorik korrespondiert mit vergleich-

8 David Burljuk/Alexander Kručenych/Vladimir


›Avantgarde‹ – vom Schlachtfeld
Majakovskij/Velimir Chlebnikov: »Eine Ohrfeige zur klassischen Avantgarde
dem öffentlichen Geschmack«. In: W. Asholt/W.
Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen Der Avantgarde-Begriff entstammt bekannter-
der europäischen Avantgarde (wie Anm. 2), S. 28. maßen dem militärischen Sprachgebrauch.13
9 Vgl. Walter Fähnders: »›Hier wird, auf einem Kap,
Geradezu gemütlich geht es Ende des 18. Jahr-
Extremes geformt.‹ Zur Topographie der europäi-
schen Avantgarde«. In: Dietmar Lieser/Antje Jo- hunderts in Goethes Wilhelm Meister zu, wenn
hanning (Hg.): StadtLandFluß. Urbanität und Re- es heißt: »man ritt einigemal aus, die Avant-
gionalität in der Moderne. Festschrift für Gertrude garde in der Nachbarschaft kampieren zu se-
Cepl-Kaufmann. Neuss 2002, S. 73–88. hen«.14 Avantgarde sei die Vorhut, so Clause-
10 Vgl. Manfred Hinz: »Futurismus und Faschismus«. witz, welche die Aufgabe habe, »des Feindes
In: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.): Der
Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgar- Anrücken zu erfahren und zu erforschen«.15
dekritik – Avantgardeforschung. Amsterdam/At- Die militärischen Avantgarden sind die »Augen
lanta 2000, S. 455–466, bes. S. 454 f. des Heeres«.16 »Avantgarde«, so definiert der
11 Leo Trotzkij: Literatur und Revolution. Berlin Brockhaus von 1886, sei »Vorhut, Vortrab, der
1968, S. 127. Teil eines Heeres, welcher vor dem Gros der
12 Gérard Conio: Les Avant-gardes entre métaphy-
sique et histoire. Entretiens avec Philippe Sers.
Armee marschiert, Hindernisse beseitigt, im
Lausanne 2002, S. 9–14. Falle eines Angriffs aber den Feind so lange
13 Zur Begriffsgeschichte vgl. die diesbezüglichen aufhält, bis die nachfolgende Kolonne gefechts-
Beiträge in: Jean Weisgerber (Hg.): Les Avant-gar- bereit ist (Avantgardengefecht)«. Die Übertra-
des Littéraires au XXe Siècle. 2 Bde. Budapest gung des Begriffs vom Militärischen auf Künst-
1984, Bd. 1; sowie Hannes Böhringer: »Avant-
ler und Kunst findet sich erstmals durch Vertre-
garde – Geschichte einer Metapher«. In: Archiv für
Begriffsgeschichte 22 (1978), S. 90–114; und den ter des Frühsozialismus in Frankreich, durch
»Avantgarde«-Eintrag in: Ästhetische Grundbe- die Saint-Simonisten und Fourieristen in der
griffe (wie Anm. 4). ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
14 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehr- Der Saint-Simonist Olinde Rodrigues schreibt
jahre (1795/96), 3. Buch, 8. Kapitel. 1825 in »L’artiste, le savant et l’industriel« über
15 Zit. n. Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne
1890–1933. Stuttgart/Weimar 1998, S. 199. die besonderen Möglichkeiten von Kunst und
16 Carl von Clausewitz: Vom Kriege (1832). Frank- Künstler: »Wir Künstler werden als Avantgarde
furt a. M./Berlin/Wien 1980, S. 294. dienen. Die Macht der Künste ist in der Tat die
5 Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung

unmittelbarste und schnellste.«17 Eine Funktion die marxistisch-leninistische Partei-Avantgarde


als Seher und Führer der Gesellschaft spricht zielt, und ein noch diffuser künstlerischer, vor
auch der Fourierismus der Avantgarde zu, so allem in Frankreich. Im historischen Kontext
Gabriel Laverdant in De la mission de l’art et des Aufbruchs der Avantgarde-Bewegungen
du rôle des artistes (1845).18 Bereits ein Prota- und des Ersten Weltkriegs sind diese Semanti-
gonist der Moderne wie Charles Baudelaire be- ken gewiss allgemein geläufig – einer der vehe-
zweifelt aber die Tragweite eines solchen mentesten Propagandisten des Expressionismus,
Avantgarde-Konzeptes, so in Mon cœur mis à Kasimir Edschmid, äußert 1920, Bilder der mi-
nu (1859): »A ajouter aux métaphores mili- litärischen Avantgarde auf die künstlerische
taires: Les poètes de combat. Les littérateurs Avantgarde beziehend: »Vor einigen Jahren
d’avant-garde. Ces habitudes de métaphores rollte die Welle der Stoßtrupps neuer Gesinnung
militaires dénotent des esprits, non pas mili- und neuer Form vor. Steckten die Grenzlinien
tants, mais faits pour la discipline, c’est-à-dire ab, verteilten die Terrains, gewannen die An-
la conformité; des esprits nés domestiques, des fangsschlachten, überschritten die Marne.«21
esprits belges, qui ne peuvent penser qu’en soci- Aber auch hier ist auffällig, dass der expressio-
été.« (»Ergänzend sind noch folgende Militär- nistische Künstler und Theoretiker den explizi-
Metaphern zu nennen: die Kampfdichter, die ten Begriff ›Avantgarde‹ meidet.
Avant-Garde-Literaten. Diese Angewohnheiten, Insofern der Avantgarde-Begriff in einem
militärische Phrasen zu dreschen, verraten kei- kulturellen Kontext nur beschränkt dem militä-
neswegs einen militanten Geist, sondern Natu- rischen ›Original‹ entspricht, mag darin zwar
ren, die zum Drill, d. h. zum Kompromiß ge- ein Hinweis auf den militärischen Ursprung mit
schaffen sind. Lakaienseelen und Zwitter, die enthalten sein, aber dieser Begriff ist letztend-
bloß in Gemeinschaft denken können.«)19 lich doch recht eigenständig und nähert sich
Im die europäische Kunstentwicklung be- eher dem führenden Avantgarde-Verständnis
herrschenden Frankreich des ausgehenden 19. Lenins als dem dienenden Vorhutbegriff militä-
Jahrhunderts verliert die militärische Semantik rischer Strategen an. Aber trotz der zunehmen-
ihr Monopol. Die Bezeichnung ›Avantgarde‹ den Applikation des Avantgarde-Begriffs auf
wird allmählich auch im künstlerischen Sinne auch künstlerische Prozesse bleibt dessen Ver-
geläufig, wird zunächst für politisch engagierte wendung in den Kreisen der aufbrechenden
Kunst verwendet – also für eine Kunst, die als Avantgarde seit den 10er Jahren selten – ganz
Avantgarde dient –, bald wird sie bereits zur im Sinne des aufgezeigten Interesses der einzel-
Charakterisierung des Impressionismus einge- nen Bewegungen und Strömungen der Avant-
setzt. Mit Théodore Durets Critique de l’Avant- garde, sich zunächst unter dem eigenen Signum
Garde (1885) erscheint der Terminus erstmals zu präsentieren, und wohl auch dadurch be-
als kunsttheoretischer Begriff im Titel einer dingt, dass alte Kategorien wie ›Neue‹ und
diesbezüglichen Abhandlung.20 ›Junge Kunst‹ ihre Aussagekraft noch nicht
Im politischen Diskurs erscheint ›Avantgarde‹ gänzlich verloren hatten.
dann seit Beginn des 20. Jahrhunderts im leni-
nistischen Parteimodell – die bolschewistische
Kaderpartei bestimmt sich als ›Vorhut‹ der Ar- Suche nach der ›Avantgarde‹
beiterklasse – so in Lenins Schrift Was tun? von
1902. Spätestens mit der Durchsetzung dieses Eine Spurensuche danach, wo denn seit dem
Parteimodells in Russland und seit der Übertra- ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die neuen
gung dieses Avantgarde-Modells auf die Kom-
munistischen Parteien auch außerhalb Russ-
17 Olinde Rodrigues: »Der Künstler, der Gelehrte
lands ist per definitionem eine semantische
und der Industrielle« (1825). In: Manfred Hardt
Rivalität zwischen ästhetischer und kommunis- (Hg.): Literarische Avantgarden. Darmstadt 1989,
tischer Avantgarde gegeben, die den Begriff im S. 13–16, hier S. 15.
späteren Machtbereich der Sowjetunion für die 18 Abdruck ebenda, S. 17–25.
ästhetische Avantgarde hat untauglich werden 19 Charles Baudelaire: Journaux intimes: Fusés. Mon
lassen. cœur mis à nu. Carnet. Hg. Jacques Crépet/Geor-
ges Blin. Paris 1949, S. 76 f.
Um 1900 finden sich also (neben dem mili- 20 Barck: »Avantgarde« (wie Anm. 4), S. 556.
tärischen) zwei nebeneinander existierende 21 Kasimir Edschmid: »Bilanz«. In: Ders.: Die dop-
Avantgarde-Begriffe: ein politischer, der auf pelköpfige Nymphe. Berlin 1920, S. 209.
Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung 6

Ismen beginnen, sich ausdrücklich als ›avant- mus, Suprematismus, Metaphysiker¸ Abstrakti-
gardistisch‹ zu bezeichnen oder sich als solche vismus, Kubismus, Futurismus, Expressionis-
bezeichnen lassen wollen, ergibt nicht viele Er- mus.«25 Der Terminus ›Avantgarde‹ findet sich
gebnisse: 1912 eine Bemerkung von Apollinaire, in ihrem Buch nicht. Er taucht erst 1990 im
dass die futuristischen Maler in Italien nur Epi- Begleittext von Alois Müller, dem Herausgeber
gonen »de nos artistes d’avantgarde« seien,22 des Reprints, auf. Im selben Jahr wie Kunst-
1917 ein Aufsatz des Futuristen Gino Severini ismen erscheint in Madrid Guillermo de Torres
im Mercure de France und in der in den Nieder- umfängliche Zusammenschau von Ultraismus,
landen erscheinenden Avantgarde-Zeitschrift Kreationismus, Kubismus, Dada und Futuris-
De Stijl über »La peinture d’Avant-Garde«23. mus »als Bewegung des Schocks, des Bruchs
»Avantgarde! Vorhut!«, ruft aber dann 1921 und der Öffnung« unter dem Titel: Literaturas
der niederländische Konstruktivist Theo van Europeas de Vanguardia – die erste synthetisie-
Doesburg in seiner »Revue der Avant-garde« rende Darstellung in Buchform unter der expli-
[Heerschau der Vorhut aus – ein früher Avant- ziten Signatur der Avantgarde; ihr Verfasser
garde-Beleg: »Sieh da die Losung, unter welcher zählt selbst zu den Ultraisten. Obwohl das Buch
alle modernen und ultramodernen Gruppen der auf Spanisch mehrere Auflagen erlebte, blieb es
ganzen Welt in Richtung einer gänzlich neuen unübersetzt und wurde außerhalb des spani-
Ausdrucksweise in allen Formen der Kunst schen Sprachraums kaum rezipiert.
aufmarschieren.« Theo van Doesburg spricht In Frankreich verwendet der Surrealist Louis
von der Avantgarde als einer (wenn auch »un- Aragon 1926 das Wort ›Avantgarde‹ in seinem
geordneten«) »Truppe« mit zwei verschiedenen Paysan de Paris, André Breton spricht 1935
Flügeln: Avantgarde sei »heutzutage sowohl vom »L’art d’avant-garde«26. In der deutschen
auf sozialem als auch auf ästhetischem Terrain kommunistischen Literaturdebatte ist der Ter-
eine gemeinsame Kampfparole geworden«.24 minus Avantgarde durch die genannte leninisti-
In einer späteren Phase der Avantgarde, sche Sprachregelung besetzt, und die Sache
1925, als man in Sachen Ismen-Proklamation selbst wird durch eine zunehmend krudere
bereits eineinhalb Jahrzehnte Erfahrung gesam- Realismus-Doktrin attackiert. Eine markante
melt hat, als Dada bereits aufgelöst und der Ausnahme: Der kommunistische Autor Johan-
Surrealismus schon ins Leben gerufen ist, geben nes R. Becher definiert 1929 die »Reportage«
Hans Arp and El Lisickij ein dreisprachiges als »die Avantgarde, der erste Vorstoß einer
Resümee derartiger Anstrengungen heraus: Die kommenden Dichtung«.27 Im selben Jahr be-
Kunstismen. Les Ismes de l’art. The Isms of richtet die Zeitschrift Der Querschnitt in einer
Art. Sie beschreiben darin fünfzehn Ismen. Es signifikanten Notiz über »Deutsche Avantgarde
sind dies: »Abstrakter Film, Konstruktivismus, in Rom«. Als ein Berliner Periodikum, das stets
Verismus, Proun, Kompressionismus, Merz, auch den neuesten Entwicklungen in Literatur
Neo-Plastizismus¸ Purismus, Dada, Simultanis- und Kunst Europas aufgeschlossen gegenüber
steht, signalisiert der Bericht die wohl anhal-
tende Skepsis gegenüber der Avantgarde, nicht
aber dem Begriff gegenüber, und verrät auch
22 Barck: »Avantgarde« (wie Anm. 4), S. 556. einiges über den Sprachgebrauch jenseits der
23 Barck: »Avantgarde« (wie Anm. 4), S. 557.
24 Theo van Doesburg: »Revue der Avant-garde«. In:
kommunistischen Linie: »In der Biblioteca Vit-
Het Getij (1921), zitiert nach Hubert van den torio Emmanuele IIIe in Rom gibt es deutsche
Berg: Avantgarde und Anarchismus. Dada in Zü- Dadaisten, Futuristen, Expressionisten, alles.«28
rich und Berlin. Heidelberg 1999, S. 46 f. Die bereits ein Jahrzehnt zuvor von Herwarth
25 Hans Arp/El Lisickij: Die Kunstismen. Les Ismes Walden aufgestellte Trias wird also repetiert,
de l’art. The Isms of Art. Erlenbach-Zürich/Mün-
nun aber unter dem Avantgarde-Oberbegriff
chen/Leipzig 1925. S. VII.
26 Barck: »Avantgarde« (wie Anm. 4), S. 565. subsumiert.
27 Johannes R. Becher: Vorwort zu: Karl Grünberg: Eher peripher ist ein Beleg aus dem Exil, wo
Brennende Ruhr. Roman aus dem Kapp-Putsch. 1934 das Pariser Tageblatt einen Artikel mit
Rudolstadt 1929. dem Titel »Raoul Hausmann, einer aus der
28 [Notiz. In: Der Querschnitt 1928, S. 452. Es ist berliner Avantgarde« veröffentlicht.29 1937
ironisch von »einer neuen deutschen Lyrik« die
Rede, »die fast ausschließlich aus mathematischen (also im Jahr der Ausstellung »Entartete Kunst«
Formeln, Differentialen usw. besteht«. in München) erscheint im Prager Exil ein Dia-
29 In: Pariser Tageblatt 11.11.1934, S. 4. log über »Avantgarde-Kunst und Volksfront«30
7 Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung

zwischen Ernst Bloch und Hanns Eisler – zu xion und wissenschaftlichen Aufarbeitung der
einer Zeit, da beide die Avantgarde doppelt be- avantgardistischen Kunstrevolutionen seit dem
droht sehen: »[… die Avantgarde befindet sich frühen 20. Jahrhundert.
in einer äußerst schwierigen Lage. Von den Ein für die westdeutschen Verhältnisse un-
breiten Massen isoliert, droht der Fascismus sie mittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg charak-
zu vernichten. Andererseits befürchtet sie, von teristisches Zeugnis ist die von Alfred Andersch
der einzigen Kraft, die imstande ist, Hitler zu 1949 herausgegebene Textanthologie Europäi-
schlagen, von der Volksfront, Unverständnis sche Avantgarde. Im gleichnamigen Vorwort
und Senkung ihres Niveaus.«31 Mit Faschismus, spricht er »vom Schwert der neuen Ritter, der
Exil und Sozialistischem Realismus sind seit Avantgarde Europas«, wobei mit dem Schwert
den 30er Jahren für die Avantgarde die denkbar nichts anderes als die Waffe des »Wortes« ge-
ungünstigsten Rahmenbedingungen gegeben. meint ist. Es charakterisiert den kulturellen
Wenn 1939 in der amerikanischen Zeitschrift Nachholbedarf im befreiten Deutschland, wenn
Partisan Review Clement Greenbergs Aufsatz in dieser Anthologie über die »Europäische
»Avant-garde and Kitsch«32 erscheint, so ist Avantgarde« nicht eigentlich Avantgardisten,
dies eher eine terminologische Ausnahme als sondern Exponenten der nach 1933 in Deutsch-
die Regel. land verbotenen und vertriebenen Moderne wie
Insgesamt ergibt der Blick auf die Wortge- Arthur Koestler, Ignazio Silone, Albert Camus,
schichte bis zum Zweiten Weltkrieg folgendes Jean-Paul Sartre, Stephen Spender, Simone de
Bild: Der dem Militärischen entstammende Beauvoir, André Malraux und andere vertreten
Avantgarde-Begriff steht zumal im Französi- sind.
schen seit dem 19. Jahrhundert in einem auch Etwa zur selben Zeit, in der 1948 gegründe-
kulturell-künstlerischen Kontext, allerdings in ten multidisziplinären, sowohl Maler, Bildhauer,
der sehr allgemeinen Bedeutung zur Bezeich- Schriftsteller als auch Filmemacher umfassen-
nung von fortschrittlicher bzw. politisch enga- den Cobra-Bewegung, aber in der Folgezeit
gierter Kunst und Literatur, wobei der Künstler auch bei zahlreichen anderen neuen Kunstbe-
in der Rolle des Vorreiters gesehen wird. Davon wegungen und -strömungen wird die Selbstbe-
ausgehend setzt sich der Begriff zuerst im Fran- zeichnung ›Avantgarde‹ mehr und mehr geläufig
zösischen, dann auch in weiteren romanischen – so bei Fluxus, in der Konzeptkunst, im Nou-
Sprachen – dem Spanischen und Italienischen – veau Réalisme, der Pop-Art, in der Situationis-
sowie anschließend auch in anderen Sprachen, tischen Internationale, gelegentlich mit dem
so im Deutschen, langsam für jenen Komplex Zusatz ›Neo-‹. Andererseits bietet z. B. ein maß-
durch, den wir heute ›Avantgarde‹ nennen. gebliches germanistisches Standardwerk wie
›Avantgarde‹ steht in scharfer Konkurrenz zum das Reallexikon der deutschen Literaturge-
›Ismus‹, als der die einzelne Avantgarde-Bewe- schichte aus dem Jahr 1958 noch keinen eige-
gung ja auftritt. nen Eintrag zu Avantgarde.33 Für die angloame-
rikanische Entwicklung dieser Zeit resümiert
Paul Wood: »›Avant-garde‹ became pervasive
Die künstlerische Avantgarde as a synonym for ›modern art‹ during the boom
als ›Avantgarde‹ in culture after World War II. But many of the
movements it is loosely used to refer to predate
Im osteuropäischen Herrschaftsbereich, dessen World War II by several decades, and at the
Kunstauffassung nach 1945 vom Sozialisti- time when they first flourished, the term ›avant-
schen Realismus bestimmt war und dessen garde‹ was not nearly so often used to describe
Kunstdoktrin dementsprechend keine künstle-
rische, sondern allein eine politische Avantgarde
30 In: Die neue Weltbühne 9.12.1937; wieder u.d.T.
akzeptierte, war der Avantgarde-Begriff ent- »Avantgarde und Volksfront« in Ernst Bloch: Ten-
sprechend okkupiert und für die Kunst weitge- denz – Latenz – Utopie. Frankfurt a. M. 1978, S.
hend tabu. Nach 1945 setzt er sich dagegen in 158–164.
den Staaten des Westens, wie kritisch grundiert 31 Ebenda, S. 159.
auch immer, als Begriff definitiv durch – sowohl 32 Clement Greenberg: »Avant-garde and Kitsch«.
In: Partisan Review 6 (1939), Nr. 5, S. 34–49.
zur Selbstbezeichnung und zur Selbstverständi- 33 Werner Kohlschmidt/Wolfgang Mohr (Hg.): Real-
gung über eine jeweils neue künstlerische Praxis lexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl.
als auch in der historischen-kritischen Refle- Bd. 1. Berlin 1958.
Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung 8

them. [... The concept achieved a kind of do- eigenen, längst von der Geschichte erledigten
minance or ›hegemony‹ [only in the period Aporien nicht innewird. Sie handelt mit einer
from about 1940 to about 1970. [… In artistic Zukunft, die ihr nicht gehört. Ihre Bewegung
terms, these were the decades in which a con- ist Regression. Avantgarde ist zu ihrem Gegen-
ception of artistic »modernism« was consolida- teil, ist zum Anachronismus geworden.«36 Kor-
ted, whose most important centre was New respondierend dazu heißt es: »Jede heutige
York. Modernism, as a specialized critical dis- Avantgarde ist Wiederholung, Betrug und
course in art, declined in influence after about Selbstbetrug.«37
1970, but in wider and less specialized thinking Der einflussreiche Kulturtheoretiker Arnold
about art during the years since, the term Gehlen hält Anfang der 60er Jahre die Rede
»avant-garde« carried on bearing the meanings von der Avantgarde ausdrücklich für »über-
it assumed then, and to an extent it continues holt«: »Die Bewegung geht ja gar nicht nach
to do so. ›Avant-garde‹, then, became not just a vorwärts, sondern es handelt sich um Anreiche-
synonym for modern art in the all-inclusive rungen und um Ausbau auf der Stelle, wer
sense of the term, but was more particularly heute von Avantgardismus spricht, der meint
identified with artistic »modernism«, and hence nur Bewegungsfreiheit als Programm, aber die
shorthand for the values associated with that ist ja längst zugestanden.«38 Erst zehn Jahre
term.«34 später wird mit Peter Bürgers Theorie der
Nachdem 1961 in West-Berlin eine erste Aus- Avantgarde (1974), über die noch zu handeln
stellung der »europäischen Avantgarde« gewid- ist, in der Bewertung der Avantgarde ein neuer,
met wurde35, formulierte 1962 Hans Magnus positiver Maßstab angelegt.
Enzensberger in einem aufsehenerregenden Hinzu kommt eine weitere Aufladung bzw.
Aufsatz über »Die Aporien der Avantgarde« in Belastung des Terminus in den 60er und 70er
der Kulturzeitschrift Der Merkur sein Negativ- Jahren durch seinen Einsatz im politischen Be-
urteil über die Avantgarde. Unabhängig von reich – nun nicht mehr im traditionellen leni-
seiner Wertung ist für die Begriffsgeschichte re- nistischen Verständnis der Avantgarde-Partei,
levant, dass mit diesem Text Enzensbergers die sondern im aktuelleren, politisch linksradikalen
›Avantgarde‹ und die ›historische Avantgarde‹ Spektrum des Maoismus, der nationalen Befrei-
eben unter dieser Signatur nun deutlich ins Be- ungsbewegungen in der Dritten Welt oder der
wusstsein der Öffentlichkeit zumindest in bewaffneten Gruppen in den Metropolen, die
Deutschland tritt: »Die historische Avantgarde sich, wie z. B. die Rote Armee Fraktion (RAF)
ist an ihren Aporien zugrundegegangen. Sie war in der Bundesrepublik, ausdrücklich als Avant-
fragwürdig, aber sie war nicht feige. Nie hat sie garde bezeichnen. In den letzten Dekaden des
sich durch die Ausrede zu sichern versucht, was vorigen Jahrhunderts können bei der Verwen-
sie betreibe, sei nichts weiter als ein ›Experi- dung des Begriffs zwei gegensätzliche Tenden-
ment‹ [… das macht ihre Größe aus.« Und ge- zen beobachtet werden.
gen die zeitgenössische Avantgarde polemisie- Zum einen wird der Begriff ›Avantgarde‹
rend: »Nicht daß sie nicht zu weit ginge, ist der rasch populär und geläufig. Es werden Ausstel-
heutigen Avantgarde anzukreiden, sondern daß lungen organisiert, und es erscheinen Analysen
sie sich die Hintertüren offen hält, an Doktri- und Studien, die der Avantgarde vor und nach
nen und Kollektiven Rückhalt sucht und ihrer dem Zweiten Weltkrieg – nun ausdrücklich als
›Avantgarde‹ – gewidmet sind. Eine ausgedehnte
internationale Avantgarde-Forschung, die alle
34 Paul Wood (Hg.): The Challenge of the Avant- Kunstsparten umfasst und seit der Wende von
Garde. New Haven, Conn. 1999, S. 10. 1989/90 auch verstärkt in den mittel- und ost-
35 Vgl. Leopold Reidemeister (Hg.): Der Sturm. Her-
europäischen Ländern stattfindet, arbeitet an
warth Walden und die Europäische Avantgarde.
Berlin 1912–1932. Berlin 1961. einem kritischen, wissenschaftlichen Avant-
36 Hans Magnus Enzensberger: »Die Aporien der garde-Begriff. Parallel dazu findet der Begriff
Avantgarde« (1962). In: Ders.: Einzelheiten II. mehr und mehr Verwendung im alltäglichen
Poesie und Politik. Frankfurt a. M. 1984, S. 80; Sprachgebrauch der Werbung, der Mode und
zuerst in: Merkur 191 (1962), S. 401–429. des Kommerzes, wobei er einerseits seine schar-
37 Ebenda. S. 79.
38 Arnold Gehlen: »Über kulturelle Kristallisation«. fen Konturen zu verlieren beginnt, andererseits
In: Ders.: Studien zur Anthropologie und Soziolo- aber gerade dadurch zu einer völlig geläufigen
gie. Neuwied/Berlin 1963, S. 322. Bezeichnung wird, auch und gerade um neue
9 Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung

Entwicklungen in den Künsten zu benennen. transportiert werden. So verurteilen postmo-


Diese Entwicklung gilt im Grunde bis auf den derne Theoretiker die »großen Erzählungen« –
heutigen Tag. Der Begriff zirkuliert entspre- und die Avantgarde ist gewiss eine der großen
chend in Europa und Amerika, wird aber auch Erzählungen des 20. Jahrhunderts –, rezipieren
für neuere künstlerische Entwicklungen z. B. in aber (wie Lyotard) durchaus positiv einen Prot-
China und anderen Ländern Asiens und Afrikas agonisten der klassischen Avantgarde wie z. B.
verwendet. ›Avantgarde‹ bezeichnet dann Ent- Marcel Duchamp, der zugleich auch Vorbild
wicklungen, die dort neu sind bzw. die wiede- der Avantgarde der 50er und 60er Jahre ist. –
rum in ihrer Formsprache an Entwicklungen Aktuell kursieren im Kontext einer Verabschie-
anschließen, die die europäische Avantgarde dung der Avantgarde der Begriff ›Postavant-
ausgearbeitet hat. garde‹43 und seit einigen Jahren in der Historio-
Zum anderen lässt sich eine Abwendung vom graphie auch der Begriff ›Arrière-garde‹44 mit
Avantgarde-Begriff beobachten, wobei mit dem einer Privilegierung von Tendenzen, die sich
Terminus Entwicklungen in den europäischen bewusst von der Avantgarde absetzen.
Künsten umrissen sind, die nun aufgrund wel- So ist der semantische Befund zu Beginn des
cher Parameter auch immer kritisiert werden. 21. Jahrhunderts uneinheitlich: In und seit den
Es ist häufig der Kult des Neuen oder der – ver- 90er Jahren wird für den deutschen Sprachge-
meintliche oder tatsächliche – totalisierende brauch konstatiert, dass der Begriff ›Avant-
Universalismus-Anspruch der frühen Avant- garde‹ »in den letzten Dezennien« zu einem
garde, die gerade aus der Perspektive der Post- »Modewort« geworden sei, »das unterschieds-
moderne suspekt erscheinen. Eine angebliche los auf alles Neue in Kunst und Kultur ange-
Allianz oder Identität zwischen Avantgarde und wandt wird.«45 Praktisch die gesamte Kunst
Faschismus (wie beim Futurismus in Italien) der Moderne und auch der Gegenwart, sei sie
oder Kommunismus (wie beim Konstruktivis- postmodern oder sonstwie zu benennen, wird
mus in Russland) lässt mit der Sache selbst als ›Avantgardismus‹ interpretiert, wobei die
auch den Begriff fragwürdig scheinen. Wobei Trennschärfe des Begriffs letztlich hinfällig
aber »nicht übersehen werden [sollte, dass es wird. Diese unscharfe Verwendung der Bezeich-
zwischen dem genuinen Anspruch der Avant- nung ›Avantgarde‹ findet sich z. B. bei Renato
garde, von der Kunst aus die Gesellschaft zu Poggioli in seinem 1962 auf Italienisch als Teo-
verändern, und dem Versuch, die Kunst einer
diktatorischen Politik zu unterstellen, einen 39 G[eorg B[ollenbeck: »Avantgarde«. In: Ralf
fundamentalen Richtungsunterschied gibt«.39 Schnell (Hg.): Gegenwartskultur. 130 Stichwörter.
Die Avantgarde büßt also auch an Popularität Stuttgart/Weimar 2006, S. 26–29, hier S. 28.
ein. Eine bestimmte, recht kurzatmige Avant- 40 Uwe Lindemann: »Kriegsschauplatz Öffentlich-
garde-Kritik nimmt sich dabei die militärische keit«. In: Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über
Avantgarden. München 2001, S. 17–36, hier S. 17.
Provenienz des Begriffes zum Ausgangspunkt, 41 Gerade dies kritisiert überzeugend Thomas Keith:
um umstandslos der künstlerischen Avantgarde Poetische Experimente der deutschen und russi-
vorzuhalten, auch sie »führe Krieg«40, sie sei schen Avantgarde (1912–1922). Ein Vergleich.
»gewalttätig und totalitär« und habe ein »Fai- Berlin 200, S. 19–21; vgl. auch die diesbezügliche,
ble für Gewalt« .41 differenzierte Analyse von Hanno Ehrlicher: Die
Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Ma-
Wie auch immer – es wird der »Tod der nifestationspraktiken europäischer Avantgarden.
Avantgarde« beschworen.42 In der postmoder- Berlin 2001.
nistischen Philosophie ist zwar die Avantgarde 42 Vgl. Paul Mann: The Theory-Death of the Avant-
wegen ihres Universalismus, wegen ihres oft li- garde. Bloomington, Ind. 1991.
nearen Zukunftsglaubens und ihrer Vorstellung 43 Vgl. Andreas C. Papadakis: Post-Avant-Garde.
Painting in the Eighties. London 1987; Gabriella
vom Neuen und der Originalität, schließlich
Giannachi/Nick Kaye: Staging the post-avant-
wegen ihrer Selbstpositionierung als Spitze der garde. Italian experimental performance after
Moderne und des Modernisierens immer wie- 1970. Bern 2002.
der attackiert worden – aber in der Kunst 44 Vgl. William Marx: Les arrière-gardes au XXe
selbst, die sich im späten 20. Jahrhundert als siècle. L’autre face de la modernité esthétique. Paris
postmodern versteht, sind viele Verfahren, For- 2004.
45 Georg Jäger: »Avantgarde«. In: Klaus Weimar
men und Praktiken der Avantgarde übernom- (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissen-
men und weiterentwickelt worden. ›Essentials‹ schaft. Bd. 1. Berlin/New York 1997, S. 183–187,
der Avantgarde sind dabei durchaus weiter- hier S. 184.
Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung 10

ria dell’arte d’avanguardia, 1968 in englischer Zweiten Weltkrieg, so ist sie doch erst nach
Übersetzung als The Theory of the Avant-Garde 1945 zu einem festen Begriff (neben modernism
erschienenen Buch. Bei Poggioli, dessen Werk in der angelsächsischen Kunst- und Literatur-
insbesondere im englischen Sprachraum längere wissenschaft) avanciert.47 Insbesondere in der
Zeit eine wichtige Orientierung bildete und die deutschsprachigen Avantgarde-Forschung und
Verwendung des Avantgarde-Begriffs in diesem vor allem in jener, die sich an Peter Bürgers
Sprachraum maßgeblich prägte, ist zwar von einflussreicher Theorie der Avantgarde (1974)
Avantgarde die Rede, es wird aber praktisch orientiert, wird zwischen einer frühen ›histori-
Avantgardismus als eine Grundeinstellung der schen‹ Avantgarde in der ersten Hälfte des 20.
Moderne insgesamt aufgefasst und dement- Jahrhunderts und einer späteren, der ›Neo-
sprechend breit angewendet: nicht nur für die Avantgarde‹ in der Zeit nach dem Zweiten
Avantgarde, so wie sie Gegenstand dieses Lexi- Weltkrieg, unterschieden.48 Zwischen beiden
kons ist, sondern für Grundzüge der modernen wird häufig keine historische Kontinuität ange-
Literatur und Kunst seit dem 19. Jahrhundert nommen, sondern ein Bruch: »Die Neo-Avant-
überhaupt.46 garde institutionalisiert die Avantgarde als
Zugleich findet sich eine scharfe Polemik ge- Kunst und negiert damit die genuin avantgar-
gen die Avantgarde im Gefolge ›postmoderner‹ distischen Intentionen.«49 Problematischer
Kulturkritik. Seit den 90er Jahren des vorigen noch ist Klaus von Beymes Vorgehen in seiner
Jahrhunderts wird der Begriff ›Avantgarde‹ da- Gesamtdarstellung der Avantgarde aus dem
her als Selbstbezeichnung von praktizierenden Jahr 2005, Das Zeitalter der Avantgarden
Künstlern oder Künstlergruppen seltener oder 1905–1955, mit der Unterscheidung zwischen
weniger gern verwendet, obwohl die Eingabe Avantgarde (bis 1955) und Postavantgarde
des Terminus in Suchmaschinen des Internets – (nach 1955).50 Damit mag man zwar die Asym-
in welcher der großen oder kleineren Sprachen metrie zwischen ›historischer Avantgarde‹ und
man das Wort auch benutzt – Treffer in sieben- ›Neo-Avantgarde‹ überwinden, nimmt aber
bis achtstelliger Anzahl ergibt, darunter nicht eine drastische Abwertung der Avantgarde der
wenige, die sich auf künstlerische Initiativen 50er, 60er und 70er Jahre in Kauf, indem diesen
der Gegenwart beziehen. Entwicklungen und Strömungen das Prädikat
Avantgarde ganz einfach aberkannt wird.
Ist nun die Bezeichnung der ›historischen
Historische Avantgarde Avantgarde‹ als Avantgarde eine nachträgliche
und Neo-Avantgarde historiographische Konstruktion, so ist dies im
Fall der sog. ›Neo-Avantgarde‹ anders. Der Be-
Begegnet man der Bezeichnung ›Avantgarde‹, griff ›Avantgarde‹ hält nach 1945 nicht nur in
wie gezeigt, zwar gelegentlich bereits vor dem die Historiographie der Künste Einzug, sondern
löst im Diskurs über Kunst und Literatur alte
46 Zur Theoriebildung vgl. resümierend Wolfgang Begriffe wie ›neue Kunst‹, ›jüngste Kunst‹ und
Asholt: »Theorien der Modernität oder Theorie ›Kunst-Ismen‹ ab. Nicht zuletzt im Feld der
der Avantgarde(n)«. In: Wolfgang Asholt/Rüdiger Neo-Avantgarde begegnet man dem Begriff
Reinecke/Erhard Schütz/ Hendrik Weber (Hg.): ›Avantgarde‹ auch häufig als Selbstbeschrei-
Unruhe und Engagement. Blicköffnungen für das
Andere. Bielefeld 2004, S. 155–168.
bung. Dabei präsentiert man sich in der Regel
47 Paul Wood (Hg.): The Challenge of the Avant- als ›Avantgarde‹ und durchaus nicht als ›Neo-
Garde (wie Anm. 34), S. 10. Avantgarde‹.
48 Zur Diskussion um Bürgers Buch vgl. die frühen In diesem Zusammenhang hat übrigens die
Einwände, gesammelt in: Martin Lüdke (Hg.): Asymmetrie des Begriffspaars ›historische‹ ver-
»Theorie der Avantgarde«. Antworten auf Peter
sus ›Neo-Avantgarde‹ eine auch polemische
Bürgers Bestimmung von Kunst und bürgerlicher
Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1976. Tendenz: Ein Dadaist wie Raoul Hausmann
49 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt wendet sich z. B. vehement gegen ›Neodada‹ als
a. M. 1974, S. 80 (Hervorhebung im Original). einer ganz und gar verlogenen Neuauflage des
50 Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Originals.51 – Bei Bürger bleibt zu berücksichti-
Kunst und Gesellschaft, 1905–1955. München gen, dass in seiner Avantgarde-Theorie nur we-
2005.
51 Vgl. Raoul Hausmann: Am Anfang war Dada. nig empirisches Material der Avantgarde aus
Giessen 1972 (deutsche Fassung von Raoul Haus- der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts heran-
mann: Courrier Dada. Paris 1958). gezogen wird – zwar wird mit Recht etwa auf
11 Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung

die überragende Rolle von Joseph Beuys ver- len Umfeld nach dem Zweiten Weltkrieg all-
wiesen, es fehlen aber Hinweise z. B. auf avant- mählich eine neue Qualität zu. Große Museen
gardistische Strömungen wie die Cobra-Bewe- bildeten in stärkerem Maß als vorher wichtige
gung, die Situationistische Internationale oder Schauplätze der Gegenwartsavantgarde, wäh-
auch die Konkrete Dichtung. rend gleichzeitig auch die Musealisierung, An-
Bei der Frage aber: »What is Neo about the erkennung und Kanonisierung der alten Avant-
Neo-avant-garde?«52, die der amerikanische garde einsetzte. Gehörten Mitglieder der Vor-
Forscher Hal Foster stellte, sollte man die kriegsavantgarde mittlerweile zum kulturellen
Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg als Establishment, so setzte sich die spätere Avant-
ungebrochene Fortsetzung der Vorkriegsavant- garde viel schneller durch und erhielt – wie der
garde sehen und nicht als Wiederholung eines Kunstbetrieb insgesamt – stärker als zuvor offi-
bereits gescheiterten Projekts. Es sollten die zielle, institutionalisierte Unterstützung in Form
›historische‹ und die ›Neo-Avantgarde‹ als zwei von Preisen, Aufträgen, Stipendien usw., die
Hochkonjunkturen in einer und derselben Ent- mehr und mehr die Ökonomie des künstleri-
wicklung gefasst werden. Dabei gibt es durch- schen Feldes prägen. Wichtig sind hier auch
aus Unterschiede zwischen der ›historischen‹ Rundfunk und Fernsehen als neue Plattformen
und der ›Neo-Avantgarde‹, die allerdings – ge- auch der wirtschaftlichen Absicherung. Diese
nauer betrachtet – vor allem relativer Natur wie andere neue Medien bzw. deren allgemeine
sind. Diese Unterschiede sind nicht nur durch Verbreitung und Zugänglichkeit geben der
die Entwicklung der Avantgarde selbst bedingt Avantgarde in der zweiten Hälfte des 20. Jahr-
– wobei die Avantgarde nach dem Zweiten hunderts ein neues Ansehen, das teils auch
Weltkrieg sich nunmehr selbstbewusst als durch neue Techniken in bestehenden Medien
›Avantgarde‹ präsentiert und sich selbst auf ihre (z. B. Vervielfältigung durch Hektographier-
Vorfahren aus der ersten Hälfte des 20. Jahr- und Kopiermaschinen oder das Aufkommen
hunderts beruft –, sondern auch durch tiefgrei- des 8mm- und Super-8-Films), teils durch neue
fende geopolitische Umwälzungen im Zuge des Formen wie Installation, Environment, Happe-
Zweiten Weltkriegs und des anschließenden ning usw. und neue Kategorien im Denken über
Kalten Kriegs. Dieser führte nicht nur zu einer Kunst, wie z. B. ›Anti-Kunst‹ und ›Experiment‹
neuen Vormachtstellung der USA, die sich auch geprägt ist. Beispiele der alten Avantgarde wer-
im kulturellen Feld bemerkbar machte und den rezipiert – und nicht zuletzt sind deren
New York zusammen mit London zu einer ehemalige Vertreter ja auch teilweise weiterhin
neuen Hochburg der Avantgarde avancieren künstlerisch aktiv.
ließ. Umgekehrt entstand durch den Eisernen
Vorhang für Jahrzehnte ein Riss, der das alte
Netzwerk der Vorkriegsavantgarde zerstörte, Avantgarde als Netzwerk und Projekt
indem er einen massiven Bedeutungsverlust
vormaliger Avantgarde-Zentren wie St. Peters- Man entgeht einigen Aporien der Avantgarde-
burg/Leningrad, Moskau, Warschau, Posen, Forschung, wenn man die Avantgarde als sozi-
Krakau, Prag, Budapest und Bukarest bedeu- ale Konfiguration auffasst und sie als ein Phä-
tete, sofern diese nicht bereits durch die restau- nomen der sozialen Kohäsion und Gruppenbil-
rative retour à l’ordre und die Repression gegen dung im kulturellen Feld beschreibt, das sich
die Avantgarde in den 30er Jahren ihre Bedeu- zusammenhängend als Netzwerk begreifen
tung als Avantgarde-Zentren verloren hatten. lässt. Die Avantgarde erscheint dabei als ein auf
Hinzu kommt eine allmähliche Umwandlung der synchronen Ebene heterogenes und auf der
des künstlerischen Felds. War man bis zum Ebene der Diachronie sich wandelndes und
Zweiten Weltkrieg stark abhängig von privater wanderndes, letzten Endes aber doch einheitli-
Finanzierung und persönlichem Mäzenaten- ches Netzwerk, das alle Kunstbereiche umfasst:
tum, obwohl es auch bereits Formen der staat- bildende Künstler, Schriftsteller, Komponisten
lichen Unterstützung gab, wie im Fall der Mu- und Musiker, Architekten und Städtebauer, De-
sealisierung des Expressionismus oder im Fall signer, Filmemacher, Theaterregisseure und
des umkämpften, aber letztendlich ›Staatlichen‹ Bühnenkünstler, Galeristen und Zeitschriften-
Bauhauses in Weimar sowie der Verflechtung
von Avantgarde und Staatsinstitutionen in der 52 Hal Foster: »What’s Neo about the Neo-Avant-
frühen Sowjetunion, so kam dem institutionel- Garde?« In: October 70 (1994), S. 5–32.

Das könnte Ihnen auch gefallen