Exklusive Lizenzausgabe

Beben im Osten Krieg im Heiligen Land

Kommt die AfD an die Macht? Hat der Frieden eine Chance?
Schlanker Staat Trump des Willens
Wie gelingt weniger Bürokratie? Was ist, wenn er es wieder schafft?

Die Welt in 2024

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Die Welt in 2024 Exklusive Lizenzausgabe 3

INHALT

116 Editorial FOCUS

8 Editorial The Economist
22 DEUTSCHLAND-
SONDERTEIL DER
55
43
GROSSBRITANNIEN
Das Wahlduell
66
61 Niall Ferguson und
Condoleezza Rice über
FOCUS-REDAKTION 44 Tories in Schwierigkeiten den neuen Kalten Krieg
LEITARTIKEL 22 Wer im kommenden Jahr 45 Schwung für die Ökonomie?
11 Demokratie in Gefahr Deutschland bewegt 46 Angriff auf den König LATEIN- & NORDAMERIKA
12 Multipolare Störung 27 Rainer Dulger fordert 46 Kranker Gesundheitsdienst 62 Lateinamerikas Politik
13 Naher Osten im Chaos weniger Bürokratie 47 Rachel Reeves über 63 Mexikanische Demokratie
14 Mehr Hilfe für die Ukraine? 28 Krisen, Chancen, Trends – die Pläne von Labour 64 Gute Zeiten für Start-ups
das wird 2024 wichtig 64 Grüne Ressourcen
15 Schicksalswahl für die USA
28 Hält die Koalition? SUPERPROGNOSEN 65 Kanadische Politik
16 Fragile Weltwirtschaft
30 Wahlbeben im Osten 48 Vorhersagen über
17 Die KI legt los
30 Abtreibung bald straffrei? Schlüsselereignisse ASIEN
18 Der grüne Wandel
19 Das Jahr in Farben 31 Jochen Werner will nach- 66 Wahl in Indien
haltige Krankenhäuser EUROPA 67 Indische Technologie
32 Happy Birthday, Deutschland
KALENDER FÜR 2024 49 Die Ukraine kämpft weiter 68 Wahl in Taiwan
32 Merkels Buch erwartet
20 Monat für Monat durch 50 Russlands ewiger Krieg 69 Zentralasiens Verbindungen
33 Peter Wittig warnt Europa 51 Unruhen im Kaukasus 69 Energie-Bündnisse
das kommende Jahr
vor Trump
51 Freunde im Norden 70 Indonesien nach Jokowi
34 Der Tod der losen Deckel
52 Olympia als Auszeit 71 S. Jaishankar über Indiens
34 Herz aus dem Schweinestall
52 Politiker gegen Populisten wachsenden Einfluss
35 Grün verdient jetzt Geld
53 Europas Volkswirtschaften
35 Deutsche Quantensprünge
54 Dara Massicot über das CHINA
36 Pierre Ibisch: Der Wald Trauma der Ukraine 72 Ein unerklärter Kalter Krieg
braucht ein Gesetz
73 Am Ende der Straße?
37 Impfen gegen Krebs?
USA 74 Xi und die Ja-Sager
37 Mission zum Marsmond
55 Unbeliebtheits-Wettbewerb 75 Chinas Wirtschaft
38 Hoffen und Bangen vor EM
56 Wen es zu beobachten gilt 76 Auslandsfirmen in Angst
39 Thorsten Frei über
57 Amerikas Wirtschaft 76 Unzufriedene Jugend
Migration und Demokratie
57 Überspannte Supermacht
40 Kiffen erlaubt
58 Freie Rede im Internet NAHER OSTEN & AFRIKA
40 Caspar-David-Friedrich-Jahr
59 Kleine Städte wachsen 77 Jenseits von Gaza
41 Alle wollen alles reparieren
59 Cricket in Amerika 78 Despoten vs. Demokratie
42 Georg Bätzing zur Lage der
60 Mehr Hitze in Städten 79 Palästinas Zukunft
katholischen Kirche
79 Musik aus dem Nahen Osten

The Adelphi, 1–11 John Adam Street, London WC2N 6HT FOCUS-Redaktion, Potsdamer Straße 7, 10785 Berlin
Telephone: +44 (0) 20 7830 7000, economist.com/worldahead2024 Telefon: 030/75 44 30-0
Email: worldaheadeditor@economist. E-Mail: economist@focus-magazin.de
Redaktionsschluss The Economist: 14. November 2023 Redaktionsschluss deutscher Sonderteil: 24. November 2023
 D
4 INHALT Die Welt in 2024 Exklusive Lizenzausgabe z
b
T

83
80
80
Irans Erbfolge
Afrikas Wirtschaftssysteme
106 122 127
LÄNDER
93 Prognosen für 81 Länder 115
FINANZEN
Starke Arbeitsmärkte 126
KULTUR
KI-Einfluss auf Hollywood
81 Chaos in Sahel 116 Globale Mindeststeuer 127 Neue Museen
82 Südafrikanische Wahlen BRANCHEN 117 Verschuldung armer Länder 128 Wichtige Bücher
102 Prognosen für 15 Branchen 117 Märkte auf Achterbahnfahrt 128 Heitere Musicals
INTERNATIONAL 118 Handel und Zölle 129 Afrikanische Architektur
83 Wie man Wahlen manipuliert WIRTSCHAFT 119 Ist Zentralbank-Geld tot? 129 Musik in China
84 Globale Temperaturen 106 Industrie ohne Kohlenstoff 119 Rohstoffe für die Zukunft
85 Grüne Metalle 107 Energie-Inseln
86 Mehr BRICS-Staaten 108 Firmen setzen KI ein WISSENSCHAFT & GRAFIK IM DETAIL
86 Tiefsee-Bergbau 109 Plattform-Technologie TECHNIK 130 Demokratie ist mehr
87 Neues Wettrüsten? 109 Chip-Krieg: USA vs. China 120 Nächster Schritt der KI als Wählen
88 KI-Regulierung 110 Chinas E-Autos gewinnen 121 Kampf gegen Fettleibigkeit
88 So gut waren unsere 111 Zurück ins Büro 122 Neue Medikamente
Prognosen in 2023 111 Der Tourismus erholt sich 123 Das Jahr im Weltraum
112 Indische Investitionen 124 Totale Sonnenfinsternis
TRENDLINIEN 112 Selbstfahrende Autos 124 Pflanzen-Pandemie
89 Sonderteil mit Infografiken 113 Unabhängig von China 125 Jennifer Holmgren über
über wichtige und 114 Timnit Gebru über das Neuerfinden der
spannende Entwicklungen Arbeit und KI Kohlenstoffwirtschaft

THE ECONOMIST
EDITOR: Tom Standage MANAGING EDITOR: Yvonne Ryan DEPUTY EDITORS: Rob Gifford, Leo Abruzzese
COUNTRIES EDITOR: Alasdair Ross INDUSTRIES EDITOR: Martin Adams INDUSTRIES CONTRIBUTORS: Barsali Bhattacharyya, Ana Nicholls CREATIVE DIRECTOR: Stephen Petch
ART DIRECTORS: Maddie Roberts, Cameron Weaver, Anita Wright PICTURE EDITOR: Joanne Banks CHARTS/MAPS: Helen Atkinson, Elizabeth Lees, Sarah Leo, Matt McLean, Adam Meara, Lloyd Parker
RESEARCH: Lisa Davies, David Griffiths, David McKelvey, Christopher Wilson EDITORIAL EAGLE EYES: Sheila Allen, James Baer, Patrick Lane, Simon Strachan MEDIA SALES: Phil Wrigley
PRODUCTION: Andrew Rollings, Melanie Smith SYNDICATION: Joanna Alexandre, Lewis Greenham, Samuel Zernig
ILLUSTRATIONS: Cover: Jérôme Berthier, Inside: Álvaro Bernis, Cristiana Couceiro, Lauren Crow, Ben Denzer, Mel Haasch, Olivier Heiligers, Shira Inbar, Sam Island, Chantal Jahchan, Nate Kitch, Alberto Miranda,
Mariano Pascual, Celina Pereira, Agnès Ricart, Rob en Robin, Israel G Vargas, George Wylesol
PHOTOGRAPHS: Nico Froehlich; David Guttenfelder/New York Times/Redux/laif; Getty Images; Josh Valcarcel/NASA, Bompas & Parr; Ademola Olaniran and Jide Atobatele; The Metals Company/Richard Baron; Shutterstock; Prod Antzoulis; iStock
© 2023 The Economist Newspaper Limited. All rights reserved. Neither this publication nor any part of it may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical,
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Where opinion is expressed it is that of the authors and does not necessarily coincide with the editorial views of the publisher or The Economist.
FOCUS
CHEFREDAKTEUR: Franziska Reich, Georg Meck (V. i. S. d. P. für den deutschen Sonderteil, Anschrift siehe Verlag) STELLVERTRETENDE CHEFREDAKTEURE: Markus Krischer, Jörg Harlan Rohleder,
CREATIVE DIRECTOR: Frances Uckermann VISUAL ART DIRECTION: Frank Seidlitz CHEFIN VOM DIENST: Sonja Wiggermann MITARBEITER DIESER AUSGABE: Corinna Baier, Bernhard Borgeest, Jobst-Ulrich Brand, Uli Dönch, Gudrun Dometeit, Christoph Elflein,
Felix Heck, Sonja Fröhlich, Markus C. Hurek, Anja Maier, Kurt-Martin Mayer, Mike Szymanski, Thomas Tuma, Lara Wernig, Janna Wolf TITEL: Kristian Heuer LAYOUT: Petra Vogt DOKUMENTATION: Jochen Bausback, Joachim-Jobst Petersen, Fabrice Rüping
FREIE MITARBEITER DIESER AUSGABE: Heike Blümner, Michael Kneissler, Claudia Krischer, Harald Peters (Text), Carlos Marino (Layout/Infografik/ Produktion), Franziska Lentes (Bildredaktion), Dunja Bialas, Dr. Angelika Koller, Dr. Alfred Lutz, Anja Scharruhn,
Heike Spruth, Catherine Velte, Ute Wiemer (Dokumentation), Andreas Fink, Reinhard Keck, Sascha Mattke, Susanne Möllenbeck, Andrea Schleipen, Beate Strobel (Übersetzung engl. Teil), SCHLUSSREDAKTION: Lektornet GmbH, Hamburg
ILLUSTRATIONEN: André Gottschalk (dt. Sonderteil) FOTOS: action press; AFP; akg-images; Nick Ash; Dirk Bannert/Bundeswehr; Bridgeman Images; ddp images; DLR; dpa; EPA; Robert Fischer für FOCUS-Magazin;
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VERTRIEBSLEITER: Markus Cerny VERTRIEBSFIRMA: MZV GmbH & Co. KG, 85716 Unterschleißheim, www.mzv.de DRUCK: appl druck GmbH, Senefelder Straße 3, 86650 Wemding. Printed in Germany.
„Die Welt in 2024“ erscheint in der FOCUS Magazin Verlag GmbH, Arabellastraße 23, 81925 München. Nachdruck ist nur mit schriftlicher Genehmigung von The Economist Newspaper Limited gestattet.
Dieses gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und sonstige digitale Speicherungen. Artikel aus „Die Welt in 2024“ sind übersetzt von der FOCUS Magazin Verlag GmbH.
„Die Welt in 2024“ erscheint in Deutschland in exklusiver Lizenz von The Economist. © 2023 The Economist Newspaper Limited. All rights reserved.
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6 Die Welt in 2024
Die Welt in 2024
Von der Chefredaktion des FOCUS
D ie Zukunft ist ein offenes
Buch. Na ja, zumindest
wissen wir, was im Vorwort
dieses Buches steht. Um ehr-
lich zu sein, können wir nur
einen einzigen Satz lesen. Wir
mögen diesen Satz nicht. Ja,
wir fühlen uns von ihm derart
ungerecht beurteilt, dass wir
die Worte und ihren Sinn ver-
drängen. Aber der Satz kehrt
immer wieder ins Gedächtnis
zurück. Er lautet: Der Mensch
ist dem Menschen ein Wolf.
Auch wenn wir es nicht
wahrhaben wollen: Wir können
wissenschaftliche und techni-
sche Wunder vollbringen, wir
können Krankheiten besiegen,
wir überwinden galaktische
Weiten und dringen in Nano-
welten vor, wir bauen Quan-
tencomputer und KI-Algorith-
men. Aber uns abzugewöhnen,
dem anderen zu schaden, ihn
zu verletzen oder gar zu töten –
das können wir nicht.
Zwar können wir Kon-
flikte moderieren, mildern,
bändigen, schlichten oder für
einige Zeit einfrieren. Der
Konflikt aber bleibt, weil die
Leidenschaft und die Fähig-
keit zum Konflikt bleiben. Die
fatale Lust, dem anderen etwas
streitig zu machen, gehört
zum Menschen wie der auf-
rechte Gang. Sie gehört auch
zu jenem Kunstwesen, das die
Vernunft für das Zusammen-
leben der Menschen ersonnen
hat – dem Staat.
Wenn die Geschichte es
gut meint, verlieren staatli-
che Konflikte mit der Zeit an
Bedeutung. Die vergangenen
Jahre aber haben uns daran
erinnert, dass es die Geschich-
te meist weniger gut meint.
Der Krieg, mit dem Russland
die Ukraine überzog, mag der
Plan eines einzelnen Despoten
gewesen sein. Er war aber nur
möglich, weil der Konflikt viel
tiefer reicht als in die Seele des
Verbrechers im Kreml. Russ-
land empfindet die Existenz
einer freien Ukraine seit ihrem
Schritt in die Unabhängig-
keit 1991 als Provokation und
Gefahr. Auch wenn sich die
Welt nach dem Zerfall der
Sowjetunion eingeredet haben
mag, dass die Zeit der heißen
und kalten Kriege überwunden
sei, so schwelte es im Osten
Europas doch immer weiter.
So wie der Hass und die
Mordgier im Nahen Osten
immer neue Nahrung fanden.
Allen Missionen, Plänen, Kon-
ferenzen und Nobelpreisen des
Friedens zum Trotz. Das Mas-
saker des 7. Oktober belegt,
dass der palästinensische Ter-
ror nur eine einzige, perverse
Lösung des Konflikts mit Israel
gelten lassen würde: die Ver-
nichtung des jüdischen Volkes
Kriege waren, sind und blei-
ben die Konstante des Welt-
Schurken haben Kon-
junktur. In einer Welt, die
sich wieder teilt, finden
sie mächtige Freunde
geschehens. Die ausgebroche-
nen Kriege genauso wie jene,
die ausbrechen können. In
Afrika, auf dem Balkan oder
in Asien. Im Streit um Taiwan
mag seit über einem halben
Jahrhundert kein Blut geflos-
sen sein. Und doch ist die Lage
derart angespannt, dass das
große Schlachten schon mor-
gen beginnen könnte.
Kriege lassen sich auf Eis
legen, aber wer garantiert,
dass die Temperaturen ewig
unter null bleiben? In Korea
bildet der 38. Breitengrad seit
70 Jahren eine Demarkations-
linie. Vier Millionen Menschen
bezahlten mit ihrem Leben
für diese Grenze. Der Krieg ist
längst vergessen. Aber ist er
vorbei? Der Norden des Landes
ist in der Gewalt eines Dikta-
tors, der seine Provokationen
immer weiter treibt. Lange Zeit
galt das Reich dieses Schur-
ken als lästiges, aber letztlich
akzeptiertes globales Übel. So
wie das Regime in Teheran.
Schurken aber haben Kon-
junktur. In einer Welt, die sich
wieder in große Einflusssphä-
ren zu teilen beginnt, gewin-
nen Schurken mächtige Freun-
de. Putin etwa sucht die Nähe
zu den Mullahs und zu Kim
Jong-un. Brandstifter mögen
Brandstifter.
Kriege werden auch für
das kommende Jahr bestim-
mend sein. Für die Nationen,
die sie führen, und weit darü-
ber hinaus. So prägt der Krieg
in der Ukraine die gesamte
Welt. Er ordnet sie neu. Ein
entscheidendes politisches
Ereignis 2024, die Wahl des
nächsten Präsidenten in den
USA am 5. November, ist in
seiner Bedeutung nur vor dem
Hintergrund dieses Krieges
zu verstehen. Sollte Donald
Trump wieder ins Weiße Haus
einziehen – würden die USA
die Ukraine weiter so massiv
unterstützen? Deutschland und
seine europäischen Verbünde-
ten müssen darauf vorbereitet
sein, für die Verteidigung der
Ukraine und für die Vertei-
digung der eigenen Freiheit
noch mehr zu tun.
Der Krieg schärft den Blick
und die Begriffe. Statt um den
großen Ausgleich, die lang-
ersehnte Versöhnung, geht es
um Konkretes: um Geld, um
Waffenhilfe und Getreidelie-
ferungen, um den Erfolg oder
Misserfolg einer Offensive,
um Konvois mit Medikamen-
ten, Nahrungsmitteln und
Benzin. Um das Ob und Wie
einer Waffenruhe.
Das kommende Jahr ent-
scheidet sich an konkreten
Fragen. Wie kommen die
gegnerischen Heere aus dem
ukrainischen Winter? Welche
Waffen erhält Selenskyj vom
Westen? Befiehlt Teheran der
Hisbollah den Angriff? Kann
Israel Gaza verwalten?
Allen Widrigkeiten zum
Trotz: Dem Jahr 2024 nähern
wir uns nüchtern, aber keines-
wegs verzagt. Die Zukunft
ist ein offenes Buch, weil die
Seiten dieses Buches noch
nicht geschrieben sind.
Bis auf diesen einen Satz im
Vorwort vielleicht. A
FRANZISKA REICH,
Chefredakteurin, und
GEORG MECK, Chefredakteur,
FOCUS Magazin
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8 Die Welt in 2024
The World Ahead 2024
Vom Chefredakteur
D as Leben verläuft rasant.
Die Zunahme bewaffne­
ter Konflikte, die Neuordnung
der Energieressourcen oder der
rasante Fortschritt der künst­
lichen Intelligenz – die Welt
verändert sich mit irrsinniger
Geschwindigkeit. Von der Lage
im Nahen Osten über die Ein­
führung von Elektroautos bis
hin zur Behandlung der Fett­
leibigkeit – vieles sieht heute
ganz anders aus als noch vor
ein oder zwei Jahren. Wir
möchten Ihnen helfen, Ihr Welt­
bild auf den neuesten Stand zu
bringen – und auf das hinwei­
sen, was bald wichtig werden
kann. Zum Auftakt stellen wir
Ihnen zehn Themen vor, die Sie
im neuen Jahr beachten sollten.
1. Wahlkampf!
Urnengänge, bei denen
mehr Menschen als je zuvor
abstimmen, werfen in 2024
ein Schlaglicht auf den Zu­
stand der Demokratie in aller
Welt. Mehr als 70 Wahlen sol­
len stattfinden, in Ländern,
in denen rund 4,2 Milliarden
Menschen leben. Das bedeutet
nicht automatisch mehr Demo­
kratie: Viele Wahlen werden
weder frei noch fair ablaufen.
2. Amerikas globale
Entscheidung
Wähler und Gerichte werden
über Donald Trump urteilen.
Demoskopen geben ihm eine
Chance von eins zu drei, wie­
der US­Präsident zu werden.
Entscheiden könnten einige
Zehntausend Wähler in einer
Handvoll Swing States. Die
Auswirkungen werden welt­
weit zu spüren sein – von der
Klimapolitik bis zur Unterstüt­
zung der Ukraine. Weil Urnen­
gänge in Russland manipuliert
sind, dürfte die Zukunft Wladi­
mir Putins eher von US­Wäh­
lern abhängen als von jenen in
Russland.
3. Europa stellt sich
Europa sagt der Ukraine
militärische und wirtschaft­
liche Unterstützung für einen
langen Kampf zu, während
es ihr den Weg zu einer EU­
Mitgliedschaft ebnet. Das ist
richtig und schützt vor dem
Risiko eines US­Rückziehers.
4. Unruhen im Nahen Osten
Der Angriff der Hamas auf
Israel und die israelischen
Vergeltungsmaßnahmen im
Gazastreifen haben die Region
auf den Kopf gestellt und die
Vorstellung zunichtegemacht,
dass die Welt die Notlage der
Palästinenser weiterhin igno­
rieren könnte. Wird sich der
Konflikt zu einem größeren
regionalen ausweiten – oder
bietet er eine Chance für den
Frieden? Für Amerika, die
überforderte Supermacht, ist
dies ein Test, ob es sich an eine
komplexere und bedrohlichere
Welt anpassen kann.
Wladimir Putins Zukunft
wird mehr von US-
Wählern abhängen als von
denen in Russland
5. Multipolare Störung
Amerikas Plan, sich nach
Asien zu orientieren und mehr
auf seine Rivalität mit China
zu konzentrieren, ist durch
den Krieg in der Ukraine und
jetzt im Gazastreifen entgleist.
Russland ist abgelenkt, verliert
an Einfluss. Eingefrorene Kri­
sen tauen auf, und lokale kalte
Kriege heizen sich auf. Die
Instabilität in der Sahelzone
nimmt zu. Die Welt bereitet
sich auf weitere Konflikte vor,
jetzt da Amerikas „unipolarer
Moment“ vorbei ist.
6. Ein zweiter Kalter Krieg
Nachdem China langsa­
mer wächst und die USA den
Zugang zu Spitzentechnolo­
gien beschränken, hat sich die
Rhetorik um einem „neuen
Kalten Krieg“ verschärft. West­
liche Unternehmen, die Chinas
Anteil an ihren Lieferketten
reduzieren möchten, werden
feststellen, dass dies leich­
ter gesagt ist als getan. Zu­
dem werden beide Seiten die
D
z
b
T
„Mittelmächte“ des globalen
Südens umwerben. Dort lagern
die grünen Ressourcen.
7. Neue Energiegeografie
Die Energiewende gebiert
neue Supermächte und zeich­
net die Landkarte der Ener­
gieressourcen neu. Lithium,
Kupfer und Nickel gewinnen
an Bedeutung, während Öl
und Gas sowie deren Her­
kunftsländer an Bedeutung
verlieren. Der Wettlauf um
grüne Ressourcen verändert
Geopolitik und Handel, gene­
riert unerwartete Gewinner
und Verlierer.
8. Die Wirtschaft wackelt
Auch wenn viele Volkswirt­
schaften des Westens in 2023
besser abschnitten als erwar­
tet, sind sie nicht über den
Berg. Sollten die Zinssätze
länger höher bleiben, werden
Unternehmen und Verbrau­
cher das spüren. China könnte
in eine Deflation abrutschen.
9. Künstliche Intelligenz
wird Realität
Unternehmen wenden sie
an, und Techniker entwickeln
sie weiter. Die Debatten werden
intensiver. Ungeplante Anwen­
dungen, aber auch Missbrauch
werden auftreten. Viele fürch­
ten die Konsequenzen der KI
auf die Arbeitswelt und Mani­
pulationen von Wahlen. Die
größte tatsächliche Auswirkung
von künstlicher Intelligenz?
Schnelleres Coden.
10. Schöne, einige Welt?
Vielleicht werden ideologi­
sche Differenzen beiseitege­
schoben, wenn die Welt die
Olympischen Spiele in Paris
und die Mondumrundung der
Astronauten beklatscht. Wahr­
scheinlicher ist jedoch, dass
alle, die auf eine globale Ein­
heit hoffen, enttäuscht werden.
Bitte lesen Sie weiter, um
mehr über diese und andere
Entwicklungen zu erfahren –
und werfen Sie einen Blick auf
die „Trendlinien“, eine daten­
reiche Auswahl bemerkens­
werter Indikatoren für 2024,
von Superheldenfilmen bis zu
den Kosten für Weltraumstarts.
Wir hoffen, dass Ihnen „Die
Welt in 2024“ eine nützliche
Orientierungshilfe für das neue
Jahr sein kann. A
TOM STANDAGE, Chefredakteur,
The World Ahead 2024
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Die Welt in 2024
LEITARTIKEL
Demokratie in Gefahr
2024 wird ein stressiges Jahr für alle, denen liberale Demokratie wichtig ist, prophezeit Zanny Minton Beddoes
M ehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in
Ländern, in denen 2024 zum ersten Mal landes-
weit gewählt wird. Fast zwei Milliarden Menschen
werden in mehr als 70 Ländern zur Wahl gehen. Von
Großbritannien bis Bangladesch, von Indien bis Indone-
sien. Doch was nach einem Triumph für die Demokratie
klingt, wird sich als das glatte Gegenteil erweisen.
Viele Wahlen werden nämlich autoritäre Machthaber
zementieren. Andere werden Korrupte und Unfähige
belohnen. Die bei Weitem wichtigste Wahl, die US-
Präsidentschaftswahl, wird so giftig und polarisierend
verlaufen, dass die Folgen für die Weltpolitik haben
wird. Im Angesicht der Konflikte in der Ukraine und in
Nahost steht der künftige Kurs der USA auf dem Spiel –
und damit auch die Weltordnung unter amerikanischer
Führung. Es wird ein nervenaufreibendes und gefähr-
liches Jahr.
Einige Wahlen sind nichts als Farce. In Weißruss-
land oder Ruanda etwa geht es allein darum, wie nahe
der Amtsinhaber an die 100-Prozent-Marke heran-
kommt. Nachdem er illegalerweise die Verfassung 2020
umschrieb, wird Wladimir Putin zweifellos eine dritte
Amtszeit in Folge (und die fünfte insgesamt) als russi-
scher Präsident gewinnen.
In Asien werden die meisten Voten abgegeben.
Die größten Demokratien – Bangladesch, Indien und
Indonesien – rufen an die Urnen. Leider droht hier ein
zunehmender Verlust an Freiheiten. Indien ist unter
Narendra Modi wirtschaftlich und geopolitisch erfolg-
reich, aber er toleriert antimuslimischen Chauvinismus
und den Abbau institutionellen Schutzes. Indonesiens
Präsident Joko Widodo scheint seine politische Dynastie
konsolidieren zu wollen. Bangladesch hat bereits einen
autoritären Kurs eingeschlagen.
11
In Afrika wird es die meisten Wahlen geben, aber
dort sind die Bürger zunehmend desillusioniert über
die Funktionsweise der Demokratie. Staatsstreiche
werden immer häufiger: Seit 2020 haben neun Regime
die Macht gewaltsam an sich gerissen. Umfragen be-
sagen, dass immer mehr Afrikaner bereit wären, eine
Militärregierung zu akzeptieren. Die Wahlen in Süd-
afrika werden an eine Serie von Enttäuschungen er-
innern. Drei Jahrzehnte nachdem der ANC nach der
Apartheid erstmals an die Macht kam, wird er in einem
Land, das von Korruption, Kriminalität und Arbeits-
losigkeit zermürbt ist, erneut gewählt werden.
Es gibt nicht nur schlechte Nachrichten. Mexiko
wird seine erste Präsidentin wählen: Beide Spitzen-
kandidaten sind Frauen und weniger populistisch als
der Amtsinhaber. Die britischen Wähler werden (end-
lich) die Wahl zwischen zwei kompetenten Kandidaten
haben. Nach 14 Jahren Tory-Herrschaft ist ein Sieg der
Labourpartei wahrscheinlich. Manche Urnengänge
haben erheblichen Einfluss über die Landesgrenzen
hinaus. Ob Taiwans 18 Millionen Wähler der regieren-
den Demokratischen Fortschrittspartei oder der china-
freundlicheren Kuomintang (KMT) ihre Stimme geben,
wird jenseits der Taiwanstraße Spuren hinterlassen.
Nichts wird jedoch mit der Wahl in den USA ver-
gleichbar sein. Weder was das Spektakel noch was die
möglichen Folgen betrifft. Kaum zu glauben, dass das
wahrscheinlichste Ergebnis eine Neuauflage der Wahl
zwischen zwei alten Männern ist, die eine Mehrheit der
Wähler nicht mehr kandidieren sehen will.
Allein die Bewerbung von Donald Trump untergräbt
die amerikanische Demokratie. Dass die Republikani-
sche Partei einen Mann nominieren könnte, der ver-
sucht hat, die Ergebnisse der letzten Präsidentschafts-
wahlen umzuwerfen, beschädigt das Prestige der USA
als Leuchtfeuer der Demokratie. Eine zweite Amtszeit
Trumps würde die Vereinigten Staaten in einer Zeit gro-
ßer geopolitischer Gefahren zu einem unberechenbaren
Staat mit isolationistischen Tendenzen machen. Seine
Vorliebe für starke Männer, insbesondere für Putin, lässt
befürchten, dass sein Versprechen, den Konflikt zwi-
schen Russland und der Ukraine innerhalb von 24 Stun-
den zu beenden, auf Kosten der Ukraine gehen würde.
Es kann sein, dass Trump nicht nominiert wird, und
Die ver- wenn er antritt, kann er verlieren. Aber die Chancen für
giftete, pola- eine zweite Amtszeit sind alarmierend hoch. Das könnte
risierende katastrophale Folgen haben – für die Demokratie und
US-Wahl für die Welt. A
wird Folgen
für die Welt- ZANNY MINTON BEDDOES Chefredakteurin,
politik haben The Economist
12 LeitartikeL
Multipolare Störung
Im Jahr 2024 muss die Welt versuchen, den Teufelskreis der Unsicherheit zu durchbrechen, argumentiert Patrick Foulis
E nde 2023 wüteten Kriege in Afrika, Israel und
Gaza sowie in der Ukraine. Kombiniert mit einem
Präsidentschaftswahlkampf in den USA könnte 2024
zu einem Jahr werden, in dem es für die Weltordnung
nach 1945 um alles oder nichts geht.
Die 2020er Jahre waren vorherbestimmt, gefährlich
zu werden. Erstmals seit dem 19. Jahrhundert ist der An-
teil des Westens an der Gesamtwirtschaftsleistung des
Planeten Richtung 50-Prozent-Marke gesunken. Länder
wie Indien und die Türkei beklagen, dass die nach 1945
geschaffenen globalen Institutionen ihre Anliegen nicht
berücksichtigen. China und Russland wollen gar das
System unterminieren. Obwohl die US-Wirtschaft noch
dominiert, ist die unipolare Ära vorbei. US-Verbündete
in Europa und Japan befinden sich im wirtschaftlichen
Sinkflug. In der US-Mittelschicht findet ein globales
Engagement ihres Landes wenig Freunde, und die Repu-
blikanische Partei neigt zum Isolationismus.
Zu Beginn des Jahres 2023 versuchten die USA, sich
an diese Realität anzupassen. Die Supermacht wurde
wählerisch, sogar egoistisch. Das hieß, Afghanistan
aufzugeben und Kräfte nach Asien zu verlagern, um
China die Stirn zu bieten. Die Bündnisse im Pazifik und
in Europa wurden aufgefrischt, die Nato erweitert und
die Ukraine unterstützt. Energie- und Technologieem-
bargos sollten Gegner schwächen, ohne viel zu kosten.
Heimische Industriesubventionen waren ineffizient,
aber effektiv: Mitte 2023 erreichte die Produktion in US-
Fabriken den höchsten Stand seit den 1950er Jahren.
Nach einigen Kriterien – Öl- und Getreidepreise,
westliche Kriegsopfer – scheint das geopolitische Risiko
tragbar. Doch die neue Dynamik birgt Instabilität in
sich. In den 1990ern strebten viele Länder einen sich
selbst verstärkenden Kreislauf von Freiheit, Marktwirt-
schaft und regelbasierter Globalisierung an. Heute erle-
ben wir einen unberechenbaren Zyklus von Populismus,
interventionistischer Wirtschaftspolitik und transaktio-
naler Globalisierung. Daher drohen 2024 drei Gefahren:
Erstens wächst eine Zone der Straflosigkeit, in die
weder globale Mächte noch globale Institutionen vor-
dringen. Dieses Gebiet erstreckt sich vom Roten Meer
bis zum Atlantik, durch sechs afrikanische Länder, wo
in den letzten 36 Monaten Staatsstreiche stattfanden.
Die Welt in 2024
Aserbaidschan hat einen Krieg gegen Armenien geführt,
ethnische Säuberungen eingeschlossen: ohne größere
Reaktionen. Statthalter Irans erstarken im Nahen Osten.
2024 könnte sich die Zone der Straflosigkeit weiter nach
Afrika und Russland ausdehnen.
Zweitens bildet sich ein Problem-Trio heraus. China,
Iran und Russland haben wohl weniger gemein als die
westlichen Verbündeten, und China ist deutlich grö-
ßer und stärker in die Weltwirtschaft integriert als die
anderen. Aber ihre Interessen überschneiden sich: Alle
wollen die Legitimität der USA untergraben und tat-
sächliche oder potenzielle Sanktionen umgehen. China
kauft russisches und iranisches Öl. Keiner hat die An-
griffe durch die Hamas oder die Invasion der Ukraine
verurteilt. China ist Vorreiter beim Umgehen west-
licher Finanzkontrollen und wickelt bereits die Hälfte
seines Handels in Yuan ab. Der Iran exportiert Drohnen
nach Russland. Peking und Moskau kooperieren bei
Nuklearwarnsystemen und Patrouillen im Pazifik.
Die dritte Bedrohung ist die Zerbrechlichkeit der
westlichen Koalition. Zunächst war die Reaktion auf
die Invasion der Ukraine berauschend: Amerika und
Europa waren sich einig, die öffentliche Meinung unter-
stützte sie, die Ordnung von 1945 wurde verteidigt, auch
wenn viele nicht-westliche Länder nicht an Bord waren.
Doch jetzt, in der militärischen Pattsituation, zeigen sich
Risse. Die US-Republikaner sind sich uneins über die
Finanzierung der Ukraine. Israels Invasion des Gaza-
streifens hat die EU und die USA gespalten. Andere
Krisen könnten neue Zwiste auslösen. Würde Europa
den USA bei der Verteidigung Taiwans helfen?
Wie sich diese Bedrohungen 2024 auswirken werden,
hängt auch von den autokratischen Konkurrenten ab.
Die unterschiedlichen Regime in China, Iran und Russ-
land haben auch ähnliche Schwächen. Alle stecken in
wirtschaftlichen Schwierigkeiten und erhöhen die Re-
pression. Wladimir Putin stand 2023 vor einer Meuterei,
Ajatollah Ali Chamenei ist 84 und hat keinen klaren
Nachfolger, Xi Jinping setzt auf Säuberungen.
Entscheidend ist jedoch die US-Wahl. Ein isolatio-
nistischer Präsident dürfte schnell auf die Probe gestellt
werden: etwa mit einer „Inspektion“ taiwanesischer
Schiffe durch China oder einer „Neuinterpretation“
der Grenzen durch Russland. Sollten die USA lavieren,
wird Europa in der Ukraine Probleme bekommen. Die
asiatischen Verbündeten werden ihre Verteidigung
gegenüber China ausbauen. Mächte wie Südkorea
und Saudi-Arabien könnten nach Atomwaffen streben.
Sollte Ende 2024 ein Internationalist gewählt wer-
den, dürfte ein Großteil der Welt aufatmen. Aber die
USA haben noch einen langen Weg vor sich, um das
internationale Handels- und Sicherheitssystem zu stabi-
Die ent­ lisieren und zu modernisieren. Es stehen an: eine Erwei-
scheidende terung Europas, vertiefte Kooperation mit Indien und
Bedrohung eine Zweistaatenlösung zwischen Israel und den Paläs-
ist die Fragi­ tinensern. Vielleicht werden die Historiker eines Tages
von der Ordnung nach 2025 sprechen. A
lität der
westlichen
Koalition PATRICK FOULIS Ressortleiter Ausland, The Economist
Die Welt in 2024
Es gibt eine Chance auf Frieden im Nahen Osten!
Aber der Weg dorthin wird erschreckend steinig, sagt Edward Carr
W enn 2023 das Jahr war, in dem der Palästina-Kon-
flikt den Nahen Osten aufrüttelte, so könnte 2024
aufzeigen, ob der Nahe Osten den Konflikt abschütteln
kann. Nach so vielen Toten mag es fürchterlich klingen,
aber es ist die größte Chance auf Frieden in der Region
seit zwei Jahrzehnten. Gleichzeitig ist auch die Gefahr,
dass der Palästina-Konflikt außer Kontrolle gerät, größer
denn je. Welches Szenario wird eintreten?
Nach der Ermordung von 1200 Israelis durch die
Hamas wird sich im Jahr 2024 vieles ändern. Israel und
ein Großteil der arabischen Welt können nicht länger
die Misere der Palästinenser ignorieren. Niemand kann
mehr so tun, als könnten finanzielle Anreize und israeli-
sche Luftangriffe die Hamas im Zaum halten. Will Israel
sein Gründungsversprechen einlösen, eine sichere Hei-
mat für Juden zu sein, muss ein neuer Ansatz her.
Der Angriff wird wohl neue Führer auf beiden Seiten
hervorbringen. Israels Militär- und Geheimdienstchefs
werden zurücktreten, wenn der Krieg vorbei ist. Pre-
mierminister Benjamin Netanjahu wird aus dem Amt
gezwungen werden. Unter seiner Führung hat sich die
Katastrophe zugetragen, damit verlor er sein politisches
Markenzeichen als standhafter Verteidiger Israels.
Gleichzeitig werden die Köpfe der Hamas wohl von
Israels Streitkräften ausgelöscht, und ihre Pendants in
der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) im West-
jordanland könnten entmachtet werden.
Mehrere Faktoren könnten die Lage aber verschlech-
tern. Zunächst der Krieg selbst. Die israelischen Streit-
kräfte töten gerade Abertausende Palästinenser, darun-
ter viele Frauen und Kinder. Inmitten der verständlichen
Wut in der arabischen Welt und darüber hinaus würde
das bloße Überleben der Hamas die Gruppe aus Sicht
der Palästinenser stärken. Verlöre Israel die internatio-
nale Unterstützung, könnte es gezwungen sein, den
Kampf früher zu beenden als beabsichtigt. Falls sich
die Palästinenser radikalisieren, könnte die Hamas zum
Symbol des Widerstands werden.
Eine weitere Gefahr wäre ein Flächenbrand. Die
Hisbollah, die vom Iran unterstützte Miliz, könnte an
der Grenze zum Libanon eine zweite Front eröffnen.
Wahrscheinlicher sind Unruhen im Westjordanland, wo
die Hamas in letzter Zeit an Einfluss gewann und
LeitartikeL 13
junge Palästinenser das Vertrauen in die PA und ihren
Präsidenten Mahmud Abbas verloren, der nichts unter-
nimmt und Wahlen vermeidet. Sollte die Hamas die
Kontrolle über Gaza behalten und das Westjordanland
in Flammen stehen, wäre Israel nicht sicher. Es müsste
Gaza dann immer wieder angreifen, um erneute Atta-
cken von dort zu verhindern. Kein palästinensischer
Führer würde mit Israel verhandeln können, selbst wenn
er es wollte. Die arabische Welt würde sich distanzieren.
Das Heilige Land wäre dann in einem permanenten
Halbkriegszustand.
Aber das alles muss nicht eintreten. Die Operation
zur Zerstörung der Hamas und ihrer Tunnel kann
mehrere Monate dauern. Stellen wir uns für danach
drei Dinge vor: dass sich Israel damit zufriedengibt,
die Herrschaft der Hamas gebrochen zu haben. Dass
einfache Palästinenser künftig in Frieden an der Seite
Israels leben wollen. Und dass es die Biden-Adminis-
tration auch auf dem Höhepunkt des Präsidentschafts-
wahlkampfs noch bewerkstelligt, aktiv Diplomatie zu
betreiben. Die Wahrscheinlichkeit, dass all dies eintritt,
mag gering sein, aber sollte das gelingen, könnte ein
vorsichtiger Übergang einsetzen.
Dieser begänne in den Palästinensergebieten mit
einer Führung, die durch Wahlen legimitiert ist und
Israels Existenzrecht anerkennt. Nur diese Kombination
könnte einen Partner hervorbringen, mit dem Israel vor-
sichtig Vertrauen aufbauen kann. Solange die Palästi-
nenser über die Angriffe auf Gaza vor Wut kochen, wird
sich niemand finden. Abbas hat es so eingerichtet, dass
er heute keine Rivalen hat. Aber sobald er fort ist, wer-
den neue Führer auftreten.
Israels neue Regierung wird es ähnlich schwer
haben. Sie muss nicht nur die traumatisierten Israelis
für einen Frieden gewinnen, sondern auch die Sied-
lerbewegung bremsen, die noch nie so stark war wie
unter der Regierung Netanjahu. Solange Siedler im
Westjordanland töten, wird es keinen Frieden geben.
Ebenso schwierig wird es sein, in Israel und den Paläs-
tinensergebieten die Sicherheit zu schaffen, die Frieden
braucht. Bisher konnten Friedensgegner die gemäßig-
ten Stimmen mit Gewalt diskreditieren.
Nirgendwo ist dieses Problem virulenter als in Gaza.
Eine israelische Besatzung würde die Palästinenser
dort radikalisieren. Manche stellen sich eine arabische
Friedenstruppe vor – eher bewaffnete Polizisten als Sol-
daten. Die arabischen Länder, die durch das Abraham-
Abkommen heute engere Beziehungen zu Israel haben
als früher, könnten helfen. Sie werden viel Überzeu-
Der Angriff gungsarbeit leisten müssen.
der Hamas Der Nahe Osten ist der Friedhof aller Friedens-
pläne. Er ist ein harter und brutaler Teil der Welt. Aber
zerstörte die 2024 sollte man sich an eine Hoffnung klammern.
Vorstellung, Nach zwei Jahrzehnten Stagnation, die am 7. Oktober
dass die so schrecklich endete, ist die einzige frische Idee das
Misere der Streben nach Frieden. A
Palästinenser
ignoriert wer- EDWARD CARR Stellvertretender Chefredakteur,
den könnte The Economist
14 LeitartikeL
Europa muss sich engagieren
Es droht ein langer Krieg in der Ukraine. Darum sollte sich Europa nicht mehr auf die USA verlassen, argumentiert Christopher Lockwood
E s scheint klar, dass die in Kiew und im Westen groß
angekündigte ukrainische Gegenoffensive 2023
scheitern wird, wenn nicht in letzter Minute noch ein
Wunder geschieht. Nach fünf Monaten verlustreicher
Kämpfe waren die Resultate Anfang November mini-
mal. Keine größere Stadt konnte eingenommen und nur
etwa 400 Quadratkilometer Land befreit werden, we-
niger als 0,1 Prozent der Fläche der Ukraine. Russland
hält immer noch etwa 18 Prozent der Ukraine besetzt,
etwa die Hälfte davon seit 2014, als es die Krim annek-
tierte und den östlichen Donbass anschloss, sowie das,
was von der Invasion seit Februar 2022 übrig ist.
Alles deutet nun auf einen langen Zermürbungs-
krieg hin. Wladimir Putin wartet darauf, dass der
Westen müde wird von dem, was zunehmend wie ein
Engagement mit offenem Ausgang aussieht. Ein langer
Krieg hilft ihm. Als Diktator, der Kritiker ausgeschaltet
hat, schert er sich wenig um die öffentliche Meinung.
Ohnehin zeigen die Russen trotz hoher Verluste kaum
Anzeichen von Kriegsmüdigkeit, auch weil der hohe
Ölpreis die Folgen westlicher Sanktionen mildert. In
Europa und vor allem in Amerika besteht die Gefahr,
dass Wähler und Politiker der Last überdrüssig werden.
Von der Gegenoffensive war zu viel erwartet wor-
den, zu gering war die Vorbereitung auf einen langen
Krieg. Das muss sich ändern. Weder die Ukraine noch
Russland haben ein Interesse an einem Frieden auf
dem Status quo. Die Ukraine kann nicht akzeptieren,
dass Russland das eroberte Gebiet behält, allein schon,
weil ein Verlust weiter Teile der Südküste massive wirt-
schaftliche Einbußen brächte. Aber auch für Russland
sieht die Invasion weiter wie ein Misserfolg aus, da es
keine der vier im September 2022 annektierten Provin-
zen voll kontrolliert. Darum ist nicht zu erwarten, dass
sich beide Seiten 2024 um eine Einigung bemühen.
Diese Realität erfordert eine neue Politik, insbeson-
dere von europäischen Regierungschefs, die begreifen
müssen, dass die Verantwortung für die Ukraine rasch
auf sie übergeht. Während die Ukraine anfangs die
meisten Waffen aus den USA bekam, hat Europa seine
Hilfe 2023 ausgebaut und wurde zum Waffenlieferanten
Nummer eins. Dies schmälerte eigene Bestände. Ohne
massive Investitionen in Rüstung wird Europa dieses
Die Welt in 2024
Tempo nicht halten können. Die Rüstungskonzerne
werden die Produktion in bestehenden Werken erhöhen,
aber das wird nicht reichen. Für den Bau neuer Werke
brauchen sie Zusagen der Regierungen.
Besser sieht es bei den wirtschaftlichen Zusagen aus,
um das von Kriegsausgaben zerschlissene Haushalts-
defizit der Ukraine zu schließen. Im Juni hat die EU
der Ukraine für 2024 bis 2027 zusätzliche Finanzhilfen
in Höhe von 50 Milliarden Euro zugesagt. Damit liegt
Europa bei den Hilfszusagen deutlich vor den USA.
Nach Angaben des Kiel Instituts für Weltwirtschaft
beliefen sich die US-Zusagen bis Ende Juli auf 69 Mil-
liarden Dollar, während die Europäer (EU plus Groß-
britannien, Norwegen und die Schweiz) 155 Milliarden
Dollar zugesagt hatten. Wegen ihres Haushaltsdefizits
von etwa 20 Prozent des BIP benötigt die Ukraine
jedoch jährlich rund 42 Milliarden Dollar, um über die
Runden zu kommen. Dazu kommt der Wiederaufbau.
Da werden 50 Milliarden Euro über vier Jahre nicht
ausreichen. Europas Regierungen könnten sich leicht
mehr leisten. Aber wollen sie das auch?
Tatsache ist, dass niemand mehr darauf zählen
kann, dass die USA diesen Kampf anführen. Der neue
Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson,
versuchte gleich zu Beginn seiner Amtszeit, ein neues
Paket von Präsident Joe Biden von 61 Milliarden Dollar
an Militärhilfe für die Ukraine zu blockieren. Gleich-
zeitig versicherte Johnson auch, dass er nicht wolle,
dass Putin die Oberhand gewinnt. Donald Trump ist
ein noch größeres Rätsel, da er sich in der Ukraine-
Frage, wie in so vielen anderen Fragen, oft selbst
widersprochen hat. Biden, der die Ukraine bisher sehr
unterstützte, könnte im Vorfeld der November-Wahlen
davor zurückschrecken, sich mit den Republikanern
anzulegen. Alle G7-Länder haben erklärt, der Ukraine
bilaterale Sicherheitsgarantien zu geben, aber bisher
hat dies kein einziges Land getan.
Europa wird also, ob es will oder nicht, deutlich
mehr Verantwortung für die Ukraine übernehmen
müssen. Das bedeutet, dass mehr Geldmittel bereit-
gestellt werden müssen, aber auch, dass deutlich
mehr in militärische Ausrüstung investiert werden
muss, damit Europa die Ukraine weiter bewaffnen
kann, ohne sich selbst zu entblößen. Europa kann
der Ukraine auch helfen, wenn es die Integration des
Kriegslandes in die EU beschleunigt. Die Ukraine
wurde im Juni 2022 formell als Beitrittskandidat aner-
kannt, aber die offiziellen Beitrittsgespräche haben
noch nicht begonnen. Die Staats- und Regierungschefs
der EU sollten auf ihrem Gipfeltreffen im Dezember
2023 grünes Licht für die Aufnahme detaillierter Ver-
handlungen geben und gleichzeitig deutlich machen,
Europa kann dass sich diese nicht über Jahre hinziehen dürfen.
auch helfen, Eingebunden in die riesige europäische Wirtschaft
indem es die hat die Ukraine deutlich bessere Chancen, sich gegen
Integration Russland zu behaupten – und Putin zu überleben. A
der Ukraine
in die EU CHRISTOPHER LOCKWOOD Ressortleiter Europa,
beschleunigt The Economist
Die Welt in 2024
Nie da gewesen, unfassbar, aber nicht undenkbar
Die Vereinigten Staaten werden vor den Präsidentschaftswahlen sprachlich aufrüsten müssen, sagt John Prideaux
S ollten nicht unvorhergesehene Krankheiten oder
gar ein Todesfall dazwischenkommen, werden die
Präsidentschaftswahlen 2024 zu einer zweiten Runde
zwischen Joe Biden und Donald Trump. Dies werden
die Vorwahlen bestätigen, die im Jahr 2024 früher
als üblich abgehalten werden. Dabei ist es einerseits
üblich, dass amtierende Präsidenten ohne großen Kampf
zum Spitzenkandidaten ihrer Partei gekürt werden. Bei
den Demokraten wird dies der Fall sein. Aber bei den
Republikanern, wo Trump schon so weit führt, dass er
die öffentlichen Debatten mit seinen Gegnern schwän-
zen konnte, wird alles außergewöhnlich ablaufen.
In einem normalen Vorwahlzyklus stehen die
Herausforderer erst Ende März oder noch später fest.
Doch diesmal könnten die republikanischen Vorwah-
len schon Ende Februar abgeschlossen sein. Darum
dürfen sich die Amerikaner nun auf acht Monate
Vollwahlkampf zwischen zwei ziemlich unpopulären
Kandidaten gefasst machen, während Amerikas Ver-
bündete in aller Welt den Atem anhalten werden.
Weil die Vorwahlen kaum spannende Inhalte lie-
fern werden, wird sich das Interesse vieler politisch
engagierter Amerikaner (insbesondere jener, die keine
zweite Präsidentschaft des Republikaners wünschen)
vom Kandidaten Trump auf den Angeklagten Trump
verlagern. Der Bundesprozess wegen des Versuchs, das
Wahlergebnis 2020 zu missachten, beginnt am 4. März.
Einen Tag vor dem „Super Tuesday“, an dem die Repu-
blikaner in 13 Staaten ihren Frontrunner bestimmen.
Trumps Wahlkampfteam wird dieses Timing ausnut-
zen, um das Verfahren als linkes Komplott darzustellen
und seine Anhänger zu motivieren, nun erst recht für
ihn zu stimmen (und auch für seine Verfahrenskosten
zu spenden). Zu Trumps bevorzugten politischen Tech-
niken gehören das Umdrehen der Vorwürfe und die
Beschuldigung der Ankläger. Es könnte dazu kommen,
dass er jenem Bundesgericht, das ihn wegen Unter-
grabung der amerikanischen Demokratie anklagt, die
Bedrohung der demokratischen Freiheiten vorwirft.
Die Kür der Kandidaten wird in Milwaukee statt-
finden, wo die Republikaner im Juli ihren Parteitag
abhalten werden, und in Chicago, wo die Demokraten
im August zusammenkommen, um sich für vier weitere
LeitartikeL 15
Biden-Jahre zu begeistern (an deren Ende ihr Kandidat
86 Jahre alt sein wird). Die Austragungsorte sind Hin-
weise auf die wahlentscheidende Bedeutung des Mittle-
ren Westens. Tatsächlich werden diese Präsidentschafts-
wahlen nicht im ganzen Land entschieden. Wie schon
so oft dürfte das Ergebnis von wenigen Staaten abhän-
gen: Arizona, Georgia, Michigan, Nevada, Pennsyl-
vania and Wisconsin. Das bedeutet, dass nur 50 Millio-
nen Menschen – etwas mehr als die Einwohner Spani-
ens – den Präsidenten bestimmen werden. Ein größerer
Ausschlag in die eine oder andere Richtung könnte
eventuell auch noch Minnesota, New Hampshire, North
Carolina, vielleicht sogar Florida ins Spiel bringen.
Dass die Bundesgerichtsverfahren bis zum Wahltag
am 5. November abgeschlossen sind, ist kaum anzuneh-
men, denn Trumps Anwälte werden den Prozess erst
verzögern und dann in Berufung gehen. Daher werden
erstmals Stimmzettel ausgegeben, die den Namen eines
Kandidaten tragen, dem Bundes- und Staatsverbrechen
vorgeworfen werden. Wie soll man das nennen? Adjek-
tive wie „unglaublich“ und „beispiellos“ waren bereits
am Ende von Trumps erster Amtszeit verschlissen. Ame-
rika wird seinen Sprachschatz erweitern müssen.
Fraglos wird das Resultat enorm wichtig – für Ame-
rika und für den Rest der Welt. Einige Probleme der
nächsten vier Jahre sind absehbar. So geht etwa jenen
Treuhandfonds, aus denen Sozialversicherung und
Gesundheitsfürsorge für Amerikas Rentner finanziert
werden, das Geld aus. Die Atomwaffenentwicklung
Irans und Nordkoreas bleibt ein Thema. Und Taiwan.
China-Kenner warnen, dass es ein schmales Zeitfenster
gibt, in dem die Volksbefreiungsarmee in einem Kon-
flikt um die Insel im Vorteil wäre. Das fällt ausgerechnet
in die kommende Präsidentschaft.
Die meisten Krisen kündigen sich freilich nicht an.
Im Wahlkampf 2016 propagierte Trump Amerikas Rück-
zug aus dem Nahen Osten. Nicht mal ein Jahr darauf
befahl er den Abschuss von 59 Tomahawk-Marschflug-
körpern auf Ziele in Syrien. Das letzte Jahr seiner Prä-
sidentschaft wurde geprägt durch den unglücklichen
Umgang mit einem neuen Virus. Bidens Präsidentschaft
war ruhiger und erfolgreicher, aber die großen Krisen –
der jähe Rückzug aus Afghanistan, der Einmarsch der
Russen in die Ukraine und der Krieg zwischen Israel
und der Hamas – kamen überraschend. Ein zweiter Tri-
umph Trumps wäre indes ein Graus mit Ansage. In den
nächsten zehn Monaten wird er ein Schattenkabinett
aus Fanatikern bilden. Was würde das für die Außenpoli-
tik oder den Kampf gegen den Klimawandel bedeuten?
Würden andernorts wieder national-populistische Imitate
Die Be- an die Macht kommen wie in Brasilien 2018?
Für die USA wären die Fragezeichen noch größer:
deutung Was würde es für die Demokratie des Landes bedeuten,
dieser Wahl einen Mann wiederzuwählen, der so regiert hat wie
ist kaum zu Trump, gegen den der Kongress zwei Amtsenthebungs-
überschätzen. verfahren begann? Und der versucht hat, das Ergebnis
Für die USA der letzten Wahl umzudrehen? A
und für die
ganze Welt JOHN PRIDEAUX Ressortleiter für die USA, The Economist
16 LeitartikeL
Wirklich eine sanfte Landung?
Die Inflation lässt nach, aber die Weltwirtschaft bleibt weiter anfällig, prognostiziert Henry Curr
Z uletzt schien die Weltwirtschaft der Schwerkraft zu
trotzen. Trotz der schnellsten Straffung der Geld-
politik seit den 1980er Jahren hat sich das Wachstum
der US-Wirtschaft 2023 wohl beschleunigt. Europa hat
sich weitgehend vom russischen Gas entwöhnt, und das
ohne katastrophale Folgen. Weltweit ging die Inflation
zurück. Es gab nicht mehr Arbeitslose, was auch daran
lag, dass unbesetzte Stellen gestrichen wurden und
nicht bestehende Arbeitsverhältnisse. Ende 2023 konn-
ten all jene Optimisten, die eine „weiche Landung“
prognostiziert hatten, ihre Ehrenrunden drehen.
Aber: Die Weltwirtschaft bleibt auch 2024 fragil. Die
Inflation wird wohl sinken, aber noch nicht ausreichend.
Wirtschaftspolitik wird eine Gratwanderung bleiben.
Selbst wenn die Vereinigten Staaten wohl einer Rezes-
sion entkommen, erscheint der Rest der Welt anfällig.
Auch wenn das Nachlassen der Inflation viele Zen-
tralbanker erleichterte, sieht es nicht so aus, als könnten
die Teuerungsraten in den großen Volkswirtschaften die
Zielmarken von zwei Prozent erreichen, es sei denn, es
käme zu einer Rezession. Die Arbeitsmärkte scheinen
noch zu aufgeheizt und die Lohnzuwächse zu hoch.
Auch werden die gestiegenen Ölpreise Konsequenzen
haben. Gerade als es aussah, als hätten die Schocks
durch Covid-Pandemie und Ukraine-Krieg nachgelas-
sen, als wären Versorgungsketten entlastet, haben För-
derländer die Rohölpreise um rund ein Drittel erhöht.
Ein Preisrückgang wurde durch den Angriff der Hamas
auf Israel gestoppt. Verteuertes Benzin könnte die
Angst vor einer „zweiten Inflationswelle“ schüren.
Die großen Zentralbanken werden die Zinsen wohl
nicht weiter anheben, denn sie halten den Öl-Effekt für
vorübergehend. Aber sie werden die Zinsen auch nicht
senken, aus Angst vor verfrühtem Jubel. Jüngste Daten
lassen vermuten, dass die US-Wirtschaft einer Liquidi-
tätsverknappung standhalten kann, auch wenn große
Unternehmen nun ihre Schulden refinanzieren und
Haushalte, die ihre Pandemie-Ersparnisse aufgebraucht
haben, allmählich in Schwierigkeiten kommen. Die
ohnehin instabile Eurozone hingegen könnte durch die
hohen Zinsen in eine Rezession schlittern. Gleichzeitig
dürfte die Angst vor neuer Inflation die Entscheidungs-
träger von Zinssenkungen abhalten.
Die Welt in 2024
Auch Amerikas robuste Konjunktur hat einen
Schwachpunkt: Sie stützt sich auf eine enorme Staats-
verschuldung. Diese lag im Oktober 2023 bei mehr als
sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nun wird
debattiert, ob die Zinssätze für längere Zeit auf erhöh-
tem Niveau bleiben. Die Antwort hängt davon ab, ob
der Staat weiter kräftig Schulden macht. Damit ist zu
rechnen. Der Kongress wird das in einem Präsident-
schaftswahljahr sicher nicht zum Thema machen. Und
zu den ersten Aufgaben des nächsten Präsidenten wird
es gehören, Donald Trumps Steuersenkungen von 2018
zu erneuern, denn viele davon werden 2025 auslaufen.
Und selbst die Demokraten wollen nicht alle abschaffen.
Volkswirtschaften ohne Zugang zu Krediten erschei-
nen anfälliger. Während Europa wahrscheinlich in die
Rezession rutscht, leidet die Weltwirtschaft auch unter
dem langsamen Wachstum in China. Ob sich das Land
erholen und einer „japanischen Stagnation“ entgehen
kann, kommt darauf an, ob die Regierung weiterhin,
die Konjunkturhähne öffnet. Allerdings signalisieren die
jüngsten Misserfolge der chinesischen Wirtschaftspolitik
– vom jähen Abbruch der Zero-Covid-Politik bis zu den
Angriffen auf Technologiekonzerne – keinen wohldo-
sierten Stimulus. Außerdem hat China wenig Spielraum,
weil viele Lokalregierungen enorm verschuldet sind.
Außerdem könnten zunehmende Spannungen zwi-
schen den USA und China und eine weltweite Welle
des Protektionismus Sand ins Getriebe des Welthandels
streuen. Nach Angaben der gemeinnützigen Organi-
sation Global Trade Alert ist die Zahl der protektionis-
tischen Eingriffe von rund 9000 vor zehn Jahren auf
heute etwa 35 000 gestiegen. Obwohl einige asiatische
Volkswirtschaften vom Ausschluss Chinas aus west-
lichen Lieferketten profitieren, belasten Doppelinvesti-
tionen und der Verlust von Spezialisierungsvorteilen das
Wachstum. Und selbst Gewinner wie das schnell wach-
sende Indien zeigen eine besorgniserregende Konzen-
tration auf den Binnenmarkt. Arme Länder, die von der
Umverteilung der Investitionen nicht profitieren können,
leiden unter einer Verschuldung, geringem Wachstum
und einem starken Dollar. 2024 wird der IWF Wege
suchen müssen, um Schulden zu erlassen. Gerade jenen
Ländern, die bei China und anderen dubiosen Kredit-
gebern hoch verschuldet sind. Wenn die US-Wirtschaft
weiter auf Pump angekurbelt wird, während der Rest
der Welt dümpelt, dürfte der Dollar immer teurer wer-
den – und die Probleme vieler Länder verschlimmern.
Sollte Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehren,
werden sich all diese Trends wohl noch verstärken.
Eine zweite Amtszeit würde wahrscheinlich neue Steuer-
Wichtige senkungen – und damit höhere Defizite – sowie eine
weitere Eskalation des Handelskriegs bedeuten. Wie
Zentral­ 2016 könnten sich die Aktienmärkte erholen, aber eine
banken gute Nachricht wäre das nicht unbedingt. Zum Jahres-
werden die ende 2024 könnte sich das alles nicht mehr wie eine
Zinsen wahr­ weiche Landung anfühlen. Eher wie der Beginn einer
scheinlich neuen Rumpeltour. A
nicht weiter
erhöhen HENRY CURR Ressortleiter Wirtschaft, The Economist
Die Welt in 2024
Springe ich schon oder warte ich noch?
Generative künstliche Intelligenz verspricht Firmen große Chancen. Dennoch wird sie nicht über Nacht kommen, sagt Rachana Shanbhogue
A ls die Applikation ChatGPT Ende 2022 auf den
Markt kam, sorgte sie schnell für Furore. Inner-
halb von zwei Monaten stellten 100 Millionen Inter-
netnutzer alle möglichen Fragen („Schreib mir einen
Rap-Song mit Anspielungen auf Spongebob“). Die
Zahl der Menschen, die nach „künstlicher Intelligenz“
googelten, stieg sprunghaft an, und natürlich weckte
der Hype Investoren. Tatsächlich liegt das Versprechen
in der Anwendung in der Wirtschaft. Hier könnte die
KI sich schneller durchsetzen als frühere Innovationen.
Das Potenzial ist enorm. Die Unternehmensberatung
McKinsey glaubt, dass drei Viertel der Geschäftsanwen-
dungen von generativer KI auf vier Bereiche entfallen:
Customer Operations, Marketing und Vertrieb, Software
Engineering sowie Forschung und Entwicklung. Die
Navigation durch komplexe Steuervorschriften oder die
Zusammenfassung eines juristischen Dokuments könn-
ten wesentlich leichterfallen. Mit geschickter Daten-
eingabe könnten Marketingtexte wie von Zauberhand
entstehen. Viele Programmierer verlassen sich bereits
auf Copilot, ein Tool von Microsoft, das sie beim Schrei-
ben von Software unterstützt. Vor allem Fachkräfte mit
unterdurchschnittlichen Leistungen werden vom Ein-
satz generativer KI profitieren, was Unternehmen deut-
lich bessere Leistungen verspricht.
Hilfreich ist auch, dass generative KI leicht zugäng-
lich ist. Firmen brauchen keine neuen Geräte wie PCs
oder Smartphones oder logistische Infrastruktur wie
im E-Commerce. Viele Unternehmen werden feststel-
len, dass sie mit der Hilfe von KI-Spezialisten maßge-
schneiderte Tools entwickeln können. Und Konzerne
wie Microsoft und Google werden generative KI in
ihre Bürosoftware einbauen, sodass bald jeder, der ein
Dokument öffnet, derartige Werkzeuge nutzen kann.
Die Bank Morgan Stanley nutzt KI, um Vermögens-
verwalter zu unterstützen. Der Pharmakonzern Eli Lilly
hat sich mit einer Start-up-Firma zusammengetan, die
„autonome Labors“ betreibt. Dort sollen Moleküle iden-
tifiziert werden, die der Arzneimittelhersteller dann ent-
wickeln, testen und vermarkten wird. Etwa fünf Prozent
der von großen amerikanischen Banken zwischen 2020
und Juni 2023 ausgeschriebenen Stellen erwähnten KI
in der Stellenbeschreibung, und etwa acht Prozent der
LeitartikeL 17
von großen Technologieunternehmen zwischen 2020
und 2022 angemeldeten Patente hatten mit KI zu tun.
Aber nicht alle Unternehmen werden sich darauf
stürzen. Jenseits der Tech-Welt wendet bislang nur
ein Drittel der weltweit tätigen Manager regelmäßig
generative KI an, hat McKinsey herausgefunden. Jede
zweite Firma habe die Technologie ausprobiert, sich
aber gegen eine Nutzung entschieden, und etwa ein
Fünftel hat sich noch nicht mit ihr befasst. Kurz gesagt,
die Zahl der KI-Anwender ist halb so hoch wie die der
Vorsichtigen und Zögerlichen.
Beginnen wir mit den Vorsichtigen. Einige Unter-
nehmen tasten sich vor, solange viele Aspekte der Tech-
nologie noch unklar sind. Chatbots erfinden oft Dinge,
die gefährlich plausibel klingen. Schriftsteller, Künstler,
Fotografen und Verleger klagen vor Gericht gegen die
Verwendung ihrer Arbeiten durch KI. Einige Unterneh-
men befürchten rechtliche Schwierigkeiten oder den
Verlust ihrer Reputation, wenn sie Chatbot-Halluzina-
tionen verbreiten. Die Bank JPMorgan Chase etwa hat
den Einsatz von ChatGPT verboten, obwohl sie in ande-
ren Bereichen mit KI experimentiert.
Andere Unternehmen zögern, überhaupt den Zeh
ins Wasser zu tauchen. Die Einführung neuer Techno-
logien kann lange dauern. Obwohl Firmen das Internet
seit Anfang der 1990er Jahre nutzen, hatten erst Ende
der 2000er Jahre zwei Drittel der US-Unternehmen
eine Website. Viele Betriebe haben veraltete Syste-
me, was die Einführung von Spitzentechnologie stark
erschweren kann. Und Betriebsleiter im öffentlichen
Sektor oder von Versorgungsunternehmen haben eher
weniger Antrieb für Innovationen. Hierbei handelt es
sich um einen beträchtlichen Teil der Volkswirtschaf-
ten. In den USA machen sie ein Viertel der gesamten
Wirtschaftsleistung aus.
Skepsis kann auch von Arbeitnehmern ausgehen.
Selbst wenn die Technologie die Abschaffung langwei-
liger Tätigkeiten verspricht, werden einige fürchten,
am Ende durch KI ersetzt zu werden. Eine Umfrage der
Unternehmensberatung BCG ergab, dass Arbeitneh-
mer mit Kundenkontakt besorgter sind als Manager
oder Führungskräfte. In einigen Fällen könnten Ge-
werkschaftsproteste den Start der Technologie hinaus-
zögern, wie etwa in Hollywood, wo die Schriftsteller-
vereinigung einen Großteil des Jahres 2023 gestreikt
hat, auch aus Sorge über die Auswirkungen von künst-
licher Intelligenz auf ihre Arbeitsplätze.
Was sollten also Firmenchefs über diese Techno-
logie denken? Nun, sie sollten sich ein klares Bild von
den Vorteilen und Kosten dieser noch neuen und ris-
kanten Technologie machen, ehe sie entscheiden, ob
sie KI schon voll einsetzen oder doch erst einmal in
Maßen. Am wichtigsten ist, dass alle Mitarbeiter an
Bord sind. Versuchen Sie also, auf Ängste einzugehen
Zwei Lager – und überzeugen Sie Ihr Personal von den Vorteilen
entstehen: des Experimentierens. A
die Vorsich-
tigen und die RACHANA SHANBHOGUE Redakteurin Unternehmen,
Zögerlichen The Economist
18 LeitartikeL
Wechseljahre
Die Energiewende wird die Weltwirtschaft verändern, prognostiziert Matthieu Favas
T heoretisch wäre der Übergang zu einer kohlen-
stoffneutralen Welt eine feine Sache. Viele Staaten
wären weniger abhängig von Brennstoffimporten. Jene
Länder, die all die Metalle exportieren, die für Teslas,
Turbinen und Terawattstunden benötigt werden, ver-
dienen gut. Ehemalige Ölstaaten könnten aufgemöbelte
Raffinerien und Pipelines sowie Wind und Sonne nut-
zen, um Wasserstoff herzustellen. Alle wären froh, wenn
der Planet nicht mehr heißer und gefährlicher würde.
Aber tatsächlich wird die Umstellung auf Netto-
Null turbulent. Veränderungen beim Energieverbrauch
sowie umgestellte Handelsströme werden Gewinner
und Verlierer hervorbringen. Diese Spaltung einer
schwächelnden Weltwirtschaft und der Verlangsamung
Chinas wird 2024 sichtbar. Es ist allerdings nicht so,
dass Ölländer automatisch verlieren und Anbieter grü-
ner Ressourcen von allein gewinnen.
Zunächst wird die Welt weiter Kohlenwasserstoffe
schlucken. Die Internationale Energieagentur prognos-
tiziert einen Höhepunkt der Ölnachfrage vor 2030.
Aber Reaktionen 2023 lassen erwarten, dass alles nicht
so schnell kommen wird. Nun führen der Druck der
Investoren und Zweifel an einer langfristigen Nach-
frage nach Öl dazu, dass nur noch Staatskonzerne am
Golf und in Lateinamerika große Summen in neue För-
deranlagen investieren. Darum werden sich die noch
immer üppigen Öleinnahmen in den Händen weniger
Exporteure konzentrieren. Zudem könnte die OPEC
implodieren. Das brächte den kostengünstigen Erdöl-
staaten wie Saudi-Arabien noch weitere Marktanteile.
Die Nachfrage nach Gas wird anhalten, sodass das
Trio, das das meiste Gas in flüssiger Form exportiert
– Australien, Katar und die USA – profitieren kann.
Selbst Kohle wird bis in die 2040er Jahre ihre Anzie-
hungskraft behalten. Solange das energiehungrige
Asien diese verfeuert, werden Australien und Indone-
sien die dreckigen Dollars nicht verschmähen.
Und solange das Öl weiter strömt, werden viele
Petrostaaten ihre Wirtschaften nicht fit für die Zukunft
bekommen. Und irgendwann werden sie leiden. Staa-
ten, die weiter Kohlenwasserstoffe importieren, werden
dafür teuer bezahlen müssen. Im Jahr 2024 dürften die
Preise für diese Energieträger wieder anziehen. Eine
Die Welt in 2024
Weltwirtschaft im Aufschwung wird mehr Öl nachfra-
gen, und Asien und Europa werden um Gaslieferungen
wetteifern. Importländer von Deutschland bis Japan
müssen sich noch mindestens ein Jahrzehnt oder länger
auf hohe Preise einstellen.
Auch die Elektrifizierung wird unrund verlaufen.
Zunächst wird der Run auf die Dekarbonisierungsziele
eine enorme Nachfrage nach Metallen wie Kobalt,
Kupfer, Lithium und Nickel entfachen, unersetzlich für
grüne Kraftwerke, Stromnetze und Elektroautos. 2024
könnte dieser Boom die Metallpreise wieder steigen las-
sen. Da die grünen Technologien noch nicht ausgereift
sind, die Nachfrage sich an steigende Preise anpasst
und die neuen Rohstoffe in großen Mengen eintreffen,
kann der Markt für viele dieser Mineralien rasche
Boom-and-Bust-Zyklen durchlaufen, was die Expor-
teure in die Irre führt. Vielen Ländern, die neu in den
Bergbau eingestiegen sind, fehlt es an gut geführten
Staatsfonds, Absicherungsmechanismen und fiskalischer
Umsicht, um die zu erwartende Volatilität abzufedern.
Die Aussicht auf organisatorische Schwierigkeiten und
auch die Kosten, Minen ein- und auszuschalten, sowie
die geografische Streuung der Vorkommen machen es
unwahrscheinlich, dass eine OPEC der Metalle entste-
hen wird. Darum dürften nur wenige mit grünen Res-
sourcen reich werden.
Zudem wird der Boom nicht ewig anhalten: Sobald
sich genügend Windräder drehen und Elektroautos
fahren, wird sich der Appetit auf grüne Metalle auf
niedrigerem Niveau stabilisieren. Dauerhaftere Gewin-
ne winken Ländern mit starker Sonne, Winden und
Flüssen, um reichlich grünen Strom zu erzeugen. Die
windige Nordsee und das sonnige Mittelmeer werden
gewinnen, während das bewölkte Kontinentaleuropa
das Nachsehen haben wird. Am besten werden jene
Länder dastehen, die mehrere Ressourcen kombinie-
ren können, um eine kontinuierliche Versorgung mit
erneuerbarer Energie zu gewährleisten. Staaten mit
kleiner Bevölkerung können Überschüsse nutzen, um
energiehungrige Industrien wie die Stahlindustrie oder
die Datenspeicherung anzusiedeln. Andere werden ver-
suchen, Überschuss zu exportieren, als Elektronen oder
flüssige Brennstoffe.
Die Supermächte der Energiewende werden jene
sein, die alles tun: fossile Brennstoffe verhökern, Metalle
fördern und erneuerbare Energien auf Touren bringen.
Noch macht kein Land das alles. Die Golfstaaten reden
viel über Solarenergie und Wasserstoff, haben aber bei-
des noch nicht in großem Maßstab umgesetzt. Chile
fördert riesige Mengen an Kupfer und Lithium, nutzt
aber seine 6500 Kilometer lange Küste, die Stürme des
Südens und die sonnigen Wüsten nicht, um Strom in
großen Mengen zu erzeugen.
Nur die Die USA verfügen über Schieferöl und -gas und
Pfiffigsten immer mehr erneuerbare Energien, stoßen aber auf
werden mit Widerstand, grüne Metalle zu fördern. Der Reibach
dem Verkauf der Energiewende ist noch zu machen. A
grüner Res-
sourcen reich MATTHIEU FAVAS Korrespondent Rohstoffe, The Economist
Die Welt in 2024
Alles zum Sonderaufpreis!
Unternehmen erfinden immer raffiniertere Wege, um Preise zu erhöhen, sagt Leo Mirani. Wo wird das enden?
Ö konomen sagen gern den Spruch: „Es gibt keinen
Lunch umsonst.“ Wer bei McDonald’s zu Mittag
isst, muss feststellen, dass auch Würze was kostet. In
immer mehr Ländern kassiert der Burger-Konzern nun
extra für Ketchup, Senf und Mayo. Aber McDonald’s ist
nicht der Einzige, der Aufschläge auftischt. Als sich die
Inflation ausbreitete, griffen viele Firmen zu Tricks, um
Preise heimlich anzuheben. Wird das 2024 aufhören?
Ein klassisches Beispiel ist die „Entflechtung“, eine
Strategie, erfunden von den Billigfliegern. Schon vor
langer Zeit begannen sie, einstige Standardleistungen
separat zu berechnen, etwa das Essen an Bord oder
aufgegebenes Gepäck. Dann kassierten sie extra für
die Sitzplatzwahl oder jedes Handgepäckstück, das
größer ist als eine mit Ersatzunterwäsche gefüllte
Socke. Aber inzwischen ist wirklich vieles aus dem
Ruder gelaufen.
Einige Fluggesellschaften erheben jetzt eine „Tech-
nologieentwicklungsgebühr“ für das Privileg, online zu
buchen, die erstaunlicherweise von der zurückgelegten
Entfernung abhängt – als müssten Server mehr arbeiten,
um Langstreckenflüge zu reservieren. Andere berech-
nen Gebühren für gedruckte Bordkarten, den Check-in
am Flughafen oder für Decken an Bord. Bald werden die
Airlines auch noch anfangen, Tickets für den Rollfeld-
Bus zu verkaufen, Gebühren für alle am Körper getrage-
nen Kleidungsstücke zu erheben oder die Bordtoiletten
kostenpflichtig zu machen. (Letzteres hat Ryanair-Boss
Michael O’Leary tatsächlich vorgeschlagen.)
Derlei Praktiken haben sich ausgebreitet. Hotels und
Ferienanlagen verlangen oft eine „Check-in-Gebühr“,
Imbissbuden eine „Verpackungsabgabe“ und Fahr-
dienst-Apps eine „Sicherheitszulage“. Die Kurzzeitver-
mietungs-Plattform Airbnb wurde wegen überhöhter
Service- und Reinigungskosten kritisiert.
Auch für Fertigprodukte fallen inzwischen Extra-
kosten an. BMW verlangte 18 Dollar monatlich für die
Aktivierung von Sitzheizungen in einigen Modellen.
Es wurde auch der „unbegrenzte Zugang“ angeboten –
für einmal 415 Dollar. Mercedes-Benz berechnet 60 Dol-
lar pro Monat bzw. 600 Dollar jährlich für die Option,
die Beschleunigung einiger seiner Elektrofahrzeuge zu
erhöhen. Was, wenn sich das durchsetzt? Sie möchten
LeitartikeL 19
das Zoom Ihrer Smartphone-Kamera nutzen? Hier ist
der Bezahlknopf! Den Backofen voll aufdrehen? Sorry,
nur für Premium-Kunden.
Eine andere Form der Tarn-Teuerung: Airlines
und Hotels legen ihre Preise schon entsprechend der
saisonalen Nachfrage fest. Aber die Möglichkeit, die
Nachfrage in Echtzeit zu verfolgen, erlaubt Firmen,
die Gebühren von Minute zu Minute anzupassen.
Uber und andere Mitfahr-Apps verlangen mehr, wenn
sie viele Anfragen haben. Diese Preisgestaltung hat
auch auf andere Branchen übergegriffen. Im Septem-
ber kündigte eine britische Kneipenkette an, dass Bier
abends, an Wochenenden und während Sportübertra-
gungen teurer wird. Eintrittspreise für Konzerte, Sport-
veranstaltungen und Themenparks werden ebenso
flexibel „nachgebessert“.
Und dann ist da noch die Trinkgeld-Epidemie. USA-
Besucher werden seit Jahren von der allgegenwärtigen
„Tip-Kultur“ überrollt. Mit durchschnittlich 20 Prozent
ist der dortige Trinkgeldsatz der höchste der Welt. Die
Rechtfertigung dafür ist, dass man Beschäftigte im
Dienstleistungssektor von Rechts wegen tatsächlich mit
nur 2,13 Dollar pro Stunde entlohnen könne. Und dass
es vom Anstand des Kunden abhänge, ob Kellner, Bar-
keeper und Co. einen existenzsichernden Lohn nach
Hause bringen. Im Zeitalter von Touchscreen-Kassen
werden Kunden immer öfter um Trinkgeld gebeten.
In Supermärkten, an Selbstbedienungsautomaten und
sogar auf Websites.
Einige Hotels schlagen Trinkgeld für das Personal
automatisch auf die Rechnung auf, was als versteckte
Gebühr gelten darf. Über Apps haben sich solche
Sitten in vielen Ländern ausgebreitet. Australier bekla-
gen sich nun, dass Lebensmittel-Lieferservices auto-
matisch Trinkgeldaufschläge berechnen. Und Inder
nervt es, wenn sie von Apps bedrängt werden, Taxi-
chauffeuren einen Bonus zu bezahlen.
Könnte dieses Fieber der versteckten Preisaufschläge
im Jahr 2024 endlich nachlassen? Vielleicht. Eine sin-
kende Inflation könnte dabei helfen. Auch Regierungen
erwägen Regulierungen: US-Präsident Joe Biden hat
etwa erklärt, gegen „Ramschgebühren“ vorgehen zu
wollen. Auch Verbraucher wehren sich. So brachte der
Unmut seiner Kunden BMW dazu, seine Sitzwärmer-
Gebühren wieder abzuschaffen. Auch Airbnb will
Zusatzkosten transparenter darstellen. Und Unterneh-
men, die ihre Produkte ohne versteckte Extras anbieten,
eröffnen sich gute Marktchancen.
Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Firmen, die sich
BMW unzählige Methoden zum Abkassieren ausgedacht
verlangte haben, damit munter weitermachen. Fluggesellschaf-
ten experimentieren mit der Entflechtung von Busi-
18 Dollar nessclass-Tickets. Autobauer ersinnen neue kosten-
monatlich, pflichtige „Extras“. Trinkgelder bleiben nach wie vor
um die beliebt. Eine US-Airline hat kürzlich erlaubt, dass
Sitzheizung Passagiere dem Kabinenpersonal was zustecken. Ist ja
in einigen nur ein kleines Zubrot. A
Modellen zu
aktivieren LEO MIRANI Korrespondent Asien, The Economist, Mumbai
20
Januar
• Die BRICS-Gruppe großer
Schwellenländer wird durch
die Aufnahme von sechs wei-
teren Nationen zu BRICS+. Zu
den bestehenden Mitgliedern
Brasilien, Russland, Indien,
China und Südafrika kommen
Ägypten, Äthiopien, Argenti-
nien, Iran, Saudi-Arabien und
die Vereinigten Arabischen
Emirate hinzu.
• Die früheste Version von
Micky Maus wird lizenzfrei.
Nach dem US-Urheberrecht
sind Figuren nur 95 Jahre
nach der Erstveröffentlichung
geschützt. Allerdings gibt es
viele Varianten der Maus seit
ihrem Auftritt in „Steamboat
Willie“ 1928. Disney behält
weiterhin die Rechte an allen
späteren Versionen.
• Eine globale Mindeststeuer
für Großkonzerne in Höhe
von 15 Prozent tritt in Kraft, wie
138 Staaten seit 2021 verein-
bart haben. Einige werden ab
dann Zusatzsteuern von Unter-
nehmen verlangen, die Schlupf-
löcher nutzen, um Gewinne in
Steueroasen mit niedrigeren
Sätzen zu verschieben.
• Auf der selbstverwalteten
Insel Taiwan, die China für
sich beansprucht, finden Prä-
sidentschaftswahlen statt. Das
Ergebnis wird Einfluss auf die
Beziehungen zwischen den
Ländern und das Ausmaß der
Kalender
2024
Ausgewählte Ereignisse auf der ganzen Welt
Spannungen zwischen den
USA und China haben.
Februar
• China feiert den Beginn des
neuen Jahres, das im Zeichen
des Holzdrachen steht. Wer
darunter geboren ist, gilt als
kreativ, neugierig und ent-
schlossen – sowie freimütig.
• Im Allegiant Stadium in
Las Vegas findet der 58. Super
Bowl statt – ein Debüt für die
Stadt.
• Indonesien, drittgrößte
Demokratie der Welt, hält am
Valentinstag Präsidentschafts-
und Parlamentswahlen ab.
März
• In Bahrain beginnt die
Formel-1-Saison. Das Rennen
wird erstmals samstags statt
sonntags ausgetragen, damit
das zweite Rennen der Saison
eine Woche später im saudi-
arabischen Dschidda vor
Ramadan-Beginn stattfinden
kann.
• Ghana richtet die 13. Afrika-
spiele aus. Sie sollten schon
2023 stattfinden, wurden aber
wegen Verzögerungen beim
Bau und Streit über Marketing-
rechte verschoben.
• In Los Angeles werden zum
96. Mal die Academy Awards
vergeben.
April
• In Nordamerika wird eine
totale Sonnenfinsternis na-
mens Great North American
Eclipse zu sehen sein. Der Weg
des Schattens, bei dem der
Mond die Sonne verdeckt, führt
von Mexikos Pazifikküste bis
South Bird Island vor der Küste
Neufundlands.
• In Washington DC finden
die Frühjahrstagungen des
Internationalen Währungs-
fonds und der Weltbank statt.
• Großbritannien feiert die
National Marmalade Week.
Sie soll ermuntern, Marmelade
selbst herzustellen.
Mai
• Die Feierlichkeiten zum
200. Jubiläum der National
Gallery in London beginnen.
Museen und Galerien in jeder
der zwölf Regionen Großbri-
tanniens werden Gemälde der
National Gallery ausstellen,
sodass mehr als die Hälfte der
Bevölkerung nicht weiter als
eine Stunde von einem Stück
Nationalerbe entfernt ist. Zum
Programm gehört auch eine
große Van-Gogh-Ausstellung,
die im September beginnt.
• In Malmö findet das Finale
des 68. Eurovision Song Con-
test (ESC) statt, das insgesamt
siebte Mal für Schweden.
• In der Nähe von Peking fin-
det der Great Wall Marathon
statt, der zum Teil entlang der
Chinesischen Mauer verläuft.
Die Welt in 2024
• China plant den Start von
Chang’e 6, einer Mission, bei
der ein Roboter-Lander Pro-
ben von der Mondrückseite
sammeln soll. Mit an Bord sind
wissenschaftliche Instrumente
aus Frankreich, Italien, Pakis-
tan und Schweden.
Juni
• Die Herren-WM im Twenty-
20-Cricket beginnt, gemein-
sam ausgerichtet von den USA
und den Westindischen Inseln.
Fans hoffen, dass sie dem Sport
in Amerika zu mehr Beliebtheit
verhilft. Im September folgt die
Frauen-WM in Bangladesch.
• Der Tag des Laufens soll
Menschen rund um die Welt
motivieren, sich zu bewegen,
sowohl aus Spaß als auch für
eine bessere Gesundheit.
• Am Omaha Beach in der
Normandie kommen Staats-
chefs, Veteranen und Offizielle
zusammen, um den 80. Jahres-
tag des D-Day, der Landung
der Alliierten im Zweiten Welt-
krieg, zu begehen.
• In den 27 EU-Mitglieds-
staaten finden Wahlen zum
Europäischen Parlament statt,
in dem neuerdings 720 Sitze
zu vergeben sind.
• In Deutschland wird die
Fußball-EM 2024 angepfiffen.
Eine Woche später beginnt
in den USA das Turnier Copa
América.
Die Welt in 2024
Juli
• Regierungsvertreter von
Nato-Ländern kommen in
Washington im 75. Jahr des
Bestehens der Organisation zu
ihrem jährlichen Gipfeltreffen
zusammen.
• Bei der Republican National
Convention in Milwaukee/
Wisconsin nominieren die
Republikaner offiziell ihren
Kandidaten für die US-Präsi-
dentschaftswahl. Die Entschei-
dung für diesen Ort zeigt, wie
wichtig der Mittlere Westen
für den Ausgang der Wahl ist.
• Mit einer Zeremonie auf
der Seine werden in Paris die
Olympischen Sommerspiele
2024 eröffnet – erstmals seit
100 Jahren wieder in der
Hauptstadt Frankreichs. Als
eine der neuen Disziplinen wird
z. B. Breakdance dabei sein.
August
• Die neue Stadt Nusantara
auf Borneo löst offiziell Jakarta
als Hauptstadt Indonesiens ab.
Die Feier dazu findet am indo-
nesischen Unabhängigkeitstag
statt. Der Bau der Stadt begann
2022 und soll 2045 abgeschlos-
sen sein.
• Bei der Democratic National
Convention in Chicago/Illinois
nominiert die Demokratische
Partei offiziell ihren Kandida-
ten für die Präsidentschafts-
wahl. Wie bei den Republika-
nern zeigt die Ortswahl die
Bedeutung des Mittleren Wes-
tens bei der Wahl.
• In Paris beginnen die Para-
lympischen Sommerspiele.
September
• In New York findet der UN-
Zukunftsgipfel statt. Unter
Leitung Deutschlands und
Namibias geht es um Refor-
men multilateraler Gremien
und globale Politik mit dem
Ziel von mehr Kooperation
beim Klimawandel und ande-
ren entscheidenden Heraus-
forderungen.
• Japans Raumfahrtagentur
JAXA will ihre Mission MMX
(„Martian Moons Exploration“)
zur Erkundung der winzigen
Marsmonde Phobos und Dei-
mos starten. 2025 soll die Son-
de versuchen, auf Phobos zu
landen, um Gesteinsproben
zu sammeln, und diese 2029
zurück zur Erde bringen.
Oktober
• Jimmy Carter, der am längs-
ten lebende ehemalige Präsi-
dent der USA, wird 100.
• In Barcelona wird das Finale
des 37. America’s Cup ausge-
tragen. Titelverteidiger in dem
ältesten internationalen Sport-
wettbewerb ist das Royal New
Zealand Yacht Squadron.
• An mehreren Orten in Hong-
kong findet erstmals die Perfor-
ming Arts Expo (HKPAX) statt.
Sie soll künstlerischen und kul-
turellen Austausch zwischen
Hongkong, Festlandchina und
dem Rest der Welt fördern.
• Im englischen Manchester
findet die Worldwide Music
Expo (WOMEX) statt, die größ-
te Fachmesse der internationa-
len Musikindustrie.
• In Washington, D .C. kom-
men Vertreter von Interna-
tionalem Währungsfonds und
Weltbank zu ihrer Jahres-
tagung zusammen.
• Die US-Raumfahrtagentur
NASA will die Sonde Europa
Kalender 21
Clipper starten, um die Be- Dezember
wohnbarkeit eines der größten • Indiens Raumfahrtagentur
Jupitermonde zu untersuchen. ISRO will die Sonde Shukra-
Unter Europas Eisoberfläche yaan zur Venus schicken. Sie
wird ein Ozean vermutet, der soll die Venusatmosphäre
außerirdisches Leben beher- auf Anzeichen von Phosphin
bergen könnte. Die Sonde soll untersuchen, das als Hinweis
Jupiter im Jahr 2030 erreichen. auf Leben gilt.
November
• Die Welt sieht zu, wenn
die US-Bevölkerung ihren
Präsidenten wählt und über
die Mehrheiten im Kongress
bestimmt. Alle 435 Sitze im
Repräsentantenhaus sowie
34 der 100 Senatsmandate
werden neu vergeben, eben-
so wie die Gouverneurspos-
ten in 13 Bundesstaaten und
Territorien.
• An einem noch unbekannten
Ort findet die Klimakonferenz
COP29 statt. Die Entscheidung
über das Gastgeberland verzö-
gert sich, weil Russland jedes
EU-Mitglied abgelehnt hat.
• Mehr als ein halbes Jahr- Irgendwann gegen Ende 2024
hundert nach der jüngsten • Die Europäische Union
bemannten Mondmission will das Ein- und Ausreise-
wollen die USA „Artemis II“ System EES (Entry/Exit Sys-
starten, bei der vier Astronau- tem) einführen. Nicht-EU-
ten die Rückseite des Mondes Bürger sollen bei der Einreise
umfliegen. Erstmals bei einer in den Schengenraum ihren
US-Mission sollen dabei ein Pass scannen und biometrische
schwarzer Mann, eine Frau Daten speichern lassen. Das
und ein Nicht-Amerikaner die EES sollte schon 2022 starten,
Erdumlaufbahn verlassen; eine wurde aber auf die Zeit nach
Landung auf dem Mond ist den Olympischen Spielen in
nicht geplant. Paris verschoben.
22 DEUTSCHLAND Die Welt in 2024

Deutschland Ein Sonderteil der FOCUS-Redaktion

Auch in dieser
Rubrik:
Menschen, die 2024
Deutschland bewegen
22 Wer im kom-
menden Jahr
Deutschland
bewegt
27 Rainer Dulger
fordert weniger
Bürokratie
Wer wichtig wird in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport und Kultur
28 Krisen, Chancen,
Trends – das wird
2024 wichtig
28 Hält die Koalition?
30 Wahlbeben
im Osten
30 Abtreibung
bald straffrei?
31 Jochen Werner
will nachhaltige
Krankenhäuser
32 Happy Birthday,
Deutschland
32 Merkels Buch
erwartet
33 Peter Wittig
warnt Europa
vor Trump
34 Der Tod der
losen Deckel
34 Herz aus dem
Schweinestall
35 Grün verdient
jetzt Geld
35 Deutsche
Quantensprünge
36 Pierre Ibisch:
Der Wald braucht
ein Gesetz
37 Impfen gegen
Krebs?
37 Mission zum
Marsmond
38 Hoffen und
Bangen vor EM
39 Thorsten Frei
über Migration
und Demokratie
40 Kiffen erlaubt
40 Caspar-David-
Friedrich-Jahr Sahra Es wirkt abstrus. Eine Linke, die Massenmörder Stalin nicht schlimm
fand, die in die SED eintrat, als die schon kaputt war, die als Putin-
41 Alle wollen
alles reparieren Wagenknecht Versteherin auftritt und welche die Linkspartei lang piesackte – genau
die trägt die Hoffnung vieler, den Aufschwung der rechten AfD im Osten
42 Georg Bätzing
zur Lage der 54, Parteigründerin zu stoppen. Mit ihrer eigenen Partei will Sahra Wagenknecht die Politik
katholischen aufmischen. Der Verein BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht) arbeitet
Kirche daran. Aber reicht begnadete Selbstdarstellung, um bei den Wahlen in
Sachsen, Thüringen, Brandenburg in die Landtage einzuziehen? Oder
braucht es nicht doch auch programmatische Substanz und Organisation?
Die Welt in 2024
Carla Hinrichs
26, Klimaschutzaktivistin
Der Kampf ums Klima wird härter.
Aber wie aufrütteln, ohne abzu-
stoßen? Ein schmaler Grat für Carla
Hinrichs und die Kleber von der Letz-
ten Generation. Vielleicht treiben
Straßenblockaden nur Autofahrer in
den Wahnsinn. Umweltschädigende
Farbattacken und Zerstörungswut
aber wirken kontraproduktiv. Gibt
es einen Aktionswechsel oder noch
schärfere Angriffe?
Julian Nagelsmann
36, Bundestrainer auf Gute-Laune-Mission
Es geht oft seltsam zu im sprichwörtlichen Fußballtrainer-
Karussell: Julian Nagelsmann folgte beim FC Bayern auf
Hansi Flick. Wurde dann bei den Bayern gefeuert und folgt
Flick beim DFB gleich noch mal nach. Jetzt soll er also die
Heim-Europameisterschaft rocken. Immerhin: Die Medien-
auftritte wirken souveräner als beim hölzernen Hansi.
Marie-Agnes
Strack-
Zimmermann
65, FDP-Spitzenkandidatin
Es gibt Politikerinnen, die gewin-
nen bei Krisen an Profil. Ukraine,
Nahost-Konflikt, Antisemitismus:
Verteidigungsexpertin Marie-
Agnes Strack-Zimmermann treibt
Parteifreunde und Regierungs-
partner gern wortgewaltig vor sich
her. Als Spitzenkandidatin für die
Europawahl soll sie der FDP mehr
Kontur und Durchschlagskraft ver-
schaffen. Wer, wenn nicht sie?
DEUTSCHLAND 23
Bastian Nominacher
39, Co-CEO von Celonis
Die Krise der anderen
ist ihr Geschäft: Celonis
durchstöbert die Prozesse
selbst größter Konzern-
kunden nach Optimie-
rungsbedarf. So wurde
Celonis zum kostbarsten
Start-up der Republik
(Wert: 13 Milliarden Dol-
lar) und aus dem bayeri-
schen Bäckerssohn Nomi-
nacher ein Vorstandschef,
der mit zwei Buddys aus
gemeinsamen Studen-
tentagen selbst ein Welt-
unternehmen schuf. Das
Trio will weiterwachsen.
Jüngst wurde die KI-Firma
Symbioworld gekauft.
Angelika Kauffmann
1741–1807, Künstlerin
Sie war eine prägende Figur des
Klassizismus: Die Royal Academy
in London widmet Angelika Kauff-
mann vom 1. März bis 30. Juni
eine monumentale Schau, die den
Aufstieg der schweizerisch-öster-
reichischen Malerin vom Wunderkind
zum Weltstar dokumentiert.
Boris Pistorius
63, Verteidigungsminister
Der Posten als Verteidigungsminister gilt als Schleuder-
sitz. Boris Pistorius hat er zumindest im Politiker-Ranking
nach oben katapultiert. Dafür muss er jetzt liefern. Ver-
sprochen hat er eine „kriegstüchtige“ Bundeswehr: weni-
ger Auslandseinsätze, mehr Landesverteidigung. Weniger
Bürokratie, mehr Munition, Waffen und Soldaten. Wird sie
so zur „leistungsfähigsten“ Armee Europas?
24 DEUTSCHLAND Die Welt in 2024

Emma Enderby
33, Kuratorin
Eine Kosmopolitin der
Kunst zieht nach Berlin:
Die Britin Enderby lebte
in New York und wirk-
te zuletzt am Münchner
Haus der Kunst. In Berlin
übernimmt sie das renom-
mierte KW Institute for
Contemporary Art. Sie
will dort „ein Programm
entwickeln, das in den
Berliner Communitys
verankert ist“, sagt sie.
Tijen Onaran
38, Unternehmerin
Sie ist bunt, laut und unbescheiden: Als sie zuletzt gefragt
wurde, ob sie sich auch das Amt der Bundeskanzlerin vor-
stellen kann, sagte sie nur: „Warum nicht?“ Onaran, Tochter
türkischer Eltern, hat sich hochgekämpft, seit sie nach dem
Abi mal versuchte, für die FDP in den Stuttgarter Landtag
einzuziehen. Hat nicht geklappt, dafür alles andere. Heute ist
sie eine Art Multitasking-Ich-AG: Unternehmerin, Modera-
torin, Influencerin, Investorin und Autorin, die den Titel ihres
jüngsten Buchs konsequent lebt: „Be Your Own F*cking Hero“.

Armin
Papperger
60, Vorstandschef
Rheinmetall

Dass er ein Kriegs-

gewinner ist, weist er
natürlich weit von sich.
Trotzdem boomt das
Rheinmetall-Geschäft
wie nie zuvor: Umsätze,
Gewinne, Zahl der Auf-
träge – alles auf Rekord-
niveau beim größten
Rüstungskonzern der
Republik. Schon bald
will der 60-jährige
Papperger sogar in der
Ukraine Panzer bauen.

Ursula von der Leyen

65, Präsidentin der Europäischen Kommission

Am 9. Juni entscheidet
sich die Zukunft Europas.
Dann wird ein neues EU-
Parlament gewählt. Ob
Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen die
Europäische Volkspartei
als Spitzenkandidatin
anführen wird, ist noch
unklar. Europaweit ge-
nießt sie hohes Ansehen.
Nur ihre eigene Partei,
die CDU, fremdelt mit ihr.
Die Welt in 2024
Annette
Lehnigk-Emden
62, Verwaltungsjuristin
Es gibt Regierungsjobs mit weniger
Druck. An Annette Lehnigk-Emden
liegt es, ob die Pläne von Verteidi-
gungsminister Boris Pistorius klappen
(S. 23). Aufgabe der Präsidentin des
Bundesamtes für Ausrüstung, Infor-
mationstechnik und Nutzung der Bun-
deswehr (BAAINBw) in Koblenz ist
es, dass Heer, Luftwaffe und Marine
über das nötige und genügend Gerät
verfügen. In den vergangenen Jahren
haperte es oft an Quantität und Quali-
tät: zu wenig Munition, U-Boote, die
nicht tauchen konnten, und zuletzt
Funkgeräte, die nicht zu verbauen
waren. Da kommt viel auf die Juristin,
deren Nachname auf den kaiserlichen
Kreuzer „Emden“ zurückzuführen ist,
und ihre 11 000 Mitarbeiter zu.
Lena Mantler
21, Influencerin
Mit 21 Millionen Followern auf
Instagram ist Lena aus Stuttgart
die erfolgreichste Influencerin
Deutschlands. Vor acht Jahren
postete sie zusammen mit ihrer
Zwillingsschwester Lisa die ersten
Videos: Lifestyle, Teeniegedanken,
Tanz-Clips. Zeitweise gewannen
die beiden täglich 30 000 Abonnen-
ten dazu. Seit dem Sommer 2023
macht Lena allein weiter (Lisa
hat jetzt einen eigenen Kanal mit
ihrem Mann Jonas Jay) – und gibt
auch auf TikTok richtig Gas. Da
hat Lena unterdessen 13,3 Millionen
Follower und 568,9 Millionen Likes.
DEUTSCHLAND 25
Maik Luu
29, Humanbiologe
Er ist Sohn vietnamesischer Boots-
flüchtlinge und einer der jüngsten
und vielversprechendsten Professoren
Deutschlands. An der Uni Würzburg
erforscht er, wie das Darm-Mikrobiom
die Killer-T-Zellen des Immunsystems
fit machen kann, Leukämie und andere
Krebsarten effektiver zu bekämpfen.
Christian Lindner
44, Finanzminister und FDP-Chef
Ob’s besser wird? Zuletzt lief es für Christian Lindner
nicht gut. Ständig Zoff mit den (grünen) Ampelpart-
nern, Streit um die Schuldenbremse, miese Wahlergeb-
nisse in Bayern und Hessen für die Liberalen. Und die
anstehenden Urnengänge finden in Ländern statt, die
definitiv nicht zu FDP-Hochburgen zählen. Stellt sich die
Frage: Hält die Koalition und wackelt der Parteichef?
Christian
Thielemann
64, Dirigent
Eine Zeitenwende an der
Berliner Staatsoper: Der
gebürtige Berliner und
Wagner-Spezialist Christian
Thielemann übernimmt den
Posten des Generalmusik-
direktors an der Staatsoper
Unter den Linden von
seinem einstigen Mentor
Daniel Barenboim, 81. Die
Wahl, vom Orchester einhellig
begrüßt, ist ein Glücksgriff,
der den Ruf der Hauptstadt
als internationale Musik-
metropole untermauert.
26 DEUTSCHLAND Die Welt in 2024

Darja Varfolomeev
17, sechsfache Weltmeisterin in der rhythmischen Sportgymnastik

Cagla Ilk
48, Architektin und Dramaturgin
Sie ist eine Grenzgängerin der Kultur
und kann das nun als Kuratorin des
deutschen Pavillons auf der Biennale in
Venedig unter Beweis stellen. Ilk hat in
Berlin und Istanbul Architektur studiert,
aber sie ist ebenso in der Theater- und Keine Frage, die junge Frau hat Durchsetzungsvermögen. Und Ehrgeiz.
Kunstszene zu Hause. Von 2012 bis 2020 Eine schier unbändige Power. Und darüber hinaus eine besondere Anmut.
arbeitete sie als Dramaturgin und Kura- Darja Varfolomeev kam im sibirischen Barnaul zur Welt. Ihre Mutter war
torin am Maxim Gorki Theater in Berlin. auch schon eine erfolgreiche rhythmische Sportgymnastin. Mit zwölf zog
Seitdem leitet sie gemeinsam mit Misal Darja ins Internat des Deutschen Turner-Bundes ins schwäbische Fellbach-
Adnan Yildiz die Staatliche Kunsthalle in Schmiden, ohne ihre Eltern. Weil ihr Großvater Deutscher ist, trat sie fort-
Baden-Baden. Sie ist ein selbstbewusstes an für ihre neue Heimat an. Bei der Weltmeisterschaft im vergangenen
Multitalent und damit bestens gerüstet Sommer gewann sie sensationell fünf Titel, nun gilt sie als eine der großen
für die komplexe Aufgabe in Venedig. Medaillenhoffnungen für die Olympischen Spiele 2024 in Paris.

Klaus Müller
52, Präsident der
Bundesnetzagentur

Er war schon Grünen-Land-

wirtschaftsminister in Schles-
wig-Holstein und Chef der
Verbraucherzentrale Bundes-
verband. Seinen Start als
Chef der Netzagentur hat er
sich im März 2022 aber sicher
anders vorgestellt. Mit dem
Einmarsch der Russen in der
Ukraine begann das Energie-
drama. Und Müller wurde
zum Herr der Gasspeicher. Für
diesen Winter ist er zwar opti-
mistisch. Doch Begriffe wie
„Gasmangellage“ werden uns
wohl noch länger begleiten.
Johannes Nießen
66, Amtsarzt mit großer Aufgabe
Auf dem bisherigen Leiter des Gesundheits-
amts Köln liegt mehr Hoffnung, als sein Titel
„Errichtungsbeauftragter des Bundesinsti-
tuts für Prävention und Aufklärung in der
Medizin“ vermuten lässt. Gemessen daran,
was ihr Gesundheitswesen kostet, sind die
Deutschen recht ungesund. Das zeigen viele
Statistiken. Das Institut soll dies ändern.
Sein bisheriges Konzept ist eher bieder. Nie-
ßen könnte Schwung in die Sache bringen.
Die Welt in 2024
Gastbeitrag Weniger Bürokratie wagen!
D eutschland verfügt über
ein starkes Fundament.
Das sind die leistungsstarken
Unternehmen und ihre inno-
vativen Mitarbeitenden. Doch
die Rahmenbedingungen für
Wachstum und Arbeit stimmen
nicht mehr. Eines der größ-
ten Probleme: die maßlose,
unflexible, teure und in Tei-
len misstrauische Bürokratie.
Langsame und komplizierte
Genehmigungsverfahren ersti-
cken Ideen. In vielen Ämtern
stehen noch Faxgeräte, viel
zu viel ist immer noch nicht
online möglich. Kein Wunder,
dass Deutschland als einziges
Industrieland in Europa in einer
Rezession steckt. Man gewinnt
den Eindruck, das wird von
Teilen der Ampelkoalition so
hingenommen. Die Regelungs-
wut ist zum Teil ideologisch
getrieben, auch durch Vorga-
ben aus der EU. Darunter leidet
der Mittelstand noch stärker als
die großen Unternehmen. Den
Bürokratiespeck wird Deutsch-
land nur durch strenges Heil-
fasten wieder los.
Einzig eine starke Wirtschaft
ermöglicht wirkmächtiges
politisches Handeln. Nur mit
stabilen Steuereinnahmen ist
Deutschland fähig, den Sozial-
staat zu erhalten, die Energie-
wende zu beschleunigen oder
ein verlässlicher Partner in EU
und Nato zu sein. Laut dem
Normenkontrollrat wurde die
Wirtschaft im Zeitraum 2021/22
mit Kosten von 10,6 Milliarden
Euro belastet – und damit um
rund 6,4 Milliarden Euro mehr
als im Zeitraum 2020/21. Ein
Großteil dieses Geldes muss
für produktive Pläne und Inno-
vationen freigesetzt werden –
und darf nicht weiter in der
Bürokratie versickern. Bundes-
kanzler Olaf Scholz hat auf
dem Deutschen Arbeitgebertag
im Oktober die Richtung vor-
gegeben: „Deutschlandtempo
brauchen wir überall, wenn es
um Entscheidungen des Staates
und um Handeln und Planun-
gen geht.“ Er hat richtig ana-
lysiert: „Wir haben Jahrzehnte
Einfacher, schneller, digitaler –
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger fordert
von Politik und Verwaltung ein neues Denken
damit zugebracht, liebevoll,
mit großer Gestaltungsintensi-
tät und auch mit viel Spaß am
Detail dafür zu sorgen, dass es
sehr kompliziert geworden ist.“
Ich verlange jetzt von Politi-
kern und Beamten ebenso viel
Spaß und Gestaltungsintensität
bei der Entflechtung.
Wir Unternehmer messen
den Bundeskanzler an seinen
Taten. Und wir erwarten 2024
konkrete Fortschritte. Neben
der Beschleunigung und Digi-
talisierung von Prozessen so-
wie Behörden gibt es weitere
zentrale Punkte:
Nicht jede mutmaßliche
Schieflage braucht eine
staatliche Regulierung
Das Arbeitszeitrecht
braucht ein Update. Wichtig
ist eine Flexibilisierung – unter
anderem eine Umstellung
von der täglichen auf eine wö-
chentliche Höchstarbeitszeit.
Das wünschen sich auch viele
Beschäftigte. Für mich ist es
okay, wenn ein Mitarbeiter
etwa am Donnerstagnachmit-
tag zwei Stunden beim Sport
verbringt, solange die Arbeit
zu einem anderen Zeitpunkt
erledigt wird.
Es ist an der Zeit, Bürokra-
tie auch bei den Sozialstaats-
regelungen neu zu denken.
Nicht jede mutmaßliche Schief-
lage braucht eine staatliche
Regulierung – oft ist eine pau-
schale Regelung einfacher und
gerechter. Negative Beispiele
sind die Kindergrundsicherung
DEUTSCHLAND 27
oder die Wohngeldregelungen.
Diese führen trotz steigen-
der Ausgaben eher zu Frust.
Deutschland braucht mehr Ver-
trauen in die Eigeninitiative.
So kann der Staat den betrieb-
lichen Sozialpartnern mehr
zutrauen – oder den Tarifver-
tragsparteien größere Gestal-
tungsspielräume einräumen.
Die „Tariftreueregelungen“
bedeuten de facto einen Tarif-
zwang für die Unternehmen –
und einen Eingriff in die Tarif-
autonomie. Die Vergabeverfah-
ren werden so komplizierter und
teurer. Unternehmen müssen
umfangreich nachweisen, dass
sie die vorgegebenen Arbeits-
bedingungen sowie soziale und
ökologische Vorgaben einhal-
ten. Weniger planwirtschaft-
licher Gestaltungsanspruch
bedeutet weniger Bürokratie.
Die Vorgaben zur EU-Nach-
haltigkeitsberichterstattung
zwingen Unternehmen weitere
Pflichten zur Dokumentation
auf. Mehr als 1000 Punkte
sollen eine breite Palette von
Nachhaltigkeitsthemen ab-
decken. Viele Unternehmen
verfügen nicht über die Kapazi-
täten, diese Daten zu erheben.
Wichtig ist daher, zumindest das
Versprechen der Kommission zu
einer 25-prozentigen Reduzie-
rung von EU-Berichtspflichten
jetzt einzulösen.
Die Chancen von schnellen
und digitalen Abläufen sind
beachtlich: Ausländische Inves-
titionen werden wieder verstärkt
nach Deutschland kommen,
ansässige Unternehmen werden
mehr Geld in die Entwicklung
von neuen Produkten stecken –
und der Fachkräftemangel wird
abnehmen, weil weniger Mit-
arbeiter mit Papierkram und
Dokumentationen beschäftigt
sind. Kurz: Entbürokratisierung
ist ein kostenloses Konjunktur-
programm.
Die Zeit drängt. Jeder Tag,
an dem nicht gehandelt wird,
schadet unserem Standort.
Nur mit einer starken Wirt-
schaft bleibt Deutschland ein
starkes Land.
28 DEUTSCHLAND Die Welt in 2024

W Die Drei von

der Zankstelle:
Kanzler Olaf
Scholz (SPD),
Wirtschafts-
minister Robert
Habeck (Grüne)
und Finanz-
minister
Christian Lindner
(FDP, v. r.)

im Bundestag die Lage im Land beschrieb, klang das

Der Kanzler wie ein großer Schadensbericht: Der Ausbau der Energie-
netze komme nicht voran. Die Bahn? Eine einzige große

und das Flackern Weichenstörung. „Verzagtheit“ und „Stillstand“ stellte

Scholz fest, dabei war doch seine Ampel mit einem Fort-

seiner Ampel
schrittsversprechen angetreten. Mithilfe der Liberalen –
so war der Plan – sollte die gesellschaftliche Modernisie-
rung vorangetrieben werden; mithilfe der Grünen etwa
die Energiewende vollzogen werden. Die SPD sollte über
Olaf Scholz wollte mit seinem Bündnis nicht weniger als allem schweben.
ein Jahrzehnt politisch prägen. Schon jetzt stellt sich Nur: Die Ampel hob gar nicht ab. Mit Beginn des russi-
schen Angriffskriegs in der Ukraine und all seinen Folgen
die Frage: Was hält die Partner wirklich noch zusammen?
ist die Regierung in die Defensive geraten. Im Haushalt
tut sich ein 60-Milliarden-Loch auf, nachdem das Verfas-
Chefkorrespondent Politik,
MIKE SZYMANSKI sungsgericht einen Schuldentrick der Ampel kassiert hat.
FOCUS Magazin, Berlin Reformpläne der Koalition geraten ins Wanken.
Die SPD leidet still. Vom Versprechen, dass es Gering-

W er nach der Zukunft des Berliner Ampelbündnis-

ses aus SPD, Grünen und FDP fragt, sollte kurz an
ihren Anfang zurückblicken. Selten wurde eine Regie-
rung mit derart großen Erwartungen aufgeladen. Als
Olaf Scholz und seine SPD überraschend 2021 als Sieger
aus der Bundestagswahl hervorgingen, war klar: Nichts
ist den Sozialdemokraten wichtiger, als sich aus der
Umklammerung der Union zu lösen. In den gemeinsa-
men Regierungsjahren unter Kanzlerin Angela Merkel
(CDU) hatte die SPD an Substanz und Kraft verloren. Sie
war kaum mehr in der Lage, die Rolle einer Volkspartei
auszufüllen. Es ging mit dem Wahlsieg, mit der Bildung
Derzeit hätte der Ampel, darum, die Sozialdemokratie als politische
Kraft abzusichern. In der SPD träumten sie schon vom
die Ampel „sozialdemokratischen Jahrzehnt“ nach dem Comeback.
laut Um- Scholz meinte, die Regierungspartner müssten mit dem
fragen keine Anspruch antreten, wiedergewählt zu werden.
Mehrheit Zwei Jahre später lässt sich festhalten: Laut Umfragen
hätten SPD, Grüne und FDP zusammen keine Mehrheit
mehr. Die mehr. Das kann sich wieder ändern. Aber im Moment
Bürger sind sind die Bürgerinnen und Bürger unzufrieden mit der
unzufrieden Arbeit der Koalition. Als Scholz nach der Sommerpause
verdienern mit ihr im Kanzleramt besser gehen würde,
ist wenig zu spüren. Rasant steigende Preise für Energie,
Wohnen und Lebensmittel fressen auf, was an zusätzli-
chen Milliarden ins Hilfesystem geleitet wird.
Die FDP leidet laut. In Bayern, Niedersachsen und Ber-
lin flogen die Liberalen aus den Landesparlamenten. Mit
jeder weiteren Niederlage versucht Parteichef Christian
Lindner, seine FDP im Ampelbündnis stärker von SPD
und Grünen abzugrenzen. Das führt zu neuem Streit. Das
Verhältnis vor allem zu den Grünen ist eisig geworden.
Die Grünen? Leiden an sich. So viel wie diese Regierung
hat noch keine für den Klimaschutz angeschoben. Den eige-
nen Leuten ist es trotzdem zu wenig. In der Migrationsdebatte
werden die Grünen gerade auf eine harte Probe gestellt.
Migration dürfte eines der bestimmenden Themen
2024 sein. In drei ostdeutschen Ländern werden 2024
neue Landtage gewählt. Die in Teilen rechtsextremisti-
sche AfD steht vor weiteren Erfolgen. Ein neuer Rechts-
ruck droht. Scholz’ Ampel dürfte genug damit zu tun
haben, 2024 einigermaßen zu überstehen. Dort denkt
man inzwischen auch nicht mehr in Jahrzehnten, son-
dern wieder in Jahren. Oder Monaten? A
Die Welt in 2024 DEUTSCHLAND 29

CDU sucht den Auch mit Carsten Linnemann als Gene-

Super-Mann
Die CDU steht 2024 vor einer
wichtigen Entscheidung: Sie muss
einen Kanzlerkandidaten küren
FELIX HECK Redakteur Politik,
FOCUS Magazin, Berlin
ralsekretär hat die CDU ihren Frieden
gemacht. Im linken Parteiflügel musste der
46-Jährige, den Merz für den glücklosen
Mario Czaja geholt hatte, mit Vorbehalten
kämpfen. Noch ein Wirtschaftsliberaler?
Das bräuchten die Christdemokraten so
dringend wie einst den lachenden Laschet,
moserte mancher. Aber selbst beinharte
Sozialpolitiker attestieren Linnemann
inzwischen ein Händchen für Köpfe und
Positionen.
Alles gut also im Merz-Land? Na ja.
Wenn da nur nicht das restliche Spitzen-
personal wäre, das sich anschickt, bei der
Friedrich Merz lässt kaum einen
Zweifel daran, dass er
Kanzlerkandidat werden möchte
Fragt sich, ob Merz auch einer breiten
Wählerschaft vermittelbar ist. An Stim-
mungstests dafür mangelt es 2024 nicht:
Drei Ost-Länder wählen, hinzu kommt die
Europawahl im Juni, die viel Sprengkraft
birgt: Die Partei hadert mit Kommissions-
präsidentin Ursula von der Leyen, wird
aber wohl trotzdem Wahlkampf machen
müssen für die einstige Merkel-Vertraute.
Der Union steht ein heißer Sommer bevor.

G inge es nach Friedrich Merz, dann

wird 2024 das Jahr seiner Krönung.
Der CDU-Parteivorsitzende lässt kaum
einen Zweifel daran, dass er es unbedingt
wissen und Kanzlerkandidat seiner Partei
werden möchte. Zuletzt brachte der Sauer-
länder sogar manchen Kritiker zum Ver-
stummen: Seine Reden zum Israel-Krieg
verschafften ihm viel Respekt. Als Merz bei
der Jungen Union von einem Termin mit
jüdischen Schülern erzählte, schimmerten
sogar Tränen in den Augen. Merz, der harte
Hund? Das war einmal, so die Botschaft.
K-Frage mitzureden. In NRW sucht Minis-
terpräsident Hendrik Wüst immer neue
Themen, um Spitzen in Richtung Berlin zu
setzen. In Hessen gewinnt Boris Rhein an
landesväterlichem Profil. Und in Nieder-
sachsen, Baden-Württemberg oder Thü-
ringen machen junge Landesvorsitzende
gehörig Druck. Merz dürfte das alles als
Schuss vor den Bug verstanden haben.
Und Söder? Den bayerischen Minister-
präsidenten darf man nie unterschätzen,
auch nicht nach dem mauen Ergebnis bei
der Landtagswahl im Oktober.
Womit man wieder bei den Merz’schen
Zukunftsplänen wäre. Der CDU bleiben
nur ungeschickte Zeitpunkte, um die
K-Frage zu klären. Will man mit klaren
Verhältnissen in den Sommer gehen?
Dann könnte der Kandidat schnell tau-
meln: Die Wahlen dürften mehr Hypothek
werden als Mitgift. Also lieber im Herbst
entscheiden? Dann wird die Zeit knapp.
Vielleicht schafft der Bundesparteitag
im Mai mehr Klarheit. Auf der Tagesord-
nung steht ein neues Grundsatzprogramm.
Und: die Wiederwahl des Vorsitzenden. A

Vom Reden haben. Sollte Donald Trump

erneut Präsident werden, ist
pekingfreundliche Parteien
gewinnen und die Demokratie
Ukraine selber immer mehr
Schwierigkeiten, Soldaten zu

zum Handeln es vorbei mit der transatlan-

Die Außenpolitik ist 2024 ge-
fordert wie selten. Annalena
Baerbock kann sich profilieren
GUDRUN DOMETEIT Ressortleiterin
Ausland, FOCUS Magazin, Berlin
tischen Liebe. Trumps Obses-
sion, auf Deutschland wegen
zu geringer Verteidigungsaus-
gaben oder Protektionismus
herumzuhacken, ist legendär.
Die militärische Unterstützung
für die Ukraine würde er kür-
zen, auf Deutschland und die
übrigen Europäer kämen noch
mehr Kosten zu. Das Auswärtige
Amt und mit ihm die Bundes-
regierung müssten sich auf
diesen Worst Case vorbereiten.
schleichend eingeschränkt
wird? Oder wenn das zwar nicht
passiert, aber China militärisch
Tatsachen schafft? Schließ-
lich betont gerade Baerbock
immer wieder, wie wichtig ihr
die Verteidigung westlicher
Werte in der ganzen Welt ist.
2024 wird sich auch zei-
gen, ob es der Ukraine gelingt,
entscheidende Fortschritte
im Kampf gegen Russland zu
erreichen. Schon jetzt macht
sich Kriegsmüdigkeit im Wes-
rekrutieren. Was würde ihre
Niederlage für die Sicherheits-
ordnung in Europa bedeuten?
Eine Glaskugel hat auch
die Außenministerin nicht. Aber
im nächsten Jahr sollte die
Grüne endlich von einer eher
reaktiven zu einer vorbeugen-
den Außenpolitik wechseln.
Das kann sie nicht alleine tun,
sondern nur im Verbund mit
der EU. Da allerdings wartet die
nächste Baustelle. Die Union
gehört eigentlich komplett

R eisen bildet, sagt man ja.

Deutschlands Außenminis-
terin Annalena Baerbock hat in
zwei Jahren 471 454 Kilometer
zurückgelegt, bei ihren Erdum-
kreisungen konferiert, eruiert,
appelliert, Solidarität versichert –
und gelernt. Im kommenden Jahr
wird das nicht mehr reichen –
jedenfalls nicht für eine Politike-
rin, die den expliziten Anspruch
hat, eine strategisch denkende
Diplomatin zu sein. Da ist statt
Reden Handeln gefragt, und das
möglichst vorausschauend.
Denn 2024 wird ein Superwahl-
jahr, mit Urnengängen in über
70 Ländern, darunter in den USA,
Taiwan, zum Europäischen Parla-
ment. Deren Ergebnisse werden
Auswirkungen auf Deutschland
Und welchen Plan hat Ber-
lin, wenn im Januar in Taiwan
ten bemerkbar. Und nun noch
der Israel-Krieg. Auch hat die
reformiert, bevor sie wie geplant
neue Mitglieder aufnimmt.
Für Deutschland wäre es eine
Chance, kluge Führung bei
der Modernisierung zu zeigen.
Und für Baerbock wäre es eine
Gelegenheit, ein eigenes poli-
tisches Projekt anzugehen,
„ein Werkstück“ zu erarbeiten,
das sich dereinst mit ihrem
Namen verbindet. Daran fehle
es nämlich bislang, bemän-
geln erfahrene Diplomaten.
Und ganz nebenbei könnte
sich Baerbock 2024 die Er-
kenntnis zu eigen machen, dass
Werte und Feminismus eher
ungeeignete Instrumente zur
Lösung schwerer Konflikte sind.
Da muss man nämlich auch
E Baerbock mit Amtskollege Eli Cohen (l.) in Israel nach dem Massaker mit den Bösen verhandeln.
30 DEUTSCHLAND Die Welt in 2024

Belastungstest
für Demokraten

Erst das Europaparlament, dann drei

Landtage im Osten – 2024 wird
zum Probelauf fürs Bundestagswahljahr

ANJA MAIER Chefreporterin Politik,

FOCUS Magazin, Berlin

D as Jahr 2024 kann man sich im

schlimmsten Fall wie eine Schiffs-
schaukel vorstellen, die Wahltag um Wahl-
E Die Ministerpräsidenten Kretschmer, Woidke und Ramelow (v. l.) wollen weiterregieren. Nur, mit wem?

tag immer mehr an Rechtsdrall gewinnt.
Erst wird am 9. Juni über das EU-Parla-
ment entschieden. Demoskopen sagten
zuletzt eine Verdoppelung der AfD-Stim-
men von 11 Prozent auf 23 Prozent voraus.
Anschließend geht es in den Landtags-
wahlkampf in Sachsen, Thüringen und
Brandenburg, wo die in Teilen rechtsextre-
mistische AfD schon heute bei über 30 Pro-
zent liegt. Was auch immer im September
herauskommen mag – mit den Ost-Wahl-
ergebnissen werden die etablierten Parteien
SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP ins Bun-
destagswahljahr 2025 starten müssen.
Dass die AfD in Sachsen, Thüringen
oder Brandenburg in Regierungsverant-
wortung kommt, hält die Politologin Julia
Reuschenbach von der FU Berlin für unrea-
listisch. Sie sieht derzeit nicht, dass CDU-
Landesverbände „eine aktive Zusammen-
arbeit mit der AfD anstreben“. Dies würde
geltender Beschlusslage widersprechen.
Aber dass die AfD in Ostdeutschland
Machtoptionen austestet, ist nicht zu über-
sehen. Umso entscheidender sind die
Ergebnisse der aktuellen Bündnispartner
vor Ort. In Thüringen regiert seit 2020 eine
rot-rot-grüne Minderheitsregierung unter
Linke-Ministerpräsident Bodo Ramelow.
In Sachsen führt der CDU-Politiker Michael
Kretschmer eine Koalition mit Grünen und
SPD an. In Brandenburg wiederum regiert
der Sozialdemokrat Dietmar Woidke mit
CDU und Grünen. Die Stimmung zwischen
den Partnern ist mit mäßig noch freundlich
beschrieben.
Der mühsame Zusammenhalt dürfte
im Jahr 2024 auf eine weitere Probe ge-
stellt werden. Die einstige Linke-Politi-
Die Stimmung zwischen den der-
zeitigen Koalitionspartnern ist mit
mäßig noch freundlich beschrieben
kerin Sahra Wagenknecht bereitet mit
ihrem im Herbst gebildeten Bündnis Sahra
Wagenknecht die Gründung einer eige-
nen Partei vor. Damit will sie nicht nur
zur Europawahl antreten, sondern wenn
möglich auch zu den Landtagswahlen in
Sachsen, Thüringen und Brandenburg.
Mit ihrer ungenau gehaltenen Forderung
nach „Vernunft und Gerechtigkeit“ dürfte
Wagenknecht vor allem jene überzeugen,
die sich von der hetzerischen AfD abgesto-
ßen fühlen, aber kein Vertrauen mehr in
die Politik von Union und Ampelkoalition
haben. Reuschenbach schätzt Wagen-
knecht hier als „wichtige Playerin“ ein,
die der AfD die entscheidenden Punkte
abnehmen könnte. „Sie kann aber selbst
nicht in allen Ländern antreten, braucht
also Strukturen und Personen“, analysiert
die Expertin. Sie ist daher skeptisch, ob es
Wagenknecht gelingt, das alles in so kur-
zer Zeit aufzubauen. A

Abtreibung – Q Jedes Jahr

bald straffrei?
Die Bundesregierung muss
über die Zukunft des
Paragrafen 218 entscheiden
Redakteurin Politik,
LARA WERNIG
FOCUS Magazin, Berlin
Jahr lang suchten die Experten
Regulierungen, die Schwanger-
kommt es
Ulle Schauws, frauenpolitische
Sprecherin der Grünen, geht
in Deutsch-
land zu etwa
„Verurteilung und die moralische
Instanz“ mit der Verankerung
100 000 Ab- im Strafgesetzbuch einher.
brüchen Das Selbstbestimmungsrecht
der Frau komme zu kurz.
Das sieht selbst in der Ampel-
koalition nicht jeder so. Wäh-
rend Grüne und SPD sich schon
öfter für die Abschaffung von
Paragraf 218 aussprachen,
bleibt die FDP ablehnend. Für
eine ersatzlose Streichung sei
Beratungsstellen gehen, und „überhaupt kein Raum“, sagte
der Abbruch muss innerhalb Katrin Helling-Plahr, rechts-

D er März 2024 wird richtungs-

weisend sein in der seit Lan-
gem hitzig geführten Debatte
um Abtreibung. Eine von der
Bundesregierung beauftragte
Kommission aus Medizinern,
Juristen oder Ethikern soll ihre
Ergebnisse präsentieren. Ein
schaftsabbrüche „außerhalb des
Strafgesetzbuchs“ ermöglichen.
Noch sind Abtreibungen laut
Paragraf 218 grundsätzlich für
alle Beteiligten strafbar. Es gibt
jedoch schon jetzt mehrere Aus-
nahmeregelungen. Frauen müs-
sen rechtzeitig zu anerkannten
der ersten zwölf Schwanger-
schaftswochen von einem Arzt
vorgenommen werden. Dann
gilt Paragraf 218a – die Straf-
freiheit. Macht es also heute
in der Praxis tatsächlich einen
Unterschied, ob Paragraf 218
fortbesteht oder nicht? Für
politische Sprecherin der FDP.
Das Ergebnis der Kommis-
sion wird nur als Empfehlung
dienen. Die Ampelparteien
müssen dann eine Lösung in
einer Debatte finden, die schon
Jahrzehnte läuft. Ob ihnen
das gelingt?
Die Welt in 2024
Gastbeitrag Krankenhäuser müssen
nachhaltiger werden
W ird heute vom Kranken-
haus der Zukunft gespro-
chen, ist oft vom Smart Hospital
die Rede, also vom digitalisier-
ten, gleichwohl menschen-
zentrierten Krankenhaus. Ich
wünsche mir, dass 2024 das
Jahr wird, in dem im gleichen
Atemzug auch das Green Hos-
pital genannt wird – die nächs-
te Entwicklungsstufe auf dem
Weg zum Krankenhaus der
Zukunft. Denn was kaum einer
weiß: Das Gesundheitswesen
ist weltweit der fünftgrößte
Verursacher von Emissionen.
Laut „Health Care Without
Harm“ emittiert es weltweit
mehr als der Flugverkehr oder
die Schifffahrt. 5,2 Prozent
der gesamten Emissionen in
Deutschland gehen auf das
Konto des Gesundheitswesens.
Treffender, als WHO-General-
direktor Tedros Adhanom Ghe-
breyesus es getan hat, lässt es
sich wohl nicht auf den Punkt
bringen: „Die Orte, an denen
Menschen geheilt werden, soll-
ten mit gutem Vorbild voran-
gehen und die Belastung nicht
weiter vorantreiben.“
Als besonders ressourcenin-
tensive Großverbraucher stehen
vor allem die Krankenhäuser
in der Pflicht, ihre Klimabilanz
zu verbessern. Ein Klinikbett
verbraucht etwa so viel Energie
wie vier Einfamilienhäuser.
Der Handlungsdruck ist groß,
ebenso die Bereitschaft zum
grundsätzlichen Um- und Neu-
denken. Krankenhäuser müs-
sen sich der Aufgabe stellen,
ihr Kerngeschäft, die Gesund-
heitsversorgung der Menschen,
zukünftig so umweltneutral
und klimaverträglich wie mög-
lich zu gestalten.
Wer den Menschen konse-
quent in den Mittelpunkt seines
Handelns stellt – und nichts
anderes ist die originäre Aufga-
be der Medizin und damit auch
von Krankenhäusern –, muss
zwangsläufig die Verantwort-
lichkeit für nachhaltiges Han-
deln strategisch und strukturell
in seiner Organisation, in sei-
nem Wertesystem verankern.
Von der CO2-Schleuder zum Green Hospital:
Jochen Werner, Chef der Universitätsmedizin
Essen, fordert die Klimawende der Kliniken
Es braucht zwingend diese
intrinsische Mentalität. Ein
hoher Digitalisierungsgrad ist
dabei von Vorteil, mehr noch,
die Voraussetzung für mehr
Nachhaltigkeit – schafft erst
Digitalisierung doch die er-
forderlichen Freiräume, aber
auch die dafür notwendige
Transparenz und Datenbasis.
Natürlich entsteht ein Green
Hospital, wie alle tiefgreifenden
Transformationen, nicht über
Nacht. Aber es ist unabding-
bar, sich nicht in leeren Worten
und Absichtserklärungen zu
Das Gesundheitswesen
ist weltweit der
fünftgrößte Verursacher
von Emissionen
verlieren, sondern dem An-
spruch konkrete Taten folgen
zu lassen. Wer jedoch nach
der einen, alles entscheiden-
den Maßnahme sucht, wird
scheitern. Darin unterscheidet
sich eine Klinik nicht von der
großen Weltpolitik. Gefragt
ist vielmehr das Bündel von
Maßnahmen, die Summe aller
Aktivitäten, die auf die eigene
Nachhaltigkeit und Ressour-
censchonung einzahlen. Diese
durchaus demütige Erkenntnis,
dass keine glückselig machen-
den Einzelmaßnahmen, son-
dern nur Kontinuität und – in
positivem Sinne – Kärrnerarbeit
der maßgebliche Erfolgsfaktor
in diesem Transformations-
prozess ist, ist auch entschei-
dend für die Akzeptanz der
Green-Hospital-Strategie bei
DEUTSCHLAND 31
Führungskräften und sämt-
lichen Beschäftigten.
Die konkreten Handlungs-
felder umfassen dabei alle
klimarelevanten Bereiche:
Energiemanagement, Beschaf-
fung und Ressourcenverbrauch,
Speisenversorgung, Abfall-
wirtschaft, Mobilität, Logistik
und Nutzerverhalten sind im
Krankenhauswesen die ent-
scheidenden Hebel für mehr
Klimaschutz. In allen Fällen
wird aber nichts gehen, ohne
die Mitarbeitenden mitein-
zubeziehen – durch ihre Vor-
schläge und Anregungen und
auch durch deren eigenes,
konkretes Zutun. Nachhaltig-
keit ist eine Teamaufgabe.
Die Bereitschaft, zu dieser
Veränderung beizutragen, ist
aus meiner Erfahrung gerade
bei den Mitarbeitenden im
Gesundheitswesen überaus
hoch – ist das Wohlbefinden
von Menschen doch per se für
viele Beschäftigte ein zentra-
ler Faktor bei ihrer Berufs-
wahl gewesen. Klimaschutz ist
Gesundheitsschutz, diese Ver-
knüpfung leuchtet ein.
So hoffe ich, dass die bevor-
stehende Neujustierung der
Krankenhauslandschaft auch
als Chance verstanden wird –
als einmalige Gelegenheit,
diesen Change-Prozess nicht
nur ökonomisch-strukturell zu
betrachten, sondern gleich-
zeitig durch Maßnahmen zum
nachhaltigen Krankenhaus
zu nutzen und gewissermaßen
zu veredeln.
Das Krankenhaus gewinnt
dadurch übrigens nicht nur
im Hinblick auf ökologische,
sondern auch auf ökonomische
Aspekte: Längst sind Klima-
schutz und Nachhaltigkeit
zu entscheidenden Faktoren
für die Berufswahl und den
Arbeitsort geworden. Damit
gewinnen das Krankenhaus
und die Medizin insgesamt an
Attraktivität als Arbeitgeber –
ein wichtiges Argument in
Zeiten des grassierenden Per-
sonalmangels bei fast allen
Berufsgruppen.
32 DEUTSCHLAND
Alles Gute
zum 75.!
1949 entstanden die beiden deutschen
Staaten. Die Erinnerung an das zweifache
Jubiläum 2024 ist ein Glücksfall
MARKUS KRISCHER Redakteur,
FOCUS Magazin, Berlin
S o war es immer schon: Die Krise ist
beispiellos, die Herausforderungen
groß wie nie. Noch jede Gegenwart hat
sich inmitten von Gefährdungen gesehen,
für die es in der Geschichte keinen Ver-
gleich gibt. Und noch jede Gegenwart
hat sich in diesem Punkt geirrt. Im kom-
menden Jahr haben die Deutschen Ge-
legenheit, auf die Geschichte ihrer Re-
publik zu sehen – und über das Aus-
maß der aktuellen Erschütterungen und
Umbrüche, so gewaltig sie auch sein
mögen, womöglich etwas gelassener zu
urteilen.Die Bundesrepublik feiert 2024
ihren 75. Geburtstag. Am 23. Mai 1949
verkündete der Parlamentarische Rat das
Grundgesetz. Damit beginne, so erklärte
Konrad Adenauer als Präsident dieses
Gremiums, das seit September 1948 in
Bonn tagte, ein neuer Abschnitt in der
„wechselvollen Geschichte“ des Landes.
Ja, es entstehe mit diesem Tag das „neue
Deutschland“.
Das sich als ziemlich widerstandsfähig
erweisen sollte. Die Westdeutschen bau-
ten aus den steinernen und moralischen
Ruinen, die nach dem Weltkrieg übrig
geblieben waren, einen demokratischen
Rechtsstaat, der allen Stürmen trotzte –
Q Ein „neues
Deutschland“ ist
entstanden.
Konrad Adenauer
unterzeichnete
als Präsident
des Parlamentari-
schen Rates am
23. Mai 1949 das
Grundgesetz des
Bundesrepublik
und schließlich den Landsleuten im Osten
als so attraktiv erschien, dass sie 1989
dem eigenen Regime den Rücken kehrten,
um an den Freiheiten und dem wirtschaft-
lichen Erfolg des Westens Anteil zu haben.
Im kommenden Jahr widmen sich
zahlreiche Bücher, Filme, Ausstellungen,
Symposien und Festakte dem besonderen
Geburtstag der Republik, die womöglich
etwas behäbig und hüftsteif geworden ist,
die aber in der Vergangenheit immer wie-
der bewiesen hat, dass sie bereit ist, sich
neuen Herausforderungen zu stellen. Das
sie sich erneuern kann. Und dass sie wil-
lens ist, ihre Werte zu verteidigen.
Weil wenige Monate nach der Westre-
publik (im Oktober 1949) die DDR gegrün-
det wurde, gedenken die Deutschen 2024
also einer doppelten Staatsgeburt. Sicher:
Die gemeinsame Geschichte der beiden
getrennten Deutschlandteile ist auch
schwer, düster und mit Schuld behaftet.
Dennoch ist das doppelte Jubiläum ein
Glücksfall. Gerade im öffentlichen und fei-
erlichen Rückblick wird, so ist zu hoffen,
die historische Leistung der Ostdeutschen
gewürdigt. Sie waren es, die für die Frei-
heit auf die Straße gingen, die bereit waren,
sich von ihrem bisherigen Leben zu ver-
abschieden, und dafür enorme persönliche
Risiken eingingen. Sie waren es, die eine
Revolution wagten – und sich damit für die
Werte und Freiheiten einsetzten, die im
Westen, jenseits der Mauer, gefahrlos für
jeden jederzeit zu haben waren.
Vielleicht ist es eine besondere Gunst
der Geschichte, dass sich die Deutschen
dieser Tatsache gerade 2024 wieder be-
wusst werden können. In einem Jahr, in
dem drei Landtagswahlen anstehen. Wah-
len, von denen es heißt, viele Menschen
würden sie nutzen, um mit der bisherigen
Republik zu brechen.
Einer Republik, die es zu bewahren gilt.
Und zu feiern. A
Die Welt in 2024
Sicher keine
Plaudertasche
Angela Merkel, Kanzlerin einer
ganzen Generation, legt ihre politische
Autobiografie vor
ANJA MAIER Chefreporterin Politik,
FOCUS Magazin, Berlin
D
as Buch hat noch keinen Titel. Nur
die Autorinnen sind bislang bekannt.
Aber deren Namen sind berühmt genug,
um enorme Erwartungen zu wecken. Im
Herbst 2024 wird Angela Merkel ihre poli-
tische Autobiografie vorlegen; Co-Autorin
ist Merkels langjährige Vertraute und
Büroleiterin Beate Baumann. Der Verlag
Kiepenheuer & Witsch verspricht schon
mal „einen exklusiven, persönlichen Ein-
blick in das politische Leben und Wirken
der Bundeskanzlerin a. D.“.
Über „Kohls Mädchen“ gibt es etliche
Biografien, Filme, Foto- und Essaybände,
sogar eine humoristische Krimireihe mit
„Miss Merkel“. Die Porträtierte selbst blieb
während ihrer Amtszeit stets zurückhal-
tend. Aus der Templiner Pfarrerstochter
war über die Jahre eine Weltpolitikerin
geworden, die jedes ihrer Worte zu wägen
hatte. Nur hin und wieder blitzte in per-
sönlichen Interviews oder Hintergrund-
runden etwas von der privaten – und oft
enorm witzigen – Angela Merkel auf.
Erst kurz vor ihrem angekündigten
Ausscheiden aus der Politik hatte sie in
drei Reden zur deutschen Verantwortung,
zu ihrer ostdeutschen Sicht auf die Wieder-
vereinigung und auf das Thema Migration
Einblick in ihre Gedankenwelt gegeben.
Die Autobiografie wird diese Grundthemen
wohl abschreiten. Dass Merkel sich aller-
dings plötzlich zur Plaudertasche entwi-
ckeln, gar indiskret werden könnte, glaubt
niemand. Denn das ist es ja, was sie in
drei Jahrzehnten politischer Arbeit wie
niemand sonst verkörpert hat: Understate-
ment bis zur Selbstbeschädigung. A
E Ein Flüchtling macht 2015 ein Selfie mit Kanz-
lerin Merkel in einer Berliner Erstaufnahme
Die Welt in 2024
Gastbeitrag Deutschland muss sich auf
das Trump-Szenario vorbereiten
D ie Entscheidung über den
nächsten US-Präsidenten
im November 2024 wird zur
Schicksalswahl auch für Euro-
pa und Deutschland. Ein Sieg
Trumps scheint wieder mög-
lich. Seine Kontrolle über die
Republikanische Partei wirkt
unzerstörbar. Im schlimmsten
Fall droht Europa eine „Zeiten-
wende“ eigener Art. Biden war
für Deutschland und Europa
ein politischer Glücksfall: Als
Freund der Nato alter Schule
wertschätzt er die Verbünde-
ten. Ohne seine Unterstützung
läge die Ukraine längst am
Boden. Die Sicherheit Europas
wäre höchst prekär. Und im
Gazakrieg erweist sich Bidens
Administration als entschlos-
sen und engagiert – die einzige
Großmacht mit Einfluss auf die
Geschehnisse. Europäer und
Deutsche dürfen sich jedoch
nicht täuschen: Ob Biden oder
Trump – die alte transatlanti-
sche Ordnung wird allmählich
Geschichte. Gewiss, die USA
werden auf absehbare Zeit die
stärkste und innovativste Wirt-
schaft der Welt bleiben, doch
sie werden protektionistischer
sein. Freihandelsabkommen
wird es mit den USA nicht
mehr geben. Die Welthandels-
organisation ist für Washing-
ton obsolet. Und ökonomische
Zwangsmaßnahmen gegen
Rivalen, manchmal auch gegen
Verbündete, bleiben das Mit-
tel der Wahl. Einerlei wer das
Rennen um die Präsidentschaft
macht, die strategische Achsen-
drehung der USA zum Pazifik
ist unumkehrbar. Der russische
Angriffskrieg gegen die Ukrai-
ne sowie der Krieg in Nahost
wirken dagegen wie temporäre
Ablenkungen.
China wird für die USA in
den nächsten Jahrzehnten der
geopolitische Fokus Nummer
eins sein. Auch innenpoli-
tisch bleibt eine gefährliche
Polarisierung der USA, ein
für Störungen und Blockaden
anfälliges Regierungssystem.
Das hat Auswirkungen auf die
Welt. Die Zweifel an der Ver-
Ob Biden oder Trump – die alte transatlantische
Ordnung wird Geschichte, sagt der frühere
deutsche Botschafter in den USA, Peter Wittig
lässlichkeit Washingtons wach-
sen. „Soft Power“ und Vorbild-
funktion leiden. Sollte Trump
(oder ein Republikaner seiner
Schule) siegen, sind die Risiken
schwerer Verwerfungen mit
Europa noch größer. Die Revi-
sion des US-Ukraine-Engage-
ments wäre vorprogrammiert.
Darauf setzt auch Putin. Kosten
und Lasten für die Verteidi-
gung der Ukraine und ihren
Wiederaufbau würden auf
Europa abgeladen. Selbst ohne
Rückzug aus der Nato wäre
die amerikanische Führungs-
Die USA werden protek-
tionistischer. Freihandels-
abkommen wird es mit
ihnen nicht mehr geben
rolle im Verteidigungsbündnis
erheblich schwächer. Die USA
als globale Führungsmacht
der Demokratien westlichen
Zuschnitts? Unter Trump nicht
mehr denkbar! Mit der Rück-
abwicklung des multilateralen
Engagements der USA ist
ebenso zu rechnen wie mit der
Infragestellung der internatio-
nalen Klimaschutz-Agenda.
Das Unverständnis, ja teilwei-
se die Feindseligkeit Trumps
gegenüber der EU könnten
wiederauferstehen.
Fest einzukalkulieren wäre
die Verschärfung des ohnehin
anwachsenden Protektionis-
mus: Trumps Wahlkampfteam
bereitet einen Universalzoll von
zehn Prozent auf alle Importe
vor. Sein früherer Handels-
beauftragter Robert Lighthizer
DEUTSCHLAND 33
will Importzölle sogar jährlich
so lange steigern, bis die USA
eine ausgeglichene Handelsbi-
lanz erreicht haben. Die China-
Politik bliebe erratisch, wenn
auch nicht notwendig kriege-
rischer. Als Politiker in isola-
tionistischer Tradition scheut
er weitere militärische Ver-
wicklungen, auch im Taiwan-
Konflikt. Deutschland und die
EU sind gefordert, sich auf das
Trump-Szenario vorzubereiten.
Zunächst müssen sich vor allem
die deutsche und französische
Regierung zu einem Führungs-
duo zusammenraufen, das
diesen Namen verdient. Dazu
muss die Regierung Scholz
dringend in den Aktivmodus
schalten. Mehr denn je gilt es,
die EU zusammenzuhalten und
sie durch Fortschritte in der
EU-Governance handlungs-
fähiger zu machen.
Oberste Priorität muss die
Stärkung von Europas Vertei-
digungsfähigkeit werden –
einschließlich einer leistungs-
starken Rüstungskooperation.
Auch die künftige europäische
Funktion der französischen
Nuklearkapazitäten gehört auf
die Agenda. Eine geopolitische
Macht ist die EU zwar nicht,
aber eine Handelsweltmacht.
Dieses Gewicht muss sie nut-
zen, um weiter Bannerträger
einer offenen Weltwirtschaft zu
sein. Mehr Freihandelsabkom-
men liegen in Europas Interes-
se. Jetzt schon sollte Deutsch-
land in Wirtschafts- und
Nachhaltigkeitsfragen stärker
mit republikanischen US-Bun-
desstaaten kooperieren. Deren
Gouverneure sind in der Regel
pragmatischer als Trump.
Auf allen Ebenen der Gesell-
schaft gilt es, Bindungen der
Bürger zu stärken. Die Erfah-
rung lehrt: Die USA in ihrer
Vielschichtigkeit sind größer
als ein Präsident! Mit Trump
würden europäische Gedan-
kenspiele einer Äquidistanz zu
USA und China aufleben. Das
kann keine Option sein. Die
USA bleiben für Europa eine
„unverzichtbare Nation“.
34 DEUTSCHLAND
Darum geht der
Deckel nicht ab
Aus Gründen des Umweltschutzes darf
es künftig keine losen Verschlüsse mehr
auf Einweg-Plastikflaschen geben
SONJA FRÖHLICH Redakteurin Wissen &
Gesundheit, FOCUS Magazin, Berlin
W er gern direkt aus der Pulle trinkt,
den dürfte die neue Regel nerven.
Dann kratzt der Deckel wahlweise an
Kinn oder Nase. Ab dem 3. Juli 2024 dür-
fen Einweg-Getränkeflaschen bis drei
Liter nur noch mit sogenannten Tethered
Caps (wörtlich: gefesselte Verschlüsse)
verkauft werden. Das gilt auch für Saft-
oder Milchkartons. Hintergrund ist eine
EU-Richtlinie für mehr Umweltschutz.
Die bislang separaten Deckelchen ver-
mehren den Plastikmüll in Gewässern,
an Stränden oder in Wäldern. Bei Über-
prüfungen etwa an der Nordsee hat man
mehr als 40 Kappen auf rund 100 Meter
Strand gefunden. Blieben sie aber mit der
Flasche verbunden, so das Fazit, würden
sie nicht mehr in der Gegend herum-
fliegen. Die EU-Mitgliedstaaten müssen
deshalb dafür sorgen, dass die Kunststoff-
flaschen, deren Verschlüsse und Deckel
ebenfalls aus Kunststoff bestehen, „nur
in Verkehr gebracht werden, wenn diese
Verschlüsse und Deckel während der für
das Produkt vorgesehenen Verwendungs-
dauer an den Behältern befestigt bleiben“,
heißt es in Artikel 6 der EU-Einwegkunst-
stoffrichtlinie.
Bei einschlägig bekannten Drinks und
Milch aus dem Discounter hängen die
Kappen aus Produktionsgründen schon
länger fest. Um zu verhindern, dass die
Trinkenden verzweifelt an den Verschlüs-
sen zerren, ist extra ein Spruch aufge-
druckt: „Lass mich dran fürs Recycling“. A
E Der Natur soll es nützen: Weniger Plastikmüll
erhofft sich die EU mit ihrer neuen Regelung
E Zwei Monate überlebt: Aufnahme von der Operation an David Bennett in Baltimore, Maryland
Herzen aus dem
Schweinestall
Mit einer speziellen Rasse will ein
Team aus München die Transplantation
von Tierorganen sicherer machen
KURT-MARTIN MAYERRedakteur Wissen &
Gesundheit, FOCUS Magazin, Berlin
D avid Bennett lebte 2022 noch zwei
Monate. Lawrence Faucette starb
sechs Wochen nach seiner Operation, im
vergangenen Oktober. Die Ergebnisse bei
den zwei US-Amerikanern, die als erste
Menschen Schweineherzen an der Stelle
ihrer eigenen, kranken Organe erhielten,
klingen zunächst nicht nach Erfolg. Doch
die Fachwelt war recht zufrieden. Medi-
zinische Pioniertaten sind stets riskant.
Der erste Empfänger eines menschlichen
Herzens überlebte 18 Tage, mittlerweile
haben mehrere Patienten die 30-Jahre-
Marke überschritten. Die Chirurgen in
den USA wollen es jedenfalls weiter ver-
suchen. Und auch ein deutsches Team
arbeitet an der „Xenotransplantation“. Sie
hat ihre Bezeichnung vom griechischen
Wort für fremd – xéno.
Bedarf ist vorhanden. Menschliche
Ersatzorgane sind knapp. In Deutschland
sterben jährlich an die 100 Menschen,
die ein neues Herz benötigen, „auf der
Die Genschere kann das artfremde
Gewebe „vermenschlichen“ und
tödliche Viren herausschneiden
Die Welt in 2024
Warteliste“, wie Ärzte sagen. Implantierte
„Kunstherzen“ dienen nicht als Ersatz, sie
unterstützen nur das geschwächte Organ.
Herzen aus dem Bioreaktor liegen in wei-
ter Ferne. „Sobald unsere Schweineorgane
ausreichend sicher sind, beginnen wir mit
versuchsweisen Verpflanzungen“, sagt der
Münchner Herzchirurg Bruno Reichart.
Im kommenden Jahr soll es so weit sein,
zunächst bei Pavianen. Glücken die Tier-
versuche, will das Team um Reichart die
ersten geeigneten Patienten rekrutieren.
Der 80-jährige Arzt, dem 1983 die erste
Herz-Lungen-Transplantation in Deutsch-
land gelang, arbeitet mit weiteren Medizi-
nern vom Universitätsklinikum München
und dem Institut des Tiergenetikers Eck-
hard Wolf zusammen. Anders als die Grup-
pen in den USA verwenden Wolf und
Reichart die neuseeländische Schweine-
rasse Auckland Island Pigs. Die Tiere sind
klein genug, dass ihre Herzen im mensch-
lichen Brustkorb Platz finden.
Die große Herausforderung bestehe
darin, die Organe zu „vermenschlichen“,
so Reichart. Physiologisch stehen Schwei-
ne dem Menschen näher als die meisten
anderen Tiere. Damit aber das humane
Immunsystem das artfremde Gewebe in
Ruhe lässt und nicht attackiert, müssen die
Forscher die entscheidenden Gene identi-
fizieren und verändern. Letzteres geschieht
unter anderem mithilfe von Genscheren
wie Crispr/Cas9. Die Technik kann auch
Schweineviren eliminieren. Im Fall Ben-
netts hatten die Forscher offenbar einen
tödlichen Krankheitserreger im übertrage-
nen Organ übersehen.
Bei den Auckland-Schweinen müssten
lediglich fünf Gene modifiziert werden,
sodass sie passen, sagt Reichart: „Vier
haben wir geschafft.“ So könnte das men-
schenverträgliche Schweineherz bald
wenigstens im Versuchsstall pochen. A
Die Welt in 2024 DEUTSCHLAND 35

Wachstumsmarkt
Weltrettung
Nachhaltige Technologien helfen dem Klima und W Der Markt
bringen vermehrt auch eine gute Rendite: Investoren für Solaranlagen
setzen auf Climate Tech aus Deutschland wächst auch in
Deutschland weiter.
Viele hiesige Start-
CORINNA BAIER Redakteurin Agenda, ups arbeiten an und
FOCUS Magazin, Berlin mit der Technologie

D as Thema Nachhaltigkeit steht nicht nur bei so

gut wie jedem Konzern, jeder Regierung ganz
oben auf der Agenda, auch Wagniskapitalgeber in-
vestieren stärker in grüne Technologie. Climate Tech
nennt sich die Branche. Dabei haben die Geldgeber
nicht nur altruistische Motive im Sinn. Durch neue
Methoden, um Energie und damit Kosten zu sparen,
schafft der Sektor wirtschaftliche Vorteile. Das Vo-
lumen dürfe 2024 wieder wachsen. Auch weil Ener-
giesouveränität seit dem Ukraine-Krieg wichtiger
geworden ist. Weltweit stiegen die privaten Klima-
investitionen von 75 Milliarden Dollar in 2019 auf
196 Milliarden in 2022, litten aber unter den geopoli-
tischen Konflikten und der Stimmung in den Märkten
2023. Allerdings weniger als andere Branchen.
Auch weil Europa stark in Klimaschutz inves-
tiert, sind Start-ups hier in einer guten Position, zu
Weltmarktführern zu werden. Die deutschen Firmen
Volocopter und Enpal gehören zu den wertvollsten
europäischen Climate-Start-ups. Volocopter stellt
elektrisch betriebene Flugtaxis her. Und Enpal bietet
Solaranlagen zur Miete an – inklusive Wartung und
Reparatur. Gründer Mario Kohle konnte 518 Millionen
Euro Risikokapital einsammeln. Allerdings scheint
Enpal mit der Skalierung zu kämpfen. Zuletzt berich-
teten Kunden von Schlamperei bei der Installation.
Das gut finanzierte Unternehmen 1Komma5° des
einstigen Tesla-Deutschlandchefs Philipp Schröder
geht in eine ähnliche Richtung, verkauft Haushalten
alles von Solar bis Wärmepumpe. Für die Firma Son-
nen aus Dresden, die virtuelle Kraftwerke herstellt,
soll Shell vor vier Jahren 500 Millionen Euro gezahlt
haben. Allerdings will der Ölkonzern den Neuerwerb
schon wieder loswerden, was viele angesichts der
hohen Nachfrage überraschte.
Andere Innovationen aus Deutschland filtern über
Industrie-Kühltürme CO₂ aus der Atmosphäre wie die
Firma Neocarbon oder recyceln Lithium-Ionen-Batte-
rien und lösen so ein Problem der E-Mobilität wie das
Start-up Tozero der Gründerinnen Sarah Fleischer und
Ksenija Milicevic Neumann.
Sie filtern Oder sie machen Häuser schlau. Wie das Kölner
CO₂ aus der Start-up Aedifion. Deren Cloud-Plattform senkt die
Atmosphäre CO₂-Emissionen gewerblicher Gebäude um bis zu
40 Prozent. Diese Art von Prop-Tech (Gebäudetechnik)
oder machen interessiert Investoren besonders, der Geldfluss ließ
Gebäude auch 2023 nicht nach. Aedifion sammelte zuletzt
schlau 12 Millionen Euro ein, auch SAP beteiligte sich. A

Deutsche Die Entwicklung praktisch

Quanten-
sprünge
Forschende gestalten die Zu-
kunft: Auch deutsche Start-ups
entwickeln Quantencomputer
Ressort Agenda,
CORINNA BAIER
FOCUS Magazin, Berlin
nutzbarer Quantencomputer
ist theoretischer Physiker. Ihr
Ziel: innerhalb von dreieinhalb
ist etwa so bedeutend wie
die Erfindung des Buchdrucks.
Jahren einen Neutral-Atom-
Quantencomputer bauen. Dafür
Diese Maschinen können
Rechenleistungen erreichen,
bekamen sie kürzlich 29 Millio-
nen Euro vom Deutschen Zen-
mathematische Operationen trum für Luft- und Raumfahrt.
durchführen und Probleme Fünf weitere Firmen, die an ähn-
lösen, die im Moment nur lichen Anwendungen und Super-
schwer vorstellbar sind: Krank- rechnern arbeiten, wie Eleqtron
heiten werden ausgerottet, aus Siegen bekamen Geld.
neuartige Batterien entwickelt, Andere Start-ups arbeiten
selbst die Klimakatastrophe daran, Software für Quanten-
könnte sinnvoll bekämpft computer zu entwickeln, wie
werden. Quantagonia aus Frankfurt.
Auch in Deutschland gestal- Silicon-Valley-Glücksritter

I n den vergangenen Jahren

hat die Forschung an Quanten-
computern zwar riesige Fort-
schritte gemacht, aber nur we-
nige Superrechner haben es
bislang aus dem Labor ge-
schafft. Selbst die führenden
Tech-Konzerne wie Alphabet
oder IBM kämpfen noch um
den ganz großen Durchbruch.
ten Universitäten, Institutionen
und Start-ups diese Revolution
mit. In München entstand das
Munich Quantum Valley, eines
der führenden Zentren für Quan-
tentechnologie in Europa. Die
erste Ausgründung, das Start-up
Planqc, wird von führenden
Wissenschaftlern geleitet, einer
der Gründer, Alexander Glätzle
E Googles „Sycamore“ ist einer
der besten Quantencomputer
beherrschten das Internet,
kommerzialisierten unsere Pri-
vatsphäre, bauten Imperien
auf bloßen Ideen auf. Die nächste
Stufe der Digitalisierung ge-
stalten Physiker.
Doch werden die deutschen
und europäischen Inventionen
ausreichen, um gegen die USA
und China zu bestehen?
36 DEUTSCHLAND
Gastbeitrag Wie wir unsere Bäume retten
D er Wald in Deutschland
bedeckt ein Drittel der
Fläche. Aber leider befinden
sich viele Wälder und Forsten
nach einer Reihe von extre-
men Sommern in einem sehr
schlechten Zustand. Die sich
verschärfende Klimakrise stellt
alle scheinbaren Gewissheiten
der Forstwirtschaft infrage.
Auf der Aufgabenliste der
Ampelregierung steht die Neu-
formulierung des völlig ver-
alteten Bundeswaldgesetzes.
Die nicht mehr zu leugnenden
Schäden an Böden und Öko-
systemgesundheit legen nahe,
dass Gebote und Verbote
deutlicher und einklagbarer
formuliert werden müssen.
Auch haben sich die gesell-
schaftlichen Ansprüche an den
Wald erweitert. Zu den wert-
geschätzten Ökosystemleis-
tungen gehören längst nicht
mehr nur Holzproduktion und
Erholungsfunktion. Ein gesun-
der Wald speichert große Koh-
lenstoffmengen. Wald ist eine
Landschaftsklimaanlage, die
Extreme puffert. Er treibt den
Wasserkreislauf an und ver-
sorgt auch uns Menschen mit
sauberem Wasser.
Für die Rolle der Wälder
als Wasserwirt und Wetter-
macher sind außer den Bäu-
men die durchwurzelten und
durch Organismen aller Art
belebten Böden entscheidend.
Menschliche Nutzung führt
oft zu schweren Bodenschä-
den. Besonders gefährdet ist
Humus. Für Kühlung, Bele-
bung und Erneuerung der
Böden sind Laubstreu und totes
Holz unverzichtbar. Befahrung
und Freilegung von Waldbö-
den führt zu biologischer Ver-
armung, Austrocknung und
Erwärmung. Auf verdichteten
und trockenen Böden läuft
mehr Wasser oberflächlich ab,
bei Starkregen steigt das Über-
flutungsrisiko in tiefer liegen-
den Gebieten.
Der Schutz von Leben,
Boden und Wasser im Wald
geht uns alle an, sichert
Lebensqualität und schützt
Damit unsere Wälder als Klimaanlagen
funktionieren, braucht es ein neues Bundes-
waldgesetz, meint Ökologe Pierre Ibisch
Mensch und Gesellschaft in
der Klimakrise vor Risiken.
Welche Konsequenzen für ein
neues Waldgesetz gibt es?
Praktiken, die den Böden
und der Vitalität des Waldes
schaden, müssen verboten
werden. In vielen Waldgebie-
ten werden 20 bis 25 Prozent
der Fläche auf Wegen und
Rückegassen befahren – dieser
Anteil muss deutlich gesenkt
werden, am besten unter zehn
Prozent. Auch wenn Baum-
bestände absterben, sei es
durch Trockenheit, Feuer oder
Wer Geld vom
Steuerzahler will, muss
sich in die „Wald-
karten“ gucken lassen
Borkenkäfer, darf es nicht zu
ausgedehnten kahlen Flächen
ohne totes Holz und Humus
kommen. Mindestens die Hälfte
der geschädigten Bäume sollte
auf der Fläche verbleiben. Die
Entwässerung von Wäldern
muss unterbunden werden.
Die Gesellschaft sollte Wald-
eigentümer honorieren, wenn
sie gesunde Wälder mit ent-
sprechenden Leistungen erhal-
ten. Aber auch nur dann. Die
Forstwirte der Zukunft werden
nicht allein Holzwirte sein, son-
dern auch Wasser-, Klima- und
Landschaftswirte.
Um besser zu verstehen,
wo Wälder aus welchen Grün-
den unter Druck geraten und
welche Maßnahmen wirken,
und vor allem um die Öko-
systemleistungen zu messen
Die Welt in 2024
und zu bewerten, reichen die
bisherigen Instrumente der
Waldbeobachtung wie eine
Bundeswaldinventur im Zehn-
Jahres-Rhythmus auf ausge-
wählten Probepunkten nicht
aus. Wir benötigen zeitlich
und räumlich hoch aufgelöste
Informationen, die mit den
Satellitenbilddaten und Cloud-
Computing kostengünstig
bereitgestellt werden können.
Eigenschaften wie die Vitalität
der Bäume, die Strukturviel-
falt oder die Oberflächentem-
peratur des Waldes können
regelmäßig und flächende-
ckend bestimmt werden. Es
wäre unverzeihlich, wenn das
neue Waldgesetz versäumen
sollte, die Nutzung dieser
Technologie vorzuschreiben.
Der Widerstand in der
Forstwirtschaft gegen Trans-
parenz ist groß. Wer aber Geld
vom Steuerzahler haben will,
muss sich in die „Waldkarten“
gucken lassen. Eigentlich
müsste die Forstwirtschaft
einschließlich der staatlichen
Waldeigentümer von einer
unabhängigen Institution kon-
trolliert werden. Es gibt zu
viele Interessenkonflikte.
Böden, Wasser, Waldklima
und biologische Vielfalt werden
im neuen Gesetz als Schutz-
güter benannt werden. Dies
taugt aber nur, wenn es ein-
klagbare Gebote und Verbote
enthält. In den ersten Entwür-
fen gab es viele vage Passagen
und Schlupflöcher. Wenn etwa
formuliert wird, bei Befahrung
sollten Verdichtungen des
Waldbodens nur „so weit wie
möglich“ vermieden werden, ist
das vor Gericht nichts wert.
Die Sozialpflichtigkeit des
Eigentums müsste für den Wald
als Ökologiepflichtigkeit aus-
buchstabiert werden: Wer Wald
besitzt, trägt Verantwortung
dafür, dass das Ökosystem
gesund und entwicklungsfähig
bleibt. Eine einseitige Ausrich-
tung der Waldbewirtschaftung
auf Holzproduktion ist im
21. Jahrhundert nicht zu recht-
fertigen.
Die Welt in 2024
Zuerst gegen Corona,
jetzt gegen Krebs
Die Entwickler der innovativen mRNA-Impfstoffe
testen ihre Immun-Techniken in Studien gegen
Krebs. 2024 wird ein Jahr der Wahrheit
Redakteur Wissen & Gesundheit,
KURT-MARTIN MAYER
FOCUS Magazin, Berlin
E ine gut gefüllte „Pipeline“ zu haben ist für Pharma-
firmen essenziell. Je dichter die Reihe neuer, in
Entwicklung und Tests stehender Wirkstoffe ist und
je mehr Erfolg sie versprechen, desto mehr Interes-
se zeigen Investoren. Seit die Verkaufszahlen ihres
mRNA-Impfstoffs gegen das Coronavirus zurückge-
hen, verweist die Mainzer Biontech gern auf die gut
30 Studien, die mit dieser und anderen auf das Im-
munsystem abzielenden Techniken laufen. Die meis-
ten sind gegen verschiedene Krebsarten gedacht,
einige gegen andere Infektionserreger. Ebenso viel-
fältig ist die Pipeline von Moderna in den USA. Selbst
die Tübinger Curevac, der Verlierer im Impfstoff-
rennen 2020 und 2021, will mit der mRNA-Methode
in die Bekämpfung von Tumoren einsteigen.
Für alle wird 2024 zumindest bei einigen ihrer
Projekte das Jahr der Wahrheit. Bei Moderna und
Biontech laufen Studien der dritten Phase, der letzten,
bevor ein Wirkstoff die Zulassung erhält – oder die
Behörden diese verweigern. Jedenfalls verleiht die
Idee, das menschliche Immunsystem durch Verabrei-
chung eines Bauplans für Abwehrzellen anzuspor-
nen, der Krebsforschung neue Impulse. Viele Pioniere
der Boten-RNA hatten vor 20 oder 30 Jahren primär
Anwendungen in der Onkologie vor Augen. Ihr Ziel
war eine therapeutische Impfung, die den Körper im
Kampf gegen die Krebszellen unterstützt.
Diese steht nun wieder im Vordergrund. Die mRNA
ist dabei eine wichtige, aber nicht die einzige Waffe
beziehungsweise, wie es im Pharma-Jargon heißt,
„Plattform“. Auch simplere Impfstoffe und gentech-
nisch hergestellte Antikörper stehen in der Erpro-
bung. Sowohl bei Biontech als auch bei Moderna
zählen Tumoren der Haut, der Lunge und der Bauch-
speicheldrüse zu den ersten Angriffspunkten.
„Wir wollen ein Kraftwerk der Immuntherapie bau-
en“, pflegte Biontech-Mitgründer Ugur Sahin schon
zu sagen, als noch die Einnahmen aus den Corona-
Impfstoffen um ein Vielfaches höher waren als heute.
Einige der Daten aus Krebsstudien, die bisher bekannt
wurden, zeigen, dass sich der Zustand eines erhebli-
chen Teils der Probanden verbesserte. Aber es waren
vorerst eben nur Studien der Phasen I und II. A
WAS WÄRE, WENN …
... eine weitere Pandemie ausbräche? Die meisten Men-
schen griffen rasch wieder zum Mund-Nase-Schutz.
Dieses Mal würde es kaum an Masken mangeln. Ob und
wie schnell ein Impfstoff käme, hinge vom Erreger ab.
Aber die vorhandenen Produktionsplattformen haben
DEUTSCHLAND 37
Rover stürzt auf
Marsmond Phobos
Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt
betritt mit der MMX-Mission Neuland: Noch nie rollte
ein Fahrzeug unter derart geringer Schwerkraft
SONJA FRÖHLICH Redakteurin Wissen & Gesundheit,
FOCUS Magazin, Berlin
R Der MMX-Rover
kann sich nur im
S eit ihrer Entdeckung im Jahr 1877 geben die Mars-
monde Phobos und Deimos Rätsel auf. Warum
sind sie so winzig, nur 15 und 27 Kilometer im Durch-
Schneckentempo messer? Und wie sind sie entstanden? Das soll ab 2024
über den Marsmond die MMX-Mission klären. Die von der japanischen
bewegen, sonst Raumfahrtorganisation JAXA entwickelte Sonde hat
würde er den Boden- neben einem Landemodul auch den rund 25 Kilo-
kontakt verlieren gramm schweren MMX-Rover an Bord, beigesteuert
vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
und der französischen Raumfahrtagentur CNES. Er
soll die Oberfläche von Phobos erkunden und Proben
sammeln. „Mit dem MMX-Rover betreten wir techni-
sches Neuland, denn noch nie ist ein Erkundungsfahr-
zeug mit Rädern auf einem kleinen Himmelskörper
gefahren, der nur über rund ein Tausendstel der Erd-
anziehungskraft verfügt“, sagt Markus Grebenstein
vom DLR-Institut für Robotik und Mechatronik. Der
Rover werde aus 50 Metern im freien Fall auf den
Ugur Sahin will Marsmond hinabstürzen. Bei der Landung wird er vo-
raussichtlich Purzelbäume schlagen und sich mithilfe
„ein Kraftwerk seines Antriebssystems aufrichten. Damit er bei der
der Immun- geringen Schwerkraft nicht den Bodenkontakt verliert,
therapie bauen“ kann er nur wenige Millimeter pro Sekunde fahren. A
sich innerhalb eines gewissen Spektrums als flexibel
erwiesen. Die Pandemiepolitik fiele sowohl umsich-
tiger als auch zurückhaltender aus. Die vorrangigen
Risikogruppen bei Atemwegsinfektionen sind bekannt.
Gesundheitsämter und andere könnten sie gezielter
schützen. Vor allem die Jungen hätten mehr Freiheiten.
Rufe nach einer Impfpflicht fielen wohl leiser aus.
38 DEUTSCHLAND
E „Fußballliebe“: Gündogan (l.) und Sari kämpfen um den (neuen) Ball beim Testspiel in Berlin
So was hat man
lange nicht gesehn
18 Jahre nach der erfolgreichen
Heim-WM träumt Deutschland wieder
von einem Fußball-Sommermärchen
JOBST-ULRICH BRAND Executive Editor,
FOCUS Magazin, Berlin
E s war ein nasskalter Novembervormit-
tag, als Philipp Lahm von Feuer sprach
und Leidenschaft und Herzenswärme. Vor
dem Berliner Olympiastadion präsentierte
der Weltmeister von 2014 und heutige Tur-
nierdirektor auf einer Open-Air-Bühne den
Spielball für die anstehende Europameis-
terschaft. Die knallbunte Adidas-Kreation
trägt den optimistischen (wenn auch für
Nichtmuttersprachler eher zungenbreche-
rischen) Namen „Fußballliebe“. Allerdings
wirkte der ehemaliger Verteidiger Lahm
doch arg in die Defensive gedrängt, als er
Turniervorfreude entfachen sollte, denn
ungastlicher als an diesem Tag zeigte sich
das ohnehin oft zugige Olympiagelände
selten. Zudem wird an diversen Ecken
gebaggert und restauriert.
Der Auftritt des trotz aller Widrigkeiten
unverdrossen strahlenden Sympathieträ-
gers ist sinnbildlich für den deutschen
Fußball ein halbes Jahr vor Beginn des
Turniers. Ein gewisses Bemühen kann man
dem DFB und den Turnierorganisatoren
nicht absprechen, doch noch wirkt alles
schrecklich steif und unsouverän. Dabei ist
es ja nun nicht das erste sportliche Groß-
ereignis, das hierzulande ausgetragen wird.
Wenn denn wenigstens die deutsche
Mannschaft aufmunternd kicken würde,
doch die tut sich nach der verkorksten Ära
des braven Hansi Flick ebenfalls schwer,
Euphorie zu entfachen. Beim Test in Ber-
lin gegen die Türkei – wegen der vielen
türkischen Fans eine Art Auswärtsspiel in
der Heimat – wirkte Julian Nagelsmanns
Truppe einmal mehr desorientiert und ver-
lor leichtfertig 2:3.
Philipp Lahm ist trotzdem notorisch
zuversichtlich, dass im kommenden Som-
mer Partystimmung im Land herrschen
wird. Er träumt von einem Sommermär-
chen wie 2006, als die Nationalelf ähnlich
umstritten ins Heimturnier zog und dann
bis ins Halbfinale stürmte. Zum Auftakt in
München gewann das Team gegen Costa
Rica 4:2 – Lahm selbst gelang mit einem
Kunstschuss das 1:0. Es ist merkwürdig,
welche Volten die Fußballgeschichte bis-
weilen nimmt: Ein 4:2-Sieg Deutschlands
gegen Costa Rica stand auch am Ende des
unglücklichen Ausscheidens bei der WM
im vergangenen Winter, der Katar-Kater
wirkt bis heute nach.
Die Euro 2024 soll in vielerlei Hinsicht
ein Gegenbild zum umstrittenen Fifa-
Turnier 2022 abgeben. Tolerant, weltoffen,
friedlich und divers wollen sich Deutsch-
land und die Uefa präsentieren. In zehn
Städten wird gespielt, von der Eröffnung
in München am 14. Juni bis zum Finale in
Berlin genau einen Monat später. In ins-
gesamt 18 Fan-Zonen soll zudem ausge-
lassen gefeiert werden, damit das Turnier
nicht bloß ein Fernsehereignis wird, wie es
in der Retortenkulisse Katars der Fall war.
Bei der Spielball-Präsentation war von
all dem noch wenig zu spüren, aber die
Zeiten werden ja auch wieder heller und
wärmer in Deutschland. Immerhin scheint
Reiselust zu bestehen: Das Interesse an
Tickets ist gigantisch, die Sehnsucht nach
einem echten Fußballfest grenzenlos. A
Die Welt in 2024
Wunder gibt es
immer wieder
Viermal wurde Deutschland Fußball-
Weltmeister. Dreimal in Viererjahren.
Ein gutes Omen für die EM 2024?
JOBST-ULRICH BRAND Executive Editor,
FOCUS Magazin, Berlin
A us dem Hintergrund müsste Rahn
schießen …“, „Müller … und 2:1!“,
„Mach ihn! Er macht ihn: Mario Götze!“
Es waren emotionale Momente des deut-
schen Sports und der bundesdeutschen Ge-
schichte, diese entscheidenden Tore in End-
spielen von Fußball-Weltmeisterschaften.
Und alle drei Schlüsselereignisse feiern
im kommenden Jahr runde Jubiläen: der
Sieg über Ungarn beim „Wunder von Bern“
1954 mit dem Treffer zum 3:2 durch Helmut
Rahn. Das in unnachahmlicher Weise aus
der Drehung erzielte 2:1 von Gerd Müller
gegen die Niederlande in München 1974.
Götzes 1:0 gegen Argentinien in der magi-
schen Nacht von Rio de Janeiro 2014.
Die Nationalmannschaft und die Bun-
desrepublik präsentierten sich in unter-
schiedlicher Verfassung in diesen Phasen.
Geläutert nach Krieg und Schande 1954,
weltoffen und fast schon bescheiden
beim Heimturnier 1974, kosmopolitisch
und multikulturell beim Turniergewinn
in Brasilien. Dazwischen, 1990 in Italien,
zeigte sich Deutschland auf dem Weg
zur Wiedervereinigung auch sportlich als
zusammengefügte Einheit.
Der Rückblick auf die drei Etappen
belegt aber auch, wie sich der Fußball ver-
ändert hat in diesen sieben Jahrzehnten.
Welch rasante Entwicklung der Kommerz
genommen hat, mit all den internatio-
nalen Investoren und einer gewaltigen
Medienpräsenz. Für den Titelgewinn 1954
in Bern erhielten die deutschen Spieler
2500 D-Mark, einen Fernseher, einen Le-
derkoffer und einen Motorroller. Aber sie
erlangten auch unvergänglichen Ruhm. A
E Unaufhaltsam: „Der Boss“ Helmut Rahn
(1929–2003, l.) im Finale gegen Ungarn 1954
Die Welt in 2024
Gastbeitrag Warum die Migrationspolitik der
Ampel unsere Demokratie untergräbt
S chrottreife Boote mit un-
zähligen Menschen an Bord
stechen Tag für Tag an der
nordafrikanischen Küste in See.
Viele junge Männer, aber auch
Frauen und Kinder setzen ihr
Leben aufs Spiel, um sich nach
Europa durchzuschlagen. Sie
folgen den verheißungsvollen
Rufen ihrer Verwandten und
Bekannten, die über ähnliche
Wege ihr Glück im Norden
versuchten. Oder sie glauben
an die Erzählungen in ihren
Heimatländern, dass in Europa
bleiben kann, wer es einmal
nach Europa geschafft hat.
Tausende Menschen sind
auf diesen waghalsigen Über-
fahrten ertrunken, und nie-
mand vermag auch nur grob
einzuschätzen, wie viele Opfer
der geradezu wahnwitzige Weg
durch die Sahara gefordert hat.
Der Glaube an ein besseres
Leben bringt die Flüchtlinge
dazu, viel Geld an Seelenver-
käufer zu zahlen, die sie auf
illegalen, verschlungenen Rou-
ten über die Grenze begleiten.
Seit Jahren scheitert Europa
an der Frage, wie sich diese
Massenmigration regeln,
steuern und begrenzen lässt.
Gerade in Deutschland wird in
Sonntagsreden der Anspruch
hochgehalten, Menschen aus
aller Welt helfen zu wollen. Es
wird ein Recht ins Schaufenster
gestellt, das möglichst nicht in
Anspruch genommen werden
soll. Und erst langsam wächst
die Erkenntnis, dass die gut ge-
meinten Hilfestellungen weder
für die Ankommenden noch für
die angestammte Bevölkerung
gut gemacht sind. Mehr noch:
Gerade aus dem politischen
Raum ist häufig das Eigenlob
zu hören, dass Deutschland
eine großartige Asylgesetzge-
bung habe, die politisch Ver-
folgten aus aller Welt die Hand
reiche. Nur mit der Realität hat
dieser Anspruch wenig gemein.
Etwa 100 Millionen Men-
schen aus Afghanistan, dem
Irak und Syrien hätten – theo-
retisch – gute Chancen, einen
Schutzstatus in Deutschland zu
Die ungelöste Migrationsfrage beschädigt das
Vertrauen in den Staat, so Thorsten Frei,
Parlamentarischer Geschäftsführer der Union
erhalten. Zugleich unternimmt
Europa aber einiges, um die-
sen Anspruch möglichst nicht
erfüllen zu müssen. Man ver-
handelt mit jedem Land entlang
der Fluchtrouten – egal ob mit
mustergültigen Demokraten
oder umstrittenen Autokraten –,
um Mittel zu finden, Menschen
davon abzuhalten, nach Europa
zu gelangen. Eine scheinheilige
Strategie, die die Allerschwächs-
ten davon abhält, sich auf den
Weg zu machen. Wer allerdings
körperlich kräftig genug und
risikofreudig ist, der versucht
es. Jährlich gelingt es Hundert-
tausenden, sich nach Europa
durchzuschlagen. Das können
wir nicht länger hinnehmen.
Das Verständnis für diese
ebenso chaotische wie illegale
Masseneinwanderung sinkt
in Deutschland und Europa.
Mehr noch: Die Unfähigkeit der
Politik, dieser Herausforderung
mit klaren Regeln zu begegnen,
untergräbt das Vertrauen in
Staat und Gesellschaft. Die Un-
tätigkeit stärkt die extremen
Parteien, untergräbt das Funda-
ment unserer Demokratie.
Die Grenzen der Belastbar-
keit sind erreicht. Unabhän-
gig von der Arbeitsmigration
kamen 2023 etwa eine hal-
be Million Flüchtlinge nach
Deutschland – nachdem bereits
im Vorjahr mehr als eine Mil-
lion allein aus der Ukraine und
zusätzlich rund 250 000 Asyl-
bewerber untergebracht wer-
den mussten. All diese Men-
schen kommen in einem Land
an, in dessen Ballungsräumen
die Wohnungen schon lange
DEUTSCHLAND 39
knapp sind, wo es auf dem Land
selbst für die Einheimischen
schwierig ist, Arzttermine zu
bekommen. Ganz zu schwei-
gen von der angespannten
Situation an den Schulen.
Es ist offensichtlich, dass
die große Zahl an irregulären
Zuwanderern keineswegs eine
Lösung für den Facharbeiter-
mangel ist. Die Erhebungen der
Bundesagentur für Arbeit sind
ernüchternd: Etwa die Hälfte
der arbeitsfähigen Afghanen,
Syrer und Iraker erhalten Sozi-
alleistungen, obwohl viele von
ihnen sich bereits seit Jahren
hierzulande aufhalten. Und
auch der Anteil der Ukrainer,
die sozialversicherungspflichtig
tätig sind, ist deutlich geringer
als in EU-Nachbarstaaten.
Wenn die Akzeptanz in der
Bevölkerung erhalten bleiben
soll, Menschen zu helfen, die in
anderen Ländern politisch ver-
folgt werden, muss diese Untä-
tigkeit und Unfähigkeit enden.
Die Bundesregierung muss end-
lich das Heft des Handelns in
die Hand nehmen, auch um das
Vertrauen der Menschen in die
Funktionsfähigkeit des Staates
zurückzugewinnen. Es braucht
eine Kurskorrektur, damit wie-
der Ordnung und Begrenzung
in die Migrationspolitik ein-
zieht. Dazu können vor allem
Asylverfahren in sicheren Dritt-
staaten beitragen, kurzfristig
der Stopp der freiwilligen Auf-
nahmeprogramme, die Aus-
setzung des Familiennachzugs
und selbstverständlich die über-
fällige Ausweitung der sicheren
Herkunftsstaaten, die seit Jah-
ren an den Grünen scheitert.
Die Mehrheit der EU-Staaten
fordert eine Kehrtwende. Nicht
irgendwann, sondern jetzt.
Leider verweigert sich vor
allem die Bundesregierung der
Kooperation in der EU. Der
Kanzler hat die aktuelle Migra-
tionskrise erst geleugnet, dann
ignoriert und letztlich nur sei-
ne Rhetorik verschärft. Damit
zeigt sich die Bundesregierung
den Herausforderungen nicht
gewachsen. Sie versagt.
40 DEUTSCHLAND
Kiffen
erlaubt
Cannabis soll legal werden.
Statt in Fachgeschäften gibt es
Cannabis in Social Clubs
JANNA WOLF Volontärin Politik,
FOCUS Magazin, Berlin
G ute Nachrichten für alle, die hin und
wieder gerne einen Joint rauchen:
Das soll 2024 straffrei möglich werden – zu-
mindest solange ausreichend Abstand zu
Spielplätzen, Schulen, Kindergärten oder
Jugendeinrichtungen eingehalten wird.
Erlaubt ist der Besitz von 25 Gramm Can-
nabis und von drei Pflanzen für den Eigen-
anbau. Einfach im Geschäft kann man
die Droge nicht kaufen. Wer nicht selbst
anbauen möchte oder kann, muss Mitglied
in einem Cannabis Social Club werden.
Diese Vereinigungen sollen die Versor-
Als die Seele
sehen lernte
Auf ans Meer, in den Wald, in
die Berge! 2024 ist das Jahr des
Malers Caspar David Friedrich
E 250. Geburtstag: Caspar
MARKUS KRISCHERRedakteur, David Friedrich (1774–1840)
FOCUS Magazin, Berlin
R Friedrich-Gemälde
E isplatten, vom Meer zu einem
schroffen Gebirge aufgerich-
tet, an dessen Flanke das Wrack
„Das Eismeer“ (1823/24)
eines Segelschiffs zu erkennen
ist. Der Mond als Leuchtzeichen
im Nebel. Eine Klosterruine
neben einem Baumstumpf im
Schnee. Und, natürlich: die düs-
tere Silhouette eines Menschen
am äußersten Ufer, dort wo sich
die Gestalt mit dem Blau des
Wassers zu vereinen scheint -
der „Mönch am Meer“. Wenn je
ein Maler den Stoff der Seele
zu Landschaften formte, dann
war es Caspar David Friedrich.
2024 ist sein Jahr. Deutsch-
land feiert den 250. Geburtstag
des romantischen Revolutio-
närs, dessen Gemälde längst
als nationale Ikonen gelten.
Die Welt in 2024
Fachgeschäfte vorgesehen waren. Doch
die Angst, damit gegen EU-Vorschriften
zu verstoßen, war zu groß. Schon im
Frühjahr 2023 zeichnete sich ab, dass die
Legalisierung doch nicht ganz so umfas-
send ausfallen wird, wie sich das die
Community ursprünglich erhofft hatte.
Bei einer Pressekonferenz zu einem Eck-
punktepapier sprach Lauterbach plötzlich
von gemeinnützigen Vereinigungen, von
„Cannabis Clubs“. Mit dieser Ankündi-
gung trat er eine Bewegung los.
Über den Sommer gründeten sich zahl-
reiche Cannabis Social Clubs in ganz
Deutschland. Die Verantwortlichen berich-
E Ob Landwirtschaftsminister Cem Özdemir
und Gesundheitsminister Karl Lauterbach (re.)
2024 gemeinsam kiffen? Erlaubt werden soll es
teten von einer großen Nachfrage und
langen Wartelisten für eine Mitgliedschaft.
Viele Vereine wählten schon einmal vor-
sorglich einen Anbaurat oder hielten nach
geeigneten Vereinsräumen Ausschau.
gung sicherstellen, indem sie selbst Can- „Wir stehen in den Startlöchern“, berich-
nabis kontrolliert anpflanzen und gemein- tet der Vorsitzende des Dachverbandes,
nützig an die eigenen Mitglieder verteilen. Steffen Geyer. Der Cannabis Social Club
Das ist zumindest der Plan von Gesund- in München plant bereits ein Erntedank-
heitsminister Karl Lauterbach (SPD). Die fest, wenn die erste Cannabis-Ernte ein-
Ampelregierung erfüllt mit dem Gesetz gefahren wurde. Allerdings könnte das
ein Wahlkampfversprechen, auch wenn im noch etwas dauern. Der Vorstand rechnet
Koalitionsvertrag ursprünglich lizenzierte zumindest nicht vor dem Sommer damit. A
Chiffren, in denen das Ich sich
selbst erkennt. Seine Sehn-
Welten des Malers zu versin-
ken. Wer das Jubiläum würdig
sucht, seine Erhabenheit und
seine abgrundtiefe Einsamkeit.
begehen und erwandern will,
wird in den Norden reisen.
Wohl dem Museum, das ein Das ehrwürdige Greifswald
Werk Friedrichs besitzt. Der in Vorpommern präsentiert
„Wanderer über dem Nebelmeer“ sich als Geburtsort des Künst-
hängt in der Hamburger Kunst- lers. Pflichtziel für jeden
halle. In Dresden lassen sich echten CDF-Adepten: die
die „Zwei Männer in Betrach- Insel Rügen, die Friedrich im
tung des Mondes“ bewundern, Laufe seines Lebens immer
und in Berlin verschwindet der wieder besuchte und deren
Mönch am Meereshorizont. Stimmung er erkundete.
Weit über hundert Sonder- Wer sich auf das Jubi-
ausstellungen laden in ganz läum einstimmen möchte
Deutschland dazu ein, in den (und möglicherweise noch
etwas zweifelt, ob er sich
von Friedrichs Kunst in die
Tiefen der Melancholie hi-
nunterziehen lassen will), der
lese das gerade erschienene,
grandiose Buch von Florian
Illies „Zauber der Stille“.
Lässig und hoch gebil-
det begibt sich Illies auf die
Spuren von Caspar David
Friedrich - und seinen (teils
verschollenen) Bildern.
Dies zur Warnung: Das
Buch entfaltet eine durchaus
rauschhafte Wirkung. Der Leser
fühlt sich von Seite zu Seite
stärker in den Bann gezogen.
In den Bann der Worte -
und der Bilder jenes Malers,
der weit draußen das tiefe
Innen fand.
Die Welt in 2024
Wird Europa im
Bereich KI aufholen?
Die Investitionen in künstliche Intelligenz explodierten
2023. Alle kämpfen um die Vorherrschaft. In der EU
ruhen viele Hoffnungen auf dem Start-up Aleph Alpha
CORINNA BAIER Redakteurin Ressort Agenda,
FOCUS Magazin, Berlin
S eit die amerikanische KI-Firma OpenAI vor gut
einem Jahr ihr Sprachmodell ChatGPT auf den
Markt brachte, ist der globale Hype um künstliche
Intelligenz ungebrochen. Large Language Models wie
GPT-4 berechnen aufgrund von Wahrscheinlichkei-
ten die Abfolge von Wörtern und werden mit riesigen
Datensätzen trainiert. Die Programme können Texte
schreiben, die klingen, als stammten sie aus mensch-
licher Feder. Überall auf der Welt arbeiten Konzerne
an und mit dieser Art von generativer KI.
Auch 2024 wird ein entscheidendes Jahr für alle
Unternehmen, die hier um die Vorherrschaft kämpfen:
vor allem Meta (Facebook), Alphabet (Google) und
OpenAI mit Microsoft im Rücken.
In Europa und vor allem in Deutschland ruhen viele
Hoffnungen auf dem Heidelberger Start-up Aleph
Alpha. Die Firma konkurriert direkt mit OpenAI und
hat ein eigenes schlaues Sprachmodell entwickelt:
Luminous. Der Gründer Jonas Andrulis konnte gera-
de erst Kapital von großen Konzernen wie Bosch, SAP
und der Schwarz-Gruppe einsammeln – mehr als
500 Millionen Dollar. Auch wenn es sich hier um eine
der größten europäischen KI-Inventionen überhaupt
handelt, wirkt die Summe lächerlich im Vergleich zu
weiteren 13 Milliarden Dollar, die Microsoft erst kürz-
lich in OpenAI gesteckt hat. Um nicht auch bei dieser
Technologie-Revolution gegen die USA und China zu
verlieren und abhängig zu werden, braucht Europa
frisches Kapital: Solche KI-Systeme erfordern giganti-
sche Rechenzentren, die Millionen verschlingen.
Die Heidelberger haben ein langen, harten Wett-
kampf vor sich. Anders als OpenAI stellt Aleph Alpha
das eigene Produkt nicht allen Internetnutzern zur
Verfügung, sondern nur Industrie und Verwaltung.
Das Land Baden-Württemberg testet Luminous bei-
spielsweise zur Dokumentenrecherche und zum
Schreiben von Vorlagen. Und anders als ChatGPT
es im Moment vermag, soll die Heidelberger KI bald
selbst erklären können, wie sie zu ihren Antworten
kommt. Oft „halluzinieren“ Sprachmodelle und liefern
falsche bis merkwürdige Aussagen. Zu verstehen, wie
und warum sie das tun, ist ein wichtiger Forschungs-
zweig, den Aleph Alpha 2024 anführen könnte. A
WAS WÄRE, WENN …?
... in Deutschland, um das System der staatlichen
Altersversorgung zu entlasten, das Renteneintritts-
alter von 67 auf 70 Jahre angehoben würde?
Für viele Menschen mit körperlich anstrengen-
den Berufen und eher geringem Einkommen wäre
DEUTSCHLAND 41
Kaputt? Klasse,
dann reparieren wir es!
Die Deutschen lieben gebrauchte Sachen – und
sie lieben es, diese wieder herzurichten.
Die Lust am Reparieren ist eine Massenbewegung
CLAUDIA KRISCHER Freie Journalistin,
Berlin
E gal, ob Kleider, Fahrrad, Haus oder Rucksack – die
Deutschen reparieren, sanieren, richten wieder
her. Der Trend, Benutztes und Kaputtes auszubessern,
setzt sich 2024 fort. Wird zur Massenbewegung.
Der Handel mit gebrauchten Waren erreicht in
Deutschland inzwischen ein Marktvolumen von
rund 15 Milliarden Euro, Tendenz steigend. Was den
W Von wegen Alteisen:
Gebrauchte Dinge,
die defekt sind, wer-
den immer häufiger
repariert. Weil Neues
viel kostet. Und weil
sich die Menschen
nach einem nachhal-
tigen Konsum sehnen
Secondhandkonsum so attraktiv macht: die Inflation
und der Wunsch nach einem nachhaltigen, einfachen
Leben. Markenzeichen der Generation Gebraucht:
die Lust an reparierten Sachen.
Geflickt ist chic: Modedesigner entwerfen Kollek-
tionen aus benutzten Textilien. Die meisten Outdoor-
Marken (76 Prozent!) bieten bereits einen Reparatur-
service für ihre Kleider und Rucksäcke.
Anlaufstellen für Reparaturfans finden sich über-
all, generations- und schichtenübergreifend: in Mün-
Warum liefert chen in 27 Repair-Cafés und im Edelviertel Lehel in
der Kaschmir-Klinik. In Berlin sind es über 30 Repair-
die KI bisweilen Cafés. Trendsetterin der Branche ist Martine Postma,
falsche die 2009 in Amsterdam das erste Repair-Café eröffnete.
Aussagen? Von denen es aktuell weltweit über 2900 gibt. A
dies eine übermäßige Rentenkürzung. Sie gehen
im Durchschnitt früher in Rente und müssten dann
größere Abschläge hinnehmen, da ja der Abstand
zum regulären Renteneintritt gewachsen wäre.
Die wenigen Daten zur Korrelation zwischen Rente und
Gesundheit deuten darauf hin, dass ein späterer Ren-
teneintritt die Lebenserwartung eher vermindert.
42 DEUTSCHLAND
Gastbeitrag Der Aufbruch der Kirche
muss spürbar werden
E s gehört zum Selbstver-
ständnis des Glaubens,
dass bei allem Planen, Struk-
turieren und Vorsorgen eine
letzte Offenheit dafür bestehen
bleiben muss, wohin der Hei-
lige Geist, an dessen Wirken
Christinnen und Christen glau-
ben, das eigene Leben und
die Kirche führen wird. Da geht
es um gute Teamarbeit zwi-
schen Gott und Menschen.
Unter diesem Vorbehalt lässt
sich zu Beginn des Jahres 2024
sagen, dass es wohl ein bedeu-
tendes Jahr für die katholische
Kirche werden kann.
Große Organisationen ste-
hen immer auch vor der Frage
einer besseren Gestaltung
ihrer Kommunikation und
Leitungsstrukturen. Gerade
die verheerende und für die
katholische Kirche zutiefst
beschämende Problematik der
sexuellen Gewalt macht es
unabdingbar, in dieser Per-
spektive zu handeln. Zwar ist
die katholische Kirche nicht die
einzige Institution, in der sexu-
eller Missbrauch vorkommt,
aber sie hat hier unabweisbar
eine besondere Verantwortung,
ein großes Glaubwürdigkeits-
problem, und wir in der Kirche
müssen feststellen, dass Struk-
turen dazu beitrugen, dass die-
se schrecklichen Taten möglich
waren und im System vertuscht
wurden. Auch deshalb braucht
die Kirche einen Neuaufbruch,
der schon in Angriff genom-
men wurde und im Jahr 2024
konkrete Gestalt gewinnen
muss. Der Synodale Weg der
Kirche in Deutschland ist von
einer Phase des Beratens und
Entscheidens in eine Phase
des Umsetzens und Handelns
eingetreten. Der Synodale Weg
der Weltkirche befindet sich
ebenfalls in einer Konkretisie-
rungsphase, die in die Beratun-
gen der Weltsynode im Okto-
ber 2024 einfließen soll. Worum
geht es bei diesen Neuauf-
brüchen?
1. Es geht um ein neues
Miteinander. Die Kirche ist
im Begriff, ein partizipative-
2024 wird für die katholische Kirche ein
bedeutendes Jahr, schreibt Georg Bätzing,
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz
res Miteinander einzuüben.
Heute ist kritisch zu fragen,
welche Leitungsvorstellungen
die Kirche als zeitgebundene
Handlungsmodelle in einer
Epoche des absolutistischen
Herrschaftsdenkens übernom-
men hat. Damals mögen solche
Modelle durchaus funktional
gewesen sein, aber sie gehö-
ren nicht zum unveränderli-
chen Glaubensgut der Kirche
und müssen überdacht und
abgelöst werden. Aspekte, die
in dieser Perspektive wichtige
Signale setzen, waren auf der
Wir müssen neu auf die
Menschen zugehen. Das
beginnt damit, sie so ernst
zu nehmen, wie sie sind
Weltsynode etwa die Begriffe
„Einheit in Vielfalt“ und – von
Papst Franziskus mehrfach ins
Gespräch gebracht – „heilsa-
me Dezentralisierung“.
2. Wir brauchen eine neue
Offenheit. Da ist zunächst ein-
mal – im Fokus der Weltsynode
– das Hören: Hören aufeinan-
der, Hören auf die Menschen
und darin immer auch das
Hören auf das, was der Geist
seiner Kirche sagt. Offenheit
bedeutet auch Transparenz.
Das gilt gerade für das Lei-
tungshandeln, das transparent
im Sinn einer Überprüfbarkeit
und auch einer Rechenschafts-
pflicht werden muss. Trans-
parenz bedeutet, die eigenen
Überzeugungen und Orientie-
rungsangebote argumentativ
zu unterlegen, statt sie apodik-
Die Welt in 2024
tisch zu postulieren. Schließ-
lich meint Offenheit auch Ver-
änderungsbereitschaft. Kirche
ist kein statisches Gebilde,
sie ist pilgerndes Volk Gottes.
Zu Recht hat die Weltsynode
betont, dass Tradition immer
dynamisch zu sehen ist. Offen-
heit meint nicht, keine Stand-
punkte mehr zu vertreten.
3. Wir müssen neu auf
die Menschen zugehen. Das
beginnt damit, sie so ernst zu
nehmen und wertzuschätzen,
wie sie sind, ohne ihnen mora-
linsauer zu erklären, dass sie
erst bestimmten Standards
entsprechen müssen, ehe sie
als unsere Adressaten infra-
ge kommen. Dabei ist klar,
dass der Glaube immer auch
zur Veränderung einlädt und
Gewohnheiten anfragt. Das
Evangelium will eine verän-
dernde Botschaft sein. Aber
es ist eben Eu-Angelion, gute
Nachricht, die befreit zu neu-
em Denken und dann auch zu
neuem Handeln. Menschen-
freundlichkeit und eine beson-
dere Zuneigung zu denen, die
am Rand stehen, prägen die
Botschaft und das Handeln
Jesu Christi. Seine Kirche
muss sich immer wieder neu
daran ausrichten.
In vielen Beratungen und
Diskussionen wurden diese
Aspekte auf den zurückliegen-
den Etappen der Synodalen
Wege ins Wort gebracht und
auf unzähligen Textseiten nie-
dergeschrieben. 2024 wird für
die Kirche ein besonders wich-
tiges Jahr, weil in diesem Jahr
sichtbar werden muss, dass die-
se Schritte auch in der Hand-
lungswirklichkeit der Kirche
greifen. Es wird nicht alles per-
fekt sein am Ende dieses Jah-
res. Das kann es schon deshalb
nicht, weil die Vollendung ja
nicht in unseren Händen liegt.
Aber ein neuer Aufbruch wird
hoffentlich spürbar werden.
Dann kann man sagen:
2024 ist ein „Annus Domini“,
ein Jahr des Herrn. Und
dazu trage ich gerne meinen
Teil bei.
Die Welt in 2024
GROSSBRITANNIEN
Ein lange
erwartetes Duell
Zwei Männer, die keine geborenen Kämpfer sind,
liefern sich eine Schlacht um die Macht
MATTHEW HOLEHOUSE Korrespondent
Politik Großbritannien, The Economist
A uf dem Parteitag der Labour Party in Liverpool
im Oktober 2023 sprach Parteichef Keir Starmer
bei einem Frühstück zu Vertretern der Wirtschaft über
seine Prognosen für 2024. Erstens, sagte er, sei seine
Partei bereit für Parlamentswahlen im Mai. Die nächste
Wahl muss bis Januar 2025 erfolgt sein. Wann sie genau
stattfindet, entscheidet Premier Rishi Sunak. Viele Mit-
glieder der Conservative Party halten Oktober für einen
idealen Zeitpunkt. Bis dahin könnte sich die Inflation
abgeschwächt haben und die Einkommen der Bürger
wieder zulegen. Doch Labour geht davon aus, dass
Sunak den Urnengang mit den Kommunalwahlen im
43
Auch in dieser
Rubrik:
44 Tories in Trauer
45 Die Wirtschafts­
prognose
46 Republikanismus
46 Der NHS
47 Rachel Reeves
über die Wirt­
schaftspläne der
Labour­Partei
Mai zusammenlegt, denn ein schlechtes Ergebnis für
die Tories auf lokaler Ebene könnte ihren Wahlkampf
im Herbst zusätzlich erschweren.
Zweitens, so Starmer: Es wird ein schmutziger
Wahlkampf. Er dürfte richtigliegen. Die Tories stellen
Starmer als einen zaudernden Großstädter dar und als
zu soft, wenn es um Kriminalität und Migration geht.
Labour hingegen porträtiert Sunak als distanzierten
Superreichen. Haudraufs sind von Natur aus beide nicht
– weder Sunak, der Ex-Banker und Abstinenzler, noch
Starmer, der Pescetarier und Menschenrechtsanwalt.
Dennoch werden sie einen harten Kampf ausfechten.
Was Starmer als dritten Punkt prophezeite: Die Wahl
wird von der Wirtschaftslage geprägt. Schon im Januar
2022 hat die Wirtschaft die Gesundheit als das wichtigste
Wählerthema überholt. Die Labour-Partei wird sich auf
die rasant steigenden Lebenshaltungskosten konzentrie-
ren. Rachel Reeves, die Schatten-Schatzkanzlerin, greift
Ronald Reagans Frage aus der US-Präsidentschaftswahl
1980 auf: „Fragen Sie sich selbst: Geht es Ihnen und
Ihrer Familie besser als vor 13 Jahren?“
Labour will mit mehr Unterstützung und Deregu-
lierung beim Wohnungsbau das Wachstum ankurbeln.
Seit Liz Truss im Oktober 2022 ihren katastrophalen
Haushaltsentwurf vorlegte, wird Labour in Umfragen
mehr Wirtschaftskompetenz zugetraut. Aber der Vor-
sprung ist nicht in Stein gemeißelt. Die Tories werden
weiter Zweifel an Labours Plänen zu Finanz- und Haus-
haltspolitik streuen. Woher sollen etwa die versproche-
nen 28 Milliarden Pfund (34 Milliarden Euro) pro Jahr
an grünen Subventionen kommen?
44 �������������� Die Welt in 2024

Auch der Zustand des öffentlichen Dienstes wird
eine große Rolle spielen. Da wären die Wartezeiten für
Behandlungen im Nationalen Gesundheitsdienst (NHS).
Sie sind 2023 weiter gestiegen, obwohl Sunak versprach,
sie abzubauen. Die Gerichte sind weiterhin überlastet.
Mit dringenden Sanierungen der Schulgebäude geht
es nicht voran. Doch keine Partei will den öffentlichen
Dienst radikal reformieren. Die Labour-Partei will nicht
noch mehr ausgeben. Geld sollen kleinere Steuererhö-
hungen bringen, etwa bei den üblichen Labour-Feind-
bildern (Privatschulen, Ölgiganten, reiche Ausländer).
Sunak weiß, dass die Mehrheit der Wähler Verände-
rung will. Er wird daher versuchen, die letzten 13 Jahre
konservative Herrschaft wegzuwischen und sich als
Kandidat des „Wandels“ zu positionieren. Starmer wird
er als Bewahrer des Status quo darstellen.
Ein weiteres Schlachtfeld werden Großbritanniens
Klimaziele sein. Sunak will den Ausstieg aus den Ver-
brennungsmotoren aufschieben. Ein Zeichen an die
Wähler in den konservativen Wahlkreisen im Norden. Sie
sind auf ihre Autos angewiesen. Keir Starmer hingegen
glaubt, dass nur gewinnen kann, wer den Klimawandel
ernst nimmt. Labour will die grünen Industrien fördern.
Die kommende Wahl ist die erste seit 2010, bei der es
nicht um das Verhältnis zu Europa und Schottland geht.
Die Tories Labour wird auch nur bescheidene Änderungen am
behaupten, Brexit-Abkommen vorschlagen, die Tories wohl keine.
Und da die Popularität der Scottish National Party rapi-
Keir Starmer de sinkt, ist die Aussicht auf ein zweites schottisches
sei zu soft Unabhängigkeitsreferendum gering. In der Außen- und
bei den Verteidigungspolitik – Unterstützung von Nato und
Themen Ukraine, Beziehungen zu China und Amerika – unter-
scheiden sich Labour und Tories kaum.
Kriminalität
Starmer lag im ersten Jahr von Sunaks Amtszeit in
und Umfragen weit vor dem Premier. Wenn das so bleibt,
Migration wird es ein ungleicher Wettkampf. Da die Tories nichts
zu verlieren haben, können sie volles Risiko gehen.
Und eine agile Kampagne führen, die wechselnde
Themen ins Spiel bringt. Labour wird diszipliniert vor-
gehen. Oft schon haben selbstgefällige Mitte-links-
Parteien beste Gewinnchancen verspielt. Für einen Sieg
braucht es Kaltschnäuzigkeit. Labour verlor die Wahl
1992, erst 1997 gewannen sie; in den USA verloren die
Demokraten 2016 gegen Trump, vier Jahre später kam
der Erfolg; der australischen Labour Party erging es
2019 und 2022 genauso. Starmers Aufgabe: gewinnen,
und zwar im ersten Versuch.
Könnten die historischen Beispiele den Ausgang der
Wahl beeinflussen? Ihre psychologische Wirkung sollte
man jedenfalls nicht unterschätzen. A

Die Trauer Menschenrechtskonvention auszutreten.

Auch Starmers Bilanz als oberster Straf-
Nach der Wahl, bei der Labour die
erste große Mehrheit seit 2005 gewinnen

der Tories
Eine Wahl steht bevor, und die
konservative Partei muss sich mit
ihrer Sterblichkeit befassen
DUNCAN ROBINSON Redakteur Politik und
Bagehot-Kolumnist, The Economist
verfolger wird man sich vornehmen. Schon
Boris Johnson hatte ihn fälschlicherweise
beschuldigt, er persönlich habe es ver-
säumt, Jimmy Savile, einen pädophilen
TV-Star, zu verfolgen. Sunak distanzierte
sich von der Aussage. Mittlerweile wer-
den Starmer und Savile von Parteisoldaten
regelmäßig in einem Atemzug genannt.
Dann kommt das Verhandeln. Es läuft
wieder besser, werden Tory-Abgeordnete
sagen. Was die Wirtschaft betrifft, haben
sie nicht mal unrecht. Die Inflation, die
zeitweise bei elf Prozent lag, wird sinken.
Die Reallöhne werden wieder steigen. Das
war in den vergangenen 15 Jahren kaum
wird, setzt die Depression ein. Anstatt wei-
terzukämpfen, wird Sunak zurücktreten.
Es wird kein Trost sein, dass er ohnehin
chancenlos war. Wähler strafen Parteien
ab, wenn sie den Karren gegen die Wand
fahren. Als die chaotische 49-tägige Amts-
zeit von Liz Truss zu Ende ging, war es
auch mit den Siegchancen der Konserva-
tiven bei der nächsten Wahl vorbei. Dies
wird Truss nicht davon abhalten, beim
Kampf um die Nachfolge der Parteifüh-
rung im Herbst abermals anzutreten.
(Manche Menschen kommen einfach nicht
über die Phase des Leugnens hinaus.)
Die Akzeptanz ist die letzte Phase. In

T rauer besteht aus fünf Phasen: Leug-

nen, Wut, Verhandeln, Depression und
Akzeptanz. Bei den Parlamentswahlen
2024 wird die konservative Partei alle diese
Phasen durchlaufen.
Zunächst das Leugnen. Unabhängig
vom genauen Datum der Wahl wird der
Wahlkampf am Anfang des Jahres begin-
nen, und Premier Rishi Sunak wird als
aussichtsreichster Kandidat der Konser-
vativen gelten. Geplant ist ein Präsident-
schaftswahlkampf: Sunak gegen Keir
Starmer, den Labour-Chef. Sunak war
einst populärer als seine Partei, doch er
wird zunehmend unbeliebter. Noch ist
aber nicht alles verloren, werden die Spin-
doktoren der Tories beharren. Unerwar-
tetes kann passieren. Kriege können aus-
brechen. Irgendwas kann sich ergeben.
Passiert nichts, kommt die Wut hoch.
Die Konservativen wollten einst ihren Ruf
als „bösartige Partei“ loswerden. 2024
werden sie dieses Image pflegen. Etwa mit
ihrer Ankündigung, aus der Europäischen
der Fall. Doch das wird den Tories nichts
bringen. Zwar gehen die Löhne hoch,
aber auch die Zinsen und die Schulden-
der Rolle der Opposition liegt eine Chance.
Die verbliebenen Abgeordneten der Tory-
Partei stehen vor der Wahl: Wollen sie
last – vor allem für die Wechselwähler, ihrer Partei gefallen oder dem Land? Keir
die 2019 den Tories den Sieg bescherten. Starmer, der neue Premierminister, wird
bewiesen haben: Eine Partei kann sich in
nur einer Wahlperiode von einer herben
Niederlage erholen. Wie schnell sich die
Links überholt Konservativen erholen, hängt auch von
Großbritannien,Wahlabsicht in Prozent ihrem neuen Vorsitzenden ab. Wird es
ein Moderater, wie James Cleverly oder
50 Tom Tugendhat? Oder die Kulturkriegerin
Kemi Badenoch oder etwa Suella Braver-
Labour
man, eine Nativistin, die stets die britische
40 Kultur von außen bedroht sieht?
Die fragile Hegemonie der konserva-
30 tiven Partei zwischen 2010 und 2024 ist
zerbrochen. Man wird Todesanzeigen
Konservative
und Nachrufe auf die Tories verfassen.
20
Wie schon Mitte der 2000er Jahre, als
Labour unter Tony Blair dominierte. Doch
2020 21 22 23 die Abgesänge lagen falsch. Politische
Quelle: The Economist
Parteien können niedergehen. Aber sie
können sich auch neu erfinden. A
Die Welt in 2024 �������������� 45

Stagniert die
Stagnation?

Die Wirtschaftsaussichten für Großbritannien

sind besser als erwartet. Rosig sind sie nicht

GAVIN JACKSON Korrespondent Finanzen und Wirtschaft

Großbritannien, The Economist

A nfang 2023 waren die Aussichten für Großbritan-

nien düster. Nachdem die kurze Herrschaft von
Liz Truss mit finanziellen Turbulenzen endete, bekam
das Land seinen vierten Premierminister in vier Jahren.
Doch die politische Instabilität bereitete vielen Briten
weniger Sorgen als die hohen Energiepreise, die stei-
genden Zinsen und die sinkenden Löhne. Dabei war
das Schlimmste, was man der Wirtschaft im Jahr 2023
vorwerfen konnte: Sie entwickelte sich eher seitwärts
statt nach oben oder unten. Das Wachstum war minimal.
Es gab also keine Katastrophe, sondern die Stagnation.
Darf Großbritannien hoffen, dass es 2024 besser
abschneidet? Viele Probleme sind tatsächlich ver-
schwunden. Die Kosten für Erdgas sind gesunken und
die Inflation gleich mit – von zehn Prozent im Dezember
2022 auf wohl 4,5 Prozent im selben Monat 2023. Der
weiter starke Arbeitsmarkt wird die Löhne real steigen
lassen. Die Bank of England hat die Zinserhöhungen
entweder abgeschlossen – von 0,25 Prozent (2022) auf
5,25 Prozent im Juli 2023 – oder wird dies bald tun.
Durch die Decke
Zahl der festverzinsten Darlehen in Großbritannien, die erneuert werden
müssen (in Tausend, bezogen auf den ursprünglichen effektiven Zins)
2022 23
Quelle: ONS
E Kleinstädte im Niedergang: Wann kommt der Aufschwung?
Das Dennoch werden viele Briten, abgesehen von den
Haushalts- Rentnern, weniger Geld haben, sagt Adam Corlett von
dem Thinktank Resolution Foundation. Bei vielen Haus-
einkommen besitzern ist die Krise noch nicht angekommen, weil
vieler Briten sie fest verzinste Darlehen mit zwei bis fünf Jahren
wird weiter Laufzeit haben. Selbst wenn 2024 eine Zinsanhebung
fallen ausbleibt, wird sich die Geldpolitik restriktiv anfühlen.
Später im Jahr könnte es Spielraum für Steuersen-
kungen geben – denn es stehen Wahlen an. Doch die
aktuelle Finanzpolitik wird, zusammen mit den Steuer-
und Ausgabenentscheidungen der Regierung, den Briten
mehr Geld aus der Tasche ziehen. Energiezuschüsse
und Zahlungen an Haushalte wurden eingestellt, Steuer-
freibeträge nicht angepasst, womit Reallohnerhöhungen
beim Staat und nicht in den Geldbeuteln landen.
Auch an den strukturellen Wirtschaftsbremsen
dürfte sich nichts ändern. Die Produktivität, gemessen
400 am Output pro Arbeitsstunde, ist seit 2010 nur um
sechs Prozent gestiegen. Wegen der bereits hohen
Beschäftigung und einer schrumpfenden Bevölkerung
300
im erwerbsfähigen Alter müsste das Land sein Produk-
tivitätswachstum verdreifachen, um die gleiche Ver-
200 besserung des BIP wie vor der Pandemie zu erreichen,
schätzt Bart van Ark von der Uni Manchester.
100 Die Inflation könnte sich als weniger hartnäckig
erweisen, das gäbe der Bank of England Spielraum
0 für eine Lockerung der geldpolitischen Straffung.
24
Zwar sind die Aussichten besser als noch vor einem
Jahr. Dennoch bleibt den Briten nur eines: zu hoffen,
dass es wieder nicht so schlimm wird wie befürchtet. A

WAS WÄRE, WENN …?
Jahrelang hat Nigel Farage die Tories rechts überholt. Aber
nun haben sie einige seiner Ideen übernommen. Was wäre
also, wenn Nigel Farage Vorsitzender der Konservativen
Partei würde? Es könnte tatsächlich passieren. Und zwar
so: Im Vorfeld der Wahlen im Jahr 2024 stimmt Premier-
minister Rishi Sunak zu, dass Farage keine Kandidaten
seiner Partei Reform UK in eher konservativen Wahl-
kreisen aufstellt. Als Gegenleistung dafür darf Farage
als Tory in einem sicheren Wahlkreis kandidieren. Die
Partei verliert gegen Labour und macht Farage in ihrer
Verzweiflung zum Parteichef. Die Folge: eine dauerhafte
Spaltung zwischen gemäßigten und radikalen Kräften.
46 ��������������
Runter vom
Thron
Einige Commonwealth-Staaten
wollen ihr Oberhaupt loswerden:
den britischen König
CATHERINE NIXEY Korrespondentin
Großbritannien, The Economist
K ennen Sie den König von Tuvalu?
Oder den Regenten von Papua-Neu-
guinea? Oder von Belize? Wohl kaum.
Vielleicht aber den König von Kanada? Die
richtige Antwort bei allen diesen Fragen
ist: König Charles III. Dem Mann mangelt
es wahrlich nicht an Titeln. Er war zeit-
weise der „Große Hüter Schottlands“, der
„Herr der Inseln“ (klingt nach Tolkien,
nicht wahr?) und auch schon der „Vertei-
diger des Glaubens“. Zudem ist Charles III.
das Oberhaupt von 15 fernen Gefilden, da-
runter Australien, die Bahamas und Gre-
nada. Er ist damit der König eines Drittels
aller Monarchien dieser Erde.
Zumindest noch. Jamaika will ihn per
Referendum loswerden. Australien berät
über einen Wandel von der Monarchie zur
Republik. Wachsende Unzufriedenheit mit
den Royals herrscht auch in Belize und in
Antigua und Barbuda (hier soll das Volk
innerhalb von zwei Jahren abstimmen).
Das Aufkeimen des Republikanismus
ist wohl kein allzu großes Problem für
die Royals. Die britische Regierung muss
lediglich so tun, als sei ihr das Thema
wichtig. Schwierig ist die Lage jedoch für
jene, die verstehen wollen, was da mit der
Monarchie genau passiert.
Sagen wir mal so: Es ist vertrackt. Die
Monarchie war nie leicht zu verstehen.
Sie folgt Gesetzen und Bräuchen, die mehr
als ein Jahrtausend alt sind. Sie regeln die
Macht des Königs über seine Untertanen
(sie ist minimal) wie auch seine Macht
über Schwäne (sie ist enorm, vorausge-
setzt, sie dümpeln in der Themse). Selbst
was die Königin denken darf, ist festge-
legt (alles, was sie will, nur über den Tod
ihres Königs zu fantasieren ist tabu, das
wäre Hochverrat). Klingt kompliziert? Das
Gewirr der Regeln über den Einfluss der
Monarchie im Ausland ist sogar „unglaub-
lich kompliziert“, sagt Sathnam Sanghera,
Autor von „Empireland: How Imperialism
Has Shaped Modern Britain“.
Selbst die Rolle des Commonwealth
bleibt dubios. Ist es nur ein Club, der gele-
gentliche Sporttage veranstaltet? Um das
Commonwealth zu verlassen, braucht es
nur „einen Brief mit offiziellem Briefkopf“,
weiß Philip Murphy, Historiker an der Uni-
versity of London. Den König zu entmach-
ten erlaubt die Verfassung zwar, erfordert
aber wohl ein Referendum. Das kann je-
doch – die Briten wissen das – nach hinten
losgehen. Das dürfte abschrecken.
Dennoch nimmt der Abschied von der
Monarchie an Fahrt auf. Sollte manches
Land Charles III. tatsächlich vom Thron
stoßen, wird das viele erleichtern. Wahr-
scheinlich sogar die Royals selbst. Bei
einem Kanada-Besuch sagte Prinz Philip
einmal: „Wir kommen nicht, weil es un-
serer Gesundheit guttut.“ Wenn Länder
ihre Monarchen loswerden wollten, fügte
er an, sollten sie sich „gütlich trennen“.
2024 könnte es damit losgehen. A
Die Welt in 2024
In der
Notaufnahme
Der staatliche Gesundheitsdienst NHS
bleibt ein heißes politisches Eisen
GEORGIA BANJO Korrespondentin
Großbritannien, The Economist
N ur wenige Länder befassen sich derart
intensiv mit ihrem Gesundheitssystem
wie die Briten mit ihrem National Health
Service (NHS). Bei der Eröffnung der
Olympischen Spiele 2012 in London wur-
den Krankenpfleger im Stadion bejubelt.
Mit ihrem Stolz auf den NHS verblüfften
sie ein globales Publikum. Während der
Covid-Pandemie mahnte die Regierung,
man solle sich an die Lockdown-Regeln
halten, um Leben zu retten – aber vor
allem um „den NHS zu schützen“.
Das Gesundheitswesen wird auch bei
den 2024 erwarteten Parlamentswahlen
eine große Rolle einnehmen. Dass der
Dienst die Debatten dominiert, hat leider
keine erfreulichen Gründe. Das Jahr wird
mit einem weiteren Schreckenswinter
beginnen: Wieder sind Notdienste über-
lastet. Wieder sterben Senioren in ihren
Rollstühlen in Krankenhausfluren. Kran-
kenpfleger werden nicht den NHS feiern,
sondern die Kündigung einreichen. Die
Zahl der Abgänge ist schon jetzt rekord-
verdächtig hoch. Und die Wartelisten
werden immer länger. Rufe nach weiteren
Privatisierungen werden ignoriert, aber
vielleicht etwas ernster genommen als
bislang. Denn irgendwann werden die
Briten begreifen: Die Behandlungserfolge
verschlechtern sich weiter, sobald Ärzte
streiken (wie sie es seit März immer mal
wieder eher erfolglos tun).
Der NHS ist nicht der einzige kriselnde
öffentliche Dienst. Auch Schulen, Gefäng-
nisse und Gerichte bröckeln. Die Ursachen
für all diese Probleme sind oft die gleichen:
Die Finanzierung ist unsicher, Investitio-
nen werden gekürzt, denn die Wirtschaft
stagniert, und der politische Wille fehlt.
Die Probleme werden rasch zugepflastert
statt strukturell angegangen.
Sollte Labour die Wahlen gewinnen,
muss die Partei rasch und hart entschei-
den, welche Teile des Gesundheitssystems
am dringendsten Geld brauchen – Allge-
meinmedizin, Pflege oder Großprojekte.
Theoretisch kann jeder den Dienst kosten-
los nutzen. In der Praxis aber nur jene, die
eine Behandlung unbedingt benötigen.
Sich den NHS in seiner aktuellen Form zu
leisten erfordert also wieder einmal einen
sehr hohen politischen Preis. A
Die Welt in 2024
Gastbeitrag Die Wirtschaftspläne der Labour-Partei
W ie alle Autoren dieser
Publikation wissen, ist
es ein närrisches Spiel vorher-
zusagen, was in den nächsten
zwölf Monaten passieren wird.
In den zweieinhalb Jahren, seit
ich Schatten-Finanzministerin
bin, mussten wir uns mit einer
Pandemie, der illegalen Inva-
sion Russlands in der Ukraine,
einer globalen Energiekrise
und der Reaktion der Zentral-
banken auf die steigende In-
flation befassen. Während ich
diesen Text schreibe, hat die
Hamas einen Terroranschlag
gegen den Staat Israel verübt
und den gefährlichsten Kon-
flikt in der Region seit Jahr-
zehnten ausgelöst.
Sowohl im Inland als
auch auf der globalen Bühne
herrscht Ungewissheit. In den
vergangenen 13 Jahren hatte
Großbritannien fünf Premier-
minister, sieben Finanzminis-
ter, vier Parlamentswahlen,
ein Votum für den Austritt aus
der EU und den katastropha-
len Haushaltsentwurf von Liz
Truss. Unsicherheit hat briti-
sche Politik geprägt – und das
hat seinen Preis.
Jeder neue Schock für
die Weltwirtschaft setzt Groß-
britannien mehr und länger
zu als unseren Partnern. 2024
werden wir nach den Progno-
sen des IWF das niedrigste
Wachstum und die höchste
Inflation der G7-Länder haben.
Wir fallen im Wettlauf um die
Industrien und Arbeitsplätze
der Zukunft zurück, die euro-
päischen Länder und Amerika
preschen voraus.
Seit meiner Ernennung
war ich mit mehr als 500 Wirt-
schaftsführern im Austausch.
Sie sagen alle dasselbe, dass
sie in Großbritannien inves-
tieren wollen, aber dass sie
die Unruhen in Westminster
abschrecken. Wenn wir auf
diese privaten Investitionen
verzichten, haben wir weniger
Geld in unserer Wirtschaft,
weniger Geld in unseren Städ-
ten und Gemeinden, weniger
Geld für unsere öffentlichen
Rachel Reeves, Schattenkanzlerin des Finanz-
ministeriums, skizziert Labours Pläne für den
britischen Staatshaushalt
Dienste. Und weniger Geld in
den Taschen der Menschen.
Nach 13 Jahren Chaos und
Instabilität unter der konser-
vativen Regierung geht es
Großbritannien schlechter.
Arbeitenden Menschen geht
es schlechter. Die Inkompetenz
der Regierung ist eine Belas-
tung für die Wirtschaft. Immer-
hin eines ist sicher: In den
kommenden zwölf Monaten
wird es eine Parlamentswahl
geben. Es ist eine Chance für
das britische Volk, für einen
Jede unserer
Entscheidungen wird
neuen finanzpolitischen
Regeln folgen
Wandel und ein neues Wirt-
schaftsmodell zu stimmen.
Unsere Mission ist, das
stärkste nachhaltige Wachstum
in der G7 zu erreichen und in
allen Teilen des Landes gute
Arbeitsplätze und eine steigen-
de Produktivität zu schaffen.
Nur durch Wirtschaftswachstum
können wir neue Industrien
unterstützen, Löhne erhöhen,
Innenstädte neu beleben, die
Haushaltsrechnungen senken
und unsere öffentlichen Dienste
reformieren.
Diese Mission kann nur
von einer künftigen Labour-
Regierung erfüllt werden, die
wirtschaftliche Sicherheit an
erste Stelle setzt, die Sicherheit
unserer Volkswirtschaft und
die Sicherheit für die Finanzen
der Familien. Diesen Ansatz
nenne ich „Securonomics“.
�������������� 47
Konkret geht es darum,
unsere Wirtschaft wieder auf-
zubauen, damit sie in einer
volatilen Welt widerstands-
fähiger ist. Es geht darum,
eine neue Industriestrategie für
Großbritannien zu entwickeln,
die es uns erlaubt, zu Hause
mehr zu produzieren und zu
verkaufen. Und auch darum,
die Chancen der Zukunft zu
nutzen, wie etwa saubere
Energie, künstliche Intelligenz
und Naturwissenschaften.
Großbritannien muss mehr
bauen und in seine Industrie
investieren, damit wir men-
schenwürdige, gut bezahlte
Arbeitsplätze schaffen können.
Die Regierung kann diese
Mission nicht allein erfüllen.
Und auch Unternehmen kön-
nen dies nicht allein bewerk-
stelligen. Deshalb habe ich
eine neue Partnerschaft ver-
sprochen, bei der Regierung
und Wirtschaft Seite an Seite
zusammenarbeiten.
Wirtschaftliche Stabilität
kann aber nur erreicht werden,
indem wir gut haushalten. Als
ich bei der Bank of England
arbeitete, habe ich eine ein-
fache Lektion gelernt: Die
Rechnung muss stimmen. Als
Finanzministerin werde ich
niemals mehr ausgeben, als
wir uns leisten können. Ich
werde neue Haushaltsregeln
einführen, die für alle Ent-
scheidungen einer Labour-
Regierung gelten. Wir werden
keine Kredite aufnehmen, um
die täglichen Ausgaben zu
finanzieren, und wir werden
die Staatsverschuldung im
Verhältnis zur gesamten Wirt-
schaftsleistung reduzieren.
Im kommenden Jahr hat
das britische Volk die Chance,
für eine stärkere und solidere
Zukunft zu stimmen, für eine
Wirtschaft, die auf finanzieller
Stabilität und wirtschaftlicher
Sicherheit beruht. Damit
können wir dafür sorgen, dass
sich arbeitende Menschen
besserstellen. Und dass wir
Großbritannien wieder auf
Kurs bringen. A
48 Die Welt in 2024

Superprognosen
Worauf die Experten wetten

Prognosen für wichtige Ereignisse 2024 – von den Superweitblickern von Good Judgment

J ournalisten und Kommentatoren er-

➔
klären gern die Zukunft mit sorgfältig Wie wird das Ergebnis der nächsten Präsi- Um wie viel wird das weltweite BIP
gewählten Worten. Andere Prognosti- dentschaftswahlen in den USA aussehen? in 2024 steigen?
ker bevorzugen die Sprache der Zahlen.
Das Unternehmen Good Judgment hat Demokratischer Kandidat Weniger als 0 % 4%
viele solcher Menschen für sein Weit- gewinnt die Wahlmänner- und die
blicker-Team rekrutiert, die gemeinsam Volksabstimmung („popular vote“) 63 % Zwischen 0 % und 1,5 % 12 %
detaillierte und spezifische Prognosen
erstellen. Hier sind ihre Vorhersagen gewinnt die Wahlmänner-, Zwischen 1,5 % und 3 % 62 %
für Top-Ereignisse im Jahr 2024. aber nicht die Volksabstimmung 2%
Zwischen 3 % und 4,5 % 22 %

Republikanischer Kandidat Mehr als 4,5 % 0%

➔

Wie wird das Ergebnis der nächsten Parla- gewinnt die Wahlmänner- und
mentswahlen in Großbritannien aussehen? die Volksabstimmung 10 %

Konservative gewinnen die gewinnt die Wahlmänner-,

➔
Mehrheit der Sitze 1% aber nicht die Volksabstimmung 25 % Wie viele Sitze (von 543) wird die
regierende, von der BJP geführte National
Konservative gewinnen viele Sitze 3% Democratic Alliance bei den nächsten
indischen Parlamentswahlen gewinnen?
Labour gewinnt viele Sitze 22 %
➔

Wird die Eurozone zwei aufeinander- 271 oder weniger 6%

Labour gewinnt die folgende Quartale mit negativem BIP-
Mehrheit der Sitze 74 % Wachstum haben? Zwischen 272 und 298 24 %

Ja 14 % Zwischen 299 und 325 47 %

Nein, aber zumindest eins wird ein Zwischen 326 und 352 21 %
➔

Wann unterzeichnen Russland und die negatives BIP-Wachstum haben 82 %

Ukraine ein Abkommen zur Beendigung 353 und mehr 2%
des Konflikts in der Ukraine oder Es wird kein Quartal mit negativem
kündigen dies zumindest an? BIP-Wachstum geben 4%

Oktober 2023 bis März 2024 1%

Prognose-Sieger
April 2024 bis September 2024 8% Herzlichen Glückwunsch an Zane
➔

Um wie viel wird Chinas BIP 2024 steigen? Stucker, Jurist im Großraum New York,
Nicht vor dem 1. Oktober 2024 91 % den Gewinner des Prognose-Wettbe-
Weniger als 1,5 % 2% werbs The World Ahead 2023, orga-
nisiert in Zusammenarbeit mit Good
Zwischen 1,5 % und 3 % 4% Judgment. Er begann während der
Pandemie mit Vorhersagen, um gerade
➔

Wird ein Quad-Staat oder China den
anderen offiziell beschuldigen, Waffen oder
andere Kräfte gegen ihn einzusetzen?
Ja 21 % Nein 79 %
Zwischen 3 % und 4,5 %
Zwischen 4,5 %und 6 %
Mehr als 6 %
38 % in Zeiten der Unsicherheit psychisch
stabil zu bleiben. Haben auch Sie das
54 % Zeug zum Super-Prognostiker? Testen
Sie unter www.gjopen.com/economist
2% Ihr Talent in unserem Vorhersage-Wett-
bewerb 2024 (läuft bis Oktober 2024).

DIE VORHERSAGEN DES VERGANGENEN JAHRES
2023 war ein gutes Jahr für das Expertenteam.
Acht Fragen wurden richtig prognostiziert. Das welt-
weite Wirtschaftswachstum betrug drei Prozent, in
China fünf Prozent. Die Regierungsparteien gewannen
in Nigeria und der Türkei, und Wladimir Putin wurde
nicht gestürzt. Es gab keine Wahlen in Großbritannien,
keinen Krieg um Taiwan, und Russland zündete auch
nicht die Atombombe. Bei der neunten Frage nahmen
die Superexperten an, dass ein Ende des Ukraine-
Krieges nach dem 1. Oktober 2024 möglich wäre. Die
Ereignisse 2023 geben dem Team nicht unrecht.
Die Welt in 2024
Europa
Stecken geblieben
im Sumpf
Der Krieg könnte auf eine Sackgasse zusteuern
SHASHANK JOSHI Redakteur Verteidigung,
The Economist
W ir gehen nicht von einer Pattsituation aus“, be-
tonte der Nationale Sicherheitsberater der USA,
Jake Sullivan, Ende August 2023. Die Ukraine nehme
„methodisch und systematisch“ Territorium ein. Nur
gibt es inzwischen leider Anzeichen dafür, dass die
ukrainische Gegenoffensive weit hinter dem erklärten
Minimalziel zurückgeblieben ist und der Krieg in eine
Phase militärischen Stillstands eingetreten sein könnte.
2024 wird für die Ukraine schwierig und gefährlich.
Die im Juni gestartete Gegenoffensive machte im
Osten von Bachmut, einer Stadt, die Russland im Mai
49
Auch in dieser
Rubrik:
50 Wladimir Putins
ewiger Krieg
51 Ärger im Kaukasus
51 Baltikum und
Skandinavien
52 Politik in
Frankreich
52 Zentristen vs.
Populisten
53 Europas Volks-
wirtschaften
54 Dara Massicot
über das Trauma
der Ukraine
erobert hatte, und im Süden in der Provinz Saporisch-
schja bescheidene Fortschritte. Eine Mischung aus
müden Einheiten, knapper Munition und schlechtem
Wetter wird die Offensive den Winter über verlang-
samen, obwohl die Angriffe der kleinen Infanterie-
einheiten auf niedrigerem Niveau fortgesetzt werden.
Vermutlich wird es deshalb im Winter erneut auf
beiden Seiten zu einer Offensive mit Langstreckenrake-
ten kommen. Russland hat sein Arsenal an Raketen
aufgestockt und wird wohl wieder das Stromnetz der
Ukraine unter Beschuss nehmen. Die Ukraine hat ihre
Drohnenbestände vergrößert und wird, unterstützt durch
amerikanische ATACMS-Raketen, ihre Angriffe auf
die besetzte Krim fortsetzen und möglicherweise auch
Russlands Stromnetz ins Fadenkreuz nehmen, um einen
gewissen Abschreckungseffekt zu erzielen – die strate-
gische Wirkung dürfte indes bescheiden ausfallen.
Entscheidend für 2024 wird sein, welche Seite
schneller hoch qualifizierte Kräfte aufbaut, auch in
Bezug auf die Truppenstärke. Die russische Armee hat
ihre Rekrutierungsziele verfehlt, aber genug Soldaten
zusammenbekommen, um die Stellungen zu halten.
Wenn sie, wie im Winter 2022/23, angreifen will, muss
sie eine Mobilisierungswelle starten. Sie verfügt zwar
über viele Wehrpflichtige, deren Einberufung aber mit
politischen Risiken verbunden wäre. Die Ukraine muss
entscheiden, ob sie auch Männer unter 20 einzieht, von
denen viele bislang der Einberufung entgangen sind.
Soldaten brauchen auch Waffen und Munition. Russ-
land hat Ende 2022 die Produktion von Rüstungsgütern
50 Europa Die Welt in 2024

hochgefahren und wird 2024 etwa ein bis zwei Millio- Orichiw
nen Granaten sowie Hunderte neuer Panzer produzieren Charkiw
Robotyne Kupiansk
und alte überholen. Sollte Nordkorea seine Waffen-
lager für Russland im Tausch gegen Militärtechnologie Dnj
epr Luhansk
öffnen, wäre dies für Russland von großem Vorteil.
Die Ukraine wird wahrscheinlich erst Ende 2023 oder Verbove UKRAINE Bachmut
Anfang 2024 bei der Artilleriemunition – dem wichtigs-
Tokmak Awdijiwka
ten Faktor auf taktischer Ebene – im Vorteil sein, da 15 km
Don
westliche Regierungen später investierten. bas
Einen massiven Nachschub an neuer Ausrüstung, 1. November 2023
wie dies im Frühjahr 2023 der Fall war, wird die Ukraine unter russischer Kontrolle Donezk
russische Operationen*
hisinau Mykolajiw
nicht erhalten. Stattdessen wird der Schwerpunkt der Saporischschja Mariupol
westlichen Hilfe auf der Reparatur von Ausrüstung angeblich unter
MOLDOVAKontrolle
russischer Cherson Melitopol Berdiansk
liegen. Eine wichtige Entscheidung für westliche Regie- Odessa
Cherson
Ukrainische Vorstöße**
rungen ist, ob sie Produktionslinien für Waffen, die RussischeBefestigungen*** Asowsches Meer
sie selbst nicht mehr nutzen, wieder in Betrieb neh- *Gebiete, in denen Russland operiert
men oder sensibles geistiges Eigentum an ukrainische oder angegriffen hat, die es aber nicht
Schwarzes RUSSLAND
Meer Krim
kontrolliert
Fabriken weitergeben. Anfang 2024 wird das ukrai- **seit 1. Mai 2023 ***errichtet/ 2014 annektiertes 75 km
nische Arsenal an Langstreckenraketen durch die US- ausgebaut Feb. 2022-Okt. 2023 ukrainisches Gebiet
Lieferung bodengestützter GLSDB-Raketen verstärkt Quellen: Institute for the Study of War; AEI’s Critical Threats Project; Brady Africk; OpenStreetMap
werden. Auch F-16-Kampfjets werden kommen, obwohl
die wahrscheinlich keine entscheidende Wendung auf
dem Schlachtfeld bringen werden. plexe Operationen zu planen, an denen viele Einheiten
Jede Seite wird versuchen, die Initiative zu ergreifen. auf breiter Front beteiligt sind.
Die Ukraine will ihre Frühjahrsoffensive fortsetzen, wird Gelingt keiner Seite eine Offensive, wird der Krieg
aber Probleme haben, nötige Truppen zu mobilisieren. außerhalb des Schlachtfelds entschieden. Das Schwar-
Russland wird seine Armee in eine symbolische Offen- ze Meer rückt ins Zentrum, wenn Russland Frachter
sive zwingen. Doch ständig schlecht ausgebildete Trup- angreift und die Ukraine Russlands Flotte und Einrich-
pen in Schlachten zu werfen schwächt nur die Armee. tungen bombardiert. Ein Nato-Gipfel in Washington im
Die große Herausforderung für 2024 ist die Frage, Juli wird als Test gesehen. Russlands Strategie ist sim-
ob die Partner der Ukraine in der Lage sind, ihre militä- pel: weitermachen, bis die Partner der Ukraine müde
rische Ausbildung zu erweitern. Die Probleme der Som- werden. Aber der Westen will auf Kurs bleiben. Opti-
meroffensive müssen gelöst werden, wenn die nächste misten sagen, der Krieg beschleunige den politischen
Offensive der Ukraine Erfolg haben soll. Die Ukraine Zerfall Russlands. Pessimisten warnen, dass Putin noch
braucht viel mehr Offiziere, die in der Lage sind, kom- jahrelang so weitermachen könnte. A

Putins war bislang kein Thema. Der Thinktank

Re: Russia schätzt, dass Russland im ersten

ewiger Krieg
Kriegsjahr 590 Milliarden Dollar an Export-
einnahmen erzielt hat, vor allem aus Öl und
Gas. Das sind 160 Milliarden Dollar mehr
als im Jahresdurchschnitt der letzen Deka-
de. Im zweiten Jahr lagen die Einnahmen
noch 60 Milliarden Dollar über dem Durch-
schnitt. Die Kriegskosten werden auf über
100 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt.
Mit den Einnahmen vermittelt er den
Wie lange kann Russlands Staatschef Russen den Eindruck von Normalität. Doch
den Krieg in der Ukraine finanzieren? je länger der Krieg dauert, desto schwieri-
ger wird es, weil Russland mehr Soldaten
ARKADY OSTROVSKY Redakteur Russland, und Waffen braucht. Nur sind eine allge-
The Economist meine Mobilmachung und eine zentrale
Planung der Rüstung schwer in einem Land

I m März hält Wladimir Putin Präsident-

schaftswahlen ab, die dazu gedacht
sind, die Unterstützung für die Invasion
der Ukraine zu demonstrieren, die zwei
Jahre zuvor begonnen hatte. Die Bilanz ist
erschreckend. Hunderttausende Menschen
wurden getötet, Millionen vertrieben – die
meisten von ihnen Ukrainer, die vor rus-
sischen Raketen geflohen sind, aber auch
bis zu eine Million gebildete Russen haben
ihr Land aus Angst vor Repression und
Generalmobilmachung verlassen.
Putin hat Russlands aufstrebende Zivil-
gesellschaft erstickt, das Land vom Westen
E Diktator für immer
isoliert, die Abhängigkeit von China er-
höht und die Nato gestärkt. Der Haushalt
für 2024 sieht einen Anstieg der Militär-
ausgaben um 70 Prozent auf sechs Prozent
des BIP vor. Putin bezeichnet den Krieg
in der Ukraine als Teil des Kampfes gegen
den Westen, sodass die Ausgaben auch
nach Kriegsende nicht sinken dürften. Geld
mit schlechter Demografie und Korruption.
Putin wird keine Probleme haben, sich
zum Wahlsieger zu erklären. Die Probleme
beginnen erst danach, wenn die Sinnlosig-
keit seines Krieges die Schäbigkeit seines
Triumphs offenbart. Das ist jedoch keines-
wegs sicher. Denn wenn Putins Hoffnungen
enttäuscht werden, Trump nicht ins Weiße
Haus zurückkehrt und die Ukraine weiter-
hin unterstützt wird, verschärfen sich seine
Probleme. In der Vergangenheit hat Putin
auf jede Verschlechterung seiner Werte mit
einem Krieg reagiert. Doch davon hat er
bereits Gebrauch gemacht. A
Die Welt in 2024 Europa 51

Russlands Als die Bolschewiken vor einem Jahr-

hundert den Kaukasus eroberten, glie-
Türkei grünes Licht für die Rückeroberung
des Gebiets um Bergkarabach, stationierte

schwindender
derten sie Bergkarabach, eine Bergregion aber in Bergkarabach selbst „Friedens-
mit langer armenischer Geschichte, dem truppen“ – angeblich zum Schutz der
sowjetischen Aserbaidschan an – als Armenier, in Wirklichkeit aber, um seinen

Einfluss Belohnung dafür, dass die Aserbaidscha-

ner ihnen Zugang zu ihren Ölfeldern
gewährten. Siebzig Jahre später, als die
Der Krieg in der Ukraine – eine Verschie- Sowjetunion schwächer wurde, forderte
Bergkarabach die Wiedervereinigung mit
bung der Kräfteverhältnisse im Kaukasus
Sowjet-Armenien. Nach dem Zerfall des
Imperiums 1991 kam es zum Krieg, und
ARKADY OSTROVSKY Redakteur Russland, Armenien erlangte mit russischer Unter-
The Economist stützung nicht nur die Kontrolle über
Bergkarabach, sondern auch ein großes
Einfluss zu wahren.
Während Putin seinen Krieg gegen die
Ukraine plante, konzentrierte er sich ver-
mehrt auf seine Beziehungen zur Türkei
und zu Aserbaidschan und weniger auf
das arme, demokratische Armenien. Er
erlaubte Aserbaidschan, die Armenier aus
Bergkarabach zu vertreiben, die sich auf
den Schutz Moskaus verlassen hatten.
Russland hat diese Armenier nicht nur

V erglichen mit Russlands Invasion in der

Ukraine oder dem Horror des Angriffs
der Hamas auf Israel und den anschließen-
den Kämpfen mag der eintägige Krieg, den
Aserbaidschan im September 2023 gegen
die armenische Enklave Bergkarabach
führte, wie eine Lappalie erscheinen. Die
letzte Episode in einem langen Kreislauf
der Gewalt verschaffte Aserbaidschan die
Kontrolle über eine Region, die schon vor
dem Ende der Sowjetunion unabhängig
sein wollte, und löste den Exodus der arme-
nischen Bevölkerung aus ihrer Heimat aus.
Der kurze Krieg ist Teil einer gewalti-
gen Veränderung des Kräfteverhältnisses
in der ehemaligen Sowjetunion und in der
Welt und vielleicht das letzte Zucken eines
Systems, das den Kaukasus auf die eine
oder andere Weise mit Moskau verband.
umliegendes Gebiet in Aserbaidschan.
Bergkarabach entwickelte sich zum
Aufreger für das mehrheitlich christliche
Armenien, zur Quelle von Trauma und
Leid für Aserbaidschan und zu einem
Hebel für Russland. Die muslimische Tür-
kei stand auf der Seite Aserbaidschans,
schloss 1993 die Grenze zu Armenien
und machte das Land noch abhängiger
von Moskau. 1998 übernahmen arme-
nische Warlords aus Bergkarabach die
politische Macht in Armenien und näher-
ten sich dem Kreml an. Russland sah in
Armenien ein wichtiges Gegengewicht zu
Georgien, das sich dem Westen zuwandte.
Doch 2018 gingen junge Armenier auf
die Straße und jagten den korrupten, Mos-
kau-nahen Karabach-Clan aus dem Amt.
2020 gab Putin Aserbaidschan und der
verraten, sondern hofft auch, dass ihr Exo-
dus zu einem Regimewechsel in Armenien
führen könnte. Putin möchte außerdem
einen Korridor kontrollieren, der die Türkei
mit Aserbaidschan verbindet und durch
Armenien führt.
In dem Punkt haben allerdings die Tür-
kei und Aserbaidschan die Karten in der
Hand, und keiner will Moskau unnötige
Zugeständnisse machen, zumal Russlands
Einfluss sowieso schwindet. Sie wollen
sich aber auch nicht auf die Seite des
Westens schlagen. Stattdessen versuchen
sie, ihre eigene Machtbasis im Kaukasus
aufzubauen. Eine Folge von Russlands
unseligem Krieg ist der Aufstieg von Mit-
telmächten wie der Türkei, eine andere ist
Moskaus schwächelnder Einfluss in der
postsowjetischen Welt. A

Freunde im Putin hat die nordischen

Länder nun dazu gebracht, Island
Europäische
NATO-Mitglieder
Norden
500 km
die Denkweise der baltischen Nach Beitrittsdatum
Finnland
Länder zu übernehmen. 2024, Norwegen
1949–1991
wenn nach Finnland 2023 ATLANTISCHE R Schweden Russland 1992–2022
Estland
auch Schweden der Nato bei- OZ E A N
Ost- Lettland April 2023
tritt, wird die Koordinierung Groß- Dänemark see Lithauen
Unter russischer
Skandinavien und Baltikum der Verteidigung der nordisch- britannien
Weißrussland Kontrolle

rücken durch den Krieg in der baltischen Länder gegen die Niederlande Polen
Deutschland Ukraine
russische Bedrohung beginnen. Belgien Kaspisches
Ukraine näher zusammen Tschechien Slowakei Meer
Skandinavien war schon Luxemburg
Ungarn
immer tougher als sein Image. Frankreich Slowenien Rumänien Schwarzes Meer
MaTT STEINGLaSS Stv. Ressortleiter Finnland hat eine große Wehr- Italien Kroatien
Bulgarien
Europa, The Economist, Amsterdam pflichtarmee. Schwedens Portugal Montenegro Nordmazedonien Türkei
Kampfjets und U-Boote sind Spanien Albanien

N
ach dem Ende des Kalten
Krieges wurden die nordi-
schen Länder zu Symbolen für
die Überwindung geopolitischer
Konflikte. Norwegen vermittel-
te Frieden für Guatemala und
Palästina, und „Getting to Den-
mark“ wurde zum Slogan für die
Verwirklichung einer liberalen
Demokratie. Das Baltikum hin-
gegen entkam der sowjetischen
Besatzung und fürchtete die
Rückkehr des russischen Impe-
rialismus. Doch seine Warnun-
gen wurden oft als postkom-
munistische Paranoia abgetan.
Weltklasse. Norwegen spielt
als Seestreitkraft im Nord-
atlantik und in der Arktis eine
entscheidende Rolle. Däne-
mark plant, bis 2030 die Nato-
Norm von zwei Prozent des BIP
für Verteidigung zu erfüllen.
Der Krieg hat die Nato zu
einem Strategiewechsel ver-
Putin hat die nordischen
Länder dazu gebracht, die
Denkweise der baltischen
Länder zu übernehmen
Griechenland
Mittelmeer
anlasst. Wegen der Gräueltaten Touristen sind die nordisch-
in der Ukraine hat sie erklärt, baltischen Länder strenger als
sie werde „jeden Zentimeter“ andere europäische Länder.
ihres Territoriums verteidigen. Fast alle Politiker und Par-
Der Krieg hat die baltisch- teien in den nordisch-balti-
nordischen Länder auch wirt- schen Staaten sind sich einig,
schaftlich zusammenrücken dass man Russland entschie-
lassen. Das Baltikum kappte den entgegentreten muss.
sofort seine letzten Verbindun- Das hat auch zu mehr Gleich-
gen zum russischen Stromnetz berechtigung zwischen den
und schloss sich Polen und Staaten geführt: Das Baltikum
Finnland an. Auch bei der Ein- nimmt nun nicht mehr die
reiseverweigerung für russische Rolle eines Juniorpartners ein.
52 Europa
Zuschauersport
Die Olympischen Spiele werden die
Politik der Polarisierung vorübergehend
unterbrechen
SOPHIE PEDDER Büroleiterin Paris,
The Economist, Paris
E mmanuel Macron wird 2024 versu-
chen, seine Führungsrolle in Europa
wiederzuerlangen, während Frankreich
beginnt, sich für das Rennen um seine
Nachfolge zu rüsten. Beides findet vor
dem Hintergrund der Olympischen Spiele
in Paris statt, die als Aushängeschild und
auch als Test gelten, in unbeständigen
Zeiten als Nation zusammenzustehen.
2017 hatte der neu gewählte Präsident
in einer Rede an der Sorbonne seine
Vision eines „souveränen“ und autonomen
Europas dargelegt. 2024 wird Macron
versuchen, diese Vision wiederzubeleben.
Wenn Europa des 80. Jahrestages der
Landung der Alliierten in der Normandie
gedenkt, wird er an die Länder appellie-
ren, sich geopolitischer Risiken sowie der
Möglichkeit bewusst zu werden, dass
die USA einen Präsidenten wiederwählen
könnten, der sich wenig für europäische
Sicherheit interessiert. Man wird viel über
Europas „strategische Autonomie“ hören,
von Verteidigung bis zur Industrie. Er wird
sich auch als Verfechter der Aufnahme der
Ukraine in EU und Nato profilieren.
Derweil wird das Land über seinen
Nachfolger nachdenken. 2027, wenn die
nächsten Präsidentschaftswahlen anste-
hen, wird Macron nach zwei Amtszeiten
mit 49 zurücktreten müssen. Die Frage ist,
wer aus der politischen Mitte die Nach-
folge antritt, um es mit Marine Le Pen von
der extremen Rechten aufzunehmen.
Spitzenkandidaten sind der ehemalige
Premier Édouard Philippe, Innenminister
Gérald Darmanin und Finanzminister
Bruno Le Maire. Aber auch andere wer-
den sich Chancen ausrechnen, darunter
Jean Castex, ein weiterer Ex-Premier, Yaël
Braun-Pivet, die Präsidentin der National-
versammlung, oder auch Gabriel Attal, der
ehrgeizige 34-jährige Bildungsminister.
Macron wird sich nicht auf einen Nach-
folger festlegen, sondern zeigen, dass er
fest im Sattel sitzt. Seine Reformagenda
sieht den Versuch vor, Vollbeschäftigung
und eine rigorose „grüne Politik“ durch-
zusetzen, mit Investitionen in den öffent-
lichen Nahverkehr, neue Atomreaktoren,
die Batterieproduktion sowie die Wieder-
eröffnung von Notre-Dame fünf Jahre
nach der Brandkatastrophe. Madame Le
Pen wird bei den Europawahlen im Juni
zur Abwahl Macrons aufrufen. Die Partei
Rassemblement National (RN) könnte aus
der Wahl als stärkste Partei hervorgehen,
was die Angst vor einem Wiedererstarken
der Rechten vor 2027 aufleben lassen wür-
de. Dies könnte Macron auch dazu veran-
lassen, seine Premierministerin Élisabeth
Borne aus dem Amt zu entlassen.
Der Nahostkonflikt wird Spaltungen
vertiefen, denn Frankreich ist die Heimat
der größten jüdischen und muslimischen
Bevölkerung Europas. Dennoch wird
das Land versuchen, für die Olympischen
Spiele vom 26. Juli bis 11. August eine
Einheit zu bilden. Zwar werden die Vor-
bereitungen von Streitigkeiten über unfer-
tige Verkehrsverbindungen, teure Tickets
und der Angst vor Terror überschattet,
doch sobald die Spiele beginnen, werden
die Franzosen das Spektakel genießen.
Macron wird hoffen, dass der Geist der
Einheit von Dauer sein wird. A
Die Welt in 2024
Recht so, EU
Im Juni stehen in der EU Wahlen an.
Erwartet wird eine weitere Auseinander-
setzung zwischen Politikern der Mitte
und Populisten
STANLEY PIGNAL Charlemagne Kolumnist,
The Economist, Brüssel
W ahlen in Europa wiederholen sich
nicht, um mit Mark Twain zu spre-
chen, aber sie reimen sich. Von Deutsch-
land über Italien bis hin zur Slowakei gibt
es ein bekanntes Muster. Parteien der
Mitte, die jahrzehntelang an der Macht
waren, bekommen es zunehmend mit
rechter Konkurrenz zu tun, die früher als
politisch untragbar galt. So wird es auch
am 9. Juni sein, wenn in den 27 EU-Mit-
gliedstaaten die Wahlen zum Europäi-
schen Parlament stattfinden. Nationalis-
tische Parteien verschiedener Couleur
werden gut abschneiden, doch die Mitte
wird sich vermutlich durchsetzen.
Umfragen deuten darauf hin, dass die
Mitte-rechts-Parteien (EVP) erneut als
stärkste Kraft hervorgehen. Zusammen
mit den Mitte-links-Parteien (Sozialisten
und Demokraten) und den Liberalen
(Renew Europe) werden sie aber an Boden
verlieren. Eine ganze Reihe von Sitzen der
720-köpfigen Abgeordnetenkammer wird
an Rechtsparteien wie die von Giorgia
Meloni (Italien), Viktor Orban (Ungarn)
und Marine Le Pen (Frankreich) gehen.
Für die Mehrheitsbildung dürften die
Parteien der Mitte ausreichend Gewicht
haben – eine gute Nachricht für Ursula
von der Leyen, die seit der letzten Wahl
2019 Präsidentin der EU-Kommission
ist. Zwar entscheiden die 27 Staats- und
Regierungschefs der EU über die Be-
setzung des Spitzenpostens, doch das
EU-Parlament muss die Wahl bestätigen.
Gewinnt die EVP, ist von der Leyen für
weitere fünf Jahre im Amt. Ein schlechtes
Abschneiden der Parteien der Mitte könn-
te sie aber dazu zwingen, eine Art Pakt
mit den rechten Parteien einzugehen, um
eine gesicherte Mehrheit zu erzielen.
Sollte von der Leyen im Amt bleiben,
ist eine Fortsetzung der bisherigen Poli-
tik zu erwarten. Die Kommission wird
vor allem die Ukraine weiter unterstützen:
Gemeinsam mit den USA hat sie elf Sank-
tionsrunden gegen Russland ausgearbei-
tet. Die Bemühungen, die kriegszerrüttete
Ukraine und bis zu acht weitere Länder
(vor allem aus dem Westbalkan) in die EU
aufzunehmen, werden fortgesetzt werden,
auch wenn es bis zum offiziellen Beitritt
noch viele Jahre dauern kann.
Die Welt in 2024
Das nächste Emissionsminderungs­
paket dürfte für noch mehr Streit sorgen.
Populisten in ganz Europa kritisieren die
grüne Politik und werden ihre Chancen
nutzen, falls die Wahlen zu einem Refe­
rendum über Emissionsreduktionen wer­
den. Die Verpflichtung der EU, bis 2050
„Netto­Null­Emissionen“ zu erreichen,
erfordert mehr Geld (das Europa nicht hat)
und mehr Vorschriften (von denen es ein
unerschöpfliches Repertoire gibt). Sogar
die Parteien der Mitte sträuben sich mit­
unter gegen die grünen Pläne aus Brüssel.
Bei den Wahlen könnte es auch zu
Auseinandersetzungen um die Spitzen­
positionen kommen. Der Verbleib von
Frau von der Leyen würde für Kontinuität
sorgen. Aber ihr Team von 26 Kommis­
saren, das unter anderem die Versuche
der EU leitet, eine Industriepolitik zu ent­
wickeln, wird erneuert werden. Es wird
auch einen neuen Präsidenten des EU­
Rates geben, der die Treffen der Staats­
und Regierungschefs leitet und die Union
nach außen vertritt, da der Belgier Charles
Michel nach fünf Jahren aus dem Amt
scheidet. Einen neuen außenpolitischen
Direktor wie auch einen neuen Nato­
Generalsekretär wird es ebenfalls geben.
Je näher die Wahl in Europa rückt, des­
to mehr werden die europäischen Debat­
ten von den US­Wahlen im kommenden
Jahr überschattet. Allein die Aussicht auf
einen Wahlsieg eines Trump­Kandidaten
– vor allem von Donald selbst – würde
Frankreichs Forderung nach „strategischer
Autonomie“ Auftrieb geben, die Europa in
Verteidigungs­ und anderen Fragen unab­
hängiger von den USA machen würden.
So wichtig die Europawahlen im Juni auch
sind, die US­Wahlen im November werden
für die EU entscheidender sein. A
Getrennte Wege
Die europäischen Volkswirtschaften
werden sich auseinanderleben
CHRISTIAN ODENDAHL Redakteur Euro­
päische Wirtschaft, The Economist
I n den vergangenen zehn Jahren war
das wirtschaftliche Glück vor allem
dem Norden Europas hold. Die skandi­
navischen Länder, aber auch Deutschland,
Polen und Großbritannien verzeichne­
ten ein solides Wachstum und eine gute
Beschäftigungslage (siehe Grafik). Der
Süden hingegen wurde erst von der Euro­
krise 2010–2012 und der anschließenden
Anpassungsphase getroffen und dann
von der Pandemie, die die vom Tourismus
geprägten Volkswirtschaften stärker als
andere beeinträchtigt hat. Da Europa mit
Herausforderungen wie Klimawandel und
geopolitischen Umwälzungen konfron­
tiert ist, entwickelt sich das wirtschaftliche
Schicksal seiner Länder unterschiedlich,
was ab 2024 deutlich werden wird.
Beginnen wir mit dem Klimawandel.
Europa hat sich das Ziel gesetzt, der ers­
te klimaneutrale Kontinent zu werden.
Voraussetzung dafür sind eine CO2­freie
Stromversorgung und die Umstellung von
Industrie, Heizung und Verkehr auf grü­
ne Energie – eine gewaltige Aufgabe. Für
einige Länder kann diese grüne Trans­
formation das Wachstum ankurbeln, weil
Investitionen die Nachfrage steigern und
Standortfaktoren neue Chancen eröffnen.
Standorte mit großem Potenzial für er­
neuerbare Energien, wie die windreichen
Küsten der Nordsee oder das sonnige
Spanien, könnten einen grünen Wachs­
tumsschub erleben. Alte Industrien wer­
den es dagegen schwer haben.
In der Zement­ oder Stahlherstellung
wird fossile Energie eingesetzt, die nur
schwer durch grüne Energie ersetzt wer­
den kann. Auf dem Weltmarkt haben
andere Hersteller deutlich niedrigere
Energiekosten als die europäischen, weil
sie entweder schon heute über Erdgas
oder in Zukunft über reichlich Ökostrom
und Wasserstoff verfügen werden. In der
Schwerindustrie ist Deutschland Europas
größter Energieverbraucher – es benötigt
etwa doppelt so viel wie die nächstgröß­
ten Länder Italien und Frankreich.
Auch die Autoindustrie sieht sich einer
neuen Konkurrenz gegenüber. Die von
der EU angekündigte Untersuchung
der chinesischen Subventionen für die
E­Auto­Industrie zeigt, wie nervös man ist.
Europa 53
Länder mit einer starken Autoindustrie
wie Tschechien, Frankreich, Deutschland
und Spanien könnten darunter leiden.
Die Demografie macht ebenfalls
Sorgen. Während Unternehmen in ganz
Europa heute schon Schwierigkeiten
haben, Arbeitskräfte zu finden, gehen die
geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhe­
stand. In der Eurozone gibt es 23 Millio­
nen 60­ bis 64­Jährige, aber nur 18 Mil­
lionen 15­ bis 19­Jährige. In Deutschland,
Italien und Polen ist der Abstand am größ­
ten. In Frankreich und Skandinavien gibt
es kaum eine Lücke, in Belgien und den
Niederlanden nur eine kleine.
Nicht alle Länder können das Defizit
durch Migration ausgleichen. Der Krieg
in der Ukraine hat viele Menschen ge­
zwungen, nach Westen zu gehen, was der
tschechischen, deutschen und polnischen
Wirtschaft neue Arbeitskräfte verschafft
hat. Doch 2024 wird die Zuwanderung
erneut die Debatte beherrschen, da sich
der Arbeitskräftemangel verschärft, mehr
Ukrainer in ihre Heimat zurückkehren
und weiterhin Migranten aus dem außer­
europäischen Ausland an den Küsten
Europas landen werden.
Schließlich wird die wachsende Riva­
lität zwischen USA und China wirt­
schaftliche Auswirkungen haben. Bei
Ländern mit engen Handelsbeziehungen
zu Autokratien kann es zu einer Unter­
brechung der Lieferketten oder zu wirt­
schaftlichen Vergeltungsmaßnahmen
kommen. Deutschland und Italien haben
es erlebt, als Moskau versuchte, sie mit
Gas zu erpressen. Dennoch betreiben die
beiden Länder sowie einige osteuropäi­
schen Volkswirtschaften, z. B. Polen, einen
intensiven Handel mit Autokratien – im
Gegensatz zu Frankreich und Schweden.
In der EU kam es in der Vergangenheit
immer wieder zu Meinungsverschieden­
heiten. Doch die neuen Entwicklungen,
die den Kontinent 2024 treffen könnten,
werden schwieriger zu bewältigen sein. A
Europa der zwei Geschwindigkeiten
EU27 und Großbritannien, durchschnittliche
jährliche BIP-Änderungsrate in Prozent
Größe = Bevölkerung 2019-28, Prognose 4
wächst
schneller Ungarn Rumänien
3
Kroatien Estland Polen
Lettland
2
Schweden
Griechenland* Spanien
Tschechien 1
Frankreich wächst
Deutschland
langsamer
Italien Großbritannien
0
-1 0 1 2 3 4
2009-18
Quelle: IMF *2009-18 = -2,8 %
54 Europa
Gastbeitrag Das Trauma des Krieges
D ie militärischen, wirt­
schaftlichen und diploma­
tischen Folgen der russischen
Invasion in der Ukraine sind
seit fast zwei Jahren bekannt.
Aber es gibt noch viele andere
verdeckte Folgeschäden des
Krieges, wie die psychischen
und physischen Narben, die
der Krieg bei den Soldaten
auf beiden Seiten hinterlassen
haben. Während die Ukraine
und ihre Unterstützer langfris­
tige Pläne für den Wiederauf­
bau ihres Landes schmieden,
sucht die ukrainische Regie­
rung auch nach politischen
Lösungen, um ihren Soldaten
bei der Genesung zu helfen.
Sie wird Hilfe benötigen, um
eine umfassende Traumabe­
handlung anbieten zu können.
Viele Gruppen haben ver­
schiedene Arten von Traumata
erlebt: Millionen von Soldaten
und ihre Familien; Sanitäter
und Ersthelfer, die Kampf­
situationen und Verlusten
ausgesetzt waren; Binnen­
und Außenvertriebene; und
Kriegsgefangene. Die Ukraine
steht bei der Unterstützung
der psychischen Gesundheits­
bedürfnisse ihrer Bürger vor
einer Reihe von Herausforde­
rungen, für deren Bewältigung
sie erhebliche Unterstützung
von außen benötigen wird.
Die erste Herausforderung
ist das Ausmaß des Problems:
Die Regierung schätzt, dass es
bis Kriegsende 1,8 Millionen
Veteranen geben wird bzw.
7,2 Millionen, wenn man die
unmittelbaren Familienange­
hörigen mitzählt. Das bedeu­
tet, dass etwa 16 Prozent der
Bevölkerung direkt von einem
Kriegstrauma betroffen sind.
Offizielle Stellen schätzen,
dass seit 2014 ein Viertel der
Veteranen eine Form der post­
traumatischen Belastungsstö­
rung (PTBS) entwickelt hat. Da
jedoch jeder Soldat gebraucht
wird, erhalten auch diejenigen,
die unter schweren Problemen
leiden, oft nur eine kurze Aus­
zeit, bevor sie zu ihrer Einheit
zurückgeschickt werden.
Die Ukrainer brauchen Hilfe, um sich geistig
und körperlich zu erholen, sagt Dara Massicot
von der Denkfabrik Carnegie Endowment
Die bürokratischen Verfah­ die systematischen Kriegsver­
ren für verwundete ukrainische brechen der russischen Streit­
Soldaten und ihre Familien, kräfte. Diese Umstände führen
um Zugang zu Versorgung zu komplexen und miteinan­
und Leistungen zu erhalten, der verknüpften physischen
sind langwierig. Es gibt nicht und psychischen Traumata
genügend Ärzte, die eine bei Soldaten und Zivilisten.
Therapie anbieten könnten. Die Behandlung physischer
Die zweite Herausforde­ Polytraumata (Amputationen,
rung ist die Schwere der Verbrennungen, traumati­
Traumata, die durch die Art sche Hirnverletzungen sowie
des Krieges selbst verursacht Hör­ und Sehverlust oder
werden: die Intensität und Wirbelsäulenverletzungen) ist
Dauer der Kämpfe, die Häufig­ ressourcenintensiv, und die
keit von Verletzungen durch Ukraine verfügt nicht über
Artillerie und Landminen und ausreichende Kapazitäten.
Die ukrainische Regierung
sensibilisiert die Bevölkerung
für diese Herausforderungen
Etwa 16 Prozent der und für die Notwendigkeit,
Hilfe in Anspruch zu neh­
ukrainischen Bevölkerung men, aber es gibt nach wie
sind direkt von Kriegs- vor ein soziales Stigma, bei
traumata betroffen psychischen Störungen Hilfe
Die Welt in 2024
zu suchen. Selbst nach dem
Einmarsch Russlands in die
Ukraine 2014 wurden PTBS
nicht flächendeckend behan­
delt, was zum Teil darauf
zurückzuführen ist, dass Sol­
daten militärpsychologischer
Hilfe misstrauen – ein Erbe
der Sowjetvergangenheit.
Es ist ermutigend, dass
sich in der Ukraine eine zu­
nehmende gesellschaftliche
Offenheit für die Betreuung
von Veteranen abzeichnet.
Das Bewusstsein für psychi­
sche Gesundheit wächst, zum
Teil aufgrund des Generations­
wechsels, zum Teil aufgrund
des Krieges selbst.
Viele internationale Part­
ner sind bereit, diese Art von
Unterstützung zu leisten und
sich über bewährte Verfahren
auszutauschen. Im Gegensatz
dazu fehlt es in Russland an
Partnern, die bei der Betreuung
der Veteranen helfen, und die
Geheimhaltung behindert die
Entwicklung geeigneter Maß­
nahmen. Obwohl es derzeit nur
wenige entlassene russische
Veteranen gibt, sorgen sich
Ärzte stillschweigend vor
einem Mangel an Unterstüt­
zung, vor Drogen­ und Alko­
holmissbrauch und Gewalt
unter den Heimkehrern.
Die Bereitstellung trauma­
bezogener Versorgung ist ein
wesentlicher Bestandteil des
Wiederaufbaus in der Ukraine.
Regierungen, die den Wieder­
aufbau der Ukraine unterstüt­
zen, können diese Unterstüt­
zung langfristig in ihre Wieder­
aufbaupakete integrieren.
Internationale Organisatio­
nen und NGOs spielen bereits
eine wichtige Rolle und arbei­
ten mit ukrainischen Partnern
bei der Aufklärung und Unter­
stützung zusammen. Sie könn­
ten eine noch wichtigere Rolle
spielen, indem sie die Ausbil­
dung von ukrainischem Perso­
nal im In­ und Ausland unter­
stützen. Gemeinsam können
wir den traumatisierten Ukrai­
nern helfen, ihr Leben und ihr
Land wieder aufzubauen.
Die Welt in 2024
Wahl des Übels
Zwischen Joe Biden und Donald Trump
kommt es zu einem besonderen Wettstreit:
Welcher Kandidat ist unbeliebter?
IDREES KAHLOON Büroleiter Washington,
The Economist, Washington, D. C.
D ie Amerikaner sehen die Lage ihrer Nation unge-
wöhnlich düster. Das ergab eine Umfrage des Pew
Research Center vom September 2023. 65 Prozent der
Befragten gaben an, sie fühlten sich immer oder sehr
häufig erschöpft. 55 Prozent sagten, sie spüren Wut.
Zehn Prozent sehen Hoffnungsschimmer, und nur vier
Prozent blicken mit Freude auf die Politik. Auch soll-
ten die Befragten das Politikgeschehen in einem Wort
beschreiben: Spaltend, korrupt, schlecht oder chaotisch
waren die häufigsten Antworten.
Im kommenden Jahr dürfte sich diese Malaise noch
verschlimmern. Denn im Präsidentschaftswahlkampf
55
USA
Auch in dieser
Rubrik:
56 Akteure
57 Wirtschaft
57 Außenpolitik
58 Freiheit im Netz
59 Kleine Städte
59 Cricket in Amerika
60 Heiße Citys
61 Niall Ferguson
und Condoleezza
Rice über den
neuen Kalten Krieg
deutet alles auf ein Rematch der beiden Senioren hin,
ausgefochten zwischen Präsident Joe Biden (81) und
seinem Vorgänger Donald Trump (77).
Um Themen wie Wirtschaft oder Außenpolitik wird
es weniger gehen. Eher um die Frage: Welcher der
beiden Männer ist eher für das Amt geeignet? Oder:
Welcher der beiden ist noch unbeliebter als sein Rivale?
Biden wird argumentieren: Trump ist eine existen-
zielle Bedrohung für die USA. Er muss sich für seine
Rolle im Sturm auf das Kapitol vom 6. Januar 2021 ver-
antworten und gegen viele damit verbundene Klagen
wehren. Trump wird behaupten: Biden ist zu alt und
zu schwach. Jeder Rivale wird sein Gegenüber als Vor-
boten des Untergangs beschreiben. Und die meisten
Parteimitglieder werden diesen konkurrierenden End-
zeit-Erzählungen glauben.
Biden kann seine „Bidenomics“ anpreisen, seine
massiven Ausgaben für die Infrastruktur loben und
seine Wohltaten für die arbeitende Bevölkerung.
Trump wird auf die Unzufriedenheit über die Inflation
verweisen. Sie hat das real verfügbare Einkommen der
Amerikaner seit dem Amtsantritt Bidens aufgezehrt.
Dazu kommt die stark gestiegene Staatsverschuldung.
Dabei würden Trumps Vorschläge die Haushaltslage
des Landes nicht verbessern. Er will die staatliche Stüt-
ze unangetastet lassen, gleichzeitig aber die Steuern
senken. Mit zehn Prozent Zoll auf alle Importe will
er zudem einen Handelskrieg mit dem Rest der Welt
anzetteln.
Beide Männer wissen: Über den Ausgang der Wahl
entscheiden die unzufriedenen Wähler aus der Arbei-
56 USA Die Welt in 2024

terklasse. Auf diese Klientel zielen ihre wirtschafts-
politischen Vorschläge – ob diese überhaupt umsetzbar
sind, ist freilich eine andere Frage.
Trump ist nie als Streber aufgefallen, wenn es um
konkrete Politik ging. Er will die Republikaner eher
aufpeitschen. Seine Wahlkampfveranstaltungen wer-
den das „amerikanische Blutbad“ beschwören, so hatte
er es schon in seiner Antrittsrede getan. Demnach zer-
störe Biden Amerika, weil der die Grenze im Süden
nicht sichert und die Kriminalität nicht eindämmt.
Und der linke Flügel seiner Partei wolle Amerika in
ein gottloses Paradies für Abtreibungsbefürworter,
Kriminelle, Diversity-Bürokraten und Transmenschen
verwandeln.
Trump hat seine Wahlniederlage 2020 nie akzeptiert
und die Mehrheit seiner Anhänger überzeugt, dass er
Opfer eines Betrugs wurde. Je mehr ihm eine Gefäng-
niszelle droht, desto extremer und zerstörerischer wird
seine Rhetorik für Amerikas Demokratie.
Die politischen Unterschiede zwischen Biden und
Trump bestehen vor allem in Bereichen, die US-Wäh-
Trump lern herzlich egal sind. Beide Kandidaten sind über-
wird die zeugte Protektionisten, doch Biden ist kein Isolationist.
Die Bewegung „America First“ hat bei den Republika-
Republikaner nern das Sagen, die Partei scheint bereit, die Finanzie-
aufpeitschen rung der Ukraine im Krieg gegen Russland zu stoppen.
In ihrer aggressiven Haltung gegenüber China ver-
suchen sich beide Parteien zu übertrumpfen. Unklar ist,
ob Trump US-Truppen zur Verteidigung Taiwans ein-
setzen würde. In Europa befürchtet man ein Ende der
zentralen Stellung der USA in der Nato.
Ob sich Biden gegen Trumps Attacken wehren
kann? Dafür bräuchte es viel Elan – der fehlt ihm
offenbar und wird bis zur Wahl wohl nicht mehr aufzu-
bringen sein. Das Biden-Lager muss hoffen, dass sich
Trump selbst besiegt. Es wird das Volk an den Sturm
auf das Kapitol erinnern, die Strafprozesse und die
unpopulären Ansichten der Republikaner zum Abtrei-
bungsrecht. Wenige Stimmen entscheiden die Wahl.
Das verstärkt die Angst in beiden Parteien. Das Ergeb-
nis ist ungewiss. Dass die US-Politik noch mehr Wut
und Resignation erzeugen wird, ist hingegen sicher. A

Auf wen 2024

zu achten ist

Alte Bekannte sind darunter und einige

überraschend wichtige Akteure

JAMES BENNET Lexington-Kolumnist,

The Economist, Washington, D. C.

F rüher elektrisierte die US-Politik mit

ihren Präsidentschaftskandidaten.
Oder sie überraschte zumindest. Man
denke an Barack Obama, gerade mal
drei Jahre nach seiner Zeit als Senator
im Bundesstaat Illinois zog er an Hillary
Clinton vorbei. Man erinnere sich an John
McCain, der die Verachtung der Konser-
vativen überwand. Da wäre der Coup
Donald Trumps im Jahr 2016. Und nicht
zu vergessen: Joe Biden. Früh abgeschrie-
ben, wegen seines hohen Alters und sei-
nen allzu moderaten Ansichten, rollte er
2020 das Feld von hinten auf.
Und 2024? Es steht das große Recycling
bevor. Präsident Biden und Ex-Präsident
Trump sind Hauptakteure eines Sequels,
auf das die meisten Amerikaner gerne
verzichtet hätten. Biden wäre mit 82 der
älteste Präsident aller Zeiten. Die Wähler
werden daher Vizepräsidentin Kamala
Harris äußerst sorgfältig prüfen.
Die Neuauflage verspricht immerhin
neue Handlungsstränge: Gerichtsverfah-
ren erhalten mehr Aufmerksamkeit als
Wahlkampfveranstaltungen. Sie könnten
sich sogar als entscheidend erweisen.
Trump, der erste jemals angeklagte Ex-
Präsident, muss sich in vier Fällen und in
vier Gerichtsbarkeiten wegen 91 Straf-
taten verantworten. In Fulton County,
Georgia, ist er wegen seiner Bemühungen
angeklagt, die Wahl 2020 zu kippen. Live
im Netz und im Fernsehen.
Fani Willis, Bezirksstaatsanwältin von
Fulton County, wird eine der wichtigsten
Akteurinnen der amerikanischen Politik.
Auch Jack Smith ist zu nennen, Sonder-
ermittler in Florida, der wegen des Ent-
wendens geheimer Dokumente Klage
gegen Trump erhob. Nicht zu vergessen
eine Klage in Washington, D. C., wegen
des Versuchs, die Demokratie zu stürzen.
Freisprüche könnten Trump zur Rückkehr
ins Weiße Haus verhelfen. Würden ihm
Verurteilungen die Tür versperren?
Es hängt davon ab, wie erfolgreich
Trump die Glaubwürdigkeit der Staats-
anwälte und des Rechtssystems generell
beschädigt. Schon jetzt diffamiert er Willis
und Smith als Bösewichte. Die zeigen sich
bislang davon unbeeindruckt, Zeugenaus-
sagen und Beweise sind ihr bester Schutz
gegen diese Attacken.
In einem Land mit einer Bevölkerung
von 340 Millionen wird eine kleine Gruppe
wahlentscheidend sein. Biden gewann die
Volksabstimmung im Jahr 2020 mit rund
sieben Millionen Stimmen Vorsprung.
Hätte er in drei Staaten 44 000 Stimmen
weniger bekommen, wäre er mit Trump
in den Wahlausschüssen gleichauf gewe-
sen. Laut überparteilichem Cook Political
Report entscheidet sich die Wahl in Arizo-
na, Georgia, Pennsylvania und Wisconsin.
Dort leben reichlich Wechselwähler. Sie
bestimmen den nächsten Präsidenten. A
Die Welt in 2024
Harte Zahlen
Die Wirtschaft ist einer
Rezession entgangen, aber noch
ist sie nicht aus dem Schneider
SIMON RABINOVITCH Redakteur US-Wirt-
schaft, The Economist, Washington, D C.
D ie amerikanische Wirtschaft lehrte die
Analysten 2023 Bescheidenheit. Vor
Beginn des Jahres prophezeiten fast alle,
das Land steuere auf schwaches Wachs-
tum zu, vielleicht sogar auf eine Rezession.
Die Logik: Die Bekämpfung der Inflation
würde zwangsläufig schmerzhaft werden.
Tatsächlich wuchs die US-Wirtschaft mit
rund zwei Prozent im Jahr, während
gleichzeitig die Inflation nachgab.
Das veranlasste viele Analysten, nun
auf düstere Prognosen zu verzichten. Für
2024 sagen sie voraus, dass die USA eine
Rezession abwenden und den Preisdruck
unter Kontrolle bekommen. Es wäre eine
sanfte Landung angesichts der Inflations-
angst der vergangenen Jahre. Doch gera-
de weil sich 2023 viele irrten, muss man
fragen: Könnten sie auch 2024 daneben-
liegen? Drei Gefahren zeichnen sich ab.
Erstens: Zinserhöhungen der Zentral-
banken kommen immer verspätet in der
Wirtschaft an. 2023 hatten Verbraucher
und Unternehmen Ersparnisse, ihr Finanz-
bedarf war begrenzt. 2024 sind die Puffer
dünner, die Zinslast ist höher. Zweitens:
Auch wenn die Federal Reserve ihre Zins-
erhöhung abgeschlossen hat, werden die
Realzinsen trotz sinkender Inflation stei-
gen. Letztlich ist die Arbeitslosigkeit zwar
immer noch niedrig, nimmt aber zu. Ist die
Konjunktur erst am Schwächeln, besteht
die Gefahr, dass sich der Trend immer
weiter verstärkt.
Dass die Inflation als Sorge schwin-
den wird, wirkt sich 2024 positiv aus. Sie
ist bereits vom Vorjahreswert von sieben
Prozent Mitte 2022 auf etwa drei Prozent
gesunken. Die letzten Meter zum Errei-
chen des Inflationsziels der Zentralbank
von zwei Prozent werden besonders hart,
fürchten viele. Vielleicht hebt die Zentral-
bank daher ihr Inflationsziel an. Die Ge-
legenheit dazu hat die Fed Ende 2024.
Alle fünf Jahre prüft sie den Rahmen ihrer
Geldpolitik, was dann wahrscheinlich
gar nicht notwendig ist.
Ein Rückgang der Mietkosten schlägt
sich bereits in den Inflationszahlen nieder.
Und so wird es 2024 weitergehen. Die
schwächere Nachfrage nach Waren wird
zusammen mit intakten Lieferketten die
Einzelhandelspreise drücken. Und was am
wichtigsten ist: In den einst extrem ange-
spannten Arbeitsmarkt kommt wieder
Bewegung. Die Zahl der Jobsuchenden
steigt, das wird zu geringeren Lohnstei-
gerungen führen. Bis Ende 2024 wird die
Inflation also wieder bei der Zielmarke von
zwei Prozent liegen. Tatsächlich werden
langsameres Wachstum und eine gezähmte
Inflation den Weg für Zinssenkungen
ebnen, vielleicht schon Mitte 2024.
Wie werden sich diese Trends auf die
Präsidentschaftswahlen auswirken? Präsi-
dent Joe Biden und die Demokraten frus-
trierte das schlechte Zeugnis, das Wähler
ihrer Wirtschaftspolitik ausstellten. Weni-
ger als vier von zehn Befragten waren mit
Bidens Wirtschaftskurs zufrieden. Dabei
hat die Regierung alles getan, um ihre
Erfolge zu preisen: die Vermeidung einer
Rezession, die geringe Arbeitslosigkeit, die
Eindämmung der Inflation sowie die För-
derung von Investitionen in grüne Energie-
träger, Infrastruktur und Industrie.
Es scheint nicht ganz fair, dass diese
Botschaften so wenig verfangen. Viele
Menschen haben jedoch noch die ersten
großen Inflationsschübe unter Biden vor
Augen. Zwar steigen die Preise nur mehr
langsam, sie liegen aber immer noch fast
20 Prozent höher als bei Bidens Amts-
antritt im Januar 2021. Das ist der stärkste
Anstieg unter einem Präsidenten seit
Jimmy Carter Ende der 1970er Jahre –
ein unheilvoller Präzedenzfall.
Für Präsident Biden ist noch nicht
alles verloren. Solange die Inflation wei-
ter zurückgeht, ist noch reichlich Zeit,
das Empfinden der Wähler zu verändern.
Die in Umfragen gemessene Konsumlust
steigt seit Mitte 2022, wobei sie im his-
torischen Vergleich immer noch niedrig
ausfällt. Haben die Experten also recht
und die USA vermeiden tatsächlich eine
Rezession, darf sich Biden vor der Wahl im
November über ein günstiges wirtschaftli-
ches Umfeld freuen. Aber die Wachstums-
risiken sprechen gegen dieses Szenario.
Die Wirtschaft könnte also für eine Wie-
derwahl eher Hindernis als Hilfe sein. A
Höhepunkt überwunden
USA
US-Verbraucherpreise
Amerikanischer Leitzins*, (Veränderung zum Vorjahr
Prozentpunkte in Prozent)
9 9
6 6
3 3
0 0
Prognose
-3 -3
2000 05 10 15 20 24
*mittlerer Wert des Zielbereichs
Quellen: Blue Chip Economic Indicators; CME Group; Haver Analytics
USA 57
Überforderte
Supermacht
Kann Amerika trotz Ukraine-Krieg und
Nahostkrise Taiwan verteidigen?
ANTON LA GUARDIA Redakteur Diplomatie,
The Economist, Washington, D. C.
A ls Joe Biden ins Weiße Haus einzog,
war seine oberste Priorität, „eine stabi-
le, berechenbare Beziehung“ zu Russland
aufzubauen und Amerikas „ewige Kriege“
im Nahen Osten zu beenden. Er wollte
sich auf die Wirtschaft im Inland und die
Rivalität mit China im Ausland konzentrie-
ren. Doch es kam anders. Russland mar-
schierte in die Ukraine ein, und die Hamas
attackierte Israel. Können die USA nun im
Notfall auch Taiwan verteidigen?
Strategen befürchten, dass sich in die-
sem Jahrzehnt ein „Fenster der Verwund-
barkeit“ im Indopazifik öffnet. Chinas
Streitkräfte werden stärker, und Amerikas
Investitionen in neue Militärausrüstung
zeigen erst in den 2030er Jahren volle Wir-
kung. Und je näher das Jahr 2027 rückt,
desto größer wird die Sorge über diese
Lücke. Denn dann erwartet Xi Jinping,
Chinas Staatschef, dass die Volksbefrei-
ungsarmee auf seinen Befehl hin in der
Lage wäre, in Taiwan einzufallen.
Ob es zu einem Krieg kommt, hängt
indes nicht nur von den militärischen Kräf-
teverhältnissen ab – auch von der Politik.
Da in den USA und Taiwan 2024 Wahlen
abgehalten werden, könnte die Phase der
erhöhten Kriegsgefahr früher beginnen.
Oft ist vom Niedergang der USA die
Rede, dabei ist Amerika ein militärischer
Koloss und für 39 Prozent der weltwei-
ten Rüstungsausgaben verantwortlich.
Aber: „Die USA sind nicht länger der
einzige Chef im Indopazifischen Ozean“,
bilanzierten etwa die Verteidigungs-
strategen Australiens im April 2023. Das
macht Amerikas Bündnisse umso wichti-
ger. Biden hat versucht, den von seinem
Vorgänger Donald Trump angerichteten
Schaden zu beheben. Die Nato ist enger
zusammengerückt, hat sich erweitert
und unterstützt geschlossen die Ukraine.
Dazu kommen die Verbündeten in Asi-
en. Japan erhöht seine Verteidigungsaus-
gaben, und die USA bauen ihre Präsenz
in Australien aus. Darüber hinaus wird
ein Netz von „Ad-hoc-Partnerschaften“
geknüpft, wie das AUKUS-Abkommen
mit Großbritannien über die Lieferung von
Atom-U-Booten an Australien. Mit Indiens
Verteidigungsindustrie gibt es einen Deal
zur Produktion von Düsentriebwerken. Die
Philippinen gewähren den USA Zugang
58 USA
zu mehreren Stützpunkten. 2024 werden
die USA dieses Netz weiter aufspannen.
Es geht um die Glaubwürdigkeit und
Leistungsfähigkeit der USA. Bidens Kriti-
ker verweisen auf den Abzug aus Afgha-
nistan im Jahr 2021, der Amerikas Feinden
Schwäche signalisierte. Andere glauben,
dass man durch eine Kürzung der Ukrai-
ne-Hilfe nicht nur Russland, sondern
auch China einen Sieg schenken würde.
Früher galt: Die US-Streitkräfte müs-
sen zwei große regionale Kriege gleich-
zeitig führen können. Nun heißt es, man
müsse einen großen Gegner bei Bedarf
schlagen und außerdem „opportunisti-
sche Aggressoren“ abschrecken können.
In Europa hat Biden die Ukraine unter-
stützt, ohne Streitkräfte zu entsenden.
Er hat Einheiten verlegt, um die Nato zu
schützen, Flugzeugträger nach Nahost
geschickt und Streitkräfte verstärkt, um
Attacken des Iran und von dessen Vasal-
len abzuwehren. Diese Unterstützung
ist billiger, als sich direkt an Kriegen zu
beteiligen – wie im Irak und in Afghanis-
tan. Zumal US-Rüstungsfirmen Probleme
haben: Sie müssen die Produktion für
Verbündete steigern und gleichzeitig die
zur Neige gehenden Lagerbestände auf-
füllen. Strategische „War Games“ deuten
darauf hin, dass die USA in einem Krieg
mit China um Taiwan innerhalb weniger
Tage ihre Antischiffsraketen aufgebraucht
hätten. Man habe ein Militär für nur einen
Krieg und eine Industriebasis für nur zwei
Wochen, sagt Kori Schake vom Thinktank
American Enterprise Institute.
Das größte Hindernis für Amerikas
Führungsanspruch in der Welt ist wohl
die dysfunktionale Politik im eigenen
Land. „America First“-Republikaner tor-
pedieren den Haushalt und wollen die
Finanzierung des Krieges in der Ukraine
stoppen. Wenn es ihnen gelingt, die Mit-
tel zu kürzen, wird es den Verbündeten
bange werden – und erst recht, wenn
Donald Trump erneut Präsident wird. A
Sicherheit oder
Freiheit?
Die Gesetze zum Datenschutz müssen
vor der Verfassung bestehen
TAMARA GILKES BORR Korrespondentin
US-Politik, The Economist
D ie US-Verfassung hindert die Regie-
rung daran, „die Meinungs- oder
Pressefreiheit einzuschränken“. Dies ist
von grundlegender Bedeutung für die
amerikanische Demokratie. Aber in den
vergangenen Jahren versuchten mehrere
Bundesstaaten, dieses Recht durch die
Regulierung der Tech-Branche infrage
zu stellen. 2024 ist zu erwarten, dass die
Technologieunternehmen ihre Verfas-
sungsrechte juristisch durchpeitschen.
Kann ein Land, das seine Meinungs-
und Pressefreiheit so stark betont, diese
Technologien überhaupt regulieren?
Schon 2000 trat ein Gesetz zum Kin-
derschutz im Internet in Kraft. Demnach
müssen Websites die Zustimmung der
Eltern einholen, bevor sie Daten von Kin-
dern unter 13 Jahren sammeln, verwenden
oder öffentlich machen. In den folgenden
20 Jahren konnten die Tech-Konzerne
uneingeschränkt ihre Innovationen voran-
treiben. Gesetzgeber beider politischer
Lager versuchen jetzt nachzubessern.
Einerseits gibt es Gesetzesvorhaben,
in denen es um Kinderschutz geht. Kali-
forniens Gouverneur unterzeichnete im
September 2022 ein entsprechendes
Online-Datenschutzgesetz. Florida und
Die Welt in 2024
Connecticut arbeiteten ähnliche Gesetze
aus, doch im September blockierte ein
Bundesrichter das kalifornische Gesetz
vorübergehend.
Staaten wie Utah und Louisiana erlie-
ßen Gesetze, die 2024 in Kraft treten sollen
und ebenfalls Kinder schützen, indem sie
mehr Zustimmung von Eltern verlangen.
Ein ähnliches Gesetz in Arkansas, das
im September 2023 in Kraft treten sollte,
wurde ebenso vorübergehend blockiert.
Andere Gesetze versuchen zu regeln,
wie Tech-Unternehmen Inhalte moderieren.
In Florida verbietet ein Gesetz sozialen
Netzwerken „Deplatforming“, also Bewer-
ber um politische Ämter auszuschließen.
Die texanische Variante würde Unterneh-
men hindern, Nutzer mit missliebigen poli-
tischen Inhalten zu zensieren. In Florida
bestätigte ein Bundesrichter das Gesetz, in
Texas wurde es blockiert.
Republikanische Generalstaatsanwälte
in Louisiana und Mississippi verklagten
2022 die Biden-Regierung. Der Vorwurf:
Sie sei zu weit gegangen, indem sie
Social-Media-Unternehmen gedrängt
habe, irreführende Inhalte über die Wahl
2020 zu zensieren. Die Verfahren laufen.
Auch um die Rechte von Kindern auf
freie Meinungsäußerung geht es. Laut
Oberstem Gerichtshof müssen Kinder
„ihr verfassungsmäßiges Recht auf Rede-
und Meinungsfreiheit nicht am Eingang
zum Schulhof abgeben“. Heißt: Sie haben
das Recht, umstrittene Bücher zu lesen.
Inhalte, die das Kindeswohl gefährden,
dürfen dennoch eingeschränkt werden.
NetChoice, eine Handelsorganisation,
der Meta, Google und andere Tech-Firmen
angehören, sagt: Die neuen Gesetze seien
verfassungswidrig. Der Verband hat meh-
rere Bundesstaaten verklagt. Mindestens
eine Klage gegen Texas und Florida wegen
der Moderation von Inhalten könnte vor
dem Obersten Gerichtshof landen. A
Die Welt in 2024
Small is
beautiful
Orte, von denen Sie noch
nie gehört haben, wachsen
am schnellsten
REBECCA JACKSON Korresponden-
tin Südstaaten, The Economist,
Washington, D. C.
B ewahrt Austins Eigenarten“
(Keeping Austin weird) –
für die Einheimischen der texa-
nischen Stadt gewinnt dieser
Slogan neue Bedeutung. Ihr Ort
wurde überschwemmt von Neu-
ankömmlingen aus dem Silicon
Valley und aus Manhattan. Die
Stadt hat sich zu einer Tech-
Metropole entwickelt. Apple,
Amazon, Google, Meta und Tesla
ließen sich dort nieder und
schufen Arbeitsplätze. Von 2010
bis 2020 wuchs die Bevölke-
rung der Metropolregion Austin
um ein Drittel auf 2,3 Millionen
Menschen. Austin zählt somit
zu den am schnellsten wach-
senden US-Großstädten.
Das Angebot an Wohnraum
konnte nicht mithalten. Es
fehlen rund 150 000 bezahl-
bare Unterkünfte für Zwei-
Personen-Haushalte. Ein-
heimische können sich die
Stadt nicht mehr leisten. Man
sieht immer mehr Obdach-
lose in der Innenstadt, dazu
kommt ein Verkehrsinfarkt.
Städte im sogenannten Sun
Belt, dem Sonnengürtel von
Charlotte bis Dallas, erlebten
im letzten Jahrzehnt enormen
E Austin heißt die Welt willkommen
USA 59
Zuzug. Angeführt wird die „neue
große Migration“ von Tausenden
schwarzen Hochschulabsol-
venten, die nach Süden ziehen.
In Georgia, North Carolina und
Texas blühen Städte wieder
auf, während sie im Nordosten,
Mittleren Westen und Westen
eher schrumpfen. Am schnells-
ten wachsen kleinere Städte.
Wie kam es dazu? Die Pan-
demie löste eine Sehnsucht
nach Kleinstadtleben aus. Dazu
die Möglichkeit, im Homeoffice
zu arbeiten. Im Jahr 2020 zo-
gen mehr Menschen in Orte mit
weniger als 30 000 Einwohnern
als in Orte mit mehr als 80 000
Einwohnern. Auch nach der
Lockerung der Maskenpflicht
hielt der Trend an. Volkszäh-
lungen bis Juli 2022 zeigen: In
kleinen Ballungsräumen im
Süden zogen auf 100 Einwohner
0,9 neu zu; in den Großstädten
im Süden waren es nur 0,6. In
Daphne, Alabama, etwa, einem
Fischerort am Golf von Mexi-
ko, gab es mehr Zuzug als in
Birmingham, wo die Bevölke-
rungszahl unverändert blieb.
2020 lockte der Regionalrat
eines Verbundes von 31 mittel-
großen Städten in Nordwest-
Arkansas Zuzügler noch mit
10 000 US-Dollar Prämie und
einem Fahrrad. Inzwischen
sind diese Anreize überflüssig.
Bei der derzeitigen Zuzugsrate
würde sich die Bevölkerung
dort bis 2045 verdoppeln.
Die Städte bauen Hotels und
Nahverkehr und schaffen so In die nächste
Runde
eine kosmopolitische Atmo-
sphäre. Im September hat der
Regionalrat 11 000 neue Stellen
ausgeschrieben. Für die einst
ruhigen Weiler des Südens
bricht ein goldenes Zeitalter an.
Die Cricket-Weltmeisterschaft
kommt nach Amerika
LEO MIRANI Korrespondent Asien,
The Economist, Mumbai
D ie USA richteten 1994 die Fußball-
Weltmeisterschaft der Männer aus,
aber nur 20 Prozent der Amerikaner wuss-
ten, dass das Turnier im eigenen Land
stattfand. Heute bezeichnet sich rund ein
Drittel der sportinteressierten US-Ameri-
kaner als „begeisterte“ Fußballfans. Das
Cricket will den liegt zweifellos auch an den WM-Erfolgen
der amerikanischen Frauenteams 2015
wichtigsten und 2019.
Sportmarkt der Drei Jahrzehnte nach dem ersten gro-
Welt erobern ßen Auftritt des Fußballs in den USA will
60 USA
Cricket den wichtigsten Sportmarkt der
Welt erobern. Im Juni 2024 werden die
USA mit den Westindischen Inseln (einem
Verbund karibischer Inselstaaten) den
Cricket­Weltcup Twenty20 ausrichten.
Ausgetragen wird die kürzeste und belieb­
teste Form des Spiels. Ein Match dauert
nur drei Stunden und nicht – wie üblich –
fünf Tage. Rund ein Drittel der 55 Spiele
wird in den USA stattfinden. Als Gast­
geber sind die USA automatisch erstmals
für den Wettkampf in der höchsten Spiel­
klasse qualifiziert. Und die Vereinigten
Staaten hoffen, dass der Sport dabei seine
„Coming­out“­Party erlebt.
Die meisten Amerikaner sehen Cricket
(nicht ganz zu Unrecht) als einen Sport
mit undurchschaubaren Regeln. Bislang
blieb er eine Nischenveranstaltung, die
nur Einwanderer und deren Kinder inte­
ressierte. Die Mehrzahl der amerikani­
schen Cricket­Spieler hat Wurzeln in Süd­
asien und der Karibik. Aber das sind rund
6,5 Millionen Menschen, also ein beträcht­
liches Publikum.
Die Major League Cricket (MLC) feierte
2023 in den USA ihr Debüt, das Medien­
echo war positiv bis leicht amüsiert. Die
MLC will ihre Events parallel zur Welt­
meisterschaft 2024 organisieren, es soll ein
„Cricket­Sommer“ werden. Der Sport soll
weiter Zulauf bekommen. Im Oktober gab
das Internationale Olympische Komitee
Auch andere Sportarten
wollen in Amerika an
Bedeutung gewinnen
zudem bekannt, dass Männer­ und Frauen­
Cricket bei den Olympischen Spielen 2028
in Los Angeles dabei sein werden.
Cricket ist nicht die einzige Sportart,
die in Amerika an Bedeutung gewinnen
will. 2022 waren die USA erstmals Gast­
geber der Leichtathletik­WM. Die nächste
Fußball­WM der Männer im Jahr 2026
wird von den USA, Kanada und Mexiko
gemeinsam ausgerichtet. 2031 kommt die
Rugby­Weltmeisterschaft erstmals in die
USA. Dass das US­Cricket­Team wohl
kaum über die Gruppenphase hinauskom­
men wird, ist nebensächlich. Ein Cricket­
Spiel vor der Skyline einer US­Großstadt
wird zwangsläufig gute Werbung sein.
Und für das US­Team bietet die Aufmerk­
samkeit, die ihre Spiele vor einem glo­
balen TV­Publikum bekommt, eine ein­
malige Chance.
Der Versuch, ein größeres Publikum
für diese Sportart zu gewinnen, hat im
Übrigen weniger mit der actiongeladenen
Twenty20­Version des Spiels zu tun als
mit der klassischen Fünf­Tage­Variante.
Es geht dabei um das langsame, aber ste­
tige Ansammeln kleinerer Siege. Ausdauer
und Entschlossenheit sind also genauso
gefragt wie Können. A
Ist Ihre Stadt
hitzefest?
Extrem hohe Temperaturen plagen
Amerikas Citys. Was lässt sich tun?
ARYN BRAUNKorrespondentin Westküste,
The Economist, Los Angeles
D er Monsun ist wieder mal spät dran.
Nur die fast biblischen Regenfälle
könnten der tagelangen Hitze von mehr
als 43 Grad Celsius etwas entgegensetzen.
Der Bürgersteig glüht. Die Krankenstatio­
nen füllen sich mit Opfern. Sogar die Kak­
teen wirken vertrocknet. Viele Menschen
wagen sich nur frühmorgens nach drau­
ßen, vor Sonnenaufgang. Den Rest des
Tages suchen sie in Räumen mit Klima­
anlage Zuflucht. Nur die Technik macht
das Leben in der Wüste erträglich.
Dieses Szenario ist keine Fiktion. Es
entspricht der Lage in Phoenix, Arizona,
im Juli 2023. Was wäre gewesen, wenn
die Klimaanlagen das Stromnetz über­
lastet hätten? Eine Studie in der Fachzeit­
schrift „Environmental Science & Techno­
logy“ legt nahe, eine fünftägige Hitze­
welle in Phoenix verbunden mit einem
Stromausfall würde mehr als 13 000 Men­
schen töten. Mehr als die Hälfte der Stadt­
bewohner müssten in einer Klinik ver­
sorgt werden. Das wäre der Worst Case.
Hitzewellen müssen nicht zu Stromaus­
fällen führen.
Aufgrund des Wärmeinseleffekts kön­
nen Stadtzentren viel heißer sein als die
Im Treibhaus
Prognostizierte Anzahl der Tage, an denen 2053 der
Hitzeindex* von 38 °C überschritten wird
WA
MT
OR
ID
WY
NV
UT
CO
CA
AZ
Los Angeles
NM
Phoenix
*gefühlte Temperatur auf Basis
von Luftfeuchtigkeit und Lufttemperatur
Quelle : First Street Foundation
Die Welt in 2024
umliegenden Gebiete. Straßen und Ge­
bäude absorbieren und speichern Wärme.
Los Angeles, Miami und Phoenix haben
Hitzebeauftragte eingestellt, um Maßnah­
men für Notfälle zu planen. 2024 werden
weitere Städte ein solches Amt schaffen
und neue Technologien einführen, etwa
Straßenbeläge, die das Sonnenlicht eher
reflektieren als absorbieren. Sie werden
mehr Schatten spendende Bäume pflanzen
und Kühlstuben einrichten. Dorthin könn­
ten sich Obdachlose flüchten, die der Hit­
ze schutzlos ausgesetzt sind.
2024 wird das Thema Hitze auch poli­
tisch heiß. In den USA gibt es keine ein­
heitlichen Hitzeschutzmaßnahmen für
Arbeitnehmer. Präsident Joe Biden hat
die Arbeitsschutzbehörde angewiesen,
nationale Regeln zu schaffen – aber das
kann Jahre dauern. Sollte Biden die Wahl
verlieren, wäre es damit wohl vorbei.
Nur fünf Bundesstaaten, alle geführt von
den Demokraten, haben entsprechende
Arbeitsschutzmaßnahmen eingeführt.
Einige Städte in republikanischen
Bundesstaaten nehmen die Angelegen­
heit selbst in die Hand. „Der Staat hat sich
überhaupt nicht wirklich mit Extremhitze
oder CO₂­Reduzierung befasst“, sagt Jane
Gilbert, die weltweit erste Hitzebeauf­
tragte aus dem Miami­Dade County in
Florida. Für sie und den Bürgermeister hat
der Umgang mit extremer Hitze Priorität.
Phoenix und Miami wissen längst,
dass die Sommer heiß werden. Der Klima­
wandel bringt aber extrem hohe Tem­
peraturen auch an Orte, die bislang von
ihnen verschont geblieben sind. Die First
Street Foundation, eine gemeinnützige
Organisation, geht davon aus, dass sich
in den nächsten 30 Jahren in den USA
ein Extremhitze­Gürtel ausbreitet (siehe
Karte). Vielleicht haben bis dahin auch
diese Orte eigene Hitzebeauftragte. A
0 1 20 40 60 80 100
keine
ND ME Daten
MN
SD WI NY
MI
NE
IA PA
IN
OH
IL
WV
KS MO VA
KY
TN NC
OK
SC
AR
MS AL GA
TX LA
FL
Miami
Die Welt in 2024
Gastbeitrag Fünf Lektionen aus dem Kalten Krieg
W egen der zunehmenden
Rivalität zwischen den
USA und China ist oft von
einem neuen Kalten Krieg die
Rede. Beide Seiten scheinen
weniger an einer Zusammen-
arbeit als an ihren Konflikten
interessiert zu sein.
Der größte Unterschied
zum ersten Kalten Krieg ist der
Ursprung der Rivalität. Nach
dem Zweiten Weltkrieg gerie-
ten die beiden Supermächte
schnell in eine Konfrontation.
Sie hatten wenig gemeinsam.
Die Sowjetunion war ein mili-
tärischer Riese, aber ein wirt-
schaftlicher Einzelgänger.
China hingegen wurde nach
1978 in die internationale Wirt-
schaft integriert, profitierte
30 Jahre von ausländischem
Kapital und Know-how. Mitt-
lerweile entwickelt es auch
eigene Innovationen, anstatt nur
geistiges Eigentum zu stehlen.
Jahrelang nagte China an
Amerikas Macht. Aufgerüttelt
hat die USA jedoch erst Xi
Jinping. Er spricht davon, die
USA technologisch übertreffen
zu wollen, und bezeichnet die
Seestraße vor Taiwan als chi-
nesisches Hoheitsgewässer.
China hat ein beeindru-
ckendes Geflecht aus Kom-
munikationsinfrastruktur,
Hafenzugängen und Militär-
stützpunkten in Staaten errich-
tet, die wirtschaftlich mit ihm
verbunden sind. Der chinesi-
sche Einfluss hat sich von einer
rein wirtschaftlichen hin zu
mehr politischer Macht ent-
wickelt. Die USA haben nur
langsam reagiert. Sie rufen
Länder zum Widerstand gegen
chinesische Investitionen auf,
bieten aber kaum Alternativen.
Allerdings zeigen sich erste
Risse in Chinas Auslandsstra-
tegie. Der Kreditgeber-Ansatz,
die Abhängigkeit von chine-
sischen statt einheimischen
Arbeitskräften und Misserfolge
bei Infrastrukturprojekten
schaffen Unmut.
Im Kalten Krieg und auch
danach bewiesen die USA,
dass sie das Leben der Men-
Militärische Stärke ist ebenso wichtig wie
Verbündete, sagen Niall Ferguson und Condoleezza
Rice von der Hoover Institution in Stanford
schen auch im Ausland ver- des Kalten Krieges. Die Leh-
bessern konnten, etwa durch ren, die sich daraus ergeben
den Marshallplan, das Peace haben, sollten wir beherzigen.
Corps, die von den USA unter- Fünf stechen heraus.
stützte „grüne Revolution“ in Erstens: Verbündete sind
der indischen Landwirtschaft wichtig. China hat eher Kun-
und die PEPFAR-Initiative zur den, die dem Land verpflichtet
Bekämpfung von HIV und sind, darunter Russland, das
Aids. Die Frage ist: Könnten durch Wladimir Putins Krieg
die USA mit einer ähnlich gegen die Ukraine auch zur
wirksamen Strategie Chinas Belastung wurde. Die USA
Fehler ausnutzen? sind gesegnet mit einem euro-
Von den 1940er bis 1980er päischen Bündnis, das durch
Jahren förderte die Hoover seine entschlossene Reaktion
Institution, an der wir beide auf Russlands Aggression
Fellows sind, die Erforschung wiederbelebt wurde, einer
erstarkten Nato und engen
Verbündeten in Asien.
Zweitens: Abschreckung
erfordert militärische Stärke,
Damit Abschreckung nicht nur Rhetorik. China hat
wirkt, muss die seine militärischen Fähigkeiten
militärische Stärke der verbessert. Zugleich haben
Rhetorik entsprechen der Ukraine-Krieg und Drohge-
USA 61
bärden um Taiwan die Schwä-
chen des Westens offenbart.
Er muss reagieren, moderne
Waffen anschaffen und sichere
Lieferketten für kritische Kom-
ponenten entwickeln. Frieden
gelingt durch Stärke.
Drittens: Wir müssen alles
tun, um einen unbeabsichtig-
ten Krieg zu vermeiden. Bis
heute profitieren wir von Kon-
takten zwischen den amerika-
nischen und russischen Streit-
kräften, um einen derartigen
Unfall zu verhindern.
Viertens: Erinnern wir uns
an George Kennan. Der US-
Diplomat in Moskau hatte
1946 in seinem „langen Tele-
gramm“ vorhergesagt, dass
die inneren Widersprüche
der Sowjetunion sie irgend-
wann schwächen würden.
China ist wirtschaftlich stärker
als damals die Sowjetunion,
weist aber viele Widersprüche
auf: eine Geldentwertung im
Immobiliensektor, eine hohe
Jugendarbeitslosigkeit und
eine desaströse Demografie.
Die letzte Lehre aus dem
ersten Kalten Krieg ist: Nichts
ist unausweichlich. Die Demo-
kratien müssen sich jedoch
mit ihren eigenen Fehlern und
Widersprüchen auseinander-
setzen, etwa mit der Zersplitte-
rung von Gesellschaften, und
die Legitimität von Institutio-
nen bewahren, die ihre Freiheit
schützen.
Demokratien wurden schon
früher von Obrigkeitsstaaten
herausgefordert, die Disso-
nanzen mit Schwäche ver-
wechselten und glaubten, die
Unterdrückung abweichender
Stimmen sei ein Zeichen von
Stärke. Die besten Anführer
im Kalten Krieg wussten, dass
ihre autoritären Rivalen im
Unrecht waren. Wenn sich die
neue Entscheider-Generation
ähnlich entschlossen zeigt,
dürfte die neue Supermacht-
Rivalität – egal ob sie in einen
zweiten Kalten Krieg mündet
oder etwas Neues bringt – zu
einem weiteren Sieg für die
freie Welt führen. A
62 Die Welt in 2024

Latein- & Nordamerika

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Rubrik:
63 Mexikanische
Demokratie
64 Blühende
Start-ups
64 Grüne
Ressourcen
65 Kanadische
Politik

den. Das entspricht 92 Prozent der Bevölkerung der

Eine libertäre Welle? Region und 90 Prozent seiner gesamten Wirtschaftsleis-

Die alte Kluft zwischen links und rechts könnte
im Jahr 2024 aufgebrochen werden
EMMA HOGAN Redakteurin Nord- und Südamerika,
The Economist
tung. Doch 2024 dürften die alten Trennlinien zwischen
links und rechts verschwinden. Die Politik in Latein-
amerika wird deutlich komplexer. Der erste Grund ist
der Aufstieg von Javier Milei in Argentinien. Der radi-
kale Libertäre, der sich selbst als „Anarchokapitalist“
bezeichnet, zog am 19. November gegen Wirtschafts-
minister Sergio Massa in die Stichwahl um das Präsi-
dentenamt. Sein überraschend deutlicher Sieg macht
Milei zum ersten bekennenden libertären Präsidenten
Lateinamerikas (und der Welt). Sein Aufstieg verlief
kometenhaft. Jetz hat er den Status quo in Argentinien,
der lange vom Linkspopulismus der Peronisten domi-
niert wurde, auf den Kopf gestellt und marktwirtschaft-
liche Ideen populär gemacht. Seine Anziehungskraft
verdankt der Ökonom auch der Tatsache, ein Außen-
seiter zu sein: Er wurde bekannt als ein TV-Faktotum
und zog erst 2021 in den Kongress ein.
Milei spricht oft populistisch. Aber seine Vorschläge
sind radikaler als die der meisten Rechtspopulisten. Er

L ateinamerika wird von linken Parteien domi-

niert. Während des Rohstoffbooms zu Beginn des
21. Jahrhunderts erlebte die Region eine „rosa Flut“,
als der Geldzufluss linke Regierungen zu staatslasti-
ger Politik und dem Verteilen sozialer Wohltaten ver-
leitete. Im zweiten Jahrzehnt setzte eine „blaue Flut“
rechter Regierungen ein wie jener von Mauricio Macri
in Argentinien und Jair Bolsonaro in Brasilien. Anfang
2023 schien eine Ära progressiver Politik anzubrechen,
weil inzwischen zwölf von 19 Ländern links regiert wer-
will die argentinische Wirtschaft dollarisieren und die
Zentralbank schließen, die öffentlichen Ausgaben um
15 Prozent des BIP kürzen sowie die der Zahl der Minis-
terien von 18 auf acht reduzieren. Er plant, innerhalb
eines Jahres ein Primärdefizit von null (vor Zinszahlun-
gen) zu erreichen. Und obwohl Milei für Freihandel ist,
befürwortet er Argentiniens Austritt aus dem Freihan-
delsabkommen Mercosur. Die Regierungen Brasiliens
und Chinas, der beiden wichtigsten Handelspartner des
Landes, schmäht er als linkslastig.
Die Welt in 2024 Latein- & nordamerika 63

Zudem werden viele der linken Regierungen 2024
mit deutlich schwächeren Mandaten auskommen müs-
sen. Etwa in Mexiko, wo im Juni gewählt wird. Claudia
Sheinbaum von der regierenden Morena-Partei wird
wohl gewinnen. Sie gilt als Favoritin von Andrés Manu-
el López Obrador, der seit 2018 als Präsident regiert und
dabei linke Rhetorik mit fiskalischem Schwindel kom-
binierte. Obwohl die meisten Mexikaner seine Bilanz in
Bereichen wie öffentlicher Sicherheit, Korruption und
Wirtschaft missbilligen, genießt er hohe Zustimmungs-
raten von über 60 Prozent. Es ist unwahrscheinlich, dass
Sheinbaum ähnlich hohe Werte erreichen könnte. Sie
wird Kompromisse eingehen müssen, mit der Opposi-
tion zusammenarbeiten und darum auch einige radika-
lere Vorhaben einschränken. Auch in Kolumbien zwei-
feln einige, ob Gustavo Petros Regierung bis zum Ende
ihrer Amtszeit im Jahr 2026 durchhalten wird. Der erste
erklärt linke Präsident des Landes hat im April 2023
sein Kabinett umgebildet, um ehrgeizige Reformen des
Steuer-, Gesundheits- und Rentensystems durchzu-
setzen. Bislang ist jedoch nur die Steuerreform in einer
Latein­ verwässerten Version verabschiedet worden. Zudem litt
Petro unter Skandalen, in die Mitglieder seiner Familie
amerika und seines Personals verwickelt waren.
wird in der In Chile hat Gabriel Boric, der Millennial-Sozial-
nächsten demokrat, der nach massiven Protesten gegen die
Zukunft ein Ungleichheit an die Macht gekommen war, wegen der
gemischtes steigenden Kriminalität und der schwächelnden Wirt-
schaft an Popularität eingebüßt. Er unterstützte auch
Bild abgeben einen Versuch, die chilenische Verfassung umzuschrei-
ben, der 2022 scheiterte. 61 Prozent der Wähler lehnten
den Entwurf in einem Referendum ab, vielen Bürgern
war er zu linksorientiert. Eine Abstimmung über einen
neuen Entwurf ist für Dezember 2023 geplant. Boric
hat fähige Politiker um sich geschart, aber der Verfas-
sungsstreit hat seine Präsidentschaft überschattet und
seine Erfolge begrenzt. Es ist daher unwahrscheinlich,
dass 2024 eine neue Welle, ob rosa oder blau, über die
Region schwappt. Stattdessen scheint Lateinamerika in
naher Zukunft ein gemischtes politisches Bild zu bieten.
Die vielleicht wichtigste Frage ist, ob andere Länder
Argentiniens Beispiel folgen werden. A

First Lady

Mexiko wählt seine erste Präsidentin

Büroleiterin Mexiko-Stadt,
SARAH BIRKE
The Economist, Mexiko-Stadt

D ie Wahlen am 2. Juni 2024 werden in

Mexikos Geschichte eingehen. Noch
nie zuvor mussten so viele Wähler so viele
Posten vergeben. Die Mexikaner werden
einen neuen Präsidenten und alle 628 Mit-
glieder beider Kongresskammern sowie
neun Gouverneure der Bundesstaaten,
mehrere lokale Parlamente und andere
lokale Ämter wählen – insgesamt 20 000
Funktionäre. Und das Spitzenamt dürfte
erstmals weiblich besetzt werden. Denn
sowohl die regierende Morena-Partei als
auch die wichtigste Oppositionskoalition
werden von Frauen geführt.
Trotz der Bedeutung dieser Wahlen
für Mexikos Demokratie finden sie unter
schwierigen Bedingungen statt. Die spal-
terische Rhetorik von Präsident Andrés
Manuel López Obrador und die Aushöh-
lung demokratischer Spielregeln haben
ihren Tribut gefordert.
So versuchte er etwa, die Autorität des
Instituto Nacional Electoral, der Wahl-
behörde, zu untergraben. Auch wenn die
Armut sank, ist die Bilanz zweischneidig:
Sozialleistungen wurden häufig einge-
setzt, um Wählerstimmen zu gewinnen,
und die Zahl der Menschen, die Gesund-
heitsdienste nutzen können, ist gar
E Favoritin für den Chefposten in Mexiko: Claudia Sheinbaum
zurückgegangen. Die Zahl der registrier-
ten Tötungsdelikte ist mit rund 30 000 pro
Jahr zwar immer noch erschreckend hoch,
aber sie ist leicht gesunken, während die
Zahl der verschwundenen Personen, also
zumeist Morde ohne Leichenfund, deutlich
auf rund 9500 pro Jahr gestiegen ist. Die
Wirtschaft ist stabil, aber López Obradors
Maßnahmen haben den Vorteil der Nähe
zu den Vereinigten Staaten zunichte-
gemacht.
Die Liste politischer Fehlentschei-
dungen ist lang, darunter die Förderung
fossiler Brennstoffe, die Stärkung der
Streitkräfte und eine schlecht geplante
Umgestaltung des Lehrplans.
Die Mexikaner erwarten von ihrem
nächsten Staatsoberhaupt, das am 1. Okto-
ber antreten wird, keine radikale Verän-
derung. Claudia Sheinbaum, die Morena-
Kandidatin, wird sich wahrscheinlich gegen
Xóchitl Gálvez von der Opposition durch-
setzen. Sheinbaum, von 2018 bis Juni 2023
Bürgermeisterin und Gouverneurin von
Mexiko-Stadt, gilt als Protegé von López
Obrador und hat zugesagt, dessen eigen-
willigen Politikmix fortzusetzen. Sie gilt
jedoch als weniger konfrontativ und deute-
te an, dass sie wirtschaftsfreundlicher und
umweltbewusster agieren könnte.
Sie muss sich auf mehr Kontrolle ihrer
Macht einstellen, es wird erwartet, dass das
Morena-Bündnis nicht wieder die absolute
Mehrheit im Kongress wie zwischen 2018
und 2021 erlangen wird. Verhandlungen
und Kompromisse werden nötig sein. Vor
und nach den Wahlen sind Turbulenzen
möglich. Kriminelle Banden bedrohen und
töten lokale Kandidaten, die eine Koopera-
tion mit den Verbrechern verweigern. A
64 Latein- & nordamerika Die Welt in 2024

Latinnovation
Immer mehr Start-ups kümmern sich
um die Probleme der Region
SARAH BIRKEBüroleiterin für Mexiko,
Zentralamerika und die Karibik,
The Economist, Mexiko-Stadt
Plattform für Gebrauchtwagen. Ihren
Gründern war aufgefallen, dass die Käufer
den Autohändlern sehr misstrauten, und
sie beschlossen, als Vermittler einzusprin-
gen. Ähnliche Plattformen gibt es auch
für Immobilien. Loft in Brasilien kauft,
renoviert und verkauft Wohnungen und
Häuser. Die Nutzer können ihre Bleibe an
Loft verkaufen oder die Immobilie auf der
Website zum Tausch oder Kauf anbieten.
Brasilien ist seit Langem das regionale
Start-up-Zentrum, gefolgt von Mexiko,
Kolumbien, Chile und Argentinien. Auch
in anderen Ländern wird es mehr Aktivi-
täten geben, da Start-ups über regionale
Grenzen hinweg expandieren.
Der brasilianische Finanzdienstleister

S tart-ups waren in den vergangenen

Jahren ein Lichtblick für Lateinameri-
ka. Die Anzahl der mit Risikokapital unter-
stützten Unternehmen hat sich zwischen
2020 und 2023 auf über 2500 mehr als ver-
doppelt, so LAVCA, ein Verband für Inves-
toren in der Region. Allein im Jahr 2021
zogen lateinamerikanische Start-ups etwa
16 Milliarden Dollar an Investitionen an,
was in etwa so viel war wie in den zehn
Jahren zuvor zusammengerechnet.
Start-up-Aktivitäten entwickelten sich
exponentiell während der Pandemie. Wie
überall wollten Lateinamerikaner im Lock-
down weiter einkaufen, Ärzte konsultieren
und in Kontakt bleiben. Viele Unterneh-
men hatten keine Onlineportale oder wenig
benutzerfreundliche. Da war es hilfreich,
dass der japanische Investmentriese Soft-
bank schon 2019 einen ersten Fonds für
Lateinamerika mit einem Volumen von fünf
Milliarden Dollar aufgelegt hatte. Andere
Fonds folgten. 2024 dürfte sich die Start-
up-Finanzierung in etwa auf Vor-Pande-
mie-Niveau stabilisieren. Aber die Anzahl
der Start-ups wird zunehmen. Viele werden
eine Risikokapital-Finanzierung erhalten,
auch von den immer zahlreicheren regio-
nalen Fonds. Lateinamerikanische Start-
ups wollen ebenso das Leben ihrer Kunden
bequemer machen – etwa durch Lieferung
von Lebensmitteln und Essen. Cornershop,
eine chilenische App, 2015 gegründet und
2020 von Uber übernommen, und Rappi,
eine kolumbianische App, haben sich
regional verbreitet. Beide offerieren nun
auch die Zustellung kleiner Pakete und
das Erledigen von Besorgungen.
Start-ups reagieren auch auf regionale
Problembereiche, etwa bei Logistik. Die
Postdienste sind mangelhaft, langsam und
zum Teil politisch unterwandert. Vieles
geht verloren. E-Commerce-Konzerne
wie Mercado Libre haben darum eigene
Vertriebsbereiche aufgebaut. Und Logis-
tik-Start-ups dürften auch bei Business-
to-Business-Lieferungen expandieren, vor
allem wenn Mexiko weiter Konzerne auf
China-Flucht anzieht.
Für viele Latinos sind zudem fehlendes
Vertrauen und Mangel an Rechtsmitteln
ein Problem. Kavak ist eine mexikanische
NuBank ist ein interessantes Beispiel. Mit
inzwischen 80 Millionen Kunden wurde er
Mitte 2023 zur viertgrößten Bank des Lan-
des und hat nach Mexiko und Kolumbien
expandiert. NuBanks Geschäftsgrundlage:
In der Region leben Millionen Menschen
ohne Bankkonto. Aber immer noch viele
Banken, die an traditionellen und teuren
Modellen festhalten.
Was 2024 weiterhin fehlen wird, ist eine
nennenswerte öffentliche Unterstützung.
Die Regierungen in der Region haben
zwar Innovationen beklatscht, aber keine
bietet im Entferntesten jenen Anschub an,
der Länder wie Israel oder Singapur zu
führenden Start-up-Hubs gemacht haben.
Bürokratie und veraltete Vorschriften
werden die Latinos weiter bremsen. Und
trotzdem werden Start-ups florieren.
Hartnäckig müssen sie sein, betonen
Start-up-Unternehmer der Region. Re-
gionale Defizite als Geschäftsvorteil zu
nutzen, darin liegen Chancen, und das
macht die lateinamerikanische Start-up-
Szene so dynamisch. A
Der Motor springt an
Lateinamerika, kumulierte Anzahl der Start-ups,
die Risikokapitalfinanzierung erhalten in Tausend
Andere
Argentinien
Kolumbien
Chile
Mexiko
Brasilien
2013 15 17 19 21
Quelle: LAVCA *Bis 30. Juni
Ressourcen als
Segen?
Lateinamerika könnte eine Vorreiterrolle
bei grüner Energie spielen
ANA LANKES Korrespondentin Latein-
amerika, The Economist, São Paulo
S eit Jahrhunderten leidet Lateinameri-
ka unter dem Fluch seiner Ressourcen.
Nie hat der Reichtum an Rohstoffen zu
einem breiten Wohlstand geführt. Doch
nun keimt Hoffnung, dass der Wandel
zu sauberer Energie den Fluch beenden
könnte. Die Region besitzt mehr als die
Hälfte des weltweit verfügbaren Lithiums
2,5 für E-Mobile, produziert mehr als ein Drit-
tel des Kupfers für elektrische Leitungen
und stellt mehr als die Hälfte des Silbers
her, das für Solarpanels benötigt wird.
2,0
Außerdem beherbergt Lateinamerika etwa
die Hälfte der weltweiten Biodiversität und
ein Viertel aller Wälder.
1,5 Die Ressourcen sind nicht nur materiell.
Bereits mehr als ein Viertel ihres Energie-
verbrauchs erzeugt die Region aus Wind,
1,0 Sonne und Flüssen, der Anteil an erneuer-
barer Energie ist doppelt so hoch wie im
weltweiten Durchschnitt. Laut der NGO
0,5 Global Energy Monitor werden bis 2030
voraussichtlich 320 Gigawatt an Solar- und
Windenergieprojekten ans Netz gehen,
0 dies wäre ein Anstieg um 460 Prozent der
Kapazität. Die Infrastruktur zur Weiterlei-
23*
tung dieser Energie wird auch ausgebaut.
2024 wird Brasilien Lizenzen für Über-
Die Welt in 2024
tragungsleitungen versteigern, deren Ein-
nahmen sich mit zwei weiteren Auktionen
im Jahr 2023 auf insgesamt 14 Milliarden
Dollar summieren könnten.
Lateinamerika könnte auch zu einem
Top-Produzenten von grünem Wasser-
stoff aus erneuerbaren Quellen werden.
Brasiliens Kongress wird in Kürze einen
Rechtsrahmen für Offshore-Windkraft und
grünen Wasserstoff verabschieden, der
Investitionen in Milliardenhöhe freisetzen
könnte.
Ein Viertel aller Projekte für grünen
Wasserstoff befindet sich bereits in Latein-
amerika, was ebenfalls Weltspitze ist.
Chile will bis 2030 den günstigsten Was-
serstoff des Planeten produzieren.
Auch bei Innovationen in der Klima-
finanzierung ist die Region führend. 2022
war Chile das erste Land der Welt, das
Anleihen mit reduziertem Zinssatz aus-
gab, wenn die Firma seine Nachhaltig-
keitsziele erreichte, und nahm damit
zwei Milliarden Dollar ein. Uruguay folgte
diesem Beispiel und nahm fast vier Milli-
arden Dollar ein. Ecuador führte 2023 den
weltweit größten Schulden-gegen-Natur-
Tausch durch. Die Einsparungen flossen
in den Schutz der Galapagos-Inseln: Der
scheidende Präsident Guillermo Lasso
bezeichnete die biologische Vielfalt als
neue „Währung“. 2024 setzt den Trend
fort, unter anderem mit einer nachhalti-
gen Anleihe in Brasilien im Wert von
etwa zwei Milliarden Dollar.
Der Kontinent wird zeigen, wie schnell
Ökonomien auf Grün umstellen können:
Im August 2023 stimmten die Ecuadoria-
ner für ein Verbot von Ölbohrungen in
einem Teil des Amazonas-Gebietes und
gaben dem staatlichen Ölkonzern ein Jahr
Zeit, den Betrieb einzustellen. Dies könnte
Ecuador, dessen Hauptexportgut Erdöl ist,
in den nächsten zwei Jahrzehnten etwa
14 Milliarden Dollar kosten. Gustavo Petro,
Kolumbiens Präsident seit 2022, hat sich
auch verpflichtet, die Ölförderung einzu-
stellen, obwohl Petroleum und Derivate
ein Drittel der Exporte ausmachen.
Doch alte Abhängigkeiten haften auch:
Brasilien und Guyana stecken viel Geld in
die Erdölgewinnung. Die Abholzung des
Regenwaldes in Bolivien und Venezuela
hat massiv zugenommen. Und für den Auf-
stieg, von der Rohstoffgewinnung bis zur
Herstellung grüner Technologien, bräuch-
te man Investitionen und Fachwissen.
Darum wird es nicht leicht, breiten Wohl-
standszuwachs zu erzielen. Aber der grüne
Wandel bietet der Region eine historische
Chance, den alten Fluch der Ressourcen in
einen Segen zu verwandeln. A
Ein Viertel aller Öko-
Wasserstoff-Projekte befindet
sich in Lateinamerika
Trump als Retter?
Bekommt Justin Trudeau
einen überraschenden Alliierten
für eine vierte Amtszeit?
JAMES YAN Ehemaliger Korrespondent,
The Economist, Vancouver
D as letzte Mal, dass ein kanadischer
Premierminister eine vierte Amts-
zeit in Folge gewann, hatte das gesamte
Land eine Bevölkerung, die kleiner war als
die des heutigen Toronto. Das war 1908.
Justin Trudeau, der seit 2015 an der Spit-
ze Kanadas steht und sich nun in seiner
dritten Amtszeit befindet, ist überzeugt,
einen weiteren Sieg erringen zu können.
Und das, obwohl er in aktuellen Umfragen
zumeist hinter der konservativen Opposi-
tion liegt. Sollte es ihm dennoch gelingen,
würde er seinen Vater Pierre Trudeau
übertreffen, der 1979 eine vierte Amtszeit
ansteuerte, aber die Wahl knapp verlor.
Trudeau junior ist dank eines Pakts,
den seine liberale Minderheitsregierung
mit einer kleineren linken Partei geschlos-
sen hat, nicht verpflichtet, vor 2025 Wah-
len auszurufen. Dennoch könnte der Pre-
mierminister versucht sein, Ende 2024 an
die Urnen zu rufen.
Dafür gibt es zwei Gründe: zunächst
die Wirtschaft. Seit 2022 hat die Zentral-
bank ihren Leitzins zehnmal angehoben,
um die Inflation zu bremsen. Das hat die
Konjunktur geschwächt und die Hypo-
Latein- & nordamerika 65
thekenzinsen erhöht. Die Wirtschaft ist im
zweiten Quartal 2023 geschrumpft. Aber
die Notenbank rechnet damit, dass das
Wachstum in der zweiten Hälfte des Jah-
res 2024 wieder anziehen und die Teue-
rung auf unter drei Prozent sinken wird
(von acht Prozent Mitte 2022): Wähler nei-
gen zu kurzem Gedächtnis.
Der zweite Grund ist eher zynisch und
bezieht sich auf die USA. Trudeau stellt
Kanada gern als Bollwerk gegen den
Populismus dar. Donald Trump dient dafür
als Folie. 2020 ergab eine Umfrage, dass
nur 14 Prozent der Kanadier für Trump
stimmen würden, wenn sie könnten. Sollte
Trump ins Rennen gehen, ist zu erwarten,
dass Trudeau die kanadischen Konservati-
ven als Brüder im Geiste hinstellt. Um dem
vorauszugreifen, hat Pierre Poilievre, der
Parteivorsitzende der Konservativen, sich
davor gehütet, in Sachen Kulturkämpfe
oder Einwanderung Streit vom Zaun zu
brechen. 2024 wird Kanada voraussichtlich
485 000 neue Einwohner aufnehmen – ein
Rekord. Doch anstatt eine Reduzierung
zu fordern, wirbt der 44-jährige Opposi-
tionsführer stolz mit Bekenntnissen pro
Einwanderung. Oft holt er seine Frau, die
aus Venezuela stammt, auf die Bühne. In
seinen Reden konzentriert er sich lieber
auf Themen wie bezahlbaren Wohnraum
und Sicherheit in den Städten. Bislang hat
er die erregbarsten Teile seiner Basis im
Zaum halten können.
Aber was südlich der Grenze geschieht,
findet immer seinen Weg nach Kanada.
Vor den US-Parlamentswahlen im Novem-
ber ist damit zu rechnen, dass Trudeau
den Schrecken des „Populismus im Nor-
den“ heraufbeschwören wird, um Stim-
men links der Mitte hinter seiner liberalen
Partei zu vereinen. Ob es klappen wird?
Ablenken tut es allemal. A
66 Die Welt in 2024

Asien
Auch in dieser
Rubrik:
67 Indiens
Technologie
68 Taiwans Wahlen
69 Zentralasiens
Bindungen
69 Energiewende
70 Nach Jokowi
71 S. Jaishankar
über Indiens
wachsenden
Einfluss

Mehr Modi
Narendra Modis wahrscheinliche Wiederwahl
macht sowohl Angst als auch Hoffnung
JEREMY PAGE Redakteur Diplomatie Asien,
The Economist, Neu-Delhi
im Amt ist, hat sich das Land von der zehntgrößten Welt-
wirtschaft zur fünftgrößten gemausert und könnte 2027
auf Platz drei aufsteigen. Zudem ist man zu einem wichti-
gen Partner bei Amerikas Politik gegen China geworden.
Aber es gibt auch anhaltende Anschuldigungen
aus dem In- und Ausland, dass Modi politische Geg-
ner unterdrückt und indische Muslime ins Abseits
drängt. Das könnte sich als kritisch für Indiens Demo-
kratie und seine Beziehungen zum Westen erweisen.
Führende Vertreter von Modis Bharatiya Janata Party
(BJP) weisen den Einwurf zurück, sie würden die indi-
sche Demokratie aushöhlen. Sie verweisen auf eine
Zustimmungsrate von 78 Prozent, die Erfolge bei der
Infrastrukturentwicklung und der Bekämpfung von
Korruption, die das Wachstum unter der Indischen
Kongresspartei, die 55 der 76 Jahre von Indiens Un-
abhängigkeit regierte, bremste. Laut der BJP stünde
ihre „Hindutva“-Ideologie nicht für die Ausgrenzung
der Muslime, sondern für die Wiederherstellung einer

A m indischen Unabhängigkeitstag im August 2023 –

seinem zehnten als Premier – verkündete Narendra
Modi, dass Indien an einem Wendepunkt stehe. Eine
neue Weltordnung ziehe infolge der Covid-19-Pandemie
herauf. Das Land jedoch sei – dank seiner „Dreifaltig-
keit“ aus Demografie, Demokratie und Vielfalt – bereit,
diese neue Ordnung zu gestalten. „In diesem von Indien
ausgehenden Licht kann die Welt Inspirationen für sich
selbst finden“, so Modi.
Es mag tatsächlich sein, dass Indien im Vorfeld der
Parlamentswahlen im Jahr 2024 an einem Wendepunkt
angelangt ist – nur nicht so, wie Modi es andeutet. Seit er
nationalen Identität, die unter der Herrschaft von
Moguln und Briten unterdrückt wurde.
Modis Gegner beschuldigen ihn, die säkulare Ver-
fassung Indiens zu untergraben. Er begünstige die Hin-
du-Mehrheit und fördere Diskriminierung und Gewalt
gegen die muslimische Minderheit. Er schikaniere Geg-
ner und Journalisten und schwäche die Unabhängigkeit
der Justiz. Außerdem gebe es weitere Missstände, etwa
verpfuschte Agrarreformen und das knappe Angebot an
guten Jobs, besonders für junge Inder.
Die Besorgnis der Opposition wurde vor Kurzem
vom Abgeordneten der Kongresspartei, Rahul Gandhi,
Die Welt in 2024 Asien 67

zum Ausdruck gebracht. Er war wegen der Verun­
glimpfung des Namens Modi im März zu einer zwei­
jährigen Haftstrafe verurteilt worden, die später vom
Obersten Gerichtshof ausgesetzt wurde. Gandhi er­
klärte: „Freie Wahlen und freie Meinungsäußerung
– all das ist heute akut bedroht. Wir kämpfen um
Indiens Seele.“
Ein Sieg der BJP ist wahrscheinlich. Bei den letz­
ten Parlamentswahlen im Jahr 2019 erhielt sie im
Unterhaus des Parlaments 303 von 542 Sitzen (rund
37 Prozent Stimmenanteil). Sie kontrolliert nun die
Zentralregierung und etwa die Hälfte der 28 indischen
Bundesstaaten sowie acht Unionsterritorien. Aber
in den reicheren südlichen Bundesstaaten muss sie
kämpfen: So verlor die BJP im Mai die Technologie­
hochburg Karnataka an die Kongresspartei.
Ihre größere nationale Herausforderung: 26 Oppo­
sitionsparteien, darunter die Kongresspartei, bildeten
im Juli die Koalition namens Indian National Develop­
mental Inclusive Alliance (INDIA). Dieser wird es aller­
dings schwerfallen, mit der wahlkampferprobten BJP
mitzuhalten, die laut Umfragen wieder die Mehrheit
gewinnen oder eine Koalitionsregierung anführen wird.
Ein Sieg So oder so könnte die BJP mit der für 2026 geplanten
der BJP ist Änderung der Wahlbezirke das politische Kräftever­
hältnis weiter verschieben. Bisher zögert der Westen,
wahrschein- Modi öffentlich zu kritisieren. Besonders Amerika
lich. Aber betrachtet Indien als Partner bei seinen Bemühungen,
sie hat in ein Gegengewicht zu China zu schaffen. Bei Modis
den reicheren Besuch in den USA im Juni ging es vor allem um Ver­
teidigungsdeals. Inoffiziell jedoch befürchten einige
südlichen westliche Politiker, dass ihre eigenen Bemühungen
Staaten zu zur Verteidigung einer regelbasierten Ordnung gegen
kämpfen China, Russland und andere Autokratien untergraben
werden, wenn sie sich nicht für demokratische Werte
in Indien einsetzen. Als Kanada im September indi­
sche Amtspersonen beschuldigte, an der Ermordung
des Sikh­Aktivisten und kanadischen Staatsbürgers
Hardeep Singh Nijjar in Vancouver beteiligt gewesen
zu sein, löste dies im Westen weitere Besorgnis aus.
Die indische Regierung bestreitet eine Beteiligung.
In seiner Rede versprach Modi, dass Indien 2047,
zum hundertsten Unabhängigkeitstag, ein Industrie­
staat sein werde. Für seine Kritiker stellt sich jedoch
nicht nur Frage, wie entwickelt, sondern auch wie
demokratisch das Land dann sein wird. A

Ctrl-Alt-Delhi eigenen Bürger aufbauen. So

Indien will seine Technologie
der E-Verwaltung in andere
Länder exportieren
Korrespondent Asien,
LeO MiRAni
The Economist, Mumbai
erfasst das IT-System Aadhaar
die Personendaten nahezu der
gesamten Bevölkerung von
1,4 Milliarden Menschen.
Transaktionen über das ein-
heitliche indische Direktzah-
lungssystem Unified Payments
Interface (UPI) haben rasant
zugenommen: von einer Mil-
liarde im Oktober 2019 zu zehn
Milliarden im August 2023.
Das Internetportal Digi-
Locker, das Dokumente wie
Führerscheine und Steuer-
unterlagen online bereitstellt,
Steuerung von DPI“ und die Billi-
gung von Plänen für ein globales
Verzeichnis von DPI-Produkten.
Multilaterale Organisationen wie
das UN-Entwicklungsprogramm
und die Bill & Melinda Gates
Foundation und andere haben
ihre Unterstützung bekundet.
Zielländer befinden sich
vor allem in Afrika und Asien.
Vernetzungen von UPI mit
den einheimischen Systemen
anderer Länder werden zu-
nehmen, insbesondere dort,
wo viele indische Migranten
leben, weil so Überweisungen
schen Technologie wird auch
zu mehr Kontrolle führen.
Einige der digitalen Systeme
Indiens, darunter die Impfda-
tenbank und das Identitätssys-
tem, erwiesen sich als anfällig
für Datenlecks. Mit dem Erfolg
des Direktzahlungssystems UPI
stellt sich für Anbieter jedoch
auch die Frage, wie sie Gebühren
erheben können, ohne Händler
und Käufer abzuschrecken.
Nicht jedes Land kann komplexe
digitale Projekte ohne teure
externe Unterstützung umset-
zen und pflegen. Indien hofft

A uf Seite 22 der 29-seitigen

Erklärung der Staats- und
Regierungschefs der G20 vom
September 2023 versteckt sich
folgender harmloser Titel, der
von den größten Volkswirtschaf-
ten der Welt gebilligt wurde:
„Technologischer Wandel und
öffentliche IT-Infrastruktur“.
Es klingt nach diplomatischem
Jargon, der jedoch ein Thema
behandelt, von dem die Welt
2024 noch viel hören wird.
Die Erklärung definiert Digital
Public Infrastructure (DPI) als
einen „Verbund gemeinsamer
digitaler Systeme, der gesell-
schaftsweite Dienstleistun-
gen ermöglicht“. Dazu zählen
etwa biometrische Identitäts-,
Zahlungs- und Datenmanage-
ment-Systeme. Indien konnte
dank seines enormen Angebots
an qualifizierten Fachkräften
im vergangenen Jahrzehnt der-
artige IT-Dienste für seine
erleichtert den Umgang mit der
lästigen indischen Bürokratie.
Von solchen Erfolgen beflü-
erleichtert werden.
Die zunehmende Sichtbar-
keit und Akzeptanz der indi-
deshalb auf Erfolge mit seiner
Technologie. Sie muss sich aber
auch als robust erweisen.
gelt, will die Regierung unter
Premier Narendra Modi diese
Technologien in andere arme
Länder exportieren und so viele
glücklich machen: Der Premier
will Indiens Einfluss ausbauen,
Diplomaten freuen sich, Sym-
pathien mit geringem Aufwand
zu gewinnen, und die Tech-Grö-
ßen sehen sich in ihren Fähig-
keiten bestätigt. Doch dafür
benötigt Indien geeignete
internationale Regelungen. Bis-
her hat es sich auf bilaterale
Abkommen verlassen – eine
eher zögerliche Vorgehensweise.
Das Gipfeltreffen bot die per-
fekte Bühne, um den Bekannt-
heitsgrad der DPI zu steigern. Zu
Indiens Erfolgen auf dem Treffen
der G20 gehörte die Annahme
eines Rahmenwerks für die
„Entwicklung, Nutzung und
68 Asien
Im Angesicht des
Drachen
Der nächste Präsident wird bestimmen,
wie Taiwan sich auf den Krieg vorbereitet
oder ihn verhindert
ALICE SU Korrespondentin China, The Economist, Taipeh
A m 13. Januar 2024 werden Taiwans Wähler sich
für einen neuen Präsidenten entscheiden. Es steht
viel auf dem Spiel, denn die Spannungen zwischen
China und Amerika könnten in den kommenden vier
Jahren einen kritischen Punkt erreichen. Xi Jinping
möchte, dass das chinesische Militär bis 2027 für eine
Invasion Taiwans bereit ist, sagt die CIA.
Taiwans nächster Präsident wird festlegen, wie er
eine Invasion der Insel verhindern will und Demokratie
und Unabhängigkeit erhalten bleiben.
Die wichtigsten Parteien Taiwans – die regierende
Demokratische Fortschrittspartei (DPP) und die oppo-
sitionelle Kuomintang (KMT) – haben gegensätzliche
Strategien zu ihren China-Beziehungen entworfen. Die
für die Unabhängigkeit eintretende DPP befürwortet
die Stärkung der Beziehungen zu Amerika und seinen
Verbündeten und setzt auf Abschreckung durch höhere
Militärausgaben und Reformen.
Die KMT verspricht, Spannungen durch den Dia-
log mit China abzubauen – auf der Grundlage, dass
die Gebiete beiderseits der Meerenge zu einem Land
vereinigt werden. Während es für die KMT um eine
Entscheidung von „Frieden oder Krieg“ geht, spricht
die DPP von einer Wahl zwischen „Demokratie oder
Autokratie“. Beide Parteien behaupten, der Wahlsieg
des jeweils anderen werde zum Untergang Taiwans
führen.
Chinas Präferenz ist klar. Die Kommunistische Par-
tei bezeichnet die DPP als „Separatisten“ und hat eini-
ge ihrer führenden Mitglieder mit Sanktionen belegt.
In den vergangenen acht Jahren der DPP-Regierung
hat Peking seine Nadelstiche gegen Taiwan stetig
ausgeweitet: Aggressionen, die noch nicht als kriege-
rische Handlungen zu werten sind, aber Taiwans Ver-
teidigungsmöglichkeiten ausloten: Cyberangriffe etwa,
Desinformation und Verletzungen des taiwanischen
Luftraums. Sollte der Kandidat der DPP, William Lai,
im Januar gewinnen, könnte China mit ähnlichen
Machtdemonstrationen reagieren oder gar eine längere
Blockade erzwingen, Taiwans Internet stören oder
weitere Krisen in der Straße von Taiwan verursachen.
WAS WÄRE, WENN …?
Imran Khan wurde als pakistanischer Premierminister
durch ein Misstrauensvotum im Jahr 2022 abgesetzt. Er
wurde 2023 wegen Korruption zu drei Jahren Gefängnis
verurteilt und für fünf Jahre aus der Politik verbannt.
Viele Mitglieder seiner PTI-Partei wurden im Vorfeld
Die Welt in 2024
E Man kann nur hoffen, dass es nicht zu einem Kampf an den Stränden kommen wird
Ein Sieg der China-freundlichen KMT könnte kurz-
fristig die Spannungen verringern. China könnte dann
die Verbote für taiwanische Agrarprodukte aufheben
und so der KMT ermöglichen, ihren Wählern bessere
China-Beziehungen schmackhaft zu machen. Chinas
militärische Aufrüstung würde jedoch weitergehen –
ebenso wie seine Entschlossenheit, Taiwan, wenn es
sein muss, auch mit Gewalt zu erobern.
Ein Sieg der KMT birgt die Gefahr, dass sich Taiwan
in falscher Sicherheit wiegt – gerade wenn es sich am
drängendsten auf einen möglichen Krieg vorbereiten
muss. Der KMT-Kandidat Hou Yu-ih sagte, er setze
sich für die gegenwärtigen und zukünftigen Verteidi-
gungsbemühungen Taiwans ein. Auch unterstütze er
die jüngste Reform der Wehrpflicht, die 2024 von vier
Monaten auf ein Jahr verlängert werden soll. Der DPP
warf er vor, Spannungen mit China zu schüren, und
meinte, ein KMT-geführtes Taiwan müsse sein Militär
nicht verstärken, denn es würde nicht mehr von China
Ein KMT-Sieg bedroht werden – verlockend, aber unwahrscheinlich.
könnte Tsai Ing-wen (DPP), Taiwans derzeitige Präsidentin,
hat eine ernstere und realistischere Botschaft für ihr Volk:
Spannungen Um Krieg zu verhindern, müssten sie sich alle gemeinsam
vorüberge- auf ihn vorbereiten. Ob die taiwanischen Wähler dazu
hend lockern bereit sind, wird sich nach den Wahlen 2024 zeigen. A
der Wahlen im Januar verhaftet. Und wenn die PTI die
Wahl gewinnt? Die Absetzung von Khan durch hoch-
rangige Generäle hat ihn zum Helden gemacht, weil die
Menschen des wirtschaftlichen und sozialen Chaos
und der Einmischung des Militärs überdrüssig sind.
Ein Sieg der PTI wäre bei den Generälen unpopulär. Sie
würden wohl versuchen, erneut zu intervenieren.
Die Welt in 2024 Asien 69

Das Buhlen um Russlands in die Ukraine zweimal mit den

fünf Staatsführern. Die grüne Hand
die Stans der Freundschaft
Kasachstan – lange Zeit nah am Kreml
– fühlt sich an seiner langen Grenze zu
Russland besonders verwundbar und wird
für westliche Angebote äußerst empfäng-
lich sein.
Die Interessen Chinas, Europas und
Zentralasiens überschneiden sich bei der Mit der Energiewende könnten
Förderung des Mittleren Korridors: Auf neue und unerwartete Beziehungen
Kann Zentralasien seine Beziehungen dieser Route von China nach Europa – an
in der Region entstehen
zu Russland zurückfahren? Russland vorbei – ist der Handel infolge
des Kriegs explodiert. Künftig sollen die
Verkehrsverbindungen weiter ausgebaut DOMINIC ZIEGLER Banyan-Kolumnist,
Freie Korrespondentin,
JOANNA LILLIS werden. Auch die Beziehungen zur arabi- The Economist, Singapur
The Economist, Almaty schen Welt werden ausgeweitet.

R usslands Ukraine-Krieg hat seine

traditionellen Verbündeten im post-
Einige Abhängigkeiten sind allerdings
dauerhaft: Bei den Geldüberweisungen
von Arbeitsmigranten in ihre Heimat sind
K onzentriert man sich nur auf Chinas
Konflikt mit den USA, läuft man
Gefahr, andere, besonders für die asiati-
sowjetischen Zentralasien verunsichert. Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan schen Länder wichtige Veränderungen zu
Diese Länder sind formal durch Politik, auf Russland angewiesen. Auch die ener- übersehen. Die größte von ihnen betrifft
Wirtschaft und Energielieferungen an giepolitischen Bande werden fortbestehen: die Energiewende in der Region. 2024
Moskau gebunden, aber auch über Fami- Kasachstan exportiert über 90 Prozent könnten die wachsenden Verflechtungen
lien, Kultur und Sprache. Sie beobachten seines Erdöls über Russland und strebt ein untereinander dazu führen, dass die Län-
den Überfall auf einen anderen ex-sowje- Abkommen über Gasimporte an; Usbekis- der Asiens ihren Umgang – vielleicht auch
tischen Nachbarn mit Argwohn. tan hat ein solches bereits unterzeichnet. gegenüber China – neu definieren.
Die fünf zentralasiatischen Republiken, Das Sanktionsrisiko wird hoch blei- Ein Beispiel dafür sind die schnell
bekannt als „Stans“ (siehe Karte), beken- ben. Weil zentralasiatische Staaten als wachsenden Volkswirtschaften Südost-
nen sich in diesem Krieg zur Neutralität Zwischenhändler für viele Waren dienten, asiens, deren Energiebedarf bis 2050
und verweigern Russland bis auf wenige blühte der Handel mit Russland. Usbeki- voraussichtlich um ein Drittel steigen wird.
Ausnahmen diplomatischen Beistand. Das sche und kirgisische Firmen wurden bereits Dennoch haben diese Länder zugesagt,
wird auch 2024 so bleiben. wegen Sanktionsumgehung bestraft. West- ihre Emissionen nahezu auf null zu redu-
Bleiben wird jedoch auch die Bezie- liche Bemühungen, Zentralasien zur Ein- zieren. Eine große Aufgabe, zumal die
hungspflege zu anderen Partnern – vor haltung der Sanktionen gegen Russland zu erneuerbaren Energien bisher nur 15 Pro-
allem zu China. Staatspräsident Xi Jin- bewegen, werden 2024 zunehmen. zent der Stromerzeugung in Asien aus-
ping war 2023 Gastgeber des ersten Die Lage in Zentralasien zeigt, dass machen. In Indonesien, Malaysia und auf
Gipfeltreffens zwischen China und Zen- Russlands Einmarsch in der Ukraine seine den Philippinen dominiert noch die Kohle.
tralasien. Auch Präsident Joe Biden hat Alliierten verunsichert hat: Sie werben um In der Region steckt jedoch großes
es sich nicht nehmen lassen, die zentral- alternative Partner und werden von ihnen Potenzial für die Erneuerbaren. Vor allem
asiatischen Staats- und Regierungschefs umworben. Doch sind die jahrhunderte- in Laos wird die Wasserkraft des Mekong
in Washington zu ihrem ersten Gipfel mit lang gewachsenen Bindungen der Region bereits stark genutzt. Für den mächtigen
einem amerikanischen Präsidenten zu an Russland nicht zu unterschätzen. Aus Fluss bedeutet dies allerdings eine ökolo-
begrüßen. der wichtigen Gegend wird sich der Kreml gische Belastung. Die zwischen Indonesien
Charles Michel, Präsident des Europäi- nicht zurückziehen. Sein Einfluss dort wird und Malaysia aufgeteilte Insel Borneo bie-
schen Rates, traf sich seit dem Einmarsch auch im Jahr 2024 ungebrochen sein. A tet ebenfalls ein großes Wasserkraftpoten-
zial. Diese Energiequellen befinden sich
Ausgewählte Eisenbahn- jedoch weit entfernt von den wichtigsten
und Transportstrecken Industrie- und Ballungszentren der Region.
Warschau Minsk
Moskau Mittlerer Korridor Folglich sind Fernleitungs- und grenz-
RU SS LA N D überschreitende Energieverbundnetze
WEIßRUSSLAN D Sonstige
Vorgesehene Verbindungen erforderlich. Europas Netz mit über 400
Jekaterinburg
Verbindungsleitungen ermöglicht enorme
Kiew Nowosibirsk Einsparungen, da Bedarf und Kapazität
genau zusammengebracht werden. Eine
UKRAINE bessere Vernetzung in Südostasien könnte
die Preise für saubere Energie senken und
Astana die Energiewende beschleunigen. Zudem
könnte der Aufbau eines Supernetzes in
KASACHSTAN
Istanbul einer von strammem Nationalismus und
Schwarzes
Meer rridor bürokratischer Trägheit geprägten Region
rer Ko
Mittle die Kooperationskultur fördern.
GEORGIEN Es findet ein Stimmungsumschwung
TÜRKEI US
Mersin BE statt – teils infolge höherer Kohlenwasser-
Almaty
ARMENIEN stoffpreise, teils weil sich die Netztech-
KIS

Bischkek
TA

ASERBAIDSCHAN Baku Taschkent KIRGISIEN nologie rasant entwickelt hat. Auf Bali
N

TUR
Kaspisches KME wurden im August zahlreiche Vereinba-
SYR IEN NIS
Meer TA N CHINA
IRAN Duschanbe rungen über die Zusammenführung der
Aschgabat
IRAK Teheran TADSCHIKISTAN 500 km
Netze unterzeichnet. In einem aussichts-
reichen Pilotprojekt schickt Laos jetzt
70 Asien
Strom über Thailand und Malaysia nach
Singapur. Dieser Inselstaat mit wenig
Platz für eigene Energieprojekte führt
derzeit Gespräche mit dem malaysischen
Bundesstaat Sarawak über ein Untersee-
kabel ab Borneo. Seekabel werden auch
nach Kambodscha und zu den geplanten
Solarparks auf den nahen indonesischen
Inseln erwogen. All dies könnte künftig
rund ein Drittel von Singapurs Strom-
bedarf decken.
Solche Projekte können den regiona-
len Zusammenhalt stärken – ein Segen
in einer Zeit von Großmachtturbulenzen.
Energieprojekte entpuppen sich womög-
lich auch als wertvolle Gegengewichte zu
einem oft dominanten China.
Australien verfügt dank reichlich Sonne
und Wind über das Potenzial für grünen
Wasserstoff. In Westaustraliens Pilbara-
Region werden derzeit Pläne für ein rie-
siges Zentrum für erneuerbare Energien
entworfen. Japan und Südkorea sind an
der Förderung von Wasserstoff und Ammo-
niak interessiert. Nach der Beseitigung
technischer Anlaufprobleme wird es die
drei demokratischen Partner einander
näherbringen.
Diese Art von Überlegungen spielen
auch bei den Versuchen Australiens und
anderer USA-orientierter Länder eine Rol-
le, Chinas Kontrolle bei der Versorgung
und der Verarbeitung von seltenen Erden
und Mineralien zu lockern, die für erneu-
erbare Technologien unerlässlich sind. In
der Mongolei, eingeengt zwischen den
Nachbarn China und Russland, plädieren
manche dafür, die dortige Fülle an selte-
nen Erden zu nutzen, um sich westlichen
Mächten anzunähern.
Chinas Vormachtstellung jedoch
bleibt als größter Exporteur von Solar-
zellen, Lieferant für E-Auto-Batterien und
Verarbeiter wichtiger Mineralien beste-
hen. Für die im Schatten Chinas stehen-
den Ländern Asiens bieten sich dennoch
attraktive Chancen. Die werden sie im
kommenden Jahr ergreifen. A
Nach Jokowi
Die Führung wird sich ändern,
die Politik wahrscheinlich eher nicht
SUE-LIN WONG Korrespondentin Südost-
asien, The Economist, Singapur
I ndonesiens Präsident Joko Widodo be-
endet seine zehnjährige Amtszeit auf
ihrem Höhepunkt. Dank einer unermüd-
lichen Imagepflege und des starken Wirt-
schaftswachstums ist er der beliebteste
Staatschef seiner Region: Seine Popu-
larität liegt Umfragen zufolge bei rund
80 Prozent. Das bedeutet wiederum, dass
Jokowi, wie ihn alle nennen, maßgeb-
lich mitentscheiden wird, wer der nächste
Staatschef wird, wenn die drittgrößte
Demokratie der Welt im Februar 2024
zur Wahlurne geht.
Prabowo Subianto, der aktuelle Ver-
teidigungsminister, führt die Umfragen
an, dicht gefolgt von Ganjar Pranowo.
Beide müssen nicht nur um Wähler wer-
ben, sondern auch um Jokowi. Und beide
kündigten an, seine Politik fortsetzen zu
wollen. Dazu gehören die Entwicklung
der boomenden indonesischen Nickel-
industrie sowie andere ehrgeizige Infra-
strukturprojekte.
Obwohl Jokowi sich noch nicht offi-
ziell entschieden hat, welchen Kandida-
ten er unterstützt, glauben viele, dass es
Prabowo sein wird. Das offensichtlichste
Zeichen dafür war, dass Jokowis ältester
Sohn, Gibran Rakabuming, als Prabowos
Die Welt in 2024
Vizepräsidentschaftskandidat ausgewählt
wurde, nachdem das Verfassungsgericht,
dessen Vorsitzender Jokowis Schwager
ist, entschied, dass eine Ausnahme von
der Regel gemacht werden kann, dass der
Kandidat nicht jünger als 40 Jahre sein
darf. Gibran war dabei der einzige im
Rennen unter 40.
Die beiden favorisierten Präsident-
schaftskandidaten sind sehr unterschied-
lich: Prabowo ist Anführer der Gerindra-
Partei, der drittgrößten im Parlament.
Er verlor 2014 und 2019 gegen Jokowi,
erkannte das jeweilige Wahlergebnis
jedoch nicht an. Dem Ex-General werden
seit Langem Menschenrechtsverletzungen
in den 1980er und 1990er Jahren vorge-
worfen, die er abstreitet.
Viele Indonesier kennen oder interes-
sieren sich nicht für Prabowos Vergan-
genheit. Er erhält starke Unterstützung
aus der Mittelklasse. Der für seine hitzige
Persönlichkeit bekannte Prabowo kriti-
sierte Jokowis zurückhaltenden Stil, um
so Wähler für sich zu gewinnen.
Ganjar, ein ehemaliger Gouverneur von
Zentraljava, hat den Rückhalt von Jokowis
Partei PDI-P. Er kann zehn Jahre Erfah-
rung in der Schlüsselprovinz Zentraljava
vorweisen, wo er beliebt ist. Außerdem
stellte er ausgefeiltere Konzepte als jeder
andere Bewerber vor. Der dritte Kandidat,
der in Umfragen jedoch zurückliegt, ist
Anies Baswedan, ein ehemaliger Gouver-
neur von Jakarta und früherer Bildungs-
minister. Sowohl Ganjar als auch Anies
haben Vizepartner aus rivalisierenden
Fraktionen der muslimischen Organisation
Nahdlatul Ulama ausgewählt, die angeb-
lich 100 Millionen Mitglieder hat.
Umfragen legen nahe, dass niemand
den ersten Wahlgang für sich entscheiden
wird. Bei Wahlen geht es meist mehr um
Persönlichkeiten als um politische Inhalte.
Aber wer auch immer gewinnt, Kontinuität
ist wahrscheinlicher als großer Wandel. A
Die Welt in 2024
Gastbeitrag Indiens wachsender Einfluss
I m Rückblick auf das Jahr
2023 sind die indische
G20-Präsidentschaft oder die
Mondmission wichtige Errun-
genschaften. Sie tragen zu
der – aufgrund des schnellen
Aufschwungs nach Covid-19
und des robusten Wachstums –
guten Stimmung im Land bei.
Unter seinem G20-Vorsitz
hat sich Indien wieder den
Herausforderungen von
Wachstum und Entwicklung
zugewandt: Es entstanden ein
Aktionsplan zu nachhaltiger
Entwicklung, ein Pakt für grü-
ne Entwicklung, eine Reform
der international arbeitenden
Finanzinstitutionen und die
Förderung der digitalen öffent-
lichen Infrastruktur. Dazu kam
die Förderung von frauenge-
führten Entwicklungsprojek-
ten. Indiens Einberufung eines
Gipfeltreffens des globalen
Südens war Auftakt zur stän-
digen G20-Mitgliedschaft der
Afrikanischen Union.
In den vergangenen zehn
Jahren hat der „Nachbar-
schaft zuerst“-Ansatz neue
Verbindungen und Kontakte
hervorgebracht. Die schnelle
Reaktion Indiens auf Sri Lan-
kas Wirtschaftskrise förderte
Vertrauen. Indiens Konzept
der „erweiterten Nachbar-
schaft“ wirkte im ASEAN-
Staatenverbund (Vereinigung
südostasiatischer Nationen), in
der Golfregion, in Zentralasien
und am Indischen Ozean bis
hin zur Karibik.
So demonstrierte Indien,
wie die Ost-West-Polarisierung
um die Ukraine überwunden
und das Nord-Süd-Entwick-
lungsgefälle überbrückt wer-
den kann. Zweifellos haben
die Auswirkungen der unglei-
chen globalen Entwicklung,
der Covid-Pandemie, des Ukra-
ine-Konflikts, der Großmacht-
streitigkeiten, der Klimakrise
und jetzt auch der Gewalt im
Nahen Osten die Welt unbe-
ständiger und unberechen-
barer gemacht. Unter solchen
Umständen Erfolge zu erzielen
erfordert eine agile und viel-
Indiens Außenminister S. Jaishankar:
Mein Land spielt international eine immer
wichtigere Rolle
seitige indische Diplomatie.
So wurden die gemeinsamen
Interessen in der Quad-Grup-
pe, im indopazifischen Wirt-
schaftsrahmen und in der Er-
weiterung der BRICS-Gruppe
sichtbar.
Aber: Die Bekämpfung
des Terrorismus ist noch nicht
abgeschlossen. Auch die
Beziehungen zu China können
sich erst mit der Wiederher-
stellung von Frieden und Ord-
Wir stehen für eine
diversifizierte,
demokratische, faire
und marktorientierte
Re-Globalisierung
nung in den Grenzgebieten
sowie der uneingeschränkten
Achtung bestehender Einfluss-
gebiete normalisieren. Inzwi-
schen bemühen sich Regierun-
gen weltweit um den Abbau
ökonomischer Überkonzentra-
tion. Die Einbindung in zuver-
lässige Lieferketten wurde
daher zu einem zentralen Ziel
Indiens. Auch im digitalen
Bereich ist die Wahrung von
Vertrauen und Transparenz
unerlässlich. Indien bereitet
sich auf eine Ära künstlicher
Intelligenz und neuer Ein-
flussmöglichkeiten vor. Eine
auf grünes Wachstum und
nachhaltige Entwicklung aus-
gerichtete Welt würdigt nun
Indiens Beitrag dazu. Kürzlich
hat Indien die Internationale
Asien 71
Solarallianz und die Koalition
für eine katastrophenresistente
Infrastruktur angeregt und
dabei ein globales Netz für
erneuerbare Energien und eine
Nutzung von Hirse zur Ernäh-
rungssicherung vorgeschlagen.
Indiens Einsatz für erneuer-
bare Energien und den spar-
samen Energieverbrauch ist
bemerkenswert. Die Initiative
Mission LiFE (Lifestyle for
Environment) von Premier-
minister Modi zielt darauf ab,
das Wohlergehen des Planeten
durch Veränderungen in unse-
rem Lebensstil zu verbessern.
Indiens wachsende Bedeu-
tung im Ausland beruht auch
auf den Veränderungen im
eigenen Land. Die Pandemie
führte zu tiefgreifenden Refor-
men im Bereich der öffentli-
chen Gesundheit. Der Aufbau
einer breit angelegten digita-
len Infrastruktur veränderte
die Bereitstellung von sozio-
ökonomischen Leistungen
und öffentlichen Diensten.
Auch die Staatsführung hat
sich seit 2014 gewandelt – zur
Erleichterung des Geschäfts-
verkehrs und Erhöhung der
Lebensqualität.
All dies wird nun durch
eine landesweite Infrastruk-
turinitiative, eine verbesserte
Kompetenzentwicklung und
die Förderung von Innovatio-
nen und Start-ups gestützt.
Die Festigung der indi-
schen Demokratie führt zu
einer soliden Politik. Bei aller
Wertschätzung von Tradition
und Kulturerbe sind die Fort-
schritte der letzten Dekade
gleichermaßen Ausdruck
technologischer und moderner
Entwicklungen. Indien ist
heute ein Land der bargeld-
losen Zahlungen, der 5G-Net-
ze, Mondlandungen und digi-
talen Lieferdienste. Es geht
auch um die politische Vertre-
tung von Frauen und darum,
„niemanden zurückzulassen“.
Es ist jetzt eine selbstbewuss-
tere, fähigere und flexiblere
Gesellschaft. Es ist ein neues
Indien.
72 Die Welt in 2024

CHINA
Auch in dieser
Rubrik:
73 Ende des Weges?
74 Xi und die
Ja-Sager
75 Chinas Wirtschaft
76 Die Sorgen
ausländischer
Firmen
76 Unzufriedene
Jugend

geschehens zu verdrängen. Angesichts der Verlang-

Der unerklärte samung des weltweiten Wachstums, auch in China,
werden Politiker in Peking den Westen beschuldigen,

Kalte Krieg protektionistische Schranken für den freien Handel zu

Die Herrscher der Kommunistischen Partei
Chinas werden die Spaltung der Welt ausnutzen –
und Harmonie predigen
DAVID RENNIE Büroleiter Peking, The Economist, Peking
errichten, mit denen sie die Zukunft der Globalisierung
gefährden.
Im Rahmen ihres zweiten Ziels werden die chine-
sischen Machthaber ihr Land als Bewahrer des Sta-
tus quo positionieren. China soll als Verfechter der
„Grundprinzipien“ der bestehenden Weltordnung –
wie sie in der Charta der Vereinten Nationen verankert
sind – angesehen werden. Pekings selektive Lesart
der UNO-Dokumente legt den Fokus auf die Artikel,
die die Unverletzlichkeit souveräner Staaten betonen,
und spielt diejenigen herunter, die individuelle Rech-
te garantieren. Chinesische Politiker werden ihr Land
außerdem als Unterstützer der Welthandelsorganisa-
tion positionieren oder zumindest derjenigen Regelun-
gen, die China nach seinem WTO-Beitritt im Jahr 2001

I m Jahr 2024 wird China zwei widersprüchliche Ziele

ins Visier nehmen. Xi Jinping wird einerseits versu-
chen, diejenigen Länder um sich zu scharen, die einer
von den USA dominierten Weltordnung skeptisch
gegenüberstehen. Während Chinas Machthaber sich
also auf eine Ära der Spaltung und des Wettstreits der
Großmächte vorbereiten, möchten sie sich gleichzeitig
als Verfechter der globalen Einheit präsentieren.
Mit Blick auf ihr erstes Ziel wird die chinesische
Führung die USA und ihre Verbündeten beschuldigen,
einen neuen Kalten Krieg zu schüren. Sie wittern
die Chance, den Westen aus dem Zentrum des Welt-
den Zugang zu attraktiven Märkten gewährt haben.
Diese beiden Zielbotschaften verwischen und über-
schneiden sich gelegentlich. Da die wohlhabendere
Welt immer noch über ein für China notwendiges
Know-how verfügt, muss die chinesische Führung
Abneigung gegenüber dem Westen gelegentlich
leugnen. Möglicherweise wird sie eine Kooperation
beim Klimawandel und anderen globalen Anliegen
anbieten – allerdings nur, wenn Amerika und seine
Verbündeten „feindselige Handlungen“ wie die Ver-
urteilung chinesischer Rechtsverletzungen oder die
Kontrolle des Halbleiterexports einstellen.
Die Welt in 2024 China 73

Ein schwieriger Balanceakt. Wegen des Krieges in
der Ukraine und der Präsidentschaftswahl in Amerika
wird er zusätzlich schwieriger. Bei Treffen mit Staats-
und Regierungschefs aus Afrika und Südasien werden
Chinas Politiker die hohen Lebensmittel- und Energie-
preise westlichen Sanktionen zuschreiben. Amerika-
nischen Waffen- und Energieunternehmen werden sie
vorwerfen, sich auf Kosten der Europäer zu bereichern.
China wird weiterhin seine Neutralität im Ukraine-Kon-
flikt wie auch im Nahen Osten beteuern und zugleich
seine Beziehungen zum Regime Putins vertiefen, der als
lästiger, aber unverzichtbarer Partner angesehen wird.
Ein isoliertes Russland, das gezwungen ist, sich von
den Märkten in Europa abzuwenden, und sich nach
Osten orientiert, kommt China zugute. Peking ist bereit,
verstärkt Öl, Gas und Waffen zu kaufen und mit seinem
eigenen, nicht konvertierbaren Yuan zu bezahlen. Der
Einfluss in Zentralasien oder der Arktis kann ausge-
weitet werden – ohne Russlands Veto. Sollte es 2024 zu
Verhandlungen über die Beendigung des Ukraine-Krie-
ges kommen, wird China als Friedensstifter auftreten.
Unterstützt wird Xi dabei von der ukrainischen Regie-
rung, die möchte, dass China als Garant für eine mögli-
che Einigung mit am Tisch sitzt. In solchen Gesprächen
Der Ukraine- würde China als kühler Realist auftreten. Einen russi-
Krieg: Chance schen Anspruch auf die gesamte Ukraine wird Xi nicht
billigen. Da China behauptet, Wert auf den Grundsatz
und Risiko der territorialen Integrität zu legen, hat es auch die russi-
für China sche Annexion der Halbinsel Krim im Jahr 2014 nie aner-
kannt. Stattdessen wird das Land betonen, die „legitimen
Sicherheitsbedenken“ Russlands zu berücksichtigen.
Und anbieten, beim Wiederaufbau der Ukraine zu helfen.
Die amerikanischen Wahlen im November stellen
Peking vor ein Dilemma: Der dysfunktionale Politik-
stil der USA stärkt das chinesische Argument, der
Westen sei im Niedergang begriffen. Ein wilder US-
Wahlkampf birgt Gefahren, da sich die Kandidaten
in Sachen China gegenseitig übertrumpfen wollen.
Xis größte Hoffnung ist wohl, dass die amerikanische
Demokratie bei den Wahlen 2024 schlecht aussieht –
und China dabei weitgehend ignoriert wird.
Die gemeinsame Abneigung gegen den Westen
ist die Kraft, die China mit seinen engsten Partnern
verbindet. Eine zu deutlich werdende Verachtung
könnte jedoch negative Folgen für das Land haben.
Die Staatskunst der Xi-Ära zeichnet sich nicht gerade
durch Feinfühligkeit aus, und im kommenden Jahr
wird sie auf eine harte Probe gestellt. A

Mehr Message, dung armer Länder beigetragen hat. In den

ersten zehn Jahren legten die chinesischen
Teil des Plans nun genauso wichtig wer-
den könnte wie der wirtschaftliche.

weniger Geld
Kreditgeber wenig Wert auf Aspekte wie
Menschenrechte, Korruption und Risiko-
bewertungen. Die Geschäfte wurden oft
im Geheimen abgewickelt und endeten in
Investitionsruinen. Wenn Schulden restruk-
turiert werden mussten, übernahm China
das meist hinter verschlossenen Türen und
Xi Jinpings Angebot an die armen düpierte so andere beteiligte Länder.
Währenddessen sind die chinesischen
Länder ändert sich
Banken über das Ausbleiben verlässlicher
Rendite aus ihren Investitionen enttäuscht.
ROGER MCSHANE Ressortleiter China, Doch statt sein Projekt aufzugeben, was
The Economist einige westliche Länder erwartet hatten,
versucht Xi nun, es nachhaltiger zu gestal-
Vielleicht wird weniger Beton gegossen,
aber Chinas Absicht, die Führung im glo-
balen Süden zu übernehmen, ist ungebro-
chen. Egal wie reich China wird – der Sta-
tus als Entwicklungsregion wird bleiben,
so Xi. „Wir werden weiterhin alles daran-
setzen, die Vertretung und die Stimme der
Entwicklungsländer im globalen System
zu stärken.“ Das mag harmlos klingen,
aber Xis Botschaft hat eine tiefere Bedeu-
tung. Er will arme Länder für seine eigene
Vision der Weltordnungspolitik gewinnen.
Chinas Anspruch hat er in diversen neuen
Vorschlägen zur Außenpolitik, wie der

K urz nach seiner Machtübernahme im

Jahr 2012 sprach sich Xi Jinping für
die Wiederbelebung der Seidenstraße aus,
dem historischen Netz von Handelswegen
zwischen Ost und West. Niemand ahnte,
dass sich diese Überlegungen zu Xis prä-
gender Außenpolitik auswachsen würden.
In den Folgejahren verlegte China Tau-
sende Kilometer an Asphalt, goss ein Meer
von Beton und baute Häfen und Pipelines
rund um den Globus. 2023 feierte das
Land den zehnten Jahrestag der als „Belt
and Road Initiative“ (BRI) bekannt gewor-
denen Infrastrukturinitiative.
Über 150 Länder beteiligen sich daran.
China vergab Hunderte von Milliarden Dol-
lar in Form von Darlehen und Zuschüssen.
In vielen Empfängerländern wurde die von
China mitfinanzierte Infrastruktur dringend
benötigt, aber es gab auch viele Probleme.
Die BRI veränderte sich, genauso wie die
Botschaften Xis an den globalen Süden.
Die Jubiläumsfeierlichkeiten wurden so von
politischen Neueinschätzungen begleitet.
Die stärkste Kritik an der Initiative lau-
tet, dass sie zu einer gefährlichen Verschul-
ten. Jetzt plädiert er für „kleine, aber feine“
Projekte – weniger riskant, rentabler und
mit einem Schwerpunkt auf Branchen wie
grüne Energie und digitale Infrastruktur.
Dies ist nicht nur ein Zugeständnis an die
Zeichen der Zeit, sondern ein Signal, dass
der schon immer vorhandene politische
Endstation Sehnsucht
China, Entwicklungsfinanzierung in Übersee,
Mrd. Dollar
2008 10 12 14 16
Quelle: Boston University Global Development Policy Centre
Globalen Entwicklungsinitiative, der Glo-
balen Sicherheitsinitiative und der Globalen
Zivilisationsinitiative, abgesteckt.
Länder, die sich über amerikanische
Schikanen oder das koloniale Erbe Euro-
pas ärgern, könnten sich für diese Projekte
interessieren. Damit wird die alte Botschaft
verstärkt, Chinas Entwicklungsmodell, das
die Menschenrechte herabsetzt, sei besser
für arme Staaten als das der arroganten
westlichen Demokratien: Länder aufzu-
fordern, freie Wahlen abzuhalten oder die
Meinungsfreiheit zu respektieren, sei eine
90 Einmischung in ihre inneren Angelegen-
heiten, argumentieren Politiker in Peking.
Sie bezeichnen liberale Werte als eine Form
60 des vom Westen propagierten Rassismus.
China predigt einen moralischen Rela-
tivismus, der Musik in den Ohren von
30 Autokraten sein dürfte. Amerika und sei-
ne Verbündeten sollten die Anziehungs-
kraft von Chinas Botschaft im globalen
0 Süden nicht unterschätzen. Viele Länder
18 20 21 sind mit der derzeitigen Weltordnung
unzufrieden. Diejenigen, die sie schätzen,
müssen sie verteidigen. A
74 China
Xi und die
Ja-Sager
Was das Kommen und Gehen im
Kabinett des Präsidenten bedeutet
JAMES MILES Leitender Korrespondent
China, The Economist
C hinas Staatschef Xi Jinping hat eine
Vorliebe für meteorologische und
nautische Metaphern. In den letzten
Monaten hat Xi Staatsbeamte gewarnt,
sich auf „zahlreiche große Prüfungen“
inmitten „starker Winde, rauer Meere und
gewaltiger Wellen“ einzustellen. Gewiss
sind es schwierige Zeiten für das Team,
das er Ende 2022 und Anfang 2023 ein­
gesetzt hat, um ihm bei der Bewältigung
der wachsenden wirtschaftlichen, diplo­
matischen und sozialen Herausforde­
rungen des Landes zu helfen. Und zwei
seiner hochrangigen Mitglieder mussten
WAS WÄRE, WENN …?
Der chinesische Immobiliensektor steckt seit zwei Jah-
ren in der Krise. Viele Bauträger wurden zahlungsunfä-
hig, die Umsätze sind im Keller. Ein totaler Zusammen-
bruch wurde aber bislang verhindert. Was wäre, wenn
Chinas Immobilienpreise um die Hälfte abstürzten?
es bereits wieder verlassen. Auch für die
anderen Untergebenen wird das kommen­
de Jahr kein ruhiger Segeltörn.
Xi hatte auf die oberen Befehlshaber
der Kommunistischen Partei gesetzt. Mit
der umfassenden Umbildung der obersten
Regierungsebene – und einige Monate
zuvor auch des Führungsstabs der Kom­
munistischen Partei – hatte er sich mit
vertrauten und zuverlässigen Politikern
umgeben. Da die Abkehr von Chinas
drakonischem „Null Covid“­Ansatz Ende
2022 zu einem Anstieg der Todesfälle
führte, war sich die Politik einig, dass ein
wirtschaftlicher Aufschwung die Stim­
mung im Volk aufhellen könne.
Aber der blieb aus, und bereits im
Sommer zeichneten sich Schwachstellen
in Xis politischen Arrangements ab. Erst
verschwand Außenminister Qin Gang,
wenige Wochen später wurde auch Vertei­
digungsminister Li Shangfu entlassen.
In geheimen Briefings hieß es, Qin
habe „Probleme mit seinem Lebensstil“,
eine Geliebte und ein uneheliches Kind.
Li wurde mitgeteilt, es werde gegen ihn
wegen mutmaßlicher Korruption ermittelt.
Die Warnung an Chinas herrschende Elite
war klar – Xi zögert nicht, bei Fehlverhal­
ten eigene Gefolgsleute zu bestrafen.
Die fragile Konjunkturerholung würde zum Stillstand
kommen – mit Folgen für die Weltwirtschaft. Die größe-
re Gefahr für die Kommunistische Partei wäre aber der
Einfluss auf die soziale Stabilität. Denn die Menschen
gehen zwar nicht aus Unmut über die Einparteien-
herrschaft auf die Straße – aber vielleicht würden sie
bei massiven Investitionsverlusten protestieren.
Die Welt in 2024
Unter hochrangigen Beamten dürften
allerdings Fragen aufgekommen sein:
Was war Xi bekannt, bevor er sie ernann­
te? Wenn er nichts von ihrem Fehlverhal­
ten ahnte (die Kommunistische Partei ver­
bietet Beamten außereheliche Affären),
was sagt das über die Strenge der Über­
prüfung aus? Xi hat stets die Härte des
Prozesses betont.
Anzeichen dafür, dass Xi selbst poli­
tisch in Schwierigkeiten steckt, gibt es
keine. Die staatlich kontrollierten Medien
schmeicheln ihm nach wie vor. In den
kommenden Monaten könnten weitere
Details über Qin und Li ans Licht kommen.
Die Berichte dürften geschönt sein, denn
der Eindruck, Xi habe bei der Ernennung
Fehler gemacht, ist zu vermeiden.
Bei seinen Untergebenen sind im Jahr
2024 indes weitere Überraschungen mög­
lich. Er hat immer noch keinen designier­
ten Nachfolger. Spannungen sind denk­
bar, wenn Möchtegern­Kandidaten um
Aufmerksamkeit buhlen – und auch, wenn
die Ja­Sager miteinander konkurrieren.
Etwa Cai Qi, der im März 2023 zu Xis
Stabschef ernannt wurde. Im siebenköp­
figen Ständigen Ausschuss des Politbüros
steht er zwar nur an fünfter Stelle, doch
seine Nähe zu Xi, mit dem er in den 80er
und 90er Jahren in der Provinz Fujian und
später in der Provinz Zhejiang zusammen­
arbeitete, ist offensichtlich. Er ist für Pro­
paganda und Ideologie der Partei sowie
für Xis persönliche Sicherheit zuständig.
Der ebenfalls im März 2023 ernannte
Ministerpräsident Li Qiang steht im Stän­
digen Ausschuss an zweiter Stelle, hat
aber weniger Einfluss – er ist hauptsäch­
lich für die Wirtschaft zuständig. Trotz der
engen Zusammenarbeit mit Xi in Zhejiang
in den frühen 2000ern halten ihn viele
Analysten für einen schwachen Amts­
träger. Und angesichts der schwierigen
Wirtschaftslage wird er es schwer haben,
seinen Chef zu beeindrucken.
Auch Xi dürfte Mühe haben, das eige­
ne Image aufzupolieren. Die Wirtschafts­
misere und der chaotische Ausstieg aus
der strikten Pandemiepolitik dürften ihm
geschadet haben – einige Demonstranten
gegen Xis Null­Covid­Politik hatten sogar
gewagt, seinen Rücktritt zu fordern.
Kommendes Jahr wird Chinas Präsident
vor allem die gespannten Beziehungen
zum Westen zu meistern haben. Aber auch
im eigenen Land schlagen ihm starke
Winde und gewaltige Wellen entgegen. A
Die Welt in 2024
Das schwierigste Ziel
Chinas Herrscher stehen vor der Frage:
Vertrauen oder Glaubwürdigkeit?
SIMON COX Redakteur Wirtschaft China,
The Economist
I m Frühjahr 2024 werden Chinas Ministerpräsident
Li Qiang und seine Kollegen vor einem unangeneh-
men Dilemma stehen: Sie müssen sich entscheiden, ob
sie die Stimmung unter den Unternehmern heben oder
die Glaubwürdigkeit der regierenden Kommunistischen
Partei bewahren wollen. Ihre Entscheidung wird sich im
März offenbaren, wenn Li dem chinesischen Parlament
seinen ersten Arbeitsbericht präsentiert. Der Bericht
wird neben den üblichen Parteiparolen auch eine fol-
genreiche Zahl beinhalten: Chinas offizielles Wirt-
schaftswachstumsziel für 2024.
Solche Ziele lassen sich leicht als ein Überbleibsel
der Planwirtschaft abtun. Im heutigen China ist das
Wirtschaftswachstum das alchemistische Ergebnis
unzähliger Entscheidungen von Haushalten, Firmen
und Beamten. Ob die Partei es auf einen halben Pro-
zentpunkt genau berechnen kann?
Tatsächlich hat China seine Wachstumsziele regel-
mäßig weit verfehlt, indem es sie übertraf (siehe Grafik).
Doch in letzter Zeit wurde es knapper, und dem Ziel fiel
mehr Aufmerksamkeit zu. 2023 führten etwa die Ängste
der Regierung, sie könne ihr Ziel von fünf Prozent ver-
fehlen, zu einer Lockerung der Geld- und Kreditpolitik.
Viele Ökonomen fürchten, ein willkürliches Ziel
könnte Chinas Politik verzerren und eine leichtsinnige
Kreditvergabe oder verschwenderische Infrastrukturpro-
jekte mit sich bringen. Einige haben China gedrängt, es
solle sein Wachstumsziel komplett fallen lassen. Doch
Weitab vom Ziel
China, Veränderung in Prozent gegenüber dem Vorjahr
BIP BIP-Zielquote Verbraucherpreise
2004 06 08 10 12 14 16 18 20
Quellen: Haver Analytics; EIU
China 75
2024 wäre das ein falsches Signal. Chinas Unterneh-
mer müssen sich noch immer von der Immobilienkrise
seit Mitte 2021, dem lähmenden Lockdown von 2022
und der enttäuschenden Konjunktur 2023 kurieren. Sie
brauchen die Sicherheit, die ein offizielles Wachstums-
ziel bieten kann.
Welche Größe soll Li also im März nennen? 2023
hatte Chinas Wirtschaft Mühe, das offizielle Ziel von rund
fünf Prozent zu erreichen, die Inflation sank auf ein
gefährliches Tief, Preisverfall und Beeinträchtigung der
Investitionen drohten. Eine niedrige Inflation ist ebenso
einladend wie brenzlig. Sie signalisiert, dass die Wirt-
schaft eigentlich schneller wachsen könnte, wenn nur
der Konsum stärker wäre. Lis erstes Wachstumsziel sollte
daher sein, den Privatsektor zu Ausgaben zu ermuntern.
Die Vorgabe des Wachstumsziels von mindestens fünf
Prozent wäre der Weg dorthin.
Im zweiten Jahr der Konjunkturerholung ist das
allerdings ein schwierigeres Ziel als 2023. Die Wirtschaft
kann nicht mehr auf den Schwung zählen, der sich aus
der Beseitigung sozialer Beschränkungen und Ent-
faltung aufgestauter Nachfrage ergibt. Aber nach der
ernüchternden Rückkehr zur Normalität nach Corona
hat China vermutlich noch einigen Nachholbedarf. Und
sollte die Wirtschaft dann Ende 2024 heiß laufen und
Löhne und Preise in die Höhe treiben, wäre das nicht
15 nur schlecht. Es würde helfen, Deflationsängste zu zer-
streuen und die Schuldenlast Chinas zu verringern.
Besorgniserregender wäre, wenn ein mutloses China
12
dieses Ziel selbst mit zusätzlichen staatlichen Anreizen
verfehlen würde. Es wäre peinlich für die Kommunisti-
9
Einige sche Partei und würde die Glaubwürdigkeit ihrer Wirt-
schaftspolitik schwächen.
6 Ökonomen Die Festlegung eines leicht zu erreichenden Ziels
haben China bringt andere Risiken mit sich. Es könnte die Erwartun-
3 gedrängt, gen des Privatsektors weiter drücken und ein schlech-
es solle sein teres Ergebnis wahrscheinlicher machen. Im Jahr 2024
0 sollte die Kommunistische Partei erkennen, dass die
Wachstums- Wiederherstellung des Vertrauens der Privatwirtschaft
23*
*Prognose
ziel fallen wichtiger ist als die Wahrung der Glaubwürdigkeit ihrer
lassen Zielvorgaben. A
76 China Die Welt in 2024

Die neue immer noch unklar, was die Öffnung für

ihre Geschäfte bedeutet: Das verlang-
gegen ausländische Unternehmensana-
lysten fragen sich die Unternehmen, ob

Normalität
Die Zeiten für ausländische Unternehmen
in China werden nicht leichter
DON WEINLAND Redakteur Unternehmen
und Finanzen, The Economist, Shanghai
samte Wachstum hat den Markt für den
globalen Einzelhandel weniger attraktiv
gemacht. Präsident Xi Jinpings ideologi-
sche Unterstützung Russlands im Ukraine-
Krieg hat Investoren verschreckt. Fonds-
manager verlangen höhere Renditen, um
das gestiegene geopolitische Risiko zu
rechtfertigen; viele verdienen einfach nicht
genug und schichten Kapital um.
Führungskräfte, die erstmals seit drei
Jahren wieder nach China reisen, müs-
sen feststellen, dass sich die Dinge zum
Schlechten verändert haben. Metropolen
sie übliche Hintergrundrecherchen über
chinesische Firmen und Führungskräfte
überhaupt noch durchführen können. Der
Zugang zu offiziellen Datenquellen ist
begrenzt. Die Ankündigung der internatio-
nalen Anwaltskanzlei Dentons im August,
ihre Partnerschaft mit einer chinesischen
Anwaltskanzlei zu beenden, war ein her-
ber Schlag für Chinas Reputation als glo-
bales Wirtschaftszentrum.
Die Regierung weiß sehr wohl um die
Beschwerden ausländischer Unternehmen.
Wirtschaftsorientierte Technokraten wie

B innen weniger Tage verbreitete sich im

September 2023 die Nachricht, dass
zwei Vertreter internationaler Unterneh-
men China nicht verlassen dürfen. Einer
von ihnen, der Leiter des Investmentban-
king-Bereichs der japanischen Nomura
Bank, war anscheinend in einer Korrup-
tionsuntersuchung verfangen. Gegen ihn
wurde eine „Ausgangssperre“ verhängt,
die ihm zwar Reisen innerhalb Chinas er-
laubte, das Land verlassen durfte er nicht.
Tage später geschah einem leitenden
Angestellten des Unternehmensanalysten
Kroll das Gleiche. Laut „Wall Street Jour-
nal“ sitzt er seit Juli in China fest.
Knapp ein Jahr nach Chinas Öffnung
nach seiner dreijährigen Covid-19-Iso-
lation ist für ausländische Führungskräfte
wie Peking und Shanghai wirken heute
deutlich weniger international.
Während der Pandemie richteten~
Chinas politische Führer den Blick nach
innen. Jetzt, wo sie wieder in die Welt
sehen, hat sich ihre Paranoia gegenüber
den USA und anderen ausländischen
Wettbewerbern deutlich verstärkt. Nun
räumen sie der Sicherheit Vorrang vor dem
Wirtschaftswachstum ein: Neue Geset-
ze und Vorschriften wurden erlassen, die
ausländischen Unternehmen die Arbeit in
China erheblich erschweren.
Nach den neuen chinesischen Daten-
schutzgesetzen ist nun unklar, welche
Informationen von einer Niederlassung
an Empfänger ins Ausland gesendet wer-
den dürfen. Nach zahlreichen Razzien
Chinas Ministerpräsident Li Qiang versu-
chen, den Schaden zu begrenzen. Im Sep-
tember kündigte die Zentralregierung an,
sie werde einige Vorschriften zum Daten-
transfer lockern, zumindest vorläufig.
2024 werden multinationale Unterneh-
men auf weitere wirtschaftsfreundliche
Zugeständnisse Pekings hoffen. Aber es
sollte sie nicht überraschen, wenn weiter
Reiseverbote für Führungskräfte verhängt
werden. Chinas Pandemiejahre haben die
Sichtweise der Machthaber auf die Außen-
welt verändert. Ihre Außenwahrnehmung
interessiert sie wenig, und es ist unwahr-
scheinlich, dass sie von der Betonung
Sicherheit über Wachstum abrücken. Die
neue Normalität, so scheint es, ist gekom-
men, um zu bleiben. A

Bittere Pille Einige Jugendliche sind wieder

bei ihren Eltern eingezogen und
zu „Vollzeitkindern“ geworden.
Um die Arbeitssuche aufzu-
schieben, haben sich viele für
Graduiertenprogramme bewor-
ben. Wenn sie damit fertig sind,
Die Kommunistische werden sie mit einer Rekord-
zahl von Hochschulabsolven-
Partei kann die Jugend ten konkurrieren (mehr als
nicht begeistern elf Millionen im Jahr 2023).
Andere haben sich um Regie-
aLiCE SUKorrespondentin China, rungsposten bemüht. 2023
The Economist, Taipeh meldeten sich rund 2,5 Millionen
Menschen zur Beamtenprüfung

E in Baum kann in einem

Gewächshaus nicht in den
Himmel wachsen, und ein fauler
Mensch kann keine großen Din-
ge vollbringen“, maßregelte der
„People’s Daily“ Chinas Jugend.
Die Kommunistische Partei hat
die junge Generation wiederholt
dazu aufgerufen, im Interesse
der nationalen Erneuerung kein
Leid zu scheuen. Präsident Xi
Jinping fordert, sie solle auf dem
Land arbeiten, wo die Feldarbeit
ihre Opferbereitschaft stärken
würde. Auch 2024 wird er junge
Menschen dazu aufrufen, „bit-
E Junge Menschen bewerben sich
tere Pillen zu schlucken“ und
für gute Zwecke zu leiden. Aber
die Jugend hat andere Interes-
sen. Xis Rhetorik hat im Inter-
net mehr Spott als patriotische
Gesinnung hervorgerufen. Junge
Internetnutzer verwenden häu-
fig Ausdrücke wie „flachliegen“
und „sich vergammeln lassen“ –
Jugendslang für Erschöpfung
und den Wunsch, aus dem
Hamsterrad auszusteigen.
Die Jugendarbeitslosenquote
in den Städten hat 2023 den
Rekordwert von 21,3 Prozent
erreicht. Daraufhin stellte das
Statistikamt im August die Ver-
öffentlichung der Zahlen ein.
an, so viele wie seit zehn Jahren
nicht mehr. Andere bewerben
sich um einen Studien- oder
Arbeitsplatz im Ausland oder
fliehen über Schleuserrouten
durch Südostasien oder Süd-
amerika. 116 000 waren es 2022
– siebenmal mehr als 2012.
Der Staat könnte die Jugend
eventuell motivieren, wenn
er sich lockerer geben würde.
Das Gegenteil ist jedoch wahr-
scheinlicher. In einem politisch
unsicheren Jahr, mit Wahlen
in Taiwan und den USA, wird er
die Kontrolle eher verschärfen.
Die Welt in 2024
NAHER OSTEN & AFRIKA
Jenseits von Gaza
Die neue Machtbalance im Nahen Osten
GREGG CARLSTROM Korrespondent Naher Osten
The Economist, Dubai
Z u Jahresanfang sah es so aus, als könnte 2023 ein
Jahr der Deeskalation im Nahen Osten werden.
Saudi-Arabien stimmte im März einer Entspannungs-
politik mit dem Iran zu und verhandelte mit den USA
über ein Drei-Parteien-Abkommen, das eine Norma-
lisierung der Beziehungen zu Israel vorsieht. Die Bür-
gerkriege in Libyen, Syrien und Jemen kamen zum
Stillstand. Die wohlhabenden und stabilen Golfstaaten
waren das neue Machtzentrum in einer von Konflik-
ten erschöpften Region – und sie wollten, dass alle zur
Ruhe kommen und sich auf wirtschaftliches Wachstum
konzentrieren.
77
Auch in dieser
Rubrik:
78 Scheinwahlen
79 Die Zukunft der
Palästinenser
79 Musik aus dem
Nahen Osten
80 Irans Erbfolge
80 Strauchelnde
Ökonomien
81 Chaos in der
Sahelzone
82 Südafrika wählt
Aber einen Monat nach dem saudisch-iranischen
Abkommen versank der Sudan in einem Bürgerkrieg.
Darauf folgten das Massaker der Hamas in Israel am
7. Oktober und ein anhaltender israelischer Krieg in
Gaza. Nach einer langen Phase relativer Ruhe flammte
der älteste Nahost-Konflikt wieder auf und brachte die
gesamte Region an den Rand einer Explosion.
2024 wird sich herausstellen, welche Folgen der
Gaza-Krieg haben wird. Manche werden widersprüch-
lich erscheinen. Einerseits wird die vorsichtige Entspan-
nung zwischen Iran und Saudi-Arabien weitergehen.
Die Ereignisse im Oktober haben freilich gezeigt, wozu
der Iran bereit ist: Teherans Satelliten feuerten Rake-
ten aus dem Gazastreifen, dem Libanon und sogar aus
dem Jemen auf Israel und weitere Milizen attackierten
US-Stützpunkte in Syrien und im Irak. Die Golfstaaten
wollen nicht zur Zielscheibe werden wie 2019, als sau-
dische Ölfelder brannten. Sie werden den Frieden wah-
ren wollen, auch wenn das ein hohler Frieden ist. Das
Gerede von Investitionen der Golfstaaten im Iran wird
Gerede bleiben.
Gleichzeitig haben sich die israelisch-saudischen
Versuche zu einer Normalisierung verzögert, blieben
aber nicht komplett stehen. Mohammed bin Salman,
der saudische Kronprinz und De-facto-Herrscher, will
eine Einigung mit Israel aus wirtschaftlichen Gründen
und aus Sicherheitsinteressen. Die Verhandlungen wer-
den weitergehen, aber diskreter und komplizierter als
bisher. Die Saudis werden von Israel mehr Zugeständ-
nisse an die Palästinenser fordern. Es wird viel nach-
78 Naher OsteN & aFrIKa Die Welt in 2024

verhandelt werden, aber ein US-Wahljahr ist dafür ein
schlechter Zeitpunkt. Darum ist es unwahrscheinlich,
dass die Gespräche 2024 abgeschlossen werden.
Jenseits des Golfes werden viele arabische Regierun-
gen nervös ins neue Jahr gehen. Zum Beispiel Ägypten:
Es hat zwei aktive Kriege an seinen Grenzen, in Gaza
und im Sudan, und einen eingefrorenen, aber ungelösten,
in Libyen. Zudem muss das Land 2024 Auslandsschulden
von 29 Milliarden Dollar zurückzahlen, das entspricht
85 Prozent seiner Devisenreserven. Und König Abdullah
II. von Jordanien befürchtet, dass ein langer Konflikt im
Heiligen Land Unruhen unter seiner großen palästinen-
sischen Bevölkerung auslösen könnte, die schon wegen
der stagnierenden Wirtschaft unzufrieden ist.
Jahrelang sprachen die arabischen Länder von einem
neuen Gleichgewicht der Kräfte in der Region. Amerika
schien weit weg, während Russland wie China versuch-
ten, Einfluss zu gewinnen. Der Angriff vom 7. Oktober
löste die größte Krise in der Region seit Jahrzehnten aus.
Daraufhin schickten die USA zwei Flugzeugträgergrup-
pen, eine Reihe von Raketenabwehrbatterien und eine
Die USA große Zahl von Truppen, während ihr Außenminister
möchten mit hektisch Pendeldiplomatie betrieb. Russland mokier-
te sich über die vermeintliche Heuchelei des Westens,
dem Nahen während China desinteressiert wirkte.
Osten fertig Die USA mögen sich wünschen, mit dem Nahen
sein, aber der Osten fertig zu sein, aber der Nahe Osten ist noch nicht
Nahe Osten mit Amerika fertig. Die Vereinigten Staaten können nun
ihre Rolle als Regionalmacht festigen. Vor dem Gaza-
ist noch nicht
Krieg hatte es mit Saudi-Arabien über einen gegensei-
mit den USA tigen Sicherheitspakt gesprochen. Aber nun versuchten
fertig die Saudis, sich aus allen Konflikten herauszuhalten,
was nicht dafür spricht, dass die Saudis ein Verteidi-
gungsabkommen als gegenseitig erachten. Auch das
wird neu verhandelt werden müssen – doch Präsident
Joe Biden wird wenig Zeit dafür haben.
Die Golfstaaten hatten recht: Die Wirtschaft ist ein
großes Problem im Nahen Osten. Aber sie irrten sich im
Glauben, dass all die Konflikte in der Region eingefro-
ren blieben. Mit etwas Glück bringt das neue Jahr neue
Lösungsansätze, angefangen mit dem endlosen Streit
zwischen Israelis und den Palästinensern. A

Despoten gegen nien und Tunesien im Jahr 2024. Leider sind

diese Urnengänge mit Ausnahme von Mau-
machen es noch schlimmer. Sie betrachten
die Demokratie als ebenso große Bedro-

Demokratie retanien eine Farce, die Resultate stehen

Autokraten im Nahen Osten
veranstalten Scheinwahlen. Echte
Demokratie wäre zu gefährlich
NICOLAS PELHAM Korrespondent
Naher Osten, The Economist
fest. Die Autokraten werden ihre Herrschaft
ausbauen, während die mehr oder weni-
ger demokratischen Länder – Irak, Kuwait,
Libanon und Marokko – weiter in der Krise
verharren. Wir sichern die Stabilität, sagen
die Despoten. Ist das so? Ohne das Sicher-
heitsventil demokratischer Partizipation
geht auch in den Regimen das Gespenst
des Aufruhrs um. Der israelisch-palästinen-
sische Krieg erschüttert zum dritten Mal in
einer Dekade die Region. Unter der Fahne
Palästinas werden die Unzufriedenen die
verantwortungslosen und korrupten Macht-
haber herausfordern. Nur ein stärkerer
hung wie den Dschihadismus. Saudi-Arabi-
en müsste alle vier Jahre Kommunalwahlen
abhalten. Doch Mohammed bin Salman,
der De-facto-Herrscher, hält sie für eine
heikle Sache, da Forderungen nach Verant-
wortung und Demokratie gestellt werden
könnten. Und niemand wagt ihn zu fragen,
warum er den Zeitplan nicht einhält.
Die Despoten am Golf finanzieren wei-
terhin die Machthaber in Ägypten und
Tunesien. In Kairo versucht Präsident Abdel
Fattah al-Sisi, sich eine dritte Amtszeit zu
sichern, indem er Konkurrenten ausschal-
tet. In Tunis wird Präsident Kais Saied nach
der Verhaftung von Rivalen eine zweite

W as die Wahlzyklen betrifft, ist der

Nahe Osten ein Muster an Demokra-
tie. Ägypten hält im Dezember 2023 Wah-
len ab, gefolgt von Algerien, Iran, Maureta-
Druck kann einen Dominoeffekt aufhalten,
der zunächst die Palästinensische Auto-
nomiebehörde, dann Jordanien und Ägyp-
ten erschüttern könnte. Die Golfstaaten
Amtszeit antreten. Die Golfstaaten werden
mit dem Erzfeind Iran gegen eine Ausbrei-
tung der Demokratie zusammenarbeiten.
Vor den Parlamentswahlen im April wird
der Wächterrat alle Kandidaten überprüfen,
damit wirklich nur Ja-Sager antreten.
Kuwaits Demokratie wird weiter hinken,
gelähmt durch das Patt zwischen Königs-
palast und Parlament. Bewaffnete Gruppen
werden den Libanon und den Irak weiter
unter Druck setzen. Im Libanon wird die
Hisbollah als mächtigste Miliz die Ernen-
nung eines Präsidenten hintertreiben. Ihre
Pendants im Irak haben bei den Wahlen
2021 zunächst die Macht verloren, dann
aber geputscht.
Der Westen wird wohl wieder von der
Seitenlinie aus zuschauen. Nachdem es
ihnen nicht gelang, die Demokratie im Irak
zu verbreiten, haben die westlichen Staaten
wenig Lust, es erneut zu versuchen. Man-
cherorts könnte die Forderung nach Demo-
kratie aufleben. Doch angesichts der Eska-
lation von Missständen und Repression ist
zu befürchten, dass die Hamas ein anderes
Modell anbieten wird. Der militante Isla-
mismus, der sich scheinbar beruhigt hatte,
könnte wieder aufflammen. A
Die Welt in 2024 Naher OsteN & aFrIKa 79

Und nun? das tödlichste Jahr aller Zeiten. Und dann

Drei Faktoren bestimmen die Zukunft
der Palästinensergebiete
GREGG CARLSTROM Korrespondent Naher
Osten, The Economist, Dubai
überquerten an einem Herbstmorgen
Hamas-Kämpfer die Grenze zu Israel und
massakrierten mehr als 1200 Menschen,
die meisten davon Zivilisten. Israel erklär-
te sofort den Krieg. Tausende Luftangriffe
und eine Bodeninvasion verwüsteten den
Gazastreifen. Es starben mehr Palästinen-
ser als in allen Kriegen seit 1948. Für die
Palästinenser wird 2023 die größten Ver-
änderungen bringen, seitdem 2007 die
Hamas die Kontrolle über den Gazastrei-
fen übernahm. Drei Faktoren werden das
Ergebnis maßgeblich beeinflussen.
Erstens: Wann und unter welchen
auch die Verwaltung des Gazastreifens zu
übernehmen.
Das ist das beste Szenario. Aber die PA
wird vielleicht nicht im Schutz israelischer
Panzer nach Gaza zurückkehren wollen.
Und selbst wenn sie dazu bereit wäre,
könnte sie erkennen, dass sie dort nicht
regieren kann (sie hat bereits die Kontrol-
le über Teile der Westbank verloren). In
diesem Fall müsste Israel Sicherheit und
Grundversorgung gewährleisten, viel-
leicht mithilfe einer Regierung aus lokalen
Honoratioren. Der Krieg könnte die paläs-
tinensische Spaltung vertiefen.
Das wirft eine dritte Frage auf: das

M ehr als ein Jahrzehnt lang war das

Leben in den palästinensischen
Gebieten schmerzhaft statisch. Im besetz-
ten Westjordanland regierten die korrupten
Nationalisten der Fatah, im blockierten
Gazastreifen die korrupten Islamisten der
Hamas. Bewohner des Westjordanlandes
mussten tägliche Misshandlungen der
Besatzung ertragen. Und die Menschen im
Gazastreifen erlebten gelegentlich kurze
Kriege und längere Perioden von Ruhe und
Misere. Es gab keine Fortschritte in Rich-
tung einer Zweistaatenlösung, aber auch
keine Versöhnung zwischen den beiden
verfeindeten palästinensischen Fraktionen.
2023 wurde alles anders. Schon vor dem
7. Oktober erlebte das Westjordanland
Umständen wird Israel seinen Krieg in
Gaza beenden? Die Armee sagt, dass sie
aufhören wird, wenn sie die Hamas ent-
machtet hat. Sie will sicher die Führer der
Gruppe töten. Aber Hamas hat Zehntau-
sende Kämpfer und noch mehr Unterstüt-
zer. Auf Israel könnte ein langer Guerilla-
krieg zukommen und auf die Bewohner
des Gazastreifens eine lange Vertreibung.
Die USA und Israel hoffen, dass die
Golfstaaten mit Geld für den Wieder-
aufbau und vielleicht auch mit Soldaten
für eine internationale Friedenstruppe
einspringen. Ersteres kann geschehen,
aber das zweite wird schwer. Die arabi-
schen Führer werden die Palästinensi-
sche Autonomiebehörde (PA) bedrängen,
Schicksal der Autonomiebehörde und ihres
Führers Mahmoud Abbas. Die Hälfte der
Palästinenser möchte die PA auflösen, die
sie für hoffnungslos korrupt halten, und
vier Fünftel wollen, dass Abbas, der bald
das 20. Jahr seiner vierjährigen Amtszeit
antritt, zurücktritt. Es ist unwahrschein-
lich, dass er darauf hört, und er hat keinen
klaren Nachfolger.
Manche Optimisten hoffen, dass die
Palästinensische Autonomiebehörde, die
immerhin deutlich gemäßigter ist als
Hamas, gestärkt aus dem blutigen 2023
hervorgehen und dass ein traumatisier-
tes Israel wieder zu Friedensgesprächen
bereit sein könnte. Aber dieser Tage ist
Optimismus Mangelware. A

Arabische XP Music Futures, zieht interna-

tionale Größen an. Die Vereinig-

Rhythmen ten Arabischen Emirate werden

2024 ein neues System zum
Schutz geistigen Eigentums ein-
führen – das erste seiner Art im
Nahen Osten. Auch Ägypten hat
Die Musikindustrie angekündigt, ein neues Amt für
des Nahen Ostens hat geistiges Eigentum einzurichten.
großes Potenzial Das Potenzial des Mark-
tes – und die Präsenz so vieler
lokaler Talente – zieht auch
aNN haNNa Redakteurin Nach- internationale Investoren an.
richten, The Economist Im August erwarb die welt-
größte Plattenfirma Universal

M usik drang schon immer

durch Kairos Cafés. Doch
wo einst traditionelle Lieder
klangen, reimen heute Rapper
wie Wegz, ein 25-jähriger ägyp-
tischer Star. Seine Musik ist in
der gesamten Region populär.
Im Jahr 2022 wurde sein Lied
„El Bakht“ (Glück) 45 Millionen
Mal gestreamt – ein Rekord
auf Anghami, der führenden
Musik-Streaming-Plattform der
Region. 2023 kündigte er als
erster arabischer Künstler eine
Welttournee mit dem US-Kon-
zertveranstalter Live Nation an.
Diese Entwicklung ist nicht
nur Wegz zu verdanken. Nach
E Lokales Talent
Angaben des Branchenverbands
IFPI stiegen die Einnahmen aus
dem Verkauf von Tonträgern
2022 um 24 Prozent. Im Jahr
2021 war dies der am schnells-
ten wachsende Markt der Welt.
Und HipHop treibt den
Trend voran. Laut dem Musik-
Streaming-Dienst Spotify
stieg der HipHop-Konsum
in Ägypten zwischen Januar
2020 und August 2023 um
479 Prozent und in den Ver-
einigten Arabischen Emiraten
(VAE) um 143 Prozent. Auch
der Chalidschi-Pop aus der
Golfregion ist sehr gefragt.
Die Regierungen wollen davon
profitieren. Die offizielle Musik-
strategie Saudi-Arabiens aus
dem Jahr 2021 sieht den Bau von
130 Aufnahmestudios bis 2030
vor. Eine im Königreich veran-
staltete Branchenkonferenz, die
Music Group die Firma Chabaka
aus den Vereinigten Arabischen
Emiraten, die 150 Künstler ver-
tritt. Reservoir Media in New
York hat sich mit PopArabia in
Abu Dhabi zusammengetan,
um 100Copies zu übernehmen,
ein ägyptisches Plattenlabel,
das eine wichtige Rolle bei der
Popularisierung von Mahraga-
nat gespielt hat, einem Genre,
das traditionelle Elemente und
Elektro-Beats kombiniert.
Viele in der Branche hof-
fen, dass ein Star aus Ara-
bien den weltweiten Durch-
bruch schafft. Das könnte
2024 tatsächlich passieren.
80 Naher OsteN & aFrIKa
Es geht um die
Nachfolge
Wie Irans oberster Führer kalkuliert die
Übergabe der Macht plant
NICK PELHAM Korrespondent Naher Osten,
The Economist
W ährend der Nahostkonflikt erneut
aufflammt, hat Ajatollah Ali Cha-
menei, der 84-jährige oberste Führer des
Iran, vor allem eine Sorge: das Überle-
ben der klerikalen Herrschaft. Aus dieser
Perspektive werden alle aktuellen Prob-
leme der Region zu sehen sein: der Krieg
im Gazastreifen, die Eskalation in den
schiitischen Gebieten der Region – Irak,
Libanon und Jemen – die amerikanischen
Militärstützpunkte vor seiner Küste und
vor allem die Unzufriedenheit der eige-
nen Bevölkerung.
Chameneis Antwort heißt Modschtaba,
sein zweitältester Sohn. Als oberster Geist-
licher der Islamischen Revolutionsgarden,
der Prätorianergarde des Regimes, steht der
54-Jährige an der Spitze der wichtigsten
Säulen der Macht, der klerikalen und der
militärischen. Der Vater wird mit zuneh-
mendem Alter immer mehr Macht seinem
Sohn übertragen. Ehrgeizige Kleriker wer-
den ihre Loyalität beweisen, indem sie ihn
zum Ajatollah ernennen, dem höchsten
akademischen Rang, der für jeden Nach-
folger erforderlich ist.
In der Region wird der Iran seine Eska-
lationspolitik fortsetzen, ohne sich auf eine
direkte Konfrontation einzulassen. Er wird
versuchen, die Stärke seiner Satelliten
zu erhalten und auszubauen, ohne deren
Abschreckungsfähigkeit durch offene Krie-
ge zu zerstören. Irans Führung wird die
Hisbollah im Libanon, die Huthis im Jemen
und schiitische Milizen im Irak ermutigen,
ihre Stärke durch Säbelrasseln und spora-
dische Raketenangriffe auf amerikanische,
israelische und sogar saudische Ziele zu
demonstrieren. Sie wird jedoch versuchen,
die Gruppen davon abzuhalten, einen
Krieg zu provozieren. Stattdessen wird Iran
versuchen, schrittweise mehr Einfluss zu
gewinnen.
Im Innern wird das Regime kompro-
misslos Macht demonstrieren und gleich-
zeitig flexibler werden, um Unzufrieden-
heit aufzufangen. Die Kleiderordnung, ein
Markenzeichen der Islamischen Republik,
wird gelockert. Männern wird das Tragen
von Shorts zugestanden und Frauen wer-
den ihre Schleier ablegen. Einige werden
Geldstrafen zahlen, aber letztlich wird sich
das Regime dem Druck beugen.
Der Ölsektor dürfte von den hohen Prei-
sen profitieren. Auf Modschtaba als Nach-
folger warten viele Herausforderungen.
Satelliten des Iran könnten außer Kontrol-
le geraten, wie die Hamas im Oktober in
Südisrael. Ihr libanesisches Pendant, die
Hisbollah, könnte versuchen, die Invasion
im Norden nachzuahmen. Die israelischen
Strategen könnten versuchen, die Prä-
senz so vieler Flugzeugträger zu nutzen,
um einen amerikanischen Angriff auf den
Iran zu beschleunigen. Es besteht ein aber
erhebliches Risiko, dass sie sich verkalku-
lieren. Schiitische Kleriker könnten sich
weigern, eine Dynastie abzusegnen, denn
genau so eine Art der Regierung hatten sie
ja mit ihrer Revolution einst beseitigt. Vor
allem aber könnten die 89 Millionen Iraner
versuchen, eine Theokratie abzuschütteln,
die sie als Anachronismus empfinden. Doch
das Chaos in der Region wird die Iraner an
den Preis des Umsturzes erinnern. Modsch-
taba wird seinem Ziel, die Macht zu über-
nehmen, näherkommen. A
Die Welt in 2024
Wenig Luft
nach oben
Überschuldete Länder
müssen Investitionen zurückfahren
und riskieren ihre Zukunft
KINLEY SALMON Korrespondent Afrika,
The Economist, Dakar
D ie Aussichten für Afrika südlich der
Sahara sind bescheiden. Die Region
wuchs 2022 um vier Prozent und 2023 um
3,3 Prozent. Und für 2024 prognostiziert
der IWF ein Wachstum von vier Prozent.
Aber bei einem Bevölkerungswachstum
von 2,7 Prozent ist das kein Wohlstands-
versprechen.
Den meisten afrikanischen Volkswirt-
schaften mangelt es an den Grundlagen
für ein transformatives Wirtschaftswachs-
tum: gut ausgebildete Arbeitskräfte, zu-
verlässige Infrastruktur sowie ein solide
ausgestattetes verlässliches Regierungs-
system. Wenn die Ausgangsbasis nied-
rig ist und genügend Finanzmittel zur
Verfügung stehen, können arme Länder
durch Verbesserungen in den Bereichen
Elektrizität, Straßen und Alphabetisierung
ein fulminantes Wirtschaftswachstum aus-
lösen. Aber wenn Geld und Wachstums-
faktoren fehlen, bleiben sie unter ihren
Möglichkeiten.
Der Internationale Währungsfonds
(IWF) warnt, dass den meisten afrikani-
schen Regierungen die Finanzierung
ausgeht. Die Mischung aus Covid-19,
dem Krieg in der Ukraine und kreditfinan-
zierten Investitionen, die kaum Erträge
abwerfen, bewirkte, dass viele Länder
hoch verschuldet sind. Einige, wie Ghana
und Sambia, sind bereits zahlungsunfähig
Die Last wird schwerer
Afrikas durchschnittlicher öffentlicher Schuldendienst
gegenüber dem Ausland in Prozent der Einnahmen
PROGNOSE 18
15
12
9
6
3
0
2000 05 10 15 20 24
Quelle: Weltbank
Die Welt in 2024
und müssen schmerzhafte Programme des
IWF durchlaufen.
Prognosen gehen davon aus, dass
19 afrikanische Länder 2024 mehr als ein
Fünftel ihrer Einnahmen für den Schul-
dendienst aufwenden. Darunter sind auch
gelobte Volkswirtschaften wie die Elfen-
beinküste, Äthiopien und Kenia. 2024 wird
Afrika im Durchschnitt 17 Prozent der
Einnahmen für den Auslandsschulden-
dienst aufwenden. Leider sieht die Bilanz
des Kontinents auf der Einnahmenseite –
durch Steuern – schlecht aus.
Ein zweites Problem besteht darin, dass
Länder, die ihr Wachstum durch Kredit-
aufnahme ankurbeln wollen, mit höheren
Kosten rechnen müssen. Steigende Zinsen
haben die meisten Länder von den glo-
balen Schuldenmärkten ausgeschlossen.
Seit Anfang 2022 hat kein Land mehr eine
Dollar-Anleihe emittiert. Selbst wenn es
gelänge, Kredite zu Marktbedingungen
aufzunehmen, müssen alle kreditfinan-
zierten Projekte höhere Renditen erwirt-
schaften. Die Möglichkeiten dafür sind
begrenzt. Ghana hatte jährlich drei Mil-
liarden Dollar am Markt aufgenommen,
aber das gesamte IWF-Programm umfasst
nur drei Milliarden Dollar über drei Jah-
re, betont Ernest Addison, Direktor von
Ghanas Zentralbank. „Es ist offensicht-
lich, dass der IWF und die Weltbank keine
Alternative zum Markt sind.“
Früher bekam Afrika auch Kredite aus
China. Doch diese versiegen. 2022 betru-
gen Darlehen aus China nur noch etwa
zehn Prozent der Gesamtsumme von 2016.
Die Probleme der chinesischen Wirtschaft
machen eine Erholung unwahrschein-
lich. Zudem sind die großen afrikanischen
Volkswirtschaften zu schwach, um ande-
re mitzuziehen. Südafrika befindet sich
in einer hartnäckigen Stagnation. Der
IWF prognostiziert ein Wachstum von
nur 1,8 Prozent für 2024. Nigeria sagt der
Fonds ein Wachstum von 3,1 Prozent im
nächsten Jahr voraus, was zum Teil auf die
Entscheidung von Präsident Bola Tinubu
zurückzuführen ist, verschwenderische
Treibstoffsubventionen abzuschaffen und
weniger in die Devisenmärkte einzu-
greifen. Aber Nigeria wird immer noch
von Dschihadismus und Entführungen
heimgesucht, und es ist weiter hoch ver-
schuldet. 2022 musste Nigeria 96 Prozent
seiner Einnahmen für den Schuldendienst
ausgeben.
Es gibt ein paar Lichtblicke. Senegal,
das ab 2024 Erdgas für den Export fördern
will, dürfte sich gut entwickeln. Benin und
Ruanda verzeichnen weiter ein gesundes
Wachstum, ebenso wie andere Länder, die
nicht von natürlichen Ressourcen abhän-
gig sind. Steigende Preise für Öl und
Mineralien könnten Förderländern Auf-
trieb geben. Da viele Rohstoffproduzenten
schlecht regiert werden, ist es wenig wahr-
scheinlich, dass hohe Weltmarktpreise das
Leben der Bürger verbessern. A
Über Chaos
und Umstürze
Die Zukunft in der weltweit
gefährlichsten Region – der Sahelzone –
sieht mehr als düster aus
KINLEY SALMON Korrespondent Afrika,
The Economist, Dakar
D ie Sahelzone, das trockene Gebiet
südlich der Sahara, ist mittlerweile
die konfliktreichste Region der Welt. In
Burkina Faso, Mali und Niger gibt es
dschihadistische Konflikte, im Norden
Nigerias wütet zügellose Bandenkrimi-
nalität, um den Tschadsee herum kämp-
fen vier Länder gegen die Terroristen von
Boko Haram und ihre Ableger, im Sudan
herrscht ein Bürgerkrieg, im Norden
Äthiopiens schwelen ethnische Konflikte,
und Somalia wird heimgesucht von den
Terroristen von al-Shabaab.
Das Ausmaß der Zerstörung ist er-
schreckend. In Mali, Niger und Burkina
Faso, der sogenannten zentralen Sahel-
zone, wurden im Jahr 2022 mehr als
10 000 Menschen in bewaffneten Konflik-
ten getötet. Im September 2023 war die-
se Zahl bereits überschritten. Im Norden
Nigerias wurden 2022 mehr als 7000 Men-
schen getötet. Während des fünfmonati-
gen Konflikts im Sudan wurden mehr als
9000 Menschen massakriert. Die Zahl der
Vertriebenen in der Region (ohne Somalia)
wird vorsichtig auf 15 Millionen geschätzt.
Der Konflikt in der
zentralen Sahelzone wird
wahrscheinlich noch
gewalttätiger werden
ALGERIA
MAURETANIEN
MALI
SAHEL
BENIN NIGERIA
BURKINA
TOGO
FASO
Gewalttätige Ereignisse, 2022-23*
Unter Beteiligung von
Dschihadistischen Gruppen und deren
Verbündeten
Regierungstruppen, Milizen und andere
Quelle: ACLED *Bis 18. Oktober
Naher OsteN & aFrIKa 81
Im Jahr 2024 werden die Waffen nicht
plötzlich schweigen. Der Konflikt in der
zentralen Sahelzone, wo Dschihadisten
mit Verbindungen zu Al-Qaida und dem
Islamischen Staat Zivilisten angreifen,
gegen Regierungstruppen und unterein-
ander kämpfen, wird sich wahrscheinlich
verschärfen. Den jüngsten Staatsstreich
in Niger werden Dschihadisten als Chan-
ce sehen, gegenüber einer abgelenkten
Armee an Boden zu gewinnen. Darauf
wird dann eine Politik der verbrannten
Erde gegen die Dschihadisten folgen.
In Burkina Faso hat die Regierung
Zehntausende zivile Männer bewaffnet
und in Milizen eingeteilt, was Chaos und
ethnische Massaker provozierte. Und aus
Mali werden mehr als 10 000 UN-Frie-
denssoldaten bis Ende 2023 abziehen,
weil sie die Dschihadisten nicht aufhalten
konnten. Der Frieden zwischen der Regie-
rung und Tuareg-Separatisten, den die
UN eigentlich aufrechterhalten wollte, ist
bereits in einen offenen Krieg ausgeartet.
Im Sudan sind erneute Zusammen-
stöße zwischen den offiziellen Streitkräften
und den paramilitärischen Rapid Support
Forces so gut wie sicher, ebenso wie wei-
tere ethnische Säuberungen in Darfur.
Obwohl zwischen diesen Kampf-
handlungen keine direkte Verbindung
besteht, werden manche Länder wie
Niger von mehr als einem Konflikt heim-
gesucht. Darum strömen Flüchtlinge in
alle Himmelsrichtungen. In Äthiopien
sind die Kämpfe zwischen Tigray und
der Regierung offiziell beendet, aber die
Auseinandersetzungen mit anderen eth-
nischen Gruppen wie den Amhara und
Oromo scheinen sich auszuweiten. Und
Staaten wie Benin und Togo leiden bereits
unter Angriffen von Dschihadisten aus
Burkina Faso.
All diese Gewalt geht Hand in Hand
mit politischem Chaos, zuletzt mit Staats-
streichen in Burkina Faso, Mali, Niger,
Tschad und im Sudan. Wenn sich die Ge-
walt 2024 ausbreitet, ist auch mit politi-
schem Chaos zu rechnen. A
LIBYA EGYPT
NIGER TSCHAD SUDAN
ERITREA
SÜD-
ZENTRALAFRIKANISCHE ÄTHIOPIEN
SUDAN
REPUBLIK
KAMERUN
KENIA SOMALIA
KONGO
TANSANIA 1000 km
82 Naher OsteN & aFrIKa Die Welt in 2024

Von der Apartheid Alliance, strebt eine „Mondflug-Koalition" mit kleine-

ren Gruppen an. Doch diese Allianz wird Mühe haben,

zur Apathie
auch nur in die Nähe von 50 Prozent zu kommen; zu
unterschiedlich sind ihre Mitglieder, zu zerstritten ihre
Führer. Für viele schwarze Südafrikaner, die mehr als
80 Prozent der Bevölkerung ausmachen, ist die Regie-
rungspartei mittlerweile der Teufel. Aber: Wer ihr
abschwor, geht oft lieber gar nicht mehr zur Wahl, als
eine andere Kraft zu wählen.
Darum dürfte der ANC an der Macht bleiben, wenn
er denn mithilfe seiner beeindruckenden Basis genü-
gend Stimmen mobilisieren kann, selbst wenn dies eine
Dreißig Jahre nach Ende der weißen Herrschaft Koalition mit kleineren Parteien erfordert. Das Schre-
steht Südafrika vor einer entscheidenden Wahl ckensszenario, dass der ANC so viele Stimmen verliert,
dass er sich mit den Economic Freedom Fighters, einem
JOHN MCDERMOTT Chefkorrespondent Afrika, ANC-Ableger unter der Führung des rabiaten Julius
The Economist, Kapstadt Malema, zusammentun muss, gilt als unwahrscheinlich.
Obwohl Präsident Cyril Ramaphosa den von ihm ver-

E s waren die wohl fröhlichsten Warteschlangen aller

Zeiten. Im April 1994 standen Millionen Südafrika-
ner an, um Nelson Mandela bei den ersten allgemeinen
sprochenen „Neuanfang“ nicht bewerkstelligen konnte,
wird er mit ziemlicher Sicherheit im Amt bleiben.
Der Mangel an Alternativen zum ANC spiegelt den
Wahlen des Landes ihre Stimme zu geben. Etwa 87 Pro- schlechten Zustand der südafrikanischen Demokra-
zent der Wahlberechtigten nahmen seinerzeit teil. Wenn tie wider. Rund 70 Prozent der Südafrikaner erklären,
die Südafrikaner im kommenden Mai wieder an die mit der Demokratie unzufrieden zu sein. Erstaunliche
Urnen gehen, wird die Freude ausbleiben. Korruption, 72 Prozent sagen, dass sie lieber einen starken Mann
Kriminalität und Arbeitslosigkeit belasten das Land. als einen gewählten Führer hätten – und das wäre in
Analysten glauben, dass noch weniger Bürger abstim- der patriarchalischen Welt der südafrikanischen Politik
men werden als 2019, damals waren es etwa 49 Prozent, ein Mann, – wenn dieser Arbeitsplätze schaffen und
und auch weniger als ein Viertel der nach 1994 „frei die Kriminalität bekämpfen könnte. Seit dem Ende der
geborenen“ Generation wählen gehen wird.
72 Prozent Regierung Mandelas 1999 hat sich eine Kluft in der
Womöglich erhält der Afrikanische Nationalkongress der Süd- südafrikanischen Politik aufgetan. Das Land sehnt sich
(ANC) zum ersten Mal seit 1994 weniger als die Hälf- afrikaner nach jener intelligenten und pragmatischen Führung,
te der Stimmen. Das könnte seine Parlamentsmehrheit hätten gerne die er verkörperte. Aber diese latente Sehnsucht nach
gefährden und eine Koalition erforderlich machen. einen starken einem Messias könnte auch durch das Auftauchen einer
Gewiss, in einigen Bereichen hat sich das Leben seit skrupellosen Figur gestillt werden. Ein Sieg im Jahr
1994 verbessert. Eine liberale Verfassung schützt die Mann an der 2024 könnte der letzte des ANC werden. Der Kampf um
Rechte und Freiheiten der Bürger. Die meisten Südafri- Staatsspitze die Seele Südafrikas hat eben erst begonnen. A
kaner glauben, dass die Rassenspannungen leicht nach-
gelassen haben. Es existiert eine soziale Grundversor-
gung. Schwarze Kinder schneiden in der Schule besser
ab. Aber vor allem herrscht Enttäuschung. Nach 30 Jah-
ren ANC-Regierung fallen die Vorteile der Demokratie
geringer als erwartet aus und kommen zumeist den Rei-
chen zugute. Als das Meinungsforschungsinstitut Ipsos
2023 Menschen aus 29 Ländern zur Entwicklung ihres
Landes befragte, war der Anteil der Unzufriedenen nur
in Argentinien und Peru höher als in Südafrika.
Kein Wunder. Arbeitslosenquote, Mordrate und
Ungleichheit gehören zu den höchsten der Welt. Das
Bruttoinlandsprodukt pro Person ist, inflationsbereinigt,
niedriger als 2008, und Stromabschaltungen durch den
staatlichen Energieversorger Eskom versinnbildlichen
die bröckelnde Infrastruktur. Heute hat das Land vier
Mal so viele private Sicherheitskräfte wie Polizisten,
1997 gab es hier noch Gleichstand.
Dahinter steht die Zersetzung des Staates durch die
Korruption des ANC. Obwohl die Bestechlichkeit unter
Jacob Zuma zwischen 2009 und 2018 am schamloses-
ten war, hat sie den Ex-Präsidenten überdauert. Klien-
telismus und Gier gehören zum Modus Operandi einer
Regierungspartei, die keinen Unterschied macht zwi-
schen sich selbst und dem Staat und die den Privatsek-
tor als eine bösartige Kraft ansieht, die es zu zerstören
gilt. Laut dem Meinungsforschungsinstitut Afrobaro-
meter glauben mindestens 80 Prozent der Südafrikaner,
dass einige oder sämtliche Staatsdiener in Ministerien,
Kommunen und im Präsidentenamt korrupt sind.
Daraus sollten andere Parteien Kapital schlagen kön-
nen. Die wichtigste Oppositionspartei, die Democratic
Die Welt in 2024
INTERNATIONAL
Manipulierte
Demokratie
Ein globaler Überblick über die
Wahltricks im Jahr 2024
ROBERT GUEST Stellvertretender Chefredakteur,
The Economist
M enschen gelangen „mehr durch Betrug als durch
Gewalt“ zu Größe, behauptete Niccolo Machia-
velli, ein Berater skrupelloser Prinzen im 16. Jahrhun-
dert. Heutige Machthaber finden in dem Buch von Nic
Cheeseman und Brian Klaas, „How to Rig an Election“,
ähnliche Ratschläge. „In vielen Ländern der Welt wurde
aus der Kunst des Machterhalts die Kunst der Wahlma-
nipulation“, argumentieren die beiden Wissenschaftler
(die, um es deutlich zu sagen, dies nicht gutheißen).
Nur eine Handvoll autokratischer Regime, wie beispiels-
weise China und Eritrea, verzichten ganz auf Wahlen.
Die meisten geben zumindest vor, den Wählern eine
83
Auch in dieser
Rubrik:
84 Temperaturen
weltweit
85 Grüne Metalle
86 BRICS erweitern
86 Tiefseeschürfen
87 Ein neues
Wettrüsten?
88 KI-Regulierung
88 2023 – wie
wir waren
Wahl zu lassen, während sie dafür Sorge tragen, dass
die Opposition nicht gewinnen kann. Das ist eine kluge
Strategie. Regime, die das praktizieren, was Cheese-
man und Klaas als „manipulierte Demokratie“ bezeich-
nen, halten sich tendenziell länger als reine Diktaturen.
Wahlen verleihen ihnen den Anschein von Legitimation,
sodass sie weniger Gefahr laufen, international geäch-
tet zu werden. Und wenn sie eine Opposition zulassen,
haben sie jemanden, den sie verteufeln können.
2024 werden eine Reihe von Wahlen diese traurige
Wahrheit an den Tag bringen. Mitunter wird der Betrug
klar erkennbar sein. Ruandas Präsident Paul Kagame
hat zuletzt 99 Prozent der Stimmen erhalten, sodass
seine Wiederwahl im August sicher sein dürfte. Die für
Februar angesetzten Wahlen in Mali wurden aus „tech-
nischen Gründen“ verschoben. Der in weiten Teilen
des Landes wütende Dschihad macht die Stimmabgabe
unmöglich, und kaum einer rechnet damit, dass die seit
2021 regierende Militärjunta abtreten würde.
Meist sind Wahlmanipulationen subtiler. Man will
gerade genug tricksen, um zu gewinnen, aber nicht
so viel, dass das Ansehen des Landes Schaden nimmt.
Das beginnt bei Maßnahmen, die nur indirekt mit den
Wahlen zu tun haben, wie der großzügigen Bezah-
lung von Polizei und Militär, um sich deren Loyalität zu
sichern, der Einflussnahme auf Richter, der Verwand-
lung des Rundfunks in ein Propagandainstrument und
der Bekämpfung von Kontrollorganisationen, die durch
unbegründete Steuerprüfungen in den Ruin getrieben
werden. Einige Staatsoberhäupter versuchen, Amtszeit-
beschränkungen mit verwirrenden juristischen Argu-
menten zu umgehen, wie in El Salvador und Russland.
84 InternatIonal Die Welt in 2024

Nur eine Handvoll

autokratischer Gebackenes Alaska
Regime verzichtet
ganz auf Wahlen

Damit ist der Boden für die zweite Phase bereitet:

die Wahl selbst zu fälschen. Durch die Manipulation der
Wahlkreisgrenzen können die Machthaber dafür sor­
gen, dass die Stimmen der Opposition weniger zählen.
Indem sie die Wählerverzeichnisse nicht aktualisie­
ren, belassen sie Tote in den Listen – und Tote wählen Globale Durchschnittstemperaturen könnten
gern die Regierungspartei. Genehmigungsverfahren
im Jahr 2024 eine wichtige Schwelle überschreiten
für Oppositionskundgebungen dauern Monate, wäh­
rend Kundgebungen der Regierungspartei reibungslos
ablaufen. Manche Regime sponsern heimlich oppositio­ CATHERINE BRAHIC Redakteurin Umwelt,
nelle Scheinkandidaten, um die Stimmen der Amtsgeg­ The Economist
ner aufzuteilen. In Russland ist 2024 mit einer Vielzahl
solcher Aktionen zu rechnen.
In Simbabwe führte 2023 eine strikte, aber selektive
Begrenzung der Wahlkampfausgaben in Verbindung
W ann wird die globale Jahresdurchschnittstempe­
ratur erstmals mehr als 1,5 °C über dem vorindus­
triellen Niveau liegen? Einzelne Tage, an denen die
mit einer plötzlichen Erhöhung der Registrierungs­ globale Durchschnittstemperatur diese Schwelle über­
gebühren für Kandidaten um das Zwanzigfache dazu, schritten hat, gab es bereits, aber noch kein Jahr, das
dass die Opposition kaum Geld für den Wahlkampf insgesamt so warm war. Das könnte sich 2024 ändern,
hatte, während der Präsident im Hubschrauber herum­ wenn der durch Treibhausgasemissionen verursachte
flog. Am Wahltag selbst zwang ein mysteriöser Mangel kontinuierliche Jahrhundertanstieg der Temperatu­
an Stimmzetteln in den Hochburgen der Opposition die ren zum ersten Mal seit fast einem Jahrzehnt mit einer
Wähler, bis in die frühen Morgenstunden Schlange zu natürlichen zyklischen Erwärmung zusammentrifft.
stehen. In den Hochburgen der Regierungspartei gab Meteorologische Forschungsinstitute erfassen Tem­
es keine derartigen Verzögerungen. peraturdaten aus der ganzen Welt und über das ganze
Populäre Oppositionskandidaten werden oft von der Jahr verteilt, um die mittlere jährliche globale Ober­
Kandidatur ausgeschlossen – es ist erstaunlich, wie flächentemperatur zu berechnen. Dieser Wert, der jedes
viele ihre Papiere nicht richtig ausfüllen können. Einige Jahr im Januar veröffentlicht wird, ist seit Beginn des
werden inhaftiert, natürlich nicht aus politischen Grün­ 20. Jahrhunderts angestiegen, allerdings nicht konti­
den, sondern wegen gewöhnlicher Straftaten wie etwa nuierlich. Die Linie verläuft im Zickzack (siehe Grafik).
Betrug – einer der Vorwürfe, für die Alexej Nawalny Das liegt daran, dass die globale Erwärmung durch
in Russland zu 30 Jahren Haft verurteilt wurde. Rahul Treibhausgase gleichzeitig mit natürlichen Schwankun­
Gandhi, der wichtigste Oppositionsführer in Indien, gen im globalen Klimasystem einhergeht, die dazu
wurde 2023 wegen Verleumdung zu einer Gefängnis­ führen, dass einzelne Jahre wärmer oder kälter sind.
strafe verurteilt und von der politischen Arbeit ausge­ Der größte dieser Warm­Kalt­Zyklen ist die „El Niño
schlossen. Es gelang ihm, die Vollstreckung des Urteils Southern Oscillation“ (ENSO), ein Phänomen, das im
rechtzeitig vor der bisher größten Wahl der Welt 2024 und über dem äquatorialen Pazifik entsteht und das
auszusetzen, aber dadurch gingen Monate verloren,
die für den Wahlkampf hätten genutzt werden können.
Würden 2024 in Bangladesch faire Wahlen abge­
halten, würde wohl die Opposition unter Khaleda Zia Wärmer wird’s
gewinnen. Aber Zia steht wegen Korruption unter Globale Land- und Meerestemperatur,
Hausarrest, und es wird mit einem Sieg der Regierungs­ Differenz zum Durchschnittswert von 1901-2000, °C
partei gerechnet. Bei den letzten Präsidentschafts­ 1,0
wahlen in Belarus hat die Ehefrau eines inzwischen
inhaftierten Oppositionsführers vermutlich mit großem El Niño La Niña
Stimmenvorsprung gewonnen, doch der amtierende
Despot Alexander Lukaschenko behauptet, er sei der
Sieger, und er hat nicht nur Waffen, sondern auch Wla­
0,5
dimir Putin auf seiner Seite. Die nächsten Wahlen im
Februar 2024 werden „fair sein, anders als die Wahlen
in den Vereinigten Staaten“, behauptet Lukaschenko.
Viele Menschen fürchten, dass Technologie – insbe­
sondere KI – Wahlmanipulationen erleichtern wird. Die
Anzahl und der Realismus gefälschter Videos von Oppo­ 0,0
sitionsführern, die unaussprechliche Dinge tun, werden
im Jahr 2024 sicherlich zunehmen, und dies könnte
einige Wähler beeinflussen, insbesondere in Ländern
mit geringer Alphabetisierung und eingeschränkter
Pressefreiheit wie Indien und Pakistan. Allerdings hat­ -0,5
ten die Regierungsparteien bereits reichlich Gelegen­ 1900 20 40 60 80 2000 23*
heit, Desinformation zu verbreiten, sodass die Auswir­ Quelle: NOAA *Januar-August
kungen wahrscheinlich gering sein werden. A
Die Welt in 2024 InternatIonal 85

Wetter in den Tropen und anderen Regionen der Erde
beeinflusst. ENSO wechselt zwischen drei Zuständen:
La Niña, neutral und El Niño. Die beiden extremen
Zustände sind in der Regel kühler (La Niña) und wär-
mer (El Niño) als der Durchschnitt; beide erhöhen die
Wahrscheinlichkeit extremer Wetterereignisse.
Von Mitte 2020 bis Anfang 2023 befand sich ENSO
in einem La-Niña-Zustand. Die ungewöhnlich lange
La-Niña-Periode führte nicht nur zu einer Häufung
erstaunlicher Wetterereignisse, darunter die Rekord-
schneefälle in Pakistan in 2022, sondern senkte auch
kurz die globalen Durchschnittstemperaturen und
verdeckte so einen Teil der durch Industrieemissionen
verursachten Erwärmung. 2024 wird es keine Atem-
pause geben. Im Juni 2023 schlug ENSO in El Niño um.
Es wird ein starker Verlauf prognostiziert, was die
Wahrscheinlichkeit von Extremereignissen erhöht. Das
letzte Ereignis dieser Art fand 2015/16 statt und führte zu
einem globalen Hitzerekord im Jahr 2016, der bis heute
Bestand hat. El Niño ist ein Jahresendphänomen, das
in den letzten Tagen des nördlichen Sommers beginnt
und um Weihnachten und Neujahr seinen Höhepunkt
erreicht. Normalerweise ist das Jahr nach El Niño das
Es wird ein rekordverdächtige. Doch der Nordsommer 2023 bescher-
starker te Ozeanen und Atmosphäre ein ernstes Temperatur-
problem. Ab Juli stiegen sie auf neue Höchstwerte.
El Niño pro­ Wenn alle Daten vorliegen und im Januar veröffentlicht
gnostiziert, werden, könnte sich herausstellen, dass 2023 das wärms-
der die te Jahr aller Zeiten war. Wenn nicht, wird es mit ziem-
Wahrschein­ licher Sicherheit 2024 sein.
Wird der Durchschnittswert in einem der beiden
lichkeit Jahre den Pariser Grenzwert überschreiten? Das Pariser
von Extrem­ Abkommen spricht von einem Anstieg „über dem vor-
ereignissen industriellen Niveau“. Wann der Schwellenwert über-
erhöht schritten wird, hängt vom vorindustriellen Mittelwert ab
– nur werden die Temperaturen heute mit einer Genau-
igkeit gemessen, die früher nicht möglich war. So rech-
nen einige Institute mit 2024, andere meinen, dass es
noch einen weiteren El-Niño-Zyklus dauern könnte.
Die Unterzeichner des Pariser Abkommens haben
jedoch noch etwas Zeit, bis die 1,5-Grad-Marke tatsäch-
lich erreicht ist. Das Abkommen bezieht sich auf einen
langfristigen Mittelwert, der über mehrere Jahre ge-
messen wird. Es wird weitere Hochs und Tiefs geben,
bis er erreicht ist. Allerdings nicht viele – in den 2030er
Jahren wird das Spiel laut Klimamodellen vorbei sein. A

Full Metal profitieren. Auch Argentinien könnte zu

den Gewinnern gehören, und afrikanische
rien Verwendung findet. Weniger bekannt
ist, dass Kobalt als Nebenprodukt beim

Jackpot
Länder könnten ihren Anteil am weltwei-
ten Erdgasmarkt bis 2050 verdoppeln.
Der Export von Milliarden Tonnen von
Metallen, die für den Bau CO2-armer
Infrastruktur benötigt werden, könnte zu
noch größerem Wohlstand führen. Chile
und Peru sind bereits die größten Kupfer-
Die Energiewende wird neue
lieferanten der Welt, und ihre Vorkommen
Reichtümer an überraschenden Orten werden in dem Maße erschlossen werden,
zutage fördern wie die Einführung grüner Produkte – von
Kabeln bis zu Windturbinen – die Nachfra-
MATTHIEU FAVAS Korrespondent Rohstoffe, ge steigen lässt. Doch der sinkende Kup-
The Economist fergehalt der ausgeschöpften Minen treibt
die Kosten und Bergbauunternehmen in
Abbau anderer Mineralien anfällt. Indo-
nesien, der größte Exporteur von Nickel,
einem weiteren Metall, das für E-Autos
benötigt wird, ist so zu einem expan-
dierenden Kobaltlieferanten geworden.
Der viertgrößte Nickelproduzent der Welt
ist Neukaledonien, ein französisches Terri-
torium im Pazifik, das über sieben Prozent
der weltweiten Reserven verfügt.
Bei Lithium haben Lateinamerika,
Australien und China die Nase vorn. Doch
ihnen droht unerwartete Konkurrenz. Im
März meldete der Iran die Entdeckung
des wohl zweitgrößten Lithiumvorkom-

E ine globale Netto-Null-Wirtschaft,

falls sie denn kommt, wird nicht nur
CO2-neutral sein, sondern auch viel weni-
risikoreichere Regionen. Barrick Gold,
ein kanadischer Konzern, will sieben Mil-
liarden Dollar in ein Kupfergroßprojekt
mens der Welt. Das australische Unterneh-
men Atlantic Lithium erschließt derweil
die erste Lithiummine in Ghana. Und im
ger Rohstoffe verbrauchen. Um von einem im unbeständigen Grenzgebiet zwischen September wurde in den USA eine riesige
Punkt zum anderen zu gelangen, werden Pakistan und Iran investieren. Lagerstätte entdeckt. Die Nachfrage nach
aber zunächst große Rohstoffmengen Bekanntlich ist die Demokratische „grünen“ Metallen wird die Weltkarte des
benötigt, was in den nächsten Jahrzehn- Republik Kongo die weltweit größte Lie- Bergbaus auf nur schwer vorhersehbare
ten neue Reichtümer schaffen wird. ferantin von Kobalt, das in E-Auto-Batte- Weise neu gestalten. A
Eine Welt auf dem Weg zu einem
saubereren Energiesystem wird auch in
Zukunft schmutzige Brennstoffe benöti-
gen. Und selbst wenn die Ölnachfrage Schätze
ihren Höhepunkt erreicht, werden die Anteil an den weltweiten Reserven Asien- Pazifik Europa Lateinamerika Nordamerika Afrika
Länder, die qualitativ hochwertiges Roh- Januar 2023 in Prozent
öl zu niedrigen Kosten fördern können, Lithium Insgesamt 26 Mio. Tonnen Kupfer 890 Mio. Tonnen Nickel 102 Mio. Tonnen
eher gestärkt als geschwächt, da ihr
Marktanteil und ihre Marktpreise in glei- USA Brasilien
Australien 16
chem Maße steigen. Profiteure dieser Australien Russland Andere
Kanada China 24 11
Entwicklung werden die Golfstaaten sein.
USA
Weniger auf dem Radar ist das winzige Peru
Argen-
Guyana, dessen jüngste Ölfunde es ihm tinien 9 Russ- Indonesien
Mexiko
ermöglichen, mehr Öl pro Kopf zu produ- 10 land 21
Australien
Chile
zieren als jedes andere Land der Welt. 36 21
Andere Andere Chile
Erdgas könnte ebenfalls noch länger 21 Neu-
nachgefragt werden. Da sich Europa von US kaledonien
russischem Gas verabschiedet hat, wer-
Quelle: USGS
den Amerika, Australien und Katar davon
86 INterNAtIONAL Die Welt in 2024

Weniger als die Im Rausch Abbau nachgedacht. 2024 wird

Summe der
entweder die ISA ihre Regeln

der Tiefe veröffentlichen, wahrscheinlich

bei einem Treffen im Juli, oder
einzelnen Teile die Unternehmen werden ent­
scheiden, ohne sie vorzugehen.
Vor allem The Metals Com­
pany (TMC) ist bereit, damit zu
beginnen. SIe hat bereits Tau­
Die BRICS-Gruppe wird 2024 ihr Die Tiefseebergbau-Leute sende von Tonnen Knollen bei
größtes Gipfeltreffen abhalten müssen sich ranhalten Probeläufen gesammelt. TMC
hat seit Juli 2023 das Recht,
JOHN MCDERMOTT Chefkorrespondent HAL HODSON Autor für Sonder­ einen Antrag auf Abbau in ihrer
Afrika, The Economist projekte, The Economist CCZ­Konzession zu stellen,
nachdem die ISA eine zweijäh­

W enn sich die BRICS-Staaten im Okto-

ber 2024 in Russland treffen, wer-
den sie eine größere Bühne brauchen. Zu
T iefseebergbau ist eine faszi­
nierende Sache. Dabei wer­
den Robotersauger in der Größe
rige Frist zur Anpassung ihrer
Vorschriften versäumt hat.
Sollten diese Vorschriften nicht
den Staats- und Regierungschefs der fünf von Mähdreschern Tausende bis 2024 in Kraft treten, könn­
Namensgeber Brasilien, Russland, Indien, von Metern auf die Tiefseeebe­ te TMC in eine schwierige Lage
China und Südafrika werden die Staats- nen des Pazifiks hinabgelassen. geraten. Ohne den Abtransport
und Regierungschefs von sechs weiteren Sie rumpeln über den Meeres­ der Knollen würde dem Unter­
Ländern hinzukommen. Der Beitritt von boden und saugen Mangan­, nehmen das Geld ausgehen.
Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Kupfer­, Kobalt­ und Nickel­ TMC erklärt, dass sie nach
Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabi- knollen auf – Metalle, die für die der Sitzung im Juli einen Antrag
schen Emiraten wird zeigen, wie sich die weltweite Elektrifizierung der auf Abbau stellen wird. Das wird
Geopolitik verändert: Die Welt wird multi- Wirtschaft unverzichtbar sind. zu Konflikten führen. Umwelt­
polarer, und die Mittelmächte fordern die Diese Knollen liegen locker auf schützer fordern ein Verbot
westliche Ordnung immer selbstbewuss- dem Meeresboden. In einem Teil des Tiefseebergbaus, weil die
ter heraus. Der Gipfel wird aber auch die des Pazifiks, der sogenannten Gewinnung „grüner“ Metalle die
Grenzen dessen aufzeigen, was ein hete- Clarion­Clipperton­Zone (CCZ), Schädigung der Ökosysteme
rogener globaler Süden erreichen kann. lagern Knollen mit Metallmen­ in der Tiefsee nicht rechtfer­
In den 2010er Jahren wurde der gen, die in etwa den gesamten tige. Aber auch der Abbau von
Zusammenschluss vom Westen belächelt. Vorräten an Land entsprechen. Metallen an Land verursacht
Die Volkswirtschaften Chinas und Indiens Wer das Metall abbauen will, Schäden, etwa im indonesi­
wuchsen schnell, aber die Stagnation in muss sich an die 1994 gegründe­ schen Regenwald. Die ISA täte
anderen Ländern führte dazu, dass die te Internationale Meeresboden­ deswegen gut daran, bei ihren
BRICS-Gruppe zum Synonym für unter- behörde der Vereinten Nationen Überlegungen auch die Schäden
durchschnittlich performende Schwellen- (ISA) wenden. Doch seit 30 Jah­ des herkömmlichen Metall­
länder wurde. Foren wie G20 waren besser ren wird über Regeln für den abbaus zu berücksichtigen.
geeignet, heikle globale Fragen zu disku-
tieren. Den BRICS-Staaten fehlte ein Ziel.
Das ist nun vorbei. Die Spannungen
zwischen dem Westen und China sowie
Russlands Invasion in der Ukraine bedeu-
ten, dass aufstrebende Mächte BRICS als
Chance für eine unabhängigere Außen-
politik sehen. Für China, die treibende
Kraft hinter der Expansion, ist der Zusam-
menschluss ein Gegengewicht zur G7.
Mit 46 Prozent der Weltbevölkerung
und 29 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
erscheint die Gruppe auf den ersten Blick
beeindruckend groß. Sie umfasst zwei der
drei größten Ölproduzenten und die mäch-
tigsten Länder am Golf, in Lateinamerika
und wahrscheinlich auch in Afrika.
Der Block ist jedoch zu divers, um eine
Währungsunion oder eine Freihandels-
zone zu bilden. Die Mitglieder haben zu
unterschiedliche Systeme und strategi-
sche Ziele. Daher wird es nie einheitliche
Positionen geben, etwa zur Reform des
UN-Sicherheitsrats, die im September in Den BRICS-
New York diskutiert werden soll. Letztlich
ist BRICS die geopolitische Version von
Staaten fehlte
Manchester United: elf Spieler, die weni- ein Ziel. Jetzt E In den Abgrund
ger sind als die Summe ihrer Teile. A haben sie es
Die Welt in 2024 InternatIonal 87

Auf dem Weg in ein

neues Atomzeitalter?

Ein Atomtest durch eine der drei Großmächte

könnte ein neues Wettrüsten auslösen

ANTON LA GUARDIA Redakteur Diplomatie,

The Economist, Washington, D. C.

D ie seismologischen Detektoren könnten bald nicht

mehr nur von Erdbeben erschüttert werden, son-
dern von einer unterirdischen Atomexplosion in Nowaja
Semlja in der russischen Arktis oder in Lop Nor in der
chinesischen Region Xinjiang. Und kurz darauf von
einer Explosion auf dem Gelände der Nevada National
Security Site in den USA.
Seit 1996 der Vertrag über das umfassende Verbot
von Nuklearversuchen (Comprehensive Nuclear-Test-
Ban Treaty, CTBT) ausgehandelt wurde, hat keine der
drei Großmächte eine Atombombe gezündet. Satelliten-
bilder zeigen jedoch intensive Aktivitäten auf ihren Test-
geländen. Eine Detonation könnte ein Wettrüsten aus-
lösen, das gefährlicher wäre als das des Kalten Krieges.
Die nukleare Rüstungskontrolle ist seit dem Aus-
stieg der USA aus dem ABM-Vertrag zur Begrenzung
der Raketenabwehrsysteme im Jahr 2002 kontinuierlich
untergraben worden. Mit dem Einmarsch Russlands
in die Ukraine und der Androhung des Einsatzes von Wie wahrscheinlich ist ein Atomtest? Computersimu-
Atomwaffen hat sich die nukleare Gefahr weiter ver- lationen können auf der Basis von Daten aus früheren
schärft. USA und Russland haben den Informationsaus- Tests viel leisten. Aber sie bieten keine Gewissheit. Den
tausch im Rahmen des New-Start-Vertrages eingestellt, größten Bedarf an Daten hat China, das erst 45 Tests
der die „strategischen“ Langstrecken-Atomwaffen durchgeführt hat, gegenüber den USA mit 1030 und
beider Seiten begrenzt. Russland stationiert taktische Russland mit 715 Tests.
Atomwaffen in Weißrussland und will Ende 2023 seine Russland hat das größte politische Interesse an Tests.
Ratifizierung des CTBT rückgängig machen. Chinas Der Krieg in der Ukraine könnte den Ausschlag geben.
Atomwaffenarsenal wird laut Pentagon bis 2030 von Je schlechter Russland auf dem Schlachtfeld abschnei-
500 auf über 1000 Sprengköpfe anwachsen. den, desto wahrscheinlicher ist es, dass Putin zu Atom-
Noch halten sich USA und Russland an die im New- waffen greift. Ein unterirdischer Test wäre dabei eine
Start-Vertrag festgelegten Obergrenzen. Doch nach weniger riskante Form der Eskalation. Ein neues Wett-
Jahrzehnten bilateraler nuklearer Stabilität wird die rüsten wäre kaum zu verhindern. Atomabkommen
neue, dreiseitige Konkurrenz – „eine existenzielle He- basieren in der Regel auf dem Prinzip der Parität. Russ-
rausforderung, auf die die Vereinigten Staaten schlecht land und China werden beide auf Parität mit den USA
vorbereitet sind“, so eine Expertenkommission – Druck pochen, die könnten aber mehr als beide wollen, um
auf Präsident Joe Biden ausüben, Amerikas Atomwaffen Ein neues sie gleichzeitig abwehren zu können. Sprengköpfe zu
aufzustocken. Derzeit modernisiert die Regierung nur zählen ist schwierig genug. Aber wenn deren Anzahl
vorhandene Waffen. Ein Nachfolger könnte nach dem
Wettrüsten nicht mehr begrenzt ist, wird es noch schwieriger, Dinge
Ende des New-Start-Vertrages im Februar 2026 oder wäre kaum zu wie Hyperschallraketen, Antisatellitenwaffen und KI zu
gar früher das Arsenal testen und ausbauen. verhindern kontrollieren. Das Wettrüsten könnte eskalieren. A

WAS WÄRE, WENN …?
Der rote Riesenstern Beteigeuze ist 570 Lichtjahre
von der Erde entfernt. Wenn sein Kern kollabiert, was
innerhalb von etwa 100 000 Jahren passiert, wird er
das hellste Objekt in unserer Galaxie sein. Sollte dieser
Kollaps im Jahr 1454 stattgefunden haben, was durch-
aus möglich ist, würde uns sein Licht im Jahr 2024
erreichen. Was wäre, wenn Beteigeuze als Super­
nova explodiert? Dann wäre er für einige Monate tags-
über sichtbar und würde heller als alle anderen Sterne
leuchten. Praktische Auswirkungen hätte das nicht:
Die einen würden staunend nach oben schauen. Andere
würden es wie früher als beunruhigendes Omen sehen.
88 InternatIonal Die Welt in 2024

Herausforderungen Nationale Gesetze können vielleicht

mit einfacheren KI-Anwendungen und

bei der Regulierung

LLMs umgehen, aber Pioniermodelle er-
fordern globale Regeln – und ein inter-
nationales Gremium, das sie überwacht.
von KI Microsoft hat sich etwa für eine Agentur
ähnlich der ICAO ausgesprochen; OpenAI
hat eine „IAEA für Superintelligenz“ ge-
fordert; KI-Forscher sind eher für eine Ein-
Eine Behörde zur Kontrolle von KI ist richtung ähnlich dem CERN. Ein Kompro-
miss wäre die Schaffung eines Gremiums
so komplex wie die Technologie selbst
ähnlich dem Intergovernmental Panel on
Climate Change (IPCC), das die Welt über
LUDWIG SIEGELE Redakteur Unternehmen die Erforschung der globalen Erwärmung
Europa, The Economist, Berlin auf dem Laufenden hält.
Ursula von der Leyen, die Präsidentin

I nternationale Organisationen begin-

nen oft klein. Die Internationale Zivil-
luftfahrtorganisation (ICAO) wurde 1944
gegründet, und es dauerte Jahrzehnte, bis
sie Regeln für den Luftverkehr festlegen
konnte. Die Europäische Organisation
für Kernforschung (CERN) nahm 1952 in
den leer stehenden Räumen der Universi-
tät Kopenhagen ihre Arbeit auf. Und die
Internationale Atomenergie-Organisation
(IAEO) hatte bis 1979 ihren Sitz in einem
Wiener Hotel.
Die drei Organisationen verkörpern die
wichtigsten Modelle für eine neue globale
Organisation. Die ICAO setzt Standards,
das CERN ist eine Forschungseinrichtung
und die IAEO eine Nuklearbehörde. Kom-
mendes Jahr werden die Regierungen der
Welt wohl entscheiden, welche Art von
globalem Gremium sie für die Regulie-
rung einer weiteren Technologie einsetzen
wollen: künstlicher Intelligenz (KI).
In der Diskussion werden häufig drei
Arten von Risiken unterschieden. KI-ge-
stützte Software, die etwa medizinische
Bilder interpretiert, könnte ungenau sein.
Sprachmodelle (LLMs), die generativen
KI-Dienste wie ChatGPT antreiben, könn-
ten Vorurteile fortschreiben. Und es gibt
die Sorge, dass die leistungsfähigsten
„Pioniermodelle“ für die Entwicklung von
Krankheitserregern oder Cyberwaffen
verwendet werden und zu einer über-
menschlichen „allgemeinen KI“ führen
könnten, die die Menschheit bedroht.
der Europäischen Kommission, unterstützt
diese Idee ebenso wie eine Gruppe von
Führungskräften aus der Tech-Branche.
Das wird aber gewiss nicht das letzte Wort
bleiben. Ein internationales Gremium für
KI-Sicherheit, wie es einige nennen, könn-
te zur Gründung weiterer globaler Organi-
sationen führen.
Auf Grundlage von Untersuchungen
über internationale Institutionen, die im
Zusammenhang mit anderen wichtigen
Technologien entstanden sind, stellen
sich die Autoren eines Forschungspapiers
gleich eine Reihe von Gremien vor. Sie
reichen von einem „AI Safety Project“ zur
Risikoforschung bis hin zu einer „Commis-
sion on Frontier AI“, die einen Konsens zu
kritischen Fragen herstellen soll. Rechnen
Sie also damit, dass Sie die Bedeutung von
noch mehr Akronymen lernen müssen. A

Wie wir 2023 Europa und ein starker Arbeits-

markt in Amerika haben uns
Nigeria verlieren würde, so-
sehr wir uns auch das Gegen-

abgeschnitten eines Besseren belehrt. Natür-

lich kann es auch 2024 noch
teil gewünscht hätten. Leider
hatten wir in beiden Fällen

haben Rezessionen geben, aber das

Mal gewinnt man,
mal verliert man
toM StanDaGe Chefredakteur,
The World Ahead 2024
ist ja der eigentliche Sinn des
recht. Wir warnten, dass die
Spannungen zwischen dem
Witzes: Jede Rezessionsvor- Präsidenten und dem Vizeprä-
hersage wird irgendwann ein- sidenten des Sudan „zu Pro-
treffen. Das Timing ist wichtig. blemen führen könnten“ – und
Die abrupte Aufhebung tatsächlich brach im April ein
der Null-Covid-Politik in Chi- Bürgerkrieg aus. In Argen-
na im Dezember 2022 hat tinien empfahlen wir, Javier
uns ebenfalls überrascht. Milei im Auge zu behalten,
Auch den Angriff der Hamas der im November zum neuen
auf Israel im Oktober konn- Präsidenten gewählt wurde.

Ö konomen haben, wie ein

alter Witz sagt, neun der
letzten fünf Rezessionen erfolg-
reich vorhergesagt. Der größte
Fehler, den wir in „The World
Ahead 2023“ gemacht haben,
war, dass wir die westlichen
Volkswirtschaften zu pessi-
mistisch eingeschätzt und für
2023 eine kurze Rezession in
Amerika, eine tiefe Rezession in
der EU und eine lange Rezession
in Großbritannien vorhergesagt
haben. Aber ein milder Winter in
ten wir nicht vorhersehen.
Das haben wir anderswo
besser hinbekommen. Der Krieg
in der Ukraine hat sich zu einer
zermürbenden Pattsituation
entwickelt, in der Russland ver-
sucht, den Konflikt in die Länge
zu ziehen in der Hoffnung, dass
die Unterstützung des Westens
bröckelt. Der Krieg beschleunig-
te die Einführung erneuerbarer
Energien und zog den Übergang
zu sauberen Energien um fünf
bis zehn Jahre vor, es wurde viel
von „Peak China“ gesprochen,
die amerikanische Politik
pendelte sich auf ein Biden-
Trump-Rematch ein, die BRICS
nahmen neue Mitglieder auf, die
Diskussionen über ESG-Inves-
titionen verschärften sich, und
YIMBYs gewannen an Boden –
alles wie von uns erwartet.
Was Wahlen betrifft, haben
wir vorausgesagt, dass Recep
Tayyip Erdogan in der Türkei
gewinnen und Peter Obi in
Im Technologiebereich hat
Apple wie erwartet sein Head-
set Vision Pro auf den Markt
gebracht, nicht vorhergesehen
haben wir den „iPhone-Moment“
für künstliche Intelligenz.
Haben wir also einen Chat-
bot nach seiner Prognose für
2024 gefragt? Nein, wir glauben,
dass menschliche Intelligenz
maschineller Lernfähigkeit
überlegen ist, zumindest im
Moment. Aber wer weiß schon,
was die Zukunft bringt?
Die Welt in 2024 TRENDLINIEN 89

TRENDLINIEN
Oft lassen sich Trends am besten anhand von Grafiken verfolgen. Hier finden Sie eine Auswahl
bemerkenswerter Indikatoren, die es im Jahr 2024 zu beobachten gilt, von der Solarzellen-
technologie bis zu Superheldenfilmen. Einige sind einfach nur unterhaltsam, andere könnten
die Welt verändern.

Zusammengestellt und verfasst von GILEAD AMIT, RACHEL LLOYD, JONATHAN ROSENTHAL,
TOM STANDAGE, PRATIBHA THAKER und CHRISTOPHER WILSON

Kosten bis zum erdnahen Orbit pro kg, Preise 2021 USA Russland China Andere

Log -Skala
100 000 $

Space Shuttle

SpaceX
Sojus
Falcon 1 WERDEN DIE KOSTEN FÜR WELTRAUM-
TRANSPORTE WEITER SINKEN?
10 000
Das Verbringen von Gütern in den Welt-
raum ist deutlich günstiger geworden. Das
liegt vor allem am Einsatz neuer Recyc-
ling-Raketen durch Elon Musks SpaceX.
Das Modell Falcon 9 hat eine wiederver-
Saturn V
wendbare Trägerstufe, die Lasten ins All
bringen und zur Erde zurückkehren kann,
Neutron* wo sie auf dem Boden oder auf einem
Rocket Lab Drohnenschiff abgesetzt wird. Da das zig
Falcon 9 Millionen Dollar teure Flugobjekt bis zu
15-mal wiederverwendet wird, wird die
Logistik billiger. Zudem befördert SpaceX
mehr in den Orbit als alle Mitbewerber
Falcon Heavy zusammen. 2024 könnten die Kosten wei-
1000 ter sinken. Zwei Raketen stehen vor dem
Start. Die erste ist die Starship von SpaceX,
die größte jemals gebaute Rakete, die
Erfolgreiche Starts
komplett wiederverwendbar ist und bis zu
1000 150 Tonnen tragen kann – zehnmal mehr
500 als die Falcon 9. Zu beachten ist auch
Neutron, eine wiederverwendbare Rakete
250 von Rocket Lab, einem konkurrierenden
Starship* Start-up-Unternehmen. Ihre Kosten pro
Kilogramm sollen auf dem Niveau der Fal-
con 9 liegen, Neutron ist aber für kleinere
1960 70 80 90 2000 10 20 24 Nutzlasten konstruiert. Um den Weltraum
weiter zu öffnen, muss das, was aufsteigt,
Quelle: CSIS Jahr des ersten Starts * Schätzung von The Economist auch sinken – im Preis.
90 TRENDLINIEN
WERDEN CHATBOTS FAD?
Nach seinem Start im Novem-
ber 2022 zog ChatGPT inner-
halb von zwei Monaten 100 Mil-
lionen Nutzer an, aber nach ei-
nem Zwischenhoch Mitte 2023
scheint der Boom mittlerweile
gesättigt. Bedeutet das nun ein
Nachlassen der Begeisterung
für Chatbots im Allgemeinen?
Oder ist es ein Zeichen, dass die
Nutzer anspruchsvoller wurden
und andere Chatbots verwen-
den, die spezifischen Aufgaben
besser nachkommen? Aber
womöglich ist der Rückgang
zur Jahresmitte auch auf die
Sommerferien zurückzuführen.
Mal sehen, ob die Zahlen Ende
2023 wieder ansteigen.
Monatliche Unique Visitors in Mio.
ChatGPT
Bing
Google Bard
2022 2023
100 MRD.
Quelle: Similarweb
WANN IST DIE KOHLE PASSÉ ?
Die Internationale Energieagen-
tur (IEA) erwartet, dass erneu-
erbare Energien wie Solar- und
Windenergie schon bald Kohle-
kraftwerke überholen und zur
größten Stromquelle der Welt
werden. Doch wann? Bisher
war die IEA von 2025 ausge-
gangen. Aber nun glaubt sie,
dass dies bereits 2024 eintreten
könnte, und zwar wegen des
„schnelleren Ausbaus erneuer-
250
200
150
100
50
0 steller aus den USA, Großbri-
barer Energien und des Nach-
lassens der Kohleverstromung“.
Erneuerbare Energien in Euro-
pa wurden durch den Krieg in
der Ukraine angeschoben. Im
Jahr 2022 haben die EU-Länder
eine Solarkapazität von 41 Gi-
gawatt (GW) zugebaut, und in
2023 werden es mehr als 50 GW
sein. China stockte 2022 seine
Solarkapazität um 107 GW auf,
was in etwa der gesamten Ka-
pazität der USA entspricht, und
Die Welt in 2024
Wirkungsgrad von Solarzellen in Prozent
35
Perowskit-Silizium-
Tandemzellen 30
25
Perowskit-Zellen
20
15
2013 15 17 19 21 23
Quelle: NREL
SETZEN SICH PEROWSKIT-
SOLARZELLEN DURCH?
Silizium-Photovoltaikzellen
wandeln Sonnenlicht mit einem
Wirkungsgrad von etwa 23 Pro-
zent in Strom um. Perowskit-
Zellen, die andere Elemente in
einer bestimmten Kristallstruk-
tur verwenden, sind teurer, aber
ihr Wirkungsgrad liegt höher:
Bei über 25 Prozent und über
30 Prozent, wenn sie im „Tan-
dem“ mit Silizium kombiniert
werden. Der Mehraufwand
kann sich lohnen, vor allem
wenn der Platz knapp ist. Her-
tannien, Südkorea und Schwe-
den wollen 2024 die ersten
Perowskit-Zellen verkaufen.
Eingesparter Betrag durch
neue Solar- und Wind-
kapazitäten seit Beginn der
Energiekrise, in Euro
2023 dürften zwei komplette Weltweite Stromerzeugung in GWh
US-Kapazitäten dazukommen.
PROGNOSE 12
Der Einsatz von Kohle zur
Stromerzeugung hat 2022 um Kohle
1,7 Prozent zugenommen, was 8
Erneuerbare Energien
vor allem an der Explosion der
Erdgaspreise lag. Für 2023 und
2024 wird jedoch ein Rück- Gas 4
Kernenergie
gang der Kohleverstromung in
Europa und Nordamerika prog- Öl
0
nostiziert, der einen möglichen
2014 16 18 20 22 24
leichten Anstieg in Asien mehr
Quelle: IEA
als ausgleichen wird.
Die Welt in 2024 TRENDLINIEN 91

ERLEBEN SUPERHELDEN-
FILME EIN COMEBACK? Anteil der Top-Ten-Filme an den weltweiten Einspielergebnissen in Prozent Weltmarkt für Kaffee
Wurden die Superhelden 70 60 kg-Säcke in Mio.
180
gezähmt? Zumindest an den Superhelden-Filme
Verbrauch
Kinokassen standen sie 2023
im Schatten von „Barbie“, Produktion 160
dessen Plastik-Protagonistin 60
das Patriarchat eher mit häu-
figen Garderobenwechseln als Oppenheimer
140
mit übermenschlichen Kräf-
ten bekämpfte, und „Oppen- 50
Spider-Man: 2010 15 20 22*
heimer“, einem Biopic über No Way Home
einen nicht übermenschlichen Quelle: ICO, Jahre ab Oktober *Schätzung
(aber sehr klugen) Mann. Es
ist spekuliert worden, ob der Barbie 40
Appetit auf endlose Super- WIRD KAFFEE ZUM LUXUS?
heldenfilme von Marvel und Inzwischen wird mehr Kaffee
seinen Epigonen nachgelassen getrunken als angebaut. Die-
hat. In 2024 ist die Bühne be- 30 se Lücke könnte bis 2024
reitet für einen Showdown. Es noch größer werden: Extrem-
werden Superheldenepen wie wetter in Brasilien Ende 2023
„Captain America: Brave New könnten die Ernte von Arabi-
World“, „Deadpool 3“ und 20 ca-Bohnen schädigen, wäh-
zwei Spider-Man-Spin-offs rend El Niño die Erträge von
gegeneinander antreten. Ihre Robusta-Bohnen in Indonesien
Mitbewerber sind „Mickey 17“, zu reduzieren droht. Womög-
die Fortsetzung von Bong Joon- 10 lich müssen Kaffeeproduzen-
hos „Parasite“, „Challengers“, ten einen Anbau in weiteren
Luca Guadagninos Tennis- Lagen erwägen, wenn sich die
drama, „It Ends with Us“, ba- Erde erwärmt. Und die Kaf-
sierend auf Colleen Hoovers 0 feetrinker davon überzeugen,
Buch, und „Gladiator 2“, Rid- 2014 15 16 17 18 19 20 21 22 23* eine dritte Sorte auszuprobie-
ley Scotts Fortsetzung seines Quelle: IMDb *Bis 15. September
ren, die mehr Hitze verträgt
Epos aus dem Jahr 2000. und Liberica heißt.

ERFOLG FÜR ROBOTAXIS? Städten kommen Angebote auf

Weltweite Polio-Wildvirus-Fälle Robotaxis, Meilen pro Fahrt
Vor fünf Jahren gab es einen den Markt wie das von Cruise in Tausend
200 Hype um selbstfahrende Taxis. in San Francisco. Dennoch sei 180
Der legte sich, als sich heraus- das Vertrauen der Amerikaner
Kreuzfahrt
150 stellte, dass einige Fehler in in selbstfahrende Autos 2023
Top-drei- 120
der Technologie schwer zu gesunken, so eine Umfrage Unternehmen
100 beheben sind. Inzwischen sind von J. D. Power. Kunden, die Prognose
leise Fortschritte zu verzeich- bereits in einem solchen Auto 60
50 nen: Die Abstände zwischen kutschiert wurden, waren ent-
den Fehlern, die ein Eingreifen spannter. Die Frage für 2024 0
0 des Sicherheitsfahrers erfor- lautet: Können Robotaxis
2015 18 19 20 21 22 23
2019 20 21 22 23* dern, haben sich branchenweit schneller besser werden als die
Quelle: IDTechEx
Quelle: WHO *Bis 23. September verlängert. Und in immer mehr Angst vor ihnen?

WIRD POLIO BESIEGT?

2024 könnte das erste Jahr
ohne wilde Kinderlähmung
sein. Pakistan und Afgha-
nistan sind die letzten Län-
der, in denen die Krankheit
endemisch ist. Die Fälle
sind zurückgegangen (die
Grafik zeigt die Zahl, nicht
Tausende oder Millionen)
und beschränken sich auf
kleine Gebiete. Ausrottungs-
programme haben Chancen
auf Erfolg. Der Fokus ver-
lagert sich auf die Ausrottung
einer neuen Form der Krank-
heit, der durch Impfung
übertragenen Poliomyelitis.
92 TRENDLINIEN
Quantengröße erreicht
Log-Skala
2020 21 22
Quellen: IBM; Quantinuum
PRAKTISCHE QUANTEN?
Es ist ein Wettlauf im Gang,
um die unheimlichen und
widersinnigen Gesetze der
Quantenphysik für den Bau
von Computern zu nutzen.
Bei einigen Operationen
könnte ein Quantencomputer
alle Nicht-Quantencomputer
übertreffen und Berechnun-
gen schnell durchführen.
Wann wird es eine brauchbare
Maschine geben? Ein Maß
für die Leistungsfähigkeit
eines Quantencomputers ist
die Anzahl der Quantenbits,
kurz Qubits. Doch die existie-
renden Maschinen, die Qubits
auf unterschiedliche Weise
Anzahl der Staatsstreiche weltweit
1946 60 70
Quellen: Centre for Systemic Peace; Pratibha Thaker, EIU
MEHR STAATSSTREICHE?
Nach einem Nachlassen im
letzten Jahrzehnt häufen sich
Umstürze, vor allem in Afrika
südlich der Sahara. Die Sahel-
zone zwischen Rotem Meer
und Atlantik erlebte 18 Putsch-
versuche innerhalb von drei
Jahren. Neun hatten Erfolg.
Die meisten Putsche geschehen
aus einem dieser zwei Gründe:
Entweder bricht die öffentliche
Sicherheit zusammen (Niger,
Mali), und die Militärs präsen-
tieren sich als Wahrer der Ord-
nung. Oder ein Führer hat alle
Popularität verloren (Gabun).
Experten rechnen mit weite-
216
212
28
24
23
Versuche Erfolgreiche
80 90 2000 10
*Bis August
ren Putschen. Doch wo? Das
Forschungsinstitut BMI hält
den Südsudan für am stärksten
gefährdet, gefolgt von der
Zentralafrikanischen Republik,
die größtenteils nicht mehr von
der Regierung kontrolliert wird.
SBM Intelligence, ein Bera-
tungsunternehmen aus Nigeria,
glaubt, dass die Demokratische
Republik Kongo besonders in
Putschgefahr schwebt. Und
Achtung auf Äquatorialguinea:
Dort regiert Afrikas dienstältes-
ter Staatschef Teodoro Obiang
Nguema Mbasogo, inzwischen
81. Eine Nachfolgekrise könnte
einen Staatsstreich auslösen.
WANN IST CHINA GRÖSSTER
AUTOEXPORTEUR?
20
Der Umstieg auf Elektrofahr-
zeuge hat die Automobilindus-
15
trie revolutioniert. Elektroautos
ähneln mehr Smartphones als
10
traditionellen Fahrzeugen: Sie
besitzen weniger bewegliche
5
Teile und sind mechanisch
einfacher. Die etablierten Her-
0
steller, die sich im Bau von
23* Motoren und Getrieben aus-
zeichnen, haben ihren Wettbe-
werbsvorteil eingebüßt. Chine-
sische Produzenten stießen in
die Lücke.
Im Jahr 2024 wird China
sowohl Deutschland als auch
Japan überholen und Autoex-
porteur Nummer eins werden,
angetrieben vom Elektroboom.
Zugegeben, zu den chinesi-
schen Autoexporten zählen
viele Fahrzeuge, die vom US-
Unternehmen Tesla in dessen
chinesischem Werk hergestellt
werden. Aber Tesla, bislang
global Nummer eins bei Elek-
troautos, wird von der chine-
sischen Firma BYD überholt
werden, die sowohl in China
als auch weltweit mehr Fahr-
zeuge verkaufen wird.
Die Welt in 2024
implementieren, haben alle
einen fatalen Nachteil: Die
Quantenzustände, von denen
sie abhängen, „zerfallen“ nach
Bruchteilen von Sekunden.
Ein besseres Maß ist das
sogenannte Quantenvolumen
(QV), das von der „Breite“ eines
Computers (der Anzahl der
Qubits) und seiner „Tiefe“ (der
Anzahl der Operationen, die
sie ausführen können, ehe sie
zerfallen) abhängt. Ein Compu-
ter mit 14 Qubits, der 14 Ope-
rationen ausführen kann, hat
eine QV von 2 hoch14, das
heißt 16 384. Die maximal er-
reichbare QV nimmt ständig
zu, aber es bleibt unklar, wie
groß die Menge sein muss,
die benötigt wird, um nütz-
liche Operationen und nicht
nur kleine Tests durchzufüh-
ren. IBM hat sich eine QV von
2 hoch 100 zum Ziel gesetzt.
Ähnlich wie künstliche Intel-
ligenz, die vor ihrem jähen,
spektakulären Erfolg jahrzehn-
telang enttäuscht hatte, wird
auch das Quantencomputing
wohl sehr schnell von nutzlos
zu allgegenwärtig mutieren –
sobald die Forscher den richti-
gen Knopf finden.
330 %
Wachstum der chinesischen
Autoexporte von 2019 bis 2023
(12 Monate bis August)
Pkw-Exporte in Mio.
0,5
Japan
0,4
0,3
China 0,2
Deutschland
0,1
Indien 0
19 20 21 22 23
Quellen: UN Comtrade; nationale Statistiken
Die Welt in 2024 93

DIE WELT IN ZAHLEN

LÄNDER
Prognosen für 2024 BIP in Prozent, Veränderung zum Vorjahr
-2,5 0 1 2,5 5 10 25

0,9 % 6,0 %
Groß-
Kanada britannien Indien
Kanada Russland

0,8 % Südkorea
4,8 %
Türkei China
USA USA Japan China
Iran Pa kistan
Libyen
Mexiko Indien Macau
1,5 % Mauretanien 2,4 %
Anguilla Saudiarabien
Brasilien Senegal Südkorea
Philippinen
Kambodscha
Guyana Ruanda
Elfenbeinküste
0,7 % Singapur Indonesien 1,9 %
Großbritannien Brasilien Australien
Fidschi

Australien
0,9 % 1,1 %
Deutschland Japan
Südafrika Top Ten Wachstumsländer
Argentinien

D ie am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften machen 2024 weni-

ger als ein Prozent des globalen BIP aus. Die Probleme der großen
Ökonomien: Krieg, Inflation, hohe Zinssätze und ein langsameres Wachstum
in China. Allerdings wird China indirekt das am stärksten wachsende
Land, Macau (23,2 Prozent), unterstützen, da Zocker vom Festland in das
Glücksspielparadies strömen werden. In anderen Ländern spiegeln die hohen
Wachstumsraten einmalige Umstände wider, wie die Erholung des Tourismus
in Anguilla nach der Pandemie (7,0 Prozent), die Rallye nach Zyklon Cody in
Fidschi (6,9 Prozent). Andere erleben einen Boom natürlicher Ressourcen:
Öl in Guyana (20,0 Prozent), Senegal (9,7 Prozent), Libyen (7,7 Prozent), Gas
in Mauretanien (8,0 Prozent). Nur in Ruanda (7,1 Prozent), der Elfenbeinküste
(6,9 Prozent) und Kambodscha (6,7 Prozent) ist das Wachstum politisch bedingt.

Haushaltssaldo in % des BIP

Brasilien Indien USA Großbritannien

0

-5 -5

-1 0 -1 0

-1 5 -1 5

Japan China Russland Deutschland

0

-5 -5

-1 0 -1 0

Prognosen für 2024, wenn nicht anders angegeben. Angaben für 2023 in den Grafiken sind Schätzungen. BIP in Dollar berechnet
mithilfe von Prognosen für Dollar-Wechselkurse 2024 (in Klammern BIP bei KKP / Kaufkraftparität). Alle Zahlen gerundet.
94 LÄNDER
Europa
Zuteilungen des EU-Aufbau- und Resilienzfonds, in % des BIP
Finnland Irland Österreich
Dänemark
Polen
Deutschland
Niederlande Schweden Frankreich
2 4
Belgien
BIP-Wachstum 1,1 Prozent
BIP pro Kopf 55 595 $ (KKP: $ 70 230)
Inflation 2,4 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -3,7
Bevölkerung 11,7 Mio.
Die Sieben-Parteien-Koalitions-
regierung „Vivaldi“ wird Schwierig-
keiten haben, sich auf eine Politik zu
einigen. Größere Steuer- und Ren-
tenreformen bleiben außer Reich-
weite. Die Regionen Wallonien und
Flandern sind weiterhin gespalten,
Wallonien links, Flandern rechts. Die
Wirtschaft wird sich leicht erholen,
da der Angebotsdruck nachlässt und
die Handelspartner sich berappeln.
Im blIck behalten: Der belgische In-
dustriesektor ist der gasintensivste in
Europa. Ein neuer Versorgungsschock
würde die Wirtschaft ausbremsen.
Bulgarien
BIP-Wachstum 2,4 Prozent
BIP pro Kopf 16 561 $ (KKP: 37 410 $)
Inflation 3,3 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -1,8
Bevölkerung 6,4 Mio.
Der Ministerpräsident der Koalitions-
regierung wechselt alle neun Monate
zwischen den dominierenden Partei-
en hin und her, nämlich dem Mitte-
rechts-Bündnis „Demokratisches
Bulgarien“ und der zentristischen
Partei „Wir setzen den Wandel fort“.
Es herrscht ein breiter Konsens
darüber, dass Reformen notwendig
sind, um das Land auf den Beitritt
zur Eurozone im Jahr 2025 vorzu-
bereiten. Politische Maßnahmen wie
die Bekämpfung der Korruption und
die Stärkung der Unabhängigkeit
der Justiz werden dazu beitragen,
Mittel von der EU zu erhalten und
das Wirtschaftswachstum wieder auf
ein Vor-Pandemie-Level zu bringen.
Dänemark
BIP-Wachstum 2,6 Prozent
BIP pro Kopf 83 366 $ (KKP: 82 850 $)
Inflation 2,5 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) 1,0
Bevölkerung 5,9 Mio.
Die Mitte-links-Regierung des
„roten Blocks“ unter Ministerprä-
Mrd. €
70
35
5
Portugal
Bulgarien
Zypern
Italien Spanien
Griechenland
Rumänien
6 8 10 12
sidentin Mette Frederiksen wird
eine sozialliberale Agenda verfol-
gen und gleichzeitig eine strenge
Einwanderungspolitik betreiben,
um die Dänische Volkspartei und
andere rechtsextreme Akteure abzu-
wehren. Die Regierung wird sowohl
auf Steuersenkungen als auch auf
höhere Militärausgaben drängen.
Das wird die Finanzkraft des Landes
schwächen, gleichzeitig aber mehr
Menschen in Arbeit bringen und
die Energiesicherheit erhöhen. Die
Wirtschaft dürfte sich erholen, wenn
sich sowohl die Industrie als auch die
Dienstleistungsbranche stabilisieren.
Im blIck behalten: Im Juni findet in
Kopenhagen die „World of Coffee“
statt, einschließlich der Weltmeister-
schaften in Latte-Kunst.
Deutschland
BIP-Wachstum 0,9 Prozent
BIP pro Kopf 58 245 $ (KKP: 68 550 $)
Inflation 2,4 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -1,0
Bevölkerung 84,5 Mio.
Die erste links-liberal-grüne Regie-
rung des Landes hat große Mühe,
sich zu einigen, egal um was es geht.
Derweil schneiden ihre rechteren
Gegner in Umfragen gut ab. Insbe-
sondere der Aufstieg der rechtsextre-
men Alternative für Deutschland,
die zu Beginn des Jahres 2024 mehr
als 20 Prozent der Stimmen auf sich
vereint, wird die etablierten Parteien
aufrütteln, die deren einwanderungs-
feindliche und euroskeptische Hal-
tung ablehnen. Die Spannungen
innerhalb der Koalition werden zu-
nehmen, je schneller die Popularität
der Ampel schwindet. Die Wirtschaft
wird sich im Jahr 2024 erholen, da
die Energiekrise abklingt.
Estland
BIP-Wachstum 2,6 Prozent
BIP pro Kopf 36 741 $ (KKP: 52 090 $)
Inflation 4,1 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -0,4
Bevölkerung 1,3 Mio.
Eine Koalition aus drei gleich ge-
sinnten Mitte-links-Parteien wird
in dem baltischen Staat ihre stabile
Mehrheit nutzen, um sich für eine
straffe Haushaltsführung (einschließ-
lich Steuererhöhungen und Rück-
nahme des Teuerungsausgleichs),
eine schnellere Umstellung auf
grüne Energie sowie eine robuste
Reaktion auf Sicherheitsrisiken, die
sich durch die Nachbarschaft mit dem
unberechenbaren Russland ergeben,
einzusetzen. Unternehmensdienst-
leistungen sowie Informations- und
Kommunikationstechnologie werden
im kommenden Jahr dazu beitragen,
die negativen Auswirkungen der
schwachen Industrie abzufedern,
und das Wirtschaftswachstum wird
sich nach der Rezession im Jahr 2023
wieder erholen.
14
Finnland
BIP-Wachstum 1,0 Prozent
BIP pro Kopf 57 174 $ (KKP: 64 230 $)
Inflation 2,2 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -2,1
Bevölkerung 5,6 Mio.
Die vier konservativen Parteien in
der Regierung – von der Mitte bis
weit nach rechts – wollen die Ener-
giesicherheit und die Verteidigungs-
politik stärken, sind aber in vielen
anderen Bereichen, wie der EU,
der Klimapolitik und der Einwan-
derung, uneins. Die Beziehungen
werden angespannt bleiben. Die Be-
völkerung im erwerbsfähigen Alter
ist rückläufig, und eine Lockerung
der Einwanderungsbestimmungen
würde Abhilfe schaffen, doch die
rechtsextreme Partei Die Finnen, die
zum zweiten Mal in der Regierung
ist, will strengere Grenzkontrollen.
Die finnischen Exporteure sind stark
von den westlichen Sanktionen
gegen Russland betroffen, aber die
Nachfrage aus anderen Ländern
sollte anziehen, und die Wirtschaft
dürfte sich erholen.
Im blIck behalten: Die Europäische
Akademie für Neurologie wird im
Juni ihren zehnten Jahreskongress in
Helsinki abhalten.
Frankreich
BIP-Wachstum 0,8 Prozent
BIP pro Kopf 51 131 $ (KKP: 63 250 $)
Inflation 2,7 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -4,7
Bevölkerung 64,9 Mio.
Emmanuel Macrons Entscheidung,
eine umstrittene Rentenreform ohne
‘ Finnland
Bevölkerung im Alter von 15-64 in %
68
66
64
62
60
58
2010 15 20 24
Die Welt in 2024
Abstimmung durchzusetzen, hat die
etablierten Parteien abgeschreckt,
die zuvor bereit waren, seine Min-
derheitsregierung zu unterstützen,
wenn die Interessen übereinstimm-
ten. Ein zweiter großer Reformvor-
schlag, der sich mit der Migration
befasst, wird möglicherweise eine
ähnliche Taktik erfordern. Was
wiederum neue öffentliche Proteste
nach sich ziehen könnte. Die Wirt-
schaft wird durch ein 30 Mrd. Euro
(32,1 Mrd. Dollar) schweres Pro-
gramm zur Förderung der lokalen
Industrie und grüner Initiativen
sowie durch ein 100-Mrd.-Euro-Kon-
junkturpaket gestützt, das teilweise
von der EU finanziert wird. Dennoch
bleibt das Wachstum unter dem
EU-Durchschnitt.
Griechenland
BIP-Wachstum 2,6 Prozent
BIP pro Kopf 24 630 $ (KKP: 41 950 $)
Inflation 2,6 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -1,5
Bevölkerung 10,3 Mio.
Die Mitte-rechts-Regierung der
Partei Neue Demokratie unter Mi-
nisterpräsident Kyriakos Mitsotakis
konnte ihre Mehrheit bei den Wah-
len 2023 ausbauen und wird in ihrer
zweiten Amtszeit einen wirtschafts-
freundlichen Kurs einschlagen.
Nach einem tödlichen Zugunglück
im Jahr 2023 wird die Modernisie-
rung der Infrastruktur des Landes
Priorität haben, wodurch sich die
geplante weitere Privatisierung von
Verkehrsmitteln möglicherweise
verzögert. Die Regierung wird sich
außerdem bemühen, die Abhängig-
keit der Wirtschaft vom Tourismus
zu verringern und die Staatsfinanzen
zu sanieren.
Im blIck behalten: Die Gelder aus
dem EU-Rettungsfonds Covid-19,
von denen Griechenland im Verhält-
nis zum BIP am meisten profitiert,
werden das Wirtschaftswachstum
steigern.
Großbritannien
BIP-Wachstum 0,7 Prozent
BIP pro Kopf 54 800 $ (KKP: 58 640 $)
Inflation 2,6 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -4,3
Bevölkerung 68,0 Mio.
Nach einer Reihe globaler und selbst
verschuldeter Katastrophen wird die
Conservative Party unter Premier-
minister Rishi Sunak bei den für
Ende 2024 erwarteten Wahlen nach
14 Jahren die Macht an die oppo-
sitionelle Labour Party übergeben.
Tiefgreifende interne Zerwürfnisse
werden Sunak daran hindern, in
seinen letzten Monaten das an-
geschlagene Image seiner Partei zu
reparieren. Und das, obwohl er über
eine deutliche parlamentarische
Mehrheit verfügt. Die öffentlichen
Ausgaben werden steigen, da sich
die Budgetzwänge lockern – aller-
dings nicht genug, um die maroden
Behörden wiederzubeleben.
Die Welt in 2024
Irland
BIP-Wachstum 3,1 Prozent
BIP pro Kopf 120 154 $ (KKP:142 550 $)
Inflation 2,4 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) 1,2
Bevölkerung 5,1 Mio.
Die Spannungen zwischen den Mit-
gliedern der Regierung, den Mitte-
Parteien Fine Gael und Fianna Fáil
sowie der grünen Partei, werden bis
zur Wahl im März 2025 zunehmen.
Die Koalition könnte zerbrechen. Der
Aufstieg der linksnationalistischen
Sinn Féin (SF), die in den Umfragen
konstant führt, hat diese Konflikte
bisher überdeckt, aber das wird sich
ändern, wenn die Aussichten auf
einen Sieg der Koalitionsparteien wei-
ter schwinden. Die SF wird bei vor-
gezogenen Wahlen dominieren, aber
kaum in der Lage sein, eine stabile
Regierung zu bilden.
Im blIck behalten: Die Bilanzbewegun-
gen ausländischer Unternehmen mit
Sitz in Irland werden die Berechnung
des BIP-Wachstums verzerren.
Italien
BIP-Wachstum 0,7 Prozent
BIP pro Kopf 40 684 $ (KKP: 56 330 $)
Inflation 2,5 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -5,3
Bevölkerung 58,7 Mio.
Giorgia Meloni, Italiens erste weibli-
che Ministerpräsidentin und die
rechteste seit Mussolini, wird von Ber-
lusconis Tod 2023 profitieren. Dessen
Partei Forza Italia dürfte ohne ihn
weiter schwächeln. Die Europawahl
Mitte 2024 zeigt erstmals die neue
Konstellation. Die Vereinfachung
der Steuern und der Umbau des
Rentensystems stehen oben auf ihrer
Prioritäten-Liste. Sorgen bereiten
allerdings die Staatsfinanzen und die
Wirtschaftspolitik. Das könnte Inves-
toren abschrecken.
Im blIck behalten: Die südliche Region
Apulien wird im Juni Gastgeber des
50. G7-Gipfels sein.
Kroatien
BIP-Wachstum 2,6 Prozent
BIP pro Kopf 22 397 $ (KKP: 41 890 $)
Inflation 3,4 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -0,9
Bevölkerung 4,0 Mio.
Die Mitte-rechts-Partei Kroatische
Demokratische Union hat gute
Umfragewerte und wird nach den
Wahlen im Juli an der Macht bleiben,
obwohl sich die Zusammensetzung
der Regierung ändern könnte. Andrej
Plenkovic ist auf dem besten Weg,
eine dritte und letzte Amtszeit als
Ministerpräsident anzutreten, trotz
einer Reihe von Skandalen, die das
Vertrauen in seine Führung erschüt-
tert haben. Der Beitritt zum Schengen-
Raum und die Einführung des Euro
Anfang 2023 werden den Tourismus
fördern, der etwa ein Viertel des BIP
ausmacht. Auch EU-Gelder unter-
stützen die wirtschaftliche Erholung.
Lettland
BIP-Wachstum 2,0 Prozent
BIP pro Kopf 27 567 $ (KKP: 31 050 $)
Inflation 2,7 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -3,2
Bevölkerung 1,8 Mio.
Das lettische Parlament hat im Sep-
tember 2023 eine neue Drei-Parteien-
Regierung unter der Führung von
Evika Silina von der zentristischen
Partei Neue Einheit (JV) bestätigt.
Die JV ging mit der konservativen
Union der Grünen und Landwirte
und den grünen/sozialdemokrati-
schen Progressiven eine ideologisch
uneinheitliche Koalition ein. Die
Unterschiede werden die Zusammen-
arbeit instabil und anfällig für Krisen
machen. Die Regierung bleibt derweil
EU-freundlich, atlantisch orientiert
und ein entschiedener Unterstützer
der Ukraine. Das BIP-Wachstum wird
sich beschleunigen, da die Inflation
um zwei Drittel zurückgeht.
Im blIck behalten: Die Regierung
könnte im Jahr 2024 eine neue Priva-
tisierungsrunde einleiten, um den
lettischen Kapitalmarkt zu erweitern.
Litauen
BIP-Wachstum 2,0 Prozent
BIP pro Kopf 31 709 $ (KKP: 55 090 $)
Inflation 3,0 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -1,8
Bevölkerung 2,7 Mio.
Die Koalition um Premierministerin
Ingrida Simonyte geriet Mitte 2023
durch einen Korruptionsskandal
ins Wanken, dürfte aber bis zu den
Wahlen im Oktober 2024 stabil blei-
ben. Die oppositionelle Sozialdemo-
kratische Partei wird wahrscheinlich
die konservative Vaterlandsunion
und die litauischen Christdemo-
kraten an der Spitze der nächsten
Koalition ablösen. Bis dahin wird die
Reform des Gesundheits-, Bildungs-
und Sozialwesens auf der Strecke
bleiben, da die kurzfristige Politik
dominiert. Nach der bevorstehenden
Rezession wird sich die Wirtschaft
wieder erholen.
Niederlande
BIP-Wachstum 0,3 Prozent
BIP pro Kopf 62 381 $ (KKP: 76 100 $)
Inflation 3,0 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -2,4
Bevölkerung 17,6 Mio.
Anfang 2024 wird es darum gehen,
nach dem Rechtsruck bei den Wahlen
im November 2023 eine neue Regie-
rung zu bilden. Die politische Spal-
tung wird zu einer weiteren großen
Mehrparteienkoalition führen – ange-
siedelt in der politischen Mitte, aber in
der Frage der Einwanderung hart. Die
neue Regierung dürfte mit denselben
Problemen zu kämpfen haben wie die
vorige, darunter die heikle Frage, wie
die Stickstoffemissionen gesenkt wer-
den können, ohne den Agrarsektor zu
schädigen. Die Wirtschaft wird unter
dem Abschwung des Welthandels lei-
den. Das Wachstum schwächelt.
LÄNDER 95
KÖPFE 2024
Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), die 1956 von
einem einstigen Nazi-Minister und SS-Offizier gegründet
wurde, war Juniorpartner in fünf Koalitionen (1983-86,
1999-2006 und 2017-19) und ist auf dem besten Weg,
bei den für September erwarteten Wahlen die Macht
zurückzuerlangen. Die letzte Beteiligung endete in einem
Skandal und brachte die Regierung zu Fall. Unter dem
charismatischen Herbert Kickl, der in einer FPÖ-dominier-
ten Koalition Bundeskanzler wäre, erholte sich die Partei
wieder. Kickl prägte populistische Slogans wie „Mehr Mut
für unser Wiener Blut“ und das weniger originelle „Make
Austria Great Again“. Als lauter Verfechter nationalisti-
scher und einwanderungsfeindlicher Ideen ist er ein Star
der europäischen Rechten, aber sein Extremismus wird
von seinen Koalitionspartnern gebremst werden.
Im blIck behalten: Am 20. Januar, dem Wahlen im Oktober 2023 eine Nie-
Nationalen Tulpentag, wird auf dem derlage erlitten und sah sich mit der
Museumplein in Amsterdam die Tul- Aussicht konfrontiert, die Verantwor-
pensaison eröffnet. tung nach acht Jahren zu verlieren.
Die wichtigste Oppositionspartei, die
Norwegen Bürgerplattform (PO), und ihre Ver-
bündeten waren drauf und dran, die
BIP-Wachstum 1,8 Prozent
Macht zu übernehmen, obwohl die
BIP pro Kopf 108 586 $ (KKP: 123 170 $)
PiS versuchte, PO als russlandfreund-
Inflation 2,8 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) 9,8 lich darzustellen. Eine PO-Regierung
Bevölkerung 5,6 Mio. muss mit einer feindlichen Legisla-
tive rechnen, wird aber Wert darauf
Die Arbeiterpartei und ihre Ver- legen, die Differenzen mit der EU zu
bündeten von der Zentrumspartei beseitigen und sich von den Macht-
bilden eine Minderheitsregierung. ansprüchen der PiS zu lösen. Ein sich
Aber das ist nichts Neues, das Land erholendes Europa wird die Wirt-
bleibt politisch stabil. Man wird schaft ankurbeln.
sich bemühen, die Ausgaben für
Gesundheit und Bildung zu erhöhen Portugal
und das Land weg von Öl und Gas BIP-Wachstum 1,6 Prozent
und hin zu nachhaltiger Fischerei, BIP pro Kopf 29 547 $ (KKP: 45 580 $)
Dienstleistungen und Leichtindustrie Inflation 2,8 Prozent
zu führen. Bis dahin werden fossile Haushaltssaldo (% BIP) -0,1
Brennstoffe jedoch die Hauptstütze Bevölkerung 10,4 Mio.
der Wirtschaft bleiben. 2024 sollte
das Wachstum anziehen. António Costa, der Premierminister
und Chef der Mitte-links stehen-
Österreich den Sozialistischen Partei, trat im
BIP-Wachstum 0,4 Prozent November 2023 zurück, nachdem die
BIP pro Kopf 62 476 $ (KKP: 74 610 $) Staatsanwaltschaft erklärt hatte, dass
Inflation 3,1 Prozent gegen ihn im Rahmen einer Korrupti-
Haushaltssaldo (% BIP) -2,4 onsuntersuchung im Zusammenhang
Bevölkerung 8,7 Mio. mit Bergbau- und Energiekonzes-
sionen ermittelt werde. Der Staats-
Die aktuelle Koalition ist unpopulär, präsident Marcelo Rebelo de Sousa
aber die Mitte-rechts-ÖVP wird wohl hat für März 2024 Neuwahlen ange-
auch nach der Wahl im September setzt, die zweiten innerhalb weniger
an der Regierung beteiligt bleiben, Jahre. Nach den Wahlen werden die
diesmal als Juniorpartner der rechts- Erhöhung der Renten und des Min-
populistischen Freiheitlichen Partei destlohns sowie die Bekämpfung des
(FPÖ). Es wäre der vierte Versuch der Arbeitskräftemangels zu den Priori-
Freiheitlichen, an die Macht zu kom- täten gehören.
men, nachdem ein Korruptionsskandal
die letzte Regierungsbeteiligung Rumänien
2019 beendet hatte; ihre einwande- BIP-Wachstum 3,4 Prozent
rungsfeindliche Rhetorik wird sich BIP pro Kopf 19 902 $ (KKP: 45 300 $)
mäßigen, da sie den Frieden mit ihrem Inflation 4,7 Prozent
Koalitionspartner sucht. Das Wirt- Haushaltssaldo (% BIP) -4,1
schaftswachstum bleibt auch im Jahr Bevölkerung 19,6 Mio.
2024 schwach.
Eine Große Koalition zwischen der
Polen Partei der Nationalliberalen und der
BIP-Wachstum 2,3 Prozent Sozialdemokratischen Partei (PSD)
BIP pro Kopf 21 368 $ (KKP: 43 990 $) brachte Stabilität. Sie wird wohl
Inflation 4,9 Prozent die Wahl Ende 2024 gewinnen. Die
Haushaltssaldo (% BIP) -4,5 PSD, die stärker zusammenhält,
Bevölkerung 40,2 Mio. dürfte dominieren und auf einen
lockeren Haushalt und eine Wirt-
Die konservative Partei Recht und schaft „made in Romania“ drängen.
Gerechtigkeit (PiS) hatte bei den Der lahmende öffentliche Dienst und
96 LÄNDER
die endemische Korruption werden
jedoch nicht in den Griff zu bekom-
men sein. Der Handel wird das
Wachstum ankurbeln.
Im blIck behalten: Der Beitritt zum
Schengener Freizügigkeitsraum
irgendwann im Jahr 2024 wird Inves-
titionen und Tourismus ankurbeln.
Russland
BIP-Wachstum 1,4 Prozent
BIP pro Kopf 13 193 $ (KKP: 38 860 $)
Inflation 5,7 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -2,6
Bevölkerung 147,0 Mio.
Das autoritäre Regime von Wladimir
Putin, das in einem selbst gewählten
Krieg gefangen ist, wird alle Bereiche
des öffentlichen Lebens immer stärker
kontrollieren. Die Loyalität gegenüber
der Regierung – die tatsächliche und
die künstlich erzeugte – ebenso wie
ein riesiger Unterdrückungsapparat
werden ihn vor einem Volksaufstand
schützen. Dennoch könnten Akteure,
die dem Machtzentrum nahestehen,
versuchen, Putin zu stürzen, entweder
durch einen Staatsstreich oder subtiler.
Die Wirtschaft wird leicht wachsen,
aber durch den Krieg belastet bleiben.
Im blIck behalten: Ausländischen
Unternehmen, die noch in Russland
tätig sind, droht die Enteignung, da
der Staat versucht, Vermögenswerte
und Arbeitsplätze zu erhalten.
Schweden
BIP-Wachstum 1,0 Prozent
BIP pro Kopf 64 529 $ (KKP: 69 070 $)
Inflation 4,0 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -0,2
Bevölkerung 10,5 Mio.
Das komplizierte politische Geflecht
aus Mitte-rechts- und Rechtsparteien
in einer Minderheitsregierung, die
von den rechtsextremen Schweden-
demokraten (SD) unterstützt wird,
könnte sich noch vor Ablauf der
Legislatur in 2026 auflösen. Aber
auch die oppositionelle Sozialdemo-
kratische Partei, die in Umfragen
weit vorne liegt, ist kaum fähig, für
Stabilität zu sorgen. Die politische
Unsicherheit wird Entscheidungen
lähmen, aber den Kampf gegen
Kriminalität, die Erhöhung der
Sicherheit und das Erreichen der
Klimaziele vorantreiben.
‘ Russland
Exportgüter, Bio. $
0,6
0,4
0,2
0 Die linksgerichtete Spanische Sozia-
2 01 5 17 19 21 23 24
Schweiz
BIP-Wachstum 1,0 Prozent
BIP pro Kopf 99 502 $ (KKP: 91 060 $)
Inflation 1,3 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -0,3
Bevölkerung 8,9 Mio.
Das einzigartige politische System, in
dem die Legislative eine siebenköpfige
Exekutive wählt, garantiert, dass die
Interessen des gesamten ideologischen
Spektrums vertreten sind. Die Politik
will das Vertrauen in den Finanzsektor
nach dem krisengeschüttelten Jahr
2023 wiederherstellen, die Energie-
sicherheit und die Initiativen für grüne
Energie stärken und die öffentlichen
Finanzen nach einer (für Schweizer
Verhältnisse) laxen Periode sanieren.
Bessere Marktbedingungen werden
der Wirtschaft helfen.
Slowakei
BIP-Wachstum 2,4 Prozent
BIP pro Kopf 26 590 $ (KKP: 39 220 $)
Inflation 2,7 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -4,3
Bevölkerung 5,7 Mio.
Die populistisch-nationalistische
Partei Richtung – Slowakische Sozial-
demokratie (Smer-SD) unter der
Führung von Robert Fico hat bei der
Wahl im September 2023 die meisten
Stimmen erhalten und führt nun eine
Koalitionsregierung mit bürgerlichen
und ultranationalistischen Parteien an.
Die neue Regierung wäre zwar insta-
bil, aber Fico wird überwiegend prag-
matisch regieren. Die Beziehungen
zur EU könnten sich verschlechtern,
aber die Slowakei braucht die EU-
Rettungsgelder, sodass größere Aus-
einandersetzungen unwahrscheinlich
sind. Die Unternehmensinvestitionen
werden anhalten, und die Energie-
krise wird abklingen.
Slowenien
BIP-Wachstum 2,4 Prozent
BIP pro Kopf 36 017 $ (KKP: 54 850 $)
Inflation 3,8 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -2,9
Bevölkerung 2,1 Mio.
Die Drei-Parteien-Koalition unter
Ministerpräsident Robert Golob ver-
fügt über eine komfortable Mehrheit
in der Legislative, obwohl es Span-
nungen mit der Partei Die Linke,
dem Minderheitspartner, gibt. Die
Teuerungskrise hat den Rückhalt in
der Bevölkerung geschwächt, und
die rechtspopulistische Slowenische
Demokratische Partei ist eine starke
Kraft. Der Wiederaufbau nach der
Hochwasserkatastrophe im August
2023 wird das Wachstum ankurbeln.
Spanien
BIP-Wachstum 1,2 Prozent
BIP pro Kopf 35 151 $ (KKP: 50 460 $)
Inflation 2,7 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -3,5
Bevölkerung 47,5 Mio.
listische Arbeiterpartei (PSOE) des
amtierenden Ministerpräsidenten
‘ Türkei
Verbraucherpreise,
Veränderung zum Vorjahr in %
Türkei
Entwickelte
Länder
19 21 23 24
Pedro Sánchez hat Ende des Jahres
eine Vereinbarung mit einer separatis-
tischen Partei getroffen, die Sánchez
und die PSOE an der Macht halten
dürfte. Die Vereinbarung beinhaltet
eine Amnestie für die katalanischen
Separatisten. Das Land befand sich in
einer Pattsituation, seit bei vorgezo-
genen Wahlen im Juli 2023 die Mitte-
rechts stehende Volkspartei zwar die
meisten Stimmen erhielt, ihr aber die
Mehrheit fehlte. Die instabile PSOE-
Regierung und die politische Unsi-
cherheit bedeuten, dass die Wirtschaft
nach einem schwachen Jahr 2023
weiter an Schwung verlieren wird.
Tschechien
BIP-Wachstum 1,9 Prozent
BIP pro Kopf 33 568 $ (KKP: 54 230 $)
Inflation 2,7 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -2,9
Bevölkerung 10,5 Mio.
Die Spannungen in der Mitte-rechts-
Koalition werden zunehmen, da sich
die fünf Partner auf die Wahlen im
Jahr 2025 vorbereiten, wobei der
Haushaltsausgleich ein zentraler
Streitpunkt ist. Die Opposition hat an
Boden gewonnen, und es ist mit Pro-
testen zu rechnen, da die Parteien vor
der Wahl versuchen werden, ihren
Willen durchzusetzen. Die Wirtschaft
dürfte am europäischen Wachstums-
schub teilhaben, da sich der Energie-
markt stabilisiert und die Nachfrage
im Handelsblock anzieht. Dennoch
könnten Unterbrechungen der Liefer-
ketten und die Umstellung der Auto-
mobilindustrie auf Elektrofahrzeuge
das Potenzial begrenzen.
Türkei
BIP-Wachstum 2,7 Prozent
BIP pro Kopf 11 147 $ (KKP: 41 400 $)
Inflation 49,3 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -4,0
Bevölkerung 86,3 Mio.
Recep Tayyip Erdogan geht in seine
dritte Amtszeit als Präsident und wird
einer autokratischen, unberechen-
baren Regierung vorstehen. Bei den
Kommunalwahlen im März steht seine
Popularität auf dem Prüfstand, ins-
besondere in der größten Stadt Istan-
bul, einer Hochburg der Opposition.
Erdogans Außenpolitik gegenüber
dem Westen bleibt handelsorientiert.
Die Regierung wird sich darauf kon-
zentrieren, die Inflation durch eine
konventionellere Wirtschaftspolitik
Die Welt in 2024
zu senken, aber die Preise dürften bis
Mitte 2024 nicht entscheidend fallen.
Ukraine
80 BIP-Wachstum 3,2 Prozent
BIP pro Kopf 5209 $ (KKP: 13 390 $)
60 Inflation 5,2 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -18,3
40 Bevölkerung 37,0 Mio.
20 Die für Anfang 2024 geplanten Prä-
sidentschaftswahlen könnten unter
0 Kriegsrecht verschoben werden. In
diesem Fall bleiben die Regierung und
der Präsident Wolodymyr Selenskyj
mit breiter Unterstützung der Bevölke-
rung im Amt. Der Krieg mit Russland
wird oberste Priorität haben, während
die humanitäre Krise abgefedert und
die Unterstützung aus dem Ausland
verstärkt werden soll. Sowohl für die
Bürger als auch für die westlichen
Unterstützer der Ukraine wird die Kor-
ruptionsbekämpfung vorrangig blei-
ben. Die Wirtschaft soll wachsen, wird
aber erst in einigen Jahren wieder das
Vorkriegsniveau erreichen.
Im blIck behalten: Wenn in der Ukrai-
ne keine Wahlen stattfinden, werden
sich die Ukrainer auf die Wahlen in
Amerika konzentrieren, bei denen ein
Sieg von Donald Trump das Kräftever-
hältnis im Krieg verschieben könnte.
Ungarn
BIP-Wachstum 2,4 Prozent
BIP pro Kopf 26 331 $ (KKP: 43 520 $)
Inflation 4,8 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -3,8
Bevölkerung 10,0 Mio.
Das strenge Durchgreifen des Minis-
terpräsidenten Viktor Orban hat seine
EU-Partner verärgert, aber der poli-
tischen und wirtschaftlichen Land-
schaft ein gewisses Maß an Stabilität
verliehen – was sich jedoch ändern
könnte, wenn der Haushalt keine
Mittel für Geklüngel bereitstellt. Der
durchschnittliche Lebensstandard ist
durch steigende Preise untergraben
worden. Orban wird die Sanktionen
des Westens gegen Russland dafür
verantwortlich machen, und genug
Menschen werden ihm glauben, um
ihn an der Macht zu halten.
Im blIck behalten: Orban wird die
ungarische EU-Ratspräsidentschaft im
Jahr 2024 nutzen, um seine rechtslas-
tige soziale Agenda durchzusetzen.
‘Ungarn
BIP und Haushaltssaldo
BPI, Veränderung 8
zum Vorjahr in %
4
0
-4
Haushaltssaldo
in % vom BPI
-8
2 01 5 17 19 21 23 24
Die Welt in 2024 LÄNDER 97

Nordamerika Lateinamerika

Verbraucherausgaben pro Person in Tausend $ Verbraucherpreise 2024, Veränderung zum Vorjahr in %

60
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90
50 Venezuela
USA Argentinien
40 Kuba
Kanada Bolivien
30
Uruguay
20 Kolumbien
Paraguay
Mexiko 10 Brasilien
Peru
0
Chile
2015 16 17 18 19 20 21 22 23 24 Ecuador

Kanada wird, bleibt beliebt, auch wenn er die
BIP-Wachstum 0,9 Prozent Macht stark konzentriert. Seine mögli-
BIP pro Kopf 57 859 $ (KKP: 62 930 $) che Nachfolgerin, Claudia Sheinbaum,
Inflation 2,3 Prozent einstige Bürgermeisterin von Mexiko-
Haushaltssaldo (% BIP) -1,3 Stadt, wird von dem Glanz profitieren.
Bevölkerung 39,1 Mio. (s. Köpfe 2024) Die amerikanischen
Bemühungen, die Produktion näher an
Die Minderheitsregierung der Libe- die Heimat zu verlagern, kurbeln das
ralen Partei, unter Premierminister Wachstum an, aber Sicherheitsbeden-
Justin Trudeau in dritter Amtszeit, ist ken und niedrige Produktivität beein-
bei der Verabschiedung von Gesetzen trächtigen die Entwicklung.
zwar auf die linke Neue Demokrati-
sche Partei angewiesen, sollte aber USA
ihr Mandat bis 2025 zu Ende führen. BIP-Wachstum 0,8 Prozent
Sie will die Emissionen senken, die BIP pro Kopf 82 620 $ (KKP: 82 620 $)
Rechte der Ureinwohner schützen und Inflation 2,2 Prozent
die Inflation bekämpfen. Die von den Haushaltssaldo (% BIP) -5,7
oppositionellen Konservativen geführ- Bevölkerung 341,8 Mio.
ten Regionen werden dabei bremsen.
Niedrigere Zinssätze und „grüne“ Die knappen Mehrheiten der Republi-
Ausgaben fördern das Wachstum. kaner im Repräsentantenhaus und der
Demokraten im Senat werden US-Prä-
Im blIck behalten: Sollte eine Unter- sident Joe Biden im letzten Jahr seiner
suchung aufdecken, dass sich China Amtszeit zwingen, vor allem mithilfe
in die letzte Wahl eingemischt hat und von Executive Orders zu regieren.
die Liberalen das toleriert haben, wer- Er wird sich im November 2024 zur
den die Wahlen vorgezogen. Wiederwahl stellen und gegen den
Ex-Präsidenten Donald Trump antre-
Mexiko ten, der immer noch darauf besteht,
BIP-Wachstum 1,9 Prozent die Wahl 2020 gewonnen zu haben.
BIP pro Kopf 14 561 $ (KKP: 24 540 $) Die Wirtschaft kommt nicht in eine
Inflation 3,9 Prozent Rezession, aber das Wachstum dürfte
Haushaltssaldo (% BIP) -4,9 schwach ausfallen, da die Verbraucher
Bevölkerung 129,4 Mio. ihre Ersparnisse aus der Covid-Ära
aufbrauchen.
Die linke Morena-Partei wird bei den
Wahlen im Juni ihre Mehrheit behal- Im blIck behalten: Trumps Wahlkampf
ten, allerdings ohne den Vorsitzenden unter dem Banner der Republikaner
Andrés Manuel López Obrador, dessen wird der erste eines Kandidaten sein,
Amtszeit endet. Amlo, wie er genannt gegen den Anklage erhoben wurde.
KÖPFE 2024
Mexiko hat noch nie eine Frau zur Präsidentin gewählt,
aber die Wahl im Juni 2024 könnte sogar auf ein Rennen
zwischen zwei Kandidatinnen hinauslaufen. Xóchitl
Gálvez wird für das oppositionelle Rechts-links-Bünd-
nis antreten, aber Umfragen deuten darauf hin, dass
sie gegen Claudia Sheinbaum von der regierenden Links-
partei Morena verlieren wird. Sheinbaum, Physikerin,
Umweltingenieurin und ehemalige Bürgermeisterin von
Mexiko-Stadt, wurde 2023 vom derzeitigen Präsidenten
Andrés Manuel López Obrador ernannt, der nicht erneut
kandidieren kann. Sie wird zwar seinen Kurs um Gleich-
berechtigung und einen grünen Wandel fortsetzen, aber
auch die Zahl der Polizisten erhöhen und eine Antikor-
ruptionsbehörde einrichten. Gleichzeitig wird sie versu-
chen, ihr eigenes Programm voranzutreiben.
Argentinien
BIP-Wachstum -2,1 Prozent
BIP pro Kopf 10 931 $ (KKP: 25 270 $)
Inflation 139,5 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -2,2
Bevölkerung 46,1 Mio.
Das Land stand im November 2023 vor
einer Stichwahl um das Präsidenten-
amt, bei der der Wirtschaftsminister
und peronistische Kandidat Sergio
Massa gegen Javier Milei antrat. Mit
seinen rechtsextrem-liberalen Ansich-
ten in Wirtschafts- und Gesellschafts-
fragen sorgte der Politneuling Milei für
Aufsehen. So will er die öffentlichen
Ausgaben kürzen, alle staatlichen
Unternehmen verkaufen und den Peso
durch den Dollar ersetzen. Milei, der
sich die Unterstützung der drittplat-
zierten Patricia Bullrich gesichert hat-
te, konnte sich im zweiten Wahlgang
überraschend klar durchsetzen. Er
steht vor der Aufgabe, die dreistellige
Inflation eindämmen zu müssen.
Bolivien
BIP-Wachstum 2,1 Prozent
BIP pro Kopf 3418 $ (KKP: 9840 $)
Inflation 5,9 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -6,7
Bevölkerung 12,6 Mio.
Die regierende linke Bewegung
zum Sozialismus ist in Aufruhr.
Der Parteivorsitzende, Evo Morales,
ein ehemaliger Präsident, leitete im
Oktober 2023 eine interne Abstim-
mung, bei der der bisherige Präsident
Luis Arce abgesetzt und er selbst
zum Kandidaten für die Wahlen 2025
gewählt wurde. Arce gründete dar-
aufhin seine eigene politische Grup-
pe. Die legislative Dynamik wird zum
Stillstand kommen, da die Proteste
gegen die Regierung zunehmen. Der
Druck auf die Währung könnte zu
einer Zahlungsbilanzkrise führen.
Brasilien
BIP-Wachstum 1,5 Prozent
BIP pro Kopf 10 813 $ (KKP: 20 160 $)
Inflation 3,8 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -7,5
Bevölkerung 211,5 Mio.
Der linke Präsident Luiz Inácio Lula
da Silva wird es schwer haben, seine
Agenda durchzubringen. Dazu gehört
die Aufhebung der marktliberalen
Wirtschaftsreformen und Privatisie-
rungen, die in den letzten Jahren
von den jetzt oppositionellen rechten
Kräften durchgesetzt wurden. Seine
Kampagne zur Eindämmung der ille-
galen Abholzung im Amazonasgebiet
und zum Schutz der Rechte indigener
Völker wird ebenfalls auf Widerstand
stoßen, auch wenn der Kongress einen
neuen steuerlichen Rahmen geneh-
migt hat, der das Ausgabenwachstum
unter den Einnahmen halten soll.
Eine kriselnde Wirtschaft unter Lulas
Interventionismus-Agenda wird die
Unterstützung für den bislang noch
populären Hoffnungsträger innerhalb
der Bevölkerung schwächen.
Chile
BIP-Wachstum 2,0 Prozent
BIP pro Kopf 17 030 $ (KKP: 33 270 $)
Inflation 3,3 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -2,5
Bevölkerung 19,7 Mio.
Der linke Präsident Gabriel Boric
hatte eine Reihe von Rückschlägen
einstecken müssen und steuert gerade
auf einen weiteren zu. Er versucht
Ende 2023 ein zweites Mal die Wähler
davon zu überzeugen, für eine Verfas-
sungsreform zu stimmen. Eine gestärk-
te rechte Opposition wird den Entwurf
der Regierung verwässern und radi-
kale Vorschläge blockieren. Der vor-
sichtige Ansatz von Boric in Geld- und
Steuerpolitik wird auf den Widerstand
einiger Regierungsfraktionen stoßen,
die höhere Sozialausgaben fordern.
Im blIck behalten: Eine Bergbauge-
bührenregelung für Kupferproduzen-
ten wird in Kraft treten und Einnah-
men in Höhe von 0,5 Prozent des BIP
für die regionale Entwicklung bringen.
Ecuador
BIP-Wachstum 1,7 Prozent
BIP pro Kopf 6798 $ (KKP: 13 760 $)
Inflation 2,0 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -1,9
Bevölkerung 18,3 Mio.
Daniel Noboa, ein Außenseiter der
rechten Mitte und Erbe eines Bana-
nenvermögens, gewann die Wahlen in
2023 vor dem Hintergrund der zuneh-
menden Drogen- und Bandengewalt.
98 LÄNDER Die Welt in 2024

Er wird die Amtszeit von Guiller-

mo Lasso zu Ende bringen, der den
Kongress auflöste, um einem Amts-
enthebungsverfahren zu entgehen;
Neuwahlen sind für 2025 vorgesehen.
Noboa wird eine marktfreundliche
Politik verfolgen, aber die hohen
Zinssätze zur Verteidigung der doll-
arisierten Wirtschaft dämpfen das
Wachstum.
Kolumbien
BIP-Wachstum 2,8 Prozent
BIP pro Kopf 8292 $ (KKP: 22 260 $)
Inflation 4,0 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -4,1
Bevölkerung 52,3 Mio.
Die von der Opposition dominierte
Legislative wird dem populistischen,
linken Präsidenten Gustavo Petro ein
gewisses Maß an Pragmatismus auf-
zwingen. Denn sein Wahlprogramm
sah neben Arbeits-, Gesundheits- und
Rentenreformen auch die Schaffung
von Arbeitsplätzen im öffentlichen
Sektor für Arbeitslose und einen Stopp
neuer Lizenzen für die Öl- und Gasex-
ploration vor. Die Wirtschaft wird sich
nach einem schleppenden Jahr wieder
erholen, aber die Sorge der Investoren
über die von Petros geplanten staat-
lichen Reformen wird das Wachstum
begrenzen.
Im blIck behalten: Der Bau der U-Bahn
in der Hauptstadt Bogotá könnte ins
Stocken geraten. Der Präsident und
der Bürgermeister streiten, ob Tunnel
oder Viadukte entstehen sollen.
Kuba
BIP-Wachstum 3,6 Prozent
BIP pro Kopf 2556 $ (KKP: 16 570 $)
Inflation 11,4 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -7,2
Bevölkerung 11,2 Mio.
Die Kommunistische Partei sieht sich
mit der Unzufriedenheit der Öffent-
lichkeit über mangelnde Freiheiten,
Güterknappheit und einen sinkenden
Lebensstandard konfrontiert, wird aber
an der Macht bleiben. Die Regierung
will ihre Liberalisierungsreformen,
welche die Wettbewerbsfähigkeit ver-
bessern sollen, behutsam vorantreiben.
Unterstützt durch einen Aufschwung
des Tourismus nach der Pandemie und
eine gewisse Lockerung der ameri-
kanischen Sanktionen dürfte sich die
Wirtschaft erholen.
‘Ecuador
Morde pro 100 000 Menschen
30
20
10
0 um die Opposition auszuschalten.
2014 16 18 20 22
Quelle: Statista
Paraguay
BIP-Wachstum 4,1 Prozent
BIP pro Kopf 6320 $ (KKP: 16 340 $)
Inflation 4,0 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -2,0
Bevölkerung 7,7 Mio.
Die rechte Colorado-Partei trat im
August 2023 ihre dritte Amtszeit in
Folge unter dem neuen Präsidenten
und einstigen Finanzminister Santiago
Peña an. Die Ausgaben für Bildung,
Gesundheit und Infrastruktur sowie
die Verringerung der Haushaltslücke
haben Priorität. Die Partei-Rivalen sind
ein Risiko für die Stabilität. Die Wirt-
schaft ist anfällig und könnte schwan-
ken, dürfte aber solide wachsen.
Peru
BIP-Wachstum 2,5 Prozent
BIP pro Kopf 8487 $ (KKP: 16 090 $)
Inflation 3,6 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -2,0
Bevölkerung 34,0 Mio.
Präsidentin Dina Boluarte, die nach
dem Zusammenbruch der chaotischen
Regierung des Linkspopulisten Pedro
Castillo eingesetzt wurde, soll bis
2026 im Amt bleiben. Ihre Zeit könnte
jedoch durch eine fragile Koalition
oder erneute Demonstrationen gegen
die Regierung verkürzt werden. Politi-
sche Instabilität und Lähmung haben
eine Phase hohen Wachstums unter-
brochen, ebenso wie schlechtes Wetter.
Starke Handelsbeziehungen werden
2024 eine leichte Erholung fördern.
Uruguay
BIP-Wachstum 3,0 Prozent
BIP pro Kopf 25 353 $ (KKP: 30 140 $)
Inflation 5,5 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -3,2
Bevölkerung 3,5 Mio.
Die Mitte-rechts-Koalition unter Prä-
sident Luis Lacalle Pou hat trotz des
heftigen Widerstands der Gewerk-
schaften einige bedeutende Siege für
ihre wirtschaftsfreundliche Agenda
errungen, doch vor den Wahlen im
Oktober 2024 droht sie zu zerbrechen.
Die populistisch-nationalistische Partei
Cabildo Abierto könnte aus der Koali-
tion austreten, um vor den Wahlen eine
eigene Gruppe zu gründen, wodurch
Luis Lacalle Pou die Mehrheit verlieren
würde. Nach einer Dürreperiode 2023
wird sich das Wachstum erholen.
Venezuela
BIP-Wachstum 3,5 Prozent
BIP pro Kopf 3545 $ (KKP: 6370 $)
Inflation 94,2 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -2,8
Bevölkerung 28,3 Mio.
Die Wahlen Anfang 2024 werden ein
Durchmarsch für die Regierung von
Präsident Nicolás Maduro sein. Sie
wird ihren Einfluss auf die Sicherheits-
kräfte und das Justizsystem sowie ein
gut ausgebautes Klientelnetz nutzen,
Schwache Geschäftsbedingungen und
chronischer Investitionsmangel werden
das Wirtschaftswachstum bremsen.
Naher Osten und Afrika
Mittleres Haushaltseinkommen, Preise von 2019, in 1000 $
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90
Israel
Saudiarabien 2015
Nigeria 2024
Ägypten
Algerien
Iran
Südafrika
Ägypten gewinnen. Die Öl- und Gasexporte,
BIP-Wachstum 3,1 Prozent gestärkt durch Europas Abwendung
BIP pro Kopf 2809 $ (KKP: 17 770 $) von Russland, werden hoch bleiben,
Inflation 26,9 Prozent aber sinkende Preise begrenzen die
Haushaltssaldo (% BIP) -8,3 Einnahmen.
Bevölkerung 107,4 Mio.
Angola
Für die Wahl im Dezember 2023 BIP-Wachstum 3,0 Prozent
wurde ein Sieg für Abdel Fattah BIP pro Kopf 2399 $ (KKP: 7250 $)
al-Sisi erwartet. Inmitten von Unzu- Inflation 17,8 Prozent
friedenheit wegen einer Krise der Haushaltssaldo (% BIP) -0,7
Lebenshaltungskosten wird seine Bevölkerung 37,8 Mio.
dritte Amtszeit als Präsident die bis-
lang schwierigste sein. Reagieren Die Regierung von Präsident
wird er mit einer Festigung seiner João Lourenço wird auf Proteste
Machtstellung. Exporte werden wegen hoher Arbeitslosigkeit und
einen bescheidenen Aufschwung Lebenshaltungskosten mit einer
bringen, aber Druck durch hohe Mischung aus Wohltaten und
Lebensmittel- und Treibstoffpreise Repression reagieren. Sie wirbt mit
erfordert Hilfe von Finanziers aus ihrem langfristigen Plan zur Diver-
den Golfstaaten. sifizierung, doch kurzfristig bleibt
die Wirtschaft abhängig von Öl
Äthiopien und Gas. Die Ölproduktion aus den
BIP-Wachstum 6,2 Prozent ausgelaugten Quellen des Landes
BIP pro Kopf 1252 $ (KKP: 3200 $) wird unter der OPEC-Quote liegen,
Inflation 27,2 Prozent aber insgesamt erlebt die Wirtschaft
Haushaltssaldo (% BIP) -4,4 durch staatliche Anreize für Land-
Bevölkerung 129,7 Mio. wirtschaft und andere Sektoren
einen Aufschwung.
Ein Friedensabkommen mit Sepa-
ratisten in der nördlichen Tigray- Irak
Region ist fragil und das Risiko BIP-Wachstum 2,9 Prozent
eines erneuten Konflikts hoch. Die BIP pro Kopf 5843 $ (KKP: 11 050 $)
Regierung von Premierminister Abiy Inflation 3,3 Prozent
Ahmed wird Wirtschaftsreformen Haushaltssaldo (% BIP) -9,2
wie Privatisierung und Währungs- Bevölkerung 44,4 Mio.
stabilisierung angehen, um aus-
ländische Investitionen anzuziehen Die Regierung von Mohammed Shia
und die Wirtschaft zu stärken. Das al-Sudani hat eine ungewohnt lange
Wachstum wird beeindrucken, aber relative Ruhe hergestellt, doch mit
unter den jährlich zehn bis elf Pro- den bevorstehenden Wahlen wahr-
zent bleiben, die noch vor wenigen scheinlich im Jahr 2024 wird es
Jahren erreicht wurden. erneut Proteste geben. Außerhalb
von Bagdad werden bewaffnete
Algerien Milizen den Frieden stören. Sicher-
heitsrisiken bremsen die Investitio-
BIP-Wachstum 2,5 Prozent
BIP pro Kopf 4821 $ (KKP: 13 820 $) nen. Die Ölproduktion dürfte steil
Inflation 7,5 Prozent ansteigen, aber nicht die offiziellen
Haushaltssaldo (% BIP) -7,3 Zahlen erreichen.
Bevölkerung 48,0 Mio.
Iran
Präsident Abdelmadjid Tebboune, BIP-Wachstum 2,1 Prozent
der 2019 nach dem Sturz des lang- BIP pro Kopf 3386 $ (KKP: 18 240 $)
jährigen Staatschefs Abdelaziz Inflation 30,0 Prozent
Bouteflika die Regierung übernahm, Haushaltssaldo (% BIP) -4,4
hat das Netzwerk der Macht seines Bevölkerung 89,2 Mio.
Vorgängers weitestgehend in den
Griff bekommen und wird bei den Für die Regierung besteht zuneh-
für 2024 geplanten Wahlen erneut mende Gefahr öffentlicher Unruhen,
Die Welt in 2024
nachdem bisherige Phasen der
Unterdrückung ihre Legitimität
nur weiter untergraben haben.
Der Oberste Führer Ayatollah Ali
Khamenei ist schwer krank, und ein
ungeplanter Nachfolgekampf wür-
de das Land weiter destabilisieren.
Iran wird Exportmärkte für sein Öl
suchen, aber kaum Kunden finden
außer China. Die Inflation steigt
auf 30 Prozent.
Israel
BIP-Wachstum 3,4 Prozent
BIP pro Kopf 56 778 $ (KKP: 54 120 $)
Inflation 2,6 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -2,5
Bevölkerung 9,9 Mio.
Die Streitkräfte haben den Gaza-
streifen nach dem furchtbaren
Hamas-Angriff im Oktober bombar-
diert, aber die israelischen Geiseln
machen die Lage kompliziert. Die
neue Einheitsregierung wird den
rechten Premierminister Benjamin
Netanjahu stärken und eine Annä-
herung an arabische Staaten ver-
hindern. Die dadurch entstehende
Instabilität bremst, zusammen mit
Konflikten über Justizfragen, die
Wirtschaft.
Jordanien
BIP-Wachstum 2,5 Prozent
BIP pro Kopf 4766 $ (KKP: 12 190 $)
Inflation 1,8 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -5,2
Bevölkerung 11,4 Mio.
Hohe Arbeitslosigkeit und sinkende
Lebensstandards führen zu Unru-
hen, aber König Abdullah wird mit
seiner festen Kontrolle über den
Sicherheitsapparat und rechtzeiti-
gen Anpassungen der Verfassung
an der Macht bleiben. Politisch wird
er versuchen, Knappheit bei Basis-
gütern und -dienstleistungen abzu-
mildern. Wahlen im November 2024
werden hauptsächlich Teilnahms-
losigkeit zeigen.
Im blIck behalten: Mobilfunk. Mit
Orange und Umniah vergrößern zwei
Telecom-Unternehmen 2024 ihre
5G-Abdeckung – ein Sprung für die
Digitalinfrastruktur im Land.
Kamerun
BIP-Wachstum 4,6 Prozent
BIP pro Kopf 1964 $ (KKP: 4850 $)
Inflation 3,9 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -0,5
Bevölkerung 29,4 Mio.
Die Regierung von Präsident Paul
Biya ist mit zunehmenden Bedro-
hungen und wirtschaftlicher Stag-
nation konfrontiert, wird aber an
der Macht bleiben. Separatistische
Konflikte im Westen werden an-
halten, ebenso wie Kämpfe mit
bewaffneten Gruppen im Norden.
Die Wirtschaft gibt nach, weil die
Ölproduktion sinkt und die Regie-
rung das Haushaltsdefizit verringern
muss. Geld vom IWF wird trotz
Bedenken über den Umgang damit
und langsamen Fortschritten bei
Wirtschaftsreformen wichtig bleiben.
Im blIck behalten: Nachfolge. Prä-
sident Biya wird 91 Jahre alt und
ist der älteste Staatschef der Welt.
Nachfolger soll sein Sohn werden,
aber ein plötzlicher Abgang würde
zu Unruhen führen.
Kenia
BIP-Wachstum 5,2 Prozent
BIP pro Kopf 1976 $ (KKP: 6460 $)
Inflation 5,8 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -4,4
Bevölkerung 56,2 Mio.
Präsident William Ruto wird in
seiner ersten Amtszeit die Mehr-
heit seiner Allianz Kenya Kwanza
im Parlament nutzen, um gegen
entschlossene Opposition und eine
Kultur der Korruption marktfreund-
liche Reformen durchzusetzen. Mit
Investitionen in Technologie und
Infrastruktur will die Regierung
das Wirtschaftsklima verbessern.
Libanon
BIP-Wachstum 2,1 Prozent
BIP pro Kopf 3641 $ (KKP: 13 180 $)
Inflation 96,3 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -2,4
Bevölkerung 6,7 Mio.
Ende 2023 schien eine Einigung
in einem politischen Patt um die
Etablierung einer dauerhaften
Regierung möglich, was die Stim-
mung nach sechs Jahren verheeren-
der Rezession verbessern könnte.
Internationale Unterstützung und
eine Erholung im Außenhandel
sowie Investitionen und Tourismus
helfen der Wirtschaft, die aber noch
unter früheren Niveaus bleibt.
Libyen
BIP-Wachstum 7,7 Prozent
BIP pro Kopf 7024 $ (KKP: 24 070 $)
Inflation 2,1 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) 10,2
Bevölkerung 7,3 Mio.
Die Aussichten auf Wahlen werden
nach langer Verzögerung besser
und könnten eine Einheitsregierung
ins Amt bringen, aber auch erneuter
Bürgerkrieg lässt sich nicht aus-
schließen. In beiden Szenarien bleibt
die Lage heikel, weil im Inland
bittere Rivalitäten bestehen und ein
Übergreifen von Konflikten aus dem
benachbarten Sudan droht. Ölexpor-
te werden eine weitere Erholung der
Wirtschaft unterstützen.
Marokko
BIP-Wachstum 3,1 Prozent
BIP pro Kopf 4063 $ (KKP: 10 600 $)
Inflation 3,9 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -4,1
Bevölkerung 38,2 Mio.
Die bergige Gegend um die Tou-
ristenstadt Marrakesch wurde im
September von einem starken Erd-
beben getroffen. Der Wiederaufbau
hat begonnen, aber die Touristen
LÄNDER 99
KÖPFE 2024
Wenn sich demokratische Legitimierung an offiziellen
Wahlergebnissen ablesen lässt, dann ist Ruandas Präsi-
dent Paul Kagame ein Vorbild. Nach der Aufhebung einer
Amtszeitbeschränkung 2015, unterstützt von 98 Prozent
der Wähler, marschierte er 2017 mit 99 Prozent in die
dritte Amtszeit. Der Oppositionskandidat der Green Demo-
cratic Party feierte den Fortschritt, weil „niemand aus
unserer Partei getötet oder verhaftet wurde“. 2024 will
Kagame erneut antreten – mit weiteren Traumergebnis-
sen ist zu rechnen. Trotz Einwänden von internationalen
Beobachtern ist seine Bilanz überraschend gut. Die Wirt-
schaftsleistung hat sich vervierfacht und die Armutsquote
von über 60 auf unter 50 Prozent verringert. Er wird sich
nun auf bessere Wirtschaftsbedingungen konzentrieren –
und könnte durchaus eine fünfte Amtszeit anstreben.
werden zumindest vorerst nicht Emmerson Mnangagwa. Die Wirt-
zurückkommen. Darunter leidet die schaft leidet unter geringen Investitio-
Wirtschaftsleistung, aber nicht dra- nen und schwacher Währung. Ende
matisch. Eine langsame Reaktion auf 2024 wird die Inflation rund 20 Pro-
das Erdbeben würde Spannungen zent betragen, nach etwa 85 Prozent
aufgrund von Arbeitslosigkeit und ein Jahr zuvor und mehr als 500 Pro-
Inflation weiter erhöhen. zent in 2019.
Nigeria Südafrika
BIP-Wachstum 2,6 Prozent BIP-Wachstum 1,8 Prozent
BIP pro Kopf 1506 $ (KKP: 6240 $) BIP pro Kopf 6971 $ (KKP: 17 390 $)
Inflation 23,5 Prozent Inflation 4,7 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -4,6 Haushaltssaldo (% BIP) -6,0
Bevölkerung 229,2 Mio. Bevölkerung 61,0 Mio.
Der neue Präsident Bola Tinubu ist Präsident Cyril Ramaphosa ist belieb-
mit hoher Inflation, Sicherheitsbedro- ter als seine Partei African National
hungen und ethnischen Spannungen Congress und dürfte nach Wahlen im
konfrontiert. Seine marktfreundlichen Mai 2024 im Amt bleiben. Der ANC
Reformen werden nicht bei allen könnte trotzdem seine Mehrheit ver-
Wählern ankommen, aber ausländi- lieren und dann Partner brauchen.
sche Investitionen anziehen und die Eine Koalition wäre eine schwierige
Wirtschaft auf Dauer stärken. Sezessio- Prüfung für die Partei, die das Land
nistische Bestrebungen im ölreichen seit den ersten demokratischen Wahlen
Niger-Delta werden trotz einer neuen 1994 allein regiert.
Rahmenregelung für eine fairere
Teilung der Einnahmen nicht enden. Syrien
Exporte stützen die Wirtschaft. BIP-Wachstum 4,6 Prozent
BIP pro Kopf 5699 $ (KKP: 4290 $)
Saudi-Arabien Inflation 45,3 Prozent
BIP-Wachstum 2,9 Prozent Haushaltssaldo (% BIP) -4,9
BIP pro Kopf 32 097 $ (KKP: 69 980 $) Bevölkerung 18,5 Mio.
Inflation 2,1 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) 1,0 Präsident Baschar al-Assad wird mit-
Bevölkerung 33,7 Mio. hilfe seiner Armee, die den Großteil
des Landes kontrolliert, an der Macht
Kronprinz Mohammed bin Salman bleiben. Für mehr Einfluss in den
wird seine Position als De-facto-Herr- öl- und gasreichen Kurdengebieten
scher weiter festigen, unabhängig wird die Regierung mit den Syrian
davon, ob sein Vater offiziell die Democratic Forces verhandeln, einem
Macht als König an ihn übergibt. kurdisch geführten Militärbündnis.
Seine Pläne für Diversifizierung und Preis- und Währungsdruck lassen
Liberalisierung der Wirtschaft wird nach, was das Wachstum unterstützt.
er weiterverfolgen, aber politisch ist
er gnadenlos. In der jungen Bevölke-
rung gärt Unzufriedenheit. Das König-
reich gibt die Produktionsstrategie ‘Simbabwe
der OPEC vor und stabilisiert seine Verbraucherpreise,
Öleinnahmen. Veränderung zum Vorjahr in %
500
Simbabwe 400
BIP-Wachstum 3,2 Prozent 300
BIP pro Kopf 1457 $ (KKP: 2940 $)
Inflation 40,8 Prozent 200
Haushaltssaldo (% BIP) -1,0 100
Bevölkerung 15,8 Mio.
0
Im August 2023 gewann die regierende -100
Partei ZANU-PF eine unsaubere Wahl 2015 17 19 21 23 24
mit einer zweiten Präsidentschaft für
100 LÄNDER
Asien
BIP, Veränderung zum Vorjahr in %
2015 16 17 18
Australien
BIP-Wachstum 1,9 Prozent
BIP pro Kopf 66 969 $ (KKP: 71 240 $)
Inflation 3,2 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -1,1
Bevölkerung 26,6 Mio.
Die Mitte-links-Regierung der Labor-
Partei, die durch die Grünen und die
Unabhängigen unterstützt wird, setzt
sich für die Stärkung der öffentlichen
Dienstleistungen und der Wirtschaft
ein – und dafür, dass grüne Transfor-
mationsprozesse beschleunigt wer-
den. Die Partei wird sich behaupten,
auch wenn ihr Vorschlag, die politi-
sche Vertretung der indigenen Völker
zu stärken, bei einem Referendum im
Oktober 2023 scheiterte. Das AUKUS-
Bündnis mit den USA und Großbritan-
nien wird für mehr Sicherheit sorgen,
aber gleichzeitig die Spannungen mit
China füttern. Hohe Zinssätze werden
die Wirtschaft bremsen, auch wenn
die weltweit steigende Nachfrage
nach Rohstoffen den Handel fördert.
Bangladesch
BIP-Wachstum 6,2 Prozent
BIP pro Kopf 2615 $ (KKP: 8740 $)
Inflation 8,8 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -5,4
Bevölkerung 174,7 Mio.
Die Awami-Liga (AL) wird weiter-
hin das Parlament dominieren und
sich dabei auf ihr etabliertes Klien-
telsystem und den Rückhalt des
Militärs stützen. Premierministerin
Scheich Hasina (siehe „Köpfe 2024“)
wird Anfang 2024 für eine fünfte
Amtszeit kandidieren, auch wenn
Spekulationen über ihre Nachfolge
‘ Bangladesh
BIP, Veränderung zum Vorjahr in %
Bangladesch
Asien-Pazifik
2015 17 19 21
China
Entwicklung in Asien
und im pazifischen Raum
19 20 21 22 23 24
die Beziehungen innerhalb der AL
möglicherweise belasten. Die Unzu-
friedenheit der Bevölkerung mit den
steigenden Lebenshaltungskosten
könnte zu öffentlichen Protesten füh-
ren, welche die Regierung allerdings
kaum gefährden dürften. Die Wirt-
schaft wuchs seit 2011 mit einer Aus-
nahme jedes Jahr um sechs Prozent
– der Wert sollte auch 2024 über dem
regionalen Durchschnitt liegen.
Im blIck behalten: Bangladesch wird
seine strategische Lage im Golf von
Bengalen nutzen, um sich Zugeständ-
nisse und Hilfe von den Regional-
mächten zu sichern.
China
BIP-Wachstum 4,8 Prozent
BIP pro Kopf 13 601 $ (KKP: 25 250 $)
Inflation 1,9 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -3,4
Bevölkerung 1,40 Mrd.
Präsident Xi Jinping wird in seiner
dritten Amtszeit die Zügel straffen
und mit institutionellen Umstruktu-
rierungen den Unmut über seine
Null-Covid-Politik lindern. China
wird seine Taiwan-Ambitionen vorerst
zurückstellen. Außerdem schaltet die
Wirtschaft einen Gang zurück. Sie ist
belastet durch überschüssige Produk-
tionskapazitäten, schwache Nachfra-
ge, Turbulenzen im Immobiliensektor,
Jugendarbeitslosigkeit und Schulden.
Der Wechsel zu einer konsumorien-
tierten Ökonomie wird sich angesichts
der rückläufigen demografischen
Entwicklung (weniger Arbeitskräfte)
nur langsam vollziehen.
Im blIck behalten: Im April findet in
Shenzhen der World Tunnel Congress
unter dem Motto „Tunnelbau für ein
besseres Leben“ statt.
8 der Verbraucherausgaben weiterhin
Hongkong
6 BIP-Wachstum 3,2 Prozent
BIP pro Kopf 53 227 $ (KKP: 75 610 $)
4 Inflation 1,6 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) 0,0
2
Bevölkerung 7,6 Mio.
Die Umsetzung des nationalen Sicher-
0 heitsgesetzes aus dem Jahr 2020 wird
23 24 größere soziale Unruhen unterdrü-
cken, die politische Freiheit einschrän-
ken und die Opposition untergraben.
Die Regierung wird sicherstellen,
dass das Rechts- und Justizsystem in
Wirtschaftsfragen stabil bleibt. Geset-
zesreformen werden die politischen
9 Prozesse optimieren, Kontrolle durch
die Opposition einschränken und die
Macht in den Händen des Regierungs-
6
chefs John Lee und seiner Gefolgs-
leute auf dem Festland konzentrieren.
3
Die einzigartige Rolle der Wirtschaft
als Bindeglied zwischen China und
0
dem Rest der Welt sollte das Wachs-
tum ankurbeln.
-3
Indien
-6 BIP-Wachstum 6,0 Prozent
BIP pro Kopf 2727 $ (KKP: 9890 $)
Inflation 4,8 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -5,5
Bevölkerung 1,44 Mrd.
Dank der Popularität von Premier-
minister Narendra Modi und seiner
Politik – inklusive des guten Service
bei öffentlichen Dienstleistungen –
wird die Bharatiya Janata Party nach
den Wahlen im April und Mai an
der Macht bleiben. Allerdings dürfte
„Kongress“, die größte Oppositions-
partei, in einigen Bundesstaaten eine
Konkurrenz darstellen. Die Regierung
wird sich weiterhin auf die Erneue-
rung der Infrastruktur und auf regula-
torische Reformen konzentrieren, um
Indien stärker in die Lieferketten zu
integrieren. Das Wirtschaftswachstum
wird sich verlangsamen, da der Nach-
holbedarf gedeckt wurde.
Im blIck behalten: Der Streit mit Kana-
da über die Ermordung eines Sikh-
Separatisten wird Indiens Einstellung
zum Westen auf die Probe stellen.
Indonesien
BIP-Wachstum 5,1 Prozent
BIP pro Kopf 5359 $ (KKP: 17 110 $)
Inflation 2,2 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -2,5
Bevölkerung 276,4 Mio.
Die Politik wird nach den Wahlen im
Februar vom Ausscheiden des Präsi-
denten Joko Widodo (Jokowi), dessen
Amtszeit endet, beherrscht werden.
Seine Mitte-links-Partei behält je-
doch ihre Mehrheit, und ihr Kandidat
Ganjar Pranowo, der Gouverneur von
Zentraljava, wird das Präsidenten-
amt erringen. Jokowis Strategie des
„großen Zelts“ bleibt bestehen und
trägt zur politischen Stabilität bei.
Das Land wird seine vorsichtigen,
aber freundschaftlichen Beziehungen
zu China beibehalten. Die Wirtschaft
dürfte dank der Rohstoffexporte und
um mehr als fünf Prozent wachsen.
Japan
BIP-Wachstum 1,1 Prozent
BIP pro Kopf 39 009 $ (KKP: 50 990 $)
Inflation 1,5 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -4,6
Bevölkerung 122,6 Mio.
Es wird erwartet, dass Premierminister
Fumio Kishida in den ersten Monaten
Die Welt in 2024
des Jahres 2024 vorgezogene Parla-
mentswahlen ausruft, bei denen er
die regierende Liberaldemokratische
Partei zum Sieg führt. Das ermöglicht
ihm, die Erhöhung der Steuereinnah-
men voranzutreiben, um Verteidi-
gungshaushalt und Sozialausgaben
aufzustocken. Wobei letzteres Projekt
darauf abzielt, die Geburtenrate zu
steigern. In der Außenpolitik wird
er Japans wichtigste Beziehung zu
Amerika durch stärkere regionale
Verteidigungs- und Wirtschaftsbande
ergänzen. Die Inlandsnachfrage sollte
die Wirtschaft in Schwung halten.
Im blIck behalten: Die Verbindung
zu China ist angespannt. Japan wird
versuchen, seine Sicherheits- und
Wirtschaftsinteressen abzuwägen, um
einen direkten Konflikt zu vermeiden.
Kasachstan
BIP-Wachstum 5,5 Prozent
BIP pro Kopf 14 143 $ (KKP: 36 600 $)
Inflation 8,6 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -1,3
Bevölkerung 19,8 Mio.
Präsident Kassym-Schomart Toka-
jew wird eine nominelle Öffnung
der Politik, die nach gewaltsamen
Protesten im Jahr 2022 eingeführt
wurde, nutzen, um die unzufriedene
Öffentlichkeit zu beschwichtigen.
Tatsächlich bleibt das Land aber
eine Diktatur, und ein echter politi-
scher Pluralismus ist nicht in Sicht.
Das Wirtschaftswachstum wird sich
dank der robusten Ölproduktion und
-exporte angesichts der gestiegenen
Weltmarktpreise erholen. Allerdings
besteht die Gefahr, dass die Export-
wege durch die Sanktionen gegen
Russland gestört werden.
Im blIck behalten: In Astana finden
die Weltnomadenspiele statt, bei
denen Ringen und Bogenschießen auf
dem Programm stehen. Ebenso wie
Kok-Boru. Dabei versuchen berittene
Teams, einen Ziegenkadaver in das
gegnerische Tor zu befördern.
Malaysia
BIP-Wachstum 4,4 Prozent
BIP pro Kopf 13 581 $ (KKP: 37 800 $)
Inflation 1,9 Prozent
Haushaltssaldo (% BIP) -4,3
Bevölkerung 34,7 Mio.
Anwar Ibrahim ist ein reformorien-
tierter Führer an der Spitze einer
Koalition, der auch starke konserva-
tive Fraktionen angehören, was sei-
nen Handlungsspielraum begrenzt.
Insbesondere die Bestrebungen, das
„Bumiputra“-System abzuschaffen,
das ethnische Malaien und ande-
re indigene Gruppen begünstigt,
werden auf Eis gelegt, um den poli-
tischen Frieden zu wahren – wäh-
rend die Abneigung der bisherigen
Regierung, mit der größten Oppo-
sitionspartei, der Pan-Malaysian
Islamic Party, zusammenzuarbeiten,
Ibrahims Autorität stärken wird.
Die Konsumausgaben dürften das
Wachstum stützen.
Die Welt in 2024
Neuseeland und die Beziehungen zu Amerika
BIP-Wachstum 2,6 Prozent festigen (trotz Chinas Missbilligung).
BIP pro Kopf 50 856 $ (KKP: 54 200 $) Das robuste Aufholwachstum wird
Inflation 2,3 Prozent sich fortsetzen, wenn die Auswirkun-
Haushaltssaldo (% BIP) -1,0 gen der Pandemie und der russischen
Bevölkerung 5,3 Mio. Invasion in der Ukraine nachlassen.
Obwohl die heiße Konjunktur auch
Sechs Jahre lang waren von der die Haushaltslücke und das Leistungs-
Labour Party geführte Regierun- bilanzdefizit vergrößern wird.
gen an der Macht. Dann errang
die konservative National Party bei Singapur
den Wahlen im Oktober 2023 einen BIP-Wachstum 2,5 Prozent
entscheidenden Sieg. Es waren vor BIP pro Kopf 95 929 $ (KKP: 137 000 $)
allem die durch eine hohe Infla- Inflation 3,1 Prozent
tion gestiegenen Lebenshaltungs- Haushaltssaldo (% BIP) -0,1
kosten, welche die Labour-Partei Bevölkerung 5,8 Mio.
schwächten – wie die Sorgen über
Kriminalität und Steuern. Der neue Die Parlamentswahlen werden auf das
Premierminister Christopher Luxon, Jahr 2025 verschoben, damit die seit
ein ehemaliger Geschäftsmann, hat Langem regierende People’s Action
versprochen, den Staatsapparat zu Party sich von den Skandalen des Jah-
verkleinern, den Wohnungsmarkt res 2023 erholen kann. Dies wird auch
anzukurbeln und weniger Zeit für dem stellvertretenden Premierminister
die einheimischen Maori aufzuwen- und Finanzminister Lawrence Wong,
den. Die Wirtschaft wird sich nach der nach den Wahlen die Nachfolge
einem Einbruch erholen. von Lee Hsien Loong als Premier-
minister antreten soll, Zeit geben,
Pakistan seine Autorität zu festigen. Nachdem
BIP-Wachstum -0,3 Prozent die hohe Inflation und die schwachen
BIP pro Kopf 1295 $ (KKP: 6630 $) Exporte das BIP-Wachstum im Jahr
Inflation 21,3 Prozent 2023 gebremst haben, wird die Kon-
Haushaltssaldo (% BIP) -6,7 junktur wieder in Schwung kommen.
Bevölkerung 245,2 Mio.
Im blIck behalten: Multinationale
Trotz der Unzufriedenheit mit der Unternehmen werden Singapur als
schlechten Wirtschaftslage ist die regionalen Hauptsitz wählen, da
regierende pakistanische Muslimliga China Hongkong im Griff hat.
(Nawaz) auf dem besten Weg, auch
bei den für Anfang 2024 angesetzten Sri Lanka
Wahlen an der Macht zu bleiben – BIP-Wachstum 5,6 Prozent
nicht zuletzt, weil der wichtigste BIP pro Kopf 5707 $ (KKP: 15 150 $)
Oppositionspolitiker, Imran Khan, vor Inflation 3,3 Prozent
den Wahlen inhaftiert wurde. Das Risi- Haushaltssaldo (% BIP) -6,9
ko politischer Instabilität bleibt auf- Bevölkerung 22,0 Mio.
grund möglicher Proteste gegen die
hohe Inflation und die hohen Steuern Als einziger Vertreter seiner Partei
bestehen. Das mächtige Militär wird im Parlament ist Präsident Ranil
Unruhen niederschlagen, aber der Wickremesinghe in hohem Maße
öffentliche Widerstand gegen ein IWF- darauf angewiesen, Allianzen zu
Abkommen dürfte weiter schwelen. bilden, um seine Politik voranzubrin-
gen, was jedoch in einer tief gespal-
Philippinen tenen politischen Landschaft nicht
BIP-Wachstum 5,9 Prozent einfach sein wird. Er wird sich Ende
BIP pro Kopf 3982 $ (KKP: 11 500 $) 2024 zur Wiederwahl stellen, aber
Inflation 3,3 Prozent wahrscheinlich scheitern. Anura
Haushaltssaldo (% BIP) -6,3 Kumara Dissanayake von der links-
Bevölkerung 119,1 Mio. gerichteten National People’s Power
ist am geeignetsten, ihn zu ersetzen.
Vor den Zwischenwahlen im Mai 2025 Die Verschiebung der Machtver-
werden die politischen Auseinander- hältnisse verheißt nichts Gutes für
setzungen zunehmen. Aber Präsident eine Einigung mit dem IWF, aber ein
Ferdinand „Bongbong“ Marcos Jr. gewisses Maß an Stabilität könnte
will das Geschäftsumfeld verbessern der Wirtschaft helfen, sich von der
jüngsten Katastrophe zu erholen.
‘Philippinen Südkorea
BIP in % BIP-Wachstum 2,4 Prozent
6 wird die neue 11-Parteien-Koalitions-
BIP pro Kopf 34 666 $ (KKP: 55 300 $)
Kontokorrentsaldo Inflation 1,8 Prozent
3
Haushaltssaldo (% BIP) -2,3
0 Bevölkerung 51,7 Mio.
-3 Die konservative People Power Party
(PPP) von Präsident Yoon Suk-yeol
-6 wird Steuersenkungen und Deregulie-
Haushaltssaldo
rung anstreben, um Beschäftigungs-
-9 beschränkungen zu lockern und
2015 17 19 21 23 24 private Investitionen zu fördern. Dabei
dürfte er auf heftigen Widerstand der
LÄNDER 101
KÖPFE 2024
Scheich Hasina ist ein Symbol der Kontinuität. Sie
wurde einen Monat nach der Teilung Indiens geboren
und war bei der Gründung Bangladeschs Mitte zwanzig
(ihr Vater, Scheich Mujibur Rahman, war der erste
Präsident). Sie wurde 1996 zum ersten Mal Premier-
ministerin und hat seitdem vier Amtszeiten absolviert,
was sie zur dienstältesten weiblichen Regierungsche-
fin der Welt macht. Im Januar wird sie wohl eine fünfte
antreten. Ihre Rücksichtslosigkeit und autoritäre
Tendenz brachten ihr den Titel „Eiserne Lady Asiens“
ein. Sie sorgte für anhaltendes Wachstum und einen
Rückgang der Armut. Doch Probleme wie steigende
Lebenshaltungskosten, der radikale Islam und der
Klimawandel bedrohen das tief liegende Land. Reale
und metaphorische Sturmwolken ziehen auf.
Gewerkschaften und der oppositio- aber den Status quo nicht infrage
nellen Minjoo-Partei stoßen, der sich stellen. Steuerliche Hilfen und eine
jedoch nach den Parlamentswahlen Erholung des Tourismus werden die
im April, aus denen die PPP voraus- Wirtschaft ankurbeln.
sichtlich mit einer Mehrheit hervor-
gehen wird, schnell legen könnte. Der Im blIck behalten: Die Aufstände
globale Wirtschaftsaufschwung wird in drei mehrheitlich muslimischen
den exportorientierten Produktions- Provinzen im Süden werden weiter-
sektor des Landes stützen. schwelen, ohne jedoch die nationale
Stabilität zu gefährden.
Taiwan
BIP-Wachstum 3,2 Prozent Usbekistan
BIP pro Kopf 32 775 $ (KKP: 80 040 $) BIP-Wachstum 5,2 Prozent
Inflation 1,7 Prozent BIP pro Kopf 2636 $ (KKP: 12 910 $)
Haushaltssaldo (% BIP) 0,1 Inflation 8,4 Prozent
Bevölkerung 23,2 Mio. Haushaltssaldo (% BIP) -2,4
Bevölkerung 35,7 Mio.
Im Januar stehen Parlaments- und
Präsidentschaftswahlen an, bei denen Präsident Shavkat Mirziyoyev wird
die regierende Demokratische Fort- dank der Abschaffung der Amtszeit-
schrittspartei eine weitere Amtszeit beschränkung die politische Szene
anstrebt, begleitet von einer wachsen- dominieren. Er setzt auf wirtschaftli-
den Skepsis der Öffentlichkeit gegen- che Liberalisierung, um ausländische
über China. Der derzeitige Vizepräsi- und private Investitionen anzukur-
dent Lai Ching-te wird an die Spitze beln. Die Verbraucherausgaben
des Landes rücken, was die Spannun- werden die Wirtschaft stärken, aber
gen mit China verschärft, denn er gilt Korruption, staatliche Einmischung
dort als Befürworter der Unabhängig- und geopolitische Spannungen
keit. Die Wirtschaft wird sich erholen, werden das Wachstum begrenzen.
obwohl die technologischen Ausei-
nandersetzungen zwischen Amerika Vietnam
und China die Halbleiterindustrie BIP-Wachstum 6,0 Prozent
weiterhin belasten. BIP pro Kopf 4937 $ (KKP: 15 610 $)
Inflation 2,4 Prozent
Im blIck behalten: China verstärkt den Haushaltssaldo (% BIP) -2,6
Kontakt zu Taiwan, wohl wissend, dass Bevölkerung 99,5 Mio.
militärische Drohungen die öffentliche
Meinung nicht beeinflusst haben. Generalsekretär Nguyen Phu Trong
befindet sich in seiner dritten Regie-
Thailand rungsperiode, wobei sein schlechter
BIP-Wachstum 4,2 Prozent Gesundheitszustand die größte Gefahr
BIP pro Kopf 8186 $ (KKP: 23 470 $) für seine Amtszeit darstellt. Er hat
Inflation 2,7 Prozent noch keinen Nachfolger ernannt, aber
Haushaltssaldo (% BIP) -3,4 Premierminister Pham Minh Chinh
Bevölkerung 71,9 Mio. und der Vorsitzende der Nationalver-
sammlung Vuong Dinh Hue sind die
Srettha Thavisin von der ehemaligen Hauptkandidaten, die nach Ablauf
Oppositionspartei Pheu Thai (PTP) seiner Amtszeit im Jahr 2026 über-
nehmen könnten. Das Regime wird
regierung anführen, der auch militä- die Geschäftsregeln liberalisieren und
risch geprägte Parteien, die ehemali- gegen korrupte Personen vorgehen,
gen Gegenspieler der PTP, angehören. doch Korruption wird endemisch
Damit zeichnet sich ein neues politi- bleiben. Die Wirtschaft dürfte auf die
sches Bündnis ab, in dem alte Rivalen Verbesserung des Handels und den
zusammenarbeiten,um die reform- Aufschwung positiv reagieren.
orientierte Move Forward Party, die
bei den Wahlen 2023 den ersten Platz Im blIck behalten: Die Demonstranten
belegte, von der Machtübernahme fordern eine energischere Reaktion
abzuhalten. Die neue Regierung plant auf die chinesischen Drohungen, die
einige demokratische Reformen, wird das Regime jedoch ablehnen wird.
102
DIE WELT IN ZAHLEN
INDUSTRIE
ZEHN WIRTSCHAFTSTRENDS FÜR 2024
1 6
Zentralbanken, auch in den
USA, senken die Zinssätze,
weil die Preise langsamer stei­
gen. Da die weltweite Inflation
jedoch immer noch 5 Prozent
beträgt, sparen die
Verbraucher.
Fed-Leitzins zum
Jahresende in %
0,1 0,1 4,4 5,4 4,9
2020 21 22 23 24
2
Im Kampf gegen den Klima­
wandel steigt der Anteil
erneuerbarer Energien um
11 Prozent auf einen Rekord­
wert. Doch noch kommen
mehr als vier Fünftel der
Energie aus fossilen Quellen.
3
Die IT­Ausgaben ziehen an
und steigen um etwa 9 Prozent.
Künstliche Intelligenz bewirkt
einen bemerkenswerten Hype,
bringt aber wenig ein und ist
nicht unumstritten.
4 werden nur 3 Prozent mehr Autos
Die Lücke zwischen der welt­
weit benötigten und der vor­
handenen Infrastruktur beläuft
sich auf 3 Billionen Dollar. Um
seine Lücke zu verkleinern, gibt
Asien 4 Prozent mehr aus für
Infrastruktur.
5 Da 60 Prozent der US­Firmen
Die Einnahmen der Werbe­
industrie steigen um 5 Prozent,
dank der US­Präsidentschafts­
wahlen und großen Sportevents
wie Olympia in Paris.
Prognosen beziehen sich auf 2024, wenn nicht anders ange-
geben. Die Gesamtwerte basieren auf 60 Ländern, die über
95 Prozent des weltweiten BIP ausmachen. london@eiu.com
Dank hoher Preise und
postpandemischer Reise­
lust bringt der internationale
Tourismus Rekordeinnahmen
von 1,5 Billionen Dollar, trotz
politischer und ökonomischer
Unsicherheiten.
7 im blick behalten: Bessere Batterien.
Eine alternde Welt investiert
viel in Gesundheit. Weil
jeder Zehnte älter ist als 65,
summieren sich Gesundheits­
ausgaben auf 10 Prozent des
globalen BIP.
8 wird sinken, die Zinsen werden
Die USA geben 886 Milliarden
Dollar für Militär aus, um
der Ukraine zu helfen und
China zu bekämpfen, dessen
Nachbarn Japan, Taiwan
und Philippinen ebenfalls
aufrüsten.
9 und zunehmende Zahlungsausfälle
Elektrofahrzeuge sind
en vogue, dank staatlichem
Anschub. Jeder vierte
Neuwagen ist schon zum
Aufladen, mehr als die Hälfte
wird in China verkauft.
E-Fahrzeuge in % der weltweiten
Neuwagenverkäufe
7 fahrzeuge (EVs) werden die Nase
0.1
12 18 20 24
2020 21 22 23 24
10
Homeoffice erlauben, steht ein
Fünftel der US­Büros leer. Weni­
ger entspannte Arbeitgeber in
der EU werden die Leerstands­
quote bei 8 Prozent halten.
Bruttoweltprodukt und Handel
Veränderung zum Vorjahr in %
Welt-BIP, kaufkraft-
bereinigt
Handel, Dollarwert
2020 21 22 23
Geschäftsklima
Geopolitik wird auch 2024 eine gro­
ße Rolle spielen, vor allem wegen
der Spannungen zwischen den USA
und China sowie der Kriege in der
Ukraine und in Gaza. Die Inflation
sich einpendeln. Versorgungsketten
werden entspannter und Rohstoff­
preise sinken. Das globale BIP
wird nur um 2,2 Prozent zulegen,
da reiche Länder kaum wachsen.
Entwicklungsländer machen sich
besser, aber China wird Investitio­
nen verlieren. Unternehmen müssen
neue Umweltregeln und globale
Besteuerung einkalkulieren.
Automobilindustrie
Die Autoindustrie wird schleichen.
Der globale Absatz schafft es nicht
auf das Vor­Pandemie­Niveau. Es
und 1 Prozent mehr Nutzfahrzeuge
verkauft als 2023. Dieselfahrzeuge
werden vielfach untersagt, etwa
in französischen Städten. Elektro­
vorn haben. Fast 25 Prozent aller
Neuwagen sind aufladbar, mehr
als die Hälfte aller E­Autos wird
in China verkauft. Der kaum pro­
fitable E­Auto­Markt wird weiter
staatlichen Anschub brauchen.
Chinesische Hersteller werden
von Steuernachlässen (und stei­
genden Exporten) profitieren. US­
Käufer können Steuergutschriften
an Autohändler weitergeben.
Ähnliche Inhaltsregeln werden
breiten Unmut auslösen, weil die
USA, China, Japan und die EU
um Investitionen in den Bau von
E­Fahrzeugen und Batterien kon­
kurrieren.
Die Welt in 2024
US­Hersteller werden von zuge­
sagten etwa 108 Milliarden Dollar
profitieren und ihre Batteriekapazi­
tät fast verdoppeln. Renault will sei­
10
ne Elektroabteilung Ampere an die
Börse bringen, und Partner Nissan
macht mit. Ladegeräte des Tesla­
5 Typs konkurrieren mit europäischen
und chinesischen, es gelten unter­
schiedliche Netzstandards. Für
0
autonomes Fahren erlässt die EU
neue Regeln, und die USA schaffen
-5 eine Bundesbehörde.
24
Lithium­Ionen­Batterien werden
2024 neue Konkurrenz bekommen,
darunter Lithium­Mangan­Eisen­
phosphat­Batterien von Gotion und
billigere Natrium­Ionen­Batterien
von BYD. Revolutionäre Festkörper­
batterien könnten länger brauchen:
Der Hersteller SAIC aus China kün­
digt sie für 2024 an, Toyota spricht
von 2027.
Einzelhandel
Nachdem die Inflation allmählich
nachlässt, werden die Einzelhan­
delsumsätze 2024 real um 2 Prozent
steigen. Die Verbraucher werden
hohe Zinsen, geringere Ersparnisse
bei Kreditkarten nicht so einfach
hinnehmen. Daher wird der Einzel­
handel in den Industrieländern noch
ein schwaches Jahr durchmachen.
Großbritannien und Deutschland
werden nach zweijährigem Abbau
nur langsam zulegen. Auch US­
Händler werden nur schleppend
vorankommen.
Selbst China, der zweitgrößte Ein­
zelhandelsmarkt der Welt, wird nur
um 4 Prozent wachsen. Schwach­
punkte sind die Immobilienkrise und
fehlende Arbeitsplätze für Junge.
3,5 BiO.$
Prognostizierte weltweite Online-
Einzelhandelsumsätze im Jahr 2024:
10 % mehr als 2023 und 72 % mehr als
vor der Pandemie 2019.
Die Welt in 2024 INDUSTRIE 103

noch 10 bis 15 Prozent über dem WAS WÄRE, WENN …?

Weltenergieverbrauch
% der Gesamtmenge, 2024
0 10 20 30
Kohle
Erdölprodukte
Erdgas
Erneuerbare
Energien
Kernenergie
Handelskonzerne mit Blick nach
Asien werden zunehmend nach Süd-
osten blicken, wo Malaysia, Thailand
und Vietnam zu den wachstums-
stärksten Ländern gehören werden.
Zudem weitet sich der pandemie-
bedingte Boom im elektronischen
Handel in den Entwicklungsländern
aus. Am schnellsten werden Online-
verkäufe in Indien zunehmen, wo der
Staat die Digitalisierung anschiebt.
im blick behalten:Aldi, aber gut.
Während immer mehr Einzelhan-
delsketten Filialen verkleinern oder
schließen, wird ein „altmodischer“
Händler in 2024 aggressiv expandie-
ren. Der deutsche Aldi-Konzern will
in der ersten Jahreshälfte den Kauf
von 400 Supermärkten im Südosten
der USA abschließen. Bisher hielt
Aldi nur 2 Prozent des US-Lebensmit-
telmarkts. Aber der Konzern will die
inflationsgeplagten Südstaatler mit
günstigen Eigenmarken überzeugen.
Energie
Der Anteil an erneuerbaren Ener-
gien wird im Jahr 2024 um 11 Pro-
zent auf ein hohes Niveau steigen.
Dennoch werden fossile Brennstoffe
rund 80 Prozent der weltweiten
Energienachfrage decken. Der
Ölverbrauch wird um 1 Prozent
zunehmen, aber erhöhte Produktion
in Saudi-Arabien und Amerika wird
den Ölpreis auf unter 85 Dollar
pro Barrel halten. Auch der Kohle-
und Gasverbrauch wird ansteigen,
trotz der Skepsis vieler Investoren.
Großbritannien und vielleicht auch
Italien werden ihre Kohlekraftwerke
schließen, aber Asien will den
schmutzigen Brennstoff weiterhin
verfeuern. In 2024 wird die Brenn-
stoffverbrennung 70 Prozent mehr
Kohlenstoffemissionen verursachen
als 1990 und so die Klimaziele ver-
Niveau von 2020 liegen.
Die Investitionen in Wasserstoff
steigen. Dennoch werden Kernkraft
und erneuerbare Energien zusammen
weniger als 20 Prozent der gesamten
Energie liefern. Ein Hindernis kann
der Klimawandel selbst sein, da Dür-
reperioden den Strom aus Wasserkraft
einschränken.
Finanzdienstleistungen
Der Zinsanstieg wird 2024 stoppen,
und die Gewinne vieler Banken
werden sinken. Sinkende Zinserträge
und Verluste bei gewerblichen Immo-
bilienportfolios werden die US-Kredit-
geber treffen.
In der EU werden die meisten
Banken nach einem schwierigen Jahr
2023 ihre faulen Kredite abbauen und
ihre Abhängigkeit von der Zentral-
bank durch die Emission von Schuld-
titeln verringern. Asiatische Banken
werden stärker wachsen, da China
seinen angeschlagenen Immobilien-
markt weiter unterstützt.
Die Zahl der Bankfilialen und
Geldautomaten wird im Zuge der
Umstellung auf digitales Banking
weiter sinken. Banken in der EU
werden Stablecoins in Betracht zie-
hen. Dennoch ist der Umbruch in der
Fintech-Branche noch nicht abge-
schlossen, da viele Investoren von
den Start-ups Rentabilität verlangen.
Die Aktienmärkte werden dank der
Dynamik der Schwellenländer und
der Technologieaktien florieren.
Die Regulierung wird im gesamten
Finanzsektor verschärft. In zwei Drit-
teln der Länder wird der Basel-III-Risi-
korahmen für Banken voll eingeführt.
Die USA werden die Eigenkapital-
anforderungen für Banken erhöhen.
Auch Versicherer müssen neue Kapi-
talregeln einhalten – und mit steigen-
den Klimakosten kalkulieren.
im blick behalten:Finanzumfeld. Die
Klimaberichterstattung wird 2024
Fahrt aufnehmen. Das International
Sustainability Standards Board wird
zwei globale Standards für Umwelt-,
Sozial- und Corporate-Governance-
Risiken (ESG-Risiken) einführen.
Gesundheit und Pflege
Geld wird nicht alle Übel heilen.
Gesundheitsausgaben, getrieben
Die Bedrohung der Wirtschaft durch den Klimawandel
nimmt zu. Es gilt als sicher, dass die globalen Tempe-
raturen um 1,5 Grad Celsius über das vorindustrielle
Niveau steigen werden. Die Staats- und Regierungs-
chefs haben 2015 in Paris vereinbart, dass dies nicht
passieren darf. Aber es scheint nur noch eine Frage des
Zeitpunkts. Wissenschaftler sehen eine 66-prozentige
Wahrscheinlichkeit, dass dies in den Jahren 2023-27 ein-
treten wird. Zudem treibt das Wetterphänomen El Niño
seit 2023 die Temperaturen weiter an. Was passiert,
wenn die Temperaturen 2024 um mehr als 1,5 °C
steigen? Das würde Ernteerträge beeinträchtigen und
die Inflation nicht sinken lassen. Dies und die Hitze könn-
ten die Kauflust bremsen, was Konsumgüterhersteller
zwänge, die Preise zu senken. Warme Winter und heiße
Sommer würden die Geschäfte von Skigebieten und
Themenparks beeinträchtigen. Die Produktivität in der
Logistik, im Versandhandel und im Baugewerbe würde
leiden. Wegen der Hitze gab es bereits Streiks bei UPS
und Amazon. Mehr Klimaanlagen könnten Stromausfälle
auslösen. Versicherungsprämien würden in Gebieten mit
Gefahr von Hurrikan- und Waldbränden steigen, große
Teile Amerikas wären nicht mehr versicherbar.
durch Pandemie und Inflation, wer- nation of Death Act, die für Mitte
den in 2024 mehr als 10 Prozent des 2024 geplant sind, sollen diese Unter-
globalen BIP ausmachen. Ein Zehn- schiede ausgleichen.
tel der Menschheit wird 65 Jahre
oder älter sein. Industrieländer mit
alternder Bevölkerung werden um Immobilien
medizinisches Personal konkurrieren.
Mehr Pflegekräfte werden an Burnout Investoren in Gewerbeimmobilien
leiden, einige werden kündigen. Die müssen 2024 Rückschläge ein-
Regierungen werden versuchen, die kalkulieren, weil hohe Zinssätze,
Lücken zu schließen. auslaufende Mietverträge und neue
Nahezu 80 Prozent der Ausgaben Arbeitsmuster die Nachfrage dämp-
werden aus Steuern oder Pflichtver- fen. Da rund 60 Prozent der US-Fir-
sicherungen stammen. Ägypten wird men das Homeoffice akzeptieren,
seine allgemeine Krankenversiche- wird ein Fünftel der Büros leer
rung auf weitere Städte ausdehnen, stehen – ein neuer Rekord. In Kana-
Slowenien wird einen Langzeit- da werden 15 Prozent der Büros
pflegeplan entwickeln. Indien wird ungenutzt bleiben, in der EU, wo
vor den Wahlen mit der Anhebung die Heimarbeit stark reduziert wur-
der Gesundheitsausgaben kämpfen. de, nur 8 Prozent. Großbritannien
Amerika wird sich je nach Bundes- will Immobilien-Investmentfonds
staat auf Kostensenkungen und das anziehen, Chinas Immobilien-
Abtreibungsrecht konzentrieren. markt und die regionalen Finanzen
Private Gesundheitsversorgung wird werden trotz Staatshilfen wackelig
ungleichmäßig wachsen. bleiben. Im übrigen Asien ist ein
Der weltweite Pharmaumsatz wird Aufschwung möglich.
die Marke von 1,6 Billionen Dollar Dass weniger neu gebaut wird,
überschreiten, wobei die USA mehr stützt die Preise jedoch teilweise.
als ein Drittel schlucken und China Zentrale Geschäftsbezirke wer-
ein Zehntel einnimmt. Patentabläufe den voller sein, und nachhaltige
nehmen zu. Im Jahr 2024 werden Gebäude werden beliebter. Lager-
Arzneien im Wert von 38 Milliarden hallen und Fabriken werden wieder
Dollar, darunter viele Biotech-Medi- gesucht, ebenso Gesundheitsimmo-
kamente, mit billigeren Generika bilien und Rechenzentren. Ende
konkurrieren müssen. Forscher wer- 2024, wenn die Zinssätze zu sinken
den um mRNA-Patente streiten, und beginnen, werden die Investoren
Präparate gegen Fettleibigkeit boo- wieder in Immobilien investieren.
men. Die Pandemie ist noch nicht ver- Chinas Immobilienmisere wird
gessen: Ein globales Abkommen soll Investoren nach Dubai oder Aus-

fehlen. Die EU wird im Rahmen
ihres Green Deal Subventionen
vergeben. Amerika will Energie
einsparen, China weniger umwelt-
schädlich wachsen.
Wind- und Solarenergie wird
doppelt so viel verbraucht wie 2019,
angetrieben durch den Inflation
Reduction Act der USA und den
REPower-Plan der EU. Die Kosten
für die Erzeugung erneuerbarer
Energie werden sinken, aber immer
10,3 %
Prognostizierte weltweite Ausgaben
für die Gesundheitsversorgung im
Jahr 2024. Anteil am BIP, gegenüber
10 % vor der Pandemie 2019.
helfen, bei der nächsten Pandemie
besser vorbereitet zu sein.
im blick behalten: Die Definition des
Todes. Um festzustellen, ob eine
Person tot ist, konzentrieren sich eini-
ge Rechtssysteme auf das Erlöschen
des Hirnstamms, der für die körper-
lichen Funktionen entscheidend ist.
Andere verlangen, dass die gesamte
Hirnaktivität erloschen sein muss.
Reformen des US Uniform Determi-
tralien leiten.
Einige veraltete Büros und
Geschäfte werden zu Wohnungen
umgebaut. Dennoch werden hohe
Hypothekenzinsen und der Mangel
an neuen Wohnungen die Immo-
biliensuche erschweren. Die durch
den Hausbau aufgeblähten Preise
werden in Teilen Europas fallen, in
den USA jedoch hoch bleiben. In
Amerika wird es günstiger zu mie-
ten, aber nicht in London, trotz der
104 INDUSTRIE Die Welt in 2024

49,2
Prognostizierter Bestand an Personal
Computern pro 100 Personen welt-
weit im Jahr 2024, gegenüber 45,7 im
Jahr 2019.
Versuche der Regierung, Mieter-
rechte zu verbessern. Einige Städte
werden kurzfristige Vermietungen
neu regeln.
Informationstechnologie
Nach eher schwachen Jahren werden
die IT-Ausgaben 2024 weltweit wieder
anziehen und um fast 9 Prozent wach-
sen, prognostiziert die Beraterfirma
Gartner. Ausgaben für Hardware wer-
den wieder zunehmen. 261 Millionen
Personal Computer sollen ausgeliefert
modernisieren. Aber das wird sich WAS WÄRE, WENN …?
nicht schnell auszahlen. Die US-Brut-
toanlageinvestitionen werden in 2024 Wird der Yuan zur Weltwährung Nummer eins? Trotz
real um weniger als 1 Prozent stei- Chinas Mühen, seine Währung zu forcieren, schien dies
gen, verglichen mit 2,7 Prozent welt- lange Zeit wenig plausibel. Der Anteil des Yuan an der
weit. Bei diesem Tempo wird sich die Welthandelsfinanzierung beträgt nur 5 Prozent, die
Lücke zwischen den US-Infrastruk- des US-Dollar 85 Prozent. Zudem sind 59 Prozent der
turausgaben und dem Bedarf in den globalen Devisenreserven in Dollar angelegt. Gegen den
zehn Jahren bis 2029 auf 260 Milliar- Yuan spricht, dass er nicht konvertierbar ist. Ab Januar
den Dollar pro Jahr vergrößern. 2024 könnte der Yuan jedoch Auftrieb erhalten, wenn
In Asien ist die Lücke mit 459 Mrd. die BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China
Dollar pro Jahr größer. Allerdings und Südafrika) zu BRICS+ (mit Argentinien, Ägypten,
werden dort die Investitionen in 2024 Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und den Vereinigten
um kräftige 4 Prozent steigen. Allein Arabischen Emiraten (VAE)) wird. Was wäre, wenn der
Indonesien wird 28 Mrd. Dollar für BRICS+ anfängt in Yuan zu handeln? Ihre Mitglieder
eine neue Hauptstadt ausgeben. Chi- kontrollieren 25 Prozent aller Exporte und 42 Prozent des
na wird auf digitale Infrastruktur und Ölhandels. Zwar sind die meisten vom Dollar abhängig,
die Abfallwirtschaft zielen. Deutsch- einige haben ihre Währungen an den Dollar gekoppelt.
land wird das Investitionswachstum Aber Brasilien und Russland wickeln ihr China-Geschäft
von 1 Prozent in der EU anführen bereits in Yuan ab. Der Iran umgeht Sanktionen, indem er
und 61 Mrd. Dollar in grüne Infra- Öl in Yuan an China verkauft. Argentinien hat den IWF mit
struktur investieren. Yuan-Swaps bezahlt. Sollten Saudi-Arabien und die VAE
Die Investitionen in Solar- und 2024 vereinbaren, den BRICS+-Ölhandel in Yuan abzu-
Windenergie, vor allem in China, wickeln und Brasilien den Handel mit Argentinien, würde
werden weltweite Rekorde aufstel- die Dominanz des Dollars geschwächt.
len. Aus Angst vor Moskau werden
die baltischen Staaten ihre Stromnet-
ze von Russland abkoppeln und sich

werden, eine Zunahme, aber immer
noch weniger als 2019. Künstliche
Intelligenz (KI) wird das Schlagwort
sein. Unternehmen erhoffen sich, die
Produktivität zu steigern, Kosten zu
senken und Risiken zu managen. Aber
viel Umsatz wird KI nicht bringen.
Die EU wird führende Regulie-
rungsbehörde für den globalen
Technologiesektor bleiben, wenn der
Digital Markets Act 2024 voll in Kraft
tritt. Algorithmen werden Bedenken
über Desinformation und Cyber-
sicherheit anfachen, und die EU-
Regulatoren werden gerne wieder
zur Stelle sein. Bis Oktober müssen
die EU-Mitgliedstaaten eine Richt-
linie zur Bekämpfung von Cyber-
kriminalität umsetzen. Derweilen
wird die Europäische Zentralbank
die führenden Banken einem Cyber-
Resilienz-Test unterziehen.
Der technologische Fortschritt
wird die Nachfrage nach moderneren
Halbleitern anfachen, auch wenn es
bei Speicherchips (die hauptsächlich
in der Unterhaltungselektronik ver-
wendet werden) zu Lieferengpässen
kommen wird. Westliche Regierungen
werden mit Subventionen Halbleiter-
hersteller ködern, um die Dominanz
Chinas zu bekämpfen. Schlagzeilen
über Arbeitskräftemangel und ver-
zögerte Fabrikeröffnungen. Wie jene
der ersten amerikanischen Chipfabrik
von TSMC, die ursprünglich für 2024
geplant war und nun auf 2025 ver-
schoben wurde. Der Umbau der Liefer-
ketten aus geopolitischen Gründen
könnte technologische Innovation wie
die leichtere Aufgabe aussehen lassen.
Infrastruktur
Die Verbesserung der alternden
Infrastruktur Amerikas mag nicht
die höchste Priorität bei der Präsi-
dentenwahl haben. Dennoch wird
Joe Biden seinen Willen bekunden,
die Bereiche Energie und Verkehr zu
Mitteleuropa anschließen. Tesla und
andere Autohersteller werden Lade-
netze errichten. Indien wird Auto-
bahnen bauen und so viel investieren
wie das autoverrückte Amerika.
im blick behalten: Gürtel oder Spange?
Nach mehr als einem Jahrzehnt
braucht Chinas Belt-and-Road-Ini-
tiative (BRI) einen Neustart. Die
Investitionen in Afrika sind zurückge-
gangen, Pakistan ist überschuldet,
und Italien könnte aussteigen. China
wird 2024 BRI-Projekte sorgfältiger
prüfen.
Lebensmittel und Landwirtschaft
„Economist Intelligence“ prognosti-
ziert, dass sinkende Treibstoff- und
Düngemittelpreise sowie gute Ernten
den Agrarpreisindex in 2024 nach
unten drücken werden. Diese Progno-
se ist jedoch mit Risiken behaftet –
und damit auch die Nahrungsmittel-
versorgung. Kriege und Unwetter
werden mehr als 345 Millionen
Menschen in den Hunger treiben.
Eine russische Blockade ukrainischer
Exporte könnte die weltweite Ver-
sorgung gefährden. Das durch die
Erwärmung des Pazifischen Ozeans
ausgelöste El-Niño-Phänomen wird
Bruttoanlageinvestitionen
Veränderung zum Vorjahr in %
10
USA
5
China
0
Weltweit
-5
EU27
-10
2020 21 22 23 24
13,6 BiO.$
Prognostizierte weltweite Nachfrage
nach Lebensmitteln, Getränken und
Tabak im Jahr 2024, 5 % mehr als
im Jahr zuvor.
Schäden hinterlassen, deren Beglei-
chung bis zu 3 Billionen Dollar kosten
kann. Obwohl El Niño bis Mitte 2024
wieder abklingen soll, droht er die
Ernteerträge in Afrika, Asien und
Mittelamerika zu verringern (siehe
Was wäre, wenn …?).
Die Regierungen werden Subven-
tionen und Preiskontrollen verhängen
– Indien hat den Export von Reis und
Zucker eingeschränkt.
Kanada erwägt Werbeverbote für
Junkfood. Polen will Energy-Drinks
für Minderjährige verbieten. Auch
Kolumbien und die Philippinen wer-
den zuckerhaltige Getränke und
hochprozessierte Lebensmittel steuer-
lich belasten.
im blick behalten: Die Kraft des Pul-
vers. Im Jahr 2024 wird die finnische
Firma Solar Foods ein Proteinpulver
herstellen, das Mikroben durch Gas-
fermentation ernährt. Es wird ohne
Fotosynthese hergestellt und soll den
menschlichen Bedarf an Aminosäu-
ren decken. Das in Singapur bereits
zugelassene Produkt könnte dazu
beitragen, einem drohenden Eiweiß-
mangel entgegenzuwirken.
Medien und Unterhaltung
Werber hoffen, dass sich die welt-
weiten Einnahmen wieder erholen.
Der Medienriese Dentsu prognos-
tiziert ein Wachstum von fast 5 Pro-
zent auf 762,5 Milliarden Dollar.
Trümpfe sind die US-Präsident-
schaftswahlen, Olympia in Paris
und die Fußball-EM. Fast die Hälfte
dieser Ausgaben wird 2024 auf digi-
tale Werbung entfallen. Zudem will
der Einzelhandel in Geschäften und
auf Websites digitale Werbeflächen
verkaufen, um rückläufige Einnah-
men auszugleichen.
Mit Zunahme digitaler Werbung
wächst auch die Sorge um den
Datenschutz. 2024 wird Google
endlich wie Apple zuvor Cookies
von Drittanbietern blockieren.
Regulierungsbehörden werden auf
Googles Dominanz in der digitalen
Werbung zielen. Während sich
Ärger mit der EU zusammenbraut,
wird ein US-Bundeskartellverfah-
ren – das zweite gegen Google in
den letzten Jahren – die Gerichte
erreichen. Obwohl US-Beamte eher
eine Selbstregulierung bevorzugen,
könnten sie nun eingreifen, um vor
den Wahlen den Einsatz von künst-
licher Intelligenz (KI) in der politi-
schen Werbung einzuschränken,
um die Verbreitung von Desinfor-
mation einzudämmen.
KI-generierte Inhalte werden
auch Hollywood beschäftigen. Aus
Angst vor Bot-Konkurrenz haben
Autoren und Schauspieler gestreikt.
Ihr Ausstand könnte potenzielle
Blockbuster wie „Mission Impos-
sible: Dead Reckoning Part Two“
verzögern. Dies könnte verhindern,
dass die US-Kinokassen wieder
so klingeln wie vor der Pandemie.
Streamingdienste, die Kinorivalen,
werden es nicht einfach haben, ihre
Abonnentenzahlen zu steigern.
Disney+ möchte die Weitergabe
von Passwörtern unterbinden und
es Netflix gleichtun. Disney+ wird,
wie im Jahr 2019 bereits eingefädelt,
Hulu übernehmen, einen weiteren
Streamer. Ob dies für Disney+ ein
märchenhaftes Ende bedeutet, um
Die Welt in 2024
Metallpreise
Veränderung in %, in $, 2023-24
0 2 4 6
Aluminium
Kupfer
Stahl
Zinn
Gold
endlich Gewinne zu erwirtschaften,
bleibt abzuwarten.
Metall und Bergbau
Obwohl viele Agrarrohstoffpreise
2024 sinken werden, werden die
meisten Metalle teurer. Kupfer wird
schimmern, da grüne Investitionen
und digitale Wirtschaft die Nachfra-
ge nach Stromkabeln und Batterien
ankurbeln. Nach Aluminium verlan-
gen asiatische Bauunternehmen und
Autofabrikanten. Auch der Stahlpreis
wird steigen, aber immer noch 36 Pro-
zent unter dem Höchststand im Jahr
2021 liegen. Gold und Platin werden
sichere Häfen bleiben.
Nicht alle Metalle werden glänzen.
Nickel und Zink haben 2022 ihren
Höchststand erreicht; eine mächtige
Produktion in China und Indonesien
wird nun auf die Preise drücken. Blei
wird durch die Abkehr von Verbren-
nungsmotoren unter Druck geraten.
Die Lithiummärkte könnten Über-
schüsse produzieren, da Simbabwe,
das erhebliche Reserven besitzt, die
Produktion ebenso erhöht wie ande-
re Länder. Die Kohlepreise werden
sinken, wenn die von Russland aus-
gelöste Energiekrise nachlässt. Auf
Stahl- und Aluminiumproduzenten
kommen im Rahmen des EU-Mecha-
nismus zur Anpassung der CO2-
Grenzwerte neue Belastungen zu.
Europa und Amerika werden
versuchen, die Dominanz Chinas
bei der Verarbeitung wichtiger
Mineralien für die Energiewende
zu brechen. Das könnte bedeuten,
dass von Australien bis Chile in
Minen investiert wird. Angola und
Botswana werden sich bei der Dia-
mantenförderung zusammentun;
die Privatisierung der angolani-
44 %
Prognostizierter Anstieg weltweiter
Ausgaben für Hotels und Restaurants
im Jahr 2024 gegenüber dem Tiefst-
stand von 2020.
schen Diamantenproduktion könnte
dabei helfen.
im blick behalten:Mine, Mine, Mine.
8
Die Internationale Meeresboden-
behörde der Vereinten Nationen lässt
Unternehmen Lizenzen zur Aus-
beutung des Meeresbodens beantra-
gen – noch ehe sie Regeln erlassen
hat. Kanada, Norwegen, Japan und
Südkorea wollen 2024 mit der Suche
nach kritischen Mineralien beginnen –
trotz Protesten von Umweltschützern.
Reisen und Tourismus
Die Reisebranche hofft in 2024 auf
Sonne, aber nicht zu viel davon. Um
Waldbränden und Rekordhitze aus-
zuweichen, werden mehr kinderlose
Urlauber auf Sommerreisen verzich-
ten. Die Fluggesellschaften werden
ihre Flugpläne entsprechend anpas-
sen. Die Zahl der Touristenankünfte
wird mit 1,8 Mrd. fast das Niveau von
2019 erreichen, auch wenn sich chine-
sische Reisende angesichts geopoliti-
scher und wirtschaftlicher Bedenken
zurückhalten.
Weil die Preise gestiegen sind,
werden die Ausgaben für den interna-
tionalen Tourismus einen Rekordwert
von 1,5 Mrd. USD erreichen. Wenn
man Inlandsverbindungen hinzurech-
net, wird der Flugverkehr den Stand
vor der Pandemie erreichen, und die
Gewinne werden stattlich bleiben.
Luft- und Raumfahrtunternehmen
werden viele Bestellungen zu erfüllen
haben. In 2024 werden sie den Airlines
1484 neue Maschinen ausliefern, da-
runter das neue Schmalrumpfflugzeug
A321XLR von Airbus, das 8700 Kilo-
meter nonstop fliegen kann. Air New
Zealand wird Schlafkabinen in der
Economy Class anbieten. Touristen auf
der Suche nach etwas Neuem könnten
das höchste Hotel der Welt in Dubai
oder ein in 3D gedrucktes Hotel in
Texas besuchen.
im blick behalten: Ab Ende 2024
müssen Reisende, die ohne Visum
in den Schengenraum einreisen, im
Voraus eine ETIAS-Visumbefreiung
für 7 Euro (8 Dollar) buchen, die drei
Jahre lang gültig ist. Die EU will mit
diesen Daten die Sicherheit steigern.
Diese Gebühr wird 1,4 Milliarden
potenzielle Reisende aus 60 Ländern
betreffen – ein Ärgernis für Urlauber.
Sport
Paris wird im Sommer 2024 zum drit-
ten Mal Gastgeber der Olympischen
Spiele sein. Nach der Eröffnungs-
zeremonie an der Seine werden die
Wettkämpfe zu den Wahrzeichen
Frankreichs wandern, mit Dressur-
reiten in Versailles und Blindenfußball
unter dem Eiffelturm. Breakdance
feiert sein olympisches Debüt auf dem
Place de la Concorde, und gesurft wird
auf Tahiti. Auch strengere Regulierung
der Vermietungs-Apps wird die Pari-
ser nicht bremsen, ihre Wohnungen
zu vermieten – mehr als eine Million
Besucher werden erwartet.
Die um ein Jahr verschobenen
Afrikaspiele in Ghana stehen im
August in direkter Konkurrenz zu
Olympia. Im Juni wird in Deutschland
die Fußball-Europameisterschaft 2024
angepfiffen, sechs Wochen vor den
Spielen in Paris. Gleichzeitig richten
die USA die Copa América aus, nach-
dem der ursprüngliche Gastgeber
Ecuador aus Sicherheitsgründen
verzichtet hatte. Der Africa Cup of
Nations wird an der Elfenbeinküste
ausgetragen, die Boote segeln um
den America’s Cup vor Barcelona.
Wichtiger werden Frauen-Events.
Die Radsportlerinnen bestreiten
zum dritten Mal die Tour de France
Femmes. Und während in den USA
erstmals eine Cricket-Weltmeister-
schaft der Männer ausgetragen wird,
findet in Bangladesch die Frauenver-
sion statt. Hieran wird auch die erste
Transgender-Spielerin teilnehmen.
Im Gegensatz zu den Olympischen
Spielen, wo Transfrauen wegen ihres
hohen Testosteronspiegels von den
Wettkämpfen ausgeschlossen sind.
Telekommunikation
Bis 2024 wird 5G zur dominierenden
Mobilfunktechnologie in China wer-
den, so der Branchenverband GSMA.
Weltweit wird die 5G-Durchdringung
jedoch nur 20 Prozent erreichen. Aber
ein Viertel der Weltbevölkerung wird
auch 2024 noch keinen mobilen Breit-
bandzugang haben, so der Konzern
Ericsson, der Infrastruktur für Tele-
kommunikation aufbaut.
Hilfe kommt von oben. Nachdem
Elon Musks Unternehmen Starlink
der Ukraine geholfen hat, in Ver-
bindung zu bleiben, will es in 2024
auch Indonesien abdecken. Dies
würde Zugänge und Übertragungs-
geschwindigkeiten in einem Land
verbessern, das zu den Staaten mit
der geringsten Internetdurchdrin-
gung in Asien gehört. Ein weiterer
Tech-Milliardär, Jeff Bezos, unter-
stützt das Kuiper-Projekt, das 2024
erste kommerzielle Satelliten ins All
schicken will. Auch China, die EU
und Russland werden eigene Satelli-
ten ins All schicken. Die Ausweitung
der Konnektivität dürfte dem Smart-
phone-Markt etwas aus der Talsohle
helfen. Samsung und Apple werden
Internationale Touristenankünfte
Asien-Pazifik Nordamerika
Andere
Europa
2019 20 21 22 23
Quellen: World Tourism Organisation; EIU
INDUSTRIE 105
die größten Smartphone-Hersteller
bleiben, aber das chinesische Unter-
nehmen Transsion (mit den Marken
Tecno, itel und Infinix) wird in die
Top 5 aufsteigen, so das Marktfor-
schungsunternehmen IDC.
im blick behalten:Realitäts-Check.
Vision Pro, das Augmented- und Vir-
tual-Reality-Headset von Apple, wird
2024 endlich auf den Markt kommen.
Mit 3499 Dollar wird es teurer sein
als das Konkurrenzprodukt Quest 3
von Meta, das 499 Dollar kostet.
Es ist aber zu erwarten, dass Apple
in Zukunft günstigere Versionen auf
den Markt bringen wird.
Verteidigung und Raumfahrt
Während die Ukraine weiter kämpft
und die Beziehungen zwischen den
USA und China schwelen, werden
die Militärmächte ihre Verteidigungs-
budgets erhöhen. Es wird erwartet,
dass etwa ein Drittel der Nato-Mit-
glieder das seit Langem angestrebte
Ziel erreichen wird, mehr als 2 Pro-
zent des BIP für die Verteidigung
auszugeben – ein willkommenes
Geschenk zum 75. Geburtstag des
Bündnisses. Finnland, ein Neuzugang
in der Nato, wird zu diesen Ländern
gehören.
Großbritannien und Polen werden
ihr Ziel gut erreichen, Frankreich hin-
gegen wird es knapp verfehlen. Auch
Schweden, ein weiterer Neuzugang,
wird sein Ziel verfehlen.
Amerika, der größte Verteidigungs-
haushalt der Welt, wird rund 886 Mil-
liarden Dollar ausgeben. Etwa 13 Mrd.
Dollar werden in die Ukraine fließen,
zusätzlich zu den bisher überwiesenen
45 Mrd. Dollar. Weitere Ausgaben sind
für die Ausrüstung der amerikani-
schen Luftwaffe mit Kampfflugzeugen
der neuen Generation vorgesehen.
Uncle Sams Spendierhosen werden
Risikokapital in militärische Hightech-
Start-ups locken und die Weltraumver-
teidigung stärken, da die Amerikaner
den Mond nach 52 Jahren Pause
wieder besuchen (in einem Vorbei-
flug). Der gesamte amerikanische
Verteidigungshaushalt wird jedoch
nur um 3 Prozent wachsen und damit
sowohl hinter der Inflation als auch
hinter den für China typischen Stei-
gerungen von etwa 7 Prozent zurück-
bleiben. Die Furcht vor China wird die
Verteidigungsausgaben in Asien in die
Höhe treiben. Die Philippinen planen
eine zweistellige Erhöhung, Japan ein
rekordverdächtiges Budget. Taiwan
Mrd. wird die Wehrpflicht ausweiten und
2,0 Drohnenabwehrsysteme entwickeln.
Indien, immer noch der größte Abneh-
1,5 mer russischer Waffen, wird sich mit
Aufträgen aus westlichen Ländern
1,0 absichern. Chinas Waffenhersteller
werden von einem Ausgabenschub
0,5 in Pakistan profitieren. Und Amerika,
China und Japan werden ihre Bemü-
0
hungen um die Entwicklung und
24 Erkennung von Hyperschallraketen
beschleunigen, während Russland sie
in größerem Umfang einsetzt.
106 Die Welt in 2024

Wirtschaft
Auch in dieser
Rubrik:
107 Energie-Inseln
108 KI-Integration
109 Headset-Kämpfe
109 Chip-Kriege
110 E-Auto-Rennen
111 Fernarbeit
111 Reisefieber
112 Indische
Investitionen
112 Selbstfahrende
Autos
113 Bewusstes
Entkoppeln
114 Timnit Gebru
über Arbeit und KI

besteht heute darin, bestehende Anlagen mit Technik

Und jetzt zum zum Einfangen von Kohlendioxid aufzurüsten, was
teuer und umständlich ist. Fossile Brennstoffe lassen

schwierigen Teil
Die Dekarbonisierung von Industrie-
aktivitäten kommt in Gang
VIJAY VAITHEESWARAN Globaler Ressortleiter Energie-
und Klimainnovation, The Economist
sich zwar durch Wasserstoff und Ammoniak, die mit
sauberer Energie hergestellt wurden, ersetzen, aber hier
geht es nur langsam voran.
Dabei lautet das schmutzige kleine Geheimnis,
dass die Schwerindustrie insgesamt der größte globale
Emittent von Treibhausgasen ist, auf einer Ebene mit
dem viel bekannteren, Kohle verschlingenden Strom-
sektor. Zement- und Stahlproduktion tragen je fünf
Prozent zu den globalen Emissionen bei, im Vergleich
zu einem Prozent durch Luftfahrt, die viel mehr Kritik
abbekommt.
In ihrem Basisszenario für 2050 sagt die Marktfor-
schungsfirma BloombergNEF „fast keinerlei Emissions-
minderung in der Industrie“ voraus, wenn sich techno-
logisch und politisch nicht bedeutend etwas verändert.
Noch größer wird die Herausforderung durch den

I m globalen Kampf gegen den Klimawandel konzen-

trierten sich Regierungen bislang darauf, mit mehr
erneuerbaren Quellen die Stromerzeugung sauberer zu
machen und mit mehr Elektroautos den Verkehr. Indus-
triesektoren wie Stahl, Zement, Produktion und Petro-
chemie dagegen wurden weitgehend in Ruhe gelassen.
Die Verringerung von Industrieemissionen kann
schwierig und teuer sein. Häufig entstehen sie in Pro-
zessen mit hohen Temperaturen (wie Stahlherstellung),
bei denen sich fossile Brennstoffe wie Kohle und Erd-
gas nicht einfach durch Strom ersetzen lassen. Die ein-
zige realistische Option für viele Industrieunternehmen
Industrieboom, der für Indien und andere Schwellen-
länder zu erwarten ist.
Dennoch kommen die Räder in Bewegung. Die First
Movers Coalition zum Beispiel, ein Zusammenschluss
multinationaler Unternehmen, hat sich auf die Anschaf-
fung von sauberen Technologien in sieben schwierigen
Sektoren geeinigt, darunter Zement und Stahl, um den
Markt in Schwung zu bringen. Weitere staatlich-pri-
vate Partnerschaften mit den Schwerpunkten Handels-
korridore, Häfen und Transport sind in Vorbereitung.
Auch die Technologie selbst wird besser. Interessant
sind zum Beispiel neue Verfahren der Zementherstel-
Die Welt in 2024 Wirtschaft 107

lung, die ohne „Klinker“ (einen emissionsintensiven
Stoff) auskommen; die Produktion von grünerem Stahl
mithilfe von Strom; oder Technologien zur kosten­
günstigen Speicherung von erneuerbarer Energie, die
zur gewünschten Zeit als Prozesswärme freigegeben
wird. Mit der richtigen Unterstützung, sagt Bill Gates,
„werden wir den Beginn von echtem Wandel in der
Industrie sehen“.
Kommendes Jahr wird sich zeigen, ob die EU mit
ihrem Versuch Erfolg hat, Abgaben zum CO2­Grenzaus­
gleich einzuführen. Wenn er gelingt, stehen mehrere
US­Senatoren mit ähnlichen Vorschlägen bereit. Dieser
Ansatz wäre zwar weniger elegant als eine koordinierte
CO2­Besteuerung. Aber er würde produzierende Unter­
nehmen und Exporteure weltweit motivieren, Emissio­
nen zu vermeiden. 2023 haben sich die US­Investitionen
in Kohlendioxid­Abscheidung und Wasserstoff verlang­
samt, was auf Unsicherheit über die Umsetzung des
Klimapakets des Inflation Reduction Act zurückzufüh­
ren war. 2024 dürften die Regeln für die Subventionen
klarer werden.
Wie die Der letzte wichtige Faktor sind Veränderungen
Dekarboni­ im globalen Finanzwesen. Anleger haben genug von
den Exzessen des ESG­Aktionismus, der eine Tren­
sierung der nung von alten Industrien verlangte, und gehen jetzt
Schwer­ pragmatischer vor. Blackrock, der größte Vermögens­
industrie verwalter der Welt, hat sogar einen eigenen Fonds
anläuft, für „Braun­zu­grün“­Materialien aufgelegt. Andere
Anbieter könnten folgen.
wird sich im Wie kraftvoll die Dekarbonisierung der Schwerindus­
Verlauf des trie wirklich anläuft, wird sich im Verlauf des Jahres zei­
Jahres zeigen gen. Angesichts ihrer schieren Größe werden letztlich
Billionen Dollar umgelenkt werden müssen, die ansons­
ten in fossile Infrastruktur für alte Industrien geflossen
wären. Diese Verschiebung wird eine Modernisierung
und Dekarbonisierung der reichen Welt auslösen und in
Schwellenländern einen Sprung zu saubererer Industrie.
„Wir müssen von Brauntönen zu Grüntönen kom­
men“, hat es Larry Fink, der Chef von Blackrock,
formuliert. Wenn das gelingt, könnten Sektoren, die
heute als schwierig zu verbessern gelten, für Anleger
noch unwiderstehlich werden. A

Science-Fiction Die „Prinzessin­Elisabeth­Insel“ von

Elia wird der weltweit erste Stromnetz­
in Sauerstoff und Wasserstoff zerlegen.
Die Produktion von Wasserstoff wäre ein

im Meer knoten dieser Art sein und 3,5 Gigawatt

Europa muss Energie-Inseln bauen.
Aber wie sollen sie aussehen?
LUDWIG SIEGELE Korrespondent Wirtschaft
Europa, The Economist
aus einer nahen Offshore­Zone auf­
nehmen. Der Strom wird durch zwei
Umspannwerke auf der Insel über ein
Kabel nach Belgien geleitet sowie nach
Großbritannien und Dänemark. Die
Kosten werden auf zwei Milliarden Euro
geschätzt, die Bauzeit der fünf Hektar
großen Insel auf mehrere Jahre. Realisiert
mit sandgefüllten Senkkästen auf dem
Meeresgrund, soll sie einen kleinen Hafen
und einen Hubschrauberlandeplatz bieten.
Dänemark plant eine mehr als doppelt
so große Insel 80 Kilometer vor seiner
entscheidender Bestandteil ihrer Einnah­
men. Das Gas ist unverzichtbar zur Koh­
lendioxid­Minderung in Branchen wie der
Stahlindustrie.
Das Projekt stößt jedoch auf Probleme.
Eine Ausschreibung für den Bau der Insel
wurde 2023 wegen der erwarteten Kos­
ten zum zweiten Mal verschoben. Allein
der dänische Staat, dem etwas mehr als
50 Prozent davon gehören sollen, müsste
fast sieben Milliarden Euro aufbringen.
Erst einmal soll jetzt neu geplant werden.
Das bedeutet nicht, dass solche Inseln
keine Chance haben – nur dass noch offen

D er Film „Oblivion“ (Vergessenheit) von

2013 mit Tom Cruise in der Hauptrolle
wurde seinem Titel schnell gerecht, doch
Küste, die Platz für alle möglichen Extras
bietet: Unterkünfte für Personal (und sogar
Touristen), Ersatzteile für Windräder und,
ist, wie sie am Ende aussehen. Selbst die
bescheideneren Pläne von Elia könnten
sich als übertrieben herausstellen. Letzt­
ein Element daraus blieb in Erinnerung: besonders wichtig, sogenannte Elektro­ lich könnten die neuen Projekte langwei­
gigantische „Hydrotürme“ außerirdischen lyseure, die mithilfe von Strom Wasser ligen alten Ölbohrinseln ähneln. A
Ursprungs, die über der Erde schweben
und ihr Wasser absaugen. Europäische
Pläne, in Nord­ und Ostsee künstliche
„Energie­Inseln“ zu bauen, hören sich nicht
weniger nach Science­Fiction an. Manche
sollen so groß sein wie Dutzende Fußball­
felder und Strom einsammeln, den Hunder­
te Windräder um sie herum erzeugen. Im
März 2024 will der belgische Stromnetzbe­
treiber Elia 45 Kilometer vor der Küste mit
dem Bau der ersten Insel beginnen. Aber
braucht Europa solche Pyramiden­Projekte?
Heutzutage ist jede Offshore­Windfarm
über ein eigenes Kabel mit dem Netz an
Land verbunden. Doch bis 2050 will Euro­
pa 300 Gigawatt Leistung in der Nordsee
erzeugt haben, genug zur Versorgung
aller Haushalte des Kontinents, was die
alte Methode zunehmend ineffizient macht.
Strom von mehreren Offshore­Farmen zu
sammeln und dann gebündelt an Land
zu schicken ist billiger. Zudem könnten die
Inseln nachfrageabhängig unterschied­
liche Länder versorgen.
108 Wirtschaft
An die Arbeit,
Computer!
Generative KI erreicht den Mainstream.
Zuerst profitieren datenzentrierte
Unternehmen davon
GUY SCRIVENUS-Ressortleiter Technologie,
The Economist
V on der Verbreitung neuer Techno-
logien profitieren unterschiedliche
Gruppen zu unterschiedlichen Zeiten.
Generative künstliche Intelligenz (KI)
war zunächst ein Hilfsmittel für Program-
mierer, die seit 2021 den KI-Assistenten
GitHub Copilot nutzen können. Im Jahr
darauf kamen Werkzeuge wie ChatGPT
und Dall-E 2, mit denen beliebige Nutzer
im Handumdrehen Texte und Bilder pro-
duzieren können.
2023 dann waren die Technologie-
riesen an der Reihe, weil sich Anleger für
das Potenzial generativer KI begeisterten.
Ein gleichgewichteter Index aus Alpha-
bet, Amazon, Apple, Meta, Microsoft und
Nvidia legte im Jahresverlauf um beinah
80 Prozent zu (siehe Infografik).
Im Jahr 2024 werden vor allem Unter-
nehmen außerhalb dieses Sektors profi-
tieren, indem sie intensiv KI nutzen, um
Kosten zu senken und die Produktivität
zu steigern. Dafür sprechen drei Gründe.
Erstens haben große Firmen schon
2023 viel mit generativer KI experimen-
tiert. Viele haben damit erste Entwürfe
für Dokumente geschrieben, von Verträ-
gen bis zu Marketingtexten. Die Bank
JPMorgan Chase nutzte die Technologie,
um die Protokolle von Sitzungen der
US-Notenbank zu analysieren.
Jetzt geht die Zeit der Experimente
ihrem Ende entgegen, und Unternehmen
planen den Einsatz generativer KI im
größeren Stil. Sie könnte zum Beispiel
automatisch Protokolle von Meetings
zusammenfassen oder Forschung und
Entwicklung beschleunigen.
Zweitens werden neue KI-Produkte
auf den Markt kommen. Ende 2023
brachte Microsoft einen Chatbot heraus,
der Nutzer von Software wie Word und
Excel unterstützen soll, und einen für sein
Betriebssystem Windows. Google will
WAS WÄRE, WENN …?
Seit Elon Musk Twitter – nun mit dem Namen X – über-
nommen hat, gibt es dort ein Problem mit hässlichen
Beiträgen. Der EU reicht es, und ihr neuer Digital
Services Act schafft die Voraussetzung für Eingriffe
seine Produkte Docs und Sheets ebenfalls
mit KI ausstatten. Start-ups werden folgen.
2023 investierten Wagniskapitalgeber mehr
als 36 Milliarden Dollar in generative KI,
mehr als doppelt so viel wie 2022.
Der dritte Grund sind Talente. KI-Ken-
ner bleiben gefragt. Nach Angaben der
Zum Gipfel mit AI
Große Technologieunternehmen mit KI-Fokus*
Aktienkurse, 1. Januar 2023 = 100
J F M A M J J A
*Gleichgewichteter Korb aus Alphabet, Amazon,
Apple, Meta, Microsoft und Nvidia
Die Welt in 2024
Forschungsfirma PredictLeads erwähnen
zwei Drittel der Unternehmen im S&P 500
in ihren Stellenanzeigen KI. Der Anteil bei
ihnen beträgt jetzt fünf Prozent, nach 2,5
Prozent in den vergangenen drei Jahren.
Allmählich aber entspannt sich der Markt.
Welche Unternehmen werden die
frühen Anwender sein? Wahrscheinlich
kleinere – so war es schon bei früheren
Technologiewellen wie Smartphones und
Cloud-Computing. Kleine Unternehmen
sind oft flexibler und sehen Technologie
als Chance, sich Vorteile gegenüber den
Branchengrößen zu verschaffen.
200 Unter den größeren Unternehmen
dürften datenzentrierte wie in den Berei-
180 chen Gesundheit und Finanzdienstleis-
tungen am schnellsten folgen. Der Grund
160 dafür ist, dass schlechtes Datenmanage-
ment ein großes Risiko für KI-Einsatz
140 darstellt. Manager treibt die Sorge um,
dass Daten durch moderne Werkzeuge
120 nach außen gelangen. Ohne solide Pro-
zesse müssen sie möglicherweise erst ihre
Systeme neu organisieren, bevor sie mit
100
generativer KI arbeiten können.
S O Die Technologie zu benutzen kann sich
wie Science-Fiction anfühlen. Sie sicher
zum Laufen zu bringen ist eine viel nüch-
ternere Angelegenheit. A
in soziale Medien. Was wäre, wenn die EU den
Dienst zur Rechenschaft zieht? Musk, der sich als
Absolutist der Meinungsfreiheit sieht, könnte trot-
zig werden und sich mit X aus der EU zurückziehen.
Der Niedergang der Plattform würde durch den Ver-
lust an Nutzern und Werbekunden beschleunigt.
Die Welt in 2024
Kopf an Kopf
Der Kampf um die Kontrolle der
nächsten großen Technologie-Plattform
wird härter
TOM WAINWRIGHT Redakteur Technik
und Medien, The Economist
D as am ungeduldigsten erwartete
Stück Technik für 2024 ist Apples
Vision Pro, ein schlankes Headset, das
Nutzer mitten in eine „Star Wars“-
Schlacht versetzen oder die größte Excel-
Tabelle der Welt in ihr Büro zaubern kann.
Die magische Brille kombiniert virtuelle
Realität mit „gemischter Realität“: Kame-
ras übermitteln eine Live-Ansicht der
echten Welt, über die Computerbilder
gelegt werden. Das Gerät wird mit den
Augen und Handgesten gesteuert. Apple
bezeichnet es als das ambitionierteste
Produkt, das es je entwickelt hat. Ambi-
tioniert ist mit 3499 Dollar auch der Preis.
Apple wird gleich mit mehreren Kon-
kurrenten um die Aufmerksamkeit der
Verbraucher kämpfen müssen. Ganz vorn
mit dabei ist Meta, ehemals Facebook,
das mit seinem Headset Quest 2 während
der Corona-Lockdowns einen Hit landete
– eine Weile war das Metaverse angeneh-
mer als die echte Welt. Ende 2023 kam
das modernisierte Quest 3 mit gemischter
Realität auf den Markt. Es ist schlichter als
das Apple-Produkt, wird sich bei einem
Preis von 499 Dollar aber besser verkaufen.
Schickere Modelle werden folgen.
Auch Google könnte wieder in das
Headset-Rennen einsteigen. Das neueste
Projekt ist eine Kooperation mit dem süd-
koreanischen Konzern Samsung und dem
US-Chiphersteller Qualcomm. Das Trio
arbeitet bei gemischter Realität zusammen
und könnte auch ein Headset produzieren.
Kleinere Unternehmen schaffen ihre
eigenen Nischen. Der Videospiel-Entwick-
ler Valve aus den USA stellt VR-Headsets
für Gamer her, ebenso wie die VR-Firma
Pico. Wie die App TikTok, die in den USA
Argwohn weckt, gehört Pico zu dem chi-
nesischen Unternehmen ByteDance – was
es schwierig machen könnte, ein Gerät
zu verkaufen, das die Augenbewegungen
der Nutzer nachverfolgt. Noch ist nicht
damit zu rechnen, dass irgendein Headset
die Welt im Sturm erobert. Die weltweiten
Verkäufe von Videobrillen werden 2024
um ein Drittel wachsen, aber auf lediglich
18 Millionen Einheiten (bei einer Milliar-
de Smartphones). Apples Vision Pro wird
sich aufgrund knapper Komponenten und
des hohen Preises wahrscheinlich weniger
als 200 000-mal verkaufen. „2024 wird es
ein Hit bei Entwicklern sein und bei Ver-
brauchern dann 2025“, prognostiziert Dan
Ives von der Investmentbank Wedbush
Securities. Beobachten sollte man in 2024,
welche Anwendungen Entwickler für das
Gerät finden. Smartphones nahmen erst
dann richtig Fahrt auf, als sie mithilfe von
Apps zu unverzichtbaren Alltagswerkzeu-
gen mit Internetzugang wurden. Headsets
werden heute hauptsächlich für Gaming
genutzt, also fehlt es für die meisten Leute
noch an überzeugenden Anwendungen.
Experimente von Programmierern mit
Vision Pro könnten das jedoch ändern.
Technologiebeobachter werden das Apple-
Gerät in den nächsten Monaten im Auge
behalten – und mit seinen eingebauten
Kameras schaut es direkt zurück. A
Wirtschaft 109
Chip-Krieg,
nächster Akt
Halbleiter werden in der Technologie-
Rivalität zwischen den USA und China
weiter eine zentrale Rolle spielen
DON WEINLAND Ressortleiter Wirtschaft
und Finanzen, The Economist, Shanghai
K aum kam Ende August das Smart-
phone Huawei Mate 60 Pro in den
Handel, griffen Technikspezialisten zu, um
es zu zerlegen und herauszufinden, wie es
funktioniert. Irgendwie war es dem chine-
sischen Unternehmen gelungen, ein neues
5G-Smartphone zu entwickeln. US-Sankti-
onen sorgten ab dem Jahr 2020 dafür, dass
Huawei weder moderne Halbleiter noch
Anlagen für seine Produktion kaufen konn-
te und so gezwungen war, sich aus diesem
Geschäft zurückzuziehen. Seine Smart-
phone-Verkäufe, zwischendurch höher als
bei Apples iPhone, brachen ein. Doch als
sie das Innenleben des Mate 60 Pro ana-
lysierten, entdeckten die Ingenieure einen
Chip aus China, der zu zeigen schien, dass
das Land mit einheimischer Innovations-
kraft die Sanktionen überwunden hatte.
Der Chip namens Kirin 9000S wird von
dem führenden chinesischen Hersteller
SMIC produziert, und seine Entdeckung
war ein symbolischer Moment. Ernsthaft
begann Chinas Technologiekrieg gegen
die USA 2019, als die Regierung von
Donald Trump den Verkauf von High-End-
Chips an Huawei untersagte. 2022 legte
Präsident Joe Biden nach, indem er ein
allgemeines Verkaufsverbot für moderne
Halbleiter an chinesische Unternehmen
verfügte. Die chinesische Führung rächte
sich, indem sie mit Sicherheitsargumenten
den Verkauf mancher Chips des US-Her-
stellers Micron nach China untersagte.
Außerdem wurde der Export von Gallium
und Germanium eingeschränkt, seltenen
Metallen, die für Chips benötigt werden.
Das neue Huawei-Telefon und der
Chip darin werden in China als Signal für
einen Paradigmenwechsel verstanden.
„Die Bevölkerung erkennt daran, dass
amerikanische Sanktionen den technologi-
schen Fortschritt von China nicht stoppen
können“, hieß es im September in einem
Leitartikel des staatlichen Sprachrohrs
„People’s Daily“. Fotos in sozialen Medien
zeigten Kinder, die sich vor Huawei-
Anzeigen in Shenzhen verbeugten. In den
USA diente das Mate 60 Pro als Argument
sowohl dafür, die Sanktionen gegen China
abzuschaffen, als auch für ihre Verschär-
fung. Doch hauptsächlich zeigt es, wie
schwierig es 2024 und darüber hinaus für
110 Wirtschaft
Huawei und andere chinesische Unter-
nehmen sein wird, neue Durchbrüche zu
erreichen.
Die Leistung des Mate 60 Pro ist ver-
gleichbar mit der des Galaxy S20 von
Samsung, das 2020 mit einem Chip des
weltweit führenden Herstellers TSMC
aus Taiwan auf den Markt kam. Drei
Jahre Rückstand mögen sich nicht nach
viel anhören, doch SMIC nutzt eine ältere
Generation von Lithografie-Maschinen auf
Basis einer Technologie namens DUV. Die
überlegenen Chips von TSMC dagegen
entstehen mit der EUV-Technologie, die
für SMIC und andere chinesische Her-
steller außer Reichweite ist: Maschinen
dafür produziert nur das niederländische
Unternehmen ASML, und sie unterliegen
China gibt Strom
Seine Vormacht bei der Batterie-
produktion wird das Land zum größten
Autoexporteur der Welt machen
HAL HODSON Autor Sonderprojekte,
The Economist
D ie Verbrennungsmotoren von Autos
machen ungefähr 15 Prozent der jähr-
lichen CO2-Emissionen aus. Um sie zu ver-
ringern, muss der Verkehr elektrifiziert
werden, und das wiederum erfordert Batte-
rien in beispiellosen Mengen. 2024 werden
in China, Europa und den USA die Umrisse
einer globalen Infrastruktur für Batteriepro-
duktion erkennbar werden – ein Netz von
Fabriken, die Batterien in ausreichender
Menge produzieren, die für den Antrieb
der globalen Fahrzeugflotte erforderlich ist.
Die meisten Batteriefabriken gibt es
heute in China – und auch viele in Europa
werden von chinesischen Unternehmen
gebaut. Die Analysefirma Benchmark
Mineral Intelligence geht davon aus, dass
69 Prozent der globalen Produktions-
kapazität 2030 in China angesiedelt sein
werden, weniger als die 78 Prozent von
2022, aber genug für 90 Millionen Elektro-
autos pro Jahr. Europa und die USA sollen
auf jeweils nur rund 14 Prozent für 19 Mil-
lionen Fahrzeuge jährlich kommen.
Zum Teil kommt die Stellung Chinas
daher, dass die Regierung Produktion
und Verkauf von Elektroautos seit Lan-
gem unterstützt. Steuererleichterungen
für Käufer gab es ab den frühen 2010er
Jahren, und bis 2022 ließ sich der Staat
allein diesen Anreiz rund 30 Milliarden
amerikanischen Sanktionen. Kurz gesagt
mag Chinas Kirin 9000S beeindruckend
sein, aber er markiert wahrscheinlich die
Grenze dessen, was das Land ohne EUV-
Technologie erreichen kann. Aus eigener
Kraft dürfte deren Entwicklung viele Jah-
re dauern – in denen TSMC seinen Vor-
sprung ausbaut. Das Mate 60 Pro ist nicht
der entscheidende Schlag im Technologie-
krieg. Und andere Aspekte seines Innen-
lebens lassen die Richtung erkennen, die
es im Jahr 2024 nehmen wird.
Wie sich zeigte, enthalten die Geräte
Speicherchips von SK Hynix aus Süd-
korea, das nach eigenen Angaben seit
Jahren keine Geschäfte mehr mit Huawei
macht. Doch chinesische Unternehmen
haben clevere Methoden gefunden, um
E Den Planeten retten
Dollar kosten. Hersteller von Elektroautos
wurden zusätzlich von Lokalregierungen
gefördert. So entstand Konkurrenz zwi-
schen vielen neuen Anbietern. Die meisten
sind inzwischen pleite, aber Gewinner wie
BYD und CATL sicherten sich eine starke
Position. Hilfreich waren auch bereits
bestehende Stärken Chinas in der Elektro-
niklieferkette. Schon 2010 gab es dort
mehr als 100 Millionen elektrische Motor-
räder, dank eines staatlichen Verbots von
benzinbetriebenen in Stadtzentren.
Europa und Amerika haben mit dem
Aufholen erst vor Kurzem begonnen. In
den USA sieht der Inflation Reduction
Act von 2022 Steuervorteile für Käufer
von Elektroautos vor, aber nur wenn kei-
ne Teile aus China oder Russland darin
stecken. Zusätzliche Subventionen für
Batterieproduktion sollen etwa ein Drittel
der Kosten decken. Insgesamt werden US-
Die Welt in 2024
sich Chips über graue Märkte zu verschaf-
fen. Aus diesem Grund dürften die USA die
Durchsetzung ihrer Sanktionen verschär-
fen. Die Biden-Regierung hat Verbündete
wie Japan, die Niederlande und Südkorea
bereits mit in den Konflikt hineingezogen,
was Unternehmen in diesen Ländern miss-
fällt. 2024 könnte diese Gruppe vergrößert
werden, möglicherweise im Nahen Osten,
aus dem chinesische Unternehmen Gerüch-
ten zufolge Chips beziehen.
Chinas Fähigkeit, neue Hightech-Pro-
dukte von Smartphones bis zu Systemen,
die KI-Modelle trainieren, zu entwickeln,
könnte darunter leiden. Aber breitere
Sanktionen werden auch die Geduld auf
die Probe stellen, die Amerikas Freunde
für deren Technologiekrieg aufbringen. A
Autohersteller nach Benchmark-Berech-
nungen über das nächste Jahrzehnt mit
140 Milliarden Dollar unterstützt. Die EU
schlug Anfang 2023 mit dem Green Deal
Industrial Plan ähnliche Maßnahmen vor.
Er ermöglicht den Mitgliedsstaaten, eigene
Programme aufzulegen, und enthält einen
Teil der Finanzierung dafür.
Dank solcher Bemühungen sieht es mitt-
lerweile so aus, als könnten sowohl Europa
als auch die USA bis 2030 genügend eigene
Batterie-Produktionskapazität schaffen, um
die inländische Nachfrage nach Elektroautos
zu bedienen. In China dürfte die Kapazität
dreimal so hoch sein wie für den eigenen
Markt benötigt. Im Jahr 2024 könnte das
Land erstmals zum größten Autoexporteur
der Welt werden. Und ganz egal, wie viel
der Westen investiert, um aufzuholen: An
der chinesischen Batteriedominanz wird sich
auf absehbare Zeit nichts ändern lassen. A
Die Welt in 2024
Wie viel Büro
ist richtig?
Der Konflikt um die Remote-Arbeit
spitzt sich zu – auf Vermieter wartet ein
Realitäts-Check
RACHANA SHANBHOGUE Ressortleiterin
Unternehmen, The Economist
A ls das Coronavirus Bürobeschäftigte
dazu zwang, aus Gästezimmern oder
vom Küchentisch aus zu arbeiten, löste es
die größte Veränderung im Berufsleben
seit Jahrzehnten aus – und wie bei jedem
großen Wandel dauert es, bis sich die
Folgen in Unternehmen und im Finanz-
system auswirken. 2024 werden sie sich
bemerkbar machen, für Arbeitnehmer,
Chefs wie Vermieter.
Manager und ihre Angestellten sind
sich bei der Frage, von wo aus Arbeit
erledigt werden sollte, nicht einig. Laut
einer Umfrage von WFH Research arbei-
ten in den USA, Großbritannien und
Kanada Vollzeitbeschäftigte mit College-
Abschluss durchschnittlich eineinhalb
Tage von zu Hause aus – und wollen die
Zeit verdoppeln. Arbeitgeber aber haben
andere Vorstellungen. Von Goldman
Sachs bis zu Zoom fordert jeder seine
widerstrebenden Mitarbeiter auf, häufiger
im Büro zu erscheinen.
Niemand erwartet eine Rückkehr zu
fünf Tagen pro Woche. Am wahrschein-
lichsten ist, dass sich Arbeitgeber und
-nehmer in der Mitte treffen – mit etwas
weniger Homeoffice, als die Beschäftigten
gern hätten. Viel hängt davon ab, ob die
steigenden Zinsen letztlich die Wirtschaft
schwächen. Wenn die Arbeitslosigkeit
steigt und Arbeitskräfte nicht mehr knapp
sind, werden die Chefs härter verhan-
deln. Merkwürdig wenig hat sich die Ver-
schiebung zu Telearbeit bislang auf dem
Markt für Gewerbeimmobilien bemerk-
bar gemacht. Mit Sicherheit sind Büros
heute leerer als früher: Laut Kastle, einem
Anbieter von Zugangssystemen, ist die
Auslastung ungefähr halb so hoch wie vor
der Pandemie. Doch die lange Laufzeit
von Büromietverträgen hält die Leer-
standsraten relativ niedrig, auch wenn sie
bereits gestiegen sind.
Analysten sagen voraus, dass Arbeit im
Homeoffice den USA zusätzliche 46 Mil-
lionen Quadratmeter leer stehende Büro-
fläche bescheren könnte – so viel wie die
gesamte neu gebaute Fläche von 2022.
Während moderne Büros, die strenger
werdende Umweltstandards einhalten, ge-
fragt bleiben, dürfte es für ältere Gebäude
schwierig werden, Mieter zu finden.
Nicht allein zu Haus
Durchschnitt der letzten Woche, April-Juni 2023*
Geplant vom Arbeitgeber Gewünscht vom Arbeitnehmer
Tatsächlich
0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5
Kanada
Großritannien
USA
Australien
Deutschland
Südafrika
Singapur
Schweden
Spanien
Mexiko
China
Italien
Malaysia
Frankreich
Japan
Südkorea
*auf Grundlage von
Quelle: WFH Research Beschäftigten-Befragungen
Für Vermieter sind das keine guten
Nachrichten. Ihre Refinanzierungskosten
sind zusammen mit den Zinsen gestiegen.
Die meisten Kredite für Gewerbeimmo-
bilien werden in den USA von kleineren
Banken vergeben, die nach dem Kollaps
der Silicon Valley Bank im März 2023
unter besonderem Druck stehen. Finanzie-
rungen für weniger gefragte Büroflächen
dürften zudem noch teurer werden. Bei-
spielsweise sind die Renditen gewerbli-
cher hypothekenbesicherter Wertpapiere
für minderwertige Büros höher als für
„erstklassige“ Immobilien.
Eine steigende Zahl älterer Bürogebäu-
de dürfte zu niedrigen Preisen verkauft
werden, damit sie renoviert oder abge-
rissen werden können. Wenn genügend
Licht hineinkommt und die Installation
passt, könnte man sie auch zu Wohnhäu-
sern umbauen. Finanziell dürfte sich das
zwar kaum lohnen, doch die Zahl solcher
Projekte in London oder New York nimmt
zu. An der Adresse 25 Water Street in
Manhattan waren früher eine Zeitung und
eine Bank untergebracht, jetzt wird da-
raus ein Wohnblock mit 1300 Apartments,
Wellnessbereich und Schwimmbad. Die
Pandemie mag vorbei sein, aber auch 2024
wird die Homeoffice-Revolution die Art
und Weise verändern, wie und wo Men-
schen arbeiten und leben. A
Wirtschaft 111
Keine Flucht
vor Reisechaos
3,0
Die Nachfrage erholt sich schneller
als das Angebot – Verspätungen und
höhere Preise sind die Folge
THOMAS LEE-DEVLINKorrespondent
Unternehmen Global, The Economist
N iemand will am Anfang oder Ende
eines Urlaubs Stunden mit dem
Warten auf ein Flugzeug verschwenden.
Doch genau das steht vielen Reisenden
2024 bevor. Die Leute haben ihre Reise-
lust wiederentdeckt. Die UN schätzen,
dass die globale Zahl der Reisenden 2023
auf 95 Prozent des Niveaus vor der Pande-
mie steigt, getrieben von einem Boom des
„Rachetourismus“. Auch Geschäftsreisen
erholen sich schneller als erwartet: Die
Global Business Travel Association sieht
2024 eine Rückkehr zum früheren Ausga-
benniveau kommen.
Für Fluggesellschaften ist der Wieder-
aufbau von Kapazitäten jedoch nicht ein-
fach. Die von der Pandemie erzwungenen
Massenentlassungen rückgängig zu
machen dauert seine Zeit. Die Nachfrage
nach Flügen übersteigt das Angebot, was
die Preise schneller steigen lässt als die all-
gemeine Inflation und den Gewinnen der
Airlines zugutekommt. Aber der laufende
Betrieb leidet unter dem Druck. In den
USA nimmt die Zahl verspäteter Flüge zu.
Fliegen wird nicht das Einzige sein,
was Reisenden 2024 Unbehagen bereitet.
Städte weltweit gehen gegen Kurzzeit-
vermietungen vor, wie sie über Airbnb
vermittelt werden. In New York verlangt
ein neues Gesetz seit September, dass
Vermieter sich bei der Stadt registrieren
und während des Aufenthalts von Gästen
anwesend sind. Airbnb spricht von einem
„De-facto-Verbot“. Berlin, Paris und Rom
haben ebenfalls Restriktionen eingeführt,
und 2024 werden Städte wie Wien folgen.
Die Verwaltungen hoffen, dass die neuen
Regeln den Druck auf Mieten und Kauf-
preise für ihre Einwohner verringern.
Eine große Unbekannte könnte zudem
China sein. Der Verband World Travel
and Tourism Council sagt voraus, dass
Auslandsreisen aus dem Land 2024 rund
neun Zehntel des Niveaus von 2019 er-
reichen werden, nach etwa 50 Prozent
in 2023. Doch die Schwäche der chinesi-
schen Wirtschaft könnte diese Erholung
abwürgen, was schlecht für Unternehmen
wäre, die auf diese Nachfrage zählen.
Für andere Touristen könnte es allerdings
eine weniger überfüllte Rückkehr zum
Reisen bedeuten. A
112 Wirtschaft Die Welt in 2024

Wo bleibt das Nach Schätzungen sind 36,5 Prozent der

Bankfinanzierungen für Straßen und Brü-
gungen auf ein 20-Jahres-Tief gefallen. Es
fehlt an den „animal spirits“, konstatiert

Geld?
Zähe Investitionen bremsen Indien.
Wird sich das 2024 ändern?
TOM EASTON Ressortleiter Unternehmen
und Finanzen Südasien, The Economist
cken vorgesehen und weitere 20 Prozent
für Energie. Chemie, oft ein Indikator für
Produktion allgemein, macht nur 2,3 Pro-
zent aus, nach 3,4 Prozent im vergangenen
Jahrzehnt. Die ausländischen Portfolio-
investitionen sind erst seit Kurzem wie-
der positiv, bis zum 31. März sanken die
Direktinvestitionen im Fiskaljahr 2023 um
16 Prozent auf 71 Milliarden Dollar.
Diese Zurückhaltung besteht trotz einer
Erholung der finanziellen Gesundheit von
Unternehmen, die Verschuldung abgebaut
haben, und von Banken, die Not leidende
Kredite abgeschrieben haben und jetzt
Mahesh Vyas, Geschäftsführer des Centre
for Monitoring Indian Economy.
Premierminister Narendra Modi und
seine Regierung fördern Investitionen
aggressiv. Vierzehn Sektoren erhalten
direkt an der Produktion orientierte Sub-
ventionen. Die Steuern wurden gesenkt.
Die neuen Brücken und Straßen sind dazu
gedacht, die Grundlagen für mehr Produk-
tion zu schaffen. Diese Projekte sind noch
nicht abgeschlossen, sagt die Regierung,
also sei man noch in einer frühen Phase.
Dagegen spricht, dass das indische
Geschäftsklima trotz der Steuersenkun-

S tarkes Wirtschaftswachstum und die

Aussicht, dass Indien als globaler
Produktionsstandort mit China gleich-
ziehen könnte, haben hohe Erwartungen
geweckt. Die Volkswirtschaft ist die fünft-
größte der Welt, 2025 potenziell größer
als die deutsche. Man könnte vermuten,
dass Unternehmen kräftig investieren.
Neue Fabriken für iPhones, Windräder
und Batterien bestätigen diesen Eindruck,
doch die Realität hinter solchen Schlagzei-
len ist weniger rosig. 2008 machten Inves-
titionen 40 Prozent des indischen BIP aus,
jetzt nur noch 34 Prozent, hat die Barclays
Bank berechnet. Viel Geld fließt nicht in
Fabriken, Forschung und andere private
Sektoren, sondern in Infrastrukturpro-
jekte, an denen oft der Staat beteiligt ist.
höhere Renditen erzielen als westliche
Institute. Spielraum zur Finanzierung ist
also vorhanden. Laut Barclays befindet
sich Indien vor einem „Breakout“-Moment.
Das mag stimmen. Doch schon Anfang
2023 gab es einen sprunghaften Anstieg
bei neuen Projekten, der einen ähnlichen
Durchbruch versprach, sich aber als Illusion
erwies: Die Zahlen wurden von Bestellun-
gen der zwei großen indischen Airlines
getrieben. Seitdem sind die Neuankündi-
Investitionen sind als Teil des BIP
von über 40 Prozent im Jahr 2008
auf jetzt 34 Prozent gesunken
gen schwierig bleibt. Die gelobten Ver-
besserungen sehen zu viele Stufen vor
und lassen den gefürchteten Steuerbeam-
ten zu viel Ermessensspielraum. Zollsätze
werden über Nacht verändert. Und der
Wettbewerb gilt als nicht fair, weil eini-
ge lokale Giganten das System zu ihren
Gunsten manipulieren.
Von den Projekten im Wert von
120 Milliarden Dollar, die bis Ende März
2023 abgeschlossen sein sollten, wurden
letztlich nur 72 Milliarden Dollar fertig.
Das größte, das im dritten Quartal endete,
war ein Stahlwerk, an dem die Arbeiten
in 2003 begonnen hatten. All das spricht
dafür, dass Indiens Durchbruch vielleicht
noch kommt – aber für skeptische Unter-
nehmen ist es noch nicht so weit. A

Fahren ohne taxis werden sich über Test-

zonen hinaus verbreiten und
Seattle, Atlanta und Miami. In
China wollen der Technologie-
Autos mit Selbstfahrsystemen
auszustatten. Viele haben

Fahrer
Der Markt für autonome
Autos wächst
siMON WriGht Redakteur
Industrie, The Economist
leistungsfähige Autonomie-
funktionen für mehr Menschen
verfügbar werden. Bei der Ent-
wicklung dieser Technologien
gibt es drei Lager: Unterneh-
men, die an vollständig auto-
nomen Robotaxis arbeiten,
Autohersteller mit Fokus auf
verschiedenen Assistenzsyste-
men und Tesla, das wie immer
seine eigenen Pläne hat.
Das Fahren mit Robotaxis
wird üblicher werden. Waymo
(eine Tochter von Alphabet) und
riese Baidu und Pony.ai mit
derzeit begrenztem Betrieb in
Peking und anderen Städten
ebenfalls expandieren – Bai-
du bis 2025 in 65 Städte.
Robotaxi-Dienste erfordern
jahrelange Investitionen, und
die Aussichten bleiben unsicher.
Viele Hersteller sehen schnellere
Gewinnchancen darin, normale
bereits „Level 2“-Systeme, die
lenken, bremsen und Spuren
wechseln können. Mercedes
geht mit seinem Drive Pilot
voran, einem „Level 3“-System,
das nicht ständig von einem
Menschen überwacht werden
muss. In Deutschland schon
verfügbar, soll es 2024 in meh-
reren US-Bundesstaaten ein-
geführt werden, zum Abopreis
von 2500 Dollar pro Jahr. Ist der
Drive Pilot aktiv, übernimmt
Mercedes die Verantwortung.

G eneral Motors versprach

einst, dass es autonome
Fahrzeuge 2019 in großer Zahl
geben würde, Ford und Lyft
hielten 2021 für wahrschein-
licher. Elon Musk verkündet
seit einem Jahrzehnt, dass voll
autonome Teslas noch höchs-
tens ein Jahr entfernt seien. Auf
einer langen Fahrt ein Nicker-
chen machen zu können bleibt
weiterhin nur ein Traum.
Doch 2024 wird autonomes
Fahren breiter Nutzung ein
Stück näher kommen. Robo-
Cruise (Teil von GM) testen sie
schon seit Langem und dürfen
mittlerweile in San Francisco
Konkurrenten liegen nicht weit
zurück. Ford, Stellantis und
andere dürften 2024 ähnliche
rund um die Uhr bezahlte Systeme herausbringen.
Dienste ohne Sicherheitsfah- Damit bliebe noch Tesla.
rer an Bord anbieten (obwohl Trotz des Hypes darum ist sein
Cruise im Oktober nach einem Autopilot ein „Level 2“-System,
Unfall mit einem Fußgänger die das ständige Überwachung mit
Lizenz entzogen wurde). 2024 Händen am Steuer verlangt.
werden autonome Fahrzeuge, Laut Musk wird die nächste
die heute auf den Straßen von Version wohl ab 2024 ver-
Los Angeles, Austin und Phoenix fügbar und ein viel höheres
fahren, ebenso die der Ama- Niveau an Autonomie bieten.
zon-Tochter Zoox, in weiteren So oder so kommt fahrerloses
US-Städten auftauchen, etwa Fahren also immer näher.
Die Welt in 2024 Wirtschaft 113

Bewusste
Entkopplung

Lässt sich die Hightech-Lieferkette

zwischen den USA und China entwirren?

MIKE BIRD Redakteur Unternehmen und Finanzen Asien,

The Economist

D as Konzept der „bewussten Entkopplung“ verdankt

die Welt Gwyneth Paltrow – sie erwähnte es 2014
während ihrer Scheidung von Chris Martin und erntete
dafür reichlich Spott. 2024 aber wollen sich nicht nur
eine Schauspielerin und ein Rockstar aus wechselseiti-
ger Abhängigkeit befreien: Die USA und China stehen
vor der gleichen Herausforderung, denn ihre Beziehung
kühlt ab. Meist ist von „Entkopplung“ die Rede, doch
die US-Regierung bevorzugt inzwischen den Begriff
„Risikominderung“ und meint damit Einschränkungen
in bestimmten innovativen Produktionsbereichen.
Die Entkopplung hat schon begonnen. Laut der
Marktforschungsfirma Rhodium Group sind die jähr-
lichen Neuinvestitionen chinesischer Unternehmen in
den USA von 2019 bis 2022 unter eine Milliarde Dollar
gefallen – weniger als die Investitionen aus Norwegen
und Spanien. 2023 übernahm Mexiko von China wieder
die Position als größter Handelspartner der USA.
Die USA wollen Teile der Halbleiterindustrie zurück
ins eigene Land holen und subventionieren entspre-
chende Investitionen. Außerdem wollen sie Lieferketten
in asiatische Länder verlagern, die ihnen näherstehen,
was sich nicht immer mit der wirtschaftlichen Realität
vereinbaren lässt. Ein Beispiel dafür ist Photovoltaik.
Die USA verhängten hohe Zölle auf Solarmodule aus
China, worauf Käufer auf Ware aus Südostasien umstie-
Ketten-Reaktion
Anteil asiatischer Länder* an US-Importen von Industriegütern
in Prozent
2018 2022
30 40 50 60 70 80
China
3 6 9 12
Vietnam
Indien
Taiwan
Thailand
Malaysia
*Bangladesch, Kambodscha, China, Indien, Indonesien, Malaysia, Pakistan, Philippinen,
Singapur, Sri Lanka, Taiwan, Thailand und Vietnam
Quelle: Kearney
gen. Doch darin stecken häufig immer noch chinesische
Komponenten. Nach Angaben des US-Handelsminis-
teriums umgingen fünf große Anbieter aus China die
Zölle, indem sie in anderen Ländern produzierten.
Die Neuausrichtung großer, margenschwacher Ferti-
gungsbetriebe verdeutlicht die Herausforderungen der
Entkopplung. Der taiwanische Konzern Foxconn, der
Fabriken in China und Kunden wie Apple, Dell und HP
hat, wollte in Indien expandieren. Doch Pläne für eine
20-Milliarden-Dollar-Chipfabrik in Gujarat wurden im
Juli nach Problemen gestoppt. Foxconn investiert mas-
siv in Vietnam, wächst aber auch in China weiter. 2023
kaufte das Unternehmen Land für Produktionsstätten in
der Provinz Henan und nahm an zwei anderen Stand-
orten den Betrieb auf. Wistron, ein weiteres Fertigungs-
unternehmen aus Taiwan mit Fabriken in China, hat nach
eineinhalb Jahrzehnten nun seine Präsenz in Indien
aufgegeben und verkaufte sie an das lokale Konglome-
rat Tata. Einen Grund dafür nannte Wistron nicht, aber
indische Medien vermuteten, dass sich trotz niedriger
Arbeitskosten in dem Land kaum Gewinn machen ließ.
Viele westliche Unternehmen verlassen sich darauf,
dass die Fertigungsbetriebe die Entkopplung für sie
erledigen. Ihre Fähigkeit, Lieferketten neu zu organisie-
ren, wird darüber entscheiden, ob sich eine erfolgreiche
Risikominderung erreichen lässt oder nur eine unsaubere
Trennung, die keine ist. Südostasiatische Länder wie
Amerika Vietnam werden dabei profitieren. Sie haben nicht vor,
Handels- und Investitionsströme von und nach China
will Liefer-
einzudämmen, was sie für die USA wie auch China
ketten in bedeutender macht. Im Handelskrieg könnten letztlich
befreundete beide Seiten Verlierer sein. Aber wer nicht daran betei-
Länder ligt ist, hat viel zu gewinnen. A
114 Wirtschaft
Gastbeitrag Gefährliche KI-Systeme stoppen
A uch bei künstlicher Intel-
ligenz (KI) gibt es einen
Zyklus der Jahreszeiten. Auf
einen Sommer, in dem die
Technologie in aller Munde ist
und reichlich Kapital zur Ver-
fügung steht, folgt der Winter
der enttäuschten Erwartun-
gen. Derzeit befinden wir uns
im vielleicht heißesten KI-
Sommer aller Zeiten, in dem
allein die KI-Erwähnung Start-
ups 15 bis 50 Prozent mehr
Kapital verschaffen kann.
Doch wie in früheren son-
nigen Zeiten ist auch der ak-
tuelle Hype nur für diejenigen
ein guter Sommer, die am Auf-
bau von KI-Systemen verdie-
nen oder als Forscher Geld
bekommen für die Arbeit am
jeweils heißesten Thema der
Saison. Für viele andere da-
gegen ist er ein Albtraum ohne
Aussicht auf Besserung: von
den ausgebeuteten Beschäf-
tigten, die Daten sammeln
und kennzeichnen, den Mode-
ratoren, die toxische Inhalte
herausfiltern, bis zu den mar-
ginalisierten Gruppen, die
aufgrund von KI in übermäßig
kontrollierten Apartheid-Staa-
ten leben.
Eine Reihe von Ländern
hat sich beeilt, KI-Gesetze vor-
zuschlagen, und einige wur-
den bereits verabschiedet. Ob
nun die künstliche Intelligenz
Utopien verwirklicht oder der
Menschheit Unglück bringt –
viele spüren den Druck, aktiv
zu werden.
Gruppen, die unbewiesene
Behauptungen über die nahe
KI-Utopie oder -Apokalypse
nachplappern, haben die Ge-
hirne von Studenten an eini-
gen der angesehensten Uni-
versitäten gewaschen, die das
Silicon Valley mit Ingenieuren
und Forschern versorgen und
multilaterale Organisationen
sowie Regierungen beeinflus-
sen. Doch es gibt auch eine
Gruppe, die sich diesem Ein-
fluss bislang entzogen hat, und
das ist die Arbeiterbewegung.
Menschen mit der immer
gleichen Aufgabe, Beispiele für
Die Arbeiterbewegung hat eine wichtige
Rolle zu spielen, schreibt Timnit Gebru vom
The Distributed AI Research Institute
das Trainieren oder Evaluieren um Entwicklung und Einsatz
von Systemen wie ChatGPT gefährlicher KI-Systeme zu
oder Dall-E einzugeben, sehen bremsen. So gründeten 2023
keine allwissende Maschine kenianische Beschäftigte bei
nahen. Denn sie wissen, wie externen Dienstleistern für
viel von ihrer Arbeitskraft Meta, OpenAI oder ByteDance
hinter dem steckt, was multi- die erste African Content
nationale Unternehmen als Moderators Union; eines ihrer
Fähigkeiten ihrer Technologie Mitglieder klagte gegen das
verkaufen, während sie Millio- Outsourcing-Unternehmen
nen weltweit ausbeuten. Sama wegen gewerkschafts-
Diese Beschäftigten organi- feindlicher Aktivitäten. Wie
sieren sich, um ihre Arbeitsbe- Adrienne Williams beobachtet
dingungen zu verbessern und hat, eine frühere Amazon-Fah-
rerin, die für bessere Arbeits-
bedingungen kämpfte: Je
weniger Unternehmen ihre
Arbeitskräfte ausbeuten kön-
Längst nicht alle nen, desto weniger sind sie in
profitieren von der Lage, schädliche KI-Sys-
teme zu entwickeln, weil das
diesem „Sommer“ nicht mehr profitabel wäre.
der künstlichen Besser bezahlte Hightech-
Intelligenz Beschäftigte schließen sich
Die Welt in 2024
mit niedrigeren Einkommens-
gruppen zusammen, nicht
nur um für bessere Bedin-
gungen zu kämpfen, sondern
ebenfalls mit der Absicht,
ihre Unternehmen an der
Entwicklung schädlicher
Systeme zu hindern. Google-
Beschäftigte haben dagegen
protestiert, zusammen mit der
US-Regierung, eine Technolo-
gie für maschinelles Sehen
zur Kriegsführung per Drohne
zu entwickeln, Beschäftigte
bei Google und Amazon
waren Partner für die Kam-
pagne NoTechForApartheid.
Tech-Arbeiter wehren sich
dagegen, dass mit ihrer Hilfe
schädliche Systeme entstehen.
Die Gegenbewegung
betrifft nicht nur die Technik-
branche: Viele andere, die von
KI-Einsatz potenziell betroffen
sind, haben sich dem Kampf
angeschlossen. Bei den his-
torischen Streiks von Autoren
und Schauspielern in Holly-
wood war KI ein entschei-
dendes Streitthema. Künstler
beschäftigten Lobbyisten und
reichten Sammelklagen gegen
Unternehmen ein, die Trai-
ningsdaten aus ihrer Arbeit
ohne Zustimmung oder Kom-
pensation für das Generieren
von „KI-Kunst“ nutzten. Krea-
tive weigerten sich, Verträge
zu unterschreiben, laut denen
ihr Material für das Trainieren
von generativen KI-Systemen
verwendet werden darf, die
ihre Arbeit übernehmen oder
entwerten könnten.
Angesichts zunehmender
Ungleichheiten weltweit, der
Klimakatastrophe und der
wachsenden Zahl von Flücht-
lingen, die weiter steil stei-
gen soll, während Techno-
logie-Milliardäre mehr Geld
anhäufen als je zuvor, kann
die Arbeiterbewegung im
Jahr 2024 an Bedeutung nur
gewinnen. Sie hat eine ent-
scheidende Rolle zu spielen,
denn sie wird zu einem der
wichtigsten Hebel, um die
Entwicklung schädlicher KI-
Systeme zu begrenzen.
Die Welt in 2024
FINANZEN
Die Stunde der
Hamster
Die Arbeitsmärkte in den Industrienationen bleiben
stark – selbst wenn es zu einer Rezession kommt
CALLUM WILLIAMS Leitender Autor Wirtschaft,
The Economist, San Francisco
N ach dem Ende der Lockdowns erholten sich die
Arbeitsmärkte in den Industrienationen 2021 schnel-
ler als erwartet. 2022 und 2023 stellten sie sogar neue
Allzeitrekorde auf. Die Aussichten für 2024 sind indes
unsicher: Wird der Aufschwung, der nach der Pandemie
kam, demnächst enden? Doch selbst wenn die Welt in
die Rezession rutscht, dürfte der Arbeitsmarkt robust
bleiben. Einen Job zu finden war selten so leicht.
Mit unter fünf Prozent ist die Arbeitslosenquote in der
reichen Welt auf einem historischen Tief. Die Beschäfti-
115
Auch in dieser
Rubrik:
116 Globale
Mindeststeuer
117 Die Schulden
armer Länder
117 Achterbahn-
märkte
118 Handel und Zölle
119 CBDC ade?
119 Rohstoffe
gungsquote im arbeitsfähigen Alter zwischen 16 und 64
Jahren ist in rund der Hälfte der OECD-Staaten hoch wie
nie. Selbst in Ländern mit traditionell hoher Arbeitslosig-
keit wie Italien oder Portugal sind die Beschäftigungs-
quoten auf Rekordhoch. Für gering qualifizierte Arbeit-
nehmer bietet der Arbeitsmarkt derzeit bessere Chancen
als je zuvor in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte.
Viele Ökonomen irritiert diese Stärke. Sollte es nicht
eine „Job-Apokalypse“ geben, in der KI und Roboter
Millionen Stellen vernichten? Tatsächlich scheint oft das
Gegenteil zu passieren. Wenn Unternehmen in Techno-
logie investieren, stellen sie häufig ein, statt zu entlassen
– möglicherweise weil ihr Marktanteil steigt und sie des-
halb mehr Personal brauchen. Ein aktueller Fachaufsatz
zur Produktion in Japan von 1978 bis 2017 kam zu dem
Ergebnis, dass jeder weitere Roboter pro 1000 Beschäf-
tigte den Personalbestand um 2,2 Prozent steigen ließ.
Drei strukturelle Faktoren schaffen die Voraussetzun-
gen für den Job-Boom. Der erste ist demografisch. Die
Bevölkerungen reicher Länder altern schnell, doch ältere
Menschen melden sich seltener arbeitslos als junge,
unter anderem wegen besserer Qualifikation. Der zweite
Faktor ist politisch. In den vergangenen Jahren haben
Regierungen Leistungen für Arbeitslose gekürzt, manche
einschneidend. Das macht es lohnender, einen Job zu fin-
den. Und drittens wird es durch Plattformen wie Indeed
oder LinkedIn leichter, eine passende Arbeit zu finden.
In diesem Umfeld entstand von 2021 bis 2023 eine
enorme Anzahl neuer Stellen. Verbraucher, die mit staat-
116 Finanzen Die Welt in 2024

lichen Konjunkturzahlungen und Ersparnissen aus-

gestattet waren und die verlorene Zeit aufholen woll-
ten, gönnten sich arbeitsintensive Dienstleistungen Schluss mit jahrelang die Steuern senk-
ten, um Investitionen anzulo-
wie Hotels, Restaurants und Unterhaltung. Die Nach-
frage nach Arbeitskräften in den Industrienationen Offshore cken. Auch wenn zunächst
nur einige große Länder die
überstieg bald das Angebot, wie sich an dem rasan- Mindeststeuer einführen,
ten Anstieg offener Stellen zeigte und auch Arbeitge- werden weitere folgen.
bern, die über Arbeitskräftemangel klagten. Gegen- Die globale Mindest- Während die Mindeststeuer
über dem Vorjahr liegt die Lohnsteigerung in den also 2024 vorankommt, könnte
steuer für Unternehmen
reichen Ländern seit Monaten bei fast fünf Prozent. ein anderer wichtiger Aspekt
Bei dem anhaltenden Ungleichgewicht zwischen tritt in Kraft des Abkommens scheitern.
Nachfrage und Angebot könnte wohl nur eine tiefe Seit Jahren klagen Regierun-
Rezession den Arbeitsmarkt wirklich belasten. Die MaRK JOHnSOn Korrespondent gen, dass schnell steigende
Nachfrage nach Arbeitskräften war zuletzt zwar International, The Economist Umsätze mit digitalen Pro-
rückläufig, was aber zu einem Rückgang offener dukten ausländischen Unter-
Stellen führte und nicht zu einem Rückgang der
Beschäftigung. In Australien sank die Zahl der Job-
angebote auf Indeed gegenüber ihrem Höchststand
M ehr als 130 Länder hat-
ten 2021 eine historische
Vereinbarung getroffen, die
nehmen die Möglichkeit geben,
Geld in Ländern zu verdienen,
in denen sie mangels lokaler
um mehr als 20 Prozent, doch die Beschäftigungs- festlegen sollte, wie sie das Präsenzen nicht besteuert wer-
quote im arbeitsfähigen Alter erreicht immer neue Recht zur Besteuerung multi- den können. Als Gegenmittel
Rekorde, und die offenen Stellen liegen weit über nationaler Unternehmen unter- sah die Vereinbarung von 2021
dem normalen Niveau. In durchschnittlich wohlha- einander aufteilen. Teil der mehr Rechte für Regierungen
benden Ländern, aus denen Daten vorliegen, gibt Vereinbarung war, dass kein vor, Gewinne der weltgrößten
es weiterhin rund ein Drittel mehr offene Stellen als großes Unternehmen einen Unternehmen aus Aktivitäten
vor der Pandemie. Steuersatz von unter 15 Pro- auf ihren Märkten zu besteuern.
Noch ein weiterer Faktor lässt einen anhaltend zent haben darf, unabhängig Im Gegenzug ließen die Staa-
starken Arbeitsmarkt erwarten. Während des Lock- davon, wo es seine Gewinne ten Pläne für neue Steuern für
downs trennten sich viele Unternehmen von ihren verbucht (was als „globale Min- die Technologieriesen fallen,
Mitarbeitern, um dann im Aufschwung festzustellen, deststeuer“ bezeichnet wird). die grenzüberschreitendes
dass es schwierig ist, sie zurückzubekommen. Diesen Die Ankündigung ließ allerdings Arbeiten erschwert hätten.
Fehler wollen sie nicht wiederholen. Solange eine außer Acht, wie viel Detailarbeit Das Problem dabei: Die
mögliche Rezession mild bleibt, werden sie Arbeits- noch zu erledigen war. Doch meisten davon betroffenen
kräfte hamstern, die sie sich eigentlich nicht leisten 2024 werden nun erste Punkte Unternehmen sind aus den
können. Die Theorie des „Arbeitskräfte-Hamsterns“ der Vereinbarung wirksam. USA – und der Kongress ist
deckt sich mit Daten, die zeigen, dass in der wohl- Die Veränderungen hängen nicht bereit, anderen Ländern
habenden Welt die Arbeitslosigkeit gemessen am mit der globalen Mindest- mehr Rechte zur Besteuerung
aktuellen BIP-Wachstum derzeit zu niedrig ist. 2023 steuer zusammen, wenn in der von US-Unternehmen ein-
rutschten Industrienationen wie Deutschland und EU, Großbritannien, Japan und zuräumen (obwohl die Re-
Neuseeland in eine kurze, milde Rezession. Brachte anderen Ländern dazu Gesetze gierung Biden eine wichtige
sie eine Wende am Arbeitsmarkt? Kaum. in Kraft treten. Zwar besteuern Rolle für das globale Abkommen
Dass man an seinen Mitarbeitern wo immer mög- die meisten die Unternehmen spielte). Wenn sich daran
lich festhält, hat noch einen weiteren Grund: Wenn bereits mit mehr als 15 Prozent, bis Ende 2024 nichts ändert,
die Babyboomer in Rente gehen, wird der verfügbare doch von nun an wollen sie könnten etwa 30 Länder
Arbeitskräfte-Pool rapide kleiner. Menschen, die auch „Zusatz“-Steuern von neue Zölle vorbereiten, was er-
bereit und in der Lage sind zu arbeiten, werden zu Konzernen verlangen, die ihre zürnte US-Politiker dazu brin-
einem zunehmend gefragten Gut. Dadurch könnte Gewinne in Steueroasen mit gen könnte, sich zu revan-
Arbeitskräftemangel von einem vorübergehenden niedrigeren Sätzen verlagern. chieren. Zum Ende des Jahres
zu einem dauerhaften Phänomen werden. Was auch Die Idee dahinter ist, einen hin dürfte es also zunehmend
immer 2024 sonst auf der Welt passiert, ultraheiße „Wettlauf nach unten“ zu be- schwierig werden, teure
Arbeitsmärkte dürften ihr erhalten bleiben. A enden, bei dem Regierungen Scharmützel zu vermeiden.

Gut zu tun
OECD, durchschnittliche Arbeitslosenquote in Prozent

2018 19 20 21 22 23
Quelle: OECD
Die Welt in 2024
Noch ein Jahr
Ungewissheit
Geopolitische Spannungen
bringen Schuldenrestrukturierungen
zum Stillstand
CERIAN RICHMOND JONES Korrespondentin
Wirtschaft International, The Economist
V or 20 Jahren waren Schuldenrestruk­
turierungen ein Triumph des Multi­
lateralismus. Überwacht vom IWF arbeite­
ten Regierungen und Banken zusammen
an einer Verringerung der Schulden von
Ländern, die ihre Rechnungen nicht mehr
bezahlen konnten. Im Gegenzug sagten
die armen Länder marktwirtschaftliche
Reformen nach dem Vorbild ihrer Gläubi­
gerstaaten zu. Ein offizielles Programm
für die hoch verschuldeten armen Länder
(HIPCs) machte Abschreibungen von
enormen Schulden zur relativ schmerz­
losen Routine. Die Restrukturierungen
zeigten, dass Globalisierung funktionier­
te und dass die reichen Länder an ihrer
Spitze guten Willens waren.
Auf der
Achterbahn
Heftige Ausschläge nach oben
und unten können zum Ausgangs-
punkt zurückführen
ALICE FULWOOD Korrespondentin
Wall Street, The Economist
I n John Buchans Roman „The Gap in
the Curtain“ aus dem Jahr 1932 zeigt
ein Forscher fünf Personen die Titelseite
einer Zeitung, die ein Jahr später erschei­
nen wird – die metaphorische Lücke im
Vorhang, die dem Buch seinen Titel gab.
Zwei lesen ihren eigenen Nachruf und
versuchen in den darauffolgenden Mona­
ten, ihrem Schicksal zu entgehen. Als
der Tag naht, erkennt einer von ihnen,
dass er sich getäuscht hat: Der Nach­
ruf war für einen Mann mit demselben
Namen. Hugh Hendry, ein exzentrischer
Hedgefonds­Manager, hat den Roman
als „das beste Anlagebuch aller Zeiten“
bezeichnet, weil es ihn lehrte, bei Börsen­
Damit ist es vorbei. Seit China zuletzt
einer Vereinbarung zur Schuldenreduzie­
rung zugestimmt hat, sind drei Jahre ver­
gangen. Bei jedem Gläubigertreffen ist
fragmentierte Geopolitik im Miniaturfor­
mat zu beobachten. Peking weigert sich,
nach den Regeln westlicher Geldgeber zu
spielen, kann als weltgrößter Gläubiger
aber nicht ignoriert werden. Mindestens
21 Staaten gingen eine Restrukturierung
an, zu einem Abschluss mit Beteiligung
Chinas kam allein Sambia.
Viele Länder kommen wegen der Bezie­
hungsprobleme ihrer Gläubiger nicht wei­
kursen nicht nur an das Ziel zu denken,
sondern auch an den Weg dorthin.
Im Oktober 2023 bewegten sich
US­Aktien, gemessen am S&P 500, um
4100 Punkte herum. Wenn Sie in den Jah­
ren 2021, 2022 und 2023 zu unterschied­
lichen Zeitpunkten in der Lage gewesen
wären, durch die Lücke im Vorhang zu
blicken, hätte Sie also gesehen, dass die
Börse Ende 2023 auf dem ungefähr glei­
chen Stand sein würde.
Das hätte allerdings nicht viel über das
zwischenzeitliche Auf und Ab verraten.
2021 war der Bullenmarkt kraftvoll in
Gang, und Anleger erwarteten womöglich
ein sanftes Plateau. 2022 brachten dann
steigende Zinsen die Aktienkurse zu Fall,
und die Börse dachte vielleicht, die geld­
politische Straffung sei beendet. Stattdes­
sen sieht der dreijährige Kursverlauf von
US­Aktien aus wie eine Achterbahn, mit
stetigen Anstiegen und jähen Abstürzen.
Inzwischen ist die Situation sogar noch
merkwürdiger, als selbst Science­Fiction
sie hätte vorhersagen können. Trotz extre­
mer und anhaltender Zinserhöhungen, die
im Frühjahr 2023 zum Scheitern mehrerer
mittelgroßer Banken führten, liegt die
Arbeitslosigkeit bei nur 3,8 Prozent. Und
trotz starken Wirtschaftswachstums ist
die Inflation deutlich zahmer geworden.
Im Jahr 2023 begrüßten die Märkte eine
Finanzen 117
ter. Bevor private Geldgeber aktiv werden
können, müssen sich die staatlichen eini­
gen – aber im Fall von Sri Lanka weigern
sich die beiden größten Geldgeber China
und Indien, überhaupt im selben Raum zu
sein. Libanon, Mosambik und Venezuela
sind seit mehr als drei Jahren mit Zahlun­
gen im Verzug, keinem der Länder gelang
es, auch nur Verhandlungen zu beginnen.
Immer mehr Länder leihen sich heute
Geld in eigener Währung bei eigenen Ban­
ken. Sri Lanka und Sambia stehen vor der
Herausforderung, ihre Inlandsschulden
zu restrukturieren, damit die internationa­
len Verhandlungen vorankommen. Diese
Bedingung ist wohl die einzige im inter­
nationalen Finanzsystem, über die sich
China, der IWF und die Wall Street einig
sind. Mit zu milden Vereinbarungen gibt
sich der IWF nicht zufrieden, wenn sie zu
streng sind, droht ein Bankencrash.
Daher klammern sich Länder am Rand
einer Restrukturierung wie Pakistan und
Sri Lanka daran fest, zahlungsfähig zu wir­
ken, oft mit instabilen Dollars, die China
oder Golfstaaten an ihre Zentralbanken
überweisen. Entwicklungsländer stecken
in der schwersten Schuldenkrise seit den
80er Jahren, und eine Zahlungsunfähigkeit
zu ignorieren macht eine Restrukturierung
schwerer, falls sie kommt. Doch wegen des
Stillstands werden viele Länder 2024 bereit
sein, den Preis zu bezahlen. A
Mischung aus starkem Wachstum, mode­
rater Inflation und steigenden Zinsen,
wenn auch mit wilden Schwankungen
auf dem Weg nach oben.
Doch das Ergebnis ist nur die halbe
Geschichte, ebenso wichtig ist der Weg.
Dass noch höhere Zinsen dem US­Finanz­
system nicht weiter schaden, ist schwer
vorstellbar, sie könnten sogar das Wachs­
tum bremsen. Bei Gewerbeimmobilien
klingeln bereits die Alarmglocken. Weni­
ger Wachstum könnte den sogenannten
Schattenbanken Probleme bescheren, die
bei Unternehmenskrediten an Bedeutung
gewonnen haben.
Viele der Risiken sind offensichtlich,
und doch hat keines davon das Wachstum
oder die Stimmung der Anleger gedrückt.
Das Märchen von der „sanften Landung“,
bei der das Wachstum robust bleibt, die
Inflation sich mäßigt und die Federal
Reserve spätestens 2025 beginnt, die Zin­
sen wieder zu senken, ist eine Illusion.
Dieses Szenario würde sicherlich zu einem
Anstieg der Aktien auf neue Allzeithochs
führen (derzeit 13 Prozent darunter).
Ein Blick auf Oktober 2023 hätte An­
legern im Jahr 2021 oder 2022 nicht wirk­
lich geholfen, die Unberechenbarkeit der
Märkte nach einer Pandemie zu erkennen.
2024 könnten die Börsen endlich anfan­
gen, neues Territorium zu erschließen. A
118 Finanzen Die Welt in 2024

Neue Mauern bauen

Zunehmender Protektionismus wird den Handel

verändern, aber nicht verringern

CERIAN RICHMOND JONES Korrespondentin

Wirtschaft International, The Economist

W as ist mit dem Welthandel los? 2023 hätte eine

Katastrophe sein müssen. Die USA und China
begannen einen offenen Handelskrieg mit Exportver-
boten, Importzöllen und Investitionseinschränkungen.
Europa quälte sich mit einer Antwort auf den Inflation
Reduction Act (IRA), den Plan der USA, mit einer Bil-
lion Dollar an Subventionen die eigene Produktion zu
stärken. Indien führte ebenfalls Importverbote ein.
Der Krieg in der Ukraine brachte die Getreideversor-
gung und Logistikrouten durcheinander. Die WTO,
geschwächt durch das US-Desinteresse unter Donald
Trump, schaute nur entsetzt zu. An Vorhersagen über
den Tod des Welthandels herrschte kein Mangel.
Doch gemessen am chinesischen BIP kaufte die Welt
2023 in den ersten neun Monaten mehr von China als
im gleichen Zeitraum in jedem Jahr zuvor. Andersherum
kaufte China relativ zu seinem BIP nicht weniger vom E Immer noch auf Kurs
Rest der Welt als 2022. Der Produktionsanteil am BIP
Indiens erhöhte sich zum ersten Mal seit fünf Jahren.
Einschließlich Zwischengütern kauften die USA in China Indonesien den Export von Bauxit für die Aluminium-
relativ zu ihrem BIP so viel wie in den fünf Jahren zuvor. produktion wie schon 2020 den von Nickel, einem un-
2024 werden Politik und Realität weiter auseinander- verzichtbaren Bestandteil von grünen Batterien. 2024
driften. Protektionismus wird weiter Konjunktur haben, werden sich weitere Regierungen anschließen, wobei
aber Unternehmen und Länder werden sich nicht nur wenige ausländische Unternehmen in instabile
zurückziehen, sondern anpassen. Länder gehen wollen.
Zunächst ist mit mehr indirektem Handel zu rech- Im Juni nahm Washington grüne Mineralien von
nen. Spannungen um Taiwan, wo 65 Prozent des welt- IRA-Zöllen aus, wenn das Exportland ein Freihandels-
weiten Halbleiterbedarfs produziert werden, sowie abkommen mit den USA geschlossen hat. Weitere Ent-
Sorgen um den militärischen Einsatz von KI und ein wicklungsländer könnten solche Arrangements aushan-
Kampf um die Versorgung mit seltenen Erden machen deln. Sollte Chinas wirtschaftlicher Abschwung weiter
Tauwetter zwischen dem Westen und China unwahr- die Nachfrage nach Rohstoffen drücken, könnte der
scheinlich. Weil China aus Lieferketten entfernt wer- Westen von niedrigeren Weltmarktpreisen profitieren.
den soll, suchen westliche Unternehmen nervös und Vieles wird bleiben wie bisher. China schützt seit
eifrig nach Alternativen und chinesische Unternehmen Langem seine Chiphersteller und Autoindustrie, aber
nach Möglichkeiten, westliche Handelsbarrieren zu Unternehmen der Handel ging weiter. Bis sich die neue Industrie-
umgehen. Beide werden sich auf Länder verständigen, und Länder politik im Westen auszahlt, wird es Jahre dauern. Das
die wohlgesonnen sind, aber keine Verbündeten. Mehr werden sich Gleiche gilt für Europas Mühen, die Abhängigkeit von
Ware aus China oder von chinesischen Unternehmen nicht Chinas E-Autos zu verringern. Auch bis neue Fabriken
wird über Länder wie Vietnam gehandelt werden, in den USA mit der Produktion von Chips und E-Autos
dessen Wirtschaft bereits als Folge floriert.
zurückziehen, beginnen, dauert es. Das sind gute Nachrichten für
Das Rennen um die Hardware für die grüne Wende sondern den Handel. Aber das heißt auch, dass er von der Logik
wird den Anpassungsdruck erhöhen. 2023 untersagte anpassen nationaler Sicherheit geprägt sein wird. A

WAS WÄRE, WENN …?
2023 sind eine Reihe von Finanzinstituten, darunter
die Silicon Valley Bank in den USA und in Europa die
Credit Suisse, kollabiert, weil ihre Einlagenkunden
flohen. Interventionen von Behörden auf beiden
Seiten des Atlantiks konnten eine Ansteckung ver-
hindern. Aber was wäre, wenn neue Probleme zu
einer echten Krise führen würden? Nach Angaben
von Zentralbankern werden die Zinsen länger als
erwartet hoch bleiben, da die US-Wirtschaft weiter-
hin stark ist. Kleine Banken halten viele Anleihen
und sind an Gewerbeimmobilien beteiligt. Dadurch
könnte die Lage schnell hässlich werden.
Die Welt in 2024
CBDC ade?
Digitale Zentralbank-Währungen lösen
wenige Probleme und schaffen neue
ARJUN RAMANI Korrespondent Unternehmen
und Finanzen Global, The Economist
N eue Technologien veränderten schon
öfter die Form von Geld. Die Lyder
haben im 7. Jahrhundert v. Chr. die Mün-
zen erfunden, im China des 7. Jahrhun-
derts entstand Papiergeld. Kredit und
Kreditkarten leiteten eine Abkehr von
Papiergeld und Schecks ein, ab den zeh-
ner Jahren kam die Bezahlung per Smart-
phone in Schwung. Die Bargeldnutzung
bricht indes ein: Laut McKinsey fiel von
2011 bis 2021 bei Einkäufen in zehn der
wichtigsten Märkte weltweit der Bargeld-
anteil von drei Vierteln auf die Hälfte.
Zentralbanker denken nun über die
nächste Evolutionsstufe für eine bargeld-
lose Welt nach. Einige setzen sich für
„Zentralbank-Digitalwährungen“ (CBDC)
ein. Was ist das Besondere daran, wenn
Geld bereits überwiegend digital ist?
CBDC stellen eine Verbindlichkeit von
Zentralbanken dar, weshalb sie keine Ge-
fahr für Geschäftsbanken sind. Aber nicht
alle sind gleich. Chinas e-CNY hat pro-
grammierbare Regeln, Brasilien will eine
CBDC nur für den Einzelhandel. Bei allen
größeren Projekten sind Geschäftsbanken
eingebunden, was den Verwaltungsauf-
wand für die Zentralbank verringert.
Noch vor wenigen Jahren interessierten
sich Zentralbanker kaum für CBDC, doch
Konventionelle digitale
Zahlungssysteme bieten bereits die
meisten Vorteile von CBDC
zwei Faktoren sollten das verändern. Zum
einen kündigte Facebook 2019 eine globa-
le Digitalwährung namens Libra an, wäh-
rend der Siegeszug von Kryptowährungen
wie Bitcoin die Sorge weckte, dass das
bankenbasierte Finanzsystem an Bedeu-
tung verlieren könnte.
Zweitens verliebten sich viele Länder
in die Idee, grenzüberschreitende Zahlun-
gen mit CBDC-Hilfe ohne Verzögerung
abzuwickeln, um so Gebühren zu sparen
und sogar den Dollar zu umgehen. West-
liche Sanktionen gegen Russland wegen
der Ukraine-Invasion ließen das Interesse
weiter zunehmen. Laut der Denkfabrik
The Atlantic Council beschäftigen sich
mittlerweile 130 Länder, die zusammen
mehr als 98 Prozent des weltweiten BIP
ausmachen, mit CBDC.
Nun sind erste Zweifel zu hören.
„Welches konkrete Problem sollen CBDC
lösen?“, fragte Neel Kashkari, Präsident
der Minneapolis Federal Reserve, im Mai.
Libra wurde nach behördlichem Wider-
stand aufgegeben, und Kryptowährungen
fehlt weiter die breite Akzeptanz.
Zentralbanker aus Schweden und Däne-
mark haben ihre Hausaufgaben gemacht
und zeigen sich skeptisch. Im März veröf-
fentlichte die schwedische Riksbank einen
900-Seiten-Bericht, in dem die Argumente
für CBDC angesichts des bereits moder-
nen Zahlungssystems im Land als schwach
bezeichnet werden. Digitale Zahlungs-
systeme würden bereits die meisten Vor-
teile von CBDC bieten, wie ein Ökonom
einer großen Zentralbank bestätigt.
CBDC werfen auch neue Fragen auf.
Kunden könnten zum Beispiel in Krisen-
zeiten scharenweise zu CBDC wechseln,
wenn sie sicherer als Bankeinlagen sind,
was jedoch Finanzinstabilität zur Folge
hätte. Deshalb haben größere CBDCs
Bestandsobergrenzen und sehen auch
keine Verzinsung vor, was ihr Potenzial
wiederum schwächt. Technologische Inno-
vationen wird es weiter geben, und eine
verbesserte Form von CBDC mag irgend-
wann an Bedeutung gewinnen. Aber
für 2024 ist damit nicht zu rechnen. Eher
dürfte die Angst abnehmen, auf diesem
Gebiet etwas zu verpassen. A
Finanzen 119
Durch die Decke
Drei Rohstoffe könnten 2024
überaus gefragt sein
MATTHIEU FAVAS Korrespondent Rohstoffe,
The Economist
A uf den Rohstoffmärkten ging es 2023
kaum voran. Im Vorjahr kam zu den
Lieferkettenstörungen durch Covid-19 die
russische Invasion in der Ukraine hinzu,
was die Preise zunächst steil ansteigen
ließ, doch dann sorgten gedämpfte Kon-
junkturaussichten wieder für Ruhe. Ende
2023 brachten höhere Ölpreise neues
Leben in den Markt, aber insgesamt hiel-
ten Nachfragesorgen die Indizes unten.
2024 könnten Lieferprobleme und
höhere Nachfrage drei Märkte zum Ab-
heben bringen. Der erste ist Rohöl. Die
meisten Analysten erwarten, dass mehr
Angebot zusammen mit mäßigem Wirt-
schaftswachstum zu einem langsamen
Preisrückgang führt, von über 90 Dollar
pro Fass im September 2023 auf 80 Dollar
oder weniger. Das könnte aber Saudi-
Arabien als größten Produzenten dazu
bringen, noch stärkere Kürzungen anzu-
kündigen als jene im Juli von einer Million
Fässer pro Tag. Auch Irans Produktion
könnte durch Sanktionen oder Transport-
probleme sinken. Bei wachsender Wirt-
schaft könnte beides die Preise treiben.
Auch einige Metallmärkte sehen heikel
aus. Achten sollte man etwa auf Kupfer,
dessen Preis 2023 aufgrund des geringen
Wachstums in China zuletzt fiel. Der
heißeste Metallmarkt könnte die winzige
Nische Uran werden. Der Wunsch nach
Stromquellen mit wenig Emissionen und
der Krieg in der Ukraine lassen das Inte-
resse an Atomkraft zunehmen, während
gleichzeitig Putsche und Konflikte die
Uranproduktion stören. Der Preis für das
Metall, bereits seit einem Jahrzehnt auf
dem höchsten Stand, könnte in diesem
Umfeld weiter steigen.
Drittens sollte man den Getreidemarkt
im Auge behalten. Trotz der russischen
Invasion kostete ein Scheffel Weizen im
März 2022 zwar noch 12 Dollar und im
Herbst 2023 schon 7 Dollar weniger. Doch
die Exporte der Ukraine als fünftgrößtem
Exporteur sind um 35 Prozent gefallen.
Gute Ernten in Russland konnten die Dif-
ferenz wettmachen, aber schlechtes Wet-
ter und zunehmende Spannungen wirken
dem entgegen. Die Bestände bei großen
Exporteuren fallen seit Jahren – die Puffer
gegen einen Schock sind also dünn. A
120 Die Welt in 2024

WISSENSCHAFT & TECHNIK

Auch in dieser
Rubrik:
121 Kampf gegen
Fettleibigkeit
122 Neue
Medikamente
123 Das Jahr im All
124 Sonnenfinsternis
124 Korn-Killer
125 Jennifer
Holmgren
über die neue
Kohlenstoff-
Ökonomie

Beginnen wir mit der Größe. In den letzten Jah-

Was tut sich in der ren lautete das Dogma in der KI-Forschung: Je grö-
ßer, desto besser – auch wenn die immer leistungs-

KI-Forschung? fähigeren Computer stets kleiner wurden. Dies gilt

Wie sich künstliche Intelligenz im kommenden
Jahr weiterentwickeln könnte
ABBY BERTICS Korrespondentin Wissenschaft,
The Economist
jedoch nicht für das Large Language Model (LLM),
ein Sprachmodell, dessen Größe in Milliarden oder
Billionen von Parametern gemessen wird. Laut dem
Forschungsunternehmen SemiAnalysis benötigte
GPT-4 – das LLM, mit dem die De-luxe-Version von
ChatGPT arbeitet – mehr als 16 000 GPU-Chips und
mehrere Wochen Training, was über 100 Millionen
Dollar kostete. Nach Angaben des Chipherstellers
Nvidia übersteigen die Inferenzkosten – also die trai-
nierten Modelle dazu zu bringen, auf Benutzeranfra-
gen zu reagieren – jetzt die Trainingskosten, um ein
LLM in einem angemessenen Umfang bereitzustellen.
Da KI-Modelle zu kommerziellen Produkten wer-
den, verschiebt sich der Schwerpunkt darauf, die Leis-
tung beizubehalten und sie lieber kleiner und schnel-
ler zu machen. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen,

D as Interesse an künstlicher Intelligenz (KI) war

2023 höher denn je. Als im November 2022
ChatGPT von OpenAI startete, der berühmteste Chat-
bot des Internets, stiegen die Google-Suchanfragen zu
„Künstliche Intelligenz“ binnen sechs Monaten fast
um das Vierfache. Im August 2023 gab ein Drittel der
Befragten des McKinsey Global Survey an, dass ihr
Unternehmen bereits generative KI nutzt.
Wird sich die Technologie 2024 verbessern? KI-
Forscher konzentrieren sich hier auf drei Bereiche:
Größe, Daten und Anwendungen.
besteht darin, ein kleineres Modell mit mehr Daten
zu trainieren. Das LLM Chinchilla, 2022 von Google
DeepMind entwickelt, übertrifft GPT-3 von OpenAI,
obwohl es nur ein Viertel so groß ist, dafür aber mit
der vierfachen Datenmenge trainiert wurde. Ein ande-
rer Ansatz besteht darin, die numerische Präzision der
Parameter, aus denen ein Modell besteht, zu verrin-
gern. Ein Team der University of Washington schaffte
es, ein Modell in der Größe von Chinchilla auf nur
einen GPU-Chip zu quetschen, ohne dass dies zu
einem echten Leistungsabfall führt. Wichtig ist, dass
Die Welt in 2024 Wissenschaft & technik 121

kleine Modelle weniger Kosten verursachen und mit-
unter sogar auf Laptops oder Smartphones genutzt
werden können.
Nächster Punkt: Daten. KI-Modelle sind Prognose-
maschinen, deren Trefferquote steigt, wenn sie mit
mehr Daten trainiert werden. Doch der Schwerpunkt
verlagert sich von „wie viel“ auf „wie gut“, da es
immer schwieriger wird, noch mehr Trainingsdaten
zu finden. Eine Analyse von 2022 deutete darauf hin,
dass die Bestände an neuen, qualitativ hochwertigen
Texten in den nächsten Jahren versiegen könnten.
Die Verwendung der Ergebnisse der Modelle zum
Trainieren zukünftiger Modelle kann zu weniger leis-
tungsfähigen Modellen führen – die Einführung von
LLMs macht das Internet als Quelle für Trainingsdaten
daher weniger wertvoll.
Doch Quantität ist nicht alles. Den perfekten Mix
aus Trainingsdaten zu kreieren ist weiterhin eher
Kunst als Wissenschaft. Modelle werden zunehmend
auf Kombinationen von Datentypen trainiert, darunter
natürliche Sprache, Computercode, Bilder und sogar
Videos, was ihnen wiederum neue Fähigkeiten verleiht.
Hinsichtlich Anwendungen gibt es einen gewis-
sen Überhang bei der KI, da sie sich schneller entwi-
ckelt hat, als die Menschen sie nutzen konnten. Aus
dem Aufzeigen des Möglichen ist ein Herausfinden
des Machbaren geworden. Die wichtigsten Verbesse-
rungen werden nicht die Qualität der Modelle selbst
betreffen, sondern inwiefern wir lernen, sie besser
zu nutzen.
Es gibt Aktuell dominieren dabei drei Möglichkeiten. Beim
„keinen Grund Prompt Engineering werden die Modelle schlicht mit
Anweisungen gefüttert: Man formuliert Sätze oder
zu glauben, Fragen, um das Modell zu den gesuchten Ergebnissen
dass dies die zu leiten. Die zweite Methode ist das Feintuning, um
ultimative die Leistung des Modells zu verbessern. Dabei erhält
neuronale Ar- es eine Extra-Trainingsrunde mit einem eng auf die
Aufgabe zugeschnittenen Datensatz. So könnte ein
chitektur ist“ LLM mit medizinischen Fachartikeln so trainiert wer-
den, dass es Gesundheitsfragen besser beantworten
kann. Der dritte Ansatz besteht darin, LLMs in eine
leistungsfähigere Architektur einzubetten. Ein LLM ist
wie ein Motor: Um ihn nutzen zu können, muss man
ein Auto drum herum bauen. Ein Beispiel hierfür ist
Retrieval Augmented Generation, eine Technik, bei der
ein LLM mit zusätzlicher Software und einer Wissens-
datenbank zu einem Thema versorgt wird. Wird eine
Frage gestellt, durchsucht das System die Datenbank.
Findet es etwas Relevantes, leitet es die Information
samt der Frage an das LLM weiter und bittet es, eine
Antwort zu generieren.
Bei aller Konzentration auf das kommerzielle Poten-
zial der KI geht die Jagd nach allgemeiner künstli-
cher Intelligenz weiter. LLMs und andere Formen der
generativen KI mögen ein Schritt auf dem Weg dorthin
sein, aber sie sind wohl nicht die letzte Antwort. Wie
Chris Manning von der Stanford University es aus-
drückt: Es gibt „keinen Grund zu glauben, dass dies
die ultimative neuronale Architektur ist und wir nie
etwas Besseres finden werden“. A

Übergewicht Tirzepatid) haben Blockbuster-Potenzial.

Die Größe des Marktes begünstigt dabei
Die Medikamente sind so beliebt, dass
die Nachfrage das Angebot übersteigt.

heilen
Wettbewerb und Innovation. Laut der
Medizin-Newsseite „Stat“ sind mehr als
70 weitere Medikamente zur Behandlung
von Fettleibigkeit in der Entwicklung. Die
meisten setzen auf GLP-1-Agonisten (Glu-
cagon-like Peptide-1). Sie imitieren jene
Hormone, die der Körper nach dem Essen
produziert, und regulieren so den Blutzu-
ckerspiegel, weshalb GLP-1-Mittel bei der
Erwarten Sie ein Rekordjahr für
Behandlung von Diabetes so überzeugen.
Medikamente zur Gewichtsabnahme Unerwarteterweise helfen diese Phar-
maka auch beim Abnehmen. Sie verlang-
NATASHA LODER Redakteurin Gesundheit, samen die Magenentleerung und verlän-
The Economist gern das Sättigungsgefühl. Zudem wirken
sie auf den Hypothalamus, der das Hun-
2024 könnte sich die Produktionslage
zwar verbessern, aber es wird wohl weiter
zu Engpässen kommen. GLP-1-Medika-
mente gelten allgemein als sicher, doch
es besteht das Risiko von Magen-Darm-
Komplikationen wie Bauchspeicheldrüsen-
entzündungen und Darmverschlüssen.
Ein weiteres Problem: Um das Gewicht zu
halten, müssen die Medikamente dauer-
haft eingenommen werden. Amgen hat
ein länger wirkendes Medikament ent-

M edikamente zur Gewichtsreduktion

haben jahrzehntelang enttäuscht,
weil sie unwirksam oder gar gefährlich
waren. Die jüngste Generation tatsächlich
wirksamer und zudem sicherer Medika-
mente zur Gewichtsreduktion gilt daher
als medizinischer Meilenstein. Manche
sprechen bereits davon, dass Fettleibigkeit
bald geheilt werden könne. Diese Behaup-
tung wiegt schwer: Adipositas ist ein
gewaltiges Problem, denn 1,1 Milliarden
Menschen – etwa 14 Prozent der Welt-
bevölkerung – sind fettleibig.
2024 kämpfen die Unternehmen
Novo Nordisk und Eli Lilly um die Vor-
herrschaft in einem Markt, der bis 2030
wohl 77 Milliarden Dollar wert sein wird.
Ihre Medikamente Wegovy (Wirkstoff:
Semaglutid) und Mounjaro (Wirkstoff:
gergefühl kontrolliert. Und sie erhöhen
wohl auch die Wahrscheinlichkeit, dass
Fett abgebaut wird. Obschon GLP-1 wohl
der Schwerpunkt der neuen Medikamente
bleiben wird, konzentrieren sich einige
Firmen zusätzlich auf zelluläre Angriffs-
ziele, um so Medikamente zu entwickeln,
die noch mehr Körperfett abbauen.
Laut Ray Stevens, Chef von Structure
Therapeutics, liegt die Herausforderung
darin sicherzustellen, dass die Patienten
das Medikament auch vertragen und es
einfach anzuwenden ist. Seine und ande-
re Firmen forschen an oralen Versionen
von GLP-1-Mitteln, da die Herstellung
günstiger ist und Patienten sie gegen-
über Spritzen bevorzugen. Novo Nordisk
hofft, bereits 2024 eine orale Version von
Semaglutid auf den Markt zu bringen.
122 Wissenschaft & technik
wickelt und will 2024 Ergebnisse aus
Phase-2-Studien vorlegen. Dann sollen
auch klinische Studien mit dem Gen-
therapeutikum GLP-1 starten, das bei
fettleibigen Mäusen einen Gewichtsver-
lust von 23 Prozent bewirkte. Das Biotech-
Unternehmen Fractyl Health injizierte
ihnen das Mittel in die Bauchspeicheldrü-
se, sodass die Mäuse in der Lage waren,
ihre eigenen GLP-1-Agonisten herzustel-
len. Es wird allerdings noch viele Jahre
dauern, bevor diese Medikamente auch
für Menschen sicher und wirksam sind.
Denn anders als bei normalen Medika-
Medizinische
Superhelden
Immer mehr Behandlungen setzen auf
genetische Scheren und andere Tricks
NATASHA LODER Redakteurin Gesundheit,
The Economist
N eue Medikamente zur Behandlung
der genetischen Bluterkrankungen
Sichelzellenanämie und Beta-Thalassämie
werden im Jahr 2024 für Schlagzeilen
sorgen. Bemerkenswert ist dabei das ers-
te geneditierte Crispr-Medikament, das
Ende 2023 auf den Markt kam. Bei der
Genbearbeitung werden molekulare Sche-
ren zur Bearbeitung der DNA eingesetzt.
Den Vorgang nennt man Genome Editing,
was die präzisere Variante der Genthera-
pie ist, bei der ein viraler Vektor ein funk-
tionierendes Gen in eine Zelle schleust.
Das Genome Editing hat sich rasant ent-
wickelt – viel schneller als Gentherapien.
Bei der Sichelzellkrankheit könnte die
von Crispr Therapeutics und Vertex mittels
Genomeditierung entwickelte Therapie
Exa-cel noch vor dem Gentherapeutikum
Lovo-cel von Bluebird Bio zugelassen
werden. Bei beiden werden dem Patienten
Stammzellen entnommen und entweder
editiert (Exa-cel) oder mit einem viralen
Vektor transfiziert (Lovo-cel) und danach
zurück in den Körper geschleust, um den
Gendefekt zu korrigieren. Die Wirkung
hält wohl ein Leben lang an. Die Thera-
pien kosten mehr als zwei Millionen Dollar
pro Patient, weshalb sie selbst für US-
Amerikaner nur schwer zu bekommen
sind – von Patienten in armen Ländern,
in denen die meisten mit Sichelzellen-
anämie leben, ganz zu schweigen.
Die Flexibilität der Genomeditierung
und ihre Möglichkeiten, auch nicht gene-
tisch bedingte Krankheiten zu behan-
menten können Patienten bei einem Gen-
therapeutikum die Einnahme nicht abbre-
chen, falls Nebenwirkungen auftreten.
Interessant ist, dass Adipositas zuneh-
mend als medizinisches und nicht als
kosmetisches Problem gesehen wird. Eine
aktuelle Studie zu Wegovy zeigte, dass
das Medikament das Risiko schwerwie-
gender kardiovaskulärer Ereignisse wie
Schlaganfälle und Herzinfarkte um 20 Pro-
zent senken kann. 2024 könnten weitere
Studien den gesundheitlichen Nutzen
dieser Pharmaka untermauern und ihren
Einsatz weiter fördern.
deln, sichert ihr eine große Zukunft. 2024
werden Crispr Therapeutics und Caribou
Biosciences sich weiter intensiv um die
Entwicklung von Therapeutika für Krank-
heiten wie Krebs bemühen.
Gespendete T-Zellen, die Arbeits-
tiere des Immunsystems, können mittels
Genomeditierung so programmiert wer-
den, dass sie Krebs bekämpfen, ohne eine
Immunabwehr auszulösen. Leistungs-
starke CAR-T-Zellbehandlungen müss-
ten dann nicht mehr teuer individuell
hergestellt werden. Crispr Therapeutics
forscht an einer ähnlichen Technologie,
um Ersatzzellen für die Insulinproduktion
in der Bauchspeicheldrüse zu kreieren. Es
gibt auch Bestrebungen hinsichtlich eines
In-vivo-Genome-Editing, das es ermög-
licht, Therapeutika in den Körper einzu-
bringen, indem man sie in Lipid-Nano-
partikel verpackt.
Die Genome-Editing-Technologie
macht auch in anderer Hinsicht Fort-
schritte. Verve Therapeutics konzentriert
Die Welt in 2024
Ahmed Ahmed, Dozent für meta-
bolische Chirurgie am Imperial College
in London, rechnet mit einem regen
Interesse an Nahrungsergänzungsmit-
teln, die die Darmchemie verbessern.
Wer verschreibungspflichtige GLP-1-
Medikamente erhält, sei laut Ahmed
„einigermaßen zufrieden damit, solange
man keine allzu große Gewichtsabnahme
erwartet“. Nur müsse man sie ständig
einnehmen. Irgendwann wird die tägliche
Einnahme eines billigen Medikaments
vielleicht akzeptiert sein. Die Revolution
hat ja gerade erst begonnen. A
sich auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen
und verwendet einen noch präziseren
Ansatz für das Genome Editing: das soge-
nannte Base Editing, bei dem eine einzige
Base im Genom verändert werden kann,
ohne das DNA-Molekül selbst zu beschä-
digen. 2024 könnte zudem die ersten
In-vivo-Versuche bringen, die sich mit der
Senkung des Cholesterinspiegels befas-
sen. Eine andere Behandlung, EBT-101
von Excision, will HIV-Infektionen durch
Genome Editing eliminieren; die Rekru-
tierung von Patienten für eine Phase-1-
Studie soll im kommenden Jahr enden.
Erwartet werden auch Entscheidungen
über ein neues Antibiotikum gegen Harn-
wegsinfektion, zwei Meningokokken-
Impfstoffe, die vor Meningitis-Serotypen
schützen, sowie ein „mikroinvasives“
Augenimplantat, das laufend winzige
Mengen eines Medikaments zur Behand-
lung von Glaukom abgibt. Auch diese
Entwicklungen sollte man 2024 im Blick
behalten. A
Die Welt in 2024 Wissenschaft & technik 123

Schaut nach oben Astronauten

kehren zu-
45 Vorbeiflüge absolvieren, in einer Höhe von 2700 Kilo-
meter bis 25 Kilometer über Europa. Dabei werden das
Magnetfeld und die Eishülle sowie die Beschaffenheit
rück zum des Wassers und des Gesteins darunter untersucht.
Mond – oder Im Dezember will die Indian Space Research Orga-
zumindest nisation mit dem Start von Shukrayaan zur Venus an
beinahe den Erfolg ihrer Chandrayaan-3-Mission im August
2023 anknüpfen, bei der ein Raumfahrzeug in der
Nähe des Mondsüdpols landete. Dies wird die erste
Mission zum „evil twin“ der Erde seit der japanischen
Akatsuki-Mission 2010 sein. Die Wissenschaftler wollen
von der Chemie der Venusatmosphäre bis hin zu den
Die Starts, Weltraum-Missionen und Raketen Lavaströmen alles untersuchen, um herauszufinden,
des kommenden Jahres ob der Planet Phosphin beherbergt – ein Molekül, das
mit Leben in Verbindung gebracht wird.
Privatunternehmen wiederum wollen neue Raketen
ALOK JHA Redakteur Wissenschaft, The Economist testen. Jeff Bezos’ Firma Blue Origin könnte 2024 erst-
mals seine Rakete New Glenn einsetzen, eine wieder-

E nde 2024 sollen zum ersten Mal seit mehr als

einem halben Jahrhundert wieder Astronauten
zum Mond zurückkehren. Oder zumindest fast. Im
verwendbare Schwerlastrakete, die 45 Tonnen in die
niedrige Erdumlaufbahn befördern kann. Das Start-up
Rocket Lab plant den Jungfernflug der wiederverwend-
Rahmen der NASA-Mission „Artemis II“ werden vier baren Rakete Neutron. Auch die Einwegrakete Ariane 6
Astronauten – Reid Wiseman, Victor Glover, Christina der Ariane Group könnte im kommenden Jahr erstmals
Hammock Koch und Jeremy Hansen – 7400 Kilometer abheben. Doch all diese Raketen werden von SpaceX’
über den Mond hinausfliegen und umkehren, ohne auf wiederverwendbarem Raumschiff in den Schatten ge-
der Mondoberfläche zu landen. Bei ihrer zehntägigen stellt werden, das – falls es funktioniert – 150 Tonnen in
Reise werden die Space-Launch-System-Rakete (SLS) die Umlaufbahn befördern kann. 2024 könnten weitere
und das Orion-Raumschiff getestet, um sie für künftige Tests mit diesem Monster folgen. A
Missionen vorzubereiten. Glover, Hammock Koch und
Hansen werden der erste schwarze Mann, die erste
Frau und der erste Nicht-US-Amerikaner sein, die seit
Apollo 17 im Jahr 1972 nicht nur dem Mond nahe kom-
men, sondern überhaupt die Erdumlaufbahn verlassen.
„Artemis II“ wird frühestens im November starten,
und selbst das könnte sich eventuell bis 2025 verzögern.
Überholt werden sie zunächst im Mai von der jüngsten
Mission des chinesischen Monderkundungsprogramms,
genannt Chang’e. Wie Chang’e 5 im Jahr 2020 soll auch
Chang’e 6 einen Landeroboter auf die Mondoberfläche
bringen, ein paar Kilo Gestein einsammeln und zur Erde
transportieren. Zielort ist die Rückseite des Mondes; bei
der Mission werden auch Instrumente aus Frankreich,
Italien, Pakistan und Schweden an Bord sein. Im Sep-
tember will Japan sich dem Mars-Club anschließen und
mit der Martian Moons Exploration (MMX) seine Mission
zur Erforschung der Marsmonde Phobos und Deimos
starten. Da die Monde zu klein sind, um das Raumschiff
via Schwerkraft einzufangen, wird MMX in eine Quasi-
Satelliten-Umlaufbahn eintreten. 2025 soll es auf Phobos
landen, um Gesteinsproben zu sammeln.
Im Oktober plant die NASA den Start der Sonde
Europa Clipper, die einen der Jupitermonde bezüglich
Bewohnbarkeit untersuchen soll. Seit im Jahr 2012
am Südpol des Mondes Europa Wasserdampf gefunden
wurde, ist das Interesse der Planetenforscher an den
großen Monden von Jupiter und Saturn neu entfacht;
offenbar gibt es auf ihnen unterirdische Ozeane, wes-
halb sie außerirdisches Leben beherbergen könnten.
Bei seiner Ankunft im Jahr 2030 wird Europa Clipper E Artemis II: C. Koch (l.), R. Wiseman (sitzend), V. Glover (hinten), J. Hansen (r.)

WAS WÄRE, WENN …?
Himmlische Phänomene können mitunter zu irdischer
Erleuchtung führen. Was wäre, wenn eine Flut von
Teilchen aus dem Weltraum eine neue Physik offen-
barten? Träfe 2024 die Strahlung einer Supernova-
Explosion eines nahen Sterns auf die Erde, würde sie
nicht nur den Himmel erhellen, sondern es würde auch
eine Flut von Neutrinos von Spezialdetektoren auf-
gefangen werden, die in unterirdischen Höhlen und
unter Eiskappen nach solchen Dingen suchen – und
möglicherweise sogar auch Spuren der geheimnis-
vollen Dunklen Materie. Tief unter der Erdoberfläche
könnte ein neues geistiges Zeitalter anbrechen.
124 Wissenschaft & technik Die Welt in 2024

Licht aus! Totale KANADA

South Bird
Island
Sonnenfinsternis
8. April 2024
‘ 90 %
Quelle: NASA
80 %
NY
Indianapolis
70 %
USA PA
OH
IL 60 %
Ein Ereignis, das im Jahr 2024 MO ‘ KY
garantiert stattfinden wird 50 %
OK AR
40 %
GEOFFREY CARR Leitender Redakteur TX
Wissenschaft und Technik, The Economist 30 %

E
ine totale Sonnenfinsternis ist ein
exklusives Ereignis. Die Spur der
Schatten, die entstehen, wenn der Mond
vom Standpunkt der Erde aus vor der
Sonne vorbeizieht, lassen sich Jahrtau-
sende im Voraus berechnen. Doch diese
Schatten fallen mitunter auf den Ozean
oder in dünn besiedelte Regionen.
Von den 17 totalen Finsternissen seit
2000 waren zwei nur von der Antarktis
und dem sie umgebenden Meer aus sicht-
bar. Eine dritte war lediglich am Nordpol
zu sehen. Eine vierte lockte Besucher aus
der ganzen Welt auf die Osterinsel, die
sich mit Tristan da Cunha um den Titel
„entlegenstes bewohntes Gebiet“ streitet.
Finsternis-Fans sehen all dies als freudige
Herausforderung, sich an Orte zu bege-
ben, die sie sonst eher nicht besuchen
würden. Die meisten Menschen begnü-
gen sich aber damit, darauf zu warten,
dass sich eine Sonnenfinsternis zu ihnen
bequemt. Wer in Nordamerika lebt, darf
MEXIKO
Mazatlán
‘
sich deshalb freuen, wenn am 8. April eine
Sonnenfinsternis bei ihm vorbeischauen
wird. Und es ist eine ordentliche Finster-
nis, weshalb sie auch Große Nordamerika-
nische Sonnenfinsternis heißt. Wenn der
Kernschatten um 11.07 Uhr Ortszeit nahe
Mazatlán an der mexikanischen Pazifik-
küste auftaucht, bleibt es vier Minuten
und 27 Sekunden dunkel; in der Provinz
Durango hält sich der Schatten bis zu
eine Sekunde länger und beginnt dann
zu schrumpfen. Wenn er die Grenze von
Mexiko nach Texas überquert, verkürzt
sich die Totalität auf vier Minuten und
26,9 Sekunden. Sobald der Schatten India-
napolis passiert, wird er genau vier Minu-
ten andauern und immer kürzer werden,
Maverick County
20 %
Sonne verdeckt
bis er schließlich die Südspitze von South
Bird Island vor der Küste von Neufund-
land streift. Hier ist die Totalität noch zwei
Minuten und 53,5 Sekunden lang.
Einst waren Finsternisse ein angst-
besetztes Ereignis und galten als Unheils-
boten. Heute sind sie ein Grund zum Fei-
ern. Von einer Küste zur anderen werden
Mexikaner, US-Amerikaner und Kanadier
zum Ort der totalen Finsternis strömen, ein
oder zwei Bier öffnen und das Spektakel
genießen. Heute ist eine Sonnenfinsternis
einfach nur ein fantastisches Ereignis.
Doch egal, wie laut die versammelten
Massen im Vorfeld sind: Das schwarze
Loch, das sich plötzlich am Himmel auftut,
lässt sie alle andächtig verstummen. A

Die nächste erreichen. Kornschädigende

Krankheiten breiten sich rasant
Hungerkatastrophe bringt, wird
2024 wahrscheinlicher. Land-
Getreidelieferungen lassen
sich auf Krankheiten unter-

Pandemie?
Pflanzenkrankheiten breiten
sich weltweit aus. Nur mehr
Kontrolle kann sie stoppen
caitLin taLBOt Redakteurin
Social Media, The Economist
aus. Der gleiche Pilz, der den
Weizen angreift, vernichtet jähr-
lich so viel Reis, dass 60 Millionen
Menschen davon ernährt wer-
den könnten. Die Kartoffelfäule
verursacht jährlich Verluste von
bis zu zehn Milliarden Dollar.
Kartoffeln werden auch von einer
bakteriellen Infektion namens
Schwarzbeinigkeit und dem Kar-
toffelvirus Y heimgesucht. Solche
Erreger bedrohen ein Nahrungs-
mittelsystem, das durch Krieg,
wirte setzen oft auf Monokul-
turen. Wird hier eine Pflanze
infiziert, ist die gesamte Ernte
bedroht. Einige Krankheiten
gedeihen im Regen, was für
Länder wie Indien ein Problem
darstellt, da der Monsun immer
unregelmäßiger kommt. Die Erd-
erwärmung vergrößert den Akti-
onsradius von Erregern, weil sie
ein Überleben in bisher feind-
lichen Regionen ermöglicht.
Sporen reisen im Wind, Viren
suchen, doch Erreger trampen
auch an ihr Ziel. Der Kaffee-
rost ist so bis nach Hawaii
gelangt. Pestizide bieten einen
gewissen Schutz, sind aber
teuer und energieintensiv.
Die beste Chance besteht
darin, resistente Pflanzen her-
zustellen. Wissenschaftler des
britischen John Innes Centre
haben zwei Gene gefunden, die
gegen Weizenbrand resistent
sind. Doch der Pilz wird sich

D ie Kornkammer der Welt ist

von einer Pilzkrankheit be-
droht. Der Weizen könnte sich
buchstäblich auflösen. In einem
Jahrzehnt hat der „Weizenbrand“
mehr als 15 000 km zurückge-
legt – von Brasilien nach Argen-
tinien, weiter nach Sambia und
Bangladesch. Möglicherweise
wird er auch Indien, den zweit-
größten Weizenproduzenten,
Klimawandel und Exportverbote
bereits geschwächt ist.
Dass eine Pflanzenpande-
mie die Welt an den Rand einer
Das Tracking der
Vogelgrippe dient
als Blaupause
und Bakterien mit Insekten. Die
größte Distanz schaffen sie aber
mithilfe des Menschen. Auf den
weiterentwickeln, um auch
diese Hürde zu überwinden.
Also ist eine bessere Kon-
Feldern angekommen, sind die trolle nötig. Vorbild könnte
Angriffsmethoden raffiniert. das Tracking der Vogelgrippe
Der Weizenbrandpilz nutzt In- sein. Wissenschaftler, Züchter
fektionszellen, um durch Druck und die WHO arbeiten zusam-
– das 40-Fache eines Autorei- men, um die Ausbreitung zu
fens – die Kutikula eines Blatts stoppen. Ohne eine solche
aufzubrechen. So tötet er junge dynamische Überwachung
Pflanzen binnen vier Tagen. bleibt der Weizen schutzlos.
Die Welt in 2024
Gastbeitrag Die Kohlenstoffwirtschaft neu erfinden
K ohlenstoff ist einer der
Hauptbestandteile des
Lebens. Er steckt in unserer
Kleidung, unseren Häusern
und im Treibstoff unserer
Fahrzeuge. Er ist aber auch
die Ursache unserer größten
Umweltprobleme.
Am bekanntesten ist Koh-
lenstoff in seiner gasförmigen
Variante, dem Kohlendioxid –
einem starken Treibhausgas,
das unseren Planeten über-
hitzt. Der größte Teil des Koh-
lenstoffs in der Erdatmosphäre
ist ein Nebenprodukt industri-
eller Prozesse wie der Produk-
tion fossiler Brennstoffe, der
petrochemischen Raffination
sowie der Metallherstellung.
Die lineare Kohlenstoffwirt-
schaft ist aus dem Gleichge-
wicht geraten: Sie hängt ab
von energieintensiven Indus-
trien, die nicht erneuerbare
Ressourcen abbauen, um Weg-
werfartikel herzustellen. Unser
System des Nehmens, Her-
stellens und Verschwendens
ist tief verwurzelt. Aber es ist
nicht länger tragbar.
Um das Leben auf der
Erde zu schützen, müssen wir
die lineare Kohlenstoffwirt-
schaft in ein Kreislaufmodell
umwandeln. Wir müssen die
vielen Arten von kohlenstoff-
reichen Abfällen als wertvolle
Ressourcen und nicht als Alt-
lasten betrachten. Anstatt
fossilen Kohlenstoff neu aus
dem Boden zu holen, können
wir Emissionen reduzieren und
nachhaltigere Produkte her-
stellen, indem wir die Giga-
tonnen Kohlenstoff, die sich an
der Oberfläche befinden, auf-
fangen und wiederverwenden.
Unternehmen wie meines
bieten Technologien zur Wie-
derverwertung von Kohlen-
stoff. Wir fangen den Kohlen-
stoffabfall in der Industrie
gleich nach Entstehung auf
und verhindern so, dass er in
die Atmosphäre gelangt. Wir
wandeln ihn um in nachhalti-
gere Chemikalien wie Ethanol,
einen wichtigen Bestandteil
vieler Produkte, der normaler-
2024 müssen wir endlich Ernst machen mit
der kreislauforientierten Kohlenstoffwirtschaft,
sagt Jennifer Holmgren, CEO von Lanzatech
weise aus fossilem Kohlenstoff Kreislaufwirtschaft entfernt.
gewonnen wird. Unsere Bio- Um diese Herausforderung zu
reaktor-Hardware kann in jede bewältigen, benötigen wir eine
Anlage integriert werden, die Lösung im Maßstab von Giga-
Kohlenstoffabfälle erzeugt, tonnen. Ein derartiger System-
einschließlich Ölraffinerien, wandel erfordert die Kooperati-
Stahlwerken und Mülldepo- on von Verbrauchern, Industrie
nien. Vier kommerzielle Anla- und Regierung. Die Zeit rast
gen sind bereits in Betrieb, uns davon, aber 2024 könnten
zwei weitere werden 2024 wir echte Fortschritte erzielen.
folgen. Zusammen können sie Die Entscheidungen, die
500 000 Tonnen Kohlenstoff wir im kommenden Jahr ge-
pro Jahr abbauen. meinsam treffen, bestimmen
Doch auch unsere Indus- darüber, wie schnell wir unsere
trien sind weit von einer echten Kohlenstoffwirtschaft umge-
stalten. Wenn wir so weiter-
machen wie bisher, wird sich
die Erwärmung weiter ver-
Wir müssen unsere lineare stärken, werden sich extreme
Hitzeperioden und Naturka-
Kohlenstoffwirtschaft tastrophen weiter verschärfen.
in ein Kreislaufmodell Wohlhabendere Länder, die die
umwandeln meisten Emissionen verursa-
Wissenschaft & technik 125
chen, müssen dann finanziell
für ärmere Länder einstehen,
die unverhältnismäßig stark
betroffen sind.
Wenn wir uns gegen das
aktuelle System entscheiden,
könnten wir die finanzielle
Katastrophenhilfe in den Aus-
bau der Kreislauftechnologie
investieren. Manche Regierun-
gen tätigen derlei Investitionen
bereits, wie etwa die Strategie
der Europäischen Union für
kreislauffähige Textilien sowie
die Subventionen des ameri-
kanischen Inflation Reduction
Act für Technologien wie
Kohlenstoffabscheidung und
-nutzung. Schwellenländer
wie Indien testen Kohlenstoff-
recycling, um heimische Res-
sourcen und Lieferketten bes-
ser in den Griff zu bekommen.
Die Aufklärung der Ver-
braucher ist hier von Bedeu-
tung, damit sie mehr auf die
ökologischen Folgen ihrer
Kaufentscheidungen achten.
Wenn Menschen mit ihrem
Geld abstimmen, werden die
Unternehmen nachhaltigere
Produkte anbieten. Marken
wie H&M Move, Zara und Adi-
das verkaufen bereits Produkte
aus recyceltem Kohlenstoff;
2024 werden weitere folgen.
Einige energieintensive
Industrien begrüßen die neu-
en Kreislauftechnologien und
die Arbeitsplätze, die dadurch
entstehen. Andere klammern
sich an den Status quo und
konzentrieren sich auf die
Speicherung von Kohlenstoff-
emissionen. Um dem ent-
gegenzuwirken, müssen wir
Lösungen unterstützen, die
den Übergang zu nachhaltigen
Geschäftsmodellen beschleu-
nigen. Wir müssen dem Drang
widerstehen, die Dinge so zu
machen, wie wir sie immer
gemacht haben. Technologien,
die uns in diese Lage gebracht
haben, werden uns da nicht
herausholen. Wenn wir uns
verpflichten, unsere Systeme
zu überdenken, werden wir
2024 Fortschritte erzielen.
Gehen wir an die Arbeit.
126 Die Welt in 2024

KULTUR
Auch in dieser
Rubrik:
127 Neue Museen
128 Interessante
Bücher
128 Musical-
Sternstunde
129 Afrikanische
Architektur
129 Musikerinnen
in China

Generative KI kann Bilder in Sekundenschnelle

Es war AI-nmal erzeugen. Sie kann Songs im Stil von Sängern erstel-
len, ob noch am Leben oder längst tot. Bei mehr als

vor langer Zeit … 3000 Büchern auf Amazon wird nun ChatGPT als Autor
oder Co-Autor genannt. Das gibt dem Begriff Ghost-
writer eine völlig neue Bedeutung.
Noch fühlt sich all das neu an, doch 2024 wird nur
ein Vorgeschmack auf das sein, was noch alles auf
uns zukommt. Drei Dinge sollte man dabei besonders
im Auge behalten. Erstens die Frage, inwiefern sich
KI für eine neue Art von Geschichten nutzen lässt, die
personalisierter und interaktiver sind. Filme werden
sich ebenso verändern wie die Gaming-Industrie, deren
KI wird das Geschichtenerzählen
Nutzer – anders als im Kino – mitbestimmen können,
in jeglicher Hinsicht verändern – welche Abenteuer sie erleben.
dies- und jenseits von Hollywood So wie das Internet eine explosionsartige Vermehrung
von nutzergenerierten Inhalten in den sozialen Medien
ALEXANDRA SUICH BASS Redakteurin Kultur, und auf YouTube mit sich brachte, wird die generative
The Economist KI dazu beitragen, dass sich Unmengen von Videos und
anderem Material online verbreiten. Manche Prognosen

W iedersehensfeiern bieten auch die Chance zu

reflektieren, wie viel sich verändert hat. Wenn
der Film „Here“2024 Premiere feiert, wird er Schau-
spieler, Regisseur und Autor von „Forrest Gump“
30 Jahre nach dessen Erscheinen zusammenbringen.
„Here“, der mit dem Filmklassiker sonst nichts zu tun
hat, spielt in einem einzigen Raum und lässt in ihm
die Jahrzehnte vorüberziehen. Künstliche Intelligenz
(KI bzw. AI) „entaltert“ dabei die Stars Tom Hanks
und Robin Wright, sodass die Filmemacher bereits
beim Dreh die Transformation live verfolgen konnten.
sprechen bereits davon, dass 2025 bis zu 90 Prozent der
Online-Inhalte KI-generiert sein werden. Kuratierung und
gute Suchdienste werden da wichtiger. Und man wird
sich darüber streiten, ob und wie KI-generierte Inhalte
gekennzeichnet werden sollten.
Wie genau dies die Kunst des Geschichtenerzählens
verändert, weiß noch niemand; doch dass sie sich ver-
ändern wird, gilt als sicher. Der Filmhistoriker David
Thomson vergleicht die generative KI mit dem Ende
des Stummfilms: Mit dem Ton wandelte sich die Art
und Weise, wie ein Plot erzählt wurde, ebenso wie die
Die Welt in 2024 Kultur 127

Intensität der Identifizierung mit den Figuren. Cristóbal
Valenzuela, Chef von Runway, das KI-gestützte Soft-
ware-Tools für die Kreativbranche entwickelt, bezeich-
net KI als eine „neue Kamera-Art“, die einen frischen
Blickwinkel auf das Wesen von Geschichten bietet.
Beide liegen mit ihrer Beobachtung richtig.
Der Autorenstreik in Hollywood beleuchtete auch
die Frage, ob KI-Drehbücher produzieren wird. Vorerst
haben die Studios zugesagt, Autorenbüros nicht durch
ChatGPT zu ersetzen. Es wird also wohl noch dauern,
bis eine KI ihren ersten Blockbuster komplett produziert.
Die zweite Entwicklung handelt von KI als Zeitein-
sparer. Generative KI wird schon bald Synchronisation,
Schnitt, Spezialeffekte und Hintergrundgestaltung auto-
matisieren. Bei „Everything Everywhere All at Once“,
2023 unter anderem als bester Film mit dem Oscar aus-
gezeichnet, kam ein von Runway entwickeltes Roto-
skopie-Tool zum Einsatz, um den Greenscreen im Hinter-
grund herauszuschneiden und einen sprechenden Stein
realistischer erscheinen zu lassen. Was sonst mehrere
Tage gebraucht hätte, dauerte so nur wenige Stunden.
Wann wird Das dritte große Ding sind die künftigen Auseinan-
eine KI einen dersetzungen zwischen Urhebern und den Betreibern
von KI-Plattformen. 2024 könnte Klagen seitens Auto-
Blockbuster ren, Musikern, Schauspielern oder Malern mit sich brin-
produzieren? gen, die sich darüber beschweren, dass ihre Kunst ohne
Zustimmung und ohne Bezahlung zum Training von
KI verwendet wird. Vielleicht einigt man sich auf eine
Art Lizenzvereinbarung, bei der KI-Unternehmen für die
Nutzung von Inhalten zu Trainingszwecken zahlen. Aber
das wird nicht ohne juristisches Geplänkel abgehen.
Wird KI nur bereits Vorhandenes nachahmen, was
zu noch mehr Blockbuster-Imitationen und flachen Echos
von Popsongs führen wird anstatt zu originellen Plots und
Kunstformen? Und wenn Entertainment immer stärker
personalisiert wird: Wird es noch Geschichten geben, die
zum Bestand des kollektiven Bewusstseins werden?
Während sich die Kreativen mit dem Aufstieg der KI
beschäftigen, werden sie ihre Ängste in ihre Werke
einfließen lassen. Freuen Sie sich auf neue Kämpfe zwi-
schen Mensch und Maschine à la „Terminator“. Das
Leben imitiert die Kunst – und die Kunst das Leben. A

Nachts im
Museum

Von Robotern in Seoul zu Go-go-Musik

und Shakespeare

IMOGEN WHITE Koordinierende

Redakteurin Kultur, The Economist

D ie Pandemie stürzte die 104 000

Museen weltweit in die Krise. Doch
auch wenn die Masken nun weg und die
Lockdowns beendet sind, leiden manche
Kultureinrichtungen wegen steigender
Lebenshaltungs- und Reisekosten wei-
ter unter dem, was Branchenvertreter
als „das touristische Äquivalent zu Long
Covid“ bezeichnen. In London meldeten
Institutionen wie das British Museum
und die Tate Modern für 2022 Besucher-
zahlen weit unter denen von 2019. Trotz
dieser Tristesse haben andere Länder sich
erholt: Polnische und dänische Museen
sind wieder auf Vor-Pandemie-Niveau.
In Seoul war das Koreanische National-
museum 2022 beliebter als 2019.
Kulturfans der koreanischen Haupt-
stadt dürften sich außerdem auf die Eröff-
nung des landesweit ersten „Robot &
AI Museum“ freuen. Das Unternehmen
Melike Altinisik Architects setzte auch
beim Bau des 2500 Quadratmeter großen,
eiförmigen Museums Roboter ein. Ein
anderes Museum startet 2024 auf der süd-
koreanischen Insel Jeju zu Ehren von Park
Seo-bo, dem Begründer der abstrakten,
monochromen Kunstform Dansaekhwa.
E Bis zum letzten Buchstaben der uns zugemessnen Zeit
Japan bekommt auf dem ehemaligen Fir-
mengelände von Nintendo in Kyoto ein
Museum für die Historie von Videospielen.
Der brasilianische Kurator Adriano Pedrosa
organisiert 2024 als erster Lateinameri-
kaner die Biennale in Venedig. In seiner
Heimat boomen Galerien. Das Museo de
Arte Latinoamericano de Buenos Aires
erhält eine zweite Dependance in Esco-
bar. Das Museu de Arte de São Paulo wird
Ende 2024 für 36 Millionen Dollar um zwei
Drittel vergrößert.
Auf dem ehemaligen
Firmengelände von Nintendo
wird ein Museum
für Videospiele eröffnet
Im Februar startet in Washington, D. C.
ein kleines, aber feines Museum, das der
Go-go-Musik gewidmet sein wird – einer
Musikrichtung, die eng mit der Geschichte
der afroamerikanischen Community der
Stadt verbunden ist. Zuletzt sah sich das
Genre durch Lärmbeschwerden von Gen-
trifizierern bedroht. Das mit einem Budget
in Höhe von weniger als 100 000 Dollar
ausgestattete Museum wird sich mit Stolz
und Vehemenz dagegen zur Wehr setzen.
Auch in London tut sich was: Shake-
speare-Fans können dort bald ein Museum
besuchen, das dem Dichter gewidmet ist.
Es soll auf dem Gelände des historischen
Curtain Theatre eröffnet werden. Das Le-
ben des großen Wortschmieds kann dann
mit Installationen und KI-Tricks erkun-
det werden. Die ganze Welt ist tatsächlich
eine Bühne. A
128 Kultur Die Welt in 2024

Roboter, völkerung“ in seinem Land auf. In „Putin

and the Return of History“ stellt Martin

Russland und
Sixsmith die Aggression des russischen
Präsidenten in einen historischen Kontext.
Peter Pomerantsevs „How to Win an Infor-

Romantik mation War“ blickt aus der Perspektive

eines Propagandisten im Zweiten Weltkrieg
auf den Konflikt.
Wer indes auf Ablenkung hofft, darf
Was von den angesagtesten Büchern sich auf jede Menge Romane freuen. Best-
in 2024 zu erwarten ist seller-Garanten wie Percival Everett, Yann
Martel, David Nicholls, Kiley Reid, Colm
Tóibín sowie Amor Towles kehren 2024
RACHEL LLOYD Stellvertretende Ressort- mit neuen Geschichten zurück. James
leitung Kultur, The Economist Patterson vollendet das Manuskript „Erup-
tion“, das „Jurassic Park“-Autor Michael

I m Fahrwasser der Pandemie waren

die Bestsellerlisten 2023 gefüllt mit
Medizinratgebern und mit schriftlichen
Warnungen vor der Klimakatastrophe.
2024 zeichnet sich hier ein Schwerpunkt-
wechsel ab.
Künstliche Intelligenz (AI) ist eines der
Themen mit Bestsellerpotenzial. Diverse
Bücher befassen sich damit, inwiefern sie
unsere Welt verändern wird: „AI Needs
You“ von Verity Harding, früher Google
DeepMind, gilt als „humanistisches Mani-
fest für das KI-Zeitalter“. „The Heart and
the Chip: Our Bright Future with Robots“
von Daniela Rus, Computerexpertin am
MIT, und Gregory Mone, Wissenschafts-
autor, ist zu nennen sowie „Literary
Theory for Robots“ – eine Untersuchung,
wie maschinelle Intelligenz unsere Art zu
lesen, schreiben und denken verändern
wird, verfasst von Dennis Yi Tenen von der
Columbia University.
Auch die Geopolitik erobert die Listen.
Dale Copeland, Professor für Internationale
Beziehungen, berichtet über die Auswir-
kungen des Handels auf die US-Außenpoli-
tik; Jim Sciutto von CNN untersucht „The
Return of Great Powers: Russia, China and
the Next World War“. Andere Autoren set-
zen sich mit dem Krieg in Europa auseinan-
der: Eugene Finkel, geboren in der Ukraine,
zeigt die „tiefergehende Geschichte der
russischen Gewalt gegenüber der Zivilbe-
Crichton hinterließ. Auch ein bislang
unbekanntes Werk von Gabriel García
Márquez erscheint. Der 2014 verstorbene
Nobelpreisträger erzählt in „Wir sehen uns
im August“ auf 176 Seiten die Geschichte
einer Frau mittleren Alters, die eine Affäre
hat. Seine Kinder sprachen sich erst gegen
eine Veröffentlichung aus, sind aber nun
überzeugt, dass das Buch „die Fantasie
des Autors, seine poetische Sprache und
seine fesselnde Erzählweise“ besitzt. Ob
wahr oder nicht, García Márquez erfährt
auf jeden Fall eine Art Wiederauferste-
hung, da Netflix eine Adaptation seines
berühmtesten Werks „Hundert Jahre
Einsamkeit“ produziert. Wer fantastische
Geschichten liebt, ist beim kolumbiani-
schen Meister des magischen Realismus
bestens aufgehoben. A

Alles Gesang die Welt der Fernsehquizze,

„Keine weiteren Fragen“, wurde
Machine schrieb mit dem
Oscar-nominierten Songwriter
„42 Balloons“ sichern, das im
Frühjahr im englischen Sal-

und Tanz 2006 erfolgreich verfilmt. Die

Eine Reihe neuer Musicals
erheitert die Gemüter
rACHEl llOYD Stellvertretende
Leiterin Kultur, The Economist
musikalische Umsetzung soll
nun am südenglischen Bristol
Old Vic aufgeführt werden.
Fans von „Wie ein einziger Tag“
und „Wasser für die Elefan-
ten“ dürften sich über deren
Tanz-und-Gesang-Version am
Broadway freuen. Die zwei-
sprachige Produktion „El Otro
Oz“, angekündigt als „ein von
mexikanischer Folklore gepräg-
tes Musical, inspiriert von
Thomas Bartlett die Musik,
Pulitzer-Preisträgerin Marty-
na Majok verfasste das Skript,
und Tony-Gewinnerin Rachel
Chavkin wird Regie führen.
Auch Persönlichkeiten aus
dem echten Leben dienen als
Inspiration. „Ali“ hat Premiere
in Louisville, der Heimatstadt
seines Protagonisten. Erzählt
wird die Story des Boxers, der
sich im Ring durchsetzte und
außerhalb des Rings für Bürger-
ford startet. Erzählt wird die
wahre Geschichte von Larry
Walters, der aufgrund einer
Sehschwäche nicht Pilot wer-
den konnte und sich seinen
Traum vom Fliegen erfüllte,
indem er Heliumballons an
einem Stuhl befestigte. Er
erreichte eine Höhe von gut
4900 Metern und landete nach
45 Minuten wieder sicher in
Kalifornien. „Ich musste es ein-
fach tun“, sagte er hinterher.

M usicals finden zu ihrem

Rhythmus zurück. Nach
ein paar flauen Jahren sind die
Besucherzahlen am Broadway
und im West End wieder auf
Vor-Pandemie-Niveau oder
sogar darüber. Lange Zeit als
uncool verschrien, hat das Genre
durch den Blockbuster „Barbie“
neuen Auftrieb erhalten.
2024 kommen viele neue
Produktionen auf die Bühne.
Einige davon sind Adaptionen
von Filmen oder Büchern.
David Nicholls’ Roman über
‚Der Zauberer von Oz‘“, star-
tet als Off-Broadway-Show.
In Boston feiert derweil
„Gatsby“ Premiere. Ein hoch-
karätiges Team hat F. Scott
Fitzgeralds Klassiker adap-
tiert: Florence Welch von der
Indie-Band Florence and the
In düsteren Zeiten lockt
die heile Welt der Musicals
mit Träumereien
rechte engagierte. Der Medien-
hype um Marilyn Monroe – etwa
durch den Film „Blond“, eine
Musicalversion von „Manche
mögen’s heiß“ oder James
Ellroys Roman „Die Bezau-
berer“ – erfährt Fortsetzung
durch das Musical „Smash“.
Etwas verwirrend ist dabei,
dass „Smash“ auf einer TV-Serie
basiert, die von der Entstehung
eines Broadway-Musicals
über Monroes Leben erzählt.
Freunde surrealer Geschich-
ten sollten sich Tickets für
Angesichts des schleppen-
den Wirtschaftswachstums und
politischer Instabilität sehnen
sich in düsteren Zeiten viele
danach, der Realität zu ent-
fliehen. Die heile Welt der Musi-
cals lockt da mit Träumereien.
Als 1929 die Große Depression
begann, waren die zehn umsatz-
stärksten Filme in den USA alle-
samt Musicals. Wie es einmal
eine Berühmtheit formulierte:
„Was bringt es, allein in deinem
Zimmer zu hocken? Komm
und hör, wie die Musik spielt.“
Die Welt in 2024
Konstruktiver
Fortschritt
Drei Gebäude stehen für eine neue Ära
westafrikanischer Architektur
CLAIRE MCQUE Redaktionsassistenz Kultur,
The Economist
D ie Spuren der Kolonialisierung sind
in vielen westafrikanischen Städten
noch immer sichtbar: Benins Politiker
verabschieden Gesetze in einer von den
Franzosen erbauten Villa. Britische Kolo-
nisten brachten die moderne Architektur
nach Ghana. Wenn es stimmt, dass öffent-
liche Gebäude die Identität eines Landes
prägen, dann verwundert es vermutlich
nicht, dass sich die Region nach neuen
umschaut. 2024 läuten gleich mehrere
Großprojekte eine spannende Architektur-
Ära ein, die für Demokratie, Modernität
und Nachhaltigkeit steht.
Benins Hauptstadt Porto Novo erhält
ein neues Parlament, in Senegals Haupt-
stadt Dakar entsteht ein elegantes Kultur-
zentrum für das Goethe-Institut. Entwor-
fen wurden beide Gebäude von Francis
Kéré, dem ersten schwarzen Architekten,
der den renommierten Pritzker-Preis
bekam. Auch Nigeria freut sich über ein
neues Kulturzentrum: Das farbenfrohe
John Randle Centre (JRC) in Lagos soll
das kulturelle Erbe der Yoruba, einer der
größten ethnischen Gruppen des Landes,
feiern. Das schräge, mit Gras überdachte
Gebäude ist das erste öffentlich zugäng-
E Alles wird nach Hause geholt
liche Museum, das seit 1957 in der Metro-
pole eröffnet wurde.
Diese Projekte schlagen eine Brücke
zwischen präkolonialen Traditionen und
postkolonialer Modernität. In Benin ließ
sich Kéré für den neuen Demokratie-
sitz vom Palaverbaum inspirieren, einem
typischen Versammlungsort. Das JRC
ist einem Yoruba-Dorf nachempfunden;
seine Fassade aus gewebtem Stahl erin-
nert an traditionelles Handwerk.
Diese Orte lassen Raum für Kultur-
diplomatie. Im JRC können Besucher
Yoruba-Artefakte sehen, die vom British
Museum und anderen westlichen Institu-
tionen ausgeliehen werden, sagt Archi-
tekt Seun Oduwole. Kéré nennt das deut-
sche Goethe-Institut „einen Marktplatz
für den entspannten Ideenaustausch“.
In der Mitte des Komplexes steht ein
Affenbrotbaum, Symbol der senegalesi-
schen Widerstandskraft.
Die Gebäude erzählen von dem neuen
Interesse an afrikanischer Architektur. Im
Westen ausgebildete afrikanische Archi-
tekten erhalten prominente Aufträge und
Ehrungen. 2023 stammten erstmals mehr
als die Hälfte der Teilnehmer der Archi-
tekturbiennale in Venedig aus Afrika und
der Diaspora. Ihre Ideen etwa hinsichtlich
Klimawandel befruchten beide Seiten.
Bauweisen aus dem heißen Afrika inspi-
rieren Bauherren, die künftig Städter welt-
weit vor extremer Hitze schützen müssen.
In Afrika ausgebildete Architekten
gibt es bislang nur wenige. Auch eine
Architektur-Kultur habe sich noch nicht
durchgesetzt, erklärt Lesley Lokko, Kura-
torin der Ausstellung in Venedig. Ein
Hindernis bleibt die Finanzierung. Doch
Architekten, die diese Hürde überwinden,
setzen Zeichen in den Metropolen West-
afrikas. Mit weiteren Bau-Innovationen
darf gerechnet werden. A
Kultur 129
Hört mein
Gebrüll
Weibliche Rockstars werden
in China immer beliebter
ANONYMOUS Freiberuflicher Korrespondent,
Peking
A uf einem Musikfestival in der
Stadt Shijiazhuang Mitte Oktober
schwenkte ein Fan ein Transparent mit
der Aufschrift „Lasst Frauen größere
und grenzenlose Träume verwirklichen“.
Obwohl die Ernsthaftigkeit des Spruches
ein wenig mit der „Mach’s kaputt“-Ein-
stellung einiger Bands kollidierte, sprach
die Forderung doch vielen Menschen aus
dem Herzen. Als die 45-jährige Helen
Feng, Leadsängerin der Electro-Rockband
Nova Heart, auf die Bühne kam, schrien
Männer wie Frauen im Moshpit „niu bi,
niu bi“, was sich noch am höflichsten mit
„Du bist so knallhart“ übersetzen ließe.
Die chinesische Musikszene nach Mao
wurde in den 1980er und 1990er Jahren
erst von Männern dominiert und versank
dann in einer Flut niedlicher Boybands
und nichtssagender Girlbands. Jetzt aber
lassen Sängerinnen und rein weibliche
Bands aufhorchen. Beobachter der Musik-
szene Chinas prognostizieren, dass sich
2024 weitere Musikerinnen nach vorne
spielen werden.
Wenig überraschend schreiben sie
Songs über weibliches Empowerment und
das Brechen von Stereotypen. „Ich könnte
schön sein, wenn ich mich ändere“, sang
Feng kürzlich bei einer Varieté-Show:
„Aber scheiß drauf, ich will mich nicht
ändern.“ The Hormones, eine rein weib-
liche Band aus der Stadt Chengdu, sagte
in einem Interview: „Wir müssen uns
Gehör verschaffen. Je mehr Frauen das
machen, desto eher wird die Ablehnung
von Frauenbands verschwinden.“
Aber so wie alle anderen brauchen auch
Musikerinnen das Ohr der Politik. Mit dem
harten Durchgreifen von Präsident Xi Jin-
ping gegenüber der Zivilgesellschaft ist die
Zensur stärker geworden. Sänger werden
mitunter gebeten, Songs und Ansagen vor
Auftritten genehmigen lassen. Frauen
stehen hier besonders im Rampenlicht.
2015 wurde eine feministische Bewegung
niedergeschlagen, die der Kommunistischen
Partei Frauenfeindlichkeit vorgeworfen
hatte. Seitdem blicken Chinas Behörden
mit Misstrauen auf Frauengruppen. In der
Musik ist noch etwas Spielraum gestattet.
Doch knallharte Rockstars bewegen sich
auf einem schmalen Grat. A
130 Die Welt in 2024

Grafik im Detail
Demokratie bedeutet mehr als Wahlen

2024 ist das größte Wahljahr der Geschichte, aber die Demokratien der Welt sind von sehr unterschiedlicher Qualität

Länder mit einer Wahl im Jahr 2024, nach Qualität der Demokratie sortiert Großbritannien Ein Sieg der Labour-
USA, 5. November Die Innen-
Autoritäre Hybrid- Demokratien Wahlen nicht völlig politik wird wohl stark polarisierend Partei könnte die Konservativen ins
Regime regime Unvollständig Vollständig frei und gerecht bleiben. Es ist aber für die Außenpolitik Wanken bringen, würde aber auch die
sehr wichtig, wer gewinnt. Spaltung der Partei offenlegen.
1 2 3 4 5 6 7 8+

Mexiko, Juli Es gilt als so gut Südafrika Die ANC könnte die Brasilien**
wie sicher, dass Morena als Mehrheit verfehlen – ein politisches 218 Mio.
Regierungspartei wiedergewählt Erdbeben, das Präsident Cyril USA
wird. Mexiko wird wohl zum ersten Ramaphosa schwächen würde. 342 Mio.
Mal eine Präsidentin haben. Süd- Groß-
Indonesien afrika Italien*
britannien
280 Mio. 59 Mio.
68 Mio.
Türkei** Ukraine Spanien*
86 Mio. 47 Mio. Deutschland*
84,5 Mio.
Südkorea
NK Mali Mexiko 52 Mio.
Russland 129 Mio. Taiwan
Tschad 144 Mio. Ghana
Pakistan 35 Mio.
245 Mio.
Algerien Indien Frankreich*
Bangladesch 1,4 Mrd. 65 Mio.
175 Mio.

Pakistan, Februar Die zunehmend

unbeliebte Pakistanische Muslimliga
Indien, April–Mai Bei den Wahlen
(Nawaz) wird wahrscheinlich mithil-
geht es darum, wer zukünftig über
fe des Militärs an der Macht bleiben.
eine 1,4 Milliarden Menschen regiert. *Europäische Parlamentswahlen
Die BJP von Narenda Modi strebt eine ** Kommunalwahlen
dritte Amtszeit in Folge an.

4,17 MRD.
JOAN HOEYRedakteurin Gesellschaft sollten in einem stattfinden. Davon sind 27 EU-
EIU Democracy Index wettbewerbsfähigen Parteien- Mitgliedstaaten.
system vertreten sein. Andern- Acht der zehn bevölkerungs-

I m Jahr 2024 wählt mehr als

die Hälfte der 8,1 Milliar-
den Menschen auf der Welt
falls ist Demokratie eine Farce.
Autoritäre Staaten veranstal-
ten seit Jahrzehnten Wahlen,
reichsten Nationen – Amerika,
Bangladesch, Brasilien, Indien,
Indonesien, Mexiko, Pakistan

und von 1950 – 2023 nur für Länder mit mehr als 100 Millionen Einwohnern
neue Regierungen, Präsiden- doch die Machthaber ändern Menschen leben in Ländern, in denen und Russland – halten eben-
* Einschließlich landesweiter Kommunal- oder Regionalwahlen in 2024,
ten, Gouverneure und Kom- sich nicht, während in vielen 2024 gewählt wird - das entspricht falls 2024 Wahlen ab. In der
munalvertreter. Es wird das demokratischen Ländern die 51 Prozent der Weltbevölkerung Hälfte dieser Länder sind diese
bedeutendste Jahr seit der Ein- Regierungen zwar wechseln, weder frei noch fair, und viele
führung des Allgemeinen Wahl- aber nicht die Wünsche ihrer demokratische Grundvoraus-
rechts. Nach unseren Berech- Wähler berücksichtigen. Wenn 4 Mrd. setzungen wie die Rede- und
nungen werden in 76 Ländern das politische System nicht Versammlungsfreiheit sind
in irgendeiner Form nationale mehr funktioniert, wie es in nicht erfüllt. In Staaten wie
3
Wahlen abgehalten. vielen älteren Demokratien der Bangladesch, Pakistan und
Aber Quantität ist nicht Fall ist, verlieren die Menschen Russland, in denen die Oppo-
gleich Qualität. Wahlen sind für womöglich das Vertrauen. 2 sition von der herrschenden
die Demokratie notwendig, aber Laut dem jährlichen Demo- Partei unterdrückt wird, ist ein
nicht ausreichend. Wahlen sor- kratie-Index der EIU, einer 1
Regierungswechsel unwahr-
gen dafür, dass die Menschen Schwesterorganisation von scheinlich. Amerika, Indien
bestimmen können, wer sie „The Economist“, werden nur und Indonesien, die als „fehler-
regiert. Dazu müssen die Ent- in 43 der 76 Länder, die 2024 0 hafte Demokratien“ eingestuft
scheidungen frei und fair getrof- eine neue Regierung bestim- 1900 50 2000 24 werden, lassen die Möglichkeit
fen werden, und alle Teile der men, freie und faire Wahlen Quellen* : EIU; V-Dem; UN eines Wandels zu. A
Dieser Text
zeigt evtl. Pro-
bleme beim
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keine Alternative.“

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