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religionspädagogische
Lexikon im Internet
(WiReLex)
Jahrgang 2016
Thorsten Knauth
Thorsten Knauth
Im Hinblick auf den Terminus ist zu unterscheiden zwischen der Praxis des
Religionsunterrichts in Hamburg (gebräuchlich ist auch der Begri
„Religionsunterricht für alle“ [Rufa]) und der religionspädagogischen Konzeption,
die die Praxis des dialogischen Religionsunterrichts re ektiert und im Gespräch
mit theologischen, erziehungswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen
Bezugstheorien konzeptionelle Merkmale und Grundzüge einer „Dialogischen
Religionspädagogik“ entwickelt. Gegenüber der Bezeichnung Religionsunterricht
für alle (Rufa) deutet der Terminus Dialogischer Religionsunterricht mit dem
Hinweis auf Dialog ein zentrales konzeptionelles Element an. Im Folgenden wird
daher der Begri Dialogischer Religionsunterricht (DRU) für Praxis und
Konzeption des Hamburger Religionsunterrichts verwendet.
Hervorzuheben ist, dass der DRU nicht als ein Modell verstanden werden will,
das gleichsam der Serienproduktion diene, um dann in andere Bundesländer
und religionspädagogische Kontexte exportiert zu werden. Die für den
Die Entscheidung zur geteilten inhaltlichen Verantwortung schuf den Raum, aus
dem der regelmäßig tagende Gesprächskreis Interreligiöser Religionsunterricht
(GIR) hervorging, an dem ab 1995 Mitglieder wichtiger Religionsgemeinschaften
(wie z.B. den in der Schura organisierten islamischen Gemeinschaften, den
alevitischen Gemeinden, der jüdischen Gemeinde und des buddhistischen
Tibetischen Zentrums sowie der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg, aber
auch Vertreterinnen und Vertreter des PTI und der Universität) mitwirkten. Der
Gesprächskreis Interreligiöser Religionsunterricht übernahm eine beratende
und gestaltende Funktion in inhaltlichen und konzeptionellen Fragen des
Hamburger Religionsunterrichts: Er prüfte → Lehrpläne, trug zur
Materialentwicklung bei und spielte eine aktive Rolle bei ö entlichen
Einlassungen zum Religionsunterricht (vgl. Doedens/Weiße, 1997, 35-41 und
Weiße, 2008, 234-236).
Eine maßgebliche Rolle bei der Etablierung und Entwicklung des DRU spielten
auch Theologie und Religionspädagogik der Universität Hamburg.
Grundlegende Erfahrungen interreligiöser Zusammenarbeit wurden in den
Dialog-Seminaren am ökumenewissenschaftlichen Institut des theologischen
Fachbereiches gesammelt (vgl. Werner, 1994, 265-273). Der Arbeitsbereich
Religionspädagogik begleitete in → empirischen Forschungsprojekten die Praxis
des DRU, entwickelte einen konzeptionellen Rahmen (Knauth, 1996; Weiße,
1999b; Knauth/Weiße, 2000), kooperierte in der Lehrplanarbeit und
Materialentwicklung mit PTI und GIR und führte regelmäßig Tagungen durch, die
sich erziehungswissenschaftlichen und religionspädagogischen Grundfragen
Sehr dynamisch entwickelte sich der DRU in der Primarstufe und der
Sekundarstufe I. Der erste im Zeichen von Interreligiosität (→ Interreligiöses
Lernen Förderschule; → Interreligiöses Lernen – Berufsbildende Schule ; →
Interreligiöses Lernen – Sicht islamischer Religionspädagogik; → Interreligiöse
Kompetenz) und Mehrperspektivität stehende Lehrplan, der auch vom
Gesprächskreis Interreligiöser Religionsunterricht verabschiedet wurde, trat für
die Grundschule in Kraft (vgl. Doedens/Weiße, 1997, 23-34). Auch die Material-
und Konzeptionsentwicklung wurde intensiv betrieben: Vorschläge für die
didaktische Erschließung von wichtigen Geschichten der Religionen entstanden
(Sieg, 1998, 125-135), Material zu den Festen der Religionen wurde entwickelt
(Sieg, 2003) – und im Blick auf die in den Gemeinden gelebte Religion wurden in
der Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener
Religionsgemeinschaften wichtige Elemente einer Didaktik heiliger Orte
herausgearbeitet (z.B. für die Moscheedidaktik: Özdil, 2002). Dialogisches
Lernen – so eine der zentralen Erkenntnisse dieser Phase – ndet in einer
Pendelbewegung zwischen Vertrautem und Fremdem statt und baut sich aus
einer mehrperspektivischen didaktischen Anlage auf, die in gemeinsamen und
integrativen Lernprozessen Eigenes und Fremdes entdecken lässt (vgl. Sieg,
1998, 125-135).
Von daher wird deutlich, dass es sich bei dem Anliegen des DRUs, den
Religionsunterricht für religiöse Mehrperspektivität und eine religiös heterogene
Schülerschaft zu ö nen, nicht um eine Variante der wertungsfreien Vermittlung
Theologisch ist DRU den Merkmalen einer dialogischen Theologie verp ichtet,
die programmatisch im Dialogprogramm des Ökumenischen Rates der Kirchen
(vgl. Becker, 1994, 257-264) grundgelegt und in weiteren Arbeiten ausformuliert
wurde. Eine maßgebliche Rolle spielte in dieser Phase der ökumenische
Theologe Hans Jochen Margull (vgl. Weiße, 1999a, 186-197). In dieser Tradition
ist dialogische Theologie verbunden mit der Aufgabe jedweden
Absolutheitsanspruches, mit der unbedingten Anerkennung des Anderen, die
mit schweigen und zuhören können, christlicher Selbstzurücknahme beginnt
und die Bereitschaft zur eigenen Verwundbarkeit als theologischer
Grundhaltung einschließt. Vor diesem Hintergrund verbindet sich dialogische
Theologie mit einem Habitus der Bescheidenheit und Zurückhaltung in der
Wahrheitsfrage. Dialogische Theologie kann gleichsam auf der Ebene
konfessorischer Rede perspektivisch zum Ausdruck gebrachte Gewissheiten
unbedingt anerkennen und – dies im Unterschied zu religionsphilosophischen
Spekulationen über eine Wahrheit hinter den Wahrheiten – die Wahrheitsfrage
dennoch als o en erachten. Dialogische Theologie lässt sich – so gesehen – in
der Wahrheitsfrage methodologisch von einem erkenntnistheoretischen
5. Perspektiven
Der DRU in Hamburg hat sich fest in der religionspädagogischen Landschaft
etabliert. Im Spektrum von Organisationsformen des Religionsunterrichts wird
er als ernstzunehmende konzeptionelle Variante eines pluralitätsfähigen
Religionsunterrichts anerkannt (vgl. Kenngott/Englert/Knauth, 2015). Sein
konzeptionelles Pro l verdankt sich einem über Jahrzehnte andauernden
Entwicklungsweg, der nicht einfach kopiert werden kann. Die Bedingungen
seines Gelingens liegen in synergetischen E ekten eines Zusammenwirkens von
Akteuren und zentralen mit Religionsunterricht befassten Institutionen der
Hansestadt Hamburg. Der DRU ist auch deshalb so erfolgreich, weil seine Praxis
permanent re ektiert, erforscht und weiterentwickelt wird und auch zentraler
Inhalt auf allen Ebenen der Bildung und Fortbildung für Religionslehrerinnen
und -lehrer ist. Dies gilt es bei zu raschen Übertragungsversuchen zu beachten.
Wer den DRU übernehmen möchte, muss ihn für den eigenen Kontext neu
erfinden.
Literaturverzeichnis
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Wegweiser für einen dialogischen Religionsunterricht?, in: Lohmann, Ingrid/Weiße,
Wolfram (Hg.), Dialog zwischen den Kulturen. Erziehungshistorische und
religionspädagogische Gesichtspunkte Interkultureller Bildung, Münster u.a. 1994,
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Bernhardt, Reinhold/Schmidt-Leukel, Perry, Interreligiöse Theologie. Chancen und
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Buchholz, Christine (Hg. u.a.), Armut und Ungerechtigkeit im Alltag von Jugendlichen.
Hamburger Hungertuch (Medienpaket bestehend aus Sto druck (160x110cm), Folie
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Doedens, Folkert, Neue Modelle erproben – oder an veralteten Alternativen
festhalten?, in: Hilger, Georg/Reilly, George (Hg.), Religionsunterricht im Abseits?,
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Doedens, Folkert/Weiße, Wolfram (Hg.), Religionsunterricht für alle. Hamburger
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Gemischte Kommission Schule/Kirche: Hamburger Lehrplan für den
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(Hg.),Religionsunterricht für alle. Hamburger Perspektiven zur Religionsdidaktik,
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Weiße, Wolfram (Hg.), Religionsunterricht für alle. Hamburger Perspektiven zur
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Gesprächskreis Interreligiöser Religionsunterricht (GIR) und Expertenkreis am
interdisziplinären Zentrum „Weltreligionen im Dialog“, „Religionsunterricht für alle“ in
Hamburg. Resolution v. Dezember 2006, in: Weiße, Wolfram (Hg.), Dialogischer
Religionsunterricht in Hamburg. Positionen, Analysen und Perspektiven im Kontext
Europas, Münster u.a. 2008, 234-236.
Gloy, Horst, Die religiöse Ansprechbarkeit Jugendlicher als didaktisches Problem
dargestellt am Beispiel des Religionsunterrichts an der Berufsschule, Hamburg 1969.
Hauptherausgeberinnen:
Prof. Dr. Mirjam Zimmermann (Universität Siegen)
Prof. Dr. Heike Lindner (Universität Köln)
Deutsche Bibelgesellschaft
Balinger Straße 31 A
70567 Stuttgart
Deutschland
www.bibelwissenschaft.de