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Szabó
Katholische Wallfahrten und Kirchweihfeste in Ungarn
während des „real existierenden Sozialismus“
1 Zur Analyse von Zeremonien, Riten und Ritualen siehe vor allem Gluckman,
Max: Essays on the ritual of social relations. Manchester 1962, sowie Werlen,
Iwar: Ritual und Sprache. Zum Verhältnis von Sprechen und Handeln in Ritualen.
Tübingen 1984; Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hrsg.): Ritualtheorien. Ein
einführendes Handbuch. Opladen 1998; Boelderl, Arthur R./Uhl, Florian (Hrsg.):
Rituale. Zugänge zu einem Phänomen. Düsseldorf‐Bonn 1999.
rer Gottes”, die Sitten der Pilger, die heilige Stätten aufsuchten, so‐
wie über den Verlauf sakraler Ereignisse.2 Zweifelsohne kann man
dieses Thema der Kirchweihfeste, der religiös motivierten Wallfahrt
auch in den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts erfassen,
obwohl in Bezug auf die Erforschung religiöser Erlebnisse des „Kir‐
chenvolkes” in der Gegenwart in Europa lediglich erste Schritte
getan wurden.3
Die vorliegende Studie ist lediglich die Skizze eines beginnenden
Projekts, das in gewisser Hinsicht mit dem traditionellen historisch‐
beschreibenden Herangehen brechen will. Es bemüht sich um eine
interdisziplinäre Erschließung verschiedener Formen der Religiosi‐
tät unter Anwendung der Ergebnisse der Politik‐, Gesellschafts‐,
Religions‐, Kirchen‐ und Bildungsgeschichte sowie der Ethnografie,
Soziologie und Religionssoziologie. Die mit dem Thema verbunde‐
nen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen enthalten zwar
noch zahlreiche weiße Flecken, dennoch können wir auch schon
über bestimmte Ergebnisse berichten (vgl. dazu eine Quellenausga‐
be von Sándor Bálint, Jenő Barna, Zsuzsa Bögre, András Máté‐Tóth,
Miklós Tomka und – aus der Sicht der Kirchengeschichte der Ge‐
genwart – eine Quellensammlung des Autors der vorliegenden Stu‐
die).4
[Ungarische Wallfahrer]. Budapest 1994; Bangó, Jenö F.: Die Wallfahrt in Un‐
garn. Wien 1978; Barna, Gábor: Búcsújáró és kegyhelyek Magayrországon [Wall‐
fahrts‐ und Gnadenorte in Ungarn]. Budapest 1990; Bögre, Zsuzsanna: Va‐
llásosság és Identitás – Élettörténetek a diktatúrában (1948–1964) [Religiosität
und Identität. Lebensgeschichten in der Diktatur]. Budapest‐Pécs 2004; Vgl. da‐
zu auch das „Aufbruch“‐Projekt http//www.vallastudomany.hu/aufbruch, so‐
wie Máté‐Tóth, András/Mikluščák, Pavel (Hrsg.): Kirche im Aufbruch. Zur pasto‐
ralen Entwicklung in Ost (Mittel) Europa – eine qualitative Studie. Wien 2001;
Szabó, Csaba, Hrsg: Egyházügyi hangulat‐jelentések 1951, 1953 (Stimmunsgsbe‐
richte im Kirchenwesen 1951, 1953. Redaktion und Einleitung Szabó, Csaba.
Budapest 2000; Tomka, Miklós: Magyar katolicizmus [Der ungarische Katholi‐
zismus]. Budapest 1991; ders.: Egyház és vallásosság a mai Magyarországon
[Kirche und Religiosität im heutigen Ungarn]. Budapest 1994; ders.: Csak kato‐
likusoknak [Nur für Katholiken]. Budapest 1995.
4 CSABA SZABÓ
5 Die Auflösung und Schließung dreier Budapester Kirchen Anfang der 50er‐
Jahre sind die bekanntesten Beispiele der Kirchenpolitik der Rákosi‐Ära: die
Sprengung der Regnum‐Marianum‐Kirche auf der György‐Dózsa‐Straße
(Aréna‐Straße) 1951, die Schließung der Felsenkapelle der Paulaner auf dem
Gellért‐Berg im Frühjahr 1951 und die Schließung der Kirche Das Ungarische
Heilige Land der Franziskaner im Budaer Stadtteil Hűvösvölgy ebenfalls 1951.
Vgl. dazu Szabó, Csaba: A Magyar Szentföld és Budapest Föváros Levéltára [Das
Ungarische Heilige Land und das Archiv der Hauptstadt Budapest], in: Levéltári
Szemle, 4/2003, S. 42–53.
6 Vgl. dazu die Abhandlung des Religionssoziologen Miklós Tomka: A vallási
kultúra maradványai a vidéki fiatalok körében [Fragmente der Religionskultur
im Kreis der Landjugend], in: Pedagógiai Szemle, 1/1977, S. 10–21. In der Da‐
tenbank des Staatlichen Kirchenamtes ist neben zahlreichen veröffentlichten
Arbeiten auch die im Januar 1988 für die Gruppe Jugendforschung im ZK des
Kommunistischen Jugendverbandes verfasste Meldung von Adrienne Molnár
und Miklós Tomka mit dem Titel „Ifjúság és vallás” (Jugend und Religion) zu
finden: MNL OL XIX–A–21–c. 000/17.
6 CSABA SZABÓ
***
Der Ablass (lateinisch: indulgentia) hatte im römischen Recht auch
Amnestie oder Straferlass bedeutet. Es kommt auch in der Heiligen
Schrift mit diesem Inhalt vor (Jesaja 61,1, und Lukas 4,18). Der Ab‐
lass im theologischen Sinne ging mit dem Versprechen der Kirche
einher, bei Gott für den Erlass der sogenannten „zeitlich bemesse‐
nen” Strafen, d.h. im Falle von Sünden zu intervenieren, die als Sün‐
den durch das Sakrament der Buße bereits gestrichen wurden. Die
Folgen einer Sünde werden jedoch durch die Bekehrung nicht ge‐
tilgt. Die Kirche kann durch ihr Gebet die Überwindung dieser Fol‐
gen unterstützen, und da ein solches Gebet mit Gottes Willen immer
im Einklang steht, wird es auch erhört. Selbstverständlich ist ein
Gebet nur dann effektiv, wenn der Mensch ausreichend bemüht ist,
sich in seinem ganzen Wesen immer tiefer zu läutern. Zugleich er‐
setzt das Kirchweihfest bzw. die Wallfahrt nicht die Buße. Es bedeu‐
tet also keine Absolution von der Sünde, sondern setzt sie voraus.
Ein Zustand der Gnade, die Buße und die Absolvierung der vorge‐
schriebenen guten Taten sind die Bedingungen, um die Indulgenz zu
gewinnen.
Der Besuch von Gnadenorten ist so alt wie die Geschichte der Re‐
ligion. Bei den Juden ist es Jerusalem, bei den Muslimen Mekka, Me‐
dina und Jerusalem, die Buddhisten suchen Schauplätze des irdi‐
schen Lebens Buddhas auf (z.B. Bodh‐Gaja in Indien, wo Siddhartha
Gautama die Erleuchtung erfuhr und zu Buddha wurde), die Hindus
Varanasi am Ganges, und bei den japanischen Shintoisten ist der
Besuch des Heiligtums Ise mit einer 1500‐jährigen Tradition ver‐
bunden. Die Wallfahrt ist eine spezifische Erscheinungsform der
Religiosität und zugleich auch ein öffentliches Glaubensbekenntnis.
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 7
ber) wurde zufrieden gemeldet, dass die Zahl der Gläubigen, die an
der Wallfahrt teilnahmen, sich im Vergleich zu den früheren Jahren
erheblich reduzierte: statt „80.000 bis 100.000“ waren diesmal etwa
30.000 bis 35.000 Menschen erschienen. Aus dem Bericht geht her‐
vor, dass die staatlichen Organe bereits Monate zuvor mit den Vor‐
bereitungen begonnen hatten, um die Menschenmassen von der
religiösen Veranstaltung erfolgreich fernzuhalten. Alles stimmte mit
dem Vorschlag aus dem Jahre 1951 überein: Es gab Kino, Theater,
einen „Jahrmarkt der Heiterkeit von Nyírbátor“ bzw. einen „Tag von
Nyírbátor“, Jugendtreffen, ein Radrennen usw.16 Bruder Kamill no‐
tiert in seiner Autobiografie zur berühmten Wallfahrt der Jazygen
(Jászok) von Porcinkula: „es kamen immer weniger Menschen zur
Wallfahrt, besonders in der Rákosi‐Ära sank die Teilnahme am gro‐
ßen Treffen der Jazygen – wegen der ‚Maul‐ und Klauenseuche‘, und
natürlich wegen Verspottung und Einschüchterung.“17
***
Die Bereitschaft, an Wallfahrten und Kirchweihfesten teilzunehmen,
sowie die dagegen getroffenen staatlichen Maßnahmen zeigten auch
nach der Revolution von 1956 keine große Veränderung. In
Szekszárd beispielsweise wurde im Zusammenhang mit der Wall‐
fahrt zu Mariä Geburt 1958 aufgezeichnet, dass trotz der großen
Vorbereitungen nur wenige (3.000 bis 4.000 Menschen) teilnahmen,
die insgesamt nur 2.700 Ft zur Kollekte gaben. Der Dechant erklärte
das Fernbleiben und die bescheidenen Spenden der Gläubigen da‐
mit, dass „die Werktätigen zum Jahrmarktfest im August gereist
waren und ihr Geld dort ausgegeben hatten … jetzt zeigt sich ein
guter Weinertrag für die Szekszárder, so dass es jetzt keinen Grund
zu beten gibt.“ Im darauffolgenden Jahr nahmen im Übrigen bereits
8.000 bis 9.000 Menschen an der Wallfahrt in Szekszárd‐
20 Fälle dieser Art waren auch Anfang der 70er‐Jahre keine Seltenheit: MNL OL
XIX–A–21–a. B–26–6–d/1970.
21 Die Tabelle wurde aufgrund der in der Datenbank des Staatlichen Kirchenam‐
tes auffindbaren Nachweise erstellt. Aus anderen Komitaten veröffentlichte das
Kirchenamt keine Angaben. MNL OL XIX–A–21–c. 111/6.
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 15
Ab Mitte der Sechzigerjahre kann man in den Berichten des Staatli‐
chen Kirchenamtes immer öfter von einem Rückgang der Teilneh‐
merzahl bei Wallfahrten und von einer Abschwächung der religiö‐
sen Einstellung lesen. Diese Veränderung spiegelt sich allerdings
weder in der Besucherzahl der Wallfahrten, noch in der aktiven
Beteiligung der Gläubigen an den Zeremonien wider. Die Verände‐
rung hängt am ehesten mit dem Wandel der religiösen Gewohnhei‐
ten und einer Veränderung der Lebensweise zusammen. Von der
zweiten Hälfte der Sechzigerjahre an erlebten die Menschen als
Ergebnis der Kádárschen Reformen einen gewissen Wohlstand (z.B.
wurden die Pkws erschwinglich), und so veränderten sich allmäh‐
lich auch ihre Gewohnheiten.
27 MNL OL XIX–A–21–a. B
27 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–8/1963.–26–2/1978.
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 19
[…] kann die Mehrheit der Teilnehmer als fanatisch, bigott und un‐
gebildet bezeichnet werden (die Kirche brauchte natürlich schon
immer Menschen dieser Art). Auch ihr Gesang war schleppend und
erweckte das Gefühl der Verzückung. Neben mir stand eine junge
Frau, aus deren verklärten Augen ständig Tränen flossen.29
35 In der Meldung ging es um die Wallfahrt am 16. August 1953 zu Mariä Himmel‐
fahrt. Nach Stalins Tod kam es auch in Ungarn zu einem Kurswechsel: Nach Ab‐
stimmungsgesprächen in Moskau wurde Imre Nagy zum Ministerpräsidenten
22 CSABA SZABÓ
fand wie immer im Freien statt. Ein Pfarrer um die 40 hielt die Pre‐
digt ohne Lautsprecher, so dass er bis zum Schluss schreien musste.
Er schaffte es mit seiner Stimme. Er sprach über die wundersamen
Hilfen der heiligen Jungfrau sowie darüber, was ihr die Wallfahrer
als Ausdruck ihrer Dankbarkeit schenken sollten. Sie sollten ihre
Liebe anbieten, um deren Stärkung sie bemüht sein sollten, und sie
sollten die vollkommenste moralische Reinheit anstreben.
Schließlich betonte er, dass das der Jungfrau Maria gegebene Gelöb‐
nis auch die religiöse Erziehung der Kinder umfassen sollte.
Eine Absicht der Verschärfung, des Polemisierens oder Politisierens
einer spürbaren Oppositionshaltung kam in der Formulierung der
Rede nicht zum Ausdruck. Es war eine Predigt im üblichen Ton, die
auch in ihrem Inhalt wie üblich war. Den Namen des Pfarrers konnte
man nicht nennen.
Nach der Predigt begann die Prozession, die sehr prachtvoll war.
Mehrere Pfarrer waren daran beteiligt, das Altarsakrament trug
Weihbischof Vince Kovács, der gerade erst zum Bischöflichen Gene‐
ralvikar von Vác ernannt worden war (6. April 1953).
Der Bericht geht auch darauf ein, ob Parteimitglieder an der
Wallfahrt teilnahmen. Dem scharfsichtigen Berichterstatter fiel auf,
dass Eisenbahnarbeiter mit ihren Familienangehörigen zum halben
Preis fuhren. Mehr noch: Er sah „etwa zehn Parteiabzeichen auf
Männersakkos“.
***
Die Wallfahrt begann also mit der Reise. Man muss in Betracht zie‐
hen, dass im Mittelalter schlechte Straßenverhältnisse und Räuber
das größte Hindernis für die Pilger bedeuteten, während in der Mo‐
derne die Staats‐ und Ratsorgane bemüht waren, den Weg der unga‐
rischen katholischen Gläubigen durch verschiedene Veranstaltun‐
gen, Umleitungen und Verspätungen staatlicher Fahrzeuge zu er‐
36 In mehreren Meldungen wurde sogar angeführt, wie viele private Pkws in der
Umgebung der Gnadenkirche gezählt wurden. Es gab auch einen Fall, wo der
Berichterstatter sogar die polizeilichen Kennzeichen notierte. MNL OL XIX–A–
21–a. B–26–10/1962; MNL OL XIX–A–21–a. B–26–8/1963.
37 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–6–a/1970.
38 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–6–d/1970.
39 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–6–b/1970.
24 CSABA SZABÓ
Wallfahrt in Bodajk hingegen wurde zur selben Zeit notiert, dass die
etwa 4.000 Gläubigen mit annähernd 100 Pkws, per Bus und Bahn
sowie zu Fuß kamen. Es passierte oft, dass die Fernbusse nicht für
die Wallfahrt, sondern für sonstige Ausflüge angefordert und
dadurch die staatlichen Betriebe irregeführt wurden.40 Seit den
Achtzigerjahren kommt in den Berichten vor, dass immer mehr
Priester aus westlichen Ländern an den Wallfahrten teilnahmen.
Demzufolge erschienen Gläubige vor allem auch aus der BRD und
aus Österreich.41 Dies kann teilweise mit der Möglichkeit zusam‐
menhängen, dass die nach 1945 aus den Komitaten Tolna und
Baranya ausgesiedelten Schwaben und ihre Nachkommen während
ihrer „Heimreise“ auch die berühmten Marien‐Gnadenorte aufsuch‐
ten. In diesem Jahrzehnt ist aber auch der internationale Religions‐
tourismus zu einer allgemeinen Erscheinung geworden.
Dank der massenhaften Inanspruchnahme von Verkehrsmitteln
verkürzte sich die Zeitdauer einer Wallfahrt wesentlich, und dies
brachte vielleicht die größte Veränderung im Zusammenhang mit
den Wallfahrten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So wur‐
den neben der Sitte der Prozessionen und der mit Beten und Singen
durchwachten Nacht am Gnadenort auch zahlreiche andere Traditi‐
onen zurückgedrängt.42
Eine Wallfahrt brauchte auch eine gewisse Vorbereitung. Man
musste doch ausreichend Lebensmittel und Getränke für die Fahrt
einpacken, festliche Kleider anziehen, Gebetsbücher und Rosen‐
kränze hervorholen. Aus den Kirchen brachte man Fahnen, Wall‐
fahrtskreuze und Marienstatuen heraus (auf ihnen wurden auch die
Jahresangaben der größeren Wallfahrten registriert).43
Eine Wallfahrt konnte einzeln oder mit der Familie, am häufigs‐
ten allerdings gemeinschaftlich und in Gruppen stattfinden. Die
Katholiken eines Dorfes, die zu einer Pfarrei gehörenden Gläubigen
machten sich auf den Weg, indem sie eine Prozession bildeten. Auch
[…] jedes Jahr viele Pfarrer aus fremden Erzdiözesen Máriagyűd auf‐
suchen. Außerdem kommen auch ehemalige Franziskanermönche
gern hierher zurück. Es gibt Jahre, da sich sogar 150 bis 180 Pfarrer
in das Gästebuch in der Sakristei eintragen. [...] An manchen Sonnta‐
gen sind neun bis zehn Pfarrer anwesend, die im Beichtstuhl mithel‐
fen, die Messe lesen und predigen. Es ist keine Seltenheit, dass am
Die Zahl der Anwesenden ist auch heute nicht gering, die Organi‐
siertheit der Wallfahrer ist aber bei weitem nicht so wie in alten Zei‐
ten, und ihr Eifer viel geringer. Die Wallfahrt ist in den Augen vieler
Gläubiger fast nur noch eine Mode ist, an die sie sich schon gewöhnt
haben. Trotzdem ist die Zahl derer keineswegs zu vernachlässigen,
die auch heute noch anwesend sind, aus welchem Grund auch im‐
mer. Die Erweiterung ihres Horizonts und das unmoralische Verhal‐
ten in den Nächten der Wallfahrt und nicht zuletzt Zeitmangel las‐
sen bei einem Teil der Gläubigen die Bedeutung der Wallfahrt in
Vergessenheit geraten.
Gleichzeitig hob der Bericht aus dem Komitat Zala 1961 gerade her‐
vor, dass der Klerus alles unternommen hatte, den festlichen Cha‐
rakter der Wallfahrten zu erhöhen. Wochen zuvor wurden ihre
Gläubigen vorbereitet und gebeten, so viel Verwandtschaft wie mög‐
lich einzuladen.47 Bei der Wallfahrt zu Mariä Geburt 1962 zur Gna‐
denkirche Hétkápolna von Vác trugen wie üblich weiß gekleidete
Mädchen die Kirchenfahnen an der Spitze der Wallfahrer, und die
Pfarrer von Alsógöd, Vácrátót und Dunakeszi führten ihre Gläubigen
wie in einer Prozession. Die Messe zelebrierte ein beliebter Geistli‐
cher und hervorragender Redner, dem das Staatliche Kirchenamt
die Arbeitsbewilligung früher entzogen hatte.48 In Máriaremete
beteiligte sich am 24. Mai 1964 auch der Bischof von Székes‐
fehérvár, Lajos Shvoy, der auch eine Predigt hielt. Im Bericht wurde
der festliche Rahmen missbilligend festgehalten. Nach der Predigt
des Bischofs sangen die etwa 15.000 Menschen das bekannte Kir‐
chenlied „Heilige Jungfrau, unsere Muttergottes“, dann die
Papsthymne und die ungarische Nationalhymne.49 Die Anwesenheit
der hohen geistlichen Würdenträger unterstrich den festlichen Cha‐
rakter der Zeremonie. Wie die Berichte bezeugen, nahmen die Bi‐
schöfe auch an den bedeutenden Wallfahrten teil, sie zelebrierten
die Messen oder leiteten die Prozessionen. Vince Kovács führte ge‐
wöhnlich persönlich die Gläubigen von Vác zu der „Siebenkapelle“.
Bischof József Bánk brach mit der Tradition (vom 10. Januar 1969
an) und kam am 13. September 1970 nicht an der Spitze der Ein‐
wohner von Vác zur Wallfahrt, sondern mit einem Pkw. Viele merk‐
ten auch an, dass die Zahl der Wallfahrer nicht so groß war wie frü‐
her.50
Der Erfolg einer Wallfahrt hing in hohem Maße von ihrer Organi‐
siertheit ab. Die Gemeinschaft marschierte im Allgemeinen unter
Leitung des Dorfpfarrers, für die Organisation, die Zusammenset‐
zung und die Steuerung des Aufzuges und für den Gesang war der
Wallfahrtsleiter verantwortlich. Er war zugleich auch der Vorbeter
des Dorfes, dessen Dienste bei kirchlichen Zeremonien, von der
Taufe bis zur Bestattung, in Anspruch genommen wurden. Über den
Vorbeter Ádám Ferenc Nagy aus Várvölgy (Komitat Zala) schreibt
der Ethnologe K. Petánovics:51 Jede Wallfahrt stand unter seiner
Leitung. Die Gläubigen von Várvölgy marschierten mit Fahnen, der
Wallfahrtskrone, dem Wallfahrtskreuz und der auf den Schultern zu
tragenden heiligen Jungfrau in erster Linie zur Ärztin der Kranken,
der Heiligen Schmerzensmutter in Sümeg. Sie beugten ihr Kreuz
und die Fahnen vor den Kreuzen am Straßenrand. Sie beteten und
sangen während der gesamten Wallfahrt. Ádám Ferenc Nagy sang in
***
Bis jetzt hat sich diese Abhandlung nur mit den Gnadenorten und
den bedeutenden Wallfahrtsorten befasst. Um verschiedene Er‐
scheinungsformen der Religiosität zu untersuchen, sollten auch die
traditionellen Kirchweihfeste kurz behandelt werden, die mit der
Einweihung oder dem Schutzheiligen der Kirche einer gegebenen
Ortschaft verbunden und in diesem Sinne von „lokalem Interesse“
einer Gemeinde bzw. einer Pfarrei sind.
Aufgrund der Beobachtung eines kleineren Kirchweihfestes in
einem Dorf, der Dokumentierung von dessen allmählicher Umwand‐
lung, kann nachvollzogen werden, was ein Kirchweihfest im Leben
einer Gemeinschaft bedeutet, welche Bräuche und Traditionen da‐
mit verbunden sind. An erster Stelle sollte hervorgehoben werden,
dass es in dieser seiner Form als bedeutender Faktor für den Zu‐
sammenhalt einer Familie und einer Gemeinschaft erscheint.
Kirchweihfeste ermöglichten Familienzusammenkünfte, zu denen
oft auch in weiter Entfernung lebende Verwandte und Freunde ein‐
geladen wurden. Im Durchschnitt versammelten sich 15 bis 20 Per‐
sonen je Familie, aber auch eine Gästezahl von 30 oder mehr war
keine Seltenheit. Aus diesem Anlass besuchten auch die wegen der
Kollektivierung der Landwirtschaft „verjagten“, weggezogenen eins‐
tigen Bauernjungen und Bauernmädchen ihre Eltern, wobei sie auch
schon ihre eigenen Familien mitbrachten. Die Zahl der ständigen
Gäste erhöhte sich durch die kürzeren Gelegenheitsbesuche von
Verwandten und Bekannten weiter, die von der heiligen Messe oder
von den Verkaufsständen des Festes auf dem Weg nach Hause wa‐
ren. Das Kirchweihfest bot gute Gelegenheiten auch dafür, dass die
Eltern von Liebespaaren die oder den Auserwählte/n ihrer Kinder
oder deren Eltern kennen lernten.
Wie verlief ein traditionelles Dorf‐Kirchweihfest? Da kaum Do‐
kumente für die Erforschung dieses Themas zur Verfügung stehen,
kann man von der Ethnografie und von Einzelinterviews Hilfe erhof‐
fen. In Söjtör im Komitat Zala (Schutzheiliger der Kirche ist der hei‐
lige Jakob, dessen Kirchweihfest am letzten Sonntag im Juli stattfin‐
30 CSABA SZABÓ
det) kamen die engere Familie, die Geschwister mit ihren Familien‐
mitgliedern, bereits einen Tag vor dem Kirchweihfest bei den Groß‐
eltern zusammen. Die Frauen machten den ganzen Tag sauber,
kochten und bereiteten das festliche Mittagessen zu. Die Männer
stellten in der „guten Stube“ die Tische zusammen und schafften die
Getränke herbei. Sie zogen sich für den Gottesdienst zum sonntägli‐
chen Kirchweihfest an, in die Kirche gingen jedoch nur die männli‐
chen Familienmitglieder, die älteren Frauen und die Kinder. Die
Hausfrauen und ihre Töchter blieben zu Hause, sie deckten den
Tisch und kümmerten sich um das Mittagessen. In den Jahren der
Diktatur war es nicht gerade einfach, die wichtigsten Zutaten zum
Mittagessen zu beschaffen. Bei den Ablieferungsvorschriften in den
Fünfzigerjahren und dem (Schweine‐)Schlachtverbot war ein Kirch‐
weihfest für die Familie in der Tat ein Kraftakt, trotzdem war man
bemüht, von allem das Beste heranzuschaffen. Das Festmenü nahm
es schon damals mit dem einer Hochzeitsfeier auf, erst recht aber
von den Sechzigerjahren an, als die äußeren Lebensumstände sich
verbessert hatten. Auch Interviewpartner aus anderen Landesteilen
haben bestätigt, dass das Mittagessen zu einem Kirchweihfest wie
eine „kleine Hochzeit“ war. Auch in Ercsi, Komitat Fejér, pflegte man
ein großes Kirchweihfest zu feiern (zu Mariä Himmelfahrt, am Sonn‐
tag nach dem 15. August). Zu diesem Anlass wurde auch die weit
entfernte Verwandtschaft eingeladen: etwa 20 bis 30 Personen. Für
die Familie, die das Kirchweihfest auf diese Art und Weise feierte,
ging das mit großen Opfern einher. In Ercsi wurden mehrere Mes‐
sen und Prozessionen an der Kapelle „Csöpögő“ im Wald abgehal‐
ten. Oft zelebrierte ein Vertreter des höheren Klerus die heilige
Messe mit Hilfe von vier bis fünf Pfarrern. Die Zeremonien waren
immer festlich und fanden mit vielen Ministranten (acht bis zehn
Personen) und auch mit einem Chor statt. Die Kirche war überfüllt,
sogar draußen auf den Treppen standen noch Zuhörer. Auch auf der
Hauptstraße der Ortschaft gab es ein großes Kirchweihfest mit vie‐
len Verkaufsständen.53
53 Interview mit Frau Ferencné Bauer am 25. Februar 2006. Die Eltern der Inter‐
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 31
***
In dieser Abhandlung ist von den Erscheinungsformen der Religiosi‐
tät in der Diktatur des „realen Sozialismus“ lediglich die Rolle der
Wallfahrten und Kirchweihfeste untersucht worden. Aber auch an‐
dere Themen wären natürlich in diesem Zusammenhang von Inte‐
resse: zum Beispiel die Frage des Religionsunterrichtes, der karita‐
tiven Tätigkeit der Kirche, aber auch die Erforschung der Arbeit der
in den Untergrund gezwungenen Kirche, der Kirche im Widerstand.
Das „illegale“ katholische „Andersdenken“ blieb bis zum Ende des
kommunistisch‐sozialistischen Systems erhalten, auch zu der Zeit,
als jede Art des Widerstandes in der Gesellschaft zu existieren auf‐
gehört hatte. Auch bei der Aufarbeitung dieses Bereiches stehen wir
erst am Anfang. Ein Beispiel für diese „Kirche im Widerstand“ stellt
die kleine Gemeinschaft der Regnum‐Pater dar. Obwohl ihre Häuser
1951 verstaatlicht, ihre Kirchen gesprengt und ihre Gemeinschaften
zerstreut wurden, setzten sie weiterhin ihre „illegale“ Tätigkeit auf
dem Gebiet der Erziehung der Jugend fort. Bereits Anfang 1952
wurde ihr erstes Objektdossier55 angelegt, denn sie wurden syste‐
matisch observiert. Ende 1960, Anfang 1961 wurden in einer gro‐
ßen Verhaftungswelle mehrere Regnum‐Pater festgenommen und
anschließend verurteilt. Nach ihrer Freilassung setzten sie ihre Ar‐
beit dort fort, wo sie aufgehört hatten. Auch später wurden sie
mehrmals verhaftet. Wir kennen drei Regnum‐Prozesse; bis Anfang
Quellen
ÁBTL Historisches Archiv der Staatssicherheitsdienste
3. 1. 5. Operative Dossiers
3. 1. 9. Untersuchungsdossiers
BFL Archiv der Hauptstadt Budapest
XXV. 4. f. Komitatsgericht Budapest. Akten von Prozessen, die zu‐
rückgestuften geheimen Schriftstücke (ung. Abk. TÜK; in der DDR –
Nur für den Dienstgebrauch, NfD; in Deutschland – Verschlusssache
– Nur für den Dienstgebrauch, VS‐NfD)