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Einleitung

Behnam T. Said und Hazim Fouad

Der österreichische Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker


antwortete auf die Frage in einem Interview mit der Zeitung
„Christ und Welt“ im März 2013, ob er Angst vor „Salafis-
ten“ hätte: „Nein. Arbeiten im Haushalt bergen mehr Ge-
fahren.“1 Die zuvor gestellte Frage und die zugegebener-
maßen etwas scherzhaft wirkende Antwort hierauf bieten
Gelegenheit aufzuzeigen, warum wir glauben, dass das vor-
liegende Buch in Deutschland dazu beitragen kann, eine
bestehende Lücke in der Sachliteratur zu schließen: Die Jour-
nalisten fragten Lohlker nicht nach seiner Angst vor islamis-
tischem oder jihadistischem Terrorismus, sondern ganz all-
gemein nach der Angst vor „Salafisten“. Die Frage mag
bewusst zugespitzt formuliert worden sein, um eine entspre-
chend pointierte Antwort zu erhalten. Denkbar ist aber
auch, dass ihnen diese Frage schlichtweg auf dem Herzen
lag und sie wissen wollten, ob auch ein Fachmann Angst
vor „den“ Salafisten habe. In beiden Fällen spiegelt die For-
mulierung den Diskurs wider, der in Deutschland bezüglich
des Salafismus vorherrscht. Während die meisten Deutschen
eher Angst vor „dem“ Salafismus haben dürften, steht auf
der anderen Seite die Beurteilung des Phänomens durch
Lohlker, der die Frage nach der potenziellen Bedrohung ne-
giert. Leser des Interviews werden sich fragen, wie diese Aus-
sage mit der in der Öffentlichkeit überwiegenden Darstel-
lung des Salafismus als Gefahr für die öffentliche Sicherheit
konform geht. Es ist zunächst anzumerken, dass Lohlker
selbst einen Band über Jihadismus herausgebracht hat und
somit als jemand gelten kann, der sich intensiv mit dieser ge-

1
Öhler und Thielmann 2013, 2.

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Behnam T. Said und Hazim Fouad

walttätigen Strömung innerhalb des Salafismus auseinander-


gesetzt hat bzw. diese nicht kleinredet.2 In dem erwähnten
Interview versucht Lohlker den Blick weg von der jihadis-
tischen Strömung und hin auf andere, nicht-militante Rich-
tungen des Salafismus zu lenken, da diese überwiegen und
die Jihadisten im Salafismus eine Minderheit bilden. Diese
Gewichtung nimmt er vor, da er meint, die „Konstruktion ei-
nes neuen Feindbildes [Salafismus]“ im öffentlichen Diskurs
zu erkennen, und weil er den Salafismus als vielfältige und
weltweite „Bewegung“ betonen und nicht ausschließlich un-
ter sicherheitspolitischen Aspekten betrachten möchte.
Inwieweit hat Lohlker hier Recht? Ist der Salafismus mehr
als eine sicherheitspolitische Bedrohung und welche Rolle
spielt die Gewaltfrage? Welche Strömungen innerhalb des Sa-
lafismus und welche Gedankenwelten lassen sich erkennen?
Wodurch unterscheiden sich Salafisten von anderen Musli-
men, insbesondere von anderen islamistischen Strömungen?
Was macht den Salafismus gerade für Jugendliche und junge
Erwachsene attraktiv? Soll dieser Attraktivität entgegen-
gewirkt werden und wenn ja, wie? Auf diese und andere Fra-
gen möchte der vorliegende Sammelband Antworten finden
und dem Leser dabei den neuesten Stand aus Wissenschaft
und Praxis auf dem Gebiet des Salafismus präsentieren.

Salafisten und Gewalt

Neben Rüdiger Lohlker kritisieren auch andere Experten die


ausschließliche Betrachtung des Themas Salafismus unter si-
cherheitspolitischer Perspektive. So bemängelt etwa Richard
Gauvain, der Feldstudien unter Salafisten in Ägypten betrie-
ben hat, dass die meisten Forscher ihre Schwerpunkte auf
das Verhältnis von Salafismus und Jihad gelegt hätten.3 Den
gleichen Befund stellt er auch für das Internet fest, da bei ei-

2
Rüdiger Lohlker (2009), Dschihadismus – Materialien, Wien.
3
Gauvain 2013, 11.

24
Einleitung

ner Suche nach dem Begriff „Salafism“ hauptsächlich Jihad-


bezogene Artikel angezeigt würden. Dies sei nach dem
11. September 2001 zwar nicht überraschend, so Gauvain
weiter, und er möchte auch gar nicht in Frage stellen, dass
Salafismus und Jihad eine enge Verbindung zueinander auf-
weisen. Doch gehe es ihm vielmehr darum, die Einseitigkeit
der Debatte zu beleuchten, in der viele Aspekte des Salafis-
mus unter den Tisch fallen würden. So etwa dessen interne
Heterogenität und die gerade auch von salafistischen Akteu-
ren geäußerte Kritik an al-Qaida.4 Auch in Deutschland, wo
das Thema Salafismus erst seit 2011 verstärkt in Medien und
Politik Aufmerksamkeit erlangte,5 werden im öffentlichen
Diskurs ebenso oftmals Brücken vom Salafismus zum Jiha-
dismus oder zum Terrorismus geschlagen.6
In den Artikeln dieses Bandes wird häufig auf eine äußerst
einflussreiche Studie von Quintan Wiktorowicz aus dem Jahr
2006 verwiesen.7 Hierin unterteilt er Salafisten in drei Grup-
pen. Die erste sind die Puristen, das heißt solche, die sich von
der Politik fern halten. In unserem Buch spricht sich Joas Wa-
gemakers dafür aus, statt „Puristen“ den Begriff der „Quietis-
ten“ zu verwenden, da alle Salafisten für sich in Anspruch neh-
men würden, auf ihre Art und Weise puristisch zu sein und
„Quietisten“ am ehesten den Charakter dieser Gruppe be-
schreiben würde. Andere Autoren in diesem Band behalten je-
doch den Ausdruck „Puristen“ bei. Die zweite Strömung in-
nerhalb des Salafismus ist laut Wiktorowicz die politische.
Diese opponiert offen gegen muslimische Herrscher, etwa in
Saudi-Arabien, und bringt sich aktiv in die Politik ein. Dies ge-

4
Ebd., 12.
5
Friedrich und Schultes 2012, 2.
6
Ebd., 2–3. Eine differenzierte und verständliche Behandlung des Themas
Salafismus und Terrorismus in Deutschland bietet Ulrich Kraetzer (2014),
Salafisten – Bedrohung für Deutschland?, Gütersloh. Das empfehlenswerte
Buch von Kraetzer erschien leider erst nach Redaktionsschluss des vorliegen-
den Bandes und konnte daher keine inhaltliche Berücksichtigung in den ein-
zelnen Beiträgen finden.
7
Wiktorowicz 2006.

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Behnam T. Said und Hazim Fouad

schieht auf parlamentarischem oder auch außerparlamentari-


schem Wege. Die dritte Gruppe nun ist diejenige, über die
wohl am meisten geschrieben wurde: Jihadisten. Sie unter-
scheiden sich von den anderen Richtungen nicht etwa darin,
dass nur sie den Jihad befürworten. Gauvain schreibt hierzu:
„Sogar diejenigen (…) Salafisten, die ein verblüffendes Maß
an Loyalität gegenüber ihren eigenen Regierungen zeigen, stel-
len die Bedeutung des Jihads als einen religiösen Imperativ kei-
nesfalls in Frage.“8 Wie genau die Jihadisten sich letztlich von
den anderen Salafisten unterscheiden bespricht Behnam T.
Said in seinem Artikel ausführlicher. Nina Wiedl modifiziert
die durch Wiktorowicz vorgenommene Dreiteilung, die sich
auf jordanische und saudi-arabische Salafisten bezog, hin-
sichtlich der Szene in Deutschland leicht und unterscheidet
zwischen den strikt-quietistischen sogenannten Madkhali-
Salafisten, dem Mainstream-Salafismus – dem Prediger wie
Hassan Dabbagh, Pierre Vogel und viele andere angehören
würden –, radikalen Salafisten, wie etwa das Netzwerk Die
Wahre Religion (DWR), und schließlich Jihad-Salafisten, wie
die Anhänger der verbotenen Vereinigung Millatu-Ibrahim.9
Ebenso weist Samir Amghar in seinem Beitrag über Salafismus
in Europa darauf hin, dass dieser oft als eine einzige Bewegung
oder Strömung wahrgenommen wird, wobei er tatsächlich
„hochgradig divers und verschiedenartig“ sei.
Salafismus ist also der Oberbegriff für eine sehr heterogene
Strömung, die zunächst als fundamentalistisch beschrieben
werden kann, weil sie sich auf die Ursprünge der Religion be-
sinnt und diese von allem „reinigen“ möchte, was als später
„fälschlich“ hinzugekommen angesehen wird. Die Anhänger
der salafistischen Bewegung vertreten eine politische Ideologie,
die in vielen Teilen als extremistisch beschrieben werden kann,

8
Gauvain 2013, 12. Siehe hierzu auch Wagemakers 2012, 9.
9
Diese Vierteilung findet sich auch in Claudia Dantschke, Ahmad Mansour,
Jochen Müller und Yasemin Serbest (2011), „Ich lebe nur für Allah“, Argu-
mente und Anziehungskraft des Salafismus, Hrsg. Zentrum Demokratische
Kultur, Berlin.

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Einleitung

wie Olaf Farschid in seinem Beitrag darlegt. Dies insbesondere,


da Salafisten „im Frühislam geltende Herrschafts- und Rechts-
formen über rechtsstaatliche Normen“ stellen, wie Farschid
schreibt. Der größte Teil der Salafisten ist dennoch gewaltfrei,
wie auch die Sicherheitsbehörden und die Innenminister beto-
nen. In einem schriftlichen Bericht zur „Salafisten-/Islamisten-
szene in NRW“ berichtete etwa Ralf Jäger, Innenminister des
Landes Nordrhein-Westfalen, dass lediglich ca. 10 % der vom
Verfassungsschutz beobachteten deutschen Salafisten dem
Jihadismus zuzurechnen sind, während ca. 90 % der politi-
schen Strömung angehören.10 Im Hinblick auf die Jihadisten
ist es wichtig anzumerken, dass bei weitem nicht jeder, der in
Deutschland vom Verfassungsschutz als Jihadist gezählt wird,
auch ein Terrorist ist. Wäre dem so, so dürften die Jihadisten
nicht frei herumlaufen, sondern wären nach den entsprechen-
den Paragraphen, etwa 129 a) und b), verurteilt worden.
Auch von den Jihadisten ist wiederum nur ein kleiner Teil be-
reit, selbst Gewalt auszuüben. Die Mehrheit der Jihadisten be-
fürwortet Gewalt verbal und legitimiert diese auch, selbst
würde sie aber nicht unbedingt zu derartigen Mitteln greifen.
Von denen, die es doch tun, möchte der größte Teil in Gebiete
des „internationalen Jihads“ (z. B. Syrien, Pakistan, Afghanis-
tan, Irak, Somalia, Tschetschenien) ausreisen und dort kämp-
fen.11 Hinter diesen Absichten stecken oft romantisierte Vor-
stellungen des aufrichtigen Rebellen, der Mann gegen Mann
für die „gute Sache“ kämpft. In den Kampfgebieten angekom-
men werden die jungen Menschen, die zumeist in Deutschland
sozialisiert wurden, das erste Mal mit Elend, Krieg und dem
harten Alltag in kämpfenden Organisationen konfrontiert.
Viele halten den Druck nicht aus und kehren zurück. Nur ein
kleiner Teil der Jihadisten ist bereit und in der Lage, Anschläge
in westlichen Ländern durchzuführen.12 Das Problem ist je-

10
Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-West-
falen 2013, 3.
11
Hegghammer 2013.
12
Ebd.

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Behnam T. Said und Hazim Fouad

doch in der Tat, dass es nicht vorhersehbar ist, wer sich in wel-
che Richtung entwickelt. Wer will „nur“ ausreisen? Mit wel-
chen Einstellungen kommt er von seiner Reise in den Kampf
zurück? Wer möchte eine Bombe am Bahnhof oder in der Ein-
kaufsmeile platzieren? Fest steht lediglich, dass die Jihadisten
mit ihrer Rhetorik und ihrer Weltanschauung Gewalttätern
Vorschub leisten und sich diese aus den Reihen der Jihadisten
rekrutieren. Zuweilen bestehen auch Kontakte zwischen der
nicht-gewaltbereiten und der gewaltorientierten Szene, wie
jüngst an den Beispielen Pierre Vogel und Sven Lau deutlich ge-
worden ist: Beide repräsentieren eigentlich den politischen Sa-
lafismus in Deutschland bzw. den „Mainstream“. Seit 2011
verloren Vogel und sein Weggefährte Lau jedoch zunehmend
an Einfluss im deutschen Salafismus und versuchten dies aus-
zugleichen, indem sie sich ab Dezember 2012 dem Koranver-
teilprojekt „Lies!“ des radikaleren Netzwerkes DWR anschlos-
sen. Durch eigene Projekte, wie etwa „Street Dawah“ und
sogenannte „Friedenskongresse“ versuchte Vogel, wieder an
Boden zu gewinnen, doch dies gelang nur mit geringem Erfolg.
Insbesondere seit Herbst 2013 sind Vogel und Lau dann ver-
stärkt in Zusammenhängen mit gewaltorientierten Salafisten
um das Netzwerk DWR in Erscheinung getreten. Personen
aus den verschiedenen Spektren kommen recht schnell mit-
einander in Kontakt. Sie können von einer in die andere Szene
gleiten. So sind sowohl Fälle bekannt, in denen nicht-gewalt-
bereite Salafisten zu Jihadisten wurden, als auch solche, in de-
nen Jihadisten der Gewalt abschworen.

Der Begriff des Salafismus

Wie der Buchtitel schon sagt, bezeichnen wir den Gegenstand


der Betrachtung hier einheitlich als „Salafismus“ und spre-
chen daher auch von „Salafisten“. Gegen diese Begrifflichkeit
ließe sich zunächst einwenden, dass das Suffix -ismus bzw. -ist
eine negative und politisierende Konnotation erzeugen würde
und etwa an „Terrorismus“, „Extremismus“ etc. denken

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Einleitung

lässt.13 Hiergegen ist jedoch einzuwenden, dass die Endung


-ismus nicht zwangsläufig negativ besetzt sein muss. Sie
kann Glaubenssysteme, geistige Strömungen und Kunstrich-
tungen, wie etwa „Kubismus“, genauso bezeichnen wie Ideo-
logien. Zu Letzterem zählen wir auch den Salafismus, wobei
auch der Begriff der Ideologie ein zunächst wertneutraler ist.
So definiert Michael Freeden Ideologien als „Systeme politi-
schen Denkens“, mit denen die Welt politisch verstanden
und geordnet und dementsprechend gehandelt werden
kann.14
Weiterhin könnte darauf verwiesen werden, dass Salafis-
ten sich selbst nicht als solche betiteln, sondern Bezeichnungen
bevorzugen wie Salafis bzw. Salafiyya, Ahl al-Hadith („Leute
der Prophetenüberlieferung“), Ahl al-Sunna wa-l-JamaJa
(„Leute der Prophetentradition und der Gemeinschaft“),
Atharis (athar = Tradition, überlieferter Bericht; Atharis =
Leute, die sich auf die überlieferten Berichte aus der Frühzeit
des Islams berufen) oder auch schlicht Muslime.15 In der Wis-
senschaft ist jedoch ein analytischer Begriff wichtig, um eine
bestimmte Strömung benennen zu können, wie Justyna Nedza
in ihrem Beitrag näher erläutern wird.
Mit der Benennung des Untersuchungsgegenstandes als
„Salafismus“ bewegen wir uns innerhalb des terminologi-
schen Konsenses der Wissenschaft, wie er insbesondere im
englischsprachigen Bereich besteht. So benennen alle aner-
kannten Wissenschaftler das Phänomen auf Englisch als Sa-
lafism.16 Terminologien, wie etwa Neo-Salafismus oder auch
Salafiten, haben sich hingehend nicht durchgesetzt.17 Dies
liegt insbesondere beim Begriff „Neo-Salafismus“ daran,

13
Für diese Argumentation vgl. Friedrich und Schultes 2012, 1 (Fn. 2).
14
Freeden 1998, 3.
15
Siehe hierzu auch die Ausführungen von Nasir al-Din al-Albani (Audio-
vortrag): Ma hiya al-salafiyya? („Was ist die salafiyya?“), http://www.alalba-
ny.net/4070.
16
Siehe etwa Wiktorowicz 2006; sämtliche Beiträge in Meijer 2009; Lau-
zière 2010 und die Monographien von Gauvain 2013 und Bonnefoy 2012.
17
Friedrich und Schultes 2012, 1 (Fn. 2).

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Behnam T. Said und Hazim Fouad

dass diejenigen, die sich für diese Terminologie entschieden


haben, nicht schlüssig darlegen können, weshalb sie das Prä-
fix „neo“ verwenden, welches darauf hindeutet, das etwas
schon länger Dagewesenes in einer Art „Neuauflage“ er-
scheint.18 Dabei ist der Salafismus als holistisches Konzept,
welches Glaube, Recht, Riten, ethisch-moralische Verhal-
tenskodexe sowie politische Ordnungsvorstellungen vereint,
selbst ein Produkt des 20. Jahrhunderts,19 auch wenn man-
che Autoren versuchen, den Salafismus schon in der Frühzeit
des Islams zu verorten.20 In der Tat gab es in der Geschichte
des Islams immer wieder Persönlichkeiten und Bewegungen,
welche den gegenwärtigen Salafismus geprägt haben und ge-
wisse Ähnlichkeiten in ihrem Islamverständnis aufwiesen.21
Auch versuchen heutige Salafisten gerne, sich in deren Tradi-
tion zu stellen, um so eine vermeintlich ungebrochene ideo-
logische Linie bis zur Zeit des Propheten Muhammad auf-
zubauen. Doch wie der Beitrag von Mohammad Gharaibeh
aufzeigt, ist dieser Rückgriff aus Sicht der Theologie kons-

18
Siehe Ceylan und Kiefer (2013) als Beispiel für einen Band, der von „Neo-
Salafismus“ spricht. Interessanterweise wird im Titel der Begriff „Salafis-
mus“ und im Buch selbst dann „Neo-Salafismus“ verwendet. Die Erklärung
für das Präfix „neo“, welche Ceylan und Kiefer erst auf S. 78, anbieten,
konnte die Herausgeber und die Autoren dieses Bandes nicht zufriedenstel-
lend überzeugen, zumal Ceylan und Kiefer an diversen anderen Stellen (etwa
auf S. 10) den Salafismus korrekterweise als „ein [wirkungsgeschichtliches]
Produkt der Moderne“ bezeichnen. Siehe dazu auch weiter unten.
19
Lauzière 2010, 384.
20
So sieht Muhammad JImara in Ahmad Ibn Hanbal (gest. 855), der Begrün-
der einer der vier islamischen Rechtsschulen, den „ersten Imam“ des Salafis-
mus (JImara 2012, 16). Dessen Anhänger nannten sich Ahl al-Hadith (Leute
der Prophetenüberlieferung).
21
Zu nennen sind hier neben Ahmad Ibn Hanbal, insbesondere die Gelehr-
ten Ibn Hazm (gest. 1064) und Ahmad Ibn Taimiyya (gest. 1328) sowie Mu-
hammad Ibn JAbd al-Wahhab (gest. 1792), dessen Bewegung, bekannt als
„Wahhabismus“, die wohl größte Antriebsfeder für den gegenwärtigen Sala-
fismus darstellt. Dennoch sind Wahhabismus und Salafismus nicht gleich-
zusetzen. Während der Wahhabismus im 18. Jahrhundert als innerislamische
Reformbewegung entstand, definiert sich der heutige Salafismus vor allem
auch in Abgrenzung zu westlichen politischen Ordnungsvorstellungen
(hierzu siehe auch Steinberg und Farschid in diesem Band).

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Einleitung

truiert und hält einer historisch-kritischen Betrachtung nicht


stand. So weist er beispielsweise nach, dass die theologischen
Ansichten zwar auf mittelalterliche Gewährsmänner zurück-
gehen, jedoch eindeutig modifiziert wurden. Aussagen wie
„‚Salafismus‘ oder ‚Salafiyya‘ ist ein Synonym zu der [his-
torischen] ‚Ahl al-Hadith‘“22 müssen daher widersprochen
werden. Bacem Dziri zeigt in seinem Beitrag, dass der heu-
tige Salafismus und die mittelalterliche Ahl al-Hadith-Be-
wegung deshalb nicht identisch sind, da Letztere vor der Ent-
wicklung der Rechtsschulen bestanden hatte und sich
letztlich in dieses Gefüge einordnete, während sich der heu-
tige Salafismus bewusst gegen die klassischen Rechtsschul-
bindungen richtet.
Auch in der Rechtsauslegung konstruieren Salafisten
ihre Methode des Umgangs mit den islamischen Primär-
und Sekundärtexten und präsentieren diese als einzig mögli-
che Form, wie Dziri unter anderem anhand des Beispiels des
vermeintlich „richtigen“ Prophetengebets zeigt. Daher kön-
nen Salafisten auch nicht einfach als Teil der hanbalitischen
Rechtsschule (hanbaliyya) betrachtet werden, selbst wenn sie
sich auf einzelne Vertreter von dieser berufen.
Auch das arabische Wort salafiyya, von dem sich Salafis-
mus ableitet, eignet sich wenig, um den Salafismus zu be-
schreiben, da salafiyya im Sprachgebrauch der westlichen
Wissenschaft mit einer Reformbewegung des 19. Jahrhun-
derts assoziiert wird, die mit dem hier besprochenen Unter-
suchungsgegenstand wenig zu tun hat (hierzu siehe das Kapi-
tel von Nedza).
Salafiyya bezieht sich auf die sogenannten salaf al-salih
(die frommen Altvorderen), mit denen gemeinhin die ersten
drei Generationen der Muslime gemeint sind. Wie Nedza in
diesem Buch zeigt, besteht jedoch kein Konsens darüber,
welche Zeitspanne die zuvor erwähnten drei Generationen

22
Siehe Meltem Kural, „Interview mit Mehmet Ali Büyükkara, Salafiyya: Ent-
stehung, Hintergründe und moderne Strömungen“, Islamiq, 09.01.2014,
http://www.islamiq.de/2014/01/09/moderne-salafitische-stroemungen/.

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Behnam T. Said und Hazim Fouad

überhaupt umfasst.23 Da die salaf zeitlich und räumlich dem


Propheten Muhammad und seinen Lehren am nächsten wa-
ren, wird ihnen seitens der Salafisten nachgesagt, den Islam
in unverfälschter Form praktiziert zu haben, worin sie den
Aufstieg und Erfolg der islamischen Religion begründet se-
hen. Probleme der Gegenwart können, so die Salafisten,
durch die Rückbesinnung auf diese Zeit gelöst werden. Die
durch die Einflüsse anderer Kulturen nach diesem „goldenen
Zeitalter“ stattgefundenen Veränderungen im Islam werden
tendenziell abgelehnt, da sie die „reine Lehre“ verfälscht
und dadurch den Niedergang des Islams eingeleitet hätten.
Daraus ergibt sich auch die Ablehnung des taqlid, also des
sogenannten blinden Befolgens der Meinungen einer der
vier klassischen islamischen Rechtsschulen.24 Vielmehr sei
man selbst dazu aufgefordert zu prüfen, ob eine bestimmte
Handlung mit dem Religionsverständnis Muhammads und
der salaf konform gehe. Hierin liegt das revolutionäre Poten-
zial des Salafismus, da er sich somit dazu eignet, bestehende
religiöse Hierarchien und Traditionen des orthodoxen Islams
herauszufordern, indem immer wieder die Konformität ver-
schiedener bestehender Meinungen innerhalb der Rechts-
schulen zu den unterschiedlichsten Themen mit dem Ver-
ständnis der salaf hinterfragt werden kann.
Die versuchte Nachahmung der salaf durch die Salafis-
ten bezieht sich neben Glaubensinhalten vor allem auf ritu-
elle Elemente, was zumeist auch mit einer äußerlichen Nach-
ahmung des Propheten (knöchellanges Gewand, langer
Kinn- und Backenbart) einhergeht. Keinesfalls jedoch bedeu-
tet dieser Rückgriff auch die Ablehnung technischer Ent-
wicklungen, die nach dieser Zeit stattgefunden haben. Wie
Pierre Vogel in einer Predigt erläutert, fallen gewisse Dinge,
die als Mittel zum Zweck dienen können (wasa'il) – wie etwa

23
Im Arabischen werden die salaf zumeist lediglich als die Gefährten Mu-
hammads, deren Nachfolger und die Nachfolger der Nachfolger bezeichnet
(al-sahaba wa-l-tabi Jun wa-tabi Ju l-tabi Jin).
24
Diese sind: Hanafiten, Malikiten, Schafiiten und Hanbaliten.

32
Einleitung

moderne Kommunikationsmittel – nicht unter die Kategorie


der unveränderlichen Bestandteile der Religion (tauqifiyyat),
wozu die rituellen Handlungen ( Jibadat), die Glaubenslehren
(Jaqa'id) und die Grundregeln des gesellschaftlichen Zusam-
menlebens (qawaJid al-muJamalat) gehören.25 Hierin liegt
ein deutlicher Unterschied zu Gruppen wie beispielsweise
den Amish People in den USA, die technische Neuerungen
in Gänze ablehnen. Es ist daher irreführend, von einem
„Steinzeit-Islam“ zu sprechen, wie es oftmals bezüglich des
Salafismus getan wird.26 Die gezielte Nutzung der vielfälti-
gen Möglichkeiten des Internets zur Verbreitung der salafis-
tischen Lehre ist hierfür das beste Beispiel und ein Grund für
die hohe Popularität des Salafismus unter Jugendlichen und
jungen Erwachsenen.

Jugend und Salafismus

In Deutschland, wie auch in anderen europäischen Ländern


ist der Salafismus zu einer Form der Jugendkultur gewor-
den. Es sind vor allem hier aufgewachsene oder sogar hier
geborene Kinder von Einwanderern aus muslimischen Ge-
sellschaften, denen der Salafismus eine spirituelle Heimat
bietet. Aber auch Konvertiten mit oder ohne Migrationshin-
tergrund wenden sich dieser Strömung zu, die von außen be-
trachtet abschreckend und wenig attraktiv wirken mag. Ge-
rade für Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen,
wobei dies nicht unbedingt materielle Schwierigkeiten sein
müssen, sondern auch ungeordnete familiäre Beziehungen
sein können, ist die Gemeinschaft der Salafisten anziehend,
da sie ihnen eine Art Ersatzfamilie bietet. Auf Außenste-

25
Video: „Die Lehre aus der Situation von Ägypten (Freitagspredigt
12.07.2013) Pierre Vogel“, youtube.com.
26
Siehe etwa Thomas Thiel: „Allahs Freund, aller Welt Feind“, FAZ,
13.07.2012, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/radikaler-salafismus-
allahs-freund-aller-welt-feind-11819649.html.

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Behnam T. Said und Hazim Fouad

hende wirkt der Salafismus oft als eine Ansammlung von


Ge- und Verboten, verbunden mit einer ungewohnten Art
des Kleidungsstils. Doch Anhänger dieser Richtung faszi-
niert nicht selten die soziale Komponente, die „Brüderlich-
keit“, die nicht nur in Propagandavideos immer wieder be-
tont, sondern auch tatsächlich gelebt wird. Es wird
gemeinschaftlich gebetet, gefastet, gegessen, Mission betrie-
ben etc. Zudem erhalten Jugendliche das Angebot einer ein-
deutigen Identität, was gerade für junge Menschen, die sich
oft nicht über die eigene Identität im Klaren sind, insbeson-
dere auch wenn sie über eine Migrationsgeschichte ver-
fügen, interessant sein kann.27 Denn Salafisten denken nicht
in nationalen oder ethnischen Kategorien. Ihnen sind Glau-
bensbrüder und -schwestern aller Nationen und Hautfarben
gleich willkommen, solange sie den Glauben nach salafisti-
scher Lesart praktizieren. Dies macht Salafismus sowohl
für deutschstämmige junge Menschen als auch für solche
mit Migrationshintergrund, die im Alltag oftmals Diskrimi-
nierung tatsächlich oder vermeintlich erleben, attraktiv, wie
sowohl Claudia Dantschke als auch Nina Wiedl in ihren
Beiträgen über die Attraktivität des Salafismus bzw. über
den Salafismus in Deutschland darlegen. Die deutschen Sa-
lafisten füllen eine Lücke, die auch, wenn nicht ausschließ-
lich, die islamischen Verbände mitzuverantworten haben.
Ihnen ist es bis heute nicht oder nur unzureichend gelungen,
in ihrer Gemeindearbeit und ihren Predigten an die Lebens-
wirklichkeiten junger Menschen in Deutschland anzuknüp-
fen.28 So sind 94 % der Imame in Deutschland nicht hier-
zulande geboren und zu einem großen Teil erst im
Erwachsenenalter eingereist.29 Dementsprechend wurden sie
nicht in Deutschland sozialisiert und sprechen oftmals nicht
ausreichend Deutsch.30 Während die Imame sich also zu-

27
Zur Frage von Identität und Salafismus siehe u. a. Meijer 2009, 13–17.
28
Ceylan 2010, 176–177.
29
Schmidt und Stichs 2012, 254.
30
Ebd., 282–286.

34
Einleitung

meist auf Arabisch, Bosnisch, Persisch oder Türkisch mittei-


len können, sprechen die Jugendlichen die Sprachen ihrer
Eltern oft nur noch rudimentär und haben dementsprechend
ein Bedürfnis nach deutschsprachigen Geistlichen. Die Sala-
fisten sind im Gegensatz zu den Verbandsimamen oft selbst
jung, hier aufgewachsen oder in jüngeren Jahren eingereist,
zum Teil sind sie auch deutschstämmig. Sie sprechen daher
Deutsch, kennen das Leben in Deutschland und wissen,
was die Jugendlichen beschäftigt. Dies macht es den Salafis-
ten dann auch leicht, die großen Islamverbände als hierar-
chische Altherrenvereine, die sich insbesondere darum be-
mühen, ein gutes Bild für die Politik abzugeben, aber nicht
den „reinen“ Islam vermitteln, zu diskreditieren. So sagte
Pierre Vogel in einer Audiobotschaft: „Ich rede nicht die
ganzen Möchtegern-Verbände an, die sich nur die Taschen
vollstopfen und gerne eine große Moschee bauen, wo sie
dann danach gefeiert werden, sondern ich rede von den Pre-
digern, die zu Allah rufen.“31
Oftmals vermögen die charismatischen Prediger es
auch, in ihren Predigten und Unterrichten eine geeignete
Bildsprache zu entwickeln, um den jungen Menschen reli-
giöse Regeln zu vermitteln. Dies etwa, wenn sie davon spre-
chen, dass man bei technischen Geräten in die Bedienungs-
anleitung des Produzenten schauen würde, um den
richtigen Umgang damit zu erfahren, und dass der Koran
eben die „Bedienungsanleitung“ für den Menschen von des-
sen Erschaffer (Gott) sei. Sie bringen komplexe Themen ein-
fach auf den Punkt. So führte etwa der Berliner Prediger Ab-
dul Adhim über die Verpflichtung zum fünfmaligen Gebet
aus: „Gebet gut, alles gut. Gebet schlecht, alles schlecht.“32
Ein weiterer wichtiger Punkt ist zudem der „Mit-
mach“-Faktor, denn der Salafismus ist eine aktive Form der
Religionsausübung und vor allem der Religionsbekun-

31
Video: „Kirchweyhe – Sieben Türken töten den deutschen Daniel S. (State-
ment Pierre Vogel)“, youtube.com.
32
Video: „Abdul Adhim – Gebet gut alles gut“, youtube.com.

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Behnam T. Said und Hazim Fouad

dung.33 Die Anhänger suchen aktiv nach der reinsten Form


des Islams. Sie erkunden, wie das vermeintlich „richtige“
Gebet vollzogen, wie „richtig“ gefastet wird oder wie Dinge
des Alltags mit ihrem Glauben vereinbar sind. Dabei sind sie
sich sicher, der einzig „wahren“ Religion zu folgen und in-
nerhalb dieser Religion zu jener Minderheit zu gehören, die
diese in der korrekten Weise praktiziert. Es ist dieser An-
spruch auf absolute Wahrheit, der Salafisten aus der musli-
mischen Gemeinde viel Kritik und auch Feindschaft ein-
bringt, den Anhängern aber das Gefühl vermittelt, Teil
einer auserwählten Gruppe zu sein. Dieses Gefühl des sich
im Recht befindlichen Außenseiters drückt sich in dem Kon-
zept des „Fremden“ (gharib, pl. ghuraba') aus, welches die
Salafisten für sich re-konstruiert haben, wie Benno Köpfer
in seinem Kapitel darlegt.
Zuletzt sei hier noch angemerkt, dass Salafisten die Auf-
merksamkeit, die ihnen durch Politik, Medien, Sicherheits-
behörden, Lehrer, Eltern und anderen zu Teil wird, oftmals
regelrecht genießen. Kritische Berichterstattung stellen sie
als Beleg für die Wahrheit ihrer These, dass eine „Verschwö-
rung gegen den Islam“ bestehe, und als Zeichen dafür dar,
dass sie auf dem richtigen Weg sind. Die Tatsache zu einer
Minderheit zu gehören – nur 0,1 % der in Deutschland le-
benden Muslime gelten als Salafisten – interpretieren Salafis-
ten als Beweis dafür, „auf dem richtigen Weg“ zu sein. Denn,
so die Auffassung vieler Salafisten, auch die Propheten und
die salaf (Muslime der ersten Generationen) seien stets we-
gen ihrer Religion verfolgt worden:
„Al-hamdu li-llah (Gott sei gepriesen) liebe Geschwister. Ich
bin zurzeit hier in einer Zelle und ich danke Allah (…) dafür,
weil das ist der Weg der Propheten und der Gesandten. Dass
auch die Muslime, auch die salaf, sehr viel gelitten haben. Sie
wurden in Gefängnisse eingesperrt. (…). Wegen was wurden
sie eingesperrt, liebe Geschwister? Wegen ihrem din (Religion),

33
Klaus Hummel nannte den Salafismus in Deutschland daher eine „soziale
Mitmachbewegung“ (Hummel 2009, 10).

36
Einleitung

wegen ihrer Religion. Wa-llahi (bei Gott), wenn wir einge-


sperrt werden, wegen unserer Religion, dann danken wir Allah
(…).“34
Diese Worte stammen von Hasan Keskin alias Abu Ibrahim,
einem Anführer der deutschen jihadistischen Bewegung, der
sich im Herbst 2013 aus einem türkischen Gefängnis per Vi-
deobotschaft meldete. Der genaue Grund für seine, nur kurz
währende, Inhaftierung ist hier nicht bekannt, es ist jedoch
zu vermuten, dass ein Zusammenhang mit Syrien und dem
dort stattfindenden Bürgerkrieg, an dem sich auch deutsche
Jihadisten beteiligten, bestand.
Es gibt zahlreiche weitere Beispiele, anhand derer deut-
lich wird, wie Salafisten aus der ihnen gewidmeten Auf-
merksamkeit Kraft schöpfen. An „alte“ Subkulturen, wie
Punk, hat sich die Gesellschaft hingegen längst gewohnt.
Der erwünschte Grad der Aufmerksamkeit und Provokation
wird bei der Elterngeneration somit häufig nicht erzielt, da
diese oftmals selbst subkulturell geprägt ist und eine dem-
entsprechende Toleranz zeigt. Mit dem offen und auch kon-
frontativ zur Schau gestellten muslimischen Glauben hin-
gegen können die Jugendlichen diese Generation noch
provozieren. Anders gesagt: Der Irokesenschnitt wird keine
Schulkonferenz mehr verursachen, das traditionelle ara-
bische Gewand mit einem Bart hingegen unter Umständen
schon. Dantschke geht unter anderem auf den Aspekt der
Provokation näher ein und fordert einen unaufgeregteren
Umgang mit dem Thema Salafismus, um so der Attraktivi-
tät dieser Strömung, die von der generierten Aufmerksam-
keit lebt, entgegenzuwirken.

34
Video: „Abu Ibrahim in der Türkei festgenommen!!!“, youtube.com.

37
Behnam T. Said und Hazim Fouad

35
Zwischen Facebook und miswak

Trotz Bart, Vollverschleierung bei Frauen und traditionellen


arabischen Gewändern bei Männern ist der Salafismus, wie
diverse Beiträge in diesem Band zeigen, ein Produkt der Mo-
derne. Modern macht den Salafismus als Bewegung, dass er
Ausdruck starker Individualität und zugleich anti-traditiona-
listisch ist. Dies mag zunächst verwundern, da die Salafisten
wie die Verkörperung des Traditionalismus erscheinen und
auch diesen Anspruch erheben. In Wirklichkeit ist der Salafis-
mus jedoch nur in der Kultur der Gebiete auf der arabischen
Halbinsel verankert. In allen anderen sunnitisch-islamischen
Gesellschaften herrschen die vier großen Rechtsschulen vor,
zu denen der Salafismus in Konkurrenz getreten ist. Olivier
Roy spricht von der „Dekulturation“ als dem großen salafis-
tischen Projekt und Anspruch an sich selbst.36 Mit „Dekul-
turation“ meint Roy, dass Salafisten die traditionell gewach-
sene islamische Kultur, wie etwa das Begehen des
Prophetengeburtstages oder das Gebet an Gräbern von Heili-
gen, ablehnen und aktiv dagegen vorgehen. Das Anliegen der
Salafisten ist es nach Roy, den Islam aus den verschiedenen
Kulturen, in die er eingebettet ist, herauszuheben und ihn zu
einer Religion ohne Bindung an vorislamische und andere
nichtislamische Traditionen umzuformen.37 Der Erfolg der
Salafisten ist daher auch immer vor dem Hintergrund eruie-
render Traditionen in der arabischen bzw. muslimischen
Welt zu sehen, wodurch ein Vakuum entsteht, das Salafisten
auszufüllen wissen. Gerade auch in Deutschland spricht der
Salafismus Jugendliche an, die sich von dem traditionell

35
Der miswak ist ein Zweig oder Wurzel des „Zahnbürstenbaumes“, mit
dem auf der Arabischen Halbinsel zur Zeit Muhammads die Zähne gereinigt
wurden. Salafisten versuchen, ihr Verhalten im Alltag am Beispiel Muham-
mads auszurichten und nutzen daher oftmals ebenso den miswak als zur
Schau gestellte Frömmigkeit.
36
Roy 2006 (siehe etwa 254–268; Roy spricht von „Neofundamentalisten“,
eine Terminologie, die sich letztlich nicht durchgesetzt hat).
37
Ebd., 254.

38
Einleitung

„ererbten“ Islam ihrer Eltern abwenden. Während die erste


Generation von Einwanderern noch von den jeweiligen Bräu-
chen und Riten der Heimat geprägt sind und diese selbstver-
ständlich verinnerlicht hat, kritisieren Jugendliche vieles und
stellen etwa die Ausübung des Islams durch die Eltern in Fra-
ge. Olivier Roy schreibt hierzu:
„Gerade weil er Einzelne auf der Suche nach ihrem Selbst
anspricht, übt der Neofundamentalismus [in unserem Sprach-
gebrauch der Salafismus] eine große Anziehungskraft auf ent-
fremdete Jugendliche aus. Er verleiht deren Generationenkon-
flikten einen höheren Sinn: Indem er die Religion der Älteren
als ‚kulturellen‘ Islam ablehnt, wertet er das Streben der jungen
Leute nach Autonomie (oder sogar die Loslösung) von ihren El-
tern und ihrer Familie auf. (…). Man sollte also niemals die so-
zialen und generationellen Dimensionen des Neofundamen-
talismus unterschätzen.“38

Salafismus kann also auch als eine religiös begründete revo-


lutionäre und aktivistische Haltung – und damit als ein un-
bedingter Ausdruck des Individualismus der Moderne – be-
griffen werden, auch wenn hierzu einige Fragen offen sind,
worauf Richard Gauvain für Ägypten als Beispielland für
den Nahen und Mittleren Osten hinweist.39 Gauvain ver-
gleicht das salafistische Bestreben, den Islam von den Tradi-
tionen, die ihn über die Jahrhunderte „verunreinigt“ haben,
zu befreien, mit den Purifikationsbemühungen Martin Lu-
thers.40 In der Tat ist es nicht nur der Purismus, sondern
auch das Abschütteln und Neuformulieren von Traditionen,
die Forscher zuweilen von einer gewissen Parallelität von Sa-
lafismus und christlichem Reformismus sprechen lassen,
auch wenn hier zugegebenermaßen noch weitere und tiefere
Forschungen notwendig sind, um fundierte religionswissen-
schaftliche Vergleiche ziehen zu können. Die heutige evan-
gelisch-lutherische Kirche sei daher keineswegs mit dem Sa-

38
Roy 2006, 263.
39
Gauvain 2013, 12.
40
Ebd., 14.

39
Behnam T. Said und Hazim Fouad

lafismus und dessen Kernaussagen gleichgestellt. Vielmehr


geht es Gauvain und anderen darum, auf die tiefer liegenden
Mechanismen und Strukturen hinzuweisen, die die frühe Re-
formationsbewegung und der heutige Salafismus, insbeson-
dere in arabischen Ländern, gemein haben könnten. Beide
Strömungen traten aus einem seit Jahrhunderten verstockten
Religionsverständnis heraus, um die Religion wieder zu den
eigentlichen Ursprüngen zurückzubringen und die bis dato
vorherrschende Deutungshoheit des Klerus zu Gunsten der
Laien herauszufordern. Der Salafismus ist demnach zudem
eine innerislamische Kritik an den menschlichen Strukturen,
in die die Religion eingebettet wurde. Auch Pierre Vogel selbst
vergleicht in einem Video mit dem Titel „Martin Luther und
der Salafismus! Pierre Vogel“ die katholische Kirche mit dem
Sufismus und den „Salafismus“, wie er das Phänomen an die-
ser Stelle selbst betitelt, mit dem Protestantismus.41

Salafismus und klassischer Islamismus: Beispiele aus der


muslimischen Welt

Seit 2011 erlebt die arabische Welt einen beispiellosen Wandel


durch soziale und politische Proteste, die zum Teil in Regie-
rungsumstürze mündeten. Die Dynamik des Wandels hat
auch den Salafismus erfasst. In diesem Buch werden fünf ara-
bische Länder behandelt: Ägypten, Marokko, Tunesien, Li-
byen und Saudi-Arabien. Dabei sei angemerkt, dass die ent-
sprechenden Beiträge selbstverständlich Momentaufnahmen
und die sozialen sowie politischen Realitäten seit 2011 in der
arabischen Welt äußerst kurzlebig und wandelbar sind.
Der Umsturz in Ägypten hat vieles, was bisher über den
Großteil der Salafisten galt, in Frage gestellt, wie Hazim
Fouad in seinem Beitrag zeigen wird. So lassen sich anhand
des Beispiels Ägypten einige Aspekte aufzeigen, inwiefern
Salafisten sich von klassischen Islamisten, wie der Muslim-

41
Video: „Martin Luther und der Salafismus! Pierre Vogel“, youtube.com.

40
Einleitung

bruderschaft (MB), bislang unterschieden haben und inwie-


fern sich dieses Verhältnis teilweise geändert hat.42
Grundsätzlich lässt sich beobachten, dass die MB die Me-
chanismen und den Aufbau des modernen Nationalstaats
nicht grundsätzlich in Frage gestellt hat, sondern vielmehr da-
rum bemüht war, diesen möglichst „islamisch“ zu gestalten.
Daher kandidierten ihre Kandidaten beispielsweise für Sitze
im Parlament, um dadurch die Politik des Staates in ihrem
Sinne zu beeinflussen. Salafisten hingegen zeigten sich vor
2011 weitaus ablehnender gegenüber jeglicher Partizipation
am politischen System. Dies schlug sich beispielsweise in dem
von vielen Salafisten hochgehaltenen Verbot an Wahlen teil-
zunehmen nieder, da Parlamente nach ihrer Ansicht Horte
des Unglaubens (kufr) darstellen würden. Dies aufgrund der
Tatsache, dass dort „menschengemachte“ Gesetze beschlossen
werden würden, welche den Geboten Gottes widersprechen
könnten. Dies würde den alleinigen Herrschaftsanspruch Got-
tes entkräften, also einer Art Götzendienerei (shirk), gleich-
kommen. Vielmehr sollte man sich von der als korrupt angese-
henen Politik fernhalten, um keine Kompromisse in der
Religion eingehen zu müssen und um die Spaltung der Mus-
lime in verschiedene Richtungen und Parteien nicht zu för-
dern.43 Umgekehrt warfen die Muslimbrüder den Salafisten
vor, sich mit untergeordneten Details in der Religion zu befas-
sen und dabei die wichtigen politischen und sozialen Probleme
und Angelegenheiten der Muslime außer Acht zu lassen. Auf-
grund ihrer Fokussierung auf religiöse Details sind Salafisten
in Glaubensfragen weitaus rigoroser und kompromissloser
als klassische Islamisten. Die reine Ausübung ritueller Hand-
lungen und ein moralisch aufrechtes Verhalten, wie es z. B.

42
Für weitere Vergleiche des Salafismus mit dem klassischen Islamismus vor
dem arabischen Frühling siehe für den Sudan Noah Salomon (2009), „The Sa-
lafi Critique of Islamism. Doctrine, Difference and the Problem of Islamic Poli-
tical Action in Contemporary Sudan“, in Global Salafism, Roel Meijer (Hrsg.),
143–168, London; für Jordanien Quintan Wiktorowicz (2001), The Manage-
ment of Islamic Activism, New York und für den Jemen Bonnefoy 2012.
43
Siehe etwa JAbd al-Karim 2012, 62.

41
Behnam T. Said und Hazim Fouad

die fundamentalistische, missionierende Tablighi JamaJat pro-


pagiert, reichen Salafisten zumeist nicht aus. Muslime müssten
vielmehr auch alle der einzig richtigen Glaubenslehre (Jaqida)
folgen, quasi „richtig“ islamisch denken und handeln. Daher
ist für sie eine panislamische Solidarität mit anderen Strömun-
gen im Islam, insbesondere mit den Schiiten oder den verschie-
denen, einflussreichen ägyptischen Sufi-Orden, ausgeschlos-
sen, da dies die reine Lehre entstellen würde. Während die
MB den Salafisten vorwirft, die islamische Gemeinschaft (um-
ma) zu spalten, kritisieren Letztere die MB und ihr ähnliche
Islamisten unter anderem dafür, aufgrund von politischem
Opportunismus „falsche“ Gruppen und Glaubensvorstellun-
gen, wie beispielsweise die libanesisch-schiitische Hizb Allah,
zu akzeptieren. Auch wenn sowohl Salafisten als auch die MB
die Widerbelebung des Islams im öffentliche Leben sowie die
Einführung der Scharia befürworten, so sind die Salafisten
skeptisch, dass dies allein über die Mechanismen des Staates
und seiner Institutionen erfolgen kann. Daher ist zumeist das
einzelne Individuum Ziel ihres Handelns. So sind die salafisti-
schen Netzwerke in Ägypten auch weitaus loser strukturiert,
als die streng hierarchische Organisation der MB. Flexible
Lehrer-Schüler Beziehungen spielen eine weitaus größere
Rolle und es bedarf nicht der Mitgliedschaft in einer salafisti-
schen Organisation wie Ansar al-Sunna al-Muhammadiyya
oder al-DaJwa al-Salafiyya (mehr zu diesen Gruppen im Bei-
trag von Fouad), um als Salafist zu gelten. Ein weiterer wichti-
ger Kritikpunkt von Salafisten an den klassischen Islamisten
war bisher, dass diese sich in jamaJat (Gruppen) und ahzab
(Parteien) organisieren würden und dies nicht dem Verhalten
der ersten Muslime entspreche, was somit einer bidJa (eine un-
erlaubte Neuerung) gleichkäme.44
Fouad kommt in seinem Kapitel schließlich zu dem Er-
gebnis, dass Salafisten in Ägypten einige ihrer Positionen teil-
weise revidiert haben. So haben sie etwa die bei ihnen verbrei-

44
Siehe hierzu etwa Bakr Ibn JAbd Allah Abu Zaid (2006), Hukm al-intima'
ila al-firaq wa-l-ahzab wa-l-jama Jat al-islamiyya, Kairo.

42
Einleitung

tete Doktrin, einem ungerechten muslimischen Herrscher – in


diesem Fall Mubarak – bedingungslos zu gehorchen, da die
(gewaltsame) Auflehnung gegen ihn Chaos und Zwietracht
(fitna) mit sich bringen würde, im Zuge der Revolutionstage
überdacht. Sie scheinen „die Macht der Straße“ erkannt zu
haben und nehmen seit 2011 selbst aktiv an öffentlichen De-
monstrationen teil. Darüber hinaus haben Salafisten Parteien
gegründet und gehen mit anderen, sowohl islamischen als
auch säkularen, Akteuren politische (Zweck-)Bündnisse ein.
Dabei haben sich jedoch die Unterschiede zur MB keinesfalls
aufgelöst und beide Parteien sind stellenweise erbitterte poli-
tische Gegner.45 Die Beteiligung der Salafisten am politischen
Spiel hat nicht nur zu ihrer internen Ausdifferenzierung ge-
führt, sondern besitzt zudem eine hohe Signalwirkung für an-
dere muslimische Staaten. Diese Entwicklung belegt, dass der
Salafismus als Ideologie nicht statisch ist, sondern Verände-
rungen durchläuft und eine politische Teilnahme durchaus
mäßigende Wirkung entfalten kann.
Mohammed Masbah zeigt in seinem Kapitel auf, wie Sa-
lafisten in Marokko die dortigen Bürgerproteste und Rufe
nach Reformen von Beginn an unterstützten, dabei aber nicht
die Monarchie als solche in Frage stellten. Die Regierung
wiederum ging auf die Protestler zu, leitete Reformen in die
Wege und ließ einige inhaftierte Personen des salafistischen
Spektrums im Zuge einer Amnestie frei. Dies betraf beispiels-
weise auch Muhammad al-Fazazi, der Ende der 1990er-Jahre
in der Hamburger al-Quds-Moschee als Prediger auftrat, ei-
nige Jahre später in Zusammenhang mit den Anschlägen von
Casablanca im Mai 2003 zu einer dreißigjährigen Gefängnis-
strafe verurteilt wurde und schließlich seine früheren radika-

45
Ein sehr anschauliches Beispiel zeigt das Video eines salafistischen Abge-
ordneten, der während einer Parlamenssitzung zum Gebet aufrief und dafür
vom Sprecher des Parlaments, einem Muslimbruder, aufs Schärfste zu Recht
gewiesen wurde. Video: „Egyptian MP Interrupts Parliament With Call to
Prayer“, youtube.com. Gegenwärtig ist das Zerwürfnis mit der MB aufgrund
der Billigung des Militärputsches durch die größte salafistische Partei Hizb
al-Nur enorm.

43
Behnam T. Said und Hazim Fouad

len Ansichten in diversen Stellungnahmen widerrief. Dies tat


er unter anderem in einem vermutlich aus dem Jahr 2009
stammenden Brief an seine Tochter, der in deutscher Über-
setzung bei Rolf Clement und Paul Elmar Jöris abgedruckt
wurde.46 Hierin erklärt er, dass er durch die langen Jahre im
Gefängnis Zeit gehabt habe, seine früheren Ansichten zu
überdenken. Unter anderem hatte al-Fazazi vormals erklärt,
dass Hab und Gut der „Ungläubigen“ in Deutschland als
„Beute“ genommen werden dürfte, und somit Diebstahl und
Raub legitimiert. Etwa zehn Jahre später schreibt er dann je-
doch, dass der nach Deutschland gekommene Immigrant ver-
pflichtet sei, sich an deutsche Gesetze zu halten, und daher
„alles, was diese Versprechen [gegenüber dem Staat und der
Gesellschaft] verletzt, wie die Erlaubnis zum Diebstahl mit
der Begründung, Beute zu machen, oder das Vergießen des
Blutes der Bürger des Landes im Namen des Jihad oder das
Bestreben, Zellen zu gründen, deren Ziel es ist, die Menschen
zu terrorisieren und ihnen Angst einzujagen u.ä., meiner Mei-
nung nach Vertragsbruch und Verrat an dem [darstellt], was
in Botschaften, Konsulaten und Einwanderungsbüros unter-
schrieben worden ist.“47
Anders als in Marokko konnten Salafisten in Tunesien
und Libyen weniger oder auch gar nicht in die politischen
Prozesse eingebunden werden. Aaron Zelin gilt als einer der
wenigen Kenner der Situation vor Ort und hat die Region
zuletzt im Herbst 2013 bereist. Dabei konnte er auch Führer
und Gründer der radikalen Gruppe Ansar al-Sharia in Tune-
sien sprechen, wodurch er bislang unbekannte Einblicke in
das Innenleben dieser Organisation erlangte. Sein Beitrag be-
leuchtet die in Deutschland eher unbekannte Geschichte des
Jihads in Tunesien und Libyen seit den 1980er-Jahren bis in
die Gegenwart. Gerade in Europa sollten die Entwicklungen
in beiden Ländern, aufgrund der geographischen Nähe und
der großen Anzahl von tunesischen jungen Männern, die

46
Clement und Jöris 2010, 269–285.
47
Ebd., 274.

44
Einleitung

sich an den Kriegshandlungen in Syrien beteiligen, aufmerk-


sam verfolgt werden.48
Das Königreich Saudi-Arabien, welches oftmals als Ge-
burtsort und Hauptexporteur der salafistischen Lehre ange-
sehen wird, ist von den gegenwärtigen Unruhen bislang wei-
testgehend verschont worden. Guido Steinberg zeichnet in
seinem Beitrag die Geschichte des Wahhabismus und seine
Beziehung zum heterogenen Salafismus in Saudi-Arabien
nach und geht auch auf die Bedeutung Saudi-Arabiens für
den deutschen Salafismus ein.
Ein weiterer Länderbeitrag in diesem Buch beschäftigt
sich mit der Türkei, die nicht Bestandteil der arabischen
Welt ist. Im Gegensatz zu dieser und auch zu Europa scheint
in der Türkei der Salafismus bisher weniger Fuß fassen zu
können. Zwar gibt es auch in der Türkei eine Anzahl von sa-
lafistischen Predigern, Vereinen und Organisationen, doch
scheinen diese noch eine Randerscheinung zu sein, wie Sa-
met Yilmaz in seinem Aufsatz darlegt. Als Erklärung hierfür
führt Yilmaz an, dass zum einen die starke Religionsbehörde
über die Auslegung der Religion in der Türkei wacht und
sich der Salafismus zum anderen nur schwer gegen bereits
vorhandene muslimische „Mainstream-Prediger“ und auch
gegen türkisch-islamistische Organisationen und Ideologien
durchsetzen kann. Der Salafismus wird von den meisten Tür-
ken eher als arabisch, denn als originär-türkisch begriffen.

Ausblick

Wie kann und soll Deutschland mit dem Salafismus umge-


hen? Zuweilen wird, insbesondere von Seiten der Politik,
die Forderung nach Ausweisungen oder gar nach „Grund-
rechtsverwirkungen“ für Salafisten gestellt.49 Wie die Juristin
Andrea Kießling in ihrem Artikel über mögliche Verschär-

48
Hierzu siehe auch Amghar in diesem Band.
49
Kießling 2013.

45
Behnam T. Said und Hazim Fouad

fungen des Ausweisungsrecht überzeugend darlegt, bestehen


jedoch bereits ausreichende gesetzliche Handhaben zur Aus-
weisung, weshalb sie bei einem Vorstoß in diese Richtung
von einer „fehlenden Notwendigkeit“ spricht.50 Das Auswei-
sungsrecht, so das Ergebnis ihrer Untersuchung, sei beson-
ders anfällig für „symbolische Gesetzgebung“.51 Bei einer
solchen käme es nicht auf das Erreichen rechtlicher oder
sachlicher Ziele an. Vielmehr bekräftige Symbolpolitik so-
ziale Werte oder ist dazu gedacht, die Handlungsfähigkeit
des Staates zu unterstreichen.52 Kießling hält eine Änderung
des Ausweisungsrechts also für nicht erforderlich, da die be-
stehenden Grundlagen bereits ausreichen würden. Zudem
sind viele Salafisten deutsche Staatsangehörige. Bei diesen
Personen würden ausländerrechtliche Maßnahmen ohnehin
nicht greifen.
Zu den „Grundrechtsverwirkungen“, wie sie etwa der
frühere niedersächsische Innenminister Schünemann forder-
te, ist zu sagen, dass sie zum einen juristisch fragwürdig sind.
Zum anderen muss sich die Politik und die hiesige Gesell-
schaft auch die Frage stellen, ob solche drastischen Mittel
benötigt werden und gewollt sind, um Extremisten entgegen-
zutreten. Schließlich gibt es auch keine „Grundrechtsverwir-
kungen“ für andere Bereiche des Extremismus. Forderungen
dieser Art zeigen, dass der Salafismus als etwas wahrgenom-
men wird, was „uns“ nicht betrifft. Salafisten – so wahr-
scheinlich die Wahrnehmung vieler Bundesbürger – sind die
„Anderen“ oder das „Fremde“. Hierbei schwingt auch die
Debatte um den Islam in Deutschland mit. Noch bis vor kur-
zem tobte ein erbitterter Streit um die Frage, ob der Islam nun
zu Deutschland gehöre und wenn ja, wie viel denn genau.
Dieser Streit wurde nicht mehr in der Intensität weitergeführt,
wie er begonnen wurde, doch ist er keinesfalls gelöst, sondern
allenfalls schwebend. Da viele Bürger in Deutschland noch

50
Ebd., 48.
51
Ebd., 49.
52
Ebd., 49–51.

46
Einleitung

immer ein Problem mit der Anerkennung des Islams und der
Muslime als integralem Bestandteil der modernen deutschen
Gesellschaft haben, ist es wenig verwunderlich, dass dessen
extreme Ausformungen, wie der Salafismus, noch weniger
Anerkennung als ein deutsches Phänomen finden. Doch der
Salafismus in Deutschland ist, wie bereits oben angeklungen,
ein deutscher Extremismus. Die Anhänger sprechen zumeist
und bevorzugt Deutsch, oftmals sind sie in Deutschland gebo-
ren oder eingebürgerte deutsche Staatsbürger. In den 1990er-
Jahren dominierte die Debatte um den Extremismus von in
Deutschland lebenden Anhängern der kurdischen PKK den
Diskurs um „Ausländerextremismus“. Dieses Thema wurde
seit dem 11. September 2001 vom Islamismus abgelöst.
Doch anders als die PKK-Anhänger, sind die Salafisten nicht
Angehörige einer Nation oder eines Volkes. Sie sind multieth-
nisch sowie multinational und oft in Deutschland sozialisiert.
Sie sind auf der Suche nach Sinn, nach Antworten auf spiritu-
elle oder auch politische Fragen und meinen, einfache Ant-
worten in einer vereinfachenden Ideologie gefunden zu ha-
ben. Von den Anführern wird den jungen Salafisten nicht
selten vermittelt, in Deutschland nicht willkommen zu sein.
In einer Ansprache sagte der bekannte DWR-Aktivist Sabri
ben Abda beispielsweise:
„Lasst euch nicht veräppeln von dieser Gesellschaft. Holt eure
Kinder aus den Diskotheken raus, ja! Ihr seid nicht integriert
in diesem Land, ja, wenn ihr eure Kinder in die Disko schickt,
wenn eure Tochter einen Minirock anzieht. Oder wenn euer
Sohn trinkt. Ihr seid nicht integriert. Ihr werdet immer der
Kanacke, der Kameltreiber, der Araber sein!“53

Dieses Zitat zeigt, dass Salafistenprediger versuchen, die teil-


weise tatsächlich bestehende Ablehnung gegenüber Migran-
ten bzw. Muslimen zu instrumentalisieren und zu verschär-
fen. Es sollte daher ein gemeinsames Interesse sein, den
Salafisten den Nährboden zu entziehen und eine inklusive

53
Video: „Sabri spricht über die Lage in Deutschland“, youtube.com.

47
Behnam T. Said und Hazim Fouad

deutsche Identität anzubieten, die auch Muslime selbstver-


ständlich umfasst. Dementsprechend sollte Salafismus zu-
nächst als eine neue Form des heimischen Extremismus ak-
zeptiert werden, die uns genauso begleiten wird wie Links-
oder Rechtsextremismus. Akzeptanz ist dabei nicht gleich-
zusetzen mit fatalistischer Gelassenheit oder falscher Tole-
ranz, sondern bedeutet, den Jugendlichen, die sich vom Sala-
fismus angezogen fühlen, aufzuzeigen, dass sie ein Teil dieser
Gesellschaft sind und bleiben, selbst wenn sie bis an die
Grenze der Meinungsfreiheit oder sogar darüber hinaus
gehen – auch wenn sie dann natürlich mit staatlicher Repres-
sion zu rechnen haben. Daher sollte einerseits der Sprach-
gebrauch von „wir“ und „sie“ überdacht werden, etwa
wenn in medialen Diskursen danach gefragt wird, ob „wir“
mit „ihnen“ leben wollen oder nicht. Extremisten aller Cou-
leur sind als gelebte gesellschaftliche Realität Teil des „Wir“.
Andererseits müssen den jungen Menschen grundlegende de-
mokratische Werte nahegebracht und vorgelebt sowie Gren-
zen klar benannt werden. Politisch wird das Thema Salafis-
mus derzeit vor allem in den Innenressorts und damit von
Polizei und Verfassungsschutz bearbeitet. Dies ist in vielen
Fällen auch eine richtige und notwendige Maßnahme. Doch
gibt es auch salafistische Strömungen und Akteure, die nicht
eindeutig in den Bereich von Sicherheitsbehörden fallen.
Während bei anderen obskuren Organisationen wie „Die
Zeugen Jehovas“ oder besonders radikalen evangelikalen
Strömungen die Sektenberatungen zur Verfügung stehen,
sind vergleichbare Stellen für das Phänomen Salafismus
noch Mangelware. Hier wäre darüber nachzudenken, die be-
stehenden Beratungsstrukturen fortzubilden und mit spezia-
lisiertem Personal auszustatten. Weiterhin ist der islamische
Religionsunterricht und die Ausbildung von Imamen in
Deutschland ein wichtiger Schritt, um den Salafismus effek-
tiv eindämmen zu können. Denn zum einen werden an den
Lehrstühlen für Islamische Theologie erstmals deutschspra-
chige Imame ausgebildet, welche den Salafisten theologisch
Paroli bieten können. Zum anderen ergeben sich aus den ver-

48
Einleitung

schiedenen neuen Forschungsansätzen Debatten, in denen


offen unterschiedliche Sichtweisen zu islamischen Fragestel-
lungen diskutiert werden können. Diese Debatten werden
mitunter durchaus kontrovers geführt, wie am Beispiel des
Münsteraner Professors Mouhanad Khorchide ersichtlich
wurde.54 Dennoch, oder gerade deshalb, sind sie Ausdruck
der Vielfältigkeit des Islams in Deutschland und konterkarie-
ren den Anspruch der Salafisten, dass es nur einen „wahren
Islam“ gebe.
Diese Debatten sind zum einen Sache der deutschen
Muslime. Sie betreffen aber auch die Mehrheitsgesellschaft,
die hier ihre Wertschätzung für die vielfältigen positiven Im-
pulse aus der muslimischen Gemeinschaft, wie sie etwa auch
JUMA e.V. in Berlin oder der Liberal-Islamische Bund reprä-
sentieren, stärker betonen und sich vom defizitorientierten
Diskurs über Deutschlands Muslime lösen sollte. Nur so
kann den Radikalen das Wasser abgegraben werden.

Zuletzt sei angemerkt, dass alle Zahlen, die wir zu Salafis-


ten in Deutschland haben, vom Verfassungsschutz stammen.
Somit beziehen sie sich nur auf Salafisten, die einer „Bestre-
bung“ im Sinne des Verfassungsschutzgesetzes zuzuordnen
sind. Es ist verwunderlich, dass die Wissenschaft noch keine
unabhängigen Studien zu diesem Bereich vorzuweisen hat,
und es wäre wünschenswert, wenn insbesondere die deut-
sche Soziologie künftig eigene Daten zu Einstellungen, so-
zialer Herkunft und Zahlen deutscher Salafisten erheben
würde.
Mit diesem Buch hoffen wir, der Debatte um den Salafis-
mus in Deutschland neue Impulse geben zu können und das
Wissen zu diesem Thema zu vertiefen. Die in dieser Einlei-
tung geäußerten Meinungen sind die persönlichen Ansichten
54
Hierzu siehe etwa Jan Kuhlmann, „Ein Muslim zwischen den Fronten“,
Cicero Online, 13.10.2013, http://www.cicero.de/weltbuehne/islam-Mouha-
nad%20Khorchide/56099 sowie Arnfrid Schenk und Martin Spiewak, „So
kleinlich kann Gott nicht sein“, Zeit Online, 12.10.2013, http://www.zeit.de/
2013/41/religionsunterricht-paedagogik-islam-mouhanad-khorchide.

49
Behnam T. Said und Hazim Fouad

der Herausgeber und müssen nicht unbedingt die Positionen


der Behörden, für die sie tätig sind, widerspiegeln.

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50
Einleitung

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mistenSzene_10-01-2013_01.pdf.
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