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FARBEN

Wie sie entstehen, wie wir sie sehen

Insekten Synästhesie Evolution


Lebendige Mit den Ohren Der merkwürdige
Juwelen sehen Farbensinn der Primaten

ISTOCK / CARTHER
EDITORIAL IMPRESSUM
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INHALT
19 PSYCHOLOGIE
SEITE SEHSINN
Traurigkeit beeinflusst
04 Der merkwürdige Farbensinn der Primaten
die Farbwahrnehmung
21 WAHRNEHMUNG
Gelb sieht im Winter anders aus
23 PLASMONISCHE FARBE
So druckt man den kleinsten
»Monet« der Welt
30 SIMULTANKONTRAST
Eingebildete Farben
34 SYNÄSTHESIE
Mit den Ohren sehen
ISTOCK / DIRK FREDER

48 ESSAY
Das schöne Schwarz der Nacht
52 STRUKTURFARBEN
SEITE OPTISCHER EFFEKT PARADIESVÖGEL SEITE Lebendige Juwelen
25 Schönheit im Auge Fedriges Farbenfeuerwerk 58
56 CHITIN
des Betrachters
JUSTIN MARSHALL, UNIVERSITY OF QUEENSLAND

Käfer streuen Licht für das weißeste Weiß


59 VANTABLACK
Dunkelstes Material jetzt noch schwärzer

ELEKTROCHEMIE SEITE
Farbwechsel 61
auf Knopfdruck
ISTOCK / MOTIVE56

FOTOLIA / VEGE

3
SEHSINN

DER
MERKWÜRDIGE
FARBENSINN DER
PRIMATEN
von Gerald H. Jacobs und Jeremy Nathans
Im Vergleich zu vielen anderen Wirbeltieren
erkennen die meisten Säugetiere nur wenige Farben.
Die Primaten haben diese Wahrnehmung
wieder verbessert – auf unterschiedliche Weisen.

ISTOCK / DIRK FREDER


4
D
ie Welt erscheint uns in ei- Vögel, Fische und Reptilien: Viele von ih-
ner schier unermesslichen nen verfügen über gleich vier Farbsehpig- AUF EINEN BLICK
Farbenvielfalt: vom Dot- mente; sie sehen damit auch im Ultravio-
tergelb der Ringelblume letten.
Buntere Welt dank
bis zum Silbergrau eines Folglich erscheint der trichromatische drittem Pigment
Autos, vom fahlblauen Winterhimmel bis Farbensinn der Primaten als etwas Unge-
1 M
 enschen und viele andere Primaten
zum grün funkelnden Smaragd. Umso er- wöhnliches. In jahrzehntelangen geneti-
sehen die Welt farbiger als die übrigen
staunlicher ist, dass nur drei verschiedene schen, molekularbiologischen und neuro- Säugetiere.
Lichtwellenlängen genügen, um daraus physiologischen Studien haben wir und
jede von uns wahrgenommene Farbe zu andere Forscher vieles über seine Evoluti- 2 U nser Farbensinn beruht auf drei licht-
mischen. Sinnesphysiologen sprechen on, aber auch Flexibilität entdeckt. empfindlichen Pigmenttypen in der
vom trichromatischen Sehen. Tatsächlich Über ein halbes Jahrhundert ist es her, ­Netzhaut: Wir sind so genannte Trichro-
benutzt unsere Netzhaut (Retina) für das seit Forscher erstmals untersuchten, auf maten – im Gegensatz zu den dichroma-
ten Säugern mit nur zwei Pigmentypen.
Farbensehen lediglich drei unterschiedli- welche Anteile des Lichtspektrums die
che Licht absorbierende Sehpigmente oder Farbsehpigmente des Menschen reagieren. 3 D
 ie Gene für diese Pigmente erzählen von
-farbstoffe. (Ein weiteres Pigment, das Rho- Heute kennen wir ihre jeweilige spektrale der Evolution unserer Farbwahrnehmung.
dopsin, dient dem Helldunkelsehen bei Empfindlichkeit sehr genau. Jedes der drei
Dämmerlicht.) Deswegen lässt sich auch Pigmente absorbiert nur Licht eines be- 4 M
 äuse, die ein zusätzliches menschliches
auf einem Bildschirm allein mit roten, grü- stimmten Spektralbereichs, und jedes lässt Pigmentgen erhielten, erkennen mehr
Farben als ihre Artgenossen. Offenbar ist
nen und blauen Punkten oder Pixeln unser sich anhand derjenigen Wellenlänge cha-
ein Säugerhirn plastisch genug, um mit
gesamtes Farbenspektrum darstellen. rakterisieren, auf die es am stärksten an-
einer mutationsbedingten neuen Sinnes-
Auch viele Affen sehen trichromatisch, spricht. Eines dieser Pigmente reagiert be- dimension umgehen zu können.
doch Gleiches gilt für das übrige Tierreich sonders gut auf ungefähr 430 Nanometer,
keineswegs. Andere Säugetiere besitzen ge- eines auf annähernd 530, das dritte auf
wöhnlich nur zwei Pigmente zum Far- 560. Physiologen sprechen von Pigmenten
benerkennen – sie sind so genannte Di- für kurz-, mittel- und langwelliges Licht
chromaten. Ein paar nachtaktive Arten ha- oder abgekürzt von S-, M- und L-Pigmen-
ben sogar nur ein einziges Farbsehpigment. ten (S nach englisch short = kurz). Als »nor-
Reicher ausgestattet als wir sind dagegen males« Blau, Grün und Gelb empfinden

5
viele Menschen übrigens die Wellenlängen
470, 520 und 580 Nanometer.
Solch ein Farbsehpigment besteht aus
einem Protein, das mit einem Licht absor-
bierenden Vitamin-A-Abkömmling in ei-
nem Komplex verbunden ist. Es liegt in der
Außenmembran der so genannten Zap-
fen – einer Sorte von lichtempfindlichen
Zellen oder Fotorezeptoren in der Netz-
haut. Der Name bezeichnet ihre sich ver-
jüngende Gestalt (dem Dämmerungsse-
hen dienen die so genannten Stäbchen).
Absorbiert ein Sehfarbstoff Licht, löst das
eine Kaskade molekularer Ereignisse aus

IRMGARD STAHNKE; SCHIMPANSE: ISTOCK / NIKE ALBERTS; COMPOSING: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
und versetzt die betreffende Zelle in Erre-
gung. Das wiederum aktiviert andere Neu-
rone in der Netzhaut. Über sie entsteht
schließlich ein Signal, welches über den
Sehnerv ins Gehirn gelangt.
Zwar waren die Absorptionsspektren
der drei Zapfenpigmente des Menschen

SCHIMPANSE VOR ABSTRAKTEM GEMÄLDE


Schimpansen erkennen wie wir mehr Farben
als die meisten Säugetiere. Was wir bei ei-
nem abstrakten Bild sehen, beruht auf Eigen-
schaften der Malfarben, den Lichtverhältnis-
sen – und auf unserem Sehsystem.

6
schon länger bekannt, nicht aber die Pig- zufolge beruht ihre unterschiedliche spek- auf als bei Frauen. Zudem spricht der Erb-
mente selbst. Erst in den 1980er Jahren hat trale Sensitivität auf nur drei – von insge- gang für eine solche Lokalisation. (Bei Frau-
einer von uns (Nathans) die Gene für diese samt 364 – ausgetauschten Aminosäuren. en kann das Gen des anderen X-Chromo-
drei Proteine identifiziert. Anhand von de- Wie sich auch herausstellte, liegen die soms den Ausfall kompensieren, sie kön-
ren DNA-Sequenzen (Nukleotidsequen- Gene für diese beiden Sehfarbstoffe ne- nen die Farbschwäche aber vererben.) Das
zen) erstellte er dann die Abfolge der Ami- beneinander auf dem X-Chromosom. Letz- Gen für das S-Pigment (für kurze Wellen-
nosäuren (also die Kette der Bausteine) die- teres überraschte die Forscher nicht – längen) liegt dagegen auf dem Chromo-
ser Proteine. Die M- und L-Pigmente (für schließlich tritt die recht häufige so ge- som 7. Dessen Sequenz deutet nur auf eine
mittel- und langwelliges Licht) gleichen nannte Rotgrünblindheit bei Männern (die entfernte Verwandtschaft mit den beiden
sich demnach fast völlig. Weiteren Studien nur ein X-Chromosom besitzen) viel öfter anderen Sehfarbstoffen hin.
Viele Anhaltspunkte zur Geschichte die-
ser drei Farbsehpigmente hatten Forscher
bis Mitte der 1990er Jahre durch Vergleiche
mit der Ausstattung anderer Tiere gewon-
nen. So wussten wir damals schon, dass
fast alle Wirbeltiere Gene aufweisen, die
der menschlichen Erbsequenz für das S-

NETZHAUT
Die Netzhaut mit ihren verschiedenen Ner-
venzelltypen liefert dem Gehirn über den Seh-
nerv visuelle Informationen. Als Sinneszellen
zum Farbensehen dienen die so genannten
Zapfen. Sie besitzen Pigmente, die jeweils
von Licht eines bestimmten Wellenlängenbe-
reichs aktiviert werden. Die Stäbchen arbei-
ANDREW SWIFT

ten dagegen bei schwachem Licht; am Far-


bensehen sind sie in der Regel nicht beteiligt.

7
Pigment auf Chromosom 7 stark ähneln.
Demnach dürfte ein Sehfarbstoff für kür-
zere Wellenlängen ein altes Element des
Rotgrünblinde und rotgrünstarke Säugetiere
Farbensehens sein. Ebenso tauchen bei den Die meisten Säugetiere sehen dichromatisch: Zum Farbenerkennen verwenden sie zwei verschie-
Wirbeltieren verbreitet Sehfarbstoffe auf, dene Sehpigmente mit überlappendem Empfindlichkeitsbereich, eines für kurz- und das andere für
die verwandt sind mit den beiden (ihrer- langwelliges Licht (oben). Der Mensch und viele andere Primaten haben für Farben noch ein drit-
seits ja ganz nah verwandten) Primaten- tes Sehpigment im langwelligen Spektralbereich: Sie können somit trichromatisch sehen – und
dadurch viel mehr Farben unterscheiden (unten).
pigmenten für längere Wellenlängen, de-
ren Gene auf dem X-Chromosom sitzen.
Auch solche Pigmente haben also wohl ei-
nen frühen Ursprung. Auffälligerweise be-
sitzt unter den Säugetieren aber offenbar
kein einziger Nichtprimat sowohl ein M-

ISTOCK / CARTHER; OBERE FARBWOLKE: ISTOCK / CARTHER; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
als auch ein L-Pigment. Diese Differenzie-
rung müsste demnach neuer sein.

Zuerst eine falsche Fährte


Der einzige Sehfarbstoff für langwelliges
Licht, mit dem sich die Mehrheit der Säu-
getiere begnügen muss, gleicht stark den
M- und L-Pigmenten der Primaten, und das
Gen dafür liegt bei Ersteren ebenfalls auf
dem X-Chromosom. Die Forscher erklärten
sich die zwei X-Chromosom-Gene bei den
Primaten mit einer Genverdoppelung in
ihrer frühen Evolution: Infolge einer Muta-
tion hätte ein X-Chromosom versehentlich
zwei Gene für ein L-Pigment erhalten. An-
schließend wäre eines dieser Gene mehr-

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mals mutiert, oder vielleicht sogar beide. mancherlei Vorteil gebracht haben. Die Af- nur etwa zwei Drittel der Weibchen; den
So könnten schließlich zwei Pigmente mit fen entdeckten nun etwa viele reife Früch- übrigen Weibchen sowie allen Männchen
zwei leicht verschiedenen spektralen Fens- te leichter schon an der Farbe. Vermutlich, fehlt das Differenzierungsvermögen im
tern entstanden sein. so überlegten die Forscher, setzte sich die Rotgrünbereich. Sie sind offenbar nur Di-
Das ist ein gängiger Evolutionsmecha- neue Anpassung darum bald durch. chromaten.
nismus. Genverdoppelungen kommen vor, So plausibel der beschriebene Evoluti- Wie erklärt sich ein so gemischtes Bild?
wenn Ei- oder Samenzellen entstehen und onsweg zunächst wirkte – neuere Entde- Verschiedene Forscher haben sich die ver-
gleiche Chromosomen Abschnitte unterei- ckungen scheinen diesem Ablauf zu wider- antwortlichen Gene der Neuweltaffen ge-
nander austauschen. Das geschieht nicht sprechen. Bei genauerem Hinsehen verlief nauer angeschaut. Demnach besitzen die
immer ganz sauber: Manchmal erhält ein die Evolution komplizierter und damit meisten ihrer Arten wirklich nur zwei Gene
Tauschpartner zu viel Material; unter Um- noch interessanter. Denn erstaunlicher- für Farbsehpigmente, und zwar eines für
ständen besitzt er nun ein oder sogar meh- weise benutzen die Primaten zwei ver- ein Pigment für kurze Wellenlängen und
rere Gene doppelt. Sofern die Extragene schiedene Methoden, um mehr Farben un- ein zweites für längere. Ersteres dürfte auf
günstig mutieren, können Selektionskräfte terscheiden zu können. Die Genverdoppe- einem Nichtgeschlechtschromosom lie-
für ihren Fortbestand sorgen, und die neu- lung passt ganz gut auf die so genannten gen. Das andere Gen, das hier interessiert,
en Gene verbreiten sich in der Population. Altweltaffen – die Arten Afrikas und Asi- befindet sich auf dem X-Chromosom. Wie-
Hierfür gibt es eine Menge Beispiele: Die ens, also unter anderem Paviane, Makaken, so sehen manche Neuweltaffenweibchen
Gene für das fetale Hämoglobin und den Meerkatzen und Menschenaffen –, und da- trotzdem trichromatisch?
roten Blutfarbstoff von Erwachsenen etwa mit auch auf den Menschen. Die Neuwelt- Die Antwort mag erstaunen: Von dem
dürften auf eine Genverdopplung mit an- affen in Mittel- und Südamerika – Krallen- Gen auf dem X-Chromosom existieren in
schließenden Mutationen zurückgehen. affen, Tamarine, Totenkopfäffchen – ver- den Populationen mehrere Varianten,
(Das fetale Blut muss Sauerstoff stärker wenden zur Verblüffung der Forscher eine sprich Allele, mit leicht voneinander ab-
binden, um es dem mütterlichen zu entrei- andere Lösung. weichenden DNA-Sequenzen. So etwas ist
ßen.) Oder die so genannten Immunglobu- Bei den Altweltaffen können gewöhn- an sich nicht ungewöhnlich, bewirkt aber
line – die Proteine für die Vielfalt der Anti- lich alle Individuen trichromatisch sehen, selten Funktionsunterschiede der Genpro-
körper: Ihre Gene entstammen vermutlich auch die Männchen. Doch die Neuweltaf- dukte. Doch in diesem Fall ist das anders,
einem einzigen Gen, das sich duplizierte. fen sind schlechter dran, wie einer von uns denn die einzelnen Varianten ergeben Pig-
Für die Lebensweise der Primaten müss- (Jacobs) in den letzten Jahrzehnten ent- mente mit unterschiedlicher spektraler
ten drei Farbsehpigmente statt zweien deckte: Trichromatisch sehen bei ihnen Empfindlichkeit. Der Genpool etwa von To-

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tenkopfaffen oder anderen typischen ame- onsvermögen des dritten liegt ziemlich in treten und ihnen ermöglichen, Farben bes-
rikanischen Arten enthält drei verschiede- der Mitte zwischen diesen beiden. ser aufzulösen. Alle anderen Artgenossen
ne Allele vom X-Chromosom-Gen. Eines Jetzt wird klar: Mit ihren zwei X-Chro- müssen sich als Dichromaten durchs Le-
der resultierenden Pigmente ähnelt dem mosomen haben nur die Weibchen eine ben schlagen. Gewissermaßen sind die
mittleren des Menschen, ein anderes unse- Chance, zwei verschiedene Allele dieses Neuweltaffen nur mit einer Sparversion
rem für langwelliges Licht, das Absorpti- Gens zu erben, die dann beide in Funktion für trichromatisches Sehen ausgestattet.

Zwei verschiedene
Lösungen
Trichromatik ist bei Alt- und Neuweltaffen
genetisch unterschiedlich geregelt. Bei bei-
den liegt auf einem Nichtgeschlechtschro-
mosom ein Gen (blau dargestellt) für ein
Pigment, das auf kurze Wellenlängen an-
spricht. Die Altweltaffen tragen außerdem
auf jedem X-Chromosom zwei verschiedene
Pigmentgene (rot und grün dargestellt), de-
ren Proteine versetzte Bereiche von länger-
welligem Licht erfassen. So erkennen auch
die Männchen, trotz nur eines X-Chromo-
soms, Rot und Grün. Das X-Chromosom der
Neuweltaffen weist dagegen nur ein solches
Pigmentgen auf. Allerdings gibt es dieses
Gen in verschiedenen Varianten (Allelen; rot,
gelb und grün dargestellt). Auf ihren beiden

LUCY READING-IKKANDA
X-Chromosomen können Weibchen zwei
verschiedene Allele tragen – und dann tri-
chromatisch sehen.

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Als Afrika und Südamerika in der Erdge-
schichte auseinanderwichen, trieb das
Meer einen Keil zwischen die beiden Konti-
nente. Seit vermutlich rund 40 Millionen
Jahren sind die Alt- und Neuweltaffen ge-
netisch voneinander isoliert. Zunächst lag
es nahe, anzunehmen, dass die Primaten
bis zur Trennung noch Dichromaten wa-
ren und erst danach ihre jeweilige Farben-
kompetenz erwarben – die eine Gruppe
durch Genverdoppelung mit anschließen-
der Auseinanderentwicklung der beiden
Gene, die andere durch einfachere kleine
Mutationen im gleichen Gen, was mehrere
Varianten herbeiführte. Doch offenbar ver-
lief die Evolution anders.
Denn ein molekularer Vergleich der Pig-
mente der X-Chromosom-Gene beider
Gruppen erzählt eine neue Geschichte. Er-

ALTWELTAFFEN (SCHMALNASEN)
Sie entwickelten sich in Afrika und Asien, seit
Südamerika und Afrika vor rund 40 Millionen
Jahren getrennte Kontinente wurden. Hierzu
gehören neben dem Menschen die Menschen-

ISTOCK / GLENN NAGEL


affen sowie unter anderem Makaken und Pa-
viane. Der Mandrill (im Bild), ein Hundsaffe,
ist mit den Meerkatzen verwandt.

11
staunlicherweise haben die Pigmente für
mittlere Wellenlängen bei den Alt- und
Neuweltaffen ihre höchste Empfindlich-
keit bei 530 Nanometern. Noch erstaunli-
cher ist, dass dies auf dem gleichen Set von
drei geänderten Aminosäuren in den Pro-
teinen beruht. Auch die L-Pigmente weisen
bei beiden Primatengruppen drei – ande-
re – übereinstimmende Aminosäuren auf,
die dieses Pigment für 560 Nanometer
höchst empfänglich machen. So viel Gleich-
heit wäre gar nicht nötig, denn Forscher
haben ausgetüftelt, dass ein Austausch et-
licher anderer Aminosäuren ebenfalls Ver-
schiebungen der spektralen Fenster bewir-
ken würde. Dass die beiden Affengruppen
jede für sich dieses gleiche Muster entwi-
ckelten, ist somit unwahrscheinlich.

NEUWELTAFFEN (BREITNASEN)
Sie sind in Mittel- und Südamerika zu Hause.
Im Schnitt sind sie eher klein, einige Arten
sogar sehr klein. Hierzu gehören unter ande-
rem Krallenaffen, Kapuziner- und Toten-
kopfaffen, Springtamarine, Klammer- und

ISTOCK / MIKE LANE


Brüllaffen. Im BIld sieht man einen Rotge-
sichtklammeraffen

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Plausibler wäre eine gemeinsame Basis.
Vielleicht besitzen die Neuweltaffen noch
das ursprüngliche System mit mehreren
Das neue Evolutionsmodell
Genvarianten, das schon gemeinsame Vor- Genvergleiche lassen annehmen, dass die Trichromatie der Altweltaffen aus einer Situation
fahren beider Primatengruppen benutz- heraus entstand, wie sie bei den Neuweltaffen noch heute herrscht. Ein gemeinsamer Vor-
ten – damals der erste Schritt zum trichro- fahr der Alt- und Neuweltaffen trug auf dem X-Chromosom ein einziges Gen für ein Farbseh-
matischen Sehen. Die Varianten des X-Chro- pigment im langwelligen Bereich (links). Dieses Gen mutierte verschiedentlich und trat
schließlich in mehreren Varianten (Allelen) auf, deren Pigmente auf versetzte Wellenlängen
mosom-Gens wären dann schon vor der
ansprachen: die Situation der Neuweltaffen bis heute (Mitte). Bei den Altweltaffen trafen
Trennung durch wiederholte kleinere Mu- später – durch einen Fehler beim Herstellen von Keimzellen – zwei der Allele auf einem X-
tationen entstanden und mit ihnen eine Chromosom zusammen (rechts). Offenbar war das so vorteilhaft, dass sich dieser Zustand
differenziertere Wahrnehmung im lang- bei diesen Affen durchsetzte.
welligen Bereich. (Auch das »mittlere« Allel
der Neuweltaffen könnte schon dazugehört
haben. Das Pigment trägt einige von den
entscheidenden Aminosäuren, durch die
sich die M- und L-Pigmente unterscheiden;
und sein Absorptionsspektrum liegt gewis-
sermaßen auf halbem Weg dazwischen.)

Gleichberechtigung für Männer


Erst nach der Spaltung der Primaten in
zwei Gruppen hätte sich bei den Altweltaf-
fen die vermutete Genduplikation ereig-
net, mit einem wichtigen Unterschied zum

LUCY READING-IKKANDA
weiter vorn beschriebenen Verlauf: Bei ei-
nem Affenweibchen der Alten Welt trat ein
Fehler bei der Chromosomenpaarung auf,
woraufhin ein X-Chromosom nun zwei
Pigmentgene aufwies. Allerdings muss die-

13
Das Mosaik der Netzhaut
Bei den unterschiedlichen Zapfen­
typen in der Netzhaut spielen Zu-
fallsprozesse mit. Jede dieser Sin-
neszellen enthält ja alle drei Gene
für unsere drei Farbseh­pigmente –
doch nur je eines darf arbeiten.
Über die Entscheidung für den Typ
für kurzwelliges Licht ist nicht viel
bekannt. Die Auswahl zwischen den
beiden anderen Typen scheint Zu-
fallsmechanismen zu folgen, eben-
so deren Verteilung in der Netzhaut.

LUCY READING-IKKANDA
14
ses Tier davon schon vorher zwei verschie-
dene Varianten besessen haben, denn das
neue X-Chromosom trug nun von vornher-
ein ein M- und ein L-Allel. Diese besondere
Mutation ermöglichte fortan auch Männ-
chen trichromatisches Sehen, wenn sie das
Chromosom erbten. Die verbesserte Farb-
wahrnehmung erwies sich offenbar als der-
maßen günstig, dass X-Chromosomen mit
nur einem Pigmentgen mit der Zeit aus
dem genetischen Repertoire der Altweltaf-
fen verschwanden. Lediglich die Neuweltaf-
fen behielten das einfachere System.
Zufälle halfen nicht nur bei der Evoluti-
on des Farbensinns. Der Zufall greift noch
auf einer ganz anderen Ebene – bei jedem
von uns, und sogar bei jeder sich entwi-
ckelnden Zapfenzelle in der Netzhaut. Das
ist für eine differenzierte Farbwahrneh-
mung sogar wesentlich. Hierzu muss man
sich klarmachen, welche Informationen
die einzelnen Zapfen dem neuronalen Ver-
DAVID WILLIAMS, UNIVERSITY OF ROCHESTER

rechnungsapparat überhaupt liefern.

VERTEILUNGSMUSTER IN DER NETZHAUT


Die Verteilung der unterschiedlichen Zapfen-
typen in der Netzhaut scheint Zufallsmecha-
nismen zu folgen.

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Drei Pigmenttypen für unterschiedli- Wie sich die einzelne Zelle für einen einzi- Embryonalentwicklung in einem Zufalls-
che Spektralbereiche sind für trichromati- gen Pigmenttyp entscheidet, ist noch nicht prozess. Infolgedessen bildet jeweils unge-
sches Sehen nur eine Grundvoraussetzung. völlig geklärt. Aber wir kennen Mechanis- fähr die Hälfte jener Zapfen entweder die
Mittels dieser Pigmente reagieren die Zap- men, die das ermöglichen. eine oder die andere Pigmentsorte, und
fen in der Netzhaut jeweils auf spezifische Zum Anschalten von Genen bedienen beide Zellsorten verteilen sich dicht ge-
Anteile des Lichts und erzeugen Signale, sich Zellen so genannter Transkriptionsfak- mischt auf der Netzhaut.
denn jeder besitzt nur einen Pigmenttyp. toren: spezieller Proteine, die sich in der Bei den Altweltaffen genügt die Stillle-
Ein einzelner Zapfen liefert aber keine Nähe von Promotoren (Regulationsab- gung eines X-Chromosoms allein nicht,
spezifische Information über die Wellen- schnitten) an die DNA anlagern. Über ver- denn jedes trägt ja zwei Gene für langwelli-
länge, beziehungsweise die Farbe. Schwa- schiedene weitere Schritte wird das Gen ges Licht. Studien von einem von uns
ches Licht in ihrem höchsten Empfindlich- dann abgelesen und das Protein (hier das (Nathans) lassen ahnen, wie die Zelle eines
keitsbereich löst in der Sinneszelle unter Pigment) hergestellt. Bei Zapfen für kurz- der beiden Gene auswählt: Eine nahe gele-
Umständen ein gleich starkes Signal aus welliges Licht scheinen Transkriptionsfak- gene DNA-Sequenz, als Locus-Kontrollregi-
wie starkes Licht im Grenzbereich. Gleiches toren das gewünschte Gen (für das S-Pig- on bezeichnet, bestimmt darüber, wahr-
gilt für bestimmte Werte ober- und unter- ment) schon beim Fötus zu aktivieren. scheinlich schon während der Embryonal-
halb des Maximums. Die Farbwahrneh- Zugleich werden in diesen Zellen die Pig- entwicklung. Die Locus-Kontrollregion
mung kommt nur zu Stande, wenn das vi- mentgene des X-Chromosoms auf noch steuert dann ausschließlich einen der bei-
suelle System die Signale benachbarter ver- nicht verstandene Weise gehemmt. den benachbarten Promotoren für diese
schiedener Zapfentypen vergleichen kann. Bei Zapfen für längere Wellenlängen beiden Gene an. So wird nur eines der Gene
Damit dies sauber funktioniert, muss wird es komplizierter. Zunächst zu den angeschaltet. Noch ist der Vorgang nicht in
gewährleistet sein, dass jeder Zapfen wirk- Neuweltaffen: Auch bei Weibchen, deren allen Einzelheiten erforscht, es scheint sich
lich nur einen Pigmenttyp aufweist. Ande- X-Chromosomen zwei verschiedene Allele aber wiederum um ein Zufallsprinzip zu
rerseits müssen unterschiedliche Zapfen­ tragen, enthält trotzdem jeder Zapfen für handeln.
typen wie in einem Mosaik dicht neben­ längerwelliges Licht nur einen Pigment- Wenn diese Überlegungen stimmen,
einander positioniert werden. Solche typ. Der Hintergrund dafür ist: Generell sollten bei Altweltaffen die beiden Zapfen-
Bedingungen sind in der Primatennetzhaut wird in weiblichen Zellen eines der beiden sorten für langwelliges Licht auf jedem
tatsächlich erfüllt – obwohl jede der Sinnes- X-Chromosomen stillgelegt (durch so ge- kleinen Fleck der Netzhaut in einem Zu-
zellen bei den trichromaten Altweltaffen nannte X-Inaktivierung) – welches, ent- fallsmuster verteilt sein. Untersuchungen
natürlich alle drei Pigmentgene besitzt. scheidet sich im Einzelfall in der frühen von David R. Williams von der University

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of Rochester (New York) und seinen Kolle- ligem Licht. Zwar sind Schaltkreise vorge- Überdies sieht es so aus, als ob der wich-
gen deuten genau hierauf hin, zumindest geben, in denen Signale (visuelle Informa- tigste Verrechnungsweg, der Informatio-
soweit sich die Zapfenverteilung mit der- tionen) von Zapfen für kurzwelliges Licht nen von diesen beiden Zapfentypen über-
zeit verfügbaren Methoden erfassen lässt. pauschal mit Signalen verglichen werden, mittelt, gar nicht allein für Farbensehen
die von beiden Zapfentypen für den län- zuständig ist. Möglicherweise kam er zu
Unerwartet plastisches Gehirn gerwelligen Bereich stammen. Aber wenn dieser Aufgabe durch einen glücklichen
Und was geschieht weiter mit den Zapfen- es um den Vergleich zwischen M- und L- Zufall. Den Rahmen dafür bot ein altes neu-
signalen? Studien zum neuronalen Hinter- Zapfen geht, scheinen Netzhaut und Ge- ronales System für hochauflösendes räum-
grund der Farbwahrnehmung bei Prima- hirn mehr zu improvisieren. Genauer ge- liches Sehen. Es entwickelte sich, damit die
ten sprechen dafür, dass sich bestimmte sagt muss das visuelle System anscheinend Abgrenzungen von Gegenständen und
Mechanismen in Netzhaut und Gehirn erst aus der Erfahrung lernen, um welchen ihre Entfernung vom Betrachter präzise
höchst plastisch verhalten. Das betrifft die der beiden Typen es sich im Einzelnen je- wahrgenommen werden können. Wie John
differenzierte Wahrnehmung von langwel- weils handelt. Mollon von der University of Cambridge
deutlich machte, sind bei Primaten die
Zapfen für langwelliges Licht zugleich für
scharfes räumliches Sehen zuständig. Die
Information wird sogar nach dem gleichen
Prinzip verarbeitet wie bei der Farbwahr-
nehmung im langwelligen Bereich: Auch

FRAUEN MIT FARBENSINN?


Manche Frauen besitzen wegen einer Mutati-
on in einem der Gene für den langwelligen
Bereich sogar vier verschiedene Farbsehpig-
FOTOLIA / NATALYA IVANIA

mente. Dadurch verschiebt sich die spektrale


Empfindlichkeit der Netzhaut nachweislich.
Ob diese Frauen mehr Farbtöne erkennen –
also Tetrachromaten sind –, ist noch strittig.

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beim räumlichen Sehen wird die Erregung Allele (auf verschiedenen X-Chromoso- nend eine zusätzliche Dimension des Se-
eines M- oder L-Zapfens damit verglichen, men) für längere Lichtwellen, ähnlich wie hens. Demnach ist das Säugerhirn offen-
wie stark seine vielen M- und L-Nachbarn wir es für frühe Primaten vermuten. Mäu- sichtlich fähig, auch neuartige, qualitativ
durchschnittlich ansprechen. Bisher fan- se mit dem menschlichen Gen exprimier- andere Formen visueller Eindrücke auszu-
den die Neurophysiologen keinen eigenen ten dieses, wie sich zeigte, tatsächlich in werten.
Schaltkreis für dieses Farbensehen. Viel- Zapfenzellen der Netzhaut. Auch fanden Dieser Schluss hat einige Tragweite für
leicht ist überhaupt keiner notwendig. wir, dass der von ihnen gebildete mensch- unsere Vorstellungen zur Evolution von
Dann wäre unser trichromatisches Sehen liche Sehfarbstoff Signale vergleichbar gut Sinnessystemen generell. Es könnte bedeu-
ein erfreuliches Nebenprodukt des genau- übermittelte wie das Maus-M-Pigment. Zu- ten, dass ein veränderter »Anfang«, ein ver-
en räumlichen Sehens. dem nahmen die manipulierten Mäuse er- änderter »Eingang« eines Sinnessystems,
Uns verführte das zu einem spannen- wartungsgemäß ein breiteres Lichtspekt- die Evolution des gesamten Systems vor-
den Experiment. Die Frage dahinter war: rum wahr als ihre normalen Artgenossen. anzutreiben vermag. Wenn Gene für Sin-
Konnte jenes frühe Affenweibchen, das Was würde geschehen, wenn ein Maus- nesrezeptoren mutieren, schlägt der Effekt
erstmals zwei verschiedene Allele für lang- weibchen zwei verschiedene Allele be- womöglich schnell durch. Vielleicht sah
welliges Licht besaß, damit überhaupt et- saß – wenn die Netzhaut ein Mosaik mit gleich das erste Affenweibchen mit zwei
was anfangen? Vermochte das damalige M- und L-Zapfen aufwies (weil mal das Pigmenten für langwelliges Licht die Welt
Primatenhirn diese Informationsquelle eine, mal das andere X-Chromosom aus- in völlig neuen Farben.  
gleich zu nutzen, ohne dass sich erst ein geschaltet war)? Benutzt solch ein Tier die
neuer Nervenschaltkreis entwickeln muss- beiden Zellsorten nur undifferenziert (Spektrum Spezial Biologie – Medizin – Hirnforschung,
te? Genügte also ein dritter Pigmenttyp, zum Sehen oder vermag es im langwelli- 1/2014)
um dem Farbensehen eine weitere Dimen- gen Bereich zwischen mehr Farben zu dif-
sion hinzuzufügen? ferenzieren? Kurz gesagt: Ja, die Maus Jacobs, G. H.: Primate Color Vision: A Comparative Per-
Das wollten wir an einem dichromaten sieht mehr Farben. spective. In: Visual Neuroscience 25, S. 619 – 633, 2008
Säugetier ausprobieren – an Labormäusen. Es gelang uns, solche Mäuseweibchen Jacobs, G. H. et al.: Emergence of Novel Color Vision in
Wir erstellten gentechnisch ein Maus-X- darauf zu dressieren, grüne, gelbe, orange Mice Engineered to Express a Human Cone Pigment.
Chromosom, welches statt für das mausei- und rote Scheiben auseinanderzuhalten. In: Science 315, S. 1723 – 1725, 2007
gene M-Pigment nun für ein menschliches Normale Mäuse lernen das nicht, denn für Nathans, J.: The Evolution and Physiology of Human Color
L-Pigment kodierte. Somit gab es in der sie wirken die Scheiben völlig gleich. Mit Vision: Insights from Molecular Genetic Studies of Visual
Zuchtpopulation jetzt zwei verschiedene dem L-Pigment erwarben die Tiere anschei- Pigments. In: Neuron 24, S. 299 – 312, 1999

18
PSYCHOLOGIE

TRAURIGKEIT BEEINFLUSST DIE


FARBWAHRNEHMUNG von Daniela Zeibig

Wer Trübsal bläst, für den sieht die Welt sprichwörtlich grau
aus. Nun zeigt sich: Traurige Menschen können tatsächlich
Gelb- und Blautöne nicht mehr so gut erkennen.

ISTOCK / TI-JA
19
Psycho&
U
nsere Gemütslage verän- keine Unterschiede. Ein weiterer Versuch
dert auch unsere visuelle mit 130 anderen Teilnehmern, bei dem die

Logisch
Wahrnehmung – das konn- Kontrollgruppe keinen lustigen Film, son-
ten bereits in der Vergan- dern einen neutralen Bildschirmschoner
genheit unterschiedliche zu sehen bekam, bestätigte das Ergebnis.
Studien zeigen. So führt etwa eine depres- Wie genau dieser Effekt zu Stande Experten berichten über die
sive Stimmung im Zweifelsfall dazu, dass kommt, wissen die Forscher noch nicht, da- neuesten Erkenntnisse aus Psychologie,
wir Kontraste nicht mehr so gut wahrneh- für sind weitere Untersuchungen nötig. Sie Hirnforschung und Medizin.
men können. Wie Wissenschaftler um vermuten aber, dass er etwas mit dem Neu- Lernen Sie sich kennen – es lohnt sich!
Christopher Thorstenson von der Univer- rotransmitterhaushalt der Probanden zu
sity of Rochester berichten, beeinflusst sie tun hat. So fanden einige Studien Hinweise
aber offenbar auch unsere Fähigkeit, Far- darauf, dass bei Unterscheidungen im
ben zu erkennen. Die Forscher bestellten blauen und gelben Farbspektrum vor al-
insgesamt 127 Studenten in ihr Labor und lem der Botenstoff Dopamin eine Rolle
zeigten ihnen entweder ein Comedy-Vi- spielt.  
deo, das die Stimmung der Probanden
deutlich hob, oder einen traurigen Film­ (Spektrum.de, 3. September 2015)
clip, der sie betrübt machte. Anschließend
sahen die Teilnehmer nacheinander 48 Fle-
cken, deren Farbton allerdings ein wenig
gedämpft worden war, und mussten ange-
ben, ob diese rot, grün, gelb oder blau wa-
ren.
Dabei entdeckten Thorstenson und sein
Team, dass die Studenten nach dem trauri-
Gehirn&Geist
Wissen ist Kopfsache.
gen Video schlechter dazu in der Lage wa-
ren, die Farben korrekt zu identifizieren –
aber nur, wenn es um gelbe oder blaue Fle-
cken ging. Bei Rot und Grün zeigten sich JETZT TESTEN!
Gelb
WAHRNEHMUNG

sieht im Winter anders aus


von Lars Fischer
Die Wahrnehmung der Farbe Gelb orientiert sich wohl am
Farbschema der Umwelt, nicht an der Physiologie des Auges.

FOTOLIA / FRENTA
21
D KOMPAKT
as menschliche Sehsystem einander ab. Als Ursache vermuteten Fach-
nimmt die Farbe Gelb je leute schon lange, dass die Farbe Gelb nicht
nach Jahreszeit unter- von der Physiologie des Auges bestimmt,
schiedlich wahr – zu die- sondern flexibel an der Umgebung justiert
sem Schluss kommt die wird. Das Experiment von Welbourne und
Forscherin Lauren Welbourne von der Uni- ihrer Arbeitsgruppe erhärtet nun diese
versity of York anhand einer Untersuchung Vermutung. 
an 67 Männern und Frauen aus Großbritan-
nien. Demnach verschob sich deren Farb- (Spektrum.de, 5. August 2015)
wahrnehmung jahreszeitlich systematisch
um einen bestimmten Betrag. Die Forsche-
rin sieht darin einen Beleg, dass der Wert
der Farbe Gelb anhand der Farbpalette in
der Umgebung feinjustiert wird: Ursache
seien die reichhaltigen Grüntöne im briti-
FÜR NUR
schen Sommer. In anderen Regionen sähe
€ 4 ,9 9
die Farbwahrnehmung je nach den lokalen
Jahreszeiten anders aus, spekuliert Wel-
bourne.
Im Unterschied zu anderen Farben wei- ACHTSAMKEIT
sen Menschen unabhängig von Herkunft
und anderen Faktoren reinem Gelb den UND EMPATHIE
gleichen Farbwert zu. Das Experiment be- Die Wissenschaft der Wertschätzung
stand darin, die Versuchspersonen in ei-
nem schwach beleuchteten Raum einen Mindfulness | Der Wert des Augenblicks
Lichtfleck anhand eines Drehknopfes auf Mitgefühl | Stress hemmt Sinne für andere
reines Gelb ohne eine Spur von Grün oder Meditation | Drei Wege ins Nirwana
Rot zu lassen – wie sich zeigte, wichen die
Durchschnittswerte je nach Jahreszeit von-
HIER DOWNLOADEN

FOTOLIA / PSDESIGN1
PLASMONISCHE FARBE

So druckt man den kleinsten

FOTOLIA / FRIEDBERG / BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


»Monet« der Welt Statt Pigmente erzeugen bei diesem
Verfahren winzige Säulen den farbigen
Eindruck. Dadurch lässt sich die Abbil-
von Jan Dönges dung extrem verkleinern.

23
F
orscher um Joel Yang von der Plasmonen, aus, die dafür sorgen, dass nur
Singapore University of Techno- noch Licht bestimmter Farbe zurückge-
logy and Designhaben ihr Ver- strahlt wird. Durch Variation der Säulen-
fahren, mit Hilfe winziger Säu- ausmaße und deren geschickte Anordnung
len farbige Bilder zu erzeugen, sowie Kombination gelang es den For-
drastisch verbessert: Insgesamt 300 ver- schern, eine 300 Farben umfassende Palet-
schiedene Töne können sie jetzt aufbrin- te zusammenzustellen.
gen. Ihre Reproduktion von Claude Monets Hergestellt werden die Säulen mit Hilfe
berühmtem Bild »Impression, Sonnenauf- der Elektronenstrahl-Lithografie, was ver-
gang« wirkt dadurch vergleichsweise origi- gleichsweise aufwändig ist. Im Prinzip dürf-
nalgetreu – vor allem wenn man bedenkt, ten die Strukturen jedoch auch mit Verfah-
dass sie gerade einmal 0,3 Millimeter in ren produzierbar sein, die sich für die Seri-
TAN, S.J. ET AL.: PLASMONIC COLOR PALETTES FOR PHOTOREALISTIC PRINTING WITH
der Breite misst. enproduktion besser eignen, überlegen Yang ALUMINUM NANOSTRUCTURES. IN: NANO LETTERS 14, S. 4023–4029, 2014, FIG. 1

Die Pixel bei Yangs Verfahren bestehen und Kollegen. Die Haltbarkeit der Säulen
aus wenige Nanometer großen Silizium- wird mit »über sieben Monaten« angegeben. MONET AUF 300 MIKROMETERN
säulen, an deren Spitze die Forscher Alumi- Für ihre Technik sehen die Wissenschaftler Die Pixel dieses Bilds bestehen ursprünglich
niumendkappen anbrachten. Treffen Pho- künftige Einsatzgebiete beispielsweise als aus wenige Nanometer großen Säulen.
tonen auf diese Kappen, lösen sie dort Vib- Sicherheitsmerkmal bei Dokumenten oder Schwingungen der Elektronen in den Säulen
rationen der Elektronen, so genannte Banknoten. Dafür müsste allerdings die reflektieren selektiv das Licht und erzeugen
Dauerhaftigkeit des Säulenarrangements so den farbigen Eindruck.
noch stark verbessert werden. 
(Spektrum.de, 7. Juli 2014)

SÄULEN MIT HÜTCHEN


Größe, Kombination und Anordnung der Säu-
len erzeugen die Farbigket eines Pixels. Vier
der Säulen bilden zusammengenommen einen
Bildpunkt.
TAN, S.J. ET AL.: PLASMONIC COLOR PALETTES FOR PHOTOREALISTIC PRINTING WITH
ALUMINUM NANOSTRUCTURES. IN: NANO LETTERS 14, S. 4023–4029, 2014, FIG. 5E

24
Schönheit
OPTISCHER EFFEKT

im Auge des Betrachters


von H. Joachim Schlichting
Manche farbenprächtige Erscheinung lässt
sich nur beschreiben, jedoch nicht direkt
­fotografieren – denn sie entsteht erst in
unserem Sehorgan selbst.

ISTOCK / MOTIVE56
25
A
ls ich vor einiger Zeit mit nicht aber den verbleibenden Teil des um-
noch künstlich geweiteten gebenden Lichthofs – mit dem Finger mei-
Pupillen von einer Untersu- nes ausgetreckten Arms aus. Sobald das ei-
chung beim Augenarzt kam, gentliche Leuchten abgedeckt war,
blendeten mich helle Licht- verschwand schlagartig auch der Regenbo-
quellen fast schmerzlich. Der einzige Trost genkranz. Das Phänomen musste also et-
in dieser Situation war die Schönheit eines was sein, was mit meinen Augen zu tun
hellen Lichthofs mit einem regenbogenar- hatte und was nur bei weit geöffneten Pu-
tigen Band um sie herum. So etwas war mir pillen auftritt.
bislang nur im Dunkeln beim Blick auf fer- Augenheilkundler erkannten schon ge- »Alles, was wir
ne Leuchtpunkte begegnet. gen Ende des 19. Jahrhunderts den Effekt sehen, könnte auch
Die seltsame Erscheinung unterschei- von ringförmig angeordneten, radial ori-
det sich von den bekannten farbigen Rin- entierten Zellfasern, die bei der Bildung der anders sein«
gen, die man zuweilen sieht, wenn man Augenlinse entstehen und an ihrem äuße- [Ludwig Wittgenstein (1889-1951)]
durch eine beschlagene Fensterscheibe ren Rand liegen. Die Gewebestrukturen
eine Laterne betrachtet. Dieses Phänomen wirken wie ein optisches Gitter, welches
verursachen winzige Wassertröpfchen zwi- das Licht einer weit entfernten und daher
schen Lampe und Auge, die das Licht beu- fast punktförmigen Quelle beugt. Die ge-
gen. Auch beim Blick durch dünne Schlei- beugten Wellen überlagern sich auf der Re-
erwolken auf Sonne und Mond können sol- tina zu einem farbigen Bogen, dem so ge-
che Farbkreise auftauchen, die Koronen nannten Linsen-Halo. Tagsüber wirkt die-
heißen. ses Gitter nicht, weil dann die klein
Hier allerdings füllte der farbige Hof die gestellte Pupille die Augenlinse vom Rand
ganze Fläche um ein helles Zentrum. Es be- her abdeckt. Daher sieht man den Halo nur
fand sich auch nichts zwischen Lichtquelle bei Dunkelheit – oder wenn die medika-
und Auge, was ich für den Effekt hätte ver- mentös erweiterte Pupille das Beugungs-
antwortlich machen können. Das zeigte ein gitter freigibt.
einfacher Trick: Ich blickte mit einem Auge Dieser Linsen-Halo ist aber nur ein Teil
auf die ferne Laterne und blendete sie – dessen, mit dem sich sehr helle Lichtquel-

26
len zu schmücken scheinen. Wesentlich
stärker noch machen sich farbig irisieren-
de Strahlen bemerkbar, die vom Zentrum
der Lichtquelle radial nach außen gehen.
Man kann sie auch am Tag sehen, etwa
dann, wenn man in eine helle Halogenlam-
pe oder LED blickt.

VAN DEN BERG, T. ET AL.: THE CILIARY CORONA: PHYSICAL MODEL AND SIMULATION OF THE FINE NEEDLES RADIATING FROM POINT LIGHT SOURCES.
Bunte Nadelstreifen aus
dem Inneren der Linse
Dieses Phänomen erwähnte bereits René
Descartes (1596 – 1650). Es wird heute als

IN: INVESTIGATIVE OPHTHALMOLOGY & VISUAL SCIENCE 46, S. 2627 – 2632, 2005; MIT FRDL. GEN. VON ARVO / CCC
Ziliar-Korona bezeichnet und wird nach
neueren Erkenntnissen vermutlich von
kleinen Teilchen verursacht, die in der Au-
genlinse eingelagert sind. Sie wirken ähn-
lich wie die winzigen Wassertröpfchen bei
einer Sonnen- oder Mondkorona. Anders
als dort ergeben sich hier aber keine Ringe,
sondern in der Farbe variierende radiale
Strahlen. Wie kommt es dazu? Im Normal-

KORONA UM EINE ENTFERNTE LICHTQUELLE


So in etwa sieht die Korona um eine entfernte
Lichtquelle durch weit gestellte Pupillen aus.
Das Bild ist das Ergebnis einer Computersi-
mulation, denn fotografieren lässt sich dieser
subjektiv wahrgenommene Effekt nicht.

27
Haben wir es mit einer ausgedehnten
Lichtquelle zu tun, sehen wir die typischen
Farbringe einer Korona. Beispielsweise
funktioniert das bei einer matten Glüh-
lampe bis zu einer Entfernung von etwa
acht Metern. Dieser Abstand entspricht bei
einer Größe des Leuchtkörpers von rund
vier Zentimetern einem Sehwinkel von zir-
ka 0,3 Grad. Erscheint er bei größerer Ent-
fernung unter kleinerem Winkel, fransen
diese Ringe immer mehr aus und gehen

H. JOACHIM SCHLICHTING
schließlich in eine Strahlenstruktur über.
Diese tritt offenbar nur unterhalb von 0,3
Grad auf und ist umso ausgeprägter, je klei-
ner der Sehwinkel wird. Daher kann man
BLICK DURCH EINE BESCHLAGENE FENSTER­­- bei Sonne und Mond, die am Himmel un-
SCHEIBE AUF EINE STRASSENLATERNE ter 0,5 Grad erscheinen, keine Strahlen in
der Korona sehen. Bleibt zu klären, was die-

H. JOACHIM SCHLICHTING
sen Unterschied bewirkt.
fall ist die Ziliar-Korona nicht besonders Um farbige Ringe hervorzurufen, ge-
lichtstark. Um sie dennoch eingehender zu nügt im Prinzip ein einziger winziger Was-
untersuchen, lässt sich die Zahl der beugen- sertropfen. Er beugt das Licht und zerlegt
den Teilchen künstlich vergrößern. Dazu es in viele Teilwellen, die je nach ihrer Wel-
muss man nur durch eine geeignete Folie lenlänge in leicht verschiedene Richtun- DURCHSTRAHLEN EINES WINZIGEN LOCHS
für Tintenstrahldrucker blicken. Denn man- gen laufen. Auf der Netzhaut des Auges EINER PUNKTLICHTQUELLE
che Fabrikate enthalten kleinste Teilchen, oder auf dem Chip einer Kamera überla- Dieses farbige Ringsystem entstand in einem
die einen ähnlichen Beugungseffekt bewir- gern sie sich. Es muss nicht unbedingt ein Freihandexperiment beim Durchstrahlen ei-
ken wie die Wassertröpfchen einer dünnen Tropfen sein – ein Loch vom selben Quer- nes winzigen Lochs mit weißem Licht einer
Wolke oder die Partikel in unserem Auge. schnitt ruft ein ganz ähnliches Farbmuster Punktlichtquelle.

28
H. JOACHIM SCHLICHTING

H. JOACHIM SCHLICHTING
ZILIAR-KORONA und Mond addieren sich dabei nur die Far- BEUGUNGSBILD EINES EINFARBIGEN
Der Effekt einer Ziliar-Korona, nachgestellt ben, so dass lediglich deren Intensität zu- LASERS
durch eine Druckerfolie. Bei einem großen nimmt. Im Fall eines kleineren Winkels Das Beugungsbild eines einfarbigen Lasers
Sehwinkel ergeben sich verschwommene hingegen ist das Licht immer noch weitge- wird körnig, wenn die gebeugten, aber immer
Farb­ringe (links), bei einem kleinen zerfallen hend kohärent, was bedeutet, dass die ein- noch kohärenten Teilwellen sich im Auge
sie in einzelne radiale Strahlen (rechts). zelnen Wellen beim Betrachter abermals oder auf dem Kamerachip erneut überlagern.
interferieren können. Dadurch wird das
Beugungsscheibchen feiner strukturiert.
hervor. Piekst man über einer festen Un- Mit Hilfe von kohärentem Laserlicht kann also in radialer Richtung. Das führt schließ-
terlage mit einer spitzen Nähnadel in eine man diese Details zumindest einfarbig lich zu den schillernden Farbstrahlen, die
Haushaltsalufolie und blickt durch die win- sichtbar machen. Auf dem Schirm zerfällt wir bei einer Ziliar-Korona sehen.  
zige Öffnung auf eine Punktlichtquelle, dann das ringförmige Beugungsbild in ein
umgibt diese ein solches Ringsystem. granuläres Muster. (Spektrum der Wissenschaft, 8/2015)
Jeder Tropfen beziehungsweise jedes Bei weißem Licht werden die verschiede-
Streuzentrum erzeugt ein eigenes ringför- nen Wellenlängen mehr oder weniger stark Van den Berg, T. et al.: The Ciliary Corona: Physical Model
miges so genanntes Beugungsscheibchen, vom Zentrum des Ringsystems weg bezie- and Simulation of the Fine Needles Radiating from Point
das sich mit den anderen überlagert. Bei hungsweise zum Mittelpunkt hin abge- Light Sources. In: Investigative Ophthalmology & Visual
den ausgedehnten Lichtquellen wie Sonne lenkt. Die körnigen Lichtflecke spreizen sich Science 46/7 2627 – 2632, 2005

29
SIMULTANKONTRAST

Eingebildete
FARBEN
von H. Joachim Schlichting
Weil unser visuelles System uns
gerne weiße Wände vorgaukelt,
kommen gelegentlich unerwartete
Farben zum Vorschein.

FOTOLIA / DELPHOTOSTOCK
30
S
ie sind doch Physiker, Sie kön- Licht, grün gefärbt und stark gedämpft, er-
nen uns sicher helfen!«, hieß es, reichte die übrige Wand und den Tisch.
als ich jüngst zu Besuch in ei- Dass die hyperbelförmige Aufhellung
nem Verlag war. Die Redakteure von dunkleren und helleren Streifen be-
waren gerade in ein neues Ge- randet erscheint, ist leicht einsichtig. Wie
bäude umgezogen und konfrontierten eine Sammellinse fokussiert die Krüm-
»Dass man alles grünlich
mich mit einem unerwarteten Problem. mung des Glasrands nämlich einen Teil des
Die Bildschirme ihrer Computer wiesen ei- Lichts und lenkt ihn ein wenig nach unten sieht, wenn man lange
nen schwachen Orangeschimmer auf, der ab. Dort entstehen helle Streifen. An ande-
durch ein rotes Glas
sich einfach nicht beseitigen ließ. Man rer Stelle fehlt dieses Licht hingegen, so
habe bereits die Techniker kommen lassen, dass dort dunkle Streifen auftauchen. Auch gesehen, und umgekehrt,
doch die hätten versichert, dass alles in warum die Kerzenflamme weiß erscheint,
rötlich, wenn man lange
Ordnung sei. Ein Rätsel! obwohl sie durch das grüne Glas hindurch-
Kurz zuvor war ich vor einem ähnlichen strahlt, ist schnell erklärt. Hier spielt die so durch ein grünes gesehen
Problem gestanden. Ich hatte nach einer genannte Irradiation hinein, auch »Bloo- hat, ist ein merkwürdiger
Methode gesucht, Studierenden einen an- ming« genannt. Bei Intensitäten, die im
schaulichen Zugang zu Kegelschnitten zu Vergleich zur übrigen Szenerie sehr hoch Umstand«
verschaffen, und dazu eine Kerze in ein sind, können unsere Augen – ebenso wie [Georg Christoph Lichtenberg
Wasserglas gestellt, das ich dann vor einer Kamerasensoren – Farben nicht mehr un- (1742 – 1799)]
weißen Wand platzierte. Das Glas war grün terscheiden.
gefärbt, damit es das Licht ein wenig dämpf- Einen zufällig hinzukommenden Kolle-
te. Die kleine Kerzenflamme sandte ihr gen fesselte hingegen ein ganz anderes
Licht radial in alle Richtungen aus. Aus die- Phänomen. Sollte er wirklich an der Unbe-
sem Lichtkontinuum schnitt der obere stechlichkeit seiner eigenen Augen zwei-
Rand des Glases einen auf der Spitze ste- feln? Denn die »weiße« Wand erschien just
henden Kegel heraus, der von ungefilter- in dem Bereich rötlich, der durch reines,
tem weißem Licht erfüllt war. Dort, wo die- ungefiltertes weißes Kerzenlicht ausge-
ses auf die Wand traf, hinterließ es eine hy- leuchtet wurde! Das war in der Tat überra-
perbelförmige Aufhellung. Das restliche schend. Er war indessen nicht der Erste, den

31
OPTISCHE TÄUSCHUNG
Wo das Licht der Kerzenflamme direkt auf die
weiße Wand fällt, erscheint uns diese überra-
schenderweise rötlich. Die optische Täu-
schung zeigt sich auch auf Fotografien, denn
Kameras, zumindest wenn sie im Automatik-
modus arbeiten, »verschieben« ein allzu
grünes Bild ebenfalls in Richtung der Kom-
plementärfarbe Rot. Ursprünglich sollte das
Experiment Studierenden anhand der Kontur,
die in der Schnittebene von Wand und Licht-
kegel entsteht, die Entstehung einer Hyperbel
vorführen.

H. JOACHIM SCHLICHTING H. JOACHIM SCHLICHTING

das Phänomen verblüffte. Ein verwandtes Blatt Papier fielen. Als er vor eine der Ker- ford überzeugte sich davon mit einem ein-
Experiment mit ebenfalls »merkwürdi- zen einen Gelbfilter hielt, tönte sich der von fachen Hilfsmittel: Er betrachtete den ver-
gem« Ergebnis beschrieb schon Georg der anderen Kerze geworfene Schatten wie meintlich bläulichen Schatten durch ein
Christoph Lichtenberg, der erste deutsche erwartet gelblich. Doch der ungefärbte Rohr – und schon verschwand die Färbung.
Professor für Experimentalphysik, in Schatten, den die nun gelb leuchtende Ker- Dieses auch als Simultankontrast be-
den oben zitierten Zeilen. Auch Lich­ ze warf, erschien auf einmal bläulich. kannte Phänomen hat einen physiologi-
tenbergs Zeitgenossen Graf Rumford schen Hintergrund. Betreten wir etwa ein
(1743 – 1814) beschäftigte der Effekt. 1794 be- Erhellender Blick in die Röhre grün erleuchtetes Zimmer, reduziert sich
leuchtete dieser ein zylinderförmiges Ob- Die Verblüffung der Beteiligten ist ver- die Empfindlichkeit der für die Grünwahr-
jekt mit dem Licht zweier Kerzen, so dass ständlich, schließlich treten Farben auf, die nehmung zuständigen Zapfen unserer Au-
die entstehenden Schatten auf ein weißes objektiv gar nicht vorhanden sind. Rum- gen im Verhältnis zur Empfindlichkeit des

32
Auges für die anderen Farbanteile. An- Täuschung sofort auf. Zunächst erschien Ende durch eine große, rechteckige Öff-
schaulicher gesagt: Unser visuelles System uns die gesamte Umgebung in unnatürli- nung in einen weiteren hellen Raum. Wie
»möchte« eine vermeintlich weiße Wand chen Farben. Doch bald stellten sich unsere der Simultankontrast den Gesamteindruck
als möglichst weiß wahrnehmen. Infolge Augen um, und wir entdeckten, dass die beeinflusst, bleibt zwar das Geheimnis des
dieser chromatischen Adaption erschei- Scheiben mit einer bläulich schimmern- Künstlers. Dass er aber eine erhebliche Rol-
nen uns die grünen Wände daher weniger den Beschichtung versehen waren. Sie hat- le spielt, merkt man spätestens, wenn man
grün, als sie »in Wirklichkeit« sind. Noch te auch die Zimmerwände bläulich gefärbt. sich draußen wieder an die alten Farbver-
auffälliger ist der Effekt, wenn man aus Weil der Blauschimmer jedoch nur schwach hältnisse gewöhnen muss.
dem grün erleuchteten Raum heraus in ein war, war unserem visuellen System die Mit ein wenig Glück erlebt man den Ef-
weiteres Zimmer blickt, dessen Wände Täuschung perfekt gelungen: Die Wände fekt übrigens auch ohne experimentelle
weiß sind. Auch deren Grünanteile neh- erschienen trotzdem weiß. Nur die Com- Vorkehrungen. Wer bei Mondlicht an einer
men wir dann vermindert wahr und sehen putermonitore hatten plötzlich einen Farb- gelb leuchtenden Straßenlaterne vorüber-
stattdessen Rot, die Komplementärfarbe stich … geht, wird entdecken, dass der von der La-
von Grün. Komplementärfarben ergänzen Der Simultankontrast besitzt schon in terne hervorgerufene eigene Schatten
sich in der Mischung zu Weiß. Umgekehrt Goethes Farbenlehre, die physikalischen leicht ins Bläuliche changiert. Gelegentlich
bleibt die Komplementärfarbe übrig, wenn und physiologischen Aspekten einen ähn- reicht es sogar, sich ans Fenster zu stellen.
man eine gegebene Farbe von Weiß »ab- lich hohen Rang beimisst, große Bedeu- Denn der aufmerksame Beobachter wird
zieht«. tung. Auch in der modernen Malerei und schnell bemerken: Schon wenn der Mond
Bei meinem Verlagsbesuch hatte ich all Lichtkunst spielt er eine wichtige Rolle, mit dem Licht einer Glühbirne konkurriert,
diese Überlegungen zum Glück noch frisch weil er in verschiedenen Farbumgebungen darf man seinen eigenen Augen nicht mehr
im Gedächtnis. Was also, wenn die Bild- den Gesamteindruck eines Werks maßgeb- vorbehaltlos trauen.  
schirme in der Redaktion aus demselben lich verändern kann. So schuf der Licht-
Grund orange leuchteten, wie die Wand im künstler James Turrell 2009 im Kunstmu- (Spektrum der Wissenschaft, 11/2011)
Kerzenversuch rot erscheint? Dann müsste seum Wolfsburg einen riesigen begehba- Schlichting, H. J.: Lichtkegel und Schattenhyperbeln.
die weiße Wand einen Farbstich in der ren Raum mit changierender Beleuchtung, In: MNU 56/6, S. 348 – 350, 2003
Komplementärfarbe dieses Orangetons der seine Besucher ebenso sehr beein-
haben, also ins Bläuliche changieren. Ver- druckte wie irritierte. Über eine abwärts-
suchsweise schlug ich vor, die Fenster zu führende Rampe betrat man das violett er-
öffnen – und tatsächlich flog die optische leuchtete Zimmer und blickte an dessen

33
SYNÄSTHESIE

Mit den Ohren sehen


von Jeffrey Gray
Manche Menschen sehen unwillkürlich Farben,
wenn sie bestimmte Worte hören. Inzwischen kennt
man die biologischen Grundlagen dieser erstaunli-
chen Gabe: Normalerweise getrennt verlaufende

ISTOCK / SIPHOTOGRAPHY
sensorische Bahnen sind miteinander verschaltet.

34
I
n seinem Gedicht beschwört Arthur modernen Psychologie, bereits 1907 be-
Rimbaud (1854-1891) ein Phänomen, merkte. A schwarz E weiß I rot U grün
das die Literaten seiner Zeit liebten: Synästhetiker machen nur einen klei- O blau – vokale Einst werd
die Synästhesie. Der Begriff stammt nen Teil der Bevölkerung aus. Wahrschein- ich euren dunklen ursprung
aus dem Griechischen und bedeu- lich ist etwa eine von 2000 Personen mit offenbaren:
tet gleichzeitiges Empfinden, gebildet aus dem Talent ausgestattet, allerdings gehen
A: schwarzer samtiger panzer dichter
»syn« und »aisthesis«. Bei Menschen mit die Schätzungen weit auseinander. Es gibt
mückenscharen Die über grausem stanke
diesem besonderen Talent ruft eine senso- rund sechsmal mehr weibliche Synästheti- schwirren · schattentale.
rische Stimulation nicht nur in »ihrem« ker als männliche, und oft findet man in E: helligkeit von dämpfen und gespannten
Sinneskanal einen Eindruck hervor, son- derselben Familie mehrere befähigte Per- leinen · Speer stolzer gletscher · blanker
dern systematisch auch immer in einem sonen. Das war auch Galton aufgefallen, fürsten · wehn von dolden.
zweiten. und er kam zum Schluss: »Diese Tendenz I: purpurn ausgespienes blut gelach der
Holden Im zorn und in der trunkenheit der
Dabei sind bei jedem Synästhetiker ver- ist stark von der Vererbung abhängig.« Wie
peinen ...
schiedene Sinne beteiligt. In einem Fall las- man heute weiß, wird die Mischsinnigkeit
Les voyelles (Die Vokale), von Arthur Rimbaud
sen beispielsweise Klänge oder Wörter far- sehr wahrscheinlich über die Mutter wei- Übertragung von Stefan George
bige visuelle Empfindungen entstehen, in tervererbt.
einem anderen hat ein Geschmack eine Alle Synästhetiker berichten, ihre Erfah-
»Form« oder eine Farbe einen charakteris- rungen mit den außergewöhnlichen Sin-
tischen »Geruch«. Auch Schmerzen oder neseindrücken reichten so weit zurück, wie

MARCELO NOAH / ARTHUR RIMBAUD [1872] – FOTO DE ÉTIENNE CARJAT / CC BY 2.0


ein Orgasmus können dazu führen, dass sie sich erinnern können. Auch wenn man-
ein Synästhetiker Farben wahrnimmt. Am che Betroffenen nicht darüber zu sprechen
häufigsten kommt die Form der Synästhe- wagen, empfinden viele ihre Gabe als posi-
sie vor, bei der Wörter oder Zahlen in ge- tiv. Andere wiederum behaupten nur, sie
schriebener oder gesprochener Form Far- seien Synästhetiker. Vor allem Künstler wie
ben erscheinen lassen. Dabei stimmen Maler, Schriftsteller und Musiker geben oft
zwei Personen nie darin überein, »welche an, sie gehörten zu dieser Gruppe – nur
Farbe sie mit demselben Wort assoziieren«, dass es sich dabei meist um Männer han-
wie der britische Arzt und Naturforscher delt, obwohl die weit überwiegende Anzahl ARTHUR RIMBAUD
Francis Galton, einer der Wegbereiter der der Synästhetiker Frauen sind! Rimbaud

35
war trotz seines wunderbaren Gedichts kei- Im Jahr 1993 konnten Simon Baron-Co-
AUF EINEN BLICK ner; er suchte nur nach besonders aussage- hen und seine Kollegen vom Institut für
kräftigen Assoziationen. Psychiatrie des King’s College London nach-
Vorgaukeln Natürlich gibt es unter Künstlern auch weisen, dass Synästhetiker zuverlässig im-
zwischen echte Synästhetiker, wie den russischen mer dieselben Wörter und Farben mitein-
Romanautor Vladimir Nabokov. Die Male- ander verknüpfen. Sie lasen Versuchsper-
Sinnessystemen rin Carol Steen beispielsweise, Präsidentin sonen eine Liste mit Begriffen vor und
1 So genannte Synästhetiker empfinden bei der US-amerikanischen Vereinigung der baten sie, die jeweils zugehörigen Farben
manchen Wahrnehmungen zugleich »un- Synästhetiker, setzt ihre Erfahrungen ex- zu beschreiben. Bei einer Wiederholung
passende« Eindrücke, die zu einem ande- zellent in Bilder um. des Versuchs ein Jahr später ordneten die
ren Sinn gehören, etwa Farben, wenn sie Zahlreiche Erfahrungsberichte und Un- Versuchspersonen diesen Worten immer
Töne hören.
tersuchungen Betroffener haben inzwi- noch dieselben Farben zu. Dabei wussten
2 D
 iese Fähigkeit kann man nicht erlernen. schen klar gezeigt, dass es sich bei der Ver- sie beim ersten Mal nicht, dass sie erneut
Vielmehr entsteht in der frühen Entwick- schmelzung der Sinne keineswegs um eine getestet würden, und keiner von ihnen hat-
lung eine sonst nicht vorhandene neuro- dichterische Erfindung oder eine Ausge- te versucht, sich die Worte oder die Farben
nale Verbindung zwischen den betreffen- burt der Fantasie handelt. Vielmehr haben zu merken.
den Hirnregionen. wir es mit Sinneserfahrungen zu tun, die In einem anderen Versuch präsentier-
einem gewöhnlichen Menschen völlig ten Vilayanur Ramachandran und Edward
fremd sind. So geht bei einem »geborenen Hubbard von der University of California
Synästhetiker« beispielsweise die Verbin- in San Diego ihren Probanden eine An-
dung von Wörtern und Farben weit über sammlung aus lauter Zweien und Fünfen,
die Art und Weise hinaus, in der andere und zwar in einer Schriftart, in der die zwei
Menschen entsprechende Sinneseindrü- das Spiegelbild der fünf darstellt. Die Fün-
cke »assoziieren«. Bei ihm verfärbt sich das fen waren weit in der Überzahl und bilde-
Gesichtsfeld tatsächlich rot, wenn er etwa ten eine Art homogenen Hintergrund. Die
das Wort »Treppe« hört, oder gelb, wenn er wenigen Zweien in dem Zahlenfeld waren
»Freiheit« vernimmt. Offensichtlich mi- so angeordnet, dass sie ein Dreieck form-
schen und überlagern sich hier verschiede- ten. Nichtsynästhetiker hatten Schwierig-
ne Ebenen des Bewusstseins. keiten, die Formation der Zweien zu entde-

36
cken. Anders dagegen Synästhetiker, die
Zahlen und Buchstaben farbig wahrneh-
men und dabei Zweien und Fünfen in ver-
schiedenen Tönungen empfinden: Sie se-
hen augenblicklich das für sie farbige Zah-
lendreieck aus einem andersfarbigen
Hintergrund herausspringen.
Versuche wie diese bestätigten jedenfalls
eindeutig, dass Synästhesie ein reales Phäno-
men des menschlichen Bewusstseins dar-
stellt. Es ging also nunmehr darum, mit Hilfe
moderner bildgebender Verfahren zu unter-
suchen, in welcher Weise sich die Verschmel-
zung der Sinne im Gehirn niederschlägt. Die-
se Verfahren ermöglichen es, ihm sozusagen
bei der Arbeit zuzusehen. So lässt sich bei-
spielsweise herausfinden, welche Bereiche

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH CLAUDE DELPECH, ASSOCIATION AFSI


bei einer bestimmten Denk- oder Wahrneh-
mungsaufgabe in Aktion treten.

ERSCHEINUNGSBILD EINES KREUZWORT-


RÄTSELS FÜR SYNÄSTHETIKER
Ein Synästhetiker empfindet bestimmte
­Wörter als farbig. Für ihn erscheint ein
schwarz-weißes Kreuzworträtsel ganz bunt.
Dabei verfügt jeder Synästhetiker über seinen
eigenen Wort-Farb-Kode, der von bestimmten
Verknüpfungen in seinem Gehirn abhängt.

37
1995 beobachteten Eraldo Paulesu und Am Londoner Institut für Psychiatrie Kann man Synästhesie lernen?
sein Team an der Abteilung für funktionel- haben wir weitere bildgebende Experi- In einer Hinsicht kamen wir zum selben
le Bildgebung der Wellcome-Laboratorien mente mit solchen Synästhetikern durch- Ergebnis wie Paulesus Team: Die Wörter
in London die Hirnaktivität von Synästhe- geführt. Dabei verfuhren wir praktisch mobilisierten bei den Synästhetikerinnen
tikern, denen man eine Liste von Wörtern genauso wie das Team von Paulesu, be­ das visuelle System, bei der Vergleichs-
vorsprach. Die Beispiele waren so gewählt, dienten uns jedoch der funktionellen gruppe dagegen nicht. Die von uns beob-
dass sie bei den Synästhetikern Farbemp- Magnetresonanztomografie (fMRT), da sie achtete Aktivierung entsprach jedoch ei-
findungen hervorriefen, während sie bei eine bessere zeitliche und räumliche Auf- nem früheren Schritt bei der Verarbeitung
gewöhnlichen Menschen allenfalls Assozi- lösung hat. Das Verfahren ist auch als der Seheindrücke. Das betreffende Areal ist
ationen zu einigen dieser Farben weckten. funktionelle Kernspintomografie be- für die Analyse von Farben an sich zustän-
Die Hirnaktivität wurde mit der so genann- kannt. Wir achteten darauf, unsere Test- dig. Es umfasst einen Teil der so genannten
ten Positronenemissionstomografie (PET) gruppen homogen zusammenzusetzen. fusiformen Windung, bekannter unter der
erfasst. Resultat: Bei den Synästhetikern – Sie umfassten jeweils nur Frauen, gleich Bezeichnung V4- oder V8-Region. Dies
und nur bei diesen – wurde die Sehrinde viele Links- und Rechtshänderinnen, und stärkte nun die Hypothese, dass die synäs-
aktiviert, genauer die Assoziationsregio- alle verfügten über eine ähnliche verbale thetischen Farbempfindungen gleich zu
nen des visuellen Systems, also die »höchs- Intelligenz. Die Probandinnen hörten eine Beginn des entsprechenden Verarbeitungs-
ten« Instanzen, wo die verschiedenen opti- Reihe von Wörtern und sinnlosen Lauten, prozesses entstehen. Außerdem bekräftig-
schen Informationen integriert werden. und wir verglichen die hierbei gemessene te der Befund, dass es sich um eine wirkli-
Die Psychologen Peter Grossenbacher Hirntätigkeit mit der Aktivierung des Ge- che Wahrnehmung handelt.
und Chris Lovelace von der Naropa Uni- hirns durch reale Farben. Letztere wird Doch woher rührt diese zusätzliche
versity in Boulder (Colorado) sehen darin durch einen Standardtest mit einem bun- Aktivierung? Bilden Synästhetiker schon
ein Indiz für ihre Hypothese zur Entste- ten Patchwork aus Rechtecken unter- in ganz früher Kindheit außergewöhnlich
hung synästhetischer Wahrnehmungen: schiedlicher Größe erfasst, wie in den Ge- starke und dauerhafte Assoziationen
In visuellen Netzwerken »höherer Ord- mälden von Piet Mondrian (1872 – 1944). zwischen Wörtern und Farben aus? In die-
nung« werde eine sonst unterdrückte Um die gesamte Farbkomponente der sem Fall läge die Ursache im assoziativen
Rückkopplung zu einem der Verarbei- Wahrnehmung zu extrahieren, lässt man Lernen.
tungswege aktiv, der dann eine konkurrie- Versuchspersonen einmal solche »Mond- Oder enthält das Gehirn der Synästheti-
rende Repräsentation im neuronalen Netz- riane« betrachten, ein andermal gleiche, ker von vornherein feste anomale Nerven-
werk erzeuge. aber schwarz-weiße Motive. verbindungen zwischen dem sensorischen

38
System, in dem der auslösende Reiz eigent-
lich verarbeitet wird, und demjenigen, in
dem der zusätzliche Sinneseindruck ent-
steht? Dann müsste bei Wort-Farb-Synäs-
thetikern eine Verbindung bestehen von
den Verarbeitungsbereichen für gehörte
oder gelesene Wörter hin zu den visuellen
Regionen der Farbwahrnehmung, also zu
V4/V8. Diese anomale Bahn sollte im Ge-
hirn von Nichtsynästhetikern fehlen, eben-
so bei Menschen mit anderen Synästhe­

POUR LA SCIENCE
sien. Ihr würde eine genetische Mutation
zu Grunde liegen, die dazu führt, dass sich
diese Querverbindung entweder ausbildet
oder während der Hirnreifung in frühester Farben herzustellen. Dies funktionierte fol- ZWEIEN UND FÜNFEN IM VERGLEICH
Kindheit nicht beseitigt wird. In dieser Pha- gendermaßen: Die Teilnehmer saßen vor Für gewöhnliche Menschen sind die schwar-
se werden routinemäßig nicht benötigte einem Bildschirm, auf dem in einem Tab- zen Zweien unter den schwarzen Fünfen
Verknüpfungen eliminiert. leau acht Farben angezeigt wurden. Klick- schwer auszumachen (links). Für einen Syn-
Die Hypothese einer anomalen anato- ten sie auf eines der farbigen Felder, er- ästhetiker dagegen treten die Zweien augen-
mischen Verbindung lässt sich heute noch schien die Farbe auf der gesamten Bild- blicklich aus dem Wald von Fünfen hervor, da
nicht direkt experimentell überprüfen. schirmfläche – und über Kopfhörer ertönte er sie zum Beispiel in Rot sieht, während die
Um jedoch den Ursachen der Synästhesie ein Wort. Dieser Teil der Aufgabe wurde so Fünfen grün erscheinen (rechts).
näherzukommen, haben wir die andere lange wiederholt, bis sich feste Assoziatio-
Annahme getestet: dass hinter allem ein nen zwischen Farben und Wörtern gebildet
assoziatives Lernen steckt. Sollte sie sich hatten. Der Lernerfolg war daran zu erken- er die Aufgaben im MRT-Gerät, damit er
nicht bestätigen, wäre dies ein indirektes nen, dass der Prüfling im nachfolgenden sich an die ungewohnte Versuchsumge-
Indiz zu Gunsten der anderen Hypothese. Test immer die richtige Farbe anklickte, bung gewöhnen konnte.
Hierzu trainierten wir Nichtsynästheti- wenn er die Wörter einzeln und in zufälli- Schließlich, im eigentlichen Test, regist-
ker, Assoziationen zwischen Wörtern und ger Reihenfolge hörte. Danach absolvierte rierte der MRT-Scanner die Hirnfunktion

39
der Versuchsperson, während die Testwör- falls hätte nach dem intensiven Training re besonders erfolgreiche Assoziationsler-
ter ertönten. Um die Chance zu verbessern, auch bei den Nichtsynästhetikern die V4/ ner sind, dann müsste ihre V4/V8-Region
visuelle Prozesse im Gehirn zu entdecken, V8-Region auf das Hören der Wörter an- nach der Übungsphase außer auf Wörter
bat man die Versuchsteilnehmer, teils die springen müssen. auch auf Melodien ansprechen.
Farbe zu benennen, die sie mit dem jeweili- Wie die Magnetresonanzbilder jedoch
gen Wort zu assoziieren gelernt hatten, Keine Sache von Begabung zeigten, sprangen während des Versuchs
teils sollten sie sich diese vorstellen und Was wäre jedoch, wenn Synästhetiker ein- bei allen Teilnehmern nahezu dieselben
vor ihr geistiges Auge führen. Hätten Syn- fach effizienter lernen? Wenn sie viel Hirnbereiche an, nie aber sonderlich stark
ästhetiker tatsächlich nur gelernt, Wörter schneller und intensiver Assoziationen bil- die V4/V8-Region. Somit besitzen Synäs-
besonders eng mit Farben in Verbindung den als ein Durchschnittsmensch? In die- thetiker keine besondere Begabung für das
zu bringen, sollten unsere nichtsynästheti- sem Fall könnten wir durch unser Farb- Erlernen von Assoziationen.
schen Probanden nach dem intensiven Wort-Training nämlich gar nicht ausschlie- Das Areal auf der fusiformen Windung
Training nun ebenfalls eine Aktivierung ßen, dass Mischsinnigkeit auf diesem springt insgesamt bei Wort-Farb-Synästhe-
der Region V4/V8 zeigen. Mechanismus beruht. Daher stellten wir tikern sowohl auf Wörter als auch auf Far-
Doch das Übungsprogramm hatte einen zweiten, ähnlichen Versuch an. Statt ben an, nicht aber – ganz wie bei gewöhnli-
nichts genützt: Bei unseren normalen Ver- Wort-Farb-Paaren mussten die Teilnehmer chen Menschen – beim bloßen Vorstellen
suchspersonen reagierte das »Farbareal« nun Kombinationen aus Melodien und oder Erinnern von Farben. Demnach ist
V4/V8 immer noch nicht auf die Wörter im Farben lernen. Wir wählten Tonfolgen aus eine synästhetische Farberfahrung tatsäch-
Kopfhörer. Dabei hatte die akustische Sti- klassischen Werken, zum Beispiel von Cho- lich eine echte Wahrnehmung und nicht
mulation an sich durchaus funktioniert, pin oder Mozart. Jede wurde vier Sekunden das Ergebnis einer überschäumenden Vor-
denn die Hörrinde, das Broca-Areal und an- lang über Kopfhörer eingespielt, und eine stellungskraft. Sie ist mehr mit Nachbildern
dere Sprachregionen unserer Versuchsper- halbe Sekunde nach ihrem Einsetzen er- oder illusorischer Bewegung verwandt. So
sonen sprangen auf den Reiz an. Es lag also schien zusätzlich die entsprechende Farbe sieht man manchmal ein rotes Nachbild,
sehr wohl eine kognitive Verarbeitung der auf dem Computerbildschirm. Diesmal wenn man nach längerer Zeit den Blick von
Begriffe vor. Hieraus lässt sich schließen, mussten nicht nur »Normalpersonen« in einem grünen Fleck abwendet. Oder man
dass synästhetische Wahrnehmungen dieser Weise üben, sondern auch Synästhe- sieht nach längerem Blick auf einen Wasser-
wahrscheinlich nicht auf einem assoziati- tiker – und zwar solche, die von Natur aus fall einen neutralen Untergrund sich fort-
ven Lernen beruhen, das zu besonders star- Wörter, nicht aber Töne mit Farben assozi- bewegen wie die stürzenden Wassermas-
ken Verknüpfungen geführt hat. Andern- ieren. Der Gedanke dahinter: Wenn Letzte- sen, allerdings in Gegenrichtung.

40
Alle unsere Experimente deuten darauf personen jedoch farbige Sehreize, traten
hin, dass bei Synästhetikern tatsächlich
von Geburt an Hör- und Sehwahrnehmung
diese Bereiche in Aktion. Genau dieselben
Verhältnisse beobachtet man bei farbigen
Was Synästhetiker
miteinander verbunden sind. Dies führt zu Nachbildern. Auch dort werden höhere Sta- erleben
einer neuen Frage: Wie sieht diese angebo- tionen der Sehbahn mobilisiert, während – I CH ERINNERE MICH NOCH GUT
rene »Leitung« genau aus? Wie wir glau- die Regionen V1/V2, anders als bei »ech- an ein Erlebnis, als ich zwei Jahre alt war.
ben, handelt es sich um eine Art neurona- ten« Farben kaum aktiviert werden. Sich Mein Vater stand auf einer Leiter und
len Nebenweg zwischen den entsprechen- Farben, nur vorzustellen, genügt nach un- strich eine Mauer. Die frische Farbe roch
den Hirnregionen. Bei der von uns seren Versuchsergebnissen dagegen nicht, blau, aber die Wand wurde weiß. Ich den-
ke immer wieder an diesen Tag und frage
untersuchten Form der Synästhesie ent- um V1/V2 oder V4/V8 zu mobilisieren.
mich, warum die Farbe weiß war, während
steht die Farbempfindung durch Wörter, Das scheint eine Hypothese zu bestäti-
sie doch einen blauen Geruch verströmte.
entweder in gesprochener oder geschrie- gen, die von Neuropsychologen und Ex-
bener Form. Die hierfür zuständige Ner- perten für visuelle Wahrnehmung vertre- – W
 AS MICH AN EINEM MENSCHEN
venbahn dürfte daher von denjenigen Re- ten wird, unter anderem von Semir Zeki als Allererstes in Bann schlägt, ist die Farbe
seiner Stimme. V. hat eine gelbe, bröckelige
gionen ausgehen, wo solche »Phoneme« von der Universität London und Dominic
Stimme, wie eine Flamme, aus der winzige
und »Grapheme« akustisch respektive vi- Ffytche vom Londoner Institut für Psychi-
Feuerfäden herausfasern. Manchmal bin
suell repräsentiert werden. Durch weitere atrie: Damit wir ein bestimmtes visuelles ich davon so gefesselt, dass ich den Inhalt
fMRT-Studien konnten wir den Verlauf die- Merkmal bewusst wahrnehmen, genügt es, der Worte nicht erfasse.
ser vermuteten Bahn dann präziser be- wenn allein das dafür zuständige Modul
– G
 RÜNE MINZE hat einen Geschmack,
stimmen. des visuellen Systems aktiviert wird. Im
der an kühle Säulen erinnert, an Säulen
Das Gehirn der Synästhetiker reagierte Fall der Region V4/V8 wird dann beispiels-
aus Glas. Die Zitrone besitzt eine spitze
in unseren Versuchen auf gesprochene weise eine Farbempfindung erzeugt, im Form, die mir auf Gesicht und Hand­
Worte, indem es jene Region seines Sehsys- Fall von V5 der Eindruck von Bewegung. Es flächen drückt. Es ist, als ob ich meine
tems aktivierte, die für Farbwahrnehmung ist also nicht nötig, dass auch frühere Ins- Hände auf ein Nagelbrett legen würde.
zuständig ist. Vorgeschaltete Areale des vi- tanzen der Sehbahn beteiligt sind.
– W
 ERBEANZEIGEN sind für mich eine
suellen Systems, etwa die Region V1 (die
einzige Enttäuschung, weil die Buchsta-
primäre Sehrinde) oder V2 (ein Bereich der Halluzinationen nach Verlust der Sehkraft ben und die Zahlen immer die »falsche«
sekundären Sehrinde), blieben dagegen Damit ließen sich auch die Symptome des Farbe haben.
stumm. Präsentierte man den Versuchs- so genannten Charles-Bonnet-Syndroms

41
erklären. Dieses trifft Menschen, die bei- gen Nachbildern oder dem Wasserfallef- Hierzu passt es gut, dass die linksseitige
spielsweise durch eine Netzhautablösung fekt. In all diesen Fällen entsteht der trüge- V4/V8-Region von Synästhetikern nicht
oder ein Glaukom plötzlich an Sehkraft rische Eindruck genau dann, wenn die ent- auf wirkliche Farben reagiert. Offensicht-
verloren haben. Sie erfahren dann starke sprechende Instanz des Sehsystems aktiv lich liegt hier eine klare Aufgabenteilung
visuelle Halluzinationen, deren Inhalt sich ist: die Region V4/V8 für Farbe und die Re- vor: Während normalerweise beide Hirn-
von Person zu Person unterscheidet. Ffyt- gion V5 für Bewegung. hälften in gleicher Weise echte Farben ver-
che und seine Kollegen forderten solche In einem Punkt müssen wir das bisher arbeiten, kümmert sich bei Synästhetikern
Patienten im Kernspintomografen auf, Gesagte über die neuronale Verbindung die rechte Hemisphäre um reale Farben
ihre Trugbilder zu beschreiben und deren zwischen Seh- und Hörarealen noch präzi- und die linke um die »Wortfarben«. Dem-
Einsetzen und Ende anzugeben. Die Art der sieren: Unsere Versuche zeigen, dass die nach könnte die postulierte, vom Sprach-
»Wahrnehmung« stand dabei hervorra- synästhetische Aktivierung des Gehirns bei system links einlaufende synästhetische
gend im Einklang mit der natürlichen der Wort-Farb-Form des Phänomens aus- Bahn die linke V4/V8-Region daran hin-
Funktion der jeweils aktiven Region des schließlich in der V4/V8-Region der linken dern, ihre eigentliche Funktion zu erfüllen,
Sehsystems. Hirnhälfte erfolgt. Auch das Team von Pau- sprich die Wahrnehmung realer Farben zu
Farbhalluzinationen zum Beispiel gin- lesu war in seiner PET-Studie auf eine links- ermöglichen. Kurzum: Wenn die Betreffen-
gen mit einer Aktivierung der Region V4 seitige, unterschwellige Mobilisierung der den ein Wort hören oder lesen, aktiviert
einher, Objekthalluzinationen mit neuro- V4/V8-Region gestoßen. Vielleicht erklärt diese Bahn nun die Region der Farbwahr-
naler Tätigkeit in einem anderen Bereich dies, dass die Farbempfindungen eher durch nehmung. Das genügt, um ein bewusstes
der fusiformen Windung. Trugbilder von Wörter als durch beliebige Töne hervorge- Farberleben zu erfahren. Die genaue Art
Gesichtern entstanden, wenn eine für die rufen werden, denn in der linken Hirnrinde dieser Empfindung hängt davon ab, welche
Gesichtserkennung zuständige Hirnpartie liegt auch unser Sprachsystem. Neuronen der V4/V8-Region dabei erregt
ganz in der Nähe der Windung ansprang. Vor diesem Hintergrund können wir die werden.
Die primäre Sehrinde der Halluzinieren- vermutete »synästhetische Bahn«, die Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass
den spielte dagegen zu keinem Zeitpunkt Wörtern Farbe verleiht, genauer eingren- die synästhetischen Farben bei der auditi-
mit. So gesehen könnte man die Wort-Farb- zen: Sie verläuft vom Sprachsystem im ven oder visuellen Verarbeitung der Wör-
Synästhesie als eine optische Täuschung Kortex der linken Seite zur V4/V8-Region ter einen Vorteil bieten. Ganz im Gegenteil:
betrachten, bei welcher der auslösende derselben Hemisphäre, und zwar so, dass Synästhetiker werden manchmal von ei-
Reiz – hier bestimmte Worte – viel häufiger die vorgeschalteten Regionen des Sehsys- ner störenden »Doppelwahrnehmung«
vorkommt als bei Täuschungen wie farbi- tems nicht erregt werden. verwirrt. Dies ist dann der Fall, wenn die

42
REIZ UND HIRNAKTIVITÄT
Je nach Stimulus werden bei Synästhetikern
und Nichtsynästhetikern verschiedene Regio-
nen des Sehsystems aktiviert. So erregen
Worte die linke V4/V8-Region der Synästheti-
ker, Farben tun das dagegen nicht. Die rechte
V4/V8-Region der Synästhetiker reagiert da-
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

für auf Farben, jedoch nicht auf Worte. Bei


gewöhnlichen Menschen zeigen Wörter weder
rechts noch links Wirkung.

Bezeichnung einer Farbe die Wahrnehmung rieren. Hierzu ordneten wir Wort-Farb-Syn- wenn dieses selbst eine andere Farbe be-
einer anderen Farbe auslöst. So kann zum ästhetiker nach ihrer Empfindlichkeit ge- zeichnet, wenn beispielsweise das Wort
Beispiel das Wort »Rot« grün gefärbt erschei- genüber dem Effekt, indem wir für jeden »Rot« in Grün geschrieben ist. Das Gehirn
nen, und das Wort »Gelb« rot. Je nach Per- von ihnen bestimmten, bei welchem An- braucht hierzu länger, als um die Farbe ei-
son unterliegen alle oder nur ein Teil der teil aller Farbnamen ein Konflikt zwischen ner zufälligen Abfolge von Buchstaben zu
Farbnamen diesem »Falschfarbeneffekt«. der bezeichneten und der wahrgenomme- erkennen. Im Fall der Synästhetiker sollte
Ebenso wie die Synästhesie an sich nen Farbe auftritt. Dann präsentierten wir dieser Störeffekt auch auftreten, wenn ein
scheint dieses verwirrende Phänomen von unseren Probanden verschiedene Farben Wort etwa einen Roteindruck hervorruft.
frühester Kindheit an zu bestehen. Den- und maßen, wie schnell sie diese benen- Genau diese Verzögerung haben wir bei
noch ist es im Alltag kaum zu bemerken. nen konnten. Synästhetikern beobachtet, bei denen der
Synästhetiker lernen ganz normal die Na- Falschfarbeneffekt auftritt. Sie brauchten
men der Farben; ihre Farbwahrnehmung Wenn Gesprochenes, Gedachtes länger, um bei einer Buchstabenreihe aus
ist offensichtlich in Ordnung, und sie kön- und Gesehenes kollidieren X die jeweilige Druckfarbe zu benennen,
nen eine reale Farbe korrekt bezeichnen. Man muss hierzu wissen, dass es unserem wenn deren Bezeichnung eine andere syn-
Wir vermochten den Falschfarbeneffekt je- Gehirn schwerfällt, die Farbe eines farbig ästhetische Farbe hervorruft. Allein der Ge-
doch durch ein Experiment zu demonst- geschriebenen Worts zu identifizieren, danke an die Farbbezeichnung lässt eine

43
Farbempfindung entstehen, die von der nügt es nicht, die physiologischen Abläufe Umgekehrt sollten zwei verschiedene
Buchstabenfarbe abweicht. Dadurch ent- zu beschreiben, die mit ihnen assoziiert Funktionen mit zwei verschiedenen Qua-
steht ein bewusster Konflikt, und die Farbe sind. lia assoziiert sein.
wird langsamer identifiziert. Eine Reihe von Philosophen und Biolo- Die Synästhesie zeigt aber genau das Ge-
Unsere Ergebnisse bestätigen den gen – um die Wahrheit zu sagen: die große genteil. Wenn eine visuelle und eine auditi-
Falschfarbeneffekt genau so, wie er von Mehrheit – wollen die Qualia bei der Erfor- ve Funktion auf dasselbe Quale konvergie-
den Betroffenen beschrieben wird. Auch schung des Bewusstseins ausklammern. ren – in diesem Fall die Wahrnehmung ei-
vor diesem Hintergrund erscheint es nicht Diese seien zu subjektiv, als dass sie Gegen- ner Farbe –, kann man unmöglich weiter
plausibel, dass die Synästhesie eine Folge stand objektiver wissenschaftlicher Be- behaupten, dass die Qualia nichts weiter
assoziativen Lernens ist. Sie muss vielmehr trachtung sein könnten. Solche »Funktio- seien als die ihnen zu Grunde liegenden
tief im Gehirn verwurzelt sein, so dass sie nalisten« streichen die Empfindung, die Funktionen und Prozesse. Genauso absurd
zwei Sinnesfunktionen in ein und demsel- zum Beispiel Rot oder Grün verursachen, wäre es zu sagen, die Temperatur sei iden-
ben Bewusstseinszustand zusammenflie- aus ihren Überlegungen. Sie konzentrieren tisch mit dem Flüssigkeitsstand in einem
ßen lassen kann. Diese Erkenntnis hat weit sich auf die Verhaltensreaktionen, durch Thermometer. Alles deutet vielmehr auf
reichende Folgen für die Beziehung zwi- die ein Mensch Rot und Grün unterschei- eine eigenständige Existenz der Qualia hin.
schen neuronalen Funktionen und Be- det. Die Person wird als funktionales Sys- Dies konnten bereits die Wahrnehmungs-
wusstsein. tem aus Ein- und Ausgängen betrachtet, psychologen Ramachandran und Hubbard
Wie entsteht ein solcher Zustand? Neu- und einzig deren Kombination sei objekti- illustrieren, als sie einen farbenblinden
robiologen erklären die Tatsache, eine Far- ver Fakt. Das innere Geschehen sei reine Il- Synästhetiker untersuchten, der angab,
be wie Rot zu sehen, als das Ergebnis einer lusion. Zahlen bunt zu sehen, aber in »marsiani-
Reihe von neuronalen Reaktionen. Nach Nach dieser Hypothese sind die Qualia schen« Farben, anderen als in der Außen-
diesem Modell beruht die Wahrnehmung nur Epiphänomene, die mit den Funktio- welt. Dieser außergewöhnliche Fall zeigte,
eines Lauts ebenfalls auf der Aktivität von nen, den Verhaltensleistungen einer Per- dass die »Farbzentren« im Gehirn offenbar
Nervenzellen. Nun sind aber der Laut und son einhergehen, also etwa mit deren Wor- immer noch arbeiteten, obwohl sie ihrer ei-
die Farbe Rot »in den Augen des Bewusst- ten, Bewegungen und Handlungen. Daraus gentlichen Funktion – Farbwahrnehmung –
seins« etwas qualitativ Verschiedenes. Die- folgt, dass zwei unterschiedliche Qualia, entfremdet wurden. Demnach existiert der
se subjektiven Wirkungen bezeichnet man die vollständig durch diese Funktionen de- bewusste Zustand »Sehen« auf irgendeine
auch als Qualia, vom lateinischen »qualis« finiert sind, zwei verschiedenen Input- und Weise per se, unabhängig von der visuellen
(wie beschaffen). Um sie zu definieren, ge- Output-Funktionen entsprechen müssen. Wahrnehmung durch das Auge.

44
Akustische Reizverarbeitung
Hört ein Synästhetiker ein Wort, das bei ihm eine Farbempfindung linken Hirnhälfte (im Bild rechts, da das Gehirn von unten betrachtet
verursacht, wird die zum visuellen System gehörige Region V4/V8 wird). Nichtsynästhetikern fehlt diese Bahn, und daher wird ihr V4/
angesprochen. Der akustische Reiz aktiviert zunächst die Hörregio- V8-Areal ausschließlich durch Farbinformationen stimuliert, die über
nen, und von dort geht eine Meldung – wahrscheinlich über eine die Sehbahn einlaufen.
postulierte »spezifische Verbindung« – an die V4/V8-Region der

DELPHINE BAILLY
45
Welchen biologischen Sinn scher Weise bewusst wahrgenommen wer- Wahrnehmung zuordnen. Damit wäre der
hätten Wortfarben? den – obwohl die jeweilige Wahrnehmung eindeutige Zusammenhang zwischen ei-
Insgesamt könnte man also sagen: Die Evo- über verschiedene funktionelle Bahnen ner gegebenen Funktion und einem be-
lution hat die Entstehung neuronaler erfolgt. stimmten Bewusstseinszustand verletzt.
Strukturen begünstigt, durch die wir aus Gegen diese Interpretation könnte man Es bleibt umstritten, ob man bewusste
unserer Umwelt Informationen über das anführen, dass die V4/V8-Region der lin- Zustände bestimmten biologischen »Subs-
Licht entnehmen können; gleichzeitig sind ken Hirnhälfte bei den Wort-Farb-Synäs- traten« zuschreiben kann. Im Lauf der Evo-
diese Strukturen aber in der Lage, Bewusst- thetikern für synästhetische Farben zu- lution hat sich das Gehirn der Hominiden
seinszustände hervorzubringen, die für ständig ist, die rechtsseitige V4/V8-Region weiterentwickelt, und dabei ist auch die
sich allein existieren und jederzeit auch dagegen für visuell wahrgenommene Far- Anzahl bewusster Zustände unaufhörlich
mit einem anderen Aspekt der Realität ver- ben. Funktionalisten stellen sich auf den gestiegen. Wie die Erforschung verschiede-
knüpft werden können. Man weiß derzeit Standpunkt, dass die beiden Funktionen – ner Synästhesietypen gezeigt hat, könnte
noch nicht, ob wortbedingte und objektbe- ob sie nun auf dem Hören von Wörtern die Auslese der Qualia anderen Gesetzen
dingte Farbwahrnehmung exakt dasselbe oder dem Sehen von Farben beruhen – sich folgen als die der Verhaltensfunktionen.
sind. Daher arbeiten wir mit einer kleinen ja nicht denselben bewussten Zustand tei- Denn: Welchen evolutionären Vorteil hätte
Gruppe von Synästhetikern, die Farben hö- len, da die eine mit Zuständen einhergeht, beispielsweise der Falschfarbeneffekt? Das
ren und geschickt genug sind, den entste- die in der linken V4/V8-Region entstehen, Verständnis der Sprache spielt für das
henden Eindruck zu malen. Die funktio- und die andere mit solchen in der rechten Überleben ganz offenkundig eine wichtige
nelle MRT soll dann einmal zeigen, wie weit V4/V8-Region. Rolle, ebenso das Farbensehen. Für eine
ein Wort und das ihm entsprechende Bild Das Problem für die Vertreter dieser neuronale Verbindung, welche die Wahr-
die V4/V8-Region in ähnlicher Weise akti- Sichtweise liegt jedoch darin, dass beide zu nehmung von Wörtern mit der von Farben
vieren. Dieses Unterfangen ist schwierig, einer Farbempfindung führen. Diese Rol- verknüpft, ist jedoch kein biologischer Sinn
bei den derzeitigen technischen Grenzen lenverteilung würde zwei vollkommen ge- ersichtlich. Eine solche Veranlagung ist
der bildgebenden Verfahren vielleicht so- trennten physischen Substraten – in einem bestenfalls funktionell neutral, im Fall des
gar unmöglich. Dennoch hoffen wir, dass Fall dem Ensemble aus Netzhaut, Sehnerv, Falschfarbeneffekts sogar nachteilig.
sich unsere Hypothese auf diesem Wege Sehrinde und rechter V4/V8-Region, im Gehen wir einmal davon aus, die Fähig-
objektiv bestätigen lässt: dass bei der Wort- anderen Fall aus Ohr, Hörnerv, Hörrinde, keit, Farben »sprachlich« über die Hörbahn
Farb-Synästhesie das Wort und die entspre- synästhetischem Trakt und linker V4/V8- wahrzunehmen, sei genetisch bedingt.
chende Farbe in ähnlicher oder gar identi- Region – denselben Zustand bewusster Dann hatten die negativen Folgen dieses

46
KOMPAKT
Gens vielleicht nur noch keine Zeit gehabt, Die Erforschung von Synästhesien
eine wie immer geartete Selektion zu be- macht deutlich, dass sich die Beziehung
wirken. In diesem Fall würden Qualia und zwischen Gehirn und bewussten Zustän-
biologische Funktionen jeweils ihrer eige- den ganz konkret im Labor untersuchen
nen evolutiven Dynamik folgen. lässt, und nicht nur durch Gedankenex­
Auch das Argument, die synästheti- perimente. Sie offenbart vor allem, dass
sche Wahrnehmung besitze nur den Cha- die Bewusstseinszustände wahrscheinlich
rakter einer optischen Täuschung, zieht eine eigenständige Existenz führen und ih-
hier nicht. Man geht nämlich davon aus, rer eigenen evolutiven Dynamik unterlie-
dass Farben als solche keine Eigenschaf- gen, zwar mit der Evolution biologischer
ten des als farbig wahrgenommenen Ob- Funktionen verknüpft sind, aber nicht in
jekts sind. Es handelt sich vielmehr um notwendiger oder unveränderlicher Weise.
die Spektralanteile des Lichts, das von ih- Möglicherweise haben wir mit den Qualia
rer Oberfläche reflektiert wird. Es gibt eine Terra incognita vor uns, deren Erkun-
eine Korrelation zwischen den Wellenlän- dung gerade erst beginnt – und die Synäs-
gen des reflektierten Lichts – die an den thesie lässt uns ahnen, was dort auf uns
Oberflächen gemessen oder durch das wartet.  
FÜR NUR
Gehirn verarbeitet werden – und dem be- € 4,99
wussten Eindruck, den ein Individuum (Spektrum Spezial Biologie – Medizin – Hirnforschung,

INTELLIGENZ
davon hat, also den Qualia. Demnach ist 3/2016)
es nicht absurder, Farben zu »hören«, als
sie zu »sehen«. Logisch betrachtet haben Gray, J. et al.: Implications of Synesthesia for Functiona-
Wort-Farb-Synästhetiker vielleicht nur lism: Theory and Experiments. In: Journal of Conscious- Was kluge Köpfe auszeichnet
den ersten Schritt einer evolutiven Ent- ness Studies 9, S. 5 – 31, 2002
wicklung hinter sich gebracht, durch die Nunn, J. et al.: Functional Magnetic Resonance Imaging of
> Versteckspiel im Genom
es zukünftig ganz normal wird, Wörtern Synesthesia; Activation of V4/V8 by Spoken Words. In:
> Anlage kontra Umwelt – ein unsinniger Streit
Farbqualia zuzuordnen – wenn dieser Nature Neuroscience 5, S. 371, 2002
> Kann man Intelligenz trainieren?
Weg nicht bereits mit der Entstehung des
Sehsinns begonnen hat.
HIER DOWNLOADEN
Das schöne
ESSAY

Schwarz der
Nacht
von Ernst Peter Fischer

Für einige ist Schwarz eine Farbe, für andere einfach die
Abwesenheit sichtbaren Lichts. Vor dem Hintergrund der
geistigen und biologischen Evolution des Menschen betrachtet,
entsteht der Eindruck, »schwarz« sei eine für uns gemachte

FOTOLIA / UNDERWORLD
Eigenschaft des Kosmos.

48
W
er nachts in den Him-
mel schaut, sieht die
Farbe der Nacht, also
Schwarz. Schwarz fas-
ziniert die Biologie in-
nen und die Astronomie außen, wobei zum
einen die Welt im Kopf und zum zweiten
die Welt über den Köpfen gemeint ist. Dort,
wo Menschen sehen – im Gehirn –, ist es
ebenso dunkel und schwarz wie dort, wo
ihre Augen hinsehen, wenn sie sich nach
dem Untergang der Sonne dem Himmel
zuwenden und dabei viele Sterne und Pla-
neten als kleine Lichtpunkte mit großen
schwarzen Zwischenräumen erkennen. Die
»Farbe Schwarz« dominiert, wenn sich die
SUW / STEFAN OLDENBURG

Mitternacht nähert, und eine schöne Frage


lautet: Warum ist das äußere Weltall vor al-
lem schwarz und ähnlich lichtlos wie das
innere Weltall, das Gehirn?
Das Spannende an der Schwärze steckte
ursprünglich in der Frage, wie man etwas quenz habe und somit kein Licht im physi- ERNST PETER FISCHER
sehen kann, das entweder kein Licht ist kalischen Sinn sei. Und in einem berühm- Ernst Peter Fischer, geboren 1947 in Wupper-
oder von dem kein Licht ausgeht. Offenbar ten Begriff der Gegenwart, dem Schwarzen tal, studierte Mathematik, Physik und Biologie.
denken einige Menschen bis heute, die Loch, steckt natürlich genau dieselbe Idee, Heute lehrt er Wissenschaftsgeschichte an
»Farbe Schwarz« so charakterisieren zu dass sich von diesem Gebilde keinerlei den Universitäten Konstanz und Heidelberg.
können. Noch zu Zeiten Isaac Newtons ver- Licht lösen und zu einem Beobachter ge-
muteten einige Wissenschaftler, dass langen kann. Schließlich hat sich an einer
»schwarzes Licht« überhaupt keine Fre- solchen (nach wie vor hypothetischen)

49
Stelle des Universums so viel Materie auf Prozess im Detail abläuft, und die seltsame
kleinem Raum angesammelt, dass es selbst Antwort mit revolutionären Konsequen-
Lichtstrahlen unmöglich ist, über einen zen hieß, dass es in den Atomen Quanten-
vorgegebenen Horizont hinaus zu kom- sprünge geben muss, um Licht freizuset-
men und in ein menschliches Blickfeld zu zen. In den Atomen setzen Elektronen
treten. sprunghaft Energie frei, die in neuer Form
Übrigens: Der Begriff »Schwarz« ist bei als Licht in Erscheinung tritt und sich zum
Forschern sehr beliebt, da sie nicht nur von Beispiel auf den Weg in ein menschliches
Schwarzen Löchern schwärmen, sondern Auge macht und es genau dort erreicht, wo
zudem die Idee der »Black Box« ersonnen
haben, um die Steuerung der Lebensvor-
es schwarz ist.
Bitte beachten: Menschen sehen gerade
»Die Farbe des
gänge mit einem theoretischen Gerüst er- da, wo ihr Auge schwarz ist. Es ist nicht sein Nachthimmels ist der
fassbar zu machen. Der schwarze Kasten Weiß, das zum Sehen beiträgt, sondern sei-
Evolution eine
bleibt dabei allen neugierigen Blicken ver- ne schwarze Mitte, in der das Licht ver-
schlossen und kann nur durch Ein- oder schwindet, um den Glaskörper und viele Herzensangelegenheit«
Ausgaben analysiert werden. Und die nach- Zellschichten zu durchlaufen, bevor es auf
haltigste Entwicklung der Physik, der Um- der Rückwand – der Netzhaut – eingefan-
sturz des klassischen Weltbilds, kam zu gen wird. Es kommt hier dem inneren
Stande, weil um die Wende zum 20. Jahr- Schwarz nahe, von dem die Rede war.
hundert jemand hartnäckig probiert hat, Dass die kosmischen Räume maßlos
die Strahlung eines so genannten Schwar- dunkel sind, haben alle Erdbewohner se-
zen Körpers zu verstehen, die von ihm bei hen können, als vor einer Generation mit
steigender Temperatur ausgeht. Das Licht, US-amerikanischer Hilfe der Blick vom
das ein immer weiter erhitzter »black Mond möglich wurde, der eine blaue Erde
body« nach und nach ausstrahlt, muss er als farbige Heimat in einer sonst tief-
selbst produzieren, was genauer heißt, dass schwarzen Welt erkennen ließ. Doch wie
es seine Atome tun müssen. kann das sein? Wie kann das Universum
Die Frage der Physik lautete um 1900, schwarz sein, wenn seine Struktur homo-
ob sich quantitativ sagen lässt, wie dieser gen ist und die Erde darin keine besondere

50
Position einnimmt, wie von allen Wissen- Wer genauer erkunden will, was den das sie Schwarz nennen. Die Farbe des
schaftlern vorausgesetzt wird? Müsste ein Nachthimmel schwarz sein lässt, muss sich Nachthimmels ist der Evolution eine Her-
Auge nicht überall einen Stern finden – so, einen Kosmos vorstellen, der mit einem zensangelegenheit, und sie hat alles getan,
wie ein Blick durch einen Wald letztlich im- Urknall begonnen hat und der 300 000 um Menschen dieses Erlebnis zu verschaf-
mer auf einen Baum trifft, wenn es davon Jahre nach dem Ereignis eine heiße und fen. Schwarz ist also für unsereinen ge-
ausreichend viele gibt? Ausreichend viele undurchsichtige Wand mit einer Tempera- macht, und ich vermute, dass alle dies füh-
Sterne sollten aber das Merkmal eines gren- tur von etwa 3000 Grad Celsius zu Stande len und diese Farbe uns deshalb so faszi-
zenlosen Universums sein, was die oben gebracht hat. Nachts an den Himmel zu niert – auch oder gerade dann, wenn vor
gestellte Frage in der neuen Form aufwirft, schauen, bedeutet auf diese schwarze Wand ihrem Hintergrund die Sterne funkeln.  
warum der Nachthimmel nicht weiß ist. zu blicken, die zeigt, dass es die Sterne nicht
Mit diesem Rätsel befassen sich Men- seit Ewigkeiten gibt und dass sich die Welt (Sterne und Weltraum, 2/2016)
schen seit Jahrhunderten, und die Antwort ausdehnt. Das lässt sich erkennen, wenn
lautet in ihrer knappsten Fassung, dass die man seine Augen zum Nachthimmel rich-
kosmische Nacht schwarz erscheint, weil tet und keine Laternen oder andere künst-
das Universum – obschon grenzenlos – liche Lichtquellen den Blick in die große
nicht unbegrenzt ist. Was im Deutschen Dunkelheit versperren.
unsinnig klingen mag, lässt sich in einer Wer noch weiter über das Wahrnehmen
Sprache wie dem Englischen besser aus- von Schwarz nachgrübeln will, wird bald
drücken, die zwei Formen von Grenzen un- merken, dass dazu höchst raffinierte Me-
terscheiden kann, und zwar die »bounda- chanismen im zentralen Nervensystem
ry«, die man überschreiten kann, und das eingesetzt werden. Die biologische Natur
»limit«, bei dem dies nicht möglich ist. Der gibt sich große Mühe, den dunklen Him-
Kosmos hat nun ein »limit«: Er ist nicht mel schwarz erscheinen zu lassen. Die Evo-
unendlich ausgedehnt –, aber wer ihn lution unternimmt eine Menge, um Men-
durchfährt, trifft dabei nie an eine Grenze schen den Gefallen zu tun, der mit dem Er-
(boundary). Dies lässt sich durch eine Reise leben von Dunkelheit verbunden ist. Die
auf einer Kugeloberfläche veranschauli- Natur hat nicht einfach nichts getan, denn
chen, die begrenzt abläuft, ohne auf eine dann würden Menschen dort auch nichts
Grenze zu treffen. sehen, wo ihnen jetzt das Etwas begegnet,

51
ISTOCK / ANTAGAIN
52
Im Sonnenlicht erstrahlen viele Insekten in buntem metallischen
Glanz. Er kommt nicht etwa von Farbpigmenten, sondern von
­dünnen Strukturen im Panzer und den Flügeln.

V
iele finden Fliegen lästig spielsweise liegt die grüne Farbe von Pflan-
und würdigen sie kaum ei- zen am Chlorophyll, das vor allem Blau und
nes Blickes. Wer hingegen Rot aufnimmt. Und die unterschiedlichen
genau hinschaut, entdeckt Brauntöne der menschlichen Haut und des
die Farbenpracht, mit der Haares hängen von der Konzentration des »Ich kann nicht
sie und andere Insekten oft wie krabbelnde Pigments Melanin ab. die Intensität erreichen,
und schwirrende Edelsteine aus ihrer Um- Demgegenüber haben wir es bei Insek-
gebung hervorstechen. Der Effekt ist so ten mit komplizierteren optischen Vorgän- die sich vor meinen
überzeugend, dass beispielsweise die gen zu tun. Hier spielen Interferenzeffekte Sinnen entwickelt, ich
Schmeißfliege Lucilia sericata auch Gold- eine Rolle, wenn Licht innerhalb einer mik-
fliege heißt. Je nach Perspektive changiert roskopisch feinen Struktur mehrfach ge- besitze nicht jenen
ihr Funkeln in der Sonne: Unter kleinem brochen und reflektiert wird. Daher spricht wundervollen
Einfallswinkel betrachtet schimmert das man auch von Strukturfarben. Manchmal
Insekt golden bis grünlich, während seit- treten sie gemeinsam mit Pigmenten auf; Farbenreichtum, der
lich gesehen eher kürzere Wellenlängen dann sieht man als Ergebnis die entspre- die Natur belebt.«
und damit blaue Töne dominieren. chende Mischung. Erzeugt also beispiels-
[Paul Cézanne (1839–1906)]
Weder diese Wandelbarkeit noch der weise das spezielle Oberflächengefüge ei-
metallische Glanz ist uns von den gewöhn- nes Objekts eine blaue Interferenzfarbe
lichen Farben vertraut. Diese entstehen und enthält selbst gelbe Pigmente, ergibt
meist einfach durch chemische Stoffe, die sich eine grüne Tönung.
bestimmte Wellenlängen des weißen Lichts Das Sonnenlicht wechselwirkt in der In-
absorbieren und nur die entsprechenden sektenhaut mit einzelnen Lagen, deren Di-
Komplementärfarben zurückstreuen. Bei- cke eine ähnliche Größenordnung hat wie

53
die Wellenlängen des sichtbaren Lichts. steht. Dieser hängt von der Flügeldicke,
Das verändert letztlich die Intensität der dem Brechungsindex des Flügelmaterials,
einzelnen Farbanteile. Im einfachsten Fall dem Einfallswinkel und der Wellenlänge
kann bereits eine dünne transparente des Lichts ab.
Schicht bunt schimmern. Wenn Licht bei-
spielsweise auf die filigranen durchsichti- Das Geheimnis des Funkelns
gen Flügel einer Fliege trifft, wird es im In- steckt im Hautgefüge
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: H. JOACHIM SCHLICHTING

neren wegen der unterschiedlichen opti- Beträgt die Dicke der Schicht gerade ein
schen Eigenschaften von Luft und Viertel der Wellenlänge einer bestimmten
Flügelmaterial gebrochen und teilweise Lichtfarbe, summieren sich der doppelte
zurückgeworfen. Dabei kommt es beim re- Weg im Material und der Gangunterschied
flektierten Teil zu einer Verschiebung von bei der oberen Reflexion gerade zu einer
einer halben Wellenlänge, das heißt, die ganzen Wellenlänge: Es kommt zur konst-
Wellenberge und -täler verschieben sich ruktiven Interferenz. Dabei werden die Ber-
entsprechend. Das restliche Licht trifft auf ge höher und die Täler tiefer – die entspre-
die untere Grenzschicht und wird dort chende Farbe erscheint deutlich gesättig-
abermals teils reflektiert, allerdings ohne ter und intensiver. Andere Wellenlängen
einen solchen Gangunterschied, da dieser hingegen werden teilweise oder ganz aus-
LICHTWELLE AUF FLIEGENFLÜGEL nur beim Übergang in ein dichteres Medi- gelöscht. Bei weißem Sonnenlicht, das alle
Trifft eine Lichtwelle auf den dünnen Fliegen- um auftritt. Dieser zurückgeworfene An- Farben enthält, ist daher an einer Stelle des
flügel, wird sie teilweise gebrochen und zu- teil läuft in dieselbe Richtung wie die obere Flügels unter einem bestimmten Betrach-
rückgeworfen (Pfeilrichtungen). Reflexion und überlagert sich im Auge oder tungswinkel stets nur eine Tönung zu se-
auf dem Chip der Kamera mit ihr. hen. Etwaige Farbunterschiede erlauben
Wegen des Gangunterschieds der Teil- Rückschlüsse auf eine variierende Flügel-
wellen stellt sich zwischen beiden eine Pha- dicke.
senverschiebung ein. Das bedeutet an- Der metallisch-bunte Glanz des Flie-
schaulich, dass die Wellenberge gegenein- genkörpers ist ebenfalls eine Strukturfar-
ander versetzt werden und bei der be. Das verwundert erst einmal, schließ-
Überlagerung ein neuer Farbeindruck ent- lich ist der Panzer viel dicker als ein ­Flügel.

54
Aber die Körperoberfläche der Goldfliege Schichtdicken voneinander abweichen.
besteht aus einer geordneten Abfolge Das verstärkt jeweils andere Anteile aus
paralleler, etwa 150 Nanometer dünner dem Spektrum des weißen Lichts, und das
durchsichtiger Chitinebenen, die durch Tier erscheint bunt. Ein Prachtexemplar
rund zehnmal feinere Luftschichten von- mit intensiven Strukturfarben ist die Gold-
einander getrennt sind. Unregelmäßig- wespe, deren faszinierende Erscheinung so
keiten der Chitinlagen wirken wie winzige gar nicht zu ihrer parasitären Lebensweise
Abstandshalter und erzeugen die Zwi- zu passen scheint. Es ist eben nicht alles
schenräume. Gold, was glänzt.
Wenn Licht diesen Stapel durchläuft, Biologen rätseln bei vielen Insekten
trägt jede der Ebenen zur konstruktiven In- noch über den Zweck der auffälligen Fär-
terferenz bei (siehe Grafik links). Infolge- bung. Sie könnte der Kommunikation die-
dessen strahlt der Rumpf der Goldfliege nen – etwa zwischen Individuen der Art
noch intensivere Farben aus, als es bei ei- oder dazu, Fressfeinden Ungenießbarkeit
ner einzelnen dünnen Schicht und erst zu signalisieren. Vielleicht ist es aber auch
recht bei Pigmentfarben möglich wäre. nur ein Epiphänomen, das sich zufällig aus
Zahlreiche Insekten haben an verschie- dem Aufbau ergibt, der ganz anderen Zwe-
denen Körperstellen unterschiedliche Pan- cken wie der Wärmeregulation dienen
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: H. JOACHIM SCHLICHTING

zerstrukturen, bei denen beispielsweise die könnte. Jedenfalls interessieren sich inzwi-
schen ebenfalls Wissenschaftler anderer
Fachrichtungen für die Strukturfarben von
LICHTWELLEN AUF INSEKTENRUMPF Tieren und versuchen, sie besser zu verste-
Die mehrschichtige Oberfläche des Insekten- hen. Denn sie sind nicht nur schön anzuse-
rumpfs verstärkt beim reflektierten Licht den hen, sondern auch eine ergiebige Inspirati-
Effekt einer einzelnen Lage (die Verschie- onsquelle für zahlreiche nanotechnische
bung der hindurchlaufenden Lichtwellen Anwendungen. 
durch Brechung in den einzelnen Ebenen
­wurde nicht eingezeichnet). (Spektrum der Wissenschaft, 5/2016)

55
CHITIN

Käfer streuen Licht


für das weißeste Weiß
von Jan Osterkamp
Der Chitinpanzer eines grellweißen ­Käfers bricht
Licht raffinierter als M
­ aterialien, die wir derzeit
nachbauen können: Die Oberfläche ist komplex und
BERNARD DUPONT / SUGAR CANE WHITE GRUB BEETLE (LEPIDIOTA STIGMA / CC BY-SA 2.0

Material schonend zugleich.

56
D
ie Oberfläche der Cypho­
chilus-Käfer Südostasiens
reflektiert hocheffizient
sämt­liche Lichtwellenlän-
gen und erscheint dadurch
in strahlendem ultraweiß – ein Struktur-
farben-Trick, den die Insekten mit einer be-
sonders komplex organisierten Orientie-
rung der Chitinmoleküle in ihrem Haut-
panzer erreichen, wie Forscher jetzt
beschreiben. Die flugfähigen Käfer sparen
mit ihrer dünnen Strukturfarben-Be-
schichtung dabei zudem an Material, um

LORENZO CORTESE, SILVIA VIGNOLINI


ihr Startgewicht zu optimieren.
»Derart weiße und dünne Oberflächen-
schichten wie die der Käfer können wir auf
dem derzeitigen Stand der Technik nicht
nachbauen«, staunt die Studienleiterin Sil-
via Vignolini von der University of Cam-
bridge, nachdem ihr Team die optischen
Eigenschaften des Käferchitins analysiert genauer untersuchen, um den Trick der WEISSER KÄFER
hat. Bei extrem geringem Materialver- Natur vielleicht einmal kopieren zu kön- Der Mikroskopblick auf weiße Käfer wie Cypho­
brauch streut es Licht dabei mit einem nen. Dem Käfer nützt seine weiße Oberflä- chilus (im Bild) oder seinen Zwilling Lepidiota
Konstrukt aus selbst nicht besonders wei- che übrigens wohl vor allem auf seinem stigma zeigt die Oberflächenstruktur – weiß er-
ßen Einzelbausteinen. Die geometrisch ex- Lieblingsaufenthaltsort: ebenso weißen scheint sie wegen der besonderen lichtstreuen-
akte Ausrichtung der einzelnen Chitinmo- Pilzen, auf denen ein Farbtupfer wohl zu den Orientierung der Chitinmoleküle, aus der sie
leküle sei aber entscheidend, nicht ihre op- auffällig wäre.   aufgebaut ist. Der Käfer tarnt sich mit der Farbe
tischen Eigenschaften. Die Forscher wollen in seiner südostasiatischen Heimat auf weißen
nun die Lichtausbreitung im Material noch (Spektrum.de, 15. August 2014) Pilzen, die er gerne zum Fressen aufsucht.

57
Männliche Lawes-Strahlenparadiesvögel
bezirzen ihre Artgenossinnen mit farben-
prächtiger Brust.

S
PARADIESVÖGEL

Fedriges
ie tanzen vor kritischem Publi-
kum. Darum präsentieren

Farbenfeuerwerk
männliche Lawes-Strahlenpara-
diesvögel (Parotia lawesii) ihren
Zuschauerinnen neben kunst-
vollen Schrittfolgen auch ein wahres Feuer-
von Antje Findeklee
werk an Farben auf der Brust. Die Federn
der auf Neuguinea heimischen Vögel wei-
sen für diesen Zweck eine einzigartige
Struktur auf: Die in den »Seitenästen« ab-
zweigenden Hakenstrahlen sind wie Bume-
rangs gebogen und reflektieren die einfal-
lende Strahlung in unterschiedlichen Wel-
lenlängen, je nach Winkel des einfallenden
Lichts. So sorgen mal die zentralen Ab-
schnitte für Gelb- und Orangetöne, mal die
gebogenen Enden für schillerndes Blau. Am
Waldboden mit seinen stark unterschiedli-

JUSTIN MARSHALL, UNIVERSITY OF QUEENSLAND


chen Lichtverhältnissen können die Freier
so dramatische Farbspektakel bieten – und
beispielsweise die schillernden Gefieder
von Kolibris oder die Schuppen von Schmet-
terlingen weit in den Schatten stellen. 

(Spektrum der Wissenschaft, 2/2011)

58
VANTABLACK

Dunkelstes Material
jetzt noch schwärzer
von Jan Dönges
Da verschwindet sogar ein Laserstrahl vor
unseren Augen: Ein neues Vantablack soll
jetzt angeblich noch schwärzer sein.

SURREY NANOSYSTEMS
59
I
m Jahr 2014 präsentierte Surrey Na-
noSystems sein extrem reflexions- SCHWÄRZER ALS DAS ORIGINAL!
armes Schwarz namens Vantablack.
Das Material absorbiert nach Anga-
ben der Firma 99,96 Prozent des
Lichts. Jedes Objekt, das damit beschichtet
ist, verliert seine inneren Konturen – wird
sozusagen zum strukturlosen Loch in der
Landschaft.
Dann hatte die Firma mit der Meldung
auf sich aufmerksam gemacht, sie habe die
exklusiven künstlerischen Nutzungsrech-
te an den Künstler Anish Kapoor abgetre-
ten. Und legte anschließend noch eins
drauf, mit einem bei Youtube hochgelade-
nen Video: Dort stellt ein Mitarbeiter der
Firma ein Vantablack zweiter Generation
vor, das das erste noch einmal in puncto

SURREY NANOSYSTEMS
Lichtabsorption übertreffen soll.
Die Beschichtung wird hergestellt, in-
VIDEO ONLINE ANSEHEN
dem Kohlenstoffnanoröhrchen – im Prin-
zip aufgerolltes Graphen – senkrecht zu ei-
ner Art Wald angeordnet werden. Auftref-
fendes Licht bleibt in diesem dichten Forst wändig und verlangt einen speziellen Re- sich offenbar mit einem handelsüblichen
hängen. Der Name Vantablack ergibt sich aktor, in dem die Nanoröhrchen direkt auf Sprühgerät auftragen, reicht aber nicht
aus diesem Verfahren, es ist ein Akronym der gewünschten Oberfläche wachsen. ganz an die Absorptionseigenschaften des
von »vertically-aligned nanotube array«. Praktikabler soll nun allerdings ein weite- Originals heran. 
Die Beschichtung von Objekten mit Ori- res Produkt sein, dem die Entwickler den
ginal-Vantablack ist ausgesprochen auf- Namen Vantablack S-VIS gaben. Es lässt (Spektrum.de, 9. März 2016)

60
ELEKTROCHEMIE

FARBWECHSEL
AUF KNOPFDRUCK
von Roger J. Mortimer

FOTOLIA / VEGE
61
Materialien mit elektrisch umschaltbarer Farbe eröffnen viele faszinierende
Anwendungsmöglichkeiten – angefangen vom Blendschutz über preiswerte
Displays bis hin zu anpassungsfähiger Tarnkleidung.

B
eim Anlegen einer elektri- Materials und dem entsprechenden Far-
schen Spannung ändern bumschlag einher. AUF EINEN BLICK
manche Materialien ihre Far- Es gibt bereits erste kommerzielle elekt-
be – ein als Elektrochromie rochrome Geräte oder kurz ECDs (nach
 lektrisch regelbare
E
bezeichnetes Phänomen. Wie ­englisch: electrochromic devices). Dazu ge- Chamäleons
kommt der Effekt zu Stande? Jede chemi- hören Autospiegel mit automatisch funkti-
1 Elektrochrome Stoffe lassen sich elekt-
sche Verbindung absorbiert elektromagne- onierendem Blendschutz oder Flugzeug-
risch zwischen verschiedenen Farben hin
tische Strahlung ganz bestimmter Wellen- fenster, die sich per Knopfdruck abdunkeln und her schalten. Der Effekt beruht auf
längen. Wenn sie Elektronen abgibt oder lassen. Zahlreiche andere Geräte sind in einer Änderung der Lichtabsorption
aufnimmt – Chemiker sprechen von einer Entwicklung – darunter vielfarbige Dis- durch strominduzierte Oxidations- oder
Oxidation oder Reduktion –, ändert sich plays, Sonnenbrillen, Tarnanzüge und Ge- Reduktionsprozesse.
dieses charakteristische Absorptionsspekt- webe mit chamäleonartigen Eigenschaften.
rum. Bei elektrochromen Stoffen betrifft Elektrochrome Materialien könnten auch 2 Inzwischen decken elektrochrome Stoffe
das gesamte Farbspektrum ab. Außer-
die Änderung den sichtbaren Spektralbe- Energie sparen helfen, indem sie etwa als
dem sind sie preiswert und verbrauchen
reich, so dass die Farbe wechselt. Beschichtung auf dem Dach eines Gebäu- wenig Strom. Das macht sie für viele
Damit der Effekt auftritt, muss das Ma- des zwischen einer Wärme absorbierenden Anwendungen attraktiv. Allerdings sind
terial in eine elektrochemische Zelle inte­ dunklen Farbe im Winter und einer reflek- ihre Schaltzeiten noch relativ lang.
griert sein. Entweder befindet es sich als tierenden hellen im Sommer wechseln.
Beschichtung auf einer Elektrode – eventu- Ein Vorteil von ECDs ist ihr niedriger 3 Z
 u den ersten kommerziellen Produkten
zählen Rückspiegel mit automatischem
ell auch auf beiden -, oder es liegt in gelös- Energieverbrauch. Nach dem Farbwechsel
Blendschutz und Flugzeugfenster, die
ter Form im Elektrolyten vor. Das Laden bleibt der neue Oxidationszustand völlig
sich elektrisch abdunkeln lassen.
und Entladen der elektrochemischen Zelle ohne oder mit nur sehr geringer Energie-
geht mit der Oxidation oder Reduktion des zufuhr erhalten. Zudem ist meist ein stu-

62
fenloser Übergang zwischen einzelnen Elektronen an die drei Sauerstoffatome ab- gegen irreversibel eine metallisch glänzen-
Farbschattierungen oder -intensitäten gegeben und liegt deshalb in der Oxidati- de rote oder goldene »Bronze«. Ihre Farbe
möglich, wozu sonst ganze Serien von Farb- onsstufe +VI vor. Tatsächlich aber sind die- rührt hauptsächlich von der Rückübertra-
filtern nötig wären. Dank jüngster Fort- se Elektronen nur teilweise auf den Bin- gung des Elektrons auf das ursprüngliche
schritte in der Elektrodentechnologie lie- dungspartner übergegangen. Das Wolfram WV her, bei der ein Lichtquant etwas größe-
ßen sich die Schaltzeiten auf bis zu 0,2 Se- trägt also in Wahrheit eine deutlich gerin- rer Wellenlänge ausgesendet wird, als bei
kunden verkürzen, was für viele praktische gere positive Ladung als +VI. Um eine Ver- der Abgabe zuvor absorbiert worden ist.
Zwecke ausreicht. wechslung zu vermeiden, schreiben Che- Eine weitere wichtige Klasse elektro-
miker die Oxidationsstufe deshalb mit rö- chromer Substanzen sind die Viologene. Es
Übergangsmetalloxide und Viologene mischen Ziffern als WVI. handelt sich um salzartige Verbindungen,
Die Elektrochromie ist schon seit dem frü- WO3 ist als dünne Schicht blassgelb, weil die sich vom 4-4’-Bipyridin ableiten. In die-
hen 19. Jahrhundert bekannt. Doch erst in seine energetisch tiefste elektronische Ab- ser organischen Verbindung sind zwei ben-
den 1960er Jahren gelang es, den genauen sorptionsbande im ultravioletten Bereich zolartige Sechsringe miteinander ver-
Mechanismus aufzuklären. Seither wur- liegt. Durch die elektrochemische Reaktion knüpft, die jeweils fünf Kohlenstoffatome
den fünf verschiedene Klassen von elektro- werden einige Wolframatome reduziert. und ein Stickstoffatom enthalten. Dessen
chromen Werkstoffen entwickelt: Metall- Sie nehmen dabei ein Elektron auf, so dass Position wird durch die Zahlen wiederge-
oxide, Viologene, konjugierte Polymere, ihre Oxidationsstufe sinkt und sie in den geben, wobei die Nummerierung jeweils
Koordinationsverbindungen und Substan- Zustand WV übergehen. Dieses Elektron an der Verknüpfungsstelle der beiden Rin-
zen, die sich vom Berliner Blau ableiten. kann nun auf ein benachbartes WVI-Atom ge beginnt.
Die Oxide einiger Übergangsmetalle – wechseln. Dazu muss es allerdings ein Neben ihrem elektrochromen Verhal-
sie stehen in den Nebengruppen im mitt- Lichtquant aus dem sichtbaren Spektralbe- ten haben Viologene weitere nützliche Ei-
leren Teil des Periodensystems – lassen reich absorbieren. Aus diesem Grund er- genschaften. So wirken sie herbizid; Violo-
sich elektrochemisch zwischen blassen scheint das reduzierte Oxid farbig. gen zählt unter dem Handelsnamen Pa-
und farbintensiven Zuständen umschal- Wenn nur wenige Wolframatome in der raquat zu den weltweit meistverwendeten
ten. Bei letzteren handelt es sich in der Re- Oxidationsstufe V vorliegen, erscheint eine Herbiziden.
gel um die reduzierte Form. dünne WO3-Schicht tiefblau und lässt sich 4-4’-Bipyridin ist leicht herstellbar und
Das Paradebeispiel für diese Klasse elek- durch Anlegen einer entgegengesetzten einfach zu handhaben, weshalb die elekt-
trochromer Werkstoffe ist Wolframoxid elektrischen Spannung wieder entfärben. rochromen Viologene intensiv erforscht
(WO3). Darin hat Wolfram formal sechs Bei höheren Anteilen von WV entsteht da- wurden. Ihre Stammverbindung ist das

63
Methylviologen, genauer das N-N’-
Dimethyl-4-4˚-bipyridylium-Ion. Darin Schichten eines elektrochromen Geräts
tragen die beiden Stickstoffatome jeweils
eine Methylgruppe (CH3) sowie eine positi- Ein elektrochromes Gerät oder kurz ECD (nach englisch: electrochromic device) besteht aus
ve Ladung. Andere einfache, symmetrische mehreren Schichten. Im hier gezeigten Fall arbeitet es im absorbierenden/transmittierenden
Modus, und die Substanz, welche die Farbe wechselt, liegt in Form eines Feststoffs vor. Als
Bipyridylium-Verbindungen werden subs-
Elektroden dienen transparente Leiter wie Indiumoxid auf einer glasartigen Unterlage. Auf eine
tituierte Viologene genannt, da in ihnen
von ihnen wird das elektrochrome Material aufgetragen, auf die andere eine Schicht, die Ionen
die Methylgruppen durch andere Alkyl- aufnehmen und abgeben kann. Zwischen beiden befindet sich ein Elektrolyt. Durch ihn wan-
gruppen – sie haben die allgemeine Zu- dern die Ionen (schwarze Punkte) beim Schließen des Stromkreises von der positiven zur
sammensetzung CnH2n + 1 , also etwa C2H5 negativen Elektrode. Dabei ändern sie die Farbe der elektrochromen Schicht.
oder C3H7 – ersetzt sind.
Von den drei üblichen Oxidationszu-
ständen ist das Di-Kation – mit zwei positi-
ven Ladungen – in reinem Zustand farblos.
Reduktion führt zunächst zu einem so ge-
nannten Radikalkation, das ein ungepaar-
tes Elektron enthält. Üblicherweise sind
solche Verbindungen hochreaktiv. In die-
sem Fall erweist sich das Radikal jedoch als
recht beständig. Wegen der besonderen
Bindungsverhältnisse innerhalb der bei-
den Sechsringe ist das ungepaarte Elektron
nämlich frei darin beweglich. Außerdem
verteilt sich die verbleibende einfach posi-

AMERICAN SCIENTIST
tive Ladung gleichmäßig auf beide Stick-
stoffatome. Das ergibt eine ausgewogene
Elektronenstruktur und erklärt die unge-
wöhnliche Stabilität des Moleküls. Wegen
der Beweglichkeit der Ladung sowie des un-

64
gepaarten Elektrons sind die Radikalkatio- Konjugierte leitfähige Polymere vier Kohlenstoffatomen und einem ande-
nen der Viologene außerdem intensiv ge- In einem organischen Molekül mit ab- ren Atom wie Schwefel (im Thiophen),
färbt, absorbieren also sichtbares Licht einer wechselnden Einfach- und Doppelbindun- Stickstoff (im Pyrrol) oder Sauerstoff (im
bestimmten Wellenlänge sehr stark. Durch gen verschmelzen die p-Orbitale der betei- Furan) bestehen. Das Gleiche gilt für Ver-
passende Wahl der am Stickstoff hängenden ligten Kohlenstoffatome zu einem großen bindungen, in denen zwei Ringe über eine
Atomgruppen, welche die Energieniveaus gemeinsamen Aufenthaltsraum, in dem gemeinsame Kante verknüpft sind – etwa
für die Molekülorbitale beeinflussen, lässt sich die betreffenden p-Elektronen frei be- Indol (ein Benzolring plus ein Pyrrol), Car-
sich die Farbe des Radikalkations variieren. wegen können. Die Bindungsverhältnisse bazol (zwei Benzolringe mit einem Pyrrol
Methyl- oder andere Alkylgruppen ergeben in einem solchen »konjugierten Pi-Sys- dazwischen) und Azulen (ein Sieben- plus
eine blauviolette Farbe. Eine Zyanophenyl- tem« lassen sich dann nur noch durch ein Fünfring). Ein weiteres Beispiel für ein
gruppe (C6H4 – C≡ N) sorgt dagegen für ein Grenzformeln beschreiben, zwischen de- konjugiertes, resonanzstabilisiertes Sys-
intensives Grün. Allerdings ist darauf zu nen das Molekül quasi oszilliert – eine Be- tem ist Anilin, in dem ein Benzolring eine
achten, dass die Viologene nicht über das sonderheit, welche die Chemiker als Reso- Aminogruppe (NH2) trägt. Durch chemi-
Radikalkation hinaus zu einer neutralen nanz oder Mesomerie bezeichnen. Sie sche oder elektrochemische Oxidation die-
chinonartigen Verbindung reduziert wer- senkt die Energie des Systems und stabili- ser Substanzen erhält man konjugierte,
den. Diese ist nämlich wieder farblos, weil siert damit das Molekül. elektrisch leitfähige Kunststoffe.
sie weder eine verschiebbare Ladung noch Das Paradebeispiel solcher resonanzsta- Viele dieser Substanzen sind als dünne
ein frei bewegliches ungepaartes Elektron bilisierten Moleküle mit konjugierten Dop- Schichten elektrochrom, wobei das Haupt-
enthält. pelbindungen sind die aromatischen Ver- interesse in den letzten Jahren auf den Po-
Auch Kunststoffe können elektrochrom bindungen mit Benzol als Prototyp. In des- lymeren der Thiophene und Pyrrole lag.
sein, wenn sich darin Einfach- und Doppel- sen Sechsring wechseln sich drei Einfach- Im oxidierten, leitenden Zustand enthal-
bindungen regelmäßig abwechseln. Eine mit drei Doppelbindungen ab. Die zuvor ten sie »delokalisierte« positive Ladungen,
Doppelbindung zwischen zwei Kohlen- erwähnten Viologene enthalten dasselbe die sich frei durch das Pi-System bewegen
stoffatomen besteht aus einer Sigma-Bin- konjugierte Pi-System, das sich hier sogar können. Negative Gegenionen gleichen die
dung, in der sich zwei so genannte sp2-Or- über zwei Sechsringe erstreckt. Dass jeweils Ladungsbilanz aus.
bitale – Hybride aus einem s- und zwei p- ein Kohlenstoff- durch ein Stickstoffatom Die Polymere lassen sich elektroche-
Orbitalen – frontal durchdringen, und ersetzt ist, stört die Resonanz nicht. misch reduzieren, wenn man sie in Kon-
einer Pi-Bindung, in der zwei hantelförmi- Ein konjugiertes aromatisches Pi-Sys- takt mit einer Elektrolytlösung bringt, so
ge p-Orbitale seitlich überlappen. tem findet sich auch in Fünfringen, die aus dass die Gegenionen dorthin entweichen

65
AMERICAN SCIENTIST
oder Kationen daraus einwandern können. besetzten Elektronenniveau dagegen nur UMFÄRBUNG VON VIOLOGEN
Dabei wird das Molekül zum Isolator, weil 1,7 bis 1,9 Elektronvolt, so kann auch sicht- Viologen färbt sich beim Anlegen einer
die Delokalisation der Elektronen – und da- bares Licht einer Wellenlänge von 650 bis ­elektrischen Spannung. Das symmetrische
mit die Resonanz – verloren geht. 730 Nanometern ein Elektron anheben. In Molekül enthält zwei gekoppelte Benzolringe,
Welche Farben die beiden Formen ha- diesem Fall ist die reduzierte Verbindung in denen jeweils ein Kohlenstoff- durch ein
ben, hängt von der Energiedifferenz zwi- also farbig. Bei der Oxidation verringert Stickstoffatom (N) mit angehängter Methyl-
schen dem höchsten besetzten und dem sich auch hier die Energiedifferenz, so dass gruppe (CH3) ersetzt ist. Jedes Stickstoff­
tiefsten unbesetzten Elektronenniveau in selbst Infrarotstrahlung zur Anregung aus- atom trägt eine positive Ladung (links). Wird
der reduzierten Verbindung ab. Beträgt sie reicht. Zugleich ändert sich die Absorption Viologen reduziert, nimmt es ein Elektron auf
drei Elektronvolt oder mehr, kann nur ult- im gesamten sichtbaren Bereich, weshalb und wird zu einem Radikalkation: einem ein-
raviolettes Licht mit einer Wellenlänge von die Verbindung bei der Oxidation eine an- fach positiv geladenen Ion mit einem unge-
400 Nanometern oder weniger ein Elekt- dere Farbe annimmt. paarten Elektron. Dieses hat ebenso wie die
ron aus dem besetzten in das unbesetzte positive Ladung keine feste Position, sondern
Niveau anheben. Deshalb erscheint die re- Metallkomplexe und Berliner Blau verteilt sich über das gesamte Doppelring-
duzierte Form farblos und transparent. In Auch so genannte Metallkomplexe sind system (Mitte). Das Radikalkation erscheint
der oxidierten Form dagegen ist die Ener- teilweise elektrochrom. Mitglieder dieser blau. Die weitere Reduktion mit einem zwei-
giedifferenz wegen der Resonanzstabilisie- Substanzklasse bestehen aus einem Metall­ ten Elektron ergibt ein chinonartiges neutra-
rung geringer. Daher absorbiert diese Form ion, um das sich in streng geometrischer les Molekül (rechts), das wie das Viologen
im Allgemeinen sichtbare Strahlung und Anordnung nichtmetallische Atome oder selbst farblos ist.
ist intensiv gefärbt. Moleküle gruppieren. Diese »Liganden«
Beträgt die Energiedifferenz zwischen stellen einem leeren Orbital des zentralen
dem höchsten besetzten und tiefsten un- Metallions ein einsames Elektronenpaar

66
zur Verfügung. Chemiker sprechen von ko- tionsstufe des Zentralatoms von II auf III der Herstellung von Anstrichfarben, La-
ordinativer Bindung. In elektrochromen kein Charge-Transfer vom Metall zum Li- cken, Druckfarben, Schreibmaschinenbän-
Metallkomplexen fungiert meist ein ganden mehr möglich ist und die entspre- dern und Kohlepapier. Seine chemische
2-2’-Bipyridin als Ligand, das sich vom chende Absorptionsbande verschwindet. Formel lautet Fe4[Fe(CN)6]3. Als Metall­
Grundgerüst der Viologene nur durch die Zu den elektrochromen Metallkomple- komplex enthält es das Hexacyanoferrat-
Position des Stickstoffatoms in den beiden xen gehören auch Pigmente aus der indus- Anion, in dem sich sechs Cyanoliganden,
verknüpften Sechsringen unterscheidet. triell bedeutsamen Klasse der Metallo­ die aus Kohlenstoff und einem dreifach da-
Als Metalle können beispielsweise Eisen, phthalocyanine. Sie sind eng mit natürli- ran gebundenen Stickstoff bestehen, um
Ruthenium oder Osmium dienen, die dann chen Farbstoffen wie Hämoglobin oder ein Eisenion gruppieren.
in der Oxidationsstufe II vorliegen. Chlorophyll verwandt. Das als Ligand fun- Im Berliner Blau liegt wie im reduzier-
Metallkomplexe sind oft farbig und las- gierende Phthalozyanin sieht aus wie ein ten WO3 das Metall in zwei verschiedenen
sen sich problemlos oxidieren oder redu- vierblättriges Kleeblatt. Allerdings ist es in- Oxidationsstufen vor, nämlich II und III.
zieren, ohne dass sich dabei ihre Zusam- nen hohl. Am Rand dieses Hohlraums sit- Chemiker sprechen von einer gemischtva-
mensetzung und Struktur ändert. Die Ener- zen vier Stickstoffatome, die eine koordi- lenten Verbindung. Der Übergang eines
giebarrieren für die Anregung von native Bindung mit dem Zentralatom ein- Elektrons von FeII auf FeIII ist für die inten-
Elektronen sind niedrig, so dass meist gehen. Ein Beispiel für einen solchen sive blaue Farbe des Pigments verantwort-
sichtbares Licht absorbiert wird. Die stärks- Metallkomplex ist das Lutetium bis phtha- lich. Bei Oxidation oder Reduktion bleicht
ten »Absorptionsbanden« entsprechen so lozyanin . Dünne Schichten dieses Materi- es aus und erscheint grünlich gelb. Auch
genannten Charge-Transfer-Übergängen, als zeichnen sich durch das seltene Phäno- andere Pigmente aus der Gruppe der Me-
bei denen ein Elektron vom Zentralatom men der Polyelektrochromie aus: Bei Oxi- tallcyanometallate sind gemischtvalent
zum Liganden, von einem Liganden zum dation wechselt ihre Farbe von einem und elektrochrom.
anderen oder von einem Metallion zum intensiven Grün zu Gelbbraun und Rot. Re-
benachbarten wechselt. Durch Oxidation duktion lässt die Substanz blau und schließ- Die Geschichte der Elektrochromie
oder Reduktion eines Metallkomplexes än- lich blauviolett werden. Werkstoffe, die bei Zufuhr oder Entzug von
dern sich die Anregungsenergien, so dass Einer der wichtigsten elektrochromen Elektronen die Farbe wechseln, sind schon
sich die Absorptionsbanden verschieben. Metallkomplexe ist das schon seit Anfang seit dem frühen 19. Jahrhundert bekannt.
Manchmal findet danach überhaupt keine des 18. Jahrhunderts bekannte Berliner Der schwedische Chemiker Jöns Jacob Ber-
Absorption im sichtbaren Bereich mehr Blau. Als erstes modernes synthetisches zelius (1779 – 1848) berichtete 1815, dass sich
statt – etwa wenn nach Erhöhen der Oxida- Pigment hat es eine lange Geschichte bei Wolframoxid tiefblau färbt, wenn man es

67
in einem trockenen Wasserstoffstrom er-
wärmt. 1824 erreichte sein jüngerer deut-
scher Kollege Friedrich Wöhler (1800 – 1882)
Elektrochrome Polymere
denselben Farbumschlag durch Zugabe (oxidiert und reduziert)
von metallischem Natrium. Nach moder-
Per Walzdruckverfahren beschichtete Reynolds’ Gruppe eine PET-Folie, die zwei aufgedruckte
nem Verständnis handelt es sich in beiden
Fotovoltaikzellen für die Energieversorgung enthielt, mit einem elektrochromen Polymer. Im neu-
Fällen um eine Reduktion. Wöhler stellte tralen Zustand ist es magentafarben, bei Oxidation bleicht es aus.Der Farbwechsel beschleunigt
auch fest, dass das Reaktionsprodukt bei sich, wenn elektrochrome Polymere als hohle Nanoröhren – rechts in einer rasterelektronenmik-
der Umsetzung mit Lithium metallisch roskopischen Aufnahme – auf den Elektroden aufgewachsen sind. Auf dem Foto links tauchen
glänzt. Als Grund vermutete er fälschlich vier mit solchen Nanoröhren beschichtete Kupferbleche in einen Elektro­lyten ein. Jeweils zwei
die Bildung einer Metalllegierung und sind mit dem Plus- beziehungsweise Minuspol einer Batterie verbunden. Erstere liegen dadurch
im blassgrauen oxidierten und Letztere im ­dunkelblauen reduzierten Zustand vor.
sprach deshalb von »Wolframbronzen« –
in Anlehnung an die aus Kupfer und Zinn
bestehende Bronze, die zu den wichtigsten
und bekanntesten Metalllegierungen zählt.
Dieser eigentlich unzutreffende Begriff hat
sich bis heute gehalten.
Im Jahr 1834 ließ der schottische
­Uhrmacher und Erfinder Alexander Bain
(1811 – 1877) eine primitive Form der Fax-
übermittlung patentieren, der die elektro-
chemische Erzeugung von Berliner Blau zu
Grunde lag. Dabei ruht ein Stift aus reinem
Eisen auf Papier, das mit einer Lösung
von gelbem Blutlaugensalz – Kaliumhexa­
zyanoferrat(II) – getränkt war. In einem
Stromkreis bilden sich durch Elektrooxida-
CHO, S. I . ET AL.: ELECTROCHEMICAL SYNTHESIS OF POLY (3,4-ETHYLENEDIOXYTHIOPHENE) NANOTUBES TOWARDS FAST WINDOW-TYPE ELECTROCHROMIC DEVICES.
tion an der als Pluspol ­(Anode) geschalte- IN: NANOTECHNOLOGY 18, S. 405705, 2007; MIT FRDL. GEN. VON IOP PUBLISHING

ten Eisenspitze Eisen(III)-Ionen, die sich

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mit den Hexacyanoferrat(II)-Ionen im Pa- Im Jahr 1951 gelangen Eugene O. Brimm ne, durch Vakuumabscheidung auf Quarz
pier zu Berliner Blau verbinden. Auf diese und seinen Kollegen von der Union Carbi- hergestellte Schicht von Wolframoxid ein
Weise hinterlässt die positive Eisenelektro- de & Carbon Corporation in New York re- starkes elektrisches Feld von 1000 Volt pro
de bei jeder Berührung auf der Unterlage versible Farbwechsel mit in wässrige Säure Zentimeter anlegte.
eine dunkelblaue Spur. getauchtem Natriumwolframoxid. Zwei Deb nannte den Effekt Elektrofotogra-
Ähnlich funktionierte die Cyanotypie: Jahre später präsentierte Thaddeus Kraus fie. Seine Erklärung dafür war allerdings
eine frühe Form der Fotografie, die Sir John bei der Balzers AG in Liechtenstein einen falsch. Er führte die Farbe auf Leerstellen in
Frederick William Herschel (1792-1871) 1842 Bildschirm, der auf dem reversiblen Farb- den Kristallen zurück, an denen sich statt
entwickelte. In abgewandelter Form findet wechsel von Wolframoxid beruhte. eines Sauerstoffions ein Elektron befindet.
sie sich später in der Diazotypie, die Inge- Den Begriff Elektrochromie prägte 1961 Solche so genannten F-Zentren absorbie-
nieure und Architekten ab den 1880er Jah- John R. Platt von der University of Chicago. ren sichtbares Licht und waren von Metall-
ren in großem Umfang einsetzten, um Allerdings bezeichnete er damit ein ande- halogeniden – zu denen etwa das Natrium-
Konstruktionspläne und Bauzeichnungen res Phänomen: die Verschiebung und Auf- chlorid (Kochsalz) gehört – schon länger
zu kopieren. Das Verfahren, das sich bis ins spaltung der Absorptionslinien von Mole- bekannt. Dort sorgen sie für eine Verfär-
späte 20. Jahrhundert hielt, wurde unter külen durch Anlegen eines starken elektri- bung beim Bestrahlen oder Erhitzen in ei-
dem Namen »Blaupause« bekannt – ein schen Felds, gemeinhin als Stark-Effekt nem starken elektrischen Feld.
Begriff, der noch heute als Synonym für bekannt. Wegen der falschen Interpretation des
Plan steht. Als erste Firma arbeitete Philips ab den ersten Versuchs gilt heute meist Debs spä-
Aus dem Jahr 1930 stammt der erste Be- frühen 1960er Jahren an einem kommerzi- tere Publikation von 1973 als wahre Ge-
richt über die Blaufärbung von Wolfram- ellen elektrochromen Produkt und sicherte burtsstunde der Elektrochromie; denn
oxid durch elektrochemische – und nicht sich dafür 1973 ein Patent. Es handelte sich dort beschreibt der Wissenschaftler eine
wie bis dahin chemische – Reduktion an ei- um einen Bildschirm, der ein organisches elektrochrome Vorrichtung, in der eine in
ner Kathode. 1942 wurde ein Patent für Viologen namens 1-1’-n-Heptyl-4-4’-bipyri- einen Elektrolyten getauchte Wolfram-
elektrochromes Drucken erteilt. Das dazu dium in wässriger Lösung verwendete. oxidschicht elektrochemisch reduziert
verwendete »Elektrolyt-Schreibpapier« Heute schreibt man das erste ECD meist wird. Seit den 1970er Jahren sind solche
war mit Wolfram- und/oder Molybdän- dem Amerikaner Satyen K. Deb zu. Er er- Systeme Gegenstand eingehender For-
oxidteilchen imprägniert. Dabei wirkt die zeugte 1969, damals bei der American schung. Insbesondere wurden mit ihnen
Elektrode wie ein Stift und erzeugt beim Cyan­amid Company in Stanford (Kaliforni- diverse Prototypen von »intelligenten«
Gleiten über das Papier ein blaugraues Bild. en), eine blaue Farbe, indem er an eine dün- Fenstern entwickelt.

69
Erzeugung jeder beliebigen Farbe durch elektrochrome Polymere
Durch Kombination der von John Reynolds und seinem Team am liebige Farbe erzeugen. Der Komplexitätsgrad der Substanzen variiert
Georgia Institute of Technology in Atlanta geschaffenen Serie elektro- stark (siehe Strukturformel). Sie sind im neutralen Zustand farbig und
chromer Polymere lässt sich beim Anlegen einer Spannung jede be­ im oxidierten blassgrau (siehe Farbkästen).

R R R R R R
R R O O O O O O
R R
O O O O O O

AMERICAN SCIENTIST, NACH: DYER, A. L. ET AL.: COMPLETING THE COLOR PALETTE WITH SPRAY-PROCESSABLE POLYMER ELECTROCHROMICS. IN: ACS APPLIED MATERIALS AND INTERFACES 3, S. 1787–1795, 2011
O O O O
O O
O O S m S n n
S S
R = 2-Ethylhexyl S n N N
S
S n m=n=1 N N R = 2-Ethylhexyl
S
R = 2-Ethylhexyl
R = Octyl R1 R1 R1 R1
O O O O
R R
O O
O O O O
R R S S
O O S S n
O O O O N N O O
S
O O
S n S n R2 R2 R2 O O R2
R = 2-Ethylhexyl R = 2-Ethylhexyl R1 = 2-Ethylhexyl R2 = Ethyl

ECP-Gelb ECP-Orange ECP-Rot ECP-Magenta ECP-Blau ECP-Grün ECP-Cyan

70
Als Vernon D. Neff von der Kent State derartiger Werkstoffe, der die gesamte Pa- meist aus poliertem Metall wie Chrom
University in Ohio 1978 die Herstellung lette möglicher Farben abdeckt – ein Durch- oder Silber.
dünner Filme aus Berliner Blau und ihre bruch, der eine Fülle preiswerter elektroni- In absorbierenden/transmittierenden
elektrochemischen Farbänderungen be- scher Displays und getönter Scheiben für Geräten vollzieht sich der entscheidende
schrieb, weckte er das Interesse an den Cy- den täglichen Gebrauch erwarten lässt. Farbwechsel an der so genannten Primär-
anometallaten. In die späten 1970er Jahre elektrode. An der Sekundärelektrode befin-
fallen auch frühe Untersuchungen zur Elektrochrome Geräte det sich dann entweder gar kein Farbstoff
Elektrochromie organischer Materialien. ECDs funktionieren als wiederaufladbare oder einer, der synchron mit dem ersten
So erschien 1979 die erste Veröffentlichung elektrochemische Zellen mit mindestens annähernd dieselbe Farbe annimmt, was
über konjugierte leitende Polymere, in der zwei Elektroden. Diese sind durch einen den Kontrast zwischen dunklem und hel-
G. Brian Street und seine Mitarbeiter bei Elektrolyten in flüssiger, gelartiger oder lem Zustand des ECDs erhöht. Eine solche
IBM in San José die Elektrosynthese einer fester Form getrennt. Der Farbstoff kann Kombination kann beispielsweise aus Po-
dünnen Schicht aus Polypyrrol beschrie- entweder gelöst oder als dünne Schicht lyethylendioxythiophen (PEDOT) und Po-
ben. Solche Polymerfilme lassen sich in- vorliegen, und der Farbwechsel findet lybutylviologen bestehen; denn das Erste
zwischen allerdings besser durch elektro- durch Zufuhr oder Entzug von Elektronen schlägt bei der Oxidation an der Anode von
chemische Oxidation des gelösten Mono- beim Anlegen einer geeigneten Span- hell- nach dunkelblau um und das Zweite
mers oder Polymers herstellen, wobei sich nung statt. bei der komplementär dazu stattfinden-
das letztgenannte Verfahren besonders für Eine der Elektroden muss stets transpa- den Reduktion an der Kathode von farblos
die Massenproduktion eignet. rent sein. Üblicherweise besteht sie aus do- nach purpur. Ein weiteres solches Paar sind
Mit ihnen beschäftigte sich seit den tiertem Indiumoxid, das als dünne Schicht Berliner Blau und Wolframoxid – mit ei-
1980er Jahren vor allem die Forschungs- auf Glas oder den flexiblen Kunststoff Po- nem Farbwechsel von farblos nach blau bei
gruppe um John Reynolds, heute am Geor- lyethylenterephthalat (PET) aufgebracht Oxidation beziehungsweise Reduktion.
gia Institute of Technology in Atlanta. Das wird. Bei Geräten wie Brillen, Sonnenblen- Mit dieser Kombination arbeitet zum
Team ergründete systematisch die Zusam- den in Autos oder intelligenten Fenster- Beispiel das intelligente Fenster der Firma
menhänge zwischen Struktur und Eigen- scheiben, die im absorbierenden/trans- Gesimat in Berlin-Köpenick, dessen elekt-
schaften elektrochromer Polymere – spezi- mittierenden Modus arbeiten, muss auch rochrome Schichten durch Polyvinylbuty-
ell solchen auf Thiophenbasis. So schuf es die zweite Elektrode Licht durchlassen. Da- ral – einen festen Polymerelektrolyten –
durch gezielte Variation der Zusammen- gegen besteht sie bei reflektierenden ECDs – getrennt sind. Wenn die mit Berliner Blau
setzung vor drei Jahren erstmals einen Satz wie Displays und blendfreien Spiegeln – beschichtete Elektrode als Anode und die

71
mit Wolframoxid als Kathode geschaltet de durch Stickstoff ersetzt ist oder an zwei
ist, befinden sich beide Materialien in ih-
rem blauen Zustand. Kehrt man die Polari-
gegenüberliegenden Ecken Aminogrup-
pen sitzen. Er erscheint im oxidierten Zu-
Glossar
tät um, entfärben sie sich. Kürzlich hat Ge- stand grün. ORBITAL:
simat eine Pilotfertigungsstraße für die Beim Anlegen einer Spannung wan- Aufenthaltsraum eines E­ lektrons; s-Orbitale
Herstellung bis zu 2,4 mal 1 Meter großer dern die elektrochromen Komponenten sind kugel- , p-Orbitale hantel­förmig
elektrochromer Glasbeschichtungen in Be- zu ihren jeweiligen Elektroden, wo sie re-
OXIDATION:
trieb genommen. duziert beziehungsweise oxidiert wer- Abgabe von Elektronen
Das bislang kommerziell erfolgreichste den. Dadurch färbt sich der Spiegel inten-
ECD ist ein sich automatisch verdunkeln- siv blaugrün. So vermindert sich die REDUKTION:
der Rückspiegel der Gentex Corporation Lichtintensität, während zugleich gewis- Aufnahme von Elektronen
aus Zeeland (Michigan). In dem Blend- se Wellenlängenbereiche komplett her-
ELEKTROLYT:
schutzsystem namens Night Vision Safety ausgefiltert werden. Nach dem Abschal-
Ionen leitendes Medium; kann eine Lösung,
(NVS) bilden ein mit zinndotiertem Indi- ten der Spannung wandern die Oxida-
ein Gel oder ein Festkörper sein
umoxid beschichtetes Glasplättchen und tions- und Reduktionsprodukte von ihrer
eine reflektierende Metalloberfläche die jeweiligen Elektrode zurück ins Innere
beiden Elektroden. Ihr Abstand beträgt nur des Gels. Dort treffen sie aufeinander
Bruchteile eines Millimeters. Den schma- und verwandeln sich durch Elektronen-
len Raum dazwischen füllt ein gelartiger austausch wieder in ihre ursprüngliche,
Elektrolyt mit zwei elektrochromen Kom- farblose Form. Diese Art von ECD benö-
ponenten. Über deren genaue Zusammen- tigt daher einen ständigen geringen
setzung schweigt sich die Firma aus, doch Stromfluss, damit der farbige Zustand
dürfte die eine ein substituiertes Viologen bestehen bleibt. Zum Ausgleich dafür ist
sein, das sich bei Reduktion blau färbt. Bei keine Entfärbung auf elektrischem Weg
der anderen handelt es sich vermutlich um erforderlich, da sie beim Ausschalten von
einen Farbstoff, der sich vom Thiazin oder allein stattfindet. Dies steht in Einklang
Phenylendiamin ableitet – Benzolringen, mit US-Vorschriften, wonach der Spiegel
bei denen entweder ein Kohlenstoffatom bei Stromausfall den ungetrübten Zu-
durch Schwefel und das gegenüberliegen- stand annehmen muss.

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Die automatische Regelung beim NVS- auch für die Bandbreite der Anwendungen. andere Anwendungen wie elektronisches
Spiegel arbeitet mit zwei Detektoren. Einer Im Vordergrund der Bestrebungen stehen Papier, Schilder oder wiederverwendbare
ist nach hinten gerichtet und registriert derzeit großflächige abdunkelbare Fenster, Preisetiketten eine kostengünstige Lösung
Blendlicht. Damit das Gerät nicht tagsüber die sich preiswert in hohen Stückzahlen bieten.
anspringt, ermittelt der zweite Detektor, herstellen lassen. Sie könnten den enor- Zum Beispiel gelang es der Gruppe von
ob auch von vorne Helligkeit einfällt. So- men Energieverbrauch von Klimaanlagen Reynolds, mit Airbrush-Spritzpistolen
lange dies der Fall ist, bleibt das Verdunke- in Büros senken helfen – und das bei mehr oder Tintenstrahldruckern schnell und
lungssystem abgeschaltet. Komfort. einfach ECDs herzustellen. Indem die
Verschiedene Gruppen arbeiten seit ei- Forscher Lösungen ihrer verschiedenfar-
In allen Farben des Regenbogens niger Zeit daran, die Transparenz elektro- bigen elektrochromen Polymere durch
In Kooperation mit der Firma PPG Aero- chromer Fenster im farblosen Zustand zu Masken sprühten, erzeugten sie mehrla-
space in Pittsburgh (Pennsylvania) hat verbessern. So haben Kuan-Jiuh Lin und gige Substratmuster, die eine Reihe von
Gentex inzwischen seine Produktpalette seine Kollegen an Taiwans Nationaluniver- Farbtönen darstellen konnten. Vor weni-
um abdunkelbare Fenster für Flugzeuge er- sität Chung Hsing eine Methode entwi- gen Jahren beschichteten Reynolds und
weitert. Sie sollen die herkömmlichen Plas- ckelt, in einem einzigen Schritt Nanodräh- seine Kollegen zudem flexible PET-Folien,
tikjalousien ersetzen und so mehr Kom- te aus Titanoxid auf Glas zu züchten, die so die gedruckte Fotovoltaikmodule enthiel-
fort bieten. PPG Aerospace vermarktet das porös sind, dass der Brechungsindex der ten, per Walzdruckverfahren mit ihren Po-
erste elektrochrome Fenster der Welt unter Fenster niedrig bleibt und sie hochgradig lymeren. So entstand ein biegsames Dis-
dem Namen Alteos Interactive Window lichtdurchlässig sind. Im abgedunkelten play, das sich in einer hellen Umgebung
Systems. Es lässt sich per Knopfdruck stu- Zustand erscheinen die Scheiben dagegen selbst mit Strom versorgt.
fenlos zwischen einem hellen, klaren und blassgrau. Die Schaltzeit eines ECDs wird durch die
einem völlig dunklen Zustand umschalten. Früher galt die Elektrochromie als aus- Diffusionsgeschwindigkeit der Gegenio-
Eingebaut ist es im Boeing 787 Dreamliner sichtsreiche Option für Bildschirme. Aber nen beim Redoxprozess bestimmt. Sie ver-
und im Hawker Beechcraft King Air 350i, mit den Flüssigkristallen, die inzwischen kürzt sich folglich, wenn man die Dicke der
einem Geschäftsflugzeug. den Markt beherrschen, kann sie in abseh- elektrochromen Schichten und damit die
Forschung und Entwicklung auf dem barer Zukunft wohl nur bedingt konkurrie- Diffusionsstrecke der Ionen verringert. Bei
Gebiet elektrochromer Werkstoffe schrei- ren. So sind etwa für Fernseher die Schalt- dünneren Filmen ist der Kontrast jedoch
ten rapide voran. Das gilt sowohl für die Pa- zeiten zu lang. Dennoch könnte die Elekt- zu gering für eine gut sichtbare Färbung.
lette der Materialien und Gerätedesigns als rochromie bei vielfarbigen Displays für Sang Bok Lee und seine Kollegen von der

73
University of Maryland in Baltimore haben gen Strombedarf für den Farbwechsel kön- Deb, S.: Reminiscences on the Discovery of Electrochromic
jüngst eine Lösung für dieses Problem ge- nen biegsame Dünnschichtzellen decken. Phenomena in Transition Metal Oxides.
funden. Sie lassen auf der Elektrode hohle Gregory A. Sotzing und seine Gruppe an In: Solar Energy Materials & Solar Cells 39, S. 191 – 201,
Röhren aus elektrochromen Polymeren der University of Connecticut in Storrs ha- 1995
wachsen, die nur 10 bis 20 Nanometer di- ben ein elektrochromes Elastan entwickelt, Granqvist, C. G.: Oxide Electrochromics: An Introduction to
cke Wände haben, selbst aber mehrere hun- dessen Farbintensität sich beim Strecken Devices and Materials.
dert Nanometer lang sind. ändert. Der hochgradig dehnbare Kunst- In: Solar Energy Materials & Solar Cells 99, S. 1 – 13, 2011
Für die Redoxreaktion brauchen die Io- stoff kann als Elektrode fungieren, wenn er Monk, P. M. S. et al.: Electrochromism and Electrochromic
nen lediglich durch die dünnen Wände zu mit leitfähigen Polymeren getränkt wird. Devices. Cambridge University Press, 2007
diffundieren. Das führt zu Schaltzeiten in Die Forscher trennten zwei Lagen des Ge- Mortimer, R. J.: Electrochromic Materials.
der Größenordnung von zehn Millisekun- webes durch einen Film aus Elektrolytgel In: Annual Review of Materials Research 41, S. 241 – 268,
den. Zugleich besteht dank der Länge der und bedruckten sie beidseitig mit elektro- 2011
Nanoröhren ein guter Farbkontrast. Um chromen Polymeren. Das so behandelte Mortimer, R. J. et al.: Electrochromic Organic and Polyme-
ihn weiter zu erhöhen, entwickelte Lees Elastan zeigte außen und innen Muster aus ric Materials for Display Applications.
Gruppe vor zwei Jahren eine Methode zur unterschiedlichen, reversibel umschaltba- In: Displays 27, S. 2 – 18, 2006
Erzeugung von Hybridnanoröhren, die aus ren Farben.
mehreren Polymeren bestehen. Solche All dies macht deutlich, welches enor-
Schichten funktionieren sowohl im reflek- me Potenzial in elektrochromen Materiali-
tierenden als auch im absorbierenden/ en steckt. Von Anfang an zeichneten sie
transmittierenden Modus, wodurch sie sich durch geringen Energieverbrauch und
sich für Bildschirme und Fenster gleicher- niedrige Materialkosten aus. Mit der Erwei-
maßen eignen. Zu den faszinierenden po- terung ihrer Farbpalette, kürzeren Schalt-
tenziellen Anwendungen der Elektrochro- zeiten und einfacheren Herstellungsver-
mie gehören auch Textilien, die chamäle- fahren konnten sie nun weitere entschei-
onartig ihre Farbe wechseln können – sei es dende Pluspunkte für sich verbuchen. Und
für Tarnkleidung, am Körper tragbare Dis- so erscheint ihre Zukunft buchstäblich in
plays oder schlicht als Modegag. Weil elekt- leuchtenden Farben. 
rochrome Polymere löslich sind, kann man
leicht Gewebe damit einfärben. Den gerin- (Spektrum Spezial Physik – Mathematik – Technik, 1/2014)

74
DIE WOCHE
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