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Judith Hartenstein, Silke Petersen

Das Evangelium nach Maria


Maria Magdalena als Lieblingsjüngerin und Stellvertreterin Jesu

| Zur Einführung oft in Verbindung mit diesen Kodizes ge­


bracht. Außerdem existieren vom EvMar
Überlieferung und Bezeugung zwei (in Ägypten gefundene) griechische
Papyrusfragmente, die keinen zusätzlichen
Das EvMar ist eine kurze Schrift mit dem Text bieten und beide vermutlich aus dem
Titel »Evangelium nach Maria«. Dieser Ti­ dritten Jahrhundert stammen. Diese drei
tel entspricht dem der kanonischen Evan­ Handschriften sind - insbesondere für eine
gelien. Das EvMar enthält jedoch nicht das häretische Schrift - eine relativ breite und
Leben Jesu, sondern Gespräche zwischen sehr frühe Bezeugung.
Jesus und seinen Jüngerinnen sowie un­
ter den Jüngerinnen nach seinem Weg­
Textsorte, Inhalt und Aufbau
gang. Es ist nicht nur keine kanonische
Schrift, sondern gehört auch zu einer theo­ Das EvMar setzt nach den fehlenden Sei­
logischen Richtung, deren Schriften ver­ ten mit einem Gespräch zwischen Jesus
femt waren. Deshalb ist das EvMar zwar und seinen Jüngerinnen ein, in dem
einige Jahrhunderte relativ weit verbrei­ grundlegende Fragen über das Wesen der
tet gewesen, dann aber so vollständig Welt, die Sünde etc. behandelt werden.
unterdrückt worden, daß sogar die Exi­ Vermutlich handelt es sich dabei um ein
stenz der Schrift unbekannt war. Heute nachösterliches Gespräch, denn später
sind Reste von drei alten Handschriften wird in einer Bemerkung der Jüngerin­
zugänglich: In koptischer Übersetzung ist nen nach Jesu Weggang sein Tod voraus­
knapp die Hälfte des EvMar als erste gesetzt. Wahrscheinlich wurde im verlo­
Schrift im Papyruskodex BG (= Berolinen- renen Anfang des EvMar von einer Er­
sis Gnosticus) erhalten. Es handelt sich um scheinung Jesu nach seiner Auferstehung
gut acht Seiten aus der Mitte und vom berichtet.
Ende der Schrift, während zehn weitere Schriften, in denen eine Erscheinung des
(p. 1-6 und 11-14) fehlen. Dieser Kodex Auferstandenen einen langen Dialog mit
wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Ägyp­ seinen Jüngerinnen rahmt, sind im zwei­
ten gefunden und nach Berlin gebracht, ten Jahrhundert verbreitet; zu ihnen ge­
durch eine Verkettung unglücklicher Um­ hören z.B. das Apokryphon des Johannes
stände jedoch erst mehr als 50 Jahre spä­ und die Sophia Jesu Christi. In diesen
ter veröffentlicht. Neben dem EvMar ent­ Schriften belehrt Jesus seine Jüngerinnen
hält er einen Abschnitt der Petrusakten über Grundfragen des Daseins. In der Re­
und mit dem Apokryphon des Johannes gel hat der Stoff ganz anderen Charakter
und der Sophia Jesu Christi zwei Schrif­ als die aus den kanonischen Evangelien
ten, die auch in der Bibliothek von Nag bekannten Aussprüche Jesu.
Hammadi (-► EvThom) bezeugt sind. Des­ Im EvMar wird der Dialog durch einige
halb wird der BG und mit ihm das EvMar abschließende Anweisungen Jesu beendet,
Das Evangelium nach Maria

unter anderem fordert er zur Mission auf. schen Evangelien vorausgesetzt werden,
Danach verabschiedet Jesus sich endgül­ kann das EvMar frühestens am Anfang die­
tig. Die Zurückgebliebenen sind traurig ses Jahrhunderts entstanden sein. Wir ten­
und haben Angst angesichts der vor ih­ dieren eher zur zweiten Hälfte, da das Ev­
nen liegenden Aufgaben, Maria aber trö­ Mar eine differenzierte exegetische Tradi­
stet sie. Dies führt zu einer Diskussion über tion voraussetzt und in Form und Inhalt
Jesu Worte. In diesem Zusammenhang auf anderen gnostischen Schriften aufbaut
bittet Petrus Maria, Worte Jesu zu über­ (King 1994, 628, datiert das EvMar in die
mitteln, die nur sie kennt, weil sie Jesus erste Hälfte des zweiten Jahrhunderts.).
besonders nahestand. Maria kommt die­ Als Abfassungsort ist Ägypten (Pasquier
ser Bitte nach und berichtet von einer Vi­ 1983, 13f) möglich, wo das EvMar jeden­
sion und einem längeren Gespräch mit falls schon zu Beginn des dritten Jahr­
Jesus. Die Wiedergabe des Gesprächs mit hunderts verbreitet war. Daß alle Hand­
Jesus durch Maria bildet im wesentlichen schriften des EvMar dort gefunden wur­
die zweite Hälfte des EvMar; zu ihm ge­ den, liegt jedoch an den klimatischen Ver­
hören auch vier der fehlenden Seiten. hältnissen und schließt eine Abfassung
Nach Abschluß der langen Rede der Ma­ auch in anderen Gegenden - z.B. Syrien -
ria beginnt wieder eine Diskussion unter nicht aus!
den Jüngerinnen. Maria wird von Andre­
as und Petrus angegriffen, die bestreiten,
daß sie wirklich Worte Jesu wiedergege­ | Übersetzung
ben hat. Sie stoßen sich an der Neuartig­
keit der Lehre und halten es nicht für Da es keine allgemein zugängliche voll­
möglich, daß Jesus speziell einer Frau ständige deutsche Übersetzung gibt, bie­
Sonderbelehrungen hat zukommen lassen. ten wir im folgenden eine eigene Über­
Maria wehrt sich und wird dabei von Levi setzung des EvMar nach dem BG. Eckige
unterstützt. Am Ende der Schrift steht der Klammern zeigen an, daß Textlücken er­
Aufbruch zur Mission. gänzt wurden, runde verweisen auf erläu­
Das EvMar hat deutlich zwei Hauptteile: ternde Zusätze oder auf Abweichungen der
einerseits das Gespräch zwischen Jesus und griechischen Fragmente. Die Seitenumbrü­
seinen Jüngerinnen, andererseits das von che des BG sind genannt (p.), die Über­
Maria erzählte Gespräch zwischen ihr und schriften sind unsere Gliederung.
Jesus. Beide Stücke sind durch Diskussio­
nen unter den Jüngerinnen verbunden und (p. 1-6 fehlen)
am Ende abgeschlossen. Ungewöhnlich an
diesem Aufbau ist Marias lange Rede:
Gespräch Jesu mit seinen Jüngerinnen
Schriften über Gespräche mit Jesus nach
seiner Auferstehung enden gewöhnlich mit (p.7) ...] Wird also die Materie zerfallen
seinem Verschwinden und einem kurzen oder nicht?« Der Erlöser sagte: »Alle Krea­
Bericht über das weitere Tun und Ergehen tur, alle Gebilde, alle Geschöpfe existie­
der Jüngerinnen. Diese Besonderheit zeigt ren in- und miteinander. Und sie werden
schon die starke Rolle der Maria. sich wieder zu ihrem eigenen Ursprung
auflösen, denn zu dem, was ihrer Natur
selbst eigen ist, löst sich die Natur der
Abfassungszeit und -ort
Materie auf. Wer Ohren hat zu hören, möge
Die erhaltenen Handschriften bezeugen die hören!«
Abfassung des EvMar spätestens am Ende Petrus sagte zu ihm: »Weil du uns alle Din­
des zweiten Jahrhunderts. Da die kanoni­ ge verkündigt hast, sage uns auch dieses
Das Evangelium nach Maria | 759

eine: Was ist die Sünde der Welt?« Der seine Gnade wird mit euch allen sein und
Erlöser sagte: »Es existiert keine Sünde, euch beschützen. Vielmehr laßt uns seine
sondern (nur) was ihr an Sünde macht, Größe preisen, weil er uns vorbereitet (grie­
wenn ihr die (Dinge) macht, die dem We­ chisch: verbunden) und zu Menschen ge­
sen der Unzucht gleichen, die Sünde heißt. macht hat.«
Deshalb kam das Gute in eure Mitte zu
denen aller Natur, um sie in ihren Ur­
Maria übermittelt Worte Jesu
sprung einzusetzen.« Dann fuhr erfort und
sagte: »Deshalb seid ihr [krank] und sterbt, Als Maria dies gesagt hatte, wandte sie
weil [ihr liebt, (p.8) was euch betrügen ihr (PI.) Herz (griechisch: Verstand) zum
wird.] Wer versteht, möge verstehen! Die Guten, und sie begannen, über die Worte
Materie brachte Leidenschafl ohnegleichen des [Erlösers] zu diskutieren, (p.10) Pe­
hervor, die aus Widernatürlichem kam. trus sagte zu Maria: »Schwester, wir wis­
Dann entsteht ein Aufruhr im ganzen Leib. sen, daß der Erlöser dich mehr liebte als
Deshalb habe ich euch gesagt: Seid euch die übrigen Frauen. Sage uns die Worte
gewiß, und wenn ihr keine Gewißheit habt, des Erlösers, an die du dich erinnerst, die
seid gewiß angesichts der verschiedenen du kennst, wir (aber) nicht und die wir
Gestalten der Natur! Wer Ohren hat zu auch nicht gehört haben.« Maria antwor­
hören, möge hören!« tete und sprach: »Was euch verborgen ist,
werde ich euch verkündigen.«
Und sie begann, ihnen diese Worte zu sa­
Abschließende Anordnungen Jesu
gen: »Ich«, sprach sie, »ich sah den Herrn
Als der Selige dies gesagt hatte, küßte er in einer Vision. Und ich sagte zu ihm:
sie alle und sagte: »Friede sei mit euch! »Herr, ich sah dich heute in einer Vision.)
Bringt euch meinen Frieden hervor! Paßt Er antwortete und sagte zu mir: »Selig bist
auf, daß niemand euch irreführt, indem er du, weil du nicht wankst, wenn du mich
sagt: >Siehe hier< oder »siehe dort». Denn in siehst! Denn wo der Verstand ist, dort ist
eurem Innern existiert der Menschensohn. der Schatz.) Ich sagte zu ihm: »Herr, jetzt
Folgt ihr ihm nach! Die nach ihm suchen, (sage mir): Wer die Vision sieht, sieht er
werden ihn finden. Geht also und predigt sie mit der Seele oder dem Geist?) Der Er­
das Evangelium von der Herrschaft! Legt löser antwortete und sagte: »Er sieht sie
keine (p.9) Regel fest über das hinaus, was nicht mit der Seele und nicht mit dem
ich euch angeordnet habe, und erlaßt kein Geist, sondern der Verstand, der in der
Gesetz wie der Gesetzgeber, damit ihr nicht Mitte von diesen beiden ist, er ist es, der
von ihm beherrscht werdet.« die Vision sieht, und er ist es, der [...

(p. 11-14 fehlen)


Jesu Weggang und Trost Marias
Als er dies gesagt hatte, ging er. Sie aber ...] (p. 15) Und die Begierde sagte: »Ich habe
waren traurig und weinten sehr und sag­ dich nicht gesehen, als du herabkamst, jetzt
ten: »Wie sollen wir zu den Völkern gehen aber sehe ich dich, wie du hinaufsteigst.
und das Evangelium von der Herrschaft Wieso aber lügst du, die du zu mir ge­
des Menschensohnes predigen? Wenn je­ hörst?) Die Seele antwortete und sagte: »Ich
ner nicht verschont wurde, wie sollen wir habe dich gesehen, (aber) du hast mich
verschont werden?« Da stand Maria auf, nicht gesehen und mich nicht bemerkt. Ich
küßte sie alle und sagte zu ihren Brüdern war dir ein Kleid, und du hast mich nicht
(und Schwestern)': »Weint nicht und seid erkannt.) Als sie dies gesagt hatte, ging
nicht traurig und zweifelt auch nicht! Denn sie mit noch mehr Jubel.
760 | Das Evangelium nach Maria

Wieder kam sie zu der dritten Gewalt, die wegen des Erlösers: »Hat er etwa mit ei­
Unwissenheit heißt. Sie fragte die Seele ner Frau heimlich vor uns gesprochen und
und sagte: »Wohin gehst du? In Schlech­ nicht öffentlich? Sollen auch wir umkeh­
tigkeit wurdest du ergriffen, und zwar ren und alle auf sie hören? Hat er sie mehr
wurdest du beim Richten ergriffen.» Und als uns erwählt?«
die Seele sagte: »Was richtest du mich, Da weinte Maria und sagte zu Petrus:
obwohl ich nicht gerichtet habe? Ich wur­ »Mein Bruder Petrus, was denkst du?
de ergriffen, obwohl ich nicht ergriffen Denkst du, daß ich mir dies allein in mei­
habe. Ich wurde nicht erkannt, ich aber nem Herzen ausgedacht habe und daß ich
habe erkannt, daß alles aufgelöst wird, über den Erlöser lüge?« Levi antwortete
sowohl was der Erde eigen ist (p.16) als und sagte zu Petrus: »Petrus, schon im­
auch was dem Himmel eigen ist.» mer bist du jähzornig. Jetzt sehe ich dich,
Nachdem die Seele die dritte Gewalt ver­ wie du gegen die Frau streitest wie die
nichtet hatte, ging sie nach oben. Und sie Feinde (griechisch: wie ihr Feind). Wenn
sah die vierte Gewalt. Sie hatte sieben Ge­ der Erlöser sie aber würdig gemacht hat,
stalten. Die erste Gestalt ist die Finsternis, wer bis^ du aber selbst, sie zu verwerfen?
die zweite die Begierde, die dritte die Un­ Sicherlich kennt der Erlöser sie ganz ge­
wissenheit, die vierte ist der Eifer des To­ nau, deshalb hat er sie mehr als uns ge­
des, die fünfte ist die Herrschaft des Flei­ liebt. Vielmehr laßt uns uns schämen und
sches, die sechste ist die närrische, fleisch­ den vollkommenen Menschen anziehen,
liche Klugheit, die siebte ist die jähzornige ihn uns hervorbringen, wie er uns aufge­
Weisheit. Diese sind die sieben Gewalten tragen hat, und das Evangelium predigen,
des Zorns, die die Seele fragten: »Woher ohne eine andere Regel oder ein anderes
kommst du, Menschenmörderin? Und wo­ Gesetz zu erlassen als das, was der Erlö­
hin gehst du, Ortevernichterin?< Die Seele ser gesagt hat.«
antwortete und sagte: »Was mich ergriff, Als [Levi aber dies gesagt] hatte, da be­
wurde getötet, und was mich umgab, wur­ gannen sie zu gehen, um zu verkündigen
de vernichtet, und meine Begierde endete, und zu predigen. (Griechisch: Als Levi dies
und die Unwissenheit starb. In einer Welt gesagt hatte, ging er und begann, das Evan­
wurde ich (p. 17) von einer Welt erlöst und gelium zu predigen.)
in einer Gestalt von einer oberen Gestalt Das Evangelium nach Maria2
und (von der) Fessel des Vergessens, die
vergänglich ist. Von dieser Zeit an werde
ich Ruhe von der Zeit, dem Augenblick, Einheitlichkeit und Aufnahme
dem Äon empfangen in Schweigen.«» theologischer Traditionen

Der innere Zusammenhang


Gespräche unter den Jüngerinnen
Als Maria dies gesagt hatte, schwieg sie, Das EvMar macht auf den ersten Blick ei­
so daß der Erlöser bis hierher mit ihr ge­ nen sehr uneinheitlichen Eindruck. Die
sprochen hatte. Andreas aber antwortete einzelnen Abschnitte differieren thema­
und sagte zu den Brüdern (und Schwe­ tisch und auch in ihrer Nähe zu den ka­
stern): »Sagt, ivas ihr meint über das, was nonischen Evangelien. Hinzu kommt eine
sie gesagt hat! Ich nämlich glaube nicht, Verschachtelung von Erzählebenen: Ge­
daß der Erlöser dies gesagt hat, denn die­ spräche unter der Gruppe wechseln mit
se Lehren sind wahrhaftig andere Gedan­ der Wiedergabe zurückliegender Ereignis­
ken.« Petrus antwortete und sagte über se. Maria berichtet von einem Gespräch
diese derartigen Dinge; erfragte sie (PL) mit Jesus, in dem als Redebeitrag Jesu ein
Das Evangelium nach Maria | 7^1

weiteres Gespräch geschildert wird, näm­ Schlußgespräch wird dabei sowohl auf
lich das zwischen der Seele und den Mäch­ Marias Rede als auch auf Jesu frühere
ten. Dieses Stück über den Aufstieg der Ausführungen eingegangen. Ein Zusam­
Seele fällt besonders aus dem Rahmen, menhang besteht schließlich in themati­
zumal durch die fehlenden Seiten nicht scher Hinsicht: In Jesu Belehrungen am
mehr deutlich wird, wie es in das Gespräch Anfang wird die Auflösung und Zurück­
Maria - Jesus integriert war. führung aller Dinge zu ihrem Ursprung
Wegen der offensichtlichen Verschieden­ und ihrem Wesen erläutert; dies ist als
heit der Stoffe wurden verschiedene Mo­ Auf- und Erlösung zu verstehen. Im Be­
delle entwickelt, um die Entstehung des richt vom Seelenaufstieg, den Maria wie­
EvMar durch mehrstufige Bearbeitung dergibt, wird dieses Thema weiter ausge­
oder durch Zusammenfügung ursprüng­ führt. Die Seele kehrt nach oben an ihren
lich selbständiger Stücke zu erklären (Till/ Herkunftsort zurück und kann die Mäch­
Schenke 1972, 26; Wilson 1956/57, 240; te gerade deshalb überwinden, weil sie von
Pasquier 1983, 8f). Keines dieser Modelle oben kommt.
ist jedoch überzeugend, sie schaffen eher
mehr Probleme als sie lösen. Außerdem
Das Verhältnis des EvMar zu den
ist das EvMar in der vorliegenden Form
kanonischen Evangelien und zu
eine sinnvoll aufgebaute Schrift. Auch
gnostischen Gedanken
wenn Traditionen verarbeitet wurden, sind
diese jetzt in den Zusammenhang der Ge­ Im EvMar treten Personen auf, die auch
samtschrift integriert und müssen in ih­ aus anderer christlicher Tradition - z.B.
rem Rahmen interpretiert werden (King den kanonischen Evangelien - bekannt
1994, 626f; Hartenstein 1997, 112f). sind. Außerdem wird der größte Teil der
Ein erzählerischer Zusammenhang besteht Schrift als Rede Jesu ausgegeben. Trotz­
im EvMar zunächst durch die gleichblei­ dem bestehen nur relativ wenige Paralle­
bende Rahmensituation: Im erhaltenen len zu aus anderen Quellen überlieferten
Text ist stets die Gruppe der Jüngerinnen Aussprüchen Jesu, seine Lehre ist ganz
versammelt. Zu ihr kommt Jesus vermut­ anders als in den uns vertrauteren Zeug­
lich am Anfang und geht dann wieder; nissen. Übereinstimmungen mit den syn­
und in ihr berichtet Maria. Auch wenn auf optischen Evangelien bestehen vor allem
vergangene Ereignisse zurtickgegriffen in den letzten Anweisungen Jesu, die ge­
wird, bleibt die Szenerie doch konstant. radezu aus bekannten Sprüchen Jesu zu­
Inhaltlich besteht ein Zusammenhalt, weil sammengesetzt sind, aber einige Unter­
sowohl Maria in ihren Trostworten nach schiede aufweisen (Aufzählung der Par­
Jesu Weggang als auch Levi bei seiner allelstellen: Puech/Blatz 1990, 313f; King
Verteidigung Marias am Ende die letzten 1994, 609). Sowohl in den Abweichun­
Anweisungen Jesu wieder aufnehmen. gen als auch durch die Zusammenstellung
Beispielsweise geht es stets um den Men­ der Sprüche werden die theologischen
schensohn bzw. den vollkommenen Men­ Anliegen des EvMar deutlich. Der ganze
schen, der in den Jüngerinnen angelegt Abschnitt erscheint so als eine geschickte
ist. Und das Verbot Jesu, Gesetze zu er­ Verarbeitung vorliegender Überlieferung,
lassen, wird von Levi im Zusammenhang durch die ein ganz eigener, neuer Sinn
mit der Missionsaufforderung ausdrück­ entsteht.
lich wiederholt. Alle Gespräche unter den Dies läßt sich an zwei Beispielen erläutern:
Jüngerinnen sind so auf Jesu Anweisun­ Die Zusage von Jesu Frieden hat eine Ent­
gen bezogen, erst ganz am Ende werden sprechung in den johanneischen Ab­
seine Aufforderungen umgesetzt. Im schiedsreden (»Meinen Frieden gebe ich
762 | Das Evangelium nach Maria

euch« Joh 14,27; vgl. auch Joh 20,19.21. daß das EvMar solche Traditionen voraus­
26; Lk 24,36). Auch im EvMar spricht Je­ setzt, und zwar wahrscheinlich in Form
sus von seinem Frieden, aber er übergibt der Evangelien. Hierfür spricht vor allem
ihn nicht seinen Jüngerinnen, sondern for­ die mutmaßliche Kombination von Lk
dert diese auf, ihn sich hervorzubringen. 17,21 und 23f, die wohl nur bei Lk so zu­
D.h. Jesu Friede ist eine Größe, die in den sammengestellt sind. Aber auch an ande­
Jüngerinnen schon angelegt ist und um den re Evangelien bestehen Anklänge. Das
sie sich bemühen sollen und können. EvMar setzt sie aber nicht nur einfach
Eine ähnliche Tendenz der Verarbeitung voraus, sondern zeigt eine große Souve­
wird auch in der Aussage über den Men­ ränität, die die Neukombination von Sprü­
schensohn im Innern deutlich. Die Gegen­ chen ermöglicht. Auch scheint diese Über­
überstellung der falschen Meinungen, die lieferung große Bedeutung zu haben, denn
nach außen weisen, und dem Vorhanden­ eine Übereinstimmung mit ihr wird ange­
sein im Innern entspricht Lk 17,21, ist dort strebt.
aber auf das Reich Gottes bezogen (vgl. Das EvMar greift aber nicht nur Traditio­
auch Mk 13,21; Mt 24,23; EvThom 113. nen der kanonischen Evangelien auf, son­
Die Deutung des Lk-Textes ist umstritten, dern verwendet auch typisch gnostische
er ist wohl nicht als »inwendig in euch«, Terminologie und verarbeitet gnostische
sondern eher als »mitten unter euch« zu Vorstellungen. Besonders deutlich wird
verstehen.) In Lk 17,23f folgt jedoch eine dies in der Rede Marias: zum Beispiel im
teilweise parallele Aussage über den Men­ Stück über den Seelenaufstieg und bei Jesu
schensohn. Der Befund im EvMar läßt sich Lob an Maria, weil sie nicht wankt. Nicht
als Kombination beider Aussagen verste­ zu wanken ist ein Kennzeichen von wah­
hen, wodurch eine spezifische Deutung der ren Gnostikerinnen und wird in gnosti­
Vorstellung vom Menschensohn vorliegt. schen Schriften als Ideal dargestellt.
Im EvMar ist dieser nicht eine zukünftige Die Vorstellung vom Aufstieg oder von
Gestalt und nicht ausschließlich mit Je­ Himmelsreisen der Seele ist in antiken re­
sus identifiziert, sondern steht für wahres ligiösen Texten weit verbreitet. Im EvMar
Menschsein, das den Jüngerinnen durch wie in anderen gnostischen Texten (z.B.
Jesus ermöglicht wird, das sie aber auch lApcJac NHC V,3 p.33-36; Iren, adv.haer.
verwirklichen müssen. Sowohl Maria als 1,21,5) ist der Aufstieg stets eine Rückkehr,
auch Levi greifen dieses Bild wieder auf die feindliche Mächte verhindern wollen.
und betonen teils Jesu Beitrag, teils die Vorausgesetzt ist die Vorstellung, daß ein
Notwendigkeit des eigenen Bemühens. Sie Teil des Menschen einen himmlischen Ur­
sprechen aber nur vom »Menschen« bzw. sprung hat, aber in der Welt gefangen, an
vom »vollkommenen Menschen« - mög­ den Körper gefesselt und in Unwissenheit
licherweise wird der Ausdruck »Menschen­ über den eigenen Ursprung ist. Die Be­
sohn« vorher nur verwendet, um dem neu- freiung aus diesem Zustand wird durch
testamentlichen Sprachgebrauch zu ent­ Erkenntnis (= Gnosis) ermöglicht. Die Er­
sprechen. kenntnis des Zustandes bedeutet dabei
Gerade die verschiedenen Formulierungen schon die Erlösung: Zum Beispiel genügt
über das wahre Menschsein im EvMar zei­ im EvMar der Verweis auf die Herkunft
gen, daß der Autorin verschiedene Aus­ der Seele für die Überwindung der Mäch­
drucksmöglichkeiten zur Verfügung stan­ te. Marias Schweigen am Ende ihrer Rede
den. Die Anknüpfung an Jesustraditionen entspricht dem Schweigen, das die Seele
wie in den kanonischen Evangelien ist nur am Ziel ihres Aufstiegs erlangt hat: Die
eine von ihnen und scheint sehr bewußt Autorin läßt Maria durch die Erwähnung
gewählt zu sein. Daraus läßt sich folgern, ihres Schweigens den Aufstiegsweg der
Das Evangelium nach Maria | 7^3

Seele mitvollziehen. Indem sie von der kannt waren. Ein Unterschied bleibt jedoch
Befreiung der Seele von ihrer Erkenntnis­ bestehen: Auch Maria gibt Worte Jesu wie­
unfähigkeit berichtet, wird auch sie selbst der. Trotz aller Parallelität ist sie ihm also
davon und von der Welt befreit. nicht gleichberechtigt, sondern verweist
Das EvMar ist die Schrift einer bzw. für letztlich immer auf ihn. Für die übrigen
eine Gruppe, in der verschiedene religiöse Jüngerinnen ist sie jedoch nach Jesu Weg­
Traditionen geschätzt wurden, von denen gang seine Stellvertreterin und die Quelle
das, was wir für christlich halten, nur eine für seine Lehre. Sie kann auch später noch
ist. Ihre Verbindung wurde aber anschei­ authentische, aber bisher unbekannte Wor­
nend nicht für problematisch gehalten, te vermitteln. Im Gespräch am Ende wird
vielmehr wird alles direkt oder indirekt auf dieser Status der Maria angegriffen, aber
Jesus selbst zurückgeführt, und zwar aus­ mit Verweis auf die Wahl Jesu verteidigt.
drücklich auf den Jesus der kanonischen Auch schon ihr Gespräch mit Jesus zeigt
Evangelien (Hartenstein 1997, 263ff). ihre besondere Würdigkeit, vor allem in der
Seligpreisung Jesu.
Diese Rolle der Maria darzulegen, ist ei­
| Die Rolle der Maria im EvMar nes der Anliegen des EvMar. Anknüp­
fungspunkt sind die Ostergeschichten der
Maria als Stellvertreterin jesu Evangelien, insbesondere die Begegnung
Maria Magdalenas mit dem Auferstande­
Maria hat im EvMar keinen Beinamen, nen Joh 20,14-18. Auch in dieser Ge­
gemeint ist jedoch eindeutig Maria Mag­ schichte wird Maria über den Aufstieg zum
dalena. Denn sie wird von Petrus als Vater belehrt (Joh 20,17), dies könnte der
»Schwester« und als die Führende unter Anlaß gewesen sein, gerade Maria zur
den Jüngerinnen angesprochen. Dieser Übermittlerin des Wissens um den See­
Status, den sie auch in den kanonischen lenaufstieg zu machen. Im Gegensatz zu
Evangelien innehat, wird ihr unbestritten den kanonischen Evangelien ist das »Se­
zuerkannt. Im EvMar geht ihre Rolle je­ hen des Herrn« (Joh 20,18) im EvMar nicht
doch weitjüber die einer Anführerin der zum Erweis seiner Auferstehung erzählt;
Jüngerinnengruppe hinaus. Schon durch es geht vielmehr darum, in einer Vision
den Aufbau des EvMar wird sie ganz weit­ des Auferstandenen Zugang zu jenseiti­
gehend mit Jesus parallelisiert und über­ gem Wissen zu erlangen. Solche Visionen
nimmt in der zweiten Hälfte der Schrift sind jedoch nicht allen Menschen weiter­
seine Rolle, indem sie die übrigen belehrt. hin zugänglich (so Pagels 1981, 51f), son­
Dieser Befund ist um so gewichtiger, als dern werden in gnostischen Texten auf den
in anderen, dem EvMar vergleichbaren Kreis der Jüngerinnen Jesu beschränkt.
Schriften eine solche Rolle nicht vor­
kommt! Die Parallelität zwischen Maria
Der Streit mit Petrus
und Jesus erstreckt sich aber auch auf Ein­
zelheiten der Darstellung, wenn sie etwa Die Auseinandersetzung zwischen Maria
wie Jesus alle küßt, sie tröstet (was übli­ und Petrus, die das EvMar schildert, ist
cherweise zu Erscheinungen des Aufer­ nicht die Wiedergabe eines tatsächlichen
standenen gehört) und seine Aufforderun ­ Streits. Vielmehr handelt es sich um eine
gen bekräftigt. literarische Fiktion, in der der Konflikt
Maria tritt in der Darlegung des EvMar an parteiisch für Maria dargestellt wird. Es
die Stelle, die sonst der Erlöser einnimmt. besteht kein Interesse, die Position des
Sie ist diejenige, die den anderen Offenba­ Petrus fair wiederzugeben, vielmehr soll
rungen vermittelt, die ihnen bisher unbe­ er ins Unrecht gesetzt werden.
764 | Das Evangelium nach Maria

Petrus ist im EvMar keine durchgehend tiert hat, ausgeschlossen. Die Darstellung
negative Figur. Er ist mit mindestens ei­ des Petrus vor und nach Marias Rede setzt
ner Frage am Gespräch mit Jesus betei­ ihn also klar ins Unrecht.
ligt. Auch seine Bitte an Maria um Beleh­ Demgegenüber bringt Levi die Ansicht des
rungen spricht - in der Sicht des EvMar! EvMar zum Ausdruck, wenn er sagt: »Er
- für ihn. Allerdings deutet sich schon in liebte sie mehr als uns«, und damit die
der Formulierung der Bitte der spätere männlichen Jünger mit einschließt. Ma­
Konflikt an. Die Bitte ist so gestaltet, daß ria wird nach dieser Aussage nicht nur
der spätere Angriff vorbereitet, aber noch mehr als die übrigen Frauen, sondern mehr
nicht explizit geäußert wird. Vor allem als alle anderen Jüngerinnen geliebt. Diese
aber ermöglicht sie, Petrus auf der Basis Bevorzugung ist Jesu Entscheidung und
seiner eigenen Äußerungen zu widerlegen. zeigt so die Qualitäten von Maria.
In seiner Bitte an Maria spricht Petrus sie Auch der Einwand des Andreas, Marias
als die wichtigste unter den Jüngerinnen Darstellung, widerspreche der übrigen Leh­
Jesu an und stellt zugleich ihre besondere re Jesu, wird innerhalb des EvMar ent­
Beziehung zu Jesus fest. Dieser Status geht kräftet. Im Gesamtaufbau gibt Jesus am
aus den kanonischen Evangelien hervor Anfang Belehrungen, die durchaus zu dem
und ist allgemein akzeptiert. Petrus passen, was Maria als Worte Jesu wieder­
schränkt die Bevorzugung Marias aber ein, gibt. Allerdings ist der Text zu fragmen­
wenn er sagt, der Erlöser habe sie mehr tarisch erhalten, um die^ genauer zu be­
geliebt als die übrigen Frauen, und damit stätigen.
sich selbst und die anderen männlichen Diese Punkte erweisen das EvMar als ein
Jünger ausschließt. Trotzdem scheint Ma­ ebenso geschicktes wie klares Plädoyer für
ria Petrus hinsichtlich des vom Erlöser er­ Maria und ihre Position - auch heute ver­
haltenen Wissens überlegen zu sein, sonst fehlt die Schrift diese Wirkung nicht. Sie
könnte er sie ja nicht auffordern, etwas wirkt als Bestätigung für die Leserinnen,
zu sagen, was auch ihm unbekannt ist. In die Maria hochschätzen. Sie werden in
seiner Bitte ist das Verhalten des Petrus ihrer Meinung bekräftigt, gerade auch
also noch offen für verschiedene Fortset­ durch die haltlosen Angriffe auf Maria.
zungen. Bestätigend und vergewissernd ist das
Nach Marias Rede verneint Petrus jedoch EvMar jedoch nicht nur in bezug auf die
grundsätzlich, daß Jesus Sonderbelehrun­ Position der Maria. Die Ausführungen
gen an eine Frau gegeben und sie so ge­ verheißen auch Erlösung und Aufstieg für
genüber allen anderen bevorzugt haben alle, die Marias Worten folgen.
könnte. Hier zeigen sich also die Grenzen
der Einsicht des Petrus. Sein Einwand ist
jedoch nicht nur eifersüchtig und klein­ | Historische Auswertung
lich, sondern er wird auch von den vor­
her (von Petrus selbst!) festgehaltenen Aus dem EvMar lassen sich keine Rück­
Fakten entkräftet: Wenn Maria eine be­ schlüsse auf die historische Gestalt der
sonders enge Beziehung zu Jesus hatte, Maria Magdalena ziehen. Es bietet keinen
dann sind Sonderbelehrungen an sie vor­ eigenen Zugang zu Traditionen aus der
stellbar und plausibel, auch wenn die Son­ Zeit Jesu, sondern verarbeitet aus den ka­
derstellung in erster Linie gegenüber den nonischen Schriften bekannte Überliefe­
anderen Frauen bestand. Die einzige mög­ rungen. Dabei entsteht durch die Neukom­
liche Alternative jedoch, nämlich daß bination schon bekannter Themen und
Maria gelogen hat, ist bei einer Frau, die Texte eine durchaus eigenständige Sicht­
Jesus als Führerin der Jüngerinnen akzep­ weise der christlichen Tradition.
Das Evangelium nach Maria | 765

Auch wenn das Ergebnis für die histori­ die Naassenerlnnen sich auf Mariamne (=
sche Maria Magdalena negativ ausfällt, Maria Magdalena) und Jakobus berufen
ist das EvMar doch nicht ohne Relevanz hätten (haer.V,7,l; X,9,3). Dabei verwen­
für die Frage nach Frauen im frühen Chri­ det er dasselbe griechische Wort (paradi-
stentum. Die Art, wie in diesem Evange­ dömi), das auch Paulus gebraucht, wenn
lium Maria Magdalena und die anderen er von ihm überlieferten Worten Jesu oder
Personen dargestellt werden, eröffnet uns Lehren der Urgemeinde berichtet (1 Kor
einen Zugang zu den Diskussionslinien 11,2; 15,3).
und Streitfragen um Frauen im zweiten Das Bild Maria Magdalenas als zentraler
Jahrhundert. Dabei sind zwei Themen be­ apostolischer Figur, durch deren Übermitt­
sonders interessant: zum einen die Dar­ lung besondere Erkenntnis weitergegeben
stellung Marias als Apostelin, zum an­ wurde, steht nicht isoliert da. Nicht nur
deren ihre Anfeindung durch Petrus und das EvMar, sondern auch die Bemerkun­
Andreas. gen der Kirchenväter zeigen, daß sich gno­
stische Gruppierungen auf Maria Magda­
lena als Überlieferungszeugin berufen
Maria als Apostelin
haben.
Das EvMar geht von der besonderen Be­
ziehung zwischen Jesus und Maria Mag­
dalena aus, um plausibel erscheinen zu Der Streit zwischen Maria und Petrus:
lassen, daß der Erlöser Maria mehr mitge­ historische Hintergründe
teilt hat als den anderen. Diese geheimen
Offenbarungen werden den anderen von Der den zweiten Teil des EvMar prägende
Maria übermittelt, die damit zur Traditi­ Konflikt zwischen Petrus und Maria hat
onsübermittlerin und Garantin der Über­ enge Parallelen in anderen gnostischen
lieferung einer christlich-gnostischen Schriften. Neben dem EvMar wird auch
Gruppe avanciert und mit apostolischer im EvThom (-♦ EvThom) und in der Pistis
Autorität ausgestattet wird. Andere Strö­ Sophia (einer späteren gnostischen Schrift)
mungen im frühen Christentum haben sich von Angriffen des Petrus gegen Maria
auf Petrus, Johannes, Jakobus oder Tho­ berichtet. Diese Texte (wie auch andere)
mas berufen; bemerkenswerterweise ist im zeigen eine lebhafte Auseinandersetzung
EvMar eine Frau mit dieser apostolischen um Frauen im zweiten und dritten Jahr­
Funktion ausgestattet. hundert, wobei die Argumente den Jün­
Auch bei den Kirchenvätern lassen sich gerinnen in den Mund gelegt werden: Die
mehrere Belege für gnostische Gruppen Streitfragen späterer Zeiten werden in
finden, die sich auf Maria berufen haben: Form einer Diskussion unter Personen aus
Der griechische Kirchenvater Origenes dem Umkreis Jesu präsentiert. Im EvMar
berichtet in seiner Schrift zur Widerlegung wird Maria wegen ihrer Lehre angegrif­
von Celsos (einem gebildeten Nichtchri­ fen: Eine Frau, deren Wissen dem der
sten, der Mitte des zweiten Jahrhunderts Männer überlegen ist und auf die sie hö­
eine Schrift gegen Christinnen verfaßte), ren sollen, erscheint als anstößig. Mögli­
Celsos habe von mehreren gnostischen cherweise zielt die Darstellung konkret auf
Gruppen gewußt, die sich auf Frauen be­ die Frage der Legitimität öffentlicher Lehre
rufen haben: Markellianerinnen auf Mar- von Frauen.3
kellina, Karpokratianerlnnen auf Salome, Petrus ist in verschiedenen Texten der
andere auf Maria und wieder andere auf Gegenspieler Marias. Aus heutiger Per­
Martha (c.Cels. V,62). Hippolyt berichtet spektive wäre die Verbindung des Petrus
in seiner Widerlegung der Häresien, daß mit kirchlichem Christentum (und römi­
766 | Das Evangelium nach Maria

scher Orthodoxie) naheliegend. Dies führt, beruft sich das EvMar auf Maria
scheint jedoch für das zweite Jahrhundert Magdalena. In beiden Schriften beziehen
problematisch, da in dieser Zeit die Gren­ sich die Autorinnen also auf eine Person
zen zwischen Orthodoxie und Häresie erst des Jüngerinnenkreises, die sie in einer Art
entstehen. So zeigen das EvMar und die von Rivalität zu Petrus stehend darstel­
anderen Texte Petrus nicht in erster Linie len, um ihre eigene von der üblichen »Pe­
als Vertreter des kirchlichen Christentums, trus-Linie« abweichende Position zu be­
sondern als Frauenfeind. Maria und Pe­ gründen.
trus sind Symbolfiguren der Auseinander­ Im EvMar ergibt sich durch die direkte
setzung zwischen Frauen und Männern. Auseinandersetzung von Petrus und Ma­
Unterschiedliche Texte aus dem zweiten ria eine stärkere Abgrenzung von Petrus.
und dritten Jahrhundert belegen, daß der Die Gemeinschaft des EvMar steht dem
Streit um eine den Frauen angemessene petrinischen Christentum ferner als die des
Rolle bei Christinnen verschiedenster Joh. Beide berufen sich jedoch auf Perso­
Richtungen geführt wurde. Sowohl in gno­ nen, die durch die besondere Liebe Jesu
stischen wie auch in nicht-gnostischen zu ihnen aus dem Kreis der anderen Jün­
Gruppen wurde kontrovers und mit den gerinnen herausgehoben werden. Diese
verschiedensten Ergebnissen diskutiert (-► Liebe Jesu gibt den Christinnen, die sich
Act Theclae). Innerhalb dieser Vielfalt be­ auf den Lieblingsjünger bzw. Maria Mag­
zieht das EvMar deutlich Position für Frau­ dalena berufen, als »Erbinnen« dieser bei­
en: Es bestätigt die Legitimität apostoli­ den, in deren Tradition sie sich stellen, eine
scher Leitung von Frauen (King 1994, Legitimation ihrer besonderen Beziehung
632). zu Jesus und seiner Verkündigung.
Der Konflikt zwischen Petrus und Maria Ebenso wie wir die johanneischen Schrif­
läßt sich für diese Schrift auf dem Hinter­ ten als Zeugnisse eines spezifisch jo­
grund der dieses Evangelium auch sonst hanneischen Christentums lesen, ist das
prägenden neutestamentlichen Bezüge le­ EvMar ein wiedergefundenes Zeugnis für
sen. Auch wenn kein neutestamentlicher eine frühchristliche Gemeinschaft, die sich
Text existiert, der als direkte Quelle in Fra­ auf Maria Magdalena berufen hat.
ge kommt, so treten doch Maria und Pe­
trus in den Auferstehungsberichten indi­
rekt dadurch in Konkurrenz zueinander, | Literatur:
daß ihnen beiden von verschiedenen
Schriften die Erstbegegnung mit dem Auf­ Judith Hartenstein, Die zweite Lehre. Erschei­
erstandenen zugeschrieben wird. (Die nungen des Auferstandenen als Rahmenerzäh­
Erscheinung des Auferstandenen legiti­ lung frühchristlicher Dialoge, Diss. Berlin 1997
miert apostolische Autorität - wie die pau- - Karen L. King, The Gospel of Mary Magdale­
linischen Aussagen in 1 Kor 9 und 15 zei­ ne, in: Ssc II, New York 1994, 601-634 - Die­
ter Luhrmann, Die griechischen Fragmente des
gen.) Das EvMar knüpft an das Sehen des Mariaevangeliums POx 3525 und PRyl 463,
Auferstandenen in Joh 20 an, in ihrer Vi­ in: NT 30 (1988) 321-338 - Antti Marjanen,
sion erhält Maria jenseitiges Wissen über The Woman Jesus Loved. Mary Magdalene in
den Seelenaufstieg, das sie den anderen the Nag Hammadi Library and Related Docu-
weitergibt. Diese Vorrangstellung Marias ments (NHMS XL), Leiden u.a. 1996 - Elaine
löst den Konflikt um die Legitimität ihrer Pagels, Versuchung durch Erkenntnis. Die
Gnostischen Evangelien, Frankfurt 1981 -
Verkündigung aus, der zu Marias Gunsten Anne Pasquier, L'Evangile selon Marie (BG 1),
entschieden wird. BCNH Section »Textes« 10, Quebec 1983 -
So wie das Johannesevangelium seine Tra­ Henry Charles Puech (bearb. v. Beate Blatz), Das
dition auf den Lieblingsjünger zurück­ Evangelium der Maria, in: Wilhelm Schnee­
Das Evangelium nach Maria | 767

melcher (Hrsg.), Neutestamentliche Apokry­ noch weitere Frauen und Männer als anwe­
phen in deutscher Übersetzung. Bd. I: Evan­ send vorgestellt. Andererseits könnte aber
gelien, 6.Aufl. Tübingen 1990, 313-315 - Jens auch der Gegensatz zwischen Maria und der
Schröter, Zur Menschensohnvorstellung im Männergruppe beabsichtigt sein, dann wäre
Evangelium nach Maria, erscheint- in: Kon­ nur »Brüder« zu übersetzen.
greßakten vom 6. Internationalen Koptologen- 2. Der Titel steht in antiken Handschriften üb­
kongreß Münster, 20 - 26 Juli 1996 - Walter licherweise am Ende der Schrift.
C. Till/Hans-Martin Schenke, Die gnostischen 3. In diesen Zusammenhang paßt auch das
Schriften des koptischen Papyrus Berolinen- Verbot, Gesetze zu erlassen, das Jesu letzte
sis 8502 (TU 60), 2.Aufl. Berlin 1972 - Robert Anweisung bildet und von Levi wieder auf­
McL. Wilson/George W. MacRae, The Gospel gegriffen und auf die Predigt des Evange­
According to Mary, in: Douglas M. Parrott (ed.), liums bezogen wird. Betont wird, daß nur
Nag Hammadi Codices V,2-5 and VI with Pa­ Jesu Anordnungen Gültigkeit haben und
pyrus Beronlinensis 8502,1 and 4 (NHS XI), nicht von den Jüngerinnen ergänzt wer­
Leiden 1979, 453-471 - Robert McL. Wilson, den sollen. Dies richtet sich wahrschein­
The New Testament in the Gnostic Gospel of lich gegen andere christliche Gruppen, in
Mary, in: NTS 3 (1956/57) 233-243. denen Regeln gelten, die nicht auf Jesus
zurückgehen, und könnte sich z.B. auf den
Ausschluß von Frauen von der Verkündi­
| Anmerkungen: gung beziehen. Eine antijüdische Spitze ist
mit dem Verbot des Erfassens von Geset­
1. Vermutlich sind neben Maria und den na­ zen wohl nicht beabsichtigt. (King 1994,
mentlich genannten männlichen Jüngern 607 f)

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