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RAINER WINTER. LOTHAR MIKOS (HG.)


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DIE FABRIKATION DES POPULÄREN
DER JOHN FISKE-READER

Aus dem Englischen von Thomas Hartl

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[transcript] CULTURAL STUDIES
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VORWORT

Kritik und Engagement.


John Fiske und die Tradition der Cultural Studies
Rainer Winter 1 7

DER JOHN FIIKE-READER

Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen 1 17


Bardisches Fernsehen 1 69
Fernsehen: Polysemie und Popularität 1 8S
Die populäre Ökonomie 1 111
Cultural Studies und Alltagskultur 1 139
Für eine k_ulturelle Interpretation:
Eine Untersuchung zur Kultur der Obdachlosigkeit 1 179
Körper des Wissens 1 213
O.J. Simpson: »The Juice ls Loose« 1 247
Hybride Energie: Populärkultur in einer
multikulturellen, postfordistischen Welt 1 28S
Die Überwachung der Stadt: Weißsein, der schwarze
Mann und demokratischer Totalitarismus 1 309
Literatur 1 339
Die deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Quellennachweise 1 3S 1
Die Fabrikation des Populären : der John Fiske-Reader / John Fiskes Schriften 1 353
Rainer Winter; Lothar Mikos (Hg.). Aus dem Engl.
von Thomas Hartl. - Bielefeld : Transcript, 2001
(Cultural studies ; r) NACHWORT
ISBN 3-933127-65-3
Fernsehen, Populärkultur und-aktive Konsumenten.
© 2001 transcript Verlag, Bielefeld Die Bedeutung John Fiskes für die Rezeptionstheorie
Übersetzung: Thomas Hartl in Deutschland
Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lothar Mikos 1 361
Satz: digitron GmbH, Bielefeld
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
ISBN 3-933187-65-3
/\A 1 1
16 J Vorwort

H. Hörning/Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultu­


ral Studies als Herausforderung, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S.
43-83.
Grossberg, Lawrence (2000): What's going an? Cultural ·studies und
Popularkultur, Wien: Turia t Kant.
Grossberg, Lawrence/Nelson, Cary/Treichler, Paula (Hg.) (1992):
Cultural Studies, New York, London: Routledge. �
Hall, Stuart (1981): »Notes on Deconstructing >the Popular«<. In: Ralph
Samuel (Hg.), People's History and Socialist Theory, London:
Routledge & Kegan, S. 227-240. Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen
Hall, Stuart (1999): »Die zwei Paradigmen der Cultural Studies«. In:
Karl H. Hörning/Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen.
Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt/Main: Suhrkamp,
s. 13-42. Das Wort »Kultur« hat im Begriff »Cultural Studies« weder eine ästhe­
Kögler, Hans Herbert (1994): Michel Foucault, Stuttgart, Weimar: tische noch eine humanistische Ausrichtung, sondern vielmehr eine
Metzler. politische. Unter »Kultur« werden hier nicht die ästhetischen I4eale
Laclau, Ernest/Mouffe, Chantal (1991): Hegemonie und'radikale Demo­ von Form und Schönheit verstanden, die sich in der großen Kunst
kratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus.Wien: Passagen. finden, oder - humanistischer gesprochen - die Stimme des »mensch­
Swidler, Ann (1998): »Culture and Social Action«. In: Philip Smith lichen Geistes«, die sich über die Grenzen von Zeit und Nation hin­
(Hg.), The New American Cultural Sociology, Cambridge: Cambridge wegsetzt, um zu einem hypothetisch universalen Menschen zu spre­
University Press, S. 171-187. chen (das Geschlecht ist hier nicht zufällig, denn Frauen spielen in
Williams, Raymond (1961): The Lang Revolution, London: Chatto & dieser Auffassung von Kultur nur eine unbedeutende oder überhaupt
Windus. keine Rolle). Kultur meint also nicht die ästhetischen Produkte des
Willis, Paul (1979): Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiter­ menschlichen Geistes, die als Bollwerk gegen die Flut des niedrigen
schule, Frankfurt/Main: Syndikat. industriellen Materialismus und der Vulgarität dienen, sondern viel­
Winter, Rainer (2001): Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als mehr eine Lebensweise in einer industriellen Gesellschaft, die sämtli­
Kritik der Macht, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. che Bedeutungen dieser sozialen Erfahrung umfasst.
Cultural Studies beschäftigen sich mit der Erzeugung und Zirku­
,. lation von Bedeutungen in industriellen Gesellschaften. (Das Studium
der Kultur in nichtindustriellen Gesellschaften verlangt wohl nach
einer anderen theoretischen Grundlage, obgleich sich die Arbeit von
Claude Levi-Strauss für ein Studium der Kultur beider Arten von Ge­
sellschaft als wertvoll erwiesen hat.) Jene Tradition, die sich in den
197oer Jahren in Großbritannien entwickelte, konzentrierte sich je­
doch notwendigerweise auf die Kultur in industriellen Gesellschaften.
In diesem Artikel werde ich hauptsächlich die am Centre for Contem­
porary Cultural Studies (CCCS) an der Universität von Birmingham
unter Stuart Hall geleistete Arbeit aufgreifen und mich hierbei an der
einen oder anderen Stelle auf die Arbeiten von Raymond Williams
18 [ Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen l__r_2

sowie auf Artikel aus der Zeitschrift Screen beziehen. Die am CCCS nen, und sozialer Kampf (oder traditionell marxistisch gesprochen:
entwickelten Cultural Studies sind in der Tradition von Louis Althus­ Klassenkampf) ist die Anfechtung dieser Macht durch die untergeord­
ser und Antonio Gramsci im Wesentlichen marxistisch, obgleich die­ neten Gruppen. Auf dem Gebiet der Kultur nimmt diese Anfechtung
ser Marxismus einmal eine strukturalistische, dann wieder eine eth­ die Form des Kampfes um Bedeutung an, in dem die dominanten Klas­
nografische Akzentuierung erf�rt. sen versuchen, die ihren Interessen dienenden Bedeutungen in den
Einige grundsätzliche marxistische Annahmen haben alle briti­ »Commonsense« der gesamten Gesellschaft »zu naturalisieren«, wo­
schen Arbeiten der Cultural Studies gemein. Mimi White (1992)��r_ hingegen untergeordnete Klassen diesem Prozess auf verschiedene
merkt, dass diese von der Überzeugung ausgehen, dass Bedeutungen Weise und zu einem unterschiedlichen Grad widerstehen und Bedeu­
wie auch deren Erzeugung (was zusammengenommen Kultur konsti­ tungen zu schaffen versuchen, die ihren eigenen Interessen dienen.
tuiert) untrennbar mit der sozialen Struktur verbunden sind und sich Bestimmte feministische Arbeiten sind ein gutes Beispiel für diesen
nur über diese Struktur und ihre Geschichte erklären lassen. Entspre­ kulturellen Kampf und diese Anfechtung. Angela McRobbie (1986)
chend dazu wird die soziale Struktur von den Bedeutungen aufrecht­ und Lisa Lewis (1990) zeigen beispielsweise, wie es jungen Mädchen
erhalten, die die Kultur produziert, wobei aber auch andere Kräfte eine gelingt, die patriarchale Ideologie anzufechten, die strukturell in Filme
Rolle spielen. Oder wie das Stuart Hall (1984) ausgedrückt hat: »Ein wie Flashdance oder in die Popstars Madonna und Cindy Lauper ein­
Set an sozialen Relationen benötigt offenbar Bedeutungen und grund­ geschrieben ist, und davon weibliche Lesarten zu produzieren.
legende Strukturen, die sie stützen und aufrechterhalten« (ro). Bei Der Versuch der dominanten Klassen, ihre Bedeutungen zu �atu­
diesen Bedeutungen handelt es sich nicht nur um Bedeutungen der ralisieren, resultiert selten, wenn überhaupt, aus der bewussten I:nten­
sozialen Erfahrung, sondern auch um Bedeutungen des Selbst, das tion von einzelnen Angehörigen dieser Klassen (obgleich ein Wider­
heißt, um Konstruktionen von sozialer Identität, die es den Menschen' stand gegen sie häufig, wenn auch nicht immer, bewusst und vorsätz­
in industriellen kapitalistischen Gesellschaften ermöglichen, sich lich ist). Vielmehr muss dieser als das Werk einer Ideologie verstan­
selbst und die sozialen Relationen, die sie unterhalten, zu begreifen. den werden, die in die kulturellen und sozialen Praktiken einer Klasse
Bedeutungen der Erfahrung und Bedeutungen des Subjekts (oder des und somit auch in die Angehörigen dieser Klasse eingeschrieben ist.
Selbst), das diese Erfahrung macht, gehören schließlich zum selben Dies führt uns zu einer weiteren grundsätzlichen Annahme: Kultur ist
kulturellen Prozess. ideologisch.
Diesen Arbeiten liegt darüber hinaus die Annahme zugrunde, Die Tradition der Cultural Studies sieht Ideologie nicht in der
dass es sich bei kapitalistischen Gesellschaften um geteilte Gesellschaf­ verbreiteten marxistischen Bedeutung eines »falschen Bewusstseins«,
ten handelt. Als die Hauptachse dieser Teilung betrachtete man ur­ denn dies birgt die Annahme, dass ein wahres Bewusstsein nicht nur
sprünglich die Klasse, obwohl Geschlecht und »Rasse_,<' heute als möglich ist, sondern sich auch tatsächlich einstellen wird, wenn die
ebenso bedeutsame Produzenten von sozialer Differenz fungieren. Geschichte eine proletarische Gesellschaft hervorbringt. Diese Art von
Weitere Achsen der Teilung sind Nation, Altersgruppe, Religion, Be­ Idealismus erscheint heute unangebracht, denn das letzte Jahrhundert
ruf, Ausbildung, politische Loyalität und so weiter. Gesellschaft ist also hat, wie es scheint, nicht die unausweichliche Selbstzerstörung des
kein organisches Ganzes, sondern ein komplexes Netzwerk von Grup­ Kapitalismus demonstriert, sondern seine (von Marx) nicht vorherge­
pen, die jeweils unterschiedliche Interessen haben und über die Macht­ sehene Fähigkeit, sich zu reproduzieren und die Kräfte des Wider­
beziehung, die sie zu den dominanten Klassen unterhalten:, aufein­ standes und der Opposition in sich aufzunehmen. Die Geschichte
ander bezogen sind. Soziale Relationen werden über soziale Macht zieht die Möglichkeit einer Gesellschaft ohne Ideologie in Zweifel, in
begriffen, über eine Struktur des Beherrschens und Unterordnens, die der die Menschen ein wahres Bewusstsein ihrer sozialen Relationen
niemals statisch ist, sondern immer ein Ort der Auseinandersetzung haben.
und des Kampfes. Soziale Macht ist die Macht, das eigene Klassen­ Der Strukturalismus - ein weiterer wichtiger Einflussfaktor für
oder Gruppeninteresse durch die gesamte soziale Struktur zu bedie- die britischen Cultural Studies - negiert ebenso die Möglichkeit eines
20 ! Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen 1 21

wahren Bewusstseins, denn er behauptet, dass sich Wirklichkeit nur von Klassen ausgerichtet, werden jedoch von anderen Klassen als
vermittels Sprache oder anderer kultureller Bedeutungssysteme be­ natürlich akzeptiert, selbst wenn jene Ideologie, die dadurch weiterge­
greifen lässt. Folglich ist die Vorstellung einer objektiven, empirischen tragen wird, dass man sein Leben gemäß dieser Normen führt, den
»Wahrheit« unhaltbar. Wahrheit kann nur verstanden werden, wenn Interessen dieser anderen Klassen direkt entgegensteht.
man berücksichtigt, wie sie gemacht ist, für wen und wann sie als Soziale Normen werden durch die alltägliche Arbeitsweise der

»wahr« gilt. Bewusstsein ist nie ein Produkt der Wahrheit oder der ideologischen Staatsapparate realisiert. Jede einzelne dieser Institutio­
Wirklichkeit, sondern vielmehr der Kultur, der Gesellschaft �­ nen ist laut Althusser »relativ autonom«, und es gibt keine sichtbaren
Geschichte. Verbindun gen zwischen einer bestimmten Institution und einer
Althusser und Gramsci waren jene Theoretiker, die Methoden beliebigen anderen - das Rechtssystem ist beispielsweise weder ein­
offerierten, um nicht nur den Strukturalismus (und, nebenbei be­ deutig mit dem Schulsystem verbunden noch mit den Medien -, und
merkt, den Freudianismus), sondern auch die Geschichte des Kapita­ doch verrichten sie alle eine ähnliche ideologische Arbeit. Sie sind
lismus im 20. Jahrhundert mit dem Marxismus zu vermitteln. Für allesamt patriarchal, haben mit der Anhäufung und dem Besitz von
Althusser (1977) stellt Ideologie kein statisches Set an Vorstellungen Vermögen und Besitztümern zu tun und billigen den Individualismus
dar, das den untergeordneten Klassen von den dominanten Klassen und den Wettbewerb zwischen Individuen. Das wichtigste Merkmal
aufgezwungen wird, sondern vielmehr einen dynamischen Prozess, von ISAs ist jedoch, dass sie sich allesamt als sozial neutral geben,
der in der Praxis ständig reproduziert und rekonstituiert wird - das dass sie keine bestimmte Klasse einer anderen vorziehen. Jede pr!sen­
heißt in der Art und Weise, wie die Menschen denken, handeln und tiert sich als prinzipientreue Institutionalisierung von Gleichheit� Ge­
sich selbst und ihre Beziehung zur Gesellschaft verstehen. Er lehnt die setz, Medien und Bildungswesen behaupten alle lautstark und oft­
alte Vorstellung ab, dass die ökonomische Basis einer Gesellschaft den mals, jedes Individuum gleich und gerecht zu behandeln. Die Tatsa­
gesamten kulturellen Überbau bestimmt. An die Stelle dieses Basis­ che, dass sich die Normen, die der Definition von Gleichheit und
überbau-Modells setzt er seine Theorie der Überdetermination, in der Gerechtigkeit zugrunde liegen, von den Interessen der weißen männ­
nicht nur der Überbau die Basis beeinflussen kann, sondern die auch lichen Mittelschichten herleiten, wird von diesen Ansprüchen auf
ein Modell der Relation zwischen Ideologie und Kultur hervorbringt, Prinzipientreue mehr oder weniger adäquat verschleiert, obwohl Fe­
das nicJit einzig und allein von ökonomischen Relationen bestimmt ministinnen wie auch diejenigen, die sich für die Eintracht zwischen
wird. Im Mittelpunkt dieser Theorie steht die Vorstellung von den »Rassen« und Klassen einsetzen, behaupten mögen, dass sich diese
ideologischen Staatsapparaten (ISAs), wonmter Althusser soziale Verschleierung relativ einfach lösen lässt.
Institutionen wie beispielsweise die Familie, das Bildungssystem, die Althussers Theorie der Überdetermination erklärt diese Kongru­
Sprache, die Medien, das politische System und so weiter versteht. enz zwischen den »relativ autonomen« Institutionen, indem sie ihren
Diese Institutionen produzieren in den Menschen die Neigung, sich Blick nicht auf ihre Wurzeln in einer gemeinsamen, bestimmenden
in sozi_al annehmbarer Weise zu verhalten und zu denken (im Gegen­ ökonomischen Basis richtet, sondern auf ein überdeterminierendes
satz zu repressiven Staatsapparaten wie beispielsweise der Polizei oder Netzwerk von ideologischen Beziehungen, die diese zueinander un­
dem Gesetz, die die Menschen dazu zwingen, sich entsprechend der terhalten. Die Institutionen erscheinen allein auf der offiziellen Ebene
sozialen Normen zu verhalten). Die sozialen Normen (oder das, was einer deklarierten Politik als autonom, und doch ist der Glaube an
sozial annehmbar ist) sind natürlich weder neutral noch objektiv; sie diese »Autonomie« für ihre ideologische Arbeit essenziell. Auf der
haben sich im Interesse der sozial Mächtigen entwickelt und arbeiten undeklarierten Ebene der Ideologie ist jede Institution jedoch auf alle
für die Aufrechterhaltung ihrer Orte der Macht, indem sie diese für übrigen Institutionen durch ein stillschweigendes Netz von ideologi­
die Macht in die dem Commonsense entsprechenden - und aJso ein­ schen Verbindungen bezogen, sodass die Arbeitsweise jeder einzelnen
zigen - sozialen Positionen naturalisieren. Soziale Normen sind ideo­ dieser Institutionen durch das komplexe, unsichtbare Netzwerk ge­
logisch auf den Vorteil einer bestimmten Klasse oder einer Gruppe genseitiger Beziehungen zu allen anderen Institutionen ȟberdeter-
22 1 Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen �

miniert« ist. So kann beispielsweise das Bildungssystem keine Ge­ ist mehr in psychologischen, das ideologische Subjekt von Althusser
schichte über die Natur des Individuums erzählen, die sich von jenen hingegen in historischen und sozialen Prozessen verwurzelt.
Geschichten unterscheidet, die vom Rechtssystem, vom politischen Beide Theorien betonen jedoch die Rolle, die die Medien und die
System, von der Familie und so weiter erzählt werden. Sprache bei dieser ständigen Konstruktion des Subjekts spielen, wo­
Ideologie ist also kein stati�ches Set an Vorstellungen, vermittels runter wir die ständige Reproduktion der Ideologie in den Menschen
derer wir die Welt sehen, sondern eine dynamische soziale Praxis, die verstehen. Althusser verwendet die Wörter »Interpellation« und »An­
sich ständig im Prozess befindet und sich selbst fortwährend i� rufung«, um diese Arbeit der Medien zu beschreiben. Diese Begriffe
normalen Arbeitsweise dieser Apparate reproduziert. Sie funktioniert gehen auf die Vorstellung zurück, dass jede Sprache - unabhängig
aber ebenso auf der Mikroebene des Individuums. Um dies zu verste­ davon, ob sie nun verbal, visuell, taktil etc. ist - einen Teil der sozialen
hen, müssen wir den Begriff des Individuums mit jenem des Subjekts Relationen bildet, und dass wir, wenn wir mit jemandem kommuni­
ersetzen. Das Individuum wird von der Natur geschaffen, das Subjekt zieren, soziale Beziehungen reproduzieren.
jedoch von der Kultur. Theorien über das Individuum konzentrieren Wollen wir mit Menschen kommunizieren, müssen wir sie zu­
sich auf die Unterschiede, die zwischen den Menschen bestehen, und nächst »anrufen«, beinahe so, als würden wir ein Taxi herbeirufen.
erklären diese Unterschiede für natürlich. Theorien über das Subjekt Um antworten zu können, müssen sie erkennen, dass wir mit ihnen
konzentrieren sich hingegen auf die gemeinsamen Erfahrungen der sprechen und nicht mit jemand anderem. Dieses Erkennen geht auf
Menschen in einer Gesellschaft und sie vermögen auch auf produk­ sprachlich vermittelte Zeichen darüber zurück, wie wir anderelin­
tivste Weise zu erklären, wer wir sind (oder wer wir zu sein glauben). schätzen. Wir werden ein Kind anders »anrufen« als einen Erwachse­
Althusser ist der Meinung, dass wir alle von den ISAs zu Subjekten­ nen, einen Mann anders als eine Frau, jemanden von geringerem
in-der-Ideologie konstituiert werden, dass also die ideologischen Nor­ Status als dem unsrigen anders als jemanden von höherer sozialer
men, die in den Praktiken der ISAs naturalisiert sind, nicht nur den Position. Durch die Reaktion auf unsere Anrufung erkennen die
Sinn von Welt für uns bestimmen, sondern ebenso, wie wir uns Adressaten die soziale Position, die unsere Sprache konstruiert hat,
selbst, unsere Identität und unsere Beziehungen zu anderen wie auch und reagieren sie kooperativ, dann nehmen sie dieselbe Position ein.
zur Gesellschaft insgesamt verstehen. Folglich werden wir alle als Anrufung meint jenen Prozess, durch den die Sprache für den Adres­
Subjekte in der Ideologie konstituiert und dieser unterworfen. Das saten eine soziale Position bestimmt und konstruiert. Interpellation
Subjekt ist also eine soziale Konstruktion, und kein natürliches. Eine meint den weit reichenderen Prozess, durch den die Sprache bei
biologisch gesehen weibliche Person kann eine männliche Subjektivi­ einem Kommunikationsakt für beide Parteien soziale Relationen
tät haben (das heißt, sie erklärt sich die Welt, ihr Selbst und ihren konstruiert und diese somit auf der umfassenderen Karte allgemeiner
Platz in dieser Welt vermittels der patriarchalen Ideolo�e). Genauso sozialer Relationen verortet.
gut kann ein Schwarzerl eine weiße und jemand aus den Arbeiter­ Die Anrufung ist zu Beginn eines »Gesprächs« offenbar entschei­
klassen eine mittelständische Subjektivität haben. dend, obgleich sie ihre ideologische Arbeit während des gesamten
Die ideologische Theorie des Subjekts unterscheidet sich ihrem Gesprächs verrichtet. Hier sind beispielsweise die einführenden Wor­
Akzent nach (jedoch nicht fundamental) von jener Theorie der Psy­ te des Moderators und des Reporters einer US-amerikanischen Nach­
choanalyse dadurch, dass sie soziale und historische Umstände stärker richtensendung vom April 1991:
akzentuiert, insbesondere jene der Klasse. Althusser griff auf die freud­
sche Theorie zurück, um seine Vorstellung des Subjekts zu entwi­ »Moderator: Heute Abend wächst die Besorgnis um die wirtschaftlichen Auswirkungen,
ckeln. Ann Kaplan (1992) vermerkt, dass sich auch Feministinnen der die ein landesweiter Eisenbahnstreik haben könnte, der für heute Mitternacht angesetzt
psychoanalytischen Theorie - allerdings auf eine differenziertere Art ist. Gewerkschaften und Eisenbahnen haben sich festgefahren. Wyatt Andrews bringt uns
und Weise - bedient haben, um das geschlechtlich bestimmte (gender­ Neuigkeiten, was Präsident Bush und der Kongress· in dieser Sache unternehmen könnten.
ed) Subjekt zu theoretisieren. Dieses geschlechtlich bestimmte Subjekt Reporter: Morgen früh werden wahrscheinlich 230.000 Bahnarbeiter nicht zur Arbeit
24 1 Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen J 25.

gehen, und der Streik bedroht somit Millionen Amerikaner. Genauso wie für tausende Gewerkschaften bemängeln, dass die Eisenbahnen die Löhne eingefroren haben und den
Pendler ab heute Mitternacht wohl kein Zug mehr den Bahnhof verlassen wird.« Verhandlungen drei Jahre lang ausgewichen waren. Die Eisenbahnen beschuldigen die Ge­
werkschaften, sich vor Armeen von Arbeitern zu stellen, di.e eigentlich nichts tun.
Das Wort »Streik« ruft uns als Gegner der Gewerkschaften an, denn Bahnbeam ter: Der Streit mit unserer Gewerkschaft dreht sich um die Frage, wer arbei­
»streiken« wird als eine negati�e Handlung seitens der Gewerkschaf­ tet und wer zusieht. Also um die Frage, ob es da nicht zu viele Leute im Führerhaus gibt, die ein­
ten der Arbeiter konstruiert, die die Nation »bedroht«. Indem den fach nichts zu tun haben.«
Gewerkschaften die Verantwortung zugeschrieben wird, vers�­
das Wort die Tatsache, dass bei dieser Auseinandersetzung das Ma­ Das nationale »Wir« wird als leistungsfähiger Produzent auf der per­
nagement eine gewisse, wenn nicht gar eine größere Rolle als die sönlichen Ebene von den Fahrgästen und auf der industriellen Ebene
Gewerkschaften spielt. Der Bericht setzt die Gewerkschaften nicht in vom Reporter konstruiert. Die mehrfache Verwendung der »Herz«­
Opposition zum Management, sondern zu »den Eisenbahnen«, und Metapher macht aus »Amerika« nicht nur einen lebendigen Körper
betrachtet die Gewerkschaften somit nicht als einen Teil dieser. Durch (so wie jener, den »wir« bewohnen), sondern konstruiert auch die
diesen Ausschluss der Gewerkschaften aus den Eisenbahnen vermag Gewerkschaften als eine Krankheit mit potenziell tödlichem Ausgang,
das nicht erwähnte Management mit letzteren gleichbedeutend zu wenn nicht gar als einen mit einem Stilett hantierenden Mörder! Der
werden, und die Ideologie setzt ihre Arbeit fort, indem sie die Eisen­ Eisenbahnbeamte setzt ständig »die Eisenbahnen« (worunter er »das
bahnen nicht als eine Industrie, sondern als staatliche Ressource kon­ Management« versteht) mit dem nationalen Subjekt des leistungsfä-
-
struiert, und sie somit als Metonym für »Nation« und in weiterer higen Produzenten gleich.
Folge auch für »uns« gebraucht. Erkennen wir uns im nationalen Bislang ist die Auseinandersetzung allein hinsichtlich des schlech­
»Wir«, das hier interpelliert wird, so nehmen wir an der Arbeit der ten Einflusses der Gewerkschaften auf dieses nationale »Uns« be­
Ideologie teil, indem wir die gegen die Gewerkschaften gerichtete trachtet worden, und erst im nächsten Teil der Nachrichtensendung
Subjektposition annehmen, die uns angeboten wird. Dieses Subjekt­ erfahren wir andeutungsweise vom Reporter, dass es Ursachen für
als-Ideologie wird im Laufe des Berichts entwickelt: diese Auseinandersetzung gibt, die sie nicht nur als gerechtfertigt
erscheinen lässt, sondern auch das Management in sie verwickelt.
»Fahrgast A: 'Ne Menge Benzin, Kilometer, Zeit. Die Highways werden verstopft sein. Diese Andeutungen bleiben jedoch vage, und so können wir bei­
Nur leider kann man da nicht viel dagegen tun. spielsweise auch nicht beurteilen, ob die Lohnforderungen angemes­
Fahrgast B: Ich werde zu Hause bleiben. Ich habe daheim ein Büro, und ich werde sen sind. Die verallgemeinerten Ausdrücke - »die Löhne, die Gesund­
einfach da arbeiten. heitsfürsorge und die Anzahl der Arbeiter pro Zug« - kontrastieren
Reporter: Aber die Umstände für die Pendler sind noch nichts im Vergleich zu den Aus­ mit den konkreten Gegebenheiten von 230.000 nicht arbeitenden
wirkungen für die Güterzüge. In der Industrie stehen vielleicht bis zu einer halben Million Gewerkschaftlern, von Millionen von Amerikanern, tausenden von
Jobs auf dem Spiel. Egal ob Autos im Herzen des Landes oder Chemikalien in Kansas City: Pendlern und bis zu einer halben Million Jobs, die auf dem Spiel ste­
Die Eisenbahnen transportieren noch immer mehr Fracht als LKWs oder auch Flugzeuge, hen. Jene ideologische Praxis wäre wohl zu hinterfragen, die es den
das heißt, dass der Streik das Herz der amerikanischen Industrie inmitten dieser Rezession Gewerkschaften nicht erlaubt, »live« für sich zu sprechen, sondern ihr
bedrohen würde. Ansinnen in den Mund des Reporter-Management-»Uns« legt. Ge­
Bahnbeamter: Wenn wir diesen Streik nicht schnell schlichten können, werden noch werkschaftler würden beispielsweise ihre Verhandlungsgegner nicht
mehr Leute ihre Stelle verlieren, noch mehr Produkte nicht verschickt werden, und die als »die Eisenbahnen« bezeichnen und ihre Argumente auch nicht als
Genesung der heimischen Wirtschaft wird einen gewaltigen Rückschlag erleiden. bloße »Beschwerden« kategorisieren, während dem Management der
Repor ter: Die Verhandlungen über die Löhne, die Gesundheitsfürsorge und die Anzahl der gewichtigere Status von »Beschuldigungen« zugeschrieben wird.
Arbeiter pro Zug scheinen derzeit am Nullpunkt angelangt zu sein. Selbst noch heute spät­ Die Nachrichtensendung endet, indem sie jene ideologische Pra­
nachmittags befanden sich beide Seiten auf einem gänzlich unterschiedlichem Kurs. Die xis fortschreibt, die uns mittlerweile so normal und bekannt erscheint:
26 [ Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen l 2_7_

»Reporter: Was genau wird morgen früh geschehen? Wenn Sie Pendler sind, dann sollten des Widerstandes zu tun. Folglich kämpft sie nicht nur ständig um die
Sie sich vor Ort erkundigen. Gewisse Amtrak- und Pendlerzüge werden verkehren, und Ausweitung ihrer Macht, sondern auch um die Absicherung jenes
einige Gewerkschaften behaupten, nur Güterzüge, nicht aber Personenzüge bestreiken zu Territoriums, das sie bereits kolonisiert hat.
wollen. In Washington sollten Sie den Capitol Hili im Auge behalten. Morgen wird Präsi­ Diese Definition von Kultur als ständiger Ort des Kampfes zwi­
dent Bush den Kongress wahrscheinlich zu einer Lösung drängen - eine Maßnahme, so schen den Mächtigen und den Machtlosen liegt den interessantesten
meinen die G.ewerkschaften, die den Eisenbahnen direkt in die Hände spielt. Die Gewerk- der derzeitigen Arbeiten im Rahmen der Cultural Studies zugrunde.
schaften haben stets davor gewarnt, dass die Eisenbahnen die Verhandlungen vers�_Jn Frühere Arbeiten in dieser Tradition untersuchten tendenziell, wie
und den heutigen Streik provozieren würden, und zwar mit der bequemen Überzeugung, sich die dominante Ideologie unmerklich und unvermeidlich in den
dass ihnen der Kongress schon aus der Patsche helfen wird.« Formen des populären Fernsehens reproduzierte (vgl. Hall/Connell/
Curti 1976; Heath/Skirrow 1977_; Fiske 1986). Halls (1999) einfluss­
Mimi White (1992) zeigt, dass diese Sicht der Ideologie als laufender reicher, in einer ersten Fassung bereits 1973 erschienener Artikel
Prozess, der die Leute als Subjekte in einer Ideologie konstruiert, die »Kodieren/Dekodieren« wird oft als Wendepunkt der britischen Cul­
stets den Interessen der dominanten Klassen dient, in Gramscis Theo­ tural Studies betrachtet, denn hier wird erstmals von der Vorstellung
rie der Hegemonie eine starke theoretische Stütze fand. Ursprünglich ausgegangen, dass Fernsehsendungen nicht nur eine Bedeutung
bezog sich »Hegemonie« auf die Art und Weise, wie es einer be­ haben, sondern dass es sich dabei um relativ offene Texte handelt, die
stimmten Nation gelang, anstatt einer militärischen oder auf Nötigung von verschiedenen Leuten unterschiedlich gelesen werden kön11en.
beruhenden Macht eine ideologische und soziale Macht über eine Hall deutet außerdem an, dass es eine notwendige Entsprech�g
andere Nation auszuüben. Kulturtheoretiker beschreiben mit diesem zwischen der sozialen Lage der Leute und jenen Bedeutungen gibt, die
Begriff jedoch gerne jenen Prozess, durch den es einer dominanten diese während einer Fernsehsendung generieren. Er postuliert somit
Klasse gelingt, die bereitwillige Zustimmung der untergeordneten eine mögliche Spannung zwischen der Struktur des Texts, der not­
Klassen zu jenem System zu erlangen, das ihre Unterordnung sicher­ wendigerweise die dominante Ideologie transportiert, und der sozialen
stellt. Diese Zustimmung muss ständig neu gewonnen werden, denn Lage der Zuschauer, die jener Ideologie entgegenstehen kann. Fern­
die materielle soziale Erfahrung der Leute erinnert sie stets an die sehen oder das Lesen von Fernsehtexten gerät also zu einem Prozess
Nachteile der Unterordnung und stellt somit für die dominante Klasse des Aushandelns zwischen dem Zuschauer und dem Text. Das Wort
eine ständige Bedrohung dar. So wie in Althussers Theorie der Ideolo­ Aushandeln ist hier von Bedeutung, denn es impliziert einerseits, dass
gie denotiert Hegemonie keine statische Machtbeziehung, sondern ein Interessenskonflikt besteht, der in irgendeiner Weise gelöst wer­
einen ständigen Prozess des Kampfes, in dem die sozial Mächtigen den muss, und dass andererseits der Leser beim Lesen eines Fernseh­
über die schwereren Geschütze verfügen, diese schweren Geschütze texts Bedeutungen aus dem Text heraus aktiv schafft, nicht jedoch
jedoch nicht notwendigerweise den Sieg herbeiführen - oder dieser bereits konstruierte Bedeutungen passiv rezipiert.
Sieg zumindest nicht unbedingt total sein muss. Tatsächlich betont Um diesen Interessenskonflikt beschreiben zu können, hat Hall
die Theorie der Hegemonie die Vorstellung des ideologischen Kamp­ seine Theorie der »bevorzugten Lesart« entwickelt. Er postuliert drei
fes weit mehr als Althussers ideologische Theorie, die zuweilen zur generelle Lesestrategien, die aus drei hypothetischen (also keinen
Annahme tendiert, dass der Macht der Ideologie und der ISAs da­ konkreten) sozialen Positionen herrühren, die die Leute in Relation
rüber, das Subjekt gemäß den Interessen der dominanten Klasse zu zur dominanten Ideologie einnehmen können. Dabei handelt es sich
formen, beinahe nicht zu widerstehen ist. Hegemonie hingegen pos­ um die dominante, die ausgehandelte und die oppositionelle Position. Die
tuliert einen ständigen Widerspruch zwischen der Ideologie und der dominante Lesart wird von einem Zuschauer erzeugt, der so situiert
sozialen Erfahrung der Untergeordneten, der diese Schnittstelle zum ist, dass er nicht nur die dominante Ideologie übernimmt und akzep­
unausweichlichen Ort des ideologischen Kampfes macht. In der tiert, sondern auch die von dieser Ideologie produzierte Subjektivität.
hegemonialen Theorie hat es die Ideologie ständig mit den Kräften Eine ausgehandelte Lesart hingegen wird von einem Zuschauer/einer
28 J Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen 1 29

Zuschauerin produziert, der/die sich zwar generell der dominanten oder den Commonsense, durch den und in dem sich die dominante
Ideologie fügt, diese aber »lokal« adaptieren muss, damit sie seiner Ideologie naturalisiert. Die dominante Ideologie funktioniert über eine
oder ihrer sozialen Position gerecht wird. Diese Adaptierung kann Reihe von spezifischen, teilweise deckungsgleichen Ideologien -
nun Elemente des Widerstandes enthalten, die sich aus der Wahr­ Männlichkeit, Individualismus, Wettbewerb-, die allesamt »auf natür­
nehmung von Konfliktbereichen zwischen den Konstruktionen der liche Weise« in der allgemeinen (das heißt, der dominanten) Ideologie
dominanten Ideologie und der mehr materiell verankerten Deutung des patriarchalen Kapitalismus aufgehen.
der sozialen Erfahrung seitens des Zuschauers ergeben. Und s� Beim Action-Detektivkrimi handelt es sich um ein männliches
lieh gibt es Lesarten, die von jenen produziert werden, deren soziale Genre, das von männlichen Helden beherrscht wird. Das Männliche
Lage sie in direkte Opposition zur dominanten Ideologie bringt: Diese ist ein Teil der Natur, Männlichkeit hingegen eine kulturelle Restrik­
Lesarten werden oppositionell genannt. tion, die dem Männlichen Bedeutung verleiht, indem sie es der Weib­
Die Theorie der bevorzugten Lesart geht davon aus, dass Fernseh­ lichkeit entgegensetzt. Shere Hite (1982) hat Männer nach ihrer Mei­
sendungen generell ein Set an Bedeutungen präferieren, die auf eine nung befragt, was denn einen Mann zum Mann mache. Ganz oben
Aufrechterhaltung der dominanten Ideologien hinauslaufen. Anderer­ auf der Liste fanden sich Eigenschaften wie Selbstsicherheit, Furchtlo­
seits jedoch lassen sich diese Bedeutungen den Leuten nicht aufzwin­ sigkeit, die Fähigkeit, Kontrolle zu übernehmen, Selbstständigkeit und
gen, sondern werden von diesen gegenüber anderen Bedeutungen Unabhängigkeit, Führerschaft, Zuverlässigkeit und Leistung. Diese
bevorzugt. Leser, die aufgrund ihrer sozialen Lage zu einer Ablehnung Eigenschaften lassen sich zwei Hauptachsen zuordnen: jener �der
aller oder bestimmter Interpretationen der dominanten Ideologie Unabhängigkeit, die die fehlende Notwendigkeit einer Abhängigkeit
neigen, werden diese soziale Ausrichtung -notwendigerweise in ihre von anderen unterstreicht, und jener des Selbstbewusstseins, die sich
Lesart der jeweiligen Fernsehsendung einbringen. in der Fähigkeit ausdrückt, andere zu führen und Ereignisse zu beein­
Diese Aushandlung von Bedeutung lässt sich nicht nur bei be­ flussen, und sich auf direktestem Weg in der vollbrachten Leistung
stimmten Sendungen finden, sondern auch bei Genres wie beispiels­ zeigt. Freudsche Erklärungsmuster beantworten die Frage, wie sich
weise dem Action-Detektivkrimi (seit Jahrzehnten ein fester Bestand­ Männlichkeit in der Kindheit entwickelt, mit der Zurückweisung des
teil des amerikanischen Fernsehens), den ich gerne als muscle drama sexuellen Verlangens des Jungen nach seiner Mutter, da ihn dies in
bezeichne. Zu diesem Genre würde ich solche Renner aus den r97oer Rivalität zu seinem Vater bringt. Der Knabe identifiziert sich folglich
und r98oer Jahren wie Starsky el Hutch, Das A-Team und Magnum mit seinem Vater, um männliche Macht und Autorität zu erlangen.
zählen, aber auch jüngere Varianten des Genres wie Simon el Simon, Der Preis dafür ist jedoch die schuldbehaftete Zurückweisung seiner
Hunter und Jake und McCabe. Einem/Einer dominanten Leser/Leserin Mutter und die daraus resultierende Unterdrückung seiner weiblichen
würde dieses Genre gefallen, da es in ihm/ihr eine Subjektposition Anteile, die männliche Macht und Unabhängigkeit bedrohen. Diese
reproduziert, die sich reibungslos in die dominante Ideologie einfügt, Anteile betreffen im Wesentlichen Erziehung und Intimität. Dass
diese Ideologie als adäquates Deutungsmuster für unser Dasein un­ in den meisten muscle dramas die Hauptrollen nicht mit Frauen be­
terstreicht und die Subjektposition als eine für unsere Weltsicht natür­ setzt sind, ist ein Zeichen für die Unterdrückung und Abwertung von
liche bestätigt. Der typische männliche Held kann buchstäblich als weiblichen Anteilen in patriarchalen Interpretationen von Männlich­
Verkörperung des patriarchalen Kapitalismus angesehen werden. Die keit.
Ideologie funktioniert sowohl über den Verlauf und den Abschluss der Wie alle ideologischen Konstrukte ist auch Männlichkeit ständig
Handlung der jeweiligen wöchentlichen Fortsetzung als auch über bedroht und kann sich niemals auf dem Status quo ausruhen. Einer­
den Bezugsrahmen dieses Narrativs, also jene Elemente der Sendung, seits ergibt sich intern eine Gefahr, weil die Zurückweisung der Mut­
die von Woche zu Woche die gleichen bleiben. Diese sind kein Teil ter (und des dadurch hervorgerufenen Schuldgefühls) sowie die Un­
jenes Konflikts, der in jeder einzelnen Episode gelöst werden muss, terdrückung des Weiblichen ihr nur ein unsicheres Fundament geben,
und bilden somit die grundlegenden, unhinterfragten Annahmen, andererseits bedrohen. sie soziale Kräfte, die vom Aufschwung der
30 1 Der John fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das fernsehen LJ.1
_

Frauenbewegung bis hin zu Arbeitsverhältnissen reichen können, in durch das Weibliche ausschließt. Weibliche Intimität hat die Bezie­
denen jene Unabhängigkeit und Macht, nach der Männlichkeit trach­ hung selbst zum Mittelpunkt und schafft eine Abhängigkeit vom Ge­
tet, vielen Männern vorenthalten wird. Also muss Männlichkeit stän­ genüber, die die männliche Unabhängigkeit bedroht; folglich muss
dig neu errungen werden. Diese Notwendigkeit, Männlichkeit immer eine Frau, die das Interesse eines Helden auf sich zieht, am Ende der
wieder von neuem zu erringen, ist einer wichtigsten Gründe für die Episode abgewiesen werden. Andererseits erlaubt die männliche Bin­
Popularität der häufig im Fernsehen gezeigten männlichen Leistungs- dung eine zwischenmenschliche Abhängigkeit, die auf ein Ziel hin,
fähigkeit. Männlichkeit schafft eine Verbindung zwischen dem �e nicht aber auf eine Beziehung ausgerichtet ist und so im Dienst der
drama und der Pornografie. Denn laut Andrew Moye (1985) reduziert männlichen Leistungsfähigkeit steht, anstatt diese zu bedrohen. Das
die Pornografie Männlichkeit auf Leistungsfähigkeit - in diesem Fall Heldenteam kompensiert außerdem die männliche Unsicherheit: Die
auf die Leistungsfähigkeit des Penis. In einem Patriarchat muss Unzulänglichkeiten eines Teammitglieds werden durch die Stärken
Männlichkeit mit jeder Situation fertig werden können; sie ist mehr eines anderen ausgeglichen, was aus den Teams zusammengesetzte
ein Konstrukt des übermenschlichen als des Menschlichen. Es ist Männlichkeitsgefüge macht. Wären sämtliche Eigenschaften in einem
diese ewige Kluft zwischen der tatsächlichen männlichen und der vom Mann gebündelt, würde dieser zum unglaubhaften Übermenschen.
Patriarchat beabsichtigten übermenschlichen Leistungsfähigkeit, die Auch wenn die Ideologie eng mit der Phantasie verknüpft ist, so muss
diese Fernsehsendungen zu schließen trachten. Auf eine ähnliche sie doch glaubwürdig sein, ein konventioneller Entwurf des Realisti­
Weise will die Pornografie die Kluft zwischen dem Penis und dem schen. Wäre dem nicht so, dann könnte sie nicht auf die Zuschauer •:;:.
Phallus schließen. Der Penis ist das natürliche Zeichen des Mannes, einwirken und wiederum von diesen zum Einsatz gebracht werden.
der Phallus hingegen das kulturelle Zeicherrvon Männlichkeit - jener Ich habe mich bislang auf die Art und Weise konzentriert, wie die
Gesamtheit von Bedeutungen, Rechten und Machtanteilen, die dem Ideologie der Männlichkeit im muscle drama aktiv am Werk ist. Es
Mann von eine Kultur zugeschrieben wird. Indem diese Sendungen lässt sich relativ einfach beobachten, wie dies unterschiedslos in die
Männlichkeit »definieren«, finden sich in ihnen folglich zahlreiche sich teilweise deckenden Ideologien des Individualismus, des Wettbe­
phallische Symbole, vor allem Schusswaffen, die für männliche Macht werbs und einer Art des »sozialen Darwinismus« übergeht, der die
stehen (bedenken Sie, wie selten sich eine Frau im Fernsehen erfolg­ Moral immer auf der Seite der letztendlichen Gewinner sieht. Diese
reich einer Schusswaffe bedient, insbesondere, um einen Mann zu Ideologien wiederum gehen in eine bestimmte Konstruktion des ame­
töten). In diesen Sendungen finden sich ebenso zahlreiche Maschi­ rikanischen und westlichen Nationalismus über: eine dem rechten
nen, vor allem Autos, die in packenden, spektakulären Handlungsse­ Flügel zuzurechnende Version von Nation, in der diese als »männ­
quenzen den männlichen Körper erweitern. lich« gedeutet wird (international übt sie Macht über andere im Diens­
Diese männliche Macht muss durch die Vorstellung der Pflichter­ te der Armen oder einer höheren Moral aus) und die auf einem von
füllung in Zaum gehalten und im Interesse der Schwachen oder im Konkurrenzdenken geprägten Individualismus und sozialen Dar­
Interesse der Nation eingesetzt werden. Dient diese Macht dem per­ winismus beruht. Eine solche Ideologie dient auf allgemeiner Ebene
sönlichen Vorteil, so gerät sie zum Kennzeichen des Bösewichts. So­ dazu, dieses Genre mit der Rehabilitierung des Vietnamkrieges zu
mit gehört zur männlichen Macht sowohl die Ausübung von Autorität verbinden, die sich in den 198oer Jahren ereignete. Helden wie Mag­
als auch die Unterwerfung unter eine Autorität. Dies ist einer der num, T.J. Hooker, einer der Simon-Brüder und das gesamte A-Team
Gründe, warum ein männliches Team oder Duo eine populäre Forma­ entwickelten ihre Männlichkeit in Vietnam. Ihre Popularität war ein
tion des männlichen Helden ist, wie auch dafür, wieso diese Helden­ Teil der neuen »Maskulinisierung« von Reagans Amerika nach der
Formation normalerweise für eine Institution der öffentlichen Autori­ »Verweichlichung« des Landes unter Carter und diente der ideologi­
tät arbeitet, zu der sie jedoch ein gespanntes Verhältnis hat. Ein weite­ schen Untermauerung der »Rettung« Granadas durch Reagan und der
rer Grund besteht darin, dass die mit einer solchen Formation einher­ Invasion Panamas und des Irak durch Bush. In ideologischer Hinsicht
gehende männliche Bindung eine Intimität erlaubt, die die Bedrohung lief dieses in den 198oer Jahren entstandene Genre auf die Veranke-
E_J Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen Ll3_

rung von problematischen politischen Handlungen in der sehr viel - jenen Strategien, die ausgehandelte und oppositionelle Lesarten
weniger angezweifelten und daher natürlicher wirkenden Konstruk­ produzieren.
tion von Männlichkeit hinaus. Eine ausgehandelte Lesart wandelt die dominante Ideologie zu­
Im Allgemeinen wird das Heldenteam gebildet, um· nicht nur die gunsten der sozialen Erfahrung einer bestimmten Gruppe von Zu­
Ideologien der Männlichkeit und der Nation, sondern auch die sich schauern ab. So werden sich vielleicht Jungen, die sich ein muscle dra­
teilweise deckenden Ideologien der »Rasse« zu verkörpern. In Mag- ma ansehen, auf die männliche Leistungsfähigkeit konzentrieren. Ihre
num stand beispielsweise T.C., der Fahrer/Pilot und Technik� soziale Situation verbietet es ihnen, die von der Gesellschaft geforderte
Männlichkeit als körperliche Kraft und für ihre technischen Erweite­ Macht anzuwenden, um als »maskulin« zu gelten (in physischer Hin­
rungen. Als Schwarzer (so wie B.A. in Das A-Team, der eine ähnliche sicht, da ihre Körper noch unreif sind, oder in sozialer Hinsicht, da sie
ideologische Rolle einnahm) bringt er die »rassische« Dimension ein; in der Familie oder in der Schule eine niedrige hierarchische Position
Körperkraft mag ja die Basis von Männlichkeit sein, da sie aber be­ einnehmen). Wir wissen, dass B.A., der muskulöse schwarze Fahrer
herrscht und gesellschaftlich kontrolliert werden muss, um akzeptabel und Mechaniker in Das A-Team, bei weißen Jungendlichen besonders
zu sein, nimmt sie in der Hierarchie der männlichen Eigenschaften populär war. Wahrscheinlich haben sie seine Körperkraft, seine tech­
nur einen niedrigen Rang ein. Es ist bemerkenswert, dass in einem nischen Fertigkeiten und seinen niedrigen Rang im Heldenteam
Heldenteam häufig ein Nicht-Weißer in einer untergeordneten Rolle mehr geschätzt als seine »Rasse« und somit seine untergeordnete
zu finden ist - von Ahab und Queequeg in Moby Dick über den Lone Position als Möglichkeit verstanden, um ihre eigene Unterordnung in
Ranger und Tonto bis hin zu den Fernseh-Heldenteams in Der Chef, der Gesellschaft zu artikulieren, nicht aber die Machtlosigkeit ;on
Das A-Team und Magnum. In Starsky «<: Hutch war Starsky, der dun­ Schwarzen in einer weißen Hegemonie. Schwarze Jugendliche hätten
kelhaarige Jude, der Fahrer; Hutch hingegen, der blonde Arier mit der jedoch wahrscheinlich B.A.s Schwarzsein (blackness) wie auch seine
höheren Bildung, der Anführer. Auch wenn es sich vielleicht bei Körperkraft und die Goldketten, die er stets trug (in denen Mr. T.
ihrem vorgesetzten Offizier um einen Schwarzen handelte, war doch, Symbole der Versklavung seines Volkes sah), zur Erklärung ihres
wie so häufig, die Rolle des Vorgesetzten narrativ dem Heldenteam ständigen Kampfes um die Behauptung und Erweiterung ihrer eige­
untergeordnet. In Miami Vice war Crockett blond und weiß, während nen Position in der Gesellschaft genutzt.
sein Partner Tubbs in seiner Mischung nicht-weißer »Rassen« einem Zuschauerinnen des Genres werden es gleichsam zugunsten ihrer
Schwarzen glich. eigenen Interessen aushandeln. Die körperliche Attraktivität von Hun­
Der Leser, dessen soziale Position zur dominanten Ideologie passt ter, Jake, .t-.A"agnum oder Crockett kann als integraler Bestandteil ihrer
und der mit dem Genre arbeitet, wird die dort betonte Ideologie zur Rolle als Beschützer der Schwachen gelesen werden. Dass sie es ab­
Bestätigung seines (das Geschlecht ist hier bewusst gewählt) ideologi­ lehnen, mit einer bestimmten Frau intim zu werden, würde weder als
schen Bezugssystems nutzen, durch das er die Welt sieht und mit versteckte Anerkennung einer von Frauen bedrohten Männlichkeit
dem er sich selbst und seine soziale Erfahrung erklärt. Als Reaktion angesehen werden noch als Repräsentation der Unterdrückung des
auf die Interpellation der Sendung nimmt er jene Subjektposition ein, Weiblichen in der männlichen Psyche und damit als Unterordnung
die diese für ihn konstruiert. Nur Althussers Darstellung der Macht von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft (denn beide spiegeln
der dominanten Ideologie, die vermittels Sprache und Texte den Leser einander strukturell). Diese Ablehnung würde vielmehr als Mittel zur
als ein Subjekt in der Ideologie konstruiert, kann tatsächlich Halls Aufrechterhaltung der männlichen Freiheit gesehen werden, allen
Konzeption der »dominanten Lesart« erklären. Gramscis Begriff der Frauen zu dienen und ihnen die Sicherheit und Gerechtigkeit zu
Hegemonie, mit seiner Akzentuierung des ständigen Kampfes der garantieren, über die sie aufgrund ihrer materiellen sozialen Position
dominanten Ideologie um die Zustimmung der Untergeordneten und nicht verfügen mögen. Bei Helden wie diesen kann Männlichkeit also
die Inkorporation oder Entschärfung von oppositionellen Kräften, liegt nicht als Verkörperung der männlichen Unterdrückung im Patriarchat
den beiden weiteren von Hall beschriebenen Lesestrategien zugrunde gelesen werden, sondern vielmehr als patriarchaler Akteur, der das

Univ Bibi.
�Jürzbur�
3_4_ I Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen 1 35

Unrecht ausgleicht und die Unzulänglichkeiten des bestehenden Sys­ tionierende weiße Hegemonie und als Ansporn für eine weitere oppo­
tems korrigiert. sitionelle Praxis betrachten.
Diese Varianten ausgehandelter Lesarten werden von Lesern Wir haben bereits die dominante oder bevorzugte Lesart der Fern­
produziert, die mit der Ideologie kooperieren, die somit" »entlang« der seh-Nachrichtensendung über den Eisenbahnstreik nachgezeichnet.

Struktur des Textes lesen und ihre sozialen Erfahrungen mit der Ideo-
logie-im-Text zur Deckung bringen wollen. Eigentlich produzieren sie
Eine oppositionelle Lesart (vielleicht jene eines Amtrak-Arbeiters)
könnte in den mediatisierten Versionen des Streits um die Gewerk­
beinahe dominante Lesarten, was uns zu der Spekulation vera�n schaften Unterdrücktes und Verzerrtes finden und würde so die Ge­
könnte, ob es denn eine dominante Lesart »in Reinform« überhaupt schichte nicht als einen Bericht über diese Auseinandersetzung ver­
geben kann. Es gibt wahrscheinlich keine einzige Publikumsgruppe, stehen, sondern -als Repräsentation dessen, »wogegen wir in dieser
die in ideologischer Hinsicht völlig zentral positioniert ist. All diese Gesellschaft als Gewerkschaftler stets aufgetreten sind«.
Gruppen werden den Text geringfügig »ändern« müssen, um ihn an Eine ausgehandelte Lesart könnte jedoch dieselben Hinweise auf­
ihre sozialen Positionen anzupassen, womit alle Lesarten, wie Horace greifen, dennoch aber beispielsweise zur folgenden Deutung kom­
Newcomb (1984) andeutet, zu ausgehandelten werden. Ist dem so, hat men: »Ich wette, dass da mehr dahinter steckt, als sie uns hier wissen
die Erkenntnis immer noch Wert, dass ausgehandelte Lesarten auf lassen; das Management von Amtrak ist nicht unbedingt das effizien­
einer vom ideologisch Zentralen bis zum Abweichenden reichenden teste oder progressivste des Landes. « Obwohl eine solche Lesart die
Skala vorkommen können. So liest vielleicht ein Macho-Teenager, der bevorzugte Lesart der Geschichte nicht akzeptiert, greift sie auch nicht
am Punkt des größten Widerstands gegen die Autorität angelangt ist, die dominante Ideologie an, die eine solche Lesart präferiert. Sie han­
die im Genre gezeigte Gewalt als gerechtfertigte Männlichkeit, die sich delt für diese spezifische Gelegenheit eine Position aus.
über die »Schwäche« ihres Einsatzes im Dienste der Schwachen oder Newcomb (1984) behauptet, dass es sich bei der typischen Lesart
der »naturgegebenen Gerechtigkeit« hinwegsetzt. Eine solche Lesart des Fernsehens wahrscheinlich um eine ausgehandelte Lesart handelt.
sieht im Versagen der Polizei oder der Behörden vielleicht eine Kritik Dies ist eine Annahme, die dem Ansatz der Cultural Studies zugrunde
an diesen Institutionen wie auch an der Gesellschaft, für die sie ste­ liegt. Sieht man unsere Gesellschaft nicht als homogen, sondern als
hen, und kann sich so auf das Widerständige hinbewegen, da sie die eine aus verschiedenen Interessensgruppen zusammensetzte Struk­
kontextuellen Ideologien herabspielt, innerhalb derer die Ideologie der tur, und will das Fernsehen eine große Anzahl von Leuten in unserer
Männlichkeit operiert und von denen sie ihre gesellschaftliche und Gesellschaft ansprechen, so folgt daraus, dass das Fernsehpublikum
moralische Akzeptanz erhält. nicht als homogene Masse betrachtet werden darf, sondern als ein Mix
An diesem Ende der Skala handelt es sich nicht mehr um ausge­ aus sozialen Gruppen, von denen eine jede eine andere Beziehung zur
handelte Lesarten, sondern um oppositionelle, wenn sich diese »ge­ dominanten Ideologie unterhält. So komplex und schwierig eine
gen« den Text richten, um die dominante Ideologie zu dekonstruieren. Beschreibung dieser Beziehungen auch sein mag, so lassen sich diese
Eine Feministin könnte so das Genre als plumpe Darstellung des doch stets auf einer Skala positionieren, die von der Akzeptanz der
patriarchalen Chauvinismus lesen und auch dessen, wie er sich an die dominanten Ideologie bis zum Widerstand gegen diese reicht. Der
Gesellschaft verkauft. Diese Lesart würde kein Vergnügen (ausge­ Fernsehtext kann nur dann populär sein, wenn er offen genug ist, um
nommen vielleicht das mokante Vergnügen an der Erkenntnis, dass eine Reihe von ausgehandelten Lesarten zu ermöglichen, über die
das Patriarchat wieder einmal in die Trickkiste greift), sondern Ärger­ unterschiedliche soziale Gruppen zu bedeutsamen Artikulationen
nis produzieren. Diese Ärgernis ließe sich dazu einsetzen, politisches ihrer eigenen Beziehungen zur dominanten Ideologie gelangen kön­
Handeln anzuspornen, entweder als Schaffung von Bewusstsein oder nen. Jeder Fernsehtext muss folglich bis zu einem gewissen Grad
aber auf einem direkteren Weg. Genauso gut könnte ein schwarzer polysem sein, denn die strukturierte Heterogenität des Publikums
Aktivist die untergeordneten Positionen, die T.C., B.A. und Tubbs in erfordert eine entsprechend strukturierte Heterogenität von Bedeu­
der Heldenformation innehaben, als perfektes Beispiel für eine funk- tungen im Text. Das Heldenteam ist in dieser Hinsicht eine bedeu-
36 1 Der John Fiske-Reader
Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen Llz

tende ideologische Formation, da es eine größere »Offenheit« bietet Wird beispielsweise das Wort »Nigger« von schwarzen Rapkünstlern
als der einzelne Held. Die dadurch mögliche größere Zahl an Identifi­ in ihren Musikvideos akzentuiert, so verleihen sie diesem Wort ihre
kationen versetzt die verschiedenen sozialen Gruppen in die Lage, Bedeutungen von Schwarzsein, »rassischer« Unterordnung und Vor­
angemessene Zugänge zur dominanten Ideologie auszuhandeln. eingenommenheit gegenüber den historisch gesehen dominanten


Diese Polysemie ist niemals frei, sondern eingeschränkt und
strukturiert, denn sie steht der dominanten Ideologie stets entgegen,
weißen Bedeutungen. Damit bedienen sich diese Rapper der Multi­
akzentuiertheit des Zeichens »Nigger« und beteiligen sich so politisch
die auf eine Ausschließung von alternierenden oder widerstä� an den »Rassenbeziehungen«. (Sie beteiligen sich übrigens auch an
Bedeutungen und auf eine Homogenisierung von bevorzugten Bedeu­ einem weiteren Kampf um Bedeutung - hier innerhalb der »Rassen­
tungen zugunsten ihren eigenen Interessen hinarbeitet. Michail Bach­ beziehungen«, jedoch über Klassenbeziehungen hinweg - mit denje­
tins (1986) Theorie der Heteroglossie stellt einen Versuch dar, diesen nigen, die sich gerne als »Afroamerikaner« und jenen, die sich lieber
Prozess zu erklären. Bachtin analysiert den Unterschied zwischen als »Schwarze« bezeichnen.) Der Kampf um das Zeichen »Nigger«
heteroglotten oder vielsprachigen Texten, in denen sich die zahlrei­ und somit auch um die »rassische« Identität und Politik jener, die auf
chen Stimmen untergeordneter Gruppen finden, und monoglotten diese Weise kategorisiert werden, ist eine konfrontationsreichere Ver­
oder homogeneren Texten, die nur die Stimme der Mächtigen trans­ sion des »rassischen« Kampfes, den die vorherige Generation um die
portieren. Er benutzt das Spinnrad als Metapher, um den Unterschied Multiakzentuiertheit von »schwarz« in der »Black-Is-Beautiful«-Be­
zu veranschaulichen: In der Mitte befindet sich eine relativ homogene wegung geführt hatte. Dies ist nicht nur ein Kampf um die Beg.eu­
Nabe der Herrschaft und Kontrolle, und an der Peripherie gibt es tungen eines Wortes: sondern auch darum, wer über die Macht '"ver­
multiple, heterogene Punkte der Unterordnung, die potenzielle Wi­ fügt, jene Bedeutungen zu kontrollieren. Dies ist wichtig, denn die
derstandspunkte bilden. Die zentripetalen, zur Mitte tendierenden Macht, die Bedeutung der sozialen Erfahrung zu kontrollieren, ist
Kräfte sind Kräfte der Hegemonie und der Herrschaft, die durch Ho­ ein entscheidender Bestandteil der Kontrolle der sozialen Beziehun­
mogenisierung arbeiten, während es sich bei den zentrifugalen, zur gen, Identitäten und Verhaltensweisen jener (Schwarze wie Weiße),
Peripherie tendierenden Kräften um Kräfte des Widerstands und der die diese Erfahrung machen. Der semiotische Kampf spiegelt den
Differenz handelt, die durch Heterogenität arbeiten. Diese beiden sozialen Kampf nicht wider, sondern ist Teil dieses Kampfes.
Kräfte stehen zueinander stets in Opposition, und Fernsehtexte halten Den Interessen der sozial Mächtigen ist durch die »Uniakzentu­
zwischen diesen eine prekäre Balance. iertheit« gedient, der Limitierung der Bedeutungen eines Zeichens auf
Valentin N. Volosinovs4 (1975) Theorie der »Multiakzentuiert­ die von diesem Zeichen bei dominanter »Akzentuiertheit« transpor­
heit« stellt eine frühere Version dieser Theorie dar, die einen großen tierten Bedeutungen, wobei es aus dem Reich des Kampfes entfernt
Einfluss auf die britischen Cultural Studies hatte. Diese Theorie geht wird. Die weiter oben untersuchte Fernseh-Nachrichtensendung
davon aus, dass der ausschlaggebende Faktor für die Bedeutung eines artikulierte beispielsweise das Wort »Eisenbahn« mit einem unter­
Zeichens der soziale Kontext seines Gebrauchs ist und nicht, wie der nehmerischen Akzent und schloss damit die unterschiedlichen und
Strukturalismus behauptet, seine Beziehung zu anderen Zeichen widersprüchlichen Bedeutungen aus, die ihm ein gewerkschaftlicher
innerhalb der Struktur eines Zeichensystems. Akzent verliehen hätte. Es zeigt sich erneut, dass soziale und ideolo­
Im Kapitalismus ist der soziale Kampf gewöhnlicherweise der gische Herrschaft über Homogenität und eine Konstruktion von sozia­
soziale Kontext des Gebrauchs eines Zeichens, und so wird die Bedeu­ ler Differenz innerhalb dieser Einheit funktioniert. Damit liegt es im
tung des Zeichens zum Bestandteil dieses sozialen Kampfes. Dasselbe Interesse von dominanten Weißen, die Arbeiterklassen wie auch an­
Wort kann verschieden »akzentuiert« werden, und zwar abhängig dere »Rassen« auf eine Weise zu konstruieren, dass sich diese von
davon, wer es gebraucht. Ein Wort zu »akzentuieren« bedeutet also, ihnen unterscheiden und ihnen untergeordnet sind, wobei sie diese
seine Bedeutung zugunsten der sozialen Interessen einer bestimmten Differenz dann in einer homogenen Ideologie in Schach halten kön­
Gruppe entgegen den Interessen anderer Gruppen abzuwandeln. nen. Den Interessen untergeordneter Gruppen ist jedoch durch die
�l Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen 1 39

Ausnutzung der Multiakzentuiertheit oder Heteroglossie gedient, se ausschlaggebend ist, und Halls Theorie zufolge ist es ja die Klasse,
denn dies ermöglicht es ihnen, ihre Differenz zur dominanten Posi­ die hauptsächlich für die soziale Differenz und damit auch für die
tion mit ihrem Akzent »zur Sprache« zu bringen und sich am Kampf unterschiedlichen Lesarten verantwortlich ist. (Er teilte jedoch einige
um die Bestimmung sozialer Differenz zu ihren eigenen Bedingun­ Gruppen nach Geschlecht und »Rasse« ein, wie zum Beispiel arbeits­
gen zu beteiligen, anstatt sich den von der dominanten Gruppe prä- lose schwarze Frauen.) Morley fand heraus, dass die Theorie der be­
• vorzugten Lesart die Rolle überbewertete, die Klasse bei der Produk­
sentierten und präferierten Bedingungen zu unterwerfen.
Eine Reihe von bedeutenden Cultural-Studies-Arbeiten sind-$.; tion von semiotischen Differenzen spielt, die Vielfalt an möglichen
Resultat der Einsicht in die Heteroglossie oder Multiakzentuiertheit Lesarten jedoch unterbewertete. So wiesen einige Lesarten interessan­
von Fernsehtexten und in die Heterogenität von Publika - ein For­ te und unerwartete Ähnlichkeiten auf, die sich quer durch die Klassen
schungszweig, den Robert C. Allen (1992) als »ethnografische Publi­ zogen. Beispielsweise produzierten Bankmanager und Lehrlinge ent­
kumsforschung« bezeichnet hat. Wissenschaftler wie David Morley gegen ihren Klassendifferenzen durchwegs ähnliche Lesarten, was
(1980), John Corner und seine Kollegen, Angela McRobbie (1986) auch bei einigen Universitätsstudenten und gewerkschaftlichen Ver­
sowie Robert Hodge/David Tripp (1986) erforschen, auf welche Weise trauensmännern der Fall war. Diese scheinbaren Anomalien ließen
konkrete Publikumsgruppen das Fernsehen aktiv als Teil ihrer eige­ sich damit erklären, dass die Lehrlinge und Bankmanager auf eine
nen Kultur nutzen, also um damit Bedeutungen zu schaffen, die ähnliche Weise als Subjekte einer kapitalistischen Ideologie konstru­
ihnen helfen, sich die eigenen sozialen Erfahrungen und somit auch iert waren, da sich beide Gruppen ins dominante System einf�en
sich selbst zu erklären. Diese Wissenschaftler richten sich gegen den (wenn auch an verschiedenen Punkten) und somit ein gemeinsames
zweiten Hauptzweig der britischen (und europäischen) Kulturanalyse, Interesse an seinem Fortbestand und Erfolg hatten. Einige der Uni­
der sich um die Zeitschrift Screen entwickelt hat und als »Screen The­ versitätsstudenten (keineswegs aber alle) und Gewerkschaftsfunktio­
ory« bekannt geworden ist. Die Screen Theory verbindet den Struk­ näre gehörten jedoch Institutionen an, die es ihnen ermöglichten,
turalismus und die Semiotik mit der Psychoanalyse und dem Mar­ Kritik am dominanten System zu üben, und daher produzierten sie
xismus, um die Macht des Textes über das Zuschauer-Subjekt heraus­ eher oppositionelle Lesarten.
zustellen und mit großer theoretischer Finesse jene Textstrategien zu Ein weiteres interessantes Beispiel für Klassendifferenz findet sich
analysieren, die auf eine Positionierung des Zuschauer-Subjekts in der in einer Studie von John Corner, Kay Richardson und Natalie Fenton
dominanten Ideologie hinarbeiten. Bei David Morley (1980) findet (1990) zur Art und Weise, wie verschiedene Publika britische Fern­
sich eine Gegenüberstellung der theoretischen und methodologischen sehsendungen lesen, die sich um die Rolle der Atomenergie nach der
Unterschiede der beiden Schulen. Katastrophe von Tschernobyl in der Sowjetunion drehen. In den Sen­
Morley hat die Theorie der bevorzugten Lesart von Hall in der dungen, die am ehesten dem Mainstream entsprachen, fanden sich
Praxis angewandt. Als Ausgangspunkt wählte er eine Fernsehsen­ Beschwichtigungen von Wissenschaftlern in weißen Mänteln, die auf
dung, die er zuvor schon einmal gemeinsam mit Charlotte Brunsdon die hohen Sicherheitsstandards von britischen Anlagen verwiesen.
einer detaillierten kulturellen Analyse unterzogen hatte (Brunsdon/ Tendenziell akzeptierten die Zuschauer aus der Mittelklasse und jene
Morley 1978; Morley 1980), führte diese unterschiedlichen Gruppen mit höherer Bildung diese Beschwichtigungen unhinterfragt; einige
von Leuten vor und diskutierte mit ihnen anschließend über ihre Re­ Zuschauer aus der Arbeiterklasse waren jedoch weit skeptischer und
aktionen auf die Sendung sowie über den Stellenwert, den diese Reak­ produzierten Lesarten wie »Naja, das müssen sie ja wohl sagen, oder?«
tionen für sie hatten. Statt an Individuen wandte er sich an Gruppen, Diese Skepsis ist ein Produkt der in ihrem Arbeitsalltag ständig spür­
da ihn die kollektiven, und damit auch sozialen, Dimensionen des baren Klassendifferenz, und von dort ausgehend geriet sie zum Wi­
Lesens interessierten. Die Gruppen wurden hauptsächlich nach Beru­ derspruch gegen einen Fernsehtext mit einer stark bevorzugten Be­
fen eingeteilt - Bankmanager, Lehrlinge, Studenten, Gewerkschaftler deutung. Hier befand sich also ein sozialer Diskurs mit einem Fern­
und so weiter -, weil der Beruf für die Bestimmung der sozialen Klas- sehdiskurs in Verhandlung.
40 L Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen L_11

Um die unterschiedlichen Lesarten von Fernsehen erklären zu ihren Widerstand gegen die dominante Ideologie aus, indem sie Aus­
können, entwickelte Morley in seiner Studie eine Theorie des Diskur­ drucksweisen derselben vermieden. Stattdessen sahen sie sich lieber
ses anstatt der Klasse. Ein Diskurs ist eine sozial produzierte Sprech­ Videofilme an, und zwar fast immer gewalttätige. Beim Betrachten
oder Denkweise über ein bestimmtes Thema. Er definiert sich im dieser Videos widersetzten sie sich der dominanten Ideologie (oder

Hinblick auf den Bereich der sozialen Erfahrung, den er deutet, auf
die soziale Position, an der diese Deutung entsteht, und auf das lin-
der bevorzugten Lesart), indem sie jene Teile des Texts umgingen, die
am unverhohlensten für sie warben, andererseits jedoch jenen Teilen
guistische oder be-deutende System (signifying system), durch das� eine größere Aufmerksamkeit widmeten, die diese Ideologie ablehn­
Deutung erzeugt und zirkuliert wird. Wenn die Medien wie gewohnt ten. Während sie sich Stirb langsam ansahen, spendeten sie daher den
berichten, dass das Management etwas »anbietet«, die Gewerkschaf­ Bösewichten enthusiastischen Beifall, als diese den Vorstandsvorsit­
ten jedoch etwas »fordern«, dann nutzen sie den Massenmediendis­ zenden des Unternehmens töteten und einen Panzerwagen der Polizei
kurs der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, samt Insassen zerstörten, sahen sich aber das Video nicht bis zum
der auf einer Mittelklasse-Position verortet ist. Ebenso gut könnten sie Ende an, denn schließlich stellen der Held und die Polizei Recht und
berichten (was sie aber niemals tun), dass die Gewerkschaften »anbo­ Ordnung wieder her und bestärken die dominante Ideologie von neu­
ten«, für eine fünfprozentige Lohnerhöhung die Arbeit wieder aufzu­ em.
nehmen, das Management jedoch »forderte«, dass sie dies für eine In einer späteren Studie fand David Morley (1986) heraus, dass
zweiprozentige Lohnerhöhung tun. Das konsequente Zuschreiben des das Fernsehverhalten von Zuschauern ebenso wichtig ist wie die �­
großzügigen »Angebots« an das Management und der überzogenen terschiedlichen Lesarten. In den von Morley untersuchten Haushalten
»Forderung« an die Gewerkschaften ist ein klarer Beleg für die soziale der unteren Klassen nahm der Prozess des Fernsehens eine Schlüs­
Verortung dieses Diskurses. Ein Diskurs ist also eine sozial verortete selposition bei den Kämpfen um die Geschlechterpolitik ein. Die
Interpretationsweise eines bedeutsamen Bereiches der sozialen Erfah­ Männer in diesen Haushalten beherrschten tendenziell die Auswahl
rung. der Sendungen uncl nahmen vor allem die Fernbedienung in Be­
Somit ist auch ein Fernsehtext ein Diskurs (oder eine Reihe von schlag. Diese Auswahl erfolgte nach männlichen Werten, sodass Sen­
Diskursen, so er Widersprüche enthält), und das Bewusstsein des dungen, die den männlichen Geschmack trafen (Sendungen über das
Lesers/der Leserin besteht ebenso aus einer Reihe von Diskursen, mit »wirkliche Leben« außerhalb des Haushalts - Nachrichten, Dokumen­
denen er/sie sich seine/ihre soziale Erfahrung erklärt. Morley definiert tationen, Sportsendungen oder das maskuline muscle drama), als »bes­
das Lesen eines Fernsehtexts als jenen Augenblick, wenn die Diskurse ser« galten als jene, die sich an den weiblichen Geschmack richteten
des Lesers/der Leserin auf die Diskurse des Texts treffen. Dieses (Sendungen über die Leute und ihre Beziehungen, wie beispielsweise
Lesen gerät zur Aushandlung zwischen der sozialen Bedeutung, die in Seifenopern). Der Mann im Haus versuchte auch über das Wann, Wie
die Sendung eingeschrieben ist, und jenen Bedeutungen, die zur so­ und Wo des Fernsehens zu bestimmen und brachte seine Frau oder
zialen Erfahrung der enormen Vielfalt an Zuschauern/Zuschaue­ seine Kinder zum Schweigen, wenn diese ihn mit ihrem Lärm oder
rinnen gehört. Somit ist dieses Aushandeln diskursiver Natur. ihren Gesprächen ablenkten.
Jedoch lesen nicht alle Fernsehpublika sämtliche Diskurse, die in Cultural Studies sehen im Fernseherlebnis (das ist der Gegen­
einem Fernsehtext vorkommen können. Eine neuere Studie, an der stand, der vom Text und der Handlung des Zuschauens konstituiert
ich beteiligt war, widmet sich beispielsweise dem Fernsehverhalten wird) eine ständige dynamische Bewegung zwischen Ähnlichkeit und
von Männern in einem Obdachlosenheim der Kirche (vgl. Dawson Differenz. Die Dimension der Ähnlichkeit ist jene der dominanten
1990; Fiske/Dawson 1996).5 Diese Männer sahen sich nur selten Ideologie, die in die verschiedenen Sendungen strukturiert und all
Sendungen im Fernsehen an, denn die Normen des Familienlebens, jenen Zuschauern geläufig ist, bei denen diese Sendung populär ist.
der Arbeitswelt und der Freizeit, die in das reguläre Fernsehpro­ Die Dimension der Differenz hingegen erklärt die sehr unterschiedli­
gramm strukturiert sind, hatten für sie keine Relevanz; sie drückten chen Gruppen, die die Sendung ansprechen muss, wenn sie bei einem
42 J Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen 1 43

breiten Publikum populär sein will. Diese Gruppen werden dann schaffen und schließlich den Sohn des Chefs zu heiraten. Dabei stellt
gegenüber der dominanten Ideologie verschiedentlich positioniert, sie ihren Körper zum patriarchalen Vergnügen zur Schau; und tat­
wobei diese unterschiedlichen Arten der Positionierung den unter­ sächlich spielt ihr makelloser Körper bei ihrem gelungenen Aufstieg

.
schiedlichen Lesarten der Sendung durch die Gruppen ·und ihrem in der sozialen Hierarchie (der vom Breakdance über das Ballett bis
unterschiedlichen Zuschauerverhalten gleichen. Dieses Spiel zwi- hin zur Einheirat in das Management führt) eine entscheidende Rolle.
-
sehen Ahnlichkeit und Differenz ist eine bestimmte Erfahrung des Der hegemonialen Lesart zufolge werden Frauen für ihre Fähigkeit
Kampfes zwischen Hegemonie und Widerstand. � belohnt, ihre Schönheit und ihr Talent dafür einzusetzen, Männern
Diese Hervorhebung des Lesers und des Kampfes um Bedeutung Lust zu bereiten. McRobbie hat jedoch gezeigt, dass es sich dabei nicht
verringert natürlich den enormen Stellenwert, den der Text für die um die einzig mögliche Lesart handelt. Sie hat bei weiblichen Teen­
Kulturtheoretiker der 197oer Jahre hatte. Der Text lässt sich nicht agern ein Set von Bedeutungen des Tanzes und der weiblichen Sexua­
länger als autonomer Gegenstand beschreiben, der entweder die do­ lität entdeckt, die sich der patriarchalen Hegemonie widersetzen und
minante Ideologie oder aber seine eigene Bedeutung transportiert und gegen diese ankämpfen. Tanzen ist für diese Mädchen eine Form des
auf alle seine Leser einen ähnlichen Einfluss hat. Vielmehr wird er als Autoerotizismus, eine Lust am eigenen Körper und an der eigenen
Bedeutungspotenzial betrachtet, das sehr unterschiedlich aktiviert Sexualität, die ihnen eine Identität erlaubt, die nicht an den anerken­
werden kann. Natürlich ist dieses Potenzial beschränkt und somit nenden Blick des Mannes gebunden ist. Ihr Tanzdiskurs verleiht dem
weder unendlich noch ungebunden; der Text bestimmt nicht so sehr Tanzen in Diskos oder dem Betrachten von filmischen und televisyel­
seine Bedeutung, sondern limitiert vielmehr den Bereich des Kampfes len Repräsentationen des Tanzens eine kohärente Bedeutung, die illre
um diese Bedeutung, indem er jenes Terrain absteckt, innerhalb des­ subkulturelle Identität und Differenz zur restlichen Gesellschaft
sen sich seine unterschiedlichen Lesarten aushandeln lassen. Diese geltend macht. Dabei handelt es sich um eine Bedeutung, die sie aus
diskursive Aushandlung, als die wir heute das Lesen betrachten, be­ jenen kulturellen Formen geschaffen haben, die ihnen das Patriarchat
deutet auch, dass die Grenzen des Textes fließend und instabil sind. zur Verfügung stellt.
Raymond Williams (1974) hat in den frühen 197oer Jahren angedeu­ McRobbie veröffentlichte ihre Studie einige Jahre vor dem Film
tet, dass das Fernsehen keine Abfolge einzelner Sendungen oder Texte Dirty Dancing und der gleichnamigen Fernsehserie, aber auch hier
sei, sondern vielmehr ein »Flow« (Programmfluss), in dem Sendun­ sind ihre Ergebnisse und Analysen gültig, wenn man einen bedeu­
gen, die Werbung, Nachrichtenbeiträge und einzelne Werbespots tenden Unterschied berücksichtigt. Dirty Dancing invertiert die Ge­
zusammen eine fortlaufende kulturelle Erfahrung ergeben. Einige schlechterpolitik der Klassenbeziehungen zwischen dem Held und der
Jahre später hat John Hartley (1983) die Ansicht geäußert, das Fernse­ Heldin. In diesem Szenario gehört der Held einer niedrigeren Klasse
hen sei ein »undichtes« Medium, dessen Bedeutungen ständig in an als die Heldin, aber auch hier nutzt die sozial untergeordnete Per­
andere Lebensbereiche eindringen. son ihre Körperkontrolle im Tanz nicht nur zur Betonung des eigenen
Angela McRobbie (1986) hat ebenfalls die Durchlässigkeit der sozialen Werts, sondern auch zur Überwindung ihrer Unterordnung.
Grenze zwischen dem Fernsehen und anderen Formen der kulturel­ Die der oberen Mittelklasse angehörende Heldin erlangt über den
len Erfahrung erforscht. Ihre Studie über Mädchen und den Tanz Tanz und ihre Beziehung zum Held aus der Arbeiterklasse eine Au­
zeigt, dass Mädchen beim Tanzen in der Disko und beim Betrachten thentizität von Identität und Erfahrung, die jener Verstellung fehlt, auf
von Filmen und Fernsehsendungen wie beispielsweise Flashdance die sie sich einlassen muss, um der von der patriarchalen, bourgeoi­
oder Farne - Der Weg zum Ruhm ein ähnliches Vergnügen empfinden sen Gesellschaft vorgegebenen Version von Weiblichkeit zu entspre­
und vergleichbare Bedeutungen generieren. Auf einer bestimmten chen. Die Untersuchung jener Strategien, vermittels derer unterge­
Leseebene arbeiten die erzählerische Form und das Vergnügen von ordnete Subkulturen im Widerstand zu den Mächtigen ihre eigenen
Flashdance eindeutig hegemonial: Die Fabrikarbeiterin nutzt ihre Bedeutungen schaffen, ist gegenwärtig einer der produktivsten For­
tänzerischen Fähigkeiten, um die Aufnahme in eine Ballettschule zu schungszweige der Cultural Studies.
'1"4 J Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen L45_

Madonna, die nun schon seit mehr als einem Jahrzehnt ein be­ Möglichkeiten anbieten, dieser Erfahrung zu widerstehen. Ihr Image
deutendes Phänomen der Populärkultur darstellt, gibt eine gute Fall­ wird dann nicht zum ideologischen Rollenmodell für junge Mädchen
studie ab. Ihren Erfolg verdankt sie wohl zu einem großen Teil dem im Patriarchat, sondern zu einem Ort des semiotischen Kampfes
Fernsehen und ihren Musikvideos, denn die meisten Kritiker halten zwischen den Kräften der patriarchalen Kontrolle und jenen des weib­
nicht viel von ihrer Musik, haben aber viel zu ihrem Image, den »Ma- lichen Widerstands, zwischen dem Kapitalismus und den Unterge­

donna-Look«, zu sagen. Eine simple Erklärung ihres Erfolges würde ordneten, zwischen Erwachsenen und Jugendlichen.
sich auf ihre Geschick konzentrieren, ihre Sexualität so einzuset� Zum gegenwärtigen Entwicklungsstand bieten die Cultural Stu­
damit sie so viel Geld wie nur möglich an einer der machtlosesten und dies zwei sich einander teilweise überschneidende methodologische
am einfachsten auszubeutenden Gruppen der Gesellschaft verdient- Strategien an, die sich sinnvoll kombinieren lassen, um uns ein Ver­
den jungen Mädchen. ständnis der Funktionsweise dieses kulturellen Kampfes zu ermögli­
Eine derartige Darstellung ist jedoch inadäquat (aber nicht not­ chen. Die eine Strategie entstammt der Ethnografie und animiert uns
wendigerweise unzutreffend in ihrer Reichweite), da sie unterstellt, zur Untersuchung jener Bedeutungen, die sich die Fans von Madonna
dass die Fans von Madonna, um mit Stuart Hall (r98r) zu reden, »Kul­ tatsächlich (oder scheinbar) von ihr machen. Dazu muss man ihnen
turtrottel« wären, die sich nach Belieben und entgegen ihrer eigenen auch zuhören, ihre Briefe an Fanzines lesen oder ihr Verhalten zu
Interessen von den Moguln der Kulturindustrie manipulieren lassen. Hause oder in der Öffentlichkeit beobachten. Die Aussagen der Fans
Eine derartige Manipulation ist nicht nur ökonomisch, sondern eben­ oder ihre Verhaltensweisen sind natürlich keine empirischen Fak!en,
so ideologisch, denn das Wirtschaftssystem benötigt die Ideologie des die für sich selbst sprechen; sie sind vielmehr Texte, die in theo�ti­
patriarchalen Kapitalismus zu seiner Untermauerung und Naturalisie­ scher Hinsicht auf dieselbe Weise »gelesen« werden müssen wie die
rung; Ökonomie und Ideologie lassen sich niemals trennen. Es gibt »Texte von Madonna« auch.
außerdem eine Menge Belege, die diese Ansicht stützen. Madonnas Die andere Strategie entstammt der semiotischen und struktura­
Videos nutzen die Sexualität ihres Gesichts und ihres Körpers und listischen Textanalyse. Sie erfordert eine genaue Lektüre der Signifi­
zeigen sie häufig in einer Pose der Unterwerfung (beispielsweise in kanten eines Texts - also seiner physischen Präsenz-, berücksichtigt
»Burning Up«) oder der Unterordnung unter Männer. Ann Kaplan ver­ jedoch, dass die Signifikate nicht im Text selbst vorkommen sondern
merkt, dass Madonnas physische Ähnlichkeit mit Marilyn Monroe be­ außerhalb des Textes, und zwar in den Mythen, Gegenmythen und
tont wird (vor allem in ihrem Video zu »Material Girl«), eine intertex­ Ideologien ihrer Kultur (vgl. Barthes r964; Fiske r982; Fiske/Hartley
tuelle Referenz auf einen anderen Star, der einer verbreiteten Ansicht 1978). Sie nimmt zur Kenntnis, dass die Verteilung von Macht in der
nach seinen Erfolg der Fähigkeit verdankte, männliche Phantasien zu Gesellschaft vergleichbar ist mit der Verteilung von Bedeutungen in
verkörpern. All dies würde nahe legen, dass Madonna ihren jungen Texten und dass Kämpfe um soziale Macht eine Parallele in semioti­
weiblichen Fans lehrt, sich selbst so zu sehen, wie Männer sie sehen schen Kämpfen um Bedeutungen haben. Jeder Text und jede Lesart
würden; das heißt, sie riefe sie als weibliche Subjekte innerhalb des besitzt eine soziale und damit auch eine politische Dimension, die
Patriarchats an und würde somit die patriarchale Hegemonie vertreten. sich teils in der Struktur des Textes selbst, teils aber auch in der Be­
Wenn aber ihre Fans keine »Kulturtrottel« sind, wenn sie Madon­ ziehung des lesenden Subjekts zu diesem Text finden lässt.
na vielmehr aktiv beobachten, anhören und nachahmen anstatt einen Daraus folgt, dass die Theorie, die jeder beliebigen Analyse unter­
anderen Star, dann muss es in ihrem Image einige Lücken oder Spiel­ liegt, auch eine soziale Dimension besitzt, was wiederum ein notwen­
räume geben, die sich der ideologischen Kontrolle entziehen und es diger Bestandteil jener »Bedeutungen« ist, die die Analyse zum Vor­
ihren Publika erlauben, Bedeutungen in Bezug auf deren eigene sozia­ schein bringt. Bedeutungen sind also relativ und ändern sich je nach
le Erfahrung zu schaffen. Für viele ihrer Publika ist dies eine soziale den gegebenen historischen und sozialen Umständen. Unverändert
Erfahrung der Machtlosigkeit und der Unterordnung, und will Ma­ bleibt hingegen die Art und Weise, wie sich Texte auf das soziale Sys­
donna als Ort der Bedeutung dies nicht naturalisieren, dann muss sie tem beziehen. Eine Kulturanalyse wird folglich sowohl zeigen, auf
1_6 1 Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen 1 47

welche Weise die dominante Ideologie in den Text und in das lesende Probleme der Etablierung einer befriedigenden sexuellen Identität
Subjekt als auch in jene textuellen Merkmale strukturiert ist, die aus­ innerhalb einer opponierenden Ideologie erfahren: In dem Augen­
gehandelte, widerständige oder oppositionelle Lesarten ermöglichen. blick, in dem junge Mädchen sich ihres Potenzials als Frauen bewusst
Die Kulturanalyse kommt dann zu einem befriedigenden Schluss, werden, schaltet sich sofort das Patriarchat ein, um seine Kontrolle
wenn sich die ethnografischen Untersuchungen von historisch und über ihre Identitäten und sozialen Beziehungen zu behaupten. In

sozial verorteten Bedeutungen, die erzeugt werden, auf die semiotische diesem Moment interveniert Madonna, denn sie bewahrt sich,
Analyse des Textes beziehen. Die Semiotik setzt die Struktur des � schreibt Judith Williamson (1986), »all den Wagemut und Exhibitio­
tes mit dem sozialen System in Relation, um herauszufinden, wie das nismus, den die meisten Mädchen anfänglich besitzen oder in sich
ökonomische und ideologische System im Text reproduziert wird, aber fühlen, bis das Einsetzen das >Frauseins< ihnen diesen verunmöglicht«
auch wie die Polysemie des Textes diese Reproduktion überschreitet. (47).
Ethnografische Studien können uns zeigen, wie dieser semiotische Weitere Belege für die Ermächtigung, die Madonna Mädchen
Exzess von spezifischen Publika unter bestimmten sozialen Umstän- bietet kann, sind die Reaktionen, die sie bei manchen Jungs hervor­
den genutzt wird, wenn diese darum kämpfen, ihre eigenen Bedeu­ ruft. Matthew, 15 Jahre alt und nicht gerade ein Fan von Madonna,
tungen im Verhältnis zu jenen Bedeutungen zu schaffen, die auf die meint, dass er nicht gerne mit ihr verheiratet sein möchte, »denn sie
Reproduktion des patriarchalen kapitalistischen Systems hinarbeiten, würde wohl jedem Typen das Leben schwer machen.« Matthew steht
das sowohl den Text wie auch dessen Leser umfasst. mit seiner Meinung nicht alleine da, denn laut einer 1990 durcbge­
Lucy, ein zur damaligen Zeit 14-jähriger Fan aus Australien, be­ fuhrten Umfrage äußerten sich 60 Prozent der Jungs auf die Frige,
merkt somit zu einem frühen Poster von Madonna: ob sie mit Madonna schlafen möchten, ablehnend. Es überrascht nicht,
dass eine starke Frau, die über ihre eigene Sexualität bestimmt, weit
»Sie sieht scharf und verführerisch aus ... , aber das ist schon okay, wenn sie sich so stärker Mädchen anspricht als Jungs. Wie wir später noch sehen wer­
herrichtet, du weißt schon, was ich meine, wenn das irgendeine andere machen würde, den, erkennt Madonna häufig die Konventionen des Patriarchats zur
dann sähe sie aus wie eine Nutte, aber bei ihr ist das OK, es ist passabel ... Bei jeder Darstellung von Frauen nicht an oder macht sich über diese lustig.
anderen wäre es total geschmacklos, es klingt blöd, aber bei ihr ist es OK, du weißt Das mag wohl auch der Grund dafür sein, dass laut Time viele Jungs
schon, was ich meine« (Interview mit dem Autor, Dezember 1985). Schwierigkeiten haben, mit ihrer »Sexiness« umzugehen, und »glau­
ben, verarscht zu werden« (Time, 27. Mai 1985= 47). Lucy und Matthew
Einige Punkte sind hier anzumerken. Lucy findet nur patriarchale erkennen beide auf verschiedene Weise und ausgehend von unter­
Begriffe, um Madonnas Sexualität zu beschreiben - »scharf« und schiedlichen sozialen Positionen, dass Madonnas Sexualität eine He­
»verführerisch« -, wehrt sich jedoch gegen· das in diesen Begriffen rausforderung oder auch eine Bedrohung der dominanten Definitio­
eingeschriebene Patriarchat. Gleichzeitig kämpft sie gegen das in ihrer nen von Weiblichkeit und Männlichkeit darstellen kann.
eigenen Subjektivität eingeschriebene Patriarchat. Der Gegensatz In einem Bri�f an das Musikmagazin Countdown nimmt auch
zwischen »passabel« und »total geschmacklos« bezieht sich nicht nur »Madonna's Best Friend« den Widerstand Madonnas gegen das Patri­
auf Repräsentationen weiblicher Sexualität, sondern ist ebenso eine archat zur Kenntnis:
Externalisierung jener Spannung, die jugendliche Mädchen verspü­
ren, wenn sie mit den Widersprüchen zwischen einer positiven weib­ »Ich schreibe, um mich über all jene Leute zu beschweren, die Madonna in ihren Briefen
lichen Sichtweise auf ihre Sexualität und der fremdartigen patriarcha­ als Nutte und Luder beschimpfen, weil sie offen über Sex spricht und ihren Bauchnabel
len Sichtweise zurechtzukommen versuchen, die die einzige zu sein herzeigt, und sich auch nicht schämt, dass sie meint, sie sei schön. Ich jedenfalls bewun­
scheint, die die verfügbaren linguistischen und symbolischen Systeme dere sie und denke, dass sie eine Menge Courage besitzt, einfach sie selbst zu sein. Ihr
anbieten. Madonnas »nuttige« Sexualität ist »passabel« - aber wer Mädchen da draußen! Glaubt ihr, dass ihr schöne Augen oder schönes Haar oder eine
empfindet das so? Mit Sicherheit ihre jungen weiblichen Fans, die die gute Figur habt? Redet ihr mit euren Freundinnen jemals über Jungs oder Sex? Tragt ihr
48 1 Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen 1 42

einen Bikini? Na ja, wenn es nach euch ging, dann wärt ihr alle Nutten und Luder!! Ist »Madonnas herausfordernder Look oder Blick hat immer etwas lustvolles, zumindest für
euer Urteil über Madonna also fair? - Madonna's Best Friend, Wahroonga, N ew South mich und vielleicht auch für eine große Anzahl anderer Frauen. An einer bestimmten Stel­
Waiern (Countdown, Dezember 1985: 70). le der Tanzsequenz von >Lucky Star< bewegt sich Madonna seitlich zur Kamera und setzt
einen provokanten Blick auf. Einen Augenblick lang kann man ihre Zunge sehen, und wir


Dieses Lob für Madonnas »Courage ..., einfach sie selbst zu sein«, ist
ein weiterer Beleg dafür, wie schwierig es für Mädchen ist, eine sexu-
erwarten, dass sie sich gleich mit ihrer Zunge sinnlich die Lippen lecken wird. Diese Er­
wartung wird jedoch enttäuscht, und Madonna scheint ihre Zunge wieder zurückzuziehen.
elle Identität für sich zu finden, die nach ihren eigenen Interes� So sollte wohl der größte Teil ihres Tanzens und Herumkriechens vor der Kamera aufge­
gestaltet ist anstatt nach jenen des dominanten Männlichen. Madonna fasst werden. Sie inszeniert die sexuelle ldolisierung von Frauen. Für eine Frau, die diese
weiß um die wichtige (einige meinen: von ihr überbewertete) Rolle, Opferrolle aus eigener Erfahrung kennt, bereitet diese Inszenierung größtes Vergnügen und
die die sexuelle Identität dabei spielt, wie wir die von uns eingegange- höchste Lust, während die männliche Voyeurhaltung ins Schwanken gerät« (Blair 1985) .
nen sozialen Beziehungen bestimmen und damit auch die von uns
gemachte soziale Erfahrung: Aber wie alle anderen Popstars auch hat Madonna ebenso ihre »Fein­
de« wie ihre Fans:
»Die Sexualität der Leute und ihre Beziehung zur Welt ist sehr wichtig . .. Dabei geht es
um weit mehr als nur um Unzucht. Deine sexuelle Identität ist so wichtig. Je mehr du »Wenn ich Samstag oder Sonntag Abend ausgehe und mich irgendwo hinsetze, höre ich
darauf achtest, umso klarer wird dir, dass sich so gut wie alles in der Welt um sexuelle immer das Wort Madonna, und das macht mich krank; alles, worum die sich kümmer.t, ist
Anziehungskraft und sexuelle Energie dreht. Dir fallen auch jene Leute auf, die mit ihrer ihr bescheuertes Aussehen. Die muss wohl Stunden mit Schminken und Anziehen verbrin­
eigenen Sexualität nicht umgehen können, sich darüber falsche Vorstellungen machen oder gen, und wieso zeigt sie immer ihren Bauchnabel? Wir wissen ja, dass sie einen hat. Alle
sie missbrauchen« (US, 13. Juni 1991: 23 ). aus meiner Familie finden sie peinlich und denken, dass sie selbstverliebt ist. - Paul
Young's Sexy Sneakers« (Countdown Annual, 1985: 109).
Wenn einige Mädchen das Gefühl haben, das Patriarchat leiste einer
»falschen Vorstellung« ihrer Sexualität Vorschub und brächte sie Auch hier konzentriert sich der »Hass« auf ihre Sexualität, auf ihr
dazu, diese zu »missbrauchen«, dann ist Madonnas Aufforderung an Make-up und Posieren, um die niedrigen Instinkte des Mannes zu
diese Mädchen, den Umgang mit ihrer eigenen Sexualität zu lernen wecken, was manche ihrer Kritiker als hurenartige Selbstdarstellung
sowie eine ihren eigenen Interessen entsprechende Gender-Identität sehen. Aber die Pointe kommt im Schlusssatz, wo der Verfasser (der
(und die sozialen Beziehungen, die diese begleiten) zu konstruieren, Brief ist aus einer männlichen Subjektposition geschrieben und
politisch gesehen positiv. Ihre Fans wissen, dass sie dieses Angebot stammt wahrscheinlich auch tatsächlich von einem Mann) auf Ma­
tatsächlich von ihr erwarten dürfen: donnas offenkundiges Vergnügen an ihrer eigenen Sexualität eingeht,
das er auf ihre Egozentrizität zurückführt und somit verdammt.
»Sie ist sexy, aber sie braucht keine Männer ... Sie ist sich irgendwie selbst genug«; Mädchen hingegen halten Madonnas Selbstverliebtheit nicht für
[oder]: »Sie versorgt uns mit Ideen. Das ist echte Frauenbefreiung: Keine Angst davor zu egoistisch und egozentrisch; vielmehr ist sie der Grund für ihre An­
haben, was die Typen denken« (Time, 27. Mai 1985: 47). ziehungskraft. Ihre Bedeutung wird klar, wenn man untersucht, wie
sie in den übrigen Medien dargestellt wird. McRobbie hat die Art und
Diese Vorstellung von ihrer eigenen Identität wird von den Mädchen Weise aufgezeigt, in der die »Teenagerpresse« den Körper eines Mäd­
natürlich niemals frei konstruiert, denn sie kann nur über den Kampf chens, und damit auch ihre Sexualität, typischerweise als eine Reihe
gegen die vom Patriarchat vorgegebene Identität erlangt werden. Die­ von Problemen konstruiert: die falsche Größe oder Form von Brüsten,
ser Kampf, dieses Zurückschlagen, kann Vergnügen bereiten, wie der unreine Haut, kraftloses Haar, dickliche Oberschenkel. Probleme mit
Aufsatz einer Studentin belegt: der Periode. Die Liste ist endlos, und die Inserenten - diejenigen, die
wirklich von diesen Magazinen profitieren - haben natürlich immer
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ein Produkt anzubieten, das eine Lösung des Problems verspricht - »Ich trage immer ein paar Rosenkränze bei mir. Eines Tages beschloss ich, [einen] als
selbstverständlich zu einem entsprechenden Preis. Halskette zu tragen. Irgendwie mache ich immer alles mit einer ironischen Absicht. Das
Madonna wird entweder sehr geliebt oder aber sehr gehasst, was ist schon eine komische Mischung - eine wunderschöne Form von Symbolismus, die Vor­
keine untypische Position für eine Frau im Patriarchat darstellt, des­ stellung dessen, dass jemand leidet, wofür ja Jesus am Kreuz steht, und das dann nicht

sen Unfä.higkeit, Frauen so zu sehen, wie sie wirklich sind, in der Art
der Polarisierung von Weiblichkeit in die entgegengesetzten Vorstel-
ernst zu nehmen. Darin eine Ikone zu sehen, ohne die damit verbundene Religiosität. Für
mich ist das nicht blasphemisch« (ebd.: 10).
lungen von Jungfrau-Engel und Hure-Teufelin evident wird. �
Madonna nutzt diese Widersprüche in einer bewussten und paro­ Das Kruzifix ist weder religiös noch blasphemisch, sondern schön:
distischen Weise: »Als ich auf katholische Schulen ging, fand ich die riesigen Kruzifixe,
die die Nonnen trugen, wirklich schön«. Entsprechend bietet Madon­
»Als ich ganz klein war, flehte mich meine Großmutter immer wieder an, nicht mit Män­ na ihren adoleszenten Fans Bedeutungen von Weiblichkeit, die nicht
nern mitzugehen, Jesus zu lieben und ein braves Mädchen zu sein. Ich wuchs mit zwei mehr an die ideologische Binäropposition Jungfrau/Hure gebunden
Frauenbildern auf: die Jungfrau und die Hure. Das war schon ein wenig unheimlich« sind. In ihrem Image finden sie positive, frauenzentrierte Repräsenta­
(National Times, 23./29. August 1985: 9). tionen von Sexualität, was ihre ständigen Verweise auf Madonnas
Unabhängigkeit und ihr Sie-selbst-Sein zeigen. Diese scheinbar unab­
Sie verweist ständig auf diese widersprüchlichen Bedeutungen, die hängige, sich selbst bestimmende Sexualität ist nur darum so bedtut­
Frauen im Patriarchat haben. In ihrem Video zu »Like A Virgin« trägt sam, weil sie im Rahmen einer patriarchalen Ideologie und gegen
Madonna abwechselnd ein weißes Brautkleid und die schwarze, haut­ diese arbeitet.
enge Kluft einer Sängerin; der Name Madonna (jungfräuliche Mutter) Ann Kaplan (r992) behauptet, Madonnas Image beruhe teilweise
gehört zu einer sexuell aktiven Frau; die von der Nonnentracht über­ auf jenem von Marilyn Monroe, dem großen Sexsymbol einer frühe­
nommen Kruzifixe baumeln über den kaum verhüllten Brüsten oder ren Generation. Jedoch besagen die Unterschiede zwischen den bei­
einem aufreizend rotierenden Bauchnabel. »Als Heranwachsende den »blonden Sexbomben« mehr als ihre Gemeinsamkeiten. In ihrem
fand ich Nonnen schön ... Sie trugen nie Make-up und hatten ein­ Video zu »Material Girl« sehen wir Madonna in einer Tanzsequenz
fach diesen wirklich gelassenen Gesichtsausdruck. Nonnen sind sexy« mit jungen Männern im Smoking, die Monroes Song »Diamonds Are
(ebd.). A Girl's Best Friend« aus dem Film Blondinen bevorzugt parodiert. In
Der Effekt, der sich aus dieser Aufnahme von gegensätzlichen dieser Tanznurnrner trägt sie Juwelen zusarnrnen, die ihr die Männer
Bedeutungen in ihre Texte ergibt, besteht jedoch nicht nur darin, auf anbieten, während sie den Refrain singt: »Cause we're living in a ma­
ihre Rolle innerhalb der männlichen Hegemonie aufmerksam zu terial world, and I am a material girl« (»Wir leben nun mal in einer
machen - eine Frau kann von einem Mann entweder angebetet und materiellen Welt, und ich bin ein materialistisches Mädchen«). Aber
verehrt oder aber von ihm benutzt und verachtet werden, immer aber trotz ihrer hurenhaften Anhäufung von Reichtümern, die aus Män­
bezieht sie ihre Bedeutung allein von der männlichen Subjektposition. nerhänden stammen, und der gesungenen Aussage, dass nur reiche
Dagegen stellt Madonna die Gültigkeit dieser binären Oppositionen Jungs bei ihr eine Chance hätten (ähnlich wie Monroes Darbietung in
für eine begriffiiche Erfassung von Frauen in Frage. Ihr Rückgriff auf »Diamonds Are A Girl's Best Friend«), spielt sie mit den Jungs und
eine religiöse Ikonografie ist weder religiös noch blasphemisch. Sie lässt sie wissen, dass sie sich mit ihren Juwelen keine Macht über sie
beabsichtigt, sie aus dieser ideologischen Opposition zu befreien und erkauft haben, sondern dass sich viehnehr in der Tatsache, ihnen
damit jene Bedeutungen und Vergnügen zu genießen und zu nutzen, diese Juwelen entlockt zu haben, ihre Macht über sie ausdrückt. Das
die diese Ikonografie für sie hat, nicht jedoch jene der dominanten widerspricht ziemlich der Darbietung von Monroe. Madonna sagt zum
Ideologie und ihres sirnplistischen binären Denkens: eher allgemeinen Bezug ihres Images:
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52 j Der John Fiske-Reader

»Ich sehe mich nicht als Marilyn Monroe, ich spiele ja fast mit ihrem Image und drehe sich dessen bewusst, dass ihr das wisst. Aber solange wir alle am selben Strang ziehen,
es dabei um. Ich behaupte nicht, sie zu kennen und kann das meiste kaum glauben, lasst es uns doch genießen« (ebd.: 127).
was über sie geschrieben wird. Ich habe den Eindruck, dass sie sich ihrer eigenen Stär­
ken nicht bewusst war und sie daher auch nicht fördern konnte« (Star, 7. Mai 1991: Einer ihrer Ex-Liebhaber, Professor Chris Flynn, bekräftigt dies:
7). • »Sie hat das Image einer Nutte, aber ich glaube, das ist alles nur gespielt. Sie tut nur
Madonna hingegen weiß sehr wohl, wo ihre eigenen Stärken lie� so, als wäre sie ausschließlich hinter dem Geld der Männer her. Vergesst nicht, dass ich
und wie sie diese einsetzen kann. Ihre Anhäufung von materiellen die andere Seite von Madonna kenne« (New ldea, 11. Januar 1986: 4).
Annehmlichkeiten ist nicht bloß kapitalistische Gier, sondern ein
Mittel, um Macht über Männer auszuüben. Madonna weiß, dass sie eine Show abzieht. Der Umstand, dass dieses
Aber auch der materialistischen Lesart des Videos muss wider­ Wissen ein Teil ihrer Performance ist, ermöglicht es dem Zuschauer,
sprochen werden. Die Bühnenshow ist in ein Mininarrativ eingebettet, auf eine andere Interpellation zu reagieren als auf jene, die von der
in dem sie einen reichen Verehrer abweist und sich einem armen dominanten Ideologie vorgegeben wird, und somit eine widerständige
zuwendet. Am Ende des Videos sehen wir sie in einem klapprigen Subjektposition einzunehmen. Der sensible Mann, der ihre »Material
Lastwagen mit ihrem neuen Verehrer davonfahren, in dem sie sich Girl«-Darbietung sieht, weiß ebenso wie sie (und wie wir auch), dass
schließlich während eines heftigen Regengusses lieben. Dem materia­ das alles nur Show ist. Jene, die diese Darbietung ernst nehmen JJ-Ild
listischen Mädchen haben es letztendlich doch die nichtmateriellen denen ihre Selbstparodie entgeht, werden entweder als ideologis�he
Werte der Liebe angetan. Es scheint, dass die Unterminierung des Subjekte im Patriarchat angerufen, oder aber sie verwerfen diese An­
Songs durch das Mininarrativ nicht viel Widerständiges bietet, denn rufung, dementieren das Vergnügen und verweigern die Kommunika­
schließlich handelt es sich im Wesentlichen um eine konventionel­ tion:
le Romanze, in der dem armen, sensiblen Mann letzten Endes doch
gegenüber dem scheinbar attraktiveren Reichen der Vorzug gegeben »Der National Enqui rer, ein Wochenmagazin, das sich dem schlüpfrigen Tratsch ver­
wird. Die im Video triumphierende »wahre Liebe« ist ebenso sehr schrieben hat, zitiert zwei Universitätspsychiater, die sie beschuldigen, für die Promiskui­
Bestandteil des patriarchalen Kapitalismus wie der von ihr besiegte tät bei Teenagern einzutreten, die Gier nach Geld und den Materialismus zu fördern und
Materialismus. Und doch arbeitet dieser Widerspruch nicht im leeren zum Verfall der Familie beizutragen. Feministinnen beschuldigen sie des Revisionismus, der
Raum, denn er wird getragen von Parodie, Wortspielen und Madon­ Wiederbelebung der berechnenden Frau, die von Koketterie und Künstlichkeit lebt. >Sagt
nas Wissen darum, wie sie ein Image schafft, und nicht nur, was ihr Gloria [Steinern] und ihrer Bande<, so ihre Antwort, >sie sollen sich mal entspannen, ein
Image ausmacht. wenig Sinn für Humor entwickeln. Und seht euch mein Video zu >Material Girl< an. Der
Manches an der Parodie ist subtil und lässt sich nur schwer durch Typ, der mich am Ende kriegt, ist der Sensible ohne Geld«< (National Times, 23./29.
eine textuelle Analyse bestimmen, anderes wiederum ist offensichtli­ August 1985: 10).
cher - die Verweise auf Marilyn Monroe beispielsweise und auf die
Musicals, in denen sie oft mitspielte. Die subtilere Parodie liegt in Madonna parodiert ständig konventionelle Repräsentationen von
Madonnas bewusstem Einsatz der Kamera, um sich über die konven­ Frauen, und die Parodie kann ein effektives Mittel zur Hinterfragung
tionellen Repräsentationen der weiblichen Sexualität lustig zu ma­ der dominanten Ideologie sein. Sie bedient sich der Grundmerkmale
chen, während sie aber gleichzeitig mit diesen konform geht. Selbst ihres Objekts, übertreibt diese und macht sich über sie lustig und
dem Playboy fällt ihre Selbstparodie auf: somit auch über jene, die auf seine ideologische Wirkung »hereinfal­
len«. Aber Madonnas Parodie macht hier nicht Halt: Sie parodiert
»Die Stimme und der Körper sind ihre Gaben, und doch könnte Madonnas Geheimnis ihr nicht nur die Stereotypen, sondern auch die Art und Weise, wie diese
satirischer Biss sein. Sie weiß, dass vieles an dieser Imagesache einfach Mist ist: Sie ist erzeugt werden. Sie suggeriert, die Kontrolle über ihr eigenes Image
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wie auch über dessen Produktionsprozess zu haben. Der Leserin auf aus diesem Kontext. Er steht für die Macht (wie schwer diese auch
der Leserseite des semiotischen Prozesses erlaubt dies eine vergleich­ errungen sein mag) der Untergeordneten, im kulturellen Prozess der
bare Kontrolle über ihre eigenen Bedeutungen. Madonnas exzessiver Bedeutungsproduktion ein gewisses Maß an Kontrolle auszuüben.
Einsatz von Juwelen, von Make-up und trashigem Stil bietet den Le­ Madonnas Videos haben immer mit der Produktion von Bildern
sern einen ähnlichen Spielraum. Exzessivität führt den Leser zu einer zu tun, und sie machen ihre Kontrolle über diese Produktion zum
Hinterfragung der Ideologie; übermäßig aufgetragener Lippenstift Bestandteil des Bildes selbst. Diese Akzentuierung der Herstellung
stellt den geschmackvoll geschminkten Mund in Frage, ein Zuviel� von Bildern erlaubt oder ermöglicht sogar eine entsprechende Kontrol­
Juwelen hinterfragt die Rolle des weiblichen Schmucks im Patriarchat. le ihrer Rezeption durch den Leser. Sie befähigt Mädchen zu der
Exzess setzt sich über ideologische Kontrolle hinweg und bietet Raum Erkenntnis, dass die Bedeutungen der weiblichen Sexualität ihrer
für Widerstand. So lassen sich Madonnas extrem aufreizender Kontrolle unterliegen und auch in ihrem Interesse erzeugt werden
Schmollmund und ihre übertrieben geschminkten Lippen dahinge­ können, und dass zudem ihre Subjektivitäten nicht notwendigerweise
hend lesen, dass sie ihren Look nicht den Wünschen des Patriarchats gänzlich vom dominanten Patriarchat bestimmt sind.
angepasst, sondern sich bewusst für diesen Look entschieden hat. Die ständigen Wortspiele in den Liedtexten von Madonna haben
Nicht um die Rolle des Christentums im Patriarchat (und im Kapita­ eine vergleichbare Funktion. Wortspiele treten auf, wenn ein Wort in
lismus) zu stützen oder zu attackieren, trägt sie religiöse Abbilder zwei Diskursen vorkommt - im Fall von »Material Girl« sind das die
(und einen religiösen Namen), sondern weil sie in ihnen schöne, Diskurse der Ökonomie und der Sexualität. Ein Signifikant be�tzt
erotische Schmuckstücke sieht. Sie bedient sich ständig der Gegen­ gleichzeitig mehrere Signifikate, dies sich je nach zugehörigem Dis­
stände des urbanen Lebens, reißt diese aus ihrem ursprünglichen kurs unterscheiden. Die offensichtlichsten Wortspiele im genannten
sozialen, und somit be-deutenden, Zusammenhang und kombiniert Song sind »give me proper credit« (»gib mir, was mir zusteht«), »raise
sie auf eine neue Art und in einem neuen Kontext, was deren ur­ my interest« (»steigere mein Interesse/erhöhe meinen Anteil«) und
sprüngliche Bedeutung negiert. So wird das Kruzifix aus seinem reli­ »experience has made me rich« (»die Erfahrung hat mich reich ge­
giösen Kontext gerissen und die Spitzenhandschuhe aus jenem der macht«). Unter die weniger offensichtlichen fallen »the boy with the
bourgeoisen Respektabilität oder aber umgekehrt aus dem des Bor- cold hard cash« (»der Junge mit dem kalten harten Baren«) oder »only
dells. Indem sie Unterwäsche als Oberbekleidung trägt und diese aus boys that save their pennies make my rainy day« (»nur Jungs, die ihre
dem Boudoir hinaus auf die Straße (oder sogar in die Kirche) versetzt, Pennies sparen, versüßen mir den Tag« - »make« hat hier nur rudi­
rekonfiguriert sie sie. Wenn durch ihr blond gefärbtes Haar der dunk- mentäre sexuelle Konnotationen, und das Homonym von »Pennies«
le Haaransatz bewusst sichtbar bleibt, dann ist das nicht länger Zei- und »Penis« ist nur schwach ausgeprägt). Die Wortspiele leisten eine
chen einer nuttigen Schlampe, und auch die Strumpfhalter und typische ideologische Arbeit, wenn sie ökonomischen mit sexuellem
Strümpfe stehen nicht länger für Softpornos oder für männliche Geil- Erfolg gleichsetzen; eine gängige Strategie der Populärkultur im patri­
heit. archalen Kapitalismus. Wortspiele benötigen jedoch aktive Leser und
Dieses Entwinden der Produkte des Kapitalismus aus ihrem ur­ können nie jene Bedeutungen gänzlich kontrollieren, die durch eine
sprünglichen Kontext und ihr Recycling zu einem neuen Stil ist laut Paarung von disparaten Diskursen verursacht werden. Diese Wort­
Iain Charnbers (r986: 7-r3) eine für die urbane Populärkultur typische spiele vermögen die ökonomische und sexuelle Unterordnung von
Praxis. Die Produkte werden zu Signifikanten aufgewertet; ihr ideolo­ Frauen wie auch die Art und Weise, in der diese beiden Diskurse zu
gisches Signifikat wird verworfen und in seinem ursprünglichen einer wechselseitigen Naturalisierung benutzt werden, aufzudecken
Kontext zurückgelassen. Diese losgelösten Signifikanten haben nicht und damit zurückzuweisen, oder sich dieser zumindest zu widerset­
unbedingt eine bestimmte Bedeutung, sie binden nicht notwendiger­ zen. Die erste und die letzte Strophe des Songs lauten:
weise neue Signifikate an sich. Der Akt ihrer Loslösung aus ihrem
ideologischen Kontext steht vielmehr für die Befreiung ihrer Benutzer
56 l_()er John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen [j_7

Some boys kiss me some boys hug me »Boy« ihr Spielzeug ist - so wie sie in »Material Girl« mit den Jungs
1 think they're OK spielt.
lf they don't give me proper credit Wortspiele sind auch im Wortpaar »materiell/materialistisch« am
1 just walk away. Werk, das im Diskurs des ökonomischen Kapitalismus verortet ist,
aber häufig dazu benutzt wird, um an diesem Diskurs Kritik zu üben,
Boys may come and boys may go entweder von einem religiösen Standpunkt aus oder aufgrund einer
And that's all right you see »ausgeprägten Empfindsamkeit«. Lehnt man den Materialismus des

Experience has made me rich Songs ab, dann lässt sich Madonna als Vertreterin der Werte einer
And now they're after me. (Madonna 1985) größeren Sensibilität und einer mehr geistigen Liebe lesen, sei diese
nun säkular-erotisch oder religiös-erotisch. In Madonnas Verbindung
(Manche Jungs küssen mich, manche Jungs umarmen mich von säkularer und religiöser Liebe wird eine starke Grundtendenz des
Ich finde, sie sind schon okay patriarchalen Christentums im Allgemeinen und des Katholizismus
Wenn sie mir nicht geben, was mir zusteht/ im Besonderen sichtbar, die traditionell die lüsterne Liebe der Männer
mir nicht angemessenen Kredit einräumen für Maria Magdalena zu mobilisieren, in der Folge auf die Jungfrau
Gehe ich einfach weg.) Maria zu verschieben und in diesem Prozess zu vergeistigen trachtete.
Bei Madonna jedoch wird der Dualismus dieser Liebe negiert;�sie
(Jungs mögen kommen und Jungs mögen gehen passt in keine Dichotomie des Entweder-oder, in der die eine Form der
Doch das ist schon in Ordnung, verstehst du? .� Liebe der anderen in moralischer Hinsicht überlegen ist. Indem sie
Die Erfahrung hat mich reich gemacht diesen Gegensatz und die darin eingeschriebene moralische Hierar­
Und jetzt sind sie hinter mir her.) chie ablehnt, verwirft sie die traditionelle patriarchale christliche Ein­
schätzung der Liebe und erlaubt damit der sexuellen oder sentimenta­
Diese Wortspiele können dazu dienen, die Fähigkeit von Frauen zu len Liebe, auf derselben Ebene aufzutreten wie die religiöse Liebe, der
behaupten, eine sexuell-ökonomische Unabhängigkeit zu erlangen, sie aber keinesfalls untergeordnet ist. Ihr Einsatz des Kreuzes als
nicht aber, um die zweifache Unterordnung von Frauen zu naturali­ Schmuck für den weiblichen Körper und ihre Charakterisierung von
sieren. Wenn im Patriarchat einer Frau allein ihr Körper zugestanden Nonnen als sexy sind Teil ihrer kritischen Befragung einer patriarcha­
wird, dann kann sie diesen zumindest für ihre Interessen einsetzen len christlichen Tradition, die sich Liebe mithilfe eines moralistischen
und nicht für jene der Männer. Gegensatzes zwischen der Spiritualität der Jungfrau und der Lust der
Das Wortspiel sperrt sich stets einer endgültigen ideologischen Hure erklärt. Genauso sperrt sich das Video zu »Like A Virgin« der
Schließung: Es gibt immer eine größere Zahl an potenziellen Be­ moralischen Wahl des Zuschauers zwischen der jungfräulichen Ma­
deutungen, die durch das Aufeinandertreffen von unterschiedli­ donna im weißen Brautkleid und der sexy Madonna in der schwarzen
chen Diskursen hervorgerufen werden, als die von der dominanten Sängerkluft. Zu ihrem Video bemerkt sie:
Ideologie vorgegebenen Bedeutungen. Daher kann »Boy Toy« -
jene Bezeichnung, die Madonna ihrer Produktlinie gegeben hat und »Leidenschaft, Sexualität und Religion vermischen sich für mich. Ich glaube, man kann
die die Medien für sie verwenden - auf eine Weise gelesen werden, eine äußerst sexuelle Person sein und gleichermaßen eine sehr religiöse und spirituelle
wie das der Playboy tut, wenn er sie als »the world's number one Boy Person .. . Ich bin eine sehr sexuelle, sehr spirituelle Person. Wo liegt da das Problem?«
Toy« (September 1985: 122; »das beliebteste Spielzeug der Jungs«) (US, 13. Juni 1991: 23)
oder als »the compleat Boy Toy« (ebd.: 127; »das perfekte Spielzeug für
Jungs«) bezeichnet. Dieser Lesart zufolge ist Madonna ein Spielzeug In »Like A Prayer« werden diese Spiritualität und Leidenschaft auf
für Jungs, aber das Wortspiel kann ebenso gut bedeuten, dass der eine derart explizite Weise vermischt, dass sich Pepsi genötigt sah,
58 1 Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen 1 59

ihren auf diesem Video beruhenden Fernsehspot zurückzuziehen. kraftvoll, selbstbewusst und sexuell herausfordernd. Sie nutzt diesen
Das Video ist eine komplexe Montage von Bildern, die Madonna in »verdrehten« Striptease nicht zur Verlockung der sie beobachtenden
ihrer Unterwäsche in einer schwarzen Kirche zeigen, wo sie das Bild­ männlichen Voyeure, sondern um diese zu beherrschen, und dabei
nis eines schwarzen Heiligen küsst und diesen damit zum Leben kehrt sie die Machtbeziehungen der freudschen Theorie des Voyeu­

erweckt, mit einem Narrativ, in dem sie die Freilassung eines jungen
Schwarzen erwirkt, der für ein Verbrechen hinter Gittern ging, das er
rismus um.
Im Video können wir einige der Voyeure deutlich sehen, während
nicht begangen hatte. Obzwar dieses Video keine offenkundige bev.Q!a die voyeuristische Macht laut Freud ja von der Unsichtbarkeit des
zugte Bedeutung besitzt, erregte das Video durch seine provozieren­ Voyeurs abhängt. Aber diese Männer werden nicht nur ans Licht ge­
den Bilder zu den Themen Sexualität, Religion, »Rasse«, Gender und zerrt und sichtbar gemacht, sondern auch verhöhnt, parodiert und
Gerechtigkeit bei vielen der dominanten Gruppen der Gesellschaft übertrieben dargestellt. Sie werden durch ein Reihe von entmächti­
Anstoß. Der religiösen Mitte zuzurechnende Gruppen verurteilten das genden Bildern wie beispielsweise Pappkameraden (die Madonna
Video als blasphemisch, und doch konnten zwei meiner Studenten urnkickt) dargestellt, manche werden auf dem Boden kriechend ge­
keinen Beleg dafür finden, dass es von schwarzen Kirchen beanstan­ zeigt, um noch einen letzten Blick auf sie zu werfen, bevor sie hinter
det worden wäre (Brean/Dell 1989). den Rollladen der Kabine verschwindet. Draußen an der Kasse ver­
Madonnas Fähigkeit, bei den sozial Mächtigen Anstoß zu erregen, sucht sich ein Jugendlicher Eintritt zu verschaffen, wahrscheinlich um
bei den Untergeordneten hingegen Gefallen zu finden, erreichte ihren im konventionellen Sinne »zum Mann zu werden«. Madonna »re.!1:et«
bisherigen Höhepunkt gegen Ende des Jahres 1990 mit der Veröffent­ ihn vor diesem Schicksal, und in der letzten Einstellung des Videos
lichung ihres Videos zu »Justify My Love« (siehe unten). MTV weiger­ sieht man die beiden in derselben zwitterhaften Kleidung, wie sie sich
te sich, das Video zu zeigen, und in einem feindseligen, sexistischen in einem :v.icht-sexuellen, gender-neutralen Freudentanz davon ma­
Interview in der Sendung Nightline der NBC wurde Madonna beschul­ chen, während der Besitzer der Peepshow Madonna flehentlich zuruft,
digt, die zulässigen Grenzen der sexuellen Repräsentation überschrit­ doch wieder ihre Rolle als sexueller Lockvogel zu spielen. Die Ironie
ten zu haben. Ihre Antwort lautete, dass ihrer Meinung nach diese besteht natürlich darin, dass sie aufgrund ihrer Kontrolle über den
konventionellen Grenzen die Herabsetzung und Erniedrigung von Blick jener, die sie verzaubert, nie der Lockvogel war, für den sie der
Frauen gestatten und Gewalt gegen Frauen tolerieren, es jedoch zwei Besitzer gehalten hatte.
oder mehreren Leuten, gleich welchen Geschlechts, nicht erlauben, Madonna weiß sehr genau um die Bedeutung des Looks. Dabei
einen wechselseitigen Austausch der sinnlichen Vergnügen des Be­ handelt es sich um ein komplexes Konzept, denn es beinhaltet ihr
rührens und Beobachtens einzugehen. Die konventionellen Grenzen Aussehen (wie sie aussieht), ihren Blick (wie sie andere anblickt - ins­
beschränken Sexualität auf patriarchale Vorherrschaft, und indem sie besondere, wie sie in die Kamera blickt) und jenen Blick, den ande­
diese Grenzen zurückwies und durch eigene ersetzte, behauptete re auf sie richten. Traditionellerweise bestimmen die Männer über
Madonna ihre Kontrolle über ihre eigene Sexualpolitik, auch wenn den Blick, und Freuds Theorie des Voyeurismus zufolge ist der männ­
dies bei anderen Leuten Anstoß erregen sollte. Die Tatsache, dass es liche Blick stets ein Hauptmerkmal der patriarchalen Macht über Frau­
sich bei der beleidigten Gruppe erneut um die sozial dominante han­ en. Madonna eignet sich jedoch diese Macht an und zeigt, dass die
delte, ist bezeichnend für die Politik dieser Kontrolle. Kontrolle der Frau über den Blick bzw. das Aussehen (in allen drei
In dem früheren Video zu »Open Your Heart« konzentrierten sich oben angeführten Bedeutungen) entscheidend ist, um die Kontrolle
die Bilder ebenso auf die Kontrolle von Sexualität. Darin spielt Ma­ über ihre eigenen Bedeutungen innerhalb des Patriarchats zu erlangen.
donna eine Stripteasetänzerin in einer Peepshow. Im laufe ihres Eine der Arten, wie sich Madonna dieser Kontrolle bemächtigt,
sexuellen und »enthüllenden« Tanzes wird uns allmählich klar, dass besteht paradoxerweise im Verzicht auf diese Kontrolle. Sie möchte
sie die Konventionen des Striptease unterwandert, indem sie ihre die Bedeutungen von Gender und die damit einhergehenden Identitä­
Parodie auf dieses Genre nicht demütig und gefällig anlegt, sondern ten nicht beschränken oder festlegen, denn dies würde nur auf eine
60 1 Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen j 61

Reproduktion der schlimmsten Politik des Patriarchats hinauslaufen. Bislang habe ich mich in diesem Aufsatz auf junge Mädchen als typi­
Ihr Ziel ist es, diese freizusetzen und damit den vom Patriarchat Un­ sches Subkulturpublikum von Madonna konzentriert. Dabei handelt
terworfenen und Marginalisierten - also all jenen, die nicht zur Grup­ es sich jedoch bei weitem nicht um ihre einzigen Fans. Denn auch in
pe der heterosexuellen Männer gehören - eine größere Kontrolle über der Schwulenkultur hat Madonna einen hohen Stellenwert. 6 Der
ihre eigene Sexualität und somit eine größere Vielfalt an sexuellen Diskjockey einer Schwulenbar in Madison, Wisconsin, sieht in ihr
• eine Verfechterin des Egalitarismus, »die eine nach Vielfalt dürstende
Identitäten und sexuellen Beziehungen in unserer Gesellschaft zu
ermöglichen. Generation anspricht«. Für ihn besitzt Madonnas Ausweitung der

Die Ausübung von semiotischer Macht erfolgt durch eine Kontrol- beschränkten sexuellen Kategorien des Patriarchats eine reizvolle
le über jene Kategorisierungen, die zur Deutung der Welt benutzt Progressivität. Ihre überzogene, spielerische Kontrolle über ihr eige­
werden, und das Patriarchat will sexuelle Kategorien und deren Be­ nes Image und ihre Fähigkeit, dieses Image beliebig zu ändern, wird
deutungen ständig kontrollieren. Also stellt Madonnas konsequente wiederum von anderen Angehörigen der Schwulengemeinschaft von
Weigerung, diese Kategorien anzuerkennen oder sich darin einzufü- Madison als besonders anziehend empfunden. Es gibt nur sehr weni­
gen, eine Strategie des Widerstandes dar. In ihren Songs und Videos ge eindeutige Belege dafür, dass die Kontrolle über ihr Image dem
propagiert sie bewusst Ambiguität und Androgynität, und die auf­ Bedürfnis von bestimmten Schwulen nach Verstellung entgegenkam,
grund ihrer Ablehnung von konventionellen sexuellen Kategorien um in einer heterosexuellen Gesellschaft problemloser leben zu kön­
expliziteste ihrer Arbeiten ist in dieser Hinsicht das Video zu »Justify nen; vielmehr bestand ihre Anziehungskraft in ihrer Ehrlichkeit_und
My Love« aus dem Jahr 1990 ( US, 13. Juni 1991: 20-23). Die darin Macht, sexuelle Stereotypisierungen abzulehnen. Madonna betont,
gezeigte Sinnlichkeit und Erotik wechselseitiger Liebe setzt sich spie- dass es in »Justify My Love« darum gehe, »offen und ehrlich zu unse­
lend über die Kategorien des unbestreitbar Heterosexuellen, des ein­ ren Partnern zu sein« (Nightline, NBC, 3. Dezember 1990), was impli­
deutig Homosexuellen wie auch des Androgynen hinweg. Das Video ziert, dass herkömmliche Sexualität oft mit Unehrlichkeit zu tun hat
zeigt sowohl äußerst feminine Frauen und Männer als auch maskuli- wie auch mit dem Versuch, die eigene Sexualität in eine bestehende
ne Männer und Frauen; seine Vergnügen setzen sich über die Be­ Kategorie einzupassen und sich damit der dieser Macht innewohnen­
schränkungen eines traditionellen Paares hinweg und umfassen so- den Kategorisierung zu unterwerfen. In einem Schwulenmagazin
wohl die Lust des Betrachtens als auch jene des Berührens. Es ver­ heißt es:
wundert nicht, dass MTV seine Ausstrahlung verweigerte. Das Video
geriet für kurze Zeit zu einer Cause celebre der Geschlechterpolitik »Sie hilft uns dabei, religiösen Schuldgefühlen zu begegnen, reinigt uns von libidinösen
und wurde - wie vorherzusehen war - einerseits bezichtigt, Porno­ Hemmungen und zwingt uns dazu, die Grenzen von Gender, Geschlechtsverkehr und Verantwortung
grafie, Perversion und Promiskuität zu befürworten, andererseits aber zu überdenken - und all das mit einem feinen Beat, zu dem du tanzen kannst ... Ihr Stolz, ihre
aufgrund seiner Unterstützung der Emanzipation, seiner Ehrlichkeit Extravaganz und ihr Glamour sprechen Schwule an, und ebenso trifft ihre Butch/Fem-Dichotomie und
und Erotik verteidigt. Ein Befürworter des Videos, Jim Farber, fasste ihre Ablehnung der Opferrolle bei Lesben den richtigen Ton« (O u t week, März 1991: 35-41).
die Kontroverse folgendermaßen zusammen:
Madonna selbst rechtfertigt ihr Video folgendermaßen: »Es ist eine
»Hier kann es sich gar nicht um Pornografie handeln, da das V ideo eine äußerst konkrete Huldi gung an den Sex. Es geht um zwei Leute - egal welchen Ge­
Position bezieht. Madonnas Darstellung verwischter Gendergrenzen dient sowohl zur Belus­ schlechts -, die Zuneigung füreinander zeigen, und daran ist wohl
tigung und zur Emanzipation als auch zur Ausbeutung. Ihre frechen S/M-Phantasien be­ nichts auszusetzen.« Denjenigen, die behaupten, sie würde sich selbst
haupten letztendlich die Unabhängigkeit des Individuums, und um sicherzustellen, dass wir und die Frauen im Allgemeinen in ihrer Arbeit erniedrigen, antwortet
das auch richtig mitbekommen, erscheint gegen Ende des Clips die folgende Zeile des Lied­ sie selbstsicher, sie würden wohl »ein paar Dinge vergessen. Ich bin
texts auf dem Bildschirm: >Bemitleidenswert sind jene, deren Lüste von der Erlaub­ hier diejenige, die das Sagen hat. Ich selbst setze mich ja diesen Situa­
nis anderer abhängen«< (Enter t a i n m e n t Wee k ly, 14. Dezember 1990: 19). tionen aus. Da gibt es keinen Mann, der mich zu diesen Dingen
62 L Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen 1 63

zwingt. Ich habe hier die Verantwortung« (Nightline, NBC, 3. Dezem­ Beziehungen stets eine politische Dimension (denn all diese Bezie­
ber 1990). hungen werden mehr oder weniger direkt von der ungleichen Macht­
Dieser Sinn für Macht und Kontrolle in sexuellen Beziehungen verteilung determiniert), und somit entstehen alle Bedeutungen teil­
spricht, wenn auch auf unterschiedliche Weise, ebenso junge Mäd- weise auf einer politischen Grundlage. Einige sehen in dieser Politik
chen wie schwule und lesbische Gemeinschaften an. Eine abschlie­ eine Politik der Akzeptanz, andere wiederum eine der Ablehnung oder
ßende, wenn auch extreme Anm"erkung zu dieser Anziehungskraft der Opposition, für die meisten aber wird diese Politik eine Grundlage
stammt von Michael Musto: »Trotz des Versuchs der Regie� für die Aushandlung von Bedeutung oder für den Widerstand sein.
bestimmte Themen von Madonna von der Bildfläche verschwinden zu Die Kulturanalyse kann uns dabei helfen, die Funktion eines
lassen, ist sie derzeit als Rollenmodell und Verkörperung des Wandels Fernsehtexts als Arena für diesen Kampf um Bedeutungen aufzuzei­
mächtiger als die Regierung« (Outweek, März 1991: 62). gen. Sie betrachtet das Fernsehen als einen Bestandteil der gesamten
Cultural Studies versuchen Madonna nicht bloß als Bedeutungs­ kulturellen Erfahrung seiner Zuschauer; die Bedeutungen des Fern­
und Ideologieträgerin oder als Vertreterin von Kommerzialisierung sehens sind stets intertextuell, denn es wird immer im Kontext der
und Gewinnstreben zu sehen, obwohl sie sicherlich beides ist. Indem anderen Texte gelesen, die diese kulturelle Erfahrung bilden. Diese
sie ihre Multiakzentuiertheit betonen, zeigen sie sie als ein Terrain des intertextuellen Beziehungen können explizit und eng oder aber impli­
Kampfes, auf dem unterschiedliche soziale Formationen Beziehungen zit und schwach sein. Allen muscle dramas ist eine Reihe von Genre­
mit der dominanten sozialen Ordnung eingehen. Ihre Bedeutungen merkmalen gemeinsam, aber sie unterhalten auch weniger offe�­
und deren Politik lassen sich nicht aufgrund dessen evaluieren, was
dige - aber damit nicht notwendigerweise weniger bedeutsame -
sie ist, sondern nur aufgrund dessen, was die Leute in ihrem sozialen Beziehungen zur Vietnam Veterans' Parade, die zehn Jahre nach
Kontext aus ihr machen. Die von ihr hervorgerufene Kontroverse ist Kriegsende in New York stattfand, und zum 1982 in Washington,
nicht nur ein Beleg dafür, wie offen dieses Terrain für diesen Kampf D.C., enthüllten Vietnam Memorial.
um Bedeutung ist, sondern auch für das Verlangen der Leute, alle nur Kommentare im Fernsehen von Kritikern und Journalisten, Fan­
erdenklichen Gelegenheiten zu ergreifen, um sich an diesem Kampf zines und die Boulevardpresse sind weitere Beispiele für eine hohe
zu beteiligen. Intertextualität. Tony Bennett (1983) zufolge setzt sich Kritik aus einer
Reihe von ideologischen Angeboten für die Bedeutung eines Texts
Ich habe in diesem Aufsatz einige methodologische Aspekte und theo­ zusammen, und eine Untersuchung darüber, welche Interpretationen
retische Implikationen der britischen Cultural Studies zu demonstrie­ in welchen Publikationen für welche Publika bevorzugt werden, kann
ren versucht. Nun will ich mich bemühen, diese zusammenzufassen. un s verstehen helfen, warum und wie bestimmte Bedeutungen eines
Der Fernsehtext ist ein Potenzial von Bedeutungen. Diese Bedeu­ Texts aktiviert werden anstatt mögliche andere. Wir müssen verstehen
tungen werden von unterschiedlichen Lesern in ihren jeweils unter­ können, wie es dieses Ensemble an Bedeutungen, das wir »Madonna«
schiedlichen sozialen Situationen akti"iert. Da der Fernsehtext von nennen, gleichzeitig einem Playboy-Leser ermöglicht, die Bedeutun­
einer kapitalistischen Institution produziert wird, transportiert er auch gen »compleat Boy Toy« zu aktivieren, und einem weiblichen Fan, sie
notwendigerweise diese Ideologie. Sämtliche subkulturellen oder wi­ als sexy und als keines Mannes bedürftig zu erleben, als jemanden,
derständigen Bedeutungen, die sich daraus ergeben, sind nicht »un­ der »ganz sie selbst« ist. Unterschiedliche Publikationen spiegeln die
abhängig«, sondern werden in Relation zur dominanten Ideologie Bedeutungen wider, die in einer Kultur zirkulieren, und diese Bedeu­
geschaffen. Da Subkulturen auf eine jeweils unterschiedliche Weise tungen werden dann wieder in den Fernsehtext »hineingelesen«, als
mit dem sozialen System in Beziehung stehen, werden sie eine ent­ ein unvermeidlicher Bestandteil der Aufnahme dieses Textes in die
sprechende Vielfalt an Möglichkeiten produzieren, wie sich ihre sub­ gesamte kulturelle Erfahrung des Lesers.
kulturellen Lesarten des Fernsehens auf die von der dominanten Ideo­ Denn Kultur ist ein Prozess der Bedeutungsproduktion, an dem
logie bevorzugten beziehen lassen. Im Kapitalismus haben soziale sich die Leute aktiv beteiligen. Sie ist kein Set von vorgefertigten Be-
64 j Der John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen [ 65

deutungen, die an die Leute weitergegeben und ihnen aufgezwungen gesehen werden muss. Zweitens gibt es eine darunter liegende Ebene
werden. Natürlich ist unsere »Freiheit« bei der Schaffung von Bedeu­ von Texten, die ebenso von der Kulturindustrie produziert werden,
tungen, die unseren Interessen entsprechen, ebenso beschränkt wie manchmal jedoch von unterschiedlichen Sektoren dieser Industrie. Zu
jede andere »Freiheit« in der Gesellschaft auch. Der massenhaft her­ diesen Texten gehören die Werbung von einzelnen Sendern, die Fern­
gestellte Text wird von kapitalistischen Institutionen mit dem Ziel sehkritik und das Fernsehkommentar, Leitartikel über bestimmte
eines wirtschaftlichen Gewinns produziert und zirkuliert, und daher Sendungen und deren Stars, Tratschkolurnnen, Fanzines und so wei­
ist er auch von der kapitalistischen Ideologie geprägt. Der massenh� ter. Darin lassen sich Belege für die Art und Weise finden, wie die
hergestellte Text kann jedoch nur durch die Leute zu einem populären potenziellen Bedeutungen des ursprünglichen Texts von verschiede­
Text werden, und diese Transformation tritt dann ein, wenn es den nen Publika oder Subkulturen aktiviert und in ihre Kultur eingebun­
verschiedenen Subkulturen gelingt, Sets von Bedeutungen zu aktivie- den werden. Auf der dritten Ebene der Textualität finden sich jene
ren und diese dann zu einem Teil ihrer täglichen kulturellen Erfah- Texte, die die Zuschauer selbst produzieren, also ihre Gespräche über
rung zu machen. Sie greifen massenhaft produzierte Signifikanten auf das Fernsehen, ihre Briefe an Zeitungen und Zeitschriften und ihre
und nutzen diese über den Prozess der »Exkorporation«, um subkul­ Aneignung der im Fernsehen gezeigten Kleidungs-, Sprach- und Ver­
turelle Bedeutungen zu artikulieren und zu zirkulieren (Grossberg haltensstile oder sogar Denkweisen.
1984). Diese drei Ebenen fließen ineinander. Einige der sekundären
Der Tratsch ist ein wichtiges Mittel für diese aktive Zirkulation Texte, wie beispielsweise jene der Public Relations, befinden sic:;_h in
von Bedeutungen. Die »Uses-and-Gratifications«-Theoretiker der einer großen Nähe zu primären Texten; andere wiederum, wie-bei­
197oer Jahre7 erkannten, dass das Fernsehen normalerweise im spielsweise die unabhängige Kritik und Kommentare, wollen »für« die
Sinne einer »Münze des sozialen Tausches« benutzt wurde - als et­ dritte Ebene »sprechen«. Als Grundlage dafür lässt sich meiner Mei­
was, worüber man im Schulhof, morgens in vorstädtischen Cafes, in nung nach eine orale Populärkultur ausmachen, die ihre frühere Rolle
der Arbeit während der Kaffeepause und zu Hause im Wohnzimmer an eine neue, zu einer Massengesellschaft passenden Rolle angleicht.
reden konnte (McQuail/Blurnler/Brown 1972). Dorothy Hobson Diese soziale Zirkulation von Bedeutungen hat stets Kampf und
(1982) hat die Bedeutung aufgezeigt, die der Tratsch für Fans von Wettstreit zur Folge, denn die sozial Mächtigen versuchen ständig,
Seifenopern spielt, und Christine Geraghty (1981) hat ihn als den jene Bedeutungen zu unterdrücken, für nichtig zu erklären oder zu
»sozialen Zement« bezeichnet, der die Erzählstränge von Seifenopern marginalisieren, die von untergeordneten Gruppen gemäß ihrer eige­
zusammenführt und die Fans aneinander wie auch an den Fernseh­ nen Interessen produziert werden und die somit mit ihren eigenen in
text bindet. Ein Verständnis für diese Gebrauchsweise des Fernsehens Konflikt stehen. Diese Betonung des Konflikts, der den Bereich der
als eines Mediums, das Kultur ermöglicht, als eines Mittels zur Teil­ Kultur ebenso durchdringt wie jenen der sozialen Beziehungen,
nahme an der Zirkulation von Bedeutungen, zeichnet sich erst in macht den Hauptunterschied aus zwischen der Entwicklung der Cul­
letzter Zeit ab, und der Tratsch oder das Gerede über das Fernsehen tural Studies in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten. So
wird nicht länger als Ziel an sich betrachtet (so wie dies im »Uses­ wie die meisten Länder Kontinentaleuropas hat Großbritannien nie
and-Gratifications«-Ansatz der Fall war), sondern als ein Weg, um bezweifelt, dass es als Gesellschaft um den Klassenkonflikt struktu­
aktiv an jenem Prozess der Produktion und Zirkulation von Bedeu­ riert ist. Daraus resultiert, dass marxistische Analyseansätze, die ja
tungen teilzuhaben, der Kultur ausmacht. entwickelt wurden, um kapitalistische Gesellschaften als notwendi­
Die Kulturanalyse des Fernsehens drängt uns also dazu, drei un­ gerweise von widerstreitenden sozialen Interessen und somit auch
terschiedliche Ebenen von »Texten« und die Beziehungen, die diese von ständigen sozialen Kämpfen bestimmte Gesellschaften beschrei­
unterhalten, zu untersuchen. Zuerst ist da der ursprüngliche Text auf ben zu können, für die Entwicklung der Cultural Studies in Großbri­
dem Fernsehbildschirm, der von der Kulturindustrie produziert wird tannien während der 197oer und 198oer Jahre von besonderer Bedeu­
und in ihrem Kontext als Teil der Gesamtproduktion dieser Industrie tung waren.

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66 LDer John Fiske-Reader Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen 1 67

Die Kulturlcritik in den Vereinigten Staaten besitzt hingegen eine Großbritanniens, vor allem im Hinblick auf »Rassen«- und Klassen­
anders geartete Geschichte. Ihr ging es hauptsächlich darum, aus beziehungen, machen eine Modifizierung ihrer Modelle notwendig.
äußerst unterschiedlichen sozialen Gruppen von Immigranten, Skla- Derartige Unterschiede, so bedeutend sie auch sein mögen, gehören
ven und Ureinwohnern eine nationale Einheit oder einen Konsens zu dennoch zu einem allgemeinen weißen, patriarchalen Kapitalismus,
schaffen. Ihre Industrialisierung ging nicht aus einer agrarisch-kapi­ dessen enorme Mittel, Gelder und Ressourcen unter seinen Mitglie­
talistischen Gesellschaft hervor, in der es eine bereits politisierte Bau­ dern ungerecht verteilt sind. Wenn eine amerikanische Version der
ernklasse gab - was einen der Hauptgründe sowohl für die Instabili� britischen Cultural Studies eine kritisch-engagierte Theorie liefern
der Arbeiterbewegung als auch für die Unsichtbarkeit des Klassensys- kann, die die Kultur der Herrschaft lcritisiert und sich jenen Kultu­
tems in den Vereinigten Staaten im Vergleich zu Großbritannien dar- ren der Untergeordneten anschließt, die sich gegen eine soziale Unge­
stellt. Die US-amerikanischen Cultural Studies tendierten also zu libe­ rechtigkeit wenden, und wenn sie damit zu einer gerechteren, aber
ral-pluralistischen Theorien, die von einem relativ harmonischen und auch vielgestaltigen Gesellschaft beiträgt, dann wird ihr Import wohl
stabilen Zusammenleben der unterschiedlichen sozialen Gruppen gerechtfertigt gewesen sein. Sollte dies nicht der Fall sein, ist es bes­
ausgingen. Die Modelle, denen sich die US-amerikanische Kulturtheo- ser, sie so schnell wie möglich wieder los zu werden.
rie zuwandte, stammten nicht aus dem Marxismus und der Analyse
von sozialen Konflikten, sondern aus der Anthropologie und der Ana-
lyse des sozialen Konsenses. Indem sie sich auf Vorstellungen wie ANMERKUNGEN �
Ritual und Mythologie stützten, betonten sie die Gemeinsamkeiten
von unterschiedlichen sozialen Gruppen, was eine Form der Commu- 1 Im Original »the people«; bei Fiske bezeichnet dieser Begriff
nitas darstellte, die eine gemeinsame Sprache und Kultur schuf, an keine »feste soziale Kategorie, [sondern] ein veränderliches Set an
der alle freiwillig teilhatten und woraus alle denselben Nutzen zogen. Allianzen, die sich durch alle sozialen Kategorien ziehen; unterschied­
Die These der dominanten Ideologie unterscheidet sich davon natür- liche Individuen gehören zu verschiedenen Zeiten unterschiedlichen
lich diametral, obwohl sie dennoch betont, was die Leute gemeinsam populären Formationen an, wobei sie sich häufig relativ mühelos
haben; in ihrem Fall teilen alle die dominante Ideologie, die jedoch zwischen diesen hin- und herbewegen. « Dieses veränderliche Set an
von einer gerechten Verteilung ihrer Mittel weit entfernt ist. Allianzen »lässt sich besser im Sinne der von den Leuten empfunde­
Das wachsende Interesse an den britischen Cultural Studies in nen Kollektivität beschreiben als hinsichtlich externer sozialer Fakto­
den Vereinigten Staaten während der r98oer Jahre hat wohl mit der ren wie beispielsweise Klasse, Geschlecht, Alter, >Rasse<, Region oder
Regierungszeit von Reagan zu tun. Der »Reaganismus« war ein Rück­ was auch immer« (Fiske 1989: 24). Wird der Begriff »the people« im
schlag für die in den r96oer und r97oer Jahren einsetzende Reduzie­ Text (meiner Meinung nach) in diesem besonderen Sinne gebraucht,
rung von Ungerechtigkeiten in den Bereichen Gender, »Rasse« und so übersetze ich, wie auch in vielen Cultural-Studies-Texten üblich,
Klasse; er machte die Kluft zwischen den Privilegierten und den Un­ mit »die Leute«; bezieht sich »the people« jedoch auf das allgemein
terprivilegierten noch größer und konzentrierte die Macht in den Menschliche, habe ich mich für »die Menschen« entschieden (A.d.Ü.).
weißen, männlichen, oberen Mittelklassen. Unter solchen Umständen 2 Im Original verwendet Fiske den Begriff der »Rasse« und ent­
überzeugten die Modelle des kulturellen Konsenses weniger als jene sprechende Ableitungen durchgängig ohne Anführungszeichen. Um
des kulturellen Konflikts. Mit ihrem Blick auf dem Kampf, ihrem jedoch auf die Problematik dieses Begriffes im europäischen Kontexts
Einsatz für die Interessen der Untergeordneten und ihrer Kritik an angesichts der Katastrophe des Holocausts zu verweisen, haben sich
den Machenschaften der Mächtigen schienen die britischen Cultural Übersetzer und Herausgeber dazu entschlossen, in jedem Fall Anfüh­
Studies für einen Import geradezu geschaffen. Aber die Theorie sollte rungszeichen zu setzen (A.d.Ü.).
nicht unverändert aus ihrer transatlantischen »Überquerung« hervor­ 3 Da im Englischen beim Substantiv aufgrund fehlender Flexions­
gehen. Die unterschiedliche Geschichte der Vereinigten Staaten und endungen das grammatische Geschlecht (Maskulinum, Femininum,
68 ! Der John Fiske-Reader

Neutrum) nicht zum Ausdruck kommt, kann das natürliche Geschlecht


nur an den entsprechenden Personal- und Possessivpronomen er­
kannt werden. Dies gilt jedoch nicht für Substantive, die die weibliche
Form durch eine besondere Endung oder aber durch eine lexikalische
Unterscheidung markieren. In vielen Fällen können auch Substantive
abweichend vom Deutschen sowohf' männliche wie weibliche Perso-
nen bezeichnen (im Fall von »a black person« kann also sowohl »ein�
Schwarzer« als auch »eine Schwarze« gemeint sein). In all jenen
Fällen, wo das natürliche Geschlecht im Englischen aufgrund der
oben genannten Möglichkeiten nicht bestimmt werden kann, müssten Sardisches Fernsehen 1
folglich in einer Übersetzung ins Deutsche stets die weibliche und die
männliche Form zu stehen kommen (also: »ein Schwarzer/eine
Schwarze«). Da dies aber den Lesefluss über Gebühr erschweren wür-
de, habe ich mich nach Rücksprache mit den Herausgebern dazu Entgegen anderen Erklärungsmodellen zur Funktion des Fernsehens
entschlossen, nur die männliche Form anzuführen, was jedoch - ich (wie beispielsweise des »Uses-and-Gratifications«-Ansatzes) betrach­
bin mir dieses Paradoxons bewusst - geschlechtsneutral gelesen wer- ten wir die innere psychologische Beschaffenheit des Individu�s
den sollte. Ich habe überall dort beide Formen in der Übersetzung nicht als den ausschlaggebenden Faktor bei der Übermittlung von
angeführt, wo sich auch der Autor im Original explizit beider Geschlech­ Fernsehbotschaften. Diese werden entsprechend individuell gelernten,
terformen bedient (A.d.Ü.). jedoch kulturell generierten Kodes und Konventionen dekodiert, die
4 Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich bei Volosinov und den Produzenten (encoders) der Botschaften natürlich ähnliche Perzep­
Bachtin um ein und denselben Autor handelt. tionszwänge auferlegen. Es scheint also, dass das Fernsehen die Funk­
S Eine detaillierte Darstellung dieser Studie findet sich in Fiskes tion eines sozialen Rituals übernimmt, das sich über individuelle Un­
Artikel »Für eine kulturelle Interpretation: Eine Studie zur Kultur der terschiede hinwegsetzt und auf das sich unsere Kultur einlässt, um
Obdachlosigkeit« in diesem Band (A.d.Ü.). mit ihrem kollektiven Selbst zu kommunizieren (vgl. Leach 1978: 59).
6 Eine meiner Studentinnen, Jennifer Alterman (1991), hat die Um diese Ansicht zu fassen, was zur Voraussetzung hat, dass wir
Anziehungskraft Madonnas auf die schwulen und lesbischen Ge­ uns einerseits auf die Botschaften und ihre Sprache wie auch auf die
meinschaften von Madison [Wisconsin, USA] ausführlich untersucht. Institutionen, die diese produzieren, andererseits auf die Reaktion des
7 »Uses and Gratifications« (in etwa: »Nutzen und Gratifikatio­ Publikums wie auch auf die Intentionen des Kommunikators konzen­
nen«) bezeichnet in den Worten von Tim O'Sullivan (O'Sullivan/Hart­ trieren, haben wir die Vorstellung des Fernsehens als Barden unserer
ley/Saunders/Montgomery/Fiske 1994) »jenen Ansatz für das Studi­ gegenwärtigen Kultur geprägt. Das Fernsehen übernimmt für die ge­
um von Medienpublika, der von der Annahme ausgeht, dass die Kon­ samte Kultur und für all die in dieser Kultur Lebenden eine »bardi­
sumation des Medienoutputs einzelner Zuschauer auf die Gratifika­ sche Funktion«. Wir verwenden den Begriff »Barde«, um bestimmte
tion bestimmter individuell erfahrener Bedürfnisse ausgerichtet und Eigenschaften hervorzuheben, die diese Botschaft, die mehrere Aus­
von diesen motiviert ist« (325) (A.d.Ü.). gangspunkte besitzt, mit traditionelleren bardischen Aussagen gemein
hat.
Erstens fungiert beispielsweise der klassische Barde als Ve1mittler
von Sprache, der aus den vorhandenen linguistischen Ressourcen der
Kultur eine Reihe bewusst strukturierter Botschaften bildet, die der
Selbstvergewisserung der Vertreter dieser Kultur dienen. Der her-

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