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Das Konzept des Fremden in Isabel Abedis

Jugendromanen.
Eine Literaturwissenschaftliche Analyse.
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Erklärung

Hiermit versichere ich, dass ich meine schriftliche Arbeit mit dem Titel „Das Konzept
des Fremden in Isabel Abedis Jugendromanen. Eine Literaturwissenschaftliche
Analyse.“ im Rahmen des travail de candidature selbstständig verfasst habe. Alle
Stellen der Arbeit, die dem Wortlaut oder dem Sinne nach anderen Werken
entnommen sind, habe ich in jedem Fall unter Angabe der Quelle deutlich als
Entlehnung kenntlich gemacht.

Luxemburg, den 30. April 2015 _____________________________


Barbara FABER

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Barbara FABER
Candidat-professeur de lettres au Lycée Josy Barthel Mamer

Das Konzept des Fremden in Isabel Abedis


Jugendromanen.
Eine Literaturwissenschaftliche Analyse.

Lycée Josy Bartel Mamer, 28.07.2014


Abstract

In dieser Arbeit wurden human-, sozial- und kulturwissenschaftliche Theorien hin-


sichtlich deren Beitrag zur Fremdheitsthematik untersucht. Obwohl es unter den
einzelnen Wissenschaftsbereichen keinen einheitlichen Konsens bezüglich des
Begriffs „fremd“ gibt, lassen sich Kerngedanken ableiten, welche auf ein mögliches
Konzept schließen lassen. Demzufolge wird Fremdheit als etwas verstanden, das
unser Sein bestimmt. Dabei ist das Fremde nie absolut und immer kontextabhängig,
da es in Relation zu einer anderen Ordnung steht, welche es irritiert und dazu heraus-
fordert, sich mit dem Fremden zu beschäftigen und sich ggf. dafür zu öffnen. Somit
ist das Fremde wesentlich für die eigene Identität, denn ohne Fremderfahrung gibt es
keine Selbsterfahrung. Erst durch die Erfahrung des Fremden kann man das Fremde
identifizieren, sich mit ihm auseinandersetzen und schließlich Rückschlüsse für das
eigene Selbst ziehen. Das Selbst erhält bei dieser Konfrontation Unterstützung durch
weniger Unbekanntes, das sog. Andere. Es kann dem Selbst helfen, zum Fremden auf
Distanz zu gehen oder aber es wirkt als Korrektiv zwischen Eigenem und Fremdem.
Es wird systematisch versucht, das Fremde in das Eigene zu integrieren, es zu assi-
milieren oder es zu verstoßen. Da sich dieser Vorgang immer wieder wiederholt,
spricht man von einem Konzept.
Im weiteren Verlauf wurden nun die theoretischen Ergebnisse mit einer literatur-
wissenschaftlichen Analyse von Isabel Abedis Jugendwerken verknüpft. In diesem
Zusammenhang wurde erarbeitet, dass Abedi selbst die Fremdheitsthematik zu einem
inhaltlichen bzw. thematischen Schwerpunkt ihrer Romane macht.
Außerdem konnte die Anwendung des in der Theorie erarbeiten Konzepts nachge-
wiesen werden. Demzufolge begegnen die Protagonisten Fremdheit in unterschied-
lichen Konstellationen und sind notgedrungen gezwungen, diese zu konfrontieren, da
sie in ihrem Selbst irritiert werden. Dies löst einen Such- und Reifeprozess aus, bei
welchem sie mittels des Raumes, der Symbolik und der Hilfe des Anderen zu neuen
Einsichten und Handlungsoptionen bezüglich des Fremden gelangen und dessen
Wandelbarkeit erkennen.
Abedi bietet dem jungen Publikum somit unterschiedliche Alteritätsmodelle, die
Fremderfahrung und einen geeigneten Umgang ermöglichen, was als Ausgangspunkt
für weitere Arbeiten genutzt werden kann.
Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ………………………………………………………………… S.7

2. Begrifflichkeiten von fremd ..................................................................... S.13

2.1. Allgemein ........................................................................................ S.13


2.2. Forschungsüberblick ....................................................................... S.15
2.3. Begrifflicher Rahmen ...................................................................... S.21
2.4. Abgrenzung zum Eigenen ............................................................... S.25

2.4.1. Das innere Fremde .................................................................... S.29


2.4.2. Identität ..................................................................................... S.31

2.5. Das Andere ...................................................................................... S.33

3. Das Fremde und der Raum ...................................................................... S.35

3.1. Kultur und Interkulturalität ............................................................. S.37


3.2. Exotik .............................................................................................. S.41
3.3. Phantastik ........................................................................................ S.43

4. Zusammenfassung Theorie ...................................................................... S.45

5. Der Jugendroman Isola ............................................................................ S.47

5.1. Zum Inhalt ....................................................................................... S.47


5.2. Identitätsproblematik ...................................................................... S.49

5.2.1. Identität und Rollenvielfalt ....................................................... S.51


5.2.2. Identität und Identitätskonflikte ................................................ S.55
5.2.3. Name und Identität .................................................................... S.57
5.2.4. Innere Fremde ........................................................................... S.61

5.2.4.1. Relevanz für die Persönlichkeit am Beispiel der


Romanfigur Vera ........................................................... S.61
5.2.4.2. Interpretatorische Ableitung ......................................... S.67

5.2.5. Zwischenfazit ............................................................................ S.71

5.3. Das Exotische .................................................................................. S.73


5.4. Schlussfolgerung ............................................................................. S.75

6. Der Jugendroman Lucian ........................................................................ S.79

6.1. Zum Inhalt ....................................................................................... S.79


6.2. Das Fremde als Riss ........................................................................ S.83

6.2.1. Exkurs zum Traum .................................................................... S.89


6.3. Lucian als das Andere – ein Aneignungsprozess ............................ S.91

6.3.1. Die einzelnen Prozessetappen ................................................... S.93


6.3.2. Funktion der Aneignung des Anderen .................................... S.101

6.4. Schlussfolgerung ........................................................................... S.107

7. Der Jugendroman Imago ....................................................................... S.109

7.1. Zum Inhalt ..................................................................................... S.109


7.2. Die eigenen Wurzeln und das Fremde .......................................... S.115

7.2.1. Imago und die innere Fremde ................................................. S.117

7.3. Der Zirkus Anima und die phantastische Selbstfindungsreise ...... S.123

7.3.1. Taro und die therapeutische Aufarbeitung .............................. S.127


7.3.2. Mischa und der Umgang mit dem Anderen ............................ S.135

7.4. Schlussfolgerung ........................................................................... S.139

8. Der Jugendroman Whisper ..................................................................... S.141

8.1. Zum Inhalt ..................................................................................... S.141


8.2. Die Mutter als Fremde .................................................................. S.149

8.2.1. Die Suche nach Elizas Geheimnis als Konfrontation mit der Mutter
.................................................................................................. S.153

8.3. David und die Hilfe des Anderen .................................................. S.161


8.4. Die Dachbodenmetapher ............................................................... S.167
8.5. Schlussfolgerung ........................................................................... S.169

9. Fazit .......................................................................................................... S.171

10. Ausblick ................................................................................................... S.177

10.1. Luxemburgs Sonderstellung ......................................................... S.179


10.2. Abedis Jugendromane im Unterricht ............................................ S.183

11. Literaturverzeichnis ................................................................................ S.185

a. Einzelbände ........................................................................................... S.185


b. Aufsätze aus Sammelbänden ................................................................ S.189
c. Zeitschriftenaufsätze ............................................................................. S.193
d. Internetadressen .................................................................................... S.195
1. Einleitung

Die heutige Gesellschaft inklusive der in ihr vorgehenden Vorgänge gilt aufgrund ihrer sich
ständig weiterentwickelnden und verändernden Struktur als hoch komplex. Verflochtene und
vielschichtige Abläufe werden heute zu entschlüsseln versucht, bevor sie morgen dann
aufgrund neuer Inhalte als überholt gelten. Die Mitglieder der Gesellschaft sehen sich
dementsprechend ständig neuen, ihnen bisher unbekannten und oftmals auch unverständlichen
Prozessen ausgesetzt, die es zu verarbeiten gilt. Grenzenlose Offenheit, Globalisierung,
Modernisierung und Migrationsbewegungen sind beispielhafte Vorgänge, welchen die
Mitglieder ausgesetzt sind. Die moderne Gesellschaft, „die Pluralität und Differenz zu ihrem
Markenzeichen gemacht hat“1, wird dementsprechend von ständig Unbekanntem und Neuem,
von „Fremdheit“ durchdrungen. Die Fremdheit erscheint in diesem Kontext also als expan-
dierendes Phänomen2. Doch die permanente Expansion lässt die Fremdheit auch als festen
Bestandteil unserer Gesellschaft erscheinen, manche mögen gar von einem Normalzustand
sprechen. Die sich dauernd verändernde Struktur wird so zur Konstante. Dieses Spannungs-
verhältnis zwischen der ständig größer werdenden Bedrohung einer Unbekanntheit und der
Fremdheit als nicht störenden, alltäglichen Begleiter führt zur widrigen Situation, dass das
Fremde nicht bloß zurückgedrängt wird, sondern gleichzeitig auch zunimmt.3
Durch die wachsende gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt sind uns die Begegnungen mit
dem Fremden alltäglich, teilweise gar vertraut.4 Überall treten wir mit Fremdheit in Kontakt,
sei es beispielsweise durch die Begegnung mit anderen oder dass die kulturellen, national-
staatlichen, sprachlichen oder politischen Grenzen überschritten werden.5 Man kann hier von
einer Art Integration sprechen, gefolgt von Begriffen wie Inter- und Multikulturalität, Plura-
lismus, Antirassismus usw. Besonders durch die Medien und die Mediatisierung macht das
Phänomen Fremdheit sozusagen „Karriere“: Das Fremde wird überall aufgespürt, einge-
bettet, entzaubert oder vertrieben. Grenzen werden überwunden. Informationen, Bilder, Dar-

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1
Astrid MESSERSCHMIDT, Befremdung – oder wie man fremd wird und fremd sein kann, In: Peter Schreiner,
Ursula Sieg, Volker Elsenbast (Hg.), Handbuch Interreligiöses Lernen, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh
2005, S.217-228, hier S.221. Von nun an zitiert als Messerschmidt.
2
Jan WEHRHEIM, Der Fremde und die Ordnung der Räume, Barbara Budrich Verlag, Opladen & Farmington
Hills, MI 2009, S.31. Von nun an zitiert als Wehrheim.
3
Vgl. Harald JÄHNER, Fremd wird das Vertraute, Ergebnisse der Akademie der Wissenschaften, Berliner
Zeitung, 19.02.1998, In: http://www.berliner-zeitung.de/archiv/ergebnisse-der-akademie-der-wissenschaften-
von-harald-jaehner-fremd-wird-das-vertraute,10810590,9399334.html (Zugriff: 14.01.2014). Siehe hierzu Punkt
2 dieser Arbeit.
4
Vgl. Bernhard WALDENFELS, Phänomenologie des Eigenen und des Fremden, S.65., In:
http://edoc.bbaw.de/volltexte/2007/250/pdf/25nzvtXxXJA_250.pdf (Zugriff: 17.04.2015). Von nun an zitiert als
Waldenfels Phänomenologie.
5
Vgl. Petra BÜKER, Clemens KAMMLER (Hg.), Das Fremde und das Andere: Interpretationen und
didaktische Analysen zeitgenössischer Kinder- und Jugendliteratur (Lesesozialisation und Medien), Beltz
Juventa Verlag, Weinheim und München 2006, S.7. Von nun an zitiert als Büker, Kammler.
stellungsformate und Kommunikationsstile werden weltweit standardisiert, sodass sich die
Frage stellt, ob Differenz überhaupt noch erwünscht ist. 6 Bei sozialen Netzwerken wie
Facebook wird jeder Fremde zum Freund. Die NSA präferiert den Totalzugriff und forscht die
Bürger der Welt aus, um dem Fremden zuvorzukommen.
Gleichzeitig tragen die rasanten Wirklichkeitsveränderungen aber auch dazu bei, dass unsere
Gesellschaft immer komplexer und pluralistischer wird, sodass keinesfalls von Homogenität
oder Auflösung der Unterschiede die Rede sein kann. Vielmehr scheint sie Fremdheit herzu-
stellen, was zu Ungleichheit, Spannungen und Ausgrenzungen führen kann. Es kommt zur
sogenannten Unvertrautheit. Dies bringt mit sich, dass die Präsenz von Fremdheit, sowie die
Reaktionen darauf, zunehmen.7 Trotz oder gerade wegen unserer alltäglichen Begegnung mit
Fremdheit vermehren sich Aspekte wie Diskriminierung, Gewaltbereitschaft, Ressentiment,
Orientierungslosigkeit, Schwächung sozialer Sicherheitsnetze, Ausgrenzung, Desintegration
und die Formierung von Parallelgesellschaften.8
Vor allem in Luxemburg, einem Land, das von jahrzehntelangen Zuwanderungsprozessen,
Multilinguismus, Inter- und Multikulturalität sowie Multinationalität geprägt ist, kommen
diese Aspekte zum Tragen. In den gesellschaftspolitischen Debatten wird vermehrt über die
vielfältigen Chancen der Inklusion von Ausländern gesprochen, sowie der damit verbundenen
Herausforderungen. Aber man verspürt auch nebst den positiven Aspekten einen Negativ-
tenor: Integration will von vielen Migranten als „erzwungene[r] Identitätswechsel“ 9
verstanden werden, „in dem der Migrant nur dann als vollwertig gelte, wenn er „comme
nous“, „intérieurement pareil“, also völlig assimiliert sei“.10 Hierbei zeigt sich, dass vielmehr
von einem Nebeneinander als von einem Miteinander gesprochen wird. Aufgrund der Viel-
fältigkeit von Fremdheit einerseits in der Erscheinung und andererseits im Umgang damit,
erweist sich mir das Thema von extremer Wichtigkeit, indem man Lernprozesse ableitet, um
einen nutzvollen Umgang mit Fremdheit zu erlangen.
Folglich scheint in Bezug auf die Fremdheitsthematik ein offensichtliches Spannungs-
verhältnis zu bestehen und dort, wo ein Spannungsfeld vorliegt, gilt es häufig, beide Seiten zu

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6
Bettina HURRELMANN, Gisela WILKENDING, Das Fremde in der Kinder- und Jugendliteratur,
Interkulturelle Perspektiven, Juventa Verlag, Weinheim, München 1998, S.7. Von nun an zitiert als Hurrelmann,
Wilkending.
7
Vgl. Yasar AYDIN, Topoi des Fremden: Zur Analyse und Kritik einer sozialen Konstruktion, UVK
Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2009, S.7. Von nun an zitiert als Aydin.
8
Vgl. Konrad KÖSTLIN, Was heißt hier fremd? Fremdheitsdiskurse als Inszenierung des Eigenen, In: Anna
Caroline Cöster, Max Matter (Hg.), Fremdheit und Migration. Kulturwissenschaftliche Perspektiven für Europa,
Tectum Verlag, Marburg 2011, S.23-36, hier S. 25.
9
Pierre MARSON, Migration, Identität und Literatur in Jean Portantes Roman Mrs Haroy ou la mémoire de la
baleine, In: Irmgard Honnef-Becker, Peter Kühn (Hg.), Über Grenzen. Literaturen in Luxemburg., PHI Édions,
Esch-sur-Alzette 2004, S.65-86, hier S.69. Von nun an zitiert als Honnef-Becker, Kühn.
10
ebd.

! 8!
betrachten und gegeneinander abzuwägen, sowie nach Ursachen, Konsequenzen und
Lösungswegen zu forschen. Dass die Fremdheitsthematik ein Reizthema ist, zeigt sich vor
allem in den zahlreichen Publikationen, die sich sehr unterschiedlich und aus stark differen-
zierten Blickwinkeln mit dieser Thematik befassen und ein beachtliches Volumen erreichen.11
So ist auch in der Jugendliteratur die Fremdheitsperspektive angekommen und scheint nichts
Neues bzw. Ungewöhnliches mehr zu sein. 12 Thematisierte die Jugendliteratur im 20.
Jahrhundert vordergründig Sozialkritisches, so scheint dies im 21. Jahrhundert nicht mehr
vorrangig zu sein: „[S]ämtlich[e] brisant[e] Themen von Umweltzerstörung bis hin zu Aids
[sind] mindestens hintergründig präsent. Es bedarf also nicht mehr der literarischen Auf-
klärungsarbeit, um sie öffentlich zu machen oder zu aktualisieren“13. Vielmehr werden nun
gesellschaftliche Veränderungen reflektiert, allem voran die Konfrontation mit dem Fremden,
denn für viele Jugendliche ist das Zusammenleben mit Menschen mit einem „fremden“
sprachlichen, kulturellen oder gar religiösen Hintergrund Alltag. Begriffe wie Transkultura-
lität, Globalisierung und kulturelle Identität sind allgegenwärtig. Aspekte wie veränderte
Familienstrukturen, Multikulturalität und Multipersonalität stehen als gesellschaftliche
Problembereiche im Vordergrund, wobei man allerdings nicht bloß die Beziehung zu
Fremden oder zu Fremdem versteht, sondern auch die Begegnung mit dem Fremden in sich
selbst: Aufgrund der sich ständig verändernden Wirklichkeit in der modernen Gesellschaft
verkomplizieren sich die Lebensläufe und Identitäten der Menschen.14 Das Fremde erfasst so-
mit die Individuen und ihre Subjektivität.15 Das Ich begegnet dem Fremden nicht nur, sondern
reflektiert es auf einer subjektiven Ebene. Wo das sogenannte Fremde anfängt und wo es
aufhört, ist also längst nicht so klar, wie man meinen könnte.
Eben diese Entwicklungen bzw. Tendenzen greift Isabel Abedi in ihren Jugendromanen
Imago, Whisper, Isola und Lucian auf. Ihre vier Jugendwerke behandeln die Erfahrung mit
und von Fremdheit. So schreibt Abedi über ein Leben zwischen den Kulturen wie aber auch

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11
Dies wird übereinstimmend konstatiert in: Elke M. GEENEN, Die Soziologie des Fremden vor dem
Hintergrund der Herausbildung unterschiedlicher Gesellschaftsformen, Unter Berücksichtigung der
transklassischen Logik von Gotthard Günther und der Identitätstheorie von George Herbert Mead, S.1, In:
http://www.ante.de/dr_geenen/fremde_11.htm (Zugriff: 21.08.2013). Von nun an zitiert als Geenen.
12
Dies wurde in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts noch anders gesehen. (Vgl. Hurrelmann, Wilkending S.7,
denen zufolge das Feld der Fremdheitsthematik noch „kaum bewusst“ sei und eine gegenwärtige Veränderung
dieses Zustandes erst langsam hervortrete.)
13
Susann GESSNER, Kinder- und Jugendliteratur im Kontext politischer Bildung, In:
http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/kulturelle-bildung/135134/kinder-und-jugendliteratur-im-kontext-
politischer-bildung?p=all (Zugriff: 20.08.2013).
14
Vgl. Gerwin KLINGER, Vom Vertrauten und Unvertrauten, Soziologie und binnengesellschaftliche Fremdheit
- Perspektiven einer Berlin-Brandenburgischen Tagung, In:
http://www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/fremde/de/blanko.2005-02-17.5294290538 (Zugriff:
14.01.2014). Von nun an zitiert als Klinger.
15
Vgl. ebd.

! 9!
über die Identitätsfindung in einem fremden Land oder in einem selbst. In Imago taucht
Wanja in die Phantasiewelt „Vaterbilder“ ein und macht sich auf die Suche nach ihren
eigenen Wurzeln; in Whisper trägt eine Geisterbeschwörung und die Suche nach einem
Mörder dazu bei, dass sich Noa mit sich selbst und ihrer Mutter auseinandersetzt; in Isola
spielen zwölf Jugendliche auf einer verlassenen, aber ständig gefilmten Insel ein gefährliches
Spiel und Vera muss sich ihrer doppelten Nationalität bewusst werden; in Lucian begegnet
Rebecca dem geheimnisvollen Lucian und beide verbindet eine unerklärliche Anziehung.
Die Fremdheitsthematik mit ihren verschiedenen Ausprägungen ist in Abedis Büchern
allgegenwärtig, sodass man von einer Konstante sprechen kann. Abedis Interesse scheint
demnach bei der Erstellung bzw. Festigung einer Schlüsselkompetenz im Umgang mit
Fremdem zu liegen, damit Jugendliche Maßstäbe für sich selbst und ihr Umfeld entwickeln
oder vielmehr setzen können. Im Mittelpunkt scheint die Vielfältigkeit als Bindeglied
zwischen einem selbst und zu anderen zu stehen: Kriterien wie Wertevielfalt, Gleichwertig-
keit, Respekt, Gender16 und Dialog - um nur einige zu nennen - wechseln sich in Abedis
Romanen ab und dienen durchaus dazu, die Möglichkeiten und Herausforderungen einer ge-
mischten Gesellschaft bzw. eines modernen Alltags auszuleuchten. Aber - und darin unter-
scheiden sich ihre Bücher von anderen Jugendbüchern - relevant sind nicht nur diese Krite-
rien, die einen Umgang mit anderem, Fremdem fördern sollen, sondern es geht vordergründig
und vor allem um die Vielfältigkeit in uns und diese als Teil von uns zu akzeptieren. Dies soll
den Jugendlichen helfen, sich als einzigartige Persönlichkeit zu sehen, den Umgang mit
Fremdem zu fördern und diesem offen zu begegnen. Die Positionen, Auffassungen und Werte
der jugendlichen Romanfiguren selbst stehen im Mittelpunkt.
Vorweggesagt soll bereits festgehalten werden, dass es nicht Isabel Abedis Anliegen ist, den
(jugendlichen) Lesern pädagogische Unterweisungen aufzuzwingen und Verhalten bewusst
und gezielt zu korrigieren17. Sie möchte keine direkten Lösungen zeigen, sondern vielmehr
ein Modell bieten und mögliche Verhaltensoptionen vorstellen, deren Relevanz und Konse-
quenz für den Einzelnen und die Gesellschaft aufweisen. Aus diesem Grund kann man bei
ihren Romanen auch von einem „Konzept des Fremden“ sprechen, welches darzustellen das
Anliegen dieser Arbeit ist.

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16
Hier im Sinne von sozialem und nicht biologischem Geschlecht: Jungen und Mädchen werden als gleichwertig
betrachtet, mit einer eigenständigen Persönlichkeit.
17
Ihre Bücher dienen demnach nicht als Sozialisierungs- und Erziehungsinstrument. In einem Interview, das sie
auf ihrer Internetseite veröffentlichte, meinte sie: „Für mich kommt es nicht darauf an, was ein Schriftsteller mit
seinem Roman ausdrücken möchte, sondern darauf, was der Leser in dem Roman entdeckt.“ (Vgl.
http://www.isabel-abedi.de/interviews_anzeige.php?kat=20&id=24, (Zugriff: 30.06.2014).

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Im Folgenden wird in diesem Kontext mit einem Forschungsüberblick begonnen, um dann zu
versuchen, einen klar umrissenen Ansatz zur Fremdheitsthematik vorzulegen, der mehrere
Theoriekonzepte vereint bzw. den Fremdheitsbegriff besser greifbar macht. Allem voran wird
hierbei in eklektizistischer Manier vorgegangen und sich kultur-, sozial- und humanwissen-
schaftlicher Analysen bedient. Bestehende Ansätze und Theorien werden danach untersucht,
„welches Potential sie für eine Erörterung der Herstellung des „Fremden“ und der Praktiken
des Umgangs mit Fremde[m] anbieten“.18 Fakt ist, dass es zur Fremdheitsthematik keine
einheitliche Definition gibt, die in sämtlichen wissenschaftlichen und literarischen Bereichen
gleich verwendet wird, was verwunderlich wirkt, scheint der Begriff doch schon fast als
wissenschaftlicher Grundbegriff aufzutreten.19
Vielmehr handelt es sich um eine Ansammlung von teilweise abstrakten Abgrenzungen zu
anderen Begriffen, was sich nicht als problemlos darstellt. Es gilt zu hinterfragen, ob die
„aktuellen Erklärungen und Deutungen ein gründliches Verständnis der Fremdheitsthematik
[darbieten] [und ob] die Begriffe der Komplexität und der Vielschichtigkeit aktueller Fremd-
heitsproblematik [gerecht werden]“20. Was man vorweg sagen kann, ist, dass das Fremde
heute weit mehr bedeutet als räumliche Distanz und die permanente Modernisierung einen
Großteil dazu beiträgt, die Begrifflichkeiten ständig zu verändern, was die Eingrenzung des
Begriffs verkompliziert.
Es wird versucht, den Bezug zu einer der Grunderfahrungen des Menschen herzustellen.
Hierbei wird der zentraler Schwerpunkt auf den Aspekt gesetzt, wie Fremdheit Individuen
und ihre Subjektivität erfasst und zur Stiftung von Identität beitragen kann.

Getragen wird diese theoretische Begriffsbestimmung von dem übergreifenden Anliegen,


literaturwissenschaftlich - in Form von Werkexegese und Interpretation - aufzuweisen, wie
das Fremde als Konzept genutzt werden kann, nicht nur, um die Präsenz und die Reaktionen
auf das Fremde darzulegen, sondern vor allem, um das Fremde als eine existentielle Erfahr-
ung zu zeigen. Dem Fremden wird somit eine funktionelle Aufgabe zugewiesen, denn „Frem-
des ist von Nöten, um das Eigene zu bestimmen“21.22
Mittels des literarischen Innenblicks werden Grund- und Grenzerfahrungen auf der Figuren-
ebene ausgelotet und die Gestaltung der fiktiven Auseinandersetzungsprozesse bis hin zu
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
18
Aydin wählt eine ähnliche Vorgehensweise. Siehe hierzu Aydin S.9.
19
Vgl. Jürgen STRAUB, Detlef GARZ, Heinz-Hermann KRÜGER, Begegnung mit dem Fremden, ZBBS Heft
1/2001, S.3., In: http://www.uni-magdeburg.de/zsm/node/185 (Zugriff: 14.1.2014). Von nun an zitiert als Straub,
Garz, Krüger.
20
Aydin S.9.
21
Aydin S.231.
22
Vgl. ebd.

! 11!
möglichen Transformationsprozessen interpretiert und analysiert. Nicht nur die Auswahl und
Darstellung auf der Figurenebene sind hierfür relevant, sondern vor allem der Blick in die
„Seele“ der Protagonisten. Auch Abedis erzähltechnische Gestaltungsgriffe in den Bereich
der Phantastik und der Exotik werden für die Analyse berücksichtigt, sprengen sie doch die
Grenzen des Alltäglichen und Bekannten. Sie werden genutzt, um als Spiel- und Projektions-
räume den Protagonisten wie den Lesern den Übergang von Verstehen und Erfahren zu
verdeutlichen und das Unmögliche greifbarer zu machen.

Abschließend werden die literarischen Befunde zusammengefasst mit einem Rückblick auf
die komplexe Suche nach einer einheitlichen Definition, sowie der Einsichten, die aus der
Analyse gewonnen werden konnten. Gerade als Lehrerin interessiert nach der literarischen
Perspektive natürlich auch die pädagogische. Jugendromane wie die von Isabel Abedi werden
häufig für die Förderung von Fremdverstehen eingesetzt, dies vor allem im Zusammenhang
mit Grenzerfahrungen für Jugendliche, weshalb im Ausblick auch kurz auf das didaktische
Potential der hier thematisierten Jugendbücher von Isabel Abedi eingegangen wird und ihr
Beitrag für das Verständnis der Fremdheitsproblematik hinterfragt wird. Hierbei soll das
Fremde bezüglich seiner Fruchtbarkeit als „aktive Gestaltungsmöglichkeit von Wirklich-
keit“23 kurz angesprochen werden, dies mit Blick auf die kulturelle und soziale Sonder-
stellung Luxemburgs.

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23
Sylke BARTMANN, Oliver IMMEL (Hg.), Das Vertraute und das Fremde, Differenzerfahrung und
Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs, transcript Verlag, Bielefeld 2012, S.9. Von nun an zitiert als
Bartmann, Immel.

! 12!
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2. Begrifflichkeiten von fremd

2.1. Allgemein

In unserer modernen Gesellschaft scheint der Begriff „fremd“ zum Leben dazuzugehören, sei
dies in Form von Präsenz der Fremdheit oder in Form von Reaktion auf die Fremdheit24.
Trotz oder wegen der „komplexen und pluralistischen Gesellschaften“25 kommt es zu einer
„immer engeren internationalen Verflechtung, durch die nationalstaatliche und kulturelle
Grenzen überschritten werden“26. Differenz kann man daher nicht mehr als bloße Ausnahme
oder vorübergehende Erscheinung sehen, sondern es handelt sich um den Normalzustand, dies
- und das mag paradox erscheinen - wohl aufgrund der sich permanent ändernden sozialen
Grundlagen, die uns umgeben. Gleichzeitig wird Fremdheit unterschiedlich wahrgenommen:
Man unterscheidet einerseits zwischen Fremdheit außerhalb der Gesellschaft, welcher man
heute häufig mit Faszination begegnet, andererseits unterscheidet man Fremdheit innerhalb
der eigenen Gesellschaft, welcher man allerdings häufig mit Angst und Abneigung begegnet.
Fremdheit kann aber auch ein Problem darstellen: Nicht nur, dass es durch die Begegnung mit
Fremdem zu Spannungen und Disputen bezüglich unterschiedlicher Lebenskonzepte führen
kann, sondern es stellt die Gesellschaft ständig vor neue Herausforderungen, da das Homo-
genitätsgefüge, das eine Gesellschaft ausmacht, durch Fremdes immer wieder neu hinterfragt
und irritiert wird.27
Bereits vor tausenden von Jahren versuchten die unterschiedlichsten Kulturen das Eigene vom
Fremden zu trennen bzw. es vor dem Fremden zu bewahren, weshalb das Fremde seit jeher
zum menschlichen Leben dazugehört. 28 Auch „(...) [d]ie literarische Darstellung des
Andersartigen, des Fremden und Befremdlichen ist so alt wie das Medium Literatur selbst“29.
Allerdings ist das Fremde als spezifisches Phänomen „im Sinne einer Problematisierung der
Unter-scheidung und Relation zwischen Fremdem und Eigenem sowie der Infragestellung
und bald schon nicht mehr aus der Welt zu schaffenden Fragwürdigkeit des Eigenen
angesichts des Fremden eine Neuerung (...), die sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts
durchsetzt“.30 So lange wird also noch gar nicht über den Begriff nachgedacht, obwohl es das
Phänomen schon seit Anbeginn der Menschheit gibt.31

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24
Vgl. Aydin S.7.
25
Büker, Kammler S.7.
26
ebd.
27
Vgl.Aydin S.7.
28
Vgl. Büker, Kammler S.7. Petra Büker verweist darauf hin, dass die Begegnung mit dem Fremden eine der
Grunderfahrungen des Menschen sei.
29
ebd. S.12.
30
Straub, Garz, Krüger S.6. Die Autoren verweisen auf Bernhard Waldenfels, welcher hierfür als Grund „die
Veränderung der neuzeitlichen Vernunftauffassung und die der neuzeitlichen Subjektrolle“ nennt. Straub, Garz

!
Wie bereits in der Einleitung erwähnt gilt es nun in diesem Kapitel den Begriff „fremd“ näher
zu definieren. Hierbei soll nebst einer terminologischen Erläuterung vor allem die
Vielschichtigkeit des Wortes hervorgehoben werden. Gerade als Reizwort bzw. als Passe-
partout der Moderne32 sollte die weite Verzweigung des Begriffs aufgedeckt werden, um ihn
dann später zugunsten des Themas ein- und abzugrenzen.

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und Krüger ergänzen dies durch den Aspekt der Mobilität (v.a. Migrationsbewegungen und Reisen), was „nicht
zuletzt zu einer Ausweitung und Diversifizierung des Fremden beiträgt“. (Vgl. ebd.)
31
Vgl. Klaus E. MÜLLER, Die fünfte Dimension, Primordiale Raumzeit und Geschichtsverständnis in
primordialen Kulturen, Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge 3, Wallstein, Göttingen 1999, S.23. Müller
erwähnt hier als Belege u.a. das Bedürfnis nach Schutz, die Trennung oder Abschottung von anderen Kulturen
wie der Wunsch nach Normalisierung und Normierung, um eine Ordnung herzustellen. (Vgl. ebd.)
32
Vgl. Jürgen KAUBE, Einer ist immer der andere, Der Fremdenfeind: Eine Studie auf seiner Spur, FAZ,
17.02.1998, In:
http://fazarchiv.faz.net/?q=jürgen+kaube&search_in=q&timePeriod=dateFilter&DT_from=02.02.1998&DT_to=
02.03.1998&KO=&crxdefs=&NN=&CO=&CN=&BC=&submitSearch=Suchen&sext=1&maxHits=&sorting=&
toggleFilter=&dosearch=new#hitlist (Zugriff: 14.01.2014).

! 14!
2.2. Forschungsüberblick
33
Fremdheit umreißt ein enormes Spannungsfeld von Themenbereichen und ist
34
Forschungsgegenstand in vielen Wissenschaftsdisziplinen mit unterschiedlichen
Akzentuierungen und Zugangsweisen. Schaut man sich die vermehrten Publikationen der
vergangenen Jahre an, hat Fremdheit momentan Konjunktur. Gründe hierfür mögen
gesellschaftlich aktuelle Themen wie Migration, Stressgesellschaften, Xenophobie, Inter-
kulturalität, Friedenserziehung, Gleichberechtigung, Massentourismus etc. sein. Allerdings ist
die Fremdheitsproblematik keine Erfindung der Moderne35, sondern sie erfreut sich eines
36
wiedererweckten Interesses , denn „bipolar[e] Denkstrukturen und dichotomisch[e]
Verhältnisse wie die von „Eigenem“ und „Fremdem“, von „Selbst“ und „Anderem“, von
„Gut“ und „Böse“, „Freund“ und „Feind“ etc. [durchlaufen] die gesamte Geschichte des
abendländischen Denkens“37.
Demzufolge ist es vorab wichtig festzuhalten, dass es den einen wissenschaftlichen Diskurs
über Fremdheit nicht gibt, sondern dass es eine Vielzahl von Diskursen und Diskursebenen
gibt38, was auch die vielfältige und differenzierte Literatur zur Fremdheitsproblematik klar
wiederspiegelt.
Im Laufe der Auseinandersetzung mit dem Begriff „fremd“ entwickelten die einzelnen
Forschungsrichtungen ihr eigenes Begriffsinstrumentarium - meist lediglich in Zusammen-
hang mit den jeweils eigenen Forschungsgegenständen 39 - , weshalb es für den Begriff
„fremd“ einen komplexen Bedeutungsinhalt gibt, mit zahlreichen sprachlichen Unterschei-

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
33
Synonym mit Fremdheitsproblematik.
34
Z.B. in der Theologie, Soziologie, in der Kulturanthropologie, in der Sozialphilosophie, in der Ethnologie, in
der vergleichenden Literaturwissenschaft, in der Nationalismusforschung, in der interkulturellen Pädagogik
sowie in der Psychoanalyse.
35
Vgl. Aydin S.16, 133.
36
Vgl. Aydin S.13, 14.
37
Hans M. BAUMGARTNER, Klaus JACOBI, Henning OTTMANN, Philosophisches Jahrbuch I, Alber
Verlag, Freiburg, München 1995, S.178.
38
Vgl. ebd. S.179.
39
Vgl. Nicole CZEKELIUS, Das Fremde - Eine Annäherung, In: Katharina Leitner, Nicole Czekelius,
alltäglich/fremd, Hammock TreeRecords, Wien 2010, S.21-42, hier S.22. Von nun an zitiert als Czekelius.

! 15!
dungen bzw. vielen Nuancen40, aber keine allgemeingültige Definition oder zumindest kein
tragfähiges Konzept dessen41, was damit gemeint sei.
Im Folgenden wird nun auf einige Theorien des letzten Jahrzehnts eingegangen, die zentrale
Aspekte in die Diskussion um den Fremdheitsbegriff mit eingebracht haben und die die
Reichweite und Komplexität des Fremdheitsdiskurses gut darstellen, um später zentrale
Aspekt herauszuarbeiten, welche für die literaturwissenschaftliche Analyse der Jugendromane
Abedis nützlich sind. Dabei ist darauf zu verweisen, dass dies nicht systematisch und auch
ohne Anspruch auf Vollständigkeit geschieht. Es werden wesentliche Bezugspunkte von
Theorien bzw. Perspektiven aufgegriffen, die für diesen Kontext relevant erscheinen, da auf
sie in der Diskussion um Fremdheit immer wieder zurückgegriffen wird42, um so zu einem für
diese Arbeit gültigen Fremdheitsbegriff zu gelangen.
Die Sozialwissenschaften beschäftigen sich vorläufig mit der Fremdheitsproblematik. Dem
Sozialwissenschaftler Yasar Aydin zufolge lassen sich zwei Richtungen bezüglich der
Fremdheitsproblematik herauslesen: eine objektivistische und eine subjektivistische.
Erstere beschäftigt sich mit „Theorien und Forschungen zur Migration, Integration, Fremden-
feindlichkeit und zum Rassismus“43. Vordergründig sind die „Analyse der Ursachen von
Fremdenfeindlichkeit oder Integrationsdefiziten“44 sowie Integrationsmodelle. Hier wird der /
das Fremde als jemand/etwas gesehen, der/das aus der Ferne kommt. Der Soziologe Georg
Simmel nennt ihn/es genauer den Gast, „der heute kommt und morgen bleibt“. Aydin wendet
dagegen allerdings ein, dass Fremdheit in diesen Theorien lediglich als etwas Unvertrautes
gesehen wird. Dies sei, wie es der alltägliche Sprachgebrauch zeige, nicht immer der Fall,
vielmehr könne Fremdheit auch im Vertrauten stecken. 45 Außerdem werde häufig vergessen,
dass ein Fremder erst durch den Akt der Ein- und Ausgrenzung zum Fremden werde.46

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
40
Vgl. z.B. das Fremde, das Andere, das Nichtzugehörige, das Unvertraute, Exklusion, Differenz, Alterität,
Andersheit. „Dabei gibt es nur wenige Erklärungsmodelle, die zwischen „dem Fremden“ und „dem Anderen“
explizit unterscheiden. (...) [D]ie Begriffe des Fremden und des Anderen [werden] in den meisten
Theorieansätzen synonym gebraucht (...).“ (Vgl. Büker, Kammler S.8f.; siehe auch Aydin S.13.) Siehe hierzu
auch Kristeva, die einen Überblick über die verschiedenen Formen und Definitionen von Fremdheit gibt. ( Vgl.
Julia KRISTEVA, Fremde sind wir uns selbst, edition suhrkamp, 11. Auflage, Frankfurt am Main 2013, von nun
an zitiert als Kristeva.)
41
Vgl. Corinna ALBRECHT, Der Begriff der, die, das Fremde. Zum wissenschaftlichen Umgang mit dem
Thema Fremde. Ein Beitrag zur Klärung einer Kategorie., In: Yves Bizeul u.a. (Hg.), Vom Umgang mit dem
Fremden. Hintergrund - Definitionen - Vorschläge, Weinheim und Basel 1997, S.80-93, hier S.82f. Von nun an
zitiert als Albrecht.
42
Vgl. hierzu auch Andrea Wildens Forschungsvorhaben. (Andrea WILDEN, Die Konstruktion von Fremdheit:
Eine interaktionistisch-konstruktivistische Perspektive, Waxmann Verlag, Münster 2013, S.10. Von nun an
zitiert als Wilden.)
43
Aydin S.9.
44
Aydin S.9.
45
ebd.
46
Aydin S.75.

! 16!
Zum Beispiel ist mir mein Wohnort vertraut, ich kenne die Straßen, viele Menschen, die dort
leben, ich kenne die Einkaufsmöglichkeiten, ich spreche die Sprache usw. Und obwohl ich
schon sehr lange in meinem Wohnort lebe und er mir vertraut ist, kann es sein, dass mir
Unbekanntes, Fremdes begegnet. Dies z.B. in Form einer Familie, die neu in den Wohnort
gezogen ist und der ich noch nicht begegnet bin.
Diese Richtung fasst Fremdes objektivistisch auf, das heißt, dass zur Bestimmung bzw.
Erklärung von Fremdheit außerkulturelle Faktoren herangezogen werden, wie beispielsweise
Herkunft und Hautfarbe, welche den Fremden oder das Fremde hinsichtlich seiner Umwelt
unterscheiden und ihn somit als fremd klassifizieren.47
Die anderen beschäftigen sich mit „Theorien, die sich auf die Genese und Ursachen von
Fremdheit konzentrieren“48, wobei das Verhältnis zwischen Fremdem und Eigenem debattiert
wird, dies fußend auf den Aspekten Mobilität, Entwurzelung und Zwang zur Selbstkonstruk-
tion. Dabei werden diese Aspekte nicht mehr bloß dem Fremden zugeschrieben, sondern als
Eigenschaften und Aufgaben aufgefasst, die heute zu jedem Individuum gehören. Zudem sei
der bisher übliche Begriff des Fremden (wie Georg Simmel ihn verwendet) nicht mehr
gebräuchlich, da es durch die Globalisierung und die Weltgesellschaft zu „qualitativen Ver-
änderungen bei den Mustern der Fremdheitszuschreibungen und in der sozialen Situation des
Fremdseins“49 gekommen ist.50
Diese Forschungsrichtung fasst Fremdes folglich subjektivistisch auf, das heißt, dass hier zur
Bestimmung des Fremden auf die defizitäre oder autoritäre Persönlichkeitsstruktur oder auf
Traditionalismus und Religiosität zurückgegriffen wird.51 „Nach der subjektivistischen Auf-
fassung ist der Fremde das Resultat von gesellschaftlichen Grenzziehungen, Etikettierungen
und Stigmatisierungen; der Fokus liegt also auf voluntaristischen Faktoren wie individueller
Wille oder subjektives Bekenntnis.“52
Demzufolge stellt Aydin fest, dass zwei unterschiedliche Begriffe in der Fremdheitsdebatte
verwendet werden, „(...) denen nicht nur verschiedene, sondern mitunter auch gegensätzliche
Vorstellungen von Fremdheit zu Grunde liegen: Fremdheit im Sinne einer affirmativen
Selbstbeschreibung vs. Fremdheit im Sinne einer pejorativen Fremdbeschreibung, Fremdheit

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
47
Aydin S.74. Aydin merkt hier allerdings an, dass natürliche oder primäre Differenzen - gemeint sind
Hautfarbe und Physiognomie - nicht unbedingt in Fremdheitszuschreibungen münden. (Vgl. ebd.)
48
ebd.
49
ebd.
50
ebd.
51
ebd.
52
ebd. Hervorhebungen und Rechtschreibung im Original.

! 17!
als Ausdruck einer Wertschätzung der Andersartigkeit vs. Fremdheit als Ausdruck einer
Nichtanerkennung der Andersartigkeit“53.54
Die Klassiker der Soziologie - allen voraus Georg Simmel, der mit seinem „Exkurs zum
Fremden“ den Diskurs nachhaltig geprägt hat - gehen von vier Differenzkriterien aus, was
Fremdheit betrifft: Raum, Kultur, Wissen und Macht. Hier wird Fremdheit stets in Relation zu
einer bestimmten Ordnung gesehen. Gleichzeitig stellen Fremdheit und Eigenes Gegensätze
dar, die nötig sind, um überhaupt erst eine soziale Ordnung, einen sozialen Sinn und Wirk-
lichkeit herzustellen, innerhalb welcher wiederum erst die Bestimmung von Fremdheit mög-
lich ist.55
In der Phänomenologie, mit Bernhard Waldenfels als dem prominentesten Vertreter, wird
Fremdheit als Ergebnis von Differenzierungen aufgefasst. Waldenfels definiert das Fremde
als das Außer-Ordentliche. Dieser Auffassung liegt eine Beziehung von Innen und Außen
zugrunde, wobei dem Außen, dem aus der Ordnung Ausgeschlossenen, eine konstitutive Be-
deutung zukommt.56 Folglich ist Fremdheit immer in Relation zu einer bestimmten Ordnung,
nämlich dem Eigenen, und den hierin vorgenommenen Grenzziehungen zu begreifen. Somit
geht man von einer wechselseitigen Abhängigkeit und Verflechtung von Eigenem und Frem-
dem aus.57
Die psychologischen Ansätze meinen, dass das Fremde Teil unseres Selbst ist, man spricht
von der inneren Fremde. Vielmehr handele es sich bei Fremdem um einen uns verschlossenen
Teil des Selbst, wie etwa unterdrückte Ängste und Wünsche. Sigmund Freud und Julia
Kristeva nennen dies das Unbewusste. Kristeva geht von einer „faszinierten Ablehnung“58 des
Fremden aus, worin ein desintegrierter Teil unseres Selbst stecke, ein „Uneigenes im Eige-
nen“59, was sie in Bezug auf Freud als das Unheimliche bezeichnet. Freud äußerte die These,
dass das unheimlich Fremde ursprünglich etwas Eigenes ist, das verdrängt werden muss.60
Beide meinen, dass man das Fremde in uns aufspüren sollte, denn vor ihm zu fliehen oder es
zu bekämpfen, wäre bloß ein Kampf gegen uns selbst, gegen unser Unbewusstes.61
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
53
Aydin S.10. Hervorhebungen im Original.
54
ebd.
55
Wilden S.274.
56
ebd. Die Benennung von Innen und Außen entstammt dem Soziologen Georg Simmel, der als
interdisziplinärer Klassiker der Theorie des Fremden gilt. (Vgl. Horst STENGER, Soziale und kulturelle
Fremdheit, Zur Differenzierung von Fremdheitserfahrungen am Beispiel ostdeutscher Wissenschaftler, In:
Zeitschrift für Soziologie, Jg.27, Heft1, F. Enke Verlag, Stuttgart, Februar 1998, S.18-38, hier S.19. Von nun an
zitiert als Stenger.)
57
Wilden S.274.
58
Kristeva S.208.
59
ebd. S.209.
60
Vgl. Sigmund FREUD, Das Unheimliche, In: Werke aus den Jahren 1917-1920, Band 12, Frankfurt am Main
1955, S.229-268, hier S.254.
61
ebd.

! 18!
Auch gibt es die interaktionistische-konstruktivistische Sicht, die Fremdheit als Konstrukt
betrachtet. Fremdheit wird nicht als natürliche Eigenschaft aufgefasst, vielmehr handele es
sich bei Fremdheit um ein Konstrukt, „das diskursiv innerhalb kultureller Kontexte und
Machtverhältnisse innerhalb von Verständigungsgemeinschaften auf Zeit verhandelt wird“62.
Den Fremden, die oder das Fremde an sich gibt es demnach nicht, sondern es gibt immer nur
den Fremden, die oder das Fremde in Relation zu einer bestimmten Ordnung, einem
bestimmten Kontext, einer bestimmten Konstruktion von Wirklichkeit.63 Dieser Konstrukt-
charakter werde dann erkennbar, wenn man auf Distanz gehe, indem man eine
Beobachterhaltung einnehme: So stelle man fest, dass sich die Fremdheit im Laufe der
Zeitalter verändere, weshalb es keine Eindeutigkeit des Fremden gebe.64
Zu guter Letzt soll und muss auf die germanistische Literaturwissenschaft verwiesen werden,
da sich das Thema im Kontext des Deutschunterrichts zur Erschließung anbietet. Mit dem
Thema Fremdheit beschäftigt sich genauer die interkulturelle Literaturwissenschaft. Hier wird
ein reduzierter und instrumentalisierter Fremdheitsbegriff verwendet, „der Fremdheit aus-
schließlich als kulturelle Fremdheit/Alterität definiert“65.66 Andrea Lescovec verweist darauf,
dass sich die interkulturelle Literaturwissenschaft überwiegend für die kulturbedingten Unter-
schiede bei der Rezeption von Literatur interessiert.67 Dabei gibt es ihr zufolge allerdings
keine grundbegrifflichen Genauigkeiten, was die Schlagwörter Fremdheit und Interkulturalität
betrifft, auch würde ein literaturtheoretisch fundierter Literaturbegriff fehlen. Des Weiteren
bemängelt sie, dass das Wirklichkeitsverständnis falsch sei, da es die postmoderne Pluralität
von Wirklichkeit und damit das Problem der Wahrnehmung nicht thematisiere. Zudem baue
die interkulturelle Literaturwissenschaft auf Konzepte auf, die von einer Auflösung des Frem-
den im Eigenen ausgehen und somit Konsensbildung und Harmonisierung propagieren.68 Dies
komme aber nicht dem Alltag, der Aktualität und der Entwicklung der Gesellschaft nach, wel-
che sich verstärkt immer mehr durch Heterogenität ausdrücken. Auch könne man Individuen
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
62
Wilden S.268.
63
ebd.
64
Vgl. Kersten REICH, Verstehen des Fremden in den Kulturen und situiertes Lernen: Zu Grundsätzen einer
interkulturellen Didaktik, Köln, In: Heinz Antor (Hg.), Fremde Kulturen verstehen – fremde Kulturen lehren.
Theorie und Praxis der Vermittlung interkultureller Kompetenz, Winter Verlag, Heidelberg 2007, S.71-89, hier
S.72. Von nun an zitiert als Reich.
65
Andrea LESCOVEC, Fremdheit und Literatur: Alternativer hermeneutischer Ansatz für eine interkulturell
ausgerichtete Literaturwissenschaft, Vol.8, LIT Verlag, 1. Auflage, Berlin 2009, S.3. Von nun an zitiert als
Lescovec.
66
ebd.
67
Lescovec verortet dies in der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der interkulturellen Literaturwissenschaft,
gerade weil sie Literatur mit folgendem kulturwissenschaftlichem Paradigma definiert: „Literatur verkörpert (...)
einen (zentralen) Aspekt der materialen Seite der Kultur bzw. der medialen Ausdrucksformen, durch die eine
Kultur beobachtbar wird“.(Nünning, Sommer, zitiert nach Lescovec S.3.) Folglich stehe immer die Frage im
Vordergrund, wie sich Kulturen mit Hilfe von Literatur beschreiben lassen. (Vgl. Lescovec S.3.)
68
ebd. S.2.

! 19!
nicht immer nur auf ihre kulturelle Prägung reduzieren, sondern man müsse Spielräume für
die individuelle Ausgestaltung akzeptieren. 69 Demzufolge gehe die Beschäftigung mit
Fremdheit in der Literaturwissenschaft nicht über die kulturellen Dimensionen heraus.70
Allgemein verweist Narjes Khodaee Kalatehbali darauf hin, dass es in der Germanistik nur
einige verstreute Untersuchungen bezüglich der Fremdheitsthematik gibt. In den literatur-
wissenschaftlichen Forschungsansätzen, die man antrifft, finde man lediglich Stellungen,
offene Fragen und vorsichtige Vorschläge, aber keine schlüssigen Antworten oder wegwei-
sende methodische Ergebnisse.71
Im Folgenden wird der Begriff nun für die literaturwissenschaftliche Analyse der
Jugendromane näher eingegrenzt. Somit wird der Rahmen gesetzt, innerhalb dessen etwas als
fremd empfunden bzw. konstituiert wird.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
69
ebd. S.4f.
70
ebd. S.3.
71
Vgl. Narjes Khodaee KALATEHBAL, Das Fremde in der Literatur: Postkoloniale Fremdheitsstrukturen in
Werken von Elias Canetti, Günther Grass und Joseph Winkler, LIT Verlag, Münster 2005, S.10.

! 20!
2.3. Begrifflicher Rahmen

Wie dem Forschungsüberblick zu entnehmen ist, glänzt der Begriff „fremd“ durch präsente
Abwesenheit und Unschärfe. Man kann den Begriff „fremd“ schließlich nicht einfach allge-
mein wissenschaftlich definieren, da die (ausgewählten) Perspektiven verschiedene
Hintergründe haben und somit unterschiedliche Akzente setzen. „Dies verwundert, scheint
das Wort mittlerweile doch ein (...) wissenschaftlicher Grundbegriff zu sein, der in so gut wie
allen (...) [W]issenschaften gängige Münze ist“72. Die einzelnen Wissenschaften lassen er-
kennen, dass „[m]it den Begriffen Fremdheit und Fremder (...) eine große Brandbreite vers-
chiedener Situationen und Verhältnisse bezeichnet [wird], wobei öfter das Besondere der
jeweiligen Situation aus dem Blick gerät“73. Aufgrund der Tatsache, dass es so viele und zum
Teil auch gegensätzliche Verständnisse und Verwendungen des Begriffs gibt, könnte dies zu
der Vermutung führen, dass viele, miteinander konkurrierende Begriffe bestehen.74 Dem ist
allerdings nicht so, vielmehr haben all diese Begriffe einen gemeinsamen Bedeutungskern:
die Nicht-Zugehörigkeit.75
Trotz einer fehlenden einheitlichen Begriffsdefinition, gibt es nämlich „einen Diskurs über
das Fremde (...), d.h. einen Zusammenhang von Geltungen, Definitionen und sozialer
Praxis“ 76. In diesem Diskurs unterscheidet man zwei Dimensionen von Fremdheit: eine
soziale, bei der es um Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit geht, und eine kulturelle, bei
der es um Vertrautheit und Unvertrautheit geht.77 Früher waren Nicht-Zugehörigkeit und
Unvertrautheit wie Zugehörigkeit und Vertrautheit Synonyme, doch in unserer heutigen
Gesellschaft, in der Fremdes nicht mehr klar positioniert ist, arbeiten diese Begriffe gegen-
einander, lösen sich auf.78 „Zugehörigkeit / Nicht-Zugehörigkeit und Vertrautheit / Nicht-
Vertrautheit sind nicht länger kongruent, sondern kombinieren sich zu neuartigen kompli-
zierten Fremdheitsverhältnissen“79. Demzufolge zeichnet sich der Begriff „fremd“ zwar durch
einen Mangel an Bestimmtheit aus, da die Grenzen, um Fremdes zu bestimmen, äußerst
unscharf sind. Doch man kann festhalten, „dass mit den Begriffen Fremde und Fremdheit
entweder beschreibend auf die Nichtzugehörigkeit und Unvertrautheit einer Person, einer

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
72
Straub, Garz, Krüger S.3.
73
Aydin S.72.
74
Aydin S.73.
75
ebd.
76
Messerschmidt S.217.
77
Vgl. Dorothee NOLTE, Herausgefordert durch das Fremde, Interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Akademie der
Wissenschaft legt Abschlußbericht vor, Der Tagesspiegel, 17.02.1998, In:
http://www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/fremde/de/blanko.2005-02-17.5294290538 (Zugriff:
14.01.2014). Von nun an zitiert als Nolte.
78
Vgl. ebd.
79
Vgl. ebd.

! 21!
Gruppe oder eines Ereignisses Bezug genommen oder diese Merkmale ihnen unterstellt bzw.
bemängelt werden“80.
Etymologisch gesehen lassen sich drei unterschiedliche Bedeutungsebenen herauslesen: Das
Fremde stammt vom mittelhochdeutschen „vre(e)mde“ bzw. vom althochdeutschen Wort
„fremidi“ ab. Es bedeutet nicht nur Distanz, Ferne, entfernt, sondern es drückt auch eine
Bewegung „von etwas weg“, vorwärts, fort aus. Später bedeutet das Wort fremd auch unver-
traut oder unbekannt. Die Fremde kommt ebenfalls vom Mittelhochdeutschen „vre(e)mde“
und bedeutet die topographische Ferne, neutral gesehen das Ausland oder fernes Land, oder
aber es wird negativ konnotiert als Trennung oder Feindschaft. Ursprünglich wurde die
räumliche Komponente hervorgehoben, später entwickelte sich der Begriff hin zu einer
sozialen Komponente oder bezieht sich auf kognitiv Unbekanntes: Gemeint ist hier die Person
der oder die Fremde. Mit dem Begriff bezeichnet man Gast, Unbekannter, Neuer oder gar
Feind.81
Betrachtet man diese Definitionen, so ist festzustellen, dass „es nichts „objektiv“ Fremdes
gibt, sondern dass Fremdheit ein Resultat der Wahrnehmung aus der Sicht des Eigenen ist,
also ein Verhältnis darstellt“82.
Versucht man nun den Begriff „fremd“ vom allgemeinen Sprachgebrauch aus näher zu
bestimmen, wird man feststellen, dass „[d]ie alltagssprachliche und die wissenschaftliche
Verwendung der Begriffe „fremd“, „Fremder“ und „Fremdheit“ verschwimmen“83. Das Wort
„fremd“ unterliegt im Alltagsdiskurs nicht nur einer doppelgesichtigen Verwendung, sondern
es ist als Begriff auch nicht wertneutral. Zudem sticht im Alltagsdiskurs die Relativität des
Begriffes heraus. Ebenfalls hervorzuheben ist, dass die Begriffe Fremdheit bzw. Fremde(r/s)
nicht auf konkrete Gegenstände verweisen, wie etwa die Wörter Haus oder Hund, sondern es
handelt sich um eine Zuschreibung.84
Im Alltag definieren wir als fremd das, was nicht zu uns gehört bzw. was „lediglich als Unter-
schied zwischen dem eigenen Ich und dem jeweils anderen Ich“85 aufgefasst wird. Es ist uns
unbekannt, nicht vertraut, ungewohnt bzw. es hat eine andere Herkunft als die unsere.86 Es
besteht eine Differenz (Kultur, Geschlecht usw.). Folglich unterscheiden wir zwischen „uns“,
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
80
ebd.
81
Jörg HEINKE, Die Konstruktion des Fremden in den Romanen von David Malouf, Verlag Königshausen &
Neumann GmbH, Würzburg 2005, S.2. Von nun an zitiert als Heinke.
82
ebd.
83
Geenen S.5.
84
Aydin S.73.
85
Büker, Kammler S.8. Auch Waldenfels definiert das Eigene als eine Wir-Ordnung, wonach Fremdheit als
„Nichtzugehörigkeit zu einem Wir“ definiert wird. (Vgl. Bernhard WALDENFELS, Topographie des Fremden,
Studien zur Phänomenologie des Fremden I, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1997, S. 20. Von nun an zitiert als
Waldenfels Topographie.)
86
Diese gängige Definition lässt sich so auch im Duden finden.

! 22!
einer Einheit bzw. einem (Ordnungs-) Gefüge, die bzw. das wohl ähnliche Prinzipien vertritt,
und „anderem“, welches sich von „uns“ abgrenzt, das als fremd gilt.87 Bestimmt wird dieses
Verhältnis durch den Prozess der Zuordnung bzw. Relation. Vorstellungen, die an Emotionen
und Bewertungen gebunden sind, leiten uns in dieser Zuordnung. Der Unterschied zu
„Fremdem“ mag eine räumliche, gesellschaftliche oder kulturelle Distanz sein. Ging man
früher davon aus, dass es Fremdes nur außerhalb der eigenen Nationengrenzen gab, so ist dem
im 21. Jahrhundert nicht mehr der Fall: Das Fremde liegt im Inneren der Gesellschaft selbst.88
Allerdings darf nicht vergessen werden, dass das, was als fremd aufgefasst wird, sich nicht
nur je nach Art der Gemeinschafts- bzw. Gesellschaftsformation unterscheidet, sondern dass
das Fremde auch historischem Wandel unterliegt.89 Trotz dieser Veränderungen ist beiden As-
pekten gemeinsam, dass eine Einheit nur durch Konfrontation und Auseinandersetzung mit
Fremdem entsteht. Diese Einheit oder auch noch Identität genannt, wird durch die Differenz
zum Fremden definiert: „In der Begegnung mit der Andersartigkeit des Fremden wird dem
Subjekt seine eigene Konstitution bewusst.“90 Was mir zuvor selbstverständlich war, wird
plötzlich mit Neuem und Anderem konfrontiert. Folglich macht „[d]ieses Moment der
Irritation (...) das Fremde aus“91.
Allerdings ist diese Einheit oder Identität nie abgeschlossen, sondern „[i]m Rhythmus
dauerhafter Konfrontation mit dem Fremden erschafft sie sich fortwährend, entwickelt neue
und scheidet alte Muster aus“92. Das Fremde kann auf zwei entgegengesetzte Weisen auf uns
einwirken: Es kann uns faszinieren oder aber es kann beängstigend sein. Das Fremde kann
somit positiv wie auch negativ sein.93 Zusätzlich wird das Fremde je nach „unterschiedlichen
geschichtlichen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen jeweils verschieden kon-
struiert“94, weshalb das Spektrum des Phänomens „fremd“ äußerst vielfältig ist.95
Demzufolge identifiziert Waldenfels sogenannte Steigerungsgrade der Fremdheit: das Fremde
innerhalb der eigenen Ordnung, das Fremde außerhalb einer uns fremden Ordnung sowie Phä-
nomene, die sich jeglicher kulturellen Ordnung entziehen.96 Allen Formen gemein ist, dass sie
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
87
Georg Simmel formuliert diese Unterscheidung als Innen und Außen. Siehe auch Punkt 2.2.
88
Vgl. Klinger.
89
Vgl. Geenen S.3.
90
Grazyna JUREWICZ, Die multikulturelle Geselslchaft - Schein oder Wirklichkeit?, Netzwerk Magazin,
Oktober 2005, In:
http://wasistwichtig.net/fileadmin/user_upload/Netzwerk_Magazin/Magazin2/Jurewicz__Die_multikulturelle_
Gesellschaft.pdf (Zugriff: 16.01.2014).
91
Messerschmidt S.219.
92
Vgl. ebd.
93
Czekelius S.26, sowie Reich S.71.
94
Büker, Kammler S.8.
95
Vgl. ebd. S.9.
96
Vgl. ebd. S.9. Waldenfels nennt diese drei Formen alltägliche Fremdheit, strukturelle Fremdheit und radikale
Fremdheit. Die alltägliche Fremdheit erleben wir in der eigenen Wirklichkeitsordnung, wir können sie erkennen

! 23!
„als solches nur in Bezug auf die ih[nen] entsprechende Ordnung des Eigenen definiert
[sind]“97. Somit setzt das Fremde das Eigene voraus und ist mit ihm verflochten: „Eigenes
begegnet uns im Fremden und Fremdes im Eigenen“.98 Dadurch wird die Fremdheitsthematik
um eine dritte Dimension erweitert: die Fremdheitserfahrung. Fremdheit beschränkt sich
demnach nicht nur auf soziale und kulturelle bzw. gesellschaftliche Einschränkungen, sondern
Fremdheit kann auch an der eigenen Person erfahren werden, nämlich dann, wenn die zuvor
erwähnten Ordnungen einer Person gefährdet sind.99
Aus diesen Ausführungen lässt sich schlussfolgern, dass das Fremde von außen einbricht und
uns irritiert. Es ist allerdings nicht einfach da, sondern es wird von uns bzw. der Gesellschaft
oder einer sonstigen Ordnung konstituiert. Es handelt sich dann bei Fremdheit um einen
Effekt von Differenz 100 . Demnach kann Fremdheit nicht unabhängig von Erfahrungen,
Zuschreibungen und gesellschaftlichen Statuszuweisungen existieren.101 Es handelt sich um
eine soziale Klassifikation, die an Formen der Ein- und Ausschließung gebunden ist.102
Fremdheit steht Ordnungen, Werten und Verhaltensweisen der Welt des Eigenen, des Nor-
malen gegenüber.103 Demnach scheint das Fremde nicht nur in Abgrenzung zum Eigenen zu
existieren, sondern es besteht eine wechselseitige Abhängigkeit und Verflechtung von
beidem104, weshalb dieses Eigene nun im Folgenden näher erläutert werden soll.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
und damit umgehen, indem wir uns z.B. zusätzliches Wissen aneignen (z.B. durch Nachschlagen in einem
Wörterbuch). Die strukturelle Fremdheit führt bereits zu einer Veränderung des Eigenen, da es sich um
Phänomene außerhalb unserer Verhaltensmuster und dem uns Bekannten handelt. Die radikale Fremdheit ist uns
jeglicher Ordnung fremd, es handelt sich hierbei um (Grenz-) Phänomene wie Tod, Eros, Schlaf, Rausch. (Vgl.
Waldenfels Phänomenologie, S.65ff. Zugriff am 30.07.2014). Vgl. auch Jörg ZIRFAS, Benjamin JÖRISSEN,
Phänomenologien der Identität, Human-, sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen, VS Verlag für
Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007, S.136. Von nun an zitiert als Zirfas, Jörissen.
97
Büker, Kammler S.9.
98
ebd.
99
Vgl. Stenger S.18.
100
Heinke S.2.
101
Aydin S.83.
102
ebd. S.80.
103
Heinke S.2.
104
Vgl. Wilden S.275.

! 24!
2.4. Abgrenzung zum Eigenen

Das Eigene definiert sich als das, was mir bekannt, vertraut ist, es ist eine Ordnungsstruktur
für mich. Es ist die (Verständigungs-) Gemeinschaft, der ich zugehöre und stellt somit den
Mittelpunkt meiner Welt dar. 105 Trifft man auf etwas Unbekanntes, fühlt sich die
Gemeinschaft bedroht. Das Fremde ist also (noch) nicht im Eigenen enthalten. Vielmehr wird
das Fremde negativ wahrgenommen, als unerwünschtes Element im Eigenen: Es stört die
soziale Ordnung bzw. es gefährdet sie oder stellt sie in Frage, dies aufgrund seiner Unde-
finierbarkeit.106 Das Vertraute wird brüchig. Somit grenzt sich Eigenes vom Fremden ab,
wodurch das Eigene konstituiert und profiliert wird.107 Indem ich Fremdem begegne, erkenne
ich erst Anderes und werde mit meinem eigenen Begrenztsein konfrontiert.108 Umgekehrt
kann ich Fremdes nur aufgrund meines Eigenen wahrnehmen, denn ohne Eigenes gibt es
Fremdes nicht. Fremdes ist also nur indirekt greifbar und „bestimmt sich im Verhältnis zum
Eigenen“109. Fremdes und Eigenes stehen demnach in einer Beziehung zueinander, und diese
Beziehung impliziert, dass Fremdes und Eigenes zu einander positioniert sind110, und zwar
oppositionell111, sodass durch die Konfrontation Differenzerfahrungen entstehen.
Die Philologin Corinna Albrecht stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Begriffe
Fremd und Eigen beide in gegenseitiger Abhängigkeit existieren, sie bedingen sich und
korrespondieren miteinander.112 „Beide Kategorien stellen sich vielmehr in wechselseitiger
Abgrenzung her“.113 Ich erkenne dabei, dass es neben dem, was ich als normal bezeichne,
noch etwas anderes gibt. Somit ist das Eigene nur das vermeintlich Vertraute, denn das Frem-
de verunsichert die Ordnung des Eigenen und Nichteigenen.114 Man spricht vom zersetzenden
bzw. zerstörenden Effekt des Fremden.115 Ich identifiziere das Fremde als etwas Abwei-
chendes bzw. Ungleiches. Es kann dann zu einer Wechselbeziehung zwischen Eigenem und
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
105
Vgl. Nolte. Elias und Foucault verstehen das Eigene als Ort des Normalen und Zivilisierten. Siehe hierzu
auch Punkt 3 in dieser Arbeit.
106
Czekelius. S.28, 30. Jörg Zirfas und Benjamin Jörissen sprechen hier von einer Dezentrierung der bislang
gültigen Identität sowie von einem Thematischwerden der unhinterfragten Selbstbeziehung. (Vgl. Zirfas,
Jörissen S.136.). Angemerkt sei auch, dass die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem bewusst oder unbewusst
gesetzt wird.
107
Vgl. Messerschmidt S.217.
108
Vgl. ebd.
109
Boris NIESWAND, Zwischen Annäherung und Exotisierung, Die Ethnologie und ihre Herausforderung
durch das Fremde, S.2, In:
http://www.eth.mpg.de/cms/en/people/d/nieswand/pdf/ethnologie_herausforderung.pdf (Zugriff: 14.01.2014).
Von nun an zitiert als Nieswand.
110
ebd.
111
Czekelius. S.32.
112
ebd. S.31; Albrecht S.86.
113
Albrecht S.86.
114
Vgl. Straub, Garz, Krüger. Czekelius spricht in diesem Kontext von einer Konstellation. (Vgl. Czekelius
S.31.)
115
Straub, Garz, Krüger S.5.

! 25!
Fremdem kommen, bei der das Fremde entweder ignoriert, abgewehrt oder angenommen
wird. 116 Dies führt zu einer Veränderung im Selbstverständnis des Eigenen 117 und dem
Fremden kommt folglich ein bereicherndes Moment118 zu. Es entstehen neue Möglichkeiten,
mit dem Eigenen, Fremden und Vertrauten umzugehen. Fremdes und Eigenes stellen also
keine unüberbrückbaren Gegensätze dar. Die Konfrontation und Auseinandersetzung mit
Fremden ist ein (Lern-) Prozess, der nie abgeschlossen ist. Hierbei muss ich mich immer
gegenüber meinem Eigenen und Fremdem positionieren. Das zeigt, dass Fremdheit nicht ab-
solut und auch nicht per se fremd ist, sondern etwas Unerwartetes, Unberechenbares und
Flüchtiges, also nichts Statisches ist.119 Somit stellt Fremdes keine Eigenschaft dar, „sondern
meint stets die Qualität einer Erfahrung von einer Sache, einer Person oder einem Sach-
verhalt. Die Aussage, daß einer Person ein Sachverhalt fremd sei, ist daher eine Aussage über
die Person in ihrer Beziehung zu jenem Sachverhalt, sagt aber nichts über diesen Sachverhalt
aus“120. Außerdem kann sich das Eigene ferner zum Fremden entwickeln. Dies passiert bspw.,
wenn der Mensch äußert, dass er sich selbst nicht mehr kenne. Hierbei handelt er seinem
eigentlichen, gewohnten Handeln atypisch gegenüber, häufig ausgelöst durch (unbewusste)
Emotionen wie Angst. Folglich ist das Eigene relativ, denn es ist zufällig und keineswegs
homogen.121 Das Fremde seinerseits ist auch relativ, da es ein Störenfried und gleichzeitig ein
attraktives Korrektiv des Eigenen sein kann.
Ist man sich diesem dialektischen Verhältnis von Fremdem und Eigenem bewusst, so kann
man „(...) im Versuch, das Fremde zu begreifen, auch mehr über das Eigene in Erfahrung
bringen“122. Um mit Corinna Albrecht zu sprechen: „Umgang mit dem Fremden heißt immer
auch Umgang mit dem Eigenen oder Wer über Fremdes sprechen will, kann über Eigenes
nicht schweigen“123.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Fremde und das Eigene keine homogenen
Kategorien sind, die aber nicht ohne einander existieren können. Das Fremde wird als Heraus-
forderung wahrgenommen, da es das Eigene irritiert (durch einen Mangel an Vertrautheit)
und uns dazu auffordert, „(...) das vormals Selbstverständliche plötzlich mit neuen und
anderen Perspektiven [zu konfrontieren]“124 und uns zu öffnen.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
116
Vgl. Messerschmidt S.217. Wilden beschreibt in Anlehnung an Erdheim die Reaktionen auf das Fremde als
Furcht oder Faszination. (Vgl. Wilden S.254.)
117
Vgl. Nolte.
118
Vgl. Straub, Garz, Krüger S.7.
119
Vgl. Nieswand S.3.
120
Stenger S.22.
121
Vgl. Straub, Garz, Krüger S.7.
122
Czekelius S.32.
123
Albrecht S.96.
124
Bartmann, Immel S.8.

! 26!
Fremdheit ist von Nöten und unvermeidbar, denn wir brauchen sie, um uns selbst zu
verstehen. Gleichzeitig ist Fremdheit für das Eigene bestimmend, da ich nur durch Abgren-
zung etwas über mich oder einen anderen sagen kann. Folglich braucht Selbstbezug immer
Fremdbezug125, und umgekehrt führen Betrachtungen und Reflexionen von Fremdheit immer
auf das Selbst zurück126.
Nachdem ich nun das Fremde als Gegenüber dargestellt habe, welches sowohl als Teil des
Eigenen, als Zerstörer oder als herausfordernde Opposition zum Eigenen angesehen werden
kann, ist es nun aber auch wesentlich, auf die eigene Erfahrung des Fremdseins einzugehen.
Somit wird die Perspektive von Außen nach Innen verlegt. Gerade der Aspekt des eigenen
Fremderlebens ist für das Selbst wesentlich, da die Beschäftigung mit dem inneren Fremden
wiederum nahe legt, „dass das Eigene dem Fremden näher steht, als es der alltägliche
Wortgebrauch vermuten lässt“127. Zudem kann es eine Antwort auf die Frage geben, wie sich
die Grenze zum Eigenen bestimmen lässt.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
125
Vgl. Zirfas, Jörissen S.135.
126
Vgl. Wilden S.275.
127
Aydin S.77.

! 27!
! 28!
2.4.1. Das innere Fremde

Denkt man an Fremdheit, so denkt man sicherlich an Situationen und Verhältnisse, die sich in
der äußeren Welt abspielen. Doch Fremdheit beginnt nicht außerhalb, also gegenüber anderen
oder anderem, sondern im Menschen selbst. 128 Demnach erscheint Fremdheit in dieser
Perspektive unauflösbar mit dem Eigenen verbunden.129
Die Psychoanalyse beschäftigt sich vorwiegend mit diesem Aspekt. Sigmund Freud benutzt
hierfür die Metapher des inneren Auslandes und verweist darauf, wie das Selbst von
Fremdheit durchzogen ist.130 Er selbst ging davon aus, dass das Ich „(...) nicht einmal Herr im
eigenen Haus ist“131, das heißt, dass die Psyche uns immer nur teilweise bewusst ist. Der Ver-
such, sich selbst zu verstehen, dies durch die Akzeptanz der eigenen Fremdheit, ist eine
Voraussetzung dafür, sich überhaupt erst mit dem äußeren Fremden auseinanderzusetzen und
sich für dieses zu interessieren.132 Somit gehören äußeres wie inneres Fremdes zum Selbst
und können nicht voneinander getrennt werden.
Man spricht von innerer Fremdheit oder wie Zirfas und Jörissen es nennen: Selbstfremdheit,
„wenn im eigenen Selbstverständnis Unbekanntes auftaucht und Altvertrautes zweifelhaft
wird“133. Es handelt sich demnach um eine Art Selbstverunsicherung, die in mir selbst
aufbricht. Damit wird deutlich, „dass mit der Frage nach dem Fremden im Kern auch die
Frage nach dem Selbst gestellt ist.“134
Freud sieht das Unbewusste, als Teil der psychischen Struktur eines jeden Subjekts135, als
Form von Fremdheit an, welches Bestandteil des eigenen Selbst ist, weshalb auch das
Unheimliche, Schreckliche, Angst- und Grauenerregende Bestandteil des eigenen Selbst
sind.136 „Innere Fremdheit bezieht sich, im Sinne von Unzugänglichkeit, auf Phänomene wie
Tod oder auf psychische Erlebnisse wie Traum, Wahn oder auf das Unbewusste.“137 Kristeva
nennt es, wie bereits im Forschungsüberblick erwähnt, das Unheimliche.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
128
Hamid Reza YOUSEFI, Phänomenologie des Eigenen und des Fremden, Eine interkulturelle Perspektive, In:
Klaus Fischer, Ina Braun, Peter Gerdsen (Hg.), Wege zur Kultur. Gemeinsamkeiten – Differenzen –
Interdisziplinäre Dimensionen, Bautz Verlag, Nordhausen 2008, S.25-52, hier S.35.
129
Aydin S.77.
130
Straub, Garz, Krüger S.9.
131
Sigmund FREUD, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, In: ders., Gesammelte Werke XI, 4.
Auflage, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1966, S.247-482, hier S.295.
132
Christine KIRCHHOFF, Beschränkt und sich selbst fremd, Psychoanalytische Voraussetzungen von
Differenzerfahrung und Fremdverstehen, In: Bartmann, Immel S.191-202, hier S.192. Siehe hierzu auch Zirfas,
Jörissen S.137.
133
Zirfas, Jörissen S.137.
134
Rolf ELBERFELD, Theorie der Fremdheit, In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 9,
Wuppertal 2003, S. 112-113, hier S.112.
135
Wilden S.254.
136
Zirfas, Jörissen S.137.
137
Aydin S.77.

! 29!
Hinzuzufügen ist, „dass das innere Fremde nicht zuletzt die Selbsterkenntnis und
Selbstbildung in neue Bahnen lenkt“138. Schließlich kommt es durch das innere Fremde zu
einer Art Grenzerfahrung, sie stellt das Selbst in Frage, wodurch das Ich neu bestimmt,
aufgebrochen bzw. transformiert wird. Um das Ich zu definieren, braucht man Anhaltspunkte,
und diese stellen Differenzen dar. Das Ich lässt sich folglich erst durch die Differenz zu
Anderem beschreiben bzw. das innere Fremde ist an der Konstitution der Identität des Eigen-
en beteiligt139. Durch die innere Fremde entsteht demnach eine Suchbewegung nach dem
eigenen Selbst.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir das innere Fremde brauchen, um uns selbst zu
verstehen.140 Das innere Fremde ist vom Selbst nicht zu trennen.
Spricht man über die innere Fremde, so muss man auch ein Wort über die Identität verlieren,
da „Identität (...) immer dann wichtig [wird], wenn Differenz aufscheint“141.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
138
Straub, Garz, Krüger S.8.
139
Wilden S.277.
140
Vgl. Zirfas, Jörissen S.134.
141
Zirfas, Jörissen S. 12.

! 30!
2.4.2. Identität

Der Begriff der Identität ist genau so polysem wie der Fremdheitsbegriff, weshalb hier bloß
Relevanz auf den Bezug zwischen Eigenem und Fremdem gelegt wird.
Mit Verweis auf George H. Mead, einem der Klassiker in der Identitätsforschung, wird
Identität zu aller erst einmal verstanden als die Fähigkeit des Einzelnen, reflexiv aus sich
selbst herauszutreten, und sich damit selbst zum Objekt zu machen.142 Gemeint ist damit, dass
man dazu fähig ist, sich selbst betrachten zu können - wie in einem Spiegel -, um sich so ein
Bild von sich selbst zu machen. Laut Mead kann man als isolierter Einzelner nicht zu einer
solchen Selbstreflexion gelangen143: „Identität entsteht laut Mead vielmehr, wenn der Ein-
zelne sich im Kommunikationsprozess mit den Augen des Anderen zu sehen vermag und auf
diese Weise ein Bild von sich selbst entwickelt.“144 Folglich gibt es Identität „selbst“ nicht,
sie muss ständig neu erstellt und aktualisiert werden145, sie ist relativ146 und hat einen prozess-
haften Charakter147. Identität ist immer erst in Interaktion mit dem anderen möglich, beide
sind miteinander verwoben. Indem das Fremde das Selbst irritiert, erfolgt ein Moment der
Entfremdung, der Fremdheit im Selbst. Das Selbstverhältnis wird berührt: „in aisthetischer
und ästhetischer Weise, da (...) [es] selbstverständliche Kriterien in Frage stellt (...)“148.149
Es lässt sich also feststellen, dass die Identität des Einzelnen aus der Differenz und
Abgrenzung erwächst. Identität konstruiert sich aus einem kontinuierlichen dialektischen Zu-
sammenspiel von Eigenem und Fremdem.150
Es handelt sich um einen permanenten, individuellen, aber auch schwierigen Prozess, in
dessen Verlauf sich Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein erst herausbilden müssen. Identi-
tät bedeutet demnach, sich selbst in etwas zu finden.
Wie bereits unter Punkt 2.2.2. festgestellt, trägt Eigenes immer Züge des Fremden in sich,
sodass „(...) die Konstruktion der eigenen Identität immer durch die Identifizierung mit

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
142
Vgl. Eckart MÜLLER-BACHMANN, Identitäten Jugendlicher, Interkulturalität und kommunaler Raum,
Schriftenreife 2/2013, CJD Eutin und Hanburg, Eutin, S.80, In: http://www.cjd-eutin.eu/
fileadmin/content/Evangelische_Jugendhilfe_02_2013.pdf. (Zugriff: 10.08. 2014) Zitiert nach George H.
MEAD, Mind, Self and Society from the standpoint of a social behaviorist, University of Chicago Press, Chicago
1968 (Original 1934), S.170.
143
Vgl. ebd.
144
ebd.
145
Vgl. ebd. sowie Zirfas, Jörissen S.15. Siehe hierzu auch Punkt 3.1. in dieser Arbeit.
146
ebd. S.16.
147
ebd. S.49.
148
Zirfas, Jörissen S.136.
149
Vgl. ebd.
150
Romain SAHR, Identität und Fremdheit in der Luxemburger Kinderliteratur, In: Honnef-Becker, Kühn,
S.107-134, hier S.131. Von nun an zitiert als Sahr, In: Honnef-Becker, Kühn.

! 31!
Anderen zustande kommt, sie also stets mit Momenten des Fremden durchsetzt ist“151. Um
über Identität zu sprechen, darf man allerdings das Räumliche nicht außer Acht lassen, denn

„Identität entwickelt sich bekanntlich aus dem Spannungsfeld von Individuum und Kultur, dem
Gegensatzpaar, das sich gegenseitig bedingt. Dabei handelt es sich um einen unauflösbaren
Gegensatz, der dieses Paar zusammenhält: Individuum und Kultur brauchen, bedingen einander
gegenseitig, eines ist gleichzeitig des anderen Feind und Existenzgrundlage. Der Umgang mit
kulturell verlangter Einschränkung, Grenzsetzung, ermöglicht dem Individuum zu lernen, sich
zu entwickeln und den Erwerb der jeweiligen Kultur adäquaten psychischen Anpassungs- und
Abwehrformen.“152

Identität ist somit in die Kultur eingebettet.153 Wie unter 3.1. noch festzuhalten sein wird,
stellt Kultur einen Raum dar, sodass sich die Identität aus dem Verhältnis zwischen
Individuum und Umwelt herauskristallisiert154. Folglich stehen Identität und Raum in einer
relationalen Beziehung zueinander. Der Raum bietet der Identität den Bedeutungshorizont,
der das Leben und Handeln des Individuums sowie sein reflexives Selbstbild und sein
individuelles Verständnis des Guten maßgeblich bestimmt.155 Bietet der Raum allerdings nun
„keine Reflexionen (...) [des] Selbstverständnisses, keine identifikatorischen Ansatzpunkte
und keine Möglichkeit (...) [die] Identität zum Ausdruck zu bringen oder zu verwirklichen,
[so] kommt es geradezu zwangsläufig zu Identitätskrisen, Auflösung der sozialen Kohäsion
und weiteren Merkmalen der Entfremdung bis hin zur Anomie“156. Folglich drückt sich
Identität in der expressiven Artikulation aus. Ist dies nicht möglich, fällt die Lebenswelt des
Ichs auseinander und es kommt zur Entfremdung.157
In Verbindung mit dem Eigenen fällt immer wieder der Begriff des Anderen. Im Folgenden
gilt es nun, diesen Begriff in Relation zum Eigenen und Fremden näher zu bestimmen.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
151
Lescovec S.65.
152
Gerhild TRÜBSWASSER, Das Eigene und das Fremde, Psychoanalytische Betrachtungen zum Umgang mit
dem Fremden, S.2, In: http://truebswasser.com/pdf/eigene.pdf (Zugriff: 4.08.2014). Von nun an zitiert als
Trübswasser.
153
Vgl. Hartmut ROSA, Identität und kulturelle Praxis: politische Philosophie nach Charles Taylor, Campus
Verlag, Frankfurt a. Main, New York 1998, S.208. Von nun an zitiert als Rosa.
154
Vgl. Rosa S.205.
155
Vgl. ebd.
156
Rosa S.204f.
157
Vgl. ebd. S.205.

! 32!
2.5. Das Andere

Spricht man über die Abgrenzung von Eigenem und Fremdem, so stellt sich die Frage, ob
man Fremdes nicht auch als anderes bezeichnen kann. In diesem Zusammenhang ist eine be-
griffliche Differenzierung nötig.
Büker und Kammler stellen in ihrem Beitrag „Das Fremde und das Andere in der Kinder- und
Jugendliteratur“ fest, dass es nur wenige Erklärungsmodelle gebe, „die zwischen dem
Fremden und dem Anderen explizit unterscheiden“ 158 . Auch in sozialwissenschaftlichen
Theorien stellt diese Unterscheidung eine Unklarheit dar, da die Wörter Fremd / Fremdheit
nicht klar gegenüber den Wörtern Anderer/Andersheit abgegrenzt werden.159
Das Andere muss nicht fremd sein, es kann „(...) lediglich als Unterschied zwischen dem
eigenen Ich und dem jeweils anderen Ich aufgefasst werden“160. Ob das Andere dann auch
zum Fremden wird, hängt ganz davon ab, wie der „Prozess des Wahrnehmens, Deutens und
Interpretierens“161 verläuft, wobei man das Andere in Beziehung zum Eigenen setzt. Gerade
weil dieser Prozess recht unbestimmt abläuft und es einen breiten (bspw. physiologischen,
psychologischen oder etwa kulturellen) Spielraum gibt, der empirisch kaum exakt bestimmbar
ist, kann man kaum angeben, wann das Andere fremd wird, weshalb die Begriffe meist syno-
nym gebraucht werden.162
Demgegenüber gibt es auch Wissenschaftler, die diese Begriffe voneinander unterscheiden,
wie etwa der Sozialwissenschaftler Yasar Aydin. Ihm zufolge bilden beide Begriffe ein
Gegenstück zum Ich, was wiederum eine Gemeinsamkeit darstellt. Dabei ist der Fremde
immer der Andere, weil er etwas anderes als das Ich ist. Allerdings gilt dies nicht im Um-
kehrschluss: Das Andere ist nicht unbedingt das Fremde. Wenn ich vom Standpunkt des Ichs
ausgehe, dann sind meine Freunde Andere, aber nicht notwendigerweise Fremde. Man kann
erst dann von Fremdem sprechen, wenn die Andersheit des Anderen eine Irritation
hervorruft.163 Das Fremde ist also nicht nur anders, sondern auch noch unvertraut, wir haben
es noch nicht erfahren.164
Beiden Begriffen liegen unterschiedliche Bedeutungsebenen zugrunde. Im Alltagsgebrauch
haben sie eine numerische und eine qualitative Wertung. „Während Anderer numerisch auf
den Zweiten verweist, bezieht sich die qualitative Dimension auf die Bedeutung des Ver-

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
158
Büker, Kammler S.8.
159
Aydin S.13.
160
Büker, Kammler S.8.
161
ebd.
162
ebd.
163
Aydin S.13.
164
Vgl. Straub, Garz, Krüger S.9.

! 33!
schiedenen oder Gegensätzlichen“165. So spricht man im Alltag Personen, Objekten, Regionen
bzw. Orten Andersheit als Eigenschaft zu.
Jörg Zirfas und Benjamin Jörissen definieren Fremdheit als eine Erfahrung des Entzugs,
während Andersheit als Erfahrung der Differenz gesehen wird.166
Interessant und für den Kontext dieser Arbeit eher der nötige Mittelweg, stellt die Perspektive
des Existentialismus’ dar. Hier wird auf die zirkuläre Beziehung, die Verwobenheit von
Subjekt (Eigenem) und Anderem hingewiesen. Das Andere ist „(...) konstitutiv für die Sub-
jektwerdung des Subjekts (...), das nur vermittelt über den Blick des Anderen ein Bewusstsein
seiner selbst erlangen kann“167.168 Dabei geht das Eigene dem Anderen immer voraus, denn
die Auseinandersetzung mit dem Anderen nimmt seinen Anfang immer beim Eigenen bzw.
geht von ihm aus. Gleichzeitig wird das Andere als Korrektiv für das Eigene genutzt.
Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass das Andere vielfältige Formen annehmen und
Bekanntes wie Unbekanntes umfassen kann. Ob man das Andere nun vom Fremden trennt
oder es als Synonym versteht, das Eigene und das Andere konstituieren sich immer in
permanenter Interaktion 169 und der Versuch, das Andere zu verstehen, verändert das
Eigene.170 Demnach ist jedes Fremde und/bzw. Andere immer in Bezug auf das Eigene zu
betrachten, es setzt dieses voraus und ist mit ihm verflochten.171

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
165
Aydin S.13. Hervorhebungen im Original.
166
Vgl. Zirfas, Jörissen S.137.
167
Wilden S.274.
168
Vgl. ebd.
169
Straub, Garz, Krüger S.9.
170
Büker, Kammler S.11.
171
Vgl. ebd. S.9.

! 34!
!

3. Das Fremde und der Raum

Das Fremde bzw. das Gefühl von Fremdheit kann es ohne den Raum nicht geben, es ist daran
gebunden. Der Raum ist für die Konstituierung des Ichs und des Dus wesentlich.
Wie bereits zu den Ausführungen zum Eigenen festgehalten wurde, ist das Ich in ein Wir
eingebunden. Dieses Wir stellt eine Ordnungsstruktur dar und der /die / das Fremde wird in
Relation zu dieser Ordnungsstruktur bestimmt. Nennen wir dieses Wir die Gesellschaft, so
lässt sich diese wie folgt definieren: Die Gesellschaft ist zunächst einmal die Summe der
Individuen bzw. der Ichs. Doch die Gesellschaft reicht über die individuellen Vorstellungen,
Werte und Regeln hinaus, sie zeichnet sich durch Zurechnungsmerkmale wie bspw.
Zugehörigkeit, Orientierung, Überzeugung172 aus. Dies wird in seiner Gesamtheit allgemein
wiederum als Kultur bezeichnet173, weshalb Raum in diesem Verständnis auch den kulturellen
Bereich mit einschließt. Der Raum konstituiert sich nun im relationalen Wechselspiel
innerhalb dieser Gesellschaft. Hierbei handelt es sich um einen Aushandlungsprozess, „in
dem unterschiedlich positionierte Angehörige verschiedener Kulturen aufeinander treffen,
dadurch ihre jeweilige (kulturelle) Selbstverständlichkeit wechselseitig in Frage stellen und
die schließlich neu aushandeln und verschieben, bis der Kreislauf von Neuem beginnt“174.
Folglich zeichnet sich der Raum auch durch eine soziale Ordnung aus. Er ist „als Resultat
menschlicher Syntheseleistung, als eine Art Synopsis der einzelnen „Orte“, durch die das
örtlich Getrennte in einen simultanen Zusammenhang, in ein räumliches Bezugssystem
gebracht wird“ 175 zu verstehen. Er ist nicht unveränderlich, sondern konstituiert bzw.
produziert.
Der Raum ist ortbezogen, er markiert einen Ort im Raum, welcher konkret benennbar,
einzigartig und meist geographisch gekennzeichnet ist.176 Ein Ort zeichnet sich durch die
Symbolisierung menschlicher Beziehungen aus, das heißt, dass bestimmte institutionalisierte
Merkmale vorliegen, die sich durch die Interaktion zwischen Menschen in einem bestimmten
Situationszusammenhang herauskristallisiert haben. Diese Merkmale sind anschließend meis-

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
172
Vgl. Stenger S.20.
173
Vgl. Trübswasser S.2. Soziologisch gesehen unterscheidet man zwischen öffentlichem und privatem Raum.
Die Fremdheit ist im öffentlichen Raum verortet, wobei der private Raum der Raum ist, der Fremdheit
ausschließt. (Vgl. Wehrheim S.32.). Siehe hierzu auch Punkt 3.1.
174
Lars ALLOLIO-NÄCKE, Britta KALSCHEUER, Arne MANZESCHKE (Hg.), Differenzen anders denken:
Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, Campus Verlag, Frankfurt/Main 2005, S.78. Von nun an
zitiert als Alolio-Näcke, Kalscheuer, Manzeschke.
175
Sabine ZINN-THOMAS, Fremde vor Ort: Selbstbild und regionale Identität in Integrationsprozessen, Eine
Studie im Hunsrück, transcript Verlag, Bielefeld 2010, S. 51. Zitiert nach: Dieter LÄPPLE,
Gesellschaftszentriertes Raumkonzept. Zur Überwindung von physikalisch-mathematischen Raumauffassungen
in der Gesellschaftsanalyse., In: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Campus Verlag, Frankfurt am Main, New
York 1991, S.35-46, hier S.37. Von nun an zitiert als Zinn-Thomas.
176
Vgl. ebd.

!
tens emotional belegt. Ein Ort ist demnach ein „Produkt dessen, was der Mensch hergestellt
und gedeutet hat“177.178
Der Raum besitzt demzufolge eine Orientierungsfunktion für die Gesellschaft, sie kann sich
wiedererkennen, dies in Form eines Bedeutungs- und Bezugsystems. Zentral hierfür ist, dass
das Ich diesen Raum expressiv artikulieren kann bzw. dass Raum in der Sprache konstituiert
wird.179 Dieses Bedeutungs- und Bezugssystem unterliegt allerdings dem ständigen sozialen
Wandel. Zudem ist es ein kulturelles Konstrukt und das Ergebnis vielfältiger kultureller
Prozesse.180 Ferner bietet der Raum den Menschen die Möglichkeit, Fremdheit zu begegnen
oder sie auszuschließen.
Wenn es allerdings dazu kommt, dass sich das Ich bzw. das Individuum nicht mehr in einem
Ort wiedererkennt, „daß (...) [es] darin (...) [sein] Verhältnis zur Welt nur noch negativ be-
stimmen (...) [kann]“181, so wird dieser Ort - um mit der Terminologie des Anthropologen
Marc Augé zu sprechen - zu einem Nicht-Ort, genauer zu einem Ort der Entfremdung. Ent-
fremdung bedeutet, dass das Bedeutungs- und Bezugssystem des Ichs auseinanderfällt und ich
dieses nicht mehr artikulieren kann, was (siehe hierzu Punkt 2.4.2.) zur Verkümmerung der
Identität führt.182
Die Relation von Fremdem und Eigenem, welche ja gemäß der Auffassung in dieser Arbeit
nicht strikt von einander zu trennen ist, ist für den Raum insofern irritierend, als dass sie nicht
zu einer einheitlichen Ordnung führen kann, die beständig gleich bleibt, sondern der Raum
muss ständig neu gestaltet und ausgehandelt werden.183
Der Raum kann natürlich, abhängig von den einzelnen Handlungszusammenhängen, weitere
Konnotationen aufweisen. Im Folgenden soll nur kurz auf die Raumaspekte Kultur, Inter-
kulturalität, Exotik und Phantastik eingegangen werden, da diese im Rahmen der
Jugendromane von Interesse sein werden. Auch hier kann man nicht die gesamte Forschung
zu den Aspekten Kultur, Interkulturalität, Exotik und Phantastik erläutern, da dies den
Rahmen der Arbeit sprengen würde.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
177
ebd. S.52.
178
Vgl. ebd.
179
Vgl. Rosa S.205.
180
Vgl. Zinn-Thomas S.52.
181
Rosa S.205. Rechtschreibung aus dem Original.
182
Vgl. ebd. S.208.
183
Vgl. Alolio-Näcke, Kalscheuer, Manzeschke, S.78.

! 36!
3.1. Kultur und Interkulturalität

Die Kultur stellt einen Raum der kulturellen Fremdheitserfahrung dar, da dort die Begegnung
mit einer anderen Wirklichkeitsordnung stattfindet.
Zunächst einmal zeichnet sich eine Kultur neben dem territorialen Aspekt durch
Zurechnungsmerkmale wie Wissens- und Sinnstrukturen aus, die eine eigene Wirklich-
keitsordnung ausmachen, welche einer Gesellschaft, einer Wir-Gruppe gemein sind. Kultur
äußert sich durch soziale wie räumliche Nähe und stellt folglich auch eine Ordnungs-
struktur184 dar.
Wichtig ist, dass der Raum Kultur nicht materiell bzw. gegenständlich ist, sondern Kultur ist
an Erfahrung gebunden, nämlich an die Erfahrung der eigenen Körperlichkeit und ihr
Verhältnis zu anderen.185 Das Fremde zeigt sich als das Unvertraute, das von außerhalb in den
Raum eindringt und eben nicht den Wissens- und Sinnstrukturen dieser Wirklichkeitsstruktur
entspricht.186 „Wichtig ist (...), daß dem anderen nicht im eigentlichen Sinne eine andere
Wirklichkeit unterstellt wird, sondern lediglich eine andere Ordnung derselben
Wirklichkeit“187, das heißt, dass Fremdheit dadurch entsteht, „daß (...) der Wirklichkeit der
Welt teilweise andere Bedeutungen (...) [gegeben werden], von anderen Voraussetzungen (...)
ausgegangen wird und zu anderen Schlüssen und Bewertungen (...) [gekommen wird]“188.
Das Fehlen der gemeinsamen Ordnung führt zu einem Problem, da ich das Fremde als nicht
zu meiner Ordnung gehörig zähle und es somit exkludiere, bzw. ich erfahre mich selbst als
ausgeschlossen.189
Allerdings wird das Verhältnis von Raum und Kultur immer fragwürdiger, da Globalisierung
und Postmoderne dazu geführt haben, dass Kultur keinen festen, eindeutigen Raum mehr
darstellt190, weshalb man auch einen Blick auf den Begriff der Interkulturalität werfen sollte.
Die Welt befindet sich in der Postmoderne in intensiven Transformationsprozessen, welche
u.a. Auswirkungen auf den Kulturraum haben. Prozesse wie bspw. Globalisierung, Ver-
netzung und Migrationsbewegungen haben dazu geführt, dass es zwischen unterschiedlichen
Kulturen zu Kontakt kommt und ein kultureller Transfer zwischen diesen verschiedenen Kul-
turen stattfindet. Dieser Kontakt bildet einen sogenannten Zwischenraum, den der Interkul-
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
184
Vgl. Benno WERLEN, Kulturelle Räumlichkeit: Bedingung, Element und Medium der Praxis, In: Britta
Hauser-Schäublin, Michael Dickhardt (Hg.), Kulturelle Räume, räumliche Kultur, Zur Neubestimmung des
Verhältnisses zweier fundamentaler Kategorien menschlicher Praxis, LIT Verlag, Münster-Hamburg-London
2003, S.1-12, hier S.7. Von nun an zitiert als Werlen.
185
Vgl. ebd.
186
Vgl. Stenger S.22, 24.
187
ebd. S.25. Hervorhebungen im Original.
188
ebd. Rechtschreibung im Original.
189
ebd.
190
Vgl. Werlen S.2.

! 37!
turalität, der ein komplexes Spannungsfeld darstellt, in welchem vielschichtige
Aushandlungsprozesse zwischen den Kulturen stattfinden.191

„Interkulturalität könnte in diesem Sinne als die Begegnung von regionalen, nationalen,
europäischen oder globalisierten Kulturen oder deren Vertretern verstanden werden, die das
Fundament für ein (wie auch immer funktionierendes) Gemeinschaftsleben wäre. Wenn sich
diese interkulturellen Begegnungen auf einen spezifischen Ort konzentrieren, ließe sich in
einem topografischen Sinne konkret von Verortungen der Interkulturalität sprechen.“192

Der Raum der Interkulturalität ermöglicht eine wechselseitige Bewusstwerdung der


jeweiligen Gewohnheiten und des Selbstverständnisses, er ist auf ein Miteinander, auf Ver-
ständigung ausgerichtet. Hierbei handelt es sich um einen sich wechselseitig ergänzenden,
reziproken, nicht statischen sondern fortwährenden Prozess193, um sich zu verständigen.
Der Interkulturalitätsraum hat als Zwischenraum allerdings nicht bloß die Funktion, zwischen
Eigenem und Fremdem zu vermitteln bzw. Identität zu stiften, sondern er stellt gleichzeitig -
in Anlehnung an Homi Bhabha - einen dritten Raum dar. In diesem dritten Raum „(...) kann in
einer produktiven Vermischung Neues entstehen, wobei „Neues“ in erster Linie die
Neuverhandlung von erstarrten Begriffen und Vorstellungen sowie der damit verbundenen
mentalen Grenzziehungen bedeutet“194. Vermeintlich feste, verankerte Strukturen wie etwa
die Identität oder die Heimat verlieren dadurch ihre Konturen bzw. Grenzziehungen. Dies hat
auch Konsequenzen auf das Ich, das Subjekt, das Bhabha als ein Subjekt in Bewegung
betrachtet, „(...) dem weder Vergangenheit noch Heimat als Festgefügtes zur Disposition
stehen. Für Bhabha ist das Subjekt vielmehr ein Knoten- und Kreuzungspunkt der Sprachen,
Ordnungen, Diskurse und Systeme, die es durchziehen mit allen damit verbundenen
Wahrnehmungen, Emotionen und Bewusstseinsprozessen. Seine Metapher des „verknoteten
Subjekts“ verlagert damit Multikulturalität aus einer territorialen Vorstellung in eine Per-
son“195. Die Erschließung des dritten Raums kann wiederum nur über die Austauschprozesse
zwischen Fremdem und Eigenem gelingen, „(...) und dafür ist es notwendig, die Perspektive

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
191
Vgl. Dr. Irmy SCHWEIGER, Kulturen im Kontakt – Kulturelle Zwischenräume als Potential für einen
„dritten Raum“?, In: http://www.uni-goettingen.de/de/kulturen-im-kontakt-–-kulturelle-zwischenraeume-als-
potential-für-einen-dritten-raum/50140.html (Zugriff: 10.08.2014).
192
Thomas ERNST, Dieter HEIMBÖCKEL (Hg.), Verortung der Interkulturalität, Die <Europäischen
Kulturhauptstädte< Luxemburg und die Großregion (2007), das Ruhrgebiet (2010) und Istanbul (2010),
transcript Verlag, Bielefeld 2012, S.8.
193
Vgl. ebd. S.17.
194
Christine ENGEL, Roman LEWICKI (Hg.), Interkulturalität: Slawistische Fallstudien / Interkulturowość:
Studia Slawistyczne. In: Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft: Slavica Aenipontana, Bd. 12, Innsbruck
2005, S.1-8, hier S.1.
195
ebd. S.2.

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zu wechseln, denn erst wenn eine andere Position eingenommen wird, kann die eigene
reflektiert werden“196.
Interkulturalität als Raum bietet demnach die Möglichkeit, das eigene Identitätskonzept, das
ausschließlich auf dem Eigenen beruht, zu hinterfragen und kritisch im Umgang mit Eigenem
und Fremdem zu werden. Dies setzt voraus, dass man dazu bereit ist, eigene Deutungs-,
Argumentations- und Handlungsmuster zu verstehen und ein kritisches Verhältnis zur eigenen
Kultur aufzubauen.197
Die Auseinandersetzung mit Kultur bzw. anderen Kulturen und dem Fremden bildet sich in
der Literatur in unterschiedlichen Mischungen ab, wovon zwei besonders in Bezug auf
Abedis Jugendromane herauszustellen sind: die Exotik und die Phantastik. Beide Räume
ermöglichen es, sich am Rätselhaften bzw. Andersartigen zu weiden. Abedi nutzt beide
Räume regelmäßig in ihren Romanen, um gerade dem Andersartigen einen Spielraum zu
bieten. Außerdem nutzt sie diese Räume, um Fremdes erklärbar bzw. fassbar zu machen.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
196
ebd.
197
Vgl. ebd. S.3.

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3.2. Exotik

Im Folgenden wird nun auf die Exotik (Synonym Exotismus) als Raum eingegangen, welcher
den oder die Fremde als besonderen Reiz bewertet. Exotik soll hier nicht synonym verstanden
werden für Fremdes, vielmehr wird im Exotischen das Andere dargestellt.
Zum einen kann man Exotik natürlich geographisch verorten, als Ort, der sich räumlich bzw.
zeitlich (weit) weg von dem mir vertrauten und bekannten Ort befindet. Hier verwendet man
häufig das Begriffspaar nah und fern. Der Vorstellung der räumlichen bzw. zeitlichen
Entfernung liegt die Annahme eines kulturell anderen und damit unbegreiflichen Raumes
vor.198 Zum anderen „(...) definiere sich [Exotik] vordergründig im „Begriff des Anders-
Sein“, der „Wahrnehmung des Diversen“, des Wissens, daß etwas nicht das eigene Ich sei“.199
Hier werden Exotismus und die Fähigkeit, anderes aufzufassen, wie Synonyme behandelt.200
„Dabei zielt das Exotismusgefühl nicht auf die Integration des Fremdartigen als Teil der eige-
nen Lebenswirklichkeit ab, sondern - im Gegenteil - auf die „scharfe, unmittelbare Wahr-
nehmung einer Unverständlichkeit“, das Erleben einer Distanz, die das Individuum „aus-
kostet“.“201 Exotik wird folglich als eine sinnliche Erfahrung aufgefasst, wobei sich das Ich,
das das Exotische erfährt, der Distanz zum Exotischen bewusst ist.202 Setzt man das Exotische
mit dem eigenen Ort in Beziehung, so hat das Exotische eine doppelte Funktion: „nämlich
einerseits als eskapistisches Moment der eigenen Lebensrealität gegenüber, andererseits als
Katalysator selbstbewußter kultureller Identität zu fungieren“203.204 Exotik ermöglicht einem
demnach die Flucht bzw. den Ausbruch aus der Unzufriedenheit, dem Alltag, den Normen,
gleichzeitig aber kann man dadurch seine Lebenswelt mit einer anderen vergleichen und man
wird sich seiner eigenen kulturellen Identität bewusster. Somit verkörpert das Exotische eine
Projektionsfläche der (eigenen) Wünsche205, welche in einen sozialen Kontext eingebettet ist.
Gleichzeitig aber kann das Exotische „auch Selbstreflexion implizieren, die der Erfahrung des
Eigenen als Folie des Fremdartig „Unerfahrenen“ bedarf“206, das heißt, „das Andere [wird] -

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
198
Verena DÖHLER, Literarischer Exotismus in der Gegenwart – Am Beispiel von Bodo Kirchhoff, S.39, In:
http://kops.uni-
konstanz.de/bitstream/handle/123456789/12624/Magister_Literarischer%20Exotismus.pdf?sequence=2 (Zugriff:
10.08.2014).
199
Peter REVERS, Das Fremde und das Vertraute: Studien zur musiktheoretischen und musikdramatischen
Ostasienrezeption, Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Band XLI, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1997,
S.25. Zitiert nach: Victor SEGALEN, Die Ästhetik des Diversen (dt. Übers. von Uli Wittmann), Frankfurt/Main -
Paris 1983, S.38. Rechtschreibung im Original. Von nun an zitiert als Segalen.
200
Vgl. ebd.
201
ebd. Zitiert nach Segalen S.44.
202
Vgl. ebd. S.26.
203
ebd. S.27. Rechtschreibung im Original.
204
Vgl. ebd.
205
Vgl. ebd. S.28.
206
ebd. S.27.

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nicht selten als Korrektiv - auf das eigene Dasein bezogen (...)“207. Das Exotische hat somit
einen verstörenden, konfrontativen Effekt auf das Eigene und kann als „Medium der Rela-
tivierung für das Eigene“208 fungieren.209 Dem Exotischen kommt ein Entfremdungsmoment
zu, welches sich auf individueller (vom eigenen Selbst) wie auch sozialer Basis in Form von
(Zivilisations-) Flucht äußert. Schließlich handelt es sich dem Exotischen gegenüber um eine
Haltung bzw. Einstellung, die eine Annäherung an das Andersartige ermöglicht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Exotik als Ort bzw. Lokalität zum einen als
einen kulturell anderen und damit unbegreiflichen Raum äußert, zum anderen bezieht sie sich
auf die dem Menschen inhärente Sehnsuchtshaltung.

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207
ebd. S.28.
208
ebd.
209
Vgl. ebd.

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3.3. Phantastik

Die Phantastik wird als Teil des Exotismus gesehen, allerdings unterscheiden sich beide im
Umgang mit dem Verhältnis von Realität und Phantasie210, denn „die Zielrichtung [der
phantastischen Literatur] ist die Außerkraftsetzung und Destruktion der im Werke vorge-
führten Realität“211. Der Exotismus dahingegen zerstört nicht, sondern ist eine „Alternative
zur Realität der Zivilisationssphäre“ 212 . Die Phantastik determiniert sich schließlich als
Fremde, als andere Dimension in der Realität. Was als Realität bzw. Wirklichkeit aufgefasst
wird, hängt vom Betrachter ab sowie vom jeweiligen Kulturkreis, aus dem der Betrachter
stammt. Der Realitätsbegriff selbst ist äußerst unbestimmt, weshalb für den Arbeitskontext –
in Anlehnung an Marianne Wünsch – Realität als Konsens der Wirklichkeitsauffassungen
einer Kultur, als Übereinkunft dessen, was als realitätskompatibel gelten könnte, betrachtet
wird.213
Demzufolge gibt es keine einheitliche Sicht von Phantastik. Allerdings kann man festhalten,
dass Phantastik all das ist, was außerhalb des Erkenntnishorizontes der jeweiligen
Wirklichkeit liegt.214 Das, was man für allgemein gültig gehalten hat, ist nun unverständlich.
Somit handelt es sich hier abermals um einen Relationsbegriff.
Das Fremde im Phantastischen wird ebenfalls wie bei der Exotik als Manifestation des
Anderen verstanden, das sich der unmittelbaren Wahrnehmung und Darstellung entzieht.
Zudem mache es Grenzen sichtbar215, was beim Betrachter zu Zweifeln führt.
Als Raum bietet die Phantastik demnach die Möglichkeit, Wirklichkeitskonzepte bloßzulegen
und zu reflektieren, was zu einem Bruch mit der Wirklichkeit führen kann, dies durch Proble-
matisierung des Wirklichkeitsbegriffes und durch Hinterfragen der eigenen Ordnung, was
wiederum eine Erkenntniskrise auslösen kann.216

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210
Vgl. ebd. S.21.
211
Wolfgang REIF, Zivilisationsflucht und literarische Wunschräume: Der exotische Raum im ersten Viertel des
20. Jahrhunderts, Metzler Verlag, Stuttgart 1975, S.14. Von nun an zitiert als Reif.
212
ebd. S.17.
213
Vgl. Marianne WÜNSCH, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890-1930), Definition.
Denkgeschichtlicher Kontext. Strukturen., Fink Verlag, München 1991, S.23ff. Gemeint ist damit eine
Übereinkunft darüber, was im Rahmen eines bestimmten historischen, kulturellen und sozialen Kontextes als
realistisch aufgefasst wird und was nicht. (Vgl. ebd.)
214
Vgl. Bern TIMM, Thomas KOHLSCHMIDT, Der fantastische Raum und die Wirklichkeit, S.1, In:
http://fantastik-online.de/metawelten/ko/ff_ko0003.pdf (Zugriff: 9.08.2014).
215
Vgl. Ulrike SCHMAAS, Das Phantastische als Erzählstrategie in vier zeitgenössischen Romanen, Almqvist
& Wiksell International, Stockholm 2004, S.23. Von nun an zitiert als Schmaas.
216
Vgl. ebd. S.24.

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4. Zusammenfassung Theorie

Die Ausführungen zum Begriff „fremd“ belegen, wie verzweigt und komplex das Fremde
ist217. Eine elementare Erkenntnis lautet, dass das Fremde „nicht bloß etwas Äußerliches [ist],
dem man begegnen kann“218, sondern dass es das Fremde auch im Inneren von mir Selbst
gibt, ein „von Fremdheit durchzogenes Selbst“219. Folglich hat Fremdheit zunächst eine onto-
logische Funktion, da es eine „existentielle und universale Erfahrung“220 ist, die jeder Mensch
erlebt, dies, weil er jeden Tag Menschen und Dingen begegnet, die ihm unbekannt bzw.
unvertraut sind. Gleichzeitig hat Fremdheit auch eine funktionale, gar konstitutive Rolle,
nämlich die, dass Fremdheit es ermöglicht, Eigenes zu bestimmen. Schließlich kann man nur
herausfinden, wer oder was man ist, wenn man weiß, wer oder was man nicht ist.221 Zudem
handelt es sich um ein relationales Phänomen, das nie feststeht, absolut ist. Fremdheit wird
immer betrachtet in Bezug auf eine bestimmte Ordnung. Fremdheit ist nie etwas primär
Gegebenes, es entsteht immer nur, wenn es mit etwas anderem in Beziehung gesetzt wird.
Demnach kann Fremdheit auch als Erfahrung einer Exklusionsbeziehung222 bestimmt werden.
Mit Rückblick auf den Forschungsüberblick wird offensichtlich, dass man keine allgemein-
gültige Definition vornehmen kann, dies angesichts der Vielschichtigkeit des Fremdheits-
begriffs, demnach wäre dies auch nicht sinnvoll, da sich die Bedeutung des Fremden durch
die jeweilige Situation, also im Bezug zum Kontext erschließt223 und da Fremdheit je nach
Gesellschaftsstruktur oder sozialer Situation ganz unterschiedlich sein kann. Demzufolge ist
Fremdheit nicht homogen. Obwohl dem so ist und sich viele Faktoren, die Fremdheit aus-
machen, wandeln können, bleibt die grundlegende Struktur gleich224: Fremdheit ist nicht nur
die Definition einer Relation, sondern auch die Definition einer Grenze.225 Dies wiederum
macht auch deutlich, dass Fremdheit immer im Kontext des Raumes betrachtet werden muss,
welcher weiter für die Konstituierung der Identität und damit verbunden der Kultur
wesentlich ist.
Schließlich wird der Fremdheitsbegriff in dieser Arbeit als eine soziale Konstruktion
aufgefasst: Das Fremde wird vor dem soziokulturell geprägten Hintergrund des Individuums
wahrgenommen und hinsichtlich des ihm Bekannten interpretiert.

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217
Straub, Garz, Krüger S.8.
218
ebd.
219
ebd.
220
Aydin S.231.
221
Vgl. Aydin S.232.
222
Stenger S.19.
223
Czekelius S.40.
224
Vgl. Aydin S.233.
225
Heinke S.90.

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Für den weiteren Verlauf ist es wichtig, dass sich der Begriff auf moderne Gesellschaften
bezieht, schließlich hat Abedi für moderne Jugendliche geschrieben und ihre Geschichten
finden in der (fiktiven) Gegenwart statt. Gerade als moderne Gesellschaft können wir ohne
Fremdheit nicht (mehr) auskommen, weshalb Abedis Jugendromane nun hinsichtlich der
Frage des Umgangs und des Erlebens mit Differenzerfahrungen untersucht werden sollen,
wobei sich natürlich die Frage stellt, worin denn nun die Herausforderung liegt, die das
Fremde an uns stellt.
Abedi benutzt in ihren Romanen die Fremdheitserfahrung als Grundvoraussetzung für diese
Herausforderung, um sich mit dem Fremden zu beschäftigen. Erst durch diese Erfahrung wird
es den Protagonisten möglich, Fremdes zu identifizieren. Allerdings reicht die reine Identi-
fikation nicht aus, eine Auseinandersetzung ist nötig, um das Fremde greifen und schließlich
verstehen zu können. In diesem Prozess wird die eigene Identität in Frage gestellt, wobei eine
Abgrenzung zum Eigenen stattfindet, die zunächst eine innere Fremde hervorruft. Schließlich
sind es das Andere und der Raum, die es den Protagonisten ermöglichen, über Fremdes
nachzudenken und Fremdes zu überdenken.
Die Reihenfolge, in der die Romane abgehandelt werden, ist willkürlich, da die Romane alle
eine abgeschlossene Geschichte besitzen und als individuelle Werke betrachtet werden
können. Gerade diese Abgeschlossenheit ermöglicht es zu zeigen, wie Abedi das Fremde zu
einem Konzept gemacht hat. Gleichzeitig bietet es aber auch einen Einblick in die unter-
schiedlichen Fremdheitserfahrungen, wie die Protagonisten sich in ihrem Umgang mit dem
Fremden auseinandersetzen und ob eine Entwicklung im Umgang mit Fremden von Roman
zu Roman festzustellen ist.

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5. Der Jugendroman Isola

5.1. Zum Inhalt

Der Jugendroman Isola wird aus der Perspektive der Hauptfigur Vera erzählt. Die Geschichte
handelt von zwölf Jugendlichen, die für ein Reality-Filmprojekt des Regisseurs Quint
Tempelhoff ausgewählt wurden. Diese begeben sich freiwillig für das Projekt auf eine fiktive
Insel mit dem Namen Isola, welche vor Rio de Janeiro liegt. Die Jugendlichen befinden sich
alleine auf der Insel, sie werden lediglich von Kameras für das Filmprojekt beobachtet, dies
Tag und Nacht. Für das Projekt benutzen die Teilnehmer nicht ihren eigentlichen Namen,
sondern sie wählen einen Namen speziell für die Insel und dürfen drei Dinge mitnehmen, die
ihnen wichtig sind. Glauben die Jugendlichen zunächst, dass es sich um ein kostenfreies
Abenteuer ohne Eltern, Regeln und Einengungen handelt, so werden sie auf der Insel eines
Besseren belehrt: Sie müssen ein Spiel spielen, in welchem sie sich an bestimmte Regeln
halten sollen. Es gibt einen sogenannten „Mörder“, der nach und nach die „Opfer“ ver-
schwinden lässt. Wer „Opfer“ und wer „Mörder“ ist, haben die Jugendlich blind gezogen,
sodass keiner weiß, wer welche Rolle einnimmt. Es kann jeden zu jedem möglichen Zeitpunkt
erwischen. Nicht nur, dass ihnen dieses Spiel ungeheuer ist, auch wird die Insel selbst immer
mehr zu einer Art Gefängnis, dies für jeden Einzelnen auf seine ganz persönliche Art und
Weise. Die Jugendlichen werden dazu gezwungen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen
und herauszufinden, wer sie eigentlich sind. Außerdem entdeckt Vera die Liebe und verliebt
sich in Sólo. Sólo alias Rafael, ist Tempelhoffs Sohn, welchen dieser bewusst in das Projekt
eingeschleust hat. Das Projekt läuft schließlich aus dem Ruder, da aus dem anfänglichen Spiel
tödlicher Ernst wird: Joker stirbt auf mysteriöse Art und Weise. Die Jugendlichen vertrauen
sich nicht mehr. Nach und nach fallen die Masken und die Jugendlichen machen eine
überraschende Entdeckung: Tempelhoff wurde manipuliert, dies von Tobias. Tobias ist
Tempelhoffs jüngster Sohn. Tobias' Geburt verlief mit Komplikationen, sodass Tempelhoffs
geliebte Frau sterben musste. Daraufhin machte Tempelhoff Tobias für den Tod seiner Frau
verantwortlich und verstieß ihn. Tobias wollte sich an seinem Vater für dessen Abweisung
rächen und hackte sich in das Videosystem Tempelhoffs. Außerdem schlüpft er um das Pro-
jekt zu sabotieren mehrmals in Sólos Rolle, da er seinem Bruder sehr ähnlich sieht. Doch er
verliebt sich in Vera. Als die Jugendlichen sich schließlich selbst zu retten versuchen,
gelangen sie auf eine Nachbarinsel und entdecken den Videobunker, von dem aus die Insel
beobachtet wurde. Hier treffen sie auf Tobias, der Tempelhoff als Geisel hält. Es kommt zur
Eskalation: Nicht nur erfährt Sólo von der Existenz seines Bruders, sondern auch der Mord
wird aufgeklärt. Tobias, der sich verantwortlich fühlt, begeht schließlich Selbstmord und

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befreit somit die Inselteilnehmer und Tempelhoff. Um schließlich gänzlich von der Insel
gerettet zu werden, muss Vera sich ihrer größten Angst stellen, ihre Schwester anrufen und sie
um Hilfe bitten. So kommt es zum Widersehen zwischen Vera und ihrer Familie.

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5.2. Identitätsproblematik

Das Jugendwerk Isola beschäftigt sich hauptsächlich mit der Identitätsproblematik und was es
heißt, sich selbst zu sein. Der Begriff der Identität hat im Roman einen zentralen Stellenwert
und zeigt das Spannungsfeld auf, in dem sich Identität bewegt: Zum einen wird gezeigt, wie
dynamisch und kreativ Identität sein kann und zur Konstruktion von Identität im Sinne von
Selbstbild und Selbstkonzept beiträgt und auch welche Konsequenzen dies haben kann. Zum
anderen nimmt der Begriff Identität von Anfang an das Motiv der Entzweiung bzw. Teilung
auf im Sinne von einem Identitätskonflikt und was es heißt, sich diesem Konflikt zu stellen,
um das Eigene zu identifizieren. Der Aspekt der Fremdheit stellt hierbei eine Heraus-
forderung an die Identität dar. Es ist das, was das Selbstverständnis, also das, was wir sind
oder was wir sein wollen, in Frage stellt.226 Diese Herausforderung kann von Vorteil sein, in
dem Sinne, dass sie eine Chance zur Vergewisserung und Entwicklung der Identität
darstellt227, oder aber sie kann einen auch daran hindern, seinen eigenen Maßstäben nicht zu
genügen. Dadurch, dass das Fremde ambivalent sein kann, ergibt sich daraus eine
Ungewissheit, was das Fremde im Hinblick auf die eigene Identität bedeuten kann.228

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
226
Vgl. Bernd SCHÄFER, Bernd SCHLÖDER, Identität und Fremdheit. Sozialpsychologische Aspekte der
Eingliederung und Ausgliederung des Fremden, S.70, In: http://www150.uni-
muenster.de/Ejournals/index.php/jcsw/article/viewFile/467/438 (Zugriff: 9.03.2015). Von nun an zitiert als
Schäfer, Schlöder.
227
Vgl. ebd. S.72.
228
Vgl. ebd. S.70.

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5.2.1. Identität und Rollenvielfalt

Zu Beginn des Filmprojektes äußert sich Tempelhoffs Assistentin wie folgt: „Es gibt kein
Script und keinen Drehplan. Sobald ihr auf der Insel ankommt, seid ihr auf euch selbst
gestellt. Erzählt, was ihr wollt, macht, was euch in den Sinn kommt, seid einfach ihr selbst
oder von mir aus jemand anders.“229 Der Identität wird in diesem Zusammenhang ein enormes
Maß an Freiheit zugeschrieben, insofern, als dass man die offene Wahl hat, der zu sein, der
man sein möchte oder der zu sein, der man vielleicht ist. Man sucht sich seine Identität selbst
aus, man ist der Macher seines eigenen Selbst: „Warum Marionette sein, wenn man an den
Fäden ziehen darf?“230 Nicht nur, dass man sich dadurch jederzeit neu erfinden kann, es gibt
einem auch einen gewissen Wiedererkennungswert, weil man sich gerade immer wieder neu
erfindet (vgl. das Lady Gaga – Phänomen231). Die gestalterischen Möglichkeiten und Krea-
tionen sind hierbei unbegrenzt und bewirken je nach Situation eine gewisse Komik.
Welche Formen von Freiheit dies annehmen kann, zeigt das Repertoire der Namen und die
Vielzahl an Rollen, die die Jugendlichen an- bzw. einnehmen: Joker gibt sich zunächst – ganz
passend zu seinem gewählten Namen, als Komiker, erfindet sich aber während des Spiels
mehrmals neu, wobei er mal der Ernste, mal der Schlaue und mal der Revoluzzer ist.
Ähnliche Rollenwechsel sind bei den übrigen Kandidaten wiederzufinden: Elfe ist die
Aufgedrehte, die Freie, die Verträumte, die Schillernde, die Ängstliche; Krys ist die Ruhige,
die Geheimnisvolle, die Brüchige; Neander ist der Wilde, der Gelehrte, der Forscher, der
Traurige; Lung ist der Künstler, der Exotische; Alpha ist der Adonis, der Mächtige, der
Draufgänger, der Feigling; Pearl ist die Ruhige, die Unerschrockene, die Erwachsene; Moon
ist die Zeichnerin, die Sensible, die Direkte; Darling ist das Biest, die Erotische, die Dumme,
die Unberechenbare, die Falsche; Milky ist der Koch, der Unscheinbare, der Gentleman und
Sólo ist der Geheimnisvolle, der Ruhige, der Impulsive. Hier deutet sich bereits an, dass es
Unterschiede zwischen dem gewählten Namen und dem tatsächlichen Verhalten gibt, was da-
rauf hindeutet, dass Identität an sich auch gegensätzliche Züge beinhalten kann. Sólo ist bei-
spielsweise sowohl ruhig als auch impulsiv.
Alle elf Jugendlichen232 haben sich für das Spiel bewusst neue Namen gegeben und neue
Charaktere entwickelt, um ihrem eigentlichen Ich zu entfliehen. Es handelt sich hierbei um
Wunschidentitäten: Sie wollten sich sozusagen verkleiden, damit die anderen ihre Schwächen

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
229
Isabel ABEDI, Isola, Arena Verlag, Würzburg 2007, S.46. Von nun an zitiert als Isola.
230
ebd. S.96.
231
Lady Gaga erfindet sich als Kunstfigur täglich neu und reizt dabei Grenzen aus. Sie verändert ihr Aussehen
durch exzentrische Schminke, schrille Perücken und schräge, provokative Kostüme und legt jedes Mal einen
kontroversen Auftritt vor. Dadurch polarisiert sie und bleibt so im Gedächtnis.
232
Joy alias Vera bleibt hier außen vor, da ihre Motive andere sind, wie unter 5.2.2 erläutert wird.

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und Defizite nicht erkennen und sie einen ihnen empfundenen individuellen Mangel
kompensieren können. So versucht Pearl z.B. zu verschleiern, dass sie als siebzehnjähriges
Mädchen eine Affäre mit einem verheirateten Mann hat und keineswegs so brav und ruhig ist,
wie sie vorgibt. Selbstzweifel und Vorwürfe plagen sie und sie hat Angst vor den möglichen
rechtlichen wie sozialen Konsequenzen, die ihre Affäre haben könnte. Um dies zu ver-
schleiern, schlüpft sie in die Rolle der „Pearl“, was übersetzt Perle bedeutet und Assozia-
tionen zu Schönheit, Reinheit und Perfektion hervorruft, was ihr einen mysteriösen Hauch
verleihen soll. Auch ist es eine Anspielung auf ihr exotisches Erbe, womit sie ihr Aussehen in
den Vordergrund rückt. Die Rolle der Pearl ermöglicht es ihr, die sie plagenden Ängste und
Selbstzweifel zumindest kurzfristig zu verdrängen und Neues auszuprobieren bzw. zu testen.
Gleichzeitig weist dieses Sich-ständig-neu-darstellen- bzw. erfinden-Wollen aber auch auf ein
Problem hin, welches sich im Laufe des „Spiels“ herauskristallisiert, dies in Bezug auf das
Eigene und die Handlungskompetenz. Wenn man die Möglichkeit hat, sich vielfach neu zu
erfinden bzw. darzustellen, dann drängt sich die Frage auf, wer man eigentlich ist, wenn es
drauf ankommt, z.B. wie im Roman als ein Jugendlicher tatsächlich stirbt? Offensichtlich
besteht hier eine Unvereinbarkeit zwischen dem, was man vorgibt zu sein und dem, was bzw.
wer man eigentlich ist. Mit anderen Worten: Man kann sooft und soviel man will in andere
Rollen schlüpfen, doch wenn man in einer Situation herausgefordert wird, dann fallen diese
Masken ab. Sie erweisen sich als eine Illusion, man wird im wahren Sinne des Wortes
„enthüllt“ und steht sozusagen nackt da, weshalb die eigentliche Identität nie aufgeben wer-
den kann. Dies erfährt Alpha beispielsweise: Schon seine Namenswahl verdeutlicht, dass er
sich gerne als Anführer sieht, dementsprechend verhält er sich auch. Er macht sich an Darling
heran, er schreckt nicht vor Gewalt zurück233, er gibt Befehle. Doch als die Situation brenzlig
wird und die Jugendlichen sich mit einem Mord befassen müssen, indem sie der Frage nach-
gehen, wer denn der tatsächliche Mörder in der Gruppe sein könnte, da schrumpft der
aufgeblasene Schönling zu einem hilflosen Häufchen Elend, der seine „Bande“ nicht retten
bzw. nicht von der Insel wegbringen kann. Er muss seine Niederlage eingestehen und damit
auch, dass er kein „Alpha“ ist. Der Versuch einer neuen Identitätsbildung scheitert dement-
sprechend an den damit einhergehenden Anforderungen. Dies wird verstärkt durch die Tat-
sache, dass Alpha nach der Rettung als einziger nach Hause fliegt, während die anderen mit
Vera noch in Brasilien bleiben.234
Mit Rückblick auf die theoretische Grundlage handelt es sich bei dieser Rollenvielfalt um das
Andere in uns. Dabei kommt es nicht darauf an, ob uns das Andere bekannt oder unbekannt
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
233
Vgl. Isola S.190. Alpha schlägt Elfe ins Gesicht.
234
Vgl. ebd. S.313.

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ist, sondern das Andere ermöglicht einem, das Fremde zu erblicken, und zwar dadurch, dass
es die Definition des Selbst in Frage stellt.235 Das Andere ist nötig, damit wir selber erkennen,
wer oder was wir sind und was wir nicht sind. Es ist eine Herausforderung an die Identität.236
Alle die Rollen, die die einzelnen Kandidaten bewusst gewählt haben, sind gewiss ein Teil
ihres Selbst, denn die Auseinandersetzung mit dem Anderen geht immer vom Eigenen aus.237
Allerdings unterscheidet sich hier das Andere von ihrem Ich, da sie es in Beziehung zu dem
eigentlichen Ich setzen, wie sie sich sehen. Das Andere dient demnach als Proberaum, um
über den Blick des Anderen ein Bewusstsein von sich selbst zu erlangen.238 Erst durch das
Hineinschlüpfen in die Rolle des Anderen können die Jugendlichen ihre Rollen hinsichtlich
der Tauglichkeit und Akzeptanz hin überprüfen, um später mit ihrem Selbst auszuhandeln
bzw. zu verhandeln, inwiefern dieses Andere Teil ihrer Identität ist oder nicht.239 Das Andere
ermöglicht somit eine Selbstreflexion und bietet als das Fremde „eine Chance zur Verge-
wisserung und Entwicklung unserer Identität. Im Spiegel des Fremden erkennen wir nicht nur,
wer wir sind, sondern werden uns bewußt, wer wir sein wollen.“240.

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235
Vgl. Schäfer, Schlöder S.72.
236
Vgl. ebd.
237
Vgl. Punkt 2.5. in dieser Arbeit.
238
Vgl. ebd.
239
Passend hierzu wäre der Begriff des Identitätsmanagements, allerdings bezieht sich dieser Begriff auf den
digitalen Raum und die Fähigkeit, seine digitale(n) Identität(en) zu verwalten. Siehe hierzu: Mathias
ABSMEIER, Identitätsmanagement, In: http://www.rz.uni-passau.de/dienstleistungen/identitaetsmanagement/
(Zugriff: 12.10.2014).
240
ebd. Rechtschreibung im Original.

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5.2.2. Identität und Identitätskonflikte

Im Roman wird vor allem die Hauptfigur Vera mit der Problematik des Identitätskonfliktes
konfrontiert, und zwar zwischen dem Ich, das aus Deutschland kommt und Joy heißt, und
dem Ich, das brasilianische Wurzeln hat und Vera heißt. Dies mag paradox erscheinen, legt
die Übersetzung des Ausdrucks „Identität“ per se doch nahe, dass ein Konzept der Gleichheit
von etwas mit sich selbst vorliegt.241 Allerdings „meint [Identität] hier offenkundig etwas
Reicheres als die Tautologie, dass ein Ich sich selbst gleiche“242. Identität stellt zwar eine
Einheit dar, allerdings geht es darum, dass die Identität eines Menschen zu keinem Zeitpunkt
stabil ist, sondern sie ist immer in Bewegung243, wobei Identität immer ein reflexives und
reflektiertes Verhältnis zu sich selbst hat244. Außerdem kann man nur vermittelt über andere
einen Zugang zu sich selbst herstellen, weil unsere Identität und unser Selbst u.a. das Resultat
sozialer Interaktion sind.245
Somit stellt die Identität zu Beginn des Jugendromans ein Problem dar, dies in Form der
inneren Fremde: Einerseits ist es eine Suche nach der individuellen Person, die man ist, und
der Frage, inwiefern man eine mehrschichtige Persönlichkeit sein kann. Andererseits handelt
es sich um einen Fluchtpunkt um herauszufinden, was das eigene Selbst eigentlich darstellt
und welches Verhältnis die Hauptfigur zu ihrem Selbst hat. Dabei geht die Hauptfigur der
Frage nach, ob die eigene Identität aus einer Identität oder aus mehreren Identitäten bestehen
kann, oder ob sie eine Identität leugnen oder gar verdrängen muss, um sich vollständig zu
fühlen.
Folglich hat Vera ihre Identität noch nicht erreicht: Sie begegnet dem Leser als fragiles
Subjekt, das sich selbst nicht verorten kann. Sie beginnt freiwillig ihr Identitätsprojekt, um
sich zu finden und ihr individuelles Selbstverhältnis zu bestimmen. Dieses sogenannte Projekt
stellt einen Prozess dar, genauer gesagt einen Prozess der Selbstfindung.
Literarisch wird diese Problematik durch das Motiv der Reise umgesetzt, auf welcher man
zahlreiche Proben bestehen muss, um später „Heim“ zu kehren. Hierbei ist der Inselname be-
reits Programm: Isola wie isoliert246 und eine Insel ist per se isoliert. Die Reise zur Insel Isola
bildet den Ausgangspunkt des Projektes und somit der Suche nach sich selbst. Der Umweg,
den die Hauptfigur wählt, um ihre Vergangenheit mit dem fremden Teil ihres Selbst zu kon-
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
241
Joachim RENN, Jürgen STAUB (Hg.), Transitorische Identität. Der Prozesscharakter moderner personaler
Selbstverhältnisse., Campus Verlag, Frankfurt / New York 2002, S.10.
242
ebd. In der formalen Logik lässt sich diese Aussage durch eine Relation darstellen, die sich in der Formel
„x=x“ ausdrückt. (Vgl. http://www.avl.uni-mainz.de/Dateien/Identitaet.pdf (Zugriff: 12.10.2014))
243
Vgl. ebd.
244
Vgl. Zum Begriff Identität, In: http://www.avl.uni-mainz.de/Dateien/Identitaet.pdf (Zugriff: 12.10.2104)
245
Vgl. ebd.
246
Vgl. Isola S.31.

! 55!
frontieren, stellt eine wesentliche Voraussetzung für die am Ende beschriebene Selbstfindung
der Hauptfigur dar. Gerade das Spiel, das die Jugendlichen auf der Insel durchführen, ist eng
verknüpft mit der Erfahrung von Fremdheit: Nicht nur, dass keiner weiß, wer welche
Rollenkarte (Mörder oder Opfer) gezogen hat, auch weiß keiner, wer sich wirklich hinter den
gewählten Namen versteckt und schließlich muss sich Vera ihren Ängsten stellen und sich
gleichzeitig bewusst werden, was sie selbst will. Dies wird vor allem durch den gefährlichen
Charakter des Spiels betont, bei welchem sie mehrere schmerzhafte Erfahrungen
durchmachen muss. Erst diese Erfahrungen lassen sie später zu einer Einsicht bzw. Akzeptanz
ihrer Identität gelangen.

! 56!
5.2.3. Name und Identität

Im Mittelpunkt des Romans steht die Hauptfigur Vera, die mit ihrer Identität zu kämpfen hat.
Hierbei ist der Roman an der Schnittstelle zwischen Identität und Kultur angesiedelt, weshalb
die Reflexion über das Eigene und das Fremde zu seinen zentralen Themen zählt. Das Fremde
bezieht sich hier nicht ausschließlich auf das Externe, im Sinne von fremden Orten oder
Menschen, sondern es begreift die Fremdheitserfahrung des Internen mit ein. Wenn Isabel
Abedi die Reise der adoptierten Joy von Deutschland nach Brasilien beschreibt, bestimmt von
einem Gefühl des Abschieds sowie dem einer Heimkehr in ein Land, das sie nur noch aus der
Erinnerung kennt, dann ist dies nicht bloß die Geschichte über eine Reise in ein fremdes
Land, sondern es ist die einer Identitätsfindung, die zunächst vom Gefühl der Fremdheit ge-
prägt ist.
Dieses Gefühl der inneren Fremdheit wird bereits zu Beginn des Romans ersichtlich, wenn
die Hauptfigur Joy alias Vera äußert:

Ich glaube nicht an die Bedeutung von Namen. (...) Es gibt ein Zitat von John Steinbeck
(...) an das ich im Flugzeug plötzlich wieder denken musste. „Ich bin mir nie ganz klar
darüber geworden“, so heißt es in Steinbecks Jenseits von Eden, „ob der Name sich nach
dem Kind formt oder sich das Kind verändert, um zum Namen zu werden. Eines ist
sicher: Wenn ein Mensch einen Spitznamen hat, so ist das ein Beweis dafür, dass ihm der
247
gegebene Taufname unrichtig war.“

Joy ist der Adoptivname des Mädchens, während Vera ihr Taufname ist. Und obwohl ihr der
Adoptivname gegeben wurde, welcher angeblich zu ihr passe, hat sie sich nie gefühlt, also ob
sie zu einer Joy geworden wäre.248 Zusätzlich scheint sie sich über ihre eigene Situation nicht
einig: Ist sie ein Mädchen oder schon eine Frau? Sie selbst kann nicht bestimmen, zu welcher
Kategorie sie mit 17 gehört und wundert sich, dass es für dieses anscheinende Zwischen-
stadium keinen Begriff in der deutschen Sprache gibt.249 Das Problem der Begriffs-losigkeit
auf lexikalischer Ebene spiegelt ihr Problem auf der persönlich-emotionalen Ebene: Der
Namenswechsel betrifft ihre Identität. Sie hat sich nie richtig an diese Veränderung gewöhnt,
was eine Art Identitätskonflikt herbeigeführt hat. Mit ihrem 17. Lebensjahr verabschiedet sie
sich schließlich gerne von ihrem Adoptivnamen und möchte nun zu ihrem Geburtsnamen
zurückkehren, indem sie sich auch geografisch distanziert: Sie begibt sich für ein Filmprojekt
auf die Insel Isola vor der Küste Rio de Janeiros. Ihr Abschied hat demnach eine doppelte
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
247
ebd. S.10.
248
Vgl. ebd. S.11.
249
Vgl. ebd. S.17.

! 57!
Funktion: Zum einen ist es der Abschied vom Adoptivnamen Joy und von Deutschland und
allem, was sie damit verbindet. Es ist der Versuch, sich selbst zu finden, Vera, die Wahre.
Zum anderen ist es ein Abschied von ihrer Kindheit: Sie begeht nun einen neuen Weg als
Jugendliche, was auch der Grund dafür ist, weshalb ihre deutschen Eltern sie ziehen lassen.250
Geprägt ist dieser Abschied von gemischten Gefühlen und Zweifeln, aber auch der Sehnsucht
nach Farben, welche das Grau Deutschlands symbolisch ablösen sollen. 251 Demzufolge
begegnen wir von Anfang an einer Figur, deren Selbstbild nicht gefestigt ist und die nicht
genau weiß, wer sie ist oder sein will. Vera fehlt ihr Selbstkonzept.
Im Flugzeug muss sich Vera erstmals dieser Tatsache stellen. Als sie von Elfe, einer weiteren
Teilnehmerin, aufgespürt und nach ihrem Namen gefragt wird, muss sie sich selbst mit ihren
gemischten Gefühlen konfrontieren. Vera antwortet spontan mit Vera, obwohl Elfe nicht
konkretisiert hatte, ob sie den wahren Mädchennamen oder den neuen, eigens für die Insel
ausgewählten Namen wissen möchte. Doch als Vera den Namen ausspricht, zögert sie und
ergänzt sofort, dass dies ihr Inselname sei, wohlwissend, dass es auch ihr Taufname ist. Auch
lässt sie sich schließlich auf ein Gespräch mit Elfe ein, um sich von sich selbst abzulenken.252
Hieraus wird ersichtlich, wie gespalten Vera eigentlich ist. Einerseits möchte sie die wahre
Vera sein, andererseits verspürt sie den Drang, ihren Namen als Inselnamen zu identifizieren
und als Taufnamen zu verleugnen, womit sie sich selbst nicht eingesteht, wer sie ist. Dies
wird weiter durch ihr Verhalten untermauert, indem sie jegliche Gedanken, welche immer
wieder in ihr Bewusstsein dringen, zu bekämpfen versucht und dabei die Lippen aufeinander
beißt, um sich nicht mit diesen Gedanken auseinandersetzen zu müssen.253
Diese Gespaltenheit und Unsicherheit werden bei der Einreise in Brasilien verstärkt, als Vera
nicht weiß, ob sie sich bei der Passkontrolle links zu den Europäern einreihen soll, oder ob sie
rechts zu den Einheimischen zählt. Schließlich reiht sie sich links ein, zum einen, da ihr Pass
ihr keine andere Möglichkeit bietet, zum anderen aber auch, da sie sich nicht richtig Brasilien
zugehörig fühlt, schließlich habe sie ja bloß vier Jahre dort gelebt.254
Anhand dieser beiden Anfangssituationen wird bereits das Problem der Identität und der
Suche nach dem Eigenen erkennbar. Der Roman beginnt mit einer Figur, welche durch Ent-
wurzelung und Entfremdung geprägt ist. Vera wurde in einer Favela in Rio de Janeiro
geboren, ihre Eltern waren drogenabhängig, und ihre ältere Schwester Esperança hat sich um
sie und ihre beiden Brüder gekümmert. Als Kind musste sie betteln, um überhaupt zu über-
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
250
Vgl. ebd. S.18.
251
Vgl. ebd. S.12.
252
Vgl. ebd. S.14f.
253
Vgl. ebd. S.19.
254
Vgl. ebd. S.28.

! 58!
leben. Außerdem wurde sie Zeugin, wie Polizisten drei Straßenkinder, wie sie eines war,
umbrachten. Ihre Schwester Esperança hat sie schließlich zwei Weißen anvertraut, ihren
späteren Adoptiveltern, da sie nicht an diesen Ort gehöre. 255 Somit kommt Vera nach
Deutschland. Hier erhält das Mädchen einen neuen Namen: Joy, der übersetzt Freude
bedeutet. Den Namen erhielt sie von ihren Adoptiveltern, wohl als Zeichen dafür, dass sie
Freude in das Leben dieses Paares brachte. Die Eltern haben Positives mit dem Namen asso-
ziiert. Allerdings empfindet das Mädchen dies so nicht und ist folglich der Meinung, dass der
Name nicht zu ihr passe. Viel eher möchte sie herausfinden, ob ihr eigentlicher Name, Vera,
dies nicht eher tut. Dass sie sich mit dieser Problematik schon länger befasst, wird ersichtlich
aus ihren Bemühungen, sich ihrer ethischen Herkunft immer wieder anzunähern, indem sie
beispielsweise mit einem brasilianischen Tanzlehrer tanzt oder im Theater die brasilianische
Göttin Yansa spielt, welcher sie sich sehr nahe fühlt. Somit steht für die Hauptfigur zunächst
die Frage „Wer bin ich?“ und „Wer bin ich nicht?“ am Anfang ihrer Suche nach dem Selbst.
Mit der Annahme zum Filmprojekt entscheidet sich Vera, ihren Geburtsnamen zu verwenden.
Meint Elfe bei ihrer ersten Begegnung, dass der wahre Name wohl nicht interessiere256, so
scheint dies für Vera nicht so, denn sie wählt diesen Namen auf der Insel ganz gezielt,
genauso wie ihre elf Mitreisenden ihren Inselnamen ganz gezielt auswählen. Dem Namen an
sich wird eine große Wichtigkeit zugesprochen, denn über den Namen wird in erster Linie
Identität sowie Individualität konstituiert. Mit dem eigenen Namen kann man sich ganz
bewusst von anderem abgrenzen. Im Bereich der Namen unterscheidet man zwischen
Gattungs- und Eigennamen.257 Beide Kategorien haben eine Bezeichnungsfunktion, allerdings
unterscheidet man, ob diese unmittelbar ist oder nicht. Gattungsnamen beschreiben eine
Klasse, eine Gesamtheit, bei der die einzelnen dazugehörigen Elemente Gemeinsamkeiten
besitzen bzw. in ihren Merkmalen übereinstimmen, wogegen besondere Merkmale außen vor
bleiben. Das bzw. der Einzelne sticht demnach als solches nicht hervor.258 Eigen-Namen
dahingegen ermöglichen es dem oder der Einzelnen, sich aus einer Masse hervorzuheben,
weil er / sie sich mit seinen / ihren ganz eigenen Merkmalen von den anderen unterscheidet.
Somit ermöglicht der Eigenname eine Identifizierung. Zudem zeigt uns der Eigenname, dass
wir individuell sind. 259 Gleichzeitig besteht eine emotionale Verbindung zu seinem eigenen

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
255
Vgl. ebd. S.209ff.
256
Vgl. ebd. S.13.
257
Vgl. Ulla FIX, Namen sind Schall und Rauch?, S.2., In:
http://www.uni-leipzig.de/unigottesdienst/sites/default/files/Ansage270110-Namen.pdf (Zugriff: 12.09.2014).
258
Zum Beispiel der Gattungsname „Möbel“: Es gibt zahlreiche unterschiedliche Möbel, wie etwa Tisch, Stuhl,
Kommode usw., auch sahen Möbel zu unterschiedlichen Zeiten anders aus und hatten ggf. andere bzw.
unterschiedliche Funktionen. Allen Möbeln ist bspw. gemein, dass sie einen Raum ausstatten.
259
Vgl. ebd.

! 59!
Namen, sie gibt ihm eine Bedeutung, eine Wertigkeit, dies aufgrund von Erfahrungen oder
Assoziationen, die man mit seinem Namen gemacht hat. Dies erklärt auch, weshalb Vera sich
von Joy loslösen, distanzieren möchte. Mit Joy assoziiert sie Deutschland und ihre deutschen
Eltern, welchen sie immer das Attribut deutsch hinzufügt. Sie ist unzufrieden mit dem
Namen, den man ihr gegeben hat. Folglich hat der Name für Vera eine persönliche Relevanz,
da er dazu beiträgt, ihr eigenes Ich zu finden, dies in einer Umgebung, Situation, die ihr fremd
ist.
Die bewusste Wahl des Inselnamens ebnet für die Hauptfigur den Weg, sich mit sich selbst
auseinanderzusetzen. Entwicklungspsychologisch gesehen ist der Name ein wesentlicher
Baustein für die Entwicklung der eigenen Identität, denn durch den Namen, den wir uns nicht
selbst ausgesucht haben, bekommen wir unsere erste Identität. Allerdings hat der Name
alleine keine Auswirkung auf unsere Persönlichkeit, erst die Wechselwirkung zwischen Name
und Kulturkreis bewirkt eine persönliche Entwicklung.

! 60!
5.2.4. Innere Fremde

Im Folgenden soll nun anhand der Hauptfigur Vera verdeutlicht werden, welchen Einfluss
innere Fremde auf einen persönlich haben kann. Hierbei wird konkret auf ihr Verhalten
eingegangen und wie sich dieses auf ihre Persönlichkeit auswirkt.

5.2.4.1. Relevanz für die Persönlichkeit am Beispiel der Romanfigur Vera

Wie bereits unter 5.2.3. erwähnt, ist Vera seit Beginn des Romans in ihrem Wesen gespalten.
Sie ist geprägt von einem Gefühl der Nichtzugehörigkeit. Dass Vera sich mit ihrem deutschen
Namen Joy nicht identifiziert und als Last empfindet, lässt sich neben ihrer
Namensproblematik hauptsächlich an ihrem Verhältnis zu ihren Adoptiveltern festmachen.
Zwar ist sie ihren Adoptiveltern dankbar für ihre Rettung, doch sie lässt sie spüren, dass sie
ihre Adoptiveltern nicht als Eltern per se ansieht. Sie spricht beide mit dem Vornamen an.
Auch benutzt sie das Wort Eltern immer nur in Verbindung mit dem Zusatz deutsch260, als
distanziere dieses Attribut sie von den Eltern, die ihre leiblichen Eltern sind. Ihre (Ab-) Reise
stellt ein Ausbrechen dar aus diesem deutschen Umfeld, in welchem sie sich nicht zu Hause
fühlt. Ein Zeichen für diesen Drang nach Ausbruch findet man auch in ihrer Auswahl an
Freizeitgestaltung und ihrem Wunsch, neue Wege einzuschlagen: beim Tanzen und im
Theater. Beides sind Kunstformen, in denen Vera in eine andere Rolle schlüpfen kann bzw. in
der sie ihr Interesse für die brasilianische Kultur nicht verstecken muss. Beide Hobbys
ermöglichen es ihr, ihr zumindest das Gefühl zu haben, sich an ihre Kultur heranzutasten.
Dort erlebt und verspürt sie den Drang, der sie nach Brasilien und der Suche nach sich selbst
zieht. Sie entdeckt die brasilianische Kunst als etwas Machtvolles, Mutiges, aber auch Wildes,
Ungezähmtes. Dies ist es, was sie neugierig macht und ihren Durst nach mehr anfeuert. Ein
Herantasten reicht Vera demnach nicht mehr aus, weshalb sie ganz bewusst den Ausbruch
bzw. den Auszug in das ihr Unbekannte wählt. Sie möchte spüren, was es heißt, brasilianisch
zu sein. Zwar ist ihr Weggehen aus Deutschland recht radikal, verlässt sie die deutschen El-
tern doch erstmals alleine, doch bereits im Flugzeug nach Brasilien macht Vera nicht den
Anschein, als presche sie mit der Suche nach sich selbst vor, vielmehr versucht sie, sich vor
der Auseinandersetzung mit dem ihr Unbekannten zu drücken und sich selbst von sich abzu-
lenken.261

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
260
Vgl. Isola S.18.
261
Vgl. ebd. S.14.

! 61!
Anfangs lässt sie sich sehr von ihrer Aufregung und Ängstlichkeit leiten, sie ist bestimmt von
Zögern und Unstimmigkeit.262 Sie empfindet Druck in der Brust, ist geplagt von flattriger
Unruhe und reagiert innerlich panisch, als sie realisiert, dass sie auf das, was sie bei der
Ankunft in Brasilien empfindet, nicht vorbereitet war. Sie meint, nicht die Kraft zu besitzen,
sich selbst und ihre Vergangenheit zu konfrontieren. Sie vergleicht sich selbst mit einem
fallenden Engel. In ihrem Kopf drängen sich zahlreiche Fragen auf, welche sie als sinnlos
abtut, obwohl ihr Verstand weiß, dass dem nicht so ist.263 Während ihrer Fahrt durch Rio wird
Vera von den Eindrücken und Erinnerungen überwältigt: Alles läuft zu rasant an ihrem
inneren wie äußeren Auge vorüber, sie fühlt sich gejagt und kann das, was sie sieht und
empfindet, nicht verarbeiten.264 Vera hat Angst vor all dem Unbekannten, daher sieht sie die
Insel dankend als ein (Rettungs-) Mittel an, um sich noch nicht direkt mit sich selbst aus-
einandersetzen zu müssen. Sonst hätte sie ja auch direkt nach Brasilien zu ihrer Schwester
Esperança gehen können, wenn sie gewollt hätte. Allerdings gesteht sie sich ein, dass sie dies
nicht spontan gekonnt hätte, weshalb sie die Insel braucht, um sich vorzubereiten.265 Vera
lässt sich diese Aufregung äußerlich nicht anmerken, denn je unruhiger sie innerlich ist, desto
ruhiger ist sie äußerlich, ein Charakterzug, den sie ihrer Adoptivmutter Erika zufolge schon
als kleines Kind hatte.266 Mag man dies zunächst als positiv erachten, so stellt sich doch bei
genauerer Lektüre heraus, dass dies bloß ein Vermeidungsmechanismus ist, um nicht von
anderen mit ihrem Problem konfrontiert zu werden. Die Vermeidungsmechanismen treten
anfangs regelmäßig auf, weshalb sich Vera selbst immer mehr isoliert. Sie wirkt fast wie
gelähmt.267 Dies zu Beginn in Bezug auf die Gruppe268, denn sie meidet den Kontakt mit den
anderen, ihre einzige Ansprechpartnerin ist Elfe. Zudem fühlt sie sich mit dem einzigen
Jungen verbunden, der Einsamkeit ausstrahlt, was sie an sich selbst erinnert.269 Auf der Über-
fahrt zur Insel sitzt Vera abseits, ganz hinten alleine im Boot.270 Doch sie isoliert sich auch in
Bezug zu sich selbst. Nicht nur, dass sie weglaufen möchte271, sie fühlt sich allem voran
fremd.272 Sie weiß nicht, wer sie sein soll, welche Rolle sie einnehmen kann und welche
Bestimmung sie überhaupt hat bzw. welcher Bestimmung sie folgen soll. Vera beschreibt ihre

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
262
Vgl. ebd.
263
Vgl. ebd. S.24ff.
264
Vgl. ebd. S.36.
265
Vgl. ebd. S.23.
266
Vgl. ebd. S.19.
267
Vgl. ebd. S.39.
268
Vgl. ebd. S.44.
269
Vgl. ebd. S.21.
270
Vgl. ebd. S.56.
271
Vgl. ebd. S.39.
272
Vgl. ebd. S.44.

! 62!
Situation selbst als surreale Stunden zwischen Welten bzw. Wirklichkeiten.273 Ihr Zustand der
Isolation drückt sich auch dadurch aus, dass sie zweifelt. Zudem äußern sich ihre
Empfindungen körperlich: Sie weint, nicht nur, da sie die neuen Sinneseindrücke
überwältigen, sondern auch, weil sie emotional überfordert ist. Sie erlebt Schweißausbrüche,
ist benommen oder muss nach Luft ringen. Außerdem schlägt ihr Herz äußerst unruhig.274
Immer wieder lösen Momente (z.B. eine Mango) auf der Insel Erinnerungen an ihre
Vergangenheit aus bzw. Bruchstücke ihrer Erinnerung versuchen sich hervorzudrängen. Vera
versucht diese durch Schweigen zu unterdrücken.
Doch als Vera erkennt, dass sie sich vor den Kameras, welche das Überbleibsel eines
ehemaligen Sträflingsresozialisationsprogramms sind, nicht verstecken kann, beginnt sie
langsam, sich auch nicht mehr vor sich selbst verstecken zu wollen.275 Sie entscheidet sich
nun bewusst dazu, die Bühne der Insel zu betreten und sich zumindest um den Anschein von
Normalität zu bemühen.276 Vera zwingt sich somit selbst, hinzusehen, das heißt, sich selbst
als Vera, welcher ja nicht nur ihr Taufname, sondern auch ihr gewählter Inselname ist, zu
konfrontieren.
Hierbei begegnet Vera neuen Situationen. Dies zunächst in Form von olfaktorischer
Fremdheit: Sie entdeckt die fremden Gerüche der Nacht.277 Doch diese erscheinen auch in
Form von Sólo, einem ruhigen Jungen, in den sich Vera verliebt und für den sie eine körper-
liche Sehnsucht entwickelt. Vera kann die Gefühle für Sólo anfangs nicht identifizieren, da
diese neu für sie sind.278 Vera beginnt, sich mit anderen Mitgliedern der Gruppe anzufreunden
und die Gegend zu erkunden. Der Ruf eines Vogels löst in ihr Erinnerungen aus, doch anstelle
sie zurückzudrängen, lässt Vera die Emotionen zu: Tränen laufen ihr hinunter und sie fühlt
den Schmerz, den diese Erinnerungen auslösen.279 Vera zieht aus diesem Schritt ihre erste
Erkenntnis, nämlich, dass sie die Bühne bewusst betreten hat und das erste Mal bewusst ihre
Erinnerungen nicht verdrängt hat. Dies führt zu einer Veränderung in ihrem Verhalten. Als sie
nämlich von Joker gefragt wird, woher sie stammt, erinnert sie sich daran, dass es kein Script
gibt, an das sie sich halten muss. Vera entschließt sich selbst dazu, zu ihrer Vergangenheit zu
stehen und antwortet, dass sie aus einer Favela stamme.280

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
273
Vgl. ebd. S.54f.
274
Vgl. ebd. S.62ff.
275
Vgl. ebd. S.65.
276
Vgl. ebd. S.69.
277
Vgl. ebd. S.71.
278
Vgl. ebd. S.72.
279
Vgl. ebd. S.77ff.
280
Vgl. ebd. S.85f.

! 63!
Veras Anziehung zu Sólo hilft ihr schließlich, auf die Suche nach sich selbst zu gehen: In
Sólos Anwesenheit verspürt sie ein Pochen, sie ist verstört und seine Präsenz geht ihr nahe.281
Sie nimmt etwas wie einen unsichtbaren Faden wahr, der sie zu ihm zieht. Sie will mehr über
diesen Jungen herausfinden, sie will wissen, wer er ist. Es ist in diesem Zusammenhang, dass
Vera merkt, dass sie nicht die Marionette irgendeines Produzenten sein möchte, gerade nicht,
wenn dieser indirekt Regieanweisungen mittels eines Spiels gibt. Sie empfindet Wut, weil das
Spiel dazu beitragen könnte, dass sie früher nach Hause müsste, falls sie als „Opfer“ vom
„Täter“ geholt werden würde. Zum ersten Mal gesteht sie sich ein, dass sie die Insel braucht,
um ihr Projekt zu Ende zu führen. Sie entscheidet sich, die Kameras per se zu ignorieren und
sich nicht mehr darauf und somit nicht mehr auf Unwesentliches zu konzentrieren.282
Diese Entscheidung ermöglicht es ihr schließlich, sich zum ersten Mal selbst zu vergessen,
frei zu sein, frei von Ängsten, Zweifeln und Zwängen. Exemplarisch wird dies durch die
Tanzszene dargestellt, als Sólo am Lagerfeuer seine Berimbau spielt. Vera vergisst dabei
nicht nur, wer sie ist, sondern auch, wo sie ist und sie spürt wie die Rhythmen durch ihr Blut,
ihre Adern strömen. Sie fühlt sich selbst wie in Trance. In dem Moment tanzt sie genauso un-
erschrocken und wild wie die Göttin Yansa und fühlt sich ihren brasilianischen Wurzeln
unerschrocken nahe.283
Allerdings wird Vera immer noch von Erinnerungen heimgesucht. Obwohl sie sich bereits
etwas geöffnet hat, schreckt sie immer noch zurück, sobald eine Erinnerung an früher
erscheint. Dies wird dadurch verdeutlicht, dass sie die Hände vor ihre Augen hält284, um sich
so davor zu verstecken bzw. sich die Erinnerung nicht ansehen zu müssen. Auch auf die Frage
einer ihrer Mitbewohner, weshalb sie auf die Insel gekommen ist, kann Vera nicht antworten.
Sie ist noch nicht fähig dazu, die Gründe zu artikulieren und sie so offen vor sich selbst einzu-
gestehen. Zu diesem Zeitpunkt weiß Vera zwar, dass sie den Weg bewusst gewählt hat, doch
sieht sie ihren Aufenthalt auf der Insel noch nicht als Brücke zu ihrer Vergangenheit, sondern
als Umweg bzw. als Puffer.285
In der Zwischenzeit fasziniert Sólo sie wie etwas Wildes, Fiebriges, das sie zugleich
erschrickt aber auch anzieht. Als Sólo sie schließlich berührt, wird Vera der Kameras wieder
gewahr. Es stört sie schrecklich, dass Tempelhoff sie durch die Kameras sehen kann. Es ist
nicht das Beobachten an sich, das sie hemmt, sondern die Tatsache, dass Tempelhoff sie so
verletzlich, natürlich und frei sehen könnte, eine Vera, wie sie sonst niemand kennt. Hier lässt
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
281
Vgl. ebd. S.88.
282
Vgl. ebd. S.101ff.
283
Vgl. ebd. S.117.
284
Vgl. ebd. S.123.
285
Vgl. ebd. S.132f.

! 64!
Vera erstmals vor einem anderen Menschen ihre Hüllen fallen und gibt sich so, wie sie ist.
Und es ist in diesem Moment, als Sólo sie fast küsst, dass sie selbst realisiert, dass sie sich
selbst nicht kennt, dass etwas Fremdes in ihr sei, das unbedingt herauswill.286 Rückblickend
reflektiert Vera als distanzierte Erzählerin, dass es genau der Moment war, an dem sie wusste,
dass sie selbst das Problem war, dass sie sich selbst im Weg stand.287 In der Geschichte
allerdings muss sie noch einen Rückschlag erleben, bis sie zu dieser Erkenntnis kommen
kann. Diesen Rückschlag und gleichzeitig Auslöser für ihre Selbsterkennung erlebt Vera, als
„Sólo“288 sie küsste. Der Kuss bricht in Vera etwas auf, er „macht einer gewaltigen Sehnsucht
den Weg frei“.289 Diese Sehnsucht ist doppeldeutig zu interpretieren: einerseits die nach der
emotionalen Erfüllung, andererseits die nach der Befreiung des Ichs, welches sich nun selbst
nicht mehr im Weg steht. Gleichzeitig aber fühlt sich Vera verraten, da „Sólo“ ohne ein Wort
nach ihrem Kuss verschwindet, was sie sehr verstört. Hat sie sich erstmals einem Menschen
hingegeben, wird sie sozusagen vor den Kopf gestoßen und sie fragt sich, ob das das Resultat
davon sei, wenn man seinen Gefühlen folgen würde.290 Demzufolge wäre es sinnlos, wenn sie
sich ihren eigenen Gefühlen stellen würde, denn dies führe wohl bloß zu einer Enttäuschung.
Dieser Rückschlag führt dazu, dass sich Vera „unsagbar fremd“291 im eigenen Körper fühlt,
sich noch mehr isoliert und sich nicht mehr als Teil der Gruppe sieht. Sie isst und spricht
kaum noch und ist verzweifelt, was ihre Situation betrifft. Gleichzeitig wird sie trotzig, sodass
sie sich selbst im Weg steht.292 Erst als die Gruppe eine Höhle entdeckt, die nicht von den
Kameras bewacht wird, und dort eine Party feiert, löst sich Veras Trotz. Sie erinnert sich an
Platon, der meinte, dass der Mensch den sicheren Schutz seiner Höhle verlassen müsse, um in
die Wirklichkeit zu gelangen. Doch bevor sich Vera endgültig aus der Höhle wagen kann,
geht sie tiefer in die Höhle hinein, denn sie will nicht sehen, nicht denken, sie will einfach nur
sein. Dies drückt sie aus, indem sie sich von den Rhythmen der ekstatischen Musik treiben
lässt und wie wild tanzt.293 Vera verliert sich so sehr im Tanz, dass sie nicht bemerkt, wie sich
die anderen in der Höhle verlieren. Sie öffnet die Augen und befindet sich in völliger
Finsternis und Stille. Es ist diese völlige und endgültige Isoliertheit, die Vera schließlich eine

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
286
Vgl. ebd. S.136f.
287
Vgl. ebd. S.148.
288
Sólo steht hier in Anführungszeichen, da es im Roman nicht Sólo war, der sie küsste, sondern Tobias. Tobias
hatte sich aufgrund seiner brüderlichen Ähnlichkeit zu Sólo im Dunkeln als Sólo ausgegeben, um Vera, die ihn
faszinierte, näher zu sein. Vera erkennt den Unterschied allerdings nicht sofort, erst später.
289
Isola S.152.
290
Vgl. ebd. S.154.
291
ebd. S.157.
292
Vgl. ebd. S.159f.
293
Vgl. ebd. S.171ff.

! 65!
bodenlose Angst spüren lässt, aus der sie sich befreien muss.294 Und dies tut sie, indem sie die
Höhle verlässt. Dort erwartet sie der Ernst295, aber auch das reinste Chaos, im doppelten Sin-
ne: Zum einen ist Darling verschwunden und zum anderen weiß sie selbst nicht mehr, was sie
fühlen, wissen oder glauben soll.296 Sólo soll mit dem Verschwinden von Darling zu tun
haben, doch der kann sich an nichts mehr erinnern. Während die Gruppe versucht, das Mys-
terium zu Darlings Verschwinden aufzuklären, zieht Vera sich in einem Moment des
Durcheinanders zurück und betrachtet das Foto ihrer Schwester Esperança. Sólo tritt zu ihr,
und Vera spricht das erste Mal über ihre Vergangenheit. Sie erklärt Sólo, wer ihre Schwester
ist und was ihre Geschichte ist.297 Dies ist ein Durchbruch für Vera, vor allem, da sie auch das
erste Mal über ihren Adoptivnamen spricht. Interessant ist, dass sie hier das Tempus der Ver-
gangenheit in Bezug auf ihren deutschen Namen Joy Reichert verwendet. Nachdem sie Sólo
all dies mitgeteilt hat, ringt sie nach Luft und in ihr löst sich etwas, sie weint. Das Gespräch
hatte etwas Befreiendes für Vera, und sie äußert zum ersten Mal, dass sie nach Hause möchte,
nicht nach Deutschland, sondern nach Brasilien.298 Vera hat in diesem Moment ihr Selbst
gefunden und auch akzeptiert. Und es ist durch diese Akzeptanz, dass sie neue Kraft schöpft,
um das Chaos, das anfänglich ihr persönliches Chaos war, nun auch auf der Insel zu
bewältigen. Vera ist nicht mehr die Zurückgezogene, Isolierte, sondern sie wirkt reifer, indem
sie aktiv wird und gemeinsam mit anderen Mitgliedern ihrer Gruppe, nach Lösungen sucht.
So gelingt es Vera schließlich, sich im Moment ihrer größten Not telefonisch an ihre
Schwester zu wenden und um Hilfe bzw. Rettung zu bitten. In diesem Moment schließt sich
für Vera die Suche nach sich selbst. Nach der physischen Wiedervereinigung mit ihrer
Schwester erkennt Vera nicht nur, dass die Insel eine Insel für sie war299, sondern auch, dass
„das Leben vor allen Dingen Licht ist und dass es sehr wenig braucht, um dieses Licht zum
Erlöschen zu bringen“300. Vera scheint angekommen zu sein bei ihrem Selbst und es zu
akzeptieren, was sich dadurch auszeichnet, dass sie sich zu ihrem Taufnamen Vera definitiv
bekennt und zu diesem zurückkehrt.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
294
Vgl. ebd. S.176.
295
Vgl. ebd. S.202.
296
Vgl. ebd. S.207.
297
Vgl. ebd. S.209ff.
298
Vgl. ebd. S.214f.
299
Vgl. ebd. S.318.
300
ebd. S.317.

! 66!
5.2.4.2. Interpretatorische Ableitung

In Anbetracht der Fremdheitsthematik lassen sich mehrere Aspekte interpretatorisch ableiten.


Zunächst einmal weisen die inhaltlichen Schilderungen darauf hin, dass eine progressive
Veränderung hin zu einer Verinnerlichung des Fremden durchaus möglich sein kann.
Veras innere Fremdheit ist durch ihren multikulturellen Charakter bedingt und weist auf,
welche grundlegenden Probleme ein Mensch in Form von Differenzerfahrung dadurch erle-
ben muss. Sie ist gebürtige Brasilianerin, wurde im Alter von vier Jahren allerdings von
Deutschen aus einer Favela gerettet und wuchs bis fast zu ihrem achtzehnten Geburtstag in
Deutschland auf. Zudem besitzt sie zwei Namen: Vera, ihren Geburtsnamen, und Joy, ihren
Adoptivnamen. Für Vera entsteht dadurch das Problem, dass ihr das Eigene nur vermeintlich
vertraut ist. Das Fremde, Nicht-Gewusste in ihr verunsichert ihre Ordnung, weshalb sich ihr
Eigenes teilweise in das Fremde entwickelt. 301 Deshalb wird Vera durch das Gefühl der
Gespaltenheit wie das der Entwurzelung bestimmt. Ihr Zustand ist demzufolge zu Beginn der
der Desorientierung. Vera fühlt sich nicht zugehörig, weder zu Deutschland, noch zu Bra-
silien, weshalb sie sich auf die Suche nach bzw. zu sich selbst macht. Abedi setzt diese
Selbstsuche kurz vor dem achtzehnten Geburtstag der Romanfigur an, was darauf hindeuten
kann, dass dies ein Problem ist, das mit der Periode der pubertären Identitätsfindung einher-
geht. Hier steht vor allem der Lernprozesscharakter im Vordergrund, den Vera durchlaufen
muss. Gleichzeitig steht die Figur an der Schwelle zu ihrer Volljährigkeit, was wohl
untermalen soll, wie wichtig die Selbstfindung und die Kenntnis des Eigenen für das
Erreichen des Erwachsenseins ist. Künstlerisch vergleicht Abedi Vera mit einem fallenden
Engel und lässt Vera dies im Roman auch selbst äußern. Diese Metapher kommt einer
Bestandsaufnahme gleich, ein wesentlicher Schritt, den Vera benötigt, um ihr Projekt über-
haupt starten zu können: Vera erkennt selbst, dass sie sich in einem rasanten freien Fall
befindet, und ihr Aufprall könnte demnach recht schmerzhaft sein. Um diesen Aufprall abzu-
dämpfen, entschließt sich Vera zu einem Selbstfindungsprojekt. Dieses durchläuft Vera auf
einer Insel, die aufgrund ihrer Isolation dazu geeignet ist, sich notgedrungen irgendwann mit
sich selbst auseinanderzusetzten. Ein gelungener Kniff Abedis ist es, die Insel als ehemalige
Sträflingsresozialisationsstation darzustellen. Im Endeffekt wird Vera schließlich resoziali-
siert. Ist sie zunächst ihre eigene Gefangene, so lernt sie während ihres Aufenthaltes, sich
ihren Erinnerungen zu stellen und diese als einen Teil ihres Selbst zu akzeptieren. Hierbei
muss sie - ähnlich einer Therapie - mehrere Stadien durchlaufen, welche im Roman als
unterschiedliche Bewährungsprozesse dargestellt sind. Auch hier verwendet Abedi geschickt
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
301
Siehe hierzu auch Punkt 2.4. in dieser Arbeit.

! 67!
das Motiv eines Spiels mit Opfer und Täter, um die Erfahrung der inneren Fremdheit als
Herausforderung zu zeigen.
Veras Isolation, sei es von der Gruppe oder sich selbst, weist darauf hin, dass sie in Distanz zu
sich selbst und den anderen steht. Vera unterdrückt ganz bewusst ihre Erinnerungen, weshalb
sie eine Art Wand oder Blockade vor sich selbst aufbaut. Es gelingt ihr anfangs nicht, diese zu
überbrücken. Konkrete Annäherungsversuche an ihr Selbst gelingen Vera erst dadurch, dass
ihr das Projekt ohne Script Alternativen bietet. Es ist die Alternative, sich selbst ausprobieren
zu dürfen, indem sie sich eine Rolle auswählt und diese auf der Bühne erprobt. Dieser Anstoß
ist es, den Vera braucht, um ihr Selbstkonzept zu überprüfen. Ergänzt wird dies schließlich
durch die unbekannten Liebesgefühle für Sólo. Sie macht sich erstmals Gedanken, was es
bedeutet, sich selbst sein zu wollen bzw. die Möglichkeit zu besitzen, sich selbst auszupro-
bieren. Gestalterisch ermöglicht Abedi dies ihrer Hauptfigur durch das Big-Brother-ähnliche
Projekt. Die Jugendlichen werden ständig durch Kameras gefilmt und können nach Lust und
Laune ihr eigenes Drehbuch erstellen. Neben einer möglichen Kritik an voyeuristischen TV-
Formaten weist Abedi aber auch darauf hin, wie wichtig es im Prozess der Selbstfindung ist,
sich selbst auszuprobieren, ohne direkte Konsequenzen bspw. in Form von Ermahnungen
oder Strafen befürchten zu müssen. Diese Chance ergreift Vera und macht erste Erkenntnisse.
Sie entscheidet sich im doppelten Sinne, keine Marionette mehr zu sein: einerseits die
Marionette eines Filmregisseurs, andererseits eine Marionette ihres Selbst. Doch so enthusi-
astisch sie diese Entscheidung trifft, tastet sie sich nur langsam vor. Sie erweist sich als
schreckhaft und zieht sich immer wieder zurück. Die neuen Gefühle für Sólo locken sie all-
mählich hervor und sie macht erste Fortschritte. Vera gibt allmählich die Unterdrückung ihrer
Vergangenheit auf und teilt Details von ihrem brasilianischen Ich mit. Sólo wird somit zum
Medium, das ihr hilft, sich gehen zu lassen. Es ist schließlich Sólos Berimbau und später die
ekstatische Partymusik, die ihr helfen, ihre Probleme zu vergessen und sich zumindest
kurzfristig zu befreien. In diesen Momenten dringt das Unterdrückte, die innere Fremdheit aus
ihr heraus. Allerdings lässt Abedi Vera noch einige Rückschläge erleiden, bevor sich ihre
innere Fremdheit auflösen kann. Dies geschieht gestalterisch und im Sinne eines aben-
teuerlichen Jugendromans durch das Wechselspiel zwischen Sólo und seinem Bruder Tobias
und Veras Liebesgefühlen. Durch die Liebe kann sie sie selbst sein, doch im entscheidenden
Moment - der Moment des Kusses - wird sie enttäuscht und erkennt bitter, dass Ehrlichkeit
und Offenheit schmerzen und missbraucht werden können. Die beiden Brüder vertreten das
Fremdartige als Person. Sie bilden das Gegenstück zu Vera, zu ihrem Ich. Dabei stellen sie
das Andere dar, das Vera eine Differenzerfahrung ermöglicht. Nur durch die Interaktion mit

! 68!
dem Anderen ist Identitätsfindung für Vera möglich. Durch die Irritation, d.h. die verwirrende
Situation, beginnt Vera, sich Fragen zu stellen und versucht, die Situation zu verstehen. Zwar
könnte die Kussszene die Hauptfigur in eine Depression stürzen, doch Abedi entscheidet sich
gestalterisch dazu, Vera diesen Rückschlag zu Nutze werden zu lassen, wodurch die Brüder
demnach eine Korrektivfunktion übernehmen. 302 Dies geschieht durch philosophische
Erkenntnis (also durch ihre schulische Bildung), wodurch Vera das Unbewusste bewusst
wird: Nur wenn sie den sicheren Schutz ihrer Höhle verlässt, kann sie in die Wirklichkeit
gelangen. Demnach muss sie sich von Joy lösen, um Vera zu entdecken. Dies geschieht dann
auch tatsächlich, und sie kehrt das Innere nach Außen: Sie spricht offen über ihre Vergangen-
heit, sie kontaktiert ihre Schwester, sie entscheidet sich für die Vera in sich. Somit positioniert
sich Vera eindeutig und bestimmt ihr Ich neu. Sie lässt ihre innere Fremde zu, was ihr zeigt,
dass ihre innere Fremde nicht absolut ist. Vera wird zu einem Teil ihres Selbst.
Unweigerlich kommt es am Ende des Romans schließlich zur Selbstakzeptanz. Dadurch wird
die innere Fremdheit aufgehoben und in ihr Selbstkonzept eingepflanzt bzw. mit sich
verflochten, oder noch anders formuliert: Sie wird assimiliert und integriert. Dies bestätigt
demnach die theoretische Annahme, dass das Fremde schließlich im Eigenen enthalten ist und
sich beide gegenseitig bedingen.303 Der prozesshafte Charakter, der aus dieser gegenseitigen
Bedingung resultiert, zeigt ebenfalls, dass Identität relativ ist und immer wieder neu erstellt
bzw. aktualisiert werden muss.304
Die innere Fremde wird in diesem Roman sowohl negativ als auch positiv erlebt, dies wegen
ihrer Ambivalenz305: Einerseits ist sie Auslöser für Schmerz, Entwurzelung, Desorientierung,
was zu einer Abwehrhaltung (hier) in Form von Unterdrückung, führt, andererseits wird sie
als durchaus erfahrbar und dadurch nutzbar dargestellt, dies (hier) im Prozess von Verar-
beitung und Aneignung. Der Prozess verläuft von innen nach außen, das heißt, die Ausein-
andersetzung bzw. Konfrontation mit innerer Fremdheit kann nur durch Eigenaktivität, das
Ich, erfolgen. Hierbei wird diese innere Fremdheit nicht als Eindringling erlebt, sondern als
Störfaktor, der nicht ausgeblendet werden kann, da er immer wieder das Ich und somit das
Eigene in Frage stellt. Durch die Tatsache, dass das Eigene fremdartig erscheint, wird ein
Erkennungsprozess in Gang gesetzt, der verdeutlicht, wie brüchig Identität sein kann. Aber es
zeigt sich auch, wie wesentlich es für die eigene Identität und das Selbst ist, die innere
Fremde aufzuspüren. Erst durch die Konfrontation wird man identifizierbar und existent. Dies

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
302
Siehe hierzu Punkt 2.5. in dieser Arbeit.
303
Siehe hierzu Punkt 2.4. in dieser Arbeit.
304
Siehe hierzu Punkt 2.4.2. in dieser Arbeit.
305
Der Begriff Ambivalenz wird im Sinne von Spannungszustand verwendet.

! 69!
bildet - und das mag paradox klingen - eine wesentliche Ordnungsstruktur, ohne die sich ein
Mensch nicht richtig orientieren bzw. ohne die er nicht richtig handeln kann.

! 70!
5.2.5. Zwischenfazit

Beginnt Vera ihre Reise mit der Erinnerung an Steinbecks Zitat, wonach ein Spitzname der
Beweis sei, dass der gegebene Geburtsname falsch sei, so endet Veras Reise mit der Annahme
ihres Geburtsnamens und somit ihrer Herkunft und ursprünglichen Identität. Hierbei handelt
es sich allerdings nicht um eine bloße Substitution des deutschen Namens oder eines
Spitznamens, sondern es ist das Resultat eines Lern- und Akzeptanzprozesses. Somit bestätigt
sie, dass der gegebene Geburtsname richtig war und dass der Eigenname somit nicht der Zeit
und dem Raum oder anderen orts- und zeitbedingten Variationen 306 unterliegt, trotz
Veränderungen in den Eigenschaften von Vera. Dies erklärt, weshalb sich Vera nie als Joy –
ihrem Adoptivnamen, ähnlich einem Spitznamen – gefühlt hat. Vielmehr ist es der geburtsge-
gebene Name Vera, der ihr schließlich eine gewisse Konstanz gibt, die sogenannte Identität,
und zwar „im Sinne von Identität mit sich selbst“307. Mit der Annahme ihres Geburtsnamens
erhält Vera einen festen Punkt in einer sich bewegenden Welt308, eine Grundlage309 für sich
selbst, ihr Handeln, ihre Zukunft. Es ist der Kern ihrer Identität. Zu dieser Feststellung kommt
sie allerdings nur, da sie sich mit dem Fremden auseinandersetzt und die komplexe
Verbindung von fremder Herkunft und ihrem Leben in Deutschland in sich selbst erkennt und
akzeptiert. Gerade die Annahme des Fremden in ihr führt Vera vor Augen, dass sie ein
aufgesplittertes Subjekt310 ist, das durch Vielfalt bestimmt wird. Hätte sie sich wohlmöglich
nie mit dem Fremden in ihr auseinandergesetzt, wäre diese Missachtung nicht ohne Folgen
geblieben, was ihr anfänglicher Zustand des Gefühls der Entwurzelung belegt. Das Fremde
erscheint hier also als Relation zwischen Vera und ihrer Vergangenheit, dies in der
Erscheinung einer Beziehungsform. Vera muss mit sich selbst ausmachen bzw. verhandeln,
ob sie sich ihrer Vergangenheit stellen will, um sich dann selbst annehmen zu können.
Folglich ist Fremdheit ein Bestandteil vom Selbst und enthält identitätsstiftende Funktionen,
die die Identität herausfordern.311

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306
Vgl. Pierre BOURDIEU, Die biographische Illusion, In: Bernhard Fetz, Wilhelm Hemecker (Hg.), Theorie
der Biographie: Grundlagentexte und Kommentar, Walter de Gruyter Verlag, Berlin / New York 2011, S.303-
310, hier S.307.
307
ebd.
308
Vgl. ebd. S.306.
309
Vgl. ebd. S.307.
310
Vgl. ebd.
311
Vgl. Ortfried SCHÄFFTER (Hg.), Das Fremde: Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und
Bedrohung. Westdeutscher Verlag, Opladen 1991, S.12. Von nun an zitiert als Schäffter.

! 71!
! 72!
5.3. Das Exotische

Das Exotische bildet in diesem Kontext das Setting: Die bezaubernde Welt der Exotik bricht
ein in den grauen Alltag der Haupt- wie Nebenfiguren. Gleichzeitig ermöglicht es aber auch,
Gefühle zu transportieren und als Projektionsfläche für Veras Selbst zu fungieren.
Der exotische Raum ermöglicht es Vera, sich selbst zu finden. In diesem Raum durchläuft sie
einzelne Stadien, in welchen sie mit ihrem eigenen Ich konfrontiert wird und welcher es ihr
schließlich ermöglicht, Vergessenes und Verdrängtes aufzuarbeiten und sich so anzunehmen,
wie sie ist.
Erscheint die Insel für Vera zunächst nur als dritter Raum, im Sinne von Zwischenstation
bzw. als Puffer, um sich nicht direkt mit ihrer Vergangenheit und sich selbst auseinander-
setzen zu müssen, so wird die Insel schließlich zu dem Raum, den Vera benötigt, um in ihrer
Krise einen neuen Selbstentwurf auszuprobieren, um schlussendlich erst recht die Vergangen-
heit zu konfrontieren und sich zu finden, um so eine neue Identitätskonstruktion zu ent-
wickeln. Die Insel stellt demnach die notwendige Herausforderung dar, um den Umgang mit
dem (inneren) Fremden zu lernen.
Hierbei versucht Vera vorerst die Fremde als solche zu erfassen. Dabei begreift sie die Insel
als die ferne Fremde, als die Insel, die sich weit weg von Deutschland befindet und
geographisch betrachtet zwar zu Brasilien gehört, doch in einer gewissen Distanz zum
brasilianischen Festland liegt. Vera wählt diesen fernen Ort ganz bewusst, um sich selbst von
ihrer Vergangenheit und ihrem Leben in Deutschland auszugrenzen bzw. zu isolieren. Sie
selbst betont, dass die Insel keine Brücke darstelle, sondern eine Umgehung.312 Doch die Insel
per se mit ihrem Filmprojekt dient als Mittel zum Zweck, sie ist quasi ein Objekt, denn sie übt
eine gewisse Anziehungskraft auf Vera aus, da sie nicht unweit von ihrer Vergangenheit liegt.
Dies verweist ganz deutlich auf Veras Unterdrückung und Verdrängung hin, welche ihre
eigentlichen, wenn auch unbewussten, Antriebskräfte sind. Doch nach und nach projiziert
Vera ihre Ängste und ihre Desorientierung in die Wildheit der Insel, in die vielen bunten Far-
ben, in die geschmackvollen Früchte usw. Die äußere Fremde ermöglicht ihr schließlich eine
Auseinandersetzung mit ihrer inneren Fremde. Die Insel wird zu einem Raum der
Identitätsartikulation, in dem sich Vera ausprobieren, abgrenzen, erweitern und präsentieren
kann. Folglich ermöglicht der Inselraum die Introspektion bzw. Selbstreflexion, diese ist aller-
dings für Vera nicht sofort zugänglich. Erst in der Kombination mit der Entdeckung der Liebe
und der Intimität entdeckt Vera die Insel als Begegnungsraum mit ihrer inneren Fremde.
Durch diese Begegnungsmöglichkeit nimmt die Insel zudem eine Individualisierungsfunktion
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
312
Vgl. Isola S.132f.

! 73!
ein. Nicht nur, dass Vera lernt, das Fremde in ihr zu akzeptieren, sie lernt auch, sich als
Einzelwesen zu begreifen. Dies wird symbolisch durch den Vogel Bem-Te-Ti-Vi (frei über-
setzt: ich sehe dich) dargestellt, welcher ungesehen immer wieder auf der Insel zu hören ist,
und zwar genau immer dann, wenn Vera an sich selbst zweifelt, sich als Subjekt in Frage
stellt.
Ähnlich wie Odysseus, muss sich Vera schließlich in der Fremde bewähren und findet da-
durch zu ihrem Ich.
Die Fremde hat in diesem Roman primär die räumliche Funktion, Vera die Reise zu sich
selbst zu ermöglichen und sich selbst Stück für Stück zu erkennen. Hierbei ist diese Fremde
zwar geographisch von Deutschland distanziert, allerdings ist sie nicht unerreichbar. Auch
entzieht sie sich nicht Veras Erfahrbarkeit, sondern ist als eine Art Durchgangsstadium das
räumliche Vehikel für ihren Entwicklungsprozess. Auf Isola kann sie sich abgrenzen, dies
geographisch von Deutschland, aber auch biographisch von Joy. Folglich wird das, was als
Heimat angesehen wird, neu beleuchtet, es erscheint durch die Fremde in einem anderen Licht
und wird so zum Gegenpart, welcher selbst zu Veras biographischer Fremde geworden ist. Es
kommt zu einer Gegenüberstellung der beiden Welten, und Vera steht durch die Fremde nun
sozusagen in Diskussion zu ihrem Eigenen. Zwischen diesen beiden räumlichen Polen
entfaltet sich eine Dramatik, deren Überwindung für Vera notwendig ist, um sich selbst in
Beziehung setzen zu können und sich schließlich zu finden.

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5.4. Schlussfolgerung

Betrachtet man abschließend den Weg, den die Romanheldin Vera zurückgelegt hat, so lässt
sich feststellen, dass das Eigene als die ursprüngliche Identität erscheint, die im Laufe ihres
jungen Lebens verloren gegangen schien.313 Allerdings reicht dies nicht aus, um das Eigene
(im Kontext des Jugendromans) zu definieren. Das Eigene bedeutet auch, dass man sich selbst
aus den Augen verlieren kann. Um sich schließlich wiederzufinden, ist ein Selbstentzug not-
wendig, der einem die Chance bietet, sich selbst neu zu erfahren. Dabei muss das Eigene
provoziert werden, was hier durch die innere Fremde so wie die räumliche Fremde passiert,
damit eine Auseinandersetzung stattfinden kann. Dies vollzieht sich im Roman, indem Vera
das Eigene zunächst verfremdet und das Fremde entfremdet, was sie zu einer Selbstreflexion
zwingt, damit sie sich über ihr Verhältnis zu sich selbst im Klaren wird. Erst der Prozess der
Loslösung und der Auflösung von ihrem Unbewussten und Verdrängten ermöglicht es, sich
mit dem Fremden auseinanderzusetzen und zu sich selbst zu finden. Veras Werdegang zeigt
auf, wie sich Integration (des Fremden) und Identität zueinander bewegen. Veras Projekt, ihre
Mission, kann sich nur erfüllen, wenn sie sich mit dem Fremden in ihr auseinandersetzt. Die-
ser Prozess ist durchaus dynamisch und läuft nicht ohne Schwierigkeiten ab, wie der Leser
anhand der Romanfigur erfährt.

„Die Gründe für solche Schwierigkeiten sind darin zu sehen, dass der Aufbau eines Selbstbildes
nicht in der Feststellung faktischer Gegebenheiten besteht, sondern dass es sich um eine
Konstruktionsleistung handelt, bei der der eigene Handlungsvollzug interpretiert und in einen
übergeordneten Sinnzusammenhang gebracht wird.“314

Gleichzeitig ist das Fremde per se das Vehikel der Selbsterfahrung315, da es der nötige
Umweg ist, um das Eigene zu begreifen und zum Selbst „heimzukehren“. Hierbei erkennt
Vera schließlich, dass das Ich, das Sein, durch Züge des Fremden gekennzeichnet ist316, wes-
halb es zu einer Integration des Fremden in das Ich kommt. Das Fremde konstituiert demnach
das Eigene. Durch die Auseinandersetzung, Aufnahme und Akzeptanz des Fremden kommt es
nun zu einer Veränderung des Eigenen, da die Erfahrung des Fremden eine Gegenüber-
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
313
Vgl. Irmgard HONNEF-BECKER, Also was sind Sie denn jetzt? - Die Suche nach Identität bei Roger
Manderscheid, In: Honnef-Becker, Kühn, S.168-204, hier S.186.
314
Gabriel LAYES, Interkulturelles Identitätsmanagement, In: Alexander Thomas, Eva- Ulrike Kinast und
Sylvia Schroll-Machl, Handbuch Interkultureller Kommunikation und Kooperation. Band 1: Grundlagen und
Praxisfelder, Vandenhoeck&Rupprecht, Göttingen 2005, S.117-125, hier S. 118.
315
Vgl. Anja Hall, Paradies auf Erden? Mythenbildung als Form von Fremdwahrnehmung: Der Südsee-Mythos
in Schlüsselphasen der deutschen Literatur, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2008, S.18.
316
Vgl. Andrea Leskovec, Vermittlung literarischer Texte unter Einbeziehung interkultureller Aspekte, In:
Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunterricht, Didaktik und Methodik im Bereich Deutsch als
Fremdsprache, ISSN 1205-6545 Jahrgang 15, Nummer 2 (Oktober 2010), S.237-255, hier S.243.

! 75!
stellung mit sich selbst evoziert. Fremdheit wird infolgedessen als Beziehungsform zu mir
selbst verstanden.
In diesem Kontext ist auch das Spiel mit den Namen nicht unwichtig. Was stimmt denn nun:
Nomen est omen oder Namen sind Schall und Rauch? Abedi entscheidet sich wohl für den
Mittelweg. Vera eignet sich das Fremde nicht einfach an, was bedeuten würde, dass sie ihr
adoptiertes Ich (alias Joy) verkennen oder gar negieren würde, sondern sie arbeitet es ein,
sodass es zu einer Auseinandersetzung zwischen Selbst und Fremdheit kommt. Abedi zeigt
hier eine Interdependenz zwischen beidem auf und dass ein Spannungsgeflecht für Identität
nötig ist. Identität ist folglich kein starres Gefüge. Vera sowie die Namen und Projektnamen
der anderen elf Jugendlichen zeigen deutlich, dass der Mensch ein Unikum multipler
Identitäten317 ist, dies nicht im Sinne einer psychischen Störung, sondern es zeigt, dass Viel-
falt und Gegensätzlichkeit, im Sinne von innerer Pluralität, einen Menschen ausmacht.318
Demzufolge ist es allgemein wichtig, dass man von einem flexiblen Identitätskonzept aus-
geht.319
Kommt es am Ende des Romans zu einer Selbstakzeptanz seitens Veras, so möchte die
Autorin Abedi vielleicht gleichzeitig darauf hinweisen, was es bedeutet, multikulturell zu
sein.320 Wie Vera sind alle Menschen mit multikulturellem Hintergrund geprägt von einem
Leben zwischen den Kulturen, ohne wahres Heimatgefühl und der eigenen Identitätsfindung.
Es ist eine Suche nach einem konkreten Gefühl für Herkunft, Heimat und Identität. Nicht nur
diese Erkenntnis, sondern gerade die Möglichkeit, diese Suche durchführen zu können, d.h.
diesen Weg des Sich Findens begehen zu können, kann einem eine mögliche Ruhe geben.
Literarisch wird dieser Lern- und Erkennungsprozess durch das Motiv der Reise mit der
exotischen Kulisse untermalt. So gesehen kommt dem Reisemotiv ein aufklärerischer Wert
zu, da es sich als den nötigen Entwicklungs- und Bewährungsraum für das Eigene darstellt.
Durch die Überwindung der räumlichen Distanz (Deutschland - Brasilien) ist die Über-
windung der inneren Fremde erst möglich. Durch die Überwindung der inneren Fremde wird
dem Leser vorgeführt, tolerant mit der eigenen inneren Fremde umzugehen und sie gleich-
zeitig zu achten. Erst die Synthese von Fremdem und Eigenem ermöglicht die Identitäts-

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
317
Vgl. Prof. Hans KÜNG, Multiple Identitäten in modernen Gesellschaften, In: http://www.zeit.de/reden/
bildung_und_kultur/bellevue_kueng_200217 (Zugriff: 11.11.2014).
318
Vgl. Ralf ERLEBACH, Essay: Identität oder Identitäten? Oder: Warum wir alle irgendwie multiple
Persönlichkeiten sind – zusammengesetzt, gepatchworkt und manchmal auch einfach gespalten, S.2. In:
http://www.uni-jena.de/unijenamedia/Downloads/einrichtungen/spz/Personen/Erlebach_+Ralf/
Arbeiten/Identität+oder+Identitäten.pdf (Zugriff: 2.01.2015).
319
Vgl. ebd.
320
Abedi selbst ist Deutsche mit persischen Wurzeln. Zudem ist sie mit einem Brasilianer verheiratet, sie lebt in
Deutschland, den USA und Brasilien und ihre eigenen Kinder haben multikulturelle Identitäten.

! 76!
bildung. Geschieht dies nicht, so läuft man Gefahr, sich selbst zu entfremden bzw. sich zu
isolieren wie auf Isola.

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!

6. Der Jugendroman Lucian

6.1. Zum Inhalt

Der Jugendroman handelt von der sechzehnjährigen Rebecca, deren gewohnte und umsorgte
Umgebung durch den mysteriösen Lucian auf den Kopf gestellt wird.
Die Hauptfigur lebt mit ihrer lesbischen Mutter Janne und deren Lebenspartnerin Spatz in
Hamburg. Die Mutter ist Psychologin, trennt Job und Familie und ist ein Ordnungsfreak.
Spatz dagegen ist Künstlerin und personifiziert das Chaos. Rebeccas Vater, mit dem sie vor
allem per Email in Kontakt steht, lebt mit seiner zweiten Frau und deren adoptierten Kind
Valery in Los Angeles. Zu Gesicht bekommt sie ihren Vater allerdings nur, wenn er sie in
Deutschland besucht. Rebecca besucht ihn nicht in Amerika, da sie seine zweite Frau nicht
besonders mag. Zudem stört sie der Umstand nicht, dass ihre Eltern trotz ihrer
unterschiedlichen sexuellen Neigungen Geschlechtsverkehr hatten, um sie zu zeugen.321
Rebecca hat sich kürzlich erst von ihrem ersten festen Freund Sebastian getrennt, zu dem sie
sich allerdings immer noch hingezogen fühlt. Mit ihrer besten Freundin Suse, deren größtes
Problem ihre ungleichen Brüste sind, spricht sie über alles. In der Schule nervt sie ihr Eng-
lischlehrer Morton Tyger. Eines Abends, beim gemeinsamen Ausmisten von Kindheits-
erinnerungen, spürt Rebecca einen Riss in ihrem Inneren. Das ist die Nacht, in der Rebecca
erstmals von ihrem eigenen Tod träumt und nachts einen Jungen vor ihrem Fester stehen
sieht. Bei dem Jungen handelt es sich um Lucian, welcher sich nicht an seine Vergangenheit
erinnern kann. Er selbst träumt immer wieder von Rebecca. Rebecca tut ihn zunächst als
Spanner ab, doch als sie sich das erste Mal persönlich begegnen, spüren sie eine sofortige
gegenseitige Anziehungskraft, können sich diese allerdings nicht erklären. Sie begegnen sich
anfangs immer zufällig, was Rebeccas Interesse weckt, vor allem, da Lucian ihr Leben
durcheinander bringt: Er kennt Abschnitte ihres Leben, die sonst niemand kennt. Außerdem
ist er rätselhaft, da er sehr wenig über sich preisgibt und sie nie genau weiß, woran sie bei ihm
ist. Sie verliebt sich schließlich in ihn. Auch Lucian verliebt sich in Rebecca. Ihre Liebe ist
äußerst intensiv und wirkt sich auf Rebeccas Verhalten ihrem Umfeld gegenüber aus. Sie
zerstreitet sich mit Suse, da sie dieser ihre wahren Gefühle für Lucian nicht anvertraut und
Suse außen vor lässt. Auch mit Sebastian streitet sie sich, da dieser äußerst eifersüchtig ist.
Sie belügt ihre Mutter, und auch Spatz erzählt sie nichts von Lucian. Während ihr Leben aus
den Fugen läuft, träumt Rebecca immer häufiger ihren eigenen Tod, während Lucian immer
häufiger und intensiver von Rebecca träumt.

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321
Vgl. Isabel ABEDI, Lucian, Arena Verlag, Würzburg, S.11ff. Von nun an zitiert als Lucian.

!
Lucian sucht sich schließlich auf Rebeccas Drängen hin Hilfe. Unwissentlich besucht er
Rebeccas Mutter als Therapeutin, welche bereits nach der ersten Sitzung aufgrund dessen
detailgetreuer Beschreibungen merkt, dass Lucian von ihrer Tochter sprechen muss. Lucian
vertraut ihr all seine persönlichen Gedanken an und die Mutter meint, es handle sich um einen
Stalker, der ihrer Tochter gefährlich werden könnte. Um ihre Tochter zu schützen, schickt sie
diese prompt und gegen ihren Willen zu ihrem Vater nach LA. Durch die plötzlich Trennung
von Lucian verspürt Rebecca unsägliche, fast grausame Schmerzen und stürzt in eine
Depression, infolge derer sie zunächst mit keinem mehr spricht und schließlich nicht mehr isst
und im Krankenhaus zwangsernährt werden muss. Nachdem die Ärzte sie gerettet haben, soll
sie sich bei ihrem Vater auskurieren. Erst ihre Schwester Valerie schafft es, sie aus ihrem
Schweigen zu befreien. Rebecca freundet sich mit dem Kindermädchen Faye an, der sie sich
nach und nach anvertraut und von ihrem Schmerz und ihren Gefühlen zu Lucian erzählt. Faye
rät Rebecca, ihr Leben zunächst zu ordnen. Rebecca nimmt per Mail mit ihren Freunden in
Deutschland Kontakt auf und schult sich auf Suses Rat hin selbst ein. Dort begegnet sie
ausgerechnet ihrem alten Englischlehrer Morton Tyger, was sie sichtlich irritiert. Sie erinnert
sich daran, dass ihr Englischlehrer den Schriftsteller Ambrose Lovell verehrt und geht dessen
Biografie nach. Dabei entdeckt sie, dass ihr Großvater, ein weltweit anerkannter Literatur-
kritiker, wohl für den Selbstmord von Lovell verantwortlich war. Daraus schließt Rebecca,
dass Tyger dies wohl auch herausgefunden haben muss und sich an ihr rächen möchte. Als
Rebecca sich entschließt, Tyger darauf anzusprechen und ihn zu konfrontieren, kommt es zu
einer ganz anderen Offenbarung. Tyger klärt Rebecca darüber auf, dass der Mensch nicht
alleine zur Welt kommt, sondern ein sogenannter Begleiter mit einem geboren wird. Lucian
ist ein solcher Begleiter, genauso wie Tyger selbst und auch das Kindermädchen Faye. Alle
drei haben gemeinsam, dass sie sich in ihren Schützling „verliebt“ haben, das heißt, sie
wollten menschlich werden, um ihrem Schützling so nahe wie möglich zu sein. Mit dem Ent-
schluss, menschlich zu werden, werden sie unsterblich, können sich unsichtbar machen,
verlieren jegliche Erinnerung, geben ihre Begleiterfunktion auf und können ihren Schützling
nicht mehr beschützen. So konnte Tyger Lovells Selbstmord nicht verhindern und Faye nicht
den Tod ihres kranken Schützlings Finn. Rebecca deutet ihren eigenen Todestraum als Vor-
zeichen für ihren tatsächlichen Tod und erkennt dabei auch, dass Lucian eigentlich ihr Retter
wäre, doch da er sich in sie verliebte, er zum Menschen wurde und sie wohlmöglich nicht
mehr retten kann.
In der Zwischenzeit haben Rebeccas physische wie auch psychische Schmerzen nachgelassen.
Daraufhin rät Faye ihr, Lucian zu suchen, damit sie ihn konfrontieren kann. Außerdem meint

! 80!
Faye, Rebeccas Schmerzen haben nachgelassen, da Lucian näher, also in LA, sei. Rebecca
vertraut sich per Mail ihren Freunden Suse und Sebastian an, diese reagieren panisch,
alarmieren die Mutter und fliegen bestürzt nach LA. In der Zwischenzeit haben sich Lucian
und Rebecca gefunden.
Nach einer gemeinsamen Aussprache, in der Rebecca Lucian erklärt, wer er ist und weshalb
er immer wieder von ihr träumt und Bruchstücke ihres Lebens kennt, sind sie fest davon
überzeugt, dass Lucian sie nur retten kann, wenn er bei ihr bleibe. Als sie gemeinsam fliehen
wollen, werden sie von Rebeccas Freunden und Familie abgefangen, und wieder einmal
werden Rebecca und Lucian abrupt getrennt. Janne verfrachtet ihre Tochter aus Selbstschutz
in ein Hotel, in welchem Rebecca ihr Hotelzimmer als den Ort ihres Todestraums identi-
fiziert. Tatsächlich wird ihr Traum Realität, und sie liegt im Sterben. Lucian schafft es recht-
zeitig zu ihr und entscheidet sich mit Rebecca zusammen, wieder zum Wesen zu werden, dies
aus Liebe zu Rebecca, aber auch, um sie retten zu können. Rebecca entscheidet sich für das
Leben, und Lucian ist wieder ihr Beschützer.

! 81!
! 82!
6.2. Das Fremde als Riss

Das Fremde manifestiert sich sofort und plötzlich zu Beginn des Romans. Es bricht als das
Unerwartete in einem Moment der Idylle und des Vollkommenseins ein und verursacht
Irritation. Rebecca befindet sich mit Janne und Spatz auf dem Dachboden, einem Ort, den sie
liebt, da dort von jedem von ihnen etwas versteckt ist. Gemäß ihrer Tradition veranstalten sie
einmal pro Woche das Ritual der Ladys’ Night in, bei welchem jede der drei Frauen in ab-
wechselnder Runde das Abendprogramm bestimmen kann. An diesem Tag ist es Janne,
Rebeccas Mutter, die zum Ausmisten auf dem Dachboden aufgerufen hat. Rebecca fühlt sich
im Kreise ihrer Mutter und deren Lebenspartnerin äußerst geborgen, sie empfindet die
Atmosphäre als warm und gemütlich. Außerdem liebt sie es, in ihren Kindheitserinnerungen
zu schwelgen. Sie fühlt sich vollkommen ausgeglichen, dies vor allem im Bezug auf ihre Fa-
milienverhältnisse.
Beim Ausmisten finden Janne, Spatz und Rebecca deren alten Teddybären wieder. In dem
Moment, als Rebecca das weiße Fell des Teddys entdeckt, verspürt sie einen Riss im Inneren.
Ein sonderbares Gefühl von Leere, das sie nicht genau zu deuten weiß, durchströmt sie.
Allerdings versucht sie das Gefühl zu ignorieren und fragt stattdessen nach der Geschichte
ihres Teddys. Von Janne und Spatz erfährt sie, dass sie ihren Teddy Lu zum ersten Geburtstag
erhalten habe, er über ihre Träume gewacht und sie ihn nie aus der Hand gelassen habe.322
Rebecca schläft abends erschöpft ein. Eigentlich mag sie den Moment des Einschlafens, wenn
sie in eine andere Wirklichkeit wechseln kann, doch in dieser Nacht zerrt der Schlaf an ihr,
und der Traum überfällt sie wie eine Droge. Rebecca hat einen fürchterlichen Albtraum, in
welchem sie ihren eigenen Tod erlebt: Überall ist Blut, sind Scherben und Splitter, und sie
bekommt keine Luft. Sie erwacht schweißgebadet und schreiend. Sie empfindet das Gefühl
des Sterbens und die Schwere des Traums wie eine eiserne Hand, die sich in ihre Brust krallt
und ihr die Luft abschneidet. Allerdings erkennt sie, dass sie in ihrem Traum nicht alleine
war, sondern dass dort ein Jemand war, etwas Unbekanntes. Ihre Mutter, aufgeweckt durch
den Schrei, eilt zu ihrer Beruhigung herbei, doch es gelingt ihr nicht, Rebecca dieses uner-
klärliche Gefühl zu nehmen. Rebecca fühlt sich alleine.323 Als die Mutter aus dem Zimmer ist,
reagiert Rebecca panisch und schaltet das Licht an, um sich in Sicherheit zu wägen. Sie stürzt
zum Fenster, da sie Luft braucht. Vor dem Fenster steht ein Fremder mit einem unheimlichen
Blick, der allerdings keine Angst, sondern Ruhe ausstrahlt. Rebecca ist sichtlich irritiert und
verspürt ein wattiges Gefühl in ihrem Bauch. Sie fragt sich, was mit ihr los sei. Sie fühlt sich

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
322
Vgl. ebd. S.15f.
323
Vgl. ebd. S.16ff.

! 83!
komplett aus der Bahn geworfen, und dieses leere Gefühl macht sich abermals in ihrer Brust
breit.324
Das Fremde tritt zu Beginn als Riss auf, der sich ähnlich einem feindlichen Spalt im Inneren
der Hauptfigur, also ihrem Eigenen, auftut. Es scheint, als ob das Individuum sozusagen in
sich in zwei Hälften geteilt wird. Der Teddy löst scheinbar etwas in Rebecca aus, das sie zu
diesem Zeitpunkt nicht definieren, geschweige denn artikulieren kann. Erst durch diese
Störung entsteht Raum für Fremdes. Rebecca empfindet diesen Riss von Anfang an als
scheinbaren Gegensatz zu allem, was sie sonst kennt und spürt. Waldenfels nennt dieses Em-
pfinden Fremderfahrung, weil es sich dadurch auszeichnet, dass „eben das, worauf wir uns
beziehen, sich unserem Zugriff entzieht“325. Das Fremde äußert sich demnach zunächst als
Einbruch des Unbekannten in einen als eigen definierten Raum.326 Alles Bekannte und Ver-
traute gerät ins Schwanken. Das Gefühl, das der Teddy in Rebecca auslöst, erschüttert ihre
innerliche wie äußerliche Idylle. Es erweist sich als eine Quelle der Irritation, die zu einem
Albtraum führt. Selbst die Mutter, die für Rebecca eigentlich Schutz bedeutet, kann ihr nicht
helfen. Der Albtraum kommt einem schockartigen Umschlag gleich, der in Rebecca das
Gefühl des eigenen Todes einpflanzt. Dadurch, dass sich das Unbekannte auf psychischer
Ebene bei ihr auswirkt und „leibhaftig“ wird, überkommt Rebecca das Gefühl, dass die Situa-
tion für sie unkontrollierbar wird, und sie versucht sich zuerst davon abzugrenzen, sich gar
davon abzuwenden, was wiederum zu einer Dezentrierung ihres Subjekts führt. Die Folge
sind Chaos und Unordnung.
In der Schule gelingt es Rebecca nicht, sich zu konzentrieren, ihre Gedanken wandern immer
wieder, sodass sie von ihrem Englischlehrer Mr. Tyger ermahnt werden muss. Sowieso
scheint sie ihr Englischlehrer aufgrund ihrer amerikanischen Wurzeln auf dem Kicker zu ha-
ben.327 Mit ihrem Exfreund Sebastian funktioniert das „Freunde Sein“ nicht so, wie sie sich
das vorgestellt hat. Ihre Gedanken kreisen immer wieder zu ihrer Beziehung zurück, und sie
muss feststellen, dass etwas gefehlt hat. Das Ende ihrer Beziehung sei keine Verkettung von
Zufällen gewesen, sondern sie habe eine Leere in der Brust empfunden. Allerdings kann sie
sich mit Sebastian nicht darüber aussprechen.328 Auch nutzt sie Sebastian in gewisser Weise
aus: Aufgrund seiner immer noch bestehenden Gefühle zu ihr ist er extrem sensibel und
möchte Rebecca Sicherheit bieten. Dies weiß Rebecca und verkriecht sich immer wieder bei
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
324
Vgl. ebd. S.22ff.
325
Waldenfels Topographie S.363.
326
Ortrud GUTJAHR, Fremde als literarische Inszenierung, In: Ortrud Gutjahr (Hg.), Freiburger
literaturpsychologische Gespräche: Fremde, Königshausen & Neumann GmbH Verlag, Würzburg 2002, Band
21, S.47-68, hier S.50. Von nun an zitiert als Gutjahr.
327
Vgl. Lucian S.27f.
328
Vgl. ebd. S.32ff.

! 84!
ihm, da sie sich dort tatsächlich in Sicherheit wiegt. Sebastian macht sich Hoffnungen, doch
Rebecca vertröstet ihn immer wieder und lügt ihn schließlich an329. Sie will Sebastian nicht
sehen, da sie sonst ihr Verhalten erklären müsste. Gleichzeitig will sie die Freundschaft zu
Sebastian nicht aufs Spiel setzen.330
Dann gibt es noch Suse, Rebeccas beste Freundin, mit der sie normalerweise über alles
spricht. Doch seit der Nacht, in der sie den Albtraum hatte und den Jungen vor ihrem Fenster
erblickte, möchte sie sich Suse nicht mehr anvertrauen. Sie versucht Suse abzulenken, damit
diese nicht weiß, was mit ihr los ist.331
Rebeccas Vorhaben, den Jungen vor ihrem Fenster sowie ihren Albtraum zu vergessen,
scheitert, denn der Junge taucht plötzlich und unerwartet vor ihr auf. Das Sonderbare daran
ist, dass sich vor seinem Auftauchen ein Gefühl von Ruhe in ihrem Inneren ausbreitet. Seine
ruhige Haltung und sein konzentrierter Blick, der auf ihr liegt, lösen zudem eine fast fiebrige
Intensität in ihr aus, es wird ihr warm. Der Junge schreitet in einem Moment ein, als ein äl-
terer Herr Rebecca unsittlich berührt und ihr in den Ausschnitt fassen will. Er zieht den Herrn
zurück und verteidigt Rebecca mit einem gefährlichen Unterton. Der Mann lässt von Rebecca
ab. Rebecca erlebt die Situation wie im Nebel: Auf der einen Seite fasziniert sie dieser
mysteriöse Unbekannte, auf der anderen Seite empfindet sie ein hohles Gefühl, das ein Loch
in ihre Brust frisst.332 In diesem Moment taucht ihr Exfreund Sebastian auf, um sie aus der
misslichen Situation zu befreien und sie sicher nach Hause zu bringen. Rebecca ist ihm
dankbar, denn er stellt keine Fragen und sie muss keine Erklärungen geben. Auch hätte sie
nicht gewusst, was sie Sebastian hätte sagen sollen. Rebecca merkt, dass in ihr ein
Angstgefühl lauert, das sie im Zaum halten muss, denn sie will sich nicht mit diesem Fremden
auseinandersetzen.333 Doch Rebecca ist geplagt von einem Klopfen in ihrem Inneren und
einem Gefühl, das ihr schwerfällt, zu beschreiben. Es ist wie die Ruhe und ein Wirbelsturm
zugleich, wie eine fiebrige Elektrizität. Gleichzeitig breitet sich in ihr aber auch Wut aus, da
sie der Fremde so verstört.334
Und dann trifft Rebecca diesen mysteriösen Jungen noch zwei weitere Male wieder: einmal
auf dem Flohmarkt und einmal in ihrem Mittagsdiner. Beide Male ist Rebecca extrem irritiert,
gleichzeitig aber auch fasziniert von diesem Jungen. Was auch immer sie bei diesen Bege-

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
329
Vgl. ebd. S.67.
330
Vgl. ebd. S.98f.
331
Vgl. ebd. S.60.
332
Vgl. ebd. S.40ff.
333
Vgl. ebd. S.47f.
334
Vgl. ebd. S.54ff.

! 85!
gnungen empfindet, es gelingt ihr dennoch nicht, dies in Worte zu fassen.335 Auch hier
vertraut sie sich ihrer besten Freundin nicht an.
Rebecca selbst weiß nicht mit der Situation umzugehen, und dennoch bemüht sie sich
inbrünstig, mit der Situation alleine klarzukommen. Deshalb versucht sie permanent, das
Denken auszuschalten bzw. einzustellen, denn Denken würde bedeuten, sich mit ihren
Ängsten, Zweifeln, Unzulänglichkeiten aber auch irritierenden Gefühlen auseinandersetzen zu
müssen. Doch es gelingt ihr nicht, die Fragen überströmen sie.336 Alle ihre Bemühungen, die
quälenden Gedanken wegzudrängen, scheitern. Sogar ihre Kindheitsgeschichten, die ihr sonst
Trost spenden, greifen nicht. Auch ihr Versuch, ihre Situation logisch zu betrachten, schlägt
fehl.337 Sie erkennt selbst, dass sie nicht sie ist und fragt sich, was bloß mit ihr los sei.
Um dem Denken zu entkommen, flieht Rebecca schließlich in die Schwimmhalle. Die Ablen-
kung erscheint ihr als einziger möglicher Ausweg.338 Beim Schwimmen kann sie untertau-
chen, die Gedanken werden leichter, schwerelos, schwebender. Es ist für Rebecca wie Fliegen
ohne Flügel, berauschend, bis sie schließlich Ruhe im Kopf hat und nicht mehr an den Frem-
den denken muss.339 Sie braucht diese schockartige Berührung des Wassers, die sie alles aus-
blenden lässt und ihr neue Energie, Kraft gibt. In diesem Moment verspürt sie Ruhe, als ob
sich etwas in ihr schließen würde.340
Rebecca merkt selbst, dass sie sich immer mehr isoliert und erkennt, dass sie über alles
sprechen muss. Sie vertraut sich schließlich ihrer Freundin Suse an. Es ist aufregend für sie,
über diesen Jungen zu sprechen und versucht zu erklären, dass dieser Junge ihr das Gefühl
vermittelt, sich ganz zu fühlen, doch es gelingt ihr nicht, Suse begreiflich zu machen, was sie
fühlt.341 Schließlich bittet sie ihre Freundin, mit niemandem darüber zu sprechen. Rebecca
weiß immer noch nicht, was sie tun soll.342
Hieraus wird ersichtlich, dass das Fremde „(...) keinen nur vorübergehenden Zustand des
Mangels dar[stellt]“343. Vielmehr bringt das Fremde die Vernunft und die Autonomie des
Subjekts ins Schwanken.344 Das Subjekt erhält dadurch Risse, die eigene Ordnung wird ange-
tastet345, wodurch „(...) das, worauf wir uns beziehen, sich unserem Zugriff entzieht“346.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
335
Vgl. ebd. S.61.
336
Vgl. ebd. S.65ff.
337
Vgl. ebd. S.78ff.
338
Vgl. ebd. S.86f.
339
Vgl. ebd. S.73ff.
340
Vgl. ebd. S.87ff.
341
Vgl. ebd. S.93ff.
342
Vgl. ebd. S.99.
343
Waldenfels Topographie S.363.
344
Vgl. ebd. S.363.
345
Vgl. ebd. S.361.
346
ebd. S.363.

! 86!
Rebecca kann das Fremde nicht mit ihrer Vernunft greifen, es stellt ihr Selbstverständnis in
Frage, und es entzieht sich so ihrer Kontrolle. Sie empfindet das Fremde als bedrohlich.
Gleichzeitig aber übt das Fremde eine enorme Anziehungskraft auf sie aus. Dies erklärt,
weshalb Rebecca dem Fremden zunächst affektiv begegnet und sich chaotisch verhält: Sie
wechselt von Erstaunen zu Erschrecken, sie ist irritiert und gleichzeitig fasziniert. Sie schafft
es nicht, ihr Gefühl in Worte zu fassen, ihr Puls spielt immer wieder verrückt, sie weiß nicht,
wem sie sich anvertrauen kann.347 Das Fremde lässt sich demnach nur indirekt fassen, es
äußert sich als Abweichung vom Normalen.348 Da Rebeca in ihrem Inneren dieses Fremde
nicht greifen kann, projiziert sie es nach außen, um so - wenigstens scheinbar - der Gefahr
entfliehen zu können.349 Sie nimmt zunächst eine Abwehrhaltung ein. In diesem Zusammen-
hang spielt der Moment des Kontakts eine wesentliche Rolle, da dieser „das Bindeglied und
zugleich die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden“350 darstellt. Ohne den Kon-
takt mit dem Teddy wäre es nicht zum Riss gekommen, Rebecca hätte das Fremde gar nicht
wahrgenommen. Und ohne den Riss käme es nicht zu einer Auseinandersetzung zwischen
Rebecca und ihrem eigenen Selbst. Durch die Begegnung mit dem Teddy und schließlich mit
Lucian kann Rebecca überhaupt erst an ihrem Selbstkonzept arbeiten, sich weiter entfalten
bzw. -entwickeln. Demnach tritt vor allem Lucian als das Fremde auf, das affiziert, bevor man
sich damit auseinandersetzen kann, um es anzunehmen oder abzulehnen.351 Das Fremde ist
somit auch eine Herausforderung für Rebeccas Identität.
Die Tatsache, dass sich das Fremde dem Eigenen zunächst entzieht, ermöglicht erst die
Wahrnehmung des Fremden, aufgrund dessen schließlich eine Art Wachstum stattfinden
kann, denn „[o]hne das Fremde verkümmert das Eigene“352. Das Fremde ist schließlich am
Wachstumsprozess des Eigenen beteiligt, dies allerdings wiederum nur, wenn man versucht,
mit dem Fremden in einen Dialog zu treten. Erst durch den Austausch kann Neues entstehen
und Neues bedeutet Wachstum des Eigenen.353 Rebecca erkennt sich anfangs selbst nicht
mehr und versucht, das Fremde immer wieder abzuwehren. Es kommt zu einer sogenannten

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
347
Siehe hierzu auch Waldenfels Topographie S.363.
348
ebd. S.364.
349
Mario ERDHEIM, Verzerrungen des Fremden in der psychoanalytischen Perspektive, In: Ortrud Gutjahr
(Hg.), Freiburger literaturpsychologische Gespräche: Fremde, Königshausen & Neumann GmbH Verlag,
Würzburg 2002, Band 21, S.21-46, hier S.23. Im Folgenden zitiert als Erdheim.
350
Klaus HEINERTH, Die Notwendigkeit des Fremden für das Eigene, In:
http://www.heinerth.de/Notwendigkeit%20des%20Fremden.htm (Zugriff: 16.02.2015). Im weiteren Verlauf
zitiert als Heinerth.
351
Vgl. Waldenfels Topographie S.363.
352
Heinerth.
353
ebd. Der Dialog steht im Gegensatz zum Disput, bei welchem man lediglich gewinnen könnte. Der Gewinn
allerdings ist nur marginal und trennt. Jegliches Wachstum ist ausgeschlossen, da das Fremde nicht in das
Selbstkonzept integriert wird. (Vgl. ebd.)

! 87!
Inkongruenz, das heißt, es gibt eine Spannung zwischen Rebeccas Selbst und ihrer Erfahrung,
zwischen dem, was sie für ihr Eigenes hält und dem, wie sie sich in Interaktion mit sich selbst
und der Außenwelt erlebt.354

„Diese Inkongruenz, die wir als Spannung, gar Angst erleben, ist der Wegweiser für die Arbeit
am Selbst, ist die Grundlage der Selbstexploration und bedeutet die Öffnung für das Fremde im
Selbstkonzept. Am Ende dieser Entwicklung steht die Selbstkongruenz der Person, die autonom
und angstfrei, ja neugierig und offen das Fremde erlebt und frei entscheidet.“355

Dies macht das Fremde zusätzlich zu einer äußerst persönlichen Erfahrung, die für jeden ganz
individuell abläuft. Dass sich dies allerdings nicht reibungslos abspielt, zeigt Rebeccas
Werdegang. Wesentlich ist allerdings, dass sich Rebecca dazu entscheidet, sich schließlich
bewusst auf die Suche nach dem Fremden zu machen.356 Denn nur die Konfrontation ermög-
licht einen enthüllenden, reflexiven Blick, da das Selbstverständliche in Frage gestellt wird.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
354
Vgl. ebd.
355
ebd.
356
Vgl. Lucian S.61f.

! 88!
6.2.1. Exkurs zum Traum

Abedi greift erzähltechnisch auf den Albtraum zurück, um das Bedrohliche der Fremde zu
untermauern. Rebeccas Abgleiten in den Albtraum, der kurz nach dem Empfinden des Risses
erfolgt, ist Ausdruck dessen, was in Rebecca selbst vorgeht. Das Fremde manifestiert sich in
ihr selbst und tritt als das Unbewusste in ihr auf. Das Unbewusst trägt immer die Marke des
Fremden in sich.357 Das Unbewusste steht folglich für das Fremde in Rebecca selbst. Es ist
das Noch-nicht-Verstandene, das sich in ihrem Bewusstsein einnistet. Gemäß Freuds These
existiert das unbewusste Seelenleben hinter dem offiziellen Bewusstsein als etwas Ver-
drängtes, das sich in Träumen manifestiert. Er nennt es das innere Ausland.358 Demnach sei
der Mensch nicht homogen.359 Genau dies wird im Roman durch den Riss verdeutlicht,
wodurch Rebecca zwiespältig wird.
Die genauen Ursachen und die Deutung des Traums ist dem Leser erst möglich, nachdem er
den Hintergrund von Rebeccas Situation erfährt. Demnach steht der Albtraum für Rebeccas
Entscheidungsmoment, ob sie an Lucian und die Begleiterfunktion glaubt oder nicht und ob
sie fähig ist, zu vertrauen. Die Splitter illustrieren das zerrissene Selbst, ähnlich einer
zersplitterten Persönlichkeit, denn ein einheitliches Spiegelbild ist nicht vorhanden. Blut und
Spiegelsplitter können demnach als die Schwierigkeiten und Umwege wie Angst und Un-
sicherheit verstanden werden, die Rebecca durchstehen muss, bis sie überhaupt fähig ist, eine
Entscheidung treffen zu können. Um eine Entscheidung treffen zu können, muss sie aber erst
das Fremde in sich selbst konfrontieren. Der Wille muss vorhanden sein und sie muss fähig
sein, zu erkennen, woher das Unbewusste, das Fremde in ihr herrührt. Der Albtraum ist
folglich wie eine Botschaft, die aus einem Selbst kommt und das Bewusstsein erreichen will.
Der Albtraum, und damit das Unbewusste tritt einen dynamischen Prozess los. Die Funktion
des Traums als Schockelement wird somit zum Spiegelbild von Rebeccas Werdegang, den sie
im Roman vollziehen muss, um zu ihrem Eigenen wiederzufinden. Und dieser Werdegang
wird durch das Andere angespornt.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
357
Vgl. Erdheim S.21.
358
Vgl. Sonja KRETZSCHMAR, Fremde Kulturen im europäischen Fernsehen, Zur Thematik der fremden
Kulturen in den Fernsehprogrammen von Deutschland, Frankreich und Großbritannien, Westdeutscher Verlag,
Wiesbaden 2002, S.41.
359
Vgl. ebd.

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6.3. Lucian als das Andere - ein Aneignungsprozess

Mit dem Auftauchen des Fremden wird der Blick auch auf das Andere freigelegt, wobei man
dem Anderen anfangs in Form einer befremdlichen Spiegelung begegnet.360 Der Riss, den
Rebecca zu Beginn des Romans verspürt, ruft in Rebecca nicht nur eine Fremderfahrung her-
vor, sondern durch den Riss bricht mit dem Fremden das ganz Andere in Rebeccas Leben ein.
Durch den Kontakt zu Lucian und Rebeccas Versuch, sich Lucian zu nähern, wird das Fremde
zum Anderen. Dabei ist das Andere nicht das Unvertraute per se, sondern das Andere ist ver-
woben mit dem Eignen.361 Das Andere ist nötig, weil es das Selbstverständliche in Frage stellt
und damit das, was unverstanden ist,

„im Spiegel des Anderen zu Selbsterfahrungen und damit erst zum Eigenen wird. [Das Andere
ermöglicht erst den Prozess einer Unterscheidung und gleichzeitig den der Selbstfindung.] Ohne
ein Gegenüber ist die Auseinandersetzung mit sich selbst, die Selbstfindung, eine Individuation
nicht möglich. Das Neue, Andere, der Kontrast, das Unterschiedliche, nämlich das Fremde ist
somit zwingend notwendig für die eigene persönliche Entwicklung, zum Aufbau einer
Individualität, mit einer eigenen Identität“.362

Im Folgenden soll nun dargelegt werden, welche Konsequenzen der Kontakt mit dem
Anderen mit sich bringt und wie es der Romanheldin gelingt, damit umzugehen. Hierbei
durchläuft diese einen sogenannten Aneignungsprozess, dessen Funktion im Nachhinein ana-
lysiert wird.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
360
Oliver IMMEL, Von der Leere des Vertrauten, Überlegungen zur Rolle des kulturell Fremden in Prozessen
der Selbstaneigung, In: Bartmann, Immel, S.109-134, hier S.128f.
361
Siehe hierzu Punkt 2.5. in dieser Arbeit.
362
Heinerth.

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6.3.1. Die einzelnen Prozessetappen

Das Fremde löst zunächst Irritation aus, infolge dessen es zur Dezentrierung des Subjekts
kommt. Das Andere taucht in Form von Lucian auf. Das Andere, welches mit dem Eigenen
verwoben ist, führt zunächst zu einer Persönlichkeitsveränderung, denn die Auseinander-
setzung mit dem Anderen beginnt immer erst mit dem Eigenen. Bewusstes bzw. Bekanntes
wird durch Unbewusstes, Unbekanntes abgelöst. Rebecca erkennt allmählich, dass die alte
Rebecca verschwunden ist und sie sich verändert hat.363 Die alte Rebecca hätte sich von all
dem Chaos nicht verunsichern lassen und alles als Unsinn abgetan. Die neue Rebecca aller-
dings will sich partout nicht mit den sie befallenden Gedanken und Gefühlen auseinander-
setzen. Zwar zwingt sie sich immer wieder dazu, sich zusammenzureißen, doch ihre Ängste,
Gedanken und Gefühle bezüglich des Jungen kehren immer wieder zurück und übermannen
sie.364 Auch entdeckt Rebecca neue Seiten an sich, die sie zuvor nicht kannte. So empfindet
sie beispielsweise Wut, wenn sie einer Situation nicht gewachsen ist. Das ist sie nicht
gewohnt.365 Zwar erkennt Rebecca recht früh, dass sie ein Problem hat und dass ihr dieses
über den Kopf wächst, doch sie vertraut sich niemandem an und belügt stattdessen ihre
Familie und Freunde.366
Diese Persönlichkeitsveränderung führt dazu, dass sich Rebecca „mit sich selbst verhält“. Das
heißt, es kommt zu einer Situation der Reflexivität, welche die Voraussetzung für die
Wahrnehmung des Anderen ist. Dabei setzt sie sich in Beziehung mit dem, was ihr in ihrem
Inneren gegenübersteht, nämlich ihr Gefühlschaos und dem, was ihr von Außen gegenüber-
steht, in diesem Fall Lucian.367 Dem Anderen kommt so ein Aufforderungscharakter zu. Diese
Reflexivität gelingt ihr nämlich erst, wenn sie mit dem Anderen, mit Lucian, in Kontakt
kommt und mit ihm interagiert. Bevor sie allerdings über sich selber nachdenkt, tastet sie sich
zuerst an das Andere heran, um es zu identifizieren. Dies geschieht während eines zufälligen
Treffens abends am See. Hier findet sie heraus, dass Lucian selbst keine Erinnerungen hat,
wer er ist. Er nennt sich selbst Lucian. Während Rebecca immer wieder den Kontakt zu Lu-
cian sucht, zieht sich dieser immer wieder zurück. Seine Mimik ist geprägt durch einen wei-
chen, verletzlichen, aber vor allem suchenden Ausdruck. Es belastet Lucian schwer, dass er
keine Erinnerungen hat.368 Auch entzieht er sich immer wieder Rebeccas Berührungen.369
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
363
Vgl. Lucian S.106.
364
Vgl. ebd. S.114f.
365
Vgl. ebd. S.118.
366
Vgl. ebd. S.130.
367
Vgl. Rémy HESS, Christoph WULF (Hg.), Grenzgänge: über den Umgang mit dem Eigenen und dem
Fremden, Campus Verlag, Frankfurt/Main, New York 1999, S.16. Von nun an zitiert als Hess, Wulf.
368
Vgl. Lucian S.117ff.
369
Vgl. ebd. S.128.

! 93!
Doch Rebecca lässt nicht von Lucian locker, da er sich in einem Winkel in ihrem Gehirn
eingenistet hat und sie nicht mehr aufhören kann, an ihn zu denken.370 Deshalb versucht sie
nun, das Andere zu überbrücken, indem sie versucht, mit Lucian zu sprechen. Um dem
Geheimnis Lucian auf die Spur zu kommen, steigert sich Rebecca immer weiter in die Suche
hinein. Dabei verletzt sie ihr Umfeld sehr und begibt sich selbst in einen nebulösen
Zustand.371 Sie hat ihre Mutter belogen, weshalb sie eine Ohrfeige und Hausarrest erhielt.
Allerdings fühlt sich Rebecca für die häusliche Situation nicht verantwortlich und begegnet
ihrer Mutter mit Wut. 372 Auch Sebastian, der ihr seine Hilfe anbietet, wird von ihr
zurückgestoßen, da sie sich für ihr Verhalten bei Sebastian nicht rechtfertigen will.373 Und mit
Suse ist sie gemein und verletzend und unterstützt diese nicht in ihrer neuen Liebesaffäre.374
Auf einem Maskenball trifft sie Lucian wieder und es kommt zur ersten intensiven Berühr-
ung. Rebecca spürt Lucians Nähe als fremd und gleichzeitig vertraut und trotz der
Gegensätzlichkeit spürt sie sich im Einklang mit ihm, wie Herzschlag an Herzschlag. Beide
gestehen sich das erste Mal ein, dass sie sich gegenseitig gefehlt haben. Ein Gefühl der
Wärme durchströmt beide. Und als Lucian Rebecca an der Wange streichelt, empfindet sie
die Berührung als äußerst intensiv. Eine Verbindung scheint hergestellt.375 Lucian verstärkt
diesen Eindruck, als er Rebecca gesteht, dass er äußerst starke Gefühle für sie empfinde.376
Allerdings wird ihr Treffen jäh von Sebastian und dessen Eifersucht unterbrochen, sodass
Lucian Rebecca mit Fragen zurücklässt. Zunächst scheint sich Rebecca abwenden zu wollen.
Sie wünscht sich ihr altes Leben zurück, ihre Fröhlichkeit und verabscheut ihre Situation, die
der eines Einsiedlerkrebses nahekommt. Nicht mal das Schwimmen bringt ihr eine
kurzfristige Erlösung. Sie fühlt sich so mies wie noch nie in ihrem Leben.377 In der Zwischen-
zeit überhört sie ein Gespräch zwischen ihrer Mutter und Spatz, aus dem sie schließt, dass
Lucian sich unwissentlich therapeutische Hilfe bei ihrer Mutter gesucht hat. Sie entschließt
sich, in die Praxis einzubrechen und sich Informationen über Lucian einzuholen. Dort
entdeckt sie, dass Lucian von Rebecca träumt und dass ihre Mutter aufgrund der Traumdetails
erkannt haben muss, dass es sich bei dem Mädchen um Rebecca handelt.378 Rebecca ist mit
der Situation restlos überfordert und wendet sich an ihre Freundin Suse. Anfangs bringt sie es
nicht fertig, über ihre Situation zu sprechen, da sie nicht weiß, wie sie damit umgehen soll,
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
370
Vgl. ebd. S.133.
371
Vgl. ebd. S.145.
372
Vgl. ebd.
373
Vgl. ebd. S.159.
374
Vgl. ebd. S.195.
375
Vgl. ebd. S.170ff.
376
Vgl. ebd. S.177.
377
Vgl. ebd. S.185ff.
378
Vgl. ebd. S.207ff.

! 94!
wenn sich alle Schleusen öffnen würden. Und doch stürzt plötzlich alles auf sie ein. Rebecca
erkennt erschreckend, dass sie Suse von all dem ausgeschlossen hatte. Sie erzählt ihr alles und
gibt erstmals offen ihre Gefühle der Angst, des Verlorenseins und des Verletztseins zu.379 Sie
weiß nun, dass sie mit allem nicht mehr allein ist.380 Um Rebecca aufzumuntern, schneidet
Suse ihr eine neue Frisur. Als Suse ihr den Spiegel vorhält, zittert ihr ganzes Spiegelbild, was
symbolisch für Rebeccas unstabile Persönlichkeit zu diesem Zeitpunkt steht. Sie hat sich nun
nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich verändert.
Als Rebecca Lucian das nächste Mal trifft, rettet er ihr das Leben vor einem heranfahrenden
Auto und nimmt sie schließlich mit zu sich nach Hause. Rebecca kommt der dortige Geruch
sofort bekannt vor, doch sie kann nicht richtig deuten, woher. Rebecca empfindet abermals
eine enorme Anziehungskraft Lucian gegenüber, doch er entzieht sich ihr. Das Abstandhalten
schmerzt Rebecca. Rebecca eröffnet Lucian, dass ihre Mutter seine Therapeutin ist. Auch
offenbart sie ihm, dass sie auf der Suche nach Antworten deren Praxis nach Informationen
über ihn durchwühlt hat. Lucian reagiert mit Hass und Verachtung und schmeißt sie raus,
doch Rebecca kehrt zurück, und es kommt zum Kuss. Obwohl die Situation noch deutlich
durch Spannung gekennzeichnet ist und man nicht von einer vollständigen Überbrückung
sprechen kann, setzt nun die nächste Phase ein: die Annäherung.
In Lucians Zimmer mustern sich beide unverwandt und sie erkennen, dass sie sich ohne den
Anderen fühlen, als ob etwas fehlen würde, was der andere besitze. Auch fühlen sie sich süch-
tig nacheinander. Lucian fühlt Rebecca sogar in seinen Träumen. Außerdem offenbart er ihr,
dass er immer nur von ihr träume.381 Rebecca übernachtet schließlich bei Lucian. Zwar schla-
fen sie nicht miteinander, aber beieinander.
Rebecca identifiziert das Beisammensein mit Lucian als etwas Prickelndes, als verwandle sich
durch Lucian alles in etwas Anderes, etwas Neues, und sie fragt sich, wer sie eigentlich sei
und spricht das erste Mal von einem Wir. Rebecca ist so überwältigt von der ganzen
Situation, dass sie einfach mit Weinen beginnt. In diesem Moment gesteht Lucian Rebecca,
dass er sie liebt.382 Auch Lucian verändert sich, er sieht glücklich aus. Schließlich offenbart er
Rebecca, dass er keine inneren Handflächen besitze. Von einem Tag auf den anderen ver-
schwindet er, bis er nachts plötzlich vor Rebeccas Tür steht und mit Janne sprechen will. Was
in dem Gespräch herauskam, erfährt Rebecca nicht. Ihre Mutter setzt sie allerdings am nächs-
ten Tag ohne Erklärung in den Flieger nach Los Angeles. Alles, was sie weiß, ist, dass es zu

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
379
Vgl. ebd. S.235ff.
380
Vgl. ebd. S.242.
381
Vgl. ebd. S.264.
382
Vgl. ebd. S.276f.

! 95!
ihrem eigenen Schutz sei.383 In LA empfindet Rebecca durch ihre Trennung von Lucian sol-
che Schmerzen, dass sie nicht mehr isst. Sie wird depressiv, spricht mit niemandem,
verschanzt sich in ihrem Zimmer, schlägt mit dem Kopf gegen die Wand und muss
schließlich zwangsinterniert werden. Es dauert drei Monate und drei Tage, bis sie wieder zu
sich kommt und auch das erste Mal wieder spricht.384 Sie selbst äußert, dass sie vor Schmer-
zen ohnmächtig gewesen sei und keine Worte finden konnte. Auch haben sie Selbstmord-
gedanken geplagt. Außerdem träumt sie seit ihrer Ankunft in LA von ihrem eigenen Tod. Der
Todestraum, den sie damals in der Nacht hatte, als sie den Riss verspürte, sucht sie nun
nächtlich heim. 385 Seit ihrem Aufwachen versucht Rebecca, alle gefährlichen Gedanken
auszublenden, doch sie hat gelernt, dass sie nicht mehr vor ihren Gefühlen davonlaufen kann.
Die verbotenen Gedanken an Lucian drängen dafür viel zu nahe an die Oberfläche. 386
Rebecca freundet sich mit dem Kindermädchen Faye an. Diese zeichnet Rebecca am Strand
und präsentiert ihr sozusagen ihr Spiegelbild. Rebecca ist erschrocken, wie leer und leblos sie
aussieht, und sie hat Angst vor sich selbst. Faye fragt, was ihr geschehen sei, sie sehe aus, als
fehle ihr etwas. Rebecca drückt sich zum ersten Mal nicht und stellt sich Fayes Fragen. Ihr
Abwehrsystem bröckelt, und der Panzer, den sich Rebecca zum Selbstschutz seit ihrer
abrupten Trennung von Lucian umgelegt hatte, zerspringt. Sie weint und schreit, dass sie
Lucian hasse.387 Sie erzählt Faye die ganze Geschichte. Dabei wird ihr bewusst, dass sie
momentan ein Mensch ohne Wille sei und dass sie sich selber zuerst mit der Verrückten
vertraut machen muss, die sie geworden ist. Aber damit ihr das gelingt, muss sie Lucian
suchen. Und um Lucian zu finden, muss sie ihr eigenes Leben ordnen. Rebecca erkennt, dass
ihr das nur gelingt, wenn sie aktiv wird. Außerdem möchte sie wieder ein Mensch mit eigenen
Entscheidungen sein. Auch möchte sie wieder einen Zugang zu ihren Gefühlen erhalten, auch
wenn es keine guten Gefühle sind. Rebecca brennt regelrecht darauf, ihr Leben in den Griff
zu bekommen.388 Sie vertraut Faye und sucht die Gespräche mit ihr, da ihr diese Zuversicht
geben. Ihren nächsten Schritt macht Rebecca, indem sie Suse anruft, doch es gelingt ihr noch
nicht, mit Suse über die Geschehnisse zu sprechen. Als drittes meldet sie sich selbst an einer
öffentlichen Schule an, da sie sich dort zusammenreißen muss.389 Dort begegnet sie ihrem
alten Englischlehrer Morton Tyger. Anfangs reagiert sie diesem gleichgültig gegenüber, doch
es ist schließlich ein Romanausschnitt seines Lieblingsschriftstellers Ambrose Lowell, der
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
383
Vgl. ebd. S.296ff.
384
Vgl. ebd. S.322ff.
385
Vgl. ebd. S.346ff.
386
Vgl. ebd. S.354.
387
Vgl. ebd. S.365f.
388
Vgl. ebd. S.370ff.
389
Vgl. ebd. S.381ff.

! 96!
Rebecca aufhorchen lässt. Die Figur dieser Geschichte wacht nämlich genau wie Lucian ohne
jegliche Erinnerung auf. Rebecca glaubt an eine Verschwörung und macht sich auf die Suche
nach Antworten. Dabei durchstöbert sie das Büro ihres Vaters, dessen Urgroßvater ein
angesehener Kritiker war und der vor allem als stärkster Lowell-Kritiker verschrien war. Dort
findet sie ein Foto, auf welchem sowohl der Urgroßvater als auch der Schriftsteller zu sehen
sind. Sie vertraut sich Faye an, die ihr ohne viel zu kommentieren rät, die Lösung
herauszufinden. Rebecca konfrontiert ihren Lehrer schließlich in dessen Besprechungsraum.
Dieser offenbart ihr, auch er besitze Handflächen ohne Geschichte. Er sei ein sogenannter
Begleiter, genau wie Lucian. Tyger klärt Rebecca über die Funktion der Begleiter auf: Mit der
Geburt eines Menschen kommt zeitgleich ein Wesen zur Welt, das diesen Menschen von der
Geburt bis zu seinem Tod begleitet. Diese Wesen sind einfach immer da, gehen überall hin,
wo der Mensch hingeht. Im Moment des Todes übernehmen diese Wesen die Führung und
leiten dann den Menschen. Allerdings darf das Wesen im Moment des Todes nicht zweifeln,
das heißt, es darf seine Beziehung zum Menschen bspw. nicht durch Mitleid in Frage stellen,
da es sonst menschlich wird, um seinen Menschen retten zu können. Der Preis dafür, dass das
Wesen dennoch dem Menschen helfen kann, ist, dass es keine Erinnerungen mehr hat und
somit auch nicht mehr weiß, wer sein Mensch ist bzw. war. Außerdem entsteht ein ständiges
Schmerzgefühl, das sich nur zu lindern scheint, wenn das Wesen sich unbewusst seinem
Menschen nähert. So entsteht eine unsichtbare Bindung, die das Wesen nicht erklären kann,
da es sich nicht mehr erinnert, wer sein Mensch war.390 Tyger offenbart Rebecca, dass sowohl
er als auch Faye zu diesen Wesen gehören und auch Lucian ein solches ist. Rebecca kann sich
anfangs nicht bewegen, doch schon bald macht sich Wut in ihr breit. Sie fühlt sich wie ein
wildes Tier, das zu lange eingesperrt war.391 Sie konfrontiert Faye sofort mit ihrem neuen
Wissen. Diese ergänzt, dass Wesen, die zum Zeitpunkt des Todes ihres Menschens nicht an-
wesend sind, zurückbleiben und nicht mehr altern, da sie ihrer Begleiterfunktion im Moment
des Todes nicht nachgekommen sind. Außerdem bricht die Verbindung zwischen beiden ab.
Allerdings kann das Wesen, das aus Mitliebe zu seinem Menschen selbst menschlich
geworden ist, wieder zum Wesen werden, wenn es beide wollen. Auch findet Rebecca her-
aus, dass Tyger, der Lucian begegnet war, nicht über seine Situation aufgeklärt hatte, dies
wohl aus Rache. Tyger selbst hat seinen Menschen, Ambrose Lowell, verloren, und da Re-
beccas Urgroßvater durch seine Kritiken mitverantwortlich für dessen Selbstmord war, wollte
er sich so rächen.392

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
390
Vgl. ebd. S.423ff.
391
Vgl. ebd. S.431f.
392
Vgl. ebd. S.444ff.

! 97!
Schlussendlich gibt Faye Rebecca zu verstehen, Lucian müsse wohl in Rebeccas Nähe sein,
da ihre Schmerzen nachgelassen haben. Rebecca macht sich auf die Suche nach Lucian.
Dabei versucht sie sich zunächst an die Realität zu halten, bzw. an das, was sie für die Realität
hält. Doch sie erkennt schnell, dass Lucians und ihre gemeinsame Liebe tiefer geht als alles
andere und dass sie sich nach Lucian sehnt. In dieser Situation versteht Rebecca ihren
Albtraum: Sie träumt ihren eigenen Tod und dadurch, dass Lucian sich in sie verliebt hat und
menschlich wurde, wird sie wohl alleine sterben und Lucian somit zurücklassen. Rebecca
glaubt, die Hoffnung aufgeben zu müssen, und um sich selbst zu retten, ruft sie schließlich
Sebastian an, was ihr ganz natürlich vorkommt. Dieser Anruf ist Rebeccas Knackpunkt: In
einem letzten Annäherungsschritt öffnet sich Rebecca Sebastian und erzählt ihm alles, sogar
ihren Todestraum. Danach fühlt sie sich erschöpft und schläft seit langem sofort ein.393 Doch
im Schlaf überfällt sie wieder der Todestraum. Beim Erwachen fühlt sich Rebecca einem Ner-
venzusammenbruch nahe, doch sie kämpft dagegen an. Und es ist in diesem Ankämpfen, dass
sie sich daran erinnert, Lucian vom Lake Nacimiento erzählt zu haben, einem Ort, an dem sie
mit ihrem Vater als kleines Kind war und wo eine Familienhütte steht. Rebecca macht sich
sofort auf den Weg dorthin.
Nachdem nun einzelne Momente dazu beigetragen haben, dass sich Rebecca Lucian
angenähert hat, auch wenn dieser per se nicht physisch anwesend war und sie Einsicht in
Lucians Wesen erhielt, erfolgt nun zuletzt die sogenannte Aneignung des Anderen. Rebecca
lernt, Lucian als das zu akzeptieren, was er ist und somit auch seine bzw. ihre gemeinsame
Situation anzunehmen. Dies geschieht, als Rebecca am Lake Nacimiento ankommt. Ein
Gefühl der Wärme, gar der Hitze überströmt sie und ein sanftes Ziehen macht sich in ihr breit.
Sie weiß, dass Lucian da ist. Als die beiden endlich zusammen sind, empfindet Rebecca
Lucian gegenüber keine Angst mehr. 394 Es ist schließlich Rebecca, die Lucian darüber
aufklärt, wer bzw. was er ist, und es ist in diesem Moment, als Lucan begreift, wer er ist, dass
aus den Scherben eine neue Welt entsteht. Die Macht der Gefühle überkommt beide, und sie
fühlen sich in purem Einklang. Sie schlafen miteinander. Rebecca weint schließlich vor
Glück. Sie will, dass alles so bleibt.395 Dennoch überfällt sie in der Nacht abermals der Alb-
traum, doch Rebecca entscheidet, dass sie es satt hat und der Tod für sie kein Ausweg sei.
Allerdings fürchtet sie sich davor, was aus ihnen beiden wird. Lucian versichert ihr, dass,
solange sie zusammen bleiben, ihr nichts geschehen könne. Die Idylle wird abermals gestört,

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
393
Vgl. ebd. S.452ff.
394
Vgl. ebd. S.470ff.
395
Vgl. ebd. S.481ff.

! 98!
und nach einem dramatischen Showdown396, bei dem Sebastian aus Liebe zu Rebecca deren
Mutter über den Traum ihrer Tochter informiert hatte und beide nach LA geflogen sind, um
Rebecca abermals vor Lucian zu retten, wird Rebeccas Albtraum Realität. Lucian ist in
diesem Moment bei Rebecca, doch um sie zu retten, muss Lucian wieder zum Wesen werden.
Nur so kann er für immer bei Rebecca bleiben. Rebecca wird gerettet und sie weiß, dass
Lucian bei ihr ist.397

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
396
Vgl. ebd. S.528ff.
397
Vgl. ebd. S.552ff.

! 99!
100!
!
6.3.2. Funktion der Aneignung des Anderen

Anhand der einzelnen Etappen wird ersichtlich, wie die Aneignung des Anderen von statten
gehen kann398. Spricht man von Aneignung, schwingt häufig der pejorative Beigeschmack des
Besitzergreifens und der Frage nach Eigentum mit. Allerdings wird Aneignung in diesem
Kontext keineswegs in Bezug auf Eigentumsverhältnisse (territorial, monetär o.Ä.) ver-
standen, sondern der Begriff wird hier wie folgt benutzt: Im Falle einer Aneignung kommt es
zuerst zu einer Form des Lernens, doch man nimmt nicht nur passiv etwas auf, vielmehr
kommt es zweitens zur aktiven Durchdringung und zum eigenständigen Verarbeiten des
Anderen.399 Dabei erhält man nicht nur Einsicht in einen Sachverhalt, sondern man kann mit
dem Erkannten umgehen, „dass es einem als Wissen wirklich und praktisch zur Verfügung
steht.“400. Eignet man sich das Andere demnach an, so ist man mit dem Anderen sozusagen
identifiziert und das Andere wird zum Teil eines Selbst. Das Andere bleibt demnach nicht
äußerlich, es wird zum Teil des Inneren, des eigenen Ichs.401 Mit der Aneignung des Anderen
stellt sich die Frage des Umgangs mit diesem Angeeigneten, vor allem, da die Aneignung das
Angeeignete nicht unverändert lässt. Man benutzt das Angeeignete nicht nur, sondern es
verändert sich im Benutzt Werden und nimmt eine andere Gestalt an. Genau dies durchläuft
Rebecca: Sie muss zuerst lernen, was Begleiter sind, bevor sie dieses Wissen konstruktiv
einsetzen kann, um im wesentlichen Moment (in ihrem Todesmoment) darauf zurückgreifen
zu können und eine (lebens-) wichtige Entscheidung treffen zu können. Folglich verändert
Lucian seinen Status vom Menschen zum Begleiter und wird zu einem Teil Rebeccas. Mit
den Worten von Rahel Jaeggi lässt sich also sagen:

„Obwohl der Begriff der Aneignung eine seiner Wurzeln in der Beschreibung von
Eigentumsverhältnissen hat, wird mit ihm gegenüber dem bloßen Besitz die besondere Qualität
eines Prozesses betont, der wirkliche Inbesitznahme erst konstituiert. Aneignung wäre demnach
ein bestimmter Modus der Besitzergreifung.“402

Allerdings wirkt sich dieser Prozess nicht nur auf das Andere, das Angeeignete aus, sondern
das Aneignende, das Eigene, verändert sich auch, indem wir das Andere benutzen:

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
398
Ich betone hier eindeutig das Verb kann, denn in der Theorie muss es nicht zu einer Aneignung des Anderen
im Sinne einer vollständigen Assimilation kommen, man kann das Andere auch verstoßen bzw. ein Verhältnis
von Unterschiedenem kann bestehen bleiben.
399
Vgl. Rahel JAEGGI, Aneignung braucht Fremdheit, In: Texte zur Kunst, Ausgabe No. 46, Juni 2002, In:
https://www.textezurkunst.de/46/aneignung-braucht-fremdheit/ (Zugriff: 12.01.2015). Von nun an zitiert als
Jaeggi.
400
ebd.
401
Vgl. ebd.
402
ebd.

101!
!
„Im Prozess der „Einverleibung“ (der aneignenden Assimilation) bleibt der Einverleibende sich
nicht gleich. Dem kann man eine konstruktivistische Wendung geben: Der Aneignende
konstituiert sich im Aneignungsprozess, umgekehrt gibt es auch das Angeeignete nicht ohne die
Aneignung.“403

Demzufolge liegt diesen Transformationsprozessen ein Spannungsverhältnis zugrunde, und


zwar das zwischen Eigenem und Anderem. Da das Andere, wie unter 2.5. erklärt, nicht fremd
per se ist, sondern im Bezug zum Eigenen sowohl Gemeinsames als auch Fremdes enthalten
kann, läuft die Spannung zwischen Faszination und Bedrohung ab. Dieses Spannungsver-
hältnis wiederum fordert die Identität heraus, denn man kann seine Identität nur durch den
Prozess, in dem man sich von etwas Anderem unterscheidet, entwickeln. Dies erklärt auch,
weshalb sich Rebeccas Persönlichkeit durch das Aufeinandertreffen mit Lucian verändert.
Lucian wiederum gelingt es nur, Antworten auf seine fehlenden Erinnerungen zu finden,
indem er sich auf Rebecca einlässt. Dies zeigt, dass es sich hier um einen dialektischen
Prozess handelt, bei dem durch beidseitige Erfahrung der Differenz die Identität geformt wird.
Es kommt zu einem sogenannten Übersetzungsprozess, bei dem zwischen verschiedenen
Sachverhalten vermittelt wird.404 Das Andere, in diesem Fall Lucian, wirkt außerdem als
Korrektiv für Rebecca. Rebecca, welche sich anfangs aufgrund ihrer Persönlichkeitsver-
änderung von Freunden und Familie abwendet und sich konträr zu ihrer sonstigen Art verhält,
wandelt sich dank Lucian wieder in ihr altes Ich zurück. Außerdem entwickelt sie sich weiter:
Sie wird zielstrebiger, sucht nach Antworten und lernt wieder, sich ihren Mitmenschen
anzuvertrauen.
Anhand der Geschichte von Rebecca und Lucian wird zudem ersichtlich, dass dem
Aneignungsprozess auch etwas Neues hinzugefügt werden kann. Rebecca erhält nämlich eine
neue Perspektive in ihrer vertrauten Welt. Es ist das Wissen, dass es übernatürliche Phäno-
mene wie Begleiter gibt und dass man nie wirklich alleine ist. Auch im Moment des (Fast-)
Todes sind sie für einen da.
Relevant für den Aneignungsprozess sind die einzelnen Etappen. Dass dieser ganze Prozess
allerdings nicht reibungslos abläuft, wird an der Geschichte ersichtlich. Zunächst begegnen
beide Figuren ihrer jeweiligen Situation negativ. Rebecca weist anfangs Flucht- und Ver-
drängungsmechanismen auf, und auch Lucian versucht sich zunächst aufgrund seiner eigenen

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
403
ebd.
404
Vgl. Jürgen KRAMER, Kulturwissenschaft Anglistik / Amerikanistik, In: Klaus Stierstorfer, Laurenz
Volkmann, Kulturwissenschaft interdisziplinär, Narr Franke Attemp Verlag GmbH + Co. KG, Tübingen 2005,
S.173-192, hier S.184.

102!
!
Fremdheit in sich selbst zurückzuziehen, unsichtbar zu sein, um nicht aufzufallen. Abedi
verstärkt dies erzähltechnisch durch die Dichotomie zwischen weiblich und männlich: Lucian
steht für das Männliche und Rebecca steht für das Weibliche. Das Männliche und das
Weibliche treten demnach anfänglich als Personifikation von zwei gegensätzlichen Prinzipien
auf. Rebecca begegnet Lucian zunächst skeptisch, vor allem da er mitten in der Nacht vor
ihrem Fenster steht und sie beobachtet, doch auch Lucian weiß nicht, ob er Rebecca vertrauen
kann. Zudem setzt Abedi bei beiden eine gewisse Form der Unvollkommenheit voraus, damit
man sich durch „Zuwendung“ des Anderen und dem daraus resultierenden Austausch aus
diesem Mangelgefühl befreien kann. Dieses Unvollkommenheitsgefühl ist bei Rebecca
aufgrund des Risses und der dadurch ausgelösten Persönlichkeitsveränderung vorhanden, bei
Lucian geschieht dies aufgrund seiner fehlenden Erinnerungen und dem Unwissen, wer er
eigentlich ist. Die anfängliche Ungleichheit zwischen beiden regt schließlich eine
Entwicklung an.405 Abedi greift in diesem Zusammenhang erzähltechnisch auf die Form der
Liebesbeziehung zwischen Rebecca und Lucian zurück, um eine Möglichkeit der Über-
windung dieser „Trennung“ bzw. um einen Übergang aus dem Einen in das Andere und um-
gekehrt zu bieten.406 Rebecca und Lucian treffen sich zunächst als zwei Jugendliche, die
einander fremd sind und die doch eine magische Anziehungskraft aufeinander ausüben. Ihre
Treffen werden begleitet von Herzklopfen, Vibrieren, elektrischen Schlägen, die über-
springen, Berührungswünschen, und einer Ruhe und Nähe, die beide in ihrem Inneren spüren,
wenn sie beieinander sind.407 Diese Gemeinsamkeiten bilden die Basis, auf der sich beide an-
einander herantasten. Gerade das Getrenntsein von Lucian löst in Rebecca Angstgefühle aus
und bedroht die Stabilität ihres Ichs, was darauf hinweist, dass Lucian ihr zu etwas
Vertrautem geworden ist, das sie selbst allerdings noch nicht ganz fassen kann. Lucian ist
demnach eine Art Bezugsfigur für Rebecca geworden. Doch beide wissen nicht viel über-
einander. So kommt es, dass Rebecca sich auf unterschiedlichen Wegen Hintergrundwissen
über Lucian und seine Situation aneignet, um sich zuerst einmal bewusst zu werden, was
Lucian durchmacht. Dies dient ihr zu einem Vorverständnis, um seine Situation verstehen zu
können. Allerdings droht der Aneignungsprozess zu scheitern, dies durch diverse Schmerz-
und Traumatisierungserfahrungen. Auch Lucian macht seinerseits einen ähnlichen Prozess
durch. Er erhält sein Hintergrundwissen nur bruchstückhaft aus Träumen über Rebecca. Sein

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
405
Vgl. ebd.
406
Vgl. Renata CORNEJO, Die Ich-Spaltung als das „Eine“ und das „Andere“ am Beispiel des Romanes Das
andere Gesicht von Anna Mitgutsch, S.165, In:
https://digilib.phil.muni.cz/bitstream/handle/11222.digilib/105853/1_BrunnerBeitratgeGermanistikNordistik_19-
2005-1_14.pdf?sequence=1 (Zugriff: 16.02.2015).
407
Vgl. Lucian S.118f., S.126.

103!
!
Suchen kommt mehr einer Exploration gleich, da er nur wenige Anhaltspunkte hat, die ihm
Deutungsmöglichkeiten bieten. Doch er macht sich auf die Suche, um Antworten zu finden,
muss allerdings auch immer wieder Rückschläge erleiden (bspw. bei der Therapeutenwahl).
Dieses Wechselspiel trägt schließlich dazu bei, dass es zu einer Übertragung bzw. Gegenüber-
tragung kommt. Beide Figuren erfahren durch das gegenseitige Erkunden wesentliche
Informationen, die sowohl sie selbst als auch den anderen betreffen. In der gemeinsamen
Kommunikation bzw. im Austausch ihres Wissens über den Anderen werden sie fähig, sich in
den Anderen hineinzuversetzen. Und es ist diese Empathiefähigkeit, die die Bedingung für
das gegenseitige Verstehen ist. Gemeinsam gelingt es ihnen schließlich, gegenseitig
verstehbar zu sein. Somit findet auch eine innere Bewältigung statt, in der das Andere
verarbeitet wird. Abgerundet wird dieser Prozess dadurch, dass eine Gemeinschaft entsteht.
Es kommt zu einer Verbindung zwischen Eigenem und Anderem bzw. zu einer Integration.
Dies wird im Roman symbolisch durch den Liebesakt belegt.408 Das Andere, in diesem Fall
Lucian, wird sozusagen in die eigene Symbolwelt überführt. 409 Die Auflösung des Anderen
im Eigenen erklärt Abedi dem Leser, indem sie die Idee des Anderen als eine Art
Doppelgänger einführt. Sie wählt metaphorisch das Thema des Begleiters, der der zu beglei-
tenden Person wie eine Art Schatten nicht von der Seite weicht, um das Phänomen des
gleichursprünglich Anderen der jugendlichen Leserschaft verständlich zu machen und ein
Bewusstsein vom Anderen zu vermitteln. Die Aneignung vollzieht sich schließlich
wortwörtlich und physisch, indem Lucian im Moment von Rebeccas Tod zum Wesen zurück-
verwandelt wird und Rebecca somit retten kann. Rebeccas Wissen, um Lucians Begleitung,
steht für den abgeschlossenen Aneignungsprozess.
Die Beziehung zwischen Rebecca und Lucian erweist sich also als konstitutiv und
komplementär zugleich. Ohne Rebecca wäre Lucian nicht (be-) greifbar und ohne Lucian
wäre Rebecca nicht (be-) greifbar. Ein Prozess des Vertrautwerdens findet zwischen beiden
statt, bei dem „(...) das Andere in eine Variante des Ich transformiert [wird] und die Differenz
oder das fremde Element auslöscht“410. Das heißt aber keinesfalls, dass Rebecca und Lucian
eigen und individualisiert wären. Beide Figuren sind unterscheidbar, schon allein aufgrund
ihres Geschlechts. Es zeigt zudem, dass das Andere dazu dient, sich „(...) selbst zu sehen, zu
entdecken und zu erforschen“411. Beide können durch diese Spiegelfunktion Repräsentationen
ihres Selbst im Inneren wahrnehmen und dadurch Bewusstsein entwickeln für sich selbst und
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
408
Vgl. ebd. S.482.
409
Vgl. Hess, Wulf S.32.
410
Gilda ENCARNACAO, „Fremde Nähe“: das Dialogische als poetisches und poetologisches Prinzip bei
Paul Celan, Königshausen & Neumann Verlag, Würzburg 2007, S.31.
411
Hess, Wulf S.14.

104!
!
wer sie sein wollen. Erst dadurch können sich beide auch weiterentwickeln. Die Begegnung
mit dem Anderen gleicht in diesem Kontext schließlich einem „Wachrufen des Ich durch den
Nächsten, des Ich durch den Fremden“412.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
412
Gutjahr S.48.

105!
!
106!
!
6.4. Schlussfolgerung

Das Fremde erscheint im Roman in der Form eines Risses, einer Plötzlichkeit, was Chaos
auslöst. Der gängige Ablauf von Rebeccas Leben wird unterbrochen. Aufgrund der Irritation
und der daraus resultierenden Fremderfahrung, tritt das Andere in Form von Lucian in
Erscheinung, und zwar als das Andere des Eigenen.413 Das Fremde geht demnach voraus und
ermöglicht erst die Konfrontation mit dem Anderen.
Lucian ist anfangs einerseits derjenige, der Rebecca entgegensteht bzw. ihr gegenübertritt,
sowie andererseits das, was Rebeccas Verstehen übersteigt. Dadurch entsteht eine Dialektik,
die primär ist für eine Auseinandersetzung. Es kommt zur Kommunikation, die Voraus-
setzung für Verstehen ist und woraufhin die Aneignung des Anderen im Eignen erfolgen
kann. Beim Aneignungsprozess spielt das Prinzip der Wechselseitigkeit eine wesentliche
Rolle, aufgrund derer eine Beziehung zwischen Eigenem und Anderem entsteht. Gleichzeitig
ermöglicht es das Andere, einen Spiegel für das Eigene zu bilden, an dem man sein eigenes
Verhalten reflektieren bzw. korrigieren kann. Später stellt sich heraus, dass das Andere eine
Art alter ego ist, ein anderes Ich, das Verwandtes einschließt, dies in Form des Begleiters414.
Die Figur Rebecca verdeutlicht, dass man zuerst die Erfahrung von Fremdem machen muss,
bevor man es erkennen, verstehen und aneignen kann, denn „Fremdes ist nicht etwas, als
fremd wird etwas erfahren“415.416 Dabei handelt es sich um eine Art Anomalie, die das
Gewohnte unterbricht und von der Normalität abweicht, ähnlich eines Risses, der etwas
entzweit. Das Fremde wird so mit einer Störung, etwas Negativem, gleichgesetzt. Rebecca
weiß zu Beginn nichts von dem Fremden, sie kann es nicht fassen, weshalb sie zunächst mit
Vorsicht reagiert und es abzuwehren versucht. Vor allem, da aufgrund ihres Todestraumes
Gefahr von dem Fremden auszugehen scheint. Solange Rebecca das Fremde nicht konfron-
tiert, kann sie es nicht in ihr Eigenes integrieren. Dabei reicht es nicht aus, nur das Fremde zu
erkennen, sondern das Verstehen ist wesentlich. Als es dann zum Kontakt kommt, das heißt,
als Rebecca erstmals auf Lucian trifft, beginnt dieser Verstehensprozess. Das Fremde wird ihr
vertrauter, sie sucht bewusst die Nähe, da das Fremde sie fasziniert. Durch den Kontakt wird
das Fremde zum Anderen. Das Fremde ist folglich nicht dasselbe wie das Andere. Das
Andere umgibt einen ständig, und man ist im Austausch mit dem Anderen. Rebecca

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
413
ebd. S.47 .
414
Vgl. Dieter MERSCH, Die Frage der Alterität. Chiasmus, Differenz und die Wendung des Bezugs., In:
http://www.dieter-mersch.de/download/mersch.frage.der.alteritaet.pdf (Zugriff: 21.02.2015).
415
Carl PIETZKER, Mein Herzschlag der Rhythmus eines Fremden in einem Fremden, der wie ich sagen hörte,
nicht sterben kann., Fremdheitserfahrung in und mit Reinhard Jirgels Hundsnächte, In: Gutjahr, S.199-218, hier
S.199.
416
Vgl. ebd.

107!
!
entwickelt sich im Dialog mit Lucia. Umgekehrt entwickelt sich Lucian im Dialog mit
Rebecca. Lucian und Rebecca werden schließlich ein Paar. Dies unterscheidet das Andere
ebenfalls vom Fremden, denn mit dem Anderen kann man eine Beziehung eingehen. Das
Andere ist zwar nicht identisch mit dem Selbst, aber es ist einem vertraut. Man weiß etwas
über das Andere und kann sich mit ihm verständigen. 417
Das Fremde macht in diesem Jugendroman eine entscheidende Wandlung durch, die vom
Fremden zum Vertrauten. Dies geschieht über den Aneignungsprozess des Anderen, welcher
durch allerlei Widerstände (u.a. Entfernung von Freunden und Familie, geografische Tren-
nung) geprägt ist. Dabei muss Rebecca ihr gewohntes Weltverständnis aufgeben, aber es wird
gleichzeitig ein neuer Raum geschaffen, in dem es Wesen, sogenannte Begleiter gibt, die mit
ihrem Menschen verschmelzen können. Das Andere, in diesem Fall Lucian, wird zudem zur
Bezugsperson und es kommt zum Austausch, der zur Entwicklung Rebeccas beiträgt.418 So
lernt Rebecca, einzustehen, für etwas, das ihr wichtig ist, aber sie lernt auch, dass sie
Probleme manchmal nicht alleine lösen kann, sondern auf die Hilfe anderer angewiesen ist.
Das Fremde ist folglich als Grundlage für Wachstum zu verstehen, denn „[i]m Spiegel des
Fremden erkennen wir nicht nur, wer wir sind, sondern werden uns bewusst, wer wir sein
wollen.“419

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
417
Vgl. Frank RUTKOWSKY, Das Fremde lockt und macht uns Angst, S. 1, In:
http://www.glaubendenken.de/vortraege/dasfremde.pdf (Zugriff: 21.02.2015).
418
Vgl. Erdheim S.28f.
419
Schäfer, Schlöder S.72.

108!
!
!

7. Der Jugendroman Imago

7.1. Zum Inhalt

Der Jugendroman handelt von der zwölf- bzw. dreizehnjährigen Wanja Walters, die mit ihrer
Mutter in Hamburg wohnt. Über ihren Vater weiß sie nicht viel, ihre Mutter, Großmutter und
Urgroßmutter, genannt Uri, schweigen vehement über dessen Existenz. Und wenn sie sich
über ihn äußern, dann lediglich negativ.420 Alle ihre Versuche, Spuren ihres Vaters zu finden
oder sich ein Bild von ihm zu machen, schlagen fehl.421 Mit ihren Schulfreundinnen hat sie
nicht viel gemeinsam, sie sind eher Freundinnen aus Gewohnheit. Im Grunde können sie
nämlich nichts miteinander anfangen.422 Ihr bester Freund, Kuscheltier und sozusagen Ge-
schwisterersatz ist ihr Kater Schröder.423
In der Nacht vor Beginn des neuen Schuljahres, genauer gesagt um Mitternacht, ertönt auf
Wanjas Wecker eine Ansage im Radio. Wanja erhält eine Einladung zu einer Kunstaus-
stellung, die „Vaterbilder“ heißt.424 Doch bis es soweit ist, dauert es noch einige Tage. In der
Zwischenzeit hat das neue Schuljahr wieder begonnen, und ein neuer Junge namens Mischa
stößt zur Klasse hinzu. Vor allem seine eisblauen Augen und sein verlotterter Allgemein-
zustand stechen hervor, weshalb er von Wanjas Freundinnen ignoriert und als Penner
beschimpft bzw. das Ziel ihrer Feindseligkeiten wird. Wanja schenkt dem Jungen anfangs
keine Aufmerksamkeit.425
Am Tag der Ausstellung nagt die Ungeduld, diese zu besuchen, quälend an ihr. Als sie in die
Halle eintritt, erwartet sie eine rote Tür, deren Anblick Kribbeln in ihr auslöst. Eine ältere
Dame empfängt sie und mehrere andere Kinder, unter anderem auch den Neuen aus ihrer
Schule. Sie erklärt den Kindern die Regeln und die Besonderheiten der Ausstellung.
Demzufolge werden sich die Kinder Bilder anschauen, für jedes Kind wird jeweils eines
dieser Bilder einen individuellen Sog auslösen, durch den sie in die jeweiligen Bilder
gelangen. Der Ort, an dem sie sich wiederfinden werden, existiert jeweils nur für sie. Die
wesentlichste Regel, die sie befolgen müssen, lautet, dass sie sich nach dem Ertönen des
dritten Gongs, aus dem Bild bewegen müssen, falls nicht, bleibe ein Teil von ihnen zurück.426
Wanja wird von einem Akrobaten angezogen und verschwindet in dessen Bild. Während des
Sogs empfindet sie ein Gefühl der Sehnsucht und ein Ziehen in ihrem Inneren. Als sie im Bild

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
420
Vgl. Isabel ABEDI, Imago, Arena Verlag, Würzburg 2004, S.19f. Von nun an zitiert als Imago.
421
Vgl. ebd.
422
Vgl. ebd. S.12f.
423
Vgl. ebd. S.17.
424
Vgl. ebd. S.21.
425
Vgl. ebd. S.36f.
426
Vgl. ebd. S.46ff.

!
gelandet ist, fühlt sie sich leicht, und eine Kindheitserinnerung wird in ihr wachgerufen.
Allerdings muss sie feststellen, dass Mischa auch in ihrem Bild ist, was sie sichtlich irritiert.
Doch was sie noch mehr irritiert, ist die tiefe Traurigkeit, die von Mischa ausgeht, und sie
wundert sich, wie nah Gegensätze doch häufig zusammenliegen.427 Doch Wanja ist bereit,
sich auf alles Neue einzulassen, außerdem verspürt sie im Bild ein starkes Gefühl von
Zuhause, weshalb sie sich auf den Weg macht, um Antworten zu finden.428 Mischa schließt
sich ihr an. Auf ihrer ersten Erkundungsreise begegnen sie Taro, der sie über den Ort aufklärt.
Sie befinden sich im Land Imago. Taro ist Teil des Wanderzirkus’ Anima. Auch lernen sie die
übrigen Zirkusmitglieder kennen. Als der dritte Gong ertönte, kehren sie durch das Bild in die
Realität zurück. Wanja ist aufgedreht und möchte ihre Empfindungen mit Mischa teilen, doch
dieser ist ganz in sich gekehrt. Dennoch versucht sie es mit Fragen, aber Mischa öffnet sich
nicht. Wanja lässt ihn in Ruhe, verspürt jedoch plötzlich ein Gefühl von Hingezogenheit zu
Mischa.429
Zuhause stellt Wanja Fragen zu ihrer Geburt und wo ihr Vater gewesen sei, doch ihre Mutter
bricht bei all den Fragen zusammen und verweigert ihr die Antworten. Wanja zieht sich
enttäuscht zurück.430
Schließlich erhält Wanja eine zweite Einladung zur Ausstellung, und eine unbändige Freude
tut sich in ihr auf. Sie versucht, Mischa zu kontaktieren, doch sie geht ihm aus dem Weg, dies
aufgrund der möglichen Höhne ihrer Freundinnen. Innerlich macht sie das allerdings wütend
über sich selbst. Auch würde sie Mischa gerne über seinen Vater ausfragen, da ihr Gerüchte
über dessen Alkoholsucht zu Ohren kamen. Doch bis zur Stunde der Ausstellung trifft sie
Mischa nicht.431
Als sich beide das zweite Mal im Bild wiedertreffen, empfindet Wanja ein tiefes Gefühl von
Zuhause. Doch die Idylle wird durch den Schatten eines Vogels, der aus dem Nichts
auftaucht, getrübt. Dabei verschwindet alle Farbe aus Imago und eine namenlose Angst breitet
sich in Wanja aus, so als ob sich der Schatten in ihr Innerstes zu drängen versuche.432 Doch
der Vogel verschwindet. Als sie Taro wiedertreffen, umarmt sie Taro. Auf den Schatten ange-
sprochen, weicht Taro aus. Nach dem Gong und zurück in der Realität wartet Mischa auf
Wanja. Sie schließt sich ihm an und spricht Mischa auf das Geschehen in der Fantasiewelt an.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
427
Vgl. ebd. S.56ff.
428
Vgl. ebd. S.68f.
429
Vgl. ebd. S.95f.
430
Vgl. ebd. S.99f.
431
Vgl. ebd. S.101ff.
432
Vgl. ebd. S.121ff.

110!
!
Obwohl Mischa recht wortkarg ist, teilt er ihr mit, dass auch er Angst empfunden habe, als
der Schatten aufgetaucht sei.433 Beide freuen sich auf ihr nächstes Treffen.
In der Schule kapselt sich Wanja immer mehr von ihren Freundinnen ab. Diese bemerken
nicht nur, dass Wanja sich immer mehr für Mischa interessiert und sich in den Pausen zu ihm
gesellt, sondern sie werfen ihr nun vor, sich in letzter Zeit für nichts mehr zu interessieren.
Wanja selbst geht es schlecht, sie fühlt sich komisch und wird schließlich krank.434 In der
Zwischenzeit sehnt sie sich nach Mischa, verdrängt dies allerdings. Ganz unerwartet besucht
Mischa sie, um ihr mitzuteilen, dass eine dritte Einladung auf sie warte. Ihr Herz beginnt zu
rasen, und die Aufregung gibt ihr neue Kraft. In der Nacht vor der nächsten Ausstellung
träumt sie von einem Mann ohne Gesicht.435
Als sich beide wieder in Imago wiedertreffen, kehren die negativen Erinnerungen an den
Vogel zurück, doch sie finden keine Antworten. Anstelle dessen lernen sie Amon, die Seele
des Zirkus’, kennen. Dieser zeigt ihnen das innere Auge, eine Glaskugel, die jedem das zeigt,
was ihn betrifft. Wanja schaut in die Glaskugel, doch das, was sie sieht, kann sie nicht identi-
fizieren. Fragen türmen sich in ihr auf, und die Antworten fehlen ihr.436
Zurück zu Hause in der Realität durchstöbert Wanja alte Fotoalben, um vielleicht Antworten
über ihren Vater zu finden. Bei ihrer Suche muss sie feststellen, dass es weder ein Bild ihres
Urgroßvaters gibt, noch ein Bild ihres Vaters. Allerdings entdeckt sie in einem Foto, in dem
ihre Mutter im 8. Monat schwanger war, ein Leuchten in deren Augen, das später in allen
Fotos verschwunden ist. Dies verursacht Herzklopfen. Sie versucht, ihre Uri zu konfrontieren,
doch diese schweigt und den Ausdruck in Uris Augen kann Wanja nicht deuten.437
In der Zwischenzeit findet wieder eine Ausstellung statt. Wanja freut sich regelrecht auf
Mischa. Beide tauchen in die Fantasiewelt ein. Diesmal besuchen sie mit Taro das Ende der
Welt, einen Abgrund. Dort herrscht absolute Stille. Auch entdecken sie auf ihrem Rundgang
eine Ruine. Plötzlich taucht der Schatten wieder auf. Es handelt sich um einen unheimlichen
Vogel, und eine übermächtige Angst breitet sich in Wanja aus. Doch sie ist mit diesem Gefühl
nicht alleine. Auch Taro und Mischa empfinden diese bedrohliche Angst.438

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
433
Vgl. ebd. S.124f.
434
Vgl. ebd. S.128f.
435
Vgl. ebd. S.135f.
436
Vgl. ebd. S.149ff.
437
Vgl. ebd. S.159ff.
438
Vgl. ebd. S.172ff.

111!
!
Zurück in der Realität hilft ihr diese Erfahrung, mit Mischa zu sprechen. Außerdem findet sie
später Briefe von einem gewissen Jolan Berger auf dem Dachboden, den Wanja durch den
Briefinhalt als ihren Vater identifiziert.439
Zurück in Imago übernimmt Wanja einen Part in einem Theaterstück des Zirkus’ und Mischa
übernimmt die Leitung der Trommel. Außerdem besucht Wanja Amon, um Antworten zu fin-
den, doch jede Antwort wirft neue Fragen auf. Amon lässt sie schließlich mit dem Rat zurück,
dass die Antworten in jedem selbst liegen und sie selber danach suchen muss.440
Zurück in der Realität taucht Mischa plötzlich nicht mehr in der Schule auf. Wanja macht sich
Sorgen und entschließt sich, Mischa zu Hause zu besuchen. Dort begegnet sie der drogierten
Mutter, die Mischa kaum noch als Mutter bezeichnet. In Mischas kargem Zimmer entdeckt
sie ein Bild von sich, das Mischa gezeichnet hat. Sie hat das Gefühl als sehe er in sie hinein.
Plötzlich taucht Mischas gewalttätiger Vater auf und Mischa wirft Wanja aus Selbstschutz aus
dem Haus. Tags drauf erscheint Mischa mit einem blauen Auge in der Schule.441
Während der nächsten Reise nach Imago üben beide Jugendliche weiter an ihren Proben für
die Zirkusaufführung. Beide beben vor Glück. Doch das unangenehme Gefühl seit dem
Auftauchen des Schattens bricht nicht ab. Wanja versucht Amons Rat, sich selbst zu ver-
trauen, zu befolgen, doch die Angst gewinnt Überhand, und aus Angst um Imago und seine
Zirkusbewohner weint Wanja schließlich. Als sie sich an diesem Tag aus Imago verabschie-
den, sind beide Jugendliche traurig.442
Zuhause vermisst Wanja Mischa und fragt sich, ob sie in Mischa verliebt sein könnte, da sie
so ein bestimmtes Gefühl empfindet, wenn sie an Mischa denke. Gleichzeitig drängen die
störenden Gedanken an den Schatten hervor, doch Wanja versucht, diese zurückzuhalten.443
Während ihres nächsten Besuchs in Imago kommt es zur Katastrophe: Der Vogel attackiert
Taro und verschleppt diesen. Wanja steht neben sich, ist wie in Trance und kann dem
Spektakel nur zuschauen. Innerlich verspürt sie eine Leere. Es scheint ihr, als ob das
Schwarze des Vogels bis tief in ihre Seele dringen würde. Als der Gong das dritte Mal ertönt,
gelingt es Wanja, rechtzeitig aus dem Bild zu steigen, während Mischa ihr nicht folgt. Er
taucht erst später aus dem Bild auf. Allerdings ist er nicht mehr der alte Mischa, ihm fehlt
etwas. Lediglich sein sogenannter Reisekörper hat es in die Realität zurückgeschafft. 444
Wanja möchte Mischa retten bzw. zurückholen und sucht Hilfe bei Oshala, dem Zeichner der

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
439
Vgl. ebd. S.191f.
440
Vgl. ebd. S.207ff.
441
Vgl. ebd. S.224ff.
442
Vgl. ebd. S.245ff.
443
Vgl. ebd. S.260f.
444
Vgl. ebd. S.293f.

112!
!
Bilder. Dieser verrät ihr, dass eine Rettung nicht unmöglich sei, allerdings brauche sie Mut
und sie müsse selbst der Künstler sein.445 Doch bevor sie in das Bild zurückkehren kann, wird
sie zu Hause von ihrer Mutter bezüglich ihres Verhaltens konfrontiert. Diese macht sich
Sorgen wegen ihre Veränderung, doch Wanja verschließt sich. Wenn ihre Mutter
Geheimnisse vor ihr hat, dann hat auch sie welche vor ihrer Mutter und begegnet dieser
lediglich mit einem kalten Lächeln.446 Zurück in Imago macht sich Wanja schließlich auf die
schwere Mission, Mischa zu retten. Dabei muss sie den Vogel überwinden und erkennen, dass
der Vogel die ganze Zeit „in ihr“ war, d.h., der Vogel symbolisiert das Gegenteil, es ist das,
was durch Angst, die man nicht konfrontiert, Macht in einem bzw. über einen erhält. Erst
durch diese Erkenntnis und Überwindung schafft es Wanja, Mischa zu retten.447
Zurück in Hamburg gelingt es Wanja schließlich, aufgrund ihrer neuen Erfahrung, ihre Mutter
bezüglich ihres leiblichen Vaters zu konfrontieren. Diese klärt Wanja über die Vergangenheit
auf, wonach der Vater wohl zwei Frauen gleichzeitig geschwängert haben muss und beiden
Frauen eine heile Familie vorgaukelte, bis sie sich alle per Zufall auf einem Spielplatz
wiedergetroffen haben und die Mutter sich vom Vater trennte. Außerdem erhält Wanja einen
Brief ihres Vaters, den die Mutter ihr vorenthalten hatte, in welchem der Vater versucht, Kon-
takt mit seiner Tochter aufzunehmen. Ein Foto liegt dem Brief bei, und Wanja erkennt sich
selbst in ihrem Vater. Sie begibt sich sofort zu Mischa, um ihm die neuesten Erkenntnisse
mitzuteilen. Sie zeigt ihm auch das Bild ihres Vaters.448
In der Zwischenzeit werden Wanja und Mischa ein letztes Mal zur Ausstellung eingeladen. In
Imago müssen sie sich von Taro und den Zirkusmitgliedern verabschieden. Doch sie haben
beide gelernt, dass nichts verloren geht und ein Abschied immer nur äußerlich ist.449
Nach ihrer letzten Rückkehr trifft sich Wanja endlich mit ihrem Vater. Sie haben sich am
Bahnhof verabredet. Als sie sich dorthin begibt, trifft sie Mischa dort. Dieser klärt sie darüber
auf, dass sein alkoholabhängiger Vater nicht sein leiblicher Vater sei. Als Wanja ihm das Bild
des Vaters gezeigt hatte, konnte er sich daran erinnern, dass seine Mutter ein ähnliches Bild
besaß und konfrontierte sie daraufhin. Dabei erfuhr er dieselbe Geschichte wie Wanja von den
zwei schwangeren Frauen, woraus geschlossenw erden konnte, dass seine Mutter die andere
schwangere Frau war. Demzufolge ist Mischa Wanjas Halbbruder, was auch erklärt, weshalb

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
445
Vgl. ebd. S.299ff.
446
Vgl. ebd. S.309f.
447
Vgl. ebd. S.320ff.
448
Vgl. ebd. S.351ff.
449
Vgl. ebd. S.382f.

113!
!
Mischa und Wanja sich zwar zueinander hingezogen gefühlt haben, aber nie mehr daraus
wurde. Der Vater reist schließlich an und nimmt beide Kinder in Empfang.450

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
450
Vgl. ebd. S.393ff.

114!
!
7.2. Die eigenen Wurzeln und das Fremde

Wanja kennt ihren leiblichen Vater nicht, weshalb sie sich unvollkommen fühlt und die
familiäre Situation in Frage stellt, doch alle ihre Versuche, Antworten zu finden, scheitern.
Dieses unaufgearbeitete Problem führt Wanja zu einem inneren Konflikt. Sie kennt ihre
eigenen Wurzeln nicht vollständig und wird dadurch von einer inneren Fremde getrieben.
Dies belegt Waldenfels' Behauptung, dass das Eigene immer auch Fremdheit in sich trage.
Wanjas sehnlichster Wunsch ist es, diese Fremde, diese Unbekannte in ihrem Leben aufzu-
decken, um ihre Identität genau zu erkennen. Wanja sucht ganz bewusst den Dialog mit ihrer
Mutter, Großmutter und Uri, damit es ihr ermöglicht wird, sich selbst besser bestimmen zu
können, doch ihre Mutter, Großmutter und Uri verweigern ihr vehement Antworten. Alle drei
Frauen hüllen sich in ein lähmendes, stures Schweigen, weshalb sie Wanja die Möglichkeit
verweigern, sich in Relation zum Fremden zu konstituieren.

„Wir bereiten im Antworten dem Fragenden eine Existenzgrundlage und dürfen zur gleichen
Zeit nicht vergessen, dass unsere Antworten seinerseits durch (...) [das Fremde] konstituiert ist
und damit uns selber unsere Identität gewiss macht. Im Antworten nehmen wir unsere Pflicht
des Sich-auf-etwas-hin-Verhaltens wahr und erfahren gleichzeitig uns selber in einer
Fremderfahrung in neuartiger Weise.“451

Da sowohl die Mutter als auch die Großmutter und Uri sich nicht mit der Vergangenheit
auseinandersetzen wollen, dies aufgrund der unsäglichen Schmerzen, die der Mutter zugefügt
wurden, können sie Wanja gar nicht antworten. Denn Antworten würde bedeuten, dass sie
sich selbst konfrontieren und erkennen müssen, wie viel Fremdes sich in ihnen selbst
befindet, weil sie sich selbst vor einem Dialog mit dem Vater verschlossen haben.
Da Wanja keine Antworten erhält, ist sie sichtlich irritiert. Dieses Gefühl quält sie und ver-
stärkt ihr Gefühl der inneren Fremde, sodass sie sich zunächst zurückzieht und ihre Suche
nach Antworten stagniert. Es kommt zu einer Art Bruch zwischen Tochter und Mutter.452 Zu
diesem Zeitpunkt erhält sie ihre erste Einladung zur Ausstellung Vaterbilder. Gerade der Titel
erweckt in ihr Neugier, stellt sie sich doch die Frage, ob der Titel der Ausstellung reiner
Zufall sei, versucht sie doch selbst, etwas über ihren Vater herauszufinden. Diese Neugier ent-
wickelt sich zu einer Art Drang, da Wanja eine neue Möglichkeit in der Suche nach ihrem
Vater sieht und sich erhofft, vielleicht Antworten finden zu können bzw. Unbekanntes zu

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
451
Monika NEUKIRCHEN, Die Geburt der Kritik aus dem Geiste des Gesprächs, In: Hein-Gerd Schmitz,
Jürgen Egyptien, Monika Neukirchen, Hat Literatur die Kritik nötig? Luchterland Literaturverlag, Frankfurt am
Main 1989, S.115-160, hier S.125f.
452
Vgl. ebd. Neukirchen spricht davon, dass dieser Bruch einsetzen muss, da das Gespräch nicht reziprok ist.

115!
!
sehen und der Stagnation entfliehen zu können. Auch scheint es eine Art Rebellion gegen die
Mutter und ihr Stillschweigen zu sein, da sie die Einladung für sich behält und ihre Mutter
anlügt. Sie gibt vor, mit der Schulklasse im Museum verabredet zu sein, um so unbeobachtet
dorthin zu kommen. So begibt sich Wanja ohne Zögern und in völliger Unabhängigkeit auf
eine Art (Entdeckungs-) Reise, in der Hoffnung, vielleicht ihre eigene Identität komplettieren
zu können. Wanja begegnet der Ausstellung demnach mit der Antizipation an die Fremde, ihr
innerliches Ziel, nämlich das der Selbstfindung, zu erreichen. Ihre Hoffnung wird durch die
Worte der alten Frau, welche sie in der Ausstellung empfängt, geschürt: Demnach existiere
das Bild nur für einen selbst und es sei nur für einen selbst offen.453 Dieses Unterfangen wird
allerdings nicht ohne Herausforderung ablaufen und setzt eine Bewältigung von Fremdheits-
situationen voraus. Dass dem so ist, wird symbolisch bereits durch die aufgestellten Regeln
deutlich. Demnach müssen alle Beteiligten dem Gong folgen. Ertönt dieser ein drittes Mal, so
muss sich jeder zum Bildausgang begeben, sonst bleibt ein Teil der Persönlichkeit zurück.454
Die Tatsache, dass Regeln aufgestellt werden, zeigt bereits, dass die Gefahr besteht, sich
selbst zu verlieren bzw. sich zu gefährden und die Regeln zu brechen. Dieses Gefahren-
potential wird durch die Anziehungskraft des Bildes verstärkt, da von diesem etwas wie ein
magischer Sog ausgeht, der Wanja in das Bild zieht. Vor allem das Gefühl der Sehnsucht, das
in Wanjas Inneren beim Anblickt des Bildes erweckt wird, scheint förmlich an ihrem Inneren
zu zerren.455 Und Wanja greift schließlich nach dem Bild, ohne allerdings ihre Entscheidung
und ihren Abschied aus der realen Welt zu reflektieren, was wiederum auf mögliche Gefahren
hindeutet.
Durch die Einladung zur Ausstellung und deren „Angebot“ wird Wanja eine Auseinander-
setzung ermöglicht, das Unbekannte zu erforschen und ggf. Erkenntnisse zu erlangen. Durch
das Eintreten in die fantastische Welt von Imago macht Wanja Begegnungen und schließt
(Freundschafts-) Beziehungen, die ihr Selbst immer wieder mit Neuem, Unbekanntem und
Fremdem konfrontieren und auf welche sie reagieren muss. Demnach kommt dem fantas-
tischen Land Imago eine Erkundungs-, Animations- und Reflexionsrolle zu.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
453
Vgl. Imago S.53.
454
Vgl. ebd. S.54.
455
Vgl. ebd. S.57.

116!
!
7.2.1. Imago und die innere Fremde

Das Land, in das sich Wanja und Mischa begeben, heißt Imago und beide überschreiten
sozusagen eine Grenze. Dabei handelt es sich zunächst um eine nicht bekannte Gegend, die
als Fremde bezeichnet werden kann. Sie verlassen ihre gewohnte Umgebung und den ihnen
vertrauten Alltag und stoßen in einen neuen Raum vor, voller Erwartungen und Unbekan-
ntem. Hier muss sich Wanja erst einmal neu orientieren und die Fremde erkunden. Dies tut sie
neugierig und interessiert, indem sie sich mit den übrigen Zirkusmitgliedern anfreundet und
deren Geschichten erfährt. Auch reist sie mit Taro durch die Gegend, durchstreift sie und
erkundet diese.456 Dadurch verliert der Ort etwas von seiner fremden Struktur und Irritation.

„Doch auch wenn man die Fremde zum Gegenstand des Wissens macht, wird man ihre
Fremdheit nie bezwingen (können), schon deswegen nicht, weil man nicht zu trennen vermag
zwischen der konkreten Fremde, ihren ethnischen, kulturellen und sozialen Dimensionen
einerseits und den eigenen Wünschen und Ängsten, die man auf die Fremde projiziert. So bietet
sich die ferne Fremde dafür an, Rahmen und Hintergrund oder Vorstellungsanlass zu sein für
die Bearbeitung wunschhafter oder angstvoller Phantasien: Wird die Fremde oder das Fremde
als bessere Variante potentieller Lebensformen gesehen, dann konzentrieren sich darauf die
eigenen Wünsche; wird es als schlechtere Möglichkeit angesehen, ist es geeignet, all die Ängste
auf sich zu ziehen, die das projizierende Subjekt bei der Erfahrung der Fremde empfindet.“457

Dies erkennt man im Jugendroman an mehreren Faktoren. Zum einen gelingt es Wanja fast
bis zum Schluss des Romans nicht, das ganze Land Imago zu erkunden. Es existieren immer
noch Stellen, die ihr verborgen bleiben, von denen sie auch weder von Amon noch von Taro
eine eindeutige Erklärung erhält. Zudem weiß sie nicht, wie weit sich das Land erstreckt. Zum
anderen - wie weiter unten später erklärt wird – gelingt es Wanja nicht, den schwarzen Vogel
gänzlich zu entfernen. Dadurch, dass Wanja bereits mit Fragen bezüglich ihres Vaters nach
Imago gekommen ist, was, wie zuvor festgestellt, eine Form der inneren Fremdheit darstellt,
überträgt sie diese auf die Fremdheit Imagos. Doch Fremdheit lässt sich nicht durch Fremd-
heit erklären und rein auf dieser Basis würde Wanja keine Antworten finden. Da Imago

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
456
Vgl. Imago S.73, 114f, 175f.
457
Jens Jürgen CLAUSEN, Vom Verlust des Selbst in der Fremde, Eine Studie über das Reisen anhand
autobiographischer Texte, Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen
Fakultät der Westphälischen Wilhelmsuniversität zu Münster, Hamburg 2006, S.72, zitiert nach: Dieter Krusche,
Literatur und Fremde, Iucicium Verlag, München 1985, S.18. Hervorhebungen im Original. Von nun an zitiert
als Clausen.

117!
!
Wanja aber von Anfang an ein Gefühl der allgemeinen Befreiung458 und das von Zuhause ver-
mittelt459, sieht sie die Fremde als positiv, weshalb Wanja Imago als Bewegungsraum wahr-
nimmt, in dem sie Neues ausprobieren kann und der sie stimuliert.460 Somit kann sie den
Raum nutzen, um neue Beobachtungen zu machen und sich ggf. selbst zu reflektieren. Sie
erhält dadurch möglicherweise ein verändertes Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Umgebung,
was wiederum zu einer Weiterentwicklung ihrer Persönlichkeit führen kann. Die wesentliche
Voraussetzung für dieses Erlebnis bringt Wanja mit: Sie ist bereit, sich auf alles einzulassen,
denn sonst hätte sie - laut den Regeln der alten Dame - nie in das Bild hineingesogen werden
können.461 Dies wird im Jugendroman mittels des Artistenmotivs verdeutlicht. Genau wie ein
Artist muss Wanja über sich hinauswachsen, um ein Kunststück auf höchstem Niveau voll-
bringen zu können. Taro bietet Wanja an, Trapezunterricht zu nehmen. Wanja reagiert
zunächst ängstlich, wie ein scheues Tier. Ein Beben breitet sich in ihrem Inneren aus, den-
noch versucht sie es. Als Taro sie hochgezogen hat und ihr den Startschuss gibt, schließt sie
zunächst die Augen, doch als sie sie öffnet und der Manegedecke entgegenschießt, fühlt sich
Wanja sicher und frei, so als habe sie das schon immer getan. Ihre Bewegungen sind im
Einklang, und mit einem Mal spürt sie, dass sie einfach weiß, was sie tun muss, sie braucht
nicht mehr nachzudenken. Sie erkennt schließlich, dass sie Kraft besitzt, was ihr zuvor nicht
bewusst war, und ein tiefes Glücksgefühl breitet sich in ihr aus. Zudem bemerkt Taro, dass
Wanja die drei wesentlichen Eigenschaften für einen Trapezkünstler besitze: Mut, Instinkt
und Leichtigkeit.462 Es ist diese Erfahrung, die Wanja vorantreibt: Sie hat gelernt, dass sie
manchmal einfach vertrauen muss, auf sich, aber auch auf andere, und dass die Antworten
auch manchmal einfach in einem selbst liegen können. Als Wanja dann auch noch einen Platz
während der Zirkusvorführung angeboten bekommt, möchte sie dieser Ehre unbedingt gerecht
werden. Allerdings zweifelt sie an sich selbst, weshalb Taro ihr den Rat gibt, unbedingt auf
sich selbst zu vertrauen.463
Allerdings kann ihr in der Fremde auch Negatives widerfahren und sie projiziert intimste
Ängste in die Fremde.464 Sobald sie etwas Positives erlebt hat, macht sich das Negative
unterschwellig bemerkbar, vor allem in Gestalt des Vogels. Vor allem der Zirkus Anima und
seine Mitglieder tragen in diesem Zusammenhang eine leitende Rolle, wie unter 7.3. erläutert
wird.
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
458
Vgl. Imago S.58.
459
Vgl. ebd. S.68.
460
Vgl. Clausen S.56.
461
Vgl. Isola S.68.
462
Vgl. ebd. S.144ff.
463
Vgl. ebd. S.201ff.
464
Vgl. Clausen. S.59.

118!
!
Gleichzeitig greift Abedi hier erzähltechnisch auf einen phantastischen Raum zurück, der sich
von der Realität abgrenzt und der es ihr gestattet, Wanja einen Möglichkeitsraum zu bieten, in
dem sie eine Reise durchlaufen kann, die ihr so in der realen Welt wohl nicht möglich ge-
wesen wäre. In Imago muss Wanja keinen Verpflichtungen nachkommen (wie bspw. zur
Schule zu gehen oder einzukaufen). Sie muss sich nicht um das Einhalten von Regeln (z.B.
pünktlich zum Abendessen zu Hause sein) scheren. Auch scheint die Zeit in Imago
stillzustehen. Wanja wird in Imago kurzerhand zur Hauptakteurin. Dadurch, dass sie sich als
Zirkuskünstlerin ausprobiert, kann sie sozusagen für die Realität (im Sinne von Gegenwart
und näherer Zukunft) probehandeln und Möglichkeiten für die Realität ausloten. So lernt
Wanja, selbstbewusster zu sein und Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu übernehmen.
Genau wie ein Akrobat muss sie auch in der Realität Ängste überwinden, Selbstvertrauen
haben und sich von einem Hindernis zum nächsten Schwingen, um an ihr Ziel zu gelangen.
Tut sie dies metaphorisch in Imago als Trapezkünstlerin, so wird sie in der Realität mutiger.
Nicht nur, dass sie bewusst Mischas Nähe aufsucht und sich nicht mehr dafür schämt, mit ihm
befreundet zu sein, auch bringt sie den Mut auf, ihre Mutter bezüglich ihres Vaters zu
konfrontieren. Interessant dabei ist, dass Wanja „in“ das Bild steigen muss, was metaphorisch
verstanden werden kann als ein in sich blicken bzw. als ein Hineinsteigen in den inneren
Raum. Der phantastische Raum wird dabei durch ein Bild bzw. einen Bilderrahmen bestiegen
und auch wieder verlassen, wobei das Bild bzw. der Rahmen wie eine Art Portal zu wirken
scheint. Demnach lernt sich Wanja erst in Imago selbst besser kennen, bevor sie das neue
Gelernte in der Realität umsetzen kann.
Mit dem Eintritt in Imago bietet diese Welt also zunächst einfach eine „Alternative zum
Gewohnten“465. Hier kann Wanja zunächst einmal ihren Alltag Zuhause vergessen und muss
nicht an ihre Streitereien mit ihrer Mutter oder an ihre Schulkameradinnen denken. Ihre
Ängste, Zweifel und ihre Verwirrung sind anfangs vergessen. Sie lernt eine zusammenge-
würfelte Zirkusfamilie kennen, in der trotz extremer Unterschiede Harmonie herrscht, ganz
andere Verhältnisse als in ihrer eigenen Familie oder den Familien ihrer Freundinnen. Hier
entdeckt sie plötzlich eine andere Welt, die sie fasziniert, deren Existenz sie mit keinem
Moment in Frage stellt. Vielmehr begegnet sie allem neugierig. Allerdings kann Wanja auch
wieder einfach in die Realität zurückkehren, der Weg ist ihr nicht versperrt. Je mehr Zeit sie
in Imago verbringt, desto weniger möchte sie nach Hause zurück.
Im phantastischen Raum kann Wanja Abstand von Zuhause gewinnen, um unabhängig von
ihrer Mutter und deren Schweigen ihre innere Fremde angehen zu können. Somit erhält

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
465
Vgl. ebd. S.69.

119!
!
Wanja einen Ausgangspunkt, von wo aus sie sich loslösen und sich aktiv selbst den Dingen
widmen kann.466 Erst dadurch kann Wanja sich mit ihren Problemen konfrontieren und einen
Entwicklungsprozess durchlaufen, der ein Ausproben für die Realität darstellt.
Demzufolge handelt es sich bei Imago um einen „(...) hybriden Raum, der von Ambivalenzen
und Heterogenitäten geprägt ist, in dem sich Elemente des „Eigenen“ und des „Fremden“
überlappen und konfrontieren, und in dem nicht zuletzt mittels (...) [der Phantastik] vielfältige
Diskurse angespielt werden“467. Dadurch, dass Wanja wurzellos und mit Fragen bezüglich
ihres Vaters nach Imago gekommen ist, setzt sie das dort Gelernte bzw. Erfahrene in Bezieh-
ung zu ihrem Wesen und ihren Fragen. Ihr irritiertes Selbst ist schließlich ihr Antriebsmotor.
Dabei verschmelzen Aspekte des Eigenen mit Aspekten des Fremden und beide verändern
sich gegenseitig. So gelingt es Wanja, den Mut aufzubringen, selbst die Künstlerin ihres
Lebens zu sein. Der Kampf gegen ihre innere Fremde liegt in ihr selbst, und nur sie selbst
kann sie besiegen.468
Der Name Imago selbst erinnert zunächst an das Wort Bild und wäre somit natürlich passend
zum Thema der Ausstellung „Vaterbilder“. Schließlich verschwinden Wanja und Mischa ja
auch durch ein Bild in dieses Land und entdecken am Ende der Reise ihren Vater. Bei
genaueren Recherchen zum Begriff Imago trifft man auf die psychologische Theorie von Carl
Gustav Jung, der zufolge man unter dem „Imago“ ein innerstes, meist unbewusstes Vorstell-
ungsbild einer bestimmten Person versteht, welches später die Handlungen und Entschei-
dungen beeinflussen kann. Dieses unbewusste Erinnerungsbild hat seine Wurzeln in der Kind-
heit .469 Wanja selbst kennt ihren Vater per se nicht, obwohl wir wissen, dass er kurz nach
ihrer Geburt noch präsent war, bis ihre Mutter sein Doppelleben entdeckt hat. Es hat also
einen kurzen Moment des Kontaktes gegeben, sodass das Baby eine Trennung verspürt haben
muss. Spätestens durch das stille Leiden der Mutter wurde es sich der Trennung bewusst und
gemäß Carl Gustav Jung hat dies Auswirkungen auf Wanjas Persönlichkeitsstruktur: Sie
versucht, diese Trennung, dieses Nichtvorhandensein des Vaters zu verstehen und meint sich
nur durch das Aufdecken dieses Rätsels identifizieren zu können. Diese Trennung sowie all
die unbeantworteten Fragen, die mit dieser Trennung einhergehen, treiben schließlich Wanjas
Verhalten an und können als Erklärungsversuch verstanden werden, weshalb sich Wanja
schließlich auf das Experiment Imago einlässt, und zwar, weil Imago ihr die Möglichkeit

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
466
Vgl. Clausen S.201.
467
Mareike KLEIN, Die Farben der Herrschaft: Imagination, Semantik und Poetologie in heldenepischen
Texten des deutschen Mittelalters, Akademie Verlag GmbH, Berlin 2014, S.251.
468
Vgl. Imago S.359ff.
469
Vgl. http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PSYCHOTHERAPIE/Imago-Therapie.shtml (Zugriff: 2.04.2015)

120!
!
bietet, „(...) Unerledigtes aus der Kindheit zu erledigen“470. Insgeheim und auch unbewusst
erhofft sich Wanja eine Art Heilung der ihr im Babystadium zugefügten Schmerzen. Dies
erklärt auch, weshalb sich Wanja sofort in Imago zu Hause fühlt, auch wenn sie selbst nicht
artikulieren kann, weshalb das so ist. Mit dem psychologischen Imago-Konzept lässt sich
auch erklären, weshalb sich Wanja dem Akrobaten hingezogen gefühlt hat. In Anlehnung an
Carl Gustav Jung haben sich Helen Hunt und Harvill Hendrix mit der Imago-Beziehungs-
therapie beschäftigt, wonach Menschen sich unbewusst jenen Menschen als Beziehungsfigur
auswählen, welcher genau jene Eigenschaften besitzt, die man der Imago-Figur zuschreibt.471
„Dieser Mensch hat wohl gerade durch diese Ebenbildfunktion das Potenzial zu helfen und in
der Kindheit erlittene Verletzungen zu heilen.“472 Dies wiederum erklärt, weshalb Taro, der
Akrobat, für Wanja eine Vaterfigur darstellt. Sie projiziert alle ihre Erwartungen in Taro und
findet diese auch noch bestätigt: vom rücksichtsvollen, sich kümmernden, lehrenden und
auffangenden Vater. In diesem Moment identifiziert Wanja Taro als ihr Spiegelbild473 und ist
somit das Heilmittel für all ihre Schmerzen. Gleichzeitig wiederholt sich in der (künstlerisch
bedingten) Beziehung von Wanja und Taro der im Babyalter empfundene Trennungsschmerz
wie das Fehlen von Antworten. Mit dem Auftauchen des Vogels machen sich in Wanja
Fragen breit, die sie offen an Taro stellt, doch dieser ignoriert sie schlichtweg oder übergeht
einfach ihre Fragen, was Wanja wütend macht.474 Diese Ungewissheit wird schließlich noch
verstärkt, als Taro von diesem schattenhaften Vogel angegriffen und fast zu Tode gehackt
wird.475 Somit scheint Wanjas Aussicht auf mögliche Antworten aussichtslos. Doch anders als
mit ihrem tatsächlichen Vater, wird Taro gerettet und sie erhält die Chance, ihn zu konfron-
tieren. Taro ist es schließlich, der ihr einen Lösungsanstoß bietet, wodurch Wanja aus eigener
Kraft und eigenem Mut Antworten findet. Somit erhält Wanja doch noch das, was sie sich
von Taro und Imago erhofft hat, aber bis dorthin nicht von ihrem leiblichen Vater erhalten
hat476 und kann dies für die Realität nutzen. Aufgrund der Imago-Theorie kommt demnach
dem Ort wie der Beziehung mit Taro auch noch eine therapeutische Funktion zu, wonach
Wanja die Chance erhält, ihre eigenen Wunden zu identifizieren und eigenständig zu hei-
len477, indem sie ihre innere Fremdheit - ausgelöst durch die traumatische Trennung von

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
470
Vgl. ebd.
471
Vgl. ebd.
472
ebd.
473
Vgl. Imago S.284.
474
Vgl. ebd. S.153.
475
Vgl. ebd. S.290ff.
476
Vgl. http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PSYCHOTHERAPIE/Imago-Therapie.shtml (Zugriff: 2.04.2015).
477
Vgl. ebd.

121!
!
ihrem leiblichen Vater - konfrontiert und daraus Schlussfolgerungen für künftiges Handeln
zieht.
Schlussfolgernd stellt sich Imago als Übergangsraum heraus, dies zwischen der Realität und
der Phantastik. Er bietet Wanja in gewisser Hinsicht eine Stützfunktion, um sich in ihrem
inneren Chaos zu orientieren und ermöglicht ihr, das Fremdsein zu erleben.478 Somit kommt
Imago auch ein Aufforderungscharakter zu, der nicht nur einlädt, sondern zudem abschrecken
kann. Dabei regt er an, „das eigene Selbst im Kontext des Ungewohnten zum Gegenstand der
Betrachtung zu machen“479. Dies erfolgt für Wanja nun mittels des Zirkus’ Anima, durch den
sie sich auf die Erkundung der Fremde bzw. des Fremden und somit der Erfahrung der Frem-
de bzw. des Fremden begibt und einen (Entwicklungs-) Prozess der Ein- und Ausgrenzung
antreibt480.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
478
Vgl. Clausen S.204f.
479
Clausen S.79.
480
Vgl. ebd. S.80.

122!
!
7.3. Der Zirkus Anima oder die phantastische Selbstfindungsreise

In Imago treffen Wanja und Mischa auf den Zirkus Anima und sein Gefolge, welches sich
ähnlich einem Kaleidoskop aus unterschiedlichen Menschentypen zusammensetzt: der väter-
liche Akrobat Taro, die wilde und raue Sängerin Noaeh, der sentimentale Clown Raimundo,
die geschmeidige Trapezkünstlerin Gata Arabiata, das spaßige Multitalent Pati Tatü, der
einladende Feuerkünstler Perun, die ernste Schlangenkönigin Sulana, leidenschaftliche und
weltbeste Trommler O, die vielfältige Schneiderin Madame Nui, der geheimnisvolle Zauberer
Amon sowie die riesigen, muskulösen und tollpatschigen Zwillinge Thrym und Thyra. Dieses
bunte Gemisch nimmt Wanja und Mischa herzlichst in ihrer Mitte auf und lässt sie an ihrer
Tafel speisen. Gemeinsam prosten sie auf die vor ihnen liegenden Proben an.481 Bereits hier
wird ersichtlich, dass die Proben doppeldeutig zu verstehen sind: Wanja (und Mischa) werden
tatsächlich an artistischen Proben teilnehmen, doch gleichzeitig müssen sie Proben durch-
laufen, welche sie für das wirkliche Leben bzw. die Realität nutzen können, wenn sie sie denn
bestehen. Betrachtet man in diesem Zusammenhang den Namen des Zirkus' genauer, so fällt
auf, dass der Name keineswegs zufällig gewählt wurde. Auf lexikalischer Ebene stammt
Anima dem Lateinischen und bedeutet Atem, Lufthauch. In der Philosophie spricht man von
der Seele.482 Der Begriff Anima entspringt ebenfalls der analytischen Psychologie von Carl
Gustav Jung. Jung unterscheidet zwischen den Begriffspaaren Animus und Anima. Dabei
handelt es sich bei Animus und Anima zunächst um einen speziellen Aspekt des persönlichen
Unbewussten, einer Art Schatten, zu dem alle verdrängten Gefühle und Verhaltensweisen
gehören: in diesem Fall die verdrängten, gegengeschlechtlichen Verhaltensweisen.483 Animus
steht für das Männliche bzw. die männlichen Eigenschaften in der Frau (z.B. Aggression,
Triebhaftigkeit, Selbstständigkeit, Logik), wobei Anima für das Weibliche bzw. die weib-
lichen Eigenschaften im Mann steht (z.B. Einfühlungsvermögen, Kommunikationsfähigkeit,
Beziehungsfähigkeit).484 Zum Begriff Anima sagt Jung:

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
481
Vgl. Imago S.70ff.
482
Vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/Anima (Zugriff: 27.04.2015).
483
Vgl. http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/WISSENSCHAFTPSYCHOLOGIE/PSYCHOLOGEN/Jung.shtml
(Zugriff: 3.04.2015).
484
Vgl. ebd.

123!
!
„Jeder Mann trägt das Bild der Frau von jeher in sich, nicht das Bild dieser bestimmten Frau,
sondern einer bestimmten Frau. Dieses Bild ist im Grunde genommen eine unbewusste, von
Urzeiten herkommende und dem lebenden System eingegrabene Erbmasse.“485

Gleiches gilt natürlich im umgekehrten Fall für den Begriff Animus. Diese Begrifflichkeiten
scheinen auf den ersten Blick als extrem stereotype Rollenzuschreibungen, doch es gilt, diese
zu relativieren.486 Jung geht es eigentlich um die Individuation des Menschen. Dabei wird der
Mensch mit Animus oder Anima in der Außenwelt konfrontiert, wenn er Anima oder Animus
auf eine Person projiziert.487 Demzufolge gilt es, mit seiner Anima bzw. seinem Animus in
Kontakt zu treten, um „auch die eigenen gegengeschlechtlichen Züge in allen ihren Manifes-
tationen kennenzulernen und zumindest einen Teil der auf den männlichen bzw. weiblichen
Partner projizierten Eigenschaften als zu sich selber gehörig zu akzeptieren“488. Gerade das
Bewusstmachen seines Selbst erzeugt Konflikte, denn der Mensch wird sich nun der Gegen-
sätze bewusst.489

„Der Mensch muss die Spannung so lange aushalten, bis eine Vereinigung der Polaritäten auf
höherer Ebene möglich wird. Im Eingeständnis der eigenen Hilflosigkeit, Schwäche und
Ausgeliefertheit kommt das ICH zu einer demütigen Haltung, in der es sich den schöpferischen
und Gegensatz vereinigenden Impulsen des Selbst öffnet. Ziel ist es, die innere Mitte zu finden,
eine von Konflikten der Gegensätze unberührte Region der Stille. Dieser Zustand hat nichts
überwältigend Großes, Bedeutungsvolles, Heiliges, sondern findet seinen Ausdruck viel eher in
schlichten, einfachen Worten: heitere Gelassenheit, Frieden mit sich selbst, in sich ruhen
können, das Leben so nehmen, wie es ist. Das Einlassen auf den Individuationsprozess
vermittelt dem Menschen einen Lebenssinn und Lebensfülle.“490

Dies erklärt wiederum, weshalb der Zirkus eine solche Typenvielfalt aufweist, aber auch,
weshalb sowohl Wanja als auch Mischa sich in dem gleichen Bild wiederfinden, auch wenn
Wanja auf dem Bild einen Akrobaten gesehen hat und Mischa einen Musiker. Das Männliche
und das Weibliche bzw. Animus und Anima erweisen sich als komplementäre Prozesse, die
notwendig sind, um sich besser verstehen zu können bzw. um sich einem Verständnis dessen
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
485
Lutz MÜLLER, Annette MÜLLER, Wörterbuch der Analytischen Psychologie, Walter Verlag, Düsseldorf
und Zürich 2003, S.23.
486
Vgl. Niels KOSCHORECK, Sei du selbst. Nur besser., In: http://blog.nielskoschoreck.de/selbstwerdung-
animus-und-anima/ (Zugriff: 3.04.2015). Von nun an zitiert als Koschoreck. Das Ausmaß, inwiefern die
Rolleninhalte von Mann und Frau variieren bzw. verändert werden können, ist nicht Thema dieser Arbeit, da
dies den Rahmen sprengen würde.
487
Vgl. Jolande JACOBI, Der Weg zur Individuation, Walter-Verlag, Olten 1971, S.56f.
488
ebd.
489
Vgl. http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/WISSENSCHAFTPSYCHOLOGIE/PSYCHOLOGEN/Jung.shtml
(Zugriff: 3.04.2015).
490
ebd. Hervorhebungen im Original.

124!
!
anzunähern, was einen als Person ausmacht und wie man seine Individualität ausgleichen
kann.491
Der Zirkus übernimmt anhand seiner unterschiedlichen Teilnehmer die Funktion eines
Führers nach innen, d.h., er erweist sich als das Ereignisfeld, innerhalb dessen Wanja und
Mischa zu dem werden, was sie sind, indem er sie auf das Fehlende im Eigenen hin orientiert.
Dem Zirkusnamen zufolge steht Anima für Kommunikation, Einfühlungsvermögen und Be-
ziehungsfähigkeit.
Wie Abedi dies gestalterisch und inhaltlich im Roman umzusetzen gelingt, soll nun anhand
der Figuren Taro und Mischa sowie der Metapher des schwarzen Vogels zur Darstellung
kommen.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
491
Vgl. Koschoreck.

125!
!
126!
!
7.3.1. Taro und die therapeutische Aufarbeitung

Taro kommt in diesem Prozess der Auseinandersetzung eine auxiliare Funktion zu, denn
mithilfe von Taro gelingt es Wanja, sich selbst zu konfrontieren, indem Taro sie mittels der
Proben mehrere therapeutische Stadien durchlaufen lässt.
Nach Wanjas Ankunft sind die Zirkusartisten sichtlich bemüht, Wanja willkommen zu heißen
und ihr ein Gefühl des Angekommen Seins zu vermitteln, was ihnen prompt gelingt, denn
Wanja verspürt ein wohliges Kribbeln in ihrem Bauch. Zwar erklingt der Gong nach dieser
ersten Eingewöhnungsphase recht schnell, doch Taro gibt Wanja bereits dort den Ratschlag
mit auf den Weg, sie müsse das Innere berühren, um „nach Hause“ zu finden, woraufhin
Wanja zunächst skeptisch reagiert.492 Bereits bei der nächsten Rückkehr setzt dieses Gefühl
von Zuhause sein abermals ein, diesmal als Wanja die Mangomilch trinkt, was sie an die
Mangos ihrer Mutter erinnert. Allerdings stört es sie, dass sie, wenn sie Fragen stellt,
offensichtlich keine ehrlichen Antworten erwarten kann, doch Perun gibt ihr in dem Moment
zu verstehen, dass es manchmal auch von Vorteil sein kann, wenn man die Dinge manchmal
einfach so nimmt, wie sie sind, ohne immer alles zu hinterfragen.493 Als Taro fragt, was die
Jugendlichen unternehmen möchten, hält sich Wanja beleidigt zurück und will Mischa die
Antwort überlassen. Innerlich ist sie bereits genervt, dass Mischa nicht sofort antwortet, doch
Taro zeigt ihr durch sein Verhalten, was im Folgenden in meinen Ausführungen demonstriert
wird, dass man nicht immer alle Antworten sofort erhalten muss, sondern es sich manchmal
lohnt, in Ruhe abzuwarten, weil die Antwort sich schon ergeben wird. Wanja selbst verspürt
immer wieder diesen Erkundungsdrang und möchte am liebsten alles sofort erfahren, doch
Taro holt sie mit seinen ruhigen und braunen Augen zurück und zwingt sie indirekt dazu, sich
nicht durch alles zu hetzen, sondern allmählich die Umgebung zu entdecken. Doch Wanja
lässt Taro und Mischa bei den Trommeln zurück, die Mischa unbedingt sehen wollte, und
begibt sich alleine auf Wanderschaft durch die Zirkuswelt. Dabei wird sie immer wieder von
den einzelnen Artisten angesprochen und freundlich in deren Wohnwagen eingeladen, sodass
sie sich Zeit nehmen muss, um mit den Menschen zu sprechen und vor allem zuzuhören.494
Taro vermittelt Wanja hier, wie wichtig es ist, zunächst einmal einen gewissen Ruhepol zu
finden, bevor man sich überstürzt auf die Suche nach Antworten macht. Eher sollte ein Gang
zurückgeschaltet und die Konzentration auf den eigenen momentanen Standpunkt gelenkt
werden, bevor man unüberlegt losläuft. Dazu gilt es, zunächst einmal seine eigene Position zu
klären. Dies erfolgt bei Wanjas nächster Rückkehr nach Imago. Dort tritt sie ein in die
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
492
Vgl. ebd. S.76f.
493
Vgl. ebd. S.114f.
494
Vgl. ebd. S.120ff.

127!
!
Manege, in der gerade die Trapezproben anstehen. Alles sieht so leicht aus, doch als Taro ihr
anbietet, selbst zu proben, reagiert sie ängstlich und schreckt zurück. Doch Taro und die
übrigen Akrobaten nicken Wanja zuversichtlich zu. Taros Aufmunterung, dass die Manege
nun ihr gehöre, lockt Wanja an, und sie begibt sich unsicher in Richtung Trapez. Ihre
anfängliche Angst verschwindet mit einem Mal, denn die Lust, das Unbekannte auszupro-
bieren, wird immer stärker. Plötzlich empfindet sie dieses Möglichkeit als Geschenk. Wanja
fühlt sich leicht, sicher und alles scheint im Einklang mit ihren Bewegungen. Sie weiß
instinktiv, was sie tun muss und sie fühlt sich so sicher wie noch nie in ihrem Leben. Sie muss
bei den Trapezübungen nicht mehr nachdenken, es scheint, als hätte das Schaukeln alle ihre
Gedanken aus dem Kopf geblasen.495

„Für einen Bruchteil einer Sekunde hatte sie das Gefühl, als rutschten ihr die Beine weg, doch
dann spürte sie, wie sie gehalten wurde, oder vielmehr: wie sie sich selbst hielt, mit der Kraft
ihrer Füße, die sich nach innen bogen und um Taros Rücken geschlossen hatten. Wanja fragte
sich nicht, warum sie das konnte, und sie wunderte sich nicht, woher sie die Kraft hatte oder wie
Taro dazu kam, ihr diese Kraft zuzutrauen. Sie konnte es, und sie hatte die Kraft, und Taro hatte
es gewusst.“496

Wichtig für Wanja ist vor allem, das alles auszuhalten. Und nachdem sie wieder auf dem
Boden gelandet ist, schmerzen zwar ihre Muskeln und zittern ihre Beine, doch ein „tiefes
Glücksgefühl“497 durchströmt sie. Taro gratuliert ihr, dies alles aus dem Stegreif geschafft zu
haben und hilft ihr vom Netz herunter. Wanja hat sich selbst bewiesen, dass sie Mut besitzt.498
Diese Episode ist insofern für Wanjas Entwicklung relevant, als dass sie ungeahnte
Fähigkeiten in sich entdeckt hat. Sie hat gelernt, zunächst einmal erkennen zu müssen, wer sie
ist, und dies gelingt nur, indem man sich in eine Situation begibt, die einem unbekannt ist, um
erst durch das Versuchen bzw. Ausprobieren herausfinden zu können, zu was man fähig sein
kann. Durch diese Trapezübung gewinnt Wanja auch an mehr Selbstvertrauen und erkennt da-
durch Wesentliches ihres Selbst.
Bei Wanjas nächstem Besuch in Imago begeben sich Taro, Mischa und sie auf einen Ausflug.
Dort wird Wanja mit Dingen konfrontiert, die sie zu lähmen scheinen. Nicht nur, dass ihnen
der Zauberer Amon urplötzlich begegnet und Taro vorausdeutet, dass sich dieser in Acht
nehmen müsse, sondern sie entdecken das Ende der Welt. Hierbei handelt es sich um einen
unermesslichen Abgrund, der trotz seiner satten Farben unnachgiebig scheint. Außerdem ent-
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
495
Vgl. ebd. S.142ff.
496
Vgl. ebd. S.147.
497
Vgl. ebd.
498
Vgl. ebd. S.148.

128!
!
deckt Wanja eine schwarze Ruine. Als sie von ihrem Ausflug zurückkehren, erscheint ihr der
Wald schattenhaft. Es wird Wanja eng in der Brust, ihr ist auf einmal zum Weinen zumute.
Ärger macht sich in ihr breit, und all die unbeantworteten Fragen versuchen aus ihrem
Inneren hervorzuquellen, doch sie kann all dem keine Luft machen, da sich der Wald verfin-
stert und ein bedrohlicher Vogel auftaucht. Wanja wird von einer übermächtigen Angst
befallen, doch alle drei können sich retten.499
Dieser Besuch diente dazu, Wanja vor Augen zu führen, dass sie Probleme in sich trägt, die es
jetzt zu bewältigen gilt. Ihr zuvor positiv erlebtes Selbstvertrauen ist noch äußerst fragil,
weshalb sie schnell aus der Balance gerät und Angst- und Panikattacken erleidet. Der Ausflug
diente also dazu, dem Leser vor Augen zu führen, dass es nicht ausreicht, die eigene Position
zu klären und sich selbst durch Ausprobieren zu erkennen, sondern es ist wichtig, eigene
Probleme anzugehen. Man muss sich aus dieser lähmenden Situation heraus lösen. Das
Klären und Erkennen sind bloß Voraussetzung für dieses Herauslösen. Vielmehr muss Wanja
nun ihre Schwächen aufdecken und diese überwinden.
Bei Wanjas nächster Rückkehr nach Imago wird ihr die Verantwortung für die Trapezeinlage
übertragen, da sich Gata, die eigentlich die Nummer mit Taro vorführt, am Knöchel verletzt
hat. Taro mutet ihr diese Aufgabe zu, da sie seiner Meinung nach nicht Wanjas Fähigkeiten
übersteigt, das würde er ihr nicht antun. Allerdings kann sie diese Aufgabe nur bewältigen,
wenn sie an sich selbst glaubt. Wanja nimmt diese Herausforderung an, ohne allerdings
versprechen zu können, dass sie es schafft, aber zumindest möchte sie es versuchen.500 Wanja
fühlt sich hilflos, vor allem da sie befürchtet, für die Vorführung gar nicht mehr nach Imago
„reisen“ zu können. Taro, der sich kurzzeitig um Mischa und dessen Trommlerausbildung
kümmert, überlässt Wanja sich selbst, doch anstelle vor ihrer Hilflosigkeit zu flüchten, ver-
sucht sie Antworten bei Amon zu finden. Dieser lässt sie in eine Glaskugel blicken, in
welcher Wanja zunächst sich, danach aber ein verschwommenes Männergesicht sieht. Das,
was sie in der Glaskugel gesehen hat, verwirrt sie noch mehr, und sie weiß plötzlich nicht
mehr, was sie sagen oder denken soll. Alles liegt ihr „wie ein Stein auf dem Herzen“501. Sie
wendet sich mit ihren Fragen an Amon, welcher ihr rätselhafte Antworten gibt, und mit jeder
Antwort tun sich Wanja wieder neue Fragen auf. Amon unterbricht sie schließlich, indem er
sie über die Kugel aufklärt: Diese spiegele die wichtigsten Fragen, den sehnlichsten Wunsch
oder die größte Angst des Betrachters, abhängig von dem, was den Betrachter gerade in sei-
nem Innern am meisten beschäftigt. Die Antworten auf Wanjas Fragen, könne Amon ihr aller-

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
499
Vgl. ebd. S.172ff.
500
Vgl. ebd. S.201ff.
501
Vgl. ebd. S.209.

129!
!
dings nicht geben, vielmehr lägen sie alle in ihr selbst. Dies sei auch der Grund für ihren
Besuch in Imago.502 Wanja scheint sichtlich überfordert mit der Situation, weshalb Amon ihr
Kinn sanft anhebt. Obwohl Wanja immer noch nicht weiß, was sie machen soll, fühlt sie sich
ruhiger und weint das erste Mal.503
Auch wenn Wanja bei diesem Besuch noch nicht klar ist, was sie genau tun soll, so lernt sie,
dass die Lösung in ihr liegt und nur sie ihr Problem lösen kann. Dies ist ein wesentlicher
Schritt, um sich nun selbst zu helfen.
Dieser Schritt erweitert sich mit ihrem nächsten Besuch. Die letzten Vorbereitungen für die
Zirkusvorführung laufen. Wanjas Stimmung ist durch ein totes Kaninchen und die Angst vor
dem Vogel getrübt. Sie reagiert auf alles patzig, was ihr die Akrobaten erzählen und raten,
dies vor allem, weil sie versucht, alle negativen Erinnerungen und Fragen wegzudrängen. Die
Lust, die sie anfänglich beim Trapezüben verspürte, ist wie weggeblasen, an ihrer Stelle
macht sich Angst breit. Als Taro dann auch noch von ihr verlangt, eine extrem schwere Figur
zu springen, rastet Wanja aus und beschimpft alles als Affenzirkus, und Taro sei nichts als ein
Bild. Dieser lässt Wanjas Ausbruch über sich ergehen und rät ihr schließlich, einfach nur
loszulassen, er fange sie schon auf. Doch Wanja zweifelt weiterhin alles an. Da schaut Taro
Wanja einfach nur an, klatscht in die Hände und schreit, sie solle springen, was Wanja dann
auch tut. Während ihres Fluges gibt er ihr immer wieder Anweisungen und befiehlt ihr,
einfach die Augen zu schließen und sich fallen zu lassen, was Wanja befolgt. Als sie die
Augen wieder öffnet, hält Taro sie fest in seinem Griff und aus Wanja springen explosions-
artig die Tränen.504
Anfangs scheint es, als ob Wanjas Verhalten regressiert, doch bei näherer Betrachtung ist das
Gegenteil der Fall. Wanja lernt nicht nur, im wesentlichen Moment auf sich selbst und ihre
Fähigkeiten zu vertrauen, sondern sie lernt auch, jemand anderem zu vertrauen und dessen
Hilfe anzunehmen. Ohne Taro hätte die Trapezfigur nie vollständig aufgeführt werden
können, Wanja benötigte einen Partner. Nur in der Gemeinsamkeit und im gegenseitigen
Vertrauen gelingt es ihr, ihre Ängste zu überwinden. Es ist diese Erkenntnis, die schließlich
alle Dämme brechen lässt. Nun erst ist Wanja bereit, ihr Problem tatsächlich anzugehen. Dies-
mal ist sie wirklich bereit. Sie hat ihr Selbstbewusstsein wiedergefunden und kann selbst
kaum fassen, was ihr gelungen ist. Taro beglückwünscht sie und rät ihr, immer auf ihre
Intuition zu vertrauen, schließlich habe sie es im Blut, was ein Geschenk sei.505

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
502
Vgl. ebd. S.207ff.
503
Vgl. ebd. S.213f.
504
Vgl. ebd. S.244ff.
505
Vgl. ebd. S.251ff.

130!
!
Diese Euphorie und Erkenntnis müssen nun allerdings noch in die Tat umgesetzt werden, was
Wanja während der Generalprobe ermöglicht wird. Urplötzlich taucht der Vogel auf und
attackiert Taro. Mischa versucht Taro zu retten, allerdings erklingt der Gong und Mischa
kehrt, durch den Versuch der Rettung Taros bedingt, nicht rechtzeitig in das Bild zurück,
sodass lediglich sein Reisekörper in der Realität ankommt. Nun ist es Wanja, die alleine ins
Bild zurückkehren muss, um sowohl Mischa als auch Taro zu retten. Dabei ist sie gezwungen,
nicht nur ihren eigenen Fähigkeiten zu trauen, sondern auch auf die Mithilfe anderer zu
vertrauen, hier in diesem Fall dem Pferd Sandesh, das sie durch Imago trägt, um nach Mischa
und Taro zu suchen. Es gelingt ihr, Mischa zu retten, doch für Taro muss sie noch einmal
nach Imago zurückkehren. Dort erkennt sie, dass der Vogel nichts als ihre Angst ist, die sie
handlungsunfähig macht. Je ängstlicher sie ist, desto mehr Macht gewinnt der Vogel. Es ge-
lingt Wanja nur, diesen Vogel zu besiegen, wenn sie ihre Angst besiegen kann. Diese Heraus-
forderung geht sie gemeinsam mit Mischa an, als sie bewusst nach dem Vogel suchen und ihn
schließlich in der Ruine finden. Dort ist es auch Wanja, die den Vogel selbstbewusst und
eigenwillig mit einem Stoß ins Herz erledigt. Doch Amon weist sie darauf hin, dass es sich
nicht um einen Kampf mit Waffen handelt, sondern um einen Kampf in ihr selbst. Nur, wenn
sie ihre eigenen Gefühle beherrsche, könne sie den Vogel wirklich erledigen. Wanja begibt
sich abermals in den Kampf mit dem Vogel. Als sie dem Vogel in die Augen schaut, wird ihr
zum ersten Mal bewusst, nie in das Innere der Augen geschaut zu haben. Entsetzen macht
sich in ihr breit. Sie hat das Gefühl zu ersticken, doch Wanja kämpft und hält dem Blick des
Vogels stand.506

„Sie spürte die Angst und dahinter die Ohnmacht und dahinter die Traurigkeit und dahinter die
Sehnsucht und dahinter wieder die Angst. (...) [Sie] versuchte, sich verzweifelt darüber klar zu
werden, woher sie dieses Gefühlsgemisch kannte, das ihr auf einmal so schrecklich vertraut
schien. Und dann, ganz langsam, stiegen die Bilder in ihr auf. Bilder aus einer anderen, weit
507
entfernten Welt. Aus ihrer Welt.“

Wanja wird sich plötzlich all dieser Gefühle bewusst, und dabei macht sie etwas Neuem Platz,
was sie ruhiger werden lässt. Aus ihrem Tiefsten steigt eine „ruhige, innere Kraft“508 auf, von
der Wanja weiß, dass sie schon immer dagewesen sein muss und die nur sie lebendig werden
lassen kann. Durch diese wiedergewonnene Nähe zu sich selbst erkennt Wanja plötzlich alle
Zusammenhänge, die sie nach Imago gebracht haben: Taro verkörperte für sie alles, was sie

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
506
Vgl. ebd. S.314ff.
507
Vgl. ebd. S.359f.
508
Vgl. ebd. S.360.

131!
!
sich jemals von einem Vater gewünscht hätte, doch in Wirklichkeit niemals gefunden hätte.
Der Vogel bzw. sein Schatten symbolisierte die dunkle Seite ihres Herzens, die eigene Angst,
alles Negative. Er war somit das Gegenstück zu Taro. Wanja begreift nun, dass die Angst,
nach ihrem Vater zu fragen, gleichzeitig die Angst vor der Wahrheit war. Und es ist nun an
der Zeit für Wanja, ihre Mutter mit der Frage zu konfrontieren und sich nicht mehr ein-
schüchtern zu lassen. Somit rettet Wanja Taro, und es kommt zur letzten Vorstellung. Wanja
muss Abschied nehmen, doch wie Amon meint, ist ein Abschied immer äußerlich, das
Wesentliche bleibt im Inneren zurück, weshalb Wanja auch so bleiben soll, wie sie ist.509
Wanjas Kampf ist das letzte therapeutische Element, das wichtig ist, damit Wanja ihren Weg
finden und gehen kann. Dabei muss sie sich von ihrer inneren Angst verabschieden. Erst so
findet sie die nötige Kraft, ihr eigenes Problem zu erkennen, zu artikulieren und ihre Mutter
schließlich in der Realität zu konfrontieren. Dies gelingt ihr allerdings nur, indem sie sich mit
ihren eigenen Gefühlen beschäftigt, denn nur so kann sie wissen, wer sie überhaupt ist und
wohin sie will. Nur wenn sie sich auf diese schmerzhafte Erfahrung einlässt, kann ihr das
gelingen. Dass dieser Weg kein leichter ist, zeigt Wanjas Reise durch Imago, denn sie ist
sowohl von Momenten des Glückszustands als auch von Trauer begleitet, sie ist hin- und
hergerissen, sie ist bestimmt von Angst und Orientierungslosigkeit einerseits und neuen
Bindungen andererseits. Sie ist zahlreichen Irritationen ausgesetzt, welche es zu beseitigen
gilt. Doch Wanja stellt dadurch fest, dass alles, was sie erlebt, miteinander verbunden ist.
Taro kommt im Jugendroman eine Brückenfunktion zu: Er ist es nämlich, der Wanja dazu
führt, sich mit ihrem Animus zu konfrontieren, d.h. mit ihrem persönlichen Unbewussten.
Wanja muss erst sich selbst entdecken, um das Unbewusste und somit auch Unvertraute
überwinden zu können. Abedi wählt hierfür die Metapher des schwarzen Vogels, dessen
Schatten immer wieder bedrohlich über Wanja auftaucht, bis der Vogel sie schließlich an-
greift und Wanja ihn besiegen muss. Die lauernde Präsenz des Vogels destabilisiert Wanja
und ist eine Bedrohung für ihr Eigenes. Erst als Wanja sich selbst zum Gegenstand ihrer
Wahrnehmung macht und ihre Angst vor der Wahrheit als Ursache ihrer Probleme identi-
fiziert, gelingt es ihr, den Vogel zu überlisten. Wanja weiß nun, dass sie bezüglich der Frage
nach ihrem leiblichen Vaters hartnäckig bleiben muss, denn nur so kann sie die Wahrheit
erfahren. Auch ist es ihr nun möglich, eine neue Beziehung zu sich selbst herzustellen, weil
sie der Sieg über den Vogel neue Aspekte ihrer Persönlichkeit erschließen ließ. Die Animus-
funktion, hier personifiziert durch den Vogel, macht Wanja eine bisher nicht ausreichend

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
509
Vgl. ebd. S.382, 386.

132!
!
bewusste Seite deutlich, nämlich die, dass sie durchaus mutig ist, sich selbst vertrauen kann
und ein Recht auf Wahrheit hat.
Zudem projiziert Wanja auf Taro all ihre Erwartung an einen Vater. Wanja missinterpretiert
von Anfang an den Titel der Ausstellung „Vaterbilder“. Sie glaubt, im Bild eine
Repräsentation ihres möglichen Vaters vorzufinden, was aber nicht Sinn und Zweck der
Ausstellung ist. Vielmehr geht es darum, dass „sich das Innerste für eine Welt öffnet“510, und
gemeint ist damit die Welt des Unbewussten und die Konfrontation mit diesem. Erst die Er-
kenntnis, dass „(...) [Taro] all das [war], was sie sich immer gewünscht hatte - und das sie –
(...) - jenseits des Bildes niemals finden würde“511, macht sie frei dafür, ihrem leiblichen
Vater ohne Vorurteile begegnen zu können und sich auf diesen einzulassen. Als Wanja ihren
Vater das erste Mal trifft, vergleicht sie ihn im ersten Augenblick mit Taro und wie anders er
doch sei, doch sie weiß mit Sicherheit, dass es sich um ihren Vater handelt. In diesem
Moment sieht sie vor ihrem inneren Auge, wie der Zirkus Anima Imago verlässt und
weiterzieht.512 Somit ist Wanja offen für neue Erfahrungen, ohne dass sie das, was sie in
Imago erlebt hat, vergessen darf, kann und muss.
Am Beispiel von Wanja ist ersichtlich, wie das Eigene durchaus von Fremdem durchzogen
ist. Dabei stellt das Fremde eine Herausforderung an das Eigene dar, weil es Spannungen im
Eigenen hervorruft, hier ausgelöst durch Wanjas Wunsch, ihre Wurzeln kennen zu lernen. Zu-
dem wird durch Wanja auch deutlich, wie der inneren Fremde durchaus eine Funktion
zugesprochen werden kann, nämlich die, dass man durch den Animus oder die Anima das
Fremde im Eigenen überwinden kann.513

„Das scheinbar so Fremde in uns entpuppt sich in der tiefenpsychologischen Betrachtung als
durchaus zu uns zugehörig, nur will es manchmal zu unserem oft schmeichelhaften Selbstbild
514
nicht passen, so dass wir es als fremd oder „ungehörig“ verbannen.“

Erst durch den Kontakt mit dem Fremden wird das Eigene sichtbar, was wiederum zur
Identitätsentwicklung beiträgt. Erst die Erfahrung von Fremdheit, hier mittels des Ortes
Imago, der Trapezübungen und des Vogels, führt Wanja zu einer veränderten Selbstwahr-
nehmung und ermöglicht ihr Erkenntnis über ihr Selbst. Durch die zahlreichen Proben - im
eigentlichen wie im doppelten Sinn - muss Wanja einen Prozess durchlaufen, bei dem sie sich
selbst vertrauter wird, was einen Wandel von der inneren Fremdheit zum Eigenen herbeiführt.
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
510
Vgl. ebd. S.303.
511
Vgl. ebd. S.360.
512
Vgl. ebd. S.402.
513
Vgl. Wolfgang KLEESPIES, Das Fremde in mir anhand von Träumen, In: Schäffter S.72-82, hier S.75.
514
ebd.

133!
!
Dieser Prozess ist die Voraussetzung dafür, dass sie das Fremde identifizieren kann. Auch
Wanjas Entschluss, ihren Vater kennenzulernen und diesem eine Chance als Vaterfigur zu
geben, macht abschließend zumindest den Anschein, also ob das Fremde zum Eigenen werde.

134!
!
7.3.2. Mischa oder der Umgang mit dem Anderen

Mischa ist zunächst bloß der „Penner“ aus Wanjas Klasse, der mit verschmutzten und durch-
löcherten Klamotten herumläuft und dessen Vater Alkoholiker ist. Mischa erhält allerdings
genauso wie Wanja eine Einladung zur Ausstellung Vaterbilder. Und es ist auch Mischa, der
sich mit Wanja ein Bild teilt, weil der Sog beide anzieht. Mischa sieht zwar nicht einen
Trapezkünstler, sondern einen Musiker in Taro. Im Laufe des Romans stellt sich heraus, dass
Mischas Alkoholikervater gar nicht sein leiblicher Vater ist, sondern dass seine Mutter eine
Beziehung zu einem anderen Mann hatte, welcher Bigamist war. Als sie dies herausgefunden
hatte, verließ sie jenen Mann. Schlussendlich entdeckt Mische, dass sein leiblicher Vater
niemand anderes ist als Wanjas leiblicher Vater. Wanja und Mischa sind deshalb
Halbgeschwister. Nun stellt sich die Frage, welche Rolle Mischa im Romangeschehen
zukommt.
Mischa ist Wanjas ständiger Begleiter, auch wenn dies anfangs ungewollt geschieht, da sich
beide „zufällig“ das gleiche Bild ausgesucht haben. Dass es später eine Erklärung dafür gibt,
wissen beide anfangs nicht. Schließlich geht Mischa ja auch davon aus, seinen Vater zu
kennen. Wanja nimmt Mischa von Anfang an nicht als etwas Fremdes oder einen Fremden
war, vor dem sie sich fürchtet oder andere Unsicherheiten ihm gegenüber verspürt, vielmehr
scheint er sie durch seine Art und seine blauen Augen zu interessieren. Als ihre Freundinnen
negativ über Mischa herfallen, rückt Wanja instinktiv zwei Schritte von ihnen ab, da sie nicht
so wie ihre Freundinnen denkt. Sie möchte nichts mit dem Zickengequatsche zu tun haben.
Heimlich lugt sie nochmals zu dem Jungen herüber, irgendetwas zieht sie an.515 Wanja zeigt
Mischa gegenüber von Anfang an keinen Abwehrmechanismus. Zwar ist sie sichtlich irritiert,
als dieser in ihrem Bild sitzt, faucht ihn auch an, doch sie akzeptiert ihn von Anfang an.516 Mit
dieser Akzeptanz tauchen Wanja und Mischa immer im Doppelpack auf, jedenfalls immer in
Imago. Aber auch in der Realität sucht Wanja bewusst immer wieder Mischas Nähe, sei es,
weil sie ungeduldig auf die nächste Einladung wartet oder weil sie Fragen bezüglich Imago
hat, die sie mit keinem anderen teilen kann.
Anders als das Fremde besitzt das Andere nichts Bedrohliches, d.h. es stellt das Eigene nicht
per se in Frage. Das Andere verweist lediglich auf die Differenz eines Eigenen zum Anderen
hin und ist notwendig, damit man sich identifizieren kann.517

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
515
Vgl. Imago S.36f.
516
Vgl. ebd. S.67.
517
Vgl. Yousefi S.42. Siehe auch Punkt 2.5. in dieser Arbeit.

135!
!
„Der Andere ist von daher keineswegs jemand, den ich mir anzueignen oder zu integrieren
hätte, sondern einer, der meiner Eigenheit korrelativ gegenüber steht, mich also in meinem
Eigensein zu ergänzen vermag, der eher als Partner und Co-Autor meiner eigenen Kultivierung
518
zu sehen ist, nicht als Widerstand.“

Anders als in ihren vorherigen Jugendromanen entscheidet sich Abedi gestalterisch nicht für
eine Liebesbeziehung, sondern für eine Beziehung zwischen Halbgeschwistern, denn gerade
auch in dieser Konstellation funktioniert die Idee des Sich Ergänzens. Dies vor allem
verstärkt, weil wohl beide durch ihre Anwesenheit in Imago der Frage nachzugehen scheinen,
wer oder was sie sind bzw. warum sie die oder der sind, die oder der sie sind. Und um
herauszufinden, wer oder was man ist bzw. warum man so ist, wie man ist, benötigt man die
Konfrontation mit anderen. Das, was man in dieser Konfrontation erfährt, ist wesentlich für
die Konstitution des Wir.519 Dadurch, dass Wanja sich Mischa in Imago zuwendet und ihn
nicht abblitzen lässt oder ignoriert, werden die beiden zu einem Wir. Mischa wendet sich
ebenfalls an Wanja, als dieser ihr eine Nachricht zukommen lässt und sie indirekt zu einem
Treffen einlädt, um über ihren ersten Imagobesuch sprechen zu können.520 Die Entstehung des
Wirs beruht demnach auf Gegenseitigkeit. Gleichzeitig kann man nur durch Einbeziehung des
Anderen sich selbst werden.521 „In diesem „Wir“ gewinnen wir darum auch erst Einsicht in
das Ich (...)“.522 Eine weitere Voraussetzung dafür ist die Auseinandersetzung, diese erfolgt
grundsätzlich durch die Kommunikation. Bei Wanja ist der Wunsch nach Auseinandersetzung
bereits durch ihr anfängliches Interesse an Mischa gegeben, doch verstärkt sich der Wunsch
natürlich, weil sie sich beide ein Bild teilen. Nach dem ersten Besuch beginnt die Kommu-
nikation zwischen Wanja und Mischa recht spärlich über einen zugesteckten Zettel, doch ab
dem nächsten Aufeinandertreffen wird die Interaktion zwischen beiden immer intensiver: Es
beginnt mit einem Anfassen am Arm523, über das gegenseitige Fragen und Analysieren ihrer
Situation524 bis hin zu Hausbesuchen525, Krankenbetttelefonaten526 und schließlich der Ret-
tung Mischas durch Wanja527. Auch interessiert sich Wanja für Mischas familiäre Geschichte

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
518
Hans-Bernhard PETERMANN, Sprachverstehen als Erfahrung der Intoleranz, In: Fadja Ehlail, Henrike
Schön, Veronika Strittmatter-Hauboldt (Hg.), Die Perspektive des Anderen, Kulturräume anthropologisch,
philosophisch, ethnologisch und pädagogisch beleuchtet, 10. Heidelberger Dienstagsseminar, Mattes Verlag,
Heidelberg 2010, S.145-179, hier S.149. Von nun an zitiert als Petermann.
519
Vgl. ebd.
520
Vgl. Imago S.85.
521
Vgl. Petermann S.149.
522
ebd.
523
Vgl. Imago S.88.
524
Vgl. Imago S.88f., 135f., 322, 393ff.
525
Vgl. ebd. S220ff.
526
Vgl. ebd. S.133f.
527
Vgl. ebd. S.314ff.

136!
!
und informiert sich dezent, aber bestimmt über die Situation zwischen Mischa und dessen
Vater. Dabei erfährt sie von den Alkoholproblemen des Vaters und der Vernachlässigung
seitens der Mutter.528 Wanja nimmt Mischa ganz bewusst in seinem Anderssein wahr und
ernst. Sie erkennt dabei, dass Mischa gar nicht so rau und rüpelhaft ist, wie er bei der ersten
Begegnung schien. Mischa erweist sich eher als ruhiger, tiefgründiger Jugendlicher, der eine
Affinität zum Zeichnen besitzt. Auch seine Unsicherheit und sein In Sich Gekehrt Sein
bleiben ihr nicht verborgen529, gleichzeitig kann Mischa auch mit Wanja lachen530. Aber
umgekehrt muss auch Mischa erkennen, dass Wanja nicht so eine Zicke wie ihre Freundinnen
ist, sondern der Typ Mensch, der für jemanden zurückkehrt und ihn zu retten versucht.531
Doch es bleibt nicht bei der bloßen Kommunikation, beide Figuren verändern sich auch
gegenseitig. Beide Figuren lernen voneinander und durch den anderen, Vertrauen zu einem
Menschen aufzubauen und diesen so zu akzeptieren, wie er ist. Dies erfolgt vor allem durch
die Bewunderung des Anderen. Während Mischa Wanjas Trapezvorführungen faszinieren
und er ihr aufmunternd die Hand auf die Schulter legt, so ist Wanja von Mischas Trommeln
wie hypnotisiert. Auch macht Mischa Wanja klar, manchmal einfach den Moment zu genie-
ßen, sich in einem solchen Moment völlig auflösen zu können und eins mit sich selbst zu
werden. Wanja wiederum zeigt Mischa, einen Stillstand nicht ertragen bzw. erdulden zu
müssen, sondern das Anrecht auf Wahrheit zu haben.
Zur Einsicht, welche Relevanz das Andere im Kontext mit dem Eigenen hat, kann Wanja erst
kommen, nachdem sie ihr Eigenes identifiziert hat. Jetzt ist es ihr erst möglich, ihre Gefühle
für Mischa zu identifizieren. Sie fühlte sich von Anfang an zu Mischa hingezogen, doch es
war nicht das Gefühl des Verliebt Seins, vielmehr war es ein warmes, vertrautes Gefühl,
ähnlich einer Freundschaft, nur viel tiefer.532 Auch Mischa charakterisiert sein Gefühl Wanja
gegenüber als komisch.533 Doch nun erkennt sie ihn als ihren Bruder und gibt ihm symbolisch
die Hand.534
Das Andere weist somit von Anfang an etwas Vertrautes auf, wogegen das ebenso Fremde
das Unvertraute bedeutet. Anders als Wanjas innere Fremdheit, ist es nicht Sinn und Zweck
des Anderen, sich integrieren zu lassen (im Sinne von Konfrontation, Akzeptanz und Anei-
gnung), sondern das Andere steht dem Eigenen korrelativ gegenüber535, wobei sich sowohl

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
528
Vgl. ebd. S.226ff.
529
Vgl. ebd. S.93ff.
530
Vgl. ebd. S.119.
531
Vgl. ebd. S.322.
532
Vgl. ebd. S.260.
533
Vgl. ebd. S.399.
534
Vgl. ebd. S.401.
535
Petermann S.149.

137!
!
das Eigene als das Andere gegenseitig ergänzen und verändern. Oder um Mischas Vergleich
aufzugreifen: Es ist wie ein Puzzle, das man zusammenfügen muss.536 Die Teile ergänzen sich
gegenseitig und bilden anschließend ein Ganzes.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
536
Vgl. Imago S.398.

138!
!
7.4. Schlussfolgerung

In Abedis Jugendroman Imago zeigt sich das Fremde als innere Fremde. Sie steht dem Eignen
als das Unvertraute gegenüber und äußert sich durch Angst- bzw. Furchtzustände sowie durch
das Gefühl von Unsicherheit. Gleichzeitig aber wirkt diese innere Fremde anziehend, da die
Protagonistin mit allen Mitteln versucht, deren Ursprung auf den Grund zu kommen. Wanja
versucht keineswegs, die innere Fremde abzuwehren, sondern im Gegenteil, sie versucht sie
für das Finden ihrer Wurzeln zu nutzen. Dies gelingt ihr allerdings nur, wenn sie dazu bereit
ist, sich ihrer Angst zu stellen. Das geschieht nicht urplötzlich, sondern sie muss einen Erken-
nungsprozess durchlaufen, der es ihr zunächst einmal ermöglicht, sich selbst zu erfahren und
zu wissen, wer sie überhaupt ist, bevor sie sich an ihr Unbewusstes herantrauen kann. Erst
wenn diese innere Reifung angestoßen wurde, gelingt es Wanja schließlich, über sich selbst
hinauszuwachsen und sich der Wahrheit zu stellen bzw. Rechenschaft für die Wahrheit zu
verlangen.
Metaphorisch schickt Abedi ihre Protagonistin auf eine Selbstfindungsreise. Durch das Vor-
stoßen in die Welt Imago betritt Wanja einen Handlungsraum, der ihr sozusagen als Kulisse
dient, um sich dort zunächst zu orientieren (und sich selbst zu finden) und das dort Gelernte
als Impuls für die Realität zu nutzen bzw. umzusetzen.
Nebst der Konfrontation mit der inneren Fremde erfährt Wanja aber auch, was es heißt, das
Andere anzutreffen. Mischa kommt die Rolle des Anderen zu, welches das Eigene ergänzt. Er
ist für Wanjas (Weiter-) Entwicklung der Persönlichkeit von großer Relevanz, umgekehrt ist
Wanja dies aber auch für ihn, und zwar aufgrund der gegenseitigen Influenz. Und ohne die
Auseinandersetzung mit dem Anderen könnte man keine Rückschlüsse auf das Eigene ziehen.

139!
!
140!
!
!

8. Der Jugendroman Whisper

8.1. Zum Inhalt

Die sechzehnjährige Noa, die eigentlich Nora getauft wurde, zieht für die Sommerferien mit
ihrer berühmten und exzentrischen Mutter Katharina Thalis, genannt Kat, und deren
schwulen, Esoterik liebenden Freund Gilbert aufs Land. Eigentlich ist Noa gar nicht begeistert
von diesem Umzug, lediglich die Aussicht auf eine eigene Dunkelkammer, die sie als
passionierte Fotografin einrichten darf, lässt sie mitfahren. Sie beziehen ein altes Haus, aus
dem deren Vormieter, die Steinbergs, vor 30 Jahren ausgezogen sind. Bereits beim Betreten
des Hauses verspürt Noa einen Schauer, und sie fröstelt. Zudem riecht sie einen extrem
starken Parfumgeruch, der sie irritiert, vor allem, da niemand sonst diesen intensiven Geruch
wahrzunehmen scheint. Außerdem entdeckt sie auf dem verstaubten Spiegel die Inschrift
„Schneewittchen“.537
Das Dorf selbst erweist sich recht schnell als eine eingeschworene Gemeinschaft, die den
Zuzug der Städter kritisch beäugelt. Allerdings dauert es nicht lange, und bei ihrem ersten
Besuch in der Dorfkneipe zieht Noas Mutter alle mit ihrer lockeren und offenen Art in ihren
Bann, vor allem die männlichen Bewohner, wofür Noa sich schämt. Vor allem der unver-
heiratete Wirt, Gustaf, ist ganz von Kats Berühmtheit und Exzentrik fasziniert. Aus Gast-
freundschaft bietet Marie, die Gastwirtin, Kat an, ihren Sohn David vorbeizuschicken, um bei
den anfallenden Renovierungsarbeiten am Haus zu helfen.
So kommt es, dass Noa David kennen lernt. Von Anfang an fühlt sich Noa zu David
hingezogen, ein besonderes Kribbeln macht sich in ihrem Bauch breit.538 Noa hilft David bei
den Renovierungsarbeiten und während des Arbeitens kommen sich beide näher. Dabei
erfährt sie, dass David gerne die Musik von Jim Caroll hört, da dieser oft über die Sterne
singt. Außerdem hat sein Vater, bevor er die Familie verließ, ihm nachts die Sternbilder
erklärt.539 Auch erfährt sie über das Leben mit Davids behindertem Bruder Kalle, genannt
Krümel, dass Davids Mutter Marie es nicht leicht hat und der Junge viel gehänselt wird.
Als Kat David eines Abends zum Abendessen überredet, schlägt David aus Spaß und Neugier
vor, eine von Gilbert geleitete Seance durchzuführen. Alle sind etwas beschwipst, weshalb
alle recht übermütig an das Spiel herangehen. Allerdings passiert das Unerwartete: Jemand
bewegt das Glas. Kat kann dies nicht glauben und bricht die Seance ab, mit dem Vorwand,
noch ein Drehbuch lesen zu müssen. Auch Gilbert zieht sich zurück, doch David und Noa
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
537
Vgl. Isabel ABEDI, Whisper, Arena Verlag, Würzburg 2005, S.14f. Von nun an zitiert als Whisper.
538
Vgl. ebd. S.41.
539
Vgl. ebd. S.50ff., 102ff.

!
„spielen“ weiter. Dabei lernen sie den Geist Eliza kennen und deren Offenbarung, an ihrem
achtzehnten Geburtstag am 21. August 1975 auf dem Dachboden des Hauses ermordet
worden zu sein. David rastet in diesem Moment aus, da er meint, Noa nehme ihn auf den
Arm, haut ab und lässt Noa in ihrer Traurigkeit zurück.540
David lässt sich einige Tage nicht blicken, und Noa fühlt sich alleine, muss sie doch die ganze
Zeit an ihn denken. In der Zwischenzeit lässt sie die Nachricht des Geistes aber auch nicht los,
und sie stellt Nachforschungen an. Als erstes nutzt sie dazu die Gelegenheit, Milch bei ihrem
Vermieter, dem Bauern Hallscheit zu holen. Von diesem verlangt sie den Schlüssel für den
Dachboden, mit dem Vorwand, dort aufräumen zu wollen. Außerdem informiert sie sich dis-
kret über die Vormieter. Dieser kann ihr nicht viel berichten, nur, dass Eliza ein schönes
Mädchen gewesen sein soll und seine Schwiegermutter sie deshalb Schneewittchen genannt
habe.541
Um sich die Zeit zu vertreiben und um Abstand von ihren Gefühlen bezüglich David und den
Fragen bezüglich Eliza zu gewinnen, begibt sich Noa in den Wald. Dort sieht sie komisch
gefärbte Bäume. Bei ihrer Rückkehr läuft sie ihrer flirtenden Mutter und Robert, einem
Künstler, über den Weg. Zuhause entdeckt sie schließlich im Bücherregal ein Kinderbuch von
Astrid Lindgren, in welchem der große Bruder Jonathan seiner Schwester zum 10. Geburtstag
alles Liebe wünscht, mit dem Versprechen, immer für sie da zu sein.
Abends auf dem Weg zur Kneipe sieht Noa, wie ein paar Dorfjugendliche Davids Bruder
beschimpfen und umherstupsen. Ihr Versuch, dazwischen zu gehen misslingt. So rennt sie
hilfesuchend in die Kneipe und alarmiert David und dessen Mutter Marie. Während David
sich draußen um seinen Bruder kümmert, kommt die Gesellschaft in der Kneipe auf die Stein-
bergs zu sprechen. Noa lässt leise und ganz nebenbei die Information fallen, dass das Mäd-
chen ermordet worden sei, worauf hin sich eine enorme Spannung im Raum ausbreitet.
Allerdings antwortet keiner darauf. 542 Zurück zu Hause besucht David Noa nachts und
bedankt sich bei ihr für das schnelle Hilferufen. Als Dank lädt er sie zu einer Lichtung ein,
um die Sterne zu bewundern. Beim Anblick von Davids VW-Bus verkrampft sich allerdings
alles in Noa, da im Inneren des Wagens eine Doppelmatratze liegt, welche sie sofort an die
Nacht mit Heiko, welcher sie ohne ihre Einwilligung entjungferte, erinnert. David versteht
zwar nicht, was Noa Angst macht, doch er reagiert äußerst sanft und einfühlsam und erklärt
ihr genau, was er ihr zeigen möchte und wofür die Matratze gedacht ist. Noa willigt schließ-

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
540
Vgl. ebd. S.57ff.
541
Vgl. ebd. S.71ff.
542
Vgl. ebd. S.89ff.

142!
!
lich ein, ihn zu begleiten.543 Auf der Lichtung sprechen die beiden das erste Mal über Eliza
und die Seance. Zwar können beide nicht wirklich glauben, dass das Spiel echt gewesen sein
soll, doch etwas scheint an der Geschichte dran zu sein, denn auch David hat seine Mutter
darüber ausgefragt. Diese gab allerdings vor, nichts weiter zu wissen, obwohl David bemerk-
te, wie blass seine Mutter wurde, als er ihr den Namen Eliza nannte. Auf der Rückfahrt
kommen sie an der alten Mühle vorbei, in der der Künstler Robert wohnt. Sie hören, wie je-
mand Beethovens Für Elise spielt. Die Geschichte wird immer unheimlicher, vor allem, wenn
der Geist recht behält, könnte jeder im Dorf der Mörder sein. Noa und David sind von der
Geschichte so fasziniert, dass sie der Wahrheit auf den Grund gehen wollen.544
Als erstes nehmen die beiden den Speicher unter die Lupe. Dort riecht Noa abermals diesen
intensiven Frauenduft, auch David nimmt ihn wahr und stellt fest, dass es nicht Noa ist, die so
riecht. Noa fragt sich, ob Eliza sie beide vielleicht sehen könnte oder ob sie vielleicht sogar da
wäre. Am Ende des Speichers entdecken sie schließlich einen Abgrund, die Schwelle zur
Scheune sowie eine Truhe, in der sich eine Leica befindet, inklusive einem noch nicht
belichteten Film. Noa knipst David, um den Film später entwickeln zu können. David möchte
Noa schließlich küssen, doch diese weist ihn ab, schließlich habe es mit Heiko auch mit
einem Kuss begonnen. David versichert ihr, dass er ihr nichts antun wolle, und es kommt fast
zum Kuss, wenn Gilbert sie nicht unterbrochen hätte. Sie verabreden sich am nächsten Tag,
um gemeinsam noch Material für das Belichten des Films in der Stadt zu kaufen. Nachts hört
Noa das erste Mal Schritte auf dem Dachboden, kann am nächsten Morgen aber nicht
feststellen, wie jemand dort hinaufgekommen sein soll, da das Schloss verriegelt ist.545
Am folgenden Tag versetzt David Noa, in der Stadt sieht sie diesen allerdings mit einem
anderen Mädchen und Eifersucht macht sich in ihr breit. Außerdem kommt es zu einem Eklat
mit ihrer Mutter, da Noa partout nicht mit ihrer Mutter über David sprechen möchte. Zurück
zu Hause entwickelt Noa schließlich die Bilder. Sie entdeckt auf einigen Fotos den jungen
Robert und auf einem anderen Eliza, wie sie mit ausgestreckten Armen über dem Abgrund
auf dem Dachboden steht. Zur gleichen Zeit schleicht sich David in die Dunkelkammer und
möchte Noa liebevoll begrüßen, indem er seine Arme um sie legt, doch Noa reagiert äußerst
brutal und haut ihn kräftig.546
David geht sofort auf Abstand, auch innerlich, teilt ihr aber mit, dass er sich mit einer
Freundin getroffen habe, welche ihm Informationen über den Fall Eliza aus der Zeitung von

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
543
Vgl. ebd. S.100.
544
Vgl. ebd. S.104ff.
545
Vgl. ebd. S.113ff.
546
Vgl. ebd. S.132ff.

143!
!
damals besorgt hatte. Aufgrund der neuen Informationen entscheiden sie sich, nochmals eine
Seance durchzuführen. Dort erfahren sie, dass Eliza erwürgt wurde, sie mit Robert sprechen
und Elizas „Juwel“ finden sollen. Außerdem stellt sich heraus, dass David über die Scheune
auf den Dachboden gelangt war, was die Schritte in der Nacht erklärt. Er hatte nach weiteren
Spuren gesucht.547
In der Zwischenzeit scheint Kat mit Robert anzubandeln, was Noa gänzlich missfällt. Nicht
nur, weil er ein möglicher Tatverdächtiger ist, sondern weil Kat schon wieder eine Affäre be-
ginnt. Als dann auch noch eine der Hauskatzen verschwindet und Noa sich auf die Suche
macht, begegnet sie Hallscheits Schwiegermutter, die ihr rät, auf sich aufzupassen. Außerdem
erzählt sie etwas von einem schwarzen Prinzen, den sie gesehen hätte, der von anderen ver-
folgt worden sei.548
David ist weiterhin auf Abstand. Es schmerzt Noa sehr, vor allem, weil sie sich in David
verliebt hat. Sie sucht ihn dennoch auf, um Elizas Geheimnis weiter auf den Grund zu gehen.
Er bittet Noa, seine Mutter doch darauf anzusprechen, schließlich sei Noa fremd im Dorf und
vielleicht rüttle sie Noa weniger ab. Die Mutter erzählt, dass Eliza ein schönes, aber kaltes
Mädchen gewesen sei, doch verweigert jegliche weitere Auskunft. Sie warnt die Kinder,
nichts aufzuwühlen, das bringe nichts. Außerdem wüsste das Dorf keine Antworten. Nachdem
Noa dies aus Marie herausgekitzelt hat, fängt David sie im Gang ab, küsst Noa und lädt sie
am nächsten Tag zum See ein.549
Am See empfindet Noa Freude, doch als David nach dem Schwimmen ihren Bikini streift,
versteift sich alles in Noa, und die Erinnerungen an Heiko kehren zurück. David verspricht
Noa, ihr Zeit zu geben, zieht sich selbst aber etwas zurück. Als Noa abermals in den See
taucht und zurückkehrt, ist David verschwunden. Auf seiner Decke sitzt nun Dennis Kord,
einer der Jugendlichen, die abends Krümel verhöhnt haben, sowie seine drei Freunde. Sie
bedrohen Noa. Als sie sie betatschen wollen, taucht Robert aus dem Nichts auf und vertreibt
die Jugendlichen. In diesem Moment kehrt auch David zurück, da er eine böse Vorahnung
hatte. Er möchte sich an Robert vergehen, doch Noa schützt diesen und weist auf dessen
Rettungstat hin. Als David und Noa wieder alleine sind, bricht Noa ihr Schweigen bezüglich
Heiko und öffnet sich David. Sie erkennt, dass man nichts totschweigen kann.550
Bei der Rückkehr zum Haus hat Kat mittlerweile begonnen, einen Komposthaufen anzulegen,
weshalb sie den halben Garten umgräbt, sehr zum Anstoß von Esther, die Mutter des Wirtes

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
547
Vgl. ebd. S.144ff.
548
Vgl. ebd. S.151ff.
549
Vgl. ebd. S.158ff.
550
Vgl. ebd. S.172ff.

144!
!
Gustaf. Abends sind Kat und Noa bei Robert zum Essen eingeladen. Robert wirkt äußerst
sympathisch auf Noa, doch als sie eines seiner Kunstwerke betrachtet, welches die nackte
Schulter einer Frau mit schwarzen Haaren zeigt, reagiert dieser äußerst roh. Es handele sich
dabei um seine Privatangelegenheiten. Kat bewundert diese Unberechenbarkeit an Robert,
doch Noa möchte nach Hause gehen. Vor dem Abschied blickt sie Robert ins Gesicht und teilt
ihm herausfordernd alles mit, was sie bis dorthin über Eliza weiß. Roberts Blick verdunkelt
sich, doch er bleibt ihr eine Reaktion schuldig. Noa geht, doch Kat bleibt zurück, was Noa ihr
äußerst übel nimmt. In der Nacht treffen sich Noa und David. Noa berichtet ihm von dem Bild
und Roberts Rückweisung. Anschließend machen sie eine weitere Seance, um Eliza auf wei-
tere Hinweise auszufragen. Dabei erfahren sie, dass ein sogenannter Dumbo bei ihr auf dem
Dachboden gewesen sein muss.551
Am Morgen belauscht Noa ein Gespräch zwischen Kat und Robert, wobei Kat ihn bittet, sie
doch auf das Dorffest zu begleiten, was dieser aber nicht möchte. Daraufhin wird Kat patzig
und macht ihm Vorwürfe, dass er nicht über seine Vergangenheit sprechen möchte, wo sie
sich ihm gegenüber doch geöffnet habe. Aus Trotz droht sie ihm, mit anderen Männern zu
tanzen. Noa bemerkt das erste Mal eine verletzliche Seite an ihrer Mutter und muss fest-
stellen, dass sie sie überhaupt nicht kennt. Auf dem Dorffest macht Kat ihre Drohung
schließlich wahr und flirtet mit allen anwesenden Männern. Noa beobachtet in der Zwischen-
zeit, dass Dennis Vater, Thomas Kord, Davids Mutter Marie etwas zuflüstert, wobei diese
ihm etwas in die Hand drückt. Im gleichen Moment taucht Robert auf, und das ganze Dorffest
bricht ab. Er führt Kat aus dem Zelt. Dabei bemerkt Noa, wie hasserfüllt Gustaf, der Wirt, auf
Robert blickt.552
Kat kehrt nicht nach Hause zurück. In der Zwischenzeit erhält Gilbert einen Anruf, dass Kat
einen Bambi verliehen bekommt. Noa möchte ihrer Mutter diese Nachricht überbringen, doch
sie taucht im gleichen Moment wieder auf. Noa quetscht sie darüber aus, ob Kat und Robert
über Eliza gesprochen hätten, was die Mutter verneint. Sie habe keine Ahnung, wovon Noa
spreche und fährt schließlich in die Stadt, um ein Interview zu geben.
Abends reicht es David, er möchte endgültig Beweise finden. Also begibt er sich mit Noa auf
zur Mühle. Dort finden sie ein Bild, auf dem der junge Robert zu sehen ist, wie er seine
Hände fürsorglich um den jungen Gustaf legt. Noa entdeckt, dass dieser als Kind abstehende
Ohren hatte, woraus sie schließt, dass es sich bei Gustaf um Dumbo handeln muss. Außerdem
hören sie, wie Marie leise zur Mühle geschlichen kommt und nach Robert sucht, sie müssten

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
551
Vgl. ebd. S.183ff.
552
Vgl. ebd. S.192ff.

145!
!
miteinander sprechen. Thomas Kord habe sie erpresst.553 Auch diese Informationen geben den
beiden Hobbydetektiven zunächst Rätsel auf.
Am nächsten Tag trifft Noa auf David, als dieser dem Bauern Hallscheit hilft. Noa fragt
spontan, ob sie mitdürfe. Ohne zu zögern fragt sie den Bauern unverhalten über Gustaf aus.
Dabei erfahren die beiden, dass Gustaf und Robert (Halb-) Brüder sind, Gustaf Eliza mochte
und deren Vater Gustaf ebenfalls gemocht haben muss, denn dieser habe Gustaf schließlich
die Ohrenoperation bezahlt. Allerdings habe man auch gemerkt, dass mit Eliza etwas nicht
richtig gestimmt habe. Eines Tages sei sie dann weggewesen, und die Polizei sei ins Dorf ge-
kommen, da Eliza spurlos verschwunden war.554
Bei Noas Rückkehr bittet Kat ihre Tochter, sie zum Interview zu begleiten. Noa nimmt die
Möglichkeit wahr, da sie nach Düsseldorf kommt, die Stadt, in welche Eliza mit ihrer Familie
zurückgekehrt war, bevor sie verschwand. Im Telefonbuch findet sie tatsächlich die Adresse
des Vaters und macht sich auf den Weg dorthin, während Kat ihr Interview gibt. Auch öffnet
ihr der Vater die Tür, doch Noa kommen keine Worte über die Lippen, sodass sie tatenlos
wieder verschwindet. Auf der Rückfahrt kollidieren Kats Auto und Davids VW-Bus
miteinander. Jemand hatte an Kats Bremsen herumgespielt, um den Unfall zu provozieren.
Niemand wird ernsthaft verletzt.555
Nach dem kurzen Krankenhausaufhalt besucht Noa David. Krümel begrüßt sie und hält ihr
etwas Buchförmiges hin. Noa greift zu und entdeckt, dass es sich um Elizas Tagebuch
handelt, welches auf dem Deckel ein Juwel trägt. Damit hat sie Elizas Juwel gefunden. Aus
dem Tagebuch erfahren Noa und David, dass Eliza ein abgekartetes Spiel mit Gustaf und
Robert getrieben hatte. Elizas Bruder Johann war vor Jahren umgekommen. Seitdem beachtet
der Vater seine Tochter kaum noch und behandelt sie wie Gepäck. Um sich dagegen zu
wehren, möchte Eliza ihre eigene Geschichte schreiben und auf sich aufmerksam machen.
Das tut sie, indem sie Gustafs Naivität ausnutzt und diesen gegen Robert ausspielt. Gustaf
gewinnt die Zuneigung ihres Vaters, welcher Eliza bittet, nett mit Gustaf zu sein. Dazu willigt
Eliza ein, doch auf ihre Art und Weise. Sie gaukelt Gustaf vor, sich in ihn zu verlieben und
lädt ihn auf ein abendliches Rendezvous auf dem Dachboden ein. Dort würde sie ihm ihre
wahre Liebe zeigen, wenn er sich genau an ihre zeitlichen Vorgaben halte. Zur gleichen Zeit
beginnt Eliza eine Affäre mit dem düsteren Robert. Für diesen scheint sie etwas zu
empfinden, nutzt ihn auch für ihre Zwecke aus. Mit Robert verabredet sie sich für den
gleichen Abend und die gleiche Uhrzeit. Auch diesem gibt sie vor, ihre Liebe beweisen zu

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
553
Vgl. ebd. S.209ff.
554
Vgl. ebd. S.221ff.
555
Vgl. ebd. S.230ff.

146!
!
wollen. Am besagten Abend schläft Eliza schließlich mit Robert und lässt Gustaf dabei
zusehen, allerdings ohne dass Robert von dieser Intrige Bescheid weiß. Nach dem Liebesakt
schickt sie Robert fort, doch auch Gustaf ist bereits hasserfüllt verschwunden. Hier erklärt
sich der Bruch zwischen Gustaf und Robert. Wer Eliza allerdings umgebracht hat, geht aus
dem Tagebuch nicht hervor. 556
Noa und David begeben sich mit all diesen neuen Details zu Robert, um diesen mit der
Wahrheit zu konfrontieren, da sie ihn zunächst als Verdächtigen betrachten. Dieser bricht sein
Schweigen und teilt ihnen mit, dass er von der Intrige bis zu ihrem jetzigen Kommen nichts
gewusst habe. Aber er sei nicht der Mörder. Gemeinsam begeben sie sich zu Gustaf, auch
dieser war nicht der Mörder, sondern hatte vielmehr Robert für den Mörder gehalten. Auch
erfahren sie, dass Marie Eliza damals zum Haus gebracht hatte, was Hallscheits Schwieger-
mutter gesehen haben muss und weshalb diese vom schwarzen Prinzen spricht. Auch Thomas
Kord habe Marie gesehen und der Polizei nichts verraten, allerdings benutzte er sein Wissen,
um Marie zu erpressen. Schlussendliche haben alle ein Alibi, bis Noa einfällt, dass Gustafs
Mutter, Esther, noch übrig bleibt, was auch erklären würde, weshalb das Tagebuch in Davids
Haus war. Um nach einem stichfesten Beweis zu suchen, begeben sich alle auf den
Dachboden, auf welchem Esther bereits versteckt auf sie wartet. Sie nimmt Noa als Geisel
und erklärt, dass die „Hure“, die ihre Söhne lächerlich gemacht und gegeneinander ausge-
spielt hatte, den Tod verdient hätte. Zudem hätte einer ihrer Söhne sie womöglich für Eliza
verlassen. Durch den Tod des Mädchens hätte sie das verhindert und sich gleichzeitig für
deren Spiel gerecht. Ebenso sehe sie in Noa eine Bedrohung für David, weshalb Esther sich
auch hier das Recht nehme, sich einzumischen. In der Zwischenzeit hat sich David zum
Scheunenboden geschlichen und ruft Noa zu, sie solle sich fallen lassen, er werde sie sicher
auffangen. Noa vertraut David und lässt sich im rechtzeitigen Moment vom Abgrund des
Dachbodens fallen. David rettet sie, mit Dennis’ Hilfe, der wie aus dem Nichts zufällig
aufgetaucht ist.557
Der Sommer neigt sich dem Ende zu, und nachdem die Polizei den Mordfall aufgenommen
hatte und Esther verhaftet wurde, beginnt für Noa eine neue Zeitrechnung. Alles, was
zurückliegt, war damals. Sie ist nun offen für Neues, und ihre Reise beginnt damit, dass sie
sich David hingibt. Der Rest, die Zukunft, steht offen.558

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
556
Vgl. ebd. S.240ff.
557
Vgl. ebd. S.250ff.
558
Vgl. ebd. S.272ff.

147!
!
148!
!
8.2. Die Mutter als Fremde

Von Anfang an macht die Protagonistin dem Leser deutlich, dass sie kein harmonisches
Verhältnis mit ihrer Mutter hat. Nicht nur, dass sie im ganzen Roman ihre Mutter lediglich
mit „Kat“ anspricht, sondern auch die Beschreibungen über ihre Mutter fallen äußerst negativ
aus. Vor allem das übertriebene Verhalten ihrer Mutter in sämtlichen Situationen, ihr Haschen
nach Aufmerksamkeit und die Leichtigkeit, mit der sie alle Probleme wegzublasen scheint,
sind Noa ein Dorn im Auge. Außerdem schämt sie sich permanent für deren übertriebenes
Auftreten. Allein die Vorstellung, mit ihrer Mutter wochenlang auf engstem Raum zusammen
sein zu müssen, macht Noa verrückt. Ihre Mutter scheint sich überall breit zu machen, sodass
für niemanden und nichts mehr Platz übrig bleibt.559 Allerdings handelt es sich hier nicht ein-
fach um eine pubertäre Lebenskrise seitens Noa, sondern ihr Ablehnungsgefühl reicht tiefer
und resultiert eher in einer Identitätskrise, welche einerseits durch die Überpräsenz ihrer
Mutter ausgelöst wird, andererseits aber auch durch deren glänzende Abwesenheit in der Rol-
le als Mutter.
Dies beginnt bereits bei Noas Zeugung. Sie hat keine Ahnung, wer ihr Vater ist, dieser weiß
noch nicht einmal, dass er Vater ist. Kat wurde mit siebzehn schwanger und entschied sich
dazu, das Kind alleine aufzuziehen. Dies ist für Noa der Moment, ab dem eine lange Kette
von Liebhabern durch Kats Bett hüpfen wird. Wie viele, kann sie selbst nicht mehr zählen.560
Dafür hat sie Gilbert, der gleichzeitig Mutter- und Vaterersatz ist. Er ist derjenige, der für Noa
immer da war. Er erzählte ihr Gutenachtgeschichten und brachte sie abends zu Bett, wenn ihre
Mutter mal wieder irgendwo auf einer Party war.561 Noa verabscheut die egoistische Entschei-
dung ihrer Mutter, welcher ihrer Meinung nach der Ausgangspunkt einer ganzen Reihe von
egoistischen Verhaltensweisen ist. „Ich. Ich. Ich. Das war alles, was Kat kannte (...).“562
Anstelle Noa großzuziehen und ihre Rolle als Mutter einzunehmen, ließ sie Noa immer nur
mitlaufen. Noa hat dies jahrelang wortlos hingenommen, doch innerlich hat sie sich immer
weiter von ihrer Mutter distanziert. Noa wird nicht müde zu betonen, dass Kat nicht wie ihre
Mutter ist.563 Aber auch äußerlich ist es für Noa unverständlich, wie sie Kats Tochter sein
kann, da sie sich optisch unterscheiden. Eine Zeit lang war Noa sogar überzeugt, dass ihre
Mutter sie adoptiert hatte. Noa reagiert äußerst schnippisch, sobald ihre Mutter sie auf ihr
Äußerliches anspricht.564

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
559
Vgl. ebd. S.15.
560
Vgl. ebd. S.103.
561
Vgl. ebd. S.19,104.
562
ebd. S.134.
563
Vgl. ebd. S.20,85.
564
Vgl. ebd. S.36.

149!
!
Zudem hasst Noa ihren Geburtsnamen Nora. Diesen wählte ihre Mutter aus, da sie die
Schauspielerin Nora Gregor bewunderte, welche allerdings durch Selbstmord ums Leben
kam, weshalb Noa keineswegs ein solches Vorbild haben möchte. Außerdem findet sie den
Buchstaben „r“ zu hart. Mit elf entschied sie sich dazu, den Namen zu ändern. Wann immer
ihre Mutter sie mit Nora anredete, stellte sie sich taub. Auch im Dorf, als Kat sie mit Nora
vorstellt, faucht sie ihre Mutter an.565
Noa zeigt bereits früh eine Abwehrreaktion ihrer Mutter gegenüber. Nicht nur, dass sie ihren
Geburtsnamen nicht akzeptiert, jegliche Referenz zu diesem Namen macht sie wütend. Ihr
Verhalten ist sichtlich ein Ausdruck dessen, dass sie nicht mit dem Verhalten ihrer Mutter
einverstanden ist. Das Gefühl der Wut entwickelt sich im Laufe der Zeit zu Hass, Hohn566,
Gleichgültigkeit und Feindseligkeit567 ihrer Mutter gegenüber. Eine Art unsichtbare Grenze568
bildet sich zwischen beiden, welche auch die Mutter wahrnimmt. Noa denkt äußerst negativ
über ihre Mutter und verschleiert ihre Abneigung keineswegs in der Kommunikation mit
dieser. Vor allem Noas abfälliger Ton ist hervorstechend. Sie fällt ihrer Mutter ins Wort, sagt
ihr, sie solle die Klappe halten und bezeichnet sie als eine Frau, die die Extreme braucht.569
Abschätzend wirf sie ihrer Mutter vor, Noa bloß als Anhängsel zu benutzen, wenn ihr Freund
Gilbert nicht kann oder will: „Was bin ich eigentlich für dich? Jemanden, den du brauchst, um
Schatten zu werfen?“570. Die Mutter selbst reagiert sehr selten auf Noas Kommentare und
Aussagen und wenn, dann nur, um die Türe zu knallen und wegzugehen. Beide scheinen
aneinander vorbei zu leben und kennen sich gegenseitig nicht. Es herrscht keine Kommunika-
tion, beide reden aneinander vorbei. Dass dies zu einem enormen psychologischen Problem
seitens Noa führt, wird durch ein erlebtes Trauma an ihrem fünfzehnten Geburtstag deutlich.
In dieser Nacht wurde Noa von ihrem damaligen Schwarm Heiko entjungfert, was allerdings
nicht ausdrücklich Noas Wunsch war. Vielmehr zwang sich Heiko ihr auf, sozusagen als
Geburtstagsgeschenk, und Noa hat es über sich ergehen lassen. Nach dem Akt verbarrikadiert
sie sich in ihrem Zimmer und ruft hilfesuchend ihre Mutter an. Diese erkennt die Dring-
lichkeit der Situation nicht, möchte lieber auf der Party bleiben und vertröstet Noa mit
Gilbert. Dieser kommt sofort zu Hilfe, ohne aber zu wissen, was passiert ist. Ohne zu zögern
und ohne Fragen zu stellen, kümmert sich dieser um Noa und verweilt die ganze Nacht

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
565
Vgl. ebd. S.25f.
566
Vgl. ebd. S.30.
567
Vgl. ebd. S.35.
568
Vgl. ebd. S.85.
569
Vgl. ebd. S.41.
570
ebd. S.87.

150!
!
schützend an ihrem Bett.571 Dies ist der Moment, an dem der Bruch zwischen Noa und ihrer
Mutter endgültig ist. Noa verzeiht ihrer Mutter deren Verhalten nicht und zieht sich völlig
zurück, isoliert sich. Eine weitere Konsequenz ist, dass es Noa nicht mehr leicht fällt,
Menschen zu vertrauen. Sie ist nicht fähig, über ihre Gefühle zu sprechen. Es kommt schließ-
lich während der Sommerferien zum Eklat zwischen Mutter und Tochter. 572 Als beide David
in der Stadt mit einem anderen Mädchen sehen, möchte die Mutter Noa trösten, doch Noa
weigert sich, darüber zu sprechen. Kat explodiert schließlich und wirft Noa vor, sie immer
wie einen Feind zu behandeln. Daraufhin lässt Noa eine Vorwurfstirade auf ihre Mutter los, in
welcher sie ihr vorwirft, was für eine schlechte und egoistische Mutter sie gewesen sei, die
ihre Tochter aufs Ärgste vernachlässigt habe. Noa beendet ihren Ausbruch mit den Worten:

„Kat, du kennst mich doch gar nicht, du hast doch keine Ahnung, wer ich bin. Ist dir klar, dass
du so ziemlich jedes Mal, an dem ich in den vergangenen Jahren mit dir über meine Gefühle
sprechen wollte, nicht da warst? Oder überfordert warst? Oder Spaß mit irgendeinem Typen
hattest, von dem ich meist noch nicht einmal den Vornamen wusste? In der schlimmsten Nacht
meines Lebens habe ich dich auf dem Handy angebettelt, nach Hause zu kommen. Aber du
musstest ja unbedingt deine Party zu Ende feiern, also hast du Gilbert geschickt. Verflucht
nochmal, Kat, seit wann willst du mit mir über meine Gefühle reden?“573

Aber anstelle darauf zu reagieren, denkt die Mutter nur an sich, und eine gemeinsame
Kommunikation über das Problem bleibt aus.
Diese konfliktreiche und gestörte Mutter-Tochter-Beziehung resultiert daraus, dass Noa sich
dazu entschieden hat, die Mutter bewusst aus ihrem Eigenen auszuschließen und diese
dadurch zu etwas Fremden zu machen, da Kat sich als Mutter ihrer Tochter entzogen574 hat.
Spricht man von Ausschluss, so muss man davon ausgehen, dass das Fremde einmal Teil des
Eigenen war, weshalb es sich spezifischer um verdrängtes Eigenes handelt. Dadurch, dass
dieses verdrängte Eigene vom momentanen Eigenen abgespalten bzw. abgegrenzt wird, wan-
delt es sich aber schließlich zum Fremden, es wird zum Fremden gemacht. Noa hat als Kind
sicherlich stark unter der Vernachlässigung ihrer Mutter gelitten und ist verletzt, dass sie von
ihrer Mutter nicht die nötige Aufmerksamkeit und Fürsorge erhalten hat, was sie ihr ja auch
vorwirft, doch anstelle sich diesem zu unterwerfen und das Eigene zu unterdrücken, hat sie
sich dazu entschlossen, das Unerträgliche zu „bekämpfen“. Des Weiteren steht dieses Fremde
im Gegensatz zum Selbst und stellt es gar in Frage. So herrscht zwischen Mutter und Tochter
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
571
Vgl. ebd. S.22, 180ff.
572
Vgl. ebd. S.132ff.
573
ebd. S.134.
574
Vgl. Waldenfels Phänomenologie S.74.

151!
!
nicht nur eine (kommunikative wie emotionale) Distanz, sondern Noa weiß durch das
Fremde, dass sie partout nicht wie ihre Mutter sein will, doch wer sie selbst ist, weiß sie
eigentlich auch nicht genau. Sie ist sich somit innerlich fremd. Nach dem Erlebnis mit Heiko
ist sie sichtlich traumatisiert und nicht das selbstbewusste und selbstsichere Mädchen, als das
sie sich gerne gibt. Sie fühlt sich zu Beginn des Jugendromans immer wieder alleine575, und
Momente der Angst und der Traurigkeit576 begleiten sie. Noa scheint sich zu entfremden.
Wesentlich in diesem Zusammenhang ist, dass Noa sich in der Pubertät befindet, was auch
erklärt, dass sie sich ihrer Mutter nicht, anders als vielleicht jüngere Kinder, anpassen möchte
oder gar unterwirft, sondern sie wehrt sich. Zudem versucht sie vehement und fast trotzig,
nicht als ein Abbild ihrer Mutter gesehen zu werden, sondern sie sucht ihre eigenen Identität
und Wertigkeit. Dabei gibt sie sich genau konträr zum Verhalten ihrer Mutter: Sie will nicht
gefallen, sondern sagt öffentlich, was sie denkt und was ihr passt oder was nicht. Auch ist sie
nicht ständig gut gelaunt, sondern lässt ihren Launen freien Lauf. All dies sind Gegenreaktio-
nen zu Kats Verhalten. Allerdings hat Noa das Problem nur vermeintlich beseitigt. Zwar hat
Noa aus Selbstschutz versucht, die abwesende Mutter zu verdrängen, doch die Spannungen
zwischen Mutter und Tochter bleiben nicht aus und sind Anzeichen dafür, dass Noa die
Auseinandersetzung mit dem Fremden noch bevorsteht. Diese Auseinandersetzung erfolgt
allerdings nicht in direktem Austausch mit der Mutter, sondern durch eine ganz andere Form
der Herausforderung: In ihrem Ferienhaus wurde vor 30 Jahren ein Mord an einem
achtzehnjährigen Mädchen namens Eliza begangen, und diesem Geheimnis gilt es nun auf die
Spur zu kommen. Dadurch, dass sie sich auf dieses Geheimnis einlässt, wird sie sich
notgedrungen auch mit sich selbst und ihrer Mutter konfrontieren müssen.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
575
Vgl. Whisper S.71.
576
Vgl. ebd. S.69.

152!
!
8.2.1. Die Suche nach Elizas Geheimnis als Konfrontation mit der Mutter

Betrachtet man die Suche nach Elizas Mörder bzw. Mörderin, so ist zu erkennen, dass diese
Handlung lediglich als Rahmen für Noas Entwicklung dient. Das schrittweise Aufdecken von
Elizas Schicksal kommt der schrittweisen Entwicklung Noas gleich, in welcher Noa sich
selbst konfrontieren muss. Erst wenn es Noa gelingt, sich eigenen Schwächen zu stellen, in-
dem sie diese erkennt und auch akzeptiert, kann sie aus sich herauswachsen und Neues (über
sich) lernen und auch mit sich selbst im Klaren sein. Dies wiederum ist Voraussetzung dafür,
dass sie sich mit ihrer Mutter auseinandersetzen kann.
Oben wurde festgehalten, dass Noa sich durch ihre ihr fremde Mutter einerseits nicht
unterwerfen lässt und dagegen aufbegehrt, und andererseits, dass ihr diese Fremdheit
Probleme bringt. Um sich nicht mit sich selbst beschäftigen zu müssen, kommt ihr der Mord
an Eliza ganz gelegen, und sie nutzt ihn als Motivation, um sich von sich selbst abzulenken.
Ihr Wunsch, den Mord aufzuklären, kann durchaus positiv bewertet werden, zeigt es doch,
dass Noa eigentlich dazu fähig ist, sich zu engagieren und etwas ändern zu wollen. Es ist Vor-
aussetzung dafür, etwas an ihrem eigenen Zustand ändern zu können.
Noa erscheint zu Beginn zwar durchaus als selbstbewusstes Mädchen, doch bei genauerer
Betrachtung lassen sich Risse in ihrer äußeren Schale erkennen. Zwiespältige Gefühle
beherrschen Noa: das der Erwartung auf Neues sowie das des Widerwillens.577 Zwar proji-
ziert Noa diese Gefühle auf das Ferienhaus, doch im Grunde genommen ist es genau das, was
sie in ihrem Inneren spürt. Genauso wie sie zwei Namen hat: den, für den sie sich selbst ent-
schieden hat und den, den ihre Mutter ihr gab. Noa ist innerlich nicht ausbalanciert, auf der
einen Seite möchte sie aus dem Schatten ihrer Mutter heraustreten und sich von dieser
abspalten, auf der anderen Seite sträubt sich innerlich etwas gegen dieses bereits sehr
erwachsene Verhalten, das sie noch nicht genau fassen kann. Dieser Eindruck wird verstärkt,
als Noa nach ihrer ersten Nacht im Haus desorientiert aufwacht. Außerdem scheint sie über
das Verhältnis mit ihrer Mutter nicht so erhaben zu stehen, wie sie vorgibt. Noa entscheidet
eigenwillig, Kat beispielsweise keine Antworten zu geben, doch stört es sie innerlich
schrecklich, wenn ihre Mutter sie betrachtet und etwas an ihr zu bemängeln hat, wie zum
Beispiel ihre dünnen Beine.578 Dann lässt sie diese passiv über sich ergehen. Als David sie
später fragt, weshalb sie aufs Land gekommen sind, reagiert Noa gar nicht so direkt, wie sie

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
577
Vgl. ebd. S.7.
578
Vgl. ebd. S.34ff.

153!
!
immer mit ihrer Mutter ist. Sie ist respektvoll und einfühlsam, denn sie möchte die Gefühle
des ihr noch fremden Jungen nicht verletzen und achtet sehr genau auf ihre Antwort.579
Nach einem Abendessen, zu dem auch David eingeladen ist, kommt es zu einer Seance, bei
der der Geist Eliza auftritt. Die anfängliche aufgedrehte Stimmung bricht schnell in ihr
Gegenteil um, als Kat und Gilbert das Spiel abrupt abbrechen. Nur zögerlich entschließt sich
Noa, mit David weiterzuspielen, auch, weil sie innerlich einen Druck verspürt, den sie aller-
dings nicht genauer deuten kann.580 Als die Seance dann eskaliert, weil David der Spuk zu
viel wird, zieht sich Noa zurück. Sie spricht mit niemandem über das, was vorgefallen ist und
wünscht sich, dass sie jeder in Ruhe ließe. Sie vertieft sich in das Aufräumen und Putzen ihres
Zimmers. 581 Allerdings kehren ihre Gedanken immer wieder zu Elizas Informationen zurück,
und sie entschließt sich, den Bauern nach dem Schlüssel für die Dachkammer zu fragen.
Festentschlossen und zielstrebig macht sie sich zum Bauern auf, doch als sie vor diesem steht,
ist sie mutlos. Panik ergreift Noa. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als alleine zu sein. Sie
muss sich bewegen, um den Gedanken an Eliza auf diese Weise entfliehen zu können. Sie
läuft in den Wald, welcher eine beruhigende Wirkung auf sie hat und auch dort verdrängt sie
jegliche unangenehmen Gedanken bzw. Fragen, die sich ihr aufdrängen. Die Geschichte mit
der Seance und Eliza scheint ihr so unwirklich, dass sie versucht, die Situation rational zu
erklären, indem sie das Erlebte auf den Champagner und beschwipste Phantasien zurückführt.
Diese Erklärung gibt ihr ein Gefühl von Leichtigkeit. 582
Hierbei wird ersichtlich, dass Noa Schwierigkeiten damit hat, Ursachen auf den Grund zu
gehen. Bereits als sie den Geist Eliza das erste Mal getroffen hat, ist sie nicht überzeugt
davon, das Spiel fortzusetzen, da sie ahnt, dass sie sich dann mit den erhaltenen Informatio-
nen befassen muss. Noa verfällt im Zusammenhang mit der Seance in ein Muster, das sie
selbst im wahren Leben immer wieder praktiziert: Wenn es auf etwas Wesentliches ankommt,
flüchtet sie. Genau so reagiert sie auch, als David so vehement aufbricht. Sie befasst sich
nicht mit dem, was passiert ist, stattdessen beschäftigt sie sich mit anderem. Doch dass dieses
Verhalten keine Dauerlösung ist, bemerkt sie, als die Gedanken zu Eliza immer wiederkehren.
Um nicht schwach zu wirken, versucht sie, Entschlossenheit zu zeigen und gibt sich Mühe,
dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, allerdings muss sie schnell feststellen, dass sie diese
Stärke gar nicht besitzt. Um sich ihre Schwäche nicht einzugestehen, sucht sie nach einer
rationalen Erklärung. Doch auch dieses Verhalten wird demaskiert, denn Noa findet immer

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
579
Vgl. ebd. S.41.
580
Vgl. ebd. S.66.
581
Vgl. ebd. S.72.
582
Vgl. ebd. S.77ff.

154!
!
wieder neue Informationen, die es ihr nicht ermöglichen, die Gedanken an Eliza zu
verdrängen. Je mehr sie erfährt, desto stärker wird ihre Angst, sodass sie sogar freiwillig
Gilbert und Kats Nähe sucht.583 Doch gleichzeitig drängt es sie, Näheres über Elizas Tod zu
erfahren. Sie macht sich mit David auf Spurensuche, indem sie zur Höhle schleichen oder
aber eine weitere Seance durchführen, um mit den nächsten Informationen weitere Indizien zu
erhalten und zusammenführen zu können. Dabei begibt sich Noa in Situationen, in denen sie
Nervosität und Gänsehaut verspürt, wie etwa, als sie sich mit David auf den Dachboden
begibt. Sie lässt sich von der Atmosphäre in den Bann ziehen, und anders als zuvor, flüchtet
Noa nicht, sondern dringt entschlossen mit David tiefer in den Dachboden ein, wobei sie sich
dicht an Davids Rücken hält. Als sie den Abgrund entdecken, wird es Noa schwindelig. Sie
krallt sich förmlich in Davids Hand, um diesen vom Abgrund wegzuziehen und gesteht sich
ein, dass sie Höhenangst hat. Als David dann aus Spaß seine Arme ausbreitet, wird Noa
wütend und droht damit, zu gehen.584
Hier zeigt sich bereits eine Veränderung seitens Noa. Das Fluchtmuster dominiert immer
weniger. Zwar scheint ihre erste Reaktion aus Gewohnheit das Weglaufen zu sein, wenn
etwas geschieht, womit sie überfordert ist oder wenn sie wütend ist, doch anders als sonst
droht sie es nur an, tut es aber nicht. Sie bleibt. In ihr bricht trotz der Angst die Entschlossen-
heit immer stärker hervor. Allerdings muss man festhalten, dass dies mithilfe von David
passiert. Noa versucht nicht, auf eigene Faust mit dem Problem klarzukommen, sondern sie
lässt sich auf die Kooperation bzw. Hilfe eines Anderen ein. Des Weiteren tritt die Angst als
regelmäßig wiederkehrendes Gefühl auf. Diese steht für das Unvertraute, welches Noa ängs-
tigt. Dieses Gefühl scheint in Noa tief verwurzelt zu sein, wohl aufgrund ihrer gestörten Be-
ziehung zu ihrer Mutter, denn jedes Mal, wenn Noa Angst verspürt, schaltet sie den „Flucht-
modus“ ein.
Auf dem Dachboden findet sie schließlich Elizas Leica, deren Film sie noch zu Ende knipsen
müssen, um die Bilder zu entwickeln. Während des Fotografierens gibt Noa sich selbst
erstmals eine Schwäche zu: Sie mag es nicht, fotografiert zu werden, denn sie möchte sich
selbst nicht sehen. Es kommt ihr vor, als halte ihr jemand eine Pistole an die Brust und sie sei
demjenigen ausgeliefert. Ihr Problem ist, dass sie sich vor der Kamera nicht verstellen kann
und man ihr immer ihre Angst ansieht, wodurch ihr wahres Ich von innen nach außen gekehrt
wird. Hinter der Kamera dagegen hat sie die Macht und kann ihr Gesicht verbergen.585 Um so
erschreckender ist es für sie, als David spontan ein Foto schießt. Später bei der Entwicklung

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
583
Vgl. ebd. S.86ff.
584
Vgl. ebd. S.113ff.
585
Vgl. ebd. S.121f.

155!
!
des Bildes entdeckt sie ihr aufgerissenes Auge und den daraus hervorstehenden Angstaus-
druck.586
Noa ist hier das erste Mal ehrlich mit sich selbst und gibt zu, dass sie im Grunde genommen
ein ängstlicher Mensch ist, der nur vorgibt, stark zu sein. Auch erkennt sie, dass sie nur stark
sein kann, wenn sie sich hinter etwas versteckt, da sie sich sonst ihrer Angst und somit ihrer
inneren Fremde bewusst wird.587 Dies ist ein erster Schritt für Noa, vor allem, da sie damit
auch eine gewisse Verletzlichkeit zugibt. Auch verrät es abermals etwas über ihre Beziehung
mit ihrer Mutter, denn diese kann, anders als Noa, perfekt schauspielern und setzt täglich ein
anderes Gesicht auf588, sodass Noa gar nicht weiß, wer ihre Mutter eigentlich wirklich ist.
Dies erklärt vielleicht, weshalb sich Noa das Fotografieren zur Leidenschaft gemacht hat. Da-
bei kann sie ihre Gefühle in Schach halten und muss ihre wahren Gedanken nicht preisgeben.
Durch diese Andeutung wird die Distanz zwischen Mutter und Tochter nochmals hervor-
gehoben.
Nachdem Noa und David Elizas Truhe mit der Leica gefunden haben, baut sich in Noa eine
gewisse Determination auf, um dem Geheimnis nun definitiv auf die Spur zu kommen. Sie
beginnt, sich in die Spurensuche zu verbeißen und lässt nicht locker. Vor allem, da Eliza
ihnen in einer weiteren Seance aufgetragen hatte, nach deren Juwel zu suchen. Dadurch
entwickelt Noa einen gewissen Mut, der sie nicht davor zurückschrecken lässt, Menschen
anzusprechen und unangenehme Fragen zu stellen, wie etwa dem Pfarrer auf dem Dorffest,
welchen sie über Dumbo ausfragt. Da weder Noa noch David wissen, was das Juwel genau
ist, erkennt Noa, dass kein Weg daran vorbei führt, unangenehme Fragen zu stellen, um ihrem
Ziel näher zu kommen. Diese Veränderung in Noas Verhalten trägt dazu bei, dass sie sich
auch nach und nach traut, ihrer Mutter Fragen zu stellen und diese zu konfrontieren. Hinzu
kommt allerdings auch, dass Kat Interesse an Robert zeigt, aber dieser zu diesem Zeitpunkt
Noa und David zufolge noch unter Tatverdacht steht. Unter Noas Abneigung und Wut ihrer
Mutter gegenüber mischt sich plötzlich Angst um ihre Mutter, was für Noa ein ganz neues
Gefühl ist. Es irritiert sie sichtlich.589 Noa beginnt, ihre Mutter zu beobachten und muss fest-
stellen, dass sie Seiten an Kat entdeckt, die ihr so nie bewusst waren. Als sie bei Robert zum
Abendessen eingeladen sind, registriert Noa das erste Mal Anspannung und Nervosität bei
ihrer Mutter, die sonst immer im Mittelpunkt steht und sich nicht wie ein scheues Schul-

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
586
Vgl. ebd. S.138.
587
Es ist wichtig anzumerken, dass Noa sich hinter der Kamera aus Angst versteckt, nicht aber die Kamera nutzt,
um sich zu verstellen.
588
Vgl. ebd. S.28.
589
Vgl. ebd. S.151.

156!
!
mädchen benimmt.590 Sie fängt an, sich Fragen über ihre Mutter zu stellen. Zwar artikuliert
sie diese nicht laut, doch allein die Idee, dass sie sich Gedanken macht, ist ein Fortschritt.
Auch als sie tags darauf ein Gespräch zwischen Kat und Robert mithört, in welchem Kat
äußert, dass sie das Gefühl von Zuneigung (Robert gegenüber) nicht gewohnt ist, muss Noa
erstaunt feststellen, dass sich ihre Mutter wirklich einmal verliebt und selbst Schwächen hat.
Die Mutter gibt nämlich vor Robert zu, Angst vor diesem Gefühl zu haben. Als Robert Kats
Einladung zum Dorffest ablehnt, reagiert Kat gekränkt, was Noa noch nie bei ihrer Mutter
erlebt hat.591 Noa entdeckt nicht nur neue Seiten an ihrer Mutter, sondern sie muss feststellen,
dass sie und ihre Mutter überhaupt nicht so verschieden sind, wie Noa immer meinte. Auch
ihre Mutter ist verletzlich und hat Schwächen. Als Noa ihrer Mutter mitteilen möchte, dass
diese einen Bambi erhält, verspürt Noa das erste Mal ein warmes Gefühl in sich aufsteigen,
was auf eine Veränderung in Noas Verhalten ihrer Mutter gegenüber hindeutet. Das, was Noa
seit der Verbindung zwischen Kat und Robert über diese in Erfahrung gebracht hat, scheint
ihre Ordnung sozusagen in Frage zu stellen und dringt langsam aber sicher in Noas Eigenes
ein. Als ihre Mutter weinend vor ihren Augen zusammenbricht, reagiert Noa nicht abweisend
oder flüchtet, sondern spricht mit ihrer Mutter. Sie stellt Kat konkrete Fragen zu Robert, dabei
hält sie sie am Handgelenk fest. Kat öffnet sich erstmals ihrer Tochter gegenüber und verrät
ihr, dass Robert überhaupt nicht an ihrer Karriere interessiert ist, sondern nur an ihr und bittet
Noa um Rat. Dies verblüfft Noa enorm, aber ihre Mutter erklärt ihr, dass sie stolz auf ihre
Tochter sei, da diese ihr in vielem voraus sei. Auch gesteht sie ein, eine schlechte Mutter zu
sein, dennoch liebe sie ihre Tochter. Noa weiß nicht, wie sie sich verhalten soll, merkt aller-
dings, dass der Moment verstrichen ist, in dem sie ihre Mutter in den Arm hätte nehmen
sollen. Noa spürt in dem Moment, wie ihr der Frost aus dem Herzen weicht. Unbeholfen gra-
tuliert sie ihrer Mutter zum Bambi.592
Dies ist eine völlig andere Noa als die, die wir zu Beginn in Verbindung mit ihrer Mutter
angetroffen haben. Die Mutter, die Noa eigentlich als Feindin betrachtete, deren Einfluss Noa
in ihrem Leben eingrenzen bzw. beschränken wollte und welche ihr unfassbar (im
eigentlichen Sinne des Wortes) erschien, weist ähnliche Schwächen auf wie Noa, die diese zu
unterdrücken versucht. Das Erkennen des Leidens ihrer Mutter lässt Noa eine gewisse Ver-
bundenheit spüren. Somit fängt das Fremde an, nicht mehr nur außerhalb des Eigenen zu
existieren, sondern im Fremden fangen an, sich Anteile des Eigenen zu zeigen.593 Noa spie-

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
590
Vgl. ebd. S.187.
591
Vgl. ebd. S.196.
592
Vgl. ebd. S.211ff.
593
Vgl. Messerschmidt S.219. Siehe auch Czekelius S.28.

157!
!
gelt sich gewissermaßen in ihrer Mutter bzw. sie sieht in ihrer Mutter eine Spiegelung ihrer
Selbst.594 Es kommt zu einer Annäherung zwischen Mutter und Tochter. Des Weiteren zeigt
Noa, dass sie sich Sorgen um jemand anderes als sich selbst machen kann. Auch wenn sie ihre
Mutter noch nicht umarmen kann, zeigt sie aber ein gewisses Einfühlungsvermögen, was die
Distanz zwischen Mutter und Tochter reduziert.595
Als Kat einem Interview bezüglich des Bambi zustimmt, bittet sie ihre Tochter, sie zu
begleiten. Ohne zu zögern stimmt Noa ihr zu, u.a. auch um Nachforschungen über die
Steinbergs zu betreiben. Während des Ausflugs ist Noa wie ausgewechselt mit ihrer Mutter:
sie grinst, besucht mit Kat eine Kunstausstellung, ohne sich zu sträuben und freut sich sogar,
dass Kat früher nach Hause möchte, da sie Robert vermisse. Auf dem Nachhauseweg kommt
es zum Unfall. Als Noa im Krankenhaus erwacht, macht sie sich auf zum Zimmer ihrer Mut-
ter. Sie kann sich bei Kats Anblick ein Schluchzen kaum unterdrücken, obwohl es ihrer
Mutter grundsätzlich gut geht.596
So kurz der Ausflug mit Kat auch gewesen sein mag, zeigt sich in Noa deutlich eine Wan-
dlung. Noa gibt ihrer Mutter eine neue Chance und öffnet sich dafür, die Mutter neu kennen
zu lernen, sodass das Fremde durchaus zu überwinden ist. Voraussetzung dafür war die
Konfrontation mit der Mutter, welche ihr nun erlaubt, Kat neu zu interpretieren bzw. neu zu
sehen.597 Das anfangs Unzugängliche beginnt zugänglich zu werden, vorausgesetzt aber, dass
Noa sich dazu bereit erklärt. Diese Bereitschaft ist Eliza zu verdanken. Ohne Eliza und ihre
Geschichte hätte sich Noa womöglich nie dazu bereit erklärt, sich für jemand anderes zu
interessieren, und sie hätte nicht gelernt, was es heißt, Mut aufzubringen, um Fragen zu
stellen. Die Suche nach Elizas Mörder stellt folglich für Noa eine Herausforderung dar, da sie
sich eigener Schwächen und Probleme zunächst bewusst werden muss, um diese überwinden
zu können und eine Lösung zu suchen. In diesem Kontext spielt das Prinzip des Erkennens
eine zentrale Rolle, denn indem Noa die fremde Mutter in gewisser Weise „positiv“ wahr-
nimmt, kommt es zu Noas Austauschbereitschaft.598 Das Fremde erweist sich schlussendlich
als Chance: einerseits, da Noa beginnt, das Eigene mit neuen Elementen zu bereichern und
andererseits, da die Fremde Noa sozusagen einen Spiegel vorhält und ihr durch die Konfron-
tation hilft, sich selbst anders zu sehen.599

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
594
Vgl. Waldenfels Phänomenologie S.75.
595
Siehe ebd.
596
Vgl. Whisper S.228ff.
597
Vgl. Waldenfels Phänomenologie S.81.
598
Vgl. Czekelius S.28.
599
Vgl. ebd.

158!
!
Nebst der Mutter als fremder Faktor in Noas Leben gilt es nun, zusätzlich ihre innere Fremde
zu bearbeiten, was ihr mithilfe von David, welcher das Andere repräsentiert, gelingt.

159!
!
160!
!
8.3. David und die Hilfe des Anderen

David ist im Roman die Person, die Noa hilft, das Fremde im Eigenen aufzudecken und zu
konfrontieren. David steht für das Andere, welches mit dem Eigenen interagiert und es durch
diese gegenseitige Interaktion konstituiert.600 Anders als Kat begegnet Noa David nicht mit
Unvertrautheit, weshalb er von Noa nicht als etwas Fremdes wahrgenommen wird. David
mag zwar durchaus unbekannte Aspekte in sich tragen, aber anders als Kat ist er für Noa
zugänglich.
Durch die Renovierungsarbeit mit David lernt sie diesen natürlich näher kennen und verliebt
sich schließlich in ihn. Doch Noa gibt sich zunächst unnahbar. Als David ihren Mund mit
dem ihrer Mutter vergleicht und seinen Finger darauf legt, zieht sich Noa abrupt zurück, so
als ob sie sich daran verbrannt hätte. Erst im Dunkeln der Nacht traut sie sich, das Gefühl
zuzulassen, das Davids Finger auf ihrem Mund ausgelöst hat. 601 Die beiden verbringen
vermehrt Zeit miteinander, und Noa lässt sich auf Gespräche mit David ein. Sie interessiert
sich für Davids Musik und dessen Bruder. Sie macht zum Beispiel im Baumarkt Blödsinn mit
ihm und fühlt sich leicht und glücklich.602 Auch breitet sich bei der kleinsten Berührung ein
Kribbeln in ihrem Bauch aus.603 Doch Noa verspürt plötzlich einen Fluchtimpuls, aus Angst,
sich in David verlieben zu können. Sie empfindet die Situation als bedrohlich und vermeidet
plötzlich jegliche Berührung mit David, da sie die Elektrizität, die von ihm ausgeht, nicht
mehr ertragen kann.604 Als David während der ersten Seance auch noch ausflippt, da er ihr
vorwirft, das Spiel zu manipulieren, verkriecht sich Noa. Ihre Wut richtet sie gegen Gilbert
und dessen Spiel, und sie wünscht sich, das Ganze sei bloß ein Film gewesen. Sie realisiert
allerdings, dass dem nicht so ist, und reine Traurigkeit breitet sich in ihr aus. Doch das Gefühl
von Angst macht sich in ihr breit. Die Mischung von beidem scheint sie zu ersticken, doch
Noa schweigt und spricht mit keinem darüber.605 Sie macht sich nicht auf die Suche nach
David, muss aber jede Sekunde an ihn denken. Sie sieht David erst wieder, als sie diesen zu
Krümels Rettung herbeiruft. Beide sprechen nicht miteinander, Noa kann David nur zu-
schauen, wie er seinen Bruder rettet. Abermals bleibt Noa alleine zurück. Sie empfindet „Mit-
leid, Angst, Bewunderung und Mut“606 für David, doch Noa kann dies alles nicht verarbeiten,
sodass sich abermals ein Knoten in ihr bildet, der ihr das Atmen schwer macht. Wieder

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
600
Vgl. Straub, Garz, Krüger S.9.
601
Vgl. Whisper S.48.
602
Vgl. ebd. S.54.
603
Vgl. ebd. S.59.
604
Vgl. ebd. S.66f.
605
Vgl. ebd. S.69ff.
606
Vgl. ebd. S.93.

161!
!
entschließt sich Noa zu gehen.607 David meldet sich später nachts an ihrem Fenster und
möchte sie als Entschädigung für sein Verhalten zum Sternebeobachten einladen. Anfangs
versucht sich Noa vehement gegen ihre aufsteigenden Gefühle für David zu wehren und
verweigert anfangs seine Einladung, doch ein Lächeln überzeugt sie dennoch. Als Noa die
Matratze in seinem VW-Bus entdeckt, reagiert sie jäh. Sie kann ihre Gefühle und Gedanken
in dem Moment nicht artikulieren, so gerne sie etwas gesagt hätte. Anstelle dessen kann sie
sich bloß am Türgriff festkrallen. Ihre Kehle ist wie zugeschnürt, und ihr vergangenes Trauma
mit Heiko lähmt sie. Die Kommunikation misslingt ihr gänzlich, sie kann nur innerlich flehen,
keine Fragen gestellt zu bekommen. David spricht beruhigend auf sie ein, und sie fährt
schließlich mit.608
Bis zu diesem Moment ist ersichtlich, dass es Noa schwerfällt, Menschen zu vertrauen. Durch
das zerrüttete Verhältnis zu und mit ihrer Mutter hat sie einen ungesunden Schutzmechanis-
mus aufgebaut. Ihre Kommunikation misslingt, da sie ihre wahren Gedanken und Gefühle
ihrer Mutter gegenüber nie geäußert hat, anstelle dessen hat sie sich einen Selbstschutzme-
chanismus angelegt, bei welchem sie jegliche Reflektion über Probleme ignoriert und sich
lieber alleine zurückzieht, um möglichen Problemen aus dem Weg zu gehen. Davids Rolle ist
in diesem Zusammenhang zunächst einmal die des „Enablers“, das heißt, dass er derjenige ist,
der diese Reaktionen und Gefühle in Noa auslöst bzw. hervorruft. Durch David werden diese
Probleme erst sichtbar und gelangen zumindest anfangs kurzfristig in Noas Wahrnehmung.
Gleichzeitig ist aber auch David derjenige, der Noa eine Alternative zu ihrem Verhalten bie-
tet.
So kommt es, dass Noa bei der Besichtigung des Dachbodens erstmals nach Davids Hand
greift, um ihre Nervosität und Angst zu überwinden, eine Geste, die für Noa neu ist, hat sie
ihre Verletzlichkeit doch nie öffentlich gezeigt. Sie hält sich regelrecht an David fest und
gesteht, Höhenangst zu haben, weshalb sie es nicht verträgt, wenn David sich über den
Abgrund hängen lässt. Als sie sich beim Öffnen von Elizas Truhe auch noch einen Splitter
zuzieht, ist sie auf Davids Hilfe angewiesen. Noa ist nicht gegen Tetanus geimpft, sodass sich
der Splitter nicht infizieren darf, weshalb David ihn herauszieht und ihr Blut vom Finger
lutscht. Noa zeigt sich hier zum ersten Mal schutzlos und schwach, und anders als zuvor läuft
Noa nicht weg, sondern lässt sich helfen.609
So ist es auch Davids Verhalten vor der Kamera, als sie Elizas Film vollknipsen, das Noa über
ihr eigenes Verhalten reflektieren lässt. Während David sich vor der Kamera nicht in Pose

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
607
Vgl. ebd.
608
Vgl. ebd. S.98ff.
609
Vgl. ebd. S.113ff.

162!
!
setzt, sondern ganz natürlich und gelassen bleibt, erkennt Noa, dass sie selbst hinter die
Kamera flüchtet, um nicht ihre wahren Gefühle Preis geben zu müssen. Als David ihr in dem
Moment mitteilt, dass er sie küssen möchte, blockt Noa ab. Auf den Moment einer Erkenntnis
folgt sofort ein Moment des Dichtmachens, da Noa sich als schwach erkannt hat, was sie
nicht möchte. Aus Selbstschutz antwortet Sie nicht und ist auch nicht fähig, David anzusehen.
Ihre Füße werden schwer wie Blei, und obwohl sie ja denkt, fühlt sie nein. Die Angst
beherrscht sie wieder, sie reagiert schroff und verschränkt ihre Arme.610
Durch Davids Direktheit und Ehrlichkeit wird Noa deutlich, dass sie ihr Trauma mit Heiko
noch nicht verarbeitet hat. Dieses Trauma ist die Quelle ihrer emotionalen Reaktion, doch es
gelingt ihr nicht, dies zu artikulieren. Anders als Kat reagiert David keineswegs abweisend,
sondern gibt ihr sanft zu verstehen, dass er ihr nicht den Rücken kehrt, sondern den Ursachen
auf den Grund gehen möchte, ohne sie allerdings zu bedrängen. Dies ist für Noa scheinbar das
erste Mal, dass sich jemand ihrer Probleme annimmt bzw. sie ernst nimmt, und nicht wie Kat
alles übergeht. Noa gibt schließlich auf, gegen David bzw. ihre Angst anzukämpfen und lässt
sich auf den Kuss ein, wobei beide allerdings von Gilbert gestört werden.
Auch wenn es nicht zu einer Artikulation ihres Traumas kommt, so wird Noa zumindest
bewusst, dass dieses die Ursache ihres Problems ist. Das erklärt auch, weshalb ihr Kopf dem
Kuss gegenüber positiv eingestimmt ist. Durch Davids Reaktion scheint in Noa ein Damm zu
brechen, denn zum ersten Mal geht jemand auf sie zu und bleibt bei ihr, läuft nicht weg.
Dieser Moment wird für Noa zu einem Schlüsselerlebnis, da sie sieht, dass es jemanden gibt,
der sie auffangen möchte. Allerdings begleitet sie immer noch die Angst, dass dies nur von
kurzer Dauer sein könnte, was auch erklärt, weshalb sie sich, obwohl es nicht zum eigent-
lichen Kuss gekommen ist, schwindelig vor Glück und Angst fühlt.611 Als sie David dann
auch noch mit einem anderen Mädchen in der Stadt sieht, scheint sich ihre Angst zu
bestätigen, und eine schmerzhafte Leere breitet sich in ihr aus, meint sie doch, dass ihr Ver-
trauen missbraucht wurde. Durch dieses Erlebnis kommt es erstmals zu einem Gespräch
zwischen Mutter und Tochter. Als Kat ihre Tochter drängt, über deren Gefühle zu sprechen,
gelingt es Noa, das erste Mal mit ihrer Mutter tatsächlich zu kommunizieren, vor allem, da es
sich um einen Gefühlsausbruch handelt. Noa artikuliert das erste Mal, dass sie sich von Kat
vernachlässigt fühlt und es nie eine Vertrauensbasis zwischen Mutter und Tochter gegeben
habe.612 Ist es Noa bis dahin nicht gelungen, über ihr Trauma zu sprechen, so kommt es hier
zu einer explosionsartigen Entladung ihrer Gefühle. Noa fasst in Worte, was für sie als Kats

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
610
Vgl. ebd. S.122ff.
611
Vgl. ebd. S.124.
612
Vgl. ebd. S.132ff.

163!
!
Tochter problematisch war bzw. ist. Sie konfrontiert somit nicht nur ihre Mutter damit,
sondern auch sich selbst. Sie erkennt, dass diese Vernachlässigung der Kern ihres Problems
ist, mit ihrer Mutter aber auch mit sich selbst. Diese Erkenntnis ist allerdings nur möglich, da
sie David kennen gelernt hat und durch ihn eine Alternative geboten bekam, wie man mit
einem Menschen umgehen kann. Durch David hat sie Momente des Vertraut Seins kennen ge-
lernt, die sie bisher nicht kannte und auch Neues über sich erfahren bzw. sich Verhaltenswei-
sen eingestanden, was bisher nicht geschehen war.
Noa hat allerdings nur einen Teilerfolg erzielt, denn mit David ist sie nicht im Reinen, meint
sie doch, er habe ihr Vertrauen missbraucht. Als David nichtsahnend Noa in der Dunkel-
kammer überrascht, schlägt sie ihn, empfindet allerdings sofort Scham, als sie von David die
Wahrheit über das Treffen mit dem Mädchen erfährt. Noa sieht ein, dass sie falsch gehandelt
hat, doch nun ist es David, welcher sich zurückzieht. Dies löst in Noa ein Durcheinander von
Fragen aus, allerdings weiß Noa nicht, was sie David fragen soll, um die Situation unge-
schehen zu machen. 613 Hier erfolgt dank David ein nächster Schritt in Noas Verhalten:
Anstelle zu schweigen und sich zurückzuziehen, macht sich Noa Gedanken über ihr Verhalten
und ein Reflexionsprozess beginnt. Das Gefühl der Scham zeigt das Vorhandensein eines
Bewusstseins, dass an ihrem Verhalten etwas falsch ist und es dieses zu bekämpfen gilt. Dies
geht einher mit Noas Erkenntnis, ein Talent dafür zu haben, sich selbst alles zu verderben.614
Durch David und seinen Abstand lernt Noa, was es heißt, sich nach jemanden zu begehren
und dass es schmerzt, jemanden zu lieben, ein Gefühl bzw. eine Erfahrung, die Noa per se nie
mit ihrer Mutter gemacht hat. Außerdem toben die Gefühle in ihr.615
David zuliebe spricht sie mit dessen Mutter und fragt diese über Eliza aus. Als Dank erhält sie
von David einen Kuss, und sie spürt das Verlangen, das sie nach ihm hat. Außerdem fühlt sie
sich eins mit David.616 Es ist das erste Mal, dass Noa etwas für jemand anderen tut und nicht
zu ihrem eigenen Nutzen. Außerdem gibt sie die Leitung ab und lässt es zu, dass David den
Moment des Kusses bestimmt, und sie lässt sich schließlich auf den Kuss ein. Dadurch, dass
sie sich ohne Erwartungen und Anforderungen einem Menschen hingibt, kann sich Noa
öffnen und Neues entdecken. Sie lernt wieder zu lachen und was es heißt, Freude mit einem
anderen Menschen zu teilen. Noa öffnet sich emotional und scheint alle Scheu verloren zu
haben. Sie gesteht sich selbst ein, dass sie dieses Gefühl fast vergessen hatte.617

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
613
Vgl. ebd. S.141ff.
614
Vgl. ebd. S.149.
615
Vgl. ebd. S.160f.
616
Vgl. ebd. S.165ff.
617
Vgl. ebd. S.171.

164!
!
Als David sie allerdings am Bikini berührt, zieht sich Noa abermals zurück und wird ganz
starr. Dieses Verhalten wäre eigentlich fatal, da Noa riskiert, in alte Muster zu verfallen, doch
es ist abermals David, der ihr hilft, anders damit umzugehen. Anders als Kat verschließt sich
dieser nicht, gibt Noa aber mittels eines hinterlassenen Zettels zu verstehen, dass auch sie
dafür Verständnis und Geduld haben müsse, dass er ihr Verhalten nicht einfach hinnehmen
könne.618 Er teilt Noa mit, dass sie nicht alleine in einer Situation ist, dass es, vor allem in
einer Beziehung, ein Miteinander gibt und ein gegenseitiges Vertrauen notwendig ist, damit
man einander verstehen und helfen kann. Dies beweist David ihr, als er trotz seiner
Verletztheit und vielleicht auch seinem Stolz über seinen Schatten springt und zu ihr zurück-
kehrt, gerade in dem Moment als Noa von Dennis und dessen Freunden umzingelt wird. Noa
erfährt zum einen, dass es wichtig ist, den Anderen auch in seiner Andersheit zu akzeptieren.
Sie erfährt andererseits aber auch, was es heißt, sich auf jemanden, auch in einer brenzligen
Situation, verlassen zu können. Sie bricht schließlich ihr Schweigen über das Vorkommnis
mit Heiko und öffnet sich David. Noa erkennt, dass man nichts totschweigen kann.619 Noa ist
es somit gelungen, ihr wohl wesentlichstes psychologisches Problem endgültig zu
überwinden: Sie vertraut, indem sie über Heiko spricht. Dadurch lässt sich Noa auf ein
Abhängigkeitsverhältnis ein, das es bis dorthin in ihrem Leben nicht gegeben hat. Dies ist ein
weiterer Fortschritt für Noa, da sie dadurch zugibt, jemanden zu brauchen. Dies bestätigt sich,
als sie David bittet, bei ihr zu übernachten.620 Als sie Beobachterin beim Schweineschlachten
ist, läuft sie förmlich zu David, um mit ihm über dieses schockierende Erlebnis zu sprechen
und stellt fest, dass das Schreckliche geringer wird, wenn man es mit jemandem teilt.621 Den
Abschluss von Noas Reflexionsprozess bildet Noas Sprung in Davids Arme, sozusagen ihre
Abschlussprüfung, in der sie zeigt, was sie „gelernt“ hat. Noa befindet sich in Esthers Ge-
fangenschaft und verspürt abermals enorme Angst, doch sie lässt sich nicht von dieser
beherrschen. Um sich zu retten muss sie David blind vertrauen und den Abgrund hinab-
springen, was Noa schließlich tut.622 Sie durchlebt die Angst, überwindet sie und zeigt, dass
sie durchaus fähig ist, jemandem zu vertrauen. Gleichzeitig kann sie die Angst nur über-
winden, weil sie weiß, was ihre Angst ausmacht.
Noa schließt mit ihrem alten Ich ab und akzeptiert sich so, wie sie ist. Den Neuanfang besie-
gelt sie schließlich damit, dass sie mit David schläft.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
618
Vgl. ebd. S.175.
619
Vgl. ebd. S.182.
620
Vgl. ebd. S.184.
621
Vgl. ebd. S.200.
622
Vgl. ebd. S.270f.

165!
!
Folglich ist es Noa dank David gelungen, ihre innere Fremde zu überstehen, indem sie sie
konfrontiert. Durch David und seine Andersheit erkennt Noa ihre innere Fremde und muss
feststellen, dass diese Fremdheit in ihr selbst beginnt und nicht von außen kommt. Dadurch,
dass David durch seine Art, wie er ist und mit ihr umgeht, auf Noa wirkt, greift das Andere in
das Fremde ein, setzt sich davon ab, ergänzt es aber auch und lässt Noa Neues lernen, indem
sie sich selbst unterschiedlich erfährt. Das Fremde wandelt sich zum Vertrauten und wird
somit zum Eigenen.623 Durch David und das Andere wird Noas Selbstverständnis aufge-
brochen und ist Noa als „Arbeitspotential“ verfügbar, welches kommunikativ und handelnd
genutzt werden muss, um sich differenziert wahrnehmen zu können. Nur so kann Noa David
und schließlich sich selbst näher kommen.624

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
623
Vgl. Yousefi S.35.
624
Vgl. ebd.

166!
!
8.4. Die Dachbodenmetapher

Interessant ist anzumerken, dass Abedi Elizas Geschichte auf dem Dachboden spielen lässt.
Die räumliche Metapher kann man meines Erachtens doppelt deuten. Einerseits ist sie negativ
beladen, da man mit dem Dachboden die Vergangenheit assoziiert. Es ist der Ort, an dem die
Möbel der Vormieter verstaut sind, vernachlässigt und / oder vergessen. Außerdem befindet
sich dort Elizas Truhe sowie ihre rote Chaiselongue, auf welcher sie Robert verführte und
Gustaf hereinlegte, Elemente ihres verhängnisvollen und bösartigen Spiels. Zudem wurde
Eliza auf dem Dachboden aus Rache bzw. falschem Gerechtigkeitsgefühl von Esther ermor-
det. Der Ort ist demnach negativ belastet und birgt schlechte Erinnerungen der Familie Stein-
berg.
Andererseits kann man den Dachboden durchaus als positiven Raum bezeichnen. Zwar
assoziiert man mit dem Ort wie oben beschrieben Verdrängtes, doch dieses kann man durch-
aus positiv nutzen.
Als Raum per se kann der Dachboden als Bild von Noas eigener Entstaubung der Vergangen-
heit gedeutet werden. Indem sie sich auf den Dachboden traut, überwindet sie eine erste Stufe
ihrer inneren Fremde, weil sie sich dafür bereit zeigt, Fragen nachzugehen bzw. aufzuwerfen
(zunächst im Kontext von Elizas Mord). Auf dem Dachboden wird ihr Drang für das Suchen
nach Antworten ausgelöst. Auch begibt sie sich nicht alleine auf den Dachboden, sondern
gesteht vor David Schwäche ein und zeigt sich auf dessen Hilfe angewiesen. Auf dem Dach-
boden gibt sich Noa erstmals kommunikativ. Und es ist schließlich der Ort, an dem Noa
schlussendlich ihre eigene Angst definitiv besiegt, indem sie sich in vollem und blindem
Vertrauen auf Rettung den Abgrund hinabstürzt. Der Dachboden nimmt somit als Raum für
Noa eine Schlüsselrolle ein, weil es der Ort ist, an dem Noa unbewusst ihre ersten Schritte in
Richtung Konfrontation mit dem Fremden (fremde Mutter wie innere Fremde) macht. Der
Dachboden wird im Grunde für Noa zum erlebten Raum, im Sinne von Proberaum, weil sie
dort ihre Rolle verändert und Neues ausprobiert. Der Dachboden wird sozusagen das
Springbrett zu ihrem Selbst.

167!
!
168!
!
8.5. Schlussfolgerung

Folglich ist die Mutter als Fremde das Produkt von Noas Verdrängung.625 Indem Noa die
Mutter als Problem betrachtet, zieht sie eine Grenze gegenüber ihrem Eigenen.626 Und ohne
den daraus resultierenden Konflikt mit Kat wäre es Noa nicht möglich, Eigenes und Fremdes
zu unterscheiden, weshalb der Konflikt selbst Voraussetzung dafür ist, dass sich Noa mit sich
selbst konfrontieren und aus dieser Konfrontation Neues entstehen kann.627 Dies geschieht
allerdings nicht von einem Moment zum anderen, sondern es folgt ein Prozess, bei welchem
eine Vielzahl von Widerständen zu bewältigen ist.628 Folglich stellt die Fremde in Form der
Mutter einen konstitutiven Moment dar, der Noa in ihrem Eigenen herausfordert.
Dem Anderen kommt in Form von David schließlich eine vermittelnde Rolle zu, indem er
Noa hilft, die Differenz zwischen ihrem Eigenen und ihrer inneren Fremde zu ebnen.629 Er
hilft ihr zu erkennen, wie wesentlich Vertrauen und Kommunikation sind, um sich der inneren
Fremde zu stellen und diese zu überwinden.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
625
Vgl. Erdheim, S.26.
626
Vgl. Messerschmidt S.220.
627
Vgl. Erdheim S.29.
628
Vgl. ebd. S.30.
629
Vgl. Waldenfels Phänomenologie S.79.

169!
!
170!
!
!

9. Fazit

Der Begriff fremd weist wohl aufgrund des ständigen Wandels des Verständnisses von
Fremdheit einen scheinbaren Mangel an begrifflicher Klarheit auf, dies vor dem Hintergrund
630
der historischen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen. Gerade die
beschleunigte Dynamik der Entwicklung hin zu globalisierten, pluriformen und individuali-
sierten Gesellschaften631 zeigt, dass das sogenannte „eine“ Fremde nicht eindeutig zu defi-
nieren ist. Doch den hier ausgewählten Theorien und Ansichtsweisen ist gemein, dass Fremd-
heit ein relationaler Begriff ist, der sich immer auf ein Eigenes (bzw. eine bestimmte Ord-
nung, einen bestimmten Kontext)632 bezieht633, somit gibt es das Fremde an sich nicht634.
Die Darstellung der verschiedenen Theorien im Forschungsüberblick hat es auf rekonstruktive
Weise ermöglicht, einen Bedeutungshintergrund für die Bearbeitung der Jugendromane
Abedis zu erstellen. Durch die Zusammenführung der dargestellten Theorien konnte „die
wechselseitige Verwiesenheit von Eigenem und Fremdem“635 herausgearbeitet werden, auch
wenn die einzelnen Theorien unterschiedliche Schwerpunkte haben.
Dabei erweist sich das Fremde in jeglicher Form immer als Herausforderung für die Identität,
da es das Eigene in Frage stellt. Gleichzeitig ist die Begegnung mit dem Fremden aber auch
wesentlich für die individuelle Entwicklung. Das Fremde hat etwas Überraschendes: Es taucht
auf und seine Erscheinung erstaunt, erschreckt, verlockt oder aber verängstigt.636 Das Fremde
kann allerdings nur dann fruchtbar gemacht werden, wenn man sich mit dem Fremden
auseinandersetzt. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass man das Fremde konfrontiert und es
zu identifizieren versucht. Danach ist es der Entschluss eines jeden Einzelnen, ob er dazu
bereit ist, sich auf einen neuen Weg aufzumachen, wobei er zunächst das Vertraute
zurücklassen muss, um sich mit etwas Unvertrautem auseinanderzusetzen.637
Erst durch das Fremde ist schließlich eine Selbstfindung möglich.638 Dabei muss jeder für sich
entscheiden, ob man das ursprünglich Fremde in das Eigene integrieren, also überführen
möchte, ob man es ergänzend nutzt oder ob man es verstößt. Integriert oder ergänzt man es in
das Eigene, so stellt sich das Fremde als etwas Relatives heraus, das nur vorübergehend ist
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
630
Vgl. Wilden S.276.
631
Vgl. Büker S.7.
632
Vgl. Wilden S. 268.
633
Vgl. Anna Caroline CÖSTER, Max MATTER (Hg.), Fremdheit und Migration. Kulturwissenschaftliche
Perspektiven für Europa, Tectum Verlag, Marburg 2011, S.5.
634
Vgl. Wilden S.268.
635
Wilden S. 16.
636
Vgl. Bernhard WALDENFELS, Essay: Fremdheit, Gastfreundschaft und Feindschaft, In:
http://www.information-philosophie.de/?a=1&t=219&n=2&y=1&c=1 (Zugriff: 21.04.2015). Von nun an zitiert
als Waldenfels Essay.
637
Vgl. Clausen S.201. Clausen benutzt hier symbolisch das Reisemotiv.
638
Vgl. ebd. S.204.

!
und somit sozusagen überwunden werden kann, wodurch die Identität bestärkt wird. Verstößt
man es allerdings, bildet sich daraus eine radikale Fremdheit, das heißt, man schließt das
Fremde sozusagen aus, man zieht eine Grenze.639
Um die Fremdheit zu konfrontieren, bedarf es häufig der Hilfe des Anderen. Anders als das
Fremde ist das Andere nicht unvertraut, es entzieht sich einem nicht, sondern es zeichnet sich
durch seine Differenz aus. Dabei kann es durchaus Gemeinsamkeiten geben. Dieses Andere
trägt einerseits dazu bei, dass man das Eigene aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und
dadurch ein verändertes Bewusstsein erhält. Andererseits kann es aber auch als Korrektiv
wirken, indem es Einfluss auf das Eigene nimmt. Dadurch, dass zwischen dem Eigenen und
dem Anderen eine Interaktion entsteht, kann das Andere dazu beitragen, dass das Fremde
konfrontiert wird. Dabei stellt das Andere eine Distanzform (im Sinne eines Orientierungs-
punktes) zwischen Eigenem und Fremdem dar. Das Andere hebt das Eigene auf eine Art
Metaebene, auf welcher, bedingt durch den Abstand, das Eigene das Fremde anders
wahrnehmen kann. Nur der optimale Abstand bzw. Kontrast kann schließlich zu einer Er-
kenntnis des Fremden (und der möglichen Relevanz für das Eigene) führen.640
Des Weiteren trägt auch der Raum zur Vermittlung zwischen Fremdem und Eigenem bei.
Zum einen bietet der Raum einen Ort, an dem sich ein Individuum bewegen kann und an
welchem es dem Fremden zunächst einmal begegnet. Dem Raum kommt somit eine
lokalisierende Funktion zu. Gleichzeitig ist es aber auch der Raum, der dem Individuum erst
die Erfahrung von Fremdheit ermöglicht, woraufhin ein Konfrontationsprozess stattfinden
kann, d.h. der Raum übernimmt eine funktionale Rolle, indem er ein Bewusstsein für Fremdes
schafft und eine Handlungsmöglichkeit bietet. In der Auseinandersetzung mit dem Fremden
verkörpert der Raum eine Art Durchgangsstadium, das wesentlich ist, um das Fremde zu
überwinden und eine Aushandlung zwischen Eigenem und Fremden voranzutreiben.
Am Ende dieses Prozesses steht die eigene Identität des Menschen, denn durch die
Herausforderung des Fremden erhält das Individuum Einsicht in sein Selbst. Damit es zu
einer möglichen (Weiter-) Entwicklung des Selbst kommt, muss allerdings vorausgesetzt sein,
dass das Fremde affektiv verstanden wurde.641
Aus dem hier Dargelegten wird ersichtlich, dass sich das Fremde schließlich als ein Konzept
fassen lassen kann, welches vielleicht gerade wegen der Begriffskomplexität keineswegs
objektiv ist. Es ist das Relationale, das dieses Konzept trägt und aufweist, wie das Fremde

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
639
Waldenfels Essay.
640
Vgl. Heinerth.
641
Vgl. Ulrike GREINER, Der Spur des Anderen folgen?, Religionspädagogik zwischen Theorie und
Humanwissenschaften, LIT Verlag, Münster 2000, S.50.

172!
!
bzw. die Fremderfahrung durch die Begegnung Beunruhigung auslöst, die bis tief in das
Innere eines Menschen dringen kann und das individuelle Handeln beeinflusst. Die Kontrast-
erfahrung zwischen Eigenem und Fremden führt schließlich zu einer Konfrontation, die zu
einer Interpretation der Situation führt, welche entweder die Integration des Fremden be-
günstigt oder es ausschließt bzw. entfernt. Folglich handelt es sich um ein äußerst konflikt-
trächtiges Konzept, welches enormen Einfluss auf die Identitätsentwicklung haben kann und
seinen Einfluss nur durch das Beziehungsverhältnis zwischen Eigenem und Fremden erhält.642
Die Suche nach dem Eigenen ist das zentrale Thema in Abedis Jugendwerken. Das Fremde
irritiert die Protagonisten und spornt sie somit zu einem Suchprozess an, der schließlich in
einer Art Selbstfindung endet. Dabei taucht das Fremde in allen vier Jugendromanen in einer
gewissen Entzugsform auf, d.h. es identifiziert sich als einen Mangel (Frage nach Nationalität
und Namen, Riss im Inneren, Abwesenheit des Vaters, keine Beziehung zur Mutter). Um mit
Waldenfels zu sprechen, drückt sich dieser Mangel wie folgt aus:

„(...) als etwas, das uns nicht oder noch nicht zugänglich und verständlich ist. Es bekundet sich
als etwas, das sich der eigenen oder der gemeinsamen Verfügung ebenso entzieht wie den
Rastern der jeweiligen Ordnung. Fremdes zeigt sich, indem es auf uns einwirkt, indem es aus
der Ferne auf uns zukommt und sich in die Ferne zurückzieht, indem es „leibhaftig abwesend“
ist ”643 .

Dieser Mangel irritiert die Protagonisten sichtlich, weshalb sie versuchen, den Mangel zu
beheben (Reise über Isola nach Brasilien, Versuch, Informationen über Lucian herauszu-
finden, Besuch der Ausstellung Vaterbilder, mit der Mutter in einem Ferienhaus leben). Dabei
begeben sie sich auf eine Suche, die entweder in Form einer Reise (Isola, Lucian, Imago) oder
in Form einer Beschäftigung mit etwas Ähnlichem (das Aufdecken des Mordes in Whisper)
auftritt. Sie durchlaufen mehrere Stadien der Konfrontation. Die Konfrontation mit dem
Fremden läuft keineswegs geradlinig ab, sondern die Protagonisten erleiden immer wieder
Rückschläge (der Mord in Isola, die Trennung von Lucian, das Attentat auf Taro und Mischas
Zurückbleiben in Imago, das Misstrauen in David in Whisper) oder werden von Zweifeln
begleitet. Sie selbst stehen sich meist mit ihren Ängsten im Weg und nur ein Hinauswachsen
über sich selbst führt schließlich dazu, das Fremde doch dem Eigenen gegenüberzustellen.
Dies gelingt den Protagonisten allerdings nie alleine, sondern sie sind auf die Hilfe des
Anderen (Sólo, Lucian, Mischa und David) angewiesen. Das Andere weist ihnen nicht nur
Alternativen auf, sondern hilft ihnen zudem, sich dem Fremden zu nähern. Der aus der
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
642
Vgl. ebd. S.38ff.
643
Heinerth.

173!
!
Konfrontation resultierende Prozess endet schließlich in der Annahme des Fremden und der
Integration des Fremden in das Eigene (Akzeptanz der brasilianischen Vergangenheit,
Wechselseitigkeit als Entwicklungsantrieb, Treffen mit dem Vater und die Mutter als andere
und doch ähnliche Person wahrzunehmen). In allen vier Jugendromanen ist das Verständnis
von Fremdheit die Grundlage für eine bewusste und reflektierte Positionierung, die elementar
für die Anerkennung und die Akzeptanz von Pluralität und Heterogenität im Selbst ist.644

Kritisch anzumerken ist allerdings, dass in Abedis Jugendromanen jegliche Konfrontation mit
dem Fremden letztendlich von Erfolg gekrönt ist und einen positiven Aneignungsprozess
darstellt. Die dargestellte Fremdheit ist immer nur relativ, nicht radikal. Dies entspricht
allerdings nicht der Realität, denn Fremdheit wird nicht immer angepasst oder angeeignet und
auch nicht alle Störfaktoren werden ausgemerzt. Phänomene wie Rassismus und Fremden-
hass, um nur einige zu nennen, belegen, dass das Fremde keineswegs nur vorläufig bzw. vor-
übergehend ist, dass es auf Dauer nicht überwunden werden kann. Zudem setzt Abedi voraus,
dass alle ihre Heldinnen das Fremde bewältigen möchten, alle haben den Willen dafür, alle
zeigen sich als bewusst Suchende. Doch was ist, wenn jemand diesem Fremden gleichgültig
begegnet? Oder gar feindlich? Nicht jeder pubertierende Jugendliche zeigt sich bereit, offen
und tolerant gegenüber Fremdem und bevorzugt, es zu ignorieren bzw. verweigert aus Trotz
oder Protest jegliche kritische Reflexion. Zudem befindet sich nicht jeder Mensch in einer
förderlichen Situation. Im Gegenteil, es gibt Jugendliche, deren Lage ist äußerst desolat und
perspektivlos. Man denke an Mischa, welcher in sehr ungünstigen Familienverhältnissen lebt,
mit einer depressiven Mutter und einem Stiefvater, der ein brutaler Alkoholiker ist. Ohne
Wanja hätte Mischa wohl nie daran gedacht, diesen Mann zu konfrontieren und hätte so nie
die Wahrheit über seinen leiblichen Vater erfahren.
Und auch das Andere muss nicht immer als positiver Helfer gesehen werden, das Andere
kann das ablehnende Gefühl gegenüber dem Fremden auch verstärken. Oder aber eine Person
sucht das Andere gar nicht auf.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Abedi lediglich weibliche Protagonistinnen ausgewählt hat,
die alle von männlichen Personen, die das Andere repräsentieren, begleitet werden. Es wäre
sicherlich auch interessant gewesen, die Erfahrungen aus der Perspektive eines Jungen zu le-
sen, um zumindest vergleichen zu können, ob Geschlechter unterschiedlich handeln und ob es
Parallelen gibt, was wiederum förderlicher für eine Nutzung der Romane im Unterricht wäre.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
644
Vgl. Wilden S.275f.

174!
!
Wie man sieht, fallen die Kritikpunkte eher minimal aus. Alles in allem sind die Jugendwerke
inhaltlich abgerundet und bleiben sich in ihrem Ablauf treu. Außerdem ist es nicht Abedis
Absicht, den Lesern Lösungen zu bieten, vielmehr sollen die Romane ein Modell darstellen,
in welchem den Lesern Verhaltensoptionen aufgezeigt werden, welche Relevanz diese für den
Einzelnen und die Gesellschaft haben können und welche Konsequenz diese mit sich bringen
können. Aufgrund des ähnlichen Ablaufs der Jugendwerke kann man nicht nur inhaltlich von
einem Konzept sprechen, sondern Abedi zeigt ihren Lesern, wie das Fremde als Konzept ge-
nutzt werden kann, um positive Auswirkungen zu erzielen und dadurch zum Nachdenken
über das Fremde anregt.

175!
!
176!
!
!

10. Ausblick

Die Jugendromane von Isabel Abedi weisen auf, wie vieldeutig Fremdheit sein kann und je
nachdem in welcher Form man darüber nachdenkt, kann dies praktische Konsequenzen
haben645, im Erleben von Fremdheit aber auch im Umgang mit Fremdheit. Ohne Fremdheit
kann der Mensch nicht lernen, sich mit sich selbst oder der Welt auseinanderzusetzen und das
Potential der Erkenntnisgewinnung durch Fremdheit käme abhanden. Hinsichtlich meiner
Funktion als Lehrerin ist es für mich durchaus von Interesse, kurz auf das didaktisch-pädago-
gische Potential der Jugendromane einzugehen. Gerade aufgrund der vorherrschenden Fremd-
heitsthematik können die Jugendromane als Medium für die Betrachtung und Reflexion sowie
für die Entfaltung von Fremdverstehen im Unterricht eingesetzt werden. Doch bevor ich dies
kurz vertiefe, ist es meines Erachtens wichtig, auf die soziale wie kulturelle Situation in Lux-
emburg einen Blick zu werfen, um mein Anliegen zu untermauern.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
645
Vgl. Robert HETTLAGE, Fremdheit und Fremdverstehen, Ansätze zu einer Angewandten Hermeneutik, In:
Archiv für Kulturgeschichte: AKG 70, 1988, S. 195-222, hier S.195.

!
178!
!
10.1. Luxemburgs Sonderstellung

Gerade für Luxemburg spielt der Begriff „fremd“ eine wichtige Rolle aufgrund der hohen wie
vielfältigen Zuwanderung, die im Zuge der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhun-
derts stark zunahm, und dem daraus resultierenden extensiven Wachstum der Bevölkerung.
Folglich müssen sich heute Staatsangehörige sowie Personen ausländischer Staatsangehörig-
keit mit der komplexen sprachlichen und kulturellen Situation in Gesellschaft und Schule
auseinandersetzen. Luxemburg verfügt über drei offizielle Landessprachen: Deutsch, Fran-
zösisch und Luxemburgisch. Diese Triglossie ist einzigartig in Europa.646 Ihr Gebrauch ist
geographisch, historisch und politisch begründet. Hinzu kommt die kontinuierliche Zuwan-
derung, welche das Land kulturell wie sprachlich ergänzt. Luxemburg ist demnach wie kein
anderes Land auf der Welt durch Multikulturalität und Mehrsprachigkeit geprägt: Nicht nur,
dass sich beide ergänzen, sondern sie bedingen sich gegenseitig.647
Das Besondere an Luxemburg sind die demografischen und sozialen Entwicklungen, vor
allem die der letzten vier Jahrzehnte, dies bedingt durch die wirtschaftliche Entwicklung.648 In
Luxemburg leben heute ungefähr 549 700 Einwohner, davon sind 300 800 Luxemburger und
248 900 Ausländer.649 Will man zwischen den Herkunftsländern der nicht luxemburgischen
Anwohner differenzieren, so stellen die Portugiesen mit 90 800 Menschen den höchsten Aus-
länderanteil dar, gefolgt von 37 100 Franzosen, 18 800 Italienern, 18 100 Belgiern, 12 700
Deutschen, 5 900 Briten, 4 000 Niederländern sowie weiteren Bewohnern aus sonstigen EU-
oder Weltländern.650 Luxemburg verzeichnet mit 45,3% den höchsten Ausländeranteil im
Vergleich mit anderen europäischen Staaten.651 Zusätzlich besuchen uns täglich ungefähr 163
400 grenzüberschreitende Pendler.652

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
646
Fernand HOFFMANN, Sprachen in Luxemburg. Sprachwissenschaftliche und literarhistorische
Beschreibung einer Triglossie-Situation. Deutsche Sprache in Europa und Übersee. Berichte und Forschungen,
Franz Steiner Verlag GmbH, Wiesbaden 1979, S.1.
647
So äußert Peter Kühn, dass die Mehrsprachigkeit als „véritable langue maternelle des Luxembourgeois“ gilt.
(Vgl. Peter KÜHN, Bildungsstandards Sprachen, Leitfaden für den kompetenzorientierten Sprachenunterricht
an Luxemburger Schulen, MEN, Luxembourg 2008, S.16. Von nun an zitiert als Kühn.)
648
Vgl. Birte NIENABER, Ursula ROOS, Internationale Migranten und Migration in Luxemburg, In: http://gr-
atlas.uni.lu/index.php/de/articles/ge62/mi1184 (Zugriff: 19.06.3024). Von nun an zitiert als Nienaber, Roos. Als
Ursachen genannt werden hier u.a. die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, die Nachfrage im Bau- und
Landwirtschaftssektor nach dem 2. Weltkrieg, der Aufschwung und Bedeutungsverlust der Stahlindustrie, der
Aufstieg des Finanzsektors. (Vgl. ebd.)!
649
Vgl. STATEC, Le Luxembourg en chiffres, 2014, Imprimerie exe s.a., Troisvierges 2014, S.9. Es handelt sich
hierbei um Zahlen, welche der Schätzung vom 1. Januar 2014 zugrunde liegen. (Vgl. ebd.) Von nun an zitiert als
STATEC.
650
Vgl. ebd.
651
Vgl. ebd.
652
Vgl. ebd. S.12. Als Ursachen für die Grenzüberschreitung der Pendler sind die Deckung des
Arbeitskräftebedarfs sowie das höhere Gehaltniveau zu nennen. (Vgl. Nienaber, Roos).

179!
!
Diese Zahlen lassen sich durch mehrere Zuwanderungswellen erklären. Warb man in den
1960ger Jahren viele Portugiesen und Italiener mit einer häufig geringen Schulausbildung und
kaum Kontakt zu den Einheimischen653 für den Bau, die Reinigung, die Gastronomie und
häusliche Dienstleistungen654 an, so verpflichtete man im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts
immer zahlreichere kleine und mittlere Unternehmen, die von Ausländern in Luxemburg
geführt wurden, sowie auch immer mehr qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland655. In
den 1990ger Jahren kamen zusätzlich vermehrt Menschen aus den ehemaligen jugoslawischen
Ländern, dies vor allem aufgrund der dort herrschenden Bürgerkriege.656
Letztlich sind aber auch die in Luxemburg geborenen Kinder der ansässigen Ausländer zu
erwähnen, welche zum Wachstum Luxemburgs beitragen. Hinsichtlich ihrer Staatsangehörig-
keit sind sie nicht mehr nur geprägt durch eine Entweder-Oder-Zuordnung, sondern sie
können sich für eine Sowohl-Als-Auch-Zuordnung entscheiden, was die Nationalitätenvielfalt
in Luxemburg fördert. Diese Kinder mit Zuwanderungshintergrund, welche teilweise schon in
der vierten Generation hier in Luxemburg leben, ergänzen das Land durch ihre Schulab-
schlüsse nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich: Sie zeigen, wie sich trotz oder
gerade wegen Multinationalität der Abstand zwischen jungen Menschen mit Migrations-
hintergrund und jungen Menschen aus einheimischen Familien auflöst und Integration in ei-
ner Einwanderungsgesellschaft möglich ist.657
Luxemburg ist wirtschaftlich wie auch kulturell auf Ausländer angewiesen. Folglich sind
Zuwanderung und Diversifizierung ein fester Bestandteil Luxemburgs, was erklärt, weshalb
es vor allem in der Schule höchste Priorität hat, nicht nur Kinder mit Zuwanderungshinter-
grund sprachlich zu integrieren, sondern auch die Inter- und Transkulturalität zu fördern und
das Fremdverstehen und die Toleranz zu unterstützen.658 Gleichzeitig ist es aber auch für die
Gesellschaft wesentlich, sich mit Identität und Differenz auseinanderzusetzen und zu bestim-
men, inwiefern Überwindung, Akzeptanz oder Abgrenzung von Anderem, Fremden, Dif-

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
653
Vgl. Nienaber, Roos.
654
Vgl. Nienaber, Roos
655
Zum Beispiel Führungskräfte aus dem Finanzsektor und Funktionäre europäischer und anderer internationaler
Institutionen. (Vgl. Nienaber, Roos)
656
Andreas HEINEN, Die Jugend in der Südregion Luxemburgs, Zur Integrationsstudie in einer
Einwanderungsgesellschaft, Jugendforschung, November 2007, S.5-9, hier S.5, In:
http://www.forum.lu/pdf/artikel/6273_271_Heinen.pdf (Zugriff: 23.06.2014).
657
Andreas Heinen weist allerdings in dem Beitrag „Die Jugend in der Südregion Luxemburgs, Zur
Integrationssituation in einer Einwanderungsgesellschaft “ darauf hin, dass Tests wie PISA belegen, dass eine
Segmentierung zwischen luxemburgischen und nichtluxemburgischen Jugendlichen im Bildungsbereich
bestünde. Ergänzend hierzu ergibt Heinens Projekt, dass sich hinsichtlich der gesellschaftlichen Platzierung und
Positionierung nichtluxemburgischer Jugendlicher erhebliche Schwierigkeiten in Schule und Beruf wie auch in
der Freizeit erweisen. Auch meint Heinen, dass Bildungs- und Berufschancen intergenerational „vererbt“
werden.
658
Vgl. Kühn S.20.

180!
!
ferenz angebracht ist, um Schlussfolgerungen für ein interkulturelles Zusammensein ab-
zuleiten.
Durch die jahrzehntelange Migration und angesichts der hohen Ausländerpräsenz sollte man
in Luxemburg von einer ausländerfreundlichen Gesinnung ausgehen können, benötigen wir
als Land die Zuwanderer und Grenzgänger doch „als Notwendigkeit für das wirtschaftliche
Wachstum und zum Erhalt des eigenen Wohlstandsniveaus“659 wie auch für unsere kulturelle
Bereicherung. Doch das Ausländerphänomen wird in Luxemburgs eher ambivalent
wahrgenom-men und es gibt „verschiedene Einstellungen gegenüber dem Fremden“660. Wer
in Luxemburg lebt, verspürt unterschwellig ausländerfeindliche Stimmen. Nebst einer
gewissen Arbeitsplatzkonkurrenz spricht man von der Gefährdung der Sprache bzw. der
Kultur, gar von der Bedrohung der eigenen luxemburgischen Identität. Vor allem die
luxemburgische Sprache spielt in diesem Zusammenhang einen Identitätsmarker.661 Demnach
stellen sich viele Einheimische wie auch ansässige Ausländer die Frage, welcher Status ihnen
eigentlich in Luxemburg zukommt. Geprägt ist dieser oft emotionale Diskurs662 von Abgren-
zungsversuchen gegenüber anderen und der Frage nach Zuordnung.
Was bedeutet es also für einen Jugendlichen, in Luxemburg aufzuwachsen? Welchen Platz
hat das Fremde gerade im Hinblick auf das Zusammenleben von Kulturen und auf die
Konstituierung von Identität(en)? Vor dem Hintergrund dieser Nationalitätenvielfalt und der
Interkulturalität sollen Isabel Abdis Jugendromane als Plattform dienen, um einen differen-
zierenden Blick bezüglich des Umgangs mit dem Fremden bzw. Fremden zu ermöglichen.
Schließlich gehört es zu den Themen der Jugendliteratur „in einer zunehmend sich öffnenden
und nomadisierenden Welt“663, sich mit der Reflexion über das Eigene und das Fremde
auseinanderzusetzen. Dabei bezieht sich das Fremde hierbei nicht ausschließlich auf das
Äußere, sondern auch auf das Innere. Gerade weil Luxemburg nicht als monolithische-
monokulturale Einheit von Sprache, Literatur und Kultur verstanden werden kann, ist der
Verweis auf das Fremde ein zentraler Moment.664 Abedis Bücher können daher Modell stehen
für ein didaktisches Unterfangen in einem Land, das nebst seiner polyglotten Situation auch

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
659
Nienaber, Roos. Hier wird zudem das im Jahr 2008 gestimmte Immigrationsgesetz angeführt, um zu belegen,
wie ausländerfreundlich der Luxemburger Staat ist.
660
Honnef-Becker, Kühn, In: Honnef-Becker, Kühn S.7-14, hier S.9. Romain Sahr, der in dem gleichen Band
veröffentlicht hat, spricht von einer „diffusen Ausländerfeindlichkeit, die allerdings nicht gewaltsam oder
aggressiv ist“. (Vgl. Sahr, In: Honnef-Becker, Kühn S.107-134, hier S.128.)
661
Vgl. Christian WILLE, Vertraute Fremde. Repräsentationen und Status von Grenzgängern in Luxemburg.,
In: Interculture Journal, Jahrgang 10, Ausgabe 13, 2011, S.101-114, hier S.107.
662
Vgl. ebd.
663
Honnef-Becker, Kühn, In: Honnef-Becker, Kühn S.7-14, hier S.8.
664
Germaine GOETZINGER, Die Referenz auf das Fremde. Ein ambivalentes Begründungsmoment im
Entstehungsprozess der luxemburgischen Nationalliteratur, In: Honnef-Becker, Kühn S.15-26, hier S.16.

181!
!
ein klassisches Einwanderungsland665 ist. Folglich ist es interessant zu untersuchen, „wie die
komplexe Orientierungs-, Differenzierungs- und Selbstfindungsarbeit vor einem multilin-
gualen und multikulturellen Kontext in (...) [Abedis] Literatur dokumentiert ist“666. Dabei
macht die in den Jugendromanen vorhandene Referenz auf das Fremde den Anspruch Abedis
deutlich, einen Beitrag zur Verständigung von Kulturen667, aber auch zur Findung der eigenen
Identität zu leisten und soll den Leser zur Selbstreflexion zwingen und neue Perspektiven
eröffnen.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
665
Vgl. Honnef-Becker, Kühn, In: Honnef-Becker, Kühn, S.7-14, hier S.8. Dabei sei allerdings kritisch
angemerkt, dass die Wörter Fremdheit bzw. Fremde nicht mit Immigranten, Ausländern und/oder Flüchtlingen
gleichzusetzen sind. Dies wäre insofern problematisch, als dass dadurch die Mechanismen von
Fremdheitszuschreibungen und gesellschaftlicher Statuszuweisungen nicht beachtet würden. (Vgl. Aydin S.83.)
666
ebd.
667
Isabel Abedi selbst ist von unterschiedlichen Kulturen geprägt: Ihr Vater war Perser und ihr Ehemann ist
Brasilianer. Ihre Arbeitszeit teilt sie zwischen Hamburg und Los Angeles. (Vgl. http://www.isabel-
abedi.de/isabel_abedi.php, Zugriff: 30.06.2014)

182!
!
10.2. Abedis Jugendromane im Unterricht

Die in der Einleitung bereits erwähnten gesellschaftlichen Veränderungen sowie die


Sonderstellung Luxemburgs als multikulturelles und multinationales Land unterstreichen die
Herausforderungen und Anforderungen, die Jugendliche im Alltag begegnen und bewältigen
müssen. Gleichzeitig wird durch die Allgegenwärtigkeit von Fremdheit aber auch die gesamt-
gesellschaftliche Relevanz hervorgehoben, dass die Interaktion mit dem Fremden heute
selbstverständlich und unvermeidbar ist.
Fremdes durchzieht viele Bereiche des menschlichen Daseins668, und einen (praktischen)
Umgang damit zu lernen, können Abedis Jugendromane helfen. Diese greifen verschiedene
Facetten der Thematisierung des Fremden auf, sei dies in der Form einer Darstellung, einer
Auseinandersetzung oder einer Repräsentation des Fremden. Abedis Jugendwerke ermög-
lichen es, Perspektiven bzw. Anforderungen aufzugreifen, eigene Standpunkte zu reflektieren,
sich darauf einzulassen und ggf. mögliche Veränderungen und Einsichten zu erarbeiten.
In allen vier Jugendromanen sind Identifikationsfiguren vertreten, die sowohl dem weiblichen
wie dem männlichen Geschlecht gerecht werden. Zudem befinden sich alle Figuren - ähnlich
dem Ziellesepublikum - in der Adoleszenz, weshalb eine Sensibilisierung zur Empathie-
fähigkeit stattfinden kann. Indem die Schüler die Beweggründe für das Verhalten der
einzelnen Figuren aufdecken und analysieren, wird Fremdheit nicht nur erfahrbar, sondern sie
können diese reflexiv nutzen, um sich eigene Gefühle bzw. Erfahrungen vor Augen zu führen
und ggf. das eigene Verhalten bzw. die eigene Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen und
in Folge besser einschätzen zu können. Das Anregen und Bestärken der Empathiefähigkeit
soll aber nicht nur das Selbstwertgefühl des Schülers fördern, sondern es soll Fremdes
greifbar und in Worte fassbar machen und schließlich zu einem differenzierten Fremdheits-
verständnis anregen. Dadurch, dass das Fremde in Abedis Romanen dargestellt wird als
etwas, das man nicht als Feind betrachten soll, sondern als Herausforderung, welche es zu
überwinden gilt, um es schließlich zu entfremden und als Bestandteil des Eigenen zu inte-
grieren, können die Jugendlichen lernen, ihren Horizont zu erweitern, indem sie das Erarbei-
tete mit ihren Erfahrungen in Verbindung setzen. Gerade in einer multikulturellen und hetero-
genen Gesellschaft, in der Fremdheit eine wesentliche Konstante darstellt, tritt eben diese
Fremdheit häufig als das auf, was man auszuschließen versucht, von der Unsicherheiten
ausgehen oder vor der man Angst hat, wobei die Konfrontation mit dem Fremden dazu führen
kann, das Fremde nicht mehr als fremd zu betrachten, sondern als notwendigen Aspekt, um
das Eigene zu bestimmen. Auch als Kind mit Migrationshintergrund oder als Mensch mit
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
668
Vgl. Wilden S.277.

183!
!
doppelter Nationalität - wie etwa Vera - kann man sich (innerlich) fremd fühlen, doch sollte
man das Fremde nicht bekämpfen, sondern es als Möglichkeit sehen, um das Ich neu zu be-
stimmen und zu verstehen. Gerade die jungen Heranwachsenden befinden sich in einem Alter,
in welchem sie sich von allem Möglichen emanzipieren wollen, und gerade die Thematik des
Fremden könnte dazu beitragen, das Stigma des Fremden als etwas rein Negatives aufzu-
heben.
Gleichzeitig zeigen Abedis Jugendromane auf, dass man das Fremde nicht alleine angehen
muss, sondern dass die Hilfe eines Anderen dazu beitragen kann, das Fremde aufzudecken669.
Das Andere ist dabei nicht als etwas völlig Unbekanntes anzusehen, sondern es zeigt durchaus
Gemeinsamkeiten mit der Figur auf, ohne allerdings in allem identisch zu sein, wie beispiels-
weise ein guter Freund oder eine gute Freundin. Es ist gerade dieses Andere, das schließlich
mit der jeweiligen Person interagiert und ihr hilft, sich zu konstituieren, indem es eine
Verbindung zwischen Fremden und Eigenem herstellt. Zudem entstehen durch diese
Kooperation zwischen Anderem und Eigenem Werte, welche gerade in der Pubertät von ex-
tremer Wichtigkeit sind: Vertrauen und Kommunikation.
Abedis Jugendromane bieten den Schülern, ähnlich wie Abedi dies ihren Protagonisten
bietet670, sogenannte Simulationsräume, in welchen die Schüler lernen, dem Fremden gegen-
über durchaus kritisch zu sein, denn es handelt sich bei dem Begriff „fremd“ - ausgehend von
Abedis Jugendromanen - lediglich um eine Zuschreibung.
Die Romane könnten demnach dazu beitragen, durch Probehandeln nicht nur das Fremde
erfahrbar zu machen, sondern in den Schülern alternative Erfahrungen mit Fremdem her-
vorzurufen und ihnen zu zeigen, dass das Fremde, genauso wie Abedis Bücher, durchaus
vielfältig sein kann671 und die Konfrontation mit dem Fremden ein wichtiger Beitrag zur
Denkentwicklung ist. Somit könnte ein Lernprozess angestoßen werden, der in der heutigen
Gesellschaft von absoluter Wichtigkeit ist.
Hierbei handelt es sich allerdings nur um einige Anhaltspunkte. Diese zu vertiefen ist nicht
Anliegen der vorliegenden Arbeit. Allerdings werde ich sie im Laufe meiner Arbeitspraxis
ausarbeiten und weiterentwickeln, dies anhand konkreter Methoden.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
669
Beispielsweise Tobias und Sólo, Lucian, Mischa und David.
670
Beispielsweise die Insel Isola, die Stadt LA, das Land Imago und das Haus Whisper.
671
In den Romanen gibt es unterschiedliche Fremdheitsformen: beispielsweise die innere Fremde, der fremde
Raum, die fremde Mutter.

184!
!
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11. Literaturverzeichnis

a. Einzelbände

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Isabel ABEDI, Whisper, Arena Verlag, Würzburg 2005.

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