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SPEZIAL Physik Mathematik Technik
SPEZIAL Physik Mathematik Technik

Unendlichkeiten
Die Mathematik
des Grenzenlosen
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MENGENLEHRE Wie ordnet man das Unermessliche?


03

ARITHMETISCHE DYNAMIK Zahlenfolgen in Bewegung


4 192452 509302

KATEGORIENTHEORIE Überblick durch Abstraktion


Spektrum der Wissenschaft KOMPAKT
Ob A wie Astronomie oder Z wie Zellbiologie:
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EDITORIAL
GERÜSTBAU INS UNFASSBARE
Von Manon Bischoff, Redakteurin dieses Hefts
m.bischoff@spektrum.de


Das Konzept der Unendlichkeit begleitet die Menschheit seit Jahrtausen-
den. Bereits in der Antike sinnierten Gelehrte wie Anaximander oder Aristo-
teles über die Existenz des Unermesslichen. Eine klare mathematische DAS KÖNNTE SIE AUCH INTERESSIEREN:
Definition ließ lange auf sich warten. Das ist nicht überraschend, wenn man

WISSENSCHAFT
OM;
bedenkt, in welche vermeintlichen Widersprüche man beim genaueren Nach-

YURIYALT_ART / STOCK.ADOBE.C
denken gerät. Das reicht von Zenons Paradoxien eines Sprinters, der niemals

BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER


ankommt, wenn man die zurückzulegende Strecke immer wieder unterteilt, bis
hin zu Galileis irritierender Feststellung, dass die natürlichen Zahlen und deren
Quadratzahlen gleich große Mengen bilden, obwohl doch Letztere ein Teil
Ersterer sind.
Erst im 19. Jahrhundert entstand eine formale Theorie. Eine der wohl
verblüffendsten Erkenntnisse daraus: Es gibt nicht nur eine Unendlichkeit,
sondern unendlich viele! Welche davon nun wirklich mächtiger sind als
andere, lässt sich nicht immer intuitiv beurteilen. So ist die Menge der gera-
den Zahlen ebenso groß wie die der natürlichen, auch wenn man vermuten
würde, von letzteren gebe es doppelt so viele. Andererseits übersteigt die

Anzahl der reellen Zahlen, die zusätzlich Werte wie √2 oder π umfassen,
tatsächlich die der natürlichen. Spektrum KOMPAKT
Doch selbst wenn es einen mathematischen Rahmen für Unendlichkeiten »Logik«
gibt, heißt das nicht, alle Mysterien um sie wären gelöst. Im Gegenteil hat es Ob Philosophie oder Informatik, ob
die ausformulierte Theorie überhaupt erst ermöglicht, bestimmte Fragen zu menschliche Entscheidungsfindung oder
stellen. Zum Beispiel, ob es eine Menge gibt, die mehr Elemente enthält als Lichtschaltung im Treppenhaus: Auch
die natürlichen, aber weniger als die reellen Zahlen. Hier erlaubt unser gegen- jenseits der Mathematik durchzieht die
wärtiges mathematisches Fundament allerdings noch keine klare Antwort. Kunst der Schlussfolgerung etliche
Daher untersuchen einige Logikerinnen und Logiker, ob sich das Grundge- Bereiche.
rüst der Mathematik sinnvoll erweitern lässt, um solcherlei Rätsel zu beant-
worten. Doch je nachdem, wie man einen passenden Anbau gestaltet, erge- Spektrum KOMPAKT – Themen auf den Punkt gebracht
Unsere Spektrum-KOMPAKT-Digitalpublikationen
ben sich unterschiedliche Konsequenzen – im einen Szenario erweisen sich
stellen Ihnen alle wichtigen Fakten zu ausge-
bestimmte Vermutungen als wahr, im anderen als falsch. Für welche Variante wählten Themen als PDF-Download zur Verfügung –
man sich entscheidet, wird im sonst so nüchternen Fach daher zur Glaubens- schnell, verständlich und informativ!
frage. Nach der Lektüre können Sie entscheiden, zu welcher Version Sie eher
tendieren. www.spektrum.de/kompakt

Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 3


INHALT
GESETZE FÜRS GRENZENLOSE

6 GRÖSSEN
WIE VIELE REELLE ZAHLEN GIBT ES?
Ein neuer Beweis bringt die Fachwelt dazu, ihre
Auffassungen über die Anzahl der Punkte auf dem
Zahlenstrahl zu überdenken.
Von Natalie Wolchover

VECTORDIVIDER / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


16 LOGIK
DAS FEHLENDE PUZZLETEIL
Existiert eine Menge, die größer ist als die natür-
lichen Zahlen, aber kleiner als die reellen? Neue
Gesetze sollen die Frage entscheidbar machen.

6
Von Jean-Paul Delahaye

26 VERGLEICHBARKEIT GRÖSSEN
ORDNUNG IN DEN UNENDLICHKEITEN WIE VIELE
Zehn charakteristische Mengen waren bisher nicht REELLE ZAHLEN GIBT ES?
genau vermessbar. Jetzt stellt sich heraus: In
bestimmten Fällen sind sie alle verschieden.
Von Martin Goldstern und Jakob Kellner

36 THEORETISCHE PHYSIK
26
EINE NEUE RECHNUNG FÜR DIE ZEIT VERGLEICHBARKEIT
Im »Intuitionismus« entfalten sich Zahlen nach ORDNUNG IN DEN
und nach. Die Idee kommt der einer fließenden UNENDLICHKEITEN
Zeit nahe.
Von Natalie Wolchover
MIT FRDL. GEN. VON SVEN GEIER (WWW.SGEIER.NET/FRACTALS/INDEX07.PHP)

BRÜCKEN ZWISCHEN FACHGEBIETEN

42 KATEGORIENTHEORIE
DIE MATHEMATIK DER MATHEMATIK
Indem man abstrahiert und Details ignoriert,
lassen sich Übereinstimmungen in verschiedenen
Gebieten finden.
Von Emily Riehl

50 ARITHMETISCHE DYNAMIK
VIGNETTE (WWW.INSTAGRAM.COM/VI_NE_TE/) FÜR QUANTA MAGAZINE

BEWEGTE ZAHLEN
Eine neue Disziplin kombiniert Erkenntnisse aus
der Zahlentheorie mit dynamischen Systemen.
50
Das fördert erstaunliche Ergebnisse zu Tage.
ARITHMETISCHE
Von Kelsey Houston-Edwards DYNAMIK
BEWEGTE ZAHLEN
56 PERKOLATIONSTHEORIE
FOLGENSCHWER VERKNÜPFT
Fügt man Knoten zu einem Netz hinzu, findet
irgendwann ein Übergang statt: Plötzlich hängt
alles eng miteinander zusammen.
Von Kelsey Houston-Edwards

4 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


KOMPLIZIERTE KONSTRUKTIONEN

64 MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN
RATIONALE ZAHLEN ZÄHLEN
Wenn man geschickt vorgeht, eröffnen sich interes-
sante geometrische Zusammenhänge, auch zur Gestalt
der Mandelbrot-Menge.
Von Christoph Pöppe

VECTORDIVIDER / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


69 KOMBINATORIK
UNORDENTLICHE GRAPHEN
Je umfangreicher ein Netzwerk wird, desto leichter
lassen sich Muster erkennen. Dennoch muss man
dafür überraschend viel Aufwand betreiben.
Von Kevin Hartnett

72 BOTANIK
ZAHLENSPIELE IM REICH DER PFLANZEN
Nach und nach helfen biophysikalische Modelle bei der
Entschlüsselung der Mechanismen, die etwa zu den
faszinierenden Anordnungen von Blättern führen.
Von Teva Vernoux, Christophe Godin und Fabrice Besnard

56
PERKOLATIONSTHEORIE
FOLGENSCHWER
VERKNÜPFT

3 EDITORIAL

63 FREISTETTERS FORMELWELT
WINHORSE / GETTY IMAGES / ISTOCK

UNENDLICH VIEL BIER NACH FEIERABEND

81 IMPRESSUM

82 VORSCHAU
RAZZEL / STOCK.ADOBE.COM

72 Titelbild:
gonin / Getty Images / iStock;
BOTANIK Bearbeitung: Spektrum der Wissenschaft
ZAHLENSPIELE IM
REICH DER PFLANZEN
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Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 5


GRÖSSEN
VECTORDIVIDER / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

WIE VIELE
REELLE ZAHLEN
GIBT ES?
Seit mehr als 50 Jahren gehen Mathema­
tikerinnen und Mathematiker davon aus,
dass die Anzahl der Punkte auf dem Zahlen­
strahl unbestimmbar ist. Doch ein neuer
Beweis bringt die Fachwelt dazu, ihre Auf­
fassung zu überdenken.

Natalie Wolchover ist Wissenschafts­


journalistin und Redakteurin bei
»Quanta Magazine«.

 spektrum.de/artikel/1950058

AUF EINEN BLICK


EIN TURM AUS UNENDLICHKEITEN

1 Es existieren unendlich viele Zahlen. Betrachtet man


verschiedene Arten von unendlich vielen Zahlen,
gibt es aber Unterschiede: Zum Beispiel übersteigt die
Anzahl der reellen die der natürlichen Zahlen.

2 Bereits vor 150 Jahren fragten sich Fachleute, wie groß


die Differenz ist. Wie sich allerdings herausstellte, lässt
sich das mit den normalen Mitteln der Mathematik
nicht beantworten.

3 Indem man zusätzliche Annahmen trifft, kann das


Geheimnis gelüftet werden. Doch welche davon ist am
sinnvollsten? Darüber ist inzwischen ein Streit ausge­
brochen.

6 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik 


Physik Mathematik Technik 3.22
3.22
VECTORDIVIDER / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

HIERARCHIE DES
UNVORSTELLBAREN
Unendlich ist nicht immer
gleich unendlich.

Spektrum
SpektrumSPEZIAL 
SPEZIAL Physik Mathematik Technik 
Physik Mathematik Technik  3.22 7

Während eines Urlaubs im Oktober 2018 blickte David der einen Seite jene, die daran glauben, und auf der ande­
Asperó gedankenversunken aus dem Autofenster auf ren solche, die davon ausgehen, er lag falsch. Das Ergebnis
die italienische Landschaft, als ihm plötzlich die zün­ von Asperó und Schindler legt nahe, dass Letztere mit ihrer
dende Idee zu dem fehlenden Puzzleteil eines Rätsels kam, Intuition richtig­lagen. Die Anhänger der Vermutung geben
das ihn schon lange beschäftigte: Er hatte gerade den sich aber nicht geschlagen. Sie kämpfen weiterhin um eine
letzten Schritt eines bahnbrechenden neuen Beweises Vision von der Mathematik, in der die Kontinuumshypothe­
gefunden, der Aufschluss über die Größen von Unendlich­ se gilt – und wie es aussieht, wird sich der Ausgang des
keiten gibt. Streits so schnell nicht klären lassen. »Es ist eine erstaunli­
Der Mathematiker an der University of East Anglia in che Zeit«, urteilt Juliette Kennedy, Logikerin und Philoso­
Großbritannien kontaktierte daraufhin sofort seinen Kolle­ phin an der Universität von Helsinki. »Das Ergebnis zählt zu
gen Ralf Schindler von der Universität Münster, mit dem er den aufregendsten und dramatischsten Dingen, die in der
das Thema seit einigen Jahren verfolgte, und beschrieb Geschichte der Mathematik je passiert sind.«
seine Erkenntnis. »Für mich klang alles völlig unverständ­ Um zu verstehen, warum die Fronten so verhärtet sind,
lich«, erinnert sich Schindler. Aber schließlich gelang es muss man in die Vergangenheit zurückblicken. Wie schon
beiden Forschern, Asperós Gedanken zu entwirren und in erwähnt, gibt es Unendlichkeiten in vielen Varianten. 1873
nachvollziehbare logische Schlüsse zu verwandeln. erschütterte Cantor die Grundfesten der Mathematik, als er
Ihr Beweis, den sie im Mai 2021 im
renommierten Fachjournal »Annals of
Mathematics« veröffentlichten, ver­
eint zwei rivalisierende Grundaussa­ Nicht alle Unendlichkeiten sind gleich
gen, so genannte Axiome, die jeweils
das Fundament der Mathematik
Die kleinste Unendlichkeit alle Eins- alle
erweitern sollten. Bisher hatten natürlichen zu-eins- geraden
Fachleute angenommen, man müsse Zwei unendliche Mengen gelten Zahlen Abbildung Zahlen
sich zwischen beiden Annahmen als gleich groß, wenn sich jedes
entscheiden, weil sie sich gegenseitig Element der einen mit einem
ausschließen würden. Doch wie Element der anderen paaren lässt.
Asperó und Schindler zeigen konnten, Zum Beispiel kann man jeder
folgt aus einer der Aussagen die geraden Zahl eine natürliche Zahl
andere. Das deutet darauf hin, dass zuweisen. Aus dieser Eigenschaft
beide wahr sind – und damit auch folgt, dass beide Mengen die
alles, was sie für die Welt der Unend­ gleiche Größe haben.
lichkeiten besagen.
Das Ergebnis schlägt hohe Wellen,
denn es verstärkt die Argumente natürliche reelle
Ungleiche Unendlichkeiten Zahlen Zahlen
gegen die berühmte Kontinuums­
hypothese, eine weit reichende Ver­ Sind die reellen Zahlen, die alle
mutung über die Größe bestimmter Punkte eines Zahlenstrahls enthalten,
Mengen, die der deutsche Mathema­ genauso groß wie die natürlichen?
tiker Georg Cantor 1878 aufstellte. Wenn sie es wären, könnte man sie
Kurz zuvor hatte er herausgefunden, eins zu eins aufeinander abbilden.
dass es nicht nur eine Art von Unend­
lichkeit, sondern unendlich viele
davon gibt. Diese unvorstellbaren Allerdings wird eine solche Zuord­
Werte lassen sich wie die natürlichen nung stets unvollständig sein. Um zu
Zahlen der Größe nach ordnen. Can­ verstehen warum, kann man den
LUCY READING-IKKANDA / QUANTA MAGAZINE; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

tor äußerte daraufhin die Vermutung, Wert der ersten Nachkommastelle


dass es keine Unendlichkeit zwischen der ersten Zahl, den der zweiten
der Anzahl der natürlichen und der Nachkommastelle der zweiten Zahl
reellen Zahlen gibt. Aber die beiden und so weiter ändern:
Axiome, die der neue Beweis mitein­
ander verbindet, widerlegen diese
Kontinuumshypothese: Demnach Nun fügt man alle veränderten Ziffern zusammen:
existieren Mengen, die größer sind als
die natürlichen und gleichzeitig klei­ Die so entstandene reelle Zahl ist in der ursprünglichen Liste
ner als die reellen Zahlen. nicht enthalten. Deswegen ist es unmöglich, die reellen Zahlen
Cantors Verdacht spaltet Mathe­ aufzuzählen – es gibt also mehr reelle Zahlen als natürliche.
matikerinnen und Mathematiker seit
nun fast 150 Jahren in zwei Lager: auf

8 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


herausfand, dass der Umfang der reellen Zahlen, die den
Zahlenstrahl aufbauen, den der natürlichen (1, 2, 3, 4 und so
weiter) übersteigt. Und das, obwohl es von beiden bekannt­
lich unendlich viele gibt.
Unendliche Zahlenmengen bringen unser Gespür für
Größen durcheinander. Wenn man etwa die natürlichen
Zahlen {1, 2, 3, …} mit den ungeraden {1, 3, 5, …} vergleicht,
könnte man annehmen, die erste Menge sei größer.
Schließlich taucht nur die Hälfte ihrer Elemente in der
zweiten auf. Doch man kann mit Unendlichkeiten nicht so
umgehen wie mit gewöhnlichen Zahlen.
Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie möchten herausfin­
den, ob es in einer Stadt mehr Fahrräder als Einwohner gibt.
Eine Möglichkeit besteht darin, zuerst alle Bürger und
anschließend die Räder zu zählen und beide Zahlen ins
Verhältnis zu setzen. Man könnte aber auch jeder Person
einen Drahtesel zuordnen. Wenn am Ende keine Räder
übrig sind, dann gibt es mindestens genauso viele Men­
schen wie Fahrräder.

LANDESBIBLIOTHEK / APA / DPA / PICTURE ALLIANCE


Von Fahrrädern zu unendlichen Mengen
Cantor übertrug diese Überlegung auf die Mathematik von
Mengen. Man kann beispielsweise eine Abbildung finden,
die jeder natürlichen Zahl genau eine ungerade zuordnet
und umgekehrt: Man verbindet 1 mit 1, 2 mit 3, 3 mit 5 und
so weiter. Die entsprechende Funktion hat folgende Gestalt:
f(n) = 2n – 1. Von diesem Standpunkt aus betrachtet enthal­
ten die zwei Mengen gleich viele Elemente.
Da sich das Konzept hinter der Größe unendlicher Men­ KURT GÖDEL Der Mathematiker wurde durch
gen von jenem endlicher Sammlungen unterscheidet, seine Unvollständigkeitssätze berühmt, aus denen
führte Cantor einen neuen Begriff ein: Die Anzahl der Ele­ folgt, dass es mathematische Aussagen gibt, die
mente von Mengen wird seither als Kardinalität bezeichnet. sich weder beweisen noch widerlegen lassen.
Diese kann unendliche Werte annehmen. In diesem Fall
folgt das Rechnen damit anderen Regeln als mit gewöhnli­
chen endlichen Zahlen. Die Kardinalität der natürlichen und menge, also die Sammlung aller Untermengen einer Men­
der ungeraden Zahlen codierte Cantor mit dem ersten ge. Das Ergebnis hat stets eine größere Kardinalität als die
Buchstaben, Aleph, des hebräischen Alphabets: 0. Tat­ ursprüngliche Menge – um genau zu sein, wird aus der
sächlich entspricht 0 auch der Größe der geraden, der Kardinalität der Wert 2 . Da man die Potenzmenge immer
Primzahlen, der Quadratzahlen und sogar der rationalen wieder hintereinander ausführen kann, lassen sich die
Zahlen. Häufig spricht man von einer abzählbaren Unend­ Kardinalzahlen zu einem unendlich hohen Turm von Unend­
lichkeit, da sich die Elemente der entsprechenden Mengen lichkeiten aufstapeln.
wie die natürlichen Zahlen auflisten lassen. Wie Cantor Überraschenderweise sind es nicht die oberen Stock­
jedoch herausfand, gibt es durchaus Sammlungen, die eine werke des abstrakten Bauwerks, die Mathematikerinnen
größere Kardinalität haben als 0, so genannte überabzähl­ und Mathematikern Kopfzerbrechen bereiten, sondern
bare Unendlichkeiten. seine Grundfesten. Als sich Cantor auf die unteren Etagen
Das berühmteste Beispiel dafür sind die reellen Zahlen. konzentrierte, konnte er beweisen, welche Kardinalzahl auf
Es ist unmöglich, sie eins zu eins mit den natürlichen Zahlen 0 folgt: die Größe der Menge, die sich aus verschiedenen
zu verknüpfen. Versucht man etwa, 1 mit 1,00000…, 2 mit Ordnungsarten der natürlichen Zahlen zusammensetzt
1,00001… und so weiter zu verbinden, überspringt man (etwa von der kleinsten zur größten oder mit allen ungera­
dabei stets unendlich viele Exemplare (wie 1,000000001…), den Zahlen an erster Stelle). Diese bezeichnete er daraufhin
die dazwischenliegen. Im Gegensatz zu den rationalen als 1, eine überabzählbare Unendlichkeit. Andererseits
Zahlen lassen sich die reellen nicht auflisten, deshalb entspricht die Kardinalität der Potenzmenge der natürlichen
übersteigt ihre Anzahl  0. Zahlen der Größe der reellen Zahlen, die 2 0 beträgt.
Die Kardinalität des Zahlenstrahls markiert aber keines­ Doch nun stand Cantor vor einem Rätsel. Wo genau reiht
falls das obere Ende der Unendlichkeiten. Noch größere sich 2 0 im Turm der Unendlichkeiten ein? Anders gefragt:
Mengen zu konstruieren, gestaltet sich ziemlich einfach: Um wie viel übersteigen die reellen Zahlen die natürlichen?
Cantor entdeckte, dass eine mathematische Operation aus Da der Mathematiker keine Menge finden konnte, die
der Mengenlehre die Anzahl der Elemente einer Menge nachweislich größer als die natürlichen und kleiner als die
erhöht. Dabei handelt es sich um die so genannte Potenz­ reellen Zahlen war, formulierte er seine berühmte Vermu­

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 9


tung: Demnach beträgt die Kardinalzahl des Kontinuums, unvollständig. Das heißt, es wird immer Fragen geben, die
also der reellen Zahlen, genau 1. Obwohl auch viele seiner man mit einer Liste von Axiomen nicht beantworten kann –
Kolleginnen und Kollegen die Behauptung für plausibel das sind wahre mathematische Fakten, die sich nicht
hielten, gelang es zu Cantors Bedauern niemandem, sie zu beweisen lassen. Wie sich nach einigen Jahrzehnten her­
beweisen. ausstellte, ist die Kontinuumshypothese ein Beispiel dafür.
Welche Bedeutung man der Frage beimaß, verdeutlicht Die Grundpfeiler der modernen Mathematik reichen nicht
die Rede des berühmten Wissenschaftlers David Hilbert im aus, um sie zu belegen.
Jahr 1900 auf dem Internationalen Mathematikerkongress
in Paris. Dort stellte er eine Liste mit 23 mathematischen Zehn Aussagen als Grundpfeiler
Problemen vor, die im bevorstehenden Jahrhundert ange­ Zu diesem Fundament gehören zehn Axiome, die man als
gangen werden sollten – die Kontinuumshypothese setzte ZFC bezeichnet, nach Ernst Zermelo (Z), Abraham Fraenkel
er dabei an erste Stelle. Hilbert war geradezu begeistert von (F) und dem Auswahlaxiom (englisch: choice). Aus diesen
dem entstehenden formalen Konzept der Unendlichkeiten, unbewiesenen, aber plausiblen Grundaussagen lässt sich
das er als »Cantors Paradies« bezeichnete. Für ihn stellte fast die gesamte moderne Mathematik konstruieren. Sie be­
das Rätsel um die Größe der reellen Zahlen ein entschei­ schreiben elementare Eigenschaften, die niemand anzwei­
dendes Puzzleteil auf dem Weg zu einer vollständigen felt. Die Mengenlehre eignet sich gut als Startpunkt, um
Theorie dar. daraus die restlichen Bereiche des Fachs zu entwickeln, da
Doch das 20. Jahrhundert sollte nicht das mit sich sich aus Mengen so gut wie jede andere Struktur erzeugen
bringen, was die Fachwelt gehofft hatte. Stattdessen lässt. Zum Beispiel die natürlichen Zahlen: indem man die
verwandelten schockierende Enthüllungen die Kontinuums­ leere Menge {} etwa als 0 bezeichnet; {{}} als 1; {{}, {{}}} als 2
hypothese in eine erkenntnistheoretische Fragestellung. Die und so weiter. Damit reichen die Grundregeln für Mengen
Schwierigkeiten begannen 31 Jahre nach Hilberts prägen­ aus, um in der gesamten Mathematik Beweise zu konstruie­
der Rede, als der in Österreich geborene Logiker Kurt Gödel ren. Jeder Satz aus der Topologie, Analysis oder Geometrie
seine Unvollständigkeitssätze veröffentlichte. Demnach ist ließe sich also in Aussagen über Mengen zurücküberset­
jede Sammlung von grundlegenden Aussagen, die man als zen – selbst wenn das in dieser Form natürlich so gut wie
Fundament der Mathematik nutzen kann, zwangsläufig nie gemacht wird, weil es viel zu aufwändig ist.
Der erste Rückschlag für Cantors Paradies ergab sich, als
Gödel 1940 zeigte, dass man die ZFC-Axiome nicht verwen­
den kann, um die Kontinuumshypothese zu widerlegen.
Dennoch hofften Fachleute, die Vermutung ließe sich mit
den gängigen Werkzeugen beweisen. Doch 23 Jahre später
mussten sie auch diese Hoffnung aufgeben. Denn der
US-amerikanische Logiker Paul Cohen bewies damals die
Umkehr von Gödels Erkenntnis: Mit dem gewöhnlichen
mathematischen Grundgerüst lässt sich die Kontinuums­
hypothese ebenso wenig belegen. Aus den zwei Arbeiten
folgt, dass Cantors Vermutung unabhängig von den ZFC-
Axiomen ist.
Das heißt, man kann sie ohne Beweis als wahr oder
falsch annehmen und damit das Fundament erweitern,
ohne jemals Widersprüche zu erzeugen. Man hat also die
Wahl zwischen zwei mathematischen Universen: eines, in
dem Cantor Recht hat, und eines, in dem er falschliegt.
Welches davon das richtige ist, lässt sich von diesem Punkt
aus nicht beurteilen.
Die Kontinuumshypothese ist aber kein Ausnahmefall.
Wie sich herausgestellt hat, sind auch viele andere Aussa­
gen über unendliche Mengen unabhängig vom Axiomen­
system ZFC. Doch was bedeutet das? Einige Wissenschaft­
lerinnen und Wissenschaftler interpretieren es so, dass sich
die entsprechenden Fragen nicht beantworten lassen. Aber
AKG-IMAGES / PICTURE ALLIANCE

die meisten Mathematiker sind anderer Meinung.


Ihrer Auffassung nach darf man sich nicht mit dieser
frustrierenden Situation zufriedengeben. Schließlich müsse
der Zahlenstrahl auch mengentheoretisch eine festgelegte
Größe haben. Wenn das jetzige Fundament nicht ausreiche,
GEORG CANTOR Er gilt als der Begründer der um diese zu bestimmen, dann sollte man es modifizieren.
modernen Mengenlehre – jenes Bereichs, auf dem »Die bisherigen Axiome lösen die Probleme nicht«, erklärt
inzwischen die gesamte Mathematik fußt. der emeritierte Logiker Menachem Magidor von der hebräi­

10 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


Forcing
Mathematiker und Mathematikerin­ Starte mit Zahlen auf der reellen Achse
nen nutzen das Forcing-Verfahren,
um die Menge der reellen Zahlen zu
Teile in zwei Abschnitte, die auf der
erweitern und damit zu zeigen, dass jeweiligen Seite der reellen Zahl starten
die Vermutung von Cantor falsch ist.
Dabei startet man mit der Annah­ Abschnitt A

me, es gäbe 1 reelle Zahlen, die


auf dem Zahlenstrahl verteilt sind Wiederhole den Prozess für jede
(Kontinuumshypothese). Die Gerade reelle Zahl. Wähle jeden neuen
Abschnitt so aus, dass er alle übrigen
lässt sich auf unendlich viele Arten Teile überschneidet
aufteilen. Beispielsweise kann man
eine reelle Zahl herauspicken und Dieser Teil von B überlappt A. Abschnitt B
zwei Intervalle definieren, die
jeweils vor der Zahl enden und
hinter ihr beginnen – die Zahl ist Überlappt B

SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Abschnitt C
daher von den beiden Abschnitten
ausgenommen. Die Idee besteht
darin, solche Unterteilungen unzäh­ Überlappt C Abschnitt D
lige Male vorzunehmen.
Cohen hat eine Methode ent­
wickelt, um sich bestimmte Ab­ Abschnitt E
schnitte in der Prozedur genauer
anzusehen. Man startet also mit
einer reellen Zahl und teilt den
Zahlenstrahl in zwei Bereiche vor
und hinter der Zahl auf. Man wählt
einen Abschnitt aus, etwa den
vorderen. Dann teilt man den
Zahlenstrahl an einer anderen Die Überlappung aller Abschnitte wird verschwindend klein und
entspricht am Ende einer Menge, die aus bloß einer reellen
reellen Zahl in zwei und wählt auch Zahl besteht. Aber diese kann nicht eine der ursprünglichen reellen
hier einen Abschnitt aus, wobei Zahlen sein – daher hat man eine neue geschaffen
sich dieser mit dem zuvor gewähl­
ten überschneiden muss. Im nächs­ die eine einzige reelle Zahl enthält. Mathematikerinnen und Mathema­
ten Schritt wählt man wieder eine Weil man den Zahlenstrahl aller­ tiker die Methode von Cohen
Zahl und dementsprechend einen dings an jeder existierenden reellen verallgemeinert haben, können sie
Abschnitt, der den ursprünglichen Zahl geteilt hat und dabei stets die das Kontinuum beliebig erweitern,
überlappt. Das wiederholt man, bis Zahl selbst von dem betrachteten von 3 über 100 – nach oben sind
man den Zahlenstrahl an jeder Abschnitt ausgenommen hat, kann ohne Einschränkungen keinerlei
reellen Zahl gespaltet hat. die entstandene Überlappungs­ Grenzen gesetzt. Wenn man aller­
Der ausgewählte Überlappungs­ menge keine der anfänglichen dings Axiome wie Martins Maxi­
bereich wird im Lauf des Verfah­ reellen Zahlen enthalten. Das heißt, mum annimmt, kann die Kardinali­
rens immer kleiner, bis er am Ende man hat auf diese Weise eine neue tät der reellen Zahlen maximal 2
nur noch einer Menge entspricht, reelle Zahl geschaffen. Indem betragen.

schen Universität Jerusalem, »also müssen wir sie zu einem Im Prinzip wäre es möglich, die Kontinuumshypothese
reichhaltigeren System erweitern.« selbst als Axiom festzulegen. Allerdings sollten die Grund­
Seit Cohens ernüchterndem Ergebnis haben Fachleute annahmen, welche die Mathematik aufbauen, zweifelsfreie
versucht, die Grundlagen der Mathematik zu festigen, Tatsachen widerspiegeln. Wie groß die Menge der reellen
indem sie dem ZFC-Axiomensystem neue Aussagen hinzu­ Zahlen genau ist, fällt nicht unter diese Kategorie. Daher
fügten. Diese sollten die Struktur der unendlichen Mengen bestand die Aufgabe darin, passende Kandidaten zu finden,
beleuchten, einleuchtende Theoreme hervorbringen, fatale die sich gut in das bestehende System einfügen.
Widersprüche vermeiden und natürlich Cantors Vermutung Gödel war der Meinung, die Kontinuumshypothese sei
klären. falsch – es gäbe mehr reelle Zahlen, als Cantor vermutete.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 11


Determiniertheit und das Auswahlaxiom
Die moderne Mathematik fußt für mens V in zwei Kugeln, die eben­ viele Zahlen gewählt haben, endet
gewöhnlich auf neun Axiomen, die falls jeweils ein Volumen V haben, das Spiel. A gewinnt, wenn die
als ZF abgekürzt werden, und dem zerlegen lässt. erzeugte Zahlenfolge als reelle Zahl
Auswahlaxiom. Letzteres besagt, Daher verfolgen einige Skeptiker gelesen in M enthalten ist, sonst ist
dass man für jede Sammlung aus den Versuch, die bisherigen Er­ B der Sieger. Das Axiom der Deter­
nichtleeren Mengen ein Element kenntnisse der modernen Mathe­ miniertheit besagt, dass es stets für
aus jeder dieser Mengen auswäh­ matik in einem Axiomensystem einen der beiden Spieler eine Ge­
len kann. ohne das Auswahlaxiom herzulei­ winnstrategie gibt. Das heißt, bei je­
Formal ausgedrückt heißt das, es ten – doch damit stößt man schnell dem Zug existiert eine Funktion,
gibt eine Funktion, der man die auf Probleme. welche die »richtige« Zahl für A
Mengen übergibt und die jeweils Um eine mathematische Welt zu oder B vorgibt.
ein darin enthaltenes Element beschreiben, kann man aber auch Wenn man von der Gültigkeit
ausspuckt. Darüber, wie man eine ganz andere Grundannahmen des Auswahlaxioms ausgeht, dann
solche Funktion konstruiert, sagt berücksichtigen. Eine Möglichkeit ist das Spiel für allgemeine M nicht
das Axiom allerdings nichts aus. stellt das Axiom der so genannten determiniert. Man kann in diesem
Die Mehrheit der Forscherinnen Determiniertheit dar, das Verbin­ Fall Beispiele konstruieren, in
und Forscher akzeptiert das Aus­ dungen zur Spieltheorie aufbaut. denen es keine Gewinnstrategie
wahlaxiom, doch es gibt eine Dazu definiert man ein Spiel mit gibt. Deswegen widersprechen
Minderheit, die es anzweifelt. Grund einer Menge M an reellen Zahlen: sich das Auswahl- und das Deter­
dafür sind unintuitive Ergebnisse Die Teilnehmer A und B müssen miniertheitsaxiom, wenn man sie
wie das Banach-Tarski-Paradoxon, jeweils abwechselnd eine natürliche mit den üblichen ZF-Grundaussa­
wonach sich eine Kugel des Volu­ Zahl aufsagen. Sobald sie unendlich gen paart.

Der in Österreich geborene Logiker ging davon aus, dass Bald fanden Cohen und seine Zeitgenossen heraus, dass
die Kardinalität des Kontinuums 2 beträgt; das heißt, es man – abhängig von den Besonderheiten des Verfahrens –
gäbe eine weitere Unendlichkeit zwischen den natürlichen den reellen Zahlen auf diese Art und Weise beliebig viele
und den reellen Zahlen. 1947 sah er bereits den Trend der Glieder hinzufügen kann. Man landet dann bei Kardinalzah­
zukünftigen Bemühungen voraus: »Die Rolle des Kontinu­ len von etwa 12 oder 35, nach oben hin sind keine Gren­
umsproblems in der Mengenlehre wird darin bestehen, zen gesetzt.
dass schließlich neue Axiome entdeckt werden, die es Das Forcing erwies sich in den folgenden Jahren als
ermöglichen, Cantors Vermutung zu widerlegen.« extrem nützliche Methode. Abgesehen von neuen reellen
Zahlen haben Mathematiker und Mathematikerinnen den
Neue Axiome gesucht Ansatz verallgemeinert, um verschiedenste Universen zu
Damit sollte er Recht behalten: Fachleute haben zwei erzeugen, in denen seltsame Objekte existieren, die teilwei­
plausible Aussagen gefunden, die der Kontinuums­ se unvereinbar sind. So entstand ein Multiversum von
hypothese widersprechen. Jahrzehntelang ging man davon Wirklichkeiten. »Die Technik schafft eine Mehrdeutigkeit in
aus, sie seien unvereinbar, und Verfechter beider Seiten unserem Mengenuniversum«, so der Logiker Hugh Woodin
stritten sich darum, welche Aussage am ehesten erfüllt sein von der Harvard University. »Man schafft all diese virtuellen
sollte. Um zu verstehen, was die Axiome besagen, muss Möglichkeiten. Damit stellt sich die Frage, wie man beurtei­
man sich Cohens bahnbrechender Arbeit aus dem Jahr len kann, in welcher mathematischen Realität man sich
1963 zuwenden. Darin entwickelte er eine Technik namens befindet.«
»Forcing«, welche die Mengenlehre entscheidend geprägt Mit solchen Überlegungen stand die Fachwelt vor einem
hat und für die er 1966 mit der Fields-Medaille geehrt großen Rätsel. Welches von zwei widersprüchlichen Objek­
wurde, einer der höchsten Auszeichnungen in der Mathe­ ten, die durch unterschiedliche Methoden des Forcing
matik. kreiert wurden, sollte man zulassen – und welches verwer­
In seinem Artikel konstruierte Cohen ein Modell eines fen? Es war nicht klar, wann (oder ob) eine Struktur, die
Universums, in dem die Kontinuumshypothese wahr ist, die durch Cohens Technik entsteht, wirklich existiert.
reellen Zahlen also eine Kardinalität von 1 haben. Mit dem Um das Problem zu lösen, stellten die Mathematikerin­
von ihm konzipierten Forcing erweiterte er jedoch den nen und Mathematiker mehrere Forcing-Axiome auf. Das
Zahlenstrahl und schuf neue Werte, die im ursprünglichen sind Regeln, um festzulegen, unter welchen Voraussetzun­
Modell nicht enthalten waren (siehe »Forcing«). Damit hat gen bestimmte Objekte existieren, die Cohens Verfahren
das Kontinuum in diesem Universum mindestens eine ermöglicht. »Wenn man sich vorstellen kann, dass es etwas
Größe von  2. gibt, dann ist es auch so. Dieses intuitive Prinzip führt zu

12 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


den Forcing-Axiomen«, erklärt Magidor. 1988 formalisierte diesen Mengen enthalten sind.« Demnach ist das Kontinu­
er die Überlegung zusammen mit seinen Kollegen Matthew um größer als 1, was Cantors Vermutung widerspricht.
Foreman und Saharon Shelah zu einer Grundregel der Die Tatsache, dass (*) Fachleute zu dieser Schlussfolge­
Logik: »Martins Maximum«, benannt nach dem Mengen­ rung führt und viele andere Eigenschaften von Mengen
theoretiker Donald A. Martin, der viel Vorarbeit zu diesem reeller Zahlen beleuchtet, macht sie zu einer attraktiven
Thema geleistet hat. Jedes Objekt, das sich durch Forcing Hypothese, so Schindler. Mit gleich zwei viel versprechen­
erzeugen lässt, wird demnach zu einem realen Bestandteil den Axiomen stehen die Befürworter des Forcings aller­
der Mathematik, wenn das Verfahren eine bestimmte dings vor einer schwierigen Entscheidung. »Sowohl Mar­
Bedingung erfüllt. tins Maximum als auch (*) fühlen sich richtig und natürlich
Durch diese Anforderung lassen sich die reellen Zahlen an«, erklärt der Mathematiker. »Welches wählt man also?«
nicht mehr beliebig aufblasen wie bisher. Tatsächlich be­ Da viele Fachleute davon ausgingen, die Aussagen würden
trägt die Kardinalität des Kontinuums 2, falls man Martins sich gegenseitig ausschließen, fiel die Wahl extrem
Maximum berücksichtigt – was gerade einmal eine Stufe schwer. Wenn man sich auf eines festlegte, würde man
über dem kleinstmöglichen Wert 1 liegt. Damit wider­ alles opfern, was aus dem anderen Axiom folge, befürch­
spricht es zwar ebenfalls Cantors Vermutung, legt aber die teten sie. »Man müsste sich gute Gründe einfallen lassen,
Größe des Zahlenstrahls eindeutig fest. warum eine der beiden Grundaussagen wahr ist und die
andere falsch – oder vielleicht sogar beide danebenliegen«,
Welche Aussage macht mehr Sinn? sagt Schindler.
Martins Maximum beleuchtet nicht nur Fragen um die Doch statt solche Hinweise zu liefern, konnte er zusam­
Kontinuumshypothese. Auch in anderen Bereichen der men mit Asperó zeigen, dass aus einer leicht abgewandel­
Logik hat sich das Prinzip als nützlich erwiesen, beispiels­ ten Variante von Martins Maximum (das als Martins Maxi­
weise um die Eigenschaften unendlicher Mengen zu erfor­ mum++ bezeichnet wird) das Axiom (*) folgt. Wenn gleich
schen. Befürworter des Axioms sagen, es ermögliche weit zwei plausible Aussagen einander bedingen, stütze das die
reichende Aussagen und führe zu entscheidenden Theore­ Annahme, dass sie beide wahr sein könnten – und man sie
men. Im Gegensatz dazu erzeuge die Annahme von Cantor, somit dem jetzigen Fundament der Mathematik hinzufügen
das Kontinuum habe bloß eine Kardinalität von 1, einige sollte, betont Schindler.
Ausnahmefälle und erschwere allgemein gültige Beweise.
Daher wurde Martins Maximum als Erweiterung der
gewöhnlichen ZFC-Axiome unter Fachleuten sehr beliebt.
Doch in den 1990er Jahren schlug Woodin eine andere
überzeugende Grundaussage vor, die ebenfalls die Kontinu­
umshypothese widerlegt und die Kardinalität der reellen
Zahlen auf 2 festlegt – allerdings auf völlig andere Weise.
Woodin nannte das Axiom (*), ausgesprochen »Stern«, weil
es »wie eine helle Lichtquelle war«, erklärt der Mathema­
tiker.
Der größte Unterschied zwischen (*) und Martins
Maximum besteht in den Grundlagen, auf denen sie
aufbauen. Während sich Letzteres auf das ZFC-System
bezieht, basiert Woodins Grundaussage auf einem Modell­
universum von Mengen, das die neun ZF-Axiome und das
Axiom der Determiniertheit AD erfüllt statt des Auswahla­
xioms C (siehe »Determiniertheit und Auswahl«). Weil sich
AD und C widersprechen, nahmen Fachleute an, dass (*)
und Martins Maximum ebenfalls unvereinbar seien. Aller­
dings gelang es Woodin, ein Forcing-Verfahren zu entwi­
ckeln, das sein mathematisches Modelluniversum auf ein
größeres ausdehnt. Und wie sich herausstellte, ist dieses
erweiterte Modell, in dem das Axiom (*) gilt, mit ZFC
vereinbar.
AKG-IMAGES / PICTURE ALLIANCE

Doch wofür braucht man (*), wenn Martins Maximum


bereits so erfolgreiche Ergebnisse produziert? Tatsächlich
liegt der Vorteil von Woodins Axiom darin, dass es erlaubt,
folgenschwere Aussagen der Form »für alle X gibt es Y, so
dass Z« zu treffen, die sich auf Eigenschaften von Mengen
innerhalb eines Bereichs beziehen. Solche Formulierungen DAVID HILBERT Mit seiner berühmten Rede
stellen mächtige logische Argumentationen dar, zum im Jahr 1900, in der er 23 Probleme vor-
Beispiel lässt sich aus (*) ableiten: »Für alle Mengen von 1 stellte, prägte er den Verlauf der Mathematik
reellen Zahlen gibt es weitere reelle Zahlen, die nicht in des 20. Jahrhunderts.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 13


AUSWAHLAXIOM Für jede Sammlung

FILE:AXIOME_DU_CHOIX.PNG) / CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)


nichtleerer Mengen kann man ein Element

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: FSCHWARZENTRUBER (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/


aus jeder dieser Mengen auswählen.

Die Vorarbeit zu dem bahnbre­


chenden Ergebnis begann bereits vor
20 Jahren in Wien. Damals forschten
Asperó und Schindler gemeinsam zu
diesem Thema an einem Institut in
der österreichischen Hauptstadt.
Lange Zeit blieb ihre Arbeit dazu
erfolglos. Doch nach ein paar
Jahren fiel Schindler ein (wie üblich
handgeschriebenes) Manuskript des
Mengentheoretikers Ronald Jensen
von der Humboldt-Universität zu Berlin
in die Hand, der darin ein neues Verfahren namens L-For­ tins Maximum erfüllt. Asperós Eingebung während der
cing entwickelt hatte. Schindler sah in dem Ansatz großes Autofahrt im Jahr 2018 führte schließlich zu einem viel
Potenzial und bat daraufhin einen seiner Studenten, die versprechenden Weg: Sie teilten das Forcing in eine
Methode weiterzuentwickeln. aufeinander aufbauende Abfolge mehrerer Forcing-­Tech­
Als Asperó seinen deutschen Kollegen 2011 in Münster niken auf, die jeweils für sich der notwendigen B ­ edingung
besuchte, erklärte Schindler ihm, was er inzwischen über genügen.
das L-Forcing herausgefunden hatte. Asper schlug sofort Glaubt man den beiden Axiomen, dann nehmen die
vor, die Technik zu nutzen, um (*) aus Martins Maximum++ reellen Zahlen den dritten Platz im unendlich hohen Turm
abzuleiten. Ein Jahr später veröffentlichten sie ihr Ergebnis. an Unendlichkeiten an. »Die Frage ist, ob das wahr ist«,
Als Woodin ihre Arbeit aufmerksam las, fand er jedoch meint Peter Koellner, ein Mengentheoretiker an der Harvard
einen Fehler. Da die beiden Mathematiker ihn so schnell University in Cambridge, Massachusetts. Die Tatsache,
nicht ausräumen konnten, sahen sie sich gezwungen, ihren dass aus dem stärksten Forcing-Axiom (also Martins Maxi­
Beitrag zurückzuziehen. In den folgenden Jahren gingen sie mum) die Aussage (*) folgt, könne man gleichzeitig als
den Beweis immer wieder durch, aber sie stießen stets auf Argument für oder gegen Martins Maximum werten, gibt er
scheinbar unüberwindbare Schwierigkeiten. Ihnen fehlte zu bedenken. »Das hängt wirklich davon ab, was man von
die entscheidende Idee – ein fehlendes Glied in der logi­ (*) hält.«
schen Kette, so Asperó, die von Martins Maximum++ zu (*) Daher konzentrieren sich Mathematikerinnen und Ma­
führt. thematiker auf die Frage, für wie plausibel sie (*) ansehen.
Dafür untersuchen sie daraus abgeleitete Aussagen der
Die Schlüsselidee fehlt Form »für alle X gibt es Y, so dass Z«, die teilweise weit
Um das Axiom (*) abzuleiten, versuchten sie ein Verfahren reichende Konsequenzen für die reellen Zahlen haben. Wie
zu entwickeln, das dem L-Forcing ähnelt. Sie wollten da­ Koellner betont, sind einige der Ergebnisse angreifbar; zum
durch ein Objekt erzeugen, das in der Logik als »Zeuge« Beispiel folgt aus (*), dass sich die Struktur einer großen
bezeichnet wird. Dieses sollte alle Grundaussagen der Form Klasse von Mengen auf eine sehr viel kleinere Menge
(*) verifizieren. Wenn den Forschern das gelänge, bräuch­ abbilden lässt. Das erscheint ihm und anderen Skeptikern
ten sie nur noch zu zeigen, dass das Forcing Martins Maxi­ seltsam.
mum++ erfüllt. Denn daraus würde folgen, dass der Zeuge Überraschenderweise hat sich inzwischen auch Woodin,
tatsächlich Teil der mathematischen Realität ist – und somit der (*) ursprünglich entwickelt hat, gegen sein Axiom
auch (*). Damit könnte man (*) aus Martins Maximum gestellt. »Ich werde als Verräter angesehen«, erzählt er. Als
ableiten. er die mathematische Grundaussage vor 25 Jahren pos­
»Uns war klar, wie man solche Forcings konstruiert«, tulierte, war er noch überzeugt, die Kontinuumshypothese
sagt Asperó. Aber die zwei Mathematiker konnten nicht sei falsch – und setzte ganz auf (*). In den 2010er Jahren
zeigen, dass ihr Verfahren die Kernanforderung von Mar­ änderte er aber plötzlich seine Meinung. Er glaubt nun, Can­
tor habe Recht gehabt, womit (*) sowie das Forcing »zum
Scheitern verurteilt« wären.

»Woher weiß man, Zwar sei der Beweis von Asperó und Schindler »ein
fantastisches Ergebnis, das es verdient, in die Annalen
in welcher Realität man sich aufgenommen zu werden«, äußert er beeindruckt und
räumt gleichzeitig ein, dass diese Art von Resultat norma­
befindet?« lerweise als Hinweis für irgendeine Art von Wahrheit ange­
sehen wird. Dennoch glaube er nicht, dass Martins Maxi­
Hugh Woodin mum und (*) Teil der mathematischen Realität seien.

14 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


Neben der von Koellner erwähnten Unstimmigkeit grenzt ist, gibt es keine Unendlichkeit mehr zwischen der
identifizierte Woodin ein weiteres, größeres Problem. Diese der natürlichen und jener der reellen Zahlen. Gelingt der
»unerwartete Wendung«, wie der Logiker es nennt, ent­ Beweis, wird das ultimative L-Axiom, wenn auch nicht als
deckte er im 2019 erschienenen Vorabdruck von Asperós offensichtliche Erweiterung für ZFC, so doch zumindest als
und Schindlers Arbeit. Um die Schwierigkeit zu verstehen, ernst zu nehmender Konkurrent für Martins Maximum
muss man wissen, dass (*) nicht das einzige Axiom seiner gelten – und somit die Plausibilität des Forcing-Verfahrens
Art ist. In der Vergangenheit hat Woodin stärkere Varianten in Frage stellen. Das sehen manche Fachleute als entschei­
der Grundaussage aufgestellt, die (*)+ und (*)++ genannt denden Vorteil, denn die von Cohen entwickelte Technik
werden. Diese beziehen sich nicht nur auf die reellen Zah­ führt über die Mengenlehre hinaus zu zahlreichen unent­
len, sondern gelten für deren Potenzmenge (also die Menge scheidbaren Aussagen. Mit einem »ultimativen L« ließen
aller Teilmengen). Wie sich schnell herausstellte, wider­ sich viele davon klären.
spricht (*)+ in verschiedenen Modellen des mathemati­ Eine Einigung zwischen dem Lager, das Cantors Vermu­
schen Universums – wenn auch nicht allgemein – Martins tung unterstützt, und den Verfechtern von Martins Maxi­
Maximum. Im Mai 2021 teilte Woodin mit der Fachwelt eine
Arbeit, in der er bewies, dass (*)+ und (*)++ äquivalent sind.
Das heißt, (*)++ schließt ebenfalls in manchen Modellen
Martins Maximum aus.
Das ist insofern problematisch, als die beiden Axiome Mehr Wissen auf
(*)+ und (*)++ ihren Vorläufer (*) weit in den Schatten
stellen. Sie erlauben es, Aussagen der Form »Es gibt eine
Spektrum.de
Unser Online-Dossier zum Thema
Menge von reellen Zahlen …« zu machen – und damit die
finden Sie unter
Eigenschaften beliebiger (sowie aller) Sammlungen sol­ spektrum.de/t/unendlichkeit / ISTOCK
WIGGLESTICK / GETTY IMAGES
cher Zahlen zu beschreiben und zu untersuchen. Eine
derartige Stärke hat (*) nicht. Da Martins Maximum aber
(*)+ und (*)++ zu widersprechen scheint, befürchten
Mathematiker und Mathematikerinnen, das Forcing-Axiom
lasse keine existenziellen Aussagen über die Mengen von mum ist nicht in Sicht. Seit dem letzten Jahrhundert, als
reellen Zahlen zu. Für Woodin ist das ein Ausschlusskrite­ Gödel und Cohen bewiesen haben, dass die Kontinuums­
rium: »Damit wäre Martins Maximum zum Scheitern hypothese im Axiomensystem ZFC unentscheidbar ist,
verurteilt.« erschaffen Mengentheoretiker Universen, in denen der
Zurzeit untersucht die Fachwelt noch Woodins Beweis Größe der reellen Zahlen keine Grenzen gesetzt sind – von
und versucht, dessen Folgen abzuschätzen. Doch wie 2 über 20 bis hin zu 1346 –, und erforschen die sich
einige betonen, handelt es sich bei den vorgebrachten dadurch ergebenden Konsequenzen. Mit dem Ergebnis von
Argumenten bisher bloß um Vermutungen. Nur weil (*)+ in Asperó und Schindler, das auf 2 hindeutet, und Woodins
manchen Modellen Martins Maximum widerspricht, muss Arbeit, die für 1 spricht, sind die meisten Fachleute inzwi­
das nicht in jeder mathematischen Realität so sein – insbe­ schen davon überzeugt, die Kardinalität des Kontinuums
sondere nicht im ZFC-Universum. Selbst Woodin räumt ein, betrage einen der beiden Werte. Wie einige ihrer Kollegen
dass eine überraschende Entdeckung seine Meinung ist auch die Mathematikerin Kennedy der Auffassung, man
ändern könnte; so wie es in der Vergangenheit schon komme damit Hilberts Traum einer fassbaren mathemati­
geschehen ist. schen Wirklichkeit näher und sei auf dem besten Weg zu
»Cantors Paradies«. 
Hoffnung für das Ultimative L
In der Zwischenzeit verfolgt der Logiker andere Ansätze. QUELLEN
Viele Forscherinnen und Forscher erwarten mit Spannung Asperó, D., Schindler, R.: Martin’s Maximum++ implies
die Ergebnisse seines Versuchs, ein »ultimatives L« zu Woodin’s axiom (*). Annals of Mathematics 193, 2021
konstruieren (siehe Artikel ab S. 16). Denn Woodins Über­
Foreman, M. D. et al.: Martin’s Maximum, saturated ideals, and
zeugung nach enthält das derzeit genutzte Mengenuniver­ nonregular ultrafilters. Part I. Annals of Mathematics 127, 1988
sum zu viele Mengen. Man müsste die Anforderungen an
Woodin, H.: The axiom of determinacy, forcing axioms, and the
die Sammlungen von Objekten stärker einschränken, um
nonstationary ideal. Walter de Gruyter, 2010
das Universum auf ein »ultimatives L« zu verkleinern.
Gleichzeitig darf man Mengen nicht zu viel abverlangen,
sonst lassen sich gewisse Strukturen und damit einherge­
Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und bearbeitete
hende mathematische Aussagen nicht mehr beweisen.
Fassung des Artikels »How Many Numbers Exist? Infinity Proof
Woodin hat bereits 400 Seiten zu dem Thema verfasst und Moves Math Closer to an Answer« aus »Quanta Magazine«, einem
ist überzeugt, bald eine Lösung zu haben. inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich
Fügt man dem ZFC-System das Axiom hinzu, wonach die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und
das Mengenuniversum dem ultimativen L entspricht, dann den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
erweist sich die Kontinuumshypothese plötzlich als wahr.
Da die Anzahl der möglichen Mengen in dieser Welt be­

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 15


LOGIK
DAS FEHLENDE PUZZLETEIL
Gibt es eine Menge, die größer ist als die natürlichen Zahlen, aber
kleiner als die reellen? Diese grundlegende Frage gehört zu den unbe-
weisbaren Problemen der Mathematik. Experten suchen deshalb
nach neuen Gesetzen, die das mathematische Grundgerüst ergänzen
und diese Unentscheidbarkeit aus dem Weg räumen.

ALLEXXANDAR / GETTY IMAGES / ISTOCK

DAS UNVORSTELLBARE: Unendlich


ist nicht immer gleich unendlich –
tatsächlich lassen sich die Größen
unvorstellbarer Mengen ordnen.

16 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik 


Physik Mathematik Technik 3.22
3.22
Jean-Paul Delahaye ist
PETER POTROWL (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/
WIKI/FILE:JEAN-PAUL_DELAHAYE_2008_1.JPG) /
CC BY 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/
LICENSES/BY/3.0/LEGALCODE)

emeritierter Professor der


Université de Lille und
Forscher am Centre de
recherche en informatique,
signal et automatique
(Cristal) de Lille.

 spektrum.de/artikel/1807454
ALLEXXANDAR / GETTY IMAGES / ISTOCK

Spektrum
SpektrumSPEZIAL 
SPEZIAL Physik Mathematik Technik 
Physik Mathematik Technik  3.22 17

Das Konzept der Unendlichkeit hat schon immer zu
Schwierigkeiten geführt: Philosophen und Theologen
zerbrechen sich seit Jahrhunderten den Kopf darüber – Kurz erklärt: Potenzmenge
ganz zu schweigen von Mathematikern, denen es erst im
19. Jahrhundert gelang, mit den unvorstellbaren Größen zu Die Potenzmenge P(M) einer Menge M ist die
arbeiten. Tatsächlich stießen sie dabei schon früh auf Sammlung all ihrer Teilmengen. Wenn M zum
verschiedene Arten von Unendlichkeiten, doch lange wuss- Beispiel {1, 2, 3} ist, dann lautet P({1, 2, 3}) = {ø, {1},
ten sie nicht, wie man diese beschreiben oder miteinander {2}, {3}, {1, 2}, {2, 3}, {1, 3}, {1, 2, 3}}. Sie enthält
vergleichen sollte. stets die leere Menge und die Menge M selbst.
In den 1870er Jahren gelang dem deutschen Mathema­ Wie Georg Cantor zeigte, ist die Potenzmenge
tiker Georg Cantor schließlich der Durchbruch. Indem er größer als die ursprüngliche Menge – selbst wenn
Mengen mit unendlich vielen Elementen untersuchte, diese bereits unendlich viele Elemente enthält.
konnte er ihre Größen voneinander unterscheiden und
begründete dabei die moderne Mengenlehre, auf der
inzwischen die gesamte Mathematik fußt.
Dieser Schritt ging aber nicht problemlos vonstatten. Das erste begann vor etwa 15 Jahren. Gemeinsam mit
Wissenschaftler mussten eine Sammlung so genannter Axi- seinen Kollegen versuchte Woodin die Kontinuumshypothe-
ome formulieren – unbeweisbare Aussagen, aus denen alle se zu widerlegen. Aber die dabei entwickelten Ergebnisse
mathematischen Zusammenhänge folgen sollten, ohne änderten seine Meinung, so dass er ein zweites Programm
dabei Widersprüche zu produzieren. Diese anspruchsvolle entwarf, das die Kontinuumshypothese beweisen soll.
Aufgabe ist inzwischen größtenteils gelöst. Seit Beginn des Die berühmte Vermutung handelt von der Größe unend-
20. Jahrhunderts nutzt man ein System von Axiomen, licher Mengen. Cantor erkannte bereits 1871, dass unend-
genannt ZFC, das bisher widerspruchsfrei ist und eine lich nicht immer gleich unendlich ist. Manche Mengen mit
umfangreiche Theorie der Unendlichkeiten umfasst. unendlich vielen Elementen sind größer als andere. Um sie
Dennoch hat die moderne Mengenlehre Schwachstellen. voneinander zu unterscheiden, bediente er sich eines
Wie Kurt Gödel Anfang des 20. Jahrhunderts zeigte, gibt Tricks. Anstatt mühsam die einzelnen Elemente zu zählen,
es grundlegende Fragen, die sich mit ihr nicht beantworten verglich er zwei Mengen, indem er die Elemente der einen
lassen, man kann sie weder beweisen noch widerlegen. mit jeweils einem Element aus der anderen paarte. Möchte
Logiker versuchen daher die Theorie zu erweitern, um zu- man etwa herausfinden, ob es in Deutschland genauso
mindest einige der hartnäckigen Rätsel zu lösen. viele angemeldete Fahrzeuge wie Personen mit Führer-
Im letzten Jahrzehnt machte insbesondere der US-ameri- schein gibt, ordnet man jedem Fahrer ein gemeldetes Auto
kanische Mathematiker Hugh Woodin von der Harvard zu. Wenn das möglich ist, sind beide Mengen gleich groß.
University bedeutende Fortschritte auf dem Gebiet. Er ist
davon überzeugt, das prominenteste aller unentscheidba- Genauso viele gerade wie natürliche Zahlen
ren Probleme, die so genannte Kontinuumshypothese, Wendet man diese Methode der Bijektion auf unendliche
müsse eine Lösung haben. Sie ist entweder wahr oder Mengen an, führt das zu überraschenden Ergebnissen.
falsch. Um das zu klären, gründete er zwei gegensätzliche Indem man zum Beispiel jede natürliche Zahl mit zwei multi-
Forschungsprogramme. pliziert, erhält man eine solche Eins-zu-eins-Abbildung
zwischen den natürlichen und den geraden Zahlen: Jeder
natürlichen Zahl n lässt sich genau eine gerade Zahl p = 2n
zuordnen; umgekehrt findet man für jede gerade Zahl p eine
AUF EINEN BLICK natürliche Zahl n = p/2. Cantor folgerte daraus, dass es
DAS UNBEWEISBARE BEWEISEN genauso viele gerade wie natürliche Zahlen gibt. Das wirkt
auf den ersten Blick widersprüchlich, schließlich bestehen

1 Die moderne Mathematik fußt auf der Mengenlehre, letztere aus geraden und ungeraden Zahlen – es müssten
die aus einer Sammlung von Axiomen besteht. Die The- also doppelt so viele sein.
orie umfasst auch unendliche Größen und kann diese Doch anders als gewöhnliche Zahlen verhalten sich un-
sogar ordnen. endliche Größen nicht immer so, wie man es erwartet.
Cantor konnte beweisen, dass seine Methode zum Vergleich

2 Die Kontinuumshypothese behauptet, dass es keine


Menge gibt, die größer als die natürlichen und kleiner
als die reellen Zahlen ist. Allerdings kann man die
von Mengen zu keinerlei Widersprüchen führt, und sie ist bis
heute akzeptiert. Damit lässt sich eine unendliche Menge
formal als Menge definieren, die sich aus der Bijek­tion mit
Vermutung weder beweisen noch widerlegen.
einem ihrer Teile ergibt. Zum Beispiel entstehen die natürli-
chen Zahlen wie beschrieben aus der Abbildung mit einer
3 Deshalb versuchen Mathematiker die Mengenlehre
durch sinnvolle Annahmen zu ergänzen, aus denen ein-
deutig folgt, ob die Kontinuumshypothese wahr oder
ihrer Teilmengen, den geraden Zahlen.
Bijektionen erlauben es, unendliche Größen zu ordnen.
falsch ist. Auf diese Weise fand Cantor heraus, dass die Menge aller
Teilmengen (Potenzmenge P(M) genannt, siehe »Kurz
erklärt: Potenzmenge«) einer unendlichen Menge M stets

18 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


größer ist als M selbst (M < P(M)). Das heißt, man kann die wenn sie sich eins zu eins auf Iℕ abbilden lässt, wie die
Elemente von P(M) unmöglich eins zu eins auf jene von M ganzen oder die rationalen Zahlen. Die reellen Zahlen IR
abbilden. Die Menge der natürlichen Zahlen Iℕ = {0, 1, 2, sind dagegen größer, denn es existiert eine Bijektion zwi-
3, …} ist daher kleiner als ihre Potenzmenge P(Iℕ), zu der schen ihnen und P(Iℕ) (siehe »Unendlich ist nicht immer
unter anderem Iℕ selbst, alle geraden Zahlen oder alle gleich unendlich«).
Primzahlen gehören. P(Iℕ) enthält zu viele Elemente, als Wenn man weiß, dass P(Iℕ) und Iℝ größer als Iℕ sind,
dass man jeder natürlichen Zahl einen einzigen Partner aus stellt sich folgende Frage: Gibt es Unendlichkeiten, die
P(Iℕ) zuweisen könnte. zwischen Iℕ und Iℝ liegen? Weil man keine Menge finden
Mit der Potenzmengen-Operation lassen sich immer konnte, die größer als Iℕ und kleiner als Iℝ ist, ging Cantor
größere Mengen aufbauen. Dadurch entsteht eine Hierar- davon aus, eine solche könne nicht existieren. Das ist die
chie von Unendlichkeiten, etwa: Iℕ < P(Iℕ) < P(P(Iℕ)) berühmte Kontinuumshypothese. Der Begriff Kontinuum
< P(P(P(Iℕ)) < … Tatsächlich entsprechen die natürlichen bezieht sich dabei auf die reellen Zahlen, die den Punkten
Zahlen IN der kleinstmöglichen Unendlichkeit, man nennt auf einem Zahlenstrahl entsprechen. Glaubt man der Konti-
sie abzählbar. Ebenso ist jede andere Menge abzählbar, nuumshypothese, dann lässt sich jede unendliche Teilmen-

Unendlich ist nicht immer gleich unendlich


Wie vergleicht man die Größen man bewiesen hat, dass es keine n-te Dezimalstelle unterscheidet
zweier unterschiedlicher Mengen Bijektion zwischen den natürlichen sich immer von der n-ten Dezimal-
M1 und M2, die jeweils unendlich Zahlen und [0, 1] geben kann. stelle der n-ten Zahl in der Liste.
viele Elemente enthalten? Mathe- Wäre das Intervall zwischen Der Wert von x ist aber eine reelle
matiker nutzen dafür eine be- null und eins abzählbar, dann Zahl zwischen null und eins, was
stimmte Art von Abbildungen, so könnte man die darin enthaltenen bedeutet, dass die obige abzählbare
genannte Bijektionen, die jedem Elemente einzeln aufzählen, was Liste nicht existieren kann.
Element von M1 genau eines von zu einer unendlichen (aber abzähl- Das Intervall der reellen Zahlen
M2 zu­ordnen. Wenn es eine solche baren) Liste führen würde: zwischen null und eins ist also
Bijektion gibt, heißen M1 und M2 0, d1,1 d1,2 d1,3 d1,4 d1,5 d1,6 d1,6... nicht abzählbar. Ihre Unendlichkeit
gleichmächtig. 0, d2,1 d2,2 d2,3 d2,4 d2,5 d2,6 d2,6... ist daher von höherer Ordnung als
Eine unendliche Menge, die 0, d3,1 d3,2 d3,3 d3,4 d3,5 d3,6 d3,6... die von der natürlichen Zahlen,
gleichmächtig zur Menge der 0, d4,1 d4,2 d4,3 d4,4 d4,5 d4,6 d4,6... man spricht von einer überabzähl-
natürlichen Zahlen Iℕ = {0, 1, 2, 3, … baren Menge – der Unendlichkeit
4, ...} ist, heißt abzählbar. Es lässt wobei di,j die Ziffern der Dezimal- des Kontinuums. Daraus lässt sich
sich leicht erkennen, dass die entwicklung der i-ten Zahl in der leicht erkennen, dass das Intervall
geraden Zahlen a , Vielfache von Liste sind (dabei schließt man [0, 1] gleichmächtig ist wie das
5 b und die ganzen Zahlen c Darstellungen aus, die mit unend- zwischen null und fünf: Sie haben
abzählbar sind. Man kann zudem lich vielen Neunen enden).  die gleiche Unendlichkeit von
beweisen, dass es eine Bijektion Wenn man eine Zahl x = 0, d1 Punkten d . Überraschenderweise
zwischen den natürlichen und den d2 d3 d4… konstruiert, mit d1 ≠ d1,1, ist auch die Fläche eines Quadrats
rationalen Zahlen (Brüche p/q, d2 ≠ d2,2, d3 ≠ d3,3, und so weiter, oder das Volumen eines Würfels
wobei p und q ganze Zahlen sind) dann erscheint sie nirgends in der gleichmächtig wie ein solches
gibt. Gleiches gilt für die Menge ursprünglichen Liste. Denn ihre Liniensegment.
der Paare (p, q) ganzer Zahlen,
Drillinge (u, v, w) rationaler Zahlen a Die b Die
 Menge der geraden  Menge der durch fünf
und so weiter. Zahlen ist abzählbar. teilbaren Zahlen ist abzählbar.
Anders verhält es sich bei
0 1 2 3 4 5 … 0 1 2 3 4 5 …
reellen Zahlen. Bereits der Bereich
zwischen null und eins ist nicht 0 1 2 3 4 5 … 0 1 2 3 4 5 …
0 2 4 6 8 10 … 0 5 10 15 20 25 …
abzählbar. Das lässt sich durch
einen so genannten Widerspruchs- 0 2 4 6 8 10 … 0 5 10 15 20 25 …
beweis zeigen, bei dem man mit c Die d Die
 Menge der ganzen Zahlen  Menge eines Liniensegments
der Annahme startet, das Intervall 0
ist abzählbar.
1 2 3 4 5 6 7 … der Länge 1 ist gleichmächtig wie
POUR LA SCIENCE OKTOBER 2019

[0, 1] sei abzählbar, und daraus die Menge eines Linien-


… segments der
einen Widerspruch herleitet. Als 0 1 2 3 4 5 6 7
… Länge 5.
0 1 –1 2 –2 3 –3 4
logische Konsequenz muss die
Annahme falsch sein, wodurch 0 1 –1 2 –2 3 –3 4 …

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 19


ge von Iℝ entweder eins zu eins auf Iℕ (wenn sie »klein« ist)
oder auf Iℝ selbst abbilden (wenn sie »groß« ist).
Eine oder viele Die Vermutung zählt zu den bedeutendsten Fragen des
Fachs. Bereits im Jahr 1900 setzte der deutsche Mathema­
­mathematische Welten? tiker David Hilbert sie an die Spitze seiner Liste von 23 Pro-
blemen, die er auf dem Internationalen Mathematikerkon-
In der Philosophie der Mathematik gehen Realis- gress in Paris vorstellte. Mehr als ein Jahrhundert später ist
ten davon aus, die mathematische Welt sei real. sie noch immer ungelöst: Bisher ist niemand auf eine
Weil diese auf der Mengenlehre basiert, existie- unendliche Teilmenge von Iℝ gestoßen, die man nicht Iℕ
ren demnach auch Mengen – insbesondere oder Iℝ zuordnen kann – aber ebenso wenig ließ sich nach-
unendliche Mengen. weisen, dass eine solche Teilmenge nicht existiert.
Dass die Kontinuumshypothese (KH) jedoch Zwei Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts erschweren die
mit den üblichen Axiomen der Mengenlehre Aufgabe zusätzlich. Die damals entwickelte und bis heute
unentscheidbar ist, stellt Philosophen vor eine größtenteils akzeptierte Version der Mengenlehre fußt auf
Herausforderung. Einige Realisten behaupten Axiomen, die unter anderem die deutschen Logiker Ernst
deshalb, das Universum der Mathematik existie- Zermelo und Abraham Fraenkel formulierten. Dieses Axio-
re in vielen unterschiedlichen Formen: In einigen mensystem wurde nach ihren Initialen ZFC benannt, wobei
Fällen sei die Kontinuumshypothese wahr, in C für das Auswahlaxiom (englisch: axiom of choice) steht.
anderen falsch. Diese Ansicht einer »multiversen Es besagt, dass für eine Sammlung nichtleerer, paarweiser
Mengenlehre« macht es überflüssig, nach einer disjunkter Mengen immer eine Menge existiert, die genau
definitiven Antwort auf die Kontinuumshypothe- ein Element mit jeder der Mengen gemeinsam hat.
se zu suchen.  Für endliche Mengen lässt sich die Aussage einfach
Der Logiker Hugh Woodin konnte aber zeigen, nachvollziehen, auf unendliche Mengen angewandt ist das
dass es im Multiversum keinen zufrieden stellen- Auswahlaxiom weniger intuitiv. Deshalb ist es unter man-
den Wahrheitsbegriff gibt. Wie damals Kurt chen Experten umstritten und sie bevorzugen es, bloß mit
Gödel ist er ebenfalls der Ansicht, es existiere dem System ZF ohne C zu arbeiten.
nur ein Mengenuniversum, dessen Axiome man Aus den Axiomen der ZFC lässt sich die moderne Mathe-
noch finden muss. Das »ultimative L« könnte matik ableiten. Doch wie der österreichische Logiker Kurt
einen Weg dahin ebnen und dabei die Kontinu- Gödel in den 1930er Jahren herausfand, gibt es einige
umshypothese ein für alle Mal lösen. Aussagen, die sich in diesem Rahmen weder beweisen
noch widerlegen lassen. Insbesondere hat er gezeigt, dass
sich mit der Mengenlehre – vorausgesetzt sie ist nicht

INTERPRETATION VON ZAHLEN Eine Darstellung


der natürlichen Zahlen, wenn man sie durch
Mengen definiert.
ASSYA PALOMA / POUR LA SCIENCE OKTOBER 2019

Ø {Ø}
{Ø, {Ø}}

{Ø, {Ø}, {Ø, {Ø}}}

20 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


widersprüchlich – nicht beurteilen lässt, ob die Kontinuums- »S ist widersprüchlich« als Axiom zu S hinzufügen, ohne
hypothese (KH) falsch ist. Das heißt, es ist unmöglich, einen Widerspruch herbeizuführen. Das wäre natürlich
Nicht-KH (»Es gibt eine Unendlichkeit zwischen der von Iℕ absurd, aber nicht falsch.
und Iℝ«) aus den Axiomen der ZFC abzuleiten. Deswegen sind sich Mathematiker einig, ein Axiom
In der Hoffnung, die Kontinuumshypothese sei wahr, müsse stets eine wahrnehmbare Eigenschaft widerspie-
versuchten Wissenschaftler daraufhin, sie zu beweisen. geln, die sich mit unserer Vorstellung über Mengen deckt.
1963 wurden diese Anläufe jedoch zunichtegemacht, als Anders ausgedrückt sollte es intuitiv sein, was viele An­
der US-amerikanische Mathematiker Paul Cohen (1934– wärter ausschließt, darunter KH und Nicht-KH: Anders als
2007) zeigte, dass man aus der Mengenlehre ebenso wenig etwa die Aussage, es gebe eine leere Menge, ist nicht
KH (»Es gibt keine Unendlichkeit zwischen Iℕ und Iℝ«) offensichtlich, ob die Kontinuumshypothese richtig oder
folgern kann. Die Kontinuumshypothese ist also unabhän- falsch ist.
gig von den ZFC-Axiomen und damit unentscheidbar. Manche Logiker sehen die Unentscheidbarkeit von KH
als ein Zeichen dafür an, dass die ZFC-Axiome nicht ausrei-
Was ist wahr, was ist falsch? chen, um die Wirklichkeit vollständig zu beschreiben. Daher
Weil man nicht ermitteln kann, ob sie richtig oder falsch ist, versuchen sie der gewöhnlichen Mengenlehre neue Axio-
könnte man entweder KH oder Nicht-KH als Axiom der me hinzuzufügen, aus denen eindeutig folgt, ob die Konti-
Mengenlehre hinzufügen, ohne einen Widerspruch zu nuumshypothese wahr oder falsch ist. Die Schwierigkeit
erzeugen. Die meisten Logiker halten allerdings nichts besteht darin, solche geeigneten Axiome zu finden. Diesem
davon – denn es passt nicht zu ihrer Vorstellung, der zufol- Problem ist Woodin auf der Spur – und die Lösung scheint
ge es nur eine mathematische Realität gibt (siehe »Eine zum Greifen nah.
oder viele mathematische Welten?«). Um seinen Ansatz nachzuvollziehen, muss man etwas
Gödels zweiter Unvollständigkeitssatz von 1931 verdeut- tiefer in die Theorie der Unendlichkeiten eindringen. Den
licht, warum Experten unentscheidbare Aussagen als Grundstein bilden dabei so genannte Ordinalzahlen, die es
Axiome ablehnen. Er besagt, mit einem aussagekräftigen ermöglichen, die Elemente einer – endlichen oder unendli-
Axiomensystem S (wie der Mengenlehre) ließe sich nicht chen – Menge in aufsteigender Reihenfolge anzugeben
beweisen, dass S konsistent ist. Das heißt, man könnte (siehe »Verallgemeinerte Zahlen«).

Verallgemeinerte Zahlen
Ordinalzahlen sind verallgemeinerte natürliche
Zahlen. Sie bieten die Möglichkeit, mit Unendlich- 0
keiten zu arbeiten und sie zu ordnen. Ordinalzahlen
beginnen mit der geordneten Folge der natürlichen
Zahlen, anschließend erscheint die erste unendlich
große Ordinalzahl ω. Daraufhin definiert man ω + 1,
1
ω + 2, was schließlich zu ω ∙ 2, ω ∙ 3 und so weiter
führt. Die Grafik stellt die Objekte bildlich dar. ω
1

Seit ihrer Beschreibung durch Georg Cantor


ω+
+2

versuchen Mathematiker, diese seltsamen Struktu-


ω² 3
ω

ren zu verstehen. Insbesondere nutzen sie Ordinal- +


2
ω·5

2
ω²+1

zahlen α, um immer größere Mengen Vα zu definie- ω


ω²+

4
ω

ω+
·4

ren. Man kann zeigen, dass diese das gesamte


ASSYA PALOMA, NACH POP-UP CASKET (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:OMEGA-EXP-OMEGA-LABELED.SVG) /

ω³
Mengenuniversum V bilden, das jede beliebige
ω
²·4

CC0 (CREATIVECOMMONS.ORG/PUBLICDOMAIN/ZERO/1.0/LEGALCODE) / POUR LA SCIENCE OKTOBER 2019

ω4
ω
³+

Menge enthält.
ω

Indem man die Definition von Vα verändert, ω·3 ω²+ω

3
ω²·3 ω³+ω²

lassen sich Unteruniversen der mathematischen


Welt erzeugen. Diese sind kleiner als V, haben aber
ω
ω³·2 ²+
ähnliche grundlegende Eigenschaften. Mit einem ω
·2
solchen Unteruniversum L konnte Kurt Gödel
4
ω²·2
Anfang des 20. Jahrhunderts beweisen, dass die
ω ·2 + 3
ω +2
1
·2+
2

gewöhnliche Mengenlehre mit der Kontinuums­


ω·

hypothese KH kompatibel ist. Paul Cohen bewies ω·2


einige Jahrzehnte später jedoch, dass die ZFC-­
5

Axiome, auf denen die Mengenlehre fußt, auch mit


Nicht-KH funktionieren.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 21


Strukturen und relative Konsistenz
Wenn man an axiomatischen dass x < y.« Daher ist dieses zes ab, dass es eine Struktur M
Systemen arbeitet, spielt der einfache Axiom nicht wider- gibt, die alle Axiome von S erfüllt.
Vollständigkeitssatz, den Kurt sprüchlich. Anschließend modifiziert man M
Gödel 1929 in seiner Doktorarbeit Bei komplizierteren Systemen zu M’, wobei M’ ein weiteres
bewies, eine entscheidende Rolle. aus mehreren Axiomen ist es nicht Axiom X überprüft. Weil M’ exis-
Er besagt, dass eine durch logi- so einfach, eine Struktur zu finden, tiert, ist das System S + X konsis-
sche Axiome definierte Theorie die allen gleichzeitig gerecht wird. tent, solange S selbst zu keinen
genau dann nicht widersprüchlich Für die gewöhnliche Mengenlehre Widersprüchen führt. Diese
ist, wenn es mindestens eine greift man daher auf die Methode Methode nutzten Kurt Gödel und
Struktur gibt, die alle ihre Axiome der so genannten relativen Konsis- Paul Cohen, um zu zeigen, dass
erfüllt. Wenn man zum Beispiel tenz zurück: Man nimmt an, ein sowohl ZFC + KH (Gödel, 1938) als
die natürlichen Zahlen Iℕ betrach- axiomatisches System S sei nicht auch ZFC + Nicht-KH (Cohen,
tet, dann bestätigen sie die Aus­ widersprüchlich. Dann leitet man 1963) widerspruchsfrei sind, falls
sage: »Für jedes x gibt es ein y, so mit Hilfe des Vollständigkeitssat- ZFC konsistent ist.

Die Folge der Ordinalzahlen beginnt mit den natürli- aus der leeren Menge, verknüpft mit der Potenzmengen-
chen Zahlen. Man kann sie ausgehend von der leeren Men- Ope­ra­tion.
ge ø konstruieren: 0 = ø, 1 = {ø}, 2 = {ø, {ø}}, ... , n + 1 = Um zu beweisen, dass man KH nicht mit den ZFC-Axio-
n ∪ {n}. Das Symbol ∪ beschreibt dabei die Vereinigung men widerlegen kann, nutzte Gödel bestimmte Eigenschaf-
zweier Mengen: {a, b} ∪ {c, d} = {a, b, c, d}. Eine natürliche ten von V aus. Die zu Grunde liegende Idee lässt sich ein-
Zahl n setzt sich in dieser Definition aus den ihr vorange- fach nachvollziehen – wenn auch nicht in allen Details. Er
henden Zahlen von n – 1 bis 0 zusammen. begann mit der Annahme, die ZFC-Axiome seien nicht
Ordinalzahlen hören nicht bei den natürlichen Zahlen widersprüchlich. Seinem 1929 veröffentlichten Vollständig-
auf. Die erste unendliche Ordinalzahl ω, transfinite Zahl keitssatz zufolge existiert in so einem Fall eine Struktur S, in
genannt, ergibt sich, wenn man alle natürlichen Zahlen auf welcher die Axiome erfüllt sind. Eine solche Struktur kann
einmal betrachtet: ω = {0, 1, 2, ...}. zum Beispiel ein Zahlenraum sein, in dem die Zahlen und
Daraus lassen sich noch größere Werte erzeugen, bei- Rechenregeln die entsprechenden Axiome widerspiegeln
spielsweise ω + 1 = ω ∪ {ω} oder ω + 2 = (ω + 1) ∪ {ω + 1}. (siehe »Strukturen und relative Konsistenz«).
Das führt irgendwann zu Pro­dukten ω + ω = ω ∙ 2, ω ∙ 3, …, Von S ausgehend leitete Gödel eine weitere Struktur S’
bis man schließlich Potenzen von ω erhält, darunter ω2, ω3 ab, in der auch die Kontinuumshypothese realisiert ist.
oder ωω. Wenn ZFC also nicht widersprüchlich ist, dann ist es
Man kann dabei zwischen zwei Arten von Ordinalzahlen ZFC + KH genauso wenig. Das bedeutet, man kann unmög-
unterscheiden: solche, die einen Vorgänger haben, dazu lich aus den ZFC-Axiomen auf Nicht-KH schließen. Wäre das
gehören etwa ω + 1 oder ω3 + 32, und jene, die keinen möglich, ließe sich Nicht-KH ebenso im System ZFC + KH
haben, wie ω, ω ∙ 2 oder ω4. Letztere bezeichnet man als ableiten, was einen Widerspruch erzeugen würde.
Grenzzahl. In seinem Beweis wählte Gödel das Mengenuniversum V
Aus den Ordinalzahlen und der Potenzmengen-Operation als Struktur S, welche die ZFC-Axiome überprüft. Daraus
kann man daher eine Folge wachsender Mengen definie- konstruierte er eine Unterstruktur S’, die er L nannte und
ren, die eine zentrale Rolle in der Mathematik spielen: folgendermaßen definierte:
V0 = ø ; L0 = ø ;
V1 = P(V0) = {ø} ; Lα + 1 = Pdef(Lα), falls α + 1 den Vorgänger α hat;
V2 = P(V1) = {ø, {ø}} ; Lβ = die Vereinigung aller Lα, wobei α < β, falls β eine
… Grenzzahl ist.
Vα + 1 = P(Vα), falls α + 1 den Vorgänger α hat; Die Konstruktion ähnelt der von V stark. Doch Pdef(M) be-
Vβ = die Vereinigung aller Vα, wobei α < β, falls β eine zeichnet nicht die gewöhnliche Potenzmenge von M, son-
Grenzzahl ist. dern bloß die Menge aller »konstruierbaren Teilmengen«.
Tatsächlich liegt jede Menge, die sich mit der ZFC Dazu zählen nur solche, die sich durch eine Formel definie-
definieren lässt, in einem Vα. Zum Beispiel sind die natür­ ren lassen. Die natürlichen Zahlen enthalten etwa die
lichen Zahlen Iℕ in Vω enthalten, während sich die Menge konstruierbare Teilmenge X, mit allen Elementen x aus Iℕ,
der reellen Zahlen Iℝ in einer größeren befindet. Verei- welche die Gleichung x + y = 5 erfüllen, wobei y aus Iℕ ist.
nigt man alle Vα, erhält man das so genannte Mengen­- In diesem Fall ist X = {0, 1, 2, 3, 4, 5}.
uni­versum V, das der gesamten mengentheoretischen Mengen lassen sich aber nicht immer durch eine Formel
Welt entspricht. Interessanterweise besteht diese bloß beschreiben. Die natürlichen Zahlen besitzen zum Beispiel

22 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


bloß abzählbar viele konstruierbare Teilmengen (weil es nur sind sich die meisten einig: Wenn eine Aussage unendli-
abzählbar viele entsprechende Formeln gibt). Weil ihre che Mengen vorhersagt, ohne einen Widerspruch herbei-
Potenzmenge aber überabzählbar ist, gibt es überabzählbar zuführen, dann sollte man sie annehmen. Denn das Men-
viele nicht definierbare Teilmengen von Iℕ. genuniversum sollte Mengen nicht in ihrer Größe ein-
schränken.
Verschiedene Universen unendlich großer Mengen Seit den Anfängen der Mengenlehre formulieren Mathe-
Die Vereinigung aller Lα bildet das Universum der konstru- matiker solche Axiome. Am ältesten ist das Unendlichkeits-
ierbaren Mengen L, das in V enthalten ist. In dieser Struktur axiom, das besagt, dass es eine unendliche Menge gibt
sind alle ZFC-Axiome gültig. Zudem entpuppt sich die (eine mögliche Version lautet: »Es existiert eine Menge, die
Kontinuumshypothese in L als wahr, wie Gödel zeigen sich mit einem ihrer eigenen Teile in Bijektion bringen
konnte. Anschaulich lässt sich das erklären, weil L weniger lässt«). Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Aussagen
Mengen enthält. Erst dadurch kann man beweisen, dass es über »große Kardinalzahlen« (siehe »Kurz erklärt: Große
keine Menge zwischen den natürlichen und den reellen Kardinalzahlen«), die verschiedene Arten extrem großer
Zahlen gibt. Ausgehend von V, in dem ZFC-Axiome gelten,
existiert also eine Substruktur L, in der ZFC + KH verwirk-
licht sind. Deshalb kann ZFC + KH nicht widersprüchlich Warum sollten sich große
sein – vorausgesetzt die ZFC-Axiome sind konsistent.
Das legt den Gedanken nahe, dass das Mengenuniver- Kardinalzahlen ordnen lassen,
sum V, mit dem Mathematiker arbeiten, zu groß sein könn-
te. Im Prinzip kann man es einschränken, damit die Kontinu-
wenn sie nicht real sind?
umshypothese gilt. Dafür muss man der gewöhnlichen
Mengenlehre bloß ein simples Axiom hinzufügen: »Alle Mengen vorhersagen. Die ZFC-Axiome genügen dabei
Mengen sind konstruierbar«, was durch V = L beschrieben nicht, um zu beweisen, dass diese Mengen tatsächlich
wird. Alle nicht konstruierbaren Mengen, die sich durch die existieren. Daher muss man die entsprechenden Axiome
gewöhn­liche Potenzmengen-Operation ergeben, wären der gewöhnlichen Mengenlehre hinzufügen.
dann nicht mehr zulässig. Als Mathematiker große Kardinalzahlen genauer unter-
Auf den ersten Blick wirkt V = L wie das gesuchte Axi- suchten, machten sie eine unerwartete Entdeckung: Ob-
om, das die ZFC vervollständigen und die Unentscheidbar- wohl die Eigenschaften, die sie definieren, nicht direkt
keit der Kontinuumshypothese beseitigen würde. Dass sich zusammenhängen und es prinzipiell möglich wäre, dass
jede Menge durch die ihr vorausgehenden Mengen definie- sich unterschiedliche große Kardinalzahlen nicht verglei-
ren lässt, scheint intuitiv richtig. Aber leider ist V = L als chen lassen, geschieht das nie. Man kann bisher jede große
Axiom nicht tragbar, denn es verhindert unter anderem die Kardinalzahl danach ordnen, wie stark sie eine ZFC-Theorie
Existenz bestimmter Unendlichkeiten. erweitert.
Logiker streiten zwar darüber, wann man eine Behaup- Woodin und viele andere seiner Kollegen sehen das als
tung als Axiom akzeptieren kann, doch bei einem Punkt Argument dafür, dass Mengen wirklich existieren: Warum
sollten sich große Kardinalzahlen ordnen lassen, wenn sie
nicht real sind? Deshalb hofften Forscher, eine große Kar­
dinalzahl zu finden, die etwas über die Kontinuumshypothe-
Kurz erklärt: se aussagt. Doch das stellte sich als unmöglich heraus.
Große Kardinalzahlen Die Kontinuumshypothese ist unabhängig von den bisher
definierten Axiomen über große Kardinalzahlen.
Die Anzahl der Elemente einer endlichen Men- 1961 kam dann der nächste Schlag: Der US-amerikani-
ge – also quasi ihre Größe – entspricht der so sche Mathematiker und Informatiker Dana Scott bewies
genannten Kardinalzahl. Dieser Begriff lässt sich damals, dass die Aussage V = L eine bestimmte Art großer
darüber hinaus auch auf unendliche Mengen Kardinalzahlen verbietet, so genannte messbare Kardinal-
erweitern. zahlen. Wenn man also wie Woodin an große Kardinalzah-
Große Kardinalzahlen tauchen dagegen in der len glaubt, dann muss V = L falsch sein.
gewöhnlichen Mengenlehre nicht auf, das heißt, Um einen Weg aus dieser verzwickten Lage zu finden,
die ZFC-Axiome genügen nicht, um ihre Existenz schraubten Logiker an der Definition von L. Ähnlich wie
zu beweisen. Deshalb fügt man sie künstlich Gödel definierten sie Mengen Lα + 1, die sich aus den vorher-
durch zusätzliche Axiome zur Theorie hinzu. gehenden Lα ergeben, versuchten dabei jedoch L weniger
Für Hugh Woodin sind diese Zahlen ebenso einzuschränken. Dadurch sollte das Mengenuniversum
natürlich wie ganze Zahlen. Er ist davon über- größer ausfallen als das von Gödel betrachtete.
zeugt, dass sie niemals zu Widersprüchen führen Und tatsächlich fand der US-amerikanische Logiker Ro-
werden. Weil große Kardinalzahlen konkrete bert Solovay 1976 ein passendes L, das messbare Kardinal-
Aussagen über natürliche Zahlen treffen, haben zahlen zulässt. Aber leider widerspricht seine erarbeitete
die Axiome handfeste Konsequenzen. Version anderen großen Kardinalzahlen, die in der Hierar-
chie weiter oben stehen als die messbaren. In den folgen-
den Jahren versuchten Forscher daher L weiter zu vergrö-

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 23


Mächtiges Forcing
Paul Cohen entwickelte die Metho- Das Forcing lässt sich darüber nicht mehr nachweisen kann, dass
de des »Forcing«, um zu zeigen, hinaus auf andere wichtige mathe- sowohl KH (oder eines der ande-
dass Nicht-KH (die Negation der matische Aussagen anwenden, ren genannten Probleme) als auch
Kontinuumshypothese) mit der etwa die so genannte Whitehead- seine Negation mit ZFC+X kompa­
gewöhnlichen Mengenlehre kom- Vermutung aus der Gruppentheo- tibel ist. Man braucht also ein X,
patibel ist. Beim Forcing erweitert rie, die Kaplansky-Vermutung aus das entscheidet, ob KH (oder eines
man das mengentheoretische der Analysis, die Suslin-Hypothese der anderen Probleme) wahr ist.
Universum zu einem noch größeren aus der Kombinatorik oder die Hugh Woodin fand heraus, dass
und beweist, dass darin eine Aus- Borel-Vermutung aus der Maßtheo- V = ultimatives L mit den Axiomen
sage erfüllt oder widerlegt ist. rie. Dabei stellt sich heraus, dass der großen Kardinalzahlen kompa­
Die Technik erweist sich als diese Probleme in der gewöhnli- tibel ist, während es gleichzeitig
extrem mächtig: Sie beweist darü- chen Mengenlehre ebenfalls unent- das Forcing unwirksam macht. In
ber hinaus ebenfalls, dass KH mit scheidbar sind. einer solchen neuen Mengenlehre
der gewöhnlichen Mengenlehre zu Deshalb möchten Forscher das wäre die Kontinuumshypothese
keinerlei Widersprüchen führt. Aus ZFC-System um weitere Axiome wahr. Deshalb suchen Mathema­
dem Forcing folgt also, dass die ergänzen, die das Forcing außer tiker nun ein »ultimatives L« und
Kontinuumshypothese mit den Kraft setzen. Ein Axiom X macht machten dabei in den letzten Jah-
ZFC-Axiomen unentscheidbar ist. das Forcing unwirksam, wenn man ren viel versprechende Fortschritte.

ßern, allerdings ohne Erfolg. Es war stets mit bestimmten Momentan loten sie dazu mehrere viel versprechende
großen Kardinalzahlen unvereinbar. Die Situation schien Ansätze aus.
festgefahren. Es ist bemerkenswert, was Logiker im letzten Jahrzehnt
Das änderte sich im Jahr 2010, als Woodin ein spektaku- erreicht haben. Ihre Ergebnisse verdeutlichen, dass Un­
lärer Durchbruch gelang: Er bewies, dass Varianten von endlichkeiten selbst nach mehr als 100 Jahren noch nicht
V = L, die superkompakte Kardinalzahlen zulassen, zwangs- verstanden sind – und man noch immer einiges von ihnen
läufig mit allen anderen großen Kardinalzahlen kompatibel lernen kann. Mathematik besteht eben nicht nur darin,
sind. Nun suchen Mathematiker nach einem solchen »ulti- Beweise aus den bisher akzeptierten Axiomen herzuleiten
mativen L«. Damit ließe sich zudem beweisen, dass die oder zu erweitern. Stattdessen kann man das gesamte
Kontinuumshypothese wahr ist. In den letzten Jahren ent- Fundament auf die Probe stellen, indem man zum Beispiel
wickelten sie viel versprechende Ansätze, die zu diesem L die bisherige Vorstellung von Unendlichkeit hinterfragt.
führen könnten. Woodin und einige Kollegen betonen immer wieder, der
Das Axiom V = ultimatives L hätte zudem einen weiteren abstrakte Forschungsbereich bringe auch »spürbare«
Vorteil. Wie Woodin 2015 zeigte, würde es das so genannte Konsequenzen mit sich – selbst wenn es auf den ersten
Forcing unwirksam machen (siehe »Mächtiges Forcing«). Blick nicht immer so wirkt. Aussagen über große Kardinal-
Dank dieser Methode konnte Cohen in den 1960er Jahren zahlen lassen sich beispielsweise durch eine Folge von
eine Struktur ableiten, die mit Nicht-KH und den ZFC-Axio- Symbolen ausdrücken, die sich in eine Äußerung über
men kompatibel ist. Außerdem lässt sich durch das Forcing natürliche Zahlen übersetzen lässt. Je mehr Unendlichkei-
eine weitere Struktur bilden, die ZFC + KH erfüllt. Das For- ten es gibt, desto mehr erfährt man daher über das uns
cing allein kann also beweisen, dass die Kontinuumshypo- vertraute Endliche. 
these in der gewöhnlichen Mengenlehre unentscheidbar ist.
Doch es hat auch über die Mengenlehre hinaus weit QUELLEN
reichende Auswirkungen. Zum Beispiel bedingt das
Cavitt, J.: Set-theoretic geology, the ultimate inner model, and
Forcing, dass etliche Aussagen anderer Gebiete, von der new axioms. Harvard University, 2017
Algebra bis hin zur Analysis, unentscheidbar sind.
Heller, M., Woodin, H.: Infinity: New research frontiers. Cam-
Solche Unentscheidbarkeiten sind Woodin ein Dorn im bridge University Press, 2011
Auge. Wie kann es sein, dass eine exakte Wissenschaft
Rittberg, C.: How Woodin changed his mind: New thoughts on
wie die Mathematik für so viele Aussagen nicht beurteilen the Continuum Hypothesis. Archive for History of Exact Scien-
kann, ob sie wahr oder falsch sind? Daher ist ein Axiom ces 69, 2015
besonders willkommen, wenn es das Forcing unwirksam Woodin, H.: In search of ultimate-L. Bulletin of Symbolic Logic
macht. V = ultimatives L besäße genau diese Eigenschaft. 23, 2017
Es würde somit eine ganze Reihe unentscheidbarer Woodin, H.: Strong axioms of infinity and the search for V.
Fragen in der ZFC-Theorie beantworten. Das motivierte Proceedings of the International Congress of Mathematicians
Mathema­tiker umso mehr, ein ultimatives L zu suchen. 2010, World Scientific, 2011

24 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


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VERGLEICHBARKEIT
ORDNUNG IN DEN
UNENDLICHKEITEN
Dass unendlich manchmal nicht gleich unendlich ist, sondern
sogar noch viel mehr, wissen Forscher schon lange. Seit Jahr-
zehnten rätselten sie aber über die Größe von bestimmten
uendlichen Mengen. Wie sie nun herausgefunden haben, un-
terscheiden sie sich alle – und man kann sie ordnen.

Martin Goldstern (links) und


ANDRES VILLAVECES

Jakob Kellner sind Mathe-


matiker an der Technischen
Universität Wien.

 spektrum.de/artikel/1823150

UNVORSTELLBARE
GRÖSSEN Es gibt ver­
(WWW.SGEIER.NET/FRACTALS/INDEX07.PHP)

schiedene Möglichkeiten,
MIT FRDL. GEN. VON SVEN GEIER

Mengen zu vermessen.
Einige führen zu unerwar­
teten Ergebnissen.

26 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik 


Physik Mathematik Technik 3.22
3.22
AUF EINEN BLICK
DAS UNVORSTELLBARE VERMESSEN

1 Selbst wenn Mengen unendlich viele Elemente ent-


halten, können sich ihre Größen unterscheiden.

2 Mathematiker haben zehn unendliche Mengen defi-


niert, die spannende Eigenschaften von reellen Zahlen
charakterisieren, konnten sie bislang aber nicht genau
vermessen.

3
(WWW.SGEIER.NET/FRACTALS/INDEX07.PHP)

Wie sich herausstellt, sind die zehn Mengen in be-


stimmten Fällen alle verschieden und lassen sich der
MIT FRDL. GEN. VON SVEN GEIER

Größe nach ordnen.

Spektrum
SpektrumSPEZIAL 
SPEZIAL Physik Mathematik Technik 
Physik Mathematik Technik  3.22 27

Einfache mathematische Konzepte wie das Zählen oder die Anzahl der Elementarteilchen im Universum be-
scheinen in der natürlichen Denkstruktur fest veran- schreiben kann, als auch die kaum fassbaren Distanzen im
kert. Wie Studien belegen, verfügen offenbar selbst Mikrokosmos, von Atomen bis hin zu Quarks.
sehr junge Kinder und Tiere in beschränktem Maß über Wir können sogar mit Zahlen hantieren, die alles über-
solche Fähigkeiten. Das ist nicht überraschend, denn das steigen, was nach heutigem Wissen für die Beschreibung
100
Zählen ist evolutionär gesehen äußerst nützlich – zum des Universums relevant ist: So lässt sich problemlos 1010
100 100
Beispiel hilft es abzuschätzen, ob eine verfeindete Gruppe (eine Eins gefolgt von 10 Nullen, wobei 10 100 Nullen
größer als die eigene ist und ob sich ein Angriff oder eher hat) niederschreiben und allerlei Rechnungen damit durch-
ein Rückzug lohnt. führen. Würde man sie allerdings in der üblichen Dezimal­
In den letzten Jahrtausenden hat die Menschheit diese schreibweise darstellen, bräuchte man dafür mehr Ele­
Konzepte auf bemerkenswerte Weise weiterentwickelt: mentarteilchen, als vermutlich im Universum existieren,
Beginnend mit dem Umgang mit einer Hand voll Objekten selbst wenn man pro Ziffer nur ein Partikel verwendet.
stellte man fest, dass sich die Methodik problemlos auf Denn Physiker schätzen, dass unser Kosmos weniger als
völlig andere Größenordnungen anwenden lässt. Schon 10100 Teilchen enthält.
bald entstand ein mathematisches Gerüst, mit dem man Aber selbst solche unvorstellbar großen Zahlen sind ver-
sowohl riesige Größen wie die Entfernung von Galaxien schwindend gering verglichen mit unendlichen Mengen,

Äpfel und Birnen


Um herauszufinden, ob ein Sack mit nicht mehr gültig. Doch einige Ist es denn immer möglich, zwei
Äpfeln genauso viel Obst enthält Sätze lassen sich glücklicherweise Mengen A und B miteinander zu
wie einer mit Birnen, kann man die ins Unendliche übertragen: Sind A vergleichen? Anders gefragt: Gilt
einzelnen Früchte zählen. Es gibt und B gleich groß und B und C stets entweder |A| ≤ |B| oder
aber auch eine andere Methode, um ebenso, dann auch A und C. Ist A |B| ≤ |A|? Um zu beweisen, dass das
zu das zu prüfen: Man ordnet jedem kleiner/gleich B und B kleiner/ tatsächlich der Fall ist, kann man
Apfel eine Birne zu. Wenn es am gleich C, dann ist A kleiner/gleich C. wie folgt vorgehen. Man nimmt aus
Ende genau aufgeht und kein Obst Zudem sind A und B gleich groß, beiden Mengen je ein erstes Ele-
mehr übrig ist, dann gibt es in wenn A kleiner/gleich B und B ment heraus. Anschließend entfernt
MARTIN GOLDSTERN UND JAKOB KELLNER; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

jedem Sack gleich viele Früchte. kleiner/gleich A. man je ein weiteres. Das wiederholt
Würde man einen Apfel aufes- man immer weiter, bis einer der
sen, dann gäbe es weniger Äpfel als folgenden Fälle eintritt: Beide
Birnen, die zuvor geschilderte Restmengen sind leer, dann liefert
Zuordnung würde nicht mehr der beschriebene Prozess eine
funktionieren. Das ist allerdings nur Zuordnung. Dem ersten entfernten
im Endlichen der Fall. Hat man Element von A weist man das erste
einen Sack mit unendlich vielen von B zu und so weiter.
Äpfeln, enthält er, nachdem man Andererseits könnte bloß eine
eine Frucht verspeist hat, immer 0 viele Birnen 0 viele Äpfel der beiden Mengen (etwa die aus A
0 viele Birnen 0 viele Äpfel
noch genauso viel Obst. Die ur- entstandene) leer sein, die andere
sprüngliche Bijektion funktioniert Die ersten beiden Punkte lassen aber nicht. Dann gibt es eine Zuord-
zwar nicht mehr, aber es gibt eine sich recht einfach beweisen, aber nung von A zu einer Teilmenge von
neue Abbildung. die dritte Eigenschaft, die auf den B, somit ist A ≤ B. Daher sind zwei
Erstaunlicherweise fallen einige ersten Blick offensichtlich er- Mengen immer vergleichbar.
Berechnungen im Unendlichen scheint, gestaltet sich etwas Auch wenn die Idee recht simpel
einfacher aus als im vertrauten schwieriger. Denn kleiner/gleich klingt, ist es etwas schwieriger, den
Endlichen. Zum Beispiel ist die beschreibt in der Mengenlehre eine Beweis formal zu führen, wie es
Vereinigung zweier unendlicher Abkürzung für einen komplizierten erst Ernst Zermelo 1904 gelang.
Mengen X und Y genauso groß wie Sachverhalt, der sich nicht bloß als Man braucht dabei unter anderem
die größere der beiden. Für endli- kleiner oder gleich definieren lässt. den Begriff der Wohlordnung, der
che Mengen gilt das dagegen nicht: Deshalb fällt der Beweis deutlich regelt, welches Element der be-
Vereinigt man etwa {1, 2} mit {5, 6} komplexer aus, wie man an den trachteten Mengen als Nächstes
erhält man eine Menge mit vier Arbeiten der deutschen Mathema­ entfernt wird, sowie das so genann-
Elementen. Viele Eigenschaften und tiker Ernst Schröder und Felix te Auswahlaxiom, um zu beweisen,
Konzepte, die man aus dem Endli- Bernstein aus den 1890er Jahren dass es die gewünschte Wohlord-
chen kennt, sind im Unendlichen sehen kann. nung gibt.

28 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


die seit mehr als 100 Jahren einen wesentlichen Teil der Ma-
thematik ausmachen. Mit dem einfachen Zählen von Ob­
jekten entsteht die Menge der natürlichen Zahlen, = {0, 1, Glossar
2, 3, ...}, die vielen in der Schule begegnet. Doch bereits
dieses vermeintlich simple Konzept scheint problematisch: Teilmenge: Eine Menge A heißt Teilmenge von
Es gibt keine größte natürliche Zahl, man kann stets weiter- B, wenn jedes Element von A auch in B liegt.
zählen und ein größeres Element finden.
Können unendliche Mengen überhaupt existieren? Im Nullmenge: eine Menge mit Maß (zum Beispiel
19. Jahrhundert führte die Frage zu vielen Streitigkeiten. Flächeninhalt oder Volumen) null
Aus philosophischer Sicht lässt sich darüber immer noch
Magere Menge: abzählbare Vereinigung von
diskutieren, in der Mathematik hat es sich dagegen durch-
Rändern
gesetzt, die Existenz unendlicher Mengen zu postulieren,
das heißt als Grundaussage, die keines Beweises bedarf,
0: Größe der natürlichen Zahlen; abzählbar
anzunehmen (ein so genanntes Axiom). unendlich. Die nächstgrößere Unendlichkeit ist
In der Mengenlehre begnügt man sich nicht, Mengen
1, danach kommt 2 und so weiter.
zu beschreiben. So wie man in der Arithmetik lernt,
Zahlen miteinander zu verknüpfen, etwa über Addition 2 0: Kontinuum, Größe der reellen Zahlen
oder Multiplikation, lassen sich auch Rechenoperationen
für Mengen definieren. Zum Beispiel kann man sie vereini- : die Familie der Nullmengen
gen (aus {1, 2} und {2, 3, 4} wird {1, 2, 3, 4}) oder schnei-
: die Familie der mageren Mengen
den (aus {1, 2} und {2, 3, 4} wird {2}) oder etwas auf­
regender die Potenzmenge bilden: die Familie aller Teil- non( ): die kleinste Kardinalzahl einer Nichtnull-
mengen einer Menge. menge

Größenvergleiche von Mengen non( ): die kleinste Kardinalzahl einer nicht


Die Potenzmenge P(X) einer kleinen endlichen Menge X mageren Menge
lässt sich einfach berechnen. Für {1, 2} erhält man etwa:
P({1, 2}) = {{}, {1, 2}, {1}, {2}}. Doch P(X) wächst für größe- add( ): die kleinste Anzahl von Nullmengen,
re X rapide an; so haben zehnelementige Familien 210= deren Vereinigung eine Nichtnullmenge ist
1024 Teilmengen. Wenn man die Potenzmenge einer un-
add( ): die kleinste Anzahl von mageren Men-
endlichen Menge bilden möchte, fordert das unsere Vor-
gen, deren Vereinigung eine nicht magere Men-
stellungskraft stark heraus. Zum Beispiel enthält die Potenz-
ge ist
menge der natürlichen Zahlen die leere Menge, selbst,
die Menge aller geraden Zahlen sowie der Primzahlen, die cov( ): die kleinste Anzahl von Nullmengen, die
Menge aller Zahlen mit Ziffernsumme 2021, {12, 17} und vereinigt die ganze Ebene ergeben
noch ungeheuer viele andere. Wie sich herausstellt, über-
steigt die Anzahl ihrer Elemente den Umfang der natürli- cov( ): die kleinste Anzahl von mageren Men-
chen Zahlen. gen, die vereinigt die ganze Ebene ergeben
Um zu verstehen, was das bedeutet, muss man erst
einmal klären, wie die Größe von Mengen definiert ist. Für cof( ): die kleinstmögliche Größe einer Basis
den endlichen Fall kann man die jeweiligen Elemente der Familie der Nullmengen
zählen, so sind etwa {1, 2, 3} und {Cantor, Gödel, Cohen}
gleich groß. Möchte man Mengen mit zahlreichen – aber cof( ): die kleinstmögliche Größe einer Basis
endlich vielen – Elementen vergleichen, gibt es zwei der Familie der mageren Mengen
bewährte Möglichkeiten. Man kann zum einen alle darin
Basis X von bzw. : eine Menge X von
enthaltenen Objekte zählen. Manchmal ist es allerdings
Null- beziehungsweise mageren Mengen, so
einfacher, eine Zuordnung zwischen den Mengen zu
dass es für jede Null- beziehungsweise magere
finden: Lässt sich beispielsweise jedes Element der einen
Menge A eine Menge B in X gibt mit A B
eindeutig einem Element der anderen zuweisen (etwa
1   Cantor, 2 Gödel, 3 Cohen), dann sind die zwei : die kleinste Größe einer Menge D von stetigen
Mengen gleich groß. Funktionen, so dass jede stetige Funktion von
Letztere Methode ist bei unendlichen Mengen nützlich. einer Funktion aus D dominiert wird
Um diese Objekte zu vermessen, schlägt man einen ande-
ren Weg ein als im Endlichen. Anstatt den Begriff der : die kleinste Größe einer Familie B von stetigen
Anzahl als grundlegend anzusehen und daraus Konzepte Funktionen mit der Eigenschaft, dass es keine
wie »ist größer«, »ist gleich groß« oder »ist größer oder stetige Funktion gibt, die alle Funktionen aus B
gleich« abzuleiten, verfolgt man eine umgekehrte Strategie: dominiert
Man definiert zuerst, wann zwei Mengen A und B gleich
groß sind, nämlich genau dann, wenn man jedem Element

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 29


SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: HITE (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/
WIKI/FILE:APLICACIÓN_2_INYECTIVA_SOBREYECTIVA02.SVG)

X Y BIJEKTION: Um die Größen Zum Beispiel sind die geraden Zahlen G = {0, 2, 4, 6, ...}
1 2 zweier Mengen miteinander eine echte Teilmenge der natürlichen Zahlen = {0, 1, 2, ...}.
2 4 zu vergleichen, kann man Rein intuitiv würde man wohl sagen, die Menge G sei halb
3 6 eine Abbildung, eine so ge- so groß wie . Dennoch sind ihre Kardinalzahlen nach der
· · nannte Bijektion suchen, die zuvor angegebenen Definition gleich groß: Denn man kann
x 2x jedem Element der einen jeder Zahl g in G genau eine in zuordnen (0 0, 2 1,
· · Menge eines aus der anderen 4 2, …, g g/2, … ).
zuordnet. Als Konsequenz könnte man entweder den Begriff der
Größe für Mengen als unsinnig verwerfen – oder man gibt
ihm einen anderen Namen, etwa Mächtigkeit. Der Einfach-
aus A genau eines aus B zuordnen kann. Eine solche Abbil- heit halber behalten wir die Wortwahl bei, auch wenn sie
dung bezeichnet man als Bijektion. im Unendlichen unerwartete Folgen hat.
Zudem ist A kleiner/gleich B, falls die Zuordnung alle Der deutsche Logiker und Begründer der modernen
Elemente von B höchstens einmal verwendet. Damit kann Mengenlehre Georg Cantor fand im 19. Jahrhundert heraus,
man die Größe von Mengen durch so genannte Kardinal- dass nicht alle unendlichen Mengen gleich groß sind. Wie
zahlen beschreiben. Im Endlichen sind das wie gewohnt die er bewies, ist die Potenzmenge P(X) einer – endlichen oder
natürlichen Zahlen. Für unendliche Mengen sind sie hinge- unendlichen – Menge X stets größer als X selbst. Daraus
gen abstrakte Größen, die sich durchaus voneinander folgt unter anderem, dass keine größte Unendlichkeit
unterscheiden können: Denn nicht immer existiert eine existiert und damit auch keine »Allmenge«, die alle Mengen
Bijektion zwischen unendlichen Mengen. enthält.
Eine solche Definition von Größe führt zu scheinbaren
Widersprüchen, die Bernard Bolzano in seinen 1851 post- Eine ungelöste Vermutung
hum erschienenen »Paradoxien des Unendlichen« aufführ- Dafür gibt es so etwas wie eine kleinste Unendlichkeit: Alle
te. Zum Beispiel wirkt die Aussage »der Teil ist stets kleiner unendlichen Mengen sind größer oder gleich den natürli-
als das Ganze« auf den ersten Blick selbstverständlich. Das chen Zahlen. Man nennt Mengen X, die so groß sind wie
heißt, wenn eine Menge A eine echte Teilmenge von B ist (mit einer Bijektion zwischen und X) abzählbar, ihre
(also jedes Element von A in B ist, B aber weitere Elemente Kardinalzahl heißt 0. Zu jeder unendlichen Kardinalzahl a
enthält), dann muss A kleiner als B sein. Das gilt jedoch gibt es eine nächstgrößere, a+1. Nach der kleinsten unendli-
nicht für unendliche Mengen! Diese seltsame Eigenschaft chen Kardinalzahl 0 kommt also 1, gefolgt von 2 und so
war einer der Gründe dafür, dass das Konzept von Unend- weiter. Die reellen Zahlen sind genauso groß wie die Po-
lichkeiten bei einigen Gelehrten vor mehr als 100 Jahren auf tenzmenge von ; ihre Kardinalzahl bezeichnet man mit 2 0
Ablehnung stieß. oder Kontinuum.
In den 1870er Jahren fragte sich Cantor, ob die Menge
der reellen Zahlen die nächstgrößere nach den natürli-
chen Zahlen ist – anders ausgedrückt, ob 1 = 2 0. Bis dahin
Maße stellte sich jede unendliche Teilmenge von entweder als
genauso groß wie oder selbst heraus. Das veranlasste
Das Konzept des Maßes lässt sich gut anhand des Cantor zur so genannten Kontinuumshypothese: Er vermu-
Quadrats mit Seitenlänge eins veranschaulichen. tete, die Größe von sei die kleinstmögliche überabzählba-
Wenn eine Teilmenge B des Quadrats das Maß re Kardinalzahl. Jahrzehntelang beschäftigte die Vermutung
0,13 hat und man zufällig einen Dartpfeil auf die zahlreiche Mathematiker, doch ein Beweis entzog sich
gesamte Fläche wirft, dann trifft man B mit einer ihnen. Wie sich später herausstellte, waren ihre Versuche
Wahrscheinlichkeit von 13 Prozent. Die Menge der zwangsläufig zum Scheitern verurteilt.
Punkte unterhalb der Diagonale hat die Fläche ein Die Mengenlehre ist zwar extrem mächtig, fast alle
halb, und wird daher mit 50-prozentiger Wahr- mathematischen Konzepte und Probleme lassen sich durch
scheinlichkeit getroffen. sie formalisieren, aber sie hat auch Schwachstellen. Das
Eine Nullmenge (wie die unendlich dünne Fundament dieser Disziplin bildet das vor über 100 Jahren
Diagonale oder ein einziger Punkt) erreicht man vom deutschen Logiker Ernst Zermelo formulierte und von
dagegen mit einer Wahrscheinlichkeit von null. seinem deutsch-israelischen Kollegen Abraham Fraenkel
Natürlich landet ein Dartpfeil aber stets irgendwo ergänzte Axiomensystem, ZFC genannt (C steht dabei für
in dem Quadrat, das überabzählbar viele Punkte das Auswahlaxiom, englisch: axiom of choice). Es handelt
umfasst. Daraus kann man sehen, dass die sich um eine Sammlung von Grundannahmen, mit der sich
Vereinigung von überabzählbar vielen Nullmengen fast die gesamte Mathematik betreiben lässt – nur ein
im Allgemeinen keine Nullmenge mehr ist – verschwindend geringer Anteil benötigt zusätzliche Annah-
man trifft ja das Quadrat (die Vereinigung der men. Doch der österreichische Mathematiker Kurt Gödel
einzelnen Punkte) mit einer Wahrscheinlichkeit erkannte 1931 einen grundlegenden Makel des Systems:
von eins. Die Theorie ist unvollständig. Das heißt, man kann Aussa-
gen formulieren, die sich mit den Mitteln von ZFC weder
widerlegen noch beweisen lassen. Unter anderem ist es

30 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


Axiomatisierung der Mengenlehre
Der mengentheoretischen Intuition Existenz einer solchen Menge rie (deren Axiome zweifelsfrei
nach sollte man beliebige mathe- fordern. Ein Beispiel ist das Paar- gelten) beweisen, dass das stärkere
matische Objekte zu einer Menge mengenaxiom: Für alle Objekte x, y ZFC-System konsistent ist. Leider
zusammenfassen können. Das führt gibt es eine Menge, die sowohl x scheitert der Versuch an Gödels Un-
aber rasch auf einen Widerspruch, als auch y enthält, und sonst vollständigkeitssatz (1931): Man
das so genannte Russell-Parado- nichts. Oder das Potenzmengen­ kann nicht einmal mit den Mitteln
xon. Ein Beispiel dafür ist ein Bar- axiom: Für jede Menge X gibt es von ZFC beweisen, dass ZFC zu
bier, der alle Dorfbewohner rasiert, eine Menge Y, so dass alle Teil- keinen Widersprüchen führt – ge-
die sich nicht selbst rasieren. Soll er mengen von X Elemente von Y schweige denn in schwächeren
sich nun selbst rasieren oder nicht? sind – und sonst nichts. Eine Systemen.
Was immer er tut, er widerspricht andere wichtige Grundannahme ist Man kann sich also nicht sicher
der Anforderung. So einen Barbier das Unendlichkeitsaxiom, das die sein, ob das Fundament der Mathe-
kann es also nicht geben. Ebenso Existenz unendlicher Mengen matik konsistent ist. Zwar erschei-
existiert keine Menge, die alle garantiert. Diese und weitere nen die Axiome den meisten Men-
Mengen umfasst, die sich nicht Axiome bilden das Fundament der gentheoretikern als richtig, aber das
selbst enthalten. Mengenlehre, ZFC, benannt nach schützt nicht vor Irrtum. Vermutlich
Das Axiom »Jede mathemati- Ernst Zermelo und Abraham Fraen- würde auch der Satz »Zu jeder
sche Eigenschaft definiert eine kel, wobei C für das Auswahlaxiom Eigenschaft gibt es die Menge aller
Menge jener Elemente, welche die (englisch: axiom of choice) steht. Objekte, welche die Eigenschaft
Eigenschaft erfüllen« ist daher ZFC bietet also eine formale erfüllen« den meisten Mathemati-
widersprüchlich. Bei der Formulie- Grundlage für die gesamte Mathe- kern als wahr erscheinen, wenn
rung der Axiome, aus denen man matik. Aber woher weiß man, ob ihnen das Russell-Paradoxon nicht
dann weitere Eigenschaften herlei- die damit abgeleiteten Sätze wirk- bekannt wäre.
ten kann, muss man vorsichtig lich wahr sind? Oder könnte man Was würde passieren, falls sich
vorgehen — man kann nicht alles sogar irgendwann auf einen Wider- ZFC als inkonsistent herausstellt?
zulassen. spruch wie 0 ≠ 0 stoßen? Zunächst wahrscheinlich nicht allzu
Die Mengenlehre baut deshalb Der bedeutende Mathematiker viel: Der überwiegende Teil der
auf Grundannahmen auf, die nur David Hilbert wollte um 1900 mit Mathematik benötigt nur sehr
für gewisse Eigenschaften E die Hilfe einer »unverdächtigen« Theo- schwache Fragmente der Theorie.

unmöglich, innerhalb eines Systems zu zeigen, dass dieses gen beispielsweise geometrisch vorstellt, kann man ihnen
zu keinerlei Widersprüchen führt (siehe »Axiomatisierung eine Länge, einen Flächeninhalt oder ein Volumen zuord-
der Mengenlehre«). nen. Eine Menge von Punkten, die ein Rechteck mit den
Das berühmteste Beispiel für einen unentscheidbaren Seitenlängen a und b bilden, hat beispielsweise eine Fläche
Satz in der Mengenlehre ist die Kontinuumshypothese. In von a ∙ b. Für kompliziertere Teilmengen der Ebene braucht
einer 1938 erschienenen Arbeit bewies Gödel, dass man man manchmal andere Hilfsmittel, um deren Flächeninhalt
Cantors Vermutung innerhalb von ZFC nicht widerlegen zu berechnen, etwa die aus der Schule bekannte Integral-
kann. Wie der US-amerikanische Mathematiker Paul Cohen rechnung. Die Methode reicht aber für bestimmte komplexe
25 Jahre später zeigte, lässt sie sich mit den Mitteln von Mengen nicht aus. Um diese trotzdem zu vermessen, nutzt
ZFC ebenso wenig beweisen. Daher wird man mit den man das so genannte Lebesguemaß, eine Funktion, die
üblichen Axiomen der Mengenlehre niemals eine Ant- auch kompliziertesten Objekten eine Länge, Fläche oder ein
wort auf die Kontinuumshypothese finden. Es bleibt also Volumen zuordnet. Dennoch ist es möglich, Teilmengen der
offen, ob Mengen existieren, die größer als die natürlichen Ebene zu definieren, die überhaupt nicht messbar sind: Sie
und gleichzeitig kleiner als die reellen Zahlen sind (siehe sind derart ausgefranst, dass eine Vermessung gänzlich
Artikel ab S. 16). scheitert.
Neben der Kardinalität gibt es andere Methoden, um die Im zweidimensionalen Raum ist eine Linie (etwa ein
Größe einer Menge zu beschreiben. Wenn man sich Men- Kreis, eine endliche Strecke oder eine Gerade) stets mess-

DAS KONTINUUM: Die reellen Zahlen sind alle


–3 –2 –1 0 1 2 3
Zahlen, die man auf einem Zahlenstrahl findet.
Prominente Vertreter sind die Eulersche Zahl e
2 e π und die Kreiszahl π.
PHROOD � COMMONSWIKI (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:REAL_NUMBER_LINE.SVG) / PUBLIC DOMAIN

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 31


bar, und ihr Flächeninhalt ist null. Man nennt sie daher Kardinalzahlen, die lange Zeit unbeantwortet blieben. Zum
Nullmenge. Auch im Eindimensionalen lassen sich Null- Beispiel wollten Mathematiker herausfinden, wie groß eine
mengen definieren: Auf dem Zahlenstrahl hat die Menge Menge mindestens sein muss, damit sie keine Nullmenge
zweier Zahlen, etwa {3, 5} das Maß null, während ein ist. Man bezeichnet die Familie aller Nullmengen mit und
Intervall wie [3, 5], also die Strecke von 3 nach 5, das Maß die kleinste Kardinalzahl einer Nichtnullmenge mit non( ).
zwei hat. Für diese Zahl gilt: 0 < non( ) ≤ 2 0, denn jede Menge der
Größe 0 ist eine Nullmenge, aber die reellen Zahlen (mit
Vernachlässigbare Mengen Größe 2 0) ist keine Nullmenge im eindimensionalen Maß.
Das Konzept der Nullmenge ist in der Mathematik äußerst Damit ergibt sich 1 ≤ non( ) ≤ 2 0, weil 1 die erste über-
nützlich: Oft kann man Theoreme nicht allgemein für reelle abzählbare Kardinalzahl ist. Wenn man von der Kontinu-
Zahlen beweisen, aber für alle bis auf eine Nullmenge. Für umshypothese ausgeht, ist non( ) = 2 0, da es in dem Fall
die meisten Anwendungen genügt das. Dabei können keine Kardinalzahl gibt, die zwischen der Größe der natürli-
Nullmengen sehr groß erscheinen: Zum Beispiel sind die chen und der reellen Zahlen liegt.
rationalen Zahlen innerhalb der reellen (also auf dem Zah- Ähnlich lässt sich eine weitere Kardinalzahl add( ) defi-
lenstrahl) eine Nullmenge, selbst wenn es unendlich viele nieren, als Antwort auf die Frage: Wie viele Nullmengen
davon gibt. Das liegt daran, dass in diesem Zusammenhang muss man mindestens vereinigen, um eine Nichtnullmenge
jede abzählbare – oder endliche – Menge eine Nullmenge zu erhalten? Diese Zahl ist kleiner oder gleich non( ).
ist. Umgekehrt muss aber eine Teilmenge der x-y-Ebene mit Wenn A eine Nichtnullmenge ist, die non( ) viele Elemente
großer Kardinalität weder messbar sein noch großes Maß enthält, ergibt die Vereinigung über alle non( ) einelemen-
haben. Zum Beispiel hat die gesamte Ebene mit ihren 2 0 tigen Teilmengen von A eben die Nichtnullmenge A. Aller-
Elementen das Maß unendlich. Aber die x-Achse mit glei- dings könnte eine kleinere Anzahl von Nullmengen genügen
cher Kardinalität hat ein zweidimensionales Maß von null (die wären dann nicht einelementig), die vereinigt eine
und ist daher eine Nullmenge der Ebene. Nichtnullmenge ergeben, deshalb gilt add( ) ≤ non( ).
Solche vernachlässigbaren Mengen führten zu grundle- Die Kardinalzahl cov( ) ist die kleinste Anzahl von
genden Fragen über die Größe von zehn unendlichen Nullmengen, die vereinigt die x-y-Ebene ergeben. cov( ) ist

Auswahlaxiom und Banach-Tarski-Paradoxon


Das Auswahlaxiom kann zu extrem

BENJAMIN D. ESHAM (BDESHAM) (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/


FILE:BANACH-TARSKI_PARADOX.SVG) / PUBLIC DOMAIN; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
seltsamen Ergebnissen führen.
Es besagt, dass es zu jeder Familie
von nicht leeren Mengen eine
Funktion gibt, die in jeder dieser
Mengen ein Element auswählt. Für
endliche Familien ist das Axiom
offensichtlich wahr, doch im Un- Eine ähnliche Eigenschaft wie ebenfalls mit Radius eins – kon­
endlichen hat es unerwartete Fol- Kongruenz beschreibt die Zerle- struieren (siehe Bild)! Das ist auf
gen. Eine davon ist das Banach- gungsäquivalenz, wenn man zwei den ersten Blick widersprüchlich,
Tarski-Paradoxon, das mit geome­ Objekte in endlich viele Teile zer­ denn bei einer Zerlegung in endlich
trischen Figuren zusammenhängt. legen kann, die paarweise kongru- viele Bruchstücke kann man kein
Zwei ebene Objekte, etwa Drei- ent sind. Zum Beispiel lässt sich Volumen gewinnen oder verlieren –
ecke, sind kongruent, wenn man ein gleichschenkliges Dreieck, mit ebenso wenig wie beim Verschie-
das eine durch Drehungen, Ver- einer Grundseite von 2a und einer ben, Drehen oder Spiegeln einzel-
schiebungen und Spiegelungen in Höhe von b, in zwei rechtwinklige ner Teile.
das andere verwandeln kann. Zum Dreiecke mit Katheten a und b Tatsächlich sind die Objekte, in
Beispiel sind zwei Halbkreise kon- teilen. die man die Kugeln zerteilen muss,
gruent, falls sie den gleichen Radius Mit Hilfe des Auswahlaxioms aber so kompliziert und ausge-
haben. Genauso lässt sich Kongru- kann man damit das Banach-Tarski- franst, dass man ihnen kein Maß (in
enz im dreidimensionalen Raum Paradoxon herleiten: Wenn Figur A diesem Fall: kein Volumen) zuord-
definieren. Das Lebesguemaß (der aus zwei Kugeln mit Radius eins nen kann, sie sind nicht messbar.
Flächeninhalt oder das Volumen) besteht, die Figur B eine einzige Physikalisch hat das Paradoxon
ändert sich bei Drehungen, Ver- Kugel mit Radius eins ist, dann sind keine Relevanz, denn nichtmess­
schiebungen und Spiegelungen A und B zerlegungsäquivalent. Das bare Größen spielen in der mathe-
nicht, weshalb kongruente Figuren heißt, man kann aus einer Kugel mit matischen Beschreibung der Natur
das gleiche Maß haben. Radius eins zwei gleich große – keine Rolle.

32 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


heißt, die Anzahl der Null- und mageren Mengen, die man
vereinigen muss, um eine nicht vernachlässigbare Menge
Normale Zahlen zu erzeugen, ist nicht beweisbar gleich.
Forcing ist eine Methode, um mathematische Universen
Viele mathematische Sätze gelten für fast alle zu konstruieren. Damit meint man ein Modell, das alle
Zahlen – bis auf eine Nullmenge. Zum Beispiel ZFC-Axiome erfüllt. Um zu zeigen, dass eine Aussage X
sind »fast alle« reellen Zahlen x normal, das heißt nicht widerlegbar ist, verwendet man die folgende Tatsa-
jeder mögliche endliche Zahlenblock taucht in che: Wenn es ein Universum gibt, in dem neben ZFC auch
den Nachkommaziffern der Dezimaldarstellung X gilt, dann kann man X in ZFC nicht widerlegen – sonst
von x gleich häufig auf. Wenn eine Zahl also hätte man einen Widerspruch erzeugt.
normal ist, dann kommt die Acht ebenso wie die
Neun in zehn Prozent der Nachkommastellen vor, Mathematische Universen mit erstaunlichen
der Block 73 genauso wie 99 in einem Prozent Eigenschaften
aller Paare aufeinander folgender Ziffern und so Dieser Strategie folgend konstruierten Kunen und Miller ein
weiter. mathematisches Universum, das sowohl die Axiome von
Natürliche oder rationale Zahlen sind nicht ZFC als auch die Eigenschaft add( ) < add( ) erfüllt.
normal, denn sie sind stets periodisch. Mit einem Demnach bräuchte man in diesem Modell mehr magere als
zentralen Resultat der Wahrscheinlichkeitstheorie, Nullmengen, um eine nicht vernachlässigbare Menge zu
dem »Gesetz der großen Zahlen«, lässt sich bilden. Das weist auf eine Asymmetrie zwischen beiden
jedoch schnell zeigen, dass »fast alle« Zahlen (bis Mengentypen hin, die unter Annahme der Kontinuums­
auf eine Nullmenge) normal sind. Möchte man hypothese von Cantor jedoch verschwindet. Das Ergebnis
allerdings herausfinden, ob eine konkrete reelle zeigt, dass man unmöglich add( ) ≥ add( ) aus ZFC
Zahl normal ist, gestaltet sich das häufig schwie- beweisen kann.
rig. Bis heute weiß man beispielsweise nicht, ob Wie der polnisch-amerikanische Mathematiker Tomek
die Kreiszahl π oder die Eulersche Zahl e normal Bartoszyński drei Jahre später herausfand, ist hingegen die
sind. umgekehrte Ungleichung add( ) ≤ add( ) mit den Mitteln
von ZFC sehr wohl beweisbar. Man kann daraus allerdings
weder auf add( ) = add( ) noch add( ) < add( ) schlie-
ßen. Es ist genauso wie bei der Kontinuumshypothese: Es
dabei größer oder gleich add( ), denn die Ebene ist ja eine lässt sich lediglich zeigen, dass 1 ≤ 2 0, man kann aber
Nichtnullmenge. weder beweisen, dass 1 < 2 0 noch dass 1 = 2 0 gilt.
Ebenfalls interessant ist die Frage nach cof( ), der Neben den bisher definierten Kardinalzahlen gibt es zwei
kleinstmöglichen Größe einer Basis X von . Das ist eine weitere interessante Größen und , die sich auf die Domi-
Menge X von Nullmengen, die für jede Nullmenge A eine nanz von Funktionen reeller Zahlen beziehen. Für zwei
Menge B enthält, so dass A eine Teilmenge von B ist. Die stetige Funktionen (von denen es 2 0 viele gibt) f und g sagt
damit definierten unendlichen Größen add( ), cov( ), man »f wird von g dominiert«, f < g, wenn für alle genügend
non( ) und cof( ) sind wichtige Kennzahlen, die Eigen- großen x die Ungleichung f(x) < g(x) gilt. Zum Beispiel
schaften von Nullmengen charakterisieren. dominiert eine quadratische Funktion wie g(x) = x2 jede
Für jede der beschriebenen Kennzahlen lässt sich eine lineare Funktion, etwa f(x) = 100x + 30.
analoge Größe definieren, die zwar ebenfalls reelle Zahlen Die Kardinalzahl ist dabei die kleinstmögliche Größe
betrifft, sich aber auf ein anderes Konzept von vernachläs- einer Menge von stetigen Funktionen, die ausreichen, um
sigbaren Mengen bezieht. Denn nicht nur Nullmengen jede mögliche stetige Funktion zu dominieren.
beschreiben einen Begriff von Kleinheit, sondern auch so Eine Variante dieser Definition liefert die nächste Kardi-
genannte magere Mengen. Anschaulich handelt es sich nalzahl . Sie entspricht der kleinsten Größe einer Familie G
dabei um abzählbare Vereinigungen von geschlossenen mit der Eigenschaft, dass es keine stetige Funktion gibt, die
Rändern (ohne Inneres), etwa von Kreislinien in der Ebene.
Im Eindimensionalen bilden die normalen Zahlen (siehe Anzahl der Anzahl der
»Normale Zahlen«) eine magere Menge auf dem Zahlen- natürlichen Zahlen rellen Zahlen
strahl, während die restlichen reellen, nichtnormalen Zahlen
‫א‬
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT /

eine Nullmenge bilden.


‫א‬ 2 0
MANON BISCHOFF

Ausgehend davon lassen sich entsprechende Kennzah- 0


len für die Familie der mageren Mengen definieren: ­
add( ), non( ), cov( ), cof( ). Unter der Kontinuums­
hypothese sind für Null- wie für magere Mengen alle Kenn- ???
zahlen gleich. Umgekehrt konnten die US-amerika­nischen
Mathematiker Kenneth Kunen und Arnold Miller 1981 mit KONTINUUMSHYPOTHESE Gibt es eine Unend-
Hilfe des von Cohen entwickelten so genannten Forcing lichkeit zwischen der Größe natürlicher und
zeigen, dass es unmöglich ist, die Aussage add( ) = reeller Zahlen? Die Frage ist in der Mengenlehre
add( ) mit den Mitteln der ZFC-Axiome zu beweisen. Das unentscheidbar.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 33


alle Funktionen aus G dominiert. Man kann beweisen, dass
1 ≤ ≤ ≤ 2 gilt.
0 Die zehn Kenngrößen der
Neben den bereits erwähnten Ungleichungen sind
weitere Beziehungen zwischen den vorgestellten insgesamt
reellen Zahlen können alle
zwölf unendlichen Kardinalzahlen bekannt. Man fasst sie im
so genannten Cichoń-Diagramm zusammen, das der briti-
gleichzeitig verschieden sein
sche Mathematiker David Fremlin 1984 eingeführt und nach
seinem polnischen Kollegen Jacek Cichoń benannt hat hängigen Einträge unterschiedlich sein? Einzelne Fälle mit
(siehe »Cichoń-Diagramm«). Darin ersetzt man aus typogra- drei Werten sind seit 50 Jahren bekannt, und in den
fischen Gründen die Kleiner-gleich-Zeichen meist durch 2010er Jahren fand man weitere Universen, in denen bis
Pfeile. zu sieben verschiedene Kardinalzahlen im Cichoń-
Die zwölf Größen sind allerdings nicht völlig unabhängig Diagramm auftraten.
voneinander. Wie sich herausstellt, ist add( ) die kleinere Zusammen mit dem israelischen Mathematiker Saharon
der beiden Zahlen und cov( ). Ebenso entspricht cof( ) Shelah von der Hebrew University of Jerusalem konnten
dem größeren der beiden Werte und non( ). Diese zwei wir in einer 2019 erschienenen Arbeit ein Universum
abhängigen Kardinalzahlen sind im Diagramm umrahmt. Es konstruieren, in dem tatsächlich die maximal mögliche
besteht also aus zwölf überabzählbaren Größen, von denen Anzahl verschiedener unendlicher Werte (also zehn), im
höchstens zehn verschieden sein können. Cichoń-Diagramm vorkommen. Dabei verwendeten wir
allerdings ein stärkeres Axiomensystem als ZFC, das die
Wie verschieden können die Existenz so genannter großer Kardinalzahlen voraussetzt –
Unendlichkeiten sein? Unendlichkeiten, die mit den Mitteln von ZFC allein nicht
Wenn die Kontinuumshypothese allerdings gilt, ist 1 (die beweisbar sind.
kleinste Zahl des Diagramms) gleich 2 0 (dem größten darin Das war zwar ein Fortschritt, doch wir waren damit nicht
erscheinenden Wert), und damit ist jede Kenngröße gleich. ganz zufrieden. Wir suchten zwei Jahre lang nach einer
Geht man hingegen davon aus, Cantors Vermutung sei solchen Lösung, die lediglich mit den Axiomen von ZFC
falsch, könnten sie sich alle unterscheiden. funktioniert. Zusammen mit unseren Kollegen Shelah und
Über mehrere Jahrzehnte untersuchten Mathematiker, dem kolumbianischen Mathematiker Diego Mejía von der
ob man für einige der Relationen des Diagramms statt nur Shizuoka-Universität in Japan gelang es uns schließlich,
der Kleiner-oder-gleich-Beziehung sogar Gleichheit bewei- das Ergebnis auch ohne diese zusätzlichen Annahmen zu
sen kann. Dazu konstruierten sie zahlreiche unterschiedli- beweisen.
che Universen, in denen sie zunächst die zwei kleinsten Damit haben wir gezeigt: Die zehn Kenngrößen der
überabzählbaren Kardinalzahlen 1 und 2 auf verschiedene reellen Zahlen können alle gleichzeitig verschieden sein.
Weise dem Diagramm zuordneten. Zum Beispiel fanden sie Das neue Resultat besagt jedoch nicht, dass es mindestens,
ein Universum, in dem 1 = add( ) = cov( ) gilt und höchstens oder genau zehn unendliche Kardinalzahlen
2 = non( ) = cof( ). zwischen 1 und dem Kontinuum geben kann. Das
Durch diese Arbeiten konnten die Forscher in den 1980er hat der US-amerikanische Mathematiker Robert Solovay
Jahren bestätigen: Zwischen allen Paaren von Kardinalzah- schon 1963 bewiesen: Tatsächlich kann die Größe der
len des Diagramms kann man nur die darin angegebenen reellen Zahlen stark variieren, es könnte 8, 27 oder un-
Beziehungen (mit den Mitteln von ZFC) beweisen. Genauer: endlich viele Kardinalzahlen zwischen 1 und 2 0 geben – so-
Für jede sinnvolle Beschriftung des Cichoń-Diagramms mit gar überabzählbar viele. Wie unser Ergebnis belegt, gibt es
den Werten 1 und 2 gibt es ein Universum, in dem die mathematische Universen, in denen zehn bestimmte Kardi-
entsprechenden Einträge realisiert werden. nalzahlen, die zwischen 1 und 2 0 liegen, nicht gleich
Seit fast vier Jahrzehnten wusste man also, dass sämt- ausfallen.
liche Konstellationen von 1 und 2 im Diagramm möglich Hiermit ist die Geschichte aber nicht zu Ende. Wie in der
sind. Aber wie sieht es mit mehreren verschiedenen Mathematik üblich, bleiben viele Fragen offen, und es
Werten zugleich aus? Könnten beispielsweise alle unab- tauchen neue auf. Zum Beispiel gibt es neben den genann-
ten Kardinalzahlen schon seit den 1940er Jahren zahlreiche
cov( ) non( ) cof( ) cof( ) weitere unendliche Größen, die zwischen 1 und dem
MARTIN GOLDSTERN UND JAKOB KELLNER

Kontinuum liegen, deren genaue Beziehungen untereinan-


der unbekannt sind. Wir hoffen, künftig herauszufinden, ob
auch diese zusätzlich zu denen in Cichońs Diagramm
verschieden sein können. 

add( ) add( ) cov( ) non( )


QUELLEN
CICHOŃ-DIAGRAMM: Die Relationen von zwölf Goldstern, M. et al.: Cichoń’s maximum. Annals of Mathema-
Unendlichkeiten sind in dem Diagramm dar­ tics 190, 2019
gestellt, wobei die Pfeile für Kleiner-gleich-Be- Goldstern, M. et al.: Cichoń’s maximum without large cardi-
ziehungen stehen. nals. ArXiv 1906.06608, 2019

34 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


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DIE ZEIT
Den Gesetzen der Physik zufolge ist
der Lauf der Zeit eine Illusion. Um
­diesen scheinbaren Widerspruch zu
­umgehen, muss man das mathema­
tische Konzept der Unendlichkeit
­überdenken.

Natalie Wolchover ist Wissen­


schaftsjournalistin und Redakteurin
bei »Quanta Magazine«.

 spektrum.de/artikel/1838686

ALLES NUR ILLUSION?


Einige Forscher hinterfragen,
ob die Zeit wirklich von der
Vergangenheit in die Zukunft
fließt.

36 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22



Das Konzept der Zeit ist eines der größten Rätsel der Diese zeitlose und vorbestimmte Sicht der Wirklichkeit
Wissenschaft: Wir scheinen uns auf einer hauch­ ist noch heute bei einigen Fachleuten populär. »Die meisten
dünnen Grenzschicht zwischen Vergangenheit und Physiker vertreten die Auffassung eines Blockuniversums,
Zukunft fortzubewegen, doch diese Gegenwart erscheint weil es die allgemeine Relativitätstheorie vorhersagt«, so
seltsamerweise in keinem der bestehenden physikalischen die Kosmologin Marina Cortês von der Universität Lissabon.
Gesetze. Was treibt den immer währenden Verlauf an? Sie fügt jedoch hinzu: »Wenn man etwas gründlicher da­
Entwickelt sich die Zeit stets in eine Richtung, so wie wir es rüber nachdenkt, beginnt man meist, die daraus resultieren­
bisher erlebt haben? Diese und ähnliche Fragen plagen Phy­ den Folgen in Frage zu stellen.«
siker schon seit Jahrhunderten.
Und selbst die zwei fundamentalen und extrem gut ge- Die Rolle der Zeit in der Quantenmechanik
testeten physikalischen Theorien konnten bisher keine Ab- Möchte man das Konzept der Zeit besser verstehen, sollte
hilfe schaffen. Auf der einen Seite gibt es die allgemeine man die Quantenmechanik nicht außer Acht lassen. Sie
Relativitätstheorie von Albert Einstein, die unser Verständ­ gehört zu den am besten überprüften physikalischen Theo­
nis von Raum und Zeit auf den Kopf gestellt hat, und auf rien. Ihr zufolge kommt es auf mikroskopischer Ebene zu
der anderen die Quantenphysik, die das Verhalten kleinster unumkehrbaren Veränderungen, welche die Vergangenheit
Teilchen erstaunlich gut beschreibt. eindeutig von der Zukunft trennen – ganz anders als die
Schon lange versuchen Experten, beide miteinander zu Relativitätstheorie. Denn gemäß Einsteins Gleichungen
vereinen, um extreme Phänomene wie den Urknall oder könnte man alle physikalischen Ereignisse wie einen Film
Schwarze Löcher, die sowohl quantenmechanische als rückwärts abspielen lassen. In der Quantenmechanik ist
auch relativistische Aspekte enthalten, zu verstehen. Doch das dagegen nicht immer möglich.
eine solche Vereinheitlichung entzog sich bisher allen Ein Teilchen kann sich beispielsweise gleichzeitig in
Bemühungen. In Einsteins Gleichungen ist die Zeit mit den mehreren Zuständen befinden, etwa an verschiedenen
drei Dimensionen des Raums verwoben, wodurch sie Orten zugleich sein – allerdings nur, bis man es misst.
zusammen ein biegsames, vierdimensionales Raum­ Sobald das geschehen ist, nimmt es einen festen Quan­
zeit-Kontinuum bilden. Dieses so genannte Block­ tenzustand an, zum Beispiel, wenn es an einem bestimm­
universum umfasst Vergangenheit, Gegenwart ten Punkt auf einem Detektor auftrifft. Der Ausgang einer
und Zukunft. Damit lassen sich – zumindest einzelnen Messung lässt sich in der Quantenmechanik
theoretisch – alle vergangenen und künftigen nicht genau bestimmen. Das liegt nicht etwa an Unge­
Ereignisse im Kosmos berechnen, Überra­ nauigkeiten des Detektors, sondern die Theorie selbst
schungen treten nicht auf. Alles folgt einer enthält Elemente des Zufalls. Daher kann man nur eine
strengen Ordnung. »Für uns gläubige Wahrscheinlichkeit dafür angeben, an welchem Ort man
Physiker«, schrieb Einstein einige Wo­ ein mikroskopisches Teilchen auffinden wird. Betrachtet
chen vor seinem Tod im Jahr 1955, »hat man dagegen zahlreiche Partikel, folgt ihr Verhalten in der
die Scheidung zwischen Vergangen­ Summe festen statistischen Mustern. Welchen Weg ein
heit, Gegenwart und Zukunft nur die Strom aus Milliarden von Elektronen nehmen wird, ist
Bedeutung einer wenn auch hartnä­ daher durchaus vorhersagbar. Eine Messung trennt aber
ckigen Illusion.« vergangene Ereignisse unumkehrbar von künftigen, denn

AUF EINEN BLICK


INTUITIONISTISCHE MATHEMATIK

1 Quantenmechanik und Relativitätstheorie haben


verschiedene Auffassungen von Zeit. Um die
Theorien zu vereinigen, müsste man das Konzept
besser verstehen.

2 In der intuitionistischen Mathematik gibt es keine


Unendlichkeiten. Zahlen entfalten sich nach und
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nach – diese Idee kommt der einer fließenden Zeit


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nahe.
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Indem man die Physik in intuitionistischer Form


ausdrückt, könnte man das Rätsel der Zeit lösen
und damit einer vereinheitlichten Theorie näher
kommen.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 37


überlagerte Zustände eines Teilchens kollabieren dadurch
zu einem festen Zeitpunkt in einen eindeutigen Quanten­
zustand.
Diese grundlegend unterschiedliche Rolle der Zeit in der
Quantenmechanik und in der Relativitätstheorie hat bereits
etliche Physiker verwirrt. Viele nehmen diese Unstimmig­
keit hin und hoffen, eine vereinheitlichte Theorie der größ­
ten und kleinsten Skalen, eine bisher noch nicht gefundene
Quantengravitationstheorie, werde den Widerspruch aus
der Welt schaffen. Doch andere geben sich damit nicht
zufrieden. Ihnen zufolge könnten gerade die Probleme, eine
solche Theorie zu entwickeln, mit einem fehlerhaften Kon-

NASA, ESA, R. ELLIS (CALTECH), AND THE HUDF 2012 TEAM (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO1738B/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
zept der Zeit zusammenhängen.
Der Schweizer Physiker Nicolas Gisin hat 2018 vier
Arbeiten veröffentlicht, in denen er das hartnäckige Rätsel
angeht. Anders als viele andere vor ihm nähert er sich dem
Problem von einer mathematischen Seite. Denn seiner
Meinung nach verwenden Wissenschaftler die falsche
Sprache, um die Gegenwart und die Zeit im Allgemeinen zu
beschreiben. Anstatt sich auf die Methoden zu stützen, die
wir schon in der Schule lernen, mit reellen Zahlen unendli­
cher Länge, unendlichen Größen und so weiter, wendet
sich Gisin einer anderen Ausdrucksweise zu: der so genann­
ten intuitionistischen Mathematik, in der Zahlen mit unend­
lich vielen Ziffern nicht existieren.
Beschreibt man in diesem neuartigen Bild, wie sich
physikalische Systeme entwickeln, beginnt die Zeit laut
Gisin wirklich zu fließen. Der strenge Determinismus, der
aus Einsteins Gleichungen folgt, weicht im neuen Forma­
lismus einer quantenähnlichen Unvorhersehbarkeit. Wenn
alle Zahlen endlich und damit in ihrer Genauigkeit begrenzt
sind, dann ist die Natur selbst zwangsläufig ungenau – und
unberechenbar.
Gisins Kollegen sind immer noch dabei, seine bahnbre­
chenden Ideen zu verarbeiten. Schließlich kommt es nicht
oft vor, dass jemand versucht, die physikalischen Gesetze
durch eine andere mathematische Sprache zu formulieren.
Viele Forscher, die sich mit seinen Argumenten beschäftigt
haben, hoffen, sein Formalismus könnte die konzeptuelle zählt er zu den seltenen Wissenschaftlern, die auch bedeu­
Kluft zwischen dem Determinismus der allgemeinen Relati­ tende Beiträge in Gebieten abseits seiner Disziplin leisten.
vitätstheorie und dem Zufall auf Quantenebene überbrü­ Unter anderem ist Gisin für wichtige theoretische Erkennt­
cken. »Ich finde, man sollte der intuitionistischen Mathema­ nisse bekannt, die quantenmechanische Phänomene wie
tik eine Chance geben«, sagt die Quanteninformationswis­ Zufall oder Verschränkung betreffen.
senschaftlerin Nicole Yunger Halpern von der Harvard Diesen Projekten widmet er sich meist sonntagmorgens,
University. Und Cortês zufolge spricht Gisins schockieren­ wenn er zu Hause ruhig in seinem Stuhl mit einer Tasse
der und provokativer Ansatz das Problem der endlichen Oolong-Tee sitzt und über grundlegende Rätsel nachdenkt.
Präzision in der Natur extrem gut an. An einem solchen Tag vor einigen Jahren kam ihm ein
Der Schweizer Forscher suchte nach einer Möglichkeit, erstaunlicher Gedanke: Wenn man an das deterministische
die physikalischen Gesetze zu formulieren, so dass die Bild der Zeit in Einsteins Theorie und dem Rest der klassi­
Zukunft offen und die Gegenwart real erscheint. Schließlich schen Physik glaubt, dann müsste es unendlich viel Infor­
ist es das, was wir tagtäglich erleben. »Ich bin ein Physiker, mation im Universum geben.
der mit beiden Beinen auf dem Boden steht«, erklärt er.
»Die Zeit vergeht – das wissen wir alle.« Dieser ambitionier­ Ist die Welt vorherbestimmt oder vom
ten Aufgabe ging der 67-Jährige in seiner Freizeit nach, Zufall getrieben?
denn in erster Linie ist er Experimentator: Gisin leitet ein Um das nachzuvollziehen, kann man das Beispiel des
Labor an der Universität Genf, das bahnbrechende Versu­ Wetters heranziehen. Dabei handelt es sich um ein chao­
che im Bereich der Quantenkommunikation und -kryptogra­ tisches Phänomen, das heißt, kleinste Effekte können
fie durchführt. Dieser Ausflug in die abstrakte, theoretische unvorhersehbare Folgen haben. Deshalb lässt sich nicht
Welt der Physik ist aber keineswegs sein erster. Vielmehr genau bestimmen, wie das Wetter in einer Woche sein

38 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


ENDLICHE GRÖSSE Viele Physiker gehen davon
aus, die Menge an Information im Universum
sei begrenzt. Das führte Nicolas Gisin zum Intuiti­
onismus.

herrschen, entsprechen Gisin zufolge viel zu viel Informa­


tion auf zu wenig Raum. »Eine reelle Zahl mit unendlich
vielen Ziffern kann physikalisch nicht relevant sein«, sagt er.
Die Theorie des Blockuniversums setzt unendlich viel
Information voraus. Daher kann es seiner Meinung nach
nicht existieren. Gisin versuchte deshalb, eine neue Be­

NASA, ESA, R. ELLIS (CALTECH), AND THE HUDF 2012 TEAM (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO1738B/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
schreibung der Zeit zu finden, die keine exakte Kenntnis
aller im Universum herrschenden Bedingungen erfordert.
Doch dafür musste er die Grundpfeiler der Mathematik
hinterfragen.
Bereits in der Schule begegnen uns Unendlichkeiten:
Wenn wir mit Zahlen wie Pi oder der Wurzel aus zwei
arbeiten, hantieren wir mit unendlich vielen Nachkomma­
stellen. Das stellt heute so gut wie niemand mehr in Frage.
Kaum etwas erinnert noch an die heftigen Debatten, die
Anfang des 20. Jahrhunderts darüber geführt wurden.
Damals vertrat der renommierte deutsche Mathematiker
David Hilbert (1862–1943) die heute übliche Ansicht, reelle
Zahlen existierten als abgeschlossene Einheiten, mit denen
man gewöhnliche Rechenoperationen durchführen kann.
Doch diesem Gedanken standen die so genannten Intuitio­
nisten unter der Leitung des berühmten niederländischen
Topologen L. E. J. Brouwer (1881–1966) gegenüber. Brou­
wer bestand darauf, Zahlen müssten konstruierbar sein,
ihre Ziffern sollten sich einzeln berechnen oder nach dem
Zufallsprinzip bestimmen lassen. Demnach seien Zahlen
stets endlich und entsprängen gleichzeitig einem Prozess:
Sie würden genauer, je mehr Ziffern sich in einer so ge­
nannten Wahlfolge offenbaren – das ist eine Funktion, die
immer präzisere Werte erzeugt.
Daraus resultieren weit reichende Konsequenzen. Einige
Aussagen, die in der Standardmathematik als wahr gelten,
wird. Weil es aber ein klassisches System ist, wäre eine treffen im Intuitionismus plötzlich nicht mehr zu. Die wohl
solche Vorhersage rein theoretisch für einen beliebig langen deutlichste Abweichung betrifft das Gesetz des ausge­
Zeitraum möglich – dafür müsste man jedoch jede Wolke, schlossenen Dritten, das bereits Aristoteles pries. Demnach
Windböe und jeden Schmetterlingsflügelschlag exakt ist entweder eine mathematische Aussage, auch Satz
kennen. Weil es aber unmöglich ist, all diese Bedingungen genannt, wahr; andernfalls ist ihre Verneinung richtig. In
mit genügend Nachkommastellen zu messen, kann man Brouwers Formalismus können hingegen Sätze zu einem
keine präzisen Wetterberichte liefern – erst recht nicht auf bestimmten Zeitpunkt weder wahr noch falsch sein, da der
lange Sicht. Und das, obwohl die dazugehörige Theorie genaue Wert einer Zahl beispielsweise noch nicht feststeht.
vollkommen deterministisch ist. Betrachtet man Zahlen wie 4, ½ oder sogar die Kreiszahl
Das genannte Beispiel lässt sich auf das gesamte Univer­ Pi, ergibt sich kein Unterschied zur gewöhnlichen Mathe­
sum ausdehnen: In einer vorherbestimmten Welt, in der matik. Denn obwohl Pi irrational ist und deshalb keine end-
sich die Zeit nur scheinbar entfaltet, müsste von Anfang an liche Dezimalentwicklung hat, gibt es einen Algorithmus,
feststehen, was geschehen wird, wobei der Anfangszu­ mit dem man alle Nachkommastellen berechnen kann. Pi
stand jedes einzelnen Teilchens auf unendlich viele Stellen ist damit konstruierbar und genauso determiniert wie ½.
genau codiert ist. Die Unterschiede ergeben sich, wenn man an kompli­
Wie aktuelle Forschungsergebnisse jedoch zeigen, ist zierte Fälle denkt. Ein Beispiel dafür ist eine Zahl, etwa
Information eine physische Größe. Das heißt, sie braucht x = 0,4999, deren Wahlfolge weitere Ziffern entfaltet. Viel-
Energie und nimmt Raum ein. Demnach kann jedes endli­ leicht werden sich die Neunen hinter dem Komma für
che Volumen nur begrenzt Daten fassen, wobei sich die immer fortsetzen; in diesem Fall konvergiert x zu exakt ½.
größtmögliche Dichte im Innern von Schwarzen Löchern Dass 0,4999... genau 0,5 entspricht, trifft ebenso in der
befindet. Die genauen Bedingungen, die im Universum Standardmathematik zu (siehe »Spektrum« April 2017,

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 39


S. 78). Denn die Dezimaldarstellung ist nicht eindeutig, bei-

CAROLE PARODI
de Zahlen unterscheiden sich um weniger als jede endliche
Differenz und sind daher gleich.
Falls in der Folge hinter dem Komma allerdings irgend­
wann eine andere Ziffer als Neun auftaucht, dann ist x – un­
abhängig davon, was danach kommt – kleiner als ½. Doch
bevor das geschieht (solange man also nur 0,4999 kennt),
»lässt sich nicht beurteilen, ob jemals eine andere Ziffer als
Neun auftauchen wird«, erklärt der Mathematik-Philosoph
Carl Posy von der Hebräischen Universität Jerusalem, der
ein führender Experte für Intuitionismus ist. »Wenn man x
betrachtet, kann man nicht herausfinden, ob es kleiner oder
ob es gleich ½ ist.« Die Behauptung »x ist gleich ½« ist
nicht wahr, ebenso wenig wie ihre Verneinung. Das Gesetz
des ausgeschlossenen Dritten gilt nicht.
Das hat diverse Folgen. Zum Beispiel ist es dadurch
unmöglich, einen Zahlenstrahl sauber in zwei Bereiche zu
teilen, die aus allen Zahlen kleiner als ½ und größer oder
gleich ½ bestehen. »Die Zahl x bleibt dabei gewissermaßen
am Messer haften – sie wird weder links noch rechts davon
liegen«, so Posy. »Es ist, als ob der Zahlenstrahl zähflüssig
oder klebrig ist.«
Hilbert lehnte diese Auffassung entschieden ab. Wenn
man das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten aus der
Mathematik entferne, sei es, als würde man einem Boxer
verbieten, seine Fäuste zu benutzen. Denn das fundamen­
tale Prinzip liegt etlichen logischen Schlussfolgerungen zu
Grunde. Obwohl Brouwers intuitionistischer Formalismus
einige Fachleute wie Kurt Gödel oder Hermann Weyl faszi­
nierte, dominiert heutzutage die Standardmathematik mit
reellen Zahlen und Unendlichkeiten – unter anderem, weil
sie deutlich einfacher zu handhaben ist.

Aus dem Nichts entstehende Ziffern vervollständigen


nicht enden wollende Zahlen NICOLAS GISIN In seiner Freizeit denkt der
Gisin begegnete der intuitionistischen Mathematik zum Schweizer Physiker in seinem Arbeitszimmer
ersten Mal bei einer Konferenz im Mai 2019, an der Posy gerne über hartnäckige Rätsel nach.
ebenfalls teilnahm. Als die beiden Wissenschaftler ins
Gespräch kamen, erkannte Gisin schnell einen Zusammen­
hang zwischen den sich entfaltenden Dezimalzahlen und nistische Mathematik extrem gut ein: Die Ziffern, die den
dem Begriff der Zeit. Die nach und nach auftauchenden Zustand des Universums zunehmend genau angeben,
Ziffern schienen auf natürliche Weise der Abfolge von entstehen dabei in Echtzeit durch eine Wahlfolge.
Momenten zu entsprechen, welche die Gegenwart definie­ Wie der renommierte Quantenphysiker Renato Renner
ren. In einem physikalischen Rahmen ist es kein Problem, von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich
dass das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten fehlt – im erklärt, sind deterministische Vorhersagen gemäß Gisins
Gegenteil, es gleicht nichtdeterministischen Aussagen über Argumenten grundsätzlich unmöglich. Demnach sei die
die Zukunft. Zukunft offen. »Die Entwicklung ist wirklich kreativ, neue
In einer im Dezember 2019 veröffentlichten Arbeit formu­ Ziffern entstehen erst im Lauf der Zeit«, so Gisin.
lierten Gisin und sein Kollege Flavio Del Santo eine intuitio­ Die Quantengravitationstheoretikerin Fay Dowker vom
nistische Version der klassischen Mechanik, welche die Imperial College London hofft, eine neue Sicht der Zeit
gleichen Vorhersagen trifft wie das Original – alle Ergebnis­ könne dabei helfen, eine Brücke zwischen der Schwerkraft
se erscheinen dabei jedoch nichtdeterministisch. Damit und der Quantenphysik zu schlagen. »Eine der bedeutends­
haben sie das Bild eines unvorherbestimmten Universums ten Folgen von Gisins Erkenntnissen«, sagt Renner dazu,
entworfen, in dem sich die Zeit nach und nach entfaltet. »ist für mich, dass die klassische Mechanik der Quanten­
In der gewöhnlichen Mechanik kann man nicht jedes mechanik ähnlicher ist, als wir bisher angenommen haben.«
Ereignis exakt vorhersagen, weil sich unmöglich die An­ In der Quantenmechanik ist die Zeit starr – nicht bieg­
fangsbedingungen aller Teilchen mit unendlicher Genauig­ sam und mit den Dimensionen des Raums verflochten wie
keit bestimmen lassen. In Gisins Formalismus existieren in der Relativitätstheorie. Außerdem ist die Zeit durch das
derart präzise Zahlen erst gar nicht. Das fängt die intuitio­ Konzept einer Messung nicht umkehrbar, während die

40 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


Quantentheorie sonst vollständig reversibel ist, so Renner. hauchdünnen Augenblick, der die Vergangenheit sauber
»Die Zeit spielt dabei eine Rolle, die wir noch nicht wirk­ von der Zukunft trennt. Denn in der gewöhnlichen Physik,
lich verstehen.« Daher gehen viele Physiker davon aus, die auf der Standardmathematik basiert, ist die Zeit ein
dass die Theorie ein unvorherbestimmtes Universum kontinuierlicher Parameter, der jeden Wert des Zahlen­
beschreibt. »Man hat zwei Uranatome: Eines zerfällt nach strahls annehmen kann.
500 Jahren und das andere nach 1000 Jahren, und doch Gisins Arbeit hat unterschiedliche Reaktionen bei seinen
sind sie in jeder Hinsicht völlig identisch«, schildert der Kollegen hervorgerufen. Einige von ihnen waren schon
Theoretiker Nima Arkani-Hamed vom Institute for Advan­ vorher der Meinung, dass reelle Zahlen in der Physik nicht
ced Study in Princeton, New Jersey. »Das Universum ist existieren und man daher einen anderen mathematischen
nicht deterministisch.« Formalismus braucht, um unsere Welt zu beschreiben.
Wegen der offenen Fragen haben einige Physiker inzwi­ Der theoretische Physiker Ahmed Almheiri vom Institute
schen alternative Interpretationen der Quantenmechanik for Advanced Study, der Schwarze Löcher und Quantengra­
erarbeitet. Die Resultate der verschiedenen Deutungen sind vitation untersucht, denkt beispielsweise, die Quantenme­
dabei meist dieselben wie in der gewöhnlichen Variante, chanik schließe die Existenz reeller Zahlen aus. Denn in der
doch die zu Grunde liegenden Konzepte unterscheiden sich. Theorie tauchen viele Größen wie Energie oder Impuls bloß
So halten nicht alle an einem Welle-Teilchen-Dualismus gequantelt auf. Sie nehmen dabei nur diskrete und keine
fest, oder es gibt variierende Definitionen einer Messung. kontinuierlichen Werte an. Darüber hinaus würden Unend­
Zu den bekanntesten Vertretern gehört die Viele-Welten- lichkeiten, wie sie bei der Beschreibung Schwarzer Löcher
Theorie von Hugh Everett (1930–1982), die wie andere auftreten, durch Quanteneffekte verschwinden. »Wenn
Deutungen am deterministischen Begriff der Zeit festhält. reelle Zahlen tatsächlich existieren, könnte man sie im
Demnach folgen quantenmechanische Ereignisse einer Inneren Schwarzer Löcher verstecken. Dadurch wäre man
vorbestimmten Realität. In der Viele-Welten-Theorie teilt aber in der Lage, eine unendliche Menge an Informationen
jede Messung die Welt in mehrere Paralleluniversen auf, in zu verbergen«, so Almheiri.
denen jeweils ein – bereits festgelegtes – mögliches Ergeb­ Auch der Physiker Sandu Popescu von der University of
nis eintritt. Bristol, der sich häufig mit Gisin austauscht, glaubt an ein
Aber Gisins Ideen gehen in eine andere Richtung. An­ nichtdeterministisches Universum. Allerdings ist er nicht
statt die Quantenphysik in einen deterministischen Rahmen davon überzeugt, dass dafür eine intuitionistische Mathe­
zu zwängen, möchte er eine gemeinsame, nichtdeterminis­ matik notwendig ist: Popescu zufolge sind die Ziffern reeller
tische Sprache schaffen, in die auch die allgemeine Relativi­ Zahlen nicht mit Information gleichzusetzen.
tätstheorie passt. Sein Ansatz weicht dafür in einem wich­ Zwar stoßen Gisins Ideen bei vielen Kollegen auf Wider­
tigen Punkt von der gewöhnlichen Quantenmechanik ab. hall, doch er muss sie noch konkretisieren. Er hofft, bald
eine Möglichkeit zu finden, die allgemeine Relativitätstheo­
Intuitionismus als Lösung des Informations- rie und die Quantenmechanik durch die intuitionistische
paradoxons Schwarzer Löcher? Mathematik neu auszudrücken, wie er es bereits mit der
Die quantenmechanischen Gesetze besagen, Informationen klassischen Mechanik getan hat. Damit könnte er die
können zwar gemischt und vertauscht, aber niemals er­ beiden so unterschiedlich anmutenden Theorien vielleicht
zeugt oder vernichtet werden. Wenn die Ziffern der Zahlen, einander näherbringen. Der Physiker hat schon einige
die den Zustand des Universums definieren, jedoch mit der Ideen, wie er die quantenmechanische Seite angehen
Zeit wachsen, wie Gisin vorschlägt, dann entsteht pausen­ könnte.
los neue Information. Durch die Corona-Pandemie wurde für Gisin fast jeder
Diese Sichtweise könnte damit nicht nur die Natur der Tag zu einem Sonntag: Zu Hause, außerhalb des Labors,
Zeit offenbaren, sondern zudem eines der größten kosmolo­ dachte er mit einer Tasse Tee und dem Blick auf seinen
gischen Rätsel lösen: das Informationsparadoxon Schwar­ Garten weiter über die Natur der Zeit nach. 
zer Löcher. Dabei geht es um die Frage, was mit der Infor­
mation geschieht, die in solche galaktischen Ungeheuer QUELLEN
fällt. Glaubt man der allgemeinen Relativitätstheorie, ist sie Gisin, N.: Mathematical languages shape our understanding of
unwiederbringlich zerstört. Die Quantentheorie besagt aber, time in physics. Nature Physics 16, 2020
dass sie erhalten bleibt. Der Intuitionismus könnte einen
Gisin, N., Del Santo, F.: Physics without determinism: Alterna­
Ausweg liefern. Wenn Informationen beispielsweise durch tive interpretations of classical physics. Physical Review A 100,
Messungen entstehen, dann ist es in einer intuitionisti- 2019
schen Quantenmechanik vielleicht auch möglich, sie zu
vernichten.
Neben der Idee einer kreativen (und möglicherweise des­ Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und bearbeitete
Fassung des Artikels »Does Time Really Flow? New Clues Come
truktiven) Zeit bietet der Intuitionismus eine neuartige
From a Century-Old Approach to Math« aus »Quanta Magazine«,
Interpretation unserer bewussten Zeiterfahrung. Wie be­ einem inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation,
reits erwähnt, ist das Kontinuum im intuitionistischen Bild die sich die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathe­
klebrig, es lässt sich nicht eindeutig in zwei Hälften zer­ matik und den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
schneiden. Gisin assoziiert das mit dem Gefühl, die Gegen­
wart entspräche einem substanziellen Moment statt einem

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 41


KATEGORIENTHEORIE
DIE MATHEMATIK
DER MATHEMATIK
Kommt man bei einem Problem nicht weiter, hilft es
manchmal, Abstand zu nehmen und einen frischen
Blick darauf zu werfen. So auch in der Mathematik:
Die Vogelperspektive liefert neue Erkenntnisse,
bringt aber Schwierigkeiten mit sich.

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Emily Riehl ist Mathematikerin
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Baltimore, Maryland.

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AUF EINEN BLICK


DEN ÜBERBLICK VERBESSERN

1 Einige Konzepte in der Algebra kann man auf


die Geometrie übertragen. Solche Verbindungen
gibt es in fast allen Bereichen der Mathematik;
sie erleichtern die Arbeit ungemein.

2 Indem man die Zusammenhänge abstrahiert und


Details ignoriert, lassen sich weitere Übereinstim-
mungen in den verschiedenen Gebieten finden.

3 Genau das macht die Kategorientheorie.


Doch wie weit kann man abstrahieren, ohne
das Verständnis zu sehr einzubüßen?

42 Spektrum SPEZIAL
SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22

An einem kühlen Herbsttag während meines Grund- Der Knackpunkt des Rätsels: Alle gezeichneten Punkte
studiums in Neuengland lief ich an einer U-Bahn- und Geraden, die im Ergebnis auftauchen, müssen entwe-
Station vorbei, als mir etwas ins Auge fiel. Da stand der schon im Ausgangswürfel enthalten sein oder sich
ein Mann neben einigen mathematischen Rätseln, die er daraus konstruieren lassen.
an eine Wand gekritzelt hatte, und forderte die Passanten Wenn die Seitenlänge des zu verdoppelnden Würfels
auf, sie zu lösen. Eines davon verlangte – mit nichts weiter eins beträgt, muss man die Seiten um den passenden
als einem imaginären Lineal und Zirkel ausgestattet –, aus Faktor verlängern. Dieser entspricht dem Wert 21/3. Das
einem vorgegebenen Würfel einen mit doppelt so großem klingt zunächst vielleicht nicht besonders kompliziert,
Volumen zu machen. aber die Länge darf nur mit Hilfe eines Lineals und eines
Das ließ mich innehalten, denn ich hatte diese Aufgabe Zirkels abgemessen werden. Und das gestaltet sich
schon einmal gesehen. Tatsächlich ist sie mehr als extrem schwierig. Mehr als 2000 Jahre lang gelang es
2000 Jahre alt und wird Platon zugeschrieben. Mit Hilfe niemandem, das Rätsel zu lösen. 1837 lieferte der Mathe-
des Lineals kann man ein Liniensegment in jede beliebige matiker Pierre Laurent Wantzel schließlich die Erklärung
Richtung verlängern, und der Zirkel ermöglicht es, einen dafür, indem er bewies, dass das Problem nicht zu kna-
Kreis von einem gewählten Mittelpunkt aus zu zeichnen. cken ist.

DAS GROSSE GANZE Ein


Perspektivwechsel legt unge-
ahnte Zusammenhänge frei.

OBER 2021
ERICAN OKT
ENTIFIC AM
ATION / SCI
EN ILLUSTR
ERIC PETERS

Physik Mathematik Technik  3.22 43
Die Grundlagen für die Erkenntnis hatte sein französi- Auch wenn diese Begegnung frustrierend war, führte
scher Zeitgenosse Évariste Galois (1811–1832) gelegt. sie mich zu einer interessanten Frage: Wie konnte ich –
Schon lange war bekannt, dass, ausgehend von einem eine unbedarfte Studentin im dritten Studienjahr – in nur
Punkt als Ursprung und einer Strecke der Länge eins, sich wenigen Wochen lernen, mit abstrakten mathematischen
mit Lineal und Zirkel alle rationalen Zahlen konstruieren Erkenntnissen wie denen von Galois umzugehen? Bereits
lassen. Wantzel konnte zeigen, dass man mit beiden im Grundstudium lernt man heutzutage Stoff, der selbst
Werkzeugen auch weitergehen kann: Tatsächlich lässt Genies wie Isaac Newton, Gottfried Leibniz, Leonhard
sich damit jede Lösung einer quadratischen Gleichung Euler und Carl Friedrich Gauß in Erstaunen versetzt hätte.
ax2 + bx + c = 0 erzeugen, wobei die Koeffizienten a, b Die Antwort darauf mag überraschen: Den Fortschritt
und c bereits konstruierten Punkten entsprechen müssen. ermöglicht größere Abstraktion. Indem man die Details
Doch die Länge 21/3 ist ein Ergebnis der kubischen Glei- eines Bereichs ignoriert und eine Art Vogelperspektive
chung x3 – 2 = 0. Wie Galois bewies, kann man eine einnimmt, ergeben sich Zusammenhänge, die vorher nicht
solche Gleichung niemals durch eine quadratische Formel ersichtlich waren. Die nötigen Instrumente für einen
lösen. Damit zeigte Wantzel, dass es unmöglich ist, das solchen Rundumblick liefert die Kategorientheorie. Sie
Volumen eines Würfels lediglich mit einem Lineal und befasst sich damit, welche Objekte sich ähneln, um sie in
einem Zirkel zu verdoppeln. Kategorien zu gruppieren. Dadurch lassen sich ihre rele-
Da mir all das bewusst war, sprach ich den Mann auf der vanten Eigenschaften besser untersuchen.
Straße darauf an. Ich versuchte, ihm zu erklären, warum Eines der Kernprinzipien der Theorie (das so genannte
sein Rätsel nicht lösbar war, doch das führte zu nichts. Er Lemma von Yoneda) besagt, dass sich jedes mathema­
entgegnete bloß, ich sei durch meine Ausbildung engstirnig tische Konstrukt vollständig durch seine Beziehungen zu
und unfähig, »über den Tellerrand zu blicken«. ähnlichen Dingen bestimmen lässt. Somit kann man allge-
meine Regeln formulieren, die für alle Kategorien gelten,
anstatt für jeden einzelnen mathematischen ­Bereich auf-
wändig verschiedene Gesetzmäßigkeiten aufzuschlüsseln,
Glossar wodurch man schnell den Überblick verliert.
In den letzten Jahrzehnten hat die Kategorientheorie die
Kategorie: eine Sammlung von Objekten und
Auffassung von Gleichheit gewandelt. Fachleute haben die
zusammensetzbaren Transformationen (so ge-
Prinzipien der Disziplin immer weiter verallgemeinert und
nannte Morphismen) zwischen ihnen
schließlich so genannte Unendlich-Kategorien (∞-Katego­
Komposition: eine Transformation mehrmals rien) eingeführt, welche die Theorie auf unendliche Di­
hintereinander ausführen mensionen erweitern. Damit lassen sich Probleme unter-
suchen, bei denen die Beziehungen zwischen Objekten zu
Identität: die Abbildung eines Objekts auf sich subtil sind, um sie durch gewöhnliche Kategorien zu
selbst, ohne es zu verändern erfassen. Indem man kontinuierlich aus einem System
herauszoomt, kann man über bereits bekannte Prinzipien
Symmetrie: eine invertierbare Transformation nachdenken und neue Konzepte finden. Doch für dieses
(etwa eine Drehung oder Spiegelung) eines Ob- hohe Maß an Abstraktion muss man einen Preis zahlen: Es
jekts auf sich selbst wird immer unklarer, wann zwei Objekte übereinstimmen.

Isomorphismus: eine Art »Gleichheit«, die Ein Zoo aus mathematischen Objekten
­zwischen zwei Objekten in einer Kategorie beste­- Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen wurde ich
hen kann wegen meines schlechten Gedächtnisses auf die Kategori-
entheorie aufmerksam. Denn spätestens im Studium
Fundamentalgruppe: eine Kategorie, deren
begegnet man einem regelrechten Zoo mathematischer
Objekte die Punkte in einem Raum sind und deren
Objekte, die in den letzten Jahrhunderten entstanden sind.
Morphismen Pfade zwischen ihnen darstellen
Allein in der Algebra, die sich mit den Lösungen von
Homotopie: eine stetige Verformung eines Pfads Gleichungen beschäftigt, unterscheidet man zwischen
in einen anderen Gruppen (die aus einem Zahlensystem wie den ganzen
Zahlen und einer Verknüpfung wie der Addition bestehen),
∞-Kategorie: ein unendlich-dimensio­nales Ana­ Ringen (Zahlensystem und zwei Verknüpfungen) und
logon einer Kategorie, das höherdimensionale Körpern (Ringe mit bestimmten Eigenschaften).
Morphismen enthält, mit einer abgeschwächten Und die Algebra ist nur eines von vielen Fächern an der
Kompositionsregel Universität. Weitere Eckpfeiler sind die Topologie – das
abstrakte Studium des Raums – und die Analysis, die
∞-Fundamentalgruppoid: eine Unendlich-­ Funktionen, Wahrscheinlichkeitsräume sowie komplexe
Kategorie mit Punkten, Pfaden, Homotopien Mannigfaltigkeiten behandelt. Wie soll man da den Über-
und höheren Homotopien in einem Raum blick behalten?
Eine seltsam anmutende Idee der Mathematik ist es,
Dinge durch Abstraktion zu vereinfachen. Wie die Katego-

44 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


MATTEO FARINELLA / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2021
RATIONALE ZAHLEN
KONSTRUIEREN Bloß mit
einem Lineal und einem
Zirkel ausgestattet kann man
alle rationalen Zahlen auf
dem Zahlenstrahl treffen. Für
beliebige reelle Zahlen geht
das allerdings nicht.

rientheoretikerin Eugenia Cheng in ihrem 2018 erschiene- den damals schwammigen Begriff »natürliche Äquivalenz«
nen Buch »The Art of Logic in an Illogical World« schreibt, definieren. Doch tatsächlich bietet das daraus entstandene
»besteht ein mächtiger Vorteil darin, dass viele verschiede- Fachgebiet eine Möglichkeit, allgemeine Aussagen über
ne Situationen gleich erscheinen, wenn man einige Details die universelle Algebra und andere Gebiete der Mathema-
vergisst«. Dieser Gedanke führte bereits zur modernen tik zu treffen.
Algebra, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstand. Da- Wie Eilenberg und Mac Lane zeigten, lässt sich jede Art
mals vereinheitlichte man die Lösungen von Polynom­ von Objekt – von geometrischen Räumen über Gruppen
gleichungen und Konfigurationen von Figuren. Dafür bis hin zu Mengen – einer Kategorie zuordnen. Diese
formulierten Fachleute Axiome, welche die Gemeinsam- besteht aus den Strukturen selbst, die man sich als Punkte
keiten der unterschiedlichen Strukturen erfassen. vorstellen kann, und einer Reihe von Transformationen, so
Daraus entwickelten sich die genannten Konzepte von genannten Morphismen, die sich durch Pfeile zwischen
Gruppen, Ringen und Körpern, die es ermöglichen, ein den Punkten darstellen lassen.
mathematisches Objekt allein anhand seiner relevanten Ein Beispiel für eine Kategorie findet sich in der linearen
Eigenschaften zu beschreiben und zu erforschen – selbst Algebra, die sich Vektorräumen wie dem gewöhnlichen
wenn man es nicht konkret konstruieren kann. So lassen dreidimensionalen Raum widmet. Die entsprechenden
sich Aussagen über geometrische Körper treffen, von denen Morphismen sind in diesem Fall Matrizen, die Vektoren in
niemand weiß, wie sie aussehen oder wie man sie erzeugt. andere überführen. Eine entscheidende Eigenschaft von
Doch trotz der groben Gruppierung ist die mathemati- Morphismen ist, dass sie sich hintereinander ausführen
sche Welt noch immer zu groß, als dass ein einzelner lassen und damit einen neuen Morphismus bilden. Man
Mensch sie vollständig begreifen kann. Allein innerhalb kann etwa einen Vektor drehen und anschließend spie-
der Algebra gibt es zu viele Zusammenhänge, die man geln, indem man ihn nacheinander mit zwei Matrizen
unmöglich alle im Detail verstehen kann. Anfang des multipliziert. Es ist aber auch möglich, beide Transforma­
20. Jahrhunderts entwickelten Mathematiker daher die tionen gleichzeitig durch eine einzige Matrix umzusetzen.
universelle Algebra. Anstatt Strukturen mit festen Ver- Das ist in allen Kategorien so: Zwei Morphismen ergänzen
knüpfungen und Eigenschaften zu studieren, befasste man sich zu einem dritten.
sich nun mit allgemeinen Objekten, die beliebige Merk­ Das ist im Prinzip die alleinige Anforderung an eine
male besitzen. Indem man diese nach der Untersuchung Kategorie. Damit stellt sich die Frage, inwiefern sich das
festlegt, gelangt man zurück zu den üblichen Gebilden wie abstrakte Konzept überhaupt als nützlich erweisen kann.
Gruppen, Ringen und Körpern. Zwar besitzen die Objekte innerhalb der Kategorien unter-
Zwar stellt die universelle Algebra einen bedeutenden schiedliche Eigenschaften, doch zwischen ihnen kann man
Schritt zur Verallgemeinerung dar, sie lässt aber andere wiederkehrende Muster erkennen, die sich stark ähneln.
mathematische Gebiete außer Acht. Man erfährt damit
nichts über die Analysis, Zahlentheorie oder Topologie. Gleichungen als geometrische Graphen
Daher führten Fachleute eine weitere Abstraktionsebene Ein Beispiel dafür ist die Verbindung zwischen der Geome-
ein, auf der sich erstaunlich viele Theoreme gleichzeitig trie und der Algebra. Auf der algebraischen Seite gibt es
beweisen lassen – ohne genau angeben zu müssen, von bestimmte polynomiale Gleichungen wie x2 + 3yz3 + 5 = 0
welcher Art von Objekten diese handeln. und auf der geometrischen die dazugehörigen Kurven, die
Den Schritt ermöglicht die Kategorientheorie, die man in ein Koordinatensystem zeichnet. Die Kategorien zu
­Samuel Eilenberg und Saunders Mac Lane in den den entsprechenden Objekten (also Gleichungen und
1940er Jahren entwickelt haben. Dabei hatten die zwei Kurven) ähneln sich stark.
Mathematiker ursprünglich anderes im Sinn: Sie wollten Das erkannte der Gelehrte René Descartes bereits im
17. Jahrhundert. Er fand heraus, dass sich Polynome
sowohl entweder rechnerisch (also im Sinn der Algebra)
KOMPOSITION Transfor­ oder zeichnerisch (indem man sie in ein kartesisches
SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2021

mationen f und g lassen sich Koordinatensystem überträgt) untersuchen lassen. Algebra


stets hintereinander aus­ und Geometrie sind demnach tief miteinander verbunden,
MATTEO FARINELLA /

führen – das erzeugt einen was sich in ihren Kategorien niederschlägt.


neuen Morphismus, der auch Gleiches ergibt sich für bestimmte Strukturen innerhalb
Teil der Kate­gorie ist. eines Gebiets. Auch zwischen Gruppen, Ringen und Vek-

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 45


oben zeigt). Zudem kann man beide Drehungen nachein-

MATTEO FARINELLA / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2021


ander ausführen.
Obwohl sich ein T-Shirt stark von einer Matratze unter-
scheidet, haben deren dazugehörige Symmetriegruppen
die gleiche Form: Sie bestehen aus jeweils vier Transfor-
mationen und – was entscheidend ist – jeder Zug in der
Gruppe des Kleidungsstücks lässt sich mit einem in der
Matratzengruppe so kombinieren, dass die Hintereinander-
ausführungen der entsprechenden Bewegungen ebenfalls
zusammenpassen. Die jeweiligen Elemente lassen sich
also aufeinander abbilden. In der Fachsprache sind diese
Gruppen durch einen Isomorphismus miteinander verbun-
den beziehungsweise »isomorph«.
KOMPOSITIONSREGELN Solche Übereinstimmungen finden sich in jeder Katego-
Die Komposition folgt den rie: Ein Isomorphismus zwischen zwei Objekten A und B ist
gewohnten Gesetzen: Sie ist durch ein Paar von Transformationen f: A B und g: B A
sowohl asso­ziativ (oben) als gegeben, falls ihre Hintereinanderausführungen g ∘ f und
auch unitär (unten). f ∘ g den jeweiligen Identitäten 1A und 1B entsprechen. Das
heißt, wenn man auf ein Element a aus A zuerst f und dann g
anwendet, erhält man wieder a: g(f(a)) = a.
torräumen gibt es Parallelen, wie man an ihren Kategorien
erkennen kann. Zudem weisen Kategorien aus der Topo­ Was bedeutet Gleichheit?
logie oder Analysis weitere Ähnlichkeiten auf. Dadurch ist In der Kategorie der topologischen Räume sind Isomorphis-
es möglich, gebietsübergreifend zu lernen. Solche Muster men inverse Paare stetiger Funktionen. Was heißt das? Zum
ermöglichen es, teilweise überraschende Analogien zwi- Beispiel gibt es eine Umformung, die einen ungebackenen
schen zuvor unverbundenen Bereichen zu entdecken. Donut in einen Kaffeebecher verwandelt: Das Loch des
Insgesamt ergeben sich also verschiedene Abstrak­ Kringels wird zum Henkel, und der Becher entsteht durch
tions­ebenen: Ganz grundlegend sind konkrete Objekte wie eine Vertiefung, die man mit dem Daumen eindrückt. Weil
eine bestimmte Oberfläche oder eine Gleichung, die zu die Verformung stetig ist, reißt der Teig dabei nicht ein. Die
Strukturen wie Gruppen und Körpern zusammengefasst inverse Funktion garantiert, dass man die Tasse wieder
werden. Diese lassen sich wiederum zu dem Konzept einer problemlos in das Gebäck umwandeln kann. Aus diesem
Kategorie zusammenfügen. Das hohe Maß an Abstraktion Grund scherzen Mathematiker, Topologen könnten einen
kommt mit neuen Herausforderungen einher: Auf der Kaffeebecher nicht von einem Donut unterscheiden, denn
Ebene ist nicht mehr klar, wann zwei Dinge »gleich« sind. als abstrakte Räume seien sie gleichwertig.
Das Problem lässt sich durch Gruppen veranschaulichen. In den letzten Jahren hat sich immer stärker die Ansicht
Man kann sich eine Gruppe als abstrakte Sammlung durchgesetzt, dass man isomorphe Dinge als identisch
von Symmetrien vorstellen. Die Elemente entsprechen behandeln kann, ohne die dazugehörigen Zusammenhän-
dann Transformationen, die ein bestimmtes Objekt spie- ge grundlegend zu verändern. Jede Aussage über eine
geln oder drehen, bevor sie es in die ursprüngliche Posi­ Tasse treffe in gleichem Maß auf einen Donut zu. Doch
tion zurückbefördern. Zum Beispiel kann man eine Gruppe das hat auch zu Schwierigkeiten geführt: So ist man sich
zu der Form eines T-Shirts definieren. Die einfachste nach mehreren Jahren nicht sicher, ob der Beweis der
Transformation ist jene, die nichts tut: Der Träger lässt sein ABC-Vermutung von Shinichi Mochizuki richtig ist, in dem
Oberteil unverändert. Eine andere entspricht einer Bewe- er zwei Dinge als gleich ansieht, die andere Mathematiker
gung, bei der die Person die Arme aus den Löchern nimmt
und das Shirt um 180 Grad um ihren Hals dreht. Damit
zeigt die Rückseite nun nach vorne. Die dritte Transforma-
tion besteht darin, das Kleidungsstück auszuziehen und Komposition von Morphismen
auf links zu drehen. Zudem kann man den zweiten und
den dritten Schritt verbinden: Das Shirt erst auf links In einer Kategorie existiert für jedes Paar von
drehen und dann rotieren. Jede dieser vier Handlungen Morphismen f: A B und g: B C ein eindeuti-
zählt als Symmetrie, weil die Form des Oberteils dadurch ger zusammengesetzter Morphismus g f: A C.
unverändert bleibt. Die Verknüpfung von Morphismen ist assoziativ,
Nun kann man diese Gruppe, die aus vier Elementen das heißt h (g f) = (h g) f; zudem gibt es für
besteht, mit einer weiteren vergleichen. Jene gehört zu jedes Objekt B einer Kategorie ein neutrales
Matratzen, also einer ganz anderen geometrischen Figur. Element 1B, also eine Transformation, die alle
Neben der Identität, bei der man sie in ihrer ursprüng­ anderen Morphismen g und f bezüglich B unver-
lichen Position belässt, kann man sie entweder in der ändert lässt: g 1B = g und 1B f = f.
Ebene drehen (so dass das Fußteil danach das Kopfteil ist)
oder wenden (damit die zur Boden gewandte Seite nach

46 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


T-SHIRT-GRUPPE Die Symmetrien eines T-Shirts
MATTEO FARINELLA / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2021

ermöglichen es, eine Gruppe aus den Transfor­


mationen zu bilden, die das Kleidungsstück unver-
Identität ändert lassen. Dazu gehören Rotationen und
Spiegelungen.

Drehen
Drehen und Wenden Wenden

als unterschiedlich ansehen (siehe »Spektrum« Dezember Drehen Wenden Drehen und Wenden
2019, S. 80).
Das hat Kategorientheoretiker dazu veranlasst, in ihrem
Sprachgebrauch den bestimmten Artikel durch einen
unbestimmten zu ersetzen: Sprechen sie von »diesem«,
meinen sie eigentlich »ein« Objekt mit solchen Eigenschaf-
ten. Das passiert etwa, wenn man »die« disjunkte Vereini-
gung zweier Mengen A und B betrachtet. Wie die gewöhn-
liche Vereinigung enthält die disjunkte Version A ⊔ B eine
Kopie jedes Elements von A und B. Doch zusätzlich besit-
zen die Elemente in A ⊔ B eine Art Gedächtnis, das besagt,

MATTEO FARINELLA / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2021


aus welcher Menge sie ursprünglich stammen.
Tatsächlich gibt es viele verschiedene Möglichkeiten,
um eine solche Vereinigung zu konstruieren. Beispiels­
weise kann man die Elemente mit einem Index versehen,
der auf die jeweilige Herkunft hindeutet. Je nachdem,
wie man den Index konstruiert, unterscheiden sich die MATRATZENGRUPPE
Ergebnisse A ⊔ B voneinander – aber sie sind alle iso- Auch für die Symmetrien
morph. Anstatt Zeit damit zu verschwenden, darüber zu einer Matratze gibt es eine
streiten, welche Konstruktion die sinnvollste ist, ignoriert Gruppe. Identität

man üblicherweise diese Mehrdeutigkeit und spricht von


»der« disjunkten Vereinigung. Ebenso bezeichnen Fach­
leute sowohl die T-Shirt- als auch die Matratzengruppe als Zum Beispiel erhält man die Punkte von X, wenn die
»die kleinsche Vierergruppe«. verschiedenen T aus einzelnen Punkten bestehen. Möchte
Die breit gefächerte Äquivalenz gilt heute als der Grund- man hingegen erfahren, ob X zusammenhängend ist, nutzt
gedanke der Kategorientheorie. Das spiegelt sich unter man Abbildungen p: I X mit einem Intervall I = [0,1] als
anderem im Fundamentalsatz, dem wichtigsten Theorem Definitionsbereich. Die p definieren einen eindimensiona-
des Bereichs, wider. Dieses entstand, als der damals junge len Pfad auf X vom Punkt p(0) zu p(1). Diesen kann man
Mathematiker Nobuo Yoneda 1954 am Pariser Bahnhof sich als den zurückgelegten Weg einer Ameise vorstellen,
Gare du Nord Mac Lane einen so genannten Hilfssatz die auf X entlangwandert. Wenn das Insekt jeden Ort auf X
(Lemma) beschrieb. Lemmata benutzt man eigentlich, um erreichen kann, ohne zu hüpfen, ist der Raum zusammen-
eine bedeutendere Tatsache zu beweisen – wie eine Art hängend.
Zwischenschritt auf dem Weg zum Ergebnis. Aus Yonedas
Lemma folgt, dass jedes Objekt vollständig durch seine Objekte durch Punkte und Pfade untersuchen
Beziehung zu den anderen Inhalten einer Kategorie be- Die Punkte und Pfade lassen sich außerdem dazu verwen-
stimmt ist. den, topologische Probleme in die Algebra zu verfrachten.
Das klingt zunächst nach einer recht abstrakten Idee, Zu jedem Raum X kann man eine Kategorie π₁(X) konstru-
aber tatsächlich findet sie sich auch in den Naturwissen- ieren, die so genannte Fundamentalgruppe von X, deren
schaften. In einem Teilchenbeschleuniger misst man Objekte den Punkten auf X entsprechen und deren Mor-
beispielsweise nicht die Partikel direkt, sondern weist ihre phismen durch die darauf befindlichen Pfade gegeben
Präsenz durch die Wechselwirkungen mit ihrer Umgebung sind. Lässt sich ein Pfad in einen anderen mit gleichen
nach. Ebenso lässt sich ein topologischer Raum X charak- Endpunkten verformen, gehören sie zum selben Morphis-
terisieren, indem man ihn mit stetigen Funktionen f: T X mus, sie sind »homotop« zueinander.
untersucht, die ihn zu anderen Räumen T in Beziehung Fundamentalgruppen haben die angenehme Eigen-
setzen. schaft, dass sie die gleichen Merkmale wie die dazu­

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 47


GESCHLOSSENE KURVEN gruppe des Ersten finden sich verschiedene Pfade, die
Durch die möglichen Rund- man durch ganze Zahlen kennzeichnen kann. Bahnen, die
MATTEO FARINELLA / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2021

wege einer Ameise erfährt nur einen Abschnitt des Kreises überdecken, lassen sich
man einiges über die zu zu einem Punkt zusammenschrumpfen und entsprechen
Grunde liegende Figur. der Null. Dem entgegen steht eine geschlossene Kurve,
die den Kreis einmal umschließt und durch eine Eins
dargestellt wird. Ein Pfad kann den Kreis aber auch zwei-,
drei-, …mal umschließen. Keine dieser Varianten lässt sich
auf stetige Weise in eine andere überführen. Wenn man
ein Haargummi zweimal um einen Kreis wickelt, ist es
unmöglich, eine dieser Umdrehungen zu entfernen, ohne
gehörigen Räume haben: Wenn es eine stetige Funktion den Kreis zu verlassen oder das Gummi durchzuschnei-
f: X Y gibt, dann existiert auch eine entsprechende den. Daher enthält die Fundamentalgruppe alle ganzen
Transformation π₁f: π₁(X) π₁(Y) zwischen den Fundamen- Zahlen, wobei das Vorzeichen angibt, in welche Richtung
talgruppen. Zudem behält die Zuordnung die Struktur der der Pfad verläuft.
ursprünglichen Abbildungen bezüglich Kompositionen und Im Gegensatz dazu fällt die Fundamentalgruppe der
Identitäten bei: π₁(g∘ f) = π₁g∘ π₁f und π₁(1X) = 1π(1x). Somit Kreisscheibe viel langweiliger aus. Jeder Weg, den man
scheint π₁ die wesentlichen Informationen über topologi- darauf einzeichnet, lässt sich zu einem Punkt zusammen-
sche Räume zu enthalten. ziehen. Somit besteht die entsprechende Gruppe aus bloß
Doch genügt die Fundamentalgruppe, um X vollständig einem Element – und nicht aus unendlich vielen wie beim
zu charakterisieren? Tatsächlich ist das der Heilige Gral der Kreis. Gleiches ergibt sich für eine Kugeloberfläche, auf
Topologie: Seit Jahrhunderten suchen Fachleute nach der sich ebenfalls alle Wege zusammenziehen lassen.
einer mathematischen Methode, um alle topologischen Doch die Fundamentalgruppe hat einen großen Nach-
Objekte zu sortieren. Dieser Traum wird aber unerfüllt teil: Mit Punkten und Pfaden allein kann man nicht die
bleiben – wie sich herausgestellt hat, gibt es kein solches Struktur eines hochdimensionalen Raums erkennen. Um
Verfahren. tiefere Einblicke in komplexere X zu erhalten, muss man
Dennoch kann die Fundamentalgruppe Strukturen in zusätzlich stetige Funktionen f von der zweidimensionalen
niedrigen Dimensionen voneinander unterscheiden, etwa Kreisscheibe D auf X betrachten, also f: D X. Diese
einen Kreis und eine Kreisscheibe. In der Fundamental- heißen Homotopien. Darüber hinaus lassen sich höhere

Homotopieäquivalenz
Zwei Objekte X und Y sind in der der aus, erhält man nicht 1Y, jedoch stimmung zwischen den Punkten
Topologie identisch, wenn man sie eine Funktion h, die sich stetig zu von X und Y geben. Das heißt, man
durch Dehnen, Stauchen, Verbie- dieser umformen lässt. kann die Körper auch zusammen-
gen, Verzerren oder Verdrillen Im 1-D-Fall ist die Identität quetschen. So lassen sich die
ineinander umformen kann. Das e(x) = 1 – eine Gerade, welche die Beine einer Hose verkleinern, bis
kann man durch eine stetige y-Achse bei 1 schneidet und paral- eine eindimensionale Form übrig
Transformation f ausdrücken, die lel zur x-Achse verläuft. Führt man bleibt, die an einen String-Tanga
jeden Punkt auf X eindeutig zu f und g nacheinander aus, muss erinnert. Beide Räume haben die
einem auf Y zuordnet und sich bei einer Homotopieäquivalenz gleiche topologische Struktur (es
umkehren lässt: f -1: Y X. Die nicht zwingend e herauskommen, gibt immer noch zwei Löcher),
Komposition von f und f –1 ergibt vielmehr ist jede andere Kurve h obwohl das ursprünglich zweidi-
dabei stets die Identität f∘ f –1 = 1Y möglich, die man stetig zu e um- mensionale Kleidungsstück auf
und f -1∘ f = 1X. formen kann, etwa eine Parabel x2 eine eindimensionale Schnur
In der Praxis sind Topologen oder eine Sinuskurve. Komplizierte geschrumpft ist. Eine andere
noch weniger detailversessen. Kurven wie ein Tangens oder 1/x Homotopieäquivalenz lässt sich
Durch das Konzept der Homotopie- kommen nicht in Frage: Man erkennen, wenn man die unendli-
äquivalenz setzen sie zwei Objekte müsste e(x) durchschneiden, damit che Weite des dreidimensionalen
X und Y gleich, wenn es zwei es deren Form annimmt. euklidischen Raums auf einen
stetige Abbildungen f: X Y und Zwei homotopieäquivalente einzigen Punkt abbildet, wie bei
g: Y X gibt, die zwar nicht die Räume X und Y lassen sich zwar einem umgekehrten Urknall. Tat-
jeweiligen Umkehrabbildungen durch eine stetige Transformation sächlich können derart »äquivalen-
(f∘ g ≠ 1Y), aber homotop dazu sind. ineinander umformen, aber es te« Strukturen auf den ersten Blick
Führt man also f und g hintereinan- muss keine Eins-zu-eins-Überein- extrem unterschiedlich wirken.

48 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


Homotopien definieren, beispielsweise kontinuierliche
Abbildungen von der dreidimensionalen Kugel auf X, und
in ähnlicher Weise für andere Kugeln in vier, fünf, sechs
oder mehr Dimensionen.
Besonders interessant wird es, wenn man all die Punk-
te, Pfade und Homotopien zu einer einzigen algebraischen

MATTEO FARINELLA / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2021


Struktur verbindet, also in einen gemeinsamen Raum
packt. Dieser heißt π∞(X), das ∞-Fundamentalgruppoid
von X. Dabei handelt es sich um eine ∞-Kategorie, eine
unendlich-dimensionale Erweiterung von Eilenbergs und
Mac Lanes ursprünglicher Idee. Wie die gewöhnlichen INS UNENDLICHE Man
Versionen besteht eine ∞-Kategorie aus Objekten und betrachtet nicht nur
Morphismen, die sich als eindimensionale Pfeile darstellen Transformationen zwi-
lassen. Zudem enthält sie aber auch höhere Transformatio- schen Punkten (oben),
nen, so genannte n-Morphismen, die man durch n-dimen- sondern auch zwischen
sionale Pfeile abbilden kann. Wie in herkömmlichen Kate- Morphismen (unten) –
gorien kann man sie zusammensetzen: f: X Y und g: Y Z und darüber hinaus.
ergeben kombiniert g∘f: X Z. Allerdings ist die Komposi­
tion in ∞-Kategorien nicht eindeutig.
die algebraische Geometrie bis hin zur Topologie – zu­
Zu kompliziert und zu abstrakt nehmend von zentraler Bedeutung. Die Geschichte legt
Eines der wichtigsten Axiome in der gewöhnlichen Kate­ nahe, dass man selbst die exotischste Mathematik von
gorientheorie ist die Existenz einer eindeutigen Komposi­ heute irgendwann als einfach genug ansehen wird, um sie
tion g∘f: X Z für jedes Paar von Morphismen f: X Y und künftig im Studium zu lehren.
g: Y Z. In einer ∞-Kategorie gibt es hingegen eine ganze Die abgeschwächte Einzigartigkeit aus ∞-Kategorien
Menge an Pfeilen, die von X nach Z führen. Sie lassen findet inzwischen auch außerhalb des Bereichs Anwen-
sich im ∞-Fundamentalgruppoid als eine Art »Pfadraum« dung. Zum Beispiel schlug Vladimir Voevodsky (1966–
verstehen. Die Eindeutigkeit geht in unendlich vielen 2017) zusammen mit Kollegen vor, das Prinzip für ein
Dimensionen also verloren. Dennoch ist der entstehende neues Grundlagensystem der Mathematik zu nutzen. Statt
Pfadraum nicht völlig beliebig: Die zusammengesetzten der Mengenlehre sollten demnach Ideen aus der Katego­
Pfade sind alle homotop zueinander. Das heißt, man kann rientheorie das Fundament bilden. Eng damit verbunden
sie stetig ineinander umformen. sind auch computergestützte Beweisassistenten, die
In der klassischen, mengenbasierten Welt der Mathe- formale Beweise Zeile für Zeile überprüfen. Die Program-
matik stellt das ein Problem für die Definition von ∞-Kate- me übertragen die Informationen über ein Objekt auf ein
gorien dar. Denn die Komposition lässt sich nicht mehr als anderes, das als dasselbe verstanden wird.
Operation auffassen, die jenen aus der universellen Alge­ Abstraktion kann also durchaus dabei helfen, ver­schie­
bra ähnelt. Das ist einer der Gründe, warum manche dene Konzepte besser zu verstehen. Wenn die Mathematik
Fachleute das Konzept der ∞-Kategorien als zu kompliziert die Wissenschaft der Analogie ist, das Studium der Mus-
und abstrakt ablehnen. Denn konkrete Ergebnisse wie die ter, dann ist die Kategorientheorie das Studium der Muster
Lö­sung einer Differenzialgleichung kann das Gebiet nicht des mathematischen Denkens – die »Mathematik der
liefern. Tatsächlich findet man ∞-Kategorien nur selten in Mathematik«, wie meine Kollegin Eugenia Cheng vom
den Lehrplänen der Universitäten, und es gibt viele Mathe- School of the Art Institute of Chicago es aus­gedrückt hat.
matiker, die niemals Kontakt damit hatten. Viele Details sind von dieser Ebene aus unsichtbar,
Dennoch sehe ich ∞-Kategorien als revolutionäre Me­ etwa numerische Näherungen oder überhaupt alles, was
thode an, die es ermöglicht, neue Zusammenhänge zu ent- mit Zahlen zu tun hat. Aber es ist bemerkenswert, dass
decken, die sonst unmöglich zu beweisen wären. Und mit Theoreme in Algebra, Mengenlehre, Topologie und Geo-
dieser Auffassung stehe ich nicht allein da: ∞-Katego­rien metrie manchmal aus den gleichen Gründen wahr sind.
sind für die moderne Forschung in vielen naturwissen- Wenn das der Fall ist, lassen sich diese Beweise in der
schaftlichen Bereichen – von der Quantenfeldtheorie über Sprache der Kategorientheorie ausdrücken. 
MATTEO FARINELLA / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2021

QUELLEN

Baez, J.: An introduction to n-categories. In: Moggi, E., Roso­lini,


G. (Hg.): Category theory and computer science. Springer, 1997,
S. 1–33

Cheng, E.: How to bake Pi: Easy recipes for understanding


complex maths. Profile Books 2019
KREIS Die Fundamentalgruppe des Kreises Riehl, E., Verity, D.: Infinity category theory from scratch.
­besteht aus ganzzahligen Werten. ArXiv 1608.05314, 2016

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 49


ARITHMETISCHE DYNAMIK
BEWEGTE ZAHLEN
Eine neue Disziplin kombiniert Erkenntnisse aus
der Zahlentheorie mit dynamischen Systemen,
die insbesondere in der Physik eine große Rolle
spielen. Das eröffnet eine unerwartete Verbin­
dung zwischen den zwei so unterschiedlich
anmutenden Gebieten und fördert erstaunliche
Ergebnisse zu Tage.

Kelsey Houston-Edwards ist


Mathematikerin und Wissen-
schaftsjournalistin in San Diego.

 spektrum.de/artikel/1913902
VIGNETTE (WWW.INSTAGRAM.COM/VI_NE_TE/) FÜR QUANTA MAGAZINE

UNGEAHNTE VERBINDUNG Grund­


legende Objekte der Zahlentheorie, zu
denen elliptische Kurven in Form von
Donuts gehören, hängen mit fraktalen
Mengen zusammen.

50 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik 


Physik Mathematik Technik 3.22
3.22

Joseph Silverman erinnert sich noch sehr gut an den besser verstehen – es war uns egal, ob es ein zu Grunde
Moment, der ihn zur Begründung eines neuen mathe- liegendes dynamisches System zu unserem Problem gibt.
matischen Bereichs führte. Es geschah aus einem Aber da eines existierte, konnten wir es als Hilfe benut-
Zufall heraus am 25. April 1992, bei einer Konferenz am zen«, erklärt die Mathematikerin Laura DeMarco von der
Union College in Schenectady, New York. Damals lauschte Harvard University, welche die Arbeit gemeinsam mit
er einem Vortrag seines angesehenen Kollegen John Mil- ihrer ehema­ligen Doktorandin Holly Krieger, die inzwi-
nor, der 1962 die renommierte Fields-Medaille und 2011 den schen an der University of Cambridge lehrt, und ihrem
Abelpreis erhielt. Seine Präsentation drehte sich um ein früheren Doktoranden Hexi Ye von der Universität Zhe­
Thema aus der komplexen Dynamik, über das Silverman, jiang verfasst hat.
ein Zahlentheoretiker von der Brown University, bislang nur Anlass für ihr ehrgeiziges Projekt gab eine Konferenz im
wenig wusste. Doch als Milnor einige der grundlegenden Mai 2010, bei der sich eine Gruppe von Mathematikerinnen
Ideen vorstellte, entdeckte Silverman verblüffende Ähnlich- und Mathematikern in einem kleinen Forschungsinstitut auf
keiten zu seinem eigenen Fachgebiet. »Wenn man nur ein Barbados versammelte. An diesem für einen Arbeitsaufent-
paar Wörter ändert, entsteht ein völlig analoges Problem«, halt ungewöhnlichen Ort verbrachten sie die sonnigen Tage
erinnert er sich. damit, wenige Meter vom Strand entfernt über verschiede-
Angesichts dieser unerwarteten Erkenntnis, verließ ne abstrakte Themen zu diskutieren. Auch die Vorlesungs-
Silverman den Raum voller Inspiration. Als er beim Früh- räume – ohne Wände und bloß mit einfachen Holzbänken
stück am folgenden Tag Milnor begegnete, setzte er sich zu ausgestattet – waren so konzipiert, dass man der umgeben-
ihm und löcherte ihn mit Fragen. Während ihres Gesprächs den Natur so nahe wie möglich sein konnte. »Als es an
erkannte der Zahlentheoretiker immer mehr Zusammenhän- einem Abend regnete, konnte man die Leute nicht einmal
ge der beiden so unterschiedlich wirkenden Bereiche. Er richtig hören, weil die dicken Tropfen so laut auf das Metall-
beschloss daher, ein Wörterbuch zu erstellen, das zwischen dach prasselten«, erinnert sich Silverman, der wie DeMarco
den wichtigsten Inhalten und Fragestellungen der dyna­ dabei war.
mischen Systeme und der Zahlentheorie übersetzen sollte. Trotz der Widrigkeiten und Ablenkungen markierte die
Konferenz einen entscheidenden Moment in der Entwick-
Muster in Zahlenfolgen lung der arithmetischen Dynamik. Sie brachte Fachleute
Auf den ersten Blick wirkt es so, als haben die beiden wie Silverman, der aus der Zahlentheorie kommt, mit
Gebiete kaum etwas miteinander zu tun. Doch Silverman solchen wie DeMarco und Krieger zusammen, die sich
sah, dass sie sich auf eine besondere Weise ergänzen. ursprünglich dynamischen Systemen widmeten. Ihr Ziel
Während die Zahlentheorie nach Mustern in Folgen sucht, war es, neue Anwendungsgebiete zu finden, die sich durch
erzeugen dynamische Systeme eben solche Sequenzen – die Kombination beider Perspektiven ergeben.
etwa, indem man die Position eines Planeten im Raum in Als Ausgangspunkt diente ein zentrales Objekt der
regelmäßigen Zeitabständen notiert. Somit verschmelzen Zahlentheorie: elliptische Kurven. Genau wie Kreise und
beide Welten, sobald man nach den Gesetzmäßigkeiten Linien lassen sich diese Strukturen sowohl durch Formeln
sucht, denen die geheimnisvollen Zahlenfolgen unterliegen. als auch durch geometrische Figuren ausdrücken. Algebra-
In den drei Jahrzehnten, die auf Milnors Vortrag folgten, isch kann man sie durch Zahlenpaare x und y beschreiben,
entdeckten Mathematikerinnen und Mathematiker immer die eine Gleichung wie y2 = x3 – 2x lösen – allgemein folgen
mehr Verbindungen zwischen den beiden Bereichen. Das sie der Formel: y2 = x3 + ax + b. Überträgt man die Lösun-
schaffte die Grundlage für ein völlig neues Fachgebiet: die
so genannte arithmetische Dynamik.
Die Reichweite der jungen Disziplin wächst stetig. In
einer Arbeit, die 2020 in dem prestigeträchtigen Fachjour- AUF EINEN BLICK
nal »Annals of Mathematics« veröffentlicht wurde, haben MATHEMATISCHER
zwei Mathematikerinnen zusammen mit einem Kollegen die
Analogie auf drastische und unerwartete Weise erweitert.
­BRÜCKENSCHLAG
Es gelang ihnen, ein jahrzehntealtes Problem der Zahlenthe-
orie zu lösen, das bis dahin keinerlei Zusammenhang mit
dynamischen Systemen vermuten ließ.
1 Die Zahlentheorie gehört zu den abstraktesten
mathematischen Gebieten und widmet sich
­Zahlenfolgen wie den Primzahlen.
Ihr Beweis gibt an, wie häufig eine bestimmte Kurvenart
gewisse Punkte in einem sie umgebenden Raum höchstens
schneiden kann. Zahlentheoretiker hatten sich lange ge- 2 Dynamische Systeme beschreiben hingegen
periodische Bewegungen – sie können aber
auch interessante Sequenzen hervorbringen, die
fragt, ob es eine solche Obergrenze gibt. Die Autorinnen
und der Autor des Fachartikels können die Frage nun ein- sich zahlentheoretisch untersuchen lassen.
deutig bejahen – zumindest für eine bestimmte Sammlung
von Kurven.
In ihrer beeindruckenden Arbeit nutzten sie Methoden 3 Die arithmetische Dynamik verbindet beide
­Bereiche miteinander und ermöglicht es,
lang ungeklärte Fragen beider Disziplinen
aus der arithmetischen Dynamik und erweiterten das
zu beantworten.
Repertoire um neue Werkzeuge, die sie eigens dafür
entwarfen. »Eigentlich wollten wir bloß die Zahlentheorie

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 51


dert lässt (wie die Addition mit null), zudem gibt es zu
SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

y2 = x3 + x – 1 y2 = x3 – 2x
jedem Element ein Inverses, deren Verknüpfung das neutra-
le Element liefert (etwa eine beliebige Zahl a und ihr Nega­
tives –a). Somit bilden die ganzen Zahlen mit der Addition
eine Gruppe.

Heimathafen- und Torsionspunkte


Punkte auf elliptischen Kurven besitzen ebenfalls eine
Gruppenstruktur, wodurch ihre Verknüpfung – die in diesem
Fall eine leicht abgewandelte Form der Addition – zu einem
Ergebnis führt, das auf der Kurve liegt. Diese Besonderheit
y2 = x3 – x + 1 y2 = x3 + x + 2 ermöglicht es, Zahlenfolgen zu erzeugen, die nützliche
Merkmale der zu Grunde liegenden geometrischen Objekte
preisgeben: Indem man etwa einen Punkt immer wieder zu
sich selbst addiert, entsteht eine unendlich lange Sequenz,
die Teil der elliptischen Kurve ist. Je nachdem, welchen
Startpunkt man dabei wählt, erzeugt man eine andere
Folge.
Hier kommen die bereits erwähnten Heimathafen-­
Punkte ins Spiel: Summiert man einen davon immer wieder
mit sich selbst, führt das nicht zu einer unendlichen Folge
mit neuen Zahlenwerten. Stattdessen stößt man auf eine
ELLIPTISCHE KURVEN Trotz ihrer einfach anmu­ Schleife, die irgendwann zu dem Punkt zurückkehrt, an
tenden Darstellung haben sie eine vielfältige dem man ursprünglich begonnen hat – und die Sequenz
Struktur. Das macht sie zu wichtigen Objekten in wiederholt sich ab da wieder von vorne.
der Zahlentheorie. Diese speziellen Startwerte, die Schleifen erzeugen,
heißen in der Fachliteratur Torsionspunkte. Sie spielen
insbesondere in der Zahlentheorie eine wichtige Rolle. Was
gen für reelle Zahlen x und y in ein Koordinatensystem, verblüffend ist: Sie haben eine auffallende Ähnlichkeit zu
entsteht ein Graph, der einer vertikalen Linie ähnelt, aus der einer bestimmten Art von Punkten, die in dynamischen Sys-
eine Blase herausragt. temen auftauchen. Dieser Zusammenhang war es, der
Mathematiker sind schon lange daran interessiert, Silverman vor fast 30 Jahren stutzen ließ und damit die
verschiedene Eigenschaften dieser Kurven zu untersuchen. arithmetische Dynamik ins Rollen brachte.
Das bis heute bekannteste Ergebnis ist Andrew Wiles’ Dynamische Systeme dienen oft dazu, periodische Phäno-
berühmter Beweis von Fermats großem Satz aus dem mene der realen Welt zu beschreiben. Dazu gehört das
Jahr 1994. Dieser besagt, dass Gleichungen der Form Abprallen einer Billardkugel nach den newtonschen Geset-
an + bn = cn für n größer als zwei keine ganzzahligen Lösun- zen, die Bewegungen von Galaxien, Sternen und Planeten
gen besitzen. Wiles bekam dieses überaus hartnäckige oder auch komplexe Prozesse wie das Wetter. Die zu Grunde
Problem aus dem 17. Jahrhundert in den Griff, indem er die liegenden Gleichungen sind dabei häufig rekursiv: Das heißt,
Merkmale elliptischer Kurven untersuchte. man beginnt mit einem Startwert, setzt diesen in eine Bewe-
Tatsächlich sind diese Objekte unter Mathematikern gungsgleichung ein und erhält daraus eine Ausgabe, die man
gegenwärtig sehr beliebt, weil sie einerseits einfach genug erneut in die Funktion einsetzt und so weiter.
sind, um sie gut analysieren zu können, aber andererseits Einige der relevantesten dynamischen Systeme basieren
gerade so kompliziert, dass man spannende Schlüsse aus auf einfachen Ausdrücken wie f(x) = x2 – 1, so genannten
ihnen ziehen kann. Als besonders nützlich erweisen sich quadratischen Polynomen. Polynome sind Summen aus
dabei bestimmte Punkte auf den Kurven: Sie bilden eine Art potenzierten Variablen, die mit Vorfaktoren versehen sind,
Heimathafen für eine spezielle Operation, die der Addition etwa 2xy3 + 4x + 3. Tatsächlich können solche simplen
ähnelt. Summiert man beispielsweise zwei Punkte, die sich
auf einer Geraden befinden, dann liegt das Ergebnis wieder
auf dieser Geraden. Zwar lassen sich die Punkte auf ellipti-
schen Kurven auch addieren, doch ihre Summe ist dann P+P+P+∙∙∙∙ +P
nicht zwangsläufig Teil der Kurve – häufig liegt sie irgendwo
daneben.
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

P+P+P
Interessanterweise besitzen elliptische Kurven aber eine TORSIONSPUNKTE Wenn
SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE;

spezielle interne Struktur, eine so genannte Gruppe, die eine man einen solchen Punkt
andere Art von Arithmetik zulässt. Mathematisch gesehen wiederholt zu sich selbst
P+P+P+P
ist eine Gruppe eine Menge, wobei die Verknüpfung zweier addiert, landet man irgend­
Elemente wieder Teil der Menge ist. Sie besitzt ein neu­ wann wieder am Ausgangs­ P+P
trales Element, dessen Verknüpfung alle anderen unverän- punkt.

52 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


DLD.PNG) / CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE); BEARBEITUNG: QUANTA MAGAZINE
LAGRANGIAN DESCRIPTORS. ARXIV 2001.08937, 2020 (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:BASILICA_JULIA_SET_-_
ADAM MAJEWSKI, NACH GARCÍA-GARRIDO, V.J.: UNVEILING THE FRACTAL STRUCTURE OF JULIA SETS WITH
Funktionen, die uns bereits in der Schule begegnen, kom- FRAKTAL Diese Julia-Menge ergibt sich, indem
plizierte fraktale Bilder namens Julia-Mengen erzeugen man komplexe Zahlenwerte für x in f(x) = x2 – 1
(siehe »Fraktal«). einsetzt, anschließend das Ergebnis wieder in die
Einige mögen sich darüber vielleicht wundern, da der Funktion einfügt und so weiter, und die ent­
Graph von x2 – 1 eine Parabel ist – demnach müsste das stehenden Zahlenwerte in der komplexen Ebene
rekursive Einsetzen von Ergebnissen Punkte erzeugen, die markiert.
sich alle entlang dieser Kurve befinden. Tatsächlich kann der
Graph aber kompliziertere Formen annehmen: Betrachtet
man statt den aus der Schule bekannten reellen Zahlen Krieger, Ye und DeMarco trafen sich im August 2017 am
komplexe Werte von x (also Summen aus reellen und imagi- American Institute of Mathematics in San Jose, Kalifornien,
nären Zahlen, die Wurzeln aus negativen Zahlen enthalten), das kurzfristige Forschungsprogramme ermöglicht. »Wir
erzeugen die Paare x und y ein ganz anderes Bild. Besonders verbrachten fünf Tage in einem Raum – wir mussten einige
spannend gestaltet es sich, wenn man mit einem komplexen Fragen durcharbeiten«, erinnert sich Ye. In dieser Zeit
x startet und das resultierende Ergebnis y immer wieder in entwickelten sie eine Möglichkeit, um die entscheidende
die Funktion einsetzt, wodurch eine unendliche Folge von Analogie zwischen den Torsionspunkten elliptischer Kurven
Punkten in der komplexen Ebene entsteht. und den endlichen Bahnpunkten dynamischer Systeme zu
Das ist nur ein Beispiel für ein quadratisches Polynom, erweitern. Wie sie herausarbeiteten, kann man ein be-
dessen größter Exponent 2 ist. Da viele Bewegungsglei- stimmtes zahlentheoretisches Problem, das auf den ersten
chungen in dieser Form auftreten, bilden solche Funktionen Blick nichts mit dieser unerwarteten Verbindung zu tun hat,
die Grundlage dynamischer Systeme – so wie elliptische verwandeln, um es mit Methoden aus der arithmetischen
Kurven im Fokus zahlreicher grundlegender Untersuchun- Dynamik untersuchen zu können.
gen in der Zahlentheorie stehen. Die betrachtete Fragestellung ergibt sich dabei aus der
Die Verbindung beider mathematischen Bereiche ent- so genannten Manin-Mumford-Vermutung. Diese handelt
steht, wenn man sich die Zahlenfolgen von dynamischen von »algebraischen Kurven«, die im Allgemeinen kompli-
Systemen während ihrer zeitlichen Entwicklung ansieht. Be- zierter sind als elliptische, etwa y2 = x6 + x4 + x2 – 1. Zu jeder
trachtet man zum Beispiel die quadratische Funktion solchen Kurve gehört ein größeres geometrisches Objekt,
f(x) = x2 – 1 und setzt x = 2, erzeugt man durch wiederholtes eine Art Oberfläche – genannt Jacobi-Varietät –, die be-
Einsetzen die unendliche Folge 3, 8, 63 und so weiter. Wie stimmte Eigenschaften mit der Kurve teilt und für Mathe-
bei elliptischen Kurven lösen aber nicht alle Startwerte eine matiker oft einfacher zu untersuchen ist.
stetig wachsende Sequenz aus. Beginnt man etwa mit Anders als elliptische Varianten besitzen algebraische
x = 0, ergibt sich: 0, –1, 0, –1, 0 ,... – man landet in einer Kurven nicht zwingend eine Gruppenstruktur, die es ermög-
kurzen, geschlossenen Schleife. licht, Punkte auf ihnen zu addieren, ohne die Kurve zu
Im Bereich der dynamischen Systeme nennt man Start- verlassen – aber die zugehörigen Jacobi-Varietäten schon.
punkte, für die sich die Folgen irgendwann wiederholen, Darauf finden sich zudem Torsionspunkte, die wie bei
endliche Bahnpunkte. Sie sind ein direktes Analogon zu elliptischen Kurven unter wiederholter Addition zu sich
Torsionspunkten auf elliptischen Kurven. In beiden Fällen selbst zurückkehren.
beginnt man mit einem Wert, setzt ihn entweder in die Die Manin-Mumford-Vermutung befasst sich damit, wie
dazugehörige Bewegungsgleichung oder verknüpft ihn mit oft eine algebraische Kurve, eingebettet in ihre Jacobi-­
sich selbst und landet in einem Kreislauf. Diese Überein- Varietät, deren Torsionspunkte schneidet. Bildlich kann
stimmung haben die zwei Mathematikerinnen und ihr man sich das vorstellen, als würde man die Kurve auf der
Kollege in ihrem neuen Beweis benutzt. entsprechenden Oberfläche aufzeichnen. Yuri Manin vom

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 53


Max-Planck-Institut für Mathematik in Bonn und David
Mumford von der Brown University in Rhode Island vermu-
teten vor einigen Jahrzehnten, es gäbe bloß endlich viele Schnittpunkte zählen
solcher Schnittpunkte. Die Vermutung spiegelt die wech-
selseitige Beziehung zwischen der algebraischen (weil Um herauszufinden, wie häufig eine Kurve auf
Torsionspunkte spezielle Lösungen der Gleichungen sind, einer Jacobi-Varietät gewisse Punkte schneidet,
welche die Kurve definieren) und der geometrischen (durch ließ sich eine erstaunliche Analogie nutzen:
die Einbettung in die Jacobi-Varietät) Seite einer Kurve Die Aufgabe entspricht dem Problem, die sich
wider. überschneidenden endlichen Bahnpunkte zweier
dynamischer Systeme zu finden.
Wie lassen sich die Schnittpunkte zählen?
Manins und Mumfords Verdacht erschien überraschend, da Die Jacobi-Varietät
die Torsionspunkte in jedem Bereich einer Jacobi-Varietät Das Ziel besteht darin,
gewisse Punkte auf der
verdichtet auftauchen. Das heißt, man kann in einen belie- Jacobi-Varietät einer
big kleinen Teil der Oberfläche hineinzoomen und wird Kurve zu zählen.
dabei zwangsläufig auf solche Punkte stoßen. Dennoch
sagt die Vermutung voraus, dass die eingebettete algebrai-
sche Kurve es schafft, alle Torsionspunkte – bis auf eine
endliche Anzahl – zu verfehlen. Torsionspunkte
1983 gelang es dem französischen Mathematiker Michel Die Varietäten lassen sich in zwei
elliptische Kurven aufspalten. Da
Raynaud (1938–2018), die Hypothese zu beweisen. Seitdem man diese in der komplexen
haben viele Forscherinnen und Forscher versucht, die Zahlenebene betrachtet,
bilden sie eine Art
Arbeit fortzuführen: Sie möchten nicht nur wissen, ob die Oberfläche, anstatt
Anzahl der Schnittpunkte endlich ist, sondern wollen darü- eine geschwungene
Linie darzustellen. Die
ber hinaus herausfinden, ob es eine bestimmte Obergrenze betrachteten Punkte
dafür gibt, unabhängig von der zu Grunde liegenden algeb- auf den Varietäten
raischen Kurve. Allerdings scheiterten alle Versuche, die entsprechen den Torsions-
punkten der elliptischen Kurven.
Schnittpunkte zu zählen. Es fehlte eine klare Methode, mit
der sich die komplexen Zahlen, die diese Punkte definieren,
untersuchen ließen. Endliche Bahnpunkte
Wie sich jedoch herausstellte, kann die arithmetische Die Torsionspunkte

BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Dynamik Abhilfe schaffen. In ihrer 2020 erschienenen lassen sich wiederum in

SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE;


endliche Bahnpunkte
Arbeit konnten DeMarco, Krieger und Ye zumindest für eine zweier dynamischer
gewisse Art von Kurven beweisen, dass die Anzahl ihrer Systeme übertragen.
DeMarco, Krieger und
Schnittpunkte mit der entsprechenden Jacobi-Varietät stets Ye haben bestimmt, wie
unterhalb eines festen Zahlenwerts bleibt. Dem Mathemati- häufig sie höchstens
ker Lars Kühne von der Universität Kopenhagen gelang es aufeinanderliegen.

Ende Januar 2021 in einer noch nicht vollständig begutach-


teten Arbeit sogar, eine konkrete Obergrenze für den allge-
meinen Fall anzugeben, wobei er sich auf völlig andere
Methoden stützte. Kurven keinen geschwungenen Linien, sondern ähneln
Die beiden Ergebnisse markieren einen erstaunlichen einem hohlen Donut. Das liegt daran, dass man in die zu
Fortschritt in der Zahlentheorie. Zwar hatte Raynauds frühe Grunde liegenden Gleichungen y2 = x3 + ax + b komplexe
Arbeit bereits gezeigt, dass die Anzahl der Schnittpunkte Werte einsetzt. Da sich diese aus einem Real- und einem
endlich ist – aber theoretisch konnte die Zahl beliebig groß Imaginärteil (der Wurzeln negativer Zahlen enthält) der
ausfallen. Sie hätte je nach betrachteter Kurve immer weiter Variablen x und y zusammensetzen, ist der betrachtete
anwachsen können. DeMarco, Krieger und Ye haben hin­ Raum vierdimensional – und der Graph der Kurve be-
gegen eine Grenze festgelegt – auch wenn sie den genauen schreibt eine Art dreidimensionale »Oberfläche«.
Zahlenwert nicht identifizieren konnten. Sie haben aller- Die Jacobi-Varietäten der von DeMarco, Krieger und Ye
dings beweisen, dass sie existiert und zudem eine Reihe untersuchten algebraischen Kurven sehen dabei wie hohle
von Schritten angegeben, die nötig sind, um die Zahl zu Donuts mit zwei Löchern aus. Die Objekte lassen sich in
bestimmen. zwei gewöhnliche Donuts mit je einem Loch aufspalten,
Diese beeindruckende Leistung gelang ihnen, indem sie die man jeweils durch eine elliptische Gleichung beschrei-
das Problem einschränkten. Sie fokussierten sich auf eine ben kann. Diese Eigenschaft konnte das Trio nutzen, um die
bestimmte Art von Kurven, deren Jacobi-Varietät in zwei Anzahl der Schnittpunkte zwischen den betrachteten alge-
elliptische Kurven aufgeteilt werden kann. braischen Kurven und den Torsionspunkten ihrer Jacobi-
Es mag erstaunlich erscheinen, dass eine Varietät, die Varietäten zu bestimmen: Denn tatsächlich entspricht der
eine Art Oberfläche darstellt, sich derart zerlegen lässt. gesuchte Wert den Überschneidungen der Torsionspunkte
Doch in diesem Fall sind die dazugehörigen elliptischen beider elliptischer Kurven, welche die Varietät beschreiben.

54 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


Um eine Obergrenze für die Manin-Mumford-Vermutung zu DeMarco, Krieger und Ye haben in ihrer Arbeit unter-
formulieren, mussten die Autoren also die beiden Donuts sucht, wie häufig die Nullstellen der Höhenfunktionen für
übereinanderlegen und herausfinden, wie oft die jeweiligen die zwei betrachteten dynamischen Systeme zusammenfal-
Torsionspunkte zusammenfallen. len. Wie sie herausfanden, verteilen sich diese Punkte über
Dieses Vorhaben ließ sich jedoch nicht direkt umsetzen, die gesamte komplexe Ebene, was es unwahrscheinlich
weil die elliptischen Kurven stark unterschiedliche Formen macht, dass sie aufeinanderliegen – so unwahrscheinlich
annehmen können, was eine Untersuchung unter Umstän- sogar, dass es nicht öfter als eine bestimmte Anzahl von
den unmöglich macht. Es ist, als würde man Punkte auf der Malen geschehen kann.
Oberfläche einer Kugel mit denen auf einem Würfel ver­ Anschließend übersetzten sie das Problem zurück in die
gleichen. »Wir können die Torsionspunkte nicht wirklich Sprache der Zahlentheorie. So konnten sie beweisen, dass
zueinander ins Verhältnis setzen, weil sie auf verschiedenen eine feste Grenze existiert: eine maximale Anzahl gemeinsa-
geometrischen Objekten leben«, erklärt Krieger. Daher mer Torsionspunkte auf zwei elliptischen Kurven. Allerdings
suchte das Team nach einer Möglichkeit, um die Punkte auf ist es erstaunlich schwer, den Grenzwert exakt zu berech-
andere Weise zu untersuchen: zum Beispiel, indem man sie nen. Würde man ihn dennoch ihrer Überlegung folgend
von ihren jeweiligen Oberflächen abhebt und dann überein- bestimmen, fiele der Wert höchstwahrscheinlich viel grö-
anderlegt – ungefähr so, wie man eine Sternkarte an den ßer aus, als die tatsächliche maximale Anzahl übereinstim-
Nachthimmel anpasst. mender Punkte.

Mathematische Sternkarten Eine ehrgeizige Vision


Zwar sind solche mathematischen Sternkarten bekannt, Ihr Ergebnis markiert einen deutlichen und unerwarteten
aber zu diesem Zeitpunkt gab es keine geeignete Perspekti- Fortschritt auf dem Gebiet der arithmetischen Dynamik.
ve, um die aufeinanderliegenden Punkte zu zählen. Doch »Sie waren in der Lage, eine Frage zu beantworten, die nur
die arithmetische Dynamik ermöglichte es DeMarco, Krie- innerhalb der Zahlentheorie existierte und von der niemand
ger und Ye, einen passenden Blickwinkel zu finden. Dazu dachte, dass sie irgendwie mit dynamischen Systemen zu-
übersetzten sie die beiden elliptischen Kurven zunächst in sammenhängt«, so Patrick Ingram von der York University in
zwei verschiedene dynamische Systeme. Obwohl die zu Toronto. Silverman sieht die aktuellen Arbeiten eher als Vision,
Grunde liegenden Oberflächen unterschiedliche Räume die darauf hinweist, wozu die neue Disziplin noch alles führen
beschreiben, ist das bei den entsprechenden dynamischen kann. »Die bewiesenen Theoreme sind Spezialfälle dessen,
Systemen nicht so. Die endlichen Bahnpunkte erscheinen was große Vermutungen sein sollten«, erklärt er.
für beide in ein und demselben Raum, der komplexen Kurz nach der Vorveröffentlichung ihrer Arbeit brachten
Ebene, wodurch sie sich vergleichen lassen. »Es ist einfa- DeMarco, Krieger und Ye einen zweiten, damit zusammen-
cher, sich einen Raum mit zwei separaten dynamischen hängenden Aufsatz heraus. In diesem gingen sie die Aufga-
Systemen vorzustellen, als zwei separate Räume mit einem be aber umgekehrt an: Sie befassen sich mit einer Frage,
dynamischen System«, so DeMarco. die ursprünglich aus dem Bereich der dynamischen Syste-
Dank der arithmetischen Dynamik wussten die drei me stammt, und verwenden Methoden der arithmetischen
Studienautoren, dass die endlichen Bahnpunkte der bei- Dynamik, um sie zu beantworten. »In gewissem Sinn ist es
den dynamischen Systeme den Torsionspunkten der dasselbe Argument, angewandt auf zwei verschiedene
elliptischen Kurven entsprechen. Um eine obere Grenze Beispiele«, sagt DeMarco. Die beiden Arbeiten bilden damit
für die Manin-Mumford-Vermutung festzulegen, mussten ein Paradebeispiel für die Mächtigkeit der Analogie, die
sie nur zählen, wie viele dieser Bahnpunkte aufeinander- Silverman vor fast 30 Jahren bemerkte.
fallen. Da sie nicht ein konkretes Beispiel lösen, sondern
eine Obergrenze für jede algebraische Kurve dieser Art QUELLEN
finden wollten, griffen sie auf eine Methode aus dem DeMarco, L. et al.: Uniform Manin-Mumford for a family of
Bereich der dynamischen Systeme zurück. Dafür nutzten genus 2 curves. Annals of mathematics 191, 2020
sie eine Funktion, die bestimmt, wie stark der Wert einer
DeMarco, L. et al.: Common preperiodic points for quadratic
Zahl maximal anwachsen kann, wenn man sie wiederholt polynomials. ArXiv 1911.02458, 2019
zu sich selbst addiert.
Kühne, L.: Equidistribution in families of Abelian varieties and
Auf elliptischen Kurven verändern sich Torsionspunkte uniformity. ArXiv 2101.10272, 2021
bei einem solchen Verfahren langfristig gesehen kaum, da
sie irgendwann immer zu ihrem ursprünglichen Wert zu- Raynaud, M.: Courbes sur une variété abélienne et points de
torsion. Inventiones mathematicae 71, 1983
rückkehren. Dieses ausbleibende Wachstum lässt sich
anhand einer so genannten Höhenfunktion messen. Sie ist
gleich null, wenn man sie auf die Torsionspunkte ellipti- Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und bearbeitete
scher Kurven anwendet – zudem verschwindet sie, sobald Fassung des Artikels »Mathematicians Set Numbers in Motion to
Unlock Their Secrets« aus »Quanta Magazine«, einem inhaltlich
man endliche Bahnpunkte dynamischer Systeme einsetzt. unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbrei-
Das macht Höhenfunktionen zu einem bedeutenden Werk- tung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Natur-
zeug der arithmetischen Dynamik, denn man kann sie wissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
sowohl auf der zahlentheoretischen Seite als auch für
dynamische Systeme verwenden.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 55


WINHORSE / GETTY IMAGES / ISTOCK
PERKOLATIONSTHEORIE
FOLGENSCHWER VERKNÜPFT
Ursprünglich in der Chemie angesiedelt, beleuchtet
die Perkolationstheorie inzwischen das Verhalten
verschiedenster Netzwerke: von Mobilfunkverbin-
dungen bis zur Übertragung von Krankheiten.

Kelsey Houston-Edwards ist Mathe­


matikerin und Journalistin in San
Diego.

 spektrum.de/artikel/1959655

DEZENTRALE VERBINDUNG
Auf solche Kommunikationsstrukturen
setzten die Demonstranten während
der Proteste in Hongkong, um sich zu
organisieren.

56 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik 


Physik Mathematik Technik 3.22
3.22
WINHORSE / GETTY IMAGES / ISTOCK

AUF EINEN BLICK


PHASENÜBERGÄNGE
IN NETZWERKEN

1 Fügt man zufällige Punkte und Verbindungen zu


einem Netz hinzu, findet irgendwann schlagartig
ein Übergang statt: Plötzlich hängt das System
großflächig zusammen.

2 Modelle zu derartigem Verhalten können zahlreiche


reale Phänomene beschreiben, etwa Internet­
inhalte, die massenhaft geteilt werden, oder Krank­
heiten, die sich zur Pandemie entwickeln.

3 Die Perkolationstheorie untersucht solche Prozes­


se. Angesichts unserer zunehmend verknüpften
Welt nimmt der Forschungsbereich eine immer
wichtigere Rolle ein.

Spektrum
SpektrumSPEZIAL 
SPEZIAL Physik Mathematik Technik 
Physik Mathematik Technik  3.22 57

Viele Menschen gehen wahrscheinlich davon aus, das gänge stattfinden, die einen abrupten Wechsel von einem
Klicken auf »Senden« befördere eine Textnachricht Zustand in den nächsten aufweisen.
direkt an das Smartphone des Empfängers. In Wirk­ Reale Systeme sind hingegen meist endlich und un­
lichkeit begibt sie sich aber auf eine lange Reise durch ein übersichtlich. Auch in ihnen finden Übergänge statt, aller­
Mobilfunknetz oder das Internet, bis sie bei ihrem Ziel dings weniger scharf ausgeprägt. Trotz solcher Schwierig­
ankommt. Das funktioniert zwar recht zuverlässig, doch die keiten wird die Perkolationstheorie praktisch immer rele­
Übertragung benötigt eine zentrale Infrastruktur. Naturkata­ vanter angesichts der komplexen Strukturen, die unser
strophen können sie beschädigen oder repressive Regie­ Leben prägen, wie das Nahverkehrsnetz, das Stromnetz
rungen abschalten beziehungsweise überwachen. Weil oder soziale Medien.
Demonstranten in Hongkong Letzteres fürchteten, verzich­ Die Grundlagen des Forschungsbereichs schufen die
teten sie darauf, über das Internet zu kommunizieren. britischen Mathematiker Simon Ralph Broadbent und John
Stattdessen nutzten sie Anwendungen wie FireChat und Michael Hammersley, als sie 1957 die so genannte chemi­
Bridgefy, die Nachrichten direkt zwischen nahegelegenen sche Perkolation untersuchten. Diese beschreibt das Filtern
Geräten übertragen. eines Fluids durch ein Material, etwa wenn Öl durch porö­
Die Apps lassen Daten unbemerkt von einem Nutzer ses Gestein sickert oder Wasser durch gemahlenen Kaffee
zum nächsten hüpfen, wobei nur der Absender und der fließt. Die Struktur eines Stoffs lässt sich dabei als Netz­
Empfänger den Text lesen können. Die verbundenen Han­ werk modellieren, dessen Knoten die Löcher und dessen
dys bilden ein so genanntes vermaschtes Netzwerk (siehe Kanten die Risse darstellen, durch die sich die Flüssigkeit
»Vermaschtes Netzwerk«), das eine flexible und dezentrale bewegt.
Art des Kontakts ermöglicht. Doch damit sich zwei Perso­ Wie sich herausstellt, kann sich Öl beispielsweise besser
nen austauschen können, müssen sie über eine Kette den Weg durch Gestein bahnen, je stärker dieses zerklüftet
anderer benachbarter Geräte zusammenhängen. ist – was nicht wirklich überrascht. Mit Hilfe der von ihnen
Wie viele Nutzer braucht ein vermaschtes Netz, um quer entwickelten Theorie konnten Broadbent und Hammersley
durch Hongkong kommunizieren zu können? Die Perkola­ allerdings auch eine unerwartete Voraussage treffen. Wenn
tionstheorie, ein Teilgebiet der Mathematik, liefert eine die Anzahl der Risse in einem idealisierten Stoff einen
überraschende Antwort: Schon wenige Menschen machen ge­wissen Schwellenwert überschreitet, durchdringt das Öl
den Unterschied aus. Während Personen einem Netz beitre­ nicht mehr nur noch vereinzelte Bereiche, sondern fast das
ten, bilden sich langsam isolierte Bereiche verbundener gesamte Material.
Geräte aus. Eine vollständige Kommunikation von Ost nach Schnell fand die Perkolationstheorie Einzug in andere
West oder Nord nach Süd entsteht jedoch ganz plötzlich, wissenschaftliche Disziplinen. In der Geologie untersucht
sobald die Nutzerdichte eine kritische Schwelle überschrei­ man damit die Größe von Clustern in zerklüftetem Gestein,
tet. Fachleute bezeichnen ein solches Phänomen als Phasen­ was insbesondere für die Ölförderung durch Fracking
übergang – dasselbe Konzept, mit dem sich abrupte Ände­ wichtig ist. Seismologinnen und Seismologen greifen
rungen im Zustand eines Materials wie das Schmelzen von hingegen auf die mathematische Theorie zurück, um Erdbe­
Eis oder das Sieden von Wasser erklären lassen. ben zu modellieren. Die Netzwerke entsprechen dabei den
beobachteten Rissen einer Gesteinsschicht. Um ebenso die
Eine vollkommene Verkettung Spannungen der einzelnen Schichten zu berücksichtigen,
von Objekten passt man die Wahrscheinlichkeiten dafür an, dass sich
Die Perkolationstheorie untersucht das Verhalten von Netz- gewisse Kanten miteinander verbinden. Nehmen die Span­
werken, denen man zufällig Punkte hinzufügt oder entfernt. nungen zu, wachsen die Cluster, bis plötzlich ein Beben
Jeder Knoten steht für ein Objekt, etwa ein Telefon oder ausbricht. Innerhalb der Modelle können sich die Risse
eine Person; die Kanten stellen eine bestimmte Beziehung zudem wieder schließen und neu aufbrechen, wodurch sich
zwischen ihnen dar. Mit wachsenden Verbindungen kommt Nachbeben und langfristige Veränderungen beschreiben
irgendwann schlagartig ein flächendeckender Cluster auf, lassen.
innerhalb dessen man jeden Punkt erreichen kann. Darüber hinaus beleuchtet die Perkolationstheorie physi­
Die dringendste Frage des Gebiets lautet: Wann? Was ist kalische und chemische Prozesse auf mikroskopischer
die kritische Dichte eines Netzwerks – das Analogon zu Ebene: etwa die Verbindung einfacher Moleküle, so ge­
einer Temperatur von 100 Grad Celsius, bei der Wasser nannte Monomere, zu größeren Strukturen, den Polymeren.
kocht? Der Forschungsbereich eröffnet nicht nur zahlreiche Jedes Monomer entspricht dann einem Knoten in einem
Anwendungen, sondern ist zudem hochaktuell. Denn damit Netzwerk, wobei benachbarte Punkte spontan eine Bin­
lässt sich beurteilen, wann ein Meme viral geht, ein Produkt dung eingehen können. Nimmt die Wahrscheinlichkeit
den Markt dominiert, ein Erdbeben beginnt oder sich eine dafür zu, erreicht das System irgendwann einen Schwellen­
Krankheit zur Pandemie entwickelt. wert und es entsteht ein riesiges Polymer. Das passiert
Bevor sich Mathematikerinnen und Mathematiker aber unter anderem, wenn man gelöstes Gelatinepulver in
realen Phänomenen zuwenden, die in der Regel extrem Wasser gibt und sich eine feste Masse bildet.
kompliziert ausfallen, konzentrieren sie sich zunächst auf Um zerklüftetes Gestein oder Polymere darzustellen,
einfachere Fälle: idealisierte Netzwerke, die symmetrisch muss man allerdings auf äußerst komplizierte Netzwerke
aufgebaut und unendlich ausgedehnt sind. Tatsächlich zurückgreifen. Es ist nahezu unmöglich, sie genau zu be­
können nur in unbegrenzten Graphen richtige Phasenüber­ schreiben – geschweige denn zu analysieren. Wie Broad­

58 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


lich ausgedehnter Cluster? »Für uns ist es viel einfacher, das
mit Ja oder Nein zu beantworten als anzugeben, wie viele
Vermaschtes Netzwerk
Vermaschtes Netzwerk
Cluster es von einer bestimmten Größe gibt«, so der Mathe­
matiker Benedikt Jahnel vom Weierstraß-Institut für Ange­
wandte Analysis und Stochastik in Berlin.
Überraschenderweise haben zufällige Netzwerke entwe­
der ganz sicher einen unendlich ausgedehnten Cluster oder
nicht: Die Wahrscheinlichkeit beträgt 100 oder 0 Prozent,
aber nichts dazwischen – unabhängig von den Details des
Modells. Der Grund dafür ist ein erstaunliches Prinzip aus
der Wahrscheinlichkeitstheorie, dem so genannten Null-
Eins-Gesetz, das der russische Mathematiker Andrej Kol­
mogorow in den 1930er Jahren formulierte. Dieses betrifft

JEN CHRISTIANSEN / WEE PEOPLE FONT BY ALBERTO CAIRO & SCOTT KLEIN / SCIENTIFIC AMERICAN APRIL 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
alle Fragen, die nicht von einer endlichen Anzahl von Ereig­
nissen abhängen. Angenommen, man wirft unendlich oft
eine Münze und möchte herausfinden, ob unendlich häufig
die Kopfseite oben lag. Die Antwort darauf bleibt gleich,
selbst wenn man zahlreiche – aber eben nur endlich viele –
Wurfergebnisse ändert. Anders verhält es sich hingegen,
falls man am Ausgang des dritten Wurfs interessiert ist.
Dieser Über­legung folgend hängt die Wahrscheinlichkeit,
einen unend­lichen Cluster zu finden, nicht davon ab, ob nun
dieses oder jenes Rohr offen ist.

Ein Rohrsystem als Analogie


Aber was ist für die Konnektivität entscheidend? Die Ant­
wort liegt in der Wahrscheinlichkeitsverteilung, also der
Münze, die den Zustand der Kanten bestimmt. Stellen Sie
sich dazu einen Regler vor, der das Geldstück in die eine
oder andere Richtung zinkt. Ist er ganz nach links gedreht,
landet es stets auf »zu«, und alle Rohre sind geschlossen –
es kann keinen unendlichen Cluster geben. Dreht man den
Regler allmählich auf, zeigt die Münze immer häufiger
»offen« an. Am Ende ist jede Verbindung geöffnet und das
Wasser kann überall hinfließen. Das heißt, die Wahrschein­
lichkeit für einen unendlichen Cluster muss an irgendeinem
Punkt, während man den Regler gedreht hat, von null auf
eins gesprungen sein. Für ein quadratisches Gitter lässt sich
bent und Hammersley aber herausgefunden haben, lassen die so genannte Perkolationsschwelle exakt berechnen: Die
sich die komplexen Strukturen durch periodische Systeme abrupte Änderung findet statt, sobald sich der Drehknopf in
annähern. der Mitte befindet, also bei einer fairen Münze.
Das einfachste Beispiel für ein geordnetes Netzwerk ist Ziel der Perkolationstheorie ist es, den Schwellenwert für
ein quadratisches Gitter, das wie ein unendlich ausgedehn­ verschiedenste Arten von Netzwerken zu bestimmen. Doch
tes Blatt Millimeterpapier aussieht: Die Knoten sind in das ist alles andere als leicht. Selbst für ein quadratisches
einem rechteckigen Muster angeordnet und durch jeweils Gitter – das einfachste System – stellte die Aufgabe eine
vier Kanten mit ihren Nachbarn verbunden. Zur Untersu­ gewaltige Herausforderung dar, die der Mathematiker Harry
chung der Bewegung einer Flüssigkeit durch ein solches Kesten erst 1980 gelöst hat. Trotz jahrzehntelanger Bemü­
Gebilde kann man sich die Linien als Rohre vorstellen, die hungen sind die Perkolationsschwellen nur für wenige
entweder geöffnet oder geschlossen sind. Der Zustand äußerst simple Beispiele bekannt.
wird durch eine Wahrscheinlichkeitsverteilung bestimmt, »Es ist erstaunlich, wie viele verschiedene Systeme man
das heißt, man lässt für jede Kante eine Münze entschei­ bereits untersucht hat«, so der statistische Physiker Robert
den, ob sie offen oder zu ist. Damit entsteht ein zufälliges M. Ziff von der University of Michigan. Er hat eine Wikipe­
Netzwerk mit offenen Clustern, deren Knoten also aus­ dia-Seite zusammengestellt, in der die Werte für hunderte
schließlich mittels durchlässiger Rohre verbunden sind. unterschiedliche Netzwerke verzeichnet sind. Für das
Die Perkolationstheorie befasst sich mit der Konnektivi­ Dreiecksgitter konnten Fachleute beispielsweise das Ergeb­
tät des Systems, das heißt der Größe solcher Cluster. Weil nis 0,347 exakt berechnen. Die meisten Perkolationsschwel­
es jedoch sehr kompliziert ist, diese Eigenschaft in zufälli­ len (darunter für ein dreidimensionales quadratisches Gitter)
gen Strukturen zu bemessen, wandeln Fachleute die Frage sind hingegen bloß Näherungen, die man mit Hilfe von
um, indem sie sie auf die Spitze treiben: Existiert ein unend­ Computersimulationen gefunden hat.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 59


Derartig regelmäßige Modelle eignen sich gut, um die
Perkolation in relativ statischen physikalischen Systemen zu
simulieren, etwa in zerklüftetem Gestein, wo die Löcher an Phasenübergang
festen Stellen sitzen und bloß die Risse zufällig auftreten.
Andere Netzwerke sind jedoch weitaus komplizierter. In den Punkte = 6
eingangs erwähnten FireChat- und Bridgefy-Netzen ändern
sich etwa die Standorte der Knoten, sobald sich die Personen
Punkt
bewegen (siehe »Phasenübergang«). Dabei entstehen und
verschwinden die Verbindungen zwischen den Geräten
immer wieder, denn die Apps basieren auf Bluetooth und Kante

haben eine Reichweite von lediglich zirka zehn Metern.


Für solche Netzwerke verwendet man die so genannte
kontinuierliche Perkolationstheorie, bei der die Knoten jeden
Platz im Raum einnehmen können. Wie alle mathematischen Punkte = 7
Modelle basiert auch diese Version auf Vereinfachungen:
Man nimmt an, die Smartphones seien zufällig verteilt und
ihre Verbindung hänge nur von der Entfernung ab, ohne
Wände oder andere Störungen zu berücksichtigen.

Verbindungen stärken
Es gibt zwei Möglichkeiten, die Konnektivität derartiger
Netzwerke zu steigern. Entweder man erhöht die Reichwei­
te der Geräte oder man vergrößert die Nutzerdichte. Diese Punkte = 8
Parameter entsprechen den Drehknöpfen der Theorie,
ähnlich wie das Zinken der Münze im Rohrnetz. Entwickler
von entsprechender Software müssen sich mit solchen
Überlegungen beschäftigen, um ein möglichst zusammen­
hängendes Netzwerk zu kreieren. Die zentrale Frage lautet:
»Wie hoch muss die Sendeleistung sein, damit ein verbun­
denes Netzwerk entsteht?«, so der leitende Wissenschaftler
Ram Ramanathan des Unternehmens goTenna. Die Antwort
wäre recht einfach, wenn Leistung proportional mit der Punkte = 9
Konnektivität zunehmen würde. Da es jedoch eine Perkola­
tionsschwelle gibt, kann das Netz plötzlich zusammenbre­
chen, sobald sich einzelne Personen bewegen. Die optimale
Sendeleistung stellt sicher, dass das System immer verbun­

JEN CHRISTIANSEN / WEE PEOPLE FONT BY ALBERTO CAIRO & SCOTT KLEIN / SCIENTIFIC AMERICAN APRIL 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
den ist, ohne dabei Energie zu verschwenden.
Auch der andere Regler kann entscheidend sein. Ver­
maschte Netzwerke brauchen eine Mindestanzahl an Nut­
zern, damit sie funktionieren. Daher eignen sie sich beson­
ders gut für Massenveranstaltungen wie Musikfestivals, Fuß­ Punkte = 10
ballspiele oder Demonstrationen. Wie Jorge Rios, CEO und
Mitbegründer von Bridgefy, berichtet, verzeichnete das
Unternehmen in Zeiten ziviler Unruhen in Kaschmir, Nigeria,
Hongkong und im Iran einen enormen Zuwachs an neuen
Nutzern. Die Menschen wandten sich solchen Apps zu, um
die Kommunikation aufrechtzuerhalten, falls die Regierung
das Internet abschalten würde oder große Menschenmen­
gen die Mobilfunkverbindungen überlasten. Einige Stadtteile
Punkte = 11
wie Red Hook in Brooklyn, New York, nutzen vermaschte
Netzwerke, um den Internetzugang zu erweitern, indem sie
permanente Knotenpunkte auf den Dächern von Gebäuden
anbringen. Zwar befindet sich ein Großteil der erforderlichen
Hardware und Routing-Technologie noch in der Entwicklung,
aber es fällt leicht, sich künftige Anwendungen vorzustellen:
Autonome Fahrzeuge könnten beispielsweise direkt mitein­
ander kommunizieren und Informationen über die Verkehrs­
lage oder Gefahren austauschen, ohne auf eine zusätzliche
Infrastruktur angewiesen zu sein.

60 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


Obwohl sich die bisher besprochenen Systeme – von
porösen Felsen über Polymere bis zu Kommunikation – teil­
weise stark voneinander unterscheiden, haben sie doch
eine Gemeinsamkeit. Die Distanz der Knoten entspricht
Quadratisches Gitter
tatsächlich der räumlichen Entfernung. Bei Netzwerken, die Wenn die Wahrscheinlichkeit ⅓ beträgt, hat jedes
etwa die Ausbreitung von Krankheiten beschreiben, hängt Rohr die Chance von einem Drittel, geöffnet zu
eine Verbindung hingegen vom Übertragungsweg des sein. In diesem Beispiel aus neun mal neun Knoten
Keims ab. Dadurch sind die Modelle besonders verworren. kann in die Mitte gegossenes Wasser nur sechs
Eine infizierte Person, die eine Stunde in einem Nachtklub weitere Knoten erreichen.
in einer Großstadt verbringt, kann ein Virus an jemanden
übertragen, der es in den folgenden Tagen durch das ganze geschlossenes Rohr (schwarz)
Land oder sogar über Kontinente hinwegträgt.
Epidemiologen beschreiben solche Vorgänge meist
durch simple Modelle, die Menschen in drei Gruppen
einteilen: Anfällige, Genesene und Infizierte, wobei Letztere
geschlossenes Rohr (schwarz)
die Krankheit an zufällig ausgewählte Personen der ersten
Kategorie weitergeben. Dabei wird angenommen, dass sich
jeder Anfällige mit gleicher Wahrscheinlichkeit ansteckt,
unabhängig vom Alter oder Gesundheitszustand. Die An­
steckungsrate hängt von der Basisreproduktionszahl R₀ ab,
der durchschnittlichen Zahl der Neuinfektionen, die eine
erkrankte Person verursacht. Ist R₀ größer als eins, breitet
sich das Virus aus.
In der Praxis beeinflusst jedoch die Art und Weise, wie
Menschen miteinander umgehen, die Ausbreitung einer
Krankheit. Bei einem Ausbruch des schweren akuten respira­
torischen Syndroms (Sars) im Jahr 2003 lagen die berechne­
ten R₀-Werte beispielsweise zunächst zwischen 2,2 und 3,6.
Die Zahl der Fälle war aber viel niedriger als erwartet. Lauren
Ancel Meyers, während der Covid-19-Pandemie Leiterin des
Expertenteams der University of Texas, erklärte 2006, die
Diskrepanz ergebe sich aus der falschen Annahme, dass sich
»alle empfänglichen Personen mit gleicher Wahrscheinlich­ Beträgt die Wahrscheinlichkeit hingegen ¾, dann
keit infizieren« – was jedoch die komplexe Form menschli­ hat jedes Rohr eine Chance von drei Vierteln,
cher Kontakte außer Acht lasse. Insbesondere basierten die geöffnet zu sein. In diesem Beispiel fließt in die
angegebenen R ­ ₀-Werte für Sars auf der raschen Ausbreitung Mitte eingegossenes Wasser zu allen Seiten bis an
innerhalb von Wohn- und Krankenhäusern, in denen Einzel­ den Rand.
personen außergewöhnlich eng zusammenleben. Da Ange­
steckte sehr schnell erkrankten, landeten sie in isolierten
Krankenstationen, bevor sie viele Menschen außerhalb
dieser Einrichtungen infizieren konnten.

Netzwerke für Virenausbreitungen


JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN APRIL 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Je nach Krankheit stehen die Kanten eines Netzwerks für


unterschiedliche Beziehungen. Bei HIV sind zwei Personen
zum Beispiel miteinander verbunden, wenn sie Körperflüs­
sigkeiten ausgetauscht haben. Bei Covid-19 entsprechen sie
hingegen einem engen Kontakt ohne Atemschutz. Maß­
nahmen wie das Schließen von Geschäften und das Ein­
schränken von Reisen verändern die Struktur des Systems,
ebenso wie Maskenpflicht und körperlicher Abstand. Eine
Herausforderung für Epidemiologen besteht darin, Wege zu
finden, die Netzwerke zu entkoppeln, um die Übertragung
einzudämmen.
Phänomene der realen Welt, wie die Ausbreitung von
Covid-19, sind äußerst kompliziert zu beschreiben. Selbst
wenn man die genaue Struktur eines Systems kennen wür-
de, ließe es sich kaum mathematisch analysieren. Indem
Fachleute Computersimulationen mit intensiver Datenana­

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 61


Um das herauszufinden, reduzieren Epidemiologen die
Systeme auf das Wesentliche, etwa auf die »Gradvertei­
Gittermodelle lung«. Der Grad entspricht der Anzahl an Kanten, die auf
einen Punkt treffen. Im quadratischen Gitter haben alle
Um Netzwerke zu untersuchen, vergleichen Fach­ Knoten den Grad vier. Bei Infektionsmodellen variiert dieser
leute die Systeme oft, indem sie diese durch gitter­ jedoch stark: Manche Personen haben zahlreiche Kontakte
förmige Anordnungen annähern. Man kann etwa und können die Krankheit an viele Menschen weitergeben,
annehmen, die betrachteten Objekte würden sich während andere ziemlich isoliert sind.
in einem Dreiecks- oder kubischen Gitter im Raum Für Infektionen entspricht die Gradverteilung der Wahr­
verteilen. scheinlichkeit, dass eine Person eine bestimmte Anzahl
Menschen infiziert. Um nachzuvollziehen, wie sich das auf
die Perkolationsschwelle auswirkt, erzeugen Fachleute wie
Dreiecks-
Meyers tausende zufällige Netzwerke mit gleicher Gradver­
gitter
teilung und vergleichen deren Eigenschaften mit denen
realer Systeme. Wie sich herausstellt, sinkt der Schwellen­
wert, wenn das Netzwerk eine breitere Verteilung aufweist.
Das heißt, eine Krankheit breitet sich schneller aus, wenn
es sowohl stark vernetzte als auch isolierte Personen ent­
hält, als wenn jeder ungefähr gleich viele Kontakte hat.
Die Perkolationstheorie wird darüber hinaus in völlig
anderen Bereichen eingesetzt: etwa zur Untersuchung, wann
ein Meme in einem sozialen Netzwerk viral wird, oder wie
ein Produkt einen Markt dominieren könnte. Wählermodelle,
bei denen Menschen ihre Gemeinschaft beeinflussen, zeigen
kubisches ebenfalls die charakteristischen Schwelleneffekte.
Gitter Im Gegensatz zu idealisierten Netzwerken sind die aus
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN APRIL 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

realen Beispielen abgeleiteten Systeme endlich und unüber­


sichtlich. Um sie zu untersuchen, pendeln Fachleute zwi­
schen reiner Mathematik und Computersimulationen hin
und her. Die idealisierten Netze ermöglichen es, detaillierte
Computermodelle für realistische Fälle zu erstellen, wäh­
rend die Ergebnisse der Simulationen dabei helfen, die
theoretischen Parameter anzupassen.
Viele wichtige Modelle zur Ausbreitung von Covid-19 ent­
halten Informationen anderer Systeme. Schulische Struktu­
ren, Zugrouten und Dienstpläne von Krankenhausmitarbei­
tern bilden allesamt Graphen – und jedes beeinflusst den
Verlauf der Pandemie. »Wir leben in einer Welt gekoppelter
Netzwerke. Man kann nicht nur über eines nachdenken,
ohne die Konsequenzen abzusehen, welche die anderen mit
sich bringen«, so Raissa D’Souza von der University of
California in Davis. Jedes Exemplar sei ein einzigartiges
System mit eigenem Verhalten.
lyse auswerten, können sie Fallzahlen vorhersagen, die Aus­ Allerdings gibt es noch keinen theoretischen Rahmen,
wirkungen von Sicherheitsabständen bewerten und die um solche Netze aus Netzen zu untersuchen. Künftig möch­
Rolle von Schulen und Restaurants bei der Verbreitung des ten Fachleute herausfinden, wie die Eigenschaften der ein-
Virus quantifizieren. zelnen Bestandteile das Gesamtsystem beeinflussen. »Wir
Alessandro Vespignani, ein Theoretiker für komplexe leben weder in einer Blase noch in einem völlig durch­
Netzwerke an der Northeastern University in Boston, be­ mischten Universum. Die Welt besteht aus Kontakten, wir
zeichnet die Arbeit als »gelegentlich chaotisch«. Doch folgen Twitter-Accounts. Das sind Fälle, an denen Perkola­
Poli­tikerinnen und Politiker sowie Mitarbeiter des Gesund­ tion und andere Modelle Einzug halten«, so Vespignani. 
heitswesens benötigen die Ergebnisse, um fundierte Ent­
scheidungen zu treffen.
Außerhalb von Krisenzeiten entwickeln Forscherinnen QUELLEN
und Forscher die Modelle weiter, passen verschiedene Broadbent, S. R., Hammersley, J. M.: Percolation processes.
Versionen an und entwerfen maßgeschneiderte Ansätze, Mathematical Proceedings of the Cambridge Philosophical
um die Resultate zu verbessern. Die Perkolationstheorie Society 53, 2008
hilft zu verstehen, wie die Eigenschaften eines Netzwerks Vespignani, A. et al.: Modelling COVID-19. Nature Reviews
die Ausbreitung einer Krankheit beeinflussen. Physics 2, 2020

62 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


FREISTETTERS FORMELWELT
UNENDLICH VIEL BIER
FRANZI SCHÄDEL (WWW.FLORIAN-FREISTETTER.AT/SHOW_CONTENT.PHP?HID=8) /

NACH FEIERABEND
CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)

Selbst wenn zahllose Menschen in eine Kneipe gehen,


trinken sie nicht zwingend alle Vorräte leer.

Florian Freistetter ist Astronom, Autor und


Wissenschaftskabarettist bei den »Science Busters«.

 spektrum.de/artikel/1634756

U
nendlich viele Mathematiker gehen in eine Bar. den Flächeninhalt 2 hat, und entfernen davon Recht-
Der erste bestellt ein Bier. Der zweite ein halbes ecke, deren Fläche jeweils den einzelnen Termen der
Bier. Der dritte ein viertel Bier. Der vierte ein unendlichen Reihe entsprechen.
achtel Bier. ›Geht mir nicht auf die Nerven‹, sagt Der erste Summand ist dann ein Quadrat mit Seiten-
der Barkeeper und stellt zwei Bier auf den Tresen.« länge 1, also genau die Hälfte des Rechtecks. Für den
Diesen Scherz habe ich Anfang 2018 auf dem Twitter- zweiten Term streichen wir eine Fläche der Größe ½,
Account der »Science Busters«, einer Wissenschaftska- das heißt ein Rechteck mit Seitenlängen 1 und ½, was
barettgruppe, zu deren Ensemble ich gehöre, gepostet. der Hälfte des verbliebenen Quadrats entspricht. Und
Und selbst mehr als ein Jahr später beschäftigte er die auch der dritte Term (¼) halbiert die verbleibende
Leser immer noch. Der scheinbare Widerspruch ist Hälfte; heraus kommt ein Quadrat mit Seitenlänge ½.
gleichermaßen verwirrend und faszinierend. »Nie im Das geht ewig so weiter. Jeder folgende Term passt in
Leben reichen zwei Bier für unendlich viele Mathemati- den übrig gebliebenen Teil des ursprünglichen Recht-
ker«, antwortete jemand darauf, und selbst eine lange ecks. Im Grenzfall unendlich vieler Summanden ist das
Diskussion konnte ihn nicht vom Gegenteil überzeugen. Rechteck komplett beseitigt, so dass sich die Terme
Den Witz kann man jedoch über eine geometrische insgesamt zu 2 addieren.
Reihe erklären:

G
eometrische Reihen findet man nicht nur in
wissenschaftlichen Witzen, sondern in vielen
Bereichen der Mathematik. Zum Beispiel lässt
sich so auch die verwirrende Tatsache erklären,
dass 0,99999… gleich 1 ist. Die nicht enden wollende
periodische Dezimalzahl ist nämlich nichts anderes als
eine geometrische Reihe mit a₀ = 9 ⁄ 10 und q = 1 ⁄ 10, also
Diese Formel gilt, wenn q kleiner als 1 und größer als die unendliche Summe von 0,9 + 0,09 + 0,009 + … Der
–1 ist. Für die Werte a₀ = 1 und q = ½ ergibt sich Grenzwert, der sich aus der Formel errechnet, beträgt
die Abfolge aus dem Witz. Man setzt der Reihe nach dann 0,9 geteilt durch (1 – 0,1), was nichts anderes als 1
0, 1, 2, 3, … für k ein und summiert die Ergebnisse: ergibt.
1+ ½ + ¼ + ⅛ + … Der Barkeeper kennt schon den Meist verunsichern uns Unendlichkeiten, weil unser
Grenzwert dieser Folge, der sich durch die Formel intuitives Verständnis bei niemals endenden Prozessen
berechnen lässt, und weiß, dass er mit zwei vollen versagt. In solchen Fällen muss man auf die Mathema-
Biergläsern die unendlich vielen Mathematiker bedie- tik zurückgreifen und akzeptieren, dass die Ergebnisse
nen kann. Je größer k wird, desto kleiner wird qk, und unseren Erwartungen widersprechen können. Denn
insgesamt wird die Summe nie größer als 2. manchmal hat selbst die Unendlichkeit ein Ende: im
Man kann das überraschende Ergebnis aber auch obigen Witz bei zwei Gläsern Bier – obwohl sich man-
geometrisch veranschaulichen. Stellen wir uns ein che vielleicht mehr wünschen, um die verwirrenden
Rechteck mit den Seitenlängen 1 und 2 vor, das also Aspekte der Unendlichkeit erträglicher zu machen.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 63


MATHEMATISCHE

CHRISTOPH PÖPPE
UNTERHALTUNGEN
RATIONALE
ZAHLEN ZÄHLEN
Mengentheoretisch gesehen
gibt es nicht mehr Brüche als
natürliche Zahlen – eine der
zahlreichen Tatsachen über
­unendliche Mengen, die der
­Intuition ins Gesicht schlagen.
Wenn man die Abzählung der
ra­tionalen Zahlen geschickt
­gestaltet, kommen interessante
geometrische Zusammen­hänge
zu Tage, auch zur Gestalt der
Mandelbrot-Menge.
0

Christoph Pöppe war Redakteur bei Selbstverständlich steht dahinter nicht das Ziel, einen
»Spektrum der Wissenschaft«, unendlich großen Kochtopf, was immer das sein mag,
zuständig vorrangig für Mathematik
und Informatik.
verletzungsfrei anzufassen und zu transportieren. Vielmehr
ist das Häkelrezept die Beweisidee für einen ehrwürdigen
 spektrum.de/artikel/1848328 mathematischen Satz: Die Menge der rationalen Zahlen ist
abzählbar. Es gibt gewissermaßen genauso viele Brüche
mit natürlichen Zahlen im Zähler und im Nenner wie
natürliche Zahlen überhaupt.


Wie häkelt man einen unendlichen Topflappen? Ebenso klassisch wie der Satz ist die Verstörung, die er
Jedenfalls nicht eine Reihe nach der anderen, so wie auslöst. Die natürlichen Zahlen liegen in jeweils gebührli-
es üblich ist. Man würde ja schon mit der ersten chem Abstand zueinander auf der Zahlengeraden. Aber
Reihe nicht fertig, bevor man die zweite überhaupt ange- schon in dem Leerraum zwischen 1 und 2 drängeln sich
fangen hat. unendlich viele rationale Zahlen, und zwischen beliebigen
Vielmehr muss man diagonal häkeln. Das heißt, man zwei von ihnen nochmals unendlich viele. So gesehen
lässt den Topflappen in Gedanken schräg nach unten kommen auf jede natürliche Zahl unendlich viele Brüche.
hängen, wie sein echtes Vorbild an der Schlaufe, und Und trotzdem sollen deren Anzahlen gleich sein?
häkelt dann horizontale Reihen: eine sehr kurze aus einer Allerdings. Zum Beweis kann man alle Brüche in eine
einzigen Masche, die nächste aus zwei Maschen und so Tabelle schreiben, mit unendlich vielen Spalten für die
weiter. Zähler und ebenfalls unendlich vielen Zeilen für die Nenner
Auf die Dauer entsteht ein immer größer werdender (siehe »Tabelle«). Gibt man jedem Bruch eine Nummer,
dreieckiger Lappen, und seinem Wachstum nach unten und zwar in der Reihenfolge des Topflappenhäkelns,
sind keine Grenzen gesetzt. Man kann mit einem einzi- kommt offensichtlich jeder Bruch beim Nummerieren
gen – unendlich langen – Faden eine ganze – unendlich irgendwann an die Reihe. Das heißt: Es gibt eine umkehr-
große – Fläche mit Maschen bedecken. bar eindeutige Abbildung zwischen der Menge der natürli-

64 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


CHRISTOPH PÖPPE

1
_ 1
_ 2
_ 1
_ 3
_ 2
_ 4
_ 1
5 3 5 2 5 3 5

FORD-KREISE Das Bild zeigt die Ford-Kreise zu gerupft aus, es wird auch sehr mühsam, die Abzählungs-
den rationalen Zahlen zwischen 0 und 1. Der Kreis abbildung anzuwenden. Welche Nummer hat 39/83? Und
zur Zahl p⁄q sitzt an der Stelle p⁄q auf der Zahlen­ welches ist die rationale Zahl mit der Nummer 42? Auf
geraden und hat den Radius 1/(2q2). derlei Fragen gibt es zwar eindeutige Antworten, aber um
sie zu finden, bleibt einem nichts übrig, als die Tabelle
Schritt für Schritt bis zu dem entsprechenden Eintrag
chen Zahlen (der Nummern) und derjenigen der Tabellen- durchzugehen.
einträge, die ihrerseits die Menge der rationalen Zahlen Es gibt eine Abhilfe: eine Abzählung der rationalen
umfasst. In der Sprache der von Georg Cantor (1845–1918) Zahlen, welche die oben angeführten Mehrdeutigkeiten
begründeten Mengenlehre sind beide Mengen gleich vermeidet und kurze, leicht berechenbare Antworten auf
mächtig. Eine andere Ausdrucksweise desselben Sachver- Fragen der genannten Art liefert. Das Verfahren ist so
halts lautet: Die Menge der rationalen Zahlen ist abzähl- elegant, dass es einen Platz in dem von Paul Erdős er-
bar – was die harmloseste Form der Unendlichkeit ist. dachten Buch findet, in dem Gott die besten Beweise für
Cantors Beweis dafür ist ohne Zweifel korrekt, leidet jeden mathematischen Sachverhalt notiert hat. Das ist
aber doch unter einem Schönheitsfehler. In der Tabelle jedenfalls die Auffassung von Martin Aigner und Günter
kommt jeder Bruch mehrfach vor – unendlich oft, um Ziegler, die eine Sammlung buchwürdiger Beweise veröf-
genau zu sein. 2/4 ist dasselbe wie 1/2, 4/6 ist gleich 2/3 und fentlicht und bereits für einen Folgeband Material gesam-
so weiter. Entsprechend erhält jeder Bruch mehrere melt haben.
Nummern, und die umkehrbare Eindeutigkeit der Num- Für ihre Abzählung haben Neil Calkin von der Clemson
merierung ist dahin. Also darf man von allen Exemplaren University in South Carolina und Herbert S. Wilf von der
eines Bruchs bloß das vollständig gekürzte mitzählen und University of Pennsylvania ein altehrwürdiges Verfahren im
muss alle Tabelleneinträge, in denen Zähler und Nenner Wortsinn auf den Kopf gestellt: den Algorithmus, mit dem
nicht teilerfremd sind (rot in »Tabelle«), beim Häkeln bereits Euklid den größten gemeinsamen Teiler zweier
aussparen. Da sieht nicht nur der Topflappen ziemlich Zahlen bestimmte. Der Algorithmus nimmt als Input die

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 65


natürlichen Zahlen a und b entgegen und lässt sich in natürlichen Zahlen als spezielle Brüche mit dem Nenner 1.
moderner Pseudoprogrammiersprache so be­schreiben: Nur die negativen Zahlen bleiben hier außen vor. Aber das
(1) Wenn a = b: Ende. tut der Abzählbarkeit keinen Abbruch: Man muss bloß
(2) Wenn a < b: Ersetze (a, b) durch (a, b–a). jedem positiven Bruch eine ungerade Nummer geben und
(3) Wenn a > b: Ersetze (a, b) durch (a–b, b). seinem Negativen deren geraden Nachfolger.
(4) Gehe zu (1). Und die Abzählung des Baums selbst? Die geht wie
Es wird also stets die kleinere von der größeren der beim Topflappenhäkeln: zeilenweise. Bruch Nummer 1 ist
beiden Zahlen subtrahiert, bis beide gleich sind; dieses 1/1, dann folgen 1/2, 2/1, 1/3, 3/2, 2/3, 3/1, 1/4 … Dabei zeigen sich
Endergebnis ist der größte gemeinsame Teiler von a und erstaunliche Zusammenhänge. Fasst man den Baum der
b. Wenn dabei die Zahl 1 herauskommt, dann sind a und b rationalen Zahlen als Stammbaum mit der Urmutter 1/1 auf,
teilerfremd, und genau dann ist a⁄b ein vollständig gekürz- leuchtet ja noch ein, dass die beiden Töchter einer beliebi-
ter Bruch. gen Zahl etwas miteinander zu tun haben. So ist der
Für ihre Abzählung der rationalen Zahlen verwenden Zähler der rechten (großen) Tochter stets gleich dem
Calkin und Wilf genau die Zahlenpaare (a, b), aufzufassen Nenner der linken (kleinen). Aber dieselbe Beziehung gilt
als die Brüche a⁄b, für die der euklidische Algorithmus das zwischen jeder Zahl im Baum und ihrer rechten Nachbarin,
Endergebnis 1 liefert. Und um diese zu finden, lassen sie selbst wenn es sich um sehr entfernte Verwandte handelt.
den Algorithmus gewissermaßen rückwärtslaufen. Wenn Zu allem Überfluss gilt die Beziehung auch dann noch,
der bei dem Zwischenergebnis ( x, y) angekommen ist, wenn man vom rechten Ende einer Zeile zum linken der
dann war das unmittelbar vorhergehende Zahlenpaar Folgezeile springt.
entweder (a, b) = ( x, x+y) (Schritt 2 des Algorithmus) oder Man kann also den Calkin-Wilf-Baum häkeln, das heißt
(a, b) = ( x+y, y) (Schritt 3). Ausgehend von dem Paar (1, 1) sich zeilenweise von links nach rechts von Element zu
entsteht durch die Rückwärtsverfolgung ein Baum mit Element vorarbeiten. Im Gegensatz zu Cantors Topflappen
zunächst den zwei Ästen (1, 2) und (2, 1); aus jedem Ast hat jede Zeile nicht nur ein Element mehr als die vorige,
wachsen wieder zwei Äste heraus, und so weiter bis ins sondern doppelt so viele, mit der Folge, dass der Topflap-
Unendliche (siehe »Baum«). pen nicht so schön quadratisch, sondern ausladend wie
Dieser Baum enthält jede positive rationale Zahl genau der Schalltrichter einer Trompete gerät. Aber für die Ab-
einmal. Den Beweis erbringt der euklidische Algorithmus zählbarkeit macht das keinen Unterschied.
quasi im Vorübergehen: Ist ein vollständig gekürzter Bruch Der Baum ist so regelmäßig gebaut, dass es sogar eine
a⁄ gegeben, dann endet der Algorithmus, angewendet
b Funktion gibt, die besagt, wie man aus einer Zahl ihre
auf das Paar (a, b), bei (1, 1); und die Zwischenstationen, rechte Nachbarin ausrechnet, oder eben die Anfangszahl
rück­wärts gelesen, weisen den Weg von der Wurzel der neuen Zeile. Sie lautet
1/1 des 1))
((Formel
Baums zu dem Platz, an den a⁄b steht. Der Bruch a⁄b kann
auch nicht an mehreren verschiedenen Stellen im Baum 1 .
S(x) =
stehen, denn sonst würde der euklidische Algorithmus auf 2x − x + 1
zwei verschiedenen Wegen von a⁄b nach 1/1 führen. Da er
aber in jedem Schritt ein eindeutiges Ergebnis hat, kann Dabei bezeichnet x die größte ganze Zahl, die kleiner
es keine Verzweigung auf dem Weg von a⁄b nach 1/1 geben. oder gleich x ist. Da jede linke Tochter kleiner als 1 ist, gilt
Der Baum enthält nicht nur die »echten« Brüche, bei für sie x = 0, und dann ist leicht nachzurechnen, dass ihre
denen der Zähler kleiner als der Nenner ist, sondern auch rechte Schwester gleich 1⁄1–x ist. Wenn dagegen eine Zahl
diejenigen, die größer als 1 sind, und insbesondere die und ihre rechte Nachbarin keine Geschwister sind, muss
man im Baum bis zum kleinsten gemeinsamen Vorfahren
aufsteigen. Da die Kinder jeder Zahl durch einfache For-
1
_ meln bestimmt sind, rechnet man von diesem Vorfahren
1 aus die Abstammungslinien abwärts: einmal die linke
1
_ 2
_ Tochter und dann lauter rechte, das andere Mal die rechte
2 1
1
_ 2
_ 3
_
3 2 1
1
_ 2
_ 3
_ 4
_
4 3 2 1
1
_ 2
_ 3
_ 4
_ 5
_
5 4 3 2 1
1
_ 2
_ 3
_ 4
_ 5
_ 6
_
6 5 4 3 2 1 TABELLE Die Tabelle aller
1
_ 2
_ 3
_ 4
_ 5
_ 6
_ 7
_
5 4 3 2 rationalen Zahlen ist hier zur
7 6 1
1
_ 2
_ 3
_ 4
_ 5
_ 6
_ 7
_ 8
_ Verdeutlichung um 45 Grad
8 7 6 5 4 3 2 1 nach rechts gekippt darge-
PP
E 1
_ 2
_ 3
_ 4
_ 5
_ 6
_ 7
_ 8
_ 9
_ stellt. Die Abzählung aller

ST
OP
H
9 8 7 6 5 4 3 2 1
RI
CH rationalen Zahlen folgt dem

gedachten Häkelfaden
(hellblau).

66 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


BAUM Die Abzählung der positiven 1
_ 1
rationalen Zahlen nach dem Verfahren 1
von Calkin und Wilf: In diesem Baum
taucht jeder (gekürzte) Bruch genau
einmal auf. Wie bei mathematischen
1
_ 2
_ 11
Baumstrukturen üblich, wächst 2 10 1
der Baum von der zuoberst
eingezeichneten Wurzel nach
unten. In roter Schrift ist
neben jedem Bruch 1
_ 100 3
_ 101 2
_ 110 3
_ 111
3 2 3 1
seine Nummer im
Binärsystem notiert.

1
_ 1000 4
_ 1001 3
_ 1010 5
_ 1011 2
_ 1100 5
_ 1101 3
_ 1110 4
_ 1111
4 3 5 2 5 3 4 1

1
_ 5
_ 4
_ 7
_ 3
_ 8
_ 5
_ 7
_ 2
_ 7
_ 5
_ 8
_ 3
_ 7
_ 4
_ 5
_
5 4 7 3 8 5 7 2 7 5 8 3 7 4 5 1

1
_ 6
_ 5
_ 9 4 11
_ __ 7 10
__ __ 3 11
__ __ 8 13
__ __ 5 12
__ __ __ 7
_ 9
_ 2
_ 9 7 12
_ __ 5 13
__ __ 8 11
__ __ 3 10
__ __ 7 11
__ __ __ 4
_ 9
_ 5
_ 6
_

CHRISTOPH PÖPPE
6 5 9 4 11 7 10 3 11 8 13 5 12 7 9 2 9 7 12 5 13 8 11 3 10 7 11 4 9 5 6 1

… … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … …

Tochter, gefolgt von lauter linken. Am Ende einer etwas Weise. Dazu kehrt man in allen binär geschriebenen
längeren Rechnung steht die Bestätigung, dass die Formel Nummern der Einträge die Ziffernfolge um und sortiert
für S(x) auch in diesem Fall gilt. Schließlich stellt sich nach diesen »verkehrten« Nummern. Dann sind auch alle
wundersamerweise heraus: Der Übergang von einer Zeile Einträge der Größe nach sortiert. Das gilt sogar zeilen­
zur nächsten genügt ebenfalls der Formel. übergreifend; man muss nur die Nummern vor dem Um-
Für die oben angesprochenen Fragen »Welche Nummer kehren auf gleiche Ziffernzahl bringen, indem man sie
hat ein gegebener Bruch?« und »Was ist der Bruch zu einer bei Bedarf links mit Nullen auffüllt.
gegebenen Nummer?« gibt es verblüffend einfache Antwor- Das ist dadurch zu erklären, dass die letzte Verzwei-
ten. Die wesentliche Idee besteht darin, die Nummern in der gung im Baum den größten Unterschied zwischen linker
Abzählung des Calkin-Wilf-Baums im Zahlensystem zur und rechter Tochter erzeugt, anschließend die vorletzte,
Basis 2 (Binärsystem) zu schreiben (rote Zahlen in »Baum«). und so weiter. Indem man die Ziffernfolge umkehrt, beför-
Dabei stellt sich heraus, dass mit jeder Zeile die Nummern dert man die Binärziffer, die dem größten Effekt entspricht,
um eine Binärstelle zulegen. Darüber hinaus dient die von der letzten auf die erste Stelle, die mit dem zweitgröß-
Nummer als eine Art Wegbeschreibung: Die erste Eins steht ten Effekt auf die zweite, und so weiter. Also ist von zwei
für »Geh zur Wurzel«. Die weiteren Binärziffern sagen dem Einträgen der mit der größeren »verkehrten« Binärnummer
Wanderer der Reihe nach an, ob er sich an der nächsten auch der größere.
Weggabelung nach links (0) oder nach rechts (1) wenden Diese Zusammenhänge hatten sich unter den Mathe-
soll. (Vorsicht – »links« und »rechts« sind nicht aus der matikern zwar ein bisschen herumgesprochen, waren aber
Perspektive des Wanderers, sondern aus der des externen noch nicht geordnet aufgeschrieben worden. Das geschah
Betrachters zu verstehen!) Wenn die Ziffernfolge erschöpft erst in einer wissenschaftlichen Arbeit, deren Erstautor
ist, hat der Wanderer sein Ziel erreicht. bemerkenswerterweise ein damals 14-jähriger Schüler ist.
So findet man den Bruch zur Nummer. Für die umge- Aimeric Malter hörte 2011 auf einer Sommerschule der
kehrte Fragestellung genügt es, den Baum bis zur Wurzel Bremer Jacobs University für Schüler und Studienanfänger
hochzusteigen – das heißt den euklidischen Algorithmus zum ersten Mal von dem Problem und arbeitete die Sache
auf das Zahlenpaar (Zähler, Nenner) anzuwenden – und dann zu einer preisgekrönten »Jugend forscht«-Arbeit aus.
nach jedem Schritt zu notieren, ob man den aktuellen Ein unvollendeter Topflappen, das heißt ein endliches
Zustand »von links« (0) oder »von rechts« (1) erreicht hat, Stück vom Calkin-Wilf-Baum, das bis zu einer gewissen
ob man also die linke Zahl von der rechten subtrahiert Zeile reicht und nicht weiter, enthält dieselben Zahlen wie
hat oder umgekehrt. Die Folge dieser Binärziffern, von eine andere berühmte Abzählung der rationalen Zahlen,
rechts nach links aufgeschrieben, ergibt die Nummer des die unter den Namen ihrer Entdecker Moritz Stern
Bruchs. ­(1807–1894) und Achille Brocot (1817–1878) bekannt ist
Einen Schönheitsfehler hat der Calkin-Wilf-Baum dann (siehe »Spektrum« Mai 2015, S. 64). Und wenn man die
doch. In jeder Zeile folgen kleine und große Einträge Elemente des Calkin-Wilf-Baums bis einschließlich Zeile n
ziemlich wild aufeinander. Kann man sie der Größe nach nach der Größe sortiert, sind sie sogar Stück für Stück
sortieren? Ja, und zwar wiederum auf erstaunlich einfache identisch mit der n-ten Stern-Brocot-Folge.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 67


TOU, E.R.: THE FAREY SEQUENCE: FROM FRACTIONS TO FRACTALS. MATH HORIZONS 24, 2017, FIG. 6;
MIT FRDL. GEN. VON ERIC R. TOU; NUTZUNG GENEHMIGT VON TAYLOR & FRANCIS / CCC

Immerhin ist in jedem Schritt dieses unendlichen Hä-


kelns eine »junge«, soeben eingefügte Schlaufe beiderseits
von älteren umgeben. Indem man die im nachfolgenden
Schritt einzufügenden Schlaufen als die Kinder der jüngs-
ten Schlaufe auffasst und den Beitrag der älteren außer
Acht lässt, ergibt sich eine Art Stammbaum, der dem von
Calkin und Wilf schon sehr ähnlich sieht: Jede Zahl in dem
Baum hat eine linke und eine rechte Tochter. Nur ist in
diesem Fall jede Zeile des Baums bereits nach der Größe
sortiert.
Für den Medianten zweier Brüche und damit indirekt
auch für die Bäume von Calkin/Wilf und Stern/Brocot gibt
es eine interessante Visualisierung. Man legt dazu in
Gedanken an jede rationale Stelle auf der Zahlengeraden
ein Samenkorn und lässt ein kreisförmiges Pflänzchen
daraus sprießen, und zwar zuerst die ganzzahligen, an-
schließend die mit Nenner 2 und so weiter. Je größer der
Nenner, desto später keimt das Pflänzchen. Sobald sich
zwei von ihnen irgendwo den Platz streitig machen, hören
sie auf zu wachsen.
Wie sich herausstellt, ist das genau dann der Fall, wenn
der Kreis zu dem Bruch p⁄q den Radius 1⁄2q2 erreicht hat.
MANDELBROT-MENGE Auch die Mandelbrot-Men- Über der Zahlengeraden entsteht so eine dicht bewachse-
ge trägt Ford-Kreise, aber nicht auf einer geraden ne Blumenwiese mit lauter kreisförmigen Blüten (siehe
Linie. Vielmehr verläuft das Intervall [0, 1] entlang »Ford-Kreise«, S. 65). Zwei Kreise zu aufeinander folgen-
des Rands der zentralen Kardioide (Herzkurve). den Einträgen einer Stern-Brocot-Folge berühren einander,
und in dem Zwickel zwischen ihnen und der Zahlengera-
den wächst der Mediant der beiden zu der dann noch
Dabei hat das Bildungsgesetz der einen Folge mit dem erreichbaren Größe heran. Sie heißen Ford-Kreise nach
der anderen auf den ersten Blick kaum etwas gemein. Die Lester Ford, der sie 1938 ausführlich beschrieb.
nullte Stern-Brocot-Folge ist definiert als (0/1, 1/0). Dem Bemerkenswerterweise finden sich die Ford-Kreise an
Einwand, dass der zweite Term unzulässig ist, weil man unerwarteter Stelle wieder, nämlich in der berühmten
durch null nicht dividieren darf, geht man elegant aus dem Mandelbrot-Menge (siehe »Mandelbrot-Menge«). Das
Weg, indem man »offiziell« nicht über den Bruch a⁄b nach- »Apfelmännchen« besteht aus einem zentralen »Apfel« –
denkt, sondern über das Zahlenpaar (a, b). Das funktioniert der offizielle Name ist »Kardioide« – mit unendlich vielen
auch mit dem folgenden Bildungsgesetz: Man verwandelt Auswüchsen, die wiederum aus Kreisen mit Auswüchsen
die n-te Stern-Brocot-Folge in die (n+1)-te, wenn man bestehen. Diese Kreise sind so groß und so angeordnet
zwischen je zwei benachbarte Elemente a⁄b und c⁄d deren wie die Ford-Kreise.
»Medianten« einfügt. Hierbei handelt es sich um den Man muss sich nur das Intervall von null bis eins aus
Bruch a+c⁄b+d – also das, was viele Schulkinder für die dem Umfang des Apfels aufgewickelt vorstellen, mit der
Summe von a⁄b und c⁄d halten, wenn sie beim Bruchrech- Null an der Singularität, also der Stelle rechts, wo der Stiel
nen nicht richtig aufgepasst haben. Und in der Tat macht gesessen hat, dann im Gegenuhrzeigersinn rund um den
der Mediant seinem Namen Ehre, denn er liegt größenmä- Apfel, bis die Eins wieder in der Singularität landet. Diesen
ßig zwischen den beiden Brüchen, aus denen er entsteht. merkwürdigen Zusammenhang und einiges mehr hat der
Somit sind die Elemente einer Stern-Brocot-Folge quasi US-amerikanische Mathematiker Robert Devaney von der
von selbst nach Größe sortiert. Jede Folge enthält fast Boston University ausgearbeitet. 
doppelt so viele Brüche wie ihre Vorgängerin. Damit sie
tatsächlich identisch mit dem bei Zeile n abgeschnittenen QUELLEN
Calkin-Wilf-Baum ist, muss man die randständigen Ele-
Aigner, M., Ziegler, G.: Das Buch der Beweise. 5. Auflage,
mente 0/1 und 1/0 weglassen. Der australische Mathemati-
Springer, Berlin 2018
ker Stephen P. Glasby hat das bewiesen, indem er für
beide Folgen Nachfolgerfunktionen nach dem Muster von Calkin, N., Wilf, H. S.: Recounting the rationals. The American
Mathematical Monthly 107, 2000
S(x) fand und miteinander identifizierte.
So wie die Stern-Brocot-Folgen definiert sind, wird aller- Glasby, S. P.: Enumerating the rationals from left to right. The
dings kein Topflappen daraus. Das Ganze fängt als Faden American Mathematical Monthly 118, 2011

mit zwei Schlaufen an. Dann wird in jedem Schritt zwischen Malter, A. et al.: New looks at old number theory. The American
zwei benachbarte Schlaufen eine weitere eingehäkelt – was Mathematical Monthly 120, 2013
natürlich nur funktionieren kann, wenn der Faden beliebig Tou, E. R.: The farey sequence. From fractions to fractals. Math
dehnbar ist. Im Grenzwert wird er unendlich lang. Horizons 24, 2017

68 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


KOMBINATORIK
UNORDENTLICHE GRAPHEN
Je größer ein Netzwerk wird, desto leichter lassen sich
gewisse Strukturen darin erkennen. Dafür muss ein
Graph aber sehr viel mehr Punkte enthalten als gedacht,
wie Mathematiker nun gezeigt haben.

Kevin Hartnett ist Wissenschafts­journalist. Er lebt


in Columbia (South Carolina).

 spektrum.de/artikel/1823171


Nach mehr als 70 Jahren sind Mathematiker endlich findet immer geordnete Gruppen, und Ramsey-Zahlen
einem der hartnäckigsten Zahlenwerte etwas näher stellen ein Maß dafür dar.«
gekommen. In einer Arbeit vom September 2020 Ein Graph oder Netzwerk ist eine Sammlung von Punk-
lieferten David Conlon vom Caltech und Asaf Ferber von ten, die durch Kanten miteinander verbunden sind. Ma­
der University of California in Irvine die bisher genaueste thematiker möchten verstehen, wie groß ein Netzwerk
Schätzung für so genannte mehrfarbige Ramsey-Zahlen. mindestens sein muss, damit zwingend verschiedene
Diese geben an, wie groß ein Netzwerk sein darf, bevor Arten von Unterstrukturen entstehen. »Wenn man einen
zwangsläufig bestimmte Arten von Mustern auftreten. »Im Graphen vor sich hat, der groß genug ist, dann ist ein Teil
Universum gibt es keinen absoluten Zufall«, so Maria davon geordnet«, erklärt Maria Chudnovsky von der
Axenovich vom Karlsruher Institut für Technologie. »Man Princeton University.

Was sind Ramsey-Zahlen?


Ramsey-Zahlen sind ein Maß dafür, wie groß Netzwerke werden können,
bevor sich zwangs­läufig Muster ausbilden.

Verbinde die fünf Punkte, um Es ist möglich, den Graphen Bei Netzwerken der Größe sechs lässt sich das allerdings
einen vollständigen Graphen blau und rot einzufärben, nicht vermeiden. Man findet immer drei Punkte, die über
zu erhalten (jeder Punkt ohne dass drei Punkte über gleichfarbige Kanten zusammenhängen.
muss mit allen anderen gleichfarbige Kanten mitein-
zusammenhängen, was zehn ander verbunden sind.
eine mono-
SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Verbindungen ergibt).
chromatische
Clique aus
3 Punkten

Für zwei Farben


und eine Clique
der Größe 3
ist die Ramsey-
Zahl 6

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 69


Ramsey-Zahlen beziehen sich auf ein Muster, das man
als monochromatische Clique bezeichnet: Das ist eine
Menge von Punkten, die jeweils durch Kanten derselben Die Erdős-Methode
Farbe miteinander verbunden sind, nachdem man einen
Graphen koloriert hat. Paul Erdős entwickelte einen probabilistischen
Je nach der Größe der gesuchten Clique und Anzahl Ansatz, um Ramsey-Zahlen zu berechnen:
der Farben, die man verwendet, variieren die Ramsey-­
Zahlen. Leider sind die meisten davon unbekannt, weil die 1 Man beginnt mit einem vollständigen Graphen aus zehn
Netzwerke – bis auf die allerkleinsten – schnell sehr kom- Punkten und koloriert die Verbindungen mit drei Farben.
Findet man dann zwangsläufig fünf Punkte, die durch zehn
pliziert werden. Häufig können Mathematiker daher nur gleichfarbige Kanten zusammenhängen?
einen mög­lichen Wertebereich angeben, in dem die Ram-
sey-Zahlen liegen. Es ist, als wolle man den Standort eines
2 Die Wahr- 3 Damit ist die
Freunds herausfinden, würde aber bloß erfahren, dass er scheinlichkeit, dass Wahrscheinlichkeit
sich nördlich von München und südlich von Hamburg eine Kante rot ist, (⅓)10, zehn rote
beträgt ⅓ Kanten zu finden
befindet.
Die Arbeit von Conlon und Ferber schränkt den Wert
von Ramsey-Zahlen stärker ein als jedes andere Ergebnis,
seit Paul Erdős (1913–1996) das Problem in den 1930er und
1940er Jahren erstmals untersuchte. Die zwei Forscher
fanden eine neue untere Schranke für mehrfarbige Ram-
sey-Zahlen, die exponentiell größer ist als die vorherige
beste Schätzung. Damit sind Mathematiker der Hoffnung
etwas näher gekommen, das spannende Zusammenspiel
von Ordnung und Zufall in Graphen zu verstehen.
Der britische Universalgelehrte Frank Ramsey (­1903–
1930) führte in den 1920er Jahren die nach ihm benannten
Zahlen ein. Sie lassen sich am besten durch ein Beispiel
veranschaulichen: Man beginnt mit fünf Punkten und
verbindet sie alle miteinander, wodurch ein so genannter
vollständiger Graph entsteht. Nun stellt sich die Frage, ob
es möglich ist, die insgesamt zehn Kanten rot oder blau zu
kolorieren, ohne dass drei Punkte durch die gleiche Farbe
zusammenhängen. Für dieses Beispiel lautet die Ant- 4 Es gibt drei verschiedene 5 Die Anzahl aller
wort Ja. Farben, die zu einer Cliquen aus fünf Punkten
­monochromatischen im Graph beträgt 252
Bei einem zweifarbigen Netzwerk aus sechs Punkten Clique führen können
gibt es dagegen keine Möglichkeit, eine monochromati-
sche Clique der Größe drei zu vermeiden. Daher beträgt
die Ramsey-Zahl für zwei Farben und Dreier-Cliquen
sechs.
Mathematiker kennen nur von sehr wenigen Ramsey-

SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE


Das Ergebnis ist stets kleiner oder gleich der Wahr-
Zahlen den exakten Wert. Für Cliquen aus fünf Punkten scheinlichkeit, eine einfarbige Clique zu erzeugen,
weiß man bei zwei Farben beispielsweise lediglich, dass wenn man die Kanten zufällig koloriert. Da das Resultat
kleiner als eins ist, existieren Graphen mit zehn Punk-
die Zahl zwischen 43 und 48 liegt. »Es ist wirklich pein- ten, in denen man keine solche Clique der Größe fünf
lich«, sagt der Doktorand Yuval Wigderson von der Stan- findet. Daher ist die Ramsey-Zahl mindestens elf.
ford University. »Wir arbeiten seit fast 100 Jahren an
diesem Problem und wissen so gut wie nichts.«
Graphen werden schnell ungeheuer komplex, sobald
sie viele Punkte ent­halten. Bei einem Netzwerk der Größe
sechs und zwei Farben kann man alle möglichen Kolora­ Jahrzehnt später fand Erdős die ersten Untergrenzen: Für
– –
tionen händisch abzählen. Bei 40 Punkten gibt es aber zwei Farben berechnete er (√2)t und für drei (√3)t. Das
–t
bereits 2780 verschiedene Arten, die Kanten zu färben. heißt, ein Graph muss mehr als (√2) und weniger als 4t
Daher versuchen Mathematiker, die hartnäckigen Ramsey- Punkte enthalten, damit bei zwei Farben zwingend eine
Zahlen einzukreisen. Sie führen Beweise, wonach der einfarbige Clique der Größe t entsteht. Das Ergebnis ist

exakte Wert größer als eine bestimmte Untergrenze und nicht besonders genau, denn die Werte (√2)t und 4t kön-
kleiner als eine Obergrenze sein muss. nen sich stark unterscheiden, insbesondere wenn t groß
Erdős und sein Kollege George Szekeres stellten 1935 ist. Dennoch erklärt es, wie Ramsey-Zahlen mit zunehmen-
die erste Bedingung dieser Art auf. Demnach sind zweifar- den Cliquen anwachsen.
bige Ramsey-Zahlen kleiner als 4t (27t für dreifarbige), Daher war der bedeutendste Beitrag von Erdős in
wobei t die Größe der monochromatischen Clique ist. Ein diesem Bereich nicht die tatsächliche Berechnung der

70 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


Grenzen, sondern die Methode, mit der ihm das gelang.
Stellen Sie sich dazu einen vollständigen Graphen aus Nach jahrzehntelangem
zehn Punkten und 45 Kanten vor. Nun möchte man ihn mit
drei Farben kolorieren, ohne eine monochromatische
Stillstand scheint der Damm
Clique der Größe fünf (mit insgesamt zehn Verbindungen
zwischen den fünf Punkten) zu erzeugen.
endlich gebrochen zu sein
Dafür färbte Erdős die Kanten zunächst nach dem
Zufallsprinzip. Die Wahrscheinlichkeit, zehn gleichfarbige Cliquen unwahrscheinlich macht. Dazu trugen sie zuerst
Verbindungen zu erhalten, lässt sich leicht bestimmen: ein eine Farbe (zum Beispiel Rot) nach einem festen Schema
Drittel für jede Kante, also (⅓)10 – und das Ganze mal drei, auf, bevor sie die restlichen Farben nach dem Zufallsprin-
da es drei verschiedene Farben zur Auswahl gibt. An- zip verteilten. Um zu entscheiden, welche Kante rot sein
schließend betrachtete Erdős alle möglichen Cliquen aus soll, verfrachteten sie das Netzwerk in eine besondere Art
fünf Punkten, insgesamt 252, und berechnete die Wahr- von geometrischem Raum, in dem sie jedem Punkt eine
scheinlichkeit dafür, dass mindestens eine von ihnen aus Reihe von Koordinaten zuordnen konnten.
nur einer Farbe besteht. Gemäß einer der so genannten Zunächst quadrierten und addierten die Forscher die
Bonferroni-­Ungleichungen ist das Ergebnis stets kleiner Koordinaten der jeweiligen Punkte. Durch die spezielle
oder gleich der Wahrscheinlichkeit, eine einfarbige Clique Beschaffenheit des geometrischen Raums erhielten sie
in einem zufällig kolorierten Netzwerk zu finden. dadurch entweder das Ergebnis null oder eins. Conlon und
Solange das Resultat also unter eins liegt, gibt es nicht Ferber konzentrierten sich auf jene Punkte mit Quadrat-
zwingend eine monochromatische Clique. Im betrachteten summe null und berechneten daraufhin das so genannte
Beispiel von zehn Punkten und drei Farben erhält man den innere Produkt aller übrigen Punktepaare (das innere
Wert 0,0128. Das heißt, derartige Cliquen sind vermeidbar, Produkt ist eine Standardoperation der linearen Alge­bra,
daher ist die entsprechende Ramsey-Zahl größer als die ein Beispiel dafür ist das Skalar­produkt). Wenn das Verfah-
Anzahl der Punkte des Graphen (zehn). ren einen bestimmten Wert lieferte, färbten sie die Verbin-
Mit dieser probabilistischen Methode lassen sich untere dung zwischen dem Punktepaar rot. Die restlichen Kanten
Schranken für Ramsey-Zahlen bestimmen. Denn solange erhielten anschließend nach dem Zufallsprinzip eine blaue
die zufälligen Färbungen nicht zwingend eine einfarbige oder gelbe Farbe.
Clique hervor­bringen, gibt es auf jeden Fall einen Weg, Der zweistufige Ansatz erwies sich als gute Möglich-
den Graphen entsprechend einzufärben. Falls der berech- keit, um einfarbige Cliquen zu vermeiden. Durch den
nete Wert die Eins überschreitet, könnte es aber immer ersten Schritt verteilen sich die roten Kanten gleichmäßig
noch möglich sein, monochromatische Cliquen durch über den gesamten Graphen. Damit ergeben sich zwei
geschickte Koloration zu vermeiden. Anstatt aufwändig wünschenswerte Eigenschaften: Es entstehen keine
Beispiele für passende Graphen zu suchen, in denen es großen roten Cliquen, zudem brechen die roten Kanten
keine einfarbigen Cliquen gibt, bewies Erdős, dass diese das Netzwerk auf, wodurch weniger Raum für Cliquen
cliquenlosen Kolorationen existieren – ohne konkret zu anderer Farben bleibt.
zeigen, wie das bunte Netzwerk aussieht. Damit haben die zwei Mathematiker nicht nur ein
Während der nächsten sieben Jahrzehnte gelang es bedeutendes Ergebnis erzielt, sondern auch weitere Fort-
Mathematikern nur einmal, im Jahr 1975, die Untergrenze schritte ermöglicht. Nur wenige Tage nach der Veröffentli-
von Erdős für zwei und drei Farben zu verbessern. Zwar chung ihrer Arbeit gelang es Wigderson, mit der Methode
widmeten sich viele diesem Problem, aber niemand fand von Conlon und Ferber die untere Grenze für Ramsey-Zah-
einen besseren Weg als die probabilistische Methode, um len für vier oder mehr Farben nochmals anzuheben. Nach
Ramsey-Zahlen zu berechnen. »Die Schwierigkeit bestand jahrzehntelangem Stillstand scheint der Damm damit
darin, die Grenze, die sich aus einer zufälligen Färbung endlich gebrochen zu sein. 
ergibt, zu überwinden«, erklärt Conlon. Und genau das
gelang ihm zusammen mit seinem Kollegen Ferber im QUELLEN
Herbst 2020: Die Forscher fanden eine neue untere Grenze
Conlon, D., Ferber, A.: Lower bounds for multicolor Ramsey
für Ramsey-Zahlen mit mindestens drei Farben. numbers. ArXiv 2009.10458, 2020
Bis dahin betrugen die Untergrenzen für drei verschie-
– Wigderson, Y.: An improved lower bound on multicolor Ramsey
dene Farben (√3)t (ungefähr 1,73t) und für vier 2t. Ferber numbers. ArXiv 2009.12020, 2020
und Conlon erhöhten diese auf 1,834t für drei und 2,135 t
für vier Farben. Selbst wenn die Unterschiede auf den
ersten Blick klein erscheinen, stellen sie enorme Fortschrit-
Von »Spektrum.de« übersetzte und bearbeitete Fassung des Artikels
te dar. Sucht man nach großen einfarbigen Cliquen (wo-
»Disorder Persists in Larger Graphs, New Math Proof Finds« aus
durch auch t groß ist), macht sich die veränderte Basis »Quanta Magazine«, einem inhaltlich unabhängigen Magazin der
deutlich bemerkbar. Das heißt, Graphen müssen sehr viel Simons Foundation, die sich die Verbreitung von Forschungsergeb-
mehr Punkte enthalten als gedacht, bevor sich zwingend nissen aus Mathematik und den Naturwissenschaften zum Ziel
eine gewisse Ordnung ausbildet. gesetzt hat.
Um das zu beweisen, suchten die beiden Forscher eine
Färbemethode, die das Entstehen monochromatischer

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 71


BOTANIK
ZAHLENSPIELE IM
REICH DER PFLANZEN
Ästhetische gekreuzte Spiralmuster, regelmäßig angeordnete Blätter entlang
des Stängels, die geometrische Struktur eines Tannenzapfens – Pflanzen
weisen oft komplizierte Formen auf, die Biologen schon lange faszinieren. Nach
und nach entschlüsseln Forscher nun dank biophysikalischer Modelle die
Mechanismen, die zu diesen erstaunlichen Konstruktionen führen.

Teva Vernoux (links) ist Forschungsleiter am CNRS im Labor für Fortpflanzung und
Entwicklung der Pflanzen an der École normale superieure von Lyon. Christophe
Godin (Mitte) ist Forschungsleiter und Fabrice Besnard Forschungsbeauftragter am
Institut national de la recherche agronomique (Inra) im selben Labor.

 spektrum.de/artikel/1693098
RAZZEL / STOCK.ADOBE.COM

72 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik 


Physik Mathematik Technik 3.22
3.22

ALOE Die zahlreichen Blätter der Aloe polyphylla, Wen hat die Schönheit von Pflanzen nicht schon
einer in Südafrika heimischen Art, bilden wunder- einmal berührt? Seit Jahrtausenden faszinieren die oft
schöne rechts- und links­drehende Spiralen. symmetrisch wirkenden Regelmäßigkeiten viele Men-
schen. Wie die Blätter – und etwas weiter gefasst jedes
andere Organ – einer Pflanze angeordnet sind, beschreibt
die so genannte Phyllotaxis.
Die außergewöhnlich vielfältigen Blattstellungen inspi-
rierten etliche Künstler, wie etwa Werke der islamischen
Kunst oder des Jugendstils belegen. Aber das ist noch
lange nicht alles: Die botanischen Muster weisen auch
erstaunliche mathematische Eigenschaften auf, deren
biologischen Ursprung Wissenschaftler jetzt allmählich
entschlüsseln.
Schon lange suchen Forscher nach Mechanismen, wel-
che die komplexen Geometrien in so vielen unterschiedlichen
Pflanzen erzeugen. Sie wollen verstehen, wie die regelmäßi-
gen Muster auf molekularer Ebene entstehen und sich dann
über die ganze Pflanze ausbreiten. Dazu kombinieren sie seit
mehr als 200 Jahren Methoden aus der Mathematik, Physik,
Informatik und Biologie. Doch erst in den vergangenen
20 Jahren machten sie bedeutende Fortschritte auf dem
Gebiet. Im letzten Jahrzehnt haben verschiedene interdiszip-
linäre Forschungsgruppen, darunter auch unsere, neueste
Ansätze aus der Molekularbiologie mathematisch modelliert,
um die Musterbildung näher zu beleuchten.
Eine wichtige Rolle spielt dabei ein winziger Bereich –
kleiner als ein Stecknadelkopf – an den Sprossspitzen einer
Pflanze, das so genannte Meristem. Dieser spezielle Gewe-
betyp besteht aus Stammzellen und produziert neue Orga-
ne (siehe »Meristem, goldener Winkel und Modellierung«),
die in der Nähe seines Zentrums entstehen. Während der
Stängel wächst und die Organe dadurch größer werden,
bilden sich die regelmäßigen Muster aus, die man mit
bloßem Auge erkennen kann. In dieser Phase verändern die
Organe kaum noch ihre Anordnung. Das heißt, die Phyllo­

AUF EINEN BLICK


BOTANISCHE MUSTERBILDUNG

1 Pflanzen zieren oft erstaunliche geometrische


Muster. Beispielsweise hängt der Winkel zwischen
aufein­ander folgenden Organen häufig mit dem
goldenen Schnitt zusammen.

2 Seit einigen Jahren untersuchen Biologen mit


Methoden aus der Physik, Mathematik und Infor-
matik verschiedene Mechanismen, die diese
außergewöhnlich regelmäßigen Strukturen in
Pflanzen erzeugen.

3 Offenbar sind winzige Bereiche aus Stammzellen,


in denen Organe entstehen, für die ästhetischen
Muster verantwortlich. Doch der Prozess läuft
vielleicht gar nicht so deterministisch ab, wie bis-
her angenommen.
RAZZEL / STOCK.ADOBE.COM

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 73


taxis einer Pflanze ist bereits sehr früh festgelegt, sobald keine zufälligen Werte an (siehe »Goldener Schnitt: Wissen-
die Organe erstmals im Meristem erscheinen.  schaftliche Realität oder subjektive Konstruktion?«): Es
Um die außergewöhnlichen Strukturen einer Pflanze zu handelt sich immer um zwei nachfolgende Zahlen der
verstehen, muss man herausfinden, wie genau das Meris- Fibonacci-Folge, deren Glieder sich aus der Summe der
tem die Organe erzeugt. Biologen näherten sich dieser zwei vorhergehenden ergeben:
schwierigen Aufgabe, indem sie zunächst die verschiede- 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, …
nen geometrischen Muster untersuchten, wodurch sie Benannt ist die unendliche Zahlenfolge nach Leonardo
erstaunliche Eigenschaften enthüllten. da Pisa (um 1170–1240), auch Leonardo Fibonacci genannt,
Dazu klassifizieren sie die verschiedenen Phyllotaxen der der sie bereits im 13. Jahrhundert erforschte. Sie besitzt
Pflanzen durch zwei einfache Kriterien: die Anzahl der viele bemerkenswerte mathematische Eigenschaften. Be-
Elemente an einem Knoten, also am selben Abschnitt der sonders interessant ist die Folge der Quotienten aus aufein-
Sprossachse, sowie den Winkel zwischen zwei aufeinander ander folgenden Fibonacci-Zahlen (Fn+1 /Fn):
folgenden Organen, den so genannten Divergenzwinkel. 1/1, 2/1, 3/2, 5/3, 8/5, …
Dadurch lassen sich vier große Phyllotaxistypen definieren: Denn anders als die Fibonacci-Folge konvergiert diese

die wechselständigen, die spiraligen (oder schraubigen), die gegen einen endlichen Wert: (1+ √5) /2 (etwa 1,618), den
wirtel- oder quirlständigen und die zweizeilig schraubigen goldenen Schnitt . Jahrhundertelang tauchte diese Zahl
(oder spirodistichen) Phyllotaxen. immer wieder in Abhandlungen über Architektur, Kunst und
Bisherige Studien deuten darauf hin, dass spiralige sogar Musik auf und wurde als harmonische, ja nahezu
Blattstellungen am meisten verbreitet sind. In diesen An- göttliche Proportion angesehen. 
ordnungen tauchen meist mehrere spiralförmige Muster Auch in der Botanik trifft man auf den goldenen Schnitt.
auf. Eines davon verbindet die Organe vom jüngsten zum Insbesondere wenn man den Divergenzwinkel zwischen
ältesten, in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Diese Gene­ zwei nacheinander auftretenden Organen in einer spiraligen
rationenspirale windet sich vertikal um die Sprossachse, Blattstellung untersucht: Dieser beträgt durchschnittlich
Blatt um Blatt, wie die Stufen einer Wendeltreppe.  137,5 Grad. Multipliziert man ihn mit dem Zahlenwert
des goldenen Schnitts, erhält man 222,5 Grad – also den
Die erstaunliche Mathematik der Pflanzenwelt dazu komplementären Winkel (die Summe beider beträgt
In Strukturen wie Pinienzapfen, deren Schuppen dicht 360 Grad)! Entsprechend bezeichnet man einen Winkel
gepackt sind, kann man weitere Spiralen ausmachen, die von 137,5 Grad auch als »goldenen Winkel« (siehe »Kurz
sich mal mit und mal gegen den Uhrzeigersinn drehen. Der erklärt«).
deutsche Botaniker Alexander Braun (1805–1877) machte Mathematisch lässt sich zeigen, dass verschiedene
1831 eine überraschende Entdeckung, als er bei verschiede- Spiralmuster entstehen, wenn die Organe um jeweils den
nen Pflanzen die unterschiedlich gewundenen Spiralen goldenen Winkel gegeneinander verdreht sind. Zählt man,
zählte. Denn wie sich herausstellte, nehmen deren Anzahl wie viele sich mit und gegen den Uhrzeigersinn drehen,
ergeben sich daraus stets zwei konsekutive Fibonacci-
Folgenglieder.
So drehen sich bei einem Pinienzapfen in der Regel 8 Spi­-
Kurz erklärt ralen in die eine Richtung und 13 in die andere. Bei einer
Margerite lassen sich dagegen 21 beziehungsweise 34 Spi-
Phyllotaxis (griechisch phyllon = Blatt, taxis = ralen erkennen (siehe »Goldener Schnitt: Wissenschaftliche
Anordnung) bezeichnet die Anordnung von Pflan- Realität oder subjektive Konstruktion?«).
zenorganen wie Blättern, Ästen, Knospen, Schup- Aber wie können die Zellen im Meristem so präzise den
pen, Früchten, Blüten, Blütenblättern oder Staub- Ort und die Zeit festlegen, an dem sich ein neues Organ
gefäßen um eine Sprossachse. bildet? Bereits im 19. und 20. Jahrhundert spekulierten
Wissenschaftler über die möglichen Mechanismen, die zu
Beim Meristem (griechisch meristos = geteilt) den verschiedenen Phyllotaxen führen. Die mikroskopi-
handelt es sich um undifferenziertes Pflanzen­ schen Vorgänge, die sich tief verborgen in der Pflanze in
POUR LA SCIENCE AUGUST 2018

gewebe, das teilungsfähig ist und sich somit der Nähe des Meristems abspielen, waren damals experi-
zu neuem Gewebe oder neuen Organen entwi- mentell noch unerreichbar. Dennoch gelang es den For-
ckeln kann. schern, einige spannende Zusammenhänge offenzulegen,
indem sie sich auf makroskopische Versuche stützten.
Der goldene Winkel ist der kleinere der So lassen beispielsweise mehrere Beobachtungen
zwei komplementären Winkel und , darauf schließen, dass der Divergenzwinkel zwischen zwei
die den Kreisumfang im goldenen Schnitt Organen nicht genetisch festgelegt ist. Denn innerhalb
teilen. Die Definition setzt voraus, dass derselben Art können unterschiedliche Phyllotaxen auftau-
/  = (goldener Schnitt) und dass der chen. Zum Beispiel gibt es unter Sonnenblumen einige mit
goldene Winkel 2π/ (1+ ), also etwa einem goldenen Divergenzwinkel und andere, bei denen er
137,5 Grad beträgt. 99,5 Grad beträgt. Zählt man die darin vorkommenden
Spiralen, entspricht deren Anzahl den Folgengliedern der
Lucas-Folge, einer speziellen Variante der Fibonacci-Folge.

74 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


Meristem, goldener Winkel und Modellierung
Ein Meristem (im unteren Bild das riert vom ältesten, 1, zum jüngsten, zentrale Zone Position
Apikalmeristem der Ackerschmal- 11) ein Hemmfeld mit dem Wir- des Meristems des nächsten
Organs
wand) ist eine Ansammlung von kungsbereich d um sich herum
Stammzellen, die sich während des erzeugt (violette Scheiben) und in d
R
gesamten Lebens einer Pflanze denen im Radius R um das Zentrum
stets erneuern und Organe bilden. eines Meristems kein Organ entste-
Bei einer spiraligen Phyllotaxis, wie hen kann. Jedes neue Organ er- Meristem

hier dargestellt, beträgt der Diver­ scheint an einer Stelle am Rand der
genz­winkel δ zwischen zwei Orga- zentralen Zone, wo sich das Hemm-
nen durchschnittlich 137,5 Grad, feld am geringsten auswirkt. Wäh-
seitliche Ansicht
was etwa dem goldenen Winkel rend des Pflanzenwachstums
entspricht. Dies lässt sich theore- schwächen sich die Hemmfelder Position
des nächsten
tisch durch Modelle nachbilden, in mit zunehmender Distanz vom Organs
Meristem 2
denen jedes neue Organ (numme- Zentrum immer weiter ab. 

5
10 7

5 R
4
8
2 9

3 6 1
8

3 Ansicht von oben –


Zeitpunkt 1

7 Position
des nächsten
Organs
2

9 5
10 7

6 4 4
8
9
1 11

3 6
FABRICE BESNARD

FABRICE BESNARD

Zeitpunkt 2

Die genaue Anordnung der Organe scheint daher spontan röschens (Epilobium hirsutum), dessen Blätter normaler­
zu entstehen. Das verdeutlichen Pflanzen, die an unter- weise gegenständig angeordnet sind. Die beiden Meristem-
schiedlichen Zweigen verschiedene Blattstellungen aufwei- hälften wuchsen unabhängig voneinander weiter, doch
sen. Bei einigen kann das Meristem sogar plötzlich die plötzlich wies die Pflanze eine spiralige Blattstellung auf. 
Phyllotaxis ändern.  Aus diesem und ähnlichen Versuchen lässt sich schließen,
Durch gezielte Laborversuche bestätigten die beiden dass der gleiche Mechanismus die verschiedenen Phyllota-
britischen Botaniker Mary und George Snow in den xen erzeugt. Demnach führen Anzahl und Position der bereits
1930er Jahren die Hypothese, dass die Phyllotaxis nicht vorhandenen Organe sowie ihre Wechselwirkungen unter­
genetisch bestimmt ist. Dazu störten sie die Funktion des einander zu einem bestimmten Muster. Die dazugehörige
Meristems mehrerer Pflanzen mit mikrochirurgischen Grundidee kann man einfach zusammenfassen: An einer
Eingriffen. In einem ihrer Schlüsselexperimente teilten sie Stelle in der Nähe des Meristems entsteht immer dann ein
das Meristem an der Sprossachse eines Zottigen Weiden- neues Organ, wenn es ausreichend Platz dafür gibt.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 75


Goldener Schnitt: Wissenschaftliche Realität
oder subjektive Konstruktion?
Die spiraligen Blattstellungen »Meristem, goldener Winkel und
hängen auf mindestens zwei Arten Modellierung«). Diesen kennt man
mit der Fibonacci-Folge zusammen: auch aus ganz anderen Zusammen-
durch die Anzahl der Spiralen, die hängen, etwa aus der antiken
sich im und gegen den Uhrzeiger- Architektur oder bei Gemälden der
sinn drehen (siehe Bilder), sowie Meister des Cinquecento. In der
durch den goldenen Winkel (siehe Biologie findet man den goldenen
Schnitt bei den Schalen von Perl-
booten oder in den Proportionsver-

BRINGOLO / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


DIE MARGERITE besitzt eine spirali- hältnissen zwischen verschiedenen
ge Phyllotaxis vom Typ (21, 34): Ihre Teilen des menschlichen Körpers. 
Röhrenblüten stehen zu 21 Spiralen Allerdings sollte man aufpassen.
in eine (grün) sowie zu 34 in die Häufig ergibt sich der Zahlenwert
andere Richtung (rot). Die Zahlen nur aus groben Rundungen, willkür-
entsprechen zwei aufeinander lichen Ausgrenzungen oder Verzer- DER PINIENZAPFEN weist eine
folgenden Gliedern der Fibonacci- rungen der Probenauswahl. Schließ- spiralige Phyllotaxis des Typs (8, 13)
Folge. lich ist es nicht sehr schwer, einen auf: Seine Schuppen zeichnen
Quotienten zu finden, der ungefähr 8 Spiralen in eine (grün) und 13 in die
1,6 beträgt. Häufig wird argumen- andere Richtung (rot) – abermals
tiert, der gemessene Wert weiche zwei aufeinander folgende Zahlen
BIGEMRG / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

wegen Messungenauigkeiten leicht der Fibonacci-Folge.


vom goldenen Schnitt ab. Genauso
verhält es sich mit dem Divergenz-
winkel der Phyllotaxis: Misst man dagegen kein Zweifel. Hier handelt
ihn bei der Ackerschmalwand, es sich um ganze Zahlen, die sich
kommt man selten auf die exakte nicht runden oder ungenau messen
Zahl 137,5 Grad. Erst der Durch- lassen. Unseres Wissens nach ist
schnitt aller Winkel ergibt den das die einzige biologische Größe,
erwarteten Wert. die zweifellos mit der Fibonacci-­
Bei den links- und rechtsdrehen- Folge und dem goldenen Schnitt
den Spiralen der Pflanzen bleibt zusammenhängt.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten Erstaunlicherweise erklärt das Modell alle beobachteten
Forscher zahlreiche Modelle, die dieses selbstorganisieren- Phyllotaxen – sowohl die verbreitetsten Typen (siehe »Wozu
de Prinzip widerspiegeln. Dabei zeichnete sich immer die schönen Muster?«) als auch seltenere Muster. Z­ udem
stärker ab, dass junge Organe die Entstehung neuer Ele- beschreibt es, wie verschiedene Phyllotaxen ineinander
mente in ihrer unmittelbaren Nähe unterdrücken, indem sie übergehen, sei es auf natürliche Weise oder durch Störun-
ein Signal abgeben. Die Überlagerung aller Signale lässt gen des Meristems wie bei Mary und George Snow. 
sich als Hemmfeld modellieren, das bestimmt, wann und
wo sich die nächsten Organe ausbilden.  Ein einziges Modell
Als die Physiker Yves Couder und Stéphane Douady für alle Blattstellungen
von der École normale supérieure in Paris zu Beginn der Im Ansatz von Couder und Douady bestimmt ein einziger
1990er Jahre kleine Tropfen aus flüssigem Metall in Mag- geometrischer Parameter, = d/R, die Anordnung der
netfeldern beobachteten, erkannten sie, dass die Flüssig- Organe einer Pflanze. Dabei steht d für die Reichweite des
keit die gängigsten Phyllotaxistypen nachbildet. Couder Hemmfelds, das von jedem Organ ausgeht, und R ent-
und Douady arbeiteten daraufhin ein physikalisches Modell spricht dem Radius der zentralen Zone des Meristems, in
aus, welches das wachsende Meristem als dynamisches der sich kein neues Organ bilden kann (siehe »Meristem,
System behandelt. Demnach können präzise Divergenz­ goldener Winkel und Modellierungen«).
winkel entstehen, ohne dass sie vorher (etwa genetisch) Bei einer sehr jungen Sprossachse ist das Meristem
festgelegt sind. Stattdessen bestimmen die hemmenden anfangs klein und damit auch der Radius R, so dass sich der
Mechanismen der Pflanze, wann und wo sich neue Organe Parameter vergrößert. Wenn das erste Organ ein starkes
ausbilden. Hemmfeld erzeugt, wird das nächste wahrscheinlich auf

76 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


der gegenüberliegenden Seite entstehen, also um 180 Grad geometrischen Eigenschaften des Meristems zu den er-
versetzt. Während das Meristem wächst, nimmt R zu und staunlichen botanischen Mustern. 
folglich ab. Das nächste Organ erscheint dann nicht um Gegen Ende des 20. Jahrhunderts akzeptierten die
genau 180 Grad zum vorhergehenden versetzt, weil es das meisten Wissenschaftler das Modell der beiden Physiker
Feld des ersten Organs auch noch spürt.  Douady und Couder, das auf zwei einfachen Bausteinen
Während die Pflanze wächst und dabei immer kleiner basiert: einem Zentrum, das keine Organe produzieren
wird, bilden sich Organe innerhalb eines Winkels von kann, und Organen, die das Wachstum neuer Elemente in
2π(1 – 1/b) aus, wobei b ein Element aus der Folge der der unmittelbaren Nähe unterdrücken.
Quotienten von Fibonacci-Zahlen ist. Weil die entsprechen- Auch wenn es viele Beobachtungen erklärt, lässt das
de Folge gegen den goldenen Schnitt konvergiert, nähert Modell einige grundlegende Fragen unbeantwortet. Es
sich der Divergenzwinkel dem goldenen Winkel 2π(1 – 1/ ). bleibt beispielsweise unklar, woraus die Hemmfelder beste-
Diesem geometrisch determinierten Modell zufolge führen hen. In den letzten 15 Jahren machten Biologen diesbezüg-
also das Pflanzenwachstum, das verkleinert, und die lich große Fortschritte, unter anderem indem sie die Blüten-

Wozu die schönen Muster?


Evolutionär begründen lässt sich Lichtquelle, indem sie sich drehen
die Phyllotaxis mit verbesserter oder biegen. Darüber hinaus ist es
Licht­ausbeute: Wenn die Blätter sich nicht für alle Pflanzen vorteilhaft,
kaum überdecken, können sie sich der Sonne voll auszusetzen, vor
möglichst viel Sonnenlicht aufneh- allem bei Trockenheit. Das obige
men. Doch diese einfache Erklärung Argument kann zudem nicht erklä-
hält nicht lange stand. Etliche Pflan- ren, warum andere Elemente, die
zen zeigen beispielsweise Phyllo­ keine Foto­synthese betreiben, wie
taxen, bei denen die Blätter überein- Schuppen von Zapfen, Röhrenblüten
andergeschichtet sind und sich (kleine Einzelblüten) oder Blüten­ MILANVACHAL / STOCK.ADOBE.COM

gegenseitig beschatten. Außerdem organe (außer den Kelchblättern) EHRENPREIS Die Phyllotaxis einer
bestimmt die Phyllotaxis nur, wo ebenfalls regelmäßig angeordnet Pflanze führt nicht immer dazu,
die Blätter aus dem Stängel dringen. sind.  dass mehr Licht zu den Blättern
Bei den meisten Pflanzen orien- Biologen kamen daher mit allerlei dringt.
tieren sich die Blätter aber zu einer weiteren Erklärungsversuchen auf.
Der englische Mediziner Hubert Airy
(1838–1903) vermutete beispiels­ belegen. Verschiedene Phyllotaxen
PHYLLOTAXISTYPEN Die wichtigs- weise 1873, dass die gleichmäßigen lassen sich kaum miteinander
ten Typen, charakterisiert durch die Strukturen junge Organe vor äuße- vergleichen oder modifizieren, ohne
Zahl j der Organe, die aus dem­selben rem Stress schützen, der etwa durch dass sich gleichzeitig auch andere
Knoten der Sprossachse entspringen, Temperaturänderungen oder Verlet- Eigenschaften der Pflanze ändern –
sowie durch den Divergenzwinkel δ zungen verursacht wird.  ganz zu schweigen davon, dass die
­zwischen aufeinander folgenden Solche Hypothesen sind aller- genaue Messung selektiver Anpas-
Organen. dings experimentell schwer zu sungen extrem schwierig ist.
Eine andere mögliche Erklärung
zweizeilig kreuz-
wäre, dass die geometrischen
wechselständig spiralig quirlständig gegenständig spirodistich Muster indirekt entstehen, während
j = 1, δ = 180° j = 1, δ = 137,5° j = 4, δ = 45° j = 2, δ = 90° j = 2, δ = 68,8° die Pflanze wächst. Damit wären
sie keine direkte Folge einer evolu­
tionären Selektion. Und tatsächlich
scheint die komplizierte Organbil-
POUR LA SCIENCE AUGUST 2018, NACH: FABRICE BESNARD

dung der Pflanzen viele geometri-


sche Eigenschaften der Phyllotaxen
zu belegen. Das schließt jedoch
nicht aus, dass die regelmäßigen
Strukturen Vorteile bringen, wo-
durch sich ein bestimmter Mecha-
nismus zur Organentstehung durch-
gesetzt hat.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 77


bildung der Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana) unter- Ackerschmalwand keine Blüten mehr. Trugen sie das Auxin
suchten, die sich im Labor leicht kultivieren lässt. danach jedoch lokal auf, entstanden Blüten.
Überraschenderweise fanden Biologen erste Hinweise Biologen gehen daher davon aus, dass sich das Auxin
auf einen hemmenden Mechanismus, als sie ein Aktivie- lokal häufen muss, um ein neues Organ auszubilden. Dem-
rungssignal identifizierten. Cris Kuhlemeier und seine nach könnten junge Blüten die Indol-3-Essigsäure so stark
Kollegen von der Universität Bern konnten im Jahr 2000 sammeln, dass die Zellen in ihrer Nachbarschaft leer ausge-
zeigen, dass bei der Ackerschmalwand und der Tomate die hen und dadurch keine Organe produzieren. Um diesen
Indol-3-Essigsäure, ein pflanzliches Hormon aus der Gruppe Verdacht zu überprüfen, verbanden weltweit mehrere
der Auxine, neue Organe bildet. Das Auxin kann sich dank Teams biologische Studien mit mathematischen Modellen
Transportproteinen, die das Molekül durch die Zellmembra- (siehe »Die Moleküle der Phyllotaxis«).
nen schleusen, frei in der Pflanze bewegen. Als Kuhlemeier All diese Prozesse finden in der Epidermis statt, der
und sein Team diesen Transport unterbanden, bildete die äußersten Zellschicht der Pflanze. Um sich vom überschüs-

Die Phyllotaxis der Moose


Neben Blütenpflanzen weisen auch Jedes Mal, wenn sich im Moos auffallenden Muster erzeugen,
Moose eine vielfältige Phyllotaxis die Meristemzelle teilt, bleibt eine scheinen sich stark zu unterschei-
auf. Diese landlebenden Gewächse davon an der Spitze der Spross­ den: In Blütenpflanzen sind es
entstanden vor 340 bis 440 Millio- achse, während sich die andere zu Hemmfelder, während sich bei
nen Jahren und sind damit we- einem Blatt entwickelt. Die Anord- Moosen die Form und Lage der
sentlich älter als Blütenpflanzen, nung der Blätter ist daher vorwie- Zellteilung entscheidend auswirkt.
deren Ursprung nur etwa 200 bis gend durch die Form der meriste- Allerdings könnten die molekularen
245 Millionen Jahre zurückreicht.  malen Zelle und die Lage ihrer Signale, bei Blütenpflanzen die
Der gemeinsame Vorfahre Teilungsebene festgelegt. Wie bei Phyllotaxis kontrollieren, auch eine
beider Gruppen besaß vermutlich Blütenpflanzen führt bei Moosen Rolle bei Moosen spielen, da man
noch keine Blätter. Forscher gehen die rhythmische Produktion von in ihnen die gleichen Pflanzenhor-
davon aus, dass diese bei Moosen Blättern zu einer regelmäßigen mone findet. 
und Blütenpflanzen unabhängig Phyllotaxis, die entweder spiralig
Yoan Goudert ist Biologe am Laboratoire
voneinander entstanden. In beiden oder wechselständig ist. Reproduction et Développement des
haben sich derartige Organe Die Mechanismen, die in den Plantes an der École normale superieure
offenbar evolutionär durchgesetzt, verschiedenen Pflanzengruppen die de Lyon.
weil sie Lichtenergie optimal ein-
fangen, die sie für die Fotosynthe-
se benötigen. Moose und Blüten-

CHMEE2 (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:POLYTRICHUM_
COMMUNE_IN_NATURAL_MONUMENT_KNEZ_U_HRAZAN_(1).JPG) /
CC BY-SA 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)
pflanzen ähneln sich aber ebenso
in anderen Merkmalen, etwa in der
regelmäßigen Anordnung ihrer
Blätter. Allerdings besteht das
Meristem von Moosen aus einer
einzigen Zelle, gegenüber einigen
hundert in Blütenpflanzen.
POUR LA SCIENCE AUGUST 2018

BEI MOOSEN besteht das Meris-


tem aus einer einzigen Zelle. Je
nachdem, welche Form sie an-
CC0 (CREATIVECOMMONS.ORG/PUBLICDOMAIN/ZERO/1.0/LEGALCODE)

nimmt und wo die Teilungsebene


FILE:FISSIDENS_TAXIFOLIUS_(F,_144714-481009)_2776.JPG) /
HERMANNSCHACHNER (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/

verläuft, bilden die Blätter eine


spiralige Phyllotaxis, wie beim
Goldenen Frauenhaarmoos (Poly-
trichum commune, oberes Bild),
oder eine zweizeilig wechselstän-
dige, etwa beim Eibenblättrigen
Spaltzahnmoos (Fissidens taxifoli-
us, unten).

78 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


Die Moleküle der Phyllotaxis
Im Meristem prägen mehrere Mole- die das Auxin durch die Zellmemb- Organe an (rechts). Solange es sich
küle Ort und Zeitpunkt, an denen das ran (Bild Mitte) schleusen. Ohne dort in ausreichender Konzentration
nächste Organ entsteht. Ein Hormon Auxin bildet sich kein Organ. Durch befindet, hemmt es die Aktivität des
aus der Gruppe der Auxine häuft sich die Anhäufung des Hormons an Hormons Zytokinin, wodurch sich
in den neuen Organen (Bild links, einer Stelle wird es der unmittelba- das Wachstum verzögert. Diese
sichtbar gemacht durch einen ren Umgebung entzogen. Ein weite- beiden Mechanismen führen dazu,
fluoreszierenden Biomarker) dank res Protein, AHP6, sammelt sich dass die Organe in regelmäßigen Ab-
bestimmter Transportproteine an, ebenfalls in den Bereichen späterer ständen entstehen.
VERNOUX, T. ET AL.: THE AUXIN SIGNALLING NETWORK TRANSLATES DYNAMIC INPUT INTO ROBUST PATTERNING AT
THE SHOOT APEX. MOLECULAR SYSTEMS BIOLOGY 7, 2011, FIG. 5B; MIT FRDL. GEN. VON TEVA VERNOUX

FABRICE BESNARD
FABRICE BESNARD
sigen Auxin zu befreien, leiten die jungen Organe das Während das Gewebe also wächst und sich verformt,
angesammelte Hormon in die inneren Gewebeschichten ab. reagieren die Zellen und ihr Zytoskelett auf diese neuen
Während sie wachsen, entfernen sich die Blüten vom Spannungen, indem sie die Eigenschaften der Zellwände
Meristem, so dass sie nicht mehr mit den jüngeren Organen (etwa Festigkeit und Richtung des Wachstums) anpassen,
um das Auxin konkurrieren. Forscher beobachteten diesen was im Gegenzug die mechanischen Kräfte verändert. So
Mechanismus auch bei anderen Pflanzen, die evolutiv recht entstehen komplexe mechanische Wechselwirkungen im
weit von der Ackerschmalwand entfernt sind, etwa bei der wachsenden Gewebe. Man konnte zwar noch nicht direkt
Tomate, dem Mais oder der Gerste. nachweisen, dass diese Prozesse die Anordnung der neuen
Ein einziges Molekül dient also offenbar gleichzeitig als Organe beeinträchtigen, doch wie unter anderem unsere
Aktivator und Hemmstoff. Doch die Realität scheint we- Forschungsgruppe herausfand, deuten experimentelle
sentlich komplizierter zu sein. Zunächst weiß man immer Ergebnisse zumindest bei der Ackerschmalwand darauf hin.
noch nicht, was die Transportproteine veranlasst, an Zusammen mit anderen Teams erforschten wir dazu
einigen Stellen das Auxin anzuhäufen und an anderen zu Mutationen, bauten gezielt genetische Veränderungen ein
entfernen. Dazu gibt es verschiedene Vermutungen. und beobachteten das Zellwachstum auf mikroskopischer
Die Transporter könnten sich beispielsweise an der höchs- Ebene. Es zeigte sich, dass das angesammelte Auxin die
ten Auxinkonzentration orientieren oder sie sorgen dafür, Zellwandsynthese fördert sowie das Wachstum der Zelle
dass der Fluss des Hormons maximal ausfällt.  unterstützt. All diese Prozesse sind offenbar notwendig,
damit sich Blätter oder Blüten entwickeln.
Welche Rolle spielt die Mechanik? Nun hatten wir chemische und mechanische Kräfte
Aber nicht nur chemische Mechanismen könnten das identifiziert, welche die Phyllotaxis einer Pflanze prägen.
Wachstum der Pflanze und ihrer Organe beeinflussen, Eine weitere Entdeckung ließ uns allerdings vermuten, dass
sondern auch mechanische Prozesse. Pflanzliche Zellen darüber hinaus noch andere Mechanismen beteiligt sind.
stehen wegen der sie umgebenden starren Wand und des Nach langer Suche hatten wir nämlich doch einen Hemm-
Wassers, das sie speichern, unter Druck. Zudem erzeugt stoff gefunden, der sich um die wachsenden Organe einer
die Form des Gewebes Spannungen, welche die Moleküle Pflanze verteilt. Dabei handelt es sich um das Molekül
im Zytoskelett stören. Diese großen Polymere kontrollieren AHP6 (Arabidopsis histidine phosphotransfer protein 6), das
wiederum die Form der Zellen. die Aktivität von Zytokinin unterdrückt, einem weiteren

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22 79


die Parameter und die Funktionsweise des Modells studiert.
Nur kann der geometrisch determinierte Ansatz leider nicht
PIERRE BONA (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:MONTR%C3%A9AL_JARDIN_BOTANIQUE_MAMMILLAIRE_CACTUS.JPG) /

alle experimentellen Daten reproduzieren. Als wir die spirali-


ge Phyllotaxis der Ackerschmalwand untersuchten, erkann-
ten wir kleine Abweichungen im erwarteten Muster. Die
Pflanzen wuchsen nicht vollkommen regelmäßig, sondern
wiesen Unvollkommenheiten auf. Zum Beispiel wich der
Divergenzwinkel bei einigen vom goldenen Winkel ab. Die
Variationen scheinen nicht zufällig aufzutreten, sondern
CC BY-SA 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)

folgen einer auffälligen Struktur: Immer wenn zwei Organe


gleichzeitig entstehen und deren Reihenfolge sich von
Zeit zu Zeit entlang der Sprossachse umkehrt, finden sich
Unregelmäßigkeiten.
Bei der Ackerschmalwand ereignen sich solche Permuta-
tionen relativ häufig. Auch andere Pflanzen mit einem
langen Stiel, der die einzelnen Elemente wie Blätter vonein-
ander trennt, weisen die Eigenschaft auf. Das geometrisch
determinierte Modell sagt zwar derartige Störungen voraus,
doch wesentlich seltener und weniger komplex, als man sie
in der Natur antrifft.
KAKTEEN zeigen häufig geometrische Muster, Diese Abweichungen von einem regelmäßigen Muster
wie dieses hier mit einer Phyllotaxis vom Typ sind überaus spannend, denn sie zeigen, welche Mechanis-
(8, 13), das man auch auf Pinienzapfen findet. men die Phyllotaxis der Pflanze prägen. Daher suchten wir
nach Möglichkeiten, um das geometrisch determinierte
Modell so anzupassen, dass es die realen Beobachtungen
Pflanzenhormon (siehe »Die Moleküle der Phyllotaxis«). besser wiedergibt. 
Erstaunlicherweise be­einflusst das von AHP6 erzeugte Feld Im ursprünglichen Modell bestimmt das Hemmfeld, wo
nicht den Divergenzwinkel, sondern zwingt der Pflanze und wann sich ein Organ bildet. Dazu berechnete ein Com-
vielmehr einen regelmäßigen Rhythmus auf, in dem sie die puter für jeden Zeit- und Raumpunkt am Rand des zentralen
Organe bildet. Dank dieses Moleküls sind die Blätter ent- Meristems, ob die Felder der benachbarten Organe ein
lang der Sprossachse extrem gleichmäßig verteilt.  neues Organ zulassen. Das Programm erzeugt dann überall
Offenbar setzt sich das Hemmfeld also aus mehreren dort ein Organ, wo das Hemmfeld einen bestimmten
Komponenten zusammen. Neben dem Auxin sind auch Schwellenwert unterschreitet. Aber viele experimentelle
andere Faktoren an den regelmäßigen mathematischen Ergebnisse weisen darauf hin, dass der Prozess nicht so
Mustern beteiligt. Diese Zusammenhänge sind Gegenstand einfach abläuft. 
spannender Forschungsarbeiten. Deshalb versuchten wir einen anderen Ansatz. Unser
Während sich die meisten Biologen auf die Natur der neues Modell enthält zwar weiterhin die geometrischen
Hemmfelder konzentrierten, rückten andere ungeklärte Aspekte des vorherigen, die Organbildung ereignet sich
Fragen in den Hintergrund. Unsere Modelle können bei- dabei jedoch probabilistisch statt deterministisch. Ein
spielsweise nicht erklären, welche Prozesse das kontinu- Organ wird also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
ierliche Wachstum sicherstellen oder warum keine Organe erzeugt, die davon abhängt, wie stark und lange die Zellen
im Zentrum des Meristems entstehen, selbst wenn sich einem Hemmfeld ausgesetzt sind. Durch diesen Ansatz
dort Auxin ansammelt. Zudem ist noch unbekannt, ob sich konnten wir die bei Arabidopsis thaliana gemessenen Unre-
der Parameter wirklich nur durch das Wachstum der gelmäßigkeiten wesentlich besser reproduzieren als mit
Pflanze ändert oder ob auch ein anderer Mechanismus anderen Modellen. 
beteiligt ist. 
In den letzten Jahren lieferten Forscher verschiedene Die Rolle des Zufalls
Antworten auf diese Frage, doch bisher konnte sie niemand Außerdem verwenden wir neue Kontrollparameter, die nicht
in ein schlüssiges molekulares Modell integrieren. Daher nur mit der Geometrie zusammenhängen, sondern ebenso
kamen uns Zweifel, ob ein geometrisch determinierter mit der Anzahl der Permutationen und der Frequenz, in der
Ansatz überhaupt dazu geeignet ist, um die Phyllotaxis sich Organe bilden. Durch das stochastische System kön-
einer Pflanze zu beschreiben. Eventuell laufen die Vorgänge nen wir sogar einige Eigenschaften einer Pflanze bestim-
gar nicht so deterministisch ab, wie wir es immer vermutet men, die sich nicht direkt messen lassen, etwa wie emp-
hatten. Der Verdacht beschlich uns, als wir den bisherigen findlich die Zellen auf das Hemmfeld reagieren. 
Ansatz genauer unter die Lupe nahmen. So viel versprechend er auch aussieht, muss unser
Die Stärke eines wissenschaftlichen Modells liegt in Ansatz jedoch noch einigen experimentellen Tests standhal-
seiner Fähigkeit, zu erklären und korrekt vorherzusagen. Je ten. Das stellt sich oftmals als schwierig heraus. Eine erste
genauer es vergangene Beobachtungen nachbildet, desto Herausforderung besteht darin, präzise und schnell den
besser lassen sich neue Phänomene verstehen, indem man exakten Aufbau einer Pflanze zu bestimmen. Um die Ergeb-

80 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  3.22


nisse statistisch abzusichern oder die Effekte einzelner Spektrum der Wissenschaft
Gene zu unterscheiden, muss man dazu zahlreiche Pflanzen
Chefredakteur: Dr. Daniel Lingenhöhl (V.i.S.d.P.)
analysieren. Leider ist es bisher aber nicht möglich, so Redaktionsleiter: Dr. Hartwig Hanser
große Sammlungen effektiv auf ihre Divergenzwinkel, Redaktion: Mike Zeitz (stellvertr. Redaktionsleiter), Manon Bischoff,
Permutationen, Sprossachsenlänge oder die Bildungsrate Dr. Andreas Jahn, Dr. Karin Schlott, Dr. Frank Schubert, Verena Tang
der Organe zu untersuchen. Viele Wissenschaftler versu- E-Mail: redaktion@spektrum.de
chen derartige Messungen zu automatisieren, denn sie sind Art Direction: Karsten Kramarczik
unverzichtbar, um die Phyllotaxis nicht nur qualitativ, son- Layout dieses Hefts: Bärbel Wehner

dern auch quantitativ zu verstehen. Schlussredaktion: Christina Meyberg (Ltg.), Sigrid Spies, Katharina Werle

Eine weitere Hürde besteht darin, die oftmals abstrakten Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg, Gabriela Rabe

Kontrollparameter eines theoretischen Modells mit experi- Redaktionsassistenz: Andrea Roth


Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH,
mentellen Größen zu verbinden. Beispielsweise lässt sich
Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg,
die Stärke eines Hemmfelds nur schwer im Labor messen. Hausanschrift: Tiergartenstraße 15–17, 69121 Heidelberg,
Um solche Parameter zu bestimmen, muss man zumindest Tel. 06221 9126-600, Fax -751; Amtsgericht Mannheim, HRB 338114
Redaktionsanschrift: Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg,
einige der vielen molekularen Abläufe kennen.
Tel.: 06221 9126-711
Wenn man beispielsweise annimmt, dass das Auxin die
Geschäftsleitung: Markus Bossle
Stärke der Hemmfelder bestimmt, kann man die Hormon-
Herstellung: Natalie Schäfer
konzentration im Meristem messen. Zu diesem Zweck Marketing: Annette Baumbusch (Ltg.), Tel. 06221 9126-741
entwickelte unsere Forschungsgruppe 2012 einen neuen E-Mail: service@spektrum.de
Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.), Tel. 06221 9126-744
Übersetzer für dieses Heft: Christine Kemmet
Leser- und Bestellservice: Helga Emmerich, Sabine Häusser
Tel. 06221 9126-743, E-Mail: service@spektrum.de

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wunderwelt-der-pflanzen
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ISTOCK / SULTANCICEKGIL
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für Studenten gegen S ­ tudiennachweis € 27,00. Bei Versand ins Ausland
werden die Mehr­kosten berechnet. Alle Preise verstehen sich inkl. Umsatzsteuer.
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Biosensor (ein fluoreszierendes Protein, das sensibel auf
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Auxin reagiert, siehe »Die Moleküle der Phyllotaxis«), der
Druckunterlagen an: Natalie Schäfer,E-Mail: schaefer@spektrum.de
empfindlich genug ist, um die Auxinkonzentrationen extrem
Anzeigenpreise: Gültig ist die Preisliste Nr. 43 vom 19. 1. 2022
genau abzubilden. Indem man den Sensor mit anderen Gesamtherstellung: L. N. Schaffrath Druckmedien GmbH & Co. KG,
Markern koppelt, welche die Aktivität und Zelldifferenzie- Marktweg 42–50, 47608 Geldern
rung messen, kann man zeitlich verfolgen, wie das Meris- Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk liegen bei der Spektrum der
tem hemmende Signale räumlich verteilt. Diese neuen Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH. Jegliche Nutzung des Werks, insbeson­
dere die Vervielfältigung, Verbreitung, öffentliche Wiedergabe oder öffentliche
experimentellen Möglichkeiten der Molekularbiologie Zugänglichmachung, ist ohne die vorherige schriftliche Einwilligung des Verlags
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zu verstehen.  Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg. Jegliche Nutzung ohne die Quellenangabe in
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QUELLEN Artikelnachweise: Wie viele reelle Zahlen gibt es? SdW 1/2022 · Das fehlende
Puzzleteil SdW 2/2021 · Ordnung in den Unendlichkeiten; Unordentliche Graphen
Besnard, F. et al.: Cytokinin signalling inhibitory fields provide SdW 3/2021 · Eine neue Mathematik der Zeit SdW 4/2021 · Die Mathematik der
robustness to phyllotaxis. Nature 505, 2014 Mathematik SdW 6/2022 · Mathematischer Brückenschlag SdW 10/2021 ·
Mathematik verbindet SdW 2/2022 · Unendlich viel Bier nach Feierabend SdW
Brunoud, G. et al.: A novel sensor to map auxin response and 5/2019 · Rationale Zahlen zählen SdW 5/2021 · Zahlenspiele im Reich der Pflanzen
distribution at high spatio-temporal resolution. Nature 482, 2012 SdW 2/2020

Golé, C. et al.: Fibonacci or quasi-symmetric phyllo­taxis. Part I: Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Bücher übernimmt die Redaktion
keine Haftung; sie behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.
Why? Acta Societatis Botanicorum Poloniae 85, 2016
Auslassungen in Zitaten werden generell nicht kenntlich gemacht.
Refahi, Y. et al.: A stochastic multicellular model identifies
biological watermarks from disorders in self-organized patterns
ISSN 2193-4452 / ISBN 978-3-95892-634-9
of phyllotaxis. eLife 5, 2016

Vernoux, T. et al.: The auxin signalling network trans­lates SCIENTIFIC AMERICAN


dynamic input into robust patterning at the shoot apex. Molecu- 1 New York Plaza, Suite 4500, New York, NY 10004-1562,
lar Systems Biology 7, 2011 Editor in Chief: Laura Helmuth, President: Kimberly Lau

81
Die nächste Ausgabe dieser Reihe ist ab 18. 11. 2022 im Handel.

VORSCHAU
NEUE FRONTEN DER QUANTENPHYSIK THEMEN SIND UNTER ANDEREM:
Seit Jahrzehnten gibt es zunehmend bessere mathematische Model­
le des mikroskopisch Kleinen, doch sie stoßen an Grenzen. Mitunter
DIE GRUNDKRÄFTE
entzieht sich bereits jeder Berechnung, was im Inneren von Atom­
kernen oder in starken Feldern geschieht. Völlig an ihr Ende kommt
DER WELT
die Lehre dann, wenn es um Bereiche geht, in denen sich Quanten- Die Physik des Mikrokosmos fußt
und Relativitätstheorie begegnen. Der Durchbruch zu einer hypothe­ auf Quantenfeldtheorien. Allerdings
tischen Quantengravitation lässt weiter auf sich warten. Während bereitet der Ansatz viele Probleme.
Experimente, die das ändern sollen, immer tiefer in die Strukturen Neue Tricks sollen den komplizierten
der Raumzeit vordringen, verursachen die Eigenarten der Teilchen­ Gleichungen weitere Geheimnisse
welt auch auf makroskopischen Skalen Schwierigkeiten. Ein Beispiel ­entlocken.
ist die praktische Umsetzung viel versprechender Anwendungsmög­
lichkeiten in Quantennetzwerken und -computern. Hier läuft bereits
die Suche nach den besten Bauteilen und den effizientesten Ver­ WORAUS BESTEHT
schaltungen für die empfindlichen Informationseinheiten – und die DIE RAUMZEIT?
seltsamen Eigenarten der Quantenmechanik wirken sich wieder und Falls Raum und Zeit aus fundamenta­
wieder auf überraschende Weise aus. len Bausteinen hervorgehen, sind diese
womöglich von ganz anderer Art als
die bekannten Teilchen und Wechsel­
wirkungen.

ERSTE SCHRITTE
ZUM QUANTENINTERNET
Zwei weit voneinander entfernte
Objekte können sich unmittelbar
beeinflussen. Ein zukünftiges, kompli­
ziertes Quantennetzwerk könnte des­
halb unerwartete Phänomene hervor­
bringen.

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