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SPEZIAL Physik Mathematik Technik
SPEZIAL Physik Mathematik Technik
Unendlichkeiten
Die Mathematik
des Grenzenlosen
24525
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EDITORIAL
GERÜSTBAU INS UNFASSBARE
Von Manon Bischoff, Redakteurin dieses Hefts
m.bischoff@spektrum.de
Das Konzept der Unendlichkeit begleitet die Menschheit seit Jahrtausen-
den. Bereits in der Antike sinnierten Gelehrte wie Anaximander oder Aristo-
teles über die Existenz des Unermesslichen. Eine klare mathematische DAS KÖNNTE SIE AUCH INTERESSIEREN:
Definition ließ lange auf sich warten. Das ist nicht überraschend, wenn man
WISSENSCHAFT
OM;
bedenkt, in welche vermeintlichen Widersprüche man beim genaueren Nach-
YURIYALT_ART / STOCK.ADOBE.C
denken gerät. Das reicht von Zenons Paradoxien eines Sprinters, der niemals
6 GRÖSSEN
WIE VIELE REELLE ZAHLEN GIBT ES?
Ein neuer Beweis bringt die Fachwelt dazu, ihre
Auffassungen über die Anzahl der Punkte auf dem
Zahlenstrahl zu überdenken.
Von Natalie Wolchover
6
Von Jean-Paul Delahaye
26 VERGLEICHBARKEIT GRÖSSEN
ORDNUNG IN DEN UNENDLICHKEITEN WIE VIELE
Zehn charakteristische Mengen waren bisher nicht REELLE ZAHLEN GIBT ES?
genau vermessbar. Jetzt stellt sich heraus: In
bestimmten Fällen sind sie alle verschieden.
Von Martin Goldstern und Jakob Kellner
36 THEORETISCHE PHYSIK
26
EINE NEUE RECHNUNG FÜR DIE ZEIT VERGLEICHBARKEIT
Im »Intuitionismus« entfalten sich Zahlen nach ORDNUNG IN DEN
und nach. Die Idee kommt der einer fließenden UNENDLICHKEITEN
Zeit nahe.
Von Natalie Wolchover
MIT FRDL. GEN. VON SVEN GEIER (WWW.SGEIER.NET/FRACTALS/INDEX07.PHP)
42 KATEGORIENTHEORIE
DIE MATHEMATIK DER MATHEMATIK
Indem man abstrahiert und Details ignoriert,
lassen sich Übereinstimmungen in verschiedenen
Gebieten finden.
Von Emily Riehl
50 ARITHMETISCHE DYNAMIK
VIGNETTE (WWW.INSTAGRAM.COM/VI_NE_TE/) FÜR QUANTA MAGAZINE
BEWEGTE ZAHLEN
Eine neue Disziplin kombiniert Erkenntnisse aus
der Zahlentheorie mit dynamischen Systemen.
50
Das fördert erstaunliche Ergebnisse zu Tage.
ARITHMETISCHE
Von Kelsey Houston-Edwards DYNAMIK
BEWEGTE ZAHLEN
56 PERKOLATIONSTHEORIE
FOLGENSCHWER VERKNÜPFT
Fügt man Knoten zu einem Netz hinzu, findet
irgendwann ein Übergang statt: Plötzlich hängt
alles eng miteinander zusammen.
Von Kelsey Houston-Edwards
64 MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN
RATIONALE ZAHLEN ZÄHLEN
Wenn man geschickt vorgeht, eröffnen sich interes-
sante geometrische Zusammenhänge, auch zur Gestalt
der Mandelbrot-Menge.
Von Christoph Pöppe
72 BOTANIK
ZAHLENSPIELE IM REICH DER PFLANZEN
Nach und nach helfen biophysikalische Modelle bei der
Entschlüsselung der Mechanismen, die etwa zu den
faszinierenden Anordnungen von Blättern führen.
Von Teva Vernoux, Christophe Godin und Fabrice Besnard
56
PERKOLATIONSTHEORIE
FOLGENSCHWER
VERKNÜPFT
3 EDITORIAL
63 FREISTETTERS FORMELWELT
WINHORSE / GETTY IMAGES / ISTOCK
81 IMPRESSUM
82 VORSCHAU
RAZZEL / STOCK.ADOBE.COM
72 Titelbild:
gonin / Getty Images / iStock;
BOTANIK Bearbeitung: Spektrum der Wissenschaft
ZAHLENSPIELE IM
REICH DER PFLANZEN
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WIE VIELE
REELLE ZAHLEN
GIBT ES?
Seit mehr als 50 Jahren gehen Mathema
tikerinnen und Mathematiker davon aus,
dass die Anzahl der Punkte auf dem Zahlen
strahl unbestimmbar ist. Doch ein neuer
Beweis bringt die Fachwelt dazu, ihre Auf
fassung zu überdenken.
spektrum.de/artikel/1950058
HIERARCHIE DES
UNVORSTELLBAREN
Unendlich ist nicht immer
gleich unendlich.
Spektrum
SpektrumSPEZIAL
SPEZIAL Physik Mathematik Technik
Physik Mathematik Technik 3.22 7
Während eines Urlaubs im Oktober 2018 blickte David der einen Seite jene, die daran glauben, und auf der ande
Asperó gedankenversunken aus dem Autofenster auf ren solche, die davon ausgehen, er lag falsch. Das Ergebnis
die italienische Landschaft, als ihm plötzlich die zün von Asperó und Schindler legt nahe, dass Letztere mit ihrer
dende Idee zu dem fehlenden Puzzleteil eines Rätsels kam, Intuition richtiglagen. Die Anhänger der Vermutung geben
das ihn schon lange beschäftigte: Er hatte gerade den sich aber nicht geschlagen. Sie kämpfen weiterhin um eine
letzten Schritt eines bahnbrechenden neuen Beweises Vision von der Mathematik, in der die Kontinuumshypothe
gefunden, der Aufschluss über die Größen von Unendlich se gilt – und wie es aussieht, wird sich der Ausgang des
keiten gibt. Streits so schnell nicht klären lassen. »Es ist eine erstaunli
Der Mathematiker an der University of East Anglia in che Zeit«, urteilt Juliette Kennedy, Logikerin und Philoso
Großbritannien kontaktierte daraufhin sofort seinen Kolle phin an der Universität von Helsinki. »Das Ergebnis zählt zu
gen Ralf Schindler von der Universität Münster, mit dem er den aufregendsten und dramatischsten Dingen, die in der
das Thema seit einigen Jahren verfolgte, und beschrieb Geschichte der Mathematik je passiert sind.«
seine Erkenntnis. »Für mich klang alles völlig unverständ Um zu verstehen, warum die Fronten so verhärtet sind,
lich«, erinnert sich Schindler. Aber schließlich gelang es muss man in die Vergangenheit zurückblicken. Wie schon
beiden Forschern, Asperós Gedanken zu entwirren und in erwähnt, gibt es Unendlichkeiten in vielen Varianten. 1873
nachvollziehbare logische Schlüsse zu verwandeln. erschütterte Cantor die Grundfesten der Mathematik, als er
Ihr Beweis, den sie im Mai 2021 im
renommierten Fachjournal »Annals of
Mathematics« veröffentlichten, ver
eint zwei rivalisierende Grundaussa Nicht alle Unendlichkeiten sind gleich
gen, so genannte Axiome, die jeweils
das Fundament der Mathematik
Die kleinste Unendlichkeit alle Eins- alle
erweitern sollten. Bisher hatten natürlichen zu-eins- geraden
Fachleute angenommen, man müsse Zwei unendliche Mengen gelten Zahlen Abbildung Zahlen
sich zwischen beiden Annahmen als gleich groß, wenn sich jedes
entscheiden, weil sie sich gegenseitig Element der einen mit einem
ausschließen würden. Doch wie Element der anderen paaren lässt.
Asperó und Schindler zeigen konnten, Zum Beispiel kann man jeder
folgt aus einer der Aussagen die geraden Zahl eine natürliche Zahl
andere. Das deutet darauf hin, dass zuweisen. Aus dieser Eigenschaft
beide wahr sind – und damit auch folgt, dass beide Mengen die
alles, was sie für die Welt der Unend gleiche Größe haben.
lichkeiten besagen.
Das Ergebnis schlägt hohe Wellen,
denn es verstärkt die Argumente natürliche reelle
Ungleiche Unendlichkeiten Zahlen Zahlen
gegen die berühmte Kontinuums
hypothese, eine weit reichende Ver Sind die reellen Zahlen, die alle
mutung über die Größe bestimmter Punkte eines Zahlenstrahls enthalten,
Mengen, die der deutsche Mathema genauso groß wie die natürlichen?
tiker Georg Cantor 1878 aufstellte. Wenn sie es wären, könnte man sie
Kurz zuvor hatte er herausgefunden, eins zu eins aufeinander abbilden.
dass es nicht nur eine Art von Unend
lichkeit, sondern unendlich viele
davon gibt. Diese unvorstellbaren Allerdings wird eine solche Zuord
Werte lassen sich wie die natürlichen nung stets unvollständig sein. Um zu
Zahlen der Größe nach ordnen. Can verstehen warum, kann man den
LUCY READING-IKKANDA / QUANTA MAGAZINE; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
schen Universität Jerusalem, »also müssen wir sie zu einem Im Prinzip wäre es möglich, die Kontinuumshypothese
reichhaltigeren System erweitern.« selbst als Axiom festzulegen. Allerdings sollten die Grund
Seit Cohens ernüchterndem Ergebnis haben Fachleute annahmen, welche die Mathematik aufbauen, zweifelsfreie
versucht, die Grundlagen der Mathematik zu festigen, Tatsachen widerspiegeln. Wie groß die Menge der reellen
indem sie dem ZFC-Axiomensystem neue Aussagen hinzu Zahlen genau ist, fällt nicht unter diese Kategorie. Daher
fügten. Diese sollten die Struktur der unendlichen Mengen bestand die Aufgabe darin, passende Kandidaten zu finden,
beleuchten, einleuchtende Theoreme hervorbringen, fatale die sich gut in das bestehende System einfügen.
Widersprüche vermeiden und natürlich Cantors Vermutung Gödel war der Meinung, die Kontinuumshypothese sei
klären. falsch – es gäbe mehr reelle Zahlen, als Cantor vermutete.
Der in Österreich geborene Logiker ging davon aus, dass Bald fanden Cohen und seine Zeitgenossen heraus, dass
die Kardinalität des Kontinuums 2 beträgt; das heißt, es man – abhängig von den Besonderheiten des Verfahrens –
gäbe eine weitere Unendlichkeit zwischen den natürlichen den reellen Zahlen auf diese Art und Weise beliebig viele
und den reellen Zahlen. 1947 sah er bereits den Trend der Glieder hinzufügen kann. Man landet dann bei Kardinalzah
zukünftigen Bemühungen voraus: »Die Rolle des Kontinu len von etwa 12 oder 35, nach oben hin sind keine Gren
umsproblems in der Mengenlehre wird darin bestehen, zen gesetzt.
dass schließlich neue Axiome entdeckt werden, die es Das Forcing erwies sich in den folgenden Jahren als
ermöglichen, Cantors Vermutung zu widerlegen.« extrem nützliche Methode. Abgesehen von neuen reellen
Zahlen haben Mathematiker und Mathematikerinnen den
Neue Axiome gesucht Ansatz verallgemeinert, um verschiedenste Universen zu
Damit sollte er Recht behalten: Fachleute haben zwei erzeugen, in denen seltsame Objekte existieren, die teilwei
plausible Aussagen gefunden, die der Kontinuums se unvereinbar sind. So entstand ein Multiversum von
hypothese widersprechen. Jahrzehntelang ging man davon Wirklichkeiten. »Die Technik schafft eine Mehrdeutigkeit in
aus, sie seien unvereinbar, und Verfechter beider Seiten unserem Mengenuniversum«, so der Logiker Hugh Woodin
stritten sich darum, welche Aussage am ehesten erfüllt sein von der Harvard University. »Man schafft all diese virtuellen
sollte. Um zu verstehen, was die Axiome besagen, muss Möglichkeiten. Damit stellt sich die Frage, wie man beurtei
man sich Cohens bahnbrechender Arbeit aus dem Jahr len kann, in welcher mathematischen Realität man sich
1963 zuwenden. Darin entwickelte er eine Technik namens befindet.«
»Forcing«, welche die Mengenlehre entscheidend geprägt Mit solchen Überlegungen stand die Fachwelt vor einem
hat und für die er 1966 mit der Fields-Medaille geehrt großen Rätsel. Welches von zwei widersprüchlichen Objek
wurde, einer der höchsten Auszeichnungen in der Mathe ten, die durch unterschiedliche Methoden des Forcing
matik. kreiert wurden, sollte man zulassen – und welches verwer
In seinem Artikel konstruierte Cohen ein Modell eines fen? Es war nicht klar, wann (oder ob) eine Struktur, die
Universums, in dem die Kontinuumshypothese wahr ist, die durch Cohens Technik entsteht, wirklich existiert.
reellen Zahlen also eine Kardinalität von 1 haben. Mit dem Um das Problem zu lösen, stellten die Mathematikerin
von ihm konzipierten Forcing erweiterte er jedoch den nen und Mathematiker mehrere Forcing-Axiome auf. Das
Zahlenstrahl und schuf neue Werte, die im ursprünglichen sind Regeln, um festzulegen, unter welchen Voraussetzun
Modell nicht enthalten waren (siehe »Forcing«). Damit hat gen bestimmte Objekte existieren, die Cohens Verfahren
das Kontinuum in diesem Universum mindestens eine ermöglicht. »Wenn man sich vorstellen kann, dass es etwas
Größe von 2. gibt, dann ist es auch so. Dieses intuitive Prinzip führt zu
»Woher weiß man, Zwar sei der Beweis von Asperó und Schindler »ein
fantastisches Ergebnis, das es verdient, in die Annalen
in welcher Realität man sich aufgenommen zu werden«, äußert er beeindruckt und
räumt gleichzeitig ein, dass diese Art von Resultat norma
befindet?« lerweise als Hinweis für irgendeine Art von Wahrheit ange
sehen wird. Dennoch glaube er nicht, dass Martins Maxi
Hugh Woodin mum und (*) Teil der mathematischen Realität seien.
spektrum.de/artikel/1807454
ALLEXXANDAR / GETTY IMAGES / ISTOCK
Spektrum
SpektrumSPEZIAL
SPEZIAL Physik Mathematik Technik
Physik Mathematik Technik 3.22 17
Das Konzept der Unendlichkeit hat schon immer zu
Schwierigkeiten geführt: Philosophen und Theologen
zerbrechen sich seit Jahrhunderten den Kopf darüber – Kurz erklärt: Potenzmenge
ganz zu schweigen von Mathematikern, denen es erst im
19. Jahrhundert gelang, mit den unvorstellbaren Größen zu Die Potenzmenge P(M) einer Menge M ist die
arbeiten. Tatsächlich stießen sie dabei schon früh auf Sammlung all ihrer Teilmengen. Wenn M zum
verschiedene Arten von Unendlichkeiten, doch lange wuss- Beispiel {1, 2, 3} ist, dann lautet P({1, 2, 3}) = {ø, {1},
ten sie nicht, wie man diese beschreiben oder miteinander {2}, {3}, {1, 2}, {2, 3}, {1, 3}, {1, 2, 3}}. Sie enthält
vergleichen sollte. stets die leere Menge und die Menge M selbst.
In den 1870er Jahren gelang dem deutschen Mathema Wie Georg Cantor zeigte, ist die Potenzmenge
tiker Georg Cantor schließlich der Durchbruch. Indem er größer als die ursprüngliche Menge – selbst wenn
Mengen mit unendlich vielen Elementen untersuchte, diese bereits unendlich viele Elemente enthält.
konnte er ihre Größen voneinander unterscheiden und
begründete dabei die moderne Mengenlehre, auf der
inzwischen die gesamte Mathematik fußt.
Dieser Schritt ging aber nicht problemlos vonstatten. Das erste begann vor etwa 15 Jahren. Gemeinsam mit
Wissenschaftler mussten eine Sammlung so genannter Axi- seinen Kollegen versuchte Woodin die Kontinuumshypothe-
ome formulieren – unbeweisbare Aussagen, aus denen alle se zu widerlegen. Aber die dabei entwickelten Ergebnisse
mathematischen Zusammenhänge folgen sollten, ohne änderten seine Meinung, so dass er ein zweites Programm
dabei Widersprüche zu produzieren. Diese anspruchsvolle entwarf, das die Kontinuumshypothese beweisen soll.
Aufgabe ist inzwischen größtenteils gelöst. Seit Beginn des Die berühmte Vermutung handelt von der Größe unend-
20. Jahrhunderts nutzt man ein System von Axiomen, licher Mengen. Cantor erkannte bereits 1871, dass unend-
genannt ZFC, das bisher widerspruchsfrei ist und eine lich nicht immer gleich unendlich ist. Manche Mengen mit
umfangreiche Theorie der Unendlichkeiten umfasst. unendlich vielen Elementen sind größer als andere. Um sie
Dennoch hat die moderne Mengenlehre Schwachstellen. voneinander zu unterscheiden, bediente er sich eines
Wie Kurt Gödel Anfang des 20. Jahrhunderts zeigte, gibt Tricks. Anstatt mühsam die einzelnen Elemente zu zählen,
es grundlegende Fragen, die sich mit ihr nicht beantworten verglich er zwei Mengen, indem er die Elemente der einen
lassen, man kann sie weder beweisen noch widerlegen. mit jeweils einem Element aus der anderen paarte. Möchte
Logiker versuchen daher die Theorie zu erweitern, um zu- man etwa herausfinden, ob es in Deutschland genauso
mindest einige der hartnäckigen Rätsel zu lösen. viele angemeldete Fahrzeuge wie Personen mit Führer-
Im letzten Jahrzehnt machte insbesondere der US-ameri- schein gibt, ordnet man jedem Fahrer ein gemeldetes Auto
kanische Mathematiker Hugh Woodin von der Harvard zu. Wenn das möglich ist, sind beide Mengen gleich groß.
University bedeutende Fortschritte auf dem Gebiet. Er ist
davon überzeugt, das prominenteste aller unentscheidba- Genauso viele gerade wie natürliche Zahlen
ren Probleme, die so genannte Kontinuumshypothese, Wendet man diese Methode der Bijektion auf unendliche
müsse eine Lösung haben. Sie ist entweder wahr oder Mengen an, führt das zu überraschenden Ergebnissen.
falsch. Um das zu klären, gründete er zwei gegensätzliche Indem man zum Beispiel jede natürliche Zahl mit zwei multi-
Forschungsprogramme. pliziert, erhält man eine solche Eins-zu-eins-Abbildung
zwischen den natürlichen und den geraden Zahlen: Jeder
natürlichen Zahl n lässt sich genau eine gerade Zahl p = 2n
zuordnen; umgekehrt findet man für jede gerade Zahl p eine
AUF EINEN BLICK natürliche Zahl n = p/2. Cantor folgerte daraus, dass es
DAS UNBEWEISBARE BEWEISEN genauso viele gerade wie natürliche Zahlen gibt. Das wirkt
auf den ersten Blick widersprüchlich, schließlich bestehen
1 Die moderne Mathematik fußt auf der Mengenlehre, letztere aus geraden und ungeraden Zahlen – es müssten
die aus einer Sammlung von Axiomen besteht. Die The- also doppelt so viele sein.
orie umfasst auch unendliche Größen und kann diese Doch anders als gewöhnliche Zahlen verhalten sich un-
sogar ordnen. endliche Größen nicht immer so, wie man es erwartet.
Cantor konnte beweisen, dass seine Methode zum Vergleich
Ø {Ø}
{Ø, {Ø}}
Verallgemeinerte Zahlen
Ordinalzahlen sind verallgemeinerte natürliche
Zahlen. Sie bieten die Möglichkeit, mit Unendlich- 0
keiten zu arbeiten und sie zu ordnen. Ordinalzahlen
beginnen mit der geordneten Folge der natürlichen
Zahlen, anschließend erscheint die erste unendlich
große Ordinalzahl ω. Daraufhin definiert man ω + 1,
1
ω + 2, was schließlich zu ω ∙ 2, ω ∙ 3 und so weiter
führt. Die Grafik stellt die Objekte bildlich dar. ω
1
2
ω²+1
4
ω
ω+
·4
ω³
Mengenuniversum V bilden, das jede beliebige
ω
²·4
ω4
ω
³+
Menge enthält.
ω
3
ω²·3 ω³+ω²
Die Folge der Ordinalzahlen beginnt mit den natürli- aus der leeren Menge, verknüpft mit der Potenzmengen-
chen Zahlen. Man kann sie ausgehend von der leeren Men- Operation.
ge ø konstruieren: 0 = ø, 1 = {ø}, 2 = {ø, {ø}}, ... , n + 1 = Um zu beweisen, dass man KH nicht mit den ZFC-Axio-
n ∪ {n}. Das Symbol ∪ beschreibt dabei die Vereinigung men widerlegen kann, nutzte Gödel bestimmte Eigenschaf-
zweier Mengen: {a, b} ∪ {c, d} = {a, b, c, d}. Eine natürliche ten von V aus. Die zu Grunde liegende Idee lässt sich ein-
Zahl n setzt sich in dieser Definition aus den ihr vorange- fach nachvollziehen – wenn auch nicht in allen Details. Er
henden Zahlen von n – 1 bis 0 zusammen. begann mit der Annahme, die ZFC-Axiome seien nicht
Ordinalzahlen hören nicht bei den natürlichen Zahlen widersprüchlich. Seinem 1929 veröffentlichten Vollständig-
auf. Die erste unendliche Ordinalzahl ω, transfinite Zahl keitssatz zufolge existiert in so einem Fall eine Struktur S, in
genannt, ergibt sich, wenn man alle natürlichen Zahlen auf welcher die Axiome erfüllt sind. Eine solche Struktur kann
einmal betrachtet: ω = {0, 1, 2, ...}. zum Beispiel ein Zahlenraum sein, in dem die Zahlen und
Daraus lassen sich noch größere Werte erzeugen, bei- Rechenregeln die entsprechenden Axiome widerspiegeln
spielsweise ω + 1 = ω ∪ {ω} oder ω + 2 = (ω + 1) ∪ {ω + 1}. (siehe »Strukturen und relative Konsistenz«).
Das führt irgendwann zu Produkten ω + ω = ω ∙ 2, ω ∙ 3, …, Von S ausgehend leitete Gödel eine weitere Struktur S’
bis man schließlich Potenzen von ω erhält, darunter ω2, ω3 ab, in der auch die Kontinuumshypothese realisiert ist.
oder ωω. Wenn ZFC also nicht widersprüchlich ist, dann ist es
Man kann dabei zwischen zwei Arten von Ordinalzahlen ZFC + KH genauso wenig. Das bedeutet, man kann unmög-
unterscheiden: solche, die einen Vorgänger haben, dazu lich aus den ZFC-Axiomen auf Nicht-KH schließen. Wäre das
gehören etwa ω + 1 oder ω3 + 32, und jene, die keinen möglich, ließe sich Nicht-KH ebenso im System ZFC + KH
haben, wie ω, ω ∙ 2 oder ω4. Letztere bezeichnet man als ableiten, was einen Widerspruch erzeugen würde.
Grenzzahl. In seinem Beweis wählte Gödel das Mengenuniversum V
Aus den Ordinalzahlen und der Potenzmengen-Operation als Struktur S, welche die ZFC-Axiome überprüft. Daraus
kann man daher eine Folge wachsender Mengen definie- konstruierte er eine Unterstruktur S’, die er L nannte und
ren, die eine zentrale Rolle in der Mathematik spielen: folgendermaßen definierte:
V0 = ø ; L0 = ø ;
V1 = P(V0) = {ø} ; Lα + 1 = Pdef(Lα), falls α + 1 den Vorgänger α hat;
V2 = P(V1) = {ø, {ø}} ; Lβ = die Vereinigung aller Lα, wobei α < β, falls β eine
… Grenzzahl ist.
Vα + 1 = P(Vα), falls α + 1 den Vorgänger α hat; Die Konstruktion ähnelt der von V stark. Doch Pdef(M) be-
Vβ = die Vereinigung aller Vα, wobei α < β, falls β eine zeichnet nicht die gewöhnliche Potenzmenge von M, son-
Grenzzahl ist. dern bloß die Menge aller »konstruierbaren Teilmengen«.
Tatsächlich liegt jede Menge, die sich mit der ZFC Dazu zählen nur solche, die sich durch eine Formel definie-
definieren lässt, in einem Vα. Zum Beispiel sind die natür ren lassen. Die natürlichen Zahlen enthalten etwa die
lichen Zahlen Iℕ in Vω enthalten, während sich die Menge konstruierbare Teilmenge X, mit allen Elementen x aus Iℕ,
der reellen Zahlen Iℝ in einer größeren befindet. Verei- welche die Gleichung x + y = 5 erfüllen, wobei y aus Iℕ ist.
nigt man alle Vα, erhält man das so genannte Mengen- In diesem Fall ist X = {0, 1, 2, 3, 4, 5}.
universum V, das der gesamten mengentheoretischen Mengen lassen sich aber nicht immer durch eine Formel
Welt entspricht. Interessanterweise besteht diese bloß beschreiben. Die natürlichen Zahlen besitzen zum Beispiel
ßern, allerdings ohne Erfolg. Es war stets mit bestimmten Momentan loten sie dazu mehrere viel versprechende
großen Kardinalzahlen unvereinbar. Die Situation schien Ansätze aus.
festgefahren. Es ist bemerkenswert, was Logiker im letzten Jahrzehnt
Das änderte sich im Jahr 2010, als Woodin ein spektaku- erreicht haben. Ihre Ergebnisse verdeutlichen, dass Un
lärer Durchbruch gelang: Er bewies, dass Varianten von endlichkeiten selbst nach mehr als 100 Jahren noch nicht
V = L, die superkompakte Kardinalzahlen zulassen, zwangs- verstanden sind – und man noch immer einiges von ihnen
läufig mit allen anderen großen Kardinalzahlen kompatibel lernen kann. Mathematik besteht eben nicht nur darin,
sind. Nun suchen Mathematiker nach einem solchen »ulti- Beweise aus den bisher akzeptierten Axiomen herzuleiten
mativen L«. Damit ließe sich zudem beweisen, dass die oder zu erweitern. Stattdessen kann man das gesamte
Kontinuumshypothese wahr ist. In den letzten Jahren ent- Fundament auf die Probe stellen, indem man zum Beispiel
wickelten sie viel versprechende Ansätze, die zu diesem L die bisherige Vorstellung von Unendlichkeit hinterfragt.
führen könnten. Woodin und einige Kollegen betonen immer wieder, der
Das Axiom V = ultimatives L hätte zudem einen weiteren abstrakte Forschungsbereich bringe auch »spürbare«
Vorteil. Wie Woodin 2015 zeigte, würde es das so genannte Konsequenzen mit sich – selbst wenn es auf den ersten
Forcing unwirksam machen (siehe »Mächtiges Forcing«). Blick nicht immer so wirkt. Aussagen über große Kardinal-
Dank dieser Methode konnte Cohen in den 1960er Jahren zahlen lassen sich beispielsweise durch eine Folge von
eine Struktur ableiten, die mit Nicht-KH und den ZFC-Axio- Symbolen ausdrücken, die sich in eine Äußerung über
men kompatibel ist. Außerdem lässt sich durch das Forcing natürliche Zahlen übersetzen lässt. Je mehr Unendlichkei-
eine weitere Struktur bilden, die ZFC + KH erfüllt. Das For- ten es gibt, desto mehr erfährt man daher über das uns
cing allein kann also beweisen, dass die Kontinuumshypo- vertraute Endliche.
these in der gewöhnlichen Mengenlehre unentscheidbar ist.
Doch es hat auch über die Mengenlehre hinaus weit QUELLEN
reichende Auswirkungen. Zum Beispiel bedingt das
Cavitt, J.: Set-theoretic geology, the ultimate inner model, and
Forcing, dass etliche Aussagen anderer Gebiete, von der new axioms. Harvard University, 2017
Algebra bis hin zur Analysis, unentscheidbar sind.
Heller, M., Woodin, H.: Infinity: New research frontiers. Cam-
Solche Unentscheidbarkeiten sind Woodin ein Dorn im bridge University Press, 2011
Auge. Wie kann es sein, dass eine exakte Wissenschaft
Rittberg, C.: How Woodin changed his mind: New thoughts on
wie die Mathematik für so viele Aussagen nicht beurteilen the Continuum Hypothesis. Archive for History of Exact Scien-
kann, ob sie wahr oder falsch sind? Daher ist ein Axiom ces 69, 2015
besonders willkommen, wenn es das Forcing unwirksam Woodin, H.: In search of ultimate-L. Bulletin of Symbolic Logic
macht. V = ultimatives L besäße genau diese Eigenschaft. 23, 2017
Es würde somit eine ganze Reihe unentscheidbarer Woodin, H.: Strong axioms of infinity and the search for V.
Fragen in der ZFC-Theorie beantworten. Das motivierte Proceedings of the International Congress of Mathematicians
Mathematiker umso mehr, ein ultimatives L zu suchen. 2010, World Scientific, 2011
spektrum.de/artikel/1823150
UNVORSTELLBARE
GRÖSSEN Es gibt ver
(WWW.SGEIER.NET/FRACTALS/INDEX07.PHP)
schiedene Möglichkeiten,
MIT FRDL. GEN. VON SVEN GEIER
Mengen zu vermessen.
Einige führen zu unerwar
teten Ergebnissen.
3
(WWW.SGEIER.NET/FRACTALS/INDEX07.PHP)
Spektrum
SpektrumSPEZIAL
SPEZIAL Physik Mathematik Technik
Physik Mathematik Technik 3.22 27
Einfache mathematische Konzepte wie das Zählen oder die Anzahl der Elementarteilchen im Universum be-
scheinen in der natürlichen Denkstruktur fest veran- schreiben kann, als auch die kaum fassbaren Distanzen im
kert. Wie Studien belegen, verfügen offenbar selbst Mikrokosmos, von Atomen bis hin zu Quarks.
sehr junge Kinder und Tiere in beschränktem Maß über Wir können sogar mit Zahlen hantieren, die alles über-
solche Fähigkeiten. Das ist nicht überraschend, denn das steigen, was nach heutigem Wissen für die Beschreibung
100
Zählen ist evolutionär gesehen äußerst nützlich – zum des Universums relevant ist: So lässt sich problemlos 1010
100 100
Beispiel hilft es abzuschätzen, ob eine verfeindete Gruppe (eine Eins gefolgt von 10 Nullen, wobei 10 100 Nullen
größer als die eigene ist und ob sich ein Angriff oder eher hat) niederschreiben und allerlei Rechnungen damit durch-
ein Rückzug lohnt. führen. Würde man sie allerdings in der üblichen Dezimal
In den letzten Jahrtausenden hat die Menschheit diese schreibweise darstellen, bräuchte man dafür mehr Ele
Konzepte auf bemerkenswerte Weise weiterentwickelt: mentarteilchen, als vermutlich im Universum existieren,
Beginnend mit dem Umgang mit einer Hand voll Objekten selbst wenn man pro Ziffer nur ein Partikel verwendet.
stellte man fest, dass sich die Methodik problemlos auf Denn Physiker schätzen, dass unser Kosmos weniger als
völlig andere Größenordnungen anwenden lässt. Schon 10100 Teilchen enthält.
bald entstand ein mathematisches Gerüst, mit dem man Aber selbst solche unvorstellbar großen Zahlen sind ver-
sowohl riesige Größen wie die Entfernung von Galaxien schwindend gering verglichen mit unendlichen Mengen,
jedem Sack gleich viele Früchte. kleiner/gleich A. man je ein weiteres. Das wiederholt
Würde man einen Apfel aufes- man immer weiter, bis einer der
sen, dann gäbe es weniger Äpfel als folgenden Fälle eintritt: Beide
Birnen, die zuvor geschilderte Restmengen sind leer, dann liefert
Zuordnung würde nicht mehr der beschriebene Prozess eine
funktionieren. Das ist allerdings nur Zuordnung. Dem ersten entfernten
im Endlichen der Fall. Hat man Element von A weist man das erste
einen Sack mit unendlich vielen von B zu und so weiter.
Äpfeln, enthält er, nachdem man Andererseits könnte bloß eine
eine Frucht verspeist hat, immer 0 viele Birnen 0 viele Äpfel der beiden Mengen (etwa die aus A
0 viele Birnen 0 viele Äpfel
noch genauso viel Obst. Die ur- entstandene) leer sein, die andere
sprüngliche Bijektion funktioniert Die ersten beiden Punkte lassen aber nicht. Dann gibt es eine Zuord-
zwar nicht mehr, aber es gibt eine sich recht einfach beweisen, aber nung von A zu einer Teilmenge von
neue Abbildung. die dritte Eigenschaft, die auf den B, somit ist A ≤ B. Daher sind zwei
Erstaunlicherweise fallen einige ersten Blick offensichtlich er- Mengen immer vergleichbar.
Berechnungen im Unendlichen scheint, gestaltet sich etwas Auch wenn die Idee recht simpel
einfacher aus als im vertrauten schwieriger. Denn kleiner/gleich klingt, ist es etwas schwieriger, den
Endlichen. Zum Beispiel ist die beschreibt in der Mengenlehre eine Beweis formal zu führen, wie es
Vereinigung zweier unendlicher Abkürzung für einen komplizierten erst Ernst Zermelo 1904 gelang.
Mengen X und Y genauso groß wie Sachverhalt, der sich nicht bloß als Man braucht dabei unter anderem
die größere der beiden. Für endli- kleiner oder gleich definieren lässt. den Begriff der Wohlordnung, der
che Mengen gilt das dagegen nicht: Deshalb fällt der Beweis deutlich regelt, welches Element der be-
Vereinigt man etwa {1, 2} mit {5, 6} komplexer aus, wie man an den trachteten Mengen als Nächstes
erhält man eine Menge mit vier Arbeiten der deutschen Mathema entfernt wird, sowie das so genann-
Elementen. Viele Eigenschaften und tiker Ernst Schröder und Felix te Auswahlaxiom, um zu beweisen,
Konzepte, die man aus dem Endli- Bernstein aus den 1890er Jahren dass es die gewünschte Wohlord-
chen kennt, sind im Unendlichen sehen kann. nung gibt.
X Y BIJEKTION: Um die Größen Zum Beispiel sind die geraden Zahlen G = {0, 2, 4, 6, ...}
1 2 zweier Mengen miteinander eine echte Teilmenge der natürlichen Zahlen = {0, 1, 2, ...}.
2 4 zu vergleichen, kann man Rein intuitiv würde man wohl sagen, die Menge G sei halb
3 6 eine Abbildung, eine so ge- so groß wie . Dennoch sind ihre Kardinalzahlen nach der
· · nannte Bijektion suchen, die zuvor angegebenen Definition gleich groß: Denn man kann
x 2x jedem Element der einen jeder Zahl g in G genau eine in zuordnen (0 0, 2 1,
· · Menge eines aus der anderen 4 2, …, g g/2, … ).
zuordnet. Als Konsequenz könnte man entweder den Begriff der
Größe für Mengen als unsinnig verwerfen – oder man gibt
ihm einen anderen Namen, etwa Mächtigkeit. Der Einfach-
aus A genau eines aus B zuordnen kann. Eine solche Abbil- heit halber behalten wir die Wortwahl bei, auch wenn sie
dung bezeichnet man als Bijektion. im Unendlichen unerwartete Folgen hat.
Zudem ist A kleiner/gleich B, falls die Zuordnung alle Der deutsche Logiker und Begründer der modernen
Elemente von B höchstens einmal verwendet. Damit kann Mengenlehre Georg Cantor fand im 19. Jahrhundert heraus,
man die Größe von Mengen durch so genannte Kardinal- dass nicht alle unendlichen Mengen gleich groß sind. Wie
zahlen beschreiben. Im Endlichen sind das wie gewohnt die er bewies, ist die Potenzmenge P(X) einer – endlichen oder
natürlichen Zahlen. Für unendliche Mengen sind sie hinge- unendlichen – Menge X stets größer als X selbst. Daraus
gen abstrakte Größen, die sich durchaus voneinander folgt unter anderem, dass keine größte Unendlichkeit
unterscheiden können: Denn nicht immer existiert eine existiert und damit auch keine »Allmenge«, die alle Mengen
Bijektion zwischen unendlichen Mengen. enthält.
Eine solche Definition von Größe führt zu scheinbaren
Widersprüchen, die Bernard Bolzano in seinen 1851 post- Eine ungelöste Vermutung
hum erschienenen »Paradoxien des Unendlichen« aufführ- Dafür gibt es so etwas wie eine kleinste Unendlichkeit: Alle
te. Zum Beispiel wirkt die Aussage »der Teil ist stets kleiner unendlichen Mengen sind größer oder gleich den natürli-
als das Ganze« auf den ersten Blick selbstverständlich. Das chen Zahlen. Man nennt Mengen X, die so groß sind wie
heißt, wenn eine Menge A eine echte Teilmenge von B ist (mit einer Bijektion zwischen und X) abzählbar, ihre
(also jedes Element von A in B ist, B aber weitere Elemente Kardinalzahl heißt 0. Zu jeder unendlichen Kardinalzahl a
enthält), dann muss A kleiner als B sein. Das gilt jedoch gibt es eine nächstgrößere, a+1. Nach der kleinsten unendli-
nicht für unendliche Mengen! Diese seltsame Eigenschaft chen Kardinalzahl 0 kommt also 1, gefolgt von 2 und so
war einer der Gründe dafür, dass das Konzept von Unend- weiter. Die reellen Zahlen sind genauso groß wie die Po-
lichkeiten bei einigen Gelehrten vor mehr als 100 Jahren auf tenzmenge von ; ihre Kardinalzahl bezeichnet man mit 2 0
Ablehnung stieß. oder Kontinuum.
In den 1870er Jahren fragte sich Cantor, ob die Menge
der reellen Zahlen die nächstgrößere nach den natürli-
chen Zahlen ist – anders ausgedrückt, ob 1 = 2 0. Bis dahin
Maße stellte sich jede unendliche Teilmenge von entweder als
genauso groß wie oder selbst heraus. Das veranlasste
Das Konzept des Maßes lässt sich gut anhand des Cantor zur so genannten Kontinuumshypothese: Er vermu-
Quadrats mit Seitenlänge eins veranschaulichen. tete, die Größe von sei die kleinstmögliche überabzählba-
Wenn eine Teilmenge B des Quadrats das Maß re Kardinalzahl. Jahrzehntelang beschäftigte die Vermutung
0,13 hat und man zufällig einen Dartpfeil auf die zahlreiche Mathematiker, doch ein Beweis entzog sich
gesamte Fläche wirft, dann trifft man B mit einer ihnen. Wie sich später herausstellte, waren ihre Versuche
Wahrscheinlichkeit von 13 Prozent. Die Menge der zwangsläufig zum Scheitern verurteilt.
Punkte unterhalb der Diagonale hat die Fläche ein Die Mengenlehre ist zwar extrem mächtig, fast alle
halb, und wird daher mit 50-prozentiger Wahr- mathematischen Konzepte und Probleme lassen sich durch
scheinlichkeit getroffen. sie formalisieren, aber sie hat auch Schwachstellen. Das
Eine Nullmenge (wie die unendlich dünne Fundament dieser Disziplin bildet das vor über 100 Jahren
Diagonale oder ein einziger Punkt) erreicht man vom deutschen Logiker Ernst Zermelo formulierte und von
dagegen mit einer Wahrscheinlichkeit von null. seinem deutsch-israelischen Kollegen Abraham Fraenkel
Natürlich landet ein Dartpfeil aber stets irgendwo ergänzte Axiomensystem, ZFC genannt (C steht dabei für
in dem Quadrat, das überabzählbar viele Punkte das Auswahlaxiom, englisch: axiom of choice). Es handelt
umfasst. Daraus kann man sehen, dass die sich um eine Sammlung von Grundannahmen, mit der sich
Vereinigung von überabzählbar vielen Nullmengen fast die gesamte Mathematik betreiben lässt – nur ein
im Allgemeinen keine Nullmenge mehr ist – verschwindend geringer Anteil benötigt zusätzliche Annah-
man trifft ja das Quadrat (die Vereinigung der men. Doch der österreichische Mathematiker Kurt Gödel
einzelnen Punkte) mit einer Wahrscheinlichkeit erkannte 1931 einen grundlegenden Makel des Systems:
von eins. Die Theorie ist unvollständig. Das heißt, man kann Aussa-
gen formulieren, die sich mit den Mitteln von ZFC weder
widerlegen noch beweisen lassen. Unter anderem ist es
unmöglich, innerhalb eines Systems zu zeigen, dass dieses gen beispielsweise geometrisch vorstellt, kann man ihnen
zu keinerlei Widersprüchen führt (siehe »Axiomatisierung eine Länge, einen Flächeninhalt oder ein Volumen zuord-
der Mengenlehre«). nen. Eine Menge von Punkten, die ein Rechteck mit den
Das berühmteste Beispiel für einen unentscheidbaren Seitenlängen a und b bilden, hat beispielsweise eine Fläche
Satz in der Mengenlehre ist die Kontinuumshypothese. In von a ∙ b. Für kompliziertere Teilmengen der Ebene braucht
einer 1938 erschienenen Arbeit bewies Gödel, dass man man manchmal andere Hilfsmittel, um deren Flächeninhalt
Cantors Vermutung innerhalb von ZFC nicht widerlegen zu berechnen, etwa die aus der Schule bekannte Integral-
kann. Wie der US-amerikanische Mathematiker Paul Cohen rechnung. Die Methode reicht aber für bestimmte komplexe
25 Jahre später zeigte, lässt sie sich mit den Mitteln von Mengen nicht aus. Um diese trotzdem zu vermessen, nutzt
ZFC ebenso wenig beweisen. Daher wird man mit den man das so genannte Lebesguemaß, eine Funktion, die
üblichen Axiomen der Mengenlehre niemals eine Ant- auch kompliziertesten Objekten eine Länge, Fläche oder ein
wort auf die Kontinuumshypothese finden. Es bleibt also Volumen zuordnet. Dennoch ist es möglich, Teilmengen der
offen, ob Mengen existieren, die größer als die natürlichen Ebene zu definieren, die überhaupt nicht messbar sind: Sie
und gleichzeitig kleiner als die reellen Zahlen sind (siehe sind derart ausgefranst, dass eine Vermessung gänzlich
Artikel ab S. 16). scheitert.
Neben der Kardinalität gibt es andere Methoden, um die Im zweidimensionalen Raum ist eine Linie (etwa ein
Größe einer Menge zu beschreiben. Wenn man sich Men- Kreis, eine endliche Strecke oder eine Gerade) stets mess-
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Spektrum SPEZIAL Physik Mathematik Technik 3.22 35
THEORETISCHE
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EINE NEUE
RECHNUNG FÜR
DIE ZEIT
Den Gesetzen der Physik zufolge ist
der Lauf der Zeit eine Illusion. Um
diesen scheinbaren Widerspruch zu
umgehen, muss man das mathema
tische Konzept der Unendlichkeit
überdenken.
spektrum.de/artikel/1838686
nahe.
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NASA, ESA, R. ELLIS (CALTECH), AND THE HUDF 2012 TEAM (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO1738B/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
zept der Zeit zusammenhängen.
Der Schweizer Physiker Nicolas Gisin hat 2018 vier
Arbeiten veröffentlicht, in denen er das hartnäckige Rätsel
angeht. Anders als viele andere vor ihm nähert er sich dem
Problem von einer mathematischen Seite. Denn seiner
Meinung nach verwenden Wissenschaftler die falsche
Sprache, um die Gegenwart und die Zeit im Allgemeinen zu
beschreiben. Anstatt sich auf die Methoden zu stützen, die
wir schon in der Schule lernen, mit reellen Zahlen unendli
cher Länge, unendlichen Größen und so weiter, wendet
sich Gisin einer anderen Ausdrucksweise zu: der so genann
ten intuitionistischen Mathematik, in der Zahlen mit unend
lich vielen Ziffern nicht existieren.
Beschreibt man in diesem neuartigen Bild, wie sich
physikalische Systeme entwickeln, beginnt die Zeit laut
Gisin wirklich zu fließen. Der strenge Determinismus, der
aus Einsteins Gleichungen folgt, weicht im neuen Forma
lismus einer quantenähnlichen Unvorhersehbarkeit. Wenn
alle Zahlen endlich und damit in ihrer Genauigkeit begrenzt
sind, dann ist die Natur selbst zwangsläufig ungenau – und
unberechenbar.
Gisins Kollegen sind immer noch dabei, seine bahnbre
chenden Ideen zu verarbeiten. Schließlich kommt es nicht
oft vor, dass jemand versucht, die physikalischen Gesetze
durch eine andere mathematische Sprache zu formulieren.
Viele Forscher, die sich mit seinen Argumenten beschäftigt
haben, hoffen, sein Formalismus könnte die konzeptuelle zählt er zu den seltenen Wissenschaftlern, die auch bedeu
Kluft zwischen dem Determinismus der allgemeinen Relati tende Beiträge in Gebieten abseits seiner Disziplin leisten.
vitätstheorie und dem Zufall auf Quantenebene überbrü Unter anderem ist Gisin für wichtige theoretische Erkennt
cken. »Ich finde, man sollte der intuitionistischen Mathema nisse bekannt, die quantenmechanische Phänomene wie
tik eine Chance geben«, sagt die Quanteninformationswis Zufall oder Verschränkung betreffen.
senschaftlerin Nicole Yunger Halpern von der Harvard Diesen Projekten widmet er sich meist sonntagmorgens,
University. Und Cortês zufolge spricht Gisins schockieren wenn er zu Hause ruhig in seinem Stuhl mit einer Tasse
der und provokativer Ansatz das Problem der endlichen Oolong-Tee sitzt und über grundlegende Rätsel nachdenkt.
Präzision in der Natur extrem gut an. An einem solchen Tag vor einigen Jahren kam ihm ein
Der Schweizer Forscher suchte nach einer Möglichkeit, erstaunlicher Gedanke: Wenn man an das deterministische
die physikalischen Gesetze zu formulieren, so dass die Bild der Zeit in Einsteins Theorie und dem Rest der klassi
Zukunft offen und die Gegenwart real erscheint. Schließlich schen Physik glaubt, dann müsste es unendlich viel Infor
ist es das, was wir tagtäglich erleben. »Ich bin ein Physiker, mation im Universum geben.
der mit beiden Beinen auf dem Boden steht«, erklärt er.
»Die Zeit vergeht – das wissen wir alle.« Dieser ambitionier Ist die Welt vorherbestimmt oder vom
ten Aufgabe ging der 67-Jährige in seiner Freizeit nach, Zufall getrieben?
denn in erster Linie ist er Experimentator: Gisin leitet ein Um das nachzuvollziehen, kann man das Beispiel des
Labor an der Universität Genf, das bahnbrechende Versu Wetters heranziehen. Dabei handelt es sich um ein chao
che im Bereich der Quantenkommunikation und -kryptogra tisches Phänomen, das heißt, kleinste Effekte können
fie durchführt. Dieser Ausflug in die abstrakte, theoretische unvorhersehbare Folgen haben. Deshalb lässt sich nicht
Welt der Physik ist aber keineswegs sein erster. Vielmehr genau bestimmen, wie das Wetter in einer Woche sein
NASA, ESA, R. ELLIS (CALTECH), AND THE HUDF 2012 TEAM (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO1738B/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
schreibung der Zeit zu finden, die keine exakte Kenntnis
aller im Universum herrschenden Bedingungen erfordert.
Doch dafür musste er die Grundpfeiler der Mathematik
hinterfragen.
Bereits in der Schule begegnen uns Unendlichkeiten:
Wenn wir mit Zahlen wie Pi oder der Wurzel aus zwei
arbeiten, hantieren wir mit unendlich vielen Nachkomma
stellen. Das stellt heute so gut wie niemand mehr in Frage.
Kaum etwas erinnert noch an die heftigen Debatten, die
Anfang des 20. Jahrhunderts darüber geführt wurden.
Damals vertrat der renommierte deutsche Mathematiker
David Hilbert (1862–1943) die heute übliche Ansicht, reelle
Zahlen existierten als abgeschlossene Einheiten, mit denen
man gewöhnliche Rechenoperationen durchführen kann.
Doch diesem Gedanken standen die so genannten Intuitio
nisten unter der Leitung des berühmten niederländischen
Topologen L. E. J. Brouwer (1881–1966) gegenüber. Brou
wer bestand darauf, Zahlen müssten konstruierbar sein,
ihre Ziffern sollten sich einzeln berechnen oder nach dem
Zufallsprinzip bestimmen lassen. Demnach seien Zahlen
stets endlich und entsprängen gleichzeitig einem Prozess:
Sie würden genauer, je mehr Ziffern sich in einer so ge
nannten Wahlfolge offenbaren – das ist eine Funktion, die
immer präzisere Werte erzeugt.
Daraus resultieren weit reichende Konsequenzen. Einige
Aussagen, die in der Standardmathematik als wahr gelten,
wird. Weil es aber ein klassisches System ist, wäre eine treffen im Intuitionismus plötzlich nicht mehr zu. Die wohl
solche Vorhersage rein theoretisch für einen beliebig langen deutlichste Abweichung betrifft das Gesetz des ausge
Zeitraum möglich – dafür müsste man jedoch jede Wolke, schlossenen Dritten, das bereits Aristoteles pries. Demnach
Windböe und jeden Schmetterlingsflügelschlag exakt ist entweder eine mathematische Aussage, auch Satz
kennen. Weil es aber unmöglich ist, all diese Bedingungen genannt, wahr; andernfalls ist ihre Verneinung richtig. In
mit genügend Nachkommastellen zu messen, kann man Brouwers Formalismus können hingegen Sätze zu einem
keine präzisen Wetterberichte liefern – erst recht nicht auf bestimmten Zeitpunkt weder wahr noch falsch sein, da der
lange Sicht. Und das, obwohl die dazugehörige Theorie genaue Wert einer Zahl beispielsweise noch nicht feststeht.
vollkommen deterministisch ist. Betrachtet man Zahlen wie 4, ½ oder sogar die Kreiszahl
Das genannte Beispiel lässt sich auf das gesamte Univer Pi, ergibt sich kein Unterschied zur gewöhnlichen Mathe
sum ausdehnen: In einer vorherbestimmten Welt, in der matik. Denn obwohl Pi irrational ist und deshalb keine end-
sich die Zeit nur scheinbar entfaltet, müsste von Anfang an liche Dezimalentwicklung hat, gibt es einen Algorithmus,
feststehen, was geschehen wird, wobei der Anfangszu mit dem man alle Nachkommastellen berechnen kann. Pi
stand jedes einzelnen Teilchens auf unendlich viele Stellen ist damit konstruierbar und genauso determiniert wie ½.
genau codiert ist. Die Unterschiede ergeben sich, wenn man an kompli
Wie aktuelle Forschungsergebnisse jedoch zeigen, ist zierte Fälle denkt. Ein Beispiel dafür ist eine Zahl, etwa
Information eine physische Größe. Das heißt, sie braucht x = 0,4999, deren Wahlfolge weitere Ziffern entfaltet. Viel-
Energie und nimmt Raum ein. Demnach kann jedes endli leicht werden sich die Neunen hinter dem Komma für
che Volumen nur begrenzt Daten fassen, wobei sich die immer fortsetzen; in diesem Fall konvergiert x zu exakt ½.
größtmögliche Dichte im Innern von Schwarzen Löchern Dass 0,4999... genau 0,5 entspricht, trifft ebenso in der
befindet. Die genauen Bedingungen, die im Universum Standardmathematik zu (siehe »Spektrum« April 2017,
CAROLE PARODI
de Zahlen unterscheiden sich um weniger als jede endliche
Differenz und sind daher gleich.
Falls in der Folge hinter dem Komma allerdings irgend
wann eine andere Ziffer als Neun auftaucht, dann ist x – un
abhängig davon, was danach kommt – kleiner als ½. Doch
bevor das geschieht (solange man also nur 0,4999 kennt),
»lässt sich nicht beurteilen, ob jemals eine andere Ziffer als
Neun auftauchen wird«, erklärt der Mathematik-Philosoph
Carl Posy von der Hebräischen Universität Jerusalem, der
ein führender Experte für Intuitionismus ist. »Wenn man x
betrachtet, kann man nicht herausfinden, ob es kleiner oder
ob es gleich ½ ist.« Die Behauptung »x ist gleich ½« ist
nicht wahr, ebenso wenig wie ihre Verneinung. Das Gesetz
des ausgeschlossenen Dritten gilt nicht.
Das hat diverse Folgen. Zum Beispiel ist es dadurch
unmöglich, einen Zahlenstrahl sauber in zwei Bereiche zu
teilen, die aus allen Zahlen kleiner als ½ und größer oder
gleich ½ bestehen. »Die Zahl x bleibt dabei gewissermaßen
am Messer haften – sie wird weder links noch rechts davon
liegen«, so Posy. »Es ist, als ob der Zahlenstrahl zähflüssig
oder klebrig ist.«
Hilbert lehnte diese Auffassung entschieden ab. Wenn
man das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten aus der
Mathematik entferne, sei es, als würde man einem Boxer
verbieten, seine Fäuste zu benutzen. Denn das fundamen
tale Prinzip liegt etlichen logischen Schlussfolgerungen zu
Grunde. Obwohl Brouwers intuitionistischer Formalismus
einige Fachleute wie Kurt Gödel oder Hermann Weyl faszi
nierte, dominiert heutzutage die Standardmathematik mit
reellen Zahlen und Unendlichkeiten – unter anderem, weil
sie deutlich einfacher zu handhaben ist.
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Emily Riehl ist Mathematikerin
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42 Spektrum SPEZIAL
SPEZIAL Physik Mathematik Technik 3.22
An einem kühlen Herbsttag während meines Grund- Der Knackpunkt des Rätsels: Alle gezeichneten Punkte
studiums in Neuengland lief ich an einer U-Bahn- und Geraden, die im Ergebnis auftauchen, müssen entwe-
Station vorbei, als mir etwas ins Auge fiel. Da stand der schon im Ausgangswürfel enthalten sein oder sich
ein Mann neben einigen mathematischen Rätseln, die er daraus konstruieren lassen.
an eine Wand gekritzelt hatte, und forderte die Passanten Wenn die Seitenlänge des zu verdoppelnden Würfels
auf, sie zu lösen. Eines davon verlangte – mit nichts weiter eins beträgt, muss man die Seiten um den passenden
als einem imaginären Lineal und Zirkel ausgestattet –, aus Faktor verlängern. Dieser entspricht dem Wert 21/3. Das
einem vorgegebenen Würfel einen mit doppelt so großem klingt zunächst vielleicht nicht besonders kompliziert,
Volumen zu machen. aber die Länge darf nur mit Hilfe eines Lineals und eines
Das ließ mich innehalten, denn ich hatte diese Aufgabe Zirkels abgemessen werden. Und das gestaltet sich
schon einmal gesehen. Tatsächlich ist sie mehr als extrem schwierig. Mehr als 2000 Jahre lang gelang es
2000 Jahre alt und wird Platon zugeschrieben. Mit Hilfe niemandem, das Rätsel zu lösen. 1837 lieferte der Mathe-
des Lineals kann man ein Liniensegment in jede beliebige matiker Pierre Laurent Wantzel schließlich die Erklärung
Richtung verlängern, und der Zirkel ermöglicht es, einen dafür, indem er bewies, dass das Problem nicht zu kna-
Kreis von einem gewählten Mittelpunkt aus zu zeichnen. cken ist.
OBER 2021
ERICAN OKT
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ERIC PETERS
Physik Mathematik Technik 3.22 43
Die Grundlagen für die Erkenntnis hatte sein französi- Auch wenn diese Begegnung frustrierend war, führte
scher Zeitgenosse Évariste Galois (1811–1832) gelegt. sie mich zu einer interessanten Frage: Wie konnte ich –
Schon lange war bekannt, dass, ausgehend von einem eine unbedarfte Studentin im dritten Studienjahr – in nur
Punkt als Ursprung und einer Strecke der Länge eins, sich wenigen Wochen lernen, mit abstrakten mathematischen
mit Lineal und Zirkel alle rationalen Zahlen konstruieren Erkenntnissen wie denen von Galois umzugehen? Bereits
lassen. Wantzel konnte zeigen, dass man mit beiden im Grundstudium lernt man heutzutage Stoff, der selbst
Werkzeugen auch weitergehen kann: Tatsächlich lässt Genies wie Isaac Newton, Gottfried Leibniz, Leonhard
sich damit jede Lösung einer quadratischen Gleichung Euler und Carl Friedrich Gauß in Erstaunen versetzt hätte.
ax2 + bx + c = 0 erzeugen, wobei die Koeffizienten a, b Die Antwort darauf mag überraschen: Den Fortschritt
und c bereits konstruierten Punkten entsprechen müssen. ermöglicht größere Abstraktion. Indem man die Details
Doch die Länge 21/3 ist ein Ergebnis der kubischen Glei- eines Bereichs ignoriert und eine Art Vogelperspektive
chung x3 – 2 = 0. Wie Galois bewies, kann man eine einnimmt, ergeben sich Zusammenhänge, die vorher nicht
solche Gleichung niemals durch eine quadratische Formel ersichtlich waren. Die nötigen Instrumente für einen
lösen. Damit zeigte Wantzel, dass es unmöglich ist, das solchen Rundumblick liefert die Kategorientheorie. Sie
Volumen eines Würfels lediglich mit einem Lineal und befasst sich damit, welche Objekte sich ähneln, um sie in
einem Zirkel zu verdoppeln. Kategorien zu gruppieren. Dadurch lassen sich ihre rele-
Da mir all das bewusst war, sprach ich den Mann auf der vanten Eigenschaften besser untersuchen.
Straße darauf an. Ich versuchte, ihm zu erklären, warum Eines der Kernprinzipien der Theorie (das so genannte
sein Rätsel nicht lösbar war, doch das führte zu nichts. Er Lemma von Yoneda) besagt, dass sich jedes mathema
entgegnete bloß, ich sei durch meine Ausbildung engstirnig tische Konstrukt vollständig durch seine Beziehungen zu
und unfähig, »über den Tellerrand zu blicken«. ähnlichen Dingen bestimmen lässt. Somit kann man allge-
meine Regeln formulieren, die für alle Kategorien gelten,
anstatt für jeden einzelnen mathematischen Bereich auf-
wändig verschiedene Gesetzmäßigkeiten aufzuschlüsseln,
Glossar wodurch man schnell den Überblick verliert.
In den letzten Jahrzehnten hat die Kategorientheorie die
Kategorie: eine Sammlung von Objekten und
Auffassung von Gleichheit gewandelt. Fachleute haben die
zusammensetzbaren Transformationen (so ge-
Prinzipien der Disziplin immer weiter verallgemeinert und
nannte Morphismen) zwischen ihnen
schließlich so genannte Unendlich-Kategorien (∞-Katego
Komposition: eine Transformation mehrmals rien) eingeführt, welche die Theorie auf unendliche Di
hintereinander ausführen mensionen erweitern. Damit lassen sich Probleme unter-
suchen, bei denen die Beziehungen zwischen Objekten zu
Identität: die Abbildung eines Objekts auf sich subtil sind, um sie durch gewöhnliche Kategorien zu
selbst, ohne es zu verändern erfassen. Indem man kontinuierlich aus einem System
herauszoomt, kann man über bereits bekannte Prinzipien
Symmetrie: eine invertierbare Transformation nachdenken und neue Konzepte finden. Doch für dieses
(etwa eine Drehung oder Spiegelung) eines Ob- hohe Maß an Abstraktion muss man einen Preis zahlen: Es
jekts auf sich selbst wird immer unklarer, wann zwei Objekte übereinstimmen.
Isomorphismus: eine Art »Gleichheit«, die Ein Zoo aus mathematischen Objekten
zwischen zwei Objekten in einer Kategorie beste- Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen wurde ich
hen kann wegen meines schlechten Gedächtnisses auf die Kategori-
entheorie aufmerksam. Denn spätestens im Studium
Fundamentalgruppe: eine Kategorie, deren
begegnet man einem regelrechten Zoo mathematischer
Objekte die Punkte in einem Raum sind und deren
Objekte, die in den letzten Jahrhunderten entstanden sind.
Morphismen Pfade zwischen ihnen darstellen
Allein in der Algebra, die sich mit den Lösungen von
Homotopie: eine stetige Verformung eines Pfads Gleichungen beschäftigt, unterscheidet man zwischen
in einen anderen Gruppen (die aus einem Zahlensystem wie den ganzen
Zahlen und einer Verknüpfung wie der Addition bestehen),
∞-Kategorie: ein unendlich-dimensionales Ana Ringen (Zahlensystem und zwei Verknüpfungen) und
logon einer Kategorie, das höherdimensionale Körpern (Ringe mit bestimmten Eigenschaften).
Morphismen enthält, mit einer abgeschwächten Und die Algebra ist nur eines von vielen Fächern an der
Kompositionsregel Universität. Weitere Eckpfeiler sind die Topologie – das
abstrakte Studium des Raums – und die Analysis, die
∞-Fundamentalgruppoid: eine Unendlich- Funktionen, Wahrscheinlichkeitsräume sowie komplexe
Kategorie mit Punkten, Pfaden, Homotopien Mannigfaltigkeiten behandelt. Wie soll man da den Über-
und höheren Homotopien in einem Raum blick behalten?
Eine seltsam anmutende Idee der Mathematik ist es,
Dinge durch Abstraktion zu vereinfachen. Wie die Katego-
rientheoretikerin Eugenia Cheng in ihrem 2018 erschiene- den damals schwammigen Begriff »natürliche Äquivalenz«
nen Buch »The Art of Logic in an Illogical World« schreibt, definieren. Doch tatsächlich bietet das daraus entstandene
»besteht ein mächtiger Vorteil darin, dass viele verschiede- Fachgebiet eine Möglichkeit, allgemeine Aussagen über
ne Situationen gleich erscheinen, wenn man einige Details die universelle Algebra und andere Gebiete der Mathema-
vergisst«. Dieser Gedanke führte bereits zur modernen tik zu treffen.
Algebra, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstand. Da- Wie Eilenberg und Mac Lane zeigten, lässt sich jede Art
mals vereinheitlichte man die Lösungen von Polynom von Objekt – von geometrischen Räumen über Gruppen
gleichungen und Konfigurationen von Figuren. Dafür bis hin zu Mengen – einer Kategorie zuordnen. Diese
formulierten Fachleute Axiome, welche die Gemeinsam- besteht aus den Strukturen selbst, die man sich als Punkte
keiten der unterschiedlichen Strukturen erfassen. vorstellen kann, und einer Reihe von Transformationen, so
Daraus entwickelten sich die genannten Konzepte von genannten Morphismen, die sich durch Pfeile zwischen
Gruppen, Ringen und Körpern, die es ermöglichen, ein den Punkten darstellen lassen.
mathematisches Objekt allein anhand seiner relevanten Ein Beispiel für eine Kategorie findet sich in der linearen
Eigenschaften zu beschreiben und zu erforschen – selbst Algebra, die sich Vektorräumen wie dem gewöhnlichen
wenn man es nicht konkret konstruieren kann. So lassen dreidimensionalen Raum widmet. Die entsprechenden
sich Aussagen über geometrische Körper treffen, von denen Morphismen sind in diesem Fall Matrizen, die Vektoren in
niemand weiß, wie sie aussehen oder wie man sie erzeugt. andere überführen. Eine entscheidende Eigenschaft von
Doch trotz der groben Gruppierung ist die mathemati- Morphismen ist, dass sie sich hintereinander ausführen
sche Welt noch immer zu groß, als dass ein einzelner lassen und damit einen neuen Morphismus bilden. Man
Mensch sie vollständig begreifen kann. Allein innerhalb kann etwa einen Vektor drehen und anschließend spie-
der Algebra gibt es zu viele Zusammenhänge, die man geln, indem man ihn nacheinander mit zwei Matrizen
unmöglich alle im Detail verstehen kann. Anfang des multipliziert. Es ist aber auch möglich, beide Transforma
20. Jahrhunderts entwickelten Mathematiker daher die tionen gleichzeitig durch eine einzige Matrix umzusetzen.
universelle Algebra. Anstatt Strukturen mit festen Ver- Das ist in allen Kategorien so: Zwei Morphismen ergänzen
knüpfungen und Eigenschaften zu studieren, befasste man sich zu einem dritten.
sich nun mit allgemeinen Objekten, die beliebige Merk Das ist im Prinzip die alleinige Anforderung an eine
male besitzen. Indem man diese nach der Untersuchung Kategorie. Damit stellt sich die Frage, inwiefern sich das
festlegt, gelangt man zurück zu den üblichen Gebilden wie abstrakte Konzept überhaupt als nützlich erweisen kann.
Gruppen, Ringen und Körpern. Zwar besitzen die Objekte innerhalb der Kategorien unter-
Zwar stellt die universelle Algebra einen bedeutenden schiedliche Eigenschaften, doch zwischen ihnen kann man
Schritt zur Verallgemeinerung dar, sie lässt aber andere wiederkehrende Muster erkennen, die sich stark ähneln.
mathematische Gebiete außer Acht. Man erfährt damit
nichts über die Analysis, Zahlentheorie oder Topologie. Gleichungen als geometrische Graphen
Daher führten Fachleute eine weitere Abstraktionsebene Ein Beispiel dafür ist die Verbindung zwischen der Geome-
ein, auf der sich erstaunlich viele Theoreme gleichzeitig trie und der Algebra. Auf der algebraischen Seite gibt es
beweisen lassen – ohne genau angeben zu müssen, von bestimmte polynomiale Gleichungen wie x2 + 3yz3 + 5 = 0
welcher Art von Objekten diese handeln. und auf der geometrischen die dazugehörigen Kurven, die
Den Schritt ermöglicht die Kategorientheorie, die man in ein Koordinatensystem zeichnet. Die Kategorien zu
Samuel Eilenberg und Saunders Mac Lane in den den entsprechenden Objekten (also Gleichungen und
1940er Jahren entwickelt haben. Dabei hatten die zwei Kurven) ähneln sich stark.
Mathematiker ursprünglich anderes im Sinn: Sie wollten Das erkannte der Gelehrte René Descartes bereits im
17. Jahrhundert. Er fand heraus, dass sich Polynome
sowohl entweder rechnerisch (also im Sinn der Algebra)
KOMPOSITION Transfor oder zeichnerisch (indem man sie in ein kartesisches
SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2021
Drehen
Drehen und Wenden Wenden
als unterschiedlich ansehen (siehe »Spektrum« Dezember Drehen Wenden Drehen und Wenden
2019, S. 80).
Das hat Kategorientheoretiker dazu veranlasst, in ihrem
Sprachgebrauch den bestimmten Artikel durch einen
unbestimmten zu ersetzen: Sprechen sie von »diesem«,
meinen sie eigentlich »ein« Objekt mit solchen Eigenschaf-
ten. Das passiert etwa, wenn man »die« disjunkte Vereini-
gung zweier Mengen A und B betrachtet. Wie die gewöhn-
liche Vereinigung enthält die disjunkte Version A ⊔ B eine
Kopie jedes Elements von A und B. Doch zusätzlich besit-
zen die Elemente in A ⊔ B eine Art Gedächtnis, das besagt,
wege einer Ameise erfährt nur einen Abschnitt des Kreises überdecken, lassen sich
man einiges über die zu zu einem Punkt zusammenschrumpfen und entsprechen
Grunde liegende Figur. der Null. Dem entgegen steht eine geschlossene Kurve,
die den Kreis einmal umschließt und durch eine Eins
dargestellt wird. Ein Pfad kann den Kreis aber auch zwei-,
drei-, …mal umschließen. Keine dieser Varianten lässt sich
auf stetige Weise in eine andere überführen. Wenn man
ein Haargummi zweimal um einen Kreis wickelt, ist es
unmöglich, eine dieser Umdrehungen zu entfernen, ohne
gehörigen Räume haben: Wenn es eine stetige Funktion den Kreis zu verlassen oder das Gummi durchzuschnei-
f: X Y gibt, dann existiert auch eine entsprechende den. Daher enthält die Fundamentalgruppe alle ganzen
Transformation π₁f: π₁(X) π₁(Y) zwischen den Fundamen- Zahlen, wobei das Vorzeichen angibt, in welche Richtung
talgruppen. Zudem behält die Zuordnung die Struktur der der Pfad verläuft.
ursprünglichen Abbildungen bezüglich Kompositionen und Im Gegensatz dazu fällt die Fundamentalgruppe der
Identitäten bei: π₁(g∘ f) = π₁g∘ π₁f und π₁(1X) = 1π(1x). Somit Kreisscheibe viel langweiliger aus. Jeder Weg, den man
scheint π₁ die wesentlichen Informationen über topologi- darauf einzeichnet, lässt sich zu einem Punkt zusammen-
sche Räume zu enthalten. ziehen. Somit besteht die entsprechende Gruppe aus bloß
Doch genügt die Fundamentalgruppe, um X vollständig einem Element – und nicht aus unendlich vielen wie beim
zu charakterisieren? Tatsächlich ist das der Heilige Gral der Kreis. Gleiches ergibt sich für eine Kugeloberfläche, auf
Topologie: Seit Jahrhunderten suchen Fachleute nach der sich ebenfalls alle Wege zusammenziehen lassen.
einer mathematischen Methode, um alle topologischen Doch die Fundamentalgruppe hat einen großen Nach-
Objekte zu sortieren. Dieser Traum wird aber unerfüllt teil: Mit Punkten und Pfaden allein kann man nicht die
bleiben – wie sich herausgestellt hat, gibt es kein solches Struktur eines hochdimensionalen Raums erkennen. Um
Verfahren. tiefere Einblicke in komplexere X zu erhalten, muss man
Dennoch kann die Fundamentalgruppe Strukturen in zusätzlich stetige Funktionen f von der zweidimensionalen
niedrigen Dimensionen voneinander unterscheiden, etwa Kreisscheibe D auf X betrachten, also f: D X. Diese
einen Kreis und eine Kreisscheibe. In der Fundamental- heißen Homotopien. Darüber hinaus lassen sich höhere
Homotopieäquivalenz
Zwei Objekte X und Y sind in der der aus, erhält man nicht 1Y, jedoch stimmung zwischen den Punkten
Topologie identisch, wenn man sie eine Funktion h, die sich stetig zu von X und Y geben. Das heißt, man
durch Dehnen, Stauchen, Verbie- dieser umformen lässt. kann die Körper auch zusammen-
gen, Verzerren oder Verdrillen Im 1-D-Fall ist die Identität quetschen. So lassen sich die
ineinander umformen kann. Das e(x) = 1 – eine Gerade, welche die Beine einer Hose verkleinern, bis
kann man durch eine stetige y-Achse bei 1 schneidet und paral- eine eindimensionale Form übrig
Transformation f ausdrücken, die lel zur x-Achse verläuft. Führt man bleibt, die an einen String-Tanga
jeden Punkt auf X eindeutig zu f und g nacheinander aus, muss erinnert. Beide Räume haben die
einem auf Y zuordnet und sich bei einer Homotopieäquivalenz gleiche topologische Struktur (es
umkehren lässt: f -1: Y X. Die nicht zwingend e herauskommen, gibt immer noch zwei Löcher),
Komposition von f und f –1 ergibt vielmehr ist jede andere Kurve h obwohl das ursprünglich zweidi-
dabei stets die Identität f∘ f –1 = 1Y möglich, die man stetig zu e um- mensionale Kleidungsstück auf
und f -1∘ f = 1X. formen kann, etwa eine Parabel x2 eine eindimensionale Schnur
In der Praxis sind Topologen oder eine Sinuskurve. Komplizierte geschrumpft ist. Eine andere
noch weniger detailversessen. Kurven wie ein Tangens oder 1/x Homotopieäquivalenz lässt sich
Durch das Konzept der Homotopie- kommen nicht in Frage: Man erkennen, wenn man die unendli-
äquivalenz setzen sie zwei Objekte müsste e(x) durchschneiden, damit che Weite des dreidimensionalen
X und Y gleich, wenn es zwei es deren Form annimmt. euklidischen Raums auf einen
stetige Abbildungen f: X Y und Zwei homotopieäquivalente einzigen Punkt abbildet, wie bei
g: Y X gibt, die zwar nicht die Räume X und Y lassen sich zwar einem umgekehrten Urknall. Tat-
jeweiligen Umkehrabbildungen durch eine stetige Transformation sächlich können derart »äquivalen-
(f∘ g ≠ 1Y), aber homotop dazu sind. ineinander umformen, aber es te« Strukturen auf den ersten Blick
Führt man also f und g hintereinan- muss keine Eins-zu-eins-Überein- extrem unterschiedlich wirken.
QUELLEN
spektrum.de/artikel/1913902
VIGNETTE (WWW.INSTAGRAM.COM/VI_NE_TE/) FÜR QUANTA MAGAZINE
y2 = x3 + x – 1 y2 = x3 – 2x
jedem Element ein Inverses, deren Verknüpfung das neutra-
le Element liefert (etwa eine beliebige Zahl a und ihr Nega
tives –a). Somit bilden die ganzen Zahlen mit der Addition
eine Gruppe.
P+P+P
Interessanterweise besitzen elliptische Kurven aber eine TORSIONSPUNKTE Wenn
SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE;
spezielle interne Struktur, eine so genannte Gruppe, die eine man einen solchen Punkt
andere Art von Arithmetik zulässt. Mathematisch gesehen wiederholt zu sich selbst
P+P+P+P
ist eine Gruppe eine Menge, wobei die Verknüpfung zweier addiert, landet man irgend
Elemente wieder Teil der Menge ist. Sie besitzt ein neu wann wieder am Ausgangs P+P
trales Element, dessen Verknüpfung alle anderen unverän- punkt.
spektrum.de/artikel/1959655
DEZENTRALE VERBINDUNG
Auf solche Kommunikationsstrukturen
setzten die Demonstranten während
der Proteste in Hongkong, um sich zu
organisieren.
Spektrum
SpektrumSPEZIAL
SPEZIAL Physik Mathematik Technik
Physik Mathematik Technik 3.22 57
Viele Menschen gehen wahrscheinlich davon aus, das gänge stattfinden, die einen abrupten Wechsel von einem
Klicken auf »Senden« befördere eine Textnachricht Zustand in den nächsten aufweisen.
direkt an das Smartphone des Empfängers. In Wirk Reale Systeme sind hingegen meist endlich und un
lichkeit begibt sie sich aber auf eine lange Reise durch ein übersichtlich. Auch in ihnen finden Übergänge statt, aller
Mobilfunknetz oder das Internet, bis sie bei ihrem Ziel dings weniger scharf ausgeprägt. Trotz solcher Schwierig
ankommt. Das funktioniert zwar recht zuverlässig, doch die keiten wird die Perkolationstheorie praktisch immer rele
Übertragung benötigt eine zentrale Infrastruktur. Naturkata vanter angesichts der komplexen Strukturen, die unser
strophen können sie beschädigen oder repressive Regie Leben prägen, wie das Nahverkehrsnetz, das Stromnetz
rungen abschalten beziehungsweise überwachen. Weil oder soziale Medien.
Demonstranten in Hongkong Letzteres fürchteten, verzich Die Grundlagen des Forschungsbereichs schufen die
teten sie darauf, über das Internet zu kommunizieren. britischen Mathematiker Simon Ralph Broadbent und John
Stattdessen nutzten sie Anwendungen wie FireChat und Michael Hammersley, als sie 1957 die so genannte chemi
Bridgefy, die Nachrichten direkt zwischen nahegelegenen sche Perkolation untersuchten. Diese beschreibt das Filtern
Geräten übertragen. eines Fluids durch ein Material, etwa wenn Öl durch porö
Die Apps lassen Daten unbemerkt von einem Nutzer ses Gestein sickert oder Wasser durch gemahlenen Kaffee
zum nächsten hüpfen, wobei nur der Absender und der fließt. Die Struktur eines Stoffs lässt sich dabei als Netz
Empfänger den Text lesen können. Die verbundenen Han werk modellieren, dessen Knoten die Löcher und dessen
dys bilden ein so genanntes vermaschtes Netzwerk (siehe Kanten die Risse darstellen, durch die sich die Flüssigkeit
»Vermaschtes Netzwerk«), das eine flexible und dezentrale bewegt.
Art des Kontakts ermöglicht. Doch damit sich zwei Perso Wie sich herausstellt, kann sich Öl beispielsweise besser
nen austauschen können, müssen sie über eine Kette den Weg durch Gestein bahnen, je stärker dieses zerklüftet
anderer benachbarter Geräte zusammenhängen. ist – was nicht wirklich überrascht. Mit Hilfe der von ihnen
Wie viele Nutzer braucht ein vermaschtes Netz, um quer entwickelten Theorie konnten Broadbent und Hammersley
durch Hongkong kommunizieren zu können? Die Perkola allerdings auch eine unerwartete Voraussage treffen. Wenn
tionstheorie, ein Teilgebiet der Mathematik, liefert eine die Anzahl der Risse in einem idealisierten Stoff einen
überraschende Antwort: Schon wenige Menschen machen gewissen Schwellenwert überschreitet, durchdringt das Öl
den Unterschied aus. Während Personen einem Netz beitre nicht mehr nur noch vereinzelte Bereiche, sondern fast das
ten, bilden sich langsam isolierte Bereiche verbundener gesamte Material.
Geräte aus. Eine vollständige Kommunikation von Ost nach Schnell fand die Perkolationstheorie Einzug in andere
West oder Nord nach Süd entsteht jedoch ganz plötzlich, wissenschaftliche Disziplinen. In der Geologie untersucht
sobald die Nutzerdichte eine kritische Schwelle überschrei man damit die Größe von Clustern in zerklüftetem Gestein,
tet. Fachleute bezeichnen ein solches Phänomen als Phasen was insbesondere für die Ölförderung durch Fracking
übergang – dasselbe Konzept, mit dem sich abrupte Ände wichtig ist. Seismologinnen und Seismologen greifen
rungen im Zustand eines Materials wie das Schmelzen von hingegen auf die mathematische Theorie zurück, um Erdbe
Eis oder das Sieden von Wasser erklären lassen. ben zu modellieren. Die Netzwerke entsprechen dabei den
beobachteten Rissen einer Gesteinsschicht. Um ebenso die
Eine vollkommene Verkettung Spannungen der einzelnen Schichten zu berücksichtigen,
von Objekten passt man die Wahrscheinlichkeiten dafür an, dass sich
Die Perkolationstheorie untersucht das Verhalten von Netz- gewisse Kanten miteinander verbinden. Nehmen die Span
werken, denen man zufällig Punkte hinzufügt oder entfernt. nungen zu, wachsen die Cluster, bis plötzlich ein Beben
Jeder Knoten steht für ein Objekt, etwa ein Telefon oder ausbricht. Innerhalb der Modelle können sich die Risse
eine Person; die Kanten stellen eine bestimmte Beziehung zudem wieder schließen und neu aufbrechen, wodurch sich
zwischen ihnen dar. Mit wachsenden Verbindungen kommt Nachbeben und langfristige Veränderungen beschreiben
irgendwann schlagartig ein flächendeckender Cluster auf, lassen.
innerhalb dessen man jeden Punkt erreichen kann. Darüber hinaus beleuchtet die Perkolationstheorie physi
Die dringendste Frage des Gebiets lautet: Wann? Was ist kalische und chemische Prozesse auf mikroskopischer
die kritische Dichte eines Netzwerks – das Analogon zu Ebene: etwa die Verbindung einfacher Moleküle, so ge
einer Temperatur von 100 Grad Celsius, bei der Wasser nannte Monomere, zu größeren Strukturen, den Polymeren.
kocht? Der Forschungsbereich eröffnet nicht nur zahlreiche Jedes Monomer entspricht dann einem Knoten in einem
Anwendungen, sondern ist zudem hochaktuell. Denn damit Netzwerk, wobei benachbarte Punkte spontan eine Bin
lässt sich beurteilen, wann ein Meme viral geht, ein Produkt dung eingehen können. Nimmt die Wahrscheinlichkeit
den Markt dominiert, ein Erdbeben beginnt oder sich eine dafür zu, erreicht das System irgendwann einen Schwellen
Krankheit zur Pandemie entwickelt. wert und es entsteht ein riesiges Polymer. Das passiert
Bevor sich Mathematikerinnen und Mathematiker aber unter anderem, wenn man gelöstes Gelatinepulver in
realen Phänomenen zuwenden, die in der Regel extrem Wasser gibt und sich eine feste Masse bildet.
kompliziert ausfallen, konzentrieren sie sich zunächst auf Um zerklüftetes Gestein oder Polymere darzustellen,
einfachere Fälle: idealisierte Netzwerke, die symmetrisch muss man allerdings auf äußerst komplizierte Netzwerke
aufgebaut und unendlich ausgedehnt sind. Tatsächlich zurückgreifen. Es ist nahezu unmöglich, sie genau zu be
können nur in unbegrenzten Graphen richtige Phasenüber schreiben – geschweige denn zu analysieren. Wie Broad
JEN CHRISTIANSEN / WEE PEOPLE FONT BY ALBERTO CAIRO & SCOTT KLEIN / SCIENTIFIC AMERICAN APRIL 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
alle Fragen, die nicht von einer endlichen Anzahl von Ereig
nissen abhängen. Angenommen, man wirft unendlich oft
eine Münze und möchte herausfinden, ob unendlich häufig
die Kopfseite oben lag. Die Antwort darauf bleibt gleich,
selbst wenn man zahlreiche – aber eben nur endlich viele –
Wurfergebnisse ändert. Anders verhält es sich hingegen,
falls man am Ausgang des dritten Wurfs interessiert ist.
Dieser Überlegung folgend hängt die Wahrscheinlichkeit,
einen unendlichen Cluster zu finden, nicht davon ab, ob nun
dieses oder jenes Rohr offen ist.
Verbindungen stärken
Es gibt zwei Möglichkeiten, die Konnektivität derartiger
Netzwerke zu steigern. Entweder man erhöht die Reichwei
te der Geräte oder man vergrößert die Nutzerdichte. Diese Punkte = 8
Parameter entsprechen den Drehknöpfen der Theorie,
ähnlich wie das Zinken der Münze im Rohrnetz. Entwickler
von entsprechender Software müssen sich mit solchen
Überlegungen beschäftigen, um ein möglichst zusammen
hängendes Netzwerk zu kreieren. Die zentrale Frage lautet:
»Wie hoch muss die Sendeleistung sein, damit ein verbun
denes Netzwerk entsteht?«, so der leitende Wissenschaftler
Ram Ramanathan des Unternehmens goTenna. Die Antwort
wäre recht einfach, wenn Leistung proportional mit der Punkte = 9
Konnektivität zunehmen würde. Da es jedoch eine Perkola
tionsschwelle gibt, kann das Netz plötzlich zusammenbre
chen, sobald sich einzelne Personen bewegen. Die optimale
Sendeleistung stellt sicher, dass das System immer verbun
JEN CHRISTIANSEN / WEE PEOPLE FONT BY ALBERTO CAIRO & SCOTT KLEIN / SCIENTIFIC AMERICAN APRIL 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
den ist, ohne dabei Energie zu verschwenden.
Auch der andere Regler kann entscheidend sein. Ver
maschte Netzwerke brauchen eine Mindestanzahl an Nut
zern, damit sie funktionieren. Daher eignen sie sich beson
ders gut für Massenveranstaltungen wie Musikfestivals, Fuß Punkte = 10
ballspiele oder Demonstrationen. Wie Jorge Rios, CEO und
Mitbegründer von Bridgefy, berichtet, verzeichnete das
Unternehmen in Zeiten ziviler Unruhen in Kaschmir, Nigeria,
Hongkong und im Iran einen enormen Zuwachs an neuen
Nutzern. Die Menschen wandten sich solchen Apps zu, um
die Kommunikation aufrechtzuerhalten, falls die Regierung
das Internet abschalten würde oder große Menschenmen
gen die Mobilfunkverbindungen überlasten. Einige Stadtteile
Punkte = 11
wie Red Hook in Brooklyn, New York, nutzen vermaschte
Netzwerke, um den Internetzugang zu erweitern, indem sie
permanente Knotenpunkte auf den Dächern von Gebäuden
anbringen. Zwar befindet sich ein Großteil der erforderlichen
Hardware und Routing-Technologie noch in der Entwicklung,
aber es fällt leicht, sich künftige Anwendungen vorzustellen:
Autonome Fahrzeuge könnten beispielsweise direkt mitein
ander kommunizieren und Informationen über die Verkehrs
lage oder Gefahren austauschen, ohne auf eine zusätzliche
Infrastruktur angewiesen zu sein.
NACH FEIERABEND
CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)
spektrum.de/artikel/1634756
U
nendlich viele Mathematiker gehen in eine Bar. den Flächeninhalt 2 hat, und entfernen davon Recht-
Der erste bestellt ein Bier. Der zweite ein halbes ecke, deren Fläche jeweils den einzelnen Termen der
Bier. Der dritte ein viertel Bier. Der vierte ein unendlichen Reihe entsprechen.
achtel Bier. ›Geht mir nicht auf die Nerven‹, sagt Der erste Summand ist dann ein Quadrat mit Seiten-
der Barkeeper und stellt zwei Bier auf den Tresen.« länge 1, also genau die Hälfte des Rechtecks. Für den
Diesen Scherz habe ich Anfang 2018 auf dem Twitter- zweiten Term streichen wir eine Fläche der Größe ½,
Account der »Science Busters«, einer Wissenschaftska- das heißt ein Rechteck mit Seitenlängen 1 und ½, was
barettgruppe, zu deren Ensemble ich gehöre, gepostet. der Hälfte des verbliebenen Quadrats entspricht. Und
Und selbst mehr als ein Jahr später beschäftigte er die auch der dritte Term (¼) halbiert die verbleibende
Leser immer noch. Der scheinbare Widerspruch ist Hälfte; heraus kommt ein Quadrat mit Seitenlänge ½.
gleichermaßen verwirrend und faszinierend. »Nie im Das geht ewig so weiter. Jeder folgende Term passt in
Leben reichen zwei Bier für unendlich viele Mathemati- den übrig gebliebenen Teil des ursprünglichen Recht-
ker«, antwortete jemand darauf, und selbst eine lange ecks. Im Grenzfall unendlich vieler Summanden ist das
Diskussion konnte ihn nicht vom Gegenteil überzeugen. Rechteck komplett beseitigt, so dass sich die Terme
Den Witz kann man jedoch über eine geometrische insgesamt zu 2 addieren.
Reihe erklären:
G
eometrische Reihen findet man nicht nur in
wissenschaftlichen Witzen, sondern in vielen
Bereichen der Mathematik. Zum Beispiel lässt
sich so auch die verwirrende Tatsache erklären,
dass 0,99999… gleich 1 ist. Die nicht enden wollende
periodische Dezimalzahl ist nämlich nichts anderes als
eine geometrische Reihe mit a₀ = 9 ⁄ 10 und q = 1 ⁄ 10, also
Diese Formel gilt, wenn q kleiner als 1 und größer als die unendliche Summe von 0,9 + 0,09 + 0,009 + … Der
–1 ist. Für die Werte a₀ = 1 und q = ½ ergibt sich Grenzwert, der sich aus der Formel errechnet, beträgt
die Abfolge aus dem Witz. Man setzt der Reihe nach dann 0,9 geteilt durch (1 – 0,1), was nichts anderes als 1
0, 1, 2, 3, … für k ein und summiert die Ergebnisse: ergibt.
1+ ½ + ¼ + ⅛ + … Der Barkeeper kennt schon den Meist verunsichern uns Unendlichkeiten, weil unser
Grenzwert dieser Folge, der sich durch die Formel intuitives Verständnis bei niemals endenden Prozessen
berechnen lässt, und weiß, dass er mit zwei vollen versagt. In solchen Fällen muss man auf die Mathema-
Biergläsern die unendlich vielen Mathematiker bedie- tik zurückgreifen und akzeptieren, dass die Ergebnisse
nen kann. Je größer k wird, desto kleiner wird qk, und unseren Erwartungen widersprechen können. Denn
insgesamt wird die Summe nie größer als 2. manchmal hat selbst die Unendlichkeit ein Ende: im
Man kann das überraschende Ergebnis aber auch obigen Witz bei zwei Gläsern Bier – obwohl sich man-
geometrisch veranschaulichen. Stellen wir uns ein che vielleicht mehr wünschen, um die verwirrenden
Rechteck mit den Seitenlängen 1 und 2 vor, das also Aspekte der Unendlichkeit erträglicher zu machen.
CHRISTOPH PÖPPE
UNTERHALTUNGEN
RATIONALE
ZAHLEN ZÄHLEN
Mengentheoretisch gesehen
gibt es nicht mehr Brüche als
natürliche Zahlen – eine der
zahlreichen Tatsachen über
unendliche Mengen, die der
Intuition ins Gesicht schlagen.
Wenn man die Abzählung der
rationalen Zahlen geschickt
gestaltet, kommen interessante
geometrische Zusammenhänge
zu Tage, auch zur Gestalt der
Mandelbrot-Menge.
0
Christoph Pöppe war Redakteur bei Selbstverständlich steht dahinter nicht das Ziel, einen
»Spektrum der Wissenschaft«, unendlich großen Kochtopf, was immer das sein mag,
zuständig vorrangig für Mathematik
und Informatik.
verletzungsfrei anzufassen und zu transportieren. Vielmehr
ist das Häkelrezept die Beweisidee für einen ehrwürdigen
spektrum.de/artikel/1848328 mathematischen Satz: Die Menge der rationalen Zahlen ist
abzählbar. Es gibt gewissermaßen genauso viele Brüche
mit natürlichen Zahlen im Zähler und im Nenner wie
natürliche Zahlen überhaupt.
Wie häkelt man einen unendlichen Topflappen? Ebenso klassisch wie der Satz ist die Verstörung, die er
Jedenfalls nicht eine Reihe nach der anderen, so wie auslöst. Die natürlichen Zahlen liegen in jeweils gebührli-
es üblich ist. Man würde ja schon mit der ersten chem Abstand zueinander auf der Zahlengeraden. Aber
Reihe nicht fertig, bevor man die zweite überhaupt ange- schon in dem Leerraum zwischen 1 und 2 drängeln sich
fangen hat. unendlich viele rationale Zahlen, und zwischen beliebigen
Vielmehr muss man diagonal häkeln. Das heißt, man zwei von ihnen nochmals unendlich viele. So gesehen
lässt den Topflappen in Gedanken schräg nach unten kommen auf jede natürliche Zahl unendlich viele Brüche.
hängen, wie sein echtes Vorbild an der Schlaufe, und Und trotzdem sollen deren Anzahlen gleich sein?
häkelt dann horizontale Reihen: eine sehr kurze aus einer Allerdings. Zum Beweis kann man alle Brüche in eine
einzigen Masche, die nächste aus zwei Maschen und so Tabelle schreiben, mit unendlich vielen Spalten für die
weiter. Zähler und ebenfalls unendlich vielen Zeilen für die Nenner
Auf die Dauer entsteht ein immer größer werdender (siehe »Tabelle«). Gibt man jedem Bruch eine Nummer,
dreieckiger Lappen, und seinem Wachstum nach unten und zwar in der Reihenfolge des Topflappenhäkelns,
sind keine Grenzen gesetzt. Man kann mit einem einzi- kommt offensichtlich jeder Bruch beim Nummerieren
gen – unendlich langen – Faden eine ganze – unendlich irgendwann an die Reihe. Das heißt: Es gibt eine umkehr-
große – Fläche mit Maschen bedecken. bar eindeutige Abbildung zwischen der Menge der natürli-
1
_ 1
_ 2
_ 1
_ 3
_ 2
_ 4
_ 1
5 3 5 2 5 3 5
FORD-KREISE Das Bild zeigt die Ford-Kreise zu gerupft aus, es wird auch sehr mühsam, die Abzählungs-
den rationalen Zahlen zwischen 0 und 1. Der Kreis abbildung anzuwenden. Welche Nummer hat 39/83? Und
zur Zahl p⁄q sitzt an der Stelle p⁄q auf der Zahlen welches ist die rationale Zahl mit der Nummer 42? Auf
geraden und hat den Radius 1/(2q2). derlei Fragen gibt es zwar eindeutige Antworten, aber um
sie zu finden, bleibt einem nichts übrig, als die Tabelle
Schritt für Schritt bis zu dem entsprechenden Eintrag
chen Zahlen (der Nummern) und derjenigen der Tabellen- durchzugehen.
einträge, die ihrerseits die Menge der rationalen Zahlen Es gibt eine Abhilfe: eine Abzählung der rationalen
umfasst. In der Sprache der von Georg Cantor (1845–1918) Zahlen, welche die oben angeführten Mehrdeutigkeiten
begründeten Mengenlehre sind beide Mengen gleich vermeidet und kurze, leicht berechenbare Antworten auf
mächtig. Eine andere Ausdrucksweise desselben Sachver- Fragen der genannten Art liefert. Das Verfahren ist so
halts lautet: Die Menge der rationalen Zahlen ist abzähl- elegant, dass es einen Platz in dem von Paul Erdős er-
bar – was die harmloseste Form der Unendlichkeit ist. dachten Buch findet, in dem Gott die besten Beweise für
Cantors Beweis dafür ist ohne Zweifel korrekt, leidet jeden mathematischen Sachverhalt notiert hat. Das ist
aber doch unter einem Schönheitsfehler. In der Tabelle jedenfalls die Auffassung von Martin Aigner und Günter
kommt jeder Bruch mehrfach vor – unendlich oft, um Ziegler, die eine Sammlung buchwürdiger Beweise veröf-
genau zu sein. 2/4 ist dasselbe wie 1/2, 4/6 ist gleich 2/3 und fentlicht und bereits für einen Folgeband Material gesam-
so weiter. Entsprechend erhält jeder Bruch mehrere melt haben.
Nummern, und die umkehrbare Eindeutigkeit der Num- Für ihre Abzählung haben Neil Calkin von der Clemson
merierung ist dahin. Also darf man von allen Exemplaren University in South Carolina und Herbert S. Wilf von der
eines Bruchs bloß das vollständig gekürzte mitzählen und University of Pennsylvania ein altehrwürdiges Verfahren im
muss alle Tabelleneinträge, in denen Zähler und Nenner Wortsinn auf den Kopf gestellt: den Algorithmus, mit dem
nicht teilerfremd sind (rot in »Tabelle«), beim Häkeln bereits Euklid den größten gemeinsamen Teiler zweier
aussparen. Da sieht nicht nur der Topflappen ziemlich Zahlen bestimmte. Der Algorithmus nimmt als Input die
gedachten Häkelfaden
(hellblau).
1
_ 1000 4
_ 1001 3
_ 1010 5
_ 1011 2
_ 1100 5
_ 1101 3
_ 1110 4
_ 1111
4 3 5 2 5 3 4 1
1
_ 5
_ 4
_ 7
_ 3
_ 8
_ 5
_ 7
_ 2
_ 7
_ 5
_ 8
_ 3
_ 7
_ 4
_ 5
_
5 4 7 3 8 5 7 2 7 5 8 3 7 4 5 1
1
_ 6
_ 5
_ 9 4 11
_ __ 7 10
__ __ 3 11
__ __ 8 13
__ __ 5 12
__ __ __ 7
_ 9
_ 2
_ 9 7 12
_ __ 5 13
__ __ 8 11
__ __ 3 10
__ __ 7 11
__ __ __ 4
_ 9
_ 5
_ 6
_
CHRISTOPH PÖPPE
6 5 9 4 11 7 10 3 11 8 13 5 12 7 9 2 9 7 12 5 13 8 11 3 10 7 11 4 9 5 6 1
… … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … …
Tochter, gefolgt von lauter linken. Am Ende einer etwas Weise. Dazu kehrt man in allen binär geschriebenen
längeren Rechnung steht die Bestätigung, dass die Formel Nummern der Einträge die Ziffernfolge um und sortiert
für S(x) auch in diesem Fall gilt. Schließlich stellt sich nach diesen »verkehrten« Nummern. Dann sind auch alle
wundersamerweise heraus: Der Übergang von einer Zeile Einträge der Größe nach sortiert. Das gilt sogar zeilen
zur nächsten genügt ebenfalls der Formel. übergreifend; man muss nur die Nummern vor dem Um-
Für die oben angesprochenen Fragen »Welche Nummer kehren auf gleiche Ziffernzahl bringen, indem man sie
hat ein gegebener Bruch?« und »Was ist der Bruch zu einer bei Bedarf links mit Nullen auffüllt.
gegebenen Nummer?« gibt es verblüffend einfache Antwor- Das ist dadurch zu erklären, dass die letzte Verzwei-
ten. Die wesentliche Idee besteht darin, die Nummern in der gung im Baum den größten Unterschied zwischen linker
Abzählung des Calkin-Wilf-Baums im Zahlensystem zur und rechter Tochter erzeugt, anschließend die vorletzte,
Basis 2 (Binärsystem) zu schreiben (rote Zahlen in »Baum«). und so weiter. Indem man die Ziffernfolge umkehrt, beför-
Dabei stellt sich heraus, dass mit jeder Zeile die Nummern dert man die Binärziffer, die dem größten Effekt entspricht,
um eine Binärstelle zulegen. Darüber hinaus dient die von der letzten auf die erste Stelle, die mit dem zweitgröß-
Nummer als eine Art Wegbeschreibung: Die erste Eins steht ten Effekt auf die zweite, und so weiter. Also ist von zwei
für »Geh zur Wurzel«. Die weiteren Binärziffern sagen dem Einträgen der mit der größeren »verkehrten« Binärnummer
Wanderer der Reihe nach an, ob er sich an der nächsten auch der größere.
Weggabelung nach links (0) oder nach rechts (1) wenden Diese Zusammenhänge hatten sich unter den Mathe-
soll. (Vorsicht – »links« und »rechts« sind nicht aus der matikern zwar ein bisschen herumgesprochen, waren aber
Perspektive des Wanderers, sondern aus der des externen noch nicht geordnet aufgeschrieben worden. Das geschah
Betrachters zu verstehen!) Wenn die Ziffernfolge erschöpft erst in einer wissenschaftlichen Arbeit, deren Erstautor
ist, hat der Wanderer sein Ziel erreicht. bemerkenswerterweise ein damals 14-jähriger Schüler ist.
So findet man den Bruch zur Nummer. Für die umge- Aimeric Malter hörte 2011 auf einer Sommerschule der
kehrte Fragestellung genügt es, den Baum bis zur Wurzel Bremer Jacobs University für Schüler und Studienanfänger
hochzusteigen – das heißt den euklidischen Algorithmus zum ersten Mal von dem Problem und arbeitete die Sache
auf das Zahlenpaar (Zähler, Nenner) anzuwenden – und dann zu einer preisgekrönten »Jugend forscht«-Arbeit aus.
nach jedem Schritt zu notieren, ob man den aktuellen Ein unvollendeter Topflappen, das heißt ein endliches
Zustand »von links« (0) oder »von rechts« (1) erreicht hat, Stück vom Calkin-Wilf-Baum, das bis zu einer gewissen
ob man also die linke Zahl von der rechten subtrahiert Zeile reicht und nicht weiter, enthält dieselben Zahlen wie
hat oder umgekehrt. Die Folge dieser Binärziffern, von eine andere berühmte Abzählung der rationalen Zahlen,
rechts nach links aufgeschrieben, ergibt die Nummer des die unter den Namen ihrer Entdecker Moritz Stern
Bruchs. (1807–1894) und Achille Brocot (1817–1878) bekannt ist
Einen Schönheitsfehler hat der Calkin-Wilf-Baum dann (siehe »Spektrum« Mai 2015, S. 64). Und wenn man die
doch. In jeder Zeile folgen kleine und große Einträge Elemente des Calkin-Wilf-Baums bis einschließlich Zeile n
ziemlich wild aufeinander. Kann man sie der Größe nach nach der Größe sortiert, sind sie sogar Stück für Stück
sortieren? Ja, und zwar wiederum auf erstaunlich einfache identisch mit der n-ten Stern-Brocot-Folge.
mit zwei Schlaufen an. Dann wird in jedem Schritt zwischen Malter, A. et al.: New looks at old number theory. The American
zwei benachbarte Schlaufen eine weitere eingehäkelt – was Mathematical Monthly 120, 2013
natürlich nur funktionieren kann, wenn der Faden beliebig Tou, E. R.: The farey sequence. From fractions to fractals. Math
dehnbar ist. Im Grenzwert wird er unendlich lang. Horizons 24, 2017
spektrum.de/artikel/1823171
Nach mehr als 70 Jahren sind Mathematiker endlich findet immer geordnete Gruppen, und Ramsey-Zahlen
einem der hartnäckigsten Zahlenwerte etwas näher stellen ein Maß dafür dar.«
gekommen. In einer Arbeit vom September 2020 Ein Graph oder Netzwerk ist eine Sammlung von Punk-
lieferten David Conlon vom Caltech und Asaf Ferber von ten, die durch Kanten miteinander verbunden sind. Ma
der University of California in Irvine die bisher genaueste thematiker möchten verstehen, wie groß ein Netzwerk
Schätzung für so genannte mehrfarbige Ramsey-Zahlen. mindestens sein muss, damit zwingend verschiedene
Diese geben an, wie groß ein Netzwerk sein darf, bevor Arten von Unterstrukturen entstehen. »Wenn man einen
zwangsläufig bestimmte Arten von Mustern auftreten. »Im Graphen vor sich hat, der groß genug ist, dann ist ein Teil
Universum gibt es keinen absoluten Zufall«, so Maria davon geordnet«, erklärt Maria Chudnovsky von der
Axenovich vom Karlsruher Institut für Technologie. »Man Princeton University.
Verbinde die fünf Punkte, um Es ist möglich, den Graphen Bei Netzwerken der Größe sechs lässt sich das allerdings
einen vollständigen Graphen blau und rot einzufärben, nicht vermeiden. Man findet immer drei Punkte, die über
zu erhalten (jeder Punkt ohne dass drei Punkte über gleichfarbige Kanten zusammenhängen.
muss mit allen anderen gleichfarbige Kanten mitein-
zusammenhängen, was zehn ander verbunden sind.
eine mono-
SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Verbindungen ergibt).
chromatische
Clique aus
3 Punkten
Teva Vernoux (links) ist Forschungsleiter am CNRS im Labor für Fortpflanzung und
Entwicklung der Pflanzen an der École normale superieure von Lyon. Christophe
Godin (Mitte) ist Forschungsleiter und Fabrice Besnard Forschungsbeauftragter am
Institut national de la recherche agronomique (Inra) im selben Labor.
spektrum.de/artikel/1693098
RAZZEL / STOCK.ADOBE.COM
gewebe, das teilungsfähig ist und sich somit der Nähe des Meristems abspielen, waren damals experi-
zu neuem Gewebe oder neuen Organen entwi- mentell noch unerreichbar. Dennoch gelang es den For-
ckeln kann. schern, einige spannende Zusammenhänge offenzulegen,
indem sie sich auf makroskopische Versuche stützten.
Der goldene Winkel ist der kleinere der So lassen beispielsweise mehrere Beobachtungen
zwei komplementären Winkel und , darauf schließen, dass der Divergenzwinkel zwischen zwei
die den Kreisumfang im goldenen Schnitt Organen nicht genetisch festgelegt ist. Denn innerhalb
teilen. Die Definition setzt voraus, dass derselben Art können unterschiedliche Phyllotaxen auftau-
/ = (goldener Schnitt) und dass der chen. Zum Beispiel gibt es unter Sonnenblumen einige mit
goldene Winkel 2π/ (1+ ), also etwa einem goldenen Divergenzwinkel und andere, bei denen er
137,5 Grad beträgt. 99,5 Grad beträgt. Zählt man die darin vorkommenden
Spiralen, entspricht deren Anzahl den Folgengliedern der
Lucas-Folge, einer speziellen Variante der Fibonacci-Folge.
hier dargestellt, beträgt der Diver scheint an einer Stelle am Rand der
genzwinkel δ zwischen zwei Orga- zentralen Zone, wo sich das Hemm-
nen durchschnittlich 137,5 Grad, feld am geringsten auswirkt. Wäh-
seitliche Ansicht
was etwa dem goldenen Winkel rend des Pflanzenwachstums
entspricht. Dies lässt sich theore- schwächen sich die Hemmfelder Position
des nächsten
tisch durch Modelle nachbilden, in mit zunehmender Distanz vom Organs
Meristem 2
denen jedes neue Organ (numme- Zentrum immer weiter ab.
5
10 7
5 R
4
8
2 9
3 6 1
8
7 Position
des nächsten
Organs
2
9 5
10 7
6 4 4
8
9
1 11
3 6
FABRICE BESNARD
FABRICE BESNARD
Zeitpunkt 2
Die genaue Anordnung der Organe scheint daher spontan röschens (Epilobium hirsutum), dessen Blätter normaler
zu entstehen. Das verdeutlichen Pflanzen, die an unter- weise gegenständig angeordnet sind. Die beiden Meristem-
schiedlichen Zweigen verschiedene Blattstellungen aufwei- hälften wuchsen unabhängig voneinander weiter, doch
sen. Bei einigen kann das Meristem sogar plötzlich die plötzlich wies die Pflanze eine spiralige Blattstellung auf.
Phyllotaxis ändern. Aus diesem und ähnlichen Versuchen lässt sich schließen,
Durch gezielte Laborversuche bestätigten die beiden dass der gleiche Mechanismus die verschiedenen Phyllota-
britischen Botaniker Mary und George Snow in den xen erzeugt. Demnach führen Anzahl und Position der bereits
1930er Jahren die Hypothese, dass die Phyllotaxis nicht vorhandenen Organe sowie ihre Wechselwirkungen unter
genetisch bestimmt ist. Dazu störten sie die Funktion des einander zu einem bestimmten Muster. Die dazugehörige
Meristems mehrerer Pflanzen mit mikrochirurgischen Grundidee kann man einfach zusammenfassen: An einer
Eingriffen. In einem ihrer Schlüsselexperimente teilten sie Stelle in der Nähe des Meristems entsteht immer dann ein
das Meristem an der Sprossachse eines Zottigen Weiden- neues Organ, wenn es ausreichend Platz dafür gibt.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten Erstaunlicherweise erklärt das Modell alle beobachteten
Forscher zahlreiche Modelle, die dieses selbstorganisieren- Phyllotaxen – sowohl die verbreitetsten Typen (siehe »Wozu
de Prinzip widerspiegeln. Dabei zeichnete sich immer die schönen Muster?«) als auch seltenere Muster. Z udem
stärker ab, dass junge Organe die Entstehung neuer Ele- beschreibt es, wie verschiedene Phyllotaxen ineinander
mente in ihrer unmittelbaren Nähe unterdrücken, indem sie übergehen, sei es auf natürliche Weise oder durch Störun-
ein Signal abgeben. Die Überlagerung aller Signale lässt gen des Meristems wie bei Mary und George Snow.
sich als Hemmfeld modellieren, das bestimmt, wann und
wo sich die nächsten Organe ausbilden. Ein einziges Modell
Als die Physiker Yves Couder und Stéphane Douady für alle Blattstellungen
von der École normale supérieure in Paris zu Beginn der Im Ansatz von Couder und Douady bestimmt ein einziger
1990er Jahre kleine Tropfen aus flüssigem Metall in Mag- geometrischer Parameter, = d/R, die Anordnung der
netfeldern beobachteten, erkannten sie, dass die Flüssig- Organe einer Pflanze. Dabei steht d für die Reichweite des
keit die gängigsten Phyllotaxistypen nachbildet. Couder Hemmfelds, das von jedem Organ ausgeht, und R ent-
und Douady arbeiteten daraufhin ein physikalisches Modell spricht dem Radius der zentralen Zone des Meristems, in
aus, welches das wachsende Meristem als dynamisches der sich kein neues Organ bilden kann (siehe »Meristem,
System behandelt. Demnach können präzise Divergenz goldener Winkel und Modellierungen«).
winkel entstehen, ohne dass sie vorher (etwa genetisch) Bei einer sehr jungen Sprossachse ist das Meristem
festgelegt sind. Stattdessen bestimmen die hemmenden anfangs klein und damit auch der Radius R, so dass sich der
Mechanismen der Pflanze, wann und wo sich neue Organe Parameter vergrößert. Wenn das erste Organ ein starkes
ausbilden. Hemmfeld erzeugt, wird das nächste wahrscheinlich auf
gegenseitig beschatten. Außerdem organe (außer den Kelchblättern) EHRENPREIS Die Phyllotaxis einer
bestimmt die Phyllotaxis nur, wo ebenfalls regelmäßig angeordnet Pflanze führt nicht immer dazu,
die Blätter aus dem Stängel dringen. sind. dass mehr Licht zu den Blättern
Bei den meisten Pflanzen orien- Biologen kamen daher mit allerlei dringt.
tieren sich die Blätter aber zu einer weiteren Erklärungsversuchen auf.
Der englische Mediziner Hubert Airy
(1838–1903) vermutete beispiels belegen. Verschiedene Phyllotaxen
PHYLLOTAXISTYPEN Die wichtigs- weise 1873, dass die gleichmäßigen lassen sich kaum miteinander
ten Typen, charakterisiert durch die Strukturen junge Organe vor äuße- vergleichen oder modifizieren, ohne
Zahl j der Organe, die aus demselben rem Stress schützen, der etwa durch dass sich gleichzeitig auch andere
Knoten der Sprossachse entspringen, Temperaturänderungen oder Verlet- Eigenschaften der Pflanze ändern –
sowie durch den Divergenzwinkel δ zungen verursacht wird. ganz zu schweigen davon, dass die
zwischen aufeinander folgenden Solche Hypothesen sind aller- genaue Messung selektiver Anpas-
Organen. dings experimentell schwer zu sungen extrem schwierig ist.
Eine andere mögliche Erklärung
zweizeilig kreuz-
wäre, dass die geometrischen
wechselständig spiralig quirlständig gegenständig spirodistich Muster indirekt entstehen, während
j = 1, δ = 180° j = 1, δ = 137,5° j = 4, δ = 45° j = 2, δ = 90° j = 2, δ = 68,8° die Pflanze wächst. Damit wären
sie keine direkte Folge einer evolu
tionären Selektion. Und tatsächlich
scheint die komplizierte Organbil-
POUR LA SCIENCE AUGUST 2018, NACH: FABRICE BESNARD
CHMEE2 (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:POLYTRICHUM_
COMMUNE_IN_NATURAL_MONUMENT_KNEZ_U_HRAZAN_(1).JPG) /
CC BY-SA 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)
pflanzen ähneln sich aber ebenso
in anderen Merkmalen, etwa in der
regelmäßigen Anordnung ihrer
Blätter. Allerdings besteht das
Meristem von Moosen aus einer
einzigen Zelle, gegenüber einigen
hundert in Blütenpflanzen.
POUR LA SCIENCE AUGUST 2018
FABRICE BESNARD
FABRICE BESNARD
sigen Auxin zu befreien, leiten die jungen Organe das Während das Gewebe also wächst und sich verformt,
angesammelte Hormon in die inneren Gewebeschichten ab. reagieren die Zellen und ihr Zytoskelett auf diese neuen
Während sie wachsen, entfernen sich die Blüten vom Spannungen, indem sie die Eigenschaften der Zellwände
Meristem, so dass sie nicht mehr mit den jüngeren Organen (etwa Festigkeit und Richtung des Wachstums) anpassen,
um das Auxin konkurrieren. Forscher beobachteten diesen was im Gegenzug die mechanischen Kräfte verändert. So
Mechanismus auch bei anderen Pflanzen, die evolutiv recht entstehen komplexe mechanische Wechselwirkungen im
weit von der Ackerschmalwand entfernt sind, etwa bei der wachsenden Gewebe. Man konnte zwar noch nicht direkt
Tomate, dem Mais oder der Gerste. nachweisen, dass diese Prozesse die Anordnung der neuen
Ein einziges Molekül dient also offenbar gleichzeitig als Organe beeinträchtigen, doch wie unter anderem unsere
Aktivator und Hemmstoff. Doch die Realität scheint we- Forschungsgruppe herausfand, deuten experimentelle
sentlich komplizierter zu sein. Zunächst weiß man immer Ergebnisse zumindest bei der Ackerschmalwand darauf hin.
noch nicht, was die Transportproteine veranlasst, an Zusammen mit anderen Teams erforschten wir dazu
einigen Stellen das Auxin anzuhäufen und an anderen zu Mutationen, bauten gezielt genetische Veränderungen ein
entfernen. Dazu gibt es verschiedene Vermutungen. und beobachteten das Zellwachstum auf mikroskopischer
Die Transporter könnten sich beispielsweise an der höchs- Ebene. Es zeigte sich, dass das angesammelte Auxin die
ten Auxinkonzentration orientieren oder sie sorgen dafür, Zellwandsynthese fördert sowie das Wachstum der Zelle
dass der Fluss des Hormons maximal ausfällt. unterstützt. All diese Prozesse sind offenbar notwendig,
damit sich Blätter oder Blüten entwickeln.
Welche Rolle spielt die Mechanik? Nun hatten wir chemische und mechanische Kräfte
Aber nicht nur chemische Mechanismen könnten das identifiziert, welche die Phyllotaxis einer Pflanze prägen.
Wachstum der Pflanze und ihrer Organe beeinflussen, Eine weitere Entdeckung ließ uns allerdings vermuten, dass
sondern auch mechanische Prozesse. Pflanzliche Zellen darüber hinaus noch andere Mechanismen beteiligt sind.
stehen wegen der sie umgebenden starren Wand und des Nach langer Suche hatten wir nämlich doch einen Hemm-
Wassers, das sie speichern, unter Druck. Zudem erzeugt stoff gefunden, der sich um die wachsenden Organe einer
die Form des Gewebes Spannungen, welche die Moleküle Pflanze verteilt. Dabei handelt es sich um das Molekül
im Zytoskelett stören. Diese großen Polymere kontrollieren AHP6 (Arabidopsis histidine phosphotransfer protein 6), das
wiederum die Form der Zellen. die Aktivität von Zytokinin unterdrückt, einem weiteren
dern auch quantitativ zu verstehen. Schlussredaktion: Christina Meyberg (Ltg.), Sigrid Spies, Katharina Werle
Eine weitere Hürde besteht darin, die oftmals abstrakten Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg, Gabriela Rabe
Golé, C. et al.: Fibonacci or quasi-symmetric phyllotaxis. Part I: Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Bücher übernimmt die Redaktion
keine Haftung; sie behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.
Why? Acta Societatis Botanicorum Poloniae 85, 2016
Auslassungen in Zitaten werden generell nicht kenntlich gemacht.
Refahi, Y. et al.: A stochastic multicellular model identifies
biological watermarks from disorders in self-organized patterns
ISSN 2193-4452 / ISBN 978-3-95892-634-9
of phyllotaxis. eLife 5, 2016
81
Die nächste Ausgabe dieser Reihe ist ab 18. 11. 2022 im Handel.
VORSCHAU
NEUE FRONTEN DER QUANTENPHYSIK THEMEN SIND UNTER ANDEREM:
Seit Jahrzehnten gibt es zunehmend bessere mathematische Model
le des mikroskopisch Kleinen, doch sie stoßen an Grenzen. Mitunter
DIE GRUNDKRÄFTE
entzieht sich bereits jeder Berechnung, was im Inneren von Atom
kernen oder in starken Feldern geschieht. Völlig an ihr Ende kommt
DER WELT
die Lehre dann, wenn es um Bereiche geht, in denen sich Quanten- Die Physik des Mikrokosmos fußt
und Relativitätstheorie begegnen. Der Durchbruch zu einer hypothe auf Quantenfeldtheorien. Allerdings
tischen Quantengravitation lässt weiter auf sich warten. Während bereitet der Ansatz viele Probleme.
Experimente, die das ändern sollen, immer tiefer in die Strukturen Neue Tricks sollen den komplizierten
der Raumzeit vordringen, verursachen die Eigenarten der Teilchen Gleichungen weitere Geheimnisse
welt auch auf makroskopischen Skalen Schwierigkeiten. Ein Beispiel entlocken.
ist die praktische Umsetzung viel versprechender Anwendungsmög
lichkeiten in Quantennetzwerken und -computern. Hier läuft bereits
die Suche nach den besten Bauteilen und den effizientesten Ver WORAUS BESTEHT
schaltungen für die empfindlichen Informationseinheiten – und die DIE RAUMZEIT?
seltsamen Eigenarten der Quantenmechanik wirken sich wieder und Falls Raum und Zeit aus fundamenta
wieder auf überraschende Weise aus. len Bausteinen hervorgehen, sind diese
womöglich von ganz anderer Art als
die bekannten Teilchen und Wechsel
wirkungen.
ERSTE SCHRITTE
ZUM QUANTENINTERNET
Zwei weit voneinander entfernte
Objekte können sich unmittelbar
beeinflussen. Ein zukünftiges, kompli
ziertes Quantennetzwerk könnte des
halb unerwartete Phänomene hervor
bringen.
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