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FORMEN JÜDISCHER

RELIGION
In der Gegenwart

Wintersemester 2022/23
Dr. Stephanie Gripentrog-Schedel
Konfessionsbegriff

■ Ein Begriff aus der christlichen Religionsgeschichte, der in seiner Verwendung im Wesentlichen auf den christlichen
Kontext beschränkt bleibt
■ Verschiedene Bedeutungen
– Bekenntnisschrift
■ Die in einer Kirche festgelegten und formulierten Lehren und Glaubensinhalte
■ Z.B.: Nicänisches und Athanasianisches Glaubensbekenntnis, Augsburger Bekenntnis, …
– Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensrichtung
– Bezeichnung für die organisierte Einheit einer christlichen Gemeinschaft mit jeweils gleichen Grundsätzen und
Schwerpunkten in Abgrenzung zu anderen christlichen Gemeinschaften
■ Anwendbarkeit auf die verschiedenen Strömungen jüdischer Religiosität?
– Zum Teil Übernahme des Begriffs „Konfessionen“ zur Beschreibung jüdischer Religionstraditionen in der wiss.
Literatur; dann jedoch ohne Definition, Begründung oder Erläuterung
– Zum Teil Formulierung „konfessionsartig“
– Alternative Begriffe: Strömungen
Reform-
judentum

Foto: Hadas Parush/Flash90


Historische Herleitung:
Haskala
■ Jüdische Aufklärung
■ jedoch nicht: eine rein auf das Judentum zugeschnittene Kopie der allgemeinen europäischen
Aufklärungsbewegung
■ Begriff der Haskala war ein dem Judentum bereits seit der Antike vertrauter Begriff
■ stand im antiken Midrasch für Vernünftigkeit und Einsicht und war auch den jüdischen
Philosophen des Mittelalters vertraut
■ Daher: „Haskala“ als ein „judentumsimmanenter“ Anknüpfungspunkt für die Gedanken der
allgemeinen Aufklärungsbewegung
■ Neu: Öffnung der Maskilim (jüd. Aufklärer) gegenüber säkularen Bildungsinhalten
■ Ergebnis dessen: eine betonte Verknüpfung eines neuen Begriffs der Ratio mit der Religion – die
Vernunftkonformität wurde zum wichtigsten Anliegen
Haskala
■ nicht die vollkommene Destruktion der Religion war das Ziel, sondern ihre Umformung hin zu einem
„salonfähigen“ Judentum
■ sollte sich in den Kontext einer aufgeklärten preußischen Gesellschaft besser einfügen lassen als das nach
außen hin abgeschirmte, traditionelle Judentum
■ Zentrales Ziel daher auch: den Juden „als Menschen“ jene bürgerlich-rechtliche Gleichstellung zu verschaffen,
derer sie schon so lange vergeblich harrten
■ Das Recht auf die Erhaltung und Bewahrung der eigenen religiösen Identität sah man als ein durch die
Aufklärungsbewegung ermöglichtes und bewirktes Recht an
■ Es musste möglich sein, Jude zu bleiben und gleichzeitig ein*e gleichberechtigte*r Bürger*in des preußischen
Staates werden zu können
■ Dafür erforderlich: eine religiöse Transformation:
– Geltungsanspruch und die Übersetzung der religiös-autoritativen Texte
– die religiöse Erziehung bzw. Bildung der Kinder
– die Macht der Rabbiner bzw. die Gemeindestruktur
– die rituellen Vorschriften
– die jüdische Mystik
Moses Mendelssohn (1729-1786)

■ Die jüdische Religion kann der kritischen Prüfung durch die Vernunft standhalten

■ Unterscheidung von natürlicher Religion, die die Grundlage des Glaubens von Juden wie Nichtjuden bilde und
jedem Menschen „mit einer Schrift in die Seele geschrieben, die zu allen Zeiten und allen Orten leserlich und
verständlich ist“ (Jerusalem, 128), vom partikularen und speziell den Juden von Gott direkt offenbarten Gesetz, das
Mendelssohns Ansicht nach jedoch auch vernunftkonform war, aber nur den Juden galt:

„Wir haben keine Glaubenssätze, die gegen die Vernunft oder über dieselbe seien. Wir thun nichts mehr zu der
natürlichen Religion hinzu, als Gebote, Satzungen und gerade Vorschriften (Gott sei Dank!), aber die Grund- und
Glaubenssätze unserer Religion beruhen auf dem Fundamente des Verstandes, sie stimmen mit der Forschung nach
jeder Seite hin, ohne jeden Widerspruch und Widerstreit, überein.“ (22. Juli 1771 an Elkan Herz, einen jüd.
Glaubensgenossen)
Schlüsseltexte

1841
Reformjudentum

■ Abraham Geiger (1810-1874) setzte durch:


– Gottesdienst in Landessprache, insgesamt Annäherung an protestantische Formen, neue
Formen der Musik (Orgel), Kanzelrede in der Landessprache
– Auslichtung der Gebetsordnung
– weniger strikte Beschränkung der Rolle der Frau (Gleichstellung, selbst in Bezug auf den
Zugang zum Rabbinat)
– Im Alltag keine rituellen Vollzüge mehr
– Was blieb: Beschneidung, Feiertage, Speisevorschriften stark reduziert
■ In den USA: Reform Judaism
■ Zwei Gegenbewegungen:
– Konservatives Judentum
– Neo-Orthodoxie
Kontext USA

■ Wiederholung des Konflikts der Reformer mit der Orthodoxie


■ führte zur Bildung einer konfessionsartigen Variante des Judentums, seit 1872 organisiert als Union of Hebrew
Congregations, und ab 1875 mit einer modernen Rabbinerausbildungsstätte, dem Hebrew Union College in Cincinnati
■ Abspaltung eines gemäßigten Flügels: Conservative Judaism
■ Formulierung eines Credos: Pittsburgh Platform (1885), Themen:
– (1) Anerkennung monotheistischer Religionen neben dem Judentum, aber mit dem Vorbehalt dass die
Gottesidee allein im Judentum in reiner Form vertreten werde
– (2) Die Bibel ist ein historisches Dokument
– (3–4) Die Torah ist ein historisch bedingtes Mittel zur Bewahrung der Wahrheit.
– (5) Die traditionelle messianische Hoffnung wird ersetzt durch die Erwartung einer „Herrschaft der Wahrheit,
Gerechtigkeit und des Friedens unter allen Menschen“
– (6) Christentum und Islam erfüllen als Tochterreligionen des Judentums die missionarische Funktion der
Verbreitung des Monotheismus, der aber mit den Prinzipien des modernen Humanismus verbunden sein soll.
– (7) Glaube an eine unsterbliche Seele und Verwerfung der leiblichen Auferstehung
– (8) Notwendigkeit einer Lösung der sozialen Probleme
World Union for
Progressive Judaism

■ Vereinigung aus Reformed, Liberalen und Reconstructionists


■ Ca. 1,5 Millionen Mitglieder
■ In Deutschland: vereinzelte Gemeinden
■ In Israel: nicht die dominante Strömung
Judentum in Deutschland nach 1945

Heute fortschreitende Pluralisierung: repräsentative Umfrage mit 1185 Befragten in D:


■ 13,2 % bezeichneten sich als orthodox (einschließlich: ultraorthodox)
■ 22,3 % als liberal
■ 32,2 % als traditionell
■ 32,3 % als säkular (vgl. Ben–Rafael/Sternberg/Glöckner 2010: 46).
IMPULS
Film zur Vorstellung der progressiven Juden in
Deutschland
Fragen zum Text

■ Wann und wo entstanden in Deutschland nach 1945 die ersten Reformgemeinden?


■ Wer ist Walter Homolka und inwiefern gehört er zu den Schlüsselfiguren liberalen
jüdischen Lebens in Deutschland?
■ Was lässt sich über die Ausbildung liberaler Rabbiner in Deutschland sagen?
■ Wie hat sich das Verhältnis zum Zentralrat der Juden über die Zeit hinweg
entwickelt?
■ Was ist die Union progressiver Juden und welchen Status hat sie in Deutschland?
In Deutschland

■ Anfang 1990er Jahre: Ausdifferenzierung der jüdischen Gemeinschaft


■ Ca. 95.000 gehören Ende 2020 jüdischen Gemeinden an, die im Zentralrat organisiert sind
■ Die Suche nach Alternativen zu den inzwischen typisch gewordenen orthodox geführten
Einheitsgemeinden begann
■ 1992 in München: Initiative von Susan und Georg Stein, egalitär ausgerichtete Munich Jewish
Community Group -> 1995 entstand daraus die liberale Gemeinde Beth Shalom (heute 600
Mitglieder)
■ 1993 Gründung einer explizit liberalen Gemeinde in Hannover – heute mit etwa 800 Mitgliedern –
Streit entzündete sich an der Frage, ob eine Frau die Torarolle halten darf
■ Frankfurt am Main, 1994: Kehillah Chadaschah („Neue Gemeinde“): egalitäre Gottesdienste,
egalitärer Minjan
■ Berlin: Sukkat Schalom e.V.
Vernetzung

■ 1995 Treffen im Hochtaunus


■ Vor allem: experimentieren mit neuen Gottesdienstformen
■ Partner: World Union for Progressive Judaism
■ 1996: internationale Tagung „Bewegungen im Judentum, Judentum in Bewegung:
Rückkehr des Reformjudentums nach Deutschland?“
■ 1996 erneute Diskussion im Hochtaunus: Treffen zur Frage „Erneuerung jüdischen
Lebens“
■ 1997 in München: Gründung der Union progressiver Juden (UpJ) in München durch zehn
Gemeinden; wesentliche Linie: Gleichberechtigung der Frau, weiteres: instrumentale
Begleitung des Gebets, Straffung der Liturgie, Anpassung an örtliche Bedürfnisse
■ Profil: ein liberales Judentum „nach der Katastrophe“ – anders als vor der Schoa
Schlüsselfigur: Walter Homolka

■ Rabbinerstudent des Londoner Leo


Baeck College, promovierter und
ordinierter Theologe
■ Wurde Gemeinderabbiner von Beth
Shalom in München
■ Veröffentlichte mehrere
deutschsprachige Sachbücher
Wichtige Publikationen

■ Sechsbändige Neuauflage des


Werkes von Leo Baeck 1996
■ 1997 Publikation der britischen
Reform-Gebetbücher Seder ha-
Tefilot auf Deutsch zum jüdischen
Neujahrsfest (Rosch HaSchana)
■ 1998: Pessach-Haggada
■ Danach weitere Publikationen
Gründung eines Rabbinerseminars

■ 1999: Abraham Geiger Kolleg, stellt sich in die Tradition der Berliner Hochschule für die
Wissenschaft des Judentums
■ Damit beginnt eine liberal orientierte jüdisch-theologische Ausbildung in Deutschland
■ Präsident des Kollegs: Rabbiner Walter Jacob
■ Ort: Universität Potsdam, School of Jewish Theology an der Philosophischen Fakultät
– Ebenfalls dort etabliert wurde 2013 das zur Ausbildung von Masorti-Rabbinern
eingerichtete Zarachias Frankel College
■ Studienabschluss: Master
■ Praktische Ausbildung findet danach separat unter der Aufsicht der beiden
richtungsgebenden Kollegs statt
■ Bis 2020 wurden am Abraham Geiger Kolleg zehn Rabbiner*innen ordiniert
Zum Stand des liberalen Judentums im
Spektrum der anderen Ausrichtungen
■ Zentralrat der Juden in D verweigerte zunächst jede Zusammenarbeit
■ Auch die drei Millionen durch die deutsche Bundesregierung an den Zentralrat der
Juden vergebenen Gelder blieben zunächst den liberalen Gemeinden vorenthalten
■ Dem stand ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2002 entgegen: die
Gelder müssten der ganzen jüdischen Gemeinschaft zugute kommen
■ 2004 vorsichtige Einigung, inzwischen entspanntes Verhältnis
■ 2005 wurden zwei liberale Landesverbände als Körperschaften des öff. Rechts
anerkannt und in den Zentralrat aufgenommen:
– Landesverband der israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen
– Landesverband der jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein
Aktuelles

■ Union progressiver Juden vertritt heute 26 deutsche Gemeinden


■ Staatliche Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts 2015
■ Damit Gleichberechtigung gegenüber dem Zentralrat der Juden (ebenfalls K.d.ö.R.)
DIE 35 GRUNDSÄTZE DES
LIBERALEN JUDENTUMS
Diskussion in Arbeitsgruppen:
Die drei für uns spannendsten Grundsätze
Reformjudentum: theologische
Grundlagen
■ Rationalistische Ausrichtung, Judentum als ethische Vernunftreligion
■ Glaube an den moralischen Fortschritt der Menschheit – das Judentum treibt
diesen Fortschritt voran
■ Im Reformjudentum speziell:
– Anstatt der Auferstehungshoffnung der Glaube an die Unsterblichkeit der
Seele
– Preisgabe der Erwartung eines davidischen Gesalbten
– Gleichberechtigung der Frau
■ Bewusste theologische und ethische Profilierung
■ Zionismus: ursprünglich kaum vertreten, später positive Haltung zum Staat Israel
FRAGEN ZUR
VORBEREITUNG
Gespräch mit Rabbinerin Irit Shillor

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