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14.11.2022 7.

Einheit

Zu Blakes Konzept der Linie im "Descriptive Catalogue"

1. Identifikation mit Newton – Anti-Newtonsche Kritik


Blakes Ansichten waren nicht mit einem rein klassizistischen, naturwissenschaftlichen
Weltbild des früheren 18. Jahrhundert vereinbar:
Nicht als Manipulatoren wissenschaftlicher Instrumente zu verstehen, sondern die Menschen
haben sich den Maschinen unterzuordnen. Physikalische Erkenntnisse sind in Blakes Augen
ambivalent. Die Beherrschung der Naturkräfte wird moralisch hinterfragt, was Blakes
Romantischen und Humanitären Zugang widerspiegelt. In Blakes Augen beschränkt die
Naturwissenschaft das Weltbild und vor allem die Kreativität der Menschen. Er spricht sich
gegen die ethischen Folgen der frühen Industrialisierung aus, verweilt jedoch als einziger der
großen Romantischen Dichter in einer Stadt (London). Jegliche rein materielle Verlangen
sind negativ für ihn, er sieht die Newtonsche Wissenschaft als treibende Kraft dahinter.
Bildlich: Newton gleichzusetzen mit einem Geometer, Blake ist jedoch nicht vertraut mit
seinen mathematischen Schriften. Die Frage nach dem „Infinitesimalen“ wird zum
Streitpunkt.

Newton mit Geometer

2. Ideen zur Linie


Blake nutzte Newtonsche Sprache in seiner Befassung mit der Linie ( unendliche Linie =
Gerade), jedoch war er gegen die starke Mathematisierung der Natur, sowie im Weiteren der
menschlichen Natur. Er sprach sich gegen die Bearbeitung von Sachverhalten durch
statistische Wahrscheinlichkeiten etc. aus.
Blakes Linienkonzept grenzt sich von einer mathematisch/geometrischen Definition ab.
Die Vorstellung, eine Linie sei ein Konglomerat infinitesimal kleiner Punkte war zu abstrakt
für Blake. Für ihn muss die Linie ist ein materielles, endliches Gebilde sein, und darf aber
nicht ungefähr sein. (Dies ist ein Widerspruch in sich.)
Nur über präzise Vorstellungen kann eine wahre Linie entstehen. Für Blake ist dies der „feste
Strich eines Künstlers“, nicht etwa eine Skizze.
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Newton hingegen schwächt die Autorität der Linie in der Kunst. Blake postuliert 1809, dass
alles auf dem Umriss beruht („all depends on outline“). Der Mensch kann seine Umgebung
gestalten, und zwar durch exakte, definitive Liniensetzung. Beispielsweise ist der Vergleich
zwischen Ochsen und Eseln sonst nicht möglich, nach Blake.
Im Kunst-Leben dreht sich um 1800 alles um „The Great and Golden Rule of Art“: Imitation
should never be obvious. (Widergespiegelt im Denken der Romantiker, dass „genius“
angeboren sein muss, und Inspiration sich durch spontane Überflüsse der Emotionen äußert
etc.)
Quellenvergleich Tim Ingold, Lines – A Brief History

Konzept: Bewegung als Überwindung von Distanzen


Planung verläuft über die Festlegung eines Anfangs- und Endpunkts der Linie (vgl.
heute: Tourimus, Feldarbeit/Pflügen)

Voraussetzung einer Inskriptionsfläche (Zeichnung) vs. Entstehung einer Fläche durch


Entstehung der Linie selbst (Weben)
Die Relation Linie-Oberfläche wird bestimmt durch eine Frage der kulturellen Praxis. Es
findet sich eine Dreifaltigkeit der Übung in Hand-Mund-Gehirn, welche nach Leroi-Gourhan
im aufrechten Gang kumulieren. Laurence Sterne hingegen greift Konzepte von Ingold auf
und sieht eine Verknüpfung von Linie-Gestik-Ausdruck.
Hierin ist es wichtig, die Parallelen zu Blakes Linienkonzept als eine Unterscheidung
zwischen menschengemachten und physischen Linien zu sehen. (Wien verweist hier auf z.B.
die Praxis des Pflügens/Ackerpfurchen, bei denen jene Unterscheidung verschwimmt.)

3. Widersprüche in Blakes Anschauungen und Praktiken


Blakes malerisch rau/strukturierte Werke stellen seine eigenen Aussagen zur Linie in Frage –
Ebenso bei seinen Farbdrucken: Häufig arbeitet er mit Überlagerung und Flecken.
Eine Reflektion der Problematik – Zeichnung und Linie primäre Teile des künstlerischen
Ausdrucks / aber Farbe = Luxus.
Blake gilt als Verfechter des „disegno“, das Florentinische Linienkonzept wird dennoch stark
kritisiert von ihm. Denn in seinen Augen musste ein Künstler, i.e., Blake, die gesamte
Produktion eines Stückes selbst ausführen und nicht an Assistenten abgebeben!
Jedoch: „Jede Linie ist die Linie der Schönheit [...]“
Dies verweist auf seine Annahme, dass der Akt der Realisierung entscheidet über Schönheit
eines Werkes ist, nicht die äußerlichen Einflussfaktoren/ Präfaktoren einer Idee.
Erneuter Verweis zu Newton: Laut Blake gibt es keine Länge ohne Ausdehnung. Die Linie
gilt als materielle Entität, und ist nicht abstrahierbar!
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Die Frage lautet, ist dies ein Paradoxon (Widerspruch zwischen Blakes Theorie und Praxis)
oder zeugt es von einer Weiterentwicklung von Blakes Stilverständnis?
Beispielsweise sind seine Farbdrucke der 1790er-1800er (z.B. Hecate-Druck) weitaus
düsterer, und die Farbe wirkt dem Liniengerüst untergeordnet – Erst in späteren Farbdrucken
verwendet er die Transluzenz der Farben als Ansporn, neigt sich jedoch immer noch einer
formalen Klarheit in Linie und Farbe. Somit ist die Sublima stark abgegrenzt.
Gleichzeitig könnte ein biografischer Hintergrund als Erklär-Modell dienen: Blakes Kampf
gegen „malerische Dämonen“: Schwierigkeiten mit der Farbtechnik führten womöglich zu
einer Episode künstlerischen Irrtums (in seinen eigenen Empfinden).
Wie er selbst betont, führt der Weg zur Wahrheit nur über den Irrtum = Er findet den Weg
zur ästhetischen Erkenntnis somit um 1800.

4. Einflüsse auf Blakes Wahrheitsfindung


Gothic Revival  Sammlung von Graf Truchseß (Holbein, Dürer etc.) stimmte Blake schwer
begeistert und gilt als einschneidendes Erlebnis für Blakes Inspiration.
Er strebt nach der Vollendung geschlossener Kompositionen zur Schaffung sublimer Kunst.
Offene Frage: Blakes Werke der 1790er in seinen eigenen Augen „Irrtümer“? Aber: Negative
Konnotation von ungenauen Farbflecken nutzte Blake weiterhin gezielt in seinen Arbeiten.
Gleichzeitig entwickelt Blake ein Interesse an Qualitäten und Eigenschaften der Farbe
(zeitgenössisches Interesse: physikalische Erkenntnis vs. Kunst)  widersprüchliche
Auffassung der Farbe: Additive vs. Subtraktive Farbmischung
Kontemporäre Veröffentlichungen verstehen darin jedoch nicht nur eine „Gegnerschaft“
sondern auch „Symbiose“.

Diese Symbiose spielt auch im Weiteren Verkauf der Kunstgeschichte eine tragende Rolle:
- Lineares Zeichnen als Kulturtechnik = Geometrische Formen werden bestimmbar
(Maynard)
- Handwerk vs. Technische Welt
- Exakte perspektivische Rekonstruktionen werden möglich
- Linie spielt eine mediale Rolle (= exakte Form, jedoch nichts-aussagend über
Material)
- Zeichnung als Medium der Vermittlung  Architektur-Zeichnung (Gruppe von
Linearmenten, welche die Form eines Gebäudes spezifizieren)
Blake hingegen stellt schon klar, dass für ihn die Linie als autografisches Werk zählt. Er
schätzt die Individualität der handschriftlichen Linie (vgl. Unterschrift, Signatur).
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Der Betrachter wird über die individualisierte Linie über den Verfasser informiert (=
Linienführung sei so aussagekräftig, dass Blake sich selbst mit Dürer, Michaelangelo, Rafael
etc. vergleicht).

Als mitschwingend in dieser Einschätzung gilt der damalige Kult (bzw. Modetrend) des
Autographischen  Blake machte sich auch darüber lustig
z.B. Autogramm in Upcott’s Album 1826.
Er äußert seine Kritik an ästhetischer Form als „Zufallsprodukt“, und formulierte seine
Ablehnung der Barockschule und anderer Koloristen.
Wiederspruch: Blake wollte allerdings schon durch seine Werke erkannt werden!
Er beschäftigt sich demnach vermehrt mit der Subjektivität des Künstlers (anti-klassizistisch),
der religiös geprägten Imagination (= Hauptthema der Romantiker), der Kritik an der Politik,
und dem Akt der Interpretation als Bemühung (= geteiltes Repertoire and sprachlichen und
visuellen Mitteln/Codes).
Seine Entwurfsskizzen dienen der Technisierung und Reduzierung von Blakes Werken:
Blakes Skizzen sind ikonografisch offen und unverbindlich für ihn.
Als Zeichner löst er die Zeichen aus ihrer Erstarrung – für Blake entsteht unerschöpfliches
Potential im Endlichen!

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