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Es kann nicht darum gehen, alle Bedeutungen dieser dehnbaren und schillernden Begriffe aufzulisten

und die Verwirrung weiter zu steigern. Wichtig ist zunächst, den Begriff der Moderne gegen die
verwandten Begriffe >>Neuzeit<< und >>Modernismus abzugrenzen, zumal >>Moderne häufig als
Synonym für »Neuzeit oder >>Modernis mus<< verwendet wird. Während zahlreiche soziologische und
sozial- philosophische Theorien (Bauman, Giddens, Habermas, Touraine) dazu neigen, Moderne« und
»Neuzeit<< (als Aufklärung und Rationalismus) ineinszusetzen, hat sich vor allem in der Kunst- und
Literaturwissenschaft ein Sprachgebrauch eingebürgert, der auf eine Identifizierung von Moderne und
Modernismus hinausläuft. Die Bezeichnung Wiener oder Pariser Moderne meint nicht eine
jahrhundertelange Entwicklung seit 1500 oder 1600, sondern die Kunst- und Lite raturformen der
Jahrhundertwende oder (im Falle von Paris) die literarische Entwicklung seit Baudelaire (1821-1867), die
vor allem Walter Benjamin als ein Paradigma der Moderne beschrieben hat. In diesem historischen
Kontext erscheinen Symbolismus, Ästhetizismus, Avantgarde und Existentialismus als Etappen einer
literarischen Spätmoderne, welche die Moderne als Neuzeit und Aufklärung kritisch reflektiert.

Die Ineinssetzung von >>Moderne« und »Neuzeit<< hat eine lange philosophische Tradition, die mit
dem Zerfall des Hegelschen Systems bei den Junghegelianern beginnt. In einen seiner Versuche, dieses
System zu ergänzen und zu retten, spricht der Hegel-Schüler Friedrich Theodor Vischer (1807-1887) von
der >>großen Krisis (...), welche die moderne Zeit vom Mittelalter trennt. 2° Anders als Hegel, der
Mittelalter und Neuzeit als eine mittelalterlich-christliche Epoche auffaßte, sieht sich Vischer in der Mitte
des 19. Jahrhunderts genötigt, die Moderne als Neuzeit (seit etwa 1600) als selbständige Einheit
anzuerkennen. Diese Anerkennung, die der neuen Ära um 1850 in der Philosophie zuteil wird, ist kein
Zufall, sondem zeugt von einer veränderten Geschichtsauffassung, die aus den Krisen des 19.
Jahrhunderts hervorgeht und als spätmodern oder modernistisch im Sinne von Nietzsche und Baudelaire
bezeichnet werden könnte. Mit anderen Worten: Zu Beginn der Spätmoderne oder des Modernismus
wird die neuzeitliche Moderne im Rückblick erkennbar, definierbar und Leizisierbar.

Nicht nur in der deutschen, sondern auch in der englischen Philo sophie und Soziologie wird der
Ausdruck moderm thought in den meisten Fällen mit der Bedeutung neuzeitliches Denkens versehett So
spricht beispielsweise Bertrand Russell in seiner History of We stern Philosophy (1946) von der
modernen Philosophies (modern philosophy), die das mittelalterfiche Denken ablöst and aus der
Säkularsierung and Verwissenschaftlichung der Gesellschaft hervorgeht. Erwas konkreter periodisiert
der Soziologe Giddens, wenn er die Moderne (moderutya) erst mit der Aufklärung des 17. Jahrhunderts
beginnen läßt (from about the seventeenth century on- wards, als das Werk Francis Bacom (1561-1626)
zu wirken be- ginnt. Aholich äußert sich der deutsche Soziologe Tenhrack, wenn er von der
wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderta spricht und die Säkularisierungstendenzen
untersucht, die von dieser Revolution ausgeben.

Es ist wichtig, daran zu erinnern, dall der Ausdruck Moderne als Neuzeite nur im deutschen Sprachruum
als smevolle Präzisierung encheint, weil das Wort Neuzeits im Englischen nut mit ormodem times oder
modernity, im Französischen nur mit temps moder nem oder modernités und ire Italienischen mit veta
modernas hzw Deso modernos wiedergegeben werden kann. Wenn aber Walter Benjamin im Anschluß
an Baudelaires modernute von der Moderne spricht, so meint er nicht die Moderne als Neuzeit, sondem
die Spăt moderne des 19. Jahrhunderts den anbrechenden Madernismus in Kunst, Literatur and
Philosophic Wie verhalten sich nun Moderne (Neuzeit) und Modern zueinander? Der Modermisnus
könnte wie un Zusammenhang m F. Th. Vischer bereits angedeutet als eine Zeit des kritischen Nach
denkens über die Modeme oder als ein Rejesivwerden der Maderne gedeutet werden. In gewisser
Hinsicht war der Modernismus on mer auch eine Kritik der Modeme (a critique of modernity), stelles
Ray Boyne und Ali Rattansi in der Einleitung zu ihrem Sanmethand Postmodernism and Society fest
Sie haben insofern recht, als modernustische Philosophen und Schriflimeller wie Nietzsche, Dostoevsky,
Musil, Kafika und Pine dello zentrale Gedanken der Aufklärung und des Rationaliamus (2.8 den
Gedanken der Wahrheit und der eindeutigen Begrifflichkeit) Frage stellen. Diese Autoren beginnen
auflerden, wie sich im fünfer Kapitel zeigen wint, an der Beherrschbarkeit der Welt im Rahnten des
aufidarerischen und rationalistischen Fortschrittsglaubens zweifeln. Sie setzen zwar die Religionskritik
(Nietzsche, Kierke gaard) der Aufklärung in einem neuen Kontest fort, zweifeln aber zugleich die von den
Aufklären etablierte Autoritit der Wissemchat an und antizipieren dadurch die Wissenschaftskritik in der
Postmo derme etwa bei Lyotard, Vattimo und dem Soziologen Bar Ingesamt gehler jench der
Moderniomis als Selbstkrink der Mo

derme noch dem modernen Zeitalter on Das Wort Modernismuse eveziert in hispanistischen Kreise
sogleich den spanisch-amerikanischen Begriff des moderwuno, nine literarisch-ästhetische Strömung,
deren Hauptvertreter Juan Ramón Jiménez (1881-1958), der Kuhaner José Mari (1853-1895) und der
nicaraguanische Lyriker Rubén Darío (1867-1916) sind Es eitt keineswegs zu, wie hisweilen behauptet
wird, dass der Modern mit dem europäischen und nordamerikanischen Modernismus (TS Eliots,
Faulkners, Musils, Gides) weng oder nichts zu tun habe Im Gegenteil, in zahlreichen Texten Marits und
Darios sind Einflüsse europäischer Modernisten (Nietzsches, D'Annunzios, Puris de Cha- vannes')
nachweisbar und bestätigen die Vermutung, dass der Mo- dernismus integraler Bestandteil der
modernistischen Problematik Europas und Amerikas ist. 26

Dies wird auch in Gilbert Azams Buch El modernismo desde dentro deutlich, wo einerseits der
literarische modernismo mit mo- dernistischen Erneuerungsversuchen im spanischen und franzö-
sischen Katholizismus verknüpft wird2", andererseits immer wieder gezeigt wird, daß der modernismo
und die Generación del 98 eine Einheit bilden. Azam spricht von der >>inneren Kontinuität (conti-
nuidad interna), die zwischen der Neunundachtziger Generation und dem modernismo aufgezeigt
werden kann<<.28 Diese Generation, der neben dem Philosophen und Schriftsteller Miguel de Unamuno
(1864-1936) Autoren wie Azorín (José Martínez Ruiz: 1873-1967), Pío Baroja (1872-1956) und Antonio
Machado (1875-1939) ange- hörten, ist in jeder Hinsicht als modernistisch im allgemeinen Sinn zu
bezeichnen, weil sie einerseits die Krise der kulturellen Werte und des individuellen Subjekts in den
Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellte, andererseits nachhaltig von Nietzsche, Schopenhauer, Kierke-
gaard sowie von europäischen und lateinamerikanischen Modernisten (Dario, Martí) beeinflußt wurde.

Wesentlich problematischer als die Verwandtschaft zwischen Modernismus und modernismo erscheint
auf den ersten Blick die zwischen Modernismus und Avantgarde. Während einige Autoren von einer
>>Koexistenz<< zweier einander fremder Strömungen spre- chen, meinen andere, in den
avantgardistischen Bewegungen Europas modernistische Vorboten der Postmoderne zu erkennen. So
behauptet beispielsweise Matei Calinescu, Modernisten wie Proust, Kafka oder Joyce hätten >>kaum
etwas mit so typischen Avantgarde-Bewegungen wie Futurismus, Dadaismus oder Surrealismus zu tun.
Abwei- chend, aber bis zu einem gewissen Grad komplementär, ist die Ein- schätzung von Scott Lash, der
die Praxis der europäischen Avantgar den der 1920er Jahre für postmodern hält, weil die
avantgardistische Kunst die auratische Autonomie des Kunstwerks zerstört und sich nicht mehr an
Eliten, sondern an Massen wendet: »I take the avant- garde of the 1920s to be postmodernist<<.30
Sollte diese Einschätzung zutreffen, müßten auch Brecht, Auden und Céline der Postmoderne
angehören...

Es ist hier nicht der Ort, dem vierten Kapitel vorzugreifen und Lashs Thesen zu kommentieren; vielmehr
gilt es zu zeigen, daß Mo- dernismus und Avantgarde nicht unbesehen identifiziert werden soll- ten. Im
vierten Kapitel wird allerdings der Vorschlag gemacht, die Avantgarden als Bestandteile des
Modernismus zu betrachten, einer- seits weil avantgardistische Verfahren in modernistischen Romanen
und Dramen vorkommen, andererseits weil dem Modernismus und der Avantgarde politische und
existentielle Probleme gemeinsam sind.

Schon Lashs These deutet an, daß die Postmoderne gemeinhin als eine Erscheinung aufgefaßt wird, die
über die Moderne als Neu- zeit und den Modernismus als Selbstreflexion der Moderne hinaus- weist.
Obwohl der Begriff >>Postmoderne<<, wie wir ihn heute kennen oder zu kennen meinen, zunächst in
einer nordamerikanischen Li- teraturdebatte aus den Jahren 1959 und 1960 verwendet wurde (vgl. Kap.
IV. 2), tauchte er schon früher in verschiedenen Kontexten auf, die Wolfgang Welsch ausführlich
beschreibt. Er weist mit Recht dar- auf hin, daß der Begriff in der Architektur erst um 1975 aufge-
nommen wurde, so daß die Behauptung, er stamme aus diesem Be- reich, falsch ist.

Welsch stellt fest, daß der englische Ausdruck post-modern zum ersten Mal um 1870 beim englischen
Salonmaler John Watkins Chapman vorkommt, der sich vornimmt, über den damals modernen
französischen Impressionismus hinauszugehen. Einen ganz anderen semantischen Inhalt erhält der
vieldeutige Signifikant im Jahre 1917 bei Rudolf Pannwitz (1881-1969), einem Dichter und Philosophen,
der den Menschen als >>Vollender des Kosmos<< zu verstehen sucht und im Anschluß an Nietzsche eine
postmoderne Überwindung des Nihilismus und der Dekadenz durch den Übermenschen fordert. Wie
schon Nietzsche geht es also auch diesem Philosophen um eine post- moderne Erlösung von den
Gebrechen und Wirrungen der Moderne wobei >>Moderne<< in Pannwitz' Hauptwerken nicht so sehr
>>Neuzeit<><> bedeutet, sondern die Zeit der Krisen und der >>décadence<< seit 1850.31

In dem hier konstruierten Zusammenhang ist Welschs Hinweis auf den eher pejorativ verwendeten
postmodernismo-Begriff des spa- nischen Philologen Federico de Oniz bedeutsam, der die »von 1905 bis
1914 reichende Korrekturphase<< bezeichnet, »die auf den >mo- dernismo (1896-1905) folgte, eher
dieser im ultramodernismo< (1914-1932) erneut und verstärkt zum Tragen kam<<.32 Eine Parallel-
entwicklung im religiösen Bereich zeigt Gilbert Azam auf, der von einer engen Verflechtung zwischen
literarischem und religiösem mo- dernismo spricht. 33

Für den soziologischen und politologischen Kontext ist die Auf- fassung der Postmoderne beim
englischen Historiker und Philoso- phen Arnold Joseph Toynbee (1889-1975) von Bedeutung, weil sie
noch in der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Diskussion spo- radisch wirkt. Toynbee geht von der
These aus, daß das moderne nationalstaatliche Denken seit 1875 einem übernationalen, globalen
Denken weicht. Obwohl diese These nicht abwegig ist, weil sie poli- tische und kulturelle Entwicklungen
im 20. Jahrhundert antizipiert, ist sie problematisch, weil sie gegenläufigen Tendenzen - etwa der Mög-
lichkeit einer Renationalisierung des Denkens - nicht Rechnung trägt. Globalisierungstendenzen im
ökologischen, politischen und techno- logischen Bereich sind zwar ein zentrales Thema der
Postmoderne-

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