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Alex Angehrn, Kurs «Zen-Kalligraphie» Sommer 2023 1

Das Brahmi-Zeichen «i» (𑀇) und der Buddhismus

Seit etwa im 1. Jh. der Buddhismus von Indien nach China kam, ha en chinesische Mönche ein
grosses Interesse an den indischen Schri en, auf denen die buddhis schen Texte basierten. Es ging
einerseits um die korrekte Übersetzung der Texte aus dem Indischen und andererseits um die
phone sche Wiedergabe von Lauten, welche das Chinesische zum Teil gar nicht kannte.

Die al ndische Brāhmī-Schri , die Vorläuferin der mehr als hundert indischen Schri en, eine
Kombina on aus Silbenschri und Buchstabenschri war von besonderem Interesse.

Abbildung: Ein Sanskrit-Manuskript der Lotus-Sutra in Brahmi-Schri

Die Brāhmī-Schri ist eine


der verschiedenen Arten
der Verschri lichung der
Sanskrit-Sprache.

Rechts die Entwicklung der


Sanskrit-Vokale über die
Zeit.

Eine weitere indische Schri mit grosser Bedeutung für den Buddhismus ist die Siddham-Schri ,
eine Vorläuferin der Devanagari. Siddham ist in der Tabelle oben der 2. Spalte von rechts
zuzuordnen. Siddham wird heute nur noch von den japanischen Shingon-Buddhisten verwendet
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und ist im Ursprungsland Indien nicht mehr in Gebrauch. Es wurde im Jahr 806 vom berühmten
japanischen Mönch Kūkai, dem Gründer der Shingon-Schule aus China nach Japan eingeführt.

Der chinesische buddhis sche Mönch Guànxiū (貫休, 832‒913), von dem wir ein Gedicht studieren

werden, verwendet in zwei seiner Gedichte die Metapher des Vokals «i», um die Wahrheit darzu-
stellen. Dieser Vokal sieht aus wie drei Punkte in einem Dreieck (𑀇) und wurde metaphorisch
verwendet, um die nicht fassbare Beziehung zwischen Dharma, Buddha und Prajñā (Weisheit) zu
beschreiben. Man kann die Punkte dieses Zeichens weder entlang einer Ver kalen noch einer
Horizontalen anordnen. Damit ist das Zeichen auch ein Sinnbild für die Formlosigkeit der Zen-Lehre.

Als Druckbuchstabe wird für Brāhmī-i das Zeichen «𑀇» verwendet. Eine

andere Form ist das abgebildete Beispiel mit drei Kreisen.

Ein Beispiel für die Nutzung des Zeichens «i» in der buddhis schen Lehre ist die Stelle, wo der
Buddha im Mahāparinirvāṇa sūtra erklärt: „Welchen Namen kann man meinen Lehren geben? Es ist
wie mit den drei Punkten des Zeichens «i»: Horizontal bilden sie kein i und ver kal auch nicht.
Getrennt betrachtet bilden sie es nicht. Bei mir ist es auch so. Das Dharma der Befreiung ist nicht
Nirvāṇa, die Person des Tathāgatha ist nicht Nirvāṇa, Mahāprajñā ist nicht Nirvāṇa. Diese drei
Dharmas sind jeweils einzigar g und nicht Nirvāṇa. Ich bleibe jetzt fest in diesen drei Dharmas, aber
zum Wohle aller fühlenden Wesen erkläre ich meinen Eintri in das Nirvāṇa und bin somit das i-
Zeichen der Welt.“

Obwohl chinesische Buddhisten das kompetente Sprechen oder Lesen der Sprachen Südasiens
selten erlernten, zeigten sie eine anhaltende Faszina on für die Schri en Südasiens. Die Metapher
des i-Zeichens ist nur eine Ausprägung dieses breiten Interesses. Indische Schri en wie Brāhmī und
Siddham wurden mit Zaubersprüchen, sowohl geschrieben als auch gesprochen, in Verbindung
gebracht, die dem Prak zierenden Zugang zu esoterischen Krä en verscha en.

Rechts: Die Schri weise der


Vokale in Siddham. Dabei wird
ein langes und ein kurzes «i»
unterschieden.
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Gedicht des Mönchs Guànxiū (貫休, 832–913)

In seinem Buch «THE INVENTION OF CHINESE BUDDHIST POETRY: POET-MONKS IN LATE MEDIEVAL
CHINA» zeigt Thomas J. Mazanec, wie fasziniert der Mönchspoet Guànxiū von den indischen
Wurzeln des Buddhismus war. Die unergründliche und doch kra volle Natur des indischen Denkens
wird in Guànxiūs Werken deutlich in seinem Interesse an der Brāhmī-Schri .

上東林和尚 Dem Hochwürden des Dōnglín Tempels in Ehrfurcht präsen ert

讓紫帰青壁,Ohne Bedarf für Purpurroben, der grünen Mauer zugewandt,

高名四海聞。Von wo aus sich Ihr Ruf über die 4 Meere verbreitet.

雖然無一事,Und doch ist das nicht im Geringsten Ihre Sache:

得不是要君 Was kümmert den Ehrwürdigen der Profit?

道只傳伊字 Der Weg überliefert nichts als das Zeichen "i",

詩多笑碧雲 und der Dichter lacht zu den blauen Wolken.

應憐門下客,Zeigt also Mitgefühl mit dem Reisenden unter Ihrem Tor,

余力亦為文. Dessen verbleibende Kra weiterhin der Literatur gelten wird.

Dieses Gedicht wurde wahrscheinlich 861 geschrieben, als Guànxiū zum ersten Mal zum Berg Lú
reiste. Es liest sich wie ein Vorstellungsschreiben, das seine eigenen Fähigkeiten und Ziele demon-

strieren und gleichzei g dem Empfänger schmeicheln soll. Das Verb „in Ehrfurcht präsen ert“ sowie

die Bemerkung, der Empfänger hä e die Purpurrobe des kaiserlichen Hofs erhalten können (Zeile
1), verraten, dass der junge Guànxiū wahrscheinlich versucht, sich bei einem älteren Mönch
einzuschmeicheln der über eine gewisse Autorität verfügt. Die „grüne Wand“ steht im Kontrast zu
den Mauern von Städten und Palästen, in denen ein Zivilverwalter wohnen würde. Der Adressat ist
nicht nur berühmt (Zeile 2), sondern auch weise, denn er ist nicht von weltlicher Ehre mo viert und
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kümmert sich zu Recht um solche Angelegenheiten nicht (Zeilen 3–4). Guànxiū fasst diese Weisheit
in einem prägnanten Kontrast zwischen Buddhismus und Poesie zusammen.

Während der Weg leere Zeichen übermi elt, die auf die ul ma ve Realität hinweisen, ermöglicht
die Poesie den Zugang zu einer distanzierten Perspek ve der phänomenalen Welt (Zeilen 5–6). Das
heisst, die Religion versucht, auf höhere Wahrheiten hinzuweisen, während die Literatur dazu
ermu gt, sich nicht an die niedere, weltliche Welt zu binden. Das eine ist eine unvollkommene
Herangehensweise an perfekte Dinge, das andere eine perfekte Herangehensweise an unvollkom-
mene Dinge. Die Schlussfolgerung, in der der Sprecher beschliesst, sich der literarischen Tä gkeit zu
widmen (Zeile 8), impliziert nicht, dass er die Poesie als überlegen ansieht, sondern dass er im
Dōnglín-Tempel eine Art neue und nützliche Fähigkeit einbringen kann.

Das i-Zeichen ist ein Symbol für die ul ma ve Wahrheit des Buddhismus, aber er ist immer noch
nur ein Symbol. Es ist passender, über die blauen Wolken zu lachen, als sich in den Feinheiten der
Lehre zu verlieren. Poesie, so schlägt Guànxiū vor, ist Buddhismus in der Praxis.

Entstehungsgeschichte des Zeichens 伊 «i, dies, jenes»

伊, der Laut "i" ist zusammengesetzt aus 人 "Mensch" und dem phone schen Teil

尹. 尹 stellt eine Hand dar, welche einen Stab mit gö licher Kra hält. 伊 stand

also für Priester, welche den gö lichen Willen auslegten. Diese Bedeutung bezog

sich auch auf den Willen der Herrscher. 伊 stand für den Zustand von Einigkeit, und

伊尹 war der Ehrenname des legendären Herrschers der frühen Yin-Zeit (1600

v. Chr.–ca. 1027 v. Chr.) und wurde auch als Ortsname verwendet.


Mit der ersten Beschä igung der Chinesen mit westlichen Schri en entstand das
Bedürfnis nach einer phone schen Umschri für fremde Silben. Das chinesische

Zeichen 伊 benutzte man wegen seiner Lautung „yi“ für diese den Chinesen

ungewohnte Funk on.


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Biographie von Guànxiū 貫休 (832‒913)

Guànxiū wurde 832 im Dorf Dēnggāo im Kreis Lánxī geboren, einer kleinen Stadt etwas ausserhalb
der Stadt Jīnhuá. Seine Geburtsfamilie, die Jiāngs, sollen gutgebildete Konfuzianer gewesen sein.
Ihre Regierungsämter dür en jedoch unbedeutend gewesen sein, da es in den offiziellen
Geschichtsbüchern keine Aufzeichnungen über sie gibt. Im Alter von sieben Jahren verliess er seine
Familie, um Mönch im nahegelegenen Hé'ān-Tempel zu werden, wo er schon früh seine Gelehrigkeit

bewiesen haben soll: Er lernte jeden Tag tausend Zeichen des Lotus-Sūtra 法華經 auswendig, und

nach ein paar Monaten konnte er das Ganze auswendig aufsagen. Einige Jahre später, im Alter von
20 Jahren, übernahm er die Mönchsregeln. Mit 27 Jahren wurde er schnell zu einem der angese-
hensten Dichter seiner Zeit, nachdem er sich in einem Poesiewe bewerb gegen über hundert
anderen durchgesetzt ha e.

Der Rest seines Lebens war vom Wandern geprägt. Von seinem 20. bis zu seinem 70. Lebensjahr
lebte Guànxiū selten länger als ein Jahr an einem bes mmten Ort. Er unternahm Reisen in die
Hauptstädte, zu mehreren heiligen Bergen und durch das ganze Reich, vom modernen Běijīng im
Norden bis nach Guǎngzhōu im Süden.

Der Berg Lú war ein Ort, an den er immer wieder zurückkehrte. Es war der wich gste Berg in seiner
Heimatregion Jiāngnán – einer der fünf Pilgerberge, die die Säulen der Welt bildeten und die Heimat
zahlreicher Tempel verschiedener religiöser Tradi onen waren. Er diente auch als zentraler Treff-
punkt für die
schnell wachsende
Zahl von Dichter-
mönchen.

Rechts der Dōnglín


Tempel am Fuss
des Bergs Lú, von
dem das Gedicht
handelt.
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Das vielleicht wich gste Ereignis in Guànxius Leben und im gesamten neunten Jahrhundert war der
Huáng-Cháo-Aufstand. Die Plünderung und Besetzung der Hauptstadt durch einen Salzschmuggler,
der zum Rebellenkommandanten wurde, zerstörte Zehntausende Leben und legte die tausend Jahre
alte Hauptstadt Cháng’ān in Schu und Asche. Guànxiū erlebte die Gewalt aus erster Hand, als der
Aufstand im Juli 880 über seinen Heimatbezirk Lánxī fegte und ihn zur Flucht nach Pìlíng ein paar
Dutzend Meilen nordöstlich zwang. Was er sah – die völlige Zerstörung seines Elternhauses – hat
sich in sein Gedächtnis eingebrannt und taucht in seinen späteren Schri en immer wieder auf.

In den nächsten Jahrzehnten, als die Zentralregierung auseinanderfiel, versuchten die Warlords, die
die Kontrolle über verschiedene Regionen erlangten, ihre eigene Legi mität zu etablieren, indem sie
Literatur- und Religionsexperten anzogen. Guànxius Fähigkeiten waren sehr gefragt. Im Jahr 893 zog
er nach Hángzhōu, um die Schirmherrscha von Qián Liú (852–932) zu erbi en, dem regierenden
Militärgouverneur der Region. Guànxiū schrieb dem Herrscher ein schmeichelha es Gedicht, das
die Zeile „Dein einsames Schwert scheint wie Frost und Schnee über vierzehn Präfekturen“ enthielt
und sich auf die vierzehn Verwaltungsgebiete bezog, die derzeit unter seiner Gouverneurscha
standen. Qián forderte Guànxiū auf, die „vierzehn“ in „vierzig“ zu ändern, um seinen Ambi onen
gerecht zu werden. Der Mönch antwortete mit dem Scherz, dass Gedichte ebenso wie das
Territorium, das man kontrolliert, nicht einfach verändert werden können. Qián verbannte ihn sofort
und er machte sich erneut auf den Weg.

Zehn Jahre später, im Jahr 903, liess er sich schliesslich in Chéngdū nieder, wo man eigens für ihn
einen Tempel baute und ihm den Titel Meister Chányuè verlieh. Dort zog er viele Schüler an und
knüp e Kontakte zu anderen Intellektuellen, die nach Südwesten ausgewandert waren. Als er
Anfang 913 starb, wurde er nördlich der Stadt in einer ihm zu Ehren errichteten Pagode beigesetzt.
Elf Jahre später sammelte und veröffentlichte sein Schüler Tányù Guànxiūs Werke, bestehend aus
fast tausend Gedichten, in einer Holzschni ausgabe. Er war damit der erste Mensch in der
Geschichte, dessen gesammelte Gedichte gedruckt wurden.

Frühe Kri ker betrachteten Guànxiū als den besten Dichtermönch. In der nördlichen Sòng-Dynas e
geriet Guànxius Werk bei den Literaten, die seine Verse o als zu „unhöflich“ für ihren Geschmack
bezeichneten, aber in Ungnade. Obwohl diese Urteile fast tausend Jahre lang galten, gab es
neuerlich Bemühungen, seinen Ruf wiederzubeleben. Sein moderner Biograf Kobayashi Taichirō
verglich 1947 seine sprachlichen und fantasievollen Experimente mit denen von Stéphane Mallarmé
und seine Gemälde mit denen der Surrealisten.

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