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KOMPAKT

DAS
MIKROBIOM
Wie die Darmflora die Gesundheit beeinflusst

Probiotika Krebs Viren

MAN_ AT_MOUSE / GE T T Y IMAGES / ISTOCK


Bakterien als Arzneien Therapeutische Darmflora Phagen statt Antibiotikum
EDITORIAL IMPRESSUM
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INHALT
04 FAK TENCHECK
SEITE FA K TENCHECK
Was Darmbakterien wirklich können
04 Was Darmbakterien
wirklich können 09 MIKROBIOM-FORSCHUNG
»Unsere Mikroben machen uns zu dem,
was wir sind«
14 NEBENWIRKUNGEN
Viele Medikamente greifen
Darmbakterien an
16 TIERVERSUCHE
Die Abkehr von keimfreien Labormäusen
25 PROBIOTIK A
ADVENT TR / GE T T Y IMAGES / ISTOCK

Bakterien als Arzneien


30 DARMGESUNDHEIT
Die dunkle Seite der Probiotika
33 KREBS
SEITE TIERV ERSUCHE K REB S SEITE Therapeutische Darmflora
16 Die Abkehr von keimfreien Therapeutische Darmflora 33
41 FACHWORTSCHAT Z
Labormäusen
Im Stuhl entdeckt
43 DARMFLOR A-ÜBERTR AGUNG
ISTOCK / LOOK _ AROUND

Wer hat den Super-Darm?


45 VERDAUUNGSAPPAR AT
Wie Viren unseren Darm beherrschen
PH AGENTHER A PIE 50 PHAGENTHER APIE
SEITE
Virus statt 50 Virus statt Antibiotikum
Antibiotikum
R ALWEL / GE T T Y IMAGES / ISTOCK
D-KEINE / GE T T Y IMAGES / ISTOCK

3
FAKTENCHECK
Was Darmbakterien wirklich können
von Kathrin Burger
Mittlerweile soll so ziemlich jedes Volksleiden auf das Konto einer aus der
Balance geratenen Darmflora gehen. Doch die Forschung steckt noch in den
Kinderschuhen, von fundierten Empfehlungen ist man weit entfernt.

ISTOCK / ILE X X
4
D
ie Erforschung der Magen- schen und voreiligen Schlussfolgerungen:
Darm-Welt und seiner Be- Es gebe, meint etwa Dirk Haller von der TU
wohner boomt seit rund München, »einfach zu viele Widersprü- »Viele Kollegen sind
zehn Jahren: Immer mehr che«. So lassen sich zahlreiche Ergebnisse
Forschungsgelder werden nicht replizieren. Oft sind gefundene Ef- heute etwas übereifrig«
investiert, in hochkarätigen Fachzeitschrif- fekt sehr klein, Humanstudien rar und 60 [Dirk Haller]
ten erscheinen Artikel dazu, und auch in Prozent der Bakterien obendrein unbe-
den Laien-Medien ist das Mikrobiom ein kannt. Auch der Epidemiologe William Ha-
beliebtes Thema. Demnach soll so gut wie nage von der Harvard Medical School warn-
jede Zivilisationskrankheit – Diabetes, te bereits 2014: »Der Hype ist gefährlich
Übergewicht, Allergien, Darmkrebs, Nie- für Kranke, die in bestimmten Heilmetho-
rensteine, Reizdarm, Depressionen, aber den vergeblich ihr Glück suchen.« Er sieht
auch Autismus – auf das Konto einer Dys- neben den Forschern auch Pressestellen
balance in der Darmflora gehen. Empfeh- und Medienvertreter in der Verantwor-
lungen zu mehr Probiotika oder darm- tung, sich vor Übertreibungen zu hüten
freundlichen Nahrungsergänzungsmit- und damit der Microbiomania nicht weiter
teln kursieren, entsprechende Ratgeber Vorschub zu leisten.
und Kochbücher sind im Angebot. Manche Immerhin ist gesichert, dass Darmbakte-
verurteilen schon pauschal Kaiserschnitt- rien ihren Wirt, also den Menschen, beein-
geburten, Tütenmilch für Babys oder Anti- flussen. Sie fördern die Aufnahme von Nähr-
biotika – all dies kann nämlich die Zusam- stoffen ins Blut, indem sie den Transport
mensetzung der Bakterien-WG im Darm durch die Darmzellen beschleunigen und
verändern. Helfen soll die Stuhltherapie, den Fett- und Gallensäure-Stoffwechsel op-
die in amerikanischen Kliniken bereits als timieren. Zudem bauen Dickdarmbakterien
Therapie gegen Diabetes und Übergewicht einen Teil der Ballaststoffe, die der Mensch
beworben wird. sonst nicht verwerten könnte, zu kurzketti-
Allerdings scheint vieles noch sehr un- gen Fettsäuren wie Buttersäure ab – rund 30
ausgegoren. Selbst Mikrobiom-Forscher Prozent der Stoffwechselprodukte im Blut
warnen die eigene Zunft vor allzu euphori- sind mikrobieller Herkunft. Bakterien hel-

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fen obendrein bei der Entwicklung des Im- umstände darstellt. »Was genau ein gesun-
munsystems, verwandeln unreife T-Zellen des Mikrobiom ist, ist tatsächlich
in reife. Und sie machen Giftstoffe und weitgehend unklar«, kommentierte Elisa-
FOTOLIA / FOTOLIA XRENDER

Krankheitserreger unschädlich. Dafür bietet beth Bik, Mikrobiologin an der Stanford


der Mensch ihnen einen angenehmen University in einem Review 2016. Zwar be-
Wohnort in einem wohltemperierten Milieu herbergen Jäger-Sammler-Kulturen in Süd-
mit normalerweise ausreichend Futter – amerika und Afrika grundsätzlich andere
eine perfekte Symbiose. Dass bestimmte und viel unterschiedlichere Darmbewoh-
Bakterien obendrein schlank machen und ner als Menschen in Industrienationen,
»Was genau ein gesundes vor Diabetes schützen, ist eine derzeit be- und gleichzeitig leiden sie seltener unter
Mikrobiom ist, ist tatsächlich sonders populäre Behauptung. Gerade das Zivilisationskrankheiten. Aber: Auch ge-
Volksleiden Zuckerkrankheit beschäftigt die sunde Menschen in reichen Ländern ha-
weitgehend unklar« Mikrobiomforschung, weil nach manchen ben eine reduzierte, mikrobielle Artenviel-
Untersuchungen Diabetes und Übergewicht falt. Manche tragen gar potenziell krank
[Elisabeth Blik]
womöglich mit weniger diversen Darmmili- machende Keime wie Clostridium difficile
eus einhergehen. Wer übergewichtig ist, im Darm, ohne krank zu werden. Und
habe demnach zum Beispiel viel mehr Fir- Schwangere im dritten Trimester haben
micutes- im Vergleich zu Bakteroidetes-Ar- ein ähnliches Mikrobiom wie Menschen
ten im Darm. Allerdings ist hier die Studien- mit metabolischem Syndrom. Trotzdem
lage widersprüchlich: Einige Forscher fan- wird in Forscherkreisen häufig von Dysbio-
den diese Unterschiede, andere aber nicht, se gesprochen, also einer Störung der
wie etwa 2010 Andreas Schwiertz vom Insti- Darmflora.
tut für Mikroökologie in Herborn. Und hier kommt ein weiteres Problem
ins Spiel. Wenn die Diversität verändert ist,
Ursache oder Folge einer ist dies Ursache oder Folge der Krankheit?
veränderten Darmflora? Am Beispiel Diabetes hat das etwa Kristof-
Fraglich bleibt auch, ab wann eine verrin- fer Forslund, Forscher am Europäischen La-
gerte Diversität krankhaft wird oder ein- boratorium für Molekularbiologie in Hei-
fach eine Anpassung an veränderte Lebens- delberg, 2015 in einer Studie mit 784 Pro-

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banden untersucht. Hier zeigte sich bei den Darmwand manövrieren oder helfen, Fett- enflora der Maus anders zusammenge-
untersuchten Diabetespatienten, dass ihre depots anzulegen. Durch all dies werde dem setzt, weil sie an andere Habitate angepasst
typischen Veränderungen der Darmflora Wirt mehr Energie zugespielt, was gleich- ist. Haller meint hingegen, dass Mäusestu-
komplett auf das Antidiabetikum Metfor- sam dick mache, während schlank machen- dien nötig sind, um die dahinterstehenden
min zurückzuführen war und nicht auf de Keime die Bildung von Sättigungshor- Mechanismen zu erforschen. Man müsse
ihre Erkrankung: Diabetiker, die kein Met- monen vorantreiben sollen. Andere glau- allerdings die Studien sehr genau durch-
formin erhielten, wiesen eine Darmflora ben, dass Entzündungsmechanismen und denken und interpretieren, zudem müss-
auf wie gesunde Vergleichspersonen. Auch ein Barriereverlust im Darm Adipositas ten sie replizierbar sein. Doch das sind sie
bei chronisch-entzündlichen Darmerkran- und Diabetes zu Grunde liegen könnten. bislang nicht. Woran das liegen könnte, da-
kungen wie Morbus Crohn und Colitis ul- Denn durch einen löchrigen Darm gelang- rauf machten 2016 Max-Planck-Forscher
cerosa ist belegt, dass die Darmflora emp- ten toxische Bakterienbruchstücke ins Blut, aufmerksam: Je nach Lebensverhältnissen
findlich verändert ist. Jedoch ernähren sich was zu Mini-Entzündungen führe und die reagieren Labortiere und ihr Innenleben
diese Patienten auch typischerweise an- Insulinsensitivität einschränke. So hat es anders auf Veränderungen. Bei Überernäh-
ders als Gesunde und nehmen zudem oft etwa der Wissenschaftler Patrice Cani von rung führte etwa nur ein dreckiger Tierstall
über lange Zeit Medikamente ein. Also »ist der Université catholique de Louvain in ei- zu einer erhöhten Darmdurchlässigkeit,
nicht klar, ob die veränderte Darmflora die ner viel beachtete Mäusestudie aus dem nicht aber ein sauberes Gehege.
Krankheit auslöst oder Folge von Diät oder Jahr 2007 gezeigt. In anderen Laboren konn-
Arzneien ist«, sagt Elisabeth Bik. ten diese Ergebnisse jedoch nicht bestätigt Transplantierter Stuhl
Ein in epidemiologischen Studien ge- werden. Wie genau der Darm dick und dia- Ein zuletzt mehrfach erfolgreicher Eingriff
fundener Zusammenhang reicht eben beteskrank machen soll, ist also bislang un- scheint allerdings die Rolle des Mikrobi-
nicht aus. Wenn Darmbakterien Krankhei- geklärt. oms als Ursache von Erkrankungen zu un-
ten verursachen, dann müssen auch die Obendrein stellt sich vielen die Frage, terstreichen: die Stuhltransplantation von
Mechanismen bekannt sein. Hieran wird ob Mäuse sich überhaupt als Modell eig- Mensch zu Mensch. Sie wird etwa bei Pati-
ebenfalls emsig geforscht, vor allem mit nen. Der Harvard-Wissenschaftler Hanage enten mit schwerer Clostridium-diffici-
keimfreien Mäusen. So gibt es etwa die The- ist skeptisch: »Keimfreie Mäuse sind nicht le-Infektion angewandt und zeigt auch bei
orie, dass bestimmte Darmbakterien be- gesund und spiegeln nicht unbedingt wi- chronisch-entzündlichen Darmerkran-
sonders gut Ballaststoffe im Darm abbau- der, was passiert, wenn die Mäuse eine nor- kungen (CED) und Reizdarm erste Erfolge.
en, Einfachzucker vermehrt durch die male Flora haben.« Zudem ist die Bakteri- »In Sachen CED sind auch epidemiologi-

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sche Studien und Mäuseversuche eindeu- oder ob es nicht eher die anderen Inhalts- für das harmonische Zusammenleben ist.
tig gewesen, was auf eine Rolle der Mikro- stoffe der pflanzenreichen Kost sind, die Bei einer entsprechenden Therapie verän-
ben hindeutet«, erläutert Haller. Gleiches etwa das Herzinfarktrisiko reduzieren – dert sich die Bakterienzusammensetzung
gelte für Reizdarm, Diabetes Typ 1 und dazu fehlen Langzeitstudien. Es gibt nur ei- dramatisch, eine Erholung tritt oft erst
Darmkrebs. Mehrere Studien haben etwa nen Fall, wo Haller schon heute eine Emp- nach einem halben Jahr ein. Das wiederum
bewiesen, dass Darmkrebs zu einem spezi- fehlung aussprechen würde: Ballaststoffe führt zu einer erhöhten Anfälligkeit gegen-
ell umorganisierten Mikrobiom führt. Dies hält er zumindest für schützend in Sachen über Infektionen wie Lungenentzündung
könnte man zukünftig als Diagnoseinstru- Darmkrebs. oder Clostridium difficile. Antibiotikaga-
ment heranziehen, das genauer als der der- Probiotika haben sich dagegen bislang ben bereits im Kindesalter stören die Ent-
zeit übliche Hämokkulttest wäre und inva- nicht bewährt. Laut der Europäischen Be- wicklung des Mikrobioms empfindlich, wie
sive Eingriffe vermeiden könnte. Trägt man hörde für Lebensmittelsicherheit EFSA gibt unter anderen eine Studie des Mikrobiolo-
die Beweislage für Übergewicht und Diabe- es keine Beweise, dass die aufgereinigten gen Willem de Vos von der Universität Hel-
tes zusammen, wird es jedoch dünn. Haller Darmkeime wie Laktobazillen auch tat- sinki zeigte – welche Folgen das hat, ist aber
glaubt, dass das Mikrobiom eher einen ge- sächlich gesundheitsförderlich sind. Aller- noch nicht ausreichend erforscht.
ringen Anteil an der Entstehung dieser dings wird das Mikrobiom durch Gene Bei aller Kritik am derzeitigen Hype
Stoffwechselstörungen hat. (rund zehn Prozent der Bakterienvielfalt) glaubt Haller, dass das Mikrobiom ähnlich
Bislang ist auch nicht belegt, ob sich und zahlreiche Umweltfaktoren geprägt. wie das Erbgut ein wichtiges biologisches
über die Ernährung oder andere Lebens- So spielen die Art der Geburt und frühkind- Instrumentarium ist, mit dem man Krank-
stilfaktoren wie Sport das Darmmilieu in lichen Ernährung, Anzahl der Geschwister, heiten erklären und möglicherweise heilen
eine gewünschte Richtung lenken lässt. geografische Verhältnisse, Hygienebedin- können wird. »Nur sind viele meiner Kolle-
Zwar unterscheidet sich die Darmflora von gungen, Infektionen, Arzneien und vieles gen heute etwas übereifrig.« Und das ist
Veganern und Mischköstlern nicht subs- mehr vor allem im Kindesalter eine Rolle. schlecht: Schließlich weiß er als Ernäh-
tanziell, sehr wohl ändert sich die Besied- Auch das Geschlecht beeinflusst die Zu- rungswissenschaftler, wie schnell eine Dis-
lung aber, wenn man seine Ernährung um- sammensetzung. Es verwundert also nicht, ziplin mit voreiligen Schlussfolgerungen
stellt, also als Fleischesser plötzlich zum dass sich ein so hochkomplexes System an Glaubwürdigkeit verlieren kann. Das, so
Vegetarier wird. Unklar ist dabei, ob das nicht durch die Gabe eines einzelnen Kei- Haller, »möchte ich für die Mikrobiomfor-
dermaßen gewandelte Mikrobiom dann mes maßgeblich verbessern lässt. schung vermeiden«.  
für die bessere Gesundheit der Vegetarier Andererseits ist klar, dass ein allzu laxer
zumindest mitverantwortlich sein könnte Umgang mit Antibiotika nicht förderlich (Spektrum – Die Woche, 03/2017)

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MIKROBIOM-FORSCHUNG

»UNSERE MIKROBEN
MACHEN UNS ZU DEM,
WAS WIR SIND«
von Juliette Irmer
Wir leben nicht allein, sondern teilen
unseren Körper mit Billionen Bakterien, die
Mundhöhle, Haut und Darm besiedeln: Rund
eineinhalb Kilogramm wiegt unser so
genanntes Mikrobiom. Die Mikroben
beeinflussen unsere Gesundheit, unser
Gewicht und sogar unser Verhalten. Im
Interview gibt Rob Knight, einer der Pioniere
der Mikrobiomforschung, einen Einblick in
das spannende Forschungsfeld.

FOTOLIA / MOPIC
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D
er Mikrobiomexperte Rob aus dem Speichel von Komodowaranen, kommt in allen Bakterien vor, unterschei-
Knight forscht an der Uni- aus heißen Quellen, von Computertasta- det sich aber geringfügig von Art zu Art.
versity of San Diego in Kali- turen – was ist Ihr Ziel? Wir isolieren die RNA aus der Probe,
fornien und ist an mehreren Knight: Mikroben sind allgegenwärtig. In- sequenzieren sie, visualisieren und ver-
großen Projekten beteiligt: dem wir sie studieren, erkennen wir Ver- gleichen die Daten mit entsprechender
Von 2007 an arbeitete er am Human Micro- bindungen zwischen Menschen, Tieren, Software. Die enormen Fortschritte in der
biome Project mit, das alle Gene des mensch- Pflanzen und der Umwelt, von denen wir Bioinformatik und bei den Sequenzie-
lichen Mikrobioms erstmalig charakteri- nie ahnten, dass sie überhaupt existieren. rungsmethoden haben die Mikrobiomfor-
sierte. 2012 gründete er gemeinsam mit Kol- Wir können Übereinstimmungen in be- schung in den vergangenen zehn Jahren
legen die Firma American Gut (»gut« ist stimmten Prozessen entdecken, etwa in revolutioniert. Was früher Jahre brauchte,
englisch für Darm, Bauch): Für 99 Dollar er- der ökologischen Sukzession: Die Besied- geschieht heute innerhalb von Tagen.
hält jede Person, die eine Stuhlprobe ein- lung eines neuen Blatts, einer neuen vulka-
schickt, die Analyse ihrer Darmflora. Damit nischen Insel oder eines Neugeborenen Was war Ihre bislang aufregendste
erweist man sogar der Wissenschaft einen folgt möglicherweise einem gemeinsamen Entdeckung?
Dienst, denn die Daten fließen anonym in Muster. Indem wir immer bessere Techno- Die Entdeckung, dass es eine Verbindung
eine öffentlich zugängliche Datenbank. logien entwickeln, um Bakterien zu identi- gibt zwischen Fettleibigkeit und Darmbak-
Mittlerweile existieren auch »British Gut« fizieren, unabhängig davon, wo sie leben, terien. Um das menschliche Mikrobiom zu
und »Australian Gut«, und weltweit haben können wir in diese bisher unsichtbare erforschen, nutzen wir Mäuse, die unter
sich bis heute mehr als 10 000 Menschen Welt blicken. keimfreien Bedingungen leben und kein ei-
daran beteiligt. Zudem ist Knight Mitbe- genes Mikrobiom besitzen. Überträgt man
gründer des Earth Microbiome Project, wel- In einem Teelöffel Erde leben Millionen diesen keimfreien, normalgewichtigen Mäu-
ches das ehrgeizige Ziel verfolgt, 200 000 Bakterien. Wie identifizieren Sie diese? sen die Darmbakterien übergewichtiger
Bakterienproben aus jeder erdenklichen Ni- Viele Bakterien lassen sich im Labor bis- Mäuse, nehmen sie zu. Das funktioniert so-
sche des Planeten zu analysieren. Über den lang nicht züchten, die meisten Keime in gar artübergreifend: Überträgt man solchen
aktuellen Stand seiner Forschung sprach unserem Darm zum Beispiel. Wir müssen Mäusen die Darmbakterien übergewichti-
Rob Knight mit »Spektrum.de«. also indirekte Methoden verwenden, um ger Menschen, nehmen sie ebenfalls zu. Bis-
sie zu identifizieren. Wir nutzen dazu ei- lang ist es noch nicht gelungen, Mäuse mit
Spektrum.de: Sie sammeln Bakterien- nen Teil ihres Erbguts, die so genannte 16S Hilfe von Darmbakterien abnehmen zu las-
proben aus dem menschlichen Darm, ribosomale RNA. Dieser RNA-Abschnitt sen, aber das ist langfristig das Ziel.

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FOTOLIA / MOPIC

Es gibt auch Hinweise darauf, dass ab und produzieren Hormone. Denkbar ist, Inwieweit sind die Ergebnisse aus
Darmbakterien das Gehirn beeinflussen. dass die entstehenden Stoffwechselpro- Versuchen an Mäusen überhaupt auf
Wie kann das sein? dukte über die Blutbahn ins Gehirn gelan- den Menschen übertragbar?
Diese Verbindung hätte tatsächlich nie- gen; dort beeinflussen sie die Konzentrati- Sie sind nicht eins zu eins übertragbar.
mand erwartet. Erste Hinweise stammen on bestimmter Neurotransmitter wie Sero- Aber ein Mausmodell demonstriert eine
wieder aus Versuchen an Mäusen: Über- tonin oder Dopamin, was Auswirkungen biologische Möglichkeit.
trägt man schüchternen Mäusen die Darm- auf unser Verhalten hat. Möglicherweise ist
bakterien von mutigen Artgenossen, wer- das Mikrobiom auch an Krankheiten wie Wenn man Ihnen die Mikrobiomdaten
den die schüchternen ebenfalls abenteuer- Autismus und Depressionen beteiligt – für eines beliebigen Menschen vorlegt – was
lustiger. Auch Ängstlichkeit lässt sich auf diese Krankheiten sind die Untersuchun- können Sie daran erkennen?
diese Weise übertragen. Darmbakterien gen bei Mäusen aber weiter fortgeschritten Ich kann erkennen, ob der Mensch an be-
verdauen Nahrung, bauen Medikamente als beim Menschen. stimmten Krankheiten leidet, etwa an Dia-

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betes oder chronisch entzündlichen Darm- benetzt. Vermutlich sind dies die ersten Generell gilt: Eine geringe Vielfalt ist
erkrankungen. Ich kann mit etwa 90-pro- Keime, die wir erwerben. Babys, die per schlecht und mit vielen Krankheiten asso-
zentiger Genauigkeit sagen, ob es sich um Kaiserschnitt zur Welt gebracht werden, ziiert. Studien an Ureinwohnern wie den
einen übergewichtigen oder schlanken kommen stattdessen mit den Hautbakte- Hadza und den Yanomami haben gezeigt,
Menschen handelt. Ich kann erkennen, ob rien der Mutter in Kontakt. Die Entwick- dass unser modernes Mikrobiom erheb-
es sich um einen Vegetarier oder einen lung ihres Mikrobioms unterscheidet sich lich an Vielfalt verloren hat. Wie wir diese
Fleischesser handelt. Bei denjenigen, die von Babys, die vaginal entbunden werden. wiederherstellen können, wird zukünftige
viel Fleisch essen, dominiert die Gattung Kaiserschnittbabys haben ein leicht höhe- Forschung zeigen.
Bacteroides, bei denjenigen, die viel Ge- res Risiko für Asthma und Übergewicht –
treideprodukte essen, die Gattung Prevo- ob der unterschiedliche mikrobielle Start Mittlerweile existiert ein Markt für
tella. Grundsätzlich ist die Bakterienviel- dafür verantwortlich ist, wissen wir mo- Probiotika, »gute Bakterien«, die sich
falt beim Menschen aber riesig. Bis zu mentan aber noch nicht. wohltuend auf den Darm auswirken
1000 Bakterienarten leben im menschli- sollen. Was halten Sie davon?
chen Darm. Während wir 99,9 Prozent un- Kann man sein Mikrobiom auch als Einige Studien konnten eine positive Wir-
seres Genoms mit unserem Nachbarn tei- Erwachsener beeinflussen? kung auf Krankheiten wie Reizdarm oder
len, können es nur 10 Prozent beim Mikro- Wir tun es täglich. Indem wir Fleisch essen chronisch entzündliche Darmerkrankun-
biom sein. Wir wissen jedoch noch nicht, oder nur Salat, Alkohol trinken, Medika- gen zeigen. Es existieren insgesamt aber
was die Unterschiede bedeuten; auch das mente einnehmen. Es geht darum, es ge- nur wenige wissenschaftlich valide Stu-
müssen weitere Studien erst aufdecken.. zielt positiv zu beeinflussen. Kurz gesagt dien zur Wirkung von Probiotika.
haben eine ballaststoff- und pflanzenrei-
Ihre Tochter kam per Notkaiserschnitt che Kost, Sport und Aufenthalte an der fri- Was sind die aktuellen Herausforderun-
zur Welt, und Sie haben sie danach mit schen Luft einen positiven Effekt. Zucker, gen in der Mikrobiomforschung?
den Vaginalbakterien Ihrer Partnerin rotes Fleisch und Antibiotika haben den Grundsätzlich stellt sich oft das Problem
bestrichen. Warum? gegenteiligen Effekt. Vor allem die Einnah- der Kausalität: Sind die beobachteten Un-
Evolutionsbiologisch betrachtet ist das me von Antibiotika im frühen Kindesalter terschiede im Mikrobiom die Ursache oder
sinnvoll: Bis zum Beginn des letzten Jahr- scheint sich negativ auf das Mikrobiom die Folge einer Erkrankung? Außerdem
hunderts wurde jedes Baby durch den Ge- auszuwirken und steht womöglich mit der entwickeln sich die Methoden rasend
burtskanal geboren und dabei zwangsläu- Entwicklung von Allergien und Überge- schnell. Dadurch produzieren wir unge-
fig mit den Vaginalbakterien der Mutter wicht in Verbindung. heure Mengen Daten – auf ein menschli-

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KOMPAKT
ches Gen kommen 100 bakterielle Gene.
Wir kommen kaum hinterher, diese Daten
auszuwerten. Wir müssen Software entwi-
ckeln, um die Daten zu interpretieren, und
sie auch verbraucherfreundlich gestalten.
Eines Tages sollen schließlich Ärzte und Pa-
tienten sie so einfach nutzen können, wie

ANTI-
es etwa beim GPS der Fall ist.

Was können wir von der Mikrobiom-


forschung in den nächsten zehn Jahren

BIOTIKA
erwarten?
Das Mikrobiom wird in Verbindung ge-
bracht werden mit weiteren chronischen
Krankheiten, und wir werden beginnen zu
verstehen, wie Bakterien diese Krankhei-
ten hervorrufen beziehungsweise wie sie Wettrüsten ums
unsere Gesundheit aufrechterhalten. Wir
werden bestimmte Risiken vorhersagen
Überleben
können, außerdem die Effekte von Nah-
rung und Medikamenten. Es wird also we-
niger um Korrelationen gehen, sondern
eher darum, konkret zu erkennen, was Bak- Resistenzen | Die 12 gefährlichsten Erreger
terien verursachen. Mit zunehmendem Medizin im Mittelalter | Mit Ochsengalle und
Wissen könnten wir es schaffen, unser Mi- Knoblauch
krobiom so zu beeinflussen, dass es uns ge- Soziomikrobiologie | Schwachstelle der
sund erhält oder heilt.  Bakterienfestung
FÜR NUR
€ 4, 99

ISTOCK / EUGENE A XE
(Spektrum – Die Woche, 44/2016)
HIER DOWNLOADEN
NEBENWIRKUNGEN

Viele Medikamente
greifen Darmbakterien an
von Lars Fischer

FOTOLIA XRENDER / STOCK.ADOBE.COM


14
Hunderte Medikamente gegen eine Vielzahl von
Krankheiten schädigen vermutlich die Darmflora –
weit mehr als bisher bekannt.

E
twa ein Viertel aller Medikamen- delberger Team – umgekehrt aber ebenso zudem seien die Kriterien für einen »Tref-
te stört das Wachstum von Darm- als Modell für neue Wirkstoffe dienen. fer« in dem Screening recht streng.
bakterien. Darauf weisen Versu- Insgesamt testete das Heidelberger Womöglich seien diese Effekte vieler
che mit mehr als 1000 zugelas- Team eine Auswahl von 40 Bakterienarten, Medikamente zum Teil dafür verantwort-
senen Pharmazeutika hin, die die nach Ansicht der Gruppe für das lich, dass in Industrieländern die Mikro-
eine Arbeitsgruppe um Lisa Maier, Mihaela menschliche Mikrobiom repräsentativ biome weniger vielfältig sind. Allerdings
Pruteanu und Michael Kuhn vom European sind, darunter bekannte Vertreter wie ist bisher noch weitgehend unklar, welche
Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Escherichia coli und die bei Neugeborenen Auswirkungen solche Veränderungen der
Heidelberg durchgeführt hat. Wie die und Säuglingen besonders häufigen Bifi- Bakterien im Verdauungstrakt auf unsere
Gruppe jetzt in »Nature« berichtet, hemm- dobakterien. Dass die 156 getesteten Anti- Gesundheit haben. Denkbar ist etwa, dass
ten 27 Prozent der untersuchten Stoffe, die biotika die Mikroben am Wachstum hin- sich in der Darmflora allgemeine Resis-
nicht auf Bakterien zielten, das Wachstum dern, ist keine Überraschung – doch weit tenzmechanismen verbreiten, zum Bei-
mindestens eines Bakterienstamms der verbreitete Medikamentenklassen, zum spielveränderte Membranmoleküle, die
menschlichen Darmflora. Das Ergebnis be- Beispiel Protonenpumpeninhibitoren Substanzen mit schädlichen Wirkungen
stätigt frühere Studien, denen zufolge Me- oder Antipsychotika, zeigten in den Versu- aus der Zelle befördern. Solche Anpassun-
dikamente die Darmflora verändern kön- chen ebenfalls antimikrobielle Wirkungen. gen würden Bakterien teilweise auch ge-
nen; von einer ganzen Reihe der getesteten Maier und ihr Team vermuten, dass der gen klassische Antibiotika unempfindlich
Wirkstoffe war eine antimikrobielle Aktivi- Anteil der Medikamente mit negativen machen – und so selbst dann resistente
tät jedoch bisher nicht bekannt. Neben ei- Auswirkungen auf Darmbakterien sogar Krankheitserreger züchten, wenn gar keine
ner veränderten Darmflora könnten die un- größer ist als von ihnen gemessen. Schließ- Antibiotika zum Einsatz kommen. 
erwünschten antibakteriellen Effekte auch lich hätten sie nur einen kleinen Ausschnitt
Antibiotikaresistenzen fördern, so das Hei- der Bakterienvielfalt im Darm untersucht, (Spektrum – Die Woche, 12/2018)

15
TIERVERSUCHE

DIE ABKEHR VON KEIMFREIEN


LABORMAUSEN
von Cassandra Willyard
Mäuse für die Forschung werden
normalerweise in klinisch reinen
Käfigen gehalten. Ein paar Immunolo-
gen finden, ein wenig mehr Schmutz
und Keime dürften nicht schaden –
sondern eher helfen, Erkenntnisse
aus dem Labor auf den Menschen
zu übertragen.

ALUXUM / GE T T Y IMAGES / ISTOCK


16
Exklusive Übersetzung aus

A
n einem ungewöhnlich war- krankheiten erwartet Pierson bei seinen Nahrung und Wasserflaschen sterilisiert.
men Morgen im Februar Tieren nicht, immerhin aber tragen sie si- »Da wird wirklich viel dafür getan, natürli-
fährt Mark Pierson zu einer cherlich Krankheitserreger, die anderen che Infektionsquellen bestmöglich vom
größeren Tierhandlung in Mäuse im Forschungszentrum gefährlich Mäusekäfig fernzuhalten«, sagt David Ma-
Minneapolis, etwa 20 Mi- werden könnten. Die Neuen aus der Tier- sopust, der Immunologe und Laborleiter
nuten von ihm entfernt. Er arbeitet als Wis- handlung kommen in einen Käfig, in dem an der University of Minnesota, bei dem
senschaftler in der Immunologie an der schon eine Gruppe glänzend schwarzer La- auch Pierson arbeitet. Die Maßnahmen ha-
University of Minnesota und kommt regel- bormäuse lebt. Bisher wurden diese in ei- ben sich durchaus gelohnt, denn seit Krank-
mäßig, um Mäuse zu kaufen, und die Mit- ner extrem sauberen Umgebung gehalten, heitserreger als Störfaktoren unter Kont-
arbeiter kennen ihn schon. Heute verlangt frei von den meisten Krankheiten. Im Käfig rolle sind, erbrachten Versuche an Mäusen
er wieder einmal zehn Tierchen, die der teilen die Bewohner alles: Nahrung, Was- weniger variable Ergebnisse.
Angestellte geschickt aus dem Glaskasten ser, Nest – und vor allem Krankheitserre- Doch nun deutet eine ganze Reihe von
angelt. Der Wissenschaftler nimmt gerne ger. Sobald die neuen »schmutzigen« Mäu- Studien darauf hin, dass diese Sauberkeit
die kleineren Mäuse, weil die in der Regel se einziehen, werden einige der alten Be- auch ihren Preis hat, da das Immunsystem
jünger sind. Aber ganz so wählerisch ist er wohner wohl erkranken oder sogar sterben. der Nagetiere dabei langsam verkümmert.
dann doch nicht – wahrscheinlich haben Der Rest wird ein starkes Immunsystem Der Weg zur standardisierten und makello-
alle, was er will: Keime. entwickeln, das eher dem von Mäusen in sen Maus machte die Versuchstiere zu ei-
Die Mäuse kommen in eines der am freier Wildbahn ähnelt – und womöglich nem immer schlechteren Analog des Men-
strengsten kontrollierten Labors der USA: auch dem des Menschen. schen, dessen Immunsystem sich nun ein-
Hier werden üblicherweise gefährliche Piersons Vorgehen ist eigentlich ein No- mal in einer Welt voller Mikroben
Krankheitserreger wie Tuberkulose und Go und verstößt gegen alle Regeln. Seit entwickelt. Das bleibt womöglich nicht
das Chikungunya-Virus erforscht. Für den mehr als 50 Jahren unternimmt die Wis- ohne schwer wiegende Folgen für alle For-
Menschen schwer wiegende Infektions- senschaft große Anstrengungen, um mit scher, die Behandlungsmöglichkeiten und
möglichst sauberen Labormäusen arbei- Impfstoffe aus dem Labor in die Klinik
Cassandra Willyard ist Wissenschaftsjournalistin ten zu können. In den meisten Einrichtun- bringen wollen. Zwar kann im Moment nie-
in Madison, Wisconsin. gen werden die Käfige desinfiziert und die mand auf den Punkt bringen, wie die un-

17
bedingte Hygiene bei Standardmausmo-
dellen im Einzelnen Fehleinschätzungen
fördert, in jedem Fall aber muss die künst-
liche Umgebung einen gewissen Einfluss
haben, meint Masopust. Es ist kein Ge-
heimnis, dass erschütternd wenige der vie-
len am Tier entwickelten Therapien am
Ende dann tatsächlich bei Menschen funk-
tionieren: Einer Schätzung zufolge schei-
tern 90 Prozent aller Medikamentenent-
wicklungen in der klinischen Studie am
Menschen. »Man muss sich schon fragen,
ob die saubere Umgebung nicht für so
manche irreführenden Daten verantwort-
ISTOCK / DR A _SCHWARTZ

lich ist«, sagt Masopust.


Genau aus diesem Grund verwenden er
und andere Forscher inzwischen für Versu-
che auch stärker keimbelastete Versuchs-
tiere, um die natürliche Entwicklung des
Immunsystems besser abzubilden. Einige in Columbia am Mikrobiom forscht. Die »DIE MAUS WAR IMMER DER LIMITIEREN-
Gruppen infizieren ihre Mäuse dabei ge- Tierpfleger im Labor nehmen es normaler- DE SCHRITT IN DER UNTERSUCHUNG VON
zielt, andere transferieren ein eher natürli- weise sehr ernst mit der biologischen Si- KRANKHEITSGENEN«
ches Mikrobiom. Die nicht keimfreie Maus cherheit, und Mäuse sind eine wertvolle ... sagt Krebsforscher Wen Xue: Während er
birgt natürlich auch Risiken. Die Mäuse aus Ressource: »Niemand will hier einen Krank- im ersten Jahr seiner Doktorarbeit unermüd-
Tierhandlungen beherbergen ein Potpour- heitsausbruch provozieren.« lich daran arbeitete, Mäuse mit einer be-
rie an Krankheitserregern, als kämen sie stimmten Mutation heranzuziehen, bediente
direkt aus einem »von Charles Dickens be- Lass sie Dreck fressen er sich beim zweiten Mal der CRISPR/
schriebenen Waisenhaus«, scherzt Aaron Masopust interessiert sich schon seit mehr Cas9-Methode: »Da hatten wir die Maus nach
Ericsson, der an der University of Missouri als einem Jahrzehnt für die Hygienefrage. nur einem Monat.«

18
Zum Knackpunkt wurde für ihn die Frage, eher dem eines Säuglings als dem eines Minnesota, der auch mit Masopust zu-
wie sehr sich das Immunsystem von La- erwachsenen Menschen ähnelt. sammenarbeitet.
bormäusen doch von dem des Menschen Laut Masopust spielen vorausgegange- Doch das war dann erst einmal gar nicht
unterscheidet. Den Grund dafür vermute- ne Infektionen demnach eine wichtige Rol- so einfach, weil die Forscher anfangs kei-
ten Forscher zunächst in genetischen Un- le. Das würde aber bedeuten, dass sich das nen Platz für die keimbelasteten Tiere fan-
terschieden. Masopust aber hatte eher die Immunsystem der Labormäuse modulie- den. »Ich wollte natürlich auf keinen Fall
Umwelt- und Haltungsbedingungen der ren ließe, indem man die Tiere verschiede- die Mauskolonien meiner Kollegen konta-
Labormäuse im Verdacht und fragte sich: nen Erregern aussetzt. Und wenn die keim- minieren«, erklärt Masopust. Als er das Ex-
»Gilt das für alle Mäuse – oder nur für die arme Umgebung tatsächlich das Problem periment zum ersten Mal mit den Tierpfle-
im Labor?« ist, überlegte er, dann müsste man die Mäu- gern besprach, gab das durchaus Anlass für
Auf der Suche nach Antworten verglich se vielleicht nur unter schmutzigeren Be- helle Aufregung, erinnert er sich. Ein glück-
er das Immunsystem verschiedener Grup- dingungen halten. licher Zufall wollte es, dass die Universität
pen von Mäusen – eine Gruppe aus dem Er entwarf also ein scheinbar einfaches gerade ein Hochsicherheitslabor in Maso-
Labor und eine Gruppe aus der Tierhand- Experiment: Er wollte eine Maus aus der pusts Gebäude plante. Die Anlage wurde
lung beziehungsweise aus freier Wild- Tierhandlung zusammen mit mehreren für BSL-Stufe 3 (Biologische Schutzstufe 3)
bahn. Bei Labormäusen fanden sich im Mäusen aus dem Labor in ein und densel- konzipiert, wo zwar für den Menschen in-
Blut viel weniger Gedächtnis-T-Zellen ge- ben Käfig stecken. Die bisher keimarmen fektiöse Krankheitserreger vorhanden
gen Tumore und Infektionen; also Im- Mäuse würden alle möglichen Krankheits- sind, die Ausbreitung der Mauspathogene
munzellen, die auf einen früheren Kon- erreger der neuen Maus aufnehmen – auf andere Mäuse aber verhindert wird.
takt mit Erregern hindeuten und ein im- Pelzmilben, Madenwürmer oder Maus-He- Schon 2013 konnten sich Masopust und
munologisches Gedächtnis aufgebaut patitis –, um schließlich immunologisch seine Kollegen dort einen Raum sichern.
haben. Außerdem fehlten ihnen T-Zellen eher wie die Maus aus der Tierhandlung »Ich hatte Glück, dass hier nicht alles voll
in anderen Körpergeweben fast völlig, an- zu werden. Mit diesem Maus-Wohnge- ausgelastet war. Das Institut brauchte Ein-
ders als Menschen wie auch Mäusen aus meinschafts-Ansatz könnten die Forscher nahmen, und die Verantwortlichen waren
freier Wildbahn oder Tierhandlungen, in vielleicht »das Immunsystem unserer relativ offen«, erinnert er sich. Inzwischen
denen es von solchen gewebeständigen hoch geschätzten, gut definierten Inzucht- beherbergt dieser Raum 500 Mäuse in Plas-
Gedächtnis-T-Zellen nur so wimmelt. Ins- stämme dem Immunsystem des Men- tikkäfigen, jeder davon mit einer Hand voll
gesamt zeigten die Labormäuse ein weni- schen annähern«, erklärt der Immunolo- sehr gepflegter Labormäuse und einer rauf-
ger gut entwickeltes Immunsystem, das ge Stephen Jameson von der University of lustigen Maus aus der Tierhandlung.

19
Nach einem Monat Zusammenleben St. Louis, Missouri ein ähnliches Projekt Die letzte Herausforderung für das Im-
zeigten die ehemals superreinen Labor- zum Immunsystem von Labormäusen. Al- munsystem aller Mäuse war dann eine
mäuse immunologisch dieselben Eigen- lerdings wurden dabei Erreger nicht mit Gelbfieberimpfung mit lebenden »attenui-
schaften wie ihre Verwandten aus freier Hilfe von Mäusen übertragen: Stattdessen erten«, also abgeschwächten Viren.
Wildbahn oder der Tierhandlung. Sie hat- infizierten die Forscher die Tiere direkt, um Ähnlich wie schon Masopust fanden die
ten mehr differenzierte Gedächtnis-T-Zel- eine bessere Kontrolle zu behalten. »Ich Wissenschaftler auch hier deutliche Unter-
len als saubere Labormäuse, und sie entwi- wollte als Virologin einfach wissen, wel- schiede in den zwei Gruppen, sowohl im
ckelten gewebeständige Gedächtnis-T-Zel- ches Pathogen wirklich übertragen wird«, Gen-Expressionsprofil als auch in der Re-
len. Die normalen, sauberen Labormäuse sagt Tiffany Reese, die damals in Virgins aktion der Tiere auf die Impfung. Anfangs
waren mit Blick auf die Aktivitätsmuster Labor tätig war und jetzt am University of bildeten beide Gruppen noch vergleichbar
ihrer Gene immunologisch vergleichbar Texas Southwestern Medical Center in Dal- Antikörper; aber schon einen Monat später
mit neugeborenen Kindern; die von Tieren las als Virusimmunologin arbeitet. fanden sich bei den koinfizierten Mäuse
aus der Tierhandlung sowie aus den Maus- Die Forscher hatten vier Krankheitser- niedrigere Antikörperspiegel, auch wenn
wohngemeinschaften glichen eher Er- reger gezielt ausgewählt: zwei verschiede- bislang keiner sagen kann, ob dieser Unter-
wachsenen. Die keimbelasteteren Mäuse ne Herpesvirustypen, ein Influenzavirus schied die Wirksamkeit des Impfstoffs be-
erwiesen sich auch gegenüber einer Infek- und einen parasitischen Wurm, der eine einflusst hat. »Noch ist unklar, ob sich ein
tion mit Listeria monocytogenes als we- chronische Infektion im Dünndarm aus- bestimmter Nutzen zeigt«, erklärt Virgin.
sentlich resistenter. Dies konnten die For- löst – und damit eben jenes Gemisch von Er hofft natürlich, dass die Versuchemit
scher zeigen, indem sie einige Tiere mit Lis- Infektionen, das typischerweise viele Kin- den weniger rein gehaltenen Mäusen ganz
terien infizierten; drei Tage später war die der in Entwicklungsländern trifft. Die Mäu- allgemein zu einem besseren Verständnis
Zahl der Bakterien in diesen Tieren um se wurden sukzessive mit den einzelnen der Mechanismen im Immunsystem füh-
mehr als vier Größenordnungen gesun- Erregern infiziert, damit sich die Tiere zwi- ren.
ken – eine Reaktion, die mit der Reaktion schendurch immer wieder erholen konn-
von Labormäusen vergleichbar ist, die ge- ten; dies entspricht in etwa der natürlichen Die Wildnis ruft
gen das Bakterium extra geimpft wurden. Situation beim Menschen, der auch eher Andere Arbeitsgruppen holten ihre keim-
Schon kurz nachdem Masopust mit sei- nacheinander verschiedenen Infektionen belasteten Mäuse nicht aus Tierhandlun-
nen Arbeiten im BSL-3-Labor begonnen ausgesetzt ist. Dazu stellten die Forscher gen, sondern suchten sie in der freien Wild-
hatte, startete der Immunologe Herbert eine Kontrollgruppe von Mäusen bereit, bahn. So fuhr der Immunologe Stephan
Virgin von der Washington University in die zum Schein Kochsalzlösung erhielten. Rosshart vom US National Institute of Dia-

20
betes and Digestive and Kidney Diseases den Spender des Wildnismikrobioms: Es
(NIDDK) in Bethesda in Maryland Hunder- musste ein erwachsenes Tier sein, das ge-
te von Kilometern herum und fing wild le- netisch einer Labormaus ähnelte und frei
bende Mäuse in verschiedensten Pferde- von Krankheitserregern war, um nicht Ge-
ställen im Bundesstaat und im District of fahr zu laufen, die anderen Mäuse am Ins-
Columbia. titut anzustecken. »Ich habe lange ver-

ILIUTA / STOCK.ADOBE.COM
Rosshart hatte sich 2013 dem Labor der sucht, Stephan davon zu überzeugen, dass
Immunologin Barbara Rehermann am dies keine gute Idee ist, weil die Umsetzung
NIDDK angeschlossen. Die beiden Forscher sehr schwierig ist«, erinnert sich Reher-
machten erst einmal Literaturrecherche mann. Doch Rosshart ließ sich nicht davon
zum Mikrobiom, weil sie mehr über die Ge- abhalten. So fuhr er jeden Morgen drei bis
samtheit der Mikroorganismen auf und in zehn Scheunen an, leerte mehr als 100 »Gilt das für alle Mäuse –
größeren Lebewesen erfahren wollten. Ver-
schiedene Studien hatten bereits den Ein-
Mausefallen und fuhr mit den Mäusen zu-
rück ans NIH. Dann sezierte er sie und kon-
oder nur für die
fluss des Mikrobioms auf das Immunsys- servierte ihr Gewebe und ihren Kot. Am Labormäuse?«
tem gezeigt, wobei die meisten Veröffentli- Abend fuhr er dieselbe Route noch einmal
[David Masopust]
chungen auf dem Vergleich von zwei ab, sammelte weitere Mäuse und füllte
verschiedenen Populationen von Labor- neue Fallen mit Erdnussbutter als Köder.
mäusen basierten. Dabei lebt in der Regel Sein Tag begann morgens um halb fünf
die eine Gruppe der Tiere mit einem im La- und endete gegen Mitternacht – zwei Mo-
bor definierten Mikrobiom und die andere nate lang und sieben Tage die Woche. »In
ohne dieses. Was würde passieren, fragte der ersten Woche macht so etwas noch
sich Rosshart, wenn er einer Labormaus Spaß, aber nach einer Weile wird es dann
das Mikrobiom einer in Wildnis lebenden schon zur Herausforderung«, sagt er.
Maus verabreichte? Dabei würde der gene- Am Ende hatte Rosshart mehr als 800
tische Hintergrund der Maus bewahrt wer- Mäuse gefangen und präpariert. Mit sei-
den und nur die Physiologie an die ihrer nen Kollegen wählte er drei mit passender
wilden Verwandten angenähert werden. Genetik und ohne Anzeichen von Krank-
Rosshart hatte spezielle Anforderungen an heitserregern aus. Mikroben aus dem Kot

21
der Tiere übertrugen die Forscher dann auf mäuse sogar anfälliger für Wurminfektio- »Sie sind in vielerlei Hinsicht wegweisen-
schwangere, bisher keimfrei gehaltene nen. Grahams Labormäuse hatten einen de Modellsysteme«, sagt Alexander Maue,
Mäuse, die das Mikrobiom an ihre Nach- festen Zugang zum Freigehege; als die For- Leiter der Abteilung Mikrobiomprodukte
kommen weitergaben. Für die Auswertung scher die erste Gruppe an Mäusen hinaus- und Dienstleistungen bei Taconic Bio-
der Daten verglich das Team diese Mäuse ließ, begannen die Tiere sofort das Gehege sciences, einem Anbieter für Tiermodelle
mit anderen, keimfrei gehaltenen Mäusen, zu erforschen, Höhlen zu graben und neue mit Sitz in Rensselaer in New York. Diese
deren Mikrobiom aus der desinfizierten Nahrung zu suchen. »Sie wirkten glückse- Mäuse ermöglichen es seiner Meinung
Laborumgebung stammte. lig und machten die ganze Nacht durch«, nach »verschiedene Mechanismen der
Im Experiment selbst infizierten die erzählt sie. Die Erreger, auf die sie dort stie- schützenden Immunität zu untersuchen,
Wissenschaftler die Mäuse mit einem ßen, beeinträchtigten aber sehr deutlich die man im normalen Reinraum-Maus-
mausadaptierten Grippevirus. Diese Infek- ihre Fähigkeit, bestimmte Parasiten zu be- modell nicht erfassen kann«.
tion überlebten 92 Prozent der Mäuse mit kämpfen, wohingegen die Vergleichsmäu-
Wildnismikrobiom, verglichen mit nur 17 se aus Grahams Labor meist gut und schnell Modelle für Reihenuntersuchungen
Prozent der Mäuse mit Labormikrobiom. mit Parasiteninfektionen zurechtkamen. Unklar ist noch, welche Modelle für welche
Die Tiere mit Wildnismikrobiom entwi- Die Tiere mit Freigang waren »innerhalb Forschungsfragen am besten geeignet sind.
ckelten auch weniger schwere Erkrankun- weniger Wochen stark wurmbelastet«, sagt In Masopusts Experimenten beispielswei-
gen, als die Forscher sie noch Chemikalien sie, und noch ist unklar, wieso das so ist. se erhält jede Gruppe von Labormäusen ei-
aussetzten, die Darmkrebs auslösen. »Die Dies aufzuklären könnte auch bei der Fra- nen anderen Cocktail an Krankheitserre-
etwas provokante Hypothese lautet: Wenn ge weiterhelfen, wie das Immunsystem in gern. Das ist Fluch und Segen zugleich,
man eine Maus ihren Verwandten in der einer natürlichen Umgebung funktioniert. weiß er, aber auch die Menschen sind nun
Natur angleicht, wird sie zum besseren Mo- Vielleicht hat hier die Bekämpfung tödli- einmal sehr unterschiedlich. In Virgins
dell der Abläufe im Menschen, der eben- cher Erreger, wie Viren und Bakterien, Vor- Versuchsansatz dagegen erhalten die Mäu-
falls in der Natur lebt«, erklärt Rehermann. rang vor weniger fatalen Infektionen bei- se einen definierten Satz von Krankheitser-
Reine Auswilderung führt allerdings spielsweise mit Würmern, überlegt Ross- regern, wobei hier die Wirkung auf das Im-
nicht immer zur besseren Infektabwehr, hart. »Prinzipiell ist die Immunantwort munsystem nicht ganz so deutlich ist.
wie im vergangenen Monat das Team der perfekt gerüstet, gegen alles und jedes«, Eleanor Riley arbeitet als Immunologin
Evolutionsökologin Andrea Graham von fügt er hinzu. an der University of Edinburgh im Vereinig-
der Princeton University in New Jersey zei- Die Mausmodelle mit den Keimschleu- ten Königreich. Ihrer Meinung nach kann
gen konnte: So sind ausgewilderte Labor- dern haben für viel Aufregung gesorgt. keines der bisherigen Modelle genau abbil-

22
FREI LEBENDE HAUSMAUS
In freier Wildbahn treffen Mäuse schon früh
auf alle möglichen Krankheitserreger – was
ohne Frage zu einem gut trainierten Immun-
system beiträgt.

FALCONSCALL AGRIM / GE T T Y IMAGES / ISTOCK


den, was in der Natur passiert. Mäuse in vereinfachten Modell zu arbeiten«, sagt sie. doch auch Rosshart weiß genau, wie schwie-
freier Wildbahn unterscheiden sich in vie- Doch schon eine stark abgespeckte Ver- rig das Einfangen von Mäusen in der freien
lerlei Hinsicht von Labormäusen, dabei kann sion der freien Wildbahn in einem Labor Wildbahn ist.
die Ernährung eine Rolle spielen, aber auch nachzubilden, ist eine Herausforderung, Abzuwarten bleibt noch, ob sich die Be-
Tageslicht, Temperatur und Paarungsver- weiß Virgin. »Ich glaube, niemand bezwei- dingungen beim Menschen mit den Keim-
halten beeinflussen die Tiere. »Ich glaube, felt, dass hier wichtige Fragen zu klären schleudern überhaupt besser abbilden las-
wir müssen mehr mit Ökologen und Zoolo- sind. Aber solche Experimente erfordern sen als mit herkömmlichen, möglichst rein
gen zusammenarbeiten und uns die reale jede Menge Infrastruktur.« Das Wildnis-Mi- gehaltenen Labormäusen – besonders auch
Welt ansehen, sonst laufen wir Gefahr, in ei- krobiom-Modell umgeht viele der Proble- im Hinblick auf das Testen von Medika-
nem eher reduktionistischen und zu stark me beim Arbeiten mit Krankheitserregern; menten. Im Idealfall könnte man natürlich

23
untersuchen, ob ein bisher in klinischen angreift. In pathogenfreien Mäusen schei-
Studien gescheiterter Therapieansatz in nen etliche Therapien zu funktionieren,
den neuen Modellen dieselben Ergebnisse doch »viele der Ansätze ließen sich nicht
zeigt. gut auf den Menschen übertragen«, erklärt
Genau das macht nun Masopusts Grup- Campbell. Keimbelastete Mäuse haben ein
pe und arbeitet dafür mit zwei Pharmafir- besser entwickeltes Immunsystem als üb-
men zusammen. In einem Fall möchte das liche Labormäuse und könnten seiner Mei-
Unternehmen wissen, ob sich das Schei- nung nach ein realistischeres Modell zum
tern seines Therapieansatzes in der klini- Testen neuer Therapieansätze sein, insbe-
schen Studie mit Hilfe von Masopusts Mo- sondere zum Erkennen unerwünschter Ne-
dell hätte vorhersagen lassen. Für ein an- benwirkungen. »Sicherheit ist immer ein
deres Unternehmen testet Masopust eine wichtiges Thema«, sagt er.
Therapie, die in Reinraummäusen gut Das Wohngemeinschaftsmodell zum
funktioniert hat. Die vorläufigen Daten Laufen zu bringen, war eine Herausforde-
deuten allerdings darauf hin, dass die Be- rung – laut Campbell war es aber die Mühe
handlung bei den Keimschleudern eher wert. Sobald er ausreichend Tiere hat, könn-
keine bedeutende Wirkung hat. te er zahlreiche Fragen seiner Kollegen tes-
Auch in anderen Forschungsinstituten ten. »Sehr viele Forscher sind interessiert
wird immer häufiger mit keimbelasteten und wollen ihre Ansätze in den neuen Mo-
Mäusen gearbeitet. Der Immunologe Dani- dellen untersuchen«, schwärmt er. 
el Campbell vom Benaroya Research Insti-
tute in Seattle in Washington erhielt im (Spektrum – Die Woche, 17/2018)
vergangenen Dezember die Bewilligung ei- Der Artikel ist im Original »Squeaky clean mice could be
nes Antrags beim NIH, um seine eigenen ruining research« in »Nature« erschienen.
Mauspopulationen zu etablieren. Mit sei-
nen Kollegen zusammen möchte er Be-
handlungsansätze für Autoimmunität tes-
ten, einer Störung, bei der das Immunsys-
tem gesundes Gewebe im eigenen Körper
PROBIOTIKA

BAKTERIEN
ALS ARZNEIEN von Kathrin Burger
Probiotische Keime können womöglich sehr spezifisch gegen
diverse Leiden vorgehen. Forscher suchen nach einer neuen
Generation Probiotika im Darm.

ADVENT TR / GE T T Y IMAGES / ISTOCK


25
D
er New Yorker Mediziner Menschen zu wirken, etwa um das Immun-
William B. Coley staunte system zu stärken. Doch die Hersteller
nicht schlecht, als sich bei konnten die allgemeine Aussage »aktiviert
einigen seiner Krebspati- die Abwehrkräfte« nicht mit Studien bele-
enten der Tumor nach ei- gen, darum dürfen sie die Produkte seit »Den Studien an Mäusen
ner bakteriellen Infektion zurückbildete. 2012 nicht mehr unter dem Zusatz »Probi-
Er war der Erste, der Bakterien Antitumor- otika« verkaufen. müssen nun natürlich
wirkungen zuschrieb – das war im Jahr Laut einer Übersichtsstudie aus dem Humanstudien folgen«
1890. Die Idee hat heute wieder Hochkon- Jahr 2015 konnten diverse damals auf dem
junktur, in Zeiten, in denen die Blackbox Markt befindliche Probiotika in Lebens- [Stephan Bischoff]
Darmflora mit Hilfe von neuen und billi- oder Nahrungsergänzungsmitteln, vor al-
gen Technologien wie der High-Throug- lem Laktobazillen, auch nichts gegen Adi-
hput-Sequenzierung detailliert erforscht positas ausrichten. Selbst einigen Baby-
und analysiert werden kann. Zahlreiche milchnahrungen werden Probiotika zuge-
Forschergruppen sind nun auf der Suche setzt, um gegen Allergien zu schützen.
nach geeigneten Mikroben, die etwa gegen Doch auch hier fehlen Belege für einen ge-
Morbus Crohn, Diabetes Typ 1 oder Krebs sundheitlichen Nutzen. Die Verbraucher-
vorgehen könnten. Dabei haben sie reich- zentrale rät darum von diesen Lebensmit-
lich Auswahl: Mehr als 1000 Bakterienar- teln ab. Dafür plädieren die Verbraucher-
ten hat man bereits gefunden, manche schützer für Sauermilchprodukte und
Schätzungen gehen jedoch von bis zu vergorene Lebensmittel wie Sauerkraut, da
36 000 Arten aus. sie eine schützende Wirkung auf die Darm-
Als hilfreiche Mikroben identifizierte flora hätten und vermutlich das Immun-
Keime wären dann eine neue Generation system aktivieren.
von Probiotika, die eben nicht, in ein Trink- Für die medizinische Forschung bleiben
jogurt gemixt, im Supermarkt verkauft, Probiotika derweil interessant. So sieht
sondern vom Arzt verschrieben würden. etwa die Datenlage zu antibiotikaassoziier-
Das Prinzip des mit speziellen Laktobazil- ten Durchfällen bei Kindern besser aus.
len versetzten Jogurts ist es, bei gesunden Eine Cochrane-Analyse aus dem Jahr 2015

26
besagt, dass Kinder, die sich einer Antibio- dazukommen müssen, damit die Krank- die Krankheit vorantreiben. Eine Studiean
tikatherapie mit einer Extraportion Lacto- heit ausbrechen kann«, schreibt Hiutung der Jiangnan University in China hat 2017
bacilli spp., Bifidobacterium spp. oder Chu vom California Institute of Technolo- aufgedeckt, dass bei Mäusen mit einer ge-
Streptococcus spp. unterziehen, seltener gy in einer Studie aus dem Jahr 2016. Und netischen Prädisposition für Typ-1-Diabe-
von Diarrhöen betroffen sind als ohne. Ge- hier könnte B. fragilis ins Spiel kommen. tes mit Hilfe des Probiotikums Clostridium
nauer traten in der Probiotikagruppe bei Das Bakterium sondert nämlich Zucker- butyricum CGMCC0313.1 zumindest der
acht Prozent Beschwerden auf, in der Pla- moleküle über seine Außenhülle ab, und Ausbruch der Erkrankung hinausgezögert
cebogruppe waren es 19 Prozent. diese stimulieren Darmzellen zur Bildung werden kann. Dafür wurden Mäuse mit
von antientzündlichen Stoffen. »Es wurde dem Probiotikum gefüttert. Man sah, dass
Eine neue Generation? bereits in Versuchen an Mäusen gezeigt, dadurch so genannte »Tregs« hochregu-
Doch Laktobazillen sind eigentlich von ges- dass kranke Tiere von B.-fragilis-Gaben pro- liert wurden und das wiederum autoag-
tern. Derzeit suchen die Forscher nach ganz fitieren«, so Chu weiter. gressive Vorgänge in der Bauchspeichel-
neuen Mikroben mit Heilungspotenzial – Faecalibacterium-prausnitzii-Stämme drüse verminderte.
das »Microbial Mining« ist in vollem Gang. haben auch Probiotikaqualitäten, wie fran- Nützliche Mikroben können über die
»Wir brauchen dringend neue Probiotika«, zösische Forscher um Rebeca Martín von Bildung von antientzündlichen Substan-
sagt Stephan Bischoff, Gastroenterologe der Université Paris-Sarclay kürzlich ge- zen auch das Immunsystem beeinflussen.
an der Universität Hohenheim in Stuttgart. zeigt haben. Sie kommen in großen Men- Man weiß etwa aus früheren Studien, dass
So gibt es erste Kandidaten wie etwa Bacte- gen im Darm vor und machen fünf Prozent bestimmte Bakterien im Darm das Zytokin
roides fragilis. Das Bakterium gehört zur der Bakterienmasse bei gesunden Erwach- Interferon-Gamma bilden. Dieses treibt
natürlichen Darmflora des Menschen und senen aus. Bei Patienten mit Morbus Crohn, das Immunsystem dazu an, gegen patho-
könnte einmal chronisch entzündliche Übergewicht, Reizdarm, Darmkrebs und gene Keime wie Salmonellen vorzugehen.
Darmerkrankungen wie Morbus Crohn Zöliakie findet man jedoch weniger dieser Naama Geva-Zatorsky von der Harvard Me-
oder Colitis ulcerosa lindern. Keime im Stuhl. Martín hat nun verschie- dical School hat Mäusen mehr als 50 ver-
Etwa ein Prozent der Menschen welt- dene F.-prausnitzii-Stämme auf ihr Kön- schiedene Bakterienspezies verabreicht,
weit ist von diesen Leiden betroffen, aber nen hin untersucht. Besonders interessant wovon die meisten positive Wirkungen auf
die Raten steigen. Warum, bleibt bislang war, dass die Keime kurzkettige Fettsäuren das Abwehrsystem hatten.
ziemlich unklar. »Sicher ist, dass die Darm- im Darm bilden, die antientzündlich wir- Auch die Idee des New Yorker Arztes
krankheiten genetische Komponenten ha- ken.Auch bei der Entstehung des Typ-1-Di- William Coley, Bakterien gegen Krebs ein-
ben, aber auch Faktoren aus der Umwelt abetes sind es entzündliche Vorgänge, die zusetzen, wird weitergedacht. Eine Studie

27
aus dem Iran zeigte kürzlich, dass Aceto- Probiotika-Metabolite wie die Aminosäure
bacter syzygii dem Plattenepithelkarzinom D-Tryptophan gegen Asthma wirksam.
im Mundraum vorbeugt. A. syzygii ist ein »Den Studien an Mäusen müssen nun na-
Bakterium, das in verschiedenen fermen- türlich Humanstudien folgen«, betont Bi-
tierten Produkten vorkommt. Zudem ver- schoff. Er ist davon überzeugt, dass Bakte-
bessern Bakterien offenbar die Wirkung rientherapien ein wichtiger Teil der Medi-
von Chemotherapien. »Auch hier kommt zin sein werden.

POBY TOV / GE T T Y IMAGES / ISTOCK


wiederum Bacteroides fragilis in Betracht«, Auf dem Markt finden sich allerdings
so Stephan Bischoff. Bei Krebspatienten schon heute einige Probiotika wie etwa
beispielsweise, die die Immuntherapie Ipi- Symbioflor oder Omniflora M. Diese gelten
limumab erhalten, hängt es von den Bazil- jedoch rechtlich als Nahrungsergänzungs-
len ab, wie stark die Heilung voranschrei- mittel und müssen daher nicht in klini-
tet, das haben französische Forscher um schen Studien erprobt werden. Alles Hum-
Marie Vétizou vom Gustave Roussy cancer bug, also? »Nein«, meint Jan Wehkamp,
campus 2015 herausgefunden. Auch Akker- Gastroenterologe an der Uniklinik Tübin- »Nicht jeder Keimstamm
mansia muciniphila verbessert laut einer gen, »aber jeder Bakterienstamm hat un- nützt jedem Menschen«
Studie die Wirksamkeit von Chemothera- terschiedliche Eigenschaften; nicht jeder
peutika gegen Lungen- und Nierenkrebs. Keimstamm nützt also auch jedem Men- [Jan Wehkamp]
Parallel wurde in Versuchen an Mäusen be- schen.« Es gibt derzeit wenige seriöse Tests
stätigt, dass entsprechende Probiotika die zu den vielen Präparaten – an einem Über-
Arzneien verstärken. Krebsforscher be- blick versucht hat sich etwa das Magazin
zeichneten diese Funde als »äußerst viel »Focus« mit der Expertise von Wehkamp,
versprechend«. der auch Vorstand der Deutschen Gesell-
Andere Untersuchungen konnten zei- schaft für mukosale Immunologie und Mi-
gen, dass das Bakterium Christensenella krobiom (DGMIM) ist. Und tatsächlich eige-
minuta, das sich ebenfalls im Darm tum- nen sich einige Probiotika etwa gegen Reiz-
melt, hilfreich gegen übermäßige Pfunde darm oder bei der Therapie von Colitis
sein könnte. Einzelne Bestandteile der Mik- ulcerosa nach den akuten Krankheitsschü-
roben könnten als Arznei taugen. So waren ben. Allerdings können die Mikrobenarz-

28
neien auch Nebenwirkungen haben. Einige lich einen viel größeren Markt als medizi- SPEKTRUM KOMPAKT

APP
Probiotika waren vor allem bei Menschen nische Präparate. Indes, andere Ärzte he-
mit geschwächtem Immunsystem gefähr- gen Zweifel an dem Vorhaben: William
lich. Und Wehkamp rät: »Wer akute Entzün- Hanage, Epidemiologe und ebenfalls Har-
dungen vor allem im Verdauungstrakt hat, vard-Forscher, glaubt nicht, dass man ein-
sollte in dieser Situation darauf verzichten fach spezielle Mikroben von einem in den
und im Zweifelsfall seinen Arzt fragen.« anderen Darm verpflanzen kann und sie
Doch nicht nur in der Medizin könnten dort die gleichen, etwa leistungssteigernde
Probiotika zunehmend an Bedeutung ge- Wirkungen haben. »Es gibt unzählige Bak-
winnen. Sportwissenschaftler suchen nach terienstämme, und was ein Stamm bei ei-
Keimen, die die Performance verbessern ner Person für Effekte hat, muss nicht bei
könnten. Jonathan Scheimann von der Har- einer anderen Person auch so sein«, so Ha-
vard University hat etwa Mikroben im nage. Der Darm ist eben doch immer noch
Darm von Spitzenathleten aufgespürt, die eine Blackbox. 
besonders gut Milchsäure abbauen. Denn
Milchsäure ist die Substanz, die Muskeln (Spektrum – Die Woche, 14/2018)
und Fitness schlapp werden lässt. Derzeit
sammelt er auf der ganzen Welt Stuhlpro-
ben von Spitzensportlern, um andere Kei- Lesen Sie Spektrum KOMPAKT
me zu finden, die die Leistung oder auch optimiert für Smartphone und
die Muskelregeneration verbessern. Mit Tablet in unserer neuen App!
solchen »Champion-Mikroben« sollen in Die ausgewählten Ausgaben
einem nächsten Schritt Mäuse gefüttert
und ihre Leistung verglichen werden.
erwerben Sie direkt im
Und es geht Scheimann dabei gar nicht App Store oder Play Store.
nur um Profiathleten: »Unsere Produkte
sollten auch für Breitensportler geeignet
sein, die einfach nur fit und gesund sein
wollen.« Solche Probiotika hätten natür-
DARMGESUNDHEIT

Die dunkle Seite der Probiotika


von Daniel Lingenhöhl
NADISJA / GE T T Y IMAGES / ISTOCK

30
Probiotika erfreuen sich großer Beliebtheit und sollen die Darmgesundheit
stärken. Doch immer wieder kommt es zu Dünndarmfehlbesiedlungen –
mit gesundheitlichen Folgen.

I
n den letzten Jahren haben sich die Ein zusammenhängendes Problem für Ver- te, dass diese Personen regelmäßig Probio-
Hinweise verdichtet, dass sich der dauungsapparat und Gehirn lag für die tika zu sich nahmen – teilweise in exzessi-
Darm und seine Gesundheit auch Wissenschaftler deshalb nahe. ven Mengen.
auf unsere Psyche auswirken. Wo- Eine genauere Untersuchung des Darms Die zugefügten Bakterien tummelten
möglich beginnen sogar manche erbrachte riesige Kolonien an Lactobacil- sich jedoch nicht nur im Dickdarm – wo sie
psychischen Störungen und neuronalen lus-Bakterien im Dünndarm der Betroffe- keine Probleme machen –, sondern ebenso
Erkrankungen im Unterleib. Um ihre nen, die große Mengen an D-Milchsäure im Magen und im Dünndarm: Die Probio-
Darmgesundheit und ihrem Körper etwas produzierten, was bei den acht Vergleichs- tika hatten das Gleichgewicht der Darmflo-
Gutes zu tun, schlucken nicht wenige Men- personen nicht der Fall war. D-Milchsäure ra durcheinandergebracht und die Ansied-
schen deshalb probiotische Nahrungsmit- wirkt toxisch auf Neurone im Hirn und be- lung in anderen Teilen des Verdauungsap-
tel: Diese sollen die Zahl der »guten« Darm- einflusst dadurch das Gedächtnis, das Zeit- parats durch massive Zufuhr begünstigt.
bakterien erhöhen. Doch eine Einnahme gefühl und grundlegende Denkprozesse. Im Dünndarm werden normalerweise
kann auch unerwünschte Nebenwirkun- Manche der Probanden wiesen zwei- bis durch das dort typische Mikrobiom nur ge-
gen haben, wie Satish Rao von der Augusta dreimal so viel D-Milchsäure im Blut auf, ringe Mengen an D-Milchsäure produziert,
University und sein Team in »Clinical and wie normalerweise bei gesunden Men- die für den Organismus kein Problem be-
Translational Gastroenterology« berich- schen üblich ist. Die Bewusstseinseintrü- deuten. Lactobacillus aus den Probiotika
ten. Die Mediziner hatten insgesamt 30 bung trat bei ihnen rasch nach einem Es- setzen dagegen Zucker aus der Nahrung
Personen untersucht, von denen 22 unter sen auf und dauerte zwischen einer halben um und erzeugen dabei die D-Milchsäure:
Verwirrtheit und Konzentrationsproble- bis zu mehreren Stunden an. Einige der Pa- Die Substanz dringt durch die Darmwand
men zusammen mit geblähtem Bauch, tienten mussten deshalb sogar ihre Arbeit ins Blut vor und gelangt darüber auch ins
Magenschmerzen sowie Flatulenzen litten. aufgeben, so Rao. Eine Befragung erbrach- Gehirn. »Wenn Sie also unbeabsichtigt Ih-

31
KOMPAKT
ren Dünndarm mit den Milchsäurebakte-
rien besiedeln, bereiten Sie womöglich die
Bühne für Laktatazidose und Bewusst-
seinseintrübung vor«, sagt Rao.
»Probiotika sollten als Arznei betrachtet
werden, nicht als Nahrungsergänzungs-

GESUND
mittel«, betont der Mediziner. Viele Men-
schen würden die damit angereicherten
Lebensmittel einfach nehmen, weil sie sich

FOXYS_FOREST_MANUFACTURE /
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ESSEN
davon eine bessere Verdauung und prinzi-
piell einen gesünderen Körper verspre-
chen. Die Mittel seien nützlich, um die
Darmflora nach einer Antibiotikabehand-
lung neu aufzubauen, doch sollte der Kon-
sum sonst eher dezent stattfinden. Zuvor Ein medizinischer Blick auf den Teller
hatte es bereits Berichte gegeben, dass Pro-
biotika bei Menschen mit Kurzdarmsyn- Herzkrankheiten | Helfen Vitaminpillen und Co?
drom zu den beschriebenen Problemen Clean Eating | Ernährungstipps mit Fragezeichen
führen – bei ihnen war der Dünndarm we- Orthorexie | Am Rand zur Essstörung
gen einer Operation oder durch einen an-
geborenen Fehler verkürzt. Die 22 Proban- FÜR NUR

den aus der Studie nahmen anschließend HIER DOWNLOADEN € 4,99

Antibiotika ein und konsumierten keine


weiteren Probiotika mehr im Verlauf der
Studie, so dass ihre Beschwerden schließ-
lich nachließen und verschwanden.  

(Spektrum – Die Woche, 32/2018)


KREBS

THERAPEUTISCHE
Darmflora
von Giorgia Guglielmi
Die bakterielle Darmflora
beeinflusst offenbar, wie gut
Tumortherapien wirken.
Lässt sich das medizinisch
nutzen?
SOMKKU / GE T T Y IMAGES / ISTOCK

33
I
m Jahr 2015 erlangte Bertrand Routy University of Montreal Health Centre in
zweifelhafte Berühmtheit unter den Kanada arbeitet. AUF EINEN BLICK
Pariser Krebsmedizinern. Als Dokto- In den zurückliegenden Jahrzehnten ha-
rand am Gustave-Roussy-Krebszen- ben revolutionäre Erkenntnisse über die Be-
Hilfreiche Mikroben
trum suchte er eine Klinik nach der deutung des menschlichen Mikrobioms 1 W
 elche Mikroorganismen uns besiedeln,
anderen auf, um Stuhlproben von Patienten (also der Gesamtheit der Mikroben, die den hat großen Einfluss darauf, welche Krank-
zu erbitten, die eine Krebstherapie hinter Menschen besiedeln) die Biomedizin gründ- heiten wir bekommen und wie erfolgreich
sich hatten. »Die Ärzte verspotteten mich lich umgekrempelt. Forscher erkannten Zu- deren Behandlung verläuft.
und nannten mich Monsieur Kacka«, erin- sammenhänge zwischen der Darmflora
2 K
 rebsimmuntherapien schlagen bei Pa-
nert sich Routy. und dutzenden Erkrankungen, von Depres- tienten besonders gut an, in deren Mikrobi-
Doch das Gelächter verebbte, als Routy sion bis Fettleibigkeit. In der Krebsmedizin om bestimmte Bakterienstämme vertreten
und seine Mitarbeiter das Ergebnis ihrer kam diese Revolution erst ziemlich spät an. sind.
Arbeit publizierten: Belege dafür, dass be- Immerhin liegen mittlerweile einige Hin-
stimmte Darmbakterien die Wirkung einer weise darauf vor, dass das Mikrobiom Tu- 3 F orscher untersuchen deshalb, ob sich die
Darmflora von Krebspatienten so verän-
Krebsbehandlung verbessern. Nun wollen morerkrankungen mitverursachen kann.
dern lässt, dass die Therapie besser wirkt.
die gleichen Mediziner, die sich einst lustig So begünstigen Entzündungen die Entste-
machten, unbedingt Stuhlproben ihrer Pa- hung verschiedener Krebsarten, und es gibt
tienten untersuchen lassen, um Hinweise infektionsbedingte Geschwulste. Doch erst,
darauf zu bekommen, wer voraussichtlich nachdem die Immuntherapien zum großen
auf die geplante Behandlung ansprechen neuen Hoffnungsträger der Krebsmedizin
wird. »Unsere Daten haben einigen Kolle- aufgestiegen waren, begannen Forscher in-
gen die Augen geöffnet, die zuvor nicht tensiver zu untersuchen, wie die Darmflora
glauben wollten, dass Darmbakterien die den Behandlungserfolg beeinflusst und wie
Effekte einer Tumortherapie beeinflus- sich dies therapeutisch nutzen lässt.
sen«, berichtet Routy, der inzwischen am Nachdem erste Studien an Mäusen und
auch mit menschlichen Teilnehmern ge-
zeigt hatten, dass die Wirkung von Krebsme-
Giorgia Guglielmi ist Wissenschaftsjournalistin und dikamenten stark abhängt von den Darm-
berichtet aus Washington D. C. für »Nature«. bakterien des behandelten Individuums,

34
machten sich Wissenschaftler daran, die zu dass chronische Infektionen mit dem Bak- mid, das bei Chemotherapien eingesetzt
Grunde liegenden Mechanismen aufzuklä- terium Helicobacter pylori das Risiko eines wird, die Schleimschicht des Darms schä-
ren. Derzeit laufen mehrere klinische Stu- Magenkarzinoms erhöhen. Seither sind digt. Infolgedessen wandern Darmbakteri-
dien, die klären helfen sollen, ob sich der Ef- mehrere weitere Bakterienarten mit Krebs en in Lymphknoten und Milz ein, wo sie
fekt einer Therapie verbessern lässt, indem in Verbindung gebracht worden. Einige von bestimmte Immunzellen aktivieren. Bei
man das Mikrobiom des Patienten verän- ihnen provozieren Entzündungen und zer- Mäusen, die ohne Darmbakterien aufwach-
dert. Einige Befürworter hoffen darauf, dass stören die Schleimschicht, die den Orga- sen oder mit Antibiotika behandelt wor-
dies die Krebsmedizin entscheidend voran- nismus vor äußeren Erregern schützt. Sie den sind, ist der Arzneistoff als Krebsmedi-
bringen könnte. »Das ist ein viel verspre- schaffen damit ein Milieu, welches das Tu- kament weitgehend unwirksam. Ausge-
chender Weg«, meint etwa Jennifer Wargo, morwachstum fördert. In anderen Fällen hend von diesem Befund beschloss Zitvogel
Chirurgin und Onkologin am MD Anderson helfen die Mikroben entarteten Zellen, in- zu untersuchen, ob Darmmikroben auch
Cancer Center in Houston, Texas. Andere dem sie diese unempfindlich gegenüber die Wirkung so genannter Immuncheck-
Wissenschaftler jedoch finden, dass es für Krebsmedikamenten machen. point-Inhibitoren beeinflussen. Bei ihnen
klinische Studien noch zu früh sei. Der Epi- handelt es sich um Antikörper, die an Ober-
demiologe William Hanage von der Harvard Antibiotikabehandlungen können flächenmoleküle von T-Lymphozyten bin-
University (Cambridge, Massachusetts) Krebsmedikamente unwirksam machen – den und so verhindern, dass die T-Zellen
nennt das Konzept »phänomenal interes- jedenfalls bei Mäusen gehemmt werden. Immuncheckpoint-In-
sant«, fügt jedoch hinzu: »Ich sorge mich Umgekehrt können Bakterien auch beim hibitoren richten sich beispielsweise ge-
ein wenig darum, dass verbreitet die Auffas- Bekämpfen von Tumoren helfen. Im Jahr gen die T-Zell-Oberflächenmoleküle CTLA-
sung besteht, Veränderungen des Mikrobi- 2013 haben ein Team um Laurence Zitvogel 4 oder PD-1 und entfesseln die Immunre-
oms würden sich stets günstig auswirken.« vom Gustave-Roussy-Krebszentrum und aktion gegen Tumorzellen; sie werden zur
Obwohl ein breites Interesse am The- ein weiteres um Romina Goldszmid und Behandlung verschiedener Krebsarten ein-
menkomplex Mikrobiom und Krebsim- Giorgio Trinchieri vom National Cancer In- gesetzt. Leider schlägt die Therapie nur bei
muntherapie erst seit wenigen Jahren be- stitute in Bethesda (Maryland) gezeigt: Ei- 20 bis 40 Prozent der Patienten an.
steht, gibt es einige Forscher, die den nige Krebstherapien sind darauf angewie- Im Jahr 2015 publizierten Zitvogel und
Zusammenhang zwischen Magen-Darm- sen, dass Darmbakterien die Immunreakti- ihre Mitarbeiter Ergebnisse, wonach krebs-
Bakterien und Tumorerkrankungen schon on verstärken. kranke Mäuse, die in steriler (also mikro-
viel länger untersuchen. Bereits in den Zitvogel und ihre Kollegen fanden her- benfreier) Umgebung leben, auf die Be-
1990er Jahren erkannten Wissenschaftler, aus, dass das Zytostatikum Cyclophospha- handlung mit einem Immuncheckpoint-

35
Inhibitor nicht ansprechen. Besser wirkt handelt worden sind, tendenziell schlech- dauungstrakt von Melanompatienten, bei
die Therapie demnach bei Nagern, die mit ter auf Immuntherapien ansprechen. denen diese Therapie bislang wirkungslos
Bacteroides fragilis besiedelt sind. Andere Um diesen Zusammenhang weiter zu geblieben ist. Die Technik wird Transplan-
Forscher machten ähnliche Beobachtun- untersuchen, übertrugen die Forscher Bak- tation des intestinalen Mikrobioms ge-
gen. Thomas Gajewski beispielsweise, terien aus dem Darm menschlicher Patien- nannt, und Merck hat rund eine Million
Krebsmediziner an der University of Chi- ten in den Verdauungsapparat von Mäusen, US-Dollar in die Studie investiert.
cago in Illinois, berichtete, dass Bifidobak- die an vergleichbaren Krebserkrankungen
terien die Wirkung einer Krebsimmunthe- litten. Erhielten die Tiere Bakterienstämme Umzug von einem Organismus
rapie bei Mäusen verstärken. Diese Mikro- von Patienten, bei denen die Behandlung ei- in einen anderen
ben gehören zur normalen Darmflora und nen guten Erfolg gehabt hatte, ließ die Gabe Wargo ist in eine ähnliche Untersuchung in-
fördern die körpereigene Abwehrreaktion von Immuncheckpoint-Inhibitoren ihre Tu- volviert. Zusammen mit dem Parker Institu-
gegen Tumorzellen. moren stärker schrumpfen als bei Nagern, te for Cancer Immunotherapy in San Fran-
Die Onkologin Jennifer Wargo erfuhr deren menschliche Mikrobiomspender cisco und dem Biotechnologie-Unterneh-
von diesen Ergebnissen bei einem wissen- nicht von der Behandlung profitiert hatten. men Seres Therapeutics in Cambridge
schaftlichen Meeting 2014. Zurück am MD »Diese Ergebnisse sind höchst interessant«, (Massachusetts) wird sie prüfen, ob die Über-
Anderson Cancer Center begann sie sofort betont Neeraj Surana, Mikrobiologin am tragung von Darmbakterien das Mikrobiom
damit, Stuhlproben von Hautkrebspatien- Boston Children's Hospital, »sie eröffnen von Krebspatienten so verändern kann, dass
ten zu sammeln, die an ihrem Krankenhaus die Möglichkeit, die neuen Erkenntnisse zur eine Immuntherapie besser wirkt.
eine Immuntherapie erhalten sollten. Im Rolle des Mikrobioms therapeutisch anzu- Die Transplantation des intestinalen Mi-
November 2017 veröffentlichten sie, Gajew- wenden.« krobioms ist bei einigen anderen Erkran-
ski und Zitvogel ihre gesammelten und Einige Wissenschaftler betreiben bereits kungen bereits ein bewährtes Verfahren. Im
übereinstimmenden Ergebnisse im Fach- entsprechende klinische Studien. Hassane Februar 2018 beispielsweise empfahl die In-
blatt »Science«, wonach Immuntherapien Zarour, Immunologe an der University of fectious Diseases Society of America (Ame-
besser bei Patienten wirken, in deren Darm- Pittsburgh, arbeitet dabei mit dem Phar- rikanische Gesellschaft für Infektionskrank-
flora bestimmte Bakterienstämme vertre- maunternehmen Merck zusammen. Sein heiten), damit Darminfektionen zu behan-
ten sind. Die vielen Stuhlproben, die Routy Team sammelt Darmbakterien von Krebs- deln, die vom bakteriellen Erreger
in den Pariser Kliniken gesammelt hatte, kranken, bei denen die Behandlung mit ei- Clostridium difficile verursacht sind und
halfen Zitvogels Team auch nachzuweisen, nem Immuncheckpoint-Inhibitor ange- sich mit anderen Methoden nicht zurück-
dass Krebskranke, die mit Antibiotika be- schlagen hat, und überträgt sie in den Ver- drängen lassen. Doch der Mikrobentransfer

36
GUGLIELMI, G.: GUT MICROBES ARE JOINING THE FIGHT AGAINST CANCER. IN: NATURE 557, S. 482-484, 2018
Kleine Helfer – große Wirkung
Immuncheckpoint-Inhibitoren, die sich gegen die Moleküle CTLA-4 oder PD-1 richten, können eine star-
ke Immunreaktion gegen Tumoren entfesseln. Bei einigen Patienten führen sie zu sehr guten Behand-
lungserfolgen, bei anderen hingegen schlagen sie kaum oder gar nicht an. Studien haben gezeigt, dass
dies unter anderem von der Zusammensetzung des körpereigenen Mikrobioms abhängt.

Anti-CTLA-4
Checkpoint-Inhibitoren gegen CTLA-4 ermöglichen es T-Lymphozyten mit Antitumoraktivität, sich zu
vervielfältigen. Oberflächenmoleküle des Bakteriums Bacteroides fragilis intensivieren die Abwehrreak-
tion noch weiter, indem sie bestimmte Immunzellen, die dendritischen Zellen, in den Lymphknoten dazu
veranlassen, den Botenstoff Interleukin-12 zu produzieren. Das wiederum stößt die T-Helfer-
zell-1(TH1)-Immunantwort an und verstärkt damit die Wirkung der Therapie.
Lymphknoten

Darm
dendritische Tumor
Zelle IL-12

TH1

Bacteroides fragilis

Bifidobakterien

CTL

Anti-PD-1
Checkpoint-Inhibitoren gegen PD-1 blockieren ein Molekül, das Krebszellen
gegen Immunattacken abschirmt. Derweil aktivieren mehrere Bifidobakterienstämme
dendritische Zellen im Tumor. Das führt zu einer erhöhten Anzahl zytotoxischer
T-Lymphozyten (CTL), die Krebszellen zerstören, und unterstützt damit die Tumorbekämpfung.
37
birgt auch Risiken. Damit die Patienten me die Tumorabwehr, indem sie die Akti- Angesichts all dieser Unklarheiten be-
nicht unbeabsichtigt mit gefährlichen Kei- vierung des Immunsystems erleichtern. fürchten einige Wissenschaftler, es könne
men infiziert werden, sind aufwändige Un- Doch der exakte Mechanismus bleibt rät- riskant sein, entsprechende Verfahren
tersuchungen der Spender und des zu über- selhaft – einschließlich der Frage, welche schon jetzt an menschlichen Probanden zu
tragenden Präparats erforderlich. Bakterien welche Immunzellen modulie- testen. Unerwünschte Nebenwirkungen
Um solche Schwierigkeiten nach Mög- ren. Die Forscher hoffen, dass die klini- seien möglich, betont etwa die Mikrobiolo-
lichkeit zu umgehen, wird Wargos Team schen Studien helfen werden, dies aufzu- gin Neeraj Surana. Das Mikrobiom zu ver-
gemeinsam mit dem Parker Institute und klären. Wargo und ihre Mitarbeiter bei- ändern, könnte unter Umständen weitere
Seres Therapeutics zusätzlich auch oral spielsweise nehmen bakterielle Stoff- Gesundheitsprobleme nach sich ziehen.
einzunehmende Kapseln testen. Diese sol- wechselprodukte in den Blick. Sie halten es Beim Übertragen von Darmbakterien
len einen Mix aus Sporen bildenden Bakte- für möglich, in Stuhl- und Blutproben von gibt es noch viele Unbekannte. Bisher hat
rien enthalten, welche zuvor aus dem Darm Krebskranken, bei denen die Therapie gut sich die Methode zumindest bei Patienten
erfolgreich behandelter Patienten isoliert anschlägt, spezifische Spuren solcher Subs- ohne Krebserkrankungen als wirksam und
und gereinigt wurden. Gajewski und seine tanzen zu finden. Auch die jeweiligen An- sicher erwiesen – jedenfalls im Großen und
Partner beim Biotech-Unternehmen Evelo zahlen verschiedener Immunzelltypen in Ganzen, traten doch hin und wieder auch
Biosciences in Cambridge setzen auf die Blut und Tumorgewebe könnten Auf- unerwartete Effekte auf. So nahm ein Teil-
gleiche Strategie. Sie untersuchen die Wir- schluss über die beteiligten Mechanismen nehmer infolge der Behandlung stark zu
kung von Pillen, die einzelne Bakterien- geben. und wurde fettleibig. Forscher wie Wargo
stämme enthalten, auf Patienten mit ver- Gajewski spekuliert, die Bakterien könn- meinen dennoch, die Zeit sei reif für ent-
schiedenen Krebserkrankungen, darunter ten die Immunreaktion dadurch entfesseln, sprechende Studien.
Darm- und Hautkrebs. Zitvogel wiederum dass sie Zellen der Darmschleimhaut dazu
hat das in Delaware ansässige Unterneh- anregen, bestimmte Signalmoleküle zu pro- Seit Jahrtausenden ein
men EverImmune mitbegründet, das duzieren. Er und sein Team untersuchen massenhaft verzehrter Bestandteil
ebenfalls oral zu verabreichende Mikrobi- nun an Mäusen, ob Immunvorläuferzellen von Milchprodukten
ompräparate entwickelt. im Blut ihr Verhalten ändern, wenn die Tie- Gajewski, der mit Bifidobakterien arbeitet,
Noch ist nicht genau bekannt, auf wel- re bestimmte Bakterien verabreicht bekom- sieht gute Gründe, zuversichtlich zu sein:
che Weise Bakterien mit Immuntherapien men. Zugleich versuchen die Forscher, die- »Diese Mikroben sind schon seit Jahrtau-
interagieren. Einer gängigen Hypothese jenigen Bakterienstämme zu identifizieren, senden Bestandteil von Milchprodukten
zufolge verstärken einige Mikrobenstäm- die dabei positive Effekte vermitteln. und werden in großen Mengen verzehrt.«

38
Im Kindes- und Jugendalter gehörten sie (IHMS) ins Leben zu rufen, das die Repro- soll, könnten hier Abhilfe schaffen. Doch
zur normalen Bakteriengesellschaft des duzierbarkeit von Ergebnissen in der Mi- werden die Wissenschaftler sie voraus-
Verdauungstrakts; bis zum Erwachsenen- krobiomforschung verbessern soll. sichtlich nur widerwillig in ihre Arbeit in-
alter nehme ihre Besiedelungsdichte all- Laut Hanage kann es sogar innerhalb ei- tegrieren, gibt Susan Erdman zu bedenken,
mählich ab. Das Verabreichen von Bifido- nes Landes und bei Patienten mit dersel- die als Mikrobiologin und Onkologin am
bakterien sollte daher, falls nicht nützlich, ben Tumorart vorkommen, dass verschie- Massachusetts Institute of Technology in
so doch zumindest unbedenklich sein. dene Studien jeweils andere Mikroben- Cambridge (Massachusetts) tätig ist. Erd-
Wargos, Gajewskis und Zitvogels ge- stämme ergeben, die mit günstigen man befürchtet, die Standardisierung
meinsam in »Science« publizierte Ergeb- Therapieverläufen einhergehen. Erst wenn könnte Innovation verhindern, denn gera-
nisse zeigen, dass sich besonders günstige die Forscher herausgefunden hätten, wor- de das Experimentieren mit verschiede-
Behandlungsverläufe bei ganz verschiede- auf diese Abweichungen zurückzuführen nen Randbedingungen führe zu neuen
nen Zusammensetzungen des Mikrobioms seien, ließen sich auch die Ergebnisse der Entdeckungen.
einstellen können – selbst bei ein und der- Untersuchungen richtig interpretieren, be- Wargo zufolge sollten wenigstens die
selben Krebsart und Therapieform. Aller- tont der Epidemiologe. Klinische Studien Methoden der Probengewinnung und Da-
dings haben die Forscher dabei Krebspati- mit gezielten Mikrobiomveränderungen tenanalyse standardisiert werden – und
enten aus Frankreich und den USA unter- seien erst dann wirklich sinnvoll, wenn die auch die Verfahren, um die Therapiewir-
sucht. Dass sich von Patientengruppe zu verschiedenen Arbeitsgruppen die Ergeb- kung an größeren Patientengruppen zu be-
Patientengruppe jeweils verschiedene Bak- nisse der jeweils anderen reproduzieren stätigen. Zwischen 2017 und 2018 haben sie
terien als nützlich erwiesen, könnte also an könnten und sich untereinander auf einen und ihr Team Stuhlproben von mehr als
unterschiedlichen Ernährungsgewohnhei- Satz »vorteilhafter« Mikroorganismen ge- 500 Hautkrebspatienten analysiert, die
ten gelegen haben. Doch auch Variationen einigt hätten. verschiedene Behandlungen durchlaufen
in der Methode der Probengewinnung, in Das Problem mangelnder Reproduzier- hatten. Gemeinsam mit Kollegen in Paris
der Datenanalyse und der statistischen Me- barkeit ist in der Mikrobiomforschung alt- untersuchen sie nun solche Patienten, die
thodik hätten die Ergebnisse möglicher- bekannt. »Viele Studienergebnisse lassen eine Kombination aus zwei Immunthera-
weise beeinflusst, sagt Joël Doré, Biologe sich entweder nicht bestätigen, oder die pien erhalten haben, um herauszufinden,
am französischen Institut National de la damit verbundenen Sachverhalte erweisen welche Darmbakterien ein Ansprechen auf
Recherche Agronomique (INRA) in Paris. Er sich als erheblich komplexer als zunächst dieses Doppelverfahren begünstigen.
war 2011 daran beteiligt, das Projekt Inter- angenommen«, berichtet Hanage. Stan- Forscher wie Wargo hoffen, die Analyse
national Human Microbiome Standards dards, wie sie das IHMS-Projekt entwickeln der Darmflora könnte künftig voraussagen

39
KOMPAKT
helfen, welcher Patient von welcher Be-
handlung profitieren wird. Die Zusammen-
setzung des Mikrobioms würde dann als
Biomarker genutzt. Bis es so weit ist, müs-
sen die Wissenschaftler allerdings noch viel
mehr Proben sammeln. Dieses Mal werden
gewiss nicht so viele Ärzte ihre Witze darü-
ber machen, prophezeit Routy: »In der FÜR NUR
Krebsmedizin sind Darmbakterien von un- € 4,99

beachteten zu höchst interessanten Orga-

CRISPR/CAS
nismen aufgestiegen. Nun müssen sie die-
ser Erwartung freilich gerecht werden.« 

© Nature Publishing Group www.nature.com Nature 557, Eingriff ins menschliche Genom
S. 482–484, 2018
Basiswissen | Was ist CRISPR/Cas und wie funktioniert es?
(Spektrum der Wissenschaft, Januar 2019)
Gopalakrishnan, V. et al.: Gut Microbiome Modulates Res-
Keimbahntherapie | Menschendesign durch die Hintertür
ponse to Anti-PD-1 Immunotherapy in Melanoma Patients. Die Wegbereiterin | Emmanuelle Charpentier
In: Science 359, S. 97–103, 2018
Matson, V. et al.: The Commensal Microbiome Is Associa-
ted with Anti-PD-1 Efficacy in Metastatic Melanoma Pati-
ents. In: Science 359, S. 104–108, 2018
Routy, B. et al.: Gut Microbiome Influences Efficacy of PD-1-
Based Immunotherapy Against Epithelial Tumors. In: Sci-
ence 359, S. 91–97, 2018
Sharma, P. et al.: Primary, Adaptive, and Acquired Resistan-
ce to Cancer Immunotherapy. In: Cell 168, S. 707–723,

LCS813 / GETTY IMAGES / ISTOCK


2017 HIER DOWNLOADEN
K TM_2016 / GE T T Y IMAGES / ISTOCK
FACHWORTSCHATZ
Im Stuhl entdeckt
von Jan Dönges

41
In vitro, in vivo, in situ, sogar in silico kennt man. Aber wie
nennt man die Funde, die Forscher in Exkrementen
machen? Dafür gibt es jetzt einen offiziellen Vorschlag.

M
enschliche Exkremen- Um nicht nur einen passenden, sondern gegen die Verwendung dieses Wortes aus.
te sind ein höchst auf- auch sprachhistorisch korrekten Ausdruck »Fimus« hingegen stamme ursprünglich
schlussreiches Unter- zu identifizieren, nahmen sie die Hilfe des aus dem landwirtschaftlichen Kontext,
suchungsobjekt, verra- Altphilologen Luca Grillo, derzeit an der habe dann »mit der Zeit einen literarischen
ten sie doch viel über University of Notre Dame, in Anspruch. Beiklang bekommen«, so die Autoren. Es
unsere Darmflora und deren Einfluss auf Gemeinsam studierten sie die alten Klassi- sei das bevorzugte Wort von Vergil, Livius
Körper und Geist des Menschen. Allerdings ker von Cicero bis Vergil und deren Fäkal- und Tacitus gewesen.
fehlt dem Feld noch das richtige, sprich: la- vokabular (»faeces« bezeichnete seinerzeit Damit war die Entscheidung gefallen.
teinische, Fachvokabular für den Umgang übrigens allgemein Bodensatz, nicht nur Ob sich »in fimo« als Bezeichnung durch-
mit derart pikanten Gegenständen. Mikro- den auf dem Boden des Nachttopfs). Wie setzt, wird sich erst mit der Zeit zeigen. Auf
ben kann man beispielsweise in ihrer na- sich herausstellte, verwendeten die Römer Konferenzen jedenfalls habe ihr neuer Aus-
türlichen Umgebung (in vivo) untersuchen mindestens vier neutrale Synonyme für druck bereits das Wohlgefallen ihrer Kolle-
oder im Reagenzglas (in vitro). Wie aber Kot: »laetamen«, »merda«, »stercus« und gen gefunden, schreiben sie in ihrem Bei-
nennt man es, wenn das Bakterium aus der »fimus«. trag. 
Stuhlprobe stammt? Dann gingen sie nach dem Ausschluss-
Diese sprachliche Lücke hoffen nun prinzip vor und eliminierten »laetamen«, (Spektrum.de, 03.01.2019)
Matthew Redinbo von der University of das eher nur für Mist stand, der zur Dün-
North Carolina at Chapel Hill und Kollegen gung vorgesehen war, sowie »merda« auf
schließen zu können: »In fimo« soll es Grund seiner Assoziation zum vulgären
künftig heißen, wenn eine Entdeckung aus französischen »merde«. Blieben »stercus«
dem Kot kommt. Für diesen Vorschlag wer- und »fimus«. Ersteres hatte zu Zeiten Cice-
ben sie jetzt in einem Beitrag für das Fach- ros wohl ebenfalls eher anstößigen Charak-
magazin »Gastroenterology«. ter, jedenfalls sprach sich der große Redner

42
DARMFLORA-ÜBERTRAGUNG

Wer hat den


Super-Darm?
von Lars Fischer
Das Mikrobiom bestimmter »Super-
spender« kuriert chronische Darmleiden,
behauptet eine Arbeitsgruppe. Doch
ist der Befund echt – oder womöglich
reiner Zufall?

E
ine echte medizinische Erfolgs-

SOLSTOCK / GE T T Y IMAGES / ISTOCK


geschichte ist der Mikrobiom-
transfer, salopp gerne auch als
Stuhltransplantation bezeich-
net – aber gleichzeitig die Ge-
schichte vieler uneingelöster Versprechen.
Die ungewöhnliche Therapieform hat sich

43
einerseits als schlagkräftige Waffe gegen oft aber auch nicht. Morbus Crohn bessert ten Mikrobiomkapseln womöglich voreilig
den Keim Clostridium difficile und die von sich dadurch in etwa der Hälfte der Fälle, sei; die außergewöhnlichen Behandlungs-
ihm ausgelösten schweren Durchfälle eta- Colitis ulcerosa jedoch in zwei Dritteln der erfolge einzelner Personen deuten darauf
bliert. Andererseits sollte die Technik viel Fälle nicht, zitiert sie eine aktuelle Studie. hin, dass es eine starke individuelle Kom-
mehr können. Eine lange Liste von Krank- ponente beim Mikrobiomtransfer gebe.
heiten und Beschwerden, darunter chroni- Super-Därme oder reiner Zufall? Diese müsse man näher untersuchen.
sche Darmerkrankungen und Diabetes, Allerdings sieht O'Sulivans Team in den Jedoch ist, wie die Arbeitsgruppe eben-
scheint mit der bei jedem Menschen indi- bisher veröffentlichten Studien ein Mus- falls anmerkt, zu diesem Zeitpunkt noch
viduellen Bakterienbevölkerung im Ver- ter: Der Erfolg der Behandlung scheint keineswegs sicher, dass der vermeintliche
dauungstrakt zusammenzuhängen. Über- auch von der Zusammensetzung des Mi- »Superspender«-Effekt überhaupt exis-
trägt man einem kranken Menschen die krobioms abzuhängen. Doch es reiche wohl tiert. In ihrer Veröffentlichung zitiert sie
Darmbewohner eines gesunden, sollte sich nicht, einfach alle Stuhlproben zu mischen, eine ganze Reihe von Indizien und Hinwei-
sein Zustand bessern. So weit die Theorie. denn dieser Ansatz bringe keine besseren sen auf die Auswirkungen unterschiedli-
Weshalb das in der Praxis nur unregel- Ergebnisse. Stattdessen zitiert die Arbeits- cher Bakteriengemeinschaften. Doch dass
mäßig funktioniert, will jetzt eine Arbeits- gruppe zwei Veröffentlichungen, in denen es einzelne Personen mit gleichsam hei-
gruppe aus Neuseeland um Justin M. nahezu die Gesamtheit der kurierten Pati- lendem Darm gibt, ist kaum mehr als eine
O'Sulivan von der University of Auckland entinnen und Patienten mit dem Darmin- steile These. Genauso gut könnten die Häu-
herausgefunden haben. Wie das Team in halt je einer Person behandelt worden war. fungen von Erfolgen bei einzelnen Ver-
einem Übersichtsartikel in »Frontiers in Das sei, so das Team, ein deutlicher Hin- suchspersonen in zwei von inzwischen
Cellular and Infection Microbiology« be- weis auf »Superspender«. Dutzenden Studien auch etwas ganz ande-
richtet, deuten einige Studien darauf hin, Diese Personen mit besonders heilender res sein – nämlich Zufall. 
dass manche Personen »Superspender« Darmflora könne man womöglich syste-
sind: Menschen, deren Mikrobiom einige matisch aufspüren, indem man die Bakte- (Spektrum – Die Woche, 04/2019)
Darmerkrankungen besonders effektiv be- rienzusammensetzung charakterisiert, die
kämpft. In der Veröffentlichung betrachtet zu sehr guten Ergebnissen führt. Dazu gibt
die Gruppe die zwei chronischen Darm- es bereits erste Untersuchungen. Das Team
krankheiten Morbus Crohn und Colitis ul- aus Neuseeland mahnt jedenfalls, dass eine
cerosa, die beide bereits erfolgreich durch Entwicklung hin zu einer einheitlichen Be-
Mikrobiomtransfer behandelt wurden – handlung zum Beispiel mit standardisier-

44
VERDAUUNGSAPPARAT
Wie Viren unseren Darm beherrschen von Kathrin Burger
ISTOCK / IMAGESGURU

45
Im menschlichen Verdauungstrakt tummeln sich neben Bakterien
unzählige Viren – die meisten davon sind nützlich. Sie könnten den
Stoffwechsel b­ eeinflussen und das Immunsystem verbessern.

A
n die Vorstellung, dass der Vor allem was Viren im Verdauungs- Bakteriophagen im Darm
Mensch Myriaden gutartiger trakt suchen, wird derzeit intensiv ergrün- 90 Prozent der bislang in den Darmschlin-
Bakterien in seinem Darm det, befeuert von so genannten metageno- gen entdeckten Viren gehören zur Gruppe
beherbergt, dürften sich die mischen Methoden, bei denen sämtliche der Bakteriophagen. Das sind Viren, die
meisten gewöhnt haben. So Genschnipsel in einer Probe beäugt wer- keine tierischen oder pflanzlichen Zellen
gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass Stö- den. Erstaunlicherweise wird dabei immer befallen, sondern sich Bakterien als Wirt
rungen im so genannten Mikrobiom bei der klarer, dass zahlreiche Viren im Darm dem suchen, etwa Bifidobakterien oder Escheri-
Entstehung von Darmkrankheiten, Aller- Menschen nichts Böses wollen wie etwa chia coli. Sie leben dort vor allem als schla-
gien, Übergewicht, nichtalkoholischer Fettle- Noro-, Zika-, oder HI-Viren, sondern viel- fende Viren, als Prophagen, die sich im Ge-
ber und möglicher-weise auch psychischen mehr in friedlicher Eintracht mit ihm le- nom des Wirts eingenistet haben. »Mögli-
Krankheiten eine Rolle spielen. Doch die Er- ben. Die Schätzungen, wie viele einzelne cherweise können sich die Darmbakterien
forschung der Darmflora und ihrer Bedeu- Viren den menschlichen Verdauungstrakt nur dadurch in bestimmten Nischen durch-
tung für die menschliche Gesundheit bringt bevölkern, schwanken zwischen 1014 und setzen«, schrieb Lesley Ogilvie, Medizine-
noch zahlreiche andere Mikroorganismen 1015. Letzteres entspräche dem Zehnfachen rin an der University of Brighton, 2015 in
zu Tage: Im Magen-Darm-Trakt mit seiner von Bakterien. Aber: Es könnten natürlich einem Übersichtsartikel über das Virom
Oberfläche von mehr als 200 Quadratme- noch viel mehr sein. Denn bei den Analy- im Darm.
tern tummeln sich neben Bakterien auch Ar- sen werden immer lediglich diejenigen Erb- Denn: Phagen bringen Eigenschaften in
chaeen, Viren und Pilze – rund 30 bis 400 gutstücke entdeckt, die in Datenbanken ihrem genetischen Rucksack mit, die Bak-
Trillionen Mikroben sollen es sein. aufgezeichnet sind – bislang kennt man terien gut gebrauchen können. Sie schleu-
nur rund 500 Arten. »Was man nicht kennt, sen über den so genannten horizontalen
findet man auch nicht«, erklärt Jason Nor- Gentransfer ständig Informationen in die
Kathrin Burger ist Wissenschaftsjournalistin man, Gastroenterologe an der Washington Bakterienzelle. Das befähigt die Bakterien,
in München. University. sich an verschiedene Lebensräume anzu-

46
passen, indem das eingefügte Genmaterial Man weiß außerdem, dass Phagen di- der RWTH Aachen. Doch die Gabe der In-
sie zum Beispiel gegen chemischen Stress rekt mit dem Menschen kooperieren. Sie formationsübermittlung kann für den
feit oder die Gemeinschaft stabilisiert. Zu- sitzen auf der Darmschleimhaut und ge- Menschen auch gefährlich sein. Eventuell
dem verbessern die Phagen die Energieauf- hen mit Bakteriziden gegen pathogene Kei- verstärken die Viren damit die Entwick-
nahme ihrer Wirte. »Vielleicht nehmen Vi- me vor. »Bereits im Darm von Neugebore- lung, dass in Kliniken immer häufiger
ren im menschlichen Stoffwechsel eine nen sorgen solche Phagen möglicherweise krank machende Keime gegen Antibiotika
Schlüsselrolle dadurch ein, dass sie die Bak- dafür, dass sich eine gesunde Flora bilden resistent sind. Wie eine französische Ar-
terien beeinflussen«, so Ogilvie. kann«, meint Adam Wahida, Mediziner an beitsgruppe kürzlich jedoch aufgedeckt
Phagen können auch Informationen in
schlechten Zeiten konservieren, indem sie
ein Reservoir für Bakteriengene bieten. In
Versuchen an Mäusen wurde beispielswei-
se gezeigt, dass sich während einer Anti-
biotikatherapie Gene in Phagen anreicher-
ten, die Resistenzen verleihen und auch die
Wiederbesiedlung möglich machten. Das
Virom hilft damit nicht allein den gutarti-

USDA, ARS, EMU / FOTO: ERIC ERBE; KOLORIERUNG: CHRISTOPHER POOLE Y


gen Bakterien: Es bewahrt den Menschen
zudem vor den Nebenwirkungen einer An-
tibiotika-Kur.

DARMFLORA UNTER DEM MIKROSKOP


Die Abbildung zeigt Bakterien der Art Esche-
richia coli, die häufig Bewohner der Mikro-
ben-Community sind. Immer deutlicher wird,
wie zentral die Rolle der Darmflora ist: Die
Mikroben tauschen mit dem restlichen Körper
wichtige Informationen aus.

47
hat, kommt dieser Effekt in der Realität ren, angespornt durch Gene oder einen Dagegen schwankt die Zusammenset-
wohl seltener vor als befürchtet. Trotzdem ungünstigen Lebensstil des Wirts, und da- zung der Virengemeinschaft in den zwei
können Phagen unter widrigen Umwelt- durch mehr Bakterien abtöten. Klar ist, Jahren nach der Geburt erheblich, wie Holtz
einflüssen das gemütliche Beisammensein dass virale Nukleinsäuren und Bakterien- in einer Studie mit acht gesunden Babys
aufgeben und die Bakterienzelle auflösen. fragmente, die bei der Virenvermehrung gezeigt hat. Bereits kurz nach der Geburt
Zuerst lassen sie sich von der Genmaschi- übrig bleiben, ihrerseits Entzündungspro- sind es vor allem die Phagen, die das Virom
nerie im Zellkern vervielfältigen und zer- zesse anstacheln. Auch ein Einfluss der bilden. Dabei ist unklar, ob die gefundenen
setzen dann die Wirtszelle. Auch bei Krank- Darmviren auf Übergewicht, Diabetes und Viren bereits im Mutterleib oder erst bei
heit befinden sich die Phagen in einem sol- Herzkrankheiten wird diskutiert. Kürzlich der Geburt übertragen werden – oder ob
chen Killer-Modus. zeigte zudem eine Studie, dass bei Aids- sie vielleicht sogar durch die Ernährung
kranken das Virom verändert ist. Weil Pha- oder andere Umweltfaktoren wie etwa
Das fragile Gleichgewicht zwischen gen sowohl das Darmmilieu stabilisieren Hausstaub in den kindlichen Darm gelan-
Viren und Bakterien als auch in Krankheitsgeschehen invol- gen.
Der Mediziner Norman hat etwa beobach- viert sind, betitelt der Aachener Wissen-
tet, dass dies bei chronisch-entzündlichen schaftler Wahida die Bakteriophagen als Prägung in der Kindheit
Darmerkrankungen der Fall ist. Leidet ein »janusköpfig«. Holtz glaubt, dass die Lebensumstände in
Mensch an Morbus Crohn oder Colitis ul- Bei gesunden Erwachsenen findet man den ersten Jahren prägen, welche Bakterien
cerosa, verschiebt sich das Verhältnis von vor allem die beiden Virengruppen Caudo- und Viren letztendlich am besten mitein-
Bakterien zu Viren gewaltig: Die Virenzahl virales und Microviridae. Allerdings vari- ander harmonieren. »Diese Phase könnte
nimmt zu, die Bakterienvielfalt ab. Unklar iert das Virom ebenso wie das Mikrobiom auch über den Gesundheitszustand im Er-
ist dabei jedoch die Rolle der Viren. Sind sie zwischen einzelnen Menschen erheblich. wachsenenalter entscheiden«, so die Kin-
Treiber oder bloß Statisten? Möglich wäre Studien, die über ein bis zwei Jahre liefen, derärztin, »weil in diesem Zeitfenster das
beispielsweise, dass die Bakterien unter zeigen, dass das einmal erworbene Mitein- Immunsystem heranreift.« Auch Studien
schlechten Bedingungen im Darm leiden, ander von Bakterien und Viren in einer Per- mit mangelernährten Kindern deuten dar-
absterben und so das virale Erbgut freige- son relativ stabil bleibt. »Durch Umzug auf hin. Bei ihnen wird die Bildung eines
ben. Oder Phagen gelangen von außen in oder Ernährungsumstellung scheint das gesunden Darmmilieus behindert; das Ver-
den Körper, etwa über die Nahrung, und Virom nur wenig beeinflussbar«, sagt die hältnis zwischen Viren und Bakterien ist
führen so zu einem Ungleichgewicht. Drit- Kinderärztin Lori Holtz, die ebenfalls an dann nicht so, wie es bei gleichaltrigen ge-
tens könnten sich zuerst die Viren vermeh- der Washington University forscht. sunden Kindern der Fall ist. Laut einer Stu-

48
die vom vergangenen Jahr mit malawi- Darmschleimhaut und litten an Immunde- che Verbündete im Kampf gegen pathoge-
schen Kindern kann die Balance auch nicht fekten. Doch erstaunlicherweise machten ne, antibiotikaresistente Bakterien oder
durch so genanntes »Ready-to-use thera- die Noroviren nicht noch kränker, sondern auch gegen Übergewicht. Dänische Wis-
peutic food«, etwa kalorienreiche Nussrie- heilten das geschädigte Gewebe und die Im- senschaftler suchen zum Beispiel einen
gel, wiederhergestellt werden. munzellen. Phagencocktail, der die Darmflora so be-
Neben Phagen der Darmbewohner besie- Auch andere Studien hatten zuvor das einflusst, dass übergewichtige Mäuse ab-
deln noch weitere seltsame Gäste die Black- Gesundheitspotenzial der Viren aufgedeckt: nehmen. Die Bill & Melinda Gates Founda-
box Darm, zum Beispiel das Algen-Gigavi- So können Herpesviren bakterielle Infektio- tion sieht das Virom indes als möglichen
rus und das Tabakmosaikvirus. Vermutlich nen verhindern. Zugleich wurde gezeigt, Helfer im Kampf gegen Mangelernährung
gelangen diese mit der Nahrung in den Kör- dass gutartige Viren im Darm das Immun- und Infektionskrankheiten bei Kindern.
per – allein in einem Gramm Salat sind 109 system ständig in Quäntchen aktivieren, So wird am University College Cork mit
Viren zu finden. Weil diese Pflanzenviren womit der Mensch gegen Attacken von pa- Geldern der Stiftung erforscht, wie Phagen
im Darm keine günstigen Lebensbedingun- thogenen Viren gefeit ist. Sogar gegen Krebs gutartige Darmbewohner, etwa Bifidobak-
gen vorfinden, werden sie komplett wieder scheinen bestimmte Viren vorzugehen. terien, unterstützen können, damit krank
ausgeschieden und könnten theoretisch Trotzdem betonen die Forscher, man solle machende Keime wie Shigella oder patho-
aufs Neue Pflanzen infizieren. Für den Men- sich nicht absichtlich mit pathogenen Viren gene Escherichia coli keine Chance haben.
schen gelten sie bislang weder als schädlich infizieren, um das Immunsystem zu stär- In Russland ist die Phagentherapie be-
noch als gesundheitsförderlich. ken. Bei all den positiven Nachrichten darf reits seit vielen Jahren im Einsatz. In der
Anders die Gruppe der tierischen Viren man nicht vergessen: »Die Virom-Forschung EU müssten erst die Regularien geändert
wie Noro-, Masern- oder Herpesviren, die steht erst am Anfang, und es sind noch viele werden, was kürzlich ein Expertenteam
ebenfalls im Verdauungstrakt vorkommen. Fragen offen«, sagt die britische Forscherin der European Medicines Agency (EMA)
Auch diese scheinen nicht nur krank zu ma- Ogilvie. In Zukunft könnten Viren vom Arzt auch forderte. Bislang wird die Erfor-
chen. Das belegt etwa eine Studie mit Mäu- verordnet, in Medikamente verpackt, jedoch schung jedoch noch durch kognitive Blo-
sen aus dem Jahr 2014. Dabei hat Elisabeth durchaus eine Rolle spielen. ckaden in den Köpfen der Wissenschaftler
Kernbauer, Mikrobiologin an der New York Ein erstes Krebsmedikament mit gen- behindert: »Phagen werden leider immer
University, Mäuse mit Noroviren infiziert, technisch veränderten Herpesviren ist noch vor allem als Krankmacher gesehen«,
mit Viren also, die Magen-Darm-Infekte Ende 2015 in den USA und wenig später so Wahida. 
auslösen. Die Nager hatten durch verschie- auch in der EU zugelassen worden. Phar-
dene Manipulationen eine veränderte mafirmen prüfen Viren zudem als mögli- (Spektrum.de, 17. Oktober 2016)

49
NOBE ASTSOFIERCE / STOCK.ADOBE.COM

PHAGENTHERAPIE

Virus statt Antibiotikum


von Karin Mölling
Phagen sind Viren, die Bakterien befallen –
und das sehr spezifisch. Gegen einen genau
passenden Krankheitskeim haben sie eine
durchschlagende Wirkung. Vorausgesetzt, die
behördlichen Vorschriften lassen sich regeln,
könnten sie bei sonst unbehandelbaren
Entzündungen zum Mittel der Wahl werden.

50
A
nfang 2010 bat mich eine difficile. Aber bald darauf, bei einem Viro-
Züricher Kollegin um Rat. logentreffen in Korea, erzählte mir ein Jour- AUF EINEN BLICK
Wegen einer Kieferentzün- nalist der »New York Times« von einem ur-
dung infolge einer miss- alten Verfahren und schickte mir die be-
Erstaunliche
glückten Zahnbehandlung treffende Publikation: Man verabreicht Heilungen mit
hatte sie wiederholt Antibiotika einneh- dem Kranken per Einlauf ein wenig Stuhl-
men müssen und litt seitdem unter lebens- extrakt von einem Gesunden. Die Züricher
Bakteriophagen
bedrohlichen Durchfällen. Die Maßnahme Mediziner hielten hiervon gar nichts. Doch 1 B
 akterien und ihre Viren existieren stets in
hatte ihre Darmflora extrem in Mitleiden- die Frau ließ sich mit Stuhl ihrer Schwester engster Gemeinschaft. Ihr Zusammenspiel
schaft gezogen und nützliche Keime ver- behandeln – und fühlte sich schon ein paar regelt verschiedenste ökologische Prozes-
nichtet, denn natürlich greifen solche Me- Tage später wie neugeboren! se, auch die Darmflora. Primär verursa-
chen Phagen keine Krankheiten.
dikamente auch diese an. An deren Stelle Die Prozedur war relativ einfach. Der
hatte sich das vertrackte Bakterium Clostri- Darm der Empfängerin wurde vorher mit 2 T
 herapien mit Mikroorganismen inklusive
dium difficile durchgesetzt und ließ sich Antibiotika gegen die krank machenden Phagen sind zwar uralt, gerieten aber erst
seinerseits nur immer wieder mit Antibio- Keime behandelt, die fremde Stuhlprobe vor 100 Jahren in den Blick der westlichen
tika zurückdrängen. Ob ich mich wohl auf zunächst mit Wasser aufgeschwemmt und Wissenschaft – und später wieder in Ver-
Kongressen nach neuen Erkenntnissen für das Klistier dann nur die am Ende über- gessenheit.
oder möglichen Therapieansätzen umhö- stehende klare Flüssigkeit verwendet. An-
3 P
 hagenbehandlungen sind nun wieder im
ren könnte? schließend haben meine Züricher Mitar-
Gespräch, jedoch höchstens in aussichts-
Die Teilnehmer einer Veranstaltung in beiter und ich die Darmflora der Patientin losen Krankheitsfällen zugelassen. Die
Paris am Institut Pasteur, das seit mehr als über viereinhalb Jahre hinweg regelmäßig bisherigen Erfolge verlangen aber danach,
100 Jahren auf Infektionskrankheiten spe- untersucht und mit derjenigen der Spen- das Gebiet weiter zu erforschen.
zialisiert ist, wussten damals, 2010, keinen derin verglichen – eine Mammutaufgabe,
Rat. Es gäbe bisher keinen »Killer« gegen C. welche die Großrechner der ETH Zürich
stets tagelang beanspruchte. Zwar ähnelte
die Zusammensetzung der Bakterien erst
Karin Mölling ist Physikerin, Molekularbiologin und nach sieben Monaten der ihrer Schwester,
emeritierte Professorin an der Universität Zürich. Sie
forscht dort und am Max-Planck-Institut für molekulare doch empfand sich die Kollegin schon nach
Genetik in Berlin über Viren und Krebs. einer knappen Woche als geheilt. Die über-

51
tragenen Mikroben hatten sich sehr rasch T4-PHAGEN
auf ein gesundes Maß vermehrt – das be- So sehen »klassische«
trägt bei Erwachsenen etwa zwei Kilo- T4-Phagen im Elektro-
gramm. Sie hatten den gefährlichen Keim nenmikroskop aus. Der
Kopf, das Kapsid, enthält
einfach verdrängt.
ihre DNA, die sie durch
Heute berichtet jede Apothekenzeitung
den kontraktilen
über moderne Versionen der Stuhlübertra-
»Schwanz« in ein Bakte-
gung. Die Züricher Mediziner, die den An- rium injizieren. Die Fila-
satz noch vor wenigen Jahren so vehement mente, mit denen sie sich
als unseriös ablehnten, erhalten für Stu- am Wirt verankern, wir-
dien dazu mittlerweile Millionen an For- ken im Präparat wie ab-
schungsgeldern. In China war »gelbe Sup- geknickte Beinchen.
pe« bereits vor 2500 Jahren gebräuchlich.
Die Beduinen versuchten sogar, sich mit
Kamelkot zu kurieren. Auch Rinderzüchter
kannten solche Maßnahmen für kranke LAMBDA-PHAGEN
FRDL. GEN. VON RUDOLF LURZ, MA X-PL ANCK-INSTITUT FÜR MOLEKUL ARE GENE TIK

Tiere schon vor mindestens 200 Jahren. Zwei Lambda-Phagen mit


langen Schwänzen und
Erst langsam beginnen wir zu verstehen,
kurzen Fibern (»Beinen«).
was bei dieser Therapie im Darm genau vor
Man teilt die Gruppe nach
sich geht. Fest steht aber schon: Es kommt
der Schwanzlänge ein.
nicht nur auf die Bakterien an, sondern Abgebildet sind zwei Si-
gleichermaßen auf die sie befallenden Vi- phophagen (»Wasserröh-
ren, also die Bakteriophagen oder kurz Pha- ren«).
gen. Beide existieren in allen ihren Umwel-
ten stets in engster Gemeinschaft. Das gilt
auch für die Darmflora. Die Viren und die
Bakterien sorgen hier für ein gesundes, in
seiner Bedeutung lange unterschätztes
Gleichgewicht. Wegen dieser Zusammen-

52
hänge liefern Phagen Medizinern einen me Buchstabe für Buchstabe bestimmt. der University of British Columbia in Van-
Ansatz zur Bekämpfung von Krankheiten. Auch das Erbgut vieler anderer Organis- couver (Kanada) etwa hat um 2007 aus 200
Das Fachgebiet der Phagentherapie ist men ist mittlerweile detailliert erfasst. Ver- Liter Meerwasser die Phagen herausgefil-
zwar eigentlich nicht neu, doch zumindest gleiche dieser immensen Datenmengen tert und gezählt. Nach seinen Hochrech-
in den westlichen Ländern seit den 1940er brachten schon manche Überraschung. nungen dürften auf der Erde etwa 1031 Bak-
Jahren – der Ära der Antibiotika – praktisch Dazu zählt die sensationelle Entdeckung, terien existieren sowie 1033 Bakterio-
eingeschlafen. Erst jetzt besinnen sich For- dass unsere DNA zahllose »fremde« Gene phagen, also nochmals das 100-Fache. An-
scher vermehrt wieder auf mögliche medi- aufweist: Sie enthält viele Sequenzen, die einandergereiht würden Letztere bis zum
zinische Nutzen von Viren, genauer gesagt ursprünglich von diversen völlig anderen Krebsnebel reichen.
Phagen. Deshalb sind einige der von mir Organismen stammen und in der Evoluti- Allerdings stoßen die Experten bisher
im Folgenden vorgestellten medizinischen on dann Bestandteile unserer eigenen ge- noch auf methodische Grenzen, wenn sie
Sachverhalte nach streng wissenschaftli- netischen Ausstattung geworden sind. Fast diese Vielfalten ergründen möchten. Die
chen Kriterien noch wenig abgesichert. Ins- die Hälfte unserer Gene rührt beispielswei- Computer arbeiten vergleichend, das heißt,
gesamt halte ich die schon vorliegenden se von Viren her. sie finden nur solche Erbsequenzen, die an-
Erkenntnisse aber durchaus für viel ver- Nicht weniger staunten die Forscher, als deren eingegebenen, schon bekannten Da-
sprechend. Wie viele meiner Kollegen bin sie dann auch die genetischen Sequenzen ten ähneln. DNA-Stücke ohne Verwandte
ich davon überzeugt, dass die laufenden der Mikrobenwelt verschiedener Lebens- im Datenpool fallen unter den Tisch. Als Er-
und zukünftigen Forschungen auf diesem räume erfassten, um die typischen Mikro- kennungshilfe für unbekannte Bakterien –
Feld wesentliche Beiträge für unsere Ge- organismen etwa im Meer, im Abwasser immerhin sind das 80 Prozent – und zur
sundheit leisten werden. oder im Erdboden kennen zu lernen – und Identifizierung der bekannten nutzen die
ebenso die im menschlichen Darm. Wie Mikrobiologen deren charakteristische Ri-
Eine ungeahnt umfangreiche sich zeigte, beherbergt ein gesunder bosomen, genauer gesagt die Untereinheit
Mikrobenwelt und deren zahlreiche Mensch im Darm Billionen Bakterien und 16S rRNA. Die Ribosomen bauen die Protei-
Spuren in unserem Erbgut sogar ungefähr 100-mal mehr Viren. Wäh- ne zusammen. Für Viren – und Phagen –
Großen Anteil hat daran die moderne Ge- rend man die Artenzahl der Darmbakteri- haben wir bisher leider keinen vergleichba-
nomforschung. Nachdem es bis Anfang enarten auf wenigstens 1000 schätzt, weiß ren einfachen Marker. Auch im Labor las-
dieses Jahrhunderts gelungen war, das man über die Viren fast nichts. sen sie sich nicht anzüchten. Deswegen
menschliche Erbgut komplett zu sequen- Unvorstellbar ist auch ihre Menge in be- wissen wir nie genau, wie viele Phagen und
zieren, wurden bereits 1000 Humangeno- liebigen Umweltproben. Curtis Suttle von was für Typen eine Probe wirklich enthält.

53
Die meisten Menschen denken bei Vi- reich zu Werke, denn diese sind oft mit etli-
ren an Krankheitserreger, denn in dem Zu- chen Bakterientypen infiziert, die sich zu-
sammenhang wurden sie Ende des 19. Jahr- dem je nach Gewebe unterscheiden. Vielen im Krieg
hunderts zuerst gefunden. Doch im Jahr Verwundeten ersparten
1917 fand der Frankokanadier Félix d'Hérel- Warum Antibiotika, die neuen
le (1873–1949) am Institut Pasteur Viren, Wunderwaffen, die erprobten Phagenlösungen das
die Bakterien zerstörten. Sie fraßen Löcher Phagentherapien vergessen ließen Amputieren von
in gezüchtete Bakterienrasen hinein. Im Westen erfuhr d'Hérelle wenig Unterstüt-
D'Hérelle war von Anfang an von der Be- zung. Doch in Tiflis (Georgien) gründete er Gliedmaßen
deutung seiner Entdeckung für medizini- 1936 zusammen mit seinem Kollegen Geor-
sche Therapien überzeugt. Er erprobte nun gi Eliava (1892–1937) das noch heute existie-
in verschiedenen Ländern den Einsatz von rende Georgi-Eliava-Institut für Phagenfor-
Bakteriophagen bei bakteriellen Epide- schung. Im sowjetisch-finnischen Winter-
mien, etwa gegen Cholera in Indien. Tod- krieg 1939/1940, noch vor der Zeit der
kranke erhielten abends einen speziellen Antibiotika, ersparten Phagenlösungen vie-
Phagentrunk – und waren am nächsten len Verwundeten das Amputieren von Glied-
Morgen geheilt! Leider trat das Wunder maßen, wenn sie sich im Lazarett eine Infek-
nicht immer ein, weswegen diese Therapie tion mit dem Milzbranderreger zugezogen
seinerzeit viele Mediziner nicht überzeug- hatten, die nicht selten tödlich verlief.
te. Phagen sind nämlich hoch spezialisiert, Der Siegeszug der Antibiotika während
passen also jeweils nur auf ganz bestimm- und nach dem Zweiten Weltkrieg ließ die
te Bakterien und müssen für den Einzelfall Phagentherapie im Westen vergessen. Die
extra angezüchtet werden. Um die Hei- neuen Wunderwaffen töteten eine Band-
lungschancen zu erhöhen, kam d'Hérelle breite von Bakterien auch ohne passge-
darauf, den Kranken einen »Cocktail« mit naue Abstimmung. Doch hinter dem Ei-
verschiedenen Phagen zu verabreichen, in sernen Vorhang waren Antibiotika jahre-
der Hoffnung, dass genau passende Viren lang nicht verfügbar. Daher betrieben
darunter sein würden. Vor allem auch bei Ärzte und Forscher dort den älteren An-
entzündeten Wunden ging er so erfolg- satz weiter. Neben Georgien halten be-

54
Die Tricks der Phagen … Phagen vermehren sich auf zwei Weisen, lysogen (links) oder lytisch (rechts).
Im ersten Fall baut das infizierte Bakterium das Viruserbgut in sein eigenes
als »Prophage« ein. Es vervielfältigt dieses nun bei jeder eigenen Teilung mit.
Im zweiten Fall vermehrt sich das Virus selbst massenhaft.

Phagen
lysogener Zyklus lytischer Zyklus

Phage injiziert
sein Erbgut ins DNA des Bakteriums
Prophage Bakterium. Viruserbgut
Bakterium
integriert Virus-DNA Virus-DNA Bakterien-DNA
ins eigene Erbgut.
Virus vermehrt
sich rasant, und

SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T / BUSKE-GR AFIK, NACH: K ARIN MÖLLING


Umweltstress, Bakterien-DNA
etwa Dichtestress, zerfällt.
Nahrungsmangel, Hitze
Bakterienzellwand
wird aufgelöst;
viele neue Viren
kommen frei.
neue Phagen Sie infizieren
weitere Bakterien.

Das Bakterium vermehrt sich mitsamt Gerät das Bakterium in eine Stresssituation,
dem Prophagen über kann ein Umschlag vom lysogenen
viele Generationen. in den lytischen Zyklus auftreten.

55
… und wie man ihnen Phagen sind mühsam zu gewinnen und noch aufwändiger zu spezifizieren.
Aber es gelingt bereits, zumindest das Virom in Stuhlproben zu bestimmen
auf die Schliche kommt (links). Um Phagen zur Therapie einer bakteriellen Infektion zu finden, fischt
man potenzielle Kandidaten meist aus Tümpeln oder Abwässern (rechts).

BESTIMMEN DES VIROMS IM STUHL VIREN FÜR PHAGENTHERAPIE GEWINNEN

Stuhlprobe

Probe
Probe wird aufgeschwemmt und zentrifugiert. mit Viren
Probe aus
verschmutztem
Gewässer
Phagen und andere
Überstand Viren Phagen werden extrahiert und bestimmt (spezifiziert), siehe links.

Potenziell geeignete Phagen werden auf Kulturen

SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T / BUSKE-GR AFIK, NACH: K ARIN MÖLLING


Niederschlag Bakterien der/des Krankheitserreger/s aufgebracht.

Bakterien-
Phagen werden an rasen
Die Viren werden konzentriert und ihr Erbgut extrahiert. Bakterien getestet,
die bekämpft werden
sollen.
– – +
keine Wirkung Dieser Phage frisst Löcher
Die DNA des Viroms wird sequenziert, in den Bakterienrasen.
und die darin enthaltenen Phagen werden typisiert.
Der spezifische Phage wird vermehrt.

Patient wird damit behandelt.

56
sonders Russland und Polen ihn bis heute lysieren. Manche Bakterien bauen deren
hoch. Erbgut sogar – als Prophagen – in ihr eige-
Phagen dienten in den westlichen Län- nes ein und vermehren es dann mit, wenn
dern allerdings bis in die späten 1960er sie sich teilen. Dieser Zustand hält häufig Über die Zusammensetzung
Jahre als Modelle, um daran grundlegende viele Generationen lang an. Auf ähnliche
genetische Mechanismen zu erforschen, Weise gelangen Viren übrigens in das Erb- der Darmflora, besonders in
insbesondere die Genregulation. Später ge- gut vieler Lebewesen. Der Waffenstillstand der Dritten Welt, weiß man
rieten sie als Studienobjekte jedoch völlig zwischen Phagen und Bakterien kann aller-
in den Hintergrund, wie ich Mitte der dings bei Umweltstress kippen, beispiels- noch zu wenig
1970er Jahre am Max-Planck-Institut für weise bei Nahrungs- oder Platzmangel so-
molekulare Genetik in Berlin selbst miter- wie bei veränderten Temperaturen.
lebte. Meine Studien zu Retroviren – auch Das lässt sich gut am Beispiel von Algen-
zu Krebs und später zu HIV – waren gewis- blüten in Gewässern verdeutlichen. Infolge
sermaßen eine Fortsetzung der dort früher von Überdüngung vermehren sich Bakte-
betriebenen Phagenforschung. Die beiden rien in längeren warmen Phasen oftmals
Virensorten weisen eine Menge Gemein- stark, doch plötzlich hört der Spuk wieder
samkeiten auf, nur dass Retroviren nicht auf. Warum? Der Dichtestress hat die in
Bakterien befallen, sondern beispielsweise den Bakterien vorhandenen Phagen akti-
Säugerzellen. viert, diese haben sich daraufhin stark ver-
Bakterienviren in einer Probe zu bestim- vielfacht, ihre Wirtsbakterien zerstört, wei-
men, ist nicht leicht, zumal ihr Erbgut oft tere befallen und vernichtet. Normalerwei-
im Wirt versteckt bleibt, ohne dass sie sich se sind im Meer etwa 80 Prozent der
massenhaft vermehren. Virologen unter- Bakterien von ihren Viren infiziert und bei-
scheiden zwei Zustände: So genannte lyti- de so aufeinander eingespielt, dass Phagen
sche Phagen entstehen in einem Bakteri- täglich etwa ein Drittel der vorhandenen
um zu Hunderten, lösen die Bakterien- Bakterien auflösen, wodurch deren Be-
wand auf, schwirren aus und infizieren standteile wieder in die Nahrungskette ge-
weitere Bakterien. Doch Phagen können langen. In einer der Veröffentlichungen
auch in den Wirt eindringen, ohne ihn zu zur Tara-Oceans-Expedition der EMBO (der

57
European Molecular Biology Organizati- das »core virome«, den harten Kern, also Gesundheitsbehörde. Schließlich unter-
on), die Virome und Mikrobiome der Welt- lediglich die häufigsten Phagen. liegt die Therapie offener Wunden strengs-
meere erfasst und analysiert, vergleichen ten Sicherheitsauflagen, und das Institut
die Forscher die Verhältnisse in den Ozea- Comeback der medizinischen in Tiflis macht keine systematischen Stu-
nen sogar mit denen im Darm. Phagenforschung – eine Auswirkung dien und oft auch keine Kontrollversuche.
Dass im Innern eines gesunden Men- zunehmender Antibiotikaresistenzen Zudem sind die Fallzahlen gering.
schen Viren und Bakterien sozusagen fried- Nach 50 Jahren erlebt die Phagenforschung Beim 100-jährigen Jubiläum der Pha-
lich koexistieren und dass ein ausgewoge- nun ein Comeback, jetzt aber nicht in der genentdeckung im Frühjahr 2017 in Paris
nes Gleichgewicht von ihnen zum Gesund- Grundlagengenetik, sondern in der Medi- stellte ein Redner aus den USA den Fall Tom
sein und zur Verdauung sogar notwendig zin. Nicht zuletzt die zunehmenden Anti- Petterson vor. Der Patient hatte sich in
ist, hatte noch vor wenigen Jahren nie- biotikaresistenzen besonders von Kranken- Ägypten eine bakterielle Infektion geholt
mand vermutet. Zu unserem Erstaunen hauskeimen tragen hierzu bei. Bemerkens- und in einer kalifornischen Klinik zwei Mo-
konnten wir im Stuhl der eingangs erwähn- werter- und erfreulicherweise widmete nate lang im Koma gelegen. Seine Frau,
ten Patientin sieben Monate nach der Be- 2014 das Wissenschaftsmagazin »Nature« selbst Ärztin, setzte alle Hebel in Bewe-
handlung lediglich 20 bekannte Phagenty- der Rückbesinnung auf die Phagentherapie gung, bis man sie schließlich ans Militär
pen nachweisen. Erwartet hatten wir we- einen Beitrag mit der Überschrift: »Phage verwies. Dessen Experten gingen »Phagen-
gen der riesigen Zahl an Bakterien eher therapy gets revitalized«. fischen«: Aus schmutzigen Abwässern iso-
hunderte. Die Darmflora der Frau glich Vom Eliava-Institut in Georgien kom- lierten sie 20 Proben, filterten die darin
nun fast völlig der ihrer Schwester. Auch men immer wieder Berichte über einzelne enthaltenen Phagen heraus, vermehrten
andere Studien zeigten: Ein gesundes Heilungserfolge. Gut ist mir ein EMBO-Kon- sie und testeten im Labor, ob einige davon
Darmmikrobiom enthält wenig Phagen, gress vor ein paar Jahren in Brüssel in einer die betreffenden Bakterien auflösten. Es
ein krankes dagegen viele. Letzteres deu- Militärkaserne in Erinnerung: Ein Mann handelte sich um den Bakterienstamm Aci-
ten wir als Anzeichen dafür, dass sich diese erzählte, wegen einer nicht heilenden Wun- netobacter baumannii, der auch als gefähr-
Viren gerade stark vermehren und dabei de habe er das Institut aufgesucht und spä- licher Krankenhauskeim auftritt, so 2015
viele Bakterien vernichten – während ge- ter noch zweimal Postsendungen mit Pha- in Kiel, und nun Kieler Keim heißt. Im Fall
sunde Bakterien, die nicht unter Stress ste- gen erhalten, um sich damit zu behandeln. Petterson züchtete man die vier wirksams-
hen, wenig Phagen freisetzen. Aus dem Die Wunde war dann verheilt. Das Publi- ten Phagentypen in größeren Mengen und
Grund erfassen wir anscheinend bei einem kum nahm den Bericht nicht ernst, schon verabreichte sie dem Kranken mehrmals
Menschen mit gesunder Verdauung nur gar nicht die Vertreter der amerikanischen direkt in eine Vene! Nach einer Woche öff-

58
nete der Mann wieder die Augen. Einige
Zeit später nahm er sogar an einer Demons- Plädoyer für neue Vorgaben
tration für die Forschung in den USA teil.
Nach meinen Beobachtungen zeigen Mili- zur Virenbehandlung
tärmediziner besonderes Interesse an Pha-
genbehandlungen. Zumindest sieht man
auf Kongressen zum Thema immer einige
von ihnen.
Für Phagentherapien nach den hier zu
Lande gebotenen Sicherheitskriterien be-
stehen einige nicht leicht überbrückbare Phagentherapien sind in Deutschland bisher nicht zugelassen. Noch fehlen hierfür die vorge-
Hindernisse. Denn im Gegensatz zu che- schriebenen klinischen Studien. Nur in einer Notsituation darf man im Einzelfall solch eine
Maßnahme unter bestimmten Bedingungen anwenden, wie es mitunter auch geschieht.
misch definierten Medikamenten handelt
es sich dabei um jeweils extra herzustellen- Eine hohe Hürde für phagenhaltige Medikamente bildet die Richtlinie zur Qualitätssicherung
de und schwer charakterisierbare biologi- im Sinne »guter Herstellungspraxis« (Good Manufacturing Practice, GMP) für Humanarznei-
sche Präparate. Diese Viren können sich au- mittel und für zur Anwendung beim Menschen bestimmte Prüfpräparate. Unter anderem ist
ßerdem verändern, und nur die lytische für Medikamente eine gleich bleibende, reproduzierbare Produktqualität gefordert. Dieses
Form, die Bakterien zerstört, kommt für Kriterium lässt sich bei Phagenpräparaten schwer erfüllen, die in der Regel angepasst an die
Erreger des Patienten und sogar an deren aktuelle Eigenschaften frisch gewonnen werden
eine Behandlung in Frage. Letzteres ließe
müssen.
sich zwar heute gut kontrollieren, doch kön-
nen Bakterien gegen Phagen resistent wer- Auch sollte laut Richtlinie möglichst nur ein definierter (!) Wirkstoff auf einmal exklusiv ge-
den. Die Vorschriften für Medikamenten- prüft werden. Das macht den Test von Phagen an Patienten oft obsolet; zum einen, weil
prüfungen in der EU und den USA fordern Wunden in der Regel mehr als einen bakteriellen Keim aufweisen und jeder Phage nur »sei-

DESIGN CELLS / GETTY IMAGES / ISTOCK


genau definiertes, identisches Ausgangsma- nen« spezifischen Wirt anfällt; zum anderen, weil sowohl Bakterien wie Phagen sich verän-
terial, was hier nicht möglich ist, weil man dern können. So sinnvoll und notwendig die Vorschriften für viele der gängigen medizini-
schen Wirkstoffe sind, also für chemisch klar definierte Substanzen, so wenig helfen sie,
die Phagen spezifisch auf die Keime jedes
Phagentherapien zu etablieren. Für biologische Medizinpräparate müssten daher gesonderte
einzelnen Patienten abstimmen muss. Vorschriften entwickelt werden, die ihren besonderen Wechselwirkungen mit anderen Orga-
Kleine Lichtblicke gibt es dennoch, auch nismen gerecht werden.
wenn die Hürden bisher überwiegen. In der

59
EU wurde 2013 das Projekt »Phagoburn« Ursache von Durchfall, und bei Schweizer hen zwei Monate später: Bei allen waren
ins Leben gerufen, an dem neben mehre- Kindern hatte die Maßnahme Erfolg ge- die Wunden zugeheilt. Amputationen er-
ren französischen Firmen auch elf For- habt. Nicht so jedoch in Bangladesch. Ver- übrigten sich.
schungsinstitute und Kliniken in Frank- mutlich tragen die Kinder dort mehr und Ein zentrales Ergebnis unserer gründli-
reich, Belgien und der Schweiz teilnehmen. andere Keime. Dies zeigt, wie wenig wir bis- chen Untersuchungen zur eingangs ge-
Es geht darum, großflächige Brandwunden her über die Darmflora besonders von schilderten Stuhlübertragung ist: Gesunde
zu behandeln. Die Forscher wählten zwei in Menschen in Ländern der Dritten Welt wis- Darmbakterien schützen vor krank ma-
solchen Fällen gefährliche, hartnäckige Kei- sen. Eine Reihe von Forschungsinstituten chenden. Bei der Patientin konnten wir da-
me aus: Pseudomonas aeruginosa und befasst sich nun mit der Frage. nach keine Clostridium-difficile-Keime
Escherichia coli. In Abwässern eines Pariser Zu meinen eindrucksvollsten Kon- mehr finden. Die anderen hatten sie offen-
Spitals suchten sie nach passenden Phagen, gresserlebnissen zählt ein amerikani- sichtlich verdrängt. Ein Kennzeichen eines
denn darin befinden sich außer Bakterien scher Vortrag über Phagenheilungen von gesunden Mikrobioms im Darm ist seine
stets auch viele ihrer Viren. Jeweils etwa ein Gangränen, also Nekrosen der Füße und Vielfalt. Deren Verlust steht für krankhafte
Dutzend Typen testeten sie dann im Labor. Beine. Werden die Zehen oder ganzen un- Verhältnisse. Das gilt allem Anschein nach
Doch die Behandlungen der ersten Patien- teren Gliedmaßen etwa bei Übergewicht sogar für Übergewicht. Ähnlich wie bei ei-
ten schlugen fehl, weil andere vorhandene und Diabetes nicht mehr richtig durch- ner Algenblüte Bakterien bei einem hohen
Bakterienarten ungehindert weiterwucher- blutet, können tief entzündete Wunden Nährstoffangebot zu stark wachsen und
ten. Trotzdem verlangen die Vorschriften, auftreten, die unter Umständen bis zum schließlich der Dichtestress ihre Viren auf
jeden Phagen möglichst einzeln zu prüfen Knochen reichen und nicht heilen. Wegen den Plan ruft, so reagieren auch die Bakte-
und genau zu definieren. Es erweist sich als der Mangeldurchblutung gelangen Anti- rien und ihre Phagen im Darm auf allzu lu-
schwierig, genügend Patienten zu finden, biotika nicht dorthin – oft bleibt nur kullische Bedingungen: Die Phagen redu-
die nur die beiden genannten Keime auf- die Amputation. Mit Sondererlaubnissen zieren dann nicht nur kräftig die Zahl der
weisen. Immerhin wurde die Laufzeit des wurden in den USA Betroffene im Rah- Bakterien, sondern leider ebenfalls die der
Projekts um drei Jahre verlängert. men einer systematischen Studie namens Arten, somit ihre Komplexität. Lediglich
Der Virologe Harald Brüssow von der »PhagoPied« mit Phagencocktails gegen etwa ein Fünftel der gesunden Vielfalt
Firma Nestlé in Lausanne leitete eine Stu- Staphylococcus aureus behandelt. Bei bleibt übrig, und normale Verhältnisse
die, in der durchfallkranke Kinder in Bang- dem Vortrag sahen wir gruselige Bilder bauen sich von allein nicht so leicht wieder
ladesch mit dem Phagen T4 behandelt wur- der brandigen Zehen von einem Dutzend auf. Da ist es kein Wunder, dass Überge-
den. Oft ist der Erreger Escherichia coli die Patienten – und dann Fotos derselben Ze- wichtige, denen es mühsam gelungen ist,

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abzunehmen, danach schnell wieder an
Gewicht zulegen: der bekannte Jo-Jo-Effekt. T4-ÄHNLICHE PHAGEN
In Tierstudien wurden dicke Mäuse dün- Diese T4-ähnlichen Phagen haben
ner, wenn sie den Käfig mit schlanken Art- durch das Nachweisverfahren die Beine
genossen teilten, aber nicht umgekehrt. verloren. Am Schwanzende tritt etwas
Denn Nager fressen Kot und nehmen da- DNA aus. Die Schatten entstehen durch
mit Bakterien auf. Stuhlübertragungen we- die Färbemethode.
gen Übergewichts sind beim Menschen
aber bisher nicht erlaubt.

Auch die Durchschlagskraft eines


Antibiotikums muss man heute oft erst
spezifisch austesten
Antibiotika sind längst keine Wunderwaffe
mehr gegen krankheitserregende Bakte-

MIT FRDL. GEN. VON RUDOLF LURZ, MA X-PL ANCK-INSTITUT FÜR MOLEKUL ARE GENE TIK
rien. Inzwischen muss man vor einer Ver-
abreichung oft erst prüfen, ob das Mittel
bei einer Infektion überhaupt noch wirkt
oder ob der Keim schon dagegen resistent
ist, was den Beginn einer Behandlung hin-
auszögern kann. Gerade bei problemati-
schen Erregern könnten gezielt angezüch-
tete Phagen eine Alternative darstellen.
Wenn sie anschlagen, vernichten sie die
Bakterien – und zwar nur die unerwünsch-
ten – und verschwinden dann, ohne dass
sie Nebenwirkungen hervorrufen wie oft
Antibiotika. Doch sie dürfen bei uns bisher
nur im Ausnahmefall und mit spezieller

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Genehmigung wie bei Tom Petterson ein- Infizierte Bäuche und vor allem offene während der gesamten Evolution immer
gesetzt werden. Wunden ließen sich behandeln. Mein ers- dabei, seit 3,8 Milliarden Jahren. Die ersten
Leider haben mich Gespräche zu den tes Ziel wären Druckwunden von bettläge- Vielzeller traten vor nicht einmal einer Mil-
Aussichten von Phagentherapien hier zu rigen Patienten. Doch der bürokratische liarde Jahren auf. Frühe Menschenarten er-
Lande bisher eher entmutigt. Interessierte Aufwand dafür wäre enorm, angefangen schienen erst vor gut zwei Millionen Jah-
Firmengründer beklagen, dass fehlende Pa- bei den einzureichenden Anträgen über ren. All unsere Vorfahren mussten sich mit
tentabsicherungen für solche sich ändern- die Ausgangsmaterialien, die im Einzelfall den Winzlingen auseinandersetzen und
den »Naturprodukte« und die zu lange be- akribisch gewonnen werden müssen, bis sich an sie anpassen – wer das nicht ver-
kannten Phagen potenzielle Investoren ab- zu den klinischen Protokollen vor, wäh- mochte, ging zu Grunde. 
halten; Maximilian Pichlmaier, der an der rend und nach einer Behandlung. Viel-
Universitätsklinik Hannover Phagenbe- leicht sollte man daher zunächst sozusa-
handlungen durchführte und heute an der gen klein anfangen mit aus Phagen gewon-
LMU München arbeitet, gab vor allem we- nenen, klar definierten Reinigungspro- (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 2017)
gen der erforderlichen Versicherungen bald dukten, die Bakterien etwa in Operations- Fish, R. et al.: Bacteriophage Treatment of Intransigent
wieder auf. Beim Paul-Ehrlich-Institut im sälen oder auf Kathetern abtöten. Diabetic Toe Ulcers: A Case Series. In: Journal of Wound
hessichen Langen (dem Deutschen Bundes- Die niederländische Firma Micreos in Care 25, S. 27–33, 2016
institut für Impfstoffe und biomedizini- Wageningen versucht in Zusammenarbeit D'Hérelle, F.: Sur un microbe invisible antagoniste des bacil-
sche Arzneimittel, das auch die deutsche mit der ETH Zürich, aus Phagen Extrakte – les dysentériques. Comptes rendus hebdomadaires des
Zulassungsbehörde ist) sagte man mir, dass Lysine – zu isolieren, die Bakterien auflö- séances de l'Académie des Sciences 165, S. 373–375,
die üblichen strengen Vorschriften bis auf sen würden. Sie vertreibt bereits ein Pro- 1917; On an Invisible Microbe Antagonistic Towar
Weiteres gelten. Allerdings hofft die Behör- dukt gegen Hautirritationen, das den Keim Dysenteric Bacillii. In: Research in Microbiology 58,
de dringend auf mutige Vorstöße und syste- Staphylococcus aureus vernichtet. Das ist S. 553–554, 2007
matische Studien von Forschern auf diesem immerhin ein Anfang. Moelling, K., Broecker, F.: Fecal Microbiota Transplantation
Gebiet. Wohl nur stichhaltige Ergebnisse Eigentlich darf man sich über die Vor- to Fight Clostridium difficile Infections and other Intestinal
könnten die Vorgaben für die Zulassung herrschaft der Mikroben, also inklusive der Diseases. In: Bacteriophage 6, e1251380, 2016
von Arzneimitteln auf lange Sicht auch auf Viren, in der Welt und in unserem Körper, Sarker, S. A. et al.: Oral Application of Escherichia coli Bac-
Phagentherapien ausdehnen. ja selbst über ihre vielen Spuren in unse- teriophage: Safety Tests in Healthy and Diarheal Children
Der Anwendungsbereich wäre riesig: rem Genom nicht wundern. Mikroorganis- from Bangladesh. In: Environmental Microbiology 19,
Die Cholera grassiert in einigen Ländern. men waren seit Anbeginn des Lebens und S. 237–250, 2017

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