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Csaba

Szabó


Katholische Wallfahrten und Kirchweihfeste in Ungarn
während des „real existierenden Sozialismus“

Unter gelebter katholischer Religiosität verstehe ich das praktische


Erscheinungsbild der rituellen, von religiösem Geist erfüllten Hand‐
lungen des Einzelnen oder einer Gemeinschaft. In erster Linie be‐
schäftigen mich das Erleben des Kults und die damit verbundenen
Handlungen bzw. die Wirkung, wie der Einzelne oder eine Gruppe,
eine kleinere oder größere Gemeinschaft ihre rituellen religiösen
Bräuche erlebt.1 Zu diesem Kreis gehören neben den Gottesdiensten
und sonstigen Zeremonien in den Kirchen (wie etwa Taufen, Erst‐
kommunionen, Firmungen, Eheschließungen und Beerdigungen)
auch Kirchweihfeste im Zusammenhang mit dem Schutzheiligen
einer gegebenen Ortschaft und Wallfahrten, wenn Einzelpersonen,
Familien und ganze Religionsgemeinschaften einen Gnadenort auf‐
suchen und an den dortigen Zeremonien teilnehmen. In dieser Ab‐
handlung suche ich die Antwort auf die Frage, wie der Einzelne oder
eine Gemeinschaft während des „real existierenden Sozialismus“ die
religiösen Sitten in Bezug auf Wallfahrten und Kirchweihfeste erle‐
ben durfte und welche Antworten das Regime auf all das gab.
Religiosität in der Moderne kann genauso erforscht werden wie
z.B. die Historiker der Annales‐Schule die Erscheinungsformen der
mittelalterlichen Religiosität in ihren Werken aufarbeiteten. So wis‐
sen wir heute bereits relativ viel über die „mittelalterlichen Wande‐

1 Zur Analyse von Zeremonien, Riten und Ritualen siehe vor allem Gluckman,
Max: Essays on the ritual of social relations. Manchester 1962, sowie Werlen,
Iwar: Ritual und Sprache. Zum Verhältnis von Sprechen und Handeln in Ritualen.
Tübingen 1984; Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hrsg.): Ritualtheorien. Ein
einführendes Handbuch. Opladen 1998; Boelderl, Arthur R./Uhl, Florian (Hrsg.):
Rituale. Zugänge zu einem Phänomen. Düsseldorf‐Bonn 1999.

Forum für osteuropäische Ideen‐ und Zeitgeschichte, 20. Jahrgang, Heft 2


2 CSABA SZABÓ

rer Gottes”, die Sitten der Pilger, die heilige Stätten aufsuchten, so‐
wie über den Verlauf sakraler Ereignisse.2 Zweifelsohne kann man
dieses Thema der Kirchweihfeste, der religiös motivierten Wallfahrt
auch in den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts erfassen,
obwohl in Bezug auf die Erforschung religiöser Erlebnisse des „Kir‐
chenvolkes” in der Gegenwart in Europa lediglich erste Schritte
getan wurden.3
Die vorliegende Studie ist lediglich die Skizze eines beginnenden
Projekts, das in gewisser Hinsicht mit dem traditionellen historisch‐
beschreibenden Herangehen brechen will. Es bemüht sich um eine
interdisziplinäre Erschließung verschiedener Formen der Religiosi‐
tät unter Anwendung der Ergebnisse der Politik‐, Gesellschafts‐,
Religions‐, Kirchen‐ und Bildungsgeschichte sowie der Ethnografie,
Soziologie und Religionssoziologie. Die mit dem Thema verbunde‐
nen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen enthalten zwar
noch zahlreiche weiße Flecken, dennoch können wir auch schon
über bestimmte Ergebnisse berichten (vgl. dazu eine Quellenausga‐
be von Sándor Bálint, Jenő Barna, Zsuzsa Bögre, András Máté‐Tóth,
Miklós Tomka und – aus der Sicht der Kirchengeschichte der Ge‐
genwart – eine Quellensammlung des Autors der vorliegenden Stu‐
die).4

2 Relativ wenig Arbeiten sind im Zusammenhang mit Wallfahrten im Mittelalter


in Ungarisch zu lesen. Vgl. dazu Sigal, Pierre André: Isten vándorai [Gottes Pil‐
ger]. Budapest 1989; Broadbent, Edmunt Hamer: Zarándok Gyülekezet. Az újs‐
zövetségi gyülekezetek történelmi vándorútja [Pilgerversammlung. Historischer
Wanderweg der neutestamentlichen Versammlungen]. Budapest 1990; Kakucs,
Lajos: Santiago de Compostella: Szent Jakab tisztelete Európában és Magyaror‐
szágon [Verehrung des hl. Jakob in Europa und in Ungarn]. 2006. Siehe zu die‐
ser Thematik auch: Branthomme, Henry/Chelini, Jean (Hrsg.): Auf den Wegen
Gottes. Die Geschichte der christlichen Pilgerfahrten. Paderborn 2002.
3 Vgl. dazu u.a. den vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam ver‐
anstalteten Workshop (2004) unter Beteiligung von Forschern aus fünf europä‐
ischen Staaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Polen und Ungarn) über die
Religiosität der weltlichen Katholiken sowie über den Laizismus. Der Bericht
über den Workshop erschien in: http://hsozkult.geschichte.hu ber‐
lin.de/tagungsberichte/id=752&count=151&recno=18&sort=beitraeger&order
=up&geschichte=72
4 Siehe dazu Bálint, Sándor: Boldogasszony vendégségében [Zu Gast bei der heili‐
gen Jungfrau. Budapest 1944; Bálint, Sándor/Barna, Gábor: Búcsújáró magyarok
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 3

Es ist vielleicht das einzige Positivum der Diktatur, dass sie


reichlich Dokumente produzierte, die Religionssoziologen, Soziolo‐
gen und Historikern gewisse Möglichkeiten bieten, um die Frage der
Religiosität tiefer, bis hinab zur Alltagsgeschichte zu erforschen und
dabei über die bloßen ereignisgeschichtlichen und quantitativen
Herangehensweisen hinauszugehen.
In einer normal funktionierenden Demokratie ist es völlig natür‐
lich, dass jeder die Riten und Sitten seiner Religion praktizieren
kann und keiner die Missbilligung anderer zu befürchten hat, gleich
ob er samstags den Sabbat feiert oder sonntags die Messe besucht,
ob er sich zur heiligen Jungfrau als Muttergottes bekennt oder sie
verneint. Zugleich ist es in einer normal funktionierenden Demokra‐
tie ebenfalls natürlich, dass man auf seine Religionszugehörigkeit
und ‐sitten stolz ist und diese ruhig ausleben kann. Wenn die Gläu‐
bigen am Ende der heiligen Messe das Gotteshaus verlassen, können
sie sich vor der Kirche ungestört mit ihren Freunden unterhalten
und brauchen vor keinerlei Observierungen Angst zu haben. Eine
Besonderheit der Diktaturen hingegen besteht gerade darin, dass
sie den Einzelnen und die Gemeinschaft in jedem Augenblick, sogar
mitten in ihren intimsten Handlungen beobachten. Die Diktaturen
hinterlassen zahlreiche Dokumente, bei deren Aufarbeitung die
religiöse Tätigkeit des Einzelnen und der Gemeinschaft sehr wohl
nachvollzogen werden kann.

[Ungarische Wallfahrer]. Budapest 1994; Bangó, Jenö F.: Die Wallfahrt in Un‐
garn. Wien 1978; Barna, Gábor: Búcsújáró és kegyhelyek Magayrországon [Wall‐
fahrts‐ und Gnadenorte in Ungarn]. Budapest 1990; Bögre, Zsuzsanna: Va‐
llásosság és Identitás – Élettörténetek a diktatúrában (1948–1964) [Religiosität
und Identität. Lebensgeschichten in der Diktatur]. Budapest‐Pécs 2004; Vgl. da‐
zu auch das „Aufbruch“‐Projekt http//www.vallastudomany.hu/aufbruch, so‐
wie Máté‐Tóth, András/Mikluščák, Pavel (Hrsg.): Kirche im Aufbruch. Zur pasto‐
ralen Entwicklung in Ost (Mittel) Europa – eine qualitative Studie. Wien 2001;
Szabó, Csaba, Hrsg: Egyházügyi hangulat‐jelentések 1951, 1953 (Stimmunsgsbe‐
richte im Kirchenwesen 1951, 1953. Redaktion und Einleitung Szabó, Csaba.
Budapest 2000; Tomka, Miklós: Magyar katolicizmus [Der ungarische Katholi‐
zismus]. Budapest 1991; ders.: Egyház és vallásosság a mai Magyarországon
[Kirche und Religiosität im heutigen Ungarn]. Budapest 1994; ders.: Csak kato‐
likusoknak [Nur für Katholiken]. Budapest 1995.
4 CSABA SZABÓ

Besonders aufschlussreich kann hier die Erforschung der kir‐


chenfeindlichen Diktaturen des 20. Jahrhunderts sein, denn Religio‐
sität wirkt nicht nur auf Atheisten und überzeugte Gläubige, son‐
dern zum Beispiel auch auf jene größeren Massen, die sich von den
Kirchen bereits teilweise entfernt haben, an den religiösen Riten
jedoch noch teilnehmen.
Unsere primären Quellen sind die unterschiedlichen Berichte,
die für das Staatliche Kirchenamt, den Staatsschutz bzw. die Staats‐
sicherheit gemacht wurden. Einen weiteren wichtigen Quellentyp
stellen die verschiedenen Dokumente dar, die in der Untersu‐
chungsphase der Fälle entstanden, die mit einem Prozess zu Ende
gingen, oder die in dieser Phase gefunden und dem Untersu‐
chungsmaterial beigefügt wurden (z.B. Protokolle von Hausdurch‐
suchungen und Verhören, Geständnisse, Selbstbekenntnisse, Auto‐
biografien, Tagebücher, Fotos usw.). Wollen wir die Art und Weise
der Religiositätsausübung erforschen, müssen wir in mindestens
vier Archivtypen recherchieren: zum einen in den Archiven der
Selbstverwaltungen, wo neben den Unterlagen der Bezirksgerichte
und des Hauptstädtischen Gerichtes Dokumente von Hauptreferen‐
ten des Staatlichen Kirchenamtes für Kirchenfragen der Hauptstadt
und der Komitate zur Verfügung stehen. Im Historischen Archiv der
Staatssicherheitsdienste kann man in den verschiedenen Akten
über die Observierung einzelner Personen oder Gruppen bzw. in
den Unterlagen, die aus der Untersuchungsphase vor Prozessver‐
fahren erhalten geblieben sind, weitere Untersuchungen betreiben.
Das Aktenmaterial des Staatlichen Kirchenamtes kann am vollstän‐
digsten im Ungarischen Nationalarchiv erforscht werden. Ebenfalls
wichtig können die leider nur beschränkt erhalten gebliebenen Kir‐
chenberichte aus der Zeit des „real existierenden Sozialismus“ sein
sowie Beschreibungen der Kirchenzeremonien in Kirchenarchiven.
Außer den in den Archiven aufbewahrten Unterlagen kann man bei
der Untersuchung der in der vergangenen Diktatur praktizierten
Religiosität auch die Ergebnisse der Oral History verwenden. Deren
Aussagen muss man freilich mit entsprechender Quellenkritik be‐
handeln und mit dem Aktenmaterial vergleichen; die Geschichts‐
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 5

wissenschaft kann jedoch keinesfalls auf deren Verwendung ver‐


zichten. In zahlreichen Fällen ist nur noch Oral History in der Lage,
das Fehlen von Dokumenten zu kompensieren.
Des Weiteren suchen wir nach der Antwort darauf, in welchen
Formen die katholische Religiosität im Alltagsleben des „real exis‐
tierenden Sozialismus“ zum Ausdruck kam: wie man Religiosität
praktizieren konnte und inwieweit das Regime das Auftreten religi‐
öser Gesinnung tolerierte. Natürlich ist der Kirchgang die Erschei‐
nungsform der Religiosität, die am meisten auf der Hand liegt. Ver‐
gebens war die Absicht der kommunistischen Diktaturen, die Reli‐
gion völlig auszuschalten, vergebens die schonungslose Religions‐
verfolgung in der Rákosi‐Ära und vergebens die Serie von Prozessen
gegen Katholiken in der Kádár‐Ära bis in die Siebzigerjahre: Die
Kirchen konnten nicht geschlossen werden, auch wenn einschlägige
Versuche in diese Richtung unternommen wurden.5 Die Religion
konnte nicht aus dem Alltagsleben verbannt werden. Ich rühre nicht
an die Frage, inwieweit all jene als religiös zu betrachten sind, die in
die Kirche gingen und an den verschiedenen konfessionellen Zere‐
monien teilnahmen. Ich will also nicht die Tiefe der Religiosität der
Teilnehmer analysieren,6 sondern die legalen und illegalen, öffentli‐
chen und halböffentlichen Räume und Möglichkeiten aufzeichnen,
die der gelebten Religiosität einen Rahmen boten. Da ich mich in der

5 Die Auflösung und Schließung dreier Budapester Kirchen Anfang der 50er‐
Jahre sind die bekanntesten Beispiele der Kirchenpolitik der Rákosi‐Ära: die
Sprengung der Regnum‐Marianum‐Kirche auf der György‐Dózsa‐Straße
(Aréna‐Straße) 1951, die Schließung der Felsenkapelle der Paulaner auf dem
Gellért‐Berg im Frühjahr 1951 und die Schließung der Kirche Das Ungarische
Heilige Land der Franziskaner im Budaer Stadtteil Hűvösvölgy ebenfalls 1951.
Vgl. dazu Szabó, Csaba: A Magyar Szentföld és Budapest Föváros Levéltára [Das
Ungarische Heilige Land und das Archiv der Hauptstadt Budapest], in: Levéltári
Szemle, 4/2003, S. 42–53.
6 Vgl. dazu die Abhandlung des Religionssoziologen Miklós Tomka: A vallási
kultúra maradványai a vidéki fiatalok körében [Fragmente der Religionskultur
im Kreis der Landjugend], in: Pedagógiai Szemle, 1/1977, S. 10–21. In der Da‐
tenbank des Staatlichen Kirchenamtes ist neben zahlreichen veröffentlichten
Arbeiten auch die im Januar 1988 für die Gruppe Jugendforschung im ZK des
Kommunistischen Jugendverbandes verfasste Meldung von Adrienne Molnár
und Miklós Tomka mit dem Titel „Ifjúság és vallás” (Jugend und Religion) zu
finden: MNL OL XIX–A–21–c. 000/17.
6 CSABA SZABÓ

vorliegenden Studie lediglich darauf beschränken kann, das Prob‐


lem aufzuwerfen und die beginnende Forschung vorzustellen, be‐
handle ich die Möglichkeiten des Auslebens der Religiosität im
Rahmen der kommunistisch‐sozialistischen Diktatur nur am Bei‐
spiel der Wallfahrten und der Kirchweihfeste.

***
Der Ablass (lateinisch: indulgentia) hatte im römischen Recht auch
Amnestie oder Straferlass bedeutet. Es kommt auch in der Heiligen
Schrift mit diesem Inhalt vor (Jesaja 61,1, und Lukas 4,18). Der Ab‐
lass im theologischen Sinne ging mit dem Versprechen der Kirche
einher, bei Gott für den Erlass der sogenannten „zeitlich bemesse‐
nen” Strafen, d.h. im Falle von Sünden zu intervenieren, die als Sün‐
den durch das Sakrament der Buße bereits gestrichen wurden. Die
Folgen einer Sünde werden jedoch durch die Bekehrung nicht ge‐
tilgt. Die Kirche kann durch ihr Gebet die Überwindung dieser Fol‐
gen unterstützen, und da ein solches Gebet mit Gottes Willen immer
im Einklang steht, wird es auch erhört. Selbstverständlich ist ein
Gebet nur dann effektiv, wenn der Mensch ausreichend bemüht ist,
sich in seinem ganzen Wesen immer tiefer zu läutern. Zugleich er‐
setzt das Kirchweihfest bzw. die Wallfahrt nicht die Buße. Es bedeu‐
tet also keine Absolution von der Sünde, sondern setzt sie voraus.
Ein Zustand der Gnade, die Buße und die Absolvierung der vorge‐
schriebenen guten Taten sind die Bedingungen, um die Indulgenz zu
gewinnen.
Der Besuch von Gnadenorten ist so alt wie die Geschichte der Re‐
ligion. Bei den Juden ist es Jerusalem, bei den Muslimen Mekka, Me‐
dina und Jerusalem, die Buddhisten suchen Schauplätze des irdi‐
schen Lebens Buddhas auf (z.B. Bodh‐Gaja in Indien, wo Siddhartha
Gautama die Erleuchtung erfuhr und zu Buddha wurde), die Hindus
Varanasi am Ganges, und bei den japanischen Shintoisten ist der
Besuch des Heiligtums Ise mit einer 1500‐jährigen Tradition ver‐
bunden. Die Wallfahrt ist eine spezifische Erscheinungsform der
Religiosität und zugleich auch ein öffentliches Glaubensbekenntnis.
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 7

Die Christen pilgern seit Anfang des 3. Jahrhunderts in erster Linie


zu den Grabstätten der Heiligen, der Apostel, Märtyrer und Beken‐
ner. Später verbreitete sich die Achtung vor Stätten, an denen dem
Glauben nach ein Wunder stattgefunden hatte. Auch mit Gnadenbil‐
dern, Statuen und Gegenständen von Heiligen kann eine Wallfahrt
verbunden sein.7 Auf dem Gebiet des heutigen Ungarn gibt es 95
bekannte griechisch‐ und römisch‐katholische Wallfahrtsorte (z.B.
Máriapócs, Búcsúszentlászló, Budapest‐Máriaremete, Máriabesnyő,
Máriagyűd, Mátraverebély‐Szentkút), die auch aus fernen Gegenden
von vielen aufgesucht werden. Hinzu gezählt werden können ferner
die auch heute populären 212 Gnadenorte, die vom historischen
Ungarn abgetrennt und den benachbarten Staaten angeschlossen
wurden, unter ihnen die berühmten, auch aus Ungarn aufgesuchten
Wallfahrtsorte wie Bács, Bácskeresztúr, Pétervárad, Szabadka‐
Szentkút und Zombor in Serbien, Almás, Eszék, Máriabeszterce,
Muraszentmária und Varasd in Kroatien, Alsólendva und Radamos
in Slowenien, Bikszád, Csíksomlyó, Füzesmikola, Kolozsvár, Ko‐
lozsmonostor, Máriaradna, St. Anna‐See und Tövis in Siebenbürgen,
Munkács in der Karpato‐Ukraine, Garamszentbenedek, Ghymes,
Holics, Kassa‐Kálvária, Lőcse, Nyitra, Podolin, Pozsony‐Kálvária,
Pozsony Krönungskirche, Pozsony‐Szentgyörgy, Pozsony‐
Virágvölgy, Verebély im Oberland in der heutigen Slowakei sowie
Fraknó und Kismarton im Burgenland.8 Diese beträchtliche Anzahl
erhöht sich noch weiter um die Wallfahrtsorte und sonstigen heili‐
gen Stätten, die in der westlichen Hälfte Europas liegen und auch in
der kommunistischen Zeit von vielen Ungarn besucht wurden. Hier
werden nur jene erwähnt, die man schon im Jahrzehnt vor der
Wende unter Führung eines Pfarrers und eines Reisebüros aufsu‐
chen konnte: Mariazell in Österreich, Medjugorje in Bosnien‐
Herzegowina, Rom und Loreto in Italien, Altötting in der Bundesre‐

7 Zur historischen Zusammenfassung der Wallfahrt siehe Barna, Búcsújaró, S. 11–


23, und Branthomme/Chelini, Auf den Wegen Gottes.
8 Die Wallfahrtsorte in Ungarn und in den Nachbarstaaten verfügen über eine
eigene Homepage im Internet: http://bucsujaras.freeweb.hu/ (letzter Down‐
load: 29.01.2015).
8 CSABA SZABÓ

publik Deutschland (Bayern), Lourdes in Frankreich, Montserrat


und Santiago de Compostela in Spanien sowie das Heilige Land.
Es taucht die Frage auf, ob die Wallfahrt ein traditionelles Ritual
auf dem Lande ist. Nehmen wir die berühmten Wallfahrtsorte Un‐
garns unter die Lupe, so finden wir kaum eine Großstadt unter den
etwa 100 Gnadenorten. Szeged Alsóváros, Pécs‐Havihegy und Bu‐
dapest‐Máriaremete sind im Wesentlichen eher Randgebiete bzw.
galten eindeutig als solche beim Entstehen ihrer Gnadenorte. Allein
in zwei mittelgroßen Städten – in Szekszárd‐Remetekápolna und in
Vác‐Hétkápolna – gibt es Gnadenorte, ebenfalls außerhalb der Städ‐
te, am Stadtrand. Charakteristischerweise befinden sich unsere
Wallfahrtsorte in einstigen Marktgemeinden oder in deren Nähe
bzw. in Dörfern. Zugleich ist die Wallfahrt nicht ausschließlich eine
religiöse Zeremonie der Dorf‐ bzw. Landbewohner. Will man die
Besucher von Wallfahrtsorten während der vier Jahrzehnte „real
existierenden Sozialismus“ charakterisieren, sind dreierlei Typen zu
unterscheiden. Zum einen die Schicht der Dorfbewohner und Bau‐
ern. Sie machte etwa ein Viertel oder Fünftel der Bevölkerung Un‐
garns in der damaligen Zeit aus und war am meisten mit den Tradi‐
tionen und religiösen Sitten verbunden. Zum anderen gab es die
Bevölkerungsschicht, die während des Kommunismus‐Sozialismus
zu Stadtbewohnern avancierte, aber provinziell, volkstümlich blieb,
denn ihre Gewohnheiten waren noch sehr stark mit dem traditio‐
nellen Verhalten auf dem Land, mit dem Leben der Bauern verbun‐
den. Zogen die Menschen dieser Kategorie in kleine und mittelgroße
Städte in der Nähe ihres früheren Wohnortes, behielten sie ihre
Beziehungen zum Dorf und zu ihren Traditionen bei. Diejenigen, die
in Großstädte zogen, pflegten ihre Sitten eine Zeitlang auch dort,
denn sie waren mit ihren Wurzeln verbunden. So lange werden sie
der zweiten Kategorie zugeteilt. Es ist allerdings eine Tatsache, dass
sie ihre Sitten vom Land eher „ablegten“ und sich zumeist schneller
assimilierten. Erst dann wurden sie Städter. Und schließlich die
Schicht der Stadtbewohner selber, die entweder in den Großstädten
geboren waren, oder ihre Traditionen vom Dorf und Land bereits
aufgegeben hatten. Diese drei Schichten besuchten Wallfahrtsorte in
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 9

Ungarn. Wallfahrten sind stark mit den Traditionen verknüpft, und


von diesem Gesichtspunkt aus gibt es hier keinen Unterschied zwi‐
schen den religiösen Dorf‐ und Landbewohnern und der Stadtbe‐
völkerung. Übt ein Städter seine Religion aktiv aus, ist es gleichgül‐
tig, ob er Arbeiter oder Intellektueller ist oder ob er dem früheren
mittleren und Großbürgertum angehörte, es besteht kein Unter‐
schied zwischen religiösen Menschen, die im Dorf oder im Einzelge‐
höft, eventuell in einer Provinz‐ oder einer Komitatsstadt leben. Von
Fall zu Fall suchten sie alle den Gnadenort auf, der emotional be‐
sonders stark berührte. Gleichzeitig findet man unter den Wallfahr‐
ten in Ungarn keine, wie es beispielsweise in Polen oft vorkommt,
an denen Mitglieder einzelner Gesellschaftsschichten oder Berufs‐
zweige einheitlich an Kirchweihfesten teilnahmen (z.B. an Pilger‐
fahrten der Bergarbeiter oder der Intellektuellen). Ein etwas ähnli‐
ches Beispiel in Ungarn findet man lediglich auf ethnischer Grundla‐
ge. Die Roma erschienen an den einzelnen Wallfahrtsorten einheit‐
lich, mehr noch: In den 1970er‐ und 1980er‐Jahren sahen wir auch
Beispiele dafür, dass für die Roma gesondert sogenannte „Zigeuner‐
Kirchweihfeste” organisiert wurden.9
Fast in jedem Komitat gab es ein bis zwei oder mehrere namhaf‐
te Wallfahrtsorte, wo von Beginn der Rákosi‐Ära an, ja sogar schon
ab 1945, die dort ablaufenden Ereignisse observiert und der Inhalt
der Predigten und die Anzahl der Teilnehmer an der Wallfahrt nach
Alter und Geschlecht gemeldet wurden. Gemeldet wurde auch die
Einstellung der Gläubigen zur Veranstaltung.10
Es ist äußerst interessant, wie intensiv die Beteiligung an religiö‐
sen Veranstaltungen, z.B. an einem Kirchweihfest bzw. einer Wall‐
fahrt, nach 1945, aber auch noch in den 1950er‐Jahren, zur Zeit der
härtesten Diktatur war. Die Mitarbeiter des Staatlichen Kirchenam‐

9 Z.B. in Csatka, Komitat Komárom: MNL OL XIX–A–21–a. B–26–1/1982, oder in


Máriagyűd und auch in Máriapócs 1984. In einem damals verfassten Bericht
konnte man lesen: „Die Zigeunerbevölkerung legte ein den Veranstaltungen
würdiges Verhalten an den Tag“ (MNL OL XIX–A–21–a. 26–4/1984).
10 Vgl. dazu einen Bericht über die Wallfahrt in Máriapócs an Mariä Geburt (9.
September 1956), veröffentlicht in Szántó, Konrád: Az egyházügyi hivatal titkai
[Geheimnisse des Kirchenamtes]. Budapest 1990, S. 79–90.
10 CSABA SZABÓ

tes unternahmen in Zusammenarbeit mit den Räten, den Organen


der Räte, der Polizei und sonstigen Behörden alles, um die Zahl der
Besucher bei den Zeremonien zu senken. Sie betrachteten die Er‐
eignisse als politische Demonstrationen, die nach ihrer Interpretati‐
on von der „klerikalen Reaktion“ für die Steigerung des eigenen
Masseneinflusses ausgenutzt wurden. Für schädlich hielten sie die
Kirchweihfeste auch aus volkswirtschaftlicher Sicht. Mit Berech‐
nungen wurde nachgewiesen, welchen Ausfall im Bergbau die Teil‐
nahme der Bergarbeiter an kirchlichen Feiertagen bedeutete. Im
Laufe des Jahres 1951 (bis zum 24. Oktober) nahmen zum Beispiel
958 Kumpel der Kohlegruben von Diósgyőr an irgendeinem Kirch‐
weihfest teil, weswegen ein Produktionsausfall von 412 Tonnen zu
verzeichnen war; von den Kohlegruben Szuhavölgy besuchten 2.165
Personen religiöse Veranstaltungen, wodurch 720 Tonnen weniger
Kohle abgebaut werden konnten; wegen 619 Arbeitern der Kohlen‐
gruben Ajka erhielt die Volkswirtschaft 1.265 Tonnen weniger Koh‐
le.11 Es ist kein Zufall, dass im Schnellverfahren ein Vorschlag zur
Reduzierung der Besucherzahl der Wallfahrtsorte ausgearbeitet
wurde. Charakteristisch für die 1950er‐Jahre ist die Mentalität des
„Autors“ des Vorschlags: „Neben der politischen Demonstration
verursacht es auch unmittelbar einen beträchtlichen wirtschaftli‐
chen Schaden, dass eine Wallfahrt zwei bis drei Tage dauert,
dadurch werden zur Zeit der dringendsten Arbeiten in der Land‐
wirtschaft bedeutende Menschenmassen von der Produktion abge‐
zogen, die dann nach der Wallfahrt vor lauter Müdigkeit keine voll‐
wertige Arbeit leisten können.“12 Aus der Anzahl der Wallfahrtsbe‐
sucher kann man mehrere Schlussfolgerungen ziehen. Zum Beispiel
den wirtschaftlichen Schaden, den die Bergleute, die Sieger der
„Kohleschlacht” 1946, dadurch verursachten, dass sie ihren Glauben
ausübten. Es ist allerdings eine Tatsache, dass die religiösen Veran‐
staltungen massenweise besucht wurden. Am 10. September 1951
wurden aus Máriapócs 50.000 Menschen, am 15. August aus Mári‐

11 MNL OL XIX–A–21–a. 321/1951.


12 MNL OL XIX–A–21–a. 402/1951.
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 11

abesnyő 20.000 Gläubige gemeldet.13 Die Hälfte der Teilnehmer


waren Jugendliche, die der „Klerus“ mit einem Getümmel an
„Schießbuden, Schaukelschiffen und Karussells, Garküchen und
verschiedenen Verkaufsständen“ am Wallfahrtsort erfolgreich mo‐
bilisierte. Interessanterweise erhielten hier die mit den Wallfahrten
verbundenen „Unterhaltungsmöglichkeiten“ noch eine negative
Einschätzung aus der Sicht des Staates. Die Organe des Staates und
der Räte unternahmen alles, um die Zahl attraktiver Möglichkeiten
zu verringern oder zumindest eine Alternative in der Umgebung zu
bieten. Man war bemüht, neben einer zähen Aufklärungsarbeit und
der Steigerung der Agitation auch andere Möglichkeiten zu nutzen.
Es wurden billige Vorstellungen neuer Filme und Theaterstücke,
Jahrmärkte, Sportveranstaltungen und Dorffeste an Orten organi‐
siert, von wo aus die meisten Gäste die Wallfahrtsorte aufzusuchen
pflegten.14 Später wurde angenommen, dass die parallel zu den
Kirchweihfesten bzw. Wallfahrten abgehaltenen Basare einen Teil
der Jugendlichen von der Zeremonie ablenken sollten.
Die Berichte der „scharfsichtigen Beobachter“ des Staatlichen
Kirchenamtes werden durch Interviews mit Priestern und Wall‐
fahrtsbesuchern sowie durch die interessanten Erinnerungen des
Franziskaners Kamill Kovács untermauert.15 Ende der Vierzigerjah‐
re sowie in den Fünfzigerjahren war es allgemeine Praxis, dass die
Priester die Wallfahrten in außerordentlich feierlichem Rahmen, als
eine „Demonstration“ organisierten. Es wurden immer viele Minist‐
ranten eingesetzt, die Zahl der teilnehmenden Priester war hoch,
und oft traten auch Chöre auf. All das wurde bereits in den Fünfzi‐
gern allmählich abgebaut. Die Maßnahmen des Kirchenamtes und
der anderen staatlichen Organe waren erfolgreich. Über die Wall‐
fahrt zum Tag Mariä Geburt im Jahre 1956 in Máriapócs (8. Septem‐

13 MNL OL XIX–A–21–a. 321/1951 und 402/1951.


14 Ebenda.
15 Die Fragebögen beinhalten Informationen aus den 50‐, 60‐ und 70er‐Jahren, in
erster Linie im Zusammenhang mit den Wallfahrten in Westungarn. Vgl. auch
Kamill testvér kalandozásai a XX. században. Fr. Kovács Kamill ferences testvér
önéletrajza [Streifzüge des Bruders Kamill im 20. Jahrhundert. Biografie des
Franziskanerbruders Kamill Kovács]. Budapest1989.
12 CSABA SZABÓ

ber) wurde zufrieden gemeldet, dass die Zahl der Gläubigen, die an
der Wallfahrt teilnahmen, sich im Vergleich zu den früheren Jahren
erheblich reduzierte: statt „80.000 bis 100.000“ waren diesmal etwa
30.000 bis 35.000 Menschen erschienen. Aus dem Bericht geht her‐
vor, dass die staatlichen Organe bereits Monate zuvor mit den Vor‐
bereitungen begonnen hatten, um die Menschenmassen von der
religiösen Veranstaltung erfolgreich fernzuhalten. Alles stimmte mit
dem Vorschlag aus dem Jahre 1951 überein: Es gab Kino, Theater,
einen „Jahrmarkt der Heiterkeit von Nyírbátor“ bzw. einen „Tag von
Nyírbátor“, Jugendtreffen, ein Radrennen usw.16 Bruder Kamill no‐
tiert in seiner Autobiografie zur berühmten Wallfahrt der Jazygen
(Jászok) von Porcinkula: „es kamen immer weniger Menschen zur
Wallfahrt, besonders in der Rákosi‐Ära sank die Teilnahme am gro‐
ßen Treffen der Jazygen – wegen der ‚Maul‐ und Klauenseuche‘, und
natürlich wegen Verspottung und Einschüchterung.“17

***
Die Bereitschaft, an Wallfahrten und Kirchweihfesten teilzunehmen,
sowie die dagegen getroffenen staatlichen Maßnahmen zeigten auch
nach der Revolution von 1956 keine große Veränderung. In
Szekszárd beispielsweise wurde im Zusammenhang mit der Wall‐
fahrt zu Mariä Geburt 1958 aufgezeichnet, dass trotz der großen
Vorbereitungen nur wenige (3.000 bis 4.000 Menschen) teilnahmen,
die insgesamt nur 2.700 Ft zur Kollekte gaben. Der Dechant erklärte
das Fernbleiben und die bescheidenen Spenden der Gläubigen da‐
mit, dass „die Werktätigen zum Jahrmarktfest im August gereist
waren und ihr Geld dort ausgegeben hatten … jetzt zeigt sich ein
guter Weinertrag für die Szekszárder, so dass es jetzt keinen Grund
zu beten gibt.“ Im darauffolgenden Jahr nahmen im Übrigen bereits
8.000 bis 9.000 Menschen an der Wallfahrt in Szekszárd‐

16 Szántó, op. cit, S. 79–83.


17 Kamill testvér, S. 112.
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 13

Remetekápolna teil. Das Geld in den Almosenbüchsen (26.000 Ft)


machte annähernd das Zehnfache der Summe vom Vorjahr aus.18
Die Zahl der Teilnehmer schwankte zwar, man kann dennoch
nicht behaupten, dass sich die Tendenz stabilisiert hätte und die
Wallfahrten bedeutungslos geworden wären. Schwankungen, Stag‐
nationen, Rückgänge und Anstiege charakterisieren die Angaben
gleicherweise. Die Referenten des Kirchenamtes waren zwar be‐
müht, in ihren Berichten zu bestätigen, dass die Beteiligung an reli‐
giösen Veranstaltungen stets zurückging, das entsprach jedoch nicht
der Wirklichkeit. „Der Masseneinfluss der römisch‐katholischen
Kirche verringerte sich in den vergangenen zehn Jahren tendenziell
[sic!]. Neben der rückläufigen Tendenz war bei manchen Ereignis‐
sen des Glaubenslebens – durch die gleichzeitige Wirkung unter‐
schiedlicher Faktoren – zeitweise ein Anstieg oder auch eine sich
längere Zeit hinziehende Stagnation zu erfahren.“19 Die Verände‐
rung der Zahlen konnte durch mehrere Faktoren beeinflusst wer‐
den: durch eine erfolgreichere oder erfolglosere Ablenkungsarbeit
des Kirchenamtes und der verschiedenen Organe, zu deren Bereich
auch der Umstand gehörte, dass die in den Wallfahrtsorten tätigen
Pfarrer zu 90 Prozent aus sog. „positiv denkenden Pfarrern“ bestan‐
den. Ebenso negativ wirkte sich die Tatsache aus, dass die Behörden
keine ausreichende Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Wall‐
fahrtsorte und deren Umgebung verwendeten. Deren Substanz und
hygienischer Zustand verschlechterten sich ständig. Zugleich konn‐
ten die Person und die Persönlichkeit der Pfarrer, die die Prozession
zum Wallfahrtsort leiteten, sowie die mehr oder weniger erfolgrei‐
che Vorbereitung eine positive Wirkung ausüben. Sie konnte durch
die vom Vatikan verkündeten „Heiligen Jahre“ weiter gesteigert
werden, insbesondere nach dem II. Vatikanischen Konzil, als sich die
Tätigkeit der Priester sowie das Interesse der Gläubigen intensivier‐
ten. Mehr noch: Auch die Witterung als bestimmender Faktor beein‐
flusste die Teilnahme an den Kirchweihfesten bzw. Wallfahrten, da

18 MNL OL XIX–A–21–d. 0025–3/1963.


19 MNL OL XIX–A–21–d. 0025–1/1967.
14 CSABA SZABÓ

die Wallfahrer und Pilger manchmal unter freiem Himmel oder


höchstens in einer Kirche übernachteten.20 Eine nicht untersuchte,
aber sicher wichtige Rolle spielten bei der Schwankung der Zahl der
Teilnehmer die „Konsolidierung“ des Kádár‐Regimes, die „erfolgrei‐
che“ Agrarpolitik der USAP und die Organisation der landwirtschaft‐
lichen Produktionsgenossenschaften (LPG). In deren Folge gelang
es, einen Teil der Dorfbewohner in die Genossenschaften zu zwin‐
gen, während der andere Teil sein früheres Leben aufgab und in die
Stadt zog. All das ging mit einem beträchtlichen Wandel der Le‐
bensweise einher.

Tabelle 1: Besucherzahl bei Wallfahrten nach Komitaten zwischen 1962
und 1966.21
Komitate 1962 1963 1964 1965 1966
Szabolcs
51.500 50.200 49.000 — 35.000
(Máriapócs)
Nógrád 38.000 34.000 34.000 — —
Pest (Máriabesnyő) 28.000 17.000 21.000 22.000 40.000
Baranya (Mária‐
24.000 24.000 25.000 30.000 —
gyűd)
Tolna 25.000 25.000 22.000 20.000 22.000
Komárom 16.500 15.000 17.000 16.000 —
Bács‐Kiskun 25.300 24.150 22.000 — —
Hajdú‐Bihar 7.900 6.700 5.700 — 5.500
Borsod — — 45.000 57.000 38.000
Győr‐Sopron‐Moson 19.000 20.000 — — —
Somogy — — — 11.500 12.000
Csongrád — — — — 24.500
Heves — — — — 21.000
Veszprém — — — — 5.000
Zala — — — — 13.000
Insgesamt 235.200 216.050 240.700 156.500 216.000

20 Fälle dieser Art waren auch Anfang der 70er‐Jahre keine Seltenheit: MNL OL
XIX–A–21–a. B–26–6–d/1970.
21 Die Tabelle wurde aufgrund der in der Datenbank des Staatlichen Kirchenam‐
tes auffindbaren Nachweise erstellt. Aus anderen Komitaten veröffentlichte das
Kirchenamt keine Angaben. MNL OL XIX–A–21–c. 111/6.
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 15


Ab Mitte der Sechzigerjahre kann man in den Berichten des Staatli‐
chen Kirchenamtes immer öfter von einem Rückgang der Teilneh‐
merzahl bei Wallfahrten und von einer Abschwächung der religiö‐
sen Einstellung lesen. Diese Veränderung spiegelt sich allerdings
weder in der Besucherzahl der Wallfahrten, noch in der aktiven
Beteiligung der Gläubigen an den Zeremonien wider. Die Verände‐
rung hängt am ehesten mit dem Wandel der religiösen Gewohnhei‐
ten und einer Veränderung der Lebensweise zusammen. Von der
zweiten Hälfte der Sechzigerjahre an erlebten die Menschen als
Ergebnis der Kádárschen Reformen einen gewissen Wohlstand (z.B.
wurden die Pkws erschwinglich), und so veränderten sich allmäh‐
lich auch ihre Gewohnheiten.

Tabelle 2.: Statistik der Besucherzahlen bei den Wallfahrten in den


Siebzigern22

Komitate 1969 1974 1975 1977


Baranya 34.000 34.000 10.000 15.000
Bács‐Kiskun 24.000 34.000 42.000 33.500
Békés 6.000 8.000 5.000 —
Borsod 37.000 36.000 30.000 28.000
Csongrád 22.000 32.000 28.000 19.900
Fejér 7.500 14.000 5.000 4.000
Hajdú‐Bihar 5.000 14.000 5.000 —
Győr‐Sopron‐Moson 27.000 44.000 30.000 12.300
Heves 19.000 32.000 24.000 12.000
Komárom 16.000 35.000 20.000 19.000
Nógrád 33.000 35.000 70.000 60.000
Pest 68.000 73.000 30.000 25.000
Somogy 13.000 18.000 11.000 12.000
Szabolcs 34.000 60.000 65.000 100.000
Szolnok 11.000 10.000 5.000 4.000
Tolna 11.000 15.000 8.000 9.000
Vas 12.000 14.000 7.000 6.000

22 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–2/1978.


16 CSABA SZABÓ

Veszprém 8.000 16.000 12.000 5.400


Zala 6.000 11.000 6.000 5.000
Budapest 5.000 15.000 10.000 8.000
Insgesamt 399.500 550.000 413.000 378.100

Von Anfang der Siebzigerjahre an kann man in den Berichten lesen,
dass immer mehr Menschen die Gnadenorte lediglich als Touristen
zu einem Sonntagsausflug aufsuchten – insbesondere bei angeneh‐
mem Wetter. Der Berichterstatter schreibt die Veränderung selbst‐
verständlich der effektiven Aufklärungs‐ und Erziehungsarbeit zu,
dank der sich die Menschen viel mehr für die schönen Landschaften
der Heimat und fremder Länder, für Badeorte usw. interessieren
würden als für Wallfahrten. Laut Bericht nahmen die Roma 1970 in
Szekszárd immer noch zahlreich an der Wallfahrt in Remetekápolna
teil, aber auch sie habe vorwiegend Essen und Trinken interessiert.
„Nach Meinung der Priester ist es schon gut, wenn fünf Prozent von
ihnen das Vaterunser kennen.“23 Im Zusammenhang mit der Wall‐
fahrt in Eger wurde 1970 gemeldet, dass die Jugendlichen ihre Zeit
nur noch zwischen den Zelten der Händler verbracht hätten, und
genau das Gleiche hätten auch die zur Wallfahrt gekommenen
Staatsbürger aus der Tschechoslowakei getan. Auch sie hätten mehr
Interesse für die historischen und sonstigen Sehenswürdigkeiten
von Eger (z.B. die Weinverkostung im berühmten Tal der „Schönen
Frauen“ – Szépasszony‐völgy) gehabt als für die Wallfahrt.24
Es scheint einen massiven Widerspruch in den Berichten des
Staatlichen Kirchenamtes zu geben. In einzelnen Dokumenten geht
es um Rückgänge und eine massenhafte Abwendung von der Religi‐
on, die jedoch nicht einmal durch die Zahlenangaben des Kirchen‐
amtes zu belegen sind. In anderen Dokumenten hingegen heben die
Mitarbeiter des Kirchenamtes hervor, dass die liturgische Erneue‐
rung nach dem II. Vatikanischen Konzil den Anstieg der Besucher‐
zahl der Wallfahrtsorte förderte. 1969 wandte sich der Papst mit
einem Aufruf an die katholischen Bischöfe, die Pilgerstätten in ihren

23 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–6–b/1970.


24 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–6–i/1970.
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 17

Diözesen neu zu beleben und es den Pfarrern zur Pflicht zu machen,


ihre Gläubigen zu den Wallfahrtsorten zu führen. Die in Ungarn
verkündeten Heiligen Jahre (1970: außerordentliches Heiliges Jahr,
1971: Heiliges Jubiläumsjahr von St. Stephan, 1974: Heiliges Jahr)
dienten der weiteren Stärkung der Wallfahrten.25 Bis Mitte der
Sechzigerjahre zählten die Gnadenorte in Ungarn im Durchschnitt
200.000 Besucher. Am Ende des Jahrzehnts verdoppelte sich diese
Zahl fast (auf 399.500) und überstieg – dank der Anfang der Siebzi‐
gerjahre verkündeten Heiligen Jahre – eine halbe Million (550.000).
Auch Mitte des Jahrzehnts fiel die Zahl der Pilger nicht unter
400.000. Das Staatliche Kirchenamt verbuchte es als Erfolg, dass das
Interesse für Wallfahrten bis 1977 im Vergleich zum Heiligen Jahr
1974 bedeutend, nämlich um 170.000 zurückging, und zwar trotz
der Tatsache, dass der Klerus die Aktivität mit allen Mitteln gern
aufrechterhalten hätte. Insgesamt kann man feststellen, dass in den
Siebzigerjahren in Ungarn zwei Mal so viele Menschen an Wallfahr‐
ten teilnahmen als in den Sechzigern. Aus den Achtzigerjahren ste‐
hen uns leider nicht so viele Daten bezüglich der Besucher von Gna‐
denorten zur Verfügung wie aus den früheren Jahrzehnten. Die letz‐
te größere, sich auf alle Komitate erstreckende Erhebung bezüglich
der Besuche von Gnadenorten ist im Archiv des Staatlichen Kir‐
chenamtes aus dem Jahre 1983 erhalten geblieben. Aufgrund der
dort deponierten ausführlichen Meldungen kann jedoch eine drasti‐
sche Verringerung der Besucherzahl der Wallfahrtsorte nicht nach‐
gewiesen werden.26
Wichtiger als Zahlenangaben sind die Ursachen, mit denen die
Referenten des Kirchenamtes zunächst die Belebung der religiösen

25 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–2/1978.


26 Das sind nur einige Beispiele für den Zeitraum zwischen 1978 und 1983. Die
populären Wallfahrten nach Máriapócs zählten im Jahresdurchschnitt 100.000
Teilnehmer. In Mátraverebély‐Szentkút sind etwa 80.000 Gläubige im Jahr zu
Wallfahrten erschienen. An sechs Wallfahrtsorten im Komitat Pest (Mári‐
abesnyő, Vác‐Hétkápolna, Vác St. Anna‐Kapelle, Márianosztra, Makkos Mária,
Csobánka) nahmen durchschnittlich 35.000 Menschen an den Zeremonien teil.
Die Besucherzahl des Wallfahrtsortes Csatka im Komitat Komárom schwankte
zwischen 43.000 und 15.000, der Jahresdurchschnitt überstieg jedoch 30.000:
MNL OL XIX–A–21–a. B–26–3–a‐u/1983.
18 CSABA SZABÓ

Einstellung, nach 1975 hingegen deren Rückgang erklärten. Die


Heiligen Jahre wurden schon erwähnt, in diesem Zusammenhang
wurde allerdings auch hervorgehoben, dass die Zahl der Wallfahrts‐
orte bis 1974 beträchtlich anstieg, von den gewohnten 50 auf 81,
1977 hingegen die Aktivität an 34 Orten eingestellt wurde. Über die
bekannten und beliebten Wallfahrtsorte hinaus wurden 1974 in 30–
35 namhafteren Kirchen Pilgerfahrten und heilige Messen mit
päpstlichem Segen abgehalten. Ferner wird hervorgehoben, dass
sich die außerordentlich organisierten, feierlichen, vom Kardinal
und sonstigen geistlichen Würdenträgern zelebrierten heiligen
Messen im Laufe der Heiligen Jahre dort verbreiteten, wo niemals
politische Manifestationen vorkamen, aber der Vertiefung des Glau‐
bens umso größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Interessant
ist die Argumentation, wonach „das tiefe Bedürfnis der Teilnehmer
nach einem Glaubensleben in der Praxis der herkömmlichen Tradi‐
tionen bis zu einem gewissen Maße mit den Bestrebungen des Glau‐
benslebens zur Evangelisation zusammenfällt, die in den Basisge‐
meinschaften wieder aufleben. Die Priester drängen nicht zufällig
auf die Wallfahrten zu den Gnadenorten.“27
Die Verteilung der Teilnehmer an Wallfahrten und Kirchweihfes‐
ten nach Alter, Geschlecht und gesellschaftlicher Lage zeigt ein ge‐
mischtes Bild. In den Fünfzigerjahren besuchten die jüngere und die
ältere Generation sogar die heiligen Messen gemeinsam. Vom Be‐
ginn der Sechziger an kann man Berichte lesen, nach denen die Ju‐
gendlichen (zwischen 18 und 30 Jahren), insbesondere die Männer,
an den Zeremonien kaum noch teilnahmen. Sie begleiteten zwar
ihre Familienangehörigen zu den Wallfahrtsorten, die Messen be‐
suchten sie aber nur noch selten. So konnten die zufriedenen Be‐
richterstatter in den Kirchen zumeist betagte Menschen, ältere
Frauen mit Kopftüchern, eventuell deren Enkelkinder im Kindergar‐
ten‐ oder im unteren Schulalter sehen. Die Heranwachsenden und
Jugendlichen wurden unterdessen von einer Kavalkade von Angebo‐

27 MNL OL XIX–A–21–a. B
27 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–8/1963.–26–2/1978.
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 19

ten kleiner Unternehmer angezogen, wie Wurststände, Garküchen,


Bier‐ und Weinzelte, die unterschiedlichsten Spielwarenverkäufer
und das Karussell. Während der Zeremonien „feierten“ die Jugendli‐
chen zwischen den Zelten und in den Vergnügungslokalen.28 Es gab
zwar kein generelles Fernbleiben der Vertreter jüngerer Generatio‐
nen von den Kirchenzeremonien, das war z.B. auch in Máriaremete
nicht der Fall, wo auch die Jugendlichen an den Gottesdiensten teil‐
nahmen. Am 24. Mai 1964 wurden zur Wallfahrt 15.000 Teilnehmer
registriert, zu 60 Prozent Frauen, zu 40 Prozent Männer, vom Klein‐
kind bis zum Greis, in der Mehrheit aus der Hauptstadt. Nach dem
nicht gerade wohlwollenden Bericht:

[…] kann die Mehrheit der Teilnehmer als fanatisch, bigott und un‐
gebildet bezeichnet werden (die Kirche brauchte natürlich schon
immer Menschen dieser Art). Auch ihr Gesang war schleppend und
erweckte das Gefühl der Verzückung. Neben mir stand eine junge
Frau, aus deren verklärten Augen ständig Tränen flossen.29

An einer anderen bedeutenden Wallfahrt des Jahres in Máriaremete,


zu Mariä Himmelfahrt am 16. August, nahmen 5.000 Gläubige teil,
zu 70 Prozent waren es Frauen über 40 Jahren. Die restlichen 30
Prozent vertraten jede Altersklasse und beiderlei Geschlechter, zu je
50 Prozent aus der Hauptstadt und vom Land. Zu der Festlichkeit
der Zeremonie trugen die 14 Ministranten und die starke priesterli‐
che Assistenz am Altar bei.30
In Máriapócs fand die erste traditionelle Wallfahrt am 15. und
16. August 1964 statt. Nach den Verzeichnissen machten Jugendli‐
che die Hälfte der 25.000 Teilnehmer aus (nach Schätzungen waren
sie zu 25 Prozent schulpflichtig). Der Berichterstatter zählte 55
Priester während der Zeremonie. Etwa 3.000 Wallfahrer kamen aus
der Umgebung von Kaschau (Kassa/Kosice), sie sangen die Kirchen‐
lieder in slowakischer Sprache.31 Über sie schickte das Staatliche

28 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–8/1963.


29 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–5–a/1964.
30 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–5–a–2/1964.
31 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–5–b/1964.
20 CSABA SZABÓ

Kirchenamt eine Botschaft an die tschechoslowakische Partneror‐


ganisation, die eine Woche später eine Delegation nach Máriapócs
entsandte, um den Fall zu untersuchen. Die Beauftragten des tsche‐
choslowakischen Kirchenwesens wunderten sich, dass es in Ungarn
eine griechisch‐katholische Eparchie gab, die bei ihnen schon längst
aufgelöst worden war. Nach ihrer Aussage gab es bei ihnen zu jener
Zeit nur noch einen einzigen Wallfahrtsort, nämlich Leutschau
(Lőcse/Levoca). Priester durften allerdings an einer Wallfahrt bzw.
einem Kirchweihfest lediglich mit einer besonderen staatlichen
Genehmigung teilnehmen.32 Zu der ersten Wallfahrt Mitte August
1970 in Máriapócs erschienen 18.000 bis 20.000 Besucher, zu der
zweiten Anfang September bereits 20.000 bis 22.000. Mehrere Tau‐
send Menschen kamen auch aus der Tschechoslowakei. Etwa 70
Priester halfen als Ordnungskräfte und bei den Zeremonien mit.33
Aus den ausführlichen Berichten, die im Archiv des Staatlichen
Kirchenamtes erhalten geblieben sind, geht ebenfalls hervor, wie
die Kirchweihfeste und Wallfahrten abliefen. Im 20. Jahrhundert
fehlen leider die im Mittelalter beliebten Itinerare, die Beschreibun‐
gen der Wallfahrten, stattdessen stehen jedoch z.B. die Meldungen
des Staatlichen Kirchenamtes zur Verfügung. Wallfahrten und
Kirchweihfeste haben ihre Ordnung, die im Laufe des Mittelalters
entstand und sich bis zur modernen Zeit bedeutend umgestaltete,
die wesentlichen Elemente blieben jedoch unverändert.
Ein pensionierter Lehrer besuchte 1953 aus Treue zur Partei
freiwillig die Budapester Kirchen und berichtete über seine Erfah‐
rungen in ausführlichen Meldungen, darunter auch über die Wall‐
fahrt in Máriabesnyő zu Mariä Himmelfahrt.34 Die Wallfahrer mach‐
ten sich mit der Bahn oder Vorortbahn aus der Hauptstadt auf den
Weg, aber auch aus den Ortschaften an der Linie von Hatvan und
Szolnok fuhren viele mit der Bahn. Die Züge hatten oft Verspätung,
und als sie ankamen, gab es großes Getümmel. Mit gewisser Scha‐
denfreude merkte der Berichterstatter an, dass die Wallfahrer beim

32 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–5–c/1964.


33 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–6–f/1970.
34 Szabó, Egyházügyi, S. 256–260.
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 21

Einsteigen einander beschimpften und stießen, mit größter Mühe


allerdings alle mitkamen. Einige waren unterwegs wegen des Ge‐
dränges in Streitigkeiten verwickelt, andere wiederum ermahnten
sie, sich stiller zu verhalten, weil sie zu einem Wallfahrtsort fuhren.
Von Gödöllő aus pilgerte die Menschenmenge zu Fuß weiter. An
manchen Stellen leiteten Polizisten die Pilger um, da gerade ein
Radrennen stattfand. Ein junger Mann unterstützte die Menschen‐
menge in seiner Eigenschaft als „Hauptorganisator“ bereits am
Bahnhof und auch während der Wallfahrt; er empfing die Ankom‐
menden und leitete später den Festzug und auch das Singen. Früher
war es Sitte, dass die Wallfahrer eines Dorfes auch im Zug oder in
der Vorortbahn von dem örtlichen Priester, zumeist vom Pfarrer,
begleitet wurden, bei den Gläubigen aus der Hauptstadt und aus
Gödöllő hingegen zeigte sich überhaupt kein Pfarrer.
An der Spitze einer jeden Gruppe (einer größeren Menschen‐
menge aus einem Dorf konnten sich unterwegs auch kleinere Grup‐
pen aus anderen Ortschaften anschließen; eine gemeinsam pilgern‐
de Gruppe nannten die Teilnehmer Prozession) schritten weiß ge‐
kleidete Mädchen und führten einen besonderen Kirchenschatz auf
Stangen auf der Schulter mit: eine bemalte, größere Marienstatue.
Nach ihnen zogen die älteren Mädchen auf, die eine noch verziertere
und noch größere Statue trugen. Die jungen Mädchen waren – egal
aus welchem Dorf sie kamen – mit den gleichen weißen Kleidern
angezogen und trugen einen dem Jungfernkranz oder einer Krone
ähnelnden weißen Kopfschmuck mit langem Schleier. Die Mädchen‐
gruppe hatte sichtbar überall einen Leiter oder einen „Kommandan‐
ten“. Die gesamte „Prozession“ zeugte von Organisiertheit und guter
Vorbereitung.
Die Menschenmenge überflutete die große hügelige Fläche vor
der Kirche von Besnyő. Es bestätigte sich, was viele schon unter‐
wegs festgestellt hatten, dass in diesem Jahr weit mehr Menschen
zur Wallfahrt gekommen waren als ein Jahr zuvor.35 Die Predigt

35 In der Meldung ging es um die Wallfahrt am 16. August 1953 zu Mariä Himmel‐
fahrt. Nach Stalins Tod kam es auch in Ungarn zu einem Kurswechsel: Nach Ab‐
stimmungsgesprächen in Moskau wurde Imre Nagy zum Ministerpräsidenten
22 CSABA SZABÓ

fand wie immer im Freien statt. Ein Pfarrer um die 40 hielt die Pre‐
digt ohne Lautsprecher, so dass er bis zum Schluss schreien musste.
Er schaffte es mit seiner Stimme. Er sprach über die wundersamen
Hilfen der heiligen Jungfrau sowie darüber, was ihr die Wallfahrer
als Ausdruck ihrer Dankbarkeit schenken sollten. Sie sollten ihre
Liebe anbieten, um deren Stärkung sie bemüht sein sollten, und sie
sollten die vollkommenste moralische Reinheit anstreben.

Schließlich betonte er, dass das der Jungfrau Maria gegebene Gelöb‐
nis auch die religiöse Erziehung der Kinder umfassen sollte.
Eine Absicht der Verschärfung, des Polemisierens oder Politisierens
einer spürbaren Oppositionshaltung kam in der Formulierung der
Rede nicht zum Ausdruck. Es war eine Predigt im üblichen Ton, die
auch in ihrem Inhalt wie üblich war. Den Namen des Pfarrers konnte
man nicht nennen.

Nach der Predigt begann die Prozession, die sehr prachtvoll war.
Mehrere Pfarrer waren daran beteiligt, das Altarsakrament trug
Weihbischof Vince Kovács, der gerade erst zum Bischöflichen Gene‐
ralvikar von Vác ernannt worden war (6. April 1953).
Der Bericht geht auch darauf ein, ob Parteimitglieder an der
Wallfahrt teilnahmen. Dem scharfsichtigen Berichterstatter fiel auf,
dass Eisenbahnarbeiter mit ihren Familienangehörigen zum halben
Preis fuhren. Mehr noch: Er sah „etwa zehn Parteiabzeichen auf
Männersakkos“.

***
Die Wallfahrt begann also mit der Reise. Man muss in Betracht zie‐
hen, dass im Mittelalter schlechte Straßenverhältnisse und Räuber
das größte Hindernis für die Pilger bedeuteten, während in der Mo‐
derne die Staats‐ und Ratsorgane bemüht waren, den Weg der unga‐
rischen katholischen Gläubigen durch verschiedene Veranstaltun‐
gen, Umleitungen und Verspätungen staatlicher Fahrzeuge zu er‐

ernannt (4. Juli 1953). Obwohl in der Kirchenpolitik lediglich oberflächliche


Veränderungen eintraten, wirkten sich Imre Nagys Maßnahmen zur Entstalini‐
sierung, zumindest auf der Ebene der Erwartungen, auf die Gesellschaft aus.
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 23

schweren. In den Vierziger‐ und Fünfzigerjahren war die Pilgerfahrt


zu Fuß üblich, eventuell näherten sich die Gläubigen den Gnadenor‐
ten auf Pferdewagen oder auf Ochsenfuhrwerken. All das setzte
natürlich kleine Entfernungen voraus. Nur aus nahe gelegenen Städ‐
ten und Dörfern konnte man sich zu Fuß oder auf Ochsenfuhrwer‐
ken auf den Weg machen, um am Vorabend des Kirchenfestes am
Gnadenort anzukommen. Von den Fünfzigerjahren an nahmen die
Wallfahrer immer mehr die staatlichen Verkehrsmittel, Eisenbahn
und Fernbusse in Anspruch, der Pkw zählte damals noch zu den
wirklich selten benutzten Kraftfahrzeugen.36 Von der Mitte der
Sechzigerjahre an benutzten die Pilger bereits alle möglichen Ver‐
kehrsmittel, um den Gnadenort zu erreichen. Am 13. September
1970, bei der traditionellen Wallfahrt zu Mariä Namen wurde zum
Beispiel am Gnadenort Búcsúszentlászló im Komitat Zala registriert,
dass die Gläubigen, etwa 5.000 bis 6.000 Menschen, mit 27 Sonder‐
bussen aus dem Raum Szombathely und Pécs, mit der Bahn, einem
LPG‐Lkw und 84 privaten Pkw eintrafen.37 Im selben Jahr ging es in
der Meldung aus dem Komitat Vas darum, dass die in Vasvár oder
Celldömölk per Bahn eingetroffenen Wallfahrtsgruppen gemeinsam
fuhren, beteten und sangen. Einige gingen vom Bahnhof in die Pfar‐
rei, um die Gruppe anzumelden, und brachten von dort Kreuze und
Fahnen mit, „dann marschiert die Gruppe zusammen vom Bahnhof
bis zur Kirche auf der rechten Seite der Straße“. Die Pfarreien hatten
die Gruppen bei der Polizei vorher angemeldet, und die Polizisten
wachten darüber, dass im Straßenverkehr keine Staus und Stockun‐
gen entstanden.38 Im Bericht über die Wallfahrt in Szekszárd‐
Remetekápolna ist zu lesen, dass die Wallfahrer individuell mit Bus,
Bahn oder eigenem Pkw eintrafen. Der früher übliche prozessions‐
artige Aufzug kam völlig aus der Mode.39 Im Zusammenhang mit der

36 In mehreren Meldungen wurde sogar angeführt, wie viele private Pkws in der
Umgebung der Gnadenkirche gezählt wurden. Es gab auch einen Fall, wo der
Berichterstatter sogar die polizeilichen Kennzeichen notierte. MNL OL XIX–A–
21–a. B–26–10/1962; MNL OL XIX–A–21–a. B–26–8/1963.
37 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–6–a/1970.
38 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–6–d/1970.
39 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–6–b/1970.
24 CSABA SZABÓ

Wallfahrt in Bodajk hingegen wurde zur selben Zeit notiert, dass die
etwa 4.000 Gläubigen mit annähernd 100 Pkws, per Bus und Bahn
sowie zu Fuß kamen. Es passierte oft, dass die Fernbusse nicht für
die Wallfahrt, sondern für sonstige Ausflüge angefordert und
dadurch die staatlichen Betriebe irregeführt wurden.40 Seit den
Achtzigerjahren kommt in den Berichten vor, dass immer mehr
Priester aus westlichen Ländern an den Wallfahrten teilnahmen.
Demzufolge erschienen Gläubige vor allem auch aus der BRD und
aus Österreich.41 Dies kann teilweise mit der Möglichkeit zusam‐
menhängen, dass die nach 1945 aus den Komitaten Tolna und
Baranya ausgesiedelten Schwaben und ihre Nachkommen während
ihrer „Heimreise“ auch die berühmten Marien‐Gnadenorte aufsuch‐
ten. In diesem Jahrzehnt ist aber auch der internationale Religions‐
tourismus zu einer allgemeinen Erscheinung geworden.
Dank der massenhaften Inanspruchnahme von Verkehrsmitteln
verkürzte sich die Zeitdauer einer Wallfahrt wesentlich, und dies
brachte vielleicht die größte Veränderung im Zusammenhang mit
den Wallfahrten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So wur‐
den neben der Sitte der Prozessionen und der mit Beten und Singen
durchwachten Nacht am Gnadenort auch zahlreiche andere Traditi‐
onen zurückgedrängt.42
Eine Wallfahrt brauchte auch eine gewisse Vorbereitung. Man
musste doch ausreichend Lebensmittel und Getränke für die Fahrt
einpacken, festliche Kleider anziehen, Gebetsbücher und Rosen‐
kränze hervorholen. Aus den Kirchen brachte man Fahnen, Wall‐
fahrtskreuze und Marienstatuen heraus (auf ihnen wurden auch die
Jahresangaben der größeren Wallfahrten registriert).43
Eine Wallfahrt konnte einzeln oder mit der Familie, am häufigs‐
ten allerdings gemeinschaftlich und in Gruppen stattfinden. Die
Katholiken eines Dorfes, die zu einer Pfarrei gehörenden Gläubigen
machten sich auf den Weg, indem sie eine Prozession bildeten. Auch

40 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–6–c/1970.


41 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–1/1982.
42 Barna Búcsújáro, S. 284.
43 Bangó, Die Wallfahrt in Ungarn, S. 19.
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 25

bei der oben erwähnten Wallfahrt 1953 in Máriabesnyő traten in


den einzelnen Gruppen des Aufzuges die weiß gekleideten Mädchen
in großer Zahl auf, die das Gnadenbild, die Statue der Gemeinde und
eventuell kirchliche Fahnen trugen. Sie wurden „Marienmädchen“
genannt. Den Andachtsgegenstand, die Statue der Jungfrau Maria,
trugen sie eigentlich nur innerhalb von Ortschaften. Hinter der
Grenze des Dorfes übernahmen die Verehrer, die Bräutigame der
„Marienmädchen“, das heilige Stück oder brachten es auf einem
Fuhrwerk, einem Wagen unter. Den weiß gekleideten, mit Jungfern‐
kranz geschmückten „Marienmädchen“ folgten die jungen Männer,
die Verehrer, dann die verheirateten Frauen und Männer mit ihren
Kindern. Nach ihnen kamen die Alten und Kranken, oft auf Fuhr‐
werken, mit denen auch die Speisen, Getränke, Kleider und Decken
usw. für die Gruppe transportiert wurden.44 Bedeutung und Rolle
der „Marienmädchen“ änderten sich auch in den Siebzigerjahren
nicht. In manchen spöttischen Meldungen wird angemerkt, dass die
Jungen nur noch deshalb an der Wallfahrt teilnahmen, um die Mäd‐
chen im Auge zu behalten, „sie waren an der Zeremonie nicht aktiv
beteiligt“.45
Einige Berichte gehen auch auf die Frage ein, wie feierlich eine
Wallfahrt und die damit verbundene kirchliche Zeremonie war. Im
Bericht über die Wallfahrt in Máriagyűd46 wurde hervorgehoben,
dass

[…] jedes Jahr viele Pfarrer aus fremden Erzdiözesen Máriagyűd auf‐
suchen. Außerdem kommen auch ehemalige Franziskanermönche
gern hierher zurück. Es gibt Jahre, da sich sogar 150 bis 180 Pfarrer
in das Gästebuch in der Sakristei eintragen. [...] An manchen Sonnta‐
gen sind neun bis zehn Pfarrer anwesend, die im Beichtstuhl mithel‐
fen, die Messe lesen und predigen. Es ist keine Seltenheit, dass am

44 Schram, Ferenc: Búcsújárás Magyarországon [Wallfahrt in Ungarn], in: Teo‐


lógia, 2/1968, S. 94–100.
45 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–6–e/1970.
46 In Máriagyűd beginnen die Wallfahrten im Allgemeinen nach Pfingsten und
dauern eigentlich bis zum Herbst, dem Namenstag der Jungfrau Maria (12. Sep‐
tember) an. Die meistbesuchte Wallfahrt ist am 15. August zu Mariä Himmel‐
fahrt.
26 CSABA SZABÓ

Vormittag eines Feiertages Gottesdienste in ungarischer, deutscher


und kroatischer Sprache gehalten werden.

Oft besuchten hohe kirchliche Würdenträger Máriagyűd (1959 z.B.


der Bischof von Pécs, Ferenc Rogács, und der Bischof von Szom‐
bathely, Sándor Kovács, sowie der Weihbischof von Székesfehérvár,
Imre Kisberk), was den festlichen Charakter der Wallfahrt beson‐
ders steigerte. In den Meldungen wurden die Wallfahrten je nach
Region auf unterschiedliche Art und Weise bewertet. Der Hauptre‐
ferent für Kirchenfragen im Komitat Somogy beispielsweise notierte
1959 Folgendes:

Die Zahl der Anwesenden ist auch heute nicht gering, die Organi‐
siertheit der Wallfahrer ist aber bei weitem nicht so wie in alten Zei‐
ten, und ihr Eifer viel geringer. Die Wallfahrt ist in den Augen vieler
Gläubiger fast nur noch eine Mode ist, an die sie sich schon gewöhnt
haben. Trotzdem ist die Zahl derer keineswegs zu vernachlässigen,
die auch heute noch anwesend sind, aus welchem Grund auch im‐
mer. Die Erweiterung ihres Horizonts und das unmoralische Verhal‐
ten in den Nächten der Wallfahrt und nicht zuletzt Zeitmangel las‐
sen bei einem Teil der Gläubigen die Bedeutung der Wallfahrt in
Vergessenheit geraten.

Gleichzeitig hob der Bericht aus dem Komitat Zala 1961 gerade her‐
vor, dass der Klerus alles unternommen hatte, den festlichen Cha‐
rakter der Wallfahrten zu erhöhen. Wochen zuvor wurden ihre
Gläubigen vorbereitet und gebeten, so viel Verwandtschaft wie mög‐
lich einzuladen.47 Bei der Wallfahrt zu Mariä Geburt 1962 zur Gna‐
denkirche Hétkápolna von Vác trugen wie üblich weiß gekleidete
Mädchen die Kirchenfahnen an der Spitze der Wallfahrer, und die
Pfarrer von Alsógöd, Vácrátót und Dunakeszi führten ihre Gläubigen
wie in einer Prozession. Die Messe zelebrierte ein beliebter Geistli‐
cher und hervorragender Redner, dem das Staatliche Kirchenamt
die Arbeitsbewilligung früher entzogen hatte.48 In Máriaremete
beteiligte sich am 24. Mai 1964 auch der Bischof von Székes‐

47 MNL OL XIX–A–21–d. 0025–3/1963.


48 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–10/1962.
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 27

fehérvár, Lajos Shvoy, der auch eine Predigt hielt. Im Bericht wurde
der festliche Rahmen missbilligend festgehalten. Nach der Predigt
des Bischofs sangen die etwa 15.000 Menschen das bekannte Kir‐
chenlied „Heilige Jungfrau, unsere Muttergottes“, dann die
Papsthymne und die ungarische Nationalhymne.49 Die Anwesenheit
der hohen geistlichen Würdenträger unterstrich den festlichen Cha‐
rakter der Zeremonie. Wie die Berichte bezeugen, nahmen die Bi‐
schöfe auch an den bedeutenden Wallfahrten teil, sie zelebrierten
die Messen oder leiteten die Prozessionen. Vince Kovács führte ge‐
wöhnlich persönlich die Gläubigen von Vác zu der „Siebenkapelle“.
Bischof József Bánk brach mit der Tradition (vom 10. Januar 1969
an) und kam am 13. September 1970 nicht an der Spitze der Ein‐
wohner von Vác zur Wallfahrt, sondern mit einem Pkw. Viele merk‐
ten auch an, dass die Zahl der Wallfahrer nicht so groß war wie frü‐
her.50
Der Erfolg einer Wallfahrt hing in hohem Maße von ihrer Organi‐
siertheit ab. Die Gemeinschaft marschierte im Allgemeinen unter
Leitung des Dorfpfarrers, für die Organisation, die Zusammenset‐
zung und die Steuerung des Aufzuges und für den Gesang war der
Wallfahrtsleiter verantwortlich. Er war zugleich auch der Vorbeter
des Dorfes, dessen Dienste bei kirchlichen Zeremonien, von der
Taufe bis zur Bestattung, in Anspruch genommen wurden. Über den
Vorbeter Ádám Ferenc Nagy aus Várvölgy (Komitat Zala) schreibt
der Ethnologe K. Petánovics:51 Jede Wallfahrt stand unter seiner
Leitung. Die Gläubigen von Várvölgy marschierten mit Fahnen, der
Wallfahrtskrone, dem Wallfahrtskreuz und der auf den Schultern zu
tragenden heiligen Jungfrau in erster Linie zur Ärztin der Kranken,
der Heiligen Schmerzensmutter in Sümeg. Sie beugten ihr Kreuz
und die Fahnen vor den Kreuzen am Straßenrand. Sie beteten und
sangen während der gesamten Wallfahrt. Ádám Ferenc Nagy sang in

49 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–5–a/1964.


50 MNL OL XIX–A–21–a. B–26–6–e/1970.
51 Petánovics, Katalin: Aki megélt az imádságból [Wer vom Gebet lebte], in: Barna,
Gábor (Hrsg.): Szentemberek – a vallásos élet szervezö egyéniségei [Heilige – Be‐
deutende Organisatoren des religiösen Lebens]. Szeged‐Budapest 1998, S. 77–
89.
28 CSABA SZABÓ

seiner typischen, traditionellen Weise. Zuerst sang er die erste Hälf‐


te der Strophe, die die anderen wiederholten, dann die andere Hälf‐
te und zum Schluss die gesamte Strophe. Wenn jemand falsch sang,
stellte er sich zu ihm, um dabei zu helfen, die richtige Melodie zu
singen. Wo immer die Bewohner von Várvölgy erschienen, wurde
ihnen wegen ihres guten Rufes überall ein ganz besonderer Emp‐
fang zuteil und ein vorderer Platz in der Prozession gewährt: Sie
konnten an erster oder zweiter Stelle nach dem Altarsakrament
marschieren. Auch für die Unterkunft sorgte er: gesondert für Män‐
ner und Frauen. Auf die Mädchen achtete er mit ganz besonderer
Sorgfalt. Auch unter den Wallfahrtsleitern von Sümeg erfreute er
sich wegen seiner schönen Lieder, Gebete und seines Organisations‐
talents besonderer Achtung. Er kannte viele Lieder und Gebete und
brauchte keine Bücher, sondern nur sein Gedächtnis, um zu beten
und zu singen.
Die Zeremonien, Predigten und Reden der Geistlichen verfolgte
das Staatliche Kirchenamt mit großer Aufmerksamkeit. Die an den
Zeremonien teilnehmenden „Beobachter“ oder die Referenten, die
die Berichte lasen, wurden in den Fünfziger‐ und Sechzigerjahren in
erster Linie auf die politischen Äußerungen aufmerksam. Von den
Siebzigerjahren an waren der politische Inhalt und die kritischen
Stellungnahmen bezüglich der staatlichen und gesellschaftlichen
Struktur beinahe völlig verschwunden. Zugleich verstärkte sich das
Streben nach Vertiefung des Glaubenslebens auf der Grundlage des
in Ungarn traditionellen Marienkults. In den Einschätzungen des
Glaubenslebens Ende der Siebzigerjahre ist immer öfter zu lesen,
dass es „eine der wichtigsten Zielsetzungen ist, ‚eine Gemeinschaft
nach Christus‘ auf der Basis des persönlichen Engagements und des
tiefen Glaubens herauszubilden“. Auch die ungarische katholische
Kirche war um organisatorische Erneuerung, um „das Zusammen‐
schweißen in einer apostolischen Gemeinschaft“ bemüht.52

52 MNL OL XIX–A–21–d. 0025–5/1979.


KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 29

***
Bis jetzt hat sich diese Abhandlung nur mit den Gnadenorten und
den bedeutenden Wallfahrtsorten befasst. Um verschiedene Er‐
scheinungsformen der Religiosität zu untersuchen, sollten auch die
traditionellen Kirchweihfeste kurz behandelt werden, die mit der
Einweihung oder dem Schutzheiligen der Kirche einer gegebenen
Ortschaft verbunden und in diesem Sinne von „lokalem Interesse“
einer Gemeinde bzw. einer Pfarrei sind.
Aufgrund der Beobachtung eines kleineren Kirchweihfestes in
einem Dorf, der Dokumentierung von dessen allmählicher Umwand‐
lung, kann nachvollzogen werden, was ein Kirchweihfest im Leben
einer Gemeinschaft bedeutet, welche Bräuche und Traditionen da‐
mit verbunden sind. An erster Stelle sollte hervorgehoben werden,
dass es in dieser seiner Form als bedeutender Faktor für den Zu‐
sammenhalt einer Familie und einer Gemeinschaft erscheint.
Kirchweihfeste ermöglichten Familienzusammenkünfte, zu denen
oft auch in weiter Entfernung lebende Verwandte und Freunde ein‐
geladen wurden. Im Durchschnitt versammelten sich 15 bis 20 Per‐
sonen je Familie, aber auch eine Gästezahl von 30 oder mehr war
keine Seltenheit. Aus diesem Anlass besuchten auch die wegen der
Kollektivierung der Landwirtschaft „verjagten“, weggezogenen eins‐
tigen Bauernjungen und Bauernmädchen ihre Eltern, wobei sie auch
schon ihre eigenen Familien mitbrachten. Die Zahl der ständigen
Gäste erhöhte sich durch die kürzeren Gelegenheitsbesuche von
Verwandten und Bekannten weiter, die von der heiligen Messe oder
von den Verkaufsständen des Festes auf dem Weg nach Hause wa‐
ren. Das Kirchweihfest bot gute Gelegenheiten auch dafür, dass die
Eltern von Liebespaaren die oder den Auserwählte/n ihrer Kinder
oder deren Eltern kennen lernten.
Wie verlief ein traditionelles Dorf‐Kirchweihfest? Da kaum Do‐
kumente für die Erforschung dieses Themas zur Verfügung stehen,
kann man von der Ethnografie und von Einzelinterviews Hilfe erhof‐
fen. In Söjtör im Komitat Zala (Schutzheiliger der Kirche ist der hei‐
lige Jakob, dessen Kirchweihfest am letzten Sonntag im Juli stattfin‐
30 CSABA SZABÓ

det) kamen die engere Familie, die Geschwister mit ihren Familien‐
mitgliedern, bereits einen Tag vor dem Kirchweihfest bei den Groß‐
eltern zusammen. Die Frauen machten den ganzen Tag sauber,
kochten und bereiteten das festliche Mittagessen zu. Die Männer
stellten in der „guten Stube“ die Tische zusammen und schafften die
Getränke herbei. Sie zogen sich für den Gottesdienst zum sonntägli‐
chen Kirchweihfest an, in die Kirche gingen jedoch nur die männli‐
chen Familienmitglieder, die älteren Frauen und die Kinder. Die
Hausfrauen und ihre Töchter blieben zu Hause, sie deckten den
Tisch und kümmerten sich um das Mittagessen. In den Jahren der
Diktatur war es nicht gerade einfach, die wichtigsten Zutaten zum
Mittagessen zu beschaffen. Bei den Ablieferungsvorschriften in den
Fünfzigerjahren und dem (Schweine‐)Schlachtverbot war ein Kirch‐
weihfest für die Familie in der Tat ein Kraftakt, trotzdem war man
bemüht, von allem das Beste heranzuschaffen. Das Festmenü nahm
es schon damals mit dem einer Hochzeitsfeier auf, erst recht aber
von den Sechzigerjahren an, als die äußeren Lebensumstände sich
verbessert hatten. Auch Interviewpartner aus anderen Landesteilen
haben bestätigt, dass das Mittagessen zu einem Kirchweihfest wie
eine „kleine Hochzeit“ war. Auch in Ercsi, Komitat Fejér, pflegte man
ein großes Kirchweihfest zu feiern (zu Mariä Himmelfahrt, am Sonn‐
tag nach dem 15. August). Zu diesem Anlass wurde auch die weit
entfernte Verwandtschaft eingeladen: etwa 20 bis 30 Personen. Für
die Familie, die das Kirchweihfest auf diese Art und Weise feierte,
ging das mit großen Opfern einher. In Ercsi wurden mehrere Mes‐
sen und Prozessionen an der Kapelle „Csöpögő“ im Wald abgehal‐
ten. Oft zelebrierte ein Vertreter des höheren Klerus die heilige
Messe mit Hilfe von vier bis fünf Pfarrern. Die Zeremonien waren
immer festlich und fanden mit vielen Ministranten (acht bis zehn
Personen) und auch mit einem Chor statt. Die Kirche war überfüllt,
sogar draußen auf den Treppen standen noch Zuhörer. Auch auf der
Hauptstraße der Ortschaft gab es ein großes Kirchweihfest mit vie‐
len Verkaufsständen.53

53 Interview mit Frau Ferencné Bauer am 25. Februar 2006. Die Eltern der Inter‐
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 31

Über das Kirchweihfest am 7. September 1958 in Csatka wurde


zum Beispiel festgehalten, dass „an der Pilgerfahrt am späten Abend
13.000 bis 15.000 Personen teilnahmen.“54
Das Kirchweihfest einer Pfarrei ist in erster Linie ein Festtag der
Familie, der Gemeinschaft, zugleich aber auch ein sakrales Ereignis,
das die Möglichkeit bietet, die Religiosität sozusagen „volkstümlich“
zu erleben.

***
In dieser Abhandlung ist von den Erscheinungsformen der Religiosi‐
tät in der Diktatur des „realen Sozialismus“ lediglich die Rolle der
Wallfahrten und Kirchweihfeste untersucht worden. Aber auch an‐
dere Themen wären natürlich in diesem Zusammenhang von Inte‐
resse: zum Beispiel die Frage des Religionsunterrichtes, der karita‐
tiven Tätigkeit der Kirche, aber auch die Erforschung der Arbeit der
in den Untergrund gezwungenen Kirche, der Kirche im Widerstand.
Das „illegale“ katholische „Andersdenken“ blieb bis zum Ende des
kommunistisch‐sozialistischen Systems erhalten, auch zu der Zeit,
als jede Art des Widerstandes in der Gesellschaft zu existieren auf‐
gehört hatte. Auch bei der Aufarbeitung dieses Bereiches stehen wir
erst am Anfang. Ein Beispiel für diese „Kirche im Widerstand“ stellt
die kleine Gemeinschaft der Regnum‐Pater dar. Obwohl ihre Häuser
1951 verstaatlicht, ihre Kirchen gesprengt und ihre Gemeinschaften
zerstreut wurden, setzten sie weiterhin ihre „illegale“ Tätigkeit auf
dem Gebiet der Erziehung der Jugend fort. Bereits Anfang 1952
wurde ihr erstes Objektdossier55 angelegt, denn sie wurden syste‐
matisch observiert. Ende 1960, Anfang 1961 wurden in einer gro‐
ßen Verhaftungswelle mehrere Regnum‐Pater festgenommen und
anschließend verurteilt. Nach ihrer Freilassung setzten sie ihre Ar‐
beit dort fort, wo sie aufgehört hatten. Auch später wurden sie
mehrmals verhaftet. Wir kennen drei Regnum‐Prozesse; bis Anfang

viewpartnerin waren Landarbeiter, später LPG‐Mitglieder.


54 MNL OL XIX–A–21–d. 0025–3/1963.
55 ÁBTL 3. 1. 5. O–11516/1.Gruppendossier „Regnum”.
32 CSABA SZABÓ

der Siebzigerjahre wurden die Regnum‐Pater kontinuierlich ver‐


folgt.56 Es gab auch andere „Kleingemeinden“, die Verfolgungen
unterschiedlicher Art ausgesetzt waren, die von den Behörden auch
dokumentiert wurden. Bei der Erforschung dieser Thematik kann
man sich auf solche Quellen wie Protokolle über Hausdurchsuchun‐
gen und Verhöre, Anklageschriften, Verhandlungsprotokolle und
Urteile und ähnliches stützen. Es kann vorkommen, dass die Doku‐
mente manipuliert wurden, deshalb ist bei der Auswertung all die‐
ser Dokumente eine sorgfältige Quellenkritik erforderlich. Die bei
Hausdurchsuchungen beschlagnahmten Bücher beispielsweise kön‐
nen wichtige Informationen über die Religiosität der Kleingemein‐
den liefern. Die Historiker haben sich auch zu wenig mit der Frage
auseinandergesetzt, dass im Rahmen des katholischen Widerstan‐
des auch der „kirchliche Samisdat“ von den 1950er‐Jahren an bis
zur Wende ständig präsent war. Die weltlichen Pfarrer, Mönche und
Nonnen vervielfältigten die Kirchenliteratur und Gedichte füreinan‐
der und für die Gläubigen genauso handschriftlich, wie ihre Vorgän‐
ger im Mittelalter die Kodizes kopiert hatten. Später verbreiteten sie
diese Schriften illegal, die danach als Beweise in den jeweiligen Pro‐
zessakten wieder auftauchten.

Quellen
ÁBTL Historisches Archiv der Staatssicherheitsdienste
3. 1. 5. Operative Dossiers
3. 1. 9. Untersuchungsdossiers
BFL Archiv der Hauptstadt Budapest
XXV. 4. f. Komitatsgericht Budapest. Akten von Prozessen, die zu‐
rückgestuften geheimen Schriftstücke (ung. Abk. TÜK; in der DDR –
Nur für den Dienstgebrauch, NfD; in Deutschland – Verschlusssache
– Nur für den Dienstgebrauch, VS‐NfD)

56 ÁBTL 3. 1. 5. O–11516/1–2a. Gruppendossier „Regnum“ ; ÁBTL 3. 1. 9. V–


146695/1–22. Untersuchungsdossier „Regnum“ ; ÁBTL 3. 1. 5. O–11802/1–29.
Gruppendossier „Fekete Hollók“ (Schwarze Raben); BFL XXV. 4. f. 9228/1961.
Alajos Werner und seine Schicksalsgefährten.
KATHOLISCHE WALLFAHRTEN IN UNGARN 33

MNL OL Ungarisches Nationalarchiv Staatsarchiv


XIX–A–21–a. Staatliches Kirchenamt. Präsidialakten
XIX–A–21–c. Staatliches Kirchenamt. Datenbank
XIX–A–21–d. Staatliches Kirchenamt. Zurückgestufte TÜK‐
Schriftstücke.

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