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Rom, am 29. November 2023

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ADVENTSBRIEF

„BARMHERZIGKEIT“ - DAS WORT, DAS MICH AM MEISTEN ANSPRICHT

+1 (215) 715-3984

Allgemeine und besondere Gewissenserforschung

Liebe Mitglieder der vinzentinischen Bewegung,

500 East Chelten Avenue, Philadelphia, PA 19144, USA

Die Gnade und der Friede Jesu seien immer mit uns!

Die Türen zur Adventszeit werden sich bald auftun, und vor uns liegt wieder eine
Zeit der Gnade, damit wir in uns hineinblicken, damit wir Tag und Nacht in den Himmel,
auf Jesus schauen, der uns nicht nur zur Vorbereitung auf die Weihnachtszeit ermutigen
will, sondern auch damit wir ein weiteres starkes Fundament für unser geistliches Haus
legen. Dies soll sich nicht nur auf einen Teil des Jahres beschränken, sondern eine ständige
Gestaltung dieses Hauses sein entsprechend dem Traum Jesu für jeden von uns. Sie ist auf
unser gemeinsames Ziel ausgerichtet: zum Haus des Vaters gelangen, die Fülle des Reiches
Gottes kennenlernen, uns auf das ewige Leben freuen, um bei Jesus und den Milliarden von
Heiligen zu sein, die im Himmel für immer auf uns warten!
Über einen König, der gerne las, wird eine Geschichte erzählt. In seinem Schloss
hatte er viele Bibliotheken, die mehrere hundert Meter lang und mit neuen Büchern gefüllt
waren, die er wegen seines außerordentlich neugierigen Geistes immer kaufte. Im Laufe
seines Lebens hatte er Tausende Bücher gelesen.
Doch der König wurde alt und litt an einer unheilbaren Krankheit. Die Ärzte sagten
dem König: „Sie haben höchstens noch sechs Monate zu leben.“ Da der König Bücher so
sehr liebte, beauftragte er ein Team von hundert Personen, in seine vielen Bibliotheken zu

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gehen, um die tausend Bücher zu lesen, die er noch nicht gelesen hatte, und hundert
auszuwählen, die er noch zu lesen hoffte.
Nach vier Monaten legte die Lektoren-Gruppe dem König eine Liste mit hundert
Büchern vor, die aus den ersten tausend Büchern ausgewählt worden waren. Da sich der
Gesundheitszustand des Königs in der Zwischenzeit jedoch verschlechtert hatte, wurde ihm
klar, dass er in den zwei Monaten, die ihm die Ärzte noch zu leben gaben, nicht in der Lage
sein würde, hundert Bücher zu lesen.
Der König verlangte von der Lektoren-Gruppe, eine neue Liste zu erstellen und nur
noch zehn aus den hundert Büchern auszuwählen. Diesmal kamen die Lektoren viel
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schneller zurück. Nach einem Monat hatten sie zehn Bücher ausgewählt, die sie dem König
brachten, aber dessen Gesundheitszustand hatte sich weiter verschlechtert. Der König hatte
sein Augenlicht fast verloren und seine Lesefähigkeit war stark beeinträchtigt. Ihm wurde
klar, dass er in der Zeit, die er noch zu leben hatte, nicht einmal zehn Bücher würde lesen
können.
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Der König hatte immer noch große Hoffnung, dass er wenigstens ein Buch lesen
könne, bevor er starb. Er bat die Lektoren-Gruppe, innerhalb von zwei Wochen ein einziges
Buch auszuwählen. Die Gruppe erledigte ihre Arbeit und kam nach zwei Wochen zu dem
bereits im Sterben liegenden König zurück.
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Der König war völlig blind geworden, fast taub, schwach und schlief viele Stunden
des Tages. Kurzfristig war sein Geist jedoch noch recht hell. Er hatte genug Kraft, um die
Gruppe zu ersuchen zurückzugehen und das Buch zu überarbeiten und es innerhalb eines
einzigen Tages in einem Wort zusammenzufassen. Der König dachte, dass würde wahr-
scheinlich der letzte Tag seines Lebens sein.
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Die Gruppe las die ganze Nacht hindurch gemeinsam dieses Buch und kam mit
einem einzigen Wort zurück, das die tausend Bücher zusammenfasste, die sie in den
vergangenen Monaten gelesen hatten. Am folgenden Morgen, noch recht früh, kam die
Gruppe zum sterbenden König, der nur noch hin und wieder bei klarem Verstand war, und
sagte: „Mein Herr, wir hatten die Gnade, in den letzten Monaten so viele Bücher zu lesen.
Ihrer Bitte entsprechend kommen wir heute mit einem einzigen Wort zu Ihnen zurück, das
alles zusammenfasst, was in diesen vielen Büchern geschrieben wurde. Und dieses Wort
heißt LIEBE."
Wenn wir es uns zur Aufgabe machten, das ganze Neue Testament mit dem Ziel zu
lesen, ein einziges Wort zu finden, mit dem wir den Kern seiner Bedeutung, seiner
Botschaft und seines Inhalts ausdrücken könnten, würden die meisten von uns
wahrscheinlich das Wort „LIEBE“ nennen. Manche Menschen würden natürlich ein
anderes Wort finden, das sie zu einem bestimmten Zeitpunkt der Pilgerschaft ihres Lebens
noch mehr anspricht als das Wort „LIEBE“. Müsste ich heute ein Wort wählen, das das
ganze Neue Testament darstellt, wäre es das Wort „BARMHERZIGKEIT“.
Seit der Zeit des heiligen Vinzenz und auf seine Empfehlung hin haben die
Kongregation der Mission und die Genossenschaft der Töchter der christlichen Liebe die
besondere und allgemeine Gewissenserforschung in die täglichen Übungen aufgenommen,
die ihr geistliches Leben beseelen. Der Gründer erinnert die Missionare daran, dass diese
Übungen die Selbsterkenntnis und den ständigen Willen fördern, sich mit Hilfe der Gnade

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Gottes zu bessern und zu vervollkommnen, um die Laster auszumerzen und die Tugenden
zu festigen (Vgl. Allgemeine Regeln X, 9; Statut 19).
Die besondere Gewissenserforschung findet gewöhnlich um die Mittagszeit
oder vor dem Mittagessen statt. Unter dem gütigen Blick Gottes geht die Person den bei
der Morgenbetrachtung gefassten Vorsatz noch einmal kurz durch, um den Wunsch und
die Entschlossenheit zu festigen, ihn umzusetzen, und sie bittet um die dafür notwendige
Gnade. An die Töchter der christlichen Liebe gerichtet, erklärt der heilige Vinzenz den
Sinn dieser Übung: „Und, meine Töchter, bleibt eurer Gewissenserforschung vor der
Mahlzeit treu. Ihr wisst, dass ihr sie über euren, bei der Morgenbetrachtung gefassten Vorsatz
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halten sollt, und dankt Gott, wenn ihr ihn mit seiner Gnade nachgekommen seid, oder bittet
ihn um Vergebung, wenn ihr aus Nachlässigkeit darin gefehlt habt.“ (Coste IX,43, Konferenz
vom 16. August 1641 „Über die Erklärung der Regeln“).
Am Abend vor dem Schlafengehen soll jeder in einem Klima tiefer innerer und
äußerer Stille eine allgemeine Gewissenserforschung machen, um sein Leben zu
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überprüfen, vor allem aber um dem Herrn für die empfangenen Wohltaten zu danken, sowie
um seine Vergebung zu bitten, sich auf die Bekehrung vorzubereiten, im Guten zu verharren
und zu meiden, was ihm missfällt. Sodann schläft man mit einem guten Gedanken und mit
einem gottverbundenen Herzen ein. „Von der Gewissenserforschung am Abend bis nach der
Betrachtung am folgenden Morgen sollt ihr das Stillschweigen halten, damit diese äußere
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Sammlung die Unterhaltung eures Herzens mit Gott fördert; bewahrt sie besonders, nachdem
ihr vor dem Zubettgehen Gott angebetet und seinen heiligen Segen empfangen habt.“ (Coste
IX, Konferenz vom 31. Juli 1634 „Über die Erklärung der Regel).
Der heilige Vinzenz von Paul, der „Mystiker der Nächstenliebe“, ermutigt uns
Mitglieder der Bewegung der vinzentinischen Familie ganz klar, jeden Tag diese
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wunderbaren Werkzeuge zu nutzen, die die besondere und die allgemeine

Gewissenserforschung sind im Verlangen nach Umkehr, die uns zur Heiligkeit führt.
Der Ausdruck „Gewissenserforschung“ kann eine negative Reaktion hervorrufen,
etwas, das keinen Sinn mehr hat oder dem ich lieber aus dem Weg gehe, als mich mit den
Bereichen auseinanderzusetzen, in denen Jesus mich zur Besserung auffordert. Wenn wir
die Gewissenserforschung als eine Zeit betrachten, in der Jesus, der strenge Richter, uns in
Verlegenheit bringen kann, wenn er zweimal des Tages, und das Tag für Tag, auf unsere
Schwächen, Sünden und Versager hinweist, ist es nicht verwunderlich, dass wir den Weg
wählen, um eine solche Konfrontation zu vermeiden.
In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt. Jesus möchte in diesen beiden Momenten
des Tages, in denen wir in Stille innehalten, Gelegenheit haben, uns seine Liebe und
Barmherzigkeit zu bekunden. Dies sind Momente, in denen wir zu unserer täglichen
Bibellektüre, insbesondere des Neuen Testaments, zurückkehren und ein Wort finden
können, das für uns die gesamte Botschaft des Neuen Testaments zusammenfasst, sei es
„LIEBE“, „BARMHERZIGKEIT“ oder ein anderes Wort, das uns tief berührt. So gesehen,
können wir uns ausgiebig über solche Gelegenheiten freuen, die in unseren Herzen den
Wunsch wecken, uns zu ändern, uns zu bekehren und nach Heiligkeit zu streben.
Jede Kongregation, Laienvereinigung und Einzelperson, die der Bewegung der
vinzentinischen Familie angehört, können besondere geistliche Traditionen haben. Ich
möchte die Kongregationen einladen, die seit ihren Anfängen die geistliche Übung der
besonderen und allgemeinen Gewissenserforschung hatten und deren Mitglieder diese

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Praxis aus dem einen oder anderen Grund auf ihrem geistlichen Weg fast gänzlich
aufgegeben haben, diese Gabe in ihren Gemeinschaften und in jedem ihrer Mitglieder neu
zu entfachen oder wieder einzuführen. Ich danke den Kongregationen, die diesen beiden
täglichen Gnadenmomenten treu geblieben sind, für ihr Zeugnis und für ihr Beispiel.
Ebenso danke ich jedem einzelnen Laien, ob er einer Vereinigung angehört oder
nicht, der diese zwei stillen Momente mit Jesus täglich für sein Beispiel und sein Zeugnis
nutzt. Die Kongregationsmitglieder oder Laien, bei denen dies bisher nicht Teil ihres
Gebetslebens war, lade ich ein, diese beiden täglichen Momente in die Begegnung mit Jesus
in ihr Gebetsleben einzubeziehen.
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Wir halten inne in der Gegenwart Jesu, der die „LIEBE“ und die „BARMHER-
ZIGKEIT“ ist.
Der Advent bietet uns Gelegenheit, die Fundamente unseres Lebens zu festigen,
indem wir diese beiden täglichen Gnadenmomente neu beleben oder mit diesem Advent
einen Weg einschlagen, um das Antlitz Jesu „hier und jetzt“ und dann in seiner Fülle in der
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Ewigkeit klar zu sehen.

Ihr Bruder im heiligen Vinzenz

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Tomaž Mavrič, CM
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