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Hannes Heer
Klaus Naumann (Hg.)

Vernichtungskrieg
Verbrechen der Wehrmacht
1941-1944

Zweitausendeins
Die Originalausgabe erschien mit vier Auflagen in der HamburgerEditionHIS
Verlagsges. mbH.
i. Auflage,März 1995.
2.Auflage, Mai 1995.
3. Auflage, Dezember 1995.
4. Auflage,Juli 1996.
Die nachfolgenden Auflagen bei Zweitausendeins wurden um ein Personen- und
Ortsregister erweitert.
5.Auflage, April 1997.
6.Auflage, Mai 1997.
7.Auflage, Mai 1997.
8.Auflage, Mai 1997.
9.Auflage,Juli 1997.
10.Auflage,Juli 1997.
Lizenzausgabe
mit freundlicher Genehmigung der Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH.
Copyright ©1995 by Hamburger Edition.
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen
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Der gewerbliche Weiterverkaufund der gewerbliche Verleihvon Büchern, Platten,
Videos oder anderen Sachen aus der Zweitausendeins-Produktion bedürfen
in jedem Fallder schriftlichen Genehmigung durch die Geschäftsleitung vom
Zweitausendeins Versand in Frankfurt.

Redaktion Bernhard Gierds.


Gestaltung Wilfried Gandras.
Das Umschlagfoto zeigt die Erschießungen an der Friedhofsmauer von Pancevo,
22.4.1941. Bildquelle: Historisches Museum Berlin/Gronefeld.
Umschlaglayout Angelo Marabese.
Herstellung dieser Ausgabe Dieter Kohler&BerndLeberfinger, Nördlingen.
Gesetzt aus Garamond.
Satz KSC GmbH, Buchholz/Hamburg.
Druck und Bindung Clausen& Bosse,Leck.
Printed in Germany.
DiesesBuch gibt es nur bei Zweitausendeins im Versand
(Postfach, D-60381 Frankfurt am Main,Telefon 01805-23 2001, Fax 01805-24 2001)
oder in den Zweitausendeins-Läden in Berlin, Düsseldorf, Essen,
Frankfurt, Freiburg, Hamburg, Köln, München, Nürnberg, Saarbrücken, Stuttgart.
In der Schweiz über buch 2000,Postfach 89, CH-8910 Affoltern a. A.
ISBN 3-86150-198-8
Inhalt

25 Hannes Heer, KlausNaumann


Einleitung

I. Verbrechen

39 Walter Manoschek
»Gehst mit Juden erschießen?«
Die Vernichtung derJuden in Serbien

Sj Hannes Heer
Killing Fields
Die Wehrmacht und der Holocaust

y8 ChristianStreit
Die Behandlung der verwundeten sowjetischen
Kriegsgefangenen

92 Rolf-Dieter Müller
Menschenjagd
Die Rekrutierung von Zwangsarbeitern in derbesetzten
Sowjetunion

104 Hannes Heer


Die Logik des Vernichtungskrieges
Wehrmacht undPartisanenkampf

i$y Mark Mazower


Militärische Gewalt und nationalsozialistische Werte
Die Wehrmacht in Griechenland 1941 bis 1944
191 MenachemShelah
Die Ermordung italienischer Kriegsgefangener,
Septemberbis November 1943

208 Michael Geyer


»Es muß daher mit schnellen und drakonischen
Maßnahmen durchgegriffenwerden«
Civitella in Valdi Chianaam 29.Juni 1944

IL Formationen

241 Margers Vestermanis


Ortskommandantur Libau
ZweiMonate deutscher Besatzung imSommer 1941

260 Bernd Boll/HansSafrian


Auf dem Weg nach Stalingrad
Die 6. Armee 1941/42

297 Truman O. Anderson


Die 62. Infanterie-Division
Repressalien im Heeresgebiet Süd, Oktober
bis Dezember 1941

323 TheoJ. Schulte


Korück 582

343 Klaus Geßner


GeheimeFeldpolizei- die Gestapo der Wehrmacht

359 Walter Manoschek/Hans Safrian


717./117.ID
EineInfanterie-Division auf demBalkan
III. Kriegerund Kriegerinnen

377 Jan Philipp Reemtsma


Die Idee des Vernichtungskrieges
Clausewitz - Ludendorff-Hitler

402 Christian Schneider


Denkmal Manstein
Psychogramm eines Befehlshabers

42-/ Christian Gerlach


Männerdes 20. Juli und der Krieg gegen die Sowjetunion

447 Klaus Latzel


Tourismus und Gewalt
Kriegswahrnehmungen in Feldpostbriefen

460 Gaby Zipfel


Wie führen Frauen Krieg?

47j DieterReifahrth/Viktoria Schmidt-Linsenhoff


Die Kamera der Täter

j 04 Bernd Hüppauf
Der entleerte Blick hinter der Kamera

IV. Tribunale

jj / Manfred Messerschmidt
Vorwärtsverteidigung
Die »Denkschrift derGeneräle« für den
Nürnberger Gerichtshof

551 Manfred Messerschmidt


Der Minsker Prozeß 1946
Gedanken zu einem sowjetischen Kriegsverbrechertribunal
j 69 AlfredStreim
Saubere Wehrmacht?
Die Verfolgung von Kriegs- undNS-Verbrechen
in derBundesrepublik undderDDR

V. Erinnerung

601 Omer Bartov


Wem gehört die Geschichte?
Wehrmacht und Geschichtswissenschaft

620 Friedrich Gerstenberger


Strategische Erinnerungen
Die Memoiren deutscher Offiziere

634 MichaelSchornstheimer
»Harmlose Idealisten und draufgängerischeSoldaten«
Militär undKrieg in denIllustriertenromanen der
fünfzigerJahre

651 Gabriele Rosenthal


Vom Krieg erzählen, von den Verbrechen schweigen

664 Stefanie Carp


Schlachtbeschreibungen
EinBlick auf Walter Kempowski undAlexander Kluge

Anhang

683 Über die Autoren

687 Abkürzungsverzeichnis

688 Personenregister

700 Ortsregister

705 Organigramme

707 Karten
Hannes Heer und Klaus Naumann JilllleitUng

Am 26. Juli 1941 notierte der Generalstabschef des Heeres, Franz


Halder, in seinem Kriegstagebuch einen rätselhaften Satz seines Vorge
setzten. Hitler habe ausgeführt: »Der Russe sei mit operativen Erfolgen
nicht zu schlagen, weil er sie einfach nicht anerkenne. Daher muß er
Stück für Stück in kleiner, taktisch zu wertender Umfassungzerbrochen
werden.«1 War das - einen Monat nach Feldzugsbeginn und nach den
größten siegreichen Kesselschlachten der Militärgeschichte - bereits ein
frühes Eingeständnis der Niederlage? Es war die Bestätigung, daß der
Grundgedanke des »Barbarossa«-Feldzuges - die Masse der Roten
Armee im Westen der Sowjetunion zu vernichten und ihr Ausweichen
nach Osten zu verhindern - nicht zu verwirklichen war. Hitler reagierte
mit nachsetzenden Umfassungsmanövern, die die deutschen Armeen
immer tiefer in den russischen Raum hineinzogen.
Spätestens im Herbst 1941 zeichnete sich ab, daß auch die zweite
Grundannahme - der Feldzugseiin vier bisfünf Monatensiegreich been
det - eine Fehleinschätzung war. Hitler mußte die gesteckten Ziele,
Moskau und Leningrad, das Industriegebiet am Donez und die kauka
sischen Ölfeider zu erobern, aufs nächste Jahrverschieben. Haldernotier
te als Auskunft seines Führers am 7. November 1941: »Über russischen
Raum hinaus zunächst kein Plan.« Und am 19.November: »Was dann im
nächstenJahr noch für Zielegesetztwerden können, muß offenbleiben.«2
Es liegtnahe, das Aufgeben operativerGesamtkonzepte zugunsten takti
scher Manöver als individuelles Fehlverhalten - »Unentschlossenheit«,
urteilt Liddell Hart - und das Hin- und Herschieben der Kriegsziele als
Ergebnis der im Ansatz schon verfehlten Planungen - »Inkonsistenzen«
nennt esJohn Keegan - zu interpretieren.3 Eine solcheSichtweise, für die
eine mittlerweile unübersehbare Literatur noch immer Belege sammelt,
hat sich für einen Standort entschieden, von dem das Geschehen im Osten
in den Jahren 1941 bis 1944 nur ungenügend eingesehen werden kann. Es
ist der Standort professioneller militärischer Eliten,ihrer Vorstellung von
Strategie und Taktik,Defensive und Offensive, Krieg und Frieden.

25
Hitler orientierte sich an anderen Standards, und er muß folglich
anders gemessen werden. Es könnte sein, daß sein »improvisierter
Kriegsplan«4 und seine Geringschätzung operativer Festlegung nichtdas
Scheitern einerStrategie beweisen, sondern einenHinweis liefernfür die
Existenz eines gänzlich anderenKonzeptes vom Kriegführen. Die Rich
tigkeit dieserVermutung wird durch eineverblüffende historische Par
allele bestätigt. Hitlers Verhalten beider Planungund Durchführung des
Überfalls aufdieSowjetunion wirkt wieeine Wiederholung vonLuden
dorffs berühmtem »Durchbruch« an der Westfront im Frühjahr 1918.
Auf die Frage eines Kommandeurs, was die Grundidee der geplanten
Operation sei, hatte der starke Mann der Obersten Heeresleitung ent
gegnet: »DasWort >Operation< verbitteich mir. Wirhauen ein Loch hin
ein. Das Weitere findet sich.«5 Bekanntlich scheiterte dieser Versuch, das
Kriegsglück noch einmal zu wenden.BeieinerspäterenBeurteilung die
ser letzten großen Offensive schrieb Wilhelm Groener, General und
zeitweilig Reichswehrminister der Republik von Weimar, Ludendorff
habe jede strategische Orientierung vermissen lassen und statt dessen
versucht, »mit der brutalenGewaltden Sieg zu erzwingen«.6
Wenn man Gewalt hier nicht als einzig verbleibenden Ausweg, son
dern als Ausgangspunkt und leitende Idee jeder militärischen Maßnah
me versteht, dann hat man das Essential von Ludendorffs »totalem
Krieg« vor sich. Dies Konzept war das Ergebnis eines doppelten Schei
terns. Gescheitert war - mit dem großen Plan Schlieffens - ein an
Clausewitz orientiertes »holistisches«7 militärisches Denken ebenso wie
der Versucheiner konservativenPolitik, einen Massenkrieg in den Hier
archie- und Arbeitsformen des 19.Jahrhunderts zu führen. Ludendorff
sah, anders als seine Vorgänger, daß sich die Bedingungen der Krieg
führung im 20. Jahrhundert verändert hatten und begriffalsderen wich
tigste den Einsturz der Grenzen zwischen militärischer Organisation
und zivilerGesellschaft. Er zog daraus radikaleKonsequenzen,indem er
militärische Gewalt nach den rationalen Methoden der kapitalistischen
Produktion organisierte, ihren Einsatz von den zur Verfügung stehen
den menschlichen und industriellen Ressourcen abhängig machte und
in der Mobilisierung der Kampfmoral die Möglichkeit entdeckte, den
Materialvorteil des Gegners zu kompensieren.
Gesteigerte Kampfmoral war nur durch eine »Geschlossenheit des
Volkes« und durch die Umwidmung des Krieges zu einer Auseinander
setzung antagonistischer Kulturen und Wertordnungen, letztlich in
einen Entscheidungskampfkonkurrierender Völker »um die Lebenser
haltung«, zu erzielen.8 Gestützt auf eine solche Fusionvon Heimat und
26
Front, konnte gewagt werden, die Kriegführung über alle internationa
len Regeln hinweg - etwa im unbeschränkten Einsatz von U-Booten -
zu eskalieren. Krieg diente in einem solchen Koordinatensystem nicht
mehr der Politik, sondern hatte sich diese Untertan gemacht, Strategie
war ihres militärischen wie ihres instrumentellen Charakters verlustig
gegangen, sie hatte nicht mehr Schlachten zu organisieren, sondern die
»totale Mobilmachung« zu garantieren.
Ludendorff hatte sein Programm der effektiven Organisierung von
Gewalt und der optimalen Mobilisierung von Gewaltbereitschaft in
einemlaufendenKriegimprovisiert, es bliebenihm nur zweiJahre, es zu
realisieren. Hitler begann mit dem seinen schon in Friedenszeiten, und
er hatte sechs Jahre Zeit, bis er es umsetzen konnte. Dabei übernahm er
die zentralen Maximenseines großen Vorbildes und radikalisierte sie:
Erstens. Er hob die zeitliche Begrenzungvon Krieg auf und erklärte
ihn für permanent; dies geschah nicht nur aus der damals grassierenden
Anschauung, der verlorene Kriegsei nur der erste Akt gewesen, es gelte
den neuen vorzubereiten, sondern auch in einer ganz fundamentalen
Weise: da das Naturgesetz vom RechtdesStärkerenund der ewigenAus
lese des Besseren den Ablauf des Lebens bestimme, habe der Krieg als
die »höchste Lebensäußerung« eines Volkes und als die einzige Über
lebenschance der Nation zu gelten.
Zweitens. Er bestimmte den Gegner nicht aus der Frontenkonstellati
on des vergangenen Krieges, sondern aus einem umfassenden und weit
in die Geschichte zurückreichenden Antagonismus, der durch die Um
ständeder Niederlage in Deutschland und durch den Sieg der russischen
Revolution nur eine neue und gefährliche Zuspitzung erfahren habe:das
»Krebsgeschwür« der Geschichte seien die Juden, die extremste Inkor
poration dieses Übels aber der Bolschewismus. Als einzige Ziele eines
künftigenWaffengangs habe die Ausrottung dieser»Weltverderber« und
die gewaltsame Eroberung von Lebensraum im Osten zu gelten.
Drittens. Er erklärte alle supranational verabredeten oder aus der
bestehenden Moral folgenden Begrenzungen eines Krieges, der um die
ser Ziele willen geführt werde, für nicht existent und also nicht bindend.
Der Kampf gegen den Rassenfeind und um Lebensraum müsse und
dürfe mit allen- auch den »inhumansten« - Mitteln geführt werden. Da
er der Erhaltung des deutschen Volkes diene, sei ein solcher Krieg ein
»gerechter Krieg«.9
Mit diesen programmatischen Festlegungen transzendierte Hitler
Ludendorffs »totalen Krieg« und formulierte sein Konzept eines Ver
nichtungskrieges.

27
Dieses Modell einer Politik als Krieg entstand in einer Gesellschaft
und traf auf eine Gesellschaft, die gerade eine extreme Gewalterfahrung
hinter sich hatte. Die Gewalt war in einer ersten Erregung als Revolu
tion und Konterrevolution, in Kriegszügeninnerhalb und außerhalb der
Reichsgrenzen zur Entladung gekommen. Aber siewirkte auch im Kör
per einer zur Ruhe gekommenenWeimarerRepubUk weiter.»DieToten
kamen nicht zur Ruhe, weil die Lebenden den Tod in sich trugen«, hat
Michael Geyer im Hinblick auf die Verarbeitung des Kriegserlebnisses
festgestellt und als Überlebensstrategien der Davongekommenen die
Flucht in Kältephantasien und Körperpanzer, in den Tagtraumvon der
Nation als- so muß man ergänzen- wärmendes Kontinuum diagnosti
ziert.10 Helmuth Lethen hat darauf hingewiesen, daß diesenFluchten die
Ersetzung einer Gewissenskultur durch eine Schamkultur entsprach:
Nachdem die bisher gültigen sittlichen Normen in den Kratern und
Massengräbern des Krieges wie ein Gewand zerrissenwaren und darun
ter der »Urmensch« (Freud)zu sehenwar,galtauchdieVorstellung eines
vom Gewissen geleiteten, selbstregulierten Individuums als diskredi
tiert. Äußere Instanzen übernahmen die Regulation undformulierten als
Verhaltensstandards Begriffe wie Ehre, Würde, Haltung. Selbstachtung
wurde hinfort wichtiger als Selbsterforschung.11 Alle diese Reaktionen
auf das Traumader Niederlagewaren Konstruktionen einesüberforder
ten Ich und eines im Schweigen erstarrten Kollektivs. Die Nachkriegs
zeit hatte sich wie ein »Selbstgefängnis« über einer ganzen Generation
geschlossen.12 Ein Parallelvorgang scheint die Nachwachsenden mit
ähnlichen Mustern imprägniert zu haben: Inflation und Weltwirt
schaftskrise wurden erfahren wie Tod oder Verwundung im Schützen
graben - als Auflösung und Deformation.13 Hitler und seiner Bewegung
gelang offensichtlich beides: die Fluchtkulturen mitzuproduzierenund
das darunter gelegene »Selbstgefängnis« zu sprengen. Die Lunte, die sie
anlegten, könnte der Satz gewesen sein: »Überwinde denTod, indem du
tötest.«14
DieJahre 1933 bis 1939 dientendemNationalsozialismus dazu, Krieg
als gesamtgesellschaftliches Projekt durchzusetzen. Da der Weg zur
Machtnicht alsPutsch, sondern per parlamentarischem Akt erfolgtwar,
mußte der Bürgerkriegnicht blutig zu Ende gefochtenwerden,vielmehr
konnte die Eliminierung jeder Opposition mit Hilfe der erbeuteten
Bürokratien als quasi-administrativer Akt durchgesetzt werden. Das
Chaos der internationalen Politik, die noch zu keiner neuen Ordnung
gefunden hatte, sondern dabei war, eine solche in heftigen Rivalitäten
und mit gewalttätigen Vorstößen zu etablieren,15 konnte ausgenutzt
28
werden, Versailles zu kippen und die Basis für eine revisionistische
Gesamtbereinigung zu legen. In den ersten Jahren des Regimes tarnte
sich die Gewalt- auch bei der Entrechtung und Ausgrenzungder Juden
- institutionell und rechtsförmig, und auch die außenpolitischen
Manöver waren bestenfalls verdeckte Aggressionsvorbereitungen. An
einer generellen Kriegsorientierung konnte indes kein Zweifel bestehen:
Schonim Sommer 1933 wurden die Grundlagenfür einevon den nume
rischen FesselnbefreiteWehrmachtgelegt, die nach vierJahren verteidi
gungsfällig und nach weiteren vier Jahren tauglich für einen Offensiv
krieg sein sollte.16 Gleichzeitig wurden - weit vorausschauend -
Maßnahmen eingeleitet, die Homogenität und Selbststeuerung dieser
professionellenElite zu zersetzen,so zum Beispiel durch die Einführung
des Arierparagraphen die Barrieren zur nationalsozialistischen Gesell
schaft niederzulegen oder durch die Vereidigung der Truppe auf Hitler
Elemente charismatischer Herrschaft in eine hierarchisch strukturierte
Formation zu implantieren.17 Parallel zur institutionellen Wehrhaftma-
chung fand eine militaristische Mobilisierung statt, die darauf abzielte,
den soldatischen Geist als gesellschaftliche Primärtugenddurchzusetzen
und so die Volksgemeinschaft in die Wehrgemeinschaft hinüberwachsen
zu lassen. Die Essentials diesersechsjährigen sich steigerndenKampagne
bestanden aus der Propagierung des Rechts auf Wehrhaftigkeit, des
Rechts zur Rache, des Rechts auf Lebensraum und der Pflicht, für Volk
und Führer das Leben zu opfern.
Der Krieg, den Hitler mit dem Tagseiner Machtübernahme vorzube
reiten begann, konnte nach seinem Selbstverständnis nur ein Vernich
tungskrieg sein, das heißt, er würde mit der Ausrottung des »jüdischen
Bolschewismus« und der endgültigen Besetzung der landwirtschaftli
chen und industriell entwickelten Teile seines Territoriums enden. Daß
er dazu benutzt würde, auch die Vernichtung der zentraleuropäischen
Juden ins Werk zu setzen, war klar,unklar waren die Methoden. Insofern
ist es richtig, den Kriegim Osten als den »eigentlichen Krieg« Hitlers zu
bezeichnen und den Kriegsanfang auf 1941 zu datieren.18 Die bewaffne
ten Überfälle auf Polen, Frankreich und Skandinaviendienten nur seiner
logistischen, ökonomischen, politischen Vorbereitungund rundeten die
vorher erfolgten unbewaffneten Annexionen ab.
In den sogenannten »verbrecherischen Befehlen«, die dem Feldzug
voraufgingen, wurden die Opfergruppen für die Wehrmacht klar defi
niert: Kommissare waren zu erschießen, den Kriegsgefangenen wurde
ihr international geschützter Statusverwehrt, die Zivilbevölkerung ver
fiel als partisanenverdächtig dem Terror der Besatzer, dieJuden wurden

29
zwar den Einsatzgruppen übereignet, aber die Wehrmacht war über
jeden Schritt des Vernichtungsprogramms unterrichtet und übernahm
es, dessen Prolog zu organisieren. Der Abschluß der Judenvernichtung
durch die Einsatzgruppen sollte - wie die physische Dezimierung der
slawischen Völker durch eine Besatzungsverwaltung - nach dem zu
erwartenden kurzen Feldzug erfolgen. Als das scheiterte,wurde mit der
sofortigen Durchführung der Vernichtungsprogramme unter weitge
hender Einbeziehung der Wehrmacht begonnen. Ihre Führungskader
hatten die ursprünglicheAufgabenstellung akzeptiert, weil die Entgren
zung des Krieges eine Steigerung des professionellen Handlungsspiel
raums und Aussicht auf Erfolg versprach. Das überwog partiell vor
handene Bedenken. Die Radikalisierung des Programms trugen die
Führungskaderder Wehrmacht mit, weil entwederdie innere Homoge
nität der alten Offizierskaste längst brüchig und ihr Kontrollverlust
offensichtlich geworden waren oder die neue Generation von Komman
deuren mit dem Genozid welcher Art auch immer keine Probleme hatte.
Zudem stand mit der SS eine immer einsatzbereite Parallelorganisation
zur Verfügung. Die Mannschaftsgrade der Wehrmacht unterschieden
sich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr von der Mentalität der
Himmlertruppe. Dazu hatten eine spezifische Interventionspolitik Hit
lers und seines militärischen Führungsstabes und die innere Dynamik
des Vernichtungskrieges beigetragen.
Es fällt schon bei der Analyse der Grundsatzbefehle für das »Unter
nehmenBarbarossa« auf,daß diesewenigermilitärische Befehle im Sinne
von Anordnungen, Regeln, Sanktionen darstellen, sondern über weite
Strecken eher Argumentationshilfen sind. Die Zahl dieser »Befehle«
nimmtin demMaßezu, wiedieursprünglich definierten Gegnergruppen
erweitert werden und Menschen ins Visier der Genickschützen und Flam
menwerfer geraten, die nach den Standards der herkömmlichen abend
ländischen Moralvon der Anwendunggesteigerter Gewaltauszunehmen
sind - Kranke, alte Menschen, Frauen und insonderheit Kinder. Was mit
der Erosion der Gewissenskultur in der unmittelbaren Nachkriegszeit
begann,was die völkisch und rassischdefinierte Ethik des Nationalsozia
lismus erweiterte, wird hier vollendet: Die letzten Reste zivilisatorischer
Hemmung und individueller Scham werden beseitigt, produziert wird
eine die Ludendorffsche Kampfmoral weit übersteigende Vernichtungs
moral. Hitler brauchte sie nicht nur für die Niederringung des sowjeti
schen Gegners. Sie war unerläßlich, so hatte er schon vor dem Rußland
feldzug festgestellt, für die nächste und letzte Etappe seiner globalen
Auseinandersetzung, im Kampfgegen Englandund die USA.19

30
Aber es gab auch eine innere Dynamik des Vernichtungskrieges, die
an der Produktion einer solchen Mentalität mitwirkte und die keiner
äußeren Intervention bedurfte. Der Kriegim Osten, der schon zu Beginn
nur von improvisiertenPlänen gelebthatte, zerfielspätestensab Sommer
1942 in eine Vielzahl von Fronten und spaltete sich auf - in einen Rest
operativer Bewegungen, vor und zurück, und einen stationären Parti
sanenkrieg. Vor allem am Partisanenkrieg ist ein generelles Phänomen
des Vernichtungskrieges zu studieren: Er wird nicht nur von keiner
militärischen Logik bestimmt,sondern folgt den Impulsen einer Politik,
die triebgesteuert ist. Die Botschaft ans Unbewußte, die wir mit dem
Satz: »Den Tod durch Töten überwinden«, übersetzt haben, kann sich
jetzt konkretisieren. Der Angehörigeder bewaffnetenMacht darf alledie
Kriege führen, die er schon immer führen wollte - gegen die Frauen,
gegen die Juden, gegen Kinder und Greise, gegen die eigeneAngst und
das eigene Gewissen. Als »Flintenweiber«, »Judenpartisanen«, »Kund
schafter« und »innerer Schweinehund« maskiert, sind sie jetzt in seine
Gewalt gegeben.
WolfgangSofsky hat unlängst den von EliasCanetti geprägtenBegriff
der Meute für eine nähere Bestimmung der Gewaltform Krieg benutzt.
Meute, definiert er, gewinnt ihre Einheit in der Verfolgung eineszumeist
unterlegenen Gegners. Ihre Faszination für den, der ihr angehört, und
ihre gesteigerte Gewalt nach außen gewinnt sie vor allemdaraus, daß sie
kein Gewissen hat. »Sie befreit den einzelnen von den Zwängen der
Moral. Sie ist eine soziale Bewegung, die das Töten ohne Schuldgefühl
gestattet.« Ihre höchste Steigerung erfährt sie im Exzeß des Massakers.
Dem ist zuzustimmen. Nicht aber der Schlußfolgerung, die Sofsky dar
aus ableitet: »Der Gewaltexzeßder Meute unterscheidet sich grundsätz
lich von anderen Formen kollektiver Gewalt. Er hat kein Ziel und ist
auch kein Mittel zum Zweck.«20 Hitlers Vernichtungskrieg kannte die
eben beschriebene Dynamik und benutzte sie. Die Verfolgungsjagden
und Massaker des Partisanenkrieges folgten einer Schlachtordnung, bei
der - wie die Gefechtsberichte zeigen - der Siegervon vornherein fest
stand. In dieser Verkehrung der in einem normalen Krieg ausbalancier
ten Chancen von Töten und Getötetwerden zur Selbstgewißheit,nur zu
töten, wird das innere Prinzip von Krieg, das Agonale, ausgehebelt.
Daher wurde diese Form des Tötens, ohne getötet zu werden, sehr bald
zum feststehenden Bestandteil der Rekrutenausbildung. Bevor die jun
gen Soldatenan die Front geschickt wurden, durften sie dem Tod in sei
ner triumphierenden Gestalt begegnen.
Vernichtungskriege tendieren dazu, diese Asymmetrie herzustellen

3i
und zu verewigen. Sie sollden Friedensschluß, der normalerweise einem
Kriege folgt, ersetzen. In der Realität gelingt esabernur zeitweilig, diese
schiefe Ebene herzustellen. Das hängt nicht nur damit zusammen, daß
das Ausmaß der angewendetenGewalt die gegnerische Gegenwehr aufs
äußerste steigert. Es wohnt dem offensichtlich ein Selbstzerstörungspo
tential inne, das schon lange vor der Niederlage der deutschen Wehr
macht wirkte. Ernst Jünger, der,um die Realität seinerFiguren - der sol
datischenArbeiter und todbringenden Maschinengewehrmenschen - zu
überprüfen, zur Jahreswende 1942/43 die Kaukasusfront besucht, er
kennt seine Phantasien und seinen Krieg nicht wieder. Er begegnet nur
Automaten und einer Welt der Abstumpfung. »Der Mensch hat das
Gefühl, in einer großen Maschine zu stecken,in der es nur passive Teil
nahme gibt. [...] Der Mensch hat jenen Stand erreicht, den Dostojewski
im >Raskolnikow< beschrieben hat. Da sieht er seinesgleichen als Unge
ziefer an. Gerade davor muß er sich hüten, wenn er nicht in die Insek
tensphäre hineingeraten will. Es gilt ja von ihm und seinen Opfern das
alte, ungeheure: >Das bist Du<.«21
* * *

Als der Krieg zu Ende war, begannen die Nachhutgefechte. Die Parole
hatte das OKW in seinem letzten Lagebericht vom 9. Mai 1945 ausgege
ben: »Dieeinmalige Leistung von Front und Heimat wird in einemspä
teren gerechten Urteil der Geschichte ihre endgültige Würdigungfinden.
[...] Jeder Soldat kann deshalb die Waffeaufrecht und stolz aus der Hand
legen.« Der Kampf um die Erinnerung war eröffnet, und er schien
erfolgreicher als der Kriegsverlauf. »Der größte Sieg der deutschen
Armee«, schrieb Omer Bartov, »wurde auf dem Feld der Politik errun
gen,denn hier gelanges [...] aus dieser mörderischsten Militäraktion der
deutschen Geschichte so gut wie unangefochten zurückzukehren.«22
Doch diese Auseinandersetzung ist nicht zu Ende, und es ist zu bezwei
feln, ob sie je beendet sein wird. Geblieben ist eine irritierte Sensibilität
beim Thema Wehrmacht und Kriegserinnerung, die viele der Anstren
gungen widerlegt, die Schlußstriche zu ziehenversuchten.
Die Kriegserinnerung wurde nach 1945 nicht totgeschwiegen. Nach
kriegsprozesse, Amnestiedebatten, Untersuchungsverfahren und Kon
troversen über die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik bildeten
öffentliche Anlässe der Auseinandersetzung.23 Durch die Medien der
NachkriegsJahrzehnte zog sich die breite Spur unendlicher »Tatsachen
berichte«,Illustriertenromane, seriöserwie rechtfertigenderMemoiren
literatur oder der Dramatisierungen in Theaterstücken, Kriegsfilmen
und Romanen. Das »kommunikative Beschweigen« dieser Vergan-

32
genheit geschah zwischen den Zeilen; es war wortreich, nicht sprach
los.24
Um die besonderen Bedingungen der »politics of memory« in
Deutschland nach 1945 zu skizzieren,ist ein Blickauf dieJahre nach dem
Ersten Weltkrieg hilfreich.25 Während damals die Kriegserfahrung, zum
Mythos stilisiert, alsFolie anthropologischer Visionen, »kalter« Verhal
tenslehrenund antipolitischerEntwürfe dienenkonnte, entwickelte sich
nach 1945 ein eigentümliches Spannungsfeld. Wohl bot die »saubere
Wehrmacht« ein lizenziertes Erinnerungsreservoir, das im Kontext des
deutschen Wehrbeitrags reichlichen Zuspruch fand. Doch als Objekt
sinnstiftender Entwürfe erwies sie sich als ungeeignet; eine Qualifika
tion, die freilich der Präzisierungbedarf.
Sinnhafte Interpretationender eigenen Erfahrungwurden abgedrängt
auf Bereiche des Funktionsstolzes über Effektivität, Kompetenz und
Kampfkraft oder in private Bereiche erfahrenerund bestätigter Kame
radschaft einer Schicksals- und Überlebensgemeinschaft - aufBereiche
also, diefür Wiederaufbau und Wirtschaftswunder anschlußfähig waren.
Politischeroder antipolitischer Sinnwar darausnicht zu generieren, das
Interpretationsschema kam vielmehr einem unpolitischen privatisti-
schen Habitus entgegen. Kriegserinnerungen dieser Art bildeten das
GepäckbeimRückmarsch in dieZivilitätder Nachkriegsgesellschaft, die
die Gewalt ihrer Ursprünge restlos zu verschluckenschien.
Die Pointe liegtfreilichin den unausgesprochenenAmbivalenzen, die
selbst noch der reduzierten Erinnerung innewohnen. Denn wie zutref
fend das unpolitische Selbstbild - das Historiker wie Omer Bartov26
bestreiten - auch immer gewesen sein mag, es blieb die vagabundieren
de Erinnerung der Teilnahme an einem Vernichtungskrieg. Selbst das
bloße Funktionieren, Anpassen, Mittun oder Zuschauen - vom Engage
ment ganz zu schweigen - hatte ausgereicht, das Räderwerk von Verfol
gung und Vernichtung - den Krieg im Krieg- in Gang zu halten. Aus
dieser Zwickmühle »arbeitsteiliger Täterschaft«27 führten auch die Nor
malisierungsdiskurse nicht heraus, die die Kriegserinnerungen in reich
lichem Maße produziert haben.
Die Grenz- und Extremsituationen des Krieges mit Gewalt und Tod,
Versehrung und Sterben, Ordnung und Willkür, Euphorie und Ab
stumpfung, Intensität und Leerlauf, Heimatbindung und Fremdheit
werden als Ausnahmezustände erinnert. Und gerade in dieser Eigen
tümlichkeit alltagsferner Erfahrung liegt der Schlüssel zu ihrer
»Normalisierung« im Gedächtnis, einer »Normalisierung«, die um so
mächtiger ist, als sich die Kriegsnormen ohnehin dem Alltagsgesche-

33
hen entziehen - »eswar halt Krieg ...«. Was die deutsche Teilnahmeam
und das kollektive Gedächtnis des Zweiten Weltkriegs betrifft, so läßt
sichdieserMechanismus jedochnur als erfolgreiches Scheitern beschrei
ben.
Gewiß bestand und besteht jene eigentümliche, halb beängstigende,
halb verlockende Exterritorialität der Kriegserfahrung im Alltagsge
dächtnisfort, und zweifellos begünstigtdie Pluralität der Kriege, die im
Vernichtungskrieg aufgehoben waren, eine beträchtliche und für sich
genommen legitime Variationsbreite persönlicher Erinnerungen. Und
doch bleibt eine trügerische Grauzone, wenn sich an den »deutschen
Krieg« des 20. Jahrhunderts erinnert wird. Das Gefühl der Leere speist
sichaus zwei Quellen,zum einenausder Erfahrung der Sinnlosigkeit des
Kriegsgeschehens, zum anderen aus jener der Vernichtungsqualität eines
Krieges, der anders war als andere zuvor. Über die Sinnlosigkeit ist
beredte Klage geführt worden; große Bestände der Nachkriegsliteratur
fanden hierin ihr Sujet - bis hin zur Larmoyanz über Verführung,
Mißbrauch und Opfertum. Die zweite Erfahrung ist dagegen verborgen
geblieben, umgebenvon Deckerinnerungen, Anekdoten und Projektio
nen, die sich oftmals der alten Muster, in denen zum Beispiel Partisanen
Banditenglichen, bedienen. Sowie dieses Hintergrundwissen aufgerufen
wird, liegendie Nerven frei. Bis heute.
In der Bilanz fehllaufender Erinnerung ist von Defiziten politischer
Moral zu reden, von Unbußfertigkeit und Schlußstrichrhetorik. Und
doch ist dies nur die eine Seite. Die Klage über Versäumnisse darf nicht
im Selbstbezug enden. In eine Bilanz gehören gerade auch jene Opfer
gruppen der Wehrmacht, die als solche bisher keinen Namen gefunden
haben - Juden und Partisanen, Kriegsgefangene und Verwundete,
Angehörige der Zivilbevölkerung und Geiseln, Frauen und Kinder.
Unter den Opferzahlen des Vernichtungskrieges sind sie mitgezählt,
aber als spezielle Opfer einer speziellen Tätergruppe sind sie in unserer
Erinnerung nicht anwesend. Dieser Band ist auch ein Versuch, das zu
ändern.

Anmerkungen

1 FranzHalder, Kriegstagebuch, bearbeitet von H.-A. Jacobsen, 3 Bde.,Stuttgart


1962-1964, Bd. 3, S. 123.
2 Halder, a. a. O., S. 283, 295.
3 Liddell Hart, Geschichtedes Zweiten Weltkrieges, Wiesbaden 1970, S. 212; John
Keegan, The Mask of Command, New York 1988, S. 264.
34
4 Andreas Hillgruber, Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940-1941,
Bonn 1993, S. 362.
5 Rupprecht von Bayern, Mein Kriegstagebuch, München 1929, 3 Bde., Bd. 2,
S. 372.
6 Jehuda L. Wallach, Das Dogma derVernichtungsschlacht, Frankfurt am Main
1967, S. 278.
7 Michael Geyer, GermanStrategyin the Age of Machine Warfare 1914-1945, in:
Makers of ModernStrategy, hrsg. von Peter Paret, Princeton 1986, S. 528.
8 Erich Ludendorff,Der totale Krieg, München 1936, S. 16, Syi.
9 Hans-AdolfJacobsen, Krieg in Weltanschauung und Praxis des Nationalsozia
lismus 1919-1945, in: Beiträge zur Zeitgeschichte. Festschrift für Ludwig
Jedlicka zum 60. Geburtstag, hrsg. von R. Neck/A. Wandruszka, St. Polten
1978,S. 238ff.
10 Michael Geyer, Das Stigma der Gewalt. Todeserfahrungen in Deutschland
1914-1945, Vortrag im Hamburger Institut fürSozialforschung am 20. Septem
ber 1994, erscheint demnächst in derZeitschrift »Mittelweg 36«.
11 Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den
Kriegen, Frankfurt am Main 1994, S. 26ff.
12 Modris Eksteins, Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste
Weltkrieg, Reinbek 1990, S. 434.
13 Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt am Main 1985, S. 202ff.
14 Geyer, Stigma, a. a. O.
15 Michael Geyer,Krieg als Gesellschaftspolitik. Anmerkungenzu neueren Arbei
ten über das Dritte Reichim ZweitenWeltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschich
te, 20, 1986, S. 562.
16 Michael Geyer,Militär, Rüstungund Außenpolitik.Aspekte militärischer Revi
sionspolitikin der Zwischenkriegszeit, in: Hitler, Deutschland und die Mächte.
Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, hrsg. von Manfred Funke,
Düsseldorf 1976, S. 249.
17 Vgl. dazu Erich von Mansteins Denkschrift zur Einführung des Arierparagra
phen beiderWehrmacht, abgedruckt in:Klaus-Jürgen Müller, Armee und Drit
tes Reich 1933-1939, Paderborn 1989, S. 183-189.
18 Hillgruber, a. a. O., S. 362.
19 Halder, a. a. O., Bd. 2, S. 283.
20 Wolfgang Sofsky, Die Meute. Zur Anthropologie der Menschenjagd, in: Neue
Rundschau, 4, 1994,S. 15.
21 Ernst Jünger, Kaukasische Aufzeichnungen, Sämtliche Werke, Stuttgart 1979,
Bd. 2, S. 459 f.
22 Omer Bartov, Brutalität und Mentalität: Zum Verhalten deutscher Soldaten an
der »Ostfront«, in: Erobernund Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion
1941-1945. Essays, hrsg. von Peter Jahn und Reinhard Rürup, Berlin 1991,
S. 183.
23 Vgl. Ulrich Brochhagen, Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und
Westintegration inder Ära Adenauer. Hamburg 1994; Michael Schornstheimer,
Bombenstimmung und Katzenjammer. Vergangenheitsbewältigung: Quick und
Stern in den 50erJahren, Köln 1989.

35
24 Vgl. Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der
Gegenwart, in: Deutschlands Weg in die Diktatur, hrsg. von Martin Broszat
u. a., Berlin 1983, S. 329fr.
25 Vgl. als Ansatz Gottfried Niedhart und Dieter Riesenberger (Hg.), Lernen aus
dem Krieg? Deutsche Nachkriegszeiten1918 und 1945, München 1992.
26 Vgl.Omer Bartov,The Eastern Front. 1941-1945. German Troops and the Bar-
barization of Warfare, New York 1986.
27 Vgl.ManfredMesserschmidt, Das Heer alsFaktor arbeitsteiliger Täterschaft,in:
Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der
Geschichte, hrsg. von Hanno Loewy, Frankfurt am Main 1992, S. 166ff.
Walter Manoschek »Gehst mit Juden erschießen?«
Die Vernichtung derJuden in Serbien

Als die deutschen Truppenim April 1941 Jugoslawien überfielen und im


Anschluß daran das Staatsgebiet aufteilten,lebten in dem unter deutsche
Militärverwaltung gestellten Serbien etwa 17000 Juden.1 EinJahr später
war Serbien »judenfrei«.2

Die ersten Schritte

Sechs Wochennach Besatzungsbeginn ordnete der Wehrmachtsbefehls


haber in Serbien, General Ludwig von Schröder, die Definition, Regi
strierung und Kennzeichnung der Juden und Zigeuner mit gelbenArm
binden, ihre Entlassung aus allen öffentlichen Ämtern und privaten
Betrieben, die»Arisierung« ihres Grundvermögens3 und dieEinführung
der Zwangsarbeit an.4 Die bis zu diesem Zeitpunkt unkoordiniertenund
lokal beschränkten rassistischen Verfolgungsmaßnahmen einzelner
Feld- und Ortskommandanturen waren damit im gesamten serbischen
Besatzungsgebiet vereinheitlicht worden.5 »Die drei ersten Schritte des
Vernichtungsprozesses wurden an einem einzigen Tag in die Wege ge
leitet.«6 Gleichzeitig gab es Erwägungen, in der serbischen Kleinstadt
Majdanpek einJudenghetto zu errichten.7 Dieser Plan wurde allerdings
nicht verwirklicht. Durch die Dynamik der Ereignisse wurde in Serbien
die »polnische Ghettoisierungsphase« übersprungen und ein regionales
Modell zur »Lösung der Juden- und Zigeunerfrage« entwickelt.
In Absprache mit den zivilenund polizeilichenDienststellen hatte der
Militärbefehlshaber von Beginn an die Maßnahmen gegen Juden und
Zigeuner mitgetragen. In dieser ersten Phase bis zum Überfall auf die
Sowjetunion galt es, die bereits in anderen besetzten oder eroberten
Gebieten geltenden rassistischen Normen zu übernehmen und an die
serbischen Verhältnisse anzupassen. Dafür bedurfte es keiner militäri
scher Vorwände. Bereits vor Beginn des Vernichtungskrieges gegen die
Sowjetunion hatte die Wehrmachtführung die nationalsozialistische

39
Judenpolitik grundsätzlich gebilligt. Ein Stabsoffizier der im serbischen
Banat stationierten 717. Infanterie-Divisionwußte auch die praktischen
Vorteile der Judenverfolgung zu schätzen: »Vor wenigen Wochen noch
tobte hier der Krieg. Spurensind hier nicht zu finden, denn der Feind ist
doch nur gelaufen, unsere Panzer hinterher. Spuren jedoch insofern, als
die Juden alle getürmt, erschossen und gefangen worden sind. Ganze
Paläste, Villen mit vollem Prunk stehen leer. Unsere Landser, Unter
offiziere usw. fühlen sich darin sehr wohl. Sie leben wie die Herren
darin.«8
Mit demÜberfall auf dieSowjetunion imJuni 1941 wurdenin Serbi
en die Weichen in Richtung einer blutigen Repressionspolitik gestellt.
Noch am 22.Juni befahl der Chef des militärischen Verwaltungsstabes,
Staatsrat Harald Turner, die Verhaftung sämtlicher führender Kommu
nisten und der ehemaligen Spanienkämpfer. Zugleichmußte die jüdische
GemeindeBelgrads täglichvierzigMänner bereitstellen, die bei etwaigen
Anschlägen von Partisanen als Geiseln erschossen werden sollten.9 Mit
dem Einsetzen des bewaffneten Widerstandes der Tito-Partisanen im
Juli 1941 betraute der Militärbefehlshaber die SD-Einsatzgruppe mit der
polizeilichen Bekämpfung des Widerstandes: »Die mir unterstellte
staatspolizeiliche Einsatzgruppe bearbeitetdemnach in eigener Zustän
digkeit- mit Ausnahmeder Abwehrangelegenheiten, für die die Gehei
me Feldpolizei zuständig ist - die gleichen Aufgaben wie im Reich.
Demgemäß ist sie bei der von mir befohlenen verschärften Bekämpfung
kommunistischer Umtriebe federführend.«10 Der Partisanenaufstand
wurde von Beginn an mit »Geiselerschießungen« beantwortet. Der
militärische und polizeiliche Besatzungsapparat agierte dabei in einem
arbeitsteiligen Verfahren. Den Wehrmachtseinheiten fieldie Aufgabezu,
nach Anschlägen von Partisanen ganze Dörfer abzubrennen, »verdäch
tigePersonen«festzunehmenund sieder Sicherheitspolizei zur weiteren
Behandlung zu übergeben. »Verdächtige Personen«, verhaftete Kom
munisten und jüdische Geiseln bildeten das »Geiselreservoir«, aus dem
die Einsatzgruppe Fuchs und das Polizei-Reserve-Bataillon 64 im Som
mer 1941 ihre Erschießungsopfer auswählten.
Der Wehrmachts-Propagandaabteilung fiel dabei eine »bewußtseins
bildende« Funktion zu. Sie stellte »einen Großteil ihrer Tätigkeit darauf
ab, die zuständigen Organe des Militärbefehlshabers bei der Bekämp
fung der politischen Umtriebe mit Rat und Tat zu unterstützen«. Als
erstes begann die Abteilung mit den »Vorbereitungen für den Start einer
großangelegten Anti-Juden-Propaganda«, deren Ziel es war, die Juden
als »Drahtzieher« der kommunistischen Aufstandsbewegung zu »ent-

40
larven«. Dafür wurden »mehrere antijüdische und antikommunistische
Wort- und Bildplakate herausgebracht« und der serbischenPresse »lau
fend Material gegen die kommunistische Propaganda sowiesolches über
das Treiben des Judentums auf dem Balkan zur Verfügung gestellt«.11
Schonkurze Zeit später berichtete die in Belgrad stationierte Propagan
dakompanie nach Berlin, daß »seitens des Militärbefehlshabers mit aller
Energie gegen Banditen und Saboteure, sowie ihre Hintermänner, vor
gegangen [wird]. Die Erschießung von bisher insgesamt rund vier Dut
zend Kommunistenhäuptlingen und Juden hat ihren Eindruck auf die
Öffentlichkeit nicht verfehlt.«12
Der »Einsatz polizeilicher Mittel« konnte dierasche Ausbreitung des
Partisanenaufstandes nicht verhindern. Der neu ernannte Wehrmachts
befehlshaber, General Heinrich Danckelmann, forderte daher vom
OKW »dieZuführung von zusätzlichzwei Polizei-Bataillonen und min
destens 200 SD-Leuten«13 an. Das OKW entschied abschlägig, Polizei
und SD würden für diese Aufgaben im Osten dringender benötigt.
Anstelle der Polizei sollte unverzüglich die Wehrmacht den Kampf
gegen die Partisanen aufnehmen: »Wegen Zunahme der Aufruhr- und
Sabotageakte erwartet der Führer nunmehr Einsatz der Truppe, um
durch schnelles und schärfstes Eingreifen Ruhe und Ordnung baldigst
wiederherzustellen.«14
Mit der Betrauung der Partisanenbekämpfung durch die Wehrmacht
fand ein Schulterschluß zwischen SD-, Polizei- und Wehrmachtsan
gehörigen statt. Jedes Bataillon stellte mobile Jagdkommandos auf, die
sich aus dreißig bis fünfzig Mann zusammensetztenund durch Polizei-
und SD-Angehörige ergänzt wurden. Zum Aufgabenkatalog der Jagd
kommandos gehörten »brutales Durchgreifen, Niederbrennen von
Gebäuden bzw. Dörfern, aus denen Überfälle auf deutsche Wehrmacht
stattfinden, rücksichtsloses Erschießenim Kampf, Aufhängenüberführ-
ter Attentäter gegen deutsche Wehrmacht und ihre Interessen«.15 Die
gemischten Jagdkommandos markierten denÜbergang vonderArbeits
teilung zur direkten Kooperation von Wehrmachts- und Polizeiapparat.
Durch diepersonelleDurchmischung wurde die Truppe mit den Kampf
methoden und der speziellen Art der Gegnerbekämpfung von Polizei
und SD vertraut gemacht.
Mit der Zuständigkeit der Wehrmacht für die Partisanenbekämpfung
änderte sich weder die Art der Kampfführung noch die Definition der
Gegnergruppen. Da sich die Bekämpfung der Partisanen als militärisch
aussichtslos erwies, blieb die »Geiselmordpolitik«weiterhin der zentra
le Angelpunkt der Gegnerbekämpfung, bliebenJuden und (angebliche)

4i
Kommunisten die primären Opfergruppen. Aber auch die forcierten
Erschießungen führten nicht zum erwünschten Ziel: »Sofortige Sühne
maßnahmen gegen Sabotageakte gegenüber der deutschen Wehrmacht,
bei denen bis Ende August insgesamt rund iooo Kommunisten und
Juden erschossen oder öffentlich aufgehängt worden sind, bei denen
Häuser von Banditen, sogar ein ganzes Dorf niedergebrannt wurden,
konnten dem ständigen Anwachsen des bewaffneten Aufstandes nicht
Einhalt gebieten.«16

Vom Terror zursystematischen Vernichtung

In Serbien waren in der kurzen Zeit von Frühjahr bis Sommer 1941 in
rascher Abfolge einige Schritte im Vernichtungsprozeß zurückgelegt
worden. Nach der Ausgrenzung,Entrechtung und Beraubungder Juden
undZigeuner, wurde mitdem Überfall auf die Sowjetunion vorerst eine
Anzahl Kommunisten und Juden alspotentielle »Sühneopfer« interniert
und mit dem Beginndes Partisanenaufstandes im Land von der Einsatz
gruppe und derPolizei exekutiert. Diese schrittweise Eskalation desVer
nichtungsprozesses hatten die militärischen Dienststellen angeordnet
und administriert. Die Ermordung von Juden gehörte im Sommer 1941
in Serbien bereits zur gängigen Praxis des Polizei- und SD-Apparates.
Die Wehrmachtstruppen waren bis zu diesem Zeitpunkt an der Ermor
dungvonJudenund Kommunisten allerdings nochnichtdirektbeteiligt
gewesen.
Der Umschlag von der blutigen, dennoch unsystematischen Terror-
zur gezielten Vernichtungspolitik erfolgte mit der Einsetzung des aus
Österreich stammenden Generals Franz Böhme zum Bevollmächtigten
Kommandierenden General in Serbien im September 1941. Hitler stat
tete Böhme mit der vollziehenden Gewalt aus und gab ihm den Auftrag,
»aufweite Sichtim Gesamtraummit den schärfstenMitteln die Ordnung
wiederherzustellen«.17 Als Richtlinie diente Böhme der nicht zufälligam
Tag seiner Bestallung vom OKW-Chef Keitel erlassene Befehl zur
»Bekämpfung der kommunistischenAufstandsbewegung in den besetz
ten Gebieten«, der als »Sühne für ein deutsches Soldatenleben« die
Todesstrafe für fünfzig bis hundert Kommunisten vorsah.18
Als General Böhme in Serbien eintraf, kontrollierten die Partisanen-
und nationalen Cetniciverbände mit Ausnahme der großen Städte den
Großteil des Landes. Während die Wehrmacht im Osten scheinbar
unaufhaltsam gegen Moskauvorrückte, sah sichdie Truppe im besetzten

42
Serbien erstmals und völlig unerwartet einer aktiven und gut organisier
ten Partisanenbewegung gegenüber, die die militärischen Schwächen der
Besatzer deutlich machte. Die vier im Land stationierten Divisionen
warenfür Besatzungsaufgaben aufgestellt worden und bestanden nur aus
zweistattder üblichen dreiRegimenter. Zu jederDivision gehörten etwa
6000 Mann, die über keine Kampferfahrung verfügten und in ihrer Aus
bildung über mehrmaliges Übungsschießen kaum hinausgekommen
waren. Resümierend stellteMilitärverwaltungschef Turner fest, daß »die
hier zur Verfügung stehenden Truppen für den Kampf gegen dieaufstän
dischen Elemente [...] völlig ungeeignet waren«.19 DieMoral derTruppe
war durch die zahlreichen operativen Fehlschläge angeschlagen, das
Ansehen und Prestige der stolzen Wehrmacht geriet an diesem Neben
kriegsschauplatz gehörig ins Wanken. Zudem wies die Truppe einen
überproportional hohen Anteil an »Ostmärkern« auf20 - ein Umstand,
der indem fürÖsterreicher sogeschichtsmächtigen Raum unvermeidlich
Erinnerungen an die Niederlage im Ersten Weltkrieg auslöste.
Böhme ließ von Beginn an keine Zweifel, daß er die Absicht hatte,
einen Krieg gegendie Zivilbevölkerung zu führen. Die Mentalität, die ab
Mitte 1941 im Besatzungsapparat dominierte, brachte der stellvertreten
de Leiter des SD-Einsatzkommandos, Hans Helm, auf den Punkt: Es
»herrschte dieMeinung vor, wir hättenuns um dieStimmung der Bevöl
kerung nicht viel zu bekümmern, der Krieg in Rußland sei ohnehin in
wenigen Monaten aus und später wäre es ein leichtes,die Verhältnisse in
Ordnung zu bringen«.21
Böhme befahl den zusätzlich nachSerbien verlegten Kampfeinheiten,
militärische »Strafexpeditionen« in den Hauptaufstandsgebieten durch
zuführen und die soziale, logistische und versorgungsmäßige Basis des
Widerstandes zu zerschlagen. Zum Gegnerwurde die gesamte Bevölke
rung erklärt, alle Männer waren zu verhaften und in neu einzurichtende
Gefangenen- oder Konzentrationslager zu internieren, die Frauen und
Kinder sollten aus ihren Ortschaften vertrieben, die Dörfer niederge
brannt und die Viehbestände geraubt werden: »Durch rücksichtslose
Maßnahmen muß erreichtwerden, daß ein abschreckendes Beispiel, das
in kurzer Zeit in Serbien bekannt wird, geschaffen wird.«22
Zuerst galt es, den verunsicherten Soldaten wieder klare Werthaltun
gen zu vermittelnund sie auf die Bedeutungihrer Aufgabe hinzuweisen.
General Böhme erließ eine Verfügung an alle Offiziere, Unteroffiziere
und Mannschaften, in der er sieaufden Krieg gegen dieBevölkerung ein
schwor: »Wenn hier nicht mit allen Mitteln und der größten Rück
sichtslosigkeit vorgegangen wird, werden unsere Verluste ins Unermeß-

43
liehe steigen. Eure Aufgabe ist in einem Landstreifen durchzuführen, in
dem 1914 Ströme deutschen Blutes durch die Hinterlist der Serben,
Männer und Frauen, geflossen sind.Ihr seidRächer dieser Toten. Esmuß
ein abschreckendes Beispiel für ganz Serbien geschaffen werden, das die
gesamte Bevölkerung auf das schwerste treffen muß. Jeder, der Milde
walten läßt, versündigt sich am Leben seiner Kameraden. Er wird ohne
Rücksicht auf die Person zur Verantwortung gezogen und vor ein
Kriegsgericht gestellt.«23
Historische Feindbilder, rassistische Stereotype, Appelle an die
Kameradschaft und Drohungen mit dem Kriegsgericht sollten die
Aggressivität der Truppe schüren und etwaige vorhandene Hemm
schwellen beim geplanten Massenmord an Zivilisten abbauen.

Die Liquidierung der männlichen Juden durch die Wehrmacht

Schon unmittelbar nach seinem Eintreffen in Belgrad war Böhme von


Militärverwaltungschef Turner informiertworden, daß die Inhaftierung
sämtlicherJuden bereits eingeleitet worden war und nun auchdie Zigeu
ner inhaftiert werden sollten.24 Die Initiative dazu war vom deutschen
Gesandten in Belgrad, Felix Benzler, und seinem »Judenexperten«
Edmund Veesenmayer ausgegangen, dieseit AnfangSeptember das Aus
wärtige Amt in Berlin mit Telegrammen überhäuften, in denen sie die
»Sicherstellung und Entfernung zum mindesten aller männlichenJuden«
und deren Abschiebungnach Rumänien oder in den Osten forderten.25
Der Entschluß, die männlichen Juden nicht zu deportieren, sondern
zu ermorden, wurde in wenigen Tagen gefaßt. Im September 1941
bestandim gesamten Besatzungsapparat Einigkeit, daß alserstes Teilziel
zumindest die männlichenJuden auf die eine oder andere Weise beseitigt
werden müßten. So unterschiedlich die Legitimationsfiguren auch
waren, sie lassen sich auch an diesem Vernichtungsschauplatz letztlich
auf die rassistischeWeltanschauungdes Nationalsozialismus reduzieren,
derzufolge dieJuden für die Probleme und Mißstände - in diesem Fall
für den Partisanenkrieg - zu einem erheblichen Teil verantwortlich
waren.Verwaltungschef Turner begnügtesichmit dem Kernelement ras
sistischer Argumentation, um dieBeseitigung derJuden und Zigeunerzu
legitimieren: »Grundsätzlich ist festzulegen, daß Juden und Zigeuner
ganz allgemein ein Element der Unsicherheit und Gefährdung der
öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellt. Es ist der jüdischeIntel
lekt, der diesen Krieg heraufbeschworen hat und der vernichtet werden

44
muß.«26 DieVertreter desAuswärtigen Amtes wiederum drängten - »als
erste Voraussetzung für angestrebte Dauerbefriedigung«27 des Landes-
auf die Abschiebungder Juden nach Rumänien, da sich »beizahlreichen
Sabotage- und Aufruhrakten Juden als Mittäter herausgestellt«28 hatten
und zudem »Juden nachweislich zur Unruhe im Lande wesentlich
beitragen]«.29
Diese »sicherheitspolitische« Argumentationsvariante wurde mit
dem militärischen »Befriedungskonzept« General Böhmes verbunden.
Nachdem Böhme vorerst ebenfalls auf die Deportation der bereits in
Lagern internierten Juden drängte, um dadurch freie Lagerkapazitäten
für die geplante Inhaftierung Zehntausender serbischer Zivilisten als
Geiseln zu gewinnen,30 erkannte er schon wenige Tage später die Mög
lichkeiten, die sich durch die Präsenz der Juden und Zigeuner für seine
Repressionspolitik ergaben: Juden und Zigeuner standen als »Geiselop
fer« auf Abruf zur Verfügung. Schon in seinem ersten »Sühnebefehl«
machte Böhme von dieser Option Gebrauch. Nachdem bei einem Feu
ergefecht mit Partisanen 21 Wehrmachtssoldaten getötet wurden, befahl
Böhme die Exekution von 2100 »Geiseln« und bestimmte die Opfer
gruppen: »Chef der Militärverwaltungwird gebeten, 2100 Häftlinge in
den Konzentrationslagern Sabac und Belgrad (vorwiegend Juden und
Kommunisten) zu bestimmen«.31 Mit der Massenerschießung wurde
erstmals die Wehrmacht betraut: »Die Erschießungskommandos sind
von 342. Division (KZ Sabac) und Korpsnachrichtenabteilung 449 (für
KZ Belgrad) zu stellen.«32
Mit diesem Befehl leitete General Böhme eine neue Phase der Juden
vernichtung ein. Die bereits gängige Praxis der Ermordung von Juden
und Kommunisten durch die Einsatzgruppe wurde systematisiert, auf
das Verhältnis 1:100 ausgeweitet, als militärische Maßnahme deklariert
und von der Wehrmacht selbst vollstreckt: »So kam es zu einer sonder
baren Umkehrung der Arbeitsteilung- in den russischen Lagern hatte
die Wehrmacht die Aussonderung vorgenommen, während die Einsatz
gruppen die Erschießungen durchführten. Nun hatte auf einmal die
Truppe die >Dreckarbeit< zu verrichten.«33
Wie sehr sich dabei rassistische Vernichtungslogik mit kriegsverbre
cherischer Besatzungspraxis verschränkte, wird anhand der Opfergrup
peaus dem KZ Sabac ersichtlich: In diesem Lager befanden sich fast aus
schließlich Juden des »Kladovo-Transportes«, einer Gruppe von mehr
als tausend, größtenteils österreichischen Juden, die auf ihrer Flucht
nach Palästina schon Ende 1939 in Jugoslawien steckengebliebenwaren
und mit dem Partisanenaufstand nicht das geringste zu tun hatten. Sie

45
gehörten zu den ersten, die von den als »Sühnemaßnahmen« deklarier
ten Mordaktionen der Wehrmacht erfaßt wurden.34
Am io. Oktober 1941 erließ General Böhme einen umfassendenVer
nichtungsbefehl. Aufgrund »der >Balkanmentalität< und der großen Aus
dehnung kommunistischer und national getarnter Aufstandsbewegun
gen« ordnete er an, in allen Standorten »durch schlagartige Aktionen
umgehend alle Kommunisten, alssolche verdächtige Einwohner, sämtli
che Juden, eine bestimmte Anzahl nationalistischer und demokratisch
gesinnter Einwohner als Geiseln festzunehmen. Diesen Geiseln ist zu
eröffnen, daß bei Angriffen auf deutsche Soldaten oder auf Volksdeut
sche die Geiseln erschossen werden.«35
Die Eindeutigkeit dieses Wehrmachtsbefehls, der alle männlichen
Juden zur Ermordung freigab, beeindruckte selbst die Einsatzgruppe.
Mit Genugtuungmeldete sienach Berlin: »Nachdembis zur Einsetzung
des Bevollmächtigten Kommandierenden Generals in Serbien ein rück
sichtsloses Durchgreifen der Truppe an dem Nichtvorhandensein ent
sprechender eindeutiger Befehle scheitern mußte, ist durch den Befehl
des Generals Böhme, lt. welchem für jeden erschossenen Soldaten 100
und für jeden verwundeten Soldaten 50 Serben exekutiert werden, eine
vollkommene klare Linie geschaffen worden.«36 Auch Legationsrat
Rademachervom Auswärtigen Amt, der Mitte Oktober gemeinsam mit
Vertretern des RSHA nach Belgrad gereist war, um die »Lösung des
Judenproblems« vor Ort zu besprechen, stelltein seinemBericht befrie
digt fest: »DiemännlichenJuden sind bis Ende dieserWocheerschossen,
damit ist das in dem Bericht der Gesandtschaftangeschnittene Problem
erledigt.«37
Die Exekutionskommandos wurden meist aus Soldaten der Einheiten
zusammengestellt, dieVerluste bei Gefechtenmit Partisanenerlittenhat
ten. Die Soldaten sahendie Massenhinrichtungen von Juden und Zigeu
nern als legitime Kampfform an. Zahlreiche Zeugenaussagen bestätigen,
daß sich die Exekutionskommandos aus Freiwilligen zusammensetzten:
Als ein aus Wien stammender Angehöriger des Armeenachrichtenregi
ments 521 von seinem Urlaub zurückkehrte, wurde er bei seiner An
kunft in Belgrad von seinen Kameraden mit der jovialen Aufforderung
begrüßt: »Gehst mit Juden erschießen?«38 Über den Bewußtseinszu
stand der Soldaten geben uns zudem zwei Berichte von Juden- und
Zigeunererschießungen Aufschluß. Analoge Aufzeichnungen über Mas
saker an der übrigen serbischenBevölkerungexistierennicht. Die detail
lierte Schilderung des Ablaufs der Aktion und die Beschreibung der
emotionalenReaktionender SoldatenlegendieVermutungnahe,daß die

46
Wehrmachtsstäbe bemüht waren, sich ein genaues Bild über die seeli
schen Auswirkungen der Erschießungen auf die Soldaten zu machen.
Beide Berichte zeigen, daß die Befehle zu Juden- und Zigeunerer
schießungen von den Exekutionskommandos der Wehrmacht willig
vollstreckt wurden:

»Geheim
Oberleutnant Walther O.U., den i. 11.1941
Chef 9./I.R. 433.

Bericht über die Erschießung von Juden und Zigeunern


Nach Vereinbarung mit der Dienststelle der SS holte ich die ausge
suchten Juden bzw. Zigeuner vom Gefangenenlager Belgrad ab. Die
LKWder Feldkommandantur 599, die mir hierzu zur Verfügung stan
den, erwiesensich als unzweckmäßig aus zwei Gründen:
1. Werden sie von Zivilisten gefahren. Die Geheimhaltung ist
dadurch nicht sichergestellt.
2. Warensiealleohne Verdeck oder Plane,sodaß die Bevölkerung der
Stadt sah, wen wir auf den Fahrzeugen hatten und wohin wir dann
fuhren. Vor dem Lagerwaren Frauen der Juden versammelt, die heul
ten und schrien, alswir abfuhren. Der Platz, an dem die Erschießung
vollzogen wurde, ist sehr günstig. Er liegt nördlich von Pancevo
unmittelbar an der Straße Pancevo-Jabuka,an der sich eine Böschung
befindet, die so hoch ist, daß ein Mann nur mit Mühe hinauf kann.
Dieser Böschung gegenüberist Sumpfgelände, dahinter ein Fluß. Bei
Hochwasser, (wie am 29.10.) reicht das Wasser fast an die Böschung.
Ein Entkommen der Gefangenen ist daher mit wenig Mannschaften
zu verhindern. Ebenfalls günstigist der Sandboden dort, der das Gra
ben der Gruben erleichtert und somit auch die Arbeitszeit verkürzt.
Nach Ankunft etwa 1,5-2 km vor dem ausgesuchtenPlatz stiegen die
Gefangenenaus, erreichten im Fußmarsch diesen,während die LKW
mit den Zivilfahrern sofort zurückgeschickt wurden, um ihnen mög
lichst wenig Anhaltspunkte zu einem Verdacht zu geben. Dann ließ
ich die Straße für sämtlichen Verkehr sperren aus Sicherheits- und
Geheimhaltungsgründen.
Die Richtstätte wurde durch drei 1. [leichte, W. M.] M.G. und zwölf
Schützen gesichert:
1. Gegen Fluchtversuche der Gefangenen.
2. Zum Selbstschutz gegen etwaige Überfälle vonserbischen Banden.

47
Das Ausheben der Gruben nimmt den größten Teil der Zeit in
Anspruch,während dasErschießen selbstsehrschnell geht(ioo Mann
40 Minuten).
Gepäckstücke und Wertsachen wurden vorher eingesammelt und in
meinem LKW mitgenommen,um sie dann der NSV zu übergeben.
Das Erschießender Juden ist einfacher alsdas der Zigeuner. Man muß
zugeben,daß dieJuden sehr gefaßtin den Tod gehen, - siestehen sehr
ruhig, - während die Zigeuner heulen, schreien und sich dauernd
bewegen, wenn sie schon auf dem Erschießungsplatz stehen. Einige
sprangen sogar vor der Salve in die Grube und versuchten sich tot zu
stellen.
Anfangs waren meineSoldatennicht beeindruckt. Am 2. Tage mach
te sich schon bemerkbar, daß der eine oder andere nicht die Nerven
besitzt, auf längere Zeit eine Erschießung durchzuführen. Mein per
sönlicherEindruck ist, daß man während der Erschießung keine see
lischen Hemmungen bekommt. Diese stellen sich jedoch ein, wenn
man nach Tagenabends in Ruhe darüber nachdenkt.

Walther, Oberleutnant«39

Offensichtlich konnte Oberleutnant Walther seine seelischen Hemmun


gen,die ihm die Ermordung von etwa sechshundert völligunschuldigen
MenschenNächte später bereitete, überwinden. Bei seiner gerichtlichen
Vernehmung im Jahre 1962 zog er sich nicht auf die gängige Rechtferti-
gungsförmel vom »Befehlsnotstand« zurück, sondern gab an, daß er
»eine gewisse Berechtigung in einer solchen Aktion [sah], da unter uns
Soldaten eine starke Erbitterung gegen die Partisanen herrschte«.40 Die
Voruntersuchung gegen Walther - zu dieser Zeit Major der Bundes
wehr - wurde eingestellt.
Einen noch ungeschminkteren Bericht über die Erschießung von
mehreren hundert Juden fertigte ein Kompaniechefim Armeenachrich
tenregiment 521, Walter Liepe,an. Er ist in Aufbau und Wortwahl nahe
zu identisch mit jenen Berichten, die von den Einsatzgruppen im Osten
verfaßt wurden, und ermöglicht - jenseitsder in Militärdokumenten ver
wendeten emotionslos-technischen Befehlssprache - einen Einblick in
die Stimmung, in der Wehrmachtssoldaten einen Teil des Holocaust an
den Juden vollstreckten:

48
»Liepe, Oberleutnant 13.10.1941, Feldpostnummer 26557
und Kompaniechef
Berichtüber die Erschießung von Juden am 9. und 11.10.1941.
1. Auftrag:
Am 8.10.41 wurdedieErschießung von 2200 Juden, diesich im Lager
von Belgrad befinden, befohlen.
2. Leitung und Teilnahme:
Oberleutnant Liepe und Kameraden der Feldeinheiten 26557
[3. Kompanie, IL Abteilung/ANR 521, W. M.] und 06175 [4- Kom
panie, IL Abteilung/ANR 521, W. M.] von denen 2 Offiziere und 20
Mannschaften gefallen und 16vermißt und 3 verwundet sind.
3. Ärztliche Betreuung undAufsicht:
Oberarzt Dr. Gasser, Feldeinheit 39107 und Sanitätsunteroffizier
Bente der Einheit 26 557.
4. Transport und Fahrzeuge:
Transport und Bewachung der Gefangenen erfolgte durch die betei
ligten Einheiten. Fahrzeuge wurden von der Fahrbereitschaft der
Feldkommandantur Belgrad zur Verfügung gestellt. Der Transport
der beteiligten Soldaten erfolgte mit Heeresfahrzeugen.
5. Ort der Handlung:
Am 9.10.41 - Wald etwa 12km nordostwärts Kovin. Am 11.10.41 -
Umgebung Schießstand Belgradan der Straße nach Nisch.
6. Sicherheit und Verschleierung:
Erfolgte im engsten Einvernehmen mit der Sicherheitspolizei in
Belgradund Pancevo.
7. Film und Aufnahme:
Propaganda-Kompanie S
8. Aufsicht:
Oberleutnant Liepe, Leutnant Viebrans, Leutnant Lüstraeten,
SS-Oberscharführer Enge, Sicherheitspolizei Belgrad.
9. Ausführung:
Nach gründlicher Erkundung des Platzes und Vorbereitung erfolgte
die erste Erschießung am 9.10.1941. Die Gefangenen wurden mit
ihremNotgepäck von dem Lager in Belgrad um 05.30 Uhr abgeholt.
Durch Ausgabe von Spaten und sonstigem Arbeitsgerät wurde ein
Arbeitseinsatz vorgetäuscht. Jedes Fahrzeug wurde nur mit 3 Mann
bewacht, damit aus der Stärke der Bewachung keine Vermutungen
über die wahre Handlung aufkommen sollten.
Der Transport erfolgte ohne jegliche Schwierigkeiten. Die Stimmung

49
der Gefangenen während des Transportes und der Vorbereitung war
gut. Sie freuten sich überdie Entfernung vom Lager, daangeblich ihre
Unterbringung dort nicht wunschgemäß wäre. Die Gefangenen wur
den 8 km von der Erschießungsstelle beschäftigt und später nach
Gebrauch zugeführt. Der Platz wurde ausreichend bei der Vorberei
tung sowie Erschießung gesichert. Die Erschießung erfolgte mit
Gewehr auf eine Entfernung von 12 Meter. Für jeden Gefangenen
wurden 5 Schützen zum Erschießen befohlen. Außerdem standen
dem Arzt 2 Schützen zur Verfügung, die nach Anweisung des Arztes
den Tod durch Kopfschüsse herbeiführen mußten. Die Wertgegen
ständeund überflüssigen Sachen wurden unter Aufsichtabgenommen
und später der NSVbzw. der Sicherheitspolizei zugeführt.
Die Haltung der Gefangenen beim Erschießen war gefaßt. Zwei Leute
versuchten die Flucht zu ergreifen und wurden dabei sofort erschos
sen. Einige brachten ihre Gesinnung dadurch zum Ausdruck, daß sie
noch ein Hoch auf Stalin und Rußland ausbrachten. Es wurden am
9.10.41 - 180 Mann erschossen. Die Erschießung war um 18.30 Uhr
beendet. Besondere Vorkommnisse waren nicht zu verzeichnen. Die
Einheiten rückten befriedigtin ihre Quartiere ab.
Die zweite Erschießung konntewegen Bauarbeiten an der Donaufäh
re erst am 11.10.41 stattfinden. Infolge der Bauarbeiten mußte die
nächste Erschießung in der Umgebungvon Belgrad stattfinden. Dazu
war die Erkundungeines neuenPlatzes erforderlich und eine doppel
te Vorsicht geboten. Die nächste Erschießung erfolgte am 11.10.41 in
der Umgebung des Schießstandes. Sie verlief planmäßig. Es wurden
269 Mann erschossen. Bei beiden Erschießungen ist kein Gefangener
entwischtund dieTruppehatte keinebesonderen Ereignisse und Zwi
schenfälle zu verzeichnen. Zur Verstärkung der Sicherheitwar noch
ein Zug von der Einheit Major Pongruberunter Führung von Leut
nant Hau eingesetzt. Im ganzen wurden am 9. und 11.10.41 - 449
Mann von den genannten Einheiten erschossen. Leider mußte aus
Einsatzgründen eine weitere Erschießung von den genannten Einhei
teneingestellt werden undeine Übergabe des Auftrages an die Einheit
Major Pongruber erfolgen.
Liepe (handschriftlich).
Oberleutnant und Kompanie-Chef«41

50
Liepe und sein Exekutionskommando waren mit Elan im Einsatz. Die
Berichte Liepes und Wahlters verdeutlichen, daß die Durchführung der
Judenmordbefehle General Böhmes der Truppe nicht aufgezwungen
werden mußten, sondern mit deren Intentionen voll übereinstimmten.
Die Massenerschießungen wurden in Feldpostbriefen an die Heimat
beschrieben und mit beiliegenden Fotos dokumentiert, so daß sich die
Stabsabteilung gezwungen sah, einen scharfen Befehl wegen »Ver-
stöße[n] gegen die Wahrung des Dienstgeheimnisses im Briefverkehr«
herauszugeben: »Aus den Berichten der Feldpoststelle geht wiederholt
hervor, daß die Angehörigen der in Serbien untergebrachten Einheiten
immer wieder ausführlich den Einsatz in Serbien- teils auch mit Anga
be der eigenen Verluste - und die deutschen Vergeltungsmaßnahmen
(Massenhinrichtungen) in der in die Heimat abgehenden Post bespre
chen. Mehrfach sind den Briefen sogar fotografische Aufnahmen von
Hinrichtungsszenen beigefügt. [...] Die Truppe ist darauf hinzuweisen,
daß in Hinkunft mit allen zu Gebote stehenden Mitteln gegen derartige
Verstöße eingeschritten wird.«42

Die Vergasung derjüdischen Frauen undKinder im KZSajmiste

Noch während die Ermordung der männlichenJuden im Herbst 1941 im


Gange war, traf Verwaltungschef Turner die ersten Maßnahmen zur
Internierung der jüdischen Frauen und Kinder: »Erfassung aller männ
lichen Juden in Belgrad im Lager durchgeführt. Vorarbeiten für Juden-
Ghetto in Belgrad beendet. Nach bereits durch Befehlshaber Serbien
befohlenen Liquidierung der restlichen männlichen Juden wird das
Ghetto etwa 10000Judenweiber und -kinder umfassen.«43
Damit ging die Initiative im Vernichtungsprozeß von der Wehrmacht
wieder an die Polizei- und SD-Organe über. Doch hatte die Wehrmacht
auch die Internierung der Frauen und Kinder mit absurden militärischen
Vorwändenlegitimiert. Als Begründungfür dieVerschleppung der Frau
en und Kinder ins KZ Sajmiste bei Belgrad hielt die Abwehrabteilung
Ic/AO in Saloniki- zu der wenige Monate später auch Kurt Waldheim
stoßen sollte - fest: »Sämtliche Juden und Zigeuner werden in ein Kon
zentrationslager bei Semlin überführt. [...] Sie waren nachweislich die
Träger des Nachrichtendienstes der Aufständischen.«44
Im Laufe des Winters 1941/42 wurden die etwa siebentausend jüdi
schen Frauen, Kinder und Greise sowie fünfhundert jüdische Männer -
siewaren von den Erschießungenausgenommenworden, um im KZ den

5i
Ordnungsdienst zu versehen - und 292 Roma-Frauen und -Kinder ins
KZ Sajmiste eingeliefert. Bereits zum Zeitpunkt der Einlieferung stand
ihr Schicksal fest. Zur Jahreswende 1941/42 hatte Militärverwaltungs
chef Turner mit Hilfe der SD-Stelle in Belgrad das neueste technische
Produkt für die Judenvernichtung aus Berlin angefordert: den Gas
wagen.45 Anfang März traf der Gaswagen in Belgrad ein und wurde
umgehend eingesetzt.46
Wurden die Erschießungsopfervon der Wehrmacht mit der Lüge, sie
kämen zum Arbeitseinsatz, über ihr wahres Schicksal getäuscht, so
wandte der aus Linz stammende KZ-Lagerleiter, SS-Untersturmführer
Herbert Andorfer, eine andere Methode an, um keine Unruhe im Lager
aufkommen zu lassen. Er erklärte, die Insassen sollten in ein besseres
Lager transferiert werden und hängte sogar eine fiktive Lagerordnung
für das angebliche Lager aus. Um den grauenhaften Zuständen im KZ
Sajmiste zu entkommen, meldeten sich die Insassenin Scharenfreiwillig
zur vermeintlichenUmsiedlung. Ab Anfang März 1942 fuhren am Mor
gen täglich zwei Lastwagen vor das Lagertor. In dem einen wurde das
»Umsiedlungsgepäck« verladen, in den anderen stiegen jeweils etwa
fünfzig bis achtzig jüdische Frauen und Kinder ein.47 Dann setzten sich
die Wagen in Richtung Belgrad in Bewegung. Nachdem die Belgrader
Save-Brücke überquert war, bog der Gepäckwagen ab, während der
andereWagen kurz anhielt.Die beidenFahrer,WilhelmGötz und Erwin
Meyer, stiegen aus und legten einen Hebel um, wodurch nunmehr die
Abgase in das Wageninnere geleitetwurden. Während der nun folgen
den Fahrt - quer durch Belgrad - zum Zielort Jaijnce (ca. 15 km südöst
lich der Hauptstadt) wurden die Opfer vergast. Ein Häftlingskomman
do lud die Toten aus und verscharrte sie in bereits zuvor ausgehobenen
Gruben. Bis Anfang Mai 1942 waren auf diese Weise die etwa 7500
Lagerinsassen ermordet worden. Der Gaswagen wurde nach Berlin
transportiert,technisch überholt und nachWeißrußland geschickt, wo er
in Minsk zur Vergasung von Juden eingesetztwurde.

Zusammenfassung

Nach Estland war Serbien das zweite Land im nationalsozialistischen


Herrschaftsbereich, das »judenfrei« gemachtwurde. Der Vernichtungs
prozeß verliefin vier bruchlos aufeinanderfolgenden Etappen:Der Defi
nition, Entrechtung,gesellschaftlichen Ausgrenzung und Beraubung im
Frühjahr 1941 folgte mit Einsetzen des Partisanenkampfes im Sommer

52
die partielle Liquidierung der männlichen Juden durch Polizei und SD-
Mitglieder; mit der Übernahme der Partisanenbekämpfung durch die
Wehrmachtund die Einsetzung General Böhmesdehnte die Wehrmacht
das Vernichtungsprogramm auf alle männlichen Juden aus; noch
während der Ermordung der Männer wurden die Frauen und Kinder im
KZ Sajmiste interniert und im Frühjahr 1942 vergast.
Auffallend ist der reibungslose Ablauf des Vernichtungsvorganges.
Die friktionslose Kooperation aller Besatzungsinstanzen in der »Juden
frage« -Wehrmacht, Militärverwaltung, Gesandtschaft, Polizeiund Ein
satzgruppe - ermöglichte eine kaum an Effizienz zu überbietende »End
lösung vor Ort«. Die zentrale Rolle der Wehrmacht ist dabei evident: Sie
war in allen Phasen in den Vernichtungsprozeß involviert - im legisti-
schen Sinn (Frühjahr 1941), als Kooperationspartner des SD und der
Polizei (Sommer 1941), als Vollstrecker (Herbst 1941) oder durch die
pseudomilitärische Legitimierung bei der Internierung der jüdischen
Frauen und Kinder (Winter 1941/42).
Die rassistische Gleichsetzung von Juden und Kommunisten ent
sprang nicht dem taktischen Kalkül der Stabsoffiziere, sondern ent
sprach dem Bewußtseinsstand der Truppe. Erschießungsberichte, Feld
postbriefe und zahllose Privatfotos dokumentieren, daß die Massen
exekutionen von Juden, Zigeunern und Kommunisten sowohl von den
befehlenden Offizieren als auch von den ausführenden Soldaten uniso
no als »Erfolgsstories« gewertet wurden. Mit dem Einsetzen des Parti
sanenaufstandes konnten die im Bewußtsein bereits verschmolzenen
Feindbilder nun auch real zur Deckung gebracht und in Vernichtungs
handlungen umgesetzt werden.

Anmerkungen

Holm Sundhaussen,Jugoslawien, in: Dimension des Völkermords. Die Zahl der


jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, hrsg. von Wolfgang Benz, München
i99i,S. 311.
1 Walter Manoschek,»Serbien ist judenfrei!« Militärische Besatzungspolitik und
Judenvernichtung in Serbien 1941/42, Schriftenreihedes Militärgeschichtlichen
Forschungsamtes Freiburg, Bd. 38,München 1993.
, Zur ökonomischen Entrechtung der serbischenJuden vgl. Karl-Heinz Schlarp,
Wirtschaft und Besatzung in Serbien 1941-1944. Ein Beitrag zur nationalsozia
listischen Wirtschaftspolitik in Südosteuropa, Stuttgart 1986, S. 294-302.
\ Das weitere Schicksal der Zigeuner in Serbien verlief nur teilweiseparallel mit
dem derJuden. So wurden imJuli 1941 die seit 1830 seßhaftenZigeunervon den

53
Bestimmungen ausgenommen; die Frauen und Kinder wurden vor der Verga
sungsaktion aus dem Lager entlassen. Der entscheidende Grund dafür, daß die
Zigeunernur partiellvernichtetwurden, lagin der Unmöglichkeit, sienachihrer
Religionszugehörigkeit eindeutig zu definieren. Die im Herbst 1941 in den
»Geisellagern« in Belgrad und Sabac internierten Zigeunerwurden ebenso wie
dieJuden exekutiert. Zur Vernichtung der ZigeunerinJugoslawien vgl. Donald
Kenrick/Grattan Puxon,Sintiund Roma- dieVernichtungeinesVolkes im NS-
Staat,Göttingen 1981; KarolaFings/Cordula Lissner/Frank Sparing, »... einzi
ges Land, in dem Judenfrage und Zigeunerfrage gelöst«. Die Verfolgung der
Roma im faschistisch besetzten Jugoslawien 1941-1945, Köln o.J.
5 Bereits wenige Tage nach Besatzungsbeginn hatte zum Beispiel der Ortskom
mandant von Großbetscherek (Petrovgrad) das Tragen des Judensterns ange
ordnet und die Einweisung der etwa zweitausend Mitglieder der Judengemein
de in ein Ghetto veranlaßt, NOKW-Dokument 1100, 23.4.1941.
6 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt am
Main 199i,S. 727.
7 PA-AA, Botschaft Belgrad, Judenangelegenheiten, Bd. 62/6, Aufzeichnung
über Besprechung über Judenfragen beim Militärbefehlshaber in Serbien am
14.5.1941.
8 Feldpostbriefvon Leutnant Peter G., 24.5.1941, Bibliothek für Zeitgeschichte
Stuttgart, SammlungSterz.
9 Bundesarchiv Koblenz (BA-K), 70 Jugoslawien/33, Anklageschrift gegen den
Befehlshaberder Sipo-SD Belgrad,Dr. Emanuel Schäfer, S. 19.
10 Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), RW 40/79, Befehl betr. Einsatz der
Sicherheitspolizeiund des SD, 17.7.1941.
11 BA-MA, RW 4/v. 231, Lage- und Tätigkeitsbericht der Propagandaabteilung,
26.5.-25.6.1941.
12 BA-MA, RW 4/v. 231, Lage-und Tätigkeitsberichtvom 26.6.-25.7.1941.
13 BA-MA,RW4o/5,11.8.1941.
14 BA-MA, RW 40/5, KTB Ia, Chef OKW, nachrichtlich an Militärbefehlshaber
Serbien, 9.8.1941.
15 BA-MA,RW 40/5, Lagebericht des Verwaltungsstabes über den Zeitraumvom
21.-31.8.1941.
16 BA-MA,RW 40/187, 5. Lagebericht des Verwaltungsstabes beim Befehlshaber
Serbien, 6.10.1941.
17 Führerweisung Nr. 31a, 16.9.1941, zitiert nach Hitlers Weisungen für die
Kriegsführung 1939-1945. Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht,
hrsg. von Walter Hubatsch, München 1965.
18 BA-MA, RH 26-104/14, Chef des OKW, Keitel, 16.9.1941.
19 BA-MA, RW 40/187, Lagebericht des Verwaltungsstabes beim Befehlshaber
Serbien, 6.10.1941.
20 In der 717. und 718. Infanterie-Division stellten Österreicher sowohl bei den
Mannschaften als auch bei den Offizieren die Mehrheit, vgl. BA-MA, RH
26-117/3 und RH 26-718/3; weiter waren vier der insgesamt sechs für Siche-
rungs- und Bewachungsaufgaben eingesetzten Landesschützenbataillone in

54
Österreich aufgestellt worden, vgl. Georg Tessin, Verbände und Truppen der
deutschen Wehrmacht und Waffen-SSim Zweiten Weltkrieg 1939-1945,Bd. 13,
Osnabrück 1976, S. 127-132.
21 BA-K, All. Proz. 6 (Eichmann-Prozeß), Anklagedokument 1434, Verneh
mungsprotokoll Hans Helm vor der Militärstaatsanwaltschaft der jugoslawi
schen Armee, 8.9.1946.
22 BA-MA, RH 24-18/87, Befehl Böhmes an die 342. Infanterie-Division zur Säu
berung des Save-Bogens, 22.9.1941.
23 BA-MA, RH 24-18/87,Verfügung Böhmes vom 25.9.1941.
24 NOKW-Dokument 892, Bericht Turner an Böhme, 21.9.1941.
25 PA-AA, Inland Ilg, Telegrammezwischen Gesandtschaft Belgradund Auswär
tigem Amt Berlin vom September 1941.
26 NOKW-Dokument 802, Weisung Turners an sämtliche Feld- und Kreiskom
mandanturen, 26.10.1941.
27 PA-AA, Inland Ilg, Telegramm Benzlers an Ribbentrop, 28.9.1941.
28 PA-AA, Inland Ilg, Telegramm von Veesenmayerund Benzler an Auswärtiges
Amt, 10.9.1941.
29 PA-AA, Inland Ilg, Telegramm Benzlers an Auswärtiges Amt, 12.9.1941.
30 In einem persönlichen Telegramm an Ribbentrop betonte Benzler dieses
zweckrationale Argument: »Zudem hat mich General Böhme ebenso wie
Militärbefehlshaber erneut nachdrücklichst gebeten, auch in ihrem Namen
möglichst sofortigeAbschiebungJuden außer Landes zu erwirken. Es handelt
sich um zunächst 8000 männliche Juden, deren Unterbringung in eigenen
Lagernunmöglich,da diesefür Unterbringung von rund 20000Serbenaus Auf
standsgebieten in Anspruch genommen werden müssen«, PA-AA, Inland Ilg,
Telegramm Benzlers an Ribbentrop, 28.9.1941.
31 BA-MA, RH 24-18/213, fernmündlicher BefehlBöhmes an Quartiermeisterab
teilung, 4.10.1941.
32 Ebenda.
33 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt am
Main 1991, S. 731.
34 Zum Schicksal des »Kladovo-Transportes«vgl. Gabriele Anderl/Walter Mano-
schek, Gescheiterte Flucht. Der jüdische »Kladovo-Transport« auf dem Weg
nach Palästina 1939-42, Wien 1993.
35 BA-MA, RH 26-104/14, Befehl Böhmes, 10.10.1941.
36 NO-Dokument 3402, SD-EreignismeldungUdSSR Nr. 120,21.10.1941.
37 PA-AA, Inland Ilg, Aufzeichnung Rademachers über das Ergebnis seiner
Dienstreise nach Belgrad, 7.11.1941.
38 Zentrale Stelle der LandesJustizverwaltungen Ludwigsburg, 503 AR-Z/1966,
Ermittlungsverfahren gegenWalter L., Zeugenaussage Franz H., 11.5.1965.
39 BA-MA,RH 26-104/15, Tätigkeitsberichtder 704. ID.
40 Landgericht Konstanz, AR 146/63, Vernehmungvon Hans-Dieter W.
41 BA-MA, RH 24-18/213.
42 BA-MA, RH 24-18/213, Befehl des Generalstabschefs Pemsel, 25.11.1941.
Trotzdem wurde die private Kriegsberichterstattung weiter praktiziert. Im

55
Dezember 1941 wies Pemsel nochmals auf das Fotografierverbot hin und for
derte die Abgabe der bereits gemachten Aufnahmen inklusive der Negative.
BA-MA, RH 26-104/52,Befehlvom 15.12.1941.
43 NO-Dokument 3404, Schreiben Turners vom 20.1 o.1941.
44 NOKW-Dokument 1150, Bemerkungen anläßlich der Reise des stellvertreten
den Oberbefehlshabers nach Belgrad, 5.12.1941.
45 Seit Dezember 1941 wurden in Riga, Chelmno und Poltawa insgesamt sechs
Gaswageneingesetzt. Sie ergänzten die Erschießungskommandos der Einsatz
gruppen.
46 Zum Ablauf der Gaswagenaktion vgl. Christopher R. Browning, The Final
Solution in Serbia. The Semlin Judenlager- A Case Study, in: YadVashem Stu-
dies, 15 (1983), S. 55-90; Menachem Shelach, Sajmiste - An Extermination
Camp in Serbia, in: Holocaust and GenocideStudies,2 (1987), S.243-260; Wal
ter Manoschek, »Serbien ist judenfrei«,a. a. O., S. 169-184.
47 Die Roma-Frauen und ihre Kinder waren unmittelbar vor dem Eintreffen des
Gaswagens aus dem KZ entlassen worden, so daß nur jüdische Opfer vergast
wurden.
Hannes Heer KÜHng Fields
Die Wehrmacht und der Holocaust

In einem Bericht zur Judenfrage vom 25. Januar 1942, in dem der Mord
an 9000 Juden mitgeteilt wird, beklagt der Gebietskommissar von Slo-
nim, Gerhard Erren, den nachlassenden Eifer der Truppe: »Das flache
Land wurde eine Zeitlang großzügig von der Wehrmacht gesäubert; lei
der nur in Orten unter 1000 Einwohnern.« Etwas später übt auch sein
Chef Wilhelm Kube, der Leiter der Zivilverwaltung im besetzten
Weißrußland, in einem Schreiben vom 31. Juli 1942 Kritik an der Wehr
macht: »Durch einen bereits berichteten Übergriff des Rückwärtigen
Heeresgebietes sind die von uns getroffenen Vorbereitungen für die
Liquidierung derJuden im GebietGlebokie gestörtworden. Das Rück
wärtige Heeresgebiet hat, ohne Fühlung mit mir zu nehmen, 10000
Judenliquidiert, deren systematische Ausmerzung vonunssowieso vor
gesehen war.«1 Indem der eine kritisiert, daß dieTruppe nur den kleinen
Holocaust praktiziert habe, und der andere ihr vorwirft, daß sie sich
eigenmächtig die Lorbeeren des großangelegten Massakers aneigne,
bestätigen doch beide, daß auf dieWehrmacht beimJudenmord zu rech
nen ist. Daß dies nichtnur für denEinzelfall oder ein begrenztes Gebiet
galt - wie viele Militärhistoriker immer noch behaupten -, soll im fol
genden dargestellt werden. Schauplatz ist Weißrußland im Jahr 1 der
Besatzung.

Der erste Schlag

Am 30. Januar 1939 hatte Hitler im BerlinerReichstag für den Fall eines
nochmaligen Weltkrieges prophezeit, daß »das Ergebnis nicht die Bol-
schewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein [wird],
sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa«. Als er nach
zwei Jahren Krieg, am 30. März 1941, vor den versammelten Komman
deuren und Stabschefs den bevorstehenden Feldzug gegen die Sowjet
union als »Kampf zweier Weltanschauungen« charakterisierte und als

57
Ziel die »Vernichtung der bolschewistischen Intelligenz« benannte, da
dürfte das für keinen der kommenden Ostkrieger ein Widerspruch
gewesen sein.2 Bolschewismus und Judentum waren spätestens seit der
deutschen Niederlagevon 1918 und den folgenden revolutionären Wir
ren bekannte Feindbilder, die von der nationalsozialistischen Propagan
da zu der griffigen Formelvom »jüdischen Bolschewismus« zusammen
gefügt wurden. Dieses Kürzel tauchte denn auch in den hektischen
Monatender Vorbereitung des »Barbarossa«-Feldzugs im Frühjahr 1941
ständig auf: Hitler forderte am 3. Märzin einergrundlegenden Weisung
ans Oberkommando der Wehrmacht (OKW) die Beseitigung der
»jüdisch-bolschewistischen Intelligenz«; Franz Halder, der General
stabschefdes Heeres, begründeteden Verzichtauf Kriegsgerichtsverfah
ren gegen verdächtige Zivilisten damit, daß hinter jedem Zivilisten ein
potentieller »Träger der jüdisch-bolschewistischen Weltanschauung«
lauere, und die Abteilung Wehrmachtspropaganda bereitete die Truppe
darauf vor, daß nicht die Völker der Sowjetunion, sondern die »jüdisch
bolschewistische Sowjetregierung« der Feind Deutschlands sei.3
Damit war ein Teil der zu Vernichtenden definiert: Kommissare der
Roten Armee, zivile Parteiarbeiter und Partisanen oder Partisanenver
dächtige. Die durch Hitlers Weisung initiierten kriminellen Befehle ver
langten von der Truppe die sofortige Ermordung dieser politischen
Aktivisten. Aber auch ein anderer Teil, die jüdische Bevölkerung,wurde
lange vor dem Überfall deutlich markiert. Hitlers Grundsatzerklärung
vom 3. März 1941 hatte zur unmittelbaren Folge, daß Himmler mit
»Sonderaufgaben« betraut wurde, die sich, wie es vorsichtig hieß, aus
dem weltanschaulichen Charakter des bevorstehenden Krieges ergäben.
Die für die Erledigung dieses Führerauftrags vorgesehenen »Sonder
kommandos der Sicherheitspolizei (SD)« sollten - wie es in dem Akom-
men zwischen dem GeneralquartiermeisterEduard Wagnervom Ober
kommando des Heeres und Reinhard Heydrich am 26. März festgelegt
wurde - »Staats- und reichsfeindliche Bestrebungen« bekämpfen und
wichtige Einzelpersonen »sicherstellen«. Juden wurden nicht genannt.
Aber da GeneralWagner wie die gesamte Generalität die Aufgaben die
ser Sondertruppe im Polenfeldzug zur Genüge kennengelernt hatte -
»Flurbereinigung: Judentum, Intelligenz, Geistlichkeit, Adel« -, wußten
alle Beteiligten, daß diese Auslassung keineprinzipielle Bedeutung hatte,
sondern nur auf alte Rivalitäten zwischen Wehrmacht und SD aus der
polnischen Kampagne von 1939/40 Rücksicht nahm. Jetzt, 1941, hatte
man mit den Juden mehr vor als nur eine »Flurbereinigung«. Dafür
spricht,daß in den im April entstandenen »Richtlinien für dasVerhalten

58
der Truppein Rußland« nebenden bekannten Gruppen der »kommuni
stischen Hetzer« und Freischärler auch die Juden ausdrücklich als
Objekt einer »rücksichtslosen und energischen« Behandlung genannt
wurden. Auch in dem gleichzeitig formulierten Aufgabenkatalog für die
auf dem Balkan operierenden SD-Sonderkommandos war die Ermor
dung der Juden wie selbstverständlich vorgesehen.4 Selbstwenn man für
diesen Zeitpunkt keine Befehle für den Genozid im Osten nachweisen
kann, daß die »Judenfrage« auch für die Wehrmacht explizit formuliert
war und ihre »Lösung« zur Agendades kommenden Feldzuges gehörte,
ist nach Lage der Dokumente aus der Periode der Vorbereitung unbe
streitbar und wird spätestens durch die Ereignisse der ersten Kriegstage
bestätigt.
Die am 22. Juni 1941 nach Osten vorrückenden deutschen Angriffs
keile hinterließen im eroberten Gebiet kein Vakuum, sondern ein dich
tes Netz von Orts- und Feldkommandanturen. Es waren die ersten
Institutionen der deutschen Besatzungsherrschaft. Zu ihren Aufgaben
gehörte - neben der Wahrnehmung der Verwaltung, der Förderung der
Wirtschaft, der ärztlichen Seuchenvorsorge und der Versorgung der
eigenenTruppe- die »Befriedung« des ihnen zugewiesenen Gebiets.Das
hieß - laut Lagebericht eines Feldkommandanten - »a) Erfassung der
Beute, insbesondere sämtlicher Handfeuerwaffen, b) Verhaftung der
Partisanen, c) Sicherstellung der Juden, d) Stimmung der Bevölkerung,
e) Minenfelder, f) Kriegsgefangene«.5 Die Juden galten also - nach den
Partisanen - als zweitwichtigste Feindgruppe. Ihre »Sicherstellung«
gehörte zu den normalen Aufgaben der Besatzungstruppen. Wasdarun
ter zu verstehen war, verrieten die ersten Anordnungen des obersten
Befehlshabers im rückwärtigenHeeresgebiet Mitte. Vordem Beginndes
Feldzugs mit bürokratischer Genauigkeit von der Heeresführung erar
beitet - wie gleichlautende Befehle in der Ukraine und im Baltikum
nahelegen -, erschienen sie in Weißrußland nach dem Fall der Haupt
stadt Minsk am 7. und 13. Juli. Sie verfügten die allgemeine Registrie
rung, die Kennzeichnung der Juden mit einem gelben Stern oder Lap
pen, das Verbot für Juden, einen Deutschen zu grüßen, ihre Umsiedlung
in speziellejüdische Wohnbezirke und die Bildung von Judenräten. Wie
derholte Kontributionen und die sofortige Einführung der Zwangsar
beit waren offensichtlich so selbstverständlich, daß es dazu keiner zen
tralen Befehle bedurfte.
Das Leben Hunderttausender Juden hatte sich also mit dem Erschei
nen der deutschen Truppen von einer Stunde auf die andere dramatisch
verändert. In der Anordnung des Feldkommandanten von Minsk, die als

59
Flugblatt und Maueranschlag am 19. Juli überall in der zerbombten
Stadt erschien, wurde die neue Wirklichkeit definiert: »Mit dem Datum
der Anordnungwird einjüdischerWohnbezirkin Minskgeschaffen. [...]
Die gesamtejüdische Bevölkerung hat sofort in den jüdischen Wohnbe
zirk der Stadt Minsk überzusiedeln. [...] Der jüdische Wohnbezirk ist
nach Abschluß der Umsiedlung durch Trockenmauern von der übrigen
Stadt abzuschließen. [...] Ein Verweilenaußerhalb des ihnen zugewiese
nen Wohnbezirks ist den zu Arbeitskolonnen zusammengefaßten Juden
verboten. [...] Dem Judenrat wird zur Durchführung der durch die
Umsiedlung entstehendenVerwaltungsmaßnahmen eine Zwangsanleihe
von 30000 Tscherwonzen auferlegt.«6 Das Ergebnis war einetotal erfaß
te, besitz- und rechtlose, der Besatzungswillkür unterworfene jüdische
Bevölkerung. Im westlichen Teil Weißrußlands blieb die Wehrmacht
zwei Monate Herr der Ghettos, bis die Zivilverwaltung im Oktober die
übriggebliebenen Arbeitssklaven übernahm. Im östlichen Teil, dem
rückwärtigen Heeresgebiet Mitte, währte das Wehrmachtsregiment fast
ein Jahr, bis die Kommandos der Einsatzgruppe B das letzte Ghetto
»geräumt« hatten. Biszu diesem Zeitpunkt führte die Abteilung VII der
Orts- und Feldkommandanten unter Punkt 5ihrer regelmäßigen Lage
berichtepeinlich genauBuch über die Entwicklung »derJudenfrage«.7
In der Literatur wird diese Handreichung der Wehrmacht zur Ver
nichtung der osteuropäischen Juden - angesichts der Ereignislawine der
ersten Kriegswochen und der später einsetzenden organisierten Massa
ker der stationär gewordenenEinsatzgruppen - zumeist unterschlagen.
Wenn sie in ein oder zwei Sätzen Erwähnung findet, dann wird nur auf
die organisatorische Seite dieser Hilfestellunghingewiesen. Jean Amery
hat in der Aufarbeitung seines Schicksals als jüdischerHäftling in deut
schen Konzentrationslagern den Begriff des »ersten Schlages« geprägt.
Ob er durch einen Gewehrkolben, eine menschliche Faust oder die Peit
sche erfolgt - »der erste Schlag bringt dem Inhaftierten zu Bewußtsein,
daß er hilflos ist - und damit enthält er alles Spätereschon im Keime«. Er
zerbricht im Opfer eine bis dahin gültige, gewissermaßen universelle
Grundannahme, »dieGewißheit,daß der andere aufgrund von geschrie
benen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer
gesagt, daß er meinen physischen und damit auch metaphysischen
Bestand respektiert«.8 Die Wehrmacht hat dem osteuropäischen Juden
tum diesen »erstenSchlag« versetzt. Siehat den einzelnenJuden deper
sonalisiert und entwürdigt und damit Hunderttausende in den »Abfall«
verwandelt,der von Einsatzgruppen, Polizei und Waffen-SS dann syste
matisch weggeräumt wurde. Die Orts- und Feldkommandanten wuß-

60
ten, daß sie mit ihrenMaßnahmen gegen dieJuden nur Vorarbeit leiste
ten. Manchmal kommt das, wiein einem Bericht vom September 1941,
auch zur Sprache, dunkel und eindeutig zugleich: »Die männlichen
Juden sind im Bezirk überwiegend von dem Polizei-Bataillon erschos
sen. Die in dem Südabschnitt noch lebendenmännlichen Juden werden
gefängnismäßig interniert und [...] zu Zwangsarbeiten jeglicher Art her
angezogen. Ihr späteres Schicksal bleibt vorbehalten.«9

Die Truppe auf der»Judenjagd«

Für viele Juden erfüllte sich dies Schicksal schon in den ersten Wochen:
Die Einsatzgruppe B, die mit der Heeresgruppe Mitte nach Osten vor
gerückt war, hatte bis Mitte August 1941 17000 Juden ermordet. Die
Wehrmachtseinheiten waren, wie die erhaltenen Kriegstagebücher bele
gen, über diese Aktion genau im Bild und beteiligten sich vielerorts an
den Massakern.10 Während dieser Aspekt der Kooperation von Wehr
macht und SD durch das Standardwerk von Helmut Krausnick und
Hans-Heinrich Wilhelmweitgehend geklärt ist, ist ein anderer,sehr viel
direkterer Tatbeitrag der Wehrmacht im dunkeln geblieben. Gemeint ist
die Tätigkeit, die im eingangs zitierten Bericht des Gebietskommissars
Erren als »Säubern des flachen Landes« bezeichnet wurde.
Einen ersten Hinweis darauf lieferte das Tagebuch eines ehemaligen
Angehörigen des 354. Infanterie-Regiments, das 1961 in London aus
zugsweise veröffentlicht wurde. Der Autor, der Obergefreite Richard
Heidenreich, berichtete, wie sein Bataillon im Juli 1941 in Minsk eine
Zeitlangjudenerschießungen durchführte und dann in das 100 Kilome
ter weiter entfernte Dorf Krupka verlegt wurde. Dort erfüllte es unter
anderem Aufgaben wie diese: »5. Oktober. Abends suchte unser Leut
nant 15 Mannmit starkenNervenheraus. [...] Wirwartetenin gespann
ter Erwartung auf den Morgen. Pünktlich um 5.00 Uhr waren wir fer
tig und der Oberleutnanterklärte uns unsere Aufgabe. Es gabungefähr
1000 Juden im Dorf Krupka, und diese mußten alle heute erschossen
werden. [...] Nachdem die Leute verlesen worden waren, marschierte
die Kolonne zu dem nächsten Sumpf. [...] Ein Leutnant und ein Feld
webel waren bei uns. Zehn Schüsse fielen, 10 Juden waren abgeknallt.
Dieses gingweiter,bis alleerledigtwaren. Nur wenigevon ihnen behiel
ten ihre Fassung.Die Kinder klammerten sich an ihre Mütter, Frauen an
ihre Männer. [...] Ein paar Tage späterwurde eineähnlich großeZahlin
Kholoponichi erschossen. Auch hieran war ich beteiligt.«11 Dieser

61
Bericht löste in der Bundesrepublik einen der ganz seltenen Prozesse
gegen ehemalige Wehrmachtsangehörige aus.
Da die Militärgeschichtsschreibung, eingeschlossen ihre kritische
Fraktion, bei der Beschreibung und Bewertung des Rußlandfeldzuges
fast ausschließlich die professionellen Eliten berücksichtigt, lohnt es
sich, das Verhalten der Mannschaften, im Spiegel eines solchen Prozes
ses, näher zu betrachten. Auch wenn sich dabei kein repräsentativer
Mentalitätsquerschnitt ergibt,Anhaltspunkte, wieweitdie »verbrecheri
schen Befehle« von der Truppe getragen wurden, liefert eine solche
Betrachtung allemal.
Der Prozeß gegenHeidenreichs ehemalige Kameradenbestätigtedes
sen Angaben in vollem Umfange. Es stellte sich heraus, daß Aktionen
wie die von Krupka zum Alltag der Einheit gehört hatten: »Von Krup
ka führten wir mehrere sogenannte Razzien durch, und zwar hatten wir
dieAufgabe (meistens nachts), umliegende Ortschaftenabzusperrenund
zu durchkämmen. Es wurden dort die ansässigen Juden (Männer, Frau
en und Kinder) gefangengenommen und in dem Ort gesammelt. [...] Es
wurde so verfahren, daß zu diesen Aktionen Teile der 12. Komp.
abwechselnd eingesetzt wurden. Nachdem dieJuden in den Ortschaften
gesammelt waren, wurde eine Stelle ausgesucht und sie wurden dann
dort erschossen. [...] Es wurden auch zum Teil russische NichtJuden
mitgenommen, die die jeweiligen Gräber zuschaufeln mußten. Die Rus
sen nahmen dann von Fall zu Fall hierfür dann übriggebliebene Habse
ligkeiten der Juden mit. [...] Es kam auch vor, daß wir nur eines Juden
habhaft werden konnten und wir dann so lange warteten, bis einige
Leute mehr zusammen waren.«12 Ähnliche Berichte aus andern Teilen
des rückwärtigen Heeresgebietes Mitte bestätigen dieseSchilderung.Vor
allem aber hat das umfangreiche Material aus Nachkriegsprozessen
gegen ehemalige Gebietskommissare im zivilverwalteten TeilWeißruß
lands - im Nazijargon »Weißruthenien« genannt - den Verdacht
bestätigt, daß es sich bei diesen Maßnahmen um eine flächendeckende
Aktion der Wehrmacht handelte.13 Beteiligtwar das im Raum Barano-
wicze stationierte 727. Infanterie-Regiment, das der 707. Infanterie-
Division und deren Befehlshaber, dem Generalmajor von Bechtolsheim
in Minsk, unterstand. Vier Momente fallen bei Betrachtung des er
drückenden Beweismaterials auf:
1. Bei den Aktionen handelte es sich nicht um Partisaneneinsätze. Ver
nichtet werden sollten die Juden: »In der Zeit von Anfang August bis,
glaube ich, Mitte Oktober 1941 verrichtete unsere Einheit Besatzungs
dienst in Slonim und in kleineren Ortschaften in der Umgebung. [...]

62
Unsere Kompanie hatte in dieser Zeit, soweit ich michentsinne, einmal
Gefechtsberührung mit Partisanen«(Erren 32). »Der größte Teilvon den
durch S.erschossenenPersonen waren Juden und hatten mit der Kampf
handlung nicht das geringste zu tun« (Windisch 1186). »Mir ist weiter
hin bekannt, daß unsere Kompanie sog. Tätigkeitsberichte zum Batail
lon fertigen mußte und aus diesem Grund Streifen in der Umgebung
durchführte, dabeiJuden aufgriffund dieseerschoß. Beiden Tätigkeits
berichtenwurde diesdann so dargestellt, alsseien diese Personenaufder
Flucht erschossen worden« (Windisch 1354).
2. DieJagd nachJuden und die Exekutionen geschahen nicht zufällig
oder spontan. Sie folgten einem genauen und im voraus festgelegten
System: »Die Kompanie führte kleinere Aktionen im Umkreis von
Slonim durch. Wir wurden mit LKWs hingefahren, z. T. sind wir auch
marschiert. [...] Als wir bei solchen Anlässen die Juden aus den Häusern
holten, hatten wir immer die Anweisungvon G. bekommen, den Juden
vorzumachen, daß sie in Sammel- oder Internierungslagerkommen und
ihr Gepäck mitnehmen sollen« (Erren 3063f.). »Leutnant S. ist wieder
holt auf Streife gegangen. Zu diesen Streifen nahm er grundsätzlich nur
Freiwillige mit. [...] Auf diesensog. Streifen fuhr S.mit seinenLeutenin
die Umgebung. Wenner zurückkam,meldete er dann aufder Kompanie
dem 1. Schreiber S., daß mehrere Partisanen im Einsatz erschossen wor
den seien. In Wirklichkeit war es in der Kompanie allgemein bekannt,
daß es sich hierbei um Juden gehandelt hat, die keineswegs Partisanen
waren« (Windisch 1178). Aus einem Feldpostbrief des Kompaniechefs
dieser Einheit vom 15. Oktober 1941 an seinen Bruder in der Heimat:
»Wir sind jetzt fleißig auf der Jagd. JedenTag mußten mehrere jüdische
Partisanen daranglauben. Da geht's immerwildher. [...] Wirräumen auf
mit der Bande, das wäre was für Dich« (Windisch 1175).
3. Auffallend ist die Brutalität des Vorgehens. Was man mittlerweile
bei den Einsatzgruppen und Polizeibataillonen an Mordlust und
Gefühlskälte zuzugeben bereit ist, davon hat man auch bei durch
schnittlichenLandsern auszugehen: »Unserezurückkehrenden Kamera
den erzählten, daß sie in der weiteren Umgebung des Klosters in kleine
ren Dörfern einige jüdische Familien, und zwar Männer, Frauen und
Kinder erschießenmußten. [...] Einer dieser Kompanieangehörigen [...]
sagte wörtlich: >Judenhirn, das schmeckt gut.< Er sagte weiter, sie hätten
jetzt gerade Juden erschossen, dabei sei ihm das Gehirn dieser Juden
direkt in das Gesicht gespritzt« (Erren 33). »Ich kann mich auch noch
erinnern, daß ich gesehen habe, wieein Kindam Kopferfaßtwurde und
dann erschossenwurde. Das Kind wurde dann in die Grube geworfen«

63
(Erren 115 5). »H. erzählte dabei; daß bei der Exekution Kinder davon
gelaufen seien und daß man diese Kinder mit dem aufgepflanzten Sei
tengewehr aufgespießt und anschließend in die Grube geworfen habe«
(Windisch 1165). Ein jüdischer Überlebender berichtet: »InTschutschin
war einedeutsche Wehrmachtseinheit stationiert,die jedenSamstag sich
mit >Judenspielen< amüsierte. Sie quälten und erschossen wahllos und
ohne Grund Juden« (Windisch 1381 ff.). »Der Ortskommandant von
Slonim hatte eine Clique um sich, mit der er soff und Karten spielte.
Auch gehörte der Südtiroler B. dazu. Dieser hat uns manches davon
erzählt, so auch, daß er immer Judenmädchen beschaffen mußte, wenn
der Ortskommandant betrunken war« (Erren 3138 f.).
4. Mordlust und Sadismus, Gefühlskälte und sexuelle Perversionen
konnte man nicht befehlen, die brachten große Teile der Truppe mit.
Aber die Gelegenheit, dieses Triebpotential auszuagieren, die stelltendie
Befehle der Kommandeure her. Ein Zeuge berichtete, was vor einem
Einsatz in der Nähe von Slonim geschah: »Ich meine, daß dort vom
Kompaniechef ein Schreiben verlesen wurde, wonach die Juden in
unserm Raumliquidiert werdensollten« (Erren 1154). Ein anderer prä
zisiert: »Aufgrund eines bestehenden Regimentsbefehls wurden generell
alleJuden als Partisanen angesehen, sofern sie außerhalb des Wohnorts
angetroffen wurden« (Windisch 1172). Diese Aussagen legen nahe, daß
es sich bei den Befehlen nicht um Anordnungen einzelner fanatischer
Kompaniechefs, sondern um zentrale Weisungen gehandelt haben muß.
Sie sind gefunden worden und stammen aus dem Hauptquartier des
»Kommandanten in Weißruthenien«, des oben erwähnten Generalma
jors von Bechtolsheim. Am 10. September 1941 gab er in seinem ersten
Lagebericht die folgende grundlegende Einschätzung für sein Gebiet:
»Die jüdische Bevölkerung ist bolschewistisch und zu jeder deutsch
feindlichen Haltung fähig. Zu ihrer Behandlung bedarfes keinerRicht
linien.« Offensichtlich hat der Kommandeur dann aber doch solche am
29. September, am 4. und 10. Oktober erlassen. In späteren Berichten
bezog er sich jedenfalls darauf: »Wie in vorstehenden Befehlen angeord
net, müssen die Juden vom flachen Land verschwinden.« Daß mit
Verschwinden nicht bloß Vertreiben gemeint war, machte ein Befehl
vom 16. Oktober klar, der seinen Einheiten, also auch den Männern des
727. Infanterie-Regiments, zur Pflicht machte, »dafür zu sorgen, daß die
Juden restlos aus den Dörfern entfernt werden. Es bestätigt sichimmer
wieder,daß diese die einzigen Stützen sind, die die Partisanen finden, um
sich jetztnoch und überdenWinter halten zu können. IhreVernichtung
ist daher rücksichtslos durchzuführen.« Und drei Tage später: »Die

64
Juden [...] sind unsere Todfeinde. Diese Feinde sind aber keine Men
schenmehrim europäischen Kultursinn, sondernvonJugendaufzu Ver
brechern erzogen und als Verbrecher geschulte Bestien. Bestien aber
müssen vernichtet werden.«14
Das »Säubern des flachen Landes« war keine Willküraktion der Wehr
macht, sondern erfolgte offensichtlich in Absprache mit der Zivilver
waltung. Deren Chef, der Reichskommissar Ostland, Hinrich Lohse,
dem auch »Weißruthenien« unterstand, hatte in seinen »Vorläufigen
Richtlinien für die Behandlung derJuden« vom 18. August 1941 »Min
destmaßnahmen« bestimmt- »solange weitereMaßnahmen imSinne der
endgültigen Lösung derJudenfrage nicht möglich« waren. Als eine die
ser Maßnahmen dekretierte er: »Das flache Land ist von Juden zu säu
bern.«15
Ende NovemberbrachdieWehrmacht dieses Programm ab.Die kata
strophale militärische Lage an der Front machte es notwendig, sich auf
die originären militärischen Aufgaben zu besinnen. Statt die Juden an
Ort und Stelle zu vernichten, sollte die Wehrmacht sie vom Land in die
nächstgrößeren Ghettos abtransportieren. Als der Ortskommandant
von Slonim dem dortigen Gebietskommissar die neue Lage mitteilte,
antwortete dieser postwendend. Der Briefwechsel wirft ein helles Licht
auf die aktive Rolle der Wehrmacht beim Holocaust. Gerade in der Zeit,
in der Zivilverwaltung und stationäre SD-Dienststellensich erst im Auf
bau befanden, wurde sie der Garant für die Durchführung dieses Pro
gramms. Der Gebietskommissar Erren schrieb dem Ortskommandanten
Glück am 4. Dezember 1941: »Sie haben mich bisher in überaus dan
kenswerterWeise in der Lösung meinerpolitischenund völkischen Auf
gabe unterstützt - ich hätte es allein mit meinen schwachen Polizeikräf
ten nicht schaffen können - und ich muß Sie daher bitten, [...] bei Ihrer
vorgesetztenDienststelle zu erwirken, der deutschen Aufgabe im Osten
auch weiterhin Ihre Kräfte zur Verfügung zu stellen.« Der deutschen
Aufgabe im Osten waren durch die Einheiten des »Kommandanten in
Weißruthenien« bis zu diesem Zeitpunkt etwa 20000 Juden zum Opfer
gefallen.16

DerJude ist der Partisan

Der Wehrmachtsbefehlshaber Ostland, Generalleutnant Walter Brae-


mer, dem die »militärische Sicherung« im besetzten Baltikum und im
zivilverwaltetenTeilWeißrußlands oblag,forderte in seinenRichtlinien

6j
vom 25. September 1941, »daß alle die Ruhe und Ordnung gefährden
den Faktoren unschädlich gemacht werden«. Dann wurde er konkret:
»Die Ruhe und Ordnung gefährden: a) versprengte oder mit Absicht in
den Wäldern und an einsamen Plätzen zurückgelassene oder abgesetzte
bolschewistische Soldaten und Agenten (Partisanen); b) kommunisti
sche und sonstige radikale Elemente; c) Juden und judenfreundliche
Kreise.«17 Das Thema ist offensichtlich die Partisanengefahr, und einTeil
dieses Explosivgemischs scheinendieJuden und ihre Sympathisanten zu
sein. Auch kritische Militärhistoriker haben solche Formulierungen, die
ein natürliches Bündnis von Jude und Partisan nahelegen, vor allem
anhand der berüchtigten Befehle der Generäle von Reichenau und von
Manstein,alstaktische Manöver eingeschätzt: Seies,daß man unterstellt,
die Truppenführer hätten durch die pseudomilitärische Begründung
möglichenWiderständen ihrer Soldaten gegen den Genozid vorbeugen
wollen, sei es, daß behauptet wird, sie hätten auf diese Weise die gute
Kooperation mit den Killerkommandos des SD und der Waffen-SS bei
der »Sicherung und Befriedung« der besetzten Territorien nicht gefähr
den wollen, immer liegt dem die Annahme zugrunde, kein Befehlshaber
habe wirklich an die eigenen Losungen geglaubt.18 Abgesehen davon,
daß die Truppe keine Probleme mit dem Holocaust hatte, sondern ihn
auch gerne, wie gezeigt, in die eigene Hand nahm, war die Formel vom
Juden-Partisan lange vor den Massakern des Spätherbstes 1941 und des
beginnenden Partisanenkrieges entstanden. Sie tauchte schon in den
ersten Wochen des Krieges auf und folgte am allerwenigsten taktischen
Überlegungen.
Am 8. Juli vermerkt das Kriegstagebuch der 221. Sicherungs-Divi
sion, die an der Westgrenze der Sowjetunionstationiert war: »Aufgrund
der Feststellung, daß überall dort, wo Juden leben, die Säuberung des
Raumes auf Schwierigkeiten stößt - denn die Juden unterstützen die
Bildung von Partisanengruppen und die Beunruhigung des Raumes
durch versprengte russische Soldaten - wird mit sofortigerWirkungdie
Evakuierung sämtlicher Dörfer nördlich Bialowiza von allen männli
chen Juden angeordnet.« Ein Bericht des zur selben Division gehören
den 350. Infanterie-Regiments vom 18. August formulierte ähnlich:
»Von größter Wichtigkeit bei all diesen Maßnahmen ist es schließlich,
den Einfluß der Juden, der in manchen Orten noch heute bestimmend
und keineswegs gebrochen ist, zu beseitigenund diese Elemente mit den
radikalsten Mitteln auszuschalten, da gerade sie es sind, wie immer von
Ortseinwohnern der Gemeinden bestätigtwird, die die Verbindung zur
Roten Armee und dem bekämpften Bandentum aufrechterhalten und

66
ihnen die erforderlichenUnterlagen für dasVorgehen gegen die deutsche
Wehrmacht an die Hand geben.« Der Regimentskommandeur gab die
sen Bericht zustimmend an die Division weiter, mit dem Zusatz: »Die
Judenfrage muß radikaler gelöst werden.«19 Natürlich gab es bei der
Truppe auchVersuche einer realistischen Beschreibung der Wirklichkeit,
die sich herausbildende Partisanenbewegungals Summevon verspreng
ten Rotarmisten und kommunistischen Zivilisten zu begreifen oder die
Flucht zahlreicherJuden in die Wälder alsErgebnis des deutschen Besat
zungsterrors zu deuten. Aber das blieben Ausnahmen, Reste von nor
malem Wahrnehmungsvermögen. Eine andere, eine rassistische Optik
setzte sich durch: »DieJuden sind deshalb ohne jede Ausnahme mit dem
Begriff Partisan identisch.«20
Ein Parallelvorgang läßt sich hinsichtlich des bewaffneten Gegners
feststellen. Auch hier hatte die Wehrmachtsführung vor dem Feldzug ein
deutliches Bild geschaffen. Warnten die »Richtlinien für das Verhalten
der Truppe in Rußland« noch eher zurückhaltend vor der »heimtücki
schen Kampfweise« des Gegners und beschrieben vor allem die asiati
schen Soldaten der Roten Armee als »undurchsichtig, unberechenbar,
hinterhältig und gefühllos«, so geriet das erste Heft der »Mitteilungen
für die Truppe« bei der Beschreibung der kommunistischen Truppen
kommissareaußer Rand und Band: »Eshießedie Tiere beleidigen, wollte
man die Züge dieser zu einem hohen Prozentsatz jüdischen Menschen
kinder tierisch nennen. Sie sind die Verkörperung des Infernalischen,
Person gewordener wahnsinnigerHaß gegenalles edleMenschentum. In
Gestalt dieser Kommissare erleben wir den Aufstand des Untermen
schen gegen edles Blut.« Kaum, daß der Vernichtungsfeldzug eröffnet
ist, bestätigen die Frontberichte diese Propagandaprognosen: »In dem
Typ des politischen Kommissars tritt uns die asiatische Fratze des
ganzen roten Systems entgegen.« Oder: »Der Bolschewismus hat die
russischeJugend nicht zum Trägereiner Idee, sondern zum Verbrecher
tum erzogen. Seine Kampfmittel sind Auswüchse asiatischen Ge
hirns.«21 Die Berichte der Stabsoffiziere über den »Kannibalismus« in
den Kriegsgefangenenlagern oder die Sammlung »asiatischerTypen« in
den Fotoalben der Landser bestätigen die Verbreitung dieser Mentalität
und demonstrieren, daß die Gleichsetzung von Jude und Partisan sich
nicht einer Taktik, sondern einem real existierenden Rassismus verdank
te: Juden und Partisanen galten - bei allen Unterschieden - gleicher
maßen als artfremd und deutschfeindlich, ihr Bündnis blutgemäß wie
ideologisch als natürliches.
Während am täglichen Rassismus der Mannschaften - aufgrund von

67
Fotos, Feldpostbriefen, Aussagen vor sowjetischen oder deutschen
Gerichten - kein Zweifel besteht, fehlt ein ähnlich evidentes Beweisma
terial für das Offizierskorps. Erst recht fehlen quantifizierbare Unter
suchungen zur Mentalität der Wehrmachtsführung. Statt dessen be
hilft sich die Militärhistorie mit methodisch überholten Studien zu
»Feindbildern«, »Rußlandbildern«, »Kriegsbildern«.22 ManfredMesser
schmidts Standardwerk von 1969, »Die Wehrmacht im NS-Staat«, das
den Anstoß zu einer Mentalitätsgeschichte hätte geben können, ist ohne
Folgen geblieben.23
Einen Versuch, die dort entwickelte These von der »Teilidentität der
Ziele« aufzugreifen und methodisch zu erweitern, hat zuletzt Bernhard
Kroener unternommen. Ausgehend von der »Teilidentität von Erfah
rung und Erinnerung« zerlegt er das Offizierskorps in vier homogene
Altersgruppen. Für die meist adligen Angehörigen der Jahrgänge 1880
bis 1890, die den Ersten WeltkriegalsStabsoffizieremiterlebt hatten und
nun einen Großteil der Generäle stellten, diagnostiziert er eine weitge
hende Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Außen- und
Militärpolitik bei fortbestehendem »mentalitätsmäßigem Gegensatz«.
Die Jüngeren, in den Jahren 1890 bis 1900 Geborenen, waren 1914 bis
1918 Frontoffiziere gewesen und gingen 1939 als Stabsoffiziere an die
Front. Diese meist aus dem Bürgertum stammende Gruppe »identifi
zierte sich weit stärker als die ältere Offiziersgeneration mit den sozi
aldarwinistischen Vorstellungen vom Kampf alsDaseinsformund seinen
darausabgeleiteten Wertmaßstäben und Ausleseprinzipien, wie sie auch
der Nationalsozialismus für den staatlichen und individuellen Lebens
bereich postulierte«.24 Man muß diese Feststellungen um einige Details
ergänzen, um ein komplettes Bild der damaligen Bewußtseinslage zu
erhalten. BeidePeer-groups waren im Kaiserreich, und das heißt auch in
einem Klima von überspannten Großmachtphantasien aufgewachsen.
1918 brachfür sieeineWelt zusammen. Die militärische Niederlage und
das EndedesHohenzollernstaates deuteten siesichals Ergebnis der Zer
setzung an der Heimatfront, alsFolgedesvon jüdisch-bolschewistischen
Revoluzzern geführten Dolchstoßes gegendas wehrhafte Volk.Die Jün
geren, daraufverweist Kroener, versuchten in den Freikorps Rache zu
nehmen an dem»rotenGesindel« und das »System« wegzuputschen, die
Alteren arbeiteten im Rahmen der Reichswehr auf eine strategische
Revisionder Verhältnisse hin. Als Befehlshaberoder Stabsoffiziere 1941
mit der »Sicherstellung und Befriedung« der besetzten Gebiete im
Rücken der Front betraut, reaktivierte sich in den unermeßlichen Räu
men des Ostens und angesichts eines nicht zu fassenden unsichtbaren

68
Feindes das Trauma aus den Jahren 1918 bis 1923. Standesmäßige oder
ideologische Vorbehalte zum Nationalsozialismus, wenn sie denn
bestanden hatten, traten jetzt zurück. Der Jude und der Partisan hatten
die Rolle des Spartakisten übernommen, in all ihren heimtückischen
Metamorphosen. Die von den Generälengeschaffenen Ghettos erschie
nen ihnen mehr und mehr wie Brutstätten der Konspiration und des
Aufstandes: der vor dem drohenden Massaker flüchtende Jude übertrug
das Gift der Zersetzung in die russischen Dörfer, jede Frau auf dem
Markt, jeder Bauer mit Panjewagen war also längst infiziert und nicht
nur potentieller Partisan. Einen makabren Beleg für diese Paranoia lie
fert der Lehrgang, den der Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebie
tes Mitte vom 24. bis 26. September 1941 abhalten ließ. Den ersten Vor
trag zum Thema »Die Judenfrage mit besonderer Berücksichtigung der
Partisanenbewegung« hielt der Chef der Einsatzgruppe B, Arthur
Nebe. Als man bei der abschließenden Lehrübung »Aushebung eines
Partisanennestes« statt der gemeldeten Partisanen einige jüdischeFami
lien antraf, wurden diese kurzerhand exekutiert.25

Die Wehrmacht mordet im großen Stil

So drastisch auch das Beispiel des Partisanenlehrgangs erscheinen mag,


einen noch deutlicheren Beleg für den Bewußtseinszustand der Truppe
sollten die Ereignisse liefern, die im Oktober und November 1941 in
Weißrußland stattfanden - die ersten Vernichtungsaktionen gegen die
Ghettos. Eingeleitet wurden sie durch ein Unternehmen des Wehr
machtsbefehlshabers Ostland, des Generalleutnants Braemer in Riga.
Dieser setzte am 4. Oktober zwei Kompanien des Reserve-Polizei-
Bataillons 11 zuzüglich litauischer »Schutzmannschaften« nach Minsk
in Marsch. Der Bataillonskommandeur erinnerte sich in einem Prozeß
nach dem Krieg an diesen Einsatz unter dem Namen »Aktion >juden-
rein<«. Nach einleitenden kleineren Mordaktionen gegen Juden im
Räume Minsk wurden am 14. Oktober die Bewohner des Ghettos in
Smolewitschi - 1338 Juden - ermordet, am 21. Oktober folgte eine ähn
liche Aktion in Koidanowo - mit 1000 Opfern. Den Abschluß bildete
der Mord an 5900 Juden im Ghetto von Sluzk am 27. und 28. Oktober.26
Das Massaker machte in den Führungsetagen der Besatzungsorgane
Furore: gegen die »ingeradezu sadistischer Weise durchgeführte« Mord
aktion protestierten der Sluzker Gebietskommissar, und sein Chef Wil
helmKube reichte den Protest an den Reichskommissar Ostland in Riga

69
weiter. Ursache für diese Intervention des überzeugten Nationalsoziali
sten und Gauleiters Kube waren nicht moralische Gründe, sondern, wie
sein Schreiben deutlich macht, Rivalitäten: »Das Polizeibataillon Nr. 11
aus Kauen hat, ohne mich [...] in Kenntnis zu setzen, als der Wehrmacht
direkt unterstellte Truppe selbständig gehandelt und das Ansehen des
Deutschtums aufs schwerste beeinträchtigt.«27 Die blutige Expedition
hatte nämlich - mit der Vernichtung der drei Ghettos - den Startschuß
gegeben für die zweite Phase der »Endlösung« in Weißrußland. Und
Kubes Zivilverwaltung sah sich dabei durch ein unerwartetes Bündnis
von Wehrmacht und SD überspielt.
Um den überraschenden Startschuß des Wehrmachtsbefehlshabers
Ostland zum Genozid in »Weißruthenien« zu verstehen, erscheint es
ratsam,kurz den Fortgang des Projekts »Endlösung« in der großen Poli
tik zu rekapitulieren.28 In der ersten Julihälfte 1941 - imRaum Smolensk
bahntesichgerade ein großerSieg der deutschenVerbände an- hatte sich
Hitler zur radikalen Vernichtung der russischen Juden entschlossen.
Während die Zivilverwaltung des »Ostlandes« das als langfristige Auf
gabe ansah undsich aufÜbergangsmaßnahmen gegen die Juden einrich
tete, drängte der Chef der Einsatzgruppe A schon Anfang August auf
Vollzug und versprach »eine fast iooprozentige sofortige Säuberung des
gesamten Ostlandes von Juden«.29 Es kam nicht dazu, weil die NS-
Führung ihr Programm mittlerweile radikalisiert, das heißt ausgeweitet
hatte: Mitte September - der Fall von Kiew stand bevor - teilte Himm
ler den Entschluß Hitlers mit, das Altreich und das Protektorat mög
lichst rasch »judenfrei« zu machen; die dort lebendenJuden sollten zur
Vernichtung nach Osten transportiert werden, nach Riga, Reval und
Minsk,präzisierteer wenigspäter. Mitte Oktober - die Wehrmacht hatte
in der Kesselschlacht von Wjasma und Brjansk mehr als eine halbe
Million Gefangene gemacht, und in Moskau breitete sich Panik aus -
setzte sich in Wien der erste Deportationszug in Bewegung, nach Lodz.
Am 8. November begannen - mit einem Transport aus Hamburg - die
Deportationen aus Deutschland, Zielort: das Ghetto in Minsk.
Generalleutnant Braemer, der oberste Militär im besetzten »Ostland«,
war über die geplanten Vernichtungstransporte durch seine Freund
schaft mit den Spitzenkadern der SS in Riga frühzeitig informiert.30 Was
im unmittelbaren Machtbereich des »Reichskommissars« Lohse schwer
möglich war, das ließ sich in »Weißruthenien« eher verwirklichen: eine
kombinierte Aktion von Wehrmacht und SD mit dem Ziel, vor Ankunft
der ersten Transporte einen relevantenTeil der bestehenden Ghettos zu
vernichten und damit das vermeintliche Gefahrenpotential drastisch zu

70
vermindern. Braemer, ein fanatischer Anhänger der These vom Juden-
Partisan, erwartete, wie er in einem Protestbrief formulierte, vom Zuzug
der deutschenJuden, »dieder Masse der weißruthenischenBevölkerung
in Intelligenz weit überlegen sind«, eine eminente Ansteckungsgefahr.31
Er reagierte auf die unerwünschten Transporte prompt und in Abspra
che mit dem Befehlshaberdes rückwärtigen Heeresgebietes Mitte. Dafür
spricht, daß dieser das bestehende Verbot für Wehrmachtsangehörige,
die Ghettos zu betreten, am 18. Oktober aufhob - für den Fall »eventu
ell befohlener Aktionen«. Am 20. Oktober konnten daraufhin mit Hilfe
der Wehrmacht 7000 Juden in Borissow abgeschlachtet werden, im
November folgten 5000 Ghettoopfer in Bobruisk. Gleichzeitig verbat
sich der Chef des rückwärtigen Heeresgebietes - bei Androhung von
bewaffnetem Widerstand - Judentransporte in seinen Befehlsbereich.32
Auch in »Weißruthenien« übernahm, nach dem Abzug des Polizei
bataillons 11, die Wehrmacht in Gestalt des schon bekannten Infanterie-
Regiments 727die Aufgabe, gegendie Ghettos zu marschieren. Am 30.
Oktober »räumte« die 8. Kompanie das Ghetto von Nieswiecz und
ermordete 4500 Juden, am 2. November fielen derselben Einheit eine
unbekannte Anzahl Juden in Lachowicze, am 5. November 1000Juden
in Turec und Swierzna zum Opfer, den 9. November, den nationalen
Ehrentag, feierten die Soldaten der 8. Kompanie mit dem Abschlachten
aller 1800 Juden von Mir, in Slonim unterstützte die 6. Kompanie aktiv
dievon SDund Polizeiam 13. und 14. November durchgeführteErmor
dung von 9000 Juden, die 7. Kompanie war am 8. Dezember bei der
Ermordung von 3000Juden in Novogrudok behilflich.33
Die meisten der bisher geschilderten Mordaktionen der Wehrmacht-
die kleinen Razzien wie die großen Ghettoaktionen - fanden vor dem
3. Dezember 1941 statt. An diesem Tag brachen die Panzergruppen 3
und 4 auf eigenen Entschluß ihre Angriffsoperationen gegen Moskau ab.
Am 5. Dezember folgte die 2. Panzerarmee. Der »Blitzkrieg« war
gescheitert, die Wehrmacht hatte sich im Osten festgerannt. Der Hinweis
auf dies Datum ist deshalb so wichtig, weil für Militärhistoriker wie
Omer Bartov der Charakter der Kriegführung sich ab diesemZeitpunkt
verändert, die Truppe »zu einem ideologisch motivierten Werkzeug
einesverbrecherischen Regimes« wird und der Krieg sich »barbarisiert«.
Daß die »Wannseekonferenz« zeitgleich stattfindet, ist für ihn kein
Zufall.34 So wichtig Bartovs Fragen und seineBefunde zur Mentalität der
Osttruppen im Stellungskrieg sind, der behauptete Zeitpunkt der Bar-
barisierung wie die kausale Ableitung sind falsch. Die Verbrechen der
Wehrmacht, wie sie oben für ein beschränktes Territorium und einen

7i
knappen Zeitraum zusammengetragen wurden, haben sich alle vor die
sen kritischen Tagen der Jahreswende 1941/42 ereignet. Die ersten ent
scheidenden Maßnahmen zum Genozid an den Juden sind nicht im Kon
text der Niederlage erfolgt, sondern wurden geplant und durchgeführt
zu den Zeiten der größten Siege. Nicht im Winter 1942, sondern im Sep
tember und Oktober 1941 tat die Wehrmacht den Schritt von der alltäg
lichen Verfolgung zum großen Mord, von der Razzia zum Holocaust.
»Ungefähr19000Partisanenund Verbrecher, das heißt-also in der Mehr
zahl Juden«, so meldete die Einsatzgruppe A, habe die Wehrmacht bis
Dezember 1941 in Weißrußland erschossen. Und ein Bericht des SD-
Führers Burkhardt aus Minsk, ebenfalls am Jahresende 1941 verfaßt,
stellte klar, daß das nicht zufällig geschah: »Zwischen der Wehrmacht
und dem Generalkommissariat bestehen [...] grundsätzlicheMeinungs
verschiedenheiten, da die Wehrmacht die Lösung der Judenfrage aus
Gründen der allgemeinen Sicherheitfür unbedingt notwendig erachtet,
während die Zivilverwaltung im Hinblick auf die wirtschaftlichen Not
wendigkeiten eine baldige Lösung der Judenfrage für unzweckmäßig
hält.«35 Es war also mit weiterem Engagement der Truppe in puncto
Juden zu rechnen. Innerhalb des ersten Halbjahres 1942 ermordete die
Wehrmacht im Gebiet Weißrußland noch einmal mindestens 20000
Juden.
Seit der Gegenoffensive der Roten Armee und den dabei erreichten
Frontdurchbrüchen, vor allem im nordöstlichen Weißrußland, war der
Partisan nicht mehr nur Projektionsfläche aller nur denkbaren realen
Ängste und reaktivierten Traumata, sondern es gab ihnwirklich, und er
begann, einenveritablen Krieg zu führen. Die »Lösungder Judenfrage«
verschwand in der Unübersichtlichkeit dieser neuen Front. Es ist kein
Zufall,daß das erste Unternehmen gegendie Partisanenim rückwärtigen
Heeresgebiet Mitte von demjenigen General befehligt wurde, der für
die »Judenjagden« und die »Ghettoaktionen« im zivil verwalteten
Teil Weißrußlands verantwortlich gewesen war, vom Kommandeur der
707. Infanterie-Division, dem Generalmajor von Bechtolsheim. In sei
nem ersten Einsatzbefehl am 18. März 1942 knüpfte er an die dort prak
tizierten Methoden an: »Im neuen Einsatzgebiet muß die Truppe den
Kampf gegen die Partisanen und sonstige deutschfeindliche Elemente
mit aller Schärfe führen, wie dies in Weißruthenien, insbesondere in den
Herbstmonaten 1941, mit Erfolg geschehen ist. Die diesbezüglichen
Anordnungen über rücksichtslosestes Durchgreifen gegen Männer,
Frauen und Kinder geltenauch für das neue Einsatzgebiet.« Das Ergeb
nis zeigte, daß seine Männer das verstanden hatten. Bei dem Unterneh-

72
men »Bamberg«, das vom 28. März bis 4. April 1942 im südwestlichen
Teil des rückwärtigen Heeresgebietes stattfand, wurden 3500 »Partisa
nen und Helfer« erschossen - wie die Tagesberichte zeigen, meistens
Juden. Die eigenenVerluste- sechsTote und zehn Verwundete- waren
so verräterisch niedrig, daß selbst der Befehlshaber, von Schenckendorff,
daran Kritik übte.36 Gleichwohl hatte das Unternehmen das erreicht,
was von Bechtolsheim vor dem Angriffangekündigt hatte:Maßstäbe zu
setzen. »Bamberg« wurde zum Prototyp. Partisanenunternehmen wur
den in Zukunft so angesetzt, daß manetweder zu Beginn oder am Ende
der Aktion im Einsatzraumliegende kleinere Ghettos vernichtete. »Auf
lösung der Rand-Ghettos« hießdas imJargon der Besatzer.
Auch dereingangs zitierte »Übergriff« derWehrmacht imRaum Glu-
bokoje verlief nach diesem Muster. Georg Heuser, derJudenreferentdes
SD in Minsk, hat das Szenariofür diesen Raum im Frühsommer 1942 so
beschrieben: »Ich habe in Erinnerung,daß dieJudenaktionen [...] meist
in Verbindung mit Partisanenunternehmungen durchgeführt wurden,
bei denen Einheiten der Schutzpolizei, der Gendarmerie und auch des
Heeres eingesetzt waren. Die Heereseinheiten kamen aus dem Rück
wärtigen Heeresgebiet.«37 Die Wehrmacht bediente sich dabei eines SD-
Emissärs, der die Zivilverwaltung davonin Kenntnis setzte, daß geplant
sei,»die GrenzedesRückwärtigen Heeresgebietes zu demvon der Zivil
verwaltung übernommenen Gebiete von Juden zu säubern«. Als
Begründung nannte er die Partisanengefahr in dieser Zone. Das Ergeb
nis der zweiwöchigen Aktion gegen die acht Ghettos: 13 000 ermordete
Juden und eine Überweisung von 115 247 Reichsmark auf das Konto
»Judenvermögen« beim Generalkommissariat in Minsk. Der Befehlsha
ber des rückwärtigen Heeresgebietes Mitte hatte sich am 12. Juni 1942 -
auf dem Höhepunkt der Mordaktion - für eine Kommandeursbespre
chung unter Punkt 36notiert: »Judenfrage im Großen.«38

Füreine Gesellschaftsgeschichte des Krieges

Erst in den siebziger und achtziger Jahren konnte die nach dem Krieg
produzierte Legende von der tüchtigen und ehrbaren Wehrmacht zer
stört werden. Es etablierte sich - vor allem im Umfeld des Freiburger
»Militärgeschichtlichen Forschungsamtes« - eine kritische Militärge
schichte. Sie hat den Charakter der von der Wehrmachtsführung vorbe
reiteten »verbrecherischen Befehle« ebenso nachgewiesen wie die aktive
Beteiligung der Truppenführeram »Vernichtungskrieg« im Osten. Den-

73
noch treten, vergleicht man die Ergebnisse dieser Fallstudie mit den
Resultaten der kritischen »Freiburger Schule«, erhebliche Differenzen
auf. Sie verweisen auf eine grundsätzliche Grenze der bisherigen For
schungen. Das Wirken der Wehrmacht in Weißrußland in der Zeit vom
22. Juni 1941 bis zum 1. Juli 1942 läßt sich so resümieren:
1. Die Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust erfolgte auf allen
Ebenen der militärischen Befehlsgewalt - von den Befehlshabern des
rückwärtigen Heeresgebietes und des zivil verwalteten »Ostlandes« bis
zu den Truppenführern. Fälle von Widerstand oder Befehlsverweige
rung hat es nicht gegeben.
2.Die »Erfassung« und Ghettoisierungder Juden war planmäßigvor
bereitet. Sieerfolgte- wie die späteren Maßnahmen der physischenVer
nichtung- in zeitlicherAbstimmung zu den Etappen der »Endlösung«
und in konkreter Absprachemit den übrigen Organen der Besatzung.
3. Das Vernichtungsprogramm der Wehrmacht war in Zielsetzung
und Begründung rassistisch. Wie die Gleichsetzung von Jude und Parti
san zeigt, standen militärische Überlegungen nicht in Konkurrenz zum
Rassismus, sondern waren sein inhärenter Teil.
4. Die Mentalität der Wehrmachtsführungentsprach dem Bewußtsein
der Truppe. Das persönliche Engagement bei der »Judenjagd« - sei es in
freiwilliger Kooperation mit den Einsatzgruppen oder als wehrmachts
eigene Aktion - verrät ein spontanes Einverständnis mit dem Juden
mord.
5. Diese Ergebnisse lassen sich, mit Blick auf die Forschungen von
Margers Vestermanis über dieTatenderWehrmacht im Baltikumund die
schon in den Nürnberger Prozessen bekanntgewordenenVerbrechenin
der Ukraine, verallgemeinern.
Angesichts dieses Befundes läßt sich nicht mehr nur von »antijüdi
schen Tendenzen im Ostheer« (Krausnick) oder von der »Verwicklung«
des Heeres in den Vernichtungsprozeß (Messerschmidt) sprechen.Auch
der Hinweis, man müsse zwischen den direkt auf die Juden abzielenden
Maßnahmen und den Aktionen zur Befriedungdes Landes »unterschei
den« (Förster), ist angesichts des nahtlosen Ineinandergreifens aller
Besatzungsaktivitäten fragwürdig. Schließlich reicht es nicht aus, die
Ursachen des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges auf einen
»ideologischen Hintergrund« (Förster) zu reduzieren: weder erschöpft
sich dessen Kern im »Antibolschewismus« (Streit), noch ist etwa die
Gleichsetzung von Jude und Partisan nur ein »konstruierter Zusam
menhang« (Hillgruber).39 Allediese vorsichtigen bis falschen Formulie
rungen entspringen nicht einem bewußten Kalkül der Verharmlosung

74
oder der Schonung. Dennoch wird, wie abgesprochen, eine innere
Grenzlinie beachtet: die Wehrmacht nicht als Apparat einer gewaltori
entierten Gesellschaft und Krieg nicht als deren natürlichen Ausdruck
zu beschreiben.
Michael Geyer hat die »Fusion von Nationalismus und Gewalt« als
Charakteristikum der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert und
den Nationalsozialismus als gelungenstes Ergebnis dieses Prozesses
beschrieben«.40 Dies Projekt haben Millionen Deutsche in der Zwi
schenkriegszeit nicht als politisches Programm bloß gewählt, sondern
das haben sie kollektiv mitproduziert. Die revolutionären Aktionen und
militanten Streiks der Linken hatten, auch wenn sie sich internationali
stisch verstanden, mit den Putschen und politischen Morden der natio
nalen Rechten gemein, Gewalt alspolitischesMittel definiert und legiti
miert zu haben. Der besondere Beitrag der Wehrmacht zu dieser
Gewaltgeschichte bestand darin, in der Doktrin des »totalen Krieges«
ein Lösungsmodellfür externe Krisen entwickeltund seineAnwendung
vorbereitet zu haben. Im Nationalsozialismus wurden diese gewalttäti
gen Potentiale zur gerichteten Kraft. Indem er die Phantasien des Aus-
merzens mit einem politischen Programm und dem rabiatesten Macht
willen kombinierte, gelang ihm die Fusion, den elitären Terror der
Freikorps in der Gestalt des Krieges zu vergesellschaften. »Krieg und
Gewalt werden vom Staat organisiert, aber von der Gesellschaft voran
getrieben. Sieleben von der [...] Partizipation der Gesellschaft oder ein
zelner gesellschaftlicher Schichten am Krieg«, hat Michael Geyer for
muliert.41
Eine Wissenschaft, die diesen Blicknicht wagt, kann nur einzelne Ver
brechen und individuelle Verbrecher wahrnehmen. Von den Verbrechen
derWehrmachtsprechenbedeutet also,sich gegen das Fortschreibenvon
Kriegsgeschichte und für eine Gesellschaftsgeschichte des Krieges ent
scheiden.

Anmerkungen

Zentrale Stelle Ludwigsburg (Zentrale Stelle), Verschiedenes, Bd. 25, Bl. 126;
Nürnberger Dokumente, PS-3428.
1 Max Domarus (Hg.), Hitler-Reden und Proklamationen, Bd. 2, Neustadt 1963,
S. 1058; Hans Adolf Jacobsen (Hg.), Generaloberst Franz Halder, Kriegstage
buch, Bd. 2, Stuttgart 1963, S. 336f.
; Hans Adolf Jacobsen (Hg.), Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehr
macht, Bd. 1, Frankfurt am Main 1961,S. 341;zitiert bei Jürgen Förster, in: Das

75
Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg (DRZW), Bd. 4, Stuttgart 1983,
S. 428f.
4 DRZW, Bd. 4, S. 415, 422; Helmut Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen. Die
Truppe des Weltanschauungskrieges 1938-1942, Frankfurt am Main 1985,S. 52;
DRZW, Bd. 4,S. 441,423; Richtlinien, abgedruckt in:Der deutsche Überfall auf
die Sowjetunion, »Unternehmen Barbarossa« 1941, hrsg. von Gerd R. Ueber-
schär und Wolfram Wette, Frankfurt am Main 1991, S. 258.
5 Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, RH 26-221-21, S. 303 (BA-MA).
6 Belorussisches Staatsarchiv Minsk (BSA), 370-1-478,S. 20, und 393-3-42, S. 1;
BSA,Flugblätter 110/45.
7 Sonderarchiv Moskau (OSOBI), 1275-3-661-667.
8 Jean Amery,Jenseits von Schuld und Sühne,Stuttgart 1980, S. 55!
9 BA-MA RH 26-221-21, S. 303.
10 BA-MA RH 22-224, S. 109,120,141; BA-MA RH 26-403-2, S. 26 RS; BA-MA
RH 26-403-4, Tätigkeitsbericht, S. 6; BA-MA RH 26-339-6, Kriegstagebuch,
4.12. und 7.12.1941; BA-MA RH 26-221-19, S. 147; Ereignismeldung UdSSR
Nr. 32, 24.7.1941,8.4.
11 Staatsanwaltschaft (StA) beim Landgericht (LG) Dortmund 45 Js 9/64, Verfü
gung vom 9.9.1969, S. 3ff.
12 LG Köln Ks 1/63, Sonderband K, S. 53f.
13 LG Darmstadt 2 Ks 2/54; LG Mainz 3 Ks 1/67, Strafsache Windisch und Staats
anwaltschaft beim LG Hamburg, 147Js 29/67, Strafsache Erren.
14 BSA Minsk, 651-1-1, S. 25, BSA Minsk, 378-1-698, S. 32, S. 12; BSA Minsk,
651-1-1, S. i9f.
15 Zentrales Staatliches Historisches Archiv Lettlands - Riga (ZHA), P 1026-1-3,
S. 143.
16 National-Archiv Belorußlands, Minsk, 3500-2-38, S. 533ff.; Stahlecker-Bericht,
zitiert bei Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischenJuden, Bd. 2, Frank
furt am Main 1991, S. 317^
17 ZHA Riga, P 1026-1-25,S. 12.
18 Hilberg, a. a. O., S. 315; Christian Streit, Ostkrieg, Antibolschewismus und
»Endlösung«, in: Geschichte und Gesellschaft, 1991, S. 25if.; DRZW, Bd. 4,
S. 1040, 1050, 1054.
19 BA-MA RH 26-221-10, S. 87; BA-MA RH 26-221-21, S. 294ff.
20 BA-MA RH 26-403-2, S. 69 R; BA-MA RH 26-339-5, Lagebericht 5.11.1941;
BA-MA RH 26-707-15, S. 4.
21 DRZW, Bd. 4, S. 441; zitiert bei Jürgen Förster, Zum Rußlandbild der Militärs
1941-1945,in: Das Rußlandbild im Dritten Reich, hrsg. von Hans-Erich Volk
mann, Köln/Weimar/Wien 1994, S. 148f.
22 Förster, a. a. O.; Hans-Heinrich Wilhelm, Motivation und »Kriegsbild« deut
scher Generale und Offiziere im Krieg gegendie Sowjetunion, in: Erobern und
Vernichten, hrsg. von Peter Jahn und Reinhard Rürup, Berlin 1991, S. i53ff.;
Peter Jahn, Russenfurcht und Antibolschewismus: Zur Entstehung und Wir
kung von Feindbildern, ebenda, S. 47ff.
23 Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat: Zeit der Indoktrination,
Hamburg 1969

76
24 Bernhard R. Kroener, Strukturelle Veränderungen in der militärischen Gesell
schaft des Dritten Reiches, in: Nationalsozialismus und Modernisierung, hrsg.
von Michael Prinz und Rainer Zitelmann, Darmstadt 1991, S. 273f.
25 BA-MARH 22-225, S. 7off.; Kriegshistorisches Archiv Prag (KHA), A 2-1-3,
S. 104.
26 BSAMinsk, 651-1-1, S. 2ff.; LG Koblenz 9 Ks 2/62, Strafsache Heuser, Bd. 23,
S. 3415; LG Kassel 3a Ks 1/61 in: Strafsache Erren, Sonderband L 16,S. 40ff.;
BA-MA RH 26-707-2, S. 3.
27 Strafsache Erren, a. a. O., S. 66.
28 Das Folgende stützt sich auf ChristopherBrowning, Beyond »Intentionalism«
and »Functionalism«:The Decision for the Final Solution Reconsidered, in: The
Path to Genocide, Cambridge,Ma. 1992, S. ioiff.
29 ZHA Riga, P 1026-1-3,S. 237ff.
30 Strafsache Erren, a. a. O., S. 33;Hilberg, a. a. O., S. 368ff.
31 Hilberg, a. a. O., S. 369^; Strafsache Erren, a. a. O., S. 39.
32 KHA Prag, K 10-M94, S. 190; Prozeß gegenDavid Egoff, KGB-ArchivMinsk
(eingesehen), und BA-MA RH 22-225, S. 174; Militär-Archiv Podolsk 500-
12473-164,12. November 1941.
33 Zentrale Stelle II 202 AR-Z 16/67; StA Traunstein 6 Js 1/67;StA München ia
Js 545/60 und ia Js 1775/60; Strafsache Erren; StATraunstein 6Js 72,74,75/64;
StA München 113Js 30/62; StrafsacheWindisch.
34 Omer Bartov, Brutalität und Mentalität: zum Verhalten deutscher Soldaten an
der »Ostfront«, in:Jahn/Rürup, a. a. O., S. 187.
35 Hilberg, a. a. O., S. 3171.; Strafsache Windisch,Dokumenten-Band 3, S. 2161.
36 BA-MARH 26-707-5, Div.-Befehl Nr. 32; BA-MARH 22-229, Kriegstagebuch
7.4.1942;BA-MA RH 26-707-5, Div.-BefehlNr. 39.
37 Strafsache Heuser, Sonderband, S. 14; StA beim LG Hannover 2 Js 388/65,
S. 1295.
38 BSAMinsk, 370-1-483, S. 15, 30;BA-MA RH 22-231, S. 311.
39 Krausnick, a. a. O., S. 189; ManfredMesserschmidt, Harte SühneamJudentum,
in: »Niemand war dabei und keinerhat's gewußt«, hrsg.vonJörg Wollenberg,
München/Zürich 1989, S. 126; DRZW, Bd. 4, S. 1044; Streit, a. a. O., S. 242ff.;
Andreas Hillgruber,Der Ostkrieg und dieJudenvernichtung, in: Der deutsche
Überfall aufdie Sowjetunion, hrsg. vonGerd Ueberschär undWolfram Wette,
Frankfurt am Main 1991,S. 196.
40 Michael Geyer, The Stigma of Violence: Nationalism and War in Twentieth-
Century Germany, in: German StudiesReview, Special Issue,German Identity,
Winter 1992, S. jj; ders., Krieg, Staat und Nationalismus, in: Deutschland in
Europa: Kontinuität und Bruch. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber, hrsg.
von Jost Dülffer, Bernd Martin, Günter Wollstein, Berlin 1990, S. 259ff.
41 Michael Geyer, Krieg als Gesellschaftspolitik, in: Archiv für Sozialgeschichte,
Bd. 26, 1986,S. 558.

77
Christian streit Das Schicksal der verwundeten
sowjetischen Kriegsgefangenen

Nachdem die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen durch die


Wehrmacht lange Jahre totgeschwiegen wurde, kann manheute, fünfzig
Jahre nach Kriegsende, davon ausgehen, daß zumindest die historisch
Interessierten davon wissen.Weitgehend unbeachtet ist jedoch das Los
der verwundeten sowjetischen Gefangenen geblieben, das in seiner
Grauenhaftigkeit das Elendder anderen sowjetischen Gefangenen noch
übertraf. Waren schon die Überlebenschancen dieser Gefangenen ganz
gering - etwa 3,3 der 5,7 Millionen kamen um1 -, so nahmen die Über
lebenschancen der Verwundeten mit der Schwere ihrer Verwundung
rapide ab. Schwerverwundete hatten selbst dann, wenn sie die eigent
liche Verwundung überlebten, kaum eine Chance, das Kriegsende zu
erleben.
Der NS-Führung wurde es dadurch leichter, die unmenschliche
Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen durchzusetzen, daß die
UdSSR das Genfer Kriegsgefangenenabkommen von 1929 nicht ratifi
ziert hatte.2 Sie konnte deshalb darauf vertrauen, daß ihr Argument, bei
der Behandlung dieser Kriegsgefangenen bestehe ein rechtsfreier Zu
stand, von den deutschen Soldaten akzeptiert würde. Die politische wie
die militärische Führung ignorierten dabei aber ganz bewußt, daß
Deutschland an das allgemeine Kriegsvölkerrecht gebunden war, das
eine menschliche Behandlungvon Kriegsgefangenen auch dann fordert,
wenn keine konkreten Vereinbarungen bestehen. Darüber hinaus igno
rierten sie die Tatsache, daß für die Behandlung der verwundeten und
kranken Kriegsgefangenen eine konkrete Bindung bestand, da die
UdSSR das Genfer Verwundetenabkommen von 1929 ebenso ratifiziert
hatte wie das Deutsche Reich. Damit war die Wehrmacht eindeutig ver
pflichtet, verwundete und kranke Gefangene nach den Regeln dieser
Konvention zu behandeln. Die Tatsache, daß diese Bindung in den ein
schlägigen Akten nie erwähnt wird, zeigt, daß die angeblich fehlende
völkerrechtliche Bindung nur ein willkommener Vorwand war, jegliche
Rücksichtnahme auf völkerrechtliche Prinzipien beiseite zu fegen. Die
militärische Führung war a priori bereit, den Kriegim Osten unter ideo-

78
logischen Prämissen zu führen, und dies auch da zu tun, wo der Bruch
des Völkerrechts klar zutage lag.
Inwieweit schon vor dem Angriff Anweisungen zur Behandlungver
wundeter Gefangenerergingen, ist nicht klar. Am 8.Juli 1941 hieß es in
einem Befehl des Oberkommandos des Heeres (OKH), die erste ärztli
che Versorgung der Gefangenen solle wie bei den vorangegangenen
Feldzügen erfolgen. Es folgten aber sogleich entscheidende Einschrän
kungen: Es seien »in erster Linie russ. Sanitätspersonal sowie russ. Arz
nei- und Verbandsmittel« zu verwenden. Der Abtransport habe auf
Leerkolonnen zu erfolgen,Wehrmachtssanitätsfahrzeuge stünden »hier
zu nicht zur Verfügung«.3 Zwei Wochen später ordnete das OKH wei
tereEinschränkungen an. »Um die Heimat voreiner Überschwemmung
mit russischen Verwundeten zu bewahren«, durften nur noch Leicht
verletzte aus den Frontbereichen abtransportiert werden, die binnen vier
Wochen geheilt,also arbeitsfähigsein würden. Der Rest sollte »in beson
deren behelfsmäßigen Kriegsgefangenenlazaretten« untergebracht wer
den. Zu Pflege und Behandlungsei »imgrößten Umfang« russisches Per
sonal einzusetzen und es sei »nur« russisches Sanitätsmaterial zu
verwenden.
Dieser Befehl enthält bereits die Grundprinzipien, die hinfort das
Schicksal der verwundeten wie auch der übrigen sowjetischen Gefange
nen bestimmen sollten: Für sie sollte nur ein absolutes Minimum an
Energien, Materialund Lebensmittelnaufgewendet werden. Die äußerst
schlecht ausgestatteten Stäbe der Gefangenenlager waren schon im
»Normalfall« nicht in der Lage, die Gefangenenmassen ausreichend zu
versorgen und unterzubringen, um so weniger konnten sie dies bei einer
Vielzahl von Verwundeten tun. Im OKH war man sich bewußt, daß
grauenhafteZustände entstehen mußten. Dies ergibt sichaus der Anord
nung, die Behelfslazarette nicht innerhalbder Lager, »sondernin einiger
Entfernung [...] (500-1000 m)« anzulegen: die anderen Gefangenen soll
ten vom Los der Verwundeten möglichst wenig erfahren. Hier, wie bei
der Behandlung der sowjetischen Gefangenen im allgemeinen, war die
Heeresführung bereit, ein Massensterben in Kauf zu nehmen, dessen
Umfang man sich nicht vorstellen wollte, vielleicht auch nicht konnte.4
Man tat dies, um jene Mengen an Personal, Material und Nahrungsmit
teln einzusparen, die notwendig waren, um einen Krieg weiterzuführen,
für den die deutschen Ressourcen nicht reichten. Diese Bereitschaft kam
auf furchtbare Weise dem politischen Ziel der NS-Führung entgegen,die
»slawischen Massen« zu dezimieren - soweit nicht Vertreter der militäri
schen Führung dieses Ziel ohnehin teilten.

79
DieWeitergabe der OKH-Befehle in den Armeenmachtdeutlich, daß
die Art und Weise der Behandlung der Verwundeten mitnichten allein
von der Führungsspitze bestimmt wurde. Zumindest in drei Armeen
wurden die Bestimmungen verschärft.Die 2. Armee (Generaloberstvon
Weichs) befahl, »grundsätzlich« - statt »im größten Umfang« - sowjet
isches Personal zur Versorgung der sowjetischen Verwundeten einzu
setzen. Die 4. Panzerarmee (Generaloberst Hoepner) ergänzte, es sei
»selbstverständlich, daß deutsche Sanitätsoffiziere erst dann verwunde
te Kriegsgefangene versorgen, wenn auch der letzte deutsche Verwun
dete versorgt ist«. In einemBefehl der 18. Panzerdivision (der Panzer
gruppe 2 unter Generaloberst Guderian) hieß es, sowjetische Ver
wundete dürften »unter keinen Umständen« zusammen mit deutschen
Verwundeten behandelt, untergebracht oder abtransportiert werden;
beim Abtransport seien Panjefahrzeuge zu verwenden.5

Die erste Phase desKrieges

Das Schicksal der verwundeten Gefangenen in der ersten Kriegsphase


kann aus den vorhandenen Quellen nur in groben Zügen erschlossen
werden. Zumindest in einigenFällen wurden Verwundete schon bei der
Gefangennahme getötet.6 Da bei den erzwungenen Fußmärschen in die
rückwärtigen Gebiete im Sommerund Herbst 1941 Tausende Gefange
ne erschossenwurden, wenn sie erschöpft zusammenbrachen,7 muß man
annehmen, daß dies auch mit ungezählten Verwundeten geschah. Die
jenigen Verwundeten, die in den Gefangenensammelstellen ankamen,
waren in vielen Fällen seit ihrer Gefangennahme kaum versorgt wor
den.8 Auch dieWehrmachtsärzte, die sichweiterhin durch ihren hippo-
kratischen Eid verpflichtetfühlten, den sowjetischen wie den deutschen
Verwundeten zu helfen - ein ehemaliger Hilfsarzt der Armeegefange
nensammelstelle 9 (AGSSt) spricht in diesem Zusammenhang von
»Inseln der Menschlichkeit in einem überbordenden Meer des Elends
der Kriegsgefangenen« -, schafften es nur vorübergehend, mit Hilfe
Gleichgesinnter ausreichend Verbandszeug und Medikamente aus
Wehrmachtsbeständen zu beschaffen. Wenn Massen entkräfteter Gefan
gener, darunter Hunderte kaum oder nur notdürftig versorgter Verwun
deter, ankamen, standen sie dem Massensterben hilflos gegenüber. Ihre
Forderungen nach Verbandsmaterial und Medikamenten wie nach hö
heren Rationen für alle Gefangenen blieben unbeachtet.9 Im Lager
Uman' lagen im August 1941 nach Aussagen kriegsgefangener Ärzte
80
15 ooo bis 20000 Verwundete unter freiem Himmel. Die Ärzte hatten
kein Sanitätsmaterial.10
Daß sich Wehrmachtsärzte um die Verwundeten kümmerten, war
ohnehin nicht der Regelfall. Vielfach wurde die Versorgung völlig den
kriegsgefangenen Ärzten undSanitätern überlassen, diedeutschen Ärzte
begnügten sich - formal im Einklang mit den erteilten Befehlen - mit
einer oberflächlichen Kontrolle, vor allem sobald Seuchen ausbrachen.11
In den »Kriegsgefangenen-Großlazaretten«, die man in den rückwärti
gen Gebieten einrichtete, ließ man nach Aussagen Überlebender
Schwerverwundete und Kranke zum Teil verhungern. Nach Untersu
chungen sowjetischerKommissionenkamen im Lazarett des Stalag 336,
Kaunas, zwischen September 1941 und Juli 1942 13936, im Stalag 350,
Riga, im gleichen Zeitraum etwa 19000, in den Stalags 340, Dünaburg
(Daugavpils) und 301, Slavuta, insgesamt etwa 121000 bzw. 150 000
Gefangene um, zu einem hohen Prozentsatz Verwundete. Im »Kriegs
gefangenen-Großlazarett«Slavuta, wo in 10dreistöckigenBauten 15 000
bis 18000 Verwundete untergebracht waren, starben allein in Block I
täglich 100bis 150 Gefangene.12
Wie bei der Behandlungder sowjetischenKriegsgefangenen im allge
meinen spielte auch bei der Behandlung der Verwundeten die NS-Ideo-
logie eine entscheidende Rolle, ohne daß dies in den Quellen immer so
unverhüllt zum Ausdrück kommt wie in den folgenden Fällen. Als im
Spätherbst 1941 das Sonderkommando 4a 1109 jüdische Gefangene aus
dem Lager Borispol erschoß, waren darunter auch 78 Verwundete, die
der Lagerarzt, offenkundig aus eigener Initiative, übergeben hatte.13
Überzeugte Nationalsozialisten reagierten mit radikalen Lösungsvor
schlägen auf die Fleckfieberepidemien, die im Herbst 1941 wegen des
Hungers und der unsäglichen hygienischenVerhältnisse ausbrachen. Die
Gesundheitsabteilung des Generalkommissariats Weißruthenienforder
te im November 1941 die Erschießung aller infizierten Gefangenen,
doch lehnten die zuständigen Wehrmachtsstellen diese »aus Gründen
des Arbeitseinsatzes« ab.14

Humanversuche an Verwundeten

Ein Teilder Wehrmachtsärzte- vom einfachenTruppenarzt bis hin zum


Chef der Wehrmachtssanitätsinspektion, Generaloberstabsarzt Prof. Dr.
Handloser - sah die sowjetischen Kriegsgefangenen als Untermenschen
an, über die man völligfrei von Bedenkenverfügen konnte. Deutlichster
Beleg dafür sind Humanversuche, denen diese Gefangenen im Verlauf
desKrieges unterworfenwurden. Diesgiltnicht nur für dieVersuche mit
Fleckfieberimpfstoffen im KZ Buchenwald und für die Unterkühlungs
versuche im KZ Dachau, die von Ärzten der Waffen-SS und der Luft
waffedurchgeführt wurden.15 Daneben gab es eineReihevon Versuchen,
die Zivil- und Wehrmachtsärzte an wissenschaftlichen Institutionen wie
der Medizinischen Klinik Breslau, den Behringwerken in Marburg und
den MedizinischenInstituten in Lemberg (Lwow) unternahmen. Hinzu
kamen Versuche mit Fleckfieber, Cholera- und Ruhrimpfstoffen in
Gefangenenlagern und -lazaretten an der Front, die zum Teil von der
Heeressanitätsinspektionangeordnet, zum Teilaber auch von den betei
ligten Ärzten aus eigener Initiative begonnen wurden.16 So infizierte der
BeratendeHygieniker der 9. Armee, Prof. von Bormann, 59 »zum Tode
verurteilte Russen beiderlei Geschlechts« 1944 mit Fleckfieber, um an
ihnen eine neue Behandlungsmethode zu erproben. »Das Resultat der
Behandlung«, schrieb er in seinemBericht, »war gleich Null.«17
Man kann bei diesen Versuchen noch das Ziel sehen, auf einem ethisch
verwerflichen Weg schnell ein Mittel gegen die Fleckfieberepidemie zu
finden, die unter Wehrmachtssoldaten und Kriegsgefangenen erhebliche
Opfer forderte. Ein Ziel dieserArt fehlte bei dem widerwärtigsten aller
bekanntgewordenenHumanversuche mit sowjetischenGefangenen völ
lig. Als deutsche Truppen im Sommer 1941 - völkerrechtlich verbotene
- sowjetischeDumdummunition erbeuteten, wurde der Leiter des Insti
tuts für Wehrgerichtliche Medizin der Militärärztlichen Akademie,
Oberstabsarzt Privatdozent Dr. Gerhart Panning, mit Untersuchungen
beauftragt. Nachdem dieser die Geschoßwirkung an Tierkadavern er
probt hatte, beschloß er, dies auch am lebenden Menschenzu tun. Hilfe
fand er bei der 6. Armee des Feldmarschalls von Reichenau. Durch Ver
mittlung des Ic-Offiziers, Oberst Paltzo, und des Oberkriegsgerichts
rats der Armee, Dr. Neumann, suchte der Führer des Sonderkomman
dos 4a, Standartenführer Blobel, eine Anzahl sowjetischer Gefangener
aus, die als Juden oder Kommunisten erschossen werden sollten. Pan
ning nannte den Schützen - Angehörige des Sonderkommandos 4a und
eines Polizeibataillons - die Körperteile, auf die sie schießen sollten,
wobei er zuerst nichttödliche Schüsse forderte. Erst der zweite oder drit
te Schuß tötete die zuvor schon grauenhaft verstümmelten Opfer. Pan
ning sezierte die Leichen und veröffentlichte das Ergebnis in der Fach
zeitschrift Der Deutsche Militärarzt - wobei er behauptete, bei den
Opfern habe es sich um »deutsche Verwundeteund von hinten erschos
sene Russen« gehandelt.18
Hunger undAbschiebung

War das Schicksal der verwundeten Gefangenen schon in der Anfangs


phase des Ostkriegs furchtbar, so brachte der Herbst 1941, als die Gefan
genenzahldurch große Kesselschlachten nach oben schnellte, noch eine
weitere Verschlimmerung. Die Millionenzahl der Gefangenen stelltedas
Kalkül der deutschen Führung in Frage, man könne der deutschen
Bevölkerung dadurch eine friedensähnliche Lebensmittelversorgung
erhalten, daß man die dazu nötigen Nahrungsmengen aus dem erober
ten Osten preßte. Hermann Göring, als Beauftragterfür den Vierjahres
plan auchfür dieAusbeutungdesOstens zuständig, dekretierte, daß sich
die Verpflegung der »bolschewistischen Gefangenen [...] nur nach den
Arbeitsleistungen für uns richten« könne. Der Generalquartiermeister
des Heeres, General Wagner, übernahm dieseAuffassungmit aller Kon
sequenz. Die schon vorher ungenügenden Rationen, deren Erhöhung
wiederholt vonÄrzten undLagerkommandanten gefordert worden war,
wurden am 21. Oktober 1941 weiter gesenkt,zu einem Zeitpunkt, als in
den Lagern im Osten die tägliche Sterberate bereits ein Prozent über
schritten hatte.19 Wagner vertrat diese Entscheidung bei einer Bespre
chung der Stabschefs der Heeresgruppen und Armeen in Orsa am
13. November 1941 mit Nachdruck. Als ein Teilnehmer zu bedenken
gab, daß man auf die Arbeitskraft der Gefangenen angewiesen sei, daß
dieseaber »in großem Umfange der Erschöpfung anhdm fielen«, erklär
te er: »Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Lagern haben zu ver
hungern. Arbeitende Kriegsgefangene können im Einzelfalle auch aus
Heeresbeständen ernährt werden. Generell kann auch das angesichtsder
allgemeinen Ernährungslage leider nicht befohlen werden.«20 Dies
bedeutete nichts anderes, als daß auch die verwundeten Gefangenen, die
ja zu den Nichtarbeitenden gehörten, bei Rationen von weniger als 1500
Kalorien am Tag zu einem langsamenHungertod verurteilt waren.
Die Truppenbefehlshaber nahmen diese Entscheidung widerspruchs
los hin. Ihr Interesse richtete sich darauf, wie man, ohne die sehr ho
hen Rationen der deutschen Soldatenanzutasten, die völkerrechtswidrig
für die Truppe arbeitenden Gefangenen arbeitsfähig erhalten konnte.
Schon im September 1941 hatte man beim Befehlshaber des rück
wärtigen Heeresgebiets Mitte überlegt, ob man nicht die »nicht mehr
kriegsverwendungsfähigen« Gefangenen einfach entlassen könne. Am
20. Oktober befahl daraufhin der Kriegsgefangenen-Bezirkskomman
dant J, aus dem Lazarett des Dulag 240, Smolensk, das damals mit 3100
Verwundeten belegt war, die Schwerbeschädigten zu entlassen. Nach

83
Ansicht des Lagerkommandanten war »die Frage des >wohin?< eine in
den meisten Fällen unüberbrückbare Schwierigkeit«.21 Mit dem herein
brechendenWinter wuchs das Bestreben, solche Gefangenen loszuwer
den. Mitte Dezember 1941 befahl die 9. Armee, die Schwerversehrten
des Gefangenenlazaretts Smolensk zu entlassen: »[...] sie belasten
unnötig die Verpflegungslage.« Die restlichen Verwundeten, »zu Tode
erschöpft, ausgehungert und frierend«, die Amputierten teilweise ohne
Verbände, brachte man »in offene Sammellager, wo sie in der Kälte bald
zugrunde gehen mußten«.22
Im Januar 1942 machte das OKH dieses Verfahren für den gesamten
Heeresbereich verbindlich. Im rückwärtigen Heeresgebiet Nord wur
den daraufhin im Februar 1942 1800 Schwerversehrte aus dem Bereich
der 18. Armee zur Zivilbevölkerung »abgeschoben«. Der Befehlshaber
des rückwärtigen Heeresgebiets, General von Roques, meldeteim März
1942: »Die Aktion wirkt sich bis jetzt auf die Bevölkerung stimmungs
mäßig eher ungünstig aus. Die Kriegsgefangenen, die, fast verhungert,
lebenden Skeletten ähnlich und zum Teil mit eiternden, stinkenden
Wunden behaftet sind, machen einen grauenhaftenEindruck. Die Schil
derungen, diesievon denVerhältnissen, in denensiegelebthaben,geben,
bleiben nicht ohne Wirkung.«
Trotz solcher Erfahrungen wurden aber weiterhin »kriegsunbrauch
bare« Gefangene in Gebiete abgeschoben, die man ganz offen als »Hun
gergebiete« bezeichnete. Vom Mai 1942 an wurden schwerverwundete
Gefangene in Lagerin den Reichskommissariaten Ostland und Ukraine,
wie z.B. die Stalags 350, Riga, 340, Dünaburg (Daugavpils), und 301,
Slavuta, transportiert, wo ein großer Teilvon ihnen starb.23
Es ist festzuhalten, daß diese Entwicklung durch die Truppenführer
ausgelöstwurde, die damit deutlich machten, daß ihnen das Schicksal der
wehrlosesten unter den Gefangenen völlig gleichgültig war. Die Ent
wicklung zeigtauch, wasvon der Behauptung der Truppenführer in den
Nachkriegsprozessen und in ihren Memoiren zu halten ist, sie hätten
versucht, den Krieg nach einem traditionellen soldatischen Ethos zu
führen, alleVölkerrechtsverletzungenseiendagegenvon Hitler oder von
der sowjetischen Seite erzwungen worden.

Übergabe von Verwundeten an die SS

Diese Initiative der Truppenführer war Voraussetzung einer weiteren


Verringerung der Überlebenschancen Schwerversehrter Gefangener.24

84
Da die Entlassenen offiziell keine Rationen erhielten, konnten sie nur als
Bettler überleben. Dies brachte den Reichsführer SS, Heinrich Himmler,
auf den Plan, der in ihnen Partisanenhelfer sah. Am 22. September 1942
verfügte der Chef des OKW, Feldmarschall Keitel, daß »nicht mehr
dienstfähige« Gefangene in Zukunft nicht mehr zu entlassen, sondern
den Höheren SS- und Polizeiführern zu übergeben seien. Diese würden
»für Weiterleitung bzw. Beschäftigung sorgen«. Das hieß, wie die
Durchführungserlasse aus dem RSHA zeigen,nichts anderesalsdie Exe
kution.
Der Wehrkreisbefehlshaber im Generalgouvernement setzte der
Durchführung des Befehls, wie es scheint, Widerstand entgegen. In den
besetzten sowjetischen Gebieten dagegen wurden Schwerversehrte in
einer Vielzahl von Fällen erschossen.25 Der folgende Fall gibt eine Vor
stellung von derVorgehensweise derSS-Stellen. Das Stalag 358, 2itomir,
hatte dem Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD 2itomir
Schwerversehrte »in einer größeren Zahl« übergeben: »Einigen der Kgf.
fehlten beide Beine, einigenwiederum beide Arme, anderen wieder eins
der Glieder. Nur wenigevon ihnen hatten wohl noch ihre Glieder,waren
aber durch andere Verwundungen so stark versehrt, daß sie irgendwel
che Arbeiten nicht verrichten konnten.«
Einen Teilvon ihnen hatte man anfangs, wohl um sich das Erschießen
zu ersparen, einfach »irgendwo in der Gegend« ausgesetzt, wo sie
umkommen mußten. Nachdem Wehrmachtsstellen gegen diese Metho
de protestiert hatten, wurden die übrigen »68 oder 70 Kgf.« zunächst im
SS-Arbeitslager Berdicev untergebracht, bis der »Kommandeur der
Sicherheitspolizei und des SD« entschied,daß sieals »nutzloseEsser« zu
beseitigen seien. Die für den 24. Dezember (!) 1942 angesetzte »Sonder
behandlung« verlief jedoch nicht planmäßig. Nachdem bereits 20
Beinamputierte »ohne Zwischenfall« ermordet worden waren, machten
die nächsten 20, die die Erschießung ihrer Kameraden hatten mit anse
hen müssen, in letzter Verzweiflung zwei SS-Leutenieder und entflohen.
In einigenFällen wurden andere Tötungsmethoden angewendet. Der
Abwehroffizier des Stalag 397, Stalino, der offenkundig geglaubt hatte,
die Schwerversehrtenwürden von der SS in irgendeiner Form zu Arbei
ten eingesetzt, schrieb einen entsetzten Dienstbericht, als er im Novem
ber 1942 Zeuge der Ermordung von jj Invaliden seines Lagers in einem
Gaswagengeworden war.Auf der Halbinsel Krim wurden 1942/43 min
destens 7000 als »untragbar« ausgesonderte Kriegsgefangene, darunter
auch Verwundete, ermordet, indem man sie auf alte Lastkähne verlud
und diese versenkte.26

85
Im Reichsgebiet und im besetzten Polenwurden invalide Gefangene
zur Ermordungin das nächstgelegene KZ gebracht. Die Zahlder Opfer
kann mangels ausreichender Daten auchnicht annähernd bestimmt wer
den. Belegt sind Einzelaktionen wie die Vergasung von 251 Invaliden in
Neuengamme im November 1942, von 334 in Majdanek im November
1943 und von 85 im KZ Stutthoff im Sommer 1944. Eine große Zahl
wurde auch im KZ Mauthausen umgebracht. Angemerkt sei, daß Ein
satzkommandos der Gestapo, die politisch und rassisch »untragbar«
Gefangene »aussondern« sollten, schon 1941, noch bevor dies mit der
Wehrmacht vereinbart worden war, »unheilbar Kranke« zur Ermordung
bestimmten, ohne daß das OKW Einspruch erhob.27

Nutzlose Esser - oderwichtige Arbeitskräfte?

Für die Verwundeten im allgemeinen - nicht für die Schwerversehrten!


- brachte das Jahr 1942 gewisse Verbesserungen. Als das OKH im Juni
1942 neue Richtlinien zur Gefangenenbehandlung erließ, fanden sich
darin auch Bestimmungenzu einer besserenBehandlung der Verwunde
ten. Sie sollten nun schon an der Front »möglichst in gedeckten Räu
men« untergebracht und »bevorzugt« abtransportiert werden. Wenn
auch weiterhin in erster Linie sowjetisches Sanitätsmaterial verwendet
werden sollte, durften nun »im Notfall« auch deutsche Bestände ver
wendetwerden.28 Dies war nicht etwaFolge einerBesinnung auf huma
nitäre Grundsätze. Die NS-Führung hatte schon im Oktober 1941
erkannt, daß die deutsche Kriegswirtschaft die sowjetischenGefangenen
dringend alsArbeitskräfte benötigte.Diese Erkenntnis hatte freilich nur
dazu geführt, daß man erstmals überhaupt ein Interesse am Leben der
Gefangenen bekundete, ohne aber eine grundsätzliche Wende in der
Politik den Gefangenen gegenüber einzuleiten.29 Die etwas bessere
Behandlungder Verwundeten war Teil der Bemühungen, mehr Arbeits
kräfte für die Kriegswirtschaft zu beschaffen. In diesen Zusammenhang
gehört auch die Entscheidung vom Oktober 1942, Nichtarbeitenden in
den Lagern die gleichenRationen wie Arbeitenden zuzugestehen,30 und
später die Einrichtung von Genesendenlagern, wo Verwundete höhere
Rationen und eine bessere ärztliche Versorgung erhielten.
Diese Bemühungen wurden 1943 noch verstärkt, als es ein wesentli
ches Ziel der letzten großen deutschen Offensive im Raum Kursk war,
möglichst viele Gefangene zu machen, um Arbeitskräfte zu gewinnen.
Dazu waren auch eine bessere Versorgung und schnelle Durchschleu-

86
sung der Verwundetenangeordnet worden. Dennoch konnten die 2800
Verwundeten im Bereich der 4. Panzerarmee (17% der Gefangenen)
nicht ausreichend versorgt werden, da nicht genügend sowjetisches
Sanitätspersonal gefangengenommen worden war. Der Transport der
Verwundeten in das Auffanglager dauerte bis zu neun Tagen, und auch
dort war nur eine oberflächliche Versorgung möglich. Der Lagerkom
mandant forderte für die Zukunft den Einsatz eines Chirurgen im Lager
oder aber eineoperativeVersorgung »indeutschenFeldlazaretten«. Eine
solche Forderung wäre 1941 völligillusorisch gewesen. Nun, unter den
Zwängen eines immer bedrohlicheren Arbeitskräftemangels, fand sie
auch in der Truppenführung Unterstützung.31
Dies kann jedoch nicht verallgemeinert werden. Es ist anzunehmen,
daß ein Teil der Truppenführer seine Einstellung zu den sowjetischen
Verwundeten nicht änderte. Bei einem Besuch des Oberbefehlshabers
der Heeresgruppe Nord, Feldmarschall von Küchler, notierten die
Stenografen im Führerhauptquartier, Hitler habesichsehr gefreut»über
die Art, wie der Marschall mit der Miene des Biedermannes von den
schweren, mühsamen Wolchow-Kämpfen erzählte. Bezüglich der
gemachten Gefangenen erwähnte er, es seien auch noch 10000 Ver
wundete da. Sie habe man aber garnicht erst angegeben, da sie,ohne daß
man ihnen in dem Sumpfgelände Hilfe bringen könnte, doch ein
gingen.«32
Nicht zu verkennen ist, daß nach wie vor ausschließlich Nützlich
keitserwägungen eine Rolle spielten. Die Veränderungen kamen nur
leichter Verwundeten zugute, die wieder arbeitsfähig gemacht werden
konnten. Das bereits geschilderte Schicksal der Schwerversehrten macht
dies ebenso deutlich wie das der Gefangenen, die durch die rücksichts
loseAusbeutungin der Wirtschaft arbeitsunfähig wurden.33 »Endgültig«
arbeitsunfähig gewordene Gefangene wurden in reine Sterbelager
gebracht. Viele von ihnen waren nach langer Unterernährung bei
ständiger Überbeanspruchung und einem Leben in unhygienischen,
kaum oder nicht geheizten Baracken Opfer der nun grassierenden Tbc
geworden. Nach einer Aktennotiz aus dem oberschlesischen Bergbau
waren zum Beispiel imJuli 1944 im Stalag 344, Lamsdorf, mehr als 4000
Tbc-Kranke isoliert, von denen »wöchentlich ca. 500 bis 600« starben;
gleichzeitig wurden ständig neue eingeliefert. Zumindest ein Teil
der Tbc-Kranken wurde auch in den Konzentrationslagern umgebracht.
Ein Erlaß des OKW vom 16.Juli 1944 bestimmte, daß die Gestapo »in
jedem Fall [...] besonders aufmerksam zu machen« war, wenn
übergebene Gefangene »an Tbc oder anderen ansteckenden Krank-

87
heiten« litten. Nach dem Durchführungserlaß desRSHA war in solchen
Fällen »umgehendAntrag auf >SB.<« - d. h. Exekution - zu stellen.34
Im September 1941 sollten, den Bestimmungen des Genfer Verwun
detenabkommens entsprechend, 1600 schwerverwundete britische
gegen 50 schwerverwundete deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht
werden. Hitler stoppte den Austauschund forderte einen Tausch »Kopf
gegen Kopf«. Der Austausch wurde aufgeschoben und war im August
1943 noch immer nicht erfolgt. Auf eine erneute Anfrage des Auswär
tigen Amtes hin formulierte Reichsaußenminister von Ribbentrop
das Prinzip der nationalsozialistischen Kriegsgefangenenpolitik: »[...]
während des gegenwärtigen Krieges [können] keinerlei Gründe der
Humanität, sondern nur solche der Zweckmäßigkeit ausschlaggebend
sein«.35 Galt das schon im »Normalkrieg« für die »artverwandten« Bri
ten, wieviel mehr dann im Vernichtungskrieg im Osten für diejenigen,
die für Hitler »dasDreckszeug aus dem Osten« waren.36 Große Teile der
Wehrmacht teilten, wie in den letzten zwanzig Jahren eine Reihe von
Untersuchungen gezeigt haben, diese Sicht.37 »Rassisch minderwertig«
waren danach alle sowjetischen Kriegsgefangenen. Schwerverwundete
wurden aber darüber hinaus bedenkenlos zu »unnützen Essern« erklärt,
die »lebensunwert« waren. Daß ein entsprechendes Euthanasiedenken
nicht nur vereinzelt vorkam, zeigen am deutlichsten die Fälle, in denen
Wehrmachtsdienststellen die Insassen von psychiatrischen Anstalten
vom SD liquidieren ließen, weil sie Quartierraum für ihre Stäbe gewin
nen wollten. Da SD-Stellen zuweilen nicht bereit waren, den »Henker
der Wehrmacht« zu spielen und »den Wehrmachtstellen anheimstell
ten], mit eigenen Kräften die für notwendig erachteten Maßnahmen zu
treffen«,38 konstruierte man aberwitzige Bedrohungsszenarien, um den
SD mit der Liquidierung »beauftragen« zu können.39 Dabei ist es
bedeutsam, daß die entsprechenden Entscheidungen nicht auf der unte
ren Ebene, etwa der Ortskommandanten, gefällt wurden, sondern durch
die Korps- bzw. Armeebefehlshaber - so wie auch bei der Behandlung
der Verwundeten die Armeeführer die entscheidenen Impulse zu einer
Verschlimmerung gegeben hatten.

Anmerkungen

1 Vgl. Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen
Kriegsgefangenen 1941-1945, Bonn, 3. Aufl. 1991, S. 128-237,244-249.
2 Vgl. ebenda, S. 23f., 224ff.
3 Vgl. ebenda,S. 184.
4 Auch die NS-Führung wurde vom Ausmaß des Massensterbens überrascht,
obwohl alle Entscheidungen darauf hingeführt hatten: vgl. ebenda, S. i96f.
5 Nürnb. Dok. NOKW-2145; Karl-Heinz Leven, »Fleckfieber beim deutschen
Heer während des Krieges gegen die Sowjetunion (1941-1945)«, in: Sanitäts
wesen im Zweiten Weltkrieg, hrsg. von Ekkehart Guth, Herford 1990, S. 162;
Omer Bartov, The Eastern Front, 1941-45, German Troops and the Barbarisa
tion of Warfare, London 1985, S. 113.
6 KTB AOK 18 vom 25.8.41: NOKW-1317; Kampfbericht X. AK, NOKW-
2897; KTB 342. ID vom 15., 19.12.41: NOKW 2281; Tagebuch des Unteroffi
ziers Rupp, in: Kain, wo ist deinBruder?, hrsg. von Hans Dollinger, Frankfurt
am Main 1987, S. 84, 86.- Vgl. weiter den Befehl des Kdr. Gen. des XXXXVII.
mot. Korps, Lemelsen, vom 30.6.41, in dem er sich scharfgegen die vielen Er
schießungen von Kriegsgefangenen in seinem Korps wendete und betonte, der
russische Soldat, dertapfer gekämpft habe, habe »Anspruch aufehrenvolle, gute
Behandlung und Versorgung als Verwundeter«: Ortwin Buchbender, Das
tönende Erz. Deutsche Propaganda gegen die Rote Armee im Zweiten Welt
krieg, Stuttgart 1978, S. 104.
7 C. Streit, a. a. O., S. 167fr".
8 Vgl.Tätigkeitsbericht der AGSSt 7 vom 8.-16.7.41, BA-MA RH 23/221. - Das
Folgende nach auf Tagebuchnotizen gestützte Mitteilungen des ehemaligen
Hilfsarztes der AGSSt 9, Dr. Alfred H., Schieiden.
9 Forderungen dieser Art finden sich mehrfach in den Inspektionsberichten des
Kgf. Bez. Kdt. J: BA-MA RH 22/251. DerArmeearzt desPzAOK4 beklagte im
Januar 1942 den »erbarmungswürdigen Zustand« der Kriegsgefangenenlazaret-
te in seinem Bereich, derArmeearzt desAOK 4 forderteim März 1942 dringend
die Verbesserung der Ernährung der Gefangenen. Vgl. Leven, a. a. O., S. 146,
162. - Die AGSSt 9 versuchte erfolglos, beim Befehlshaber des »Rückw. Hee
resgebiets Mitte«, Gen. von Schenckendorff, die Zuweisung zusätzlichen
Sanitätsmaterials zu erreichen, nachdem die befehlswidrige Beschaffung deut
schenMaterials »aufgefallen« war. Mitteilung von Dr. Alfred H.
10 Szymon Datner, Crimes Against POWs. Responsibility of the Wehrmacht,
Warschau 1964,S. 351.
11 Vgl. U.-H. Leven, a. a. O., S. 156; KarlHüser/Reinhard Otto, Das Stammlager
326 (VI K) Senne 1941-1945, Bielefeld 1992, S. 143.
12 S. Datner, a. a. O., S. 351-354; Alfred Streim, Die Behandlung sowjetischer
Kriegsgefangener im »Fall Barbarossa«, Heidelberg 1981, S. 164, 248.
13 EreignismeldungenUdSSR Nr. 132vom 12.11.41, BA R 58/219.
14 C. Streit, a. a. O., S. 180. - Ähnlich hatte auch der Kommandeur der 339. ID,
General Hewelcke, im November 1941 vorgeschlagen, »alle Schädlinge und
unnützen Esser auszumerzen« - er zählte dazu u.a. nach Flucht ergriffene
Kriegsgefangene und Juden -, um so die Rationen der ukrainischen Hilfswach
mannschaften erhöhen zu können. Vgl. Jürgen Förster, »Die Sicherung des
>Lebensraumes<«, in: Horst Boog u. a., Der Angriff auf die Sowjetunion (= Das
Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4),Stuttgart 1983, S. 1046.

89
15 Vgl. Alexander Mitscherlich/Fred Mielke (Hg.), Medizin ohne Menschlichkeit,
Frankfurt amMain i960,S.66f. 117. Die Opfer warenKriegsgefangene, die als
»politisch untragbar« in den KZs ermordet werden sollten (vgl. C. Streit,
a. a. O., S. 87ff.) oder die zum Arbeitseinsatz eingewiesen worden waren.
Ebenda, S. 2i7ff.
16 Vgl. Karl-Heinz Leven, »Quellen zur Geschichte des Sanitätswesens der deut
schen Wehrmacht im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg«, in: Sanitätswesen
im ZweitenWeltkrieg, hrsg. von E. Guth, Herford 1990, S.29^; Nürnbg. Dok.
NI-i225i;NI-97ii;NI-9578;NI-9579.
17 K.-H. Leven, »Fleckfieber beimdeutschen Heer während desKrieges gegen die
Sowjetunion (1941-1945)«, in: Sanitätswesen im Zweiten Weltkrieg, hrsg. von
E. Guth, Herford 1990,S. 138L
18 Vgl. A. Streim, Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im »Fall Barba
rossa«, Heidelberg 1981, S. 132-137; ein Faksimile des Aufsatzes von Panning,
a.a. O., S. 373-383. - Der Fall wurde wenig später in Kreisen des Widerstandes
bekannt. Helmuth James Graf Moltke sprach empört von einem »Höhepunkt
von Vertiertheit und Verkommenheit«, a.a.O., S. 137. Ähnlich die Reaktion
Ulrich von Hasseils: Die Hassell-Tagebücher 1938-1944, hrsg. von Friedrich
Freiherr Hiller von Gaertringen, Berlin 1988, S. 277 (4.10.41).
19 Vgl. C. Streit, a. a. O., S. 130-176; dasZitat S. 143^
20 Ebenda, S. 157t (Nürnbg. Dok. NOKW-1535).
21 Dulag 240vom 25.10.41, BA-MA RH 49/V.97.
22 C. Streit, a. a. O., S. 184^, dort auch das Folgende.
23 Zur Sterblichkeit in diesen Lagern vgl. S. 81.
24 Vgl. zum Folgenden C. Streit, a. a. O., S. 185-187.
25 Vgl. a.a.O., S. 186; A. Streim, a. a. O., S. 167. - Die Quartiermeisterakten der
Armeen enthaltenhäufigMeldungenüber die Abgabean die HSSPF. So melde
te das AOK 11 für Juli 1942 183,für August 114: NOKW-1286. - Der geschil
derte Fall: IMG, XXXIX, S. 478-488 (USSR-311).
26 A. Streim, a. a. O., S. 178f. - Mitteilung der Zentralstelle Ludwigsbürg vom
8.5.78; vgl. Achim Thom/G. J. Caregorodcev, Medizin unterm Hakenkreuz,
Berlin 1989,S. 423.
27 Vgl. C. Streit, a. a. O., S. 187, 96f.; Streim a. a. O., S. 184.
28 OKH/GenQu. vom 15.6.42, BA-MA RH 23/336.
29 Vgl. C. Streit, a. a. O., S. 191 ff.
30 OKH/GenQu. vom 24.10.42, BA-MA Wi Li5.
31 Dulag 102 vom 3.8.43, BA-MARH 21-4/419; vgl- Rückw. Armeegeb. 585 vom
17.8.43: RH 23/326.
32 Henry Picker,Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-1942, hrsg.
von A. Hillgruber, München 1968, S. 200.
33 Vgl. C. Streit, a. a. O., S. 247-249, auch zum Folgenden.
34 Ebenda, S. 186.
35 Zit. nach Helmut Wolff, Die deutschen Kriegsgefangenen in britischer Hand.
Ein Überblick (= Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten
Weltkrieges, Bd.XI), 1,S. 63f.

90
36 Henry Picker, HitlersTischgespräche imFührerhauptquartier 1941-1942, hrsg.
von P. E. Schramm,Stuttgart 1963, S. 447 (j.j. 1942).
37 Die These Omer Bartovs (vgl. Hitler's Army. Soldiers, Nazis, and War in the
Third Reich, Oxford 1991), die Wehrmacht seiquasibis zum letzten Mannvöl
lig von der nationalsozialistischen Ideologie durchdrungen gewesen, geht frei
lich zu weit. Bartov urteilt auf zu schmaler Quellenbasis und nimmt die Quel
len nicht zur Kenntnis, die auf nonkonformistisches Verhalten hinweisen.
38 Die Einsatzgruppe A berichtete im Oktober 1941 von mehreren entsprechen
den Anträgen, die abgelehnt worden seien: Nürnbg. Dok. 180-L, 1 MG,
XXXVII, S. 691, dort auch die Zitate.
39 Vgl. die Begründungen in den folgenden Fällen:Im Dezember 1941 erschoß ein
Kommandoder EinsatzgruppeA etwa 230Insassen einerAnstaltin Makarjevo,
nachdem der OB der 18.Armee, v. Küchler, einen Antrag des XXVIII. Armee
korps gebilligt hatte: Nürnbg. Dok. NOKW-2260, NOKW-2268. - Im August
1941 wurden auf Wunsch des Befehlshabers des XXIX. AK, von Obstfelder,
etwa 30psychischKrankeerschossen: Ernst Klee/Willi Dreßen (Hg.), »Gott mit
uns«. Der deutsche Vernichtungskriegim Osten 1939-1945, Frankfurt am Main
1989, S. 9j\ 246. Im Herbst 1941 wurden die Insassen einer Anstalt in der Nähe
von Kursk ermordet, um Quartier für den Stab der 2. Armee zu schaffen:
a. a. O., S. 98. - Im Juni 1942 »beauftragte« das PzAOK 3 ein Kommando des
SD mit der Beseitigung von 113 »körperlichund geistig nicht normalen Krüp
peln«: a. a. O., S. 89.
Rolf-Dieter Müller Menschdljagd
Die Rekrutierung von Zwangsarbeitern in derbesetzten Sowjetunion

Der deutsche Generalstab war 1941 siegesgewiß. In wenigen Wochen


wollte man die Sowjetarmee mit ihren fünf Millionen Soldaten besiegen
und ein Riesenreich im Osten besetzen. Dieser Glaube wurde auch nicht
von dem Wissen beeinträchtigt, daß sich die UdSSR immerhin über zwei
Kontinente erstreckte und daß in ihr fast 200 Millionen Menschen in
Hunderten von Völkern lebten. Für Hitlers Generäle kam es nur darauf
an, in diese Menschenmassen hineinzustoßen und sie in kleinen oder
großen Kesseln - die richtige Methode blieb umstritten - zu vernichten
oder gefangenzunehmen. Die Menschensollten nicht etwa vom Stalinis
mus befreitwerden.Es ging vielmehr darum,einenRassenkrieg der Ger
manen gegendie Slawen zu führen, um neues Kolonialland für deutsche
Bauernsoldaten und Rittergüter für die Generäle zu gewinnen.
Die Unwissenheitüber die Menschenin Osteuropa und ihre Lebens
bedingungen erleichterte die Planung. Nach landläufigen Klischees galt
der »Russe« als unterwürfig, wenn er eine »harte Hand« verspürte, als
leidensfähig und körperlich belastbar. Aber welchen Nutzen konnte er
den neuen »Herren« bringen? Industriearbeiter galten als kommuni
stisch verhetzt und überflüssige Esser. Großstädte und Industriezentren
sollten aus dem künftigen Kolonialreich im Osten verschwinden. Um
die Bodenschätze zu fördern, Transportwege zu schaffen und in den
Werkstätten der Besatzungsarmee zu arbeiten, wurde nur ein kleiner Teil
der Bevölkerung gebraucht.1 Die Mehrheit der Landbevölkerungsollte
ihre Ernten den Deutschen abliefern, aber auch sie wurde nur vorüber
gehend benötigt, bis der »Generalplan Ost« die neuen Siedler ins Land
bringen würde.2
Bezeichnend war die Schlußfolgerung der Verantwortlichen im Mai
1941: »-zig Millionen« Menschen im Osten könnten ruhig verhungern
oder nach Sibirien abwandern.3 Der Wehrmacht kam es allein darauf an,
in einem weiteren Blitzkrieg Rohstoffe und Nahrungsmittel zu erbeu
ten, um sich aus den Engpässen der Kriegswirtschaft zu befreien. Von
riesigen Truppenübungsplätzen einer östlichen Militärgrenzeaus würde

92
man dann in periodischen Vorstößen neue Beute machenund die Mann
schaften in ihrem blutigen Handwerk schulen. Die einheimische Bevöl
kerung und vor allemdie asiatischen Völker galtenin ihrer Mehrheit als
rassisch minderwertig. Ob man sie nun in Reservaten vorerst dulden, als
Heloten oder Askaris sogar für Hilfsaufgaben gebrauchen oder mit
leidslos ihrem Aussterben zuschauen würde, mußte sich dann den
Umständen entsprechend erweisen.
Um den ärgerlichen Arbeitskräftemangel in deutschen Rüstungsfa
briken zu beheben, sollten - wie schon nach dem Frankreichfeldzug
1940 - die Wehrmachtssoldaten selbst nach getaner Arbeit im Osten für
einige Monate an die Werkbänke zurückkehren.4 In der Perspektive
eines kurzen Feldzuges waren die Menschen in Osteuropa nur eine
anonyme Masse, Beute, mit der nach Belieben verfahren werden konn
te, für die aber kaum Interesse bestand. Man wollte in erster Linie das
Land und die Bodenschätze, aber nicht die Menschen.

Zwangsarbeit stattMassensterben

Der Krieg allerdings nahm einen anderen Verlauf. Die Überfallenen


wehrten sich mit dem Mut der Verzweiflung, der Sieg rückte in die
Ferne. Die Soldaten der Wehrmacht- erschöpft, von riesigen Verlusten
betroffen, aberin ihrem Überlegenheitsgefühl nichterschüttert - konn
ten nicht in die Heimat zurück, mußten sich in dem fremden, unheimli
chen Land einrichten. In den zerstörten Dörfern und Städten waren vor
wiegend Frauen, Kinder und Alte zurückgeblieben. Ihre Arbeitskraft
wurde gebraucht, um die Wegevom Schnee freizuräumen, Trümmer zu
beseitigen, Versorgungseinrichtungen für die Besatzungstruppen zu
betreiben, Lebensmittelund Ausrüstungen zu produzieren für die frem
de Armee, deren Nachschub allmählich versiegte. Zimperlich wurde
nicht mit ihnen umgegangen. So befahl etwa die 20. Infanterie-Division
(mot) im September 1941 alle männlichen Einwohner der nordrussi
schen Stadt Schlüsselburg zwischen 15 und 55Jahren zur Zwangsarbeit.
Jeder, der dem Befehlnicht folgte, in der Stadt noch angetroffen wurde
oder einen »Saboteur« versteckte, wurde erschossen.5
Auch die Massen der Kriegsgefangenen,im Sommer und Herbst 1941
auf langen Hungermärschen sinnlos im Lande herumgejagt, in Todesla
gern sich selbst überlassen, gewannen plötzlich an Wert. Zumindest die
noch Arbeitsfähigen wurden dringend gebraucht, mußten deutsche Sol
daten rückwärtiger Dienste für den Fronteinsatz freimachen. In der

93
Generalität mehrten sich die Stimmen für einen Kurswechsel. Das Mas
sensterben, das sich unter ihrer Aufsicht vollzog, zerrte an den Nerven,
ließ die Frageder Nützlichkeit in einemanderen Licht erscheinen.6 Man
konnte zwar offen darüber diskutieren, ob es nicht doch nützlicher wäre,
auf die Arbeitskraft der feindlichen Bevölkerung zurückzugreifen und
ihr vorübergehend Überlebenschancen zu bieten. Ein neues Men
schenbildverband sich damit nicht. Die offizielle politischeLinieänder
te sich, trotz der Anstöße einzelner Verantwortlicher im Osten, nicht
grundlegend.7
Entscheidend war,daß auch in Deutschlanddie Problemeder Kriegs
wirtschaft nicht mehr zu bewältigen waren. Das Undenkbare wurde
unausweichlich. »Bolschewisten« alsZwangsarbeiterins Reich zu trans
portieren, galt in der ersten Phase des Krieges nicht nur als überflüssig,
sondern auchpolitischund rassisch alshöchst gefährlich. Der Anstoß zu
einem Umdenken kam hauptsächlich von den Unternehmern, die ver
geblichauf ihre von der Wehrmachtrekrutierten Arbeitskräfte warteten.
ImmerweitereEinberufungswellen leertendieBergwerke, Fabrikhallen,
Gutshöfe und Büros. Obwohl Hitler, weil er nur so neue Divisionen auf
stellen konnte, nachgab und den »Russeneinsatz« im Reich befahl, löste
sich der ideologische Konsens nur sehr langsam auf.8 Die Befürworter
des »Rassenkampfes« bliebenauf allen Ebenen tonangebend.
Das galtim wesentlichenauch für die Wehrmacht.Soldatenwie Gene
ralität schwankten zwischen der Einsicht, daß man die Unterstützung
der Bevölkerung im Osten brauche, und den Ausbrüchen hemmungs
loser Haß- und Vernichtungsorgien. Für die »Aufbringung« von Ar
beitskräften war der neu eingesetzte »Generalbevollmächtigte für den.
Arbeitseinsatz«, Fritz Sauckel, mit seiner Handvoll Kommandos aus
deutschen Arbeitsämtern von Anfang an auf die Unterstützung der
Wehrmacht angewiesen. Der größere Teil des Besatzungsgebietes im
Osten unterstand schließlich der Militärverwaltung. Dort wurden rund
achthundert Beamte uniformiert und bewaffnet, um# sich als Vertreter
der Wehrmacht um die »Aufbringung« von Arbeitskräften zu küm
mern.9 Aber auch in den Regionen der Zivilverwaltung blieben die
Dienststellen ohne die Exekutive der Feldkommandanturen und Wehr
machtsbefehlshaber machtlos.
Die anfänglichen Bemühungen, Freiwillige für den Reichseinsatz zu
werben, waren durchaus erfolgversprechend. Eine erste Sichtungunter
den Überlebenden des deutschen Einmarsches ergab zumBeispiel inden
Industriegebieten der Ostukraine eine beträchtliche Zahl von Fachar
beitern. In der Masse handelte es sich bei den Arbeitswilligen allerdings

94
um Frauen und ungelernte Arbeiter. EinigeTausend meldetensich frei
willig für den Einsatz in Deutschland, um dem Hungern und Sterben in
der Heimat zu entgehen.10
Mit der Werbung solcher Freiwilligerhielten sich die Deutschen aller
dingsnicht langeauf.Außer Parolenund Versprechungen hatten sieauch
kaum etwas zu bieten. Die Briefe der ersten »Ostarbeiter« machten den
Zögernden zu Hause rasch deutlich, daß siein Deutschland nur ein Skla
vendasein erwartete. Göring hatte bei einer Sitzung der Militär- und
Wirtschaftsdienststellen am 7. November 1941 unmißverständlich
erklärt, daß die zivilen Arbeiter praktisch wie Kriegsgefangene zu
behandeln und zu ernähren seien.11

Zwangsrekrutierung

Da die Wehrmacht in der Rekrutierung eines Millionenheeres von Ost


arbeiternaber eine »Aufgabe von kriegsentscheidender Bedeutung« sah,
drängtesiedarauf, daßdort, wo die»Werbung« versagte, möglichst rasch
zu anderenMitteln gegriffen werde.In einergrundlegenden Weisung des
Oberkommandos des Heeres vom 10. Mai 1942 wurden Mindestaufla
genfür Gemeinden gefordert. Auf dem Papierzog man es vor, zurück
haltend zu formulieren: »Daher muß der Bevölkerung durch überzeu
gende Werbemaßnahmen der Bürgermeister in geeigneter Form zum
Bewußtseingebrachtwerden, was ihre Pflicht ist.«12
Solange hauptsächlich in den westlichen Gebieten der Zivilverwal
tung mit Hilfe von Polizeiund SS »geworben« wurde, konnte die Spra
che mancher Wehrmachtsstellen maßvoll bleiben, gleichwohl fordernd
und damit ein Motor der alltäglichen Gewalt. Dort, wo sie selbst
Zwangsarbeitskräfte brauchte, hielt man sich nicht zurück. So hieß es
etwa in einer Anordnung des Befehlshabers des rückwärtigen Heeresge
biets Süd zur Freihaltung der Nachschubwege: »Dazu ist auf Anforde
rung der Trupperücksichtsloser Einsatzder gesamten Zivilbevölkerung,
ganz gleich, ob Schneesturm oder Kälteherrscht,mit drakonischen Mit
teln durchzusetzen.« Kommandeure, die hier versagten, wurden ab
gelöst und bestraft.I3
Immer häufiger gingen die Greifkommandos dazu über, Menschen
überall dort zu überfallen, wo sie in größeren Gruppen versammelt
waren. An Straßenkreuzungen und in Kinos wurden Razzien durchge
führt, die Aufgegriffenen unter Prügelnzum Bahnhofverschleppt. Müt
ter, die an der Zentralmolkerei um Milch anstanden, befanden sich bin-

95
nen weniger Stunden auf der Bahnfahrt nach Deutschland, ohne ihre
Kinderversorgen zu können, ohne Arbeitskleidung und Verpflegung.
Zeigte sich auch nur der geringste Widerstand, ließen die deutschen
Behörden die Maske des Anstands und Rechtsbewußtseins sofort fallen.
Schon die Flucht eines arbeitsfähigen Familienangehörigen reichte als
Vorwand aus, um Wohnungen zu zerstören und Vorräte wegzuschlep
pen. Wer nicht verstand, was die Wehrmacht mit »Pflichterfüllung«
meinte,wurde gefesselt und mißhandelt. Die von der Wehrmacht gefor
derten Zahlen »Freiwilliger« mußten erfüllt werden. Wenn es um eine
»kriegsentscheidende« Aufgabe ging, schienjedes Mittel recht zu sein.
Glaubten Frauen, daß eine Schwangerschaft sie vor dem Arbeitsein
satz schützte, belehrten sie Zwangsaborte eines Besseren. Selbst Alte,
Kinder, Gebrechliche und Behinderte wurden von den uniformierten
Kommandos auf die lange Reise geschickt. Doch wer sich in Deutsch
land als arbeitsunfähig erwies, wurde in Konzentrationslagern umge
bracht oder nach Osten zurückgeschickt und dort einfach auf der Straße
ausgesetzt.
Es konnte nicht ausbleiben, daß diese wilden Rekrutierungen zu
Widersprüchen in der Besatzungshierarchie führten. Da fühlte sich ein
Polizeichefübergangen,weil in seiner Stadt ohne Absprache eine Skla
venjagdveranstaltet worden war, die nach Abzug des Greifkommandos
zu größter Unruhe unter der Bevölkerung führte und die Sicherheitsla
ge gefährdete. Deutschen Unternehmern und Landwirtschaftsführern,
die im Auftrag der Militärverwaltung Betriebe organisierten, fehlten
plötzlich die Arbeitskräfte. Schließlich wurde auch die Wehrmacht
direkt betroffen. Beispielhaft war die Situationim kriegswichtigen Erz
gebiet von Kriwoi Rog, wo man bemerkte, »daß von der Bevölkerung,
die anfänglich zu 94% für uns war, jetzt etwa 60% auf die Rote Armee
als Befreier warten«.14 Da es infolge des ungünstigen Kriegsverlaufs
nicht genügend Exekutivkräfte im Hinterland gab, blieb wohl nur die
Einsicht eines Armeeoberbefehlshabers, der meinte: »Wäre der Ruß
landfeldzug ein Blitzkrieg gewesen, hätten wir die Zivilbevölkerung
nicht in Rechnung zu ziehen brauchen. Aber ein Ende ist nicht abzuse
hen. [...] Unter diesenUmständen ist esunvernünftig, einenKurs zu ver
folgen, der uns die Zivilbevölkerung hundertprozentig zum Feind
macht.«15

96
Zielkonflikte

Vor allem der drastische Zulauf zu den Partisanen veranlaßte also die
Wehrmacht schließlich, auf eine Änderung derRekrutierungspolitik zu
drängen und die Exzesse des Sauckel-Apparats einzudämmen. Nach
einer Schätzung des OKW wurden durch die Partisanen mehr als 1,5
Millionen Arbeitsfähiger dem deutschen Zugriff entzogen.16 Der völli
gen Abschöpfung des Arbeitsmarktes traten Wehrmacht und Zivilver
waltung freilich auch im Interesse ihres eigenen Bedarfs entgegen. Der
wirtschaftliche Wiederaufbau, der die Front stabilisieren und die Liefer
verpflichtungen für die Heimat erfüllen helfen sollte, erforderte einen
steigenden Arbeitseinsatz im Besatzungsgebiet. In den Betrieben der
Wehrmacht arbeiteten schließlich knapp 600000 Sowjetbürger, rund
zwanzig Millionen bewirtschafteten die Kolchosen. Hier brauchten
nicht immer Zwangsmaßnahmen angewendet zu werden, weil sich den
Menschen kaum andere Überlebenschancen boten.
Angesichts der steigenden Verluste an der Ostfront und der Schwie
rigkeiten, in Deutschland ausreichend Kriegsmaterial zu produzieren
und durch die Partisanengebiete des Ostens zu transportieren, mußte die
militärische Wirtschaftsorganisation darauf bedacht sein, alle Produkti
onsmöglichkeiten hinter der Front auszunutzen. Die Beschäftigung der
feindlichen Bevölkerungsicherte außerdem ein Höchstmaß an Kontrol
leund Überwachung. Für 1943 wurde für diese Programme einzusätz
licher Bedarf von rund hunderttausend Arbeitskräften errechnet. Für
andere vordringliche Aufgaben, wie Befestigungsarbeiten, brauchte die
Wehrmacht weitere 660000.1? So geriet die Wehrmacht in ein wachsen
des Spannungsverhältnis zwischen den Anforderungen aus dem Reich,
dem Eigenbedarf der Besatzungsarmee und dem erbarmungslosen
Kampf mit den Partisanen um die Bevölkerung.
Die größte Zahl von Zwangsarbeitern für den Reichseinsatz war im
Sommer 1942 rekrutiert worden. Die bedeutendste Gruppe bildeten
rund 800000 ukrainische Frauen, die als Dienstmädchen für deutsche
Haushalte verpflichtet und erst in der Endphase des Krieges in die
Rüstungsindustrie umgesetzt wurden. Auch hier meldeten sich nur
knapp 10000 freiwillig, weshalb Repressalien gegen die Familien ange
wendet wurden. Obwohl man also den Wert der menschlichen Arbeits
kraft zu schätzen gelernt hatte, eskalierte zur gleichen Zeit auch die
Mordbrennerei, die sich über solche Erwägungen hinwegsetzte.
Parallel zum systematischen Massenmord an der jüdischen Bevölke
rung, bei der solcheRücksichtenebenfalls nicht genommenwurden, ver-

97
schärfte die Wehrmacht die Partisanenbekämpfung. Man bat Himmler,
dafür die Verantwortung zu übernehmen und unterstellte ihm auch
Wehrmachtseinheiten und -dienststeilen. In den umkämpften Gebieten
wurden rücksichtslos Dörfer vernichtet und Menschen als Freiwild
behandelt. Es waren Massenmorde, bei denen der rassenideologische
Impuls des Unternehmens »Barbarossa« offen durchbrach.
Konflikte mit der Zivil-und Wirtschaftsverwaltung bliebennicht aus.
Einsichtige Generäle sahen durchaus die Gefahr, daß die Brutalität des
deutschen Vorgehens alle Bemühungen um einepolitische Kriegführung
konterkarierte und den Volkswiderstand verschärfen mußte. Die Argu
mentation mit der sinnlos vernichteten Arbeitskraft konnte noch am
ehesten überzeugen. Hinzu kamen Bestrebungen der Heeresführung,
angesichts der horrenden Verluste, die durch den Rekrutennachschub
nicht ausgeglichen werden konnten, »Hilfswillige« ausdem Besatzungs
gebiet auf den »leeren Planstellen« einzusetzen. In fast allen Verbänden
gab es bereits solche »Hiwis«, meist als Handlanger und Panjewagen
fahrer unter den überlebenden Kriegsgefangenen rekrutiert. Selbst
bewaffnete Einheiten des Ordnungsdienstes und reguläre Hilfstruppen
hatte man aus Angehörigen nationaler Minderheiten aufgestellt.18
Auf freiwilliger Basis ließen sich allerdings nicht genügend Sowjet
bürger verpflichten, um die 800000 Hiwi-Stellen der Wehrmacht zu
besetzen. Hitler selbst bremste immer wieder diese Bestrebungen, von
denen sich einige Wehrmachtspropagandisten sogar den Aufbau einer
russischen Befreiungsarmee versprachen. Die Jagd auf solche wehrfähi
gen Männer kollidierte zwangsläufig mit den Anforderungen des
Reichseinsatzes. Hitler sah es lieber, daß die Russen in Deutschland
Zwangsarbeit leisteten und dafür deutsche Arbeiter als Soldaten frei
machten, anstatt als quasi Verbündete, für die in einem künftigen Kolo
nialreichim Osten kein Platz vorgesehenwar, Ansprüche auf die Früch
te des »Endsieges« zu erwerben. Die Selbsthilfe der Truppe schuf aber
Fakten. In der Praxis sah das so aus: Die Heeresgruppe Nord forderte
den Wehrmachtsbefehlshaber Ostland in Riga dazu auf, im Baltikum
37000 Arbeitskräfte »aufzubringen«, darunter 7000 Hilfswillige und
5000 Arbeiter für »Zivilarbeitsabteilungen«.19 Dann gingen die Trupps
der Wehrmacht selbst auf Menschenjagd.
Mit der Hoffnung auf die Eroberung neuer Gebiete wurden diese
Konflikte zunächst vertagt. Die Werbekommissionen der Wehrmacht
zogen mit den Soldaten in Richtung Stalingrad. Die gesamte Bevölke
rung der Stadt sollte- nachdem Hitlers erste Anordnung, alleMänner zu
töten, revidiertworden war - selektiertwerden. Insgesamtrechnete man

98
mit 800 000 Menschen. DieArbeitsfähigen sollten ausgesondert und dem
Reichseinsatz oderanderen deutschen Bedarfsträgern vor Ort zugeführt
werden. Den Rest wollte man »indie Steppe« leiten.20
Das Unternehmen erwies sich als Fiasko. Lediglich knapp 20000
Arbeitskräfte wurden als »Flüchtlinge« erfaßt. Davon bedienten sich die
Truppen mit Hiwis; die Organisation Todt, die Feldkommandanturen
und die Baustäbe erhielten einige Tausend Bauarbeiter, und nur 7295
Zwangsarbeiter wurden von der Wehrmacht ins Reich weitergeleitet.21

Arbeitspflicht undEvakuierung

Nach der Katastrophe von Stalingrad stelltensich Hitlers Armeen dar


auf ein, einen »Ostwall« zu errichten und den eroberten Raum zu ver
teidigen. Der Bedarfan Arbeitskräften stieg damit weiter an. Vor allem
für den Stellungsbau forderten die Befehlshaber Hunderttausende von
Zwangsarbeitern an. VonFreiwilligkeit war dabei längstnicht mehr die
Rede. Mit der Verkündigung einerArbeitspflicht konnten praktisch alle
Einwohner im Besatzungsgebiet zwangsrekrutiert werden. In der Spra
che der Truppe sah das so aus: Das XXIX. Armeekorps befahl, in den
Ortschaften »alle Männer und Frauen zwischen 16 und 60 Jahren zu
erfassen, in Arbeitskommandos einzuteilen und zum Stellungsbau her
anzuziehen«. Arbeitsgeräte mußten selbst mitgebracht werden. »An
Gefangene und Landeseinwohner sind hohe Anforderungen zu stellen.
Mindestarbeitszeit 9 Stundenohne Anrechnungder Arbeitspausen. Wer
sich weigert oder die Arbeit sabotiert, ist zu erhängen.«22
Die Abteilung Militärverwaltung im Oberkommando des Heeres, die
zu den Befürwortern eines Kurswechsels in der »Ostpolitik« gehörte,
bemühte sich zwar, im besten Beamtendeutsch Regelnfür die Erfassung
und den Einsatz der Sowjetbürgerzu formulieren.23 Siebliebennicht nur
im Frontbereich bloßes Papier. Besonders interessiert war man an der
Erfassung der Jugendlichen, die ins wehrfähige Alter gekommen waren.
Ganze Jahrgänge wurden zum Arbeitsdienst in Deutschland oder zu den
Hilfstruppen der Wehrmacht »einberufen«.24 Den Musterungsbefehlen
folgten aber nur wenige, so daß auch hier auf massive Repressalien
zurückgegriffen wurde. Die Truppen organisierten Überfallkomman
dos, die in den Dörfern Mensch und Vieh zusammentrieben, die Arbeits
kräfte auf die Divisionen verteilte und dort in eigenen Konzentrations
lagern bewachte. Wer flüchtete oder Widerstand leistete, galt als
partisanenverdächtig und wurde erschossen.25

99
Sosehr die Verfechter einer politischen Kriegführung auch daran
interessiertwaren, die Unterstützung der Bevölkerung für die deutsche
Sache zu gewinnen und daher die Exzesse des Sauckel-Apparates
ablehnten - ein wirksames Mittel zur Aufbringung der geforderten
Arbeitskräftezahlen waren auch ihre Propagandaparolen nicht. In der
Praxis blieb stets nur die Anwendung von Zwang und Terror.
Hatten in der Vergangenheit dieseSchmutzarbeit meist SS- und Poli
zeiverbände sowie die einheimischen Hilfstruppen der Wehrmacht ver
richtet, so wurden seit 1943 durch die Rückzüge auch die Fronttruppen
in wachsendemMaße einbezogen. Für sie ging es darum, die Kampfzo
ne völlig freizuräumen, die Bevölkerung im rückwärtigen Raum unter
Kontrolle zu halten, sie für Zwangsarbeit einsetzen und bei Rückzügen
möglichst rechtzeitig abtransportieren zu können. Die Menschen muß
ten also zusammengetrieben, bewacht,selektiert und notfalls über weite
Strecken in Marsch gesetzt werden. Ob im Einzelfall der Mangel an
Transportmitteln, Nahrungsgütern und Ausrüstung für die elendenVer
hältnisse in Lagern und Trecks verantwortlich war, mangelnde Organi
sation und Kompetenzstreit der deutschen Behörden oder schlicht die
Härte und Brutalität verrohterTruppen26 - imErgebnis wurdenmehrals
drei Millionen Menschen von der Wehrmacht eingefangen und nach
Belieben verschoben.27
Der Mangel an bewaffneten Kräften und unerwartete Feindvorstöße
sorgten dafür, daß der Befehl Hitlers, eine »verbrannte Erde« zu hinter
lassen, nicht in vollem Umfang verwirklicht werden konnte. Trecks
»verliefen« sich im Land und wurden von den Partisanen befreit,
Zwangsevakuierte flohen in Massenaus Zügen und Lagern. Wollten die
Deutschen eigentlich nur die Arbeitsfähigen mitschleppen, mußten sie
am Ende auch die Familien mitziehen lassen. Ein Behelf war die Auf
stellung von regelrechten Arbeitsbataillonen. Sie dienten letztlich auch
als Geisel, ebenso wie jene Kinder und Jugendlichen, die im Opera
tionsgebiet erfaßt, in speziellen Konzentrationslagern gehalten oder -
angeblich zur Berufsausbildung - ins Reich transportiert wurden.
Zudem wollte man auch auf diese Weise »die biologische Kraft« des
Gegners mindern. Bei diesen völkerrechtswidrigen Maßnahmen spielte
die Wehrmacht die Führungsrolle.28
Parallel zur Menschenjagd in den Armeegebieten setzte sich auch im
Hinterland bei der Partisanenbekämpfung der Gedanke »Arbeit statt
Vernichtung« allmählich durch. Gefangene und Verdächtige wurden
nicht mehr grundsätzlich ermordet, sondern meist als Zwangsarbeiter
ins Reich transportiert. Das betraf nicht nur das sogenannte Bandenge-

100
biet, sondern auch wirtschaftlich unwichtigeRegionenabseitsder Roll
bahnen. Die arbeitsfähige Bevölkerung wurde kurzerhand zu Kriegs
gefangenen erklärt und entsprechend behandelt. Von der Wehrmacht
zusammengetrieben, wurde dieBevölkerung zu Hunderttausendennach
Westen in Marsch gesetzt und auf den Trecks und in den Lagern immer
wieder auf arbeitsfähige Kräfte durchsiebt. Wer als »nutzloser Esser«
galt, blieb sich selbst überlassen. Viele starben in den Wäldernund hin
ter dem Stacheldraht der Deutschen.29
Fast die Hälfte allerin Deutschland beschäftigten »Ostarbeiter« wur
den erst 1943/44 rekrutiert. In dieser dramatischen Phase des deutschen
Rückzugs und zugleich der Zeit der höchsten Rüstungsproduktion
machte ihr Anteil zwei Drittel aller neu eingesetzten ausländischen
Zwangsarbeiter aus. Insgesamt waren2,8 Millionen zivile Zwangsarbei
ter aus den besetzten sowjetischen Gebieten nach Deutschland trans
portiert worden. Rund die Hälfte von ihnen hatte die Wehrmacht im
Operationsgebiet selbst »aufgebracht«.30 Hinzu kamen nochdieKriegs
gefangenen. Von ursprünglich mehr als fünf Millionen standen im
Herbst 1944 allerdings nur noch 726000 für den Arbeitseinsatz zur Ver
fügung.31
Die Menschenjagd im Osten zahlte sich so gesehen also für dieWehr
macht aus. Ohne die Arbeitskraft der unterworfenen Sowjetbürger hät
ten Hitlers Armeen wahrscheinlich schon 1942 den Kampf einstellen
müssen. Angetreten, »Lebensraum im Osten« zu erobern und von
»Untermenschen« zu »säubern«, entdeckte die Wehrmacht allzu spät,
daß die Überlebenden des deutschen Einmarsches ein wertvolles Gut
darstellten. Innerhalb der Maschinerie von Raub und Vernichtung waren
esaberzu wenige, diedabei an dieMenschlichkeit dachten. Mochte eine
schweigende, gleichwohl schießende Masse auch das Gefühl kultivieren,
sich »anständig« verhalten zu haben - in derPraxis hatten viele Soldaten
der Ostfront dasRechtauf Lebennur denjenigen zuerkannt,die brauch
bare Sklaven abgaben. DerRest mochte verkommen, warBallast aufdem
Schlachtfeld. Nichts bezeugt besser den Zustand der Verrohung einer
Millionenarmee als diese Haltung.

101
Anmerkungen

i Vgl. Richtlinien des OKW über die Führung der Wirtschaft in den neubesetz
ten Ostgebieten (»Grüne Mappe«) vom Juni 1941,Bundesarchiv-Militärarchiv
(BA-MA), RW 31/128 D. Zur Geschichte des militärisch geführten Wirt
schaftsstabes Ost vgl. Rolf-Dieter Müller (Hg.)Die deutsche Wirtschaftspolitik
in den besetzten sowjetischen Gebieten1941-1943, Boppard 1991.
2 Vgl. Rolf-Dieter Müller, Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik,
Frankfurt am Main 1991.
3 Das Deutsche Reich und der ZweiteWeltkrieg, hrsg. vom Militärgeschichtli
chen Forschungsamt Freiburg i. Br. (DRZW), Bd. 4, 2. Aufl., Stuttgart 1983,
S. i43ff.
4 Zum Hintergrund vgl. DRZW, 5/1, Stuttgart 1988.
5 Befehl vom 17.9.1941, in:DeutscheBesatzungspolitik in der UdSSR 1941-1944.
Dokumente, hrsg. von Norbert Müller, Köln 1980, S. 281.
6 Dazu grundlegend Christian Streit, KeineKameraden, 2. Aufl., Bonn 1991.
7 Dazu das ältere Standardwerk von Alexander Dallin, Deutsche Herrschaft in
Rußland 1941-1945, Düsseldorf 1958, und mit neuem Ansatz T.P. Mulligan,
The Politics of Illusion und Empire. German Occupation Policy in the Soviet
Union, 1942-1943, New York u. a. 1988.
8 Dazu Ulrich Herbert, Fremdarbeiter, Köln/Bonn 198 5.
9 Verfügung des OKWvom24.4.1942, in:N. Müller, Besatzungspolitik, a.a. O.,
S. 288t
10 Vgl. Rolf-Dieter Müller, DieRekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter für die
deutsche Kriegswirtschaft, in:Europaundder »Reichseinsatz«, hrsg. vonUlrich
Herbert, Essen 1991,S. 234-250.
11 Aufzeichnungen über die Sitzung des Wirtschaftsstabes Ost am 7.11.1941, in:
N. Müller, Besatzungspolitik,a. a. O., S. 282ff.
12 OKH/GenQu/Abt. Kriegsverw., betr. Anwerbungrussischer Arbeitskräfte für
das Reich, vom 10.5.1942, BA-MA, RW 31/145.
13 Anordnung vom 8.2.1942, in:N. Müller, Besatzungspolitik, a. a. O., S.285.
14 Zitiert nach Dallin, a. a. O., S. 449.
15 Ebenda, S. 343.
16 R.-D. Müller, Wirtschaftspolitik, a. a. O., S. 154.
17 Bedarfsübersicht nachdemStand vomMai 1943, ebenda, S. 521.
18 Vgl. Jürgen Thorwald, Die Illusion. Rotarmisten in Hitlers Heeren, Zürich
1974.
19 Anforderung über den Chefdes Wirtschaftsstabes Ost vom 24.12.1942, abge
druckt in: N. Müller, Besatzungspolitik, a. a. O., S. 298. .
20 R.-D. Müller, Rekrutierung, a. a. O., S. 242.
21 Kriegstagebuch des Wirtschaftsstabes Ost, Eintrag vom 4.11.1942, BA-MA,
RW 31/23.
22 Befehl vom 24.1.1943, abgedruckt in: N. Müller, Besatzungspolitik, a. a. O.,
S. 299.
23 Vgl. Verordnung des OKH über Arbeitspflicht und Arbeitseinsatz vom

102
6.2.i943> m: N. Müller, ebenda, S. 30off., sowie weitere sozialpolitische Rege
lungen in: R.-D. Müller, Wirtschaftspolitik, a. a. O., S. 529fr*.
24 Bestimmungen des OKH vom 20.4.1943, in: N. Müller, Besatzungspolitik,
a. a. O., S. 309f.
25 Anweisungdes XXXIII. Armeekorps vom 2.6.1943, ebenda,S. 3ioff.
26 Vgl. zum Beispiel Bericht des Festungs-Pionierstabes 7 vom 6.3.1944, ebenda,
S.319L
27 R.-D. Müller, Wirtschaftspolitik, a. a. O., S. 325fr*.
28 Norbert Müller,Wehrmacht und Okkupation 1941-1944, Berlin 1971, S.279ff.
29 Vgl.Rolf-Dieter Müller, Es begann am Kuban... Flucht- und Deportationsbe
wegungen in Osteuropa während des Rückzugs der deutschen Wehrmacht
1943/44, in: Flucht und Vertreibung. Zwischen Aufrechnungund Verdrängung,
hrsg. von Robert Streibel,Wien 1994,S. 42-76.
30 Zur Statistikvgl. R.-D. Müller,Wirtschaftspolitik, a. a. O., S. 549^
31 Aktenvermerk des OKW vom 4.12.1944, in: N. Müller, Besatzungspolitik,
a. a. O., S. 323.
Hannes Heer Die Logik des Vernichtungskrieges
Wehrmacht undPartisanenkampf

Der 9. Sitzungstag im Minsker Prozeß gegenVerbrechen der deutschen


Wehrmacht, der Polizei und des SD verlief eher unspektakulär. Die
Angeklagten, die an diesem Tag, dem 23. Januar 1946, vernommenwur
den, waren keine Generäle oder Offiziere, sondern einfache Landser.
Einer von ihnen, Albert Rodenbusch, zur TätzeitAngehöriger des 635.
Ausbildungsregiments, schilderte seineTeilnahme an einem Partisanen
unternehmen in Weißrußland. Es war sein erster Einsatz an der Ostfront.

»Am Abend des 29. Dezember 1942haben wir unsere Aktion in einem
Dorf begonnen. In diesemDorf gab es keine Partisanen. Die Bewoh
ner des Dorfesstelltenuns geheizte Räume zur Verfügung, gaben uns
zu essen, und wir warensehrüberrascht, als uns der Kompanieführer
danach befahl, das Dorf niederzubrennen und die Bewohner festzu
nehmen. Wir haben damals 50 Bewohner festgenommen. [...] Dann
zogen wir zu einem anderen Dorf. Das war 10 oder 11 Kilometer ent
fernt. Als wir dort ankamen, beschoß man uns mit Gewehren. Unser
Kompanieführer befahl, das Dorf zu besetzen und jeden, der Wider
stand leistet oder zu fliehen versucht, sofort zu erschießen. [...] Wir
haben etwa 70 Menschen erschossen. Darunter waren auch Frauen,
Alte und Kinder. Und dann habenwir dasDorf niedergebrannt. Aus
dem ersten Dorf haben wir 14 Stück Vieh und aus dem zweiten Dorf
10 Stück Vieh mitgenommen. Dann gingenwir zu dem dritten Dorf.
Dort fanden wir keine Partisanen. Aber das Dorf haben wir trotzdem
niedergebrannt und ca. 50 Personen erschossen. Auch Frauen und
Kinder. Und dann zogen wir zum vierten Dorf und haben dort das
selbe gemacht wie in den andern Dörfern auch. Dabei haben wir circa
100 Menschen erschossen, das Dorf niedergebrannt und 80Personen
festgenommen. Die nahmen wir mit. Nachdem wir alle diese Dörfer
vernichtet hatten, zogen wir in Richtung Ossipowitsche. Unterwegs
haben wir noch die Wälder durchkämmt und nach Partisanen durch
sucht.«1

104
Der Bericht ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Er beschreibt ein
Handeln, dem jede militärische Logik abhanden gekommenist. Ob sich
die Bevölkerung gastfreundlich, aggressiv-feindlich oder abwartend-
neutral gegenüberden Besatzernverhält, das Ergebnis ist immer das glei
che: das Dorf wird eingeäschert, das Vieh wird mitgenommen, die Ein
wohner werden an Ort und Stelle erschossen oder in Gefangenschaft
geführt. Was ist das für ein Krieg, so muß man fragen, der nicht mehr
zwischen Freund und Feind unterscheiden kann? Offensichtlich ist dies
Schema ungültig geworden. Und die Partisanen, der Anlaß des Einsat
zes? Vielleicht liefern sie nur die Überschrift für ganz andere Vorgänge.
Jedenfalls tauchen sie, als ob es gar nicht wirklich um sie ginge, wie
beiläufig erst ganz zum Schluß auf, als Objekt einer lustlosen Suche, die
ohne Ergebnis abgebrochen wird. Was aber ist dann das Ziel? Roden-
busch war Rekrut, die Aktion war sein erster Einsatz. Mordbrennerei als
Teilder Grundausbildung? Auch das könnte eine Spur sein - eine unter
vielen. Sie alle führen ins Zentrum eines Geschehens, das deshalb so viele
Gesichter hat, weil es so etwas wie die Quintessenz des Krieges im
Osten darstellt. Der Beweisfür dieseThese stützt sich auf Ereignisseund
Entwicklungen im besetztenWeißrußland der Jahre 1941 bis 1943.

1941

Die Strategie des Ostfeldzuges kombinierte vier Elemente: unter Aus


nutzung desüberraschenden Angriffs solltendieArmeenstoßkeilförmig
und vollmotorisiert weit ins Innere des Landes vordringen, die gegneri
schen Kräfte durch gewaltige Kesselschlachten vernichten und daspoli
tischeSystem Sowjetunion unter der Wirkung dieses Schocks zum Ein
sturz bringen. Dieser Plan rechnete mit der Wahrscheinlichkeit, daß
Hunderttausende von Rotarmisten, von den deutschen Truppen über
rannt, in den weiten unbesetzten Räumen Zuflucht finden würden. Und
es bestand die Möglichkeit, daß diese Versprengten mit den dort noch
intakten Institutionen zu einem gefährlichen Widerstandspotential
fusionieren könnten. Vorsorglichwaren daher den drei Heeresgruppen
als Grundausstattungfür ihre rückwärtigen Gebiete je drei Sicherungs-
Divisionen zugeteiltworden. Zu ihren Aufgaben gehörten - neben der
Sicherung der Eisenbahnlinien, der Rollbahnen und der Nachrichten
verbindungen- vor allemdiese: 1. die »planmäßige Säuberungvon zer
sprengten Feindteilen«, 2. »die Festnahme solcher Einwohner, die der
Zusammenarbeit mit dem Feinde [...] verdächtig sind«, 3. »die Verhin-

105
derung bzw. Zerschlagen von Aufständen, Sabotageakten und Banden
bildung«.2 Das alles sollte und könnte, so glaubte man, mit der
Geschwindigkeit des Vormarsches geschehen: Während die angrenzen
den Wälder durchkämmt und die wichtigsten Dörfer durchsucht wur
den, rief man gleichzeitig mit Plakaten und abgeworfenen Flugblättern
die ehemaligen Soldaten der Roten Armee dazu auf, sich bei der näch
sten deutschen Truppe zu melden, andernfalls gelte jeder Gefaßte als
Freischärler und werde erschossen.3 Aber dieser Befehl von Mitte Juli
zeigte offensichtlichso wenig Wirkung, daß er öfter wiederholt werden
mußte und die endgültigletzten Meldefristenauf den 15. und dann noch
einmal auf den 31. August verschoben wurden. Der Grund dafür lagin
der Art, wie dieTruppe mit den Versprengten umging: »Soldaten in Zivil
(meist am kurzgeschorenen Haar kenntlich) sind nach Identifikation als
Rotarmisten zu erschießen (Ausnahme Deserteure).« Wer den Nach
weis, Deserteur zu sein, nicht erbringen konnte oder wer auf keinen
andern Ausweg verfiel, wurde erschossen. Das betraf- wie Tätigkeits
berichte von Sicherungs-Divisionen aus Augustund September zeigen -
fast die Hälfte der Festgenommenen.4 Aber auch denen, die sich freiwil
lig meldeten, erging es meist nicht besser. Darauf deutet jedenfalls das
öfterwiederholte Verbot des Befehlshabers des rückwärtigen Heeresge
bietes hin: erschossen werden dürften nur diejenigen, die »im Kampf,
mit der Waffe oder bei Plünderungen gestellt werden«.5 Es gab auch
andere Hindernisse für einen raschen Abschluß der »Befriedung«. Die
weitgesteckte Aufgabe, verdächtige Zivilisten zu enttarnen und festzu
nehmen, um damitdieBildung von Widerstandsgruppen zu verhindern,
führte dazu, daß dieTruppe die ursprüngliche Beschränkung aufSiche
rungsaufgaben entlang der Rollbahnen und der Eisenbahnlinien aufgab.
Eswurdestatt dessen verfügt, daß »jedes Dorf im Säuberungsraum und
möglichst jedes einzelne Gehöftzu erfassen und gründlich zu durchsu
chen ist« - nach Ortsfremden, Rotarmisten, Saboteuren, Kommunisten,
kurz: nach Verdächtigen. Aus der Wehrmacht war Polizei geworden.
Ohne Dolmetscher, ohneInformanten halfsiesich - umzingelt vonver
meintlichen Feinden - mit kollektiven Strafmaßnahmen. Darunter ver
stand der militärische Sachverstand »Massenexekutionen oder das teil
weiseoder ganze Niederbrennen von Dörfern«.6Dies scheint immer die
Antwort gewesen zu sein, wenn Überfälle auf Wehrmachtseinheiten
stattfanden oderdieLeichen erschossener Kameraden gefunden wurden,
ohne daß die Täter festegestellt werden konnten. In den ersten beiden
Monaten des Feldzugs versuchten die Befehlshaber der Heeresgruppe
Mitte und des rückwärtigen Heeresgebietes solche Aktionen durch

106
Untersuchungen und Befehle noch einzudämmen.7 Danach blieben
Interventionen aus. Das scheint auf den ersten Blick damit zusammen
zuhängen, daß, je weiter die Truppe nach Osten vorrückte, sich erstmals
so etwas wie Widerstand hinter den Frontlinien entwickelte: Zerstörun
gen von Telefonleitungen und Sprengstoffanschläge auf Bahngleise wer
dengemeldet, es kommt zu Überfällen aufKolchosen und zu Angriffen
gegen Kollaborateure.8

Partisanenkampfohne Partisanen

Man muß allerdings, um die Qualität dieses Widerstands zutreffendein


zuschätzen,daran erinnern,daß für die sieggewohnten Blitzkriegerjeder
Widerstand dieser Art etwas Ungewöhnliches war, Übertreibungen
daher nahelagen. Auch die sowjetische Seiteließnach dem Krieg- wegen
der identifikationsstiftenden Funktion des Partisanenkampfes - die
Anfangsphase in einem heroischen Licht erscheinen. Die Wirklichkeit
sah anders aus.
Am 3.Juli 1941 hatte Stalinseineberühmte Rede im Moskauer Rund
funk gehalten, in der er »zur Entfachung des Partisanenkrieges« hinter
den deutschen Linienaufgerufen hatte, am 18. Juli kamdieDirektive des
ZK mit den Anweisungen zur Organisierung dieses Kampfes. Im west
lichenTeil Weißrußlands folgtendarauszunächstkeineTaten: Wegen der
erst zweijährigen Zugehörigkeit des ehemals polnischen Gebietes zum
Sowjetstaat waren Partei und Massenorganisationen noch schwach und
wenig verankert, und die Dampfwalze des deutschen Überfalls hatte ein
übriges getan, keinen Gedanken anWiderstand entstehen zulassen. Öst
lich von Minsk jedoch und erst recht jenseits der Beresina bestand eine
andere Situation: Hier fanden sich genügend waffenfähige Männer für
die ersten »Vernichtungsbataillone« und ihre Aufgabe - Zerstörungvon
wichtigen Objekten beimRückzug, Aufspüren von Saboteuren, Feind
aufklärung. Sie und die von sowjetischen Flugzeugenhinter den Linien
abgesetzten »Diversionsgruppen«- Sprengstoffspezialisten, die erste
Angriffe aufNachrichten- und Nachschubverbindungen unternahmen -
fanden offensichtlich hinreichende Unterstützung bei loyalen Kadern.
Die Vernichtungsbataillone wurden zum Nukleus der erstenbodenstän
digen Partisanengruppen. Die Diversionstrupps, die auf dem Rückweg
zu ihren Einheiten mit den ebenfalls frontwärts ziehenden Resten der
Roten Armee in Kontakt kamen, trugen als wandernde bewaffnete
Gruppen maßgeblich zum Entstehen einer späteren Partisanenbewe-

107
gung bei. Von einer solchen war jedoch im ersten Halbjahr der Besat
zung keineRede. Sie befandsich- wieVerhöre von Gefangenen ergaben
- bestenfalls im Stadiumdes Aufbaus, war improvisiert und unkoordi-
niert. Vor allem aber war sie weitgehend isoliert. Die Bevölkerung, das
belegen die sehr genauenund durchaus kritischen Berichte der Einsatz
gruppen, verhielt sich in der Mehrheit abwartend-freundlich. Irritatio
nen in dieserHaltung gabes nur bei Stillstand der deutschen Frontope
rationen, nicht aber als Reaktion auf Partisanenaktionen. Der von der
Moskauer Zentrale improvisierte Widerstand hinter der Front war schon
im Herbst gescheitert.9 Überlebt hatten Zehntausende von ehemaligen
Rotarmisten, die sich in den Wäldern aufhielten oder unentdeckt in den
Dörfern untergetaucht waren. Aber das darf weder als Ergebnis gelun
gener sowjetischer Propaganda noch als Ausdruck von Patriotismus
interpretiert werden. Das Motiv, den deutschen Aufrufen zur Kapitula
tion nicht zu folgen, war unpolitischund entsprang- wie Wehrmachts
berichte nahelegen - demSelbsterhaltungstrieb. Auchdiemeisten Über
fälle gehorchten dieser Logik: »Die Masse der Partisanen ist davon
überzeugt, daß sie im Falle der Gefangennahme doch erschossen wer
den.« Oder: »Furcht vor Erschießung und Hunger in den Gefangenen
lagern ist der Grund, sich nicht zu melden.« Und: »Die vorhandenen
Partisanen werdensichunter Gewaltanwendung dasholen,wassiebrau
chen.« Es ging ums pure Überleben.10
Solche Einschätzungen, die denunpolitischen Charakter dieser Grup
pen treffend beschrieben, waren in der Minderzahl. Die Wehrmacht
wollte und brauchte offensichtlich dieExistenz eines politischen Wider
standes. Auch dieimmer wieder berichtete Tatsache, daßgroße Gruppen
Versprengter sich allmählich nach Osten, also in Richtung der noch
unbesetzten Heimat bewegten, wurde nicht als Beleg eines Rückzuges,
sondern als Beweis einer zentralen Leitung und eines landesweiten
Verbindungsnetzes ausgelegt.11 Dementsprechend wurden die Befehle
verschärft, spezielle Eingreifgruppen gebildet, Lehrgänge zur Partisa
nenbekämpfung durchgeführt und vom Oberkommando des Heeres
(OKH) erste verallgemeinernde Richtlinien für diese Form des Krieges
formuliert. Der Terror eskalierte.12
Versucht man, sich ein Bild über das Ausmaß der deutschen Maßnah
men im rückwärtigen Heeresgebiet zu machen, stößt man auf erhebliche
Schwierigkeiten. Tabellenmit den Zahlen von Erschossenen sucht man
vergebens. Man findet in den zum Teil lückenhaften Monatsberichten
des Befehlshabers nur die Zahlen der Gefangenen. Sie ergeben vonJuli
bis einschließlich November 1941 eineZahl von 45 700.13 Der Terminus

108
Gefangener täuscht. In Wirklichkeit verlangten die Befehle, jeden
Gefangenen nach kurzem Verhör zu erschießen. Wer über wichtigere
Informationen zu verfügen schien, wurde an die Kommandos des SD
oder der wehrmachtseigenen Geheimen Feldpolizei (GFP) übergeben.
Das Schicksal, das den Gefangenendort erwartete, war das gleiche.14
Geht man, wie die Berichte der im rückwärtigen Heeresgebiet operie
renden Sicherungs-Divisionen zeigen, davon aus, daß fast zwei Drittel
der Gefangenen erschossen wurden, so kann man die oben zitierte
Gefangenenliste alsTotenliste lesen. Dazu paßt die Angabe, die in einem
Bericht des Befehlshabers vom März 1942 gemachtwird: SeitBeginndes
Feldzuges seien 63 257 Partisanen getötetworden. Die geringe Zahl der
deutschen Verluste- 638Tote und 1355 Verwundete- demonstriert, daß
die meisten dieser »Partisanen« Zivilisten gewesen und nicht im Kampf
gefallen waren. Eine ähnlich hohe Bilanz - für nur zwei Monate - legte
der Vertreter des Wehrmachtsbefehlshabers Ostland im zivil verwalteten
westlichen Teil Westrußlands Mitte November 1941 vor: Von 10940
Gefangenen waren hier 10431 erschossen worden.15
Das populäre Bild vom Partisanenkampf im Osten wird immer noch
von Darstellungen geprägt, die - abgesehen von ihrem apologetischen
Grundtenor - mit der Realität der Jahre 1943/44 operieren, also einer
entfalteten und daher bedrohlichen Partisanenbewegung. Was 1941/42
geschah, wieZehntausende von Zivilisten gejagt, gefangen und erschos
sen wurden, das verdeckenund verschweigen solche Erfahrungsberich
te. Die folgende Meldung einer »Eingreifgruppe« der 252. ID vom Sep
tember 1941 lieferte dagegen ein realistisches Bild. Sie beschreibt die
bizarre Situation eines Partisanenkampfes ohne Partisanen.16
Nachdemdie aus drei Kompanien bestehende Truppe zunächst zwei
Tage weder Partisanen nochSpuren von Partisanen gefunden hat, stößt
sie endlich auf Informanten. Nach Bekundung des Ortskommandanten
von C. sollesin M. eine regekommunistische Tätigkeitgeben. Der Bür
germeister des Fleckens bestätigt das, mit der Einschränkung, »daß in
vielen Orten der Umgebung Leute aufgetaucht wären, deren Verhalten
der Partisanentätigkeit ähnelte«. Schließlich gibt es auch so etwas wie
einen konkreten Hinweis: In P.soll ein Kommunist 30 Kälber und Scha
fe gestohlen und geschlachtet haben und zudem mit Partisanen unter
einer Decke stecken. Man umstellt das Dorf, nimmt die Familie gefan
gen, um dann festzustellen, daß die Denunziation ein Racheakt der
Nachbarn war. Auch dieÜberprüfung einer Kommunistin imNachbar
dorf erweist sichals Fehlschlag. Dann aber- nach soviel Pannen- wird
es ernst. Der erwähnte Ortskommandant hat neue Informationen: In sei-

109
nem Ort gebees einenLehrer, der Partisanenoder Kommunisten in den
Wäldern Nahrung zukommen ließe, seine Tochter sei sogar mit dem
Kommissar dieser Gruppe verheiratet. In Verbindung mit dem Lehrer
stehe auch noch ein Kommunist. Wieder wird die Ortschaft umstellt, die
Genannten und zufällig mit anwesende weitere Familienangehörige
werden gefaßt und verhört: »Sie leugneten alles ab. Die Aussagen der
einzelnen widersprachen sichin allen Punkten. [...] Der Schwiegersohn
machte seinem Äußeren nach den Eindruck eines Kommissars. Sie wur
den sämtlichst erschossen.« Nach diesem Abschluß scheinen weitere
Erfolge greifbar zu sein, denn eine Feldstellung der Partisanen, die als
Unterkunft ausgebaut sein soll, wird gemeldet. Aber der Stützpunkt
erweist sich als unbenutzt, die Durchsuchung der umliegenden Dörfer
ergibtkeine Hinweise aufPartisanen, im Gegenteil - die Bewohner sind
Partisanengegner. Das Kommando, offensichtlich unter Handlungs
druck, gehtdaraufhin zu im Bericht nichtmehr begründeten Polizeiak
tionen über: Es verhaftet vier »Kommunisten«, erschießt einen »ehema
ligen Soldaten«, verhaftet »50 verdächtige Männer« und leert ein
russisches Militärlazarett, indem esdiejenigen, »die marschfähig waren«,
in Gefangenschaft abschiebt. Als neue Informationen aus der Gegend
von M. eintreffen und die Truppe noch überlegt, wie sie reagieren soll,
erscheint ein Offizier der Division, erklärt die Aufklärungsergebnisse
für »ausreichend und abgeschlossen« und verfügt eine »Gesamtaktion«.
Nachdem der Truppführer - erfolglos - versucht hat, einen im Nach
bardorf gemeldeten Juden und einen Partisanenführer ausfindig zu
machen, steigt die Aktion - mit Erfolg: »110 Partisanen« werden in
Dorfscheunen zum Teil im Schlaf überrascht und erschossen. Unter
ihnen hat man - noch rechtzeitig vor ihrem Tod - einen Leutnant und
einenIntendanten ausgemacht. An Waffen findet man ein MG und einen
Granatwerfer. Wo die Gruppe herkam oder wo sie stationiert ist, wird
nicht festgestellt. Beim anschließenden Durchkämmen derumliegenden
Wälder jedenfalls werden irgendwelche Spuren von Partisanen (»Waf
fen, Ausrüstungsstücke oder Feuerstellen«) nicht gefunden. Aneigenen
Verlusten hat man zwei verwundete Feldgendarmen zu beklagen.17
Die Expedition der Eingreifgruppe Anderssen ist so detailliert
geschildert worden, weil sich daran drei charakteristische Elemente des
»Partisanenkampfs« im ersten Halbjahr der Besatzung ablesen lassen:
1. die Tätigkeit der Sicherungs-Divisionen glich eher der der Polizei
denn einer kämpfenden Truppe. Die den Aktionen zugrundeliegenden
Meldungen waren ungenau und beliebig, die einzige verläßliche Orien
tierung imGelände botendiemitgebrachten Feindbilder. Allerdings war
110
esim Einzelfall noch möglich, Fehlentscheidungen zu korrigieren. 2.Mit
zunehmender Fehlerquote der Einsätze und wachsender Frustration
stieg offensichtlich die Bereitschaft zur Exekution. Dabei wurde zu
Beginn noch auf ein quasi rechtsförmiges Verfahren - Verhör und
Kreuzverhör - geachtet. Der Gewaltschub, einmal in Gang gesetzt,
konnte sich für solche Förmlichkeiten keine Zeit mehr nehmen. Er kam
erst im Massenmord zur Ruhe. 3. Nach der Aktion scheint das Wieder
erinnern eines militärischen Moralkodex oder die Rückkehr eines
menschlichen Normalverhaltens stattgefunden zu haben. Nicht anders
ist der Versuch zu interpretieren, dem Massenmord an Wehrlosen
nachträglich dadurch den Charakter eines Kampfes zu verleihen, daß
manin der Gruppe zweiOffiziere und amTatortschwere Waffen gefun
den haben will.
Diese Art von Retusche taucht in allen Kriegstagebüchern, Lagebe
richten, Tagesmeldungen dieser Zeit auf. Andere Aktionen wie das
Abbrennen von Dörfern werden unter der Wendung »Zerstören von
Partisanennestern, Partisanenlagern, Partisanenbunkern« versteckt.
Vom Mord an Frauen und Kindern schließlich erfährt man nur durch die
Befehle von Kommandeuren, die ihre Truppe auffordern, »sich an ihre
Aufgabe zu halten«.18
Dieser Tatbestand der Manipulation und Fälschung der offiziellen
Wehrmachtsdokumente gibt den berechtigten Zweifeln kritischer
Historiker an der ausschließlichen Benutzung der offiziellen Militärak
ten für die Rekonstruktion des Vernichtungskrieges neue Nahrung.19
Aber darauf kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Uns interes
siert vielmehr die Frage, warum diese Manipulationen gerade in der
ersten Phasedes Ostkriegesso zahlreichauftreten. Damit verbundenist
das Phänomeneinerins Maßlose gesteigerten Gewalt gegen die Zivilbe
völkerung. Da im ersten Halbjahr der Besatzung - entgegen den
Behauptungen revisionistischer, aberauchkritischer Geschichtswerke -
keinorganisierter Partisanenwiderstand existierte, muß esfür die »neue
Dimension« der deutschen Maßnahmen im Herbst 1941 andere Ursa
chen geben.20

Die Kraft derBefehle

Der Radius der Gewaltmaßnahmen war vor Beginndes Feldzugesfest


gelegt und nach Eröffnung der Feindseligkeiten ständig erweitert wor
den. Im Grundsatzbefehlüber die »Ausübungder Kriegsgerichtsbarkeit

in
im Gebiet >Barbarossa< vom 13. Mai 1941 wurde die Zivilbevölkerung
aus der Zuständigkeit der Kriegsgerichte herausgenommen und dem
direkten Zugriff der Truppe unterstellt. Falls sie als »Freischärler«
gewaltsam gegen deutsche Soldaten oder Einrichtungen aufträten oder
als »feindliche Zivilpersonen« andere Angriffe ausführten, seien sie zu
erledigen. GegenOrtschaften,ausdenenherausAngriffe erfolgten, wür
den »kollektive Gewaltmaßnahmen« verfügt. Wehrmachtsangehörige,
die sich dabei militärischer Verbrechen schuldig machten, hätten nicht
automatisch mit Strafverfolgung zu rechnen. Begründet wurde dieser
Bruch aller internationalen Konventionen zweifach: militärisch mit »der
Ausdehnung der Operationsräume im Osten« und psychologisch mit
der »Besonderheit des Gegners«. Der Soldat der Roten Armee zeichne
sich, wie in den für die Truppe bestimmten »Richtlinien« erläutert
wurde, durch »heimtückische Kampfesweise« aus und sei »undurch
sichtig, unberechenbar, hinterhältig und gefühllos«, die Zivilbevölke
rung aber, so wurde unterstellt, habe als »feindlich« zu gelten. Im übri
gen wurde an die historische Erfahrung mit dem Bolschewismus, an
seine Verantwortung für Zusammenbruch, Revolution, Bürgerkrieg im
Deutschland der Jahre 1918 ff. erinnert.21
In einer Kette von Besprechungen wurden die Ic-Offiziere der Ost
truppen im Mai und Juni mit diesem Erlaß bekannt gemacht, wobei die
wirkliche Intention unter den im einzelnen noch vagen Bestimmungen
verdeutlichtwurde:so habealsFreischärler auchzu gelten, wer »als Zivi
list die deutsche Wehrmacht behindert oder zur Behinderung auffor
dert«. Diese Erweiterung der Feindgruppen wurdenoch dadurchgestei
gert, daß der pure Verdacht eines solchen Delikts schon die Exekution
nach sich ziehen konnte. Auch hier wurden historische Reminiszenzen
- die Erinnerung an russische Kriegsgreuel 1914 - wachgerufen, und
auch jetzt wurde eine globale militärische Begründung mitgeliefert:
»Rechtsempfinden [habe] u. U. hinterKriegsnotwendigkeit zu treten«.22
Trotz dieser Instruktionen scheinen Teile der Truppe die intendierte
Absicht nicht ganz erfaßt zu haben. Jedenfallssah sich die Wehrmachts
führung genötigt, die Terrorschraube um einige Windungen weiterzu
drehen. Keitel forderte am 23. Juli 1941 in einer Weisung aus dem
Führerhauptquartier, daß die Besatzungsmacht »denjenigen Schrecken
verbreitet, der allein geeignet ist, der Bevölkerung jede Lust zur Wider-
gesetzlichkeit zu nehmen«. Und das OKH setztezweiTage späternach.
Mit der Begründung, »daß nicht an allen Stellen mit der erforderlichen
Härte durchgegriffen wird«, erweiterte es den Katalog der Maßnahmen.
Bei passivem Widerstand oder wenn man der Täter nicht sofort habhaft

112
werden konnte, wurden kollektive Strafmaßnahmen angeordnet. »Ver
dächtige Elemente«, so der OKH-Befehl, »denen zwar eine schwere
Straftat nicht nachgewiesen werden kann, die aber hinsichtlich Gesin
nung und Haltung verdächtigerscheinen [!],sind an die Einsatzgruppen
bzw. Kommandos der SP (SD) abzugeben«. Das bedeutete, wie die
Wehrmachtsführungwußte, den sicheren Tod.23
Das Finale dieser Kampagne bildete ein erneuter Befehl Keitels vom
16. September, in dem er vor dem Hintergrund der von Moskau aus
gelösten »Aufstandsbewegungen« die bisherigen Maßnahmen der Wehr
macht »als unzureichend« abqualifizierte und den ausdrücklichen
Wunsch Hitlers übermittelte, »mit den schärfsten Mitteln [...] die Bewe
gung in kürzester Zeit niederzuschlagen«. »Dabei ist zu bedenken«,
fügte er bieder hinzu, »daß ein Menschenleben in den betroffenen Län
dern vielfach nicht zählt und eine abschreckende Wirkung nur durch
ungewöhnliche Härte erreicht werden kann.«24
Diese Befehle reagieren nicht auf eine objektiv gegebene militärische
Lage. Die grundlegende Weisung, der »Gerichtsbarkeitserlaß«, wurde
vor Beginn der Kampfhandlungen, als über das Verhalten des Gegners
bestenfalls spekuliert werden konnte, formuliert. Und die verschärften
Anordnungen vom Sommer und Frühherbst 1941 waren, wie ge
zeigt, nicht durch eine dramatische Veränderung der Situation erzwun
gen. Selbst wenn ein verblüffender zeitlicher Zusammenhang der
wichtigsten Weisungen mit den Entwicklungen im besetzten Serbien
auffällt, so darf das nicht zu falschen Schlußfolgerungen führen.25 Der
»serbische Aufstand«vomJuli und die Eskalationim Septemberdienten
bestenfalls als willkommener Anlaß für eine wohldurchdachte Kam
pagne. Deren Stoßrichtung erschließt sich, wenn man mit der Tatsache
umgeht, daß in den erwähnten militärischen Anweisungen erstaunlich
wenig militärisch angeordnet wird. Es wird argumentiert. Adressat ist
der einzelne Soldat, das ständig variierte Thema: seine Motivation.
Rekapitulieren wir: 1.Von Mal zu Mal wird der Katalog der zu ahnden
den Delikte und die Gruppe potentieller Täter größer. 2. Für die an
gesprochenen und verantwortlichen Besatzungsorgane hat das eine
enorme Ausweitung ihrer Exekutive zur Folge. 3. Diese Exekutive
bedeutet Massenmord an der Zivilbevölkerung, also, worauf immer
wieder hingewiesenwird, einen Bruch der in der übrigen Welt gültigen
Konventionen. 4. Der Bruch läßt sich rechtfertigen, historisch durch die
Erfahrungen mit Russen und Bolschewisten 1914 und 1918, ethnisch
durch den heimtückischenCharakter des Gegners,moralischdurch den
geringeren Wert des Menschenlebens im östlichen Kulturkreis. 5. Die

113
Befolgung der Befehle ist von Adolf Hitler angeordnet und gewollt, es
sind Führerbefehle.
Ian Kershaw hat zur Charakterisierung des NS-Systems den Weber-
schen Begriffder »charismatischen Herrschaft« vorgeschlagen, und Jan
Philipp Reemtsma hat die Brauchbarkeitdieses Vorschlags an der Funk
tion und am Charakter des Befehls nachgewiesen. Hitlers Befehle sind
als Handlungsanweisungen betrachtet eher offen und vage, als Zielbe
stimmungen hingegen unbedingt und präzise. Die Bestimmtheit ist es,
die beim Gefolgsmann Rücksichtnahmen auf andere Abhängigheiten
zerstört und den Führer als einzige Autorität etabliert, und das Unbe
stimmte des Befehls, das gedeutet werden will, weist auf die Abhängig
keit des Führers von der Deutungsfähigkeit des Gefolgsmannes hin. Die
Grammatik von Befehl und Gehorsam wird im Nationalsozialismus
folglich erweitert: Dem Imperativ »Du sollst« tritt ein Potentialis »Du
darfst« zur Seite, die Last des Müssens wird durch die Lust des Dürfens
kompensiert.Nur in diesemKonsens,der nicht einmalgegeben, sondern
immer wieder hergestelltwerden will, nur in dem Wissenum die wech
selseitige Abhängigkeit, dieim Idealfall zur Symbiose wird, bestätigtund
erneuert sichdieser Typ von Herrschaft.26
Wenn dieseGewichtung des Befehls im NS-Systemrichtig ist und die
Mechanismenseiner Wirkung zutreffend beschrieben sind, dann könn
te die Frage nach der Eskalation des »Partisanenkampfes ohne Partisa
nen« vielleicht beantwortet werden. Die Befehle, die wie eine Lawine im
Sommer und Herbst 1941 über die Truppe niedergingen, hätten dann
den Zweck verfolgt, genaudas Klimavon Unerbittlichkeit und Vieldeu
tigkeit zu schaffen, in dem charismatisches Führertum sich reproduzie
ren konnte. Sie zielten darauf ab, die bisher gültigen moralischen Kon
ventionen zu zerstören und Hitler als einzige und neue moralische
Instanz zu etablieren. Deshalb erweitertensie ständigdas Ensemble der
realen Feindgruppen und steigerten den Radius möglicher Strafgewalt,
das war der Grund, warum sie statt militärische Argumente einzusetzen
auf der Klaviatur historischer Ressentiments und rassistischer Vorurtei
le spielten. Jeder Befehl setzt Handeln in Gang, ermöglicht Erfahrung.
Die Befehle, von denen die Rede ist, potenzierten in ihrer Mischungaus
eindeutigem Zerstörungswillen und Vieldeutigkeit der Anlässe, Metho
den und Opfer dieseErfahrung. »Ichsoll die Partisanenvernichten,dazu
darf ich das Dorf abbrennen, darf ich auch Frauen und Kinder in die
Flammen treiben?« - der Kampf gegen die »Partisanen« wurde zum
Feld, in dem solche Fragen praktisch beantwortet wurden. Und die
Manipulationen und Versteckspiele in den Kriegstagebüchernverraten,

114
daß die Antworten nicht auf einmal und sofort parat waren. Die »ver
brecherischen Befehle« waren also keine Propaganda, keine militäri
schen Anweisungen mit »ideologischem Hintergrund«, wie es eine kri
tische Militärgeschichtsschreibungwissen will, und der Terror, den sie in
Gang setzten, zielte nicht nur und in erster Linie auf die Abschreckung
der Unterworfenen, wie ihr apologetischer Flügel behauptet.27 Was die
Befehle ermöglichten und die Aktionen produzierten, war eine gestei
gerte Form der Kampfmoral in den eigenen Reihen, war die Vernich
tungsmoral, die Hitler für seinen Krieg benötigte. Als Stalin am 3. Juli
sein Volk zum Kampf hinter den deutschen Linien aufrief, löste das im
Führerhauptquartier Begeisterung aus. Die Freude über die Möglich
keit, jetzt »auszurotten, wassich gegenuns stellt«,war geheuchelt, da das
vonvornherein intendiertwar.28 Echtwar dieGenugtuung darüber, jetzt
ein Bündel von Argumenten in Händen zu haben: den Beweis für die
Heimtücke des Gegners, die Begründung für die Notwendigkeit des
eigenenTerrors, die Bestätigung dafür,daß hier zwei Weltanschauungen
einen Kampf auf Leben und Tod ausfochten. Als Tiefenpsychologe, der
Hitler nun einmal war, wußte er, daß der Kampf um die Seele der Trup
pe sich in den ersten Wochen entscheiden würde. Ohne einen Sieg auf
diesem Schlachtfeld war der Feldzugnicht zu gewinnen. Der Massentod
hinter der Front im Sommer wie die Befehle der Reichenau und Man-
stein vom Herbst 1941 zeigten, daß Hitler diese Schlacht gewonnen
hatte.

DemonstrationsobjektJude

Gab es offensichtlich in der ersten Phase des Ostkrieges noch Hem


mungen, »waffenlose« kapitulierende Rotarmisten einfach abzuknallen
oder bei Massenexekutionen umstandslos auch Frauen und Kinder mit
zu ermorden, so beständen solche moralischen Blockaden bei einer
anderen Feindgruppe nicht - daß die Juden ausgerottetwürden, wußte
und billigte die Wehrmacht vom ersten Tag an.29 Juden waren, darin
bestand Konsens, Hetzer, Saboteure und die natürlichen Mittelsmänner
der Partisanen.Jeder Lagebericht, ausnahmslos, jeder Einheit im besetz
ten WeißrußlandspiegeltdieseHaltung. 22.Juli 1941: »[In] großen Mas
sen, die in die mehrere Tausend gehen, sind der Aufwiegelung verdäch
tige Juden erschossen worden. Das Judentum ist infolgedessen
eingeschüchtert und willig bei der Arbeit.« 18. August: »Von größter

115
Wichtigkeit ist es schließlich, den Einfluß der Juden [...] zu beseitigen
und diese Elemente mit den radikalsten Mitteln auszuschalten, da gera
de sie es sind [...], die die Verbindung zur roten Armee und dem
bekämpften Bandentum aufrechterhalten.« 3. September: »Verbindun
gen der Partisanenabteilungen untereinander werden vor allem durch
Juden aufrecht erhalten.« 10. September: »Die jüdische Schicht, die in
den Städten den größten Teil der Bevölkerung stellt, ist die treibende
Kraft der sich mancherorts anbahnenden Widerstandsbewegung.« 19.
Oktober: »Die Juden als die geistigen Führer und Träger des Bolsche
wismus und der kommunistischen Idee sind unsere Todfeinde. Sie sind
zu vernichten. Immer und überall, wo Meldungen über Sabotageakte,
Aufhetzung der Bevölkerung, Widerstand usw. zu Aktionen zwangen,
wurdenJuden alsdieUrheber und Hintermännerfestgestellt, zum größ
ten Teil auch als die Täter selbst.«30
DieserEinstellung entsprach diePraxis vomerstenTag desKrieges an.
Schonunmittelbar hinter der Grenze des Generalgouvernements, in den
weitläufigen Bielowiczer Forsten,erfolgte eineerstegroßeAktion gegen
Juden. Mit der Begründung, daß die Juden die in den Wäldern und
Sümpfen noch versteckten russischen Soldaten unterstützten, verfügte
der Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebiets die Evakuierung aller
männlichen Juden aus den Dörfern und ihre Überführung in Zwangs
arbeiterlager. Wie die Zahl der Evakuierten - 7800 Menschen - verrät,
wurden offensichtlich auch eine große Menge NichtJuden vertrie
ben. Der makabre Hintergrund dieser Maßnahme war der Wunsch
Görings, über dies Gebiet, einenwildreichen Urwald, alsJagdrevier zu
verfügen.31
Nicht nur Evakuierung, sondern Massenmord war das Schicksal der
in den Pripjetsümpfen lebendenJuden. Weil die Stoßkeileder deutschen
Armeen südlich und nördlich an diesem unwegsamen Gebiet vorbei
marschiert waren, sollte diese Zone nachträglich bereinigt werden. Den
Auftrag dazu erhielt die SS-Kavallerie-Brigade, die für diesen Zweck
dem Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes unterstellt wurde.
Ab 27.Juli machte sieJagd auf versprengte Rotarmisten, Partisanen und
»Plünderer«. Mit diesem Begriff wurden per Sonderbefehl Himmlers
Juden definiert: »Juden sind zum großen Teil als Plünderer zu behan
deln. Ausnahmen bilden nur ausgesprochene Facharbeiter, wie Bäcker
usw., und vor allem Ärzte.« Die brauchte man noch. Frauen und Kinder
sollten dagegen in die Sümpfe gejagt werden. Am 18. September wurde
dem Befehlshabermitgeteilt: »erschossene Plünderer 14178, erschosse
ne Partisanen 1001, erschossene Rotarmisten 699, Gefangene 830«.32

116
Über das Wirken des Generalmajors von Bechtolsheim, des höchsten
Wehrmachtsdienstgrads im »Generalkommissariat Weißruthenien«, der
nicht nur die »Judenjagd« auf dem flachenLand, sondern auch die ersten
großen Ghetto-Massaker durchführte, ist an anderer Stelle berichtet
worden.33
Das Verhaltender Truppe gegenüberden Juden läßt sich nicht nur an
den Großaktionen ablesen. Wichtiger war der tägliche Umgangmit der
»Judenfrage«. So wie die Ortskommandanturenregelmäßig über diesen
Punkt zu berichten hatten, so waren auch die Sicherungs-Divisionen
verpflichtet, über gefangene oder erschossene Juden gesondert zu
berichten.34 Diese selektive Wahrnehmung und Behandlung prägten
wahrscheinlich deutlicher als jedes Massaker das Wahnbild vom Juden
ein und machten es, durch die tägliche Wiederholung, unauslöschlich.
403. ID, 14. Juli 1941: »In der Zeit vom 9.-14.7. wurden durch Auffang
kommandos festgenommen a) 16 Russen, b) 66 Juden, c) 18 sonst ver
dächtige Personen.« 252. ID, 25. Juli: »Am 24.7. wurden 7 Juden und 1
Judenweib, welcheBekanntmachungenabrissenund sich gemeingefähr
lich verhielten, in Hrozow erschossen.« 26. Juli: »In Nowogrodok ver
weigerten die Juden die Arbeitsaufnahme. Dem Judenrat wurde
nochmals befohlen, trotz des Sabbats die befohlenen Arbeitskräfte zu
stellen, andernfalls 50Juden erschossenwürden. Da nach der gesetzten
Frist das Arbeitskommando nicht erschien, wurden 50 Juden erschos
sen. Nach vollzogener Exekution nahmen die Juden die Arbeit auf.«
16. August: »Von 48 Gefangenen waren 19 Großrussen, 2 Weißrussen,
13 Ukrainer, 13 Asiaten und 1 Jude.« 17. August: »Erschossen: 146
Juden, 1 Zivilist, 1 pol. Kommissar.« 18.August: »InsgesamtGefangene
179, durch SD erschossen: 107Juden und 3Freischärler.« 221. ID, 1.Sep
tember: »Für den Überfall des Verpflegungswagens führte Wachbatail
lon 701 in den Ortschaften Suscha, Usakino, Raswada eine Sühneaktion
durch. 25 Juden und 9 russische Soldaten, die in der Nähe des Tatorts
aufgegriffen wurden, wurden erschossen.« 12. September: »1 Kommu
nist und 22Juden wegen Partisanenunterstützung wurden erschossen.«
286. ID, 15.September: »Bei einemTeilunternehmen[...] werden 5jüdi
sche Verbindungsleute zu Partisanengruppen und 3 Partisanen gefan
gengenommen.« Lagebericht für 1.-7. Oktober: »In Esmon wurden 22
Juden erschossen, denen Verbindung mit Partisanen nachgewiesen
wurde. [...] Eine Ortsstreife in Golowtschin wurde am 4.10.41 21.00
Uhr vermutlich von einem Juden angeschossen. Ein Mann wurde am
Arm verwundet. Als Vergeltungsmaßnahmewurden daraufhin 19Juden
erschossen.«35

"7
Man sieht, wie souverän die Truppe mit der Formel vom Juden-Parti
san umgeht. Man wird Zeuge von gezielten Provokationen - die
Arbeitspflicht für Juden trotz Sabbat - und der dann - strikt nach
Anweisung - erfolgenden Erschießung. Man erfährt,wie gut der Mecha
nismus, bei unaufgeklärten Angriffen die Juden verantwortlich zu
machen und sich ihrer als Geiseln zu bedienen, funktioniert. Was Gene
ral Max von Schenckendorff, der Befehlshaber des rückwärtigen Hee
resgebietes, für den Partisanenkampf ganz generell formulierte, daß er
ein »reiches Feld soldatischer Tätigkeit« für findige Truppenkomman
deure sei, das galt im speziellen für den jüdischenSektor dieses Front
abschnitts. An den Juden ließ sich - wie an den laufenden Scheiben des
Exerzierplatzes - demonstrieren und üben, wie man Feinde erledigt.
Hier ließen sich alle Steigerungsformen des Terrors durchdeklinieren
und die Hemmschwelleneiner konventionellenMoral sozusagenin effi-
gie überwinden - der Schlag mit dem Kolben, der Schußin den Rücken,
der Genickschuß, Frauenmord, Kindermord, die brennenden Dörfer
und die Massaker an den Gruben. Die Juden als Demonstrationsobjekt
undÜbungsmasse. Als beieinem Partisanen-Lehrgang des rückwärtigen
Heeresgebietes die angesetzte Übung imFeld daran zu scheitern drohte,
daß keine Partisanen angetroffen wurden, wußte man sich zu helfen:
»Dagegen ergab die Überprüfung der Bevölkerung das Vorhanden
sein von 13 Juden, 27 Judenfrauen und 11 Judenkindern. Von diesen
wurden 13Juden und 19Jüdinnen in Zusammenarbeit mit dem SD exe
kutiert.«36

1942

Am 1. März 1942 präsentierte der Befehlshaber des rückwärtigen Hee


resgebietes Mitte der Heeresgruppe und dem OKW »Vorschläge zur
Vernichtung der Partisanen«. Das zwölfseitige Papier war eine herbe
Kritik der bisherigen Ostpolitik im allgemeinen und ganz speziell der
Maßnahmen zur militärischen Sicherungder rückwärtigen Frontgebie
te. Ausgehend von dem Gedanken, daß »die Freundwilligkeit« der rus
sischenBevölkerungden bestenSchutz gegendie Partisanengefahr biete,
stellte der Befehlshaber fest, daß man bisher weder den politischen
Wünschen der Besiegten nach einem freien Rußland noch den sozialen
Bedürfnissen nach privatem Boden entsprochen habe. »Bisher ist von
unserer Seitewenig dazu getanworden, die Sympathieder Bevölkerung
zu gewinnen.« Angesichts der schwierigen Lage an der Front und der

118
gewachsenen Stärke derPartisanen sei jetztdieletzte Gelegenheit, Zuge
ständnisse »aus freien Stücken« zu machen. Ohne eine solche Wende zu
einer positiven Bevölkerungspolitik und ohne Zuführung neuer Siche
rungstruppen, so schloß der General, »ist eine aktive Bekämpfung der
Partisanen unmöglich«.37
Das Papier beschrieb ziemlich genau den Stimmungsumschwung in
derBevölkerung undeine veränderte »Partisanenlage«. Nacheinem Jahr
gnadenlosen Terrors gab es über die Ziele der deutschen Besatzer keine
Zweifel mehr. Anders als im Sommer und Herbst 1941 bedeutete Wider
stand jetzteine größere Chance zu überleben. Das warauch ein Ergeb
nis der veränderten Frontlage, d.h. der erfolgreichen Winteroffensive
der Roten Armee. Zum einen war der Nimbus der Unbesiegbarkeit der
Deutschen zerstoben, die Rückkehr der Sowjetmacht schien wieder
möglich; zum andern vergrößerte der erzwungene Abzug von Siche
rungstruppen andie bedrohte Frontden Spielraum derübriggebliebenen
Widerstandskerne. Eine Frontlücke im Nordosten Weißrußlands, die
die Deutschen vergebens zu schließen versuchten, schuf eine Land
brücke zum unbesetzten Teil der Sowjetunion. Das ZK in Moskau
reagierte aufdiese Situation sofort; eine eigens gebildete Operativgruppe
vervielfachte die Landung von Kadern hinter der Front und schuf
aus den isolierten Gruppen ein funktionierendes Netz. Das war vor
allem wichtig für eine bisher marginale Gruppierung - die von der
zurückgehenden Roten Armee im Herbst aufgestellten Abteilungen
der Frontpartisanen. Diese militärisch gegliederten Trupps bekamen
wieder Kontakt zu ihren Stäben und konnten auf dem Landweg
personell und technisch verstärkt werden. Auch die von der Partei bei
Kriegsbeginn improvisierten Untergrundorganisationen hatten sich
stabilisiert und begannen bestehende Widerstandsgruppen zu unter
stützen oder neue aufzubauen. Insgesamt wuchs die Zahl der Partisa
nen von 30000 im Winter 1941 auf 150000 im Sommer 1942. Zu
gleich intensivierte sich die sowjetische Propaganda. In Weißruß
land hatten ab Januar zwei Radiosender ihren Sendebetrieb aufgenom
men.38

Die Lust am Krieg

Die vom Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes beschworene


Wende, die mit ähnlichen Argumenten und in regelmäßigen Abständen
auch von andern Wehrmachtsführern in den rückwärtigen Gebieten

119
gefordert wurde, kam nicht zutande.39 Sie scheiterte schon an der Hal
tung der Truppe,wie die erste große Anti-Partisanen-Aktion im Bereich
des rückwärtigen Heeresgebietes Mitte zeigte. Knapp einen Monatnach
Schenckendorffs Brandbrief startete der ehemalige Kommandierende
General im zivil verwalteten Teil Weißrußlands, Generalmajor von
Bechtolsheim, mit etwa18 ooo Manndas Unternehmen »Bamberg«. Die
vorbereitenden Befehle zeigten, wer der Gegnerwar:etwa 1800 schwer
bewaffnete Partisanen, die sich in befestigten Stützpunkten verschanzt
haben sollen, Frauen und Kinder, dieals Kundschafter fungieren, Juden,
diesich aus derUmgebung dorthin geflüchtet haben, diegesamte Bevöl
kerung, da sie als deutschfeindlich galt. Unter ausdrücklicher Erwäh
nung derpositiven Erfahrungen des vergangenen Herbstes - gemeint ist
die aktive Rolle der Division beim Judenmord - wurde »rücksichtslose
stes Durchgreifen gegen Männer, Frauen und Kinder« verlangt. Das
Ergebnis des einwöchigen Einsatzes war entsprechend - 3423 »Partisa
nen und Helfer« wurden erschossen. Da mit Ausnahme von zwei Feu
ergefechten keinWiderstanderfolgte, kann man sichausrechnen, wer die
Opferwaren - die Zivilbevölkerung. Der Bericht einer beteiligten Ein
heit, die erwähnt, daß 2000 Personen außerhalb von Kampfhandlungen
»bei Befriedungsaktion« erschossen wurden, belegt das ebenso wie die
nachträglicheKritik des Befehlshabers von Schenckendorff: »Unter den
von der Division als Partisanenhelfer Gemeldeten befinden sich anschei
nend viele, die zu den Partisanen nur sehr lose Verbindung unterhalten
haben.«40
Trotz dieser Kritik machtedieseAktion, wie wir sehen werden, Schu
le. Die Gründe dürften in folgendem zu sehen sein: 1. Ein solches
Großunternehmen, mit seinen vorbereitenden Befehlen, der dramatisch
ausgemalten Feindlage, den letztenMeldungen von Greueltaten, erlaub
te, jede Feindgruppe einzeln auftreten zu lassen, um sie dann alle in
einem einzigen feindlichen Block zu versammeln. 2. Die Vielzahl der
Gegnergruppen, von denen jede einzelne als gleich gefährlich galt,
erlaubte es, jederzeit aneiner, nach Möglichkeit der schwächsten Grup
pe, Angst,Wut und Frustration abzureagieren. 3.Das funktionierte, weil
eine grundlegendeBedingunggegeben war: der militärische Aufmarsch,
die Einteilung der Kampfabschnitte, die Taktik der Kesselschlacht -
Einschließung, dann das Ausräumen - all das produzierte die Fiktion
eines Krieges, der ein Maximum an Möglichkeiten bot, zu töten und die
Wahrscheinlichkeit, getötet zu werden, auf ein Minimum reduzierte. Bei
3423 erlegtenFeindenhatte die 707. ID nur 7 Tote und 8 Verwundete zu
beklagen.

120
»Bamberg« war sicherein krasses Beispiel, aberdoch ein Beispiel, wie
die folgenden Monate belegen. Im Juli und August 1942 wurden im
rückwärtigen Heeresgebiet dreißig Unternehmen gegen Partisanen
durchgeführt. Eigene Verluste gab es kaum. Vor allem bei zwei ver
gleichbaren Aktionen fällt das Mißverhältnis auf: »Adler« - 1809
erschossene Gegner bei 25 Toten und 64 Verwundeten auf deutscher
Seite; »Greif« - 1395 tote Gegner, Eigenverluste 26 Tote und 26 Ver
wundete.41 Die These vom Außerkraftsetzen des Mechanismus
Töten-Getötetwerden im »Partisanenkampf« wird nicht nur durch das
Mißverhältnis der Zahlen belegt, auch der Ort und der Zeitpunkt des
Tötens sind beweiskräftig. Nach Augenzeugenberichten wurden von
den 2000 Opfern des Unternehmens »Bamberg« 608 im Kolchosgebäu
de und in der Schule von Karpilowka verbrannt, 240 Menschen kamen
in den Flammen der Spiritusbrennerei von Rudobelka um, 845 wurden
in den Dörfern Kowali und Lawstyki verbrannt.42 Das Massentöten
ereignetsich also,wenn der Krieg- dieJagd auf die Partisanen- zu Ende
ist, und es findet dort statt, wo keine Partisanen sind - in den Dörfern.
Die Dörfer sind das, was im Netz der Einkreisungskommandos hän
genbleibt, auch wenn die Partisanen durch die Maschen geschlüpft sind.
Aber gerade über das Schicksal der Dörfer erfährt man in den Wehr
machtsberichten nichts. Eine Ausnahme machen die Meldungen einer
Truppe, die sonst nur das Schlachtfeld von oben kannte - die Fliegervom
Luftwaffenkommando Ost. Im zweiten Halbjahr 1942 wurden sie mit
Truppen der Heeresgruppe Mitte und des rückwärtigen Heeresgebietes
im Erdkampf gegen Partisanen eingesetzt. In ihrem Abschlußbericht
meldeten sie: »76 Bandendörfer wurden ausgehoben und niederge
brannt.«43
Dörfer können leer sein, geräumt von den Bewohnern, die wissen,was
ihnen droht. Manchmal, wenn sie noch etwas vom Leben erwarten,
»haben sie das bißchen Mobiliar in den Garten gestellt, damit sie beim
Abbrennen der Häuser nicht alles verlieren«.44 Manchmal mißlingt die
Flucht* oder sie bleibenaus gutem Glauben. Es kann sein,daß sie einzeln
niedergemacht werden: »Dann kam der Befehl, die Einwohner des Dor
fes zu erschießen. [...] Die Deutschen und die Leute von Bartschke gin
gen einzeln oder in kleinen Gruppen durchs Dorf, worauf an verschie
denen Stellenvon Studenka Schießen einsetzte. Ich ging auch die Straße
entlang und traf eine Frau, die in den Armen ein Kind im Vorschulalter
trug. Ich folgte ihr und schoß im Garten auf sie mit der Nagant-Pistole,
die ich hatte. [...] Ich schoß nur einmal und sie fiel hin. Dann schoß ich
auf das Kind. Das tat ich, weil Bartschke und die deutschen Komman-

121
deure befohlen hatten, alle Einwohner des Dorfes Studenka zu
erschießen. Ich glaube es waren fünfhundert Personen.«45 Es konnte
aber auch sein,daß sie zusammengetriebenwurden, um sie am Dorfrand
zu erschießenoder im größten Gebäude des Dorfes zu verbrennen. Aus
dem Bericht des Leutnants und Dolmetschers bei der Ortskommandan
tur Bobruisk, Rudolf Burchard, über eine Maßnahme im Juli 1942:
»Sämtliche Bürger mußten antreten, sie wurden mit Ausnahme des Sta
rosten und der Polizistenfamilien zum Dorfrand geführt und in die
Mühle getrieben, dann wurde die Mühle angezündet. Die zu fliehen ver
suchten, erschossen wir an Ort und Stelle.« Die Aktion war eher ein
Sonntagsausflug, und es ging nicht nur um Partisanen. Leutnant
Burchard nahm teil, weil er seine Lebensmittelration aufbessern wollte.
Sein Bericht schloß daher: »Hinterher fuhren Müller und ich zurück
nach Bobruisk. Wir nahmen eine gehörige Menge an Lebensmitteln mit.
Ich bekam davon etwa zwei Kilo Speck und ein Stück Schweine
fleisch.«46
Der Raub, das Plündern, das Organisieren - in den Berichten der
Zivilverwaltung im Generalkommissariat und des Befehlshabers des
rückwärtigen Heeresgebietes ist es ständiges Thema: »Die Truppe ver
tritt den Standpunkt: Rußland gleich Kommunismus gleich alles Staats
eigentum, also Beute, also Freiwild.«47 Das Thema Vergewaltigung - es
taucht nur auf, wenn ganze Einheiten darin verwickelt sind.48 Man kann
daraus auf seineindividuelleVerbreitung schließen.Dann das Gefühl der
absoluten Macht: zu entscheiden, wer ins Feuer geschickt wird oder wer
weiterleben darf. Der Nervenkitzel, wenn Frauen oder Gefangene über
die von Partisanen verminten Wege geschickt werden, um die Spreng
körper zur Detonation zu bringen.49 Vandalismus. Pyromanie. Der
Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes rief seine Leute im Som
mer 1942 mehrmals zur Ordnung: »Angehen gegen die Lust der Solda
ten, etwas brennen zu sehen.« Oder: »Kein selbständiges Requirieren,
kein Plündern, kein Abbrennen von Dörfern und Erschießen von Frau
en und Kindern.«50 Der Partisanenkrieg hatte in sich viele Kriege, des
halb mochte die Truppe, nachdem man sie einmal freigelassen hatte,
nicht wieder an die Leine räsonierender Befehlshaber. Die bereits
erwähnten Luftwaffensoldaten, einmal mit dieser Art Landkrieg in
Berührung gekommen, hatten das rasch begriffen: »Bei Beteiligung an
größeren Unternehmungen der 221. SD kam keine Feindberührung
zustande. Die Durchführung dieser Unternehmungen war jedoch nutz
bringend für die Ausbildung der Truppe und trug zur Befriedung und
Sicherheit der Bevölkerung bei.«51

122
Himmler übernimmt

Nicht nur die Mentalität der Truppe stand einem Wechsel der Besat
zungspolitik imWeg, eine veränderte Ostpolitik paßte vorallem nicht in
das strategische Konzept des Führerhauptquartiers. Dabei hatte sich die
Lage im Flinterland der Front in den Sommermonaten des Jahres 1942
dramatisch zugespitzt. Große Partisanenverbände, die zum Teil mit
regulären Einheiten der Roten Armee operierten, hatten sich vor allem
in Rußland-Mitte bedrohlichnahe an Hauptverkehrsstraßen und Stütz
punkte der Wehrmacht herangeschoben, sodaß erstmals der Nachschub
ernstlich gefährdet war. Imzivil verwalteten Generalkommissariat stand
das System der landeseigenen Verwaltung und der landwirtschaftlichen
Abgabewirtschaft kurz vordem Kollaps. Durch gezielte Ermordung der
Bürgermeister und Hilfspolizisten waren in derUmgebung von Minsk
mehr als die Hälfte der Gemeinden aufgegeben. In diesem »Partisanen
land« wurde die Sowjetmacht wieder ausgerufen. Ein Bericht der
Geheimen Feldpolizei (GFP) resümierte Ende Juni: »Es herrscht allge
mein die Ansicht, daß die Deutschen zwar die Stützpunkte, die Partisa
nen aber das weite Land beherrschen.«52 Die Gründe für diese rasante
Veränderung der Lage bestanden darin, daß zu den alten Plagen der
Zwangsbewirtschaftung auf dem Land - mit unerreichbarem Abgabesoll
- und der Zwangsarbeit in den Städten - gleichbedeutend mit der Ver
urteilung zum langsamen Hungertod - eine neue Plage hinzutrat, die
Deportation zurZwangsarbeit nach Deutschland.53 Gegen das seit Früh
jahr 1942 praktizierte System der gewaltsamen Rekrutierung, in das die
Wehrmacht von Beginn an mit einbezogen war, wehrte sich die Bevöl
kerung durch Massenflucht indie Wälder. Seit dem Sommer warteten die
Flüchtlinge nicht mehr ab, sondern gingen zum aktiven Widerstand
über.54 Das Führerhauptquartier war sich über den Ernst der Situation
im klaren. Aber das Scheitern des Blitzkrieges und das Entstehen einer
zweiten Front im Rücken der Wehrmacht hatte nichts an Hitlers
grundsätzlicher Haltung gegenüber dem russischen Volk verändert: bis
auf einen Rest, der den Deutschen als Heloten diente, mußte es ver
schwinden. Ob das im Szenario von 1941 durch zupackenden Terror
beim Vormarsch oder systematische Selektion nach dem Blitzsieg
geschehen würde, oder ob das in der veränderten Lage von 1942 durch
die Kombination vonHunger, Zwangsarbeit und Kugel geschah, .änder
te am Ergebnis nichts. Nur gehandelt werden mußte. Es war die Stunde
Himmlers - nicht in seiner Rolle als Volkstumsingenieur, sondern als
Ausrottungsspezialist.

123
Mag sein, daß ein Bericht des Beauftragten von Martin Bormann im
OKW vom 26. Mai über eine Visite im »Generalkommissariat Weißru
thenien«, in dem der Mord an 33 Bürgermeistern mitgeteilt wurde, als
Anstoß diente oder daß eine Eingabe des Reichskommissars Ostland,
Lohse, vom 17. Juni,in der er mitVerweis aufdieErschießung eines sie-
benundzwanzigköpfigen SD- und Hiwi-Kommandos das OKW zum
Handeln aufforderte, den Vorwand lieferte - am 23. Juli teilte OKW-
Chef Keitel mit, daß die Wehrmachtsführung Himmler gebeten habe,
»eine einheitliche Führungsstelle für die Partisanenbekämpfung einzu
richten«.55 Dieneue Stabsstelle sollte zwarnur alle Meldungen überPar
tisanen zentralisieren und auswerten, schien also keine Zuständigkeiten
derWehrmacht zu tangieren. Aber die Weisung schrieb derTruppe vor,
alle Informationen weiterzugeben und machte es möglich, daß Himm
lers Leute im Heeresgebiet auch selbständig Informationen sammelten.
Hitlers Weisung Nr. 46 vom 18. August 1942 machte aus dem Verdacht
Gewißheit. Im Operationsgebiet blieb dieWehrmacht zuständig für den
Partisanenkampf- mit der Auflage, im Bedarfsfall den Höheren SS- und
Polizeiführern Truppen zu unterstellen - in den Reichskommissariaten
übernahm der Reichsführer dieVerantwortung.56
Himmler hatte die Initiative ergriffen, seine Truppen - dieSD-Kom
mandos, die Polizei-Regimenter, die SS-Brigaden - setzten von nun an
die Maßstäbe. Sie waren seit langem dafür präpariert: Schon am 6.Juli
1941 formulierte Himmlers Kommandostab eine erste Orientierung
über die Absichten derPartisanen unddie Methoden, sie zu bekämpfen,
am 17. Julifolgten Anweisungen über Feindaufklärung undErkundung,
wenig später kursierten die übersetzten »Kampfanweisungen für Parti
sanengruppen der Roten Armee«, im August und September lagen die
ersten umfassenden Erfahrungsberichte der Einsatzgruppe A vor, auf
deren Grundlage Himmler am 18. November 1941 seinen Kommando-
befehl Nr. 42 erstellte. Eswardie erste fundierte Einschätzung der sich
abzeichnenden zweiten Front und der schlüssige Versuch einer wirksa
men Abwehr. Die Essentials: 1. Voraussetzung jeder aktiven Bekämp
fung der Partisanen ist die Etablierung eines Netzes von V-Leuten und
permanente Erkundung, 2. das Ziel des Kampfes ist nicht Raumgewinn
durch Vertreibung des Gegners, sondern seine Vernichtung.57 Himmlers
Einsatzkommandos konnten sich aufgrund dieser frühzeitigen Orien
tierung einen Vorsprung vor allen andern Abwehr- und Spionagedien
sten verschaffen, sie wurden für die Wehrmacht in den rückwärtigen
Gebieten unentbehrlich. Ab September 1941 wurden sie jedem größeren
Unternehmen beigegeben.58 Daß sie aufgrund ihres Monopols frühzei-
124
tig das Tempo und den Radius des Partisanenkampfes bestimmten, ver
steht sich von selbst. Himmler machte schon im ersten Befehl in seiner
neuen Funktion deutlich,daß er seinenAuftrag nicht militärischmißver
stand. »Aus psychologischen Gründen« sollte in Zukunft statt des
Begriffs Partisan nur noch der des »Banditen« verwandt werden, Anti
Partisanen-Aktionen hießen folglich ab sofort »Bandenbekämpfung«,
Gebiete mit Verdacht auf Partisanen wurden nur noch als »bandenver
seucht« bezeichnet. Der Partisanenkampf mutierte zur Ungezieferver
nichtung. Konsequenterweise lief das erste Unternehmen in der neuen
Äraunter demCodewort »Sumpffieber«. Himmler ordnete in dem von
ihm persönlich unterzeichneten Befehlan, für den Einsatz »Reizgas und
Betäubungskörper« bereitzustellen.59
Mit dem ab 25. August beginnenden Unternehmen sollte erreicht
werden, daß - wie Himmler sich ausdrückte - das Generalkommissariat
»grundsätzlichbereinigt« würde. Aber trotz des massiven Einsatzesvon
6500 Mann schlug das Unternehmen fehl. Auch die Bereitstellung von
140 LKW durch die Ortskommandanturen der Wehrmacht in Minsk
und Wilna,mit denen die Truppen quer durchs Land transportiert wur
den, verhinderte nicht, daß die Partisanenverbände sich in dem unweg
samen Gelände größeren Gefechten entzogen.60 Natürlich kehrte die
Truppe nicht mit leeren Händen zurück: Sie hatte 389 »Banditen« und
1274 »Verdächtige« erschossen und, weilesamWege lag,das Ghetto von
Baranowicze mit 8000 Juden »geräumt«. Außer einem Dutzend abge
brannter Ortschaften war ein ganzes Gebiet geräumt und die Bevölke
rung evakuiert worden.61
Aber für Himmler war das zuwenig,er reagierte mit Korrekturen. Die
erste war, am 23. Oktober den HSSPF Rußland-Mitte, von dem Bach-
Zelewski, zum »Bevollmächtigten für Bandenbekämpfung« zu machen.
Bachhatte mit einerFüllekleinererUnternehmungen auchim Bereichdes
rückwärtigen Heeresgebietes die Initiative in der Partisanenbekämpfung
übernommenund gleichzeitig demonstriert,daß dieseArt von Krieg, soll
te sie Erfolg haben, permanent geführt werden mußte.62 Diezweite Maß
nahme betraf die Versetzung des Brigadeführers von Gottberg nach
Weißrußland mit dem Auftrag, als Chef einer »Kampfgruppe Gottberg«
diese Permanenz zu garantieren. Gottberg verfügte als ehemaliger Frei
korpskämpfer über einige Erfahrung und brachte zudem - durch Straf-
und Parteiverfahren in seiner Karriere als Höherer SS-Führer seit länge
rem gestoppt- die Motivation mit, um sich zu rehabilitieren. Himmlers
Rechnungging auf. Gottberg radikalisierte die Kampfführung, indem er
die gesamte Bevölkerung zum Feind erklärte - »Banditen, bandenver-

125
dächtige und bandenfreundliche Bevölkerung, Juden, Zigeuner, Berittene,
als Kundschafter anzusehende Halbwüchsige«. Einem solchen Gegner
war nur mehr mit Krieg beizukommen, indem man durch den Einsatz
schwerer Waffen seinen Rückzug erschwerte und durch Abbrennen der
Dörfer und systematischen Raub seine Lebensgrundlage zerstörte. Die
Ergebnisse seinerersten, jeweils nur zehn Tage dauernden Großaktionen
»Nürnberg« und »Hamburg«, im November und Dezember 1942: 5000
ermordete Juden, 5000 »erledigte Banditen oder Verdächtige«, 30 abge
brannte Dörfer und, wie Bach-Zelewski an Himmler funkte, »ungeheure
Beute, besonders an Lebensmitteln, kann noch nicht übersehen wer
den«.63
Das Beutemachen war nicht Gottbergs Eigeninitiative entsprungen.
Göring hatte am 26. Oktober 1942 Richtlinienfür die »Bandenbekämp
fung« speziellim rückwärtigen HeeresgebietMitte erlassen, in denen er
in der ihm eigenen Offenheit forderte, bei Partisanenaktionen »sämtli
che Viehbestände« wegzutreiben und vorhandene Lebensmittelvorräte
wegzuschaffen. Alle männlichen und weiblichen Arbeitskräfte seien
»zwangsmäßig zu erfassen« und entweder ins Reich oder in gesicherte
Gebiete zu deportieren.64 Und auch die Kriegserklärung an die Bevöl
kerung war von der politischen und militärischen Führung lange
beschlossen. In der am 11. November 1942 vom OKH an die Truppe
gegebenen »Kampfanweisung für die Bandenbekämpfung im Osten«
wurden »sentimentale Rücksichten« als unverantwortlich gegeißelt,
gefangene Banditen seien zu erhängen oder zu erschießen - »besser
erhängen«, hieß es in einem Zusatz. Mit Bezug auf die Opfer wurde
ergänzt: »auch Frauen«. Einen Monat später räumte das OKW jeden
Zweifel über diese Anweisung aus: »gegen Frauen und Kinder [ist] jedes
Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führt«.65 Die Radikalisie
rung und Ausweitung des Kampfes gegendie Partisanen verdankte sich
also weder der Initiative einiger wild gewordener Unterführer, noch
durfte die Übernahme des Kommandos durch Himmler als Putsch miß
deutet werden. Beides war Teil einer Gesamtstrategie, die darauf abziel
te, das Gebiet hinter der Front mit den vorderen Linien zu einem einzi
genGefechtsfeld zu verschmelzen, statt den Partisanen der Bevölkerung
den Krieg zu erklären. In der zweiten Hälfte des Jahres 1942 wurden die
Grundlagen für diese Strategie gelegt. 1943 waren ihre Ergebnisse zu
besichtigen.

126
Clausewitz irrt

Die Eskalation, die sich seit Sommer 1942 abzeichnete und die in Himm
lers Machtübernahme wie in den Befehlender Reichsführungihren Aus
druck fand, wirkte sich in den beiden Teilen Weißrußlands zunächst
unterschiedlich aus. Im Generalkommissariat hatten der HSSPF und
seine Polizei- und SS-Truppen den SektorPartisanenkampf ganz in ihre
Hand genommen. Der SD wurde alleinverantwortlich für die Erkun
dung der »Bandenlage« und für Entscheidungen über »Kollektivmaß
nahmen«. Diese organisatorische Verflechtung erlaubte es, die zweite
Phase desJudenmords unter demCode »Räumung der Randghettos« als
Teil des Partisanenkampfes durchzuführen.66 Der Wehrmachtsbefehls
haber stellte dafür - wie es in der OKW-Weisung Nr. 46 vom 18.August
1942 verlangt worden war- vonFall zu Fall seine Einheiten zur Verfü
gung.
Im rückwärtigen Heeresgebiet versuchte der Befehlshaber, zum Teil
mitUnterstützung einzelner Divisionskommandeure, die Verschärfung
des Kampfes zu verhindern. Die Streitpunkte waren die Erschießung
von Frauen und Kindern, die Anwendungvon kollektiven Vergeltungs
maßnahmen und die Schaffung einer Todeszone zu beiden Seiten der
Eisenbahnen.67 Der Widerpart in diesen Auseinandersetzungen war der
HSSPF Rußland-Mitte von dem Bach-Zelewski. In der euphorischen
Sommerphase des Feldzuges wegen seines Draufgängertums als Kriegs
kamerad hochgeschätzt, beim Rückzug imWinter 1941 und im Partisa
nenfrühjahr 1942 wegen seiner Polizei- und SS-Reserven als Nothelfer
unverzichtbar, erschien er dem alten Troupier von Schenckendorff
offensichtlich auf einmal in einem neuen Licht - als brutaler und verant
wortungsloser Hardliner. Das aber war er, als Vertreter Himmlers, von
Beginn angewesen. Esmachte ihm keine große Schwierigkeit, sich unter
Berufung auf die Sondervollmachten des Reichsführers durchzusetzen.68
Nur in der Frage des Streckenschutzes durch Abholzen und Evaku
ierung derBevölkerung konnte derBefehlshaber des rückwärtigen Hee
resgebietes - mit dem Hinweis, Himmler könne keine Anweisungen für
sein Befehlsgebiet erteilen - einen Aufschub erreichen. Er dauerte nicht
länger als einen Monat.
Am27. August überfielen Partisanen diekleine Bahnhofstation Slaw-
noje, töteten den Bahnhofsvorsteher und im Dorf ein paar Kollabora
teure. Der Bericht der zuständigen Eisenbahndirektion machte aus die
sem Vorgang ein apokalyptisches Ereignis. Als die phantastischen
Übertreibungen und der eigentliche Grund dafür wenig später entlarvt
127
wurden - die Eisenbahner waren bei einer Sauferei im benachbarten
Dorf überrascht worden-, war es zu spät: Am 28. August forderte Hit
ler in einem Fernspruch ein »sofortiges Vergeltungsunternehmen«. Am
29. August wies das OKH die Heeresgruppe Mittean, das zu erledigen,
was Himmler gefordert hatte, längs der Eisenbahnen ein Niemandsland
zu schaffen. Der Konflikt war entschieden.69 Der in seine Schranken
gewiesene Befehlshaber desrückwärtigen Heeresgebietes hattenur noch
die Sühnemaßnahme anzuweisen: Erschießen von »100 Landeseinwoh
nern männlichen und weiblichen Geschlechts, die entweder Partisanen
helfer oder Kommunisten oder Angehörige von Partisanen sind«. Auch
das stand im krassen Gegensatz zu einem Befehl, den er gerade erlassen
hatte, nämlich keine Sippenhaft bei bloß Verdächtigen anzuwenden.
Die hundert Personenwurden wenigspäter von einem Kommando der
286. ID erschossen. Keiner von ihnen war an Ort und Stelle verhaftet
worden, 60 befanden sich schon länger in Gewahrsam der Geheimen
Feldpolizei, und 40 kamen - um die befohlene Endzahl zu erreichen -
aus dem Geiselreservoir des HSSPF Bach-Zelewski.7° Derursprüngliche
Befehl Hitlers war viel weitreichender gewesen: alle Dörfer längs der
Eisenbahnlinie von Borissow bis Orscha, also aufeiner Strecke von 150
Kilometer, sollten abgebrannt werden. Wie der Kommandeur des Gei
selmordes von Slawnoje, Generalmajor Richert, im Minsker Prozeß
1946 mitteilte, habesichder Chef der Heeresgruppe Mitte,Generalfeld
marschall von Kluge, dem widersetzt. Auch er wurde, nachdem er den
Vollzug imAugust verhindern konnte, im Oktober 1942 düpiert. Dann
nämlich wies Göring seine im rückwärtigen Gebiet zum Erdkampf
eingesetzten Luftwaffensoldaten an, bei jeder Gleissprengung die in
der Nähe liegenden Ortschaften abzubrennen. Zwar protestierten
Schenckendorff und Kluge gegen diesen Befehl - weildadurch die an der
Bahn beschäftigen russischen Arbeiter wohnungslos und in die Arme
der Partisanen getrieben würden -, an der Praxis der Göring-Truppe
änderte das, wie ihre Erfolgsberichte über Strafaktionen zeigen, nichts.71
Am 18. Dezember kam es in Berlin zu einer denkwürdigen Sitzung.
Vertreter der drei rückwärtigen Heeresgebiete und der Heeresgruppen
AundBdiskutierten mitEmissären von OKW undOKH über die Lage.
DerBefund derTruppenführer wareinhellig. DieStimmung derBevöl
kerung befinde sich aufdem Tiefpunkt, eine Änderung zum Positiven sei
nur durch einen radikalen Wechsel in der bisherigen Besatzungspolitik
zu erreichen: Gewährung einer eingeschränkten politischen und kultu
rellen Autonomie, Einführung des Privateigentums und Sicherstellung
der Ernährung, Beendigung derMenschenjagd und derDeportationen.
128
Vor allem die Ausführungen des Generals von Schenckendorff, so ver
merkt das Protokoll, »machten auf sämtliche Anwesenden großen Ein
druck«. Dieselbe Kritik hatte der General, wie erinnerlich, schon im
Frühjahr formuliert und danach in vielenEingabenvariiert. Im Sommer
hatte er dann feststellen müssen, daß alle Eingaben beim OKH ungele-
sen liegengeblieben waren.Jetzt hoffte er nicht nur im direkten Vortrag
zu überzeugen, es war auch zugesichert, daß dem Führer unmittelbar
Bericht erstattet werde. Das Pech war nur, daß die Veranstaltung am
falschen Platz - im Ostministerium - stattfand und daß der Berichter
statter - Rosenberg - im Führerhauptquartier Einlaß zum Vortrag, aber
kein Gehör finden würde.72 Es war schon eine rechte Donquichotterie,
was die Befehlshaber da trieben. Zu Beginn hatten sie den Hitlerschen
Krieg aus freien Stückenund emphatischunterstützt. Kein Mordbefehl,
den sie nicht freudig weitergegeben, keine Greueltat, die sie nicht streng
von der Truppe gefordert hatten. Damals jubelten sie über die Entgren
zung des Krieges und den Zuwachs an Handlungsmöglichkeiten,die den
Siegunausweichlich zu machen schienen.73 Jetzt, da sie den Nachschub
nach vorn nicht mehr sicherstellen, die Versorgung nicht mehr garantie
ren, ihre Gebiete angesichts der Partisanen nicht mehr halten konnten,
jetzt, da sie als Militärs zu scheitern drohten, glaubten sie, nur noch
durch einen Wechsel in der Politik das Ziel des Feldzuges realisierenzu
können. Aber ein solcher Wechsel war in dem Krieg, den Hitler führte,
nicht vorgesehen. Als die Kosten der Kolchoswirtschaft und der dörfli
chen Verwaltung im Sommer 1942 zu hoch geworden waren - weil die
Partisanen die Ernteerträge raubten und die Bürgermeister ermorde
ten -, gab Hitler das Systemder Kooperation mit geduckten, aber hilfs
willigenHeloten auf. Fortan gab es für die Unterworfenen nur noch die
Wahl zwischen uneingeschränkter Unterstützung der deutschen Sache
oder der Verurteilung zum Tod. Die Erlaubnis, Frauen und Kinder zu
erschießen, die Aufforderung, mehr Dörfer abzubrennen, der Befehl
zum systematischen Raub, die Verwandlung der Nachschublinien in
Todesschneisenwaren notwendige Schritte auf dem Weg,aus den besetz
ten Gebieten ein Niemandsland mit einem Netzwerk von Wehrdörfern
und befestigten Plätzen zu machen. Die Betrauung Himmlers mit der
Partisanenbekämpfungwar nur konsequent. Siemarkierte keinen Wech
sel, sondern brachte die ursprüngliche Idee dieses Feldzuges deutlicher
zur Erscheinung. Clausewitz hatte geirrt: Der Vernichtungskrieg ver
fügte nicht nurübereine Grammatik, er enthielt auch eine Logik.74 Über
eine Grammatik ließ sich - das war die richtige Annahme der Schenken-
dorffs und Kluges - verfügen, die Logik des Vernichtungskrieges - das

129
wußte Hitler - unterwarf sich alles und duldete keine Halbheiten. Das
war am Ende des zweiten Kriegsjahres im Osten nirgends deutlicher zu
betrachten als an der Partisanenfront.

1943

Die Truppendes Reichsführers-SS hattender Wehrmacht in den großen


Partisanenjagden im Herbst und Winter 1942 die Lektion vorbuchsta
biert: Gegner waren nicht Partisanenverbände plus Sympathisanten,
sondern eine kriminelle Bevölkerung abzüglichder Kollaborateure. Die
Sicherungs-Divisionen hatten damit keine Probleme, nach eineinhalb
Jahren Rußlandkrieg kannten sie die Feindgruppen in Theorie und
Praxis auswendig. Was zu Beginndes Feldzuges, bezogenauf die Reste
der RotenArmee, einWunsch gewesen war- diehinter der Front vaga
bundierenden oder abgetauchten Versprengten nicht mehr nach Rotar
misten oder Freischärlern, Gefangenen oder Überläufern, Uniformier
ten oder Zivilisten zu sortieren,sondern alseine »organische, besondere
Einheit« zu betrachten und zu behandeln -, das durfte jetzt mit der
gesamtenBevölkerunggeschehen: 1503 erschossenePartisanen oder wer
dafür gehalten wurde, 2000 zur Zwangsarbeit nach Deutschland Depor
tierte, alleinin einem einzigenRayon 21 verbrannte Dörfer, an Beute ins
gesamt 8262 Stück Vieh, 1000 Hühner und Gänse, 14500 kg Kartoffeln,
61 342 kg Heu, daswaren die Erfolgszahlen einernormalen Aktion einer
normalen Sicherungs-Division imJahre 1943.75 Hatten die Wehrmachts
einheiten im Bereich des rückwärtigen Heeresgebietes zunächstweiter
hin allein operiert, so ging man gegen Mitte des Jahres 1943 dazu über,
gemeinsame Großunternehmen mit den SS- und Polizeiverbänden des
HSSFP zu starten. Es war eine Symbiose, die längst schon fällig war.
Kein Befehlshaber der Wehrmacht störte sich mehr daran, daß das Kom
mando bei den meisten dieser Unternehmen ein höherer SS-Führer - der
schon erwähnte Brigadeführer von Gottberg - ausübte. Die Kritik
daran, daß - wie beim Unternehmen »Cottbus« - 6087 Gegner im
Kampfgefallen und 3709 danach »erledigt« worden waren oder daß die
sen 9796 Feindtoten nur 88 Tote auf deutscher Seite gegenüberstanden,
war verstummt.76 Sätze wie der folgende aus dem Abschlußbericht die
ses Unternehmens dürften nur mehr ein einverständiges Grinsen aus
gelöst haben: »Die Verminung der meisten Wege und Stege macht die
Herrichtung von behelfsmäßigen Minensuchgeräten zur Notwendig
keit. DasvomBtl. Dirlewanger hergestellte Minensuchgerät hat sich gut
130
bewährt.« Mit dem »Gerät« waren gefangene Zivilisten gemeint, die
über die Minenfelder gejagt wurden, um die Sprengkörper zur Detona
tion zu bringen.77 Und für die Rekruten, die ab Herbst 1942 den Rest
ihrer Ausbildungszeit in regelrechten Partisaneneinsätzen absolvierten,
war das, was sie dort erlebten, neu und normal wie alles im ersten
Manöver.
Wir erinnern uns: »Am Abend des 29. Dezember 1942 haben wir
unsere Aktion in einemDorf begonnen. In diesemDorf gabeskeinePar
tisanen. [...] Dann zogen wir zu einem anderen Dorf. [...] Wir haben
etwa 70 Menschen erschossen. Darunter waren auch Frauen, Alte und
Kinder. Und dann haben wir das Dorf niedergebrannt. [...] Dann gingen
wir zu dem dritten Dorf. Dort fanden wir keine Partisanen. Aber das
Dorf haben wir trotzdem niedergebrannt und ca. 50 Personen erschos
sen. Auch Frauen und Kinder.«
Eine Frage nach dem militärischen Sinn oder der Rationalität einer
solchen Aktion hätte keiner von ihnen gestellt. Als der Richter im Mins
ker Prozeß den Gefreiten Rodenbusch, von dem dieser Bericht stammt,
fragte: »Aber Sie brannten die Dörfer doch auch nieder, wenn es dort
keine Partisanen gab?«, antwortete der Angeklagte: »Ja natürlich, der
Kompanieführer hatte eben diesen Befehl erteilt.« Die Befehle vom
Frühjahr 1941, die sich solche Mühe gegeben hatten, historisch zu
begründen, warum man mit dem jüdischen Bolschewismus aufräumen
mußte, die zusätzlichen Anweisungen vom Sommer und Herbst, in
denen so sorgfältigalle moralischen Widerstände angesprochen und aus
geräumt worden waren, jetzt waren sie bei der Truppe endgültig ange
kommen. Aber diese Befehle, die Historiker später »verbrecherisch«
nennen sollten, hatten sich in zwei Jahren bis zur Unkenntlichkeit ver
ändert, siewaren zu ganznormalenBefehlen irgendeines Kompaniefüh
rers geworden. Frauen und Kinder zu erschießen, dieser Grenzposten
der Moral, an der einige altgediente Generäle ihren letzten lächerlichen
Kampf um die Selbstachtung geführt hatten, war für ihre Soldatenlängst
zum Reflex geworden. Rekrut Rodenbusch: »Als wir gerade die vier
Männer erschossen, sah ich wie zwei Frauen mit drei Kindern wegliefen.
Mein Karabinerwar geladen mit 5Schuß,und ich habe auf jeden einzeln
einenSchuß abgegeben. Allefünf fielen um, alsich zu ihnen kam,waren
sieschon tot. Vierhatte ich in den Rücken getroffenund einemKind war
der Hals durchschossen.«78

131
Anmerkungen

i Gerichtsprozeß in der Angelegenheit der Greueltaten, die von deutsch-faschi


stischenEindringlingenin der belorussischen SSRverübt wurden, 15.-19.Janu
ar 1946(Minsker Prozeß), Minsk 1947,S. 262f.
2 BefehlshaberrückwärtigesHeeresgebietMitte (Berück)20.7.41, Bundesarchiv-
Militärarchiv Freiburg (BA-MA) RH 22-224; 232- Infanterie-Regiment (IR)
22.7.41, BA-MA RH 26-102/9.
3 Berück Korpsbefehl Nr. 26, 10.7.41, BA-MA RH 22-224; ders., Verwaltungs-
Anordnungen Nr. 2, 13.7.41, Belorussisches Staatsarchiv Minsk (BSA) 393-3-
42;Berück 10-Tagesmeldung 10.9.41,BA-MA 22-227.
4 56. Infanterie-Divison (ID) Divisionsbefehl Nr. 15, Nürnberger Prozeß,
NOKW 1458; 87. ID Meldung 16.8.41, BA-MA RH 26-87/25; 339. ID Tätig
keitsbericht Ic 22.9.-22.12.41,BA-MA RH 26-339/36.
5 Berück Korpsbefehl Nr. 40 16.8.41, BA-MA RH 22-224.
6 Berück Korpsbefehl Nr. 40 16.8.41, BA-MA RH 22-224; Berück Süd Befehl
23.8.41, in: Fall 12. Das Urteil gegen das Oberkommando der Wehrmacht
gefällt am: 28.10.1948 in Nürnberg vom Militärgerichtshof V der Vereinigten
Staaten von Amerika (Fall 12),Berlin 1961,S. 233.
7 Heeresgruppe (HGr) Mitte Bericht Ic 4.8.41 über Massenexekutionen in den
Dörfern Studenka und Kostjuki durch das 336.IR, Militärarchiv (MA) Podolsk
500-12454; 162. ID über ein Massaker des ihr unterstellten Polizei-Bataillons
307 in Starobin, MA Podolsk dto.; Berück Betr: Kollektive Gewaltmaßnahmen
12.8.41, BAMA RH 26-221/13 b.
8 Berück 10-Tagesmeldungen 10. 9. 41, BA-MA RH 22-227; 4°3- ID Kriegstage
buch (KTB) 3.9.41, BA-MARH 26-403/2; 339. ID BerichtIa 24.9.41, BA-MA
RH 26-221/21; 350. IR Meldung Ia 12.10., 14.10., 18.10.41, BA-MA RH 26-
22i/2b; 339. ID Partisanenlage 1.12.-22.12.41, BA-MA RH 26-339/10.
9 Witalij Wilenchik, Die Partisanenbewegung in Weißrußland 1941-1944, Wies
baden 1984, S. i5iff.; Armeeoberkommando (AOK) 9 Bericht 2.9.41, BSA
Minsk 65 5-1-1; vgl. Ereignismeldungen UdSSR (EM) Nr. 42, S. 163^; EM73, S.
299;EM 90, S. 218;EM 92, S. 275;EM 123,S. 291;EM 144,S. 276.Eine ähnliche
Einschätzungvermitteln auch die Berichtedes »Wehrmachtsbefehlshabers Ost
land/Kommandant Weißruthenien« (WBO/WR) 11.9. bis 30.11.41, BA-MA
RH 26-707/2; WBO/WR Lagebericht 20.9.41, Zentrales Staatliches Histori
sches Archiv (ZHA) Riga 70-5-37; WBO/WR Befehl Nr. 30 18.12.41, BSA
Minsk 378-1-698.
10 Panzergruppe (Pz) 3 Gruppenbefehl Nr. 21 7.9.41, Nürnberger Prozeß,
NOKW 688; 339. ID Lagebericht 5.11.41, BA-MARH 26-339/5.
11 WBO/WR Monatsbericht 11.10.-10.11.41, BA-MA RH'26-702/2; 339. ID
(691. IR) Partisanenlage 1.12.-22.12.41, BA-MA RH 26-339/10; Wilenchik,
a. a. O., S. 158.
12 Berück 10-Tagesmeldung 20. 9. 41, BA-MA RH 22-227; ders. Verwaltungsan
ordnung Nr. 9 21.10.41, BSA Minsk 570-1-1; HGr Mitte Ic-Anweisung 21.8.
41, BSA Minsk 65 5-1-1; Berück Tagesordnung für den Kurs »Bekämpfung von

132
Partisanen« 24., 26.9.41, BA-MA RH 22-225; OKH Richtlinien für die Partisa
nenbekämpfung25.10.41, Nürnberger Prozeß, NOKW 151.
13 Berück 10-Tagesmeldungen der Monate Juli-November 41, BA-MA RH 22-
227; Berück Bericht 9.12.41, BA-MA RH 22-225.
14 339. ID KTB Tätigkeitsbericht Ic 20. 10.-30.11.41, BA-MA RH 26-339/36;
Berück Bisheriges Gesamtergebnis der Aktion vom 10- 12.9.41,BA-MA RH
22-225; 59;69i.IR Lagebericht 8.10.41, BA-MA RH 22-286/4;257.ID Anwei
sungen 3.12.41, ähnlich: 17.Armee Richtlinienversandt am 7.12.41,in: Fall 12,
a. a. O., S. 175.
15 Berück 1.3.42, BA-MA RH 22-230; WBO/WR Monatsbericht 11.10.-10.11.41,
BA-MARH 22-702/15; vgl.auchdie Bilanzdes benachbartenBerückNord, der
von Juli bis November 1941, also nur in drei Monaten, 31525 Gefangenemach
te, in: vgl. zur Problematikder deutschenZahlenTimothy P. Mulligan, Recko-
ning the Cost of People's War: The German Experience in the Central USSR,
in: Russian History, 5, 1982, S. 27-48. Deutsche Besatzungspolitik in der
UDSSR 1941-1944, Dokumente, Köln 1980, S. 114.
16 Herbert Golz, Erfahrungen ausdemKampfgegen Banden, in:Wehrkunde, Heft
4, 1955, S. 134-140; Hellmuth Kreidel, Partisanenkampf in Mittelrußland, in:
Wehrkunde, Heft 9W, 1955,S. 380-385.
17 Eingreifgruppe Anderssen(252. ID) Tätigkeitsbericht 19.9.41,BA-MARH 26-
252/89.
18 Berück 10-Tagesmeldung 20.9.41 teilt zum Beispiel mit, daß bei einer Aktion
»zahlreiche Offiziere und Kommissare« vernichtet worden seien. Der Bericht
des für die Aktion verantwortlichen Polizei-Regiments (PolReg) spricht nur
von zwei Offizieren, erwähnt aber sechs erschossene Frauen, PolReg Mitte
Gesamtergebnis der Aktion vom 10.-12.9.41, BA-MA RH 22-225; gravieren
der sind die Fälschungen beim Mord an 4000 Kriegsgefangenen in Bobruisk -
im KTB der 339. ID wird der vom Lagerleiter inszenierte Brand als Gefange
nenbrandstiftung dargestellt, das vorbereitete MG-Massaker als Abwehr eines
Fluchtversuchs, Tätigkeitsbericht November 3.12.41, BA-MA RH 26-339/7;
ähnlich das Massaker an den ghettoisierten Juden in Borissow, 339. ID KTB
20.10.41, BA-MA RH 26-339/4; verbrannte Dörfer: 339. ID Partisanenlage
1.12.-22.12.41,BA-MA RH 26-339/10; Frauen und Kinder: 339. ID Merkblatt
2.11.41, BA-MA RH 26-339/5.
19. Vgl. Omer Bartov, Wem gehört die Geschichte? Wehrmacht und Geschichts
wissenschaft, in diesem Band.
20 Während ValdisRedelis, Partisanenkrieg, Heidelberg 1958, S. 8/ff. und Rudolf
Aschenauer, Krieg ohne Grenzen, Leoni am Starnberger See 1982, S. i29ff. die
Wehrmacht grundsätzlich nur alsaufden sowjetischen Terror reagierend sieht,
glaubt JürgenFörster- in seinem sonstsehrgenauen Beitrag »Die Sicherung des
>Lebensraumes<«, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4,
Stuttgart 1983 S. i03off.- im Herbst 1941 eine»neue Dimension« desVernich
tungskrieges aufgrund »des vermehrten Auftretens wohlorganisierter, ausgebil
deter sowjetischer Partisanenabteilungen« feststellen zu können (S. 1041).
Dagegen konstatiertMatthew Cooper, The Phantom War, The German strug-

133
gle against Sovietpartisans 1941-1944, London 1979, S. i7ff., im Herbst 1941
das totaleScheitern der sowjetischen Partisanenoffensive. Völlig abwegig ist die
These von Erich Hesse, Der sowjetische Partisanenkrieg 1941-1944, Göttingen
2. Aufl. 1993, S. 281, die deutsche Wehrmachtsfuhrung habe die Partisanenge
fahr 1941 nicht ernstgenommen.
21 Der »Gerichtsbarkeitserlaß« wie die »Richtlinien« abgedruckt bei Gerd R.
Ueberschär, Wolfram Wette (Hg.) Der deutsche Überfall auf dieSowjetunion,
Unternehmen »Barbarossa« 1941, Frankfurt am Main 1991, S. 252ff., 258.
22 Bericht der PzG 3 über eine Besprechung in Warschau am 11.6.41, in: Ueber-
schär/Wette, a. a. O., S. 283ff.
23 Fall 12,a. a. O., S. 71; OKH An die Befehlshaber der rückwärtigen Heeresge
biete Nord, Mitte, Süd, 25.7.41, BSA Minsk 655-1-1.
24 Nürnberger Prozeß, NOKW 258.
25 Vgl. Walter Manoschek, »Gehst mit Juden erschießen?« Die Vernichtung der
Juden in Serbien, in diesem Band.
26 lan Kershaw, Der NS-Staat, Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im
Überblick, Reinbek 1989, S. 208; JanPhilipp Reemtsma, Charisma undTerror,
in: Arbeitsstelle Fritz BauerInstitut, Materialien Nr. 10,1994, S.9ff."; ders.,Zur
Dialektik der Zivilisation, Vortrag Hamburger Institut für Sozialforschung,
Oktober 1994, unveröffentliches Manuskript, S. 7ff.; Christopher Browning
kennzeichnet mit dem Begriffder Symbiose das Verhältnis Hitler/Himmler bei
Ausarbeitung der Befehle zur »Endlösung«, vgl. The Path to Genocide, Essays
on Launchingthe Final Solution,Cambridge 1993, S.92, 121.
27 Jürgen Förster, a. a. O., S. 1040, 1054; Jörg Friedrich, Das Gesetz des Krieges,
Das deutsche Heer in Rußland 1941 bis 1945, München 1993, S.486, 833.
28 Geheime Absichtserklärung zur künftigen Ostpolitik, 16.7.41, in: Ueber-
schär/Wette, a. a. O., S. 276.
29 Vgl.Hannes Heer, KillingFields. Die Wehrmacht und der Holocaust, in diesem
Band. Diese These wird auch durchdas belegt, was sich beider Besetzung vie
ler sowjetischer Städteund Dörfer ereignete: NachdemdieWehrmacht mit dem
Ruf »Juden kaputt« einmarschiert war, plünderte sie als erstes dieWohnungen
derJuden,vgl. IljaEhrenburgund Wassilij Grossman (Hg.).Das Schwarzbuch.
Der Genozid an den sowjetischen Juden, Reinbek 1994.
30 Wirtschaftsinspektion Mitte 22.7.41, LG Mainz 3 Ks 1/67, Dokumentenband
IV; 350. IR 18.8.41, BA-MARH 26-211/21; SS-Kavallerie-Brigade 3.9.41, BA-
MA RH 22-224; WBO/WR 10.9.41, BSAMinsk 651-1-1; ders., 19.10.41,BSA
Minsk 65i-i-i.
31 221. ID KTB 8.7.41, BA-MARH 26-221/10: BerückMeldung9.7.41, BA-MA
RH 22-227; ders., 18.7.41, BA-MA RH 26-221/12a; Funkspruch 2.8.41, Kriegs
historisches Archiv Prag(KHA)Prag,Karton 12-Mappe 101.
32 Berück Meldung 1.8.41, BA-MA RH 22-227; SS-Kav.Reg. 1 Regimentsbefehl
Nr. 42vom27.7.41, MAPodolsk500-12493-62; SS- Kav.Reg. 2Bericht 12.8.41,
KHA Prag 5-30; SS- Kav.Brig. Abschlußmeldung 18. 9. 41,KHA Prag 24-154.
33 Vgl.Hannes Heer, KillingFields.Die Wehrmacht und der Holocaust, in diesem
Band.

134
34 Vgl. als Beispiele Ortskommandantur (OK) I/264, OK 1/827, Feldkomman
dantur (FK) 528,FK 551,FK 549,BA-MA RH 226-221/21.
35 403. ID KTB 14.7.41, BA-MA RH 26-403/2; 252. ID Tagesmeldungen 25.7.,
26.7., 16.8.,17.8.,18.8.41,BA-MARH 26-252/82; 221. ID KTB 1.9. und 12.9.
41, BA-MA RH 26-221/10; 286. ID KTB 15.9.41, BA-MA RH 26-286/2; 691.
IR (286. ID) Lagebericht1.-7.10.41, BA-MA RH 26-286/41.
36 Berück Korpsbefehl Nr. 52 14.9.41, BA-MA RH 26-221/13; Polizei-Bataillon
322 KTB 25.9.41, KHA Prag A2-1-3,104.
37 Berück 1.3.41,BA-MARH 22-230; vgl.auchBerückTätigkeitsbericht IcJanu
ar 42, 4.2.41, BA-MA RH 22-243 und Berück Propagandaabteilung Stim
mungsbericht 17.2.42, BA-MA RW 4/236.
38 Wilenchik, a. a. O., S. 159-178; vgl. auch BerückTätigkeitsbericht Ic März 42,
10.4.42, BA-MA RH 22-243; Mulligan, a. a. O., S. 32.
39 Berück An das Oberkommando der HGr Mitte 10.10.42, MA Podolsk 500-
12454-590, darin Verweis auf Lagebericht ans OKH vomJuni 41; Luftwaffen
kommando Ost Bericht über die Bandenbekämpfung vom 10.4.-31.12.42,
8.1.43 MA Podolsk 500-12454-598; Alexander Dallin, Deutsche Herrschaft in
Rußland 1941-1945, Düsseldorf 1958, S. i56ff.
40 707. ID Divisionsbefehl Nr. 32,18.3.42, BA-MA RH 26-707/5; 707. ID Bericht
7.4.42, dto.; 707. ID Anlage 22 C zum Div.Bef. 43 5.4.42, dto.; Berück KTB
7.4.42, BA-MA RH 22-229.
41 286. ID Meldung 8.8.42,BA-MA RH 26-286/12; um demVorwurf desMassa
kers wie bei »Bamberg« zu entgehen, weist der Bericht der 286. ID über das
Unternehmen »Adler« darauf hin, daß der Grund für die überraschend geringe
Ausbeute an Waffen darin zu suchen sei, daß die Partisanen diese allesamt bei
derFluchtin dieSümpfe geworfen hätten, vgl. 286. ID Aufstellung 30. 8.42,dto.
42 A.Adamowitsch, J. Bryl, U. Kalesnik (Hg.), Ichkomme aus einem brennenden
Dorf, Minsk 1975,S. 27ff.
43 Luftwaffenkommando Ost, Bericht überdieBandenbekämpfung vom10.4. bis
31.12.42, 8.1.43, MA Podolsk 500-12454-598.
44 203. ID KTB 3.7.42, BA-MA RH 26-203/1.
45 Geständnis eines weißrussischen Angehörigen des Sonderbataillons Dirlewan-
ger, das andenmeisten Anti-Partisanen-Aktionen derWehrmacht imJahre 1942
beteiligt war, über ein Massaker imJuni in Weißrußland, abgedruckt in: Ales
Adamowitsch, Henkersknechte, Frankfurt am Main 1988,S. 168.
46 Minsker Prozeß, a. a. O., S. 272.
47 ZHO Sluzk 5.8.42, BSA Minsk 370-1-485; Wirtschaftliche Außenstelle Smole-
witschi 25.3.43, BSA Minsk 339-1-321; Berück Bericht Monat November
9.12.41, BA-MA RH 22-225; Berück Besprechungspunkte für Div.Kdr.
Besprechung 9.8.42, BA-MA RH 22-233; EM Nr. 50, 12.8.41; Einsatz der
Wehrwirtschaftsdienste und Wehrwirtschaftslagebericht für den Bereich der
9. Armee, BA-MA Wi I D.79.
48 252. ID Merkpunkte für Kommandeur-Besprechung 14.9.41, BA-MA RH 26-
252/76.
49 Nürnberger Prozeß, NOKW 2139; 403. ID 11.8.42: »Das Räumen der Minen-

135
felder erfolgt ausschließlich durch Räumtrupps aus Kriegsgefangenen oder
Juden«, BA-MA RH 26-403/7; Vernehmung Richert 5.1.46, Minsker Prozeß,
Bd. 1, KGB-Archiv Minsk.
50 Berück Besprechungspunkte für Divisions-Kommandeur-Besprechung 12.6.
42, BA-MA RH 22-231; Berück Besprechungspunkte für Divisions-
Kdr.besprechung9.8.42, BA-MA RH 22-233.
51 Luftwaffenkommando Ost, vgl. Anm. 43.
52 GFP Monatsbericht 1.-30.-Juni 42,BA-MA RW4/237; ähnlich dieStimmungs
berichte der Propagandaabteilung Ostland für Mai bis August 1942, BA-MA
RW 4/235; Berichte der landwirtschaftlichen Außenstelle im Gebietskommissa
riat Minsk-Land, BSA Minsk 393-1-321.
53 Vgl. Wilenchik, a. a. O., S. i92ff.; Bericht eines V-Mannes über die Stimmung
der Zivilbevölkerung im Juli 1942, BA-MA RW 4/237.
54 Vgl. Rolf-Dieter Müller, Menschenjagd, in diesem Band; Propagandaabteilung
Ostland Stimmungsbericht Nr. 173. Mai42,BA-MA RW 4/235; Wilenchik, a.
a. O., S. 220.
55 Beauftragter des Reichsleiters Bormann, Albert Hoffmann, Bericht Nr. 4,
26.5.42, Institut für Zeitgeschichte München FA 226/29, S. 28ff.; Der ständige
Vertreter(des Reichskommissars Lohse) Betr. Partisanentätigkeit 17.6.42, BA
Koblenz R 6/354S izff.; Weisung des Chefs OKW 23.7.42, zitiert in Norbert
Müller, a. a. O., S. 129^; über den geplanten Coup informierte Himmler am
9.7.42 bei einer »allgemeinen Partisanenbesprechung« in Lötzen - im Beisein
vonDaluege - einige höhere SS-Führer und Polizeigeneräle, vgl. vondemBach-
Zelewski, Kriegstagebuch 11.7.42, BA Koblenz R 20-45b und Himmlers Kom
mandobefehlvom 7.8.42, KHA Prag 4-17.
56 Weisung Nr. 46 des OKW 18.8.42, zit. in Norbert Müller, a. a. O., S. 130L;
Himmlers Zuständigkeit für das »Generalkommissariat Weißruthenien« war
dem Befehlshaber rückwärtiges Heeresgebiet bereits am 27.7. mitgeteilt worden,
Berück KTB 27.7.42, BA-MA RH 22-232.
57 KHA Prag 5-25; KHA Prag 10-94; Einsatzgruppe A Tätigkeits- und Erfah
rungsbericht 17.8.41 und 29.9.41, OSOBI Moskau 500-4-93; RF SS Komman
dobefehl Nr. 42 18. 11. 42, OSOBI Moskau 500-1-25.
58 Berück Korpsbefehl Nr. 55 29.9.41, BA-MA RH 22-225; 339- ID Lagebericht
15.11.41, BA-MARH 26-339/7; Ereignismeldung Nr. 34vom 26.7.41, Nr. 90
vom 21.9.41; vgl. über die Auseinandersetzungen in der Wehrmachtsführung
Förster, a. a. O., S. i04of.
59 RFSS Kommandobefehl Nr. 65 13.8.42, KHA Prag 4-17; RFSS Kommandobe
fehl 7.8.42, KHA Prag 4-17.
60 HSSPF Ostland KTB 2.9.42, KHA Prag19-133; dasScheitern gibtder Einsatz
leiter, der HSSPF Ostland Jeckeln, in seinem Abschlußbericht vom 6.11.42
unumwunden zu, KHA Prag 19-133.
61 Abschlußbericht Jeckeln vgl. Anm. 60; zum Massaker im Ghetto von Barano-
wicze, vgl. LG Koblenz 9 Ks 2/62, Bd. 9, S. 1284f.
62 Zu den Unternehmen »Karlsbad«, »Albert«, »Frieda« die entsprechenden
Berichte Berück Oktober/November 42, BA-MA RH 22-235; zur Ernennung

136
v.d. Bach-Zelewski dessen KTB Eintrag 24.10.42, BA-Koblenz R 20-45b und
RF SS23.10.42, KHA Prag 4-19.
63 Unternehmen »Nürnberg« vom 18.-26.11.42, vgl. KHA Prag 10-195, darin
auch Feindlage vom 19.11.42; Unternehmen »Hamburg« 10.-21.12.42, vgl.
Zentrale Stelle Ludwigsburg, Ordner UdSSR Nr. 399, Bild 207ff. und Kampf
gruppe Gottberg Tagesmeldung 26.11.42, Document Center Berlin, in LG
Hamburg 147Js 29/67, Sonderband GG, Teil 3; Fernschreiben Bach-Zelewski
29.11.42, KHA Prag 10-95.
64 Richtlinien Göringsvom 26.10.42, in: Norbert Müller, a. a. O., S. 134.
65 OKH Kampfanweisung für die Bandenbekämpfung im Osten 11.11.42, in:
Norbert Müller, a. a. O., S. i36f.; OKW Bandenbekämpfung 16.12.42, dto.,
S. 139t
66 . Befehl des HSSPF Ostland Pifrader 18.11.42, in: Verbrecherische Ziele - ver
brecherische Mittel! Dokumente der Okkupationspolitik des faschistischen
Deutschlands auf dem Territorium der UdSSR, 1941-1944, Moskau 1963,
S. 149ff.; Niederschrift des ehemaligen »Judenreferenten« beim KdS Minsk,
Georg Heuser, am 26.8.63, m: Koblenz 9 ks 2/62, Sonderband, S. 22.
6y Berück KTB 5.7., y.y., 20.7., 23.7.,29.7., 3.8.42, BA-MA RH 22-232.
68 Ebenda, Berück KTB 7.8., 10.8.42,vgl. Anm. 67.
69 Ebenda, Berück KTB 20.7,42, HBD Mitte Bericht 27.8.42, MA Podolsk 500-
12454-420; Berück Überfall aufBahnhof Slawnoje 16.9.42, Fernspruch anHGr
Mitte 28.8.42, OKW an Heeresgruppe Mitte 29.8.42,in: Heinz Kühnrich, Der
Partisanenkriegin Europa, Berlin 1968, S. 613.
70 Berück Fernschreiben an 286. Sich.Div. 29.8.42, MA Podolsk 500-12454;
Berück KTB 5.7.42,BA-MA RH 22-232; Generalmajor Richert, Kdr. 286. ID,
Vernehmung am 20. November 1945, Minsker Prozeß, Bd 1, KGB Archiv-
Minsk; ders., Vernehmung Hauptverhandlung am 16. Januar 1946, Minsker
Prozeß, a. a. O., S. 40f.
71 Vernehmung Richert 20.12.45, Minsker Prozeß Bd. 1, KGB-Archiv Minsk;
Reichsmarschall Nr. 04120/42 vom 16.10.42, MA Podolsk 500-12454-553;
. Berück an Obkdo.HGr. Mitte 27.10.42, BA-MA RH 22-233; OB HGr. Mitte
an Reichsmarschall 29.10.42, MA Podolsk 500-12454-553; vom 1.-15.1.43
verbrannten die Luftwaffeneinheiten im rückwärtigen Heeresgebiet Mitte 38
Dörfer, zwölf explizit als Reaktion auf Eisenbahnsabotage, Bericht der Lw.
Ausbildungs- und Feldeinheiten im Bereich des Lw.Kdo. Ost, Eingangsstempel
HGr. Mitte 20.1.43, MA Podolsk 500-12454-598.
72 Besprechung im Ostministerium 18. 12. 42, BA-MA RH 22-235; Schencken-
dorffs sehr offenherzige und radikale Polemik, in der er das Entstehen der
Partisanenbewegungaus den deutschen Terrormaßnahmen ableitete,findet sich
in einem Bericht des Teilnehmers von Schlabrendorff an die HGr. Mitte vom
20.12.42 wiedergegeben, MA Podolsk 12454-423-28; Berück KTB 9.8.42,
BA-MA RH 22-232H.
73 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, 19. Aufl., grsg. von Werner Haiweg,Bonn
1980, S. 991. Curt Siewert, Schuldig? Die Generale unter Hitler, Bad Mergent
heim 1968,S. 187.

137
74 Carl von Clausewitz,Vom Kriege, 19.Aufl., hrsg. von Werner Hahlweg,Bonn
1980, S.991.TypischeinBefehl Dirlewangers vom 15.11.43: »Hierbeiwird alles
zerstört, was Unterkunft und Schutz bieten kann. Das Gebiet wird Niemands
land. Sämtliche Bewohner werden erschossen. Das Vieh, Getreide und andere
Produkte werden mitgeführt.« Kühnrich, a. a. O., S. 629.
75 Förster, a. a. O., S. 1042; bei der zitierten Division handelt es sich um die 286.
ID, unter dem Kommando des Generalmajors Richert, vgl. Parteiarchiv Minsk
4683-3-950 S. 78,956 S. 28off., 995 S. 129; 286.ID Tätigkeitsbericht Ic 1.1.43 -
30.6.43,BA-MA RH 26-286; laufendeZahlen an Getöteten im ersten Halbjahr
1943 vgl. 286. SD Anlage zum KTB 1.1.-4.7.43, BA-MA 38424/2.
76 Kampfgruppe von Gottberg Gefechtsbericht 28.6.43,BA-MA RH 26-286/9.
jj Vgl. Anm. 49.
78 Rodenbusch, Vernehmung am 2.10.45, Minsker Prozeß, Bd. 21, KGB-Archiv
Minsk.
Stadtrand von Minsk

Trümmer in Minsk
Trümmer in Minsk

Ermordete Partisanen in Minsk


Minskerinnen

Markt in Minsk
Stube in der Puschkin-Kaserne

Vor der Kleiderkammer Puschkin-Kaserne


(rechts: Kurt Wafner)
Waldlager: Gefangenenbaracken

Waldlager:Gefangenenbaracken
• •...:••:.••

Wachposten in Koladitsche an der Eisenbahnlinie nach Minsk

Bewohner von Koladitsche


Russische Kriegsgefangeneauf dem Wegvom Güterbahnhof zum Lager Puschkin-Kaserne
Leichcntransport im Waldlager

Massengrab russischer Kriegsgefangener


Ankunft einesJuden-Transportes im Minsker Ghetto

Juden auf dem Weg zum Ghetto in Minsk


Ghetto in Minsk

Ghetto in Minsk
Waldlager: Osttor

Ukrainische Wachposten
Vor der Kompanie-Küche im Waldlager

Die Kompanie holt Essen


Freundschaften in Minsk
Kurt Wafner

Wera
Straßenbau im Waldlager

:'1 -.fS
Gefangenenzug im Waldlager
Erschossene Kriegsgefangeneim Waldlager
Mark Mazower Militärische Gewalt und
nationalsozialistische Werte*
Die Wehrmacht in Griechenland 1941 bis 1944

Am 16. August 1943, kurz vor Sonnenaufgang, fuhren einige Mann


schaftstransporter auf einer unbefestigtenStraße südlich von Arta, einer
Stadt im Nordwesten Griechenlands. Vor Kommeno, einem Dorf, das in
der Ebene im Mündungsgebiet des Arachthos gelegen ist, machten sie
halt. Der vorangegangene Tagwar ein hoher griechisch-orthodoxerFei
ertag gewesen, und die meistenDorfbewohner lagennoch im Schlaf, um
sich von den Festlichkeiten zu erholen. Knapp über hundert Wehr
machtssoldaten aus einer Elitetruppe, die 12. Kompanie des 98. Regi
ments der 1. Gebirgs-Division, kletterten von den Lastwagenund nah
men von Oberleutnant Ludwig Röser, dem befehlshabenden Offizier,
ihre Einsatzbefehle entgegen.
Sie kreisten das Dorf ein und stellten bewaffnete Posten auf, um die
verschiedenen Fußwege, die aus dem Dorf hinausführten, zu decken.
Dann wurden zwei Leuchtraketen abgefeuert, die das Signal für die mit
Granaten, Gewehren und Maschinenpistolen bewaffneten Sturmtrupps
waren, in die Häuser einzudringen.Beidem folgendenBlutbad brachten
die Soldaten 317 Menschen unterschiedlichen Alters, Männer wie Frau
en, von insgesamt knapp über sechshundert Einwohnern um. Die mei
sten, die fliehen konnten, entkamen über einen unbewachten Fußpfad,
der durch hohes Schilf an den Fluß führte, den sie schwimmend über
querten. Bei den Deutschen gab es keine Verletzten, und die Sanitäter
standen untätig um die Lastwagen herum, von wo aus sie die Schießerei
hören konnten und die Häuser des Dorfes in Flammen aufgehen sahen.

Frühere Fassungen diesesAufsatzes habe ich bei Seminarenan der City Univer-
sity of New York und dem DavisCenter, Princeton University,vorgetragen. An
dieser Stelle möchte ich mich bei Harry Psomiades und Lawrence Stone für die
Einladung und bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Seminare für ihre
Kommentare bedanken. Mein Dank gilt auch David Alberman, Omer Bartov,
Gary Gerstle, Felix Gilbert, Arno Mayer, Ben Mazower, Reid Mitchell und vor
allem Stephen Kotkin für ihren Rat und ihre Hilfe. Übersetzung aus Past and
Present, no. 134, 1992, mit freundlicher Genehmigungder Redaktion.

!57
Nach etlichen Stunden hörten die Schüsse auf, und während die
Sturmtrupps im Schatten der Orangenbäume Rast machten, zogen
Hilfstruppen in das Dorf ein,um das Vieh, das Geflügel und das Haus
haltsgerätder Dorfbewohner zu beschlagnahmen. Ein Angehörigerdie
ser Truppe, Karl S., beschrieb vieleJahre später, was er damals dort sah:
»Überall lagen Leichen herum. Vor und in den Häusern. Wenn ich das
noch richtig in Erinnerung habe, dann befand sich am Hauptplatz oder
Dorfplatz [...] eine Kirche oder kleine Kapelle und vor dieser Kirche
([...] Ich glaube, es war das einzige Gebäude das nicht gebrannt hat.)
lagen ein großer Haufen von Leichen. Soviel ich aus dem Menschenlei
berwirrwarr ersehen konnte, dürften unter den Leichen viel mehr Frau
en und Kinder gewesensein, als Männer. Das Kirchentor war offen, und
auch in der Kirchelagen Leichen.«1
Diese Schilderung von Karl S. ist einer eidesstattlichen Versicherung
bei derösterreichischen Polizei von 1971 entnommen, die Teil einer Vor
untersuchung zum Kommeno-Massaker war. (Es kam nie zur Verhand
lung.) Zwischen 1971 und 1973 spürten die westdeutsche und die öster
reichische Polizei praktisch alle Überlebenden der12. Kompanie aufund
befragten sie. Die Untersuchungsbeamten wollten vor allem herausfin
den, wer den Befehlfür die Operation gegebenhatte. In dieser Hinsicht
ergaben die Befragungen ein unklares Bild, denn obwohl sich die mei
sten einig waren, daß Oberleutnant Röser, der 1944 starb, an jenem
Morgen die Anordnung gegeben hatte, »daß alle niedergemacht werden
müssen«,2 herrschte Uneinigkeit darüber, inwieweit der Bataillons
kommandeur K. und Rösers Stellvertreter, Leutnant D., die beide noch
leben,involviertwaren. Doch beim Lesendieser Aussagen fällt die allen
gemeinsame Erwähnung eines anderen Aspekts auf: der Effekt, den das
Massaker auf die Soldaten selbst hatte.
Karl D. erinnerte sich: »Nach dem Einsatz ist es innerhalb der 12.
Kompanie zu Auseinandersetzungen gekommen. Fast alle Soldaten
habendiesen Einsatz abgelehnt. Nur wenige habendiese Vergeltungsak
tion für richtig gehalten. [...] Ich selbst war von den Grausamkeiten so
angewidert, daß ich erst nach Wochen wieder mein seelisches Gleichge
wicht fand.« August S.: »Es war nach der wüsten Schießerei sehr still
geworden. Die meisten Kameraden waren sehr bedrückt. Fast keiner war
mit dieser Aktion einverstanden. [...] Alle hatten Gewissenskonflikte bis
auf wenige Ausnahmen.« Nach Aussagevon Johann E. warf ein Unter
offizier Röser seineMütze vor die Füße und sagte: »Herr Oberleutnant,
nehmen Sie zur Kenntnis, das war das letztemal, daß ich an so etwas teil
genommen habe. Das war ja eine Schweinerei sondergleichen [...], das

158
hat ja mit einer Kriegsführung nichts mehr zu tun.« Derselbe Zeuge
behauptete zudem, daß er während der Schießerei die Männer schreien
hörte: »Schieß doch Du! Ich kann das nicht! Du hast doch ein Maschi
nengewehr oder eine Maschinenpistole, da geht das einfacher. Ich muß
doch zielen.« Laut Franz T. waren »die meisten Soldaten mit dieser
Aktion nicht einverstanden. [...] Viele sprachen es offen aus, daß das
ganze eine Schweinerei sei, wehrlose Zivilisten zu erschießen. Andere,
einige wenige, warenwieder derAnsicht, daßdasalles potentielle Feinde
gewesen seien, die nur die Partisanen gegen uns Soldaten unterstützten.
Die Auseinandersetzung war so heftig, daß ich in diesem Zusammen
hangeher bereits von einer>Meuterei< sprechen möchte.«3
Um dieZuverlässigkeit dieser Aussagen einschätzen zu können, soll
te man sich zweiDingevor Augen führen. Zum einen wurden die Aus
sagen vonMännern gemacht, die ihreneigenen Anteil andem Massaker
nicht verleugneten. Sie waren also nicht darauf angelegt, den Zeugen
oder jemand anders zu entlasten. Zum anderen wurden sie unabhängig
voneinander gemacht. Selbst wenn wir Ungenauigkeiten und Übertrei
bungen einräumen, vermitteln die Aussagen - wie auch zu erwarten
war - immer noch den Eindruck, daß die Soldaten von dem, was sie ge
sehen und getan hatten, nicht unbeeindruckt blieben. Einesolche Inter
pretation wird auch von zeitgenössischem dokumentarischem Material
unterstützt. Im Oktober 1943 schrieb der evangelische Pfarrer der 1.Ge-
birgs-Division (Geb.-Div.) mit ausdrücklichem Bezug zu denAktivitä
ten der vorangegangenen drei Monate: »Eine schwere innere Belastung
ihres Gewissens bedeutet für viele [...] das Tötenmüssen von Frauen und
Kindern beidenUnternehmen gegen dieBanden.« Daswarenstarke und
ungewöhnliche Worte für einen offiziellen Bericht, der dem Verfasser
einiges an Mut abverlangte, vor allem weil der General, der den Bericht
empfing, der Kirche nicht freundlich gesonnen war.4
Nach dem Massaker von Kommeno scheinen einige Soldaten erwo
gen zu haben, vomProtestzu konkreteren Aktionen überzugehen. »Wir
hattengenug, wir wollten von der ganzen >Scheiße< nichts mehrwissen«,
erinnerte sich Otto G. »Aber schließlich hatte uns dann doch der Mut zu
einerDesertation gefehlt. Nicht ein Mann hat die Flucht ergriffen.« Mit
den Worten von AugustS.: »Schließlich haben wir uns alle auf den [...]
Standpunkt zurückgezogen, daß wir ja nur befehlsgemäß gehandelt
haben.« Dennoch war das Vertrauen zwischen Röser und seinen Män
nern erschüttert, und kurz danach wurde Röser in eine andere Einheit
versetzt.5
Zusammengenommen vermitteln diese Dokumente den Eindruck,

159
daß es Grenzen dessen gab, was einfache Soldaten mit ihrem Gewissen
vereinbaren konnten. Doch trotz ihrer moralischen Empörung hatten
die Soldaten die Befehle befolgtund - wie viele der eidesstattlichen Ver
sicherungen offen bezeugen - auf Zivilisten geschossen. Ihre Taten
waren weder spontane, von den Anspannungen eines Partisanenkriegs
ausgelöste Ausbrüche wütender Gewalt, noch wurden sie unter vorge
haltener Pistole vonMännern ausgeführt, dienur unterAndrohung von
Strafmaßnahmen und Kriegsgericht zusammenblieben. Keine Armee,
am allerwenigsten die Wehrmacht mit ihrem ungeheuren Grad an
Zusammenhalt, funktioniert allein aufgrund von Disziplin. Mit welchen
Mitteln, unter Berufung auf welche Werte waren diese Soldaten dazu
gebracht worden, ihre menschlichen Instinkte zu unterdrücken?
Diese Frage führt uns ins Zentrum der gegenwärtigen Debatte über
die Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und das Wesen der
Beziehungen zwischen dem Heer und dem NS-Regime. Lange Zeitwar
mander Meinung, daß dieWehrmacht gegen den NS-Virus immunwar:
Wenndie SS - wie Gerald Reitlingeresausdrückt - das »AlibieinerNati
on«6 war, dann war das deutsche Heer ihr »makelloser Schutzschild«,7
dessen vorgeblich aristokratische Führungsschicht dazu beitrug, ein
erhabeneres Konzept vaterländischer Pflicht zu bewahren. Die Ver
schwörung des 20. Juli gegen Hitler bestärkte die Vorstellung, daß die
Wehrmacht ein Zentrum des Widerstands gegen die NS-Führung war,
eine Institution, die aufrecht kämpfte, um die Russen aus Europafern
zuhalten, die mitdem Holocaust undanderen unsoldatischen Vorgängen
aber nichts zu tun hatte.
Vor einiger Zeit konnte nachgewiesen werden, daß diese Einschät
zung in vielerlei Hinsicht falsch war. Mittlerweile ist klar, daß Wehr
macht und SS-Einheiten oft zusammenarbeiteten, daß die Wehrmacht
schonzu einem frühenZeitpunkthalf, dieMassenmorde anJudenin Ser
bien zu organisieren, und die mörderischen Aktivitäten der Einsatz
truppen an der Ostfront unterstützte.Jüngere Studien haben nicht nur
gezeigt, wie stark die politische Indoktrination in das Offizierskorps
eingedrungen und dort sogar institutionalisiert worden war, sondern
auch, wie sich die NS-Ideologie in den Befehlen und Aktivitäten der
militärischen Befehlshaber spiegelte. Die Konzeption des Krieges im
Osten alsVernichtungskrieg wurde von der politischen und der militäri
schen Führung des Reichs geteilt. Die Verschwörung des 20. Juli taugt
weitaus weniger als Beweis für dieAbneigung derMilitärs gegen dieNS-
Politik, wenn man bedenkt, daß die Versuche, hochrangige Wehr
machtsoffiziere für eine nur minimale Unterstützung im Widerstand
160
gegen Hitler zu gewinnen, erst erfolgreich waren, nachdem mit Stalin
grad die deutsche Niederlage, in welcher Form auch immer, unaus
weichlich geworden war.8
Bei der Ersetzung des alten Bildes von der »antinazistisch« durch das
neuere einer »pronazistisch« eingestelltenWehrmacht hat sich die jüng
ste Forschung auf die hochrangigenBeziehungenzwischendem Regime
und dem Offizierskorps konzentriert. Sofern er überhaupt vorkommt,
erscheint der einfache Soldat als willenloses Werkzeug in den Händen
seiner Offiziere. Doch reicht es nicht aus zu zeigen, daß das NS-Regime
sich ein politisches Heer wünschte - es muß auch gezeigtwerden, wie es
ihm gelang, einesaufzubauen. Die kürzlich entstandeneFlut von Arbei
ten über die Alltagsgeschichte des Dritten Reichs hat deutlich gemacht,
wie wichtig es ist, allgemein verbreitete Ansichten in jede Debatte, die
klären soll, wie sich der Nationalsozialismus an der Macht hielt, einzu-
beziehen.Jüngste Studien zur politischen Haltung der Zivilbevölkerung
im Dritten Reich deuten darauf hin, daß es, vor allem nach Ausbruch des
Krieges, eine gewisse Ambivalenz gegenüber dem Regime gab. Sowohl
vor als auch während des Zweiten Weltkrieges bildete sich eine Band
breite von politischen Haltungen aus, die vom »inneren« Widerstand
(der gelegentlich auch sichtbar wurde) bis zur Zustimmung und Koope
ration in Form politischer Denunziation reichte.9
Obwohl das Konzept der Alltagsgeschichte bei der Analysedes Drit
ten Reichs Spuren hinterlassen hat, hatte es nur einen geringen Einfluß
auf unser Verständnis des deutschen Heeres. Dies ist kaum erstaunlich:
Ein Ansatz, der sich auf den sozialen Protest konzentrierte, der den
Widerstand gegen die Autorität betonte und dessen »ethnologische
Wende« bedeutete, »das Subjekternst zu nehmen«, eignete sichnicht für
eineUntersuchung des deutschenSoldaten. Wennman nicht nach Berei
chen des »Widerstands« innerhalb der Truppen suchte, fiel es nicht
leicht, sich in Individuen »einzufühlen«, denen die ideologische Attrak
tivität des »antifaschistischen Arbeiters« fehlte.10
Das führt manchmal zu einer recht einseitigen Wiedergabe militäri
schen Verhaltens. Hans-Peter Klausch hat sich auf die Geschichte der
sogenannten 999er Brigaden konzentriert, zu denen auch politische
Gefangene des antifaschistischen Widerstands gehörten. In ihrer Kritik
am Regime und ihrer Kooperation mit lokalen Widerstandsgruppen
waren siekaum typischeProdukte der Wehrmacht. Auf etwasallgemei
nerer Ebene hat Theo J. Schulte ein revisionistischesBild vom Leben der
wachhabendenLandserim besetzten Rußland gezeichnet, das sichdurch
Langeweile und ideologische Apathie ausgezeichnet habe. Deutsche

161
Konservative haben Belege für den Widerstand gegen Hitler meist im
Offizierskorps gefunden; von einem ganz anderen Ausgangspunkt aus
halten nun die oben genannten jüngeren Historiker Ausschau nach ähn
lichen Kräften innerhalb der Mannschaften, die von Trägheitbis zu akti
vem Widerstand reichten.11
Das Problem mit solchen Interpretationen ist jedoch, daß siedie Ursa
chen des Widerstands gegen die Befehlsgewalt und ihre ideologischen
Imperativein einemHeer suchen, das sich durch einen in jeder Hinsicht
bemerkenswerten Zusammenhalt auszeichnete. Mehrere Historiker
haben auf die Wichtigkeit eines »nationalsozialistischen Konsenses«
innerhalbder Wehrmacht hingewiesen.12 Es stelltsichdie Frage, aufwei
chen Überzeugungen dieser Konsens beruhte.
lan Kershaw wendet sich dem gleichen Problem im Kontext des
gesamten Dritten Reiches zu und argumentiert, daß die Verherrlichung
Hitlers »ein entscheidender integrativer Faktor im NS-Herrschaftssy-
stem«13 war. Bei der Wehrmacht mag es ein ähnliches Phänomen gege
ben haben, doch ist schwer einzuschätzen, wie die Soldaten auf die Pro
paganda-Anstrengungen des Regimes reagierten. Der »Hitler-Mythos«
scheint im Reich seit Ende 1941 an Anziehung verloren zu haben. Auch
die Soldaten wurden immer unzufriedener.14 Grundlegender ist die
Überlegung, daß, obwohl Hitlerbei bestimmten Gruppen, vorallem bei
den jüngeren Offizieren, immer noch populär gewesen sein mag, der
Führermythos allein nicht die Grenzen des Zulässigen bestimmte. In
Deutschland mußte das Regime angesichts öffentlicher Proteste zum
Beispiel sowohl das Euthanasieprogramm als auch die während des
Krieges geführte Kampagne gegen die Kirche fallenlassen.15 Wenn Ker
shaw den »Hitler-Mythos« so sehr betonte, dann deshalb, weil er über
zeugt war, daß die ideologische Zustimmung der deutschen Öffentlich
keit zum Nationalsozialismus übertrieben worden ist. Vielleicht ist es
jetzt an der Zeit, von neuem zu untersuchen, aufweiche Weisedie ideo
logische Dynamik des Regimes sich mit allgemein verbreiteten Denk
weisen verband.
Wenn man sich anschaut, auf welche Weise sich das Regime der
Zustimmung seiner Soldaten versicherte, so bedeutet das, einen weiter
gefaßten und differenzierteren Blickaufdie NS-Ideologie zu werfen,als
das in den bisherigen Debatten geschehenist. Eine erst kürzlich erschie
nene Arbeit macht sich daran, das Stereotyp von der Wehrmachtalseiner
»unbarmherzigen und disziplinierten homogenen Einheit« in Frage zu
stellen. Doch geht der Autor von der Unzufriedenheit und Apathie
innerhalb der Truppe aus und argumentiert damit, daß Ideologie nicht

162
immer »eine universelle Verhaltensdeterminante«16 sei. Ein solcher
Ansatz vermittelt den Eindruck, als sei die Moral unter den Soldaten
niedriger gewesen als im allgemeinen, und gründet sich zudem auf ein
monolithisches und unrealistisches Konzept von Ideologie. Der Natio
nalsozialismus hatte einen weitreichenden und tiefen Einfluß auf allge
mein verbreitete Überzeugungen: die Auffassung von Patriotismus, die
Einstellung zu Frauen, die Begriffe von Recht und militärischer Ehre
waren allesamt von der nationalsozialistischen Doktrin beeinflußt.
Neben dem Fanatismus hat es wahrscheinlich noch andere Faktoren
gegeben, mit denen sichdie Neigung der Wehrmacht zur Gewaltgegen
Zivilisten erklären läßt, und auch sie könnten zumindest teilweise von
faschistischem Gedankengut herrühren. Zwischen Omer Bartovs Beto
nung einer existentiellen, quasireligiösen Bindung an die NS-Weltan-
schauung und Hans Mommsens Bild vom Landser, der sichder auf ihn
abzielenden Flut von Propaganda phlegmatisch widersetzt, liegt ein
ganzer Bereich vonÜberzeugungen, derdaraufwartet, erforscht zuwer
den.17

Im Juni und Juli 1943 zog die 1. Geb.-Div. in den Nordwesten Grie
chenlands, um die Küste gegen die erwartete Landung der Alliierten zu
sichern. Sie begann mit einer Reihe von Säuberungsaktionen gegen die
Partisanen, die dieVerteidigung der Küstedurch dieAchsenmächte vom
Inland her bedrohten. Der erste große Einsatz, die Operation »Au-
gustus«, dauerte fünf Tage, in denen die deutschen Einheiten mehrere
hundert Meilen kargen Terrains besetzten, zahlreiche Dörfer nieder
brannten und mehr als hundert »Banditen« töteten. Doch nur wenige
Waffen wurdenbeschlagnahmt, und die Operationwurdeals Fehlschlag
bewertet, weil sich die Partisanen einfach ins Landesinnere zurückgezo
genhatten.18
Am 12. August, während der Operation »Augustus«, fuhr ein deut
scher Spähtrupp unerwartet auf den Hauptplatz von Kommeno. Dies
waren seit langem die ersten Deutschen. Seit 1941 war die Region von
italienischen Truppen und Carabinieri kontrolliert worden, die den
Dorfbewohnern gegenüber eine tolerante HaltungandenTag gelegt hat
ten. Zweifellos waren die deutschen Soldaten überrascht, griechische
Partisanen vorzufinden, die ihre Waffen an den Dorfbrunnen gelehnt
hatten, während sie bei den örtlichen Händlern Nahrungsmittel requi-

163
rierten. Es gabeinenMoment der Anspannung, aber die Dorfbewohner
konnten beide Seiten davon abhalten, aufeinander zu schießen. Einge
schüchtertwendetendie Deutschenihr Fahrzeugund fuhrendavon. Die
folgende Nacht verbrachten die nervösen Dorfbewohner auf den Fel
dern, und sie kehrten erst zurück, nachdem der italienische comman-
dante in Arta ihnen versichert hatte, daß sie nichts zu fürchten hätten.19
Doch der Italiener hatte unrecht. Berichte über die Sichtung der
Partisanen erreichten den Divisionsstab und höhere Stellen, und am
14. Augustging an OberstleutnantJosefSalminger, der dasGebirgsjäger-
Regiment (GJR) 98 befehligte, die Anweisung, sich für einen »Über
raschungsangriff« aufKommeno vorzubereiten. Nur wenige Tage zuvor
hatte die 1. Geb.-Div. von General Alexander Löhr in Saloniki die
Anordnung erhalten, die Sühnemaßnahmen »mit den härtesten Mitteln«
durchzuführen. Nach den allgemein geltenden Befehlen hatte die Tatsa
che,daß in Kommeno Partisanengesichtet worden waren, das Dorf und
seine Bewohner zu einem potentiellen Angriffsziel gemacht.20
Die Gewalt, die in Kommeno verübt wurde, war nicht spontan oder
unkontrolliert, sondern in ihr drückten sich die Ziele einer stark büro-
kratisierten militärischen Struktur aus. Das wird an der Zusammenset
zung der Einheit deutlich, die in das Dorf geschickt wurde; einige Sol
daten wurden abgeordnet, um nach der Operation die Beute
sicherzustellen; das Kantinenpersonal stand bereit, um die Soldatenmit
Reispudding und Obstkompott zu versorgen, bevor sie ins Lager
zurückkehrten.21 Außerdem vergingen mehrals vier Tage, zwischen der
ersten Sichtung derPartisanen unddem »Überraschungsangriff« auf sie.
Da sie in Kürze eine Landung der Alliierten an der Küste von Epirus
erwarteten und es nicht geschafft hatten, die Partisanen, die ihre rück
wärtigen Linien bedrohten, niederzuschlagen, mögen die Planer der
Wehrmacht in Ioannina und Athen die völlige und beispiellose Zer
störung von Kommeno als Mahnung und als Bekräftigung deutscher
Macht angelegt haben, als eine schreckliche Warnung andieRegion, wel
che Konsequenzen die Unterstüzung der Partisanen haben würde. So
zumindest wurde das Massaker von den lokalen Anführern des Wider
stands interpretiert.22
DochwaswarnachAnsicht der Soldaten der 12. Kompanie dasMotiv
fürdenAngriff? Bei derBefragung in denfrühen siebzigerJahrenerklär
ten fast alle, daß es eineVergeltungsaktion gewesen sei,obwohl sie sich
nicht einigwaren,wessen Tod angeblich gesühntwerdensollte. Die mei
sten erinnerten sich an den Tod eines hohen Offiziers, der von den Par
tisanen ermordet worden war. Offenbar spielten sie damit auf den Tod

164
ihres Kommandeurs,Oberst Salminger, bei einemPartisanenüberfall an,
ein Ereignis, das tatsächlichVergeltungsmaßnahmen nachsich zog, aller
dings erst nach Kommeno, nämlich am i. Oktober. Es gab auch andere
Erinnerungen. Nach Aussage von K., der es als Bataillonskommandeur
eigentlich wissenmußte, hatte Salminger selbstam Vorabend einefeuri
ge Rede an die Soldaten gehalten, in der er ihnen sagte,daß sie deutsche
Soldaten zu rächen hätten, die in Kommeno angegriffen worden seien.
(Wir wissen,daß dort nie Soldatenangegriffen wurden, für die Soldaten
muß das nicht unbedingt zutreffen.) Die Version, daß die 12. Kompanie
den Tod von anderen Soldaten vergelten sollte, die im Dorf getötet
worden wären, wurde von einer Reihe von Zeugenwiederholt. Erstaun
lich sind nicht so sehr das Durcheinander und die Abweichungen zwi
schen den Schilderungen, erstaunlich ist vielmehr die fast einhellige
Meinung, daß das Blutbad in Kommeno eine Form der Vergeltung
war.

Mit den Begriffen »Vergeltungsaktionen«, »Sühnemaßnahmen« und


»Säuberungsunternehmen«, die in den Zeugenaussagen von Ludwigs
burgimmerwiederauftauchen, wird jedervertrautsein, der sichmitden
NS-Besetzungenin Ost- und Südosteuropa beschäftigt. Es waren weni
gerdieFronteinsätze als vielmehr diese Maßnahmen, dieunter der Zivil
bevölkerung in den besetzten Gebieten durchgeführtwurden und größ
tenteils gegen sie gerichtet waren, die der Wehrmacht den Ruf der
Brutalität und der Gewalttätigkeiteinbrachten.
Die Ursprünge dieser Maßnahmen sind in der Reaktion der Deut
schen auf die französischen Franktireurs 1871 und 1914zu sehen. In bei
den Kriegen hatten die deutschen Streitkräfte Vergeltungsmaßnahmen
durchgeführt, verglichen mit dem, was kommen sollte, jedoch in einem
geringen Ausmaß. Paradoxerweise hattendiedurchdiese früheren Maß
nahmen hervorgerufenen Proteste dazu geführt, daß die militärischen
Vorschriften zur Erschießung von Zivilisten bei der Reichswehr stren
ger wurden; erst nach 1939 wurde diese Entwicklung rückgängig
gemacht.23 Die entscheidende Phase des Umschwungs war die erste
Hälfte des Jahres 1941, in die sowohl die Invasion Jugoslawiens und
Griechenlands als auch die Planung und schließlich die Durchführung
des Unternehmens »Barbarossa« fiel. Zu den ersten Beispielen für die
neue Politik gehörten die Anweisungen, die Ende April 1941 im gerade
erst besetztenJugoslawien an die deutschen Truppen ausgegeben wur
den. Generalfeldmarschall Maximilian von Weichs, der später Oberbe
fehlshaber Südost werden sollte, gab den Befehl aus: »Wenn in irgend
einem Gebiet eine bewaffnete Bande auftaucht, dann sollen selbst die

165
waffenfähigen Männer, die gefaßtwurden, weil sie sich in der Nähe der
Bande aufhielten, erschossen werden, auch wenn sich nicht unmittelbar
feststellen läßt, daß sie etwas mit der Bande zu tun haben.«24
Obwohl von Weichs damit aus eigener Initiative gehandelt zu haben
scheint, arbeitete das OKW für das Unternehmen »Barbarossa« ähnlich
drakonische Weisungen aus: Am 13. Mai 1941 ermächtigte es die Trup
pen, die sich an der Ostfront sammelten, Partisanen zu »liquidieren«,
und wies die Feldkommandeure an, Geiseln zu nehmen, um sie zur Ver
geltung von Angriffen auf deutsche Wehrmachtsangehörige zu er
schießen.25
In seiner Analyse des Verhaltens der Wehrmacht in Serbien im Jahr
1941 hat Christopher Browning gezeigt, daß selbst ein kultivierter und
religiöser Mann wie Generalfeldmarschall WilhelmList, der »weder ein
Nazi noch ein traditioneller preußischer Offizier« war, bereit war, auf
dem zu bestehen, wasseineigener Stabschef als »glatte Gewalt« bezeich
nete. Browning hebt eine Vielzahl von Faktoren hervor, die zu diesem
Verhalten beigetragen haben: ListsMangel an politischerSensibilität, die
Sorge um dasWohlergehen seinerSoldaten, dieEntrüstungüber diehin
terhältige Taktik des Widerstands und die Angst vor den nachteiligen
Auswirkungen,die die Erfolgeder Partisanen auf das Ansehender deut
schen Wehrmachthaben würden. Im Herbst 1941 wurden Lists Befehle
auf dem griechischen Festlanderstmals von der 164. Infanterie-Division
umgesetzt: Sie brannte mehrere Dörfer in der Nähe von Saloniki nieder
und erschoß über vierhundert männliche Dorfbewohner, nachdem ge
meldet wordenwar, daßPartisanen in der Umgebung Rastgemacht hat
ten.26
Sowohl in Serbien als auch in Griechenland etablierten die deutschen
Behörden ein Terrorsystem, als die Aktivitäten der Partisanen zunah
men. Die deutsche Besatzung hatte zu einem gesellschaftlichen Zusam
menbruch geführt, der in seinen Ausmaßen in Westeuropa beispiellos
war:Eineumfassende ökonomische Enteignung und die daraus resultie
rende rasche Inflation führten zum Zusammenbruch der Binnenmärkte.
Daswiederum hatteHungersnöte in denstädtischen Zentren zur Folge,
belastete die bestehenden staatlichen Behörden bis zum Zerreißen und
bewirkte letztlich dieAusbildung alternativer gesellschaftlicher Organi
sationsformen im Untergrund - mit anderen Worten, einen Massen
widerstand.27 Innerhalb der Besatzungsverwaltung drängten einige
Beamte darauf, daß dieVergeltungsstrategie zugunsten einerSuche nach
politischen Lösungen reduziert werden sollte, mit denen man, meist auf
der -Grundlage einer antikommunistischen Kampagne, ortsansässige
166
Kollaborateure für sich gewinnen könnte; andere verlangten hingegen
eine Ausweitung des Terrors.
Solche Debatten entstanden nach den Massakern in Kragujevac und
Kraljevo im Oktober 1941, wo deutsche Truppen - im Bemühen,
ihre Vergeltungsquoten zu erfüllen - mehr als viertausend Einwohner
erschossen. Dazu gehörte die gesamte serbische Belegschaft einer
Flugzeugfabrik, die im Zuge der deutschen Kriegsanstrengungen über
nommen worden war. Kaum mehr als zwei Jahre später gab es in Grie
chenlandeinenAufruhr, alsSoldatender 117. Jäger-Division die Ermor
dung von circa siebzig Männern aus ihren Reihen durch die Partisanen
rächten, indem sie siebenhundert Griechen, darunter die gesamte männ
liche Bevölkerung von Kalavrita, erschossen.28
Beide Vorfälle führten kurzfristig dazu, daß die Militärbefehlshaber
Befehle erließen, die auf eine Modifikation der bestehenden Praxis
abzielten. Das mag zeitweilig zwar diejenigen beschwichtigt haben, die
eine größere Sensibilität für das Ansehen vor Ort verlangt hatten, hatte
aber keine erkennbare Auswirkung auf das Verhalten der Wehrmacht.
Weder machten die neuen Befehle den Massenerschießungen ein Ende
noch zogen sie eine Bestrafung der verantwortlichen Offiziere nach sich.
Nur Monate nach den beiden Greueltaten kam es zu weiteren Massa
kern.29
Um erklären zu können, wieso die Debatten immer wieder auf diese
Weise endeten und eher für Gewalt als für Verhandlung optiert wurde,
reicht die Behauptung,diesseieinfacheine »normale« militärische Reak
tion auf die Probleme des Partisanenkriegs gewesen, nicht aus. Partisa
nenkrieg ist, wie der Krieg selbst, eine eigene Kategorie; er umfaßt eine
ganze Bandbreitevon Situationenund möglichen Reaktionen. Wederin
Griechenland noch in der italienischen Besatzungszone Jugoslawiens
reagierte die italienische Armeein gleicher Weise wie die Deutschen auf
die Partisanen. Ihre militärische Reaktion war viel zurückhaltender, und
die italienischen Ortskommandanten waren eher geneigt, stille Abkom
men mit den potentiellen Führern des Widerstands zu treffen. Tatsäch
lich gerietendie italienischen Befehlshaber in Epirus mit der 1.Geb.-Div.
wegen der Taktik der Partisanenbekämpfung heftig aneinander und
bestanden auf einem korrekten Verhalten gegenüber der Zivilbevölke
rung.30 Demnach gab es also Alternativen zur vorherrschenden Politik
der Deutschen.SogareinigeWehrmachtsoffiziere argumentierten,daß es
sinnvoller gewesen wäre, die Truppen unten in der Ebene einzusetzen,
um die Ernte zu bewachen und die Partisanen auf diese Weise aus
zuhungern, statt ihnen erfolglos in den Bergen hinterherzujagen.31 Es

167
gab einen Grund, warum diese Stimmen ignoriert wurden: Es handelte
sich nicht um einenPartisanenkrieg, bei dem die Aggressionen durch die
Spannung und den Druck ausgelöst wurden, demdieBodentruppenaus
gesetztwaren.32 In der im Entstehen begriffenen »Neuen Ordnung« der
Nationalsozialisten, zumindest wie sie sich in weiten TeilenOsteuropas
entwickelte, wurde Brutalität nicht nur geduldet oder toleriert. Sie
wurde ermutigt. Hinter den »Vergeltungsaktionen« und den »Sühne
maßnahmen« steckten die Überzeugungen des Nationalsozialismus, ja
Hitlers selbst.

//

In vielerHinsicht war Hitler ein typischer ehemaliger Frontkämpfer. In


den Schützengräben von Ypern hatte er sich mehrere Auszeichnungen
erworben, und sein Krieg war sehr risikoreich und voller Bewegung
gewesen. WieandereFrontsoldaten wurde er nicht nur von den ihm vor
gesetzten Offizieren, sondern auch von den Umständen an die Notwen
digkeit von »Kampfgeist« und »Siegeswillen« erinnert. Einige Soldaten
kehrten 1918 mit einemständigenMißtrauen gegenüberGewaltaufrufen
nach Hause zurück, andere aber schienen mit ihnen wie verwachsen zu
sein. Hitler schrieb die Niederlage Deutschlands einerWillensschwäche
zu, einemZurückscheuen vor den Anforderungen des Krieges, und das
Ergebnis war eine Philosophie, die nach einer so gut wie ungezügelten
Aggression im Streben nach militärischem Sieg verlangte. »Man kann
einen Krieg nicht mit den Methoden der Heilsarmee führen«, war Hit
lers Antwort auf Proteste angesichts der Brutalität der SS im November
I939-33
Eine Reihe von Autoren hat zu Recht betont, wie wichtig es Hitler
während der Vorbereitungen zum »Unternehmen Barbarossa«war, dem
Oberkommando der Wehrmacht klarzumachen, daß dies eine neue Art
von Krieg sein sollte, ein Vernichtungskrieg. Hitler war ähnlich direkt,
was den Umgang mit der Bedrohung durch die Partisanen anging. Im
Dezember 1942 kam die Partisanenfrage zum Beispiel bei einer Unter
redung zwischen ihm und Alfred Jodl, dem Chef des Wehrmachts-
führungsstabes, zur Sprache. Der Führer entwarfdas folgende Szenario,
um zu illustrieren, wie mit den Partisanen umzugehen sei: »Was wollen
Siemachen: die Schweine sind in einem Hause und verbarrikadieren sich,
und in diesem Hause sind auch Weiber und Kinder. Darf der Mann das
Haus anzünden oder nicht? Wenn er es anzündet, verbrennt der

168
Unschuldige mit. - Da darf es gar keineFragegeben! Er muß es anzün
den.« Genau diese Haltung steckt hinter Rösers drakonischen Anwei
sungen an seine Männer vor Kommeno.34
In einem Wortwechsel, der die oben beschriebene Auseinander
setzung illustriert, erwiderte Jodl, daß ein gemäßigteres Vorgehen viel
leichtverhindern könnte, die Bevölkerungin die Arme der Partisanenzu
treiben. Hitler war anderer Meinung und tat bald seineWünsche kund.
Innerhalb von zwei Wochen hatte das OKW neue Richtlinien zur Parti
sanenbekämpfung erlassen. In diesen wurde - mit ausdrücklicher Billi
gung des Führers - angeordnet, daß »die Soldaten das Recht und die
Pflicht haben, in diesem Kampf selbst gegen Frauen und Kinder alle
Mittel einzusetzen, vorausgesetzt, sie führen zum Erfolg. [...] Kein
Deutscher, der an Unternehmungen gegen die Banditen oder ihre
Verbündeten teilnimmt, ist für Gewaltakte verantwortlich zu machen,
weder in disziplinarischer noch in rechtlicher Hinsicht.« Im »Führer
staat« bestand also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen
Hitlers eigenen Ansichten und den offiziellen Richtlinien der Wehr
macht.35
Diese Direktiven und Einsatzbefehle enthielten gewisse wieder
kehrende Motive - »Härte«, »rücksichtslose Strenge« -, die Hitler und
seine Generäle offenbar für die Tugenden hielten, die für diese Art des
Kampfes erforderlich waren. Der deutsche Soldat mußte - laut den für
den Balkan ausgegebenen Richtlinien - »noch verschlagener und rück
sichtsloser« sein und dazu bereit, »alle Mittel« im Kampf gegen einen
»hinterhältige[n] und verschlagene[n] Gegner« einzusetzen.36
In Griechenland war »Härte« besonders verlangt, denn der dortige
allmähliche Verfall der öffentlichen Ordnung wurde 1943 dem Fehlen
dieser Tugend bei den Italienern zugeschrieben. Beim Gipfeltreffen in
Salzburg im April 1943 warnte Ribbentrop einen hohen italienischen
Diplomaten, daß man »zu brutalen Aktionen greifen müßte, wenn die
Griechen sich überschätzen sollten. Er war der Meinung, daß [...] den
Griechen mit eiserner Hand gezeigt werden müßte, wer der Herr im
Land war.«37 Ausnahmsweise befand sich der Außenminister in Über
einstimmung mit seinen Kollegen bei der Wehrmacht, die beunruhigt
waren, weil es Anzeichen dafür gab, daß die Griechen ihre Verachtung
für die Italiener auf die Deutschen übertrugen, während der Wider
standsgeist sich verbreitete. In jenem Sommer war in Argos ein neu
eingetroffener deutscher Soldat am hellichten Tag von einem griechi
schen Zivilisten zusammengeschlagen worden. Der deutsche Orts
kommandant verlangte eine harte Antwort. Als die Italiener, die for-

169
mal immer noch zuständig waren, die Sache schleifenzulassen drohten,
sorgte er dafür, daß die Exekutivgewalt auf ihn übertragen wurde
und ordnete sofortdie Hinrichtung von drei »Verdächtigen« an.38
Einige Wochen später behauptete ein Nachrichtenoffizier in Athen,
daß im Umgangmit den Griecheneher Gewalt alsWorte gefordertseien:
»Die Zeit, in der wir uns auf Verhandlungen verlassen konnten, ist vor
bei.Der Grieche will immer noch mehr und benutzt Verhandlungen,um
sein Ziel zu erreichen, und das führt dazu, daß er den Respekt für die
Deutschen verliert.« Ein Flugblatt, das in den Dörfern auf dem Pelo-
ponnes verteilt wurde und davor warnte, die Partisanen zu unterstützen,
drückte es einfacheraus: »Die Deutschen lassendie Waffen sprechen.«39
In Griechenland wurde diese Gewaltideologie ebenso wie an der
Ostfront durch das rangniedere Offizierskorps vermittelt, das, nach
Bartovs Worten, das Rückgrat der deutschen Wehrmacht war.4° Diese
Offiziere sollten ihren Männern durch ihr Verhalten demonstrieren, wie
der Krieg zu kämpfen war, und das beinhaltete die Fähigkeit, notfalls
»hart« zu sein.41 Das Regime betonte die zentrale "Rolle, die dieses Seg
ment der Wehrmacht spielte, und gewährte ihnen praktisch rechtliche
Immunität. Sie wurden, nach den Worten eines deutschen Nachkriegs
richters, zu »Herrn über Leben und Tod«.42
Nach einem Massakerin Griechenland,das energische Proteste beim
deutschen Auswärtigen Amt hervorrief, weil es seine Politik der politi
schen Kollaboration bedroht sah, wurde der verantwortliche Regi
mentskommandeur von seinemVorgesetzten mit dem Argument vertei
digt, daß er, obwohl er ein »besonders strenger Vorgesetzter« sei,der oft
zu »drakonisch harten« Maßnahmengreife, stets »um das Wohlergehen
seiner Männer besorgt sei und seine Handlungen auf diese Einstellung
zurückzuführen« seien. Ein anderer junger Leutnant der Waffen-SS
entging der Strafe für ein Massaker in Distomon im Juni 1944, weil er,
obwohl er »den Rahmen, den die Befehle für Sühnemaßnahmen ziehen,
zweifellos überschritten« hatte, aufgrund der Überzeugung gehandelt
hätte, »ein Exempelstatuieren zu sollen, durch welches die Besatzungs
macht mit aller Schärfe beweist, daß sie auch der hinterhältigsten und
gemeinsten sogenannten >Kriegsführung< zu begegnen weiß«.43
Der ideologische Einfluß Hitlers auf das Offizierskorps wird deut
lich,wenn man die Schlüsselfiguren in der Einheit untersucht, die für das
Massaker in Kommeno verantwortlich waren. Als das GJR 98 vor
Kriegsbeginn im Zuge der Erweiterung der 1. Geb.-Div. gegründet
wurde, wurde Ferdinand Schörner sein erster Kommandeur, ein Mann,
der später, nach seiner steilen Kriegskarriere, einen Ruf als »der brutal-

170
ste von Hitlers Feldmarschällen«44 erlangensollte.Schörner, ein Verdun-
Veteran und Angehöriger des Freikorps Epp, war einer der wenigen
ranghohen Wehrmachtsoffiziere, für die Hitler nie die Begeisterung
verlor, und er hatte engeBeziehungenzur NSDAP: Er wurde zum Chef
des NS-Führungsstabs, das heißt der politischen Propagandaabteilung
innerhalb der Wehrmacht, ernannt, und nach seinem Rücktritt betonte
er weiterhin, wie wichtiges sei,der Wehrmachtdie nationalsozialistische
Weltanschauung einzuprägen.
Schörners mächtigerEinfluß wirkte nach seinemWeggang 1940 in der
1. Geb.-Div. fort: Mit Walter von Stettner als Divisionskommandeur und
Salminger als Kommandeur des GJR 98 waren dreiJahre später Männer
an der Macht, die unter ihm gedient hatten - letzterer sogar als Chef der
12. Kompanie. BeideMänner legten zudem, auf unterschiedliche Weise,
jene Art von Einstellung an den Tag, die der Wehrmacht half, mit dem
NS-Regime zurechtzukommen.
General von Stettner, der aus einer angesehenenSoldatenfamilie kam
und im Ersten Weltkrieg gekämpfthatte, war ein kleinerpenibler Mann,
dessen Minderwertigkeitskomplex und brennender Ehrgeiz dazu führ
ten, daß er seine persönlichen politischen Ansichten für sich behieltund
von seinenUntergebenen unerschütterlichenGehorsam gegenüberHit
lers Befehlen verlangte. Er mißbilligte die Rolle, die die Divisionsgeistli
chenim Lebender 1.Geb.-Div. spielten. In den Richtlinien, die er für die
Operation »Augustus« ausgab, verlangte er, daß die Soldaten auf jedes
Anzeichen oder selbst den Verdacht von Partisanenaktivitäten mit
standrechtlichen Erschießungen von Verdächtigen und der Zerstörung
der Häuser in der Umgebungreagieren sollten.45 Das führte dazu, daß er
mit seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem frommen katholischen
General Hubert Lanz, wegen der Behandlung der Zivilisten in Epirus
aneinandergeriet. Nach Auskunftdes katholischen Divisionsgeistlichen
nahm dieser Disput im Laufe der Zeit die Dimension einer »ideologi
schen Spaltung« innerhalb des Offizierskorps an.46
Oberst Salminger, der kaum über dreißig gewesen sein kann, als er
einige Wochen nach Kommeno bei einem Partisanenüberfall getötet
wurde, war ganz anders als Stettner.Ebenso wie Schörner war er mutig,
impulsiv und brutal. Er war in die Reichswehr als Unteroffizier einge
treten, wurde 1936 aber zum Offizier ernannt und stieg erstaunlich
schnellauf,um in SchörnerseigenemRegimentdas Kommando zu über
nehmen. Nach Aussage von K., dem Bataillonskommandeur, der unter
ihm diente und bei Kommeno mit dabei war,sah Salminger in Hitler den
Retter Deutschlands und ließ seiner Begeisterung freien Lauf. »Dieses

171
Regiment ist nicht bloß ein deutsches Regiment, es ist ein Hitler'sches
Regiment«, soll er seinenUntergebenenim GJR 98in Griechenlandver
kündet haben. Solche Ansichten riefen ein Stirnrunzeln bei den konser
vativeren Offizieren hervor, konnten seine Beliebtheit unter seinen
Männern aber kaum schmälern.47
Einen Eindruck von Salmingers Direktheit gebendie Nachrichten, die
er während einer der ersten Einsätze gegendie Partisanen in Epirus an
von Stettner schickte,einigeWochenvor Kommeno, alser versuchte, die
Bergstraße, die südlich von Joannina nach Arta führte, zu räumen. Die
Straßen waren schlecht, es war furchtbar heiß, und das Wasser war
knapp; es gab keine Dolmetscher,und für die Truppen war es schwer, an
zuverlässige Informationen zu kommen. Die Partisanen mieden jeden
Kontakt und zogen sich in die Berge zurück. Frustriert funkte Salmin
ger an von Stettner in Joannina zurück: »Herr General! So wie die Ver
hältnissezur Zeit liegen, ist bestimmtder ganzeEinsatz, obwohl er unter
größten Anstrengungen durchgeführt wird, nach meinem Gefühlvöllig
zwecklos. Es gibt hier nur eins: diegesamte männliche Bevölkerung fest
zunehmen, wer sich am Kampf beteiligt oder die Banditen unterstützt,
müßte sofort erschossen werden.«48
Schon einige Tage lang hatte er auf ein solches Vorgehen gedrängt,
allerdings mit wenig Erfolg, da die Italiener, deren Kommando die Re
gion nominell immer noch unterstellt war, es als zu hart erachteten. Um
seine Frustration an einem »akzeptableren« Angriffsziel abzulassen,
hieltSalminger einenWagen an, dessenFahrer sich,obwohl er einenPas
sierschein für die Straßebesaß, aus anderenGründen alsverdächtig her
ausstellte:Er war »ein einwandfreierJude [...]. Das wurde mir dann doch
zu viel, ich habe diesen Burschen mit Wagen festnehmen und zur Divi
sion bringen lassen.«49
Es sollten noch sieben Monate vergehen, bis die Juden von Ioannina
zu den Todeslagern deportiert wurden. In Salmingers Vorgehensweise -
denjüdischen Fahrerfestzunehmen, ihnabernichtgleich zu töten- spie
gelt sich vielleicht die Ambiguität Von Griechenlands Lage zwischen
dem Osten, wo es gut hätte sein können, daß der arme Mann auf der Stel
le erschossen worden wäre, und Westeuropa, wo man ihn vielleicht gar
nicht erst festgenommen hätte. Auf derselben Straße sollte Salminger
gegen Ende des Sommers selbst ums Leben kommen, als er auf dem
Rückweg nach Ioannina, den er in seiner impulsiven Art ohne Eskorte
machte, in einen Hinterhalt der Partisanen geriet.
Es waren von Stettnerund Salminger, die bei den untergebenen Offi
zieren, die täglichmit den Mannschaftenin Kontakt standen und deshalb

172
so außerordentlich wichtigwaren,den Tonangaben. In Salmingers »Hit-
ler'schem Regiment« sympathisierten viele von ihnen in ähnlichem
Maße mit den nationalsozialistischen Zielen: Einem Landser wurde die
Beförderung verweigert, nachdem Leutnant D., Rösers Stellvertreter,
seine politischen Akten beim lokalen Parteibüro überprüft hatte. Ein
anderer Soldat erinnert sich an Röser als einen »hundertfünfzigprozen
tigen Nazi«. Major K., der Röser gut kannte, charakterisiert ihn eben
falls in politischer Hinsicht: Obwohl er kein Parteiaktivistgewesen sei,
also nicht die Art von Offizier, der seineMänner aufgrund defätistischer
Aussagender Gestapo übergab, war er ein ehemaliger HJ-Gruppenfüh-
rer, der viele Ideale aus der Hitlerjugend mitbrachte. Bei Ausbruch des
Krieges hatte er sich freiwillig zum Dienst in der Wehrmacht gemeldet,
wo er sich - nach Aussagenvon K. - als ein anständiger und rücksichts
voller Kompaniechef erwies, der »von seinen Soldaten als Kamerad
angesehenwurde«. Diejenigen,die geneigtsind, die Solidaritätinnerhalb
der Einheit und den Zusammenhaltin der Wehrmachtalleindem Zwang,
der Überwachung und der strengen Disziplin zuzuschreiben, sollten
sich klarmachen, für wie wichtig man es hielt, daß die niederen Offizie
re eineBeziehungdesVertrauens, der Achtung und sogarder »Liebe« zu
den Männern unter ihrem Kommando aufbauten. Zugleich war Röser
derjenige, der den Dorfgeistlichen am Dorfeingang von Kommeno aus
nächster Nähe erschoß und K. später in das Dorf einlud, um ihm zu zei
gen, »wieseine Männer das hingekriegt hatten«.50

///

Der Einfluß des Nationalsozialismus zeigte sich also am Verhaltenver


schiedenerOffiziere aus der gesamten Hierarchie der i. Geb.-Div. Aber
die Art des Kontakts, die ein Offizier, ob aktiv oder Reserveoffizier, zum
Regime und seiner Ideologie hatte, unterschied sich erheblichvon dem
der Mannschaften. Salminger war trotz seiner Herkunft aus der Unter
schicht schon vor 1936 in der Wehrmacht gewesen. Männer wie Leut
nant D. (RösersNachfolger als Chef der 12.Kompanie)oder Karl Roth
fuchs, der Nachrichtenoffizier der Division, hatten vor dem Krieg im
Dritten Reich eine Laufbahn als Lehrer bzw. als Rechtsanwalt ein
geschlagen. Siewaren Mitte Zwanzig oder Anfang Dreißig und mit den
Verpflichtungen und Kompromissenvertraut, die für ein Vorwärtskom
men im Nationalsozialismus erforderlich waren.
Die Wehrpflichtigen hingegen waren jünger und weniger gut ausge-

173
bildet. Diejenigen, die mit der 12. Kompanie nach Kommeno kamen,
waren im allgemeinen Anfang Zwanzig und stammten aus Dörfern und
kleinen Marktflecken in Bayern und dem Westen Österreichs. Die mei
sten waren 1941 oder 1942 im Alter von neunzehn Jahren einberufen
worden, hatten irgendeine Art von weiterführender Schulbildung und
erste Erfahrungen mit körperlicher Arbeit oder einer Anlerntätigkeit
hinter sich. Nach dem Krieg sollten sie Bäcker, Bauern, Fabrikarbeiter
oder Eisenbahnerwerden- der Prototyp des »kleinen Mannes«, so wür
denviele über sichselbstgedacht haben.51 Ihnen fehlte die Hingabeeines
Salminger oder einesRöser, und es ist kaum verwunderlich,daß S.,einer
der Divisionsgeistlichen, kurz vor dem Einzug der Truppen in Grie
chenland Anzeichen von Kriegsmüdigkeit bei ihnen bemerkte. Die
immer schlechter werdende Disziplin sollte, so schrieb er, dadurch
wiederhergestellt werden, daß ihr »Verantwortungsgefühl« gesteigert
würde - obwohl alle wüßten, »um was es in diesem Kriege geht«. Er
drängte die Offiziere zu mehr Rücksicht gegenüberihren Soldaten.52
Solche Beobachtungen legendie Vermutungnahe,daß es wohl keinen
Bruchzwischen Offizierenund Mannschaften gab, ihre Einstellung zum
Kriegaber bestimmt unterschiedlichwar.Die Soldatennahmen im Den
ken des Regimes keineso wichtige Position ein wie das Offizierskorps,
und der Einflußdes Nationalsozialismus aufsiewar wenigerdirekt.Wie
nahmen sie die Idee eines Weltanschauungskrieges auf? Ist es plausibel,
sie entweder als Fanatiker, die einen Glaubenskrieg kämpften, oder als
jeder Ideologie abholde »Pantoffelsoldaten« zu charakterisieren?53

IV

Beim Einmarsch in Griechenland im Frühjahr 1943 erhielten die Offi


ziere der 117. Jäger-Division detaillierte Anweisungen, wie sie ihren
Männerndurch einen »totalenKrieg«, in dem sie »Führung,Antworten
und eine klare Ausrichtung« brauchten, helfen sollten: »Besonderswich
tig ist es, immer wieder den Kampfeswillen zu stählen und die soldati
schen Tugenden herauszustellen. Die Erziehung zur Krisenfestigkeit,
Härte und einer gewissen Brutalität ist unbedingt erforderlich.«54 Aber
wie sollten die Soldaten den Feind, den zu hassen von ihnen erwartet
wurde, erkennen? Was war unter »soldatischer Tugend« und was unter
»Brutalität« zu verstehen? Wie sahenin einemPartisanenkrieg die Kri
terien für Schuld und Unschuld aus? Auf diese Fragen erhielten die
Landser widersprüchliche Antworten.

174
Zum einenwurde ihnen gesagt, daß alle Zivilisten alspotentielle Fein
de zu gelten hätten. »Jeder Umgang mit Griechen ist verboten. Jeder
Grieche, auch wenn er sich dem deutschen Soldaten anbiedert, will etwas
von ihm. Für jedes Geschenk erwartet der Grieche eine Gegengabe.
Deutsche Gutmütigkeit den Griechen gegenüber ist immer falsch. Lie
ber einmalzu vielalseinmalzu wenigschießen.« Das waren die Instruk
tionen, die an die Soldaten ausgegeben wurden, alssieAnfang 1943 zum
ersten Mal in Griechenland einmarschierten.55
Diese Botschaft wurde durch vertraute Muster der Klischeebildung
verstärkt, die den anfänglich gezeigten Philhellenismus der Nazis über
lagerten, als der Widerstand breiter wurde. Gerade die Unsichtbarkeit
des Partisanen ermöglichte es, ihn zu dämonisieren. Obgleich primitiv,
war er angeblich allmächtig, mit dem Terrainvertraut, mobil und - auf
grund seiner hervorragenden Informationsquellen - in der Lage, jeden
deutschen Angriffvorherzusehen. Seinen Balkan-Eigenschaften untreu,
neigte er zu Grausamkeit und zu einer »Kriegsführung«, die »von einer
kaum vorstellbaren Unbarmherzigkeit und Unmenschlichkeit war«.
Gelegentlich wurde er auf eine Weise charakterisiert, die mehr als nur
eine flüchtige Ähnlichkeit zu stereotypen antisemitischen Propaganda
motiven des Dritten Reichs hatte. Zahllose Geschichten über die
Mißhandlung gefangener Soldaten durch die Partisanen machten die
Runde; mehr als ein Wehrmachtssoldat, der in Gefangenschaft geraten
war, drückte sein Erstaunen darüber aus, daß die Partisanen ihn nicht
schonungslos umgebracht hatten.56
Für den belagerten deutschen Soldaten verstärkten praktische Maß
nahmen dieses Gefühl ständigerBedrohungnoch. Den Soldaten wurde
(wie den Italienern vor ihnen) verboten, allein auf die Straße zu gehen
oder sich unter Kompaniestärke in die Berge zu wagen. Wo eine ständi
ge Garnison oder Wachtposteneingerichtetwerden mußten, um wichti
geStraßenin verlassenen Gegendenzu schützen,wurden »Stützpunkte«
errichtet, Blockhäuser mit dicken Betonwänden, die eine allgemeine
Angst vor der Außenwelt ausdrückten. Auch die Partisanen nutzten das
Gefühl der Isolation und der Verwundbarkeit auf Seiten der Soldaten
aus. Ein deutschsprachiges Propagandaflugblattdes griechischen Wider
stands zeigte zwei deutsche Soldaten, die eine dunkle Straße herunter
kamen, einer guckte nervös über seine Schulter, und die Bildunterschrift
lautete: »DeutscherSoldat! Seistets auf der Hut. Du bist ganz allein.«57
Aber auch wenn man vom einzelnen Soldaten erwartete, daß er seinen
Wachtposten nicht verließund bereit war, auf jeden Angriff hart zu rea
gieren, durfte er seinem Aggressionstrieb nicht nachgeben. Truppen-

175
kommandeure waren ängstlich darum bemüht,die Disziplinzu wahren.
Sie fürchteten jenen Abstieg in die Anarchie, die den Gebietskomman
danten in Korinth veranlaßte, von den »Gangstermethoden« einzelner
Soldaten im Umgang mit der Bevölkerung und einem Verhalten zu
reden, das »förmlich an Wildwest-Sitten« erinnere. Direktiven zur Par
tisanenbekämpfung versuchten zwischen Vergeltungsmaßnahmen und
»unbegründetem Mord«, der »natürlich untersagt« war, zu unterschei
den. Solche Unterscheidungen standen jedoch in ständigem Wider
spruch zur Billigung von Gewalt. Als General Löhr im Juli 1943 anord
nete, daß »das Ausmaß einer Sühnemaßnahme klar anzuordnen ist [und]
ihre Durchführung zu überwachen ist, um Exzesse bei unseren eigenen
Truppen zu verhindern«, fügte er die Drohung hinzu, daß Soldaten,
denen es nicht gelang, »jede Form aktiven Widerstands seitens der
Bevölkerung unmittelbar und schonungslos mit Waffengewalt zu bre
chen«, vor ein Kriegsgericht gestellt würden. Auf ähnliche Weise warn
te General Hellmuth Felmy von Athen aus, daß »Übergriffe der Trup
pe« wie Plünderungen, Beutemachen und Grausamkeiten verhindert
werdenmüßten, denn sie»wirken sich [...] nachhaltig aufDisziplin und
innere Haltung ausund schwächen dadurchdie Truppe für ihren späte
ren Einsatz gegen gleichwertige Gegner«. Doch konnte er sich des fol
genden Zusatzes nichtenthalten: »Beim Bandenkampf ist jedoch Weich
heit ebenso falsch wie zu harte Maßnahmen.«58
Felmys wirre Anweisungen illustrieren die einander widersprechen
den Überzeugungen und Werte, die inKommeno zurGeltung kommen
sollten. Zwar fürchtete Felmy die Auswirkung der »Übergriffe« aufdie
»innere Haltung«,doch die Angst, der Schwäche bezichtigt zu werden,
war stärker. Und der Unterschied, den er zwischen »Banden« und künf
tigen »gleichwertigen« Gegnern machte, ist Indiz für einen Begriff von
Soldatenehre, dessen Gebote in einem Partisanenkrieg nicht leicht zu
erfüllen waren.59
Der Nationalsozialismus hatte den Soldaten zu einer privilegierten
Position in der Gesellschaft verholfen. Der Landser konnte daraus
Befriedigung gewinnen, Teil einer angesehenen Institution zu sein. Er
wurde ständig daran erinnert, daß »der Soldat seine seelische Kraft aus
den ewigen soldatischen und ethischen Werten der Nation«60 beziehe.
Der Stolz der 1. Geb.-Div. hatte ganz besondere Gründe. Das Leben in
den Bergen und die Reinheitund ungeheure Ausdauer, die damit asso
ziiert wurden, hatten in der nationalsozialistischen Ikonographie einen
hohen Symbolwert.61 Viele Männer waren eigens aufgrund ihrer alpini
stischen Fähigkeiten für die 12. Kompanie ausgewählt worden.Sie waren

176
ursprünglich für die Hochgebirgsbataillone rekrutiert worden, unter
Hitlers Horst in Berchtesgaden ausgebildet, hatten sie 1942 dann den
Sturmangriff der Deutschen durch den Kaukasus auf Baku angeführt.
Typisch für ihre Kriegsauffassung war die ungewöhnliche Episode im
August 1942, als die Gebirgstruppen sich vom Vorstoß nach Süden
absetzten, um auf dem Gipfel des Elbrus die Hakenkreuzflagge zu his
sen- eineLeistung,die in Deutschland vielAufsehenerregte,obwohl sie
Hitler selbst unbeeindruckt ließ.
Für diese Männer bedeutete Krieg, sowohl die Natur als auch einen
technisch ebenbürtigen Gegner zu besiegen. Die Artilleriegefechte mit
den Gebirgstruppen der Roten Armee in den großen Höhen des Kauka
sus waren eine Herausforderung an die körperliche Tüchtigkeit, Fähig
keitund Ausdauer, diedasSelbstbild der Gebirgstruppe bestätigte.62 Die
Reise von den Schneemassen des Elbrus zu den von Malaria geplagten
Ebenen von Epirus war mehr als eine rein geographische Veränderung:
Bei Morgengrauen in Lastwagendie Ebene südlich von Arta entlangzu
fahren war der Beginn einesweniger heroischen Unternehmens.
Nichtsdestoweniger hielt dieses heldenmütigeund ehrenhafte Selbst
bild - das nur eine extreme Form jenes Bildes war, das in der ganzen
Wehrmacht vorherrschte - die Soldaten des GJR 98 nicht davon ab, sich
an zahlreichen Vergeltungsaktionen zu beteiligen. Seit dem Frühjahr
1943 nahm die 12. Kompanie an einer Reihe von Säuberungsaktionen
gegen Partisanen teil, die sie durch Serbien und Montenegro bis nach
Griechenland führten. Ende Juli führte Salminger sie in einem ersten
Vorstoß gegen die dortigen Partisanen die Straße nach Arta hinunter.
Alle dieseEinsätze hatten Verlusteunter der Zivilbevölkerungzur Folge.
Wasalsowar so besonders an der Kommeno-Operation, daß sie die Sol
daten, nach den Worten von Johann E., »vollkommen demoralisiert«
zurückließ?63 Die Antwort darauf ist, daß dies keine gewöhnliche Ver-
geltungsaktiori war.
Vergeltungsmaßnahmen sollten Terror mit Terror beantworten. Die
Zahl der Geiseln oder anderer verfügbarer Opfer, die für jeden Angriff
auf Mitgliederder Besatzungstruppen erschossen werden sollten, wurde
in Quoten festgelegt. Zum Beispiel nahmendie Männerder 117. jg.-Div.
am 5. Dezember 1943 in dem Dorf Andritsa als Vergeltung für einen
Angriff auf einenWachtpostender Eisenbahnfünfzig Geiselnund häng
ten sie entlangden Gleisenauf. Drei Tage später veranlaßtedie Meldung,
daß weitere deutsche Soldaten getötet worden waren, den Divisions
kommandeur, die »Erschießungder männlichen Bevölkerung und [das]
Niederbrennen der Ortschaften«64 in dem Gebiet zu befehlen, in dem

177
man seineMänner tot aufgefundenhatte. MännlicheZivilisten, vor allem
die waffenfähigen, galten als geeignete Ziele und machten die Mehrheit
der Opfer aus. MännlicheDorfbewohner wurden oft an Ort und Stelle,
ohne Verhör oder Verhandlung, getötet. Es war zwar ungewöhnlich,
aber durchaus kein Einzelfall, daß alle Männer eines Dorfes erschossen
wurden, wenn die Quote es verlangte.
Hingegen kam es äußerst selten vor, daß sich die Maßnahmen in
großem Ausmaß gegenFrauen und Kinder richteten. Im Winter 1941/42
hatte in Serbien der Widerwille der Offiziere, die Soldaten auf jüdischef
Frauen und Kinder schießen zu lassen, nachdem die dazugehörigen
Männer alle erschossen worden waren, dazu geführt, daß erstmals Gas
wageneingesetztwurden. An der Ostfront hatten einige Soldatenähnli
che Skrupel. Im August 1941 wurde ein Divisionsoffizier gerügt, als er
seineMänner daran erinnerte, daß eswegenihrer »sauberensoldatischen
Gesinnung« ausgeschlossen sei, »Gewalt und Roheit« gegen eine unbe
waffnete Bevölkerung anzuwenden: Maßnahmen gegen Frauen und
Kinder würden sich in nichts von den Greueln ihres Gegners unter
scheiden.65
In Griechenland, wo die Rassenverachtung der Deutschen weniger
ausgeprägt war als im Osten, kam es während der Besetzung nur selten
zu solchen Greueltaten wie in Kommeno. Gewöhnlich verließ die männ
liche Bevölkerungdie Dörfer, durch die die Deutschen kamen, und ließ
Frauen, Kinderund ältereMenschenzurück - offenbarin der Annahme,
daß diese Bevölkerungsgruppen sicher wären. Eine Frau, die Kommeno
überlebthat,erinnertsich: »Mein Ehemann schlief zu demZeitpunktauf
dem Feld. MeineTochter war bei ihm. Er sagte ihr, sie solle zurück ins
Dorf gehen - er würde sich nach einem Versteck umsehen für den Fall,
daß die Deutschen beginnenwürden, die Männer zu verhaften.Wiesoll
ten wir wissen, daß sie auch auf Frauen und Kinder schießen würden?«
Ihre Worte bestätigen die Aussagevon Rudolf L., der an dem Massaker
beteiligt war. Zur Erklärung für die spätere Unruhe in der Truppe mein
te er: »Wir waren uns alle darüber im klaren, daß man bei Frauen und
Kindern nicht von >Feinden< sprechen kann; [es] ist diese Aktion insbe
sondere deshalb von den Soldaten verurteilt worden, weil alte Leute,
Frauen und Kinder erschossen worden sind.«66
Der Begriff der soldatischen Ehre und das NS-Bild von Frauen als
passiven Wesen, die eher der Privatsphäre als der Öffentlichkeit
zugehörten, waren der Grund für die Abneigung, Frauen als legitime
Ziele zu betrachten. Selbst Hitler unterstellte in dem oben bereits zitier
ten Gespräch mit Jodl, daß Frauen und Kinder unschuldig seien; er

178
bestand - ebenso wie Röser - einfach darauf, daß der Landser sich von
solchen Überlegungen nicht beeinflussen lassen sollte. Umgekehrt hatte
dieVorstellung weiblicher Soldaten etwas Unnatürliches an sich.67 Weib
liche Widerstandskämpfer waren ein monströses Phänomen, Teil einer
Politik der Hinterlist, die bewußt darauf angelegt war,sichdie »mensch
lichen Instinkte« der deutschen Soldaten zunutze zu machen.68
Wir haben bereits gesehen, daß die Vergeltungspolitik einen gewissen
Ehrbegriff implizierte. Die Partisanen selbst waren »unwürdige« Geg
ner, die aufHinterlist und Überraschung statt auf einen ehrlichen offe
nen Kampf setzten. Fattig zieht in seiner Studie zur Vergeltungspolitik
den Schluß, »daß die deutschen Befehlshaber mit der Anordnung [von
Sühnemaßnahmen] nicht gegen den Ehrenkodex ihrer Soldaten ver
stießen, sondern ihn vor den Kräften der Barbarei schützten«.69 Wenn
dem so war, dann schloß das Denken, das Vergeltung als Reaktion auf
Angriffe gegen deutsche Soldaten rechtfertigte, Frauen als Opfer viel
leicht nicht aus, es erhöhte zumindest aber die Hemmschwelle, sie dazu
zu machen. Der Divisonspfarrer hatte, wie weiter oben gezeigt, bei sei
ner Erklärung für die psychologischenProbleme, von denen die Solda
ten berichteten, ausdrücklich auf das »Tötenmüssen von Frauen und
Kindern« angespielt.70 Es bestand also ein Widerspruch zwischen der
Philosophie ungehemmter Gewalt gegen den »gesamten Gegner« und
derÜberzeugung zumindest eines Teils derSoldaten, daß ihr Kampf von
»soldatischenPrinzipien« geleitetsei.
Ein anderer Aspekt hing hiermit eng zusammen: die Frage der Grau
samkeit. Einige Soldaten behaupteten, besonders erschütternd seien in
Kommeno vor allem die von ihnen beobachteten Anzeichen von mut
williger Grausamkeit - wie etwa die bewußte Verstümmelung der Lei
chen- gewesen. August S. »hattebis zu diesem Zeitpunkt nicht gewußt,
daß sich bei der 12. Komp. auch einige Sadisten befanden«. Er war ent
setzt, »wie sich einige Soldaten über die Leichen lustig gemacht haben
und Witze >rissen<«. Wenn Karl D. »von den Grausamkeiten [...] ange
widert war«,dann lagdas nicht an den Morden selbst,sondern an der Art,
wie sie ausgeführt worden waren. Die Haltung, die solchen Kommenta
ren zugrunde liegt,wird exemplarisch an einemGerichtsbeschluß ausder
Nachkriegszeit deutlich, der befand, daß ein Offizier für das Erschießen
von Zivilisten nicht zu belangen sei,weil man nicht beweisen könne, daß
er es »inböserAbsicht« getanhabe.71 Körperliche Verstümmelungen und
bewußte Grausamkeitwaren Dinge,die die Deutschenimmerwiederden
Partisanen zum Vorwurf machten: Sie selbst ließen sich - so wollten sie
zumindest glauben - von rein sachlichen Überlegungen leiten. »Hinter-

179
list«, »Falschheit« und mangelnde Selbstbeherrschung waren unverein
bar mit der hehren Rolle des Soldaten.72
Zwei weitere Überlegungen mögen die Männer der 12. Kompanie
beunruhigt haben. Die erste war, daß sie, indem sie sich dem Dorf bei
Morgengrauen und zu Fuß näherten und die Häuser stürmten, während
ihre Bewohner noch schliefen, ebenfalls - wie die Partisanen, deren Tak
tiksie verachteten - Überraschung undHinterlist gegen ihre Feinde ein
gesetzthatten. Das war kaum eine »mannhafte« Form der Kriegführung.
Die zweite Überlegung warnoch beunruhigender: War es richtig, daß es
sich, wie man ihnen erzählt hatte, um einen Stützpunkt der Partisanen
handelte, an dem deutsche Soldaten erschossen und ermordet worden
waren? Angesichts des mangelnden Widerstands von sehen der Bevöl
kerung und des offensichtlichen Fehlens von Waffen im Dorf - was im
späteren Truppenbericht bestätigt wurde -, muß es mehreren ergangen
sein wie Franz T, der glaubte, »es habe sich um nichts weiter als um
einen Raubzug gehandelt unter dem Vorwand, daß es sich um eine Ver
geltungsaktion [...] handelte«.73
An genau diesen Worten aber läßt sich der starke Einfluß des Natio
nalsozialismus auf allgemeine Überzeugungen, wie sie in den Mann
schaften verbreitet waren, ermessen. Indem er zeigte, wieviel er und
seineKameraden für gerechtfertigt hielten,zog Frank T.die Grenze des
sen,was sie alsein zulässiges Maß an Gewalt erachteten.Für die Männer
der 12. Kompanie waren die Sühnemaßnahmen und Vergeltungsaktio
nen moralisch zu rechtfertigende Handlungskategorieri, und ihr Unbe
hagennach Kommeno war in dem Verdacht begründet, daß das,was sie
getan hatten, außerhalb dieser Grenzen läge.

Ernst Fraenkel machte 1941 die Beobachtung, daß »die Identifizierung


von Recht und Sittlichkeit im Dritten Reich zu einerAngleichung >der
Sittlichkeit an das nationalsozialistische Recht geführthat«. Er behaup
tete, daß die Grenzen dessen, was gesamtgesellschaftlich stillschweigend
geduldet wurde, unter dem steten Druck des nationalsozialistischen
Radikalismus erweitertwurden. Es bestandkein Widerspruch zwischen
der Brutalitätdes NS-Regimes und seinem Ruf als dem »Garanten von
öffentlicher Moralsowie von Rechtund Ordnung«: im Gegenteil, gera
de dieses Bild erlaubte den Soldaten, viele ihrer brutalsten Handlungen
zu rechtfertigen.74

180
Das Ausmaß, in dem Gewalt im Dritten Reich vor 1939 zum Wohle
der Volksgemeinschaft »legalisiert« worden war, bietet eine Erklärung
dafür, wie die Soldatenden Auftrag, gegenden Widerstand auf dem Bal
kan vorzugehen, auffaßten. »Die nationalsozialistische Revolution«, so
Hitler in einer Vorkriegsrede, »hat [...] dem Rechte, der Rechtswissen
schaft sowohl als der Rechtssprechung, einen eindeutigen klaren Aus-
gangspunkt gegeben: Es ist die Aufgabe der Justiz mitzuhelfen an der
Erhaltung und Sicherung des Volkes vor jenen Elementen, die sich als
Asoziale entweder den gemeinsamen Verpflichtungen zu entziehen
trachten, oder sich an diesen gemeinsamen Interessen versündigen.«75
Von 1941 an wurden die Aufständischen in den Balkanländern auf ähn
liche Weise eingeschätztwie zuvor die »asozialen Gruppen«.
Das Vokabular sozialer Devianz aus den Vorkriegsjähren des Dritten
Reichs wurde nunmehr in einen neuen Kontext gestellt. Ein Stabsoffi
zier aus Athen notierte, daß es unter den Partisanen »etliche entwurzel
te Individuen, die selbst unter normalen Umständen keine Stelle gefun
den hätten«, gab. Vom Peloponnes berichtete die 117. Jäger-Division:
»Die Banden rekrutierten sich nach Angaben fast aller Bevölkerungstei
le hauptsächlich aus den Gangstern griechischer Großstädte.« Einfache
Soldaten sprachen unbefangen von der Exekution von »Delinquenten«
und »todeswürdigen Kriminellen«, wenn sie sich auf die zivilen Opfer
der Vergeltungsmorde bezogen. Von griechischen Zivilisten wurde re
gelmäßig berichtet, daß sie »auf der Flucht erschossen« worden seien -
ein Euphemismus, der auch im Reich geläufig war. Leutnant R, ein jun
ger Kompaniechef auf dem Peloponnes, brachte seinen Männern zyni
scherweise auf Kosten eines gefangenen jungen griechischen Zivilisten
die korrekte Terminologie bei: »Schau, so macht man das. Gibst ihm
einen Tritt in den Hintern... und schießt ihm nach, daher ist er dann >auf
der Flucht erschossene«76
Die Gleichsetzung von Partisanentum mit Kriminalität fand bei den
gemeinen Soldaten weitgehend Anerkennung. Esist kein Zufall, daßder
stärkste Widerstand von Soldaten kam, die im Reich selbst ausgegrenzt
und entfremdet waren - so die Männer der 999er Strafbataillone,die sich
aus gewöhnlichen Kriminellen und politischen Gefangenen zusammen
setzten. Viele der 999er, die in Griechenland dienten, waren mindestens
zehn Jahre älter als der Durchschnitt der Wehrpflichtigen und zuvor
Sozialisten und Kommunisten gewesen. G., der von 1939 bis 1943 in
Buchenwald interniert war, erinnert sich, wie er reagierte, als er hörte,
daß seine Einheit nach Griechenland abkommandiert worden war: »Als
wir von Strafexpeditionen hörten, bei denen in umliegenden Dörfern

181
Greise und Kinder, die ganze männliche Bevölkerung vor den Augen
allerFrauen, die mit Gewehrkolben zusammengetrieben worden waren,
erschossen wurde, überkam uns eine maßlose Erbitterung, daß ausge
rechnetwir derartige Einsätzemachen sollten.« AufgrundsolcherEmp
findungen liefen G. und mehrere seiner Freunde nach einigen Wochen
zu den Partisanen über. Doch während Desertion in den 999erBataillo
nen an der Tagesordnung war, kam sie in den anderen Wehrmachtsein
heiten auffallend selten vor. Wie oben bereits erwähnt, zogen Soldaten
der 12. Kompanie eineFahnenflucht im Gefolge von Kommeno zwar in
Betracht, ließen den Gedanken letztlich aber fallen.77
Die Landser der 1. Geb.-Div. warenweder unzufriedene Gegner des
Regimes wie die 999ernoch fanatische Nazis. In ihrem Verhältnis zu den
Sühnemaßnahmen vermischten sich Auffassungen von Gerechtigkeit,
Moralund soldatischer Ehre mitweitverbreiteten Vorstellungen von ras
sischer Minderwertigkeit und sozialer Devianz. »Die Deutschen sind
sehr hart«, notierte ein griechischer Romancier am 26. September 1943
in seinem Tagebuch. »Doch ihre Härte rührt nicht von Haß her. Sie ist
kalt und mechanisch, das Ergebnis der Umsetzung einervorgegebenen
Formel, die auf die Erfüllung eines Ziels abzielt, an das sie glauben.«78
Wenn etliche Soldaten der Wehrmacht den Glaubendes Regimes an die
Transformationskraft der Gewalt und ihrenAnteil anderHerausbildung
eines »neuenMenschen« auch nicht teilten, so.akzeptiertensie doch die
»legalen« Rechtfertigungen für eine Politik der umfangreichen Gewalt
gegen die von ihnen kontrollierte Zivilbevölkerung. Und sie taten dies
zumeist mit wenigen Skrupeln über die Richtigkeit ihrer Handlungen.
Nur gelegentlich, wenn die Aggression ihrer Offiziere sie, wie in Kom
meno, über die Grenzen, bis zu denen sie gehen wollten, hinaustrieb,
können wir beobachten, wie solche Skrupel an die Oberfläche treten.
Die Haltung der Wehrpflichtigen zum Krieg war vielleicht weniger ein
seitig als die des Offizierskorps und ließ etwas Raum für Dissens. Aber
es gab genug Gemeinsamkeitenzwischen Offizieren und Mannschaften,
um der Wehrmacht zu ermöglichen, in einem Krieg von beispielloser
Brutalität einen auffallend hohen Grad an Zusammenhalt zu wahren.

Aus dem Englischen von Doris Janhsen

182
Anmerkungen

i Zentrale Stelle der LandesJustizverwaltungen, Ludwigsburg (ZSt), 508 AR


1462/68, S. 153 (eidesstattliche Versicherung von Karl S.). Beiallen Referenzen
auf dieses Archiv werden die Namen der Augenzeugen jeweils in Klammern
angegeben.
2 Ebenda, (Otto G.) S. J9.
3 Ebenda,(KarlD.) S.43,(JohannE.) S. 58f., (AugustS.)S. 164, (Franz T.) S. 182.
4 National Archives, Washington, D.C. (NA), Records of German Field Com-
mands(GFC) (Divisions), T-315/72/1259 [Mikrofilm], Evangl. Pfarrer, 1.Geb.-
Div., an 1. Geb.-Div./Ib, »Tätigkeitsbericht für die Zeit vom 21.6.-30.9.43«
vom 15.10.1943; Brief von Herrn S. (Verfasser des Berichts) an den Autor vom
20.7.1989.
5 ZSt, 508 AR 1462/68,(Otto G.) S. jy, (August S.) S. 164;ebenda, S. 169;Land
gericht München I, »Ermittlungsverfahren«,8.6.1972.
6 Gerald Reitlinger, Die SS: Tragödie einer deutschenEpoche. 1922-1945,Mün
chen u. a. 1957. Anm. d. Ü.: Mazower bezieht sich hieraufden englischen Titel:
Alibi of a Nation.
7 RichardJ. Evans, Im SchattenHitlers? Historikerstreit und Vergangenheitsbe
wältigung in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1991.
8 Christopher Browning, Wehrmacht Reprisal Policy and the Mass Murder of
Jews in Serbia, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen,XXXIII (1983), S. 31-49;
Gerhard Hirschfeld (Hg.), The Policies of Genocide, London 1986; Manfred
Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Ham
burg 1969; Omer Bartov, The Eastern Front, 1941-1945. German Troops and
the Barbarisation of Warfare, New York 1986.
9 Detlev Peukert, Everyday Life in the Third Reich, London 1987; lan Kershaw,
Der Hitler-Mythos. Volksmeinungund Propaganda im Dritten Reich,Stuttgart
1980(= Schriftenreiheder Vierteljahrsheftefür Zeitgeschichte, Nr. 41, hrsg. von
Karl Dietrich Bracher und Hans-Peter Schwarz); R. Mann, Protest und Kon
trolle im Dritten Reich, Frankfurt am Main 1987; vgl. Geoffrey Eley, Labor
History, Social History, Alltagsgeschichte: Experience, Culture and the Politics
of the Everyday - A New Direction for German History?, in: The Journal of
Modern History, LXI (1988), S. 385-389;Dick Geary, Imageand Reality in Hit-
ler's Germany, in: European History Quarterly, XIX (1989), S. 385-389. Zur
Denunziation vgl. Robert Gellately, The Gestapo and German Society: Politi-
cal Denunciation in the Gestapo Case Files, in: The Journal of Modern History,
IX (1988), S. 654-695;Robert Gellately, Die Gestapo und die deutsche Gesell
schaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933-1945, Paderborn 1993.
10 Vgl. Eley, a. a. O., S. 3i6f., 323;Eve Rosenhaft, History, Anthropology and the
Study of Everyday Life, in Comparative Studies in Society and History, XXIX
(1987), S.99-105. In dieser Hinsicht kann »Alltagsgeschichte« als eine Reaktion
auf das zuvor vorherrschende psychologistische Erklärungsmodell individuel
len Verhaltens im Dritten Reich gelten.Vgl. G. M. Gilert, Psychology of Dicta-
torship, New York 1950; Theodor W. Adorno u. a., Der autoritäre Charakter:

183
Studien über Autorität und Vorurteil, 2 Bde., Amsterdam 1968 und 1969. Die
Grenzen dieses Ansatzes werden deutlich in P. H. Merkl, Political Violence
under the Swastika: 581 Early Nazis, Princeton 1975, S.446-552 (bes. S. 532ff.,
»As the Leaders So the Men«).
11 Hans-Peter Klausch,Die 999er, Frankfurt am Main 1986; Theo J. Schulte,The
German Army and Nazi Policies in Occupied Russia, Oxford 1989.
12 Der Ausdruck, der sichaufdie Wehrmachtinsgesamtbezieht,stammt aus C. W.
Syndor, Soldiers of Destruction: The SS Death's Head Division, 1933-1945,
Princeton 1977, S. 346;Bartov,Eastern Front, a. a. O., passim;vgl.Martin L. van
Creveld: Kampfkraft: militärische Organisation und militärische Leistung;
1939-1945, Freiburgim Breisgau 1989 (= Einzelschriften zur Militärgeschichte,
Bd. 31).
13 lan Kershaw, Hitler-Mythos, a. a. O., S.if.
14 Ebenda, S. 149-195.
15 lan Kershaw,Pupular Opinion and PoliticalDissent in the Third Reich,Oxford
1983.
16 Schulte, German Army and Nazi Policies,a. a. O., S. 149.
17 Bartov,Eastern Front, a. a. O., passim;Hans Mommsen,Kriegserfahrungen, in:
Überleben imKriege, hrsg. von U. Borsdorf undM.Janin, Reinbek 1989, S. 13.
18 L. Craig,GermanDefensive Policyin the Balkans, a CaseStudy: The Build-Up
in Greece,1943, in: BalkanStudies,XXIII (1982), S.403-420;!. Hondros, Occu-
pation and Resistance, New York 1983, S. 85-90; NA, Rear Area Commands
(RAC), T-501/330/959, Kriegstagebuch (KTB), Deutscher Generalstab beim
ital. 11. AOK, 5.-7.8.1943; T-501/331/212-13, Dt. GenStab beim ital. 11.
AOK/Ia an OB Südost/ia, Tagesmeldung vom 13.8.43.
19 Gespräch mit Alexandros Mallios, Kommeno, 18.3.1988 (ich bin Herrn und
Frau Mallios sehr dankbar für ihre Unterstützung); NA, Recordsof U.S.Nürn
bergWar CrimesTrial (WarCrimes),U.S.v. List et. al.,M-893/4/168-88,eides
stattlicheVersicherung von S.Pappas, 17.8.1947. DeutscheDokumente bestäti
gen sowohl die Sichtung der Partisanen als auch das Ausbleiben von Schüssen
und Toten oder Verletzten: NA, GFC (Div.), T-315/2305/1549,1. Geb.-Div./Ic
an Dt. GenStab beimital. 11. AOK, Tagesmeldung, 12.8.1943; T-315/64/317,1.
Geb.-Div., KTB, 12.8.1943.
20 Institut für Zeitgeschichte, München (IfZ), Nuremberg Trials Coli.; NOKW-
155,10.8.1943; am 8.8.1943 war ein neuerFührerbefehl an die Truppen gegan
gen: NA, GFC (Div.), T-315/65/741, Dt. GenSt b. ital. 11. AOK/ia an 1. Geb.-
Div./Ia, 8.8.1943.
21 ZSt, AR 1462/68, (August E.) S. 53, (Hans K.) S. 105-107.
22 Benaki-Museum,Athen, Archiv Heraklis Petimezas, Akte 5,Zervasan das Alli
ierte Hauptquartier Naher Osten, 21.8.1943; Apoyevmatini, 1.8.1961 (Zervas'
Tagebucheintrag zu Kommeno). Für weitere Einzelheiten zur Befehlsketteder
Achsenmächte zu diesem Zeitpunkt vgl. Mark Mazower, Waldheim Goes to
War, in: London Review of Books, 26.Juni 1988.
23 R. C. Fattig, Reprisal: TheGerman Armyandthe Execution of Hostages during
the Second WorldWar, Diss. Univ. of California, San Diego 1980, Kap. 1.

184
24 Trial ofWar Criminalsbefore the Nuernberg MilitaryTribunal(TWC), 15 Bde.,
Washington 1951/52,Bd. XI, S. J99.
25 Arno J. Mayer, Der Krieg als Kreuzzug: Das Deutsche Reich, Hitlers Wehr
macht und die »Endlösung«, Reinbek 1989; Browning, »Wehrmacht Reprisal
Policy, a. a. O.
26 Browning, Wehrmacht Reprisal Policy, a. a. O., S. 34f.;hinzukommen mag eine
mangelnde Ausbildung in irregulärer Kriegführung. Vgl. dazu das Eingeständ
nis von Gen.Lt. Friedrich Stahl,einemvon ListsUntergebenen in Serbien:»[...]
in den achtunddreißig Jahren meiner militärischen Laufbahn war ich nie für
den Kampf gegen die Partisanen ausgebildet worden. [...] in militärisch-takti
scher Hinsicht waren wir der Partisanenanlage nicht gewachsen« (NA,
T-i 119/23/0227). Zu den Massakern in Mazedonien vgl. NA, GFC (Div.),
T-315/1474/496-8, 164. Inf.Div./Ia, 20.10.1941; Imperial War Museum, Lon
don (IWM), box 349/FO 646, »Case VII: Hostages«, Prosecution Document
Book 2, NOKW-13 80:Die 164.Inf.Div. gab an, daß sie am 17.Oktober 207,am
23. Oktober 142 und am 25. Oktober 1941 6y Männer zwischen sechzehn und
sechzigJahren erschossen hatte.
27 Die Bezüge zwischen ökonomischem Zusammenbruch, der Delegitimierung
des bestehenden Staatsapparatsund dem Widerstand sind aufgearbeitet in S. B.
Theomadakis, BlackMarkets, Inflation and Force in the Economy of Occupied
Greece, in: J. Iatrides (ed.), Greece in the 1940s: A Nation in Crisis, Hanover,
N.H. 1981, S. 61-81; für einen soziologischenAbriß dieses Prozesses in einem
ähnlichen Kontext vgl. J. Gross, Polish Society under German Occupation,
Princeton 1979.
28 Browning, Wehrmacht Reprisal Policy, a. a. O., S. 40-41; H. Neubacher, Son
derauftrag Südost: 1940-45, Göttingen 1956; Hagen Fleischer, Im Kreuzschat
ten der Mächte: Griechenland, 1941-1944, Frankfurt am Main 1986,S. 372, 547;
Hondros, Occupation and Resistance, a. a. O., S. 153—159; Hans Safrian/Walter
Manoschek, Österreicher in der Wehrmacht, in: E. Hanisch u. a. (Hg.), NS-
Herrschaftin Österreich, Wien 1988, S. 331-360.
29 Nach Kalavrita hatte der Kommandeurder 117. Jg.-Div. persönlichzugegeben,
daß »wir auf dem falschen Weg« sind (NA, GFC [Div.], T-315/1300/341-4,
117. Jg.-Div./Komm. »Bandenbekämpfung«, 20.12.1943); zu den von General
Löhr (Kommandeur der Heeresgruppe E in Saloniki) ausgegebenen Befehlen
vgl. TWC, XI, S. 826, 1306-7; zu den anschließenden Grausamkeiten und der
Reaktion von Hermann Neubacher, dem Sonderbevollmächtigten des Auswär
tigen Amtes für den Südosten und führenden Befürworter eines »politischen«
Vorgehens, vgl. vor allem: Akten zur deutschen auswärtigen Politik, Serie E,
VIII, Göttingen 1979, Nr. 27, Neubacher an Auswärtiges Amt (Berlin),
15.5.1944;Trial of the Major War Criminals before the International Military
Tribunal (TMWC), 42 Bde., Nürnberg 1947-1949, Bd. XXXVIII, S. 425-428.
30 NA, GFC (Div.), T-315/65/747, Gen.Kdo. 26. AK/Ia an 1. Geb.-Div./ia,
29.8.1943;siehe auch R. E. Herzstein, Waldheim:The MissingYears,New York
1988, S. 95-98; Jonathan Steinberg,Deutsche, Italiener und Juden. Der italieni
sche Widerstand gegen den Holocaust, Göttingen 1992. Die nützlichste Quelle

185
für den Vergleich zwischen beiden ist R. B. Asprey, War in the Shadows: The
Guerilla in History, 2 Bde., New York 1975, Bd. 1, passim.
31 IfZ, 1043/54,HGr. »E« ic/AO, »Feindnachrichtenblatt (Griechische Banden),
Nr. 9: April/Mai 1944«, S.9.
32 Für ein typisches Beispiel einessolchenKonfliktsvgl.M. Fellman, Inside War:
The Guerilla Conflict in Missouri during the American Civil War, New York
1989, S. 112-116, 171.
33 Zu Hitlers Erfahrungen im Ersten Weltkrieg vgl. John Keegan, The Mask of
Command, New York 1987, S. 243-258; ebenfalls wichtig sind in diesem
Zusammenhang E. J. Leed, No Man's Land: Combat and Identity in World
War I, Cambridge 1981, A. E. Ashworth, The Sociology of Trench Warfare,
1914-1918, in: British Journal of Sociology, XIX (1968), S. 407-424; Merkl,
PoliticalViolence under the Swastika, a. a. O., S. 138-230; Nazism: A History
in Documents and Eyewitness Accounts: 1919-1945, hsrg. von J. Noakes und
G. Pridham, 2 Bde., New York 1988,Bd. II, S. 941.
34 Hitlers Lagebesprechungen. Die Protokollfragmente seiner militärischen Kon
ferenzen 1942-1945, hrsg. von Helmut Heiber, Stuttgart 1962, S. 6y. Zu dem
Zusammenstoß zwischenReformernund Hitler in bezug auf die Partisanenfra
gevgl. auchT. Mulligan, The Politics of Illusionand Empire: GermanOccupa
tion Policy in the SovietUnion, 1942-1945, New York 1988, S. 139; vgl. auch
Fattig, Reprisal,a. a. O., S. 45-47, 62-68;vgl. H.-D. Betz, Das OKW und seine
Haltungzum Landkriegsvölkerrecht, Würzburg 1970; zu Rösers Anweisungen
vgl. ZSt, 508 AR 1462/68, S. 168(August S.).
35 M. Cooper, The Nazi War againstSovietPartisans: 1941-1944, New York 1979,
S. 80-81; NA, GFC (Div.), T-315/65/741, Dt. GenSt. bei ital. 11. AOK/ia an 1.
Geb.-Div./1 a, 8.8.1943.
36 NA, GFC (Armies), T-312/465/8053722, Obfh. 12. Armee/ia, »Richtlinien für
die Behandlung der Aufständischen in Serbien und Kroatien«, 19.3.1942 (hs.
Entwurf).
37 Nazi Conspiracy and Aggression, 10Bde.,Washington 1946, Bd. VII, D-740.
38 NA, War Crimes, M-893/4/217, 1. Pz.Div., KTB, 23.8.1943; M-893/4/236, 68.
AK, KTB, 24.8.1943; RAC, T-501/331/436, 68. AK/Ic, »Lagebericht«,
4.9.1943; GFC (Div.), T-315/1300/756-7, 68. AK/Ia, »Lagebeurteilung«,
18.7.1943.
39 NA, RAC, T-501/331/442, S. 68 AK/Ic, »Lagebericht«, 4.9.1943; War Crimes,
M-893/4/222 (ohne Zeitangabe, wahrscheinlich Herbst 1943).
40 Bartov, Eastern Front, a. a. O., S. 40.
41 Der Kommandeur der 164. ID instruierte seine untergebenen Offiziere in die
sem Sinne: NA, GFC (Div.), T-315/1474/462-6,164. Inf.-Div./Ia »Offiziersbe
sprechung des Herrn Div.-Kommandeurs in Saloniki am 24.9.41, 17.00Uhr«,
28.9.1941; vgl. die Anweisungen des Kommandeurs der 117. Jg.-Div.,
T-315/1299/1051-3, 117.Jg.-Div./Komm., »Dienstaufsicht«, 18.9.1943.
42 ZSt, AR 508 2056/67,S. 169,Landgericht München I, 1971.
43 TMWC, XXXVII, 425-8; ZSt, AR 12/62,VII, S. 314(Werner S.), 357(F. Huse-
mann), ZSt, 301/J-VÜS (Staatsgericht Koblenz, 1Js 3496/52); Berlin Document
Center (BDC), Personalakten von Georg Weichennieder, Fritz Lautenbach.

186
44 S.J.Micham,Hitler'sField Marshals and their Battles,London 1989, S. 339-355;
Hubert Lanz, Gebirgsjäger, Bad Nauheim 1954, S. 304-331; E. Kernfmayr],
Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, Ohlendorf 1976; Messerschmidt,
Wehrmacht im NS-Staat, a. a. O., S. 379-382.
45 Brief von Herrn S. an den Autor, 18.4.1989; NA, GFC (Div.), T-315/65/787,
1. Geb.-Div./Ia, 7.8.1943.
46 IWM, box 345/FO 646, »Case VII: Hostages«, Defence Document Book I,
eidesstattliche Versicherung von G. Lipp, 12.7.1947; ebenda, Defence Docu
ment Book 5,eidesstattlicheVersicherungvon H. Groth, 29.10.1947; Briefvon
Herrn S. an den Autor, 18.4.1989;Brief von Herrn K. an den Autor, 13.3.1990.
47 Brief von Herrn K. an den Autor, 13.3.1990.
48 NA, GFC (Div.),T-315/65/359,G.J.R.98/Komm., »Berichtüber die Säuberung
vom 22.-26.7.1943<<-
49 Ebenda, T-315/64/284, 1. Geb.-Div., KTB, 18.7.1943;T-315/69/1248, Salmin
ger an von Stettner, 24.7.1943.
50 ZSt, 508 AR 1462/68, S. 57 (Johann E.), 133 (Friedrich P.); Brief von Herrn K.
an den Autor, 13.3.1990, über die Notwendigkeit für den Kompanie-
Chef, die »Liebe« seiner Untergebenen durch »Selbstlosigkeit« und »energi
sches und aufmunterndes Auftreten« zu gewinnen. Vg. NA, GFC (Div.),
T-315/2275/598-601, Sturmdivision Rhodos/ic, »Divisions-Befreiungs-Befehl
Nr. 2«, 15.2.1943^-315/1299/1051-4, 117.Jg.Div./Komm., »Dienstaufsicht«,
18.9.1943; BDC, Personalakte Fritz Lautenbach.
51 Siehe dazu die Zeugenaussage von Otto G.: »Wenn in meiner nun folgenden
Schilderung der durchgeführten Vergeltungsaktion einige für die Zusammen
hängewichtige Einzelheiten - wie z. B.wer der Kommandant war, wer die Akti
on angeordnet hat usw. - fehlen, dann bt. ich zu berücksichtigen, daß ich als
>kleiner Mann<, ichwarjanurGefreiter, nicht die Übersicht überdie ganze Akti
on haben konnte. Ich war dabei und habe einiges gesehen, über das kann ich
Angaben machen, mehr nicht« (ZSt, 1462/68,S. yy).
52 NA, GFC (Div.), T-315/64/57, Evang. Div.-Pfarrer, 1. Geb.-Div. an 1. Geb.-
Div./Ib, »Tätigkeitsberichtfür die Zeit vom 9.4.-30.6.43«, 2.7.1943.
53 Die Vorstellungvon einem Glaubenskriegfindet sich bei Bartov,Eastern Front,
a. a. O., S. 104; das andere Extrem findet sich bei Schulte, German Army and
Nazi Policies, a. a. O., passim.
54 NA, GFC (Div.), T-315/1299/352-9, ZI7- Jg--Div./Ia, »Besprechung am 28/4
beim Befehlshaber Südgriechenland«. Die Militärpsychologie im Dritten Reich
bedarf einer weiteren Erläuterung. Das Regime konnte sich nicht entscheiden,
ob Brutalität erwünscht war oder nicht. Die oben angeführte Passagesollte mit
dem Urteil eines SS-Tribunals gegen den SS-Untersturmführer Max Taubner
vom Mai 1943 verglichen werden, bei dem dieser für die »innere Verrohung«
kritisiert wurde, die ihn im Zuge seiner Pflichtausübung zu Akten der Grau
samkeit verleitet habe: »Schöne Zeiten«: Judenmord aus der Sicht der Täter und
Gaffer, hrsg. von E. Klee, W. Dreyßen und V. Reiß, Frankfurt am Main 1988,
S. 189; vgl. ebenda, S. i4f.
55 NA, GFC (Div.), T-315/1299/361,117. Jg.-Div./Ia, »Besprechung am 28/4 beim
BefehlshaberSüdgriechenland«.

187
56 NA, Historical Division European Command (Foreign Military Studies
Branch),Record Group 338 (RG 338), H. Lanz, PartisanWarfarein the Balkans,
Ms. P-055a, S. 8, 10; ebenda, Einleitung von Hans v. Greiffenberg, S.VIII; vgl.
auch TWC, XI, S. 890-892, 1056. Zur Behandlungder deutschen Kriegsgefan
genenvgl.IWM, box 343/FO 646,Zeugenaussage von Erhard Glitz, 13.10.1947,
in der deplazierte antisemitische Untertöne nicht zu übersehen sind; NA, War
Dept./7th Army Interrogation Centre, RG 165/179, box 651, »Interrogation
Report on 5GermanPOWs«.Die Art und Weise, wieSoldatenFeindbilder prä
gen, ist ein eigener umfassender Themenbereich; in dieser Hinsicht war die
Wehrmacht nicht einmalig. Vgl. dazu J. W. Dower, War without Mercy: Race
and Power in the Pacific War, New York 1986; C. Thorne, Racial Aspectsof the
Far Eastern War of 1941-1945, in: Proceedings of the British Academy, XVI
(1980), s. 329-377-
57 PublicRecordOffice,London (PRO),War Officefiles, WO 204/8869, »Report
by Lt.-Col. R. P. McMullen on Present Conditions in the Peloponnese«,
15.2.1944; Flugblatt der ELAS (Griechische Volksbefreiungs-Armee) aus der
Sammlung des verstorbenen Arthur Wickstead (einem früheren Mitglied der
britischen Militärmission in Griechenland). Ich denke voller Dankbarkeit für
seine Unterstützung an ihn zurück.
58 NA, GFC (Army Groups), T-311/179/1266-8, Feldkommandantur 1042/Pelo-
ponnes, ic, »Lagebericht«, 31.12.1943; IWM, box 350/FQ 646,»CaseVII: Hos
tages«, Prosecution Book 12,NOKW-1079, Löhr an 1. Pz.Div./ia, 14.7.1943;
Klausch, 999er, a. a. O., S. 138-140.
59 Der Konflikt zwischen »traditionellen« und nationalsozialistischen Vorstellun
genvomSoldaten tauchtin denDirektiven auf,dieimZusammenhang mit »Bar
barossa« ausgegeben wurden. Ranghohe Wehrmachtsgeneräle, vor allem von
Reichenau und von Manstein, hatten dieTruppen angewiesen, daß sie den Sol
daten über den Imperativ des Soldatentums und die Regeln des Krieges hinaus
als den »Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und [...] Rächer für alle
Bestialitäten, die dem deutschen und artverwandtem Volkstum zugefügt wur
den«, erachten sollten. Christian Streit, Keine Kameraden".Die Wehrmacht und
die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945, Stuttgart 1978, S. 115.
60 NA, GFC (Div.) T-315/1474/572, 164. Inf.-Div./Ic, »Weltanschauliche Erzie^
hung und geistige Betreuung«, 6.11.1941.
61 Zur Bergsymbolik vgl. George Mosse, War and the Appropriation of Nature,
in:V. Berghahn und M. Kitchen (Hg.):Germanyin the Ageof Total War, Lon
don 1981, S.102-122; vgl. auchSiegfried Kracauer, VonCaligari zu Hitler. Eine
psychologische Geschichte des deutschen Films, in:.ders., Schriften, hrsg. von
Karten Witte, Bd. 2, Frankfurt am Main 1979.
62 Vgl. Kracauers aufschlußreiche Anmerkungen zu dem film »Berge in Flam
men« (1931), dessen Kameramann, Sepp Allgeier, späterdie Anfangsszene von
»Triumph desWillens« drehte. »Berge inFlammen« fängt mit der gemeinsamen
Bergtour eines österreichischen und eines italienischen Offiziers kurz vor Aus
bruch des Ersten Weltkriegs an. Kracauer kommentiert: »Freundschaft zwi
schen Soldaten verschiedener Länder während des Friedens schwächt nicht die
Entschlossenheit der Freunde, im Krieg einander zu bekämpfen; eher veredelt
sie diesen Kampf, verwandelt ihn in eine tragische Pflicht, ein höheres Opfer.
Trenkers Bergsteiger ist der Typ, auf den Regierungen sich,wenn Krieg ist und
Not am Mann, verlassen können«, Kracauer, Von Caligari zu Hitler, a. a. O.,
S. 275. Ähnliches Gedankengut findet sich in den Ausgaben der Veteranen
zeitschrift Die Gebirgstrupppe: Mitteilungsblatt des Kameradenkreises der
Gebirgstruppe, München 1952 ff.
63 NA, War Crimes, M-893/17/669, Obfh. Südost an OKW/WFSt, 2.7.1943;
NOKW-921,1. Geb.-Div., KTB, 24.-26.7.1943; ZSt, 508AR 1462/68,(Johann
EOS.59.
64 NA, GFC (Div.), T-315/1300/63-5, 117.Jg.-Div./ia, »Tätigkeitsbericht«.
65 Christopher Browning, FatefulMonths:Essays in the Emergences of the Final
Solution, New York 1985; Klee, Dreyßen, Reiß (Hg.), Schöne Zeiten, a. a. O.,
S. 142,144.
66 Gespräch mit Eleni Pappas, Athen, 15.2.1988; ZSt, AR 1462/68, (Rudolf L.)
S. 1191.
6y Das OKW wehrte Vorschläge, daß Frauen zur Wehrmacht zugelassen werden
sollten,mit dem Argument ab, daß »sichder >weibliche Soldat< nicht mit unse
rer nationalsozialistischen Auffassung vom Frauentum verträgt«, zitiert nach
MarlisG. Steinen, Hitlers Kriegund dieDeutschen.Stimmungund Haltung der
deutschen Bevölkerungim Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf/Wien 1970, S. 505;
vgl.Bartov, EasternFront, a. a. O., S. 126-129; J- Stephenson, The Nazi Orga
nization of Women, London 1981, besondersKap. 6.
68 IWM, box 352/FO 646, Prosecution Book 21, NOKW-467, SS-Pz.Gren.
Rgt./Komm. an 68. AK/Komm., »Vorgänge in Distomon am 10.6.1944«,
21.7.1944; Bartov, Eastern Front, a. a. O., S. 126-128.
69 Fattig, Reprisal, a. a. O., S. 221; vgl. Michael Walzer, Gibt es den gerechten
Krieg?, Stuttgart 1982.
70 NA, GFC (Div.), T-315/72/1259 (siehe Anm. 3); vgl. Schulte, German Army
and Nazi Policies, a. a. O., S. 144,164-170.
71 ZSt, 508 AR 1462/68,(August S.)S. 164,(Karl D.) S.43;AR 1187/68,S. 112(Ein
stellungsverfügung, Landgericht MünchenI, 11. Sept. 1972, S. 21).
72 Militärrichter der SS waren in der Lage, ähnliche, wenn nicht noch feinere
Unterscheidungen zumBeispiel zwischen »Sadismus« und »wirklichem Juden
haß« zu treffen, vgl. Klee, Dryßen und Reiß (Hg.), Schöne Zeiten, a. a. O.,
S. 184-191.
73 508 ZSt, 1462/68, S. 182 (Franz T.), vgl.Schulte, German Army and Nazi Poli
cies, a. a. O., S. 144.
74 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Frankfurt am Main/Köln 1974, S. 140. Ker
shaw hat gezeigt, daß einAspekt des »Mythos Hitler« die Überzeugung war,
daß der Führer nur »rechtmäßige, rationale Handlungen« dulde, lan Kershaw:
Hitler and the Germans, in: Richard Bessel (Hg.), Life in the Third Reich,
Oxford 1987, S. 51; DetlevJ. Peukert,Volksgenossen und Gemeinschaftsfrem
de: Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus,
Köln 1982; in dieser Hinsicht ebenfalls wichtig ist James J. Weingartner, Law

189
and Justicein the Nazi SS: The Case of Konrad Morgen, in: Central European
History, XVI (1983), S.276-295, wo behauptetwird, daß »Dualität jedochkein
Gleichgewicht bedeutete,da dasRecht größtenteils alswillkürliches Instrument
totaler Macht fortbestand« (ebenda, S. 276). Besselbezieht sich auf den Wider
spruch zwischen Brutalität und dem Bild von Recht und Ordnung, siehe die
Einleitung zu Bessel(Hg.), Life in the Third Reich, a. a. O., S. XV.
75 Fraenkel, Doppelstaat, a. a.O., S.137. Zur Instrumentalisierung desBegriffs der
Volksgemeinschaft durch die Wehrmacht vgl. Manfred Messerschmidt, The
Wehrmachtand the Volksgemeinschaft, in:Journal of Contemporary History,
XVIII (1983), S.719-744. Seine RedeamHeldengedenktag im April 1940, in der
er die Funktion der Streitkräfte bei dieserAufgabe hervorhob, beschloß Hitler
mit der Mahnung, daß »unser Wille die nationalsozialistische Volksgemein
schaft« ist. Wie Messerschmidt nachwies, wurde dieses Konzept auch die
Grundlage für das Kriegsrecht;Omer Bartov, Indoctrination and Motivation in
the Wehrmacht: The Importance of the Unquantifiable, in:Journal of Strategie
Studies, IX (1986), S. 16-34; Manfred Messerschmidt, GermanMilitary Lawin
the Second WorldWar, in:W. Deist (Hg.), The German Military in the Ageof
Total War, Leamington Spa 1985, S. 325.
y6 IWM, box343/FP 646, Defence DocumentBook2,eidesstattliche Versicherung
von G. Kleykamp, 25.10.1947; NA, GFC (Div.), T-315/1300/378, Kampfgrup
pe Glitz, »Abschlußbericht«, 18.12.1943; ZSt, 508 AR 12/62,S. 6% (WalterV.);
Oberst Salminger und G.J.R. 98 berichteten von »87 Verdächtigen«, die am
4.7.1943 »auf der Flucht« erschossen worden seien (NA, War Crimes,
M-893/17/671). Zu Leutnant P., wie er von einem Zeugen erinnert wurde, vgl.
ZSt, AR 2056/67, (Alois W.) S. 98.
yy Wiener Lib., London P III, g. 470: »Interviewwith non-JewishISK member«,
26.10.195 5;NA, GFC (Div.), T-315/1300/260-I, Festungs-Regt. 965, »Meldung
vom 1. Dez. 1943«; weitere Zeugenaussagen der 999er finden sich in RG
165/179, boxes650-651; Klausch, 999er, passim.
78 G. Theotakas, Tetradia inerologiou (1939-1953) [Tagebuchnotizen (1939 bis
1953)],Athen o.J.,S. 443.

190
Manachem shelah Die Ermordung italienischer
Kriegsgefangener, September-November 1943

In der militärgeschichtlichen Forschungüber die Zeit desZweitenWelt


krieges istin jüngsterZeitvielüber die Kriegsverbrechen der Wehrmacht
im Osten und die Morde an Kriegsgefangenen gearbeitet worden.1
Unerwähnt geblieben sind bisher die Mordaktionen an Offizierenund
Mannschaften der italienischen Armee, die auf dem Balkan nach dem
Ausscheiden Italiens aus dem Krieg im September 1943 stattfanden.
Außer in der italienischen Geschichtsforschung finden diese Gescheh
nisse nur beiläufige Erwähnung.2
Im Laufe eines Monats erschossen Wehrmachtssoldaten etwa 6300
italienische Kriegsgefangene. Weitere 17000 Italiener ertranken oder
wurden absichtlich während des Transports in die Gefangenschaft
ertränkt. Dabei sind jene Tausende Gefangene, die in den Lagern um
kamen, nicht genannt.3

Die deutsche Reaktion auf den italienischen »Verrat«

Nachdem sich die Streitkräfte der Achsenmächte in Nordafrika ergeben


hatten, erwog dieReichsleitung und als ersterHitler selbst dieMöglich
keit, daß die Stellung Mussolinis gefährdet sein könnte. Die alliierte
Invasion in Sizilien am 10. Juli 1943 bestärkte die deutschen Befürch
tungen. Vorbereitungen für dasAusscheiden Italiens aus dem Kreis der
Achsenmächte wurden getroffen. Ein Sonderstab mit Feldmarschall
Erwin Rommel an der Spitze bezogStellung naheder NordgrenzeItali
ens. Im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) wurde ein Opera
tionsplan unter dem Namen »Alarich« ausgearbeitet. Darin war beab
sichtigt, in Italien sowie in die von Italien eroberten Gebiete in
Südfrankreich, Jugoslawien, Albanien und Griechenland einzumar
schieren, die italienischen Streitkräfte zu entwaffnen und die Herrschaft
über Italien zu ergreifen.4 Beschleunigt wurden die Vorbereitungen der
deutschen Wehrmacht in der Phase zwischen der Absetzung und Ver-

191
haftung Mussolinis am 25. Juli 1943 und dem Eintritt des Waffenstill
stands am 8. September 1943.
Der Plan »Alarich«, inzwischen umbenannt in »Achse«, wurde an
drei teilnehmende Einheiten weitergegeben. Diese trafen Vorbereitun
gen im Feld- wie Geländefahrten, Aufzeichnungen taktischer Objekte
- undführten Übungen durch. Starke Verbände wurden nach Italien und
in die eroberten Gebiete überführt, so daß die deutsche Seite ausgestat
tet und vorbereitet war. Die italienische Regierung und die Heereslei
tung zeigten dagegen eine verblüffende Hilflosigkeit und verursachten
unter denMilitäreinheiten eine absolute Verwirrung. So hatte beispiels
weise die Mehrzahl der italienischen Kommandanten keine Ahnung
davon, was ihnen bevorstand. Sie konnten daher auch keine Vorberei
tungen treffen, umsich denAktionen derWehrmacht entgegenzustellen.
Die Alliierten aber taktierten nach zwei Seiten und versäumten die Gele
genheit, den Großteil Italiens zu besetzen und damit das Ende des Krie
ges zu beschleunigen.5
Wennauch Italiens Ausscheiden ausdem Krieg für die deutsche Seite
nicht überraschend kam, so blieb doch der genaue Zeitpunkt des Aus
tritts aufgrund nachrichtendienstlicher Fehler unbekannt. Dennoch
gelang esder Wehrmacht, fast ganz Italien und den größten Teil der von
Italien eroberten Gebiete in weniger als zweiTagen zu besetzen und die
Kapitulation von neunzig Prozent der italienischen Streitkräfte zu
erzwingen. Der Zusammenbruch Italiens war erstaunlich; das Zeichen
dazu ging von der Regierungsspitze sowie der Führung der Streitkräfte
aus. Schon am ersten Tagnach dem Ausscheiden Italiens hatten sie Rom
verlassen und hinterließen ihre Untergebenen ohne politische oder
militärische Führung.
Diesem Beispiel folgten hohe Offiziere im Feld, Befehlshaber von
Armeegruppen, Armeen, Korps und Divisionen, die gar nicht daran
dachten, sich den Deutschen zu widersetzen. Sie befahlen die sofortige
Kapitulation. Dies befolgtendie einfachen Soldatenim Glauben,daß der
Krieg für sie zu Ende sei. Mit der Illusion, nun nach Hause gehen zu
können, ergaben sie sich den deutschen Truppen. In den deutschen
Kampfverordnungen war nicht eindeutig festgelegt, was mit den italie
nischen Soldaten geschehen sollte, nachdem diese entwaffnet worden
waren. Als das OKW erfuhr, daß das Unternehmen »Alarich« schnell
und reibungslos vor sich ging, wurde angeordnet, diepersönlichen Waf
fen derItaliener undauch die Waffen der Offiziere zu beschlagnahmen.
In aller Eile sollten die Soldaten in verschiedene Gefangenenlager in
Deutschland und Polen transportiert werden.

192
DasSchlagwort lautete: »Wer nicht mituns ist, ist gegen uns...«

Unterdessen wurde bekannt, daß deutsche Verbände hier und da auf ita
lienischen Widerstand stießen. In einigen Fällen kam es zum Zusam
menwirken von militärischen Einheiten und lokalen Widerstandsgrup
pen. Beispielsweise wurde italienisches Kriegsmaterial an die Parti
sanenverbände Titos in Jugoslawien und an Partisanen der ELAS und
EAK in Griechenland übergeben. Hitler, der ohnehin über den italieni
schen »Verrat« erzürnt war, bestimmte daraufhin während der OKW-
Sitzung am 11. September, was mit den italienischen Soldatengeschehen
sollte, die in deutsche Hände gefallen waren.6 DieseVerordnung galtin
der Folgezeit als Richtlinie für das Handeln der deutschen Befehlshaber:

»Als Grundsatz für die nunmehr in Kraft tretenden grundsätzlichen


Richtliniengilt,daß die italienischen Soldateneindeutigerklären müs
sen,ob sieweiterkämpfen, oder ob siesichauf die Seite Badoglios stel
len wollen. Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns und wird demgemäß
Kriegsgefangener.
Dementsprechend sind drei Gruppen italienischer Soldaten [...] zu
unterscheiden:
i. Bündnistreue [...], die weiter kämpfen oder Hilfsdienste leisten [...]
2. Italienische Soldaten, die nicht weiter mitmachen wollen.
3. Italienische Soldaten, die Widerstand leisten oder mit dem Feind
oder Banden paktiert haben.
Italienische Soldaten der zweiten Gruppe sind Kriegsgefangene und
werden für die Kriegswirtschaft und andere Einsätze gesichtet.
Italienische Soldaten der dritten Gruppe: die Offiziere sind zu
erschießen, Uffz. und Mannschaften nach dem Osten zum Arbeits
einsatz zu bringen. Den noch Widerstand leistenden Truppen ist ein
Ultimatum zu stellen.«

Dieser Befehl erschien in verschiedenen Fassungen und mit unwesentli


chen Randbemerkungen. In dem detaillierten Befehl von OKW-Chef
Feldmarschall Wilhelm Keitel, datiert am 15.September 1943, stand bei
spielsweise, daß die im Paragraph 3 erwähnten Hinrichtungen aus
drücklicher Führerbefehl seien. Hinzu kamen einzelne Ausführungen
über die Art des Ultimatums.7
Noch bevor dieser Befehl die deutschen Einheiten erreichte, wurden
italienische Soldaten in einigen Fällen ohne Gerichtsverfahren hinge
richtet. Bei zwei bekannten Zwischenfällen dieser Art wurden italieni-

193
sehe Generäle erschossen. Der erste Fall ereignete sich am 9. Septem
ber 1943 im Gebiet von Salerno, nahe dem Landungsgebiet der Alliier
ten. Dort waren Einheiten der italienischen Küstendivision 222 statio
niert. Am Morgen des Tages hatten die Soldaten der deutschen Panzer
division 16 begonnen, die Italiener zu entwaffnen. Als General Don
Ferrante Gonzaga del Vodice sich weigerte,das deutsche Ultimatum zu
akzeptieren, wurdeer kurzerhand von den Deutschen erschossen.8
Der zweite Fall trug sich in der dalmatischen Küstenstadt Dubrovnik
zu. Dort war es zu schweren Kämpfen zwischen den Soldaten der
italienischen Divisionen »Messina« und »Marche« und Einheiten der
Waffen-SS-Division »Prinz Eugen« gekommen. Nach der Kapitulation
der Italiener am 12. September wurden alle Offiziere und Soldaten
gefangengenommen. Obwohl sie gegen die Deutschen gekämpfthatten,
wurden diese Offiziere zuerst nach Mostar gebracht und dann nach
Deutschland in Kriegsgefangenenlager überführt. Der Befehl Hitlers,
alle Offiziere, die Widerstand geleistet hatten, unverzüglich hinzurich
ten, hatte die Division offenbar noch nicht erreicht. Der einzige, der in
diesem Zusammenhang erschossen wurde, ohne daß die Umstände
näherbekanntgeworden sind,war der Kommandant der Division »Mar
che«, General Giuseppe Amico.9 Er war als scharfer Gegner der Deut
schen bekannt.
Der Führungsbefehl vom 11. September erreichte die Mehrzahl der
deutschen Einheiten nicht vor dem 13. oder 14. September, einige Ver
bände erhielten ihn sogar erst am 15. des Monats. Soweit bekannt ist,
wurde dieser Befehl nicht rückwirkend ausgeführt. Wer bei Wider
standshandlungen gefaßt oder der Zusammenarbeit mit Widerstands
kämpfern verdächtigt worden war, wurde nicht erschossen.
Als der Führerbefehl die verschiedenen Gefechtsstäbe erreichte, gab
es nur in einem Fall Protest. Vermutlich wurde der Befehl gelegentlich
umgangen, man versuchte unter Umständen, ihn zu ignorieren, doch
geschah dies allemAnscheinnach nicht oft.10 Ein Dokument besagtfol
gendes: »Aus Anlaß weiteren verräterischen Entweichens des ital. Div.
Kdr. von Korsika hat der Führer geäußert, daß jeder Ausdruck von
gutem Willen schädlich und Kameradschaftlichkeit zu den italienischen
Offizieren keinesfalls am Platze sei. Es wird deshalb bei dem Korps auf
die Notwendigkeit schärfstenDurchgreifens gegendie Italiener in einem
RS. hingewiesen.«
Einige der deutschen Befehlshaber ergriffen die Initiative, ohne auf
Anweisungen von oben zu warten. General Hubert Lanz, Befehlshaber
des XXII. Gebirgsarmeekorps im Gebiet von Epiros in Griechenland,

194
ordnete schon kurz vor dem Ausscheiden Italiens an, daß jeder italieni
sche Soldat, der in Zivilkleidung gefaßt würde, an Ort und Stelle zu
erschießen sei. Die nachträgliche Genehmigung dazu erhielt Lanz von
seinem Vorgesetzten, GeneralAlexander Löhr.11
Eine Ausnahme war General Fredolin von Sengerund Etterlin, Kom
mandant der deutschen Einheiten, die auf Korsika und Sardinien lagen.
Hier hatten die Italiener zahlreiche deutsche Kriegsgefangene gemacht,
und man befürchtete Vergeltungsmaßnahmen. Als von Senger nachsei
ner Weigerung, den Befehl zu befolgen, nach Berlin beordert wurde,
erwartete ihn jedoch keine Bestrafung; im Gegenteil, er wurde zu einem
höheren militärischen Posten an der italienischen Front versetzt.12
Es steht zu vermuten, daß die Erschießungen in der deutschen Trup
pe Unbehagen und Unmutsäußerungen provozierten. Aus diesem
Grund wurden Aufmunterungsreden gehalten. Die Ansprache von
General Löhr, Befehlshaber der Armeegruppe E, ist ein Beispiel dafür:
»Chef [Löhr] nimmt diesen Führerbefehl zum Anlaß, auf den in der
Geschichte einzig dastehenden Verrat Italiens hinzuweisen, der uns
berechtigt, alle Hemmungen fallen zu lassen undmitallerschärfsten Mit
teln durchzugreifen.«13

Die Erschießungsaktionen

In vollem Umfang begannen die Erschießungen italienischer Offiziere,


sobaldder Führerbefehl zwischen dem 13. und 15. September eingetrof
fen war. Die genaue Anzahl der Erschossenen festzustellen, ist schwie
rig, daanvielen Orteneinzelne Offiziere - undoftauch Soldaten - getö
tet wurden. Berichte darüber finden sich in den Funkmeldungen
einzelner deutscherEinheiten.14 Im folgenden konzentrieren wir uns auf
die Erschießungen großer Gruppen italienischer Offiziere.
Die Aktionen begannen in Epirus. Von dort wurden die adriatische
Küste sowie die Inseln des Ägäischen und Ionischen Meeres erfaßt.

Korfu

Auf der Insel Korfu wurden die Erschießungen von den Soldaten der
1. Gebirgs-Division unter General Walter von Stettner durchgeführt.
Diese Division unterstand dem XXII. Armeekorps unter Generalleut
nant Hubert Lanz. Sobald die Gebirgstruppen am 27. September die

195
Insel erobert hatten, wurde der Befehlshaber der italienischen Einheiten,
Colonel Luigi Lusignani, derKommandant des 49. Infanterie-Regiments
(IR), Colonel Elio Bettini, sowie weitere 28 Offiziere der Divisionen
»Acqui« und »Parmi« erschossen. Weitere italienische Offiziere, deren
genaue Anzahl nicht bekannt ist,wurden in denfolgenden Tagen umge
bracht. Verantwortlich für dieErschießungen war der Kommandeur der
Einsatzgruppe »Corfu«, Oberstleutnant Remold. AufBefehl des Korps
kommandeurs General Lanz ließ Remold die Leichen der Erschossenen
nicht begraben, sondern ordnete an, sie ins Meer zu werfen.15

Sarande

Anfang Oktobersetzten dieMänner der 1.Gebirgs-Division ihreAktio


nen im Rahmen des Unternehmens »Spaghetti« fort, um die albanische
Küstenlinie von italienischen Truppen zu säubern. In der albanischen
Stadt Sarande wurden von ihnen 130 bis 150 italienische Offiziere der
Division »Perugia« erschossen. Die mißhandelte Leiche des Divisions
kommandeurs General Ernesto Chiminiello wurde den deutschen Sol
daten zur Schau gestellt, ehe man sie ins Meer warf.16

Sinj

ImStädtchen Sinj, unweit der Küstenstadt Split, wardieWaffen-SS-Divi


sion »Prinz Eugen« im Einsatz. Dort waren siebzehn Tage hindurch
schwere Kämpfe ausgetragen worden. DerWiderstand gegen die Deut
schen wurde von Eliteeinheiten der Partisanen Titos angeführt, die
unmittelbarnachder Verkündung desWaffenstillstands in Einvernehmen
mit den italienischen Besatzungstruppen in die Stadt Split eingezogen
waren. Die italienische Garnison setzte sich zusammen aus Soldaten der
Division »Bergamo« undaus Hilfseinheiten des 18. Korps. DerHauptan
teilderKämpfe gegen dieDeutschen lag beidenPartisanen, dochnahmen
auch italienische Soldaten - ohne Befehl - anderVerteidigung Splits teil.
Als sich die Partisanen am 26. September aus der Stadt zurückzogen, blie
ben Tausende italienischer Soldaten zurück. Von den Deutschen wurden
9000 Italiener, darunter drei Generäle und mehr als 400 Offiziere, gefan
gengenommen. Die Mannschaften wurden an mehreren Orten in der
Stadt und der näheren Umgebung zusammengeführt und später nach
Polen und Deutschland in Kriegsgefangenenlager verschickt.
196
Die Offizierewurden nach Sinj gebracht. Als der Divisionskomman
deur, SS-Brigadeführer Karlvon Oberkamp, dort am 27. September ein
traf, bat er zunächst um Anweisungen vom XV. Gebirgsarmeekorps
unter Generalvon Leyser, wie er sich den gefangenen italienischen Offi
zieren gegenüber verhalten solle. Die Antwort des Armeekorps kam am
28. September; sie lautete, alle sollten erschossen werden. Aber noch
bevor dieser Befehl ausgeführt werden konnte, traf am Morgen des 29.
September von der 2. Panzerarmee eine ergänzende Anweisung ein,
wonach nur die Hauptschuldigen, mit anderen Worten, die höheren und
Stabsoffiziere, erschossen werden sollten. Der Funkspruch der Panzer
armee besagte ferner, daß im Falle von Unklarheiten ohne Zögern vor
zugehen sei. Was die Abänderung des ursprünglichen Befehls bewirkt
hat, ist nicht bekannt; jedenfalls wurde das Leben von einigen Hundert
italienischen Offizieren dadurch gerettet.17
Exemplarisch für das Vorgehen der deutschen Einheiten waren die
militärgerichtlichen »Verfahren«, die den Erschießungen vorangingen.
Obwohl sich deutsche Offiziere in den späteren Kriegsverbrecherpro
zessen darauf beriefen, es seien ordentliche Standgerichte abgehalten
worden, erweist sichdiese Behauptung als wenig stichhaltig.18 Das »Ver
fahren« gegen die Offiziere der Division »Bergamo«, die in Split gefan
gengenommen waren, belegt dies:

»Alleitalienischen Offiziere, 450an der Zahl, wurden nach Sinj über


führt und dort erwartete uns im Kasernenhof ein deutsches Militär
gericht. Der Vorsitzende war der Kommandant der Division »Prinz
Eugen,« General Oberkamp, zusammen mit zwei Majoren. Ich war
Augenzeugewährend der Vernehmungaller Offiziere, vom Obersten
bis zu den Leutnants. Die Offiziere wurden über ihren Anteil an der
Übergabe von Waffen an Partisanen und über ihre Einstellung
gegenüberdem, was die Deutschen mit >Verrat< bezeichneten,verhört.
Zuletzt wurden sie unter Drohungen und anderen Druckmitteln
befragt, ob sie bereit wären, an der Seite der Deutschen unter der
Führung Mussolinis bedingungslos zu kämpfen.«19

Diese Verhandlung dauerte weniger als acht Stunden. In der Folge wur
den 46 oder 48 Offiziere und drei Generäle erschossen.

^97
Die ägäischen Inseln

Der Umfang der Aktionen erweiterte sich im Laufe der Monate Okto
ber und November 1943. Die Eroberung der ägäischen Inseln durch die
Deutschen hatte zwei Schwerpunkte. Zu dem einen Abschnitt gehörte
die Insel Rhodos. Beauftragt war die Sturmdivision »Rhodos« unter
General Ulrich Kleemann.Der zweite Abschnitt umfaßte die Kykladen,
Samos, Kos und Leros und unterstand der Kampfgruppe Müller,
Angehörigen der 22. Infanterie-Division (ID), unter General Friedrich
Wilhelm Müller.
Die Insel Rhodos wurde von der Sturmdivision nach leichtem Wider
stand eingenommen. Etwa40000Soldaten fielen in die Hände der Deut
schen/Entgegen dem Führerbefehl wurden nicht umgehend Maßnah
men gegen die Offiziere, die sich den Deutschen widersetzt hatten,
eingeleitet. Es ist ungeklärt, warum die Erschießungen erst Anfang
Oktober begannen. Möglicherweise waren die Fluchtversuche, die in
diesen Tagen unternommen wurden, einer der Anlässe. Nach italieni
schen Quellen wurden auf Rhodos Anfang Oktober fünfzig Soldaten
verurteilt und weitere vierzig Angehörige der Division »Regina« ohne
Gerichtsverfahren erschossen.20
Auf der InselKos war die KampfgruppeMüller im Einsätz. Neben der
italienischen Besatzung der Insel befandsichdort eine britische Einheit,
die Mitte Septembergelandet war. Die Deutschen eröffneten die Offen
siveam 3.Oktober, und am Abend desfolgendenTages war die Insel ein
genommen. Mehr als 1000 britische Soldaten und mehr als 3000 Italie
ner fielen ihnen in die Hände. Die Briten wurden von den Italienern
getrenntund strikt nachden üblichenKriegsgesetzen behandelt. Die ita
lienischen Offiziere sperrte man in eine Kaserne nahe der Ortschaft
Linopoti. Vondort wurden sie am nächstenTagin Gruppen von acht bis
zehn Mann auf ein nahes Feld gebracht.Siemußten ihr eigenes Massen
grabausheben und wurden erschossen. Die Anzahl der Getöteten belief
sich auf circa hundert Mann.21
Auch auf der Insel Leros, die die Kampfgruppe Müller als nächste ein
nahm, hatte es ein Zusammenwirken der italienischen Besatzung mit
einem britischen Kontingent gegeben, das im Laufe des Septemberdort
gelandet war.Der deutscheAngriff begannam 12. November und ende
te mit der Kapitulation der britisch-italienischen Einheiten unter dem
britischen General Tilney um Mitternacht des 16.November. Hier gerie
ten 201 britische Offiziere, circa 2000 britische Soldaten, 351 italienische
Offiziere und circa 5000 italienische Mannschaften in deutsche Gefan-

198
genschaft. Noch während der Kämpfe und unmittelbar danach wurden
zwölf italienische Offiziere erschossen.22
Der Einsatz der Kampfgruppe Müller endete auf der Insel Samos. Am
22. November landeten die deutschen Truppen, während die britisch
italienischen Besatzungstruppen noch mit dem Abzug beschäftigt
waren. Vor Ende der Kämpfe sollen dort mehr als sechzig italienische
Offiziere und Soldaten als Freischärler erschossen worden sein.23

Modellfall Cefalonia

Am Beginn der Aktion gegen die ehemaligen italienischen Verbündeten


stand die Affäre Cefalonia.Die Ereignisseauf dieser ionischen Insel sind
am besten belegtund geben einenEinblickin die Dynamik des Gesamt
geschehens. Die Ausgangsbedingungen waren dramatisch. Zwischen
dem Waffenstillstand am 8. September 1943 und dem Ausbruch der
Kämpfe am 15. September hatten dort Verhandlungen zwischen dem
Kommandanten der italienischen Besatzungstruppen, General Antonio
Gandin, und den deutschen Militärstellen stattgefunden. Inzwischen
kam es zu einer Meuterei der subalternen Offiziere gegen den Divisi
onskommandanten, der zur Kapitulation bereit war. Eine Abstimmung
unter den italienischenSoldatenergab,daß neunzig Prozent für die Fort
setzung der Kämpfe gegen die Deutschenwaren.24
Als die Kapitulationsverhandlungen, die hauptsächlich von Offizie
ren und Mannschaften der Division »Acqui« unterstützt wurden,
gescheitert waren, gerieten die deutschenBefehlshaber unter Druck. Die
Insel hatte erstrangige strategische Bedeutung,da sie einerseits die Ein
fahrt in die Meerenge von Korinth, den Golf von Patras,beherrschtund
andererseits den Seeweg in das Ionischeund AdriatischeMeer blockiert.
General Lanz bekam Luftwaffen- und Flottenverbände zugewiesen. Von
Berlin und Saloniki(Armeegruppe E) wurde er aufgefordert, sofort den
Kampf aufzunehmen. Vom 15. bis zum 18. September hatten die Italie
ner die Oberhand, aber dann erhielten die Deutschen Verstärkung. Eli
teeinheiten zweier Divisionen des Armeekorps, der 1. Gebirgs-Division
und der 14.Jäger-Division, trafen ein. Zum Kommandanten dieser Ein
satzgruppe wurde Major Harald von Hirschfeld von der 1. Gebirgs-
Division ernannt, der wegen seiner Entschlossenheit, seiner militäri
schen Kenntnisse und seiner ideologischen Härte bekannt war.25
Das OKW verfolgte die Kämpfe auf der Insel mit Spannung. Die
ersten Niederlagen hatten Hitler veranlaßt, an den Beratungen selbst

199
teilzunehmen. Auf das Stagnieren der Kämpfe auf Cefalonia ist es
zurückzuführen, daß Hitler die Anweisungen über die italienischen
Kriegsgefangenen, die sich den Deutschen widersetzten, abänderte. Für
Cefalonia gab er den Befehl, alle Gefangenen zu töten. Das Kriegstage
buch des OKW vom 18. September besagt: »Der OB Südostwird ange
wiesen, über den am 15. 9. erteiltenBefehl [...] hinaus wegen des gemei
nen und verräterischen Verhaltens auf Kefalonia keine italienischen
Gefangenen machen zu lassen.«26 Es istanzunehmen, daß dieser Führer
befehl bei der Armeegruppe E keinerlei Überraschung auslöste. Schon
am 15. September hatte der Kommandant der Armeegruppe F, General
Foertsch, auf einerStabsberatung angekündigt: »Wenn die Italienerdort
[Kefalonia] nicht sofort die Waffen niederlegen, muß geschossen wer
den.«27
Hitlers Befehl wurde noch am gleichen Tag, dem 18. September, an
den Befehlshaber des XXII. Armeekorps, General Lanz, übermittelt,
während dieser die Vorbereitungen für den Endangriff auf Cefalonia
traf. Angesichts der Bedeutung der Insel wollte Lanz dieses Unterneh
menaus nächsterNähe verfolgen. Im Prozeß gegen die Südost-Generäle
sagte er 1948 aus, daß der Befehl Hitlers erschreckend auf ihn gewirkt
habe.Den Angehörigenseines Stabes habe er erklärt, er werde einensol
chenBefehl verweigern. ZweiTage seier unentschlossen gewesen, wie er
sich verhalten solle. Im Kreuzverhör erklärte Lanz darin, er habe den
Befehl verweigert: »Das einzige, was ich aussagen kann, ist: Ich habe
mich geweigert, den Befehl zu erfüllen.«28 In den deutschen Dokumen
ten aus den Tagen vor dem 22. September finden sich jedoch keine
Anhaltspunkte für einenProtest oder für Nachfragen zum Führerbefehl.
Am 19. September traf Lanzin Cefalonia einund kam mit Majorvon
Hirschfeld zusammen, um die Einzelheiten des Angriffsplans für den
21. September endgültig festzulegen. Als vonHirschfeld fragte, ob er den
Führerbefehl ausführen solle, antwortete Lanz- laut Aussage im Nürn
berger Prozeß -, es sei »unmöglich, so etwas zu tun«. Er habe vorge
schlagen, den Befehl zu widerrufen, in der Hoffnung, sein Vorschlag
werde angenommen. Sollteein Entschluß gefaßtwerden, werde er diesen
umgehend an von Hirschfeld weiterleiten. Inzwischen sei von Hirsch
feld jedoch verpflichtet herauszufinden, wer von den Italienern die
Schuld an den Geschehnissen trage. Von Hirschfeld war einverstanden
und versprach, seinBestes zu tun.29 Allerdings erhielt er keine Weisung,
wie er sich verhalten sollte, falls vor dem Angriff keine Antwort ein
ginge. Doch die Antwort kam noch zu Beginn der Offensive, in der
Nacht des 21. September: Es wurde befohlen, jeden Italiener, dem die

200
Truppe begegnete, zu erschießen, einschließlich derjenigen, die sich
ergaben.30
Bis zum Eintreffen von General Lanz nach der Kapitulation wurden
rund 4000 italienische Offiziere und Mannschaften erschossen. Die Exe
kutionen fingen bei der Gefangennahme an. Dafür ein Beispiel: Am
Abend des 21. September zog sich Major Oskar Altarilla mit dem Rest
des 2. Bataillons des 17. Regiments in das Städtchen Keramis zurück.
Dort wurde er von deutschen Truppen eingekreistund war gezwungen,
sich zu ergeben. Die Italiener wurden entwaffnet; zusammen mit ande
ren italienischen Gefangenen, die hinzugekommen waren, etwa neun
hundert Mann. In einerlangenReihe mußten sieauf der Chausseebisvor
das Städtchen Troianata marschieren. Dort wurden sie von deutschen
Patrouillen umringt und auf freiem Feld zusammengetrieben. Plötzlich
und vollkommen unerwartet wurde von allen Seiten das Feuer auf sie
eröffnet. Nach kurzer Zeit verstummten die Angstrufe und Schmer-
zensschreie, und Stille breitete sich aus. Die meistenMänner lagentot in
einer Mulde. Dann rief ein deutscher Soldat auf italienisch: »Wer noch
am Leben ist, mag aufstehen, er hat nichts zu befürchten, das Geschäft
ist erledigt.« Etwa fünf Überlebende standen blutend auf. Sie wurden
von einer weiteren Salve niedergestreckt. Drei italienische Soldaten, die
von den Leichen ihrer Kameraden verdeckt waren, überlebten das Mas
saker. Der Befehlfür die Aktion lag bei Major Reinhold Klebe.31
Von den Kommandos wurden nicht einmal die Sanitätseinheiten ver
schont. Im Städtchen Frankata erschossen die Deutschen sechzehn
Sanitäter. Während der Erschießungen wandte sich der Feldgeistliche
Dom Romualdo Formato an den deutschen Dolmetscher und wies auf
die Rote-Kreuz-Armbinde auf seinem Ärmel. Der Dolmetscher erwi
derte: »Lächerlich, wenn einer im fünften Kriegsjahr das Rote-Kreuz-
Zeichen noch ernst nimmt.«32
Mit der Ankunft von General Lanz in der Inselhauptstadt Argostoli-
on am Nachmittag des 22. September wurde befohlen, die Erschießun
gen einzustellen. Lanz sandte den folgenden Funkspruch an seine Vor
gesetzten in Saloniki: »Die Säuberung der Insel wird voraussichtlich am
23.9. beendet sein. Gen. Gandin und sein Stab sind gefangen genommen.
Um Befehl, wie gegen ihn, seinen Stab und die übrigen Gefangenen zu
verfahren ist, wird gebeten.« Bei seiner Rückkehr zum Gefechtsstand
wurde gemeldet: »Rückkehr des kommandierenden Generals [Lanz] aus
Kefalonia. AnschließendVortragdurch den Chef des Generalstabesüber
Führerbefehl. Kommandierender General fragt erneut bei Heeresgruppe
an, ob Führerbefehl auch für sämtliche 5000 gefangenen Italiener Gel-

201
tung hat.«33 DieseNachfrage des Generals wurde von Saloniki ausan das
OKW weitergeleitet. Am gleichen Tag notierte das dortige Kriegs
tagebuch: »Auf Kefalonia sind der italienische Befehlshaber und 4000
Mann, weil sie Widerstand leisteten, gemäß dem Befehl des Führers
behandelt worden. Über das Schicksal der 5000 Mann, die noch recht
zeitigüberliefen, ist die Entscheidungdes Führers eingeholtworden. Er
befiehlt,daß sie als Kriegsgefangene zu behandeln seien.«34
Das unerwartete Einlenken Hitlers ist nicht zu erklären. Vielleicht
hatte ihn der Sieg auf Cefalonia milde gestimmt. Dennoch war die Be
gnadigung nur bedingt; sie erstreckte sich nur auf die Mannschaften,
nicht auf die Offiziere. Die Verordnung des OKW wurde über die
Armeegruppe E an Lanz weitergeleitet, jedoch mit einer veränderten
Formulierung: »General Gandin und seineverantwortlichen Komman
deure sind gemäß Führerbefehl unverzüglich zu behandeln. Mit den
übrigen Gefangenen kann milderverfahren werden.«35 Jetzt stand Lanz
vor der Aufgabe, die Offiziere, die nach der Kapitulation überlebt hat
ten, erschießen zu lassen. Im Laufe des 23. September wurden sie zur
Mussolini-Kaserne in Argostolion gebracht. Dort, behauptete Lanz im
Nürnberger Prozeß gegen die Südost-Generäle, seien alle von einem
Militärgericht zum Tode verurteilt worden.
Tatsächlich waren die Mitgliederdes Standgerichts am 23. September
nach Cefalonia geflogen. Den Vorsitz hatte der Kommandeur der 1.
Gebirgs-Division, Generalvon Stettner.Der Gerichtshof trat auchwirk
lich zusammen, um einige Fragen zu erörtern, die deutsches Militärper
sonal betrafen. Nur ein einziger italienischer Offizier, General Gendin,
wurde vor Gericht zitiert. Das war am 24.September frühmorgens.
Anschließend wurde er erschossen. Alle anderen Offiziere wurden kei
nem Gerichtvorgeführt.36
Am 24. September, um 7.30 Uhr, brachte man 160 Offiziere, die in
Argostolion gefangen saßen, zu einem einige Kilometer entfernten ein
samen Haus, dem Roten Haus. Dort erwartete sie ein Exekutionskom
mando, angeführtvon einemdeutschen Feldwebel. Kein deutscher Offi
zier war zugegen. Die Italiener wurden in Gruppen von acht bis zwölf
Mann erschossen. Als sie vor dem Exekutionskommando standen, wur
den sie nach ihrem Namen gefragt,der in ein vorbereitetes Formular ein
getragen wurde. Dann verkündete der Rottenführer den einheitlichen
Wortlaut: »Ihr seid wegen Verrats zum Tode verurteilt.« Die Er
schießungen währten bis zum Mittag. Im Verlauf der Exekutionen
erschien ein deutscher Offizier, der aus der Gruppe der Italiener diejeni
gen aussonderte,die in Südtirol (Alto Adige)und dem Trentino geboren

202
waren; beides Gebiete, die sich das Deutsche Reich nach dem Kriegs
austritt Italiens einverleibthatte. Gegen 13 Uhr traf ein deutscher Offi
zier am Roten Haus ein, der befahl, das Schießen einzustellen. Unklar
bleibt, ob er dies aus eigenem Antrieb oder auf Befehl anordnete. So
wurde dreizehn italienischen Offizieren das Leben gerettet. Insgesamt
waren an diesem Tag 129 Offiziereerschossen worden.37
An den darauffolgenden Tagen gingen die Erschießungen von Offi
zieren und Mannschaften sporadischweiter. Am Vormittag des 25. Sep
tember wurden in der Nähe des Roten Hauses sechs verwundete Offi
ziere erschossen, die man aus dem Feldspital Nr. 27 geholt hatte. Am
28. September fanden beim Städtchen Lordata Erschießungen italieni
scher Marinesoldaten statt, die die Küstenbatterien bedient hatten. Zur
Begründung wurde angegeben, sie hätten eindeutsches Schiff versenkt.
Das Korpskommando ordnete an, die Leichen nicht zu begraben, son
dern sie auf dem Feld zurückzulassen. Andere Opfer wurden ins Meer
geworfen.38
Am Abend des 24. September funkte das XXII. Armeekorps an die
Armeegruppe E: »[...]Säuberung Kefalonias bis aufNordspitze und bis
Ithaka abgeschlossen. Rund 4000 Italiener gefallen oder erschossen,
rund 5000 Italiener gefangen, da ohne Waffen außerhalb des Gefechts
bereichs in geschlossenen Abteilungen übergelaufen. Offiziere sämtlich
erschossen.« Zwei Tage darauf sprach General Lanz den Kämpfern von
Cefaloniasein Lob aus: »Meine vollsteAnerkennung und meinen herz
lichsten Dank.«39
Der Leidensweg der Italiener derDivision »Acqui« warnochnichtzu
Ende. Auf der Insel blieben 5000 Kriegsgefangene zurück. Ende Sep
tember wurden 1000 von ihnen an Bord des Schiffes »Ardena« gebracht,
um sie in die Kriegsgefangenenlager im Osten zu transportieren. Das
Schiff lief auf eine Mine, und siebenhundert Italiener ertranken. Weitere
2000 bis 3000 Italiener ertranken im folgenden Monat, als die Schiffe
»Alma« und »Maria Martha« sanken. Gerettete berichteten später, die
Deutschen hätten auf Schiffbrüchige, die im Wasser schwammen,
geschossen, und es soll einen Stuka-Angriff aufSchwimmende gegeben
haben.40

Nachsatz

Die an den Erschießungen beteiligten deutschen Befehlshaber wurden


nachKriegsende garnichtoder nur zu leichten Strafen verurteilt. Gene-

203
ral von Stettner und Major von Hirschfeld waren gefallen. Die Ange
klagten desProzesses gegen dieSüdost-Generäle (Fall 7)wurdenfreige
sprochen (so Felmy, von Weichs und Foertsch), andere wurden nach
wenigenJahren Haft entlassen. In den sechzigerJahren wurden in einer
Reihe von Fällen die Untersuchungen wegen Morden an italienischen
Kriegsgefangenen wiederaufgenommen. Die deutschen Gerichte er
kannten auf Befehlsnotstand. Die italienische Staatsanwaltschaft ver
langte dieAuslieferung einiger Angeklagter, demwurdenichtstattgege
ben.41

Aus dem Hebräischen von Josef Loschner

Anmerkungen

Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschau


ungskrieges. DieEinsatzgruppen der Sicherheitspolizei und desSD193 8-1942,
Stuttgart 1981; Omer Bartow, The Eastern Front. 1941-1945. German troops
andthe barbarisation of warfare, Houndmills u. a. 1985; Christopher R. Brow
ning,Fateful months: Essays on the emergence of the FinalSolution, New York
1985; SzymonDatner, CrimesagainstPOWs: Responsibility of the Wehrmacht,
Warschau 1964.
Die Ausnahme ist Gerhard Schreiber, Die italienischen Militärinternierten im
deutschen Machtbereich 1943 bis 1945: Verraten - verachtet - vergessen, Mün
chen 1990. Die wichtigsten Titel derumfangreichen italienischen Untersuchung:
Mario Torsiello, Leoperazioni delle unitä italiane nel settembre - ottobre 1943,
Rom1975; GabrioLombardi, L' 8settembre fuoridTtalia, Mailand 1967; Alfon-
so Bertolini,Per la patria e la libertä! I soldati italianinellaResistenzaalPestero
dopo P 8 settembre, Mailand 1986; Domenico Bartoli, LTtalia si arrende: la tra-
gedia delP 8 settembre 1943, Mailand 1983. Zum Massaker von Cefalonia vgl.
Enrico Zempetti/S. Sepielli, Notiziario bibliografico della »Acqui«, Rom 1988.
Die Zahlenangaben über die Ermordeten folgen Schreiber, a. a. O., S. 579. Die
Anzahlder ErtrunkenenschätztSchreiber auf 13 000.
Vgl. Josef Schröder, Italiens Kriegsaustritt 1943. Diedeutschen Gegenmaßnah
men im italienischen Raum; Fall »Alarich und »Achse«, Göttingen 1969,
S. 176-195-
Zur Übersicht über Diskussionen zum italienischen Kriegsaustritt vgl. Bartoli,
a. a. O.
Schon am 7.September 1943 hatte eine Beratung desOKW zum Thema »Vor
bereitung aufdenAbfall Italiens« stattgefunden, diesich mitFragen des Unter
nehmens »Alarich«, den teilnehmenden Kräften, den Prioritäten der Aktion
beschäftigte. Unter anderem wurde dort die Frage aufgeworfen: »Soll der ital.
Soldat als Feind behandelt werden?« Eine Klärung erfolgte nicht. Vgl. Walter

204
Hubatsch (Hg.), Kriegstagebuch des OKW, Bd. III; i. Januar 1943-31. Dezem
ber 1943, Frankfurt am Main 1963, S. 1065-1070.
7 Bundesarchiv/Militärarchiv (BA-MA) Freiburg, RW 4/v. 109, S. 112-113;
RH 26-22, 2913 (3), Befehle über ital.Soldaten-Behandlung; Hubatsch, ebenda,
S. 1094. In der ersten Zusammenkunft am 7.September wurden Hinrichtungen
nicht erwähnt, aber es wurde beschlossen, daß jene italienischen Soldaten, die
nicht bereit sein würden, an der Seite Deutschlands weiterzukämpfen, als
Kriegsgefangene anzusehen seien. Hubatsch, ebenda, S. 1085 (Kriegsgefangene).
8 Vgl.Torsiello, a. a. O., S. 216-217.
9 Menachem Shelah, Kroatische Juden zwischen Deutschland und Italien: Die
Rolle der italienischen Armee am Beispiel des Generals Giuseppe Amico
1941-1943, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 41, 1993, H. 2, S. 175-195,
besonders S. 194^
10 Ein Zeichen dafür, daß die Hinrichtungsbefehle nicht überall ordnungsgemäß
durchgeführt wurden, sind die wiederholten Memoranden und Erinnerungen.
Beispielsweise hat das Kommando der 2. Panzerarmee den Befehlinnerhalb von
wenigeralszweiWochensiebenmal wiederholt.BA-MA 21-2/590, S.39,40,46,
50,61, 66, 73. Vgl. auch Hubatsch, a. a. O., S. 1100.
11 BA-MA, RH 24-22/12; 24-22/3 Anlage 6y.Dazu Schreiber: »Es geht um einen
Befehl, der es in letzter Auslegung möglich machte, in Zivil aufgegriffene
ehemalige italienische Soldaten wie tolle Hunde niederzuschießen.« Schreiber,
a. a. O., S. 156L
12 Torsiello, a. a. O., S. 607. Torsiello berichtet, daß von Senger während der
Kämpfe auf Korsika die sofortige Entlassung aller deutschen Soldaten verlang
te, die von den Italienern gefangengenommen worden waren, ansonstenwürde
er »diedoppelte Anzahlvon italienischen Gefangenen hinrichten«. Der italieni
sche Befehlshaber, General Magli, erwiderte, dies würde dem Kriegsrecht
widersprechen. Schließlich fand ein Gefangenenaustausch statt. Wie Schreiber
berichtet, sagte von Senger, daß »die Erschießung von Offizieren, die recht
mäßige Befehle ihrer Regierung ausführen, gegen sein Gewissen« sei.Von Sen
gers Ia-Offizier, Oberstleutnant i. G. Hans Meier-Welcker, wurde jedoch
denunziert und bestraft.Vgl.Schreiber, a. a. O., S. 128, Anm. 145.
13 BA-MA, RH 19 VII/i, S. 153.
14 Vgl. dieMeldungder 1.Gebirgsjägerdivision vom 29.September: »Eingeflüch
teter Italiener erschossen.« BA-MA, RH 28-1/191.
15 Vgl. Torsiello, a. a. O., S. 521-522;Schreiber, a. a. O., S. 160-161.Wie Torsiello
annimmt, ist die relativ geringe Anzahl von Erschossenen auf Korfu auf die
Abwesenheit Major von Hirschfeldszurückzuführen. Vgl.Anm. 25.
16 Schreiber, ebenda, S. 164;vgl. Torsiello, ebenda, S. 381-82.
17 ZbornikNOB u Dalmaciji, Bd. 8,Split 1985, S.846(Dokument 396), S. 850-851
(Dokument 399, 400).
18 Vgl. zum Beispiel das Verhör von General Hubert Lanz im »Fall 7« in
Nürnberg:Trialsofwar criminals beforethe Nürnberg MilitaryTribunalsunter
Control Council law no. 10, Nürnberg, October 1946-April 1949, Bd. XI,
Wa-shington, D. C, 1950, S. 1108.

205
19 ZeugnisLeutnant Enzo de Bernart, StatoMaggiore DelPEsercito-Ufficio Stori-
co (SME).
20 Vgl.Torsiello,a. a. O., S. 544.
21 Ebenda, S. 552.
22 Ebenda, S. 569L; Schreiber, a. a. O., S. 184.
23 Schreiber, ebenda, S. 187.
24 Vgl. dazu die italienische Literatur in Anm. 2.
25 Zur Mitgliedschaft von Hirschfeldsin der NSDAP vgl. BerlinDocument Cen
ter, Parteikarte 1541 656.Von Hirschfeld sprach Italienischund leitetekurz vor
dem Waffenstillstand die erste Verhandlung mit dem Kommandanten von
Korfu. Vgl.BA-MA,RH 28(VonHirschfeldüber Fahrt nach Korfu).Er betei
ligte sich an den Erschießungen italienischer kriegsgefangener Offiziere der
Divisionen »Peruggia« und »Brennero« und befehligte die Massenerschießun
gen auf Cefalonia. Nach dem September 1943 wurde von Hirschfeld schnell
befördert. Im Januar 1945 fiel er an der Ostfront im Rang eines Generalleut
nants. Vgl. Schreiber,ebenda, S. 632.
26 Hubatsch, a. a. O., S. 1110.
27 BA-MA, RH 19 VII/i, S. 156.
28 Trialsof war criminals, Bd. XI, a. a. O., S. 1104^Wieder Biograph von Gene
ral Lanz berichtet, soll diesergesagt haben: »Solange ich ein anständiger Soldat
bin, kann man von mir nicht erwarten,den Erschießungsbefehl auszuführen.«
Vgl. Charles B. Burdick, Hubert Lanz. General der Gebirgstruppe, 1896-1982,
Osnabrück1988, S.194. - Lanzwirdfreilich auchvonHistorikerngünstig beur
teilt, die mannicht- wie Burdick- der Apologetik verdächtigen kann.Vgl. bei
spielsweise Mark Mazower,Inside Hitler's Greece,New Haven/London 1993,
S. i77f.
29 Trials, a. a. O., S. 1106.
30 Auf welche Weise der Befehl erteilt wurde, ist nicht bekannt. Da alle deutschen
Einheiten, die an der Offensive teilnahmen, Gefangene erschossen, ist davon
auszugehen, daß ein Befehl von oben vorlag.
31 Vgl. die Beschreibungen bei Lombardi, a. a. O., S. 159L; Renzo Apolonio, La
battaglia e il sacrificio della divisione di fanteria di montagna »Acqui« a Cefalo
nia e Corfü, in: Italia e resistenzaEuropea, Treviso 1983, S. 130; ders., La divi
sionedi montagna »Acqui«, Turin 1986, S.44;Luigi Ghilardini, SulParma sicade
ma non si cede: Cefalonia e Corfü, settembre 1943, Genua 1968, S. 114-117;
Romualdo Formato, L'eccidio di Cefalonia. Presentazione di Gabrio Lombar
di, Mailand 1968,S. 69-96. Burdick beschreibt das Massaker so: »Die Deutschen
warenwütendüber den Verratihrer früherenVerbündeten, diesiealsfeige Spa
ghettifresser bezeichneten. Ihren Verbündeten treuelos im Stich zu lassen, die
Vereinbarung mit (General) Vecchiarelli nicht einzuhalten und Kriegsgefange
ne willkürlich zu behandeln,führte zu einigen unkontrollierten Strafaktionen:
Die Italiener, die sich in Gruppen sofort ergaben, wurden traditionsgemäß als
Kriegsgefangene behandelt, die bis zum Ende kämpften, erfuhreneinesumma
rische Aburteilung ohne Gnade.« - Burdick, a. a. O., S. 194.
32 Formato, a. a. O., S. 100.

206
33 BA-MA, RH 24-22, RH 19 VII/io, S. 99.
34 Ebenda, RW 4/v. 109; Hubatsch, a. a. O., S. 1134.
35 Ebenda, RH 24-22/2.
36 Über den Flug General von Stettners nach Cefalonia vgl. ebenda, S. 45.
37 Eine detaillierte und erschütternde Beschreibung der Erschießungen der Offi
ziere bei Formato, a. a. O., S. 97-139. Hier und dort kam es vor, daß Offiziere
von deutschen Soldaten gerettet wurden, zum Beispiel Leutnant Diamantini
durchden deutschen Feldwebel Fritz Aigner. Vgl. dasUrteildes Kriegsgerich
tes betr. Cefalonia, Rom am 20. März 1957, SME 2128/6/5/1, S. 72f. Auch
Kapitän Appolonio, der an der Spitze der Meuterei gegen General Gandin
gestanden hatte,wurde von deutschen Soldaten gerettet. Vgl. ebenda, S. 112f.
38 Ghiraldini, a. a. O., S. 155-157.
39 BA-MA, RH 28-1/11. Divisionschef von Stettner hatte seine Glückwünsche
hinzugefügt.
40 BA-MA, RH 19VII/io, S. 175; Appolonio, La divisione, a. a. O., S. 45; Barto-
lini, a. a. O., S. 31; Ghiraldini, a. a. O., S. 161.
41 Zu »Fall 7« vgl. Trials, a. a. O. Zum weiteren Schicksal eines Teils der An
geklagten vgl. Schreiber, a. a. O., S. 627-642 (Personenregister). Zu den
wiederholten Auslieferungsersuchen gegendie Offiziere und Mannschaftendes
XXII. Armeekorps, die für das Massaker auf Cefalonia verantwortlich waren,
vgl. Chirladini, a. a. O., S. XXXI-XL.
Michael Geyer »Es muß daher mit schnellen
und drakonischen Maßnahmen
durchgegriffen werden«
Civitella in Valdi Chiana am 29.Juni 1944
Für Leonardo Paggi

Als die Männer von Civitella in Val di Chiana und der umliegenden
Gegend sich am Morgen des Festtages von St. Peter und Paul aufmach
ten,in dieFrühmesse zu gehen, hattensienichtim Sinn, einhalbes Jahr
hundert später Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen zu sein.
Das gilt auchfür diejenigen, die an diesem Morgen aus dem einen oder
anderen Grund zu Hause geblieben sind; denn abgesehen davon, daß
Bauern und Knechte immer und überall etwas zu tun finden, was sievom
Kirchgang abhält, gab es in CivitellaFaschisten, Kommunistenund ein
geheiratete Juden, die man an einem katholischen Festtag freilich nicht
in der Kirche findet. Daß sie alle sich imJahre 1944 überhaupt in einem
Ort befanden und daß siealle zusammen untergingen, unterscheidet die
italienische Situation so grundsätzlich von der anderswo im besetzten
Europa.
Esmachte auch keinen Unterschied, daßsie allesamt vorsichtige Leute
waren. Sie hatten sich nach einem allseits ungewünschten Zwischen
fall im Dopo-Lavoro-Club von Civitella - Ȇberfall: 3 Soldaten tot,
1 Schwerverletzter«1 - eine Zeitlang in den Wäldern versteckt oder
achtsam verhalten. Nach mehr als einer Woche schien die Gefahr einer
deutschen Vergeltungsaktion gebannt. Die Deutschen reagierten sonst
immer schnell und drakonisch, so daß man glauben konnte, Civitella
wäre deutschen Sühnemaßnahmen entgangen.2 Der Ort war trotz der
Schießerei gewiß nicht wegen Unterstützung vonPartisanen aufgefallen.
Eherwäre das Gegenteil anzunehmen. DochamAbend des 29. Juni 1944
waren die Männer von Civitella tot.
Am Morgen dieses Tages umzingelten deutsche Soldaten das Städt
chen im Val di Chiana und auch die umliegenden Gehöfte. Sie durch
kämmten die Häuser und erschossendie Männer auf der Stelle, zum Teil
vor den Augen ihrer Frauen und Kinder. Die Mehrzahl der Bewohner
war in der Kirche versammelt und wurde auf dem Kirchplatz nach
208
Geschlechtern getrennt. Die Soldaten trieben Frauen und Kinder über
den Platz zur Einmündung der Hauptstraße. Die Männer wurden in
Fünfergruppenseitwärts an die Stadtmauer geführtund erschossen. Ein
jungerMannentkam, einanderer überlebte dasMassaker. EinSoldat soll
sichgeweigert habenund ebenfalls erschossen worden sein, wasabervon
den Historikern angezweifelt wird.3 Von Civitella zogen die Soldaten in
die nahe gelegenen Ortschaften San Pancrazio und Cornia weiter, wo
weitere Erschießungen stattfanden. Am Ende des Tages zählte man 250
Opfer deutscher Gewalttaten, 212 davonin Civitella.

//

Im lokalen Gedächtnis hat die Vernichtung tiefe Spuren hinterlassen.


Der Prozeß des Erinnerns begannunmittelbarnachder Tat,alseineeng
lische Militärkommission ausführlicheVernehmungen anstellte, um die
Hintergründe und die Urheber desMassakers aufzuklären.4 Die Aussa
gen der überlebenden Witwen wurden gesammelt und 1946 in Florenz
veröffentlicht.5 Auf ihnen baut ein dichtes Geflecht von Erzählungen
auf.6 DieserErzähl-und Erinnerungsfluß kulminierte anläßlich desfünf
zigsten Jahrestages sowohl in wissenschaftlichen Arbeiten als auch in
dem in der Kirche von Civitella uraufgeführten Oratorium »Voci dalla
Memoria«.7 Zwar scheintnun einejüngereGenerationeherAbstandvon
den Ereignissen zu suchen, aber von Vergessen kann auch bei ihr keine
Rede sein.Der unmittelbare Eindruck des Geschehensist gewichen,aber
die Toten sind im Ort und in der Region gegenwärtig.
Das Fehleneiner deutschenBegründung für die Tat ist ein Reibungs
punkt, der immer wieder und immer noch Spannungen erzeugt. Denn
die Frage bleibt offen, wie das alles möglich war. Die Überlieferung hat
sichdaraufgeeinigt, daß die Schuld für das Massaker beiden Partisanen
liegen müsse, die durch ihreunvorsichtige Aktionden »deutschen Tod«
nach Civitella gebracht hätten.
Die Beschuldigung der Partisanen ist der Versuch, die unfaßbare Tat
auf die einzig faßbare Größe, eben die Partisanen als Verursacher, zu
bringen. DieDeutschen sindzwardieeigentlichen Täter, abersiebleiben
so schemenhaft und so fremd, in ihrer Aktion so unergründbar, daß
sie eher als todbringendes Schicksal denn als handelnde Täter er-
-kannt werden. Die Partisanen sind geblieben. Partisanen sind ein
Teil Italiens, Gegenstand handfester Konflikte. Aber sie sind ein Sub
stitut.

209
Erst die Rekonstruktion der deutschen Vernichtungsmaßnahme kann
den Lebenszusammenhang, der am 29. Juni 1944 zerrissen wurde und es
bis heute blieb, zusammenfügen.

///

Weder der Zwischenfall im Dopo-Lavoro-Club am 18. Juni noch ein


Gefecht deutscher Soldaten mit Partisanen im nahe gelegenen Montal-
tuzzo am 23. Juni, Ereignisse, die von den Einwohnern Civitellas mit
dem Massaker in Verbindung gebracht werden, und ebensowenig die
Erschießungenin Civitella, SanPancraziound Cornia am 29.desMonats
werden namentlich in den deutschen Akten erwähnt. Wir müssen des
halb in der Art einesArchäologendie Umstände und Hintergründe der
Tat zutage fördern.
Einen ersten soliden Hinweis lieferteine sogenannte Bandenlagekar
te vom 30.Juni 1944, die sichin den Unterlagen des Nachrichtenoffiziers
(Ic) des LXXVI. Panzerkorps (PzKorps) findet.8 Diese Bandenlagekar
te verweist auf eine Reihe von Überfällen und Sabotageakten in den
Hügeln zwischen dem Chiana-und demTibertal. Drei Partisanengebie
te sind durch Kreise markiert. Der kleinste Kreis ist in der Umgebung
von Gubbio eingezeichnet, das zum Bereich des neben dem LXXVI.
PzKorps liegenden LI. Gebirgs-Armeekorps (GebKorps) gehörte, wo
eine »Bande Garibaldi« erwähnt wird. Der nächstgrößere Kreis ist um
Poppi geschlagen. Er erfaßtdiewestliche Seite desPratomagno-Bergzu-
ges. Es werden erwähnt »4Bandenlager (1000 M.), 1 General, 1 Oberst«,
alsoeineselbständig operierende Partisaneneinheit. Die größte,sackför
mige Markierung findet sich schließlich westlich von Arezzo. Siereicht
von der Straße Arezzo-Florenz im Norden zur Straße Arezzo-Siena im
Süden und umschließt die uns interessierenden Ortschaften, ohne daß
sie genannt wären. Dieses große Gebiet wird als »Bandengebiet«
bezeichnet, wobei Bezug genommen wird auf eine »GM. 29.6.«, ver
mutlich eine Gefechtsmeldung dieses Datums.9 Erwähnt wird ebenfalls
ein »V[ersorgungs]-<< oder »V[erwundeten]-Lager«, das südlich von
Levane (Montevarchi?) eingezeichnet ist. Auf der Höhe von Levane
(Montevarchi?) findet sich der Verweis »geräumt 28.6.«. Es ist unklar,
ob sich dieser Vermerk auf den gesamten Raum bezieht. Auch ist
die Bedeutung der Aussage nicht eindeutig. Ist die Gegend von
deutschen Truppen »geräumt« worden, was der Terminus technicus
nahelegt? Hat hier eine »Auskämmaktion« für italienische Arbeits-

210
kräfte oder gar eine »Säuberungsaktion« gegen Partisanen stattgefun
den?
Aufgrund der Karte gewinnt man jedenfalls den Eindruck, daß Civi
tellain einemPartisanengebietlag. Dieser Eindruck wird verstärkt durch
einen Eintrag in das Kriegstagebuch (KTB) des Nachrichtenoffiziers der
10. Armee, zu der das LXXVI. PzKorps und das LI. GebKorps gehör
ten. Das KTB berichtet für den 27. und 28.Juni:

»Die Bandenlage nahm weiterhin zu, besonders im Raum Arezzo


wurden dieVersorgungswege zur Front z. T. gänzlichgesperrt.Eigene
Unternehmen waren erfolgreich.«10

Dies legt den Schluß nahe, daß Civitella am 29. Juni Opfer einer deut
schen »Unternehmung« gegen Partisanen wurde. Doch was auf den
ersten Blickplausibel erscheint, erweistsich auf den zweiten zwar nicht
als grundsätzlich falsch, wohl aber als zu einfach. Die Bandenlagekarte
des LXXVI.PzKorps ist eine erste,vermischte Schichteiner komplexen
Begebenheit.
Eine umfassendere Suchefindet weitere Spuren des Geschehens. Eine
Tageskarte des Oberbefehlshabers (OB) Südwest über die Bandentätig
keitfür denZeitraum vom 13. bis 24. Juni zeigt mehrere Überfälle inder
Gegend um Arezzo. Besonders bemerkenswert sind Überfälle südlich
von Ambra am 17. Juni - ein Soldat verwundet - und am selben Tag
südlich von Arezzo: »3 Soldaten tot, 1 schwerverletzt«, ferner ein
»Bandenüberfall« am 22. Juni ohne nähere Angaben.11 Das könnte
ein Hinweis sein. Diese Zwischenfälle finden aber in den Unter
lagendes LXXVI. PzKorps und im KTB der 10. Armee keinen Nieder
schlag.
Die Dislokation der deutschen Verbände hilft an diesem Punkt weiter.
Civitella lag hart an der Westgrenze des LXXVI. PzKorps, die gleich
zeitig die Armeegrenze zwischen der 10. und 14. Armee bildete.12
Der Grenzverlauf zwischen den beiden Armeen ließ Überschneidun
gen zu, da ihre Hauptbewegungsachsen auseinanderliefen. Währenddie
14.Armee um die Achse Siena-Florenz nordwestlich einschwenkte, ori
entierte sich die 10. Armee nordöstlich. Zwar bietet auch das KTB der
14. Armee keinen Hinweis auf die Ereignisse des 29. Juni, es berichtet
aber von den auf der Bandenkarte des OB Südwest notierten Zwi
schenfällen. Dabei stellt sich heraus, daß diese identisch sind mit denje
nigen,welchein Civitellazu den Ursachen desMassakers gerechnetwer
den:

211
»Am Vormittag des 20.6. überfiel eine Bandengruppe auf der Straße
bei Fattoria Palagio (3 km 68/01) einen Pkw mit 3 Soldaten; 1 Soldat
gefangen, Pkw geraubt.
Ein durch Stabsarzt Dr. Hox sofort eingeleitetes Unternehmen stieß
nördlich S. Martino (westlich 68/01) aufBandengruppe von etwa 200
Mann, die mit Granatwerfern, sMG und MPi angriff. Bei diesem
Gefecht machte die Kampfgruppe (34 Mann der Sanitätsabteilung 4)
38 Gefangene, erzielte 25 Feindtote beinur einem eigenen Verwunde
ten. 18 Banditen wurden standrechtlich verurteilt und aufgehängt, 4
Banditenhäuserniedergebrannt. Zwei der Verurteiltenriefenvor dem
Tode>Viva Russia<. 8Banditen hattenAusweispapiere der OT und der
Transportflotte Speer.
Am 17.6.wurde nördlich S.Ambra (12km südlichvon Levane) an der
Straße Arezzo-Florenz einLKW mitMannschaften amDorfausgang
aus Häusern beschossen und 2 Soldaten im Dorf von den Banditen
eingeschlossen. Eigener Stoßtrupp der 2/San. Abt. 4 unter Stabszahl
meister Sonntag befreite die Eingeschlossenen und erzielte einen
Feindtoten und einen Gefangenen.
In einem Ort bei Arezzo (Name nicht feststellbar) wurden am 17.6.
abends 4 Soldaten in einer Wirtschaft überfallen. Nach einem Feuer
gefecht 3 eigeneTote, 1 Schwerverletzter.«13

Hier sind aus deutscher Sicht unter anderem das Feuergefecht von
Montaltuzzo und der Zwischenfall im Dopo-Lavoro-Club geschildert
worden. Aber im Unterschied zur lokalen Überlieferung, die jedes
Detail kennt, ist der Eindruck von fernen und nur vage erfaßten Ereig
nissen in dendeutschen Unterlagen überwältigend. Der NamedesOrtes
der Schießerei mit tödlichem Ausgang bleibt unbekannt. Eine Sanitäts
abteilung wird als Jagdkommando eingesetzt. DieDiskrepanz zwischen
lokaler Überlieferung und KTB, was die Zeit, die Orte und die Ereig
nisse angeht, ist offensichtlich - obwohl beide Spuren eindeutig auf den
gleichen Sachverhalt weisen.14 Der Umstand, daß das Gefecht von
Montaltuzzodas Unternehmenvon einem Stabsarzt und 34Mann einer
Sanitätskompanie war,legtübrigens nahe,daß am 28.Juni ein »V[erwun-
deten]-Lager« »geräumt« wurde. Wichtig aber ist, daß es sich in Mont
altuzzo tatsächlich um »eine schnelle und drakonische Maßnahme« -
allerdings ohneSignifikanz selbst für daslokale Kriegsgeschehen - han
delte.

212
IV

Als Italien im September 1943 von deutschen Truppen besetzt wurde,


begann eine vorauseilende Eskalation der Partisanenbekämpfung. Sie
entstand, indem die Lehren aus den »klassischen« Partisanengegenden
auf dem Balkan, in Griechenland und den besetzten Gebieten der
Sowjetunion Anwendung fanden. Während in Italien die Partisanen
gewissermaßen erst erfunden werden mußten, hatte die Partisanen
bekämpfung im besetzten Europa einen Höhepunkt erreicht. Die ein
geleiteten Maßnahmen rekurrierten auf einen Erfahrungs- und Erwar
tungshorizont, der weit über die italienischen Verhältnisse hinaus
reichte.15 Die Terrorerfahrung aus dem okkupierten Europa - der für die
Partisanenbekämpfung zuständige Stabsoffizier erhielt die Designation
Ia/T[error] - floß in das lokale Geschehen ein, dies geradeist für die Par
tisanenkriegführung in Italien zwischen April und Oktober 1944 cha
rakteristisch.
Die präventiveBekämpfung von Partisanengruppenläßt sich, beson
ders in Piemont und Ligurien, bis in den Oktober und November 1943
zurückverfolgen. Siewurde vom LXXV Armeekorps, das für den ligu-
rischen Küstenbereich zwischen Cecina und Genua zuständig war,
durchgeführt. Dieses Armeekorps wurde zum Schulungszentrum der
militärischen Partisanenkriegführung in Italien. Ausgehend von einer
grundlegenden Besprechung über die Partisanenlage bei Verona am
3. April 1944,16 führte das LXXV. Armeekorps in den Monaten März
und April 1944, eine Reihe von Säuberungs- und Vernichtungsaktionen
durch, die sozusagen auf dem Reißbrett entstanden. Es waren kalkulier
te, mehrere Tage dauernde, mit erdrückender Überlegenheit durchge
führte Unternehmungen. Für jede dieser Aktionen gibt es einen detail
lierten Gefechtsbericht, der die Ergebnisse und Erfahrungen der
jeweiligenAktion resümiert.
Ihnen allen ist eine Attitüde der Überlegenheit eigen: »Bei straffer,
energischerFührung [...] ist es möglich,allediese Banden erfolgreichzu
bekämpfen.«17 Sieseien eher Wegelagerer als ernstzunehmende Gegner;
es sei lächerlich, wenn deutsche Stellenbehaupteten, daß der Partisanen
kampf den Kämpfen an der Front vergleichbar wäre;es sei besser, wenn
Kampfeinheiten sich mit Vorbereitungen für den Fronteinsatz (Kfz-
Instandsetzung) beschäftigten, als mit derartigen Aufgaben belästigt zu
werden; wenn überhaupt, dann sollten V-Männer und lokale Einheiten
Partisanengebiete auskundschaften und einkreisen, um »anschließend
durch reguläre Truppen die Vernichtung vorzunehmen«.18 Diese Groß-

213
spurigkeit war kein bloßer Sprachgestus. Die sorgfältig geplanten und
ohne Druck durchgeführten Aktionen entluden sich in einem brutalen
Vernichtungskrieg, der die zivile Bevölkerung - Männer, Frauen und
Kinder - mit einer nur schwer begreifbaren Zerstörungswut traf.19
An diesen Unternehmen waren maßgeblichEinheiten der Fallschirm-
Panzerdivision »Hermann Göring« (FschPzDiv HG) beteiligt, die
durch besondere Grausamkeit auffielen. Die Führer dieser Einheiten
insistierten geradezu darauf, daß die Zivilisten in diesen Partisanenge
bieten nichts anderes als verkappte Partisanen seien und deshalb »ver
nichtet« und »ihre Häuser abgebrannt oder gesprengt« werden müß
ten.20 Die Betonung ist hier vielleicht noch wichtiger als der Umstand
selbst.Diese Einheiten und ihre Führer waren jedenfalls darauf aus, nicht
nur Partisanen zu bekämpfen, sondern eine Haltung zu demonstrieren.
Die Orte S. Paolo in Alpe, Molino di Bucchio, Sorelli, Valluciole und
Croce di Mari fielen ihnen bei einer größeren Unternehmung im Raum
desMonte Falteronazwischen dem 13. und 17. April 1944 zum Opfer.21
Wohl gab es Diskussionen über die Nützlichkeit dieses Vorgehens.
Eine wurde durch den zitierten, besonders großmäuligen Gefechtsbe
richt ausgelöst,der behauptete:

»Durch den Einsatz und das energische Zupacken erschüttert,


versuchten [die Partisanen], den harmlosen Zivilisten herauszustrei
chen. Keinerwollte etwasvon einer Bande gesehenhaben. Siewurden
alle der Mittäterschaft überführt und gem. Führerbefehl über die
Bandenbekämpfung vernichtet, die Häuser abgebrannt oder ge
sprengt. In vielen Fällen ging dabei nicht gefundene Munition in die
Luft.«22

Die verantwortlichen Armeestäbe erkannten genau, daß derartige Maß


nahmen Zivilisten, allenfalls Sympathisanten, trafen und die Sache der
Partisanen stärkten. Je besser die Partisanen organisiert und - entspre
chend- je gefährlicher siewaren, um so leichter konnten sieausweichen.
Im LXXV. Armeekorps wurde ein Tagesbefehl erlassen,der die Grenzen
der Vernichtung enger umriß, ohne daß dies jedoch sehr viel an der Pra
xisgeänderthätte.23 Vergleichbares giltfür den rückwärtigen Bereich der
14. Armee, dessen Gebiet im März 1944 die umbrischen Berge
umschloß, in denen das Regiment Brandenburg, eine auf den Partisa
nenkampf spezialisierte Einheit der militärischenAbwehr, zum Einsatz
kam. Der zuständigeNachrichtenoffizier stellte einigermaßen lakonisch
fest, daß die besonders brutalen Bandenbekämpfungsmaßnahmen im

214
Raum Rieti eher Zivilisten träfen, als effektiv Banden zu bekämpfen.
Aber auch er bot keine Alternative.24

Verglichenmit dem Zeitpunkt, als deutsche Truppen mit unverkennba


rem Hochmut und bei scheinbar vollkommener Kontrolle der Lage die
Kriegführung gegen Zivilisten nach Italien importiert hatten, war die
Situation im September und Oktober 1944 radikal anders. Die Erwar
tung der ersten Monate des Jahres 1944, daß man zumindest in Italien -
aufgrund einer stabilen Front und der Blockade des alliierten Vormar
sches - »Herr« der Lage bleiben würde,25 hatte sich im Spätsommer und
Herbst zerschlagen.
Gleichzeitigwaren die Partisanen nicht mehr zu kontrollieren. Dieses
angeblich so »feige Volk«26 organisierte mehrere tausend Soldaten
umfassende, militärisch gegliederte Großverbände wie die »Garibaldi-
Brigade«, die befreite Zonen erkämpften und zu einem aktiven Element
der Kriegführung wurden, das im Rücken der deutschen Armeen in das
Kriegsgeschehen eingriff. Wenn im August und September 1944 von
einem Bandenzentrum in den Bergen hinter La Spezia die Rede war, in
dem eine Partisaneneinheit von schätzungsweise 2000 Mann »von der
gesamtenBevölkerung restlos unterstützt wurde«, so war das nicht mehr
schlechthin vorauseilende Rechtfertigung für einen Vernichtungskrieg
gegen Zivilisten,sondern gleichermaßen die Konsequenz der deutschen
Kriegführung der vorangegangenen Monate und des alliiertenVormar
sches.27 In den Monaten zwischen April und Oktober 1944 wandelte
sich die operative Lage der deutschen Armeen in Italien sowohl an der
Front als auch in den rückwärtigen Gebieten. Der Scheitelpunkt dieser
Entwicklung lag in der zweiten Hälfte des Juni 1944, ihren örtlichen
Schwerpunkt bildeten die Kämpfe um den Trasimenischen See. Der
deutsche Hauptakteur dieser Kämpfe war das LXXVI. PzKorps der 10.
Armee, auf deren äußersten rechten Flügel kämpfte nun im Fronteinsatz
die FschPzDiv HG. In ihrem Gefechtsstreifen lag Civitella.
Aus dem LXXV. Armeekorps war inzwischen die Armeeabteilung
von Zangen ausgegliedert worden. Sieübernahm die Partisanenbekämp
fung in Norditalien. Auf die Gebiete nördlich des Po zurückverlegt,
scheidet sie zwar aus unserer Geschichte aus, kann aber dazu dienen, die
Reaktion aller militärischen Kommandobehörden in Italien auf die Ver
schärfung der Lage paradigmatisch zu umreißen.
Der Befehl Nr. 17 für die Bandenbekämpfung vom 29.6.1944, dem
Festtagvon St. Peter und Paul, charakterisierte die Lagewie folgt:

»Die Bandentätigkeit im oberitalienischen Raum, besonders in dem


Gebirgsgelände des Apennin, hat - ausgelöst durch die Aufrufe der
Feindseite mit dem Fortschreiten der feindlichen Offensive in sol
chem Maße zugenommen, daß die planmäßige Vorbereitung und
organisierte Geschlossenheit des Bandenkrieges unverkennbar ist. Es
handelt sich heute nicht mehr um unabhängig voneinander handeln
de Einzelgruppen, sondern um eine offenbar von der Feindseite und
damit von einheitlichem Willen geleitete Aufstandsbewegung, um
einen organisierten,militärischgeführten und nach den Grundsätzen
des Kleinkrieges kämpfenden Feind im Rücken.«28

Aufgrund dieser Lageeinschätzung wurde ein Maßnahmenkatalog fest


gelegt, der bereits einen Tagspäter,am 30.Juni 1944, um einein der Pra
xisdurchaus nicht neue, aber in Befehlsform so bislang nicht formulier
te Anweisung ergänzt wurde:

»Wo Banden in größerer Zahl auftreten, ist ein jeweils zu bestimmen


der Prozentsatz der in dieser Gegend wohnenden männlichen Bevöl
kerung festzunehmen und bei vorkommenden Gewalttätigkeiten zu
erschießen. Dies ist den Einwohnern mitzuteilen.
Werden Soldaten usw. aus Ortschaften beschossen, so ist die Ort
schaft niederzubrennen. Täter oder Rädelsführer sind öffentlich auf
zuhängen.«29

Dieserfür die rückwärtigen Gebiete geltendeBefehl hatte ein Pendant in


einem Befehl der 14. Armee:

»Ich werde jeden Führer decken, der in der Wahlund Schärfeder Mit
tel bei der Bekämpfungder Bandenüber das bei uns übliche Maß hin
ausgeht. Auch hier gilt der alte Grundsatz, daß ein Fehlgreifen in der
Wahl der Mittel, sich durchzusetzen, immer noch besser ist als Unter
lassung und Nachlässigkeit.«30

Ein vergleichbarer Befehl der 10. Armee ist nicht erhalten, wohl aber
berichtete das der 10. Armee unterstellte LI. GebKorps am 2.Juli:

»Durch das Generalkommando [LI. GebKorps] ist verstärkte Siche-

216
rung der in die rückwärtigen Räume entsandten Kommandos sowie
des gesamten Straßenverkehrs befohlen und den Divisionen die
Ermächtigung erteilt,die Zivilbevölkerung der einzelnen Ortschaften
für die Sicherheit und Ordnung verantwortlich zu machen.«31

VI

Die gestiegene Spannung schlug sich im Kriegstagebuch der 10. Armee


nieder.Für die Zeit vom io.bis 13. Juni wird unter dem Stichwort »Ban
denlage« notiert: »Unterstützt durch feindliche Aufforderung, Waffen
abwürfe und Zusammenarbeit mit feindlichen Fallschirmspringern
nimmtdieBandentätigkeit [...] ständigzu. Es kamzu mehrfachen Über
fällen auf einzelne Soldaten, kl[eine] Trupps und teilweise auf geschlos
sene Kolonnen.« Für den 22. Juni heißt es, daß »die Bandentätigkeit in
den letzten Tagen[...] durch den Aufruf des General Alexander, beson
ders im frontnahen Gebiet beträchtlich an Umfang zugenommen hat.«
Am 25. Juni: »Die Bandenlage nahm weiter zu. Überfälle auf einzelne
Kfz, Versorgungslager und Eisenbahnzüge hielten an. Über Stabsoffi
zierefür Propaganda wurden Flugblätterfür die Bevölkerung herausge
geben, daß jegliche Bandentätigkeit und Unterstützung mit dem Tode
geahndet wird. Das Bataillon Brandenburg wurde in den Raum Arezzo
verlegt.« Am 27. und 28. Juni hieß es schließlich: »DieBandenlage nahm
weiterhin zu, besonders im RaumArezzowurdendieVersorgungswege
zur Front z. T. gänzlich gesperrt.« Als Monatsbilanz berichtet das KTB
summarisch: »658 Gefangene, 30 Wiederergriffene, 36 Banditen gefan
gen, 223 erschossen, 16 verdächtige Zivilisten ergriffen, 3 Frontläufer
festgesetzt.«32 Es liegt nahe, diese Angaben auf Civitella zu beziehen.
Das Problem ist nur,daß dieseEintragungennicht auf dasChianatalsüd
westlich von Arezzo, sondern aufden im Nordwestengelegenen Prato-
magno-Bergzug gemünzt waren.
Vom LXXVI. PzKorps über die 10. Armee zum OB Südwest gab es
für den Raum Arezzo in den letzten Junitagen nur ein Thema. Am
25. Juni wurde aufder StraßeAnghiari-Sansepolcro ein Oberst, der ver
antwortliche Straßenkommandant, von Partisanen gefangengenommen
und sein Fahrer schwer verletzt. Im gleichen Raum, weiter nördlich auf
der StraßeArezzo-Poppi, wurde ein weiterer Oberst, der Kommandeur
einer Flakbrigade, angeschossen. Daraufhin veranlaßte die Straßenkom
mandantur Arezzo »umgehend, daß die Bevölkerung sämtlicher Ort
schaften an der Straße Anghiari-Montauti-Borgo-Agiovi [dasist:Borgo

217
a Giovi] (die an dieser Straße liegenden Orte sämtlich einschließend)
gefangen gesetztwird. [...] Wennin den nächsten48Stunden der Oberst
und der Uffz nicht herbeigeschafft sind, wird die männliche Bevölke
rung erschossen, die Ortschaften niedergebrannt.«33 Dem folgte eine
rege Verhandlungstätigkeit, in der ein Generalkommando<ler Partisa
nentruppe am 26. Juni mit der Erschießung des Offiziers und des Solda
ten drohte, falls Repressalien gegen die genannten Orte stattfänden.34
Gleichzeitig berichtete ein V-Mann, daß der Oberst nicht in die Hände
der »italienischen Freiheitsarmee« gefallen sei, sondern in die eines
»Bandenhäuptlings namens Andrea, wahrscheinlich slowenischer
Nationalität, [der] sich vor allem mit Diebstählenund Überfällen« über
Wasser halte.35 Die italienischen Partisanen würden alles daransetzen,
den Obersten in ihre Kontrolle zu bekommen, um ihn freizulassen.
Offenkundig geschah das, denn am 30. Juni wurde in der Tageskarte
beim OB Südwest vermerkt: »Auf angedrohte Sühnemaßnahme Brief
wechselder Banditen mit Straßenkommandantur von Arezzo. 29.6.: Auf
Grund eigenerGegenmaßnahmenOberst Frhr. von Gablentz auf freien
Fuß gesetzt.«36
Das Regiment Brandenburg war im Dauereinsatz:
»Im Raum Cetica (8 [?] km westsüdwestl. Poppi) 8stündiges Gefecht
zwischen II/3. Rgt. Brandenburg und Banditen.45 Banditen erschos
sen, 1 Gefangener eingebracht. Große Mengen an Waffen und Mun.
vernichtet. 2 Fahnen der 22. Sturmbrigade Garibaldi erbeutet. Ort
Cetica in Brand gesteckt. Stärke der Bande mindestens 3500 Mann,
wahrscheinlich stärker. Bande gut ausgebildet und gut geführt.
Bei Kampf im Schaggia-Tal (10 km westl. Poppi) weitere 10 Bandi
ten erschossen. Verluste II/3. Rgt. Brandenburg: 2 Tote, 5 Verwun
dete.«37

Ende Juni konzentrierten sich die Einsätze im rückwärtigen Bereichdes


LXXVI. PzKorps auf die Gegend nördlich von Arezzo. Der Pratoma-
gno-Bergzugwar auf allenBandenkarten als Bandengebiet markiert, das
Valdi Chiana im Süden hingegen nicht. Auch in diesem Raum kam es zu
einzelnen Überfällen und Sabotageakten, aber allein in der Karte des
LXXVI. PzKorps und in der Meldung einesStabsarztes an die 14.Armee
finden sich Hinweise, daß in diesem Raum Partisanen als selbständige
Einheiten agierten. Zumindest wurden sie von den deutschen militäri
schen Kommandostellen nicht wahr- oder ernstgenommen.38 Deshalb
muß Vorsicht walten, wenn man die Ereignisse in Civitella,San Pancrg-
zio und Cornia mit vorangegangenen und nachfolgenden »Banden-

218
Unternehmungen« inVerbindung bringt. Wehrmacht, Partisanen und die
Einwohner der Stadt waren und sind gleichermaßen - wenn auch aus
unterschiedlichen Gründen - daran interessiert, den Banden-, genauer
Partisanenaspekt zu betonen. Aber Civitella war EndeJuni 1944 weder
aus deutscher Sicht noch aus der Sicht der Partisanen »Bandengebiet.«

VII

Auf die Täter oder ihre Motive finden wir in den deutschen Unterlagen
keine direkten Hinweise. Aber militärische Gewalt ist nun einmal so
organisiert, daß sie auchin solchen Situationen nach Zuständigkeit ver
fährt.
Prinzipiell sind drei Alternativen zu erwägen. Eine Möglichkeit ist,
daß die militärische Einrichtung, die für die Sicherheit und Ordnung der
rückwärtigen Armeegebiete zuständig war, Korück 594, einJagd- oder
Sicherungskommando zusammengestellt hätte.39 Doch ist das auszu
schließen, weil sich inderZeit zwischen dem Dopo-Lavoro-Club-Über-
fall und dem Massakerdie Grenzen der Zuständigkeit veränderten. Am
20. Juni kam der Raum südlichder StraßeFlorenz-Arezzo-Sansepolcro
in den Gefechtsstreifen des LXXVI. PzKorps. Korück 594 war nur noch
für die Gebiete nördlich dieserStraßezuständig.40 DieseUmgliederung
mag die merkwürdige Verzögerung zwischen Dopo-Lavoro-Club-
Überfall und deutscher Reaktion erklären. Die zweite Möglichkeit ist,
daß das IL oder III. Regiment »Brandenburg« zum Einsatz gekommen
wäre;denn beideRegimenter wurden »zunächst im bisherigen Raumzur
Bandenbekämpfung eingesetzt«.41 Damit wäre die Aktion in Civitella
eindeutig als Bandenunternehmen einzuordnen. Diese Möglichkeit ist
aufgrund der deutschen Unterlagen zumindest für das III. Regiment
Brandenburg nicht gänzlich auszuschließen, aber es spricht doch alles
dafür, daß diese Spezialeinheit zur Partisanenbekämpfung dort einge
setzt war, wo auch Partisaneneinheiten zu finden waren, im Gebiet des
Pratomagno.
Die Erinnerung der Bewohner Civitellas gibt an diesem Punkt einen
Fingerzeig auf die dritte Möglichkeit, der sichin den deutschen Quellen
bestätigt. Die Truppen, die in Civitella mordeten und brandschatzten,
kamen aus dem Süden, vom Nachbarort Monte San Savino - nicht aus
dem nordöstlich gelegenen Arezzo. Im Süden lag zu dieser Zeit das
Hauptquartier der FschPzDivHG. Civitella kam spätestens am 26. Juni
in den Gefechtsstreifen dieser Division.42 Das Städtchen fiel damit unter

219
die Kommandogewalt des Divisionskommandeurs Oberst Schmalz.
Als Befehlshaber zeichnete er aller Wahrscheinlichkeit nach für den
Tod der 250 Zivilisten in Civitella, San Pancrazio und Cornia verant
wortlich.
Die FschPzDiv HG, die Divison mit der eigenartigen Bezeichnung,
ist ein Beispiel für die Herrschaftskonkurrenz im Dritten Reich. Siewar
immer eine Felddivision, die, formal der Luftwaffe unterstellt, ihren Ein
satz im Rahmen von Heeresverbänden fand. Sie war keine SS-Division.43
Sie wurde aus Resten der in Tunis vernichteten Divison »General
Göring« im Juni 1943 auf Sizilien neu zusammengestellt, hatte aber ihre
Ausbildungseinheiten in Südfrankreich und Holland.44 Die im Sommer
und Herbst ausgebildeten Rekruten wurden kurz nach ihrer Grundaus
bildung in Mittelitalien zu einem geschlossenen Divisionsverband
zusammengefügt. Sie kamen bei der Partisanenbekämpfung des LXXV.
Armeekorps im April 1944 zum Einsatz. Einheiten der Division waren
für die Massaker um den Monte San Giulia (18. März), in Villaminozo
(18.bis 20.März), Monte Falterona (13.bis 17.März) mitverantwortlich.
Im Mai 1944 gehörte die Division zur 10. Armee, wo sie in die Rück
zugsgefechte um Rom und dann in die blutigen Abwehrkämpfe zwi
schen Cittä di Pieve, Chiusi und Sinalunga geworfen wurde.
Die FschPzDiv. HG ist typisch für einen Verband der im Entstehen
begriffenen nationalsozialistischen Armee.45 Ihre Rekrutierungsbasis
war nicht territorial, sondern national, sie griff auf Freiwillige aus NS-
Korporationen wie die HJ zurück. Ihre Soldaten waren ausgesprochen
jung, wohl siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Sie hattenihreAusbildung
im besetzten Europaerhalten und machten ihre erste Gefechtserfahrung
imPartisanenkampf. Die Einheit war zwarmateriell rechtgut ausgestat
tet, litt aber an einem außerordentlichen Mangel an Offizieren und
Unteroffizieren, wassiein der Einschätzung ihresKommandeurs - eines
Oberst! - nur bedingt einsatzfähig machte.46
Die Division war nach dem Muster der SS-Divisionen geschaffen,
blieb aber eine Einheit der Luftwaffe und erreichte den Elitestatus der
Fallschirmjäger nicht wirklich. Der »Fallschirm« im Namen war ein Eti
kettenschwindel, und von einer Panzerdivision konnte gleichfalls nicht
die Rede sein, allenfalls von einem gemischtenVerband mit starker Pan
zerkomponente. Man kann nicht sagen, daß die Division von vornher
ein besonders ideologisch motiviert oder fanatisiert gewesen wäre,
obwohl die Gefechtsberichte vom März 1944diesen Eindruck aufdrän
gen. Aber sie war mehr als vergleichbare Verbände des Heeres ein Pro
dukt der nationalsozialistischen Herrschaft über das besetzte Europa-

220
diese Herrschaft hatte die FschPzDiv HG geprägt und war ihr selbst
verständlich.
Eine Einheit dieser Division - man kann wohl mit einer Kompanie
rechnen - hat also aller Wahrscheinlichkeit nach die Massenerschießun
gen in Civitella, Pancraziound Cornia durchgeführt. Warumwissenwir
so wenig über diese Aktion?
Zunächst, weil diese Aktion keine erkennbare operative Bedeutung
für das LXXVI. PzKorps oder die 10. Armee hatte. Dies kann man mit
großer Sicherheit aufgrund der täglichen operativen Meldungen der
Division und ihres Echos im Kriegstagebuch des LXXVI. PzKorps
sagen.47 Und weiter,weil - der Verdachtdrängt sich auf - wohl auch die
Täter der Aktion keine große Bedeutung beilegten. Freilich weist der
von den Einheimischen beobachtete zwanghafte Übermut nach der Tat
darauf hin, daß die Erschießungvon 250Männern, Frauen und Kindern
nicht spurlos an ihnen vorüberging. Aber es mangelt vermutlich nicht
nur an den Quellen, um die Gründe für die Tat herauszufinden: Die
Massenerschießung wurde in der Art einer Bandenunternehmung
durchgeführt, so wie Einheiten dieser Division solche Aktionen auch
schon vorher durchgeführt hatten. Dafür bedurfte es keiner besonderen
Ursache. Es gab einen Anlaß - die Schießerei im Dopo-Lavore-Club,
Montaltuzzo. Das genügte, um nach eingeübtem Verfahren zuzuschla
gen.
Der Größe des Ereignisses in der Erinnerung der BewohnerCivitellas
stand keine entsprechendeBegründung, kein kommensurables Bewußt
sein der Tat auf deutscher Seite gegenüber. Es war - und das macht die
Grausamkeit des Unternehmens aus - eher ein alltägliches Ereignis.
Mehr noch: Die Tat beruhte auf einem Zwischenfall, der anderswo, zu
anderer Zeit und von einer anderen Division ungeahndet gebliebenwäre.
Die Männer von Civitella wurden Opfer einer jener militärischen
Maßnahmen, die Kriege im wahrsten Sinne des Wortes mörderisch
machen.
Lokale Erinnerung und deutsche militärische Geschichte bleiben
inkommensurabel. Was für die Bürger von Civitella ihr Leben aus
machte, war für die Soldaten der FschPzDiv HG eine Arbeit, die sie am
Morgen verrichteten, um am Abend weiterzuleben, als ob nichts
gewesenwäre. Wie der einzelneSoldat darüber dachte, wissen wir nicht.
Manchen wird diese Tat wohl doch geplagt haben, aber wir kön
nen so lange darüber nichts wissen, bis sich ein Soldat zu dieser Tat
bekennt.

221
VIII

Indem die Einwohner Civitellas die Partisanen vorschoben, versuchten


sie, eine Ursache für das Massaker zu benennen. Für die Deutschen aber
war das Töten so alltäglich geworden,daß es keine besondereBeachtung
fand. Die Anonymität der Täter - es hätte jede beliebige Einheit sein
können - und die Alltäglichkeit des Tötens, - beides macht die
Erschießungsaktion in Civitella so unfaßbar. Es bedurfte keiner Ursa
chen oder Ursprünge der Tat. Eine Gelegenheit genügte. Genau das
macht das genuin Nationalsozialistische an der Massenerschießung aus.
Wennwir uns dieser Situationnicht beugenwollen, müssenwir die spe
zifischen Bedingungen des Juni 1944 in Erinnerung rufen, welche Civi
tella dieses schreckliche Schicksal zufallen ließen, statt nach Ursachen zu
suchen.
Ausgangspunkt kann ein Handzettel sein, der in deutscher und italie
nischer Sprache zwischen dem 29. Juni und dem 2. Juli verteilt wurde,
und der die Logik der Erschießungen offenlegt.

»Aufruf an die italienische Bevölkerung:


Verbrecherische Elemente haben in den letzten Tagen im Zivil aus
dem Hinterhalt wiederholt auf deutsche Soldaten geschossen. Zur
Sühne dieser Verbrechen sind verschiedene Ortschaften niederge
brannt und eine Anzahl männlicher Einwohner dieser Ortschaften
standrechtlich erschossen worden.
Das deutsche Kommando gibt hierzu folgendes bekannt:
Die Einwohnerschaft einer jeden Gemeinde haftet in ihrer Gesamtheit
dafür, daßindieser Gemeinde keine Sabotage-Akte oderÜberfälle auf
einzelne deutsche Soldaten verübt werden.
Wer von dem Vorhandensein von Banditen oder Saboteuren weiß und
ihren Aufenthaltsortnicht sofort mitteilt,machtsich mitschuldig und
setzt sich der Gefahr aus, für die Untaten dieser Verbrecher zur
Rechenschaft gezogen zu werden.
Gemeinden, in denen sich Überfälle auf deutsche Soldaten oder Sabo
tageakte ereignen, werden niedergebrannt, eine Anzahl männlicher
Zivilisten wird erschossen werden.
Die Bürgermeister, Ortsältesten und Pfarrer werden aufgefordert,
ihre Gemeindeim Interesseder Sicherheit der eigenen Mitbürger zur
Ruhe und Besonnenheit und zur Mitarbeit bei der Aufspürung der
Banditen aufzufordern.
Das Deutsche Kommando.«48

222
Dieses Flugblatt betrafden Zwischenfall bei Anghiari, der ohne Folgen
blieb. Es kommt vermutlich aus dem Befehlsbereichdes LI. GebKorps.49
Es entspricht dem Inhalt von Flugblättern und Wandanschlägen, die
Mitte Juni von der 14. Armee verteiltwurden50 und spiegelt die Art der
Begründung wider, mit der Aktionen wie diejenige in Civitella in den
militärischen Betrieb vereinnahmt wurden.
Der Umstand der kollektivenVerantwortung,der integralerBestand
teil von Sühnemaßnahmen oder Repressalien ist und doch so sehr allen
bürgerlichen Rechtsvorstellungen individueller Verantwortung und
Täterschaft widerspricht, soll hier nur am Rande notiert werden.51 Er
verdeutlicht noch einmal, wie sehr zwei inkommensurable Welten in
Civitella und in vielen anderen Orten zusammenstießen. Doch was
Repressalien angeht, so hattendiedeutschen Sühnemaßnahmen in Itali
en einen besonderen Anstrich. Die militärischen Kommandobehörden
machten dieses problematische Mittel zum Maß der Entschlossenheit
militärischer Führung.
Es ist eine Sache, wenn Sühnemaßnahmen mit einer unmäßigen
Selbstverständlichkeit eingesetzt werden. Dies läßt ein hohes Maß der
Geringschätzung der betroffenen Bevölkerung, etwa rassistische Vorur
teile, erkennen. Es ist jedocheine andereSache, wenn dieFähigkeit eines
Offiziers, für die Sicherheit der eigenen Truppezu sorgen, an der Bereit
schaft gemessen wird, solche Maßnahmen durchzuführen. Genau dies
aber geschah in einem der ersten Befehle des OB Südwest zur Banden
bekämpfung, der zwar auch »planmäßige« Unternehmen gegen Ban
dengebiete einforderte, aber Sühnemaßnahmen in den Mittelpunkt des
militärischen Handelns stellte:

»Tatkräftiges, entschlossenes und schnelles Handelnist erstes Gebot.


Schlappe und unentschlossene Führer werde ich zur Rechenschaft
ziehen, da sie die Sicherheit ihrer unterstellten Truppe und die Ach
tung vor der deutschen Wehrmacht gefährden. Zu scharfes Durch
greifen wird bei der derzeitigen Lage niemals Grund zu einer Strafe
sein.«52

Die Verquickung von Offiziersautorität und Gewalt gegen Zivilisten


scheint mir ebensowichtigzu sein,wie die bekannteBefreiung von Stra
fe. Daß beides zudem noch an eine maskuline Identität rückgebunden
ist, kann einem in diesem Zusammenhang nicht entgehen. Diese mehr
fache Verquickung wurdein Italien im April 1944 zumMaß aller Dinge.
Hier liegt die erste Bedingung für dieVernichtungsaktion in Civitella.
223
Lesen wir jedoch etwas genauer. Nicht nur war die Autorität jedes
einzelnen Offiziers involviert, sondern »die Achtungvor der deutschen
Wehrmacht«. Man maggeneigt sein,der Floskelkeine Bedeutung zuzu
messen, doch war gerade diese scheinbare Selbstverständlichkeit von
fataler Konsequenz. Hier wurde in einem Befehl, der grundsätzliche
militärische Verhaltensregeln für Partisanenüberfälle vorgibt,das Kalkül
der Gewalt an einer symbolischen Größe aufgehängt - der »Achtung«.
Gewalt wurde damit zum Mittel, das Selbstwertgefühl des Einzelnen
und der Gemeinschaft zu erhalten.
Die Folgen eines symbolisch motivierten Einsatzes von Gewalt sind
selbst dann erkennbar, wenn wir nicht wissen, was im einzelnen die Sol
daten in Civitella motivierte. Im Kriegstagebuch des Nachrichtenoffi
ziersder 14. Armeefindet sichunter dem 13. Juni die Notiz: »Aufgrund
erhöhter Bandentätigkeit wird im Einvernehmen mit Ia ein scharfer
Vergeltungsbefehl herausgegeben.«53 Das ist eine denkenswerte Formu
lierung. Nicht von Bandenbekämpfung oder Partisanenkriegführung,
sondern von Vergeltung, Blutrache oder Vendetta, ist die Rede. Das ist
nicht die Sprache instrumentaler - auch nicht einer entgleisten oder
entgrenzten- Kriegführung, sondern die SprachesymbolischerGewalt
tat.

IX

Wenn wir ursprünglich von der Hypothese ausgegangen sind, daß das
Hauptproblem in einer Rekonstruktion der verschütteten Ursachen für
das Massaker in Civitella bestand, so stellt sich nun heraus, daß die Rea
lität der Bandenkriegführung in der Art eines Palimpsestes eine tatsäch
lich unterdrückte Geschichte enthält. DasistdieGeschichte einer Krieg
führung, in der Gewalt ein Mittel der Selbstbestätigung geworden ist.
Daß dieseVendettaausgeübtwurde von einer Fallschirm-Division ohne
Fallschirmjägerstatus, von einer Elitedivisionohne Tradition, von einer
Luftwaffeneinheit im Bodeneinsatz, von Soldaten, die Zivilisten jagten
und die von ihrem unmittelbaren militärischen Gegner, der tatsächlich
gepanzerten6. südafrikanischen Panzerdivision, gebeuteltwurden - das
alles macht dies zu einem prägnanten Beispiel für die Schrecken des
»schönen Scheins«54, jenem tödlichen Simulieren und Posieren, das so
typischistfür dienationalsozialistische Herrschaftund so grausame Fol
gen zeitigte.
Doch dieses Simulieren eines Bandenkampfes, wo es um die Er-

224
schießung von Zivilisten ging, ist immer noch nicht die ganze Ge
schichte. Der Bandenkrieg, der in der Art einer Vendetta ausgetragen
wurde, war nicht umsonst so bitter, im Juni 1944. Denn damals war nicht
nur die italienische Front aufs äußerste bedrängt, vielmehr stand der
Wert militärischer Gewalt selbst zur Debatte. Das ist ganz wörtlich zu
nehmen. Die verwischte Urschrift der Ereignisse in Civitella, die tiefste
Schichtunserer Archäologie, verweist auf eine ganz andere Geschichte.
Das ist die Geschichte einer großen Sehnsucht nach Frieden, welche die
toskanische Bevölkerung und die durchziehenden deutschen Truppen
gleichermaßen verband und trennte.
Die deutsche Einschätzung der Stimmungder Bevölkerungim Raum
Arezzo war in dieser Hinsicht eindeutig:

»DieBevölkerung ist der Ansicht,daß durch die Politik des Duce eine
Lage geschaffen wurde, die ihnen die Lasten des Krieges auferlegt, die
bei einer Koalition mit den Alliierten vermieden worden wäre. Das
italienische Volk sieht daher in der deutschen Wehrmacht nur die
Gewalt, die zur Verlängerung des Krieges beiträgt. Nur ganz wenige
Ausnahmen erkennen an, was der Duce für Italien und was Deutsch
land für Europa bedeutet..[...] Die Grundtendenz der Bevölkerungist
abwartend. Solange ein Gebiet durch die Wehrmacht besetzt ist, ver
hält sie sich ruhig. Es ist aber wiederholt festgestellt worden, daß die
Bevölkerung sich an Aktionen gegen absetzende Truppen beteiligt
und so ihre wahre Einstellung zum Ausdruck bringt.«55

Diese Einschätzung spiegelt sich in den widersprüchlichen Berichten


und Erinnerungen aus Civitella wider. Eine rundum distanzierte
Haltung zu den italienischen Behörden, den Partisanen und allemal
den Deutschen; der Versuch des Rückzugs, des Sichduckens, bei
grundsätzlicherSympathiefür eine Befreiung von der deutschen Besat
zung; nicht wirklich aktiver Widerstand, aber doch ein Bewußtsein,daß
das nazifaschistische Regime am Ende war; das Wissen und das Wollen,
daß dieser Kriegso schnellwie möglichzu Ende gebrachtwerden müsse
und die begrenzte Bereitschaft, dem nachzuhelfen, die allem An
schein nach in den Unterschichten verbreiteter war als in den anderen
Bevölkerungsgruppen.56 Es gibt viele lokale, italienische Variationen
dieses Themas, aber die sind in unserem Zusammenhang nicht von
Belang.
Was die Bewohner Civitellas kaum wissen konnten und was sich die
deutschen Soldaten untereinander nicht eingestehenwollten, ist der Um-

225
stand, daß die gleiche Sehnsucht auch in den deutschen Truppen wach
war.

»Der Wunsch nach Beendigung des Krieges tritt mehr und mehr in
den Vordergrund; es kann von zunehmender Kriegsmüdigkeit und
Gleichgültigkeit gesprochen werden. In fast jedem Schreiben der
geprüften Post finden sich Stellen, die dies zum Ausdruck bringen.
Das Gesamtbildist das einer uneinheitlichenStimmung; vielfach muß
sie- offenbarinfolgeder schwerenKämpfein Ost und Westund nicht
zuletzt der überstandenen, schweren Absetzbewegungen im Süden-
als recht gedrückt bezeichnetwerden.«57

Wenn die Feldpostprüfstelle von der Friedenssehnsucht unter deutschen


Soldaten sprach, so war dies nicht nur allgemeines Gerede unter Solda
ten. Wie ernst die Lage war, deutet ein Befehl des kommandierenden
Generals der 10.Armee an, wobei anzumerken ist, daß die 10.Armee (im
Unterschied zu der sehr viel ungünstiger beurteilten 14. Armee) für
ihren vorbildlichen Kampfgeist wiederholt belobigt worden war.58 Am
17.Juni hatte er folgendes zu sagen:

»Ich habe bei dem Verlauf der Kämpfe der letzten Tage feststellen
müssen, daß teilweise bei Offizierund Mann nicht mehr der Kampf
geist vorhanden ist, wie es von einer deutschen Truppe verlangtwer
den muß. [...] Ichverlange, daß sichvor allem dieunmittelbaren Trup-
pen-K[omman]d[eu]re persönlich dafür einsetzen, daß der Kampf
geist gehoben und die Truppe wieder zu vollem Widerstandswillen
gebracht wird.«59

Der Eindruck einer homogenen deutschen Truppe und eines elitären,


gepanzerten Bewußtseins, den etwa die Division »Hermann Göring«
abgab, geht an der Mentalität der deutschen Soldaten vorbei. Die Ereig
nisse des Sommers 1944 lassen sich nur hinreichend beschreiben, wenn
wir ihre Kriegsmüdigkeitberücksichtigen.
Allerdings muß vor vorschnellen Schlüssen gewarnt werden; denn
Denken und Handeln sind zwei verschiedene und in diesem Falle nach
gerade widersprüchliche Tätigkeiten. Die Macht nazi-faschistischer
Herrschaft in Italien wird gerade daran sichtbar, daß diese Friedens
sehnsucht in ihr Gegenteil verkehrt werden konnte. Denn die Kriegs
müdigkeit deutscher Soldaten wurde Civitella in mehrfacher Hinsicht
zum Verhängnis.

226
Da ist zunächst die Geschichte jenesTrupps von Soldaten, der am 17.
und 18.Juni fern der Front in CivitellaEinkehr hielt. Da war etwas nicht
ganz in Ordnung, selbstwenn manweiß, daß Armeen keineMaschinen,
sondern Trüppchen von solchen Soldaten sind. Doch steckte in diesem
Falle mehr dahinter. Mitten in den verlustreichen Abwehrkämpfen am
Trasimenischen Seeverbat sich der eben zitierte General aufgrund per
sönlichen Augerischeins, daß »weiterhin Vieh durch einzelne Leutenach
Norden getrieben wird«. Denn, so hatte er beobachtet, »zahlreiche Sol
daten jungerJahrgänge ziehen einzeln mit einem StückVieh unkontrol
liert nach Norden. Der größte Teil dieser Leute meldetMarschziele, die
weit außerhalb der befohlenen Troßräume lagen.«60 WirkönnendieSol
daten, die in CivitellaEinkehr hielten, durchaus in diese Gruppe unwil
ligerSoldaten rechnen.61 Daß sieHunger hatten, wird aus der Briefzen
sur deutlich.62 Andernorts waren solche Soldaten mit ihrer Vorliebe für
Requirierungen oderschlichtweg Plünderungen, vondenen nur diedrei
stesten einen Niederschlagin den Akten fanden, zur Landplage gewor
den.63 Was sich hier andeutet, ist eine Auflösung der Kohäsion und
Disziplin derTruppe, dieimmerhin so ernsthaft war, daßzweiFeldjäger
abteilungen speziell in den Raum des LXXVI. PzKorps zur Ȇber
wachungder Disziplinim rückwärtigen Armeegebiet« abkommandiert
wurden.64
Nicht nur war die Zahl sich absetzender, unwilligerund kriegsmüder
Soldaten sehr hoch, sondern die Zahl der Desertionen schnellte im
Monat Juni in die Höhe. Die Fälleunerlaubter Entfernung von der Trup
pe nahmen in den Monaten Mai bisJuli 1944 in Mittelitalien im Bereich
des LXXVI. PzKorpsdramatisch zu. Von6yFällen im Maistiegdie Zahl
auf 153 Fälle im Juli an. Wenn man die getrennt gezählten Volksdeut
schen sowie russische und kroatische Soldaten hinzunimmt, liegen die
Zahlen noch höher: Mai 99, Juni 289 und Juli 610 Desertionen.65 Eine
weitere Zahl wäre zu betrachten, die der in alliierte Gefangenschaft gera
tenen Soldaten, von denen nicht gesagt werden kann, wer freiwillig ging
und wer gegangen wurde.ImJuni 1944 warenKriegsmüdigkeit und Frie
denssehnsucht jedenfalls nicht zu unterschätzende Faktoren geworden.
Der Umstand, daß »die Italiener« genau das taten, was vieleSoldaten
eigentlich auch tun wollten, hatte jedoch zunächst einmal den Effekt
einertiefenEntfremdung. Derselbe Berichtder Briefzensur, der von der
wachsenden Kriegsmüdigkeit deutscher Soldaten spricht, erwähnt eine
Welle der Abneigung, ja, des Hasses auf »die Italiener« und alles Italie
nische. So schreibt ein Soldat:

227
»Bis jetzt waren sie faul und uninteressiert, so daß es alle Nerven
gekostet hat, diese Lottelei anzusehen. Ich kann Dir nur immer wie
der schreiben, daß es mir unmöglich ist, dieses Volkzu verstehen.«66

Ein anderer:

»Heute ist nun wieder Sonntag, ein Tagwie jeder andere, man macht
ja keinen Unterschied, nur daß die Italiener besser angezogen gehen
als an Wochentagen; ich habe eine stille Wut auf dieses Volk, für das
so viele, liebe Kameraden das Leben lassen müssen.«6"7

Den Grundtenor der deutschen Briefe schätzte die Feldpostprüfstelle


der 14. Armee so ein:

»Immer wieder beschäftigen sich die Briefschreiber mit dem italieni


schen Volk und dessen Einstellung zu demgegenwärtigen Zeitgesche
hen. Das ganze Leben und Treiben des Italieners und die ständig
wachsende Bandengefahr sind dem deutschen Wesen derart fremd,
daß man nur auf ablehnende Stellungnahmen stößt.«68

»Volkes Stimme«, zu Gehör gebracht von einem Gefreiten Schulze,


drückte das in dem Satz aus:

»Dieverratenuns allemit Stumpfund Stiel!«69

Unter diesem Gesichtspunkt gewinnen Sühnemaßnahmen wie die von


Civitella noch einmal eine andere Tönung. Die Vergeltungsmaßnahme
rächte in der Art einer Vendetta den Überfall im Dopo-Lavoro-
Club und vergalt sehr viel allgemeiner »den Italienern«, nicht den
BewohnernCivitellas, daß siediesenKriegnicht mehr mitmachen woll
ten.

Es gehört zu den Aporien des Juni 1944, daß die kleinen in der Ent
wicklung dieser Monate angelegten Möglichkeiten derVersöhnung auch
dieUrsachen der Grausamkeit und des Schreckens waren. Einige weni
ge deutsche Soldaten vertrauten sich »der Fremde« an; für die Mehrzahl
öffnete sich eine tiefe Kluft zwischen Eigenem und Fremdem. Diese
DistanzwardieVoraussetzung für jene Bereitschaft zur Vernichtung, die
- immermotiviert durchdiezunehmende Partisanentätigkeit - der italie
nischen Bevölkerung heimzahlte, daß sie mit dem Krieg nichts mehr zu
tun haben wollte.

228
X

Man kann also annehmen, daß an der italienischen Front im Sommer


1944 die hochmütigenPartisanenkrieger in der Art des Rittmeisters von
Loeben von der Aufklärungsabteilung der FschPzDiv HG nicht den
Trend der soldatischenMeinung bildeten, obwohl die Zahl dieser ideö-
logiebesessenen Herrenmenschen nicht unterschätzt werden darf. Das
wirft um so nachdrücklicher die Frage auf, warum ausgerechnet er
schöpfte und kriegsmüde Soldaten mit so ungeheurer Brutalität auf die
zivileBevölkerungeinschlugen.
Die Antwort läßt sich hier nur skizzieren. Ausgangspunkt soll ein
Aufruf des erwähnten Kommandierenden Generals der 10. Armee, von
Vietinghoff, gen. Scheel, vom 12. Juni 1944 sein, den er an die »Soldaten
der 10. Armee« richtete.

»Seiteinem Monat steht die Masseder Armee in schwerstem Kampf;


er geht pausenlosweiter,so daß der heutigeTagkeinenAbschnitt bil
det; wohl aber gibt es mir Anlaß zu einemWort des Dankes. Ihr habt
unermeßliches geleistetin dieser Zeitspanne; in erster Linie die fech
tende Truppe und ihre Führer. Tapfer und zäh habt ihr jede Stellung
gehalten, die euch befohlen war, habt mit gleicherTatkraft und Uner
müdlichkeitdie vielenschwierigen Bewegungen durchgeführt, die die
Entwicklungder Lage beiunserer Nachbararmeeerforderte,und habt
bei allem - trotz Vermischung aller Verbände und ungenügendem
Nachschub - eisernund ungebeugt die innere Geschlossenheit inner
halb der ganzen Armee aufrechterhalten. Mit Stolz und erhobenen
Hauptes können wir heute feststellen, daß dem Feind trotz seiner
turmhohen Überlegenheit nirgends in der Armee der Durchbruch
geglückt ist. Welche Fülle von Heldentaten im einzelnen vollbracht
sind, kann erst eine spätere Zeit würdigen. Mich aber drängt es, Euch
allen, meinen Kämpfern, höchste Bewunderung und Anerkennung
für die Leistungen der verflossenenMonate auszusprechen.«70

Die Schlacht um den Trasimenischen See und damit der Versuch, von
hinhaltendem Widerstand auf »zähe, aktive Verteidigung« zu wechseln,
hatte zu diesem Zeitpunkt gerade erst begonnen.71 Sie sollte zwischen
dem 17. und 26. Juni um Chiusi ihren Höhepunkt erreichen. Noch stan
den die Einheiten des LXXVI. PzKorps bei Orvieto. Dieser militärische
Kontext war auch ein moralischer Kontext. Denn der Dank des kom
mandierenden Generals an seine Truppen war der Versuch zu begrün-

229
den,warum gekämpft werdensollte. Loyalität, Pflichterfüllung, Solida
rität waren die entscheidenden Appelle - Werte, die nun aber nicht aus
einem aggressiven Triumphalismus, sondernim Rückzug auf die eigene
Gemeinschaft und ihren Zusammenhalt formuliert wurden.
Im Gegenzug zur verbreiteten Kriegsmüdigkeit bildete sich eine
Art Autismus der kämpfenden Truppe heraus, der sich in geradezu
perverser Weise ander »turmhohen Überlegenheit« des Gegners stärkte.
Jenedurch die gesamte Kriegsliteratur des ZweitenWeltkriegs geisternde
Idee, daß die »Deutschen« den Mut und die Alliierten die Waffen hatten,
hatte in solchenSituationenihren Ursprung.72 Der Rückzug in die eigene
Gemeinschaft, um sich einemüberwältigenden Gegner - der XIII. engli
schenArmee- entgegenzustemmen, war das entscheidende Elementder
deutschen soldatischenMoral im Jahr 1944 geworden.
Für die soldatische Gemeinschaft war Italien der Ort der militärischen
Erfahrung, das besetzte Europa der Referenzpunkt für Nachrichten,
Deutschland jedoch der Ort der Erinnerung. Dieser imperiale Nexus
wirkte sich ganz unmittelbar auf die Einstellung deutscher Soldaten
gegenüber der lokalenBevölkerung aus,wie die Briefzensur nachdrück
lich feststellte:

»Vor allem aber ist aus dem Inhalt der Briefe erkennbar, daß die
schweren Sorgen, die sich die Briefschreiber und insbesondere die
Ostpreußen und Oberschlesier um unsere Ostgrenze machen, einen
nicht unbedeutenden, bedenklich deprimierenden Einfluß ausüben.
Es mehrensichdie zweifelnden Stimmen, ob wir in der Lage sind,dem
feindlichenDruck standzuhalten, wobei öfter der Wunschausgespro
chen wird, lieber die eigene Heimat gegen die Russen verteidigen zu
wollen, als hier in Italien für ein Volk zu kämpfen, das man in keiner
Weise günstig beurteilt.«73

Der Unwille gegen Italien,gespeist aus altenVorurteilen, wurde vorange


trieben durch die Sorgeum die Familieund die Heimat. Die rücksichtslo
se Bereitschaft zur Vernichtung, wiederum vorgebildet in einer Tradition
des Vernichtungskrieges, verschärfte sich in dieserSituation. Wir können
diesen pathologischen Nexus hier nicht im einzelnen durchleuchten. Wie
stark dieses Motiv war und wie direkt die Verbindung zur Bandenkrieg
führung alsKrieggegen die zivile Bevölkerung Italiens war,wird deutlich,
wennwir den Kontextder eingangs zitiertenForderungvom 13. Juni nach
»schnellen und drakonischenMaßnahmen«, die so ominös die Ereignisse
in Civitella vorwegzunehmen scheint, rekonstruieren.

230
Das plakative Kurzzitat entstammt einer längeren Darstellung der
Abwehrlage in Italien, die zusammenfaßt, was wir auf Umwegen erar
beitet haben:74 Das »Bandenunwesen« nehme ständig zu, so daß beson
ders in rückwärtigen Gebieten »einewirksame Bandenbekämpfung[...]
nicht mehr möglichist«.Auf die italienischenVerbündeten,italienischen
Kommandobehörden, Verbände der Polizei und des Militärs sei kein
Verlaß mehr. Fahnenflucht deute darauf hin, »daß sie in Bewährungs
stunden fast auswegslos versagen werden«. Des weiteren wird hervorge
hoben, »die breiten Bevölkerungsschichten hassen den Krieg und sind
der Meinung, daß Italien nur zu einem Kriegsschauplatz zwischen
Deutschland und den Anglo-Amerikanern erniedrigt würde, sie sind
kriegsmüde. Die deutsche Wehrmachtfindet nicht mehr die Unterstüt
zung, die sie braucht.«
Diese Isolation, erweitert durch die Erfahrung der Hilflosigkeit
gegenüber der alliierten Übermacht, entlud sich in blanker Aggression:

»Es muß daher mit schnellen und drakonischen Maßnahmen durch


gegriffen werden.Zu einemZeitpunkt, wo täglich Frauenund Kinder
in Deutschland dem feindlichen Bombenterror zum Opfer fallen, ver
bietet sich jede Rücksichtnahme auf die Bevölkerungeines besetzten
Gebietes, auch wenn letzteres durch eine befreundete Regierung
geführt wird.«

Diese Sprache der Vergeltung wurde von den kriegsmüden deutschen


Truppenverstanden. In ihr findenwir die letzte Bedingung für das Mas
saker in Civitella. Die Stadt wurde zum Brennpunkt und Opfer eines
Krieges, der gegen allen militärischen Sachverstand und gegen die Frie
denssehnsucht nicht nur der einheimischen Bevölkerung, sondern auch
der deutschen Soldaten geführt wurde. Was für die deutschen Soldaten
und die Geschichtsschreibung bis heute schwer zu erklären war, ist der
Umstand, daß die Friedenssehnsucht die Soldaten gerade im abgefalle
nen Italien sowohl zum Kämpfen als auch zum Morden antrieb. Um
davon abzulassen, hätten sich diese Soldaten die deutsche Niederlage
und ihre vorangegangene Unterstützung, wenn nicht ihre eigene Betei
ligung, für ein verbrecherisches Regime eingestehen müssen.
Dieses Eingeständnis war am 29. Juni 1944 den Soldaten der Fall
schirm-Panzerdivision »Hermann Göring« ein zu hoher Preis. Deshalb
mußten am Morgen dieses Tages in Civitella, SanPancrazio und Cornia
250Männer, Frauen und Kinder sterben.

231
Anmerkungen

i AOK 14, Ic, 23.6.1944: Ic-Tagesmeldung vom 23. Juni 1944, BA-MA RH
20-14/103.
2 Enzo Droandi, I massacri awenuti attorno ad Arezzo nei documenti della
»Wehrmacht« (ms.), S. 13, Anm. 6; ders., La guerra nelPAretino nel Kriegstage
buch della ioma Armata Germanica, 15 Giugni-2 Ottobre 1944, in:La battaglia
per Arezzo, 4-20 Iuglio 1944, Atti e memorie delP Academia Petrarca XLXI
(1983/84).
3 Christopher Browning argumentierte während der Konferenz »In Memoria:
per una memoria Europeadei crimini nazisti (Arezzo, 22.-24.Juni 1994)«, daß
sichChristenim Zusammenhang mit derartigen Ereignissen fast immeraneinen
solchen Soldaten erinnern, die Verifikation aber fehle.
4 Atrocities Committed by German Troops at Civitella,Cornia and S. Pancrazio
Districts, 78. S.I.B., Public Record Office, London, WO 204/11367. Diese
Unterlagenkonnten von mir nicht eingesehen werden.
5 Zunächst in der Zeitschrift Societä, Frühjahr 1946; neu herausgegeben von
Romano Bilenchi, Cronache degli anni neri, Rom 1984.
6 Victoria de Grazia und Leonardo Paggi, Story of an Ordinary Massacre: Civi
tella della Chiana, 29.June 1944, in: Cardozo Studies in Law and Literature 3
(Fall 1991XS. 153-169.
7 Giugno 1944 - Giugno 1994 Civitella ricorda con »Voci dalla Memoria«,Com
mune di Civitella in Val di Chiana, 1994.
8 Ia/Chef LXXVI. PzKorps Ic, Bandenlage vom 30.6.44, geheim, BA-MA RH
24-76/13.
9 Auf derHöhevon Castiglion Fiorentino und Cittädi Castello gibteseinenähn
lichen Eintrag: »60-70 Mfännliche] Gegangene] 3-4 L[ast]K[kraft]W[agen]
abgesch[ossen] G[efechts]M[eldung] 30.6.«
10 Tätigkeitsbericht Abt Ic/AO, Juni 1944: Eintrag für 27.-28.6., BA-MA RH
20-10/194.
11 Tageskarte über Bandentätigkeit, 13 -24.6., BA-MA RH 19X/29K-1.
12 Leider sinddie Unterlagen des neben dem LXXVI. PzKorps liegenden I. Fall
schirmkorps fast vollständig vernichtet. Die Unterlagen der diesem Korps
unterstellten Divisionen wurden allerdings nicht geprüft.
13 AOK 14/Ic, Ic-Tagesmeldung vom 23. Juni 1944, 23.6.1944, BA-MA RH
20-14/106.
14 Nach lokalerErinnerung fand das Gefecht am 23.6. bei Montaltuzzo statt, der
Zwischenfall in Civitella am 18.6.
15 Dazu diehervorragenden Studien von Claudio Pavone, Una guerra civile. Sag-
gio sulla moralitä nella Resistenza, Turin 1991; und Lutz Klinkhammer, Zwi
schen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die
Republik von Salo 1943-1945, Tübingen 1993.
16 Notiz einer Besprechung mit dem Befehlshaber der Ordnungspolizei Italien,
Gen. der Ordnungspolizei von Kamptz in San Martino bei Verona vom
3.4.1944, BA-MA RH 24-75/20. In dieser Besprechung wurde u. a. festgelegt,

232
»daß zunächstBanden im Apennin zu bekämpfenseien, daesdort bereits große
Gebiete gäbe, die restlosvon den Banden beherrschtwürden. Säuberungen die
serumfangreichen Gebietewürden geraume Zeit in Anspruch nehmen.Von der
dann bestehenden Bandenlage hinge es ab, ob weitere Aktionen durchzuführen
wären.«
\y Fallschirm-Panzer Aufklärungs-Abteilung »Hermann Göring« Ia, 19.3.1944:
Gefechtsbericht über den Einsatz gegen Banden am 18.3.1944, BA-MA RH
24-75/20.
18 FschPz AA HG Ia, Gefechtsbericht vom 22.3.1944, ebenda.
19 670 Tote und 277 Gefangene; Gefechtsbericht des Unternehmens der 356.
Infanterie-Division in Valcasotto vom 12.-20.3.1944, o. O., o. D. (Anlage 40
zum KTB), ebenda.
20 Bericht der FschPz AAb HG Ia, an FschPzDiv HG (Abschrift) vom 19.3.1944,
gez. Rittmeister von Loeben, BA-MA RH 24-75/20.
21 Gen.Kdo. LXXV. A.K., Abt. Ic, Nr. 822/44geh-, Bericht über Bandenlage, vom
23.4.1944, BA-MA RH 24-75/20. Beteiligt waren Fsch.Pz.A.A. HG (ohne
1. Kp.), I. und II. Fsch.Pz.Rgt. HG (ohne Panzer), 17. und io./Fsch.Pz.Flak-
Rgt. HG, ebenda.
22 FschPzAA HG Ia, 19.3.1944: Gefechtsberichtüber den Einsatz gegen Banden
am 18.3.1944, BA-MA RH 24-75/20.
23 SieheIc,Beitrag zum Korps-Tagesbefehl vom 23.3.1944, BA-MA RH 24-75/20.
»Häuser sind nur dann niederzubrennen, wenn in ihnen bewaffnete Banditen
angetroffen werden. Die Notwendigkeit der Vernichtung ganzer Ortschaften
liegtdaher in den seltensten Fällen vor. Derartige Maßnahmen habenzur Folge,
daß erfahrungsgemäß der dann übriggebliebene Teil der Bevölkerung geschlos
sen zu den Bandenübergeht.«
24 Armee-Oberkommando 14 Ic, Nr. 1738/44 geh. 15.4.1944, BA-MA RH 20-
14/104. Der Body-Count ist im Vergleich zu der Aktion um den Monte
Falterona aufschlußreich: 239Tote (darunter 1Engländer, 3Serben), 698 Gefan
gene (darunter 19 Engländer und Amerikaner, 2 Franzosen, 1 Australierund
1 Serbe).
25 Typisch für dieses Gefühl der Überlegenheit im Aprilisteine offensichtlich iro
nisch gemeinte Notiz des Ic der 10. Armee »zum vierteljährigen Landekopf-
Jubiläum: Seit Bestehen des Landekopfes konnte der Gegner in drei Monaten,
d. h. in 90Tagen, an der weitesten Stelle 15 km Raum gewinnen, alsoeineTages
leistungvon 155 Metern. Bei diesem >Blitztempo< brauchteder Gegner, um bei
spielsweise nach Rom zu kommen, weitere 228 Tage,um aber nachFlorenz zu
kommen, brauchte er schon wesentlich mehr, nämlich 1686 Tage. Sollte er aber
gar sein Ziel bis zum Brenner gesteckt haben, dann brauchteer 1966 Tage. Die
Angloamerikaner könnten alsonach 10Jahren und 1Monat am Brennerstehen,
daswäre also am 22. Mai 1954. Aber die Rechnung wäre nur richtig, wenn die
Deutschen nicht wären. Denn in drei Monaten alleinfügten siedem Gegner fol
gende Verluste zu: 6691 Gefangene und 30000Mann blutigeVerluste.Um also
zum Brenner zu kommen, würde dies den Angloamerikanern 1480193 Men
schen kosten.« Diese bauernschlaue Rechnerei scheint im April 1944 auch hin
sichtlich der Partisanen vorgeherrscht zu haben.

233
26 Generalkommando LXXI. A.K., Reisebericht des Kommandierenden Generals,
vom 21.7.1944 (die Bemerkung stammt von Oberst Almers, Kdeur der Fe
stungsbrigade 135), BA-MA RH 24-75/15.
27 Auszugsweiser Gefechtsberichtals Armee-Oberkommando 14 Ic, Nr. 2596/44
geh. IV. Ang. vom 8.8.1944, BA-MA RH 20-14/116.
28 Armee-Abteilung [AAbt.] von Zangen Ia/T, Nr. 166/44g.Kdos, 29.6.1944,BA-
MA RH 24-87/37. Die Armee-Abteilung von Zangen wurde nachdem Einsatz
der 14. Armee bei Nettuno am 17.3.1944 gebildet. Sie wurde am 31.7. zur
deutsch-italienischen Armee Ligurien erweitert.
29 AAbt. vom Zangen Ia/T, Nr. 125/44 g. Kdos, 30.6.1944,ebenda.
30 Der Oberbefehlshaber der 14. Armee Ia, Nr. 174/44 geh. Kdos (im Entw. gez.
Lemelsen), 3.7.1944, BA-MA RH 24-14/42.
31 Generalkommando LI. Gebirgs-Armee-Korps; Ic/geheim/i[m] E[ntwurf], an
A.O.K., 10 Ic vom 2.7.1944, BA-MA RH 20-10/194.
32 Tätigkeitsberichte der Abteilung Ic/AO, Juni 1944, BA-MA RH 20-10/194.
33 Korück 594an Straßenkommandantur Arezzo, o. O., o. D.; RH 24-76/13.
34 Generalkommando der Partisanen-Truppe vom 28.6.1944 (Übersetzung), BA-
MA RH 20-10/194.
35 Fernspruch der Straßenkommandantur Arezzo an Korück 594, 28.6.1944,
19.00h, ebenda.
36 OB Südwest, Tageskarte über Bandentätigkeit ab 25.6.-30.6., BA-MA RH
19X/29K-2.
37 Fernschreiben OB Südwest: Tagesmeldung vom 29.6.1944, BA-MA RH
19X/27; siehe auch O.B. Südwest/Ia 30.6.1944, Beitrag zum Kriegstagebuch,
10. Armee, BA-MA RH 19X/23.
38 Diesbestätigen nachdrücklich die Karte: Abwehrlage April 1944, Anl. zu Lfl. 2,
Fü.Abt. Ic, Nr. 4064/44 geh., 3.5.1944, BA-MA RH 24-75/22; AOK 14 Ic,
Nr. 2596/44 geh., 2. Ang. Bandenvorkommen: Ergänzungen für die Zeit vom
9.-21.6.44 un weitere Bandenmeldungen bis einschl. 28.6.44, BA-MA RH
20-14/104; [OB Südwest] Bandenlage Juni 1944, o. D., BA-MA RH 19X/
29K-4. Man kann hier auch die sogenannten Punktkarten über Partisanenakti
vitäten heranziehen, die dasselbe Ergebnis zeigen: Der Raum südwestlich von
Arezzo war ungewöhnlich ruhig; siehedie KartenBA-MA RH 19X/29K-1 bis
3. K-3 notiert im übrigen für denJuni insgesamt 236 Überfälle, 12 Plünderun
gen, 28 Straßensabotagen, 113 Eisenbahnsabotagen, 78 Kabelsabotagen. Diese
Tageskarte vernachlässigt viele der kleineren Sabotageakte (meistenteils Kabel
sabotage, d.h. Absägen eines Kabelmastes, Abklemmen von Leitungen), diesich
aus den Ic-Morgen- und Tagesmeldungenrekonstruieren lassen. Siehe etwa die
Morgen- und Tagesmeldungen des Ic bei der 10. Armee vom 1.4.-30.6.1944,
BA-MA RH 20-14/106.
39 Armee-Oberkommando 10Ia, Nr. 7725/44 geh., 5.6.1944, regelte sehrverspä
tet die Einsetzungvon Korück 594; diese in Italien neue Einrichtung ist kaum
mit den Korücks an der Ostfront zu vergleichen, da sichihre Aufgabeim Rah
men des Rückzuges gewandelt hatte: AOK 10Ia, Fernschreiben geh., 6.6.1944
(BA-MA RH 24-76/12), bestimmt in bezug auf Führerbefehl Nr. 5 die Aufga-

234
ben wie folgt: »Es sind in allen großen Orten Kampfkommandanturen und
auf allen Hauptrückzugsstraßen Straßenkommandanten zu bestimmen. Die
Kampfkommandanten habenallein dieVerantwortung für dieVerteidigung der
Orte und die geregelte Durchführung von Räumen und Rückzugsbewegungen
und haben hierzu diktatorische Vollmachten. Sie haben die Pflicht, alle Mittel
rücksichtslos gegen alle Personen einzusetzen, um ihreAufgabezu erfüllen. Ihr
allgemeiner Auftragist: Verteidigung derbetr. Ortesbiszuletzt. Ausschöpfung
aller Möglichkeiten hierzu,einsetzen auch desletztendeutschen Kämpfers, ver
hindern, daß Paniken entstehen« (meine Hervorhebung, M. G.). Vorausgegan
gen wareinFernschreiben des Kommandierenden Generals, LXXVI. PzKorps
vom 26.5.1944, g.Kdos., ebenda, das »jede freiwillige Absetzbewegung« verbie
tet. Die Korücks wurden also zum Organ der Durchhalteparolen im rückwär
tigen Armeegebiet. Der Führerbefehl Nr. 5 datiert vom 21.2.1944; Fernschrei
ben, OB Südwest, Ia/T, Nr. 1286/44 g.Kdos vom 9.2.1944, BA-MA RH
19X/35. Dies ist im übrigender Befehl, auf den sich die AAbt. der FschPzDiv
bei ihren Partisanen-Unternehmungen stützte (vgl. Anm. 20).
40 Armee-Oberkommando 10 Ia/OQu/Qu2/Id, Br.B. Nr. 2284/44 g.Kdos. vom
20.6.1944, abgezeichnet vom LXXVI. PzKorps am23.6. und mit handschriftli
chen Eintragungen vom 24.6. als Ia 660/44 g.K. modifiziert, BA-MA RH 24-
76/13.
41 Handschriftlicher Eintrag vom 24.6.,ebenda.
42 Gen.Kdo. LXXVI. PzKorps, Ia Nr. 661/44 g.Kdos, BA-MA RH 24-76/13,
genau genommen lag Civitella auf der Grenze zwischender Fsch.Pz.Div. HG
und der 1.Fsch.Jg.Div., wie ausder Anlage 1 hervorgeht.
43 De Grazia und Paggi (Anm. 6)nehmen dies an. Diese AttributionisteinErzähl
element, um der Geschichte zusätzliches Gewicht zu geben. Im Gefechtsstrei
fenderLXXVI. PzKorps lagen von rechts nach linksdieHG, die 1.Fallschirm-
PzJäger-Division, die 334 Inf.Div., die 15. Pz.Gren.Div., und die 305 Inf.Div.
44 Wie Madeion de Keizer auf der Arezzo-Konferenz berichtete, waren Ausbil
dungseinheiten der HG für die Sühnemaßnahme in Putton (Holland) verant
wortlich.
45 Bernhard R. Kroener, Auf dem Weg zu einer »nationalsozialistischen Volks
armee«, in:Von Stalingrad zur Währungsreform, hrsg. von M. Broszat, K. D.
Henke, H. Woller, München 1990, 3. Aufl., S. 65iff.
46 Die Beurteilungen der Div. durch ihren Kommandeur sind diesbezüglich
ernüchternd. Die Meldung zur personellen Lage für den März notierte: »Aus
bildungsstand der einzelnen Männer ist brauchbar. Die Ausbildung und das
Können der jungen Offiziere und Unteroffiziere ist unzureichend. [...] Das
Fehlen an erfahrenen Führern und Unterführern kann durch die vorhandene
Begeisterung der jungen Freiwilligen nichtersetzt werden. Besonders beiRück
schlägen fehlt diefeste Führung.« DieMeldung vom 1. Juni nenntdieStimmung
derTruppe »gut«, diejenige vom 1.Juli »gefestigt und gut«. BA-MA RL 32/27.
47 Droandis Versuch,vgl. Anm. 7, die Aktion in Civitella mit einerNotiz im KTB
des LXXVI. PzKorps (für die Zeit vom 3.2.44-30.6.44) vom 28.6. in Verbin
dungzu bringen, geht meines Erachtens fehl. Dabei handelt essich um dieAus-

235
führung des am 26.6. ergangenen Neügliederungsbefehls für den rückwärtigen
Armeebereich. Über die Aktionim einzelnen Gen.Kdo. LXXVI. PzKorps Ia,
Nr. 662/44 g.Kdos., 2.6.1944, BA-MA RH 24-76/13.
48 Flugblatt in deutscher und italienischer Sprache, o. D., abgeheftet nach Tel.
[Straßenkdtur] Arezzo an Korück 594,28.6.44,19.00 h, BA-MA RH 20-10/194.
49 Gen.Kdo. LI Geb. A.K. Ic Geheim/i.E. vom 2.7.1944 an AOK 10 Ic [betr. Ban
dentätigkeit vom 18.6.-1.7.1944], BA-MA RH 24-10/194. In diesem Tätig
keitsbericht heißt es: »Durchdas Gen.Kdo ist verstärkte Sicherung der in die
rückwärtigen Räume entsandtenKommandos sowie des gesamten Straßenver
kehrs befohlen und den Divisionen die Ermächtigung erteilt, die Zivilbevölke
rungder einzelnen Ortschaften für die Sicherheit und Ordnung verantwortlich
zu machen. In beiliegendem Aufruf wird die Zivilbevölkerung zur Zusammen
arbeitmit den deutschenDienststellen aufgefordert. In mehrerenvon den Divi
sionen in ihrem Gefechtsstreifen durchgeführten Aktionen gelang es, eine
Anzahl von Bandengruppen unter hohen blutigen Verlusten zu zerschlagen,
zahlreiche Beute wurde eingebracht, eine große Anzahl deutscher Soldaten
befreit.«
50 Tätigkeitsberichtder Abt. Ic (einschl. Ic/AO), vom 1.4.-30.6.1944, BA-MA RH
20-14/103; Einträge vom 17.6. (800 Maueranschläge und 10000Flugblätter) und
vom 22.6. (weitere 20000 Flugblätter).
51 Dazu jetzt die Dissertation von Truman O. Anderson,The Conduct of Repri
sais by the German Army of Occupation in the Southern USSR, 1941-1943,
Ph.D. thesis,University of Chicago 1994.
52 Fernschreiben, OB Südwest Ia/T, Nr. 8684/44, geh.,BA-MA RH 19X/35. »Bei
Überfällen istsofort die Umgebung des Tatorts abzusperren, sämtliche, in der
Nähe befindliche Zivilisten sind ohne Unterschied des Standes und der Person
festzunehmen. Bei besonders schweren Überfällen kann auch ein sofortiges
Niederbrennen der Häuser, aus denen geschossen wurde, in Frage kommen.
[...] Die sofortige Strafe ist wichtiger als eineumgehende Meldung. Alle vorge
setzten Dienststellen habenbei derWeiterverfolgung größteSchärfe anzuwen
den. [...] Im übrigen ist durchdie Ortskommandanturen bekanntzugeben, daß
bei den geringsten Vorkommnissen gegen deutsche Soldaten die schärfsten
Gegenmaßnahmen verfügt werden. Jeder Ortsbewohner soll damit gewarnt
sein; kein Missetäter oderMitläufer darfauf Milde rechnen.«
53 Tätigkeitsbericht der Abt. Ic (einschl. AO), 1.4.-30.6.1944, BA-MA RH
20-14/103.
54 Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt
des Faschismus, Frankfurt am Main 1994.
55 Gruppe Geheime Feldpolizei 741, Feldpostnummer 47601, Tgb. 515/44 geh.,
30.Juli 1944, Anlage 1 zum Tätigkeitsbericht für MonatJuli 1944, BA-MA RH
20-10/195. Dazu auchGenKdo LXXV. A.K. Ic, Nr. 449/44 geh., 4. März 1944,
BA-MA RH 24-75/20: »DieBevölkerung[...] wünscht auf jedenFall den Frie
den, ohne sich über die Auswirkungen eines feindlichen Sieges die geringsten
Gedanken zu machen. Die neue faschistische Partei genießt keinerlei Ansehen.
Die Bevölkerung wirft ihrvor, daß die Korruption immernoch nicht beseitigt

236
ist und zum Teil wenig gut beleumundete Personen mit amtlichen Stellen
betraut wurden.«
56 Über die durchaus ambivalente Haltung gegenüber den Alliierten vgl. Roger
Absolom, A Strange Allicance: Aspects of Escape and Survival in Italy,
1943-1945, Florenz 1991.
57 Feldpostprüfstelle AOK 14, Nr. 365/156.44, Tätigkeitsbericht der Feldpost
prüfinspektion beim AOK 14 für den Monat August 1944, BA-MA RH 13/48.
58 Inter alia Fernschreiben OB Südwest, SSD g.Kdos.,vom 14.1.1944, BA-MA RH
19X/35.
59 Armee-Oberkommando 10 Abt. Ia, Br. Nr. 2160/44 g.Kdos., 17.6.1944, BA-
MA RH 24-76/13.
60 AOK 10 Abtl. Ia, Br.B. 7926/44 geh., 12.6.1944, BA-MA RH 24-76/12.
61 Da wir nichts Genaues wissen, soll hier zumindest eine Alternative erwähnt wer
den, die auchdas weitereSchicksal der HG beleuchtet. Zum Zeitpunkt desMas
sakers in Civitella wurden, so muß man vermuten, Teile der Division bereits
abgezogen, ohne daß dies den übergeordneten Kommandobehörden bekannt
gewesen wäre. Denn im August 1944 (!) standdie ganzeDivision(!) anderOst
front im Weichselbogen. Siewurde dort in den Rückzugsgefechten aufgerieben.
Die in unserem Zusammenhang nicht ganz unwichtige Nachlässigkeit in der
Berichterstattung der HG wird in einem Fernschreiben des OB Südwest an die
Kdeure der HG und der 1. FschJgDiv vom 18.6.1944, 00.50h (BA-MA RH
24-75/12) deutlich: »AOK 10 bekommt keine richtige Bestandsmeldung über
diepersonelle und materielle Stärkeund weiß, daßüber den Normaldurchschnitt
Personal und Material nach rückwärts, ja sogar über den Apennin zurückge
schickt worden sind, es hat keine Handhabe bei der Sonderstellung dieser bei
den Divisonen [als Divisionen der Luftwaffe] den wahren Sachverhalt festzu
stellen.« Der OB Südwest verwandte sich als »ältester Luftwaffengeneral«, um
die beiden Divisionen um Auskunft zu bitten (»dringende Bitte«), Die fehlende
Berichterstattung des Massakers von Civitellasollte deshalb nicht überraschen.
62 Feldpostprüfstelle AOK 14,Nr. 365/156.44, a. a. O.
63 Gruppe Geheime Feldpolizei 741, Feldpostnummer 4i6oi,Tgb. 515/55 geh.,
30.Juli 1944, Anlage 1 zum Tätigkeitsbericht für Monat Juli 1944, BA-MA RH
20-10/95.
64 Die Feldjägerabteilungen wurden per telegraphischer Anweisung herangezo
gen. Fernschreiben vom 14.6.1944, 01.00 h, BA-MA RH 24-76/12.
65 Armee-Oberkommando 10 Abt. Ic/AO (Abw), Nr. 3064/44/184 g.Kdos,
2.8.1944. Die Gruppe Geheime Feldpolizei 741, Tgb. 515/44 geh., o. D. zählt in
ihrem Tätigkeitsbericht Juli 1944 für den Mai 101 und für den Juni/Juli 393
gemeldete Fälle deutscher Fahnenflucht bei einer Gesamtzahl von 721 Fällen,
BA-MA RH 20-10/195.
66 Feldpostprüfstelle AOK 14,Nr. 365/156.44, a. a. O.
6y Ebenda.
68 Ebenda.
69 Feldpostprüfstelle AOK 14, Nr. 399/170/44 geh., 8.10.1944: Tätigkeitsbericht
für September 1944, BA-MA RH 13/49.

237
70 Oberbefehlshaber der 10.Armee, 12.Juni 1944, BA-MA RH 26-76/13.
71 Fernschreiben einer Belobigung der Div. des LXXVI. PzKorps durch OB
AOK 10, 23. 6.1944, BA-MA RH 24-76/13.
72 OB Südwest u. OB d. Heeresgruppe C Ia, Nr. 0385/44 geh.Kdos., 16.6.1944
(Abschrift), BA-MA RH 24-76/13: »Die Kämpfe der letzten Wochen haben
erneutgezeigt, daßunsere tapfere Truppe auchbei zahlenmäßiger Schwäche der
feindl. Infanterieimmer noch weit überlegenist, wenn sie nicht durch die über
legene Luftwaffe und schw.Waffen zerschlagen oder erdrücktwird.«
73 Feldpostprüfstelle AOK 14, Nr. 365/156.44, a. a. O.
74 (GenKdo LXXV. AK, KG Ia/Jt/Ic, 151/44g.Kdos., 13.6.1944, BA-MA RH 24-
75/22.Der entsprechende SS-Befehl klingt noch einmalanders: »Beiden gering
sten Anzeichen einer aufrührerischen, deutsch-feindlichen Betätigung und
Gesinnung, und sei es nur in Form von Gesten (bolschewistischer Gruß und
ähnliches) oder Schmährufe, erwarteich schärfstes und schonungsloses Eingrei
fen allerdeutschen und italienischen SS- und Polizeieinheiten. [...] Jedes ener
gische Eingreifen ist geeignet, als Straf- und Abschreckmittel, Ausschreitungen
größeren Umfangs im Keime zu ersticken. Der SS- und Polizeiführer Mittel
italien,Tgb. Nr. 36/44 g., 8.6.1944, gez. Bürger«,ebenda.
II. rtemationen

j
Margers Vestermanis Ortskommandantur LibaU
Zwei Monate deutscher Besatzung im Sommer 1941

In den ersten Wochen des Feldzuges gegen die Sowjetunion, als die
Wehrmacht rasant nach Osten vorstürmte, kam eine deutsche Einheit am
äußerstenlinken Flügelder HeeresgruppeNord unerwartet zum Stehen.
Es war die 291. Infanterie-Division (ID) unter Generalleutnant Herzog1,
die stärkste des Heeres.2 Die Stadt, vor der die deutschen Truppen auf
erbitterten Widerstand stießen, war die lettische Hafenstadt Liepäja,
deutsch Libau.
Nachder Überwindung der sowjetischen Grenzbefestigung war auf
der geplantenVormarschstrecke der 291. ID als nächstes Ziel Riga vor
gesehen. Dann sollte sie über Reval(Tallinn) nach Leningrad vorstoßen.
Nur ein Regiment der Division - das 505. des Obersten Lohmeyer3 -
solltenach Norden abdrehen und bis zum spätestens25. Juni 1941 Libau
mit seinemfür die deutsche Kriegsmarine wichtigen Kriegshafen beset
zen.

Die deutsche Voraustruppe wurde südlich von Libau am 23. und


24. Juni bei Ober- und Niederbartau (Nica und Bärta) sowie auch öst
lich der Stadt bei Grobin (Grobina) verlustreich zurückgeworfen. Auf
Libau hatten sich Teileder sowjetischen 67. Infanterie-Division und der
12. Abteilung der Grenzschutztruppen zurückgezogen. Zu ihnen
stießen sowjetische Kriegsmarinesoldaten von den in der Libauer Werft
liegenden U-Booten, auch etwa eintausend militärisch unausgebildete
und unzulänglich bewaffnete Arbeiter der Werft »Tosmäre« und anderer
Werke. Insgesamt umfaßte dieser bunt zusammengewürfelte Haufen
höchstens 10 000 Mann. Immerhin eine beträchtliche militärische Macht,
auch wenn die Verteidiger Libaus ohne Nachschub, eigene Luftwaffe
und ohne Fühlung mit ihrem Oberkommando in völliger Isolation
kämpfen mußten.4 Der unerwartet hartnäckige Widerstand zwang die
291. ID ihren Vormarsch zu stoppen und die übrigen Regimenter sowie
Verstärkungen an Libau heranzuführen. Die Stadt wurde nun auch von
Osten und Norden abgeriegelt und konnte nach schweren, beiderseits
sehr verlustreichen Kämpfen, am 29.Juni eingenommen werden.

241
Die Besetzung

Die Kämpfe um Libau sind in der deutschen Propagandaliteratur der


Kriegszeit und in der militärischen Geschichtsschreibung der Nach
kriegszeit stark aufgewertet und als bedeutende militärische Episode
dargestellt worden.5 In noch viel größerem Maße hat die sowjetische
Seite die militärische und politische Bedeutung der Verteidigung Libaus
hochgespielt.6 Im Kontext dieser Studie interessieren uns nur zweiBege
benheiten aus dem Ablauf der Kämpfe. Die eine bezieht sich auf den 28.
Juni, als der nördliche Stadtteil- genanntNeulibau - sich schon in deut
scherHand befandund die Kämpfesichlängsdes Kanalsverlagerten, der
Neulibau vom historischen Stadtteil trennt. Altlibau war von verspreng
ten Gruppen von Rotarmisten und bewaffneten Zivilisten besetzt. Um
den letzten Widerstand niederzukämpfen, wurden von deutscher Seite
nicht nur Artillerie und Bomber, sondern auch Lautsprecher eingesetzt,
über die die Verteidiger zur Kapitulation aufgefordert wurden. Nach
einheitlichen AussagenvielerZeitzeugensoll einemTeilder Gegner Par
don zugesichert worden sein: »Wir tun euchnichts. Wir vernichten nur
Juden und Kommunisten«, soll der Wortlaut der abwechselnd in russi
scher und lettischer Sprache dauernd wiederholten Sendung gewesen
sein.7
Auch die andere Begebenheit bezieht sich auf einen Text. In den
Tagesbefehlen und Lageberichten der Heeresgruppe Nord wird dieTeil
nahme bewaffneter Einwohner an den Kämpfen um Libau erwähnt. Die
höheren Kommandostellen der Wehrmacht meldeten das der Einsatz
gruppe der Sicherheitspolizei und des SD.Sie gaben damitdemMassen
vernichtungsapparat der SS einendirektenTerrorauftrag. Darüber ist im
Bulletin des RSHA »Ereignismeldung UdSSR« Nr. 12 vom 4. Juli 1941
zu lesen: »Da nach Mitteilung des Armeeoberkommandos (AOK) 18in
Libau auch Zivilistenin die Kämpfe gegen Deutsche eingegriffen haben,
wurde zusätzlich zu dem dorthin verschickten Teil des EK ia ein Teil des
EK 2 beordert mit Auftrag rücksichtslosesten Vorgehens.«
Die zitierte Propagandaparole und die in der »Ereignismeldung
UdSSR« dokumentierte Symbiose der Wehrmacht und des SD waren
nichts Einmaliges und Aufsehenerregendes; sie gehörten eher zum
Kriegsalltag im Osten. Ebendarum sind sie jedoch symptomatisch für
die Bereitschaft der Wehrmachtsführung verschiedener Ebenen, das
Heer am »Weltanschauungskampf« gegenJuden und Kommunisten zu
beteiligen. Die Chronik der Geschehnisse während der ersten Monate
der deutschen Besetzungin und um Libau lieferndafür Beweise in Fülle.

242
Im Lagebericht der Heeresgruppe Nord vom 29. Juni ist vermerkt:
»291. ID befriedet zunächst Küstenraum Libau-Windau.«8 In Wirklich
keit »befriedete« die Division ein viel weiteres Gebiet - auch südlich von
Libau bis zur litauischen Grenze. Über diese Operationen ist nur ein
Dokument erhalten geblieben, der »Gefechtsbericht des Jagdkomman
do Buttkowitz für die Zeit vom 26.6. bis zum 4.7.41«.9 Protokolliert
wird eine deutsche Vergeltungsmaßnahme im lettischen Dorf Grams-
den. Laut Bericht von Leutnant Buttkowitz wurde in Gramsden am
30. Juni dieHebamme (Emma Liepirja - M.V) erschossen, weilsieeinem
verwundetenRotarmisten einenVerband angelegt hatte. Auch der Ver
wundetewurde erschossen. Es konnten auch einige Gefangene gemacht
werden, von ihnen wurden »einer mit Dum-Dum-Munition und ein
Jude erschossen«.10 Über den weiteren Verlauf erfahren wir aus den
Memoiren des Pastors des örtlichen Kirchspiels: Zusätzlich wurden
vierzehn Gebäude inBrand gesetzt, darunter dieKirche, das Pastorat das
Wohnhaus des Organisten.11 Der Grund dieser exemplarischen Bestra
fung sei ein Feuerangriff versprenger Rotarmisten auf eine LKW-Kolon
ne des Wirtschaftskommandos »Riga« zwischen Gramsden und dem
litauischen Dorf Sijupai gewesen.
Weiteres über die Behandlung der Kriegsgefangenen der 291. ID ist
ausden 1942 in der lettischen Presse veröffentlichten Erinnerungeneines
der Division beigegebenen lettischen Sonderführers, Gustavs Celmiris12,
zu erfahren. Als eine alltägliche Selbstverständlichkeit beschreibt der
Sonderführer dieErschießung eines gefangenen sowjetischen Politkom-
missars, nachdem er im Divisionsstab in Gegenwart des Kommandeurs
verhört wordenwar. General Herzog war der Gefangene unsympatisch.
»Ein ekligen Blick hat der Kerl!« soll sein Kommentar gelautet haben.
»EinSchuß beimSteintor des Viehhofes gab Kundevon dem Abschluß
dieser Angelegenheit«, schreibt Celmiris; erhabe denKommissar vorder
Exekution noch »gründlich verhört«.13
Fotografien sind oft von großer Aussagekraft und können einlanges
Rätselratenum die weltanschauliche Haltung des Konterfeitenersparen;
zum Beispiel wenn sich ein Divisionskommandeur - auch hier Kurt
Herzog - mit seinen Generalstäblern zwecks Verewigung durch die
Presse auf dem »Schlachtfeld« vor Libau mit Leichen gefallener Rotar
mistenzu Füßen in Siegerpositur aufbaut.14
Der »Gefechtsbericht« des Jagdkommandos Buttkowitz sowie die
Memoiren des lettischen Sonderführers sind beileibe nicht willkürlich
aus einer Fülle zugänglicher Dokumente ausgewählt worden, um eine
Einheit des deutschen Heeres zu verunglimpfen. Sie sind die einzigen

M3
Dokumente, die dem Autor zur Verfügung standen und die eine Aussa
geüber die Haltung der 291. ID gegenüber Kriegsgefangenen beinhalte
ten. Sie belegen vier Erschießungen die,wie mit großer Wahrscheinlich
keit anzunehmen ist, stellvertretend für andere Fälle stehen können. In
zwei Fällen wurde für die Exekution ein Motiv angegeben. Der eine
Erschossene hatte Dumdumgeschosse, der andere wollte sich ver
stecken. In den restlichen Fällen erübrigte es sich nach Meinung der
Autoren dieser Schriftstücke, einenGrund anzugeben. Die Erschießung
desPolitruks konnte mit dem berüchtigten »Kommissarbefehl« gedeckt
werden,für den Umgangmit jüdischen Gefangenen gabes in der letzten
Juniwoche 1941 noch keine »von oben« autorisierten Verhaltensregeln.
Der eingangs beschriebene Entschluß entsprach aber dem vom Nazi
regime geforderten rassenideologischen Verhaltensmuster, das von
einem erheblichen Teil derWehrmachtsangehörigen vorbehaltlos akzep
tiert wurde. Daß dieses Verhalten schon in den ersten Tagen des Ruß
landfeldzuges zu Mordtaten an der jüdischen Zivilbevölkerung führte,
wird durch eineZeugenaussage des ehemaligen ia-Offiziers der 291. ID
bestätigt: Es sollen »Erschießungen vonJuden in Krottingen durch eini
ge Soldaten vom Artillerieregiment 291 ohne Befehl des Divisionskom
mandeurs« vorgenommen worden sein.15 Der in dieser Aussage doku
mentierte Vernichtungsfanatismus mehrerer Soldaten war kein Zufall.
Mit der Überschreitung der Grenze trat bei vielen Wehrmachtsan
gehörigen einemoralische Enthemmungein.Die dünne Schale der Zivi
lisierung konnte abgestreift werdenund der jahrelang geschürte Juden
haß sich in blutigen Exzessen austoben.
In der Regel stellte die Fronteinheit, die einen Ort besetzte, auch die
örtliche Kommandantur. So wurde dem 505. Grenadier-Regiment der
291. ID schonwährend der Straßenkämpfe in Libau die Aufgabe zuteil,
eine Ortskommandantur zu bilden. Zum Ortskommandanten Libau
wurde der Regimentskommandeur Oberst Lohmeyer bestimmt. Seinen
ersten öffentlichen »Befehl den Einwohnern Libau's« erließ er schon am
28. Juni.16 Die Herrlichkeit währte allerdings nicht lange, denn dem
Marinebefehlshaber »C« (Ostsee) wurden die Hoheitsrechte auf dem
Operationsgebiet der Küstenverteidigung - einem 10 km breiten Strei
fen längs der ganzen Küste - zugesprochen. Er beanspruchte dieunge
schmälerte Macht in Libau, die sein Bevollmächtigter als Kommandant
der Seeverteidigung und als Festungs- und Ortskommandant ausüben
sollte. In dieser Eigenschaft übernahm am 29. Juni Korvettenkapitän
WalterStein das Kommando, ihm folgte nach einer Woche der Korvet
tenkapitän Brückner. Dieser wiederum wurde am 16. Juli 1941 von Fre-

244
gattenkapitän Dr. Kawelmacher abgelöst.17 Mit dem Amtsantritt von
Dr. Kawelmacher fiel das Ende der »Doppelherrschaft« zusammen - der
Ortskommandant des 505. Regiments meldete die Einstellung seiner
Tätigkeit. Um diese Zeit erschien in Libau auch eine Einheit der
207. Sicherungs-Division, vermutlich um hier ebenfalls eine Ortskom
mandantur zu etablieren. Die Einheit wurdejedoch schnell wieder abge
zogen, nähereAngabenüber ihre etwaige Tätigkeitin Libau fehlen.18
Während der zweiwöchigen Doppelherrschaft des Ortskommandan
ten Lohmeyer mit dem Festungskommandanten der Marine befanden
sich Teile des 505. Regiments19 und die Marinestoßtruppen-Abteilun
gen, die an der Eroberung der Stadt beteiligt waren, in Libau.20 Nach
Angaben des Gebietskommissars für Kurland, Walter Alnor, soll die
Garnison Mitte August schon eineStärke von 4000Mann erreicht haben,
und sie solltesich in kurzer Zeit um weitere 7000 Mann vergrößern.21
Mit der 291. ID marschierten in Libau auch SD- und Polizeieinheiten
ein. Als erstes erschien am 30.Juni ein Teilkommando des Einsatzkom
mandos (EK) ia, das vom SS-Obersturmführer Fritz Reichert geführt
wurde.22 Das Teilkommando ia verließ die Stadt nach dem Eintreffen
eines anderen SD-Kommandos, des Teilkommandos Grauel des EK 2,
am 5. Juli in Richtung Riga.23 Auch Obersturmführer Erhard Grauel
blieb nur bis zur letzten Julidekade in Libau. An seiner Stellewurde vom
Stab des EK 2 dann SS-Untersturmführer Wolfgang Kügler beordert.
Grauel brachte mit den SD-Leuten seines Kommandos auch einen Teil
des 3. Zuges der 1. Kompanie des Reserve-Polizeibataillons 9 in die
Stadt.24 Kurz nach ihrer Einnahme wurde ferner ein Zug der 1. Kompa
nie des Reserve-Polizeibataillons 22 dorthin verlegt.25 Und am 22. Juli
erschienHauptmann Georg Rosenstock mit der 2. Kompaniedes Reser
ve-Polizeibataillons 13.26 Ebenso wie vor ihm die Polizeioffiziere und
SD-Kommandoführer meldete auch er sich vorschriftsgemäß beim Fe
stungskommandanten, um Unterkunft und Tätigkeitsauftrag zu erhal
ten. Allen wurde der gleiche Auftrag erteilt: Befriedung der Stadt.27 Der
SD hatte schon die Art der Befriedung vorherbestimmt: »Rücksichts
losestes Vorgehen!«28

Kollaborateure: der lettische Selbstschutz

Mit dem Beginn der Kriegshandlungen flammte im ganzen Baltikum


eine antisowjetische Guerilla auf. Wie bekannt, waren die baltischen
Staaten gerade einJahr zuvor gewaltsamvon der Sowjetunion annektiert

M5
worden. Die demokratische Opposition, die sich gegen die autoritären
Staatsformenim Baltikum gebildet hatte, begeisterte sich beim sowjeti
schen Einmarsch an der Möglichkeit, gegen die konservativen ethno-
kratischen Regimes revoltieren zu können. Dabeiübersah siegeflissent
lich die sowjetischen Machtansprüche. Verhältnismäßig breite, ins
besondere jüdische Kreise waren anfänglich bereit, sich mit dem
Anschluß abzufinden, da er die Illusion von Sicherheit und Geborgen
heit geschaffen hatte: Man wähnte sich nun im Schutz der mächtigen
Roten Armee und dadurch vor den Schrecken des Weltkrieges und eines
deutschen Einfalls bewahrt. Die Realität des sowjetrussischen Alltags
und die als »Sozialismus« aufgezogene Diktatur der Kommunistischen
Partei bereitete allen eine große Enttäuschung, die jedoch nicht automa
tisch das Ende der prosowjetischen Sympathien auf Seiten der Arbeiter
schaft und der linken Intelligenz bedeutete. Der hartnäckigeWiderstand
der zivilenVerteidiger Libaus legte davon ein beredtes Zeugnis ab.
Auf der anderen, der antisowjetischen Seite stand die enteignete und
entmachtete Oberschicht, die durch sowjetische Terrormaßnahmen
immer mehr in einen aktiven Widerstand gedrängt worden war. Einflü
sterungenund illegale Umtriebe von Abwehragenten spielten dabei die
Rolle eines Katalysators. Entscheidend für den Übergang zur offenen
Gegenwehr waren die sowjetischen Massendeportationen vom 14. Juni
1941. Lettische Militärs und »Aizsargi« (Mitglieder einer paramilitäri
schen Organisation des konservativ und ethnozentrisch ausgerichteten
Bauernbundes) holten nun versteckte Waffen hervor und gingen in
Erwartung eines baldigen deutschen Einmarsches in die Wälder. Sie
warenursprünglich stark deutschfeindlich eingestellt gewesen, aber nun
waren die Deutschen, die Nazis, für sie die einzige Chance, ihren Kopf
zu retten. Die Abwehr konnte sie nach Belieben manipulieren und
mißbrauchte sie als »fünfte Kolonne«.
Dem fanatischen lettischen Nationalismus galten die Juden pauschal
als Träger des sowjetischen Systems. Im Grunde war das nur ein Vor
wand, dem lange beherrschten Rassenhaß freien Lauf zu lassen - genau
wie 1919, als die Juden wegen ihrer Deutschfreundlichkeit angeprangert
wurden. Im Interregnum zwischen dem Abzug der Sowjets und dem
deutschen Einmarsch kam es aber nicht zu Exzessen gegenJuden, wie zu
erwarten gewesen wäre. Die bewaffneten lettischen Nationalisten, die
sich »Pasaizsardziba« (Selbstschutz) nannten, verhielten sich abwartend
und wollten nicht deutsche Anweisungen vorwegnehmen.
Wehrmacht und Marine beeilten sich, den lettischen Selbstschutz
unter ihre direkte Kontrolle zu stellen: Der Selbstschutz sollte nunmehr

246
als Hilfspolizei für die Deutschen agieren und den örtlich zuständi
gen Wehrmachtsdienststellen unterstehen. Der Befehlshaber »C« der
Kriegsmarine unterstellte sich zu diesemZweck einen lettischenOberst
als Verantwortlichen für den Aufbau des Selbstschutzes im Küstenge
biet.29 Eineunvergleichlich größereAktivität entfaltete aber die 291. ID.
Der Divisonsstab erarbeiteteeinepräzise Anordnung über die Subordi
nation des lettischen Selbstschutzes unter deutsche militärische Dienst
stellen und über die Art und Anzahl ihrer Waffen. Im Kriegstagebuch
der 291. ID wurde am 1.Juli 41 folgende Eintragung gemacht: »Befehl
[des Divisionskommandeurs; M. V] an ic: Selbstschutz organisieren, mit
Gewehren ausrüsten.« Der Text des sich hierauf beziehenden Aufrufs ist
im Kriegstagebuch zu finden: In ihm werden die Einwohner zum Ein
tritt in den Selbstschutz aufgefordert, um »das Land zu befrieden und
von bolschewistischem Terror und versprengten russischen Einzel
kämpfern zu reinigen«. Gleichzeitig wurdenTermine zur Aushändigung
von Handfeuerwaffen bekanntgegeben.30 Ende Juli konnten die deut
schen Besatzer über 720 lettische Hilfspolizisten in der Stadt und über
3485 im Kreis Libau verfügen.31
Die Ortskommandanturen der Wehrmacht und der Marine, denen in
den ersten Wochen der lettische Selbstschutz direkt unterstellt war,
mußten sich über Rachegelüste und Judenvernichtungspläne ihrer
»Aktivistender ersten Stunde« im klaren sein.Ein Blutbad kündigte sich
an. Es lagbei der Okkupationsmacht, es zu verhindern, aber sie tat das
Gegenteil. Die Besatzer Libaus mußten sich keinen höheren Befehlen
beugen, denn die beiden Kommandanturen waren anfänglich Provisori
en, zu denen Befehle von höherer Ebene noch gar nicht durchdringen
konnten. Durch den schnellenVormarschund die undurchsichtige Lage
im Hinterland entstand für selbständige Entscheidungen ein verhältnis
mäßig breiter Spielraum. Die Beschlüsse beider Ortskommandanten
waren auchnicht von.einem ausgewogenen politischenKalkülbestimmt;
man hätte sich in diesem Fall so mancher aufreizenden Bekanntmachung
enthalten müssen. Es ist offensichtlich, daß das Handeln dieser Offizie
re wie auchvieleranderer ihrer Geisteshaltung entsprach,ihrem inneren
Bedürfnis, diese Stadt zu demütigen, ihr die unerwarteten Verluste
»heimzuzahlen«. Diese Haltung machte eine Bartholomäusnacht in
Libau unvermeidlich. Daß für die schwer aufzuspürenden Kommuni
sten und für die untergetauchten Verteidiger die Juden in allen Fällen
würden herhalten müssen, darüber waren sich die in Libau einmarschie
renden Truppenvon vornhereinim klaren.

247
Der Beginn der»Befriedung«

Der schon zitierte ehemalige Chef des Stabes der 291. ID sagte 1969 im
Zeugenstand aus: »Der Angriff auf Libau war schwer und blutig. [...]
Die endgültige Einnahme von Libau geschah am 29. Juni. [...] Am 29.
Juni waren noch Straßenkämpfe, am 30. Juni herrschte völlige Ruhe.«32
Ein anderer Zeuge, David Siwzon, ein Überlebender des Libauer Ghet
tos, hatte vom 29.Juni andere Erinnerungen: »Am 29.Juni um 17 Uhr
tauchten in der Stadt die ersten Deutschen auf. In der Uhligstraße ergrif
fen sie 7Juden und 22 Letten und erschossen sie beim Haus 7/9 bei einem
Bombentrichter. Die Leichenwurden dann in diese Grube geworfen.«33
Am selben Abend, um 21 Uhr, erschienenin Feldgrau gekleidete Deut
schein der Wittestraßein der VillaMinkowska,in der ein jüdischerEmi
grant aus Österreich, der Komponist und Dirigent der Libauer Oper,
Walter Hahn, lebte. Alle Einwohner des Hauses wurden aus ihren Woh
nungen geholtund im Hof aufgestellt. Unter ihnen war auch der Zahn
arzt Sebba, der später über dasVorgefallene berichtete. Auf die Frage,ob
sich unter den Anwesenden Emigranten aus dem Reich befänden,bejah
te das Walter Hahn und trat einige Schritte vor. Er wurde an Ort und
Stelle erschossen. Um den Ermordeten zu verhöhnen, wurde befohlen,
die Leiche bei den Abfalltonnen zu begraben.35
Wer waren die Täter? Die Besonderheiten der deutschen militärischen
Besatzungstruppenwaren den Zeugen zu diesemZeitpunkt noch unbe
kannt. Sie konnten nur aussagen, daß dieTäter Leutein feldgrauen Uni
formen gewesen waren. Angehörige desMarinestoßtrupps kamen dem
nach nicht in Frage, und das Teilkommando ia der Sicherheitspolizei
und des SD rückte erst am 30. Juni in Libau ein. Die Täter müssen
Angehörige des Heeres,höchstwahrscheinlich des 505. Grenadier-Regi
ments, das den Stadtkern besetzte, gewesensein.
Am 30. Juni, als »in Libau völlige Ruhe herrschte«, begannder letti
sche Selbstschutz mit Massenverhaftungen aller Sowjetsympathisanten,
deren er habhaft werden konnte. Die Führung der örtlichen Kommuni
sten war zwar geflohen oder in den Kämpfen um Libau gefallen, die
Übriggebliebenen waren unbedeutende Mitläufer. Nichtsdestoweniger
waren schon in den ersten Tagen alle Gefängnisse überfüllt. Die Orts
kommandantur des 505. Regiments sah sich gezwungen, ein »Ersatzge
fängnis« einzurichten, in dem die eingelieferten Rotarmisten und zivilen
Verteidiger der Stadt eingesperrt wurden. Zu diesem Zweck wurden in
den Kellergewölben des metallurgischen Werkes 18 Zellen ausgebaut.
Die Zahl der Festgenommenen ist unbekannt. Den einzigen Anhalts-

248
punkt bieten auf den Türen der ZelleneingeritzteZahlenmit deutschem
Text, mit denen die Wachposten die jeweilige Zahl der Gefangenen ver
zeichneten. Demnachmüssenes einige Hundert gewesen sein. Die Fest
genommenen wurden dann Schub um Schub von deutschen Soldaten
erschossen.35
In der Stadt wurden inzwischen auf allen Straßenkreuzungen deut
sche Soldaten postiert. Bei ihnen sollten laut Befehl des Ortskomman
danten alle vorhandenen Waffen »bis spätestens 29. Juni 8 Uhr« abgelie
fert werden. Das war schon deshalb nicht ausführbar, weil der Befehl erst
am 2. Juli veröffentlicht wurde. Dennoch sollten alle, bei denen man
nach dem 29. Juni Waffen finden würde, an Ort und Stelle erschossen
werden. Ortskommandant Lohmeyerverhängteüber dieStadt den Bela
gerungszustand und legte das Ausgehverbot für die Zeit von 20 Uhr
abends bis 5 Uhr morgens fest. Die Haustüren durften nicht verschlos
sen, in unverdunkelte Fenster sollte geschossenwerden. Der zehnte und
letzte Punkt des Befehls lautete: »Jeder Sabotageversuch wird mit dem
Tode bestraft.«36 Schon der Versuch!
In der eben besetzten Stadt kam es in den ersten Tagen zu Plünderun
gen durch die Truppe, und das nicht nur in jüdischenWohnungen. Die
ser Tatbestand wurde auch noch nach 25 Jahren vom ehemaligen Fe
stungskommandanten und von anderen Offizieren bestätigt.37
Am 2.Juli veröffentlichte der Orts- und Festungskommandant, Kor
vettenkapitän Stein, in der örtlichen lettischen Zeitung »Kurzemes
Värds« (Nr. 1) einen offiziellen »Aufruf«, in dem er sich an versprengte
Rotarmisten und an die Bevölkerung der Stadt wandte. Soldaten der
Roten Armee hinter der deutschen Frontlinie wurden aufgefordert, sich
binnen 24 Stunden deutschen Behörden zu stellen. Nach dem Ablauf
dieser Frist würden alle aufgegriffenen Rotarmisten erschossen werden.
Der Zivilbevölkerung wurde eröffnet, daß »für jeden einzelnenVersuch
eines Überfalls, Sabotageaktes oderPlünderung zehn in deutscher Hand
sich befindende Geiseln erschossen werden«.
Erschießungen liefen schon vom ersten Besetzungstagan. Die Plaka
tierung des Kommandanten besagte, daß es keine zufälligen, »wilden«
Maßnahmen waren und daß von nun an die Weichen auf schärfsten Ter
ror gestellt waren. Die Versuchung ist groß, diesen Terrorbefehl als
Panikreaktion eines jungen Seeoffiziers zu deuten, der, zwecks Prüfung
der Verwendungsmöglichkeit des Hafens nach Libau entstandt, am 29.
Juni ganzunerwartet vom Divisionskommandeur, GeneralHerzog, und
anschließend auch vom Marinebefehlshaber »C«, Admiral Clasen, zum
Festungskommandanten einer Stadt ernannt wurde, deren dramatische

249
Eroberung er persönlich miterlebt hatte. »In dubio pro reo!« Doch in
diesem wie auch im Fall noch zu erwähnender Mordbefehle scheinen
»höhere Gewalten« im Spiel gewesen zu sein. Das belegt ein identischer
Aufruf in einer anderen Hafenstadt - in Windau (Ventspils), der vom
Marine-Stadtkommandanten, Leutnant Meitinger, erlassen wurde.38 Im
Raum Windau hatten sich wohlgemerkt keinerlei Kampfhandlungen
abgespielt, und die Stadtwar ohne jegliche Verluste von deutscher Seite
besetzt worden. Dieser Umstand erlaubt die Vermutung,daß die eigent
lichen Autoren der Mordbefehle der Marineortskommandanten auf
höherer Kommandoebene zu suchen sind, höchstwahrscheinlich im Stab
des Marinebefehlshabers »C«. Auf jeden Fall kann mit Sicherheit
behauptet werden, daß der Befehlshaber, der sichpersönlich mit seinem
Stab vom i. bis 6. Juli in Libau befand, das Vorgehen seiner Verwal
tungsoffiziere für gut und richtig hielt.
Am 8.Juli, amTagder Veröffentlichung des »Aufrufs« von Leutnant
Meitinger in Windau, wurde auch in Libau eine amtliche »Bekanntma
chung« publik: »In den letztenNächten wurde wiederholt aufdeutsche
Postengeschossen. AlsAntwort daraufwurden 30 bolschewistische und
jüdische Geiseln erschossen. Die lettischen Einwohner werden aufge
fordert, der Sicherheitspolizei sofort alle sich noch verbergenden
Bolschewiken und jüdischen Räuber zu melden. Sollten sich die Über
fälle wie in den letzten Nächten wiederholen, werden für jeden verwun
deten deutschen Soldat 100 Geiseln erschossen.«39
Das war der erste Auftritt des neuen Ortskommandanten, Korvetten
kapitän Brückner, den schon acht Tage später Kapitän zur See
Dr. Kawelmacher ablöste. Auch er blieb nicht hinter seinen Vorgängern
zurück: Am 11. Oktober ließ er bekanntmachen, daß in letzter Zeit wie
derholt auf deutsche Posten geschossen worden sei. Als Sühnemaßnah
me ordne er an, daß in jedemFall,in dem auf deutscheSoldatengeschos
sen werden würde, »ein noch zu bestimmender Teil der Einwohner
Libaus« verhaftet und erschossen werden solle.40
Der Herbst 1941 liegt zwar zeitlich außerhalb des Rahmens dieser
Studie. Doch ist eine Analyse der hier angeführten Geiselmordbefehle
nur en bloc möglich, denn sie weisen in ihrer Gesamtheit eine
unverkennbare Gemeinsamkeit auf, wobei die erschreckende Eskalation
der festgesetzten Zahl von »Sühneopfern« besonders ins Auge fällt.
Die Stadt war im Herbst total »befriedet«, und trotz der gemelde
ten Feuerüberfälle wurde nie ein Täter entdeckt oder ein deutscher
Soldat verwundet. In der Bevölkerung herrschte jedenfalls allgemein
die Überzeugung, daß die Schuldigen der »Schießereien« zwischen

250
den oft angetrunkenen Marineangehörigen im Kriegshafen zu suchen
seien.
Angesichts der in den Geiselmordbefehlen zutage tretendenSinnesart
verwundert es nicht, daß die örtlichen Kommandobehörden der Marine
und desHeeresin Libaumit der Sipound demSD engverbundenwaren,
selbständig Massenexekutionen vornahmen und sich in der Verfolgung
und Ermordung von Juden besonders hervortaten.

Die Ermordung derJuden

Der Feldkommandant von Riga, Oberst Ullersperger, erließ am 2. Juli


die erste,dieJuden diskriminierende Verordnungim lettischenRaum, in
der den Juden verboten wurde, in Schlangen vor Läden anzustehen.
Praktisch war das ein Verbot, Lebensmittel zu kaufen.41 Ortskomman
dant Brücknerin Libauließ den ranghöherenKollegen in Rigaweit hin
ter sichmit seiner »Anordnung für alle Juden in Libau« vom 5. Juli. Ihr
ersterPunktverfügte: »Sämtliche Juden(Männer, Frauen, Kinder) haben
sofort leichtsichtbare Kennzeichen in Form gelberTuchflecken von der
Mindestgröße zehn mal zehn auf den Kleidungsstücken an Brust und
Rücken anzubringen.« Alle Männer von sechzehn bis sechzig Jahren
sollten »zur Durchführung« öffentlicher Arbeit« täglich ab 7 Uhr mor
gens aufdem Feuerwehrplatz bereitstehen. DieJuden durften sich nur
während vier Stunden auf den Straßenzeigen, die Benutzungvon Trans
portmitteln, das Betreten von Anlagen und Bad wurdenstrengstens ver
boten. Alle Transportmittel, Rundfunkgeräte und Schreibmaschinen
sollten unverzüglich abgeliefert werden. Durch die begrenzte Ausgeh
zeit waren die Juden schon so gut wie von den Straßen verbannt. Der
weitsichtige Ortskommandant sah sich dennoch mit der theoretischen
Möglichkeit konfrontiert, daß ein Deutscher in Uniform einem Juden
aufdem Gehsteig begegnen könnte. Er dekretierte daher in Punkt6,daß
in diesemFall der Jude sofort das Trottoir zu verlassenhabe.42
Man mußte nicht besonders hellhörig sein, um zu verstehen, daß hin
ter dieser Verhöhnung und Verstoßung aus der Gesellschaft sich eine
noch größere Bedrohung verbarg. Der letzte, elfte Punkt der »Anord
nung« ließ das ahnen. Gegen diejenigen, die sich erdreisten würden, die
ser Anordnung nicht Folge zu leisten, würde »mit den schärfsten Mit
teln« vorgegangen werden. Was konnte noch schrecklicher sein als der
zivile Tod? Die physische Tötung!
Als Beginn der systematischen Massenerschießungen ist der 4. Juli

25!
anzusehen. Am Nachmittagdieses Tages wurden vomTeilkommando ia
47Juden und fünf lettische »Kommunisten« in der Stadtanlage (Raipa
parks) erschossen. Der Kommandoführer, SS-Obersturmführer Rei
chert, konnte sichdabeiauf einenvom Festungskommandanten erhalte
nen Auftrag berufen.43 Die Juden wurden in Gruppen aus dem Frauen
gefängnis in der Tiesas-Straße 5 herangebracht, das seit dem 2. Juli als
Sammelort für verhafteteund zur ErschießungbestimmteJuden diente.
Verhaftet wurden im Sommer 1941 in Libau nur Männer, die man vom
Sammelplatz beim Feuerwehrdepot einfach wegholte oder auch aus den
Wohnungen herausprügelte. Die Ansammlung vonJuden beiden Regi-
strationsstellen gab zusätzliche Möglichkeiten, die Männer festzu
nehmen und insFrauengefängnis zu transportieren. Über dieunmensch
lichen Zustände im Gefängnis gibt es unzählige übereinstimmende
Aussagen von Überlebenden, Wachmännern, SD-Leuten und Unbetei
ligten. Ein Kriegsberichterstatter einer Propagandakompanie der Mari
nehattesich am6.Julieinige Stunden imGefängnis aufgehalten. Er sagte
später im Zeugenstand aus, »er habe sich [...] 3 bis 4 Türen öffnen lassen
und gesehen, daß in kleinen Räumen Juden zusammengepfercht gewe
sen seien. Siehätten so dicht gepfercht gestanden, daß keiner von ihnen
sich hinlegen oder seine Notdurft verrichten konnte.«44 Ein ehemaliger
Wachmann sagte aus, daß die Juden sehr bald erfaßt hätten, daß es aus
diesemGefängnis nur einen Weg gab, den in die Grube.45
Die nächste Massenerschießung soll am 6. Juli stattgefunden haben,
nähere Angaben fehlen. An diesem Tag erschien dieZeitung »Kurzemes
Värds«, die übrigens von einem deutschen Sonderführer zensiert wurde,
mit der direkten Forderung einer physischen Ausrottung des Juden
tums.46 Am 7. Juli führte das Teilkommando Grauel die vom Festungs
kommandanten geforderte Geiselerschießung durch.SS-Obersturmfüh
rer Grauelbegab sichselbstins Frauengefängnis, ließdie Inhaftierten aus
den Zellen hervortreten und zählte jeden fünften ab. Es sollten zwar
»nur« dreißig sein, erschossen wurden jedoch zwischen hundert und
hundertfünfzig. Die Ausgesonderten wurden von SD-Leutenund letti
schem Selbstschutz in den Hof getrieben und von dort in Gruppen auf
LKWs zum Erschießungsort gefahren.47 Umfangreiche Erschießungen
folgten am 8., 9. und 10. Juli.48 Die Opfer waren hauptsächlich Juden.
Am 12.Juli wurden nur Juden erschossen. Sie wurden vom Arbeitsamt
weggeholt, als siesich dort zur Registrierung anstellten.49 Amfolgenden
Tag begann die Abtragung der Libauer Großen Choralsynagoge. Die
»Kurzemes Värds« kommentierte diese Barbarei voller Enthusiasmus:
»Durch die Niederreißung der Synagoge wird denJuden die Möglich-
252
keit genommen, sich zu versammeln, um unter der Anleitung des Rabbi
Pläne zur Knechtung des Christenvolkes zu schmieden.«50 Die Juden
wurden gezwungen, sich an der Abtragung ihrer Synagoge zu beteiligen.
Aus den geschändeten Synagogen wurden Thorarollen auf die Straße
geworfen. Zur besonderen »Belustigung« wurde die in West und Ost
heilige Schrift auf dem Feuerwehrplatz ausgebreitet und die Juden von
Selbstschutz und SD mit Schlägen gezwungen, über die ehrwürdigen
Pergamente zu marschieren.
Zeugenaussagen zufolge sollen Mitte Juli allabendlich im Dünen
gelände südlich des Leuchtturms Massenerschießungen vorgekommen
sein. Die allermeisten Opfer waren jüdische Männer. Dokumentarisch
ist nur die Erschießungvom 15. Juli festgehalten, in der Tagebucheintra
gung eines Matrosen des Tankschiffes »Mittelgrund«, Karl Heinz L.:

»Libau 15.Juli.
[...] Wir tummeln uns im Wasser und versuchen mit den kleinen let
tischen Deerns anzubändeln. Aber alles hat ja auch mal sein Ende und
um 8Uhr muß alles an Bord sein.Langsam schlendernwir zurück und
stoßen unweit des Strandes auf einen Haufen Menschen. [...] Man
denkt auf den ersten Blick, hier findet eine Sportveranstaltung statt.
Ja, eineVeranstaltung, wenn auch etwasanderer Art. Wir sind auf dem
Platz angelangt, auf dem allabendlich so und soviel Heckenschützen
erschossen werden. [...] Ringsum stehen Soldaten, ich schätze rund
600-800 Mann stehen hier um ihre grausame Neugier zu befriedi
gen.«51

An diesem Abend sollen »nur« 25 Mann erschossen worden sein, dar


unter keine »Heckenschützen«, vielleicht einige »Politische«, alle ande
ren Juden.
In der zweitenJulihälftewurde vom Teilkommandodes SD in engster
Zusammenarbeit mit der lettischen Hilfspolizei eine »Großaktion« zur
Vernichtungdes größten Teiles der jüdischenMänner in Libau vorberei
tet. Sie wurde durch eine Verordnung des Chefs des lettischen Selbst
schutzes eingeleitet, der alle zivilen Arbeitsstellen aufforderte, ab sofort
die als kostenlose Zwangsarbeiter zugewiesenenJuden zu entlassen.Von
den Juden wurde verlangt, sich auf dem Feuerwehrplatz zu versammeln,
»um einen besonderen Auftrag zu erhalten«.52 Der »Auftrag« bestand
darin, daß alle, die nicht in deutschen Dienststellen beschäftigt waren,
sofort verhaftet und mit erhobenen Händen durch die Stadt zum Frau
engefängnis gejagt.wurden. Die Zahl der Festgenommenen entsprach

253
noch nicht den Plänen der Organisatoren, und darum wurde eine förm
liche Jagd auf jüdische Männer angeordnet, zuerst in den Wohnungen,
dann bei den von der Arbeit Zurückkehrenden. Die Ausweise, die eine
Beschäftigung durch deutscheDienststellenbestätigten, wurden einfach
weggenommen und das Opfer ins Gefängnis abgeführt.53 Die Er
schießungen fandenam 22., 23. und 24. Juli im Geländedes Kriegshafens
statt und haben circa 1500 Opfer gefordert.
In den letzten Julitagen erschien in Libau das »Kommando Arajs« -
eine eigens zur Durchführung von Exekutionen vom Stab des EK 2 in
Riga aufgestellte Einheit unter Viktors Aräjs. Nördlich von Libau, im
Kriegshafengelände nahe bei Schkeden (Skede), erschoß das Kommando
ungefähr hundert Juden, die vorher gezwungen wurden, sich selbst ihr
Grab zu schaufeln.54 Auch im August gab es im Kriegshafengelände
Erschießungenmit Hunderten Opfern.55
Die Pelotons für die erstenErschießungen wurden hauptsächlich von
Wehrmacht und Marine gestellt. Ein SD-Offizier hatte gewöhnlich das
Kommando,SD-Leutefeuerten Fangschüsse in die Grube.56 Marinesol
daten als Erschießungspeloton in den Dünen bei Libau sind auf einem
Schmalfilm zu sehen, den ein Schreibstubenfeldwebel Mitte Juli auf
nahm.57 Erst nach und nach wurden von den in Libau stationierten Poli
zeieinheiten Erschießungskommandos aufgestellt, besonders aus dem
Reserve-Polizeibataillon 13. Dem lettischen Selbstschutz war anfänglich
nur zugedacht, die Opfer zusammenzutreiben, Konvois zu bilden,
Postenketten aufzustellen und Sand auf die Leichen zu schaufeln. Aber
die Rollen beim Morden wurden bald neu verteilt. Ab Mitte Juli waren
dieAngehörigen desSelbstschutzes schonin die Mordketten eingereiht,
und am Ende des Sommers stellte der lettische Wachzug das ständige,
immer und zu allem bereite Mordkommando.

Ein Fazit

Wegen der anhaltenden Kämpfe um die Ostseeinseln war die Küste


Westlettlands noch bis Ende Oktober 1941 militärisches Operationsge
biet geblieben, in dem der Orts-, Festungs- und Seekommandant Libau
mit besonderen Befugnissen ausgestattet war, die ihm eine praktisch
unbegrenzte Handlungsfreiheit sicherten. In der Endphase der Erobe
rung der Ostseeinseln war dem Festungskommandanten Libau noch
zusätzlich die Funktion eines Wehrmachtsbefehlshabers in Kurland
übertragen. Nichtsdestoweniger mußten die Militärs in Libau schon im

254
September ihre zivilen Verwaltungsvollmachten Schritt für Schritt dem
Gebietskommissarüberlassen. Mit der Ernennung des SS- und Polizei
standortführers in Libau am 15. September verlor der Festungskom
mandant auch die polizeiliche Gewalt im zivilen Bereich.
Die zwei Monate währende Zeit der uneingeschränkten Macht der
Militärverwaltung in Libau war damit zu Ende. In dieser kurzen Zeit
spanne demonstrierten die Militärs eine Mordlust wie noch nirgends
sonst im Baltikum. Der Festungskommandant Libau war nicht der ein
zige, der aus eigenem Antrieb zwei Wochen vor der allgemeinen Ver
ordnung die Kennzeichnung der Juden verfügte. Ähnliche Bestimmun
gen erließen auch die Ortskommandanten von Windau, Talsen und
Dünaburg, wobei jeder Subalterne im »Waffenrock« bei der Auswahl
der Judenzeichen seinen sadistischen Phantasien frei folgen konnte. So
entstand das gelbe Quadrat für dieJuden in Libau, dasDreieck für Win
dau, der Kreis für Talsen und ein fünfzackiger gelber Stern für Düna
burg. Die Verordnung des Festungskommandanten Libau vom 5. Juli
war jedoch die erste umfassende judenfeindliche Bestimmung auf letti
schem Boden, und sie war auch die schärfste in der Anfangsphase der
Judenverfolgungen. Wohl muß gesagt werden, daß Libau nicht der ein
zigeOrt mit Geiselerschießungen war. In Bauske ließder Ortskomman
dant am 2.Juli bei der Memelbrückezwanzig Geiselndurch ein Peloton
der Ortskommandantur öffentlicherschießen, angeblich als »Sühne« für
die bei den Kämpfen um die Stadt gefallenen deutschen Soldaten.58 Das
war jedoch ein Einzelfall. Die Geiselerschießungen in Libau wurden
aber als System praktiziert, das die anhaltenden Judenerschießungen
zusätzlich motivieren und legitimieren sollte. Die Gesamtzahl der Opfer
in den zwei Monaten der Militärverwaltung in Libau sind von mir mit
höchstens 3000 berechnet worden, darunter werden nicht weniger als
2500jüdische Opfer gewesensein.
Es sind aber nicht nur die als Geiseljustiz aufgezogenen Massenmor
de an den wehrlosenJuden, die die blutigen Geschehnisse als exemplari
sches Beispiel für die Wehrmachtsverbrechen gelten lassen. Durch den
erwähnten Schmalfilm, das Tagebuch und die während des Prozesses
gegen Grauel und Rosenstock vor demLandgericht Hannover gemach
ten Zeugenaussagen ist auch die Reaktion der Soldatenmasse auf die bis
Ende Juli in aller Öffentlichkeit durchgeführten Massenexekutionen
festgehalten. »Bei denErschießungen war esbrechend vollvon zuschau
enden Landsern«, erinnerte sich ein Zeuge.59 Die Mengeder zuschauen
den Heeres- und Marineangehörigen gingimmerin die Hunderte. Nicht
nur Soldaten, auch Reichsbahner sollen zuweilen dort gewesen sein.60

255
Mehrere Zeugen behaupteten, nicht aus eigenem Antrieb gekommen,
sondernvon ihren Vorgesetzten zu den Erschießungen beordert worden
zu sein. Der Großteil kam jedochaugenscheinlich freiwillig. »Hier und
da ertönte ein rohes Lachen«, schreibt der Matrose Karl Heinz L. in sei
nem Tagebuch. »Hier und da recken sich Hälse, um nur ja nicht etwas
von diesem Schauspiel zu entbehren.«61 Ein anderer Zeuge sagte aus:
EinigeZuschauer »warenso roh, daß siejodelten >Gib's ihm!<«62 Es blieb
auch nicht nur bei bösen Worten, auf dem Schmalfilm sind auch Tät
lichkeiten gegen die Opfer festgehalten. Ein Marinesoldat verabreicht
einemMann, der gerade in die Grube getriebenwird, einenFußtritt. Die
allgemeine Stimmung ist jedoch wahrscheinlich der Wahrheit näher in
einerTagebucheintragung von KarlHeinz L.wiedergegeben: »Die ganze
Exekution hat nur wenige Minuten gedauert. Das Peloton steht zusam
men, erzählend und rauchend. Ich studiere die Gesichter der Umstehen
den. Teilnahmslosigkeit, Gleichgültigkeit oder Befriedigung steht in
ihnen geschrieben.« Und auf den Heimweg begeben sich die meisten
»lachend und scherzend«.63
Mit Bestimmtheit kann angenommen werden, daß nicht alle bei den
Erschießungen anwesenden »Gaffer« verschworene Antisemiten und
grausame Sadisten waren. Es ist eher zu glauben, daß sie aus Angst, im
Weigerungsfall als »unmöglich« zu gelten, bei dem schauerlichen Schau
spiel als Zuschauer agierten. Es bestand jaimmer auch dieAngst, aus der
»Herde«, aus der »Volksgemeinschaft« verstoßen zu werden, die Angst,
als »politischer Fehlgänger« eingestuft zu werden. Doch die heimlich
Mitfühlenden, die hämischen Gaffer und die sadistischen Täter hatten
viel Gemeinsames. Sie bejahten nämlich in ihrer Masse das nationalso
zialistische Gewaltregime. Daraus folgte aber letztlich auch die Akzep
tanz derJudenvernichtung als notwendiger Teil des »Weltanschauungs
krieges«. Die einen taten es mit Enthusiasmus, die anderen nur zögernd
und widerstrebend, wobei sie für das schreckliche Geschehen Erklärun
gen und Entschuldigungen suchten. Das bewahrte sie nicht vor der Ver
strickung in blutige Verbrechen, vorSchuld undVerantwortung. Wie tief
der Abgrund war, in den ein verbrecherisches Regime ein ganzes Volk
hineinziehen konnte, dafür bieten die Ereignisse in Libau im Sommer
1941 ein bedrückendes Beispiel.

256
Anmerkungen

i Kurt Herzog (i889-1948), Generalleutnant, 1942 General der Artillerie, Kom


mandeur d. XXXVIII Panzerkorps. Starb in sowjetischerKriegsgefangenschaft.
2 Die 291. ID bestand aus: 504., 505., 506. Gr.R, AR 291, Pi. Btl. 291, Pz. Jg.
Abt. 291,AA/Füs. Btl. 291,Nachr. Abt. 291,FEB 291,Dinafü (Vers.R) 291.zur
Zeit der Kämpfe um Libau waren der Division zusätzlich unterstellt: Marine-
Stoßtrupp Abt. v. Diest,Marine-Sonderkommando Bigler,einLandesschützen-
BtL, ein Radf. Btl., schw. Art. Abt. mot 633, Mörserbattr./schw. Art. Abt. 637,
Marine Art. Abt. 530, eine Bttr. Eisenbahngeschütz, Kp. Heeres-Fla-Abt. 272,
ein Panzerzug, eine Kette Heeresflieger, Angaben nach: Wolfgang Keilig. Das
deutsche Heer 1939-1945, Bad Nauheim o. J., Bd. 2, S. 101; W. Conze, Die
Geschichte der 291. Infanteriedivision, Bad Nauheim 1953, S. 93; W. Haupt,
Baltikum 1941, Neckargemünd 1963, S. 69.
3 Kurt Lohmeyer (1893-1942), Oberst, 1942 Generalmajor, fiel an der Front als
Kommandeur einer Division.
4 W. Sawtschenko, Semognennichdnjei (Sieben lodernde Tage), Riga 1985,S. 50.
5 Aus der Flut der panegyrischen Schriften der Kriegszeit sollen hier stellvertre
tend nur zwei erwähnt werden: K. Gloger, Oberst Lohmeyer, Berlin 1942;
F. Pessendorfer, Sturm zum Finnmeer, Riga 1943. Für die Nachkriegszeit:
W. Haupt, Kurland.Die letzte Front, Bad Nauheim 1961; ders.,Baltikum1941,
Neckargemünd 1963.
6 Allein bis zum Jahr 1979 erschienen ca. 150 Bücher, Broschüren und größere
Beiträge über die VerteidigungLibaus. Vgl. Revoljuzionnaja Liepaja. Ukasatel
literaturi, Liepäja 1979, S. 58-79.
7 E. Rüsins, Nevienlidzlgä cina (Ungleicher Kampf), in: »Komunists«, Liepäja,
24.4.1966.
8 Zitiert nach W. Haupt, Baltikum 1941, S. 69.
9 NOKW-Dokument 1170.
10 Vgl. Schimon Dattner, Prestuplenija nemezko-faschistskogo wermachta w
otnoschenii woennoplennich (Verbrechen der deutschen faschistischen Wehr
macht gegenüber Kriegsgefangenen), Moskau 1969, S. 434-444.
11 Haralds Biezais, Saki tä, kä tas ir (Sagewie es ist), o. O. 1986,S. 140.
12 Gustavs Celmins (geb. 1899), Führer der lettischenfaschistischen Organisation
»Perkonkrusts« (Donnerkreuz).
13 Gustavs Celmins,No Memeles lldz Rigai ar vacu armiju (Von Memel bis Riga
mit der deutschen Armee), in »Kurzemes Värds« vom 7.6.1942.
14 »Befreiung«, illustrierte Ausgabeder Propagandakompanie der 18.Armee, o. O.
i94i,S. 2.
15 Zeugenaussage W. v. R., Staatsanwaltschaft beim LG Hannover in der Straf
sachegegenGrauel u. a., 2 Ks 3/68, Protokollband II/»b«, Bl. 147.
16 Der Befehl konnte nur mit großer Verspätung am 2. Juli 1941 in der lettischen
Zeitung »KurzemesVärds« veröffentlicht werden.
17 »Kurzemes Värds« vom 16.7.1941.
18 LatvijasVestures Arhlvs (Historisches Archiv Lettlands, HAL), 80/3/1, Bl. 55.

257
19 Nach Angabe desehemaligen Ia-Offiziers der 291. ID solldas 505. Rgt.um den
1.Juli Libau verlassenhaben. StA Hannover, Strafsache Grauel u. a., Protokol
lband II/»b«.
20 W. Haupt., Baltikum 1941, a. a. O., S. 62.
21 Lagebericht des Gebietskommissars für Kurland vom 27.8.1941, HAL,
69/m/iy/Bl. 106.
22 »Ereignismeldung (EM)UdSSR« Nr. 6vom 27.6.1941; »EMUdSSR« Nr. 9 vom
1.7.1941.
23 »EM UdSSR« Nr. 12 vom 4.7.1941. StA Hannover, Strafsache Grauel u. a.,
Anklageschrift, Bd. XXII, Bl. 35.
24 Ebenda, Bl. 55-60.
25 HAL, 83/1/22/Bl. 15;vgl. auch: StA Hannover, Strafsache Grauel u. a., Bl. 72;
ebenda, Bd. XVIII, Bl. 78.
26 StA Hannover, Strafsache Grauel u. a., Anklageschrift, Bd. XXII, Bl. 24f.;StA
Hannover, Strafsache Grauel u. a., Urteil, Bd XXX, Bl. 286f.
27 Im Prozeß gegen Grauel, Rosenstock u. a. wurde die auftraggebende Rolle des
Festungskommandanten als eindeutig bewiesen angesehen. Die 2. Kompanie
des Reserve-Polizeibataillons 13 wurde laut mündlicher Weisung des Befehls
habers der Ordnungspolizei Ostland dem Festungskommandanten Kawel
macher direkt unterstellt, vgl. StA Hannover, StrafsacheGrauel u. a., Bd. XXX,
Bl. 288.
28 »EM UdSSR« Nr. 12 vom 4.7.1941.
29 »Kurzemes Värds« vom 4.7.1941.
30 StA Hannover, Strafsache Grauel u. a., Urteil, Bd. XXX, Bl. 53; ebenda,
Protokollband 6 (V), Bl. 83.
31 HAL, 69/ia/i7/Bl. 158.
32 StA Hannover, Strafsache Grauel u. a.;Protokollband II/B, Bl. 143.
33 HAL, 132/30/2i/Bl. 3. Die Aussage von D. Siwzon wird auch von vielen ande
ren Zeugenbestätigt. Beider Opferzahl bestehenjedochAbweichungen.
34 Ebenda. ZusätzlicheAngaben in der Zeugenaussage von Kaiman Linkemer am
22.Oktober 1970, vgl.StA Hannover, Strafsache gegenGrauel u. a.,Bd. XXIX,
Bl. 121.Der Mord an W. Hahn wird auch in »Kurzemes Värds« vom 13.8.1941
bestätigt: Er sei des Todes würdig gewesen, weil er zur Verteidigung der Stadt
aufgerufenhabe.
35 Materialien des Museums für Heimatkunde der Stadt Libau; I. Pinksis, G. Frei
bergs, V. Leijins, Revolucionärä Liepäja (Revolutionäres Libau), Riga 1955,
S. 198.
36 »Kurzemes Värds« vom 2.7.1941.
37 StA Hannover, Strafsache Grauel u. a., Protokollbände II/B Bl. 172,6 (V), Bl.
156.
. 38 »Ventas Balss« vom 8.7.1941.
39 »Kurzemes Värds« vom 8.7.1941.
40 Ebenda, 11.10.1941.
41 »Tevija« vom 2.7.1941.
42 »Kurzemes Värds« vom 5.7.1941.

258
43 StAHannover, Strafsache gegen Grauelu. a.,Urteil,Bd.XXX,Bl. ioo; ebenda,
Protokollband I/A, Bl. 211.
44 StA Hannover, StrafsacheGrauel u. a., Urteil, Bd. XXX, Bl. 90
45 Ebenda, Bl. 96.
46 »Kurzemes Värds« vom 6.7.1941.
47 StA Hannover, Strafsache Grauel u. a., Urteil, Bd. XXX, Bl. 73-75, 90.
48 Ebenda.
49 Ebenda, Bd. XXIX, Bl. 122.
50 »Kurzemes Värds« vom 15.7.1941.
51 Publikation des Tagebuches von Karl Heinz L. in: Norbert Haase (Hg.), »Wie
eineSportveranstaltung, wenn auchetwas andererArt...« Mord an den Libau
er Juden im Sommer 1941. Aus dem Tagebuch einesAugenzeugen, o. O., o. J.
52 »Kurzemes Värds« vom 15.7.1941.
53 Zeugenaussage von RomaIsakson, StAHannover, Strafsache Grauelu. a.,Pro
tokollbandII/B, Bl. 2;Zeugenaussage von DavidSiwzon, HAL, 132/30/29/Bl.
19; Solomon Feigerson, »Svidetelstvuju« (Ichlege Zeugnis ab), in: »Alef« (Isra
el),vom 17.12.1989, Bl. 29-30;Aaron Vesterman, »Survival in a Libau bunker«,
in: Muted Voices. JewishSurvivorof Latviaremember,ed. by G. Scheider, New
York 1987,S. 159.
54 Staatsanwaltschaft bei dem LG Hamburg, Anklageschrift gegen Viktors Aräjs,
141 Js 534/60, Bl. 117.
55 Anklageschrift des Komitees für Staatssicherheit der Lettischen SSR vom
28.8.1972 gegen R. Pavelkops u. a.,Kriminalverbrechen, Akte Nr. 11, Bl. 5.
56 StAHannover,Strafsache Grauelu. a.,ProtokollbandII/B, Bl.175-176; ebenda,
Bd. V, Bl. 68.
57 Ebenda, Protokollband II/B, Bl. 216.
58 HAL, 132/30/9/Bl. 7; 132/26/7/Bl. 9; W. Braemer. Zum Tage der Befreiung
Rigas, in: »Ostland«, H. 1/1942, S. 7.
59 StA Hannover,Strafsache Grauelu. a.,Protokollband II/B, Bl. 180.
60 Ernst Klee, Willi Dreßen, Volker Rieß (Hg.), »Schöne Zeiten«, Frankfurt am
Main 1988, S. 124.
61 Norbert Haase (Hg.), a. a. O.
62 StA Hannover, Strafsache Grauel u. a., Protokollband II/B, Bl. 180.
63 Norbert Haase (Hg.), a. a. O.

259
Bernd Boii/Hans Safrian Auf dem Weg nach Stalingrad
Die 6. Armee 1941/42

Stalingrad: Golgatha der6. Armee?

Bis heute identifiziert das kollektive Gedächtnis die 6. Armee mit der
Schlacht von Stalingrad. Kein anderer Großverband der Wehrmacht war
nach 1945 häufiger Gegenstand von Publikationen im deutschsprachi
gen Raum. Sonderbarerweise befassen sich jedoch wissenschaftliche
ebenso wie biographische, literarische, journalistische und filmische
Darstellungen fast ausnahmslos mit dem Ende der 6.Armee an der
Wolga. Sie beschreiben, mit unterschiedlichem Erkenntnisinteresse und
in wechselnder propagandistischer Absicht, den »Opfergang« einer
Armee. Kontroversen entzündeten sich vor allem an der Frage, ob ihr
»Untergang« unausweichlich gewesen sei und wer ihn zu verantworten
hatte. Angesichts der Zahl der Opfer - 60000deutsche Soldaten starben
im Kessel, und von den 110 000, die in sowjetische Gefangenschaft gerie
ten, kehrten nach dem Krieglediglich5000 zurück1 - erscheintes auf den
ersten Blick auch ohne weiteres plausibel, das Ereignis unter diesem
Aspektzu betrachten. Doch ausder Nähe erweistsichdieVerengung auf
den Topos des Opfers, von dem die Diskurse über Stalingrad bis heute
geprägt sind, als historische Fernwirkungnationalsozialistischer Mythi-
sierungen.
Es entsprach der Logik einer Ideologie, die das Opfer des einzelnen
für die »Volksgemeinschaft« durchgängig als Element ihrer Rhetorik
funktionalisierte, den Verlust einer ganzen Armee zum heldenhaf
ten Vorbild für die Nation umzudeuten. Der Oberbefehlshaber der
6. Armee, Generaloberst Friedrich Paulus, lieferte am 29. Januar 1943
mit seinem Funkspruch an Hitler zum 10. Jahrestag der Machtübernah
me dazu das Stichwort: »Unser Kampf möge den lebenden und kom
menden Generationen ein Beispiel dafür sein, auch in der hoffnungs
losesten Lage nie zu kapitulieren, dann wird Deutschland siegen.«2
Inzwischen war in Berlin die Sprachregelung festgelegt worden, mit
deren Hilfe die absehbare Niederlage an der Wolga in propagandisti-

260
sches Kapital zur Stärkung von Front und Heimatfront umgemünzt
werden sollte:»Wie immer in der Weltgeschichte wird auch dieses Opfer
kein vergebliches sein«, drahtete Hitler in seiner Antwort am nächsten
Tag an Paulus: »Schon heute blickt das ganze deutsche Volk in tiefer
Ergriffenheit zu dieser Stadt. Das Bekenntnis von Clausewitz wird seine
Erfüllung finden. Die deutsche Nation begreift erst jetzt die ganze
Schweredieses Kampfes und wird die größten Opfer bringen.«3
Ähnlich äußerte sich am selben Tag Göring im »Ehrensaal« des
Reichsluftfahrtministeriums vor Offizieren und Mannschaften der deut
schenWehrmachtin einerRede, die über Rundfunk auch nach Stalingrad
übertragenwurde: »Daseuropäische Schicksal liegtin unserer Hand und
damit auch Deutschlands Freiheit, seine Kultur und seine Zukunft. Das
ist der höchste Sinn dieses Opfers, das zu jeder Stunde und an jedem Ort
ebenfalls von Euch, meine Kameraden, gefordert werden kann. Denke
jeder von Euch an die Kämpfer von Stalingrad, dann wird er hart und
eisern werden.«4 In diesem Geist formulierte der Oberbefehlshaber der
Heeresgruppe Don, Generalfeldmarschall Erich von Manstein, am 31.
Januar einen Funkspruch an die 6. Armee, der aber nicht mehr übermit
telt werden konnte, da die Verbindungabgerissen war: »Unser Dank für
Eure heldenhafte Aufopferung wird der Kampf um die Erfüllung des
Vermächtnisses sein, das Ihr uns hinterließt.«5
Als dannam 3. Februar die endlosen Kolonnen der Überlebenden in
die Gefangenschaft marschierten, präsentierte das Oberkommando der
Wehrmacht (OKW) in einem Rundfunk-»Sonderbericht« der deutschen
Öffentlichkeit dieoffizielle Interpretation derNiederlage vonStalingrad
und ihre Funktion für die deutschen Herrschaftsansprüche: »Das Opfer
der Armee war nicht umsonst. Als Bollwerk der historischen europäi
schen Mission hat sie viele Wochen hindurch den Ansturm von sechs
sowjetischen Armeen gebrochen.« Der Mythos war geboren: heldenhaf
te Aufopferung für das Wohl künftiger Generationen. »Sie starben«,
hieß es weiter, »damit Deutschland lebe. Ihr Vorbild wird sich auswir
ken bis in die fernsten Zeiten, aller unwahren bolschewistischen Propa
ganda zum Trotz.«6 Unter der pathetischen Schlagzeile: »Sie starben,
damit Deutschland lebe« erschien der Bericht anderntags in der Tages
presse.7
Mit Differenzierungen überdauerte der Opfermythos das Ende des
Nationalsozialismus. Als roter Faden zieht er sich durch auflagenstarke
literarische Bearbeitungen des Themas Stalingrad wie die von Heinz G.
Konsalik, Heinrich Gerlach und Fritz Wöss,8 die das Bilddes gemeinen
Soldaten zu zeichnen vorgeben, der »von einer gewissenlosen Führung

261
verraten« worden sei, stets aber »an den Prinzipien der Kameradschaft
und des soldatischen Anstands festgehalten« habe.9 Vor allem die Ver
bände der ehemaligen Stalingradkämpfer in der Bundesrepublik und in
Österreich - dieihr Zusammengehörigkeitsgefühl, anders als dieTradi
tionsverbände ehemaliger Divisionen, aus der Beteiligung an der
Schlacht ableiten - pflegten jahrzehntelang den Mythos und prägten
damit die Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Bei aller Bandbreite der
Konsequenzen, die ihre Sprecher aus dieserErfahrung ableiten, steht im
Mittelpunkt der Versuch, »die Taten und Leiden der Soldaten als sinn
volles Opfer einzustufen«, vergleichbar in seinerhistorischenBedeutung
etwa mit dem Kampfum die Thermopylen.10
Das Motiv der »verratenen Armee« und ihrer Opfer prägt nach wie
vor populärwissenschaftliche Abhandlungen. Kennzeichnend für ein
noch heute weitverbreitetes Stalingrad-Bild ist ein 1992 - zum 50. Jah
restag- erschienenes Buch von Franz Kurowski, der über Seitenhinweg
Memoiren hoher Militärs und Erlebnisberichte beider Seiten zitiert,
neuere militärhistorische Forschungen dagegen gänzlich unberücksich
tigt läßt. Kurowski spitzt den Opfermythos gegenüber früheren Versio
nen zu und verklärt ihn mit quasireligiösen Weihen: »Stalingrad wurde
zum Synonym für das Sterben einer ganzen Armee und für den opfer
vollen Einsatz der Luftwaffe. Stalingrad, das war jenes Wort, das jeder
Soldatder Ostfront nur mittiefem Grauenim Herzen aussprechen konn
te.« Einige Seiten zuvor hatte er sich gar zu der Behauptung verstiegen:
»Die Stadt an der Wolgawar zum Golgatha der 6. Armee geworden.«11
Aus der Klammer des Opfermythos kann sich aber auch der liberale
Diskurs, dem Stalingrad als Fanal fürÄchtung des Krieges undVersöh
nung der einstigenFeinde gilt, nicht befreien. KlausBresser, Chefredak
teur des ZDF, bemerkteüber die Fernsehserie »Der verdammte Krieg-
Entscheidung Stalingrad«: »Stalingrad wurde zum Massengrab, zum
Symbolfür die sinnlosen Opfer des Krieges, zum Synonym für Trauer
und Leid in der ehemaligenSowjetunion und in Deutschland.«12 Wie zäh
sich die vor einemhalbenJahrhundert eingeleitete Mythisierung gegen
andere Interpretationen sperrt, zeigenselbst neuere Ansätze der Militär
geschichte, die den Krieg »von unten« zu beschreiben versuchen. Gera
de indem der Blick auf die häufig traumatisierenden Erfahrungen der
einfachen Soldaten fällt, wird dasParadigma des Opfers eher bestätigtals
in Frage gestellt.13
Aber die 6.Armeehatte bisStalingrad einenweitenWeg zurückgelegt.
Eineinhalb Jahre langwar sie alsVollstrecker der Eroberungs- und Ver
nichtungspolitik des NS-Regimes durch die Sowjetunion nach Osten

262
marschiert und hatte sich am Völkermord aktiv und nicht nur auf Befehl
beteiligt. Es war weder Zufall noch eine unrühmliche Ausnahme, daß die
der 6. Armee damals unterstellte 75. Infanterie-Division (ID) Anfang
Januar 1942 zur Vergeltung von »Greueltaten an unseren Soldaten«
befahl, künftig alle Asiaten, ob Soldaten oder Zivilisten, zu erschießen;
und es war ebenso Methode, daß der Chef des Generalstabs des XXIX.
Armeekorps (AK) am nächsten Tag diese Anweisung an alle unterstell
ten Divisionen weitergab.14 Unser Beitrag untersucht deshalb den
AnfangdesWeges der 6.ArmeenachStalingrad, das erstehalbeJahr vom
Beginn des »Unternehmens Barbarossa« bis zum Winter 1941/42.Er ist
gleichzeitig eineFallstudieüber dieFührung desVernichtungskriegs, der
sich im Genozid an den Juden, an der Bekämpfung der wirklichen und
angeblichen Partisanen und in der Aushungerung der Zivilbevölkerung
realisierte.

Die »verbrecherischen Befehle« undihre Umsetzung

Vor Beginn des »Unternehmens Barbarossa« definierten Gerichtsbar


keitserlaß und Kommissarbefehl Teile der Zivilbevölkerung bzw. der
Roten Armee als Feinde und befahlen Maßnahmen zu ihrer »restlosen
Beseitigung«. Sofort zu töten waren Freischärler, politische Kommissa
re der Roten Armee, außerdem zivile Kommissare, die sich gegen die
Wehrmacht stellten oder dazu anstifteten, sowie andere »feindliche
Zivilpersonen«. Dazu war die Truppe ohne spezielle Befehle pauschal
ermächtigt. Kein bindender Tötungsbefehlbestand gegen Zivilisten, die
einer feindseligen Handlung nur verdächtigwaren: In diesemFall lagdie
Entscheidungüber Leben und Tod beim nächsten Offizier.Tötungen im
Rahmen »kollektiver Gewaltmaßnahmen« gegen Ortschaften, ausdenen
die Truppe angegriffen wurde, konnten nur Offiziere vom Bataillons
kommandeur aufwärts anordnen. Kommissare ohne feindliche Absich
ten sollten zunächst »unbehelligt«bleiben, mit dem Vorbehalt allerdings,
sie später an den SD abzugeben.15
Somit schienen die Grenzen für Vergeltungsmaßnahmen zwar weit
vorgeschoben, doch andererseits auch klar definiert: nur nachgewiesener
bewaffneter Widerstand war auf der Stelle durch Erschießen zu beant
worten. Die »Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland«
jedoch waren zugleich undeutlicher und schärfer: zwar nannten sie zu
ergreifendeMaßnahmen nicht beim Namen, doch stigmatisiertensie als
Feinde weitere Gruppen, die zudem - mit Hervorhebung - den ohnehin

263
zu »erledigenden« gleichgestellt wurden: »bolschewistische Hetzer,
Freischärler, Saboteure, Juden«. Die anschließende, recht vage formu
lierte Forderung nach »restlose[r] Beseitigung jedes aktiven oder passi
ven Widerstandes« war ein Vorbehalt, um die Feinddefinition jederzeit
nach Bedarf erweitern zu können. Mit diesem Freibrief, flankierend
gewarnt vor »heimtückischer Kampfesweise« der Roten Armee im all
gemeinen und »asiatischen Soldaten« - »undurchsichtig, unberechenbar,
hinterhältig und gefühllos« - im besonderen, trat die Truppe zum
Angriff aufdieSowjetunion an.16
In schriftlicherForm waren die »Richtlinien für die Behandlungpoli
tischer Kommissare« vom OKW am 6. Juni 1941 erlassen worden und
mit Zusätzen des OKW, von Brauchitsch, versehen an die Oberbefehls
haber der Armeen und Luftflottenchefs gesandtworden.17 Den Ic-Offi-
zieren und Heeresrichtern der Heeresgruppen, Armeen und Panzer
gruppen wurde bei einer Dienstbesprechung vom General z.b.V. beim
Oberbefehlshaber des Heeres, Generalleutnant Müller, mündlich am 10.
und 11. Juni 1941 der Kommissarbefehl gemeinsam mit dem »Führer
erlaß«, also dem Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit,
erläutert. Müller bezog sich unter anderem auf den Punkt I des Erlasses,
»Behandlung von Straftaten feindlicher Zivilpersonen«, nach dem
Straftatenfeindlicher Zivilisten nicht der Kriegs- oder Standgerichtsbar
keit unterstünden, sondern »Freischärler« von der »Truppe im Kampf
oder auf der Flucht schonungslos zu erledigen« seien; er definierte »im
erweiterten Sinne auch Hetzer, Flugblattverteiler, Saboteure« als
»Freischärler«.18
Der Ic-Offizier des AOK 6, Major P, trug sofort nach seiner Rück
kehr von der Besprechung bei Müllerzum Hauptquartier desStabes der
6. Armee am 12.6. dem Oberbefehlshaber von Reichenau die »Richtlini
enfür Behandlung politischerKommissare« vor;19 noch am gleichen Tag
berichtete P. dem Chef des Generalstabes und dem Ia-Offizier das
»Ergebnis der Besprechung beim General z.b.V. des O.K.H. über Füh
rererlasse [sie!] Behandlung feindlicher Zivilpersonen und Kommissa-
re<«.2° Am Abend beratschlagten der Ic-Offizier und der Chef des Gene
ralstabes über die Bekanntgabe der »Richtlinien über Verhalten der
Truppe in Rußland«. Man kam überein, die »Richtlinien« bis auf die
Ebene der Bataillone zu verteilen.21 Den ganzen Komplex der Befehle
über »a)Verhalten der Truppein Rußland, b) Verhalten gegenüber feind
licher Zivilbevölkerung, c) Behandlung roter Kommissare und Akten
notizen hierzu auf Grund Besprechungbeim General z.b.V.« trug Major
P. am 13.6. der Generalstabsabteilung Ia vor.22 Die zuständigen Stellen

264
im Generalstab der 6. Armee waren somit teils durch das Oberkom
mando des Heeres (OKH), teils durch Major P. vom Gesamtkomplex
der verbrecherischen Befehle in Kenntnis gesetztworden.
Für den 15.Juni berief das AOK 6 die Kriegsrichter zu einer Zusam
menkunft nach Zamosc ein, bei der die Vorsitzenden der Divisionsge
richte anwesend waren. Auf der Tagesordnung stand »in erster Linie«
der Gerichtsbärkeitserlaß.23 Am folgendenTag gingender Gerichtsbar
keitserlaß und die Richtlinienüber das Verhalten der Truppe in Rußland
bei den Divisionskommandeuren ein, die daraufhin die Kommandeure
der ihnen unterstellten Einheiten auf die.Linie der Befehle einschwo
ren.23 Die Weitergabe der Befehle an alle Ic-Offiziere der Armeekorps
und Divisionen der 6. Armee erfolgte am 16.6. bei einer Besprechung
beim Stabsquartier in Tarnobrzeg. Zuvor hatte die Gruppe Ic/AO für
diese Ic-Besprechung »Punkte für dieEinführung durchdenHerrn Chef
des Generalstabes« zusammengestellt, in denen »Erläuterungen zu den
Erlassen [sie!] des Führers über Behandlung feindlicher Zivilbevölke
rung, Handlungen deutscher Soldaten gegen Zivilbevölkerung, und
Behandlung russ. Kommissare<« und zum »Merkblatt über das Ver
halten der Truppe in Rußland<«25 gegeben werden sollten. DiesenVor
bereitungen folgend, trug der Chef des Generalstabes beider Ic-Bespre
chung über »a) Verhalten Truppe in Rußland, b) Behandlung russ.
Zivilbevölkerung, Handlungen deutscher Soldaten gegen Bevölkerung,
c) Behandlung russ. Kommissare«26 vor. Einen weiteren Punkt der
Besprechung bildete die Information der Ic-Offiziere über das geplante
Auftreten von Teileinheiten der SS-Einsatzgruppen27 im Armeegebiet:
»Einsatz G.F.P. und SS-Einsatz-Kommandos. Aufgabenteilung zwi
schen beiden.«28
Der Kommandierende General des XVII. Armeekorps gab den Kom
mandeurender unterstelltenTruppendieVerfügungen am 20. Juni in der
Nähe von Ludwinow bekannt und besprach sich - wohl ebenfalls über
diesesThema - mit den Kommandeuren der 56.und 62. Infanterie-Divi
sion.29 In schriftlicher Form schließlich gingen den Divisionen die
Anordnungen des AOK 6, das damals noch unter dem Tarnnamen
»Abschnittsstab Staufen« firmierte, über die Kompetenzen von Ab
wehrgruppen, Sonderkommandos desAuswärtigen Amtesund SD-Son
derkommandos im Armeegebiet mit Datum vom 20.Juni 1941 zu.3° Im
Kontrast zur vagen Beschreibung der geplanten Aktivitäten der Sonder
kommandos stand die nachdrückliche Forderung an die unterstellten
Einheiten, den Kommandos »die Erfüllung ihrer wichtigen Sonderauf
gaben durch Belehrung der Truppe, Gestellung von Hilfspersonal, Mit-

265
benutzung von Fahrzeugen und sonstigen Hilfeleistungen, soweit esdie
Gefechtslage gestattet, in jeder Weise zu erleichtern«.31
Wie sah es nun mit der Realisierung der Befehle aus? Am deutlichsten
lassen sich Erschießungen von gefangengenommenen politischen Kom
missaren der Roten Armee durch der 6. Armee unterstellte Einheiten
belegen. Bereits am 23.Juni - das »Unternehmen Barbarossa« hatte am
Tag zuvor begonnen- meldete die Panzergruppe 1 an den Ic des AOK
6: »Bei XXXXVIII. und III. A.K. wurden je 1 politischer Kommissar
gefangen und entsprechend behandelt.«32 Das XVII. Armeekorps
berichtete am 25. Juni, daß von der 62. ID neun angebliche »Freischär
ler« - also Zivilisten - erschossen und außerdem »1 politischer Kom
missar im Walde nördlich Sztun gefangengenommen und nach den
befohlenenWeisungen behandelt«33 worden waren.
Der Ic-Offizier des AOK 6 achtete darauf, daß die verbrecherischen
Befehle auch befolgt wurden. Am 30.Juni 1941 forderte er von den Ic-
Offizieren der unterstellten Armeekorps unter »Bezug: Ic-Besprechung
am 16.6.1941 in Tarnobrzeg« zum 2.Juli »inder Ic-Tagesmeldung kurz
über Auftreten von politischen Kommissaren bei der roten Truppe zu
melden«.34 Schonam 1.Juli teiltedasXVII.Armeekorps mit, daß beider
298. ID ein Kommissar »nach den Richtlinien behandelt«35 worden sei,
und als Zusatzmeldung: »bei 62. I.D. 5 Polit-Kommissare, bei 298. I.D.
1 Polit-Kommissar nach den Richtlinien behandelt«.36 Am 2. Juli mel
dete das XXXXIV. Armeekorps, daß bisher »1 mil. Polit-Kommissar
gefangen genommen und befehlsgemäß behandelt« worden sei, ein
Kommissar soll sich selber vor der Gefangennahme erschossen haben;
und das XVII. Armeekorps unterrichtete den Ic der 6. Armee, die 62. ID
habe »9 weitere politische Kommissare den Richtlinien entsprechend
behandelt«.37
Die Aussiebungvon politischen Kommissaren der Roten Armee nach
der Gefangennahme und ihreErschießung war in den folgenden Mona
ten beiden Verbänden der 6.Armee offenbar zur Routine geworden. So
schrieb der Ic-Offizier der 44. ID in seinem Tätigkeitsbericht nach dem
Abschluß der Kesselschlacht beiKiew eherbeiläufig über getötete Kom
missare: »Sa., 4.10.1941. Ohne Feindberührung. Laufende Ic-An-
gelegenheiten. Ic beiStandortkommandantur Pirjatin wegen Partisanen
meldungen. Meldung an LI. A.K. über erledigte Kommissare (122
Kommissare).«38
Noch schwerwiegender als die Praktizierung des Kommissarbefehls
waren die Folgen des Gerichtsbarkeitserlasses und der »Richtlinien für
das Verhalten derTruppe«, deren Zielrichtung dieBekämpfung vonver-

266
meintlichen oder wirklichen »Freischärlern« und »Saboteuren« war. Hier
waren der Willkür Tür und Tor geöffnet. Oft reichten unüberprüfte
Denunziationen, krude Verdächtigungen oder der Umstand, daß jemand
Jude war, als »Begründung« für Erschießungen aus, wie das einige Bei
spielebelegen. Sowurden von der 168. Divisionam 25. Juni 1941 in Iwa
niceals »Vergeltungsmaßnahme« für eineKabelsabotage - die Täter hat
ten nicht ermittelt werden können - ein Ortsbewohner, der angeblich in
der Kommunistischen Partei führend tätig gewesen war, und ein Jude
erschossen.39 Ähnlich rigoros ging gleichzeitig die299. ID, besonders die
Infanterie-Regimenter (IR) 529 und 530, vor. In Litowitz erschoß die
Truppe noch am Tag des Überfalls drei »Freischärler«, am folgenden Tag
zwei Armeekommissare,die »beim Heckenschützenkrieg gefangenenge
nommen«worden waren.40 AlsPartisanenkämpfendeKommissare, Rot
armistenin Zivilund »Frauen aktiverSoldaten« schienenallgegenwärtig,
besonders »in mit Juden besiedelten Ortschaften«.41 Wenige Tage später
gab es für das IR 530 kein Halten mehr: nachdem Einzelschützen und
kleinere GruppenBewaffneter inUniformund Zivil dieVormarschstraße
wiederholt unter Feuer genommen hatten, machte die Truppe keine
Gefangenen mehr und führte mehrere Säuberungsaktionen durch, bei
denen »rund 30 Freischärlererschossen« wurden. Da sie nur zwei leich
te MGs und eineMaschinenpistole erbeutete, dürfte es sichaber eher um
eine Vergeltungsaktion gehandelt haben.42 Am 10. Juli hielt der Ic des
AOK 6 fest, daß in Krzemieniec drei »von dem ukrainischen Komitee
namhaft gemachte Funktionäre sichergestellt und dem SD übergeben«
worden seien; diedreiangeblichen KP-Funktionäre »sowie einJude,wel
cherandere verdächtige Elemente aufdieTatsache der Haussuchung auf
merksammachte,wurden erschossen«.43 Das XVII. Armeekorps melde
te am 13. Juli dem Ic des AOK 6, daß bei der 79. ID, die in der Nähe von
Zwiahel stationiertwar, achtjüdische Männer, angebliche »Mitglieder der
russischenGeheim-Polizei«, erschossenworden waren »wegen Stärkung
des zivilenWiderstandes im rückwärtigen Gefechtsgebiet«.44 Juden wur
den mehr oder weniger mit denen, die beider Wehrmacht als »Freischär
ler« bezeichnet wurden, gleichgesetzt. So wußte der Ic-Offizierder 299.
ID schonzweiTage nachBeginn des Krieges: »In mitJuden besiedelten
Ortschaften ist das Freischärlertum besonders groß.«45 Fraglich ist, ob
solche Haltungen hauptsächlich Reflexe aufdie gerade erlassenen Befeh
le,Weisungen und Aufrufe waren, oder ob nicht auchbeiOffizieren und
Soldaten vorhandener Antisemitismus und rassistische Sichtweisen viru
lent wurden.
Bereits im Juli 1941 verschärfte der Generalstab der 6. Armee die

267
Befehle über das Vorgehen gegen »feindliche Teile der Zivilbevölke
rung« und griff dabei partiell auf Verfolgungsmaßnahmen zurück, die
bereits von einzelnenEinheiten praktiziert worden waren. Er erhob sie
zur Norm für alle unterstellten Verbände. In der Führungsanordnung
vom 10. Juli hielt man beim AOK 6 im »Interesse der Sicherheit« fol
gende »Maßnahmen« nach der Einnahme von Ortschaften für notwen
dig: »a) Soldaten inZivil, meistschonerkenntlich an kurz geschnittenem
Haar, sind nach Feststellung, daß sie rote Soldaten sind, zu erschießen.
(Ausnahme Überläufer!) b) Zivilisten, welche in Haltung [sie!] oder
Handlung sich feindlich einstellen, insbesondere die Rote Armee unter
stützen (z.B. den Verkehrmit roten Truppen vermitteln, die sichin Wäl
dern aufhalten) sind als Freischärler zu erschießen, c) Unsichere Ele
mente, z.B. sowjetische Zivilfunktionäre in Ortschaften, sind alsbald
durch die Truppe mit Hilfe der ukrainischen Komitees, die sich z. Zt. in
allen Ortschaften bilden, festzusetzen. Bei Abrücken der Truppe sind
derartige festgesetzte Elemente nach Möglichkeit der Feldgendarmerie
oder dem SD-Einsatzkommando zu übergeben. Ist das nicht möglich,
kann die Abgabe im Notfall an die vom ukrainischen Komitee gebil
dete Hilfspolizei erfolgen.«46 Und in der am 19. Juli herausgegebenen
Führungsanordnung befahl das AOK 6 für den Fall, daß bei Sabotage
anschlägen die Täter nicht eruiert werden können, die Durchführung
von Kollektivmaßnahmen: »Diese können im Erschießen von ortsansäs
sigen Juden oder Russen, Abbrennen von jüdischen oder russischen
Häusern bestehen.«47 Diese »Maßnahmen« mußten von einem Batail
lonskommandeur oder einem noch höheren Offizier angeordnet wer
den.
Manche Soldaten und Verbände überschritten den Rahmen, der in den
Befehlen vorgegeben war, und nahmeneigenmächtige Exekutionen vor.
Die 298. Infanterie-Division meldete dem XVII. Armeekorps, daß am
3. Juli 1941 »2 russische Gefangene von einem SS-Mann und einem
Wehrmachtsangehörigen einer Nachschub-Kompanie auf der Straße
von Klewan nach Luck bei der Försterei erschossen wurden«.48 Laut der
Meldung hatten die Gefangenen keinen Anlaß für den Einsatz der Waf
fen geboten, »auch ein Fluchtversuch der beiden Gefangenen lag nicht
vor«. Obwohl man bei der Division der Meinung war, daß eine
»Erschießung dieser Art [...] in keiner Weise den hierüber ergangenen
Befehlen« entspräche, wurden die beiden Todesschützen nicht zur
Rechenschaft gezogen: »Der SS-Mann und der Wehrmachtsangehörige
wurden angehalten, im Falle der Erschießung von Gefangenen dies nicht
aufder öffentlichen Straße zu machen und dafür zu sorgen, daß die bei-

268
den Leichen sofort begraben würden. Die beidenBegleitmänner gingen
darauf Spatenholen, um die beidenErschossenen zu begraben.«49
Bis Ende Juli wurden die Anordnungen an die Truppe über »Behand
lung« verdächtiger Teile der Zivilbevölkerung vom AOK 6 noch mehr
fach wiederholt.50 Weder eine nachweisliche Handlung der Opfer noch
ein konkreter Verdacht waren für »Strafmaßnahmen« erforderlich. Die
Gleichsetzung von versprengten Rotarmisten, Zivilfunktionären der
Kommunistischen Partei, »unsicheren Elementen« und Juden mit Parti
sanenzog diese Gruppen als erste mit in den Sog von Gerichtsbarkeits
erlaß und Kommissarbefehl.

»Tatkräftige Unterstützung« -
Die 6. Armee unddie Ermordung derJuden

Das Sonderkommando(SK) 4a,jeneTeileinheit der Einsatzgruppe C, die


hinter bzw. neben der 6. Armee durch die Ukraine gezogen war, stellte
Ende Oktober 1941 wieder einmal eine Art Zwischenbilanz des Mas
senmordes auf: »Die Zahl der durch das SK 4a durchgeführten Exeku
tionen hat sich inzwischen auf 5543251 erhöht.« Wer die Opfer waren
und von wem die SS-Einheit unterstützt wurde, wird im Anschluß an die
Bilanz zumindest punktuell beantwortet. »In der Summe der in der
zweiten Hälfte des Monat Oktober [...] durch das SK 4a Exekutierten
sind wiederum neben einer relativ geringen Anzahl von politischen
Funktionären, aktiven Kommunisten, Saboteuren usw. in erster Linie
Juden, und hier wieder ein großer Teil von durch die Wehrmacht über
stellten jüdischen Kriegsgefangenen enthalten. In Borispol wurden auf
Anforderung des Kommandanten des dortigen Kriegsgefangenenlagers
durch einen Zug des SK4a am 14.10.41 742 und am 16.10.41 357 jüdi
sche Kriegsgefangene, darunter einige Kommissare und 78 vom Lager
arzt übergebene jüdische Verwundete erschossen. Gleichzeitig exeku
tierte derselbe Zug 24 Partisanen und Kommunisten, die vom Orts
kommandanten in Borispol festgenommen worden waren. Hierzu ist zu
bemerken, daß die reibungslose Durchführungder Aktionenin Borispol
nicht zuletzt auf die tatkräftigeUnterstützung durch die dortigen Wehr
machtsdienststellen zurückzuführen war.«52
Es versteht sich von selbst, daß ein Kommando von etwa siebzig SS-
Männern aus eigener Kraft nicht in der Lage war, Massenmorde in der
genannten Dimension zu vollziehen. Die »tatkräftige Unterstützung«
anderer Formationen war dafür eine unabdingbare Voraussetzung. Wie

269
entwickeltesichdie Kooperation zwischenden Verbändender SS, die im
Armeegebiet auftraten(nebendem Sonderkommando 4a zeitweise auch
dieSonderkommandos 4bund 5sowie die 1.SS-Infanterie-Brigade), und
der 6. Armee, und wie sah die Zusammenarbeit konkret aus?
Die ersten Massenmorde wurden vom SK 4a als Erschießungen von
»Saboteuren« und als Vergeltung für angebliche Greueltaten ausgege
ben; Wehrmachtsangehörige und ukrainische Nationalisten unterstütz
ten dabei das Sonderkommando tatkräftig, so bei der Ermordung von
1500 jüdischen Männern Ende Juni, AnfangJuli 1941 in Luck. Berichte
über »Greuelmorde« hatten EndeJuni die Abteilung Ic/AO des AOK 6
erreicht. Laut Ic-Abendmeldung vom 1. Juli sollen in Luck 2800, in
Dubno 500 Personen »in Sowjet-Gefängnissen vor Abzug der Roten«
umgebracht worden sein; der Ic hatte darauf schon reagiert: »SS-Son
derkommando und Prop.Komp. sind angesetzt.«53 Ein Vorkommando
des SK 4a war am 27. Juni nach Luck gekommen und fand nach eigener
Aussage die Stadt in Flammenvor. »Für die Brandlegungkommen nach
Auskunft des [Wehrmachts-]Ortskommandanten nur Juden in Frage.«54
An der Festnahmeund Tötung der im Gefängnis der Stadt erschossenen
2800 Ukrainer sollen laut der Erzählungen von Ukrainern »wiederum
dieJuden maßgeblich beteiligt« gewesen sein.Das SS-Kommando unter
nahmsofort eine »Fahndung nachdenfür dieBrandschatzung und Plün
derung verantwortlichenJuden und Kommunisten«.55 Am Zusammen
treiben von Juden nahmen Ukrainer teil, die sich nach der Aussage eines
ehemaligen Angehörigen der Feldkommandantur 579 in einem »Blut
rausch« befanden.56 Beidieser »Fahndung« nahm das Sonderkomman
do mit Unterstützung ukrainischer »Hilfswilliger« dreihundert Juden
und zwanzig »Plünderer« fest, am 30. Juni wurden die Opfer erschos
sen.57 Das war aber noch nicht das Ende der Morde. In Kooperation mit
den Dienststellen der Wehrmacht in Luck wurde ein Aufruf durch Pla
kate verbreitet, in dem alle arbeitsfähigen Juden aufgefordert wurden,
sich am 2.Juli unter Mitnahmevon Arbeitsgeräten für Grab- und Kana
lisationsarbeiten an einem festgelegten Platz einzufinden.58 Die mehr als
1000 Männer, die dem Aufruf Folgeleisteten, mußten sich bei der Burg
ruine Lubarta in Luck ihr eigenes Grab schaufeln und wurden von SS-
Leuten, Ordnungspolizisten und Wehrmachtsinfanteristen ermordet -
als »Vergeltung«, wie das SS-Sonderkommando behauptete: »Nachdem
am 2.7. die Leichen von insgesamt 10 deutschen Wehrmachtsangehöri
gen aufgefunden worden waren, wurden zur Vergeltung für die Ermor
dung deutscherSoldaten und Ukrainer unter Hinzuziehung eines Zuges
Ordnungspolizei und eines Zuges Infanterie 1160 Juden erschossen.«59

270
Noch deutlicher inszeniertedasSonderkommando4b die Ermordung
von Juden als »Vergeltungsaktion« in Tarnopol. Mit Bedacht wurden
blutige Pogrome angestiftet. In der Ereignismeldung vom 11. Juli wurde
über die Exekution von 127 Personen durch das SK 4b in Tarnopol
berichtet. »Daneben im Zuge der vom SK insperierten [sie!] Judenver
folgungen, Liquidierungen von 600 Juden.«60
Konkreter beschrieb das SK 4b seine Vorgangsweise in der Ereignis
meldung vom 20. Juli. Auch in Tarnopol seien Leichen von getöteten
Ukrainern gefundenworden, deren Zahl »endgültigauf etwa 600 bezif
fert« wurde; außerdem habe man die Leichen von zehn deutschen
Soldaten ausgegraben, deren Körper »Spuren schwerster Verstümme
lungen« aufgewiesen haben sollen. »Die durchziehenden [Wehr-
machts-JTruppen, die Gelegenheit hatten, diese Scheußlichkeiten und
vor allen Dingen auch die Leichen der ermordeten deutschen Soldaten
zu sehen, erschlugen insgesamt etwa 600Juden und steckten ihre Häu
ser an.«61 Wie »Inspiration« durch die SS, Greuelgerüchte und tief
sitzender Antisemitismus sich zur Bereitschaft akkumulierten, Lynchju
stiz zu üben und unschuldige Menschen zu erschlagen, zeigt einer der
wenigen erhaltenen Briefe, in denen ein Soldat über seineTeilnahme an
der Ermordung von Juden berichtet:

»Tarnopol, 6.7.1941. Liebe Eltern! Soeben komme ich von der Auf
bahrung unserer von den Russen gefangenen Kameraden der Luft-
und Gebirgstruppen.Ich finde keineWorte,um so etwaszu schildern.
Die Kameraden sind gefesselt, Ohren, Zungen, Nase und Ge
schlechtsteile sind abgeschnitten, so haben wir sie im Keller des
Gerichtsgebäudes von Tarnopol gefunden und außerdem haben wir
2000 Ukrainer und Volksdeutsche auch so zugerichtet gefunden. Das
ist Rußland und das Judentum, das Paradies der Arbeiter. [...] Die
Rachefolgte sofort auf dem Fuße. Gestern waren wir mit der SS gnä
dig, denn jeder Jude, den wir erwischten, wurde sofort erschossen.
Heute ist es anders, denn es wurden wieder 60 Kameraden verstüm
melt gefunden. Jetzt müssen die Juden die Toten aus dem Keller her
auftragen, schön hinlegen, und dann werden ihnen die Schandtaten
gezeigt. Hierauf werden sie nach Besichtigung der Opfer erschlagen
mit Knüppel und Spaten. Bis jetzt haben wir zirka 1000Juden ins Jen
seits befördert, aber das ist viel zuwenig für das, was die gemacht
haben. Die Ukrainer haben gesagt, daß die Juden alle die führenden
Stellen hatten und ein richtiges Volksfest mit den Sowjets hatten bei
der Hinrichtung der Deutschen und Ukrainer. Ich bitte Euch, liebe

271
Eltern, macht das bekannt, auch der Vater in der Ortsgruppe [der
NSDAP, B.B./H. S.]. Sollten Zweifel bestehen, wir bringenFotos mit.
Da gibteskeinZweifeln. Viele Grüße, Euer Sohn Franzi.«62

Nachdem Teilkommandos des SK 4a im Juli weitere Erschießungen in


Berditschew63 und an anderen Orten64 durchgeführt und dabei zum
ersten Mal Ende Juli außer jüdischen Männern auch Frauen und Kinder
ermordet hatten,65 kam das Hauptkommando nach Shitomir, wo auch
der Generalstab der 6. Armee sein Quartier aufgeschlagen hatte. Hier
bestand eine der ersten Aktivitäten darin, vom Verantwortlichen eines
Gefangenenlagers an den SD ausgelieferte Kriegsgefangene und Zivili
sten zu töten: »In Shitomirwurden 187 Sowjetrussen und Juden, die z.T.
als Zivilgefangene von der Wehrmacht überstelltwurden, erschossen.«66
AnfangAugust kombinierte das Sonderkommando4a in Shitomirdie
öffentliche Erhängung zweier Opfer und anschließende Massen
erschießung jüdischerMänner. In Tschernjachow waren zweiMitglieder
des sowjetischen Gebietsgerichts, Kieper und Kogan, festgenommen
und durch Angehörige des Sonderkommandos in Shitomir zu »Ge
ständnissen« von »Greueltaten« erpreßtworden.6"7 Gleichzeitig wurden
mit Unterstützung der Ortskommandantur mehr als 400jüdischeMän
ner bei einer Razzia in Shitomir verhaftet.
Am 7. August fuhr ein Lautsprecherwagen der Propaganda-Kompa
nie 637 durch die Stadt und verkündete in deutscher und ukrainischer
Sprache, daß am Marktplatz eine öffentliche Hinrichtung stattfinden
würde. Dort waren ein Galgen errichtet und daneben die kurz zuvor
verhafteten 400 jüdischen Männer unter Bewachungder SS versammelt
worden. Unter den Hunderten Zuschauern befanden sich zahlreiche
Wehrmachtsangehörige. Ein Soldat, der Augenzeuge der Vorgänge war,
berichtete in einer Zeugenaussage: »Die Bewacher fragten die umste
henden Leute, wer etwas mit wem zu begleichen habe. Daraufhin mel
deten sich immer wieder Ukrainer, die den einen oder anderen Juden
irgendwelcher Verfehlungen beschuldigten. DieseJuden wurden dann in
sitzender Stellung und wiederum hauptsächlich von den Ukrainern
geschlagen und getretenund sonstwie mißhandelt.«68 SS-Männer brach
ten Kieper und Kogan, stellten sie auf die Ladefläche eines unter dem
Galgen stehenden LKWs und legten ihnen die Schlinge um den Hals.
Währenddessenwaren vom Lautsprecherwagen die angeblichen »Greu
eltaten« Kiepers und Kogans sowie die ihnen auferlegteStrafe bekannt
gemacht worden.69 Ein weiterer Augenzeuge gab an, daß die Menge
jubelte, als der LKW anfuhr: »Festlich gekleidete ukrainische Frauen

272
hieltenihre Kinder hoch, die zuschauenden Landser brüllten >Langsam,
langsame, um besser fotografieren zu können.«70 Anschließend brachte
die SS die 400Männer zu einer Erschießungsstätte außerhalb des Ortes.
Auch bei diesen Massenmorden waren zahlreiche Zuschauer zugegen.
Einer von ihnen, der Oberkriegsgerichtsrat beim AOK 6, Dr. A. N.,
sagte im Callsen-Prozeß aus, daß mehrere Stabsoffizieredie Erschießun
gen beobachtet hatten. »Ich stand mit verschiedenen Angehörigen des
Stabes zusammen. [...] Oberst v. Seh. und ich schauten uns an, ohne ein
Wort zu sagen, wir verstanden uns. Es wurde mir klar, daß es sich um
Juden handelte. [...] Es war ein großer Zug von Juden und ich merkte,
daß dieJuden ausgerottet werden. Wir unterhielten uns und eskam dabei
zur Sprache, daß in anderen Fällen auch verschiedene Wehrmachtsan
gehörige mitgeschossen hätten. Das ging uns aus militärischen Gründen
gegen den Strich. Dann kam ein Armeebefehl heraus, der jede Teilnah
me von Wehrmachtsangehörigen an Exekutionen verbot.«71
Die Einsatzgruppe C verbuchte die öffentlichenMassenmordein Shi
tomir als vollen Erfolg. »Die Organisation sowohl bei der Hinrichtung
der beiden jüdischenMörder alsauch bei der Erschießungkann als vor
bildlich bezeichnet werden. [...] Das Verhältnis zur Wehrmacht ist nach
wie vor ohne jede Trübung, vor allem zeigt sich in Wehrmachtskreisen
ein ständig wachsendes Interesse für die Aufgaben und Belange sicher
heitspolizeilicher Arbeit. Dies war gerade bei den Exekutionen in
besonderem Maße zu beobachten. Zum anderen ist die Wehrmacht auch
selbst bemüht, die Durchführung sicherheitspolizeilicher Aufgaben zu
fördern. So laufen zur Zeit bei sämtlichen Dienststellen der Einsatz
gruppe fortgesetzte Meldungen der Wehrmacht über festgestellte kom
munistische Funktionäre und Juden ein.«72
Dem Stab der 6. Armee bereitete es Kopfzerbrechen, daß Wehr
machtsangehörige bei Exekutionen zugesehen und fotografiert, aber ins
besondere,daß sich Soldatenohne Befehlihrer Vorgesetzten an Massen
morden beteiligt hatten. Man befürchtete wohl - wie das bei der
Wehrmacht genannt wurde - eine Verwilderung der Truppe. Deshalb
erließ das AOK 6 am 10. August einen Befehl mit dem Betreff: »Exeku
tionen durch den SD«, der über den Oberquartiermeister an die unter
stellten Verbände ging.73 Darin hieß es, daß in verschiedenen Orten des
Armeegebietes »von Organen des Sicherheitsdiensts des Reichsführers
SS und Chefs der Deutschen Polizei notwendige Exekutionen an ver
brecherischen, bolschewistischen, meist jüdischen Elementen durch
geführt« würden. Nun sei es aber vorgekommen, »daß dienstfreie Sol
daten sich freiwillig dem SD zur Mithilfe bei Durchführung von

273
Exekutionen anboten, als Zuschauer derartigen Maßnahmen beiwohn
ten und dabei photographische Aufnahmen machten«. Von Reichenau
befahl: »Es wird jedeTeilnahme von Soldaten der Armee als Zuschauer
oder Ausführende bei Exekutionen, die nicht von einem militärischen
Vorgesetzten befohlen sind, verboten.« Des weiteren untersagte Rei
chenau, Fotos von Exekutionen zu machen, bereits angefertigte Fotos
seien von den Disziplinarvorgesetzten einzuziehen. Gegen ordnungs
gemäße Kooperation hatte er nichts einzuwenden: »Tritt der SD an
Ortskommandanten mit der Bitte heran, einen für eine Exekution des
SD vorgesehenen Raum durch Absperrmannschaften gegen Zuschauer
zu sichern, so ist dieser Bitte Folge zu leisten.«74
An diesem Befehl ist mehreres bemerkenswert. Man wußte beim
Generalstab der 6. Armee, daß die Einsatzgruppe im Armeegebiet vor
allem Juden ermordete, und billigte das als »notwendig«. Verboten
wurde nicht, wie der ehemalige Oberkriegsgerichtsrat aussagte, jede
Teilnahme von Wehrmachtsangehörigen an Exekutionen, sondern nur
die ohne Befehl eines Vorgesetzten. Befehlsgemäße Exekutionen - wie
etwa die Erschießung von Juden, denen irgendein Zusammenhang mit
»Sabotage« unterstellt wurde - waren von Reichenau nicht untersagt
worden, sondern bestimmte Hilfeleistungen wie das Stellen von Ab
sperrmannschaften ausdrücklich angeordnet; die institutionelle Zusam
menarbeit der dafür zuständigen Armeestellen mit dem SD war durch
aus erwünscht. Die Kooperation von der Armee unterstehenden Feld-,
Orts- und Stadtkommandanten mit ihren Kräften - Feldgendarmerie,
Geheime Feldpolizei (GFP) und ukrainische »Hilfspolizisten« - und
den Kommandos des SD hatte sich in den Anfangsmonaten der Beset
zung erst eingespielt und sollte in der Folgezeit weiter ausgebaut wer
den.
Eine der Aufgaben, die von den genannten Wehrmachtsstellen über
nommen wurde, war die Verhaftung, Bewachung und Übergabe von
Juden. Darüber berichtete ein ehemaliger Angehöriger der Feldgendar
merie bei einer Vernehmung unmißverständlich:

»In Zusammenarbeit mit dem SD, dem wir aber nicht unterstellt
waren, mußten wir von der Feldgendarmerie dieJuden in ihren Woh
nungen aufsuchen und ihnen mit Hilfe von Dolmetschern klar
machen, daß sie sich am nächsten Tage zu einer bestimmten Stunde an
einer bestimmten Stelle in dem Ort zu sammeln hätten. [...] Wir muß
ten dieJuden bewachen, bis der SD kam und dieJuden übernahm. [...]
Obwohl wir denJuden auf ihre Fragen immer gesagt haben, siekämen

274
in einLager - zunächst hattenwir dasselbst auchnichtanders gewußt
- war es doch so, daß die Juden außerhalb der Städte an vorbereiteten
Erschießungsstellen erschossen wurden. In allen Orten, die auf dem
Vormarsch der DeutschenWehrmacht eingenommen wurden, hat sich
immerwiederdas gleiche Spiel abgewickelt. Wirvon der Feldgendar
merie holten mit Unterstützung der russischen Hipo [gemeint sind
wohl ukrainische Hilfspolizisten, B.B./H. S.], die zu uns gehörte, die
Juden aus den Wohnungen. Der SD übernahm die Juden und führte
oder fuhr sie zu den Erschießungsstellen.«75

Eine weitere Form der Zusammenarbeit bestand darin, daß Organe der
Orts- und Feldkommandanturen Juden - vielfachunter dem Vorzeichen
der Bekämpfung von »Saboteuren« - erschossen und das SS-Sonder
kommando den verbliebenen Teil der jüdischen Gemeinde eines Ortes
ausrottete, so etwa in Fastow: »In Fastow, wo bereits von der GFP der
Ortskommandantur und einem Landesschützenbataillon etwa 30
Heckenschützen und 50Juden erledigt worden sind, konnte die Ruhe
erst richtig hergestellt werden, nachdem vom SK 4a ein früherer Terro
rist und diegesamte Judenschaft im Alter von 12bis60Jahren,insgesamt
262 Köpfe, erschossen worden waren.«76
Besonders deutlich zeigte sich am Fall der Ermordung der jüdischen
Männer, Frauen und Kinder von Bjelaja Zerkow und des Umgangs mit
Einsprüchen gegen die Ermordung von Kindern, wie weit die Kompli
zenschaft der Wehrmachtsstellen mit der SS vorangeschritten war. Die
Ortskommandantur in Bjelaja Zerkow ordnete Mitte August die Regi
strierung der Juden an; die ersten Personen, die sich bei der Komman
dantur meldeten, eskortierte ein Begleitkommando der GFP zu einem
schulähnlichen Gebäude etwas außerhalb des Ortes. Etwa 70 Erwachse
ne übergab die GFP einemSS-Offizierdes Sonderkommandos 4a,der sie
wegbringen und von Angehörigen eines Waffen-SS-Zuges erschießen
ließ.77 Die Kinder, die von ihren Eltern zur »Registrierung« mitgebracht
worden waren, blieben in dem schulähnlichen Gebäude zurück. In den
nächsten Tagen fahndeten Feld- und Ortskommandantur und SS weiter
nach den jüdischen Bewohnern Bjelaja Zerkows und ermordeten nach
und nach Hunderte von jüdischen Männern und Frauen; die Kinder der
Ermordeten wurden in dem schon bekannten Gebäude untergebracht.
Am 20. August machten Soldaten, die in der Nähe des Gebäudes unter
gebracht waren und in der Nacht das Wimmern der Kleinkinder gehört
hatten, zwei Kriegspfarrer auf das Elend der Kinder aufmerksam. Die
Kriegspfarrer gingen den Berichten nach und wandten sich an den Ia-

275
Offizier der gerade in Bjelaja Zerkow stationierten 295. ID, Oberstleut
nant Groscurth. Bei der Besichtigung des Hauses stellten sie fest, daß in
den Räumendes Gebäudes 90 Kinderim Alter von wenigenMonaten bis
zu sieben Jahren ohne Ernährung und Pflege gelassen worden waren.
EinigeVierjährige kratzten Mörtel von den Wändenund aßenihn, Säug
lingewimmerten und weinten. Soldatenerzählten,daß am Abend zuvor
»bereits 3 LKW-Fuhren mit Kindern hier abgefahren« worden wären/8
Als Groscurth einen dazugekommenen SS-Oberscharführer nach dem
weiteren Schicksal der Kinder befragte, antwortete ihm dieser, daß die
Angehörigen der Kinder erschossen worden wären und die Kinder
»auch beseitigtwerden sollten«.79 Um Aufklärung über das Geschehen
zu erhalten, begab Groscurth sich zum Feldkommandanten, der ihm
erklärte, daß die Auskünfte des SS-Oberscharführers richtig seien und
dieser »seine Aufgabe [...] mit Wissen des Feldkommandanten« durch
führe. Groscurth versuchte, die Ermordung der Kinder aufzuhalten,
indem er eine Entscheidung höherer Instanzen verlangte, und ließ den
SD auffordern, den Abtransport der Kinder aufzuschieben. Er telefo
nierte mit einem Stabsoffizier der Heeresgruppe Süd, der ihn auf die
Zuständigkeit des AOK 6 verwies. Ein Ferngespräch mit dem Ic-Offi
zier des AOK 6 ergab,daß eineEntscheidungdes Oberbefehlshaberserst
am Abend herbeigeführt werden könne. Inzwischen war am Spätnach
mittag ein LKW mit Kindern beladenworden und stand vor dem Haus.
Als der Entscheid des Armeeoberkommandos zur Aufschiebung kam,
wurden die Kinder wieder in das Haus gebracht und mit Wasser und
Brot versorgt.
Beim Stab der 6. Armeewurde am Abend über das weitereVorgehen
beraten. Der Abwehroffizier, Hauptmann Luley, trug laut Kriegstage
buch über »Vorfall SD - 295. Div.in Bialacerkiew«80 vor, und Reichenau
traf die Entscheidung, die er später in einem Schreiben so darstellte:
»Sofort nach der fernmündlichen Anfrage der Division habe ich nach
Rücksprache mit StandartenführerBlobel[Leiterdes SK4a,B. B./H. S.]
die Durchführung der Exekution aufgeschoben, weil sie nicht zweck
mäßig angeordnet war. Ich gab den Auftrag, daß am 21.8. früh Blobel
und der Vertreter des AOK sich nach Bialacerkiew begebensollten, um
die Verhältnisse zu prüfen. Grundsätzlich habe ich entschieden, daß die
einmal begonnene Aktionin zweckmäßiger Weise durchzuführen sei.«81
Der Generalstab und Reichenau hatten damit das Todesurteil für 90 Kin
der gefällt.
Am Vormittag des 21. August teilte der Ic des AOK 6 Groscurth die
Entscheidung zur Ermordung der Kinder fernmündlich mit. Im Kriegs-

276
tagebuch heißt es dazu lapidar: »Ferngespräch mit Oberstleutnant i.G.
Großkurth, Ia der 295. I.D. über Judenerschießungen Bialacerkiew«.82
Am gleichen Vormittag fand in der Feldkommandantur in Bjelaja Zer
kow eine Besprechung statt, an der von der Wehrmacht Groscurth, der
Feldkommandant Riedel, der Vertreter des AOK 6, Luley, und vom SD
Blobel und der Führer des Teilkommandos in Bjelaja Zerkow teilnah
men. Groscurth stand einer Front von Wehrmachts- und SS-Offizieren
gegenüber, die den Störer zum Schweigen bringen wollten. Luley und
der Feldkommandant bezeichneten die Meldung als eine unnötige Ein
mischung. Der Feldkommandant hielt »die Ausrottung der jüdischen
Frauen und Kinder für dringend erforderlich [...], gleichgültig in wel
cher Form dies erfolge«.83 Durch die Intervention Groscurths sei »die
Beseitigung der Kinder unnötigum 24 Stunden verzögert« worden. Blo
bel schloß sich der Sichtweise Riedels an und meinte, die Einheit, welche
herumgeschnüffelt habe, solle dieErschießung durchführen, und »Kom
mandeure, die die Maßnahmen aufhielten, selbst das Kommando dieser
[Exekutions-]Truppe übernehmen«.84 Groscurth konnte nur mehr die
direkt gegen ihn gerichteten Drohungen zurückweisen, aberdie Henker
nicht aufhalten. Die SD-Vertreter und die anderen Wehrmachtsoffiziere
konnten sich auf die Weisung Reichenaus berufen; noch am gleichen
Abend wurden die Kinder ermordet, ob von Angehörigen der Waffen-
SS oder von ukrainischen »Hilfswilligen« ist ungewiß. Groscurth hatte
bei den Verhandlungen den Eindruck gewonnen, daß »die gesamten
Exekutionen auf einen Antrag des Feldkommandanten zurückzu
führen« seien, aus der Erschießung der erwachsenen Juden habe sich
zwangsweise die »Notwendigkeit der Beseitigung der jüdischen Kinder,
vor allem der Säuglinge« ergeben. »Eine anderweitige Unterbringung
der Kinder wurde vom Feldkommandanten und vom Obersturmführer
für unmöglich erklärt, wobei der Feldkommandant mehrfach erklärte,
diese Brut müsse ausgerottet werden.«85
Am Tag nach der Ermordung der Kinder in Bjelaja Zerkow gab der
Abwehroffizier bei einer Offiziersbesprechung der Gruppe Ic/AO
einen »Bericht überJudenerschießungen in Bialacerkiew«86; in der glei
chen Besprechung erörterte man einen »Beförderungsvorschlag für
Hauptmann Luley«. Noch am 22. August trug der Abwehroffizier dem
Chef des Generalstabes über den »Zwischenfall in Bialacerkiew zwi
schen 295. Div-SD-Kdo.« vor; das Ergebnis der Besprechung lautete:
»O.B. [Oberbefehlshaber] sollFallerledigen«,8"7 wasReichenau mit dem
oben zitierten Schreiben vom 26. August 1941 tat.
Der Fallwar erledigt. Die Ermordung der Kinderwar von den Stabs-

177
Offizieren vor- und nachbesprochen worden, der Oberbefehlshaber
hattegrundsätzlich entschieden: Die6.Armee bekämpfte nichtmehrnur
jüdische »Kommissare«, »Heckenschützen«, »Saboteure«. Bereits im
August 1941 machte sich die 6. Armeewissentlich zum Komplizen des
Genozids. Reichenau wie die Offiziere und Soldaten der 6. Armee
benötigten keinen speziellen Befehl Hitlers, um das Ihre zum Massen
mord an jüdischen Männern, Frauenund Kindern beizutragen.
Die Kooperation zwischen SS-Kommandos und 6. Armee nahm ab
diesem Zeitpunktgeregelte Formenan. Nach der Eroberung von Orten
mit einer größeren jüdischen Gemeinde trafen Orts- und Stadtkom
mandanten Absprachen mit dem SD-Einsatzkommando; vom Orts
kommandanten erlassene und von der Propaganda-Kompanie produ
zierte Aufrufe forderten die jüdische Bevölkerung auf, sich zu einem
bestimmten Zeitpunkt zu sammeln; SS- und Polizeikräfte eskortierten
die Opfer vom Sammelplatz zu den Mordstätten am Rand oder etwas
außerhalb der Orte, wo sie von den Angehörigen des Sonderkomman
dos4aoderderWaffen-SS erschossen wurden. Derumfangreichste Mas
senmord nach diesem Muster fand in Kiew statt.
Am 27. September 1941 führte der Stadtkommandant eine Bespre
chung »über Abwehrangelegenheiten in Kiew« durch, bei der Ic-Offi
ziere, Pionieroffiziere, Angehörige des SD, der Polizei und der GFP
anwesend waren.88 Laut der Aussage des ehemaligen Ic-Offiziers des
XXIX. Armeekorps war bei dieser Besprechung zwar von »Eva
kuierungen derJuden« die Rede, aber den Anwesendenwar bewußt, daß
es um Tötungen ging. »Bei der Besprechung war, soweit ich mich erin
nern kann, keine Rede davon, daß diese Juden als Repressalie dafür
evakuiert würden, daß die Zeitzündungender Russenin der Stadt Kiew
hochgingen. Ich weiß noch, daß wir als Ic-Offiziere rechtzeitig davon
unterrichtet wurden, daß in Kiew mit diesen Explosionen zu rechnen
sei. Außerdem ist die Truppe von uns laufend, vor der Einnahme von
Kiew, über Möglichkeiten von Störmaßnahmen aller Art vorgewarnt
wor-den. [...] Nach meinendamaligen Eindrücken waren es militärtech
nischplanmäßiggeleitete Aktionen, die nichts mit den Juden zu tun hat
ten.«89
Die Propaganda-Kompanie 637 stellte einen Aufruf her, wie dem
Kriegstagebuch der Gruppe Ic/AO des AOK 6 zu entnehmen ist: »In
derDruckerei der>Ostfront< wurden2000 Maueranschläge für Kiew mit
der Aufforderung für die Juden, sich an einem bestimmten Ort einzu
finden, angefertigt.«90 Der von ukrainischen Hilfspolizisten in Kiew
plakatierte dreisprachige Aufruf lautete:

278
»Alle Juden der Stadt Kiew und ihrer Umgebung haben am 29. Sep
tember 1941 gegen 8 Uhr morgens an der Ecke Mjelnikowskaja- und
Dochturowskaja-Strasse (neben den Friedhöfen) zu erscheinen. Mit
zubringen sind: Papiere, Geld, Wertsachen, sowie warme Kleidung,
Wäsche usw. Wervon den Juden dieserAnordnung nicht Folgeleistet
und an einemanderen Ort angetroffenwerden sollte,wird erschossen.
Wer von den Bürgern in die von den Juden verlassenen Wohnungen
eindringt und Sachenan sich nimmt, wird erschossen.«91

Zur Durchführung des Massakers zog man neben allen Männern des
Sonderkommandos 4a auch Kräfte des Polizeiregiments Rußland-Süd,
des Bataillons der Waffen-SS z.b.V. und des Polizei-Reservebataillons 9
zusammen. Im Morgengrauen des 29. September sperrten Angehörige
der Polizeibataillone die Umgebung der am Stadtrand von Kiew gelege
nen SchluchtBabiYarund die Straßen,auf denen die Opfer von der Stadt
kommen sollten. In langen Kolonnen zogen jüdische Männer, Frauen
und Kinder zu dem befohlenen Platz. Von dort trieb sie die SS weiter zur
Schlucht von Babi Yar. In der Nähe des Eingangs zur Schlucht regi
strierten SS-Männer die Opfer, siemußten ihre Wertsachen abgebenund
die Kleider ablegen. In der Schlucht erschossen die Angehörigen des
Sonderkommandos 4a im Laufe des 29. September und des nächsten
Tages über 33000 Menschen.92 Unmittelbar nach Beendigung des Mas
sakers am 30.Septembersprengten Pioniere Ränder der Schluchtab, um
die Massengräber mit Steinen und Erdreich zu bedecken.
Das Sonderkommando lobte sich selbst für die »überaus geschickte
Organisation« der Massenmorde: »Die sich bei der Durchführung einer
solchen Großaktion ergebenden Schwierigkeiten - vor allem hinsicht
lich der Erfassung - wurden in Kiew dadurch überwunden, daß durch
Maueranschlag die jüdische Bevölkerung zur Umsiedlung aufgefordert
war. Obwohl man zunächst nur mit einer Beteiligung von etwa 5000 bis
6000Juden gerechnet hatte, fanden sich über 30000 Juden ein, die infol
ge einer überaus geschickten Organisation bis unmittelbar vor der Exe
kution noch an ihre Umsiedlung glaubten.«93
Die letzte Großstadt, welche die 6. Armee im Herbst 1941 eroberte,
war Charkow. Hier wurden neben den jüdischen Einwohnern der Stadt
auch weite Teile der Zivilbevölkerung Opfer gezielter Maßnahmen der
6. Armee und der SS. Bereits Ende Oktober besprachen sich die Offi
ziere der Gruppe Ic/AO des AOK 6 mit den führenden Offizieren des
SS-Sonderkommandos über »Einsatz SD-Kommando« in Charkow.94
Anfang November entwickelte man bei Gesprächen in der Feldkom-

279
mandantur konkrete Schritte: »Säuberungsaktion weiter im Gange,
Arbeit aber sehr erschwert, da im Gegensatz zu anderen Orten in Char
kow kein Material und keine Listen aufgefunden wurden. Einzelne
V-Leute [Agenten, B. B./H. S.] eingesetzt, in Charkow ausserdem sehr
viele Emigranten aus aller Herren Länder. Verdächtig vor allemJuden,
die oft alsVerbindungs- bzw. Nachrichtenmänner zurückgelassen wur
den. Da Juden grossenteils noch versteckt, Aktion gegendie Juden erst
in einiger Zeit vorgesehen. Zunächst Befehl an den Oberrabbiner der
hiesigen Juden zur >Sicherstellung< des jüdischenVermögens alles Geld
und Devisen abzuliefern.«95
Gleichzeitig diskutierten Stabsoffiziere des AOK 6,was mit der Zivil
bevölkerung Charkows angesichts der prekären Versorgungs- und
Ernährungssituation passierensollte. Während die Quartiermeisterab
teilung die gesamte Zivilbevölkerung Charkows evakuieren wollte,
schlug der Ic-Offizier ein Programm des selektiven Massenmordes vor.
Er lehnte die Evakuierung der Gesamtbevölkerung ab und formulier
te: »Ic-mäßig erwünscht und für durchführbar werden folgende Maß
nahmen gehalten: a) Alsbaldige Feststellung aller Juden, politischer
Kommissare, politischVerdächtigen und allernicht Ortsansässigen. [...]
Festsetzen und weitere Behandlung dieser Elemente wäre Aufgabe des
SD, der aber selbst zu schwachist und deshalb der Unterstützung durch
dieTruppe bedarf.«96
Als im November 1941 in Charkow von sowjetischenMilitärsvorbe
reitete Sprengladungen detonierten, wurden neben anderen Personen
gruppenvorwiegend männliche Juden verhaftetund als »Sühne« für die
Sprengstoffanschläge gehängt. Die Erfassung aller jüdischen Bewohner
Charkows verzögerte sich noch, wie das SS-Sonderkommando meldete:
»Im Einvernehmen mit dem zuständigen Generalstab und der Feld
kommandantur werden die Vorbereitungsarbeiten zu einer größeren
Judenaktion durch das SK 4a eingeleitet, sobald die Einrichtungsarbei
ten für die Unterkunft des Kommandos erledigt sind.«97
Mitte Dezember waren die Vorbereitungsarbeiten abgeschlossen. »Es
galtin erster Linie, geeignetes Geländefür die EvakuierungderJuden im
engsten Einvernehmen mit dem Quartieramt der Stadt zu ermitteln. Es
wurde ein Geländeabschnitt gewählt,wo dieJuden in den Baracken einer
Werkssiedlung untergebracht werden konnten. Am 14.12.41 erschien
dann ein Aufruf des Stadtkommandanten an die Juden von Charkow,
worin diese aufgefordert wurden, sich bis zum 16.12.41 in die im Auf
ruf näher bezeichnete Siedlung zu begeben. Die Evakuierungder Juden
verlief bis auf einige Plünderungen, die sich auf dem Marsch der Juden

280
zu den neuen Quartieren ereigneten und an denen sich fast ausschließ
lich Ukrainer beteiligten, reibungslos. Ein zahlenmäßiger Überblick
über die bisher durch die Evakuierung erfaßten Juden liegt noch nicht
vor. Die Zählung der Juden ist eingeleitet. Gleichzeitig sind die Vorbe
reitungenfür die Erschießungen der Juden im Gange. 305 Juden, die der
deutschen Wehrmacht abträgliche Gerüchte verbreitet hatten, wurden
sofort erschossen.«98
Mehr als 20000 jüdische Männer, Frauen und Kinder waren von der
SS in Baracken des Traktorenwerks außerhalb von Charkow gesammelt
worden. Im Dezember 1941 und im Januar 1942 wurden die jüdischen
Opfer von der SS erschossen oder in einem Gaswagen ermordet.

Die Bekämpfung von »Partisanen« als Teil der Vernichtungspolitik

Mit den Anordnungen für die »Sicherheit der Truppe«, die das AOK 6
am 10. Juli 1941 erlassen hatte, gerieten Zivilisten, die angeblich oder
tatsächlich in Kontakt mit Partisanen oder der Roten Armee - auch ver
sprengten Soldaten - standen, in den Sog der inzwischen brutalisierten
Ausführungder »verbrecherischen Befehle«. Sie waren als Unterstützer
ebenso zu erschießen wie Rotarmisten in Zivil, sofern es sich bei diesen
nicht umÜberläufer handelte.99 Aberauch reguläre sowjetische Kampf
gruppen mußten eindeutig erkennbar sein, um als Kriegsgefangene
behandelt zu werden.100
Als Freischärlergaltnach einerVerfügung des OKH vom 25.Juli 1941
neben versprengten Rotarmisten, die sich nicht ergaben, jeder, der
Aktionen gegen »Personen und Sachen« der Wehrmacht auch nur ver
suchte oder Partisanen in irgendeiner Form unterstützte. Bei Kollektiv
maßnahmen gegendie Bevölkerungwegen unaufgeklärter Angriffewar
eine vorherige Ankündigung nicht erforderlich. Wer ohne konkreten
Tatverdacht, allein »hinsichtlich Gesinnung und Haltung« verdächtig
erschien,verfiel der Zuständigkeit des SD.101 Im August und September
nahmen die Sabotagefälle zu. Oft fielen der Wehrmacht auch kleine
Gruppen in die Hände, vorwiegend Jugendliche, die mit Erkundungs
aufträgen hinter die deutschen Linien geschickt worden waren und
deren Vernehmungenauf ein Agentennetz mit Zentrale in Kiew hindeu
teten. Zwischen dem 7. und 21. August verhaftete die 168. ID dreiund
zwanzig Personen, darunter 19 junge Frauen; einige von ihnen wurden
erschossen, vier dem Gefangenenlager in Shitomir überstellt und die
übrigen der Geheimen Feldpolizei übergeben. Außerdem tauchten meh-

281
rere Partisanentrupps auf, mit denen es in einem Fall zu einem Gefecht
gekommen war.102
Nachdem eine sowjetische Kampfanweisung für Partisanen erbeutet
worden war, reagierte das AOK 6 am 14.August auf die neue Situation,
wobei weitere Gruppen unter die Definition der auf jeden Fall zu »erle
digenden« Feinde fielen. An ruhigen Frontabschnitten war durch das
Evakuieren von Ortschaften und Unterbinden jeden zivilen Verkehrs
ein Niemandsland zu schaffen, in dem sich nur aufzuhalten den Verdacht
der Spionage, Sabotage oder des Partisanentumsrechtfertigte. Jeder Ver
dächtige war durch die GFP zu erschießen, Ortsfremde ohne ausrei
chendeLegitimationfür ihren Aufenthaltden SD-Kommandoszu über
geben, auch »Knaben und junge Mädchen«. Alle Fallschirmspringer
waren als Partisanen »niederzukämpfen«, auch wenn sie militärische
Operationen ausführten.103
Dies galt auf Weisung des Oberbefehlshabers des Heeres, die auf
Anfrage der 6. Armee erfolgt war, wenig später für alle russischen Sol
datenund Kampfgruppen, die »nachVerlöschen der eigentlichen Kämp
fe« im rückwärtigen Gelände aktiv wurden. SeitMitte September galten
als Partisanen alle Soldaten und Zivilisten, »die >volkskriegsähnliche<
Aufgaben im rückwärtigen Gelände (Brückensprengungen, Überfälle
auf Einzelfahrzeuge, Quartiere usw.) durchführen«. Ob auch Rotarmi
sten, die während der Kämpfe hinter der Front agierten, zu erschießen
waren, überließ von Brauchitsch denTruppenkommandeuren zur Ent
scheidung »nach der taktischen Lage«.104
Hatte es sich bei den meisten Partisanenmeldungen bis dahin vorwie
gend um sowjetische Soldaten hinter den deutschen Linien gehandelt,
die lediglich zu Freischärlern erklärt worden waren, so traf die Wehr
macht mit der Einnahme von Kiew am 19. September tatsächlich auf
Widerstandsgruppen, die sie in Zusammenarbeit mit dem SD durch
Straßenkontrollen, Razzienund Massenverhaftungen bekämpfte.105
Rechtzeitig zum Beginn des weiteren Vorstoßes nach Osten forderte
die Abteilung Fremde Heere Ost im OKH am 2. Oktober die Divisio
nen zum verschärften Kampfgegen Freischärlerauf: auch abseits liegen
de Ortschaften sollten »durchgekämmt« und »ehrwürdig und bieder
aussehenden älteren Leuten« mit Mißtrauen begegnetwerden, da siesich
als V-Leute und Spione derPartisanen besonders eigneten.106 Umgehend
stellte die 299. ID motorisierte »Jagdkommandos« gegen Partisanen
gruppen in der Umgebung von Romny auf und wies damit die Richtung
für eine schärfere Gangart.107 Mit seinem Befehl über das »Verhaltender
Truppen im Ostraum« vom 10. Oktober 1941, der bis zu den Kompa-

282
nien verteilt wurde, forderte der Oberbefehlshabers der 6. Armee, Gene
ralfeldmarschall Walter von Reichenau, diesen Weg konsequentfortzu
setzen: »Der Kampf gegen den Feind hinter der Front wird noch nicht
ernst genug genommen. Immer noch werden heimtückische, grausame
Partisanen und entartete Weiber zu Kriegsgefangenen gemacht, immer
noch werden halb uniformierte oder in Zivilgekleidete Heckenschützen
und Herumtreiber wie anständige Soldatenbehandelt und in die Gefan
genenlager abgeführt.« Er forderte »drakonische Maßnahmen« gegen
alle Zivilisten, die Anschläge von Partisanen nicht verhinderten: »Der
Schrecken vor den deutschen Gegenmaßnahmen muß stärker sein alsdie
Drohung der umherirrenden bolschewistischen Restteile.« Damit stell
te er unmißverständlich klar, wie dieser Krieg zu führen war: als Ver
nichtungsfeldzug, um »das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen
Gefahr« für alle Zeiten zu befreien.108 Die Verwirklichung ließ nicht
lange auf sich warten.
Ende Oktober erschoß die 75. ID als Vergeltungsmaßnahme 230
Kriegsgefangene einer sowjetischen Einheit, die bei zwei Angriffen drei
Soldaten einer Nachrichtenabteilung und 23 Angehörige einer Pionier
kompanie getötet hatte.109 Daraufhin erließ der Ic-Offizier der Division
Zusätze zu Reichenaus Armeebefehl vom 10. Oktober, in denen er
anordnete, daß Rotarmisten mit oder ohne Waffe, die sich nicht freiwil
lig in Gefangenschaft begaben, ohne Umstände zu erschießen seien,
ebenso Frauen in Uniform, die »nicht als Angehörige der feindlichen
Wehrmacht betrachtet werden« könnten.110
Auf Grund von Richtlinien des Oberbefehlshabers des Heeres vom
25. Oktober befahl das XXIX. Armeekorps den Divisionen, sofort mit
der Aufstellung berittener und mit Maschinengewehren, Maschinenpi
stolen und Handgranaten bewaffneter Jagdkommandos zu beginnen,
um zu verhindern, daß sich versprengte Rotarmisten mit den neu aufge
stellten Partisanengruppen vereinigten.111 Zwar stellten diese für die
Wehrmacht keine ernsthafte Bedrohung dar und hatten nur im rück
wärtigen Heeresgebiet im Raum Tscherkassy, westlich Nikopol und bei
Tschernigow und Lubly über nennenswerte Kräfte verfügt, doch waren
sie bis Mitte November ausnahmslos aufgerieben worden. Der Befehls
haber des rückwärtigen Heeresgebietes Süd rechnete aber für den Win
ter in der Gegend um Sumy und Charkow sowie im Donez-Industrie-
gebiet mit regelrechten Hungerrevolten, ausgelöst durch »den nackten
Daseinskampfin einemweitgehend ausgesogenen Lande«.112
Bereitsim Frühjahr 1941 hatten sich OKW und Reichsernährungsmi-
nisterium darüber verständigt,daß beim »Unternehmen Barbarossa« zur

283
Verbesserung der Ernährungslage der Bevölkerung in Deutschland und
zur Entlastung der Transportwege an die Ostfront möglichst viele
Lebensmittel aus den besetzten Gebieten ins Reich geschafft werden
sollten. Daß dies nicht nur bedeutete, den Verbrauch der sowjetischen
Bevölkerung drastisch einzuschränken, sondern überdies den Hunger
tod von Millionen Menschen in Kauf zu nehmen, war von vornherein
einkalkuliert.113 Für die Truppe galt es, sich Grundnahrungsmittel beim
Vormarsch laufend zu beschaffen, da der Nachschub aus dem Reich
begrenztwar. Andererseits rechtfertigte dieWehrmacht ihren Einmarsch
vor der Bevölkerung mit dem Anspruch auf Befreiung vom »Joch des
Bolschewismus«, so daß in den ersten Wochen der »Grundsatz streng
ster Rechtlichkeit« zumindest verbal aufrechterhalten wurde. Das AOK
6 wies die ihm unterstellten Militärbehörden deshalb Mitte Juli 1941 an,
requirierte Lebensmittel zu bezahlen - oder den Erhalt zumindest zu
quittieren.114 Soldaten hatten jedoch bereits begonnen, auf eigene Faust
zu plündern, wasReichenau veranlaßte, durch Armeebefehl für die ord
nungsgemäße Durchführung solcher »Beitreibungen« sorgen zu las
sen.115
Ende September wurde der Nachschub weiter eingeschränkt und
damit sparsamer Umgang mit Lebensmitteln und die »weitgehendste
Ausnutzung des Landes von entscheidender Bedeutung«. Das AOK 6
wies die Truppe an, Lebensmittelbestände sicherzustellen und für den
Winter Lebensmittellager anzulegen.116 Bis Ende Oktober hatten die
Requirierungen solche Formen angenommen, daß die Heeresgruppe
Südsichveranlaßtsah,rigoroseMaßnahmenzur »Aufrechterhaltungder
Manneszucht« anzuordnen. Immer häufiger wurden »Diebstähle, Ein
brüche in Eisenbahnzüge und Verpflegungs- und Bekleidungslager,
Durchstechereien in Ersatzteillagern, Nichtbeachtung von Befehlen
u. ä.« im rückwärtigen Heeres- wie in den rückwärtigen Armeegebieten
bekannt. Der Stab der 62. ID drohte seinen Soldaten sogar die Todes
strafe für Diebstahl, Einbruch, Unterschlagung, Bestechung, Tauschge
schäfte und überhaupt jede unrechtmäßige Aneignung von Versor
gungsgütern an.117
Beim Erreichen der Winterstellung zeigte sich, daß die Unterbrin
gungsgebiete einzelner Divisionen fast vollständig von Lebensmittel
vorräten geräumt wordenwaren.118 ImRaumBelgorod warennochVieh
für 14Tage, Kartoffeln für ein bis zwei Wochen, Brot für sechs bis acht
Wochen vorhanden, dagegenmangelte es vollständig an Schweinenund
damit Fett, Hülsenfrüchten und Frischgemüse. Ähnlich sah es mit der
Futterversorgung für Pferde aus: Hafer reichte drei bis vier Wochen,

284
Rüben zum Verfüttern waren vorhanden,dagegen mangelte es vollstän
dig an Stroh.119 Um alle Einheiten gleichmäßig versorgen zu können,
ordnete die 75. ID Ende Januar 1942 an, »wilde« Requirierungen end
gültig einzustellen und dieVersorgung der Division zu überlassen.120 Da
sie dazu jedoch nicht in der Lage war, ging die Selbstbeschaffung noch
monatelang weiter. Als dem Divisionskommandeur im März 1942
immer mehr Fällevon »Beitreibungen« vor allem im Gebiet bei Gotnja,
Ilek und Krasnopolje bekannt wurden, teilte er der Truppe mit, daß sie
künftig nichtmehrdisziplinarisch, sondern vomKriegsgericht geahndet
würden.121
Für die einheimische Bevölkerung blieben nur noch Krumen übrig.
Da die Ausplünderung der Ukraine weiterhin Vorrang hatte, die Wehr
macht andererseits aber auch auf die Arbeitskraft von Zivilisten und
Kriegsgefangenen angewiesen war, sollten diese sich nach den Vorstel
lungen Görings von Katzen und Pferden ernähren. Die Großstädte
erhielten nach dieser Vernichtungslogik überhaupt keine, kleinere Städ
te geringe und allenfalls Bauern und Arbeiter bei deutschen Dienststel
len eine minimale, das Überleben einigermaßen sichernde Lebensmittel
versorgung.122 - EinePolitik, die auchdie 6. Armee praktizierte.123
Die Stadtkommandantur von Charkow überließ die Versorgung der
Einwohner vollständig der Zivilverwaltung, die alle privaten Vorräte
einziehen und gleichmäßig verteilen sollte. Ansonsten gab sie lediglich
Kleinhandel und Bauernmärkte frei.124 Das war jedoch vollkommen
ungenügend, so daß sie, um keine Hungerrevolten zu riskieren, Ende
November dieVersorgungsdienste der Truppe anwies, nichtverwertba
res Blut, Abfallfett, ungenießbare Innereien und andere verdorbene
Lebensmittel an die Bevölkerung abzugeben, während Pferdelazarette
gefallene und an Krankheiten gestorbene Pferde zur Verfügung stellen
sollten; daneben wurdeder Fischfang in denTeichen der Umgebung frei
gegeben. Dafürsollten private Vorräte beschlagnahmt undLebensmittel,
»deren Verwendung durchdieZivilbevölkerung nichterwünscht ist,wie
Zucker, Kaffee, Mehl, Marmelade usw.der Wehrmachtübergeben«wer
den.125 Auch Kriegsgefangene und Zivilarbeiter, die für die Wehrmacht
arbeiteten, wurden in erster Linie mit Ausschuß ernährt, um die Vorrä
te der Truppe zu schonen.126
Zwangsläufig verhungerten im Dezember fast täglich Menschen, ein
Drittel der in der Stadt verbliebenen 300000 Einwohner litt im Januar
1942 an Hungererscheinungen. Da eine vollständige Evakuierung der
Zivilbevölkerung nach Osten als für dieTruppe nicht zumutbarangese
hen wurde, begünstigte die Stadtkommandantur die freiwillige Abwan-

285
derung durch Ausgabe von Passierscheinen, die von der Bevölkerung
aber vorwiegend für Hamsterfahrten in die Umgebung genutzt wur
den127 - wobei jedermann Gefahr lief, von den Partisanen-Jagdkom
mandos als»Herumtreiber« erschossen zu werden. Im April 1942 waren
die weiter nördlich gelegenen Kreise Obojan und Medwenka vollkom
men ausgeplündert: Bis zur nächstenErnte standen für jedender 53 000
Einwohner gerade noch 100 Gramm Getreide pro Tag zur Verfügung.
Nach Plünderungen durch Truppenteile waren weder Getreide noch
Kartoffeln und Vieh vorhanden und damit die Ernährung der Truppe
nicht mehr möglich. Mit Ausnahmevon Milch,Butter,Quark und Eiern
konnte nichts mehr »erfaßt« werden.128
In Charkow, das am 24. Oktober 1941 eingenommen wurde, über
nahm das LV AK zunächst die Stadtkommandantur. Das AOK 6 hatte
bereits vorab »bedenkenlose Härte« im Sinne des Armeebefehls vom 10.
Oktober gefordert: »Jüdische und bolschewistische Personen sind in
erster Linie für die kollektive Sühne heranzuziehen. Saboteure oder Per
sonen, diemitderWaffe Widerstand leisten, sindsichtbar aufzuhängen.«
Um die Bevölkerung zur Anzeige verminter Gebäude zu zwingen, soll
ten diese mit Geiseln, vorzugsweise Juden, belegt werden.129 Die 57. ID,
die unter anderem zur Sicherung der Stadt eingesetzt war, erschoß bis
Ende Oktober Zivilisten, die die Stadtverteidigt hatten, behandelte drei
politische Kommissare »entsprechend den einschlägigen Verfügungen«,
und hängte sieben Saboteure, darunter eine Frau, zur Abschreckung
derBevölkerung öffentlich auf.130 Nachdem Telefonleitungen zerschnit
ten, Straßen gesprengt und Sprengsätze an Straßen und in Ortschaften
entdeckt worden waren, ließ der Militärbefehlshaber an der Straße
nach Ogulizy einen einheimischen Sicherungsdienst aufstellen, dessen
Mitglieder - im Fall ihrer Flucht sollten an ihrer Stelle zehn Ortsbe
wohnererschossen werden - mitihrem Leben für dieVerhinderung wei
terer Sabotageakte hafteten.131
In der Nacht vom 5. auf den 6. November töteten Partisanen drei Sol
daten und fünf Angehörige der Organisation Todt (OT). Sofort erließ
Reichenau einen weiteren Armeebefehl, den er bis zu den Kompanien
verteilen ließund in demer der Truppe freie Hand »gegen die gewissen
losen Mordbestien« gab. Im Kampf gegen diese hieß er sie »Mittel zur
Vernichtung dieser Mörder anwenden, die weder unserer Art entspre
chen, noch jemals von deutschen Soldaten gegen eine feindliche Bevöl
kerung angewendet worden sind« und befahl »härteste Mittel« bei Ver
nehmung und Transport von Partisanen »beiderlei Geschlechts in
Uniform oder Zivil«, das Abbrennen aller Höfe und Dörfer, in denen

286
Partisanen unterstützt wurden, das Erschießen von Geiseln, das Auf
hängen von Mitschuldigen, sofern die Bevölkerung keine Verluste im
Kampf gegen Partisanen nachweisen konnte.132 Ergänzend verbot Rei
chenau wenige Tage später der Bevölkerung bei Dunkelheit das Verlas
sen des Ortes, in belegten Ortschaften sogar das Verlassen des Hauses
ohne Passierschein. Wer dies dennoch tat, war »rücksichtslos zu
erschießen«, ebenso wie Einwohner von Orten, in denen sich trotz
ukrainischem Wachdienst Sabotageakte ereigneten.133
Daraufhin richtete die Feldkommandantur 787 in Charkow ein Gei
sellager im »Hotel International« am Dsershinski-Platz ein, für das sie
Kräfte vom SD und von der Stadtkommandantur anforderte. Die 68. ID
war für die Bewachung zuständig. Das Recht, Geiseltötungen anzuord
nen, lag beim Stadtkommandanten, dem Kommandeur der 57. ID,
Generalmajor Dostler, der am 13. Dezember, nachdem Charkow dem
rückwärtigen Armeegebiet unterstellt worden war, die Geschäfte an
Generalleutnant von Puttkamer übergab.134 Nach einer Razzia am
15. Novembernahmseine Division 500 Geiseln fest, diesiein das»Hotel
International« überstellte. Die ersten 20 von ihnen wurden nach einem
Sprengstoffanschlag auf das Geschäftszimmer eines Pionierregi
ments erhängt.135 Zur Vergeltung für Minensprengungen wurden am
16. November »50 Bolschewiken an den Baikonen der Hauptstraßeauf
gehängt«.136 Insgesamt, meldete das AOK 6 Anfang Dezember der
Heeresgruppe Süd, habe dieTruppe in Charkow in sechs Wochen »meh
rere Hundert Partisanen und verdächtige Elemente in der Stadt aufge
hängt«.137
Zielder 6.Armeewar die »restlose Vernichtung« der Partisanen.Dazu
ließsiedie 57. ID Mitte November 1941 in Charkow einPartisanenmel-
denetz unter der Leitung von Hauptmann Weber von Ostwaiden ein
richten, das direkt dem Ic-Offizier der Armee unterstand. Alle Meldun
gen liefen zu Meldeköpfen bei den Abteilungen und Bataillonen bzw.
Meldestellen bei den ukrainischen Milizen in den umliegenden Dörfern,
die sich wiederum auf ein Netz von Informanten stützten. In dieses
lückenlose Spitzelsystem warenauch andere Organisationen wiedieOT
einbezogen.138 Die gnadenlose Jagd auf irreguläre sowjetische Kampf
gruppen war zu diesem Zeitpunkt jedoch längst im Gang. Bei der 299.
ID, die seitdem 5.November im Gebiet von Sumystationiert war,waren
im Raum nordwestlich von Bjelopolje, östlichund nördlichvon Sudsha
und bei Soldatskoje an der Straßenach Kursk mehrere Partisanengrup
penaufgespürt und teils aufgerieben, teils abgedrängt worden.139 Sie hat
ten vor allemzwischen Sudsha und Junakowka versucht, die Wehrmacht

287
amAbtransport von Wintervorräten zu hindern.140 Die Aufklärungsab
teilung der 299. ID, die bei der nördlich Belgorod liegenden 75. ID die
Nordflanke des XXIX. AK sicherte, nahm bei Mogriza Familien von
Partisanenführern als Geiseln fest.141
Als das XXIX. AKam1. November Befehl zur Aufstellung vonJagd
kommandos gab, stellten die 299. ID 115 und die 75. ID 185 Mann ab,
die in den folgenden Wochen den Raum Charkow, Sumy, Sudsha und
Belgorod systematisch durchkämmten.142 Der Ic-Offizier der 299. ID
rühmte sich nach Abschluß der Aktion am 12. Dezember, daß die Divi
sion vom 6. November bis 9. Dezember 380 »Partisanen vernichtet«
habe.143 Die Jagdkommandos der 75. ID hatten noch weniger Hem
mungen, Zivilisten und Rotarmisten zu Hunderten zu verhafteten, zu
erschießen und Ortsteile oder ganze Dörfer abzubrennen. Besonders
brutal ging die Infanterie-Abteilung 202 vor, die dem Regiment am
22. November y6 erschossene Partisanen und das Abbrennen eines Dor
fes meldete.144 Wenn das XXIX. AK am 7. Dezember meldete,daß vom
20. Oktober bis 5. Dezemberim Korpsbereich 1064 Partisanen und Ver
dächtige erschossen oder erhängt und weitere 342 Personen als Geiseln
erschossen worden waren, so ging diese Bilanz im wesentlichen auf das
Konto der 75.und 299. ID. Biszum Jahresende erhöhte siesich noch ein
mal um mindestens 56 Personen.145 Die Gesamtzahl der im Bereich der
6. Armee im Herbst 1941 bei der Partisanenjagd öffentlich Erhängten
und Erschossenen ging laut Ic-Offizier des AOK 6 in die Tausende.146
Als Indiz für einen breiten bewaffneten Widerstand gegen die Wehr
macht oder zumindest eine breite Unterstützung für Gruppen, die sich
zum bewaffneten Kampf zu organisieren begannen, können diese Zah
len indessen kaum dienen. Schon am 30. November hatte das XXIX.
Armeekorps festgestellt, daß in seinem Bereich Überfälle durch Partisa
nen inden letzten Wochen nicht vorgekommen unddie einzigen Spreng
stoffanschläge vermutlich durch Zeitzündungen verübt worden seien.
Das verdanke man vor allem dem Durchgreifen gegen »Herumtrei
ber«.147 Eine weitere Gruppe jener, die den Erschießungen zum Opfer
gefallen waren, waren vermutlich ehemalige Rotarmisten.148 In seinem
Bericht an die Heeresgruppe Süd räumte das AOK 6 ein, daß die Trup
pe neben Partisanen vor allem »die vielen, ohne Ausweis im Lande her
umstreifenden Elemente beseitigt [habe], hinterdenen sich die Agenten
und der Nachrichtendienst der Partisanen verbergen«. Auf jeden Fall
wardas Ziel erreicht: »Die Sabotageakte haben seitdem aufgehört.«149
Für die Vermehrung verdächtiger »Herumtreiber«hatte die 6. Armee
noch aufandere Weise gesorgt. Anfang Dezember 1941, wenige Tage vor
der Besetzungvon Belgorod, brannte die 75. ID drei Ortschaften nord
östlich von Rshawa ab, »um Flankierungsmöglichkeiten von dort aus
zuschalten«.150 Wenig später befahl das XXIX. AK, zur Sicherung der
Winterstellung »feindwärts« gelegene Dörfer zu evakuieren, zu zer
stören sowie unter den Zivilistenvorsorglich Geiseln gegenAngriffe zu
nehmen.151 Wenige Tage später meldete die 75. ID, daß das Abbrennen
eingeleitet sei und »mit allen Mitteln vorgetrieben« werde.152 Die Divi
sion zerstörte Ende Dezember alle im Vorfeld der Winterstellung lie
genden Dörfer in ihrem Bereich und vertrieb die Bevölkerung nach
Osten. Die Einwohner der Dörfer östlich der Bahnstrecke Belgorod -
Kursk sammelte sie ortsweise ein und schob sie in das Gebiet 30 Kilo
meter westlich der Bahnlinie ab. Wer die Dörfer danach noch betrat,
wurde erschossen.153
Mit ihrem unterschiedslosen Terror gegen die gesamte Zivilbevölke
rung hatte die 6. Armee langevor dem Angriff auf Stalingrad den Punkt
hinter sich gelassen, an dem sie noch einen wie immer definiertenFeind
begriff benötigte. Die Auswirkungen des von der Ausplünderungspoli
tik verursachten Hungers, im Verein mit Kälte und Krankheiten, richte
ten sich nicht mehr gegen bestimmte Gruppen. Weder ethnische
Zugehörigkeit noch politische Überzeugung, weder angstvolle Passivität
noch aktive Kollaboration konnte die Zivilbevölkerung davor bewah
ren, jederzeit nach der taktischen Lage zum Objekt von Repressalien zu
werden. Siewar in ihrer Gesamtheit zur Geisel der Wehrmacht gewor
den.

Anmerkungen

1 Rüdiger Overmans, Das andere Gesicht des Krieges: Leben und Sterben der
6. Armee, in: Jürgen Förster (Hg.), Stalingrad. Ereignis. Wirkung. Symbol,
München/Zürich, 2. Aufl. 1993, S. 419-455. Die in der Literatur präsentierten
Daten hinsichtlich der Eingeschlossenen, Ausgeflogenen, Gestorbenen und in
GefangenschaftgeratenenSoldatender 6. Armee sind widersprüchlich. Wir fol
gen OvermansVersucheiner kritischenSyntheseim Bewußtsein, daß auchdiese
Zahlen nur als Annäherung zu betrachten sind.
2 Funkspruch von Generaloberst Paulus an Hitler, 29.1.1943, BA-MA RL 30/5;
zitiert nach: Gerd R. Ueberschär, Stalingrad - eine Schlacht des Zweiten Welt
krieges,in: Stalingrad.Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht,hrsg. von Wolf
ram Wette/Gerd R. Ueberschär, Frankfurt am Main 1992,S. 18-42, hier S. 36.
3 Funkspruch von Hitler an Generaloberst Paulus, 30.1.1943, BA-MA RL 30/5,
zitiert nach: Wette/Ueberschär, Stalingrad, a. a. O., S. 36.

289
4 Zitiert nach: Rolf Günter Renner, Hirn und Herz. Stalingrad als Gegenstand
ideologischer und literarischer Diskurse,in: Förster, a. a. O., S. 472-492, hier S.
472. Vgl. Wolfram Wette, Das Massensterben als »Heldenepos«. Stalingrad in
der NS-Propaganda, in: Wette/Ueberschär, Stalingrad, a. a. O., S. 43-60, hier
S. 52f.
5 Heeresgruppe »Don« an 6. Armee, 31.1.1943; zitiert nach: Wette/Ueberschär,
Stalingrad,a. a. O., S. 38.
6 Rundfunk-«Sonderbericht« des OKW vom 3. Februar 1943, BA-MA RW 4/v.
140, Bl. 1-2; zitiert nach:Wette/Ueberschär, Stalingrad, a. a. O., S. 54.
7 Wette, a. a. O., S. 46.
8 Fritz Wöss, Hunde, wollt ihr ewig leben. Roman, Heidelberg/Hamburg 1958;
ders., Der Fischbeginntam Kopfzu stinken. Roman, Hamburg i960; Heinrich
Gerlach,Die verrateneArmee.Ein Stalingrad-Roman, München 1957; Heinz G.
Konsalik, Der Arzt von Stalingrad.Roman, München 1956.
9 Ulrich Baron, Stalingrad als Thema der deutschsprachigen Literatur, in:
Wette/Ueberschär, a. a. O., S. 226-232, hier S. 232. Zur Strukturanalyse dieser
und anderer literarischer Darstellungen desStalingrad-Mythos vgl. denAufsatz
von Rolf Günter Renner, in: Förster, a. a. O., S. 472-492.
10 Detlef Vogel, Die deutschen und österreichischen Stalingradbünde. Schritte
vom Mythos zur Realität, in: Wette/Ueberschär,a. a. O., S.247-253, hier S.248.
11 Franz Kurowski, Stalingrad. Die Schlacht, die Hitlers Mythos zerstörte. Ber
gisch Gladbach 1992, S. 371 u. 394. Das Taschenbuch, das im Dezember 1992
erstmals ausgeliefert wurde,gingbereits im Februar 1993 in die zweite Auflage.
12 Editorialvon Klaus Bresser, in:Begleitheft zur fünfteiligen Dokumentationvon
ZDF/Ostankino, »Der verdammte Krieg - Entscheidung Stalingrad« von
Guido Knopp, Harald Schott und Anatolij Nikiforow, ZDF 1992, S. 3.
13 Thomas A. Kohut/Jürgen Reulecke, »Sterben wie eine Ratte, die der Bauer
ertappt«. Letzte Briefe aus Stalingrad, in: Förster, a. a. O., S. 456-471. Vgl. die
Beiträgevon Martin Humburg, Wolfram Wette, SabineRosemarie Arnold und
Manfred Hettling sowie Nadeshda B. Krylowa, in: Wette/Ueberschär, a. a. O.,
S. 67-106; dort auch weiterführende Literaturhinweise.
14 75. ID/Ic an alle unterstellten Einheiten, 6.1.1942, BA-MA RH 26-75/121;
XXIX. AK/Ic, Morgenmeldungvom 7.1.1942, BA-MA 24-29/47.
15 Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet »Barbarossa« und
über besondere Maßnahmen der Truppe vom 13.5.1941, mit Ergänzungen des
Oberbefehlshabers des Heeres vom 24.5.1941; Richtlinien für die Behandlung
politischerKommissare vom 6.6.1941 mit Ergänzungen des Oberbefehlshabers
des Heeres vom 8.6.1941; beide in:Der deutsche Überfall aufdieSowjetunion.
»Unternehmen Barbarossa« 1941, hrsg. von Gerd R. Ueberschär/Wolfram
Wette, Frankfurt am Main 1991,S. 251-254 und 259-260.
16 Besondere Anordnungen Nr. 1 zur Weisung Nr. 21 (Fall »Barbarossa«) vom
19.5.1941 mit Anlage 1: Gliederung und Aufgaben der im Raum »Barbarossa«
einzusetzenden Wirtschaftsorganisation und Anlage 3:Richtlinienfür das Ver
halten der Truppe in Rußland; in: Ueberschär/Wette, Barbarossa, a. a. O., S.
254-258.

290
\y Zur Entstehung des Kommissarbefehls vgl. Hans-AdolfJacobsen, Kommissar
befehl und Massenexekutionensowjetischer Kriegsgefangener, in: Hans Buch
heim u. a., Anatomie des SS-Staates, München 1967, Bd. 2, S. i43ff. und Jürgen
Förster, Das Unternehmen »Barbarossa« als Eroberungs- und Vernichtungs
krieg, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg (DRZW), Bd. 4: Der
Angriff auf die Sowjetunion, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt
Freiburg i. Br., Stuttgart 1983, S. 435ff. Der vollständige Text des Kommissar
befehls ist abgedrucktin Ueberschär/Wette,Barbarossa, a. a. O., S. 259L
18 Zitiert nach Förster, in: DRZW, Bd. 4, S. 433.
19 AOK 6, Tätigkeitsbericht der Gruppe Ic/AO vom 12.Juni 1941, BA-MA RH
20-6/488.
20 Ebenda,nur dieWeisungzur Einschränkungder Kriegsgerichtsbarkeit war vom
»Führer« erlassen worden, der Kommissarbefehl - wie oben angeführt - vom
OKW.
21 AOK 6, Tätigkeitsbericht Ic/AO 12.6.1941, BA-MA RH 20-6/488.
22 AOK 6, Vortrag des Ic bei Ia am 13.6.1941, BA-MA RH 20-6/488.
23 Abt III - Gericht der 57. ID, Tätigkeitsbericht, 1.-30.6.1941, BA-MA RH 26-
57/112.
24 56. ID, KTB/Ia, 16.6.1941, BA-MA RH 26-56/16(3). Bei der 62. ID fand die
Kommandeurbesprechung am 18. Juni statt: Besprechungsliste für Komman
deurbesprechung am 18.6.1941,RH 26-62/40.
25 AOK 6, Ic/AO, Ic-Besprechung,BA-MA RH 20-6/487,fol. 85.
26 AOK 6, Ic/AO, Punkte Ic-Besprechung, BA-MARH 20-6/487, fol. 86.
27 Zu den SS-Einsatzgruppen beifrüheren Feldzügenund zu den Absprachenzwi
schen den Spitzen der SS und Wehrmachtüber ihren Einsatz beim »Unterneh
men Barbarossa« vgl.Helmut Krausnick,Hitlers Einsatzgruppen.Die Truppen
des Weltanschauungskrieges 1938-1942, Frankfurt am Main 1985.
28 AOK 6, Ic/AO, Punkte Ic-Besprechung, BA-MA RH 20-6/487 fol. 86.
29 XVII. AK, KTB/Ia, Ereignisse, BA-MA RH 24-17/226.
30 Anordnungen des Abschnittstabs Staufen Nr. 38, 20.6.1941: BA-MA RH 24-
44/39.
31 Ebenda.
32 AOK 6, Ic, 23.6.1941, Feindlagemeldungder Panzergruppe 1,BA-MA RH 20-
6/514.
33 Ebenda, 25.6.1941,FeindlagemeldungXVII. A.K.
34 AOK 6, Ic, 30.6.1941, Fernschreiben an XVII., XXIX., XXXXIV, und LV.
A.K. Ic, BA-MA RH 20-6/513.
35 AOK6,Ic, 1.7.1941, Feindlagemeldung XVII. A.K., BA-MA RH 20-6/515.
36 AOK 6, Ic, 2.7.1941, Feindlagemeldung XXXXIV. A.K., BA-MA RH 20-
6/515.
37 Ebenda, 2.7.1941, Feindlagemeldung XVII. A.K.
38 44. ID, Ic, Tätigkeitsbericht 21.6.- 31.12.41, BA-MA RH 26-44/32.
39 168.ID, Ic, Tätigkeitsbericht 25.6.1941:BA-MA RH 26-168/49.
40 299. ID/Ic, Tagesmeldung, 22.6.1941; IR 529 an 299. ID, 23.6.1941, BA-MA
RH 26-299/118.

291
4i 299. ID/Ic, Tagesmeldung an XXIX. AK/Ic, 24.6.1941; IR 530/Ia an 299. ID,
25.6.1941, BA-MA RH 26-299/118.
42 IR 530/Ic an 299. ID, 28.6.1941, BA-MA RH 26-299/118.
43 AOK 6, Ic/AO, 10.7.1941, BA-MA RH 20-6/516; vgl.auch ebenda,Ic-Abend-
meldung 10.7.1941.
44 AOK 6, Ic, 13.7.1941, Feindlagemeldung XVII. A.K.,BA-MARH 20-6/517.
45 Tagesmeldung 299. ID/Ic an XXIX. A.K./Ic, 24.6.1941, BA-MA RH 26-
299/118.
46 AOK 6, 10. Juli 41,Ia Az. 15 Nr.i8i4/4ig. Führungsanordnung Nr. 13, Punkt
5.) Sicherheit derTruppe; Hervorhebungen im Original, BA-MA RH 20-6/75 5.
47 62. ID, KTB. Ic, Eintragung 21.7.1941,BA-MA RH 26-62/40.
48 NOKW 1538,zitiert nach Krausnick, a. a. O., S. 200.
49 Ebenda.
50 AOK 6/Ia,Führungsanordnungen Nr. 16,19.7.1941, BA-MARH 26-56117; 62.
ID/Ic, 21.7.1941, BA-MA RH 26-62/40; AOK 6/OQu/Qui - BAV Nr. 43,
29.7.1941, RH 24-17/255.
51 Ereignismeldung UdSSR (EM) Nr. 132, Der ChefderSicherheitspolizei unddes
SD, 12.11.1941.
52 Ebenda.
53 AOK 6, Ic, Abendmeldung, 1.7.1941, BA-MARH 20-6/515.
54 EM 24, 16.7.1941.
55 Ebenda.
56 Aussage J. Seh., Zentralstelle der deutschen Landesjustizverwaltungen Lud
wigsburg (ZSt.), Js 4/65, Sonderband Vernehmungen X. Daß Ukrainer in ver
schiedenen Orten Wolhyniens sofort nach dem Abzug der RotenArmee auch
ohneentsprechende Aufhetzung durchSS oderWehrmacht Pogrome veranstal
teten, beijüdischen NachbarndieWohnungen plündertenund einzelne Männer
und Frauen erschlugen, beschreibt Shmuel Spector, The Holocaust Of Volhy-
nianjews 1941-1944,Jerusalem 1990,S. 64ff.
57 Vgl. EM 24, 16.7.1941.
58 Vgl. Bericht A.K., ZSt. 204AR-Z 287/59.
59 EM 24,16.7.1941.
60 EM 19,11.7.1941.
61 EM 28,20.7.1941.
62 BriefausTarnopol, 6.7.1941, BA-MARW 4/V.442. Der Briefwurde vom Wehr
kreiskommando XVII, Wien, Abt. Ic/WPr., beschlagnahmt und mit dem
Betreff: »Greuelberichte in Feldpostbriefen« an das Oberkommando der Wehr
macht, Abteilung für Wehrmachtspropaganda im Wehrmachtsführungsstab,
geschickt. Als Erläuterung fügte der Bearbeiter hinzu, daß der Brief »in Ver
vielfältigungsform in einem Schaufenster eines Wiener Geschäftes vorgefun
den« wurde. »Nachforschungen der hiesigen Abwehrstelle ergaben, daß von
einem Wiener Kreisleiter der NSDAP Abschriften dieses Berichtes für Propa
gandazwecke an die Ortsgruppenleiter seines Kreises zur Kenntnis gebracht
wurden.«
63 Vgl. EM 47, 9.8.1941: »In Berditschew wurde bis zum Eintreffen des Einsatz-

292
kommandos 5 eineAbteilung.des Einsatzkommandos 4a tätig. 148 Juden wur
den wegen Plünderns und kommunistischerBetätigungexekutiert.«
64 Vgl. EM 58, 20.8.1941: »Die Durchkämmungsmaßnahmen werden weiterhin
von den Einsatzkommandos fortgeführt. Es sind nunmehr planmäßig nahezu
sämtliche Dörfer und größeren Plätze in der weiteren Umgebung von Berdi-
tschew und Shitomir überholt.«
65 Vgl. Anklageschrift in der Strafsache gegen Callsen und andere, GStA. Frank
furt, Js 24/66, S. 201ff.
66 EM 30, 22.7.1941.
67 Vgl. EM 58, 20.8.1941: »Nach langwierigen Vernehmungen gelang es, Kieper
und seinenKomplizender ihnen zur Last gelegten Massenmorde zu überführen.
[...] Kieper, schließlich zum Geständnis gebracht, schilderte seine Greueltaten
mit jüdischem Zynismus.«
68 ZSt.,Js 4/65, Sonderband Vernehmungen II, AussageP.A.
69 Vgl. EM 58, 20.8.1941.
70 Zeugenaussage J., zitiert nach der Anklageschrift in der Strafsache gegen Call
sen, a. a. O., S. 221.
71 ZSt., Js 4/65, Strafsache gegen Callsen u. a., Verhandlungs-Protokollband VI,
20.2.1967.
72 EM 58, 20.8.1941.
73 Anlageband3 zum KTB XVII. A.K./Qu., Verfügungdes Armeeoberkomman
do 6,0.Qu./Qu. 1.,A.H.Qu., 10.8.1941, BesondereAnordnungen für die Ver
sorgung, Anlage 1,Betr.: Exekutionen durch den SD., BA-MA RH 24-17/255.
74 Ebenda.
75 ZSt.Js 4/65, Bd. V: Aussage H.Z., Feldgendarmerie 455.
y6 EM 80, 11.9.41.
yy Vgl. Anklageschriftin der Strafsachegegen Callsen, a. a. O., S. 26off.
78 Meldung des kath. Divisionspfarrers Dr. Reuss, 20.8.1941, veröffentlicht in:
Helmuth Groscurth, Tagebücher eines Abwehroffiziers. Mit Dokumenten zur
Militäropposition gegen Hitler, hrsg. von Helmut Krausnick, Harold C.
Deutsch und Hildegard von Kotze, Stuttgart 1970, S. 538L
79 Bericht Groscurths vom 21.8.1941, abgedruckt ebenda, S. 534L
80 Tätigkeitsbericht der Gruppe Ic/AO vom 20.8.1941, BA-MA RH 20-6/491;
Bialacerkiew ist die aus dem Ukrainischen übernommene Schreibweise des
Ortsnamens, BjelajaZerkow.
81 Stellungnahme Reichenaus vom 26.8.1941 zu dem Bericht der 295. ID über die
Vorgänge in Bialacerkiew, an Heeresgruppe Süd, an 295. ID; abgedruckt in:
Tagebücher eines Abwehroffiziers, a. a. O., S. 541.
82 Tätigkeitsbericht der Gruppe Ic/AO vom 21.8.1941,BA-MA RH 20-6/491.
83 Bericht Groscurths vom 21.8.1941, a. a. O., S. 536.
84 Ebenda.
85 Ebenda, S. 537.
86 Anlage zum Tätigkeitsbericht der Gruppe Ic/AO vom 22.8.1941, Offiziersbe
sprechung, BA-MA RH 20-6/491.
87 Tätigkeitsbericht der Gruppe Ic/AO vom 22.8.1941, BA-MA RH 20-6/491.

293
88 XXIX. AK., Anlagen zum KTB/Ic, BA-MA RH 24-29/77.
89 Aussage G. Seh., ZSt.,Js 4/65, SonderbandX.
90 TätigkeitsberichtProp.Komp. 637,BA-MA RH 20-6/492.
91 ZSt., Js 4/65, Sonderband Übersetzung ausdemRussischen, TeilI.
92 Vgl. EM 106, 7.10.1941, wo die Zahl der Opfer mit 33 771 angegeben ist.
93 EM 128, 3.11.1941.
94 AOK 6, Ic/AO Tätigkeitsbericht, 26.10.1941, BA-MA RH 20-6/494.
95 57. ID/Ib, 4.11.41 - »Besprechung bei der Feldkommandantur Charkow am
4.11.41, 09.00 Uhr«: BA-MA RH 26-57/113.
96 Ic/AO, AOK 6 an Qu. 2 zu Hdn. Herrn Hauptmann i.G. von Bila, betr.:
Befehlsentwurfüber Evakuierung der Zivilbevölkerung, BA-MA RH 20-6/494.
9y EM 156,16.1.1942.
98 EM 164,4.2.1942.
99 AOK 6, Nr. 1814/41 geh. vom 10.7.1941 - Führungsanordnungen Nr. 13,BA-
MA RH 26-299/118.
iöo 75. ID/Ic, Feindnachrichtenblatt Nr. 12, 18.7.1941,BA-MA RH 26-75/111.
101 Auszugsweise Abschrift der Verfügungdes OKH betr. Behandlung feindlicher
Zivilpersonen und russischer Kriegsgefangener vom 25.7.1941; in: Ueber-
schär/Wette, Barbarossa, a. a. O., S. 295L (BA-MA RH 20-11/381).
102 75. ID/Ic, Feindnachrichtenblatt Nr. 28,11.8.1941, BA-MA RH 26-75/112; 75.
ID/Ic, Anl. zu KTB/Ic, 14.-31.8.1941, BA-MA RH 26-75/113; 168. ID/Ic,
Tätigkeitsbericht 20.7.-21.8.1941, BA-MA RH 26-168/40.
103 AOK 6/Ic/AO. Abw.III Nr. 2757/41 geh. vom 14.8.1941, BA-MA RH 20-
6/491. Der Verteiler umfaßte den GFP-Trupp 560 und das SD-Sonderkom
mando 4a.
104 75.ID/Ic, FeindnachrichtenblattNr. 45,18.9.1941, BA-MARH 26-75/114; die
Division bezog sich dabei auf OKH/Gen.z.b.V.b. ObdH/Az 454 Gr. R. Wes.
Nr. 1678/41 geh.vom 13.9.1941, BA-MA RH 23/295; vgl.Jürgen Förster, Das
Unternehmen Barbarossa als Eroberungs- und Vernichtungskrieg, in: Horst
Boog, Jürgen Förster, Joachim Hoffmann, Ernst Klink, Rolf-Dieter Müller,
Gerd R. Ueberschär, Der Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt am Main 1991
(Originalausgabe: DRZW, Bd. 4), S. 1239.
105 Korpskommando XXIX. AK/Ic, 22.9.1941, BA-MA RH 26-299/122; XXIX.
AK/Ia, Zwischenmeldung 23.9.1941, BA-MA RH 24-29/9; XXIX. AK, Mor
gen- und Abendmeldung 25.9.1941, BA-MA RH 24-29/9; 299. ID/Ic an SD
Kiew, 26.9.1941, BA-MA RH 26-299/123;299. ID, KTB Ia, 25. und 26.9.1941,
BA-MA RH 26-299/40. Daß die Sprengungen und Brandlegungen in Kiew
tatsächlich von den rund 1000 Partisanen, die die 6. Armee in der Stadt vermu
tete, verursacht wurden, ist allerdings kaum wahrscheinlich, das XXIX. AK
hatte bereits am 20. September festgestellt, daß Kiew systematisch geräumt,
seine Versorgungsbetriebe eingestellt und Straßen und Schienen zerstört oder
vermint worden waren. - XXIX. AK, KTB/Ia, 20.9.1941, BA-MA RH 24-29/9.
106 OKH/GenStdH/OQuIV/Fremde Heere Ost/IIc geh. vom 2.10.1941,BA-MA
RH 26-299/123.
107 299. ID, KTB Ia, 7. und 10.10.1941, BA-MA RH 26-299/40.

294
108 Armeebefehl des Oberbefehlshabers der 6. Armee, Generalfeldmarschall von
Reichenau, 10.10.1941; in: Ueberschär/Wette, Barbarossa, a. a. O., S. 285.
109 75. ID, KTB/Ia, 27.10.1941, BA-MA RH 26-75/39; 75. ID/Ic, Morgenmeldun
gen vom 27.10., 28.10.,29.10. und 31.10.1941; 75. ID/Ic an IR 202,28.10.1941,
BA-MA RH 26-75/115.
110 75. ID/Ic, Zusätze zum Befehl des AOK 6 Ia vom 10.10.1941 über Verhalten
der Truppe im Ostraum, 28.10.1941, BA-MA RH 26-75/115.
111 ObdH, Richtlinien für die Partisanenbekämpfung, 25.10.1941, BA-MARH 24-
29/77; XXIX. AK/Ia-Ic, 26.10.1941, BA-MA RH 26-299/124.
112 Bfh. rückw. HGeb. Süd/Ia-Ic Nr. 2270/41 geh. vom 6.11.1941; Bfh. rückw.
HGeb. Süd/Ia Nr. 2532/41 geh. vom 20.11.1941, BA-MA RH 26-62/42.
113 Müller, Rolf-Dieter, Das Scheitern der wirtschaftlichen »Blitzkriegstrategie«,
in: DRZW, Bd. 4, S. 1116-1226,hier S. 1i68ff.
114 AOK 6/Ic AO, Merkblatt über das Verhalten der deutschen Militärbehörden in
der Ostukraine, 15.7.1941, BA-MA RH 26-299/119.
115 IV. AK (Gruppe Schwedler), 4.8.1941, BA-MA RH 24-4/95; AOK 6/III Az.
i4n, Armeebefehl vom 31.7.1941, BA-MA RH 26-56/193.
116 Obfh. der 6. Armee, Armeebefehl vom 28.9.1941, BA-MA RH 24-17/262;
Intendant des AOK 6, Ausführungsbestimmungenvom 2.10.1941 zum Armee
befehl vom 28.9.1941, BA-MA RH 26-62/59; AOK 6/Ch.d.Ge.St. Nr. 310/41
vom 26.10.1941, BA-MA RH 24-17/262.
117 OKdo HGr Süd/Ia-Ib Nr. 2987 geh. vom 27.10.1941 betr. Aufrechterhaltung
der Manneszucht; 62. ID/IIb Nr. 1749/41 geh. vom 7.11.1941,BA-MA RH 26-
62/42.
118 XXIX. AK, KTB/Ia, 29.10.1941, BA-MA RH 24-29/9.
119 168. ID, KTB/Ia, 14.11.1941, BA-MA RH 26-168/8.
120 75. ID/Ib, 29.1.1942, BA-MA RH 26-75/170.
121 75. ID/Ib, 1.3.1942; 75. ID, Kommandeur an Kommandeure und Führer selb
ständiger Einheiten, 7.4.1942, BA-MA RH 26-75/170.
122 Müller, in: DRZW, Bd. 4, S. n86f.
123 57. ID/Ib, Bericht über die am 24.11.41 im Kasino der Stadtkommandantur
stattgefundene Besprechung über die Ernährungder Zivilbevölkerung der Stadt
Charkow, BA-MA RH 26-57/113.
124 57. ID/Ib, Besprechung bei der Feldkommandantur Charkow am 4.11.1931,
BA-MA RH 26-57/113.
125 57. ID/Ib, Bericht über die am 24.11.41 im Kasino der Stadtkommandantur
stattgefundene Besprechung über dieErnährungder Zivilbevölkerung derStadt
Charkow, BA-MA RH 26-57/113.
126 Fernspruchdes Landwirtschaftsoffiziers der 57. ID, Oberleutnant Dr. Goecke,
Nr. 159 vom 9.1.1942,BA-MA RH 26-57/116; Stadtkommandantur Charkow,
Stadtkommandanturbefehl Nr. 17., 18.12.1941, BA-MA RH 26-57/39.
127 Müller, DRZW, Bd. 4, 1991,S. 1192.
128 57. ID, KTB/Ib, 13.4.1942 und 15.4.1942; 57. ID/Ib an XXIX. AK/IV Wi,
15.4.1942, BA-MA RH 26-57/116.
129 AOK 6/Ia/OQu, 17.10.1941 - betr.: Charkow, BA-MA RH 24-17/262.

295
130 57- ID/Ic, Tätigkeitsbericht 1.9.-31.10.1941, BA-MA RH 26-57/57.
131 Undatierte Bekanntmachung des Militärbefehlshabers; 57. ID/Ib an 55. AK,
4.11.1941, BA-MA RH 26-57/113.
132 OBfh. AOK 6, Armeebefehlvom 9.11.1941 (Oberst-Sinz-Befehl),BA-MA RH
26-299/124.
133 Ergänzung zum Armeebefehl(Oberst Sinz)vom 9.n.i94iami4.n.i94i, mit
geteilt durch XXIX. AK/Ic, BA-MA RH 26-299/124.
134 Stadtkommandanturbefehle Nr. 4 vom 11.11.1941, Nr. 7 vom 19.11.1941, Nr.
8 vom 22.11.1941, Nr. 14 vom 6.12.1941, Nr. 16. vom 6.12.1941, BA-MA RH
26-57/39.
135 57. ID/Ic, Tätigkeitsbericht1.11.-31.12.1941, BA-MA RH 26-57/58.
136 XVII. AK, Beilagen zu KTB 16.11.1941, BA-MA RH 24-17/226.
137 AOK 6, KTB/Ic, 7.12.1941, BA-MA RH 20-6/132.
138 AOK 6/Ia-Ic AO Nr. 2451/41 geh. vom 15.11.1941 betr. Partisanenbekämp
fung im Armeegebiet, BA-MA RH 26-299/124; 57. ID/Ic, Tätigkeitsbericht
1.11.-31.12.1941, BA-MA RH 26-57/58.
139 299. ID, KTB/Ia, 5.11.1941, BA-MA RH 26-299/40; 299. ID/Ic an XXIX. AK,
30.10.1941,BA-MA RH 26-299/123;XXIX. AK, KTB/Ia, 30.10.1941,BA-MA
RH 24^29/9; 75.ID/Ic, Feindnachrichtenblatt Nr. 52,31.10.1941,BA-MA RH
26-75/115.
140 299. ID, KTB/Ia, 28.10.1941, BA-MA RH 26-299/40.
141 299. ID, KTB/Ia, XXIX.10.1941, BA-MA RH 26-299/40; 299. ID/Ic, Zusam
menfassender Ic-Bericht über Partisanenbekämpfung, 12.12.1941, BA-MA RH
26-299/120.
142 Stadtkommandantur Sumy an I./IR 530, IV./AR 175, II./AR 63, AA 175,
Beob.Abt z.K., 1.1.1942; 75. ID/Ic, Tätigkeitsbericht 1.-27.11.1941, BA-MA
RH 26-75/116.
143 299. ID/Ic, Zusammenfassender Bericht über Partisanenbekämpfung,
12.12.1941, BA-MA RH 26-299/120.
144 75. ID/Ic, Tätigkeitsbericht1.-27.11.1941, BA-MA RH 26-75/116.
145 XXIX. AK/Ic, Morgenmeldung vom 7.12.1941, BA-MARH 24-29/78.
146 AOK 6, KTB/Ic, 7.12.1941, BA-MA RH 20-6/132.
147 XXIX. AK, KTB/Ia, 30.11.1941, BA-MA RH 24-29/18.
148 75.ID/Ic, Tätigkeitsbericht Ic- Beurteilung der Feindlage, 15.-30.11.1941, BA-
MA RH 26-75/117.
149 AOK 6, KTB/Ic, 7.12.1941, BA-MA RH 20-6/132.
150 75. ID/Ic, Abendmeldung vom 11.12.1941, Morgenmeldung vom 20.12.1941,
BA-MA RH 26-75/118.
151 XXIX. AK, Korpsbefehlvom 18.12.1941, BA-MA RH 24-29/78.
152 75. ID, KTB/Ia, 23.12.1941, BA-MA RH 26-75/39.
153 75. ID/Ic Nr. 436/41 geh.vom 23.12.1941, BA-MA RH 26-75/118; XXIX. AK,
KTB/Ia, 28.12.1941, BA-MA RH 24-29/18.

296
Tmman Anderson Die 62. Infanterie-Division
Repressalien imHeeresgebiet Süd, Oktober bis Dezember 1941

Repressalien gegen die Zivilbevölkerung sind ein typischer Aspekt des


Krieges. Trotz einigerVersuche in der Nachkriegszeit, solche Maßnah
men durch völkerrechtliche Verträge zu verbieten und zu verhindern,
werden sienoch heute angewandt. Einen Höhepunkt hatten siewährend
des Zweiten Weltkrieges in den vom Deutschen Reich besetzten Gebie
ten erreicht.In ganz Europa zogen die deutschenBesatzungstruppendie
Zivilbevölkerung mit ihrem Leben und ihrem Eigentum für Partisa
nenaktionen zur Verantwortung. In vielen Fällen, besonders in Osteu
ropa, wurden oft fünfzig bis hundert Personen als Sühne für den Tod
eines einzelnen deutschen Soldaten hingerichtet. Ganze Dörfer in der
Umgebung eines Angriffsortes wurden eingeäschert. Darüber hinaus
dienten dieRepressalien der Wehrmacht nicht nur den Zweckender Par
tisanenbekämpfung, sondern standen auch im Zeichen der nationalso
zialistischen Rassenpolitik. In vielen Militärverwaltungen wählten die
deutschen Behörden mit Vorliebe Juden als Opfer ihrer Abschreckungs
maßnahmenaus. Dies geschahaufgrund der rassistischen Annahme, daß
die Juden die Quelle jeder feindseligen Handlung wären.
Die grausamsten Fälle deutscher Repressalien sind weitgehend be
kannt, so Kragujevac in Serbien, Lidice in der Tschechoslowakei und
Oradour sur Glänein Frankreich.Viele dieserSühneaktionenspieltenin
den Kriegsverbrecherprozessen der frühen Nachkriegszeit eine wichti
ge Rolle. Die Durchführung von Repressalien durch deutsche Einheiten
auf dem Balkan beispielsweise war Gegenstand eines der Nürnberger
Nachfolgeprozesse, des sogenannten Geiselprozesses.
Bis in die Gegenwart haben Historiker die Repressalien an der Ost
front hauptsächlich als einen Teil ihrer Untersuchungen über die Betei
ligung der Wehrmacht an der Judenvernichtung verstanden. Deswegen
stehen oft Beispiele im Vordergrund ihrer Darstellung, die den Einfluß
der NS-Ideologie auf diese Ereignisse aufzeigen. Das genügt zunächst
für den Nachweis, daß Soldaten der Wehrmacht aus eigener Initiative
Juden ermordeten. In vielen Fällen fehlt uns jedoch eine Analyse der

^•97
Umstände dieser Geschehnisse, und zwar besonders dort, wo neben
Juden auch andereBevölkerungsgruppen zu Opfern wurden. Nur selten
haben Historiker das Vorgehen einer bestimmten Einheit im Hinblick
auf die verschiedenen Umstände ihres Verhaltens systematisch unter
sucht. In diesem Aufsatz wird der Versuch unternommen, auf der Basis
der deutschen Dokumente die Repressalien der 62. Infanterie-Division
(62. ID) in der Zeit ihrer Unterstellung unter das rückwärtige Heeres
gebiet Süd gegen Ende des Jahres 1941 zu untersuchen. Es soll gezeigt
werden, wie die geltenden Anordnungen des Oberkommandos der
Wehrmacht (OKW) und des Oberkommandos des Heeres (OKH) von
kleinerenEinheiten im Felde interpretiert und durchgeführt wurden.1

Die »verbrecherischen Befehle«

In Vorbereitungdes Feldzuges gegenden »jüdischenBolschewismus« in


der UdSSR gab das OKW im Frühjahr 1941 einige Sonderbefehle her
aus, die die Behandlung der Zivilbevölkerung oder der Soldaten der
Roten Armee bestimmten. Diese Anordnungen wichen deutlich von
dem bisherigen Vorgehen in den Westfeldzügen ab. Die Wehrmachts
führung stimmte mit Hitler darin überein, daß der kommende Kampf
gegen die Sowjetunion kein »ritterlicher« Krieg werden würde. Statt
dessen erwartete sie den unerbittlichen Kampf zweier »einander ent
gegengesetzter Weltanschauungen«. Von bestimmten Schichten der
sowjetischenBevölkerung, besonders von den kommunistischen Funk
tionären und vor allem von den Juden, war nach ihrer Einschätzung
heimtückischer und fanatischer Widerstand zu erwarten. Da das russi
sche Volk als Kolonialvolk behandelt werden sollte, dem die Rechte der
europäischen Rasse abgesprochen wurden, erwartete man in einem sol
chen Kampf von der Truppe eine besondere Härte.
Da es im folgenden um die Repressalien der Wehrmacht geht, sollen
die »verbrecherischen Befehle« unter diesem Gesichtspunkt skizziert
werden.
Der Gerichtsbarkeitserlaß vom 24. Mai 1941 setzte die militärischen
Rechtsnormen außer Kraft, nach denen bisher die Vergehen deutscher
Soldaten gegen die Zivilbevölkerung geahndet worden waren. Zudem
war vorgesehen, daß feindselige Handlungen der Einwohner gegen
Wehrmachtsangehörige an Ort und Stelle und ohne gerichtliche Verfah
ren bestraft werden sollten. Der bloße Verdacht genügte, um die Todes
strafe zu rechtfertigen. Solche Verschärfungen waren nicht alleinideolo-

298
gisch begründet. Das OKW argumentierte damit, daß die Ausdehnung
des Operationsgebietes in Rußland solche Maßnahmen erforderlich
machen würden.2 In den Anordnungen über Repressalien fand diese
Haltung ihren konzentrierten Ausdruck: Falls die Täter eines Partisa
nenüberfalls oder eines Sabotageaktes nicht ergriffen werden konnten,
waren die Truppenführer verpflichtet, gegen die Einwohner der Umge
bung sofortige Kollektivmaßnahmen durchzuführen. Der Befehl dazu
sollte durch einen Bataillonskommandeur oder einen höheren Offizier
sanktioniert werden.
Disziplinverstöße vonWehrmachtsangehörigen gegenüber derBevöl
kerung wurden durch diese Anordnungen gedeckt, während die Voll
machten, Repressalien anzuordnen, im gleichen Zuge radikal dezentra
lisiert wurden.
Die beispiellose Länge und Tiefe der neuen Front im Osten erforder
te die Einrichtung vonsogenannten rückwärtigen Heeresgebieten hinter
den drei in Sowjetrußland angreifenden Heeresgruppen. Diese Heeres
gebiete - »Nord« (101), »Mitte« (102) und »Süd« (103) -waren als zeit
lich begrenzte Verwaltungen geplant. So schnell wie möglich sollten
politische Verwaltungen in Form von Reichskommissariaten die Hee
resgebiete ablösen. Deshalb waren ihre Aufträge ursprünglich begrenzt
und einfach formuliert: die Marschstraßen der Armeen, Versorgungs
stützpunkte und Eisenbahnlinien vor Partisanenangriffen zu schützen,
um das Blitzkriegstempo des Vormarsches zu garantieren. Die langfri
stige Arbeit der Befriedung und der wirtschaftlichen Ausbeutung des
eroberten Raumes sollte später einem Reichskommissar und seinen
nachgeordneten Dienststellen obliegen. Dochschon vor dem Scheitern
des Angriffs aufMoskau stellte sich heraus, daßdiese Pläne nichtzu ver
wirklichen waren. Die rückwärtigen Heeresgebiete wurden ständige
regionale Befehlsbereiche. Weil der Schwerpunkt der Operationen in
denJahren 1942 bis 1943 im Süden der UdSSR lag, wuchs das rückwär
tige Heeresgebiet Süd (später in Heeresgebiet »B« umbenannt) in beson
derem Maße. Im Sommer 1942 umfaßte es fast 200000 qkm und eine
Bevölkerung von circaacht MillionenMenschen.3
In den erstenWochen des Feldzuges mußten sowohl die Befehlshaber
dieser Heeresgebiete als auch dieOberbefehlshaber derArmeen undder
Heeresgruppen ihre eigenen Befehle formulieren, die die allgemeiner
gehaltenen und eher vagen Anordnungen des OKW und des OKH
ergänzten und erläuterten. Diese Neuformulierung der Befehle geschah
außerhalb der Kontrolle des neuen Ministeriums für die besetzten Ost
gebiete und war deshalb in verschiedenen Fällen ideologisch eigenwillig
299
und widersprüchlich. Dennoch ähnelten diese Befehle in ihrer Bewer
tung der Rangordnungder osteuropäischen Völkerteilweise den Thesen
Alfred Rosenbergs. Nachdessen Auffassung galten dieUkrainer infolge
ihrer Abneigung gegen Moskau und ihrer »arischen« Bluteinschläge als
potentiell deutschfreundlich. Nachdem das OKH am 12. Juli 1941
bekanntgegeben hatte, daß für deutschfreundliche Elemente der sowje
tischen Bevölkerung die Sühnemaßnahmen nicht gelten sollten, arbeite
te General der Infanterie Karl von Roques, der Befehlshaber des rück
wärtigen Heeresgebietes Süd, diese rassistischen Maßstäbe in seine
Repressalienbefehle ein.4

Erste Partisanenaktionen

1941 gab es in der Ukraine keine wirkliche Partisanenbewegung, son


dern nur versprengte Rotarmisten, kleinere Gruppen von kommunisti
schen Funktionären und vom NKWD organisierte Hilfstruppen, die
sogenannten Zerstörungseinheiten. Im allgemeinen waren sie ihren
Kampfaufträgen nicht gewachsen und beschäftigten sich hauptsächlich
mit demHamstern von Lebensmitteln. Die Erwartungen des OKH und
des Heeresgebietes hinsichtlich der neutralen odersogar deutschfreund
lichen Haltung der Ukrainer wurden durch diese Tatsachen bestätigt.
Am 16. August 1941 gab von Roques bekannt, daß in Fällen von Parti
sanentätigkeiten, bei denen die Täter nicht zu ermitteln waren, die ange
setzten RepressaliengegenRussen oder Juden zu richten seien.Ukrainer
dagegen sollten von denSoldaten des Heeresgebietes geschont werden.5
Ähnliche Anordnungen erließen zu diesem Zeitpunkt auch andere
Kommandeure des Ostheeres.6
Bis zumOktober 1941 folgte man imBefehlsbereich vonRoques die
serAnordnung. Obwohl es viele kleine Provokationen gab, zum Beispiel
die von Partisanen erzwungene Versorgung durch Ortsansässige, und
obwohl dieTruppen des Heeresgebietes gefangene Partisanen und ihre
Anhänger normalerweise nach der Gefangennahme erschossen, führten
die dem Heeresgebiet unterstellten Verbände in diesem Zeitraum nur
eine Repressalie durch.7 Diese traf ausschließlich Juden. Am 29. August
bekam die454. Sicherungs-Division eine Meldung aus demDorf Czer-
wone, derzufolge »Partisanen in Verbindung mit jüdischen Einwoh
nern« die Ortschaft beunruhigt hätten. Das Polizeibataillon 82 (mot.)
wurde darauf angesetzt. Nach Angaben der Einwohner wurde »festge
stellt«, daß die dortigen Juden an einem Partisanenangriff gegen die
300
Zuckerfabrik teilgenommen und auch russischen Fliegern mit Leucht
signalen den Weg zu einemdeutschenFlugplatz gezeigthätten. Die Poli
zei fand bei Haussuchungen Gewehre und Munition, und dies einenTag
nach der Bekanntmachung eines Aufrufs zur Waffenabgabe. Auf Befehl
des Bataillonskommandeurswurden 63 jüdische Männer auf dem Dorf
platzexekutiert.8 Bis EndeOktober blieb Czerwone dereinzige Fall die
ser Art, obwohl die Truppenführer der Ostfront am 25. Juli 1941 erneut
vom OKH und dann am 19. September auch vom OKW ermutigt wor
den waren, an Ort und Stelle Repressalien gegen die Zivilbevölkerung
anzuordnen.9
Nach den großen Kesselschlachten bei Kiewstiegdie Partisanentätig
keit im Heeresgebiet Süd an. Der Befehlsbereich war jetzt sehr groß
geworden. Seine Grenzen verliefen ungefähr von der Kleinstadt Dawid
Gorodok im Nordwesten, östlich bis Nowosybkov (östlich von
Gomel), südlich bis nahe Mariupol, westlich bis Nikolajev und dann
wieder nördlich zum Ausgangspunkt bei Dawid Gorodok - ein großes
Rechteck, das ungefähr ein Drittel der Ukraine umfaßte.10 Zu diesem
Zeitpunkt waren die Sicherungstruppen von Roques zusätzlich durch
den Zustrom von sowjetischen Kriegsgefangenen in Anspruch genom
men. Auf Befehldes OKH wurden drei Divisionen zur Verstärkungein
gesetzt: die 113., die 24. und die 62. Infanterie-Division. Nachdem die
Kriegsgefangenen der Schlachten bei Kiew in die Dulags und Stalags
abtransportiert worden waren, kehrten die 113. und die 24. ID zu ihren
Armeen zurück. Auch die von der 6. Armee des Generalfeldmarschalls
von Reichenau detachierte 62. ID kehrte zunächst zurück, wurde aber
wenige Tage später wegen starker Partisanentätigkeit im Raum Mirgo-
rod wieder zur Verfügung des Heeresgebietes gestellt. Ende Oktober
begann sie mit den Säuberungen in Mirgorod.

Die 62. Infanterie-Division im Heeresgebiet Süd

Die 62. ID war eine Reservedivision der zweiten Mobilmachungswelle


von 1939/40im Wehrkreis VII (Glatz in Schlesien). Eine typische Divi
sion dieser Kategorie verfügte in ihrer Personalausstattung durch
schnittlich über 83 Prozent ausgebildete Reservisten unter 35 Jahren,
acht Prozent kurzfristig ausgebildete Reservisten (auch unter 35Jahren),
sechs Prozent aktives Personal und drei Prozent Landwehr.11 In dieser
Hinsicht kann man die 62. ID als eine ganz normale Einheit des deut
schenHeeres bezeichnen. Die Divisionkämpfte erfolgreichin Polen und

301
Frankreich, und zu Beginn des »Unternehmens Barbarossa« galt sie als
ein kampferfahrenerVerband.
Im Ostfeldzug rückte die Division als Teil der 6. Armee in der allge
meinen Stoßrichtung Kowel-Ssarny-Korosten mit vor. Wie die Mehr
zahlder Infanterie-Divisionen an der Ostfront war die 62. ID bisAnfang
September 1941 fast ausgeblutet. Bei den Schlachten um Kiew erlitt sie
in der Nähe von Borispol vom 19. bis 24. September weitere schwere
Verluste. 405 Offiziere und Soldaten fielen, 487 wurden verwundet und
166 vermißt. Die Gesamtzahl für September betrug 553 Gefallene, 1027
Verwundete und 182 Vermißte, d.h. 13 Prozent der Divisionsver-
pflegungsstärke vom 31. August.12 Im Laufe des Oktober^ erhielt die
Division Ersatz zugeteilt, und am 15. November meldete sie einen
Fehlbestand von immer noch 72 Offizieren, 433 Unteroffizieren und
1372 Soldaten. Damit war die Infanterie-Division zu 80 Prozent
aufgefüllt. Der Divisionskommandeur, Generalleutnant Friedrich,
schilderte den geistigen und körperlichen Zustand seiner Soldaten
wieder als »ausgezeichnet«.13 Dies war vielleicht zu optimistisch, denn
er selbst gab zu, daß die mangelnde Ausbildung der neuen Mannschaf
ten und der Mangel an Unteroffizieren noch immer ernste Probleme
seien.
Bis dahin hatte die 62. ID nur wenige Erfahrungen mit Partisanen
gesammelt, obwohl sie hinter der Front oft gegen versprengte oder ein
gekreiste Kräfte der Roten Armee gekämpft hatte. Von Reichenau hatte
die Wichtigkeit harter Kollektivmaßnahmenin seinen Befehlenwieder
holt unterstrichen, und auch der vorherige Divisionskommandeur,
Generalleutnant Walter Kreiner, hatte am 21.Juli befohlen, »kein Sabo
tagefall darf ungeahndet bleiben«. Wie im Gerichtsbarkeitserlaß waren
die Täter nach dieser Anordnung zu erschießen, sobald man ihrer hab
haft wurde. Wäre dies nicht möglich, »so hat die Ahndung'durch Kol
lektivstrafen zu erfolgen«. Diese konnten »in Erschießung von orts
ansässigen Juden oder Russen, Abbrennen von. jüdischen oder
russischen Häusern bestehen«. Die ukrainische Bevölkerung, die »mit
den Deutschen sympathisiert«, sei davon auszunehmen.14 Von Rei
chenau hatte in seinen Befehlen auch die angeblich führende,Rolle der
Juden in der Partisanenbewegung hervorgehoben.15 Aber die Einheiten
der Division hatten zu diesem Zeitpunkt weder gefangene Partisanen
und ihre Anhänger erschossen, noch Juden, Russen oder Ukrainer als
Repressalie hingerichtet.Am 14. August war beispielsweise eine Brücke
im Divisionsgebiet von Partisanen zerstört worden, und am 18. August
hatten Partisanendie Truppenstellungen der Divisionviermal angegrif-

302
fen, aber beide Fälle blieben »ungeahndet«.16 Erst beim Einmarsch der
Division in Mirgorod veränderte sich dieses Muster.

Mirgorod und Baranowka

SeitWochen hatten Partisanendie umliegenden Kolchosen angegriffen.


Am 19. Oktober fand ein deutscher Bezirkslandwirt aus Charkow zwei
tote Soldaten der Luftwaffe auf einer von den Partisanen zerstörten
Brücke bei Kamischnia. Nach seinem Bericht hatten die Partisanen die
Männer offenbar überfallen und ihnen die Augen ausgequetscht, mög
licherweise als sie noch am Leben waren.17 An den folgenden Tagen
erfolgten weitere Angriffe. Der Ortskommandant vonMirgorod batdas
Heeresgebiet um Hilfe und verlangte ausdrücklich Repressalien. Am
28. Oktober erreichte das 3. Bataillon des 190. Infanterie-Regiments
(111/190) dieStadt.18 Nach Erkundungenund Vernehmungen erschossen
die Soldaten des Bataillons 45 Partisanen und 162Juden - die gesamte
jüdische Bevölkerung.19 Das Kriegstagebuch des Heeresgebietes ver
merkte, diese Juden hätten die Partisanenunterstützt, obwohl die Mel
dungen der 62. ID nichts davon erwähnten. In den kommenden Tagen
entdeckte das BataillonmehrereWaffenlager in der Umgebung von Mir
gorod. Es kamzu einigen Feuergefechten mit Partisanengruppen, insge
samt mit nicht weniger als sechzigMännern.
Die Partisanentätigkeit in der Gegend stieg in den folgenden Tagen
weiter an, während der Rest der Division im Heeresgebiet Süd eintraf.
In der Nacht vom 4. zum 5. November wurden ein deutscherOberst der
Pioniere und seine drei Begleiter im Dorf Barankowka im Schlaf über
fallen, als sieauf demWeg zum Armeeoberkommando 6 in Poltawa bei
einem angeblichen Arzt übernachteten. Oberst Zins und zwei seiner
Soldaten wurdengetötet. Einem Obergefreiten gelang eszu entkommen.
Einige Tage später kam er ohne Hosen und Stiefel in Mirgorod an und
meldete sich beim Ortskommandanten.20
Meldungen dieses Angriffs erreichten den Stab des Heeresgebietes
zuerst am 9. Novemberüber die 62. ID. Die Führung reagierte auf das
bis dahin ungewohnte Ereignis, als ob derÜberfall ein Massaker gewe
senwäre. Im Kriegstagebuch der Operationsabteilung hieß es, Zins und
die anderen seien »ermordet« und ihre Depeschen »gestohlen« wor
den.21 Der neue Befehlshaber des Heeresgebietes, Generalder Infanterie
Erich Friderici, teilte der Heeresgruppe Süd mit, daß »schärfste Sühne
maßnahmen« eingeleitet seien. Der 62. ID gab er den Auftrag, »ab-

303
schreckende Strafmaßnahmen gegen schuldige Ortsbevölkerung«
durchzuführen.22 Er befahl auch seinen Sicherungs-Divisionen, »bei
ähnlichen Vorkommnissen mit schärfsten Maßnahmen« durchzugrei
fen.23
Es ist bemerkenswert, daß Juden, Russen oder Kommunisten in die
sen Befehlen und Meldungen nicht erwähnt wurden. Die vermutlich
noch geltenden rassenideologischen Repressalienrichtlinien des Heeres
gebietes und der 62. ID sahen vor, Ukrainerunbehelligt zu lassen. Jetzt
schien sich niemand mehr auf diesen Vorbehalt zu stützen. Vielleicht war
die »Ermordung« eines deutschen Obersten eine zu starke Provokation.
Vielleicht glaubte die Heeresführung zu diesem Zeitpunkt noch, daß es
in der Nähe von Baranowka keine Juden mehr gäbe. Wenig später mel
detedie 62. ID jedochdieAnwesenheit von 120 Juden in Gadjatsch über
das Heeresgebiet andenSD.24 Kurzdarauf bekam das Heeresgebiet wei
tere Nachrichten über Partisanengruppen, die im Tal des Flusses Psjol,
d.h. südlich von Gadjatsch und östlich von Mirgorod, tätigwaren. Die
Feldgendarmerie bei der Ortskommandantur I (V) 268 meldete, daß es
nach den Angaben ukrainischer Verbindungsmänner und "Hilfspoli
zistenzweiein-bis zweihundert MannstarkeGruppenin der Nähe von
Kubuschew und Ssakalowka gab. Diese Gruppen, hieß es, hätten die
Einwohner terrorisiert, Vieh und Lebensmittel geraubt und entlassene
ukrainische Kriegsgefangene zwangsrekrutiert.25 Eine Meldung wies
darauf hin, daß einige ukrainische Einwohner der Umgebung mit der
Gruppe in Ssakalowka in Verbindungständen.
Am 10. November marschierte das III/190, das Bataillon, das die
Juden von Mirgorod erschossen hatte, in Baranowkaein. Über die Vor
kommnisse gabes nur wenigeInformationen.Die Leichenvon Zins und
der beiden Soldaten, des Uffz. Graf und des Gefr. Tischler, wurden
zusammen mit dem Wrack ihres Horch-Kübelwagens entdeckt. Nach
weiteren Erkundungen und Haussuchungen erschossen die deutschen
Soldaten zehn Einwohner und brannten das Dorf nieder. Ein Kompa
niechefberichtete später,in den Häusern versteckteMunition sei in den
Flammen explodiert und man habe in der Ortschaft Dumdumgeschosse
gefunden.26 Nochamgleichen Tag erschoß das 111/190 inJereski 45 Par
tisanenund ihre »Helfershelfer« und erhängtedrei weitere Partisanenin
Sorotschinzy.27
Auf die Geschehnisse in Baranowka reagierte Generalleutnant Fried
rich am 11. November mit einem neuen Befehl über die Methoden von
Sühnemaßnahmen. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, Generalleutnant
Keiner, betonte Friedrich den erwünschten Abschreckungszweck von
304
Repressalien und unterstrich die zentraleBedeutung einerMitarbeitder
Bevölkerungbei der Partisanenbekämpfung. Darüber hinaus empfahler
vorbeugende Geiselnahmen anstelle der bis dahin üblichen nachträgli
chen Exekutionen. Nach seiner Auffassungdiente es nur den Zielender
Partisanen,wenn nach einemAngriffunschuldigePersonen hingerichtet
wurden. Besser sei hingegen, vorab festgesetzte Geiseln für Überfälle
haftbar zu machen, um damit die Kooperation ihrer Familienangehöri
gen zu erzwingen.28 Dies war eine bemerkenswerte Abweichung vom
Wortlaut des Gerichtsbarkeitserlasses. Es sei nur darauf hingewiesen,
daß in diesemBefehlauch die frühere Anordnung, gegen Juden und Rus
sen vorzugehen, nicht wiederholt wurde.
Am 12. November marschierte die 12. Kompanie des HI/190 zu dem
kleinen Dorf Obuchowka. Als sie sich dem Dorfrand näherte, eröffnete
eine verborgene Partisanengruppe aus dem Hinterhalt das Feuer. Die
sowjetischen Partisanen, die mit einem Granatwerfer, drei Maschinen
gewehren sowie Gewehren und Maschinenpistolen ausgerüstet waren,
kämpften aus einer Stellungauf einem Windmühlenhügel. Nach Schät
zung der Deutschen handelte essichum ein- bis zweihundert Partisanen.
Dennoch gelang es den Soldaten der 12. Kompanie, die Partisanen vom
Hügel in einen nahe gelegenen Sumpf zu treiben, wo nach dem Bericht
des Kompaniechefs die Mehrzahl niedergeschossen wurde. Der Führer
entkam mit einigen Partisanen.
Von der Kompanie waren drei Männer gefallen und fünf verwundet.
Die deutschen Berichte enthalten keine Verlustangaben für die Partisa
nen, aber die Erschießungen sollten mit dem Abrücken der Aufständi
schen nicht enden. Weil die Einwohner des Dorfes es versäumt hatten,
die Soldatenvor der Gefahr zu warnen, führte die Kompaniesofort eine
Repressalie durch. In seiner Meldung erklärte der Kompaniechef: »Da
die Bevölkerung die Anwesenheit der Partisanen verheimlichte, wurde
das Dorf niedergebrannt und die Bevölkerung ausgerottet (erschos
sen).«29 Wie viele Personen dabei umkamen, bleibt unbekannt. Obwohl
dieses Massaker der Absicht des neuen Divisionsbefehls widersprach
(wahrscheinlich hatte die Kompanie ihn noch nicht erhalten) und ob
wohl die erforderliche Erlaubnis des Bataillonskommandeurs vermut
lich nicht erteilt worden war, gibt es keinen Beweis, daß Divisionsstab
oder Heeresgebietsstab die Entscheidung des Kompaniechefs später in
Frage stellten.
Am gleichen Tag ereignetesich ein anderer Zwischenfall. Im Opera
tionsgebietder Ersatzbrigade 202 (auch siewar dem Heeresgebietunter
stellt), erschoß ein sowjetischer Scharfschütze einen Soldaten vom

305
Landesschützenbataillon 416, während dieser beim Bahnhof von
Gornoschajewka Wachestand. Daraufhin wurden auf Befehldes Batail
lonskommandeurs zwanzig Juden aus Gornoschajewka und dem an
liegenden Dorf Dobryanka verhaftet und erschossen. Fünf von Juden
bewohnte Häuser wurden in Brand gesteckt. Weitere Auskünfte über
dieses Ereignis gibt es in den vorliegenden Akten nicht.30

Das IL Bataillon

Während die Strafaktion um Baranowka noch im Gange war, suchten


auch andere Einheiten der 62. ID nach Partisanen. Am aktivsten war das
11/164, das zwischen dem 10. und 24. November zwei Such- und Säube
rungsaktionen im Gebiet südlich von Gadjatsch durchführte. Diese
Unternehmen sind besonders bemerkenswert, weil sie ein dreiglied
riges Wechselverhältnis von NS-Ideologie, traditionellen europäischen
Befriedungsmethoden und widrigen taktischen Umständen als Ein
flußfaktoren auf das Verhalten deutscher Soldaten an der Ostfront ver
deutlichen.
Diese Aktionen begannenam 10.November in Sswinarnoje, wo sechs
angebliche Partisanen von einem Einwohner denunziert worden waren.
Alle sechs wurden nach einer Vernehmung erschossen. Am Abend des
gleichen Tages trafen die Deutschen dann in Ljutenka ein. Dort fanden
sie auf der Außenwand eines ehemaligen Parteibüros eine kommunisti
sche Fahne, die herausfordernd drapiert war. Der Wächter des Gebäu
des erklärte das damit, daß für den Abend ein Treffen der örtlichen Par
tisanengeplant gewesen sei. Er wurde erschossen. Hausdurchsuchungen
im Ort förderten einige Waffen zutage, die Soldaten nahmen eine jüdi
scheFamilie mit gefälschten Personalausweisen fest. Nach kurzer erfolg
loser Vernehmung wurden alle- insgesamtvierzehn Personen - erschos
sen.31
Nachdemdas Bataillon amfolgenden Tag einleeres Partisanenlager in
einem Gehölz bei Raschewka entdeckte,wurden in Mlyny vier Geiseln
genommen. Wahrscheinlich geschah dies in Erfüllung des neuen Divi
sionsbefehls. Die Geiseln sollten am folgenden Tag erschossenwerden,
wenn die Einwohner keine Auskünfte über die Partisanen geben wür
den. Sodann kehrte das Bataillon nach Ljutenka zurück, vermutlich
unter Mitnahme der Geiseln. Im Laufe des folgenden Tages ging das
11/164 in der Umgebung von Welibowka auf Partisanensuche. Mehrere
Verdächtige wurden gefangengenommen. Am 13. November wurden

306
dann 21 Gefangene erschossen. Ob darunter auchdie Geiseln ausMlyny
waren, geht aus den erhaltenen Akten nicht hervor. Insgesamthatten die
Soldatendes 11/164 während des dreitägigenUnternehmens 49 Personen
exekutiert. In seinem Bericht über die Aktion bemerkte der Bataillons
kommandeur Faasch, daß mit diesen 49 Exekutionen eine von der
Armee befohlene Repressalie erfülltworden sei.Woraufsich dies bezog,
ist unklar, da kein Befehl dieser Art in den Divisionsakten aufzufinden
ist. Möglicherweise meinte Faasch den Fall des Obersten Zins.32
Aufschlußreich sind Faaschs Bemerkungen über die allgemeine
Zweckmäßigkeit von Repressalien. Wie schon Friedrich betrachtete
auch er präventive Geiselnahmen als effektiver. Er schien zu verstehen,
daß die Lage der Bevölkerung in den von PartisanenbesetztenGebieten
im Grunde hoffnungslos war. SowohlDeutsche wie Partisanenerhoben
Forderungen gegenüber den Ortsansässigen, aber keinevon beiden Par
teien konnte die Einwohner zuverlässig gegen die andereschützen. Des
wegenmußte die Bevölkerung demjenigen gehorchen, der siegerade mit
der Waffe bedrohte - einegünstige Konstellationfür die Aufständischen.
Vielleicht war Faasch nicht der erste Offizier im Heeresgebiet Süd, der
diese Tatsache wahrnahm, aber bis zu diesem Zeitpunkt hatte dieses
Dilemma niemanden zu einer Kritik an der vorherrschenden Befrie
dungsstrategie veranlaßt. Faaschfand eineunkonventionelle Lösungfür
das Problem. Er empfahl, in den bedrohten Dörfern kleine deutsche
Abteilungen zusammen mit ukrainischer Hilfspolizei zu hinterlassen,
um die Bewohner dauerhaft zu schützen. In seinem eigenen Bataillon
hatte er dafür Vorbereitungen getroffen. Aber die Empfehlung blieb
langfristig gesehen vergeblich. Niemals verfügte das Heeresgebiet über
die ausreichenden Mittel,um einesolcheTaktik der Befriedungins Werk
setzen zu können.
Kurze Zeit nach dieser Aktion wurde das 11/164 wieder in dieser
Gegend eingesetzt. Diesmal war es dem Infanterie-Regiment 190 unter
stellt. Dieses Unternehmen führte zu keinem großen Erfolg, auch wenn
mehrere Verdächtige erschossen und versteckte Waffen entdeckt wur
den. Im allgemeinen galtdieBevölkerung jetzt alsdeutschfreundlich und
hilfsbereit. Viele Kommunisten wurden von ihren Nachbarn denunziert.
Dennoch nahm das Bataillon am 16. Oktober drei Geiseln in Borki. Wie
zuvor wissen wir aber nicht, ob sie hingerichtet oder später freigelassen
wurden.33 Am 18.Oktober erschoß ein von der 7. Kompanie des Batail
lons detachierter Zug in Turowka einenJuden. Für diese Exekution gab
es keine Erklärung.34
Fünf Tage später kamen Soldaten dieser Kompanie nach Turowka

307
zurück und erschossen alle Angehörigen einerdreiundzwanzigköpfigen
jüdischen Familie, auch dies ohne eine gemeldete Begründung. Einige
Tage danach wurden in Welibowka vierzehn Geiseln genommen, nach
dem eine Gruppe von denunzierten Verdächtigen dem Bataillon ent
kommen war. Was aus den Geiseln wurde, ist nicht völlig geklärt. Wir
wissen nur, daß mehrere Geiseln am folgenden Tag freigelassen wurden,
nachdem acht der Verdächtigen gefangengenommen und erschossen
worden waren.35
Während das 11/164 seineSäuberungsaktion um Ljutenka durchführ
te, suchten andere Bataillone des Infanterie-Regiments 190 südlich von
Gadjatsch nachPartisanen. Doch ihreTätigkeitführte wederzu Repres
salien noch zu Judenerschießungen. Nur eine Handvoll verdächtiger
Personen wurde hingerichtet. Am 26.Oktober kam das II/164 noch ein
mal zum Einsatz, nachdem sich zwei Überläufer aus den Reihen der Par
tisanen bereit gefunden hatten, die Deutschen zu ihren ehemaligen
Kameraden im Waldzu führen. Ein Zug der 6. Kompanie aus Raschew
ka wurde eingesetzt, aber die Partisanen gingen zum Angriff über, ehe
sie überrumpelt werden konnten. Im Morgengrauen des 27. Oktober
griffen siein Ljutenka einen zurückgebliebenen Zugder 7.Kompanie an.
Der Überraschungsangriff scheiterte, als zwei motorisierte Züge aus
Gadjatsch zur Verstärkung eintrafen.Um 19.30 Uhr meldete das Infan
terie-Regiment 164, daß die angreifenden Partisanenin Ljutenka unter
geringen Verlusten zurückgeworfen seien. »Zahlreiche« Einwohner,
unter ihnen mindestens zehn »Banditen«, starben in diesem Feuerge
fecht. 32Häuserwurdenmitder Begründung in Brandgesteckt, diePar
tisanenhätten diese Gebäudewährend des Angriffs benutzt.36
Für die Partisanen stellte es sich als ein großer Fehler heraus, sich
auf einen derartigen Angriff eingelassen zu haben. Das 11/164 fand
am 28. Oktober ihre restlichen Stützpunkte in der Umgebung von
Ljutenka. 57 Partisanen wurden nach ihrer Gefangennahme erschossen.
Am 29. Oktober wurde ein weiteres Waffenlager entdeckt und zer
stört.
Am 30. November erging der Befehl an die 62. ID, sich auf die Ablö
sung durch die Ersatzbrigade 202 vorzubereiten. Geplant war, die Divi
sion,in die Umgebung von Dnepropetrowsk-Pawlograd zu verlegen.
Vor dem Abmarsch fand noch eine letzte Repressalie statt. Am
1. Dezember entdeckte eine nicht näher bekannte Einheit der Division
zwei Partisanenlager in einem Wald nordöstlich von Ssakalowka.
Dreißig »Banditen« wurden erschossen, offensichtlichnach ihrer Gefan
gennahme, denndieDivisionsakten erwähnen kein Feuergefecht. Einige
308
Waffen fielen in deutsche Hände. Ssakalowka selbst wurde nieder
gebrannt. Die Unterlagen gebenkeine Begründungdafür an. Da zu die
sem Zeitpunkt im Heeresgebiet Süd die Taktik der »verbrannten Erde«
im Partisanenkampf noch nicht angewandt wurde, ist zu vermuten, daß
das Dorf als Repressalie gegen die .Zivilbevölkerung eingeäschert
wurde.37
Damit endete der Einsatz der 62. ID im Heeresgebiet Süd. Am 8.
Dezember erreichte die Division ihr Marschziel bei Poltawa und kehrte
am 21. Dezember zur Heeresgruppenreserve zurück.

Schlußfolgerungen

Wie ist das Verhalten der Soldaten der 62. ID zu erklären und zu bewer
ten? Zunächst ist festzustellen, daß Befriedungsmaßnahmen wie Geisel
erschießungen und das Abbrennen von Dörfern in der modernen
Kriegsgeschichte nicht außergewöhnlich sind. Zudem war die Hinrich
tung gefangener irregulärer Kämpfer vom damals geltenden Kriegsvöl
kerrecht (Haager Landkriegsordnung von 1907) unter gewissen Um
ständen gestattet. Die moderne Kriegsgeschichte unterstellt auch, daß
erschöpfte und frustrierte Soldaten oft zu Gewalttaten gegenüber der
Zivilbevölkerung neigen. Ideologische Leitbilder sind mithin keine
unentbehrlicheVoraussetzung für Massaker. Zu berücksichtigen ist fer
ner, daß das deutsche°Heer im Vergleich zu anderen Armeen möglicher
weise gegenüber irregulärem Widerstand besonders empfindlich war;
eine Einstellung, die mehr mit Deutschlandstraditioneller militärstrate
gischer Abhängigkeit von Schlachtfeldsiegen als mit der NS-Ideologie
zu tun haben dürfte. Und doch ist unübersehbar, daß die ideologische
Ausrichtung der »verbrecherischen Befehle« und die verschiedenen
Anordnungen des Heeresgebietes, der 6. Armee und der 62. Division
eine starke Wirkung hatten.
Vor der Ankunft der 62.ID im HeeresgebietSüd gab es nur einenFall
von Repressalie innerhalb des Befehlsbereichs: in Czerwone, wo nur
Juden zu den Opfern zählten. Erklären läßt sich das durch die relativ
geringe Partisanentätigkeit in den ersten Monaten des Feldzuges. Die
Auswahl der Opfer deutet darauf hin, daß die dem Heeresgebietunter
stellten Verbände bereit waren, ausschließlich Juden für Unruhen
verantwortlich zu machen. Zu vermuten ist, daß auch der ukrainische
Antisemitismus eine Rolle in der Entwicklung der deutschen Repressa
lienpolitik gespielt haben dürfte. Beiden Annahmen entspricht das
309
Verhalten der 62. ID, als sie am Anfang ihrer Säuberungen im Raum
von Mirgorod die dort lebendenJuden als Repressalie ermordete.
NachdemTodvon Oberst Zinsund seinen beiden Begleitern wichdie
Division jedoch von diesem Muster ab und bezog auch Ukrainer in ihre
Strafaktionen ein. In Baranowka und Obuchowka wurden Ukrainer als
Sühne für deutsche Verluste erschossen, und beide Dörfer wurden nie
dergebrannt. Ljutenka und Ssakalowkawurden teilweise oder vollstän
dig in Brand gesteckt, und in Ljutenka, Mlyny, Borki und Welibowka
ging die Division dazu über, Ukrainer als Geiseln zu nehmen.
Die Gründe für diese Abweichungen von den Repressalienbefehlen
des Heeresgebietes und der Divisionsführung sind kompliziert. Es
scheint so, als ob der Tod von Oberst Zins und die zunehmende Partisa
nentätigkeit in der Umgebung von Mirgorod als ein »Ausnahmefall«
interpretiert wurde. Friderici befahl der Division, gegen die »schuldi
gen« Ortsbewohner in Baranowka Abschreckungsmaßnahmen zu
ergreifen, ohne auf ihre Rasse hingewiesen zu haben. Möglicherweise
spielten auchdieschweren Kampfverluste der 62. ID eine wichtige Rolle.
Keine andereEinheitdes Heeresgebietes hatte bis zu den späterenWin
terschlachten von 1941/42 solche Verluste erlitten. Zu berücksichtigen
ist auch, daß die Nachrichten aus dem partisanenbesetzten Gebiet des
Psjol,über die die Divisionverfügte (zum Beispiel Berichte der deutsch
freundlichen Einwohner), auf ukrainische Gruppen und Personen hin
deuteten und so die allgemeine Vermutung einer exklusiven jüdischen
Verantwortung widerlegten. Solche Informationen hatten jedoch keinen
dauerhaften Einfluß, da dieSoldaten des II/164 später im Zuge der Par
tisanenbekämpfung die jüdische Familie in Turowka ohne weitere
Begründung erschossen.
Der Einfluß, den die Aktionen der 62. ID auf die Abschreckungs
methoden des Heeresgebietes insgesamt ausübten, ist schwer zu beur
teilen. Bei einer Repressalie in Gornoschajewka wurden nur Juden
bestraft. Gleichzeitig mitden Säuberungsmaßnahmen der62. ID kämpf
te die Sicherungs-Division 444 im Dnjeprbogen in der Nähe von Niki
pol gegen starke Partisanenverbände. Obwohl die Division wußte, daß
die Einwohner dieser Gegend mit den Partisanen in Kontakt standen,
führte dieTruppe offenbar keine Kollektivmaßnahmen gegen dieumlie
genden Dörfer durch. Statt dessen wurden gezielte Maßnahmen gegen
Familienangehörige von Verdächtigen und ihr Eigentum ergriffen,
manchmal in Form von Verhaftungen statt Hinrichtungen. Beim
Abschluß dieses Unternehmens wurden jedoch auch 136 gefangene
Juden erschossen,38 und auch die erste Repressalie des Jahres 1942 im
310
Heeresgebiet Süd richtete sich ausschließlich gegen Juden. Als aber die
Partisanentätigkeit im Norden des Heeresgebietes zunahm und die
Juden infolge der Massenerschießungen des SD verschwanden, wurden
Repressalien immer häufiger gegen Ukrainer ergriffen. Dem Antisemi
tismus der NS-Ideologie kam bei den Soldaten des Heeresgebietes
jedoch die vermutlich größte Bedeutung zu, auch wenn das rassistisch
motivierte Verbot, Repressalien gegen Ukrainer zu ergreifen, im Zuge
der zunehmenden Partisanentätigkeit nicht immer befolgt wurde.

Anmerkungen
[ Die Divisionsakten der 62. Infanterie-Division sind, verglichen mit anderen,
ausgezeichnete historischeQuellen.Die Kriegstagebücher und Anlagender ver
schiedenen Abteilungen des Divisionsstabes, vor allem der Abt. Ia (Führung)
und der Abt. Ic (Feindnachrichten), sindfür 1941 komplettund wurdenvon den
Stabsoffizieren akribisch geführt. Obwohl die Akten der unterstellten Verbän
de, d.h. der Infanterie-Regimenter und -Bataillone, nicht mehr vorhanden sind,
blieben viele Meldungen und Erfahrungsberichte in den Divisionsakten und
auchin den Akten des rückwärtigenHeeresgebietes Süd erhalten.Die Akten des
rückwärtigenHeeresgebietes Süd sind auch relativgut intakt, besondersfür das
Jahr 1941. Dies giltauch für die drei dem HeeresgebietunterstelltenSicherungs-
Divisionen (213, 44,454), mit Ausnahme des Kriegstagebuchs Ia (KTB)der 44.
Sicherungs-Division.
Die Zuverlässigkeit dieserDokumente bezüglichder Repressalien scheintmir in
dieserPeriode desRußlandkrieges allgemein unproblematisch, weildie Offizie
re und Truppen dieserVerbändewiederholtvon der Befehlskette ermutigtwur
den, Repressalien gegen Zivilisten zu unternehmen und siealsbesondereEreig
nisse zu melden. Die Möglichkeit, daß die Einheiten des Heeresgebietes
Repressalienfalschoder übertrieben gemeldethaben, um einer Durchführungs
pflichtausmoralischen Gründenzu entkommen, schätzeichgering, dennesgibt
viele Beispiele, wo Repressalienunternommen werden konnten, aber unterlas
sen wurden, ohne daß der verantwortliche Kommandeur von seinen Vorgesetz
ten kritisiert oder bestraft wurde. Eine endgültige Antwort auf diese Fragen
wartet auf weitere Forschung mit russischen und ukrainischen Quellen.
1 OKW WFSt/Abt. L (IV Qu.) Nr. 44718/41 g. Kdos. Chefs vom 14.5.1941 Betr.:
Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet »Barbarossa« und über beson
dere Maßnahmen der Truppe, vollständig wiedergegeben in Gerd R. Ueber-
schär/Wolfram Wette (Hg.): »Unternehmen Barbarossa«. Der deutsche Über
fall auf die Sowjetunion 1941,Paderborn 1984,S. 305.
, Abt. VII beim Befehlshaber H.Geb. B. Nr. 552/42 geh. vom 10.10.42, Lage
bericht, BA-MA RH 22/100.
l OKH/GenStdH/HWes Abt. (Abw.), Az. Abw. III Nr. 2111/41 vom 12.7.1941,
BA-MA RH 27-7/156. Zum rassenideologischen Hintergrund vgl. Alexander

311
Dallin, GermanRule in Russia, Boulder,Colorado, 1981, S. 108; Timothy Mul-
ligan, The Politcs of Illusion and Empire. German Occupation Policy in the
Soviet Union, 1942-1943, New York 1988, S. iof.; Wolodymyr Kosyk (Hg.),
The Third Reich and the Ukrainian Question. Documents 1934-1944, London
1991, S. 39.
5 Rückw. Heeresgebiet Süd Abt. VII Nr. 103/41 vom 16.8.41, Anordnung Abt.
VII, BA-MA Alliierte Prozesse Nr. 9, NOKW-1691.
6 Vgl. dievonJürgenFörster ausgearbeiteten Beispiele aus dem LI. Armeekorps,
dem III. Armeekorps, und der 44. Infanterie-Division in seinem Aufsatz: Die
Sicherung des »Lebensraumes« in: Das Deutsche Reich und der Zweite Welt
krieg (DRWZ), Bd. 4, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stutt
gart 1983, S. 1037^
7 Für diese Untersuchung habe ich die gesamten Akten des Heeresgebietes, der
unterstellten Sicherungs-Divisionen und der nur vorübergehend unterstellten
Einheiten, wiezum Beispiel der 62.Infanterie-Division, ausgewertet, um Spuren
von Repressalien und verwandten Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung zu
finden. Da Repressalien und andere »Kollektivmaßnahmen« innerhalb von
Roques' Befehlsbereich stets alsbesondere Vorkommnisse dem Befehlshaberzu
melden waren, und weildie Truppenführermehrmals von oben ermutigtwur
den, solche Maßnahmen zu treffen, bin ich fest überzeugt, daß Czerwone der
einzige Fall von Repressalie bis zu diesem Zeitpunkt war, d.h., daß es keine
ungemeldeten Fälle gab. Für die Meldepflicht im Heeresgebiet Süd vgl. Befehl
des Befh. des rückw. H.Geb. Süd vom 23.8.41, BA-MA Alliierte Prozesse 9,
NOKW-2590; 454. Sich.-Div. Abt. Ia Reg. Nr. 10789/41 Divisionsbefehl
Nr. 54, BA-MA RH 26-454/6^
8 Kriegstagebuch Ia der 454. Sich.-Div., Vermerk vom 31.8.41, BA-MA RH 26-
454/5-
9 OKH/Gen. z.b.V. b. ObdH/Az. 453 Gr. R Wes. Nr. 1332/41 geh. vom
25.7.1941, BA-MA RH 22/171; Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht
WFSt/Abt. L (IV Qu.) Nr. 002060/41 g. Kdos. FH Qu., vom 16. September
1941, Betr.: Kommunistische Aufstandsbewegung in den besetzten Gebieten,
vollständig wiedergegeben in: Ueberschär/Wette, a. a. O., S. 359f.
10 (Karte) Bfh. rückw. H.Geb. Süd Partisanenvorkommen und Bekämpfung vom
1.10.41-15.1.42, BA-MA RH 22/36.
11 Bernhard Kroener, Die personellen Ressourcen des Dritten Reiches im Span
nungsfeld zwischen Wehrmacht, Bürokratie und Kriegswirtschaft 1939-1942,
in: DRWZ, Bd. 5/1, Stuttgart 1988,S. 710.
12 62. ID Verlustliste, BA-MA RH 26-62/39.
13 62. ID (Verlust-)Meldung vom 26.11.41, Stichtag der Meldung 15.11.41, U.S.
National Archives, German Records Microfilmed at Alexandria, Virginia, T-
315/1028.
14 62. ID Abt. Ia/Ic, Befehl über Bolschewistische Funktionäre u. Sabotagefällen
vom 21.7.41, BA-MA RH 26-62/40.
15 Armeeoberkommando 6Abt. Ia-Az. 7vom10.10.41, Betr.Verhalten derTrup
pe im Ostraum, BA-M RH 26-62/41.

312
16 Kriegstagebuch (Ia) Nr. 5 der 62. ID, Vermerke vom 14.und 18.August, 1941,
BA-MA RH 26-62/39.
17 Bezirkslandwirt Welke Wi.Ko.Charkow/Gebiet Poltawa vom 21.10.41, an
Ortskommandantur Mirgorod, BA-MA RH 26-62/56.
18 Ortskommandantur II/933 Mirgorod 10.41. (Datum so im Original gegeben)
Br.B.Nr. 843/41 Betr. Erfahrungsbericht an Sich.-Div.213 Abt.Ia, BA-MA RH
26-62/56.
19 Die Zahlen der erschossenen Juden wurden von dem Heeresgebietund von der
62. ID unterschiedlich gemeldet. Vgl.: Rückw. H.Geb. Süd KTB Ia, Vermerk
vom 3.11.1941, German Microfilms T-501/4. Siehe auch: 62. ID KTB Ia Ver
merk vom 28.10.41,BA-MA RH 26-62/39;Tätigkeitsberichte (Abt. Ia 62. ID)
für die Zeit vom 26.10.41 bis zum 14.11.41, BA-MA RH 26-62/41; Tagesmel
dung der Abt.Ic (62. ID) vom 28.11.41 im Tätigkeitsbericht Abt. Ic der 62.ID,
22.6.41 bis zum 31.12.41, BA-MA RH 26-62/82.
20 (Abschrift) Ortskommandantur Mirgorod Gendarmeriegruppe vom 8.11.41,
BA-MA RH 26-62/41.
21 Rückw. HeeresgebietSüd KTB (Ia),Vermerkvom 9.11.41, GermanMicrofilms
T-501/4. Sieheauch: (Fernschreiben) 62. ID Ia/Ic an Befh. Rückw. H. Geb. Süd
Ia/Ic 9.11.41, German Microfilms T-501/6.
22 (Fernschreiben) Befh. r. H.G. Süd Ia an 62. ID vom 11.9.41,22.25 Uhr, German
Microfilms T-501/6; (Fernschreiben) Bfh. rückw. H.Geb. Süd an Heeresgruppe
Süd vom 9.11.41.22.40Uhr, German Microfilms T-501/6.
23 (Fernschreiben) Bfh. rückw. H.Geb. Süd Ia an Sich.-Div. 213, Sich.-Div. 444,
Ers.-Brig. 202, Rum. VI A.K. über FK 193, vom 9.11.41, 23.00 Uhr, German
Microfilms T 501/6.
24 62. ID Abt. VII, Lagebericht für den Zeitraum vom 3.11.-15.11.41, BA-MA
RH 22/203. Ein Mangel an ortsansässigen Juden war nie ein Hindernis für die
Repressalien der Wehrmacht in Serbien. Nach Überfällen auf dem Land hielt
sich der deutsche Befehlshaber an Juden aus dem Konzentrationslager in Bel
grad als Sühneopfer. Daß die Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete im
Osten dieseMethode des Opferauswählens nie übernahmen,läßt sichvielleicht
durch die Vernichtungskampagne der Einsatzgruppen in der UdSSR erklären.
Vgl.: Christopher Browning,WehrmachtReprisal Policy and the Mass-Murder
of Jews in Serbia, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 33 (1983), Nr. 1;
Richard Fattig, Reprisal: The German Army and the Execution of Hostages
during the SecondWorld War, diss.University of Californiaat SanDiego, 1980.
25 (Abschrift) Ortskommandantur I (V) 268 Feldgendarmeriegruppe Tgb. Nr. 2
vom 8.11.41, BA-MA RH 26-62/41; (Abschrift) Feldgendarmeriegruppe der
Ortskommandantur I (V) 268 Tgb. Nr. 3 vom 9.11.41, BA-MA RH 26-62/41;
Feldgendarmeriegruppe der Ortskommandantur I (V) 268 Tgb. Nr. 4, vom
10.11.41, BA-MA RH 26-62/41.
26 (Abschrift) Fernspruch von IR 190an 62. ID, Meldung betr. Baranowka,BA-
MA RH 26-62/41.
27 Fernspruch von Lt. Schönfeld/Gefr. Presser vom 13.11.41, 20.00 Uhr Betr.
Strafaktion Oberst Sins (sie!), BA-MA RH 26-62/56.

313
28 62. ID Abt. Ia/Ic Nr. 1784/41 geh.vom 11.11.41,Betr. Befriedung, Sühnemaß
nahmen, BA-MA RH 26-62/41.
29 (62. ID) Fernspruch von Lt. Schönfeld/Gefr.Presser 13.11.41, 20.00 Uhr, Betr.
Strafaktion Oberst Zins, BA-MA RH 26-62/56.
30 (Fernschreiben) Ers.-Brigade 202 Ia an Befh. Rückw. H. Süd; Nr. 3440 vom
13.11.41,16.00 Uhr, German Microfilms T-501/6; Rückw. H.Geb. Süd KTB Ia
Vermerk vom 13.11.41, German Microfilms T-501/4.
31 (Abschrift) II. Infanterie-Regiment 164 Abt. Ia vom 12.11.41, Betr. Säube
rungsaktion, BA-MA RH 22/179.
32 Ebenda.
33 II./Infanterie-Regiment 164 Abt. Ia, 24.11.41, Bericht über die Säuberungs
aktion vom 15.-24.11.1941, BA-MA RH 26-62/56.
34 62. ID Ia/Ic Tagesmeldung an Bfh. Rückw. H. Geb. Süd Ia/Ic vom 24.11.41,
BA-MA RH 26-62/60; 62. ID KTB Ia Vermerk vom 23.11.41, BA-MA RH 26-
62/39; IR J^4Tagesmeldung vom 24.11.41, BA-MA RH 26-62/56. (Fernschrei
ben) Bfh. Rückw. H.Geb. Süd Iaan Heeresgruppe Süd Ia/Ib vom 25.11.41, Ger
man Microfilms T-501/6.
35 62. ID KTB IaVermerk vom 23.11.41, BA-MA RH 26-62/39.
36 Nibelungen (IR 164) Nachtragzur Tagesmeldung 27.11., BA-MA RH 26-62/56.
37 62. ID KTB Ia Vermerk vom 1.12.41, BA-MA RH 26-62/39; Tagesmeldung
Abt. Ic. (62. ID) vom 1.12.41, BA-MA RH 26-62/82.
38 Rückw. H.Geb. Süd KTB Ia, Vermerk vom 19.12.41, German Microfilms
T-501/4;Rückw. H.Geb. Süd Tagesmeldung an Heeresgruppe Süd vom 4.1.42,
BA-MA RH 22/19; Sich.-Div. 444 KTB Ia Vermerk vom 2.1.42, BA-MA RH
26-444/6; Anruf Sich.-Div. 444vom 6.1.42, Vorläufiger Abschlußbericht über
Banditenbekämpfung im Waldgebiet Nowomoskowsk, BA-MA RH 22/19;
Sich.-Div. 444 Abt. Ia vom 22.1.42, Bericht über die Bekämpfung der Ban
ditengruppen im Waldgebiet Nowo Moskowsk-Pawlograd, BA-MA RH
22/19; Sich.-Div. 444 Abt. Ia vom 22.1.42, Erfahrungsbericht beim Banditen
unternehmen Nowo Moskowsk-Pawlograd, BA-MA RH 22/19; Befh. H- Geb.
Süd Abt. Ia 3571/42geh.vom 10.1.42,(Abschrift) iotägigeMeldung an Gen. St.
d.H./Gen Qu., Abt. K. Verw, BA-MA RH 22/19.

314
Banditenweiber
3anditenweiber
Sie wollten nicht für Deutschland arbeiten
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Sie wollten nicht für Deutschland arbeiten

Sie wollten nicht für Deutschland arbeiten


Hunger tut weh
Müde Brüder
TheoJ Schulte Korück 5821

Ende der achtzigerJahre habe ich auf englisch eineStudieüber die Prak
tiken der deutschen Armee in den rückwärtigen Gebieten der besetzten
Sowjetunionveröffentlicht.2 Im großen und ganzen sympathisiert diese
Untersuchung mit einer derzeit aktuellen Forschungsrichtung, die das
Imagevon einer »weißen Weste« der Wehrmacht zu entmythologisieren
bestrebt ist; dabei kommt es vor allem darauf an, deren enge Verwick
lung in nationalsozialistische Kriegsverbrechen aufzuzeigen. Auf der
einen Seite war ich mir durchaus darüber im klaren, daß in der öffentli
chenMeinungin Deutschland einegewisse Abneigungdagegen herrscht,
»die verdrängte Last von 1941« anzuerkennen, und auf gar keinen Fall
wollte ich mich in eine Reihe stellen mit den neoapologetischen Grup
pierungen innerhalb des »Historikerstreites«(besonders mit den fehlge
leiteten Empathieversuchen im Werkvon Andreas Hillgruber).3 Auf der
anderen Seite jedoch hat das Archivmaterial gezeigt, daß die historische
Realität viel komplexer war, als einige ultrakritische Studien über die
Wehrmachtnahelegten.
Fünf Jahre später nun - nicht zuletzt auch angesichts der neuen
Perspektiven, die sich mit der Entdeckung bisher unbekannter Nazido
kumente in verstaubten Archiven zwischen Moskau und Prag eröffne
ten - haben verschiedene Monographien und Akteneditionen eindeutig
erwiesen, daß die Wehrmacht, ihre rückwärtigen Einheiten sowie Feld
polizei und Feldgendarmerie tief in die Greueltaten im Osten verstrickt
waren. Die Alltagsgeschichte hat auch eine Reihevon Quellen zum Vor
schein gebracht, die deutlich machen, daß sowohl die Mannschaftenals
auch die höheren Ränge der Wehrmacht sich an den Grausamkeiten
beteiligten.4 Nach neuesten Untersuchungen5 verschleiert selbst die bis
lang kritische Fachliteratur vielfach noch die integrale Beziehung zwi
schen Wehrmacht und Nationalsozialismus mit semantischen Nebeln.
Gegen diesen Forschungs- und Erkenntnisstand nun anzutreten, dürfte
sich somit als gewagtes Unterfangen erweisen. Und doch glaubeich, daß
meine Grundprämisse fundiert ist: Wenn auch die Wehrmacht als orga-

323
nisatorische Einheit vieler Verbrechen in der Sowjetunion beschuldigt
wird, so soll damit nicht gesagt werden, daß jeder deutsche Soldat ein
Verbrecher oder auch an den im Namen des Regimes verübten Verbre
chen schuldig war. Ob die Wehrmacht als Ganzes eine ideologische
Armeegewordenwar,inwieweitund aufwelcheWeise siean Verbrechen
gegen die Menschheit beteiligt war, ist eine noch ungeklärteFrage. Ver
ständliche Unsicherheit herrscht immer noch in bezug auf die persön
liche Motivation eines jeden einzelnen.

Korück 582- eineEinheit im rückwärtigen Heeresgebiet

Mit der Untersuchung einer einzelnen Militäreinheit, Korück 582, bie


tet sich nun die Gelegenheit, einen der umstrittensten Aspekte dieser
Debatte zu beleuchten. Unter der Voraussetzung, daß eine grundsätzli
cheAusgewogenheit gewahrtbleibt,solltehistorische Forschungaufdie
»Norm« ebenso ausgerichtet sein wie auf die »Ausnahmen von der
Regel«. Während es für die Historiker unzulässigist, von Massendaten
Schlußfolgerungen über Motivation oder Verhalten eines einzelnen
abzuleiten,ist er sehr wohl berechtigt,dasVerhalteneineseinzelnenoder
einer Gruppe mit dem Kollektiwerhalten großer Menschenmengen
oder Verbände, die als Ganzes betrachtet werden, zu vergleichen. Eine
vollständige Verurteilung der Wehrmacht dient letztlich ebensowenig
wie eine vollständige Exkulpierung dazu, dieses dunkle Kapitel in der
deutschen Geschichte zu verstehen.6
Es ist zunächst wichtig zu betonen, daß Korück 582 ein Truppenver
band im rückwärtigen Armeegebiet, nicht an der Front war. Trotz der
Vorstellung, daß die Wehrmacht ein einziges, einheitliches Ganzes war,
was sowohl ihre militärische Leistungsfähigkeit als auch ihre ideologi
sche Verpflichtung gegenüber dem Nationalsozialismus angeht, waren
die Streitkräfte des Dritten Reiches letztlich doch keine homogene Ein
heit. Auf die gesamte Dauer gesehen hat insgesamt ein Zehntel der deut
schen Bevölkerung irgendwann in der Wehrmacht gedient; und die drei
Millionen Männer, die die Ostarmee ausmachten, spiegelten einen
großen Teilder deutschen Gesellschaft wider. Diejenigenwiederum, die
in rückwärtigen Gebietseinheiten wie Korück 582 eingesetzt waren,
reflektierten möglicherweise einen breiteren Querschnitt durch die
Gesellschafts-,Berufs- und Altersgruppen, an Fähigkeiten und vielleicht
auch Einstellungen als so manche Kampfeinheit im Fronteinsatz.7
Korück 582 erstreckte sich für etwa achtzehn Monate nach der Inva-

324
sion in Rußland über das Hinterland der 9. Armee (AOK 9) - ein Ver
band in den vorderen Positionen der Heeresgruppe Mitte - in dem
Gebiet um Wjasma. Ein Großteil des Belegmaterials aus den Akten von
Korück 582 stützt die Behauptung, daß brutale Vorgehensweisen von
Anfang an, schon während der Phase von Erfolg und Siegeseuphorie
gleich nach dem Einmarsch, in Erscheinung traten und nicht erst eine
krisenartige Reaktion auf militärische Rückschläge ab Winter 1941/42
waren. Die entmutigendenAufgaben, denen die rückwärtigenTruppen
teile gegenüberstanden, sowie die Entbehrungen, denen siewährend des
Ostfeldzugs relativ früh ausgesetzt waren, dürfen dabei nicht gänzlich
außer acht gelassen werden. Korück 582 erstreckte sich zu den Zeiten
seiner größten Ausdehnung über ein Gebiet von etwa 27000 Quadrat
kilometern. Die Militärverwaltungwar nicht nur für die größeren städ
tischen Zentren zuständig, sondern auch für mehr als 1500 Dörfer und
zahllose Ansiedlungen und Kolchosen. Weite Abschnitte des besetzten
Gebietes standen nur nominell unter direkter Kontrolle der deutschen
Armee. Partisanengruppen brachten bald schon über 45 Prozent des
Hinterlandes unter ihre Kontrolle, was bedeutet, daß die sowjetische
Befehlsgewalt nie ganz aus diesem Gebiet verschwand.8 Die mit der
Besetzung eines so weitläufigen Gebietes verbundenen Probleme wur
den noch durch die klimatischen Bedingungen, die Geländebeschaffen
heit und den unterentwickelten Zustand von Wirtschaft und Infrastruk
tur verstärkt. Das Leben der rückwärtigen Wehrmachtsteile wurde
durch die allgemeinen Transportprobleme noch unerträglicher. Hier
herrschten höchst ungünstige Bedingungen für die deutschen Panzer
und für schnelle Bewegungen, man war vielmehrauf einige wenigever
wundbare Eisenbahnlinienund primitive Panjewagen angewiesen. Ver
schärft wurden die Schwierigkeiten weiterhin durch die zahlreichen
Truppen, die auf ihrem Marsch an die Front durch ein rückwärtiges
Gebiet wie Korück 582 zogen. Oftmals waren die Straßen und Wege
vollständig von durchziehenden Heereszügen übervölkert; das betref
fende rückwärtige Gebiet stand häufig vor der nicht zu bewältigenden
Aufgabe, ausreichende Unterkunft, Verpflegung und Treibstoff bereit
zustellen. Bereits im August 1941 deuteten Berichte aus Witebsk über
plünderndeTruppen an, daß das Plündern teilweise schon eineStrategie
war,um Nahrungsmittelknappheit zu überwinden. Im Oktober desJah
res wurde im Zusammenhang mit nur schwer zu beschaffendem Heiz
material ein ähnliches Vorgehen seitens der Truppen begründet.?
Die grundlegende Rückständigkeit und Bedrohlichkeit großer Teile
des besetzten, überwiegend ländlichen Gebietes hatte zweifellos eine

325
starke Wirkung aufdieTruppen in denrückwärtigen Gebieten und trug
noch zur Fremdenfeindlichkeit und Geringschätzung gegenüber der
russischen Bevölkerung bei, die vor 1941 von den NS-Planern so eifrig
geschürt worden war. Zugleich propagierten führende Militärs ein Bild
von Rußland als einemstetigwachsenden asiatischen Ungeheuer, das die
abendländische Kultur durch einen unaufhaltsamen Vorstoß nach
Westen bedrohte.10 Unter solchen Gegebenheitenwaren die Komman
danten von rückwärtigen Gebietenfest davon überzeugt, daß die ihnen
zur Verfügung stehendenTruppen beiweitemnicht die volleStärkehat
ten. Zu Beginn des Feldzugs fehlten in der 9. Armee ungefähr 15 000
Mann; zugleich waren in Korück 582 selbst nur 1700 Mann eingesetzt.
Es gab häufige Klagen über den auf allen Ebenen herrschenden Mangel
an ausgebildetem Personal. Das Offizierskorps der Besatzungstruppe
wurde bestenfalls als überaltert und schlimmstenfalls als inkompetent
charakterisiert. Viele Truppenführer waren Zivilisten, die man in eine
Uniform gesteckt hatte, da sie gewisse Verwaltungskenntnisse besaßen;
dienende Berufsoffiziere dagegen waren gering an Zahl, gar nicht zu
reden von ausgebildeten Spezialisten mit russischen Sprach- und Lan
deskenntnissen. xl
In den Berichten der Stabsoffiziere wird häufig das hohe Durch
schnittsalter der Sicherungstruppenteile von Korück angesprochen. Es
handelte sich praktisch um die Generation der neunziger Jahre des ver
gangenen Jahrhunderts. DieseMännerunterschiedensichdamitim Alter
erheblich von den Soldaten an der Front; hier waren die Offiziere im
Schnitt selten mehr als 30Jahre alt.12 Als typisch für die Verhältnisse in
den rückwärtigen Gebieten kann das Landesschützen-Bataillon 738
angesehen werden: Das Offizierskorps bestand aus Männern im Alter
zwischen 40 und 50 Jahren. Das Durchschnittsalter der unteren Offi
ziersdienstgrade lag knapp unter 40 Jahren; der Bataillonskommandeur
war beinahe 60Jahre alt. Die Männer waren schlechtausgebildet, beson
ders im großangelegten Partisanenkampf. In vielen Fällen lagen zusätz
lich noch Körperbehinderungen vor. Und oftmals wurde die Gesamt
situation dadurch verschlimmert, daß Seuchen wie Malaria, Typhus,
Paratyphus, Ruhr, Fleckfieberund Cholera ausbrachen.13
Es erscheint als bittere Ironie, daß viele Offiziere und Mannschaften
in den rückwärtigen Gebieten eingesetzt wurden, weil sie von vornher
ein für Verwaltungsaufgaben und nicht für den Dienst an der Front vor
gesehen waren. Die Realitäten der militärischen Lage sahen dann aber
oftmals so aus, daß das Leben im Hinterland in jeder Beziehung dem
aktiven Dienst an der Front gleichzusetzen war. Die betreffenden Ein-

326
heiten in den rückwärtigen Gebieten waren häufig für die Aufrechter
haltung von Fernmelde- und Transportverbindungen zuständig, und
zwar über Entfernungen hinweg, die der Strecke zwischen Hamburg
und Wien entsprechen; dabei konnten höchstens dreihundert Mann in
Korück 582 als voll einsatzfähig in der Partisanenabwehr gelten. Das
Gefühl der Isolation und der ständigen Gefahr war bei den selbständig
eingesetztenWehrmachtstruppenteilen besonders ausgeprägt, die entle
geneVorposten und Stützpunkte halten mußten.14
Doch auch wenn man sich die Bedingungen,unter denen die Truppen
in den rückwärtigen Gebieten operierten, vor Augen hält, sollte dadurch
selbstverständlich nicht verschleiert werden, in welchem Ausmaß die
grundlegenden Richtlinien für die militärische Besatzungspolitik durch
die nationalsozialistische Ideologie beeinflußt waren.

Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener

Die brutale BehandlungsowjetischerKriegsgefangener durch die Wehr


macht ist andernorts ausführlich dokumentiert worden.15 Die Akten von
Korück 582 belegen, wie dieses ungeheuerliche Ganze konkret betrach
tet aus kleineren, doch nicht weniger grotesken Teilen zusammengesetzt
war.

Sowjetische Offiziere, die man für politische Kommissare hielt, wur


den entweder am Ort ihrer Gefangennahme oder im Gefangenenlager im
Anschluß an die Kategorisierung der Insassen im Schnellverfahren (wie
aufgrund des Kommissarbefehls gefordert) hingerichtet. Dieses Vorge
hen war keineswegs auf Nazi-Spezialeinheiten wie etwa die SD-Ein
satzgruppen beschränkt. Korück führte den Hinrichtungsbefehlseitsei
nem Bestehen (August 1941) aus, und selbst nach der offiziellen
Aufhebung des Befehls fanden Exekutionen dieser Art noch bis zum
August des Folgejahres regelmäßig statt.16
Sowjetische Gefangene, die der unmittelbaren Hinrichtung entgin
gen, kamenoftmals unterwegs während der langenund entbehrungsrei
chen Märsche zu den Lagern in den rückwärtigen Gebieten ums Leben.
Im November 1941 lagen beispielsweise in Wjasma und der näheren
Umgebung der Stadt so viele Leichname auf den Wegen, daß der Kom
mandant des rückwärtigen Gebietes besorgt äußerte, dies könnte der
feindlichen Propaganda neue Nahrung geben. Eine der düstersten Seiten
bei der Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener durch die deutsche
Wehrmachtist, daß zahlreicheGefangenenicht an Hunger und Erschöp-

3V
fung zugrunde gingen, sondern durch die deutschen Wachtruppen ums
Leben kamen, die die angeblichen »Bummler« und »Nachzügler« sum
marisch exekutierten. Die Brutalität von einfachen deutschen Soldaten
war größtenteils durch die militärischen Direktivenveranlaßt, die an die
rückwärtigen Truppenteile ausgegeben worden waren; darin wurde
immer wieder betont, wie wertlos die Gefangenen seien und wie not
wendig es sei, selbst bei geringen Zuwiderhandlungen und erst recht
natürlich bei Fluchtversuchen mit äußerster Brutalität vorzugehen.17
Die tatsächliche Praxis war, wie so vieles andere im militärischen Vor
gehen, häufig ambivalent oder gar widersprüchlich. Zur selbenZeit, als
viele Truppen aufhöheren Befehl hin drakonische Strafmaßnahmen aus
führten, drohte der Kommandant des rückwärtigen Gebietes seinenSol
daten an, daß unter Anklage gestellt würde, wer Knüppel gegen die
sowjetischen Kriegsgefangenen einsetzte; mit noch härteren Strafen
müsse rechnen, wer Gefangene hinrichtete. Die Protokolle des für die
rückwärtigen Gebiete zuständigen Militärgerichts geben freilich für das
erste Kriegsjähr in der Sowjetunionkeinerlei Hinweis darauf,daß jemals
ein Soldat vor Gericht angeklagt wurde. Dies ist wiederum kaum ver
wunderlich, wenn man bedenkt, daß dieselben Befehle, die eine anstän
digeBehandlungder Gefangenenverlangten, zugleichvor den Gefahren
eineszu nachsichtigenUmgangs wie auch vor den Auswirkungen gelun
gener Fluchtversuche warnten.18
Ob nun solche Aufrufe zur Mäßigung gegenüber den Kriegsgefan
genen eine Wirkung hatten oder nicht - diejenigenunter den Gefange
nen, die schließlich die Lager erreichten, erwartete ein grausiges
Schicksal. Als Korück 582 Ende November 1941 die Armee-Gefange
nensammelstelle 7 in Rshew von der 9. Armee übernahm, lagen die
Verpflegungssätze für die Gefangenen so niedrig, daß kaum einÜber
leben möglich war. Vor Hunger hatten die Lagerinsassen das mit Sta
cheldraht umzäunte Gelände jeglicherVegetation beraubt; an den Bäu
men waren Blätter und Rinde abgegessen, und viele der Gefangenen
ernährten sich in ihrer Not von Gras und Nesseln. Die Unterkünfte
waren katastrophal. In ungeheizte, einstöckige Baracken von höch
stens 12 mal 24 Meter wurden etwa 450 Insassen hineingepfercht.
Krankheiten grassierten aufgrund von Unterernährung, mangelnden
sanitären Einrichtungen (für 11 000 Gefangene standen gerade zwei
Latrinen zur Verfügung) und nicht zuletzt fehlendem Witterungs
schutz. DieseVerhältnisse führten unter den verzweifelten Lagerinsas
sen in einzelnen Fällen zum Kannibalismus.19 Bei alldem waren einige
Korück-Verantwortliche immer noch um eine ausreichende Verpfle-

328
gung der deutschen Wachhunde besorgt, die die fünfzigfache Essens
ration eines sowjetischen Gefangenen erhielten!20
Doch abermalsgibt es »Ausnahmenvon der Regel«. Man muß immer
hin hervorheben, daß von dem historischen Belegmaterial, das dazu ver
wendet wird, um die Entwürdigung, den Mißbrauch und Schmutz auf
zuzeigen, manches aus Berichten einiger weniger Korück- und
Gefangenenlagerkommandanten stammt, die enorme Anstrengungen
unternahmen, um das Los der Lagerinsassen zu mildern, und dafür in
eine ausgedehnte Korrespondenz mit höheren Instanzen eintraten.21 Der
Kommandant der Armee-Gefangenensammelstelle 8 ließ zum Beispiel
aus alten Mänteln Handschuhe und aus überschüssigem Bauholz Holz
schuhe für die Gefangenen anfertigen(nachdemdie Lederstiefel der Sol
daten der Roten Armee regelmäßig bei der Gefangennahme von der
Wehrmacht konfisziert worden waren). Auf die örtliche Bevölkerung
wurde Druck ausgeübt, Nahrungsmittel an das Lager abzuliefern, um
dreimal am Tag eine warme Suppe mit Pferdefleisch und Brot an die
Gefangenen austeilen zu können. Die deutschen Wacheinheiten durften
keine Knüppel tragen, und Armeeeinheitenan der Front hatten streng
stes Verbot, den Gefangenen Arbeiten zuzuteilen, ohne diese mit Nah
rung zu versorgen. Als Dulag 240 im Dezember 1941 der Kontrolle von
Korück unterstellt wurde, leitete in ähnlicher Weise der neue Komman
dant, der schon über 70 Jahre alt war, ausgedehnte Verbesserungen ein.
Sowurde etwa eineverlassene Getreidemühlewieder instand gesetzt,die
bald zwei Tonnen Roggenmehl am Tag produzierte. Dieseltreibstoff
wurde für eine alte Sägemühle beschafft, und nach deren Wiederinbe
triebnahme konnten erneut Holzbretter geschnitten werden, aus denen
wiederum Baracken mit Hohlwänden errichtet wurden. Die Hohlwän
de wurden zur Isolierungmit den angefallenen Hobelspänenund Säge
mehl verfüllt.22
Auch die Korück vorgesetzte Befehlsstelle war durchaus geneigt,
positiveMaßnahmen in die Wege zu leiten. Im Dezember 1941 verlaute
te AOK 9,daß esunabdinglich sei,wolleman Kriegsgefangene alsHilfs
arbeiter voll nutzen, die Lagerinsassen durch erhöhte Verpflegungssätze
und gute Behandlung zu gewinnen. Die Motivation für solche Initiati
ven liegt offensichtlich in einem mit rassistischen Untertönen gefärbten
Pragmatismus begründet. Besonders betont wurde die Notwendigkeit,
auf die Verwendung von im Nazijargon als »asiatische Untermenschen«
bezeichneten Elementen abzusehen; als unbedenklich galt dagegen ein
vermehrter Kontakt der deutschen Soldatenmit russischen Gefangenen,
die als Hilfsarbeiter eingesetzt würden; letztere zumindest würden

329
das den Deutschen »innewohnende Überlegenheitsgefühl« nicht »be
schmutzen«.23
Solche vereinzelten, von wenigen energischen, im rückwärtigen
Gebiet eingesetzten Offizieren ausgearbeiteten Pläne zur Verbesserung
der Lage kamen letztlich für die meisten Kriegsgefangenen nicht zum
Tragen. In den meistenLagernstarben täglichTausende durch langsames
Verhungern oder durch Krankheit und Kälte.24 Eine verständlicheKon
zentration der historischen Betrachtung auf die Gesamtheit der grausa
men Umstände hat dazu geführt, nicht oder nicht genügend zu beden
ken, ob ein solches nonkonformistisches Verhalten Aufschluß darüber
bieten kann, in welcher Weise das herrschende System als Ganzes funk
tionierte. Keine leichte Aufgabe freilich, besonders wenn man die ideo
logische Dimension als eine Konstante in der Gleichung auffaßt. Selbst
in Gefangenenlagern von Korück 582, in denen Verbesserungen statt
fanden, wurden doch Insassen, die als Gefangene besonderer Kategorie
eingestuft wurden (in erster Linie Kommissare der Roten Armee und
Juden), nach Maßgabeder ganz allgemein gehaltenenBestimmungenzur
Partisanenbekämpfungregelmäßig hingerichtet.Ein Vergleich zwischen
den Armee-Gefangenensammelstellen 7 und 8, relativ kleinen Einrich
tungen ihrerArt,ist aufschlußreich. Übereinen Vergleichszeitraum von
drei Monaten betrug in Lager7 die Gesamtzahlan Toten bisweilen weni
ger als ein Prozent der entsprechenden Zahl in Lager 8. Die Zahl der
Gefangenen, die als sogenannte Partisanen erschossen worden waren,
machte mit etwa 75 Mann immerhin noch mehr als 50 Prozent der
gesamten Totenzahl für Lager 7 aus. Und selbst dieser Punkt birgt eine
weitergehende Ambivalenz; denn beide Lagerkommandanten betonten
in offiziellen Berichten, um das Ganze noch mehr hervorzuheben, daß
die Hinrichtungen tatsächlich nicht von Truppen der rückwärtigen
Gebiete, sondern von Einheiten des SD vollzogen worden seien.25

Die Vernichtung deransässigen Juden

Der geradezuperverse Einfluß, den das nationalsozialistische Wertesy


stem innerhalb der Wehrmacht ausübte, wird möglicherweise in noch
klarerer Form deutlich, wenn man sich ansieht, welche Rolle die Trup
pen in den rückwärtigen Gebieten bei der völligen Vernichtung der im
besetzten Gebiet ansässigen Juden gespielt haben. Viele wurden unter
dem Vorwand,in irgendeinerForm mit den Partisanen verbündet gewe
sen zu sein, getötet. Bereits im August 1941 liest man in Befehlen, die

330
vom Kommandanten des rückwärtigen Gebietes gegeben wurden, über
die angebliche Gefahr, die von der jüdischen Bevölkerung ausgehe;
zugleich wird die in der Naziideologie verankerte propagandistische
Vorstellung von der symbiotischenVerbindungzwischenJudentum und
Bolschewismus betont.26 Die Ortskommandantur I/593 hatte es bereits
bis zur zweitenJuliwoche 1941 geschafft, die gesamte jüdischeBevölke
rung in dem ihr unterstelltenBezirkzu »entfernen« und nutzte nunmehr
die Synagoge als Verwaltungsbüro.27 Die Berichteanderer Kommandos
dieses Gebietes vom September und Oktober 1941 melden zahlreiche
Fälle, in denen Juden als Vergeltungsmaßnahmen für Angriffe auf deut
sche Einheiten hingerichtet wurden; häufig genug bestand das einzige,
wenig stichhaltige Bindeglied darin, daß sie zufällig in der Gegend leb
ten, in der die Angriffe stattgefunden hatten.28 Spätere Berichte vom
November 1941 aus Kalinin (das zu dieser Zeit an Korück 582 Bericht
erstattete) vermerkten die generelle Eliminierung »unzuverlässiger Ele
mente« einschließlich aller Juden durch die Gruppe 703 der Geheimen
Feldpolizei und ein Sonderkommando desSD.Unterstützung bei dieser
Ausrottungsaktion, die sich übrigens auch auf die Insassender örtlichen
Nervenheilanstalt erstreckte, hatte eine Einheit der einheimischen zivi
len Hilfspolizei gewährt.29
Bedauerlicherweise enthalten die Akten von Korück 582, verglichen
mit denen anderer Einheiten in den rückwärtigen Gebieten, keine detail
lierten Zahlenangaben zur Judenverfolgung und -Vernichtung während
der ersten Monate des Feldzuges. Berichte von Korück 553 (Heeres
gruppe Süd) lassen erkennen, daß mehr als 20000Juden in diesem Zeit
raum getötet wurden.30 Siehtman einmal von den mit jeder Hochrech
nung verbundenen Gefahren ab, so kann man vermuten, daß auch in
Korück 582 eine ausgedehnte »Säuberung« stattfand, denn nach dem
Winter 1941/42 finden sich in den betreffenden Unterlagen nur noch
wenige Erwähnungen von Juden. Dabei gibt es auch für spätere Zeitab
schnitte Aktenmaterial; so notieren etwa Berichte aus Dulag 230 (Simez),
daß sogarimJuli 1942 Juden (und Kommissare der Roten Armee)immer
noch an die Geheime Feldpolizei übergebenwürden.31 DieTatsache, daß
doch einige Juden im Bereich von Korück 582 überlebten, verpflichtet
uns zu der Frage, ob aus der Einschätzung von Juden als Partisanen
oder auch nur als Sympathisanten von Partisanen zwingend deren
unmittelbare Vernichtung folgte. Verwaltungsanordnungen an Orts
kommandanturen innerhalb Korück 582 von Juli 1941 bis Januar 1942
betonen zwar einerseits die Sicherheitsgefährdung, die von Juden -
von Frauen und Kindern ebenso wie von Männern - ausgehe; anderer-

33i
seits sprechen sie sich für Vorgehensweisen wie Kennzeichnung und
Gettosierung aus, die nicht unmittelbar auf die Vernichtung zielen, um
so die Aufstellung von jüdischen Zwangsarbeiterkolonnen zu erleich
tern.32
Weitergehende Vermutungen in dieser Richtung dürfen allerdings
nicht von der Tatsache ablenken, daß die Akten von Korück 582 an kei
ner Stelle Hinweise darauf enthalten, daß die Wehrmachtsoffiziere über
dasJudentum anders als in den Kategoriendes Nazismus dachten. Fälle,
in denen eine Einheit sich aktiv geweigerthätte, Juden zu töten, sind in
den Berichten von Korück nicht nachweisbar. Die Besatzungstruppen
im rückwärtigen Gebiet waren dagegen bereit,im Vorfeld derJudenver
nichtung tätig zu sein und Juden ebenso wie Kommissare und sonstige
Kriegsgefangene besonderer Kategoriezusammenzutreibenund auch zu
exekutieren. Höchstens die undankbareren Aufgaben überließen die
Kommandanten der rückwärtigen Gebiete der SS und dem SD. So zog
man es durchaus vor, Juden dem SD auszuliefern, wohl wissend, daß sich
die Wehrmacht auf dieseWeise von den eigentlichen Vernichtungsmaß
nahmen distanzierenkonnte. Besonders in den Gefangenlagern, die vom
Kommando der rückwärtigen Gebiete kontrolliert wurden, verlief die
gesamte Übergabeprozedur reibungslos, sofern die notwendigen Papie
re stimmten.DerartigeTransaktionen zwischenOffizieren der rückwär
tigen Gebiete und Vertretern des SD wurden ausnahmslos in hohen
Tönen gelobt.33

Kollektive Gewaltmaßnahmen

Kollektive Gewaltmaßnahmen durch Sicherheitseinheiten in den rück


wärtigen Gebieten führten zur totalen und offenbar wahllosen Zer
störung eines Dorfes nach dem anderen. Der auffallende Unterschied
zwischen den ungewöhnlich hohen Verlusten unter den »Partisanen«
und den ungewöhnlich niedrigen Verlusten bei den Deutschen liefert
weitere Argumente für den Standpunkt, daß summarische Exekutionen
von Zivilisten, die willkürlich zu »Partisanen« erklärt oder als Geiseln
genommen wurden, nicht ausreichend durch Sicherheitserfordernisse
oder militärische Notwendigkeit erklärt werden können. Bemerkens
wert ist ferner, daß viele solcher Einsätze Gemeinschaftsaktionen zwi
schenTruppenteilenin den rückwärtigenGebietenund Spezialeinheiten
der SS waren.34 Allein die Berichte einer kleinen Ortskommandantur
(OK II/930) für den Zeitraum vom 18.Juli bis 31. Dezember 1941 ver-

332
mitteineine AhnungvomAusmaß der Massenexekutionen im gesamten
Bereich der rückwärtigen Armeegebiete. Um den Verlust zweier Mit
gliederder Wehrmachtzu vergelten, waren 627angebliche »Partisanen«
erschossen worden. Diese enorme »Erfolgsrate« führte man zu einem
guten Teilauf die Wirksamkeitvon Maßnahmen zurück, die, wie eshieß,
der Aufrechterhaltung von Anstand und Soldatenehre dienen sollten.
Nur ein einziger Vorfall zeitigte eine Beschwerdeseitens eines Offiziers
unteren Dienstgrades, daß die Hinrichtungen in einer unerquicklichen,
um nicht zu sagenwiderwärtigen Form durchgeführt worden seien. Die
Erschießung war nämlich in eine Mischung aus Blutbad und düsterer
Farce ausgeartet; und der diensthabende Offizier, der die aufkommende
Unruhe unter den beteiligtendeutschen Soldatenbemerkte,verpflichte
te diese zum Stillschweigen. Nachforschungen von höherer Stelle, die
über die Kompetenz von Korück hinausgingen und die 9. Armee
(AOK 9) befaßten, kamen zu dem Ergebnis, daß die Dinge ungeschickt
gehandhabt worden seien- nicht etwa, daß die ganze Aktion ungerecht
fertigt gewesen sei. Die Truppenführer waren in erster Linie darauf
bedacht, den Anschein von Legalität aufrechtzuerhalten und derartige
Aktionen ausnahmslos in disziplinierter Form ausführen zu lassen.35
Doch abermalsergebensichunerklärlicheWidersprüche.Im weiteren
Verlaufdes Krieges äußerten deutsche Truppen in einem benachbarten
rückwärtigen Gebiet Bedenken, daß kollektive Gewaltmaßnahmen
unangemessen und unnötig brutal seien.Eine solche Einstellungfreilich
versuchten höhere Stellen immer wieder durch den Verweis auf Sicher
heitserwägungen und gelegentlich eingestreute Anspielungen auf rassi
sche Bedrohung zu unterdrücken.36 Währenddessen drängten andere
Offiziere im Bereichvon Korück 582 auf Mäßigung, und zwar nicht als
Reaktion auf Unruheäußerungen, sondern vielmehrum den Enthusias
mus einzelnerEinheiten zu zügeln,die sich in der massenhaften Ermor
dung von Männern, Frauen und Kindern ergingen. Im weiteren Kriegs
verlauf ergab sich ein Widerspruch, indem die deutschen Truppenführer
ihre Soldaten fortwährend drängten, nichts zu unterlassen, um die
Sicherheit im Hinterland zu gewährleisten, jedoch dieselben Soldaten
gleichzeitig vor den Gefahren warnten, die mutwillige und grausame
Zerstörungen mit sich bringen würden.37
Solche Widersprüche zwischen offiziellen Handlungsvorgaben und
den tatsächlich von den Truppen vor Ort ergriffenen Maßnahmen
gegenüber der einheimischen Zivilbevölkerung zeigten sich zweifellos
schon bei Beginn des Feldzuges. Obwohl von höchsten Wehrmachts-
planungsstellen eine gegen die Bewohner der besetzten Gebiete gerich-

333
tete Hungerstrategie angeordnet worden war, richteten Einheiten von
Korück 582 im August 1941 bei Witebsk Brotverteilungsstellen und
Suppenküchen ein,um die obdachlos gewordene Bevölkerung mit war
men Mahlzeiten zu versorgen. Deutsche Truppenteile beschafften auch
Milch für Säuglinge und Kleinkinder. Die Leitung von AOK 9 lehnte
solche Initiativen nicht ab; doch wollte man auf sehen Korücks even
tueller Kritik von noch höherer Stelle mit der Begründung zuvorkom
men, ein solches Vorgehen ziele vor allem darauf, Hungerrevolten zu
vermeiden, die die örtliche Bevölkerung erst recht in die Arme der
Partisanen treiben würden.38

Zur Mentalität der Wehrmacht

Derartige humanitäre Akte, zumal wenn sie ganze Armeekorps invol


vierten, blieben aber eindeutig die Ausnahme, wie das Ausmaß der Lei
den für die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten zeigt. Die kriti
sche Literatur tendiert dazu, solche Fälle menschlichen Verhaltens unter
Verweis auf ihren vorgeblichzweifelhaften Aussagewert allzu leichtfer
tig abzutun und läßt damit die Frage, warum solche Aktionen vereinzelt
und kurzlebig waren, völligunbeantwortet.
Einige der frühesten Untersuchungen über die Besatzungspolitik in
den rückwärtigen Gebieten waren von derÜberlegung geleitet, daß Vor
behalte gegenüber der unverhohlen politisch-ideologischen Krieg
führung größtenteils von älteren Offizieren wie in Korück 582 ausgin
gen.Ob es einen solchen »Restbestand« einer Offiziersklasse, mit einem
Wertesystem, das sich vielleicht noch auf das Kaiserreich zurückführte,
im Dritten Reich wirklich gab, ist in der Gesamtdebatte um Wehrmacht
und Kriegsverbrechenimmer noch sehr umstritten.39 Bedenkt man frei
lich, daß die organisatorische Struktur der Militärregierung letztlich der
Ermessensfreiheit eines jeden einzelnen Kommandanten großen Spiel
raum einräumte, dann haben - jedenfalls nach Ausweis der Akten ver
schiedener rückwärtiger Besatzungskommandos - nur einige wenige
Verantwortliche ihre jeweiligeAutonomie dahingehend wahrzunehmen
verstanden, daß sie die oft strengen Vorgaben der offiziellen Politik
abgemildert haben. Was bei der Durchsicht der Unterlagen von rück
wärtigen Kommandos wie Korück 582 auffällt, ist die oftmals bizarre
Widersprüchlichkeit des Aktenmaterials. Detaillierte Kritik an dem
»beschämenden« und unehrenhaften Verhalten der deutschen Truppen
findet sich durchaus direkt neben Anordnungen, die eineverstärkte Bru-

334
talität und rigoroseres Vorgehen bei der Verfolgung von ohnehin illu
sionären militärischen Zielen anmahnen - von Zielen, die oftmals rein
ideologisch begründetwaren. Selbst wenn einige Vertreteraus dem Offi
zierskorps des rückwärtigen Armeegebietes Vorbehalte gegen den oft
brutalen Kriegführungsstil hatten, so waren sie doch bereit, wie zahlrei
che antibolschewistische Äußerungen zeigen, ihrepersönlichen Prinzi
pien für den höheren Zweck eines, wie sie es ansahen, Kreuzzuges auf
zugeben.40
Wie sah es nun aber bei den Mannschaften aus, bei den einfachen Sol
daten in den rückwärtigen Gebieten,die für die Umsetzung der offiziel
len Politik an der Basis unmittelbar verantwortlich waren? Einige der
oben gebotenen Einblicke in ihre Motive und Verhaltensweisen unter
stützen neuere antiapologetische Untersuchungen, die ein düsteres Bild
davon zeichnen, daß die überwältigende Mehrheit der deutschenTrup
pen der Naziideologiefanatischergebenwar und sich damit betraut sah,
eine Art Religionskrieg zu führen. Und selbst wenn Soldatenan Kriegs
verbrechen nicht direkt beteiligt waren, waren sie bestenfalls - so wird
argumentiert - moralisch gleichgültig angesichts der vielfältigen Leiden
der Bewohner in den besetzten Gebieten, besonders wiederum der
Juden. Der widerliche und sensationslüsterne Ton ihrer Briefe nach
Hause sowie die von ihnen gemachtenFotografien lassenvermuten, daß
so mancher gemeine Soldat einige Seiten des Krieges als eine bizarre
Form des »Tourismus« begriffenhaben mag.41
Versuche, ein solches Verhalten zu erklären, laufen darauf hinaus, daß
der Zusammenbruch der geltenden Regeln der Kriegführung in diesen
»rechtsfreien Territorien«und die Einführung neuer rassenideologischer
RichtlinienalsVorwandbenutzt wurden, um dem gemeinen Soldatenzu
zeigen, daß brutales Vorgehen nicht nur zulässig, sondern geradezu
kriegsnotwendig war. Quasilegale Weisungenwie besonders der Kriegs
gerichtsbarkeitserlaß und die Richtlinienfür dasVerhalten der Truppein
Rußland, die alle traditionellen Regeln der Kriegführung außer Kraft
setzten, verfolgten genau diesen Zweck. Wie die Falluntersuchung einer
einzelnen Hinrichtung in Korück 582 zeigt, waren die Kommandanten
stets peinlich darauf bedacht, Exekutionen in wohlorganisierter und dis
ziplinierter Form durchzuführen. Auf welch tönernen Füßen eine sol
che Vorspiegelung von Legalität auch stand, so darf man doch nicht
unterschätzen, wie sehr sie dazu beitrug, Hemmungen bei den einfachen
Soldaten der Hinrichtungskommandos abzubauen.42
Wenngleichdie Akten von Korück 582 Material enthalten, das dieses
deprimierende Bild von einer kollektiven Verwicklung einfacher Solda-

335
ten in die im Osten verübten Kriegsverbrechen hoch zusätzlich unter
streicht, so bieten doch dieselben Unterlagen auch andere Blickwinkel
auf die Alltagsgeschichte des Krieges. Die offizielle NS-Ideologie
war durch die Trägheit des militärischen Lebens und den Stumpfsinn
des Besatzungsdienstes oftmals gefiltert und gelegentlich verwässert.
Berichte von Korück 582 über die Truppenmoral vermitteln ein Bild,
wonachdieSoldaten die offizielle Propagandamiedenund sichstatt des
senlieberin dieFluchtweltvon leichterUnterhaltung,Filmenund Thea
terdarbietungen zurückzogen. Ein Großteildes Lebens im rückwärtigen
Besatzungsgebiet bietet sich überraschend, vielleicht sogar verwirrend
normaldar.43 Wenn diese Betrachtungsweise nochweitervorangetrieben
wird, geht es weder darum, ein »monolithisches und unrealistisches
Ideologiekonzept« vorzulegen, noch sollen die Gefahren einer Histori
sierung des Dritten Reiches in Abrede gestellt werden. Natürlich ver
suchte der Nationalsozialismus, aufallgemein imVolk verbreitete Über
zeugungen, etwa auf die Idee des Patriotismus oder die Konzepte von
Recht und Gerechtigkeit, oder auch die Soldatenehre, höchst unter
schwellig Einfluß zu nehmen. Doch inwieweit es dem NS-Regime
tatsächlichgelungenist, seinWertesystem dem öffentlichenDenken und
Fühlen der Bevölkerung einzuimpfen, bleibteinweites und schwieriges
Feld, auf dem es keine klaren oder einfachen Erklärungen gibt.44 In die
sem Zusammenhang bietet es sich an, eine neue Studie über ein Poli
zeibataillon im besetzten Polen zum Vergleich heranzuziehen. Im Hin
blick aufAlter, soziale Herkunft und Werdegang hattendieAngehörigen
dieses Bataillons manches mit den in Korück 582 eingesetzten Soldaten
gemein. Selbst für dieMänner dieser Polizeieinheit, derenKriegsverbre
chen gerichtlich erfaßt sind, hatte die Teilnahme an verbrecherischen
Aktionen nichts damit zu tun, daß man besonders geschult, politisch
indoktriniert oder ideologisch motiviert war. Ihr Engagement war viel
mehr auf beharrliches Anpassungsbemühen innerhalb einer so kleinen
Einheit und aufAutoritätshörigkeit zurückzuführen, diejüngeren Män
ner standen außerdem unter dem enormen Druck von Karrierehoffnun
gen. Solche verhaltensbestimmende Faktoren deformierten letztlich die
moralischen Normen.45
Es wird oft behauptet,daß innerhalbder eigentlichen Wehrmacht ein
nationalsozialistischer Idealismus einenresolutenKampfgeist unter den
einfachen Soldaten bis zum bitteren Ende aufrechterhalten und daß dies
die Bereitschaft, sich an Unternehmungen der brutalsten Art zu beteili
gen, noch bestärkt habe. Doch die Moral in Einheiten wie Korück 582
lag deutlich unter demNiveau, dasderartstereotype Ausführungen über

336
die Wehrmacht gemeinhin vermuten lassen. Zum Teil läßt sich dieser
Umstand darauf zurückführen, daß die rückwärtigen Truppen insofern
»untypisch« waren, als sie vorwiegend einen Querschnitt der männli
chen deutschen Bevölkerungdarstellten, die unter idealenBedingungen
sicher nicht für den aktiven Militärdienst eingezogen worden wäre. Die
Ressentiments und Ängste solcher Männer dürften sich sehr wohl in
brutalem Verhaltengegenüberanderen Luft gemachthaben. Doch eben
so sind Lethargie und Überlebensstrategien wie Selbstverstümmelung,
Desertion, das Vortäuschen von Unfähigkeit und die verschiedensten
Versuche, den Krieg einfach auszusitzen, zu finden.46 Militärgerichte
innerhalb Korück 582 verhängten drakonische Strafen, um Disziplin
und konformes Verhalten aufrechtzuerhalten; doch selbst in diesem
Bereich gab es Abweichungen von der Norm, was darauf hindeutet, daß
die Urteilspraxis nicht immer durch ideologisches Denken bestimmt
47
war.

Was sich freilich aus der Untersuchung der Akten von Korück 582
ergibt, ist sicherlichnicht - und darauf hat selbst die kritische Literatur
hingewiesen- eine klare Spaltung der Besatzungstruppen in Fanatiker,
die einen religiösen Krieg austrugen, auf der einen und gänzlich ideolo
gielose, überdrüssige, apathische Soldaten auf der anderen Seite; viel
mehr muß man mit fließenden Übergängen und den verschiedensten
Schattierungen rechnen. Viele weitere Falluntersuchungen sind noch
notwendig, besonders mit Blick auf die breite Palette unterschiedlicher
Reaktionen der einzelnen auf den Krieg. Und hierbei kommt es wieder
um besonders darauf an, wie sich darin verschiedene Ausformungen im
Verhältnis zwischen Offizieren und Mannschaften greifen lassen. Stu
dien zu nichtkonformem Verhalten verdienen besondere Aufmerksam
keit, denn der Gewinn, der sich aus der Erforschung solcher »Ausnah
men, die die Regel bestätigen« letztlich ergeben wird, sollte nicht zu
gering angesetzt werden.48
Wenn Einheiten vom Typ Korück 582 als besonders repräsentativ für
einen Großteil der männlichen Bevölkerungim Deutschen Reich gelten
sollen, dann muß die historische Debatte noch über die komplexe Fra
gestellunghinausgehen,in welchemAusmaß alleindie NS-Ideologie das
Verhalten jedes einzelnen formte und beeinflußte.49 Dann muß man auch
Einsichten über die langfristigen Auswirkungen gebührend berücksich
tigen, die das öffentliche Verhalten und allgemeine Denken der Men
schen schon vor Einsetzen der NS-Propaganda geprägt hatten. Schließ
lich war für viele der älteren Soldaten in den rückwärtigen Gebieten der
Krieg im Osten eine Etappe ihres Lebens, in der sie die Werte, die ihnen

337
in den frühen und formenden Jahren eingeprägt worden waren, durch
ihr Handeln und Denken zum Ausdruck brachten.50
ZumAbschluß seijedochausdrücklich aufdieProbleme hingewiesen,
die wesenhaft mit jedem Versuch, die mentale Struktur des Dritten
Reiches zu rekonstruieren, verbunden sind. Kriegsverbrecherprozesse
haben erwiesen, daß viele Teilnehmer am Krieg im Osten diese Zeit als
eine absolute Ausnahmesituation betrachteten; und oft genug sind die
politische Nomenklatur und das politische Wertesystem von heute
unzureichend, wenn man die Situation erklären will, in der sich diese
Männer damals befanden. Ungefähr fünfzigJahre nach Kriegsende ist -
trotz des unerläßlichen Impulses, der historische Forschung immer aufs
neue antreibt - der Behauptung von Alexander Kluge uneingeschränkt
zuzustimmen, daß es »keinen einzigen Menschen in Deutschland [gibt],
der so fühlt, sieht oder denkt wie irgendeiner der Beteiligten 1942«.5I

Anmerkungen

[ Korück: Kommandant des rückwärtigen Armeegebietes. Jedes rückwärtige


Armeegebiet war durch eine Nummer gekennzeichnet, im vorliegenden Fall
Korück 582. Der Begriff»Korück« bezog sich dabei sowohl auf die betreffende
Heereseinheit als auch auf die jeweilige Kommandantur. - Ich danke Frau Dr.
Jutta Grub für dieÜbersetzung dieses Artikels insDeutsche.
*. Theo J. Schulte, The German Army and Nazi Policies in Occupied Russia,
Oxford 1989; ders., Die Wehrmachtund die nationalsozialistische Besatzungs
politik in der Sowjetunion, in: Unternehmen Barbarossa. Zum historischenOrt
der deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1933 bis Herbst 1941, hrsg. von
Roland G. Foerster, München 1993,S. 163-176.
Der wesentliche Aktenbestand über Korück 582 liegtim Bundesarchiv-Militär
archiv (BA-MA), Freiburg i. Br., unter der SignaturRH 23/202-270. Weiterge
hendes Belegmaterial zu den im vorliegenden Artikel angesprochenen Punkten
(gleichfalls ausdem BA-MA) ist in den AnmerkungenmeinerMonographievon
1989(s. oben) ausgewertet.
\ WolframWette, Erobern, zerstören, auslöschen. Die verdrängteLastvon 1941.
Der Rußlandfeldzug war ein Raub- und Vernichtungskrieg von Anfang an, in:
Die Zeit, Nr. 48,28. November 1987; Andreas Hillgruber, ZweierleiUntergang.
Die Zerschlagung desDeutschenReiches und dasEndedeseuropäischen Juden
tums, Berlin 1986; Hans-Ulrich Wehler, Entsorgung der deutschen Geschichte?
München 1988, S. 46; Omer Bartov, Historians on the Eastern Front, in: Tel
Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 16 (1987), S. 325-345.
[ Auswahlbibliographie zum Thema Wehrmachtsverbrechen, in: Mittelweg 36,
Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Heft 3, 1994,
S. 52-56; The Final Solution: Origins and Implementation, hrsg. von David

338
Cesarani, London 1994; Operation Barbarossa. The German Attack on the
SovietUnion, June 22 1941,ed. by College of the Humanities, Utah University

Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich, hrsg. von Ursula
Büttner, Hamburg 1992; The Shoah and the War, ed. by Asher Cohen, New
York 1992; Ronald Headland, Messages of Murder: A Study of the Reports of
the Einsatzgruppen of the Security Police and the Security Services, 1941-43,
Rutherford, N. J., 1992.
5 Hannes Heer, Killing Fields.Die Wehrmachtund der Holocaust, vgl.in diesem
Band. Für ein Beispiel der neuesten quasiapologetischen Literatur vgl. Jörg
Friedrich, Das Gesetz des Krieges, Das deutsche Heer in Rußland 1941-1945,
München 1993. Vgl. dazu: Hannes Heer, Der Freispruch. Zu Jörg Friedrichs
Essay »Das Gesetz des Krieges«, in: Mittelweg36,Heft 1,1994, S. 51-64.
6 Angelehntan die FormulierungvonJürgen Förster, The Relation betweenOpe
ration Barbarossa as a war of extermination and the Final Solution, in: Cesara
ni, The Final Solution, a. a. O., S. 9y.
7 Omer Bartov,Hitler's Army: Soldiers, Nazis and War in the Third Reich,Lon
don 1985. Mark Mazower, vgl. in diesem Band.
8 Korück 582, 10.1.1942,BA-MA RH 23/244/3. Soviet Partisans in World War
II, ed. by John Armstrong, Madison 1964, S. 39.
9 Korück 582 (Ortskommandantur I/532), Bericht 396/8, 22.8.1941, BA-MA
RH 23/230; Korück 582 (Ortskommandantur I/593), Befehl 20.10.1941,
BA-MA RH 23/223.
10 Das Rußlandbild im Dritten Reich, hrsg. von Heinz-Erich Volkmann, Köln
1994; Bianka Pietrow-Enker, Die Sowjetunion in der Propaganda des Dritten
Reiches. DasBeispiel der Wochenschau, in:MGM46/2(1989), S.79-120; Schul
te, The GermanArmy,a. a. O., S.168; Omer Bartov, Operation Barbarossa and
the origins of the Final Solution, in: Cesarani, The Final Solution, a. a. O.,
S. 122-124.
11 Korück 582,Qu/Ic 22.9.1941 BA-MA RH23/277. Werner Haupt, Heeresgrup
pe Mitte: 1941-1945, Dorheim 1968, S. 70.
12 Bartov, Hitler's Army, a. a. O., S.48ff.
13 Korück 582, Qu/Ic 22.9.1941 BA-MA RH 23/277. Korück 582, Anlagen zum
KTB, 4.6.1942 (Landesschützen-Bataillon 738)BA-MA RH 23/24.
14 Korück 532, Halbjahresbericht, 11.11.1942, BA-MA TH 23/26. Korück 582
(OKI/532), 23.10.1941, BA-MA RH 23/223;Gustav Höhne, Haunted Forests,
Guides to Foreign Military Studies (CO37), Washington 1953; Armstrong,
Soviet Partisans, a. a. O., S. 221.
15 Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen
Kriegsgefangenen 1941-1945, 3. Auflage, Bonn 1991; ders., Das Schicksal der
verwundetensowjetischen Kriegsgefangenen, vgl. in diesemBand.
16 Korück 582 (OK I/593)Befehl Nr. 11 Behandlung politischer Kommissare,
20.8.1941, BA-MA RH 23/223; Korück 582 (OK I/593 Demidow) Tgb.
1580/41, 28.9.1941; Wach-Batl. 721 (Cholm) an Korück 582, Lagebericht
19.8.1942, BA-MA RH 23/247; Jürgen Förster, Die Sicherung des »Lebensrau-

339
mes«, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd.4:Der Angriffauf
die Sowjetunion, hrsg. vom MGFA, Stuttgart 1983, S. 1068.
17 Korück 582(OK 1/593)6.8.1941 und 10.11.1941, BA-MA RH 23/223.
18 Korück 582 (OK I/593) Befehl 6, 6.8.1941, BA-MARH 23/223.Tätigkeitsbe
richt des Gerichts des Korück 582: Oktober 1940-Dezember 1942,BA-MA RH
23/261 u. 265.
19 Korück 582, Bericht über die Dienstreise vom 6. und 7.8.1941, BA-MA RH
23/225. A.Gef.Sa.St.7 (Korück 582), BA-MA RH 23/223 ff.
20 Korück 582, Besondere Anordnungen 6y, 20.10.1942,BA-MA RH 23/267.
21 Korück 582, Bericht über die Dienstreise vom 6. und 7.8.1941, BA-MA RH
23/225.
22 Korück 582 (A.Gef.Sa.St.8) 31.12.1941, BA-MARH 23/223. Dulag240(Korück
582), Besichtigungin Rshew, 17.-20.12.1942,BA-MA, RH 23/233 u. 238.
23 AOK 9, Ia Nr. 4400/41, Vermehrte Heranziehung von Kriegsgefangenen für
Zwecke der Wehrmacht, 1.12.1941, BA-MA RH 23/219.
24 Zum Beispiel in Dulag 220 (Gomel), Korück 532; Der Kommunist ist kein
Kamerad, in: Der Spiegel6/1978, S. 90.
25 Korück 582, Bezug: AOK 9, 26.11.1941, Abgänge von Kriegsgefangenen, BA-
MA RHH 23/22.
26 Korück 582, Befehl 5, 04.8.1941, BA-MA RH 23/223.
27 Korück 582(OK I/593), 12.7.1941, BA-MA RH 23/224.
28 Korück 582 (Feldgend.Abt. Mot 696), Br.B. Nr. 41/41, 17.9.1941, BA-MA
RH 23/227; Korück 582 (Wach-Batl. 721), Schireewitschi, 12.9.1941, BA-MA
RH 23/227; Korück 582 (OK II/930), Ljubawitschi, 28.9.1941, BA-MA
RH 23/223.
29 Korück 582 (OK I/302 Kalinin), 24.11.1941, BA-MA RH 23/223.
30 Korück 553, August 1941 - Sommer 1942, BA-MA RH 22/202.
31 Korück 582 (Dulag 230), 23.7.1942,BA-MA RH 23/247.
32 Korück 582 (OK II/930), Partisanenbekämpfung, 1.1.1942, BA-MA
RH 23/237.
33 Wachbatl. 720 und Korück 582, Betr. Kgf.Lager Wel.Luki, 5.10.1941, BA-MA
RH 23/222; Korück 582, Abgänge von Kriegsgefangenen, 23.11.1941, BA-MA
RH 23/222; Korück 582 (Dulag 230), 23.6.1942, BA-MA RH 23/247.
34 Korück 582 (AOK9), Nr. 4109/41. 10.10.1941, BA-MA RH23/219; Korück
582, 29/41,14.9.1941, BA-MA RH 23/219.
35 Korück 582 (3Radf. Wachbtl. 50),24.9.1941,BA-MA RH 23/228;Schulte,Ger
man Army, a. a. O., S. 135-137; Dokumente: Ebenda, S. 335-344.
36 Korück 582, 24.9.1942, BA-MARH23/26; Korück 582, Stimmung der Truppe,
10.6.1942, BA-MA RH23/244.
37 Korück 582, Br.B.Nr. 286/42, Behandlung der russischen Bevölkerung,
28.4.1942, BA-MA RH 23/29.
38 Korück 582 (OKI/532), Tgb.Nr. 396/8, datiert22.8.1941, BA-MA RH 23/230.
39 Vgl.AlexanderDallin,DeutscheHerrschaft in Rußland 1941-1945. Eine Studie
über Besatzungspolitik, Düsseldorf 1958, S. 5i8ff.; Bernhard Kroener u.a.,
Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Teilband 1:

340
Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1939-1941, Stuttgart
1988,S. 738ff.
40 Korück 582 (OK I/624),Tätigkeitsbericht, 4.6.1942, BA-MARH 23/247.
41 Omer Bartov, Brutalität und Mentalität: Zum Verhalten deutscher Soldaten an
der Ostfront, in: Erobern und Vernichten, hrsg. von Peter Jahn und Reinhard
Rürup, Berlin 1991; Ernst Klee, Willi Dreßen, Volker Rieß, Schöne Zeiten:
Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, Frankfurt am Main 1988,S. 105 ff.
42 Die wichtigsten Dokumente sind publiziert in: Der deutsche Überfall auf die
Sowjetunion. Unternehmen Barbarossa 1941, hrsg. von Gerd R. Ueberschär u.
WolframWette, Frankfurt am Main 1991; Gerhard Weinberg,A World at War:
A Global History of World War II, Cambridge, 1994, S. 302ff.
43 Vgl. Schulte, German Army, a. a. O., S. 253-276.
44 Vgl. Timothy W. Mason, Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und
Volksgemeinschaft. Opladen 1977, S. 299ff.
45 Vgl.Christopher Browning,Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibatail
lon 101 und die »Endlösung« in Polen, Reinbek 1993; Konrad Kwiet, From the
Diary of a KillingUnit, in: Why Germany, ed. by John Milfull, Oxford 1992.
46 An den Befehlshaber im Heeresgebiet Mitte, Bericht über die Bahnsicherung,
2.11.1942-31.12.1942, BA-MA RH 22/233.
47 Korück 582 (OK I/593), Befehl 6, 6.8.1941, BA-MA RH 23/233; Tätigkeitsbe
richt des Gerichts des Korück 582: Oktober 1940 - Dezember 1942, BA-MA
RH 23/261 und 265.
48 Mazower, vgl. in diesem Band, ders., Inside Hitler's Greece: the experience of
Occupation 1941-44, Yale 1993; Hans J. Schröder, Die gestohlenen Jahre:
Erzählgeschichten und Geschichtserzählung im Interview. Der Zweite Welt
krieg aus der Sicht ehemaliger Mannschaftssoldaten, Tübingen 1992; Der Krieg
des kleinen Mannes: Eine Militärgeschichte von unten, hrsg. von Wolfram
Wette (III. Drittes Reichund ZweiterWeltkrieg), München 1992; ManfredMes
serschmidt,June 1941: Seentrough German memoirs and diaries,in: Operation
Barbarossa, ed. by Humanities, University of Utah 1992; »Ichwill raus aus die
sem Wahnsinn«. Deutsche Briefe von der Ostfront 1941-1945. Aus sowjeti
schen Archiven, hrsg. von Valentin Osipov u.a., Wuppertal 1991; Karsten
Bredemeier, Kriegsdienstverweigerer im Dritten Reich: Ausgewählte Beispiele,
Baden-Baden 1991; Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Sol
daten im Nationalsozialismus. Mit Dokumentationen, Bremen 1990; Mein
Krieg. Ein Dokumentarfilm von H. Eder und T. Kufus, Kinostart 1990; David
Kitterman, Those who said »No!«: Germans who refused to execute civilians
during World War II, in: German Studies Review 1988, S. 241-254.
49 Nazism and German Society 1933-1945, ed. by David F. Crew, London 1994;
Nationalsozialismus und Modernisierung, hrsg. von Michael Prinz u. Reinhard
Zitelmann, Frankfurt am Main 1991;Peter Reichel, Der schöne Schein des Drit
ten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München 1991; Alf Lüdt-
ke, Wo blieb die rote Glut? Arbeitererfahrungen und deutscher Faschismus,in:
Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebens
weisen, hrsg. von Alf Lüdtke, Frankfurt am Main 1989; Omer Bartov, Extrem-

341
fälle der Normalität und dieNormalität desAußergewöhnlichen: DeutscheSol
daten an der Ostfront, in: Überleben im Krieg, hrsg. von Ulrich Borsdorf u.
MathildeJamin,Hamburg 1989; Hans-Dieter Schäfer, Das gespaltene Bewußt
sein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933-45, München 1981.
50 Zivilisationund Barbarei.Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Det
levPeukert zum Gedenken, hrsg.von Frank Bajohr,WernerJohe, Uwe Lohalm,
Hamburg 1991; Arbeiter im 20.Jahrhundert, hrsg.von KlausTenfelde, Stuttgart
1991; DieJahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzensoll,hrsg.von Lutz
Niethammer, Berlin 1983; Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschafts
fremde - Anpassung, Ausmerze, Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus,
Köln 1982.
51 Eine ausführlichere Diskussiondarüber,wie Kriegsverbrecherprozesse seitden
achtziger Jahren unsere heutige Auffassung vom Dritten Reich beeinflußt
haben, findet sich bei Theo J. Schulte, War Crimes in Nazi Europe and War
Crimes Trials.
Klaus Geßner Geheime Feldpolizei -
die Gestapo der Wehrmacht*

Die während der letzten Jahrzehnte teilweise in Massenauflagen erschie


nene Literatur über den militärischen Geheimdienst Nazideutschlands
enthält kaum Hinweise auf die Tätigkeit einer Geheimen Feldpolizei
(GFP) im Zweiten Weltkrieg. Eine der Ursachen für das diese Wehr
machtsformation umgebende Dunkel mag in der komplizierten Quel
lensituation liegen. Die zentralen GFP-Unterlagen sind wahrscheinlich
vernichtet worden oder befinden sich noch immer in Geheimarchiven
unter Verschluß. Für die Forschung stehen deshalb neben Dokumenten
aus dem Nürnberger Nachfolgeprozeß gegen das Oberkommando der
Wehrmachtlediglich die Fragmentedes Schriftgutes der GeheimenFeld
polizei zur Verfügung, die sich in den Unterlagen der Ic-Offiziere der
Wehrmacht erhalten haben.
Ein anderer Beweggrund, dem GFP-Thema auszuweichen, kann bei
einigen Autoren aber auch die Tatsache sein, daß die Geheime Feldpoli
zei während ihrer Tätigkeit im Osten wie kaum eine andere Wehr
machtsformation Gewalt und Mord zu ihrem Alltag machte.Die Legen
de von der »sauberen« Wehrmacht, die den »normalen« Krieg führte,
während Himmlers Sonderkommandos hinter der Front ihr schmutzi
ges Vernichtungswerk ausübten, wird am Beispiel der Geheimen Feld
polizei gründlich widerlegt.

Aufstellung

Die GFP war ein speziell für den nationalsozialistischen Vernichtungs


krieg geschaffenes Terrorinstrument. Ihre Angehörigen übten - wie am
30. August 1946 vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürn-

Der folgende Beitrag ist eine aktualisierte Zusammenfassung meines Buches:


Geheime Feldpolizei. Zur Funktion und Organisation des geheimpolizeilichen
Exekutivorgans der faschistischen Wehrmacht, Berlin 1986.

343
berg konstatiert wurde - »bei der kämpfenden Truppe dieselben Funk
tionen aus,wie sieder Gestapo und der Kriminalpolizei im Reichezuge
wiesen waren. Außerdem hatten sie weitverbreitete polizeiliche Straf
aufgaben, die gegen die friedliche Bevölkerungund die Partisanenin den
Gebieten der Kampfhandlungen gerichtet waren.«1 Diese Funktion
sowie die bei ihrem Einsatz angewandten Mittel und Methoden machen
die engeVerbindung der GFP zur berüchtigten Geheimen Staatspolizei
deutlich, prägten ihren Charakter als »Gestapo der Wehrmacht«.
Als unmittelbare Vorbereitungsmaßnahme des militärischen Geheim
dienstes auf den ZweitenWeltkrieg erarbeitete die Abwehrabteilung III
der OKW-Amtsgruppe Auslandsnachrichten und Abwehr im Sommer
1938 einegeheime Vorschrift, die alleFragenvon Funktion und Organi
sation der mit Kriegsbeginn aufzustellenden Geheimen Feldpolizei
regelte.2 Hierbei konnte sichdie »Abwehr« auf Erfahrungender Gehei
men Feldpolizei aus dem Ersten Weltkrieg stützen sowie Einsatzerfah
rungen im Spanischen Bürgerkrieg und während der Vorbereitung der
Annexion Österreichs verwerten.3 Die GFP-Vorschrift tratam 14. Sep
tember 1938, nach ausgiebiger Diskussion ihres Entwurfs im OKW, in
Kraft und wurde aufgrund des Einsatzes der Geheimen Feldpolizei bei
der Okkupation derCSR und bei der Vorbereitung des Überfalls auf
Polen weiter präzisiert. Als Heeresdruckvorschrift geheim (H.Dv.g.)
150, Marinedruckvorschrift (M.Dv.) Nr. 4, Luftwaffendruckvorschrift
geheim (L.Dv.g.) 150 »Dienstvorschrift für die Geheime Feldpolizei«
vom 24. Juli 1939 behielt sie bis Kriegsende Gültigkeit.4 Ergänzungen
grundsätzlicher Art erhielt die GFP-Dienstvorschrift durch die
»Abwehr«-JahresVerfügungen 1940und 1941/42 des Obersten Befehls
habers der Wehrmacht sowie durch die »Abwehr«-Jahresverfügung
1945 des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht.5
Mit der bereits am 2. August 1939 erfolgten Aufstellung erster GFP-
Gruppen als »Übungstruppen« begann die Mobilmachung der Gehei
men Feldpolizei für den Zweiten Weltkrieg. Die GFP wurde nach dem
Mobilmachungsplan Heer sowie nach den für sie bestehenden Kriegs
stärkenachweisungen als Teil des Feldheeres aufgestellt. Für die damit
zusammenhängenden Organisationsfragen zeichnete die GruppeIII der
2. Abteilung des Generalstabs des Heeres verantwortlich. Die Mobil
machungsaufstellung der GFP-Gruppen erfolgte über die Wehrkreis
kommandos durch die zuständigen Wehrbezirkskommandos. Ersatz
formation war die GFP-Gruppe 161 beim Infanterie-Ersatz-Bataillon
Altenburg, ab 1943 beim Ersatz-Bataillon 600 Lissa.6

344
Führung undPersonal

Die einheitliche Führung der GFP lag bis 1944 in den Händen der
Geheimdienstzentrale der deutschen Wehrmacht- der Amtsgruppe (ab
18. Oktober 1939 Amt) Ausland/Abwehr des Oberkommandos der
Wehrmacht. Ausgeübt wurde sie vom Chef des OKW-Amtes Aus
land/Abwehr über den ihm unterstehenden Heeresfeldpolizeichef, dann
über den am 1. Mai 1940 eingesetzten Feldpolizeichef der Wehrmacht.
Die in das OKW-Amt Ausland/Abwehr, Abteilung Abwehr III einge
baute, ab 1. November 1940 als selbständige »Abwehr«-Dienststelle
fungierende Institution des Feldpolizeichefs der Wehrmacht bildete das
wichtigste Bindeglied zwischen GFP und Gestapo. Sie hielt in allen
Grundsatzfragen engen Kontakt zum Chef der Sicherheitspolizei und
des SD, regelte mit diesem den GFP-Personalnachschub aus der Sicher
heitspolizei und koordinierte mit ihm den Kriegseinsatz von Geheimer
Feldpolizei, Gestapo und Sicherheitsdienst der SS. Dem seit 1940 an der
Spitze der GFP stehenden Feldpolizeichefder Wehrmachtwar der Hee
resfeldpolizeichef unmittelbar unterstellt. Die Dienstgeschäfte eines
Feldpolizeichefs der Kriegsmarine und der Luftwaffeübte der Feldpoli
zeichef der Wehrmacht aus.7
Der Heeresfeldpolizeichefwar für die Leitung sämtlicher dem Feld
heer zugeteilten Stäbe und Gruppen der Geheimen Feldpolizei zustän
dig.SeinDienstsitz war das Oberkommando des Heeres. Im August und
September 1939 gehörte er der Verbindungsgruppe der Amtsgruppe
Ausland/Abwehr beim OKH und der aus ihr hervorgegangenen Abtei
lung z. b. V beim Oberquartiermeister IV des Generalstabs des Heeres
an. Später befand sich seine Dienststelle bei verschiedenen Abteilungen
des OKH, so beim Generalquartiermeister/AbteilungKriegsverwaltung
oder auchbeimGeneral z. b. V./Heerwesenabteilung.8
Zur Führung der Geheimen Feldpolizei auf den Hauptkriegsschau
plätzen waren dem Heeresfeldpolizeichefder Leiter der Geheimen Feld
polizei Ost und der Leiter der Geheimen Feldpolizei West unterstellt.
Ihnen unterstanden Leitende Feldpolizeidirektoren bei den höheren
Befehlshabern, die den Einsatz der GFP-Gruppen ihres Bereichs leite
ten und mit der Tätigkeit anderer Unterdrückungsorgane abstimmten.
Auf den anderen Kriegsschauplätzen unterstanden die Leitenden Feld
polizeidirektoren dem Heeresfeldpolizeichefdirekt.9
Die operative Einheit der Geheimen Feldpolizei war die GFP-Grup-
pe, in Sonderfällen das Selbständige Kommissariat GFP. Siestand unter
dem Kommando einesGruppenleiters (Einheitsführers).Meist übten die

345
Gruppen dezentralisiertals Kommissariate, Sekretariate und Außenstel
len oder -kommandos ihre geheimpolizeiliche Tätigkeit aus.10
Gruppen der Geheimen Feldpolizei wurden durch das OKW-Amt
Ausland/Abwehr den Heeresgruppen, den Armeen, den Panzergrup
pen, den Sicherungsdivisionen, den Oberfeldkommandanturen, den
Militärbefehlshabern, den Luftflottenkommandos und den Marinebe
fehlshabern zugeteilt. Doch konnten »bei besonderen Anlässen« auch
anderemilitärische Kommandostellen Kräfteder Geheimen Feldpolizei
anfordern. Die unmittelbaren Einsatzbefehle erhielten die Leiter der
GFP-Gruppen vom zuständigen Geheimdienstoffizier der jeweiligen
Kommandobehörde: bei den Heeresgruppen, Armeen und Panzer
gruppen vom Abwehroffizier (AO) der Abteilung Ic/AO, bei den
Militär- und Wehrmachtsbefehlshabern vom Leiter der zuständigen
Abwehrstelle und bei den sonstigen Kommandobehörden vom 3. Gene
ralstabsoffizier (Ic). Lediglich die bei den Sicherungs-Divisionen einge
setzten GFP-Gruppen unterstanden einsatzmäßig dem 1. Generalstabs
offizier (Ia).11 Eine Sonderstellung unter den GFP-Gruppen besaß die
Gruppe GFP z. b. V. Sie wurde bei Kriegsbeginn aus den Angehörigen
der Reichssicherheitsdienst-Gruppe z. b. V (Führersicherheit) gebildet
und während des Zweiten Weltkrieges zum persönlichen Schutz Hitlers
eingesetzt.12
Die Soll-Stärke einer im August 1939 aufgestellten GFP-Gruppe
betrug 50 Mann (1 Einheitsführer, 32 Feldpolizeibeamte/Hilfsfeldpoli-
zeibeamte, 17Mann militärisches Unterpersonal). Unmittelbar vor dem
Überfall auf die Sowjetunion legte sie das OKW auf 95 Mann (1 Ein
heitsführer, 9 Feldpolizeibeamte, 45 Hilfsfeldpolizeibeamte, 40 Mann
militärisches Unterpersonal) fest. Die Gruppenstärke wurde während
des weiteren Kriegsverlaufs nur noch geringfügig erhöht. Die Zahl der
GFP-Gruppen beim Feldheer belief sich 1939 auf 15, 1940 auf 37, 1941
auf 43, 1942/43 auf 83 und 1944 auf 68.13
Die Leitung der Stäbe und Gruppen der GFP erfolgte durch die im
Offiziersrang stehenden Feldpolizeibeamten. Diese besaßenmilitärische
Befehlsbefugnis gegenüber den unterstelltenFeldpolizeibeamten, Hilfs-
feldpolizeibeamten und - nachdemFührererlaß vom 15. August 1941 -
auch für die zur Geheimen Feldpolizei kommandierten Soldaten und
Unteroffiziere. Die Feldpolizeibeamten kamen ausschließlich aus der
Sicherheitspolizei (Geheime Staatspolizei/Kriminalpolizei) und wurden
vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD für die »Kriegsdauer« zur
Wehrmacht kommandiert. Einstellungen, Versetzungen und Entlassun
gen von Feldpolizeibeamten erfolgten durch das OKW-Amt Aus-

346
land/Abwehr nur in Abstimmung mit dem Chef der Sicherheitspolizei
und des SD. Entsprechend ihrem besonderen Status führten die Feldpo
lizeibeamten nicht die Dienstgradbezeichnungen der Wehrmacht, son
dern mit dem Zusatz »Feldpolizei« versehene der Sicherheitspolizei.14
DieÜbernahme des Führungspersonals aus derSicherheitspolizei beein
flußte das Profil der Geheimen Feldpolizei nachhaltig. Die zur GFP
kommandierten Gestapoangehörigen übertrugen die Methoden, die sie
bei der Verfolgung des deutschen Widerstandsangewandt hatten, direkt
auf die GFP-Tätigkeit. Durch ihre Polizeierfahrungen boten sie zudem
die Gewähr, daß die Geheime Feldpolizei von Anfang an einsatzfähig
war.

Wehrmachtsangehörige (Soldaten und Unteroffiziere), die für den


geheimpolizeilichen Einsatz durch ihre Gesinnung sowie besondere
Kenntnisseund Fähigkeitenprädestiniert erschienen, wurden vom Feld
polizeichef der Wehrmacht zu Hilfsfeldpolizeibeamten ernannt und in
die GFP übernommen. Siehatten einen militärischen Dienstgrad.
Die der GFP als militärisches Unterpersonal zugeteilten Soldatenund
Unteroffiziere wurden meist alsWachpersonal, Kraftfahrer oder Schrei
ber eingesetzt. Sie stellten die Mannschaften für die GFP-Aktionen
gegendie Partisanenbewegung und die Zivilbevölkerung. Dieses Perso
nal wurde vor der Übernahme in die GFP von der für ihren Heimat
wohnsitz zuständigen Gestapo-Stelle in »abwehrmäßiger, politischer
und strafrechtlicher Hinsicht« überprüft. Beim Eintritt in die Geheime
Feldpolizei mußte jeder eine Erklärung unterzeichnen, in der er sich zu
absoluter Geheimhaltung verpflichtete. Mit seiner Anordnung vom
28. November 1940 wies der Feldpolizeichef der Wehrmacht nach
drücklich auf die absolute Schweigepflicht hin: »Alle Angehörigen der
GFP sind monatlich darüber zu unterrichten, daß sie über alleVorgänge,
die ihnen zur Kenntnis gelangen, Stillschweigen zu bewahren haben.«15
Auf dem zeitweilig von der Wehrmacht okkupiertenTerritorium der
UdSSR wurde die Geheime Feldpolizei durch GFP-Hilfswillige (ehe
malige sowjetische Kriegsgefangene, Kollaborateure verschiedenster
Herkunft und Gesinnung) verstärkt. 1943 gehörten zu jeder hier einge
setzten GFP-Gruppe etwa25 Hilfswillige.l6

Die GFP im Einsatz

Territoriales Haupteinsatzfeld der Geheimen Feldpolizei war das Ope


rationsgebiet des Heeres - der Teildes Kriegsgebietes, in dem das Feld-

347
heer Kampfhandlungen führte und direkt das Besatzungsregime be
stimmte. In ihm wurde die vollziehende Gewalt durch das OKH und in
dessen Auftrag durch die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen aus
geübt. Außerdem wurde die GFP auch in okkupierten Territorien ein
gesetzt,in denen ein militärischerBefehlshaber die vollziehendeGewalt
besaß. Im Zivilverwaltungsgebiet und im Heimatkriegsgebiet stand der
Wehrmacht die Gestapo als geheimpolizeiliches Exekutivorgan zur Ver
fügung.17
Trotz des durch die H.Dv.g. 150 »Dienstvorschrift für die Geheime
Feldpolizei« vom 24. Juli 1939 generell gestellten Auftrags, »alle volks-
und staatsgefährdenden Bestrebungen, insbesondere Spionage, Landes
verrat, Sabotage, feindliche Propaganda und Zersetzung im Operations
gebiet zu erforschen und zu bekämpfen«, gestaltetesich der Einsatz der
Geheimen Feldpolizei im Zweiten Weltkrieg sehr unterschiedlich. Ihre
Tätigkeit im besetzten Nord- und Westeuropazeigte eine völlig andere
Seite als die an der Ostfront. In den Niederlanden, Dänemark und
Norwegen beschränkte sie sich auf den »geheimpolizeilichen Schutz«
der Wehrmacht. In Belgien und Frankreich erfolgte der Einsatz von
GFP-Kräften als polizeiliche Exekutive der Militärverwaltungen zur
Bekämpfung von Widerstandsaktionen, alliierterSpionage und Sabota
ge sowie Zersetzungserscheinungen in der eigenen Truppe verbunden
mit selektivem Terror (Inhaftierungen, Verschleppungen, Geiseler
schießungen).18 Im Osten dagegen praktizierte die GFP mit Beginn des
Überfalls aufdie Sowjetunion einen ständig eskalierenden Terror gegen
Partisanen, Kommissare, Juden und »Verdächtige«.
Im weiteren Kriegsverlaufwurde die Masse der GFP-Kräfte auf dem
besetzten Territorium der UdSSR konzentriert. Der Grund dafür war
die sowjetische Partisanenbewegung, die der WehrmachtschwereVerlu
ste zufügte und das Besatzungsregime stark erschütterte. Als Organ der
»Bandenbekämpfung« nahm die GFP im Rahmen der gegen die sowje
tischenPartisanendurchgeführten Aktionen einezentrale Stellung ein.19
Spezifische Aufgabeder GeheimenFeldpolizeiwar es, aus den gefan
genen Partisanen und verdächtigen Zivilpersonen Angaben über die
Rote Armee, die Partisanenbewegung und über örtliche Widerstandsor
ganisationen herauszupressen. Weiterhin versuchte die GFP, durch ihre
eigenen Leute und mit Hilfe von Kollaborateuren Partisanen- und ande
re Widerstandszentrenaufzuspüren und zu zerschlagen. SeitSeptember
1941 erfülltendie in der Sowjetunion dabei eingesetztenGFP-Kräfte den
einschlägigen Auftrag des Generalstabs: »Zivilpersonen, die hinreichend
der Spionage, Sabotage oder des Partisanentums verdächtig sind, sind

348
nach Vernehmung durch GFP zu erschießen. [...] Knaben und junge
Mädchen, die vom Gegner mit Vorliebe angesetzt werden, sind nicht
auszuschließen.«20
Die Berichte der GFP-Gruppen zeugen davon, daß der Einsatz gegen
die Partisanen schon in den ersten Monaten erfolgte.21 Die GFP ver
suchte anfangs, die Partisanen hauptsächlichdurch Streifentätigkeitund
das Durchkämmen von Waldgebieten auszuschalten.22 Da dies jedoch
nur geringe Erfolge brachte, griff sie zunehmend zu »vorbeugenden«
Maßnahmen, zu Razzien in den Ortschaften und auf den Straßen ihres
Einsatzgebietes. Die Ortschaften wurden meist in den frühen Morgen
stunden umstellt und dann systematisch durchsucht.23 »Politisch ver
dächtige« Personen wurden festgenommen und verhört, vielevon ihnen
ermordet. Zu den »Verdächtigen« zählten insbesondere Funktionäre der
kommunistischen Partei und des sowjetischen Staatsapparats sowie
Juden. So erschoß zum Beispiel die GFP-Gruppe 723 im August 1941
den Vorsitzenden des Dorfsowjets von Rutkowschina, Roma Sinkow,
den Politkommissar Kowalow und 19 Juden.24 Unter dem Vorwand,
»Partisanenverdächtige« zu exekutieren, beteiligte sich die Geheime
Feldpolizei aktiv an der Judenverfolgung und an der Ausführung des
berüchtigten Kommissarbefehls.
Eine Hauptmethode der GFP bestand darin, sich durch SpitzelInfor
mationen über Zentren und Stützpunkte der Partinsanenbewegung zu
verschaffen. Hierzu schuf die Geheime Feldpolizei in ihrem jeweiligen
Einsatzbereich einNetz sogenannter V-Leute (Vertrauensleute).25 Über
deren Tätigkeit führte der Stab der jeweiligen GFP-Gruppe Aufzeich
nungen, die bei einer Verlegung der Gruppe an die nachfolgende GFP-
Dienststelle weitergegeben wurden.26
Den zur Bekämpfungder sowjetischen Partisanen eingesetztenTrup
pen wurden häufig GFP-Kommandos zur sofortigen Vernehmung
gefangener Partisanenbeigegeben. Wie der Bericht des Leitenden Feld
polizeidirektors beim Befehlshaberdes rückwärtigen HeeresgebietsSüd
für Oktober 1941 ausführt, bewährte sich »die Abstellung von Sonder
kommandos zu den Eingreiftruppen [...], da durch sofortige Auswer
tung von Gefangenenaussagen an Ort und Stelle oft weitere Anhalts
punkte für den Einsatz der Truppe gewonnen werden konnten«.27 Eine
weitere Form der unmittelbaren Mitwirkung von GFP-Einheiten an
Partisanenbekämpfungsaktionen bestand darin, hinter der vorgehenden
Truppe Sperriegel zu bilden, um aus der Einschließung ausbrechende
Partisanen abzufangen.28
Hauptaufgabe der Geheimen Feldpolizei bei der Verfolgung der

349
sowjetischen Partisanen blieb jedoch, in ihrem. Einsatzgebiet jede »ver
dächtige Person« auf eventuelle Verbindungen zu den Partisanen zu
überprüfen. »Partisanenverdächtige« sowie gefangengeqommene Parti
sanen wurden nach dem in Gestapo-Manier vollzogenen Verhör in den
meisten Fällen ermordet oder zur »Weiterbehandlung« an die SD-EinJ
satzkommandos abgegeben. Im Bereich des Befehlshabersdes rückwär
tigenHeeresgebiets Südüberprüfte die Geheime Feldpolizei imNovem
ber 1941 »im Zuge der Partisanenbekämpfung« n 447 »verdächtige
Personen«. Davon wurden 5193 festgenommen, 737 als »Freischärler
und Saboteure« erschossen und 2990 Personenin Kriegsgefangenenlager
eingeliefert. Zehn deutsche und zwei slowakische Soldaten wurden
wegen »Fahnenflucht« der Militärjustiz übergeben.29

Verhör und Exekution

Die Vernehmung gefangener Partisanen und anderer »Verdächtiger«


gehörte zu den wichtigstenAufgabender GFP. Beiihren Vernehmungen
wandte die Geheime Feldpolizei brutale Methoden an. Insbesondere
mißhandeltesieihre Opfer durch Prügel.Sowurden die Gefangenen der
GFP-Gruppe 721 in Romny und Stalino mit einem Knüppeloder einem
Koppel, mit Gummischläuchen oder Peitschen - meist auf den unbe
kleidetenKörper- geschlagen. Dazu kamen Fußtritte und Faustschläge.
Oft verließen die Gefangenen blutüberströmt die Vernehmungsräume
oder wurden aus diesen herausgeschleift.30
Die Gefängnisse der Geheimen Feldpolizei waren meist GFP-Unter
kunftsgebäude oder kleinere Häuser in der Nähe der jeweiligen GFP-
Dienststelle. Die Gefangenen wurden in diesen Gefängnissen oft
unmenschlich behandelt.In den Gefängnissen der GFP-Gruppe 580, die
im Raum Baranowitschi, Witebsk, Serkowo, Smolensk, Orel, Merzalo-
wo und Bobruisk eingesetztwar,gabeskeinerleiHeizung, keineDecken
und völlig unzureichende Verpflegung. In vielen Fällen pferchtedie GFP
ihre Gefangenen auf engstem Raum zusammen.31
Die Geheime Feldpolizei konnte trotz Folter von den meisten ihrer
Gefangenen keine »Geständnisse« erzwingen. Der für die Vernehmung
verantwortliche GFP-Angehörige setzte die Namen der »Nichtgestän
digen« auf eine Liste, mit der die jeweilige GFP-Gruppe in bestimmten
Zeitabständen ihre Exekutionswünsche an den Ic des zuständigen
Armeeoberkommandos übermittelte. Nach der meist unmittelbar dar
auf erfolgten Bestätigung bestimmte der Leiter der GFP-Gruppe den

350
Exekutionstermin sowie den Führer und die Angehörigen des Er
schießungskommandos. Letztere wechselten ständig. Damit sollte
erreicht werden, daß sich alle Angehörigen der GFP-Gruppe an den
Exekutionen beteiligten. Die an den Händen gefesselten Opfer wurden
in Gruppen auf Lastkraftwagen, Pferdewagen oder Schlitten verladen
und mit diesenzu der meist einige Kilometervom Stationierungsortder
GFP-Gruppe entfernten Exekutionsstätte transportiert. Hier waren
Gräben oder Gruben vorbereitet. Zur Absicherung des Erschießungsor
tes mußte ein Teildes Kommandos eine Absperrkette bilden. Die Opfer
wurden durch einen Schuß in den Rücken oder in das Genick getötet.
Vorher mußten sie ihre Oberbekleidung ablegen. Nach Abschluß der
Exekution meldete der Leiter der GFP-Gruppe den Vollzug an den
zuständigen Ic-Offizier.32
Eine besondersgrausame Mordmethode wandte in Mogilew die GFP-
Gruppe 570 an. Auf Befehl ihres Leiters, des Feldpolizeikommissars
Heinz Riedel, wurde Anfang 1944 ein Lastkraftwagen zu einem Ver
gasungswagen umgebaut. Durch eine besondere Konstruktion konnten
die Auspuffgase des Motors in das Innere des luftdicht abgeschlossenen
Kastenaufbaus geleitet werden. Der Wagen fuhr zwei bis drei Kilometer
durch die Umgebung Mogilews. An der Flußniederung des Dnjepr
öffneteman ihn. Die an den Auspuffgasen qualvollErstickten wurden in
Gruben verscharrt.33
Bei der Verfolgung von »Partisanenverdächtigen« richtete sich der
Terror oft gegen völlig Unbeteiligte. Soerschoßdie GFP-Gruppe 714 im
Juni 1942 128 Zigeunerin Noworshew. Als Begründungfür dieses Mas
sakergabder Kommandeurder 281. Sicherungs-Division, dem die GFP-
Gruppe unterstand, in seinemBerichtvom 23. Juni 1942 an: »Den Zigeu
nern konnte wohl nicht einwandfrei nachgewiesen werden, daß sie sich
der Partisanentätigkeit oder der Unterstützung von Partisanen schuldig
gemacht haben. Es lagenaber immerhin so schwerwiegende Verdachts
momente gegen sie vor, daß ihre Freilassung wohl eine Gefahr für die
Sicherheit der Truppe bedeutet hätte und ihre Beseitigung notwendig
erschien.«34
SeitAnfang 1942 nahmdie GFP in zunehmendem Maße direkt an der
Vorbereitung und Durchführung von großangelegten Partisanen
bekämpfungsaktionen teil. Bei »Strafexpeditionen« ging sie häufig ge
meinsam mit Wehrmachts-, SS-und Polizeiverbänden gegendie Partisa
nenbewegungund die Bevölkerungvor. Zu ihren spezifischen Aufgaben
neben den Vernehmungen, der Erkundung und der Beratung der Trup
penführung gehörte die »Vernichtung der Lebensmöglichkeiten der

351
Banden und die restlose Erfassung aller Schlupfwinkel und angelegten
Magazine«.35 Bei der Durchführung dieses Auftrags brannten die
Angehörigen der Geheimen Feldpolizei bei ihren Verfolgungsaktionen
Häuser und ganze Ortschaften nieder.
Eine der typischen Operationen gegen die Partisanenbewegung war
das »Unternehmen Kugelblitz«, das vom 22. Februar bis zum 8. März
1943 im Raum Witebsk, Gorodok, Gurki und Senniza-See stattfand. Es
stand unter der Leitung des Kommandeurs der 201. Sicherungs-Divisi
on, Generalmajor Alfred Jacobi. Während dieser Aktion durchkämmte
die Geheime Feldpolizei gemeinsam mit dem Einsatzkommando 9 des
SD 169 Dörfer.Vonden dabeiverhörten 3583 Personen verschleppte die
GFP 804in ein Sammellager; 227Partisanen und 406 »Partisanenhelfer«
wurden von ihr exekutiert. Das Einsatzkommando 9 des SD erschoß
weitere 823 Personen.36 Bei solchen Einsätzen bewährte sich die seit
Beginn des Feldzuges praktizierte Zusammenarbeit mit den SD-Ein
satzgruppen.

Bilanz der Verbrechen

Das Ausmaß der von der GeheimenFeldpolizeiauf sowjetischem Terri


torium begangenenVerbrechenkann statistischnicht erfaßt werden. Ins
besondere während der Vertreibung der deutschen Truppen aus den
okkupierten Gebieten eskaliertedie Mordpraxis der GFP nochmals,wie
einzelne exemplarische Aktionen zeigen. Unmittelbar vor der Befreiung
von Orel ermordeten Angehörige der GFP-Gruppe 580 Ende Juli 1943
im GFP-Gefängnis dieser Stadt 350 Personen. Ähnliches geschah in
Brjansk, wo dieselbe Gruppe vor ihrer Flucht 450 Häftlinge erschoß.37
Aus dem Tätigkeitsbericht des Leitenden Feldpolizeidirektors beim
Kommandierenden General der Sicherungstruppen und Befehlshaber
im Heeresgebiet Mitte für Oktober 1942 geht hervor, daß die GFP-
Gruppen in diesem Bereich im Berichtszeitraum 1001 Personen ermor
deten.38 Ein ähnliches Bild vermittelt der Erfahrungsbericht der GFP-
Gruppe 703 vom Mai 1944 über das gegen die Partisanenregionum Lepel
geführte »Unternehmen Frühlingsfest«, bei dem die GeheimeFeldpoli
zei 453 Personen erschoß.39 Den monatlichen Tätigkeitsberichten der
GFP-Gruppe 723 zufolge hat allein diese Einheitder Geheimen Feldpo
lizei in der Zeit vom Juli 1941 bis zum September 1943 insgesamt 3137
Exekutionen durchgeführt.40 Abschließend sei der Heeresfeldpolizei
chef zitiert. In dem am 10. April 1943 herausgegebenen Überblick über

352
die »Bandenbewegung« stellte er fest, daß auf dem besetzten Territori
um der Sowjetunion wegen »Bandenbetätigung und -Begünstigung,
Spionage und Sabotage [...] von der GFP in der Zeit vom 1.7.1942 bis
zum 31.3.1943 rund 21 000Personen, teils im Kampf und teils nach Ver
nehmung, erschossen worden [sind]«.41
1943/44 verstärkte sich auch der Terror gegen die eigenen Truppen.
Die zunehmenden Zersetzungserscheinungen bei der Wehrmachtmach
ten es notwendig, nach fahnenflüchtigendeutschen Soldaten zu fahnden
und sie nach erfolgter Festnahme den Kriegsgerichten »urteilsreif« zu
übergeben. Hierbei handelte die GFP im direkten Auftrag der Kriegsge
richte. Im April 1944 wurde von der Geheimen Feldpolizei allein im
Bereich der Heeresgruppe Mitte nach 3 142 Wehrmachtsangehörigen
gefahndet. Die Fahndungserfolge waren jedoch gering. Die GFP dieser
Heeresgruppe übergab im Juli 1944 lediglich 69 und im September nur
72 bearbeitete »Fahnenfluchtfälle« an die Kriegsgerichte.42 Bei ihren
Fahndungseinsätzenwirkte die GeheimeFeldpolizei eng mit dem Wehr
machtstreifendienst, der Feldgendarmerie und der Sicherheitspolizei
zusammen. 43

Als die Rückzugsbewegungen der Wehrmacht 1944 teilweise chaoti


sche Formen annahmen, entwickelte sich ein neuer Tätigkeitsbereich
der Geheimen Feldpolizei: der Einsatz bei »Sperr- und Auffangmaß
nahmen«. Im Juli 1944 überprüften die im Bereich der Heeresgruppe
Mitte eingesetzten GFP-Kräfte nicht weniger als 16000 deutsche Sol
daten und übergaben sie den zuständigen Auffang- und Frontleitstel
len.44
Nachdem sich an der Ostfront die militärische Niederlage des
Deutschen Reichs immer deutlicher abzuzeichnen begann und die deut
schen Geheimdienste große Schlappen erlitten,verstärkten sichdie Akti
vitäten des Reichssicherheitshauptamtes und des OKW-Amtes Aus
land/Abwehr zur Reorganisation der Geheimdiensttätigkeit. Ihren
Abschluß fanden diese Bestrebungen in der Fusion des OKW-Amtes
Ausland/Abwehr mit dem RSHA. Entsprechend eines von Hitler am
12. Februar 1944 erlassenen Befehls wurde das OKW-Amt Aus
land/Abwehr mit seinen Abteilungen I und II sowie einem Teil der
Abteilung III in das Reichssicherheitshauptamt übernommen. Die ope
rative »Truppenabwehr«, die bis dahin von der Abteilung III geleitet
worden war und zu deren Bereich auch die Geheime Feldpolizei gehör
te, verblieb beim OKW. Die Führung der Geheimen Feldpolizei erfolg
te seit Anfang 1944 über die Abteilung Truppenabwehr des Wehr-
machtsführungsstabs des OKW. Hier befand sich die Dienststelle des

353
Feldpolizeichefs. Die Geheime Feldpolizei wirkte bis zum Kriegsende
als geheimpolizeiliches Exekutivorgander Wehrmacht.45

Anmerkungen

i Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem InternationalenMilitär


gerichtshof. Nürnberg, 14. November 1945-1.Oktober 1946, Bd. 22,Nürnberg
1948,5.387.
2 Materiaty i Dokumenty Wojskowego Instytutu Historycznego (MiD WIH),
Warschau, Film T 77, R 816,Aufnahme Nr. 555103 3ff.
3 Vgl. Klaus Geßner, GeheimeFeldpolizei. Zur Funktion und Organisation der
faschistischen Wehrmacht, Berlin 1986, S. i9ff.
4 Karlheinz Böckle, Feldgendarmen. Feldjäger. Militärpolizisten. Ihre Geschich
te bis heute, Stuttgart 1987, S. 190ff.; Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA),
RW 5/V.283, Bl. 1.
5 Abwehr von Spionage, Sabotageund Zersetzung in der Wehrmacht. Jahresver
fügung 1940. Geheim.Vom 1.4.1940; Abwehr von Spionage, Sabotage und Zer
setzung in der Wehrmacht.Jahresverfügung 1941/42. Geheim. Vom 12.10.1941;
Merkblatt 9/6. M.Dv. Nr. 191.Lw.-Merkblatt 244.Nur für den Dienstgebrauch.
JahresVerfügung 1945 über Abwehr von Landesverrat, Spionage, Sabotage und
Zersetzung in der Wehrmacht (Truppenabwehr). Vom 3.11.1944.
6 Rudolf Absolon,Wehrgesetzund Wehrdienst 193 5-1945. Das Personalwesen in
der Wehrmacht, Bopparda. Rh. i960, S. 213; Helmuth Groscurth, Tagebücher
einesAbwehroffiziers 1938-1940.Mit weiteren Dokumenten zur Militäroppo
sition gegenHitler, hrsg. von H. Krausnick und H. C. Deutsch unter Mitarbeit
von H. von Kotze, Stuttgart 1970, S. 128; Georg Tessin,Verbände und Truppen
der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939-1945,
Bd. 11,Osnabrück 1975, S. 34,60, 87,108,197,219; Centraine Archiwum Wojs-
kowe (CAW), Warschau, II/2/17, Bl. 59ff.;MiD WIH, Film Nr. 619/2^ 619/12.
7 Helmuth Groscurth, a. a. O., S. 128; H.Dv.g. 150. M.Dv.Nr. 4. L.Dv.g. 150.
Dienstvorschrift für die Geheime Feldpolizei. Vom 24.7.1939, Berlin 1939;
BA-MA, RW 5/V.283, Bl. 1; MiD WIH, Film Nr. 619/13.
8 Helmuth Groscurth, a. a. O., S.47,183,205,278; BA-MA, WF- 01/2110,Bl. 565;
BA-MA, WF-10/2363, Bl. 343;BA-MA, WF-03/12408, Bl. 145 f.; MiD WIH,
Film Nr. 619/13.
9 Abwehr von Spionage... Jahresverfügung 1941/42, S. 96; BA, Nürnberger
Nachfolgeprozesse, Fall 12, Bd. 180, Bl. 14; BA-MA, RW 5/V.283, Bl. 1; BA-
MA, WF-01/2110, Bl. 565f.;MiD WIH, Film Nr. 619/16.
10 H.Dv.g. 150,S. 13f.;BA-MA,RW 5/V.283, Bl. 1f.;MiD WIH, Film Nr. 619/16.
11 Wolf Keilig, Das deutsche Heer 1939-1945. Gliederung, Einsatz, Stellenbeset
zung, Bad Nauheim 1956ff., 11/-258-; Abwehr von Spionage... JahresVer
fügung 1941/42,S. 96.
12 Peter Hoffmann, Die Sicherheit des Diktators. Hitlers Leibwachen, Schutz
maßnahmen, Residenzen, Hauptquartiere, München/Zürich 1975, S. 58f.

354
13 Zeugenaussage des Feldpolizeichefs der Wehrmacht, Wilhelm Krichbaum, vom
27. Juni 1946vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg. Zitiert
nach Hitler und die Morde in Polen, hrsg. von H. Krausnick. In: Vierteljahres-
hefte für Zeitgeschichte, H. 2/1963, S. 199; Burkhart Mueller-Hillebrand, Das
Heer 1933-1945. Entwicklung des organisatorischen Aufbaus, Bd. 1, Darm
stadt/Frankfurt am Main 1954, S. 142, 145; ebenda, Bd. 2, Frankfurt am Main
1956,S. 129;BA-MA, WF-03/12408, Bl. i45f.; BA-MA, WF-03/7337, Bl. 263;
MiD WIH, Film T 78,R 405, Aufnahme Nr. 5680; MID WIH, Film T 78, R 404,
Aufnahme Nr. 4285.
14 Zum GFP-Personalbestand siehe - wenn nicht anders vermerkt - Rudolf Ab-
solon, S. 2i2f.; Abwehr von Spionage... Jahresverfügung 1941/42, S. 95f.;
Befehlsblatt des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Nr. 21/1942,
Nr. 26/1942, Nr. 36/1943, Nr. 18/1944; Heeresverordnungsblatt, Teil B,
Nr. 303/1943, Nr. 71/1944; BA-MA, RW 5/V. 283, Bl. 2; BA-MA, WF-
03/11734, Bl. 73; BA-MA, SF-03/14453, Bl. 827ff.; CAW, II/2/17, Bl. 72.
15 MiD WIH, Film Nr. 619/2^
16 MiD WIH, Film Nr. 619/16.
17 Abwehr von Spionage... Jahresverfügung 1941/42, S.95;BA-MA,WF-03/7337,
Bl.258.
18 Vgl. Geßner, a. a. O., S. 57ff.
19 Merkblatt 69/1. Nur für den Dienstgebrauch. Kampfanweisung für die Ban
denbekämpfung im Osten. Vom 11.11.1942, S. 7f., 12, 31f.; Merkblatt 69/2.
Nur für den Dienstgebrauch. Bandenbekämpfung (Gültigfür alleWaffen). Vom
6.5.1944, S. 24,26ff., 71.
20 BA,Nürnberger Nachfolgeprozesse, Fall 12,Bd. 134, Bl. 153. Vgl.auch Fall 12.
Das Urteil gegen das Oberkommando der Wehrmacht, gefälltam 28. Oktober
1948 in Nürnberg vom Militärgerichtshof V der Vereinigten Staatenvon Ame
rika, Berlin 1961,S. io6ff., 232f., 276f.
21 BA-MA, WF-03/7317, Bl. 83f.; MiD WIH, Film Nr. 619/12.
22 MiD WIH, Film Nr. 619/12.
23 Ebenda.
24 Ebenda.
25 BA-MA, WF-o3/7338,Bl. 411.
26 BA-MA, WF-o3/73i6,Bl. 918.
27 BA-MA, WF-03/7339, Bl. 654.
28 Erich Hesse, Der sowjetrussische Partisanenkrieg 1941 bis 1944im Spiegeldeut
scher Kampfanweisungen und Befehle, Göttingen/Zürich/Frankfurt am Main,
1969,S. 85t.
29 BA-MA, WF-03/7339, Bl. 672.
30 Urteil des Bezirksgerichts Neubrandenburg im Prozeß gegen den ehemaligen
GFP-Angehörigen Arnold Kostrowski vom 5.November 1975 (Bezirksgericht
Neubrandenburg, 1 BS 19/75, 2.11-31/75).
31 Urteil des Bezirksgerichts Erfurt im Prozeß gegen den ehemaligen GFP-
Angehörigen Karl Gorny vom 6. September 1974 (Bezirksgericht Erfurt, 1 BS
23/74,211-16/74);Urteil des BezirksgerichtsLeipzig im Prozeß gegenden ehe-

355
maligen GFP-Angehörigen Hans Krause vom i. November 1977 (Bezirksge
richt Leipzig, 1 BS45/77, 211-63/77).
32 Ebenda.
33 Urteil desStadtgerichts Berlinim Prozeß gegenden ehemaligen GFP-Angehöri
gen Herbert Paland vom 14. August 1978 (Stadtgericht Berlin, 101aBS 42/78,
211-54-78).
34 Zitiert nach: Okkupation. Raub. Vernichtung. Dokumente zur Besatzungspoli
tik der faschistischen Wehrmacht aufsowjetischem Territorium, hrsg. von Nor
bert Müller, Berlin 1980,S. 93.
35 BA-MA, WF-oi/2i5i,Bl. 814.
36 Erich Hesse, a. a. O., S. 204f.
37 Urteil des Bezirksgerichts Erfurt im Prozeß gegen den ehemaligen GFP-
Angehörigen Karl Gorny; Urteil des Bezirksgerichts Leipzig im Prozeß gegen
den ehemaligen GFP-Angehörigen Hans Krause.
38 BA-MA, WF-03/7417, Bl. 57.
39 BA, Nürnberger Nachfolgeprozesse, Fall 12,Bd. 139, Bl. 11iff.
40 MiD WIH, Film Nr. 619/12.
41 BA-MA, WF-oi/2i5i,Bl. 816.
42 MiD WIH, Film Nr. 619/15.
43 BA-MA,WF-03/4937, Bl. 1i6ff.; MiD WIH, Film Nr. 619/13.
44 MiD WIH, Film Nr. 619/15.
45 Zur Fusion des OKW-Amtes Ausland/Abwehr mit dem Sicherheitsdienst(SD)
1944, hrsg. von A. Charisius und E. Moritz. In: Militärgeschichte, H. 1/1977,
S. 44ff.;BA-MA, WF- 01/1649,Bl. 25;BA-MA, WF-01/2016, Bl. 447f.
Die Struktur der Geheimen Feldpolizei

Chef des
Oberkommandos
der Wehrmacht

Chef des
OKW-Amtes
Ausland/Abwehr

Feldpolizei
der Wehrmacht

Heeresfeldpolizeichef
Leitende
Feldpol izeidirektoren
Leiter der Leiter der (Kriegsmarine/Luftwaffe)
Geheimen Geheimen
Feldpolizei Feldpolizei
Ost West
Leitende
J Feldpolizeidirektoren
(Kriegsnebenschauplätze)
Leitende
Feldpolizeidirektoren
i
Leiter der
GFP-Gruppen
i
Gruppen der
Geheimen
Feldpolizei

Sekretariate

Kommissariate Außenkommandos
Festnahmen und Exekutionen
der auf sowjetischem Territorium eingesetzten GFP-Gruppe 723
Juli 1941 -September 1943

Monat Fest Exekutionen


nahmen

ins »Parti- »Kom- »Sabo »Spio »Propa ver


gesamt sanen- missar- tage« nage« ganda« schie
tätig- befehl« dene
keit« Gründe

Juli 1941 2 0
August 1941 8 42 30. 4 2 6
Sept. 1941 110 62 25 35 2
Oktober 1941 266 99 79 4 15 1
Nov. 1941 657 218 181 1 36
Dez. 1941 133 66 24 1 6 35
Januar 1942 121 85 37 33 15
Febr. 1942 194 167 156 6 1 1 3
März 1942 247 71 58 2 11
April 1942 202 114 85 1 5 4 14 5
Mai 1942 390 189 178 4 5 2
Juni 1942 440 160 159 1
Juli 1942 441 198 185 13
August 1942 584 355 353 2
Sept. 1942 485 162 158 4
Oktober 1942 522 115 108 1 1 5
Nov. 1942 459 135 134 1
Dez. 1942 285 119 103 4 6 6
Januar 1943 249 92 81 3 3 5
Febr. 1943 331 119 108 7 4
März 1943 342 70 57 4 2 7
April 1943 387 95 92 3
Mai 1943 633 69 60 3 6
Juni 1943 988 127 126 1
Juli 1943 764 58 58
August 1943 531 80 68 12
Sept. 1943 701 70 66 4

Juli 1941-
Sept. 1943 10 462 3137 2769 11 118 24 127 88

Zusammengestellt nach den monatlichen Tätigkeitsberichten der GFP-Gruppe 723


(Materiaty i Dokumenty Wojskowego Instytutu Historycznego, Warschau, Film
Nr. 619/12)

358
Walter Manoschek, Hans Safrian yiy./liy. iL)
EineInfanterie-Division auf dem Balkan

Im Gegensatz zu den Massakern der SS im französischen Oradour und


im tschechischen Ort Lidice sind die Massenmorde der Wehrmacht auf
dem Balkannicht im kollektivenGedächtnisder Tätergesellschaften ver
ankert.Das magaufden erstenBlickverwundern, beschäftigte sichdoch
einerder Nürnberger Nachfolgeprozesse (Fall 7)explizitmit diesenVer
brechen, die unter dem Begriff »Sühnemaßnahmen« verübt worden
waren. In dem auch als »Geiselmordprozeß« bezeichneten Verfahren
gegenelf hohe Wehrmachtsoffiziere wurden der Wehrmachtsbefehlsha
ber Südost, Generalfeldmarschall Wilhelm List, und sein Stellvertreter,
General Walter Kuntze, zu lebenslänglichen, die restlichen acht ange
klagtenMilitärszu langjährigen Haftstrafen verurteilt.1 AlleVerurteilten
wurden spätestens 1953 begnadigt und aus der Haft entlassen.2 Zumin
dest weitere neunzehn Generäle wurden in Jugoslawien verurteilt und
hingerichtet.3 Weder vor bundesdeutschen noch vor österreichischen
Gerichten kam es gegen ehemalige Wehrmachtsangehörige wegen Mas
sakern an der Zivilbevölkerung zu Anklageerhebungen.
Die 717. Infanterie-Division (ID) war eine der vier Stammdivisionen,
die nach dem Überfall auf Jugoslawien im April 1941 eigens für Besat
zungsaufgaben in Serbienund Kroatien aufgestellt worden waren.4 Die
717. ID wurde am 1. Mai 1941 im »ostmärkischen« Wehrkreis XVII
(Bruck/Leitha)5 formiert. Auch sämtliche Ersatztruppenteile kamen aus
diesem Wehrkreis. Die Einheit bestand mehrheitlich aus Österreichern;
sowohl bei den Offizieren als auch bei der Mannschaft waren die »Neu
deutschen« (Hilberg) in derÜberzahl.6 DieDivision hatte nur zwei statt
der üblichen drei Regimenter, das 737. und 749. Infanterie-Regiment
(IR) mit insgesamt etwa 6000 Mann. Die Ausbildung der im Durch
schnitt dreißigjährigen Männer beschränkte sich auf einen mehrwöchi
gen Lehrgang, bei dem lediglich einige Schulübungen geschossen wur
den. Bis auf einige Unterführer hatten die Soldaten nicht aktiv gedient;
selbst das Offizierskorps setzte sich ausschließlich aus Reserveoffizieren
zusammen.

359
Als im Sommer 1941 der Partisanenaufstand in Serbien aufflammte
und die ersten gezielten Repressionsmaßnahmen gegen Zivilisten ein
setzten,warenEinheitender 717. ID daran beteiligt. Nach einem erfolg
losen Attentat der Partisanen auf einen Regimentskommandeur hatten
Kompanieangehörige elf Männer und eine Frau festgenommen und der
serbischen Gendarmerie übergeben, die sie unter Aufsicht des SD
erschoß.7 Vor dem Hintergrund der folgendenEreignisse erscheintdiese
»Sühnemaßnahme« als eine Einstimmung für das blutige Vorgehendie
ser Division gegen die serbische Zivilbevölkerung im Herbst 1941.

Kraljevo

Anfang Oktober 1941 kontrollierten die Partisanen- und nationalisti


schen Cetnikverbände in Serbien den größten Teil des flachen Landes.
Nachdem die 717. ID in ihrem Operationsgebiet südlich von Belgrad
fast gänzlich vom Nachschub abgeschnitten worden war, mußte die
Division unter anderem die wegen ihrer Munitionsfabrik militärisch
wichtige Stadt Uzice aufgeben. Die Einheiten zogen sich in die beiden
Städte Kraljevound Kragujevac zurück.
In Kraljevowaren insgesamt 1400 Mann des 749. und des 737. IR sta
tioniert.8 Sie sollten die Stadt gegen die gemeinsam operierenden Parti
sanen- und Cetnikverbände halten. In einem Befehl des Höheren Kom
mando LXV hieß es dazu kategorisch: »Eine Aufgabe von Kraljevo
kommt nicht in Frage.«9 Die Voraussetzungen dafür waren allerdings
nicht sehr günstig. Die militärische Ausbildung der Divisionsangehöri
gen war mehr als dürftig: 20 Prozent waren Rekruten, die während des
Sommers 1941 einen Kurzlehrgang erhalten hatten, eine geplante Ver
bandsausbildung konnte wegen des Partisanenaufstands erst gar nicht
durchgeführt werden, ebensowenig eine Schulung an schweren Waffen
und Artilleriegeräten. Der Divisionskommandeur, General Hoffmann,
resümierte, daß »die jetzige Kampftätigkeit an Führung und Truppe im
jetzigen Ausbildungsstand zu große Anforderungen« stelle.10
Die Stärken der in Kraljevostationierten Einheiten lagen auf anderem
Gebiet. Bei einer Inspektionsreise nach Kraljevo berichtete der Verbin
dungsoffizier des Wehrmachtsbefehlshabers Südost über die Vorzüge
der in der Stadt liegendenTruppe: »Kdr. Infanterieregiment 749 hat bis
her gegen Aufständische scharfdurchgegriffen. Erschießungen, Nieder
brennen von Häusern und Festnahmen wurden laufend durchgeführt.
Ein großer Teil der wehrfähigen Bevölkerung von Kraljevo (650Mann)

360
befinden [sie!] sichin Haft in derWaggonfabrik. [...] MajorDeschmacht
einen sehr guten Eindruck und ist offensichtlich Herr der Lage.«11 Die
717. ID enttäuschte die Erwartungshaltung ihrer übergeordneten
Dienststelle nicht. Wie Divisionskommandeur Hoffmann angekündigt
hatte, gaben»Führer und Truppe mit Passionund Einsatzfreudigkeit ihr
Bestes her«.12 In den ersten Oktobertagen hatten seine Einheiten bei
»Säuberungsunternehmen« in der Umgebungvon Kraljevo zum Beispiel
»70 Männer auf der Flucht erschossen« und zahlreiche Dörfer niederge
brannt.13 Doch in Kraljevo hatte es die Truppe nicht nur mit wehrlosen
Zivilisten zu tun. Seit den ersten Oktobertagen griffen Partisanen und
Cetniks die Stadt unter Artillerieeinsatz an. Im Gegensatzzu den Besat
zungstruppen wurden diese Verbände- wie General Hoffmann neidvoll
zugestehen mußte - »absolut zweckmäßig geführt (serbische Offiziere
und Soldaten!). Ihre Kampfkraft und Führung hat sich wesentlichver
bessert.«14 Am 13. Oktober waren die Wehrmachtstruppenin Kraljevo
von gegnerischen Kräften eingeschlossen. Im Kriegstagebuch wurde die
alarmierende Nachricht festgehalten, daß die Abwehrabteilung Infor
mationen über die Absicht der gegnerischen Verbände hatte, »Kraljevo
in Kürze zu nehmen«.15
An diesem Tag erreichte ein Befehl des Bevollmächtigten Komman
dierenden Generals von Serbien, Franz Böhme, die Wehrmachtseinhei
ten in Kraljevo: »Das Höh.Kdo. befiehlt die Durchführung von Vergel
tungsmaßnahmen für Verluste der Truppe, wobei künftig für jeden
gefallenen oder ermordeten Soldaten (oder Volksdeutschen) 100, für
jeden Verwundeten 50 Gefangene oder Geiseln zu erschießen sind.«16
Dieser Befehl bot die Möglichkeit, dem militärischen Dilemma in Kral
jevo zu entgehen, indem die bei Gefechten erlittenen Verluste durch die
Erschießung von Zivilisten kompensiertwerden konnten. Unverzüglich
wurden vorbereitende Maßnahmen für eineMassenrepressalie ergriffen.
Bereits am Tag nach dem Eintreffen des Befehls wurden von Einheiten
der 717.ID in Kraljevo »Kommunisten, Nationalisten, Demokraten und
Juden - soweit Bewachung möglich- als Geiseln festgenommen«.17 Als
die Artillerieangriffe auf die Stadt unvermindert anhielten, wurde am
15. Oktober der Ausnahmezustand über die Stadt verhängt. Doch Teile
der Angreifer waren bereits in die Ortschaft eingedrungen und nahmen
denKampf inderStadt auf. ÜberdieReaktion derTruppe informiert uns
das Kriegstagebuch in militärischer Kürze: »Gegen 18.00 Uhr Schüsse
aus Häusern, 300 Serben erschossen.«18 Am nächsten Tag erließ der
Ortskommandant einen Befehl, der nicht nur den Fortgang der
Erschießungen ankündigte, sondern auch die Familien der »Geiseln«als

361
Opfergruppe mit einschloß: »Mit dem heutigen Tag tritt für das Volk
dieses Gebietes das Gesetz schwerster Repressalien ein, d. h. es werden
nicht nur ioo Serben für einen Deutschen erschossen, sondern es wer
den auch die Familien und der Besitz vernichtet.«19 Noch am selben Tag
wurde das Massakerin Kraljevo fortgesetzt.
Augenzeugenberichte von überlebenden Bewohnernder Stadt geben
uns ein Bild von dem, was sich an diesem Tag in Kraljevo ereignete:

»Als sich in der Umgebung von Kraljevo die Kämpfe abwickelten,


haben die deutschen Behörden in Kraljevo angefangen, die Bevölke
rung aus ihren Häusern, Straßenund Werkstätten zu treiben und in
ein Lagerzu sperren,welches sich im Hof der Waggonfabrik befand.
Streifen der deutschen Wehrmachtskräfte gingen von Haus zu Haus
und haben aus denselbenalleMänner,angefangen von den Kindern im
Alter von 14Jahren bis zu Greisen von 60 Jahren und darüber, her
ausgejagt. Alle diese Bürger wurden mit über dem Kopf erhobenen
Händen in kleineren Gruppen durch die Stadt geführt, und dann in
größeren Gruppen, und so in das Lager der Waggonfabrik getrieben.
Vor dem Lagerwurden sie von den deutschen Soldaten gezählt, legi
timiert und in Bücher eingetragenund dann in den allgemeinen Kreis
des Lagers gesperrt. Aus diesem Lager wurden von den Deutschen
Gruppen von je 100 Bürgern herausgenommen und aus dem Lager
geführt, wo sie an dem schon vorher bestimmten Platz vor offenen
Gräbern vor ein Maschinengewehr gestellt und erschossen wurden.
Nachdem die so hingeführte Gruppe der Bürger unter der Feuerwir
kung des Maschinengewehrs ermordet wurde, gingen die deutschen
Soldaten unter die toten Bürger und jeder,der noch ein Lebenszeichen
von sich gab, oder den sie noch nicht ganz tot glaubten, wurde durch
einen Schuß aus der Maschinenpistole oder Pistole vollends getötet.
Nach der Liquidierung einer Gruppe führten die Deutschen auf die
selbe Art und Weise die zweite Gruppe herbei usw.«20

Allein am 16.Oktober 1941 erschossenAngehörige des 749. IR und des


737. IR »bisher insgesamt 1736 Männer und 19 kommunistische Frau
en«.21 Noch am selben Tag erhielten zwanzig Regimentsangehörige das
Eiserne Kreuz zweiter Klasse(E. K. II).22 In einem an zynischem Euphe
mismus kaum zu überbietenden Tagesbefehl zeigte sich der Komman
deur der 717. ID mit den Leistungen seiner Truppe in Kraljevo äußerst
zufrieden: »Die Kämpfeum Entlastung und Versorgung des Standortes
Kraljevo in der Zeit vom 13.-21.10.41 sind nach Erreichung des Zieles

362
zu einem gewissen Abschluß gekommen. Die an die Truppenteile
gestellten hohen Anforderungen (schwierige Art der Kampfführung,
Marschleistungen, Biwak, Witterungsverhältnisse) wurden mit großer
Einsatzfreudigkeit restlos erfüllt. Es konnten dem Gegner schwere Ver
luste zugefügt werden!«23
SchonwenigeTage zuvor hatte der Bevollmächtigte Kommandieren
de General in Serbien, Franz Böhme,in einempersönlichen Tagesbefehl
den in Kraljevo mordenden Wehrmachtseinheiten sein soldatisches Lob
ausgesprochen:

»Weitere in der letzten Zeit von der Truppe errungenen Erfolge tra
gen dazu bei, das Ansehen der deutschen Wehrmachtin Serbienaber
mals zu stärken. [...] Am 15.10. wurde der seit Tagen vorbereitete
Angriff der Aufständischen auf Kraljevo von der im Ort liegenden
Truppe unter Mitwirkung des von Krusevac anrückenden I/Inf. Rgt.
737 abgewiesen. Der Feind verlor mindestens 80 Tote, 1755 Geiseln
wurden als Sühne für die eigenenVerluste erschossen. [...] Allen an
diesen erfolgreichen Unternehmungen beteiligten Offizieren, Unter
offizieren und Mannschaften spreche ich meine Anerkennung aus.
Vorwärts zu neuen Taten. Böhme.«24

Kragujevac

Das Anerkennungsschreiben General Böhmes für die in Kraljevo mor


denden Einheiten der 717. ID stammt vom 20. Oktober 1941. Böhme
verfolgte ein weiteres Ziel: Der Befehl diente explizit »zur Aneiferung
der Truppe«.25 Offensichtlichsollten auch andere Wehrmachtseinheiten
zu ähnlichenAktionen an der Zivilbevölkerung angespornt werden. Be
reits einen Tag später zeigte sich das gewünschte Ergebnis. Am
21. Oktober führte die Wehrmacht in der nur etwa sechzig Kilometer
von Kraljevo entfernten Stadt Kragujevac das nächste Massakerdurch.
Auch in Kragujevac war ein Bataillonder 717. ID federführend. Der
Anlaß lag bereits zwei Wochen zurück. Anfang Oktober waren bei
einem Gefecht mit Cetniks im Ort Gorni Milanovac zehn Angehörige
einer Landesschützenkompanie gefallen und die übrigen gefangenge
nommen worden. Daraufhin schickte General Böhme das 3. Bataillon
des 749. IR nach Gorni Milanovac, mit dem Auftrag, »den Ort abzu
brennen und Geiseln festzunehmen, um Rückgabe der Landesschützen
zu erwirken«.26 Wegen eines mißverstandenen Befehls, nicht »etwa aus

363
irgendeiner Sentimentalität«,27 ließ das Bataillon die bereits festgenom
menen 170Männer wieder frei und verließ den Ort, ohne ihn niederzu
brennen. General Böhme war über den offensichtlichen Dilettantismus
der Einheit erbost und schickte das BataillonwenigeTage später wieder
nach Gorni Milanovac zurück, um den Auftrag im zweiten Anlauf aus
zuführen. Nachdem das Bataillon Gorni Milanovac und die umliegen
den Dörfer völlig zerstört hatte, kehrte es an seinen Stationierungsort
Kragujevac zurück. Auf dem Rückmarschwurde die Einheit in Kämpfe
verwickelt und hatte zehn Tote und 26 Verwundete zu verzeichnen.28 In
Kragujevac wurde das zurückkehrende Bataillon bereits vom I. Batail
lon des ebenfalls in der Stadt liegenden 724. IR der 704. ID erwartet, um
mit vereinten Kräften eine »umfassende Sühneaktion«29 in Kragujevac
durchzuführen. Noch am Tag des Eintreffens des III. Bataillons in der
Stadtwurden allemännlichen Juden und alleangeblichen Kommunisten
(insgesamt 66 Personen, darunter auch eine Anzahl Frauen)30 verhaftet.
Um aber nach der Quote 1:100 für jeden gefallenen und 1:50 für jeden
verwundeten Wehrmachtssoldaten auf die entsprechende Anzahl von
»Geiseln« für die zehn Gefallenen und 26 Verwundeten der Aktion
Gorni Milanovac zu kommen, benötigtedieTruppe 2300 Erschießungs
opfer.
Am nächsten Tag, es war Sonntag, der 19. Oktober, schwärmten die
beiden Bataillone in die umliegenden Dörfer aus, trieben die erwachse
nen Männer zusammen oder holten sie aus der Sonntagsmesse. Die
Opfer wurden in Gruppen von dreißig bis fünfzig Mann zusammenge
stellt und ohne weitere Erklärungen mit Maschinengewehren getötet.
Wieder Kreiskommandantvon Kragujevac notierte, wurden dabei »422
männlichePersonen ohne eigeneVerlustegleichan Ort und Stelle in den
Dörfern erschossen«.31 Tags darauf ging das Morden in der etwa 42000
Einwohner zählenden Stadt Kragujevac weiter: Auf Befehl des Kom
mandeurs des 749. IR, Major Otto Desch, wurden von den Wehr
machtssoldaten Männer und Jugendliche aus Wohnungen, Werkstätten
und Läden gezerrt oder auf der Straßeverhaftet, selbstganzeSchulklas
sen wurden mit ihren Lehrern aus den Schulen geholt und in eine Kaser
ne gesperrt.
Als die beiden Wehrmachtseinheiten am Abend des 20. Oktober die
benötigte Anzahl von Opfern beisammen hatten, begannen sie mit den
Erschießungen: »20.10. Am Abend werden die schon am 18.10. verhaf
teten Kommunisten und Juden und 53 Strafgefangene aus dem Ortsge
fängnis hinter dem Beutelager erschossen.32 Trotz aller Willkür bei der
Auswahl der Opfer hielt die Wehrmacht dennoch an einer rassistischen

364
Hierarchie beim Ablauf des Massakers fest: Zuerst wurden die generell
als Vernichtungsmasse definierten Juden, Kommunisten und »sozial
Minderwertigen« getötet, dann erst folgte der Rest der Erschießungs
opfer:

»Am nächstenTag, dem 21. Oktober 1941, hat das Massenerschießen


um 7 Uhr in der Früh angefangen. Die Deutschen haben eine Gruppe
nach der anderen aus den Baracken herausgeführt und die Absonde
rungen vorgenommen. Eine kleine Anzahl, hauptsächlich Spezial-
handwerker und Personen fremder Nationalität, wurden ausgeson
dert. Die anderen wurden in Gruppen von 60-120 unter Bewachung
der Deutschen in voller Kriegsausrüstung zum naheliegenden Bach
geführt,und es wurde ihnen befohlen, sich in zwei Reihenaufzustel
len, und dann wurden sie mit schwerem Maschinengewehrfeuer nie
dergemacht. Sodann wurden die Erschossenen untersucht, und wer
noch das kleinste Lebenszeichen von sich gab, dessen Leben beende
ten sie mit Revolver- und Gewehrschüssen. Man bedeckte sie mit
Maisstengeln und ging singend um die neue Gruppe. So ging es den
ganzen Vormittag bis 2 Uhr. Als alles beendet war, machten sie eine
Parade durch die Stadt.«33

In seinem Einsatzbericht bestätigt das I. Bataillondes 724. IR das Mas


saker in einer kurzen Meldung: »21.10 Früh 7 Uhr beginnt die Auswahl
und Erschießung der Verhafteten. Damit ist die Aktion abgeschlossen,
insgesamt wurden 2300 Serben verschiedenen Alters und Berufes
erschossen.«34 Nachdem die Mitteilung über das Massaker in Kraguje
vacbeimArmeekorps in Belgrad eingegangen war, notierte die Stabsab
teilung im Kriegstagebuch, daß die »erfolgreichen Unternehmungen der
Divisionen des Höh.Kdo.LXV auf eine erfreuliche Zunahme des
Angriffsgeistes und der Initiative der bisherohne Zweifel zur Passivität
neigendenTruppe schließen«35 lassen.
1942und in den ersten Monaten des Jahres 1943 war die 717. ID wei
ter in Serbien und Kroatien zur Partisanenbekämpfung eingesetzt; sie
nahm unter anderem im Januar und Februar 1943 an der »Operation
Weiss« teil, deren Ziel es war, in Kroatien im Raum Karlovac »den Par
tisanenstaat [...] zu zerschlagen und durch Ausrotten der Banden
einschließlich sämtlicher übrigen unzuverlässigen Elemente«36 die
Grundlage für eine »geordneteVerwaltung« zu legen.

365
Kalavrita

ImApril 1943 wurdedieDivision nach Südgriechenland verlegt und zur


117. Jäger-Division umgebildet. Sie erhielt als neuen Kommandeur
Generalmajor von LeSuire. Die Zeit der Auffüllung mit neuen Mann
schaften und Offizieren benutzte LeSuire für die weitere Ausbildung
der Division - er hatte einiges an seiner Truppe auszusetzen.37 Anfang
Mai forderte er die beschleunigte Zuführung »des personellen und
materiellen Fehls« und weitere zwei Monate Ausbildung, »um aus der
im Aufbau befindlichen Div. eine vollwertige Jägerdivision zu schaf
fen«.38
Im neuen Einsatzraum Südgriechenland waren bis zu diesem Zeit
punkt hauptsächlich italienische Besatzungstruppen39 stationiert, die bei
der griechischen Bevölkerung offensichtlich nicht sehr beliebt waren;
laut eines ehemaligen Unteroffiziers der 117. Jäger-Division soll die
Zivilbevölkerung gegenüber den neuen Besatzern in der erstenZeit eher
positiveingestellt gewesen sein.40 Aber das solltesich rasch ändern.
Relativ harmlose Anlässe wurden von Wehrmachtseinheiten mit bru
talen »Sühnemaßnahmen« geahndet: Nachdem im August 1943 ein
Wehrmachts-LKW »mit 4 Mann in Gegend 30 km südwestl. Xylaka-
stron von Banden«41 überfallen, der LKW beschädigt und die Soldaten
drei Tage später zurückgeschickt worden waren, brannte man als »Süh
nemaßnahme« den Ort Kastania nieder.42 Und als in Argos ein »deut
scher Uffz. von Zivilisten tätlich belästigt und 1 Mann entwaffnet«43
worden war, erschossen Soldaten als »Sühnemaßnahme für Übergriffe
von Zivilistenin Argos am 22.8. drei mutmaßlicheTäter«.44
Nach der Kapitulation Italiens war die 117. Jägerdivision mit ihr
unterstellten Einheiten zur einzigen Besatzungstruppe auf dem Pelo
ponnes geworden, die sowohl Abwehrvorbereitungen gegen eine
befürchtete Invasion alliierter Truppen treffen als auch die immer stär
ker werdenden Andarten bekämpfen sollte. Wie schon im jugoslawi
schen Raum waren die Wehrmachtseinheiten für die ihnen zugedachten
Aufgaben zu schwach, man griffwiederzu Terrormaßnahmen gegen die
Zivilbevölkerung. Beispielsweise heißt es in einem Befehl für das
»Unternehmen Kalamata«: »1.) Die kommunistischen Umtriebe in
Kalamata nehmen in einem Maße überhand, das nicht mehr tragbar ist.
Vor allem die nördlichen Stadtteile sind völlig kommunistisch verseucht.
Ein scharfes Durchgreifender deutschen Wehrmachtzur Wiederherstel
lung des deutschen Ansehens, der Ruhe und Ordnung ist erforderlich.
2.)Die beiden nördlichen Stadtteile von Kalamatawerden am 22.10. früh

366
von deutschen Truppen umstellt und die gesamte männliche Bevölke
rung im Alter von 15-60 Jahren festgenommen und in das Konzentra
tionslagerAthen gebracht.«45
Zwei Tage später dehnte man die Verhaftung auf mehrere Städte des
Peloponnes aus; angeblich zunehmende »kommunistische Umtriebe«
wurden herangezogen, um »Säuberungsunternehmen« in den wichtigen
Städten (Kalamata, Megalopolis, Sparta, Tripolis und Patras) zu befeh
len.46 Bei diesen Aktionen der 117. Jäger-Division wurden 2870 Grie
chen festgenommen und »zum Arbeitseinsatz ins Reich abtranspor
tiert«.47 Aber nach wie vor sah der Stab der Division Ende Oktober die
Situation der Besatzerals bedroht an; der Nordwest-Peloponnes, bis auf
die von Wehrmachtstruppen besetzten Küstenstreifen, sei »gänzlich in
der Hand kommunistischer Banden«, nur die nächste Umgebung der
von deutschen Truppen belegten Ortschaften könne »als deutsches
Hoheitsgebiet angesprochen werden«.48
Ein wichtiger Grund für diese Lagebeurteilung war ein Vorfall, der
sich Mitte Oktober im Raum Kalavrita ereignet hatte: Eine Kompanie
der 117. Division unter der Führung des Hauptmanns Schober war in
der Nähe von Roji bei einem Aufklärungsunternehmen von den Andar-
ten eingeschlossen und nach einem mehrstündigen Feuergefecht gefan
gengenommen worden.49 Rund siebzig Mann der Kompanie befanden
sich in den nächsten Wochen in der Gefangenschaft der Andarten. Die
Division unternahm wegen dieses Vorfalls nicht sofort eigene »Sühne
maßnahmen«, weil nach Meinung des stellvertretenden Divisionskom
mandeurs keine ausreichenden Kräfte zur Verfügung standen; dafür
wurde der Vorschlag gemacht, »durch Einsätze der Luftwaffe mit
Brandbomben entsprechende Sühnemaßnahmen durchzuführen«.50
Einen Monat später befahl LeSuire dem verstärkten 749. Jäger-Regi
ment und der verstärkten Aufklärungsabteilung 116die Durchführung
des »Unternehmens Kalawrita«51 und setzte als Ziele: »a) Vernichtung
der in den genannten Räumen befindlichen Banden, b) Durchsuchung
der Ortschaften nach Kommunisten, Waffen, Propagandamaterial usw.
c) Such- und Vergeltungsaktionfür das am 18.10.43 in Gegend Roji auf
geriebene 5./Jg.Rgt. 749.«52 Die Truppen wurden in drei Kampfgruppen
gegliedert, die aus verschiedenenRichtungen kommend die Andarten im
Raum Kalavrita einschließen sollten. Die Kampfanweisungen des
749. Jäger-Regiments sahen vor, daß »Ortschaften, aus denen geschossen
wurde«, niederzubrennen seien, und daß im »Bandengebiet mit feind
seliger Haltung der Bevölkerung gerechnet« werden müßte; besonderes
Augenmerk sei »auf alle Klöster, Kapellen und einzeln stehende Hau-

367
ser zu richten, da dort meist versteckte Waffenlager« zu vermuten
wären.53
Am 5. und 6. Dezember begannen die einzelnen Einheiten den Vor
marsch; nur die von Süden kommende »Kampfgruppe Gnaß« hatte am
5. Dezember ein Feuergefecht, die anderen Truppenteile meldeten
»geringe Feindberührung«, dieAndarten entzogensichder Einkreisung.
Bereits beim Vormarsch, der ohne weitere Kämpfe verlief, wurden von
den Wehrmachtseinheiten Erschießungen durchgeführt, so am 8. De
zember beim Kloster Megalo Spiläon, wo Mönche, Novizen und
Klosterpersonal getötet wurden,54 oder in Roji, wo Soldaten der
»Kampfgruppe Ebersberger« am selben Tag die im Ort anwesenden
Jugendlichen und Männer (ungefähr sechzig Personen) in die Kirche
trieben, sie gruppenweise herauszerrten und exekutierten sowie an
schließenddie Kirche in Brand steckten.55 Im Tätigkeitsberichtder 117.
Jäger-Division ist unter diesem Datum lapidar vermerkt: »Sühnemaß
nahmen in Roji und Kerpini von Kampfgruppe Ebersberger durchge
führt.«56 Als eine der Kampfgruppen herausfand, daß die über einen
Monat gefangengehaltenen Soldaten der Kompanie Schober von den
sich zurückziehenden Andarten am 7. Dezember getötet worden waren,
diente dieses Ereignis zur Legitimierung der bereitsdurchgeführtenund
noch beabsichtigten Maßnahme gegen die Zivilbevölkerung, für Mord,
Brandschatzung und Raub. LeSuire befahl am 10. Dezember, daß »als
Sühnemaßnahme [...] die Orte Mazeika und Kalawrita dem Erdboden
gleichzumachen«57 seien, »ebenfalls in den durchsuchten Räumen die
Orte, in denen nachgewiesen Banden Unterkunft gefunden haben oder
bei der Durchsuchung Widerstand, Waffen oder Munition vorgefunden
wurden. Sämtliches Vieh der abgekämmten Räume [...] ist von den
Truppen mit in dieStandorte zu treiben.«58
Am 13. Dezember ermordeten die Soldaten die Männer Kalavritas.
Angehörige der »Kampfgruppe Ebersberger« triebendie gesamte Bevöl
kerung der Stadt in der Schule zusammen und eskortierten die Männer
zu einem Platz oberhalb des Friedhofs. Dann wurde die Stadt an mehre
ren Punkten in Brand gesetzt und mit Leuchtkugeln das Signal für die
Massenexekutiongegeben. Laut Tagesmeldung vom 13.Dezember wur
den dabei 511 männliche Bewohner Kalavritas erschossen.59 Die einge
schlossenen Frauen und Kinder ließ man nach den Exekutionen der
Männer wieder frei. Auf dem Rückmarsch in die Standorte führten die
Einheiten weitere Exekutionen und Zerstörungen durch.
Über ihren Einsatz beim »Unternehmen Kalawrita« hielt die
»Kampfgruppe Ebersberger« fest, lediglich durch Unfälle einen Toten

368
und vier Verletzte aufzuweisen, hingegen 674 Männer erschossen und
mehr als ein Dutzend Orte und zwei Klöster zerstört zu haben.60 Weiter
besagt der Bericht: »Als dann schärfste Form der Sühnemaßnahmen
befohlen wurden, kamen Führer und Truppe der Kampfgruppe diesem
Befehl nicht nur pflichtbewußt, sondern aus voller Überzeu
gung nach.«61 Im »Abschluß- und Erfahrungsbericht Unternehmen
Kalawrita« der 117. Jäger-Division wurde die größte in Griechenland
durchgeführte Mordaktion so zusammengefaßt: »Bis auf ein längeres
Feuergefecht der A.A. 116 bei Pankrati, fanden während des ganzen
Unternehmens keine größeren Kampfhandlungen statt. [...] Als Sühne
aktion für die Ermordung von 75 Gefangenen der Kp. Schober wurde
die Erschießung der männlichen Bevölkerung und Niederbrennen aller
Orte im RaumdesUnternehmens befohlen.«62 696 griechische Zivilisten
wurden Opfer des Befehls.
Das »Blutbadvon Kalavrita« sprach sich bei der griechischen Bevöl
kerung rasch herum; selbst der mit den Besatzern kollaborierende
Premier Ioannis Rällis kritisierte es scharf. Er trat in einem Brief vom 19.
Dezember 1943 an den Militärbefehlshaber Griechenland,GeneralSpei-
del, für die Beendigung solcherMassaker ein: »Wenn meine Informatio
nen richtig sind, betrugen die Opfer dieser Massenhinrichtungen mehr
als 650. Außerdem wird die Stadt Kalavrita als von einem Ende zum
anderen in Brand gesteckt bezeichnet. Das historische, mit den Kämp
fen für die griechische Unabhängigkeit des Jahres 1821 unzerbrechlich
verbundene Kloster der Haghia Lavra wurde gleichfalls in Brand
gesteckt, die heiligen Kleinodien in diesem vernichtet und die in diesem
Kloster aufgefundenen 13 greisen Mönche erschossen.«63 Rällis meinte,
»daß die Vernichtung Griechenlands unter Gestalt von Vergeltungs
maßnahmen und die Hinrichtung von griechischen Bürgernohne Rück
sicht auf Schuld oder Unschuld, Alter und Geschlecht, Anarchismus
oder Loyalität, nicht zum Kampf gegen den verabscheuungswürdigen
Kommunismus beiträgt«.64 Er forderte Speidel auf, »die nötigen Befeh
le zu erteilen, daß die Anwendung von Vergeltungsmaßnahmen ohne
Unterschied aufhört«. General Speidel rechtfertigte in einem Antwort
schreiben an Rällis die Massaker65 als Abwehrmaßnahme, um dann die
Verkehrung von Täter und Opfer auf die Spitze zu treiben: »Der Krieg
ist hart, und ich darf vielleicht in diesem Zusammenhang darauf hinwei
sen, daß die deutsche Bevölkerung ungleich schwerere Verluste durch
dieenglisch-amerikanischen Terrorangriffe aufdeutsche Städte und Kul
turdenkmäler erleidet.«66
Intern schlug der General einen völlig anderen Ton an. In einem

369
Schreiben an die Heeresgruppe E und den Militärbefehlshaber Südost
betonte Speidel, daß nach seinerMeinungsolche»Sühneaktionen« kon
traproduktivwaren:67

»Es ist eine Tatsache, daß der >Fall Kalavrita< wochenlang diegesamte
griechische Bevölkerung stärkerbewegt hat als alle übrigen Probleme,
und daß diepsychologische Auswirkungder Truppenmaßnahmen die
war, daß sie zu einer Wiederannäherung nationalerund kommunisti
scher Kreise führte, und damit zu einer gemeinsamen Front gegen die
Deutsche Wehrmacht. Dies war deshalb um so bedauerlicher, als die
vonmirseitlanger Zeitplanmäßig betriebene Spaltung undScheidung
zwischen nationalen und kommunistischen Elementen zu beachtli
chen Folgen geführt hat,dienunmehr wieder in Frage gestellt sind.«68

DasMassaker von Kalavrita war keinEinzelfall; abereswurdenach 1945


im kollektiven Gedächtnis Griechenlands zu demSymbol für die Besat
zungspolitik der Wehrmacht und die Verbrechen.

Anmerkungen

1 Martin Zöller/Kazimiercz Leszczynski (Hg.), Fall 7. Das Urteil im Geisel


mordprozeß, gefällt am 19. Februar 1948 vom Militärgerichtshof V der Verei
nigten Staaten von Amerika, Berlin 1965. Der ebenfalls angeklagte General
Franz Böhmeverübte in der UntersuchungshaftSelbstmord.
2 Thomas A. Schwanz, Die Begnadigung deutscher Kriegsverbrecher. John
McCloy und die Häftlinge in Landsberg, in: Vierteljahreshefte für Zeitge
schichte, 38 (1990), S. 409.
3 Zöller/Leszczynski, a. a. O., S. 227.
4 Die 704., 714. und 717. ID waren 1941 in Serbien, die 718. ID überwiegend in
Kroatien stationiert.
5 Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), RH 26-117/3, Tätigkeitsbericht Ia der
717.ID, 15.5.-31.12.1941.
6 Die HälftedesOffizierskorps der 717. ID bestandausÖsterreichern, weitmehr
als die Hälfte der Mannschaften waren »Ostmärker«, BA-MA RH 20-12/121,
OB, Chefreisen und Besprechung Serbien Juli-Dezember 1941.
7 BA-MA, RH 26-117/3, Tagesmeldung der 717. ID vom 21.7.1941.
8 Die Mannschaften waren in zwei Kampfgruppen unter dem Kommando der
beiden Regimentskommandeure, Major Desch und Oberstleutnant Wilder-
muth,aufgeteilt. ZudemwurdendieKampfgruppen durchLandesschützen und
Volksdeutsche Wachmannschaften ergänzt, so daß Kraljevo von etwa 2200
Mann besetzt war, vgl. BA-MA RH 24-18/87, Reisebericht Major Jais u.a. über
Kraljevo, 6.1o.1941.

370
9 BA-MA, RW 24-30/277, Fernschreiben Höh.Kdo.LXV an 717. ID, 3.10.1941.
10 BA-MA, RH 26-117/3, Zustandsbericht der 717. ID, 5.10.1941.
11 BA-MA, RH 24-18/87,Reisebericht MajorJais u. a. über Kraljevo, 6.10.1941.
12 BA-MA, RH 26-117/3, Zustandsbericht der 717. ID, 5.10.1941.
13 BA-MA, RH 26-117/3, Auswertung der Einsätzevom Oktober 1941.
14 BA-MA, RH 24-30/270,Bericht des Kommandeurs der 717. ID, General Hoff
mann, an den Bev. Kdr. General Franz Böhme, 10.10.1941.
15 BA-MA, RH 26-117/3, Tagesmeldung 13.10.1941.
16 BA-MA, RH 26-117/3, Tagesmeldung 13.10.1941.
17 BA-MA, RH 26-117/3, Tagesmeldung 14.10.1941.
18 BA-MA, RH 26-117/3, Tagesmeldung 15.10.1941.
19 Befehl des Ortskommandanten von Kraljevo, 16.10.1941,zitiert nachVenceslav
Glisic, Der Terror und die Verbrechen des faschistischen Deutschland in Serbi
en von 1941 bis 1944, phil. Diss., Berlin 1968, S. 82.
20 NOKW-Dokument 163 8, Landeskommission Serbienzur FeststellungderVer
brechender Okkupatoren und ihrerHelfershelfer. Mitteilungüber festgestellte
Verbrechen, 24.1.1946.
21 BA-MA, RH 26-117/3,Tagesmeldungen vom 15. und 16.10.1941. Diese Zah
len wurden auch an das OKW und das OKH weitergegeben und um die eige
nen Verlustzahlen (zwei Gefallene und ein Verwundeter!) ergänzt. NOKW
1660, Tagesmeldung AOK 12 Ic/AO, 18.10.1941.
22 NOKW-Dokument 1660.
23 BA-MA, RH 26-117/3, Divisionstagesbefehl Nr. 39, 23.10.1941.
24 BA-MA, RH 24-18/87,Tagesbefehl Böhmes, 20.10.1941.
25 BA-MA, RH 24-18/87,Anlagen zum KTB XVIII. Geb.AK, 20.10.1941.
26 BA-MA, RH 24-18/87, Fernschreiben Böhmes an Wehrmachtbefehlshaber
Südost, 3.10.1941.
27 BA-MA, RH 26-104/14, Vernehmung Hauptmann Fiedler (Kommandant des
III. Bataillons/749. IR), 10.10.1941.
28 BA-MA, RH 26-117/3, Einsatzbericht III./749 vom 17-25.10.1941.
29 BA-MA, RH 26-104/16, Bericht des Regiments 724 an 704. und 717. ID,
16.10.1941.
30 NOKW-Dokument 163 8, Mitteilung der Staatlichen Kommission zur Feststel
lung derVerbrechen der Okkupatoren und ihrer Helfershelfer.
31 BA-MA, RW 40/12, Brief des Kreiskommandeurs, Hauptmann Bischofshau
sen, an die Feldkommandantur 610 und an den Befehlshaber Serbien,
20.10.1941.
32 BA-MA, RH 26-104/16, Bericht über den Einsatz des I./724.IR,
17.-25.10.1941.
33 NOKW-Dokument 163 8, Mitteilung der Staatlichen Kommission zur Feststel
lung derVerbrechen der Okkupatoren und ihrer Helfershelfer.
34 BA-MA, RH 26-104/16, Berichte über den Einsatz des I./724.IR,
17.-25.10.1941.
35 BA-MA, RH 24-18/87, KTB Ia, XVIII. Geb.AK., 23.10.1941.
36 BA-MA, RH 26-117/5, Operationsbefehl für das Unternehmen »Weiss«, Bfh.
d. dt. Tr. i. Kroatien (Lüters), 12.1.1943.

371
37 BA-MA, RH 26-117/12, Kommandeur 117. Jäger-Division, 2.4.1943.
38 BA-MA, RH 26-117/13, Meldung vom 1.5.1943, Kurzes Werturteil des Kom
mandeurs; Sorgen bereitete LeSuireauchdie landsmannschaftliche Zusammen
setzungderDivision, und zwarnichtdiemehrals 50 Prozent»Ostmärker«, son
dern die neu zur Division gekommenen Elsässer, vgl. BA-MA, RH 26-117/15,
117. Jäger-Division an Generalkommando z. b. V. LXVIII. A.K., Betr.: Elsäs
ser, 23.8.1943.
39 Zu den Besatzern in Griechenland, den verschiedenen Gruppen der griechi
schen Resistanceund zur Kollaborationvgl. H. Fleischer, Im Kreuzschatten der
Mächte. Griechenland 1941-1944, Frankfurt am Main/Bern/New York 1986,
John Louis Hondros, Occupation and Resistance. The Greek Agony 1941-44,
New York 1983, und Mark Mazower, Inside Hitler's Greece,New Haven/Lon-
don 1993.
40 Interview mit Wilhelm Seh., DOW, Projekt »Erzählte Geschichte«, Int.
Nr. 071, S. 22: »Die Stimmung der Bevölkerungwar am Anfang so: die haben
die Italiener sehr gehaßt. Die Italiener warenungut zur Bevölkerung,die haben
gestohlen und die Leute schikaniert. Sie [die Griechen, W.M./H.S.] sind uns am
Anfang sehr freundlich gegenübergestanden.« Zu einerähnlichen Beschreibung
desVerhältnisses derZivilbevölkerungamPeloponnes und der Andarten zu den
Besatzern gelangt H. Fleischer, Im Kreuzschatten, a. a. O., S. i82f.
41 BA-MA, RH 24-68/15, Kriegstagebuch LXVIII. AK Nr. 3.
42 Ebenda.
43 Ebenda.
44 BA-MA, RH 24-68/20, Ia-Tagesmeldung des LXVIII. A.K. an Deutschen
Generalstab beim Ital. AOK 11 vom 25.8.1943.
45 BA-MA, RH 26-117/16, 117. Jäger-Division, Ia, Befehl für das Unternehmen
»Kalamata«,20.10.1943.
46 »Zweck des Unternehmens: a) Festnahme der kommunistischen Elemente zur
Überführung in Arbeitslager ins Reich, b) Festnahme von Geiseln zur Verhü
tung von Gewaltakten gegen Truppe oder Verkehrseinrichtungen.« BA-MA,
RH 26-117/16, Tätigkeitsbericht der 117. Jäger-Div., Ia, Eintragung 22.10.1943.
47 BA-MA, RH 24-68/15, KTB. Gen.Kdo. LXVIII A.K, Eintragung vom
23.10.1943.
48 BA-MA, RH 26-117/16, 117. Jäger-Division, Ia, Betr.: Lagebeurteilungen,
30.10.1943.
49 BA-MA, RH 26-117/16, Kommandeur I./Jäger-Regiment 749, 21.10.1943,
Bericht über den Überfall aufdie gemischte Komp. Schober (L/Jg.Rgt.749) am
16. u. 17.10.1943.
50 Ebenda, Kommandeur 117. Jäger-Division an Generalkommando LXVIII.
A.K., Betr.: Unternehmen Kalavrita, 25.10.1943.
51 Ebenda, 117. J.D., Befehl für dasUnternehmen »Kalavrita«, 25.11.1943.
52 Ebenda.
53 Ebenda, Jäger-Regiment 749, Befehl für das Unternehmen »Kalavrita«,
1.12.1943.
54 ZStL, V-508 AR 1293/68, Bd.i, Eidesstattliche Aussage des Archimandrit
T. Andronikos vom 14.10.1945.

372
55 Vgl.ebenda,Eidesstattliche Aussage Dritsos Stavros, 13.10.1945.
56 BA-MA, RH 26-117/16, Tätigkeitsbericht der 117.Jäger-Division, Eintragung
8.12.1943.
57 Ebenda, Kommandeur 117.Jäger-Division, Befehl 10.12.1943.
58 Ebenda.
59 Ebenda, Tagesmeldung der 117. Jäger-Division an Gen. Kdo. LXVIII. A.K.,
13.12.1943.
60 Ebenda, Kampfgruppe Ebersberger, Abschluß- u. Erfahrungsbericht »Unter
nehmen Kalawrita«, 22.12.1943.
61 Ebenda.
62 BA-MA, RH 26-117/16, 117. Jäger-Division, Abt. Ia, Abschluß- und Erfah
rungsberichtUnternehmen »Kalawrita«, 19.1.1944.
63 BA-MA, RH 19 VII/23b, Abschrift des Briefes Rhallis an Befehlshaber Grie
chenland, 19.12.1943.
64 Ebenda.
65 So etwa: »1.) Als die Truppe sich Kalavrita näherte, wurde sieaus den Häusern
beschossen; die Stadt wurde also im Kampf genommen. 2.) Die Bevölkerung -
nicht etwa ortsfremde Banditen - hat sich unglaubliche Bestialitäten zu Schul
den kommen lassen. [...] 3.) Das genannte Klosterwurde verteidigtund mußte
im Angriffgenommen werden. 3 Mönche wurden mit der Waffe in der Hand
angetroffen!« Abschrift des Briefes Militärbefehlshaber Griechenland an den
griechischen Ministerpräsidenten, 29.12.1943.
66 Ebenda.
6y Eine ablehnende Haltung zu dem Massakersoll auch der ehemalige Nazibür
germeister von Wien und damalige Sonderbevollmächtigte für den Südosten
Dr. Neubacher bezogen haben: »Dr. Neubacher and Minister-President Rällis
opposed these savage measures, and they tried to gain control of the reprisal
policy. Both men complained that the reprisals ruined their efforts to build a
unitedpolitical andmilitary front against EAM/ELAS, whichthey equatedwith
communism. Rällis pointed out the stupidity of the destructionof Kalavrita by
reminding the Germans that it was the scene of a Turkish massacre during the
War of Independence and that the Greeks would recognize the parallel of the
two actions.« Hondros, Occupation, a. a. O., S. 158.
68 BA-MA, RH 19 VII/23b, Schreiben Militärbefehlshaber Griechenland an OB.
HG.E, Mil.Bfh. SO, OB. HG.F, Betr.: Politische Auswirkungen von Unter
nehmungen gegen die Banden, 8.1.1944.

373
III. Krieger und Kriegerinnen
Jan Philipp Reemtsma Die Idee des
Vernichtungskrieges
Clausewitz - Ludendorff-Hitler
»Je nun: >daß Kriegsmänner
gute und verständige Bürger
seien, hiervon ist ein gar zu
großer Mangelan Beispielen^«
Martina

Der Vernichtungskrieg ist eine kulturelle Errungenschaft. Es gibt ihn


nicht bloß deshalb,weil es Krieg gibt. Vernichtungskrieg, sprich: Krieg,
der geführt wird, um - im schlimmstenFalle- eine Bevölkerungzu ver
nichten oder auch nur zu dezimieren,aber auch der Krieg, in dem es um
die Vernichtung der gegnerischen waffenfähigen Bevölkerung, der geg
nerischenArmeen geht, ja auch die Vernichtungsschlacht, in der das geg
nerischeHeer nicht nur besiegtoder zurückgeschlagen, sondern in mög
lichst großem Umfange getötet werden soll - alle diese Formen des
Vernichtungskrieges sind, wiewohl in geographischem Raum und histo
rischer Zeit weit verbreitet, keine historischen Selbstverständlichkeiten.
Diese Feststellung impliziert keine Behauptung über die Natur des
Menschen, außer die über seinehistorisch erwiesene Fähigkeit,Vernich
tungsschlachten und -kriege zu führen. Aber von dieser Fähigkeit - wie
von der, monotheistische Religionen, Staaten oder Sozialversorgungssy
steme zu bilden - hat er nicht stets Gebrauch gemacht, ja es ergibt sich
aus einigen Beispielen die Evidenz, daß er von diesenFähigkeiten nicht
nach Belieben, das heißt ohne eventuell zeitraubendes Lernen, Gebrauch
machen kann. Die Frage danach,wie sich eine Kultur die Fähigkeit,Ver
nichtungskriege zu führen, angeeignet hat, ist nicht gleichbedeutend mit
der, warum andere Kulturen dieses nicht getan haben, ja ist ihr in gewis
sem Sinne entgegengesetzt. Enge ich mein Fragen auf die kulturellen
Hemmungen vor dem Vernichtungskrieg ein, unterstelle ich einen im
Menschen oder in der Natur des Krieges liegenden Trend zur Vernich
tung, den - von Fall zu Fall - zu hindern oder wenigstens zu mildern
gelungen ist.
Wer wissen wolle, welche Farbe die Brillehabe, durch die er gewohnt
sei zu schauen, müsse sie abnehmen, hat Zygmunt Bauman einmal
geschrieben. Wir tun gut daran, uns von der Idee zu befreien, es liege im
Wesen des Krieges, ihn so zu führen, daß eine möglichst große Zahl an
Toten sein Ergebnis ist. Es ist ein Merkmal unserer Kultur, Krieg auf
dieseWeise zu führen. Es gibt kein »Wesen des Krieges«, und schon, was

377
»Krieg«, was »einen Krieg gewinnen« oder »eine Schlacht schlagen«
heißt, läßt sich nicht kulturunabhängig formulieren. Geprägt durch
unserekulturellen Gewohnheiten,habenwir allerdings Schwierigkeiten,
bestimmte Auseinandersetzungen als »Krieg« zu identifizieren und
geben ihnendarumspezielle Kennzeichnungen, in denenmeist dieWör
ter »zeremoniell« oder »rituell« vorkommen. Wir möchten mit dieser
Redeweise betonen, daß solche Kriege keine »richtigen« Kriege seien.
Selbstder britische MilitärhistorikerJohn Keegan, der oft auf die rituel
len Elemente in modernen Kriegen hingewiesen hat, fühlt sich zu der
Versicherung genötigt, daß die Ägypter derAntike - ihre uns bekannte
Kriegführung mag Hunderte von Jahren lang noch so »zeremoniell«
gewesen sein- diese Zeremonialität einem eigentlichen, ursprüngliche
ren Vernichtungskrieg abgewonnen haben müssen: »Die Schlacht war
gewiß nicht zeremoniell, wenn sie gegen Fremde geschlagen wurde«,
ähnlich wie er über die Azteken schreibt, wir wüßten nur etwas über ihre
Art und Weise der Kriegführung zu einem bestimmten Zeitpunkt: »Auf
der Höhe ihrer Macht, und nicht, wie sie kämpften, wenn sie dabei
waren, diese zu erringen. Zu der Zeit haben sie sehr wahrscheinlichdie
jenigen, die ihnen Widerstand leisteten, niedergemetzelt, so wie alle
Eroberer es schon immer taten.«1 Aber, wie Keegan an anderer Stelle
schreibt, »Krieg ist stets Ausdruck der Kultur, oft ein bestimmender
Faktor kultureller Muster, in einigen Gesellschaften die Kultur selbst«.2
Wenn wir unsere Kultur verstehen wollen, müssen wir lernen, sie als eine
zu verstehen, in der die Idee der Vernichtung so selbstverständlich
geworden ist, daß wir wähnen,sie läge im Wesen der Sache.
Es gelingt selten, die kulturelle Brille abzunehmen, die erworbenen
Selbstverständlichkeiten wie mit anderen Augen anzusehen.Die Analy
se eines kulturellen Konflikts bietet hierfür die Chance. Für unsere
Zwecke äußerst aufschlußreich, sowie gleichzeitig das Beispiel für das
Aufeinandertreffen zweier einander vollständig fremder Kulturen (mit
letalem Ausgang für die eine), ist die Eroberung Mexikos durch die Spa
nier. Interessant ist hierbei weniger, daß die Azteken eine andere Art hat
ten, Krieg zu führen als die Spanier. Das Frappierende ist, daß sie ihre
Art, Krieg zu führen, nicht zu ändern in der Lage waren, als es buch
stäblich um ihre Existenz ging.In dieser Unfähigkeit, eine andere Art der
Kriegführungzu lernen, liegt das offenbare Geheimnis, warum es einer
Schar von fünfhundert Spaniern gelingen konnte, aztekische Heere, die
nach Zehntausenden zählten, zu schlagen: die Fähigkeit der Spanier,
einen Vernichtungskrieg zu führen, und die Unfähigkeit der Azteken,
sich diese Fähigkeit rechtzeitig anzueignen.3 Denn mag auchJohn Kee-

378
gans Vermutung zutreffen, daß dieAztekenzur Zeit ihresAufstieges zur
Macht dieseFähigkeitbesessen hatten - als esnicht einmalmehr um den
Machterhalt, sondern ums bloße Überleben ging, gelang es ihnen nicht,
sich auf siezu besinnen.DieseTatsache erscheintuns so unplausibel,daß
wir erkennen können, wie sehr unsere Plausibilitätsannahmen an histo
risch kontingente Umstände gebunden sind, und darum ist diesefür die
eine Seite so katastrophale Begegnung zweier Kulturen für die Spätge
borenen der siegreichen so aufschlußreich.
Die Hauptstadt der Azteken, Tenochtitlan - eine Stadt, größer und
schöneralsirgendeine spanische, wie die Eroberer sagten-, war nach 75
Tagen Kampfbuchstäblich in Schuttund Asche gelegt. Die Schätzungen
der aztekischenVerluste schwanken,wenn man die Hungertoten in der
belagerten Stadt einrechnet, zwischen 240000 und 100000 (Cortes*
Angabe) Männern - Frauen und Kinder finden sich in keiner der Rech
nungen.4 Die Azteken fingen und opferten insgesamt »etwa 70 Spani
er«.5 Nimmt man an, daß die Streitmacht des Cortes nach den Verlusten
der vorangegangenen Kämpfe und dem Zuwachs durch die übergelaufe
nen Truppen des kubanischen Gouverneurs Veläzquez etwa wieder das
anfängliche halbeTausend erreichthatten,warenalsosiebzig Gefangene
ein Siebentel seiner Truppen. Bei einem für einen beiderseitigen Ver
nichtungskampf - zumal für einen Haus-um-Haus- und Mann-für-
Mann-Kampf - typischen Verhältnis von Getöteten und Gefangenen
hätten seine Verluste die Zahl seiner Truppen weit übersteigen müssen.
Hätten die Azteken einen Vernichtungskampf führen wollen, hätten sie
dieSpanier vernichten können - dieZahlder Gefangenen, diesiemachen
konnten, trotz aller anzunehmenden Überlegenheiten der Spanier und
trotz der großen Verluste, die sie für jeden Gefangenen, der lebend aus
dem Gemetzel fortzubringen war, erlitten, beweist das. Ohne spanische
Führungwärendiezahlreichen indianischen Hilfstruppengeflohen, und
die Azteken hätten - für dieses Malwenigstens - Macht und Leben geret
tet.6
In Europa, wie die Iliaslehrt, ist die Idee des Vernichtungskrieges alt.
Sie allein hat aber das Kriegsgeschehen durchaus nicht bestimmt - die
Dominanz der Idee des Vernichtungskrieges ist eine Errungenschaftder
jüngstenGeschichte. In der Antike spielte die Versklavung Gefangener
stets eine Rolle und trieb damit den Wunsch an, Gefangene zu machen.
Hannibals Massaker an verwundeten und gefangenen Römern diente
außerordentlichen Zwecken, die seiner isolierten Kriegführung in Mit
tel- und Süditalien entsprangen. Er hatte keinenZugangzu irgendeinem
Sklavenmarkt und keine Möglichkeit, Tausende von Gefangenen zu

379
bewachen und gleichzeitig weiterhin Krieg zu führen. Hierin erblicke
man aber keine »Logikdes Krieges«, vielmehrdie Entscheidung,partiell
der Logik eines Vernichtungskrieges zu folgen.
Dasselbegilt für den englischen König Heinrich V, dessenBefehl, die
Gefangenen der ersten französischen Angriffswelle bei Azincourt zu
töten, oder wenigstens mit dem Tode zu bedrohen, vom adligenTeilsei
ner Truppen verweigertwurde, und er auf die keinem Standesethos ver
pflichteten, vielmehr aus Vagabunden und drop-outs rekrutierten
Bogenschützenzurückgreifenmußte.7 Die Frage,inwieweitjeweils auch
sogenannte materielle Interessen berührt werden, ist dabei ganz uner
heblich. Es geht nicht um den Gegensatzvon Moral und Interesse, son
dern nur darum, daß die englischen Ritter eine andere Art von Krieg
führen wollten als ihr König.
»Der Lehrmeister des Krieges, von Clausewitz, stellt in seinemWerke
>Vom Kriege< [...] mit Recht fest, daß der Krieg ein Akt der Gewalt ist,
durch den ein Staat einen anderen unter seinenWillen zwingenwill. In
seinen Betrachtungen über die Erreichung dieses Zieles denkt Clause
witz nur an die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte durch Schlach
ten und Gefechte. Sie ist unantastbarer Grundsatz der Kriegsführung
geworden, und dessen Berücksichtigung die ersteAufgabe der Führung
destotalen Krieges. Was Clausewitzüber den Vernichtungsgedanken auf
dem Schlachtfelde sagt, wird deshalb stets seine tiefe Bedeutung behal
ten.General Grafv. Schlieffen hat demtreffend Ausdruck gegeben in sei
ner Vorrede zu der im Jahre 1905 erschienenen Auflage des Clause-
witz'schen Werkes. Ich kann das nur unterstreichen.« So Ludendorff im
Jahre 19378 - zu einem Zeitpunkt, an dem die Idee des Vernichtungs
krieges jene Dominanz erreicht, die sie in den voraufgegangenen
europäischenJahrhunderten noch nicht gehabt hatte. Von dieser Trans
formation - und von der mäeutischenRolle preußischer und deutscher
Generalstäbe dabei - soll im folgenden die Rede sein.
Nicht allein Ludendorff hat Clausewitz zum Vater der Idee der Ver
nichtungsschlacht alsdes eigentlichen Wesens desKrieges und damitder
Idee des Vernichtungskrieges ernannt - von vielen ist aber bestritten
worden, daß das zu Recht geschehen sei. Daß die Rezeption von Clau
sewitz' Hauptwerk »Vom Kriege« einen großen Beitragzur zunehmen
den Dominanz des Vernichtungsgedankens geleistethat, kann man aller
dings kaum bestreiten, und man wird Mühe haben, das Buch ganz von
der Mitverantwortung für seine Wirkung freizusprechen. Clausewitz,
1780 geboren, war seit seinem zwölften Lebensjahr Soldat. Er nimmt an
der Belagerungvon Mainz teil, gerät beiJena und Auerstedt in französi-

380
sehe Gefangenschaft, wird, entlassen, Büroleiter bei Scharnhorst, lehrt
an der Berliner Kriegsschule, opponiert gegen den politischen Kurs der
preußischen Regierung, der ihm zu profranzösisch ist, bittet um den
Abschied und tritt in russische Dienste. Bei Tauroggen tritt er als Ver
mittler auf und betreibt den Koalitionswechsel. Agitation für eine anti
französische levee en masse. 1814 Wiederaufnahme in preußische Dien
ste, bald in den Generalstab, Direktor der Berliner Allgemeinen
Kriegsschule, Ernennung zum Generalmajor und Mitglied des Großen
Generalstabes, Nobilitierung 1827, Tod durch die Cholera 1831. Sein
unvollendetes Werk »Vom Kriege«, von der Witwe postum herausgege
ben, wird bald zu »dem« Klassiker der Militärtheorie schlechthin und
findet begeisterte Leser in allenpolitischen Lagern.
»Vom Kriege« ist der Versuch, den Erfahrungsschatz von Militärstra
tegen zu systematisieren. Das Buch vermeidet bewußt die Form der
Kasuistik und bietet sich statt dessen, philosophischer Mode der Zeit
folgend, als Versuch einer geschlossenen Abhandlung. Clausewitz'
Bemühen um die geschlossene Form einer deduktivenAbhandlungver
deckt aber, daß seine Gedanken - wie es einer guten Kasuistik ziemt -
widersprüchlich sind. Clausewitz hat darum für ganz unterschiedliche
Konsequenzen herhalten müssen, die andere aus seinemWerk gezogen
haben. Die Schulddaran tragen aber nicht in erster Linie die Unklarhei
ten in Clausewitz' Hauptwerk, sondern es ist im Gegenteil sein Hang
zur Systematisierung dort, wo es nichts zu systematisieren gibt, verant
wortlich dafür.
Der wichtigste Streit der Clausewitz-Interpreten geht darum, ob
Clausewitz die Theorie vertreten habe, einziges Ziel des Krieges sei die
totale Niederwerfung des Gegners (und alles andere durch Politik
erzwungene Verfälschung dieses eigentlichen Kriegszieles), oder ob der
Kriegals Instrument der Politik nur die Ziele habe, die die Politik ihm
vorgebe. Für beide Auffassungen gibt es Textbelege. In seinem Aufsatz
»Instrumentelle und existentielle Auffassung des Krieges bei Carl von
Clausewitz«9 führt Herfried Münkler diesen Streit der Clausewitz-
Interpretationen auf die Veränderungen in Clausewitz' politischem
Denken zurück, die ihn beim Versuch, eine einheitliche Theorie zu
schaffen und zu bewahren, dazu brachten, einzelne Gedanken im Ver
hältnis zu anderen jeweils auf unterschiedliche Weise zu akzentuieren.
Münkler nimmt mit Raymond Aron einen Bruch im Clausewitzschen
Denken um das Jahr 1827, dem Jahr seiner Nobilitierung, an. Vor 1827
sei für Clausewitz die NapoleonischeStrategie, »die auf die Niederwer
fung des Gegners abzielende Doktrin der Entscheidungsschlacht«, das

381
Vorbild gewesen, das nach 1827 seine »paradigmatische Stellung im
Clausewitzschen Theoriegebäude«10 verloren habe. Eingebaut ist die
Unterscheidung zwischen Napoleonischer und andererStrategieauffas
sung in der Unterscheidung zwischen »absolutem« und »wirklichem«
Krieg. Sie hat allerdings damit eine philosophische Gewichtung - und
Bewertung - erhalten, die es nicht mehr erlaubt, sie als bloßes Vorbild
mal zu nehmen, mal wieder zu lassen.
»Wir haben«, schreibt Clausewitz im zweiten Kapitel des siebenten
Buches unter dem Titel »Absoluter und wirklicher Krieg«, »im ersten
Kapitelgesagt, daß das Niederwerfen des Gegnersdas natürlicheZieldes
kriegerischen Aktes sei und daß, wenn man bei der philosophischen
Strengedes Begriffs stehen bleiben will, es im Grunde ein anderes nicht
geben könne. Da diese Vorstellung von beiden kriegführenden Theilen
geltenmuß, so würde daraus folgen, daß es im kriegerischen Akt keinen
Stillstandgeben und nicht eher Ruhe eintreten könne, bis einer der bei
denTheile wirklich niedergeworfen sei.«11 Allerdings finde manKrieg in
dieser reinen Gestalt kaum oder nie, »und man könnte zweifeln, daß
unsere Vorstellung von dem ihm absolut zukommenden Wesen einige
Realität hat, wenn wir nicht gerade in unseren Tagen den wirklichen
Krieg in dieser absoluten Vollkommenheithätten auftreten sehen. Nach
einer kurzen Einleitung, die die französische Revolution gemacht hat,
hat ihn der rücksichtslose Bonaparteschnell auf diesen Punkt gebracht.
Unter ihm ist er rastlosvorgeschritten, bis der Gegnerdarniederlag; und
fast ebensorastlossind dieRückschläge erfolgt.Ist esnicht natürlichund
notwendig, daß uns diese Erscheinung auf den ursprünglichen Begriff
des Krieges mit allen strengen Forderungen zurückführt?«12
Doch bei aller Faszination durch Napoleon und durch die Prussifi-
zierung seines Vorbilds ins Immer-feste-Druff, weiß Clausewitz, »daß
diese Theorie miteinerstarken Logikdochsehrohnmächtig bleibtgegen
die Gewalt der Umstände. Wir werden uns also dazu verstehen müssen,
den Krieg, wie er sein soll, nicht aus seinem bloßen Begriff zu konstru
ieren, sondern aus allem Fremdartigen, was sich darin einmischt und
daran ansetzt, seinen Platz zu lassen, aller natürlichen Schwere und Rei
bung der Theile, der ganzen Inkonsequenz, Unklarheit und Verzagtheit
des menschlichen Geistes; wir werden die Ansicht fassen müssen, daß
der Krieg und die Gestalt, welche manihm giebt, hervorgehtaus augen
blicklich vorherrschenden Ideen, Gefühlen und Verhältnissen, ja wir
müssen, wenn wir ganz wahr sein wollen, einräumen, daß dies selbst der
Fall gewesen ist, wo er seine absoluteGestalt angenommen hat, nämlich
unter Bonaparte.«13 Doch nachdem hier also das große Vorbild der Zeit

382
vor 1827 die Abkehr von ihm selbst sanktioniert hat, finden wir im Fort
gange desTextes: »Dieses Allesmuß die Theorie zugeben,aber esist ihre
Pflicht, die absolute Gestalt des Krieges obenan zu stellen und sie als
einen allgemeinen Richtpunkt zu brauchen, damit Derjenige,der aus der
Theorie etwas lernen will, sich gewöhne, sie nie aus den Augen zu ver
lieren, sie als das ursprüngliche Maß aller seiner Hoffnungen und
Befürchtungen zu betrachten, um sich ihr zu nähern, wo er kann, oder
wo er muß.«14
Hierüber kann man lange und vergeblich grübeln - vor allem darüber,
was die Metapher vom »Richtpunkt« bedeuten soll. Denn wenn jemand
an so entscheidender Stelle eine mißglückte, ja in ihrem Bildgehalt
widersprüchliche Metapher verwendet, ist auch der zugrundeliegende
Gedanke unklar und widersprüchlich. Man hat darüber gestritten, ob
der »absolute Krieg« als eine »regulative Idee im Sinne Kants« (also als
Mittel zur Systematisierung disparater Erscheinungen) zu verstehen sei
oder nur als »theoretische Fiktion [...] was der Krieg wäre, wenn er
unabhängig von Raum und Zeit geführt würde«, und wiewohl die eben
zitierte Stelle eher die erste Interpretation plausibelerscheinenläßt, so ist
doch auch die Münklersche zu vertreten, nach der dieses Zitat zu einer
älteren Textschicht gehört und andere, später verfaßte, Stellen die zwei
te Auffassung stützen.15
Die berüchtigte Formel vom Krieg als der Fortsetzung der Politik ist
eine Folge aus der Hinwendung der theoretischen Aufmerksamkeit vom
»absoluten« zum »wirklichen« Krieg, der Versuch sozusagen, Ordnung
in all jene Umstände zu bringen, die aus dem absoluten den wirklichen
Krieg machen,der Versuch, die Rationalität aus der Sphäreder Erkennt
nis des Absoluten in die des bloß Wirklichenübergehen zu lassen: »Der
Kriegsplan faßt den ganzen kriegerischen Akt zusammen, durch ihn
wird er zur einzelnen Handlung, die einen letzten endlichen Zweck
haben muß, in welchem sich alle besonderen Zwecke ausgeglichen
haben. Man fängt keinen Krieg an, oder sollte vernünftigerweise keinen
anfangen, ohne sich zu sagen,was man mit, und was man in demselben
erreichen will; das Erstere ist der Zweck, das Andere das Ziel.«16 Ist der
Zweck nicht mehr mit abstrakter, die Wirklichkeit unter sich zwingen
der Logik die Vernichtung des Gegners, dann ist sie ins Belieben des
Kriegführenden gestellt, und hier kommt die Instrumentelle Auffassung
des Krieges als Mittel der Politik ins Spiel.
Die existentielleAuffassung des Krieges, »in welcher der Krieg nicht
als Mittel der Politik, sondern als Medium der Konstitution oder Trans
formation einer politischen Größe begriffen wird«,17 findet sich

383
zunächst vor der Arbeit an »Vom Kriege«, zur Zeit der ungebrochenen
Napoleon-Faszination und des gleichzeitigen nationalistischen Hasses
auf Frankreich, der Clausewitz dazu gebracht hatte, zeitweilig dem
preußischen Königdie Loyalitätaufzukündigen und in russische Dien
ste zu treten - in Tolstois »Kriegund Frieden« reitet er durch die Seiten.
Da ist von »Wiedergeburt des Volkes in blutigem und ehrenvollem
Kampf«18 und Ähnlichem die Rede. Vorbild für solche Redereien war,
Carl Schmitt hat in seiner »Theorie des Partisanen«19 darauf hingewie
sen, der spanische Guerillakrieg gegen die französische Besatzung, ein
Krieg um nationale Unabhängigkeit und übrigens auch die Wiederein
führung der Inquisition, der Vorbildcharakter für die irregulären deut
schen Banden der ersten Phase des später so genannten Befreiungskrie
ges hatte,aberauchzu einem bestimmten Zeitpunkt-1813, einJahr nach
Tauroggen, ein Jahr vor Clausewitz' Wiedereintritt in die preußische
Armee- für die preußischeRegierung. Diese verpflichtete ihre Unterta
nen auf Kampfgegen den Feind mit Waffen allerArten, »Beile, Heuga
beln, Sensen und Schrotflinten werden [...] ausdrücklich empfohlen«,
und es wird von einer Notwehr gesprochen, »die alle Mittel heiligt«.20
Diese Proklamation wird bald zurückgezogen, bleibt aber denkwürdig.
Es gingauch ohne den Volkskrieg; manfingsichwiederein.Ein gutes
Dutzend Jahre und eine Nobilitierung später war Clausewitz' Ideal
nicht mehr der in Kriegsgewittern neugeschmiedete Volkskörper, son
dern die souveränepreußischePolitik der Zukunft, die schließlich weni
ger im Kriege als durch den Krieg und die folgenden Friedensschlüsse
und diplomatischen Übereinkünfte möglich geworden war, und für die
Kriegein Dispositivsein und bleibensollte. Hierhin gehört die Formu
lierung des mehrfachen Generalstäblers, daß der Krieg seine eigene
Grammatik, aber keine eigene Logik habe.
In der Wirklichkeit ist dieser Satz deshalb so problematisch, weil er
meistens falsch ist. Im Werk von Clausewitz ist er es darum, weil die
Unterscheidung von absolutem und wirklichem Krieg nicht nur in die
Grammatik, sondern in die Logik des Gedankenganges nun einmal ein
getragen worden war und durch jede Einschränkung in ihrer Funda-
mentalität immer neu bestätigt wurde. Beherrschend wird der Gedanke,
weil er als Grundmetapher die Physiognomie des Werkes prägt. Wo
immer ein sich philosophisch gerierenderText ein Eigentliches, Wahres,
Absolutes, eine Idee, Grundlage oder -Strömung, ein Fundament, einen,
wenn auch unerreichbaren, so doch erstrebenswerten Zielpunkt etc.
gegen etwas,das nichts weiter als wirklich sei, setzt, gewichteter seinen
Text um diesen Schwerpunkt. - Dazu kommt ein offensichtliches ratio-

384
nalistisches Mißverständnis. »Die Politik« bekommt bei Clausewitz eine
ähnlich scherenschnitthafte Realität wie »der Krieg«. Da ihre Zwecke
(der des Krieges, gäbe es die Politik nicht, wäre klar) nicht zur Debatte
stehen, kann angenommen werden, sie wären »in der Wirklichkeit«
immer so fein darzulegen, wie es der Generalstab braucht, um einen
Feldzugsplan auszuarbeiten. Das ist in der Regel nicht der Fall,und vor
allem ändert sich die Politik, wenn die Völker aufeinanderschlagen.
Der erste Krieg, dessen Erfahrung unsere Kultur in einer Weise auf
bewahrt hat, daß wir sie in Texten wie diesem zitieren können, der Pelo-
ponnesische, begannals ein instrumenteller Krieg, wenn er je einerwar.
Man kann an ihm zweierlei demonstrieren: einmal, ein wie großer Irr
tum die instrumentalistische Auffassung des Krieges ist, zum zweiten,
daß auch sie keine genuin moderne und moderner Rationalität verbun
dene ist, sondern in unterschiedlichen kulturellen Umfeldern aufkom
men kann. »Es entstand um die Mitte des fünften Jahrhunderts in Grie
chenland«, schreibt Christian Meier, »ein eigentümliches Bewußtsein
menschlichen Könnens, eine entfernte Entsprechung des modernen
Fortschrittsdenkens. [...] Es war das Bewußtsein nicht eines breiten und
langgestreckten geschichtlichen Prozesses, abervon großen Möglichkei
ten des Wirkens und Bewirkens; Möglichkeiten, die vor allemden Fach
leuten, einem kleinen Kreis gut geschulter Männer offenstanden. Man
fand,daß die technaiinsgesamt, die Fähigkeiten zu fachgemäßer, metho
discher Lösung verschiedenster Probleme stark fortgeschritten seien.
Künstler glaubten, die äußersten Möglichkeiten ihrer Kunst erreicht zu
haben. Mediziner waren dabei, eine neue Wissenschaft zu erfinden. [...]
Denker machten sich daran, ganze Gesellschaftsordnungen am Reiß
brett zu entwerfen. Sophistenbehaupteten, ihre Schüler in die Lage ver
setzen zu können, in Wirtschaft wie in Politik alles zu erreichen, was sie
wollten. [...] Es kam die Meinung auf, daß es keinen Zufall gebe; das sei
nur eineAusrede von Leuten, die nicht richtig gerechnethätten. Sofand
denn auchPerikles, daß man einenganzengroßenKriegzwischen Athen
und Spartaplanen könnte.«21 Perikles' Kriegsplan sah vor, daß sich die
athenische Bevölkerung hinter die »Langen Mauern«, die Befestigungs
anlagen, die Athen mit dem HafenPiräus verbanden, zurückziehen und
keine Schlacht zu Lande annehmen solle. Die attische Flotte sollte der
weildie KüstedesPeloponnes verheeren und Stützpunkte errichten, von
denen aus kurze Vorstöße ins Landesinnere unternommen werden
könnten. Nach Perikles' Urteil konnte der Krieg nicht verloren werden,
da Athen über das Kriegsentscheidende verfüge: einen Plan und Geld.
»Der Kriegsplan stellte folglich ein großartiges Zeugnis menschlicher

385
Berechnung dar: Anscheinend konnte alles mögliche passieren - und
Perikleswußte, daß ein KriegvieleWechselfälle mit sich brachte -, ohne
daß die gute Aussicht auf das Gelingengeschmälert worden wäre. Inso
fern war der Zufall einkalkuliert.«22
Meier weist auf den Grundirrtum in der Planung des Perikles hin: Er
übersah, daß kriegführende Bevölkerungen keine Rechengrößen sind,
die konstant bleiben. Hunderttausend Menschenhatten sich- gleichzei
tig provisorisch und auf Dauer - zwischen den »Langen Mauern« ein
zurichten. Es kam zu der großen »Pest« von Athen, der auch Perikles
erlag. Die Probleme, in die Athen bald geriet, führten allerdings nicht zu
einer wachsenden Verzagtheit, sondern zu jener zunehmenden Radika
lisierung im Denken und Handeln, von der Thukydides so Zeugnis
ablegt: »Unbedachtes Losstürmen galt nun als Tapferkeit und gute
Kameradschaft, aber vordenkendes Zögernalsaufgeschmückte Feigheit,
Sittlichkeit als Deckmantel einer ängstlichen Natur, Klugsein bei jedem
Ding als Schlaffheit zu jeder Tat; tolle Hitze rechnete man zu Mannes
Art, aber behutsames Weiterberaten nahm man als ein schönes Wort zur
Verbrämung der Abkehr. Wer schalt und eiferte, galt immer für glaub
würdig, wer ihm widersprach, für verdächtig.«23 Das galt ab einem
bestimmten Zeitpunkt auch für die Gegenseite: »Perikles' Zermür-
bungsstrategie war vom Frieden her gedacht: Sieführte in der Tat zu vie
len Mißhelligkeiten, Verwüstungen, Versorgungsschwierigkeiten und
anderem, was einen Widerwillen gegen den Krieg erwecken konnte.
Sobald man sich aber im Krieg befand, mußte sich daraus zugleich die
Wut ergeben, der Wille, sich zu rächen; der Wille zum Sieg.«24 Perikles
war mit Clausewitz der Meinung, daß der Krieg die Fortsetzung der
Politiksei, und wederer noch Clausewitz erlebten, wasihre Nachgebo
renen erleben mußten: daß die Politik die Fortsetzung des Krieges wer
den sollte.
Nicht erst Ludendorff in seiner Schrift »Der totale Krieg«, sondern
bereits Alfred von Schlieffen, Chef des deutschen Generalstabes von
1891 bis 1905, hat darin explizit das höchste Ziel der Politik gesehen -
gleichfalls mit Berufungauf Clausewitz. Diese Umkehrung des Clause
witzschen Aphorismus ist in der Tat ein Mißbrauch des Clausewitzschen
Textes - aber doch ein naheliegender, und hier wird man John Keegan
denn wohl doch zustimmen müssen, der nicht nur seine »History of
Warfare« mit demSatz»Krieg ist nicht Fortsetzungder Politikmit ande
ren Mitteln«25 beginnt, sondern Clausewitz' Werk insgesamtso charak
terisiert: »Seine Philosophie der Kriegführung war eine Anleitung zur
Zerstörung der europäischen Kultur.«24

386
Gerade in der instrumentalistischen Auffassung des Krieges nämlich
setzt sich die existentielle durch und kehrt die Instrumentalisierungum.
»Die instrumentelle Kriegsauffassung ist und bleibt bezogen auf eine
unfraglich legitime politische Ordnung: diese definiert die Zwecke, die
zu erreichender Kriegdas Mittel ist. Anders die existentielle Auffassung
des Krieges, in welcher der Kriegwohl auch ein Mittel ist, aber nicht ein
Mittel zur Verfolgung vorgegebener Zwecke, sondern eines, das seinen
Zweck erst selbst hervorbringen soll.«27 Nun verändert jeder Krieg den
politischen Zweck, in dessen Verfolgung er unternommen wird, und
zwar bloß deshalb,weil dieser mit dem Mittel des Krieges verfolgt wird.
Genaugenommen gilt das in Zweck-Mittel-Relationen stets, weil sich
das Gefüge der Handlungsoptionen, aus denen heraus diese oder
jene politische Entscheidung getroffen wird, ist die Entscheidung ein
mal getroffen, ändert. Jede Handlung formt das voraufgegangene
Geschehen teleologisch um. Was vorher Gegenstand der freien Ent
scheidung war, ist nachträglich ein Objekt der Erklärung, warum es so
kommen mußte. Im Falledes Krieges gilt diesin besonders dramatischer
Weise.
Diese teleologische Deformation hat im Falle des Thukydides zur
Begründung der Geschichtsschreibung alsWissenschaft geführt- in sei
ner Unterscheidung von Kriegsanlaß und Kriegsursache nämlich.
Während der konservative Aristophanes in den »Acharnern« die Zufäl
ligkeit und Nichtigkeit der Kriegsanlässe für seine politische Polemik
gegen die demokratische Kriegspolitik anführt, nimmt der Historiker
und Bewunderer des Perikles,Thukydides, gerade die Nichtigkeit zum
Anlaß, nacheinertieferen Ursache zu forschen.28 Der eigentliche, wahre
Grund - alethestäte pröphasis - des Krieges sei die gewachsene Macht
Athens gewesen, die die Rivalitätdes Peloponnesund eineSpannung, die
zwangsläufig zur Entladungkommen mußte, hervorgebracht habe.Uns
ist die Unterscheidung zwischen bloßem Anlaß und eigentlicher Ursa
che so geläufig, daß wir gerne übersehen, daß in ihr auch eine Gefahr
steckt: »Man hat die Unterscheidung zwischen Anlaß und Ursache des
Krieges immer bewundert und als eine der großen Erkenntnisse histo
rischer Wissenschaft gefeiert. Mit Recht. Doch bedarf sie im Einzelnen
der Interpretation, damit nicht der Eindruck entsteht, damals habe es
keine Freiheit des politischen Handelns gegeben, sondern der Weg zum
Krieg sei zwangsläufig gewesen.«29 Thukydides, so Christian Meier,
habe nicht nur den Perikleischen Kriegsplan »in auffälliger Weise«
verteidigt, sondern »er entlastet« - in deutlichem Kontrast zu Aristo
phanes - »Athens ersten Mann auch von der Schuld am Kriege. Denn

387
wenn es zwangsläufig dazu kommen mußte, ging esin der Tatnurmehr
darum, wann und wie er beginnen sollte.«30
Thukydides läßt athenische Gesandte die Politik der Stadt so recht
fertigen: »Unddann zwang uns dieNatur der Dinge selbst, unsere Herr
schaftin der jetzigenForm auszubauen, hauptsächlich Furcht. [...] Spä
ter hätten wir uns nicht mehr sicher gefühlt, nachdem wir bei den
meisten verhaßt waren, schon einige Abtrünnige unterworfen hatten,
auch ihr uns nicht mehr die gleiche Freundschaft zeigtet, sondern Arg
wohn und Entzweiung. [...] das aber ist keinem zu verargen, daß er für
die äußerste Gefahr alles nach seinem Vorteil einrichtet.«31 Man sieht,
wie sehr die Unterscheidung zwischen Anlaß und Ursache zu der Apo
logie der athenischen Diplomaten paßt - wir sehen aber auch, daß
Thukydides sehr wohl verzeichnet, daß es nicht nur die athenische
Machtstellung ist, sondern die ersten Kriegshandlungen selbstsind, die
die Kriegspolitik bestimmen. Sukzessive tritt im Verlaufe des Krieges an
die Stelle des Kults der Machbarkeit das Reden über die Unfreiheit und
die Natur des Menschen, gegen die der Mensch machtlos sei.32 Die
athenischen Diplomaten rechtfertigen den Machtanspruch Athens
damit, daß er in der menschlichen Natur liege- über ihn läßt sich nicht
diskutieren. Da der Gegner dasselbe vorbringen kann, ist - auch dieses
menschliche Natur - ein Krieg also unvermeidlich. Und zwar ein abso
luter Kriegim Sinnevon Clausewitz: »Der Tod zeigte sich da in jederlei
Gestalt, wie es in solchen Lauften zu gehen pflegt, nichts, was es nicht
gegeben hätte und noch darüber hinaus.«33
Clausewitz' Festhalten an der philosophischen Figur eines absoluten
Krieges alsdemwahren gegenüber dem bloß wirklichen, der ein Instru
ment der Politik sei, wirkt wie die im akademischen Räsonnement ver
kapselte Einsicht, daß die Gefahr der Umkehrung der Instrumentalisie
rung niemals zu bannenist.- Aber wir wollennicht den Anschein geben,
als wollten wir eine Mystifikation durch eine andere bekämpfen. Nicht
»der« Kriegeskaliert unausweichlich bis zur Vernichtung, aber dort, wo
die Idee der Vernichtung einmaldie Politik und die Köpfe beherrscht,ist
esschwierig, sozusagen unterhalb ihrer Standards zu operieren. Sie kann
dann zu einem kulturellen Muster werden, wie es die sogenannten
»ritualisierten« Kriege sind.
Die Aufgabe, vor die sich Generalstabschef von Schlieffen, dessen
Vorwort die fünf zwischen 1905 und 1915 erschienenen Auflagen der
gesammelten Werke Clausewitz' eingeleitet hat, von Amts und Berufs
wegen gestellt sah, war, für den Fall des Scheiterns der Bismarckschen
Bündnispolitik ein Kriegsszenario zu entwerfen, und zwar vor allemfür

388
den schlimmsten Fall eines Zweifrontenkriegs gegen Frankreich und
Rußland. Das ist soweit ein politischer Auftrag. Schlieffens Lösung des
Problems war, den Plan eines Angriffskrieges gegen Frankreich und
Rußland zu entwerfen, demzufolge zunächst Frankreich niedergewor
fen werden sollte, um dann alle Kräfte gegen Rußland richten zu kön
nen. Um den zweiten Teil des Planes möglich werden zu lassen, mußte
der erste auf eine sehr eindeutige Weise wirklich werden: das »Nieder
werfen« Frankreichs mußte eine Vernichtung des französischen Heeres
sein. Frankreich mußte mit einem Schlag vollständig wehrlos gemacht
werden. Schlieffen plante den Krieg gegen Frankreich als eine einzige
Entscheidungs-und Vernichtungsschlacht und konnte sichdabei durch
aus auf Clausewitz berufen: »Worauf es [bei der Niederwerfung des
Feindes] auchim einzelnenankommenmag,so ist doch der Anfangdazu
überall derselbe, nämlich: die Vernichtung der feindlichen Streitkraft,
d.h. ein großer Sieg über dieselbe und ihre Zertrümmerung.«34 Für
Schlieffen aber gerann der gesamte Clausewitz in diesemGedanken.
Das historische Vorbild, an dem sich Schlieffen orientierte, war Han-
nibals Sieg beiCannae. Er wollteden gesamten Frankreichfeldzug alsein
einziges gigantisches Cannae inszenieren und die gesamte französische
Streitmachtin einer Zangenbewegung umfassen, einschließen und »zer
trümmern«. Der Schlieffen-Plan interessiert uns hier nicht wegen seiner
Hypertrophie und erweislichen Undurchführbarkeit,35 auch nicht
wegenseinerpolitisch-militärischen »Nebenfolgen« - da aus geographi
schen Gründen die eineHälfte der »Zange« durch Belgien gelegt werden
und damit die belgische Neutralität verletzt werden mußte,wurde auto
matisch Großbritannien, die Garantiemacht dieser Neutralität, als drit
ter Kriegsgegner hineingezogen36 -, sondern wegen der Verkehrung des
Instrumentalverhältnisses von Politik und Krieg. Auftragslage war, für
einen politischen Eventualfall militärische Maßnahmen vorzusehen -
durchaus nicht per se offensive. Das Ergebnis war ein Offensivplan, der
möglichst ins Werk gesetzt werden mußte, bevor die Gegenseite ihrer
seits Offensivmaßnahmen einleitete - kurz: ein Überfall. Damit der
gelingen konnte, ergab sichausdemmilitärischen Planfür diePolitik der
»Auftrag«, den geeigneten Zeitpunkt zum Angriffzu finden, mithin eine
die Offensive legitimierende politische Situation herbeizuführen.37
Diese Umkehrung des Verhältnisses von Politik und Krieg folgt aus
einemDenken unter dem »Dogmader Vernichtungsschlacht«, wieJehu-
da Wallach seine große Studie über Clausewitz und Schlieffen genannt
hat. Von diesem Denken hat sich die deutsche Generalität im Ersten
Weltkrieg, auch als sich Schlieffens Kriegsplan als Illusion herausstellte,38
389
nicht befreit - es mündete in die faktische Militärdiktatur unter Luden
dorff und Hindenburg in den Jahren 1917/18.
Die in der abendländischen Kultur endemische Idee der Vernich
tungsschlacht wurde im Sandkasten Schlieffens (er starb im Jahre 1913)
zur Idee des Vernichtungskrieges, indem er Krieg und Schlacht in die
Vorstellung eines einzigen großen Umfassungs- und Einschließungs
manövers mit anschließendem Gemetzel zusammenzog. Als sich die
deutsche Generalität mit dem Scheitern dieses Planes und dem sich
anschließenden Stellungskrieg konfrontiert sah, gab es keine Rückkehr
zu konventionelleren Formen der Kriegsplanung und -führung, auch
keinen ernsthaften Versuch der Politik mehr, sich des Krieges zu be
mächtigen. Am 21. Dezember 1915 trug General Falkenhayn Wil
helm IL eine neue strategische Idee vor. Siebestand nicht etwa darin, zu
versuchen, den Stellungskrieg in einen neuen Bewegungskrieg umzu
wandeln, sondern in dem Versuch, die Realität des Stellungskrieges mit
der Idee der Vernichtungsschlacht zu verbinden. Das Resultat war eine
erweiterte Idee der Vernichtung. War im Schlieffen-Plan nur das gegne
rische Heer das Objekt der »Zertrümmerung«, das heißt partiellen Ver
nichtung und gänzlichen Entwaffnung, gewesen, so war das Objekt der
Falkenhaynschen Vernichtungsphantasien einTeilder französischen Be
völkerung, eine ganze Generation waffenfähiger Männer. Der Ort, den
Falkenhayn für die monatelange sukzessive Menschenvernichtung aus
ersehen hatte, war Verdun.
Verdun, so Falkenhayns richtiges Kalkül,werde von Frankreich nicht
aufgegeben werden können. Der Angriff auf Verdun sollte zu keinem
Geländegewinn führen, er sollte keine klassische Entscheidungsschlacht
einleiten, er sollte nicht einmal in traditionellem Sinne erfolgreich sein.
Weil diese Progression der Idee des Vernichtungskrieges dem aus
führenden Offiziersstab unbekannt war, wurde er über das Ziel der
Schlacht im unklaren gelassen. »Am 26. Mai 1916, d.h. 3 Monate nach
Beginn der Schlacht um Verdun, hat Falkenhayn [...] bei einer Bespre
chung der Stabschefs der Armeen bei Meziere gesagt, >...die Oberste
Heeresleitung hat nie die Absicht gehabt, Verdun zu nehmen<.«39 »Sel
ten ist es in der Kriegsgeschichte vorgekommen, daß der Befehlshaber
einer großen Armee so zynisch betrogen wurde [...]. «4°
Der Idee, die französischenTruppen um einen Ort kämpfenzu lassen,
den sie aus Gründen der nationalen Moral mit allen Mitteln halten muß
ten, aber gegen eine Armee, die zurückschlagen zu können sie zu
schwachwaren, lag,nachWallachs Formulierung, ein »grausiger Gedan
ke« zugrunde: »[...] wenn die Franzosen die Herausforderung anneh-

390
men würden, >werden sich die französischen Streitkräfte ausbluten<. Das
warin derKriegsgeschichte einvölligneuer Gedanke. Bisher hatten sich
die Feldherren darum bemüht, durch einen Siegin der Schlacht oder in
einer Reihe von Schlachten den Feind zu schlagen. [...] Falkenhayn ist
von dieser Methode der Kriegführung abgewichen. Seine Theorie vom
>Ausbluten< gründete sich auf die Annahme, daß der Angreifer dem
Gegner in einem lange dauernden Ringen immer mehr Verluste bei
bringen würde, als er selbst in der gleichen Zeit hinzunehmen hat.
Es ist nicht sein Ziel gewesen, zu beweglichen Operationen oder zu
einem Durchbruch im konventionellen Sinne zu kommen, sondern
er wollte eine gigantische >Saugpumpe< konstruieren, um den Franzo
sen das Blut abzusaugen. Später pflegte Falkenhayn das Schlachtfeld
von Verdun die >Maasmühle< zu nennen.«41 Die Metaphern sprechen für
sich.
Bekanntlich ging Falkenhayns Rechnung - die Wallach zu Recht
»satanisch« nennt,42 obwohl sie doch andererseits auch wieder nur eine
Anpassung und damit Ausweitung der Vernichtungsphantasien Schlief
fens auf das reale Kriegsgeschehen war - nicht auf. Falkenhayn erwarte
te eine Verlustrate von 5:2 zu Lasten Frankreichs - die Zahl der Toten
betrug auffranzösischer Seite 362 000, auf deutscher336 ooo.43 Und über
die Zahl der Toten hinaus gilt: »die beiden feindlichen Armeen waren,
nachdem sie einmaldurch die >Maasmühle< gegangen waren, nie wieder
dieselben«.44 - »Der Krieg«, hat Kant einmal geschrieben, »ist darin
schlimm, daß er mehr böse Leute macht, als er deren wegnimmt«,45 und
da er hierin recht hat, finden wir Erinnerungen an Verdun,die so lauten:

»Durch Monate schon tobt


der Kampf im Halbkreis um Verdun.
Die ganzeFront entlang rast wildesTrommelfeuer,
oder besser,
heult es gleichwie ein überirdischer Orkan,
in dem der Einzelschlag kaum mehr zu hören.«

Soweit Rudolf Heß 192446, ein Gedichtanfang, der hier wegen seiner
vierten Zeile erinnert werden soll. In Prosa geht das so: »Es muß doch
etwas Ungeheures, Gewaltiges ums Sterben sein. Mag sein, daß ich vor
dieserErinnerung noch leisezittere, vielleicht auchvor dem Gefühl eines
inneren Glückes. Mir ist so, als sei heute meinem jungen, heißen Leben
eineDornenkrone aufgedrücktworden.«47 Das Buch,ausdem die Worte
sind, heißt »Der Glaube an Deutschland. Ein Kriegserleben von Verdun

39i
bis zum Umsturz« und erschien 1931 mit einem Vorwort von Adolf Hit
ler. Der Verfasser, Heinz Zöberlin, befehligte 1945 als Führer einer Wer-
wolf-Einheit ein Erschießungskommando.
Seit Verdun war nicht mehr die gegnerische Armee, sondern die geg
nerische Gesellschaft der Feind. Hierzu gehört die Erklärung des unein
geschränkten U-Boot-Kriegs sowie der Versuch, Rußland durch die
Unterstützung der Bolschewiki zu destabilisieren. Hierzu gehören aber
vor allemauch die innenpolitischen Konsequenzen,die die Veränderung
der militärischenFührung ab August 1916mit sich bringt. Unter Luden
dorff und Hindenburg transformiert sich Deutschland faktisch in eine
Militärdiktatur. Die Politik tritt nicht nur tatsächlich, sondern auch
offenund bewußt in den ausschließlichen Dienst der Kriegführung. Der
Kriegwird zunehmenddas,was Ludendorff »total« nennen sollte. »Das
Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst«, schreibt die »Frankfurter
Zeitung« am 2.Dezember 1916, »das wie kein zweitesin die wirtschaft
lichen, sozialen und persönlichen Verhältnisse aller Schichtendes arbei
tenden Volkes eingreift und der militärischen Mobilmachung vom
August 1914 die noch imponierendere Mobilmachung eines ganzen
Volkes folgen läßt, ist heute vom Reichstag mit 235 gegen 19 Stimmen
angenommen worden. Durch diese Abstimmung beteuert das deutsche
Volk durch den Mund seiner Vertreter den Siegeswillen, mit dem es in
den ihm aufgezwungenen Krieg gezogen wurde, und die feste Ent
schlossenheit, diesen Siegeswillen in die Tat umzusetzen und den Krieg
zu einemschnellenund glücklichen Ende zu führen. Es kann seinenEin
druck nicht verfehlen, daß gerade die Gewerkschaften es waren, die
heute diesen hohen Zweck des Gesetzes in den Vordergrund und als
maßgebend für seine Bewilligung hinstellen. Das Gesetz ist eine natio
nale Tat, die ihre schönste Blüte freilich erst zeigen kann, wenn seine
Ausführung allen Beteiligten die gemeinsame Arbeit zur Lust macht.«48
Ludendorff kommentiert die dem Gesetz zugrundeliegende Idee (das
Gesetzselbergingihm nicht weit genug) wie folgt: »Der Krieglegteuns
die Pflicht auf, auch die letzten menschlichen Kräfte aufzubringen und
verfügbar zu machen. Ob das für den Kampf oder für die Verwendung
hinter der Front, ob für die Kriegswirtschaft oder sonstigen Dienst im
Heimatheere und im Staate geschah, war gleich. [...] Schon im Septem
ber 1916gelangten die ersten Anträge der Obersten Heeresleitung zum
selbstlosen Aufbringen der menschlichen Kräfte an den Reichskanzler.
Siegingdabeiimmer bestimmtervon der Ansicht aus,daß die Kraft jedes
einzelnen im Kriege dem Staate gehöre, daß daher jeder Deutsche vom
15. bis 60. Lebensjahr dienstpflichtig wäre, und daß diese Dienstpflicht,

392
wenn auch mit Einschränkungen, auf die Frau auszudehnen sei. Einer
solchen Dienstpflicht konnte durch Wehrpflicht im Heere oder durch
Arbeitspflicht- in weitestemSinne- in der Heimat entsprochen werden.
[...] Die Einführung der Arbeitspflicht für den Krieg als Dienstpflicht
hatte die große sittliche Bedeutung, jeden Deutschen in dieser ernsten
Zeit in den Dienst des Vaterlandes zu stellen, wie es der uralten germa
nischen Rechtsauffassung entsprach.«49 Das Verhältnis der Obersten
Heeresleitung zur Regierung sah er so: »Der Ausgleich im Großen
[erfolgte] zwischen Heer, Marine und Heimat durch die Oberste Hee
resleitungim Benehmenmit den beteiligtenheimatlichenBehörden. Nur
die Oberste Heeresleitung konnte dies annähernd übersehen; auch der
preußische Kriegsminister hatte nicht genügenden und nur einseitigen
Einblick in die am Feinde stehende Wehrmachtund die Kriegsnotwen
digkeiten.«50 Da sichdie »Kriegsnotwendigkeiten« auf die Dienstpflicht
der gesamten Bevölkerungbezogen, bedeuten dieseSätzeden faktischen
Regierungsantrittder Obersten Heeresleitung.
Mit der Mobilisierung der Gesamtbevölkerung für den Krieg - »je
mehr das Heer verlangte, desto mehr mußte aber auch die Heimat her
geben«51 -, mit der durch Ludendorff zunächst durchaus erfolgreich
durchgeführten technokratischen Umformung der Volkswirtschaft in
einetotale Kriegswirtschaft gingdie Ideologievom »Ringender Völker«
einher. Es finden sich erste Ansätze zur weltanschaulichen Gleichschal
tung. Nicht nur die Politik, nicht nur die Wirtschaft, sondern die gesam
te Bevölkerung diente der Fortsetzung des Krieges mit allen Mitteln,
ebenso wie die gegnerische Bevölkerungals solche den Feind darstellte.
Michael Geyer schreibt über die Oberste Heeresleitung: »Einerseits
variierte und erweiterte sie das Verständnis davon, was den entschei-
dungsorientierten Gebrauch von Gewalt ausmachte, indem sie indirek
te Mittel der Kriegführung gegen das moralische und soziale Gefügeder
Alliierten einführte. Andererseits löste sie den instrumentellen Zusam
menhang zwischen Mittel und Ziel auf, von dem die >idealistische< Stra
tegie geleitet war, und die utilitaristische Einstellung der begrenzten
Kriegführungim 19. Jahrhundert. Die neue >Strategie< weitete den Krieg
über die Grenzen der militärischen Institutionen aus und lieferte den
Grund für die nationale Mobilisierung. Die Strategieverlor ihren instru
mentellen Charakter und wurde Erklärung wie Legitimation für den
totalen Krieg. Die Oberste Heeresleitung ging soweit, Machtpolitik in
den Termini rassischer oder völkischer Widersprüche zu reinterpre
tieren. Der Krieg wurde in der Tat total, sobald er als ideologische und
kulturelle Kollision (Kulturkrieg) verstanden wurde, zwischen mobili-

393
sierten Nationen, deren Ziel das national-rassische Überleben durch die
Unterwerfung der jeweils anderenNationen war.«52
Der »Durchbruch im Westen«, den Ludendorff und Hindenburg, sich
von Falkenhayns Strategie des langsamen Ausblutens abwendend und
der Wucht brachialer Angriffevertrauend - »Das Wort >Operation< ver
bitte ich mir. Wir hauen ein Loch hinein. Das Weitere findet sich«53 -,
erhofften, mißlang. »Am 5. April 1918 [...] schrieb Rupprecht54: >Es fällt
auf, daß in sämtlichen Weisungen der Obersten Heeresleitung eine
eigentliche Absicht nie zu erkennen ist, sondern immernur von zu errei
chenden Geländeabschnitten die Rede ist, und es macht mir den Ein
druck, wie wenn die Oberste Heeresleitung sozusagen von der Hand in
den Mund lebt [...].< Außerdem bemängelteRupprecht, es seien immer
wieder neue Offensiven in neue Richtungen befohlen worden, ohne daß
man sich die für die Vorbereitungnotwendige Zeit nahm. Ungerechtfer
tigte Eile angesichts einer immer noch organisierten gegnerischen Front
kennzeichnete alle nacheinander unternommenen Schritte. Trotz zuneh
menden Munitionsmangels und ungenügender Umgruppierung von
Artillerie und Angriffstruppen wurden die neuen Angriffe wie rasend
vorwärtsgetrieben. >Man gewinnt den Eindruck, irgend jemand im
Großen Hauptquartier sei wahnsinnig gewordene«55 Man kann diesen
Zusammenbruch strategischen Denkens, der nur dort nicht wahrge
nommen wird, wo trotzdem Erfolge erzieltwerden,56 mit allerVorsicht,
aber doch, auch mit dem Totalwerden des Krieges in Verbindung brin
gen. Waren schon bei Schlieffen Kriegszweck und Kriegsziel, die nach
Clausewitz deutlich zu unterscheiden sind und als unterschiedene
zusammenden Kriegsplan ergeben, eins geworden, weshalbWallach zu
Recht schreibt, so seltsames auch scheinenmöge, »Deutschlandist 1914
in den Krieg eingetreten, ohne einen umfassenden Kriegsplan zu besit
zen«,57 so ist bei einer Kriegsauffassung, derzufolge nicht mehr Heere,
sondern Völker aufeinanderschlagen, der Krieg erst beendet, wenn das
feindliche Volk als Volk vernichtet oder doch zumindest wehrlos ist.
Damit ist die Vorstellung eines Krieges in Permanenz verbunden, der
den Kampf an sich in den Vordergrund des Denkens stellt. Wenn die
Schlachtselbst schon das Eigentliche ist, verlieren strategische Konzep
te, die die Schlacht als einem Kriegsplan untergeordnetes Mittel (zu dem
gehört, daß man es anwenden oder nicht anwenden kann) sehen, an
Bedeutung.
So wurde in dieser letzten Kriegsphase - tendenziell - der Kampf an
sich, das Töten Selbstzweck. Dennoch konnte nicht verborgen bleiben,
daß der Krieg verlorenging- und nicht zuletzt aufgrund seines »Total-

394
werdens«. »Wie war es möglich, daß, je mehr die Nation in die Kriegs
anstrengungen investierte, sieum so wenigererreichte? Die dritte Ober
ste Heeresleitung fand eine Antwort in Schuldzuweisungen an die
Arbeiter, die Bourgeoisie, an Frauen, Intellektuelle, Universitäten,
Homosexuelle und dieJugend, und zunehmend transformierte sie ihren
eigenen Mangel an Verständnis dessen, was vorging, in wütende
Attackengegen eine >jüdische Verschwörung<, diedie Lebensgrundlagen
der deutschen Armee unterminierte. Radikale Nationalisten verloren in
dem Maße das Interesse an sogar ehrgeizigsten territorialen Zielen, wie
der Krieg für sie ein Kampf um die Befreiung der deutschen Rasse vom
Bösen wurde. Deutschland steuerte in den apokalyptischen Krieg.«58
Ein Teil dieses Krieges wurde nach der Kapitulation von 1918 in Ruß
land weitergekämpft. Marodierende deutsche Truppen, abgeschnitten
von Befehlslinien, kämpften bis ins Jahr 1919 als bewaffnete Banden
einen antibolschewistisch und rassistisch motivierten Kleinkrieg. »In
denJahren 1919/20 trugensieihre militante Ideologie und ihre völkische
Kriegspraxis zurück nach Deutschland.«59 »Zwischen 1941 und 1943
wurde die apokalyptische Kriegsvision zur strategischen Realität im
Osten«,60 und manwird sagen können,daß dort, in den Schlachten, Mas
sakern,Massenmorden des »Rußlandfeldzuges«, Clausewitz'wirklicher
und absoluter Krieg eins geworden waren.
Die Idee des »totalen Krieges« ist eine Radikalisierung der Idee des
Vernichtungskrieges. Sie ist einErgebnis des ErstenWeltkrieges und kei
neswegs auf Deutschland beschränkt.61 Man kann sie als naheliegende
Konsequenz der Rückwirkung avancierter Kriegstechnologie auf die
Volkswirtschaften kriegerischer Nationen ansehen, und falsch ist das
nicht. Doch auch gilt, daß die Kriegstechnologie nie diesen Entwick
lungsschub erfahren hätte, wäre nicht eine nationale Bereitschaft dage
wesen, ihn zu finanzieren. Die Idee des Vernichtungskrieges muß, um
dieSelbstverständlichkeit zu erlangen, dieihr historischzuteil geworden
ist, die Macht gewinnen, die vergessen läßt, daß sie nicht in der Sache
liegt, sondernEigenschaft der Kultur ist, die bereitist, sichihr unterzu
ordnen. Hat sie diese Macht gewonnen, kann ihr die technische Ent
wicklung neue Entfaltungsmöglichkeiten geben. Erst die Entwicklung
von Kernwaffen erlaubte es, über die Vernichtung der gegnerischen
Bevölkerung alsPräventivmaßnahme strategische Gedankenspiele anzu
stellen.
Das Totalwerdendes Vernichtungsgedankens hat in Deutschland aber
eine Dimension gewonnen, die von der technisch-wirtschaftlichen
Dimensionsichvöllig ablöste. Deutschlandführte im ZweitenWeltkrieg

395
nicht nur einen Krieg Gesellschaft gegen Gesellschaft, sondern nach
eigenem Verständnis einen Rassenkrieg. Dieser Rassenkrieg, der in den
Vernichtungslagern und auf den Kriegsschauplätzen der Ostfront
geführt wurde, ruht nicht auf den Dogmen einer klassischen Ideologie,
sondern die ihn befördernden Glaubenssätze sind so etwas wie Gerin-
nungszuständezuvor erworbener diffuserRessentiments, zusammenge
halten von der Idee der Vernichtung, die zur zentralen Obsession wird.
Sierichtet sich nicht mehr gegenirgendeine gegnerischen, Bevölkerung,
sondern Feind ist, was in der gegnerischen, der eigenen, der Weltbevöl
kerungeinemHomogenitätsideal widerspricht, dessen Erreichungallein
endgültigen Sieg und Frieden garantieren kann.
Hier geht der NS-Staat über die Ludendorffsche Militärdiktatur hin
aus, denn die Vorstellung einer Heeresführung, die ein Volk in den
Dienst des Krieges stellt, ist in dem Augenblick obsolet, wo die totale
Mobilmachung die Gesellschaft wirklich totalisiert. Es ist dann wieder
die Politik, die bestimmend wird, aber dennoch wird der Krieg nicht
wieder zum Instrument, denn Politik und Kriegwerden eins. Der Krieg
- der totale Vernichtungskrieg - ist die unmittelbare Umsetzung der
nationalistischen und rassistischen Politik. »DerNS-Kriegwar ein Krieg
um soziale Rekonstruktion mittels Destruktion der unterworfenen
Gesellschaften.« Die Vernichtung ist nicht mehr einMittel,den Kriegzu
gewinnen, sondern der Krieg bestehtin der Vernichtung ganzer Bevöl
kerungen,mindestens ihrer Unterjochung und Versklavung. Die Luden
dorffsche Dienstpflicht setzt sich nicht nur im nationalsozialistischen
Arbeitsdienst, sondern auchin der Vernichtung von KZ-Häftlingen und
Kriegsgefangenen durch Arbeit fort. »Völlig willkürliche Herrschaft
über unterworfene Völkersolltedazu dienen, soziales Leben und Orga
nisation der Deutschen aufrechtzuerhalten und zu gewährleisten. Ein
terroristischer Rassismus wurde zur Essenz nationalsozialistischer Poli
tik, während ihre Führer dem Kriegentgegenstrebten.«62
Das oft angeführte Beispiel der für »rationale« militärische Zwecke
benötigtenTransportkapazität,die für die »irrationalen« Massenverbre
chen in den Vernichtungslagern zur Verfügung gestellt wurde, verliert
unter dieser Betrachtung zwar weder das sich in ihm manifestierende
Grauen noch gewinnt er irgendeine Logik, die normalen Verhältnissen
angepaßt werden könnte. Allerdings fügt es sich in die Logik der bis in
ihreletzten Konsequenzen vorangetriebenen IdeedesVernichtungskrie
ges. »Im Volke liegt der Schwerpunkt im totalen Krieg«, beschwört
Ludendorff 1937 in seiner Schrift »Der totale Krieg« diese Idee: »Der
Beachtung tiefer rassischer und seelischer Gesetze wird es gelingen,

396
Volk, Kriegsführung und Politik zu der gewaltigen Einheit zu ver
schweißen, die die Grundlage seiner Lebenserhaltung ist.«63 Diese
»gewaltige Einheit«von Volk, Kriegund Politik ist der Triumph der Idee
des Vernichtungskrieges - er wird nach innen und nach außen geführt.
Er ist total, er schafftsich im Vollzugseine Feinde, er hat sein Ziel in sich
selbst, und er ist auch total in zeitlicher Hinsicht: er endet nicht, wenn
seinen Exekutoren nicht ein Ende gesetzt wird.
1930 beschwor auch Ernst Jünger in seinem düster-schwärmerischen
Aufsatz »Die totale Mobilmachung« die Transformation des Luden-
dorffschen totalen Krieges in den Hitlerschen totalen Vernichtungs
krieg: »Tief stieg der Deutsche Mensch unter der vielfach schillernden
Oberfläche der Auseinandersetzungen[...] in die Zone des Chaos hinab.
MagseinKampfvon dieser Oberflächeder Barbusses und Rathenausaus
als zwecklos, als >sinnlos< erscheinen, - was kümmert das uns} In den
Tiefen des Kraters besitzt der Krieg einen Sinn, den keine Rechenkunst
zu zwingen vermag. Diesen erahnte der Jubel der Freiwilligen, in dem
die Stimmedes deutschen Dämons gewaltigzum Ausbruch kam, und in
der sich der Überdruß an den alten Werten mit der unbewußten Sehn
sucht nach einem neuen Leben verband [...], so kann auch das Ergebnis
dieses Krieges für die wirklichen Krieger kein anderes als der Gewinn
des tieferen Deutschland sein. Das dem so ist, bestätigt die Unruhe, die
das Kennzeichen des neuen Geschlechtes ist, und die keine Idee dieser
Weltund kein Bild der Vergangenheit befriedigen kann. Hier waltet eine
fruchtbare Anarchie, die den Elementen der Erde und des Feuers ent
sprungen ist, und in der sich der Keim einer neuen Herrschaft verbirgt.
Hier deutet sich eineneue Rüstung an, die ihre Waffenaus reineren, här
teren, an jedemWiderstand erprobten Erzen zu schmiedensich bestrebt.
Der Deutsche hat den Krieg geführt mit dem für ihn allzu billigenEhr
geiz,ein guter Europäer zu sein.Da aber so Europa gegen Europa Krieg
führte, - wer anders als Europa konnte Sieger sein? Dennoch ist dieses
Europa, dessen Oberfläche nunmehr planetarische Ausdehnung ge
wann, sehr dünn geworden, sehr Politur, seinem räumlichen Gewinn
entsprichteinVerlust an Glaubwürdigkeit. Beiuns heißt,an seinenWer
ten noch teilnehmen, ein Reaktionär, ein Mensch von gestern, ein
Mensch des 19. Jahrhunderts sein. Denn tief unter den Gebieten, in
denen die Dialektik der Kriegsziele von Bedeutung ist, begegnete der
deutsche Mensch einer stärkeren Macht: er begegnete sich selbst.Sowar
dieser Krieg ihm zugleich und vor allem das Mittel, sich selbst zu ver
wirklichen. Und daher muß die neue Rüstung, in der wir bereits seit lan
gembegriffensind, eineMobilmachungdes Deutschen sein,- und nichts

397
außerdem.«64 Sigmund Freud hat in einem Brief an Arnold Zweig,
geschrieben am 23. September 1935, denselben Gedanken etwas kürzer
gefaßt: »Es istwieeinelangersehnte Befreiung. EndlichdieWahrheit, die
grimmige, endgültige Wahrheit, die man doch nicht entbehren kann.
Man versteht das Deutschland von heute nicht, wenn man um >Verdun<
(und wofür es steht) nichts weiß. [...] Heute sagt man sich, hätte ich aus
den Erfahrungenvor Verdundie richtigenSchlüsse gezogen, so hätte ich
wissen müssen, daß man unter dem Volk nicht leben kann. Wir dachten
alle, es sei der Krieg und nicht die Menschen, aber die anderen Völker
haben auch Krieg gehabt und sich doch anders benommen. Wir wollten
es damals nicht glauben, aber es ist wahr gewesen, was die anderen von
den Boches erzählt haben.«

Anmerkungen

1 John Keegan, A. History of Warfare, London 1993, S. 132 u. 114.


2 Ebenda, S. 12.
3 Die gängigen Erklärungen - überlegene spanische Bewaffnung, Kavallerie,
Aberglauben der Azteken, verheerende Krankheiten- erklärenTeilaspekte des
Geschehens, nicht aber es selbst.Vgl.hierzu:Jan Philipp Reemtsma, Cortez et.
al., in: ders., u. a. Falun. Reden und Aufsätze, Berlin 1992.
4 Vgl. Richard Lee Marks, Der Tod der gefiederten Schlange, München 1993,
S. 341.
5 Ebenda, S. 328.
6 Wir wollen hier nicht untersuchen, warum die Azteken eine andere Art der
Kriegführung hatten, sondern nur auf die äußerst plausible, wiewohl natürlich
nicht unumstrittene These des US-amerikanischen Anthropologen Marvin
Harris verweisen, der im Kannibalismus der Azteken die Ursache ihrer Krieg
führung erblickt. Vgl. Marvin Harris, Wohlgeschmack und Widerwillen. Die
Rätsel der Nahrungstabus, Stuttgart 1990.
7 Vgl. John Keegan, Das Antlitz des Krieges, Frankfurt am Main 1991, S. i24ff.
(Die Anmerkungsei erlaubt,daß der pathetische deutscheTitel dem Buch ganz
unangemessen ist. Korrekt und passendwäre: Das Gesicht der Schlacht.)
8 General Ludendorff, Der totale Krieg,München 1937, S. 3.
9 Herfried Münkler, Instrumentelle und existentielle Auffassung des Kriegs bei
Carl von Clausewitz, in: ders., Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im
politischen Denken, Frankfurt am Main 1992.
10 Münkler, ebenda, S. 95.
11 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Berlin 1867,Bd. 3, S. 72.
12 Ebenda, S. 73.
13 Ebenda, S. 74.
14 Ebenda, S. 75.

398
15 Münkler, a. a. O., S.9y.
16 Clausewitz, a. a. O., S. 72.
17 Münkler, a. a. O., S. 103.
18 Zitiert nach Münkler, a. a. O., S. 106.
19 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen, Berlin 1992.
20 Ebenda, S. 47 f.
21 Christian Meier, Athen, München 1993,S. 470.
22 Ebenda, S. 529.
23 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, III, 82 (Übersetzung G.P. Lachmann)
München 1993.
24 Meier, a. a. O., S. 532.
25 Keegan, A History of Warfare,a. a. O., S. 3.
26 Ebenda, S. 27.
27 Münkler, a. a. O., S. 108.
28 Vgl. auch Herfried Münkler, Die Weisheit der Regierenden. Varianten der
Kriegsursachenanalyse, in: ders., a. a. O., S. 80ff.
29 Meier, a. a. O., S. 523.
30 Ebenda, S. 535.
31 Thukydides, I, 75.
32 Vgl. Meier, a. a. O., S. 536ff.
33 Thukydides, III, 81.
34 Clausewitz, a. a. O., Bd. 3, S. 136.
35 Vgl.Jehuda L. Wallach, Kriegstheorien. Ihre Entwicklung im 19.und 20.Jahr
hundert, Frankfurt am Main 1972.
36 Was ab einem bestimmten Punkt der deutsch-britischenSpannungenaufgrund
der Wilhelminischen Flottenpolitik erwünscht gewesen sein dürfte. Vgl. auch
Robert K. Massie, Die Schalen des Zorns. Großbritannien, Deutschland und das
Heraufziehen des Ersten Weltkrieges,Frankfurt am Main 1993, S. 768ff.
37 »Der Kriegsausbruch von 1914 ist das erschütterndsteBeispiel hilfloserAbhän
gigkeit der politischen Staatsleitung von den Planungen der Militärtechniker,
das die Geschichte kennt. Darin, daß sie sich in diese Abhängigkeit hineinzie
hen ließ, daß sie die Kriegsplanung ohne Vorbehalt als Sache des militärischen
Fachmannes betrachteten, liegt die historische Schuld der Nachfolger Bis-
marcks.« Gerhard Ritter, Der Schlieffen-Plan, zitiert nach Wallach, a. a. O.,
S. 59. - Wie sehr schon vor dem Schlieffen-Plan einige Köpfe (vor allemKron
prinz Wilhelm und Waldersee) von der Idee besessen waren, man könnte den
richtigen Zeitpunkt für einen Krieg (so ziemlichegal, gegenwen - heute Ruß
land, morgen Rußland und Frankreich, übermorgen England) verpassen, zeigt
John Röhl, Wilhelm IL Die Jugend des Kaisers,München 1993, S. 444ff.,452ff.,
742ff-
38 Neuere Forschungen deuten darauf hin, daß die Durchführbarkeit des Schlief-
fen-Plans bereits vor dem Versuch, ihn doch durchzuführen, in Zweifel stand,
und man mit einem langen Krieg rechnete. Die sich sofort stellende Frage,
warum dann doch etwa so marschiert wurde, wie Schlieffen es gewollt hatte, ist
leicht zu beantworten: Der deutsche Generalstab hatte gar keinen anderen
Kriegsplan. Vgl. Wallach, a. a. O., S. 62.

399
39 Wallach, a.a. O., S. 258.
40 Ebenda, S. 264.
41 Ebenda, S. 256 (HervorhebungenJ. P. R.).
42 Ebenda, S. 268.
43 Ebenda, S. 257.
44 Ebenda, S. 269.
45 Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 8,Berlin/Leipzig 1923, S. 365.
46 Rudolf Heß, Vor Verdun!, zitiert nach German Werth, 1916. Schlachtfeld Ver
dun. Europas Traum, Berlin 1994, S. 146.
47 Ebenda, S. 142.
48 Zitiert nach Ernst Johann (Hg.), Innenansicht eines Krieges. Bilder, Briefe,
Dokumente 1914-1918,Frankfurt am Main 1968,S. 2i9f.
49 Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914-1918, Berlin 1919, S. 258ff.
50 Ebenda.
51 Ebenda, S. 215.
52 Michael Geyer, GermanStrategyin the Ageof Machine Warfare,1914-1945, in:
Peter Paret (Hg.),Makers of Modern Strategy from Machiavelli to the Nuclear
Age, Oxford 1991, S. 546.
53 Zitiert nach Wallach, a. a. O., S. 279.
54 Kronprinz Rupprechtvon Bayern, Oberbefehlshaber der bayerischen Truppen
an der Westfront.
55 Wallach, a. a. O., S. 286.
56 Michael Geyer sieht interessanterweise in der Blitzkriegsstrategie der Wehr
macht unter Hitler eineFortsetzung der LudendorffschenPrimitivstrategie, die
auf nichts weiter vertraut als auf Wucht und Schnelligkeit.
57 Ebenda, S. 296.
58 Geyer,a. a.O., S. 551 - Hier ist aufeineseltsame Koinzidenz hinzuweisen. Zwei
Jahre vor dem Kallias-Frieden (449 v. u. Z.), der den Peloponnesischen Krieg
kurz unterbrach, änderte Perikles die Bürgerrechtsbestimmungen Athens. War
zuvor Bürger gewesen, wessen Vater Athener war, so mußte nunmehr ein
athenischer Bürger zwei athenische Eltern haben. Hierdurch wurde nicht nur
der Kreisder Bürger eingeschränkt, wie Christian Meiersagt,sondern der Cha
rakter des Bürgerrechts änderte sich.War es vorher etwas,dasin einemrechtli
chen Sinnevererbt wurde, wurde es zu einer erblichen Eigenschaft ganz ande
rer Art: der »Blutsbindung«. »Die Erklärung kann nur sein, daß die Athener
befürchteten, ihre Bürgerschaft büße an Geschlossenheit [...] ein«, Meier,
a. a. O., S.400. Mehr noch:sieversuchten, dieseGeschlossenheit sozusagen bio
logischzu garantieren.Dadurch zeigt sich,daß die Kriseder Polis im Kriegeten
denziell zu einer Zerstörung der Politik führte. Der, wenn man so will, Proto-
Rassismus des Perikleischen Gesetzes ist wie eine Vorwegnahme des Versuchs,
eineVolksgemeinschaft zu bilden- und damit den Krieghärter und entschiede
ner vortragen zu können.
59 Geyer, a. a. O., S. 553.
60 Ebenda, S. 574 - und Geyer fügt ein wichtiges Notabene hinzu. »Der apoka
lyptische Krieg wurde von verschiedenen Organisationen geführt, die - mei-

400
stens - miteinander in Streit lagen. Historiker sollten sich von ihrem Konkur
rieren und Gezänk nicht irreführen lassen.« - Interessant ist auch Geyers Ana
lyse der Funktion der Rivalitäten in der militärischen Führung (S. 586ff.).
61 Vgl. etwaJohn FrederickCharles Füller,Der ersteder Völkerbundskriege. Seine
Zeichen und Lehren für Kommende, Berlin 1937.
62 Geyer, a. a. O., S. 566.
63 Ludendorff, a. a. O.
64 Ernst Jünger, Die totale Mobilmachung, in: ders. (Hg.), Kriegund Krieger, Ber
lin 1930, S. 29f.
Christian Schneider Denkmal Manstein
Psychogramm eines Befehlshabers

»Die Menschen glauben in ihrer Torheit,


daß sie mit ihrer sogenannten Vernunft
und Wissen allein die Geschicke der Welt
lenken. Ich glaube,daß in viel stärkerem
Maße das Unbewußte unser Handeln
bestimmt.«
(Erich von Manstein)

Manstein: ein Name wie eine Festung - fast duldet er in seiner doppel
ten Einsilbigkeit das Adelsprädikat nicht, das ihm zukommt. Der ihn
trug und berühmt machte, war ein schmächtigerMann, der Mühe hatte,
die Hürde der militärischen Musterung zu nehmen. »Bedingt tauglich«
konnte er gerade so eben seine Wunschkarriere beginnen. 1906 trat der
neunzehnjährige Erich von Manstein als Fähnrich in das dritte Gardere
gimentder Infanterie zu Berlinein und war damit das geworden,was für
ihn mehr alseinBeruf,wasAusdruck einerWeltanschauung war: Soldat.
Erich von Manstein war dies so sehr - und so brillant -, daß er in selte
ner Einstimmigkeitvon seinenBerufskollegen, auf deutscher Seiteeben
so wievon seinenmilitärischen Gegnernund neutralenExperten, Aner
kennungalsder fähigste deutsche Feldherrdes ZweitenWeltkriegs fand.
Prädestiniert für den Posten des Generalstabschefs, war er für dieses
Amt gleichermaßen von den Verschwörern des 20. Juli nach dem Staats
streich vorgesehenwie vom letzten Oberhaupt des Dritten Reiches, dem
GroßadmiralDönitz. Zu dieserBestallung ist esfreilich sowenig gekom
men wie unter Hitler, der den ganz im Geist der preußischen Tradition
stehenden Manstein nach heftigenKontroversen über die Kriegführung
an der Ostfront im Frühjahr 1944 kaltstellte - manche munkeln, auch
deshalb, weil Hitler in dem unbequemen, bei der Truppe ungemein
beliebten Feldmarschall nicht nur den militärischen, sondern auch einen
möglichenpolitischen Gegenspielergesehenhabe. Er war Zivilist,alsihn
der sterbende Feldmarschall von Bock mit seinen letzten Worten
aufforderte: »Manstein, retten Sie Deutschland.«1 Das war im Mai (!)
1945 - und selbst der »gefährlichste militärische Gegner der Alliierten«

402
(Liddell Hart), der »glänzendste Strategevon allen unseren Generalen«
(von Blumentritt) vermochte diesen Auftrag nicht mehr zu erfüllen;
dafür schon bald den näherliegenden, den deutschen Generalstabvor der
Nürnberger Anklage zu retten, als »verbrecherische Organisation« die
Welt mit Krieg und Zerstörung überzogen zu haben. Auch in dieser
Situationbewies Mansteinseinestrategischen Fähigkeitenund war,nach
dem Zeugnis der Angeklagten, »die Seele unserer Verteidigung«2 und
soldatisch-altruistisch dazu: Er selber war, wenn auch unter ähnlichen
Haftbedingungen wie seine Berufskollegen, lediglich als Zeuge an die
sem Nürnberger Prozeß beteiligt. Gleichgültig: Der »geistige Führer«3
dieser juristischen Abwehrschlacht zeigte sich, wie im Felde, »ideen
reich, immer kampfesmutig« und erfolgreich: »Der Freispruch des
Generalstabsim Oktober 1946[ist]weitgehend seinemklugen und uner
müdlichen Wirken zu verdanken.«4
Manstein:nach all diesen Zeugnissennicht nur ein Soldatund Preuße,
sondern ein Retter. Manstein selber hätte das zweifellos für ein analyti
sches, kein synthetischesUrteil gehalten. Allein es gibt, wie der Platoni-
ker weiß, nichts in der Welt, was rein dem Ideal entspräche. Und so ist
denn auch die Inkarnation des preußischen Soldatentums unter den
Generälen Hitlers in mindestens einem Punkt dem preußischen Verhal
tenskodex untreu geworden: »Ein preußischer General stirbt, aber er
hinterläßt keine Memoiren«, lautet das klassische Diktum Constantin
von Alvenslebens, mit dem er alle Versuche abwehrte, ihn zur Aufzeich
nung seiner militärischen und persönlichen Erinnerungen zu bewegen.
Erich von Manstein hingegen hat gleich zwei autobiographische Do
kumente hinterlassen: die Kriegserinnerungen »Verlorene Siege«,
erschienen 1955, und, drei Jahre darauf, »Aus einem Soldatenleben
1887-1939«.5 Gibt dieses gleichim Titel den »Berichtszeitraum« an (mit
der vom Autor kaum als Ironie empfundenen Festlegung,dieses »Solda
tenleben« habe mit der Geburt begonnen), so ist für die Kriegserinne
rungen nachzutragen, daß sie mit Mansteins Entlassung als Oberkom
mandierender der Heeresgruppe Süd des Rußlandfeldzuges im März
1944 enden. Zufall,daß beide nicht eben dünnen Bücher vor jener Situar
tion abbrechen, in der sich das Zusammengehen der Prädikate
»preußisch«, »Soldat«, »Retter« als Konflikt äußern sollte? Der 20. Juli
1944, der seltsam dilettantisch organisierte Staatsstreich gerade jener
preußischen Soldaten, die den von ihnen in Kriegsdingen als gefährli
chen Dilettanten eingeschätztenHitler beseitigenwollten, um damit die
Voraussetzung für einen Frieden zu schaffen, der die antizipierbare
militärische NiederlageDeutschlands abwendensollte, bleibt aufreizend

403
»außer Betracht«. Nein, es ist nicht so, daß der Versuch zum Staatsstreich
gänzlich unkommentiert bliebe. Aber die Szenen, die Mansteins bis
heute umstrittene Einbeziehung ins Geschehen dokumentieren, werden
von ihm nicht berichtet. Wohl aber von anderen, z. B. dem zu den Ver
schwörern zählenden General von Gersdorff, der in seinen Lebenserin
nerungen wörtlichen Bericht über die Mission gibt, in der er im Auftrag
des Feldmarschalls von Kluge Manstein das Angebot überbringt, nach
dem Staatsstreich die Funktion des obersten Strategen im Auftrag der
neuen Regierung zu übernehmen. Diese szenische Erinnerung sei voll
ständig wiedergegeben:

»Bevor ich zum Hauptquartier der Heeresgruppe Süd nach Saporo-


she abflog, sagte mir Kluge: >Teilen Sie dem Feldmarschall von Man
stein mit, ich bäte ihn, nach einem Staatsstreich die Stellung eines
Chefs des Generalstabes der Wehrmacht - also der vereinigten Gene
ralstäbe von Heer, Luftwaffe und Marine - zu übernehmen^ Er fügte
ausdrücklich hinzu, daß er, Kluge, bereit sei, sich in diesem Fall dem
jüngeren Manstein zu unterstellen. Tresckow gab mir Briefe von
Goerdeler und Popitz mit auf den Weg, in denen beide die Generalität
zum Handeln beschworen.Tresckowwies mich jedoch an, dieseBrie
fe Manstein nur dann zu zeigen, wenn ich sicher sei, daß dieser davon
keinen Gebrauch machen würde. Auch befahl mir Tresckow, in
Gegenwart des Chefs des Generalstabes der Heeresgruppe Süd,
General Busse, kein Wort zu sagen.
Nach meinem Eintreffen in Saporoshe sprach ich zunächst mit Schul-
ze-Büttger und einem weiteren Vertrauten Tresckows, dem Ordon
nanzoffizier Mansteins, Oberleutnant Alexander Stahlberg. Beide
machten mir wenig Hoffnung, den Feldmarschall in unserem Sinne
beeinflussen zu können. Siesorgten dann für ein Gespräch mit Man
stein unter vier Augen. Sein Beginn und seine wichtigsten Phasen
spieltensich wie folgt ab:
Manstein: >Sie kommen von der Heeresgruppe Mitte. Da werde ich
meinen Chef dazubitten.<
Ich: >In Gegenwart des Generals Busse werde ich Herrn Feldmar
schall nur einen Vortrag über die militärische Lage bei der Heeres
gruppe Mitte halten können. Zu meinem eigentlichen Auftrag könn
te ich dann aber kein Wort sagen.<
Manstein sah mich etwas verdutzt an und sagte dann: >Na, dann
schießen Sie mal los.<
Ich begann mit einem Gebiet, von dem ich erwarten konnte, bei Man-

404
stein offene Türen einzurennen, nämlich mit der Spitzengliederung
der militärischen Führung, über die bei allen Stäben damals viel dis
kutiert wurde. Ich erklärte, der Feldmarschall von Kluge mache sich
darüber und über dieWeiterführung des Krieges im allgemeinen größ
te Sorgen. Angesichts des Gegeneinanders von OKW und OKH und
des immer deutlicherwerdenden dilettantischenFührungsstilsHitlers
sei der Zusammenbruch der Ostfront nur noch eine Frage der Zeit.
Man müsse Hitler klarmachen, daß er einer Katastrophe zusteuere.
Manstein: >Ich bin völlig der gleichenAnsicht. Aber ich bin der falsche
Mann, um dies Hitler zu sagen. Die Feindpropaganda hat mich, ohne
daß ich etwas dafür kann, zu dem Mann gemacht, der Hitler angeb
lich die Macht streitig machen will. Er steht mir jetzt nur noch mit
Mißtrauen gegenüber. Nur Rundstedt und Kluge können eine solche
Mission übernehmen^
Ich: >Vielleicht sollten alle Feldmarschälle gemeinsam zum Führer
gehen und ihm die Pistole auf die Brust setzen.<
Manstein: >Preußische Feldmarschälle meutern nicht!<
Ich: >In der preußischen Geschichte gibt es genügend Beispiele dafür,
daß hohe Generale gegen den Willen und Befehlihres Königs gehan
delt haben. Ich erinnere nur an Seydlitz und Yorck. Im übrigen sind
preußische Feldmarschälle noch niemals in einer Lage gewesen, die
sich mit der heutigen vergleichen ließe. Eine so einmalige Situation
erfordert die Anwendung noch nie dagewesener Mittel. Aber wir
glauben auch nicht mehr daran, daß eine gemeinsame Aktion der
Feldmarschälle Erfolgsaussichtenhaben würde. Bei der Heeresgrup
peMitte sind wirseit langem derÜberzeugung, daß jetztjedes Mittel
ergriffen werden muß, Deutschland vor einer Katastrophe zu retten.<
Manstein: >Ihr wollt ihn wohl totschlagen?<
Ich: >Ja, Herr Feldmarschall, und zwar wie einen tollen Hund.<
Manstein sprang auf, lief aufgeregt durch das Zimmer und rief: >Da
mache ich nicht mit. Daran würde die Armee zugrunde gehen.<
Ich: >Herr Feldmarschall haben vorhin zugegeben, daß Deutschland
zugrunde gehen muß, wenn nicht etwas passiert. Nicht die Armee,
sondern Deutschland und das deutsche Volk sind das Primäre.<
Manstein: >Ich bin in erster Linie Soldat. Sie kennen die Front nicht so
wie ich. Täglich spreche ich mit alten und jungen Soldaten, vor allem
mit jungen Offizieren. Ich sehe die Begeisterung in ihren Augen,
wenn sievom Führer sprechen. Siewürden eine Aktion gegenihn nie
mals verstehen. So etwas würde innerhalb der Armee mit Sicherheit
zum Bürgerkrieg führen.<

405
Ich: >Auch ich bin oft an der Front und spreche mit jungen Offizie
ren. Ich gebezu, daß die Mehrzahl nach wie vor für Hitler begeistert
ist. Aber ichkenne auchviele, die eineganz andereAnsicht haben.Vor
allem bin ichaber der Überzeugung, daß das Offizierskorps und die
Truppe in absolutem Gehorsam hinter ihren militärischen Führern
stehen und jeden Befehl ausführen würden, der ihnen gegeben wird.
Wahrscheinlich würde schon kurze Zeit nach einem Verschwinden
Hitlers kein Mensch mehr von ihm sprechend
Mit der letzten Behauptung, die ich erregt herausstieß,war ich sicher
lich zu weit gegangen. Jedenfalls widersprach Manstein energisch. Er
blieb im übrigen entschieden bei seiner Meinung und erklärte, er
werde sich niemals an einemUnternehmen beteiligen, das zum Unter
gang der Armee führen müsse. Manstein hätte mich längst verhaften
lassenkönnen; zu offen hatte ich von der Notwendigkeit gesprochen,
Hitler zu beseitigen. So ließ ich die Briefe von Goerdeler und Popitz
in meiner Tasche. Angesichts der starren Haltung Mansteins erschien
es mir zu riskant, das Leben dieser Männer in seine Hand zu geben.
Als ich nach weiteren Diskussionen die Zwecklosigkeit meiner
Bemühungeneinsehenmußte, entsannich michdes >selbstlosen< Auf
trages,den mir der Feldmarschall von Kluge noch erteilt hatte.
Ich: >Der Feldmarschall von Kluge hat mich beauftragt,Siezu fragen,
ob Siebereit wären, sich nach einemgelungenen Staatsstreich als Chef
des Generalstabes der Wehrmacht zur Verfügungzu stellen?<
Manstein machte eine leichte Verbeugung und sagte: >Bestellen Sie
dem Feldmarschall von Kluge, ich danke ihm für das in mich gesetz
te Vertrauen. Der Feldmarschall von Manstein wird stets der legalen
Staatsführung loyal zur Verfügung stehen.<«6

Gersdorff, ein ähnlich perfekter preußischer Soldat wie Manstein, ver


pfändet sein Wort für die exakteWiedergabe dieses Gesprächs. Tatsäch
lichdeckt sichdasvon ihm kolportierteVerhalten Mansteins vollständig
mit den Attitüden, die seineautobiographischenAufzeichnungen sicht
bar werden lassen. Die kategorischen Aussagen: »Preußische Feldmar
schälle meutern nicht« und »Der Feldmarschall von Manstein wird stets
der legalen Staatsführungloyal zur Verfügung stehen«verschränkensich
dabei zu einer Haltung, die als Letztbegründung in seltsam leerer Zir-
kularität auf das Existentialurteil rekurriert: »Ich bin in erster Linie Sol
dat.« Für Manstein hat das Soldatsein tatsächlich den Statuseiner eigen
ständigen Seinsform, einer auf einer spezifischen Substanz gründenden
»Sphäre«. Als solche steht es in strikter Opposition zu einer anderen:der

406
Sphäre des Politischen. Die Kontroverse zwischenManstein und Gers-
dorff ist eine Konfrontation dieser beiden Sphären; in letzter Instanz -
der die Diskussion abschließende Satz Mansteins macht das deutlich -
eine Konfrontation von Legalitätund Legitimitätalsverhaltensleitenden
Prinzipien. Wo Gersdorff mit der Legitimitätdes politischen Aufbegeh
rens gegen eine verbrecherische, wohl einmal legal eingesetzte, aber
längstin jeder Hinsicht illegitimgewordeneStaatsführungargumentiert,
die auch gegen Grundsätze und Logik der Kriegführung verstößt, zieht
sich Manstein, der mindestens in diesem Punkt noch schärfer urteilte als
sein Gegenüber, auf den Standpunkt des auf LegalitätverpflichtetenSol
daten zurück, der ihn praktisch in die Rolleeines Erfüllungsgehilfen des
von ihm verachteten Hitler bringt: Seine Fixierung auf die Legalität
wirkt wie ein Denkverbot. Diese Spannung zwischen den beiden
Sphären ist ein zentrales Konstruktionsprinzip seines Lebens. Die bei
den Einleitungssätze von MansteinsKriegserinnerungen lauten: »Dieses
Buch ist die Aufzeichnung einesSoldaten. Bewußt habe ich darauf ver
zichtet, politische Probleme oder nicht mit den militärischen Ereignis
sen in unmittelbarem Zusammenhang Stehendeszu erörtern.« (Hervor
hebung i. O.)7 Diese strikte Spaltung zwischen dem Soldatischen und
dem Politischen ist zweifellos - ebenso wie die Imperative des unbe
dingten Gehorsams und die Berufung aufs Legalitätsprinzip - ein
Grundzug der erwähnten preußischen Tradition. Sie ist insofern nichts
Individuelles und bedarf keiner psychologischen Erklärung, zumal sie
nicht nur für die »Preußen« unter den deutschen Generalen des Zweiten
Weltkriegs die bequemste Grundlage für die Verteidigung ihrer jeweili
genHandlungen als Befehlshaber war: Sie ist gleichsam das funktionale
Äquivalent der Legitimationsfigur des »Befehlsnotstandes« für die »lei
tenden Herren«.
BeiMansteinhat siefreilicheineBedeutungsschicht, die über das Ver
haltensklischee seinerBerufsgruppe hinausreicht. Insofern ist es legitim,
diese in unterschiedlichen Dokumenten immer wieder betonte Spaltung
auch zum Gegenstand einer Interpretation zu machen, die psychologi
sche Faktoren einbezieht. Dies um so mehr, wenn man Urteile wie das
Blumentritts ernst nimmt, der in Manstein eben nicht nur den »glänzen
den Strategen«, sondern vor allem auch den »politischen Kopf« sah.
Wenn das zutrifft, liegtdie Frage nahe,warum die Spaltung von soldati
scher und politischerSphäre mit so großem Nachdruck vorgenommen
wird.8
Hinsichtlich ihrer psychologischen Funktion sind Spaltungen archai
scheAbwehrmechanismen. Ihre wichtigsteAufgabebesteht darin, äuße-

407
re oder innere Objekte dadurch »rein« zu erhalten, daß man den unrei
nen, bösen, schlechten Anteil »draußen« hält, eben abspaltet und einer
anderen Entität zuschlägt. Spaltung und Projektion ergänzen einander.
Wie das Reine und das Unreine, Verderbende erscheinen in der Man-
steinschen Ontologie die Sphären von Soldatentum und Politik, wobei
von letzterer dennoch eineambivalente Verlockung auszugehen scheint,
die es abzuwehren gilt. Der naheliegende Einwand, diese Spaltung sei
eher als »Anpassungsmechanismus« im SinneParins zu verstehen, da er
auf eine forcierte »Identifikation mit der (Berufs-)Rolle« hinauslaufe,
übersieht die hochgradig affektive Tönung der Mansteinschen »Zwei-
Welten-Theorie«. UnsereVermutung ist, daß die Mansteinsche Spaltung
von Soldatischem und Politischem, die, wie wir sahen, mit dem Problem
von Legalitätund Legitimität verknüpft ist, tatsächlich den Status eines
Abwehrmechanismus hat, d.h. mit der Bewältigung von »inneren
Reizen«: Triebregungen, Wünschen oder Affekten zu tun hat. Versuchen
wir,dem nachzugehen. Wir werden wieder beim Namen beginnen.
Manstein: ein Bilderbuch-, ein Hollywoodname für einen »deutschen
Soldaten«. Man muß nicht Anhängerder Anschauungen Laurence Ster
nes (oder gar Walter Benjamins) über die prägende Kraft des Namens
sein, um die charakterologisch gefaßte Ästhetik des Zusammenhangs
dieses Namens mit der Biographie ihres Trägers zu spüren. Nur sollte
man auch die damit zusammenhängende Ironie kennen. Mansteins
Lebenserinnerungen beginnen so:

»Der Beamte des Telegrafenamtes in der kleinen thüringischen Resi


denz Rudolstadt wird wohl ein etwas verdutztes Gesicht gemacht
haben, als er am 24. November 1887 ein Telegramm aus Berlin auf
nahm. Es war an den Kommandeur des in Rudolstadt stehenden
Bataillons gerichtet, den Major Georg von Manstein, und seine Frau
Hedwig geb.von Sperling. Das Telegramm soll,wenn die Famazuver
lässig berichtet, gelautet haben: >Euch ist heute ein gesunder Junge
geboren. Mutter und Kind wohl. Herzlichen Glückwunsch! Helene
und Lewinski.< Dieses Telegramm kündigte mein Erscheinen auf die
ser Erde an.«9

Der Telegrammtext mutet seltsam bekannt an. Er entspricht fast wort


getreu der Verkündigung der Geburt Jesu, des Retters der Menschheit.
Das, was den Beamten verwirrt haben muß, hat ein schlichtes fun-
damentum in re - und beides zusammen enthält die fundamentale
Ursprungsphantasie dessen, der uns davon berichtet: Erich von Man-

408
stein ist das zehnte Kind Eberhard von Lewinskis und seiner Frau
Helene, das schon bei der Taufe der jüngeren Schwester seiner Mutter,
Hedwig von Manstein, an Sohnes Statt übergeben wurde. Das war
bereits vor seiner Geburt - vorausgesetzt, das Kind würde ein Junge -
beschlossene Sache. Auch seineSchwester Martha war ein Adoptivkind
»innerhalb der Familie«. Sie war die Tochter eines früh verstorbenen
Bruders von Hedwig. Beide »nicht-leiblichen« Kinder sind in ihrem
Elternhaus, so sagtManstein, »miteiner Liebeumgeben worden, wie sie
Eltern ihren Kindern nicht schöner und tiefer schenken können«.10 Und
er fährt fort: »Die Tatsache, daß meineAdoptiveltern nicht auch meine
leiblichen Eltern waren, habe ich schon als kleines Kind erfahren. Inne
re Konflikte haben sich daraus dank der starken Verbundenheit beider
Elternhäuser nie ergeben. Da ich seit den Tagen des ersten Bewußtwer
dens im Hause der Adoptiveltern gelebt habe, nahmen sie für mich ver
ständlicherweise die Stelle von Vater und Mutter ein.«11 »Verständli
cherweise«, offenbar aber nicht selbstverständlich. Allein die Diktion
verweist auf etwas Unverständliches. Die Formulierung irritiert so sehr
wie die Begründung für die angebliche Absenz »innerer Konflikte«, die
Manstein auf die »Verbundenheit« beider Elternhäuser zurückführt. Die
Peinlichkeit, mit der er stets auf der »exakten« Titulierungder biologi
schen und der sozialen Eltern besteht, macht deutlich, wie stark ihn ein
»Illegitimitätsgefühl« noch zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner
Erinnerungenbewegt. Ohne Frage: Erich war durch den Akt der Adop
tion das rechtmäßige, das »legale« Kind der Mansteins- auch wenn ihm
die damalige Legalität das Stigma nicht ersparte, in offiziellen Doku
menten als »Erich von Lewinski, gen. v. Manstein« geführt zu werden.
Tatsächlich ist in seine Biographie jedoch die Problematik der »Illegiti
mität« eingebaut, denn jedes »fortgegebene« Kind wird sein weiteres
Leben langnach den »wirklichen« Gründen forschen, die seineEltern zu
diesemSchritt bewogenhaben mochten - und zwar desto intensiverund
mit desto skurrileren Begleitphantasien, je eher es davon erfährt. Am
Grund aller rationalen Erklärungen für die Verstoßung bleibt in der
Regeldie Phantasie einer eigenenSchuld,einesUngenügens,das, weil es
unergründbar bleibt, die Gefahr einer Wiederholung provoziert. Eine
übersteigerte, ambivalente Dankbarkeit gegenüber den Adoptiveltern,
in die sich die Furcht mischt, von einem auf den anderen Tag erneut
»weggegeben« zu werden, ist eine der prägnantesten Folgen. Die zwar
neurotische,aber schöneAbwehrtechnik, dieviele»illegitime« Kinder in
diesem Konflikt entwickeln: sich eine vornehme oder wild-romantische
Herkunft zu phantasieren, die sie für eine weit über das Niveau ihrer

409
Adoptiveltern- insbesondere das des Vaters - hinausgehende Zukunft
prädestiniere, blieb Erich von Manstein just durch die frühe Kenntnis
seiner leiblichen Eltern und die Verbundenheit der Haushalte versagt.
Kein Boden für einen »Familienroman«, kein Boden auch für eine
»abweichende« Karriere. Erich ist, notgedrungen, Realist und wählt das
Naheliegende - und das, was seine »beiden Elternhäuser«, das legitime
und das legale, miteinander verbindet. Beide Väter sind Generäle, und
»auch die Familie meiner >Mütter< hatten Preußen in mehreren Genera
tionen Offiziere gestellt«.12 Der Soldatenberufist weniger eineWahl als
ein Schicksal, das Manstein selber gleichsam vererbungstheoretisch
begründet, wenn er davon spricht, daß ihm »offensichtlich ein gewisses
soldatisches Erbteil zuteil geworden war«.13 Gleichzeitig hat er recht,
wenn er das Berufsziel Soldat als einen Wunsch, also etwas Gewähltes
bezeichnet, denn in ihm verbirgt sich die Abwehr seines als Illegiti
mitätsgefühl zur Erscheinung kommenden »sozialen« Trennungstrau
mas. Mit der Wahldes Soldatenberufs hält der junge Lewinski/Manstein
seine beiden Familien zusammen, bekundet seine Treue zur Tradition
(beider) und schaltetdie Möglichkeit eines Konflikts(mit beidenVätern)
aus.

»Der Feldmarschallvon Manstein wird stets der legalenStaatsführung


loyal zur Verfügung stehen.«Diese scheinbarso prinzipienfesteFormu
lierung ist in der Kontroverse mit Gersdorff de facto das Schlupfloch in
einem überdeterminierten Konflikt: Die Begründungsfigur dafür, so
wohl einer neuen Regierung (die ohne Frage nach geglücktem Staats
streichin der Lagegewesen wäre, für sichRechtsgründezu reklamieren)
zu dienen, als auch, nicht aktiv dazu beitragen zu müssen, die alte zu
beseitigen. Manstein, der Hitler nicht nur für einen (militärischen)
Dilettanten hielt,sondern, bei allerAmbivalenz, auchpersönlich ablehn
te und in seiner Funktion als Oberbefehlshaber für illegitim befand, ist
unfähig, »die Hand gegen ihn zu erheben«, weil dieser das Prinzip der
Legalität auf seinerSeite hat. Das ist, wir sagtenes bereits, unzweifelhaft
traditionell preußisch, aber von Manstein selbst mit einer weiteren
Begründung versehen,die überraschenderweise aus dem Reich der Psy
chologie stammt. In den erwähnten Lebenserinnerungen berichtet er
von einem historischen Trauma, das er als prägend für den »Geist der
Reichswehr« ansieht:

»Als am 9. November 1918 der Kaiserund König auf seine Krone ver
zichtete und nach Holland ging, war dies für die Soldaten, anders als
für den Bürger, nicht nur ein bloßer Wechsel der Staatsform. Es war -

410
mindestens für die Preußische Armee - der Zusammenbruch ihrer
Welt. DieseArmeewar >königlich< gewesen. Das heißt, siewar mit der
Person des Königs unlösbar verbunden. Eine Bindung, die durch den
dem König geschworenen Fahneneidweit über das Politische hinaus
eine ethische war.«14

Tatsächlich argumentiertMansteinhier psychologisch. Er beschreibtdie


Logik von Identifikationsprozessen:

»Für die Armee war der König der Kristallisationspunkt des Treue-
und Pflichtgefühls, nicht der abstrakte Begriff des >Staates< und auch
nicht das >Volk<. [...] Dabei war es durchaus belanglos, ob der einzel
ne der Person des Monarchen mehr oder weniger kritisch gegenüber
stand. Man diente nicht Wilhelm IL, sondern >dem König<.«15

Mansteins Analyse gilt dem »Legitimitätsgefühl« der Diener, nicht der


Legitimität, schon garnicht der Legalität der Herrschaft. »Der deutsche
Soldatmußte sichnachdem Wegfall des Königtumsneu orientieren.Was
konnte ein Ersatz für den verlorenen Kaiser sein?«16 Die Art der Frage
nimmtesvorweg: nichts - abernichtniemand. »Staat« und »Volk« schei
den für ihn als Identifikationsträger aus, weil dieses heillos in sich zer
stritten, jener aber in seinerneuen Form »eine Folgeder Niederlage, ein
Ergebnis auch der Wünsche der siegreichen Gegner« war.17 Was Man
stein zufolge blieb, war der Begriff des »Reichs« - und mit ihm dessen
absoluter Führer. Mit einer gewissen psychologischenSensibilität quali
fiziert er »diese Hinwendung des deutschen Soldaten zu einem rein
ideellen oder mythischen Begriff«18 als »typisch deutsch«:

»In einem anderen Land wäre die Armee unter ähnlichen Verhältnis
sen wahrscheinlich entweder monarchistisch geblieben oder republi
kanisch geworden. In Deutschland konnte der Soldatauf Grund sei
ner jahrhundertealten Tradition nicht ohne weiteres Republikaner
werden,jedenfalls nicht von heute auf morgen. Gegenden nun einmal
bestehenden Staat anzugehen, widersprach jedoch seiner Pflicht
auffassung. In bezug auf den Begriff>Reich<, der unabhängigvon der
jeweiligen Regierungsform bestehen konnte, lagen bereits die Keime
der späterenHaltung der Armeeunter der Herrschaft Hitlers.«19

Der deutsche Soldat ist, so könnte man diese Einsicht zusammenfassen,


auf eineInstanz eingeschworen, die letztlichnur »inkorporiert«, als Per-

411
son vorstellbar ist, ohne deshalb der Individuation zu bedürfen. Es ist
der König und nicht Wilhelm; es ist die Reichsidee, aber mit der ihr
immanenten Kyffhäuser-Phantasie: Kein Reich ohne Herrscher.
Wie immer auch Hitler als Rechtsnachfolger des Königs und Voll
streckerder »Reichsidee« diese Funktion der Identifikationsfigur erfüllt
haben mag,für Manstein jedenfalls war der »Führer« in vielfacherWeise
eine Gestalt, in der sich seine eigenen Phantasien über Legalität und
Legitimität spiegeln ließen- allerdings in der Sphäre desPolitischen. Der
»Soldat« Manstein hat seinen obersten Herrn nie wirklich als legitim
empfinden könnenund ihm nachweislich in nichtwenigen Fällen mutig
öffentlich widersprochen. Aber er hat ihm niemals die Loyalität aufge
kündigt. Für Erich von Lewinski, gen. von Manstein, war der legale
Inhaber der Staatsmacht unantastbar. Die Nachfolgegestalt des Königs,
dem man als Instanz, nicht als Person diente, war auch der Nachfolger
des Vaters, der ihm schon früh - und sicherlich seine damaligen Ver
ständnismöglichkeiten übersteigend - als unbedingte Autorität und
doch der Herkunft nach »irgendwie« Fremder vorgestelltwurde. Auch
bei ihm traten in gewisser Weise Person und Instanz auseinander. Man
steins Verhältnis zu Hitler muß auch in dieserDimension gesehen wer
den, ohne es darauf zu reduzieren. Die von Manstein immer wieder her
vorgehobene Tatsache, daß Hitler nicht von »seiner Art« war, d. h. in
entscheidenden Punkten nicht den Denk- und Verhaltensgewohnheiten
des preußischen Generalstabs entsprach, hatte für ihn eine andere
Bedeutung als für die militärischen Aktivisten des 20.Juli. Mindestens
für einige von ihnen war diese »Fremdheit«, der mangelnde Stallgeruch
des »Weltkriegsgefreiten« mehr als nur der Stein des Anstoßes: Gerade
den preußischIdentifizierten war sie ein Grund für die Beseitigung des
Dilettanten und Emporkömmlings. Manstein blieb dieses Motiv ver
schlossen - und zwar in erster Linie aufgrund seiner persönlichen
Geschichte. Er mochte Hitler tausendmal als illegitim empfinden, sein
Standesdünkel und seine militärische Verantwortungsethik waren
jedoch zu keinem Zeitpunktausreichend, das eigene Illegitimitätsgefühl
zu überwinden, das ihn auf die Treue zur legalen Führung fixierte. Die
politische und moralische Entscheidung, die Loyalität gegenüber dem
»Führer« aufzukündigen, war Manstein buchstäblich »unmöglich«; sie
verfiel der Spaltung, mit der er seinen eigenen lebensgeschichtlichen
Konflikt abzuwehren versuchte.
Man muß das nicht unbedingt als Tragödie bezeichnen - auch wenn
man den Verschwörern eine bessere strategische Planung gewünscht
hätte, für die Manstein wahrscheinlich gesorgt hätte. Seine Kriegser-

412
innerungen enthalten immerhin die Komödienfassung desselben Pro
blems. Unter den steif-trockenen Darstellungen der Planung und
Durchführung der einzelnen Feldzüge, an denen er beteiligt war, stechen
die Passagen heraus, die - insbesondere im Frankreichfeldzug - seinen
unterschiedlichen Quartieren gelten. Hier wird der Autor lebendig.
Immer wieder findet er sich, mit merklichemWohlbehagen, in »Herren
häusern« wieder: Schlössern, deren Schönheit er preist,und die er offen
bar alsangemessene Quartiere empfindet- schließlich verkörpert er nun
die Macht. Erstaunlich ausführlich wird der Leser mit der Geschichte
der jeweils dort angesiedelten Familie bekanntgemacht. Jedoch wieder
holt sich Mal für Mal dieselbe Enttäuschung: Die jeweiligen Herren, die
legitimen Besitzer, sind bei seinem Erscheinen bereits geflohen. Man
stein berichtet das mit ungemildertem, parzivaleskem Erstaunen. Er
fühlt sich dadurch düpiert, als Feind behandelt. Ihm fehlt der »Gastge
ber«,der ihn - von gleich zu gleich - alswillkommenen Gast und legiti
men Besucher empfängt und anerkennt. Wie gerne hätte er gebildet mit
ihnen geplaudert, das Gefühl, Besiegte zu sein, hätte er ihnen sicherlich
nicht gegeben. Ihre schnödeFlucht beraubtihn dieserMöglichkeit. Und
das kann er nicht fassen. Er betont, wie sorgfältig er seine herrschaftli
chen Quartiere - selbstverständlich - zu behandeln pflegte. Siewurden
so verlassen, wie sie vorgefunden worden waren. Und er berichtet von
der einzigenAusnahme:

»Wir vertauschten also das mit so vielen historischen Erinnerungen


angefüllte, prachtvolle Schloß Serrant mit einem kleineren Schloßbau,
den sich der Fabrikant des weltberühmten Cointreau auf dem Gipfel
eines steilen, die Loireniederung überragenden Hügels erbaut hatte.
Unser neues Heim [!] sollte eine alte Burg darstellen und zeichnete
sich durch die Geschmacklosigkeit aus, die dergleichen Nachahmun
gen anzuhaften pflegt. [...] Bezeichnend für die Parvenü-Gesinnung
des Besitzers aber war eine große Zeichnung, die in seinem Arbeits
zimmerhing. Sie stellte, um einen runden Tisch sitzend, die gekrön
ten Häupter Europas um die Jahrhundertwende dar, unseren Kaiser,
den alten KaiserFranz Josef, die Königin Viktoria usw. Sieallewaren
so dargestellt, alsob der Cointreau bereitsihre Sinnemehr oder weni
ger benebelt hätte. Über sie aber erhob sich, am Tische stehend, der
Besitzer, ein Glas Cointreau triumphierend über der Tafelrunde
schwenkend. Die Entfernung dieses üblen Machwerks ist das einzige
gewesen, was wir in diesem >Schlosse< geänderthaben.«20

413
So wie es klingt, Mansteins einziges »Kriegsverbrechen«. Man versteht:
Er mußte es tun. Der Parvenü, der in seiner bildgewordenen Phantasie
mit Hilfe seines Produkts so hemmungslos über Europas gekrönte
Häupter triumphiert, ist, um ein Wort heute Mächtiger zu gebrauchen,
unerträglich. Er ist im forciertenSinneillegitim, und die Beseitigung sei
ner vergegenständlichten Siegesphantasie ist Mansteins Pflicht- als Sol
dat und Aristokrat. Mit diesem Akt rettet er die Reinheit des legitimen
Adels. Um so bitterer und unverständlicher ist es für ihn, daß die, in
deren Namen er stellvertretend zu handeln meint, die wirklichen Für
sten, vor dem Anrücken seiner Armee flüchten. Und es ist gleichin dop
pelter Hinsicht bitter,denn die Flucht bezeugtnicht nur eineAblehnung
seiner Person, sondern auch der Armee, der Institution, in der er mein
te, sein Legitimitätsproblem bewältigen zu können. Tatsächlich ist die
Armee seineideale »Synthesefamilie«. Sieist der Verband, der ihn »legi
timiert«, der soziale Ort, an dem die Lewinskis und die Mansteins glei
chermaßen beheimatet sind, der Ort, an dem Legalität und Legitimität
zusammenfallen. Die Armee ist aus allen diesen Gründen der Angel
punkt seines Lebens. Manstein unterscheidet sich von anderen Befehls
habern des Zweiten Weltkriegs nicht zuletzt durch den keineswegs nur
deklamatorischen Ernst, mit dem er stets die »Reinheit« seiner Truppe
zu verteidigen suchte - vor und nach 1945. Seine faktische Befehlsver
weigerung beimKommissarbefehl, den er als »politisch«, also»unsolda
tisch« qualifizierte, paßt dazu genauso wie seine Begründung, sich an
einemStaatsstreich nicht zu beteiligen. Es geht dabeiimmerum die Rein
heit der Institution, die seinen biographischen »Schwachpunkt« über
decken soll. Kern dieser Reinheit ist die Einheit. Sie zu zerstören ist für
Manstein das größtevorstellbare Verbrechen. In seinerVorstellungswelt
ist dies aber unausweichlich der Fall, wenn die Politik ins Spiel kommt,
die Verderberin der wahren soldatischen und familiären Tugenden.
Diese Sphäredes Politischennun erscheintin der mephistophelischen
Gestalt Gersdorffs, der Mansteins Soldaten-Klischee »Preußische Feld
marschälle meutern nicht« mit dem Hinweis auf den politischen Ernst
der Situation zu kontern versteht. Mansteins Reaktion auf die Ankündi
gung des Attentats, der geplanten Ermordung des »Führers«, verdient
es, noch einmal zitiert zu werden: »Da mache ich nicht mit. Daran würde
die Armee zugrunde gehen.«21 Gersdorfis politische - und einleuchten
de - Entgegnung: »Herr Feldmarschall haben vorhin zugegeben, daß
Deutschland zugrunde gehenmuß, wenn nicht etwaspassiert.Nicht die
Armee, sondern Deutschland und das deutsche Volk sind das Primäre«22
verfehlt, eben alspolitische, den Nerv von Mansteins Vorbehalt. Dessen

414
Antwort ist, wenn man den psychologischen Kontext ernst nimmt,
überaus logisch: »Ich bin in erster Linie Soldat. [...] So etwas würde
innerhalb derArmee mit Sicherheit zum Bürgerkrieg führen.«1* (Her
vorhebung CS.) Tatsächlich geht es Manstein in erster Linie um die
Erhaltung der Armee. Seine Rede vom »Bürgerkrieg in der Armee« ist
kein beliebiger Ausrutscher, sondern eine Fehlleistung im strengen
Sinne: Wenn dieser Krieg in der Institution ausbräche, die er als das
Medium der Abwehr seines familiären Legitimitätskonflikts auserkoren
hat, dann wird sein höchstpersönliches Trauma wieder aufbrechen. Die
Sphäre des Politischen ist - ebendaran rührt Gersdorff- auch die Sphä
re des Konflikts, der Trennung und des (Vater-)Mordes. Nicht etwa die
des Soldatischen: Die nach Zehntausenden zählenden Toten einzelner
Schlachten erwähnt Manstein in seinen Kriegserinnerungen sachlich,
aber ohne Bedauern. Sie gehörenzu dem,waser alsdas »Entscheidende«
der deutschen Armee des Zweiten Weltkriegs bezeichnet: »Die Hingabe,
die Tapferkeit, die Treue, die Pflichterfüllung des deutschen Soldaten
und die Verantwortungsfreudigkeit wie das Können der Führer aller
Grade«.24 (Hervorhebung i. O.) Die Ehre dieser Armee zu verteidigen
ist für Manstein, so sagt er glaubhaft, der entscheidende Antrieb gewe
sen, den Nürnberger Prozeß von 1946 als rettender Zeuge, den Ham
burger Prozeß von 1949 als »ungebrochener« Angeklagterdurchgestan
den zu haben.25 Man muß begreifen, wie sehr Mansteins Verteidigung
der deutschen Kriegführung sowohl einer Verteidigung seines Standes
wie einer - in seltsam unmilitärische Tiefen reichenden - Selbstverteidi
gung entsprach. Manstein war durch seine persönliche Geschichte
tatsächlich prädestiniert, diese - höchst ambivalente - Rolle »Retter des
Generalstabs und der Ehre des deutschen Soldaten« zu spielen - nicht
die des politischenVerschwörers, der vielleicht wirklich das »Vaterland«
hätte retten können. Das war ihm gleichsam a priori verwehrt, denn um
so handeln zu können wie Gersdorff und andere, hätte er die grundle
gendeSpaltungüberwinden müssen,auf die sein Handeln festgelegt war.
Hätte er am Staatsstreich gegenden »Führer« partizipiert, wäre er,in sei
nem Selbstverständnis, ein »Cointreau« geworden - ein Usurpator, ein
Emporkömmling, der mit seiner Aktion lediglich seine Illegitimität
beweist. Für Manstein konnte das nichts anderes sein als eine Schnaps
idee.
Fraglos basiert der Fall Manstein auf einer sehr individuellen Ver
knüpfung außergewöhnlicher Umstände. Was ihn besondersinteressant
macht, ist jedoch, daß die höchst kontingente psychologische Bedingung
seines Verhaltens zugleich in einem entscheidenden Punkt mit dem

415
»Normalschicksal« seiner Generation und seines Standes koinzidiert: Im
Kern geht es um ein »Identifikationsschicksal«, das gekennzeichnet ist
durch den Mangel einerPersonoder Instanz, aufdiesichdie eigene Exi
stenz gründen, in der sie sich legitimieren kann. Für Mansteins Genera
tion, die - und das gilt nicht nur für die Soldaten- das Ende der Monar
chie als Trauma erfuhr, weilesihr diezentrale Identifikationsfigur gerade
in der Stunde der »nationalen Demütigung« entzog, gibt es das Kollek
tivschicksal der politischen »Vaterlosigkeit«. Für die Soldaten kam der
Umstand hinzu, daß der geschlagenen und führerlosen Armee mit der
militärischen Niederlage zugleich ungewollt eine politische Funktion
zufiel, die sich mit ihrem traditionellen Selbstverständnis nicht vertrug.
Beides verdichtetsichin der individuellen Psychologie Mansteins, indem
es Anschluß an sein höchstpersönliches Trauma der Illegitimität findet.
Daraus resultiert die Ironie, daß in der Kontingenz seines persönlichen
Schicksals gleichsam paradigmatisch der Konflikt zur Erscheinung
kommt, der, in weniger ausgeprägter Form, für die in der preußischen
Tradition stehenden deutschen Befehlshaber des Zweiten Weltkriegs
galt.

Anmerkungen

i Erichvon Manstein, Soldatim 20.Jahrhundert, hrsg.von R. von Manstein und


Th. Fuchs, Koblenz 1981, S. 215 (im folgenden zitiert als »Soldat«).
2 S. Westphal, zitiert nach Manstein, »Soldat«, a. a. O., S. 226.
3 S. Westphal, Der deutsche Generalstab auf der Anklagebank. Nürnberg
1945-48, Mainz 1978, zitiert nach Manstein, »Soldat«,a. a. O., S. 226.
4 Ebenda.
5 Erich von Manstein, Verlorene Siege, Bonn 1955; ders., Aus einem Soldaten
leben 1887-1939, Bonn 1958.
6 R.-Ch. von Gersdorff, Soldat im Untergang, Frankfurt am Main/Berlin/Wien
i977,S. i34ff.
7 Erich von Manstein, Verlorene Siege, a.a. O., S. 7.
8 Daßdiese Spaltung bei Manstein nicht taktischer oderopportunistischer Natur
ist, zeigt schlagend seinVerhalten im von den Briten gegen ihn angestrengten
Prozeß von 1949. Hier hat der auch im juristischen Bereich mittlerweile so
erfahrene »glänzende Stratege« just in diesem Punkt schwerwiegende und auf
den ersten Blick unverständliche Fehler begangen. Im Kreuzverhör äußerte
Manstein bei Gelegenheit der Frage, warum die Kämpfe an der Ostfront von
einer Härte waren, »wie sie sonst im normalen Kampf zwischen Soldatennicht
der Fall ist«, folgendes: »Frage: Meinten Sie das [das Wirken der sowjetischen
Kommissare aufdieTruppe, C. S.], als Sie sagten, daß eseinhärterer Kampfwar,

416
weil es ein Krieg zwischen zwei Ideologien war? Antwort: Ja, das spielte dabei
auch eine Rolle. Frage: Wer machte es zu einem Kampf zwischen zwei Ideolo
gien? Antwort: Die Politiker.« (Erich von Manstein, »Soldat«, a. a. O., S. 300.)
Es gehtdabei um den berüchtigten Kommissarbefehl. Obwohl erihn nachweis
lich als »unsoldatisch« (!) abgelehnt und seine Ausführung unterbunden hatte,
gibt sich Mansteinin diesem Verhör völlig unnötig die Blöße, die sowjetischen
Kommissare als »Politiker« zu qualifizieren und ihnen damit den Kombattan
ten-Status abzusprechen. Faktisch legitimierter damit den Befehl,den er,nicht
ohne persönliches Risiko, abgelehnt und nicht weitergegeben hat: »Frage: Wol
len Siewirklich ernsthaftbehaupten, daß Sie nicht wußten, daß die Kommissa
re Soldaten waren? Antwort: Ich behaupte, daß diese Frage zum mindesten
zweifelhaftwar.Frage: Siekämpften, und siekämpften in Uniform, nicht wahr?
Antwort: Ja, abersiewaren keine Soldaten, sondern siewaren Politiker. Frage:
Ist es für einen Politiker unmöglich, ebenfalls Soldat zu sein? Antwort: Nein,
sicherlich nicht, aber diese Leute waren in einer politischen Funktion bei der
Truppe und nicht in einer soldatischen.« (Ebenda, S. 301) Scheint so ein Über
gang vom Politiker zum Soldaten immerhinmöglich, soist dieKernsubstanz des
Soldaten nicht in politische Terminiübersetzbar: »DieSoldatenehre ist etwas für
sich selbst, etwasUnabhängiges. Sie hängt nicht von gewissen Fähigkeiten und
von Abkommen zwischen Ländern ab. Es ist meine Ansicht, daß jeder Soldat
weiß, was Soldatenehre heißt. Es ist ein ethischer Begriff,kein juristischer Arti
kel in einem Buch.« (Ebenda) Für diese Überzeugung riskiert Manstein in die
Nähe derer gerückt zu werden, die den Kommissarbefehl befolgten und sich
damit eines Kriegsverbrechens schuldigmachten.
9 Erich von Manstein, Aus einem Soldatenleben, zitiert nach ders. »Soldat«,
a. a. O., S. 10.
10 Ebenda.
11 Ebenda.
12 Ebenda, S. 11.
13 Ebenda.
14 Ebenda, S. 15.
15 Ebenda.
16 Ebenda, S. 16.
17 Ebenda.
18 Ebenda, S. 17.
19 Ebenda.
20 Erich von Manstein,Verlorene Siege, a. a. O., S. 148L
21 R.-Chr. von Gersdorff, Soldatim Untergang, a.a. O., S. i34ff.
22 Ebenda.
23 Ebenda.
24 Erich von Manstein, Verlorene Siege,a. a. O., S. 8.
25 Übrigens mit derUnterstützung ehemaliger Gegner, zu denen sogar Churchill
zählte, der sich an der Finanzierung von Mansteins Verteidigung beteiligte.

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Vier Mann auf der Läusejagd


Christian Gerlach Männer des 20. Juli und
der Krieg gegen die Sowjetunion

Die Geschichtsschreibung über die »Männer des 20.Juli«1 hat ein klei
nes Manko: fast alles beruht auf nachträglichen Aussagen, Memoiren
und Erinnerungen. Wenn aber doch Aktenmaterial aus der damaligen
Zeit herangezogen wurde, so berücksichtigten die Historiker eines fast
überhaupt nicht - die ständige, tagtägliche Arbeit der Offiziere in ihren
Stäben und Dienststellen. Man könnte manchmal meinen, sie hätten in
einem ewigen Feierabend gelebt. Dieses Versäumnis ist erstaunlich - um
kein anderesWort zu benutzen -, denn zum Teilstehen genugAkten zur
Verfügung.
Wenn bisher die Offiziersopposition gegenHitler der Kritik unterzo
genwurde, dann nach zwei Seiten: hinsichtlichder Einstellungihrer Mit
gliederzu bestimmtenFragen,zum Beispiel zur Politik gegen dieJuden,2
und hinsichtlich ihrer Vorstellungen von Deutschland nach dem Sturz
Hitlers, weil sie an der Monarchie, am Ständestaat oder anderen reak
tionären Modellen orientiert waren. Mit Blickauf ihre Funktionen dage
gen läßt sich kritisieren,nicht was sie dachten oder was sievielleicht der
einst wollten, sondern was sie taten oder unterließen.
Aus dem Kreis der weitverzweigten Offiziersverschwörung gegen
Hitler wurde nicht nur einmal versucht, ihn umzubringen. Allein im
März 1943 gab es zwei Anläufe, ihn in die Luft zu sprengen. Beide gin
gen von Offizieren des Oberkommandos der Heeresgruppe Mitte aus,
wo »diestärkste Widerstandsgruppe konzentriert [war],die je bestanden
hat.«3 Seit 1941 trugen sich dort Henning von Tresckow, Rudolf-Chri
stoph Freiherr von Gersdorff - der sich am 21. März 1943 in Berlin als
lebende Bombe mit Hitler in die Luft sprengen wollte - und andere mit
solchen Gedanken.
Jedoch beteiligten sich einige der Verschwörer gleichzeitig an Mas
senverbrechen. Und wirklich zur gleichen Zeit: das Bild, von Tresckow
zum Beispielhabe 1933 und auch später manchem zugestimmt, sich aber
dann geläutert (wie es sein Biograph Scheurig malt), ist falsch.4
Die folgenden Erkenntnisse beziehen sich hauptsächlich auf die

427
Oppositionellen aus dem Bereich der Heeresgruppe Mitte. Sie eroberte
im Sommer 1941 auf dem Weg nach Moskau Weißrußland und blieb
monatelang für dieses Land insgesamt und während der ganzen Besat
zungszeit für seine Osthälfte verantwortlich. Weißrußland gilt als das
Land mit den prozentual höchsten Bevölkerungsverlusten im Zweiten
Weltkrieg. Nach den offiziellen, 1944/45 ermitteltenZahlen starben dort
bei einer Einwohnerzahl von etwa 10,6 Millionen (1939) 2,2 Millionen
Zivilisten und Kriegsgefangene.5 In den letzten Jahren wurde ein
Phänomen in Teilen der deutschen Öffentlichkeit zur Kenntnis genom
men, das damit zusammenhängt: die je nach Lesart sechshundert oder
fünftausend »verbrannten Dörfer« Weißrußlands, deren Einwohner im
Zuge der Partisanenbekämpfung erschossen oder lebendig verbrannt
wurden.

Mitwisserschaft undZustimmung

Im Mittelpunkt der vorhandenen Darstellungen zur Oppositionsgruppe


im Oberkommando der Heeresgruppe Mitte6 stehen dagegen die feinen
Verästelungen der Verschwörung, die Pläne zur Beseitigung Hitlers und
tiefsinnige Gespräche über Moralfragen. VonGersdorff, der Abwehrof
fizier (Ic/AO) der Heeresgruppe, wird dabei an Ruhm noch von Hen
ning von Tresckow, ihrem Ersten Generalstabsoffizier (Ia),übertroffen.
Denn dieser rückte innerhalb der Verschwörung den »ethisch-morali
schen Beweggrund dominierend in den Vordergrund«,7 indem er ange
sichts des drohenden Putsches angeblich sagte, es komme »nicht mehr
auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutscheWider
standsbewegung vor der Weltund vor der Geschichteunter Einsatz des
Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat«.8
In den Erinnerungsberichten finden auchdiedeutschen Verbrechen im
Raum der Heeresgruppe Erwähnung, allerdings fast ausschließlich die
Morde an den Juden und den Kommissaren (Politoffizieren) der Roten
Armee. Gerade sie seiender Anstoß für die aktiveBetätigunggegen Hit
ler gewesen. Tenor dieserDarstellungen ist, daß das Oberkommando der
Heeresgruppeund ihr Offizierskorpsverhindert habe,was zu verhindern
war, wie die Ausführung des Befehls zur Tötung der Kommissare; man
konnte aber nicht verhindern, was man nicht wußte, und gerade bezüg
lich der Morde an den Juden führte »die SS« die Offiziere hinters Licht,
tötete heimlich, meldete,wenn überhaupt, unvollständig, und protestier
ten die Generalstäbler, drohte ihnen die SS.

428
Selbstdie erwiesene Tatsache, daß der erste Chef der Einsatzgruppe B,
der Leiter des Reichskriminalpolizeiamtes und notorische Massenmör
der Arthur Nebe, bereits seit 1938 an der Verschwörung beteiligt war,
brachte diese Version nur unmerklich ins Wanken. Von Schlabrendorff-
1967 bis 1975 Richter am Bundesverfassungsgericht - behauptete, von
Tresckowund er als sein Ordonnanzoffizier hätten sich überzeugt, daß
sich »unter der Maske des SS-Führers ein entschlossener Antinazi ver
barg [...], der tausendVorwände erfand,um die Mordbefehle Hitlers zu
sabotieren. Es gelang uns, vieleRussen vor dem Tode zu retten. Die rus
sische Bevölkerung brachte uns vielfach ihren Dank zum Ausdruck.«9
Nach von Gersdorff holte von Tresckow persönlich Nebe zur Heeres
gruppe.10 Von den 45 467 Mordopfern der Einsatzgruppe B bis Anfang
November 194111 - dem Zeitpunkt von Nebes Rückkehr nach Berlin -
war dabei nicht die Rede, oder Nebe hatte seinerseits falsch berichtet,
was sich erst hinterher herausgestellt habe, besonders nach der von
Stabsmitgliedern beobachteten Erschießung von siebentausend Juden in
Borissow am 20. und 21. Oktober 1941.12
Natürlich ist das Unsinn. Von Gersdorff, zu dessen Aufgaben die
Nachrichtengewinnung gehörte, hätte ein sehr schlechter Abwehroffi
zier sein müssen, wenn ihm die Ermordung von mehreren zehntausend
Menschenmonatelangnicht aufgefallen wäre - selbst wenn ihm die Ein
satzgruppe nicht von Anfang an regelmäßig Berichtegeschickt und Vor
trag erstattethätte, wasoffenbarder Fallwar. Eine ReihesolcherBerich
te, die alle an von Gersdorff als für Kontakte mit der Einsatzgruppe
zuständiges Stabsmitglied geschickt wurden, sind erhalten, so für die
Zeiträume 23.Juni bis 13.Juli 1941, 9. bis 16., 17. bis 23. und 24. bis 31.
August 1941,1.bis 15. und 16. bis 30.September1942 sowie 15. Novem
ber bis 15. Dezember 1942, dazu einige Vortragsnotizen vomJuli 1941.13
Auszüge eines Berichts für den Zeitraum 14. bis 28. Juli 1941 enthalten
die Akten der Panzergruppe 3, also steht zu vermuten, daß die Heeres
gruppe zumindest Teile der Berichte an die Armeen weitergab.14 Die
Berichtevon 1942 gingen von Gersdorff übrigens jeweils in sechsfacher
Ausfertigung zu. Die hier an dritter, vierter, sechster und siebenter Stel
le genannten Rapporte wurden durch von Tresckow und von Gersdorff
abgezeichnet - der Bericht vomDezember1942, der als »Gesamtzahl der
Sonderbehandelten« 134198 angibt, sicherheitshalber gleich zweimal,
auf dem Anschreiben und auf der ersten Seite. Einige tragen auch Para
phen der Oberbefehlshaber, der Generalfeldmarschälle von Bock und
von Kluge und anderer Stabsoffiziere. Der Bericht für den 9. bis 16.
August hat von Gersdorff vorgelegen, und eine Kurzfassung von Mitte

429
Juli wurde von Bock,von Tresckowund von Gersdorff gelesen.15 Solche
Berichtewaren sozusagennichtsUngewöhnliches. Soberichtetedie Ein
satzgruppe D regelmäßig dem Ic/AO der n. Armee.16
Ohnehin wußten von Tresckow und von Gersdorff über viel mehr
Bescheid, als man denkt. Im Juli 1941 wurde ihnen ein BefehlHeydrichs
bezüglich der Behandlung der polnischen Intelligenz in den besetzten
sowjetischen Gebieten übersandt, in dem es heißt, »daß die Reinigungs
aktionen sich primär auf die Bolschewisten und Juden zu erstrecken
haben«, während hinsichtlich der Polen »später das Wort gesprochen
werden« könne.17
Die Oppositionellen im Oberkommando der Heeresgruppe Mitte
erfuhren jedoch viel früher schon ziemlich umfassend von den geplan
ten Verbrechen (nicht nach Kriegsbeginn oder kurz vorher, wie es die
Widerstandshistorie darstellt). Schon Anfang März 1941, mehr als drei
Monate vor dem Angriff auf die Sowjetunion, erhielt der Rittmeister
Schach von Wittenau,einerder ihren, Angehörigerder Abwehrabteilung
und später Vertreter von Gersdorffs, Informationen über den »Einsatz
von SS Einsatzkommandos der vordersten Truppe folgend« und über
einige Verbesserungswünsche, die das OKW bei Hitler durchsetzen
wolle,zum Beispiel, »daßExecutionenmöglichstabseits der Truppevor
genommen werden«. Als »Wünsche der Heeresgruppe« meldete Schach
von Wittenau lediglich an, daß die Geheime Feldpolizei verstärkt wer
den solle und ihre Befugnisse von denen des SD abzugrenzen seien.18
Es stimmt auch nicht, daß aus den Berichten der Einsatzgruppe (von
anderen Mordeinheiten einmal abgesehen) das wahre Ausmaß der Ver
brechen nicht erkennbar gewesenwäre. Denn was mag man sich im Stab
der Heeresgruppe Mitte unter einer »Großaktion gegen Juden und ande
re kommunistische Elemente und Plünderer« in Slonim vorgestellt
haben oder unter der Mitteilung: »In Minsk gibt es keine jüdischeIntel
ligenz mehr«?19 Am linkenRand des Berichts für den 24. bis 31. August
hat jemand handschriftlich die Zahl der aufgeführten Getöteten notiert
und zusammengezählt, nämlich 719 und bei zwei Aktionen in Minsk
und Zembin eine unbestimmte »größere Anzahl« {ganz offen war der
SD tatsächlichnicht), also konnte auf weit über einhundert, möglicher
weise mehrere hundert Tote pro Tag geschlossenwerden. Zwischen dem
20.August und dem 26. Oktober 1941 betrug die Mordrate der Einsatz
gruppe B durchschnittlich etwa dreihundert Menschen täglich.20
Mitwisserschaft ist jedoch das eine, Zustimmung das andere. Drei
Tage vor dem Angriff auf die Sowjetunion, am 19. Juni 1941, traf sich
Henning von Tresckowauf dem Truppenübungsplatz Arys/Ostpreußen

430
mit dem Chef des Kommandostabs Reichsführer-SS, SS-Brigadeführer
Kurt Knoblauch. Dabei wurde der »Einsatz der SS-Brigaden und
Kav.Regimenter besprochen«.21 Die gemeinten Einheiten, die i. und die
2. SS-Infanterie-Brigade (mot) und die SS-Kavallerie-Regimenter i und
2, begingen schon wenige Wochen später Massenmorde, deren Opfer
1941 insgesamt in die Zehntausende gingen.Siewaren zeitweise die Ver
fügungstruppe Himmlers zur Unterstützung und räumlichen Ergän
zung der Aktionen der Einsatzgruppen und Polizeibataillone.
Von Tresckow und Knoblauch einigten sich auf die Unterstellung des
Kommandostabs und aller seiner Einheiten unter die Heeresgruppe
Mitte, und zwar dort unter das XXXXII. Armeekorps (9. Armee), nicht
etwa an der Front, sondern ausdrücklich »zum Einsatz im Säuberungs
und Sicherungsdienst«.22 Im Verlauf dieses Einsatzes vernichtete die
1. SS-Infanterie-Brigade im Raum Bialystok mindestens ein Dorf, ohne
von dort beschossenworden zu sein.23 Das XXXXII. Armeekorps woll
te Teile der 2. SS-Infanterie-Brigade am 26. Juni - lange vor allen Ein
satzkommandos - auch zur »Säuberung« von Wilna einsetzen, was aber
an taktischen Differenzen mit Himmler scheiterte.24
Nachdem die Einheiten des Kommandostabs zur Ergänzung ihrer
Ausbildung in Sachen »Befriedung« zurückgezogen worden waren,
ergab sich Ende Juli ein noch engerer Kontakt zu den Widerstands
kämpfern der Heeresgruppe Mitte. Geplant war nun die »Säuberung«
der Pripjetsümpfe durch die SS-Kavallerie-Regimenter, eine Aktion, bei
der zwischen dem 27. Juli und 13. August knapp 14000Juden erschos
sen wurden.25 Vom 20. bis zum 23. Juli reiste eine Delegation der
Abwehrabteilung des Kommandostabs Reichsführer-SS nach Borissow
zu Besprechungen mit der Heeresgruppe Mitte. Dabei zeigte sich deren
Ic-Offizier, Major von Gersdorff, informiert über die Inmarschsetzung
der SS-Kavallerie-Regimenter. Sein Kollege vom Kommandostab
Reichsführer-SS faßte das Treffen mit ihm so zusammen: »Der Einsatz
von Einheiten der Waffen-SS zur Befriedung des rückwärtigen Heeres
gebietes wird von der Heeresgruppe sehr begrüßt.«26 Daß dabei der
Mord anJuden begrüßt wurde, daraufweist unter anderem die Tatsache
hin, daß schon am Abend des 3. August der Oberbefehlshaber der Hee
resgruppe Mitte, von Bock, den SS-Kavallerie-Regimentern seine »be
sondere Anerkennung« ausrichten ließ.27 Zu diesem Zeitpunkt hatten
diese noch nicht die geringste Feindberührung gehabt - die erst Mitte
August beim Ort Turow stattfand -, sondern lediglich »3247 Partisanen
und bolschewistische Juden liquidiert. Eigene Verluste keine.«28
Ein zweites Beispiel. Ende September 1941 wurde beim Befehlshaber

43i
des rückwärtigen Heeresgebietes Mitte, also dem Chef der Sicherungs
truppen und der Militärverwaltung im größten Teil des Heeresgruppen
bereichs, in Mogilew einLehrgang überPartisanenbekämpfung mit brei
ter Beteiligung veranstaltet. Dabei sprachen unter anderem Arthur
Nebe, Erich von dem Bach-Zelewski und Hermann Fegelein, der Kom
mandeur der SS-Kavallerie-Brigade. Nebe sprach über »DieJudenfrage
mit besonderer Berücksichtigung der Partisanenbekämpfung«, und all
gemeinwurde die Losung ausgegeben: »Woder Partisan ist, ist der Jude,
und wo der Jude ist, ist der Partisan.«29
Zu dieser Tagungwaren auch drei Vertreter des Oberkommandos der
Heeresgruppe eingeladen: »Ia oder Vertreter«, also zunächst von
Tresckow, der Versorgungsoffizier (Ib) Major Günther von Gerickeund
der Adjutant des Oberbefehlshabers von Bock, Major Carl-Hans Graf
von Hardenberg, ein weiterer Mitverschwörer des 20. Juli. Von
Tresckowscheint- vermutlichausArbeitsüberlastungwegender für den
2. Oktober angesetzten Offensive auf Moskau - nicht gekommen zu
sein, aber von Gericke schrieb einen kurzen Bericht, vor allem über zwei
praktische Demonstrationen zum krönenden Abschluß der Veran
staltung. (Über die genannten Losungen schrieb er kein Wort.) Am
Nachmittag des 25. September wurde als »Polizei-Schulübung [...] das
schlagartige Besetzen einer Ortschaft«, des Dorfes Knjashitschi, vorge
führt, »mit anschließender Durchsuchung der Häuser und Verhör der
Einwohner. Der Einsatz der Polizei-Mannschaften zur Abriegelung des
Dorfes hätte unter zweckmäßigerer Berücksichtigung der Geländever
hältnisse erfolgen können. Die Durchsuchungsaktion und das Verhör
fanden die Zustimmung des Übungsleiters. Es wurden neben einigen
Juden verdächtige Ortsfremde vorgefunden (32 Exekutionen).« Am
nächstenTagwurde eineSäuberungsaktion im frühen Morgengrauen im
Dorf Kussikowitschi geübt. »DieDurchführungder Aufgabe durch eine
verstärkte Kompanie desSich.Regt. 2vollzogsichin sehr zweckmäßiger
Weise und es gelang unter voller Absperrung des Dorfes, die gesamte
Bewohnerschaft in verhältnismäßig kurzer Zeit überraschend zu sam
meln. Das Verhörder Einwohner, das Abtrennen verdächtiger Elemente
und das Gewinnen von Nachrichten über Partisanentrupps waren für
alle Kursusteilnehmer, die von der Bereitstellung an das gesamte Unter
nehmen mitgemacht hatten, eine ausgezeichnete Unterrichtung.«
Von Gersdorff zeichnete das Schreiben ab, eine Randnotiz hielt er
nicht für nötig. Mit den Sicherheitsfragen fiel zu dieser Zeit auch die
Partisanenbekämpfung in seinen Aufgabenbereich; hätte er so etwas,
und sei es nur die Beteiligung von Wehrmachtseinheiten, für die

432
Zukunft abstellen wollen, hätte er dies mit Aussicht auf Erfolg tun kön
nen.30
Die Beteiligung einiger »Männer des Widerstands« an den in Weiß
rußland begangenen Massenverbrechen beschränkte sich freilich nicht
auf Mitwisserschaft und offene oder stillschweigende Zustimmung.

Das Potsdamer Infanterie-Regiment 9

Der Krieg gegen dieSowjetunion wurde vom ersten Tag anvonsehr vie
len deutschen Soldaten mit einem ungeheuren Vernichtungswillen
geführt. Beispiele dafür findet man auch da, wo sie nicht jeder vermuten
wird, etwa beim Potsdamer Infanterie-Regiment 9, das in der Literatur
gewöhnlich mit dem schmückenden Beinamen »das traditionsreiche«
versehen wird und damals wegen seines hohen Anteils Adliger und sei
nes Dünkels auch »Regiment Graf 9« oder »von 9« genannt wurde.
Durch dieses Regiment waren so viele der späteren Männer des 20. Juli
gegangen wie durch kein anderes, und einige von ihnen kämpften auch
im Sommer 1941 in seinen Reihen.
Das Infanterie-Regiment 9 meldete am vierten Tag des Krieges gegen
dieSowjetunion, dem 25. Juni 1941, amTag zuvorhättendrei Rotarmi
steneine weiße Flagge gehißt, und sechs Deutsche, diesie hätten gefan
gennehmen wollen, seien aus dem Hinterhalt erschossen worden. Sofort
gab der Kommandeur der 23. Infanterie-Division, Generalmajor Hell-
mich, einen Befehl für die gesamte Division heraus, das Zeigen einer
weißen Flagge grundsätzlich nicht mehr zu beachten: »Es gibtkein Par
don!« Am 28. Juni meldete dasIR 9 nachKämpfen südöstlich Bialystok:
»Gefangene wurden nicht gemacht«, jedoch nicht mitderalten Begrün
dung, sondern wegen derangeblich vorgekommenen »bestialischen Ver
stümmelungen« gefallener deutscher Soldaten.31 Hierzu notierte am sel
ben Tag ein Regimentsangehöriger, der später wegen des 20. Juli
hingerichtete Verschwörer Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, in
seinem Tagebuch: »Zweifellos [...] steckt eine Gefahr darin, wennunse
re Leute anfangen aufeigene Faust >umzulegen<. Wenn wirdas zulassen,
begeben wiruns auf die Ebene der SS. Zweifellos verdient derRusse nach
[seiner] Kampfesweise keinen Pardon mehr. Aber dann müssen sie im
Kampf oder nur auf Befehl von Offizieren erschossen werden. Alles
andere beseitigt schlechthin alle Hemmungen und läßt keine Möglich
keitmehr, dieeinmal losgelassenen Triebe einzufangen.« Tags darauf ver
merkte er befriedigt: »Nur wer mit der Waffe in der Hand im Kampfe

433
steht, wer aus dem Hinterhalt schießt, wer sich als Gefangener wider
setzt oder flieht, darf erschossen werden. Sonst nur auf Befehl eines Offi
ziers, der verantwortlich ist. Ich freue mich, das Heer hat wieder rasch
und entschieden seine Grundsätze klargestellt, ohne die es zerfallen
muß.«32 Der ehemalige stellvertretende Polizeipräsident von Berlin und
Regierungspräsident in Breslau wußte doch wohl seine Worte zu setzen.
Halten wir also fest: Grundlos und ohne die geringste Widerstands
handlung durften sowjetische Soldaten erschossen werden, freilich
diszipliniert, auf Befehl eines Offiziers. Bei der Erschießung schon
gefangengenommener Rotarmisten konnte es gar nicht um den Schutz
deutscher Soldaten gehen, bestenfalls um Vergeltung, teilweise aber um
pure Vernichtung. Und die Gedanken über die Enthemmung machte
sich die SS ganz ähnlich.
Aber auch die beiden namhaftesten Helden des Widerstandes im
Bereich der Heeresgruppe Mitte standen nicht abseits. Es trifft zu, daß
von Gersdorff am 9. Dezember 1941 nach Rückkehr von einer Frontrei
se einen Vermerk schrieb, »die vorhandenen Tatsachen« hinsichtlich der
Morde an denJuden seien dort in vollem Umfang bekannt, allgemeines
Gesprächsthema und würden von den Offizieren als Verletzung der
Ehre der deutschen Armee empfunden.33 Es trifft aber auch zu, daß von
Gersdorff für die Einheiten der Geheimen Feldpolizei, die im Bereich
der Heeresgruppe Mitte eingesetzt waren, verantwortlich war.34 Diese
Geheimpolizei innerhalb der Wehrmacht diente einerseits der Überwa
chung der eigenen Soldaten, andererseits aber der Unterdrückung der
»Feindbevölkerung«, ausgehend von der Aufgabe, Widerstandshand
lungen gegen diedeutschen Truppen vorzubeugen. Ihr Personal war das
gleiche wie bei den Einsatzgruppen, zur Wehrmacht kommandierte
Kripo- und Gestapoangehörige dominierten. Die Geheime Feldpolizei
verübte Massenmorde ineinem nicht mehr genau feststellbaren Umfang,
hauptsächlich in den besetzten sowjetischen Gebieten. Einem Bericht
des Heeresfeldpolizeichefs zufolge tötete sie zumBeispiel zwischen dem
1. Juli 1942 und 31. März 1943 »rund 21000 Personen, teils im Kampf
undteils nach Vernehmung«.35 Das Gebiet derHeeresgruppe Mitte spar
te sie dabei nicht aus. So brachte die GFP allein im Oktober 1942 im
Heeresgruppenbereich 1001 Menschen um.36 Von der dort tätigen GFP-
Gruppe 723 sind die Monatsberichte vonJuli 1941 bis September 1943
erhalten. Nachlückenhaften Angaben erschoß sie allein bis zumJahres
ende 1942 mindestens i486 Personen, davon wenigstens 133 Juden, in
der Regel nicht »imKampf«.37 Und daswar nur einevon mehrerenGFP-
Gruppen, über die von Gersdorff die Aufsicht führte.

434
Oft wird vergessen, daß die deutschen Verbrechen gerade in den
besetzten sowjetischen Gebieten bei weitemnicht allein aus »der Sache
mit den Juden« bestanden,daß dieJuden vielmehrden kleinerenTeilder
Opfer darstellten. Im August 1942 bestimmte Hitlers Weisung Nr. 46,
daß die Partisanenbekämpfung noch wichtiger zu nehmen sei als bis
dahin, weshalb sie von- nun an Sache der Führungsabteilungen war.38
Dadurch wurde im Gebiet der Heeresgruppe Mitte Henning von
Tresckow dafür zuständigund bliebes bis zu seinem dortigen Ausschei
denimAugust 1943. DieserZeitraum war abernichtetwavon einerMil
derung der von nun an so genannten »Bandenbekämpfung«, sondern
von ihrer grauenhaften Verschärfung gekennzeichnet.
DieseVerschärfung war die Folgeder EinführungeinerneuenTaktik
seit dem Frühjahr und vor allem Sommer 1942. Bei »Großunterneh
mungen« wurden Partisänengebiete mit Kräften in der Stärke mehrerer
Bataillone großräumig eingekesselt, die Kessel »ausgeräumt« und das
betreffende Gebiet anschließend nach rückwärts noch einmal »durch
gekämmt«. Davonwaren nichtnur die meist in Waldgebieten gelegenen
Partisanenlager, sondern auch die im Vorfeld liegenden, von den Deut
schen nicht mehr völlig beherrschtenDörfer betroffen, die als angebli
che oder tatsächliche Versorgungsbasen oft niedergebrannt wurden. Im
Lauf der Zeit, und je stärker die Partisanen wurden, richteten sich die
Operationen vor allem gegen diese Dörfer. Ihre Einwohner wurden in
einem Teil der Fälle verwarnt, evakuiert oder für den Arbeitseinsatz in
Deutschland zwangsrekrutiert, oft aber ohne Ausnahme erschossen
oder in geeigneten Gebäudenlebendig verbrannt.
Auf Grund einer Zwischenmeldung zu der gemeinsam von Wehr
macht, SS- und Polizeitruppen im Mai 1943 durchgeführten Operation
»Cottbus« im Grenzgebiet zur Zivilverwaltung beschwerte sich der
Generalkommissar für Weißruthenien, Kube: »Wenn bei 4500 Feindto
ten39 nur 492 Gewehre erbeutetwurden, dann zeigtdieser Unterschied,
daß sich auch unter diesen Feindtoten zahlreiche Bauern des Landes
befinden.« In den Partisanenverbänden war das Mitbringen eines
Gewehrs zu dieser Zeit meist Voraussetzung für die Aufnahme,und das
Verhältnis von Opfern und Gewehren war bei solchen Aktionen mit
einer gewissen Regelmäßigkeit etwa zehn zu eins. Kubes Vorgesetzter,
der Reichskommissarfür das Ostland, Hinrich Lohse, fügte hinzu: »Was
ist dagegen Katyn? [...] Männer, Frauen und Kinder in Scheunen zu
sperren und diese anzuzünden, scheint mir selbst dann keine geeignete
Methode der Bandenbekämpfung zu sein, wenn man die Bevölkerung
ausrotten will.«40 Die Gesamtzahl der Opfer dieser Operationen im

435
Gebiet der Heeresgruppe Mitte, teilweise unter Einbeziehung von
»Weißruthenien«, ist auf mindestens 250000 berechnet worden,41 ver
mutlich waren es mehr. Am 6. Februar 1943 meldete die Abteilung von
Tresckows an die Operationsabteilung im Generalstab des Heeres, im
rückwärtigen Heeresgebiet Mitte sei »erstmalig die Zahl von 100000
erledigtenBanditen überschritten« worden.42
Das war genau fünf Wochen, bevor Hitler bei einem Besuch bei der
Heeresgruppe Mitte eine Bombe ins Flugzeug gelegt wurde.
Im Fall dieser Meldungwurde nur eine Formulierung des Befehlsha
bers rückwärtiges Heeresgebiet übernommen, was durchaus typisch
war. Auf Grund der zahlreichen überliefertenAkten der Führungsabtei
lung der Heeresgruppe zur »Bandenbekämpfung«, die größtenteils im
Militärarchiv in Freiburg liegen, kann man sagen, daß von Tresckow
wohl nicht der bestimmende Stratege in diesem Feldzuggegen die Zivil
bevölkerung war. Er ließ sich berichten, zeichnete sehr vieles ab, gab die
Berichte weiter und arbeitete einige allgemeine Befehle aus. Zeitweise
teilte er sich diese Aufgabe mit den Ia/op (Operationsoffizieren) der
Heeresgruppe Schulze-Büttger und von Voß, zwei weiteren »Männern
des Widerstands«. Sonst überließ er den Ansatz von Operationen und
die Ausarbeitung von Konzeptionen dem Befehlshaber des rückwärti
gen Heeresgebietes und den Kommandanten der rückwärtigen Armee
gebiete (Korücks). Inhaltlich ist eine persönliche Einflußnahme von
Tresckows selten erkennbar.
Jedoch wäre ihm in seinerPosition mancheMilderung möglichgewe
sen. Ein Beispiel: In der Nacht vom 27. auf den 28. August 1942 über
fielen Partisanen die Bahnstation Slawnoje an der Haupteisenbahn
strecke Minsk-Smolensk, brannten sie und einen Teil des Ortes nieder
und töteten dabei mehrere deutsche Soldaten. Dies fiel Hitler in einer
Meldung auf, und er forderte Vergeltung, ohne aber eine Vorgabe zu
machen, was zu geschehen habe. DiesesVerlangen wurde vom Chef der
Operationsabteilung im Generalstab des Heeres, dem Mitverschwörer
und späteren ersten Generalinspekteur der Bundeswehr, Heusinger, an
von Tresckow übermittelt, von diesem an den Befehlshaber des rück
wärtigen Heeresgebietes und weiter an den Kommandeur der 286.Siche
rungs-Division, Generalmajor Richert. Der machte einenVorschlag, der
über die gleichen Stationen ohne Veränderung nach oben gemeldet und
dann durchgeführt wurde. Das Fernschreiben aus von TresckowsAbtei
lung an Heusingerbeschrieb ihn so: »Es werden Bandenanhänger [nicht
>-zugehörige<; C. G.] und Familienangehörige von Bandenmitgliedern
aus der Gegend um Slawnoje, die im Verdacht stehen, den Überfall mit

436
durchgeführt oder begünstigt zu haben, in der Gesamtzahl von ioo Per
sonen erschossen. Ihre Häuser werden abgebrannt. Die Maßnahmewird
durch Rundfunk bekanntgegeben und erläutert werden.«43 Von
Tresckow verhinderte lediglich, daß die Massenerschießung ausgeführt
wurde, bevor das Oberkommando des Heeres zugestimmt hatte.
Tatsächlich wurden infolgedessen nahe der Ortschaft Krupki bei
Slawnoje einhundert Personen, darunter Frauen, Jugendliche, Kinder
von zehn bis zwölfJahren und auch Säuglinge, von einemBataillon der
286. Sicherungs-Division mittels Maschinenpistolen vor nach verschie
denen Angaben 1500 bis 5000 Zuschauern, die zwangsweise zusammen
geholtworden waren, erschossen.44 Die Formulierung »Angehörige von
Partisanen« war eindeutig. Wenn von Tresckow, der vorher davon
wußte, hätte verhindern wollen, daß Frauen und Kinder ermordet wur
den, hätte er das ohne Zweifel tun können, und sei es, indem er sie durch
inhaftierte Männer hätte ersetzen lassen.
An einem Punkt mischte sich von Tresckow auch in konzeptionelle
Überlegungen zur »Bandenbekämpfung« ein. Am 23. Juni 1943 über
sandte ihm der Kommandeur des Kavallerie-Regiments Mitte, Major
GeorgFreiherrvon Boeselager - aucheinManndesWiderstands -, einen
»Erfahrungsbericht über die Kampftaktik der Partisanen und Möglich
keiten unsererseits die Bandengefahr zu beschränken«, in dem er nach
einer geradezu einfühlsamen Schilderung der Kampfweise und des All
tags der Partisanen neue Maßnahmen vorschlug. »Für den deutschen
Soldaten ist esunmöglich, den Partisanvon demNichtpartisanzu unter
scheiden. [...] Nach Ansicht des Regts. muß das Gebiet eingeteiltwer
den in a) befriedetes Gebiet- b) bandengefährdetes Gebiet- c) banden
verseuchtes Gebiet.« Während im ersteren (»nur dort, wo deutsche
Truppen sind«) die normale Überwachung reiche, hieß es: »Im banden
gefährdeten Gebiet dürfen die Männer nur geschlossen den Ort verlas
sen und geschlossen arbeiten. [...] Allein diesem Gebiet einzeln oder in
kleinen Trupps herumgehenden Männer müssen sofort erschossen oder
gefangengenommen werden. [...] Aus dem bandenverseuchten Gebie
te45 müssen alleMänner weggeschafft werden. Bis zu einem bestimmten
Zeitpunkt werdendie Männer bis 50 Jahre von der Truppe aufgegriffen
und der Wirtschaftsinspektion als Arbeitskräfte zugeführt. Nach dieser
Zeit werden die Männer in diesem Gebiet erschossen.«
VonTresckowwar von diesen Ideen - ähnlicheModellezur Schaffung
»toter Zonen« wurden etwa um die gleiche Zeit unabhängig voneinan
der auch an anderen Stellen entwickelt - sehr eingenommen. Er über
sandte persönlich am27. Juni Abschriften derBoeselager-Vorschläge zur

437
Stellungnahme an alleder Heeresgruppe Mitte unterstellten Armeen, an
den Befehlshaberdes rückwärtigen Heeresgebietes sowie an verschiede
ne Stabskollegen, an die Operationsabteilung und auch gleich an die
Ausbildungsabteilung im OKH und den General der Osttruppen. Eine
Abschrift findet sich auch in den Akten des Befehlshabers des rückwär
tigen Heeresgebietes Süd.Aus den überwiegendbeifälligen Stellungnah
men der Armeen ließ er eine Zusammenstellung fertigen, und auf dem
kritischen Antwortschreiben der 2. Armee notierte er: »1.) Bei 2. Armee
liegendoch besondereVerhältnisse vor! 2.)Theoretisch ist die [ein Wort
unleserlich] >stets wechselnde< Bekämpfung sicherdas ideale, in der Pra
xis ist aber doch die klare Abgrenzung bestimmter Gebiete mit Rück
sicht auf die schwerfälligen Sicherungskräfte oft zweckmäßig. T.«46
Von Tresckow befürwortete damit wie andere eine weitere Verschär
fung der Partisanenbekämpfung, die in den Befehl Himmlers vom
10.Juli 1943 mündete: »Der Führer hat entschieden, daß die bandenver
seuchten Gebiete der Nordukraine und von Rußland Mitte von jeder
Bevölkerung zu räumen sind.«47 Und dieser Befehl wurde wenig später
auch ansatzweise ausgeführt. Mehr noch: Während Hitlers Besuch bei
der Heeresgruppe Mitte im März 1943 war ursprünglich geplant,ihn zu
erschießen und sein Gefolge zu überwältigen. Letztere Aufgabe war aus
gerechnet dem Kavallerie-Regiment Boeselager zugedacht, das diese
Vorschläge machte und wohl auch Erfahrung in der »Bandenbekämp
fung« dieser Art hatte. Vom 15. Juli 1944 an ist die gleiche Einheit mit
ähnlichem Auftrag heimlich Richtung Berlin in Marsch gesetztworden,
konnte aber nicht rechtzeitig zum Attentatstermin eintreffen.48

Peter Yorck von Wartenburg unddie Plünderungspolitik

Ein anderer prominenter Widerständler leistete in Berlin einen kleinen


Beitrag zur Idee der Schaffung »toter Zonen«. Peter Yorck Graf von
Wartenburgwar das »Herz« der Widerstandsgruppe »Kreisauer Kreis«,
ein »Mannvon äußerster Bescheidenheit«, dessen»unbedingteVeranke
rung im christlichen Glauben« zu »seiner ehrfürchtigen Anerkennung
ewiger Wahrheiten« führte.49 Der Leutnant der Reserve Peter Yorck
Graf von Wartenburg arbeitete seit dem 15.Juli 1942 im Stab des Wirt
schaftsstabs Ost, der riesigen Organisation zur Ausplünderung der
besetztensowjetischen Gebiete. Als stellvertretenderGruppenleiter I/Ia
Wi(rtschaft) war er zuständigfür Treuhandfragen und die »Bearbeitung
allerwirtschaftstatistischen Unterlagen«.50 Im Mai 1943 fand eine große

438
Konferenz zur Partisanenlage und -bekämpfung beim Generalquartier
meisterdes Heeres statt, zu deren Vorbereitung der Wirtschaftsstab Ost
am 22.Mai statistischeUnterlagen lieferte. Diese betonten mit Hilfe von
Tabellen, Diagrammen und schematischen Karten vor allem, die
weißrussischen Partisanen bedrohten von den Pripjetsümpfen her die
Lieferung Hunderttausender Tonnen ukrainischen Getreides an Wehr
macht und Reich, und in den Partisanengebieten seien über 1,5 Millio
nen Arbeitskräfte vorhanden, aber nicht greifbar. Die Aufbereitung die
ser Unterlagen leiteteYorck.Zwar hatte ihm der Generalquartiermeister
Eduard Wagner, ebenfalls ein Widerstandskämpfer - der Mann, der
Stauffenberg das Flugzeug zur Verfügung stellte, mit dem dieser am 20.
Juli 1944 nach erfolgtem Attentat vom Führerhauptquartier nach Berlin
flog51 -, genaue Vorgaben gemacht, auf welche Weise Yorck das »dra
stisch zum Ausdruck zu bringen« habe, doch dieser verschärfte bei der
Weitergabe die Weisung noch.52 Im Zusammenhang mit den Bemühun
gen des Wirtschaftsstabs Ost und der Maikonferenz53 führten die Anti
Partisanen-Aktionen »Weichsel« und »Seydlitz« zu einer Teilevaku
ierung und -ausrottung der Bevölkerung des Pripjetgebietes: über 9000
Menschen wurden getötet und mindestens 27000 ausgesiedelt, meist
»für den Arbeitseinsatz erfaßt«.54
Yorck von Wartenburg scheint überdies eine Art Multifunktionär,
was Plünderorganisationen anging, gewesen zu sein. Im Juli 1943 besaß
er auch eine Stellung bei der Haupttreuhandstelle Ost, deren Aufgabe
die Überführung nichtlandwirtschaftlichen polnischen Eigentums in
deutsches in den von Deutschland annektierten polnischen Gebieten
war.55 Für Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburgwar Yorck von War
tenburg einer von denen, »die vor lauter Christentum sich nicht ent
schließen konnten, das Rechte zu tun«, nämlich Hitler umzubringen.56
In anderen Fällen scheint sein Gewissen kleine Ausnahmen zugelassen
zu haben. Um so erstaunlicher die Tatsache, daß Yorck nach seiner Ver
haftung 1944 zu Protokoll gab, nicht allein die Verfolgung der Juden,
sondern auch »das Vorgehen, welches wir zeitweise in den besetzten
Gebieten an den Tag legten«, habe ihn besonders zu seiner Opposi
tionshaltung bewogen.57

Widerstand - wogegen?

Noch am 28. Juni 1944, drei Wochen vor dem Attentat, unterschrieb
Henning von Tresckow als Chef des Generalstabs der 2. Armee einen

439
Befehl, in dem es hieß: »Bei Bandenunternehmungen den Banden abge
nommeneJungen und Mädchen im Alter von 10 bis 13 Jahren, die kör
perlich gesund und deren Eltern nicht auffindbar oder als nichtarbeits
fähige Personen in den für Restfamilien (Bodensatz) vorgesehenen
Räumen zusammenzuziehen sind, sind ins Reich abzuschieben.« Der
Transport sei von den Arbeitseinsatzdienststellen über das »OT-Lager
für Jugendliche in Lesin bei Baranowicze« durchzuführen.58
Dieser Befehl ergingim Rahmen der sogenannten»Heuaktion« (h für
heimatlos, e für elternlos, u für unterkunftslos), bei der auf Initiative der
9. Armee im Gebiet der Heeresgruppe Mitte 40000 bis 50000 »Jugend
liche im Alter von 10 bis 14 Jahren« zusammengefangen und zum
Arbeitseinsatz bei der Organisation Todt in den Junkers-Werken und im
deutschen Handwerk gebracht werden sollten, nicht zuletzt zur
Schwächung des Gegners, nämlich zur »Minderung seinerbiologischen
Kraft auf längere Sicht«.59 Verschiedenste Stellen wie die Heeresgruppe
Mitte und ihre Armeen, die Vierjahresplanbehörde und die Reichsju
gendführungarbeitetendabeizusammen. Tatsächlich wurden noch etwa
4500 Kinder verschleppt.60 - »Widerstand« also wogegen?
Auf die Frage, aus welchem Grund die Verschwörer Änderungen in
der politischen Spitzeund zum Teil auchim politischen System wollten,
kann hier nicht umfassend eingegangen werden. Jedoch ist der Haupt
antrieb wohl im Bemühen zu suchen, die - wie auch immer verstande
nen - Interessen Deutschlands zu wahren und den Krieg zu gewinnen
(oder zumindest nicht zu verlieren), womöglich »besser« als Hitler und
seine Gefolgsleute. Hierzu nur einige Hinweise.
Legationsrat Dr. Adam von Trott zu Solz, außenpolitischer Experte
der Widerstandsbewegung mit gutenBeziehungen zu englischen Diplo
maten, traf sich am 15. Juli 1942 mit dem Reichsführer-SS Heinrich
Himmlerund bat mit Schreiben vom 21. Augustum eine weitere Begeg
nung. Zweck war die Aufstellung einer indischen SS-Legion und die
Untergrabung der Moral der indisch-britischen Truppen in Nordafri
ka.61 Friedrich Werner Grafvonder Schulenburg, deutscher Botschafter
in Moskau bis 1941 und Onkel des oben Genannten, lehnte angeblich
den Krieg gegen die Sowjetunion ab. Das hinderte ihn nicht daran, 1942
im AuftragdesAuswärtigen AmtesdiePropaganda zur Destabilisierung
einiger Völker im sowjetischen Hinterland vorzubereiten. So machte er
den Vorschlag, die Krimtataren durch bevorzugte Behandlung bei der
deutschen Agrarreform in den besetzten sowjetischen Gebieten gegen
die Sowjetunion auszuspielen, was später auch geschah.62 Der schon
erwähnte GeneralquartiermeisterWagnerbeteiligte sich erst ab demJuni

440
1944 ernsthaft an den Umsturzvorbereitungen mit der Begründung, es
sei »untragbar, daß der Russekämpfendin dasReichsgebiet eindringt.Es
bedeute dies den absoluten Untergang.«63
Wohlgemerkt: Hier wird nicht bestritten,daß die genannten Personen
für die Tötung Hitlers gearbeitet und ihr Leben eingesetzt haben. Viele
gaben es dafür: Schulze-Büttger, die von der Schulenburg, Yorck von
Wartenburg, von Trott zu Solz und Nebe wurden hingerichtet, von
Tresckow, Wagner und von Voß begingen Selbstmord, von Gersdorff
konnte sichmit MüheeinerVerfolgung entziehen(und wurde spätervon
der Bundeswehr geschnitten). Es können hier auch nur Aussagen für die
angegebenen Personen, nicht für andere Widerstandskämpfer getroffen
werden.
Die Ehrungen im Jahr 1994 zum 50. Jahrestag des Hitlerattentats
haben gezeigt, daß »der 20. Juli« in der Bundesrepublik Deutschland
einestaatswichtige Angelegenheit ist. Und die Beteiligten werden weiter
geehrt werden, einschließlich allerWiderständler aus der Heeresgruppe
Mitte. Nur sollte jeder wissen können, wen man ehrt.

Anmerkungen

Dieser Beitrag ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines im »Freitag«
Nr. 30 vom 22.7.1994 unter dem Titel »Männer des Widerstands und der Mas
senmord« erschienenen Artikels. Er entstand im Rahmen eines vom Hambur
ger Institut für Sozialforschung unterstützten Forschungsprojekts zur deut
schen Besatzungspolitik in Weißrußland.
l Vgl. Christof Dipper, Der deutsche Widerstand und die Juden, in: Geschichte
und Gesellschaft, 9, 1983, S. 349-380.
i Gemeint ist: innerhalb der Offiziersopposition gegen Hitler. Peter Hoffmann,
Widerstand- Staatsstreich - Attentat, 3.,überarbeiteteund erweiterteAuflage
München 1979, S. 332.
l Vgl. Bodo Scheurig, Henning von Tresckow, Frankfurt am Main/Berlin/Wien
1980 (zuerst 1973),S. 3/ff.
Gefallene Soldaten sind dabei nicht enthalten. Zentrales Staatsarchiv (ZStA)
Minsk 845-1-58, Bl.9. Die Angaben basierenauf den zusammengestellten Daten
der Untersuchungskommission der Kreise und Städte.
" Außer Scheurig vor allem Fabian von Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler,
hrsg. von Walter Bußmann nach der Edition von Gero Schulze-Gaevernitz, Ber
lin 1984 (zuerst 1946); Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff, Soldat im
Untergang, Frankfurt am Main 1987; Philipp Freiherr vom Boeselager, Der
Widerstand in der Heeresgruppe Mitte, Berlin o. J. (1990); vgl. Hoffmann,
Widerstand, a. a. O., S. 327-388.

441
7 Klaus-Jürgen Müller, 20. Juli 1944: Der Entschluß zum Staatsstreich, Berlin
1985, S. 13.
8 Von Schlabrendorff, Offiziere, a. a. O., S. 109.
9 Ebenda, S. 50.
10 Von Gersdorff, Soldat, S. 85.
11 Vgl. Ereignismeldung Nr. 133 der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und
des SD vom 14.11.1941. SF-01/28934, Bl. 3190.
12 Vgl. Von Schlabrendorff, Offiziere, a. a. O., S. 501., Von Gersdorff, Soldat,
a. a. O., S.9711., Hoffmann, Widerstand, a. a. O., S. 3341.
13 Für 1941: DerBundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdien
stes der ehemaligen DDR (BStU), Zentralarchiv, ZUV 9 (Strafverfahren 1 BS
13/71 derStaatsanwaltschaft Karl-Marx-Stadt gegen F.), Bd. 31, Bl. 3-17,27-33,
34-44, 45-55 (Augustberichte jeweils mit dem Zusatz »zum Vortrag bei der
Heeresgruppe Mitte«), Vortragsnotizen Bl. 20-26. Es handelt sich um Kopien
aus einem unbekannten sowjetischen Archiv. Für 1942: ZStA Minsk, 655-1-3,
Bl. 133-203, 60-132, 4-59 (Originale). Der letztgenannte Bericht befindet sich
als Kopie auch im Bundesarchiv Koblenz, R 70SU/9.
14 Einsatzgruppe B II (SD): Übersichtsbericht für die Zeit vom 14.7. bis 28.7.41
vom 29.7.1941 (Abschrift). MZAPWF-03/5769, Bl. 175-77-
15 BStUZA, ZUV 9, Bl. i8f.
16 Vgl. Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, RH 20-11/488. Für den Hinweis
danke ich Andrej Angrick.
17 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Befehl Nr. 2 vom 1.7.1941
(Abschrift vonAbschrift), übersandt imJuli 1941 (Tagesangabe unleserlich) von
der Abteilung Kriegsverwaltung beim Generalquartiermeister des Heeres.
Militärisches Zwischenarchiv Potsdam (MZAP) WF-03/9121. Auf dem
Anschreiben Paraphe vonTresckows undNotiz »Abzugeben anIc«. Außerdie
semFilm sind alle im folgenden aus diesen ArchivzitiertenMaterialien im Ori
ginal im Freiburger Militärarchiv vorhanden.
18 Besprechung am 6./7.III.41, Geheime Kommandosache! MZAP WF-03/9121.
. Ranghöchster Teilnehmer war der später wegen derVerschwörung gegen Hit
ler hingerichtete Chef der Zentralabteilung im Amt Ausland/Abwehr des
OKW, Oberst i. G. Oster. Das Schreiben trägt mehrere Paraphenvon Offizie
ren aus dem Oberkommando der Heeresgruppe B, in deren Akte »ChefSachen
Barbarossa« es sich findet. Nebenbei bemerkt, scheint dies die erste überliefer
te Erwähnung des später auchverwendeten Begriffs »Einsatzkommandos« zu
sein.
19 Einsatzgruppe B, Notiz für Heeresgruppe Mitte, vom 22.7.1941; BStU ZA,
ZUV9,Bd.3i,B1.2i.
20 Zu errechnen aus den Ereignismeldungen des Chefsder Sicherheitspolizei und
desSD Nr. 73 vom 4.9. (Stand: 20.8.) und Nr. 125 vom 26.10.1941 (16964 bzw.
37180 Ermordete). MZAP SF-01/28931, Bl. 2201 und ^8933, Bl. 3050.
21 Kommandostab RFSS im SS-Führungshauptamt, Der Chef des Stabs, Ia vom
19.6.1941 an den Chef desSS-Führungshauptamtes Jüttner (Abschrift). MZAP
SF-02/37542.

442
22 KTB Kommandostab RFSS vom 20.6.1941. In: Unsere Ehre heißt Treue,
Wien/Frankfurt am Main/Zürich 1965, S. 9, vgl. S. 3 und 8. Vgl. den Befehl
Gen.Kdo. XXXXII.A.K. (Abschrift) vom 20.6.1941. MZAP SF-02/37542.
23 Vgl. Vernehmung O.S. vom 23.10.1942 in einem SS- und Polizeigerichtsverfah
ren gegen den betreffenden Bataillonskommandeur, sowieVernehmung W. A.
vom 13.12.1967. Zentrale Stelle Ludwigsburg 202 AR-Z 1212/60, Bd. 19,
Bl. 3552, sowie Bd. 12,Bl. 1828-33.
24 Vgl. Gen.Kdo. XXXXII.A.K. vom26.6.1941 (Abschrift), MZAPSF-02/37542,
und KTB Kommandostab RFSS vom 27.6.1941, in: Unsere Ehre heißt Treue,
a. a. O., S. 13. Am 5.Juli wurde dann eine Kompanie der 2.SS-Inf.-Brigade »zur
Erledigung von Sonderaufträgen« nach Wilna entstandt. Ebenda, 4.7.1941/
S. 16.
25 Vgl. SS-Kav.Brigade, Tätigkeitsbericht vom 14.8.1941, MZAP SF-02/37575, Bl.
443, und allgemein das Urteil des Landgerichts Braunschweig 2 Ks 1/63 gegen
Magill u.a.vom20.4.1964. In:Justizund NS-Verbrechen, Band 20, Amsterdam
i979,S.23ff.
26 Kdo.-Stab RF-SS, Abt.Ic, Tätigkeitsbericht Nr. 7 vom 28.VII. 41. MZAP SF-
02/37615.
27 Und zwar in einemTelefonatmit dem Höheren SS- und Polizeiführervon dem
Bach-Zelewski, der sich am 2. und 3.8. bei den SS-Kavallerie-Regimentern auf
hielt. Vgl. dessen Tagebuch vom 3.8.1941 sowie den Eintrag vom 2.8. BA R
20/45b, Bl. 6.
28 Tagesmeldung HSSPF Rußland-Mitte vom 4.8.1941 an Himmler persönlich
u.a., nach dem Stand vom 3.8. abends. BA, ZwischenarchivDahlwitz-Hoppe-
garten, ZB 6735, O.I, Bl. 268.
29 Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschau
ungskrieges, Stuttgart 1981, S. 248.
30 Aktennotiz über Kursus »Bekämpfung von Partisanen« beim Bef. rückw.
H.Geb. Mitte (25.u. 26.9.1941). ZStAMinsk 655-1-1, Bl.279f. Vgl.den Korps
befehl Nr. 53 des Befehlshabers des rückwärtigen Heeresgebietes Mitte vom
16.9.1941, drei Entwürfeder Tagesordnung, einVerzeichnis der Lehrgangsteil
nehmer und weitere Materialien: MZAP WF-03/13302, Bl. 74-106.
31 Infanterie-Regiment 9,Abt. Ia,Mittagsmeldung vom25.6. und Abendmeldung
vom 28.6.1941. MZAP (BArchP) F 55447, Bl.991 und 10401. 23.Inf.-Division,
Abt.Ia,Befehl vom 25.6.1941. (BArchP) F 55448, Bl. 239. Vgl. dazu die unkor
rekte Darstellung bei Wolfgang Paul, Das Potsdamer Infanterie-Regiment 9
1918-1945,2. verbesserte Auflage, Osnabrück 1985, S.175f.: nicht »dieZahlder
Gefangenen und Überläufer ließ diese harte Haltung nicht zu«, sondern am
1.Juli ergingen Gegenbefehle der 4. Armee (von Kluge) und des VII. Armee
korps, da die Sowjetsoldaten noch erbitterter kämpften und sich kaum einer
mehr ergeben wollte. (»Der Russe als stumpfer Halbasiat glaubt dem einge
trichterten Grundsatz seiner Kommissare,daß er bei etwaiger Gefangennahme
erschossen wird.«) »Notwendige Vollstreckungen« hatten weiter, und zwar
insgeheim, durchgeführt zu werden. NOKW 2104, Bundesarchiv Potsdam
(BArch P) F 44993, Bl. 366, und (BArchP) F 55447, Blattzahl unleserlich. Für
Paul scheinenausschließlich sowjetische Greuel stattgefunden zu haben.

443
32 Zitiert nach Ulrich Heinemann, Ein konservativer Rebell. Fritz-Dietlof Graf
von der Schulenburg und der 20.Juli, Berlin1990, S. 73.
33 Zitiert nach Krausnick, a. a. O., S. 226. Gersdorff stellte allerdings nur fest, er
wertete nicht.
34 Dienstplan für das Oberkommando der Heeresgruppe B vom 20.6.1941 sowie
Dienstplan des Oberkommandos Heeresgruppe Mitte vom 15.11.1942 (Nach
kriegsabschrift). MZAP (BArchP) F 18495, hier Bl.901 bzw. 617.
35 Der Heeresfeldpolizeichef im Oberkommando des Heeres vom 10.4.1943,
abgedrucktin:Klaus Geßner,Geheime Feldpolizei, Berlin1986, S.130-33, Zitat
S. 133; vgl. Geßner, in diesem Band;vgl. in diesemBand.
36 Geßner, a. a. O., S. 98.
37 Vgl. Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten ZM 868 A.4, Bl.
2"377'
38 Der Führer, Weisung Nr. 46, Richtlinien für die verstärkte Bekämpfung des
Bandenunwesens im Osten vom 18.8.1942. Abgedruckt in: Hitlers Weisungen
für die Kriegführung 1939-1945, hrsg. von Walter Hubatsch, Frankfurt am
Main 1962, S. 201-206.
39 Außer diesen »Feindtoten« dürften, wie üblich, zahlreiche getötete »Banden
verdächtige« gemeldetworden sein.
40 Kube über Lohse an den Reichsminister für die besetzten Ostgebiete Rosen
berg; Lohse an Rosenberg vom 5. und 18.6.1943. In: Der Prozeß gegen die
Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Band 38,
Nürnberg 1948, S. 371 ff. Hervorhebung C. G.
41 Timothy Mulligan, Reckoning the Costs of the People's War: The German
Experiencein the Central USSR, in: Russian History, 9, 1982, S. 27-48.
42 Oberkommando der Heeresgruppe Mitte, Ia Nr. 1086/43 g.Kdos. vom
6.2.1943. Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München (IfZ), Fb. 101/34. Es
zeichnete der Generalstabschef Wöhler.
43 Okdo. H.Gr. Mitte Ia vom 30.8.1942 an Heusinger. Vgl. dessen zustimmende
Antwort vom 1.9.1942 sowie den Auftrag vom 28.8.1942, in: Dokumente über
die Verbrechen Adolf Heusingers, Moskau 1962, S. 193-195. Außerdem Vor
schlagsübermittlung des Befehlshabers rückwärtiges Heeresgebiet vom
30.8.1942 und dessen Meldung über Befehl zur Durchführungan die286. Siche
rungs-Division vom selben Tag mit handschriftlicher Notiz von Tresckows:
»20,05 bei Obstlt Boehm fernmdl. Rücksprache, daß Durchführung nicht
erfolgt, bevor EntscheidungO.K.H. eingegangen. T.« BA-ZA Dahlwitz-Hop
pegarten FW 490,A.i 1,Bl. 2 und 6. Auch KTB des Befehlshabers rückwärtiges
Heeresgebiet Mitte vom 27. und 29.8. sowie 1.9.1942. MZAP WF-03/13352,
Bl. 8i8ff.
44 Vgl. Aussage W.A. Barantschik, in: Dokumente ... Heusinger,a. a. O., S. i88f.;
Vernehmungen K., Pi., Pe. und M. von 1945 und 1969 (auf Grund eines west
deutschen Rechtshilfeersuchens).BStU, ZUV 9, Bd. 18,Bl. 5f., 21f., 82f. und Bd.
19, Bl. 354. Auch KTB Befehlshaber rückwärtiges Heeresgebiet Mitte vom
3.9.1942, MZAP WF-03/13352, Bl. 826. -Übrigens hattemanbeidenZuschau
ern im Gegensatz zu den Opfern nur Männer zwischen 16 und 55 Jahren aus
gewählt;vgl. Aussagen Pe. und Pi.

444
45 Zu diesem Zeitpunktgalten imBereich der Heeresgruppe Mitteetwa43 Prozent
des Gebiets als »bandenverseucht«, etwa 30 Prozent als »bandengefährdet«.
Flächeninhalt vor und nach der »Hagen«-Bewegung, MZAP WF-03/5375, Bl.
1211 f. Zusammenstellung nach einer Anordnung des Ia op (von Voß) vom
8.8.1943 (ebenda, Bl. 1215) durch »Obltn. v. Schlabrendorff«.
46 BA-MA RH 19 II/172, Bl. 11 sowie 33-60, Zitate Bl. 45 und 57, bzw. MZAP
WF-03/5367, vgl. WF-03/7422, Bl. 1195-99.
47 Abschrift in BA-MA RH 19 II/173, Bl. 48.
48 Vgl. Boeselager, Der Widerstand, a. a. O., S. 16-23.
49 Der Kreisauer Kreis. Porträt einer Widerstandsgruppe. Begleitband zu einer
Ausstellung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1985, S. 21.
50 Vgl. Wirtschaftsstab Ost, Stabsbefehl Nr. 22/43 vom I3-7-I943> BA-MA RW
31/34; Stellenbesetzungsliste für das 4. Quartal 1942, MZAP (BArchP) F 43386,
Bl. 1121. Ende 1943 rückte er zum Gruppenleiter auf: vgl. die Stellenbeset
zungslisten mit Standvom 31.12.1943 und 1.4.1944, MZAP (BArchP) F 43390,
Bl. 474, und BA-MA RW 31/39, Bl. 154fr.
51 Vgl.Hoffmann, Widerstand, a. a. O., S. 486.
52 Chefgruppe La ia 91/43 g.Kdos. vom 20.5.1943 über ein Telefonat mit Yorck
vom selben Tag sowie Generalstab des Heeres/Der Generalquartiermeister an
Wirtschaftsstab Ost vom 5.5.1943 (Abschrift); BA-MARW 31/250, Bl. 46und
50.
53 Unterlagen der Konferenz vom 25.5.1943 mit dem Bericht des Wirtschaftsstabs
Ost vom 22.5.1943 und Anlagen 1-21 in: Sonderarchiv Moskau, 700-1-50,
Bl. 153-197,unvollständig auch in IfZ Fb 101/34.
54 Vgl. Abschlußberichte über Einsatz im »Nassen Dreieck« vom10.6. und »Seyd-
litz« vom 30.7.1943 im Kriegstagebuch der SS-Kavallerie-Division, Bundes
archivPotsdam F 41848, Bl. 1188-90und 1666-70 sowie Halbmonatsbericht des
Chefs der Bandenkampfverbände vom 6.8.1943, Zentrale Stelle Ludwigsburg,
202 AR-Z 52/59, Beweismittel Bd. X, Bl. 99.
55 In Akten der HTO, Treuhandstelle Kattowitz, findet sich die Niederschrift über
die Besprechung mit den Geschäftsführern der Gaugrundstücksgesellschaften
am 7. Juli 1943 vom 13.7.1943, auf der Anwesenheitsliste Oberregierungsrat
»Graf York von Wartenburg« in der Rubrik »von der HTO«. Zur Identität:
Peter Yorck war Oberregierungsrat seit 1938 und hatte 1936bis 1942als Leiter
des Referats für Grundsatzfragen beim Reichskommissar für die Preisüber
wachung gearbeitet. Vgl. Der Kreisauer Kreis, a. a. O., S. 24. In der genannten
Sitzung nahm der genannte »York« u. a. fachkundig zu Preisbildungsfragen
Stellung.BArchP F 72661, darin »F 16203«, Bl. 103-112.
56 DieÄußerung wurde wiedergegeben vonMarion Gräfin Dönhoff, zitiert nach
Ines Reich/Kurt Finker, Potsdam und der 20.Juli 1944, in: Brandenburgin der
NS-Zeit, hrsg. von Dietrich Eichholtz, Berlin 1993, S. 337. Ähnlich nach Kal-
tenbrunner an Bormann, 25.8.1944, in: Spiegelbild einer Verschwörung, Stutt
gart 1961, S. 299-301.
57 Kaltenbrunner an Bormann, 31.7.1944, ebenda, S. 11o.
58 Armee-Oberkommando 2 Nr. 4758/44 vom 28.6.1944, MZAP WF-03/26818,
Bl. 299.

445
59 Vermerk DerChefdes Führungsstabes Politik (im Ostministerium) - pers. Ref.
-vom 12.6.1944, zitiertnachBarbara Bromberger/Hans Mausbach, Feinde des
Lebens, Köln 1987, S. 185 ff.
60 Übrigens sollte Henning von Tresckow nach zumindest einer Besetzungsliste
der Verschwörer »Chef der Deutschen Polizei« im Reichsministerium des
Innern,also in dieser Eigenschaft Nachfolger Himmlers werden. Kaltenbrunner
an Bormann vom 27.7.1944, in: Spiegelbild einer Verschwörung, a. a. O.,
S.61.
61 Vgl. Tagesnotizen Himmler vom 15.7.1942, Sonderarchiv Moskau 1372-5-23,
Bl. 171, und Auswärtiges Amt, Sonderreferat Indien, Dr. vom Trott zu Solz
(Geheim) vom 21.8.1942 an Himmlers persönlichen Adjutanten Grothmann,
BArchP, F 3327,Bl. 3078.
62 Vgl. Vermerk Wirtschaftsstab Ost, Chefgruppe La vom 23.5.1942, MZAP
(BArchP)F 42749, Bl. 973 f.
63 SodieAussage Stieffs nach: Kaltenbrunner anBormann vom28.7.1944, in:Spie
gelbild einerVerschwörung, a. a. O., S.90.
Klaus Latzel Tourismus und Gewalt
Kriegswahrnehmungen inFeldpostbriefen

Die Wehrmacht war als Organisation nicht nur Instrument, sondern


auch Komplizin der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Seit
Mitte der sechziger Jahre hat dieses Urteil durch eine Fülle von For
schungsergebnissen zur Vorbereitung und Durchführung des »Unter
nehmens Barbarossa« und des Krieges auf dem Balkan, speziell zum
Komplex der »verbrecherischen Befehle«, zur Behandlung der Kriegs
gefangenen, zur Besatzungspolitik, zum Partisanenkrieg und vor allem
zur Judenvernichtung unabweisbare Evidenz gewonnen.1 Nunmehr
zugängliche Archivbestände in denehemaligen Ostblockländern deuten
darauf hin, daß das Ausmaß, in dem NS-Verbrechen auch Wehrmachts
verbrechen waren, noch höher angesetzt werden muß, als bisher schon
bekannt war.2 Feldpostbriefe haben bei der Erschließung dieses Kom
plexes bislang freilich die geringste Rolle im Tableau der herangezoge
nen Quellen gespielt, wohl auch nur spielen können.
Das heißt nicht, daß die Briefe der Soldaten zu diesem Thema durch
weg schweigen:

»Ich glaube, daß Juden hierzulande auch bald kein Bethaus mehr
brauchen werden. Warum, habe ich Dir doch bereits geschildert. Für
diese greulichen Kreaturen ist's dochdieeinzig richtige Erlösung.«
»In Bereza-Kartuska, wo ich Mittagsstation machte, hatte man gera
de am Tage vorher etwa 1300 Juden erschossen. Sie wurden zu einer
Kuhle außerhalb des Ortes gebracht, Männer, Frauen und Kinder
mußten sich dort völlig ausziehen und wurden durch Genickschuß
erledigt.«3

Allerdings wird zu leicht vergessen, daßdiese und weitere, vor allem aus
der umfangreichen Sammlung von Reinhold Sterz veröffentlichten
Briefpassagen, nicht umstandslos pars pro toto für die gesamte Wehr
macht angeführt werden können, wennnach der Kenntnis von oderder
Beteiligung anVerbrechen gefragt wird. Feldpostbriefe können zunächst

447
und immer illustrativ verwendet werden; selten enthalten sie handfeste
Hinweise auf konkrete Verbrechen, die freilich sind bereits geeignet,
pauschale apologetische Behauptungen, manhabe vondiesen nichts wis
sen können, zuwiderlegen. Fürpositive generalisierende Aussagen etwa
über die Verbreitung des Wissens von der Judenvernichtung scheinen
Feldpostbriefe wegen ihrer mangelnden Repräsentativität im statisti
schenSinnehingegen kaum geeignet zu sein.4
Die eigentliche Aussagekraft von Feldpostbriefen liegt auf anderer
Ebene. Das Bewußtsein derSoldaten, die andie Frontgingen - darauf hat
Omer Bartov hingewiesen -, glichnicht einer Tabularasa.5 Sieteilten das
»soziale Wissen«6 der Gesellschaft, aus der sie in den Krieg gezogen
waren. Zu diesem Wissen zählten die Wahrnehmungs- und Deutungs
muster, mit denen die Soldaten den besetzten Ländern und der Zivilbe
völkerung, gegen die sich ein großer Teil der Wehrmachtsverbrechen
richtete,gegenübertraten. DieseVerbrechen sind situativ, alsReaktionauf
extrem strapazierende äußere Bedingungen des Krieges oder schlicht als
Ergebnis der rigorosen Gehorsamspflicht nur unzureichend zu erklären.
Bestandteil der strategischen Planung in der Wehrmachtsführung,
bedurftensie zugleich der Gewaltbereitschaft vor Ort. Diese Gewaltbe
reitschaft istin einem exakt nichtbestimmbaren, jedoch erheblichen Aus
maß vondenSoldaten bereits mitin den Krieg genommen worden. Sie ist
in der Sprache, in den Briefender Soldatenaufzufinden.
Die folgenden Ausführungen begeben sich daher auf die Ebene von
Wahrnehmungen und Deutungen und nähern sich dem Thema Wehr
machtsverbrechen auf eher indirektem Wege. Sie fragen zunächst nach
dem »touristischen« Blickder Wehrmachtssoldaten, mit dem dieseLand
und Leute betrachteten. Um ihre Aussagen zeitlich schärfer zu kontu-
rieren, werden zum Vergleich entsprechende Äußerungen aus dem
Ersten Weltkriegherangezogen. Wenn die Soldaten in ihren Briefen zur
Sprache gekommen sind, werden sie beim Wort genommen, nämlich auf
Dispositionen zur Gewalt befragt, dieihrer Sprache inhärent waren.

Der touristische Blick

»Bis jetzt war esja eine grose Kraft durch Freude Reise«, urteilte ein Teil
nehmer am Krieg gegen Frankreich Ende Mai 1940 über seine Kriegser
fahrungen. Ähnlich hieß es im März 1941 aus dem Bereitstellungsraum
für denÜberfall aufdie Sowjetunion:
»Um Eure begreifliche Neugier zu stillen will ich Euch sagen, daß ich
448
eine sehr weite Reise, nämlich bis bald an die russische Grenze [...]
hinter mirhabe, wir sind ohne Übertreibung durchhalb Europa kut
schiert. Wieder strömen viele neue Eindrücke auf einen ein, und wie
der lernt man vieles Neue und Interessante kennen. Meine ganze
Militärzeit ist ja bald eine einzige >Studienreise< gewesen.«7

Nun war die Wehrmacht alles andere als ein Freizeitunternehmen, der
»Krieg als Reise«8 mithin ein Euphemismus sondergleichen. Dennoch
besaß der »touristische« Blick für die Soldaten erhebliche Bedeutung,
nicht zuletzt deshalb, weil der Krieg vor dem Zeitalter des Massentou
rismus meist die einzige Gelegenheitfür den sogenannten kleinen Mann
war, etwas von der Welt zu sehen. Was den »touristischen« oder »Frei
zeitwert« angeht, war der Krieg im Westen konkurrenzlos; für den
Osten galt das Gegenteil: »Hier«, beklagte sich ein Gefreiter nach drei
Wochen »Rußlandfeldzug«, »ist es nicht wie in Frankreich. Dort war
alles,was wir haben wollten, und hier ist genau nichts.«9
DiesesNichts wurde in den Briefenausführlich geschildert. Beginnen
wir mit den allgemeinenEindrücken.
Mit Ausnahme vereinzelter positiver Äußerungen aus der Ukraine
und von der Krim lautete der Tenor der übrigen Stimmen aus der Sowjet
union: »Diese ungeheuren Flächen, riesige Wälder und ab und zu ein
paar Hundehütten machen einen trostlosen Eindruck.« - »Lauter für das
Auge unschöne Bilder. Traurige Holzhütten, Wälder, Sümpfe. Alles
scheint sich im Unendlichen zu verlieren.«10 Oder drastischer: Das
»gottverdammte«, das »unselige Rußland«, das »furchtbare«, »gottver
lassene«, »scheußliche« Land, das »Dreckland«, »man kann hinkommen
wo man will, es sieht [...] überall gleich aus«.11 Galizien mit seinen
»Drecksnester[n] mit dem vielen Ungeziefer«, Albanien, »ein äußerst
schmutziges Land«, »entsetzlicher Dreck« und »Verkommenheit« in
Bulgarien, »Schmutz und Verkommenheit« in Polen12 - diese Soldaten
schienen wirklich überall dasselbe zu sehen. Zusammenfassend hieß es
über die Sowjetunion:

»Es wird kaum einen geben in diesem elenden Lande, der nicht gern
und oft an sein Deutschland und seine Lieben daheim zurückdenkt.
Hier gibt es wirklich noch trostlosere Zustände als in Polen. Nur
Schmutz und großes Elend herrscht hier und man kann es einfach
nicht fassen, daß die Menschen unter solchen Bedingungenleben kön
nen.«13

449
So wie das Land - Städte und Dörfer - so werden auch die Menschen
erlebt: »In Nis [Serbien] fängt der Orient an. Das ist nicht übertrieben,
denn sein Hauptmerkmal, der Schmutz, ist so überzeugend, daß es der
Moscheenund Minarette gar nicht bedurfte, [...] Schmutz und Verkom
menheit ist hier so entsetzlich, daß [...] ich nur noch mit Grauen an diese
Mischpoke und ihre Wanzenbuden zurückdenke.« Die Albanerdagegen
»sindgarnichtso dumm - das besteZeichenist ja,daß es hier keineJuden
gab - die Hammeldiebe sind noch ausgekochter«.14 In Rumänien lebten
die Menschen in »furchtbaren Dreckhütten«, in Bulgarien sei dagegen
die »Wohnkultur bedeutend gehobener«.15 »Ihr könnt Euch kein Bild
machen«, so wurde aus dem »Generalgouvernement« berichtet, »wie es
hier aussieht, es ist fürchterlich in welchen Buden die Polacken hier hau
sen und wie die umher rennen.« - »Unter der deutschen Verwaltungist
wirklich schon manches getan worden, ehe es aber hier einmal so eini
germaßen aussehen soll, werden noch viele Jahre vergehen. Mit den
Polacken ist wenig anzufangen, entweder leben sie von betteln, handeln
oder stehlen.«- »Sonstwar das allgemeine Bild auf dem Markt natürlich
dem Osten entsprechend. Das tiefsteElend,die größte menschliche Ver
kommenheit steht dort zur Schau, man muß manchmal schaudern.«16
Und aus dem »Reichsgau Wartheland«, nach einem Jahr des deutschen
Terrorregimes: »Es wohnen hier noch sehr viel Polen, aber die sind
gewaltig kusch [...]« - »[...] die Polacken[...] habennichts zu sagen. Der
Deutsche ist der Herr und der Pole ist der Diener. Dieses Sauvolk ver
dient es auch nicht besser. [...] Faul und dreckig, das ist ihr ganzes Kön
nen.«17 Von den »Buden« der »Polacken« zu den »Hundehütten« der
Russen: »Wir sind gestern aus unserem schönen Quartier ausgezogen
und liegen nun in einer verfluchten Saubude, so was von Dreck habe ich
noch nicht gesehen.« - »Die Vorstellung von russischen Häusern, die
man zu Hause hat (Dreck,Flöhe, Wanzenund Lumpen)ist nämlichrich
tig.«18 Von der Krim hieß es hingegen, die Häuser seien wahre
»Schmuckkästchen«, die Menschen »sauber gekleidet«. Und aus der
Ukraine: »Für einen Städter ist es sehr interessant, hier das bäuerliche
Leben in ganz primitiver Form kennenzulernen.«19 Positiv wurde die
Bevölkerung erwähnt, wenn sie sich freundlich oder dienstbar zeigte:
»Die Frau ist sehr freundlich und kocht uns die Hühner und Kartoffeln,
die ich organisiert habe.« - »Die Leute scheinen recht ordentlich zu sein.
Heute morgen machte sie unaufgefordert die Bude sauber.« - »Die
Bevölkerung [ist] schüchtern und ziemlich zuvorkommend.«20 Generell
aber wurde ein anderer Ton angeschlagen: Von »schmierige[n] Russen-
weiber[n]« war dann die Rede, von »verlumpten, faulen Menschen«; die

450
»Russen werden hier frecher und unverschämter als die Franzosen«; »ein
Volk hier, verdreckt und verlaust, direkt zum ekeln«. - »Überall diesel
bentraurigen Hütten und daskaum menschenähnliche Volk.«21 Schließ
lichdieJuden,allerdings nur selten erwähnt: »[...] einVolk ist das, da ist
alles dran. Man kann sich amüsieren«, hieß es aus Riga,22 und aus Gali-
zien: »[...] endlich die unendlich vielenJuden, diese ekelhaftenStürmer
typen. Rzeszow undTarnow, dieStädte ohne Arier- überall hocken sie
vor den Haustüren in ihren langen schwarzen Gewändern mit langen
Barten und unterlaufenen Augen.«23
Dies muß als Quintessenz der Stimmen aus dem Zweiten Weltkrieg
genügen. Bevor sie näher betrachtet werden, werden zumVergleich die
jenigen aus demErstenWeltkrieg zusammengefaßt.

Vergleichsfall Erster Weltkrieg

Auch die Briefschreiber des Ersten Weltkriegs sparten nicht an allge


meineren Eindrücken:
Man berichtetevom »verarmten, von den Russen ausgesogenen Gali-
zien« und entdeckte dort den »üblichen Dreck«, aber auch »herrliche«
Wälder. Polen wirke »eintönig« und »einförmig«; die »arme Gegend«
dort, aber auch das »wunderbare« Taldes Njemen wurden hervorgeho
ben, und Serbien sei »sehr reich und fruchtbar«.24
Die Äußerungen über die Städte und Dörfer waren relativ ausgewo
gen:
»Sie«, nämlich »sehr ansprechende Dörfer« in Serbien, »machten den
besten Eindruck. Soviel gute Häuser, wie man hierin einem Dorfe sieht,
sahen wir während der 10 Monate in ganz Rußland nicht.« Andere
schrieben von »armseligen Dörfchen« in Russisch-Polen, von einem
»unglaublich schmutzigen Judenstädtchen«, einem »kümmerlich-rus
senähnlichen polnischen Dorf«, aber auch aus der Stadt Jaslo, sie sei
»z. T. sehr sauber gebaut«.25
Die Berichte über die Zivilbevölkerung waren im Ersten Weltkrieg
noch generell vergleichsweise wohlwollend und auch in der Kritik
zurückhaltend:
»Man ist bei uns falsch unterrichtet, wenn man von Serbien so oben
hin als dem Land der Hammeldiebe vielfach gesprochen hat. [...] Man
siehtanallem und jedem, daßdieserbischen Bauern gutleben. DieWoh
nungen sind sehr sauber und reinlich gehalten.« Ein anderer lobte sein
Quartierin Galizien als »sehr sauber«, damandort »auf Ordnung« halte.

45i
Die Bevölkerung sei »arm und anscheinend auch wenig wohlgesinnt«,
ein dritter nannte sie »stumpf« und desinteressiert.26 Über die polni
schen Bauern hieß es, sie seien »gegen unsere Verhältnisse sehr weit
zurückin jederBeziehung. Sie lebenrechtärmlich und primitiv. [...] Sehr
selten sieht man die Polen sich waschen. Sie haben von uns in dieser
Beziehung schon etwas gelernt ...« Ihre Kinder seien »wunderschön«,
und sie könnten »geschickt zufassen. Umso bequemer sind die Alten.«
»Wie ganz anders«, so wurde zusammengefaßt, »sieht es doch bei uns
daheim aus. Aber die Leute hier sind auch faule Menschen, die nicht
arbeiten wollen.«27
Schließlich wiederum zu den Juden. Kraß antisemitische Stimmen
wurden auch schon im Ersten Weltkrieg laut: »Wenn-wir auf einer Rast
mal [...] eine Gepäckerleichterung gemacht hatten, waren auch gleich
galizische Juden da, die alles zusammenrafften und es jetzt wohl noch
verschachern werden. [...] An den Straßen stand alles mögliche Völker
gesindel. Ungarn in ihrer prachtvollen Tracht .[...] Rumänen, Galizier
und Juden in ihren großen, schmierigen, schwarzen Kaftanen, auf dem
Kopf eine Pudelmütze unter der ihre Schmalzlocken bis unten an die
Backen über dasschmutzige Gesicht hervorhingen.«
Aber auch hier gab es die Gegenstimme: »In der Zivilbevölkerung
sieht man hauptsächlichpolnischeJuden; freundliche Leute und interes
sante Typen.«28

»Vergesellschaftung derGewalt« von unten

Schon diese Briefpassagen aus beiden Kriegen machen offensichtlich,


wie die Beschreibungen derfremden Länder und Menschen ständig mit
Bewertungen verbunden wurden. Auch wenn es den Soldaten so schei
nen mochte: Die Urteile, denen sie Land und Leute unterwarfen, erga
ben sich nicht einfach aus der vorgefundenen Wirklichkeit. An der rus
sischen Bauernkate stand kein Hinweis, ob sie als Häuschen oder
Hundehütte bezeichnet werden wollte, sondern darüber entschied erst
der Briefschreiber, der von ihr berichtete, und das unmittelbare Bedürf
nis der Soldaten nach Sauberkeit rief Urteile über die angetroffenen
Lebensumstände ab, deren Inhalt aus diesem Bedürfnis allein nicht hin
reichend erklärbar ist. Mit anderen Worten: Die Kriterien, die den Urtei
len zugrunde lagen, die Maßstäbe, die die Soldaten anlegten, stammten
nicht nur aus deren aktuellen Bedürfnissen, sondern aus diesen zuvor
liegenden, situationsunabhängigen, von den Soldaten aus der wilhelmi-

452
nischen oder nationalsozialistischen Gesellschaft in den Krieg getra
genenWissensbeständen, mit deren Hilfe sie die angetroffene Situation
erst definieren konnten.
Dies gilt vollends für die Sprache, derer sie sich bedienten. Sie vor
allem speichert den gesellschaftlichen Wissensvorrat, vermittelt Bedeu
tung und Bewertung. In den Feldpostbriefen je individuell gesprochen,
kannsiedochüberindividuelle Gültigkeit beanspruchen. Betrachtet man
diese Sprache genauer, dann läßt sich beim Vergleich der beiden Kriege
der erste Eindruck aus der Lektüre der Briefe präzisieren. Bereits eine
Gegenüberstellung der besonders sprechenden, nämlich positiv oder
negativ wertenden Adjektive aus den einschlägigen Briefpassagen29 ist
aufschlußreich.
Das entsprechende Repertoire ist im Zweiten Weltkrieg immer dann
besondersreichhaltig, wenn es gilt, Kritik, Widerwillen und Abscheuzu
formulieren. Diestrifft besonders aufdiejenigen Adjektive zu, mit denen
eigene Reaktionen und Empfindungen artikuliertoder die hygienischen
Verhältnisse beurteilt werden. Unter den gleichen Aspekten zeigt sich
eineweitere Differenz zwischenden Kriegen: Während im Ersten Welt
krieg die negativ wertenden Adjektive fast ausschließlich dem Land,
äußeren Umständen,Verhältnissen galten, wurden sie im Zweiten Welt
krieg hinsichtlich der eigenen Empfindungen überwiegend, hinsichtlich
der »Sauberkeit« fastausschließlich auf die Bevölkerung bezogen, biszu
so drastischen Wörtern wie »abstoßend« und »ekelhaft«. Hier wurden
nicht mehr vornehmlich Verhältnisse markiert, sondern Menschen
denunziert.
Auch im Hinblick auf deren persönliche oder »Charaktereigenschaf
ten« taten sich die Soldaten des Zweiten Weltkrieges mit ihrer drasti
schenWortwahl in pejorativer Absieht hervor, bis zu »verkommen« und
»kaum menschenähnlich«. Der Befund eines ziemlich hemmungslosen
Gebrauchs die Bevölkerung diskriminierender oder stigmatisierender
Adjektive wird unterstrichen, wenn man zusätzlich das Arsenal an
Schimpfwörtern und anderen, negativ besetzten Bezeichnungen für
diese Menschen betrachtet. Auch hier formulierten die Briefschreiber im
Ersten Weltkrieg noch deutlich zurückhaltender; weniger, wenn es um
negative Völkerstereotype,sondern vor allem, wenn es um Verbalinjuri
en bis zum »Idioten« oder »Sauvolk« ging. Auch Bezeichnungen wie
»Hundehütte« oder »Saubude« liest man erst in den Briefen aus dem
Zweiten Weltkrieg.
In beiden Kriegen war der Blick der Soldaten auf die fremden Länder
und deren Bewohner sozial von oben nach unten, zeitlich, gewisser-

453
maßen entwicklungsgeschichtlich, von vorn nach hinten gerichtet. In
ihrem eigenen Verständnis häuften die deutschen Soldaten Beleg auf
Beleg für die traditionelle These vom Kulturgefälle zwischen Westen
und Osten, zwischen der maßgeblichen eigenen, modernen und der zu
messendenfremden, primitiven Kultur.30 Die Kriterien, nach denen sich
diese Zuordnung richtete, glichensich in beiden Kriegen: »Sauberkeit«,
immer wieder »Sauberkeit« gegen »Schmutz« und »Dreck«, ferner
Fruchtbarkeit und Wohlstand gegen Ödnis und Armut sowie »Fleiß«
gegen »Faulheit« bildetendie stereotypen Orientierungsmarkender Sol
daten.
Beigenauerem Hinsehen ergibt sichjedoch beidem zentralenUrteils
kriterium, »Sauberkeit/Schmutz«, eine bezeichnende Bedeutungsver
schiebung zwischenden Kriegen, die einer generell veränderten Einstel
lung der Soldaten korrespondiert. Zielten im Ersten Weltkrieg die
Bezeichnungen, mit denen »Schmutz«, »Dreck« usw. artikuliertwurden,
meist auf Verhältnisse, auf Zustände, so hatte sich im Zweiten Weltkrieg
ihre Referenz geändert:Sie deuteten nun vornehmlich auf die Menschen,
die mit diesen Verhältnissen identifiziert wurden. »Schmutz« und
»Dreck« wurden damit tendenziell von äußeren Umständen zu inneren
Eigenschaften - zugespitzt: Die Menschen leben nicht im Dreck, son
dern sie sind, »kaum menschenähnlich«, der Dreck.
Diese Übersetzung oderVerschiebung von sozialen Verhältnissen in
menschliche, womöglich biologische Eigenschaften reproduziert ein
grundlegendes Argumentationsmuster des modernen Rassismus.31
»Schmutz«, »Elend« und vor allem»Verkommenheit« sind Begriffe, die
sich vorzüglich als semantische Umschlagplätze eignen. Exemplarisch
läßt sich das an zwei NS-Presseanweisungen vorführen:

»Heute«, hieß es am 5.Juli 1941, »sind Millionen deutscher Soldaten


Zeugen der Barbarei und der Verkommenheit des bolschewistischen
Staates. [...] Das Arbeiterparadies entpuppt sich vor aller Welt als ein
gigantisches Betrüger- und Ausbeutersystem, in dem die Schaffenden
durch blutigstenTerror in menschenunwürdigenZuständen einunbe
schreiblicherbärmlichesDasein fristen müssen.In diesemSystem [...]
herrscht ein geradezu unvorstellbarer Grad menschlicher Verkom
menheit. Alles, was die Millionen deutscher Soldaten heute dort
sehen, ist ein einziges Bild niedrigsten sozialen Lebensstandards:
angefangen von den erbärmlichenBehausungenund Wohnungen,von
den verwahrlosten Straßen, verdreckten Dörfern bis zur tierischen
Stumpfheit ihres ganzen Daseins.«32

454
Diesefür die Presseverbindliche »Tagesparole« ist in zweierlei Hinsicht
scheinbar semantisch ambivalent: Sie changiert zwischen der »Verkom
menheit des bolschewistischen Staates« und »menschlicher Verkom
menheit«, zwischen »menschenunwürdigen Zuständen« und der »tieri
schen Stumpfheit« des menschlichen Daseins, ohne diese Menschen
eindeutig als un- oder untermenschlich zu qualifizieren. Aus Menschen
Tiere zu machen, das blieb hier der Phantasie des Publikums überlassen,
die freilich dahin gedrängt wurde. Schon früher, nämlich im Oktober
1939, wenige Wochen nach Kriegsbeginn, hatte eine Presseanweisung
dies als Ziel vorgegeben:

»Esmuß auch der letzten Kuhmagdin Deutschland klargemacht wer


den, daß das Polentum gleichwertig ist mit Untermenschentum. [...]
DieserTenorsollimmernur leitmotivartig anklingen und gelegentlich
in feststehenden Begriffen wie>Polnische Wirtschaft^ >Polnische Ver
kommenheit und ähnlichen [sie!] treten, bis jeder in Deutschland
jeden Polen, gleichgültig ob Landarbeiter oder Intellektuellen, im
Unterbewußtsein schon als Ungezieferansieht.«33

Das ist dieSprache des rassistischen Herrenmenschen, der die östlichen


oder slawischen Völker vornehmlich als »Untermenschen« wahrnimmt.
Explizit kam dieser Blick in denBriefen aus demZweiten Weltkrieg sel
tener zur Sprache, etwain der Redevon den »Stürmertypen«, vom »Sau
volk«, von der »menschlichen Verkommenheit«, als die ihm inhärente
Verachtung implizit zu spüren war. Die Briefe sind grosso modo von
einer konstitutionellenÜberheblichkeit,die nicht nur anschlußfähig für
rassistische Deutungsmuster ist,sondernsich mit ihnenüberschneidet.
DieLeistung oderderEffekt derNS-Propaganda lagdabei, soläßtder
Vergleich mit den Äußerungen aus dem Ersten Weltkrieg vermuten,
weniger in der inhaltlichen Zurüstung ihrer Rezipienten als vielmehr
in der Herabsetzung der »Beißhemmung« gegenüber weder »deut
schen« noch »sauberen«, noch »fleißigen« Menschen- gegenüber »Art
genossen«, denen ihre »Artgenossenschaft« bestritten wurde. DaßJuden
geldgierig, Polen faul, Russen dumpf und Serben Hammeldiebe seien,
»wußten« bereits frühere Generationen,34 hier bedurfte es kaum der
Nach-hilfe. Daß derartige traditionelle Stereotypen aberdiejenigen, auf
die sie gemünztwaren, nicht nur klassifizieren und stigmatisieren, son
dern hierarchisch gestaffelt und vermeintlich biologisch begründet ent
humanisieren, hat sich offensichtlich erst in der Zwischenkriegszeit als
abrufbares Wissenssegment durchgesetzt.

455
Die- natürlich nicht nur dort - in der brisanten Verbindung des bür
gerlichen Tugendkanons vonSauberkeit, Fleiß und Ordnung mit laten
tem bis manifestem Rassismus schlummernde Gewaltbereitschaft, die
Bereitschaft zu »Säuberungen«, zum »Aufräumen«, konnte, als Krieg
und Vernichtungspolitik ihr das Betätigungsfeld öffneten, ihre Virulenz
gegenüber der Bevölkerung der besetztenLänder beweisen: beider Aus
plünderung von deren Ressourcen, die in der Sowjetunion ein organi
sierter Raubzug als Bestandteil und unter bewußter Inkaufnahme von
Millionen Toten, also bereits Teil der Vernichtungsstrategie war, wie bei
den wahllosen Exekutionen von Partisanen und denjenigen, die man
dafür ausgab, beim Niederbrennen »bandenverseuchter« Dörfer wie bei
der Ermordung ihrer Bewohner, wobei die Grenzen zur Judenvernich
tung fließend waren.
Der vermeintlich touristische Blick der Soldaten gewährt Aufschlüs
se über diese Gewaltbereitschaft in eher unspektakulärer Form. Die
Gewaltbereitschaft speiste sich auch aus dem hier offenbarten Wissens
potential, ja dieses Wissenspotential zählte selbst in dem Maße zu dieser
Gewaltbereitschaft, wie es die präsumtiven Opfer der Gewalt dehuma
nisierte.
Solche Dispositionen werden nicht allein von der staatlichen Propa
ganda hervorgerufen und am Leben erhalten, denn diese ist aufpräexi
stierende Wissensbestände beiden Empfängern angewiesen. Sie werden
vielmehr auch gesellschaftlich, und zwar auch durch die alltäglichen,
»mikroskopisch-molekularen«35 Wechselbeziehungen zwischen den
Individuen geschaffen, Beziehungen, in denen die identitätsstiftenden
Kriterien der Abgrenzung mit hervorgebracht und reproduziert wur
den, die den Blick derSoldaten prägten. Die Feldpostbriefe gestatten es,
ihre Verfasser in solchen Wechselbeziehungen zu beobachten, freilich
unter den Bedingungen desKrieges und in der Reduktionaufdasschrift
liche Gespräch mit den Angehörigen. Sie erlauben damit Einblicke in
den Prozeß der »Vergesellschaftung der Gewalt«36 von unten - in der
Phase, in der dieser Prozeß seinen destruktiven Höhepunkt erreichte.

Anmerkungen

[ Einen Überblick über die einschlägigen Veröffentlichungen gibt die Auswahl


bibliographie zumThema Wehrmachtsverbrechen in: Mittelweg 36, H. 3/1994,
S. 52-56.
1 Shmuel Krakowski, Neue Möglichkeiten der Forschung. Die Holocaust-For-

456
schung unddieArchive inOsteuropa, in: Antisemitismus inOsteuropa. Aspek
te einer historischen Kontinuität, hrsg. von Peter Bettelheim u. a., Wien 1992,
S. 115-130.
3 Zitiert nachVolkerUllrich, »Wirhaben nichtsgewußt« - Ein deutsches Trau
ma, in: 1999, H. 4/1991, S. 11-46, hier: S. 23f.
4 Der vorliegende Beitrag faßt Teilergebnisse der einschlägigen Kapitel meiner
Dissertation über die Kriegserfahrung von Soldaten beiderWeltkriege im Spie
gel vonFeldpostbriefen zusammen, der eine Auswahl vonrund 5000 zumgröß
ten Teilunveröffentlichten Briefen zugrundeliegt. Die Frage, inwieweit die im
folgenden den Soldaten zugeschriebenen Äußerungen verallgemeinert werden
können, wird dort näherdiskutiert. Eine Statistiker zufriedenstellende Lösung
wird es ohnehin nicht geben.
Die KritikgiltAussagen wie: »Wer an den Exekutionen beteiligt war- alsTäter
oder Gaffer - schrieb darüber nach Hause« (Ullrich, a. a. O., S. 22), oder: »[...]
ein Großteilder Truppe berichtete [...] von der Tötung vonJuden,von aufge
griffenen Versprengten, von sogenannten >Flintenweibern< wie auch von der
Vernichtung ganzer Dörfer« (PeterJahn, »Russenfurcht« und Antibolschewis
mus: Zur Entstehung und Wirkung von Feindbildern, in: Erobern und Ver
nichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945, hrsg.von PeterJahn und
Reinhard Rürup, Berlin 1991, S.47-64, hier: S.49), die sichdurch wenige Zita
te natürlich nicht belegenlassen.
5 Omer Bartov, Brutalität und Mentalität: Zum Verhalten deutscher Soldaten an
der »Ostfront«, in:Jahn/Rürup, a. a. O., S. 183-199, hier: S. 193.
6 Im Sinne von Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Kon
struktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am
Main 1969.
7 Rainer Giebel, 31.5.1940, StA Osnabrück, Slg. 55 acc. 36/1983; Karl Sporren
berg, 29.4.1941, Sammlung Krüger/Essen, 8/1. Die Namen aller hier zitierten
Verfasser von unveröffentlichten Feldpostbriefen sind Pseudonyme, dieRecht
schreibungder Briefe wurde, abgesehen von ganz krassenFällen, beibehalten.
8 Vgl. zu diesem Topos Konrad Köstlin, KriegalsReise, in:MargitBerwing/ders.
(Hg.), Reise-Fieber, Regensburg 1983, S. 100-114, un(l ders., Erzählen vom
Krieg - Krieg als Reise II, in: BIOS 2 (1989), H. 2, S. 173-182.
9 Dieter Dreher, 14.7.1941, LHA Koblenz, 700/153 Nr. 267.
10 Sporrenberg, 17.7.1941; Egon Kolbenhoff, 13.10.1942, LHA Koblenz, 700/153
Nr. 148.
11 Kolbenhoff, 5.10., 27.12.1942; Hans Ölte, 25.7.1941, LHA Koblenz, 700/153
Nr. 245; Hannes Rover, 5.S.1941, Sammlung Krüger,978-1011/1023; Hermann
Kirchner, 1.11.1943,StA Osnabrück, Slg. 55 acc.48/1987; Hans-Jochen Bauer,
2.4.1943, SammlungKrüger, 275-315, 351-374;Giebel, 11.1.1944.
12 Gerd Gewecke, 24.9.1939, LHA Koblenz,700/153 Nr. 158; Egbert Korbacher,
9.10., 22.8.1943, LHA Koblenz, 700/153 Nr. 219; Sporrenberg, 16.3.1941.
13 Reiner Tumbrink, 10.4.1942, StA Osnabrück, Slg. 55 acc. 59/1983.
14 Korbacher, 27.10., 6.12.1943.
15 Gewecke, 18.3.1941.

457
16 Sporrenberg, 23.3., 4.4.1941; Siegfried Gohrdes, 12.3.1944, Sammlung Krüger,
604-721.
17 Wolfram Heß, 2.9., 5.9.1940, Sammlung Krüger, 11/5-6.
18 Dreher, 29.6.1941; Cordes, 8.4.1943.
19 Rudolf Stehle, 10.3.1944, 11.11.1943, StA Osnabrück, Slg. 55 acc. 44/1983
Nr. 1.
20 Cordes, 18.3.1943; Stehle, 3.11.1943; Bernd Rupp, 18.6.1942, Sammlung Krü
ger, 438-469.
21 Cordes, 8.3., 18.3., 3.6.1943; Dreher, 29.6.1941; Kolbenhoff, 3.1.1943.
22 Kolbenhoff, 21.5.1942. Zu diesem Zeitpunkt waren so gut wie alle der ehemals
fast 30000 lettischenJuden des Ghettos in Riga bereitsermordet worden. Vgl.
Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt am
Main 1990,S. 370 f.
23 Gewecke, 24.9.1939.
24 Alfred Schröder, 23.5.1915, StA Wolfenbüttel, 276 N 72; Wilhelm Ganser,
23.5., 29.5.1915, BA-MA Freiburg, MSg 2/3600; Reinhold Maier, Feldpost
briefe aus dem ErstenWeltkrieg. Mit einer Einführung von Max Miller, Stutt
gart 1966, 4.12., 9.12.1914, S. 38L; Benno Zapf, 6.3.1915, Sammlung Krüger,
2/5;RichardFeder, 6.9.1915,BA-MA Freiburg, MSg 2/198; Maier, 28.10.1915,
Feldpostbriefe, a. a. O., S. 102.
25 Ernst Meyer, 16.11.1914, BA-MA Freiburg, MSg 1/799; Maier, 3.10.1915;
6.3.1915, Feldpostbriefe, a.a. O., S. 92,Zapf, Ganser, 29.5.1915.
26 Maier, 18.10.1915; , Feldpostbriefe, a. a. O., S. 102; Ganser, 23.5., 29.5.1915;
Schwarz, 14.11.1916, LA Schleswig-Holstein, Abt. 399.114.
27 Maier, 11.4.1915;, Feldpostbriefe, a. a. O., S. 64-66; Zapf, 6.3.1915.
28 Schröder, 6.5.1915; Maier, 4.12.1914, Feldpostbriefe, a. a. O., S. 38.
29 Diese konnten hier nur unvollständig, aber repräsentativ für den zugrundelie
gendenQuellenbestand (vgl. Anm. 4) zitiert werden, auf den sich die folgenden
Befunde beziehen.
30 Vgl. zu dieser Vorstellung Adam Galos, The Image of a Pole in 19A Century
Germany, in: Polish Western Affairs XIX (1978), Nr. 2, S. 175-196; Tomasz
Szarota, Poland and Poles in German Eyes during World War II, in: ebenda,
S. 229-254; Manfred Hildermeier, Das Privileg der Rückständigkeit. Anmer
kungen zum Wandel einer Interpretationsfigurder neuen russischenGeschich
te, in: Historische Zeitschrift 244(1987), S. 577-603; Hans-Heinrich Nolte, Tra
dition des Rückstands: ein halbes Jahrtausend »Rußland und der Westen«, in:
Vierteljahrschrift für Sozial-und Wirtschaftsgeschichte 78 (1991), S. 344-364.
31 Gisela Bock beschreibt dessen Struktur konzis: Sie bestehe darin, »die als
>fremd< oder >anders< definierte Gruppe als >minderwertig< einzustufen und ihr
nicht nur das Recht auf >Gleichheit< abzusprechen, sondernauch- und vielleicht
wichtiger - ihr dasRecht abzusprechen,ungestraft >fremd< oder >anders< zu sein,
genauer: körperlich, geistig, seelisch - also kulturell - wirklich oder angeblich
anders zu leben, lebenzu müssen,lebenzu wollen als diejenige Gruppe,welche
die kulturellen Normen und Werte setzt.« Gisela Bock, Geschichte, Frauenge
schichte, Geschlechtergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988),
S. 364-391, hier: S. 377.

458
32 BA Koblenz, ZSg. 109/23 (Sammlung Oberheitmann), V. I. Nr. 170/41, zitiert
nachSammlungOberheitmann,Mikrofilm im Archiv des Instituts für Publizi
stik der WWU Münster.
33 Zitiert nachTomasz Szarota,Polenunter deutscher Besatzung, 1939-1941: Ver
gleichende Betrachtungen, in: Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin-
Pakt bis zum »Unternehmen Barbarossa«, hrsg. von Bernd Wegner, Mün
chen/Zürich 1991, S. 40-55, hier:S. 43.
34 Vgl. dazu die bei Rudolf Jaworski, Osteuropa als Gegenstand historischer Ste
reotypenforschung, in: Geschichte und Gesellschaft 13 (1987), S. 63-76, aufge
führte Literatur,sowie Michael Jeismann, Was bedeuten Stereotypen für natio
nale Identität und politisches Handeln? In: Nationale Mythen und Symbolein
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Jürgen Link/Wulf Wülfing,
Stuttgart 1991, S. 84-93.
35 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesell
schaftung (1908), Berlin, 5. Aufl. 1968, S. 15.
36 Der Begriffwurde geprägt von Michael Geyer,Der zur Organisation erhobene
Burgfrieden, in: Militär und Militarismus in derWeimarer Republik, hrsg. von
Klaus-Jürgen Müller/Eckardt Opitz, Düsseldorf 1978, S. 15-100, hier: S. 27.
Zum Prozeß der »Vergesellschaftung derGewalt« vgl.vom selben Autor: Krieg,
Staatund Nationalismus im Deutschland des 20.Jahrhunderts, in: Deutschland
in Europa - Kontinuität und Bruch. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber,
hrsg. von Jost Dülfferu. a., Frankfurt am Main u. a. 1990, S. 250-272 sowieaus
führlicher ders., The Stigma of Violence. Nationalism and War in Twentieth-
Century Germany, in: German Studies Review 15 (1992), Special Issue: German
Identity, S. 75-110.

459
Gaby Zipfel Wie führen Frauen Krieg!

»Die Situation, in der Männer von Frauen unbeeinflußt hätten agieren


können, hat es zu keiner Zeit und an keinem Ort gegeben.«1
Eine für das Selbstverständnis von Frauen ambivalente Feststellung,
die auch, soweit der Stand der feministischen »Opfer-Täter«-Debatte,
für das »Handlungskollektiv Deutschland"2 im Nationalsozialismus
gilt. In ihm sind Frauen »Mittäterinnen«, Kollaborateurinnen. Lerke
Gravenhorsts Frage: »Nehmen wir Nationalsozialismus und Auschwitz
ausreichend als unser negatives Eigentum in Anspruch?«3 gehtdarüber
hinaus, fordert letztlich dazu auf, mit dem Mythos von den an Kriegs
und Gewaltgeschehen nichtwirklichbeteiligten Frauenzu brechen. Die
ser Mythos korrespondiert mit jenem vom tapferen, »unbefleckten«
Wehrmachtssoldaten, dem Omer Bartov die Frage entgegenhält: »Wem
gehört die Geschichte?«4 DasVerdrängen deswirklichGeschehenen und
des eigenenAnteils daran läßt den Wehrmachtssoldaten nicht an seiner
Handlungsfähigkeit zweifeln. Den Preis, den Frauen, verwiesen in den
geschichtslosen Raum des »ewigWeiblichen«, für ihre »Unschuld« zah
len, ist der der Selbstentmachtung und Verfügbarkeit. Die Imagination
von der »heimlichen Herrscherin«, dienicht zur Verantwortung zu zie
hen sei, von der weiblichen Macht, dieim Verborgenen agiere, hebt sich
im männlichen Interesse auf, die Frau als »Gnadenschoß für den müde
gekämpften Krieger« zu bewahren. Was immer der Mythos beschreibt
und festschreiben will, die »Gnade der weiblichen Geburt« ist eine Fik
tion. Frauensind Handelnde und Behandelte, siesind im hier angespro
chenen Geschehen »Wehrmacht und NS-Verbrechen« Kriegerinnen mit
eigenenInteressen und Motiven. Und sie sind einem politischen Instru
mentarium ausgeliefert, das sie zur ideologischen, ökonomischen und
politischen Manövriermasse macht.
Letzterem entkommen zu können setzt voraus, daß Frauen für das,
was sie tun, Verantwortung übernehmen, ihr Handeln sichtbar machen,
zeitlich und räumlich verorten. Die Beschreibung der Frau als Täterin
oder Kriegerin versucht dem »feministischen Dilemma« zu entgehen,

460
»durch die eigenen Theorien den Status der Frauen als sekundärem
Geschlecht nicht zu überwinden, sondern zu reproduzieren«.5 In den
Blick zu nehmen ist: An welchen Fronten führten Frauen Krieg? Wie
nahe waren sie am Kriegsgeschehen des Zweiten Weltkrieges? Welche
Handlungsmotive lassen sich erkennen, und welche Strategien verfolgte
die NS-Politik beim Fronteinsatz der Frauen?

Kriegerin an vielenFronten

»Eine unermeßliche Weite von Arbeitsmöglichkeiten ist für die Frau da.
Für uns ist sie zu allen Zeiten der treueste Arbeits- und Lebensgenosse
des Mannes gewesen.«6
Zielbewußt, wenn auch häufig unkoordiniert, wurden Frauen ein
bezogen in einen Zustand permanenter Mobilmachung, in dem Natio
nalsozialisten von Anfang an Krieg an vielen Fronten führten, auch
gegen Frauen. »Rassehygiene und Völkermord, Indoktrination und
besinnungsloser Gehorsam - alles hing davon ab, daß Frauen koope
rierten.«7 Die Kooperation beschränkte sich nicht auf das aktive Han
delnüberzeugterNationalsozialistinnen, sieverwirklichte sichvor allem
im mehr oder minder zustimmenden Arrangementmit dem nationalso
zialistischen Alltag, in dem Opfer von Gewalt stets sichtbarwaren. Das
Feld, auf dem die Kriegerintrainiert wurde, war ihre ureigeneDomäne:
die »private« Reproduktionssphäre. Während die Fiktion von der Inti
mität des Privaten aufrechterhaltenwurde und das entsprechende tradi
tionelle Frauenbild weitgehendunangetastetblieb,fand gleichzeitig eine
durchgreifende Vergesellschaftung des Reproduktionsbereiches statt.
»Alles, vom ersten stahlblauen Blick des Säuglings bis zur letzten Zei
tung, Kino oderTheater muß dem Staat dienen.«8
Das Handlungskomplott von Mann und Frau ging auf im höheren
Ganzen der »Volksgemeinschaft«, in der ihr Kampfeinsatz arbeitsteilig
bestimmt wurde. Die den Frauen zugeschriebenen Fähigkeiten wurden
öffentlich hoch bewertet, ihr Einsatz der Willkür des Privaten entzogen.
Die »Liebe« zum Vaterland, zum Führer und zum Mann wurde als Res
source zur Verwirklichung einer aggressiven Kriegs- und Vernichtungs
politik genutzt.
An der Kriegsfront spielte die Frau als Wehrmachtshelferin eine bis
her kaum wahrgenommene Rolle, die am Ende auch einen Einsatz mit
der Waffe nicht mehr ausschloß. Als Kampfgefährtin im SD wußte sie
nicht nur vom Verbrechen des Völkermords, sie fing die psychischen

461
Folgen auf und machte nicht halt davor, Nutznießerin zu sein. Als
Heldenmutter begab siesichindirekt aufdasSchlachtfeld. Im Einsatz an
der Heimatfront stellte sie die ihr als wesenseigen zugesprochenen
Fähigkeiten des Bewahrens, Schützens und Ordnens unter Beweis,
indem siedieVerbrechen der Männer deckte, siemitSchweigen umhüll
te und die psychische Zurichtung unterstützte, die zum Begehen der
Verbrechen notwendig war. An Aer Arbeitsfront verweigerten sichdieje
nigen, denen es materiell möglich war, oder sie erkämpften sichverblie
bene Karrierechancen durch Denunziation und Anpassung. An der
Gebärfront schließlich führte siedieihr ureigenste »Schlacht« zur »Auf-
rassung« und Züchtung der »Herrenrasse«.

Der Einsatz der Frauen in der Wehrmacht

»Solange wir ein gesundes männliches Geschlecht besitzen - und dafür


werden wir Nationalsozialisten sorgen -, wird in Deutschland keine
Handgranatenwerferinnen-Abteilung gebildet und kein weibliches
Scharfschützenkorps. Denn das ist nicht Gleichberechtigung, sondern
Minderberechtigungder Frau.« Adolf Hitler, 1936.9
»DieFrauensolltenso raschwiemöglich tadellos ausgebildet werden.
DieAufstellung desFrauenbataillons in Verbindung mit der Reichsfrau
enführung. Bewährt sich dieses Frauenbataillon, sollen weitere aufge
stellt werden. Der Führer verspricht sich insbesonderevon der Aufstel
lungdieses Bataillons eine entsprechende Rückwirkung aufdieHaltung
der Männer!« Martin Bormann, 1944.10
Von der Frauenforschung ist bisher kaum wahrgenommen worden,
daß Frauen als Wehrmachtshelferinnen am unmittelbaren Kriegsge
schehen teilnahmen.11 Aus der militärgeschichtlichen Forschung liegen
zweiquellen- und materialreiche Untersuchungen vor,12 diejedochnicht
erschöpfend beantworten, wie nahe weibliche Wehrmachtsangehörige
dem Frontgeschehen waren. Die Beteiligung der Wehrmacht am Holo
caust bleibt in diesen Untersuchungen ausgespart.
Beide Untersuchungen, derenErgebnisse imfolgenden zusammenge
faßt werden, sehen im Krieg einen Emanzipationsschub für Frauen.13
Der Einsatz von Frauen im »unmittelbarenKriegsdienst« konnte auf die
Praxis der Reichswehr zurückgreifen, die die im Versailler Vertrag fest
gelegte Beschränkung der personellen Stärke des Heeres durch die
Besetzung aller nicht eindeutig militärischen Positionen mit zivilen
Arbeitnehmern, vornehmlich Frauen, ausglich. Als Beamtinnen, Ange-

462
stellte und Arbeiterinnen waren Frauen in Büros, Fernsprechvermitt
lungen, Registraturen und Lagern, aber auch als Flugmeldehelferinnen
in den geheimen Flugwachkommandos der Reichswehr tätig.
SieerwarbenQualifikationen, die sie alsStammpersonal in die Wehr
macht einbrachten, und verliehen der Arbeit in räumlicher und organi
satorischer Nähe zur bewaffneten Macht den Gestus der Normalität.
Mitder Einführung desWehrgesetzes vom21. Mai193 5, in demesheißt:
»ImKrieg ist über dieWehrpflicht hinaus jeder deutsche Mannund jede
deutsche Frau zur Dienstleistung für das Vaterland verpflichtet«, war
eine Dienstleistungspflicht und Mobilmachung von Frauen möglich
geworden.
Die Notdienstverordnung vom 15. Oktober 1938 und die Einführung
einer Arbeitsdienstpflicht für Mädchen, vor Kriegsbeginn erlassen,
dienten als gesetzliche Grundlagen für diezukünftige Einbeziehung der
Frauen in die Wehrmacht. Vom ersten Kriegstag an leisteten Frauen
Dienst im Verband der Streitkräfte, in dem sie als »Stammpersonal«
bestätigt und als »Ergänzungspersonal« dienstverpflichtet wurden. Mit
dem »Erlaß über den weiteren Kriegseinsatz des Reichsarbeitsdienstes
für die weibliche Jugend« vom 29. Juni 1941 wurde der überwiegend
landwirtschaftliche Dienst der »Arbeitsmaiden« in den Kriegshilfsdienst
der »Kriegshilfsdienstmaiden« in Dienststellen der Wehrmacht über
führt. Zwischen 450000 und 500000 Wehrmachtshelferinnen waren im
Einsatz - auf je zwanzig Soldaten kam eine Frau.14 Die im Kranken
pflegedienst beschäftigt gewesenen Frauen sind in dieser Zahl nicht
berücksichtigt.
ZumTeil trugendieFrauenUniform. Sie waren jedoch keine weibli
chen Soldaten, sondern, bis auf die letzten Kriegsmonate, unbewaffnete
»Nichtkombattanten der bewaffneten Macht« im Sinne der Haager
Landkriegsordnung.
DieRekrutierung vonWehrmachtshelferinnen erfolgte imVerlauf des
Zweiten Weltkrieges in vier Phasen:
Die Ausdehnung der besetzten Gebiete über halb Europa verlangte
erheblichen Personalbedarf. Aus Wehrmachtsdienststellen wurden
Frauen ins Ausland abkommandiert und in den Büros der Wehrmacht,
in Fernmeldezentralen, im Flugmeldedienst, im Luftschutzwarndienst
und im Wetterdienst eingesetzt. Die im Auslandarbeitenden Frauentru
genUniform und warenin Helferinnenkorps organisiert.
Infolge desverlustreichen Rußlandfeldzuges im Winter 1941/42 wur
den im Nachrichtendienst und in den Schreibstuben der Wehrmachts
dienststellen Männergegen Frauenausgetauscht. Die Männerwurdenan

463
die Front versetzt. Hitlers Proklamation vom 13. Januar 1943 forderte
»zum umfassenden Einsatz von Männern und Frauen für die
ReichsVerteidigung« auf. Am 17. Juli 1943 entschied Hitler, Frauen am
Kommandogerät, an den Scheinwerfern und an den Luftabsperrmitteln
derFlakabwehrabteilungen derLuftwaffe einzusetzen. NachAusrufung
des totalen Krieges ordnete Hitler Mitte 1944 an, aus der Luftwaffe
100 000 Mann zur Aufstellung von Luftwaffenfelddivisionen abzuzie
henund durchFrauen zu ersetzen. Die Luftverteidigung wurde, bis auf
die Führungspositionen, fast völlig in die Hände von Frauen gelegt.
Technische und berufliche Fähigkeiten wurden in der Wehrmachts
helferinnenausbildung vermittelt. Unteroffiziere wiesen die Frauen in
die Gebiete der Heereskunde und des Nachrichtenbetriebsdienstes ein
und erteilten ihnen politischen Unterricht. Vor ihrem Einsatz wurden
die zukünftigen Wehrmachtshelferinnen »abwehrgeprüft«.
Freiwillig dienst- oder notdienstverpflichtet, waren sie alsNachrich
ten-, Stabs-, Marine-, Luftwaffen-, Flak- und Flakwaffenhelferinnen
tätig. »Nachrichtenhelferinnen des Heeres wurden in allen von der deut
schen Wehrmacht besetzten Gebieten Europas verwendet.«15 Ab 1942
wurden Nachrichtenhelferinnen auch in Heereskommandos des Reichs
gebietes eingesetztund hatten Einblickin GeheimeKommandosachen.l6
Stabshelferinnen waren »Geschäftszimmerpersonal« bei höheren
Kommandostellen (OKH, Heeresgruppen, AOK) im In- und Ausland.
»Ein weiteres Betätigungsfeldder Stabshelferinnen mit hohem Geheim
haltungsgrad lag bei den Abwehrstellen und Auslandsbriefprüf-
stellen«,17 die von der Ukraineüber Prag bis nach Paris in nahezuallen
Teilen Europas verteilt waren. Ab 1943 nahm die Zahl der Stabshelfe
rinnen in Jugoslawien, Griechenland und Rumänien in den Dienststel
len des Oberkommandos der Wehrmacht zu. Diesen Stabshelferinnen
waren weitere als Dolmetscherinnen, Rechnungsführerinnen, Truppen
helferinnen und Kraftfahrerinnen zugeordnet. Ab Januar 1945 über
nahmen Frauen den Einsatz von Scheinwerferbatterien. Zu diesem
Zeitpunkt waren 30000 Frauen im Luftwaffeneinsatz mit direkten
militärischen Aufgabenbetraut. Ein großer Teilvon ihnen hatte sich im
Rahmen der Notdienstverpflichtung freiwillig zu diesen Einsätzen
gemeldet.
Hitlers Erlaßüber den totalenKriegseinsatz vom 25. Juli 1944 führte
zu einem Wehrersatzprogramm, das alle kriegsverwendungsfähigen
Soldaten freistellen und deren Posten mit Frauen besetzen sollte. Im
Frühjahr 1945 wurden endlich alle Skrupel gegen den militärischen Ein
satzvonFrauen aufgegeben: »Ob Männer oderFrauen, ist ganz wurscht:
464
Eingesetzt muß alles werden.«18 Beschlossen wurde die Bildung eines
Frauenbataillons, des »Wehrmachtshelferinnenkorps«, das militärisch
dem Oberkommando des Heeres (OKH) unterstellt sein sollte, weltan
schaulich und politisch aber der Reichsfrauen- und der Reichsjugend
führung der NSDAP.
Am Ende des Krieges war die vormals so oft beschworene
Schreckensvision vom »Flintenweib« der Politik des totalen Einsatzes
aller Kräfte gewichen. Aus den Aufgaben, mit denen sie betraut waren,
läßt sich schließen, daß viele weibliche Wehrmachtsangehörige detail
lierte Kenntnissevom Frontgeschehen des Zweiten Weltkrieges und von
den dort verübten Verbrechen hatten.
500000 weibliche Angehörige der Wehrmacht bilden einen Pool an
Erfahrungen und Erlebnissen im aktiven Kriegsgeschehen, der bislang
seltsamverborgen blieb: In der alltäglichen Erinnerung sind die Kriegs
erlebnisseder Väter und Söhne,wenn auch mit Ausblendungen und Ver
zerrungen, gegenwärtig, die der Frauen scheinenkaum der Rede wert zu
sein. Ähnliches gilt für die historische Aufarbeitung, die, wo sie denn
versucht wurde, den Fraueneinsatz lediglich der Vollständigkeit halber
in den Blicknimmt. So heißt es bei Ursula von Gersdorff: »Der Auftrag
zu dieser Untersuchung des Kriegsdienstes deutscher Frauen ergab sich
aus der Aufgabe desMilitärgeschichtlichen Forschungsamtes selbst, den
Zweiten Weltkrieg in seiner Totalität darzustellen. [...] Dabei sollte der
Kriegsdienst der Frau nicht als ein neues selbständiges Element in die
Militärgeschichte eingeführt, sondern zunächst vor allem eine diesbe
zügliche Lücke in der Geschichtsschreibung beider Kriege bewußt
gemachtwerden.«19

Komplizenschaft im Feld

Was für die Wehrmachtsangehörige an dieserStelle nur vermutet werden


kann, läßt sich mit Gewißheit für die Frauen sagen, die als Funkerinnen,
Nachrichtenhelferinnen, Telefonistinnen und Schreibkräfte beim SD im
besetzten Osteuropa tätig waren. In ihrem unmittelbaren Umfeld wur
den Juden vernichtet.20
Beispielhaft kann die Haltung der Frauen zu den Vernichtungsaktio
nen aus Aussagen erschlossen werden, die Zeuginnen in staatsanwalt
schaftlichen Ermittlungen machten.21 Die befragten Frauen waren zwi
schen 1942 und 1944 bei der Dienststelle des KdS in Minsk eingesetzt.
An Funkgeräten und Telefonen, als Schreiberinnen und als Proto-

465
kollantinnen bei Vernehmungen wußten sie unmittelbar, was in Minsk
geplant war und geschah. Das Ghetto lag in ihrem Arbeitsbereich, sie
hatten direkten Kontakt mit Juden, die zu Arbeiten bei der Dienststelle
herangezogen wurden. Wenn sie als Sekretärinnen eingesetzt waren,
dann gehörte das Tippen der geheimen, für das »Reichssicherheits
hauptamt« (RSHA) bestimmten Exekutionsberichte ebenso zu ihren
Aufgaben wiedasder Einsatzbefehle, diezu den Massakern führten. Die
Zeuginnenaussagen ergeben, daß Liebesverhältnisse, sogenannte Ost
ehen, zwischen den Dienststellenangehörigen die Regel waren. In den
Berichten der Zeuginnen finden sich keine Anklagen gegendie Männer
und die von ihnen verübten Verbrechen. Wo sie zur Sprache gebracht
werden, werden sie zur pathologischen Ausnahme, von der die Zeugin
eher gerüchteweise Kenntnis hatte: »Manerzählte sich von ihm, daß er
nachts mit einem kleinen Revolver durch Minsk ins Ghetto laufen
würde.«22 Die Schilderungen der Täter erwecken den Anschein von
Normalität: »Von ihm habe ich in Erinnerung, daß er ein schiefes
Gesicht hatte. Ich meine, er war gutmütig und naiv.«23 In der direkten
Konfrontation mit dem Mann, der eben gemordet hatte, würde sie ihm
zur Trösterin: »Wenn ich dann die beiden am Abend aufsuchte, erklär
ten sie mir, daß während des Tages wieder Judenerschießungen stattge
funden hätten. Siehätten daran teilnehmen müssen. [...] Ich hatte immer
den Eindruck, daß sie nach derartigen Vorkommnissen froh waren,
wenn ich ihnen Gesellschaft leistete. Es kam auch vor, daß sie mich anrie
fen und zu sich baten, wenn Aktionen stattgefunden hatten.«24
Daß sie sich mit der Rolle der Trösterin zufriedengab und sich jeder
Reaktion auf die begangenen Tatenenthielt, betont die Zeugin: »Ausdie
sen Gesprächen habe ich Einzelheiten nicht gehört. Ich wollte bewußt
diese Sachen auch nicht hören, sondern war bestrebt, G. und von der G.
von ihren Gedanken zu befreien, indem ich zum Trinken aufforderte
und mich selbst lustig gab.«25
Getrunken wurde offenbarviel, von Saufgelagen ist häufigdie Rede.
Die Zeuginnen können sich mehrheitlich nicht an »Einzelheiten erin
nern« oder schildern einzelne Begebenheiten der Vernichtungsaktionen
in einer Weise, die den Eindruck entstehen läßt, es handele sich um Aus
nahmen. Das Ghetto lernten die Frauen bei »Spaziergängen« mit den
Geliebten kennen, ohne dessen Dimension erkannt haben zu wollen. Sie
nahmen Dienstleistungen von Juden in Anspruch, bedienten sich aus
deren Hinterlassenschaft - Pelzmäntel, Schmuck, Einrichtungsgegen
stände-, angeblichohne zu wissen,wie es zu dieser »Hinterlassenschaft«
gekommen war. Sie können Fotos vorweisen, berichten von Kontakten,

466
die auch nach dem Kriegweiterbestandenhätten, verlierensich in Erin
nerungen an eine Idylle mitten im Vernichtungsgeschehen: »Auf diesem
Gut waren in Baracken Juden tätig. Ich erinnere mich an Männer und
Frauen. Kinder habe ich nicht gesehen. Die Juden arbeiteten dort. Auf
dem Gut standen uns Pferde zum Reiten zur Verfügung. Ein kleiner See
befand sich in der Nähe des Wohnhauses. Kähne waren da.«26
Ein einziger Versuch, sich dem dort Erlebten zu entziehen, ist in den
Vernehmungsprotokollen zu finden: Eine Zeugin nimmt einen Heimat
urlaub zum Anlaß, sich ein ärztliches Attest zu beschaffen: »Der Grund
für mein Bemühen, aus Minsk wegzukommen, war, daß ich die ganzen
Geschichten dort nicht mehr sehen wollte.«27

Dasperfekte Nazi-Paar- derSoldat undseine Mutter

»Todesbereitschaft - Lebensbereitschaft: Nun ist nur noch eines wich


tig: daß neben der Todesbereitschaftder Soldatendie Lebensbereitschaft
unserer Mütter steht.«28
Begleitete die Frau als Geliebte den Täter bei seinen Verbrechen, so
imaginierte sie sich als Mutter des Helden in einer Weise, die mit dem
Begriff »Mutterkreuzideologie« nicht hinreichend beschrieben ist. Die
Mutter, die ihren Sohn in den Krieg schickte, nahm indirekt an der
männlichen Domäne des Kampfes teil. »Eine dem Kriegserlebnis des
MannesparalleleErfahrung macht die Frau alsMutter. [...] Mutterschaft
heißt dabei nicht unbedingt immer, daß die Frau tatsächlich Kinder
gebiert und großzieht, sondern bezieht sich auf ihre Fähigkeit zur
Fruchtbarkeit und ihr eigenes Verhältnis dazu. [...] Die Bereitschaft
zur Mutterschaft und die Bereitschaft zu kämpfen werden gleichge
setzt.«29
Frauenphantasienwerden freigesetzt, in denen die Frau zur eigentli
chen Kriegerin wird. Am Mann interessiert die Heldenmutter nur seine
Zeugungsfähigkeit: »Der Weg der Frauen zu Autonomie und Macht
führt über die Leichen ihrer Väter, Männer, Söhne. [...] Als Heldenmut
ter erst verkörpert sieEwigkeitund Naturgesetz: sieist die Ewigkeit, die
der Mann nur in Augenblicken spürt; was sie tut, ist nicht individueller
Ausdruck eines Menschen, sondern Gestus, den sie stellvertretend für
alles Sein ausführt.«30
AlsÜberlebende ist siedieeigentlich Starke. Um ihreStärke leben zu
können, muß sie den Mann in den Krieg schicken. Diese bereits im
Ersten Weltkrieg phantasierte Frauenmacht verbindet sich mit national-

467
sozialistischer Ideologie und rassistischer Politik und wird zur Grund
lage der Zustimmung, die Frauen dieserPolitik zollten.

Am weiblichen Wesen solldieFrau genesen -


Frauen an derHeimatfront

»Die Befehlskette von der Reichskanzlei bis in die Krematorien blieb


>unter Männern<. Frauen waren weder an der Planung der >Endlösung<
beteiligt, noch - mit Ausnahme einiger Tausend Gefängnis- und Lager
aufseherinnen - an dem Morden selbst.«31 Mag sein. Sicher ist jedoch,
daß Ehefrauen, Töchtern, Geliebten weder die Befehlskette noch deren
Folgenverborgen blieben. MögendieTäter auch geschwankt haben zwi
schen ihrem Mitteilungsdrangund dem Wunsch, sichin der Familieeine
heileWeltder Unschuld zu erhalten,daß sie nicht geredethaben, ist ein
fach nicht denkbar. Und daß Frauen nichts bemerkt haben könnten,
ebensowenig. Wieviel Frauen wußten, und wie sie mit diesem Wissen,
aber auch mit den Tätern umgingen, ist noch wenig bekannt. Für Tage
bücher als einer der möglichen Quellen konstatiert Susannezur Nieden:
»Bei der Mehrheitwerden politische Verfolgung, die Repressionen und
Morde, die im Alltag auch in der >Heimat< präsent waren, kaum
Thema.«32 Gleichzeitig stelltsiefest: »Die Tagebuchaufzeichnungen sind
ein erdrückender Beleg dafür, daß Frauen im Nationalsozialismus nicht
>außen vor< standen, sondern herrschende Perspektiven und Hoffnun
gen teilten und somit die psychischen Voraussetzungen dieser Gesell
schaft mit trugen und reproduzierten.«33
Frauen haben offenbar geholfen, eine Mauer des Schweigens in der
Familie und in der Gesellschaft aufzubauen.34 Sie sind damit einem
Weiblichkeitsbild gerecht geworden, das Elvira Scheich beschreibt: »Sie
steht für das Leben in der Familie, für die Einheit des Subjekts, die Ein
deutigkeit der Gefühle und Gesinnung, fern von der Zerrissenheit, die
das politische Alltagsgeschäft für ihn bedeutet.«35
Die Funktion dieses Weiblichkeitsbildes, das »Unkenntlichmachen
von Geschichtlichkeit, die Setzung eines ahistorischen, immer gleich
gültigen weiblichen Prinzips, ist gleichzeitig Bedingung dafür, daß mit
Frauen Geschichte gemacht wird«.36 In diesem Falle die Geschichte des
Holocaust. Das zwischen Kriegs- und Heimatfrontzeitweilig voneinan
der getrennte Paar handelt geschlechtsspezifisch arbeitsteilig, jedoch
nicht unabhängig voneinander. Indem die Frau den Mann unterstützt
und weiß, daß er ihre Unterstützung braucht, versichert sie sich ihrer

468
eigenen Bedeutung und trägt zur Umdeutungder Täter in Opfer bei: Sie
hört, verdrängt, entschuldigt in dem Bestreben, sich ihre Vorstellung
einer heilen Welt zu bewahren. Daß diese heile Welt das Fremde, Unein
deutige nicht erträgt, mag ein Hinweis auf ihre Bereitschaftsein, in die
rassistische Vernichtungspolitik einzuwilligen. Eine solche Bereitschaft
zeigte die Kämpferin an der Heimatfront als Hausmeisterin, die die
Deportation jüdischer Mitbürger zum Anlaß nahm, sich deren Eigen
tums zu bemächtigen und die sich das Recht dazu behördlich bestätigen
ließ.37 Die Hausfrau boykottierte jüdische Geschäfte und begrüßte
Deportationen von Juden und Zigeunern als »Ordnungsmaßnahme«,
die Berufstätige eroberte sich ihre Karriereposition und ihren gesell
schaftlichen Einfluß über Denunziation und Anpassung.38 Magein sol
ches Alltagsverhalten das Mitwissen um die Verbrechen ihrer Männer
auch unterstützt haben, bleibt dennoch die Frage offen: Wie konnten
Frauen dieses Mitwissen, das sie wiederum kaum mit anderen Mitwis
sern teilen konnten, aushalten? Was bewog sie, in der Beziehung mit den
Tätern zu verharren?

Der Einsatz derFrauen an derArbeitsfront

Die Mobilisierung der weiblichen Arbeitskraft war zur Führung eines


totalen Krieges unverzichtbar, gerietjedochin Konflikt mit den Absich
ten rassistischerBevölkerungspolitikund dem Einsatz der Frauen an der
»Gebärfront«. Bis zum Ende des Krieges gelang es kaum, den Anteil der
erwerbstätigenFrauen wesentlichum die zu erhöhen die nicht aus öko
nomischen Gründen gezwungenwaren zu arbeiten.39 Zwar planten Par
tei, Wehrmacht und Bürokratie, auf »welchen Platz der Pflicht«40 Frau
en in einem kommenden totalen Krieg zu rufen seien, auf die strikte
Durchführung der immer wieder versuchsweise angeordneten Dienst
verpflichtung wurde jedoch bis auf einigeAnstrengungen im Jahr 194341
verzichtet. Die Rekrutierung weiblicher Arbeitskräfte für den »mittel
baren Kriegsdienst« in kriegswichtige Bereicheerfolgte im wesentlichen
durch Maßnahmen der »Auskämmung« und »Umschichtung« unter den
ohnehin erwerbstätigen Frauen. »Der Verzicht der politischen Führung
auf eine umfassende Dienstverpflichtung von nichterwerbstätigen
Frauen zusammen mit dem gelockerten Arbeitsschutz führte zu einer
extremen Ausbeutung«42 der, wie Göring sie nannte, »Ackergäule« bei
Schonung der »Zuchtgäule.«
Eine wichtige Rolle bei der Duldung der Arbeitsverweigerung von

469
Mittelschichtfrauen magder Einspruch der Soldaten gegen eineDienst
verpflichtung ihrer Frauen gespielt haben.43 Die Kampfbereitschaft der
Soldaten hing entscheidend davon ab,wie sichihre Frauen zu ihnen ver
hielten, während sie sie an der Heimatfront sich selbst überlassen muß
ten. Die Erwerbstätigkeit gewährteFrauen größere Unabhängigkeitund
Bewegungsfreiheit in verschiedenen Räumen des gesellschaftlichen
Lebens, woran weder die NS-Politik noch die Ehemänner ein Interesse
hatten.
Dörte Winkler weist auf einen Aspekt hin, in dem sich indirekt ein
Teilhaben und Dulden rassistischer Politik ausdrückt: »[...] die Arbeits
kraft der von den Nationalsozialisten als rassisch minderwertig dekla
rierten Völker wurde nicht zuletzt deshalbausgebeutet, um die Gesund
heit deutscher Frauen und Mütter zu schonen und die Zukunft der
Herrenrasse nicht zu gefährden.«44

Mütter des Vaterlandes an der»Gebärfront«

Die Nationalsozialisten, insbesondere Hitler, insistierten auf dem Primat


der Gebärfähigkeit bei der Zuweisung des gesellschaftlichen Standortes
von Frauen. Diese Haltung läßt sich nicht auf eine konservativ-sexi-
stisch-patriarchale beschränken45 und war weit davon entfernt, Mutter
schaft als Form weiblicher Selbstverwirklichung ernst zu nehmen. Die
Rhetorik der Zeit beschwor zwar das »Mutterglück«, um zur »Gebär
leistung« zu motivieren, sie ließ jedoch gleichzeitig keinen Zweifel
daran, daß der Frauenkörper das »Schlachtfeld« zu sein hatte, auf dem
die rassistische Bevölkerungpolitik verwirklicht werden sollte. Die
Mobilisierungsversuche der Gebärfähigkeit »arischer, rassisch hochwer
tiger, erbgesunderFrauen« gingeneinher mit der antinatalistischen Poli
tik der Zwangssterilisierungen und Eugenikprogramme, denen diejeni
genFrauen zum Opfer fielen, die den »rassischen Anforderungen« nicht
entsprachen.46 Ärztinnen, Krankenschwestern undFürsorgerinnen ver
nichteten Gebärfähigkeit und »unwertes Leben«,47 wurden auf diese
Weise zu Kriegerinnen an der »Gebärfront«.
Die Aufwertung, die das Gebären zur »Aufrassung des deutschen
Volkes« erfahren sollte, marginalisierte nicht nur individuelle Ge
schlechterliebe und weibliche Sexualität, sie vergesellschaftete den
Akt der Fortpflanzung brutal: Die »Unehelichenpolitik« sollte rassisch
hochwertige Männer und Frauen zum Zeugen animieren. Die Erleich
terung des Scheidungsrechts für kinderlose Ehepaare, die Einrichtung

470
des »Lebensborn e.V.«48 und schließlich die Freisetzung von Phantasi
en, nach denen Doppelehen möglich sein sollten,49 markieren Ideen,
die konventionelle Übereinkünfte über das Zusammenleben der Ge
schlechter zugunsten rassistischer Gebärpolitik aufkündigen wollten.
Eine rigide Umsetzung scheiterte am Widerstand der »Volksgemein
schaft«.
Die Fronten, an denen nationalsozialistische Vernichtungspolitik
stattfand, waren miteinander verbunden, und Frauen bewegten sich in
diesem Geflecht. Den Alltag durchdrang kriegerische Diktion, die kei
nen Hehl aus dem machte,was beabsichtigtwar, und keine Möglichkeit
des Nichtwissens offenließ. Das Handeln der Frauen ging nicht auf im
Mitwissen und Mittun. Wenn auch eher anzunehmen ist, daß die meisten
Frauen unberührt blieben von dem Gefühl, »in ein überwältigendes
Schicksal hineingezogen worden zu sein, an einer Erhabenheit fern der
Alltäglichkeit teilzuhaben, sich dem rauschhaften Gefühl der Entgren
zung zu überlassen«,50 so muß dasAngebot, an einergroßenIdee teilha
ben zu können, einen Bedeutungsaufschwung durch die NS-Ideologie
zu erfahren, doch soweit angenommen worden sein, daß Frauen dafür
über Leichen gingen. Daß es jedoch eher der alltägliche Pragmatismus
war, der zum Geschehen beitrug und den Eindruck von »Normalität«
aufrechterhielt, war originärer Beitrag von Frauen. Die Normalität des
weiblichen Alltags im Nationalsozialismus konntehiernichtumfassend
beschrieben werden.
Frauenmögen Opfer ihrer eigenen Strategien geworden sein, diesich
letztlich gegen ihre Interessen gewendet haben. Theresa Wobbe pro-
blematisiert diesen Opferbegriff jedoch zu Recht, weil in ihm die ei
gentlichen Opfer der Vernichtungspolitik unterzugehen drohen.51 Daß
Frauen Freiräume gewährtwurden und vielfältige, einanderwiderspre
chende Frauenbilder nebeneinander bestehen konnten, zeigen Literatur,
Filme und Publikationen dieser Zeit. Das einseitig rigide Bild einer
arischreinen, ungeschminkten Hausfrauund Mutter vieler Kinderpräg
te den NS-Alltag nur zum Teil. Die mondäne Konsumentin und der
Vamp waren als Gegenentwürfe präsent.52 Der Nationalsozialismus
hatte die Fähigkeit, in verwirrender Weise zu integrieren, was bis dahin
an Frauenselbstbildern gewachsen war. Was Frauen dachten und woll
ten, war letztlich nur insoweit wichtig,wie es dem Zugriff auf ihre krie
gerischen Ressourcen nicht im Wege stand. Die gewährten Freiräume
blieben keine Nischen des Nichtwissens und Nichthandeins.
Mag das Handeln von Frauen sich auch hinter dem des Kriegers ver
bergen, durch Nichtbeachtung oder Abwertung im öffentlichen Raum

47i
marginalisiert, zum zeit- und raumlosen So-Sein stilisiert werden, die
Tatsache bleibt doch bestehen, daß sie handeln: an jedem Ort, zu jeder
Zeit.

Anmerkungen

i Karin Windaus-Walser, Gnade der weiblichen Geburt? Zum Umgang der


Frauenforschung mit Nationalsozialismus und Antisemitismus, in: Feministi
sche Studien, November 1988, S. 113.
2 Lerke Gravenhorst, Nehmen wir Nationalsozialismus und Auschwitz ausrei
chend als unser negatives Eigentum in Anspruch? Zu Problemen im femini
stisch-sozialwissenschaftlichen Diskursin derBundesrepublik Deutschland, in:
Töchter-Fragen: NS-Frauengeschichte, hrsg. von Lerke Gravenhorst und Car
men Tatschmurat, Freiburg im Breisgau 1990, S. 20.
3 Ebenda, S. 17.
4 Omer Bartov,Wem gehört die Geschichte?Wehrmacht und Geschichtswissen
schaft, in: Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialfor
schung, 5/1994, S. 16.
5 Windaus-Walser, a. a. O., S. 113.
6 Adolf Hitler, Auszüge aus einer Rede an die NS-Frauenschaft, abgedruckt im
Völkischen Beobachter, 13.9.1936, zitiertnachGeorge L. Mosse, Dernational
sozialistischeAlltag, Frankfurt am Main 1993, S. 65.
7 Claudia Koonz, Das »zweite« Geschlecht im »Dritten Reich«, in: Feministische
Studien, November 1986,S. 19.
8 Adolf Hitler, zitiert nachClaudia Koonz, a. a.O., S. 25.
9 Adolf Hitler, Auszüge auseiner Rede, a.a. O., S. 65.
10 Martin Bormann, zitiert nach Franz W. Seidler, Frauen zu den Waffen? Marke
tenderinnen, Helferinnen, Soldatinnen, Koblenz/Bonn 1978, S. 156.
11 Hinweise sind zu finden bei: Ute Benz (Hg.), Frauen im Nationalsozialismus,
Dokumente und Zeugnisse, München 1993; Ute Frevert, Frauen-Geschichte.
Zwischen bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt am
Main 1986, S. 230; Leila J. Rupp, Mobilizing Women for War. German and
American Propaganda 1939-1945, Princeton, N.J., 1978; Dörte Winkler, Frau
enarbeit im »Dritten Reich«, Hamburg 1977; AtinaGrossmann, Marion Kaplan
(Hg.), When Biology become Destiny. Women inWeimar and Nazy Germany,
New York 1984 [Fehler im Original, G.Z.].
12 Ursula von Gersdorff, Frauen im Kriegsdienst 1914-1945, Stuttgart 1969. Dort
heißt es im Vorwort: »Der Kriegseinsatz der Frau hängt mit [...] der revolu
tionären Änderung der Stellung derFrau in der modernen Gesellschaft zusam
men.« Franz W. Seidler, Frauen zu den Waffen? Marketenderinnen, Helferin
nen, Soldatinnen, Koblenz/Bonn 1978, S. 11,schreibt: »[Es] handelt[...] sichbei
diesem Vorgang um einen emanzipatorischen Schritt zur vollen Gleichberech
tigung.«

47^
13 Vgl.v. Gersdorff, ebenda; Seidler, a. a. O.
14 Seidler, a. a. O., S. 59.
15 v. Gersdorff, a. a. O., S. 61 und S. 355f., 358.
16 Seidler, a. a. O., S. 77.
17 Ebenda.
18 Adolf Hitler, 1945,zitiert nach v. Gersdorff, a. a. O., S. 72.
19 Ebenda, Vorwort.
20 Hannes Heer, Kds Minsk. Die Dienststelle. Deutsche Vernichtungspolitik in
Weißrußland 1941-1944, unveröffentlichtes Manuskript, unpaginiert.
21 Ebenda.
22 Ebenda.
23 Ebenda.
24 Ebenda.
25 Ebenda.
26 Ebenda.
27 Ebenda.
28 »Nationale Frauenwarte«, zitiert nach Karin Stiehr, Auf der Suche nach Weib
lichkeitsbildern imNationalsozialismus, in:Verdeckte Überlieferungen. Weib
lichkeitsbilder zwischen Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Fünfzi
ger Jahren, hrsg. von Barbara Determann, Ulrike Hammer, Doron Kiesel,
Frankfurt am Main 1991,S. 34.
29 Godele von der Decken, Emanzipation auf Abwegen. Frauenkultur und
Frauenliteratur im Umkreis des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1988,
S. 235.
30 Ebenda.
31 Claudia Koonz, Mütter im Vaterland. Frauen im »Dritten Reich«, Reinbek
1994, S. 424.
32 Susanne zur Nieden, Alltag im Ausnahmezustand, Frauentagebücher im zer
störten Deutschland 1943 bis 1945,Berlin 1993,S. 154.
33 Ebenda, S. 200.
34 Wie nachhaltigdiesesSchweigenwirkt, wird z. B. deutlich bei Dan Bar On, Die
Last des Schweigens, Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern, Frankfurt am
Main/New York 1993.
35 Elvira Scheich, FeministischeStandpunkte. Zu Krieg und Staat, zu Nationalis
mus und Gewalt, in: Mittelweg 36,Zeitschrift des Hamburger Instituts für So
zialforschung, Heft 2/1994, S. 90.
36 von der Decken, a. a. O., S. 235; vgl. Barbara Determann, Kontinuität und
Bruch. Probleme der Rekonstruktion von Weiblichkeitsbildern zwischen der
Weimarer Republik und den 50er Jahren, in:Determann u.a., Verdeckte Über
lieferungen, a. a. O.
37 BrigitteScheiger, »Ich bitte um baldigeArisierung der Wohnung...«, Zur Funk
tion von Frauen im bürokratischen System der Verfolgung, in: Nach Osten.
Verdeckte Spuren nationalsozialistischer Verbrechen, hrsg. von Theresa
Wobbe, Frankfurt am Main 1992,S. 175-196.
38 Beispielhaft dazu: Ursula Nienhaus, Von der (Ohn-)Macht der Frauen. Postbe
amtinnen 1933-1945,in: Gravenhorst/Tatschmurat, a. a. O., S. 193-210.

473
39 Winkler, a. a. O.; Dietmar Petzina, Die Mobilisierung deutscher Arbeitskräfte
vor und während des Zweiten Weltkrieges, in: Vierteljahreshefte für Zeitge
schichte, Heft 4/1970, S. 450.
40 von Gersdorff, a. a. O., S. 50.
41 Winkler, a. a. O., S. 4; von Gersdorff, a. a. O., S. 50-56.
42 Winkler, ebenda, S. 90.
43 von Gersdorff, a. a. O., S. 345-349, Dokumente, 156.
44 Winkler, a. a. O., S. 189.
45 Zur Debatte um das Verhältnis von rassistischerund sexistischerPolitik des NS
vgl.: Windaus-Walser, a. a. O.; Gravenhorst/Tatschmurat, a. a. O.; GiselaBock,
Die Frauen und der Nationalsozialismus, Bemerkungen zu einem Buch von
Claudia Koonz, in: Geschichte und Gesellschaft, 15/1989, S. 563-579; Claudia
Koonz, Erwiderung. GiselaBocksRezensionvon »Mothersof the Fatherland«,
in: Geschichte und Gesellschaft, 18/1992, S. 394-399.
46 Politik und Praxis des Antinatalismus im NS beschreibt Gisela Bock in:
Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und
Frauenpolitik, Opladen 1986, und in: dies., Rassenpolitik, Medizin und Mas
senmord im Nationalsozialismus, in: Archiv für Sozialgeschichte, 30/1990,
s. 4237453-
47 Angelika Ebbinghaus (Hg.), Opfer und Täterinnen, Frauenbiografien des
Nationalsozialismus, Nördlingen 1987.
48 Georg Lilienthal, Der »Lebensborn e.V.« - ein Instrument nationalsozialisti
scher Rassenpolitik, Frankfurt am Main 1993.
49 von der Decken, a. a. O., S. 74. Ute Frevert, a. a. O., S. 230.
50 Scheich, a. a. O., S. 91.
51 Theresa Wobbe, DasDilemma derÜberlieferung. Zu politischen und theoreti
schen Kontexten von Gedächtniskonstruktionen über den Nationalsozialismus,
in: dies., Nach Osten, a. a. O., S. 13-43.
52 Hans Dieter Schäfer, Das gespalteneBewußtsein.Deutsche Kultur und Lebens
wirklichkeit 1933-1945, Hamburg/München/Wien 1981, S. 158-160; S. i68f.;
Katharina Sykora, Ambivalente Versprechungen. Die Figur der Königin Luise
im Film, in: Determann u. a., a. a. O., S. 137-168.
DieterReifarth, #
Viktoria Schmidt-Linsenhoff Die Kamera der Täter51

Über den Umgang mitden Bildern

Als die ehemalige BDM-Führerin Melitta Maschmann in einem ameri


kanischen Entnazifizierungslager 1946 vergrößerte Fotografien aus
deutschen Konzentrationslagern sah, hielt sie sie für plumpe Fälschun
gen. DieAmerikaner, meinte sie damals, hätten dieAufnahmen in asiati
schen Hungergebieten und mitdenBombenopfern aus deutschen Groß
städten gemacht.11962 leugnete der Oberscharführer Oskar Waltke in
einem Prozeß ab, daß er 1942 in Lemberg zwölf Mitglieder desJuden
rates habe erhängen lassen. Ein Foto, von Mitgliedern der polnischen
Widerstandsbewegung heimlich aufgenommen, führte zu seinerVerur
teilung, sowie bereits in denNürnberger Prozessen Fotografien vielfach
als Beweismittel der Anklage gedient hatten und bis heute in den Pro
zeßakten der Ankläger verwahrt werden.2 Am 17. April 1961 blätterte
eine Frau in Hannover beim Friseur unter der Trockenhaube sitzend in
einer Illustrierten. Die Nummer enthält einen Bildbericht über die Mas
senerschießungen der Juden in Wimizia in der Ukraine. Ein Bild zeigt
eine Exekution. Das Opfer stehtam Randseines eigenen Grabes, hinter
ihm ein deutscher Soldat, in dem Augenblick fotografiert, in dem er das
Opfermiteinem Genickschuß tötet. DieFrauerkannte inihmdenMann
wieder, den sie 1951 ohne Kenntnis seiner nationalsozialistischen Ver
gangenheit geheiratet hatte. Sie berichtet: »Als ich nach Hause kam,
brach ich zusammen. Ich wollte sterben. Wie konnte ich weiterleben mit
dem Wissen, daß ich neun Jahre mit einem Mörder gelebt hatte? Immer
wieder sah ich mir sein Gesicht durch die Lupe an. Sein Gesicht zeigte
keinerlei Gemütsbewegung, während er den Mann erschoß. Vielleicht
hatte er kaltblütig Hunderte erschossen. Vielleicht hatte er sich sogar
freiwillig gemeldet [...]«3

*Textaus: »Fotogeschichte«, 3,1983, Heft 3.Mitfreundlicher Genehmigung


des Verlages und der Autoren.

475
Diesedrei Beispiele erläuternden nach 1945 möglichen Gebrauchder
Bilder, um die es in diesemBeitrag geht. Es sind historische Bilddoku
mente, dieAussagen über eine nochnichtabgeschlossene Vergangenheit
machen. Die Bilder können bis heute in privates und öffentliches Leben,
in gegenwärtiges Geschehen auf dramatische Weise eingreifen. Sie fun
gieren als fotografischer Beweis, daß das Unvorstellbare tatsächlich
geschehen ist. Schriftliche Dokumente, wie zum Beispiel die amtliche
Korrespondenz der Todesfabriken, die Protokolle von Geständnissen
und Zeugenaussagen, liefern sehr viel mehr und sehr viel detailliertere
Informationen als Fotografien. Der Abbildcharakter des Mediums ver
leiht diesen Bildern gegenüber Texten jedoch einen höheren Grad von
Überzeugungskraft und Beweisstärke. »Die Tatsachenberichte [über die
Vernichtung derJuden in Polen] klingen zwar unglaublich, dochdievon
der Kamera festgehaltenen Bilder bezeugen die traurige Wahrheit«, ist
beispielsweise in der »Sittengeschichte des Zweiten Weltkrieges«, zu
lesen.4
Jeder Fotohistoriker weiß - wie Melitta Maschmann -, daß diese dem
Foto unterstellte Beweiskraft trügerisch ist. Das vermeintliche Doku-
mentarfoto kann die Ablichtung eines »gestellten Bildes«, eines insze
nierten Arrangements sein. Eine wirkliche Dokumentaraufnahme kann
durch Retusche und Montage in ihrer Aussage ins Gegenteil verkehrt
werden. Berühmt geworden sind die Fotografien, die Massener
schießungen zeigen, die die Pariser Communarden 1871 an der Bour
geoisie verübt haben sollen. Für den modernen Betrachter sind sie auf
Anhieb als naive und unbeholfene Fotomontagen durchschaubar.5 Neo
nazistische Gruppen, die bis heute den nationalsozialistischen Genozid
als »Auschwitz-Lüge« bestreiten, argumentieren wütend gegen Bilder.
Udo Walendy widmete diesem Thema 1973 eine eigene Publikation
unter dem Titel »Bild >Dokumente< für die Geschichtsschreibung?«. Er
denunziert die bekanntesten Fotografien von Naziverbrechen als »Fal
sifikate« mit abwegigen Argumenten, dieder Widerlegung nichtbedür
fen.6 DieAuthentizität derfotografischen Bildzeugnisse des NS-Terrors
steht außer Zweifel.
Auffällig - und für Neonazis zur Ausschlachtung anregend - ist
jedoch der unkritische und oberflächliche Umgang von Publizisten und
Historikern mit diesen Fotografien und ihren Aussagen. Dies ist sicher
nichtals Gleichgültigkeit gegenüber demAbgebildeten zu erklären, son
dern als eineverständliche Berührungsscheu. Jeder, der sich auf die Bil
der einläßt, mit ihnen arbeitet, sie nicht nur als emotionalisierende Illu
stration des Grauens wahrnimmt, sondern versucht, ihre Botschaft

476
genau zu entziffern, wird überrascht sein: von dem Mangel der Heraus
geber an quellenkundlicher Sorgfalt, von dem Verzicht auf die Benen
nung der abgebildeten Orte, Menschen und Ereignisse, von dem Ver
zicht auf jeglicheInformationen über die Herkunft, die Fundumstände
und die Parteilichkeit des Fotos und schließlich von der miserablen
Abbildungsqualität der immer wieder retuschierten und reproduzierten
Reproduktionen.7
Dieser Umgang mit den fotografischen Dokumenten des nationalso
zialistischen Terrors beschränkt die Bildaussage auf eine juristische
Beweisführung. So gebraucht, bezeugen sie nicht mehr, als daß es Kon
zentrationslagerund Massenexekutionen gegeben hat. WiealleFotogra
fien dokumentieren auch diese tatsächlich sehr viel mehr als die physi
scheWirklichkeitdes Abgebildeten. Es kann uns heute nicht mehr allein
darum gehen, mit Hilfe dieser Fotografien zu beweisen, daß es den Ter
ror gegeben hat. Wirwollen mit Hilfe ihrer Interpretation besserverste
hen, warum es ihn geben konnte.
Für eine solche Annäherung bietet sich beispielhaft jene eingangs
zitierte Frau an, die ihren Ehemann im Vollzug einer Exekution wieder
erkennt. Immer wieder betrachtet sie das Foto ganz genau mit der Lupe
und forscht in seinem Gesicht nach den Spuren seiner Gefühle, seiner
Kaltblütigkeit, seinen Motiven, das zu tun, was sie ihn tun sieht. Siever
sucht die Physiognomie des vertrauten Ehegefährten in der des
Nazimörders wiederzufinden. Auch wir müssen uns bewußt sein, daß
die Männer,die wir auf den Fotos quälen, foltern und töten sehen,in der
»Normalisierung« des Adenauerstaates zu einer bürgerlichen Existenz
zurückkehrten und überlebten, während ihre Opfer tot sind. Wir müs
sen uns die bestürzende Erkenntnis jener Frau zu eigenmachen,daß die
Täter unsere Verwandten oder Nachbarn sind oder sein könnten. Anders
alssieversuchenwir nicht, ihre individuellenBiographienzu rekonstru
ieren. Durch eine Analyse der Bilder, die genaue Betrachtung der Art
und Weise, in der die einenfotografiert haben und die anderen sich foto
grafieren lassen mußten, erfahren wir über Täter und Opfer gleicher
maßen viel. Wir versuchen die Bilder als Dokumente einer Mentalitäts
geschichte des Faschismus zu lesen,die alleinüber die politökonomische
Erklärung hinaus die Blockade der Vernunft vor dem menschlich
»Unbegreiflichen« zu überwinden vermag.

477
Fotografierverbote und ihre Übertretungen

Für eine Interpretation der Bilder in diesem Sinn bedeuten die Fra
gen nach Autorenschaft und Verwendungszweck der Fotografien mehr
als fotohistorische Pedanterie; sie sind unverzichtbar. Die klassische
Frage: »Wer hat aus welcher Perspektive fotografiert und für
welchen Gebrauch waren die Bilder bestimmt?« muß auch hier ge
stellt werden. Über die Herkunft und Entstehungsbedingungen
der fotografischen Zeugnisse des Naziterrors wissen wir erstaunlich
wenig.
Viele der bis heute bekanntgewordenen Aufnahmen sind im Zu
sammenhangder fotografischen Dokumentation der »Endlösung« ent
standen. Die mit deren Durchführung beauftragten Dienststellen haben
sie selbst angefertigt. Es sind fotografische Aktenbeilagen, zur Ver
vollständigung der bürokratischenBuchführungder Todesmaschinerie.
Das bekannteste Beispiel ist der Bericht des SS-Generalmajors Jürgen
Stroop über die Vernichtung des Warschauer Ghettos 1943.8 Über den
offiziellen Gebrauch der Fotografiein dem Konzentrationslager Ausch
witz sind wir durch eine neuere polnische Publikation relativ gut infor
miert: Es gab in Auschwitz zwei fest installierte Fotostellen, die unter
der Leitung der SS-Männer Walterund Kamann Tausende von Aufnah
men anfertigten und inventarisierten. In den Kartotheken des Er
kennungsdienstes wurden die dreifachen Aufnahmen der Häftlinge als
kriminalistische Verbrecherfotos archiviert. Die medizinischen Experi
mente,Sonderaktionen, auf der Flucht erschossene Häftlinge,die Selek
tion auf der Rampe, Vergasung und Verbrennung der Leichen doku
mentieren umfangreiche Serienund Alben. Nur ein geringerTeilist der
Vernichtung der SS kurz vor der Befreiung des Lagers durch die
Geschicklichkeit einiger Häftlinge entgangen.9
Das Interessean der perfekten fotografischen Dokumentation wider
sprach massiv dem an der Geheimhaltung. Deshalb wurde über jedes
Negativ, über jeden Abzug pedantisch Buch geführt. Von besonders
drastischenAufnahmenerhieltnur der LagerkommandanteinenAbzug.
Das Negativ wurde vernichtet. Die Laborarbeiten mußten Häftlinge
unter Aufsicht der SS ausführen.
Privates Fotografieren außerhalb dieser Kontrolle war für die SS
wie für Häftlinge streng verboten. Ein Kommandanturbefehl von
Rudolf Höß vom 2. Februar 1943lautet: »Ich weise noch mal darauf hin,
daß das Fotografieren innerhalb des Lagerbereiches verboten ist. Zuwi
derhandelndewerde ich strengstens bestrafen!«10 Die Formulierung läßt

478
darauf schließen, daß das Fotografierverbot wiederholt ausgesprochen
werden mußte, weil es übertreten wurde.
Den Häftlingen selbst war die Bedeutung des Fotos als Beweisstück
und Kampfmittel in der internationalen Öffentlichkeit bewußt. Die in
Widerstandsgruppen Organisierten versuchten deshalb zu fotografieren
und die Aufnahmen oder auch nur die belichteten Filme als Botschaft
über den Zaun zu bringen, was mehrfach gelang. Das Foto Abbildung i
zeigt die Verbrennung von Leichen auf einem Scheiterhaufen in Ausch-
witz-Birkenau 1944. Es gelang, dieses illegal entstandene Foto zusam
men mit einerweiteren Aufnahmenach London zu bringen,wo espubli
ziert wurde. In dem Text des Kassibers heißt es: »Dringend. Schickt
schnellstens zwei Metall-Filmrollen für einen Fotoapparat 6 x 9. Es
besteht eine Möglichkeit zu fotografieren.«11
Die Fotografien, von denen hier die Rede sein soll, sind anderer Art.
Es sind Amateuraufnahmenvon SS-Männern, Soldaten,Mitgliedernder
Gestapo und der berüchtigten Einsatzgruppen, die hinter der Front in
einigem zeitlichen und räumlichen Abstand das Überfallene Land und
seine Bewohner verheerten. Die Bilder halten einzelne »Aktionen«
fest, an denen die Fotografen selbst als Ausführende oder als Zuschauer
beteiligtwaren. Diese Bilder gehören zu der Gattung der privaten Erin
nerungsfotografie. Sie sind weder zur geheimen Dokumentation für
höhere Dienststellennoch zu irgendeiner öffentlichen Verwendung be
stimmt.
Der Amateurfotograf fixiert eine Situation, ein aus dem Alltag her
ausragendes Ereignis in seinem Leben vor allem deshalb, weil er selber
intensiven Anteil an dieserSituation, an dem Ereignis hatte. Er wird das
Foto Freunden und Verwandten später zeigen und es zum Anlaß erin
nernder Erzählung machen. Es geht in der Regel in die Privatgeschichte
der Familie ein.Zu einemspäterenZeitpunkt wird er durch die Betrach
tung desBildes seinErinnerungsvermögen stimulieren und sichdiever
gangene Situation vergegenwärtigen. Es ist möglich, daß der Amateur
fotograf, wenn er selbst einem »Partisanen« die Schlinge um den Hals
legt oder den Genickschuß vollzieht, einen Kameraden bittet, an seiner
Stelle auf den Auslöser zu drücken, damit er selbst und sein »Höhe
punkt« mit ins Bild kommen. Es ist möglich, daß seine mehr oder min
der zufällig ins Bild geratenen Kameraden von ihm einen Abzug erbit
ten, so wie sich die Teilnehmer eines Betriebsausfluges von den
Schnappschüssen der Kollegen Abzügeanfertigen lassen. Der Charakter
desprivatenErinnerungsbildes ist nichtnur von denBildernselbstables
bar, die alle bekannten Merkmale der Ästhetik der Knipser aufweisen,

479
^«^^b«^

Abb. 1 Leichenverbrennungen, 1944 in Auschwitz-


Birkcnau, von demHäftlingDavidSzmulewski illegal
fotografiert. (Panstwowemuzeum, Auschwitz)

Abb. 2 und 3 Zwei Amateuraufnahmen aus dem Besitz des deutschen Soldaten Fritz Kwalmann.
Als er an der 2. ukrainischen Frontin Gefangenschaft geriet, wurden ihm die Bilder abgenom
men und als Beweismaterial im November 1944 an die »Politische Hauptverwaltung der Roten
Armee« geschickt.
(Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen, Ludwigsburg, Duplikat-Negativ Nr. 1032)
ihn bezeugenvor allemdie Fundumstände der Einzelbilder. Die meisten
Fotografien dieserArt wurden in den Brieftaschen von toten oder gefan
genenSoldatenoder SS-Männern gefunden, häufigzusammenmit einem
Bild ihrer Mutter, ihrer Verlobten,ihrer Familie. Wie diesespielt es eine
fetischartige Rolle in dem privaten Gefühls- und Erinnerungshaushalt
des Eigentümers.
Neben den Einzelbildern entstanden Bildmäppchen und Alben mit
Amateuraufnahmen alsfotografische Chronik des persönlichenBeitrags
ihrer Besitzer zum Kampf um die »Reinheitder Rasse«, teilweise hand
schriftlich kommentiert. Die Zusammenstellung der Bilder bezeugt die
Selbstverständlichkeit, mit der der Nazi alsAmateurfotografdas Foltern
und Töten von Menschen»minderwertigerRassen« in den bildwürdigen
Motivkreis des soldatischen Lebens einbezieht. 1944 wurden dem Sol
daten Fritz Kwalmann in russischer Kriegsgefangenschaft an der 2.
ukrainischenFront zwei Fotografienabgenommen (Abb. 2, 3): das erste
zeigt zwei Soldaten im Gespräch mit einer ukrainischen Bäuerin vor
einem Gutsgebäude, das zweite einen an einem Strommast erhängten
Bauern an einer Dorfstraße. Es ist anzunehmen, daß Fritz Kwalmann die
erste Aufnahme machte,weil der als »Herrenmensch«posierende Soldat
rechts mit Zigarettenspitzeund in das Koppel gestemmterFaust ihm als
Kamerad persönlich nahestand, oder weil er die Situation - als ent
spannte Idylle oder als spannendes Verhör - für die Erinnerung festhal
ten wollte - so wie er den Erhängten fotografierte, weil er an seiner Hin
richtung beteiligt war oder diese als »eigene Leistung« dokumentieren
wollte.
In dem Album eines namentlich nicht identifizierten SS-Angehörigen
stehen die Abbildungen4 und 5unmittelbar nebeneinander. Auf der lin
ken Seite klebte der Besitzer des Albums ein typisches Amateur-Grup
penbild.An einemsonnigen Herbst- oder Frühlingstag präsentieren sich
fünf seiner Kameraden und eine junge Frau in ihrer Mitte lachend der
Kamera. Es könnte das Erinnerungsbild einer Dienststelle sein oder das
eines Sonntagsausfluges, vielleicht zur Besichtigung der Dorfkirche im
Hintergrund. Diesem fotografischen Erinnerungsausdruck der Erleb
nisbereiche »Freizeit« und »Geselligkeit« ist die Aufnahme einer Erhän
gung von zwei »Partisanen« gegenübergestellt, eine Erinnerung an die
»Arbeit« des Amateurfotografen. Die für uns frappierende Banalisie
rung des Vorgangs, die sich in der Anordnung der beiden Bilder aus
drückt, findet sich im Bild selbst wieder: zwischen zwei Bretterzäunen
als »Hauptmotiv« die erhängten Opfer; die drei Männer in Zivil und der
kleineJunge im Hintergrund scheinen zufällig ins Bild geraten zu sein;

481
Abb. 4 und 5 Zwei Amateuraufnahmen eines Angehörigen der SS. Die Bilder
sind unmittelbar nebeneinander auf einer Seite eines Fotoalbums eingeklebt.
(Zentrale Stelleder Landesjustizverwaltungen, Ludwigsburg, Duplikat-Negativ
Nr. 1178 und 1182)
sie schenken den Erhängten keine Aufmerksamkeit; sie stehen und
schauen, als sei dieser Anblick für sie alltäglich und banal.
Die Form des konventionellen Gruppenbildnisses, in der dieser Ama
teurfotograf wie tausend andere seine Freizeit dokumentierte, vereint
nicht selten Täter und Opfer zu einer perversen Zwangsgemeinschaft
(Abb. 6): Deutsche Soldaten haben eine größere Anzahl von überwie
gend älterenjüdischenMännern zusammengetrieben; einige erhebenvor
den angelegten Gewehren, die wir nicht sehen,die Hände, einige schau
en angstvoll in das geöffnete Tor einer Scheune oder eines alten Fabrik
gebäudes. Bevorsiedort hineingejagt werden,müssensievor der Kame
ra die ihnen von ihren Mördern angewiesenen Fotografierposen
einnehmen. Die beiden Rabbiner knien in der vordersten Reihe mit
erhobenen Händen. Der Erfinder dieses »gestellten Bildes« spielt damit
auf ein allen bekanntes Motiv an: In zahllosen Gruppenbildern von
Schulklassen, Vereinen oder militärischen Verbänden sitzen oder knien
die Personen der ersten Reihe, damit sie die der hinteren Reihen nicht
verdecken. Die groteskeVerknüpfungder den Opfern aufgezwungenen
Gesten der Unterwerfung mit dem Bildklischee des bürgerlichen Grup
penfotoshat für den Fotografenund die »mitspielenden« Soldaten zwei
fellos humoristischen Charakter. Der Akt des Fotografierens ist eine
zusätzliche, in der Form verfeinerte Verhöhnung der Opfer. Für die
Täter ist er ein komischesZwischenspiel. Auf welcheArt auch immer sie
die Männer aus Luköw und Lublin töten werden - sei es, daß sie sie in
ein Vernichtungslager transportieren, in einer Massenexekution
erschießen oder sie einfach in den mitfotografierten Scheunen verbren
nen -, sie unterbrechen diese Arbeit zu einem privaten Zwischenspiel
vor der Kameraeines Kameraden. Im Vollgefühl ihrer Macht können sie
es sich leisten, ihren hilflosen »Gefangenen« den Rücken zuzuwenden,
um von vorne und in ganzerFigur auf dem Erinnerungsbild zu erschei
nen. Keinervon ihnen hält eine Waffe im Anschlag. Die dünnen Stöcke
zum Schlagen, die der lachende und der lächelnde Soldat links bei sich
tragen, scheinen als einschüchternde Drohung auszureichen. Bei einer
späteren Betrachtung des Fotos werden sie das Selbstgefühl grenzenlo
ser Macht über Menschen, das sieim Augenblickder Aufnahmesichtbar
empfinden, wieder in sich erzeugen und nacherleben können. Zu dem
gleichen Zweck haben Funker Giese und seine Kameraden die Aus
führung eines Dienstauftrages unterbrochen (Abb. 7). »Funker Giese
belehrt Lubliner Juden mit erhobenem Stock«, heißt es auf der Rücksei
te dieses Gruppenbildes, das das grausame Rollenspiel »Schule« zwi
schen den Mördern und ihren Opfern dokumentiert. Worüber magFun-

483
Abb. 6 Amateuraufnahme eines deutschen Soldaten, im Oktober 1942 in Luköw,
Polen, enstanden. (Archiv G. Schoenberner, Berlin)

Abb. 7 Amateuraufnahme, auf der Rückseite beschriftet: »Funker Giese belehrt


LublinerJuden mit demStock«. (Archiv G. Schoenberner, Berlin)
ker Giese die mit einem Stern markierten jüdischen Männer belehrt
haben? Über die Formalien ihrer Deportation, über die Anzahl der
Gepäckstücke, die sie mitführen dürfen? Der SS-Mann rechts, der sich
vor Vergnügen auf die Schenkel klopft, amüsiert sich jedenfalls. Auch
dem pfeifenden SS-Mann mit einem Spazierstock macht die Situation
offensichtlich Spaß. Die jüdischenMänner sind dem Spiel ausgeliefert.
Siespielenmit, lächelnfreundlich und gebenzustimmende Erheiterung
vor, um ihre Peiniger versöhnlich zu stimmen, und in der trügerischen
Hoffnung, dadurch Schlimmeres zu verhüten.
Unterbrechungen dieser Art waren nicht vorgesehen, auf keinen Fall
von der vorgesetzten Dienststelle angeordnet. Im Gegenteil, sie bedeu
ten einen Verstoß der Einsatzgruppenmitglieder gegen das soldatische
Ideal des Gehorsams, gegen die Disziplin. Ihre »Spiele« sind Übertre
tungen geltender Vorschriften und Erlasse, mit denen ihre höchsten
Autoritäten Himmler und Heydrich dasprivateFotografierenmehrfach
und nachdrücklich verboten hatten.
Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß alle hier abgebildeten Auf
nahmentrotz eines generellen Fotografierverbotes zu privatenZwecken
entstanden sind. Die große Anzahl der aufgefundenen und überlieferten
Amateurfotografien und Alben kann nur ein Bruchteil dessen sein, was
tatsächlich fotografiert wurde. Die zu vermutende Masse von Privat
fotos könnte alsIndiz verstanden werden,daß dasFotografierverbot nur
beiläufig formuliert wurde und vielenunbekannt geblieben ist, daß seine
Übertretung kaum geahndet wurde. Das Gegenteil ist der Fall. Ver
schiedene als Rundschreiben oder Drucksachen veröffentlichte Erlasse
von Himmler, Heydrich und untergeordneten Dienststellen wiederho
len nachdrücklich bei jeder möglichenGelegenheitdas Verbot des Foto
grafierens. In einem in Krakau am 14. August 1940 von dem SS-Ober
gruppenführer Krüger gezeichneten Erlaß über die »Durchführung von
Exekutionen« heißt es unter Ziffer 9: »Jede Teilnahme von Zuschauern
und das Fotografieren sind verboten.«12 In einem dienstlichen Rund
schreiben des Oberkommandos der Heeresgruppe Süd vom 24.Septem
ber 1941 über die »Bekämpfung reichsfeindlicher Elemente (Kommuni
sten, Juden und dergl.)« wird das »Zuschauenund Photographieren bei
der Durchführung von Maßnahmen der Sonderkommandos« den Mit
gliedern der Wehrmacht streng verboten.13 Am 16.April 1942 gibt Rein
hard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, ein maschinen
schriftliches Rundschreiben heraus, das über einen Verteiler in
Abschriften an zahlreiche Dienststellenleiter ging: »Betrifft: Photogra
phieren von Exekutionen«. Ergänzend zu dem zitierten Verbot Hein^

485
rieh Himmlers vom 12. November 1941 ordnet Heydrich an: »Für
dienstliche Zweckedürfen Aufnahmen im allgemeinen nur auf Weisung
des Führers des Einsatz- oder Sonderkommandos bzw. des Kompanie
chefs der Waffen-SS oder des Zugführers der Kriegsberichterabteilung
hergestellt werden.« Die Führer dieser Einheiten »tragen die Verant
wortung dafür, daß Platten, Filme und Abzüge nicht in der Hand des
einzelnen Angehörigen der Einsatzdienststelle verbleiben. [...] Soweit
sich noch Aufnahmen oder belichtete Filme und Platten von Exekutio
nen bei den Dienststellen oder einzelnen Angehörigen der Dienststellen
befinden, sind diese umgehend dem RSHA (Referat IV A 1) zu über
senden. Desgleichen ist festzustellen wieweit eventuell Aufnahmen,
Filme oder Platten von Exekutionen bereits von Angehörigen der Ein
satzdienststellen in die Heimat verbracht worden sind. Es ist Sorge zu
tragen, daß auch dieses Aufnahmematerial unverzüglich dem Reichs
sicherheitshauptamt (ReferatIV A 1) zugeleitetwird.«14
Das Fotografierverbot für Amateure und die Behandlung der privat
wie dienstlich entstandenen Fotografien als »geheime Reichssache«
sollten verhindern, daß die Bilder zur Aufklärung der deutschen Bevöl
kerung und zur antifaschistischen Propaganda benutzt werden. Diese
dem Amateurfotografen des Terrors unterstellte kritische Motivation
beruhte weitgehend auf einer Fehleinschätzung. Es ist sicher nicht aus
zuschließen, daß das eine oder andere Foto von nationalsozialistischen
Verbrechen mit dieser Absicht aufgenommen wurde und der Foto
grafierende ein Dokument für die Zeit der Abrechnung nach einem
erhofften Sturz des Naziregimes herstellen wollte. In der Regel ist
jedoch eine ganz andere Motivation zu erkennen: Die massenhafte
Übertretung des Fotografierverbotes, die Posen der Fotografierten
selbst, die Zusammenhänge und Kommentierung der Bilder in Alben
und ihr in Zeugenaussagen beschriebener Gebrauch als Renommier
stücke sprechen für einen unkontrollierbaren, triebhaften Fotografier
zwang. Die Stärke des Zwanges läßt sich an den Nachteilenund Strafen
erkennen, die der Amateurfotograf in Kauf nimmt. Auffällig ist, daß
gerade in diesem Punkt die der SS besonders eignende Autoritätsfixie
rung aussetzte. Der SS-Obersturmbannführer Franz, Lagerkomman
dant des Konzentrationslagers in Treblinka, besaß noch bei seiner Ver
haftung in Hannover 1959 ein Fotoalbum, das zahlreicheLichtbilder aus
der Zeit seines Einsatzes in Treblinka enthielt, mit der Aufschrift »Die
schönste Zeit meines Lebens«.15 Die Tatsache, daß er dieses ihn schwer
belastende Material nach 1945 entgegen aller Zweckrationalität nicht
vernichten konnte, erhellt den Fetischcharakter von Fotografien dieser

486
Art und erläutert die zwanghafte Rolle, die sie für die Identität ihres
Besitzers spielen. Die Bilder führen uns also mitten hinein - nicht nur in
die fotografiertenSituationenund an die Schauplätze der Taten,sondern
auch in das Bewußtseinund Unterbewußtsein, in das Gefühlslebenjener
Männer, die als Elite der Nation die Anweisungen der Himmler und
Eichmannin die blutigeTat umsetzten. So sicherder wesentliche Doku
mentationswert der Fotografien auf dieser Ebene zu suchen ist, so unsi
cher und hypothetisch sind unsere Versuche der Interpretation und Les
arten.

»Was Du für Volk undHeimattust, istimmer Recht getan!«

Diese Spruchweisheit hing als Wandschmuck in der Dienststube eines


Mitglieds der Einsatzgruppe V in Polen. Er fotografierte das Täfelchen
und klebte das Foto in ein umfangreiches Erinnerungsalbum - neben
Aufnahmen von Leichenbergen, Exekutionen und Erhängungen, an
denen er selbst teilgenommen hatte.16 Von einer derart eindeutigen
Selbstkommentierung ausgehend, sind viele Bilder als Ausdruck eines
unerschütterten Rechtsbewußtseins zu verstehen.
Der freimütig offene Blickin die Kamera spricht von Unbefangenheit
und Schuldlosigkeit. Verbrecher, die nach ihrer Verurteilung von Foto
reportern umlagert werden, verdecken spontan das Gesicht mit ihren
Händen und geben damit Scham und Schuldgefühle zu erkennen. Die
Männer, die sich mit den Leichender Menschenfotografieren lassen, die
sie wenige Augenblicke zuvor hingemetzelt haben, fühlen sich keines
wegs als Verbrecher. Sie präsentieren sich der Kamera mit bewußtem
Stolz auf ihre Tat. Das Foto wird zum Leistungsnachweis, zum Bildbe
weis nationalsozialistischer Tugend. Den meisten Männern war es zu
Hause nicht gutgegangen. Viele hatte die SS vor sozialem Abstieg und
verschärftem Elend bewahrt. Es ist möglich, daß sich die Fotografierten
von diesen bildlichen Nachweisen ihrer besonderen Tüchtigkeit im
»Rassenkrieg« öffentliche Auszeichnungen, Amt und Würden im natio
nalsozialistischen Nachkriegsdeutschland erhofften.
Die Abbildungen 8 bis n entstanden ihrer Beschriftung zufolge
jeweils während eines Einsatzes, den der Amateurfotograf in mehreren
Aufnahmen festhielt. Abbildung 8 zeigt sieben Männer in Zivil, die ihr
eigenes Grab ausheben unter Bewachung von drei Soldaten (der vierte
fotografiert). Der Blickder beiden Bewacher links streift den Fotogra
fen nur beiläufig. Der rechte hält es der Mühe nicht wert, sichihm zuzu-

487
Abb. 8 und 9 Zwei Amateuraufnahmen eines Teilnehmers bei Exekutionen in
der Sowjetunion. Die Bilder wurden deutschen Kriegsgefangenen abgenommen.
(Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen, Ludwigsburg, Duplikat-Negativ
Nr. 972 und 975)
Abb. 10 und 11 Zwei Amateuraufnahmen eines Beteiligten an einer Massen
exekution in der Sowjetunion. Die Bilder wurden bei toten oder gefangenen
deutschen Soldaten gefunden.
(Zentrale Stelle der Landcsjustizverwaltungen, Ludwigsburg, Duplikat-Negativ
Nr. 976 und 977)
wenden. Die Männer posieren nichtfür die Kamera, sondernlassen sich
gleichgültig abfotografieren, weil die von ihnen in diesem Augenblick
ausgeübte Tätigkeitwenigerinnernswert ist und ihnen selbstnicht son
derlich rühmenswert erscheint. In ganz anderer Weise bewußt präsen
tiert sich der jugendliche Teilnehmer des Exekutionskommandos hinter
den vier Leichen.Diese Situationhat größere Bedeutung alsdie in Abbil
dung 8 festgehaltene. Während seinebeiden Kameraden den Fotografen
nicht registrieren, nimmt er die Gelegenheit wahr,ein persönliches Bild
zeugnis seines individuellen Anteilsan der Tat entstehenzu lassen, die er
alsHeldentat begreift. Das Ergebnis ist einPorträt desMördersmit »sei
nen«Opfern, dieihm wie erlegteTrophäenzu Füßen liegen. In ähnlicher
Weise drücken die beidenMänner auf Abbildung 10posierendihren pri
vatenAnspruchaufdievor ihnenliegenden, verstümmelten Leichen aus.
Das zweite zu dieser Seriegehörende Foto entstand ohne das Wissender
Fotografierten. Der erweiterte Bildausschnitt läßt uns das Ausmaß der
Massenexekutionen erahnen, die halb entblößten und verrenkten Kör
per der Toten die Erregung eines Blutrausches als psychische Grenz
situation. Im äußersten Gegensatzdazu steht der Ausdruck der diszipli
niertenund zugleich in unvorstellbarer Weise gelassenen Körpersprache
der Aufseher. Der einfache steht in breitbeiniger Ruhe und im Bewußt
sein gut getanerArbeit neben seinemVorgesetzten, vermutlich dem Ein
satzleiter. Dieser steht ebenfalls breitbeinig, mit auf dem Rücken ver
schränkten Händen, sachlichprüfend vor dem Leichenfeld. Der Anblick
löst sichtbar keinejener affektiven Reaktionenaus,die wir - unabhängig
von der politischen oder ideologischen Bewertung einer Exekution - für
natürlich halten, wie Entsetzen, Ekel, Abscheu.
Der Gestus der hinter dem Rücken verschränkten Hände ist für die
Körpersprache der Täter eine»kritische Form«. Immer wiederbegegnet
sie uns gerade bei jenen, die unbemerkt fotografiert werden (Abb. 12,
13). Sie ist Militärs, Lehrern oder Abteilungsleitern eigen, die in Aus
übung ihrer Leitungsfunktionihre Untergebenenbelehrenoder sichvon
ihnen Berichterstatten lassen. In dieserHaltung werden Schulaufgaben
abgehört oder Rapporte entgegengenommen. Die Aufnahme der Abbil
dung 12zeigtden Augenblicknach der Erhängung von drei Zivilistenan
einemprovisorisch aufgebautenGalgen. Niemand schaut in die Kamera.
Einige sind beschäftigt, die Erhängten vom Galgen zu nehmen, einige
stehen als Zuschauer untätig, fast gelangweilt herum. Die beiden Män
ner vorne rechts am Rande, scheinen das Geschehen leitend zu überwa
chen. Wir wissen nicht, was sie miteinander reden. Jedenfalls haben beide
ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt- ein Ausdruck angemaßter

490
Abb. 12 Amateuraufnähme unbekannter Herkunft.
(Bildarchivjürgens, Köln)

Abb. 13 Ausschnitt aus Abb. 12.


Autorität, gefühlloserDistanzierung von dem Anblick des Sterbensund
des Todes, förmlicher Diensteifer von verantwortungsbewußten Ein
satzleitern. Vorallemaber spricht dieseGeste -ebenso wie das besitzer
greifende Posieren vor den Opfern, wie der stolze Blickin die Kamera-
von einem unangreifbaren Rechtsbewußtsein der Täter. »Was Du für
Volkund Heimat tust, ist immer Recht getan.«
Grundlage für diesen Rechts- und Tugendbegriff war die nationalso
zialistische Rassenideologie mit ihren sozialdarwinistischen Ausmer-
zungs- und Züchtungsvorstellungen.Wir können hier nicht die Mecha
nismen des propagandistischenStaatsapparates nachzeichnen, der den in
denBildern dokumentierten Tugendbegriff derTäteraufbaute und mög
lich machte. Wichtig ist vielmehr, auf die Brüchigkeit und die Grenzen
dieses eingeimpften Rechtsgefühls hinzuweisen, dieden Führern gerade
im HinblickaufdieBefehlsausübenden bewußtwaren. Am 30. Mai 1940
erläuterte Hans Frank, Generalgouverneur der besetzten Ostgebiete,
Offizieren den Führerbefehl zur Ausrottung der gesamten polnischen
Oberschicht. Er sagte: »Meine Herren, wir sind keine Mörder. Für den
Polizisten und SS-Mann, der auf Grund dieser Maßnahme amtlich oder
dienstlich verpflichtet ist, die Exekution durchzuführen, ist das eine
furchtbare Aufgabe. Wir können leichtHunderte von Todesurteilen hier
unterzeichnen, aber ihre Durchführung deutschen Männern, anständi
gendeutschenSoldaten und Kameraden zu übertragen, dasbedeuteteine
furchtbare Belastung. [...] Jeder Polizei- und SS-Führer, der nun die
harte Pflicht hat, diese Urteile zu vollstrecken, muß auch hundertpro
zentig dieGewißheit haben, daßer hierin Erfüllung eines Richtspruches
der deutschen Nation handelt. Es darf auf keinen Fall der Eindruck einer
willkürlichen Aktion entstehen.«17 Wir wissen, daß die Mitglieder der
Einsatzgruppen, die mit zusätzlichen Zigaretten-, Wurst- und Schnaps
rationen belohnt wurden, die »Sonderbehandlung« etwa von Frauen
und Kindern häufignur im alkoholisierten Zustand durchzuführen ver
mochten, was die Qual der Opfer auf bestialische Weise verlängerte.
Selbstmorde, Nervenzusammenbrüche und Verhaltensweisen, die die
Amtssprache bis heute als »Exzesse« bezeichnet, nahmen im Laufe der
Zeit systemgefährdend zu. Die Führer als »Schreibtischtäter« mußten
erkennen, daß die »Endlösung« nicht im Rahmen eines traditionellen
Kriegs- und Mörderhandwerks durchführbar war. (Sie erfanden die
industrialisierten Todesfabriken.) Das Bewußtsein der Befehlsempfän
ger, im nationalen Auftrag und mit rechtlicher Legitimation im Interes
se einer rassischen Höherentwicklung der Menschheitzu foltern und zu
töten, war nicht mehr als eine dünne Schicht der Rationalisierung von
492
Angst - oder Lust. Die Bilder gewähren uns Einblicke hinter diesen
brüchigen Panzer der Ideologie.

Mit kalten undmitheißen Augen

Der Bedeutung des zwanghaften Fotografierens jenseits der rationalen


Ebene nationalsozialistischer Moral und Ideologie können wir uns nur
spekulativ nähern. Auffällig ist, daß viele Fotografen die Einsätze, an
denen sie beteiligt waren, in ihrem gesamten Verlaufin mehreren Auf
nahmen festhielten. Zu den meisten hier abgebildeten Aufnahmen gibt
es weitere, die die Augenblicke davor und danach zeigen. Die Fotogra
fen der Erhängung von zwei jugendlichen Widerstandskämpfern in
Minsk (Abb. 14, 15, 16), der Erschießung von sieben Männern in der
Sowjetunion (Abb. 17,18), der Enthauptung einesjugoslawischen »Par
tisanen« mit einer Axt (Abb. 19,20) haben die Ereignisse in ihrer Abfol
ge aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen. Die Beschriftungder
Aufnahme Abbildung 19erwähnt eine ganzeSerie, aus der uns nur diese
beiden Beispiele zugänglichwurden. Die Entstehung dieser Serienkann
nicht allein aus dem Wunsch nach einer detaillierten fotografischen
Dokumentation erklärt werden. Der SS-Mann ist kein professioneller
»Kriegsberichter«, der später aus der Vielzahl der gemachten Aufnah
men die am besten gelungene aussuchen will. Er hat keinen Auftrag zu
einer historischen Dokumentation. Wir müssen uns vergegenwärtigen,
wie er als Fotografierender den Einsatz seines Kommandos erlebt: Er
bedenkt die Einstellung des Apparates auf die Lichtverhältnisse und
berechnet die Entfernung zum Objekt, er sucht nach geeigneten Stand
orten, die er mehrfach wechselt, und bestimmt Format und Bildaus
schnitt. Indem er sich primär auf die Tätigkeit des Fotografierens kon
zentriert, kann er weder selbst handeln noch mit ungeteilter Auf
merksamkeit zuschauen. Er nimmt die Augenblicke des Tötens und
Sterbens, die Zuckungen der Erhängten und Erschossenen durch das
Objektiv der Kamera vor seinem leiblichen Auge wahr, während das
zweite Auge geschlossen ist. Ein großer Teil seiner Aufmerksamkeit ist
an die Aufgabegebunden, die Wirklichkeitdes Augenblicks in Bilder zu
verwandeln, ja, er erlebt sie als Fotografierender bereits als eine Abfolge
von Bildern. Diese Erlebnisweise bedeutet eine massive Distanzierung
von dem Geschehen und eine starke Reduktion der sinnlichen und affek
tiven Wirkungen, die von ihm ausgehen. Die Konzentration der Sinne
auf das mit einer künstlichen Optik verseheneAuge läßt ihn das Röcheln

493
Abb. 14 bis 16 Diese drei Aufnahmen enstanden 1941 in Minsk.
Deutsche Soldaten erhängen zwei sowjetische Widerstandskämpfer.
Abb. 14wurde in dem Film »Der gewöhnliche Faschismus« (M. Romm,
1965) alsStandfotoverwendetund von uns aus der Filmkopiefotogra
fiert. (Abb. 15und 16, Presseagentur Novosti, Moskau)
Abb. 17 und 18 Zwei Amateuraufnahmen. Erschießung von Zivilisten in der
Sowjetunion, gefunden bei einem deutschen Kriegsgefangenen. Die Bilder ge
hören zu einerSerie, diedasEreignis in siebenAufnahmen festhält.
(Zentrale Stelle der Landcsjustizverwaltungen, Ludwigsburg, Duplikat-Negativ
Nr. 973 und 974)
Abb. 19 und20 Enthauptung eines jugoslawischen Widerstandskämpfers mit
der Axt. Das Foto (Abb. 19) wurde am 27.8.1947 von der amerikanischen Presse
agenturAssociated Pressin Verbindung mitfolgendem Textpubliziert: »DasBild
wurde bei einem deutschen Kriegsgefangenen in Jugoslawien gefunden und ist
vonder jugoslawischen Kommission für Kriegsverbrechen als echtbeglaubigt. Es
gehört zu einer Reihevon Bildern,die das grausige Ereignisin mehreren Momen
ten festhalten.«
Abb. 19, Associated Press. Abb. 20wurdeindemFilm »Dergewöhnliche Faschis
mus« alsStandfoto verwendet und vonunsausder Filmkopie abfotografiert.
und Schreien der Opfer wenigerlaut hören, selbstdie Farben der Todes
blässe und des Blutes sind für seine Wahrnehmung durch den Apparat
gedämpft. Vor allem aber ermöglicht ihm die Isolierung und Technisie
rung des Augensinns eine »versachlichte« Wahrnehmung, die das Gese
hene nicht in seineseelische Vorstellungswelt eindringenläßt. Der Foto
apparat neutralisiert sein Gefühlsleben, seine Phantasie und seine
eigenen sensuellen Reaktionen. Mit Hilfe des zwischengeschalteten
Apparates vermag er das im höchsten Maße affektiv Ergreifende mit
»kaltenAugen«zu sehen,um einenBegriffvon Gert Mattenklott zu ver
wenden,der diesenVorgang in einemanderenZusammenhang beschrie
benhat.18 DieAbtrennung des Sehvorgangs als eines reinoptischen Vor
gangs von der übrigen Sinneswahrnehmung und vom Gefühlsleben
befähigt den fotografierenden SS-Mann zu jener »Härte gegen sich
selbst«, die das höchste Tugend- und Erziehungsideal aller Militärs,
besonders aber der SS-Elite war. Der Fotograf verfolgt mit der distan
zierenden Wahrnehmung durch die Kamera eine Strategie der Abwehr
dessen,was er sieht. Die Fotografierten sehen wir auf den Bildern nicht
selten als hingebungsvolle, faszinierte Zuschauer. Sie foltern und töten
nicht selbst, nehmen aber als aktiv Schauende am Foltern und Töten teil.
Zahlreiche Aufnahmen diesesTypus bilden eine Situation ab, die nach
der Häufigkeit der erhaltenen Beispiele als charakteristisch bezeichnet
werden kann: Der Fotografvisiertdas Opfer als »Hauptmotiv«an, allein
oder von einem NS-Akteur in welcher Weise auch immer malträtiert, in
einigem Abstand ist ein Kranz von Zuschauern kreisförmig aufgestellt.
Der Kreis schließt sich dort, wo der Fotograf steht. Die Brennweitedes
Objektivs bestimmt den Kreisausschnitt, der im Bild sichtbar wird.
Diese Situation erinnert in ihrer formalen Struktur an den Auftritt von
Schaustellern, an eine Zirkusvorführung. Die Beispiele, die wir aus
gewählt haben (Abb. 21, 22, 23), zeigen die Vielfalt und die Steige
rungsformen der Grausamkeit, die in diesen Schaustellungen möglich
waren.

Die Aufnahme der Abbildung 21 entstand noch vor dem Krieg in


Wien. Das Foto wurde nach 1945 beschriftet: »Hier amüsieren sich SS-
und NSDAP-Leute in den Straßen Wiens über ältere Juden, die mit der
Bürste den Bürgersteig schrubben müssen«. Einige dem Fotografen
unmittelbar gegenüberstehende Zuschauer haben den Blick von den
Knienden gehoben, um im Augenblick der Aufnahme in die Kamera zu
sehen; die meisten blicken mit dem Ausdruck der Erheiterung auf das
noch ungewohnte Schauspiel der öffentlichen Erniedrigung ihrer Mit
bürger. Die Zurschaustellung ihrer »Zwangsarbeit« ist wesentlicher Teil

497
«Jp Abb. 22 Selektion in einer polnischen Stadt.
Amateurfoto aus einer Serie.
Abb. 21 Nazis zwingen (Zydowski Historyczny, Warschau)
jüdische Männer in Wien,
den Bürgersteig mit Bür
sten zu schrubben, 1938.
(dpa Bildarchiv, Frankfurt)

Abb. 23 Massenhinrichtung von Zivilisten in der Nähe von Wjasma


bei Moskau, 1943. Das Foto wurde einem Soldaten des 630. Schützen
regiments zusammen mit vielen anderen abgenommen.
(Zentrale Stelle der LandesJustizverwaltungen, Ludwigsburg, Duplikat-
Negativ Nr. 1065)
der Verhöhnung, dieimVergleich zu anderenSituationen als»harmlose«
Schikane erscheinen mag.
Abbildung 22 ist eine von zahlreichenAufnahmen, die eine Selektion
in Polen dokumentieren. Die jüdische Bevölkerung des Ortes mußte
sich auf den Marktplatz legen. Wehrmachtsärzte und Ortskommandan
ten führen die Selektion durch. Das Aufgebot von Soldaten hat ange
sichts der Wehrlosigkeit der Liegendennicht einmal seineWachfunkti
on auszuüben. Sie stehen in dichter Reihe als eine Front von Zuschauern,
die Hände tatenlos hinterm Rücken verschränkt. Der Rabbiner, Haupt
motiv des Fotografen, steht ruhig, schicksalsergeben und unnahbar
zugleich. Sein Stehen kann bedeuten, daß er als arbeitsunfähiger, alter
Mann zur sofortigen Tötung selektiert wurde oder als Mitglied des
Judenrates für die Vollständigkeit der Gemeinde zur Verantwortung
gezogenwerden soll.
1943 wurde das Foto der Abbildung 23 bei einem deutschen Soldaten
des 630. Schützenregiments gefunden, der während des Rückzugs in
Gefangenschaft geriet. Es zeigt eine Massenerhängung in einem Kie
fernwäldchen in der Nähe der Stadt Wjasma. Der Fotograf hat einen
stark erhöhten Standpunkt eingenommen, vielleicht ist er auf einen
Baum geklettert. Bei genauem Hinsehen ist das dichte Spalier der
Zuschauer und ihrer Schatten links und rechts von den Erhängten
zu erkennen. Alle Soldaten blicken unverwandt zu diesen hinauf. Nur
einer von ihnen - er steht im Hintergrund dem Fotografen gerade
gegenüber - hat den Blickvon ihnen abgewendet, um die Tätigkeit des
Kameraden mit der Kamera zu verfolgen.
Diese Fotografien dokumentieren wie viele andere Schaulust und
Schauzwang der Täter als weitverbreitete psychische Disposition.
Schaulust und Schauzwang spielten bekanntlich auch im Vollzug von
Prügelstrafen, Folterungen und Exekutionen im Alltag der Konzentra
tionslager eine wichtige Rolle. Klaus Theweleit hat »Prügelritual und
Schauen«, das Verhältnis geprügelter Sträfling/zuschauender SS-Mann
in den Zusammenhang einer Sexualpathologie der soldatischen Menta
lität gestellt.19 Wir haben bis jetzt bewußt auf Begriffe wie »Sadismus«
oder »Voyeurismus«, die Kategorien von »Krankheit« und »Ge
sundheit« als wenig hilfreich und eher Verwirrung stiftend verzichtet.
Die zahlreichen Bilder, auf denen wir die Fotografierten lustvoll schau
en sehen, sind jedoch ohne den von Theweleit skizzierten Zusammen
hang nicht mehr zu verstehen.
Wenn das Zuschauen bei Folterungen und Tötungen als Quelle von
Lust, als Befriedigung eines wie immerzerstörtenTriebes erlebt werden

499
kann, kann auch das Betrachten von Bildern dieser Szenen die gleiche
Erlebnisqualität haben. Das Fotografieren kann jedoch auch als Steige
rung der Schaulust, als potenziertes, intensiviertes Sehen verstanden
werden. Die oben genannten Verordnungen verbieten nicht zufällig in
einem Atemzug Fotografieren und Zuschauen - ohne Erfolg, wie wir
wissen. Das Verbot hat nicht nur den pragmatischenSinn der Geheim
haltung. Verboten wurde auch die Lust der Täter, die im Fotografieren
und Zuschauen ruchbar wurde. Das Odium des sadistischen Genusses
stellteden Charakter der »Aktion« alspolitischenSachzwang in Frage.
Schriftliche Zeugenaussagen zu fotografischen Bildzeugnissen doku
mentieren jedoch das Aufbrechen der Triebebene, sei es als unblutige
Belustigung, seies als exzessive Raserei. SimonWiesenthalberichtet, daß
die SS im Sommer 1941 in dem in Lemberg installierten Ghetto die
Straßen aufriß und in einen bodenlosen Morast verwandelte. »Es war
unmöglich, sich sauberzuhalten. Wir müssen wie Tiere ausgesehen
haben oder wie Spukgestaltenaus einer anderen Welt. An den schlimm
sten Tagenkamen SS- und Wehrmachtsoffiziere, manche mit Frauen, in
ihren schweren Wagen. Sie sahenuns zu, lachtenüber uns und fotogra
fierten diese fremdartigen Untermenschen.«20 1939 wurden wegen an
geblicherBrandstiftung allejüdischen Bewohner des Ortes Ostrowo bei
Warschau per Telefonanrufzum Tode verurteilt. Viele noch unerfahrene
Mitglieder des Kommandos »waren dem Zusammenbruch nahe«, als sie
sahen, daß sie auch Frauen und Kinder erschießen sollten. Vergeblich
versuchten sie eine Revision des »Urteils« zu erwirken. Ein dem Kom
mando nicht angehörenderSoldatnamens Pillichschloß sich an, »um als
alterNationalsozialist einendienstfreien Tagsinnvoll zu nutzen. [...] Pil
lich sah seine Aufgabe darin, die Polizisten zu größerem Eifer anzu
spornen. Außerdemfotografierte er die infolge der Unerfahrenheitund
Nervosität der Polizisten besonders grausame Aktion, u. a. die Szene,
wie einem Kind nacheinem Schuß die halbe Kopfhälfte herunterklapp
te.«21
Die Steigerung der sadistischen Schaulust durch das Fotografieren
steht der oben beschriebenen Funktion des Fotografierens als Distanz-
nahme des »kalten Auges« diametral entgegen. Beides ist möglich. Der
Fotoapparat kann nicht nur zur Reduktion der Wahrnehmung bis zur
Empfindungslosigkeitbenutzt werden, sondern auch als Instrument der
Luststeigerung einer Wahrnehmung mit »heißenAugen«. Welche ande
re Erklärung wäre für die Entstehung von keineswegs seltenen Ama
teuraufnahmen wie denender Abbildungen 24, 25, 26, 27möglich?
Die Bilder fixieren die Wahrnehmungsidentität von menschlichen

500
Abb. 25 Amateurfoto eines deutschen Sol
daten, aufgenommen imJuli 1944westlich von
Abb. 24 Leichenberg nach einer Exekution. Amateurfoto, gefunden in Brest bei Biala Podlaska.
der Nähe von Wyschgorod beidem getöteten Unteroffizier Worbs.
(Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltun-
(Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen, Ludwigsburg, Duplikat-
gen,Ludwigsburg,Duplikat-Negativ Nr. 891).
Negativ Nr. 1082)

-; ,

Abb. 27 Amateuraufnahme eines deutschen Soldaten.


Die erhängte und verstümmelte sowjetische Wider
Abb. 26 Massengrab wahrend einer Exekution von jüdischer standskämpferin Soja Kosmodcmsjenskaja 1941 in dem
Bevölkerung in der Sowjetunion. Aufgenommen von der Dorf Petrizewo in der Nähe von Moskau.
Gestapo. (Presseagentur Nowosti, Moskau).
Das Foto wurde als Beweismittelin den Nürnberger Prozessen
verwendet und von der Presseagentur APN veröffentlicht.
Leibern als »blutiger Brei«, als konturenlose, entgrenzte Masse. Der
Wunsch- oder Zwang-, diese Anblicke zu fotografieren und als Bilder
für eine später wiederholbare Betrachtung zu konservieren, kann sich
nicht auf der Ebene politischer oder ideologischer »Überzeugungen«
formieren. Das wogende Meer von Leichen, die zerstückelten, obszön
verrenkten und entblößten Gliedmaßen, sind für den Fotografen nicht
mehr als »besiegte Gegner« oder »bestrafte Feinde« zu realisieren. Die
Anonymität der Körper bietet sich ihm an als Materialisierung seines
eigenen Körperhasses, von dem er sich entlastet. Die Fotografien sind
Zeugnisse des Schicksals des Körpers im 20. Jahrhundert. Jede Überle
gung über Folter und Massaker als Teil unserer Zivilisation muß die
Geschichte des Körpers und seinerSexualität in den Mittelpunkt stellen,
wie esJean Genet in seinemEssay über die Massakervon Sabraund Cha
tila im September 1982 tut.22
Unsere Fotos dokumentieren die panische Körperangst und die zer
störerische Körperverachtung der SS. Erst in diesem Zusammenhang
erhalten sexualpathologische Begriffe wie »Sadismus« eine konkrete
Bedeutung, die Jean Amery im Hinblick auf das Prügelritual in Kon
zentrationslagern aufgrund seiner eigenen Erfahrung als Häftling so
formuliert hat: »Der Mitmensch wird verfleischlicht und in der Ver-
fleischlichung schon an den Rand des Todes geführt; allenfalls wird er
schließlich über die Todesgrenze hinausgetriebenins Nichts. Damit rea
lisiert der Peiniger und Mörder seine eigene zerstörerische Fleischlich
keit, ohne daß er sich aber darin, wie der Gemarterte, ganz verlieren
müßte.«23 Der im Akt desFotografierens kulminierende Furor gegen die
Körper von Menschen, deren sozialeund politische Identität in diesem
Augenblick im Bewußtsein der Fotografierenden verschwunden ist, gilt
ihren eigenen.

Anfnerkungen

1 Melitta Maschmann, Fazit, München 1979,S. 202.


2 Simon Wiesenthal, Doch die Mörder leben, München 1967, S. 313.
3 Ebenda, S. 24off.
4 Andreas Gaspar, E. F. Ziehlke u. a., Sittengeschichte des Zweiten Weltkriegs,
Hanau o. J., S. 198.
5 DieseFotografiensind abgebildet und kommentiert bei Gert Prokop, Die Spra
che der Fotografie, Berlin 1978, S. 3off.
6 Udo Walendy,Bild »Dokumente« für die Geschichtsschreibung?, Vlotho 1973.
7 Darin unterscheidet sich als positive Ausnahme das Buch von Gerhard Schoen-

502
berner, Der gelbe Stern, Hamburg i960, dessen Einleitung wichtige medienkri
tische Informationen und Überlegungen zu denBildern formuliert.
8 »Es gibtkeinen jüdischen Wohnbezirk mehr!« Faksimileausgabe desAktendo
kumentes mit Fotografien, Neuwied/Berlin/Darmstadt i960, mit einemVor
wort von Andrzej Wirth.
9 Konzentrationslager Auschwitz, Dokumentaraufnahmen, Warschau 1980.
10 Ebenda, S. 23.
11 Ebenda, S. 24.
12 ZentraleStelle der Landesjustizverwaltungen, Ludwigsburg.
13 Ebenda.
14 Ebenda.
15 Adalbert Rückerl, NS-Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse,
München 1977, 3. Auflage 1979, S. 45.
16 Das Album enthält 384Bilder aus der Zeit des Einsatzes seines Besitzers zwi
schen 1939 und 1944 in Polen. Es befindet sich heute in Warschau. Vgl.Jürgen
Fischer, Bilder ausdeutscher Vergangenheit, in:Stern, Nr. 47,1979, S. i04ff.
17 Zitiert nach Hans Buchheim, Anatomie des SS-Staates, München 1982, S.228.
18 Gert Mattenklott, Der übersinnliche Leib, Bd. II, Kalte Augen, Reinbek bei
Hamburg 1982, S. 47ff.
19 Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd.2.,FrankfurtamMain 1978, S.341 ff.
20 Simon Wiesenthal, a. a. O., S. 271".
21 Andreas Gaspar, E. F. Ziehlkeu. a., a. a. O., S. 200.
22 Jean Genet, VierStunden in Chatila, in:Tageszeitung, 7.2.1982, S. 22ff.
23 Jean Amery, Jenseits von Schuld und Sühne, zitiert nach Klaus Theweleit,
a. a. O., S. 349.
Bernd Hüppauf Der entleerte Blick hinter
der Kamera

Tod und Gewalt in derfotografischen Bildtradition

Der ZweiteWeltkrieg und die Massenvernichtungen gehören zu den am


intensivsten bearbeiteten Perioden der deutschen Geschichte, und den
noch hat sich das Unbehagen nicht abweisen lassen, daß wir wenig dar
über wissen, was an dieser Zeit eigentlich wissenswert wäre und ihre
Herausforderung bildet. Die »großen Kontroversen« haben dies Unbe
hagen eher verstärkt. Zum Verständnis von Gewalt und neuerer
Ausbrüche ethnisch-rassisch motivierter Vernichtungen haben diese
Debatten keinen wesentlichen Beitrag geleistet. Mit anhaltenden Ge
walterfahrungen läßt sich Gewalt, in ihren rohen wie sublimiertenFor
men, jedoch nicht länger ohne weiteres als eine Domäne des Anderen,
des Nicht-Zivilisierten verstehen. In demumfangreichen Unternehmen
einer Klärungdes Verhältnisses von Gewalt, Destruktion und moderner
Gesellschaft widmen sich die folgenden Überlegungen einem kleinen
Ausschnitt. Aus dem ungeklärten generellen Problem, was Bilder sind
und tun, greift der Aufsatz das Problem des Ichs von Amateurfotogra
fen heraus und fragt nach dem Blickauf die Massenmordesowiedanach,
welche Wirkungder Blick auf deren Abbildungen für das Erinnern hat.
Fotografien von Massenerschießungen, Torturen und von der indu
striellen Vernichtung in den Lagern stammen aus verschiedenen Quel
len. Sie wurden vonoffiziellen Fotografen mit»Berechtigungspapieren«,
SS-Männern, Wachmannschaften, Soldaten und »Zuschauern« mit und
ohne Uniform gemacht. Filme und Fotos der Alliierten dokumentieren
nicht die Vernichtung selbst, sondern ihre Folgen: Leichenberge, Mas
sengräber undbefreite Überlebende. Während die Objekte derFotos aus
demVernichtungskrieg sichgleichen, verlangen dieBilderverschiedener
Herkunft doch nach differenzierterInterpretation. Ihre Identität ist eine
des bloßen Scheins.
Was führte einen Soldaten beim Anblick einer Massenerschießung
dazu, die Kamera vors Auge zu heben, den Ausschnitt zu bestimmen
und den Auslöser zu betätigen? Im Unterschied zu den Aufnahmen von
Kriegsgreueln, wie sie seit kurzem wieder zahlreich durch die Medien

504
verbreitet werden, handelte er nicht im Auftrag eines kommerziellen
Auftraggebers, auch humanitäre Motive wie der Wunsch, die Weltöf
fentlichkeit durch Bilder von Leid und Tod aufzurütteln, fallen aus.
Affektive Bindungen an das »Motiv«, die für die Amateurfotografie her
kömmlicherweise vorausgesetzt werden können, lassen sich hier nicht
annehmen. Die meisten Fotos lassenweder die Spuren von Angst, Ver-
ständnislosigkeit, Schock, Ekel noch die perverse Kombination einer
ambivalenten Angstlust1 erkennen. Dennoch scheint die Kamera stets
dabeigewesen zu sein, und selbst das offizielle Verbot, die Erschießun
gen von Zivilisten zu fotografieren, wurde umgangen. Die bloße Exi
stenz dieser Fotos ist erklärungsbedürftig und kein harmloses Element
der Fotogeschichte. Sollnicht eineso fragwürdige Annahme herangezo
gen werden wie die, das Bedürfnis, Bilder zu machen und auf Dauer zu
behalten, sei so universell menschlich, daß alles Sichtbare unter allen
Umständen für abbildenswert gehalten würde, so stellt die Existenzder
zahlreichenFotos des »Weltanschauungskrieges«2 und desVölkermords
den Betrachter vor die schwierige und in den gegenwärtigen Theorie
debatten wenig geschätzte Frage nach dem Subjekt hinter dem Sucher
der Kamera.
Für die Fotografien vom Vernichtungskrieg gibt es keine eigentliche
Bildtradition, sie haben jedoch Vorläufer. Bilder der Brutalität, von
Grausamkeitenund Verstümmelungen am menschlichen Körper reichen
in der europäischen Bildtradition bis ins Mittelalter zurück. Sie sind in
übergeordnete Zusammenhänge eingebettet und gewinnen ihre Bedeu
tungenin religiösen, juristischen oder militärischen Kodes. In der christ
lichen Tradition bilden die Körper der Heiligen, der Märtyrer und des
Christus selbst die Orte der Visualisierungen von Schmerz, Qual und
Agonie. Geißeln, pfählen, rädern,federn, zerstückeln und andereHand
lungen aus realen oder imaginierten Folterkammern machen einen
Großteil der christlichen Bildtradition aus. Rechtsprechung, Strafeund
Vergeltung bilden einen anderen Kontext für Bilder der Tortur, des Ent-
hauptens und Erhängens - nach Cantor ein »germanischer Beitrag zur
Zivilisation«.3 Bildliche und schriftliche Überlieferungen zeigen den
öffentlichen Charakter dieser Handlungen. Hinrichtungen wurden zu
Schauspielen, die ein großes Publikum anzogen. Die Guillotine der
FranzösischenRevolutionbildetewohl einenHöhepunkt und Abschluß
dieserTradition, die in Kunst und Literatur ihre Spuren hinterlassenhat.
Die romantische (Arnim, Brentano) und auf andere Weise die moderne
Literatur benutzen Schilderungen der öffentlichen Schaustellung des
Tötens, um durch die Faszination, die von Qualen, Blut und Tod ande-

505
rer ausgeht, die dunkle Seite des Lebens vorzustellen. Mit drastischen
erzählerischen Mitteln entwirft Döblins »Wallenstein«, während des
Ersten Weltkrieges geschrieben, die grausame Hinrichtung eines Juden
als Volksfest.4 Aber diese Bildersind stets in Zusammenhänge eingelas
sen, die das Geschehen selbst, Leid und Tod, transzendieren.
Das gilt auch für die ersten Fotografienvom Tod auf dem Schlachtfeld
in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Von den ersten fotografierten
Schlachtfeldern, denen des Krimkrieges und des amerikanischen Bür
gerkrieges, gibt es wenige Fotos von Leichen. Die Aufnahmen in Gard
ners »Sketchbook« stammenaus der blutigstenSchlacht des Bürgerkrie
ges, aus Gettysburg, und sind doch eher elegisch. Durch den Begleittext
gewinnen sie das Pathos des Opfers für die gerechten Kriegsziele der
Union.5 Der Text versichert dem Leser, daß der Ausdruck von Leid und
Qual auf den Gesichtern der Toten die Ausnahme sei, häufiger jedoch
zeigten sie eine große Ruhe, als ob sie beim Gebet gestorben wären.
Andere hätten ein Lächeln auf dem bleichen Gesicht oder wirkten, als ob
die Kugel sie beim Gespräch getroffen hätte. Bild und Text haben das
Ziel, die Würde der Soldaten im Tod darzustellen, und davon nimmt
Gardner, der kompromißlose Gegner der Südstaaten, der mit seinen
Fotos auch Propagandafür den Norden machte, auch den Gegner nicht
aus. Der Tod aufden Schlachtfeldern bleibteingebettet in den Kampffür
diepolitischenund moralischen Zieledes Krieges. Der Betrachterkönne
beim Anblick der toten Soldaten denken, schreibt Gardner, sie könnten
jeden Augenblick aufstehen, um den Kampf fortzusetzen. Die frühe
Kriegsfotografie stellt den Tod in der Fortsetzung der traditionellen
Kriegsmalerei als Krönung der Helden- und Opfertaten auf dem Feld
der Ehre für die Verteidigung des Vaterlands oder, seit den Revolutions
kriegen, für die Idee von Freiheit und Gleichheit dar. Erst in der Foto
grafie des Ersten Weltkrieges zeigen sich deutlich die ersten Brüche mit
dieser Tradition.
Amateuraufnahmenvon der Front zeigenspätestensseit 1916 die neue
Disproportionalitätzwischen Mensch und Destruktionsapparat, einzel
nem Soldaten und unübersehbarem Raum der Front. Die Zusammen
hänge gehen, auch in der bildlichen Repräsentation, verloren, und der
»zerbrechliche Körper« (Benjamin) in der überwältigenden Kriegsland
schaft wird zum Mal der Sinnlosigkeit. Gegen heftige Proteste stellte
Ernst Friedrich in seinem »Antikriegsmuseum« in Berlin Fotos zusam
men, die die Grausamkeiten des Krieges nicht durch ein höheres Ziel zu
rechtfertigen suchten, sondern die Sinnlosigkeit von Leid und Tod im
Krieg demonstrierten. Fotos von Massengräbern und Leichenbergen,

506
vom Erhängen und Erschießen, von Verstümmelungen und Entwürdi
gungen, meist von Amateuren gemacht, versah Friedrich mit mehrspra
chigen Unterschriften, die das Unzeitgemäße und die Absurdität des
Krieges in der modernen Gesellschaft belegen sollten. Aber die Demon
stration dieser Absurdität diente noch immer als ein Mittel, um ein
umfassenderes Ziel zu erreichen. Absurd waren die Bilder vor dem Hin
tergrund des Ideals der Gesellschaft ohne Krieg und Gewalt. Die Fotos
stellten Sinnlosigkeit als Anklage gegen eine Gesellschaft aus, die von
ihren eigenen Idealen abgefallen war und durch den Schock der Bilder
zu ihnen zurückgeführt werden sollte.Nicht mehr im Kriege selbst,aber
doch in eineruniversalen, geschichtlichen Perspektive,die außerhalb des
Krieges begründetwar, konnte der sinnlose Toddeseinzelnen einenSinn
gewinnen, da er als Opfer auf dem Weg in eine gewaltfreie Welt gesehen
werden konnte. Dieser Grundgedanke der Sammlung sollte den Blick
des Betrachters lenken, und so wurde er, wie die Reaktion der National
sozialistenzeigte, auch verstanden.Die Fotos vom Kriegim Osten nach
1941 lassen in ihrer rohen Brutalität und biologischenNacktheit keinen
solchen Gedanken mehr zu. Siestehen in keinem Kontext und gehören
zu keiner Tradition, die es erlaubte, das im Bild selbst Abwesende durch
die Betrachtunghinzuzufügen. Die Sinnlosigkeit erscheintalsSinnlosig
keit, und die Brutalität stellt sich als Brutalität dar.

Das Subjekt hinter dem Sucher

Nachdem Bilder vom Massenmord an der Zivilbevölkerungdes Ostens


lange Zeit wenig verbreitet waren, hat sich seit kurzem die Aufmerk
samkeit besonders ihnen zugewandt. Eine neuere Dokumentation unter
dem sarkastischen Titel »Schöne Zeiten« stellt sich explizit die Frage,
was das für Menschen waren, die den Mord als tägliches Handwerk
betreiben konnten.6 Für die Fotografen des Mordens gilt dieselbe Frage.
Wie die bloße Empirie von Lebensläufen und Tatbeschreibungen keine
Antwort auf die Frage nach den Subjekten der Vernichtungim Vernich
tungskrieg liefert, bleibt auch der abstrakte Gedanke der Ideologie als
»Erklärung« unbefriedigend. Die Charakterisierung der Täter als Nor
malbürger mit der »Ideologie der Herrenrasse« erklärt wenig, und viele
Aussagen und biographische Detailsin demBandvon Klee, Dreßen und
Rieß widersprechen ihr offen. Andere Autoren benutzen den Begriff
einer allmählichen »Brutalisierung« der Soldaten durch den Krieg im
Osten, der sich von anderen Kriegen dadurch unterschied, daß in ihm

507
alle völkerrechtlichen und moralischen Restriktionen außer Kraft
gesetzt wurden und der daher mit Begriffen des NS-Vokabulars wie
»Vernichtungskrieg« oder »Weltanschauungskrieg« bezeichnet worden
ist.7 Dieser Krieg habe »die Sicht des deutschen Soldaten auf die Wirk
lichkeit fundamental verändert und so zu seiner Brutalisierung und
Bereitschaft beigetragen, die mörderische Politik des Regimes zu akzep
tieren und zu unterstützen, ob er nun an ihrer Durchführung tatsächlich
beteiligt war oder sielediglich passiv beobachtete«.8
Mit einer Brutalisierung durch die Bedingungen der Ostfront lassen
sich aber nicht die Haltungen verständlich machen, die bereits 1941 zu
den Massenmorden im Baltikum und der Ukraine führten.9 Schwerwie
gender für Fragen nach der Konzeption ist die Tendenz dieses Begriffs,
Unterschiede zu verwischen und einen homogenen Tätertyp entstehen
zu lassen.
Will man vereinheitlichenden Konstruktionen der Psyche des deut
schen Täters - mit der Waffe oder der Kamera - entgehen, müssen die
Quellen unter theoretischen Gesichtspunkten gelesen werden, die es
ermöglichen, den Fragehorizont nicht durch abstrakte Rahmen - wie
den der rassistischen Ideologiedes Nationalsozialismus - oder durch die
Generalisierung einzelnerErfahrungen - wiedie einerAbstumpfungder
Gefühle und Brutalisierung - zu theoretischen Kategorien vorzeitig zu
schließen. Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf-Fragen
nach dem Verhältnis von fotografischer Repräsentation und Gewalt im
Vernichtungsprogramm des Nationalsozialismus. Die spärlichen Anga
ben der Fotografen über ihr Selbstverständnis und wenige Interviews
können nicht mehr als Anhaltspunkte für denAusgang derÜberlegung
liefern. Positionen aus jüngeren Debatten über Fragen von Repräsenta
tion sollen zum Verständnis von Aspekten der Fotogeschichte des NS-
Terrors herangezogenwerden.10
Einer der frühesten Versuche, Fotografieund vor allemAmateurfoto
grafie systematisch als Quelle zu nutzen, geht von der Vermutung aus,
die Fotografen hätten ihre Aufnahmen sorgfältig arrangiert, um gezielte
Effekte zu erreichen. Die Voraussetzung dafür, daß der Versuch über
haupt möglich ist, »die Geschichte der Judenverfolgung durch das Drit
te Reich in Bildern zu erzählen«, nennt Schoenberner »das Ungeheuer
lichste: es sind die Mörder selbst, die sich bei ihrem Handwerk
fotografieren«.11 Aber läßt sich so ohne weiteresvon dieserIdentität aus
gehen? Ist der Blick durch den Sucher stets identisch mit dem durchs
Visier, und ist dieserBlickstets der gleiche ideologischgelenkteBlickdes
gläubigen NS-Täters? Ist das Ungeheuerliche dieserFotos tatsächlichals

508
Dokument eines ideologischen Verhältnisses, das »die Täter in der Rolle
des Helden und ihre wehrlosen Opfer als Untermenschen« definiert,12
angemessen zu verstehen? Die Bedeutung von Indoktrinationund ideo
logischer Verblendung darf nicht reduziert werden. Dennoch setzt die
Identifikation des Blicks der Täter auf die Opfer mit der Ideologie von
Rassismus und Heldentum des Nationalsozialismus eine zeitbedingte
Einheitlichkeit voraus, in der das Ungeheuerliche viel von seinem
Schrecken verliert, da es mit dem Ende der Ideologie selbst vergehen
müßte.
Es ist diese Vorstellung von einem ideologischen und homogenen
Bewußtsein,die wohl zu der Annahme führt, die Fotografen hätten »viel
Zeit darauf verwandt, ihre Objekte in möglichst ungünstigen Situatio
nen zu fotografieren. Sie vertrautender primitivenPsychologie, daß ver
ängstigte, gequälte, übernächtigte Menschen dem oberflächlichen
Betrachter leicht abstoßend erscheinen. Aber sie suchten auch mit
Bedacht immer Physiognomien aus, die nach ihrer Vorstellung beson
ders unsympathisch waren und jenem Zerrbild der Juden am nächsten
kamen, das die antisemitische Propaganda der Nazis geprägt hatte.«13
Während dieseSätzeauf die Fotografie der Propagandafilme und öffent
lich verbreiteten Bilderdurchaus zutreffen und das offiziellgelehrteBild
von demJuden wohl auch den Blick von offiziellen und privaten Foto
grafen gelenkt hat, so sprechen doch viele Fotos, einschließlich der von
Schoenberner kenntnisreich und mitfühlend ausgewählten Beispiele,
eine andere Sprache.
Der Blick der Höß, Himmler, Eicke oder des SS-Untersturmführers
Max Täubner14 ist nicht identisch mit dem von gedrängten Tätern in
Polizeiregimentern, schießenden Soldaten oder Zuschauern in Uniform
oder Zivil. Auch die Aussagen von Zuschauernund Fotografen entspre
chen nicht immer dem Bild des Täters mit dem »falschen Bewußtsein«
des Rassismus. Der Satz eines »Majors German«, verantwortlich für ein
»Lazarett«, in dem Kriegsgefangene zu Tode gemartert wurden: »Ich bin
vor niemandem für euer Leben verantwortlich«15, faßt die absolute
Macht eineseinzelnenüber das Leben allerihm ausgelieferten Menschen
im SystemeinesethischenNihilismus auf banalfurchtbare Weise zusam
men. Aber der Abscheu gegen dieses System darf nicht dazu verleiten,
die Mentalität des »Majors German« zu universalisieren und aus ihr ein
System zu konstruieren, das wiederum selbst als generalisiertes Subjekt
des gewaltsamen Handelns hypostasiert wird.
Der Gedanke, daß wehrlose Zivilisten massenweise erschossen wer
den sollten, traf nach den Aussagen von Augenzeugen zunächst auf

509
Unglauben und Abwehr. Der Bericht eines offiziellen Fotografen über
Massaker an litauischen Juden in Kowno vomJuni 1941 sprichtvon der
Beifall klatschenden lokalen Bevölkerung.16 Mörder mit blutigen Keu
len und Eisenstangen gaben ihm als ihre Motivation Rache für persön
lich erlittenes oder auch nur vom Hörensagenvermutetes Unrecht und
antibolschewistische Reaktionen an. Sadismus oder der emotionale
Antisemitismus der Pogrome sind in diesen und anderen Stellungnah
men offensichtlich. Von seiner ungläubigen Abwehr des Gehörten und
Gesehenenspricht der Bericht des Fotografen. Er äußert keinen Protest
oder gar Widerstand, aber auch nicht den Glauben an die pseudowis
senschaftliche Rassenlehre des Dritten Reichs. Andere Kommentare
zeugen von ähnlichen Reaktionen der Distanz und schwachen Formen
der Zurückweisung. Die Kommentare von zwei Fahrern und einem
Buchhalter, dieZeugenvon Massenerschießungen in Paneriaiwaren, las
sen diese Mischung aus Ungläubigkeit, Abwehr und Gefühlen der
Unlust bei gleichzeitiger Neugier erkennen.17 Auch sie hatten die Kame
ra griffbereitund nahmen die Szenenauf. Gruppen von Soldatenstehen
am Rande, meist an erhöhten, »privilegierten« Positionen, die den Blick
freigeben, und sehen eine Stunde und länger dem Morden zu.
Gruppendruck, die Furcht, für feige oder der Uniform nicht »wür
dig« gehalten zu werden, werden häufiger als Grund genannt, zuzuse
hen oder gar selbst zu schießen. Wegen »zu großer Weichheit« werden
Polizisten oder SS-Männer gelegentlich versetzt. Nicht alle wollten
Täter sein, nicht alle, die zu Tätern wurden, fühlten sich als »Helden«,
und wenn auch die rassistische Indoktrination ihre Wirkung zeigte,
spielten doch Alkohol und andere Mittel zur Betäubung der Gefühle
und Schwächung des inneren Widerstands eine wichtige Rolle. Die
Bedeutungvon Druck und Verlockungen, aber auch das Bedürfnisnach
Gruppenzugehörigkeit dürfen nicht unterschätzt werden, will man ein
Bild derjenigen entwickeln, die, wie es in der gelenkten Sprache hieß,
»ihre Pflicht« erfüllten. Distanzierung und psychische Ambivalenzen
ließen sichunter den gegebenen Umständenschweraussprechen oder zu
Papier bringen, nicht nur weil äußerer Druck entgegenwirkte, sondern
auch weil das Vokabulardafür nicht zur Verfügung stand - um so aus
sagekräftiger sind die wenigen Spuren solcher Distanzen. Als weitaus
komplexer und vielfältiger als das Verhältnis mörderischer Ideologen
zu ihren Opfern solltedasder Fotografenzu ihren Bilderngesehen wer
den.

510
Bedürfnisse des Subjekts alsMotive der Bilddokumentation

Der Wunsch nach Dokumentation ist ein weitaus häufigeres Motiv der
Fotografen als das, durch die Kamera am Vernichtungsprogramm teil
zunehmen oder selbst zum »Helden« zu werden. Was aber bedeutet
»Dokumentation«, wenn als Betrachter der Fotos nur der Fotograf
selbst in Frage kommt und schon sein engerer Kreis von Familie und
Bekanntenspäter oft nicht in dieBetrachtung einbezogen werden konn
te? Der Fall des SS-Manns Täubner macht deutlich, daß das Zeigen von
Fotografien in der Tat unüblich war und gerichtsnotorisch werden
konnte. Dem von der Generation der Kinder später beobachteten
Schweigen der Väter über ihre Taten im Krieg entsprach das Verbergen
ihrerFotografien, oft auchvor sich selbst.18 Diese Fotoswarendurchdie
Geheimhaltungspolitik des Dritten Reichs eher Teildes Privatlebens als
für eine Öffentlichkeit bestimmt. Das Bedürfnis nach Dokumentation
entsprang nicht so sehr dem Wunsch, mit anderen zu kommunizieren
und eigene Erlebnisse an andereweiterzugeben, sondern ist auf bemer
kenswerte Weise idiosynkratisch. Es entstammt einem Gefühl von
Furcht vor der Zeit: Erfahrung lehrt, daß die Erinnerung schwankend
und unzuverlässig ist. Zeit läßt die Bilder im Gedächtnisverblassen, und
mit ihrer Schärfe verlieren sie nicht allein Konturen, sondern auch ihren
Glaubwürdigkeitsanspruch. Das Bedürfnis, auch und gerade die Greuel
im Bild »festzuhalten«, entstammt der Furcht, die Kontrolle über die
eigene Erinnerung zu verlieren.
Der Furcht, vom eigenen Gedächtnisim Stichgelassen zu werden und
sich nicht, nicht vollständig oder nicht zuverlässig erinnern zu können,
ist die Hoffnung komplementär, durch das Dokumentarische der Foto
grafie eineInstanz zu finden, diegegenüber den Unsicherheiten deseige
nen Ichs eine objektiveSicherheit gewährt,und es ist der Glaube an die
Kraft des Bildes als Bild, der diesen befürchteten Verlust zu überwinden
sucht.
Das Zusammenwirken dieser Furcht und Hoffnung ist der Ursprung
einer »Neutralisierung«der Perspektive.Die in kritischen Arbeiten stets
vermißte Moral in der Haltung gegenüberdem verbrecherischenSystem
ist auch in der fotografischen Geschichte desDritten Reichs weitgehend
abwesend. Auch der fotografische Blick wurde nur ausnahmsweise von
Motiven des Mitleids, Protestes oder gar des Widerstands gegen das
Gesehene gelenkt. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis notwen
dig, daß aus den Bildern an sichkeine moralischen Positionensprechen
und sprechen können. Fotografien benötigen einen sprachlichen Kon-

5ii
text, um eineEinstellung gegenüber dem Abgebildeten sichtbarwerden
zu lassen. Auch für die Fotos aus den Lagern und von den Rändern der
Massengräber gilt, daß sie ihre Bedeutung und Wirkung aus dem Kon
text gewinnen, in dem sie stehen oder in den sie gestellt werden. Das
berechtigte Urteil über den Mangel an moralischer Position und die feh
lende Bereitschaft der Deutschen zum Widerstand gegendie Verbrechen
des Unrechtsstaates läßt sich auf die Fotogeschichte des Dritten Reichs
ausdehnen. Aber dieser Vorwurf enthält auch die Gefahr, zum leeren
Ritualzu werden, sobalder sichnicht auf die Bedingungen der Fotogra
fie als Gattung visuellerRepräsentationeinläßt. Fotografien leisten kei
nen Widerstand, sie sind aber auch als bloße Täterzeugnisse unzurei
chend verstanden. Ihre gattungsgemäße moralische Indifferenz muß in
konkrete Zusammenhänge ihres Entstehens und Betrachtens gerückt
werden, damit gesellschaftliche Amoralität sich zeigen kann.
Fotobände zum Ersten Weltkrieg, die seit den zwanzigerJahren zahl
reich erschienen, zeigtensehr bald, daß Bilder selbst keine antikriegeri
sche Wirkung ausüben. Pazifistische wie martialische Sammlungen
konnten sich der gleichen Fotografien mit der Absicht bedienen, Reak
tionen entwederder Faszinationoder der Opposition zu erzeugen. Bil
der vom Schmerz, Grauen und Tod enthalten keinen ikonographischen
Gehalt, der moralische oder ideologische Positionen festlegte. Mit der
Absicht, die »Verbrechen an der Zivilbevölkerung« im Osten zu doku
mentieren, stellt die Sammlung »Gott mit uns« unterschiedslos Fotos
aus deutschen und sowjetischen Quellen zusammen. Die Herkunft läßt
sichnur an inhaltlichen Details wie den Uniformen ablesen.19 Die Optik
der Bilder ist frei von Mitleid oder Grausamkeit. Zu den furchtbarsten
Teilen des Vernichtungskrieges nach 1941 gehörte die gnadenlose
Behandlungvon Kindern. Berichte sprechen von Kindern, die zu Tode
getreten und geprügelt oder, an den Haaren hochgezogen, serienweise
erschossen wurden. Aber selbst die bildliche Repräsentation dieses
unfaßbarenKapitels des Rassenkrieges bedarf der sprachlichen Kontex-
tualisierung, damit der Blick nicht hilflos an einem »Faktum« abgleitet
oder in Emotion verschwimmt.
Ein Foto in »Gott mit uns« wird von dem Text begleitet: »Gerichts
mediziner einer sowjetischen Untersuchungskommission in dem Dorf
Polykowitschi, nahe Mogilew. Unter den Ermordeten befinden sich
auch Säuglinge und Kinder. Zum Vergleich ist im Vordergrund die Lei
che einesErwachsenen hingelegt.«20 Ohne den erklärenden Text blieben
die abgebildeten Objekte unverständlich, graue und schwarze Bündel
auf einer Wiese. Aber auch dieser aufschlüsselnde Begleittext bedarf der

512
weiteren Erzählungen, damit das Fotoals etwas anderes verstanden wer
den kann, als ein weiteres archiviertes Dokument der Grausamkeit. Was
für ein Foto gilt, auf dem immerhin der Gerichtsmediziner, an seinem
weißen Kittel im Hintergrund erkennbar, im Bild selbst eine Distanz
zum bloßen Faktum des Mordes schafft, trifft ebenso zu auf die vielen,
technisch oft perfekteren Fotos, die deutsche Fotografen von den Unta
ten machten und in denen dem Blick keine Distanzierung angeboten
wird. In ihrer Bildlichkeit kann keine Moral gefunden werden. Ein Bild
wie das, wohl von Schoenberner zuerst reproduzierte,21 Foto aus dem
Warschauer Ghetto, das einen magerenkleinenJungen im Mantel und in
kurzen Hosen mit erhobenen Händen und angstvollem Gesicht vor der
Mündung eines Gewehrs zeigt, wäre sonst für einen deutschen Fotogra
fen gar nicht »möglich« gewesen. Erschütterung kann selbst dieses Bild
nur auslösen, wenn es im Blick des Betrachters mit einem ethischen
Begriffvom Leben gefülltwird. Sie werden alsBilder »unmenschlichen«
oder »menschlichen« Verhaltens erst verständlich, sobald sie in Zusam
menhänge gestellt werden, die über den Bildrand hinausreichen. In
ihrem bloßen »Sosein« sind Fotos moralisch leer. In den Zusammenhän
gen ihres Entstehens gelesen, lassendie Fotos des Weltanschauungskrie
ges aber ebenfalls einespezifische Entleerung erkennen,deren Aspekten
ich im folgenden nachgehenwill.

Der entleiblichte Blick

Diese Fotos sind aus einer Perspektive der Entsubjektivierung aufge


nommen. Sie setzen ein Auge voraus, das keine Beziehung zum leib
lichen Ich des Fotografen hat und nach dem Blick aus einem zeit- und
raumlosen Nirgendwo sucht. Kants Idee der reinen Interesselosigkeit,
allerdings nun ohne »Wohlgefallen«, scheintim Blickdurch diese Kame
ras ein unbestimmtes Leben zu gewinnen. Dieser Blick aus dem Nir
gendwo läßt sich vielleicht als die letzte Steigerung im Prozeß der Ratio
nalisierungdes Blicks verstehen,den Erwin Panofsky mit der Erfindung
der Zentralperspektive in der frühen Neuzeit beginnen sieht. In dieser
Abstrahierung läßt sich gleichzeitig auch die Umkehrung des Blicks auf
den Nirgendort der literarischen Tradition erkennen. Die idealisierten
Gesellschaften der Utopien setzten politisch-moralische Positionen und
die Ideeder guten Gesellschaft voraus.Im Blickauf den imaginiertenOrt
schuf sich das vertrauensstarke Ich der frühen bürgerlichen Gesellschaft
einen konturierten Raum, in den sich diese Inhalte projizieren ließen.

5i3
Der Blick aus dem Nirgendwo kann dagegen nur unter der Voraus
setzung eines entleerten Ichs entstehen, das sich in einer ebenso entleer
ten Welt sieht und von dem Bedürfnis geleitet wird, seine eigene Iden
tität zu sichern. Fotografie dient als Mittel dazu. Vor den Szenen der
unglaublichen Gewaltsamkeit suggeriert der entleiblichte Blick aus dem
Nirgendwo eine Macht, nicht über das Geschehen vor dem Objektiv,
sondern über die gefährdete Identität des Ichs hinter dem Sucher. Solan
geeineWirklichkeit, die alles Erwartete und bis dahin Gesehene sprengt,
die alle Ideale von Humanität und alle Bildervom Menschen widerlegt,
dem organisierenden Blick aus der interesselosen Maschine Fotoapparat
unterstellt werden kann, scheint das Ich von diesem Anblick nicht
unmittelbar betroffen zu sein und kann sich der Hoffnung hingeben,
über die Zeit hinweg seine eigene Konsistenz zu bewahren. Bei allen
zukünftigen Zweifeln läßt sichauf die mimetische Machtder Fotografie
zurückgreifen, derenBildereinegerahmte und perspektivische Ordnung
herstellen. Der Auslöserwird mit der Erwartung betätigt, daß später der
Blick auf das mechanisch produzierte Analogon die von subjektiven
Unsicherheiten freie Gewißheit schaffe, wieder und wieder zu sehen, wie
es wirklich gewesen ist.
Die ichstabilisierende Trennungin ein beobachtendes Subjektund das
Objekt einer fremden Bildwelt scheint sich durch die dokumentierende
Kamera bestätigen zu lassen. Die mit demBlickausdemNirgendwoauf
genommenen Bilder entstanden in der Hoffnung, mit der Kamera eine
Weltkonstruieren zu können, zu der der Fotograf nicht gehört, sondern
der er gegenübersteht und zu der ihn die Kamera auf Distanz hält. Die
Hoffnung darauf, dem eigenenIch einen Raum zu erhalten, der von dem
des dokumentierten Grauens unbeschädigt bleibt, schafft die Notwen
digkeit zur »Entleiblichung« des Blicks. Qual, die nur leiblich erfahren
werdenkann,wird aufdieandereSeite dieserzweigeteilten Welt gescho
ben. Die bevorzugtenFotos der Eigenrepräsentation zeigen Soldaten in
lockeren, aber ordentlichen Reihen vor Gebäuden oder Treppen, mit
sauberen Uniformen, entschlossenen Blicken und fester Haltung. Im
Gegensatz zu den offenen Landschaften mit den Massen der Opfer,
deren Körperkonturen oft unscharf verschwimmen, schaffen diese Auf
nahmen das Bild einer Welt militärischerDisziplin, die durch architek
tonische Konturen, Maschinen oder andere feste Strukturen eines äuße
ren Systems affektlos geordnet wird.
Das Zusammenwirken von Furcht vor dem Verlustund Hoffnung auf
die Erhaltung der Macht über das Ich durch die Stabilisierung von Erin
nerung schafft mit dem entleiblichten Blick gleichzeitig eine moralische

SM
Indifferenz gegenüber dem Abgebildeten. Nicht Bedürfnisse des »Mo
tivs«, sondern die Ansprüche der entleerten Subjektivität lenken den
Blickdurch den Sucher und späterden auf dasFoto. Der Fotograf befin
det sich gegenüberseinemObjekt prinzipiell in einerprivilegiertenPosi
tion der Macht. Sie ist im Fall der Fotografen von Gewalt gegen die
Opfer im Weltanschauungskrieg und der Judenvernichtung unbegrenzt
gesteigert. Die Fotografenscheinen dafür kein Gespür gehabtzu haben.
Ihre Bilder zeigen nie Zeichenvon Scham oder Beklemmung, und ihre
sprachlichenZeugnisse zeigenseltenAndeutungen von Hemmung. Den
Sinnfür die sozialeSituation,für den Zusammenhang,den der Blickzwi
schen dem Fotografen und seinem Objekt stets herstellt, scheinendiese
Fotografen verloren zu haben. Das Auge hinter dem Sucher verhärtet
sich in Analogiezum Objektiv selbst.22
Es gibt zahlreiche Fotos von nackten Menschenvor den Grubenrän
dern bei Massenerschießungen oder von nackten Frauen, die eine
»Straße« im Lager Auschwitz hinuntergehetzt werden. Unter den Fra
gen, die diese Aufnahmen nahelegen, ist die nach der Person hinter der
Kamerabesonders bestürzend. Werkann angesichts solcherletzten Ent
würdigung des Menschen die Kamera zücken? Die moralische Frage ist
gleichzeitig eine ästhetische Frage: Was haben diese Fotografen eigent
lich gesehen, daß siein der Lage waren,ein solches Geschehen im Leben
zu einer Szene für die fotografische Abbildung zu machen? Wie haben
diese Fotografen gesehen? Ihr Blick mußte mit einer herkömmlichen
Vorstellung von »Sehen« gebrochen haben und kann eher das Anwen
den des Auges als neutrales Instrument auf einenFall von Körperbewe
gungverstandenwerden.Für diese Instrumentalisierung des Sehens war
die Kamera das geeignete Mittel der Distanzierung, und es lassen sich
technische Spekulationen über die Bedeutung der Optik der Sucher von
Kameras dieser Zeit anstellen. Fotografieren verstehen wir, selbst in sei
ner veräußerlichten Form des touristischen Schnappschusses, doch
immer noch als eine Art, visuelle Erfahrungen zu machen. Die gesehene
Wirklichkeit verändert sich in der Wahrnehmung durch das Auge des
Fotografenund wird von einemObjekt zu einem Teil desSelbst. Er sieht
sie als ein ausgeschnittenes Bild und stellt sich die Frage, wie es einmal
auf dem Abzug oder als Dia »wirken« wird. Diese Erfahrung durch den
Akt des Fotografierens scheint mir für die Fotografie der Massaker aus
geschlossen zu sein. Sie entstammen nicht dem »bösenBlick«, nicht dem
verständnisvollenund schon garnicht dem mitfühlenden,sondern einem
entleerten Blick. Die Fotografen solcher Bilder scheinen von dem
Gedanken unberührt geblieben zu sein, daß sie selbst von diesemBlick

5*5
getroffen werden könnten. Sie hatten den einseitigen, nicht erwiderba
ren Blick des Glaubens an die absolute Macht, der vom Blick durchs
Visiereiner Waffe abgeleitetist.
ÜberdenGebrauch vonFotoalben deutscher Soldaten aus dem Krieg
im Osten ist nicht viel bekannt. Die Vermutung, sieseienherumgereicht
worden und Teil der »Heldenbildung« gewesen,23 ist kaum zu belegen.
Es scheint eher zweifelhaft, daß die Bilder von mörderischer Gewalt und
Grausamkeiten außerhalb eines kleinen Kreises von gläubigen National
sozialistennach Kriegsende zu Zwecken der Rechtfertigung und Erhal
tung ideologischer Positionengedienthätten. Aber auch die Erwartung,
mit Fotografien ein Fenster zu schaffen, durch das sich jederzeit und
dem bloßen eigenen Willen gemäß der Blick auf einen stillgestellten
Augenblick in der Vergangenheit richtenlasse, täuschte. Die Illusionläßt
sich als ein Mißverständnis von Macht interpretieren. Dem Akt des
Fotografierens lag offensichtlich eine Vorstellung von Macht und
Machtlosigkeit als absoluten Größen, die der Interaktion und sprachli
chen Kodierung entzogen seien, zugrunde. Die schrankenlose Gewalt
von Terrorund Lagersystem dientenals dieLeitbilderder eigenen Macht
und der Machtlosigkeit der Opfer, die beideins Absolute gesteigert wur
den. Diese Vorstellungvon politischer Macht lenkte auch den Blick von
Fotografen. Ihre Bilder entspringen einemIrrtum über die Natur dessen,
was sie mit ihren Kameras taten. Die Macht der Kamera über ihre Objek
te ist immer nur die eines Verhältnisses zwischen dem Ich hinter und den
Menschenvor dem Apparat. Die Machtdesfotografierenden Herrn liegt
im fotografierten Knecht, um Hegel zu variieren. Aber der Anspruch,
Macht absolut zu machen und an sich zu besitzen, stand hinter dem Ter
ror- und Lagersystem, setzte dem praktischen Verhalten seiner Reprä
sentanten die Ziele, ob sie mit Waffen oder Worten handelten, und lenk
te zunehmend den Blick auf die Wirklichkeit.

Über den sprachlichen und nicht-sprachlichen Doppelcharakter


von Bildern

Im Zentrum dieses Wahrnehmungwandels von Fotografen lag die Fehl


einschätzung des ambivalenten Charakters der Fotografie. Dem Bedürf
nis nach Kontrolle über Zeit und Erinnerung diente eine Verabsolutie
rung des nichtsprachlichen Charakters der Fotografie.Neuere Theorien
über Fotografie haben im Gefolge von Strukturalismus und Semiologie
die ikonographische Interpretation verworfen und einseitigden sprach-

5i6
liehen Charakter der fotografischen Repräsentation herausgearbeitet. In
Übereinstimmung mit der linguistischen Wende in den Kulturwissen
schaften erscheint das Foto als eine kodifizierte und ohne Rest dekodi-
fizierbare Form der Repräsentation. Im Gegensatz zu dieser dominan
ten Auffassung scheint mir die Fotografie der Gewalt seit dem Ersten
Weltkrieg,24 und in besonderer Weise die Bilder der äußersten Brutalität
des Zweiten Weltkrieges, den Grundgedanken aus der Schule der Wie
ner Kunstgeschichte, wieRiegl, Dvorak,Worringer, Panofsky und ande
re ihn entwickelt haben, zu rechtfertigen.
Das - im Verhältnis zum Alter der Geschichte der Bilder - noch
immer neue Medium Fotografie entzieht sich der These von der rein
sprachlichen Struktur aller Medien wohl am deutlichsten und bewahrt
ein Elementdes Piktorialenalsnicht in Sprache zu übertragendes »Bild
wollen«. Fotografien werden mit dem Wissen betrachtet, daß sie einem
mechanischen Apparat und chemischen Prozeß entstammen, und sie
werden- oderwurden bisvor kurzem- mit der Erwartunggemacht, daß
siekeinem verändernden Eingriffin diesen Prozeß ausgesetzt werden. In
diesem neuen Verhältnis zwischen Lesbarkeit und rein piktorialer Seh-
barkeit läßt sich vielleicht die entscheidende Differenz zu den älteren bil
denden Künsten sehen. In der Fotografie treten die sprachliche und die
ikonische Dimension von Bildernzum erstenmal in ein gleichberechtig
tes Austauschverhältnis. Ansätze eines solchen antisemiologischen Ver
ständnisses der Fotografie erhalten sich selbst bei Roland Barthes, der
vom paradoxenCharakter der Fotografie spricht. Er liege in der Koexi
stenz zweier Botschaften, einer ohne Kode (die fotografische »Analo
gie«)und einer mit Kode (die »Kunst« oder die »Schrift oder Rhetorik«
der Fotografie), und Barthes stellt die These auf, daß die kodierte Bot
schaft in der Fotografie erst auf der Grundlage der unkodierten Bot
schaft entstehe.25 Er hat dabei wohl eine Hierarchie von Schichten im
Sinn. In seinen frühen Arbeiten ordnet er den unkodierten, den ikono-
graphischen Charakter von Fotos ihrer Kodierung unter, während sein
letztes Buch, »Die helle Kammer«, die Hierarchie umzukehren scheint
und Beobachtungen sammelt, die den Charakter einer analogen Mime-
sis von Fotografienbelegen sollen.26
Die Frage nach dem Subjekt der Fotografien der Massaker scheint
dagegen auf eineandereSpur zu verweisen. DieseFotografenbedienten
ihre Kameras in der Überzeugung, ihreBilder könnten aus sich und für
sich selbst sprechen, ohne die Notwendigkeit der Versprachlichung und
mit ihr der Verzeitlichung ihrer Inhalte. Die »Kunstlosigkeit« dieser
Foto§ ist auffällig und geht über die der Amateurfotografie oft hinaus.

5V
Sie zeigen einen ungewöhnlichen Grad von dokumentarischer Neutra
lität und sprechen von einem magischen Glauben an die Unvermittelt
heit von Abbildung. »Mythisch« nannte Barthes in einem frühen Auf
satz den Glauben an den rein denotativen Statusvon Fotografie als dem
»perfekten« und »mechanischen Analogon«, und er verbindet diesen
Glauben mit einem ethischen Paradox. Wer danach strebt, »neutral«
oder »objektiv« zu sein, will »die Wirklichkeit peinlich genau kopieren,
als ob dasAnaloge eine Widerstandskraft gegen das Einführen vonWer
ten sei«.27 Durch den Doppelcharakter ihrer Bildstruktur, der sie glei
chermaßen denotativ und konnotativ mache, sei die Fotografie aber
notwendigerweise gleichzeitig objektiv undwertgeladen. DerGlaube an
die »Analogie« der Bilder läßtsich jedoch nicht allein als eine Mythifi-
zierung derFotografie verstehen, sondern er dürfte einTeil imAufstand
des 20. Jahrhunderts gegen den Logos, gegen die Rationalität einer auf
sprachliche Kommunikation aufgebauten Gesellschaft sein. Gegen das
fließend Unsichere der Sprache setzt dieser Glaube die Autorität von
eindeutigen Bildern, aufderen Realität scheinbar ohneDiskussion stets
zurückgegriffen werden kann.
Die Fotos des Weltanschauungskrieges sind seltenin Texte eingebet
tet, und die Kommentare ihrer Urheber sind meist lakonisch kurz:
»Schöne Zeiten.« Darin liegteineweitere Abweichung von der Konven
tionderVersprachlichung vonBildern, vor allem solchen mitdokumen
tarischem Charakter, im privaten Album ebenso wie im Fotojournalis
mus. Der Glaube an diesprachlose Macht der Bilder setzt sichbis in die
heutigen Interviews mitihren Autoren fort. Sie haben außer technischen
Erläuterungen des Wo, Wann und Wie weniges zu ihren Bildern zu
sagen. Diese Bilder sind, entgegen einer verbreiteten Erwartung, nicht
propagandistisch. Sie gehören nicht in die Suaden, die für Krieg und
Gewalt Stellung nehmen, und ein rassistisches Bekenntnis scheint mir
vongeringer Signifikanz zu sein. Daßsie sich gegen Gewalt richteten, ist
unter den Umständen ihres Entstehens von vornherein kaum zu erwar
ten. Daßdiese Repräsentationen vonGewalt selbst gewalttätig sind, liegt
nicht an einer ideologisch motivierten Entscheidung ihrer Fotografen,
nicht an ihrer willentlichen Wahl einer Perspektive oder an Arrange
ments von Objekten (sadistische Fotos offener Verherrlichung von
Gewalt gibt es zweifellos, aber ihnen gilt meine Aufmerksamkeit hier
nicht), sondern gerade an der Beteiligungslosigkeit und Entleiblichung
des Blicks. In der Sichtaus dem unkonturierten Nirgendwo verbirgt sich
eineradikaleForm der Gewalt gegenüber dem gequälten Lebenvor dem
Objektiv.

518
Voraussetzung der erwarteten Leistung der Fotos für die Erinnerung
war die Unterdrückung ihrer Sprachlichkeit. Dem Blick aus dem Nir
gendwo des Fotografen entspricht der Wunsch nach einem komple
mentären Blick auf die Fotos. Der Versuch, Fotos aus einer Perspektive
indifferenter Diffusion zu betrachten, stößt aber auf das Problem der
notwendigen Sprachlichkeit im Umgangmit Bildern. Fotos macheneine
verbale Repräsentationihrer visuellen Repräsentationnötig, und in die
sem Prozeß werden alle Probleme der Übertragung als einem interpre
tierenden und kontext- und zeitabhängigen Verfahren wirksam. In die
sem Dialog oderinneren Monolog derÜbertragung voneinem Medium
in ein anderes Medium werden die Inhalte der Erinnerung instabil. Die
beiden Bedeutungen von »erinnern« haben keine festen Grenzen. Erin
nern als ein subjektiverVorgang: ich erinnere mich an etwas,sowie erin
nern als intersubjektive Kommunikation: ich erinnere jemanden an
etwas, wirken aufeinander ein und verschmelzen zu einem Vorgang.
Dokumentierende Fotografie geht vonder Überzeugung einer Identität
zwischen dem aufgenommenen Objekt und dessen Abbildung aus, die
in der Betrachtung des Bildes je aufs neue erinnert wird. Während es
offensichtlich ist, daß andere Betrachter eines Fotos diese Identität nicht
unbedingtherstellen können und daher beimBetrachten eines Fotos fra
gen: »Was ist das?«, ist es weniger offensichtlich, daß sich auch für den
Fotografen selbstdiese Fragestellt.In einemvordergründigenSinnwer
den mit der Zeit die faktischen Umstände vergessen. Die Erinnerung an
Ort, Zeit, Personen oder Gegenstände verblassen, und so entsteht die
Frage: Was habe ich da eigentlich fotografiert? In einemweitergehenden
Sinn wird mit der Zeit auch die eigene Intention fragwürdig, und die
Frage:Was wollte ich damals abbilden?entsteht im Umgang mit eigenen
Fotografien. Sie ist mit dem Horizont des je gegenwärtigen Subjekts und
seiner Zeit unauflöslichverknüpft, und daraus ergibt sich die Frage auch
gegenüber selbstgemachten Fotos: Was sehe ich auf diesem Bild? Beim
nachträglichen Betrachten von Fotos ergibt sich notwendig eine Span
nung zwischen dem gegenwärtigen Blick und dem Blick von einst. Mit
dem Blick verändert sich das Bild selbst, und diese Spannung verlangt
nach sprachlicherAuflösung.
Im Betrachten der Bilder verliert sich ihre erwartete dokumentarische
Kraft, und sie werden zu Teilen in verschiedenen Geschichten. Gerade
diese Auflösung des festen Bildcharakters ins Sprachliche wollten die
Fotografen unter allen Umständen vermeiden. Dem Schutz vor dieser
Auflösung galt das Kunstlose, Ungestellteund »Natürliche« ihrer Auf
nahmen. Der Glaube an eine reine Dokumentation versprach die Ret-

5i9
tungvor der drohenden Verzeitlichung durchdas Übersetzen des ikoni
schen Gehalts in eine Sprache der Zukunft, über die der Fotograf zum
Zeitpunktdes Fotografierens nichts wissen konnte,die aber ganzoffen
sichtlich (selbst unter der Annahme eines siegreichen Nationalsozia
lismus) nicht mehr die des Kriegs und der Vernichtung sein würde. Die
sem befürchteten Prozeß der Auflösung der gesichertenKonturen in die
Erzählungender Zeiten des Deutens, nach den Zeitender Taten, galtdie
Furcht der Fotografen. Gegen ihn sollte der entleerte Blick aus dem
unsprachlichen Nirgendwo Widerstand leisten, gegen ihn versprach die
absolute Betonung von Macht in der ikonischen Dimension der Fotos
den einzigenSchutz.Das Einbetten der Bilderin die bewegliche Sprache
mußte als Gefahr wirken, da sie die starre Konstruktion von Ich-Stabi
lität unterwandert. So muß der Blick auf die Fotos dem durch den Sucher
entsprechen. Er muß sich aus der Zeit entfernen und versteinern. Aber
die eine Dimension des fotografischen Bildes ist nicht ohne die andere
zu haben. Die Spannung zwischen den beiden Elementen der Fotografie
wiederholt sich als Konflikt zwischen zwei sich ausschließenden Blicken
auf die Fotografien der Gewalt und des Terrors. Der entleerte Blick der
Fotografen fordert einen ebenso entleerten,das heißt außersprachlichen
und der Zeit enthobenen Blick der Betrachter. Dieses Zusammenwirken
der Bewegungslosigkeit einer einmal festgelegten Ikonographie mit
einem versteinerten Blicksteht einer Lektüre dieser Bilder in der Spra
cheder Weltjenseits der Lagerund desTerrorsunversöhnlichgegenüber.
Versuche, die Einbettung der Fotos in die sprachliche Welt der Nach
kriegskultur zu blockieren, reichen vom primitiven Starrsinn ideologi
scher Selbstverblendung bis zu weniger gefährlichen und verbreiteten
Strategien der Abwehr und subtilen Techniken der Manipulation von
Erinnernund Vergessen.28
Das extreme Beispiel für den Aufeinanderprall dieser Umgangsfor
men mit Fotografie dürfte der juristische Diskurs sein. Fotos, die aus
einem anderen Blick entstanden waren, werden als Beweismittel vor
Gericht in die sprachlichen Zusammenhänge der Rekonstruktion von
Mord und Verbrechen nach den juristischen und moralischen Standards
der Nachkriegswelt eingebaut. An der grundsätzlichen Berechtigung
dieses Verfahrens kann es ebensowenig Zweifel geben wie daran, daß
Mörder juristisch verfolgt werden. Das hermeneutische Problem der
Bildauslegung in diesem Kontext ist aber meines Wissens bisher nicht
gestellt worden. Andere Beispiele sind Fotos von Gewalt und Verbre
chen, die als Illustrationen in Geschichts- und Lehrbüchern, Ausstel
lungen und Gedenkstätten durch wechselnde narrative Kontexte ihre

520
Bedeutungenverändern. Nur in solchen, sich in den jeweiligen Diskur
sen verändernden Lesarten können die Leiden der Opfer und die Schuld
der Täter in den Bildern wahrgenommen und als Erinnerung in eine
Beziehung zur je eigenen Erfahrungswelt gesetzt werden. Die Notwen
digkeit der Versprachlichung weist auf die Grenzen der reinen Repro
duktion von Materialien. Die Grenzen der Dokumentation, wie sie etwa
in den - notwendigen - Bänden »Schöne Zeiten« oder »Gott mit uns«
versucht wird, sind eng gezogen. Das Ansammeln von Bildern und
Akten durchbricht nicht die Sprachlosigkeit und Verständnislosigkeit, in
der sich Betrachter vor diesen Dokumenten der äußersten Grausamkeit
befinden. Soll die Forderung, Schuld müsse anerkannt werden, vor der
Gefahr der Ritualisierung bewahrt werden, ist es notwendig, die Bilder
in solche Zusammenhänge zu stellen, die eine Beziehung zum Eigenen
ermöglichen oder herausfordern. Schuld ist keine Kategorie der Zeitlo-
sigkeit. Ihre inhaltlicheAusfüllung bindet sie an die Veränderungen der
Erfahrungswelt, und nur durch solche Bindung an die je eigene raum
zeitliche Wirklichkeit läßt sich ihre formelhafte Entleerung vermeiden.
Eine Implikation dieser Überlegung wäre die Frage, ob nicht das objek
tivistische Selbstverständnis der Holocaustforschung kritisch befragt
werden und das Bild des Holocaust sich mit den Zeiten notwendig ver
ändern muß. Für den Umgang mit Fotografien des Vernichtungskrieges
wäre es ein Ziel, das Verständnis dieser Bilder zu erschweren. In der tra
dierten Lesart sind sie wenig mehr als Illustrationen des stets aufs neue
zu bestätigenden, eindeutig unmenschlichen Charakters des NS-
Systems. Aber die immer schon im voraus gewußte Antwort auf die
Frage, wie sie überhaupt entstehen konnten, bleibt in ihrer schlichten
Eindeutigkeit unbefriedigend. Daß ein unmenschliches System un
menschliche Bilder von sich produziert, ist von geringer historischer
Aussagekraft. Die Frage, was die Bilder für die Fotografen bedeuteten
und was sie für uns selbst bedeuten, wird mit dem Hinweis auf die mör
derische Ideologie des NS-Rassismus nicht beantwortet, sondern ab
gewiesen. Nur in dem Maß, wie die vereinheitlichende Sicht einer
NS-Ideologie und Praxis, die zur komplementären Ansicht einer homo
genen Repräsentation der Vernichtungspolitik durch die Fotografie
geführt hat, aufgelöstund durch die Perspektivender Differenzierungen
ersetzt wird, läßt sich die Ritualisierung der Schuldfrage auch im
Umgang mit der Fotogeschichte des Dritten Reichs vermeiden. Diese
methodologische Frage kann nur auf dem Boden eines unbezweifelten
prinzipiellen Konsens über die Schuldfrage diskutiert werden.

52i
Der AngriffderZeitauf dieSprachlosigkeit

Das Betrachten des Fotos geschieht notwendigerweise durch einen


Blick, der der Veränderung unterliegt, und solche Veränderungen ließen
auch den Blickder Täter und Fotografen nicht unberührt. So erfolgreich
die Strategien der Abweisung des Neuen und der Selbstrechtfertigung
auch gewesen sein mögen, so ließ sichdoch der Blick der Vergangenheit
nicht unbeschädigt erhalten. Allein der Zwang zur Rechtfertigung
bedeutete bereits eine Veränderung.29 Zwischen den Polen von Identität
und Veränderung,Verlustund Macht bildete er sich in einer veränderten
Umwelt neu. Am Veränderungsprozeß haben die Bilder der Massaker
Anteil. Die Massaker mögen in noch so fernen und abgegrenzten Räu
men im Osten und hinter Stacheldraht stattgefunden haben, und ihre
Repräsentation in Fotografienmagnoch so sehr durch den Wunschnach
reiner Bildlichkeit und einer Betonung der Differenz zwischen dem
Eigenen und diesem Fremden bestimmtgewesen sein,ihre Wirkungauf
die Konstitution der eigenen Wirklichkeit war unvermeidlich. Die Ver
kettung von Opfern und Tätern, auch von Tätern mit der Kamera, läßt
sich nicht lösen. Ihre Repräsentation von Gewalt schuf und schafft wei
terhin eine Wirklichkeit, in der die Bilder der Gewalt nicht im Modell
einer Subjekt-Objekt-Trennung dem Objekt zugeordnet werden kön
nen, während das eigene Ich sich mit der puren Macht auf der anderen
Seite der Wirklichkeit identifiziert. Die erstrebte Trennung einer
Objektwelt aus Gewalt, Rechtlosigkeit, Dreck und Qualen vom Raum
eines Selbst, dasdieFreiheithat, zu sehen, zu fotografieren und eineeige
ne Ordnung zu schaffen, wurde von den Bildern selbst unterwandert.
Ihre im notwendig veränderten Blick der nachnazistischen Zeit verän
derten Gehalte drangen unweigerlich in den Raum des Selbst ein und
hatten den gegenteiligen Effekt einer Destabilisierung des Ichs. Mit dem
Vorwurf der Schuld am Krieg und Völkermord ließ sich leichter leben
als mit dem Fallen einer Grenze, die für die Stabilisierung der eigenen
Ich-Identität eine fundamentale Rolle hatte.
Gegenüber dieser Entwicklung bildeten sich diverse Techniken der
Abwehr. Die Verweigerung des Gedankens der Schuld am versuchten
Genozid, ja des Gedankens an den Völkermord überhaupt, setzte früh
ein. Zahlreiche Reportagen aus den Nachkriegsjähren belegen, auf wel
che Weise viele Deutsche mit sich selbst beschäftigt waren und eigene
Nöte als einen Schutz gegenüber der Wahrnehmung des anderen zuge
fügten Leids aufbauten.30 Die Tendenz zu einer in sich widersprüch
lichenVermischung von Reaktionender Verneinung und gleichzeitigen

522
Bekräftigung der Massenmorde ist bereits für die erstenNachkriegsjäh
re beobachtetworden.31 Strategien der Trennung entstanden und erhiel
ten lange Zeit das Bild einer Wehrmacht, die einen harten Krieg geführt
hat, ohne sichjedochin die Verbrechen des Regimes zu verwickeln. Eine
Perspektive, wie Guy Sajer siein seinem autobiographischen Bericht aus
der stilisierten Distanz des Elsässers entwickelt,32 wollten deutsche
Kriegsteilnehmer (und Historiker) für sich in Anspruch nehmen, da in
der Erzählung vom Krieg als hartem und entbehrungsreichem Kampf
die Bilder des unmenschlichen Terrors verschwinden. Der Buchtitel
»TheForgotten Soldiers« spricht den Anspruch aus: über der Beschäfti
gung mit dem Vernichtungskrieg werde der »normale« Landserverges
sen und müsse daher als der kämpfendeund leidendeSoldat aller Kriege
in die Erinnerungzurückgerufen werden. Zu den extremsten Versuchen
dieserArt gehörte die jahrelang weitgehend erfolgreiche Distanzierung
der Waffen-SS von den Brutalitäten der SS.33Der Blick auf die Bilder des
Vernichtungskrieges wird durch Techniken der Abwehr von Einsichtin
die eigene Beteiligung gelenkt. Die Stummfilmer in »Mein Krieg« kom
mentieren ihre eigenen Filme wie Dokumente einer anthropologischen
Expedition. An dieserWeltder Vergangenheit nehmen siekeinenAnteil
und sie sprechenüber sie in der Sprache unbeteiligter Kommentatoren,
die weder eigene Verantwortung noch den Zusammenhang »ihrer«
Front mit Auschwitz sehen wollen.34
In anderen Reaktionen führt die Verweigerung der Einsicht para
doxerweise zum Zweifel an der Authentizität gerade der Fotografien,
deren Entstehen sich einer rein dokumentierenden Absicht verdankt.
Die Rede von der Auschwitz-Lüge ist nicht bloß eine politisch moti
vierte Geschichtsfälschung, sondern bildet die radikaleAusprägung des
Bedürfnisses, die Mentalität, die den Blick aus dem zeitlosen und
unsprachlichen Nirgendwo entstehen läßt, gegen die Zeit und die Wir
kung der Bilderweiterhinzu erhalten. Die Trennung deseigenen Raums
von dem der Gewalttaten ist aber unter den Bedingungen der Nach
kriegswelt nicht länger eine Frage des Modus der Repräsentation, son
dern schafft die Notwendigkeit, die Bilder überhaupt zu negieren. Die
Realitätsverneinung in der Redevon einerAuschwitz-Lüge ist die Folge
einer Entwicklung, in der die Konsistenz eines durch Separation kon
struierten Ichs sich nur noch durch die Verleugnung der Bilderund nicht
mehr durch die Formen ihrer Konstruktion erhalten läßt. Der fotografi
sche Prozeß schien das ideale Medium zu sein, aus einem Blick der ent
leiblichten Objektivität zu »sehen«, ohne zu sehen. Sobald sich diese
Vorstellung als eine Illusion erweist, werden Strategien zum Schutzvor

523
diesen Bildern notwendig, und sie führen letztlich zum erzwungenen
Schließen der Augen,um die Position desversteinertenIchs vor den Fol
gen der eigenen Taten zu retten.

Über diefortgesetzte Bedeutung des entleerten Blicks

Die Inhalte der Fotos aus den Lagernund dem Vernichtungskrieg täu
schen leicht ihre völlige Zeitgebundenheit vor. Die Brutalität und der
offene Terror gegenüber hilflosen Opfern scheint mit der Ideologie des
KZ-Systems untergegangen zu sein. Siewirken wie Bilder einesfremden
Systems von offener Brutalität, das sich ohne eine Schrankevon Scham
und Zivilisierung austobt. Diese inhaltliche Seite der Bilder ist tatsäch
lich für das offen terroristische System des Nationalsozialismus spezi
fisch , dasnach 1945 nur nochin wenigen Winkeln der WelteineZukunft
fand und das aus dem Blick des zivilisierten Betrachters westlicher
Rechtsstaaten unvorstellbar barbarisch wirkt und unverständlich bleibt.
Aber die Machtverhältnisse unter dieser offensichtlichen Oberfläche der
Bilder liegen in ihren formalen Strukturen, und sie enthalten in sich ein
Potential, das mit dem Ende des Nationalsozialismus nicht vergangen
ist. Im Zeitalter der elektronischen Kampf- und Reproduktionstechni
ken hat sich die Ikonographie dieser Machtverhältnisse transformiert
und ist nicht leicht wiederzuerkennen. Sie sind nun blank geputzt und
haben den abstoßenden offenen Terror gegenüber dem menschlichen
Körper abgelegt und die beklemmende Häßlichkeit des Raums über
wunden. An die Stelle der terroristischen Drohung ist die Verführung
durch den Glanz der Technologie getreten, die es nun ermöglicht, mit
demkalten Blick der Unbeteiligten zuzusehen, wiedie neuesten Kriegs
techniken lebende Menschen in die Figuren eines Kriegsspiels aus
abstrakten und elektronisch manipulierbaren Elementen verwandelt.
Die Bilder vomSterben sindnun weniger grauenvoll und entwürdigend
als die aus den Lagern. Aber im Verhältnis zwischen dem Blick und sei
nen Opfern wiederholt sich dieselbe Abstraktion und Leere, deren nazi
stische Version durch die Offenheit der Bilder von Tätern als Schläch
tern so unzeitgemäß und abstoßend wirkt. Der klinisch saubere Tod im
abstraktenRaum moderner Kriegstechnik ist wenigerabstoßend als der
im Dreck und - im Foto nichtwahrnehmbaren - Gebrüll der Lager, wie
die weltweiten Fernsehübertragungen des Golfkrieges demonstrierten.
Diese neueForm desTötens läßt sichleichtvergessen. Aber die Gering
schätzung des Lebens der anderen wird dabei lediglich in Bilder ver-

524
wandelt,die das eigene Selbstwertgefühl schonen. In den neuestenTech
niken der synthetischen Holografie, virtuellen Realitäten, magnetischen
Resonanzbildern, computergesteuerten Bildmanipulationen oder Flug
körpersimulationen wiederholt sich die Entleerung des Ichs und des
Raums in Analogie zu nazistischen Verhältnissen von Macht und Herr
schaft. Der Glaube an eine absolute Macht ist von der Politik und Ideo
logie auf die Technik übergegangen.
Die Definition von Macht als einer absoluten Größe jenseits von
sozialen Beziehungen und menschlicher Verantwortung setzt sich im
Blick moderner Berichterstattung fort. Die Kamera in der Hand des
Reporters im Hubschrauber zeichnetdie spektakuläre Katastrophe, den
Großbrand, das Erdbeben und die fliehenden Menschen, die Verfol
gungsjagd auf der Autobahn und die letzte Rassenunruhe auf, verfolgt
den flüchtigen Verbrecher und zeigt Bilder der letzten Umweltkatastro
phe. Im Fernsehen gewinnt der entleerte Blick aus dem Nirgendwo
Unterhaltungswert, ohne an destruktiver Kraft verloren zu haben. Die
Opposition von Gut und Bösein der Version vom westlichen Selbst und
barbarischen anderen darf, das gilt es mit Nachdruck zu betonen, nicht
mit der Opposition von germanischer Superiorität und jüdisch-slawi
scherInferiorität gleichgesetzt werden.In der Verbindungmit der Macht
moderner Waffensysteme und dem Glauben an das Recht auf die Zer
störung des anderen ist jedoch die Bedrohlichkeit der Bilder und ihre
strukturelle Analogie zu denen der unvorstellbaren Grausamkeiten
nicht weniger alarmierend für das Bild der eigenen Gegenwart. Gegen
über der Ubiquität der strukturellenGewaltin rationalen Gesellschaften
erscheint die offene Brutalität im Krieg der ethnischen, religiösen und
nationalen Gegensätze wiederum alseinAtavismus. Unter der abstoßen
den Botschaft der Bilderverbirgt sich jedoch eine Gewalt, deren Trans
formationen nicht darüber hinwegtäuschen sollten, daß sie als Unter
schied, aber gleichzeitig auch alsIdentität gelesen werden muß.

Anmerkungen
: Fotos und Pilotenberichte aus den Luftkämpfen des Ersten Weltkrieges liefern
frühe Zeugnisse für diese Haltung, der Sändor Ferenczi den Namen gab,
gegenüber technischer Destruktion.
i Helmut Krausnick und Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppen des Weltan
schauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD
1938-1942, Stuttgart 1981.
; Über Ursprünge von öffentlicher Tortur und Rechtsprechung vgl. pointiert:

525
Norman F. Cantor, The Civilization of the Middle Ages, New York 1993,
S. 89-99, hier S. 98.
4 Alfred Döblin,Wallenstein, Ölten 1965, S. 439-445.
5 Gardner'sPhotographic Sketchbook of the Civil War, New York 1959(1.Aufl.
1866), o. S.,Text zu den Abbildungen.
6 Ernst Kler/Willi Dreßen/Volker Rieß (Hg.), »Schöne Zeiten«. Judenmord aus
der Sicht der Täter und Gaffer,Frankfurt am Main 1989.
7 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4: Der Angriff auf die
Sowjetunion, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg i. Br.,
Stuttgart 1983, besonders Jürgen Förster, Die Sicherung des »Lebensraumes«, S.
1030-1078; Omer Bartov, The Eastern Front 1941-1945. German Troops and
the Barbarisation of Warfare, London/New York 1986. Vgl. auch Jürgen För
ster, The Relation betweenOperation Barbarossa as an Ideological War of the
Extermination and the Final Solution, in: The Final Solution. Origins and
Implementation, hrsg. von DavidCesarani, London/New York 1994, S. 85-102,
und, abweichend Christian Streit, Wehrmacht, Einsatzgruppen, Soviet POWs
andanti-Bolshevism in the Emergence of the Final Solution,ebenda, S. 103-118,
besonders S. mff.
8 Omer Bartov,Operation Barbarossa and the Origins of the Final Solution. In:
Cesarani, a. a. O., S. 119-136,hier S. 119.
9 Ein detailliertes Beispiel schildert Konrad Kwiet, From the Diary of a Killing
Unit, in: Why Germany? National Socialist Anti-Semitism and the European
Context, hrsg. von John Milfull, Providence/Oxford 1993, S. 75-90.
10 Eine eigene Analyse verdiente der Film »Mein Krieg« von Harriet Eder und
Thomas Kufus (1990), in dem sechs Veteranen des Zweiten Weltkrieges ihre
8-mm-Filme aus dem Krieg gegendie Sowjetunion vorführen und kommentie
ren. Ein kurzer, kritischer Kommentar von Omer Bartov findet sich in: The
American Historical Review, Bd. 97, Nr. 4, Oktober 1992, S. 1155-1157.
11 Gerhard Schoenberner, Der gelbe Stern. Die Judenvernichtung in Europa,
Frankfurt am Main 1991 (1. Aufl. München i960), S. 7 und 9.
12 Ebenda, S. 10.
13 Ebenda, S. iof.
14 Klee/Dreßen/Rieß, a. a. O., S. 202.
15 ErnstKlee und Willi Dreßen, »Gott mit uns«. Derdeutsche Vernichtungskrieg
im Osten 1939-1945, Frankfurt am Main 1989, S. 140.
16 Klee/Dreßen/Rieß, a. a. O., S. 31f.
17 Ebenda, S. 38-45.
18 Die Schmalfilmer in »MeinKrieg« (vgl. Anm. 1o) zeigensichdurchgehend stolz
auf ihre Filme und demonstrieren ihre gepflegten Kameras und kleinen Archi
ve. Dennoch wird ebenso deutlich, daß die Filme lange Zeit in der Schublade
gelegen haben und nicht betrachtet worden sind.
19 Die Praxis des Bandes, Fotos aus nichtidentifizierten deutschen und sowjeti
schen Quellen als bloße Illustrationen für Dokumente abzubilden, halte ich für
äußerst fragwürdig.
20 Vgl. Klee/Dreßen, Gott mit uns, a. a. O., S. 188.

526
21 Schoenberner, a. a. O., S. 204f.
22 Unter den verstreuten Bemerkungen Ernst Jüngers zur Wahrnehmung taucht
die Beobachtung einer solchen Verhärtung am Beispiel des Sehens im Ersten
Weltkriegimmer wieder auf.
23 Schoenberner, ebenda, S. 10.
24 Vgl. Bernd Hüppauf, Kriegsfotografie, in: Der Erste Weltkrieg. Wirkung,
Wahrnehmung, Analyse, hrsg. von Wolfgang Michalka, München 1994,
S. 875-909, und für die Anfängeder Entwicklung Bernd Hüppauf, The Emer-
gence of Modern War Imageryin Early Photography, in: History and Memory,
Bd. 5, Nr. 1, 1993,S. 130-151.
25 Roland Barthes, The Photographic Message (Le message photographique,
1961), in: ders., Image,Music,Text, New York 1977, S. 15-31;hier S. 19.
26 Roland Barthes,Die helleKammer. Bemerkungenzur Fotografie,Frankfurt am
Main 1985.
27 Barthes,Message, a. a. O., S. 20.
28 Vgl. Heinz Pust, Als Kriegsgefangener in der Sowjetunion. Erinnerungen
1945-1953, in: Kriegsgefangenschaft, hrsg. von Wolfgang Benz und Angelika
Schardt,München i960;WolfgangBenz,The Persecutionand Exterminationof
the Jews in the German Consciousness, in: Milfull, a. a. O., S. 91-104.
29 Über Lücken in Fotoalben läßt sich nur spekulieren. Das Herauslösen von
Fotos könnte aber nicht nur dem Wunsch entspringen, sich vor der Kompro
mittierung zu schützen,sondernauchdie Folgeeines veränderten Blicks aufdas
eigeneAlbum sein. *
30 Vgl. die Sammlung Klaus Scherpe (Hg.), In Deutschland unterwegs, Stuttgart
1982; Bernd Hüppauf, Kriseohne Wandel, in: ders.,»DieMühender Ebenen«.
Kontinuität und Wandel in der deutschen Literatur und Gesellschaft 1945-1949,
Heidelberg 1981, S. 47-112.
31 Vgl. zusammenfassend und mit neueren Quellen: Wolfgang Benz, a. a. O.,
S. 91-104.
32 Guy Sajer, The Forgotten Soldier, New York 1990 (1. Aufl., Le soldat oublie,
Paris 1986); die Normalisierung und Verharmlosung der Kriegsfotografie aus
amerikanischer Sicht zeigt: Peter Maslowski, Armed with Cameras. The Ame
rican Military Photographers of World War II, New York/Toronto usw. 1993.
33 Vgl. die frühe und gut informierte Arbeit von Charles W. Sydnor, Soldiers of
Destruction. The SSDeath's Head Division, 1933-194 5, Princeton 1977.
34 Vgl.die Anmerkungen 10und 18.

5V
IV. Tribunale
Manfred Messerschmidt Vorwärtsverteidigung
Die »Denkschrift derGeneräle« für den Nürnberger Gerichtshof

Eine Denkschrift1 des letzten Oberbefehlshabers des Heeres - bevor


Hitler diesen Posten selbst übernahm -, des Generalfeldmarschalls
Walther von Brauchitsch, vom 19. November 1945, verfaßt in Überein
stimmung mit mehreren Generälen, um vor dem Internationalen
Gerichtshof in Nürnberg »Zeugnis abzulegen für die Gesamtheit des
Deutschen Heeres«, hat die Erwartung für sich, ein bedeutendes Doku
ment der Zeitgeschichte darzustellen. Den Alliierten wollten die fünf
Generäle»einmöglichstklaresBildauf diesen Gebieten«vermitteln und
gegenüber den ehemaligen Soldaten des Deutschen Heeres eine Pflicht
erfüllen. Aufgrund ihrer Dienststellung waren sie ohne Zweifel in der
Lage, wesentliche Aussagenzu militärischen und militärpolitischen Fra
genzu machen. Zu ihnen gehörtenGeneralfeldmarschall Erich von Man
stein, bis März 1944 Oberbefehlshaberder HeeresgruppeSüd, General
oberst Franz Halder, bis September 1942 Chef des Generalstabes des
Heeres, GeneralWalterWarlimont,bisSeptember1944 Stellvertretender
Chef des Wehrmachtsführungsstabes, und General Siegfried Westphal,
bis 7. Mai 1945 Chef des Generalstabes des Oberbefehlshabers West.
Zur Opposition gegen Hitler fühlten diese Männer sich nach eigener
Aussage nicht berufen. Ihr Credo bestand angeblich darin, sichvon »der
Politik völlig fernzuhalten«, was als Aussage Halders ein Fragezeichen
provoziert, rechnete er doch bis Herbst 1939 mit Oster, Canaris, Beck
und anderen zur Militäropposition. Beachtungverdient daher die gegen
die Männer des 20.Juli 1944gerichtete Feststellung am Schlußder Denk
schrift: »Es konnte nicht Aufgabe der führenden Offiziere sein, der
Armee das Rückgrat zu brechen. Wer immer es unternimmt, die Regie
rung seines Landes zu ändern, ist auch dafür verantwortlich, eine neue
und bessere Regierung, einen neuen Führer zu stellen.«2 Dies klarge
stellt, sahen die Verfasser ihr wichtigstesAnliegendarin, darzulegen,daß
das Heer gegen Partei und SS eingestellt gewesen sei, nahezu alle wich
tigen Entscheidungen Hitlers mißbilligt und gegen Kriegsverbrechen
opponiert habe. Die Erklärung ist aus der Erinnerung ohne Doku-

53i
mente verfaßt worden. Es wird jedoch versichert, daß die Angaben
jeweils von wenigstens einem der Unterzeichneten beeidigt werden
könnten.3
Es handelt sich in praktischer Hinsicht um ein Verteidigungspapier.
Die Alliierten werden kaum erwartet haben, Geständnisse oder wenig
stensSelbstkritik vorzufinden. Bemerkenswert mußfür siejedenfalls der
dürftige »Tatsachengehalt« gewesen sein. Seine Stichhaltigkeit war
anhandder ihnenvorliegenden Dokumentenberge leichtüberprüfbar. In
ähnlicher Lage befindet sich heute der Historiker. Ihm mag es bei der
Lektüre ähnlich gehen wie bei der Durchsicht des Nachlasses des ehe
maligen Generals der Panzertruppen, Hans Röttiger, 1942/43 Chef des
Generalstabes der im Osten stehenden 4. Armee und 4. Panzerarmee.
Dieser General, in der Bundeswehr erster Inspekteur des Heeres, hat
ebenfalls im November 1945 eine Erklärung zu Händen seines Rechts
anwalts verfaßt. Hier schreibt er, er sei zu der Erkenntnis gekommen,
»daß die Bandenbekämpfung, die wir führten, im Endziele den Zweck
hatte, den militärischen Bandenkampfdes Heeres dazu auszunutzen,um
die rücksichtslose Liquidierung des Judentums und anderer uner
wünschterElemente zu ermöglichen«.4 WohlnachRücksprache mit sei
nem Anwalt zog er das Papier zurück und ersetzte es am 8. Dezember
1945 durch eine andere Erklärung. Und im Juli 1946versicherte er eides
stattlich, im Bandenkampf seienvor allem Führer oder Agenten gefan
gengenommen worden: meistens Juden. Als »Haupträdelsführer« bei
der Aufpeitschung der Bevölkerung seien sie dem SD übergeben wor
den,worin keine ungewöhnliche Maßnahme zu sehengewesen sei. Wel
cher Art die Behandlung beim SD war, »war uns nicht bekannt«5 - eine
»gereinigte Fassung« für Verfahrenszwecke also.

Die Vorgeschichte des Krieges

Die Denkschrift der Generäle läßt ebenfalls an eine gereinigte Erinne


rung denken. Bedenkliche Aktionen von Heeresdienststellen und
Befehlshabern kommen nicht vor. Völkerrechtswidrige Aktionen sind
entweder nicht behandelt oder verharmlost oder anderen in die Schuhe
geschoben worden. Vorgänge im unmittelbarenVerantwortungsbereich
von Brauchitschs und Halders werden nicht erwähnt. Schon die Vor
geschichte des Krieges ist einseitig dargestellt. Von den Aktionen des
30. Juni 1934 gegen die SA-Führung sei das Heer überrascht worden.
Tatsächlich hat die Heeresleitung die SS umfänglich unterstützt und

532
sogar das Eingreifen von Truppenteilen vorbereiten lassen.6 Es trifft
nicht zu, daß das Heer sich schützendvor jüdische Soldaten gestellt hat.
Der erste Entwurf zu einerVerfügung des Reichswehrministers über die
Entfernung jüdischer Soldaten kamvom Heerespersonalamt und lagim
Wehrmachtsamt schon am 19.März 1934vor. Weildas »Gesetz zur Wie
derherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 für die Ent
lassung jüdischer Soldaten keineHandhabe bot, schlug das Personalamt
kurzerhanddieEntlassung wegen mangelnder Befähigung vor.Soldaten,
die den Bestimmungen des Gesetzes nicht entsprachen, so wurde argu
mentiert, »können nicht im Heere belassen werden«.7
Der Oberbefehlshaber des Heeres (ObdH), Generaloberst von
Fritsch, war ausgesprochener Antisemit. Im November 1924 hoffte er,
daß von Seeckt sich zum Diktator aufschwinge und sprachvon »Ebert,
Pazifisten, Juden, Demokraten, Schwarzrotgold« und Franzosen, die
Deutschland vernichten wollten.8 Und noch nach seiner Entlassung als
ObdH vertrat er die Auffassung, der Kampf gegen die Juden sei die
schwerste noch zu schlagende Schlacht.9 Mit Erlaß vom 21. Dezember
1934 ließ er die Offiziere des Heeres wissen, es müsse »eine Selbstver
ständlichkeit sein, daß der Offizier sich seine Frau nur in den arischen
Schichten des Volkes sucht«.10
Über die Haltung der Heeresführung im NS-Staat, die Einstellung
zum Nationalsozialismus und zu Hitler, werden im wesentlichen nur
Ausführungen gemacht, die innenpolitische Ahnungslosigkeit und
außenpolitische Bedenken signalisieren sollen. Kein Wort über die
ideologischen Gesinnungsbeweise, die einewichtigeBegleiterscheinung
der massiven Aufrüstungdarstellten. Hitlers ProgrammhabeFriedenim
Innern und nach außen versprochen. Kein Wort zu den Gewalt
methoden, die diesen sogenannten Frieden im Innern herbeiführten.
Von den KZs habe man kaum etwas gewußt. Im Führerstaat ohne
Demokraten und Sozialisten fühlten die Heeresgeneralität und das
Offizierkorpssichwohl. Fritsch erwartetelaut Erlaßvom 25. April 1936
besonders von dem Offizier, »daß er den Anschauungen des 3. Reiches
gemäß handelt, auch wenn solche Anschauungen nicht in gesetzlichen
Bestimmungen, Verordnungen oder dienstlichen Befehlen festgelegt
sind«.11 Brauchitsch,seit Februar 1938 ObdH, war übereifrig bestrebt,
Heer, Hitler und Nationalsozialismus noch enger aneinanderzubinden.
Schon im Dezember 1938 betonte er in einem Erlaß über die Erziehung
des Offizierskorps: »Wehrmacht und Nationalsozialismus sind des
selben geistigen Stammes. Sie werden weiter Großes für die Nation
leisten, wenn sie dem Vorbild und der Lehre des Führers folgen, der in

533
seiner Person den echten Soldaten und Nationalsozialisten verkör
pert.«12
Die Denkschrift entwickelt eine leicht durchschaubare Methode, die
Heeresführung bei den Themen Vorbereitung und Durchführung des
Krieges zu entlasten. War das Heer tatsächlich gegen den Austritt aus
dem Völkerbund eingestellt? Man wollte jedenfalls die Versailler
Rüstungsbeschränkungen loswerden. Nicht erst nach 1933 sind Pläne
für ein Heer mit 21 Divisionen aufgelegt worden. Das geheime zweite
Rüstungsprogramm der Reichswehr sah dies schon früher vor. Als sich
auf der Abrüstungskonferenz in Genf die Annahme des MacDonald-
Planes abzeichnete, war klar, daß die deutschen Militärs sich nicht
darauf einlassen wollten. Die Strategie war auf die Erlangung der
Rüstungsfreiheit angelegt gewesen. Als Ausweg blieb der Austritt aus
der Abrüstungskonferenz, und damitwar der Austritt aus demVölker
bund vorprogrammiert. War esso, daß dieHeeresführung lediglich eine
Defensivarmee aufbauen wollte? Brauchitsch und Halder wußten es mit
Sicherheit besser. Schon 1935 ging man über die Defensivstrategie des
zweiten Rüstungsprogramms von 1932 zum Konzept der »offensiven
Defensive« über. Hauptthema wurde die »Stärkung der Angriffskraft
des Heeres«. Generalstabschef Beck gehörte zu den eifrigsten Verfech
tern dieser Idee. Zusätzlich zu drei geplanten Panzerdivisionen sah ein
bis 1939 terminierter Aufbauplan 48 Panzerbrigaden vor, daneben vier
leichte Divisionen.13 Diese Formationen sollten zu weitreichenden Ope
rationen fähig sein. Der Generalstab des Heeres ging imJuni 1936 für das
Mobilmachungsjahr 1937/38 von einem Kriegsheer von 2,68 Millionen
Mann aus. Für 1940berechnete man den Personalstand auf 3,6Millionen
Mann. 1939 sollte das geplante Kriegsheer 102 Divisionsverbände
zählen, was die Kriegsstärke von 1914 übertraf. Am 1. Oktober 1939
sollte dieses riesige Instrument einsatzbereit sein. Sein Sinn konnte nur
ein Angriffskrieg sein,zumalkeineaußenpolitische Bedrohungexistier
te. Ein derartiges Rüstungsprogramm mußte die ökonomischen Res
sourcen auf das äußerste strapazieren. General Fromm, Chef des Allge
meinen Heeresamtes, gab daher bei Vorlage des Aufrüstungsplanes vom
1. August 1936 an den Oberbefehlshaber des Heeres zu bedenken, es
müsse »anschließend an die Aufrüstungsperiode bald der Einsatz der
Wehrmacht erfolgen oder eine Milderung des Zustandes dadurch
erreicht werden, daß die Forderungen an die Höhe der Kriegsbereit
schaftgesenkt werden«.14 Generaloberst Fritsch, der in der Denkschrift
der Generäle so positivcharakterisiert wird, ließsichdurch Fromm nicht
irritieren, sondern legte Blomberg den Plan mit der Bemerkung vor:

534
»NachdenWortendesFührers solleinschlagkräftiges Heer in möglichst
kurzer Zeit geschaffen werden.«15
Beck blieb allerdings skeptisch, Mitte 1937 informierteer Blomberg,
das Heerwerde imWinter 1938/39 nichtschlagfertig sein.16 Seine Oppo
sition gegen ein zu frühes Vorgehen gegen die Tschechoslowakei war
bestimmt von der Sorge vor einem Krieg, für den die Wehrmacht nicht
vorbereitet sei. Daher ging er auch noch in seinen »Betrachtungen zur
gegenwärtigen militärischen Lage Deutschlands« vom 5. Mai 193 8l?
davon aus,das Heer werde in naher Zukunft noch nicht kriegsfertigsein.
Er meinte auch, ein Überraschungsangriff gegen die Tschechoslowakei
mit einer motorisierten Armee sei eine Illusion. Aber Beck wurde durch
die von ihm selbst forcierte Aufrüstung überholt. Ein Generalstabs-
kriegsspiel ergab 1938, man werde schnelle Erfolge gegen die Tschecho
slowakei erzielen können. Beck stand mitseinen Überlegungen allein da.
Die »Denkschrift der Generäle« operiert, um über Fakten hinwegzu
kommen, mit der Behauptung: »IndenJahren i937und 1938 gewann die
Möglichkeit eines gewaltsamen Vorgehens Frankreichs und der Tsche
choslowakei gegen Deutschland anBedeutung.«18 Deshalb seien Über
legungen für Angriffsoperationen angestellt worden, zumal General
stabsreisen gezeigt hätten, daß Deutschland einensolchen Kampf in der
Verteidigung nicht mit Aussicht auf Erfolg führen könnte. Man fragt
sich, wen Brauchitsch, Halder und Manstein mit dieser an den Haaren
herbeigezogenen Version überzeugen zu können glaubten. Hitler hatte
im November 1937 vor den Spitzen der Wehrmacht eindeutig von
Angriffskriegen zwecks Lebensraumgewinnung gesprochen. Die Über
arbeitung des Aufmarschplans gegen die Tschechoslowakei (»Fall
Grün«) vom Dezember 1937 diente nicht dem Ziel, Angriffsvorhaben
des Nachbarn offensiv zu begegnen, sondern fügte sich in Hitlers
militärische und politische Plänevom November ein.An der neuenFas
sungvon »Fall Grün« warenJodl und Beck beteiligt. Es hieß nun: »Hat
Deutschland seine volle Kriegsbereitschaft auf allen Gebieten erreicht,
so wird die militärischeVoraussetzung geschaffen sein, einen Angriffs
krieg gegen die Tschechoslowakei und damit die Lösungdes deutschen
Raumproblems auch dann zu einem siegreichen Ende zu führen, wenn
die eine oder andere Großmacht gegen uns eingreift.«19 Beck scheint
angenommen zu haben, mit einer solchen Formulierung Zeit gewinnen
zu können,weiljadievolleKriegsbereitschaft seinerMeinung nachnoch
längst nicht erreicht war. Aber die Formulierung macht auch klar, daß
die Spitzenmilitärs nicht an einen Präventivkrieg, sondern an einen
Eroberungskrieg dachten. Überdies durchkreuzte eine weitere Formu-

535
lierungselbstden Vorbehaltder Kriegsfertigkeit, denn eshieß, auch ohne
volle Kriegsbereitschaft seiein Krieg gegendie Tschechoslowakei selbst
dann durchführbar, wenn die Sowjetunion an der Seiteder Tschechoslo
wakei auftreten sollte. Mehr konnte sich Hitler nicht wünschen. Auch
die Unterschätzung der Roten Armee paßte ins Konzept.
Und wie sahen Heeresspitze und Generalität die Lage im Jahre 1939?
Im November 1945 schrieben die Generäle, es habe der Eindruck ge
herrscht, daß Hitler einen Angriffskrieg »nicht ernsthaft in Erwägung
gezogen« habe.20 Die Weisung »FallWeiß« vom 3.April 1939 und die am
gleichen Tagvom OKW bekanntgegebene generelle Anordnung, die den
1.SeptemberalsTerminfür die Herstellung der Kriegsbereitschaft gegen
Polen festlegte,21 waren die wichtigsten Weisungen von Hitler/OKW
an die Oberkommandos der Wehrmachtsteile. Hitler hatte schon am
25. März den ObdH aufgefordert, die »polnische Frage« zu bearbeiten22
und hierbei durchblicken lassen, wie er sich die Durchführung dachte:
Polen sollte so niedergeschlagen werden, daß es in den nächsten Jahr
zehnten als politischer Faktor nicht mehr in Rechnung gestellt zu wer
den brauchte. Die in Gang kommenden - doch geheimen- militärischen
Vorbereitungen sollen, so die Denkschrift der Generäle, nur den politi
schenDruck zu verstärken bestimmt gewesensein.Brauchitschhat wohl
bei der Abfassung der Denkschrift nicht ungern auf Dokumente ver
zichtet. Ob er sich an seine am 2. August 1939, dem 25. Jahrestag des
Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, an die »Herren Befehlshaber und
Kommandeure« herausgegebenen Stichworte erinnerte, die die Anspra
chen dieser Offiziere an ihre Soldaten »einheitlich gestalten« sollten?
Hier war zu lesen, daß sich wieder Neid, Mißgunst und Haß gegen
Deutschland richteten,wieder seienEinkreisungsmächte amWerk.Aber
diesmal sei Deutschland stark und unbeugsam, der Führer habe
Deutschlands Stärkeaufgebaut und dem ReichFreunde und Bundesge
nossen geschaffen.23
Eine Handreichung zum 2. August 1939. Wieder waren die anderen
schuld. Raffiniert dieweitere Darstellung der Vorgeschichte: Hitler wäre
bei seiner Ansprache vom 22. August 1939an die höheren Befehlshaber
noch zu keiner Entscheidung gekommen. Den Angriffsbefehl vom 25.
August habe er zurückgenommen. Dann machte Polen am 30. August
mobil, erst danach sei am 31. Augustder Befehl zum Angriffam 1.Sep
tember ergangen.24 Wiedereinmalsoll essichum einebloße Reaktion auf
Maßnahmen des anderen gehandelt haben. Tatsächlich aber machte Hit
ler klar,daß er den Kriegwollte. Zwar hatte er gewisse Zweifel im Hin
blick auf die Haltung der Westmächte. Vor den Generälen spielte er sie

536
jedoch herunter: Der Weg für den Soldaten sei frei. Er habe nur Angst,
daß ihm »noch im letzten Moment irgendein Schweinehund einen >Ver-
mittlungsvorschlag<« vorlege. Der Krieg müsse brutal geführt werden.
»Herz verschließen gegen Mitleid.«25 Manche Generäle, zum Beispiel
Sodenstern, Witzleben, Rundstedt und selbst Reichenau zweifelten, ob
Polen wirklich isoliert war, sie rechneten mit dem Eingreifen der West
mächte. Rundstedt soll zu seinem Stabschef geäußert haben: »Dieser
Mannwillden Krieg.«26 Er meinte den großen Krieg.

Frühgeburt derPräventivkriegsthese

Vergleicht man diese Sicht der unmittelbaren Vorgeschichte des Über


falls auf Polen mit der Darstellung der Vorgeschichte des Angriffs gegen
die Sowjetunion, so wird klar, daß mit der Geschichtsklitterung eine
zentrale Behauptung durchgesetzt werden soll: Das Heer ist praktisch
von allem überrascht worden. Und so liest sich die Story: Im Juli 1940
scheine bei Hitler der Gedanke entstanden zu sein, »daß Rußland in den
Krieg eintreten könnte, und er einem solchen Angriff durch eine deut
sche Offensive zuvorkommen sollte«.27 Hier handelt es sich um die
Frühgeburt der Präventivkriegsthese zum Gebrauch der Nachkriegsge
sellschaft. Ihre Vertreter in den achtzigerJahren, die Topitsch, Suvorov,
Hoffmann, boten mithin nichts Originelles.Wervon den fünf Generälen
hätte wohl diese Aussage beeiden können? Mindestens einer von ihnen
soll ja laut Brauchitsch dazu in der Lage gewesen sein.Jedenfalls schei
det Warlimont aus, der in seinemErinnerungsbuch über Ausführungen
Jodls, des Chefs des Wehrmachtsführungsstabes, am 29. Juli 1940 vor
Offizieren der Abteilung L (Landesverteidigung) des Führungsstabes
berichtet hat.28 Jodl informierte über Ausführungen Hitlers, der sich
entschlossen habe, »zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt, das heißt im
Mai 1941, durch einen überraschenden Überfall auf Sowjetrußland die
Gefahr des Bolschewismus >ein für allemal< aus der Welt zu schaffen«.
Auf skeptische Fragen der Zuhörer habe Jodl Hitlers und wohl auch
seine eigeneMeinung so erläutert: die Auseinandersetzung mit dem Bol
schewismus sei doch unvermeidlich, und dieser Feldzug werde besser
jetzt auf der Höhe der eigenenmilitärischenMacht geführt, »als daß man
das deutsche Volk in den nächsten Jahren erneut zu den Waffen rufen
müsse«. Überdies stehe dann im Herbst die Luftwaffe wieder vollgegen
England zur Verfügung.
So also sah das OKW die Dinge - und das Heer hatte wieder einmal

537
von derartigen Absichten nicht die leiseste Ahnung? Lediglich im
August sei ein Befehl über »Ausbau Ost« vom OKW gekommen, der
den Ausbau der besetzten polnischen Gebiete anordnete - Eisenbahnen,
Straßen, Flugplätze, Truppenunterkünfte. Erst im Dezember 1940habe
Hitler mit dem ObdH und Halder die militärgeographischen und ope
rativen Grundlagen für die Führung einer Offensive in Rußland erörtert
und befohlen, alle Vorbereitungen bis zum 15. Mai 1941 abzuschließen.
Dieser Entschluß, so die fünf Generäle, wurde im OKH »in keiner Weise
begrüßt«.29 Ob Brauchitsch und Halder diese Version auf ihren Eid
genommen hätten? Dazu hätte ein enormer Gedächtnisverlust Pate ste
hen müssen. Hitler hat nämlich den ObdH schon bei einerBesprechung
am 21. Juli 1940 - also gut eine Woche vor Jodls Mitteilungen im
Führungsstab - angewiesen, das »russische Problem« in Angriffzu neh
men. Halder erwähnt diese Besprechung in seinem Kriegstagebuch.30
Am 3.Juli 1940 hatte er bereits ohne Auftrag den Chef der Operations
abteilung, Oberst i.G. von Greiffenberg, angewiesen zu prüfen,»wie ein
militärischer Schlag gegen Rußland zu führen [sei], um ihm die Aner
kennung der beherrschenden Rolle Deutschlands in Europa abzunöti
gen«.31 Am 21. Juli konnte Brauchitsch die Resultate dieser Prüfung
Hitler vortragen, wie Halder vermerkt hat.32 Der Auftrag Hitlers vom
21. Juli ist im OKH umgehend ausgeführt worden. Halder beauftragte
den Chef des Stabes der bereits nach Polen verlegten 18. Armee, Gene
ralmajor Marcks, mit der Anfertigung einer umfassenden operativen
Studie. Im OKH sorgteman sichdarüber, daß beilängerem Warten auf
günstige Landungsmöglichkeiten in England (»Seelöwe«) Deutschland
die militärpolitische Initiative entgleiten könnte. Die entscheidende
Besprechung Hitlers mit den militärischen Spitzenfand am 31. Juli 1940
aufdemObersalzberg statt.Haldernotierte, wennRußland zerschlagen
sei, sei Englands letzte Hoffnung getilgt. »Je schnellerwir Rußland zer
schlagen, um so besser.«33 Kriegsziel seidieVernichtung der Lebenskraft
Rußlands. Hitlers Entschluß stand fest. OKW und OKH waren infor
miert. Vorbereitungen liefen an. Brauchitsch, Halder und Warlimont
besaßen Informationen aus erster und zweiter Hand. Welche Art der
»Pflichterfüllung« gegenüber den Soldaten des deutschen Heeres mag
die grobe Unterdrückung der wichtigsten Tatsachen der Vorgeschichte
desAngriffs auf die UdSSR in ihrer Sichtdargestellt haben? Geschichts
fälschung und gutes Gewissen sind kein seltenes Zwillingspaar, selten
aber präsentierten sie sich derart bedenkenlos.
Aus der Präventivkriegsthese folgt für ihre Anhänger meist auch die
Unschuld des Heeres. Die Denkschrift der Generäle steuert auch hier-

538
für Argumente bei: Die Dislokation der russischen Verbände habe »in
zunehmendem Maße das Bild einer Gruppierung zum Angriff« gezeigt,
die Masse der Panzerverbände habe in den Grenzgebieten gestanden.34
Diese Aussage bezieht sich auf die Zeit kurz vor dem deutschen Angriff
am 22. Juni. Sieläßt bewußt außer acht, daß dem sowjetischenGeneral
stab um diese Zeit der gewaltige deutsche Aufmarsch kein Geheimnis
mehr war. Sie läßt ferner die Tatsache unberücksichtigt, daß deutsche
Angriffsabsichten ja schon seit Juli 1940 bestanden. Sie ist überdies
unzutreffend. Die Lagebeurteilung von »Fremde Heere (Ost)« vom
20. Mai 194135 kam zu dem Ergebnis, daß eine »Präventivoffensive« der
Roten Armee unwahrscheinlich sei. Die Führung kenne die innere
Schwäche der Roten Armee und den geringenAusbildungsstand. Hinzu
komme die Umstellung auf andere Ausbildungsmethoden, die »keine
geeignete Angriffsbasis, vielmehrein Schwächemoment bildet«.Selbstin
der Sicht des deutschen Generalstabs hätte also ein ganz unwahrschein
licher sowjetischer Angriff eine Präventivmaßnahme gegen den deut
schen Aufmarsch dargestellt. Die sowjetische Dislokation wurde als
defensiveingeschätzt. »Fremde Heere (Ost)« hatte erkannt, daß die Pan
zerverbände der Roten Armee zwischen 140 und 500 Kilometer hinter
der Grenze standen - Wilna, Baranowitschi, Proskurow, Pskow und
Süd-Bessarabien. Es seien überdies zahlreiche Divisionen an der finni
schen Grenze und im Kaukasus festgelegt und daher gegen einen deut
schen Angriff nicht verfügbar. Und nach dem Angriffsbeginn bestätigte
sich das Bild: Überraschungserfolge auf der ganzen Linie. Die Rote
Armee leistete stärkeren Widerstand im Süden, mußte hier aber Panzer
verbände von Shitomir heranholen.36 Der Chef »Fremde Heere (Ost)«
erklärte am 25.Juni, wie General Heusinger berichtet,37 nach seiner Ein
schätzung sei die Dislokation der Roten Armee aus Sorgevor den deut
schen Absichten erfolgt, aber auch im Blickauf eine möglicheOffensive.
Halder erwiderte, er stimme zu, aber der Zeitpunkt für eine Offensive
sei noch offen gewesen. Diese Einschätzung bewertete die strategischen
Grundsätze der Roten Armee einigermaßen zutreffend. Zu ihnen gehör
te das Prinzip, einen Angriff möglichst rasch mit einer Gegenoffensive
zu beantworten. DieWehrmacht ging mit der Gewißheit eigener Über
legenheitin den Krieg, ihre Plänesahen einenSieg nach wenigenWochen
vor.

539
Verbrecherische Befehle

Bei diesem Umgang mit dem Präventivkriegsargument darf der Leser


auf die Argumente gespannt sein, die zum Kapitel verbrecherische
Befehle, Partisanenkrieg, Geiselbehandlung und Judenvernichtungvor
gebracht werden. OKW- und OKH-Dokumente zum Komplex
«Kommissarbefehl« und »Gerichtsbarkeitserlaß >Barbarossa<« belegen
eindeutigdie Tatsache, daß die Entwürfe für dieseBefehle in den Rechts
abteilungendieser Kommandobehörden erarbeitet worden sind, genau
er: im Verantwortungsbereich Halders, Müllers, Jodls und Warlimonts.
Ausgangspunkt dieser Aktivität war Hitlers Ansprache an die engsten
militärischen Berater am 3. März 1941. Bis dahin hatte eine Erörterung
weltanschaulicher Notwendigkeiten in einem geplanten Krieg noch
nicht stattgefunden. Hitler erklärte, wie der Vernichtungskrieg zu
führen sei. Widerspruch der Generäle fand nicht statt. Noch am 3. März
1941 gingen Hitlers Forderungen aufnehmende Formulierungen an die
Abt L (Warlimont) desWehrmachtsführungsstabes - Grundlageder hier
dann ausgearbeiteten »Richtlinien auf Sondergebieten zur Weisung Nr.
21 (>Fall Barbarossa<)«. In Jodls Anweisung war vom Einsatzvon Orga
nen des Reichsführers-SS auch im Operationsgebiet die Rede,wegen der
»Notwendigkeit, alle Bolschewistenhäuptlinge und Kommissare sofort
unschädlich zu machen«.38 Militärgerichte müßten aus diesen Fragen
herausgehalten werden. Schon am 5. März konnte Warlimont den Ent
wurf dem OKH zur Stellungnahme zuleiten. Bald kamen wegen des
Einsatzes von SS-Organen Gespräche zwischen Heydrich und dem
Generalquartiermeister General Wagner in Gang. Die Mitarbeit von
OKW und OKH lief reibungslos an. Am 17. März erklärte Hitler in
Gegenwart Halders, Wagners und Heusingers bei einer Lagebespre
chung: »Die von Stalin eingesetzte Intelligenz muß vernichtet werden.
Die Führermaschineriedes russischenReiches muß zerschlagen werden.
Im großrussischen Reich ist Anwendung brutalster Gewalt notwen
dig.«39 Als Hitler am 30. März dann vor dem größeren Kreis der für
»Barbarossa« vorgesehenen Befehlshaber und höheren Stabsoffiziere
seineAnsichtenvortrug, befandensichdie Spitzenvon OKW und OKH
demnach bereits in der Rolle von Mitwissern und Kennern erster Ent
würfe.
Die Denkschrift der Generäle setzt mit diesem 30. März ein. Angeb
lich waren »alle anwesenden Führer des Heeres« über Hitlers Auffas
sung empört. Der ObdH habe, als einige sich später an ihn wandten,
erklärt, das Heer werde keinen derartigen Befehl herausgeben.40 Was

540
denn hat das Heer - sprichOKH - wirklichgetan? Es war für den Erlaß
von Kommissarbefehl und Gerichtsbarkeitserlaß gar nicht zuständig.
Dies war Sache des OKW. Aber das OKH war Mitwirkender bei den
Befehlsentwürfen. Und in den kriegsvölkerrechtlichen Fragen unter
stand der Vorgesetzte der RechtsabteilungOKH, General z. b. V. Eugen
Müller, dem Chef des Generalstabes Halder. Am 6. Mai 1941 gingen die
OKH-Entwürfe für den Gerichtsbarkeitserlaß und den Kommissarbe
fehl bei OKW/L ein. Der Entwurf zum Kommissarbefehl ging sogar
noch weiter alsder Vorschlag der Abteilung L (Warlimont),41 sah er doch
generell vor, »politische Hoheitsträger und Leiter (Kommissare) zu
beseitigen«, denn sie hätten »durch ihre bisherige Wühl- und Zerset
zungsarbeit klar und deutlich bewiesen, daß sie jede europäischeKultur,
Zivilisation, Verfassung und Ordnung ablehnen«.42 Halder hat diesen
Entwurf zur Kenntnis genommenund gebilligt. Im Zusammenhangmit
dem »Gerichtsbarkeitserlaß Barbarossa« verweist die Denkschrift der
Generäle auf einen Befehl des ObdH, »daß keine Maßnahmen durchge
führt werden durften, die mit den deutschenAuffassungen von Disziplin
im Widerspruch stünden«.43 Gemeint ist hiermit der sogenannte Diszi-
plinarerlaß Brauchitschs vom 24. Mai 1941, der »die Verwilderung der
Truppe« zu verhindern suchte. Soldaten sollten sich gegen Landesein
wohner keine willkürlichen Ausschreitungen erlauben, sondern an die
Befehle der Vorgesetzten gebunden bleiben. Hintergrund dieses Befehls,
der im Grunde nur Selbstverständliches angeordnet hat, war folgende
Formulierungim Gerichtsbarkeitserlaß vom 13. Mai: »Für Handlungen,
die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivil
personen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht,
wenn dieTat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist.«44
Der Hintergrund war ebenso der Entwurf ObdH/General z.b.V.
beim ObdH von AnfangMai zu dem Gerichtsbarkeitserlaß.45 Hier war
formuliert worden: »Strafbare Handlungen, die Heeresangehörige aus
Erbitterung über Greueltatenoder die Zersetzungsarbeit der Träger des
jüdisch-bolschewistischen Systems begangen haben, sind nicht zu ver
folgen, soweit nicht im Einzelfalle die Aufrechterhaltung der Mannes
zucht ein Einschreiten erfordert.«
Diese bis in den Sprachgebrauch faßbare Komplizenschaft der Hee
resführung sucht die Denkschrift der Generälemit dem Hinweis zu ver
harmlosen, man habe damit »dieAuffassungdes OKW genau« festlegen
wollen. Hier aberzeigte mansichhochbefriedigt. Warlimont notierteauf
den Rand des OKH-Vorschlags: »Geht weiter als WR [Wehrmachts
rechtsabteilung].«46 Die Verantwortung für diesen fatalen Entwurf tra-

54i
genGeneral Müller und seinunmittelbarer Vorgesetzter in Rechtsange
legenheiten, Generalstabschef Halder.Man fragt sich,ob Warlimontund
Halder die Version in der Denkschrift erfunden haben. Sie zu beeiden
hätte sie, die bis zuletzt zum Eid auf Hitler standen, gewiß vor Proble
me gestellt. Welcher Geist und welche »Empörung« über Hitlers Auf
fassungen bei den Zuständigen in der Rechtsabteilung des OKH anzu
treffen waren, zeigen Ausführungen des Generals z. b. V./ObdH Müller
und des Leiters der Gruppe Rechtswesen beim General z.b. V./ObdH,
Oberstkriegsgerichtsrat Lattmann. Müller erklärte am.n. Juni 1941 in
Warschau vor Ic-Offizieren und Heeresrichtern: Rechtsempfinden
müsse hinter den Kriegsnotwendigkeiten zurücktreten, »einer von bei
den Feinden muß auf der Strecke bleiben. Träger der feindlichen Ein
stellung nicht konservieren, sondern erledigen.«47 Es ist eindeutig: der
sogenannte Disziplinarerlaß des ObdH paßte sichwillfährig den ideolo
gischen Vorgaben an. An ihm wird Brauchitschs Einstellung faßbar. Die
Methode hatte er nämlichbereits für Polen angewandt. Frontbefehlsha
ber hatten über SS-Säuberungsmethoden berichtet. Der OB Ost, Gene
raloberst Blaskowitz, notierte in seiner. Vortragsnotiz vom 6. Februar
1940 für den Besuch des ObdH in Spala Hinweiseauf Scheußlichkeiten
und Verbrechen, von Abschlachten ist die Rede sowie von Ausführun
gen des Generals Ulex, der von einem »die Ehre des ganzen deutschen
Volkes befleckenden Zustand« gesprochen hatte.48 Brauchitsch entledig
te sich seiner Verantwortung mit seinem Befehl »Heer und SS« vom
7. Februar 1940. In ihm wurde die Kombination von Disziplin und
Zustimmung zu den Zielen der Politik im Osten angesichts der Mord
aktionen zum Verhaltenskodex gemacht.49 Vor den Augen des Heeres
lief das Vernichtungsprogramm »Tannenberg« der Einsatzkommandos
ab: Ausschaltung und Vernichtung von Intelligenz und Juden, Internie
rungen, Ghettoisierung. Himmler hielt am 13. März 1940 in Koblenz
einen Vortrag vor der Generalität über die Maßnahmen der SS in Polen.
Oberquartiermeister Generalvon Tippeiskirchinformierte Himmler,als
er im Auftrag des ObdH den SS-Chef zu diesem Vortrag einlud, nicht
die in Polen angewandte Härte mißfalle dem Heer, sondern »die Gefahr
der Verrohung der eingesetzten Leute«.50 Schonam 11. September 1939
hatte der Generalquartiermeister dem AOK 4 durchgegeben, »daß die
Organe des Reichsführers-SS [...] nicht zu behindern« seien.51

542
Heeresführung und Vernichtungskrieg

Dieses Programm suchte Brauchitsch also im Krieg gegen die Sowjet


union durchzuführen. Das Heer nahm aktiv an Vernichtungsaktionen
teil,die einschlägige Literatur hat dafür aufgrundder Wehrmachtsdoku
mente reichhaltiges Material ausgebreitet. Im unmittelbarenVerantwor
tungsbereich Halders lagen die Absprachen seines Generalquartiermei
sters GeneralWagner mit dem SD-ChefHeydrich über die Kooperation
des Heeres mit den Einsatzgruppen. Die Absprachen führten zu dem
Brauchitsch-Befehl vom 28. April 1941 »Regelung des Einsatzes der
Sicherheitspolizei und des SD im Verbände des Heeres«.52 Armeeober
befehlshaber Hoepner, Befehlshaber der Panzergruppe 4, unterschrieb
schon Anfang Mai 1941 einen Befehl für die bevorstehende »Kampf
führung«53, in welchem es hieß, »jede Kampfhandlung muß in Anlage
und Durchführung von dem eisernen Willen zur erbarmungslosen, völ
ligen Vernichtung des Feindes geleitet sein. Insbesondere gibt es keine
Schonung für die Träger des heutigen russisch-bolschewistischen
Systems.« Einer der fünf Unterzeichner der Denkschrift, Generalfeld
marschall von Manstein, 1941 OB der 11.Armee, erließ am 20. Novem
ber 1941 einen Befehl,54 in welchemer forderte: »Für die Notwendigkeit
der harten Sühne amJudentum, dem geistigen Träger des bolschewisti
schenTerrors,muß der SoldatVerständnis aufbringen.« In welch hohem
Maße Verständnis aufgebracht wurde, ist vielfach belegt.55 Als pars pro
toto bezeichnen die Namen Babi Jar, Shitomir und Bjelaja Zerkow die
Mitwirkung von Heeresdienststellen beim Vernichtungsprozeß. Ge
wußt hat der Generalstab soviel, daß er keinen Zweifel an dem politi
schen Ausrottungsprogramm habenkonnte. Erinnert seiunter anderem
an die Besprechung vom 25. August 1941 in den Diensträumen des
Generalquartiermeisters im OKH. Hier wurde die Absicht des HSSPF
SS-Obergruppenführer Jeckeln in Gegenwart des Leiters der Abteilung
Kriegsverwaltung beim Generalquartiermeister, Major von Altenstadt,
mitgeteilt, er hoffe, die aus Ungarn in das »Reichskommissariat Ukrai
ne« vertriebenen etwa elftausend Juden bis zum 1. September liquidie
ren zu können.56 Die Erschießungen der bei Kamenez-Podolsk zusam
mengetriebenen Juden begannen am 26. August. Am 29. Augustmeldete
Jeckelndie Liquidierung von »rund 20ooo«.57 All dies sucht die Denk
schrift der Generäle zu vertuschen mit dem Hinweis, die Kommandos
des SD hätten die Armeeführer über ihre »rein politischen Aufgaben«
nicht unterrichten dürfen.58 Tatsächlich ist eine Linie von Brauchitschs
Befehl »Heer und SS« vom 7. Februar 1940 bis zur aktiven Unterstüt-

543
zung der SD-Aktionen zu ziehen. Die Befehle Mansteinsv und Rei
chenauslagenvoll auf dem politischen Kurs Hitlers und Himmlers.
Unzutreffend wie die Behauptung, der Kommissarbefehl sei nicht
durchgeführt worden, ist die Darstellung der Haltung des OKW beim
Zustandekommen des »Kommandobefehls« vom 18. Oktober 1942, der
die Behandlung von Angehörigen alliierter Kommandounternehmun
genzum Gegenstandhatte. Im Wehrmachtsbericht vom 7. Oktober 1942
deutete einvonHitler stammender Zusatz59 bereits an,daß künftig »Ter
ror- und Sabotagetrupps« rücksichtslos »im Kampf« niedergemacht
werden sollten. Es setzten nun Überlegungen für Befehlsentwürfe im
OKW ein. Zwar ist anzunehmen, daß Jodl und Warlimont einen solchen
Befehl, der eine gravierende Verletzung des KriegsVölkerrechts gegen
alliierteSoldaten zur Folge hatte, am liebsten vermieden hätten, aber sie
legten letzten Endes Entwürfe vor. Wer von ihnen, ist umstritten, sie
belasteten sich gegenseitig. Jodl erteilte den Auftrag an Warlimont, die
ser an die Abteilung Qu des Wehrmachtführungs'stabes. Auch Warli
mont ging davon aus, daß eine Gefangennahme grundsätzlich nicht in
Frage komme. Bei vorübergehender Festnahme sollten Kommandoan
gehörige nach Vernehmung dem SD übergeben werden. Eine Differen
zierung der Behandlung von rechtmäßigen Kombattanten und anderen
war nicht vorgesehen, diesaber hatte Canarisgefordert. Warlimont lehn
te dessen Ansinnen ab, weil es nicht der Rundfunkankündigung ent
spreche. Am 15. Oktober 1942 formulierte sein Entwurf, ein kriegs
widriges Verhalten von Sabotagetrupps - gleichgültig ob Soldaten und
gleich in welcherUniform - sei immer anzunehmen,wenn sieÜberfälle
oder Gewalttaten durchführten, und sich damit-»nach dem Urteil der
Truppe« außerhalb der Gesetze und des Krieges stellten. Sie seien
»schonungslos« bis auf den letzten Mann zu vernichten: keine
Gefangennahme, kein Gerichtsverfahren. Hitler war auch damit nicht
zufriedengestellt. In einem Entwurf vom 17. Oktober wurde von einer
Qualifizierung der Kampfweise der nun als Kommandounternehmun
gen bezeichneten Einsatztrupps ganz abgesehen. Expressis verbis hieß
es: Kommandoangehörige seien auch dann niederzumachen, wenn sie
Anstalten träfen, sich zu ergeben. Dieser Zusatz stammte wahrscheinlich
von Keitel. Hitler nahm gern ein Argument der Wehrmachtsrechtsabtei
lungauf, daß Kommandoangehörige, diesichnach Erfüllung ihres Auf
trags zur Gefangennahme stellten, sich damit eines »Mißbrauchs der
Genfer Abmachungen schlimmster Art« schuldig machten. Deshalb
dürfte auch ein »Sabotage- oder Terroristentrupp« nicht nach den
Regeln der Genfer Konvention behandelt werden, »sondern er ist unter

544
allen Umständen restlos auszurotten«. Der Entwurf vom 17.Oktober ist
die Grundlage des am 18. Oktober erlassenen Befehls geworden.60

Partisanenkrieg

Eine weitere Tatsachenverdrängung besorgten die Denkschriftverfasser


bei dem Komplex »Partisanen- und Bändenkrieg«. Ihr Fazit: Das Ver
fahren der Banden war durch besondere Grausamkeit gekennzeichnet;
Hitlers Geiselbefehl wurde einheitlichabgelehnt.Das OKW bestand auf
Untersuchung jedes Einzelfalles, die Untersuchungen verliefen dann
meist im Sande. Von Zeit zu Zeit seien aber Einheiten des Heeres unter
SS-Offizieren eingesetzt worden.61
Dagegendie Spracheder Tatsachen:
Schon für den Krieg gegen Jugoslawien sah ein Befehl OKH/-
GenStdH/Gen Qu/Abt: Kriegsverwaltung betr. Regelungdes Einsatzes
der Sicherheitspolizei und des SD vom 2. April 1941 Regelungen vor,die
den für »Barbarossa« festgelegten entsprachen. Halder und General
quartiermeister Wagner brachten am 26. März in den Entwurf einen
Zusatz ein, der Juden und Kommunisten als besondere Gegner qualifi
zierte.62 Am 28. September 1941 ordnete ein OKW-Befehl an, künftig
neben Juden und Kommunisten auch Nationalisten und bürgerliche
Demokraten als Geiseln festzusetzen.63 Schon vorher, am 4. September,
forderte Generalfeldmarschall List als Wehrmachtsbefehlshaber Südost
in einer Weisung an den Militärbefehlshaber in Serbien, General Dan
kelmann: rücksichtslose Sofortmaßnahmen gegen die Aufständischen,
deren Helfershelfer und Angehörigen (Aufhängen, Niederbrennen von
Ortschaften, vermehrte Festnahme von Geiseln, Abschieben von Fami
lienangehörigen in Konzentrationslager.64
Am 16. September 1941 erging der berüchtigte OKW-Befehl, der
anordnete, für einen deutschen Verwundeten oder Toten fünfzig bzw.
hundert Kommunisten zu erschießen.65 Entgegen der Behauptung der
Denkschrift gab es keine langwierigen gerichtlichen Untersuchungen.
Nach dem Topola-Überfall auf eine deutsche Einheit wurde Ernst
gemacht mit der »Sühnequote« 1:100. Für 21 gefallene deutsche Solda
ten wurden 2100 Gefangene, hauptsächlichJuden und Kommunisten,in
den Konzentrationslagern Sabor und Belgradausgesuchtund liquidiert.
List befahlam 4. Oktober, im Kampfgefangene Partisanensofort zu exe
kutieren, im Operationsgebiet Angetroffeneund als Partisanen Identifi
zierte zu liquidieren.66 Die 717. ID erschoß bei Massakern in Kraljevo

545
und Kragujevac im Oktober 1941 über siebentausend Einwohner. Um
das »Soll« für zehn Tote und 26 Verwundete - 2300 Geiseln - zu erfül
len, wurden in Kragujevac Jugendliche aus Schulen herausgeholt. Das I.
Bataillon IR 724 gab in einem Bericht im Oktober 1941 an:
»21. 10. Früh 7 Uhr beginnt die Auswahl und Erschießung der Ver
hafteten. Damit ist die Aktion abgeschlossen, insgesamt wurden 2300
Serben verschiedenen Alters und Berufs erschossen.«67
Trotz dieses rigorosen völkerrechtswidrigen Vorgehens verlangte das
OKW noch brutalere Methoden. Am 7. Februar 1942 lag dem WB
Südost ein Fernschreiben vor, in welchem gesagt wurde, das Ergebnis
der Strafexpeditionen sichere noch nicht, daß im Frühjahr keine neuen
Aufstände erwartet werden müßten: »Die blutigen Verluste der Auf
ständischen und auch die Zahl der Liquidierten ist gering. Die Zahl der
Gefangenen ist viel zu groß.«68 Der Befehlshaber in Serbien, General
Bader, meldete daraufhin am 13. Februar 1942: »In der Zeit vom 1.9.41
bis 12.2.1942 erlitt der Gegner folgende Verluste: a) Gefallen und
erschossen: 7756 Personen, b) Als Sühnemaßnahmen wurden im Gefol
gevon Kampfhandlungen erschossen: 20149 Personen.«69
Diese Praxiswurde fortgesetzt und auch in Griechenlandangewandt,
wenn auch nicht immer die »Quoten« in voller Höhe eingehalten wur
den - Heerestruppen waren dabei nicht SS-Offizieren unterstellt.
Überdas Vorgehen inderSowjetunion liegt reichhaltiges Material vor.
Es sind hier vor allemdie Methoden der in den rückwärtigenArmeege
bieten eingesetzten Sicherungs-Divisionen zu erwähnen. Die Zahlen
machen deutlich, daß von gerichtlichen Untersuchungennicht die Rede
sein konnte - zum Beispiel:
- 285. Sicherungs-Division zwischen 22.Juni und 31. Dezember 1941:
1500 im Kampfgetöteteoder danach erschossene Partisanen bei eige
nen Verlusten von sieben Toten und elf Verwundeten.
- 707. Infanterie-Division innerhalb eines Monats in Weißrußland:
Erschossenvon 10940 Gefangenen 10431 bei eigenen Verlusten von
2 Toten und 5 Verwundeten.70

Die Denkschrift der Generäle gewinnt ihre Bedeutung vor allem


dadurch, daß führende Offiziere der Wehrmacht aus ihrem Verantwor
tungsbereich berichteten. Sie gehört damit zu den wichtigsten Doku
menten für die Geschichte der Verharmlosung der Rolle von OKW und
OKH im Zweiten Weltkrieg. Nicht einer der Verfasser hat sich der Ver
antwortung für eigenes Handeln oder Unterlassen gestellt. Dennoch
erhoben sie den Anspruch, mit ihrer Darstellung eine Pflicht gegenüber

546
den Soldaten des deutschen Heeres zu erfüllen und verbanden ihr Anlie
gen mit Kritik am militärischen Widerstand gegen Hitler. Das Traditi
onsverständnis der Bundeswehrhat sich dieser Argumentation noch zu
stellen.

Anmerkungen

i StaatsarchivNürnberg, PS 3798,zitiert als Denkschrift.


2 Denkschrift, S. 69.
3 Denkschrift, Einführung.
4 Nachlaß Röttiger, Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (BA-MA), N 422/11,
Bl. 3, Erklärung vom 28.11.1945; vgl. Manfred Messerschmidt, Das Heer als
Faktor der arbeitsteiligenTäterschaft, in: Holocaust: Die Grenzen des Verste-
hens.EineDebatte über die Besetzung der Geschichte, hrsg.von Hanno Loewy,
Reinbek 1992, S. 166-190, hier S. 167f.
5 Nachlaß Röttiger, a. a. O.
6 Klaus-Jürgen Müller, Reichswehr und »Röhm-Affäre«. Aus den Akten des
Wehrkreiskommandos (Bayer.) VII, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen
(MGM) 1/1968, S. 107-144.
7 Näher dazu Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der
Indoktrination, Hamburg 1969, S. 40-46. Wegender »Frontkämpfer-Klausel«
waren zunächst nur 70 Soldaten betroffen.
8 Briefvom 16.11.1924 an Joachim von Stülpnagel, BA-MA, H 08-5/20. Zu den
politischenAuffassungen Fritschsvgl.Klaus-Jürgen Müller,Das Heer und Hit
ler. Armeeund nationalsozialistisches Regime 1933-1940, Stuttgart 1969, S. 25,
41,43, 163L
9 Text des Briefes in der Dokumentation von Nicholas Reynolds, Der Fritsch-
Brief vom 11. Dezember 1939, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1980,
S. 358ff., hier S. 370.
10 Der Erlaß ist wiedergegebenin: Manfred Messerschmidt/Ursula von Gersdorff,
Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1964,
S. 259^, Dok. Nr. 100.
11 Messerschmidt, Wehrmacht im NS-Staat, a. a. O., S. 82.
12 Messerschmidt/v. Gersdorff, a. a. O., S. 274, Dok. Nr. 107.
13 Denkschrift über die Erhöhung der Angriffskraft des Heeres vom 20. Dezem
ber 1935, BA-MA, II H 662. Vgl. Klaus-Jürgen Müller, General Ludwig Beck.
Studien und Dokumente zur politisch-militärischen Vorstellungswelt und
Tätigkeit des Generalstabschefs des deutschen Heeres 1933-1938, Boppard
1980, S. 469-477, Dok. Nr. 37, und Manfred Messerschmidt, The Political and
StrategieSignificance of Advances in Armament Technology: Developments in
Germany and the »Strategyof Blitzkrieg«, in: The Quest für Stability. Problems
of West European Security 1918-1957, hrsg. von R. Ahmann, A. M. Birke und
M. Howard, London 1993, S. 249-261, hier S. 251.

547
14 Allg. Heeresamt (AHA) Nr. 1780/36vom 1.8.1936,BA-MA, RH 15/70.
15 Schreiben ObdH vom 12.Oktober 1936, BA-MA, RH 15/70.
16 OKH, 14.12.37, BA-MA, IIIH 98/2.
17 Nachlaß Beck, BA-MA, N 28/3.
18 Denkschrift, S. 20a.
19 IMT,Bd. 34, S.745 ff., Dok. 175-C und Akten zur deutschen auswärtigen Poli
tik 1918-1945 (ADAP), SerieD, Bd. VII, App. III, S. 547ff.
20 Denkschrift, S. 25.
21 ADAP,D,Bd. VI,Nr. 185,Anlage IL Im Anschreiben OKW-WFA wurde Hit
lers Terminsetzung mitgeteilt.
22 Ebenda, Nr. 99.
23 Anlage zu Schreiben OKH/AHA v. 24.Juli 1939, Abschrift in BA-MA, WK
XII/15 C, wiedergegeben in M. Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat,
a. a. O., S. 237.
24 Denkschrift, S. 26.
25 Aufzeichnung ohne Unterschrift von der Ansprache Hitlers am 22.8.1939 in:
AD AP, D, Bd. VII, Nr. 192 u. 193.
26 K.-J. Müller, Heer und Hitler, a. a. O., S. 411.
27 Denkschrift, S. 35.
28 Walter Warlimont, Im Hauptquartier der deutschen Wehrmacht 1939-1945.
Grundlagen - Formen - Gestalten, Frankfurt am Main 1964,S. i26f.
29 Denkschrift, S. 36.
30 Franz Halder, Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Gene
ralstabes des Heeres 1939-1942, hrsg. vom Arbeitskreis für Wehrforschung,
Bd.2:Vonder geplanten Landung in England biszumBeginn desOstfeldzuges
(1.7.1940-21.6.1941), Stuttgart 1963 (22.7.1940), S. 32.
31 Ebenda (3.7.1940), S. 6.
32 Vgl. JürgenFörster,HitlersEntscheidung für den Krieg gegen dieSowjetunion,
in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4: Der Angriffauf die
Sowjetunion, Stuttgart 1983,S. 10 (DRZW IV).
33 Halder-KTB, a. a. O., Bd. 2 (31.7.1940),S. 49.
34 Denkschrift, S. 37.
35 BA-MA, RH 2/2591.
36 OKW-KTB, Teilband II, S. 417-420.
37 Adolf Heusinger, Befehl im Widerstreit. Schicksalsstunden der deutschen
Armee 1923-1945, Tübingen 1950, S. 130. Zur deutschen Einschätzung der
RotenArmee vor und nachdem22. Juni 1941 vgl. Manfred Messerschmidtjune
1941 seenthrough GermanMemoirsand Diaries,in: Operation Barbarossa. The
German Attack on the Soviet Union, June 22, 1941, in: Soviet Union - Union
Sovietique, vol. i8,NOS. 1-3,1991,hrsg.von The College of Humanities, Uni-
versity of Utah.
38 Warlimont, Im Hauptquartier, a. a. O., S. 168.
39 Halder KTB, a. a. O., Bd. 2 (17.3.41), S. 320 .
40 Denkschrift, S. 41.
41 Näher dazu: Messerschmidt, Die Wehrmachtim NS-Staat, a. a. O., S. 402ff.

548
42 Heinrich Uhlig, Der verbrecherische Befehl. Eine Diskussion und ihre histo
risch-dokumentarischen Grundlagen, in: Vollmacht des Gewissens, hrsg. von
der Europäischen Publikation e.V., 2. Bd., Frankfurt am Main 1965, S. 287-410,
hier 355 ff. (=DokPS-i97i).
43 Denkschrift, S. 41.
44 Abgedruckt bei Gerd R. Ueberschär und Wolfram Wette, Der deutsche Über
fall auf die Sowjetunion. »Unternehmen Barbarossa« 1941, Frankfurt am Main.
i99i,S. 252t
45 Uhlig, Der verbrecherischeBefehl,a. a. O., S. 386L,Dok. 23.
46 WR Nr. 32/41 gKdos. Chefsache vom 9.5.1941, BA-MA, RW 4/v. 577; dazu
Jürgen Förster, Das Unternehmen »Barbarossa« als Eroberungs- und Vernich
tungskrieg, in: DRZW IV, S. 429.
47 Pz.Gr. 3/Ic, Tätigkeitsbericht Nr. 2, 1.1.-11.8.1941, BA-MA, Pz AOK 3,
Bl. 29 f., abgedruckt in: Hans-Adolf Jacobsen, Kommissarbefehl, in: Anatomie
des SS-Staates, Bd. 2, Öltenund Freiburg 1965, S. 192. Ähnliche Ausführungen
Lattmanns, mitgeteilt im Brief eines Teilnehmers vom 20.7.1970 an den Ver
fasser.
48 Vgl. Messerschmidt, Wehrmacht im NS-Staat, a. a. O., S. 39off.
49 »Heer und SS«, NOKW-1799. Vgl. Manfred Messerschmidt,Völkerrecht und
»Kriegsnotwendigkeit« in der deutschen militärischen Tradition seit den Eini
gungskriegen, in: German Studies Review, 6/1983, S. 237-269, hier S. 25if.
5o Klaus-JürgenMüller, Zur Vorgeschichteund Inhalt der Rede Himmlers vor der
höheren Generalität am 13.März 1940in Koblenz, in: Vierteljahrsheftefür Zeit
geschichte 18 (1970), S. 95-120, hier S. 112; zu dieser Rede vgl.Messerschmidt,
Wehrmacht im NS-Staat, a. a. O., S. 393.
51 BA-MA, W 6969/5.
52 Abgedruckt beiUeberschär/Wette, Deutscher Überfall, a. a. O., S. 249 f.
53 Auszugsweisewiedergegebenebenda, S. 251.
54 Ebenda, S. 289 f.
55 Vgl. u. a. Förster, Das Unternehmen »Barbarossa«,a. a. O., und Helmut Kraus
nick/Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die
Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981;
Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen
Kriegsgefangenen 1941-1945, Stuttgart 1978; Manfred Messerschmidt: Das
Heer als Faktor der arbeitsteiligenTäterschaft, a. a. O., S. 166-190.
56 Wortlaut des Besprechungsvermerks vom 27.8.1941: Nürnberger Dokument
PS 197.
57 Krausnick/Wilhelm, Truppe des Weltanschauungskrieges,a. a. O., S. 250.
58 Denkschrift, S. 45.
59 Nürnberger Dokument PS-1266.
60 Näher hierzu Manfred Messerschmidt, Kommandobefehl und NS-Völker-
rechtsdenken, in: Revue de droit penal militaire et de droit de la guerre, XI-1
(1972), S. 110-132.
61 Denkschrift, S. 56L
62 Vgl. Förster, Hitlers Entscheidung, a. a. O., S. 422f., Manfred Messerschmidt,

549
Rassistische Motivationenbeider Bekämpfung desWiderstandes in Serbien?, in:
Faschismus und Rassismus. Kontroversenum Ideologieund Opfer, Berlin 1992,
S. 317-341, hier S. 322L
63 BA-MA, 17729/8, Anlage 28; Nürnberger Dokument ISJOKW 458.
64 BA-MA, 14749/5, Anlage 58; vgl. The WaldheimReport. Submitted February
8, 1988 to Federal Chancellor Dr. Franz Vranitzky by the International Com-
mission of Historians, Kopenhagen 1993.
65 BA-MA, 17729/9,Anlage 48.
66 BA-MA, 17729/8, Anlage 48.
6y Bericht über den Einsatz des I/724 LR., 17.-25.10.1941, BA-MA, RH 26-104.
Zum ganzenKomplexvgl.WalterManoschek, Serbienist judenfrei.Militärische
Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München 1993.
68 BA-MA, RW 40/26, Blatt 75.
69 Der Bevollm. Kommandierende General in Serbien, Ia, Nr. 108/42 an WB
Südost vom 13. Februar 1942, BA-MA, RW 40/26.
70 Förster, Die Sicherung des Lebensraums, in: DRZW, Bd. 4, a. a. O., S. io54ff.
Manfred Messerschmidt Der Minsker Prozeß 1946
Gedanken zu einem sowjetischen Kriegsverbrechertribunal

Der Minsker Prozeß ist im Zusammenhangmit mindestens neun weite


ren Verfahren gegendeutsche Kriegsgefangene zu sehen, die in der Zeit
zwischen dem 15. Dezember 1943 und Dezember 1946 in zehn Städten
der Sowjetunion durchgeführt wurden. Allein vier von ihnen behandel
ten Ereignisseim Bereich der Heeresgruppe Mitte, nämlich die Prozes
se in Minsk, Brjansk und Welikije-Luki im Januar 1946und der in Smo-
lensk im Dezember 1946. In allen zehn militärgerichtlichen Prozessen
hatten sich insgesamt 93 Angeklagte zu verantworten. Von ihnen sind
achtzig zum Tode, dreizehn zu fünfzehn oder zwanzig Jahren Zwangs
arbeitslager verurteilt worden.
In materiellrechtlicherwie in prozessualer Hinsicht beruhten sämtli
che Verfahren auf dem Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjet der
UdSSRvom 19.April 1943, Nr. 160/23 (YKA3nPE3HnHYMABEPXOB-
HOrO COBETA CCCP). Hier war unter anderem wörtlich bestimmt:

»Unter Berücksichtigung dessen, daß die Ausschreitungen und


Gewalttaten gegenüber wehrlosen sowjetischen Bürgern und gefan
genen Rotarmisten und der Verrat an der Heimat die schändlichsten
und schwerwiegendsten Verbrechen und die niederträchtigsten Übel
taten sind, beschließt der Oberste Sowjet der UdSSR:
1. Zu erkennen, daß die deutschen, italienischen, rumänischen, unga
rischen und finnischen faschistischen Übeltäter, die der Tötung und
Mißhandlung der Zivilbevölkerung und gefangener Rotarmisten
überführt sind, und die Spione und Verräter der Heimat unter den
sowjetischen Bürgern mit dem Tod durch Erhängen bestraft werden.
[...]
3. Die Untersuchung der Fälle der faschistischen Übeltäter, die sich
Ausschreitungen gegenüber der friedlichen sowjetischen Bevölke
rung und den gefangenen Rotarmisten haben zuschulden kommen
lassen, [...] den Feldgerichten zu übertragen, die bei den Divisionen
der Fronttruppen zu bilden sind und denen angehören: der Vertreter

551
des Militärtribunals der Division (Vorsitzender des Gerichts), der
Leiter der Sonderabteilungder Division und der Vertreter des Kom
mandeurs der Division der politischen Abteilung (Mitglieder des
Gerichts) unter Beteiligung des Staatsanwalts der Division.«1

Die Vollstreckung der Todesurteile erfolgte aufgrund des Dekrets


öffentlich. Nach einer Meldungder Belorussischen Nachrichtenagentur
»BelTa« sollen am 30.Januar 1946mehr als hunderttausend Menschen in
der Rennbahn der Stadt Minsk der Vollstreckung der Todesurteile gegen
vierzehn der Angeklagtenbeigewohnt haben. Das Dekret hatte 1943 mit
dieserVorschrift politische,propagandistische und psychologische Wir
kungen bezweckt und nicht zuletzt die Operationen der Partisanen
gruppen unterstützen sollen. Daher ist es auffallend, daß die Partisanen
mit keinem Wort erwähnt worden sind. Als Opfer deutscher »Strafak
tionen« wurden lediglich wehrlosesowjetische Bürgerund Kriegsgefan
gene genannt, während die deutsche Seite prinzipiell von Partisanen
gleichBanditen und Partisanenverdächtigengesprochen hat.2
Zum ersten aufgrund des Dekrets durchgeführten Prozeß, der vom
15. bis 18. Dezember 1943 in Charkow stattfand, wurde die in Moskau
akkreditierte Presse eingeladen. Das Sitzungsprotokoll wurde in mehre
ren Sprachenveröffentlichtund ein Film den anderenAlliiertenzur Ver
fügung gestellt, auch der Minsker Prozeß wurde in einem Film doku
mentiert. »Tass« und »Prawda« veröffentlichten zwischen Dezember
1945 und Februar 1946etwa zwanzig Berichte über die Prozesse. Für die
sowjetische Führung hatten diese beinahe zeitgleich mit den Nürnber
ger Hauptkriegsverbrecherprozessen stattfindenden Verfahren eine
innen- wie außenpolitische Dimension. Aufgrund dieses Aufwandes in
den Medien boten sie wohl die wirksamste Möglichkeit, das nationale
und internationale Publikum über die Methoden der deutschen Krieg
führung zu informieren.
Das Prozeßmaterial provoziert angesichts der genannten politischen
Rahmenbedingungen die Frage nach der Objektivität der Urteilsfin-
dung. Sicherlich ist der deutsche Betrachter am ehesten geneigt, diesen
Prozessen eine solche Qualität abzusprechen. Hier soll der Frage am
Beispiel des Minsker Verfahrens nachgegangen werden. Das Protokoll
der Hauptverhandlung erschien 1947 in Minsk als Buch.3
Wie in den meisten Kriegsverbrecherprozessen spielte auch in Minsk
die Frage des Handelns auf Befehl einewichtigeRolle. Es ist daher not
wendig, einenBlickauf die Befehlslage für den Krieg gegen die Sowjet
union im ganzen zu werfen. Sie bestimmte das Verhalten von Wehr-

552
macht, SS, SD, Sipo und Ordnungspolizei und war die Grundlage für
den Partisanenkampf, die Ausplünderung des Landes, die Ermordung
und Deportationvon Männern und Frauen, dieBehandlung der Kriegs
gefangenen sowie die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Eine
andere Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit der im Prozeß erhobenen
Vorwürfe zu prüfen, bietendie vom Gerichtaufgrund des Ermittlungs
verfahrens zugrundegelegten Zahlen der Opfer deutscher Maßnahmen
und Strafaktionen. Sie können den Zahlengegenübergestellt werden, die
aus deutschen Dokumenten bekannt sind.
Das Gericht hielt für die gesamte Zeit der deutschen Okkupation
Belorußlands folgende Zahlen für festgestellt:
- getötet (erschossen, erhängt, verbrannt, erstickt in Gaswagen, durch
Hunger, Krankheit und Kälte in Lagern) 2200000 Menschen;
-deportiert 380000 Menschen, von denen viele infolge unerträglicher
Bedingungenums Leben kamen.
Deutsche Unterlagen lassen Rückschlüsse aus den Opferzahlen für
die gesamte Sowjetunion auf den Anteil der Opfer in Weißrußland zu,
wobei zu bedenken ist, daß im waldreichen rückwärtigen Gebiet der
Heeresgruppe Mitte der Partisanenkriegund sogenannte Strafaktionen4
gegen Dörfer besonders rücksichtslos durchgeführt worden sind.
Für den Zeitraumvom Angriffauf die Sowjetunion 1941 bis Februar
1942 wurde errechnet, daß nahezu sechzig Prozent der Kriegsgefange
nen starben, das heißt circa zwei von 3,35 Millionen Menschen.5 Hohe
Gefangenenzahlen entfielen nach den Kesselschlachten bei Wjasma und
Brjansk schon seit Septemberauf die Heeresgruppe Mitte. Die monatli
che Sterbequote erreichte fünfzehn bis zwanzig Prozent. Aber schon
vorher im August und September wurden in den Lagerndes rückwärti
gen Heeresgebietes Mitte Sterbequoten von fast zehn Prozent pro
Monat erreicht. Im Oktober und November stieg sie sprunghaft auf
circa 40 Prozent an, für Dezember ging sie zurück. Laut einer Aufstel
lung des Generalquartiermeisters vom 28. Januar 1942 mit dem Titel
»Kriegsgefangenenlage im Operationsgebiet«6 starben im Dezember
1941 im Bereich der Heeresgruppe Mitte 64 165, im Januar 1942 44752
Gefangene. Schon im Juli 1941 hatte Ministerialrat Dorsch von der
Organisation Todt über das von der 4. Armee in Minsk errichtete Lager
für 100000 Kriegsgefangene und 40000 Zivilgefangene berichtet. Auf
engstem Raum waren diese Menschen zusammengepfercht, gezwungen,
ihre Notdurft zu verrichten, wo sie gerade standen. Die Bewachungdes
Lagers sei, so der Bericht, nur möglich »unter Anwendung brutalster
Gewalt«.7

553
Im Jahre 1942 setzte sich die Entwicklung fort. Im August wurde im
OKH-Bereich von über 65 000 »sonstigen Abgängen« gesprochen, was
der durchschnittlichen Todesquote entsprechen dürfte,8 und für dieZeit
von Oktober 1942 bis Dezember 1943 wurden für den OKW-Bereich
250000 bis 300000 Tote angenommen. Derartig große Zahlen belegen
eine nachhaltig fortwirkende Vernichtungstendenz, obwohl Hitler im
Oktober 1942 befohlen hatte, für die Bedürfnisse der Kriegswirtschaft
vermehrt sowjetische Kriegsgefangene »freizumachen« und russische
Zivilistenals Hilfswillige bei den Truppenverbänden einzusetzen. Es ist
davon auszugehen, daß im ganzen von den weit über fünf Millionen
sowjetischen Kriegsgefangenen mehr als drei Millionen in deutschem
Gewahrsamstarben, entweder bei Tötungsaktionen oder infolgeUnter
ernährung, Krankheit und Kälte.
Eine besondere Bedeutung im Prozeß der Vernichtunggewannender
sogenannte Bandenkampf und die Mordaktionen gegen die jüdische
Bevölkerung. Die vom SD organisiertenJudenmassakerin Weißrußland
sind nur lückenhaft dokumentiert. Vielfach fehlen auch Zahlen über die
Aktionen, die von den höheren SS- und Polizeiführern (HSSPF) ange
ordnet worden sind. Häufig handelte es sich um kombinierte Aktionen
von Sonderkommandos und Polizeieinheiten wie der in Slonim im Juli
1941. Über diesen Einsatz meldete Einsatzgruppe B aus Orscha, daßim
Zusammenwirken mit der Ordnungspolizei eine »Großaktion gegen
Juden und andere kommunistisch belastete Elemente« durchgeführt
worden sei, bei der 2000 Personen festgenommen und noch am selben
Tag 1075 liquidiert worden seien. Und in Minsk, hieß es, »ist nunmehr
die gesamte jüdische Intelligenzschicht (Lehrer, Professoren, Rechtsan
wälte usw. mit Ausnahme der Mediziner) liquidiert worden«.9 Auch die
von Heerestruppen verübten Liquidierungen im sogenannten Banden
kampf sind nicht vollständig erfaßt worden. Es existieren jedoch auf
grund verschiedener statistischer Unterlagen Berechnungsmöglichkei
ten für wahrscheinliche Zahlen.10 Es wird davon auszugehen sein, daß
der Holocaust in der Sowjetunion 650000 bis 800000 Menschen das
Leben kostete. Umfangreiche Berechnungen und Vergleiche ermittelten
eine Zahl zwischen 100 000 und 200000 weiteren Opfern, die nicht
unmittelbar den Vernichtungsaktionen anheimfielen. In Weißrußland
starb ein erheblicher Teil der Opfer. Sowurden bis zum 8. August 1942
allein im Gebiet des Hauptkommissariats Baranowice 95000 Juden
umgebracht, wie eine Meldung an den Generalkommissarvon Weißruß
land, Kube, vom 27. August 1942 besagt.11 Mehrere tausend Juden wur
den Ende 1942 vom HSSPFin Weißrußland, von Gottberg, liquidiert. In

554
der Gegend um Wiljeka, nordwestlich Minsk, wurden im März 1942
Massenerschießungen durchgeführt, gefolgt von ähnlichen Aktionen
Ende Juli 1942. Nach einer Meldung Kubes sollen Heereseinheiten bei
Glubokoje um diese Zeit etwa 10000 Juden erschossen haben. Für die
Zeit vom 11. Oktober bis 10. November 1941 meldete der Monatsbe
richt des »Kommandanten in Weißruthenien des Wehrmachtbefehlsha
bers Ostland« unter dem Stichwort »Kampfhandlungen und Partisa
nen«: »Gesamtzahlder Gefangenen: 10940,davon 10431 erschossen« -
bei eigenen Verlusten von zwei Toten und fünf Verwundeten. Über die
politische Einstellung des Kommandanten in Weißruthenien gibt seine
Begründung für dieses Judenmassaker Auskunft: »Da sie nach wie vor
mit den Kommunisten und Partisanen gemeinsame Sache machen,wird
die restlose Ausmerzung dieses volksfremden Elements durchgeführt.
Die bisher durchgeführten Aktionen fanden im Osten des Bereichs statt,
im alten sowjetischen Grenzgebiet und an der Bahnstrecke Minsk-
Brest-Litowsk.«12
Berücksichtigtman die großen Opfer der Zivilbevölkerung, das Mas
sensterben in zahlreichen Lagern, so wird eine Größenordnung der
Gesamtbilanz sichtbar, die nicht weit von den Feststellungen des Mins
ker Militärgerichts entfernt ist. Diese Feststellung besagt zwar noch
nichts für die Zurechenbarkeit im Hinblick auf die achtzehn Angeklag
ten, ist aber relevantfür die Einschätzung der politischen und psycholo
gischenProzeßatmosphäre.
Eine Bewertung der politischen und psychischen Befindlichkeit der
Täter wird nicht ohne Berücksichtigung der allgemeinen Befehlslage
auskommen. Gemeint ist hiermit die politische und militärischeGrund
lage für einzelne Befehle, Aktionen,für die Gefangenenbehandlung, den
Ernährungssektor und die Methoden der Beschaffung von Zwangs
arbeitern. Eine nähere Betrachtung der einzelnen Vorwürfe im Prozeß
vermag auf dieser Grundlage möglicherweise zu klären, ob Handeln
auf Befehl oder aufgrund eigener Initiative angenommen werden konn
te.

An dieser Stelle können nur die wichtigsten Befehle und Anordnun


gen berücksichtigt werden, die für das Handeln der in Minsk Verurteil
ten von Belangwaren. An erster Stelle ist der »Erlaß über die Ausübung
der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet >Barbarossa< und über besondere
Maßnahmen der Truppe« vom 13. Mai 1941 zu nennen.13 Dieser Erlaß
enthielt wesentliche Vorschriften für die Behandlung der Zivilbevölke
rung und für die Beurteilung von Straftaten deutscher Soldaten. Hin
sichtlich der Sowjetbürger war die Gerichtsbarkeit hier grundsätzlich

555
ausgeschlossen. Ausdrücklich verboten war,Verdächtige zu verwahren.
Diesenvölkerrechtswidrigen Anordnungenentsprachen die Richtlinien
für die Behandlungvon Straftatendeutscher Soldaten. Sie durften selbst
bei Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung nicht vor Gericht gestellt
werden, es sei denn, die »Aufrechterhaltung der Manneszucht oder die
Sicherungder Truppe erforderte« es.
Zusammen mit der Propagandaversion vom jüdischen Bolschewis
mus hat dieser Erlaß dahin gewirkt, die moralischen Hemmschwellen
bei Partisaneneinsätzen, Aktionen gegen Juden und »Strafaktionen«
gegen die Bevölkerung herabzusetzen. Hierher gehört auch der Erlaß
des Chefs OKW über die Bekämpfung kommunistischer Aufstandsbe
wegungen vom 16. September 1941,14 der davon ausging, daß bei »jedem
Vorfall der Auflehnung gegen die deutsche Besatzungsmacht« auf kom
munistische Ursprünge zu schließen sei. Für »eindeutsches Soldatenle
ben« forderte das OKW im allgemeinen die Todesstrafe für fünfzig bis
hundert Kommunisten. Die Art der Vollstreckung müsse die ab
schreckende Wirkung noch erhöhen.
Der »Normalfall« bei der Anwendung dieses Erlasses waren
Erschießungsaktionen durch die Truppe. Den Soldaten ist wiederholt
der kommunistische Feind als unmenschlicher, hinterhältiger, haßerfüll
ter Typus hingestelltworden, besondersder »jüdische Bolschewist«. Die
Wehrmachtspropaganda-Abteilung (WPr) zielte mit ihren Elaboraten
ebenfalls in diese Richtung und bauteso beivielen Soldaten einentspre
chendes Feindbild auf. Zwar ist kaum feststellbar, wie viele Soldaten
davon erreicht worden sind, gleichwohl muß an diese Vergiftung des
Denkens und Fühlens erinnert werden. Schon im Heft Nr. 116 der »Mit
teilungen für die Truppe« (Juni/Juli 1941) wurde in dem Artikel »Ret
tung aus schwerer Gefahr« ausgeführt:15

»Was Bolschewiken sind, das weiß jeder,der einmaleinen Blickin das


Gesichteines dieserRoten Kommissare geworfen hat. Hier sind keine
theoretischen Erörterungen mehrnötig. Eshieße dieTiere beleidigen,
wollte man die Züge dieser zu einem hohen Prozentsatz jüdischen
Menschenkinder tierisch nennen. Sie sind die Verkörperung des
Infernalischen, Persongewordener wahnsinniger Haß gegen alles edle
Menschentum. In der Gestalt dieser Kommissare erleben wir den
Aufstand des Untermenschen gegenedles Blut.«

Frontbefehlshaber wie Generalfeldmarschall von Reichenau in seinem


Befehl vom 10. Oktober forderten von ihren Soldaten Verständnis »für

556
die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen
Untermenschentum«.16 Beispiele wiediese zeigen, daß dieWehrmachts
und Heeresführung große Verantwortung für die Konditionierung der
Soldaten zum »Kämpfer« im verbrecherischen Krieg trug. Dem Gegner
war schon vor dem Angriff ein in der europäischenGeschichte der ver
gangenenJahrhunderte nicht denkbares Schicksal zugedacht.
Es muß in diesemZusammenhangan die Richtlinien für die Behand
lung der sowjetischen Kriegsgefangenen erinnert werden. Am 8. Sep
tember 1941 erging eine verschärfte Anordnung des OKW zur Behand
lung sowjetischer Kriegsgefangener in allen Kriegsgefangenenlagern.17
Hier wurde bestimmt, daß rücksichtsloses Durchgreifen bei den gering
sten Anzeichen von Widersetzlichkeit zu befehlen sei. Auf flüchtige
Gefangene war sofort ohne vorherigen Haltruf zu schießen. Besondere
Bestimmungen sahen die »Aussonderung« von Gefangenen wegenihrer
politischen Einstellung vor. Grundsätzlich oblag dies den Sonderkom
mandos der Sicherheitspolizei und des SD. Aus diesem Grund wurde
den Lagerkommandanten und den Abwehroffizieren »engste Zusam
menarbeit« mit diesen Kommandos zur Pflicht gemacht. Über die als
»politisch unerwünschte Elemente« Ausgesonderten entschied das
jeweilige Sonderkommando. Erläuternd hieß es: »Offiziere werden
vielfach als >politisch Unerwünschte< der Aussonderung unterliegen.«
Heydrich hatte schon am 18.Juli 1941 mit seinem Einsatzbefehl Nr. 8
angeordnet, alle Juden auszusondern, ohne daß ihnen eine beson
dere Tätigkeit oder Gefährlichkeit nachzuweisen war. Mit dem Befehl
vom 7. Oktober ging das OKH auf diesem Weg mit18 und sahvor, daß
die Aussonderungen »möglichst unauffällig vorgenommen und die
Liquidierungen ohne Verzug weit abseits von den Durchgangslagern
und von Ortschaften durchgeführt« und überdies »den sonstigen
Kriegsgefangenen und der Bevölkerungnicht bekannt« werden sollten.
Damit unterlagen nunmehr die bisher vom Generalquartiermeister für
den Arbeitseinsatz reklamierten Juden ebenfalls dem Zugriff der Mord
kommandos. Heydrichs verschärfte Richtlinien für die Aussonderung
verdächtigersowjetischer Kriegsgefangener im rückwärtigen Heeresge
biet vom 29. Oktober 194119 sind als wichtiges Resultat enger Zusam
menarbeit mit dem OKH anzusehen.
Im Minsker Prozeß war die Verantwortung für die durch Hunger ver
ursachte hohe Sterblichkeit Verhandlungsgegenstand. Die Beschlagnah
me von Lebensmittelvorräten, die Hungerrationen in Lagern, Bestra
fungen wegen Nichteinhaltung von Ablieferungssolls gehörten zu den
Anklagepunkten.

557
Für die Beurteilung der Handlungsweise und Möglichkeiten der in
solchen Verantwortungsbereichen tätigen Angeklagten sind die gene
relle Versorgungslage und die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingun
gen von Belang. Die äußerst rigorose Ausbeutungspolitik im Osten ist
von langer Hand vorbereitet worden. Eine wichtigeFormel für die öko
nomischen Ziele im Osten ist auf einerBesprechung der Staatssekretäre
am 2. Mai 1941 zu Papier gebracht worden. In der Aktennotiz über das
Ergebnis dieser Besprechung steht: »Der Krieg ist nur weiterzuführen,
wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjähr aus Rußland ernährt
wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern,
wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt
wird.«20 In Allgemeinen wirtschaftspolitischen Richtlinien für die
»Gruppe Landwirtschaft« der Wirtschaftsorganisation Ost vom 23. Mai
194121 heißt esprogrammatisch,der russischeEigenbedarfmüsseso her
abgedrückt werden, daß die notwendigen Ausfuhrüberschüsse erzielt
werden könnten. Daß hierdurch die »Waldzone«, zu der insbesondere
Weißrußland gehörte, besonders betroffen sein würde, war einkalku
liert. Es hieß hierzu:

»Die Bevölkerung der Waldzone wird, insbesondere in den Städten,


größteHungersnot leidenmüssen. [...] Versuche, dieBevölkerung vor
dem Hungertode dadurch zu retten, daß man aus der Schwarzerde
zone Überschüsse heranzieht, gehen nur auf Kosten Europas und
unterbinden die Durchhaltemöglichkeit und Blockadefestigkeit
Deutschlands im Kriege. Hierüber muß absolute Klarheit herrschen.«

Staatssekretär Backe vom Reichsministerium für Ernährung und Land


wirtschaftstellte am 1.Juni 1941 zwölf Gebote an dievorgesehenen Mit
arbeiter im Osten auf,22 in welchen es abschließend hieß, Armut und
Hunger ertrüge der russische Mensch seit Jahrhunderten. FalschesMit
leid sei fehl am Platze. Die Ostgebiete, so Göring im November 1941,
sollten nach kolonialen Methodenwirtschaftlich ausgenutztwerden.23
Die Militärs aber hatten bei aller Unterstützung der ökonomischen
Ziele im Osten ihre eigenen Probleme. Sie wurden auf höchster Ebene
auf einer Besprechung der Chefs der Generalstäbe der Heeresgruppen
und Armeen beim Chef des Generalstabes des Heeres am 13. November
1941 in Orscha artikuliert. Der Chef der Heeresgruppe Mitte warf die
Frage der Ernährung der Kriegsgefangenen auf, die in großem Umfang
»der Erschöpfung anheimfielen«.24 Generalquartiermeister General
Wagner erklärtedazu lapidar: »Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den

558
Gefangenenlagern haben zu verhungern. Arbeitende Kriegsgefangene
können im Einzelfalle auch aus Heeresbeständen ernährt werden.
Generell kann auchdasangesichts der allgemeinen Ernährungslage nicht
befohlen werden.«25 Die Winterbevorratung war mißlungen. Was
die Planer der ökonomischen Ausbeutung vor dem Angriff gegen
die Sowjetunion einkalkuliert hatten, zeigte sich jetzt als Realität,
die auch die eigene Versorgungssituation in hohem Maße beeinträch
tigte.
Im Rahmen dieser hier lediglich angerissenen Befehlslage und der
ökonomischen Gegebenheiten agierten die Angeklagten. Im Prozeß
wurde daher von den Verteidigern der Versuch gemacht, zu unterschei
den zwischen Handeln auf Befehlund Handeln aufgrund eigener Initia
tive, sowie zwischen dem Grad der Verantwortlichkeit bei denen »da
oben« und bei niederen Dienstgraden.
Im Verfahren wurden die Prinzipien der Mündlichkeit und Öffent
lichkeit beachtet. Die Angeklagten hatten die Wahl zwischen gestellten
Verteidigern oder der persönlichen Wahrnehmung des Rechts auf Ver
teidigung. Das mir vorliegende Prozeßmaterial enthält keinen Hinweis
darauf, ob einzelne Angeklagte Aussagen oder Geständnisse aus der
Voruntersuchung widerriefen. In der Hauptverhandlung bekannten sie
sichin nahezusämtlichen Anklagepunkten schuldig. Rechtsmittel gegen
das Urteil waren nicht möglich.
Im einzelnen scheinen mir folgende Hinweise für eine Gesamt
würdigung des Minsker Verfahrens von Bedeutung zu sein: Es bot
theoretisch mehr Rechtsgarantien als in der deutschen Kriegsstrafver
fahrensordnung (KStVo) vorgesehen waren. Vor deutschen Militär
gerichten trat häufig ein Verteidiger gar nicht in Erscheinung. Für den
Krieg im Osten wurden die Heeresrichter dahingehend instruiert, daß
in »Zweifelsfällen über Todesstrafe« häufig ein Verdacht genügen
müsse.26
Als Frage stellt sich, welche Konsequenzen die Doppelnatur des
Minsker Verfahrens als politisches und juristisches Instrument für
die Angeklagten hatte. Auffällig ist ja, daß von vier Angeklagten mit
Mannschaftsdienstgrad drei nicht zum Tode, sondern zu fünfzehn bzw.
zwanzigjähriger »Verbannung zu Zwangsarbeiten« verurteilt würden,
obwohl das Gericht für festgestellt erachtet hatte, daß alle Angeklag
ten »aktive Teilnehmer der von deutschen Eindringlingen auf dem
Territorium der Belorussischen SSR verübten Greueltaten« gewesen
seien. Bei genauerer Prüfung stellt sich indessen heraus, daß Dienst
rang und Dienststellung der Angeklagten, ja selbst die Zugehörigkeit

559
zu Heeres-, SS- oder Polizeieinheiten nichtallein für dieStrafzumessung
wichtigwaren. Zu den Angeklagten gehörten:

- Johann Georg Richert, Kommandeur der 286. Sicherungs-Division;


Generalleutnant des Heeres, Jg. 1890;
- Eberhard Herf, Chef der Ordnungspolizei und StellvertretenderChef
desGeneralstabes derBandenkampfverbände, Generalmajor der Poli
zei und SS-Brigadeführer, Jg. 1887;
- GottfriedHeinrich von Erdmannsdorff, Kommandant von Mogilew,
Generalmajor des Heeres, Jg. 1893;
- GeorgRobertWeißig, Kommandeur des 26. Pol.-Regiments, Oberst
leutnant der Polizei,Jg. 1896;
- Ernst August Falk, Bataillonskommandeur im 26. Pol.-Regiment,
Hauptmann der Polizei,Jg. 1917;
- Reinhard Georg Moll, Kommandant von Bobruisk und Paritschi,
Major des Heeres,Jg. 1891;
- Carl Max Langguth, Stellvertretender Kommandant desKriegsgefan
genenlagers in Bobruisk, Hauptmann des Heeres (ehemaliger Gesta
pobeamter), Jg. 1898;
- Hans Hermann Koch, Chef der Sipo in Orel, Orscha, Borissow und
Slonim, SS-Obersturmführer und Gestapo-Kommissar; Jg. 1914;
- Rolf Oskar Burchard, Sonderführer in der Kommandantur Bobruisk,
Jg- 1907;
- August Josef Bittner, Sonderführer und Chef der landwirtschaftlichen
Kommandantur Bobruisk, im Rang eines Leutnants, Jg. 1894;
- Bruno Max Götze, Stellvertretender Kommandant von Bobruisk,
Hauptmann des Heeres,Jg. 1898;
- Paul Karl Eick, Stellvertretender Kommandant in Orscha, Haupt
mann des Heeres,Jg. 1897;
- Bruno Franz Mittmann, Wachtmeister der Gendarmerie in Minsk,
Jg. 1901;
- Franz Hess, Unterscharführer der SS im 32.Sonderkommando des SD
in Minsk, Jg. 1909;
- Heinz Johann Fischer, 8. SS-Kavallerie-Division »Totenkopf«, im
Rang eines Gefreiten, Jg. 1923;
- HansJosefHöchtl,718. Ausbildungsfeldregiment, Gefreiter, Jg. 1924;
- Alois Kilian Hetterich, 595. Infanterie-Regiment, Gefreiter, Jg. 1924;
- Albert Johann Rodenbusch, 635. Ausbildungsregiment, Soldat, Jg.
1915.

560
Zu zeitigenZwangsarbeitsstrafenwurden die Soldaten Hetterich, Höchtl
und Rodenbusch sowie der Stellvertretende Kommandant von Bobruisk,
Hauptmann Götze, verurteilt. Alle übrigen Urteile lauteten auf Todes
strafe.
Einen besonderen Einblick in die Rechtsauffassung des Gerichts bie
ten die Urteilsgründe des Götze-Urteils. Der Staatsanwalt hatte ihn für
die Aussiedlung und Ausplünderung von ioooo Bürgern der Stadt Bo
bruisk verantwortlich gemachtsowie für die Sanktionierungvon Urtei
len, die zur Verschleppung in die deutsche Sklaverei geführt hatten.
Götze bekannte sich nach Verlesung der deutschen Übersetzung der
Anklageschrift für schuldig. In der Hauptverhandlung hatte die Ankla
ge (Generalmajor der Justiz Jatschenin und Oberst der Justiz Polechin)
ferner vorgetragen, Götze habe während zweimaliger Vertretung des
Stadtkommandanten Polizeiaktionen befohlen, bei denen Partisanen
erschossenund Verwundeteermordet worden seien. Verteidiger Gawri-
low argumentierte aufgrund der Beweislage, die Anklage habe die
Schuld und Motive Götzes nicht deutlich machen können. Obwohl er
Verbrechen begangen habe, klebe kein Blut an seinen Händen. Das
Gericht schloß sich dieser Auffassung an, hielt allein die Expropriierung
von ioooo Menschen für erwiesen und ging davon aus, daß die Polizei
aktionen unter dem Vorwand der Partisanenbekämpfung zur Ausplün
derung friedlicherBürger geführt hatten. Der Mordvorwurf wurde nicht
zur Grundlage des Urteils.
Auf einer anderen Argumentationsebene kamen die drei Urteile gegen
die Soldaten Höchtl, Hetterich und Rodenbusch zustande, obwohl
ihnen die Teilnahme an Erschießungsaktionen ihrer Einheiten nachge
wiesen worden war, teils sogar an Erschießungenvon Kriegsgefangenen
und Halbwüchsigen. Den Grund für diese Nachsicht zeigt der Vergleich
mit dem Todesurteil gegen den SS-Gefreiten Fischer. Ihm wurden die
Ermordung eines siebzehnjährigen Mädchens und eines Mannes auf
eigene Initiative nachgewiesen. Die drei anderen Soldaten hatten dage
gen auf Befehl im Rahmen eines Einsatzes »mitgemacht«. Obwohl der
Grundsatz betont wurde, daß verbrecherisches Handeln »auf Befehl«
nicht entschuldige, führte dieser Gesichtspunkt bei den Soldaten zur
Milderung des Urteils, wozu der Wortlaut des Dekrets des Obersten
Sowjetsder UdSSRvom 19.April 1943 nicht einmal eine Handhabe bot.
Das Gericht schloßsich hier wiederum der Auffassung desVerteidigers
Tatarinzew und anderer an, der ausgeführt hatte, die jungen Soldaten
hätten nicht aus Haß und Blutgier getötet. Es habe einen »Automatis
mus« des Gehorsams gegeben. Nach Herkunft, Dienstrang und kultu-

561
rellem Niveau seien die jungen Arbeitersöhne nicht imstande gewesen,
dem Druck »der unerbittlichen Disziplin« auszuweichen. Zwei der Sol
daten, wegen unerlaubter Entfernung verurteilt, seien zudem nicht als
»einwandfreie Soldaten der faschistischen Truppen« anzusehen. Das
Prozeßmaterial enthält keinen Hinweis auf Vorkommnisse der Art, wie
sie vom Reserve-Polizeibataillon 101 bekanntgeworden sind,27 wo
Major Trapp Untergebene von der Mitwirkung an mörderischen Aktio
nen zu entbinden bereit war, wenn sie sich der Aufgabe »nicht gewach
sen fühlten«. Das mußte den Männern das Gefühl der unbedingten Ver
bindlichkeit von derartigen Befehlen nehmen und ihre persönliche
Verantwortung unbezweifelbar machen. Andererseits zeigen Gegen
beispiele den Vorgesetztentyp, der seine Männer unter Druck setzte.
Es ist im Verfahren gegen Generalleutnant Richert und andere Offi
ziere durchaus seitens der Verteidigung zu Richtigstellungen einzelner
Behauptungen der Anklagevertreter gekommen. Laut Anklage sollen
auf Richerts Befehl unter anderem neunhundert verhaftete Zivilisten
erschossenworden sein. Die Verteidigung erklärte, sich an die Aussagen
Richerts haltend,er habe neunhundertTodesurteile bestätigt. Der Kom
mandeur der 286. Sicherungs-Division habe sich dabei an die Befehlezur
Behandlung von Partisanen oder Verdächtigen gehalten. Auch in ande
ren Fällen habe er nicht umhingekonnt, Befehle zu respektieren. Das
Kommando über die Sicherungs-Division sei ihm eine Last gewesen,
weshalb er wiederholt um Versetzung nachgesucht habe. Zwar müsse
Richert die Verantwortung für die Folgen seines Handelns tragen, aber
angesichts der Tatsache, daß er keine persönlicheverbrecherische Initia
tive gezeigthabe, hielt der Verteidiger es für möglich, bei der Urteilsfäl
lung Nachsicht walten zu lassen. Das Gericht folgte jedoch der Darstel
lung der Anklage. Es ließ sich nicht auf die Problematik der Befehlslage
ein. Richert war aufgrund allein der von ihm eingeräumten Aktionen
und Befehle kein Fall für eine milde Beurteilung. Immerhin hatte er
zugegeben, daß hundert Menschen ohne Urteil auf seinen Befehl
erschossen worden waren. Bei den neunhundert »sanktionierten«
Todesurteilen hatte es sich in Wirklichkeitum die Billigung von Exeku
tionsvorschlägen der Geheimen Feldpolizei gehandelt, mithin eindeutig
nicht um »gerichtsherrliches« Handeln. Das Gericht sah im gesamten
Vorgehen Richerts die Taten eines »Organisators von Massenvernich
tungen« und legte damit einequalitativ andereBewertung als die Vertei
digung zugrunde.
Generalmajor von Erdmannsdorff sah sich als Kommandant des Ge
bietes Mogilew zahlreichen Befehlen für die Behandlung der Bevölke-

562
rung und den Kampfgegen Partisanengegenüber. In seinemSchlußwort
führte er aus, er habe alles erzählt. Der Krieggegen die Sowjetunion sei
ein Verbrechen gewesen. Er habe nicht gegen den deutschen Staat auf
treten können wie andere Deutsche und deshalb die verbrecherischen
Befehle ausgeführt. SeinVerteidiger gab sich alleMühe, Gesichtspunkte
für eine objektive Wertung zusammenzutragen. Gegen die Ausführun
gen des Staatsanwalts betonte er, daß der Angeklagte in vollem Umfang
geständiggewesen seiund brachte den Ankläger zu der Bemerkung: »Es
ist schwer, in deutscher Seele zu wühlen.« Für den Verteidigerstand fest:
Die Hauptverantwortung für Verbrechenin Mogilewtrugen die OB der
Heeresgruppe Mitte und der 4. Armee, Generalfeldmarschall Buschund
Generaloberst Heinrici. Vorwürfe gegen von Erdmannsdorff betrafen
unter anderem die Deportation von ioooo Menschen, die Zerstörung
von Dörfern, Schulen und Kirchen, die Erschießungen von Arbeitsun
fähigen während des Baus von Befestigungsanlagen, die Benutzung von
Menschen als lebendiges Hindernis gegen Angriffe der Roten Armee
und die Organisation von drei blutigen Strafaktionen gegen friedliche
Bürger »unter dem Deckmantel der Partisanenbekämpfung«, die Ein
richtung von Lagern, in denen vieleMenschen umkamen.
Die Verteidigung konnte sich nicht mit dem Hinweis durchsetzen,
daß von Erdmannsdorff die »Schutzzone« Mogilew und das Lager am
linken Dnjepr-Ufer nicht eingerichtet habe. Sie hielt diese Vorwürfe
nicht für erwiesen, so daß davon auszugehen ist, daß das Gericht in die
sen Punkten den Grundsatz »In dubio pro reo« nicht gelten ließ.
Die Zustände im Kriegsgefangenenlager Nr. 131 in Bobruisk suchte
das Verfahren gegenden Stellvertretenden LagerkommandantenHaupt
mann Langguth zu klären. Dem Verteidiger fiel es schwer, seineAufga
be wahrzunehmen. Er wollte den Gesichtspunkt des Handelns auf
Befehlnicht gelten lassen, und in der Tat war dem Angeklagtenschwer
lich zu folgen. Das Lager war mit 30000 Gefangenen völlig überbelegt.
Tausende starben an Unterernährung und Krankheiten, im Winter
1941/42 zwischen 28000 und 30000 Menschen. Für diese Zustände war
Langguth nicht verantwortlich. Er konnte sie nicht ändern. Der zentra
le Vorwurf betraf einen Vorgangvom 7. November 1941. An diesem Tag
wurden im Lager annähernd 4000 Gefangene erschossen. Der Hergang
wurde geklärt. Undeutlich blieb, ob hierzu ein Befehl »von oben« vor
lag. Langguth behauptete, der Lagerkommandant habe ihm gesagt, vom
OKW sei die Anweisung gekommen, Gefangene zu erschießen. Was
dann geschah, stellte noch sämtliche Befehle über Gefangenenbehand
lung und Aussonderung in den Schatten. Im Lager befand sich ein

563
Gebäude, das mit Tausenden Gefangenen belegt war. Dieses Gebäude
solltein Brand gesetztwerden. Langguth zeigte dem Brandtruppführer
die für die Brandlegung geeigneten Räumlichkeiten. Am Tag vor dem
Brand wurden Zündstoffe auf den Dachboden gebracht. Auf allen Sei
ten waren Maschinengewehre postiert. Ein Sonderkommando schoß
nach der Inbrandsetzung auf die Herauslaufenden. Dabei wurden die
circa 4000 Gefangenen getötet - zwecks »Verhinderung der Flucht«.
Ende 1941 wurde unter Leitung von Langguth ein Transport mit 5000
Gefangenen nach Minsk organisiert. Der Transport erreichte Minsk
nicht. Wegen der strengen Kälte überlebte auf den offenen Wagen nie
mand. Hier kann bezweifelt werden, ob Langguthdie Transportbedin
gungen zu verantworten hatte. Das Urteil rechnete die Gesamtsterbezif
fer des Lagers im Winter 1941/42 von circa30000 Gefangenen und auch
die Konsequenz des Transportes nach Minsk Langguth als strafrechtli
che Schuld an. Zweifelsfrei stellt sich dagegen seine Mitverantwortung
für die Erschießungsaktion vom 7. November 1941 dar. Langguth hat
nach eigener Aussage nicht überlegt, ob Befehleverbrecherisch waren.
Vielleicht trug Langguth ein ähnliches »ethisches Gepäck« mit sich
herum, wie esdieVerteidigung demPolizeihauptmann Falk bescheinig
te, beidemdieNS-Ideologie und Propaganda erreicht habe, wasgewollt
war: »Sie haben tatsächlich Mitleid und Mitgefühl bei den Deutschen
getötet.«
Der Prozeß in Minsk wirft viel Licht auf das »ethische Gepäck« der
Funktionäre, kleiner und großer, des Weltanschauungskrieges und auf
die Dimension der verübten Verbrechen. Er zeigt die Eingebundenheit
vieler einzelner in einen rigorosen Befehlsapparat. Dokumentiert ist die
Teilnahme von jungen SS-Unterführern an der Vergasung (Gaswagen)
Tausender jüdischer Opfer und die rücksichtslose Vorgehensweise eines
landwirtschaftlichen Sonderführers in Bobruisk, der Bauern, die das
Ablieferungssoll nicht erfüllten, deportieren ließ oder zur Exekution
abstellte. Dokumentiert sind Eigenmächtigkeit und GrausamkeitdesSD-
Chefs in Orel, Orscha, Borissow und Slonim, Koch, der ein Schreckens
regiment im Lager »Orechi« zu verantwortenhatte, sich in Wjasma und
Brjanskpersönlich an Erschießungen - unter den Opfern viele Kinder -
beteiligte und auchGaswagen einsetzte. Er seider Übermensch, den Hit
ler haben wollte, hatte der Ankläger angeführt. Das Gericht hat von
»deutschen Ungeheuern« gesprochen, gelegentlich Empörung und
Abscheu durchblicken lassen, eine Sprache benutzt, wiesieangesichts des
Prozeßgegenstandes verständlich gewesen ist. Insgesamt hat esaberdoch
juristischargumentiert. Beider ZuweisungpersönlicherSchuld ist esden

564
tatsächlichen Verhältnissen nicht immer auf den Grund gegangen: vor
allem dann, wenn »Rahmenbedingungen« von Verbrechen unmittelbar
der Verantwortung einzelner Angeklagter zugeordnet worden sind. In
derartigen Fällen beruhen die Urteile allerdings auch auf tatsächlichen
Feststellungen von Schuld bei einzelnen Delikten.
Im Jahre 1946 erlaubte der Informationsstand des Gerichts nicht
immer, zuverlässig zwischen befehlsgebundenem und eigenverant
wortlichem Handeln zu unterscheiden. Größere Klarheit wäre nicht
unbedingt den Angeklagten zugute gekommen. Als Beispiel sei die
Behauptung des Kommandeurs der 286. Sicherungs-Division erwähnt,
er habe nicht die »Verbrennung von Sowjetbürgern« während der
Aktion am Paliksee befohlen, hierfür trage SS-Obergruppenführer von
Gottberg die Verantwortung. Er habe Gottberg für die Aktion lediglich
zwei Bataillone zur Verfügung gestellt. Demgegenüber hatte der
Kommandeur der 207. Sicherungs-Division befohlen, daß Truppen
seiner Division nicht zu Aufgaben des SD eingesetzt werden dürften.
Jeder, der hiergegen verstoße, würde zur Rechenschaft gezogen wer
den.28
Der Prozeß hat die internationale Rechtsauffassung bestätigt, daß
Täterschaft und Mittäterschaft bei Verbrechen nicht wegen Befehlsge
bundenheit zur Straflosigkeitführen. Es ist daraufhinzuweisen, daß die
ser Grundsatz jahrzehntelang im deutschen Militärstrafrecht ebenfalls
anerkannt war. In der während des Zweiten Weltkrieges geltenden Fas
sung von § 47 des Militärstrafgesetzbuches (MStGB) hieß es:

»(1) Wird durch die Ausführung eines Befehls in Dienstsachen ein


Strafgesetz verletzt, so ist dafür der befehlende Vorgesetzte alleinver
antwortlich. Es trifft jedoch den gehorchenden Untergebenen die
Strafe des Teilnehmers:
1. wenn er den erteilten Befehl überschritten hat, oder
2. wenn ihm bekannt gewesenist, daß der Befehl des Vorgesetzten
eine Handlung betraf, welche ein allgemeines oder militärisches
Verbrechen oder Vergehen bezweckte.
(2) Ist die Schuld des Untergebenen gering, so kann von seiner Bestra
fung abgesehen werden.«

Hitler und die Wehrmachts- und Heeresführung stellten mit dem


Gerichtsbarkeitserlaß »Barbarossa« Verbrechen deutscher Soldaten in
der Sowjetunion generell straflos, sofern nicht eigene Belangegefährdet
wurden. Der »Oberste Gerichtsherr« Hitler setzte zwar §47 MStGB

565
nicht expressis verbisaußer Kraft, aber für den »rechtsfreien« Raum der
Sowjetunion lief es darauf hinaus.
Viele Soldaten und Offiziere mußten die Rechnung später bezahlen.
Der MinskerProzeß gehörtezu den Rechnungslegungen für verbreche
rische Befehle von Staat und Wehrmacht und für individuelles Handeln
im Rahmen des Unrechtssystems. Er bot den Angeklagten bessere ver
fahrensrechtliche Möglichkeiten, als russischen Gefangenen vor deut
schenMilitärgerichten gewährtwurden, sofernmanihnen überhaupt ein
gerichtliches Verfahren zugestand. Der OB der Heeresgruppe Mitte
hatte befohlen, im Kampf gefangene »Banditen« »in der Regel« nach
kurzem Verhör zu erschießen,29 obwohl die deutsche Seite sich darüber
klar war, daß die Führung des Partisanenkrieges bei der Roten Armee
lag, ja, wie die Abteilung Fremde Heere (Ost) des OKH formulierte:
»[...] daß der Bandenkrieg als ein wichtiges, straff geführtes Kriegsmit
tel der Roten Armee« anzusehen sei. Der Partisan werde seit der Befehls
übernahme durch Marschall Woroschilow »Soldat der im Rücken des
Feindes befindlichen Roten Armee« genannt.30 Dessenungeachtet be
handelte das Heer Partisanen weiterhin nicht als Soldaten, sondern als
»Banditen«.
Bei einemVergleich mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen
fällt ins Auge, daß in Minsk nicht versucht werden konnte, sich damit
herauszureden, man habe nicht gewußt, was mit Gefangenen geschehen
sei,die ausgesondertworden waren, wie später der von einemdeutschen
Anwalt verteidigte General Röttiger, Chef des Stabes der 4. Armee,
behauptete. In Minsk waren die Angeklagtenzu dicht an den Orten des
Geschehens. Mit russischen Verteidigern konnten derartige Manöver
nichtversuchtwerden. Dennochwärediesowjetische Führung gut bera
ten gewesen, wie in Nürnberg deutsche Anwälte zuzulassen, um noch
eindeutiger zu zeigen, daß dieser Prozeß anders als deutsche Kriegsge
richtsverfahren gegen sowjetische Gefangene verfahrensrechtlich nicht
zu beanstanden war.
Wegen seiner verfahrensrechtlichen Qualität ist der Minsker Prozeß
nicht mit den Prozessen gegen Tausende deutscher Kriegsgefangener in
den Jahren 1949/50 vergleichbar. Diese Gefangenen wurden entgegen
alliierten Absprachen festgehalten und summarischen Verfahren unter
worfen. Häufig war hier der Ankläger zugleich Richter. Konstruierte
Schuldvorwürfe führten in vielen Fällen zu Urteilen über 25 Jahre
Zwangsarbeit. Es ist verständlich, daß der Mangel an Rechtmäßigkeit,
der diese Prozesse kennzeichnet, die Frage nach der Rehabilitierung
betroffener Kriegsgefangener aufwirft.31 Im Hinblick auf den Minsker

566
Prozeß isteine solche Überlegung hingegen völlig unangebracht. Es soll
te nicht versucht werden, die gravierenden Unterschiede zwischen die
sen Prozessen mit einer pauschalen Argumentation zu verwischen, die
letztlichdem revisionistischen Vorhaben einermöglichst summarischen
Entschuldung dient.

Anmerkungen

i Übersetzung dervom Präsidenten des Landgerichts München I bestellten Über


setzerin Ollich vom 14.4.1992.
2 Es existiertoffenbarein Zusammenhang zwischender Entdeckungder Massen
gräber der in Katyn ermordeten polnischen Offiziere, worüber Goebbels die
deutschen Medien in großerAufmachung am 13. April 1943 berichten ließ, und
dem Dekret des Obersten Sowjetvom 19.April 1943.
3 Gerichtsprozeß betr. die Greueltaten, die von deutsch-faschistischen Eindring
lingen in der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik verübt wurden.
15. bis 29.Januar 1945,Minsk 1947.
4 Schondie »Ereignismeldung« desSD vom 28.6.1941 sprichtvon einer »Strafak-
tion«anläßlich eines Judenmassakers; vgl. »Ereignismeldung UdSSR« desChefs
der Sicherheitspolizei und des SD, Bundesarchiv Koblenz (BA) (EM 7 vom
28.6.41) R 58/214.
5 Dazu ausführlich Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die
sowjetischen Kriegsgefangenen, Stuttgart 1978, besonders S. i3off.
6 OKH/GenQu, Nr. II/251/42, Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), H 3/729.
7 Zitiert nach Streit, a. a. O., S. 131.
8 Meldungdes VO WiRüAmt u. WiStabOst bei OKH/GenQu, BA, R 41/172 u.
-/173; Streit, a. a. O., S. 246 u. 406.
9 »Ereignismeldung UdSSRNr. 32« vom 24.7.1941, BA, R 58/214.
10 Vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischenJuden, 3 Bde., Frankfurt
am Main 1993,besonders Bd. 3, S. i28off.
11 Ebenda, S. 1291.
12 Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschau
ungskrieges. Die Einsatzgruppender Sicherheitspolizei und des SD 193 8-1942,
Stuttgart 1981,S. 274; dazu IMT, XXXVII, S. 374.
13 BA-MA, RW 4/v. 577, wiedergegeben bei Gerd R. Ueberschär/Wolfram Wette
(Hg.), »Unternehmen Barbarossa« 1941. Der deutsche Überfall aufdieSowjet
union, Neuausgabe 1991,S. 252L
14 Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtführungs
stab) Bd. 1: 1. August 1940-31. Dezember 1941, Zweiter Halbband I/2, Mün
chen 1982, S. 1068f.
15 Herausgegebenvon OKW/WPr seitApril 1940. Die Hefte warenvorgesehen als
Grundlage für die Kompanie-Indoktrination. Vgl. M. Messerschmidt, Die
Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969, S. 322, 326f.

567
16 BA-MA, RH 20-6/493.
17 IMT, XXVII, S. 274-283, Dok. 1519- PS.
18 Nürnberger Dok. NO - 22
19 Einsatzbefehl Chef der Sipo und des SD Nr. 14 v. Anlage 1, Nürnberger Pro
zeß-Dokument NO - 3422; vgl. Ueberschär/Wette, a. a. O.; S. 307L
20 IMT, XXXI, S. 84, Dok. 2718 - PS.
21 BA-MA,RW3i/i35undIMT,XXXVI,S. 135,Dok. 126-EC.
22 BA-MA, RW 31/135; IMT XXXIX, S. 367ff., Dok. 089 -USSR.
23 Besprechung über Wirtschaftspolitik am 18. Nov. 1941, BA-MA, WiRüAmt,
Wi/ID. 1222, zitiert bei Ueberschär/Wette, a. a. O., S. }}if{.
24 So die Notizen des Chefs des Generalstabes der 18. Armee, Oberst Hasse; BA-
MA, Alliierte Prozesse 9/NOKW -1535.
25 Ebenda.
26 So General z. b. V./Ob d H Eugen Müller, Vorgesetzter der Rechtsabteilung
OKH vor Heeresjuristen und Ic-Offizieren der Armeen am 11.Juni 1941 in
Warschau; vgl. Tätigkeitsbericht Pz.Gr. 3/Ic Nr. 2, 1.1.-11.8.1941, BA-MA,
PzAOK 3, Bl. 29 f., publiziert bei H. A. Jacobsen, Kommissarbefehl, in: H. A.
Jacobsen/M. Broszat/H. Krausnick, Konzentrationslager. Kommissarbefehl.
Judenverfolgung. Anatomie des SS-Staates, Bd. 2, Ölten und Freiburg 1956, S.
192.Ein anschauliches Beispiel solcher Todesstrafe auf Verdacht bietet ein nur
eineinhalb Seitenumfassendes Todesurteilgegensechsrussische Hilfswillige bei
einer Veterinärkompanie;vgl. M. Messerschmidt/F. Wüllner, Die Wehrmacht
justiz im Dienste des Nationalsozialismus, Baden-Baden 1987, S. 104L
27 Vgl. Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeiba
taillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Reinbek 1993, S. 222ff.
28 General von Tiedemann am 22.Juli 1941, Nürnberger Dok. NOKW - 2476.
29 Korpsbefehl Nr. 128 des Kommand. Generals der Sicherungstruppen und
Befehlshabers im HeeresgebietMitte vom 14.12.1942, BA-MA, RH 22/235.
30 OKH - Fremde Heere (Ost): »Entwicklung der Bandenlage« vom 22.5.1943,
BA-MA, RH 2/2567.
31 Es ist der Bundesregierung vorgeworfen worden, sie habe seinerzeit Professor
Maschkeuntersagt, das vorhandene Materialüber dieseProzesse in der vielbän
digenDokumentationüber die Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des
Zweiten Weltkrieges zu verwenden. So konnten auch Bemühungen um Reha
bilitierung keinen Erfolg haben. Erst nach einem Erlaß Gorbatschows vom
13. August 1990 sind in Einzelfällen Rehabilitierungen erfolgt.

568
Alfred Streim Saubere Wehrmacht?
Die Verfolgung von Kriegs- undNS-Verbrechen in der
Bundesrepublik undin derDDR

Die Verletzung des Kriegsvölkerrechts unddieHaltung


der Alliierten nach dem Zusammenbruch

Vorherrschend ist bis heute weitgehend noch die Meinung, daß sich die
Wehrmachtim Zweiten Weltkrieg überwiegend an die Ge- und Verbote
des Kriegsvölkerrechts gehalten habe, obwohl zumindest durch den
Hauptkriegsverbrecherprozeß in Nürnberg und die zwölf Nachfolge
verfahren der Vereinigten Staaten feststeht, daß durch das Oberkom
mando der Wehrmacht (OKW) und das Oberkommando des Heeres
(OKH) völkerrechtswidrige Befehle erlassen und durch die Truppe aus
geführt wurden. Insbesondere traf dies für den Rußlandfeldzug zu.
Während auf den westlichen Kriegsschauplätzen die Völkerrechtsab
kommen und das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht in den ersten Jah
ren und teilweise auch später im wesentlichen eingehalten wurden, war
der Krieg gegendie Sowjetunionvon Anfang an als Vernichtungskampf
gegen das »jüdisch-bolschewistische System« unter Außerachtlassung
des Kriegsvölkerrechts geprägt. Nach außen begründetedas NS-Regime
die Nichtanwendung des internationalen Rechts damit, daß das Deut
sche Reich im Kampf gegen die Sowjetunion nicht an die bestehenden
völkerrechtlichen Konventionen gebunden sei,weil sich die UdSSRvon
allen von dem Zarenreich abgeschlossenen internationalen Verträgen
losgesagt habe, so auch von der Haager Landkriegsordnung (HLKO),
und im übrigen das Genfer Abkommen über die Behandlung von
Kriegsgefangenen von 27.Juli 1929 nicht ratifiziert habe.1 Der im OKW
(Amt Ausland/Abwehr) vertretenen Ansicht, daß die HLKO zwi
schenzeitlich Völkergewohnheitsrecht geworden und deshalb auch vom
deutschen Reich zu beachten sei, verschloß man sich. Der Chef des
OKW, Generalfeldmarschall Keitel, erklärte: »Diese Bedenken entspre
chen den soldatischen Auffassungen vom ritterlichen Krieg. Hier han
delt es sich [aber] um die Vernichtungeiner Weltanschauung [,..].«2
Als die Wehrmacht schließlich im Abwehrkampf stand, nahmen an

569
allen Fronten die Verletzungen des Völkerrechts zu. Insbesondere kam
es zu jener Zeit zu rechtswidrigen Geiselnahmen und Kriegsrepressa
lien3 zum Nachteil der Zivilbevölkerung, zum Beispiel in Frankreich,
Griechenland und Serbien.
Neben Kriegsverbrechen war die Wehrmacht durch aktives Handeln
oder Unterlassen auch an »NS-Verbrechen« beteiligt,an Verbrechen, die
zur Durchsetzung nationalsozialistischer Ideologie unter Ausnutzung
des Krieges durch SS und Polizei begangen wurden, zum Beispiel an
Deportationen und Vernichtung von Juden. Juristisch gesehen standen
diese Taten im allgemeinen in Tateinheit mit Kriegsverbrechen (und/
oder Verbrechen gegendie Menschlichkeit) im Sinnedes Statuts für den
Internationalen Militärgerichtshof (Anlage zum »Abkommen über die
Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäi
schen Achse« vom 8. August 1945), d. h. durch die Begehung der NS-
Verbrechen wurde gleichzeitig der Tatbestand des Kriegsverbrechens
(und/oder der des Verbrechen gegen die Menschlichkeit) verwirklicht.
Seit einigerZeit werden NS-Verbrechen der Wehrmachtvon interes
sierter Seitehäufigmit Maßnahmen kraft »militärischerNotwendigkeit«
gerechtfertigt. Hierbei übersieht man jedoch geflissentlich, daß nach
Kriegsvölkerrecht unter militärischer Notwendigkeit das Anstreben
eines taktischen oder strategischen militärischen Vorteils oder die Ver
meidung eines taktischen oder strategischen Nachteils verstandenwird,
wobei der das Kriegsrecht beherrschende Individualschutz zu beachten
ist.
Wenn auch aus militärisch-pragmatischen Gründen der unbestimmte,
aber bestimmbare kriegsrechtliche Begriff durch die Konfliktparteien
nicht selten exzessivausgelegtwird, fallen die Verbrechen nationalsozia
listischer Prägung nicht darunter. Ihrer Durchführung dürfte nicht
militärische, sondern »ideologische Notwendigkeit« zugrunde gelegen
haben, ein Terminus, der dem Kriegsvölkerrecht fremd und daher als
Rechtfertigungsgrund unbeachtlich ist.4
Im Hinblick auf die schlechten Erfahrungen, die die Entente nach dem
Ersten Weltkrieg mit der Zusicherung der Reichsregierung, die Kriegs
verbrechen Deutscher in eigener Zuständigkeit zu verfolgen, gemacht
hatte, übernahmen die Alliierten in Ausführung der Moskauer Deklara
tion vom 30. Oktober 1943 die Strafverfolgung zunächst selbst. Es war
vorgesehen, nach Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher durch den
Internationalen Militärgerichtshof den Militärgerichten in den Besat
zungszonen die weitere Verfolgung der Verbrechen den Besiegten zu
überlassen. Japan hatte sich dagegen in der am 2. September 1945 unter-

570
zeichneten Kapitulationsurkunde bereit erkärt, nach dem in Tokio vor
dem internationalen Militärgericht für den Fernen Osten vorgesehenen
Hauptkriegsverbrecherprozeß, »to carry out the provisories of the Pots
damer Declaration in good faith«.5 Deutschland konnte keine entspre
chende Verpflichtung übernehmen, da das Deutsche Reich mit der
bedingungslosen Kapitulation untergegangen war und folglich ein
Rechtssubjekt für die Übernahme einer solchen Zusicherung fehlte. Die
Deutschen wurden vielmehr durch den Kontrollrat mit Direktive Nr. 38
vom 12. Oktober 1946 betr. Verhaftung und Bestrafungvon Kriegsver
brechern, Nationalsozialisten und Militaristen und Internierung, Kon
trolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen
(bzw. den Richtlinien hierzu) angewiesen, »diejenigen Personen, die
Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die
Menschlichkeit gemäß Kontrollratsgesetz Nr. 10begangen haben, nach
den Bestimmungen und den in Gesetz Nr. 10 vorgeschriebenen Verfah
rensregeln zu behandeln« (Abschnitt I, Ziffer 5, lit. j).6 Interessant istin
diesem Zusammenhang, daß in der Folgezeit die deutschen Gerichte in
den vier Besatzungszonen - wenn auch zögernd - der Direktive nach
kamen, während man in Japan untätig blieb. Allerdings hatte die japani
sche Regierung der amerikanischen Besatzungsmacht angeboten, die
Verpflichtung imFriedensvertrag zu erfüllen, was aus Furchtvor Exkul-
pierungsprozessen von dieser jedoch abgelehnt wurde. Bis heute sind
von japanischen Gerichten keine Verfahren wegen Kriegsverbrechen
und/oder gegen die Menschlichkeit durchgeführtworden.

Die Verfolgung der von den Wehrmachtsangehörigen begangenen


NS- undKriegsverbrechen in den westdeutschen Besatzungszonen
undderBundesrepublik

Die Ermittlungsverfahren gegen Angehörige der früheren Wehrmacht


wegen Kriegs- und NS-Verbrechen hattenim Umfang und Ergebnis zu
keiner Zeit die Bedeutung wie die Verfolgung der von Angehörigen der
ehemaligen Sicherheitspolizei und des SD sowie von den Einheiten der
Polizei begangenen NS-Verbrechen. Die Verstrickung nicht weniger
Offiziere und Soldaten der Wehrmacht wurde allgemein totgeschwie
gen. »Die Wehrmacht war sauber«, ist das vorherrschende Schlagwort
gewesen. Richtig ist, daß die Wehrmacht bis zum Rußlandfeldzug auf
nahezu allen Kriegsschauplätzen zumindest teilweise bemüht war, das
Kriegsvölkerrecht einzuhalten, und selbst in den ersten Monaten nach

57i
dem Einfall in die Sowjetunion noch hochrangige Militärs der Truppe
versuchten, die Ausführung der von OKW und OKH erlassenen rechts
widrigen Befehle zu verhindern. Im Laufe der Zeit entwickelte sich die
Institution jedoch schnell zu einem willfährigen Instrument des NS-
Regimes. Die Vernichtungsaktionen der in der Sowjetunion operieren
den Einsatzgruppen gegen die Juden wären beispielsweise nicht oder
nicht in diesem Umfang möglich gewesen, wenn die Chefs der Heeres
gruppen oder die Befehlshaber der Armeen keine Unterstützung in der
Vorbereitung und Ausführung gewährt hätten. Dabei wäre die Ver
hinderung der Aktionen aufgrund des Erlasses des OKH vom
28. April 1941 über die Regelung des Einsatzes der Sicherheitspolizei
und des SD im Verbände des Heeres ohne weiteres gangbar gewesen, da
den Oberbefehlshabern der Armeen das Recht eingeräumt war, Exeku
tivmaßnahmen gegen die Bevölkerung, die sichauf Operationen auswir
ken konnten, zu verhindern. Das gleiche galtfür die Befehlshaber in den
rückwärtigen Heeresgebieten(Ziffer 2 des Erlasses). Statt dessenwurde
geschwiegen, die Maßnahmen der mobilen Einheiten des Chefs der
Sicherheitspolizei gebilligt oder bei den Vorbereitungen zu den Vernich
tungsmaßnahmensogar zusammengearbeitet. Sovom Oberbefehlshaber
der 6. Armee, von Reichenau, und Angehörigen der Abteilung Ic seines
Stabes bei der Planung der Tötung der 33771 Juden der Stadt Kiew, die
am 29. und 30. September 1941 durchgeführt wurde. Die deutschen
Truppen hatten erst am 19. September 1941 die Stadt eingenommen und
lagen noch im Operationsgebiet. Beiallem ist jedoch einzuräumen, daß
es nicht wenige Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten gab, die sich an
das Kriegsvölkerrecht hielten oder, wenn sie dieses nicht kannten, nach
den Grundsätzen der Menschlichkeit handelten, soweit dies im Krieg
möglich ist. Der Sammelbegriff»Wehrmacht« ist daher zu relativieren.

Die Entwicklung der Verfolgung

Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht sind von den Besat
zungsbehörden zunächst die deutschen Gerichte gemäß Gesetz
Nr. 2 der Militärregierung - Kontrollgebiet des Obersten Befehls
habers - im Zuge der Besetzung (Artikel I) geschlossen worden. Die
Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit wurde von einer schriftlichen Anwei
sung der Militärregierungen abhängig gemacht (Artikel III). Etwa vom
Spätsommer bis Ende Herbst 1945 nahmensie die Tätigkeitwieder auf.
Die sachliche Zuständigkeit wurde durch das Kontrollratsgesetz Nr. 4

572
vom 30.Oktober 1945 geregelt.7 Nach diesemGesetz waren die Gerich
te unter anderem für alle Strafsachen zuständig, mit einer Ausnahme:
Sofern sich die Straftat gegen Angehörige alliierter Nationen richtete,
war die Verfolgung jedoch ausgeschlossen (Artikel Illb). Rechtsgrund
lagefür die Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen war zunächst das
Reichsstrafgesetzbuch, soweit Normen nicht gegenstandslos oder durch
Kontrollratsgesetze aufgehoben worden waren. Am 20. Dezember 1945
erließ der Alliierte Kontrollrat das Kontrollratsgesetz Nr. 10 über die
Bestrafung von Personen, die sich^Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen
den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hatten,8
das in erster Linie eine einheitliche Rechtsgrundlage für die Strafverfol
gung der Besatzungsmächte gewesen ist. Nach Artikel III, Abs. 1, lit. d
konnten die Besatzungsbehörden jedoch auch deutsche Gerichte für
zuständig erklären, wenn die Verbrechen von »deutschenStaatsbürgern
oder Staatsangehörigen gegenandere deutsche Staatsbürgeroder Staats
angehörige - später desgleichen gegen Staatenlose - begangen« worden
sind, d. h. deutsche Gerichte konnten Deutsche und Staatenlose wegen
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegendie Menschlichkeit verurteilen,
wenn eine Ermächtigung einer der Vier Mächte für die Gerichte ihrer
Besatzungszonen vorlag. Derartige Ermächtigungen wurden von allen
Zonenbefehlshabern teils allgemein, teils in Einzelfällenerteilt.
In der Folgezeitmachtendie deutschen Gerichtevon der Möglichkeit,
mit Hilfe einer Ermächtigung Verfahren wegen Kriegsverbrechen mit
Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß Kontrollratsgesetz Nr. 10
zu führen, Gebrauch. Außer Verfolgung blieben jedoch die Verbrechen
von Angehörigen der ehemaligen Wehrmacht zum Nachteil von
Angehörigen der alliierten Streitkräfte und Angehörigen der alliierten
Zivilbevölkerung, da sie ausgeschlossen war. Auch die Anordnung nach
deutschem Recht konnte nicht erfolgen, da insoweit das Verfahrenshin
dernis gemäß Artikel III, lit. b. Kontrollratsgesetz Nr. 4 bestand. Eine
Änderung ergab sich fürdiewestdeutsche Justizerstmitdemam1. Janu
ar 1950in Kraft getretenen Gesetz Nr. 13 über »die Gerichtsbarkeit auf
den vorbehaltenen Gebieten« der Alliierten Hohen Kommission,9 die
nach dem Inkrafttreten des Besatzungsstatutes von den Regierungen der
drei westlichen Mächte zur Kontrolle der Bundes- und Landesregierun
gen am 25. November 1949 eingesetzt worden war. Es führte den Vor
behalt hinsichtlich der Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbre
chen gegen die Menschlichkeit zum Nachteil von Angehörigen der
alliierten Nationen nicht mehr auf und setzte im übrigen das Kontroll
ratsgesetz Nr. 4 außer Kraft. Deutsche Gerichte konnten nun nach deut-

573
schem Recht und dem Kontrollratsgesetz Nr. 10Kriegsverbrechen ver
folgen, in letzterem Fall allerdings nur, wenn eine Ermächtigung der
Alliierten vorlag. Ab Ende August 1951 zogen die Militärregierungen
ihre Ermächtigungen zur Durchführung von Verfahren gemäß Kon
trollratsgesetz Nr. 10 zurück. Rechtsgrundlage für die Verfolgung von
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch
westdeutsche Gerichte waren nur noch die Normen des deutschen Straf
gesetzbuches. Eine Verurteilung wegen Kriegsverbrechen und Ver
brechen gegen die Menschlichkeit durch die deutsche Justiz entfiel
somit.10
Wenn auch mit dem Gesetz Nr. 13 der Alliierten Hohen Kommission
die Schranken für die Durchführung von Verfahren wegen Kriegsver
brechenund Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in etwagleichzu
setzen sind mit »NS-Verbrechen«, durch die Strafverfolgungsorgane in
der Bundesrepublik im wesentlichen beseitigt worden waren, gabeskei
nen bemerkenswerten Anstieg in der Verfolgung dieser Delikte. Zwar
wurden 1950 809,1951 259 und 1952 noch 191 Personen verurteilt;11 die
wenigsten warenaber Angehörige der Wehrmacht. Außerdemwaren die
Verfahren oft aufgrund von Anzeigen aus der Bevölkerung eingeleitet
worden und betrafen Einzelfälle, zum Beispiel die Mißhandlung und
vereinzelt Tötung von Kriegsgefangenen in den Kriegsgefangenen
lagern, Betrieben und Arbeitskommandos des Reichsgebietes durch
Bewachungsmannschaften; Tötungen sowie versuchte Tötungen von
sowjetischen Kriegsgefangenen bei Fluchtversuchen und Mißhandlun
gen von abgesprungenen feindlichen Fliegern. Eine systematische Ver
folgung fand nicht statt, obwohl das Ausmaß der völkerrechtswidrigen
Handlungen zumindest in den Kreisender Justiz bekannt war. Nahezu
alle Gerichtsbüchereien enthielten die sogenannten Blauen Bände, die
amtlichen Protokolle und Beweisdokumente des Hauptkriegsverbre
cherprozesses in Nürnberg, aus denen sich die von OKW und OKH
erlassenen völkerrechtswidrigen Befehle und zum Teilihre Ausführung
durch die Truppe ergaben. Aus ihnen war auch ersichtlich, daß Armee-
und Truppenführer, Feld- und Ortskommandanturen mit mobilen SS-
und Polizeiverbänden, Dienststellen der Sicherheitspolizei und des SD
. sowie Gruppen der GeheimenFeldpolizei(GFP) bei den Vernichtungs
aktionen gegen die Juden zusammengearbeitet hatten. Keine Staatsan
waltschaft fühlte sich - mangelsZuständigkeit - verpflichtet, ein Verfah
ren einzuleiten: Eine örtliche Zuständigkeit war nicht gegeben, weil die
Tatorte nicht im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung lagen, und
eine Zuständigkeit des Wohnortes der mutmaßlichen Täter fehlte, weil

574
deren Namen im allgemeinen nicht bekannt waren oder weil man nicht
wußte, wo oder ob sie noch lebten.

Der Rückgang der Verfahren

Folgedieser Haltung war, daß die Verfolgung von Kriegs- und NS-Ver
brechen ab 1952 rapide zurückging. Die Politiker, denen es möglich
gewesen wäre,dieserUntätigkeitentgegenzutreten und durch die Besei
tigung der gesetzlichen Schwierigkeiten den Anstoß zu einer systemati
schenVerfolgung zu geben, bliebenuntätig. Ihre Initiative bei der Ahn
dungdieser Verbrechen hättediePopularität beidenWählern schmälern
können, wie schon der damalige Freiburger Generalstaatsanwalt Bader
mit Recht bemerkte.Bestätigtwird dieses beispielhaft durch eineSitzung
des Bundestages am 17. September 1952, in der eine große Anfrage der
zur damaligen Koalition gehörenden DeutschenPartei zur Lösungder -
wie es hieß- Kriegsverbrecherfrage behandelt wurde. Es war mehr von
»Amnestie«, »Schlußstrichziehen« und von den »Opfern der alliierten
Militärgerichte« die Rede, als von einer Sühne der von den Verurteilten
begangenen Verbrechen. Den Charakter der Parlamentsdebatte zeigtein
Antragdes Abgeordneten Ewert, der forderte, »das Wort Kriegsverbre
cher allgemein zu vermeiden; es sind ja im wesentlichen keine Verbre
cher, sondern unschuldig Verurteilte«.12 Und die Deutsche Partei stand
mit dieser Ansichtnicht allein. Sie war dasSpiegelbild einerGesellschaft,
in der mit Beharrlichkeit darauf hingewiesen wurde, daß auch die Alli
ierten Kriegsverbrechen begangen hätten, die aber nicht verfolgt wür
den. Besonders führte man in diesem Zusammenhang den Luftkrieg der
Alliierten gegen die deutsche Zivilbevölkerung an, ohne daraufeinzuge
hen, daß kein deutscher Soldatwegen der völkerrechtswidrigen Angrif
fe der deutschen Luftwaffe verurteilt wurde. Denn den Komplex Luft
krieg hatten die Alliierten vor dem Nürnberger Militärtribunal und in
den Nachfolgeprozessen aus naheliegenden Gründen fallenlassen.
Die westlichen Alliierten protestierten nicht gegendie geringeInten
sität der deutschen Strafverfolgung, zumal der damalige Bundeskanzler,
Dr. Adenauer, ihnen gegenüber mehrfach betont hatte, die Bundesregie
rung könne der geplanten Aufstellung einer europäischen Armee unter
westdeutscher Beteiligung nicht zustimmen, solange sichnoch ein deut
scher Soldat in alliierter Haft befände oder ihm noch der Prozeß gemacht
würde.13 Die Haltung Adenauers hatte vielmehr zur Folge, daß ab
31. Januar 1951 der US-Hochkommissar John J. McCloy durch Gna-

575
denerlaß die Strafe vieler der in Nürnberg Verurteilten herabsetzte und
sie später auf Parole entließ.14 Ähnlich verhielten sich auch die Englän
der und Franzosen. Im übrigen machte sich die Bundesregierung die
Haltung der Alliierten zunutze, indem sie zweiAmnestiegesetze erließ,
vondenen heute niemand mehr spricht: das Gesetz überdieGewährung
von Straffreiheit vom 31. Dezember 194915 und das Gesetz über den
Erlaß von Strafen und Geldstrafen und die Niederschlagung von Straf-
und Bußgeldverfahren vom 17. Juli 1954.16 Mit dem ersten Gesetz wurde
denjenigen Straffreiheit gewährt, die nach dem Zusammenbruch unter
falschen Namenuntergetaucht waren. Niemandfragte siebeider Offen
barung ihres richtigen Namens, warum sie einen anderen angenommen
hatten.17 Das zweite Gesetz amnestierte alle Straftaten, die »unter dem
Einfluß der außergewöhnlichen Verhältnisse des Zusammenbruchs in
der Zeit zwischen dem 1. Oktober 1944 und dem 31. Juli 1945 in der
Annahme einer Amts-, Dienst- oder Rechtspflicht, insbesondere auf
grund einesBefehls begangen« wurden, »wennnicht dem Täter nach sei
ner Stellung oder Einsichtsfähigkeit zuzumuten war, die Straftat zu
unterlassen, und keineschwerere Strafe alsFreiheitsstrafe biszu dreiJah
ren und Geldstrafe, allein oder nebeneinander, beim Inkrafttreten dieses
Gesetzes rechtskräftig verhängt worden ist oder zu erwarten war«.
Unter die Amnestie dieses Gesetzes sollten im wesentlichen die Taten
fallen, die als Delikte der »Endphase« des Dritten Reiches bezeichnet
werden. Hierzuzählten etwa dieohne oderohnegesetzmäßiges Kriegs
gerichtsverfahren vorgenommenen Erschießungen von desertierten und
wiederergriffenen Angehörigen der Wehrmacht, der Waffen-SS, des
Volkssturms und von Zivilisten, die beim Näherrücken des Feindes die
weiße Fahne hißten oderdie versuchten, ihren Ort dem Gegner kampf
los zu übergeben.
In der Praxis wurden auf diese Weise letztlich aber auch zahlreiche
Verfahren erledigt, dieaus diesem Rahmen fallen. So sind Vorgänge auf
grunddes Straffreiheitsgesetzes vom 17. Juli 1954 eingestellt worden, die
beispielsweise die Erteilung eines Befehls zur Erschießung von zwei
abgesprungenen britischen Fliegern18, die Tötung eines sowjetischen
unddieschwere Mißhandlung eines amerikanischen Kriegsgefangenen19
sowie dieFolterung eines gefangengenommenen britischen Fliegers zum
Gegenstand hatten.20 Leider sind die »Amnestieakten« überwiegend
bereits vernichtet worden, so daß sich nicht mehr feststellen läßt, in wel
chemUmfangdas Straffreiheitsgesetz angewendet wurde.
Ab 1955 erfuhr die Verfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen eine
weitere Einschränkung. Mit dem zwischen den Vereinigten Staaten,

576
Großbritannien, Frankreich einerseits und der Bundesrepublikanderer
seits am 26.Mai 1952 geschlossenen, jedoch erst am 5.Mai 1955 in Kraft
getretenen »Vertragzur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener
Fragen«, dem sogenannten Überleitungsvertrag,21 wurde die volle
Justizhoheit der Bundesrepublik wiederhergestellt, allerdings mit einer
Ausnahme. Sofern »die Untersuchung wegen der angeblichen Straftat
von den Strafverfolgungsbehörden der betreffenden [Besatzungs-]
Macht oder Mächte endgültig abgeschlossen war«, blieb die deutsche
Gerichtsbarkeit ausgeschlossen (Artikel 3, Abs. III, lit. b). Dieser Aus
schluß war seinerzeit ohne Bedeutung, weil Kriegs- und NS-Verbrechen
kaum noch verfolgtwurden, hatte jedoch nach Gründung der Zentralen
Stelle auf die Kriegsverbrecherprozesse eine nicht zu unterschätzende
Auswirkung: Angehörige der Wehrmacht und andere Personen, gegen
die von französischen, britischen oder amerikanischen Strafverfolgungs
behörden Untersuchungen wegen Verdachts der Begehung von Kriegs
verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt worden
waren, die jedoch mangels ausreichender Beweise eingestellt werden
mußten, konnten wegendieserTatenselbstdann nicht mehr vor Gericht
gestellt werden, wenn nunmehr der Schuldbeweis zu erbringen war.
Außerdem blieben weit über 1000 mutmaßliche Kriegs- und NS-Ver
brecher außer Verfolgung, die in Frankreich in Abwesenheit - nicht sel
ten zum Tode - verurteilt worden waren. Hierunter fielen die Täter der
rechtswidrigen, teilsbarbarischen»Sühnemaßnahmen«, die durchwegin
den letzten beiden Kriegsjahrenim besetzten Frankreich gegendie Zivil
bevölkerung durchgeführt worden waren.
Von 1952 bis 1959 kam es fast zu keinen Ermittlungsverfahren gegen
Angehörige der ehemaligen Wehrmacht, geschweige denn zu einerVer
urteilung. Die wenigen anhängig gewesenen Verfahren sind durch
Anwendung des Straffreiheitsgesetzes vom 17. Juli 1954 erledigt wor
den.

Die Errichtung derZentralen Stelle derLandesjustizverwaltungen


unddie Verfolgung von Kriegsverbrechen

Auf Initiative des Justizministeriums von Baden-Württemberg wurde


am 1. Dezember 1958 die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen
in Ludwigsburg errichtet, die sich mit den Verbrechen des NS-Regimes
in den besetzten Gebieten befassen sollte. Der Auftrag ist im Frühjahr
1965 auf eine systematische Aufklärung der Taten im In- und Ausland

577
ausgedehnt worden. Zuständig wurde die neue Behörde jedoch nur für
die an Zivilpersonenbegangenen nationalsozialistischen Tötungsverbre
chen, die außerhalb der eigentlichen Kriegshandlungen begangen wor
den waren. In den von den Justizministern und -Senatoren der Bundes
länder im April 1965 festgelegten Richtlinien zu der von ihnen be
schlossenen Verwaltungsvereinbarung zur Errichtung der Zentralen
Stelle wurde ausdrücklichfestgelegt, daß Kriegsverbrechen nicht in ihre
Zuständigkeit fallen. Es blieb nicht aus, daß bei der Tätigkeit der Zen
tralen Stelle auch Kriegsverbrechen, die - oft in Tateinheit mit NS-Ver
brechen22 - durch die Wehrmacht oder andere, ihr nicht angehörende
Formationen oder Dienststellen,begangen worden waren, bekannt wur
den. Dies geschah insbesondere, als die Dienststelle ab Frühjahr 1965
dem damaligen Auftrag der Justizminister und -Senatoren der Bundes
länder nachkam, die ausländischen Archive nach noch strafrechtlich
relevantem Material über NS-Verbrechen auszuwerten. Außerdem
übersandte das Ausland angesichts der bevorstehenden Verjährung von
Mord am 8. Mai 1965 Ludwigsburg umfangreiche Unterlagen, die
Kriegsverbrechen betrafen. Nach dem Legalitätsprinzip, dem Verfol
gungszwang bei Bekanntwerden verfolgbarer Handlungen, konnte die
Zentrale Stelledie einschlägigen Materialien nicht unbeachtet lassen und
leiteteentsprechende Verfahren ein, die sie unter Beifügung etwaigerbei
ihr vorhandener Erkenntnisse ohne weitere Vorermittlungen wegen
Unzuständigkeit durchweg nach Herbeiführung einer Zuständigkeit
gemäß 13aStPO an die für zuständig erklärten Staatsanwaltschaften zum
weiteren Befinden abgab.
Gegenstand der meistendieserVorgänge waren Repressalienmaßnah
men23, die von der Truppe vorwiegend in den besetzten Ostgebieten,
Frankreich und Griechenland durchgeführt worden waren. Von den
über 1000 Ermittlungsverfahren gegen eine Vielzahl von Angehörigen
der ehemaligen Wehrmacht, insbesondere des Heeres, die auf Initiative
der ZentralenStelle von den Strafverfolgungsbehörden eingeleitet wur
den, ist es jedoch in keinem Fall zu einer Anklage gekommen. Die Ver
fahren wurden durch Einstellung mangels Beweises sowie Verjährung
abgeschlossen oder waren durch Tod der Beschuldigtenerledigt. Domi
nierend war bei der Einstellung wegen Verjährung im übrigen die
Begründung, daß es dahingestellt bleiben könne, ob die Repressalien
maßnahmen völkerrechtswidrig gewesen seien oder nicht; selbst wenn
sie dem Völkerrecht widersprechen würden, könne eine Bestrafung der
Beschuldigten nicht mehr erfolgen, weilkeine Anhaltspunkte für die den
Mord qualifizierenden Tatbestandsmerkmale vorlägen oder ersichtlich

578
wären (§ 211 StGB), und Totschlag (§ 212 StGB) seit dem 8. Mai i960
verjährt sei.
Nicht immer dürfte diesen Einstellungsgründen jedoch beizutreten
sein. Zum Beispiel enthielt der eine oder andere Fall durchaus Anhalts
punkte, die auf das Vorliegen von besonderen, namentlich tatbezogenen
(grausam, heimtückisch) Merkmalen des § 211 StGB hinwiesen. Ob sie
tatsächlich gegeben waren, hätte letztlich im Rahmen weiterer Auf
klärung, beispielsweise im Wege des Rechtshilfeverkehrs durch Verneh
mung von Zeugen aus dem Kreis der Opfer, die die Ausführung der
Repressalienmaßnahmen überlebt hatten, geklärt werden können. Über
wiegend unterblieben jedoch derartige, der Sache dienende Ermittlun
gen.
Nicht unerwähnt soll in diesemZusammenhangbleiben,daß sich bei
derÜberprüfung derRepressalien aufihreRechtmäßigkeit häufig schon
bei oberflächlicher Betrachtung Anhaltspunkte für die Verwirklichung
des § 211 StGB ergeben hätten, wenn die Problemkomplexität des völ
kerrechtlichen Begriffs, insbesondere die Grundlagen des kriegsrechtli
chen Garantieinstituts, dem Sachbearbeiterbekannt gewesenwäre. Zum
Beispiel fällt auf, daß in manchen Fällenden alsRepressalien bezeichne
ten Maßnahmen der Repressaliencharakter fehlt, eine der Voraussetzun
gen für die Rechtmäßigkeit nach dem Kriegsvölkerrecht.24 Repressalien
haben den Charakter einer zulässigen Selbsthilfemaßnahme als Antwort
auf einekriegsrechtswidrige Handlung des Gegners, mit dem Ziel,ihn in
Zukunft zur Beachtungdes Kriegsrechts zu zwingen oder ihn zur Been
digungeines rechtswidrigen Handelnszu bewegen. Im allgemeinen sind
die von der Wehrmacht durchgeführten Repressalienmaßnahmen zur
Erreichung dieserAbsichtnicht geeignet gewesen. Die dem Kriegsrecht
widersprechenden Handlungen waren durchweg Aktionen von Frei
schärlern und Partisanen, die man mit Repressalien zur Einhaltung des
Kriegsrechts nicht zwingen konnte.Sie nahmen die »Selbsthilfemaßnah
men« des Gegners zum Nachteil der Zivilbevölkerung in Kauf, was die
Truppe zu immer schärferen, teils barbarischen Gegenmaßnahmen
gegen die unschuldige Bevölkerung veranlaßte. Hierdurch trat an die
Stelle des Repressalien- ein Vergeltungscharakter, eine Art Bestrafung
von Schuldlosen, weil die Schuldigen nicht zur Rechenschaft gezogen
werden konnten. Vergeltungsmaßnahmen in diesem Sinne sind jedoch
mit der Rechtsordnung des Kriegsrechts nicht in Einklang zu bringen
und überschreiten in der Regel die Grenzen zum Mord.25
Etwa ebensoviele VerfahrengegenAngehörigeder ehemaligen Wehr
macht betrafen sowohl Kriegs- als auch NS-Verbrechen. Gegenstand

579
dieser Vorgänge war vorwiegend die Unterstützung der Dienststellen
der Befehlshaber und Kommandeure der Sicherheitspolizei und des SD
in den besetzten Gebieten beiJudendeportationen in die Vernichtungs
lager sowie die der Einsatzgruppen und Polizeibataillone bei Vernich
tungsaktionen gegen die Juden in dem okkupierten Teil der UdSSR.
Sofern sichim Laufe der Ermittlungen gegen die Sicherheitspolizei, den
SD oder die Polizei (Ordnungspolizei) Hinweise auf eine Beteiligung
der Wehrmacht an diesen Maßnahmen ergaben, sind die betreffenden
Verbände, Einheiten oder Dienststellen in die Verfahren der Zentralen
Stelle einbezogen worden. Zum Beispiel wurde bei der Untersuchung
der Verbrechen des Sonderkommandos 4a der Einsatzgruppe C unter
anderem bekannt,daß an denVorbereitungen zur Vernichtung derJuden
Kiews, der am 29.und 30.September 1941 33 771 jüdischeMänner,Frau
en und Kinder zum Opfer fielen, der Oberbefehlshaber der
6. Armee, von Reichenau, Angehörige seines Stabes und der Stadtkom
mandant von Kiew, Generalmajor Eberhardt, beteiligt waren; daß von
Reichenau die Erschießung der Kinder von Bjelaja-Zerkow guthieß,
obwohl der 1. Generalstabsoffizier der ihm unterstehenden 295. Infan
terie-Division, Oberstleutnant i. G. Groscurth, energisch Protest dage
gen erhoben hatte; daß der Oberstabsarzt des Gerichtlich-Medizini
schenInstituts der Militärärztlichen Akademie Berlin, Dr. Panning, mit
erbeutetensowjetischen Dumdumgeschossen an gefangenen Russen, die
von dem Sonderkommando 4a zur Verfügung gestellt worden waren, in
ShitomirVersuche vornahm, um deren Wirkung festzustellen; daß An
gehörige der Ortskommandantur Fastow und der Feldkommandantur
Shitomir Fahrzeuge zum AbtransportvonJuden zur Tötung bereitstell
ten und Offiziere des Kriegsgefangenenlagers in Borispol mit dem Son
derkommando 4asowjetische Kriegsgefangene zur Vernichtung ausson
derten. Das Verfahren gegen die AngehörigendesSonderkommandos 4a
wurde aufdie Wehrmacht ausgedehnt.26 Zur Anklage und Verurteilung
dieser Beschuldigten kames jedoch nicht. Die Verfahren wurdenspäter
von den Staatsanwaltschaften entweder mangels Beweises oder wegen
Todes der Beschuldigten eingestellt. EinUrteil erging nur gegen dieehe
maligenAngehörigen des Sonderkommandos 4a.27
Zu dem Komplex »Tateinheit Kriegs- und NS-Verbrechen« sind auch
die Verfahren gegen ehemalige Angehörige der Geheimen Feldpolizei
(GFP) zu rechnen, welche durchweg ebenfalls ohne Urteil abgeschlos
sen wurden.
Die GFP war im wesentlichen für abwehrpolizeiliche Aufgaben nach
Weisungen des OKW (Ausl./Abw.) über die Verbindungsgruppen

580
OKW/Ausl./Abw. beim OKH und nach Befehlen der örtlichen Kom
mandostellen (Ic/AO bei den Armeen und Divisionen) zuständig.28
Nachdem der ZentralenStelle durch ihre Ermittlungenbekannt wurde,
daß GFP-Gruppen in den Operationsräumen und in den rückwärtigen
Gebieten im Osten entgegen ihren grundsätzlichen Weisungen an Ver
nichtungsaktionen der Einsatzgruppen gegen Juden beteiligt gewesen
waren und aufgegriffene Juden, Zigeuner sowie andere potentielle
»Reichsfeinde« erschossen hatten,obwohldiese demSDübergeben wer
den mußten, wurden gegen nahezu alle in der UdSSR eingesetzten Ein
heiten der Geheimen Feldpolizei Vorermittlungsverfahren eingeleitet.
Die Verfahren sind später auf die im Bereich des Militärbefehlshabers
Frankreicheingesetzten GFP-Gruppen unter anderemwegen Verdachts
der Beteiligung an Judendeportationen aus Frankreich in die Vernich
tungslager erweitert worden. Letztlich waren Verfahren gegen über 60
Gruppen mit einer Vielzahl von Beschuldigten bei der Zentralen Stelle
anhängig, die fast alle nach und nach zuständigkeitshalber an die Staats
anwaltschaften abgegeben wurden. Nur in einem Fall kam es jedochzur
Anklage und zu einer Verurteilung. Die restlichen Verfahren wurden
von den Strafverfolgungsbehörden wegen Verjährung, Todes und
mangels Beweises eingestellt, oder es ist von der Erhebung der öffentli
chen Klage gemäß § 153a Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 47 Abs. 2
MStGB29 nach dem Grundsatz »minima non curat praetor« abgesehen
worden.
Die Gründe für die Einstellungen oder für das Absehen von der Erhe
bung der öffentlichen Klage sind nur teilweise nachzuvollziehen; ver
einzelt geben sie sogarAnlaß zu erheblichen Bedenken. Als Beispiel sei
ein Verfahren angeführt, bei dem die Staatsanwaltschaft mit Zustim
mung des Gerichtes, das für die Hauptverhandlung zuständig gewesen
wäre, von der Erhebung der öffentlichen Klage wegen geringer Schuld
abgesehen hat (§ 153a Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 47 Abs. 2
MStGB).30 Das Verfahren richtete sich gegenfünf ehemalige Unteroffi
ziere der Geheimen Feldpolizei, Gruppe 647,die (unter anderem) auf der
Krim operierte und der 11. Armee unterstand. Sie wurden beschuldigt,
auf Befehleines ihrer Vorgesetztenkurz vor Weihnachten 1941 an einer
von der Einsatzgruppe D durchgeführten Massenerschießung von etwa
ioooo jüdischen Männern, Frauen und Kindern in Simferopol teilge
nommen zu haben. Die Beschuldigten hatten ihre Mitwirkung an der
Exekution, die sich über drei Tage hinzog, eingeräumt.
Nach den Feststellungender Staatsanwaltschaft wurde die Tötung der
Juden aus »niedrigen Beweggründen« und »grausam« im Sinnedes §211

581
StGB (Mord) durchgeführt. Sie führte aus: »[...] die Opfer [wurden]
unter Stockschlägen und Peitschenhieben an die Panzergräben herange
trieben. Sie wurden mit dem Gesicht zum Graben aufgestellt und von
hinten erschossen. Dabei konnten jeweils die nachfolgenden Opfer die
blutigen Leichen der vor ihnen Erschossenen sehen. Kindern wurden
ihren Müttern weggenommen, vor derenAugenmit.Genickschuß getö
tet und in die Gräben geworfen [...]«
Die Mitwirkung der Beschuldigten an der Vernichtungsaktion wer
tete die Staatsanwaltschaft als Beihilfe zu einem gemeinschaftlichen Ver
brechen des Mordes, »weil die Beschuldigten auf Befehl gehandelt
haben«.Mit Recht wurde in diesemZusammenhangdarauf hingewiesen,
daß § 47 MStGB den gehorchenden Befehlsempfänger von der Verant
wortung bei der Ausführung eines rechtswidrigen Befehls nicht entla
stet, sondern grundsätzlich bestraft wissen will. Den Einwand der
Beschuldigten, sie hätten die Vorschriften des Militärstrafgesetzbuches,
zumindest aber dessen § 47nicht gekannt,wies die Staatsanwaltschaft als
unbeachtlich zurück, da die Beschuldigten nach ihrer Einlassung seiner
zeit davon Kenntnis hatten, daß die Tötung von Menschen alleinwegen
ihrer »Rasse« Unrecht sei. Dagegen meinte sie jedoch, daß die Voraus
setzungendes § 47 Abs. 2 MStGB vorlägen, nach dem von einerBestra
fung abgesehen werden kann, wenn die Schuld des gehorchenden Unter
gebenen gering ist: Das AOK habe bei der Einsatzgruppe D darauf
gedrängt, daß die etwa ioooo Juden aus »Sicherheitsgründen« zu
erschießenseien,was jedoch aus personellen Gründen durch das zustän
dige Einsatzkommando 1ib nicht möglich gewesen wäre. Hierauf habe
das Oberkommando der Armee, vermutlich der für Sicherheitsfragen
zuständige Ic/AO, Major R., dem die GFP-Gruppe unterstand, zugesi
chert, zusätzlich Personal und Fahrzeuge für die Vernichtungsaktion zur
Verfügung zu stellen. Die Mitwirkung der Angehörigen der Gruppe an
den Erschießungen sei aufgrund dieses Befehls erfolgt, der mit aller*
Wahrscheinlichkeit durch Feldwebel B. der GFP-Einheit überbracht
worden sei. Die Beschuldigten hätten unter dem Druck der Macht und
Autorität einesBefehlsversagt,was durch die damaligemilitärischeAus
bildung der einfachen Soldaten wesentlich begünstigt worden sei. Im
übrigen hätten siealseinfache Dienstgradevon dem § 47MStGB,der die
Ausführung eines rechtswidrigen Befehls verbietet, keine Kenntnis
gehabt.
Dem ist zu entgegnen: Als Angehörige der Geheimen Feldpolizei
kannten sie mit Sicherheit das Militärstrafgesetzbuch und damit auch
den § 47 MStGB. Nach der Dienstvorschrift für die Geheime Feldpoli-

582
zei (H.Dv.g. 150) waren die Angehörigen der GFP als Beamte Hilfsor
gane des zuständigen Gerichtsherrn. Sie hatten für ihn in bestimmten
Strafsachen die Ermittlungen zu führen. Für diese Tätigkeit waren sie
aus- und weiterzubilden, auch wenn sie - wie vermutlich die Beschul
digten- nur Hilfsfeldpolizeibeamte waren,dievon der Truppezur GFP
kommandiert wurden. Den Befehl zur Teilnahme an der Erschießung
der Juden hätten sie unter Hinweis auf § 47 MStGB ablehnen können
und müssen. Seine Ablehnung wäre um so leichter gewesen, da er ihnen
nicht unmittelbar von dem Ic/AO des AOK 11 erteilt worden war, auch
nicht von dem Chef der Gruppe, sondern von einem Angehörigen der
Einheit, der - wie sie - »nur« im Unteroffiziersrang (Feldwebel) stand
und mit dem sie kameradschaftlich verbunden gewesen sein dürften.
Nach eigener Aussage haben sie jedoch keine Gegenvorstellung erho
ben. Auch hat keiner von ihnen versucht, den Befehl zu umgehen, etwa
durch Krankmeldung. Noch nicht einmal das grausame Geschehen am
Tatort hat sieveranlaßt,sichvor der weiteren Ausführung des Befehls zu
drücken. In ähnlichen Fällen haben Angehörige von Polizeieinheiten
bekundet, daß sie oder Kameraden sich während der Erschießung abge
setzt hätten, was bei der Vielzahlder Schützen und sonstigen Beteiligten
- beispielsweise Postenzur Absperrung, zur Bewachung der aufdieExe
kution wartenden Juden und Heranführung der Opfer an den Exekuti
onsort - bei einer Massenexekution möglich gewesen sei, wobei zu
berücksichtigen ist, daß die Schützen von Zeit zu Zeit abgelöst wurden,
um sichfür einenspäteren Einsatz physisch und psychisch zu »erholen«.
Letztlich folgtausihrer Einlassung, nachRückkehr von der Aktion hät
ten sie ihren Dienstvorgesetzten gebeten, »sie nie wieder zu einem der
artigen Einsatz abzustellen«, daß in ihrer Einheit mit demBefehlsgeber
über die Nichtausführung eines solchen Befehls gesprochen werden
konnte. Nach dieserSachlage liegt bei der Ausführung des rechtswidri
gen Befehls eine »geringe Schuld« im Sinne des § 47Abs. 2 MStGB, die
gemäß § 153a Abs. 1StGB einAbsehen von der Erhebung der öffentli
chen Klage rechtfertigt, sicherlich nicht vor.
Ohne Erfolgwaren schließlich auch die Verfahren, die Kriegsverbre
chen zum Nachteil der Kriegsgefangenen betrafen, besonders der
sowjetischen. Hierfür wurde die Zentrale Stelle nach Erweiterung ihres
Aufgabengebietes imFrühjahr 1965 teilweise zuständig. Ihre Zuständig
keit war beschränkt auf Verbrechen, die aus ideologischen Gründen
begangen wurden, also reine NS-Verbrechen, die allerdings in »Tatein
heit« mit Kriegsverbrechen standen. Gegenstand der Verfahren waren
im wesentlichen die Aussonderungen von gefangenen Rotarmisten aus

583
politischen, religiösen oder rassischen Gründen zwecks Tötung auf
grund der Einsatzbefehle Nr. 8, 9 und 14des Chefsder Sicherheitspoli
zei und des SD31 in Verbindung mit den Befehlen des OKW und OKH,
die die Zusammenarbeit mit den Aussonderungskommandos des SD
betrafen.
Die Verfahren richteten sich im wesentlichen gegen Armeeoberkom
mandos, alle Kommandeure der Kriegsgefangenen und Kriegsgefan
genen-Bezirkskommandanten im Reich, in den Operations-, in den
rückwärtigen Gebieten und den Bereichen der Wehrmachtsbefehls
haber; gegen die Kommandanten und Stäbe der Kriegsgefangenenlager,
in denen sowjetische Kriegsgefangene gesammelt (Armee-Gefangenen-
Sammelstellen), auf die Lagerverteilt(Dulag) und verwahrt wurden (Sta
lag), sowie gegen die Bewachungseinheiten, im allgemeinen Landes
schützenbataillone. Obwohl in nahezu allen Lagern Aussonderungen
festgestellt werden konnten, kam es nur in einem Fall zur Anklage und
zum Urteil.32 Alle anderen Verfahren mußteneingestellt werden. Über
wiegend hattendieVerfahren sichdurchTodder Beschuldigten erledigt.
Hervorzuheben ist, daß die meisten Beschuldigten Reserveoffiziere
waren, die bereits am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten und den
Jahrgängen 1879 bis ungefähr 1897 angehörten.33 Wegen Todes mußten
durchweg auch die Verfahren gegen die Oberbefehlshaber der Armeen,
die Kommandeure der Kriegsgefangenen (Generale) und die Kriegsge
fangenen-Bezirkskommandanten (Obristen) eingestellt werden, deren
Alter erheblich höher war als das der Kommandanten und sonstigen
Offiziere der Kriegsgefangenenlager. Zum Beispiel gehörte der Kriegs
gefangenen-Bezirkskommandant »S« (Winniza; späterBjelaja-Zerkow),
Oberst Friedrich C, dem Jahrgang 1870 und sein Nachfolger, Oberst
Ulrich von R., dem Jahrgang 1874 an. Beide waren bei Aufnahme der
Ermittlungen durch die Zentrale Stelle bereits nicht mehr am Leben. Der
letzte Kommandantder Dienststelle, Oberst Otto M., war über 80Jahre
alt, kamaberals Beschuldigter nichtin Frage, weil er erst nach Aufgabe
der Aussonderungen das Kommando übernommen hatte.34
Neben den zahlreichen Verfahren, diewegen Todes eingestellt werden
mußten,fallen die auf,diesichdurch sonstige Verfahrenshindernisse erle
digten, zumBeispiel dauernde Vernehmungs- undVerhandlungsunfähig-
keit wegen hohen Alters und schwerer Krankheit oder Ausschluß der
deutschen Gerichtsbarkeit gemäß Artikel 3 Abs. III, lit. b des sogenann
ten Überleitungsvertrages, sofern von einer der drei Westmächte dieTat
bereits untersuchtund die Untersuchungendgültig abgeschlossen war.
In Zusammenhang mit diesen Verfahrensoll nicht unerwähnt bleiben,

584
daß sichnach den Ermittlungsergebnissen nicht wenigeKommandanten
der Kriegsgefangenenlager weigerten, dem SD für Aussonderungen
Zutritt zu den ihnen unterstellten Lagern zu gewähren, selektierte
Gefangene dem Abtransport durch Verteilung auf Arbeitskommandos
außerhalb der Lager entzogen, dem SD bei der Aussonderung eine
Unterstützung versagten oder die Herausgabe der ausgesonderten
Gefangenen ablehnten, wenn ihnen deren Schicksal bekannt geworden
war. Häufig war dieser Widerstand jedoch nutzlos, weil die Offiziere
nach Beschwerden des SD, die nicht selten über das Reichssicherheits
hauptamt bis zum OKW weitergeleitetwurden, die Anweisung erhiel
ten, die Aussonderungen zuzulassen oder die selektierten Gefangenen
herauszugeben.35 Der Grund für dieseauffallende Haltung vieler (Reser-
ve-)Offiziere im Kriegsgefangenenwesen dürfte vorwiegend in der
Erziehung und Ausbildung im kaiserlichen Heer gelegen haben. Hierfür
sprechen Äußerungen, die in erhalten gebliebenen Berichten des SD und
in Aussagenihrer ehemaligen Untergebenen überliefert wurden.
Neben alldiesenVerfahren ausden Komplexen Repressalienmaßnah
men, Zusammenarbeit mit der Sicherheitspolizei und dem SD bei Ver
nichtungsaktionen gegen Juden und völkerrechtswidrige Behandlung
von sowjetischen Kriegsgefangenen sind weitere Verfahren wegen
Kriegsverbrechen gegen Angehörige der früheren Wehrmacht von der
Zentralen Stelle eingeleitet worden, sofern sich solche aus Vorermitt
lungsverfahren, bei der Auswertung der Ermittlungsverfahren der
Staatsanwaltschaften oder aus Dokumenten, die namentlich bei der
Auswertung ausländischer Archive anfielen, ergaben. So wurden zum
Beispiel noch Verfahren wegen der Durchführung des sogenannten
Kommandobefehls (Übergabe vonAngehörigen dersogenannten Kom
mandotrupps andenSDzurTötung)36, des »Kugelerlasses«37 sowie ähn
licher Befehle (Übergabe von wiederergriffenen geflüchteten Kriegsge
fangenen aufgrund bestimmterErlasse des OKW oder des OKH an den
SD zur Tötung38) sowie Kriegsverbrechen einzelner (Exzeßtaten) ge
führt, ohne zuständig zu sein.
Die Zentrale Stelle fühlte sich dem Legalitätsprinzip stets verpflichtet.
Sie überprüfte sogar noch Komplexe, die angeblich durch alliierte Ver
fahren erledigt waren, etwa die gegen ehemalige Angehörige des OKW
und des OKH, fand dadurch weitere mutmaßliche Beschuldigte und gab
die Vorgänge zu weiteren Ermittlungen an die zuständige Staatsanwalt
schaft ab. Nahezu alle Verfahren endeten jedoch mit einer Einstellung
mangels Beweises, wegenVerjährung (Totschlag, aufgrund des im Jahre
1968 geänderten § 50 Abs. 2 StGB39), Todes, Verhandlungsunfähigkeit

585
oder Nichtermittlung des oder der Beschuldigten, wobei darauf hinzu
weisen ist, daß das Deutsche Reich sich nicht nur auf das Gebiet der Bun
desrepublik beschränkte, sondern sichauchauf die Gebieteder heutigen
Republik Österreich und der früheren DDR erstreckte.
Die von der Zentralen Stelle eingeleiteten Verfahren wegen Kriegs
und NS-Verbrechen betreffen nur einen Teil der von Angehörigen der
früheren Wehrmacht begangenen völkerrechtswidrigen Handlungen.
Zwar hätte die Ludwigsburger Dienststelle im Rahmen ihrer eigentli
chen Aufgabe,der Aufklärung von NS-Verbrechen,den Anstoß zu einer
Verfolgung von weiteren Kriegsverbrechen geben können; der
Erschließung der Quellen, die sowohl NS- als auch Kriegsverbrechen
enthielten, standenjedochHindernisseentgegen, dienicht oder erst nach
Jahrzehnten beseitigt wurden.
Als die Zentrale Stelle beispielsweise erfuhr, daß es Fahndungslisten
der United Nations War Crimes Commission gab, die nach deren Auf
lösung der UNO zur Archivierung übergeben worden waren, bemühte
sie sich (und auch Institutionen anderer Länder) 1964 um die Einsicht
nahme. Die UNO lehnte das Begehren mit der seltsamen Begründung
ab, sie verwalte nur die Materialien, könne jedoch nicht darüber verfü
gen. Erst im Zusammenhang mit dem »Fall Waldheim« öffnete sie auf
Druck der Vereinigten Staaten und Israels Anfang Herbst 1986 ihr
Archiv. Schon Ende Herbst dieses Jahres erhielt die Zentrale Stelle
schließlich die Fahndungslisten, die rund 30000 Namen von (Reichs-)
Deutschen enthielten, allerdings nicht nur von Beschuldigten, sondern
auch Verdächtigen (Angehörige einer verbrecherischen Organisation
oder Einheit, die an Kriegs- und NS-Verbrechen beteiligt gewesen sein
konnten) und Zeugen. Zur Überprüfung verstärkten die Landesjustiz
verwaltungen die ZentraleStelle ab Frühjahr 1987 bis Anfang 1988 nach
und nach mit elf Staatsanwälten, um im Hinblick auf den Zeitablauf eine
schnelle Überprüfung durchführen zu können. Etwa 15000 Vorgänge
wurden im Hause weggelegt, weil die Taten nicht mehr verfolgtwerden
konnten (Verfahren bereits von deutschen oder alliierten Gerichten erle
digt, Verjährung und Tod) oder, bei Angaben von Zeugen, den Strafver
folgungsbehörden zu bereits anhängigen oder anhängiggewesenen Ver
fahren zur Kenntnisnahme übersandt. Die verbliebene Hälfte leitete die
Zentrale Stelle mit den bei ihr vorhandenen Unterlagen den Staatsan
waltschaften bis Frühjahr 1994zu, obwohl bis zum Jahr 1992die zusätz
lichenMitarbeiter auf Druck des Rechnungshofes von Baden-Württem
berg wieder abgezogen wurden. Überwiegend ergaben die Ermittlungen
der Strafverfolgungsbehörden, daß die Beschuldigten bereitsverstorben

586
waren. In geringem Umfang wurde ferner festgestellt, daß die in den
Fahndungslisten erhobenenVorwürfe gegen Einzelpersonen, Einheiten
oder Dienststellennicht zutrafen. So war ein ganzes Bataillon zur Fest
nahme ausgeschrieben, das in einem Ort in Belgien einMassaker an der
Zivilbevölkerung begangen habensollte. Zur Tatzeitbefand sichdieEin
heitseitTagen nichtmehrandemTatort. Auszurückgelassenen und spä
ter aufgefundenen Unterlagen der Einheithatte man angenommen, ihre
Angehörigen hätten das Kriegsverbrechen begangen. Außerdem ergab
sich, daß die Zivilisten nicht Opfer willkürlicher Maßnahmen waren,
sondern aufgrund von Kampfhandlungen der Alliierten und der Deut
schen getötet wurden. Bei der Vielzahl der wegen Todes eingestellten
Verfahren wäre es sachdienlicher gewesen, wenn die UNO der Zentra
len Stelle schon imJahre 1964 die Unterlagenzugänglich gemacht hätte.
Ihre damalige Ablehnung ist nicht nachvollziehbar, zumal sie sich in
Ausschüssen mit der Verfolgung von Kriegsverbrechen befaßteund die
Nichtanwendbarkeit von Verjährungsbestimmungen auf Kriegsverbre
chen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschlossen hat, wenn
auch erst im Jahre 1968.

Die Verfolgung der von Wehrmachtsangehörigen begangenen


NS- und Kriegsverbrechen in der sowjetischen Besatzungszone
und der DDR

Die DDR hat in ihren Medien und Publikationen immer darauf hinge
wiesen, daß die Bundesrepublik die Kriegs- und NS-Verbrecher vor
einer Bestrafung schütze, daß ihnen darüber hinaus weitgehend wieder
hoheÄmterim Staatsapparat anvertraut worden seien.40 Oft sindin die
sem Zusammenhang Namen von Politikern, Juristen, Polizeibeamten
und Militärs unter Nennungvon Vorwürfen, die nicht oder nur teilwei
se zutrafen, genannt worden.41 Gleichzeitig hat sie lauthals erklärt, daß
in ihrem Bereich die »Handlanger des faschistischen Regimes« systema
tisch verfolgt und bestraft worden seien. Zur Unterstreichung dieser
Behauptung führte sie häufig ihre Statistik an, nach der an die 13000
»Kriegsverbrecher« verurteilt worden waren.42 Eine Überprüfung der
Angaben konnte seinerzeit nicht erfolgen, da die Materialien unzugäng
lich waren. Erst nach der Wendeund durch die Wiedervereinigung ergab
sich für die Zentrale Stelledie Möglichkeit, im Rahmen der Auswertung
der dortigen Archive nachnochstrafrechtlich relevanten Unterlagen, die
Behauptung zu untersuchen. DieUntersuchung der beidenStrafverfol-

587
gungsbehörden in der DDR anhängig gewesenen Verfahren ergab, daß
von den angeblich etwa 13000 ausgesprochenen Urteilen nur ein ver
schwindender Prozentsatz eigentliche Kriegsverbrechen betraf. Im
wesentlichen bezogen sich die Strafaussprüche auf NS-Verbrechen und
davon ein großer Teil aufVerurteilungen wegen Mitgliedschaft in einer
im Hauptkriegsverbrecherprozeß in Nürnberg für verbrecherisch
erklärten Organisation43 - ein Tatbestand, der in den westlichen Besat
zungszonen und der Bundesrepublik in der Regel im Rahmen der Ent
nazifizierung mit »Sühnemaßnahmen« geahndet wurde.44 Im übrigen
war die Verfolgung von NS-Verbrechen im eigentlichen Sinne in der
DDR entgegen ihrer Behauptung nicht intensiver als in der Bundesre
publik. Bis Ende 1949 wardie Zahl derVerurteilungen ungefähr gleich.
Für 1950 weist die Statistik der DDR dagegen 4092 Urteile auf, die der
Bundesrepublik nur 809. Des Rätsels Lösung: Unter den4692 Verurtei
lungen der DDR befinden sich 3254 der »Waldheim-Verfahren«, die
wegen der in den Prozessen und bei der Urteilsfindung festgestellten
Rechtsverletzungen schlechthin als nichtig anzusehen sind.
Wie in derBundesrepublik gingen abAnfang 1951 dieVerurteilungen
in der DDR erheblich zurück, was aus der folgenden Statistik zu ent
nehmen ist:45

Jahr DDR BRD


1951 331 259
1952 140 191
1953 8S 121

1954 35 46
195s 23 21

1956 - 23
1957 1
43
1958 1 22

Erst nach Gründung der Zentralen Stelle, vorallem aber nach Errichtung
der Diensteinheit 11 in der Hauptabteilung IX des Ministeriums für
Staatssicherheit, die auf Befehl des Ministers für Staatssicherheit, Erich
Mielke, für die Verfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen zuständig
wurde,46 stiegen die Strafaussprüche der Gerichte der DDR wieder an,
erreichten jedoch bis zur Wende nur etwa 65 rechtskräftige Urteile, die
im wesentlichen NS-Verbrechen betreffen.47 Insgesamt können sie
jedoch als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

588
bezeichnetwerden, weildie ihnen zugrundeliegenden Handlungen nach
dem Strafgesetzbuch der DDR vom 12. Januar 1968 unter die dort ent
haltenen Tatbestände der Kriegsverbrechen (§ 93) oder der Verbrechen
gegen die Menschlichkeit (§ 91)zu subsumieren sind.
Vom Zusammenbruch des Dritten Reiches bis zum Jahre i960 wur
den von den Gerichten der DDR etwa 12880 Urteile wegen Kriegs-und
NS-Verbrechen sowie wegen Mitgliedschaft in einer im Hauptkriegs
verbrecherprozeß in Nürnberg für »verbrecherisch« erklärten Organi
sation gefällt. Nach Angaben der DDR befinden sich unter diesen nur
zwei Urteile, die sich gegen Angehörige der früheren Wehrmacht rich
ten.48 Ob diese Aussage als abschließend anzusehen ist,bedarfnocheiner
Prüfung.49 Mit Sicherheit wird sich am Ergebnis nicht vieländern. Zwi
schen 1961 und Ende 1965 scheint kein Urteil ausgesprochen worden zu
sein. Von den in den Jahren 1966bis 1985 mit Urteil abgeschlossenen65
Verfahren konnten nur sechs festgestellt werden, die sich gegen
Angehörige der früheren Wehrmacht richteten.50 Die Entscheidungen
betrafenAngehörige der Geheimen Feldpolizei-Gruppe 580(dreiUrtei
le)51, Gruppe 570 (ein Urteil)52, des Feldgendarmerietrupps der 2. Luft
waffendivision53, einer Einheit der Feldgendarmerie54 und des Strafba
taillons 999^ (jeweils ein Urteil). In demselben Zeitraum wurden zwei
weitere Verfahren gegen Wehrmachtsangehörige wegen Kriegsverbre
chen im engeren Sinne geführt, die ohne Strafausspruch endeten: Ein
Operatiworgang56 derStasi gegen einen ehemaligen Stabsarzt derWehr
macht in einem mit sowjetischen Kriegsgefangenen belegten Lager, in
demwegen derunmenschlichen Lebensbedingungen rund40000 Todes
fälle zu beklagen waren,wurde durch den Staatssicherheitsdienst einge
stellt: »Die Einleitung strafrechtlicher prozessualer Maßnahmen
[würde] ein Politikum unter der älteren Ärzteschaft der DDR schaf
fen!«57 Ein Verfahren gegen ehemalige Wehrmachtsoffiziere eines
Kriegsgefangenenlagers wegen Aussonderung von untragbaren sowjeti
schen Kriegsgefangenen und Angehörigen der Bewachungseinheit
wurde nicht weiter verfolgt, ohne daß eine abschließende Entscheidung
getroffen worden wäre.58

Die Verfahren als Propangandamittel gegen die Bundesrepublik

Auffallend ist, daß etwa ab Anfang der sechziger Jahre im allgemeinen


die Verfahrenvon der Stasials Untersuchungsorgan für Kriegs- und NS-
Verbrechen immer dann eingeleitet wurden, wenn in der Bundesrepu-

589
blik entsprechende anhängig waren. Diese Verfahrensweise diente allein
Propagandazwecken, nämlich der Weltöffentlichkeit zu zeigen, wie die
DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik die »Kriegsverbrechen der
Faschisten« ahnde. Der Staatssicherheitsdienst hatte immer Beschuldig
te zur Hand, um im Bedarfsfalle ein »Gegenverfahren« führen zu kön
nen. Als Beispiel sei der Komplex »Geheime Feldpolizei« angeführt:
Anfangder sechzigerJahre wurde der Stasibekannt, daß der in der DDR
lebende, ehemalige Oberfeldwebel der Geheimen Feldpolizei-Gruppe
580, Karl G., an Erschießungen von sowjetischen Bürgern im Operati
onsraum der 9. Armee teilgenommen, sie teilweise sogar geleitet hatte.
Nach seiner Vernehmung ließ die Stasi ihn zunächst unbehelligt, warb
ihn jedoch unter dem Druck der Vorwürfe als »inoffiziellen Informan
ten« an. Ähnlich verfuhr sie mit einem weiteren früheren Angehörigen
der Gruppe 580. Als sich zu Beginn der siebzigerJahre herausstellte,daß
in der Bundesrepublik dieErmittlungengegen die GFP-Gruppen ergeb
nislos verliefen, ließ die Stasi ihn fallen und leitete 1973 ein Verfahren
gegen ihn ein, dessen Gegenstand die ihr bekannten Erschießungen in
der Sowjetunionwaren.Um seineVerurteilung zu sichern,bestimmtesie
- wie in anderenFällenauch- nach Abschluß der Ermittlungen dieVor
bereitungund Durchführung der Hauptverhandlung:unter anderemdie
Unterbringung der sowjetischenZeugen in einem »operativenObjekt«,
Gesprächemit ihnen zur Festlegungihrer Aussagenim Prozeß, den Ein
satz eines Stasi-Generals und anderer Kräfte des Staatssicherheitsdien
stes in der Hauptverhandlung. Auch das zu fällende Urteil war einge
schlossen, »vorgesehene Strafe: Todesstrafe«. Da der Angeklagte
Informant der Stasi, Mitglied der SED und anderer gesellschaftlicher
Organisationen war sowie eine Reihe von Auszeichnungen erhalten
hatte, befürchtete man, er könne sich zur Milderung der Strafeauf seine
gesellschaftlichen Aktivitäten berufen, obwohl der Staatssicherheits
dienst auf ihn einwirkte, zumindest hinsichtlich seiner Tätigkeit als
Informant nicht zu sprechen. In den Ausführungen zur Durchführung
der Hauptverhandlung heißt es: »Aus der Tatsacheseiner offiziellenVer
bindung zum Ministerium für Staatssicherheit ergeben sich keinerlei
Hindernisgründe für den geplanten Verlaufder Hauptverhandlung. Der
Angeklagte [...] hat zu keinem Zeitpunkt erkennen lassen, daß er die
inoffizielle Zusammenarbeitzur Erlangungvon Vorteilenin seinerStraf
sachemißbrauchen will; [...] dieseVerbindung zum MfSwird keinesfalls
in der Gerichtsverhandlung erwähnt werden.«59 Entgegen ihrer Aussa
gewar die Stasi jedoch nicht völligdavon überzeugt, daß der Angeklag
te über seine Tätigkeit als IM schweigen würde, und ordnete daher die

590
Beschränkung des Teilnehmerkreises auf fünfzehn zuverlässige Perso
nen an. Am Prozeß nahmen der Bürgermeister des Heimatortes des
Angeklagten, der Kaderleiter seines Betriebes und dessen Stellvertreter,
ein Mitglied der SED-Bezirksleitung und sein Sohn, FDJ-Sekretär, teil.
Die restlichen Plätze waren für Mitarbeiter des MfS vorgesehen. Aus
dem Protokoll der Hauptverhandlung ist zu entnehmen, daß der Ange
klagte nichts über die Arbeit für die Stasi hat verlauten lassen. Er dürfte
davon ausgegangen sein, daß der Staatssicherheitsdienst ihm zugesichert
hat, sich für eine Minderung der Strafe einzusetzen, wenn er schweigen
würde. Am 6. September 1974 wurde der Angeklagte zum Tode verur
teilt und wenig später hingerichtet.60
Bald darauf setzten die Propagandaaktionen gegen die Bundesrepu
blik ein, um »die internationale Öffentlichkeit überdie Haltung derbei
den deutschen Staaten zur Verfolgung und Bestrafung von Kriegsver
brechen zu informieren«. Der genannte Fall und andere Urteile
erbrächten den Nachweis, daß die DDR im Vergleich zur Bundesrepu
blik alles in ihren Kräften Stehende unternehme, um Nazi- und Kriegs
verbrecher zu verfolgen und entsprechend dem Grad ihrer Schuld zu
bestrafen.Hierbei wurde betont: »Wennauch als Ausgangspunkt für die
Verbrechen des Angeklagten der deutsche Faschismus angesehen wer
den muß, so sind es andere gewesen, die die Verbrechenim großen Stile
planten und anleiteten, die heute unbestraft in der Bundesrepublik
leben.«61

Schlußbetrachtung

Die Verfolgung von Kriegsverbrechen war schon immer ein Problem.


Ab dem Ende des 18.Jahrhunderts versuchte man es dadurch zu lösen,
daß man von der Bestrafung der Besiegten durch die Sieger absah und
Amnestieklauseln für Sieger und Besiegte in die Friedensverträge auf
nahm, die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhten.62 Gewiß eine
Möglichkeit, die »Kriegsverbrecherfrage« zu lösen, aber keine gute.
Wenn man von vornherein weiß, daß Verbrechen amnestiert werden,
untergräbt dieses Wissen die Prävention. Nach dem Ersten Weltkrieg
ging man wieder zu einer Bestrafung durch die Siegermächte über. Die
Entente forderte im Friedensvertrag, dem VersaillerVertrag, vom Deut
schen Reich die Auslieferung von Kriegsverbrechern zur Aburteilung.63
Nach erheblichen Protesten durch die deutsche Regierung, im Reichs
tag,durch die Reichswehr und dieBevölkerung gabendie Sieger schließ-

591
liehihre Absicht auf und überließen dieVerfolgung dem Besiegten. Die
Reichsregierung übertrug dem Reichsgericht in Leipzig diese Aufgabe.
Es kam jedoch, wie es vorauszusehenwar: Von den 907von der Entente
aufgelisteten Kriegsverbrechern sind nur vier verurteilt worden. Fünf
Verfahren endeten durch Freispruch; alleanderen wurden mit einer Ein
stellung oder in ähnlicher Weise abgeschlossen. Ähnlich wardas Ergeb
nis von 837Verfahren, die auf Anzeigeeingeleitet worden waren: In drei
Fällen erging einUrteil; indenübrigen Verfahren erfolgte dieErledigung
durch Einstellung.64 Es war daher nicht verwunderlich, daß nach dem
Zweiten Weltkrieg die Alliierten die Verfolgung der Kriegsverbrechen
selbst betrieben, sie aber schließlich doch wieder den Besiegten über
ließen. Deren Haltung zur Sache entsprach im wesentlichen der nach
dem Ersten Weltkrieg gezeigten, obwohl die Verbrechen im Zweiten
Weltkrieg in der Schwere und im Ausmaß nicht mit denen, die zwischen
1914 und 1918 von deutscher Seite begangen worden waren, verglichen
werden konnten und zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens eine
Ahndung forderten. Hinzu kam, daß die westlichen Alliierten auf die
Deutschen keinen Druck zur Verfolgung der völkerrechtswidrigen
Handlungen ausübten undimübrigen dievonihnen verurteilten Kriegs
und NS-Verbrecher Anfang der fünfziger Jahre begnadigten. Diese Ver
fahrensweise der Alliierten war keine Rückkehr zu der bis zum Ersten
Weltkrieg geübten Amnestie der Verbrechen der Kriegsparteien; sie
erfolgte vielmehr aus politischen Gründen. Infolge der damaligen an
gespannten politischen Weltlage hatten sie ein großes Interesse an der
Wiederaufstellung deutscher Streitkräfte. DieVerfolgung vonAngehöri
gen der früheren Wehrmacht stand der Wiederbewaffnung jedoch ent
gegen, zumal der damalige Bundeskanzler den westlichen Alliierten
immer wieder erklärte, es werde keine neue deutsche Armee geben,
solange noch Prozesse gegen Angehörige der Wehrmacht geführt und
deutsche Soldaten sichin alliierter Haft befinden würden.65 Folge dieser
gegenseitigen Forderungen war schließlich ein beiderseitiges Nachge
ben. Die westlichen Alliierten ermächtigten sogar die Bundesregierung
zur Außerkraftsetzung ihrer Rechtsgrundlage für die Verfahren wegen
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Kon
trollratsgesetz Nr. 10, obwohl sie gar nicht befugt waren, eine solche
Ermächtigung zu erteilen. Das Gesetz war von den Vier Mächten des
Kontrollrates erlassen worden und hätte also nur durch sie gemeinsam
geändert oder aufgehoben werden dürfen. Von dieser Ermächtigung
machten die Bonner Politiker Gebrauch und setzten mit dem »Ersten
Gesetzfür die Aufhebung des Besatzungsrechts« vom 30. Mai 1956 das

592
Kontrollratsgesetz außer Kraft.66 Durch das Verhalten der westdeut
schenPolitiker, dasweitgehend der Ansichtder Bevölkerung entsprach,
und das Nachgebender Alliiertenin der »Kriegsverbrecherfrage« wurde
die Wehrmacht, genauer gesagt die mit der Vergangenheit belasteten
Angehörigen der Wehrmacht, »sauber«. Ähnlich war es in der DDR:
Man brauchte vor allem Offiziere der ehemaligen Wehrmacht, um die
kasernierte Volkspolizei und später die Nationale Volksarmee aufzu
bauen. Außerdemstörte dieVerfolgung der Kriegs- und NS-Verbrechen
den »friedlichen Aufbau« der DDR, wie die Abneigung der dortigen
Bürger gegen die Verfahren umschriebenwurde.
Sofern später noch Verfahren gegen Angehörige der Wehrmacht
anhängig wurden, war dieses auf westdeutscher Seitemehr oder weniger
Zufall,auf ostdeutscher Seite eine gezielte Propagandamaßnahme gegen
die Bundesrepublik. Der Ausgang dieser Verfahren war voller Wider
sprüche und offenbarte die Haltung beider deutscher Staaten zur Ver
folgung der Kriegs- und NS-Verbrechen, die Angehörige der Wehr
macht begangen hatten. Die westdeutschen Entscheidungen waren von
der »Schlußstrich-Mentalität« und die ostdeutschen vom Propaganda
zweck geprägt, aus dem sich ebenfalls die »Schlußstrich-Denkweise«
ergibt. Deutlich wird dieses an den oben aufgeführten Verfahren gegen
Angehörige der Geheimen Feldpolizei. Während die Ermittlungsvor
gänge in der Bundesrepublik eingestellt oder auf andere Weise erledigt
wurden, verurteilte man in der DDR Angeklagte derselben Einheiten
überwiegend wegen der gleichen Vorwürfe zum Tode oder, als die
Todesstrafe abgeschafft war, zu lebenslänglicher oder zu hoher zeitiger
Freiheitsstrafe - nicht aus Rechtsgründen, sondern aus Gründen der
Propaganda, nämlich um der Weltöffentlichkeit zu zeigen, daß in der
DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik die faschistischen Verbrechen
»im Interesse der Wiederherstellung und Erhaltung der Menschenrech
te als Angelegenheit aller friedliebender Staaten«67 bestraft werden.
Nach allem entsprach die Haltung der beiden deutschen Staaten zur
Verfolgung der Kriegs- und NS-Verbrechen, begangen durch Angehöri
geder ehemaligen Wehrmacht, nichtdemRechtsbewußtsein, dassichaus
dem innerstaatlichenRecht und dem Völkerrecht ergibt. Die Verfahren
der Besatzungsmächte in Deutschland und die der Alliierten in ihren
Ländern hätten für die Deutschen ein Anstoß sein müssen, die straf
rechtliche Aufklärung systematisch weiter zu betreiben. Dieses ist aber
aus vielen, insbesondere politischen Gründen unterblieben. Der oft
geäußerte Einwand des »Tu-quoque-Prinzips«68 kann nicht als Recht
fertigungsgrund für die Unterlassung der Verbrechensverfolgung aner-

593
kannt werden, da die rechtswidrigen Handlungen nicht allein Kriegs
verbrechen betreffen, sondern darüber hinaus auch NS-Verbrechen, die
die Siegermächte nicht begangen haben. Ein Staat, der die Verfolgung
solcher Verbrechen versäumt, verletzt eine Rechtspflicht, die für das
Rechtsbewußtsein seines Volkes in der Völkergemeinschaft unerträg
liche Folgen haben kann.

Anmerkungen

i Vgl. Alfred Streim, Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im »Fall


Barbarossa«, Heidelberg/Karlsruhe 1981, S. 33ff.
2 Handschriftliche Randnotiz Keitels auf der Gegenvorstellung des AmtesAus
land/Abwehr vom 15.9.1941,Nürnberger Dok. EC-338.
3 Die Geiselnahmen erfolgten überwiegend nachder völkerrechtswidrigen Hand
lung des Gegners,wobei die Geiselnals »Sühnemaßnahme« erschossenwurden.
Da diese »unechtenGeiselnahmen« unter Repressalienmaßnahmen fallen, wird
im folgenden nur von Repressalienmaßnahme gesprochen.
4 Alfred Streim, Das Völkerrecht und die sowjetischen Kriegsgefangenen, in:
Bernd Wegner, Zwei Wege nach Moskau - Vom Hitler-Stalin-Pakt zum
»Unternehmen Barbarossa«, München/Zürich 1991. Zur Behandlung der NS-
Verbrechenals Kriegsverbrechen vgl.Erich Schwinge, Bundeswehrund Wehr
macht - Zum Problem der Traditionswürdigkeit, Bonn 1991.
5 Knut Ipsen,Das Tokyo Trialim Licht desseinerzeitgeltenden Völkerrechts, in:
Rolf Dietrich Herzberg (Hg.), Festschriftfür Dietrich Oehler zum 70.Geburts
tag, Köln/Bonn/München 1986,S. 5o6f.
6 Amtsblatt des Kontrollrates vom 20.12.1945, S. 5off.
7 Amtsblatt des Kontrollrates vom 30.11.1945,S. 2off.
8 Tatbestand ist ferner »Zugehörigkeit zu gewissen Kategorien von Verbrecher
vereinigungen oder Organisationen, deren verbrecherischer Charakter vom
Internationalen Militärgerichtshof festgestellt worden ist« (Artikel II, Abs. 1
lit. d).
9 Amtsblatt der Alliierten Hohen Kommission, S. 54ff.
10 In den Jahren 1950/51 hatten deutsche Gerichte aufgrund des Kontrollratsge
setzes Nr. 10in 730Fällen noch Urteile ausgesprochen.
11 Vgl. dieStatistik beiAdalbert Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, Heidelberg
1984, S. 329.
12 Verhandlungendes Deutschen Bundestages, I. Wahlperiode,Bd. 13,S. 10505.
13 Alfred Streim, Zur Legende von der zweiten Schuld, in: Tribüne, Zeitschrift
zum VerständnisdesJudentums, Heft 131, 3. Quartal 1994, S. 134.
14 Vgl. Robert Kempner, Übersicht über die Nürnberger Prozesse, in: Telford
Taylor, Die Nürnberger Prozesse, Zürich 1951, S. 160ff.
15 Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1949, S. 37ff.
16 BGBl. I,S. 203ff.

594
17 Nach der Aufnahme der Tätigkeit der Zentralen Stelle sindvon ihr NS-Verbre
cher ermittelt worden, die unter das Amnestie-Gesetz wegen falscher Namens
führung gefallen waren und unbehelligt in der Bundesrepublik gelebthatten.
18 Vgl. Verfahrensübersicht der Zentralen Stelle (Zusammenstellung des Bundes
ministers der Justiz anläßlich der bevorstehenden Verjährung von Mord am
8.5.1965).
19 Ebenda.
20 Ebenda.
21 BGBl. Teil II, S. 405.
22 Tateinheitliegtvor, wenn die Handlung desTätersfür mehrere GesetzesVerlet
zungenidentisch ist. Tateinheitzwischen Kriegs- und NS-Verbrechen ist hier
nur im technischen Sinn zu sehen.
23 Vgl. Anm. 3.
24 Hermann Dieter Betz, Das OKW und seine Haltung zum Landkriegsvölker
recht im Zweiten Weltkrieg, (Diss.), Würzburg 1970, S. 296f.; Karl Siegert,
Repressalie, Requisition und Höherer Befehl, Göttingen 1953, S. 22f.
25 Betz, Das OKW, a. a. O., S. 297.
26 Vgl. Abschlußbericht der Zentralen Stelle »Das Sonderkommando 4a der Ein
satzgruppe C und die mit diesem Kommando eingesetzten Einheiten«, 204
AR-Z 269/60.
27 UrteildesSchwurgerichts Darmstadtgegen Callsen u. a.vom29.11.1968, Aktz.
Ks 1/67.
28 Vgl. die Dienstvorschrift der Geheimen Feldpolizei (H.Dv.g. 150), Dok. Zen
trale Stelle. Vgl. den Beitrag von Klaus Geßnerin diesem Band.
29 § 47 lautet:
»1) Wird durch die Ausführung eines Befehls in Dienstsachen ein Strafgesetz
verletzt, so ist dafür der befehlende Vorgesetzte allein verantwortlich. Es
trifft jedochden gehorchenden Untergebenen dieStrafe desTeilnehmers: (1)
wenn er den erteilten Befehl überschritten hat
oder
(2)wennihm bekanntgewesen ist, daß der Befehl desVorgesetzten eineHand
lung betraf, welche ein allgemeines oder militärisches Verbrechen oder Ver
gehen bezweckte.
2) Ist die Schuld des Untergebenen gering, so kann von einerBestrafung abge
sehen werden.«
3o Zentrale Stelle, 213 AR-Z 49316y.
31 Dok. NO 3414 (EBNr. 8),Dok. Bundesarchiv R 58/272 (EBNr. 9), Dok. NO
3422 (EB Nr. 14).
32 Urteil des Schwurgerichts Hannover vom 26.6.1968 gegen Hauptmann Georg
G. und Feldwebel Otto K., Aktz. 2 Ks 1/68. Vgl. hierzu Alfred Streim, Die
Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im »Fall Barbarossa«, Heidel
berg/Karlsruhe 1981, S. i29ff.
33 Streim, Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener, a. a. O., S. 287^
34 Zentrale Stelle, 319 AR-Z 19/72.
35 Streim, Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener, a. a. O., S. 294ff.

595
36 Dok. NOKW 1731.
37 Dok. PS 1650; vgl. auch Zentrale Stelle, 415 AR 1310/63 ~ Ei, Bd. III, S. 184ff.
38 ZumBeispiel warenausdemKgf.-Lager Sagan geflüchtete britische Flieger dem
SD zu übergeben,der die meistenerschoß.
39 Nach der Gesetzesänderung konnte Beihilfezum Mord nur noch dann bestraft
werden, wenn dem Gehilfen nachzuweisen war, daß seinem Tatbeitrageigene
»niedrige Beweggründe« zugrunde lagen oder daß ihm die »grausame« oder
»heimtückische« Tatausführung im Sinne des § 211 StGB zur Zeit seines Han
delnsbekanntwar.Ansonsten war dieTat nachder zwingend vorgeschriebenen
Milderung der Straferückwirkend zum 8. Mai i960 verjährt.
40 Vgl.zum Beispiel Generalstaatsanwalt der DDR und MinisteriumderJustiz der
DDR (Hg.), Die Haltung der beiden deutschen Staaten zu den Nazi- und
Kriegsverbrechen, Berlin 1965.
41 Vgl. zum Beispiel Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen
Deutschland u. a. (Hg.), Braunbuch, Kriegs- und Naziverbrecher in der Bun
desrepublik, Berlin 1965.
42 Generalstaatsanwalt der DDR und Ministerium der Justiz der DDR (Hg.),Die
Haltung,a. a. O., S.32ff.; Günther Wieland, DerJahrhundertprozeßvon Nürn
berg, Berlin 1986, S. 119.
43 Das Führerkorps der NSDAP (politische Leiter),SS, Gestapound SD,die nach
dem 1.9.1939 Mitglied geworden waren oder blieben. Vgl. Taylor, Die Nürn
berger Prozesse, a. a. O., S. 38L
44 Vgl. Justin von Fürstenau, Entnazifizierung, ein Kapitel deutscher Nachkriegs
politik, Neuwied-Berlin 1969.
45 Generalstaatsanwalt der DDR und Ministerium derJustiz der DDR (Hg.),Die
Haltung, a. a. O., S. 32;für die Bundesrepublik: Adalbert Rückert, NS-Prozes-
se, a. a. O., S. 329.
46 Errichtung durch Befehl Nr. 39 vom 23.12.1967. Die Dienstabteilung IX/11
hatte gleichzeitig dieAufgabe, alle Materialien der faschistischen Vergangenheit
systematisch zu erfassen, zu archivieren und »politisch-operativ« auszuwerten,
um die in Westdeutschland und West-Berlin lebenden, mit der Vergangenheit
belasteten Personen »zielgerechtzu enttarnen«.
47 Vgl. Wieland, Der Jahrhundertprozeß, a. a. O., S. 119.
48 Vgl. Generalstaatsanwalt der DDR und Ministerium derJustiz der DDR (Hg.),
Die Haltung, a. a. O., S. 39, 50.
49 Die Überprüfungen derZentralen Stelle sind noch nicht abgeschlossen.
50 Es ist davon auszugehen, daß keine weiteren Urteile gegen Angehörige der
Wehrmacht mehr aufgefunden werden, da die Überprüfung der Verurteilten
statistik des Generalstaatsanwalts der ehemaligen DDR durch die ZentraleStel
le insoweit nahezu abgeschlossenist.
51 Urteil des Bezirksgerichts Erfurt gegenKarl B. vom 6.9.1974, Aktz. 1 Bs 23/74
- 211-16/74; Urteil des BezirksgerichtsErfurt gegen Otto K. vom 16.10.1974,
Aktz. 1Bs y/y6- 211-12/76 und Urteil desBezirksgerichts Leipzig gegen Hans
K. vom i.ii.i977, Aktz. 1 Bs 45/77-211-63/77.
52 Urteil des Stadtgerichts Berlin gegenHerbert P. vom 14.8.1978, Aktz. 101aBs
42/78-211-54/7?

596
53 Urteil des Stadtgerichts BerlingegenWilliB.vom 28.3.1977, Aktz. 101aBs4/77
-211-51/78.
54 Urteil des Bezirksgerichts Cottbus gegen Walter Seh. u. A. vom 28.1.1963,
Aktz. 1 Bs 112/62.
55 Urteil des Bezirksgerichts Leipzig gegenArthur G. vom 5.9.i960, Aktz. ia Bs
72/60-I-165/60.
56 Eine Art Vorermittlungsverfahren. Nach Bestätigung des Verdachts wurde von
der Stasiein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
57 Der Vorgang wurde am 13.1.1979 eingestellt, BezirksVerwaltung für Staats
sicherheit Rostock, Reg.Nr. 161/75.
58 Vgl. Akten des MfS, XV 2963/70,Bd. I.
59 Zentrale Stelle, 3-6/313.
60 Urteil des Bezirksgerichts Erfurt vom 8.9.1974, Aktz. 1 Bs 23/74-211-16/74.
61 Vgl.Generalstaatsanwalt der DDR und Ministeriumder Justiz der DDR (Hg.),
Die Haltung, a. a. O.; allgemein: Nationalrat der Nationalen Front u. a. (Hg.),
Braunbuch, a. a. O. Vgl. auch Urteil des Bezirksgerichts Erfurt vom 8.9.1974,
Aktz. 1 Bs 23/74-211-16/74.
62 Walter Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage,
Stuttgart 1982, S. 5off.
63 Artikel 228.
64 Schwengler,Völkerrecht, a. a. O., S. 359.
65 Streim, Zur Legende, in: Tribüne, a. a. O., S. 134.
66 BGBl. Teil I, S. 437.
6y Generalstaatsanwalt der DDR und Ministerium der Justiz der DDR (Hg.), Die
Haltung, a. a. O., S. 5.
68 Prinzip der Gegenseitigkeit: Die Alliierten haben keine Verfahren wegen
Kriegsverbrechengegendie Angehörigen ihrer Streitkräfte geführt, die Besieg
ten wären deshalb auch nicht hierzu verpflichtet.

597
V Erinnerung
Omer Bartov Wem gehört die Geschichte?
Wehrmacht und Geschichtswissenschaft

Die Militärgeschichte ist, besonders seit Ende des ZweitenWeltkrieges,


in den Ruf eines etwas zweifelhaften Unternehmens geraten, und wer
sich mit ihr befaßt, wird nicht selten als zweitrangiger Gelehrter abge
tan, dem es mehr um die SchilderungheroischerSchlachten alsum seriö
se historische Forschung zu tun ist. Dieses Vorurteil ist sowohl auf all
gemeine Nachkriegstendenzen des öffentlichen Geschmacks und der
Stimmungslage als auch auf speziellere Entwicklungen innerhalb des
Faches zurückzuführen. Zugleich hängt das Vorurteil eng mit freiwilli
genBeschränkungen und Fokussierungen der Fragestellung zusammen,
die an den Forschungen und Schriften der Militärhistoriker sichtbar
werden, ganz unabhängig von deninnerenMerkmalen und bevorzugten
Untersuchungsgegenständen einerUnterdisziplin, diesichdemStudium
des Krieges verschreibt. Zwar vermögen populäre Militärgeschichten,
Schlachtenbeschreibungen, Biographien großer Kriegsherren, Bildbän
de über Panzer und Flugzeuge und dergleichen mehr dasPublikum nach
wie vor zu fesseln und haben oft sogar das Zeug zu Bestsellern (ein
Umstand, der sie wiederum zünftigen Historikern um so verdächtiger
macht). Aber im großen und ganzen ist die Militärgeschichte bei den
Gelehrten schlecht angeschrieben.
Das gilt für fast allewestlichenLänder; allerdings kann und muß man
differenzieren. Während in Großbritannien und in den USA (in gerin
gerem Umfang auch in Frankreich) Krieg und Militär keineswegs der
wichtigste Aspekt in der Geschichte dieser Nationen sind oder als sol
cher wahrgenommen werden, wird in Deutschland das Verhältnis zwi
schen Krieg und Gesellschaftsowie zwischen Militärs und der Politik als
ein Hauptfaktor der deutschen Geschichte in der Neuzeit anerkannt.
Und während umgekehrt britische und vor allem amerikanische For
scher begonnen haben, aus der traditionellenMilitärgeschichte ein ganz
neues und faszinierendes Forschungsgebiet zu machen, wofür nicht
zuletzt das gestiegene Interesse von Nichtmilitärhistorikern an Krieg
und kriegerischer Gewalt verantwortlich ist, liegt in Deutschland die

601
Militärgeschichte im wesentlichen weiterhin in der Hand von Traditio
nalisten. Zwarhaben deutsche Militärhistoriker einige umstrittene poli
tische Fragen aufgeworfen und mit großem Mut das Militär als Institu
tion einer scharfen Kritik unterzogen, doch haben sie nur wenige
Fortschritte erzielt,wasihre Methodologie und ihre Aufgeschlossenheit
für neue Entwicklungen der historischen Forschung betrifft. Bei der
Auseinandersetzung mit heiklenpolitischen, ideologischen und begriff
lichen Fragen haben sie nichtgewagt, radikalere Schlußfolgerungen aus
ihren eigenen Forschungsergebnissen zu ziehen und es eklatant unter
lassen, besonders schwierige und potentiell explosive Fragen wie die
nachder mentalen Beschaffenheit der Soldaten und der Verstrickung der
Wehrmacht in den Holocaust anzusprechen.
Der folgende Essay wird sich daher auf diverse Aspekte der Militär
geschichtsschreibung in der BundesrepublikDeutschland seit 1945 kon
zentrieren, nicht ohne Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegenüber
der Kriegsgeschichtsschreibung andererNationen im Auge zu behalten.
Ich werde dabei versuchen, die Position des »Insiders als Outsider« ein
zunehmen, als jemand, der zu der Gruppe (der Militärhistoriker, der
deutschen Historiker, der Historiker überhaupt) dazugehört und ihr
trotzdem fernsteht (da er weder »reiner« Militärhistoriker noch Deut
scher, noch ausschließlich Historiker Deutschlands ist).

Militärgeschichte imAbseits

Bevor ich mich der deutschen Szenezuwende, möchte ich einige Worte
über den allgemeinen Kontext vorausschicken. Wie eingangs erwähnt,
befindet sich die Militärgeschichte in den meisten westlichen Ländern
seit 1945 in der Defensive. Zwar haben heroische Kriegsfilme und
populäre Geschichtsbücherimmer einwilliges Publikum gefunden,aber
zünftige Historiker habendieses Feld eher gemieden. Dies lagzum einen
am allgemeinen Entsetzen vor dem Krieg angesichts der furchtbaren
Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges, zum anderen aber - und in
wachsendem Maße - daran, daß eine jüngere Generation von Histori
kern, die nicht gedient und den Kriegnicht mehr selbst miterlebt hatten,
sich allem entfremdet fühlten, was mit Soldatentum und Militär zu
tun hatte. Außerdem dachte man bei Militärgeschichte nicht selten
an die von offizieller Seite in Auftrag gegebenen Darstellungen
des Ersten Weltkrieges, die auf Kosten einer mehr distanzierten,
wissenschaftlichen Sicht der Dinge spezielle nationale oder politische

602
Vorurteile verbreitet hatten und damit auf eher beklagenswerte Weise
das Vermögendes Staates beweisen,die Intellektuellen für sich zu mobi
lisieren.
Das heißt natürlich nicht, daß überhaupt niemand Militärgeschichte
betriebenhätte; aber die Disziplin beschäftigte entweder Historiker, die
mehr an den rein militärischen, operationalen, taktischen und techni
schen Aspekten des Krieges interessiert waren, oder Gelehrte, die ihr
Augenmerk auf Strategie, Politik, Ökonomie und internationale Be
ziehungen richteten. Infolgedessen drohte die Militärgeschichte ins
Abseits zu geraten und den Kontakt zu neuen Ansätzen in der histori
schen Forschung und Literatur zu verlieren. Während also die Sozial-,
Geistes- und Kulturgeschichte alles mied, was mit dem Krieg zu tun
hatte, orientierten sich die Militärhistoriker an höchst konventionellen
Methodologien und verschlossen sichinnovativen Ideenund Konzepten
ihrer Kollegen.
Diese Entwicklung muß bedauert werden, denn durch sie verarmte
das Gebiet der Militärgeschichte, und sie verkürzte die Geschichts
schreibung im allgemeinen um ein tieferes Verständnis für den Einfluß
von Krieg und Militär auf die moderne Gesellschaft. Schließlich haben
frühereHistoriker im Kriegeinimmens wichtiges Element menschlicher
Zivilisation erkannt, und die besten Köpfe aus Wissenschaft, Geistes
geschichte und Philosophie haben sich dem Studium des Krieges ge
widmet.1 Durch die Vernachlässigung dieses Aspekts menschlicher
Geschichte wurde natürlich die Rolle des Krieges selbst in unserer Zeit
nicht geringer - lediglich unser analytisches Instrumentarium wurde
kleiner. Und während viele ernsthafte Forscher anderen Wegen in die
Vergangenheit nachspürten, sahen andere, die dieser Tendenz wider
standen, sich entweder genötigt, sich für ihr Ausscheren aus der Herde
zu rechtfertigen, oder siereagiertendamit, daß siedie Beiträge ihrer Kol
legen zur historischen Forschung bewußt ignorierten. Institutionell
bedeutete dies, daß oft die besten Köpfe sich entschlossen, Krieg und
Militär nicht zu ihrem Forschungsgegenständ zu machen,während jene,
die dies doch taten, oft mit Anstellungen in Militärhochschulen und
militärischen Forschungseinrichtungen vorliebnehmen mußten. Dieser
Umstand minderte das Ansehen der Militärgeschichte noch mehr und
engte häufigwirklich den Horizont dieser Historiker ein oder unterwarf
sie institutionellen Zwängen, die sie hinderten, ihre historischen Wahr
nehmungen zu erweiternund innovative Ansätzezu erproben.Auf diese
Weise wurden die Militärhistoriker, unabhängigvon ihren eigenenpoli
tischenund beruflichen Vorlieben, hinsichtlich ihresHerangehens andas

603
Schreiben von Geschichte und ihrer Vorstellungen von Gesellschaft und
Politik zunehmend konservativer.
Man darf hierin jedoch nicht eine naheliegende und selbstverständli
che Entwicklung sehen.Vor dem Zweiten Weltkrieg hat es Militärhisto
riker gegeben, die höchst originelle Analysender Vergangenheit vorleg
ten und politisch einen radikalen Standpunkt vertraten. Um nur ein
Beispiel aus der deutschen Historiographie anzuführen: Die revolu
tionären Thesen, die der junge Historiker Eckart Kehr in den dreißiger
Jahren vorgetragen hatte und die in den sechziger und siebzigerJahren
wiederentdeckt und erweitert wurden, gründeten sich auf eine sehr prä
zise und scharfsinnige Untersuchung der deutschen Kriegsmarine und
ihrer politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Implikationen.2
Doch mußten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fast zwei Jahr
zehnte vergehen, bevor neue oder erneuerte Ansätze bei der Untersu
chung von Krieg und Militär zu wirken begannen, und selbst dann nur
mit begrenztem Erfolg. Paradoxerweise hat gerade in dem Land, das zu
Beginn des Jahrhunderts in Hans Delbrück den ersten modernen
Militärhistorikerhervorgebracht hat, die Verjüngung dieser historischen
Disziplin besonders lange auf sich warten lassen.3
Großbritannien und mehr noch die USA haben in den letzten zwei bis
drei Jahrzehnten große Veränderungen bei der Erforschung des Krieges
zu verzeichnen. Neue Ansätze auf diesem Gebiet sind interessanterwei
se nicht unbedingt von Militärhistorikern gekommen, ja nicht einmal
immer von Historikern. So ist Paul Fussells sehr einflußreiche Arbeit
»The Great War and Modern Memory« ebenso das Werk eines Angli
stikprofessors wie Samuel Hynes' »A War Imagined«; weder Modris
Eksteins' »Tanz über Gräben« noch Robert Wohls »The Generation of
1914« stammen von Militärhistorikern, und William McNeills Dar
stellung »Kriegund Macht« ist, mit ihrem Ausblick auf mehrere Konti
nente und Jahrtausende der menschlichen Zivilisation, alles andere als
eine konventionelle Militärgeschichte.4 Wie John Chambers und mit
Einschränkungen auch Peter Paret hervorgehoben haben, kann man
heute von einer »neuen« Militärgeschichte sprechen, doch würde ich
zugeben, daß sie noch in den Kinderschuhen steckt und unter gravie
renden intellektuellen, institutionellen und theoretischen Beschränkun
gen zu leiden hat, deren Überwindung nochviele Jahre dauern wird.5 Es
scheint sogar, daß nur eine neue, noch ambitionierterekulturgeschicht-
lich orientierte Militärgeschichte sich als intellektuell überzeugende,
analytisch und methodisch innovative und akademisch reputierliche
Unterdisziplin wird etablierenkönnen.

604
In Deutschland freilich scheinen sogar diese ersten Anfänge noch
Zukunftsmusik zu sein. Abgesehen von so faszinierenden Arbeiten wie
Klaus Theweleits »Männerphantasien« (die weder von einem Militär
historiker sind noch direkt Militärisches behandeln und trotzdem als
einzigartiginstruktives Modell für Militärhistoriker dienen können, die
sich mit der Mentalität und Psychologie ihrer Protagonisten auseinan
dersetzen)6 - abgesehen von solchen Ausnahmen scheint gegenwärtig
die deutsche Militärgeschichte sich weithin in ausgetretenen, traditio
nellen methodologischen und analytischen Bahnen zu bewegen und
weder durch Einflüsse von außen noch durch die eigene viel ruhm
reichere Vergangenheit beeindruckt zu werden. Diese Situation bedarf
weiterer Untersuchung, nicht zuletzt darum, weil sowohl das Studium
der Militärgeschichte als auch das Militär als Institution - vom Phäno
men des Krieges ganz zu schweigen - einen solch gewaltigen Einfluß auf
die deutsche Geschichte gehabt haben.

Die deutsche Militärgeschichtsschreibung- Vorzüge und Grenzen

In den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des Drit


ten Reiches bestand deutsche Militärgeschichte im wesentlichenaus sehr
technischen, taktisch oder strategisch orientierten Werken sowie einer
Unzahl von Erinnerungen, Chroniken und Schlachtenbeschreibungen
durch frühereAngehörige der Wehrmacht.7 DieseLiteraturwar zwar oft
nützlich, was das in ihr gebotene dokumentarische und persönliche
Materialbetraf,wies jedochauf analytischer Ebene häufigschwereDefi
zite auf, die mit ausgeprägten apologetischen Tendenzen und endemi
schen,mitunter ganz explizitaus dem KriegherübergerettetenVorurtei
len zusammenhingen. Was die zur Anwendung kommende historische
Methode betraf, so waren die wissenschaftlichenBeiträge zu diesem rie
sigenTextkorpus von ausgesprochentraditioneller, konservativerMach
art; sie gingenimplizit von der Voraussetzung aus, daß esmöglichsei,die
Vergangenheit, wie sie »wirklich« gewesen war, durch Bezugnahme auf
offizielle Dokumente zu rekonstruieren. Die zahllosen persönlichen
Berichte hingegen schienen zu implizieren, daß die Beteiligung des
Schreibenden an den von ihm berichteten EreignissenBeweis genug für
die Richtigkeit seiner Darstellung sei.
Den meisten dieser Werke war gemeinsam, daß sie im großen und
ganzen die offizielle Wehrmachtssicht des Krieges übernahmen und ver
traten, ungeachtet der Tatsache, daß sowohl die Wehrmachtals auch das

605
Regime, dem sie gedient hatte, nicht mehr existierten. Das war an sich
schon ein bemerkenswertes Phänomen; es muß wenigstens teilweise
damit zu tun gehabt haben, daß diejenigen, dieamKrieg beteiligt gewe
sen waren oder über ihn schrieben (oft waren das dieselben Personen),
„sich heftig dagegen sträubten, sowohl ihre eigenen Erfahrungen als
auch die nationale Erfahrung als ganze einer fundamentalen Kritik zu
unterziehen. (Davon abgesehen zeigte sich hieran, in welchem Ausmaß
viele dieserMännerdie nationalsozialistische Wahrnehmung des Krieges
verinnerlichthatten, ohne sich dessenbewußt zu sein.)Die Legende von
der Distanz der Wehrmacht gegenüber dem Regime, vom Berufssolda-
tentum, von der »Korrektheit« und Hingabe der Soldaten (an das Vater
land, nicht an den Führer), vom Entsetzen und vom Widerstand der
Generäle angesichts der Verbrechen der SS, von ihrer aufrechten Hal
tung, ihrer strengen Beobachtung sittlicher Gebote und soldatischer
Tugenden erfuhr damit Anerkennung und Verbreitung auch in weiten
Teilen des nichtdeutschen Publikums und bei nicht wenigen Militärhi
storikern, namentlich in Großbritannien und in den USA.8Die Tatsache,
daß bereits die Nürnberger Prozesse die tiefe Verstrickung der Wehr
macht (oder zumindest ihrer höchsten Ränge) in die vom NS-Regime
begangenen Verbrechen und ihr starkes Engagementfür die von diesem
Regime vertretene »Sache« nachgewiesen hatten, beeinträchtigte die
Anerkennungder Legende nicht.9
In den sechzigerund siebzigerJahren änderte sich dieseSituation ent
scheidend. Mit dem ErscheinenverschiedenerwichtigerStudienüber die
Wehrmacht, ihr Verhältnis zum NS-Regime, ihre Indoktrinierungspoli-
tik und ihre Verstrickung in die nationalsozialistischen Verbrechen
erfuhr die traditionell apologetische Sichtweise eine grundsätzliche Kor
rektur, und das Interesse verlagerte sich von Taktik und Strategie auf
Politik und Mitwisserschaft.10 Sosehr diese Studien unser Wissen über
die Kollaboration des Heeres mit dem Regime erweitert haben mögen,
siewaren weder bahnbrechend auf diesem Gebiet,noch waren siejemals
ganz frei von den beiden erwähnten Eigentümlichkeiten, nämlich der
Vorliebe für militärische Operationen und der Ambivalenz hinsichtlich
der verbrecherischen Taten des Heeres. In Wirklichkeit waren diesen
für die deutsche Forschung innovativen Arbeiten frühere Studien briti
scherund amerikanischer Forscher vorangegangen, die zwar oft weniger
gut dokumentiert gewesenwaren, die aber bereits alle Hauptargumente
über die Rolle des deutschen Militärs in der Politik wie bei der Durch
setzung der verbrecherischen NS-Politik zusammengetragen hatten.11
Im Gegenteilzeichneten sich diese deutschen Untersuchungen generell

606
durch die Weigerung aus,den Beitrag nichtdeutscher Gelehrter zur Dis
kussion zu würdigen. Mehr noch, sie ließen die ausgeprägte Bereitschaft
erkennen, solche Themen zu vermeiden, die dem deutschen Wissen
schaftsestablishment, den Medien, der politischen Klasse und der brei
ten Öffentlichkeit noch immer als »sensibel« erscheinen mochten. Diese
Tendenz, zu der noch einiges zu sagensein wird, ist in Deutschland noch
heute zu beobachten.
Ein zweites wichtiges Gebiet, auf dem die deutsche Wehrmachtsfor
schung erst geringe Fortschritte gemacht und ihre Integration in über
greifende historische Studien noch kaum begonnen hat, umfaßt das
ganze Spektrum der wissenschaftlichen und intellektuellen Vorannah
men der Militärhistoriker und die aus ihnen resultierende Enge und
Hinderlichkeit des methodischen Rüstzeugs, mit dem sie an die Quellen
herangehen. In den letzten Jahrzehnten standen Sozial- und Kulturge
schichte an der vordersten Front der Geschichtsschreibung, was zur
Folge hatte, daß offizielle Dokumente, die herkömmlicherweise als
historische Primärquellen galten, nunmehr einer viel genaueren Text
analyse und Textkritik unterzogen und durch andere, mannigfaltigere
und weit weniger schlüssige Arten von Material ergänzt, wenn nicht gar
ersetzt wurden.12 »Objektive« historische Fakten sind vielen Histori
kern heute suspekt, statt dessen suchen sie nach den - bewußten oder
unbewußten - Motivationen der Menschen, aus deren Hand das uns vor
liegende Material stammt, und befassen sich ebensosehr mit der Wahr
nehmung von Realität bei ihren Protagonisten wie mit der Frage, was
diese Wirklichkeit »wirklich« war.
In diesem Kontext scheintin deutschenMilitärhistorikern einevergan
gene Zeit wieder aufzuleben: Sie klammern sich an ihre Dokumente mit
der Verbissenheit einerArmeeaufdemRückzug,im Bewußtsein der Kata
strophe, die sie am Ende der Straße erwarten wird. Anstatt von anderen
deutschen, vor allemaber ausländischen Historikern neue Konzepte und
Ansätze der historischen Forschung zu lernen, schotten sich vielezuneh
mend gegen solcheEinflüsse ab und warten statt dessenmit immer detail
lierterenDarstellungen von Zahlenund Fakten,Dokumenten und Karten
auf. Und zwar in einem solchen Umfang, daß schließlichsogar das macht
volle analytische Potential dieses Ansatzes in einem Sumpf gedruckter
Quellen mit wenigen interpretierenden Erläuterungen nachgerade
zunichte wird. In gewisser Weise ist der Textden Dokumenten, auf die er
sich stützt, so ähnlich geworden, daß er viel von seiner Effizienzverloren
hat und selbstnur mehr alsQuelle,nicht alsInterpretation zu gebrauchen
ist.

607
»Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg« -
die Probe aufs Exempel

Die oben angesprochenen Probleme lassen sich sehr deutlich an dem


wichtigsten und umfassendsten Einzelunternehmen der westdeutschen
Militärgeschichte seit dem Zusammenbruch des Hitlerregimes aufzei
gen, der mehrbändigen Reihe »Das Deutsche Reich und der Zweite
Weltkrieg« (DRZW). Von ihr sind bisher sechs Bände erschienen, die
ungefähr den Zeitraum von 1939 bis 1943 abdecken, einzelne Auslas
sungenwerden in den folgenden sechs Bändennachgeholt.13
Zum einenerhebt dieseriesige Sammlung, mit ihren gegenwärtig weit
über fünftausend engbedrucktenSeiten, die nach Abschluß des Projekts
auf wenigstensdas Doppelte angewachsen sein sollen, durch ihr schieres
physisches, wissenschaftliches und thematisches Gewicht den An
spruch, eine autoritative Studie über Nazideutschland im Zweiten Welt
krieg zu sein (wobei der Begriff »Nazideutschland« im Titel sorgfältig
vermieden wird). Zum anderen implizieren diese Bände, daß Geschich
te, oder zumindestdiese Geschichte, der Gruppe von Forschern gehört,
die diese Bände seit den siebziger Jahren im Militärgeschichtlichen For
schungsamt (MGFA) in Freiburg erarbeitet haben. Und da sich das
MGFA bis zu seiner Verlegung nach Potsdam in nächster Nähe des
Bundesarchiv-Militärarchivs (BA-MA) befand, wo es die umfangreich
ste Sammlung deutscher militärischer Dokumente gibt, nimmt diese
Buchreihe für sich auch die Autorität in Anspruch, die offizielle Inter
pretation der »Wahrheit« zu sein- zumindestsolange man von der Vor
aussetzung ausgeht, daß dieses flüchtige Gut wirklich in den Wehr
machtsdokumenten auffindbar oder aus ihnen rekonstruierbar sei. Diese
geographische Nähe zu den Primärquellen erzeugt also die Illusion, daß
die Mitarbeiter des MGFA lediglichdie »objektive« Wahrheit zu Worte
kommen lassen und in der einzigartigenLage sind, das tun zu können,
was definitionsgemäß jedem Historiker verwehrt ist, der nicht zu dieser
Gruppe gehört und nicht denselbenengenKontakt wie siezu den Doku
menten hat (und zu den Bürokraten, die mit Argusaugenüber die Doku
mente wachen und den Mitarbeiterndes MGFA ungehinderten Zugang
zu ihnen erlauben).
Das DRZW ist eine bemerkenswerte Leistung. Als solche wird es
nicht nur von den engeren Zirkeln der an Militärgeschichte interessier
ten Forscher, sondern auch darüber hinaus anerkannt, in Deutschland
und in anderen Ländern. Oxford University Press hat sogar die Herku
lesarbeitin Angriff genommen, die gesamte Serie ins Englische überset-

608
zen zu lassen, und jetzt damit begonnen,dieseBändein Großbritannien
und in den USA herauszubringen. Ungewöhnlich ist die Buchreihe nicht
nur durch die gewaltige Menge von Material, das die Mitarbeiter des
MGFA verarbeitet haben;ungewöhnlich ist sie auch, weil sie tatsächlich
einen gutinformierten und trotzdem kritischen Überblick über
Deutschland im Krieg gibt und mit vielen Konventionen aufräumt, die
bisher von deutschen (und einigen nichtdeutschen) Historikern konse
quent vertreten worden sind. Besonders die Kapitel über die militäri
sche,wirtschaftlicheund propagandistischeVorbereitungDeutschlands
auf den Krieg in Band i (W. Wette, H.-E. Volkmann, W. Deist) sowie
über die ideologischen Voraussetzungen, die militärische und wirt
schaftliche Planung sowie die ersten Phasen des deutschen Vernich
tungskrieges gegendie Sowjetunion - das Unternehmen »Barbarossa« -
in Band 4 (J. Förster, R.-D. Müller, G. Ueberschär) waren für alle
späteren Arbeiten über diese Ereignisse sehr folgenreich.
Ferner ist DRZW insofern ein publizistischer Meilenstein, als seine
Autoren trotz des Umstandes, daß sie Mitarbeiter eines offiziellen Insti
tuts mit engen Beziehungen zum deutschen Militär und zum deutschen
Verteidigungsministerium sind, sich ein hohes Maß an akademischer
Unabhängigkeit bewahren konnten und auf ihrem Recht bestanden,
gegenüber bisher anerkannten und sehr viel bequemeren »Wahrheiten«
kritisch zu sein. Daher hat sich diese offiziöse Publikation ein hohes wis
senschaftliches Niveau bewahren können, was für einenationale Kriegs
geschichte im Auftrag offiziellerStellenziemlichselten,wenn auch nicht
einmalig ist. Dabei gingesfreilichnicht ohne mancherleiGerangel,Kon
flikte und so manchen Kompromiß ab, was in vielen Bänden der Reihe
erkennbar wird, und zwar sowohl an der recht unterschiedlichen Qua
lität der einzelnenBeiträge als auch an der krassen Widersprüchlichkeit
der Argumente (und sogar »Wahrheits«-Ansprüche) verschiedener
Autoren in ein und demselben Band. Aber im großen und ganzen, und
innerhalb der selbstgesetzten Vorgaben, handelt es sich um ein bisher
höchst erfolgreiches historiographisches Unternehmen.
Doch ist am DRZW nicht nur vieles zu bewundern, sondern auch vie
les zu kritisieren; und wie immer es um die Zukunft der Reihe bestellt
sein mag, man muß auch deutlich die Grenzen der bisherigen Leistung
sehen.
Gerade weil das DRZW, wie erwähnt, implizit den Status einer ab
schließenden Arbeit beansprucht, ist es notwendig, seine Defizite in
wesentlichen Punkten hervorzuheben. Das ist um so unerläßlicher, als
die Reihe gerade hier ein generelles Problem in der Militärgeschichts-

609
Schreibung (und in mancher Hinsicht auch in anderen historischenTeil
disziplinen) in Deutschland widerspiegelt. Es muß auch ausdrücklich
hervorgehoben werden, daß das MGFA zwar das Schreiben über
Militärgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland fast zur Gänze
monopolisiert, sich aber der sogenannten »Methodendebatte« zu ent
ziehen wußte, die an den meisten deutschen Universitäten zu wichtigen
Veränderungen geführt hat. Und seit das MGFA unter den Einfluß der
Traditionspflege durch die Bundeswehr geraten ist, welche die Konti
nuität (im Positiven) zwischen der Wehrmacht und ihrer Nachfolgeor
ganisationbetont, sind so verstörende Fragen zur Geschichteder Solda
ten des Dritten Reiches wie die nach ihrer Beteiligung am Holocaust
offensichtlich zu unbequem, als daß sieoffen angegangen werden könn
ten.

Ich möchte drei Probleme herausgreifen, die mir in diesem Zusam


menhang am wichtigsten zu sein scheinen:
i) eine konservative Methodologie, die von der Voraussetzung aus
geht, daß eine strenge und redliche Analyse von offiziellem Archivma
terial zur Rekonstruktion vergangener Ereignisse ausreiche, daß die
Richtigkeitdieser Rekonstruktion »evident« sei und daß es daher keiner
weitergehenden Erklärung, Verifizierung oder theoretischen Begrün
dung dieser Rekonstruktion der Vergangenheit bedürfe. Eine solche
Methodologie versäumt die Auseinandersetzung mit einigen der span
nendsten, aber auch entscheidendsten Fragen der Geschichte im allge
meinen und der im DRZW erörterten Zeit und Ereignisseim besonde
ren;
2) eine fast vollständige Mißachtung der Sozial- und Kulturgeschich
te und ihres potentiellen Beitrags zu einem solchen Unternehmen, die
vermutlich von der Annahme herrührt, daß diese Unterdisziplinen zu
einer ganz anderenund daher irrelevanten Gruppe von Fächern gehör
ten, die nicht sinnvoll auf die Militärgeschichte zu beziehen seien. Diese
bewußt rigideDefinition des akademischen Standorts des MGFA inner
halb der historischen Zunft führt zu einergravierenden inhaltlichen Ver
armung des ganzen Unternehmens und schneidet seine Mitarbeiter von
der Möglichkeit ab, eine Fülle von ebenso faszinierenden wie zentralen
Fragen im Zusammenhangmit ihrer Arbeit aufzuwerfen;
3) das fast völligeFehlen jeder Erörterung des Holocaust, vermutlich
aus der Voraussetzung heraus, daß dieser nicht direkt mit dem Thema
»Deutschland im Zweiten Weltkrieg« zusammenhänge. Doch ganz
abgesehen davon, daß diese Voraussetzung falsch ist und von den mei
sten Studien über den Holocaust ohne Schwierigkeiten zurückgewiesen

610
werden konnte,14 läßt dieses eklatante Versäumnis das gesamte Unter
nehmen in einem irritierenden Licht erscheinenund wirft die Frage auf,
welchePressionendie Nichtberücksichtigung dieses Themaserzwungen
haben mögen oder, noch beunruhigender, welche Auffassungen diese
Historikergruppe selber von dem Zusammenhangzwischen Holocaust,
Krieg und »Deutschem« Reich haben mag. Mit anderen Worten wäre
hier die Frage unausweichlich: Wem gehört die Geschichte des Holo
caust? In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß nach dem
vom MGFA erstellten Publikationsplan für den Rest der Reihe nicht
damit zu rechnen ist, daß die »Endlösung« in einem der kommenden
Bände abgehandelt werden wird, jedenfalls nicht als ein Hauptthema,
das einen eigenen Band oder zumindest einen umfangreichen Beitrag
verdiente. So muß man schließen, daß in den Augen des MGFA der
Holocaust für die deutsche militärische Geschichte des Krieges nur am
Rande relevant ist.
Wenn wir nunmehr noch einmal die Frage aus dem Titel unseres
Essays stellen, so können wir auf sie antworten, daß laut DRZW die
militärische Geschichte Deutschlandsim ZweitenWeltkrieg den Militär
historikern (sprich: dem MGFA) gehört, daß diese Militärhistoriker mit
anderen Arten von Historikern und Geschichtsschreibung wenig oder
gar nichts zu tun haben, und also auch die Militärgeschichte Deutsch
lands nicht; und daß ebendiese Geschichte wenig mit der Völkermord
politik desNaziregimeszu tun hat, zumindest nicht, wasdie »Endlösung
der Judenfrage« betrifft. Diese Geschichte, so scheint es, gehört anderen
(Historikern des Holocaust? Jüdischen Historikern? Nichtdeutschen
Historikern?).15
Ich möchte nunmehr kurz umreißen, wie eine größere Offenheit für
äußere Einflüsse, sowohl von anderen historischen Teildisziplinen als
auch von anderen Sozialwissenschaften, sowohl aus Deutschland selbst
als auch und vor allem aus dem Ausland, der deutschen Militärgeschich
te helfen kann, ihre Bedeutung zu erhöhen und ihre Einsichten zu ver
tiefen. Und sei es nur dadurch, daß sie befähigt wird, mit einigen der
quälendsten und grundlegendsten Fragen des Kriegesin der Moderne zu
Rande zu kommen.
Erstens einmal würde ein weniger streng rankesches Herangehen an
die Geschichte, das heißt eine größere Distanz und eine kritischere Ein
stellung zu den Archivquellen, verbunden mit einem höheren Maß an
Skepsis in bezug auf den objektiven Wahrheitswert offizieller Doku
mente und der eigenen, auf solche Dokumente gestützten Rekonstruk
tion von Ereignissen, derartige Untersuchungen um eine neue Dimen-

611
sion bereichern. Und sei es nur dadurch, daß sie einen ganzen Bereich
von Frageneröffneten, dievon Werken wie dem DRZW für gewöhnlich
ignoriert werden. Die 5000 SeitendieserBuchreihehaben uns schließlich
nur eine Version der Geschichte Deutschlands im Zweiten Weltkrieg
geliefert, eineVersion, die im wesentlichen den im BA-MAvorgefunde
nen Dokumenten entnommen wurde. Das ist weder die Wahrheit noch
die ganze Wahrheit, noch nichts als die Wahrheit. Diese Geschichte hat
uns nicht nur eine partielle Darstellung der Ereignisse geliefert, sie hat
uns auch mit vielem beschenkt, wasreineVermutung, Interpretation und
Rekonstruktion auf der Basis partieller,sogar voreingenommener Infor
mation ist - was im jede Geschichte gilt.Das ist keineFragedes Platzes;
weder 5 noch 10noch 20000 Seitenüber eine beliebige historische Epo
che oder eine geographische Gegend würden jemals ausreichen. Totale
Geschichte ist bestenfalls ein Idealtypus, aber kein erreichbares Ziel,
»definitive« Geschichten, wenn es dergleichen denn gibt, sind zeit- und
ortsgebunden. Und gerade wegen dieser Begrenztheit ist es vielleicht
besser, bestimmteAspekte des Krieges weniger detailliert zu behandeln,
um dafür anderen desto größere Beachtungzu schenken.
Welche anderenAspektesind es aber nun, die vernachlässigt wurden?
Fragen wir zum Beispiel nach der Mentalität der Soldaten,die an diesem
Kriegteilnahmen. Die vorliegenden Bändeerzählenuns vielüber Rekru
tierung, Ausrüstung, Verluste, über die Befehle, die sie ausführten, die
Niederlagen, die sie erlitten. Was jedoch ihre Mentalität betrifft, kom
men wir über ein paar vage Allgemeinheiten nicht viel hinaus. Wenn
detailliert von einem einzelnen Menschen die Rede ist, dann ist es unfehl
bar ein Politiker oder ein General. Die einfachen Rekruten erfahren
ungefähr soviel Berücksichtigung wie in jeder traditionellen Militärge
schichteseit Caesarund Tacitus. DieseBerücksichtigung ist jedoch keine
unmögliche Aufgabe. Einige derartige Studien sind vorgelegt worden,
hauptsächlich von nichtdeutschen Historikern, die allerdings in dem
gewaltigen akademischen Apparat des DRZW kaum oder gar nicht
erwähnt werden.16 Es liegt nicht am fehlenden Material und auch nicht
am fehlenden Interesse. Es paßt einfach nicht in den historisch-begriff
lichen Rahmen dieser Bände. Das führt zu einer klaffenden Lücke in die
sem Mammutunternehmen, denn das Resultat ist weithin eine Geschich
te von oben, geschrieben sozusagen am grünen Tisch der Stabsoffiziere
und Generäle, nicht aus der Sicht der Männer, die zu kämpfen hatten.
Zweitens ist diese rankesche Mixtur aus Geschichte von oben und
rigidemFesthalten an - letzten Endes doch höchst verdächtigen- Doku
menten eng mit der dürftigen Berücksichtigung der Sozial- und Kultur-

612
geschichte verknüpft. Es ist wirklich höchst bedauerlich, daß eine so
treffliche Gruppe von Historikern, die sich über einen so beträchtlichen
Zeitraum mit dem Krieg befaßt hat, einen derartig dürftigen Beitrag zur
Sozial- und Kulturgeschichte der Wehrmacht geleistet hat. Zu einem
Thema also, dessen überragende Bedeutung schon vor mehreren Jahren
erkannt worden ist. Wir wissen noch immer herzlich wenig über die
soziale Zusammensetzung der Wehrmacht und den Zusammenhang
zwischendem Hintergrund der Soldatenund ihrem Verhalten im Krieg.
Auch wissen wir nicht viel über die Folgen, welche das Kriegserlebnis
der Soldaten für ihren sozialen Status nach dem Krieg, ihre politische
Orientierung oder ihre Selbstwahrnehmung hatten. Sehr wenig wissen
wir bisher auch über Existenz und Eigenart einer »Frontkultur«, die
Beziehungen zwischen den Soldaten in ihrer Einheit und zwischen
Untergebenen und Vorgesetzten, über politische Überzeugungen und
Widerstand, aber auch über Kontakte zwischen der Front und dem Hin
terland, Eheschließungs- und Ehescheidungsmustern der Soldaten, Ver
gewaltigung und Prostitution, Fraternisierung und Brutalität gegen die
Bevölkerungen besetzter Länder. Alle diese Themen sind nicht in aus
reichendem Maßeangesprochen und wenn, dann nicht von Mitarbeitern
desMGFA. Manfragtsichauch, ob dieSerie in einem späteren Bandauf
das Thema »Frauen im Krieg« eingehen wird. Eine Sozial- und Kultur
geschichte desdeutschen Heeres im Zweiten Weltkrieg, eine Geschichte
also, die sich nicht nur auf die Akten des BA-MA stützen und nicht nur
nach rankescherMethodologieverfahren kann, ist noch immer ein Desi-
deratum.17
Drittens ist das eklatantesteund frappierendsteVersäumnis in DRZW
das Fehlen des Holocaust. Diese Lücke hängt übrigens auf wenigstens
zwei Ebenen mit den oben erwähnten Problemen zusammen. Denn zum
einenkannder Zusammenhang vonWehrmacht und Holocaustin Wirk
lichkeit ganz gut aus den Archivbeständen des BA-MA dokumentiert
werden; das heißt, er kann mit der traditionellen, von den Mitarbeitern
des MGFA angewandten Methodologie angegangen werden. Zum
andern magdas Sträubendes DRZW, sich mit der Mentalitätder Solda
ten zu befassen (die nicht ohne weiteres lediglich aus Archivquellenund
mit herkömmlicher Methodologie zu ergründen ist), recht wohl in der
mehroderweniger bewußten Ahnungbegründet sein, welche potentiel
len politischen Weiterungen einederartige Untersuchunghaben könnte.
Denn dieSchlußfolgerungen, die aus eineroffenen und rigorosen Erfor
schung der mentalen Beschaffenheit deutscher Soldaten während des
Naziregimes zu ziehen sein müßten, könnten sich als ebenso beunruhi-

6i3
gend und politisch unbequem erweisen wie jene, die von einem zusätz
lichen Band zu erwarten wären, der sich ausschließlich mit der Frage
nachder Rolleder Wehrmacht bei der »Endlösung« befaßte (einsolcher
Band ist nicht geplant): nämlichdas Eingeständnis, daß die jungenMän
ner der Wehrmacht, die später zur Gründergeneration der neuen deut
schen Bundesrepublik wurden, tief in die ideologischen Voraussetzun
gen und politischen Taten des Naziregimes verstrickt waren. Das heißt:
Nicht nur waren die unteren Ränge der Wehrmacht ein entscheidender
Faktor bei der Verwirklichung der »Endlösung«, sondern dieseMassen
mitwisserschaft, gerade weil sieviele Hunderttausende, ja Millionenvon
Soldaten betraf, mußte sich zwangsläufig in den (offenzur Schau getra
genen oder, häufiger, gewaltsam unterdrückten) Einstellungen der jun
gen Generation der BRD fortsetzen - ebenjener Generation, die schon
bald als die Elite Deutschlands in Politik, Wirtschaft und Geistesleben
hervortrat.

Füreine neue Militärgeschichte

Mit alledem soll nicht einfach nur das DRZW kritisiert werden, das, wie
gesagt, einebewundernswerte Leistungbleibt.Etwasanderes solljedoch
zum Ausdruck gebracht werden: Wenn diese Reihe auf ein paar tief
schürfende Analysen verzichtet und statt dessen die Mentalität der Sol
daten untersucht und dem Zusammenhang zwischen Krieg und Holo
caustmehr Beachtunggeschenkthätte, wäre ihr historischerWert enorm
gestiegen - ganz abgesehen davon, daß sie entscheidende pädagogische
und politischeSignale gegeben hätte. Denn in Deutschland übt die Erin
nerung noch immer einen beträchtlichen Einfluß auf die Einstellungen
der Menschen aus, und auf der politischen Bühne hat die Geschichte
noch immer große Bedeutung. Krieg, Ideologie und Völkermord haben
nun einmal in der jüngsten Geschichte Deutschlands eine prominente
Rolle gespielt, und man täte besser daran, sich ihnen ehrlich zu stellen,
anstatt ihre abstoßenderen Aspekte dadurch unter den Teppich zu keh
ren, daß man sich auf ein akademisches Schubladendenken zurückzieht
oder verstaubte Argumente über die vorgebliche Funktion des Histori
kers als distanzierter, objektiver »Wissenschaftler« heranzieht.
Und so möchte ich abschließend junge deutsche Historiker, die sich
mit der Militärgeschichte ihrer Nation befassen, dazu aufrufen, sich an
einigen ihrer großen Vorgänger aus der Zeit zwischen und vor den
beiden Weltkriegen ein Beispiel zu nehmen; für Entwicklungen in der

614
historischen Zunft insgesamt und in anderen Sozialwissenschaften, in
Deutschland wie vor allem im Ausland, offen zu sein; sich aus der läh
menden, sklavischen Abhängigkeit von Dokumenten als der einzigen
Quelle historischer Forschung zu befreien und lieber die kritische,
literarische und politische Sensibilität zu pflegen; sich klarzumachen,
daß mehr (mehr Dokumente, mehr Anmerkungen, mehr Seiten) nicht
immer besser ist und daß das Festhalten an bewährten Methoden zwar
politisch sicherer sein mag (sicherersowohl im Hinblick auf die histori
sche Schuld Deutschlands als auch auf die aktuelle nationale Szene dort),
daß es einen aber nicht zwangsläufig der Wahrheit näherbringt oder zu
einem besserenVerständnis der Vergangenheit führt; und daß es heute in
Deutschland,wo schonwieder starker Druck gemachtwird, auf dieVer
gangenheit stolz zu sein, noch immer einen großen Erklärungsbedarf
dafür gibt, warum diese Vergangenheit in weiten Teilen so absolut
schändlich gewesenist.
Wenn deutsche Militärhistoriker sich einen wichtigen und einflußrei
chen Platz in der wissenschaftlichen Debatte um die Vergangenheit
sichern wollen, können sie es sich nicht länger leisten, die ausgezeichne
te Arbeit zu ignorieren, die ihre Kollegen im In- und Ausland tun. Ob
diesedas Gebiet der oral history oder der Sozialgeschichte betrifft, ob sie
sich in eklektischen Arbeiten von großer Originalität oder in maßgebli
chen Beiträgenzur Kulturgeschichte des Krieges, in allgemeinen Werken
über ganze Gesellschaften im totalen Krieg oder in Studien über das
Erinnern und Gedenken, das Geschlecht und den Glauben und in vie
lem anderen ausdrückt, es gibt heute eine enorme Fülle wissenschaftli
cher Forschungen, an denen keine seriöse Arbeit über den modernen
Krieg vorbeigehen kann.18
Gewiß ist das nicht bloß ein deutsches Problem. Auch in vielen ande
ren Ländern ist die Militärgeschichte an den Rand gedrängtworden oder
hat sich selbst ins Abseits befördert. Ich bin jedoch der Überzeugung,
daß in Deutschland sowohl aufgrund der Bedeutung des Gegenstandes
alsauch aufgrund gewisser institutioneller Zwängeund politischerEmp
findlichkeiten das Problem noch dringlicher und die gegenwärtigen
Begrenzungen und Mängel noch sichtbarer sind. Ich behaupte daher: Es
ist höchste Zeit, daß aus Deutschland eine neue Militärgeschichte
kommt.

Aus dem Englischen von Holger Fliessbach

6i5
Anmerkungen
i Vgl. z.B.Azar Gat,The Originsof Military Thought: From the Enlightenment
to Clausewitz, Oxford 1989; Peter Paret (Hg.), Makers of Modern Strategy:
From Macchiavelli to the Nuclear Age,Princeton (N.J.) 1986; ders.,Understan-
ding War:Essays on Clausewitz and the History of MilitaryPower,Princeton
(N.J.) 1992.
2 Eckart Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894-1901: Versuch eines
Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraus
setzungen des deutschen Imperialismus, Berlin 1930; ders., Economic Interest,
Militarism and Foreign Policy,Berkeley1977.
3 Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen
Geschichte, Berlin 1920-1923.
4 Paul Fussell, The Great War and Modern Memory, New York 1975; Samuel
Hynes,A WarImagined: The First WorldWar and English Culture,New York
1991; Modris Eksteins, Tanz über Gräben: die Geburt der Moderne und der
Erste Weltkrieg, Reinbek 1990; Robert Wohl, The Generation of 1914, Cam
bridge (Ma.) 1979; William H. McNeill, Krieg und Macht: Militär, Wirtschaft
und Gesellschaft vom Altertum bis heute, München 1984. Vgl. auch die faszi
nierende Studie von Norman F. Dixon,On the Psychology of MilitaryIncom-
petence, London 1976.
5 John Whiteclay Chambers II, TheNew Military History: Myth andReality, in:
The Journal of Military History 55 (Juli 1991), S. 395-406; Peter Paret, The
History of War and the New Military History, in: ders., Understanding War,
S. 209-226. Vgl. ferner: John Lynn, Clio in Arms: The Role of the Military
Variable in Shaping History, Journal of Military History 55 (Januar 1991),
S.83-95. Chambers nennt in seinem Beitrag viele Beispiele. Zu den bestenheute
verfügbaren Werkengehören: GeoffreyParker, Die militärische Revolution: die
Kriegskunstund der Aufstiegdes Westens 1500-1800, Frankfurt am Main/New
York 1990; John A. Lynn (Hg.), Tools of War: Instruments, Ideas and Institu
tions of Warfare, 1445-1871, Urbana/Chicago 1990; David Kaiser, Kriege in
Europa:Machtpolitik vonPhilippII. bisHitler, Hamburg 1992; BrianM.Dow-
ning, TheMilitary Revolution andPolitical Change: Origins of Democracy and
Autocracy in Early Modern Europe, Princeton (N.J.) 1992; David Ralston,
Importing the European Army: The Introduction of European Military Tech-
niques and Institutions into the Extra-European World, 1600-1914, Chicago
1990; hierzu auch die hervorragende Studievon Michael Adas, Machines as the
Measure of Men: Science, Technology, and Ideologiesof Western Dominance,
Ithaca/London 1989.
6 Klaus Theweleit, Männerphantasien, 2 Bde., Basel/Frankfurt amMain 1977/78.
7 Vgl. z. B. KarlDönitz, ZehnJahre und zwanzigTage, Bonn 1958; Heinz Gude-
rian, Erinnerungen eines Soldaten, 4.Aufl., Heidelberg 1951; AlbertKesselring,
Soldat bis zum letzten Tag, Bonn 1953; Erich von Manstein, Aus einem Solda
tenleben 1887-1939, Bonn 1958, und ders.,Verlorene Siege, Bonn 1955; Erwin
Rommel, Krieg ohneHaß,hrsg. von Lucie-Maria Rommel und FritzBayerlein,

616
2. Aufl., Heidenheim 1950; Siegfried Westphal, Heerin Fesseln. Aus denPapie
ren des Stabschefs von Rommel, Kesselring und Rundstedt, Bonn 1964. Bei
spiele zur Formationsgeschichte bietet Omer Bartov, The Eastern Front: Ger
man Troops and the Barbarisation of Warfare, London 1985, S. 164, Anm. 2.
Beispiele für den technischen Ansatz bieten RudolfAbsolon, Wehrgesetz und
Wehrdienst, 1935-45, Boppard i960; ders., Die personelle Ergänzung der
Wehrmacht im Frieden und im Krieg, Bundesarchiv: Zentralnachweisstelle
1972; Georg Tessin, Formationsgeschichte der Wehrmacht 1933-1939: Stäbe
und Truppenteile des Heeres und der Luftwaffe, Boppard 1959; Hans Meier-
Welcker, Untersuchungen zur Geschichte des Offizierskorps: Anciennität und
Beförderung nach Leistung, Stuttgart 1962.
8 Ein gutes Beispiel ist Basil H. Liddell Hart, Jetzt dürfen sie reden: Hitlers
Generäleberichten,Stuttgart/Hamburg 1950.
9 Vgl. neuerdings Telford Taylor, The Anatomy of the Nuremberg Trials,
Boston/New York 1992. Besonders groß war dieWirkung der Memoirenlitera
tur in den erstenbeiden NachkriegsJahrzehnten, wasdamitzusammenhing, daß
diemilitärischen Dokumente, welche dieAmerikaner beiKriegsende beschlag
nahmt hatten,erst Mitteder sechzigerJahre an diedeutschenBehördenzurück
gegebenwurden.
10 Die wichtigsten Titel sind: Hans-Adolf Jacobsen, Kommissarbefehl und
Massenexekutionen sowjetischer Kriegsgefangener, in: Hans Buchheim u.a.,
Anatomie des SS-Staates, Ölten 1965, Bd. 2, S. 161-279; Manfred Messer
schmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat: Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969;
Klaus-Jürgen Müller, Das Heer und Hitler, Stuttgart 1969, und ders., Armee,
Politik und Gesellschaft in Deutschland, 1933-1945, Paderborn 1979; Christian
Streit,Keine Kameraden: Die Wehrmachtund die sowjetischen Kriegsgefange
nen 1941-1945, Stuttgart 1978; Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm,
Die Truppe des Weltanschauungskrieges: Die Einsatzgruppender Sicherheits
polizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981; Gerd R. Ueberschär/Wolfram
Wette (Hg.), »Unternehmen Barbarossa«: Derdeutsche Überfall aufdieSowjet
union 1941,Paderborn 1984.
11 Vgl. namentlich John W. Wheeler-Bennett, Die Nemesis der Macht: die deut
scheArmee in der Politik 1918-1945, Düsseldorf 1954; Gordon A. Craig,Die
preußisch-deutsche Armee 1640-1945: Staat im Staate, Düsseldorf i960; Alex
ander Dallin, Deutsche Herrschaft in Rußland 1941-1945: eine Studie über
Besatzungspolitik, Düsseldorf 1958; Francis L. Carsten, The Reichswehr and
Politics 1918-1933, 2. Aufl., Berkeley/London 1973 (1966).
12 Einen Eindruck von diesen Entwicklungen vermitteln zum Beispiel Georg G.
Iggers, Neue Geschichtswissenschaft:vom Historismus zur historischen Sozial
wissenschaft; ein internationaler Vergleich, München 1978; Lynn Hunt (Hg.),
The New Cultural History, Berkeley/London 1989; Peter Burke, History and
Social Theory, Ithaca(N.Y.) 1992; ders. (Hg.), New Perspectives on Historical
Writing, University Park (Pa.) 1992.
13 Das DeutscheReich und der ZweiteWeltkrieg, herausgegeben vom Militärge
schichtlichen Forschungsamt. Bd. 1: Wilhelm Deist, Manfred Messerschmidt,

617
Hans-Erich Volkmann, Wolfram Wette, Ursachen und Voraussetzungen der
deutschen Kriegspolitik, Stuttgart 1979; Bd. 2: Klaus A. Meier, Horst Rohde,
Bernd Stegemann, Hans Umbreit, Die Errichtung der Hegemonie auf dem
europäischen Kontinent, Stuttgart 1979; Bd. 3:Gerhard Schreiber, Bernd Stege
mann, Detlef Vogel,Der Mittelmeerraumund Südeuropa: Von der »non belli-
geranza« Italiensbis zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, Stuttgart 1984;
Bd. 4: Horst Boog,Jürgen Förster, Joachim Hoffmann, Ernst Klink, Rolf-Die
ter Müller, Gerd R. Ueberschär, Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart
1983; Bd. 5/1: Bernhard R. Kroener, Rolf-Dieter Müller, Hans Umbreit, Orga
nisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs: Kriegsverwaltung,
Wirtschaft und personelleRessourcen 1939-1941, Stuttgart 1981; Bd. 6: Horst
Boog,Werner Rahm,ReinhardStumpf,Bernd Wegner,Der GlobaleKrieg: Die
Ausweitungzum Weltkriegund der Wechsel der Initiative 1941-1943, Stuttgart
1990. Geplante Bände (Arbeitstitel): Bd. 5/2: Organisation und Mobilisierung
des deutschen Machtbereichs: Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle
Ressourcen 1942-1944/45; Bd. 7: Das Deutsche Reich in der Defensive: Der
Kriegim Westen,im Mittelmeerraum und in Ostasien 1943-1944/45; Bd. 8:Das
Deutsche Reich in der Defensive: Der Krieg im Osten und Südosten
1943-1944/45; Bd. 9/1: Staat und Gesellschaft im Kriege: Innenpolitik und
»Volksgemeinschaft« 1939-1944/45; Bd. 9/2: Staatund Gesellschaft im Kriege:
Das militärische Instrument; Bd. 10: Das Ende des Dritten Reiches.
14 Vgl. zuletzt David Cesarani (Hg.), The Final Solution: Origins and Implemen
tation, London/New York 1994; Hannes Heer, Killing Fields: Die Wehrmacht
und der Holocaust, in: Mittelweg 36,H. 3 (Juni/Juli 1994), S. 7-29, vgl. in die
semBand.Vgl.ferner auch Christopher Browning,WehrmachtReprisalPolicy
and the Murder of the MaleJews in Serbia,in: Browning, Fateful Months: Essays
on the Emergence of the Final Solution,New York/London 1985, S. 39-56.
15 Siehe zu dieser Frage Martin Broszat und Saul Friedländer, Um die »Histori
sierung des Nationalsozialismus«. Ein Briefwechsel, in: Vierteljahreshefte
für Zeitgeschichte, 2/1988, S. 339-372. Vgl. auch lan Kershaw, Der NS-Staat:
Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek 1994. In
diesemAufsatz kann ich nicht auf die Forschung in der früheren DDR einge
hen, die zum Teil, trotz gravierender blinder Fleckeneigenerideologischer Art,
von erheblichemWert war, geradeweil sie ähnliche Fragen unter völlig anderer
Perspektivebehandelte. Vgl.z. B.Norbert Müller,Wehrmachtund Okkupation
1941-1944, Berlin 1971; Klaus Geßner, Zur Organisation und Funktion der
Geheimen Feldpolizei im Zweiten Weltkrieg, in: Revue Internationale d'Hi-
stoire Militaire 43 (1979), S. 154-166. Vgl. außerdem zu dem hiermit zusam
menhängenden ThemaVerfolgungund Völkermord:Kurt Pätzold, Faschismus,
Rassenwahn, Judenverfolgung, Berlin 1975; ders., Von der Vertreibung zum
Genozid. Zu den Ursachen, Triebkräften und Bedingungender antijüdischen
Politik des faschistischen deutschen Imperialismus,in: Dietrich Eichholtz/Kurt
Gossweiler (Hg.),Faschismusforschung. Positionen,Probleme,Polemik,Berlin
1980, S. 181-208; Konrad Kwiet, Historians of the German Democratic Repu-
blic on Antisemitism and persecution, in: Yearbook of the Leo Baeck Institute

618
21 (i97^)> S. 173-198. In diesemZusammenhang empfiehltsich auch die Kon
sultation von Lucy S. Dawidowicz, The Holocaust and the Historians, Cam
bridge (Ma.) 1981, vor allem der Kapitel 4 und 5 über die sowjetische und die
polnische Historiographie.
16 Vgl. z.B. Omer Bartov, Hitlers Army: Soldiers, Nazis, and War in the Third
Reich, New York/Oxford 1991; Theo Schulte, The German Army and Nazi
Policies in Occupied Russia,Oxford/New York 1989, vgl. den BeitragSchuhes
in diesem Band.
17 Einige dieser Themen sind von anderen Historikern bearbeitet worden, denen
jedoch das DRZW keinerlei Beachtung schenkt. Vgl. z. B. Franz Seidler, Pro
stitution, Homosexualität, Selbstverstümmelung: Probleme der deutschen
Sanitätsführung 1939-1945, Neckargemünd 1977; Claudia Koonz, Mütter im
Vaterland, Freiburg 1991; RenateBridenthal, Atina Grossmann,Marion Kaplan
(Hg.), When BiologyBecame Destiny: Women in Weimar and Nazi Germany,
New York 1984; Jill Stephenson, >Emancipation< and its Problems: War and
Society in Württemberg 1939-45, in: European History Quarterly 17 (1987),
S.345-365;dies.,Women in Nazi Society,London 1975; Margot Schmidt, Krieg
der Männer - Chance der Frauen? Der Einzug von Frauen in die Büros der
Thyssen AG, und Anne-Katrin Einfeldt, Auskommen - Durchkommen - Wei
terkommen: Weibliche Arbeitserfahrungen in der Bergarbeiterkolonie, beide
in: Lutz Niethammer (Hg.), Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hin
setzen soll: Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, Bd. 1, Berlin/Bonn 1983,
S. 133-162 und 267-296.
18 Vgl. z. B., abgesehen von den oben zitierten Werken, Jay M. Winter, The Great
War and the British People, Cambridge (Ma.) 1986; Jean-Jacques Becker, 1914:
Comment les francais sont entres dans a guerre, Paris 1983; Henry Rousso, Le
Syndrome de Vichy:de 1944 ä nos jours, 2. Aufl., Paris 1990; George L. Mosse,
Gefallen für das Vaterland: nationales Heldentum und namenloses Sterben.
Stuttgart 1993; Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de memoire, Tl. 1: La Republique
(1 Bd.), 1984;Tl. 2: La Nation (3 Bde.), 1986;Tl. 3:Les Frances (3 Bde., erscheint
demnächst); Margaret Randolph Higonnet, JaneJenson, SonyaMichel,Marga
ret Colins Weitz (Hg.), Behind the Lines: Gender and the Two World Wars,
New Haven/London 1987; Annette Becker, La guerre et la foi: De la mort ä la
Memoire, 1914-1940, Paris 1994.

619
Friedrich Gerstenberger Strategische Erinnerungen
Die Memoiren deutscher Offiziere

Die Memoiren deutscher Offiziere des Zweiten Weltkrieges lassen sich


aufgrund gemeinsamer Züge in zwei Gruppen einteilen.1 Die Memoiren
der einenGruppe wurden von hochrangigen Offizierengeschrieben, die
als Befehlshaber von Großverbänden und in der Leitungder Wehrmacht
Führungspositionen einnahmen.2 Diese Männer wurden in den achtzi
ger und neunzigerJahren des 19. Jahrhunderts geboren. Zu nennen sind
hier etwa Franz Halder,von 1938 bis zu seinerEntlassung imJahr 1942
Chef des Generalstabs des Heeres, und Heinz Guderian, der einen Ruf
als Befehlshaber großer Panzerverbände hatte und 1944/45 General
stabschef war. Er wurde einenMonat vor der Kapitulation zum zweiten
Mal entlassen, nachdemdies 1941 schon einmalgeschehen war. Zu nen
nen sind hier weiter Erich von Manstein, Befehlshaber der Heeresgrup
pen Don und Süd, sowie Hans Frießner, auch er zuletzt Befehlshaber
einerHeeresgruppe. Beide wurden imJahr 1944 entlassen. Die jüngeren
Memoirenschreiber dieser Gruppe begannen ihre Karriere als Berufs
offiziere im Ersten Weltkrieg, zum Beispiel Dietrich von Choltitz, im
Zweiten Weltkrieg Regiments-, dannDivisionskommandeur und später
alsMilitärbefehlshaber von Parisder Retter der Stadt,oder Hans Speidel,
1942/43 Armeegeneralstabschef, und Adolf Heusinger, von 1940 bis
zu seiner Entlassung 1944 Chef der Operationsabteilung im General
stab des Heeres, während die älteren von ihnen bereits vor dem Ersten
Weltkrieg in die Armee des kaiserlichen Deutschlands eingetreten
waren.

Nach der Kapitulation kamen diese Offiziere in Kriegsgefangenen


oder Internierungslager.3 Von der Anklage des Internationalen Militär
gerichtshofes, in ihren Führungspositionen einer »verbrecherischen
Organisation« angehört zu haben, wurden sie insofern nur »einge
schränkt« (Meyer) freigesprochen, als an ihrer großen Verantwortlich
keit »für die Leiden und Nöte, die über Millionen Männer, Frauen und
Kinder« gekommen sind, festgehalten wurde.4 Ein Prozeß gegen Erich
vonManstein 1949 vor einem britischen Gericht führtezur Verurteilung,

620
1953 wurde er ausder Haft entlassen.5 Von den jüngeren dieser Gruppe
bauten Heusinger und Speidel die Bundeswehrmit auf und erreichtenin
ihr wie in der Nato höchste Positionen. Die militärische Karriere der
anderen war beendet, auch wenn sie, wie von Manstein, als militärische
Berater beim Aufbau der Bundeswehr mitwirkten. Alle diese Personen
leben inzwischen nicht mehr.
Die andere Gruppevon Memoiren ist von Offizieren geschrieben, die
nicht im »Wer war wer im Dritten Reich« aufgeführt sind. Diese Män
ner wurden zwischen 1910 und 1925 geboren, begannen eine Laufbahn
alsBerufsoffiziere im Dritten Reich und gelangten in untere bis mittlere
Führungspositionen. Ulrich de Maiziere, Gerd Schmückle, Günter
Kießling haben später eine Karriere bis in die obersten Führungsposi
tionen der Bundeswehr gemacht. Man hat es also auch in dieser Gruppe
mit Memoiren zu tun, dievon Offizieren in Spitzenpositionen geschrie
ben worden sind. Nur sind das eine Mal diese Positionen im Heer des
Deutschen Reiches, das andere Mal in der Bundeswehr erreicht worden.
Dazwischen gibt es Memoiren von Personen, die, wie Heusinger und
Speidel, zweimal Karriere gemacht haben.
Die Memoiren der ersten Gruppe erschienen nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges zwischen 1949 und 1956. Die Verfasser waren zu
dieser Zeit, bis auf Heusinger und von Choltitz, zwischen sechzig und
siebzigJahre alt. Auch Speidel veröffentlichte seinen ersten Memoiren
band: »Invasion 1944. Ein Beitrag zu Rommels und des Reiches Schick
sal«, in der unmittelbarenNachkriegszeit, seinen zweitenaber erst 1977.
VonManstein fügteseinen »Verlorenen Siegen« von 1955 dreiJahre spä
ter den Prolog »Aus einem Soldatenleben 1887-1939« hinzu. Die
Memoirenbände der zweiten Gruppe erschienen Ende der achtziger,
Anfangder neunzigerJahre,also über vierzigJahre nachKriegsende und
über dreißigJahre nach den Memoirender ersten Gruppe.

Zweierlei Memoiren

Die beidenGruppen berichtenunterschiedlich über den Krieggegen die


Sowjetunion. Das hat gute Gründe: Die Verfasser der in den letzten Jah
ren erschienenen Memoiren sahen und erlebten den Krieg als Gruppen
führer, Regiments-, Divisionsadjutant, Generalstabsoffizier oder Kom
mandeur, also als unmittelbar Ausführende. Demgegenüber haben die
Personen der ersten Gruppe den Krieg als Führende, das heißt, vom
»Büro« aus,6 beobachtet und erfahren. Diese Differenz, entsprechend
621
der zwischen »Fabrik« einerseits und Verwaltung und Management
andererseits, bedingtunterschiedliche Beobachtungen, unterschiedliche
Erlebensdimensionen und unterschiedliche Kommunikationen. Unten
tötet man,nimmt gefangen, manwird verwundet,hat Todesangst; in den
oberen Bereichen der Führungshierarchie wird Krieg beobachtet,
geplant und gesteuert. Deswegen ist esauchnichtverwunderlich, daßdie
Memoiren von Oberbefehlshabernvoll sind von Beschreibungen dieser
Tätigkeiten. Woran sollen sichOberbefehlshaber sonst erinnern? Es sei
dennan Persönliches oderan dieÄsthetik ihrerHauptquartiere.
Für alle aber gilt,daß die Ausführungen in ihren Memoiren nicht ein
fach gleichzusetzen sind mit dem, was und wie sie damals gesehen,
erlebt, gefühlt und gedacht haben.7 Es sind Beschreibungen ausgewähl
ter, nach Jahren noch vorhandener Erinnerungen. Memoiren sind in
mehrfacher Hinsicht selektiv: Die Erinnerungsleistungennehmen ab, je
größer die zeitliche Distanz zu einem Ereignis wird. Erinnertes wird
ganz oder teilweise vergessen. Aber Erinnerungen verändern sichauch.
Vom Entstehen autobiographischer Erinnerungen an, also mit dem
jeweiligen Ereignis, besteht das Problem der Selektivität. Nun erinnert
man sich dessen, was man beobachtet und erlebt, ohnehin nie in den
unendlich vielen Einzelheiten, die im Augenblick des Beobachtens und
Erlebens vor Augen sind. Darüber hinaus werden, so neuere Theorien,
Erinnerungenschon beiihrem Entstehenauf einSelbstkonzept der han
delnden und beobachtenden Personen bezogen und sind dementspre
chend selektiv. Sie werden aber auch weiterhin in einem mehr oder weni
ger bewußten Prozeß bearbeitet, durch Weglassungen, Verfälschungen,
Hinzuerfindungen und dergleichen. Leitend ist hierbei die Integration
der Erinnerungen in ein einigermaßen konsistentes Selbstbild. Damit
verändern sich Erinnerungen. Und für das Subjekt wird die Erinnerung
das Ereignis.8 Aber nicht alle Ereignisse, die einem widerfahren oder an
denen man selbst beteiligtist, lassensich mit dem Bild, das man von sich
selbst hat, und mit den eigenen moralischen Maßstäben verträglich
machen. Solche Ereignisse werden zwar einerseits gerade nicht verges
sen, verändern aber dennoch nicht ohne weiteres das Selbstbild.9 Beim
Erinnern von Verbrechen, an denen man selbst beteiligt war, dürfte eine
derartige Konstellationin der Regel vorliegen.
Aus den bereits schematisierten Erinnerungen wird dann noch
bewußt ausgewählt, was kommuniziert werden soll. Zusätzlich wird
entschieden, wie die Erinnerungen zu beschreiben, das heißt, nicht bloß
in eine sprachliche, sondern in die den Memoirenschreiber festlegende
schriftliche Form zu bringen sind. Diese Entscheidung hat inhaltliche

622
Folgen. Es kommt erneut zu Veränderungen: So müssen zum Beispiel
noch Lücken gefülltwerden, Gesprächewerden simuliert (wie bei Heu
singerund Schmückle). Welche Erinnerungenkommuniziert werden, ist
nicht unabhängigvon dem Zweck,der den Memoiren gegeben wird, und
dieser ist nicht unabhängig von dem öffentlichen (und kollegialen) Dis
kussionsstand über die erinnerten Ereignisse und die gesellschaftlichen
und kollegialen Erwartungen, die an Personen in bestimmten Positionen
beimBerichtenüber die Ereignissegestelltwerden, sowiedavon,wie sich
die schreibende Person einer allgemeinen und kollegialen Öffentlichkeit
präsentieren will. Man bleibt nicht Souveränseiner Erinnerungen.
Keiner der Memoirenschreiber beschränkt sich darauf, ausschließlich
seine eigenen (ausgewählten)Erinnerungen zur Sprache zu bringen. Am
ehesten gilt das im Hinblick auf die Kriegsereignisse noch für Stahlberg,
Schmückle, Kießling, von Luck und auch für Heusinger,die allesamt auf
Details, die man nach dreißig bis vierzigJahren nicht mehr wissen kann,
verzichten, sich aber doch auf Aufzeichnungen aus der damaligen Zeit
stützen.
Während in diesen Memoiren noch der subjektive Bericht über ver
gangene Ereignisse und Personen, erinnerte Gefühle und Gedanken
dominiert, so beanspruchen die Memoiren von Mansteins, Guderians,
Frießners darzulegen, wie die Geschichte wirklich abgelaufen ist, auch
wenn die Verfasser dies bestreiten. Von vornherein geben sich dieseVer
fasser nicht mit der Darstellung der eigenenErinnerung zufrieden, son
dern versuchen im Gegenteil, deren Beschränktheitendadurch zu über
winden, daß sie sich neben eigener Aufzeichnungen zusätzlicher
Literatur bedienen. Eine solche Herangehensweise ist für Personen in
Führungspositionen nicht unangemessen, haben sie doch auch schon
damals aus einer großen Menge mündlich oder schriftlich mitgeteilter
Informationen, beschafft von einer Vielzahl von Personen, Handlungs
felder und Handlungsbedingungen konstruiert. Nun werden diese in
einer zeitlich und sachlich umfassenden Gesamtkonstruktion noch ein
mal versammelt. Die Selektion der Erinnerungen wird dadurch selbst
verständlich nicht aufgehoben. Zwar wird die UnZuverlässigkeit der
subjektiven Erinnerungen durch dieses Verfahren verringert, dafür ver
stärkt sich aber die intentionale Selektivität. Denn das schreibende Indi
viduum hat die Chance, seine Rolle in einem umfassenden Geschehen
sichtbar werden zu lassen und diesem Geschehen wie seinem Handeln
neue Bedeutung zu geben. Hier kann Geschichte noch einmal gestaltet
werden. Titel wie »Verratene Schlachten, VerloreneSiege« verweisenauf
diese Absicht.

623
Der gute Soldat

Wer auchimmer Memoiren überdenKrieg des Deutschen Reiches gegen


die Sowjetunion schreibt, sich in seinen Memoiren, in anderen Publika
tionen oder auch nur in mündlicher Rede zu diesem Krieg äußert, ist
gezwungen, zu den Anklagenvon Nürnberg und denen anderer Prozes
se Stellung zu nehmen. Manche Prozesse endeten mit Verurteilungen
zum Tode, viele mit Verurteilungen zu lebenslanger oder zeitlich
begrenzter Haft. Obwohl diese Anklagen und Urteilein der öffentlichen
Diskussionzeitweise kaumpräsentwaren,warensiedoch jedemVerfas
ser von Memoiren deutlich im Bewußtsein. Jeder von ihnen mußte sich
mit den Beschuldigungen, die Armee selber müsse sich unzählige ver
brecherische Handlungen zurechnen lassen, auseinandersetzen.
Konkretwird das Problemin der Auswahl dessen, wasvon den eige
nen und den beobachteten Handlungen kommuniziert wird, und wie es
kommuniziert wird. Sagt man zum Beispiel wie Schmückle, daß deut
sche Soldaten plünderten,10 oder sagtmanesnicht?Sagt manesund stellt
es zugleich - eine Seite weiter - als ephemeres Problem dar, oder gibt
man wie Frießner zu, daß es »Ausschreitungen« gab,um dann hinzuzu
fügen, daß diese abernichtvon »vollwertigen« Soldaten begangen wor
den wären?11 Oder vermeidet man esüberhaupt, verfängliche Beobach
tungen oder belastende eigene Handlungen mitzuteilen - wie von
Manstein und Guderian - und machtsichdadurch erstrechtverdächtig?
Betrachten wir zunächst die Memoiren der jüngeren Offiziere. Das
Ergebnis ist nicht eindeutig. ÜberVerbrechen wirdberichtet, sei es, daß
dieVerfasser sie selbst beobachtet haben - wiedieZerstörung eines Hos
pitals für die russische Bevölkerung durch einSS-Regiment,12 seies,daß
siedavongehörthaben- wie von der grausamen Behandlung der russi
schen Gefangenen oder der Verbrennung von Juden bei lebendigem
Leib;13 während sich de Maiziere nur sehr allgemein an Verbrechen erin
nert, weiß Stahlberg, der mit Personen aus dem Widerstand befreundet
war, Genaueres von Ausrottungsmaßnahmen in den rückwärtigen
Gebietendurch EinheitendesSDund der SS;14 über die Vernichtung der
Juden in den baltischen Ländern und in Weißrußland;15 über die Mas
senhinrichtung von über hunderttausend Juden im rückwärtigen Gebiet
der Heeresgruppe von Mansteins durch SD und SS.16 Er will von Man
steindarüberinformiert haben, doch der will das nicht geglaubt haben.
Über Verbrechen von Angehörigen des Heeres oder die Beteiligung
an Verbrechen des SS und des SD wird nichts berichtet. Plünderungen
und sonstige Disziplinlosigkeiten von Angehörigen des Heeres werden

624
vereinzelt erwähnt.17 Ansonsten wird in fast allen Memoiren von einem
zumindest anfänglich freundlichen Verhältnis zwischen einheimischer
Bevölkerung und Soldatenberichtet.VonMansteinhat sogar im ganzen
eroberten Europa nur freundliche Menschen getroffen, mit Ausnahme
einer Minderheit politisch Verhetzter. Als Ursache für die Entstehung
einer Partisanenbewegung wird »die deutsche Politik hinter der kämp
fenden Front« verantwortlich gemacht.18 Aus manchen Memoiren geht
hervor, daß die Verfasser an Partisanenbekämpfungen teilgenommen
haben19. Einzelheiten werden nicht berichtet, man kann bei Schmückle
nur entnehmen, daß die Partisanenbekämpfung anscheinend nicht den
ganzen Soldaten erforderte. Der Kommissarbefehl wird fast überall
erwähnt, ebenso, daß die Vorgesetzten sich gegen die Ausführung aus
gesprochen haben.20 Von einer Beteiligung der Verfasser an irgendwel
chenverbrecherischen Handlungen erfährt mannichts. Insgesamt gese
hen folgen die in den letzten Jahren verfaßten Memoiren dem schon vor
1945 konventionellen Muster, der »Politik« die Verantwortung für Ver
brechen zuzuschieben und den eigenen Tatbeitrag wie den der Wehr
macht insgesamtnicht sonderlich zu problematisieren.
Ohnehin nehmen in den Memoiren die Berichte über verbrecherische
Handlungen nicht den meisten Raum ein. Den beanspruchen Berichte
über Kampfhandlungen und die Beteuerungen, man habe bis fast zum
Schlußunbedingt siegenund dann wenigstensdie Rote Armee noch auf
halten wollen. Bei keinem der Memoirenschreiber scheinen Kenntnisse
und Beobachtungen von Verbrechen des eigenen Staates den Siegeswil
len oder das Bild einer moralisch intakten Armee beeinträchtigt zu
haben. Hier liegt der blinde Fleck der Memoirenschreiber, und es ist
nicht der einzige: Die Folgen, die ein Siegdes Deutschen Reiches für die
Bevölkerung der Sowjetunion gehabt hätte, werden überhaupt nicht
thematisiert. Daß diese jungen Offiziere, und ja nicht nur sie, damals
für eine solche Reflexion blind waren, war eine Voraussetzung für den
fast bis zuletzt vorhandenen Siegeswillen. Um ihn zu erhalten, mußte
man das faktische Deutschland für eine Welt, für die es sich zu sterben
lohnte, ansehen. Kießling gibt offen zu, daß er mit vielen damals dieser
Meinung war21 und daß ihm die Problematik einesdeutschen Sieges erst
nach Kriegsende klargeworden sei22. Bei den anderen Schreibern findet
eine solche Thematisierung überhaupt nicht statt. SelbstStahlbergträgt
in seinen Memoiren noch die Fiktion vom Krieg gegen die Sowjet
union als Befreiung der Bevölkerung von kommunistischer Herrschaft
vor.23
Der verlorene Krieg und das Ende des Deutschen Reiches scheinen

625
bei diesen jungen Offizieren keinen Bruch ihres Selbstkonzeptes her
vorgerufen zu haben. Dieses Selbstkonzept war stark dadurch geprägt,
wie die Memoiren ausweisen, ein guter Soldat gewesen zu sein. Bei den
meisten Soldaten scheint die Beobachtung von verbrecherischen Ereig
nissen oder die eigene Begehung von Verbrechen dieses Selbstbild und
auch das Selbstverständnis, »sauber« geblieben zu sein, schon im Krieg
nicht zerstört zu haben - zumal es im Krieg immer viele gute Gründe
gibt, sich selbst für Verbrechen zu rechtfertigen und verbrecherische
Handlungen gar nicht als solche wahrzunehmen. Und in der Nach
kriegszeitwurde dieses Selbstbild nur kurzzeitig angegriffen. Der Frei
spruch beim Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher,
Ehrenerklärungen von Eisenhower und Adenauer haben solche Selbst
konzepte schon bald wieder respektabel erscheinenlassenund gestützt.
Auch wer Verbrechenbegangen hatte, konnte sich entlastet fühlen. Für
die damalsjüngeren Offiziere ist dadurch und durch die Chance,in einer
demokratischen Gesellschaft weiterzuleben, die Möglichkeit eröffnet
worden, ihre Selbstkonzepte zu ändern. Ihre Memoiren dokumentieren
diesen Versuch.

Verlorene Siege

Die Generäle und ihre unmittelbar nach Kriegsende erschienenen


Memoiren sind da eindeutiger. Sie bestreiten entschieden verbrecheri
sche Handlungen des Heeres; wenn Verbrechen vorkamen, so waren es
Taten einzelner Soldaten. Diese seien aber nicht ungesühnt geblieben.24
Die »Angelegenheit« Kommissarbefehl wird, selbst bei Speidel, gleich
samalsPflichtübung erwähntund durch die Behauptung, man habe den
Befehl nicht ausgeführt, schnell ad acta gelegt.25 Guderian will den
Befehl gar nicht erhalten haben.26 Heusinger thematisiert immerhin in
einerSzene diePraxis von Chefs, dieVerantwortung für dieAusführung
nach unten abzuschieben.27 Inzwischen ist vielfach belegt, daß alle die
bestrittenen verbrecherischen Handlungen auch tatsächlich begangen
worden sind: Erschießungen von Kommissaren, Ausrottungen von
Dorfbevölkerungen, millionenfaches Verhungernlassen von Gefange
nen, Beteiligungen an Judenvernichtungen und vieles mehr. Daß davon
nichts zur Kenntnis der obersten Führungskräfte gelangt sein soll, ist
nicht plausibel. Von Manstein hat in seinem berüchtigten Befehl vom
20. November 1941, den er in seinen Memoiren noch nicht einmal
erwähnt, zu grausamem Verhalten gegenüber der russischen und jüdi-

626
sehen Bevölkerung aufgerufen. Stahlberg, seinOrdonnanzoffizier, weist
nach, daß sein Chef über Verbrechen informiert war.
All dies hat das Selbstkonzept der meisten Generälenicht tangiert. Sie
haben all das, was mit Verbrechen zusammenhing, außerhalb ihres sol
datischen Selbstbildes abgelagert. Daß diese Strategie nicht unproblema
tischwar,zeigensowohl die Ausführungen vor dem Nürnberger Tribu
nal als auch die Memoiren, mußte man doch, um sein soldatisches
Selbstkonzept zu retten, sich dieses Selbstkonzeptesin geradezu grotes
ker Weise bis zur Selbstaufgabe entledigenund sich als Marionette Hit
lers präsentieren.
Hinzu kommt, daß das überragende Interesse der Verfasser der
Memoiren darin lag, den Krieg gegen die Sowjetunion ohne Einmi
schungen Hitlers zu führen und zu gewinnen. Die Memoiren einesvon
Manstein, eines Guderian, auch einesHeusinger oder einesHalder, zen
trieren sich um die Konflikte zwischen Hitler und den militärischen
Führungspersonen wegen der richtigen militärischen Kriegführung
gegen die Sowjetunion, nicht um vorgesehene oder begangene verbre
cherische Handlungen. Diese wogen nichts während des Krieges und
schon gar nichts gegen die militärische Niederlage. Nicht ein Erinnern
an die Opfer deutscher Herrschaft in der Sowjetunion, sondern die
Demütigungder Niederlage beherrschtdie Memoiren.
Auch wenn all das richtig wäre, was die Verfasser der Memoiren, und
nicht nur sie, zu ihrer Verteidigung vorgebracht haben und sie während
des Krieges nicht andershandelnkonnten, als sie es taten, so bleibt doch
die erstaunliche Tatsache, daß Repräsentanten der militärischen Elite
Jahre nach der Niederlage in ihren Memoirennoch einmal darüber dis
kutieren, wie sie den Krieg hätten gewinnen können. In diesenJahren
hätten sich selbst Soldaten über den verbrecherischen Grundcharakter
des Dritten Reiches informieren können. Die Blindheit einer militäri
schenElitegegenüber den Folgeneines möglichen Sieges des Deutschen
Reiches für Europa und die Welt wird in diesem Grundthema der
Memoiren noch einmal überaus deutlich. Die Memoirenschreiber stan
den in dieser Blindheit keineswegs allein. Nur unter der Voraussetzung
einer solchenverbreiteten Blindheitwar es überhaupt möglich, der Dar
bringung millionenfacher Schlachtopfer Sinn zuzusprechen. Die
militärischeElite hätte den Krieg vielleichtsogar gewonnen, wenn Hit
ler sie nicht gestört hätte. Zum Segen der Menschheit verloren beideihn.

6z7
Anmerkungen
i Folgende Memoiren wurden herangezogen (nach dem Erscheinungsjahr): Franz
Halder, Hitler alsFeldherr. Der ehemalige Chef des Generalstabes berichtetdie
Wahrheit, München 1949; Adolf Heusinger, Befehl im Widerstreit. Schicksals
stunden der deutschen Armee. 1923-1945, Tübingen 1950; Heinz Guderian,
Erinnerungen eines Soldaten, Heidelberg 1950 (3. Aufl. 1951); Dietrich von
Choltitz, Soldat unter Soldaten, Konstanz usw. 1951; Erich von Manstein,
Generalfeldmarschall, Verlorene Siege, Bonn 1955 (benutzteAufl. 1957); Hans
Frießner, Generaloberst a. D., Verratene Schlachten. Die Tragödie der deut
schenWehrmacht in Rumänien und Ungarn, Hamburg 1956; Kunrat Freiherr
von Hammerstein, Spähtrupp, Stuttgart 1963; Hans Speidel, Aus unserer Zeit.
Erinnerungen, Frankfurt am Main/Wien 1977; Gerd Schmückle,Ohne Pauken
und Trompeten. Erinnerungen an Krieg und Frieden, Stuttgart1982; Alexander
Stahlberg, Die verdammte Pflicht. Erinnerungen 1932 bis 1945, Frankfurt am
Main/Berlin 1987 (benutzte Aufl. 1990); Ulrich de Maiziere, In der Pflicht.
Lebensbericht eines deutschen Soldaten im 20. Jahrhundert, Herford/Bonn
1989; Hans von Luck, Gefangener meiner Zeit. Ein StückWeges mit Rommel,
Herford/Bonn 1991; GünterKießling, Versäumter Widerspruch, Mainz 1993.
2 Vgl.zum Folgendendie Angabenin den MemoirensowieRobert Wistrich,Wer
war wer im Dritten Reich. Ein biographisches Lexikon, Frankfurt am Main
1992.
3 Vgl. dazu Georg Meyer, Zur Situation der deutschen militärischen Führungs
schicht imVorfeld deswestdeutschen Verteidigungsbeitrages 1945-1950/51, in:
Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Anfänge westdeutscher Sicher
heitspolitik: 1945-1956, Bd. 1: Roland G. Foerster, Christian Greiner, Georg
Meyer, Hans-Jürgen Rautenberg, Norbert Wiggershaus, Von der Kapitulation
bis zum Pleven-Plan, München/Wien 1982, S. 577-656, besonders S. 6o2ff.;
GeorgMeyer, Soldaten ohneArmee, in:Von Stalingrad zur Währungsreform,
hrsg. von Martin Broszat, Klaus-Dietmar Henke und Hans Woller, 2. Aufl.,
München 1989, S. 683-750, besonders S. 697ff.
4 Vgl. Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen
Militärgerichtshof. Nürnberg, 14.Nov. 1945 - 1. Okt. 1946, Bd. 21-22, Nürn
berg1948, Bd.22, S. 593-5955 besonders S. 595; sowie Meyer, Situation, a. a. O.,
S. 613 ff.; ders., Soldaten, a. a. O., S. 703ff.
5 Vgl. Meyer, Situation, a. a. O., S. 626ff.
6 Vgl. MaxWeber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5.Aufl., Tübingen 1972, S.825ff.,
125t.
7 Vgl. JosephM. Fitzgerald, Autobiographical Memory and Conceptualizations
oftheSeif, in:Theoretical Perspectives onAutobiographical Memory, hrsg. von
Martin A. Conway, Dordrecht/Boston/London 1992, S. 99-114, besonders
s.99f.
8 Vgl.RolandArbinger,Gedächtnis, Darmstadt 1984, S.91ff.und S.141 ff.;David
C. Rubin u.a., Autobiographical memory across the life span, in: Autobio
graphical memory, hrsg. von David C. Rubin u. a., Cambridge usw. 1986,

628
S. 202-221; Craig R. Barclayund Thomas S. Smith,Autobiographical Remem
bering: Creating Personal Culture, in: Conway a. a. O., S. 75-97, besonders
S. 81 ff.; Craig R. Barclay, Schematization of autobiographical Memory, in:
Rubin, a. a. O., S. 82-99;Siegried J. Schmidt,Kognitive Autonomie und soziale
Ordnung, Frankfurt am Main 1994, S.315ff.; Alan Baddeley und BarbaraWil
son, Amnesia,Autobiographical memory, and confabulation, in: Rubin, a. a. O.,
S. 225-252, besonders S. 249ff.
9 Vgl. Willem A. Wagenaar, Remembering my worst sins: How autobiographical
memory serves the updating of the conceptual seif, in: Conway, a. a. O.,
S. 263-274.
10 Schmückle, a. a. O., S. 46.
11 Frießner, a. a. O., S. 230.
12 Schmückle, a. a. O., S. 66f.
13 Ebenda, S. 47, 54L
14 Stahlberg,a. a. O., S. 224.
15 Ebenda, S. 314.
16 Ebenda, S. 342.
17 Schmückle, a. a. O., S. 46f.
18 Stahlberg,a. a. O., S. 219.
19 Stahlberg,ebenda, S. 218f.;Schmückle,a. a. O., S. 54.
20 Stahlberg,ebenda, S. i76f, Schmückle, ebenda, S.42f.
21 Kießling,a. a. O., S. 54f., 103.
22 Ebenda, S. 104f.
23 Stahlberg, a. a. O., S. 218f.
24 Von Choltitz, a. a. O., S. 302, 315.
25 Von Mansstein, a. a. O., S. i76f., Speidel, a. a. O., S.' 127.
26 Guderian, a. a. O., S. 138.
27 Heusinger, a. a. O., S. 124ff.
Der große Rortiöü
der Kriegsmarine:

und
kleine Fische

Kaiser Wilheim
und die frauen

TKXantwortet riitht

Quick, 13. Oktober 1956,Heinrich Bauer Verlag


Der Stern, H.Dezember 1957, Grüner + Jahr
Unser neuer Dotaenlarbericht:

Gibt es ein Leben


nach dem Tode ?

iariiwi

Kristall, Oktober 1961,Axel Springer Verlag


Titelfoto: Süddeutscher Verlag Bilderdienst
if"; . •,
|y,tR? MUSCHG. !

REVUE, 12. Februar 1961,Heinrich Bauer Verlag


Michael Schomstheimer »Harmlose Idealisten und
draufgängerische Soldaten«
Militär und Krieg in den Illustriertenromanen derfünfzigerJahre1

»DerMajorsah blendend aus. Kein Mensch konnte ihm ansehen, daß


er eineschwereVerwundunggeradehinter sichhatte. Er würde immer
so aussehen, als käme er gerade von der Front oder sei im Begriff,
augenblicklich dorthin abzureisen. Er betrugsichwieeinSportsmann,
deshalbbekamihm der Krieg. Er war undenkbar ohne Reitstiefel und
Pistole. Von beiden trug er immer das neueste Modell. Hans dachte:
was ist er für ein Kerl, für ein großartiger Kerl, so möchte ich auch

Kriegsverherrlichung? Aber nein, so ist das nicht gemeint. Beinahe im


Gegenteil: »So wahrmirGott helfe«, solldie(Fortsetzungs-)»Geschich-
te einerbetrogenen Jugend« sein, veröffentlicht imWinter 1958 von der
Illustrierten Quick.
Es hat im Nachkriegsdeutschland nie eine »Vergangenheitsbewälti
gung« gegeben. Diefrischgebackenen Bundesbürger widmeten sichdem
zügigen Wiederaufbau, dem Kampfum Neubauwohnungen, Automo
bilen und Italienreisen und übten sich ansonsten im »Verdrängen« der
Vergangenheit. Man magdieses unsinnige Stereotyp noch so oft wieder
holen, richtig wird es dadurch dennoch nicht. Natürlich gab es keine
Vergangenheitsbewältigung, etwaimSinne der viel und (meistens falsch)
zitierten Mitscherlichs.3 Aber es gab doch eine permanente Beschäfti
gung mit der jüngstvergangenen Zeit, eine manische, leidenschaftliche,
besessene Beschäftigung. Das MediumFernsehenwar zwar schon erfun
den, aber noch nicht weit verbreitet. Die Zeitschriften waren neben dem
Rundfunk die wichtigsten Medien.Stern und Quick erreichten Mitte der
fünfziger Jahre wöchentlich eineAuflage von etwa einer Million. Gele
sen wurden sie aber von weitaus mehr Menschen: beim Friseur und in
Arztpraxen, ausgeliehen vom Nachbarn und getauscht. Nach Schätzun
gen lasen Woche für Woche bis zu 20 Millionen Deutsche die großen
Publikumszeitschriften Stern und Quick4 Etwa ein Drittel der Auflage
wurde in Lesemappen und Abonnements verkauft, zweiDrittel mußten

634
jede Woche neu in Aufmachung, Gestaltung und Inhalt den Wünschen
und dem Geschmack ihres Publikums entsprechen. Die Leser schrieben
mit: Die Fortsetzungsromane, die jede Woche erschienen, und noch
mehr die sogenannten Tatsachenberichte wurden von den Redaktionen
mit einemVorlaufvon nur wenigenAusgabenvorproduziert. Regte sich
Widerspruch - beispielsweise in Form von Leserbriefen -, konnten die
Geschichten dem Kundengeschmack angepaßt werden. Das betraf
besonders die Gattung der Tatsachenberichte. Bei ihnen handelte es sich
um Serien, die zeitgeschichtliche und politische Authentizität verspra
chen, deren Akteure jedoch wie Romanfiguren dachten, handelten und
fühlten.

»Er fühlt, daß das Ende des Krieges mehr für ihn bedeuten wird als
nur ein Datum im Geschichtsbuch. Er fühlt - das Ende des Krieges
wird zugleich das Ende eines großen Abenteuers, eines Lebens jen
seits aller bürgerlichen Schranken bedeuten. Und zum ersten Mal ist
Hugo Bleicher nicht so sicher, ob er sich auf dieses Ende noch freuen
soll...«5

Hugo Bleicher war einer der großen Illustrierten-Helden der fünfziger


Jahre. Nunmehr in der kleinbürgerlichen Existenz einesZigaretten- und
Zeitungshändlers am Bodensee, durchlebte der Abwehrmann im Rang
eines Feldwebels noch einmal - stellvertretend für die vielen demobili
sierten Kameraden - die tollkühnen Abenteuer des Krieges. Der muß
keinesfalls immer nur wunderbar sein. In einer Folge überlegte Hugo
Bleicher, allerdings »nur einen Augenblick«, auf das Angebot seines
Gefangenen Marsac einzugehen und gemeinsam mit seiner fran
zösischen Geliebten, der »Spionin« Suzanne, die Fronten zu wech
seln. Ein neues Leben stand in greifbarer Nähe, ohne Krieg, ohne Spio
nage:

»>Es wäre schön - unsagbar schön< - schwingt sich Suzannes dunkle


Stimme auf, >Aber sag... würdest du wirklich glücklich werden?<
Hugo Bleicherantwortet nicht. Aber Suzanneweiß mit dem sicheren
Instinkt der liebenden Frau seine Antwort. [...] >Laß die Pläne, cheri<,
sagt sie mit einer Stimme, die ihr merkwürdig fremd vorkommt. >Geh
nicht mit Marsac, du würdest nicht glücklich werden, selbst wenn ich
mitkommen könnte...<«
Viele Geschichten der fünfziger Jahre berichten davon, daß die deut
schen Männer im Feld besessen davon waren, ihre Pflicht zu tun, derart,

635
daß es sie mit Lust erfüllte. Nicht Pflichterfüllung getreu den Tagesbe
fehlen und Dienstanweisungen, sondern obsessive »Pflicht«-Erfüllung,
voller Phantasie und Tatkraft, wie der Kaufmann Rudolf Pohl, alias Son
derführer Ralph, im Einsatz in Belgien. Der hatte »in dunkler Zeit« eine
glänzende Idee. Er schlug seinem Chef, Major Thöring, vor, zwei ver
haftete Widerstandskämpfer freizulassen, damit seine V-Leute sich das
Vertrauen der Organisation sichern und sie unterwandern könnten:

»>Damit haben wir die ganze Bande in der Hand.< [...] >Hm<, brum-
melt der Major schließlich mißmutig, >und wenn uns dieser Servais
dabei durch die Lappen geht?< >Herr Major, es ist die einmalige Gele
genheit, die größte und gefährlichste Widerstandsorganisation in Bel
gienaufzurollend>Ich sage nein! Aber meinetwegen fragen SieOberst
Hinterhofer. Wenn der seinen Segen gibt, solls mir recht sein.< Oberst
Hinterhofer, der Leiter der Gruppe III bei der Abwehrstelle Brüssel,
war der Vorgesetzte von Major Thöring und Sonderführer Ralph.
Oberst Hinterhofer hört den Planvon Ralphan, schütteltden Kopf,
hat Bedenken, fürchtet Komplikationen, lehnt die Verantwortung ab:
>Fragen Sie meinetwegen Oberst Hess. Wenn der seinen Segen gibt...<
Oberst Hess ist der Chef der Abwehrstelle, der Ast Brüssel. Ein klu
ger Offizier alter Schule. Auch er hat Bedenken.Auch er schüttelt den
Kopf. Auch er lehnt die Verantwortung ab. Aber schließlich sagt er
doch: >Na schön. Mir solls recht sein. Aber - wenn dieser Servais ent
wischt, dann haften Sie mir mit Ihrem Kopf, lieber Ralph.< >Ich bin
gewöhnt, meinen Kopf hinzuhalten, Herr Oberst<, sagt Ralph und
wendet sich zur Tür. Als Ralph fünf Minuten später an seinem
Schreibtisch sitzt, ist ihm nicht wohl in seiner Haut. Er weiß genau:
wenn etwas schiefgeht, wartet das Kriegsgericht auf ihn.«6

Sosehrbrannte der Ehrgeiz in SonderführerRalph, daß er über drei Vor


gesetzte hinweg die Verantwortung für eine Aktion übernahm, die ihn
(angeblich) das Leben kosten konnte. Würde sie hingegen erfolgreich
verlaufen, so brächte ihm das vielleicht eine Beförderung ein, einen
Orden, sicherlich aber den allseitigen Respekt seiner Dienststelle und
das Image, ein schneidiger Bursche zu sein.
Hatten die deutschen Frontsoldaten einfach nur brav ihre Pflicht
getan, weilsieandernfalls vor ein Kriegsgericht gekommenund zur Stra
fe sicherlich erschossen worden wären? Oder waren sie fanatische
Nationalsozialisten, Gesinnungstäter, Erfüllungsgehilfen des teuflischen
Diktators? Die Alternative ist so falsch beschrieben, zeigt unfreiwillig

636
dieAbenteuergeschichte. Mancher Feldwebel erfüllte seine Pflicht gera
dezu verwegen und riskierte dafür den Kopf. Die Fortsetzungsromane
und Tatsachenberichte der fünfziger Jahre haben erstaunlich oft einen
doppelten Boden: Zwar beteiligen sie sich einerseits an den Konstruk
tionen nationaler Entschuldungsmythen, andererseits dementieren sie
sie aber, indem sie gleichzeitig durch den Inhalt ihrer Geschichten »die
Wahrheit« enthüllen - »Wahrheit« nicht im Sinne von historisch bewie
senen Fakten, sondern von Funktionsmechanismen, von unbewußten
oder halbbewußten Strukturen, von Trieben und Lüsten. Zwar heißt es,
man habe von allem, also von den Massenmorden vor, an und hinter der
Front nichts gewußt, doch nebenbei ist zu erfahren, daß sehr viele viel
gewußt haben. Zwar wollen alle nur die Pflicht erfüllt haben, doch kön
nen sie dabei nicht die Lust und die Begeisterung verbergen, welche die
bravePflichterfüllung mit sich brachte. Zwar dominiert die Ansicht, der
deutsche Staats- und Beamtenapparat sei,etwamit Ausnahme der Gesta
po und desVolksgerichtshofes, der Tradition gemäßkorrekt und ordent
lichverfahren, dochtretenallenthalben Hinweise zutage, diedasGegen
teil bezeugen. Zwar erhält die Legende stetig neue Nahrung, nur die
SS-Nazis hätten gemordet, während die Wehrmachtsangehörigen sau
ber, anständig und ritterlich geblieben seien, doch gibt es hinreichend
Belege für die gedeihliche Zusammenarbeit und die wechselseitige
Durchdringung der verschiedenen Institutionen.
Beispielhaft dafür steht die Geschichte der französischen Wider
standskämpferin DinaVierny, die sichmonatelang im Gestapo-Gefäng
nis Fresnes befand.Sieben bestialische Folterungen hatte sie bereits hin
ter sich, da wurde sie erneut zum Verhör geholt.

»Diesmal wird sie nicht in eine jener Folterkammern geführt, in der


dieroten Steckwände mit denvielen Steckkontakten dickabgepolstert
sind, damit man die Schreie nicht hört. Diesmal darf sie sich in einem
schönen, hellen Zimmer mit vielen großen Fenstern - es muß einmal
ein Salon gewesen sein - sogar auf einen Stuhl setzen. Das ist neu.
Sonst muß sie stundenlang stehen beim Verhör. Hinter dem Schreib
tisch sitzt ein Hauptmann der Wehrmacht in Uniform. Kein Gesta
pomann, denkt Dina erleichtert. >Sie stehen unter dem Verdacht, eng
lischeSpionin zu sein<, sagt er in fast akzentfreiem Französisch.«7

Die Leserbriefschreiber, die sonst pedantisch genau jede Rangungenau-


igkeit kommentieren und bei den Tatsachenberichten Zeit- und Ortsan
gaben korrigieren, meldensich hier nicht zu Wort. Allenfalls zeigen sie

637
sichdankbar,daß die deutscheWehrmacht so sauber-anständig beschrie
ben wird. Keiner käme auf die Idee, etwa zu protestieren: Das hat es
nichtgegeben, daßWehrmacht und Gestapo unter einem Dachin frucht
barer Zusammenarbeit gemeinsam Gefangeneverhörten.
Auch wenn die Zusammenarbeit zwischen den rivalisierenden Insti
tutionen mitunter Scherereien machte, so nahm sie doch öfter einen
erfreulichen Verlauf: Voller dunkler Befürchtungen sah Oberleutnant
Hartmann einem Gespräch mit SS-Obersturmbannführer Fröben ent
gegen, der ihn in eine geheime Mission einführen sollte. Doch dann bat
ihn eine forsch-fröhliche Stimme in ein sonnendurchflutetes Zimmer,
und ein hochgewachsener, blonder Mann im Bademantel, mit einem
»Gesicht, das immer zum Lachen bereit schien«, ließ ihm die Wahl zwi
schen einem milden Weißwein oder Sekt: »>Wenn schon, dann Sekt<,
sagte Hartmann und lachte mit.«8 Also noch einmal: Bestand die deut
sche Wehrmacht nur aus »harmlosen Idealisten und draufgängerischen
Soldaten« oder aus »fanatischen Nationalsozialisten, die im blinden
Gehorsam Befehle ausführten, ohne nach ihrem politischen Sinn oder
Unsinn zu fragen, und die damit den Kriegund das Massensterbensinn
los verlängerten«?9 Natürlich ist die Alternative»harmlos-draufgängeri
scher Soldat« versus »fanatischer Nationalsozialist« falsch gestellt, denn
den Kriegverlängerten beide. Ein Auswegaus dem Dilemmaergibt sich
nur, wenn man zunächst einmal einräumt, daß es selbstverständlich
unter den Militärs Nationalsozialisten gegeben habe. Aber es waren,
wird dann gefolgert, nur wenige, und selbst diese entpuppen sich bei
näherer Betrachtung als gar nicht wirklich fanatische Nationalsoziali
sten. Wennman sich nur ernsthaft genugmit ihnen beschäftigt, stellt sich
bald heraus, daß auch sie - zumindest insgeheim- zu den Anständigen
gehörten. Diese Gut-böse-Dichotomie ist konstitutiv für den Nach
kriegsdiskurs über die Wehrmacht, und sie hält, wie wir später noch
sehen werden, bis heute an.
»Das war im Sommer 1932. Die Partei kämpfte um die Macht. Die
älteren verantwortlichen Offiziere der Reichswehr verhielten sich reser
viert. In den Kreisen der jüngeren aber hatte die NSDAP Anhänger
genug«, erläutert ein Bericht die Kräfteverhältnisse innerhalb des Offi
zierskorps10 und ein anderer gibt für den Sommer 1934 folgendes Stim
mungsbild: »Immerhinwar der Einfluß anständigerElemente nach dem
30. Juni noch so stark, daß Hitler das von Generalfeldmarschall von
Mackensen geforderte Ehrengericht gegen die angeblich wegen Hoch
verrats ermordeten Generäle nicht verhindern konnte.«11 Wer nun dar
aus folgert, 1944 hätte das deutsche Offizierskorps - etwa im Zuge der

638
allmählichen Verjüngung - überwiegend aus »unanständigen« Elemen
ten bestanden, irrt. Anläßlich der Kriegsverbrecherprozesse, dieAnfang
der fünfziger Jahre beginnen, starten die Illustrierten eine Offensive.
Und siehe da, eigentlich waren sie beinahe Widerstandskämpfer: »Es
sind 240Menschenin Belgien erschossen worden, während von Falken
hausenMilitärbefehlshaber war. Alles sprichtdafür, daß mehr, viel mehr
Menschen umgekommen wären, wenn ein anderer auf seinem Posten
gesessen hätte. [...] Er war - Militärbefehlshaber. Aber das war nichts.
Ihm unterstand wederdie kämpfende Truppe, noch die Luftwaffe oder
Marine, nicht die SS, von der Gestapo ganz zu schweigen.«12 Nicht die
Erschossenen zählen, sondern die Nichterschossenen. Hitler, so wird
unterstellt, hättebestimmt amliebsten alle ermorden lassen, folglich hat,
wer wenigeralsalleumbringenließ,»Befehle« oder zumindestWünsche
des Diktators ignoriert, hat also den Führer im Namen der Menschlich
keit hintergangen. Immer neue Geschichten suchen nach trennenden
Abgründen zwischen Hitler und der deutschen Generalität. Entlassun
genund Umbesetzungen anderWehrmachtsspitze gelten als Beweise für
das Zerwürfnis. Neu ernannte Nachfolger indessen, die das Vertrauen
des »größten Feldherren aller Zeiten«(Feldmarschall Keitel) wohl besit
zen mußten, geraten kaum ins Zwielicht. Wenn sich die sogenannten
Paladine dem Führer treu ergaben, dann doch nur, weil sie insgeheim
hofften, auf diese Weise »die Hand auf Hitler zu legen«, ihn vor noch
schlimmeren Untaten zu bewahren.13
Eine beliebte Argumentationsfigur, den tiefenDissens zwischen Füh
rer und Wehrmachtsführung zu belegen, sind deren angebliche oder
tatsächlichen Differenzen hinsichtlich Taktik und Strategie der Krieg
führung. So ging beispielsweise der Frankreichfeldzug flott voran, bis
Hitler »zum Unwillen der Frontbefehlshaber« die Panzer anhielt. Pan
zergeneral »Guderian ließ keine Ruhe, bis Kleist ihm die Erlaubnis gab,
24 Stunden lang weiter nach Westen vorzupreschen. [...] Tags darauf
kam aberwiederein Haltebefehl aus dem Führerhauptquartier. Diesmal
eilte Guderian empört ins Armeeoberkommando und bat um Enthe
bung von seinem Kommando. Er kehrte erst wieder zu seiner Truppe
zurück, als Generaloberst List einen Kompromiß ermöglichte, der der
Panzergruppe Guderian eine kampffähige Aufklärung< erlaubte.«14
Auch als die Deutschen kurz vor Calais standen, bremste ein Führerbe
fehl den weiterenVormarsch, weswegen der Chef des Generalstabes des
Heeres, Generaloberst Halder, nach Informationen der Illustrierten
Stern resigniert in seinem Tagebuch vermerkte: »Auf diese Weise kann
das Aufräumen des Einkreisungskessels noch wochenlang dauern.«15

639
Umgekehrt befahlHitler, die Front desXX. Armeekorps vor Moskau zu
halten, während Generaloberst Hoepnef den Rückzug anordnete und
damit seinenSoldaten in diesem Fall das Leben rettete. Hoepner wurde
deshalb von Hitler aus der Armee entlassen, dann aber wieder aufge
nommen. Trotzdem bleute der spätere Mitverschwörer des 20. Juli,
Generaloberst Erich Hoepner, in den Tagesbefehlen seinen Soldaten
ganz linientreu ein: »Es ist der alte Kampfder Germanen gegen das Sla
wentum, die Verteidigung europäischer Kultur gegen moskowitisch-
asiatische Überschwemmung, die Abwehr des jüdischen Bolschewis
mus.«16
Der Krieg wäre gänzlich anders verlaufen und sogar zu gewinnen
gewesen, wenn der Dilettant Hitler mit seinen widersinnigen Befehlen
nicht sovielUnheil angerichtetund statt dessen auf die nüchternen Pro
gnosen seiner militärischen Fachleute gehört hätte, diese Thesespinnen
zahlreiche Illustriertengeschichten phantastiereich aus und entlasten
damit die Führung der Wehrmacht. Ein Entschuldungsmythos, der
historisch jeder Grundlage entbehrt.17 Trotzdem funktioniert auch heute
noch nach genau diesemdramaturgischenRezept die offizielle Wander
ausstellung der Bundeswehr »Aufstand des Gewissens«, die mit dem
Untertitel »Militärischer Widerstand gegen Hitler und NS-Regime
1933-1945« zum 50. Jahrestag des 20.Juli 1944 in Berlin aktualisiertund
unter Teilnahme von Bundesverteidigungsminister VolkerRühe feierlich
wiedereröffnet worden ist. In der Ausstellung findet sich sogar ohne
weitere Erklärung und Kommentierung eine besonders schillernde
Figurals»Widerstandskämpfer« geehrt: Arthur Nebe, seit 1937 Chef des
Reichskriminalpolizeiamtes, seit 1939 Chef des Amtes V des Reichssi
cherheitshauptamtes, außerdemalsSS-Gruppenführerim Generalsrang.
Arthur Nebe, so die Ausstellung, begann schon seit 1933 »bewußt, den
Verschwörern Informationen zu liefern«. Kein Wort darüber, daß der
Gruppenführer Nebe noch im Herbst 1941 die Einsatzgruppe B kom
mandierte und nach vier Monaten an seine Dienststelle in Berlin die
erfolgreiche Liquidierung von 45000Juden meldete.
Derselbe Arthur Nebe ist auch ein beliebter Illustriertenstar der fünf
zigerJahre. In der Serieüber den »Kriminalratdes Teufels« tauchen eine
ganzeReihe von großartigen,sympathischenNS-Funktionären auf, von
denen der prominenteste Hermann Göring heißt: »Ohne Hermann
Görings Unterstützung könnten Nebe und Diels den Kampf für Ord
nung nicht führen.«18 Doch freilich müssen schon allein aus Gründen
der Dramaturgieauch Bösewichter auftauchen, wie der SA-Sturmführer
Schmidt alias Schweinebacke, welcher der vorgesetzte SA-Führer des

640
ermordeten Horst Wessel gewesen war. »Leider ist Schweinebacke ein
typischer Krimineller«, sagt Nebe zu Innenminister Göring und ruft
damit einen Sturm der Entrüstung hervor.
Wenn also die höchsten Wehrmachtsgeneräleund selbst Einsatzgrup
penchef Arthur Nebe, SA-Gruppenführer Helldorf und Rüstungsmini
ster Speer19 von den Autoren der Tatsachenberichte denjenigen zuge
rechnet werden, die Hitler insgeheim bekämpften, also Widerstand
leisteten, fragt man sich, ob es noch mehr oder andere Widerstands
kämpfer gab: »Die Resistance ist ein wirrer Haufen von Gruppen und
Grüppchen, die sich untereinander eifersüchtig bekämpfen. Das sind
doch nur Kommunisten und Kriminelle, die ihr egoistisches Süppchen
kochen wollen.«20 Nur selten bekommen die Angehörigen einer Wider
standsorganisation seriöse Beweggründe für ihr Handeln zugebilligt.
Und wenn das ausnahmsweise geschieht, dann werden sogleichpersön
licheEigenschaften entdeckt, die das Bild korrigieren:»Carte- der ober
ste Chef der Resistance-Gruppe Südost. Ein glutäugiger, schwarzhaari
ger Franzose. [...] Ein braver Patriot, aber auch ein Schwätzer.
Aufbrausend, pathetisch, selbstherrlich.«21 - »Die Grüne Grenze lockt
Schmuggler und Agenten,Saboteureund Spione, Kriminelle und Patrio
ten.«22 - »In die Häuserschluchten von Marseille wagt sich nicht einmal
das deutsche Militär. Denn in diesen engen Gassen verbergen sich Ver
brecher neben Patrioten, Dirnen und Zuhälter neben Spionenund Sabo
teuren.«23 Die Physiognomie dieser sogenannten Widerstandskämpfer
scheint die Verbrechertypologie der NS-Rassentheoretiker zu bestäti
gen: »Ein Gesicht, das man so leicht nicht vergessen konnte: roh und
abstoßend, mit breitgeschlagener Boxernase, verkrüppeltenOhren, bru
talem Kinn und tiefliegenden, stechenden Augen.«24
Gutaussehend, freundlich und sympathisch sind allein diejenigen,
welche die »Banden« bekämpfen, nämlich die deutschen Soldaten, wie
beispielsweise Oberleutnant Diek, zur Infiltration der Partisanen vom
Reichssicherheitshauptamt abkommandiert zum Stab des Kriminalrats
Schreieder:

»>Sie sind Roland Diek, geboren in Leiden, 1917. Oberleutnant der


Gebirgsjäger, EK II, EK I, zum Ritterkreuz eingereicht, dreimalver
wundet..^ >Stimmt<, sagte der Junge. Er hatte ein glattes, längliches
Gesicht, brünettes Haar und lustige, hellblaue Augen.« Der Krimi
nalrat bestellte für seinen neuen Mitarbeiter Schnaps und las dann die
Akte des zukünftigen Gegners vor, der in Holland den Widerstand
anführte: »King-Kongwar ein Mann von fast zwei Meter Größe. [...]

641
Seine Jugend hatte er im Armenviertel verbracht, als erfolgreicher
Anführer einer Bande von Jungens, die Obstkarren plünderten,
Schaufenster einschlugen und Katzen zu Tode quälten. Später machte
er sich einenNamen als Anführer einer Gruppe von Hafenarbeitern.
Schiffe, die er entlud, hatten hinterher ein gewisses Defizit aufzuwei
sen. [...] Worin sein Widerstand bestand, war nicht immer ganz klar.
[...] Man brauchte nur seine Muskeln, seine brutale Visage, die
Schweinsäuglein in dem platten Gesicht, die überdimensionalen
Boxerfäuste des Mannes zu betrachten, um zu wissen, daß der Wider
stand bei ihm in guten Händen ruhte.«25

Partisanen sind Spione, Verräter, Drogenhändler, Zuhälter, Fanatiker.


Verbrecher. Heimtückische Mörder, die ihre wehrlosen Opfer aus dem
Hinterhalt niedermetzeln. Die deutschen Eroberer indessen sind smarte
Gentlemen, sprachbegabte Landeskundler, treue Kameraden, vorbild
hafte Vorgesetzte, phantastische,begehrenswerteLiebhaber- mit einem
Wort: Herrenmenschen! Die feindlichen Agentinnen liegen ihnen, eh sie
sich versehen, zu Füßen, so auch die Resistance-Kundschafterin,
genannt »die Katze«:

»>Wohin fahrenwir?< fragt sie leise. >Zu mir<, sagter heiser. [...] Es ist
wie ein Rausch über sie gekommen. Alle ihre Sinne fiebern diesem
Mann entgegen. Nichts auf der Welt kann jetzt ihre Leidenschaft ein
dämmen. Denkt sie überhaupt noch daran, wie frech, mutig, rück
sichtslos, wie fanatisch in ihrem Patriotismus sie die Deutschen
bekämpft hatte? [...] Und jetzt? Jetzt liegt sie in den Armen eines
>Boche<, sehnt sich nach seinen Zärtlichkeiten.«26

Ähnlich geht es derWiderstandskämpferin Lill:

»Sie schaute in das Gesichtdieses Mannes, das so ganz anders war als
die Gesichter jener Deutschen, die sie kennen und hassen gelernt
hatte. Sie sah seinen scharf profilierten, rassigen, männlich schönen
Kopf. Sah seine nervigen, schlanken Hände. Sah in seine tiefen, ein
wenig verträumten Augen... Lill hatte bisher nur die breitflächigen,
groben Visagen stiernackiger SS- und SD-Führer gekannt oder die
Gesichter irgendwelcher Etappen-Offiziere. Aber das Antlitz hier
war anders. War es etwa das Gesicht des Frontsoldaten?«27
Als Vorgesetzte beweisen diese Männer, daß die Idee des Führerstaats so
verkehrt nicht gewesen sein konnte. Sie sind entschlossen, kaltblütig,

642
mutig und fair. In jeder Hinsicht ein Vorbild. Vielleicht hart gegen die
Mannschaft, aber noch härter gegen sich selbst: Die Besatzung eines
U-Bootes wurde so geschunden, daß sich die Männer erbrachen oder
kraftlos gegen die Bordeinrichtungen stürzten und sich dabei blutige
Köpfeholten. Ein Mann wurde sogar von den Wellen vom Turm geris
sen. Allein der Kommandant stand »wie ein zweiter Sehrohrblock« auf
dem Turm, »und dort blieb er blieb er zweiundfünfzigStunden langste
hen. Als Teichmann einmal nach dem Kielwasser schaute, streifte er mit
einem Blick das Gesicht des Kommandanten. Er sah ein Stück grobbe-
hauenen Steins, salzüberkrustet und von tiefen Rinnen zerfurcht, und
zwei rote Kreise, als ob auf dem Stein etwas Blut zerspritzt worden
wäre.«28 Selbst ausgesprochene Menschenschinder, Charakterschweine,
finden - wenn es denn darauf ankommt - zu ihrem guten Kern, zu ihrer
natürlichenMenschlichkeit, wie Oberleutnant Bendler. Am Tagdes Ein
satzes mußte eine Änderung in ihmstattgefunden haben:

»Ein warmer Glanz kam in seine Augen. >Ich möchte uns allen, wie
wir hier sind, Glück wünschen. Wir haben es verdammt nötig. Und
ich hoffe, euch alle heute abend heil wiederzusehen^ Apollo horchte
auf. Merkwürdig - so menschlich, so frei von jeder falschen Pose,
jedem Pathoshatte er ihn nochnie gesehen. >Reckenbach, unsereMei
nungen sindnichtimmerdie gleichen gewesen. Trotz allem, wasnoch
ungeklärt zwischen uns steht, möchte ich Ihnen danken, daß Sie sich
bei der Vorbereitung dieses Unternehmens restlos eingesetzt haben.<
[...] Er blickte Apollo offenan und hieltihm die Hand hin.«29

Wo ritterliche Ehrenmänner ihre Pflicht erfüllen, kann Krieg folglich


nicht besonders tragisch sein. Wie wird der Lebensraum im Osten
erobert? Ganz einfach: »Schwere deutsche Bombenangriffe richteten
sich auch gegen die polnische Armee und ihre Nachschubstrecken. Sie
setzten die Eisenbahnlinien außer Betrieb, brachten den Straßenverkehr
durcheinander und unterbrachen das Nachrichtennetz.«30 - »Die Hee
resgruppen gehen andiese Linien heran, säubern das besetzte Gebiet und
veranlassen das Zusammenschließen und Ordnen der Verbände. Hee
resgruppe Süd bringt die Kämpfe an der Bzura zum Abschluß und
schließt auch Warschau westlich der Weichsel ab, sie nimmt mit rechtem
Flügel der 14. Armee das Ölgebiet bei Skole-Stryi in die Hand, Heeres
gruppe Nord hält Warschau ostwärts der Weichsel abgeschlossen«, so
knüpfen dieTatsachenberichte der Illustrierten Stern an dieDarstellun
gen des Oberkommandos der Wehrmacht an.31

643
In diesem Krieg fließt kein Blut. Elend, Leid und Tod kommen nicht
vor. Feinde werden »überwältigt«, Infrastruktur »außer Betrieb ge
setzt«, Gebiete »gesäubert«, der Verkehr ein wenig durcheinanderge
bracht. Eine saubere Sache. Solange Deutsche in der Offensive bleiben,
ist die Stimmungbombig. Grausam wird es erst, wenn die Deutschen zu
Opfern werden:

»Am 22. Februar 1945 fielen 9000 alliierte Bomber und Jäger über das
deutsche Eisenbahnnetz zwischen Berlin-Leipzig-Kassel-Ham
burg-Ludwigslust her. [...] Sieschlugen alles kurz und klein und ver
schonten dabei selbst Kleinstädte, Dörfer und einzelne Gehöfte
nicht.«32

So schlimm wird es,wenn ein feindlicher Torpedo trifft:


»Tief unten im E-Deck gab es für die Marinehelferin Gertrud Agne
sens ein fürchterliches Erwachen. Ein ohrenbetäubender Knall riß sie
ausdemSchlaf, und eswarals ob dieeisernen Wände überihremKopf
zusammenstürzen würden. Dann ein Rauschen und Bersten, und
gleich daraufnoch zwei dumpfe Schläge. [...] Dann der langgezogene
Schrei eines Mädchens: >Fliiiegeralarm!< Bestürzte, zu Tode
erschrockene Mädchengesichter starrten einander an. [...] Plötzlich
prasselte ein armdicker Wasserstrahlvon oben auf die Mädchen herab.
Sie kreischten vor Schreck auf. [...] Der Kampf um das Boot drei auf
der Steuerbordseite war noch in vollem Gange. [...] Da liefplötzlich
die achterne Talje voll aus,und das Boot kippte nach hinten über und
schüttetealle, die drin saßen, im hohen Bogen in die See. Vierzig, fün
fzig Menschenleiber tauchten unter, wurden von den Schwimm
westen wieder hochgerissen und kämpften in den eisigen Fluten um
ihr Leben. Ihre Qual dauertenicht lange, denn jetzt löstesichdieTalje
am Bug. Das schwere Boot stürzte rauschend in die Tiefe und schlug
mitten in das schwimmende, nach Luft ringendeMenschenknäuel.«33

Diesedramatische Schilderung deslangsamen Untergangs der »Wilhelm


Gustloff« erstreckt sichüber mehrere Folgen. ErgreifendeEinzelschick
sale nehmen ihren Lauf. Deutsche Schicksale!
»>Eins, zwei, drei und wieder noch einer. Arbeit macht das Leben süß<,
schrieeinMannund feuertedamit russische Kriegsgefangene an, die Lei
chen auf die wartenden Pferdefuhrwerke warfen. Einer der Russen fiel
ohnmächtig um. >Keine Müdigkeit vorschützen<, sagte der Mann, der
wie ein verschmierter, rußgeschwärzter Teufel aussah, >es sind noch ein

644
paar Zehntausend, die wir verladenmüssen<.«34 Nicht ermordeteJuden,
Zigeuner oder Kriegsgefangene sollen die Russen verladen, sondern die
Opfer der Bombenangriffe auf Dresden. Konzentrations- oder Kriegs
gefangenenlager sind für die Illustrierten der fünfziger Jahre kaum ein
Thema.Jedenfalls so langenicht, wie dort nur die tatsächlichen oder ver
meintlichen Feinde der Nationalsozialisten gequält wurden, Untermen
schen also. Für das Lagerlebeninteressierensie sich und ihre Leser erst
dann,wenn anständige Deutschedarin vermutetwerden: »>Die Arbeitin
der UdSSR ist eine Sache der Ehre und des Ruhmes< lautet die Inschrift
am Lagertor. Es ist der gleichezynische Sadismus,der die Tore der nazi
stischen Konzentrationslager mit der Inschrift >Arbeit macht frei< ver
sah.«35
In den Kriegsgefangenenlagern bestand der nationalsozialistische
Führerstaat vor und nach der Kapitulation nahezu ungebrochen fort.
Eine lagerinterne »Polizei«, besser Totschlägertruppe, sorgte dafür, daß
die alte Moral nicht zusammenbrach und hielt Ausschau nach mutmaß
lichen Verrätern. Der Kriegsgefangene Hauptmann Drobschuh glaubte
nicht mehr an den Endsieg und vertraute diese Ansicht leider seinem
Tagebuch an. Das wurde ihm geklaut: »>Strolch<, ruft jemand aus der
ersten Kompanie. >Verräter! Drecksau!< Und plötzlich fährt dem Kriegs
verwaltungsrat Drobschuh ein eisigerSchreck in die Glieder. Ihm wird
klar, wassiemit ihmvorhaben. Diese Hunde wollenmichumbringen.«36
Es bleibt ungewiß, ob Drobschuh nun erhängt oder zum Erhängen
gezwungen wurde, aber der Riß, der,wie die Geschichte erzählt, wegen
des Toten durch das ganze Lager gegangen sein soll, die Spaltung zwi
schenden »Unbelehrbaren«, die »lachend und höhnend« anderntags an
der Arrestbaracke vorüberzogen, und den protestierenden Fallschirm
springern, die, zu den Schaulustigen gewandt,»Scheißkerle« schrienund
riefen: »Der Kerl war ein armer Hund und kein Verräter. Aber selbst
wenn er einVerrätergewesen wäre... wir hätten ihn auf anständige Weise
umgelegt«,37 diese Spaltung hatte es, bekräftigt ein Leserbrief, nicht
gegeben: »Esist falsch, daß nach demTodevon Drobschuh einpaar Dut
zend Fallschirmjäger-Offiziere gegen den Mord protestierten. Tatsache
ist, daß gerade diese Herren die treuesten Anhänger dieses Lagerterrors
waren«, schreibt ein Leser drei Wochen später.
Nahezu jede Folge dieser Kriegsgefangenenserie enthält zumindest
eine Episode, die unterstreicht, wie überaus grausam die Alliierten mit
den Deutschen umgegangen seien: Am Stacheldraht erschossen, von
Maschinengewehrsalven durchlöchert, aus Langeweile in den Bauch
geschossen. Glaubt man den Tatsachenberichten, dann hat die amerika-

645
nische Lagerleitung diedeutschen Gefangenen sogar systematisch gefol
tert:

»Man reißt sie in der Nacht aus dem Schlaf oder sie bekommen vor
der Vernehmung 12Stundenlang nichts zu essen. Man gibt ihnen kei
nen Stuhl und läßt sie stundenlang in das Licht von Scheinwerfern
starren. Und wenn die Vernehmung nichts ergibt, dann setzt man sie
auf einen Wagen, den man eigens für so hartnäckige Zeugnisverwei
gererkonstruiert hat. Es ist ein Lastwagen, auf dessen Plattform eine
schwereEisenstange hin- und herschwingt.Auf diesemWagen geht es
in die Wüste hinaus. Ohne Schutz vor der glühenden Sonne werden
siestundenlangherumgekarrt, immerin Gefahr, entweder einenHitz
schlag zu erleiden, oder von der herumpendelnden Eisenstange
erschlagen zu werden. Und danngeht eszu einem neuen Verhör.«38

Echte deutsche Kriegsverbrecher hat es,verließenwir uns einzig auf die


Diskussion, wie sie in den beiden Illustrierten geführt wird, kaum gege
ben.Ja, Heydrich vielleicht, der die Richtlinien für die »Endlösung« aus
gearbeitet hat und schon längst tot ist. Unverschämte »Nutznießer des
Hitlerreiches«, wie beispielsweise der ehemalige Polizeichef von
Lübeck, SS-Oberführer Schröder, sowie der NS-Polizeirat Anton,
mögen dazuzählen, weil sie »für unser Geld« die Hand aufhalten und
große Pensionen kassieren wollen.39 Aber wer ist wirklich ein »Kriegs
verbrecher« und wer nur ein »sogenannter Kriegsverbrecher«? Auf der
Anklagebank des Schwurgerichts in Arnsberg sitzen »sechs unbeschol
tene,korrekte und erfolgreiche Bürger ausunserer Mitte. Siemüssensich
dafür verantworten, vor zwölf Jahren den Befehl eines SS-Generals aus
geführt zu haben. Auf diesenBefehl hin wurden 129 russische Arbeiter,
77 Frauen und zwei Kinder erschossen. Nachts, heimlich, ohne
Grund.«40 Die Angeklagtenbekennensichalsnicht schuldig. Die Unter
suchungen ergeben, daß der Befehl möglicherweise gar kein Befehl war,
denn General Kammler schrie lediglich »dezimieren, dezimieren«, ohne
genaue Angabe, wen, wie viele und wann. Ein Gutachten ergibt, der
Hauptmann der Wehrmacht hätte es sich aufgrund seinesRangesleisten
können, Kammler Kontra zu geben.So entsteht der Eindruck, die Ange
klagten verschanzten sich hinter Schutzbehauptungen. Dennoch setzt
der Stern die Bewertung »Mörder« in Anführungszeichen: »Ab 1945
waren die >Mörder< Menschenwie du und ich«,heißt esin großer Schrift,
»und heute leben sie, als ob nichts geschehen wäre.« Ein Vorwurf oder
ZeugnisguterFührung? Die Fotos jedenfalls zeigendieFamilienväter im

646
Kreis ihrer Lieben, alle lächeln und die Texte dazu bestätigen das reha
bilitierende Urteil der Einleitung. »Sechs unbescholtene, korrekte und
erfolgreiche Bürger«. Von sechs abgedruckten Leserbriefen verlangt
einer die harte Bestrafung der Täter, alle übrigen reagieren mit
Empörung: »Hört doch auf mit dem Irrsinn, deutsche Menschenzu ver
urteilen, diekeine ZeitzumÜberlegen hatten, was sietatenodertun soll
ten.«41
Und Oradour? Der »Romander verlorenen Söhne«spielt 1957 längst
nicht mehr im Zweiten Weltkrieg, sondern in Indochina. Dort kämpfen
im Sold der Franzosen der schwächliche Robert Altmann und der
Draufgänger Kleiba, ehedem Unterscharführer. Uscha Kleiba war in
Oradour dabei: »>Es war ein hübsches, kleines Dorf, ganz friedlich. [...]
Dann ließ der Sturmbannführer alles durchsuchen. Wir haben nichts
gefunden. KeineWaffen. Keine Munition, gar nichts. Dann schössensie
die Männer in den Schuppen zusammen. Mit MGs und Maschinenpi
stolen. [...] Und dann, als ich dachte, es wäre zu Ende, brachten sie eine
Kiste mit Leuchtpatronen und Rauchpatronen und Brandmunition in
die Kirche und steckten alle an.< >Und die Frauen?< stotterte Robert. >Die
waren in der Kirche. Sie schrien wie die Verrückten. Sie schrien wie die
Katzen.<«42 Freilich, Oradour war ein Kriegsverbrechen, allerdings
begehen die Franzosen in Indochina ebensolche Verbrechen, soll diese
Serie beweisen, weswegen sich die Alliierten nicht allzusehr empören
sollten.43 SiebenJahre zuvor klang der Fall Oradour noch ein bißchen
anders: »Rechtfertigt Mord - Mord?«44 Egal,wie die Beantwortung der
Frageausfallen mag, deutlichwird, daß die Verantwortung für diese Tat
den Partisanen zufällt, die deutsche Offiziere »abgeknallt« haben. Das
sogenannte Kriegsverbrechen geschah also nur in Notwehr.
Ein Kriegsverbrecher? Oder nur ein sogenannter? Selbst Hitlers rech
te Hand, Generaloberst Jodl, wird von einem deutschen Gericht 1953
postumvon den Verbrechen freigesprochen, für die er in Nürnberg hin
gerichtet worden ist. Und seine Witwe meldet sich zum ehrwürdigen
Angedenken ihres Gatten nochJahrzehnte später in den Leserbriefspal
ten der großen Zeitungen- wann immer es Gelegenheitgibt- zu Wort.45

647
Anmerkungen

i Der Aufsatz basiert auf meiner Dissertation aus dem Jahr 1988: Bombenstim
mungund Katzenjammer - Die Verarbeitung der nationalsozialistischen Ära in
den 50erJahren, die leicht gekürzt und überarbeitet unter dem Titel Bomben
stimmungund Katzenjammer - Vergangenheitsbewältigung: Quick und Stern
in den fünfziger Jahren, Köln 1989, erschienen ist (mit einem Nachwort von
Erhard Stölting).
2 Quick 5/i958:Sowahr mir Gott helfe, die Geschichte einerbetrogenen Jugend.
3 Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, München
1967; vgl. TheodorW.Adorno,Was bedeutet: Aufarbeitung derVergangenheit,
in: Eingriffe, Frankfurt am Main 1963.
4 Horst Knittel,Der Roman in der deutschen Illustrierten,Berlin 1967, S. 17.
5 Quick 50/1957:Feind hört mit.
6 Quick 30/1956:Florentine.
7 Quick 2/1951:Modell in Fesseln.
8 Stern 33/1959: Geld wie Heu.
9 Die Frage ist ursprünglich auf den BefreierMussolinis, SS-Obersturmbannfüh
rer Otto Skorzeny, gemünzt: Quick 14/1950 Der gefährlichste Mann der Welt
10 Quick 44/1950:Tod hört mit.
11 Quick i5/i95i:Es begann mit einem Krebsessen.
12 Quick 40/1950: MeinGewissen ist meinAnwalt. - EineFolgespäterkanzeltder
General allerdings den Sonderbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, Fritz
Saukel,eiskaltab, »der nach Brüssel gekommen ist, um nun auch die Achtzehn-
und Neunzehnjährigen zum Arbeitsdienst heranzuziehen. Falkenhausenlehnt
das ab.Je mehrSaukel in Wut gerät,um so eisiger wird der General. Saukel muß
unverrichteterDinge nach Berlinzurückfliegen.«
13 So beispielsweise im Zusammenhang mit General Reichenau, »den der Führer
einstmitTränenin denAugen empfing«, weil»Sie der einzige General desHee
res sind, den man als Nationalsozialisten bezeichnet und den ich aufrichtig
schätze«. Quick 41/1955:Warum des Teufels General?
14 Stern 48/1959: In Europa gehen die Lichter aus.
15 Stern 49/1959: Ebenda.
16 Zitiert nachHans-UlrichThamer, Verführung und Gewalt, Berlin1986, S.648.
ly Vgl. hierzu die Studie von Hans HeinrichWilhelm, Die Prognosen der Abtei
lung Fremde Heere Ost 1942-1945, in: Zwei Legenden aus dem Dritten Reich
(Schriftenreihe derVierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Bd.28), Stuttgart 1974,
S. 9L: »Oft genug hat hier der militärische Optimismus Hitlers die Zuversicht
seiner militärischen Berater kaum übertroffen. Wer das Studium der Akten auf
nimmt, stellt - namentlich wenn er noch unter dem Eindruck der selbstsicheren
apologetischen Zeugnisse steht - mit einigem Erstaunen fest, daß Hitler in
Wirklichkeit weitseltener >Alleingänge< unternahm, als allgemein angenommen
wird. [...] Meist befand sich Hitler, sogar noch 1944/45, m Übereinstimmung
mit angeblich klügeren und realistischeren Fachleuten, oft ohne von der Übe
reinstimmung zu wissen. WoesDifferenzen gab, istimübrigen dieFrage, ob die

648
Auffassung der Fachleute einen höheren Vernunftgehalt aufwiesen, auch nicht
von vornherein eindeutig zu bejahen. In einigen Fällen ist eherdas Gegenteil zu
konstatieren.«
18 Quick 39/1958: Der Kriminalrat des Teufels.
19 »FürSpeers Kopfgibtkeiner einen Groschen mehr. Ist eswirklich erstelfTage
her, seit er das letzte Mal in der Reichskanzlei war? Damals schon hatte er mit
einemTodesurteil gerechnet, sah sich schon vor den Läufen eines Exekutions-
Pelotons stehen. Umwieviel mehr mußer heute mitdersofortigen Erschießung
rechnen.« Quick 13/1958: Die letztendrei von Spandau.
20 Quick 2/1957: Geheimwaffe Violet.
21 Quick 7/1956: Madame Odette.
22 Quick 1/19 51:Modell in Fesseln.
23 Quick 29/1955: Florentine.
24 Quick 50/1955: Die Katze.
25 Stern 13/1955: Empfang um Mitternacht.
26 Quick 44/1955: Die Katze.
27 Quick 21/1956: Lill und der Walzertraum.
28 Quick 47/1956: Haie und kleine Fische.
29 Quick 23/1956: Lill und der Walzertraum.
30 Stern 39/1959: In Europa gehen die Lichter aus.
31 Ebenda.
32 Stern 12/1960: In Europa gehen die Lichter aus.
33 Stern 14/1959: Das nackte Leben.
34 Quick 27/1957:Fräulein.
35 Stern 6/1950: Armee hinter Stacheldraht.
36 Quick 24/1959: PW Rossmeisl schlägtsich durch.
37 Quick 25/1959: ebenda.
38 Quick 31/1959: Der große Ausbruch.
39 Stern 19/1956: Für unser Geld.
40 Stern 6/1958: Denn sie mußten wissen was sie tun.
41 Stern 9/1958: Leserbriefe.
42 Stern 48/1957: Der Roman der verlorenen Söhne.
43 »Verbrannte Erde- carte blanche - dasgibts in jedem Volkund in jedem Krieg,
so ist der Name für eine militärische Operation.« Stern 5/1958.
44 Quick 32/1950: Lex Oradour.
45 Beispielsweise am 30.4.1994 in der FAZ, wo sie eine Rezension zu dem Buch
Der Sturz der Generäle kommentiert: »Wer die zutiefste Erschütterung des
Offizierskorps beider Entlassung desFeldmarschall von Blomberg und Gene
raloberst Freiherr von Fritsch als >Zeitzeugin< miterlebt hat, erinnert sich noch
gutder täglich mehrfachen Besuche von Polizeipräsident GrafSchulenburg und
Abwehrchef Canaris bei Generalstabschef Generalleutnant Beck (ich war des
sen persönliche Sekretärin von 1932 bis 1938). Das noch tastende Gutachten von
Justizminister Gürtner erklärt wohl das >Schweigeverbot< von Generalleutnant
Beck, das Hauptmann im Generalstab von Tresckow scharf beanstandete. Sehr
erstauntwar ich,michals>Augenzeugin< beider VernehmungdesFeldmarschall
von Brauchitsch zu finden, zumal mir das Betreten des Gerichtssaales durch den

649
Kommandanten Oberst Andrews seit 1945 streng untersagt war. Auch einen
Briefvon mirandenAdjutanten Seeliger kannich mirdeshalb nichtvorstellen,
zumal meine Sympathien fürden Feldmarschall angesichts seines Verhaltens in
Nürnberg gering waren. General a. D. Kiessling sei Dankausgesprochen, daß er
den Schlußsatz des Buches über Feldmarschall Keitel und GeneraloberstJodl als
>makaber< bezeichnet. Luise Jodl, Unterhaching.« Und so lautet der makabre
Satz: »Es hat einen tiefen Sinn, daß die beiden Protagonisten des Hitlerschen
Feldherrentums in jenem Februar 1938, Keitel und Jodl, im Mai 1945 auch den
Schlußakt protokollieren müssen - die bedingungslose Kapitulation der deut
schen Wehrmacht und des Deutschen Reiches.«

650
Gabriele Rosenthal Vom Krieg erzählen,
von den Verbrechen schweigen

Bereits in den ersten dreiWochen nachdemÜberfall aufdieSowjetuni


on am 22.Juni 1941 führten die im Gefolgeder deutschen Truppen ope
rierenden mobilen Mordkommandos in den Städten und Dörfern
Westrußlands Massenexekutionen an der jüdischen Bevölkerung durch.
Einige Zahlen von Ermordeten seien genannt: in Bialystok 5200, in
Wilna 5000, in Kowno 3000 und in Minsk 2000.l Die Wehrmacht hän
digte Juden zur Ermordung an die Einsatzgruppen aus, beteiligte sich
selbst an Tötungsaktionen und erschoß immer wieder jüdische Geiseln
als »Vergeltung« für Angriffe auf die Besatzungsmacht.2 So sind nach
Berichten der Einsatzgruppe A bis Dezember 1941 allein in Weißruß
land von der Heeresgruppe Mitte »ungefähr 19 000Partisanen und Ver
brecher, d. h. also in der Mehrzahl Juden« erschossen worden.3
Der jüdische Arzt Dr. Shaul Prawda4 war beim Überfall auf die
Sowjetunion 32Jahre alt, er war verheiratet,und seineFrau erwartete ihr
erstes Kind. In einem Interview mit mir versucht er, von den ersten
Wochen nach dem Überfall zu berichten:

»Als die Deutschen kamen nach Antopol (9 Sekunden Pause)5, nach


einer Woche sie haben gemacht ein Ghetto, das war am 22. Juni
1941 -«

Der Erzähler bricht ab, die Übersetzung der Erinnerungen in eine


Erzählung fällt ihm schwer. Anstelledessenzeigt er Fotografien von den
nach der BefreiunggeöffnetenMassengräbern:

»\^enn die Russen kamen, haben sie es aufgedeckt, haben sie mich
gebeten, zu sein anwesend für das Protokoll, aber ich konnte das
nicht.«

In Antopol, einer in der Nähe von Kobryn liegenden kleinen Stadt in


Podlesien, überlebten von den circa zweitausend jüdischen Bewohnern

651
neben Dr. Prawda, seiner Frau und ihrem in der Obhut einer Christin
lebenden Kind nur noch fünf weitere Juden den Massenmord der Deut
schen. Stockend berichtet Dr. Prawda, der heute in Tel Aviv lebt, beim
Durchblättern der Fotografien, daß die SS, die nur wenige Tage nach der
Wehrmacht nach Antopol kam, jüdischen Männern den Befehl gab, in
einem in der Nähe gelegenen Wald Gräben auszuheben. Bei der unmit
telbar auf die Arbeiten folgenden ersten »Aktion« wurden circa zwei
hundert Juden erschossen, und bis zur Liquidation des Ghettos im
Oktober 1942 wurden hier immer wieder Massenerschießungen vorge
nommen. Dr. Prawda fällt es schwer, darüber zu sprechen.Seine Mutter
und zwei seiner Schwestern wurden mit ihren Familien in diesem Wald
getötet. Doch dieser Überlebende bemüht sich dennoch, mir einiges von
den grausamenSzenen,die er erleben mußte, mitzuteilen. Er fährt in sei
ner Erzählungüber die ersten Wochen der deutscher! Okkupation fort:

»Nach der >zweiten Aktion< hab ich mein Versteck verlassen und sah
zweivon denDeutschenlaufenin Zaniew-Straße. Sie gehen an Appel-
baums Haus vorbei. Die Tür war offen, und es krabbelt da ein kleines
Kind, es sucht seine Mutter - die haben sie wohl genommen und die
hat versteckt ihr Kind. Die Deutschen sehen es. Die Stiefel (atmet
schwer, 4), sie treten mit den Stiefeln - (2). Ich konnte nicht sehen das.
Danach war zum Begrabennur noch ein blutiges Bündel.«

Dr. Prawda erzählt von weiteren grausamenSzenen.Er berichtet, wie die


Deutschen Juden auf der Straße aufgriffen, mit Peitschen auf sie ein
schlugen und sie zwangen, wie Hunde auf dem Boden zu kriechen. Er
erzählt über öffentliche Hinrichtungen, über Erschießungen im Ghetto
und über die Folterungen im Rathaus, von wo man die Schreie der
Gefolterten bis ins Ghetto hörte.
Die Grausamkeiten gegenüber Kindern, der brutaleMord an Säuglin
gen sind einwesentlicher Bestandteil der kollektiven Erinnerungen von
Überlebenden. So gehört auch die Erzählung von Shaul Prawda über das
zu Tode getretene Kleinkind zu der am stärksten tradierten Geschichte
in seiner Familie. Wie die Interviews mit seinen vier Kindern und seinen
Enkeln deutlich zeigen,6 kondensieren sich für sie dieVerfolgungserfah
rungen der Großeltern auf Bilder oder Phantasievorstellungen über den
Hergang der Ermordung von Kleinkindern und Säuglingen.
Während ShaulPrawda und seineFrau Anna seit vielenJahren immer
wiederin ihrerFamilie über dieVergangenheit gesprochen haben, gehört
Lena Goldstern zu denjenigen, die ihre beiden Söhne vor ihren schreck-

652
liehen Erlebnissen schützen wollte. Doch heute verspürt sie, wie ihr
Mann, das Bedürfnis, mit den nun erwachsenen Söhnen darüber spre
chenzu können. Lena, die als junges Mädchen ein Ghetto in Polenund
das Vernichtungslager Auschwitz überlebt hat, erzählte dann zum ersten
Malin einem von uns 1993 geführten Familieninterview ihremSohnvon
dem Erinnerungsbild, das sie beinahe täglich visualisiert, wenn sie aus
demFenster ihrerWohnung schaut: Als imSeptember 1939 diedeutsche
Wehrmacht in ihren Heimatort in Polen kam, gingen Deutsche in das
jüdische Krankenhaus und warfen die kranken Kinder aus dem Fenster.
Unter den Ermordeten befand sich auch Lenas Freundin.
Während für Überlebende der Shoah die erlebten Verbrechen zentra
ler Bestandteil ihrer Erinnerungen sind, sie sich bis heute mit Überle
bensschuld quälen, ihre Verfolgungserfahrungen strukturbildend für
ihre gesamte Lebenserzählung und damit für ihr Lebensgefühl sind,7
werden die Verbrechen in den Erzählungen nichtjüdischer Deutscher
fast vollständig verschwiegen. Ob es nun deutsche Zivilisten sind oder
Soldaten - Mitglieder von Wehrmachts- oder SS-Verbänden -, ihnen
gelingt es, in ihren Lebenserzählungen von den Nazi-Verbrechen zu
schweigen. Und dennoch können die Mitläufer und auch die Täter des
Nationalsozialismus im Unterschied zu den Verfolgten stundenlang
ohne große Mühen über ihre Erlebnisse während der Kriegsjahre
erzählen.
Zeichnen sichdie Lebenserzählungen von nichtverfolgten Deutschen
durch dichte epische und dramatische Erzählketten zu den Kriegserleb
nissen aus,8 lassen sich bei den Lebenserzählungen von verfolgten Bio
graphen eher Einzelerzählungen oder fragmentierte Erzählketten beob
achten.
Bei oberflächlicher Betrachtung könntemandiese Differenz wiefolgt
erklären: Die Mitläufer und Täter des Nationalsozialismus möchten und
können über die Kriegsjahre erzählen, während die Überlebenden der
Shoah einer Thematisierung ihrer Verfolgungserlebnisse eher auswei
chen und aufgrund ihrer Traumatisierung auch kaum davon erzählen
können. Bei genauerem Zusehen dreht sich diese Annahme aber eher
um. Unsere Analysen zeigen sehr deutlich,9 daß die Mitläufer und Täter
ihre leidvollen Erlebnisse wie das Leiden anderer meistens aus ihrer
Lebenserzählung ausblenden. Stundenlang kann ein ehemaliger Soldat
über seinen Einsatz an der Ostfront oder eine Zivilistin über die letzten
Kriegsmonate in einer umkämpften Stadt mit täglichen Luftangriffen
erzählen, ohne daß auch nur ein Sterbender oder Toter in einer der
erzählten Geschichten auftritt. Sind dieErzählungen dernichtverfolgten

653
Deutschen zwar nicht allzu seltenlarmoyant und dienen sie auch häufig
dazu, sich selbst als Opfer dieser Zeit zu präsentieren, so werden den
noch die von den Biographen erlebtenSzenen des Schreckens, des Ster
bens anderer Menschen, oder der Verwüstung meist nur angedeutet und
erzählerisch nicht expandiert. Gleiches gilt für die mit Schuldgefühlen
verknüpften Erlebnisse der Verfolgung und Vernichtung anderer Men
schen oder auch der unterlassenen Hilfeleistung. Meist gelingt es den
Biographen, die Lückenmit der Erzählungvon zeitlich um die trauma
tischen Erlebnisse gruppierten Erlebnissen zu füllen. Nicht allzu selten
dienen Anekdoten dazu, das Ausgelassene, die Konfrontation mit dem
Tod, nicht als zu große Lücke erscheinen zu lassen, sondern mit etwas
weniger Problematischem zu füllen. Ehemaligen Soldaten gelingt stun
denlanges Erzählen über den Zweiten Weltkrieg mit detaillierten
Beschreibungen der Kriegführung, der Waffen und Fahrzeuge, mit
Geschichten über den Vormarsch und den Rückmarsch von Standort zu
Standort oder über die »friedlichen« Erlebnisse mit der Zivilbevölke
rung.
Hiervon unterscheiden sich die Erzählungen von Überlebenden der
Shoah erheblich. Weichen sie einer Erzählung über die Zeit der Verfol
gungnicht aus, stellen siesichgerade demVersuch, das Grauenhafte und
Schreckliche in Worte zu übersetzen. Sie bemühen sich, denjenigen
etwas von dem namenlosen Grauen zu vermitteln, die dies alles nie erlebt
haben, und unter großer Anstrengung versuchen sie, ihre Erinnerungs
fetzen von den schrecklichstenSituationen in Sprachezu übersetzen. Sie
wollen über das Erlittene, die sie quälenden Erinnerungen sprechen,
jetzt ihr Schweigen brechen, bevor ihre Generation kein Zeugnis mehr
ablegen kann.
Unsere empirischen Analysen verdeutlichen: Die partielle Sprachlo
sigkeitder Verfolgten im Unterschied zur Beredtheit der Mitläuferund
Täter resultiert aus der divergenten biographischen und sozialen Funk
tion der Thematisierung dieser historischen Phase. Bei den Mitläufern
und Tätern dienen die Kriegserzählungen paradoxerweise gerade nicht
dazu, über den Nationalsozialismus, seine Verbrechen urid die eigene
Verstrickung in dieses Unrechtssystem zu sprechen, sondern sie mit
Erzählungen zu verdecken. Mit der erzählerischen Ausarbeitung der
eher als Zeit des Erleidens erlebten Kriegsjahre - bei gleichzeitiger
Unterbelichtung der eher als Zeit aktiver Handlungsplanung erlebten
Vorkriegsjähre - gelingt es, dem Thema »Nationalsozialismus« und der
eigenenVerstrickung in dieses Unrechtssystem auszuweichen. Statt die
kollektive oder eigeneVerstrickung zu thematisieren, bemüht man sich

654
vielmehr darum, sich selbst als Opfer des Nationalsozialismus zu stili
sieren. Unsere Analysen10 zeigen, daß esden Mitläufernund Tätern recht
geschickt gelingt, mitbiographischen Strategien, diesich von Generation
zu Generation unterscheiden, alle belastenden mit dem Nationalsozia
lismus verknüpften Erlebnisse aus der Lebenserzählung auszublenden.
Mit dieser Darstellung eines »unpolitischen Krieges« geht die Vermitt
lung einher, dieser Krieg sei ein»Krieg wie jeder andere« gewesen.
Neben dem Versuch, sich selbst ins »Kollektiv der Opfer« einzurei
hen und das selbsterlittene Leid gegen das Leid der Opfer des Nazi-
Regimes aufzurechnen, ist dieVermeidung derThematisierung derVer
brechen gegen die Menschlichkeit konstituierend für diese erzählten
Lebensgeschichten.
Die Überlebenden der Shoah wollen hingegen mit ihren Erzählungen
dem Vergessen der Nazi-Verbrechen sowie der wieder zunehmend ver
tretenenThese von der »Auschwitz-Lüge« entgegentreten. Daher ver
suchen sie, gerade über die so traumatischen und damit schwer zu
erzählenden Erlebnisse zu sprechen. Während die Überlebenden der
Shoahversuchen, mit ihremSprechen zu enthüllen, versuchen die nicht
verfolgten Deutschen mit ihren expandierenden Erzählungen - insbe
sondereihren Kriegserzählungen - zu verhüllen.
Dennoch, trotz dieser Verhüllungen oder Dethematisierungen der
Verbrechen, finden wir auch in diesen Interviews Verweise auf die Ver
brechen. Wir finden sie in Andeutungen, in Abbruchen, in systemati
schen temporalen und thematischen Auslassungen und in parasprach
lichen Bekundungen. Außerdem geben uns diejenigen Deutschen, die
über die Verbrechen sprechen, Hinweise auf die lebensgeschichtlichen
wie auch gesamtgesellschaftlichen Bedingungen, die konstitutiv für das
Schweigen sind.
Vollziehen wir den Perspektivenwechsel von Dr. Prawda zu einem
deutschen Wehrmachtssoldaten, der am Überfall auf die Sowjetunion
teilnahm. Herr Sallmann11 (Jahrgang 1915), der von einer Studentin und
einem Studenten, die der Generation seiner Enkel angehören, inter
viewt12 wurde, erzähltüber Stunden hinweg von seinen Kriegserlebnis
sen alsSchirrmeister in Frankreichund späteran der Ostfront. Vom Ein
marsch in die Sowjetunion berichtet er:

»Dann ging es nun los in die Bereitstellung, wir sind nachts in unsere
Ausgangsstellung reinjezogen, und frühmorgens in der Dämmerung
da ging dann dieser große Krach los, alle Geschütze aus allen Rohren,
was man- äh - ohrenbetäubender Lärm in der Luft. Da spielten sich

655
schon die ersten Luftkämpfe ab. Und man sah die russischen Flug
zeuge anfliejen, und eh sie sich versahn, da gingen sie als brennende
Fackeln auch schon runter. Das war da auch, sagen wir mal, ne ganz
aufrejende Sache. Bis dann um soundsoviel Uhr da hieß es: Vor
wärts - Marsch!< und dann sind wir eben nach Rußland reinmar
schiert.«

Als aufregende Sache wird der Überfall auf die Sowjetunion, vorder
gründig die brennenden und abstürzenden sowjetischen Flugzeuge,
bewertet. Die Bemerkung: »... und dann sind wir eben nach Rußland
reinmarschiert«, liest sichwie der Beginneiner epischen abenteuerlichen
Erzählung. Herr Sallmann, der zuvor als Soldat die Blitzsiege an der
Westfront stolz miterlebt hatte, war nun auch von der großartigen und
gewaltigen Aktion des Überfalls aufdie Sowjetunion fasziniert. Auch er
zeigtden Interviewern Fotografien, dieervomVormarsch in dieSowjet
union aufgenommen hat:

»Hier sehn wir schon mal Bilder (2), wo wir durch die ersten Ort
schaften kommen, wo dann da die Bevölkerung zusammenläuft und
diskutiert, was da los is... hier sieht man denn auch die verbrannten
Ortschaften (7, blättern in den Fotos). Da wieder Panzer (6, blättern
in Fotos). Da is schon die ersten Kriegsgräber ne, wie sie da nun sind.
Wir sind denn an Wilna vorbei (räuspert sich), weiß nicht, ob das für
Sie ein Begriff is Wilna (1) äh Richtung Polozk, Witebsk (2). Wobei
dann, sagen wa mal die Hauptkampfhandlungen so an den großen
Ortschaften sich bewegten, so wie Polozk war auch mit Bunker ver
teidigt worden.«

Mit der Nennung der einzelnen Ortschaften deutet Herr Sallmann die
Judenverfolgung und die Massenerschießungen an, die die gemeinsam
mit der 9. Armee eingesetztenEinsatzkommandosin diesemGebiet vor
nahmen. In Wilna,Polozk und Witebsk waren große Ghettos eingerich
tet worden, deren Liquidationen im Sommer 1941 begannen. Bereits
AnfangJuli wurden in Wilnatäglichcirca fünfhundert Juden und soge
nannte Saboteure von den Mordkommandos erschossen.13 Die Juden
Wilnas, die nicht innerhalb der Stadt erschossen wurden, brachte man in
Gruppen zu je tausend oder mehr in vierzehn Kilometer entfernte Gru
ben bei dem Dorf Ponary und erschoß sie dort.14 In die Städte Polozk
und Witebskfolgte dem Heer abermals das Sonderkommando 7a.
Herr Sallmannsichert sich bei der Nennung dieser Orte bei den Inter-

656
viewern über deren Unwissenheit oder auch über deren stilles Einver
ständnis, es beidieser Andeutung zu belassen, ab. Aus der Tonbandauf
nahme läßt sich deren nonverbale Reaktion nicht entnehmen. Doch wird
im weiteren Gesprächsverlauf deutlich, der Biograph kann es bei seinen
Andeutungen belassen; er wird nicht zu seinen Erlebnissen in diesen
Orten befragt. Damit- ob nun von den Interviewern bewußtnachvoll
ziehbar oder nicht - lassen sie sich von der Legitimation, die Haupt
kampfhandlungen hätten um die großen Ortschaften stattgefunden,
beruhigen. Man imaginiert sich dabei immer wieder den kämpfenden
Soldaten,der »nur« den bewaffnetenFeind tötete, spaltet davon die Ver
brechen ab und subsumiert sie unter die SS.
Dieses hier beschriebene Interaktionsmuster ist für den Dialog zwi
schen den Generationen in der Bundesrepubliktypisch. Der sogenannte
Zeitzeuge deutet etwas an, das nur bei emotionaler Bereitschaft der
Zuhörerlnnen, bei deren Geübtheit und mit historischer Kenntnis für sie
bemerkbar ist. Doch selbst dann, wenn die Andeutungen und Hinweise
recht deutlichsind, bestehtin den Dialogeninnerhalbund zwischen den
Generationen in der Bundesrepublik kaum die Gefahr einer weiteren
Aufdeckung, da die Hinweise aufeine Beteiligung an den Nazi-Verbre
chen von den Zuhörerlnnen aufgrund ihrer eigenen Ängste häufig über
hört und abgewehrt werden. Die Erfahrung, daß auch wir Interviewer
innen nicht frei davon sind, machen meine Mitarbeiterinnen und ich
immer wieder, obwohl wir doch nach unserer bewußten Einschätzung so
sehr an einer Aufdeckung interessiert sind.15 Auch wir haben diffuse
Ängste vor Aufdeckungen in der Begegnung mit Menschen, die trotz
ihrer sympathischen Ausstrahlung dennoch Grauenvolles getan haben
können. Wir sind sowohl in der Familie als auch im bundesdeutschen
Alltag in Milieus sozialisiert, in denen dieErzähltabus, die Verbote zum
weiteren kritischen Nachfragen und bestimmte Entlastungsdarstellun
genwirksam warenund sind.
Wirsindauch gerne bereit, die immer wieder zu hörenden Rechtfer
tigungsstrategien zuübernehmen, zumBeispiel die vonHerrnSallmann
verwendete, daßerals Angehöriger derkämpfenden Truppe nichtanden
Nazi-Verbrechen beteiligt war:

»Wir waren kämpfende Truppe, wir ham nicht einDing mitgemacht,


wiedas hier heutzutage ja immer gesacht wird ... Wirham mitJuden
absolut nichts zu tun gehabt, gar nichts, das is - kann ich ganz offen
undehrlich sagen, undichhab das alles auch erstspäter ähmitgekriegt,
äh erfahrenne, äh da kann ich michjedenfalls voll ganzfreisprechen.«

657
Herr Sallmann geht hier soweit, daß er ein Wissenüber den Völkermord
währenddesKrieges abstreitet. Hat er erst nachträglich erfahren, welche
Bedeutung mit den Orten Wilna, Polozk und Witebsk verbunden ist,
oder spricht er von etwas, von dem er damals vielleicht noch keine
Kenntnis hatte, etwa von den Tötungen in den Gaskammern?
Kontrastieren wir nun das Interview von Herrn Sallmann mit der
Lebenserzählung eines deutschen Soldaten, der das Erzähltabuweniger
strikt einhält und über den Völkermord an den Juden erzählt. Seine
Lebensgeschichte gibt uns Einsicht in die lebensgeschichtlichen Bedin
gungen, die einerseits zu einem Thematisierungsbedarf beim Autobio
graphen führen, ihm aberdennochandererseits bestimmte Verhüllungen
auferlegen.
Kurt Szanda, 1921 geboren, war bis zu seiner Einziehung als Soldat
ein überzeugter Nationalsozialist. Im Frühjahr 1941 kam er zur Infante
rie an die Ostfront; bereits im Juli 1941 wurde er mit vereiterten Füßen
ins Lazarett eingeliefert und nach kurzem Aufenthalt mit Marschbefehl
zu seinerEinheitentlassen. Doch Kurt Szandabegab sichnicht direkt zu
seiner Einheit, sondern »bummelte« mit zwei anderen Kameraden durch
das Gebiet östlich von Minsk. Um nicht verhaftet zu werden, fälschten
sie immer wieder Marschbefehle zu weit entfernten Einheiten. Nach drei
Monaten werden Kurt und seine Kameraden zunächst als Partisanen
verhaftet, von der Feldgendarmerie an den Sicherheitsdienst übergeben
und in einem SD-Gefängnis und Hauptquartier einer Einsatzgruppe
inhaftiert. In einem Gerichtsverfahren wird Herr Szanda schließlich
wegen unerlaubtenEntfernens von der Truppe zu zweiJahren Haft ver
urteilt. Bevor er zur Frontbewährung vorzeitig entlassen wird, sitzt er
zunächst in einem Gefängnis im Reichsgebiet und dann in einem Lager
für straffällige Wehrmachtsangehörige ein.
Ausführlich erzählt er im Interview von erlittenen Schikanen, deutet
jedoch neben seinem Erleiden immer wieder auch die von der Wehr
macht begangenen Kriegsverbrechen an. Er berichtet vom total zerstör
ten Bialystokund der Gefangennahme von circa 100 000Menschennach
dem Überfall auf die Sowjetunion und beim Vormarsch auf Minsk.
Dabei sollte bedacht werden, daß sich Herr Szanda wie Herr Sallmann
mit seiner Einheit in dem Abschnitt von Weißrußland befand, in dem zu
dieser Zeit die Einsatzgruppe B in Zusammenarbeit mit der Infanterie
ständig Erschießungen von Gefangenen durchführte, im Rahmen der
sogenannten Partisanenbekämpfung Zivilisten ermordete und die jüdi
sche Bevölkerung systematisch vernichtete. Während Herr Szanda eine
damalige Kenntnis über die Ermordung der jüdischen Bevölkerung
658
abstreitet, spricht er im Unterschied zu vielen seiner Generation, die
ebenfalls am Vernichtungsfeldzug im Osten teilnahmen, von zerstörten
und brennenden Ortschaften und von Zivilisten auf der Flucht. Er
erwähnt Erschießungen von Kriegsgefangenen und die grausamen
Methoden der Deutschen bei der Beschlagnahmung des für die Bauern
lebensnotwendigen Viehs. Da ihn dieses von Deutschen begangene
Unrecht bedrückt, spricht er auch in ganz anderer Weise als Herr Sall
mann darüber. Danach gefragt, was für ihn die schlimmsten Bilder aus
dieser Zeit sind, meint er:

»Alsodas Furchtbarste gewesen, daß die Leute äh, äh, hilflos müssen
da wegflüchten, sie wissen nicht, wo sollen sie hin, die ham kein
Zuhause, können nicht vorwärts, nicht zurück, wo sollen die flüchten
... und die vielen Gefangenen, die gemacht wurden, die wurden auch
schlecht behandelt... zu Tausenden sind sie marschiert, und wenn die
Leute sichwas holen wollten, da Rüben oder was zu essen, reingehal
ten, rrrrh, die Maschinengewehre reingehalten, na soundso.«

BeiHerrn Szandas Lebenserzählung drängt sichnun die Frageauf,wann


und in welcherRolle er die Massenerschießungen der jüdischen Bevöl
kerung erlebte oder davon erfuhr. Während er von der Ermordungder
jüdischen Bevölkerung in der Zeit vor seinerInhaftierung nicht berich
tet, erzählt er, wie er im SD-Gefängnis den Völkermord an den Juden
erlebte. Laut Quellenrecherche begann bereits einen Tag nach Kurt
Szandas Inhaftierung in dem Ort, in demsich das Gefängnis befand, die
Räumung des Ghettos und die »Liquidation« der im Ghetto lebenden
Juden.
Herr Szanda insistiert nun darauf, im SD-Gefängnis überhaupt erst
von diesenVerbrechen erfahren zu haben. DieseDarstellungist insofern
fragwürdig, da in deneinzelnen Ortschaften, darunterWitebsk, in denen
er sich nach eigenen Angaben und in Übereinstimmung mit dem später
angefertigten Vernehmungsprotokoll zuvor aufhielt, in jenerZeit bereits
Liquidationen von Ghettos und Massenerschießungen durch Einheiten
der Einsatzgruppe B stattfanden.
Um dieser interpretativen Unsicherheit anhand desTextes nachgehen
zu können, lohnt es sich, seine Erzählungen über die Erschießungen
genauer anzusehen. Er erzähltzunächst, wieerin Gestapohaft Zeuge der
unmenschlichen und brutalen Behandlung der Juden wurde und auch
gesehen habe, wie die Juden auf LKW verladen wurden. Er meint, er
habe ihre Bestimmung gekannt:

659
»Sie [die Juden] haben gesagt bekommen, es geht auf das Arbeits
kommando nach Polen. Die waren gar nicht aufgeregt wo sie auf die
LKWs gesprungensind ... und nachher, wenn sie auf dem Felde sind,
was wollen se denn machen, wenn se links und rechts Maschinenge
wehrfeuer sehn, die können nur laufen, dann werden se eben erschos
sen.Na ja,vielleicht ist esso besser gewesen, wennsiegelaufen wären,
als wenn sie geschossen wären.«

Bei dieser Textstelle taucht für die Zuhörerin zunächst die Frage auf,
inwiefern Herr Szanda als Häftlingüberhauptselbst Zeuge dieses »Ver-
ladens auf Lastwagen« werden konnte oder ob er hier nicht eine Situati
on schildert, die zeitlich vor seiner Inhaftierung liegt. Auch kann man
sichfragen,ob er die Situation »aufdem Felde«nicht selbst erlebte.Doch
er beendet die Sequenz mit: »Mir wurde das erzählt, ich selbst hab die
Erschießungen nicht gesehen.«
Doch es sind seine Überlegungen, er denkt über das Verhalten der
Opfer nach, überlegt sich, was passiert wäre, wenn die Juden gelaufen
wären, und wirft ihnen damit mangelnden Widerstand vor. Er beschäf
tigt sich mit dem Verhalten der Opfer, statt mit dem der Täter. Nach der
zitiertenSequenz wechselt er dann zur Perspektive desTäters,der selbst
leiden mußte. Er erzählt von einem Gespräch mit einem Angehörigen
des Sicherheitsdienstes:

»Wo er gesehen hat die Erschießungen, dannis ihm schlecht gewor


denund hatseinem Sturmführer, derhieß Ha..., derhat gesagt äh,äh,
dat nächste Mal könnSie sich zusammenrechnen, dannliegen Sie auch
dort drinne. Er könnt das nich mit ansehn das da u - und -«

Der textanalytisch geschulte Leser wird sichfragen, weshalb Herr Szan


da hier den Namen des Sturmführers nennt. Übersetzt er hier Selbster
lebtes in Fremderlebtes? In der Logik der Entlastungsfigur folgt auf
diese Sequenz dann auch die Erklärung, daß die fanatischen Mörder
keine Deutschen waren, sondern Letten, Litauer und Esten, die als Frei
willige der SS angehörten.
Insgesamt betrachtetspricht dieserAutobiographin einerWeise über
dieVerbrechen, dietypisch für Enthüllungen in unseren Interviews sind:
a) Erzählungen über Erschießungen werden beendet mit der Bemer
kung, man habe es selbst nicht gesehen, b) Eigenerlebtes wird zum Teil
in Fremderzählungen präsentiert und c) entscheidendes Rechtferti
gungsmuster ist die Zuschreibung der Schuld auf andere, wie auf die ost-

660
europäischen Hilfswilligen oderaufdieJuden selbst.16 Einweiteres kol
lektivesMuster der Entschuldungist, von Partisanenbekämpfunganstatt
von Judenmord zu sprechen. Mit der Rechtmäßigkeit der Partisanen
bekämpfung wurden damals wieheutevon Angehörigen der Wehrmacht
sowie anderer NS-Verbände die Massenmorde an der jüdischen Bevöl
kerung legitimiert.17 Es wurde propagiert, daß die Verbindungen der
Partisanenabteilungen untereinander »vor allemdurch Juden« unterhal
ten würden und von daher die Ortschaften »judenfrei« zu machen
seien.18
Auch Herr Szanda berichtet, daß ganze Dörfer wegen Verbindungen
zu Partisanenverbänden von der SS liquidiert worden seien. Doch er
selbst verbindet dies nicht mit dem Völkermord an der jüdischen Bevöl
kerung. Ist es schon allein nach textexternen Kriterien recht unwahr
scheinlich, daß Herr Szanda in den Monaten vor seiner Inhaftierung
nicht Zeuge desVölkermords andenJuden wurde,so zeigtauchder Text
gewisse Spuren für eine Zeugenschaft. Doch weshalb kann er dies nicht
eingestehen und hat dennochdenBedarf, über dieVerbrechen zu berich
ten? Mit seiner Version, erst in der Haftzeit vom Judenmord erfahren zu
haben, gelingt es diesem Autobiographen, den Völkermord eingebettet
in eine Zeit seiner Lebensgeschichte zu präsentieren, in der er selbst
Häftlingwar und nicht mehr aktiver Soldat. Damit nimmt er sichselbst
aus dem Kollektiv der Täter heraus und spricht aus der Perspektive des
Opfersvon den anderen Opfern. Anders gesagt: Herr Szanda kann über
die im SD-Gefängnis erlebtenVerbrechen sprechen, da er zu dieserZeit
nicht mehr zum Kollektiv der Täter gehörte. Da er sich jedoch immer
noch in einer Loyalitätsbeziehung zu diesem Kollektiv befindet, hält er
sich an bestimmte Regelnder Enthüllung. Bis heute ist ihm, wie so vie
len anderen Fahnenflüchtigen, sein Ausscheiden aus diesem Kollektiv
peinlich, und so kann er sich auch nicht mit den Verfolgten des Nazi-
Regimes identifizieren, sondern bleibtmit dem Kollektiv der Verfolger
verbunden. Er bleibtan sie gebunden, obwohl bei ihm die Nazi-Verbre
chen wie die Tatsache, daß er selbst als Deutscher zu den Inhaftierten
gehörte, zur Distanzierung vomNationalsozialismus und von den deut
schen Kriegszielen führte. Bis zum heutigen Tag ist er in dieAmbivalenz
verstrickt, sich einerseits für seine »Fahnenflucht« zutiefst zu schämen
und andererseits froh darüber zu sein, daß er nicht zum »Helden«19
wurde.
Die lebensgeschichtliche Konstellation, selbst Gefangener der Gesta
po gewesen zu sein, sowie einUnrechtsbewußtsein überdiebegangenen
Verbrechen führen bei diesem Biographen dazu, daß er zum Aufdecken

661
der Verbrechen neigt. Doch sowohl seine eigenen biographischen Ver
strickungen als auch das sozial wirksame kollektive Thematisierungs-
tabu hindern ihn daran, das Erlebteganz zu enthüllen.20

Anmerkungen

i Vgl. Martin Gilbert, Endlösung. Die Vertreibung und Vernichtung der Juden.
Ein Atlas, Frankfurt am Main 1982,S. 6y.
2 Vgl. RaulHilberg, DieVernichtung dereuropäischenJuden,FrankfurtamMain
1990; Helmut Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, 3 Bde., Frankfurt am Main
1985.
3 Zitiert nach Hilberg, a. a. O., S. 317.
4 Dieserwie alle folgenden Namen sind Pseudonyme.
5 Dauer der Pausein Sekundenim folgenden: (9).
6 Interviews mit den drei Generationen der Familie Prawda, ebenso wie die mit
den Familien Goldstern und Szanda, werden im Rahmen eines zur Zeit laufen
denProjektsder Deutschen Forschungsgemeinschaft »DerHolocaustim Leben
von drei Generationen« bearbeitet. Vgl. Gabriele Rosenthal u. a.,Der Holocaust
im Leben von drei Generationen. Arbeitsbericht für die DFG, Unv. Manu
skript, Kassel/Berlin/Tel Aviv 1994. Empirische Grundlage für die folgenden
Analysen zu der Generation, die alsJugendliche oder Erwachsene den Natio
nalsozialismus erlebten, sind darüber hinaus rundachtzig biographisch-narrati-
ve Interviews, die in unterschiedlichen Forschungskontexten von mir selbst
odervonStudierenden dervonmirgeleiteten Lehrprojekten durchgeführt wur
den. Vgl.GabrieleRosenthal, »Wennalles in Scherben fällt...« Von Leben und
Sinnwelt der Kriegsgeneration, Opladen 1987, und dies. (Hg.), »Als der Krieg
kam, hatte ichmitHitlernichts mehr zu tun.« Zur Gegenwärtigkeit des »Drit
ten Reiches« in erzählten Lebensgeschichten, Opladen 1990.
7 Vgl. Gabriele Rosenthal, Zerstörtes Leben - Fragmentierte Lebensgeschichten
von Überlebenden der Shoah, in: Biographien inDeutschland, hrsg. von Wolf
gangFischer-Rosenthal, Peter Alheit, Opladen 1995.
8 Vgl. Gabriele Rosenthal, Erzählbarkeit, biographische Notwendigkeit und
soziale Funktion vonKriegserzählungen. Zur Frage: Was wirdgerne und leicht
erzählt?, in: Derlange Schatten. Widerspruchsvolle Erinnerungen andenZwei
tenWeltkrieg unddieNachkriegszeit aus derMitte Europas, hrsg. vonK.Har
tewig, Bios-Sonderheft 1993,S. 5ff.
9 Vgl. Gabriele Rosenthal, Als der Krieg kam, a. a. O., dies., Erzählbarkeit,
a. a. O.
10 Vgl.Rosenthal, Als der Krieg kam, a. a. O.
11 Zur ausführlichen Falldarstellung vgl.JulianeBrandstätter,Fritz Sallmann: »Da
hat sich das nachher so von selbstergeben, daß ich praktisch mit Adolf Hitler
garnichts mehrzu tun hatte«, in:Rosenthal, Alsder Krieg kam, a.a.O., S.109ff.
12 Zur Methode des narrativen Interviews vgl. Rosenthal, Erlebte und erzählte

662
Lebensgeschichte, Frankfurt am Main (im Druck); Fritz Schütze, Biographie
forschung und narratives Interview, in: Neue Praxis, 3/1983, S. 283ff.
13 Vgl. Krausnick, a. a. O., S. 163 f., 179.
14 Vgl. Gilbert, a. a. O., S. yy.
15 Vgl. Rosenthal, Als der Krieg kam, a. a. O., S. 2i6ff.
16 Die Fallstudienüber die beiden Soldatenin der Etappe stehen beispielhaftdafür.
Vgl. Rosenthal, ebenda, S. 165ff.
ly Vgl. Christopher Browning, Ganz normale Männer, Reinbek 1993; Krausnick,
a. a. O., S. 2i4ff.
18 Vgl. Krausnick, a. a. O., S. 217.
19 Es bleibt in diesem Interview unklar, was Herr Szanda mit »Held« assoziiert.
20 Auch in seiner Familie zeigt sich dieses Tabu; insbesondere seine Tochter ver
sucht seine Enthüllungen abzuwehren. Vgl. Gabriele Rosenthal, Zur Konstitu
tion von Generationen in familienbiographischen Prozessen. Krieg, National
sozialismus und Genozid in Familiengeschichte und Biographie, in: ÖZG,
Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 1995.

663
Stefanie Carp Schlachtbeschreibungen
Ein Blick auf Walter Kempowski und Alexander Kluge

Der sozialistische Schriftsteller Theodor Plivier, der seit 1934 als Emi
grant in Moskau lebte, schrieb 1943 nach Briefenund Augenzeugenbe
richten einen Roman über die Schlacht um Stalingrad. Plivierverwand
te Dokumente, montierte Perspektiven und beschrieb auf vierhundert
Seiten das kollektive, elende Sterbenim Kessel. Er führte zwei Haupt
figuren durch den Roman, die zum Schluß dem Geschehen einen
geschichtlichen Sinn auf eine bessere Zukunft hin geben sollten: »[...]
und eine Spur führte schluchtaufwärts, zog sich über das weiße Feld
hinüber zu dem in den Schnee getretenen breiten Marschband, in dem
sie sich verlor. Es war die Fußspur von zwei nebeneinanderschreitenden
Männern.«1
Stalingrad oder das Unglück von Stalingrad, wie es oft genanntwird,
war der Wendepunkt an den Fronten des Zweiten Weltkrieges: rezipiert
als deutsches Trauma, aus dem bald ein Mythos wurde. Theodor Plivier
hat den fast einzigen antimythischen Roman über Stalingrad geschrie
ben. Er hat den Krieg beschrieben, ohne ihn faßbar machen zu wollen.
Sehrviel später, 1964, veröffentlichte in der etablierten Bundesrepublik,
noch vor den Jahren der Protestbewegung,der Autor und Filmemacher
Alexander Kluge einen dokumentarischen Roman über Stalingrad mit
dem Titel »Schlachtbeschreibung. Der organisatorische Aufbau eines
Unglücks«.2 Der 1932 geborene Alexander Kluge war im ZweitenWelt
krieg ein Kind. Er erfuhr den Krieg, als 1945 seine Heimatstadt Halber
stadt durch einen Luftangriff der Alliierten zerstört wurde.
Alexander Kluge schrieb und filmte in den sechziger und vermehrt in
den siebzigerJahren. Er gehörte nicht mehr zur Generation der Nach
kriegsautoren wie Alfred Andersch, Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt,
Peter Weiss. Aber er kam beharrlich wie kaum ein anderer auf den Zwei
ten Weltkrieg alsStoffseines Erzählens und Reflektierens zurück. In dem
Roman»Schlachtbeschreibung« montierte Kluge vorwiegend Dokumen
te derKriegsberichterstattung und Propaganda. Er konstruierte einanaly
tisches Bild der abstrakten Monstrosität und Fremdheit des Krieges.

664
Dieser wahrscheinlich neben Theodor Pliviers Buch einzige histori
sche und ideologieanalytische Roman über Stalingrad wurde und wird
wenig beachtet. Bei seinem Erscheinen warf die Literaturkritik dem
Autor mangelnde literarische Gestaltung vor; der originäre Stil wurde
vermißt. Klugewar den Deutschen zu nüchtern.

Als im Dezember 1993 Walter Kempowskis dokumentarische Collage


»Echolot«3 erschien, ein Buch, das die Erfahrungen der Menschen im
ZweitenWeltkrieg erfassen möchte, wurde esdagegen vielerorts eupho
risch gefeiert. Walter Kempowski nennt es ein »kollektives Tagebuch«.
Für den Zeitraum Januar und Februar desJahres 1943 belegt er nahezu
jeden Tag mit den schriftlichen Zeugnissen einzelner Menschen, auch
öffentlichen Verlautbarungen. Man erfährtfür fast jeden Tag dieser bei
den Monate von unterschiedlichen Personen, welchen Brief sie bei
spielsweise von der Front an die Familie in der Heimat abschickten, was
sie ins Tagebuch eintrugen, welchen Einkaufszettel sie machten. Man
erfährt auch, welche Geburten in einem Kreißsaal verzeichnet wurden
und welche Todeauf einemjüdischen Friedhof. Jeder Tag endet mit der
Eintragung der polnischen Historikerin Danuta Czech, die in Ausch-
witz-Birkenau die eingelieferten Toten verzeichnete. Jeder Tag beginnt
mit Dr. Theodor Morells Notiz über Hitlers Gesundheitszustand.
Die meisten der für diese Collage versammelten Texte sindprivat.Der
Personenkreis, dessen schriftliche Hinterlassenschaft zitiert wird, ist
groß, aber insofern überschaubar, als der Leser einige Personen jeweils
über mehrere Tage, teilweise auch die ganzen zwei Monate verfolgen
kann. »Markgraf Wichard, '^1919 (Rußland). Dann plötzlich, am
1.1.1943 um 2.00Uhr morgens, begann der Russe mit einem Neujahrs
konzert von ungeahnten Ausmaßen [...]« - »Enno Tjaden 1923-1943
(Stalingrad). Immer noch aus gleicher Umgebung und Lage wie früher
sende ich Euch diesen letzten Gruß aus dem Jahr 1942. Rückblickend
muß ich sagen, daß es außer den ersten sechs Wochen und der einen
Urlaubswoche wenig Erfreuliches gebracht hat. Aber alles geht im
Leben einmalvorüber, und so hoffe ich [...]« - »Gide, Andre 1869-1951
(Tunis). Kein Strom. Wir essen schon um sechs Uhr zu Abed, denn auch
das Gas wird gesperrt [...]« - »Duclos, Jacques ""1896 (Frankreich). Wie
viele Franzosenglaubte ich,daß dasJahr 1943 den Sieg bringenwürde.«4
Dies sind Fragmente aus den Briefen und Notaten, die Kempowski
für den erstenTagdesJahres 1943 zitiert. Die Collage schriftlicher Zeug
nisse dieser Art umfaßt 3000 Seiten.

66$
Kempowskis Leistung als Sammler ist gewaltig. Er versteht sich als
Hüter historischer Erfahrung. Er wolle, schreibt er im Vorwort, Erfah
rung bewahren: »Die Erfahrung ganzer Generationen zu vernichten,
diese Verschwendung können wir uns nicht leisten. Seit langem bin ich
wie besessen von der Aufgabe zu retten, was zu retten ist.«5 Er hat ein
Privatarchiv angelegt, in dem er alles Geschriebene, dessen er habhaft
wurde, ausdem Zeitraum des ZweitenWeltkrieges bis hin zur Gründung
der Bundesrepublik aufbewahrt. Über seine eigene Sammlung hinaus hat
er für dieses Buch noch anderthalb Dutzend öffentliche Archive durch
sucht, zitiert aber auch bereits publizierte Sammlungen, aus Goebbels-
Redenund Hitler-Tagebüchern, Pressemitteilungen, privatenAufzeich
nungen von PaulValery, Julien Green oder Thomas Mann, alle bekannt
und längst gedruckt. Kempowski interessiert der subjektive Blick, was
einzelne Menschen an verschiedenen Orten gedacht, geahnt, gehofft
haben.
Perspektivisch ausgerichtet hat Kempowski die Auswahl seiner
Erfahrungszeugnisse an Stalingrad. In die von ihm dokumentierten
Monate fällt die Kapitulation der 6. Armee, Goebbels Sportpalast-Auf
ruf zum »totalen Krieg«, die Konferenz der Alliierten in Casablanca, bei
der die Aufforderung an die Deutschen verabschiedet wird, bedin
gungslos zu kapitulieren. Kempowski hat ein Buch über den Zweiten
Weltkrieg geschrieben, das sich aus vielen anonym gebliebenen Wahr
nehmungen zusammensetzt und das offenbar der Gesamtheit der Sub
jektegerecht werdenwill, dieunmittelbarund mittelbaran diesem Krieg
beteiligt waren.
Merkwürdigerweise ist man beider Lektüre desBuches, sofernessich
überhaupt durchlesen läßt, bald gelangweilt. Manwird wederemotional
erschüttert vom Unmaß des Krieges, man gewinnt auch keine Einsicht
in eine kollektive Mentalität. Es könnte den Leser verstören, wie bereit
willig befangen die meisten Deutschensich über den Verlust ihrer Kin
der oder den eigenen Tod mit nationalsozialistischer Propaganda hin
wegtrösteten. Man könnte darüber erschrecken, was in den vielen
Briefen nicht vorkommt. Man könnte erkennen, was man schon weiß,
daß die Deutschen weder Konzentrationslager noch Kriegsverbrechen
in ihr Bewußtsein dringen lassen wollten. Es stellen sich aber keine
Erkenntnisse bei dieser Lektüre her. Fritz Raddatz entsetzte sich in sei
ner Rezension über die Banalität und Rührseligkeit, die einem aus der
Gesamtheit der Texteentgegenkommt,über das »peinliche Amalgamaus
Hoffart und Kriecherei, Schnöseln und Schluchzen. [...] In diesen Tau
senden von Dokumenten gibt es bei zwei Ausnahmen - eine ist Erich

666
Kuby - nicht einen einzigen kühl gedachten, anständig formulierten
Brief.«6
Die jeweils einzelnen Zeugnisse sind banal,7 die Banalität wird aber
nicht Thema der Collage. Es entsteht nicht die schreckliche Banalitätder
Gewalt, weil Kempowski scheinbar jede Sinnkonstruktion verweigert.
Das Authentische wird nicht kondensiert. Dazu wäre eine literarische
und kritische Strategie nötig. Kempowski öffnet das Spektrum der
Dokumente zur Beliebigkeit. Die Aussagen werden austauschbar. Sie
erhalten weder durch ihr Verhältnis zu den anderen Texten noch durch
Stellung und Funktion ihrer Verfasser, noch durch ihren jeweiligen
Inhalt eine Notwendigkeit.
Kempowski hat seine Collage der Harmlosigkeit anheimgegeben.
Man gewinnt aber den Verdacht, daß diese Harmlosigkeit dem Autor
nicht passierte, sondern daß sie literarisch und ideologisch beabsichtigt
ist. Die Haltung des »Schnöselns und Schluchzens« wird nicht kritisiert,
sie wird verteidigt - in einer breiten Übereinstimmung mitdem Schnö
selnund Schluchzen des Lesepublikums. Nach allerBewältigungslitera
tur hat jetzt ein liebenswerter Autor den kleinen Mann rehabilitiert, der
doch nichts dafür konnte, und hat den Krieg auf ein erträgliches Maß
zurechtgerückt, nämlich das des Alltags. Das ist einer der Effekte dieses
Tagebuches. Kempowskis Buch ist, so könnte man sagen, umfangreich
und unwichtig. Wenn jedoch Harmlosigkeit und Gefühligkeit zur Stra
tegie werden, ist zumindest die Wirkung des Buches zu beachten.
Kempowski stellt für jeden Tag dasselbe Sozialgemisch der Verfasser
seiner Zeugnisse her. Die Soldaten und Offiziere an der Front, die mit
der Heimat Briefe austauschen; die Generäle und Politiker mit ihren
Tagebüchern und Verlautbarungen; die außerhalb Deutschlands leben
den Intellektuellen, häufig mit anderen, vom Krieg entfernten Angele
genheiten beschäftigt, und die wirklichen Opfer des Nationalsozialis
mus in den Konzentrationslagern und Gefängnissen. Unausgesprochen
teilen Anordnung und die Textauswahl mit: Die meisten Menschen, der
kleine Mann an der Front und die Frau in der Heimat, waren schlichte
Gemüter und wurden von der Propaganda des Nationalsozialismus ver
führt. Die Verantwortung liegt bei den militärischen und politischen
Tätern, die das schlichte Gemüt verführt haben. Die Intellektuellen
haben auch nichts verstanden. Nebenbei gab es Auschwitz. Davon
wußte der einfache Mann aber nichts. Der größte Teil der deutschen
Bevölkerung war Opfer von etwas nicht Durchschaubarem. Das große
Ganze der Geschichte ist nicht durchschaubar, auch die Nazipropagan
da war nicht durchschaubar. Kempowskis Konstruktion ist keine Suche,

66y
keine Untersuchung. Seine Collage sagt, daß der Mensch in der großen
Welt nicht Bescheid wissen kann, daß die Deutschen mit Ausnahme eini
ger nationalsozialistischer Täter alle Opfer waren. Die Collage will
Gefühl statt Reflexion. Das Gefühl ist das Mitleid mit allen diesen
Opfern. Es wird in der Lektüre zum Selbstmitleid der Deutschien mit
ihrer schlimmen Geschichte. Vierbändig kann sich der Leser kollektiv
narzißtisch mit sich selber beschäftigen.
Die Auswahl des Quellenmaterials ist bemerkenswert. Denn Kem
powski hat esgeschafft, daß auf seinen 3000 Seiten, auf denen beständig
vom Krieg die Rede ist, nichts wirklich Störendes, nichts Verstörendes
zur Sprache kommt. Darin besteht wohl die Aggression dieses Buches:
Die Unfaßbarkeitund Unzugänglichkeit des Krieges zu verleugnen. Der
größte Völkermord und das größte Kriegsverbrechen der Geschichte
sollenin erträgliche Formen gefaßtwerden, indem man siein der Summe
peripherer Alltäglichkeitssätze zum Verschwinden bringt.
In der Zeitschrift»Text und Kritik« hat Frauke Meyer-Gosauim Rah
men eines Essays über Krieg und Geschichtsvergessenheit den wahr
scheinlich wichtigsten kritischen Kommentar zum Kempowski-Buch
geschrieben: »Das Übermaß anSchrecken, an Opfern, anWillfährigkeit
und vorsätzlich bewußtenMördern, hier nimmt esein auf Alltäglichkeit
geschrumpftes Normal-Maß an - NS-Deutschland mit seinen Konzen
trationslagern, seinen Metzeleien an Millionen paßt auf einen Wohn
zimmertisch.«8 Johannes Willms nennt es das »Vademaecum zu Kohls
Berliner Pietä«.9
Neben diesen kritischen Distanzierungen gab es jedoch auch eine fast
berauschte Rezeption, die das Buch alsein Meisterwerk der literarischen
Moderne feierte:
»Wenn die Welt noch Augen hat zu sehen, wird sie, um es in einem
Wort zu sagen, in diesem Werk eine der größten Leistungen der Litera
tur unseres Jahrhunderts erblicken.«10
»Wie PeterWeiss' >Die Ästhetik des Widerstands< 1982 Chronik und
Abschluß des deutschen Widerstands aus dem Geist der Arbeiterbewe
gung war, die nun lange tot ist, so ist Walter Kempowskis Beschwörung
des Chors der Stimmen aus dem Umkreis einer entscheidenden Phase
desZweitenWeltkrieges vielleicht das zweiteMonument dieserEpoche,
diewir nicht zubetonieren sollten, aber bezeichnen und versiegeln kön
nen.«11
»Von den großen literarischen Anstrengungen, dem >point of no
return<, welcher der von Deutschenverursachte Zweite Weltkrieg in der
Menschheitsgeschichte bis auf den heutigen Tag hinterlassen hat, eine

668
Zeugenschaft vonErinnerung, Denkmal undErkenntnis abzugewinnen,
dürftedas, im 50. Jahr nachder Schlacht um Stalingrad vonWalter Kem
powskivorgelegte >Echolot< einen einzigartigen Platz einnehmen.«12
Ein ergriffener nationaler Unterton ist in den Kritiken nicht zu über
hören. Ausgerechnet der analytisch-kritische Wolfram Schütte, der half,
avantgardistische Schreibweisen durchzusetzen, einer der wenigen, der
Alexander Kluges Neufassung der »Schlachtbeschreibung« und seinen
Prosaband »Neue Geschichten« zur Kenntnis nahm, gab in seiner Be
sprechung des »Echolot« entscheidende Stichworte für den Erfolg des
Buches. Er schrieb von »tragischer Totalität«, von »(Un-)Heils-Ge-
schichte«.13 Jörg Drews nannte »Pietät« die angemessene Lektürehal
tung.14
Keine Scham spricht aus den Kritiken über das Gelesene, sondern
Erhebung. Offenbar wird eine deutsche Nationalliteratur vermißt, und
da kam Kempowskis »Echolot« gerade recht. Man möchte nicht nur
Frieden machen mit der Vergangenheit. »Die Un-Heil-volle Totalität«
übt auch eine Faszination aus. Zweiter Weltkrieg und der Nationalso
zialismus werden zum affirmativen Mythos. In Kempowskis Collage
werden sie verharmlost, und die Kritik erst feiert diese Affirmation.
Ich frage mich, ob Kempowskis »Echolot« auch vor 1989 soviel Kri
tikerlob erfahren hätte, ob es überhaupt so wichtig genommen worden
wäre. Denn offensichtlich geraten dieserText und seine Entlastungswir
kung in den Zusammenhang einer deutschen Nationaldiskussion. Seit
einigen Jahren wird das Bedürfnis nach einerNation von einigen Intel
lektuellen und Literaten reklamiert. Im Rahmen dieses Bedürfnisses
wird der Nationalsozialismus ereignishaft. Manüberspringt nach rück
wärts die sterile Bundesrepublik und knüpft in der Geschichtevor dem
Zweiten Weltkrieg wieder an. Die Ansammlung von Selbstmitleid wird
zum Nationalroman erhoben.

Daß in Deutschland nationale Identität in der heftigen Wunschform


abstrakt herbeihalluziniert werde, weil es eine deutsche Identität nie
gegeben habe,ist eineder Thesen,die AlexanderKluges analytisch mon
tierende Kriegsberichterstattung aufstellt.
Alexander Kluges »Schlachtbeschreibung« gehört der dokumentari
schenLiteraturder sechziger Jahre an.Sie war aus der Opposition gegen
das historisch Verschwiegene entstanden, als Tribunal, und war nicht
zuletzt deshalb vorwiegend eine theatralische Literatur. Peter Weiss'
Stücküber Auschwitz und die Nürnberger Prozesse, »DieErmittlung«,

669
Hans Magnus Enzensbergers »Verhör von Habanna«, die Stücke Rolf
Hochhuths und Heiner Kipphardts, um einige zu nennen -, die Doku-
mentarliteraturder sechziger Jahre war kritischeBefragung und Beweis
führung mit Hilfe von Dokumenten.
Eine Erzählweise der Dokumentarliteratur ist die Montagetechnik,
die eine Aussage an den Schnittstellen der zitierten Dokumente produ
ziert. Kempowski hat, um noch einmal auf das »Echolot« zurückzu
kommen, nur gesammelt und aufgereiht. Alexander Kluge hat in seinem
Stalingrad-Roman gefundene und erfundene Dokumente montiert.
Dabei macht er die Form der Aktennotiz, die Formalität des Wehr
machtsberichtes zum Stil seines Buches, auch dort, wo das Geschriebe
ne nicht belegbar ist. Kluge montiert die Sprechweisen, die sichüber ein
Ereignis gelegt haben.Er verarbeitetdasFormalein der Einsicht, daß das
Ereignis eines Krieges nicht erlebend oder nachfühlend zugänglich ist.
»Es gibt keinen einzigen Menschen in Deutschland, der so fühlt, sieht
oder denkt wie irgendeinerder Beteiligten 1942«, heißt es in einemEssay
über »Deutschland im Herbst«, den Kluge einer neuen Bearbeitung sei
nes Romans 1978 eingefügt hat.15 Im Vorwort der neuen Ausgabe skiz
ziert er sein Projekt: »Dies Buch hier über Stalingrad muß der Leser
gegen den Strichlesen,in einemganzunpraktischen inaktuellen, von der
BRD-Gegenwart abgewendeten, zähen Interesse, so antirealistisch wie
die Wünscheund die Gewißheit,daß Realitätenwie Stalingrad böse Fik
tionen sind.«16
In der Literaturkritik wurde Kluge für dieses Buch die literarische
Begabung abgesprochen und »Faktenhuberei« vorgeworfen. Die
Rezensenten hatten erst kurz zuvor Kluges erstes Buch, die Erzählun
gen »Lebensläufe«, gelobt.Jetzt waren sie enttäuschtvon der Sperrigkeit
des Materials. Günter Blöcker beklagte »das Versäumnis, das menschli
che Maß als das einzig Verbindliche des Erzählers anzuerkennen«, daß
Kluge sichnicht hätte entscheiden können zwischenDokument und rea
listischem Erzählen.17
»Er wütet derart in Sachkenntnis,daß jedem Laiender Nebel über der
Schlacht nur dichter wird statt durchsichtiger. Hatte er das womöglich
im Sinn?« fragte Reinhard Baumgart.18 Niemand beschäftigte sich mit
dem, was Kluge »Stalingrad als Nachricht« nennt, also mit dem Inhalt
des Buches. Nur Joachim Kaiser konzidierte, daß Kluges »372 Seiten
>Schlachtbeschreibung< ihrem Objekt schriftstellerisch gerechter [wür
den], als die allermeisten Kriegsromane, die so tun, als hätten Tolstoi und
Homer einen Zweiten Weltkrieg zu beschreiben gehabt«.19
Kluge hat vielleicht wegen der vielen Mißverständnisse in der Rezep-

670
tion 1978 eineNeufassungveröffentlichtund den Anteil des Subjektiven
vergrößert: sowohl die subjektiven Perspektiven auf den Krieg als auch
die subjektiven Wertungen des Autors. In der Zeit, in der er an seinem
Film »Die Patriotin« arbeitete, kürzte er einige Texte und baute neue
Erzählungen ein. Er fügte einen Essay hinzu, in welchemer seineTheo
rie deutscher Geschichte als Geschichtslebenslauf skizzierte, die er in
dem zusammen mit Oskar Negt verfaßten »Geschichte und Eigensinn«
und in der »Patriotin« ausformuliert hat.20 Er schrieb ein erweitertes
Vorwort über die Ursachen des Unglücks. 1964 bemerkt er, »die Ursa
chen des Unglücks liegen30Tage oder 3000 Jahre zurück«. 1978 sind es
achthundert Jahre.21 Klugesetzt den Nationalsozialismus in Perspektive
mit dem deutschen Mittelalter, den Bauernkriegenund, in anderer zeit
licher Richtung, dem sogenannten deutschen Herbst 1977, dem GSG-9-
Einsatz in Mogadischu und dem ungeklärten Tod der politischen
Häftlinge im Gefängnis von Stammheim. Erstaunlicherweise ist diese
letzte Fassung des Romans auf gar keineResonanz mehr gestoßen. Und
doch bildet diese Fassung der »Schlachtbeschreibung« zusammen mit
»Geschichte und Eigensinn« und dem Film »Die Patriotin« einen litera
risch-theoretischen Gesamttext, in dem Kluge über menschliche Ar
beitskraft und Geschichte nachdenkt. »Vielmehr sind es Arbeitskraft,
Hoffnungen, Vertrauen, der unabweisbare Wille, in der Nähe des Rea
litätssinns zu bleiben - einmal durch die Mangel von 800 Jahren Vorge
schichte gedreht -, vor allem: in Gesellschaft zu verharren, der die
300000 Mann auf die Märsche in die Steppen Südrußlands führt, in eine
Weltgegend, an ein Flußufer, an dem keiner dieser Menschen irgend
etwaszu suchen hatte. Dies ist organisatorischerAufbau einesUnglücks.
Es baut sich quasi fabrikmäßig in den Formen der Staatsanstalt auf; die
menschlichen Reaktionen darauf bleiben privat. Sie addieren sich nicht
fabrikmäßig.«22
Es ist immer diese Dualität, in der Kluge seine Texte denkt: ob er sie
»Staatsanstalt« und »Wünsche« nennt, oder bei der Beschreibung eines
Luftangriffs »Strategie von oben« und »Strategie von unten«22, oder
»Geschichte und Eigensinn«, oder ob sie sich in der Formalität der
Akten und der Sprechweisen der Subjekte literarisch niederschlagen.
Kluge und Oskar Negt haben diese Dualität in einer Theorie oder
Phantasie über die menschliche Arbeitskraft als »tote Arbeit« und
»lebendige Arbeit« beschrieben. Tote Arbeit ist die Faktizität der
Geschichte, die Akten, Bankgebäude, funktionale Maschinerie. Jedes
Produkt der Geschichte besteht aber strukturell aus lebendiger Arbeits
kraft. Lebendige Arbeitskraft sinddieEigenschaften, Motive und Fähig-

671
keiten, ein rebellisches Potential. Sie nennen es »Eigensinn«. Die einzel
nen Motive der menschlichen Arbeitskraft, die sich verwirklichen will,
sind andere, als die kollektiven Resultate vermuten lassen. Eine Bombe
oder ein Panzer bestehtstrukturell auseinerSumme lebendiger mensch
licher Eigenschaften. Wenn sie Menschen töten, dann erschlägt die
Arbeitskraft der Vorgeschichte die Arbeitskraft der Gegenwart. Es
besteht aber die Hoffnung, daß rebellischer Eigensinn, in der Abstrak
tion wie immer verstellt, vorhanden ist, eine Substanz authentischer
Erfahrung. Das ist in starker Verkürzung das Substrat der Geschichts
konzeption Alexander Kluges, seine Suche nach den unentfremdeten
Eigenschaftenim Toten.24
Kluge hat immer Geschichten erzählt, fragmentarische und doku
mentarische Geschichten. Er hat die Geschichte in Film und Prosa ähn
lich erzählt. Die Grenzen zwischen Reflexion und Fiktion bleiben
fließend. Er hat im Lauf der Zeit die Genres der Theorie, des Erzählens,
des Dokumentierens stärker vermischt und eine Form des emblemati-
schen Erzählens geschaffen, die eine zukünftige Literaturgeschichte als
verdichtende, literarische Analyse der Bundesrepublik in ihrer sterilen
Geschichtsabgewandtheit erkennen müßte.
Alexander Kluge ging es- ähnlich wie esjetzt Walter Kempowski für
sich reklamiert - um den öffentlichen Austausch von Erfahrung. Die
Öffentlichkeit suchte er über die Medien des Filmes und der Literatur
herzustellen. Erfahrung war die Verarbeitung des kollektiv Erlebten.
Den Erfahrungsraum bildetender ZweiteWeltkrieg, der Nationalsozia
lismus, die technokratischen Metropolen der Gegenwart. Der Zer
störung seiner Heimatstadt Halberstadt widmete Kluge eine große
Erzählung, dieden Luftangriff, mit grausamer Akribie in alle optischen,
zeitlichen und gesellschaftlichen Perspektiven aufgesplittert, auf sein
Funktionieren hin beschreibt. Im Wienerwald-Lokal auf der Frankfur
ter Kaiserstraße schrieb er dann in den siebziger Jahren über die Strate
gien des Polizeiapparates und des organisiertenVerbrechens. Der Luft
angriffauf Halberstadt hatte sich ausgewirkt bis nach Frankfurt.
In »Schlachtbeschreibung« dokumentiert Kluge den Zeitraum kurz
vor der Einkesselung der 6. Armee, beginnend mit dem 10. November
1942 bis zur Kapitulation am 3. Februar 1943. Die 6. Armee der Wehr
macht unter Führung des Generals Friedrich Paulus wurde von der
Roten Armee durch einen doppelten Zangengriff in der StadtStalingrad
eingeschlossen. Die Ausbruchsversuche und Entsatzunternehmen, die
einigeWehrmachtsgeneräle geplant hatten, scheiterten an der Stärke der
RotenArmee und an der Weigerung Hitlers,einen Ausbruch zu billigen.

672
Auch das Kapitulationsangebot der sowjetischen Generäle wurde aus
geschlagen. Im Kessel waren 300000 Mann eingeschlossen, in Gefan
genschaft gingen 100 000. Die Generäle,die diese Armee führten, haben
alle überlebt.
Kluge stellt dieses Geschehenin einer hermetischenSprachkonstruk
tion dar. Durch die Montage von Tagesbefehlen, Wehrmachtsberichten,
Anweisungen aus einer Heeresdienstvorschrift (»Richtlinien für den
Winterkrieg«), Mitteilungendes Reichspressechefs an den Hauptschrift
leiter Lariter, wie die Geschehnisse an der Ostfront in der Presse zu for
mulieren seien, militärgeistlichen Predigten, Aussagen von Ärzten, Offi
zieren und Soldaten und durch eine Chronik der Ereignisse, die Kluge
nach Dokumenten fingiert, ohne den sachlichen Duktus des Berichtes
aufzugeben, stellt das Buch eine Materialität der sprachlichen Verfaßt-
heit des Krieges her. Kluge konstruiert eine linguistische Maschine, um
die Maschinerie des Krieges erfahrbar zu machen. Die logische
Undurchdringlichkeit, die ein Geschehen, obwohl es mehrere Möglich
keiten enthält, durch sprachlicheVerabredungen bekommt, die mit der
Autorität der Sachlichkeit das Geschehen zu einer fatalen Kausalität fin
gieren, das ist sein Thema.
Durch die Verknüpfung des Materialsund durch die Bearbeitungder
Dokumente erzeugt der Text in sich eine Sprach- und Ideologiekritik.
Der Leser kann die Frontberichte an den Propagandarichtlinienmessen.
Er kann die Undurchdringlichkeit aller sprachlichen Verabredungen
erfahren und die Art und Weise, wie sie einander zuarbeiten. Das, was
wirklich geschah, verschwindet hinter anonymisierenden Sprechweisen.
Der Leser kann den Schluß ziehen, daß diese zentralisierenden und von
niemandem mehr verantworteten Sprechweisen und Tatsachen, an
denen aber wirkliche Menschen starben, nicht nur ein Teil des Krieges
sind, sondern auch seine Verursacher.
Wo Kempowski subjektive Reaktionen zitiert, versucht Kluge beim
LeserErfahrung zu produzieren, indem er Zeugnisse von unterdrückter
Subjektivität wiedergibt. Dem organisatorischen Aufbau des Unglücks
entspricht ein organisatorischerAufbau der dokumentarischen Fiktion.
Unter der Überschrift »Rechenschaftsbericht« werden die Wehr
machtsberichte unkommentiert zitiert; es folgen die »Pressemäßige
Behandlung«, die »Richtlinien für den Winterkrieg«, die »Militärgeistli
che Behandlung«. UnterderÜberschrift: »Wie wurde das Desaster prak
tisch angefaßt?« befragt ein anonymer Interviewer Soldaten, Offiziere
und unter dem weiteren Titel »Wunden« Ärzte. »10. Arzt. A. Mir ist fol
gendes Bild noch in Erinnerung, wie ein magerer großer Landsier, einen

673
Riesenknochen in der Hand, es könnte der Oberschenkelknochen eines
Pferdes gewesen sein oder vielleicht auch von menschlichen Wesen, an
diesem gefrorenen Knochennagte. Ich riefihn an:>Hallo, wasmachstdu
denn?< Er hörte mich gar nicht.«25
Den nicht ganz hundert Seiten langen Bericht, der auf die Interviews
folgt, hat Kluge in der alten Fassung »Tagesläufe«, in der neuen »Die
Unglückstage« genannt. Es handelt sich um eine Reportage im Stil des
Frontberichts. Viele Tage beginnen akribisch mit der Wettermeldung
und dem Frontverlauf. Doch dann erfährt man, was die Akten ver
schweigen: das Kapitulationsangebot der sowjetischen Generäle, die
verhinderten Entsatzunternehmungen und das, was die Akten nicht her
geben: wie ein Mensch von einem Panzer überrollt wird. Manchmal
desertiert sogar die Sprache vom Berichten in die Anschauung. »Natur
Sonne. Über die Augen eines vereisten Toten auf einer Anhöhe haben
sich Krähen hergemacht. Ein tags offener Himmel bringt unbarmherzi
ge Kälte, Luftmassen von Astrachan, die nicht bereit sind, sich auf
menschliche Maße einzustellen.«26
Kluge hat hier begonnen, die Perspektiven zu brechen. Der objekti
vierende Bericht wird plötzlich zur subjektiven Wahrnehmung. Unauf
fällig schreibt er seinen- häufigsatirischen- Kommentar in die Bericht
erstattung oder schneidet Hitlers Tischgespräche in Berchtesgaden
gegen den Obduktionsbericht eines Erfrorenen oder Verhungerten. Das
letzte Kapital des Romans »Rekapitulation« beginnt mit der Kurzsatire
»Wen schützen die Soldaten?«. Dann folgt, gegliedert in mehrere
Abschnitte, ein Essay, der nach den historischen und ideologiege
schichtlichen Ursachen des Krieges und der Stalingrader Katastrophe
fragt. In ihm versammelt Kluge unter anderem einen Abriß der preußi
schenMilitärgeschichte, unter dem Stichwort »Genealogie«, die Kriegs
pläne, die es gab, die Porträts einiger preußischer Generäle, ihre Menta
litäten, ihre Strategien, eine Porträtskizze Hitlers, die Geschichte und
der Aufbau der 6. Armee, Hinweise auf Gehorsamstraditionen: »Ver
pflichtung zum Nicht-Denken, auf Formen, Märsche, Anreden«. In die
ser essayistischen Montage entwirft er bruchstückhaft das Porträt einer
Gesellschaftsschicht, die sich über das Militär definierte und an den
Lebensformen der Aristokratie orientierte.27 Ihr Mangel an Selbstbe
wußtsein führte in die Herrschaft der Akten. Wenn es keine selbstbe
wußten Subjekte gibt, kann es auch keine subjektiven Perspektiven
geben. Das verschüttete Ereignis ist am Ende seine funktionale Lingui
stik. Vorher waren es Reitermärsche oder Planspiele.
Wo Fritz Raddatz über die »Dummheit« erschrickt, die ihm aus den

674
Kempowski-Echolot-Zitaten entgegentritt,28 würde Kluge wahrschein
lich von »Nicht-Identität« sprechen. Sie läßt die Kriegsmaschine so gut
funktionieren, deren zermürbende Arbeit er in seinem Buch wiederge
ben wollte.
Man kann dieses Buch »gegen den Strich« lesen. Man kann die verti
kalen und horizontalen Achsen verfolgen, auf denen es seine Aussagen
trifft. Horizontal gelesen bemerkenwir, wie Pressemeldung, Tagesmel
dung und Predigt praktisch und ideologisch ineinandergreifen; lesenwir
die Texte vertikal, fallen die Wortachsen auf: eine Hermetik des Nicht
aussprechens.
In den ersten Novembertagen konzentrieren sichdieTagesmeldungen
um das Wort »Stoßtrupptätigkeit«, nach der Einkesselungum das Wort
»Abwehrkämpfe«, bei aussichtsloserer Lage um »erbitterte Abwehr
kämpfe«. Erst am 22. Januar wird in den Berichten die Einkesselung
angedeutet, »vom Gegner engumschlossen«. In denletztenTagen domi
nieren die Adjektive »heldenmütig« und »ungebrochen«. Die Informa
tionsverweigerung wird allerdings erst wirklichkenntlich, wenn siesich
an Kluges Reportage »Tagesläufe« relativiert. Hier hat er in der Sprech
weise der Bürokratie einen Ort der historischen Wahrheit etabliert. Man
braucht diesen Ort, um die Akten und Propagandaanweisungen messen
zu können. Er kann nicht anders als durch Fiktion entstehen. Insofern
ist Kluge ein sinnkonstruierender Erzähler geblieben, der die Perspekti
ven überschaut, aneinander schneidet, und, was er nicht findet, im
Bereichdes Möglichen erfindet.
Seine Romankonstruktion handelt davon, wie subjektive Motive in
reduziertenSprachformen verschwinden, daß die Abstraktion der Spra
che der Anfang des Krieges ist. Man erfährt, wie die vielen falschen
Zustimmungen nicht mehr kenntlich sind, aber etwas Monströses
bewirkt haben, das dann später als Katastrophe bezeichnetwird. Kluge
hat versucht, qua Sprache und Montage die Kriegsmaschine nachzu
ahmen und den Schein ihrer Notwendigkeit, mit dem sie sich um
gibt,wegzuräumen. Der Lesende ahnt, daß er in solchen Strukturen mit
funktioniert und daß dieseStrukturen nicht nur auf Stalingradzutreffen.

Das Defizit dieser Erzählweise besteht in dem, was sie ausläßt. Sorgsam
wird der Bereich der Physis des Krieges und der irrationalen Gewalt
umgangen. Kluge beharrt auf der Kriegsbeschreibung, die immer ein
ideologiekritisches Planspiel bleibt. Sein manisches Interesse an Strate
gien enthält einen emotionalen Überschuß. Mit deutlicher Faszination

675
gibt er sich der preußischen Militärgeschichte und Generalstabsplänen
hin. Was die Literaturkritik ihm als »unsinnige Faktenhuberei« zum
Vorwurf machte, enthält eine merkwürdige Erregtheit, mit der Kluge
sich der Klasse der Wehrmachtsoffiziere zuwendet. Es ist ein zivilisier
ter Anteil desKrieges, dener zur nüchternen Beschreibung freigibt. Den
Krieg sucht er auch in den Metropolen der Gegenwart und in der
Zukunft auf. In einerErzählung, die »Lernprozesse mit tödlichem Aus
gang«29 heißt, läßt er vierOffiziere aus demStalingrader Kessel bisnach
China desertieren. Dort werdensie Agenten, verlängern ihr Leben und
nehmen an einem Krieg der Zukunft teil, der den Planeten Erde ver
nichtet. Aber auch in den Verwaltungen, auf Physikerkongressen sucht
Kluge die Kriegsstrategie auf.
JedeRealität wird zumSoldatenspiel. Der vernünftig kritische Teil des
Projektes geht davon aus, daß die Bundesrepublik von den Strukturen
des Zweiten Weltkrieges geprägt ist. »Uns trennt von Gestern kein
Abschied, sondern nur dieveränderte Lage«, schrieb Kluge über seinen
ersten Spielfilm (1966).30 Seine Diagnose des deutschen Faschismus
beschränkt er nicht auf dieJahre 1933 bis 1945. Er versieht seine Texte
über die Gegenwart mit Hinweisen auf die den Nationalsozialismus
konstituierenden, noch immer fortwirkenden Bedingungen. In den
Miniaturen, dieeine bundesrepublikanische Atmosphäre kennzeichnen,
gelingt ihm das am besten: »Die Kantine schenkte um diese Zeit keinen
Kaffee aus, um den Betriebsangehörigen nicht Gelegenheit zu geben,
ihre Schicht zu verlassen. Man durfte in der Kantine auch nicht sitzen.
Sotrennten sich B. und der Interviewer, ohne eine Tasse Kaffee getrun
ken zu haben.«31 DieVerkehrsformen des Arbeitslagers prägen dieneue
Bundesrepublik.
Am Nationalsozialismus thematisiert Kluge den Krieg. Der Natio
nalsozialismus wardie rigoroseste undmodernste Form derAusbeutung
der Arbeitskraft und liefvon vornherein auf den Krieg hinaus. In den
MittelpunktseinerBeschreibung des Krieges und seinerGedanken zum
Krieg stellt er den Fortschritt und die Entwicklung einer technischen
Intelligenz. Ihn interessiert der rationale Teil des Faschismus. Auffällig
ist, daß in seinem Film »Die Patriotin«, in dem eine Geschichtslehrerin
und die toten Knie des an der Ostfront gefallenen Obergefreiten Wie
land die deutsche Geschichte absuchen, keine Einstellung vorkommt,
die sich mit der Deportation derJuden befaßt, auch keine Einstellung,
die eine Massenkundgebung zeigt, aber immer wieder und eindringlich
die Bilder der auf Städte niedergehenden Bomben, der Fliegerstaffeln
undBilder vonSoldaten undOffizieren, diein russische Gefangenschaft
676
gehen. In Kluges Texten kommt der Holocaust nicht vor, und gibt es
keine Kriegsverbrechen, keine Lynchjustiz, keine Plünderung, keine
Vergewaltigung.
In einer Erzählung aus den »Neuen Geschichten« beschrieb er den
Aufbau und die Auflösung eines KZ. In der Nähe von Halberstadt
wurde ein Außenlager Buchenwalds errichtet. In den von Häftlingen
gegrabenen Stollen sollte ein unterirdisches Fabriksystem für die
Rüstungsproduktion untergebracht werden. »Das Gebiet südlich von
Halberstadt als eines der sieben schönsten in Deutschland. Verschrot
tung durch Arbeit.« Verschrottet, zu Schrott verarbeitet, werden die
Häftlinge. Mit kalter Eindringlichkeit thematisiert Kluge den Faschis
mus als Rationalisierungsschub einer »vollendeten Aufklärung«, als
Auspressung der Arbeitskraft unter staatlicher Gewalt.32 Denn es ist ein
Arbeitslager, vondem Kluge berichtet, keinVernichtungslager. DasEnt
setzen gerinnt zur Zahl oder Formel. Kluge hatte gute Gründe, den kal
ten Blick gegenüber der Betroffenheit einzuüben, und er ist nicht der
einzigeErzähler, der das getan hat.
Aber seinunaufhörlicher Rekurs auf die Spezialistensprache und die
Selektion seiner Themen vom Kriege scheinen etwas zu beschützen oder
vor etwas zu flüchten. Mankönnteeinwenden, daß Kluge, gemäß seiner
Geschichtskonzeption, in den Abstraktionen als Manifestationen toter
Arbeit die Reste unverstellter Authentizität wieder aufsuchen möchte.
Hat er sich mit diesem Projekt auch etwas Entlastendes, die Generation
seiner Väter Entschuldigendes vorgenommen?
Sein Schreiben untersucht die Motive der Täter des Krieges. Er zählt
zu den Täternalle, dieam Krieg beteiligt waren. Der Obergefreite Wie
land mit achthundert Jahren Vorgeschichte im Tornister ist ein Täter,
keinOpfer, wieer esbeiKempowski wäre. AberdieAnalyse, dieMoti
ve und Ergebnisse trennt, möchte rehabilitieren. Darüber hinaus unter
liegt sie Darstellungstabus. Daß Sehnsuchtsmotive nach lebendiger Ver
gegenständlichung eine Kriegsmaschine antrieben, kannmanbehaupten,
daß sich aus Sehnsucht Vernichtungslager bauten, kann man nicht den
ken. Kluge kann nur das zum Thema machen, was sich als Arbeitskraft
rationalisieren läßt. In der »Schlachtbeschreibung« wendet er sich mit
großer Ausführlichkeit den Kriegsplänen, Verkehrsformen und Anek
doten der preußischen Offiziere zu. Der Abschnitt ist der einzige, der
einen persönlichen Stil des Autors preisgibt.
Ist esdieWelt eines traditionellen Bürgertums, die Kluge beschützen,
die er insgeheim rehabilitieren möchte? Es wäre die Welt seines Eltern
hauses, die mit dem Luftangriff auf Halberstadt zerstört wurde, denn

677
nach 1945 hat es eine traditionsgebundene bürgerliche Lebensform
unpervertiert nicht mehr geben können. An ihre Stelle ist die Techno-
kratie getreten, Kluge spart die Kritik an den Offizieren aus, indem er
sich in den Strategien der modernen Technokraten ergeht. Er schützt
einen leer gewordenen Raum. Vielleicht ist auch die sich in Sprechwei
sen tarnende Sprache eine Weigerung, das, was den Umriß einer Bom
benlücke hat, neu zu besetzen.
Er verläßt die dünne Schicht der Zivilisation nicht. Die Grenze zum
Irrationalen wird in Kluges Erzählungen nie überschritten. Daß eine
Lust an der Gewalt um der Gewalt selberwillen ganz ohne Motive Krie
ge antreiben, Massakeranrichten kann, kommt in seinem Kosmos nicht
vor. Die Physis der Gewalt wird ausgespart. Alexander Kluge kann die
bürgerliche Klasse ideologisch kritisieren, aber nicht ihre Barbareiwahr
nehmen.

Anmerkungen

1 Theodor Plivier, Stalingrad, Berlin 1946, S. 384.


2 Alexander Kluge, Schlachtbeschreibung. Der organisierte Aufbau eines
Unglücks, Ölten 1964.
3 Walter Kempowski, Das Echolot, 4 Bde.,München 1993.
4 Ebenda, Bd. 1, S. 34-47.
5 Ebenda, Vorwort zum 1. Bd.
6 Fritz Raddatz, Die Hauptursache ist der Siegfürs Vaterlandund die Gesundheit
unseres lieben Vatis für uns, in: Die Zeit, Nr. 50, 10.12.1993.
7 Johannes Willms, Die Kritik in der Krise,in: SüddeutscheZeitung, 31.12.1993/
1.1., 2.1.1994.
8 Frauke Meyer-Gosau, Kopf-Kriege, Kopf-Frieden,in:Text und Kritik 10/1994,
Nr. 124, S. 96-110, hier S. 100.
9 Willms, a. a. O.
10 Frank Schirrmacher, In der Nacht desJahrhunderts, in: Frankfurter Allgemei
ne Zeitung, 13.11.1993.
11 Jörg Drews, Ein Meisterwerk wird besichtigt, in: Süddeutsche Zeitung,
4./5.12.1993.
12 Wolfram Schütte, Krieg und Frieden als Mosaik, in: Frankfurter Rundschau,
31.12.1993.
13 Ebenda.
14 Drews, a. a. O.
15 Alexander Kluge, Schlachtbeschreibung. Der organisatorische Aufbau eines
Unglücks, München 1978,S. 320.
16 Ebenda, S. 7.

678
17 Günter Blöcker, Stalingrad als Legespiel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
6.6.1964.
18 Reinhard Baumgart,Stalingrad - logisches Unglück, in: Der Spiegel 21/1964.
19 Joachim Kaiser, Ein literarischer Versuchüber Stalingrad, in: Süddeutsche Zei
tung, 6.6.1964.
20 Vgl. Alexander Kluge/Oskar Negt, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt am
Main 1981; Alexander Kluge, Die Patriotin, BRD 1979.
21 Kluge, Schlachtbeschreibung, a. a. O. 1964, Vorwort; ders., Schlachtbeschrei
bung, a. a. O. 1978,S. 8.
22 Kluge, Schlachtbeschreibung (1978), ebenda.
23 Alexander Kluge, Der Luftangriff auf Halberstadt, in: ders., Neue Geschichten,
Frankfurt am Main 1977.
24 Negt/Kluge, a. a. O.
25 Kluge, Schlachtbeschreibung, a. a. O. 1964,S. 140.
26 Kluge, Schlachtbeschreibung, a. a. O. 1978,S. 150.
27 In der Ausgabe der »Schlachtbeschreibung« von 1978 umfaßt dieseessayistische
Collagedie Seiten 167-212 und 224-321. Dem entsprechenin der Fassungvon
1964 die Seiten 249-297 und 299-339.
28 Raddatz, a. a. O.
29 Alexander Kluge, Lernprozesse mit tödlichem Ausgang, Frankfurt am Main
1973-
30 Alexander Kluge, Abschied von Gestern, BRD 1966.
31 Alexander Kluge, Lebensläufe, Stuttgart 1962, S. 22.
32 Alexander Kluge, Das Gebiet um Halberstadt als eines der sieben schönsten in
Deutschland, in: ders., Neue Geschichten, a. a. O.
Anhang
Autorennotizen

Truman O. Anderson, Jg. 1962, Doktorand, International and Military History,


University of Chicago.

Dr. Omer Bartov, Jg. 1954, Associate Professor of History an der Rutgers Univer
sity, New Brunswick. Veröffentlichungen: The Eastern Front, 1941-1945. German
Troops and the Barbarisation of Warfare (1985); Hitler's Army. Sodiers, Nazis, and
War in the Third Reich, Oxford 1991 (dt. 1995); Murder in Our Midst. The Holo
caust, Industrial Killing,and Representation. Oxford 1996.

Dr. Bernd Boll, Jg. 1951, Historiker, Museumspädagoge, Kulturreferent, Lehr


beauftragter, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Ausstellungsprojekts »Vernich
tungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944« am Hamburger Institut für
Sozialforschung. Veröffentlichung: »... das wird man nie mehr los.« Ausländische
Zwangsarbeiter in der Offenburger Kriegswirtschaft 1939-1945, Pfaffenweiler 1994.

Dr. Stefanie Carp, Jg. 1953, z. Z. Dramaturgin am Deutschen Schauspielhaus in


Hamburg. Veröffentlichung: Kriegsgeschichten. ÜberAlexander Kluges Prosa und
Gesellschaftstheorie, München 1984.

Christian Gerlach, Jg. 1963, Doktorand am Zentrum für Antisemitismusforschung


der Technischen Universität Berlin.

Dr. Friedrich Gerstenberger, Jg. 1941, Berufs- und Wirtschaftspädagoge an der Uni
versität Oldenburg. Veröffentlichung: »Heeres-Elite« und nationalsozialistische
Herrschaft, in: Normalität der Normalisierung? hrsg. von Heide Gerstenberger/
Dorothea Schmidt, Münster 1987.

Dr. Klaus Geßner, Jg. 1943, seit 1965 wissenschaftlicheTätigkeit am Militärarchiv


und am Militärgeschichtlichen Institut in Potsdam, seit 1990Mitarbeiter des Bran
denburgischen Landeshauptarchivs in Potsdam. Veröffentlichungen v.a. zur deut
schen Militärgeschichte der NS-Zeit.

Dr. Michael Geyer,Jg. 1947, Professor for Contemporary European History an der
University of Chicago. Veröffentlichungen: The Stigma of Violence: Nationalism
and War in Twentieth Century Germany, in: German Studies Review, Winter 1992;
Weltgeschichte als Globalgeschichte: Überlegungen zu einer Geschichte des
20.Jahrhunderts, in: Comparativ, 1994.

Hannes Heer,Jg. 1941, Historiker und Filmregisseur, wissenschaftlicherMitarbeiter


des Hamburger Instituts für Sozialforschung.Veröffentlichungen: Burgfrieden oder
Klassenkampf, Neuwied 1971; Ernst Thälmann, Reinbek 1975; »Als ich 9 Jahre alt
war, kam der Krieg.« Reinbek 1983;Leiter des Ausstellungsprojekts »Vernichtungs
krieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944«.

683
Dr. Bernd Hüppauf,Jg. 1942, Professorund Chairman am Department for German
der New York University. Veröffentlichungen: Ansichten vom Krieg, Meisenheim
1984; Kriegsfotografie an der Schwelle zum Neuen Sehen, in: Annäherungsversu
che, hrsg. von Bedrich Loewenstein, Pfaffenweiler 1992; Schlachtmythen und die
Konstruktion des »Neuen Menschen«, in: Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch ...
Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, hrsg. von Gerhard Hirschfeld/Gerd
Krumeich, Essen 1993; Krieg, Gewalt und Moderne, in: Gewalt, Faszination und
Furcht. Jahrbuch für Literatur und Politik in Deutschland 1, hrsg. von Frauke
Meyer-Gosau/Wolfgang Emmerich, Leipzig 1994.

Klaus Latzel,Jg. 1955, promoviert in Münster über Kriegserfahrung im Spiegel von


Feldpostbriefen aus dem Zweiten und Ersten Weltkrieg. Veröffentlichung: »Freie
Bahndem Tüchtigen!« Kriegserfahrung und Perspektiven für die Nachkriegszeitin
Feldpostbriefen aus dem Zweiten Weltkrieg, in: Lernen aus dem Krieg? Deutsche
Nachkriegszeiten 1918 und 1945, hrsg.von Gottfried Niedhart/Dieter Riesenberger.
München 1992.

Dr. Walter Manoschek,Jg. 1957, Assistent am Institut für Staat-, und Politikwissen
schaft der Universität Wien, wisschaftlicher Mitarbeiter des Ausstellungsprojekts
»Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944« am Hamburger Insti
tut für Sozialforschung. Veröffentlichungen: »Serbien ist judenfrei.« Militärische
Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München 1993;
(gemeinsam mit Gabriele Anderl) GescheiterteFlucht. Das Schicksal des jüdischen
Kladovo-Transportes auf dem Weg nach Palästina1939-1942, Wien 1993.

Dr. Mark Mazower, Jg. 1958, Historiker an der University of Sussex. Veröffentli
chungen: Greece and the Inter-War Economic Crisis, Oxford 1991; Inside Hitler's
Greece.The Experience of Occupation, 1941-1944, New Haven/London 1993.

Dr. Manfred Messerschmidt,Jg. 1926,1970bis 1988 Leitender Historiker im Militär


geschichtlichen Forschungsamt Freiburg. Veröffentlichungen: Die Wehrmacht im
NS-Staat.Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969; Rassistische Motivationenbei der
Bekämpfungdes Widerstandesin Serbien?, in: Faschismus und Rassismus. Kontro
versen um Ideologie und Opfer, Berlin1992; Das Heer alsFaktor der arbeitsteiligen
Täterschaft, in: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzungder
Geschichte, hrsg. von Hanno Loewy, Reinbek 1992.

Dr. Rolf-Dieter Müller,Jg. 1948, Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungs


amt Potsdam; letzteVeröffentlichung: Hitlers Ostkriegund die deutsche Siedlungs
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Dr. Klaus Naumann, Jg. 1949, Historiker und Journalist, Koordinator des Projekts
»1995/1945 - Angesichts unseresJahrhunderts« im Hamburger Institut für Sozial
forschung. Veröffentlichung: Wehrmacht und NS-Verbrechen. Überlegungen zu
einem Ausstellungsvorhaben, in: Mittelweg 36, 5/1992.

684
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burger Instituts für Sozialforschung. Veröffentlichung: Hg., Folter. Zur Analyse
einesHerrschaftsmittels. Hamburg 1991.

DieterReifarth, Jg. 1951, Filmemacher, Dokumentär- und Kurzfilme, u. a. »Janusz


Korczak« (1987), »DerKoffer- La Valise ä la Mer« (1991).

Dr. GabrieleRosenthal,Jg. 1954, Privatdozentin an der Universität Kassel und wiss.


Angestellte in einem DFG-Forschungsprojekt zum Thema »Der Holocaust im
Leben vondrei Generationen«. Veröffentlichung: Hg., »Als derKrieg kam, hatte ich
mit Hitler nichtsmehr zu tun«, Opladen 1990.

Dr. Hans Safrian, Jg. 1952, Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Ausstel
lungsprojekts »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944« am
Hamburger Institutfür Sozialforschung, Veröffentlichung: Die Eichmann-Männer,
Wien/Zürich 1993.

Dr. Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Jg. 1944, Professorin für Kunstgeschichte mitdem


Schwerpunkt Frauen- und Genderforschung an der Unviversität Trier. Veröffent
lichung: Die Verschlußzeit des Herzens. Zu Hilmar Pabels »Jahre unseres Lebens«
(1954),in: Fotogeschichte, Heft 44, 1992.

Dr. Christian Schneider, Jg. 1951, Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sig
mund-Freud-Instituts Frankfurt amMain; Veröffentlichungen zurKultursoziologie
und analytischen Sozialpsychologie.

Dr. Michael Schornstheimer, Jg. 1956, Kulturjournalist beim Hörfunk. Veröffentli


chung: Bombenstimmung und Katzenjammer. Vergangenheitsbewältigung: >Quick<
und >Stern< in den 50erJahren, Köln 1989.

Dr. TheoJ. Schulte, Jg. 1951, Senior Lecturer in European History an der Anglia
Polytechnic University in Cambridge. Veröffentlichung: The German Army and
Nazi Policies in Occupied Russia, Oxford 1989; War Crimes in Nazi Europe and
War Crimes Trials (erscheint 1995).

Dr. Menachem Shelah, Professor amJewishHistory Departmentder HaifaUniver


sity,Research Fellow amYadVashem-Institut. Veröffentlichungen: BloodAccount.
TheHistoryof theHolocaust in Yugoslavia, Jerusalem 1990; TheYugoslav Connec-
tion. Jewish Illegal Emigrationfrom Yugoslavia, 1938-1948, Tel Aviv 1993; Kroati
sche Juden zwischen Deutschland und Italien: Die Rolle der italienischen Armee am
Beispiel desGenerals Giuseppe Amico 1941-1943, in:Vierteljahreshefte für Zeitge
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Alfred Streim, Jg. 1932, Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in
Ludwigsburg. Veröffentlichungen: Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener

685
im Fall Barbarossa, Heidelberg/Karlsruhe 1981; Zur Legende von der zweiten
Schuld, in: Tribüne, Heft 113,1994.

Dr. Christian Streit, Jg. 1942, Lehrer an einem Gymnasium in Mannheim. Veröf
fentlichung: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefan
genen 1941-1945, 3. Aufl.Bonn 1991.

Margers Vestermanis, Jg. 1926, Diplomhistoriker, Hochschullehrer an der Univer


sitätRiga, Leiter desDokumentationszentrums »Die Judenin Lettland«. Veröffent
lichungen: Die Wehrmacht im Einsatz. Zur Rolle der Wehrmachtsorgane in der
Gesamtstruktur des nationalsozialistischen Okkupationsapparates in Lettland, Riga
1973; Der lettischeAnteil an der Endlösung, in: Die Schatten der Vergangenheit,
hrsg. von Uwe Backes u. a., Berlin/Wien 1990; Der Holocaust in Lettland, in:Ver
drängung, Vertreibung und Vernichtung derJuden unter dem Nationalsozialismus,
hrsg.von Arno Herzig u. a., Hamburg 1992.

Gaby Zipfel, Jg. 1951, Redakteurin des »Mittelweg 36«, Hamburger Institut für
Sozialforschung.

686
Abkürzungsverzeichnis

A.A. Auswärtiges Amt KTB Kriegstagebuch


AK Armeekorps MGFA Militärgeschichtliches
AOK Armeeoberkommando Forschungsamt
BA Bundesarchiv Nbg.Dok. Nürnberger Dokument
Koblenz OB Oberbefehlshaber
BA-MA Bundesarchiv-Militär ObdH Oberbefehlshaber
archiv Freiburg des Heeres
BArchP Bundesarchiv Potsdam Offz. Offizier
Berück Befehlshaber des rück OFK Oberfeldkommandeur
wärtigen Heeresgebietes OK Ortskommandantur
Brig. Brigade OKH Oberkommando
Btl. Bataillon des Heeres
Div. Division OKW Oberkommando
Div.Kdr. Divisionskommandeur der Wehrmacht
Dulag Durchgangslager OT Organisation Todt
FK Feldkommandantur POW Prisoner of war
RS. Funkspruch Pz.AOK Panzerarmee
Geb.Div. Gebirgs-Division oberkommando
Gen. General Pz.Div. Panzerdivision
Gen.d.Inf. General der Infanterie Rgt. Regiment
GFP Geheime Feldpolizei RSHA Reichssicherheits
H.Dv.g. Heeresdienstverordnung, hauptamt
geheim SD Sicherheitsdienst
HGr Heeresgruppe Sich.Div. Sicherungs-Division
Höh.Kdo. Höheres Kommando Sich.Reg. Sicherungs-Regiment
HSSPF Höherer SS- und SK Sonderkommando
Polizeiführer Stalag Stammlager
ID Infanterie-Division Tgb.Nr. Tagebuch-Nummer
IR Infanterie-Regiment WFSt Wehrmachtsführungsstab
Jg-Div. Jäger-Division (ab 8.8.1940) im OKW
Kav. Kavallerie Wiln Wir.tschaftsinspektion
Kdr. Kommandeur WiStabOst Wirtschaftsstab Ost
Korück Kommandant des rück ZSt Zentrale Stelle der
wärtigen Armeegebietes Landesjustizverwaltungen
Kp. Kompanie in Ludwigsburg

Kurzbezeichnung für Abteilungen in den Führungsstäben des Heeres

Ia Führungs-Abteilung
Ib Quartiermeister-Abteilung
Ic Feindaufklärung und Abwehr; geistigeBetreuung

687
Personenregister
Hitler ist nicht angegeben

Absolom, Roger 237 Backe, Herbert 558


Absolon, Rudolf 354, 355, 617 Baddeley, Alan 629
Adamowitsch, Ales 135 Bader (Generalstaatsanwalt) 575
Adas, Michael 616 Bader, Paul 546
Adenauer, Konrad 35, 575, 626 Badoglio, Pietro 193
Adorno, Theodor W 183, 648 Bajohr, Frank 342
Ahmann, Rolf 547 Bar-On, Dan 473
Aigner, Fritz 207 Barantschik, Wladimir Antonowitsch
Alexander, Harold 217 444
Alheit, Peter 662 Barbusse, Henri 397
Allgeier, Sepp 188 Barclay, Craig R. 629
Almers (Oberst) 234 Baron, Ulrich 290
Alnor, Walter 245 Barthes, Roland 517, 518, 527
Altarilla, Oskar 201 Bartoli, Domenico 204
Altenstadt, Hans Georg 543 Bartov, Omer 32, 33, 35, 36, 71, yy, 89,
Alvenslebens, Constantin 403 91, 133, 163, 170, 183, 184, 186, 187,
Amery, Jean 60, y6, 502, 503 189, 190, 204, 338, 339, 341, 448, 457,
Amico, Giuseppe 194, 205 460, 472, 526, 601-619, 683
Anderl, Gabriele 55 Bartschke, August 121
Andersch, Alfred 664 Baumann, Zygmunt 377
Anderson, Truman 236, 297-314,683 Baumgart, Reinhard 670, 6y9
Andorfer, Herbert 52 Bayern, Rupprecht von 35, 400
Andrus, Burton C. 650 Bechtolsheim, Gustav Freiherr von
Andronikos, T. (Archimandrit) 372 Mauchenheim 62, 64,72,73,117,
Angrick, Andrej 442 120

Anton, Max 646 Beck, Ludwig 531-550, 649


Appolonio, Renzo 206, 207 Becker, Annette 619
Arajs, Viktor 254, 259 Becker, Jean-Jacques 619
Arbinger, Roland 628 Benjamin, Walter 408, 506
Aristophanes 387 Bente (Sanitäter) 49
Armstrong, John 339 Benz, Ute 472
Arnim, Achim von 505 Benz, Wolfgang 53, 527
Arnold, Sabine Rosemarie 290 Benzler, Felix 44, 55
Aron, Raymond 381 Berger, Peter L. 457
Aschenauer, Rudolf 133 Berghahn, Volker R. 188
Ashworth, A. E. 186 Bernart, Enzo de 206
Asprey, Robert B. 186 Bertolini, Alfonso 204, 207
Bessel, Richard 189,190
Bach-Zelewski, Erich von dem 125, Bettelheim, Peter 457
126, 127, 128, 136, 137, 432, 443 Bettini, Elio 196

688
Betz, Hans D. 186, 595 Brückner (Korvettenkapitän) 244, 250,
Biezais, Gustav 257 251
Bila, von (Hauptmann) 294 Bryl, Ivan 135
Bilenchi, Romano 232 Buchbender, Ortwin 89
Birke, Adolf M. 547 Buchheim, Hans 291, 503, 617
Bischofshausen, Günther, Freiherr von Burchard, Rolf 560
37i Burchard, Rudolf 122
Bismarck, Otto von 399 Burdick, Charles B. 206
Bittner, August 560 Bürger, Karl-Heinz 238
Blaskowitz, Johannes 542 Burke, Peter 617
Blobel, Paul 82, 276 Burkhardt, Kurt 72
Blöcker, Günter 670, 6y9 Busch, Ernst 563
Blomberg, Werner von 534,535, Busse, Theodor 404
649 Bußmann, Walter 441
Blumentritt, Günther von 403 Buttkowitz (Leutnant) 243
Bock, Fedor von 402, 429, 430, 431, Büttner, Ursula 339

Bock, Gisela 458 Caesar 612


Böckle, Karlheinz 354 Callsen, Kuno 293, 595
Boehm (Oberstleutnant) 444 Canaris, Wilhelm 531, 544, 649
Boeselager, Georg von 437, 438, 441, Canetti, Elias 31, 35
444 Cantor, Norman F. 505, 526
Böhme, Franz 42, 43, 44, 45, 46, 51, Caregorodcev, Gennadij I. 90
53, 55» 361, 363, 364>37°>37I Carp, Stefanie 66^-6y9, 683
Boll, Bernd 260-296, 683 Carsten, Francis L. 617
Boog, Horst 89, 294, 618 Celmins, Gustav 243
Bormann, Friedrich von 82 Cesarani, David 339, 526, 618
Bormann, Martin 124, 136, 445, 446, Chambers, John 604
462, 472 Charisius, Albrecht 356
Borsdorf, Ulrich 184, 342 Chiminiello, Ernesto 196
Bracher, Karl Dietrich 183 Choltitz, Dietrich von 620, 621, 628,
Braemer, Walter 65, 69, 70, 71, 259 629
Brauchitsch, Walther von 264, 282, Churchill, Winston 417
531-550,649 Clasen (Admiral) 249
Bredemeier, Karsten 341 Clausewitz, Carl von 26, 127, 129,
Brentano, Clemens von 505 138, 261, 377, 380-398, 616
Bresser, Klaus 262, 290 Cohen, Asher 339
Bridenthal, Renate 619 Conway, Martin A. 628
Brochhagen, Ulrich 35 Conze, Werner 257
Bromberger, Barbara 446 Cooper, Matthew 133,186
Broszat, Martin 36, 235, 568,,618, Cortez, Hernän 379, 398
628 Craig, Gordon A. 184, 617
Browning, Christopher R. 56, yy, 134, Creveld, Martin L. van 184
166, 183, 185, 189, 204, 232, 313, 341, Crew, David F. 341
568,618, Czech, Danuta 665

689
Dallin, Alexander 102,135, 312, 340, Eisenhower, Dwight D. 626
617 Eksteins, Modris 35, 604
Daluege, Kurt 136 Eley, Geoffrey 183
Danckelmann, Heinrich 41 Enge, Edgar 49
Datner, Szymon 89, 204, 257 Enzensberger, Hans-Magnus 670
Dawidowicz, Lucy S. 619 Erdmannsdorff, Gottfried von 560, 562
Decken, Godele von der 473 Erren, Gerhard 57, 61, 63, 64, 76, yy
Deist, Wilhelm 609, 617 Evans, Richard J. 183
Delbrück, Hans 604, 616 Ewers, Hans 575
Desch, Otto 361, 364, 370
Determann, Barbara 473, 474 Faasch (Bataillonskommandeur) 307
Deutsch, Harold C. 293, 354 Falk, Ernst August 560, 564
Diamantini (ital. Leutnant) 207 Falkenhausen, Alexander von 648
Diels, Rudolf 640 Falkenhayn, Erich von 390, 391, 394
Dipper, Christof 441 Fattig, Richard 179, 184, 186, 189, 313
Dirlewanger, Oskar 138 Fegelein,Hermann 432
Dixon, Norman F. 616 Feigerson, Solomon 259
Döblin, Alfred 506, 526 Fellmann, Michael 186
Dollinger, Hans 89 Felmy, Hellmuth 176, 204
Domarus, Max 75 Ferenczi, Sändor 523
Dönhoff, Marion Gräfin von 445 Fiedler (Hauptmann) 371
Dönitz, Karl 402, 616 Fings, Karola 54
Dorsch, Xaver 553 Finker, Kurt 445
Dostler, Anton 287 Fischer, Heinz 560, 561
Dostojewski, Fjodor 32 Fischer,Jürgen 503
DowerJohnW. 188 Fischer-Rosenthal, Wolfgang 662
Downing, Brian M. 616 Fitzgerald, Joseph M. 628
Dreßen, Willi 91, 187, 189, 259, 341, Fleischer, Hagen 372
507, 526 Foerster, Roland G. 338, 628
Drews, Jörg 669, 6yS Foertsch, Hermann 200, 204
Droandi, Enzo 232 Formato, Dom Romualdo 201, 206,
Duclos, Jacques 665 207
Dülfferjost 77,459 Försterjürgen 74, 75, y6, 89, 133, 134,
Dvorak, Max 517 136, 138, 289, 290, 291, 294, 312, 339,
526, 548, 549, 550,609,618
Ebbinghaus, Angelika 474 Fraenkel, Ernst 180, 189, 190
Eberhardt, Kurt 580 Frank, Hans 492
Eder, Harriet 341, 526 Franz Josef, österr. Kaiser 413
Egoff, David 77 Franz, Kurt 486
Ehrenburg, Ilja 134 Freud, Sigmund 28, 398
Eichholtz, Dietrich 445,618 Frevert, Ute 472, 474
Eichmann, Adolf 487 Friderici, Erich 303, 310
Eick, Paul 560 Friedländer, Saul 618
Eicke, Theodor 509 Friedrich, Ernst 506, 507
Einfeldt, Anne-Katrin 619 Friedrichjörg 134,339

690
Friedrich, Rudolf 302, 304, 305 Gloger, Katja 257
Frießner, Hans 620, 623, 628, 629 Glück (Ortskommandant Slonim) 65
Fritsch, Werner Freiherr von 533, 649 GoebbelsJosef ^6y,666
Fromm, Friedrich 534 Goecke (Oberleutnant) 295
Fuchs, Theodor 416 Goerdeler, Carl Friedrich 404, 406
Füller, John Frederick Charles 401 Golz, Herbert 133
Funke, Manfred 35 Gonzaga, Don Ferrante del Vodice 194
Fürstenau, Justin von 596 Göring, Hermann 83,95,116,126,137,
Fussells, Paul 604, 616 128, 220, 261, 285, 469, 558, 640, 641
Gorny, Karl 355,356
Gablentz, Freiherr Eccard von 218 Gossweiler, Kurt 618
Gaertringen, Hiller Friedrich Freiherr Gottberg, Kurt von 125, 126, 130, 138,
von 90 554, 5^5
Galos, Adam 458 Götz, Wilhelm 52
Gandin, Antonio 199, 201, 202, 207 Götze, Bruno 560, 561
Gardner, Alexander 506,526 Graf (Unteroffizier) 304
Gaspar, Andreas 502, 503 Grauel, Erhard 252, 255, 257, 258, 259
Gasser (Oberarzt) 49 Gravenhorst, Lerke 460, 472, 473, 474
Gat, Azar 616 Grazia, Victoria de 232, 235
Gawrilow (russ. Verteidiger) 561 Green Julien 666
Geary, Dick 183 Greiffenberg, Hans von 188, 538
Gellately, Robert 183 Greiner, Christian 628
Genet, Jean 502, 503 Groener, Wilhelm 26
Gericke, Günther von 432 Groscurth, Helmuth 276, 277, 293,
Gerlach, Christian 427-446, 683 354, 580
Gerlach, Heinrich 261, 290 Gross, Jan T. 185
German (Major) 509 Grossman, Wassilij 134
Gersdorff, Rudolf-Christoph von 404, Grossmann, Atina 472, 619
406, 407, 410, 414, 415, 416, 417, 428, Groth, H. 187
429, 430, 431, 432, 434, 441, 442, 444, Grothmann, Werner 446
473, 474 Guderian, Heinz 80, 616, 620, 623,
Gersdorff, Ursula von 465, 472, 547 624, 626, 627, 628, 629, 639
Gerstenberger, Friedrich 620-633, 683 Gürtner, Franz 649
Geßner, Klaus 343-358, 444, 595, 618, Guth, Ekkehart 89, 90
683
Geyer, Michael 28, 35, 74, yy, 208-238, Haase, Norbert 259
393, 400, 401, 459, 683 Hahlweg, Werner 137, 138
Ghilardini, Luigi 206, 207 Hahn, Walter 248, 258
Gide, Andre 665 Halder, Franz 25, 34, 35, 58, 531-550,
Giebel, Rainer 457 620, 627, 628, 639
Giese (Funker) 483,484,485 Hammer, Ulrike 473
Gilbert, Martin 662, 663 Hammerstein, Kunrat Freiherr von
Gilert, GM. 183 628
Glisic, Venceslav 371 Handloser (Generaloberstabsarzt) 81
Glitz, Erhard 188 Hanisch, Ernst 185

691
Hannibal 379 Himmler, Heinrich 30, 58, 70, 85, 98,
Hardenberg, Carl-Hans 432 116, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129,
Harris, Marvin 398 134, 136, 343, 431, 438, 440, 443, 446,
Hart, Liddell 25, 34, 403, 517 485, 486, 487, 509, 542, 544, 549
Hartewig, Karin 662 Hindenburg, Paul von 390, 392, 394
Hasse, Wilhelm 568 Hirschfeld, Gerhard 183
Hassel, Ulrich von 90 Hirschfeld, Harald von 199, 200, 204,
Hau Johann 50 205
Haupt, Werner 257, 258, 339 Hochhuth, Rolf 670
Headland, Ronald 339 Höchtl, Hans 560, 561
Heer, Hannes 25-36, 57-77,104-138, Hoepner, Erich 80, 543, 640
339,473, 548,618,683 Hoffmann, Albert 136
Hegel, Wilhelm von 516 HoffmannJoachim 294, 537, 618
Heiber, Helmut 186 Hoffmann, Paul 360, 361, 371, 441
Heidenreich, Richard 61, 62 Hoffmann, Peter 354,441,444
Heinemann, Ulrich 444 Höhne, Gustav 339
Heinrich V 380 Homer 670, 6y9
Heinrici, Gotthard 563 Hondrosjohn Louis 184, 185, 372,
Helldorf, Wolf-Heinrich Graf von 373
641 Höß, Rudolf 478, 509
Hellmich, Heinz 433 Howard, Michael 547
Helm, Hans 43, 55 Hox (Stabsarzt) 212
Henke, Klaus-Dietmar 235, 628 Hubatsch, Walter 54,205, 206, 207,444
Herbert, Ulrich 102 Humburg, Martin 290
Herf, Eberhard 560 Hunt, Lynn 617
Herzberg, Rolf Dietrich 594 Hüpfauff, Bernd 504-527, 684
Herzog, Kurt 241, 243, 249, 257 Hüser, Karl 89
Herzstein, Robert E. 185 Hynes, Samuel 604, 616
Hess, Franz 560
Heß, Rudolf 391, 400 Iatridesjohn 185
Hesse, Erich 134,356 Iggers, Georg G. 617
Hetterich, Alois 560, 561 Ipsen, Knut 594
Hettling, Manfred 290 Isakson, Roma 259
Heuser, Georg 73, yy, 137
Heusinger, Adolf 444, 539, 540, 548, Jacobi, Alfred 352
620, 621, 623, 626, 627, 628, 629 Jacobsen, Hans-Adolf 34, 35, 75, 291,
Hewelcke, Georg 89 549, 568, 617
Heydrich, Reinhard 58,430, 485, 486, Jahn, Peter 35, y6, yy, 341, 457
540,543,557,646 Jais, Franz 370, 371
Higonnet, Margaret Randolph 619 Jamin, Mathilde 184, 342
Hilberg, Raul 54, 55, y6, yy, 359, 567, Jatschenin (russ. Generalmajor der
662 Justiz) 561
Hildermeier, Manfred 458 Jaworski, Rudolf 459
Hillgruber, Andreas 35, 74, yy, 90, Jeckeln, Friedrich 136, 543
323,338,459 Jedlicka, Ludwig 35

692
Jeismann, Michael 459 Kleemann,Ulrich 198
JensonJane 619 Kleist, Ewald 639
Jodl, Alfred 168, 169, 178, 531-550, Kleykamp, G. 190
647, 650 Klink, Ernst 294, 618
Jodl, Luise 650 Klinkhammer, Lutz 232
Johann, Ernst 400 Kluge, Alexander 338, 66^-6y9
Johe, Werner 342 Kluge, Günther von 128, 129,404,
Jünger, Ernst 32, 35, 397, 401, 527 405, 406, 429, 443
Jüttner, Hans 442 Knittel, Horst 648
Knoblauch, Kurt 431
Kaiser,Joachim 670, 6y9 Knopp, Guido 290
Kalesnik, Vladimir 135 Koch, Hans Hermann 560, 564
Kaltenbrunner, Ernst 445, 446 Koeppen, Wolfgang 664
Kamann (SS-Mann) 478 Kogan (sowj. Richter) 272
Kammler, Hans 646 Kohl, Helmut 668
Kamptz (Gen. der Ordnungspolizei) Kohut, Thomas A. 290
232 Konsalik, Heinz 261, 290
Kant, Immanuel 383, 391, 400, 513 Koonz, Claudia 472, 473, 474, 619
Kaplan, Marion 472, 619 Kosmodemsjenskaja,Soja 501
Kawelmacher, Hans 244, 250, 258 Kostrowski, Arnold 355
KeeganJohn 25, 34, 186, 378, 386, Kosyk, Wolodymyr 312
398, 399 Kotze, Hildegard von 293, 354
Kehr, Eckart 604, 616 Kowalow (russ. Politkommissar)
Keilig, Wolf 257 349
Keiner, Walter 304 Kracauer, Siegfried 188
Keitel, Wilhelm 42, 54, 85, 112, 113, Krakowski, Shmuel 456
124, 193, 544, 569, 594, 639, 650 Krause, Hans 356
Keizer, Madeion de 235 Krausnick, Helmut 61, 74, y6, yy, 204,
Kempner, Robert 594 291, 292, 293, 354, 355, 443, 444, 525,
Kempowski, Walter 66^-6y9 549, 567, 568
Kenrick, Donald 54 Kreidel, Hellmuth 133
Kernmayr, E. 187 Kreiner, Walter 302
Kershaw, lan 114, 134, 162, 183, 184, Krichbaum, Wilhelm 355
189,618 Kroener, Bernhard R. 68, y6, 235, 312,
Kesselring, Albert 616,617 340, 618
Kieper (sowj. Richter) 272, 293 Krüger, Friedrich Wilhelm 485
Kiesel, Doron 473 Krylowa, Nadeshda B. 290
Kiessling, Günter 621, 628, 650 Kube, Wilhelm 57, 6% 70, 435, 444,
Kipphardt, Heiner 670 554,555
Kitchen, Martin 188 Kuby, Erich 66y
Kitterman, David 341 Küchler, Georg von 87, 91
Klausch, Hans-Peter 161, 184, 188, 190 Kufus, Thomas 341, 526
Klebe, Reinhold 201 Kügler,Wolfgang 245,252
Klee, Ernst 91, 187, 189, 259, 341, 507, Kühnrich, Heinz 137, 138
526 Kuntze, Walter 359

693
Kurowski, Franz 262, 290 Lusignani, Luigi 196
Kwalmann, Fritz 480, 481 Lüstraeten, Erwin 49
Kwiet, Konrad 341, 526, 618 Lüters, Rudolf 371
LynnJohn 616
Langguth, Carl 560, 563, 564
Lanz, Hubert 171, 188, 190, 194, 195, Machiavelli 400, 616
196, 199, 201, 202, 203, 205, 206 Mackensen, August von 638
Lattmann, Martin 542, 549 Magill, Franz 443
Latzel, Klaus 447-459, 684 Magli (it. General) 205
Lautenbach, Fritz 186,187 Maiziere, Ulrich de 621, 624, 628
Lawen, Fritz 315 Mallios, Alexandros 184
Leed, Eric J. 186 Manke, Heinz 418
Leijins, V 258 Mann, Reinhard 183
Lemelsen, Joachim 89, 234 Mann, Thomas 666
LeSuire, Karl von 366, 368, 372 Manoschek, Walter 39-56, 134, 185,
Leszczynski, Kazimiercz 370 359-373,550,684
Lethen, Helmuth 28, 35 Manstein, Erich von 35, 66, 115, 188,
Leven, Karl-Heinz 89, 90 261, 402-417, 531-550, 616, 620, 621,
Lewinski, Eberhard von 408, 409 623, 624, 625, 626, 627, 628, 629
Lewinski, Helene von 408, 409 Manstein, Georg von 408
Leyser, Ernst von 197 Manstein, Hedwig von 408
Liepe, Walter 48, 49, 50, 51 Manstein, Martha von 409
Liepina, Emma 243 Manstein, Rüdiger von 416
Lilienthal, Georg 474 Marcks, Erich 538
LinkJürgen 459 Marks, Richard Lee 398
Linkemer, Kaiman 258 Martin, Bernd yy
Lipp, G. 187 Maschke, Erich 568
Lissner, Cordula 54 Maschmann, Melitta 475, 476, 502
List, Wilhelm 166, 184, 185, 359, 545, Maslowski, Peter 527
639 Mason, Thimothy W 340
Loeben, Kurt Christian von 229, 233 Massie, Robert K. 399
Loewy, Hanno 36, 547 Mattenklott, Gert 497, 503
Lohalm, Uwe 342 Mausbach, Hans 446
Lohmeyer, Kurt 241,244, 245,249, 257 Mayer, Arno J. 185
Löhr, Alexander 164,165,176,185,195 Mazower, Mark 157-190, 206, 339,
Lohse, Hinrich 65, 70, 124, 136, 435, 341, 372, 684
444 McCloyJohn 370, 575
Lombardi, Gabrio 204, 206 McMullen, R.P. 188
Lübbe, Hermann 36 McNeill, William 604, 616
Luck, Hans von 623, 628 Meier, Christian 385,386,387,399,
Luckmann, Thomas 457 400
Ludendorff, Erich von 25, 27, 30, 35, Meier, Klaus A. 618
377-398 Meier-Welcker, Hans 205, 617
Lüdtke, Alf 341 Meitinger (Leutnant) 250
Luley (Hauptmann) 276, 277 Merkl,P.H. 184, 186

694
Messerschmidt, Manfred 36, 68, y6, Nieden, Susanne zur 468, 473
yy, 183, 187, 190, 341, 531-550, Niedhart, Gottfried 36
551-568,617,684 Nienhaus, Ursula 473
Meyer, Erwin 52 Niethammer, Lutz 342, 619
Meyer, Georg 620, 628 Nikiforow, Anatolij 290
Meyer-Gosau, Frauke 668, 678 Noakesjeremy 186
Michalka, Wolfgang 527 Nolte, Hans-Heidrich 458
Mielke (Verfolgung von Kriegs- und Nora, Pierre 619
NS-Verbrechen) 588
Mielke, Fred 90 Oberkamp, Karl von 197
Milfulljohn 341, 526 Obstfelder, Hans von 91
Mitcham, Samuel W 187 Opitz, Eckardt 459
Mitscherlich, Alexander 90, 634, 648 Osipov, Valentin 341
Mitscherlich, Margarete 634, 648 Oster, Hans 442, 531
Mittmann, Bruno 560 Ostwaiden, Weber von 287
Moll, Reinhard 560 Otto, Reinhard 89
Moltke, Helmuth James 90 Overmans, Rüdiger 289
Mommsen, Hans 163, 184
Morells, Theodor 665 Paggi, Leonardo 232,235
Morgen, Konrad 190 Paland, Herbert 356
Moritz, Erhard 356 Paltzo, Rudolf 82, 264, 265
Mosse, George 188,472,619 Panning, Gerhart 82,90, 580
Mueller-Hillebrand, Burkhart 355 Panofsky, Erich 513,517
Müller (SD-Bobruisk) 122 Pappas, Eleni 189
Müller, Eugen 264, 540, 541, 542, 568 Pappas, S. 184
Müller, Friedrich Wilhelm 198 Paret, Peter 400, 604, 616
Müller, Klaus-Jürgen 35, 442, 459, 547, Parin, Paul 408
548, 549, 617 Parker, Geoffrey 616
Müller, Norbert 102, 103, 136, 137, Pätzold, Kurt 618
336,618 Paul, Wolfgang 443
Müller, Rolf-Dieter 92-103, 136, 294, Paulus, Friedrich 260, 261, 289, 672
295, 609, 618, 684 Pavelkops, R. (lett. Kollaborateur) 259
Mulligan,Timothy P. 102,133,186, Pavone, Claudio 232
312,444 Pemsel, Max 55, 56
Münkler, Herfried 381, 398, 399 Perikles 386, 400
Mussolini, Benito 191, 192, 197, 225 Pessendorf, F. 257
Peukert, Detlev 183,189, 342
Napoleon, Bonaparte 382, 384 Phillipp IL 616
Naumann, Klaus 25-36, 684 Picker, Henry 90, 91
Nebe, Arthur 69, 429,432,441, 640, Pietrow-Enker, Bianka 339
641 Pifrader (SS-Führer) 137
Neck, Rudolf 35 Pillich (Soldat/Polen) 500
Negt, Oskar 671 Plivier, Theodor 664, 665, 678
Neubacher, Hermann 185, 373 Polechin (russ. Oberst der Justiz) 561
Neumann (Oberkriegsgerichtsrat) 82 Pongruber, Ignaz 50

695
Popitz, Johannes 404, 406 Röhljohn 399
Presser (Gefreiter) 313,314 Romm, Michail 494
Pridham, Geoffrey 186 Rommel, Erwin 191, 616, 617, 620,
Prinz, Michael yy, 341 621,628
Prokop, Gert 502 Rommel, Lucie-Maria 616
Pust, Heinz 527 Roques, Karl von 84, 300, 301
Puttkamer, Alfred von 287 Rosenberg, Alfred 129, 300,444
Puxon, Grattan 54 Rosenhaft, Eve 183
Rosenstock, Georg 245, 255, 258
Raddatz, Fritz 666, 6y^, 678, 6y9 Rosenthal, Gabriele 651-663,685
Rademacher, Franz 46, 55 Röser, Ludwig 157, 158, 159, 169, 173,
Rahn, Werner 618 174, 179, 186
Rällis, Ioannis 369 Rothfuchs, Karl 173
Ralston, David 616 Röttiger, Hans 532, 547, 556
Rathenau, Walther 397 Rousso, Henry 619
Rautenberg, Hans-Jürgen 628 Rubin, David C. 628
Redelis, Valdis 133 Rückerl, Adalbert 503, 594, 596
Reemtsma,Jan Philipp 114, 134, Rühe, Volker 640
377-401, 684 Rundstedt, Gerd von 405, 537, 617
Reich, Ines 445 Rupp (Unteroffizier) 89
Reichel, Peter 236, 341 Rupp, LeilaJ. 472
Reichenau, Walter von 66, 82, 115, 188, Rupprecht, Kronprinz von Bayern
264, 274, 276, 277, 278, 283, 284, 286, 394
287, 301, 537, 544, 556, 572, 575, 648 Rürup, Reinhard 35, y6, yy, 341, 457
Reichert, Fritz 245 Rusins, E. 257
Reifarth, Dieter 475-503, 685
Reitlinger, Gerald 160, 183 Safrian, Hans 185,260-296,359-373,
Remold (Oberstleutnant) 196 685
Renner, Rolf Günter 290 Sajer, Guy 523, 527
ReuleckeJürgen 290 SalmingerJosef 164, 171, 172, 173,
ReussJosef Maria 293 174, 177, 187, 190
Reynolds, Nicholas 547 Sauckel, Fritz 94, 648
Ribbentrop Joachim von 55, 88, 169 Sawtschenko, Wladimir 257
RichertJohann-Georg 128, 137, 138, Schäfer, Emanuel 54
436, 560, 562 Schäfer, Hans-Dieter 474
Riedel (Oberstleutnant) 277 Schardt, Angelika 527
Riedel, Heinz 351 Scharnhorst, Gerhard Johann David
Riegl, Alois 517 von 381
Riesenberger, Dieter 36 Scheich, Elvira 468, 473, 474
Rieß, Volker 187, 189, 259, 341, 507, Scheiger, Brigitte 473
526 Schenckendorff, Max von 73, 89, 118,
Ritter, Gerhard 399 120, 127-129, 137
Rodenbusch, Albert 104, 105, 130, Scherpe, Klaus 527
138, 560, 561 Scheurig, Bodo 427, 441
Rohde, Horst 618 Schirrmacher, Frank 678

696
Schlabrendorff, Fabian von 137, 429, Seidler, Franz W. 473, 619
441, 442, 444 Senger, Fredolin von und Etterlin 195,
Schlarp, Karl-Heinz 53 205
Schieiden,Alfred H. 89 Sepielli,S. 204
Schlieffen, Alfred von 26, 380, 389, Seydlitz, Walter von 405, 444
391,394 Shelah, Menachem 56, 191-207, 685
Schmalz, Wilhelm 220 Siegert, Karl 595
Schmidt, Arno 664 Siewert, Curt 137
Schmidt, Margot 619 Simmel, Georg 459
Schmidt, Siegried J. 629 Sinkow,Roma 349
Schmidt-Linsenhoff, Viktoria 475-503, Siwzon, David 248, 258, 259
685 Skorzeny, Otto 648
Schmitt, Carl 384, 399 Smith, Thomas S. 629
Schmückle, Gerd 621, 623, 625, 628, Sodenstern, Georg von 537
629 Sofsky, Wolfgang 31, 35
Schneider, Christian 402-417, 685 Sonntag (Stabszahlmeister) 212
Schober (Hauptmann) 367, 368, 369 Sparing, Frank 54
Schoenberner, Gerhard 502, 508, 513, Spector, Shmuel 292
526, 527 Speer, Albert 641, 649
Schönfeld (Leutnant) 313,314 Speidel,Hans 369, 370,620, 621, 628
Schörner,Ferdinand 170, 171, 186 Sporrenberg, Karl 457
Schornstheimer, Michael 35,634-650, Stahl, Friedrich 185
685 Stahlberg, Alexander 404, 623, 624,
Schott, Harald 290 625, 627, 628, 629
Schramm, Percy Ernst 91 Stahlecker, Franz y6
Schreiber, Gerhard 204, 205, 206, 207, Stalinjosef 50, 107, 115, 540
618 Stauffenberg, Klaus Graf von 439
Schröder, Hans J. 341 Stavros, Dritsos 373
SchröderJosef 204 Stegemann, Bernd 618,
Schröder, Ludwig von 39 Stein, Walter 244, 249
Schröder, Walther 646 SteinbergJonathan 185
Schulenburg, Fritz-Dietlof 433, 439, Steinert, Marlis G. 189
440, 441, 444, 649 Stephensonjill 619
Schulte, Theo J. 161,184,187,189, Sternes, Laurence 408
323-342, 339, 340, 341, 342, 619, 685 Sterz, Reinhold 447
Schulze-Büttger 404, 436, 441 Stettner, Walter von 171, 172, 187, 195,
Schulze-Gaevernitz, Gero 441 202, 204, 207
Schütte, Wolfram 669, 6yS Stieff, Helmuth 446
Schütze, Fritz 663 Stiehr, Karin 473
Schwanz, Thomas A. 370 Stölting, Erhard 648
Schwarz, Hans-Peter 183 Streibel, Robert 102
Schwinge, Erich 594 Streim, Alfred 89, 90, 569-597, 685
Sebba(Zahnarzt aus Riga) 248 Streit, Christian 74, y6, yy, 78-91, 102,
Seeckt, Hans von 533 188, 339, 526, 549, 567, 617, 686
Seeliger(Adjutant) 650 StroopJürgen 478

697
Stülpnagel, Joachimvon 547 Ullersperger, Wilhelm 251
Stumpf,Reinhard 618 Ulrich, Volker 457
Sundhaussen, Holm 53 Umbreit, Hans 618
Suvorov, Viktor 537
Sydnor, Charles W. 184, 527 Valery, Paul 666
Sykora, Katharina 474 Vecchiarelli (ital. General) 206
Szarota, Thomas 458, 459 Veesenmayer, Edmund 44, 55
Szmulewski, David 480 Veläzquez, Diego 379
Vesterman, Aaron 259
Tacitus 612 Vestermanis, Magers 74, 241-259,
Tatarinzew (russ. Verteidiger) 561 686
Tatschmurat, Carmen 472, 473, 474 Viebrans, Herbert 49
Taubner, Max 187, 509 Vietinghoff, Heinrich, gen. Scheel 229
Taylor, Telford 596,517 Viktoria, Königin 413
Tenefelde, Klaus 342 Vogel, Detlev 290,618
Tessin, Georg 55,354,617 Volkmann, Hans-Erich y6, 339, 609,
Thamer, Hans-Ulrich 648 618
Theomadakis, S.B. 185 Voß, Hans von 436, 441
Theotakas, Giogos 190 Vranitzky, Franz 550
Theweleit, Klaus 499, 503, 605, 616
Thom, Alfred 90 Wafner, Kurt 139, 143, 153
Thorne Christopher 188 Wagenaar, WillemA. 629
ThorwaldJürgen 102 Wagner, Eduard 58, 83, 439, 440, 441,
Thukydides 386, 387, 388, 399 540,543,545,558
Tiedemann, Karl von 568 Waldersee, Alfred Graf von 399
Tilney (brit. General) 198 Waldheim, Kurt 51, 184, 185, 550
Tippeiskirch, Kurt von 542 Walendy, Udo 476, 502
Tischler (Gefreiter) 304 Wallach, Jehuda L. 35, 389, 390, 391,
TitoJosip Broz 193 394, 399, 400
Tjaden, Enno 665 Walter (SS-Mann) 478
Tolstoi, Leo 670 Walther, Hans-Dieter 47, 48, 51
Topitsch, Ernst 537 Waltke, Oskar 475
Torsiello, Mario 204, 205, 206 Walzer, Michael 189
Trapp, Wilhelm 562 Wandruszka Adam 35
Trenker, Luis 188 Warlimont, Walter 531-550
Tresckow, Henning von 404, 427-446, Weber, Max 628
649 Wegner, Bernd 459, 594
Trott, Adam von zu Solz 440, 446 Wehler, Hans-Ulrich 338
Turner, Harald 40,43,44, 51,52,55,56 Weichennieder, Georg 186
Weichs, Maximilian von 80, 165, 166,
Ueberschär, Gerd R. y6, yy, 134, 289, 204
290, 291, 294, 295, 311, 312, 341, 549, Weingartner, James J. 189
567, 568, 604, 617, 618 Weiss, Peter 664, 668, 669
Uhlig, Heinrich 549 Weißig, Georg 560
Ulex, Wilhelm 542 Weits, Margaret Colins 619

698
Welke (Bezirkslandwirt Charkow) Wittenau, Hans Schach von 430
3i3 Witzleben, Erwin von 537
Werth, German 400 Wobbe, Theresa 471, 473, 474
Wessel, Horst 641 Wohl, Robert 616
Westphal, Siegfried 416, 531, 617 Wöhler, Otto 444
Wette, Wolfram y69 yy, 134, 289, 290, Wolff, Helmut 90
291, 294, 295, 311, 312, 338, 341, 549, WollenbergJörg yy
567, 568, 609 Woller, Hans 235,628
Wheeler-BennettJohn W. 617 Wollstein, Günter yy
Whiteclayjohn Chambers II 616 Worbs, Richard 418, 501
Wichard (Markgraf) 665 Woroschilow, Kliment 564
Wickstead, Arthur 188 Worringer, Wilhelm 517
Wieland, Günther 596 Wöss, Fritz 261, 290
Wiesenthal, Simon 500, 502 Wülfing, Wulf 459
Wiggershaus, Norbert 628 Wüllner, Fritz 568
Wildermuth (Oberstleutnant) 370
Wilenchik, Witalij 132,135,136 Yorck, Peter von Wartenburg 405,
Wilhelm IL 390, 399, 411, 412 438, 439, 44i, 444
Wilhelm, Hans-Heinrich 61, 76, 204,
443, 525, 549, 567, 617, 648 Zampetti, Enrico 204
Willms Johannes 668,678 Zervas, Napoleon 184
Wilson, Barbara 629 Ziehlke, E. Friedrich 503
Windaus-Walser, Karin 472, 474 Zins (Oberst) 295, 296, 303, 304, 307,
Windisch, Leopold 63, 64, y6, yy 310,313,314
Winkler, Dörte 470, 472, 474 Zipfel, Gaby 460-474, 686
WinterJay M. 619 Zitelmann, Rainer yy, 341
Wirth, Andrzej 503 Zöberlin, Heinz 392
Wistrich, Robert 628 Zöller, Martin 370
Witten, Karsten 188 Zweig, Arnold 398

699
Ortsregister
Agiovi 217 Bobruisk 71, 122, 133, 350, 560, 561,
Altenburg 344 563, 564
Ambra 211, 212 Borgo a Giovi 217
Andritsa 177 Borispol 81, 269, 302
Anghiari 217, 223 Borissow 71, 128, 133,429, 431, 560,
Antopol 651, 652 564
Arezzo 210, 211, 212, 217, 218, 219, Borki 307, 310
225, 232, 234, 236 Brenner 233
Argos 169, 366 Breslau 82, 434
Argostolion 201, 202 Brest 501, 555
Arnsberg 646 Brjansk 70, 352, 551, 553, 564
Arta 157, 164, 172, 177 Bruck/Leitha 359
Arys/Ostpreußen 430 Brüssel 648
Athen 164, 170, 176, 181, 358, 367, Buchenwald 82, 181,6yy
386, 387, 388, 400 Buttkowitz 243
Auerstedt 380 Bzura 643
Auschwitz 472,478, 503, 515, 523,
653, 66y, 669 Calais 639
Auschwitz-Birkenau 479, 480, 665 Cannae 389
Azincourt 380 Casablanca 666
Castiglion Fiorentino 232
Babi Yar 279, 543 Cecina 213
Baku 177 Cefalonia 199-207
Baranowicze 62, 125, 136, 350, 440, Cetica 218
539,554 Charkow 279, 280, 281, 283, 285,
Baranowka 303, 304, 306, 310, 313 286, 287, 288, 294, 295, 303, 313,
Bauske 255 552
Belgorod 283, 288, 289 Chatila 502, 503
Belgrad 40, 41, 44, 45, 46, 47, 49, 50, Chelmno 56
51,52,54,55,56,360,365,545 Chiusi 220, 229
Berchtesgaden 177, 674 Cholm 339
Berditschew 85, 272, 292, 293 Cittä di Castello 232
Bereza-Kartuska 447 Cittä di Pieve 220
Berlin 41, 44, 46, 52, 55, 128, 139, 195, Civitella 208-238
199, 260, 356, 381, 402, 408, 427, 429, Corina 209, 210, 218, 220, 221, 231,
434, 438, 439, 506, 580, 640, 644, 648 232
Biala Podlaska 501 Croce di Mari 214
Bialowiza (Bielowicz) 66,116 Czerwone 300, 301, 309, 312
Bialystok 431, 433, 651, 658
BjelajaZerkow 66, 116, 275, 276, 277, Dachau 82
293, 543, 580, 584 Dawid Gorodok 301
Bjelopolje 287 Demidow 339

700
Distomon 170, 189 Jabuka 47
Dnepropetrowsk 308 Jaijnce 52
Dobryanka 306 Jaslo 451
Dresden 645 Jena 380
Dubno 270 Jereski 304
Dubrovnik 194 Junakowka 287
Dünaburg (Daugavpils) 81, 84, 255
Kalamata 366, 367, 372
Elbrus 177 Kalavrita 167, 185, 366, 367, 368, 369,
Esmon 117 370, 372, 373
Kalinin 331, 340
Falterona 214, 220, 233 Kamenz-Podolsk 543
Fastow 275 Kamischnia 303
Florenz 209, 210, 211, 212, 219, 233 Karlovac 365
Frankata 201 Karpilowka 121
Freiburg 436, 608 Kassel 644
Kastania 366
Gadjatsch 304, 306, 308 Kattowitz 445
Genf 534 Katyn 435, 567
Genua 213 Kaunas (Kovno, Kauen) 70, 81
Gettysburg 506 Keramis 201
Glatz 301 Kerpini 368
Glebokie (Glubokoje) 57, 73, 555 Kholoponichi 61
Golowtschin 117 Kiew 70, 266, 278, 279, 281, 282, 294,
Gomel 301, 340 301, 302, 572, 580
Gorni Milanovac 363, 364 Klewan 268
Gornoschajewka 306,310 Knjashitschi 432
Gorodok 352 Koblenz 542, 549
Gotnja 285 Kobryn 651
Gramsden 243 Koidanowo 69
Grobin (Grobina) 241 Koladitsche 145
Großbetscherek (Petrovgrad) 54 Kommeno 157-190
Gubbio 210 Korfu 195, 206
Gurki 352 Korinth 176
Korosten 302
Haghia Lavra 369 Korsika 194, 205
Halberstadt 664, 672, 6yy, 6y9 Kos 198
Hamburg 70, 327, 644 Kostjuki 132
Hannover 475, 486 Kovin 49
Hrozow 117 Kowali 121
Kowel 302
Ilek 285 Kowno 510, 651
Ioannina 164, 172 Kragujevac 167, 297, 360, 363, 364,
Ithaka 203 365, 546
Iwanice 267 Krakau 485

701
Kraljevo 167, 360, 361, 362, 363, 371, Mainz 380
545 Majdanek 85
Krasnopolje 285 Majdanpek 39
Krim 85 Makarjevo 91
Kriwoi Rog 96 Marburg 82
Krottingen 243 Mariupol 301
Krupka (Krupki) 61, 62, 437 Maskukowtschina 139
Krusevac 363 Mauthausen 85
Krzemieniec 267 Mazeika 368
Kubuschew 304 Medwenka 286
Kursk 85, 91, 287, 289 Megalo Spiläon 368
Kussikowitschi 432 Megalopolis 367
Kykladen 198 Memel 257
Merzalowo 350
La Specia 215 Minsk 52, 59, 60, 61, 62, 69, 70, 72,
Lachowicze 71 73, 107, 123, 125, I39-J55, 430, 436,
Lamsdorf 87 465, 466, 467, 493, 494, 551-568, 651,
Landsberg 370 658
Lawstyki 121 Mir 71
Leipzig 356, 592,644 Mirgorod 301, 303, 304, 310, 313
Lemberg (Lwow) 82, 475, 500 Mlyny 306, 307, 310
Leningrad 25, 241 Mogadischu 671
Lepel 352 Mogilew 351, 432, 512, 560, 562,
Leros 198 563
Lesin 440 Mogriza 288
Levane 210 Molino di Bucchio 214
Libau 241-259 Montaltuzzo 210, 212, 221, 232
Lidice 297,359 Montauti 217
Linopoti 198 Moskau 25, 42, 70, 71, 107, 113, 119,
Linz 52 299, 300, 323, 428, 432, 440, 459, 501,
Lissa 344 553,594,640,664
Litowitz 267 Mostar 194
Ljubawitschi 340
Ljutenka 306, 308, 310 Nettuno 234
Lodz 70 Neubrandenburg 355
London 61, 479 Neuengamme 85
Lordata 203 Niederbartau (Barta) 241
Lötzen 136 Nieswiecz 71
Lublin 483 Nikipol 310
Lubly 283 Nikolajev 301
Luck 268, 270 Nikopol 283
Ludwigsburg 165, 577, 578 Nis (Serbien) 450
Ludwigslust 644 Nisch 49
Ludwinow 265 Novogrudok (Nowogrodok) 71,
Luköw 483, 484 117

702
Nowomoskowsk 314 Riga 56,69, 70, 81, 84, 98, 241, 245,
Noworshew 351 251,254,257,451,458
Nowosybkow 301 Roji 367, 368
Nürnberg 35, 132,343, 354, 355, 403, Rom 220, 233
416, 569, 574, 576, 589, 647, 650 Romny 282, 350
Rshawa 289
Oberbartau (Nica) 241 Rshew 328, 340
Obersalzberg 538 Rudobelka 121
Obojan 286 Rudolstadt 408
Obuchowka 305, 310 Rutkowschina 349
Ogulizy 286 Rzeszow 451
Oradour sur Gläne 297, 359, 647
Orel 350, 352, 560, 564 S. Martino 212
Orscha 83, 128, 554, 558, 560, 564 Sabac 45, 54
Orvieto 229 Sabor 545
Ossipowitsche 104 Sabra 502
Ostrowo 500 Sagan 596
Sajmiste 51, 52, 53, 56
Palagio 212 Salerno 194
Pancevo 47, 49 Saloniki 51,164,166,185,186,199,
Paneriai (Ponary) 510,656 201

Pankrati 369 Salzburg 169


Paris 464 Samos 198, 199
Paritschi 560 San Giulia 220
Patras 367 San Martino 232
Pawlograd 308, 314 San Pancrazio 209, 210, 218, 220, 221,
Petrizewo 501 231,232
Petrovgrad (Großbetscherek) 54 San Paolo in Alpe 214
Pirjatin 266 San Savino 219
Polozk 656,658 Sansepolcro 217, 219
Poltawa 56, 303, 309, 313 Saporoshe 404
Polykowitschi 512 Sarande 196
Poppi 210, 217, 218 Schireewitschi 340
Potsdam 608 Schkeden (Skede) 254
Prag 323, 464 Schlüsselburg 93
Pratomagno 219 Semlin 51, 56
Proskurow 539 Senniza-See 352
Pskow 539 Serkowo 350
Putten 235 Serrant 413
Shitomir 85, 272, 273, 281, 293, 543,
Raschewka 306, 308 580
Raswada 117 Siena 210, 211
Reval (Tallin) 70, 241 Sijupai 243
Rhodos 198 Simez 331
Rieti 215 Simferopol 581

703
Sinalunga 220 Treblinka 486
Sinj 196, 197 Tripolis 367
Sizilien 220 Troianata 201
Skole-Stryi 643 Tscherkassy 283
Slavuta 81, 84 Tschernigow 283
Slawnoje 127, 128, 137, 436, 437 Tschernjachow 272
Slonim 57, 62, 63, 64, 65, 71,430, 554, Tschutschin 64
560, 564 Tunis 220, 665
Sluzk 69, 135 Turec 71
Smolensk 70, 83, 84, 135, 350, 436, 551 Turow 431
Smolewitschi 69 Turowka 307, 310, 431
Soldatskoje 287
Sorelli 214 Uman 80
Sorotschinzy 304 Usakino 117
Spala 542 Uzice 360
Spandau 649
Sparta 367, 385 Valcasotto 233
Split 196, 197 Valluciole 214
Ssakalowka 304, 308, 309, 310 Verdun 390, 391, 392, 398, 400
Ssarny 302 Verona 213, 232
Sswinarnoje 306 Villaminozo 220
Stalingrad 98, 99, 161, 235, 260, 261,
289, 290, 628, 664, 665, 666, 669, 670, Warschau 134, 135, 478, 500, 503, 513,
672, 675, 679 643
Stalino 85, 350 Welibowka 306, 308, 310
Stammheim 671 Welikije Luki 340, 551
Starobin 132 West-Berlin 596
Studenka 121, 122, 132 Wien 46, 70,292, 327, 373, 497, 498
Stutthoff 85 Wilejka 555
Sudsha 287, 288 Wilna 125, 431, 539, 651, 656, 658
Sumy 283, 287, 288, 296 Windau (Ventspils) 243, 25o, 255
Suscha 117 Winniza 475, 584
Swierzna 71 Winograd 418
Sztun 266 Witebsk 325, 334, 350, 352, 656, 658,
659
Talsen 255 Wjasma 70, 325, 327, 499, 553, 564
Tarnobrzeg 265, 266 Wyschgorod 501
Tarnopol 271, 292
Tarnow 451 Ypern 168
Tauroggen 381,384
Tel Aviv 652 Zamosc 265
Tenochtitlan 379 Zembin 430
Tokio 571 Zwiahel 267
Die oberste Befehlsführung

DER FUHRER

OBERKOMMANDO DERWEHRMACHT (OKW)


Wehrmachtsführungsstab
(Kriegsschauplätze: Norwegen, Finnland, Afrika,
Westeuropa und Balkan)

OBERKOMMANDO DES HEERES (OKH) OBERKOMMANDO DER LUFTWAFFE OBERKOMMANDO DER KRIEGSMARINE
(Östlicher Kriegsschauplatz)

Heeresgruppen
I
Armeen
GENERALSTAB
i
Korps
I
Divisionen

Gen.-Quartier-
meister
-| Operatio

Abwehr Organisation

| Personal [* L| Andere

aus: Alexander Dallin, Deutsche Herrschaft inRußland 1941-1945, Droste Verlag, Düsseldorf 1958, S.44.
Gliederung des militärischen Okkupationsapparates 1943

Chef OKW WFSt

OKH Gen.Qu.

i •* 1
> Wehrmachtbefehlshaber > i Oberbefh. der j
i im Reichskommissariat i ! HGr. !
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i Befh. des rückw. HGeb. i ' Oberbefh. der
, i
i Armee

Sicherungstruppen Sicherungsdivision Ortsfeldkommandantur


Kommandant des Generalkommando
rückw. Armeegeb. des Armeekorps

Feldkommandantur
Feldkommandantur Divisionskommando

Ortskommandantur
Ortskommandantur —J

Gebiet unter rückwärtiges rückwärtiges


Zivilverwaltung Heeresgebiet Gefechtsgebiet
Armeegebiet

aus: Europa unterm Hakenkreuz, Bd. 5: Die besetzten Gebiete der UdSSR, hrsg. von Norbert Müller, Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1991, S. 619.
Serbien unter deutscher Militärverwaltung (1941/42)

Jabukamf

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KROATIENS „ .„,
(faschistischer ** Gorni Milanovac
Ustasa-Staat) f*^ Kragujevac
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Staatsgrenze
^C^l • "•••••• annektiertes Gebiet)
Mazedonien / Annexions
ALBANIEN*», (bulg. Zivil- \% gebiet
M; (ital.) • Verwaltung) \
Ukraine: Operationsraum der 6.Armee 1941/42
SOWJETUNION

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Sowjetunion: Operationsraum der Heeresgruppe Mitte 1941-44

I Königsberg

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Staraja Russa• \
\ Grenze zum Gebiet
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UNION A Front, November 1941

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Griechenland zur Zeit der deutschen Besatzung
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